und
ſein Eigenthum.
Verlag von Otto Wigand.
1845.
Meinem Liebchen
Marie Dähnhardt.
[[2]][[3]]
Inhalt.
- Seite
- Ich hab' mein' Sach' auf Nichts geſtellt 5
- Erſte Abtheilung. Der Menſch.
- I. Ein Menſchenleben 13
- II. Menſchen der alten und neuen Zeit 21
- 1. Die Alten —
- 2. Die Neuen 33
- §. 1. Der Geiſt 37
- §. 2. Die Beſeſſenen 45
- §. 3. Die Hierarchie 87
- 3. Die Freien 129
- §. 1. politiſche Liberalismus —
- §. 2. Der ſociale Liberalismus 153
- §. 3. Der humane Liberalismus 163
- Zweite Abtheilung. Ich.
- I. Die Eigenheit 204
- II. Der Eigner 226
- 1. Meine Macht 244
- 2. Mein Verkehr 276
- 3. Mein Selbſtgenuß 426
- III. Der Einzige 485
Ich hab' Mein Sach' auf Nichts geſtellt.
Was ſoll nicht alles Meine Sache ſein! Vor allem die
gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menſchheit,
der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit;
ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürſten, Meines
Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geiſtes und tauſend
andere Sachen. Nur Meine Sache ſoll niemals Meine Sache
ſein. „Pfui über den Egoiſten, der nur an ſich denkt!“
Sehen Wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache
machen, für deren Sache Wir arbeiten, Uns hingeben und
begeiſtern ſollen.
Ihr wißt von Gott viel Gründliches zu verkünden und
habt Jahrtauſende lang „die Tiefen der Gottheit erforſcht“ und
ihr ins Herz geſchaut, ſo daß Ihr Uns wohl ſagen könnt, wie
Gott die „Sache Gottes“, der Wir zu dienen berufen ſind,
ſelber betreibt. Und Ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben
des Herrn. Was iſt nun ſeine Sache? Hat er, wie es Uns
zugemuthet wird, eine fremde Sache, hat er die Sache der
Wahrheit, der Liebe zur ſeinigen gemacht? Euch empört dieß
[6] Mißverſtändniß und Ihr belehrt Uns, daß Gottes Sache aller¬
dings die Sache der Wahrheit und Liebe ſei, daß aber dieſe
Sache keine ihm fremde genannt werden könne, weil Gott ja
ſelbſt die Wahrheit und Liebe ſei; Euch empört die Annahme,
daß Gott Uns armen Würmern gleichen könnte, indem er eine
fremde Sache als eigene beförderte. „Gott ſollte der Sache
der Wahrheit ſich annehmen, wenn er nicht ſelbſt die Wahrheit
wäre“? Er ſorgt nur für ſeine Sache, aber weil er Alles in
Allem iſt, darum iſt auch alles ſeine Sache! Wir aber, Wir
ſind nicht Alles in Allem, und unſere Sache iſt gar klein und
verächtlich; darum müſſen Wir einer „höheren Sache die¬
nen“. — Nun, es iſt klar, Gott bekümmert ſich nur um's
Seine, beſchäftigt ſich nur mit ſich, denkt nur an ſich und hat
nur ſich im Auge; wehe Allem, was ihm nicht wohlgefällig
iſt. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur ſich. Seine
Sache iſt eine — rein egoiſtiſche Sache.
Wie ſteht es mit der Menſchheit, deren Sache Wir zur
unſrigen machen ſollen? Iſt ihre Sache etwa die eines Andern
und dient die Menſchheit einer höheren Sache? Nein, die
Menſchheit ſieht nur auf ſich, die Menſchheit will nur die
Menſchheit fördern, die Menſchheit iſt ſich ſelber ihre Sache.
Damit ſie ſich entwickle, läßt ſie Völker und Individuen in
ihrem Dienſte ſich abquälen, und wenn dieſe geleiſtet haben,
was die Menſchheit braucht, dann werden ſie von ihr aus
Dankbarkeit auf den Miſt der Geſchichte geworfen. Iſt die
Sache der Menſchheit nicht eine — rein egoiſtiſche Sache?
Ich brauche gar nicht an jedem, der ſeine Sache Uns
zuſchieben möchte, zu zeigen, daß es ihm nur um ſich, nicht
um Uns, nur um ſein Wohl, nicht um das Unſere zu thun
iſt. Seht Euch die Uebrigen nur an. Begehrt die Wahrheit,
[7] die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes,
als daß Ihr Euch enthuſiasmirt und ihnen dient?
Sie ſtehen ſich alle ausnehmend gut dabei, wenn ihnen
pflichteifrigſt gehuldigt wird. Betrachtet einmal das Volk, das
von ergebenen Patrioten geſchützt wird. Die Patrioten fal¬
len im blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und
Noth; was fragt das Volk darnach? Das Volk wird durch
den Dünger ihrer Leichen ein „blühendes Volk“! Die Indi¬
viduen ſind „für die große Sache des Volks“ geſtorben, und
das Volk ſchickt ihnen einige Worte des Dankes nach und —
hat den Proſit davon. Das nenn' Ich Mir einen einträglichen
Egoismus.
Aber ſeht doch jenen Sultan an, der für „die Seinen“
ſo liebreich ſorgt. Iſt er nicht die pure Uneigennützigkeit ſel¬
ber und opfert er ſich nicht ſtündlich für die Seinen? Ja wohl,
für „die Seinen“. Verſuch' es einmal und zeige Dich nicht
als der Seine, ſondern als der Deine: Du wirſt dafür, daß
Du ſeinem Egoismus Dich entzogſt, in den Kerker wandern.
Der Sultan hat ſeine Sache auf Nichts, als auf ſich geſtellt:
er iſt ſich Alles in Allem, iſt ſich der einzige und duldet keinen,
der es wagte, nicht einer der „Seinen“ zu ſein.
Und an dieſen glänzenden Beiſpielen wollt Ihr nicht ler¬
nen, daß der Egoiſt am beſten fährt? Ich Meinestheils nehme
Mir eine Lehre daran und will, ſtatt jenen großen Egoiſten
ferner uneigennützig zu dienen, lieber ſelber der Egoiſt ſein.
Gott und die Menſchheit haben ihre Sache aus Nichts
geſtellt, auf nichts als auf Sich. Stelle Ich denn meine
Sache gleichfalls auf Mich, der Ich ſo gut wie Gott das
Nichts von allem Andern, der Ich mein Alles, der Ich der
Einzige bin.
[8]
Hat Gott, hat die Menſchheit, wie Ihr verſichert, Gehalt
genug in ſich, um ſich Alles in Allem zu ſein: ſo ſpüre Ich,
daß es Mir noch weit weniger daran fehlen wird, und daß
Ich über meine „Leerheit“ keine Klage zu führen haben werde.
Ich bin Nichts im Sinne der Leerheit, ſondern das ſchöpferiſche
Nichts, das Nichts, aus welchem Ich ſelbſt als Schöpfer
Alles ſchaffe.
Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine
Sache iſt! Ihr meint, Meine Sache müſſe wenigſtens die
„gute Sache“ ſein? Was gut, was böſe! Ich bin ja ſelber
Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böſe. Beides hat
für Mich keinen Sinn.
Das Göttliche iſt Gottes Sache, das Menſchliche Sache
„des Menſchen“. Meine Sache iſt weder das Göttliche noch
das Menſchliche, iſt nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie u.
ſ.w., ſondern allein das Meinige, und ſie iſt keine allge¬
meine, ſondern iſt — einzig, wie Ich einzig bin.
Mir geht nichts über Mich!
Erſte Abtheilung.
Der Menſch.
[[10]][[11]]
Der Menſch iſt dem Menſchen das höchſte Weſen, ſagt Feuerbach.
Der Menſch iſt nun erſt gefunden, ſagt Bruno Bauer.
Sehen Wir Uns denn dieſes höchſte Weſen und dieſen neuen Fund
genauer an.
[[12]][[13]]
I.
Ein Menſchenleben.
Von dem Augenblicke an, wo er das Licht der Welt er¬
blickt, ſucht ein Menſch aus ihrem Wirrwarr, in welchem auch
er mit allem Andern bunt durcheinander herumgewürfelt wird,
ſich herauszufinden und ſich zu gewinnen.
Doch wehrt ſich wiederum Alles, was mit dem Kinde in
Berührung kommt, gegen deſſen Eingriffe und behauptet ſein
eigenes Beſtehen.
Mithin iſt, weil Jegliches auf ſich hält, und zugleich
mit Anderem in ſtete Colliſion geräth, der Kampf der Selbſt¬
behauptung unvermeidlich.
Siegen oder Unterliegen, — zwiſchen beiden Wechſel¬
fällen ſchwankt das Kampfgeſchick. Der Sieger wird der Herr,
der Unterliegende der Unterthan: jener übt die Hoheit und
„Hoheitsrechte“, dieſer erfüllt in Ehrfurcht und Reſpect die
„Unterthanenpflichten“.
Aber Feinde bleiben beide und liegen immer auf der
Lauer: ſie lauern einer auf die Schwäche des andern, Kinder
[14] auf die der Aeltern, und Aeltern auf die der Kinder (z. B.
ihre Furcht), der Stock überwindet entweder den Menſchen oder
der Menſch überwindet den Stock.
Im Kindheitsalter nimmt die Befreiung den Verlauf, daß
Wir auf den Grund der Dinge oder „hinter die Dinge“ zu
kommen ſuchen: daher lauſchen Wir Allen ihre Schwächen ab,
wofür bekanntlich Kinder einen ſichern Inſtinct haben, daher
zerbrechen Wir gerne, durchſtöbern gern verborgene Winkel,
ſpähen nach dem Verhüllten und Entzogenen, und verſuchen
Uns an Allem. Sind Wir erſt dahinter gekommen, ſo wiſſen
Wir Uns ſicher; ſind Wir z. B. dahinter gekommen, daß die
Ruthe zu ſchwach iſt gegen Unſern Trotz, ſo fürchten Wir ſie
nicht mehr, „ſind ihr entwachſen“.
Hinter der Ruthe ſteht, mächtiger als ſie, unſer — Trotz,
unſer trotziger Muth. Wir kommen gemach hinter alles, was
Uns unheimlich und nicht geheuer war, hinter die unheimlich
gefürchtete Macht der Ruthe, der ſtrengen Miene des Vaters
u. ſ. w., und hinter allem finden Wir Unſere — Ataraxie, d. h.
Unerſchütterlichkeit, Unerſchrockenheit, unſere Gegengewalt, Ueber¬
macht, Unbezwingbarkeit. Was Uns erſt Furcht und Reſpect
einflößte, davor ziehen Wir Uns nicht mehr ſcheu zurück, ſon¬
dern faſſen Muth. Hinter allem finden Wir Unſern Muth,
Unſere Ueberlegenheit; hinter dem barſchen Befehl der Vorge¬
ſetzten und Aeltern ſteht doch Unſer muthiges Belieben oder Un¬
ſere überliſtende Klugheit. Und je mehr Wir Uns fühlen, deſto
kleiner erſcheint, was zuvor unüberwindlich dünkte. Und was
iſt Unſere Liſt, Klugheit, Muth, Trotz? Was ſonſt als — Geiſt!
Eine geraume Zeit hindurch bleiben Wir mit einem Kampfe,
der ſpäter Uns ſo ſehr in Athem ſetzt, verſchont, mit dem Kampfe
gegen die Vernunft. Die ſchönſte Kindheit geht vorüber,
[15] ohne daß Wir nöthig hätten, Uns mit der Vernunft herum¬
zuſchlagen. Wir kümmern Uns gar nicht um ſie, laſſen Uns
mit ihr nicht ein, nehmen keine Vernunft an. Durch Ueber¬
zeugung bringt man Uns zu nichts, und gegen die guten
Gründe, Grundſätze u. ſ. w. ſind Wir taub; Liebkoſungen,
Züchtigungen und Aehnlichem widerſtehen Wir dagegen ſchwer.
Dieſer ſaure Lebenskampf mit der Vernunft tritt erſt
ſpäter auf, und beginnt eine neue Phaſe: in der Kindheit
tummeln Wir Uns, ohne viel zu grübeln.
Geiſt heißt die erſte Selbſtfindung, die erſte Entgöt¬
terung des Göttlichen, d. h. des Unheimlichen, des Spuks,
der „oberen Mächte“. Unſerem friſchen Jugendgefühl, dieſem
Selbſtgefühl, imponirt nun nichts mehr: die Welt iſt in Ver¬
ruf erklärt, denn Wir ſind über ihr, ſind Geiſt.
Jetzt erſt ſehen Wir, daß Wir die Welt bisher gar nicht
mit Geiſt angeſchaut haben, ſondern nur angeſtiert.
An Naturgewalten üben Wir Unſere erſten Kräfte.
Aeltern imponiren Uns als Naturgewalt; ſpäter heißt es: Va¬
ter und Mutter ſei zu verlaſſen, alle Naturgewalt für geſprengt
zu erachten. Sie ſind überwunden. Für den Vernünftigen,
d. h. „Geiſtigen Menſch“, giebt es keine Familie als Natur¬
gewalt: es zeigt ſich eine Abſagung von Aeltern, Geſchwi¬
ſtern u. ſ. w. Werden dieſe als geiſtige, vernünftige
Gewalten „wiedergeboren“, ſo ſind ſie durchaus nicht mehr
das, was ſie vorher waren.
Und nicht bloß die Aeltern, ſondern die Menſchen
überhaupt werden von dem jungen Menſchen beſiegt: ſie
ſind ihm kein Hindemiß, und werden nicht mehr berückſichtigt:
denn, heißt es nun: Man muß Gott mehr gehorchen, als
den Menſchen.
[16]
Alles „Irdiſche“ weicht unter dieſem hohen Stand¬
punkte in verächtliche Ferne zurück: denn der Standpunkt iſt
der — himmliſche.
Die Haltung hat ſich nun durchaus umgekehrt, der Jüng¬
ling nimmt ein geiſtiges Verhalten an, während der Knabe,
der ſich noch nicht als Geiſt fühlte, in einem geiſtloſen Lernen
aufwuchs. Jener ſucht nicht der Dinge habhaft zu werden,
z. B. nicht die Geſchichtsdata in ſeinen Kopf zu bringen,
ſondern der Gedanken, die in den Dingen verborgen lie¬
gen, alſo z. B. des Geiſtes der Geſchichte; der Knabe hin¬
gegen verſteht wohl Zuſammenhänge, aber nicht Ideen,
den Geiſt; daher reiht er Lernbares an Lernbares, ohne
aprioriſch und theoretiſch zu verfahren, d. h. ohne nach Ideen
zu ſuchen.
Hatte man in der Kindheit den Widerſtand der Welt¬
geſetze zu bewältigen, ſo ſtößt man nun bei Allem, was
man vorhat, auf eine Einrede des Geiſtes, der Vernunft, des
eigenen Gewiſſens. „Das iſt unvernünftig, unchriſtlich,
unpatriotiſch“ und dergl., ruft Uns das Gewiſſen zu, und —
ſchreckt Uns davon ab. — Nicht die Macht der rächenden
Eumeniden, nicht den Zorn des Poſeidon, nicht den Gott, ſo
fern er auch das Verborgene ſieht, nicht die Strafruthe des
Vaters fürchten Wir, ſondern das — Gewiſſen.
Wir „hängen nun Unſern Gedanken nach“ und folgen
ebenſo ihren Geboten, wie Wir vorher den älterlichen, menſch¬
lichen folgten. Unſere Thaten richten ſich nach Unſeren Ge¬
danken (Ideen, Vorſtellungen, Glauben), wie in der Kind¬
heit nach den Befehlen der Aeltern.
Indeß gedacht haben Wir auch ſchon als Kinder, nur wa¬
ren unſere Gedanken keine fleiſchloſen, abſtracten, abſoluten,
[17] d. h. nichts als Gedanken, ein Himmel für ſich, eine
reine Gedankenwelt, logiſche Gedanken.
Im Gegentheil waren es nur Gedanken geweſen, die Wir
Uns über eine Sache machten: Wir dachten Uns das Ding
ſo oder ſo. Wir dachten alſo wohl: die Welt, die Wir da
ſehen, hat Gott gemacht: aber Wir dachten („erforſchten“)
nicht die „Tiefen der Gottheit ſelber“; Wir dachten wohl: „das
iſt das Wahre an der Sache“, aber Wir dachten nicht das
Wahre oder die Wahrheit ſelbſt, und verbanden nicht zu Ei¬
nem Satze „Gott iſt die Wahrheit“. Die „Tiefen der Gott¬
heit, welche die Wahrheit iſt“, berührten Wir nicht. Bei ſol¬
chen rein logiſchen, d. h. theologiſchen Fragen: „Was iſt
Wahrheit“ hält ſich Pilatus nicht auf, wenngleich er im ein¬
zelnen Falle darum nicht zweifelt, zu ermitteln, „was Wahres
an der Sache iſt“, d. h. ob die Sache wahr iſt.
Jeder an eine Sache gebundene Gedanke iſt noch nicht
nichts als Gedanke, abſoluter Gedanke.
Den reinen Gedanken zu Tage zu fördern, oder ihm
anzuhängen, das iſt Jugendluſt, und alle Lichtgeſtalten der
Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menſchenthum, der
Menſch u. ſ. w. erleuchten und begeiſtern die jugendliche
Seele.
Iſt aber der Geiſt als das Weſentliche erkannt, ſo macht
es doch einen Unterſchied, ob der Geiſt arm oder reich iſt, und
man ſucht deshalb reich an Geiſt zu werden: es will der Geiſt
ſich ausbreiten, ſein Reich zu gründen, ein Reich, das nicht
von dieſer Welt iſt, der eben überwundenen. So ſehnt er ſich
denn alles in allem zu werden, d. h. obgleich Ich Geiſt bin,
bin Ich doch nicht vollendeter Geiſt, und muß den voll¬
kommenen Geiſt erſt ſuchen.
2[18]
Damit verliere Ich aber, der Ich Mich ſo eben als Geiſt
gefunden hatte, ſogleich Mich wieder, indem Ich vor dem voll¬
kommenen Geiſte, als einem Mir nicht eigenen, ſondern jen¬
ſeitigen Mich beuge und meine Leerheit fühle.
Auf Geiſt kommt zwar alles an, aber iſt auch jeder Geiſt
der „rechte“ Geiſt? Der rechte und wahre Geiſt iſt das Ideal
des Geiſtes, der „heilige Geiſt“. Er iſt nicht Mein oder Dein
Geiſt, ſondern eben ein — idealer, jenſeitiger, er iſt „Gott“.
„Gott iſt Geiſt“. Und dieſer jenſeitige „Vater im Himmel
giebt ihn denen, die ihn bitten“. *)
Den Mann ſcheidet es vom Jünglinge, daß er die Welt
nimmt, wie ſie iſt, ſtatt ſie überall im Argen zu wähnen und
verbeſſern, d. h. nach ſeinem Ideale modeln wollen; in ihm
befeſtigt ſich die Anſicht, daß man mit der Welt nach ſeinem
Intereſſe verfahren müſſe, nicht nach ſeinen Idealen.
So lange man ſich nur als Geiſt weiß, und all ſeinen
Werth darin legt, Geiſt zu ſein (dem Jünglinge wird es leicht,
ſein Leben, das „leibliche“, für ein Nichts hinzugeben, für die
albernſte Ehrenkränkung), ſo lange hat man auch nur Ge
danken, Ideen, die man einſt, wenn man einen Wirkungs¬
kreis gefunden, verwirklichen zu können hofft; man hat alſo
einſtweilen nur Ideale, unvollzogene Ideen oder Gedanken.
Erſt dann, wenn man ſich leibhaftig liebgewonnen,
und an ſich, wie man leibt und lebt, eine Luft hat — ſo
aber findet ſich's im reifen Alter, beim Manne — erſt dann
hat man ein perſönliches oder egoiſtiſches Intereſſe, d. h.
ein Intereſſe nicht etwa nur Unſeres Geiſtes, ſondern totaler
Befriedigung, Befriedigung des ganzen Kerls, ein eigen¬
[19] nütziges Intereſſe. Vergleicht doch einmal einen Mann mit
einem Jünglinge, ob er Euch nicht härter, ungroßmüthiger,
eigennütziger erſcheinen wird. Iſt er darum ſchlechter? Ihr
ſagt Nein, er ſei nur beſtimmter, oder, wie Ihr's auch nennt,
„praktiſcher“ geworden. Hauptſache jedoch iſt dieß, daß er
ſich mehr zum Mittelpunkte macht, als der Jüngling, der für
Anderes, z. B. Gott, Vaterland und dergl. „ſchwärmt“.
Darum zeigt der Mann eine zweite Selbſtfindung. Der
Jüngling fand ſich als Geiſt und verlor ſich wieder an den
allgemeinen Geiſt, den vollkommenen, heiligen Geiſt, den
Menſchen, die Menſchheit, kurz alle Ideale; der Mann findet
ſich als leibhaftigen Geiſt.
Knaben hatten nur ungeiſtige, d. h. gedankenloſe und
ideenloſe, Jünglinge nur geiſtige Intereſſen; der Mann hat
leibhaftige, perſönliche, egoiſtiſche Intereſſen.
Wenn das Kind nicht einen Gegenſtand hat, mit wel¬
chem es ſich beſchäftigen kann, ſo fühlt es Langeweile: denn
mit ſich weiß es ſich noch nicht zu beſchäftigen. Umgekehrt
wirft der Jüngling den Gegenſtand auf die Seite, weil ihm
Gedanken aus dem Gegenſtande aufgingen: er beſchäftigt
ſich mit ſeinen Gedanken, ſeinen Träumen, beſchäftigt ſich gei¬
ſtig oder „ſein Geiſt iſt beſchäftigt“.
Alles nicht Geiſtige befaßt der junge Menſch unter dem
verächtlichen Namen der „Aeußerlichkeiten“. Wenn er gleich¬
wohl an den kleinlichſten Aeußerlichkeiten haftet (z. B. Bur¬
ſchikoſen und andern Formalitäten), ſo geſchieht es, weil und
wenn er in ihnen Geiſt entdeckt, d. h. wenn ſie ihm Sym¬
bole ſind.
Wie Ich Mich hinter den Dingen finde, und zwar als
Geiſt, ſo muß Ich Mich ſpäter auch hinter den Gedan¬
2 *[20]ken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der
Geiſterzeit wuchſen Mir die Gedanken über den Kopf, deſſen
Geburten ſie doch waren; wie Fieberphantaſien umſchwebten
und erſchütterten ſie Mich, eine ſchauervolle Macht. Die Ge¬
danken waren für ſich ſelbſt leibhaftig geworden, waren
Geſpenſter, wie Gott, Kaiſer, Papſt, Vaterland u. ſ. w.
Zerſtöre Ich ihre Leibhaftigkeit, ſo nehme Ich ſie in die Meinige
zurück und ſage: Ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme
Ich die Welt als das, was ſie Mir iſt, als die Meinige,
als Mein Eigenthum: Ich beziehe alles auf Mich.
Stieß Ich als Geiſt die Welt zurück in tiefſter Weltver¬
achtung, ſo ſtoße Ich als Eigner die Geiſter oder Ideen zu¬
rück in ihre „Eitelkeit“. Sie haben keine Macht mehr über
Mich, wie über den Geiſt keine „Gewalt der Erde“ eine
Macht hat.
Das Kind war realiſtiſch, in den Dingen dieſer Welt
befangen, bis ihm nach, und nach hinter eben dieſe Dinge zu
kommen gelang; der Jüngling war idealiſtiſch, von Gedanken
begeiſtert, bis er ſich zum Manne hinaufarbeitete, dem egoiſti¬
ſchen, der mit den Dingen und Gedanken nach Herzensluſt
gebahrt und ſein perſönliches Intereſſe über alles ſetzt. End¬
lich der Greis? Wenn Ich einer werde, ſo iſt noch Zeit ge¬
nug, davon zu ſprechen.
II.
Menſchen der alten und neuen Zeit.
Wie ein Jeder von Uns ſich entwickelte, was er er¬
ſtrebte, erlangte oder verfehlte, welche Zwecke er einſt verfolgte
und an welchen Plänen und Wünſchen ſein Herz im Augen¬
blicke hängt, welche Umwandlungen ſeine Anſichten, welche
Erſchütterungen ſeine Principien erfuhren, kurz wie er heute
geworden, was er geſtern oder vor Jahren nicht war: das
hebt er mit mehr oder minderer Leichtigkeit aus ſeiner Erin¬
nerung wieder hervor und empfindet beſonders dann recht leb¬
haft, welche Veränderungen in ihm ſelbſt vorgegangen ſind,
wenn er das Abrollen eines fremden Lebens vor Augen hat.
Schauen Wir daher in das Treiben hinein, welches
Unſere Vorältern verführten.
I. Die Alten.
Da das Herkommen einmal Unſeren vorchriſtlichen Ahnen
den Namen der „Alten“ beigelegt hat, ſo wollen Wir es ihnen
[22] nicht vorrücken, daß ſie gegen Uns erfahrene Leute eigentlich
die Kinder heißen müßten, und ſie lieber nach wie vor als Un¬
ſere guten Alten ehren. Wie aber ſind ſie dazu gekommen zu
veralten, und wer konnte ſie durch ſeine vorgebliche Neuheit
verdrängen?
Wir kennen den revolutionairen Neuerer und reſpectloſen
Erben wohl, der ſelbſt den Sabbath der Väter entheiligte, um
ſeinen Sonntag zu heiligen, und die Zeit in ihrem Laufe
unterbrach, um bei ſich mit einer neuen Zeitrechnung zu be¬
ginnen: Wir kennen ihn und wiſſen's, daß es der — Chriſt
iſt. Bleibt er aber ewig jung und iſt er heute noch der neue,
oder wird auch er antiquirt werden, wie er die „Alten“ anti¬
quirt hat? —
Es werden die Alten wohl ſelbſt den Jungen erzeugt ha¬
ben, der ſie hinaustrug. Belauſchen Wir denn dieſen Zeu¬
gungsact.
„Den Alten war die Welt eine Wahrheit,“ ſagt Feuerbach,
aber er vergißt den wichtigen Zuſatz zu machen: eine Wahrheit,
hinter deren Unwahrheit ſie zu kommen ſuchten, und endlich wirk¬
lich kamen. Was mit jenen Feuerbachſchen Worten geſagt ſein
ſoll, wird man leicht erkennen, wenn man ſie mit dem chriſtli¬
chen Satze von der „Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt“ zu¬
ſammenhält. Wie der Chriſt nämlich ſich niemals von der Eitel¬
keit des göttlichen Wortes überzeugen kann, ſondern an die ewige
und unerſchütterliche Wahrheit deſſelben glaubt, die, je mehr in
ihren Tiefen geforſcht werde, nur um ſo glänzender an den
Tag kommen und triumphiren müſſe: ſo lebten die Alten ihrer¬
ſeits in dem Gefühle, daß die Welt und weltliche Verhältniſſe
(z. B. die natürlichen Blutsbande) das Wahre ſeien, vor dem
ihr ohnmächtiges Ich ſich beugen müſſe. Gerade dasjenige,
[23] worauf die Alten den größten Werth legten, wird von den
Chriſten als das Werthloſe verworfen, und was jene als das
Wahre erkannten, brandmarken dieſe als eitle Lüge: die hohe
Bedeutung des Vaterlandes verſchwindet, und der Chriſt muß
ſich für einen „Fremdling auf Erden“ anſehen*), die Heiligkeit
der Todtenbeſtattung, aus der ein Kunſtwerk wie die ſopho¬
kleiſche Antigone entſprang, wird als eine Erbärmlichkeit be¬
zeichnet („Laß die Todten ihre Todten begraben“), die unver¬
brüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahr¬
heit dargeſtellt, von der man nicht zeitig genug ſich losmachen
könne**), und ſo in Allem.
Sieht man nun ein, daß beiden Theilen das Umgekehrte
für Wahrheit gilt, den Einen das Natürliche, den Andern das
Geiſtige, den Einen die irdiſchen Dinge und Verhältniſſe, den
Andern die himmliſchen (das himmliſche Vaterland, „das Je¬
ruſalem, das droben iſt“ u. ſ. w.), ſo bleibt immer noch zu
betrachten, wie aus dem Alterthum die neue Zeit und jene
unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die
Alten aber ſelbſt darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer
Lüge zu machen.
Greifen Wir ſogleich mitten in die glänzendſten Jahre der
Alten hinein, in das perikleiſche Jahrhundert. Damals griff
die ſophiſtiſche Zeitbildung um ſich, und Griechenland trieb
mit dem Kurzweile, was ihm ſeither ein ungeheurer Ernſt ge¬
weſen war.
Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüt¬
telten Beſtehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen
[24] nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen ſollen, ſich zu
fühlen. Mit muthiger Keckheit ſprechen daher die Sophi¬
ſten das ermannende Wort aus: „Laß Dich nicht verblüffen!“
und verbreiten die aufklärende Lehre: „Brauche gegen alles
Deinen Verſtand, Deinen Witz, Deinen Geiſt; mit einem guten
und geübten Verſtande kommt man am beſten durch die Welt,
bereitet ſich das beſte Loos, das angenehmſte Leben.“ Sie
erkennen alſo in dem Geiſte die wahre Waffe des Menſchen
gegen die Welt. Darum halten ſie ſo viel auf dialectiſche
Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputirkunſt ꝛc. Sie verkün¬
den, daß der Geiſt gegen Alles zu brauchen iſt; aber von der
Heiligkeit des Geiſtes ſind ſie noch weit entfernt, denn er gilt
ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern Liſt und
Trotz dazu dient: ihr Geiſt iſt der unbeſtechliche Verſtand.
Heutzutage würde man das eine einſeitige Verſtandes¬
bildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht
bloß Euren Verſtand, ſondern beſonders auch Euer Herz. Daſ¬
ſelbe that Sokrates. Wurde nämlich das Herz von ſeinen
natürlichen Trieben nicht frei, ſondern blieb es vom zufällig¬
ſten Inhalt erfüllt und als eine unkritiſirte Begehrlichkeit
ganz in der Gewalt der Dinge, d. h. nichts als ein Gefäß
der verſchiedenſten Gelüſte, ſo konnte es nicht fehlen, daß
der freie Verſtand dem „ſchlechten Herzen“ dienen mußte und
alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.
Darum ſagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in
allen Dingen ſeinen Verſtand gebrauche, ſondern es komme
darauf an, für welche Sache man ihn anſtrenge. Wir wür¬
den jetzt ſagen: Man müſſe der „guten Sache“ dienen. Der
guten Sache dienen, heißt aber — ſittlich ſein. Daher iſt
Sokrates der Gründer der Ethik.
[25]
Allerdings mußte das Princip der Sophiſtik dahin füh¬
ren, daß der unſelbſtändigſte und blindeſte Sklave ſeiner Be¬
gierten doch ein trefflicher Sophiſt ſein und mit Verſtandes¬
ſchärfe alles zu Gunſten ſeines rohen Herzens auslegen und
zuſtutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür ſich nicht ein
„guter Grund“ auffinden, und was ſich nicht durchfechten ließe?
Darum ſagt Sokrates: Ihr müßt „reines Herzens ſein“,
wenn man eure Klugheit achten ſoll. Von hier ab beginnt
die zweite Periode griechiſcher Geiſtesbefreiung, die Periode der
Herzensreinheit. Die erſte nämlich kam durch die So¬
phiſten zum Schluß, indem ſie die Verſtandesallmacht procla¬
mirten. Aber das Herz blieb weltlich geſinnt, blieb ein
Knecht der Welt, ſtets afficirt durch weltliche Wünſche. Dieß
rohe Herz ſollte von nun an gebildet werden: die Zeit der
Herzensbildung. Wie aber ſoll das Herz gebildet werden?
Was der Verſtand, dieſe eine Seite des Geiſtes, erreicht hat,
die Fähigkeil nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu ſpie¬
len, das ſteht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß
vor ihm zu Schanden werden, ſo daß zuletzt Familie, Gemein¬
weſen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d.h. der Selig¬
keit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.
Alltägliche Erfahrung beſtätigt es, daß der Verſtand längſt
einer Sache entſagt haben kann, wenn das Herz noch viele
Jahre für ſie ſchlägt. So war auch der ſophiſtiſche Verſtand
über die herrſchenden, alten Mächte ſo weit Herr geworden,
daß ſie nur noch aus dem Herzen, worin ſie unbeläſtigt hau¬
ſten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menſchen gar
kein Theil mehr zu haben.
Dieſer Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht ſei¬
nen Friedensſchluß erſt am Todestage der allen Welt.
[26]
Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren An¬
fang, und aller Inhalt des Herzens wird geſichtet. In ihren
letzten und äußerſten Anſtrengungen warfen die Alten allen
Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts
mehr ſchlagen: dieß war die That der Skeptiker. Dieſelbe
Reinheit des Herzens wurde nun in der ſkeptiſchen Zeit errun¬
gen, welche in der ſophiſtiſchen dem Verſtande herzuſtellen ge¬
lungen war.
Die ſophiſtiſche Bildung hat bewirkt, daß Einem der Ver¬
ſtand vor nichts mehr ſtill ſteht, und die ſkeptiſche, daß das
Herz von nichts mehr bewegt wird.
So lange der Menſch in das Weltgetriebe verwickelt und
durch Beziehungen zur Welt befangen iſt — und er iſt es bis
ans Ende des Alterthums, weil ſein Herz immer noch um die
Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat — ſo lange iſt
er noch nicht Geiſt; denn der Geiſt iſt körperlos und hat keine
Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn exiſtirt nicht
die Welt, nicht natürliche Bande, ſondern nur Geiſtiges und
geiſtige Bande. Darum mußte der Menſch erſt ſo völlig rück¬
ſichtslos und unbekümmert, ſo ganz beziehungslos werden,
wie ihn die ſkeptiſche Bildung darſtellt, ſo ganz gleichgültig
gegen die Welt, daß ihn ihr Einſturz ſelbſt nicht rührte, ehe
er ſich als weltlos, d. h. als Geiſt fühlen konnte. Und dieß
iſt das Reſultat von der Rieſenarbeit der Alten, daß der Menſch
ſich als beziehungs- und weltloſes Weſen, als Geiſt weiß.
Nun erſt, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlaſſen hat,
iſt er ſich Alles in Allem, iſt nur für ſich, d. h. iſt Geiſt für
den Geiſt, oder deutlicher: bekümmert ſich nur um das Geiſtige.
In der chriſtlichen Schlangenklugheit und Taubenunſchuld
ſind die beiden Seiten der antiken Geiſtesbefreiung, Verſtand
[27] und Herz ſo vollendet, daß ſie wieder jung und neu erſcheinen,
das eine und das andere ſich nicht mehr durch das Weltliche,
Natürliche verblüffen laſſen.
Zum Geiſte alſo ſchwangen ſich die Alten auf und gei¬
ſtig ſtrebten ſie zu werden. Es wird aber ein Menſch, der
als Geiſt thätig ſein will, zu ganz anderen Aufgaben hinge¬
zogen, als er ſich vorher zu ſtellen vermochte, zu Aufgaben,
welche wirklich dem Geiſte und nicht dem bloßen Sinne oder
Scharfſinn zu thun geben, der ſich nur anſtrengt, der Dinge
Herr zu werden. Einzig um das Geiſtige bemüht ſich der
Geiſt, und in Allem ſucht er die „Spuren des Geiſtes“ auf:
dem gläubigen Geiſte „kommt alles von Gott“ und inter¬
eſſirt ihn nur inſofern, als es dieſe Abkunft offenbart; dem
philoſophiſchen Geiſte erſcheint alles mit dem Stempel der
Vernunft und intereſſirt ihn nur ſo weit, als er Vernunft,
d. h. geiſtigen Inhalt, darin zu entdecken vermag.
Nicht den Geiſt alſo, der es ſchlechterdings mit nichts
Ungeiſtigem, mit keinem Dinge, ſondern allein mit dem We¬
ſen, welches hinter und über den Dingen exiſtirt, mit den
Gedanken zu thun hat, nicht ihn ſtrengten die Alten an,
denn ſie hatten ihn noch nicht; nein, nach ihm rangen und
ſehnten ſie ſich erſt und ſchärften ihn deshalb gegen ihren
übermächtigen Feind, die Sinnenwelt (was wäre aber für ſie
nicht ſinnlich geweſen, da Jehova oder die Götter der Heiden
noch weit von dem Begriffe „Gott iſt Geiſt“ entfernt waren,
da an die Stelle des ſinnlichen Vaterlandes noch nicht das
„himmliſche“ getreten war u. ſ. w.?), ſie ſchärften gegen die
Sinnenwelt den Sinn, den Scharfſinn. Noch heute ſind die
Juden, dieſe altklugen Kinder des Alterthums, nicht weiter
gekommen, und können bei aller Subtilität und Stärke der
[28] Klugheit und des Verſtandes, der der Dinge mit leichter Mühe
Herr wird, und ſie, ihm zu dienen, zwingt, den Geiſt nicht
finden, der ſich aus den Dingen gar nichts macht.
Der Chriſt hat geiſtige Intereſſen, weil er ſich erlaubt
ein geiſtiger Menſch zu ſein; der Jude verſteht dieſe Inter¬
eſſen in ihrer Reinheit nicht einmal, weil er ſich nicht erlaubt,
den Dingen keinen Werth beizulegen. Zur reinen Geiſtig¬
keit gelangt er nicht, einer Geiſtigkeit, wie ſie religiös z. B.
in dem allein d. h. ohne Werke rechtfertigenden Glauben der
Chriſten ausgedrückt iſt. Ihre Geiſtloſigkeit entfernt die
Juden auf immer von den Chriſten; denn dem Geiſtloſen iſt
der Geiſtige unverſtändlich, wie dem Geiſtigen der Geiſtloſe ver¬
ächtlich iſt. Die Juden haben aber nur den „Geiſt dieſer Welt“.
Der antike Scharfſinn und Tiefſinn liegt ſo weit vom
Geiſte und der Geiſtigkeit der chriſtlichen Welt entfernt, wie
die Erde vom Himmel.
Von den Dingen dieſer Welt wird, wer ſich als freien
Geiſt fühlt, nicht gedrückt und geängſtigt, weil er ſie nicht
achtet; ſoll man ihre Laſt noch empfinden, ſo muß man bor¬
nirt genug ſein, auf ſie Gewicht zu legen, wozu augen¬
ſcheinlich gehört, daß es einem noch um das „liebe Leben“
zu thun ſei. Wem alles darauf ankommt, ſich als freier
Geiſt zu wiſſen und zu rühren, der fragt wenig darnach, wie
kümmerlich es ihm dabei ergehe, und denkt überhaupt nicht
darüber nach, wie er ſeine Einrichtungen zu treffen habe, um
recht frei oder genußreich zu leben. Die Unbequemlichkeiten
des von den Dingen abhängigen Lebens ſtören ihn nicht,
weil er nur geiſtig und von Geiſtesnahrung lebt, im Uebrigen
aber, ohne es kaum zu wiſſen, nur frißt oder verſchlingt, und
wenn ihm der Fraß ausgeht, zwar körperlich ſtirbt, als Geiſt
[29] aber ſich unſterblich weiß und unter einer Andacht oder einem
Gedanken die Augen ſchließt. Sein Leben iſt Beſchäftigung
mit Geiſtigem, iſt — Denken, das Uebrige ſchiert ihn nicht;
mag er ſich mit Geiſtigem beſchäftigen, wie er immer kann
und will, in Andacht, in Betrachtung oder in philoſophiſcher Er¬
kenntniß, immer iſt das Thun ein Denken, und darum konnte
Carteſius, dem dieß endlich ganz klar geworden war, den Satz
aufſtellen: „Ich denke, das heißt: — Ich bin.“ Mein Den¬
ken, heißt es da, iſt Mein Sein oder Mein Leben; nur wenn
Ich geiſtig lebe, lebe Ich; nur als Geiſt bin Ich wirklich oder
— Ich bin durch und durch Geiſt und nichts als Geiſt. Der
unglückliche Peter Schlemihl, der ſeinen Schatten verloren hat,
iſt das Portrait jenes zu Geiſt gewordenen Menſchen: denn
des Geiſtes Körper iſt ſchattenlos. — Dagegen wie anders
bei den Alten! Wie ſtark und männlich ſie auch gegen die
Gewalt der Dinge ſich betragen mochten, die Gewalt ſelbſt
mußten ſie doch anerkennen, und weiter brachten ſie es nicht,
als daß ſie ihr Leben gegen jene ſo gut als möglich ſchützten.
Spät erſt erkannten ſie, daß ihr „wahres Leben“ nicht das im
Kampfe gegen die Dinge der Welt geführte, ſondern das „gei¬
ſtige“, von dieſen Dingen „abgewandte“ ſei, und als ſie dieß
einſahen, da wurden ſie — Chriſten, d. h. die „Neuen“ und
Neuerer gegen die Alten. Das von den Dingen abgewandte,
das geiſtige Leben, zieht aber keine Nahrung mehr aus der
Natur, ſondern „lebt nur von Gedanken“, und iſt deshalb
nicht mehr „Leben“ ſondern — Denken.
Nun muß man jedoch nicht glauben, die Alten ſeien ge¬
dankenlos geweſen, wie man ja auch den geiſtigſten Men¬
ſchen ſich nicht ſo vorſtellen darf, als könnte er leblos ſein. Viel¬
mehr hatten ſie über alles, über die Welt, den Menſchen, die
[30] Götter u. ſ. w. ihre Gedanken, und bewieſen ſich eifrig thätig,
alles dieß ſich zum Bewußtſein zu bringen. Allein den Ge¬
danken kannten ſie nicht, wenn ſie auch an allerlei dachten und
„ſich mit ihren Gedanken plagten“. Man vergleiche ihnen
gegenüber den chriſtlichen Spruch: „Meine Gedanken ſind nicht
Eure Gedanken, und ſo viel der Himmel höher iſt, denn die
Erde, ſo ſind auch Meine Gedanken höher, denn Eure Gedan¬
ken,“ und erinnere ſich deſſen, was oben über Unſere Kinder¬
gedanken geſagt wurde.
Was ſucht alſo das Alterthum? Den wahren Lebens¬
genuß, Genuß des Lebens! Am Ende wird es auf das
„wahre Leben“ hinauskommen.
Der griechiſche Dichter Simonides ſingt: „Geſundheit iſt
das edelſte Gut dem ſterblichen Menſchen, das Nächſte nach
dieſem iſt Schönheit, das dritte Reichthum ohne Tücke erlanget,
das vierte geſelliger Freuden Genuß in junger Freunde Geſell¬
ſchaft.“ Das ſind alles Lebensgüter, Lebensfreuden. Wo¬
nach anders ſuchte Diogenes von Sinope, als nach dem wahren
Lebensgenuß, den er in der möglichſt geringen Bedürftigkeit ent¬
deckte? Wonach anders Ariſtipp, der ihn im heiteren Muthe unter
allen Lagen fand? Sie ſuchen den heitern, ungetrübten Lebens¬
muth, die Heiterkeit, ſie ſuchen „guter Dinge zu ſein“.
Die Stoiker wollen den Weiſen verwirklichen, den Mann
der Lebensweisheit, den Mann der zu leben weiß, alſo
ein weiſes Leben; ſie finden ihn in der Verachtung der Welt,
in einem Leben ohne Lebensentwickelung, ohne Ausbreitung,
ohne freundliches Vernehmen mit der Welt, d. h. im iſolir¬
ten Leben, im Leben als Leben, nicht im Mitleben: nur der
Stoiker lebt, alles Andere iſt für ihn todt. Umgekehrt ver¬
langen die Epicuräer ein bewegliches Leben.
[31]
Die Alten verlangen, da ſie guter Dinge ſein wollen, nach
Wohlleben (die Juden beſonders nach einem langen, mit
Kindern und Gütern geſegneten Leben), nach der Eudämonie,
dem Wohlſein in den verſchiedenſten Formen. Demokrit z. B.
rühmt als ſolches die „Gemüthsruhe“, in der ſich's „ſanft
lebe, ohne Furcht und ohne Aufregung“.
Er meint alſo, mit ihr fahre er am beſten, bereite ſich das
beſte Loos und komme am beſten durch die Welt. Da er aber
von der Welt nicht loskommen kann, und zwar gerade aus dem
Grunde es nicht kann, weil ſeine ganze Thätigkeit in dem Be¬
mühen aufgeht, von ihr loszukommen, alſo im Abſtoßen der
Welt (wozu doch nothwendig die abſtoßbare und abgeſtoßene
beſtehen bleiben muß, widrigenfalls nichts mehr abzuſtoßen
wäre): ſo erreicht er höchſtens einen äußerſten Grad der Be¬
freiung, und unterſcheidet ſich von den weniger Befreiten nur
dem Grade nach. Käme er ſelbſt bis zur irdiſchen Sinnen¬
ertödtung, die nur noch das eintönige Wispern des Wortes
„Brahm“ zuläßt, er unterſchiede ſich dennoch nicht weſentlich
vom ſinnlichen Menſchen.
Selbſt die ſtoiſche Haltung und Mannestugend läuft nur
darauf hinaus, daß man ſich gegen die Welt zu erhalten und
zu behaupten habe, und die Ethik der Stoiker (ihre einzige
Wiſſenſchaft, da ſie nichts von dem Geiſte auszuſagen wußten,
als wie er ſich zur Welt verhalten ſolle, und von der Natur
(Phyſik) nur dieß, daß der Weiſe ſich gegen ſie zu behaupten
habe) iſt nicht eine Lehre des Geiſtes, ſondern nur eine Lehre
der Weltabſtoßung und Selbſtbehauptung gegen die Welt. Und
dieſe beſteht in der „Unerſchütterlichkeit und dem Gleichmuthe
des Lebens“, alſo in der ausdrücklichſten Römertugend.
[32]
Weiter als zu dieſer Lebensweisheit brachten es auch
die Römer nicht (Horaz, Cicero u. ſ. w.).
Das Wohlergehen (Hedone) der Epicuräer iſt die¬
ſelbe Lebensweisheit wie die der Stoiker, nur liſtiger,
betrügeriſcher. Sie lehren nur ein anderes Verhalten gegen
die Welt, ermahnen nur eine kluge Haltung gegen die Welt ſich zu
geben: die Welt muß betrogen werden, denn ſie iſt meine Feindin.
Vollſtändig wird der Bruch mit der Welt von den Skep¬
tikern vollführt. Meine ganze Beziehung zur Welt iſt „werth-
und wahrheitslos“. Timon ſagt: „die Empfindungen und
Gedanken, welche wir aus der Welt ſchöpfen, enthalten keine
Wahrheit.“ „Was iſt Wahrheit!“ ruft Pilatus aus. Die
Welt iſt nach Pyrrhon's Lehre weder gut noch ſchlecht, weder
ſchön noch häßlich u. ſ. w., ſondern dieß ſind Prädicate,
welche Ich ihr gebe. Timon ſagt: „An ſich ſei weder etwas
gut noch ſei es ſchlecht, ſondern der Menſch denke ſich's nur
ſo oder ſo;“ der Welt gegenüber bleibe nur die Atararie (die
Ungerührtheit) und Aphaſie (das Verſtummen — oder mit
andern Worten: die iſolirte Innerlichkeit) übrig. In der
Welt ſei „keine Wahrheit mehr zu erkennen“, die Dinge wider¬
ſprechen ſich, die Gedanken über die Dinge ſeien unterſchieds¬
los (gut und ſchlecht ſeien einerlei, ſo daß, was der Eine gut
nennt, ein Anderer ſchlecht findet); da ſei es mit der Erkennt¬
niß der „Wahrheit“ aus, und nur der erkenntnißloſe
Menſch, der Menſch, welcher an der Welt nichts zu erken¬
nen findet, bleibe übrig, und dieſer Menſch laſſe die wahrheits¬
leere Welt eben ſtehen und mache ſich nichts aus ihr.
So wird das Alterthum mit der Welt der Dinge, der
Weltordnung, dem Weltganzen fertig; zur Weltordnung oder
den Dingen dieſer Welt gehört aber nicht etwa nur die Natur,
[33] ſondern alle Verhältniſſe, in welche der Menſch durch die Na¬
tur ſich geſtellt ſieht, z. B. die Familie, das Gemeinweſen,
kurz die ſogenannten „natürlichen Bande“. Mit der Welt
des Geiſtes beginnt dann das Chriſtenthum. Der Menſch,
welcher der Welt noch gewappnet gegenüber ſteht, iſt der
Alte, der — Heide (wozu auch der Jude als Nichtchriſt ge¬
hört); der Menſch, welchen nichts mehr leitet als ſeine „Her¬
zensluſt“, ſeine Theilnahme, Mitgefühl, ſein — Geiſt, iſt der
Neue, der — Chriſt.
Da die Alten auf die Weltüberwindung hinarbeiteten
und den Menſchen von den ſchweren umſtrickenden Banden des
Zuſammenhanges mit Anderem zu erlöſen ſtrebten, ſo kamen
ſie auch zuletzt zur Auflöſung des Staates und Bevorzugung
alles Privaten. Gemeinweſen, Familie u. ſ. w. ſind ja als
natürliche Verhältniſſe läſtige Hemmungen, die meine gei¬
ſtige Freiheit ſchmälern.
2. Die Neuen.
„Iſt jemand in Chriſto, ſo iſt er eine neue Creatur;
das Alte iſt vergangen, ſiehe, es iſt alles neu geworden.“ *)
Wurde oben geſagt: „den Alten war die Welt eine Wahr¬
heit,“ ſo müſſen Wir hier ſagen: „den Neuen war der Geiſt
eine Wahrheit,“ dürfen aber, wie dort, ſo hier den Zuſatz nicht
auslaſſen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit ſie zu kom¬
men ſuchten und endlich wirklich kommen.
Ein ähnlicher Gang, wie das Alterthum ihn genommen,
3[34] läßt ſich auch am Chriſtenthum nachweiſen, indem bis in die
die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verſtand unter
der Herrſchaft der chriſtlichen Dogmen gefangen gehalten wurde,
im vorreformatoriſchen Jahrhundert aber ſophiſtiſch ſich erhob
und mit allen Glaubensſätzen ein ketzeriſches Spiel trieb.
Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römiſchen Hofe:
wenn nur das Herz chriſtlich geſinnt bleibt, ſo mag der Ver¬
ſtand immerhin ſeine Luſt genießen.
Man war längſt vor der Reformation ſo ſehr an ſpitzfin¬
diges „Gezänk“ gewöhnt, daß der Papſt und die Meiſten auch
Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes „Mönchsgezänk“
anſahen. Der Humanismus entſpricht der Sophiſtik, und wie
zur Zeit der Sophiſten das griechiſche Leben in höchſter Blüthe
ſtand (Perikleiſches Zeitalter), ſo geſchah das Glänzendſte zur
Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch ſagen
könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunſt, Neue Welt
u.ſ.w.). Das Herz war in dieſer Zeit noch weit davon
entfernt, des chriſtlichen Inhalts ſich entledigen zu wollen.
Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit
dem Herzen ſelber Ernſt, und ſeitdem ſind die Herzen zu¬
ſehends — unchriſtlicher geworden. Indem man mit Luther
anfing, ſich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieſer
Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von
der ſchweren Laſt der Chriſtlichkeit erleichtert wird. Das Herz,
von Tag zu Tag unchriſtlicher, verliert den Inhalt, mit welchem
es ſich beſchäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herz¬
lichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menſchenliebe, die
Liebe des Menſchen, das Freiheitsbewußtſein, das „Selbſt¬
bewußtſein“.
So erſt iſt das Chriſtenthum vollendet, weil es kahl, ab¬
[35] geſtorben und inhaltsleer geworden iſt. Es giebt nun keinen
Inhalt mehr, gegen welchen das Herz ſich nicht auflehnte, es
ſei denn, daß es unbewußt oder ohne „Selbſtbewußtſein“ von
ihm beſchlichen würde. Das Herz kritiſirt alles, was ſich
eindrängen will, mit ſchonungsloſer Unbarmherzigkeit zu
Tode, und iſt keiner Freundſchaft, keiner Liebe (außer eben un¬
bewußt oder überrumpelt) fähig. Was gäbe es auch an den
Menſchen zu lieben, da ſie alleſammt „Egoiſten“ ſind, keiner
der Menſch als ſolcher, d. h. keiner nur Geiſt. Der Chriſt
liebt nur den Geiſt; wo wäre aber Einer, der wirklich nichts
als Geiſt wäre?
Den leibhaftigen Menſchen mit Haut und Haaren lieb
zu haben, das wäre ja keine „geiſtige“ Herzlichkeit mehr, wäre
ein Verrath an der „reinen“ Herzlichkeit, dem „theoretiſchen
Intereſſe“. Denn man ſtelle ſich die reine Herzlichkeit nur
nicht vor wie jene Gemüthlichkeit, die Jedermann freundlich
die Hand drückt; im Gegentheil, die reine Herzlichkeit iſt gegen
Niemand herzlich, ſie iſt nur theoretiſche Theilnahme, Antheil
am Menſchen als Menſchen, nicht als Perſon. Die Perſon
iſt ihr widerlich, weil ſie „egoiſtiſch“, weil ſie nicht der Menſch,
dieſe Idee, iſt. Nur für die Idee aber giebt es ein theoreti¬
ſches Intereſſe. Für die reine Herzlichkeit oder die reine Theorie
ſind die Menſchen nur da, um kritiſirt, verhöhnt und gründlichſt
verachtet zu werden: ſie ſind für ſie nicht minder, als für den
fanatiſchen Pfaffen, nur „Dreck“ und ſonſt dergleichen Sauberes.
Auf dieſe äußerſte Spitze intereſſeloſer Herzlichkeit getrieben,
müſſen Wir endlich inne werden, daß der Geiſt, welchen der
Chriſt allein liebt, nichts iſt, oder daß der Geiſt eine — Lüge iſt.
Was hier gedrängt und wohl noch unverſtändlich hinge¬
worfen wurde, wird ſich im weitern Verlauf hoffentlich aufklären.
3 *[36]
Nehmen Wir die von den Alten hinterlaſſene Erbſchaft
auf und machen Wir als thätige Arbeiter damit ſo viel, als
ſich — damit machen läßt! Die Welt liegt verachtet zu Un¬
ſern Füßen, tief unter Uns und Unſerem Himmel, in den ihre
mächtigen Arme nicht mehr hineingreifen und ihr ſinnbetäubender
Hauch nicht eindringt; wie verführeriſch ſie ſich auch gebährde,
ſie kann nichts als unſern Sinn bethören, den Geiſt — und
Geiſt ſind Wir doch allein wahrhaft — irrt ſie nicht. Einmal
hinter die Dinge gekommen, iſt der Geiſt auch über ſie ge¬
kommen, und frei geworden von ihren Banden, ein entknech¬
teter, jenſeitiger freier. So ſpricht die „geiſtige Freiheit“.
Dem Geiſte, der nach langem Mühen die Welt los ge¬
worden iſt, dem weltloſen Geiſte, bleibt nach dem Verluſte der
Welt und des Weltlichen nichts übrig, als — der Geiſt und
das Geiſtige.
Da er jedoch ſich von der Welt nur entfernt und zu einem
von ihr freien Weſen gemacht hat, ohne ſie wirklich ver¬
nichten zu können, ſo bleibt ſie ihm ein unwegräumbarer An¬
ſtoß, ein in Verruf gebrachtes Weſen, und da er andererſeits
nichts kennt und anerkennt, als Geiſt und Geiſtiges, ſo muß
er fortdauernd ſich mit der Sehnſucht tragen, die Welt zu ver¬
geiſtigen, d. h. ſie aus dem „Verſchiß“ zu erlöſen. Deshalb
geht er, wie ein Jüngling, mit Welterlöſungs - oder Weltver¬
beſſerungsplänen um.
Die Alten dienten, Wir ſahen es, dem Natürlichen, Welt¬
lichen, der natürlichen Weltordnung, aber ſie fragten ſich unauf¬
hörlich, ob ſie denn dieſes Dienſtes ſich nicht entheben könnten,
und als ſie in ſtets erneuten Empörungsverſuchen ſich todmüde
gearbeitet hatten, da ward ihnen unter ihren letzten Seufzern
der Gott geboren, der „Weltüberwinder“. All ihr Thun war
[37] nichts geweſen als Weltweisheit, ein Trachten hinter und
über die Welt hinaus zu kommen. Und was iſt die Weisheit
der vielen folgenden Jahrhunderte? Hinter was ſuchten die
Neuen zu kommen? Hinter die Welt nicht mehr, denn das
hatten die Alten vollbracht, ſondern hinter den Gott, den jene
ihnen hinterließen, hinter den Gott, „der Geiſt iſt“, hinter alles,
was des Geiſtes iſt, das Geiſtige. Die Thätigkeit des Geiſtes
aber, der „ſelbſt die Tiefen der Gottheit erforſcht“, iſt die Got¬
tesgelahrtheit. Haben die Alten nichts aufzuweiſen als Welt¬
weisheit, ſo brachten und bringen es die Neuen niemals weiter
als zur Gottesgelahrtheit. Wir werden ſpäter ſehen, daß ſelbſt
die neueſten Empörungen gegen Gott nichts als die äußerſten
Anſtrengungen der „Gottesgelahrtheit“, d. h. theologiſche Inſur¬
rectionen ſind.
§. 1.Der Geiſt.
Das Geiſterreich iſt ungeheuer groß, des Geiſtigen un¬
endlich viel: ſehen Wir doch zu, was denn der Geiſt, dieſe
Hinterlaſſenſchaft der Alten, eigentlich iſt.
Aus ihren Geburtswehen ging er hervor, ſie ſelbſt aber
konnten ſich nicht als Geiſt ausſprechen: ſie konnten ihn ge¬
bären, ſprechen mußte er ſelbſt. Der „geborene Gott, der
Menſchenſohn“ ſpricht erſt das Wort aus, daß der Geiſt, d. h.
er, der Gott, es mit nichts Irdiſchem und keinem irdiſchen
Verhältniſſe zu thun habe, ſondern lediglich mit dem Geiſte
und geiſtigen Verhältniſſen.
Iſt etwa Mein unter allen Schlägen der Welt unvertilg¬
barer Muth, Meine Unbeugſamkeit und Mein Trotz, weil ihm
die Welt nichts anhat, ſchon im vollen Sinne der Geiſt? So
wäre er ja noch mit der Welt in Feindſchaft, und all ſein
[38] Thun beſchränkte ſich darauf, ihr nur nicht zu unterliegen!
Nein, bevor er ſich nicht allein mit ſich ſelbſt beſchäftigt, bevor
er es nicht mit ſeiner Welt, der geiſtigen, allein zu thun
hat, iſt er nicht freier Geiſt, ſondern nur der „Geiſt dieſer
Welt“, der an ſie gefeſſelte. Der Geiſt iſt freier Geiſt, d. h.
wirklich Geiſt erſt in einer ihm eigenen Welt; in „dieſer“,
der irdiſchen Welt, iſt er ein Fremdling. Nur mittelſt einer
geiſtigen Welt iſt der Geiſt wirklich Geiſt, denn „dieſe“ Welt
verſteht ihn nicht und weiß „das Mädchen aus der Fremde“
nicht bei ſich zu behalten.
Woher ſoll ihm dieſe geiſtige Welt aber kommen? Woher
anders als aus ihm ſelbſt! Er muß ſich offenbaren, und die
Worte, die er ſpricht, die Offenbarungen, in denen er ſich ent¬
hüllt, die ſind ſeine Welt. Wie ein Phantaſt nur in den
phantaſtiſchen Gebilden, die er ſelber erſchafft, lebt und ſeine
Welt hat, wie ein Narr ſich ſeine eigene Traumwelt erzeugt,
ohne welche er eben kein Narr zu ſein vermöchte, ſo muß der
Geiſt ſich ſeine Geiſterwelt erſchaffen, und iſt, bevor er ſie
erſchafft, nicht Geiſt.
Alſo ſeine Schöpfungen machen ihn zum Geiſt, und an
den Geſchöpfen erkennt man ihn, den Schöpfer: in ihnen lebt
er, ſie ſind ſeine Welt.
Was iſt nun der Geiſt? Er iſt der Schöpfer einer gei¬
ſtigen Welt! Auch an Dir und Mir erkennt man erſt Geiſt
an, wenn man ſieht, daß Wir Geiſtiges Uns angeeignet haben,
d. h. Gedanken, mögen ſie Uns auch vorgeführt worden ſein,
doch in Uns zum Leben gebracht haben; denn ſo lange Wir
Kinder waren, hätte man Uns die erbaulichſten Gedanken
vorlegen können, ohne daß Wir gewollt oder im Stande ge¬
weſen wären, ſie in Uns wiederzuerzeugen. So iſt auch der
[39] Geiſt nur, wenn er Geiſtiges ſchafft: er iſt nur mit dem Gei¬
ſtigen, ſeinem Geſchöpfe, zuſammen wirklich.
Da Wir ihn denn an ſeinen Werken erkennen, ſo fragt
ſich's, welches dieſe Werke ſeien. Die Werke oder Kinder
des Geiſtes ſind aber nichts anderes als — Geiſter.
Hätte Ich Juden, Juden von ächtem Schrot und Korn
vor Mir, ſo müßte Ich hier aufhören und ſie vor dieſem My¬
ſterium ſtehen laſſen, wie ſie ſeit beinahe zweitauſend Jahren
ungläubig und erkenntnißlos davor ſtehen geblieben ſind. Da
Du aber, mein lieber Leſer, wenigſtens kein Vollblutsjude
biſt, — denn ein ſolcher wird ſich nicht bis hierher verirren —
ſo wollen Wir noch eine Strecke Weges mit einander machen,
bis auch Du vielleicht Mir den Rücken kehrſt, weil Ich Dir
ins Geſicht lache.
Sagte Dir Jemand, Du ſeieſt ganz Geiſt, ſo würdeſt Du
an Deinen Leib faſſen und ihm nicht glauben, ſondern ant¬
worten: Ich habe wohl Geiſt, exiſtire aber nicht bloß als
Geiſt, ſondern bin ein leibhaftiger Menſch. Du würdeſt Dich
noch immer von „Deinem Geiſte“ unterſcheiden. Aber, erwi¬
dert jener, es iſt Deine Beſtimmung, wenn Du auch jetzt noch
in den Feſſeln des Leibes einhergehſt, dereinſt ein „ſeliger
Geiſt“ zu werden, und wie Du das künftige Ausſehen dieſes
Geiſtes Dir auch vorſtellen magſt, ſo iſt doch ſo viel gewiß,
daß Du im Tode dieſen Leib ausziehen und gleichwohl Dich,
d. h. Deinen Geiſt, für die Ewigkeit erhalten wirſt; mithin
iſt Dein Geiſt das Ewige und Wahre an Dir, der Leib nur
eine diesſeitige Wohnung, welche Du verlaſſen und vielleicht
mit einer andern vertauſchen kannſt.
Nun glaubſt Du ihm! Für jetzt zwar biſt Du nicht
bloß Geiſt, aber wenn Du einſt aus dem ſterblichen Leibe
[40] auswandern mußt, dann wirſt Du ohne den Leib Dich behel¬
fen müſſen, und darum thut es noth, daß Du Dich vorſeheſt
und bei Zeiten für Dein eigentliches Ich ſorgeſt. „Was hülfe
es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme
doch Schaden an ſeiner Seele.“
Geſetzt aber auch, Zweifel, im Laufe der Zeit gegen die
chriſtlichen Glaubensſätze erhoben, haben Dich längſt des
Glaubens an die Unſterblichkeit Deines Geiſtes beraubt:
Einen Satz haſt Du dennoch ungerüttelt gelaſſen, und der
Einen Wahrheit hängſt Du immer noch unbefangen an, daß
der Geiſt Dein beſſer Theil ſei, und daß das Geiſtige größere
Anſprüche an Dich habe, als alles andere. Du ſtimmſt trotz
all Deines Atheismus mit dem Unſterblichkeitsgläubigen im
Eifer gegen den Egoismus zuſammen.
Wen aber denkſt Du Dir unter dem Egoiſten? Einen
Menſchen, der, anſtatt einer Idee, d. h. einem Geiſtigen zu
leben, und ihr ſeinen perſönlichen Vortheil zu opfern, dem
letzteren dient. Ein guter Patriot z.B. trägt ſeine Opfer auf
den Altar des Vaterlandes; daß aber das Vaterland eine Idee
ſei, läßt ſich nicht beſtreiten, da es für geiſtesunfähige Thiere
oder noch geiſtloſe Kinder kein Vaterland und keinen Patrio¬
tismus giebt. Bewährt ſich nun Jemand nicht als einen gu¬
ten Patrioten, ſo verräth er in Bezug auf's Vaterland ſeinen
Egoismus. Und ſo verhält ſich's in unzähligen andern Fällen:
wer in der menſchlichen Geſellſchaft ein Vorrecht ſich zu nutze
macht, der ſündigt egoiſtiſch gegen die Idee der Gleichheit;
wer Herrſchaft übt, den ſchilt man einen Egoiſten gegen die
Idee der Freiheit u. ſ. w.
Darum verachteſt Du den Egoiſten, weil er das Geiſtige
gegen das Perſönliche zurückſetzt, und für ſich beſorgt iſt, wo
[41] Du ihn einer Idee zu Liebe handeln ſehen möchteſt. Ihr
unterſcheidet Euch darin, daß Du den Geiſt, er aber Sich zum
Mittelpunkte macht, oder daß Du Dein Ich entzweiſt und Dein
„eigentliches Ich“, den Geiſt, zum Gebieter des werthloſeren
Reſtes erhebſt, während er von dieſer Entzweiung nichts wiſſen
will, und geiſtige und materielle Intereſſen eben nach ſeiner
Luſt verfolgt. Du meinſt zwar nur auf diejenigen loszu¬
ziehen, welche gar kein geiſtiges Intereſſe faſſen, in der That
aber fluchſt Du auf alle, welche das geiſtige Intereſſe nicht
für ihr „wahres und höchſtes“ anſehen. Du treibſt den Ritter¬
dienſt für dieſe Schöne ſo weit, daß Du behaupteſt, ſie ſei
die einzige Schönheit der Welt. Du lebſt nicht Dir, ſondern
Deinem Geiſte und dem, was des Geiſtes iſt, d. h. Ideen.
Da der Geiſt nur iſt, indem er Geiſtiges ſchafft, ſo ſehen
Wir Uns nach ſeiner erſten Schöpfung um. Hat er dieſe erſt
vollbracht, ſo folgt fortan eine natürliche Fortpflanzung von Schö¬
pfungen, wie nach der Mythe nur die erſten Menſchen geſchaffen
zu werden brauchten, das übrige Geſchlecht ſich von ſelbſt fort¬
pflanzte. Die erſte Schöpfung hingegen muß „aus dem Nichts“
hervorgehen, d. h. der Geiſt hat zu ihrer Verwirklichung nichts
als ſich ſelber, oder vielmehr, er hat ſich noch nicht einmal,
ſondern muß ſich erſchaffen: ſeine erſte Schöpfung iſt daher er
ſelber, der Geiſt. So myſtiſch dieß auch klinge, ſo erleben
Wir's doch als eine alltägliche Erfahrung. Biſt Du eher
ein Denkender, als Du denkſt? Indem Du den erſten Ge¬
danken erſchaffſt, erſchaffſt Du Dich, den Denkenden; denn
Du denkſt nicht, bevor Du einen Gedanken denkſt, d. h. haſt.
Macht Dich nicht erſt Dein Singen zum Sänger, Dein Spre¬
chen zum ſprechenden Menſchen? Nun ſo macht Dich auch
das Hervorbringen von Geiſtigem erſt zum Geiſte.
[42]
Wie Du indeß vom Denker, Sänger und Sprecher Dich
unterſcheideſt, ſo unterſcheideſt Du Dich nicht minder vom
Geiſte und fühlſt ſehr wohl, daß Du noch etwas anderes als
Geiſt biſt. Allein wie dem denkenden Ich im Enthuſiasmus
des Denkens leicht Hören und Sehen vergeht, ſo hat auch
Dich der Geiſt-Enthuſiasmus ergriffen, und Du ſehnſt Dich
nun mit aller Gewalt, ganz Geiſt zu werden und im Geiſte
aufzugehen. Der Geiſt iſt Dein Ideal, das Unerreichte, das
Jenſeitige: Geiſt heißt Dein — Gott, „Gott iſt Geiſt“.
Gegen alles, was nicht Geiſt iſt, biſt Du ein Eiferer,
und darum eiferſt Du gegen Dich ſelbſt, der Du einen Reſt
von Nichtgeiſtigem nicht los wirſt. Statt zu ſagen: „Ich bin
mehr als Geiſt,“ ſagſt Du mit Zerknirſchung: „Ich bin
weniger als Geiſt, und Geiſt, reinen Geiſt, oder den Geiſt,
der nichts als Geiſt, den kann Ich Mir nur denken, bin es
aber nicht, und da Ich's nicht bin, ſo iſt's ein Anderer, exiſtirt
als ein Anderer, den Ich „Gott“ nenne.“
Es liegt in der Natur der Sache, daß der Geiſt, der als
reiner Geiſt exiſtiren ſoll, ein jenſeitiger ſein muß, denn da
Ich's nicht bin, ſo kann er nur außer Mir ſein, da ein
Menſch überhaupt nicht völlig in dem Begriffe „Geiſt“ auf¬
geht, ſo kann der reine Geiſt, der Geiſt als ſolcher, nur außer¬
halb der Menſchen ſein, nur jenſeits der Menſchenwelt, nicht
irdiſch, ſondern himmliſch.
Nur aus dieſem Zwieſpalt, in welchem Ich und der Geiſt
liegen, nur weil Ich und Geiſt nicht Namen für ein und daſ¬
ſelbe, ſondern verſchiedene Namen für völlig Verſchiedenes ſind,
nur weil Ich nicht Geiſt und Geiſt nicht Ich iſt: nur daraus
erklärt ſich ganz tautologiſch die Nothwendigkeit, daß der Geiſt
im Jenſeits hauſt, d.h. Gott iſt.
[43]
Daraus geht aber auch hervor, wie durchaus theologiſch,
d.h. gottesgelahrt, die Befreiung iſt, welche Feuerbach *)Uns
zu geben ſich bemüht. Er ſagt nämlich, Wir hätten Unſer
eigenes Weſen nur verkannt und darum es im Jenſeits ge¬
ſucht, jetzt aber, da Wir einſähen, daß Gott nur Unſer menſch¬
liches Weſen ſei, müßten Wir es wieder als das Unſere
anerkennen und aus dem Jenſeits in das Diesſeits zurückver¬
ſetzen. Den Gott, der Geiſt iſt, nennt Feuerbach „Unſer We¬
ſen“. Können Wir Uns das gefallen laſſen, daß „Unſer
Weſen“ zu Uns in einen Gegenſatz gebracht, daß Wir in ein
weſentliches und ein unweſentliches Ich zerſpalten werden?
Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück,
aus Uns ſelbſt Uns verbannt zu ſehen?
Was gewinnen Wir denn, wenn Wir das Göttliche außer
Uns zur Abwechſelung einmal in Uns verlegen? Sind Wir
das, was in Uns iſt? So wenig als Wir das ſind, was
außer Uns iſt. Ich bin ſo wenig mein Herz, als Ich meine
Herzgeliebte, dieſes mein „anderes Ich“ bin. Gerade weil
Wir nicht der Geiſt ſind, der in Uns wohnt, gerade darum
mußten Wir ihn außer Uns verſetzen: er war nicht Wir, fiel
nicht mit Uns in Eins zuſammen, und darum konnten Wir
ihn nicht anders exiſtirend denken als außer Uns, jenſeits von
Uns, im Jenſeits.
Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach
dem geſammten Inhalt des Chriſtenthums, nicht, um ihn weg¬
zuwerfen, nein, um ihn an ſich zu reißen, um ihn, den lang¬
erſehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten Anſtrengung
[44] aus ſeinem Himmel zu ziehen und auf ewig bei ſich zu be¬
halten. Iſt das nicht ein Griff der letzten Verzweiflung, ein
Griff auf Leben und Tod, und iſt es nicht zugleich die chriſt¬
liche Sehnſucht und Begierde nach dem Jenſeits? Der Heros
will nicht in das Jenſeits eingehen, ſondern das Jenſeits an
ſich heranziehen, und zwingen, daß es zum Diesſeits werde!
Und ſchreit ſeitdem nicht alle Welt, mit mehr oder weniger
Bewußtſein, aufs „Diesſeits“ komme es an, und der Himmel
müſſe auf die Erde kommen und ſchon hier erlebt werden?
Stellen Wir in Kürze die theologiſche Anſicht Feuerbach's
und Unſern Widerſpruch einander gegenüber! „Das Weſen
des Menſchen iſt des Menſchen höchſtes Weſen; das höchſte
Weſen wird nun zwar von der Religion Gott genannt und
als ein gegenſtändliches Weſen betrachtet, in Wahrheit
aber iſt es nur des Menſchen eigenes Weſen, und deshalb
iſt der Wendepunkt der Weltgeſchichte der, daß fortan dem
Menſchen nicht mehr Gott als Gott, ſondern der Menſch
als Gott erſcheinen ſoll. *)
Wir erwidern hieraus: „das höchſte Weſen iſt allerdings
das Weſen des Menſchen, aber eben weil es ſein Weſen
und nicht er ſelbſt iſt, ſo bleibt es ſich ganz gleich, ob Wir
es außer ihm ſehen und als „Gott“ anſchauen, oder in ihm
finden und „Weſen des Menſchen“ oder „der Menſch“ nennen.
Ich bin weder Gott, noch der Menſch, weder das höchſte
Weſen, noch Mein Weſen, und darum iſt's in der Hauptſache
einerlei, ob Ich das Weſen in Mir oder außer Mir denke.
Ja Wir denken auch wirklich immer das höchſte Weſen in
[45] beiderlei Jenſeitigkeit, in der innerlichen und äußerlichen, zu¬
gleich: denn der „Geiſt Gottes“ iſt nach chriſtlicher Anſchau¬
ung auch „Unſer Geiſt“ und „wohnet in Uns“. *)Er wohnt
im Himmel und wohnt in Uns; Wir armen Dinger ſind
eben nur ſeine „Wohnung“, und wenn Feuerbach noch die
himmliſche Wohnung deſſelben zerſtört, und ihn nöthigt, mit
Sack und Pack zu Uns zu ziehen, ſo werden Wir, ſein irdiſches
Logis, ſehr überfüllt werden.
Doch nach dieſer Ausſchweifung, die Wir Uns, gedächten
Wir überhaupt nach dem Schnürchen zu gehen, auf ſpätere
Blätter hätten verſparen müſſen, um eine Wiederholung zu
vermeiden, kehren Wir zur erſten Schöpfung des Geiſtes, dem
Geiſte ſelbſt, zurück.
Der Geiſt iſt etwas anderes als Ich. Dieſes Andere
aber, was iſt's?
§ 2. Die Beſeſſenen.
Haſt Du ſchon einen Geiſt geſehen? „Nein, Ich nicht, aber
Meine Großmutter.“ Siehſt Du, ſo geht Mir's auch: Ich
ſelbſt habe keinen geſehen, aber Meiner Großmutter liefen ſie
aller Wege zwiſchen die Beine, und aus Vertrauen zur Ehr¬
lichkeit Unſerer Großmutter glauben Wir an die Exiſtenz von
Geiſtern.
Aber hatten Wir denn keine Großväter, und zuckten die
nicht jederzeit die Achſeln, ſo oft die Großmutter von ihren
Geſpenſtern erzählte? Ja, es waren das ungläubige Männer
und die Unſerer guten Religion viel geſchadet haben, dieſe Auf¬
[46] klärer! Wir werden das empfinden! Was läge denn dem war¬
men Geſpenſterglauben zu Grunde, wenn nicht der Glaube an
das „Daſein geiſtiger Weſen überhaupt“, und wird nicht die¬
ſer letztere ſelbſt in ein unſeliges Wanken gebracht, wenn man
geſtattet, daß freche Verſtandesmenſchen an jenem rütteln dür¬
fen? Welch einen Stoß der Gottesglaube ſelbſt durch die Ab¬
legung des Geiſter- oder Geſpenſterglaubens erlitt, das fühlten
die Romantiker ſehr wohl, und ſuchten den unheilvollen Fol¬
gen nicht bloß durch ihre wiedererweckte Märchenwelt abzuhel¬
fen, ſondern zuletzt beſonders durch das „Hereinragen einer
höheren Welt“, durch ihre Somnambulen, Seherinnen von
Prevorſt u. ſ. w. Die guten Gläubigen und Kirchenväter
ahnten nicht, daß mit dem Geſpenſterglauben der Religion ihr
Boden entzogen werde, und daß ſie ſeitdem in der Luft ſchwebe.
Wer an kein Geſpenſt mehr glaubt, der braucht nur in ſei¬
nem Unglauben conſequent fortzuwandeln, um einzuſehen, daß
überhaupt hinter den Dingen kein apartes Weſen ſtecke, kein
Geſpenſt oder — was naiver Weiſe auch dem Worte nach für
gleichbedeutend gilt — kein „Geiſt“.
„Es exiſtiren Geiſter!“ Blick' umher in der Welt und ſage
ſelbſt, ob nicht aus allem Dich ein Geiſt anſchaut. Aus der
Blume, der kleinen, lieblichen, ſpricht der Geiſt des Schöpfers
zu Dir, der ſie ſo wunderbar geformt hat; die Sterne verkün¬
den den Geiſt, der ſie geordnet, von den Berggipfeln weht ein
Geiſt der Erhabenheit herunter, aus den Waſſern rauſcht ein
Geiſt der Sehnſucht herauf, und — aus den Menſchen reden
Millionen Geiſter. Mögen die Berge einſinken, die Blumen
verblühen, die Sternenwelt zuſammenſtürzen, die Menſchen ſter¬
ben — was liegt am Untergang dieſer ſichtbaren Körper? Der
Geiſt, der „unſichtbare“, bleibt ewig!
[47]
Ja, es ſpukt in der ganzen Welt! Nur in ihr? Nein,
ſie ſelber ſpukt, ſie iſt unheimlich durch und durch, ſie iſt der
wandelnde Scheinleib eines Geiſtes, ſie iſt ein Spuk. Was
wäre ein Geſpenſt denn anders als ein ſcheinbarer Leib, aber
wirklicher Geiſt? Nun, die Welt iſt „eitel“, iſt „nichtig“, iſt
nur blendender „Schein“; ihre Wahrheit iſt allein der Geiſt;
ſie iſt der Scheinleib eines Geiſtes.
Schau' hin in die Nähe oder in die Ferne, Dich umgiebt
überall eine geſpenſtiſche Welt: Du haſt immer „Erſchei¬
nungen“ oder Viſionen. Alles, was Dir erſcheint, iſt nur
der Schein eines inwohnenden Geiſtes, iſt eine geſpenſtiſche
„Erſcheinung“, die Welt Dir nur eine „Erſcheinungswelt“,
hinter welcher der Geiſt ſein Weſen treibt. Du „ſiehſt Geiſter“.
Gedenkſt Du Dich etwa mit den Alten zu vergleichen,
die überall Götter ſahen? Götter, mein lieber Neuer, ſind
keine Geiſter; Götter ſetzen die Welt nicht zu einem Schein
herab und vergeiſtigen ſie nicht.
Dir aber iſt die ganze Welt vergeiſtigt und ein räthſel¬
haftes Geſpenſt geworden; darum wundere Dich nicht, wenn
Du ebenſo in Dir nichts als einen Spuk findeſt. Spukt
nicht Dein Geiſt in Deinem Leibe, und iſt nicht jener allein
das Wahre und Wirkliche, dieſer nur das „Vergängliche,
Nichtige“ oder ein „Schein“? Sind Wir nicht Alle Geſpen¬
ſter, unheimliche Weſen, die auf „Erlöſung“ harren, nämlich
„Geiſter“?
Seit der Geiſt in der Welt erſchienen, ſeit „das Wort
Fleiſch geworden“ iſt, ſeitdem iſt die Welt vergeiſtigt, verzau¬
bert, ein Spuk.
Du haſt Geiſt, denn Du haſt Gedanken. Was ſind Deine
Gedanken? — Geiſtige Weſen. — Alſo keine Dinge?— Nein,
[48] aber der Geiſt der Dinge, die Hauptſache an allen Dingen,
ihr Innerſtes, ihre — Idee. — Was Du denkſt, iſt mithin
nicht bloß Dein Gedanke?— — Im Gegentheil, es iſt das Wirk¬
lichſte, das eigentlich Wahre an der Welt: es iſt die Wahrheit
ſelber; wenn Ich nur wahrhaft denke, ſo denke Ich die Wahr¬
heit. Ich kann Mich zwar über die Wahrheit täuſchen und
ſie verkennen; wenn Ich aber wahrhaft erkenne, ſo iſt der
Gegenſtand Meiner Erkenntniß die Wahrheit. — So trachteſt
Du wohl allezeit die Wahrheit zu erkennen? — Die Wahr¬
heit iſt Mir heilig. Es kann wohl kommen, daß Ich eine
Wahrheit unvollkommen finde und durch eine beſſere erſetze,
aber die Wahrheit kann Ich nicht abſchaffen. An die Wahr¬
heit glaube Ich, darum forſche Ich in ihr; über ſie geht's
nicht hinaus, ſie iſt ewig.
Heilig, ewig iſt die Wahrheit, ſie iſt das Heilige, das
Ewige. Du aber, der Du von dieſem Heiligen Dich erfüllen
und leiten läſſeſt, wirſt ſelbſt geheiligt. Auch iſt das Heilige
nicht für Deine Sinne, und niemals entdeckſt Du als ein
Sinnlicher ſeine Spur, ſondern für Deinen Glauben oder be¬
ſtimmter noch für Deinen Geiſt: denn es iſt ja ſelbſt ein
Geiſtiges, ein Geiſt, iſt Geiſt für den Geiſt.
Das Heilige läßt ſich keineswegs ſo leicht beſeitigen, als
gegenwärtig Manche behaupten, die dieß „ungehörige“ Wort
nicht mehr in den Mund nehmen. Werde Ich auch nur in Einer
Beziehung noch „Egoiſt“ geſcholten, ſo bleibt der Gedanke an
ein Anderes übrig, dem Ich mehr dienen ſollte als Mir, und das
Mir wichtiger ſein müßte als Alles, kurz ein Etwas, worin Ich
Mein wahres Heil zu ſuchen hätte, ein — „Heiliges“. Mag dieß
Heilige auch noch ſo menſchlich ausſehen, mag es das Menſch¬
liche ſelber ſein, das nimmt ihm die Heiligkeit nicht ab, ſondern
[49] macht es höchſtens aus einem überirdiſchen zu einem irdiſchen
Heiligen, aus einem Göttlichen zu einem Menſchlichen.
Heiliges exiſtirt nur für den Egoiſten, der ſich ſelbſt nicht
anerkennt, den unfreiwilligen Egoiſten, für ihn, der
immer auf das Seine aus iſt, und doch ſich nicht für das
höchſte Weſen hält, der nur ſich dient und zugleich ſtets einem
höheren Weſen zu dienen meint, der nichts Höheres kennt als
ſich und gleichwohl für Höheres ſchwärmt, kurz für den Ego¬
iſten, der kein Egoiſt ſein möchte, und ſich erniedrigt, d. h.
ſeinen Egoismus bekämpft, zugleich aber ſich ſelbſt nur des¬
halb erniedrigt, „um erhöht zu werden“, alſo um ſeinen Ego¬
ismus zu befriedigen. Weil er ablaſſen möchte, Egoiſt zu ſein,
ſucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Weſen, de¬
nen er diene und ſich opfere; aber ſo viel er ſich auch ſchüttelt
und kaſteit, zuletzt thut er doch alles um ſeinetwillen und der
verrufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn
deswegen den unfreiwilligen Egoiſten.
Sein Mühen und Sorgen, von ſich loszukommen, iſt
nichts als der mißverſtandene Trieb nach Selbſtauflöſung. Biſt
Du an Deine vergangene Stunde gebunden, mußt Du heute
plappern, weil Du geſtern geplappert haſt *), kannſt Du nicht
jeden Augenblick Dich umwandeln: ſo fühlſt Du Dich in Skla¬
venfeſſeln und erſtarrt. Darum winkt Dir über jede Minute
Deines Daſeins hinaus eine friſche Minute der Zukunft, und,
Dich entwickelnd, kommſt Du „von Dir“ d. h. dem jeweiligen
Du, los. Wie Du in jedem Augenblicke biſt, ſo biſt Du
4[50] Dein Geſchöpf, und eben an dieſes „Geſchöpf“ magſt Du Dich,
den Schöpfer nicht verlieren. Du biſt ſelbſt ein höheres We¬
ſen, als Du biſt, und übertriffſt Dich ſelbſt. Allein, daß Du
der biſt, der höher iſt als Du, d. h. daß Du nicht bloß Ge¬
ſchöpf, ſondern gleicherweiſe Dein Schöpfer biſt, das eben ver¬
kennſt Du als unfreiwilliger Egoiſt, und darum iſt das „hö¬
here Weſen“ Dir ein — Fremdes. Jedes höhere Weſen, wie
Wahrheit, Menſchheit u. ſ. w., iſt ein Weſen über Uns.
Fremdheit iſt ein Kennzeichen des „Heiligen“. In allem
Heiligen liegt etwas „Unheimliches“, d. h. Fremdes, worin
Wir nicht ganz heimiſch und zu Hauſe ſind. Was Mir hei¬
lig iſt, das iſt Mir nicht eigen, und wäre Mir z. B. das
Eigenthum Anderer nicht heilig, ſo ſähe Ich's für das Meine
an, das Ich bei guter Gelegenheit Mir zulegte, oder gilt Mir
umgekehrt das Geſicht des chineſiſchen Kaiſers für heilig, ſo
bleibt es meinem Auge fremd, und Ich ſchließe daſſelbe bei
ſeinem Erſcheinen.
Warum iſt eine unumſtößliche mathematiſche Wahrheit,
die nach dem gewöhnlichen Wortverſtande ſogar eine ewige
genannt werden könnte, keine — heilige? Weil ſie keine geoffen¬
barte, oder nicht die Offenbarung eines höhern Weſens iſt.
Wenn man unter geoffenbarten nur die ſogenannten religiöſen
Wahrheiten verſteht, ſo geht man ſehr irre, und verkennt gänz¬
lich die Weite des Begriffes „höheres Weſen“. Mit dem hö¬
heren Weſen, welches auch unter dem Namen des „höchſten“
oder être suprême verehrt wurde, treiben die Atheiſten ihren
Spott und treten einen „Beweis von ſeinem Daſein“ nach
dem andern in den Staub, ohne zu merken, daß ſie ſelber
aus Bedürfniß eines höheren Weſens das alte nur vernichten,
um für ein neues Platz zu gewinnen. Iſt etwa nicht „der
[51] Menſch“ ein höheres Weſen als ein einzelner Menſch, und
werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die ſich aus ſeinem
Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieſes Begriffes
verehrt und — heilig gehalten werden müſſen? Denn ſollte
man auch manche Wahrheit, welche durch dieſen Begriff mani¬
feſtirt zu ſein ſchien, wieder abſchaffen, ſo zeugte dieß doch
allein für ein Mißverſtändniß von unſerer Seite, ohne im Ge¬
ringſten dem heiligen Begriffe ſelbſt Eintrag zu thun oder den¬
jenigen Wahrheiten, welche „mit Recht“ als Offenbarungen
deſſelben angeſehen werden müſſen, ihre Heiligkeit zu nehmen.
Der Menſch greift über jeden einzelnen Menſchen hinaus und
iſt, obgleich „ſein Weſen“, in der That doch nicht ſein We¬
ſen, welches vielmehr ſo einzig wäre als er, der Einzelne, ſel¬
ber, ſondern ein allgemeines und „höheres“, ja für die Athe¬
iſten „das höchſte Weſen“. Und wie die göttlichen Offenba¬
rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeſchrieben, ſondern
durch die „Rüſtzeuge des Herrn“ veröffentlicht wurden, ſo ſchreibt
auch das neue höchſte Weſen ſeine Offenbarungen nicht ſelbſt
auf, ſondern läßt ſie durch „wahre Menſchen“ zu unſerer
Kunde gelangen. Nur verräth das neue Weſen eine in der
That geiſtigere Auffaſſung als der alte Gott, weil dieſer noch
in einer Art von Beleibtheit oder Geſtalt vorgeſtellt wurde, dem
neuen hingegen die ungetrübte Geiſtigkeit erhalten und ein be¬
ſonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt
ihm auch die Leiblichkeit nicht, die ſich ſogar noch verführeri¬
ſcher anläßt, weil ſie natürlicher und weltlicher ausſieht und in
nichts Geringerem beſteht, als in jedem leibhaftigen Menſchen
oder auch ſchlechtweg in der „Menſchheit“ oder „allen Menſchen“.
Die Spukhaftigkeit des Geiſtes in einem Scheinleibe iſt dadurch
wieder einmal recht compact und populär geworden.
4*[52]
Heilig alſo iſt das höchſte Weſen und alles, worin dieß
höchſte Weſen ſich offenbart oder offenbaren wird; geheiligt
aber diejenigen, welche dieß höchſte Weſen ſammt dem Seinen,
d. h. ſammt den Offenbarungen deſſelben anerkennen. Das
Heilige heiligt hinwiederum ſeinen Verehrer, der durch den
Cultus ſelbſt zu einem Heiligen wird, wie denn gleichfalls,
was er thut, heilig iſt: ein heiliger Wandel, ein heiliges
Denken und Thun, Tichten und Trachten u. ſ. w.
Was als das höchſte Weſen verehrt wird, darüber kann
begreiflicher Weiſe nur ſo lange der Streit bedeutungsvoll ſein,
als ſelbſt die erbittertſten Gegner einander den Hauptſatz ein¬
räumen, daß es ein höchſtes Weſen gebe, dem Cultus oder
Dienſt gebühre. Lächelte Einer mitleidig über den ganzen
Kampf um ein höchſtes Weſen, wie etwa ein Chriſt bei dem
Wortgefecht eines Schiiten mit einem Sunniten oder eines
Brahminen mit einem Buddhiſten, ſo gälte ihm die Hypotheſe
von einem höchſten Weſen für nichtig und der Streit auf die¬
ſer Baſis für ein eitles Spiel. Ob dann der einige oder
dreieinige Gott, ob der lutherſche Gott oder das être suprême
oder Gott gar nicht, ſondern „der Menſch“ das höchſte Weſen
vorſtellen mag, das macht für den durchaus keinen Unterſchied,
der das höchſte Weſen ſelbſt negirt, denn in ſeinen Augen ſind
jene Diener eines höchſten Weſens insgeſammt — fromme Leute:
der wüthendſte Atheiſt nicht weniger als der gläubigſte Chriſt.
Obenan ſteht alſo im Heiligen das höchſte Weſen und
der Glaube an dieß Weſen, Unſer „heiliger Glaube“.
Der Spuk.
Mit den Geſpenſtern gelangen Wir ins Geiſterreich, ins
Reich der Weſen.
[53]
Was in dem Weltall ſpukt und ſein myſteriöſes, „unbe¬
greifliches“ Weſen treibt, das iſt eben der geheimnißvolle Spuk,
den Wir höchſtes Weſen nennen. Und dieſem Spuk auf den
Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirk¬
lichkeit zu entdecken (das „Daſein Gottes“ zu beweiſen), —
dieſe Aufgabe ſetzten ſich Jahrtauſende die Menſchen; mit der
gräßlichen Unmöglichkeit, der endloſen Danaidenarbeit, den
Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirk¬
liches, den Geiſt in eine ganze und leibhaftige Perſon zu
verwandeln, — damit quälten ſie ſich ab. Hinter der daſeien¬
den Welt ſuchten ſie das „Ding an ſich“, das Weſen, ſie ſuch¬
ten hinter dem Ding das Unding.
Wenn man einer Sache auf den Grund ſchaut, d. h.
ihrem Weſen nachgeht, ſo entdeckt man oft etwas ganz an¬
deres, als das, was ſie zu ſein ſcheint: eine honigſüße Rede
und ein lügneriſches Herz, pomphafte Worte und armſelige
Gedanken u. ſ. w. Man ſetzt dadurch, daß man das Weſen
hervorhebt, die bisher verkannte Erſcheinung zu einem bloßen
Scheine, zu einer Täuſchung herab. Das Weſen der ſo
anziehenden, herrlichen Welt iſt für den, der ihr auf den Grund
ſieht, die — Eitelkeit: die Eitelkeit iſt — Weltweſen (Welt¬
treiben). Wer nun religiös iſt, der befaßt ſich nicht mit dem
trügeriſchen Schein, nicht mit den eitlen Erſcheinungen, ſon¬
dern ſchaut das Weſen an, und hat in dem Weſen die —
Wahrheit.
Die Weſen, welche aus den einen Erſcheinungen ſich er¬
geben, ſind die böſen Weſen, und umgekehrt aus andern die
guten. Das Weſen des menſchlichen Gemüthes z. B. iſt die
Liebe, das Weſen des menſchlichen Willens iſt das Gute, das
ſeines Denkens das Wahre u. ſ. w.
[54]
Was zuerſt für Exiſtenz galt, wie Welt u. dergl., das
erſcheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Exi¬
ſtirende iſt vielmehr das Weſen, deſſen Reich ſich füllt mit
Göttern, Geiſtern, Dämonen, d.h. mit guten oder böſen We¬
ſen. Nur dieſe verkehrte Welt, die Welt der Weſen, exiſtirt
jetzt wahrhaft. Das menſchliche Herz kann lieblos ſein, aber
ſein Weſen exiſtirt, der Gott, „der die Liebe iſt“; das menſch¬
liche Denken kann im Irrthum wandeln, aber ſein Weſen, die
Wahrheit exiſtirt: „Gott iſt die Wahrheit“ u.ſ.w.
Die Weſen allein und nichts als die Weſen zu erkennen
und anzuerkennen, das iſt Religion: ihr Reich ein Reich der
Weſen, des Spukes und der Geſpenſter.
Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den non¬
sens zu realiſiren, hat ein leibhaftiges Geſpenſt zu Wege
gebracht, ein Geſpenſt oder einen Geiſt mit einem wirklichen
Leibe, ein beleibtes Geſpenſt. Wie haben ſich die kräftig¬
ſten genialſten Chriſtenmenſchen abgemartert, um dieſe geſpen¬
ſtiſche Erſcheinung zu begreifen. Es blieb aber ſtets der Wi¬
derſpruch zweier Naturen, der göttlichen und menſchlichen, d.h.
der geſpenſtiſchen und ſinnlichen: es blieb der wunderſamſte
Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Ge¬
ſpenſt, und kein Schamane, der bis zu raſender Wuth und
nervenzerreißenden Krämpfen ſich ſtachelt, um ein Geſpenſt zu
bannen, kann ſolche Seelenqual erdulden, wie Chriſten ſie von
jenem unbegreiflichſten Geſpenſt erlitten.
Allein durch Chriſtus war zugleich die Wahrheit der Sache
zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geiſt oder das eigent¬
liche Geſpenſt — der Menſch ſei. Der leibhaftige oder
beleibte Geiſt iſt eben der Menſch: er ſelbſt das grauenhafte
Weſen und zugleich des Weſens Erſcheinung und Exiſtenz oder
[55] Daſein. Fortan graut dem Menſchen nicht eigentlich mehr vor
Geſpenſtern außer ihm, ſondern vor ihm ſelber: er erſchrickt
vor ſich ſelbſt. In der Tiefe ſeiner Bruſt wohnt der Geiſt
der Sünde, ſchon der leiſeſte Gedanke (und dieſer iſt ja
ſelber ein Geiſt) kann ein Teufel ſein u. ſ. w. — Das Ge¬
ſpenſt hat einen Leib angezogen, der Gott iſt Menſch gewor¬
den, aber der Menſch iſt nun ſelbſt der grauſige Spuk, hinter
den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirk¬
lichkeit und zum Reden zu bringen ſucht: der Menſch iſt —
Geiſt. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geiſt
gerettet wird: auf den Geiſt kommt Alles an, und das Gei¬
ſtes- oder „Seelenheil“ wird alleiniges Augenmerk. Der Menſch
iſt ſich ſelbſt ein Geſpenſt, ein unheimlicher Spuk geworden,
dem ſogar ein beſtimmter Sitz im Leibe angewieſen wird (Streit
über den Sitz der Seele, ob im Kopfe u. ſ. w.).
Du biſt Mir und Ich bin Dir kein höheres Weſen. Gleich¬
wohl kann in jedem von Uns ein höheres Weſen ſtecken, und
die gegenſeitige Verehrung deſſelben hervorrufen. Um gleich das
Allgemeinſte zu nehmen, ſo lebt in Dir und Mir der Menſch.
Sähe Ich in Dir nicht den Menſchen, was hätte Ich Dich
zu achten? Du biſt freilich nicht der Menſch und ſeine wahre
und adäquate Geſtalt, ſondern nur eine ſterbliche Hülle deſſel¬
ben, aus welcher er ausſcheiden kann, ohne ſelbſt aufzuhören;
aber für jetzt hauſt dieſes allgemeine und höhere Weſen doch
in Dir und Du vergegenwärtigſt Mir, weil ein unvergängli¬
cher Geiſt in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat,
mithin Deine Geſtalt wirklich nur eine „angenommene“ iſt,
einen Geiſt, der erſcheint, in Dir erſcheint, ohne an Deinen
Leib und dieſe beſtimmte Erſcheinungsweiſe gebündelt zu ſein,
alſo einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein
[56] höheres Weſen, ſondern reſpectire allein jenes höhere Weſen,
das in Dir „umgeht“: Ich „reſpectire in Dir den Menſchen“.
So etwas beachteten die Alten nicht in ihren Sklaven, und
das höhere Weſen: „der Menſch“ fand noch wenig Anklang.
Dagegen ſahen ſie in einander Geſpenſter anderer Art. Das
Volk iſt ein höheres Weſen als ein Einzelner, und gleich dem
Menſchen oder Menſchengeiſte ein in den Einzelnen ſpukender
Geiſt: der Volksgeiſt. Deshalb verehrten ſie dieſen Geiſt, und
nur ſo weit er dieſem oder auch einem ihm verwandten Geiſte,
z. B. dem Familiengeiſte u. ſ. w. diente, konnte der Einzelne
bedeutend erſcheinen; nur um des höheren Weſens, des Vol¬
kes, willen, überließ man dem „Volksgliede“ eine Geltung.
Wie Du Uns durch „den Menſchen“, der in Dir ſpukt, ge¬
heiligt biſt, ſo war man zu jeder Zeit durch irgend ein höheres
Weſen, wie Volk, Familie u. dergl. geheiligt. Nur um eines
höhern Weſens willen iſt man von jeher geehrt, nur als ein
Geſpenſt für eine geheiligte, d. h. geſchützte und anerkannte Per¬
ſon betrachtet worden. Wenn Ich Dich hege und pflege, weil
Ich Dich lieb habe, weil Mein Herz an Dir Nahrung, Mein
Bedürfniß Befriedigung findet, ſo geſchieht es nicht um eines
höheren Weſens willen, deſſen geheiligter Leib Du biſt, nicht
darum, weil Ich ein Geſpenſt, d. h. einen erſcheinenden Geiſt
in Dir erblicke, ſondern aus egoiſtiſcher Luſt: Du ſelbſt mit
Deinem Weſen biſt Mir werth, denn Dein Weſen iſt kein
höheres, iſt nicht höher und allgemeiner als Du, iſt einzig
wie Du ſelber, weil Du es biſt.
Aber nicht bloß der Menſch, ſondern Alles ſpukt. Das
höhere Weſen, der Geiſt, der in Allem umgeht, iſt zugleich an
Nichts gebunden, und — „erſcheint“ nur darin. Geſpenſt in
allen Winkeln!
[57]
Hier wäre der Ort, die ſpukenden Geiſter vorüberziehen
zu laſſen, wenn ſie nicht weiter unten wieder vorkommen mü߬
ten, um vor dem Egoismus zu verfliegen. Daher mögen nur
einige derſelben beiſpielsweiſe namhaft gemacht werden, um
ſogleich auf unſer Verhalten zu ihnen überzuleiten.
Heilig z. B. iſt vor allem der „heilige Geiſt“, heilig die
Wahrheit, heilig das Recht, das Geſetz, die gute Sache, die
Majeſtät, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, das Va¬
terland u. ſ. w. u. ſ. w.
Der Sparren.
Menſch, es ſpukt in Deinem Kopfe; Du haſt einen Spar¬
ren zu viel! Du bildeſt Dir große Dinge ein und malſt Dir
eine ganze Götterwelt aus, die für Dich da ſei, ein Geiſter¬
reich, zu welchem Du berufen ſeiſt, ein Ideal, das Dir winkt.
Du haſt eine fixe Idee!
Denke nicht, daß Ich ſcherze oder bildlich rede, wenn Ich
die am Höheren hangenden Menſchen, und weil die ungeheure
Mehrzahl hierher gehört, faſt die ganze Menſchenwelt für veri¬
table Narren, Narren im Tollhauſe anſehe. Was nennt man
denn eine „fixe Idee“? Eine Idee, die den Menſchen ſich
unterworfen hat. Erkennt Ihr an einer ſolchen fixen Idee,
daß ſie eine Narrheit ſei, ſo ſperrt Ihr den Sklaven derſelben
in eine Irrenanſtalt. Und iſt etwa die Glaubenswahrheit, an
welcher man nicht zweifeln, die Majeſtät z. B. des Volkes, an
der man nicht rütteln (wer es thut, iſt ein — Majeſtätsver¬
brecher), die Tugend, gegen welche der Cenſor kein Wörtchen
durchlaſſen ſoll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde u.
ſ. w., ſind dieß nicht „fixe Ideen“? Iſt nicht alles dumme
Geſchwätz, z. B. unſerer meiſten Zeitungen, das Geplapper von
[58] Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Geſetzlichkeit,
Chriſtlichkeit u. ſ. w. leiden, und nur frei herumzugehen ſchei¬
nen, weil das Narrenhaus, worin ſie wandeln, einen ſo wei¬
ten Raum einnimmt? Man taſte einem ſolchen Narren an ſeine
fixe Idee, und man wird ſogleich vor der Heimtücke des Tollen
den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen dieſe
großen Tollen den kleinen ſogenannten Tollen, daß ſie heim¬
tückiſch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie
ſtehlen ihm erſt die Waffe, ſtehlen ihm das freie Wort, und
dann ſtürzen ſie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag
deckt jetzt die Feigheit und Rachſucht dieſer Wahnſinnigen auf,
und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man
muß die Tagesblätter dieſer Periode leſen, und muß den Phi¬
liſter ſprechen hören, um die gräßliche Ueberzeugung zu gewin¬
nen, daß man mit Narren in ein Haus geſperrt iſt. „Du
ſollſt Deinen Bruder keinen Narren ſchelten, ſonſt u. ſ. w.“
Ich aber fürchte den Fluch nicht und ſage: meine Brüder ſind
Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauſes von dem
Wahne beſeſſen iſt, er ſei Gott der Vater, Kaiſer von Japan,
der heilige Geiſt u. ſ. w., oder ob ein behaglicher Bürger ſich
einbildet, es ſei ſeine Beſtimmung, ein guter Chriſt, ein gläu¬
biger Proteſtant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Menſch
u. ſ. w. zu ſein — das iſt beides ein und dieſelbe „fixe Idee“.
Wer es nie verſucht und gewagt hat, kein guter Chriſt, kein
gläubiger Proteſtant, kein tugendhafter Menſch u. ſ. w. zu
ſein, der iſt in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. ſ. w. ge¬
fangen und befangen. Gleichwie die Scholaſtiker nur philo¬
ſophirten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papſt Bene¬
dict XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papiſtiſchen Aber¬
glaubens ſchrieb, ohne je dieſen Glauben in Zweifel zu ziehen,
[59] Schriftſteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne
die fixe Idee des Staates ſelbſt in Frage zu ſtellen, unſere
Zeitungen von Politik ſtrotzen, weil ſie in dem Wahne gebannt
ſind, der Menſch ſei dazu geſchaffen, ein Zoon politikon zu
werden, ſo vegetiren auch Unterthanen im Unterthanenthum,
tugendhafte Menſchen in der Tugend, Liberale im „Menſchen¬
thum“ u. ſ. w., ohne jemals an dieſe ihre fixen Ideen das
ſchneidende Meſſer der Kritik zu legen. Unverrückbar, wie der
Irrwahn eines Tollen, ſtehen jene Gedanken auf feſtem Fuße,
und wer ſie bezweifelt, der — greift das Heilige an! Ja,
die „fixe Idee“, das iſt das wahrhaft Heilige!
Begegnen Uns etwa bloß vom Teufel Beſeſſene, oder
treffen Wir eben ſo oft auf entgegengeſetzte Beſeſſene, die
vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Geſetze, oder
irgend welchem „Principe“ beſeſſen ſind? Die Teufelsbeſitzun¬
gen ſind nicht die einzigen. Gott wirkt auf Uns und der
Teufel wirkt: jenes „Gnadenwirkungen“, dieſes „Teufelswir¬
kungen“. Beſeſſene ſind auf ihre Meinungen verſeſſen.
Mißfällt Euch das Wort „Beſeſſenheit“, ſo nennt es Ein¬
genommenheit, ja nennt es, weil der Geiſt Euch beſitzt, und
von ihm alle „Eingebungen“ kommen, — Begeiſterung und
Enthuſiasmus. Ich ſetze hinzu, daß der vollkommene Enthu¬
ſiasmus — denn bei dem faulen und halben kann man nicht
ſtehen bleiben — Fanatismus heißt.
Der Fanatismus iſt gerade bei den Gebildeten zu
Hauſe; denn gebildet iſt der Menſch, ſo weit er ſich für Gei¬
ſtiges intereſſirt, und Intereſſe für Geiſtiges iſt eben, wenn es
lebendig iſt, Fanatismus und muß es ſein; es iſt ein fana¬
tiſches Intereſſe für das Heilige (fanum). Man beobachte
unſere Liberalen, man blicke in die Sächſiſchen Vaterlands¬
[60] blätter, man höre, was Schloſſer ſagt*): „Die Geſellſchaft
Holbach's bildete ein förmliches Complott gegen die überlieferte
Lehre und das beſtehende Syſtem, und die Mitglieder derſelben
waren eben ſo fanatiſch für ihren Unglauben, als Mönche und
Pfaffen, Jeſuiten und Pietiſten, Methodiſten, Miſſions- und
Bibelgeſellſchaften für mechaniſchen Gottesdienſt und Wortglau¬
ben zu ſein pflegen.“
Man achte darauf, wie ein „Sittlicher“ ſich benimmt, der
heutiges Tages häufig mit Gott fertig zu ſein meint, und das
Chriſtenthum als eine Beliebtheit abwirft. Wenn man ihn
fragt, ob er je daran gezweifelt habe, daß die Vermiſchung der
Geſchwiſter eine Blutſchande ſei, daß die Monogamie die Wahr¬
heit der Ehe ſei, daß die Pietät eine heilige Pflicht ſei u. ſ. w.,
ſo wird ein ſittlicher Schauder ihn bei der Vorſtellung über¬
fallen, daß man ſeine Schweſter auch als Weib berühren dürfe
u. ſ. w. Und woher dieſer Schauder? Weil er an jene
ſittlichen Gebote glaubt. Dieſer ſittliche Glaube wurzelt
tief in ſeiner Bruſt. So viel er gegen die frommen Chriſten
eifert, ſo ſehr iſt er dennoch ſelbſt Chriſt geblieben, nämlich ein
ſittlicher Chriſt. In der Form der Sittlichkeit hält ihn das
Chriſtenthum gefangen, und zwar gefangen unter dem Glau¬
ben. Die Monogamie ſoll etwas Heiliges ſein, und wer
etwa in Doppelehe lebt, der wird als Verbrecher geſtraft;
wer Blutſchande treibt, leidet als Verbrecher. Hiermit zeigen
ſich diejenigen einverſtanden, die immer ſchreien, auf die Reli¬
gion ſolle im Staate nicht geſehen werden, und der Jude
Staatsbürger gleich dem Chriſten ſein. Iſt jene Blutſchande
und Monogamie nicht ein Glaubensſatz? Man rühre ihn
[61] an, und man wird erfahren, wie dieſer Sittliche eben auch ein
Glaubensheld iſt, trotz einem Krummacher, trotz einem Phi¬
lipp II. Dieſe fechten für den Kirchenglauben, er für den
Staatsglauben, oder die ſittlichen Geſetze des Staates; für
Glaubensartikel verdammen beide denjenigen, der anders han¬
delt, als ihr Glaube es geſtatten will. Das Brandmal
des „Verbrechens“ wird ihm aufgedrückt, und ſchmachten mag
er in Sittenverbeſſerungshäuſern, in Kerkern. Der ſittliche
Glaube iſt ſo fanatiſch als der religiöſe! Das heißt dann
„Glaubensfreiheit“, wenn Geſchwiſter um eines Verhältniſſes
willen, das ſie vor ihrem „Gewiſſen“ auszumachen hätten, ins
Gefängniß geworfen werden. „Aber ſie gaben ein verderbliches
Beiſpiel“! Ja freilich, es könnten Andere auch darauf ver¬
fallen, daß der Staat ſich nicht in ihr Verhältniß zu miſchen
habe, und darüber ginge die „Sittenreinheit“ zu Grunde. So
eifern denn die religiöſen Glaubenshelden für den „heiligen
Gott“, die ſittlichen für das „heilige Gute“.
Die Eiferer für etwas Heiliges ſehen einander oft gar
wenig ähnlich. Wie differiren die ſtrengen Orthodoxen oder
Altgläubigen von den Kämpfern für „Wahrheit, Licht und
Recht“, von den Philalethen, Lichtfreunden, Aufgeklärten
u. ſ. w. Und doch wie gar nichts Weſentliches enthält die
Differenz. Rüttelt man an einzelnen althergebrachten Wahr¬
heiten (z. B. Wunder, unumſchränkte Fürſtengewalt u. ſ. w.),
ſo rütteln die Aufgeklärten mit, und nur die Altgläubigen
jammern. Rüttelt man aber an der Wahrheit ſelbſt, ſo hat
man gleich beide als Gläubige zu Gegnern. So mit Sitt¬
lichkeiten: die Strenggläubigen ſind unnachſichtig, die helleren
Köpfe ſind toleranter. Aber wer die Sittlichkeit ſelbſt angreift, der
bekommt's mit beiden zu thun. „Wahrheit, Sittlichkeit, Recht,
[62] Licht u. ſ. w.“ ſollen „heilig“ ſein und bleiben. Was man
am Chriſtenthum zu tadeln findet, das ſoll nach der Anſicht
dieſer Aufgeklärten eben „unchriſtlich“ ſein; das Chriſtenthum
aber muß das „Feſte“ bleiben, an ihm zu rütteln iſt frevelhaft,
iſt ein „Frevel“. Allerdings ſetzt ſich der Ketzer gegen den
reinen Glauben nicht mehr der frühern Verfolgungswuth aus,
deſto mehr aber gilt es jetzt dem Ketzer gegen die reine Sitte.
Die Frömmigkeit hat ſeit einem Jahrhundert ſo viele
Stöße erfahren und ihr übermenſchliches Weſen ſo oft ein
„unmenſchliches“ ſchelten hören müſſen, daß man ſich nicht
verſucht fühlen kann, noch einmal ſich gegen ſie auszulegen.
Und doch ſind faſt immer nur ſittliche Gegner auf der Menſur
erſchienen, um das höchſte Weſen anzufechten zu Gunſten eines
— andern höchſten Weſens. So ſagt Proudhon ungeſcheut*):
„Der Menſch iſt beſtimmt, ohne Religion zu leben, aber das
Sittengeſetz (la loi morale) iſt ewig und abſolut. Wer würde
es heute wagen, die Moral anzugreifen?“ Die Sittlichen
ſchöpften das beſte Fett von der Religion ab, genoſſen es ſelbſt
und haben nun ihre liebe Noth, die daraus entſtandene Drüſen¬
krankheit loszuwerden. Wenn Wir deshalb darauf hinweiſen,
daß die Religion noch bei weitem nicht in ihrem Innerſten
verletzt wird, ſo lange man ihr nur ihr übermenſchliches Weſen
zum Vorwurfe macht, und daß ſie in letzter Inſtanz allein an
den „Geiſt“ appellirt (denn Gott iſt Geiſt), ſo haben Wir ihre
endliche Eintracht mit der Sittlichkeit genugſam angedeutet,
und können ihren hartnäckigen Streit mit derſelben hinter Uns
[63] liegen laſſen. Um ein höchſtes Weſen handelt es ſich bei
beiden, und ob daſſelbe ein übermenſchliches oder ein menſch¬
liches ſei, das kann Mir, da es jedenfalls ein Weſen über
Mir, gleichſam ein übermeiniges iſt, nur wenig verſchlagen.
Zuletzt wird das Verhalten zum menſchlichen Weſen oder zum
„Menſchen“, hat es nur erſt die Schlangenhaut der alten Re¬
ligion abgeſtreift, doch wieder eine religiöſe Schlangenhaut tragen.
So belehrt Uns Feuerbach, daß „wenn man die ſpecula¬
tive Philoſophie nur umkehre, d. h. immer das Prädicat zum
Subject, und ſo das Subject zum Object und Princip mache,
man die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit habe.“ *)
Damit verlieren Wir allerdings den beſchränkten religiöſen
Standpunkt, verlieren den Gott, der auf dieſem Standpunkte
Subject iſt, allein Wir tauſchen dafür die andere Seite des
religiöſen Standpunktes, den ſittlichen ein. Wir ſagen
z. B. nicht mehr: „Gott iſt die Liebe“, ſondern „die Liebe iſt
göttlich“. Setzen Wir noch an die Stelle des Prädicats „gött¬
lich“ das gleichbedeutende „heilig“, ſo kehrt der Sache nach
alles Alte wieder zurück. Die Liebe ſoll darnach das Gute
am Menſchen ſein, ſeine Göttlichkeit, das was ihm Ehre macht,
ſeine wahre Menſchlichkeit (ſie „macht ihn erſt zum Men¬
ſchen“, macht erſt einen Menſchen aus ihm). So wäre es
denn genauer geſprochen ſo: Die Liebe iſt das Menſchliche
am Menſchen, und das Unmenſchliche iſt der liebloſe Egoiſt.
Aber gerade alles dasjenige, was das Chriſtenthum und mit
ihm die ſpeculative Philoſophie, d. h. Theologie als das Gute,
das Abſolute offerirt, iſt in der Eigenheit eben nicht das Gute
(oder, was daſſelbe ſagt, es iſt nur das Gute), mithin würde
[64] durch die Verwandlung des Prädicats in das Subject das
chriſtliche Weſen (und das Prädicat enthält ja eben das
Weſen) nur noch drückender fixirt. Der Gott und das Gött¬
liche verflöchte ſich um ſo unauflöslicher mit Mir. Den Gott
aus ſeinem Himmel zu vertreiben und der „Transſcendenz“
zu berauben, das kann noch keinen Anſpruch auf vollkommene
Beſiegung begründen, wenn er dabei nur in die Menſchenbruſt
gejagt, und mit unvertilgbarer Immanenz beſchenkt wird.
Nun heißt es: Das Göttliche iſt das wahrhaft Menſchliche!
Dieſelben Leute, welche dem Chriſtenthum als der Grund¬
lage des Staates, d. h. dem ſogenannten chriſtlichen Staate
widerſtreben, werden nicht müde zu wiederholen, daß die Sitt¬
lichkeit „der Grundpfeiler des geſellſchaftlichen Lebens und des
Staates“ ſei. Als ob nicht die Herrſchaft der Sittlichkeit eine
vollkommene Herrſchaft des Heiligen, eine „Hierarchie“ wäre.
So kann hier beiläufig der aufklärenden Richtung gedacht
werden, die, nachdem die Theologen lange darauf beſtanden
hatten, nur der Glaube ſei fähig, die Religionswahrheiten zu
faſſen, nur den Gläubigen offenbare ſich Gott u. ſ. w., alſo
nur das Herz, Gefühl, die gläubige Phantaſie ſei religiös, mit
der Behauptung hervorbrach, daß auch der „natürliche Ver¬
ſtand“, die menſchliche Vernunft fähig ſei, Gott zu erkennen.
Was heißt das anders, als daß auch die Vernunft darauf
Anſpruch machte, dieſelbe Phantaſtin zu ſein wie die Phan¬
taſie. In dieſem Sinne ſchrieb Reimarus ſeine „Vornehmſten
Wahrheiten der natürlichen Religion“. Es mußte dahin kom¬
men, daß der ganze Menſch mit allen ſeinen Fähigkeiten ſich
als religiös erwies; Herz und Gemüth, Verſtand und Ver¬
nunft, Fühlen, Wiſſen und Wollen, kurz Alles am Menſchen
erſchien religiös. Hegel hat gezeigt, daß ſelbſt die Philoſophie
[65] religiös ſei. Und was wird heutiges Tages nicht Alles Re¬
ligion genannt? Die „Religion der Liebe“, die „Religion der
Freiheit“, die „politiſche Religion“, kurz jeder Enthuſiasmus.
So iſt's auch in der That.
Noch heute brauchen Wir das welſche Wort „Religion“,
welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebun¬
den bleiben Wir allerdings, ſoweit die Religion unſer Inneres
einnimmt; aber iſt auch der Geiſt gebunden? Im Gegentheil,
der iſt frei, iſt alleiniger Herr, iſt nicht Unſer Geiſt, ſondern
abſolut. Darum wäre die richtige affirmative Ueberſetzung des
Wortes Religion die — „Geiſtesfreiheit“! Bei wem der
Geiſt frei iſt, der iſt gerade in derſelben Weiſe religiös, wie
derjenige ein ſinnlicher Menſch heißt, bei welchem die Sinne
freien Lauf haben. Jenen bindet der Geiſt, dieſen die Lüſte.
Gebundenheit oder religio iſt alſo die Religion in Beziehung
auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den
Geiſt: der Geiſt iſt frei oder hat Geiſtesfreiheit. Wie übel
es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüſte mit Uns
durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben;
daß aber der freie Geiſt, die herrliche Geiſtigkeit, der Enthuſi¬
asmus für geiſtige Intereſſen, oder wie immer in den ver¬
ſchiedenſten Wendungen dieß Juwel benannt werden mag,
Uns noch ärger in die Klemme bringt, als ſelbſt die wildeſte
Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch
nicht merken, ohne bewußter Weiſe ein Egoiſt zu ſein.
Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Un¬
ſere Vernunft, Unſer Herz u.ſ.w. auf Gott führe, haben
damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch beſeſſen ſind.
Freilich ärgerten ſie die Theologen, denen ſie das Privilegium
der religiöſen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Gei¬
5[66] ſtesfreiheit eroberten ſie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn
wenn der Geiſt nicht länger auf das Gefühl oder den Glau¬
ben beſchränkt iſt, ſondern auch als Verſtand, Vernunft und
Denken überhaupt ſich, dem Geiſte, angehört, alſo auch in der
Form des Verſtandes u. ſ. w., an den geiſtigen und himm¬
liſchen Wahrheiten Theil nehmen darf, dann iſt der ganze
Geiſt nur mit Geiſtigem, d. h. mit ſich beſchäftigt, alſo frei.
Jetzt ſind Wir ſo durch und durch religiös, daß „Geſchworne“
Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter
Chriſt durch „Amtseid“ Uns ins Loch bringt.
Die Sittlichkeit konnte erſt von da ab gegen die Fröm¬
migkeit in einen Gegenſatz treten, wo überhaupt der brauſende
Haß wider alles, was einem „Befehle“ (Ordonnance, Gebote
u. ſ. w.) ähnlich ſah, ſich revoltirend Luft machte, und der
perſönliche „abſolute Herr“ verhöhnt und verfolgt wurde: ſie
konnte folglich zur Selbſtſtändigkeit erſt durch den Liberalis¬
mus kommen, deſſen erſte Form als „Bürgerthum“ ſich welt¬
geſchichtliche Bedeutung verſchaffte, und die eigentlich religiöſen
Gewalten ſchwächte (ſiehe unten „Liberalismus“). Denn das
Princip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden,
ſondern auf eigenen Füßen ſtehenden Sittlichkeit liegt nicht
mehr in den göttlichen Geboten, ſondern im Vernunftgeſetze,
von welchem jene, ſo weit ſie noch gültig bleiben ſollen, zu
ihrer Gültigkeit erſt die Berechtigung erwarten müſſen. Im
Vernunftgeſetze beſtimmt ſich der Menſch aus ſich ſelbſt, denn
„der Menſch“ iſt vernünftig, und aus dem „Weſen des Men¬
ſchen“ ergeben ſich jene Geſetze mit Nothwendigkeit. Frömmig¬
keit und Sittlichkeit ſcheiden ſich darin von einander, daß jene
Gott, dieſe den Menſchen zum Geſetzgeber macht.
Von einem gewiſſen Standpunkte der Sittlichkeit aus rä¬
[67] ſonnirt man etwa ſo: Entweder treibt den Menſchen ſeine
Sinnlichkeit, und er iſt, ihr folgend, unſittlich, oder es treibt
ihn das Gute, welches, in den Willen aufgenommen, ſittliche
Geſinnung (Geſinnung und Eingenommenheit für das Gute)
heißt: dann beweiſt er ſich als ſittlich. Wie läßt ſich von
dieſem Geſichtspunkte aus z. B. die That Sand's gegen
Kotzebue unſittlich nennen? Was man ſo unter uneigennützig
verſteht, das war ſie doch gewiß in demſelben Maaße als
unter anderem die Diebereien des heiligen Crispin zu Gunſten
der Armen, „Er hätte nicht morden ſollen, denn es ſtehet ge¬
ſchrieben: Du ſollst nicht morden!“ Alſo dem Guten zu
dienen, dem Volkswohl, wie Sand wenigſtens beabſichtigte,
oder dem Wohl der Armen, wie Crispin, das iſt ſittlich: aber
der Mord und Diebſtahl iſt unſittlich: der Zweck ſittlich, das
Mittel unſittlich. Warum? „Weil der Mord, der Meuchel¬
mord etwas abſolut Böſes iſt.“ Wenn die Guerillas die
Feinde des Landes in Schluchten verlockten und ſie ungeſehen
aus den Büſchen niederſchoſſen, ſo war das etwa kein Meu¬
chelmord? Ihr könntet dem Princip der Sittlichkeit nach,
welches befiehlt, dem Guten zu dienen, doch nur fragen, ob der
Mord nie und nimmer eine Verwirklichung des Guten ſein
könne, und müßtet denjenigen Mord anerkennen, der das Gut
realiſirte. Ihr könnt die That Sand's gar nicht verdammen:
ſie war ſittlich, weil im Dienſt des Guten, weil uneigennützig;
ſie war ein Strafact, den der Einzelne vollzog, eine mit Ge¬
fahr des eigenen Lebens vollzogene — Hinrichtung. Was
war am Ende ſein Unterfangen anders geweſen, als daß er
Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt Ihr
daſſelbe Verfahren nicht als ein „geſetzliches“ und ſanctionirtes?
Und Was läßt ſich aus Eurem Princip der Sittlichkeit dage¬
5 *[68] gen einwenden? — „Aber es war eine widergeſetzliche Hin¬
richtung.“ Alſo das Unſittliche daran war die Ungeſetzlichkeit,
der Ungehorſam gegen das Geſetz? So räumt Ihr ein, daß
das Gute nichts anders iſt, als das — Geſetz, die Sittlich¬
keit nichts anders als Loyalität. Es muß auch bis zu
dieſer Aeußerlichkeit der „Loyalität“ Eure Sittlichkeit herunter¬
ſinken, bis zu dieſer Werkheiligkeit der Geſetzerfüllung, nur daß
die letztere zugleich tyranniſcher und empörender iſt, als die
einſtige Werkheiligkeit. Denn bei dieſer bedurfte es nur der
That, Ihr aber braucht auch die Geſinnung: man ſoll
das Geſetz, die Satzung in ſich tragen, und wer am geſetz¬
lichſten geſinnt iſt, der iſt der Sittlichſte. Auch die letzte Hei¬
terkeit des katholiſchen Lebens muß in dieſer proteſtantiſchen
Geſetzlichkeit zu Grunde gehen. Hier endlich erſt vollendet ſich
die Geſetzesherrſchaft. Nicht „Ich lebe, ſondern das Geſetz
lebt in Mir“. So bin Ich denn wirklich ſo weit gekommen,
nur das „Gefäß ſeiner (des Geſetzes) Herrlichkeit“ zu ſein.
„Jeder Preuße trägt ſeinen Gensd'armen in der Bruſt“ —
ſagt ein hoher preußiſcher Officier.
Warum wollen gewiſſe Oppoſitionen nicht gedeihen?
Lediglich aus dem Grunde, weil ſie die Bahn der Sittlichkeit
oder Geſetzlichkeit nicht verlaſſen wollen. Daher die maaßloſe
Heuchelei von Ergebenheit, Liebe u. ſ. w., an deren Wider¬
wärtigkeit man ſich täglich den gründlichſten Ekel vor dieſem
verdorbenen und heuchleriſchen Verhältniß einer „geſetzlichen
Oppoſition“ holen kann. — In dem ſittlichen Verhältniß
der Liebe und Treue kann ein zwieſpältiger, ein entgegengeſetzter
Wille nicht ſtattfinden; das ſchöne Verhältniß iſt geſtört, wenn
der Eine dieß und der Andere das Umgekehrte will. Nun ſoll
aber nach der bisherigen Praxis und dem alten Vorurtheil der
[69] Oppoſition das ſittliche Verhältniß vor Allem bewahrt werden.
Was bleibt da der Oppoſition übrig? Etwa dieß, eine Frei¬
heit zu wollen, wenn der Geliebte ſie abzuſchlagen für gut
findet? Mit nichten! Wollen darf ſie die Freiheit nicht;
ſie kann ſie nur wünſchen, darum „petitioniren“, ein „Bitte,
bitte!“ lallen. Was ſollte daraus werden, wenn die Oppoſi¬
tion wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Wil¬
lens? Nein, ſie muß auf den Willen Verzicht leiſten, um
der Liebe zu leben, auf die Freiheit — der Sittlichkeit zu
Liebe. Sie darf nie „als ein Recht in Anſpruch nehmen“,
was ihr nur „als Gunſt zu erbitten“ erlaubt iſt. Die Liebe,
Ergebenheit u. ſ. w. heiſcht mit unabwendbarer Beſtimmt¬
heit, daß nur Ein Wille ſei, dem die Andern ſich ergeben, dem
ſie dienen, folgen, den ſie lieben. Ob dieſer Wille für ver¬
nünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden
Fällen ſittlich, wenn man ihm folgt, und unſittlich, wenn man
ſich ihm entzieht. Der Wille, der die Cenſur gebietet, ſcheint
Vielen unvernünftig; wer aber ſein Buch im Lande der Cenſur
dieſer unterſchlägt, der handelt unſittlich, und wer ihr's vorlegt,
handelt ſittlich. Quittirte Einer ſein ſittliches Urtheil, und
errichtete z. B. eine geheime Preſſe, ſo müßte man ihn unſitt¬
lich nennen, und unklug obenein, wenn er ſich erwiſchen ließe;
aber wird ein ſolcher Anſpruch daraus machen, in den Augen
der „Sittlichen“ einen Werth zu haben? Vielleicht! — Wenn
er ſich nämlich einbildete, einer „höhern Sittlichkeit“ zu dienen.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken
zweier Gebiete, zwiſchen denen Unſere Zeit herüber und hinüber
ſchwebt und ihre feinen Fäden der Täuſchung und Selbſttäuſchung
anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeſchwächt
der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rückſichtslos genug, um
[70] ganz dem Egoismus zu leben, zittert ſie in dem Spinnennetze
der Heuchelei bald zur einen bald zum andern hin, und fängt,
vom Fluche der Halbheit gelähmt, nur dumme, elende Mücken.
Hat man's einmal gewagt, einen „freien“ Antrag zu ſtellen,
gleich verwäſſert man ihn wieder mit Liebesverſicherungen und
— heuchelt Reſignation; hat man anderſeits die Stirne
gehabt, den freien Antrag mit ſittlichen Verweiſungen auf
Vertrauen u. ſ. w. zurückzuſchlagen, gleich ſinkt auch der ſitt¬
liche Muth und man verſichert, wie man die freien Worte mit
beſonderem Wohlgefallen u. ſ. w. vernehme: man — heuchelt
Anerkennung. Kurz man möchte das Eine haben, aber
das Andere nicht entbehren: man möchte einen freien Willen
haben, aber den ſittlichen bei Leibe nicht miſſen. — Kommt
nur zuſammen, Ihr Liberalen, mit einem Servilen. Ihr
werdet jedes Wort der Freiheit mit einem Blick des loyalſten
Vertrauens verſüßen, und er wird ſeinen Servilismus in die
ſchmeichelndſten Phraſen der Freiheit kleiden. Dann geht Ihr
auseinander, und er wie Ihr denkt: Ich kenne Dich, Fuchs!
Er wittert an Euch ſo gut den Teufel, als Ihr an ihm den
alten finſtern Herrgott.
Ein Nero iſt nur in den Augen der „Guten“ ein „böſer“
Menſch; in den Meinigen iſt er nichts als ein Beſeſſener,
wie die Guten auch. Die Guten ſehen in ihm einen Erz¬
böſewicht, und delegiren ihn der Hölle. Warum hinderte ihn
nichts in ſeinen Willkührlichkeiten? Warum ließ man ſich ſo
viel gefallen? Waren etwa die zahmen Römer, die von einem
ſolchen Tyrannen ſich allen Willen binden ließen, um ein Haar
beſſer? Im alten Rom hätte man ihn augenblicklich hinge¬
richtet, wäre nie ſein Sklave geworden. Aber die jetzigen
„Guten“ unter den Römern ſetzten ihm nur die ſittliche For¬
[71] derung entgegen, nicht ihren Willen; ſie ſeufzten darüber,
daß ihr Kaiſer nicht der Sittlichkeit huldige wie ſie: ſie ſelber
blieben „ſittliche Unterthanen“, bis endlich Einer den Muth
fand, die „ſittliche, gehorſame Unterthänigkeit“ aufzugeben.
Und dann jauchzten dieſelben „guten Römer“, die als „gehor¬
ſame Unterthanen“ alle Schmach der Willenloſigkeit ertragen
hatten, über die frevelhafte, unſittliche That des Empörers.
Wo war denn bei den „Guten“ der Muth zur Revolution,
den ſie jetzt prieſen, nachdem ein Anderer ihn gefaßt hatte?
Die Guten konnten dieſen Muth nicht haben, denn eine Revo¬
lution, und gar eine Inſurrection, iſt immer etwas „Unſitt¬
liches“, wozu man ſich nur entſchließen kann, wenn man auf¬
hört, „gut“ zu ſein, und entweder „böſe“ wird, oder — keins
von beiden. Nero war nicht ſchlimmer als ſeine Zeit, in der
man nur eins von beiden ſein konnte, gut oder böſe. Seine
Zeit mußte von ihm urtheilen: er ſei böſe, und zwar im höch¬
ſten Grate, nicht ein Flauer, ſondern ein Erzböſer. Alle Sitt¬
lichen können nur dieſes Urtheil über ihn fällen. Schurken,
wie er war, leben heute noch mitunter fort (ſiehe z. B. Me¬
moiren des Ritters von Lang.) inmitten der Sittlichen. Be¬
quem lebt ſich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen
Augenblick ſeines Lebens ſicher iſt; allein lebt man unter den
Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens iſt man da eben
ſo wenig ſicher, nur daß man „im Wege Rechtens“ gehängt
wird, ſeiner Ehre aber iſt man am wenigſten ſicher, und die
Nationalkokarde fliegt im Umſehen davon. Die derbe Fauſt
der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Weſen
des Egoismus um.
„Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen
ehrlichen Mann auf gleiche Linie ſtellen!“ Nun, kein Menſch
[72] thut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das,
einen ehrlichen Mann, der offen gegen die beſtehende Staats¬
verfaſſung, gegen die geheiligten Inſtitutionen u. ſ. w. redet,
den ſperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verſchmitzten
Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge.
Alſo in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. „Aber in
der Theorie!“ Nun, da ſtelle ich beide in der That auf eine
Linie als zwei entgegengeſetzte Pole: beide nämlich auf die
Linie des Sittengeſetzes. Sie haben beide nur Sinn in der
„ſittlichen“ Welt, gerade ſo, wie in der vorchriſtlichen Zeit ein
geſetzlicher Jude und ein ungeſetzlicher nur Sinn und Bedeu¬
tung hatten in Bezug auf das jüdiſche Geſetz, dagegen vor
Chriſtus der Phariſäer nicht mehr war, als die „Sünder und
Zöllner“. So gilt auch vor der Eigenheit der ſittliche Pha¬
riſäer ſo viel, als der unſittliche Sünder.
Nero wurde durch ſeine Beſeſſenheit ſehr unbequem. Ihm
würde aber ein eigener Menſch nicht alberner Weiſe das
„Heilige“ entgegenſetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann
des Heiligen nicht achtet, ſondern ſeinen Willen. Wie oft
wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menſchenrechte den
Feinden derſelben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein
„heiliges Menſchenrecht“ erwieſen und vordemonſtrirt. Die
das thun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirk¬
lich geſchieht, wenn ſie nicht eigentlich doch, ſei's auch unbe¬
wußt, den zum Ziele führenden Weg einſchlügen. Sie ahnen
es, daß, wenn nur erſt die Mehrzahl für jene Freiheit gewon¬
nen iſt, ſie auch dieſelbe wollen und dann nehmen wird, was
ſie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle mögli¬
chen Beweiſe dieſer Heiligkeit werden ſie niemals verſchaffen:
das Lamentiren und Petitioniren zeigt eben nur Bettler.
[73]
Der Sittliche iſt nothwendig darin bornirt, daß er keinen
andern Feind kennt, als den „Unſittlichen“. „Wer nicht ſitt¬
lich iſt der iſt unſittlich!“, mithin verworfen, verächtlich u. ſ. w.
Darum kann der Sittliche niemals den Egoiſten verſtehen.
Iſt nicht unehelicher Beiſchlaf eine Unſittlichkeit? Der Sitt¬
liche mag ſich drehen, wie er will, er wird bei dieſem Ausſpruch
bleiben müſſen; Emilia Galotti ließ für dieſe ſittliche Wahr¬
heit ihr Leben. Und es iſt wahr, es iſt eine Unſittlichkeit.
Ein tugendhaftes Mädchen mag eine alte Jungfer werden;
ein tugendhafter Mann mag die Zeit damit hinbringen, ſich
mit ſeinen Naturtrieben herumzuſchlagen, bis er ſie vielleicht
verdumpft hat, er mag ſich um der Tugend willen verſchneiden,
wie der heilige Origenes um des Himmels willen: er ehrt
die heilige Ehe, die heilige Keuſchheit dadurch als unverletzlich,
es iſt — ſittlich. Unkeuſchheit kann nie zu einer ſittlichen
That werden. Mag der Sittliche den, der ſie beging, auch
noch ſo nachſichtig beurtheilen und entſchuldigen, ein Vergehen,
eine Sünde wider ein ſittliches Gebot bleibt ſie, es haftet
daran ein unauslöſchlicher Makel. Wie die Keuſchheit einſt
zum Ordensgelübde, ſo gehört ſie zu ſittlichem Wandel. Keuſch¬
heit iſt ein — Gut. — Dagegen für den Egoiſten iſt eben
auch Keuſchheit kein Gut, darohne er nicht auskommen könnte:
es iſt ihm nichts daran gelegen. Was folgt nun für das
Urtheil des Sittlichen hieraus? Dieß, daß er den Egoiſten
in die einzige Klaſſe von Menſchen wirft, die er außer den
ſittlichen Menſchen kennt, in die der — Unſittlichen. Er kann
nicht anders, er muß den Egoiſten in allem, worin dieſer die
Sittlichkeit nicht achtet, unſittlich finden. Fände er ihn nicht
ſo, ſo wäre er eben ſchon der Sittlichkeit abtrünnig geworden,
ohne ſich's zu geſtehen, er wäre ſchon kein wahrhaft ſittlicher
[74] Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen,
die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬
hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der
Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen
gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬
bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche
und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer
Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's
zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf
der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬
weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte
folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das
einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬
krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“
Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬
ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die
That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in
alle Ewigkeit entſetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬
gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung
herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit,
ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu
wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos
und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen,
ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬
ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein
ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬
ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.
[75] Diejenigen, welche zu ſo entſchiedenem Bewußtſein ſich durch¬
gearbeitet haben, brechen vollſtändig mit der Religion, deren
Gott neben ihrem „Menſchen“ keinen Platz mehr findet, und
wie ſie (ſ. unten) das Staatsſchiff ſelbſt anbohren, ſo zer¬
bröckeln ſie auch die im Staate allein gedeihende „Sittlichkeit“,
und dürften folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter ge¬
brauchen. Denn, was dieſe „Kritiſchen“ Sittlichkeit nennen,
das ſcheidet ſich ſehr bündig von der ſogenannten „bürgerlichen
oder politiſchen Moral“, ab, und muß dem Staatsbürger wie
eine „ſinn- und zügelloſe Freiheit“ vorkommen. Im Grunde
aber hat es nur die „Reinheit des Princips“ voraus, das,
aus ſeiner Verunreinigung mit dem Religiöſen befreit, nun in
ſeiner geläuterten Beſtimmtheit als — „Menſchlichkeit“ zur
Allgewalt gekommen iſt. Deshalb darf man ſich nicht wun¬
dern, daß auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Frei¬
heit, Humanität, Selbſtbewußtſein u.ſ.w. beibehalten, und
nur etwa mit dem Zuſatze einer „freien“ Sittlichkeit verſehen
wird, gerade ſo wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Un¬
glimpf erfährt, doch der Staat als „freier Staat“, oder, wenn
ſelbſt ſo nicht, doch als „freie Geſellſchaft“ wieder erſtehen ſoll.
Weil dieſe zur Menſchlichkeit vollendete Sittlichkeit mit
der Religion, aus welcher ſie geſchichtlich hervorgegangen, ſich
völlig auseinandergeſetzt hat, ſo hindert ſie nichts, auf eigene
Hand Religion zu werden. Denn zwiſchen Religion und
Sittlichkeit waltet nur ſo lange ein Unterſchied ob, als unſere
Beziehungen zur Menſchenwelt durch unſer Verhältniß zu einem
übermenſchlichen Weſen geregelt und geheiligt werden, oder ſo
lange als unſer Thun ein Thun „um Gottes willen“ iſt.
Kommt es hingegen dahin, daß „dem Menſchen der Menſch
das höchſte Weſen iſt“, ſo verſchwindet jener Unterſchied, und
[76] die Sittlichkeit vollendet ſich, indem ſie ihrer untergeordneten
Stellung entrückt wird, zur — Religion. Es hat dann näm¬
lich das bisher dem höchſten untergeordnete höhere Weſen, der
Menſch, die abſolute Höhe erſtiegen, und Wir verhalten Uns
zu ihm als zum höchſten Weſen, d. h. religiös. Sittlichkeit
und Frömmigkeit ſind nun eben ſo ſynonym, als im Anfang
des Chriſtenthums, und nur weil das höchſte Weſen ein an¬
deres geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein
„heiliger“, ſondern ein „menſchlicher“. Hat die Sittlichkeit
geſiegt, ſo iſt ein vollſtändiger — Herrenwechſel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach
in die vermeintlich ſichere Bucht der Liebe einzulaufen. „Das
höchſte und erſte Geſetz muß die Liebe des Menſchen zum Men¬
ſchen ſein. Homo homini Deus est — dieß iſt der oberſte prak¬
tiſche Grundſatz — dieß der Wendepunkt der Weltgeſchichte.“ *)
Eigentlich iſt aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe iſt
geblieben; dort Liebe zum übermenſchlichen Gott, hier Liebe zum
menſchlichen Gott, zum homo als Deus. Alſo der Menſch iſt
Mir — heilig. Und alles „wahrhaft Menſchliche“ iſt Mir —
heilig! „Die Ehe iſt durch ſich ſelbſt heilig. Und ſo iſt es mit allen
ſittlichen Verhältniſſen. Heilig iſt und ſei Dir die Freund¬
ſchaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig das Wohl
jedes Menſchen, aber heilig an und für ſich ſelbſt.“ **)
Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer iſt ſein Gott?
Der Menſch? Was das Göttliche? Das Menſchliche! So
hat ſich allerdings das Prädicat nur ins Subject verwandelt,
und ſtatt des Satzes „Gott iſt die Liebe“ heißt es „die Liebe
iſt göttlich“, ſtatt „Gott iſt Menſch geworden“ — „der Menſch
[77] iſt Gott geworden“ u. ſ. w. Es iſt eben nur eine neue —
Religion. „Alle ſittlichen Verhältniſſe ſind nur da mora¬
liſche, ſie werden nur da mit ſittlichem Sinne gepflogen, wo
ſie durch ſich ſelbſt (ohne religiöſe Weihe durch den Segen
des Prieſters) als religiöſe gelten.“ Feuerbachs Satz: die
Theologie iſt Anthropologie, heißt nur „die Religion muß
Ethik ſein, die Ethik iſt allein Religion.“
Ueberhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umſtellung von
Subject und Prädicat, eine Bevorzugung des letzteren. Da
er aber ſelbſt ſagt: „Die Liebe iſt nicht dadurch heilig (und
hat den Menſchen niemals dadurch für heilig gegolten), daß
ſie ein Prädicat Gottes, ſondern ſie iſt ein Prädicat Gottes,
weil ſie durch und für ſich ſelbſt göttlich iſt,“ ſo konnte er
finden, daß der Kampf gegen die Prädicate ſelbſt eröffnet wer¬
den mußte, gegen die Liebe und alle Heiligkeiten. Wie durfte
er hoffen die Menſchen von Gott abzuwenden, wenn er ihnen
das Göttliche ließ? Und iſt ihnen, wie Feuerbach ſagt, Gott
ſelbſt nie die Hauptſache geweſen, ſondern nur ſeine Prädicate,
ſo konnte er ihnen immerhin den Flitter noch länger laſſen,
da ja die Puppe doch blieb, der eigentliche Kern. Er erkennt
das auch, daß es ſich bei ihm „nur um die Vernichtung einer
Illuſion handelt“, *)meint jedoch, ſie „wirke grundverderblich
auf die Menſchen, da ſelbſt die Liebe, an ſich die innerſte,
wahrſte Geſinnung, durch die Religioſität zu einer unſcheinba¬
ren, illuſoriſchen werde, indem die religiöſe Liebe den Menſchen
nur um Gottes willen, alſo nur ſcheinbar den Menſchen, in
Wahrheit nur Gott liebt“. Iſt dieß anders mit der ſittlichen
Liebe? Liebt ſie den Menſchen, dieſen Menſchen um dieſes
[78] Menſchen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des
Menſchen willen, alſo — denn homo homini Deus — um
Gottes willen?
Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten,
deren einige hier anzudeuten, nützlich ſein möchte.
So iſt die Selbſtverleugnung den Heiligen gemein
mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine
verleugnet alle „beſſeren Gefühle“, alle Scham, ja die
natürliche Furchtſamkeit, und folgt nur der ihn beherrſchenden
Begierde. Der Reine verleugnet ſeine natürliche Beziehung
zur Welt („verleugnet die Welt“) und folgt nur dem ihn be¬
herrſchenden „Verlangen“. Von Gelddurſt getrieben verleugnet
der Habgierige alle Mahnungen des Gewiſſens, alles Ehrge¬
fühl, alle Milde und alles Mitleid: er ſetzt alle Rückſichten
aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht
der Heilige. Er macht ſich zum „Spotte der Welt“, iſt hart¬
herzig und „ſtrenggerecht“; denn ihn reißt das Verlangen fort.
Wie der Unheilige vor dem Mammon ſich ſelbſt verleugnet,
ſo verleugnet der Heilige ſich vor Gott und den göttlichen
Geſetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unver¬
ſchämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt
wird, wodurch ſie zugleich gezwungen iſt, ſich ſelbſt täglich
mehr zu enthüllen und bloß zu ſtellen. Ueberſteigt nicht die
Unverſchämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man
dem „Fortſchritt der Zeit“ entgegenwirkt, längſt alles Maaß
und alle Erwartung? Aber es muß ſo kommen. Die Selbſt¬
verleugnenden müſſen als Heilige denſelben Gang nehmen,
wie als Unheilige, und wie dieſe nach und nach ins vollſte
Maaß ſelbſtverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit ver¬
[79] ſinken, ſo müſſen jene zur entehrendſten Erhabenheit auf¬
ſteigen. Der Mammon der Erde und der Gott des Him¬
mels fordern beide genau denſelben Grad der — Selbſtver¬
leugnung. Der Niedrige wie der Erhabene langen nach einem
„Gute“, jener nach dem materiellen, dieſer nach dem ideellen,
dem ſogenannten „höchſten Gute“, und beide ergänzen zuletzt
auch einander wieder, indem der „materiell Geſinnte“ einem
ideellen Schemen Alles opfert, ſeiner Eitelkeit, der „geiſtlich
Geſinnte“ einem materiellen Genuſſe, dem Wohlleben.
Ungemein viel glauben diejenigen zu ſagen, welche den
Menſchen „Uneigennützigkeit“ ans Herz legen. Was verſtehen
ſie darunter? Wohl etwas Aehnliches als unter „Selbſtver¬
leugnung“. Wer aber iſt dieſes Selbſt, das verleugnet werden
und keinen Nutzen haben ſoll? Du ſcheinſt es ſelber ſein zu
ſollen. Und zu weſſen Nutzen empfiehlt man Dir die uneigen¬
nützige Selbſtverleugnung? Wiederum Dir zu Nutz und From¬
men, nur daß Du durch Uneigennützigkeit Deinen „wahren
Nutzen“ Dir verſchaffſt.
Dir ſollſt Du nutzen, und doch ſollſt Du Deinen Nu¬
tzen nicht ſuchen.
Für uneigennützig hält man den Wohlthäter der Men¬
ſchen, einen Franke, welcher das Waiſenhaus ſtiftete, einen
O'Connell, der für ſein iriſches Volk unermüdlich arbeitet; aber
auch den Fanatiker, der, wie der heilige Bonifacius, ſein
Leben für die Heidenbekehrung einſetzt, oder wie Robespierre
alles der Tugend opfert, wie Körner für Gott, König und
Vaterland ſtirbt. Daher verſuchen unter Andern die Gegner
O'Connells ihm eine Eigennützigkeit oder Gewinnſucht unterzu¬
ſchieben, wozu ihnen die O'Connell-Rente Grund zu geben
[80] ſchien; denn gelänge es, ſeine „Uneigennützigkeit“ zu verdäch¬
tigen, ſo trennten ſie ihn leicht von ſeinen Anhängern.
Was könnten ſie indeß weiter beweiſen, als daß O'Con¬
nell auf einen andern, als den vorgeblichen Zweck hinarbeite?
Ob er aber Geldgewinn oder Volksbefreiung erzielen mag, daß
er einem Zwecke, und zwar ſeinem Zwecke zuſtrebt, bleibt
doch im ein n wie im andern Falle gewiß: Eigennutz hier wie
da, nur daß ſein nationaler Eigennutz auch Andern zu Gute
käme, mithin gemeinnützig wäre.
Iſt nun etwa die Uneigennützigkeit unwirklich und nirgends
vorhanden? Im Gegentheil, nichts iſt gewöhnlicher! Man
darf ſie ſogar einen Modeartikel der civiliſirten Welt nennen,
den man für ſo unentbehrlich hält, daß man, wenn er in ſoli¬
dem Stoffe zu viel koſtet, wenigſtens mit ſeinem Flitterſchein
ſich ausputzt und ihn erheuchelt. Wo beginnt die Uneigen¬
nützigkeit? Gerade da, wo ein Zweck aufhört, Unſer Zweck
und Unſer Eigenthum, mit dem Wir als Eigenthümer nach
Belieben ſchalten können, zu ſein; wo er ein fixer Zweck oder
eine — fixe Idee wird, wo er anfängt, Uns zu begeiſtern,
enthuſiasmiren, fanatiſiren, kurz wo er zu Unſerer Recht¬
haberei ausſchlägt und Unſer — Herr wird. Man iſt nicht
uneigennützig, ſo lange man den Zweck in ſeiner Gewalt be¬
hält; man wird es erſt bei jenem „Hier ſteh' ich, ich kann
nicht anders“, dem Kernſpruche aller Beſeſſenen, man wird es
bei einem heiligen Zwecke durch den entſprechenden heiligen
Eifer. —
Ich bin nicht uneigennützig, ſo lange der Zweck Mein
eigen bleibt, und Ich, ſtatt zum blinden Mittel ſeiner Voll¬
führung Mich herzugeben, ihn vielmehr allezeit in Frage laſſe.
Mein Eifer braucht darum nicht geringer zu ſein, als der
[81] fanatiſchſte, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn froſtig
kalt, ungläubig und ſein unverſöhnlichſter Feind; Ich bleibe ſein
Richter, weil Ich ſein Eigenthümer bin.
Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, ſo weit die Beſeſſen¬
heit reicht, gleich ſehr aus Teufelsbeſitzungen wie auf denen
eines guten Geiſtes: dort Laſter, Narrheit u. ſ. w.; hier De¬
muth, Hingebung u. ſ. w.
Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbſtver¬
leugnung zu begegnen? Da ſitzt Mir gegenüber ein Mädchen,
das vielleicht ſchon ſeit zehn Jahren ſeiner Seele blutige Opfer
bringt. Ueber der üppigen Geſtalt neigt ſich ein todtmüdes
Haupt, und bleiche Wangen verrathen die langſame Verblu¬
tung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leiden¬
ſchaften an Dein Herz geſchlagen, und die reichen Jugend¬
kräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt ſich in
die weichen Kiſſen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur
durch Deine Glieder, ſpannte das Blut Deine Adern, und
goſſen feurige Phantaſien den Glanz der Wolluſt in Deine
Augen. Da erſchien das Geſpenſt der Seele und ihrer Se¬
ligkeit. Du erſchrakſt, Deine Hände falteten ſich, Dein ge¬
quältes Auge richtete den Blick nach oben, Du — beteteſt.
Die Stürme der Natur verſtummten, Meeresſtille glitt hin über
den Ocean Deiner Begierden. Langſam ſenkten ſich die matten
Augenlider über das unter ihnen erloſchene Leben, aus den
ſtrotzenden Gliedern ſchlich unvermerkt die Spannung, in dem
Herzen verſiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände
ſelbſt laſteten entkräftet auf dem widerſtandloſen Buſen, ein
leiſes, letztes Ach ſtöhnte noch nach, und — die Seele war
ruhig. Du entſchliefſt, um am Morgen zu neuem Kampfe
zu erwachen und zu neuem — Gebete. Jetzt kühlt die Ge¬
6[82] wohnheit der Entſagung die Hitze Deines Verlangens und die
Roſen Deiner Jugend erblaſſen in der — Bleichſucht Deiner
Seligkeit. Die Seele iſt gerettet, der Leib mag verderben!
O Lais, o Ninon, wie thatet Ihr wohl, dieſe bleiche Tugend
zu verſchmähen. Eine freie Griſette gegen tauſend in der
Tugend grau gewordene Jungfern!
Auch als „Grundſatz, Princip, Standpunkt“ u. dergl.
läßt ſich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen
Standpunkt außerhalb der Erde, um ſie zu bewegen. Nach
dieſem Standpunkte ſuchten fortwährend die Menſchen, und
Jeder nahm ihn ein, ſo gut er vermochte. Dieſer fremde
Standpunkt iſt die Welt des Geiſtes, der Ideen, Gedan¬
ken, Begriffe, Weſen u. ſ. w.; es iſt der Himmel. Der
Himmel iſt der „Standpunkt“, von welchem aus die Erde be¬
wegt, das irdiſche Treiben überſchaut und — verachtet wird.
Sich den Himmel zu ſichern, den himmliſchen Standpunkt feſt
und auf ewig einzunehmen, wie ſchmerzlich und unermüdlich
rang darnach die Menſchheit.
Es hat das Chriſtenthum dahin gezielt, Uns von der
Naturbeſtimmung (Beſtimmung durch die Natur), von den Be¬
gierden als antreibend, zu erlöſen, mithin gewollt, daß der
Menſch ſich nicht von ſeinen Begierden beſtimmen laſſe. Darin
liegt nicht, daß er keine Begierden haben ſolle, ſondern daß
die Begierden ihn nicht haben ſollen, daß ſie nicht fix, unbe¬
zwinglich, unauflöslich werden ſollen. Was nun das Chri¬
ſtenthum (die Religion) gegen die Begierden machinirte, könnten
Wir das nicht auf ſeine eigene Vorſchrift, daß Uns der Geiſt
(Gedanke, Vorſtellungen, Ideen, Glaube u. ſ. w.) beſtimmen
ſolle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geiſt oder
die Vorſtellung, die Idee Uns nicht beſtimmen, nicht fix und
[83] unantaſtbar oder „heilig“ werden dürfe? Dann ginge es auf
die Auflöſung des Geiſtes, Auflöſung aller Gedanken,
aller Vorſtellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir
ſollen zwar Begierden haben, aber die Begierden ſollen Uns
nicht haben, ſo hieße es nun: Wir ſollen zwar Geiſt haben,
aber der Geiſt ſoll Uns nicht haben. Scheint das Letztere
eines rechten Sinnes zu ermangeln, ſo denke man z. B. daran,
daß bei ſo Manchem ein Gedanke zur „Maxime“ wird, wo¬
durch Er ſelbſt in deſſen Gefangenſchaft geräth, ſo daß nicht
Er die Maxime, ſondern dieſe vielmehr Ihn hat. Und mit der
Maxime hat er wieder einen „feſten Standpunkt“. Die Lehren
des Katechismus werden unverſehens Unſere Grundſätze
und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derſelben
oder der — Geiſt hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede
des „Fleiſches“ wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann Ich
nur durch das „Fleiſch“ die Tyrannei des Geiſtes brechen;
denn nur, wenn ein Menſch auch ſein Fleiſch vernimmt, ver¬
nimmt er ſich ganz, und nur, wenn er ſich ganz vernimmt,
iſt er vernehmend oder vernünftig. Der Chriſt vernimmt den
Jammer ſeiner geknechteten Natur nicht, ſondern lebt in „De¬
muth“; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche ſeiner
Perſon widerfährt: mit der „Geiſtesfreiheit“ glaubt er ſich
befriedigt. Führt aber einmal das Fleiſch das Wort und iſt
der Ton deſſelben, wie es nicht anders ſein kann, „leidenſchaft¬
lich“, „unanſtändig“, „nicht wohlmeinend“, „böswillig“ u. ſ. w.
ſo glaubt er Teufelsſtimmen zu vernehmen, Stimmen gegen
den Geiſt (denn Anſtand, Leidenſchaftloſigkeit, Wohlmeinung
u. dergl. iſt eben — Geiſt), und eifert mit Recht dagegen.
Er müßte nicht Chriſt ſein, wenn er ſie dulden wollte. Er
hört nur auf die Sittlichkeit, und ſchlägt die Sittenloſigkeit
6 *[84] aufs Maul, er hört nur auf die Geſetzlichkeit, und knebelt das
geſetzloſe Wort: Der Geiſt der Sittlichkeit und Geſetzlichkeit
hält ihn gefangen, ein ſtarrer, unbeugſamer Herr. Das nen¬
nen ſie die „Herrſchaft des Geiſtes“ —, es iſt zugleich der
Standpunkt des Geiſtes.
Und wen wollen nun die gewöhnlichen liberalen Herrn
frei machen? Nach weſſen Freiheit ſchreien und lechzen ſie
denn? Nach der des Geiſtes! Des Geiſtes der Sittlichkeit,
Geſetzlichkeit, Frömmigkeit, Gottesfurcht u.ſ.w. Das wollen
die antiliberalen Herrn auch, und der ganze Streit zwiſchen
beiden dreht ſich um den Vortheil, ob die letzteren das Wort
allein haben oder die erſteren einen „Mitgenuß deſſelben Vor¬
theils“ erhalten ſollen. Der Geiſt bleibt für beide der abſo¬
lute Herr, und ſie hadern nur darum, wer den hierarchiſchen
Thron, der dem „Statthalter des Herrn“ gebührt, einnehmen
ſoll. Das Beſte an der Sache iſt, daß man dem Treiben
ruhig zuſehen kann mit der Gewißheit, daß die wilden Thiere
der Geſchichte ſich eben ſo zerfleiſchen werden, wie die der
Natur; ihre verweſenden Cadaver düngen den Boden für —
Unſere Früchte.
Auf manchen andern Sparren, wie den des Berufes, der
Wahrhaftigkeit, der Liebe u. ſ. w. kommen Wir ſpäter zurück.
Wenn das Eigene dem Eingegebenen entgegengeſtellt
wird, ſo will der Einwurf nichts verſchlagen, daß Wir Iſolirtes
nicht haben können, ſondern alles im Weltzuſammenhange, alſo
durch den Eindruck des um Uns Befindlichen empfangen, mit¬
hin als ein „Eingegebenes“ haben; denn es iſt ein großer
Abſtand zwiſchen den Gefühlen und Gedanken, welche durch
[85] Anderes in mir angeregt, und denen, welche Mir gegeben
werden. Gott, Unſterblichkeit, Freiheit, Menſchlichkeit u. ſ. w.
werden Uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle ein¬
geprägt, die kräftiger oder flauer Unſer Inneres bewegen, und
entweder unbewußt Uns beherrſchen, oder in reicheren Naturen
zu Syſtemen und Kunſtwerken ſich darlegen können, immer
aber nicht angeregte, ſondern eingegebene Gefühle ſind, weil
Wir an ſie glauben und an ihnen hängen müſſen. Daß ein
Abſolutes ſei und dieſes Abſolute von Uns aufgenommen, ge¬
fühlt und gedacht werden müſſe, ſtand als Glaube bei denen
feſt, die alle Kraft ihres Geiſtes darauf verwandten, es zu er¬
kennen und darzuſtellen. Das Gefühl für das Abſolute
beſteht da als ein eingegebenes und kommt fortan nur zu den
mannigfaltigſten Offenbarungen ſeiner ſelbſt. So war in Klop¬
ſtock das religiöſe Gefühl ein eingegebenes, das ſich in der
Meſſiade nur künſtleriſch verkündete. Wäre hingegen die Reli¬
gion, welche er vorfand, für ihn nur eine Anregung zu Gefühl
und Gedanke geweſen, und hätte er ſich ganz eigen dagegen
zu ſtellen gewußt, ſo ergab ſich ſtatt religiöſer Begeiſterung eine
Auflöſung und Verzehrung des Objectes. Dafür ſetzte er im
reifen Alter nur ſeine kindiſchen, in der Kindheit empfangenen
Gefühle fort, und verpraßte die Kräfte ſeiner Mannheit in dem
Aufputz ſeiner Kindereien.
Der Unterſchied iſt alſo der, ob Mir Gefühle eingegeben
oder nur angeregt ſind. Die letzteren ſind eigene, egoiſtiſche,
weil ſie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgeſagt und
aufgedrungen wurden; zu den erſteren aber ſpreize Ich Mich
auf, hege ſie in Mir wie ein Erbtheil, cultivire ſie und bin
von ihnen beſeſſen. Wer hätte es niemals, bewußter oder
unbewußter gemerkt, daß Unſere ganze Erziehung darauf aus¬
[86] geht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d. h. ſie uns einzugeben,
ſtatt die Erzeugung derſelben Uns zu überlaſſen, wie ſie auch
ausfallen mögen. Hören Wir den Namen Gottes, ſo ſollen
Wir Gottesfurcht empfinden, hören Wir den der fürſtlichen
Majeſtät, ſo ſoll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Unterthänig¬
keit aufgenommen werden, hören Wir den der Moral, ſo ſollen
Wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören Wir von
dem und den Böſen, ſo ſollen Wir ſchaudern u. ſ. w. Auf
dieſe Gefühle iſt's abgeſehen, und wer z. B. die Thaten
der „Böſen“ mit Wohlgefallen vernähme, der müßte durch die
Zuchtruthe „gezüchtigt und erzogen“ werden. So mit ein¬
gegebenen Gefühlen vollgeſtopft, erſcheinen Wir vor den
Schranken der Mündigkeit und werden „mündig geſprochen“.
Unſere Ausrüſtung beſteht aus „erhebenden Gefühlen, erhabe¬
nen Gedanken, begeiſternden Grundſätzen, ewigen Principien“
u. ſ. w. Mündig ſind die Jungen dann, wenn ſie zwitſchern
wie die Alten; man hetzt ſie durch die Schule, damit ſie die
alte Leier lernen, und haben ſie dieſe inne, ſo erklärt man ſie
für mündig.
Wir dürfen nicht bei jeder Sache und jedem Namen,
der Uns vorkommt, fühlen, was Wir dabei fühlen möchten und
könnten, dürfen z. B. bei dem Namen Gottes nichts Lächer¬
liches denken, nichts Unehrerbietiges fühlen, ſondern es iſt Uns
vorgeſchrieben und eingegeben, was und wie Wir dabei fühlen
und denken ſollen.
Das iſt der Sinn der Seelſorge, daß meine Seele
oder mein Geiſt geſtimmt ſei, wie Andere es recht finden,
nicht wie Ich ſelbſt möchte. Wie viele Mühe koſtet es Einem
nicht, wenigſtens bei dem und jenem Namen endlich ſich ein
eigenes Gefühl zu ſichern und Manchem ins Geſicht zu
[87] lachen, der von Uns bei ſeinen Reden ein heiliges Geſicht und
eine unverzogene Miene erwartet. Das Eingegebene iſt Uns
fremd, iſt Uns nicht eigen, und darum iſt es „heilig“, und
es hält ſchwer, die „heilige Scheu davor“ abzulegen.
Heutiges Tages hört man auch wieder den „Ernſt“ an¬
preiſen, den „Ernſt bei hochwichtigen Gegenſtänden und Ver¬
handlungen“, den „deutſchen Ernſt“ u. ſ. w. Dieſe Art der
Ernſthaftigkeit ſpricht deutlich aus, wie alt und ernſtlich ſchon
die Narrheit und Beſeſſenheit geworden iſt. Denn es giebt
nichts Ernſthafteres als den Narren, wenn er auf den Kern¬
punkt ſeiner Narrheit kommt: da verſteht er vor großem Eifer
keinen Spaß mehr. (Siehe Tollhäuſer.)
§. 3.Die Hierarchie.
Die geſchichtliche Reflexion über Unſer Mongolenthum,
welche Ich an dieſer Stelle epiſodiſch einlegen will, gebe Ich
nicht mit dem Anſpruche aus Gründlichkeit oder auch nur auf
Bewährtheit, ſondern lediglich darum, weil Mich dünkt, ſie
könne zur Verdeutlichung des Uebrigen beitragen.
Die Weltgeſchichte, deren Geſtaltung eigentlich ganz dem
caucaſiſchen Menſchenſtamm angehört, ſcheint bis jetzt zwei
caucaſiſche Weltalter durchlaufen zu haben, in deren erſtem Wir
Unſere angeborne Negerhaftigkeit aus- und abzuarbeiten
hatten, worauf im zweiten die Mongolenhaftigkeit (das
Chineſenthum) folgte, dem gleichfalls endlich ein Ende mit
Schrecken gemacht werden muß. Die Negerhaftigkeit ſtellt dar
das Alterthum, die Zeit der Abhängigkeit von den Din¬
gen (vom Hahnenfraß, Vögelflug, vom Nieſen, von Donner
und Blitz, vom Rauſchen heiliger Bäume u. ſ. w.); die Mon¬
golenhaftigkeit die Zeit der Abhängigkeit von Gedanken, die
[88]chriſtliche. Der Zukunft ſind die Worte vorbehalten: Ich
bin Eigner der Welt der Dinge, und Ich bin Eigner der Welt
des Geiſtes.
Ins negerhafte Weltalter fallen die Züge des Seſoſtris
und die Bedeutſamkeit Aegyptens und Nordafrika's überhaupt.
Dem mongolenhaften Weltalter gehören die Hunnen- und Mon¬
golenzüge an, bis herauf zu den Ruſſen.
Der Werth Meiner kann unmöglich hoch angeſchlagen
werden, ſo lange der harte Demant des Nicht-Ich ſo ge¬
waltig im Preiſe ſteht, wie dieß ſowohl mit dem Gotte als
mit der Welt der Fall war. Das Nicht-Ich iſt noch zu kör¬
nig und unbezwinglich, um von mir verzehrt und abſorbirt zu
werden; vielmehr kriechen die Menſchen nur auf dieſem Un¬
beweglichen, d. h. aus dieſer Subſtanz mit außerordent¬
licher Geſchäftigkeit herum, wie Schmarotzerthierchen auf
einem Leibe, von deſſen Säften ſie Nahrung ziehen, ohne ihn
darum aufzuzehren. Es iſt die Geſchäftigkeit des Ungeziefers,
die Betriebſamkeit der Mongolen. Bei den Chineſen bleibt ja
Alles beim Alten, und nichts „Weſentliches“ oder „Subſtan¬
zielles“ unterliegt einer Veränderung; deſto rühriger arbeiten
ſie an dem Bleibenden, welches den Namen des „Alten“, der
„Vorfahren“ u. ſ. w. führt, herum.
Sonach iſt in unſerem mongoliſchen Weltalter alle Ver¬
änderung nur eine reformatoriſche oder ausbeſſernde, keine
deſtruktive oder verzehrende und vernichtende geweſen. Die
Subſtanz, das Object bleibt. All' unſere Betriebſamkeit war
nur Ameiſenthätigkeit und Flohſprung, Jongleurkünſte aus dem
unbeweglichen Seile des Objectiven, Frohndienſt unter der
Herrſchaft des Unveränderlichen oder „Ewigen“. Die Chine¬
ſen ſind wohl das poſitivſte Volk, weil ganz in Satzungen
[89] vergraben; aus dem Poſitiven iſt aber auch das chriſtliche
Weltalter nicht herausgekommen, d. h. aus der „beſchränkten
Freiheit“, der Freiheit „innerhalb gewiſſer Schranken“. Auf
der vorgeſchrittenſten Bildungsſtufe verdient dieſe Thätigkeit den
Namen der wiſſenſchaftlichen, des Arbeitens auf einer
unbewegten Vorausſetzung, einer unumſtößlichen Hypotheſe.
In ihrer erſten und unverſtändlichſten Form giebt ſich die
Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach ſeines Landes Sitte
und Gewohnheit handeln — heißt da ſittlich ſein. Darum
wird ein reines ſittliches Handeln, eine lautere, unverfälſchte
Sittlichkeit am ſchlichteſten in China geübt: man bleibt bei
der allen Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges
Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung iſt der
Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlich¬
keit. Es unterliegt auch in der That keinem Zweifel, daß
der Menſch ſich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit
der Dinge, der Welt, ſichert und eine eigene Welt gründet, in
welcher er allein heimiſch und zu Hauſe iſt, d. h. ſich einen
Himmel erbaut. Hat ja doch der „Himmel“ keinen andern
Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimath des Menſchen
ſei, worin ihn nichts Fremdes mehr beſtimmt und beherrſcht,
kein Einfluß des Irdiſchen mehr ihn ſelbſt entfremdet, kurz wo¬
rin die Schlacken des Irdiſchen abgeworfen ſind und der Kampf
gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm alſo nichts mehr
verſagt iſt. Der Himmel iſt das Ende der Entſagung, er iſt
der freie Genuß. Dort verſagt ſich der Menſch nichts mehr,
weil ihm nichts mehr fremd und feindlich iſt. Nun iſt aber
die Gewohnheit eine „andere Natur“, welche den Menſchen
von ſeiner erſten und urſprünglichen Natürlichkeit ablöſt und
befreit, indem ſie ihn gegen jede Zufälligkeit derſelben ſichert.
[90]
Die ausgebildete Gewohnheit der Chineſen hat für alle Vor¬
fälle geſorgt, und für Alles iſt „vorgeſehen“; was auch kom¬
men mag, es weiß der Chineſe immer, wie er ſich zu verhalten
hat, und er braucht ſich nicht erſt nach den Umſtänden zu be¬
ſtimmen: aus dem Himmel ſeiner Ruhe ſtürzt ihn kein unvor¬
hergeſehener Fall. Der ſittlich eingewohnte und eingelebte
Chineſe wird nicht überraſcht und überrumpelt: er verhält ſich
gegen Alles gleichmüthig, d. h. mit gleichem Muthe oder Ge¬
müthe, weil ſein Gemüth, durch die Vorſicht ſeiner altherge¬
brachten Sitte geſchützt, nicht außer Faſſung kommt. Auf der
Stufenleiter der Bildung oder Cultur beſteigt die Menſchheit
mithin durch die Gewohnheit die erſte Sproſſe, und da ſie
ſich vorſtellt, im Erklimmen der Cultur zugleich den Himmel,
das Reich der Cultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, ſo
beſteigt ſie wirklich die erſte Sproſſe der — Himmelsleiter.
Hat das Mongolenthum das Daſein geiſtiger Weſen feſt¬
geſtellt, eine Geiſterwelt, einen Himmel geſchaffen, ſo haben
die Caucaſier Jahrtauſende mit dieſen geiſtigen Weſen gerun¬
gen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was thaten ſie
alſo anders, als daß ſie auf mongoliſchem Grund bauten? Sie
haben nicht auf Sand, ſondern in der Luft gebaut, haben mit
dem Mongoliſchen gerungen, den mongoliſchen Himmel, den
Thiän, geſtürmt. Wann werden ſie dieſen Himmel endlich
vernichten? Wann werden ſie endlich wirkliche Caucaſier
werden und ſich ſelber finden? Wann wird die „Unſterblich¬
keit der Seele“, die ſich in letzterer Zeit noch mehr zu ſichern
glaubte, wenn ſie ſich als „Unſterblichkeit des Geiſtes“ prä¬
ſentirte, endlich in die Sterblichkeit des Geiſtes um¬
ſchlagen?
Im induſtriöſen Ringen der mongoliſchen Race hatten die
[91] Menſchen einen Himmel erbaut, als die vom caucaſiſchen
Menſchenſtamme, ſo lange ſie in ihrer mongoliſchen Färbung
es mit dem Himmel zu thun haben, die entgegengeſetzte Auf¬
gabe, die Aufgabe, jenen Himmel der Sitte zu ſtürmen, die
himmelſtürmende Thätigkeit übernahmen. Alle Menſchen¬
ſatzung zu unterwühlen, um über dem aufgeräumten Bauplatz
eine neue und — beſſere zu ſchaffen, alle Sitte zu verderben,
um immer neue und — beſſere Sitten an die Stelle derſelben
zu ſetzen u. ſ. w., darauf beſchränkt ſich ihre That. Iſt ſie
ſo aber ſchon rein und wirklich das, was ſie zu ſein trachtet,
und erreicht ſie ihr letztes Abſehen? Nein, ſie iſt in dieſem
Erſchaffen eines „Beſſeren“ mit dem Mongolenthum be¬
haftet. Sie ſtürmt den Himmel nur, um wieder einen Him¬
mel zu machen, ſie ſtürzt eine alte Gewalt nur, um eine neue
Gewalt zu legitimiren, ſie — verbeſſert nur. Gleichwohl
iſt der Zielpunkt, ſo oft er auch bei jedem neuen Anſatz aus
den Augen verſchwinden mag, der wirkliche, vollendete Sturz
des Himmels, der Sitte u. ſ. w., kurz des nur gegen die
Welt geſicherten Menſchen, der Iſolirung oder Innerlich¬
keit des Menſchen. Durch den Himmel der Cultur ſucht ſich
der Menſch von der Welt zu iſoliren, ihre feindſelige Macht zu
brechen. Dieſe Himmelsiſolirung muß aber gleichfalls gebrochen
werden, und das wahre Ende des Himmelſtürmens iſt der —
Himmelsſturz, die Himmelsvernichtung. Das Verbeſſern und
Reformiren iſt das Mongolenthum des Caucaſiers, weil er
dadurch von neuem wieder ſetzt, was vorher ſchon war, nämlich
eine Satzung, ein Allgemeines, einen Himmel. Er hegt die
unverſöhnlichſte Feindſchaft gegen den Himmel und baut doch täg¬
lich neue Himmel: Himmel auf Himmel thürmend erdrückt er
nur einen durch den andern, der Himmel der Juden zerſtört den
[92] der Griechen, der der Chriſten den der Juden, der der Pro¬
teſtanten den der Katholiken u. ſ. w. — Streifen die him¬
melſtürmenden Menſchen des caucaſiſchen Blutes ihre Mon¬
golenhaut ab, ſo werden ſie den Gemüthsmenſchen unter dem
Schutt der ungeheuren Gemüthswelt begraben, den iſolirten
Menſchen unter ſeiner iſolirten Welt, den Verhimmelnden un¬
ter ſeinem Himmel. Und der Himmel iſt das Geiſterreich,
das Reich der Geiſtesfreiheit.
Das Himmelreich, das Reich der Geiſter und Geſpenſter,
hat in der ſpeculativen Philoſophie ſeine rechte Ordnung ge¬
funden. Hier wurde es ausgeſprochen als das Reich der Ge¬
danken, Begriffe und Ideen: der Himmel iſt von Gedanken
und Ideen bevölkert, und dieß „Geiſterreich“ iſt dann die wahre
Wirklichkeit.
Dem Geiſte Freiheit erwerben wollen, das iſt Mongolen¬
thum, Geiſtesfreiheit iſt mongoliſche Freiheit, Gemüthsfreiheit,
moraliſche, ſittliche Freiheit u. ſ. w.
Man nimmt das Wort „Sittlichkeit“ wohl für gleich¬
bedeutend mit Selbſtthätigkeit, Selbſtbeſtimmung. Allein das
liegt nicht darin, und es hat ſich der Caucaſier vielmehr nur
ſelbſtthätig bewieſen trotz ſeiner mongoliſchen Sittlichkeit. Der
mongoliſche Himmel oder die Sitte blieb die feſte Burg, und
nur dadurch, daß der Caucaſier unaufhörlich gegen dieſe Burg
anſtürmte, bewies er ſich ſittlich; hätte er's gar nicht mehr
mit der Sitte zu thun gehabt, hätte er nicht an ihr ſeinen
unbezwinglichen, fortwährenden Feind gehabt, ſo hörte die Be¬
ziehung zur Sitte auf, mithin die Sittlichkeit. Daß alſo ſeine
Selbſtthätigkeit noch eine ſittliche iſt, das iſt eben das Mon¬
golenhafte an ihr, iſt ein Zeichen, daß er in derſelben nicht
zu ſich ſelbſt gekommen. Die „ſittliche Selbſtthätigkeit“ ent¬
[93] ſpricht ganz der „religiöſen und rechtgläubigen Philoſophie“,
der „conſtitutionellen Monarchie“, dem „chriſtlichen Staate“,
der „Freiheit in gewiſſen Schranken“, der „beſchränkten Pre߬
freiheit“, oder in einem Bilde dem ans Krankenlager gefeſſelten
Helden.
Erſt dann hat der Menſch das Schamanenthum und ſei¬
nen Spuk wirklich überwunden, wenn er nicht bloß den Ge¬
ſpenſterglauben, ſondern auch den Glauben an den Geiſt ab¬
zulegen die Kraft beſitzt, nicht bloß den Geiſterglauben, ſon¬
dern auch den Geiſtesglauben.
Wer an einen Spuk glaubt, nimmt nicht mehr das
„Hereinragen einer höhern Welt“ an, als wer an den Geiſt
glaubt, und beide ſuchen hinter der ſinnlichen Welt eine über¬
ſinnliche, kurz ſie erzeugen und glauben eine andere Welt,
und dieſe andere Welt, das Erzeugniß ihres Geiſtes,
iſt eine geiſtige Welt: ihre Sinne faſſen und wiſſen ja nichts
von einer anderen, unſinnlichen Welt, nur ihr Geiſt lebt darin.
Der Fortgang von dieſem mongoliſchen Glauben an das Da¬
ſein geiſtiger Weſen dahin, daß auch des Menſchen eigent¬
liches Weſen ſein Geiſt ſei, und daß auf dieſen allein, auf
ſein „Seelenheil“ alle Sorgfalt gerichtet werden müſſe, iſt nicht
ſchwer. Damit wird die Einwirkung auf den Geiſt, der ſo¬
genannte „moraliſche Einfluß“ geſichert.
Es ſpringt daher in die Augen, daß das Mongolenthum
die vollkommene Rechtloſigkeit der Sinnlichkeit, die Unſinnlichkeit
und Unnatur repräſentire, und daß die Sünde und das Sünd¬
bewußſein unſere Jahrtauſende lange mongoliſche Plage war.
Wer aber wird auch den Geiſt in ſein Nichts auflöſen?
Er, der mittelſt des Geiſtes die Natur als das Nichtige,
Endliche, Vergängliche darſtellte, er kann allein auch den Geiſt
[94] zu gleicher Nichtigeit herabſetzen: Ich kann es, es kann es
Jeder unter Euch, der als unumſchränktes Ich waltet und
ſchafft, es kann's mit einem Worte der — Egoiſt.
Vor dem Heiligen verliert man alles Machtgefühl und
allen Muth: man verhält ſich gegen daſſelbe ohnmächtig
und demüthig. Und doch iſt kein Ding durch ſich heilig,
ſondern durch Meine Heiligſprechung, durch Meinen Spruch,
Mein Urtheil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein — Gewiſſen.
Heilig iſt Alles, was dem Egoiſten unnahbar ſein ſoll,
unberührbar, außerhalb ſeiner Gewalt, d. h. über ihm:
heilig mit Einem Worte jede — Gewiſſensſache, denn
„dieß iſt Mir eine Gewiſſensſache“ heißt eben: „dieß halte Ich
heilig“.
Für kleine Kinder, wie für Thiere, exiſtirt nichts Heiliges,
weil man, um dieſer Vorſtellung Raum zu geben, ſchon ſo
weit zu Verſtand gekommen ſein muß, daß man Unterſchiede
wie: „gut und böſe, berechtigt und unberechtigt“ u. ſ. w. ma¬
chen kann; nur bei ſolchem Grade der Reflexion oder Verſtän¬
digkeit — dem eigentlichen Standpunkte der Religion — kann
an die Stelle der natürlichen Furcht die unnatürliche (d. h.
erſt durch Denken hervorgebrachte) Ehrfurcht treten, die „hei¬
lige Scheu.“ Es gehört dazu, daß man etwas außer ſich für
mächtiger, größer, berechtigter, beſſer u. ſ. w. halt, d. h. daß
man die Macht eines Fremden anerkennt, alſo nicht bloß
fühlt, ſondern ausdrücklich anerkennt, d. h. einräumt, weicht,
ſich gefangen giebt, ſich binden läßt (Hingebung, Demuth,
Unterwürfigkeit, Unterthänigkeit u. ſ. w.). Hier ſpukt die ganze
Geſpenſterſchaar der „chriſtlichen Tugenden.“
[95] Alles, wovor Ihr einen Reſpekt oder eine Ehrfurcht hegt,
verdient den Namen eines Heiligen; auch ſagt Ihr ſelbſt, Ihr
trüget eine „heilige Scheu“, es anzutaſten. Und ſelbſt
dem Unheiligen gebt Ihr dieſe Farbe (Galgen, Verbrechen
u. f. w.). Es graut Euch vor der Berührung deſſelben. Es
liegt etwas Unheimliches, d. h. Unheimiſches oder Uneige¬
nes darin.
„Gälte dem Menſchen nicht irgend etwas als heilig, ſo
wäre ja der Willkühr, der ſchrankenloſen Subjectivität Thür
und Thor geöffnet!“ Furcht macht den Anfang, und dem
rohſten Menſchen kann man ſich fürchterlich machen; alſo ſchon
ein Damm gegen ſeine Frechheit. Allein in der Furcht bleibt
immer noch der Verſuch, ſich vom Gefürchteren zu befreien
durch Liſt, Betrug, Pfiffe u. ſ. w. Dagegen iſt's in der Ehr¬
furcht ganz anders. Hier wird nicht bloß gefürchtet, ſondern
auch geehrt: das Gefürchtete iſt zu einer innerlichen Macht
geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre
daſſelbe, bin davon eingenommen, ihm zugethan und ange¬
hörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich voll¬
ſtändig in ſeiner Gewalt, und verſuche die Befreiung nicht
einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glau¬
bens daran, Ich glaube. Ich und das Gefürchtete ſind
Eins: „nicht Ich lebe, ſondern das Reſpektirte lebt in Mir!“
Weil der Geiſt, das Unendliche, kein Ende nehmen läßt, darum
iſt er ſtationair: er fürchtet das Sterben, er kann von ſei¬
nem Jeſulein nicht laſſen, die Größe der Endlichkeit wird von
ſeinem geblendeten Auge nicht mehr erkannt: das nun zur
Verehrung geſteigerte Gefürchtete darf nicht mehr angetaſtet
werden: die Ehrfurcht wird verewigt, das Reſpektirte wird ver¬
göttert. Der Menſch iſt nun nicht mehr ſchaffend, ſondern
[96]lernend (wiſſend, forſchend u. ſ. w.), d. h. beſchäftigt mit
einem feſten Gegenſtande, ſich vertiefend in ihn, ohne Rück¬
kehr zu ſich ſelber. Das Verhältniß zu dieſem Gegenſtande
iſt das des Wiſſens, des Ergründens und Begründens u. ſ. w.,
nicht das des Auflöſens (Abſchaffens u. ſ. w.). „Religiös
ſoll der Menſch ſein“, das ſteht feſt; daher beſchäftigt man
ſich nur mit der Frage, wie dieß zu erreichen, welches der
rechte Sinn der Religioſität u. ſ. w. Ganz anders, wenn
man das Axiom ſelbſt fraglich macht und in Zweifel zieht,
und ſollte es auch über den Haufen ſtürzen. Sittlichkeit iſt
auch ſolch eine heilige Vorſtellung: ſittlich müſſe man ſein,
und müſſe nur das rechte Wie, die rechte Art es zu ſein, auf¬
ſuchen. An die Sittlichkeit ſelbſt wagt man ſich nicht mit der
Frage, ob ſie nicht ſelbſt ein Truggebilde ſei: ſie bleibt über
allem Zweifel erhaben, unwandelbar. Und ſo geht es fort
mit dem Heiligen, Stufe für Stufe, vom „Heiligen“ bis zum
„Hochheiligen“.
Man theilt mitunter die Menſchen in zwei Klaſſen, in
Gebildete und Ungebildete. Die erſteren beſchäftigten
ſich, ſo weit ſie ihres Namens würdig waren, mit Gedanken,
mit dem Geiſte, und forderten, weil ſie in der nachchriſtlichen
Zeit, deren Princip eben der Gedanke iſt, die Herrſchenden
waren, für die von ihnen anerkannten Gedanken einen unter¬
würfigen Reſpekt. Staat, Kaiſer, Kirche, Gott, Sittlichkeit,
Ordnung u. ſ. w. ſind ſolche Gedanken oder Geiſter, die nur
für den Geiſt ſind. Ein bloß lebendiges Weſen, ein Thier,
kümmert ſich um ſie ſo wenig als ein Kind. Allein die Un¬
gebildeten ſind wirklich nichts als Kinder, und wer nur ſeinen
[97] Lebensbedürfniſſen nachhängt, iſt gleichgültig gegen jene Gei¬
ſter; weil er aber auch ſchwach gegen dieſelben iſt, ſo unter¬
liegt er ihrer Macht, und wird beherrſcht von — Gedanken.
Dieß iſt der Sinn der Hierarchie.
Hierarchie iſt Gedankenherrſchaft, Herrſchaft
des Geiſtes!
Hierarchiſch ſind Wir bis auf den heutigen Tag, unter¬
drückt von denen, welche ſich auf Gedanken ſtützen. Gedanken
ſind das Heilige.
Immer aber ſtoßen Beide an einander, der Gebildete an
den Ungebildeten, wie umgekehrt, und zwar nicht bloß im An¬
rennen zweier Menſchen, ſondern in ein und demſelben Men¬
ſchen. Denn kein Gebildeter iſt ſo gebildet, daß er nicht auch
an den Dingen Freude fände, mithin ungebildet wäre, und
kein Ungebildeter iſt ganz ohne Gedanken. Bei Hegel kommt
endlich zu Tage, welche Sehnſucht gerade der Gebildetſte nach
den Dingen hat, und welchen Abſcheu er vor jeder „hohlen
Theorie“ hegt. Da ſoll dem Gedanken ganz und gar die
Wirklichkeit, die Welt der Dinge, entſprechen, und kein Begriff
ohne Realität ſein. Dieß verſchaffte Hegel's Syſtem den
Namen des objectivſten, als feierten darin Gedanke und Ding
ihre Vereinigung. Aber es war dieß eben nur die äußerſte
Gewaltſamkeit des Denkens, die höchſte Despotie und Allein¬
herrſchaft deſſelben, der Triumph des Geiſtes, und mit ihm
der Triumph der Philoſophie. Höheres kann die Philo¬
ſophie nicht mehr leiſten, denn ihr Höchſtes iſt die Allge¬
walt des Geiſtes, die Allmacht des Geiſtes *).
7[98]
Die geiſtlichen Menſchen haben ſich Etwas in den Kopf
geſetzt, was realiſirt werden ſoll. Sie haben Begriffe
von Liebe, Güte u. dergl., die ſie verwirklicht ſehen möch¬
ten; darum wollen ſie ein Reich der Liebe auf Erden errichten,
worin Keiner mehr aus Eigennutz, ſondern Jeder „aus Liebe“
handelt. Die Liebe ſoll herrſchen. Was ſie ſich in den
Kopf geſetzt haben, wie ſoll man das anders nennen, als —
fixe Idee? Es „ſpukt ja in ihrem Kopfe“. Der beklem¬
mendſte Spuk iſt der Menſch. Man denke des Sprichwortes:
„Der Weg zum Verderben iſt mit guten Vorſätzen gepflaſtert.“
Der Vorſatz, die Menſchlichkeit ganz in ſich zu verwirklichen,
ganz Menſch zu werden, iſt von ſo verderblicher Art; dahin
gehören die Vorſätze, gut, edel, liebevoll u. ſ. w. zu werden.
In dem ſechſten Hefte der Denkwürdigkeiten S. 7 ſagt
Br. Bauer: „Jene Bürgerklaſſe, die für die neuere Geſchichte
ein ſo furchtbares Gewicht erhalten ſollte, iſt keiner aufopfern¬
den Handlung, keiner Begeiſterung für eine Idee, keiner Er¬
hebung fähig: ſie giebt ſich für nichts hin, als für das In¬
tereſſe ihrer Mittelmäßigkeit, d. h. ſie bleibt immer auf ſich
ſelbſt beſchränkt und ſiegt endlich nur durch ihre Maſſenhaftig¬
keit, mit welcher ſie die Anſtrengungen der Leidenſchaft, der
Begeiſterung, der Conſequenz zu ermüden wußte, durch ihre
Oberfläche, in welche ſie einen Theil der neuen Ideen ein¬
ſaugt.“ Und S. 6: „Sie hat die revolutionairen Ideen, für
welche nicht ſie, ſondern uneigennützige oder leidenſchaftliche
Männer ſich aufopferten, ſich allein zu Gute kommen laſſen,
den Geiſt in Geld verwandelt. — Freilich nachdem ſie jenen
*)[99] Ideen die Spitze, die Conſequenz, den zerſtörenden und gegen
allen Egoismus fanatiſchen Ernſt genommen hatte.“ Dieſe
Leute ſind alſo nicht aufopfernd, nicht begeiſtert, nicht ideal,
nicht conſequent, keine Enthuſiaſten; ſie ſind im gewöhnlichen
Verſtande Egoiſten, Eigennützige, auf ihren Vortheil bedacht,
nüchtern, berechnend u. ſ. w.
Wer iſt denn „aufopfernd“? Vollſtändig doch wohl der¬
jenige, der an Eins, Einen Zweck, Einen Willen, Eine Lei¬
denſchaft u. ſ. w. alles Andere ſetzt. Iſt der Liebende, der
Vater und Mutter verläßt, der alle Gefahren und Entbehrun¬
gen beſteht, um zu ſeinem Ziele zu kommen, nicht aufopfernd?
Oder der Ehrgeizige, der alle Begierden, Wünſche und Be¬
friedigungen der einzigen Leidenſchaft darbringt, oder der Gei¬
zige, der ſich Alles verſagt, um Schätze zu ſammeln, oder der
Vergnügungsſüchtige u. ſ. w.? Ihn beherrſcht eine Leiden¬
ſchaft, der er die übrigen zum Opfer bringt.
Und ſind dieſe Aufopfernden etwa nicht eigennützig, nicht
Egoiſten? Da ſie nur Eine herrſchende Leidenſchaft haben,
ſorgen ſie auch nur für Eine Befriedigung, aber für dieſe um
deſto eifriger: ſie gehen in ihr auf. Egoiſtiſch iſt ihr ganzes
Thun und Treiben, aber es iſt ein einſeitiger, unaufgeſchloſſe¬
ner, bornirter Egoismus: es iſt Beſeſſenheit.
„Das ſind ja kleinliche Leidenſchaften, von denen ſich im
Gegentheil der Menſch nicht knechten laſſen ſoll. Für eine
große Idee, eine große Sache muß der Menſch Opfer brin¬
gen!“ Eine „große Idee“, eine „gute Sache“ iſt etwa die
Ehre Gottes, für die Unzählige in den Tod gingen, das
Chriſtenthum, das ſeine bereitwilligen Märtyrer gefunden hat,
die alleinſeligmachende Kirche, die ſich Ketzeropfer gierig ge¬
7*[100] langt hat; die Freiheit und Gleichheit, der blutige Guillotinen
zu Dienſten ſtanden.
Wer für eine große Idee, eine gute Sache, eine Lehre,
ein Syſtem, einen erhabenen Beruf lebt, der darf kein welt¬
liches Gelüſte, kein ſelbſtſüchtiges Intereſſe in ſich aufkommen
laſſen. Hier haben Wir den Begriff des Pfaffenthums,
oder wie es in ſeiner pädagogiſchen Wirkſamkeit auch genannt
werden kann, der Schulmeiſterlichkeit; denn die Idealen ſchul¬
meiſtern Uns. Der Geiſtliche iſt recht eigentlich berufen, der
Idee zu leben und für die Idee, die wahrhaft gute Sache,
zu wirken. Deshalb fühlt das Volk, wie wenig es ihm an¬
ſtehe, einen weltlichen Hochmuth zu zeigen, ein Wohlleben zu
begehren, Vergnügen, wie Tanz und Spiel, mitzumachen, kurz
ein anderes als ein „heiliges Intereſſe“ zu haben. Daher
ſchreibt ſich auch wohl die dürftige Beſoldung der Lehrer, die
ſich allein durch die Heiligkeit ihres Berufes belohnt fühlen
und ſonſtigen Genüſſen „entſagen“ ſollen.
Auch an einer Rangliſte der heiligen Ideen, deren eine
oder mehrere der Menſch als ſeinen Beruf anſehen ſoll, fehlt
es nicht. Familie, Vaterland, Wiſſenſchaft u. dergl. kann an
Mir einen berufstreuen Diener finden.
Da ſtoßen Wir auf den uralten Wahn der Welt, die
des Pfaffenthums noch nicht entrathen gelernt hat. Für
eine Idee leben und ſchaffen, das ſei der Beruf des Men¬
ſchen, und nach der Treue ſeiner Erfüllung meſſe ſich ſein
menſchlicher Werth.
Dieß iſt die Herrſchaft der Idee oder das Pfaffenthum.
Robespierre z. B., St. Juſt u. ſ. w. waren durch und durch
Pfaffen, begeiſtert von der Idee, Enthuſiaſten, conſequente
Rüſtzeuge dieſer Idee, ideale Menſchen. So ruft St. Juſt
[101] in einer Rede aus: „Es giebt etwas Schreckliches in der hei¬
ligen Liebe zum Vaterlande; ſie iſt ſo ausſchließend, daß ſie
Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menſchliche Beach¬
tung dem öffentlichen Intereſſe opfert. Sie ſtürzt Manlius in
den Abgrund; ſie opfert ihre Privatneigungen; ſie führt Re¬
gulus nach Carthago, wirft einen Römer in den Schlund,
und ſetzt Marat als Opfer ſeiner Hingebung, ins Pantheon.“
Dieſen Vertretern idealer oder heiliger Intereſſen ſteht
nun eine Welt zahlloſer „perſönlicher“ profaner Intereſſen
gegenüber. Keine Idee, kein Syſtem, keine heilige Sache iſt
ſo groß, daß ſie nie von dieſen perſönlichen Intereſſen über¬
boten und modificirt werden ſollte. Wenn ſie auch augen¬
blicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus ſchwei¬
gen, ſo kommen ſie doch durch „den geſunden Sinn des Vol¬
kes“ bald wieder obenauf. Jene Ideen ſiegen erſt dann voll¬
kommen, wenn ſie nicht mehr gegen die perſönlichen Intereſſen
feindlich ſind, d.h. wenn ſie den Egoismus befriedigen.
Der Mann, der eben vor meinem Fenſter Bücklinge zum
Verkauf ausruft, hat ein perſönliches Intereſſe an gutem Ab¬
ſatz, und wenn ſein Weib oder wer ſonſt ihm desgleichen
wünſchen, ſo bleibt dieß gleichwohl ein perſönliches Intereſſe.
Entwendete hingegen ihm ein Dieb ſeinen Korb, ſo entſtünde
ſogleich ein Intereſſe Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen
Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebſtahl
verabſcheuen: ein Intereſſe, wobei die Perſon des Bücklings¬
händlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie
des „Beſtohlenen“ in den Vordergrund träte. Aber auch hier
könnte noch alles auf ein perſönliches Intereſſe hinauslaufen,
indem jeder Theilnehmende bedächte, daß er der Beſtrafung
des Diebes deshalb beitreten müſſe, weil ſonſt das ſtrafloſe
[102] Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige
bringen könnte. Eine ſolche Berechnung läßt ſich indeß ſchwer¬
lich bei Vielen vorausſetzen, und man wird vielmehr den Aus¬
ruf hören: der Dieb ſei ein „Verbrecher“. Da haben Wir
ein Urtheil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren
Ausdruck erhält in dem Begriffe „Verbrechen“. Nun ſtellt
ſich die Sache ſo: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir,
noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Antheil nehme,
den geringſten Schaden brächte, ſo würde Ich dennoch gegen
daſſelbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit
begeiſtert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr
feindlich iſt, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebſtahl ohne
alle Frage für verabſcheuungswürdig gilt, darum glaubt z. B.
Proudhon ſchon mit dem Satze: „Das Eigenthum iſt ein Dieb¬
ſtahl“ dieſes gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffi¬
ſchen iſt er allemal ein Verbrechen oder mindeſtens Vergehen.
Hier hat das perſönliche Intereſſe ein Ende. Dieſe be¬
ſtimmte Perſon, die den Korb geſtohlen hat, iſt meiner Perſon
völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, dieſem Begriffe, von
welchem jene Perſon ein Exemplar darſtellt, nehme Ich ein
Intereſſe. Der Dieb und der Menſch ſind in meinem Geiſte
unverſöhnliche Gegenſätze; denn man iſt nicht wahrhaft Menſch,
wenn man Dieb iſt; man entwürdigt in ſich den Menſchen
oder die „Menſchheit“, wenn man ſtiehlt. Aus dem perſön¬
lichen Antheil herausfallend, geräth man in den Philan¬
thropismus, die Menſchenfreundlichkeit, die gewöhnlich ſo
mißverſtanden wird, als ſei ſie eine Liebe zu den Menſchen,
zu jedem Einzelnen, während ſie nichts als eine Liebe des
Menſchen, des unwirklichen Begriffes, des Spuks iſt. Nicht
τοὺς ἀνϑϱώπους, die Menſchen, ſondern τὸν ἄνϑϱωπον, den
[103] Menſchen, ſchließt der Philanthrop in ſein Herz. Allerdings
bekümmert er ſich um jeden Einzelnen, aber nur deswegen,
weil er ſein geliebtes Ideal überall verwirklicht ſehen möchte.
Alſo von der Sorge um Mich, Dich, Uns iſt hier keine
Rede: das wäre perſönliches Intereſſe und gehört in das Ca¬
pitel von der „weltlichen Liebe“. Der Philanthropismus iſt
eine himmliſche, geiſtige, eine — pfäffiſche Liebe. Der
Menſch muß in Uns hergeſtellt werden, und gingen Wir ar¬
men Teufel darüber auch zu Grunde. Es iſt derſelbe pfäffiſche
Grundſatz, wie jenes berühmte fiat justitia, pereat mundus:
Menſch und Gerechtigkeit ſind Ideen, Geſpenſter, denen zu
Liebe alles geopfert wird: darum ſind die pfäffiſchen Geiſter die
„aufopfernden“.
Wer für den Menſchen ſchwärmt, der läßt, ſo weit jene
Schwärmerei ſich erſtreckt, die Perſonen außer Acht und
ſchwimmt in einem idealen, heiligen Intereſſe. Der Menſch
iſt ja keine Perſon, ſondern ein Ideal, ein Spuk.
Zu dem Menſchen kann nun das Allerverſchiedenſte ge¬
hören und gerechnet werden. Findet man das Haupterforder¬
niß deſſelben in der Frömmigkeit, ſo entſteht das religiöſe
Pfaffenthum; ſieht man's in der Sittlichkeit, ſo erhebt das
ſittliche Pfaffenthum ſein Haupt. Die pfäffiſchen Geiſter un¬
ſerer Tage möchten deshalb aus Allem eine „Religion“ ma¬
chen; eine „Religion der Freiheit, Religion der Gleichheit
u. ſ. w.“, und alle Ideen werden ihnen zu einer „heiligen
Sache“, z. B. ſelbſt das Staatsbürgerthum, die Politik, die
Oeffentlichkeit, Preßfreiheit, Schwurgericht u. ſ. w.
Was heißt nun in dieſem Sinne „Uneigennützigkeit“?
Nur ein ideales Intereſſe haben, vor welchem kein Anſehen der
Perſon gilt!
[104]
Dem widerſetzt ſich der ſtarre Kopf des weltlichen Men¬
ſchen, iſt aber Jahrtauſende lang immer ſo weit wenigſtens
erlegen, daß er den widerſpenſtigen Nacken beugen und „die
höhere Macht verehren“ mußte: das Pfaffenthum drückte ihn
nieder. Hatte der weltliche Egoiſt Eine höhere Macht abge¬
ſchüttelt, z. B. das Altteſtamentliche Geſetz, den römiſchen
Papſt u. ſ. [w.], ſo war gleich eine ſiebenfach höhere wieder
über ihm, z. B. der Glaube an der Stelle des Geſetzes, die
Umwandlung aller Laien in Geiſtliche an Stelle des beſchränk¬
ten Clerus u. ſ. w. Es ging ihm wie dem Beſeſſenen, in
den ſieben Teufel fuhren, als er von dem einen ſich befreit zu
haben glaubte.
In der oben angeführten Stelle wird der Bürgerklaſſe alle
Idealität u. ſ. w. abgeſprochen. Sie machinirte allerdings
gegen die ideale Conſequenz, mit welcher Robespierre das
Princip ausführen wollte. Der Inſtinkt ihres Intereſſes ſagte
ihr, daß dieſe Conſequenz mit dem, wonach ihr der Sinn
ſtände, zu wenig harmonire, und daß es gegen ſich ſelbſt han¬
deln hieße, wollte ſie der principiellen Begeiſterung Vorſchub
leiſten. Sollte ſie etwa ſich ſo uneigennützig benehmen, alle
ihre Zwecke fahren zu laſſen, um eine herbe Theorie zum
Triumphe zu führen? Es ſagt das freilich den Pfaffen treff¬
lich zu, wenn die Leute ihrem Aufrufe Gehör geben: „Wirf
alles von Dir und folge mir nach,“ oder: „Verkaufe alles,
was Du haſt, und gieb es den Armen, ſo wirſt Du einen Schatz
im Himmel haben, und komm und folge mir nach.“ Einige
entſchiedene Idealiſten gehorchen dieſem Rufe; die Meiſten hin¬
gegen handeln wie Ananias und Sapphira, indem ſie halb
pfäffiſch oder religiös und halb weltlich ſich betragen, Gott
und dem Mammon dienen.
[105]
Ich verdenke es der Bürgelklaſſe nicht, daß ſie ſich durch
Robespierre nicht um ihre Zwecke bringen laſſen mochte, d. h.
daß ſie bei ihrem Egoismus anfragte, wie weit ſie der revo¬
lutionären Idee Raum geben dürfe. Aber denen könnte man's
verdenken (wenn überhaupt ein Verdenken hier angebracht wäre),
die durch die Intereſſen der Bürgerklaſſe ſich um ihre eigenen
bringen ließen. Indeß werden ſie ſich nicht über kurz oder lang
gleichfalls auf ihren Vortheil verſtehen lernen? Auguſt Becker
ſagt *): „Die Producenten (Proletarier) zu gewinnen, genügt
eine Negation der hergebrachten Rechtsbegriffe keineswegs. Die
Leute kümmern ſich leider wenig um den theoretiſchen Sieg der
Idee. Man muß ihnen ad oculos demonſtriren, wie dieſer
Sieg praktiſch für's Leben benutzt werden könne.“ Und S. 32:
„Ihr müßt die Leute bei ihren wirklichen Intereſſen anpacken,
wenn Ihr auf ſie wirken wollt.“ Gleich darauf zeigt er, wie
unter unſern Bauern ſchon eine recht artige Sittenloſigkeit um
ſich greift, weil ſie ihr wirkliches Intereſſe lieber verfolgen, als
die Gebote der Sittlichkeit.
Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeiſter dem
Menſchen dienten, darum ſchnitten ſie den Menſchen die Hälſe
ab. Die revolutionären Laien oder Profanen trugen nicht etwa
eine größere Scheu vor dem Halsabſchneiden, waren aber we¬
niger um die Menſchenrechte, d. h. die Rechte des Menſchen
beſorgt, als um die ihrigen.
Wie kommt es indeſſen, daß der Egoismus derer, welche
das perſönliche Intereſſe behaupten und bei ihm alle Zeit an¬
fragen, dennoch immer wieder einem pfäffiſchen oder ſchulmei¬
[106] ſterlichen, d. h. einem idealen Intereſſe unterliegt? Ihre Per¬
ſon kommt ihnen ſelbſt zu klein, zu unbedeutend vor, und iſt
es in der That auch, um Alles in Anſpruch zu nehmen und
ſich vollſtändig durchſetzen zu können. Ein ſicheres Zeichen
dafür liegt darin, daß ſie ſich ſelbſt in zwei Perſonen, eine
ewige und eine zeitliche, zertheilen, und jedesmal nur entweder
für die eine oder für die andere ſorgen, am Sonntage für die
ewige, am Werkeltage für die zeitliche, im Gebete für jene, in
der Arbeit für dieſe. Sie haben den Pfaffen in ſich, darum
werden ſie ihn nicht los, und hören ſich ſonntäglich in ihrem
Innern abgekanzelt.
Wie haben die Menſchen gerungen und gerechnet, um
dieſe dualiſtiſchen Weſen zu ermitteln. Idee folgte auf Idee,
Princip auf Princip, Syſtem auf Syſtem, und keines wußte
den Widerſpruch des „weltlichen“ Menſchen, des ſogenannten
„Egoiſten“ auf die Dauer niederzuhalten. Beweiſt dieß nicht,
daß alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen ganzen
Willen in ſich aufzunehmen und ihm genugzuthun? Sie waren
und blieben Mir feindlich, wenn auch die Feindſchaft längere
Zeit verhüllt lag. Wird es mit der Eigenheit ebenſo ſein?
Iſt auch ſie nur ein Vermittlungsverſuch? Zu welchem Prin¬
cipe Ich Mich wendete, wie etwa zu dem der Vernunft,
Ich mußte mich immer wieder von ihm abwenden. Oder
kann Ich immer vernünftig ſein, in Allem Mein Leben nach
der Vernunft einrichten? Nach der Vernünftigkeit ſtreben
kann Ich wohl. Ich kann ſie lieben, wie eben Gott und
jede andere Idee auch: Ich kann Philoſoph ſein, ein Liebhaber
der Weisheit, wie Ich Gott lieb habe. Aber was Ich liebe,
wonach Ich ſtrebe, das iſt nur in Meiner Idee, Meiner Vor¬
ſtellung, Meinen Gedanken: es iſt in Meinem Herzen, Meinem
[107] Kopfe, es iſt in Mir wie das Herz, aber es iſt nicht Ich, Ich
bin es nicht.
Zur Wirkſamkeit pfäffiſcher Geiſter gehört beſonders das,
was man häufig „moraliſchen Einfluß“ nennen hört.
Der moraliſche Einfluß nimmt da ſeinen Anfang, wo die
Demüthigung beginnt, ja er iſt nichts anderes, als dieſe
Demüthigung ſelbſt, die Brechung und Beugung des Muthes
zur Demuth herab. Wenn Ich Jemand zurufe, bei Spren¬
gung eines Felſens aus deſſen Nähe zu gehen, ſo übe Ich
keinen moraliſchen Einfluß durch dieſe Zumuthung; wenn Ich
dem Kinde ſage, Du wirſt hungern, willſt Du nicht eſſen,
was aufgetiſcht wird, ſo iſt dieß kein moraliſcher Einfluß.
Sage Ich ihm aber: Du wirſt beten, die Aeltern ehren, das
Krucifix reſpectiren, die Wahrheit reden u. ſ. w., denn dieß
gehört zum Menſchen und iſt der Beruf des Menſchen, oder
gar, dieß iſt Gottes Wille, ſo iſt der moraliſche Einfluß fertig:
ein Menſch ſoll ſich da beugen vor dem Beruf des Menſchen,
ſoll folgſam ſein, demüthig werden, ſoll ſeinen Willen aufgeben
gegen einen fremden, der als Regel und Geſetz aufgeſtellt wird;
er ſoll ſich erniedrigen vor einem Höheren: Selbſternie¬
drigung. „Wer ſich ſelbſt erniedrigt, wird erhöhet werden.“
Ja, ja, die Kinder müſſen bei Zeiten zur Frömmigkeit, Gott¬
ſeligkeit und Ehrbarkeit angehalten werden; ein Menſch von
guter Erziehung iſt Einer, dem „gute Grundſätze“ beigebracht
und eingeprägt, eingetrichtert, eingebläut und eingepredigt
worden ſind.
Zuckt man hierüber die Achſeln, gleich ringen die Guten
verzweiflungsvoll die Hände und rufen: „Aber um's Himmels
willen, wenn man den Kindern keine guten Lehren geben ſoll,
ſo laufen ſie ja gerades Weges der Sünde in den Rachen,
[108] und werden nichtsnutzige Rangen!“ Gemach, Ihr Unheils¬
propheten. Nichtsnutzige in eurem Sinne werden ſie aller¬
dings werden: aber Euer Sinn iſt eben ein ſehr nichtsnutziger
Sinn. Die frechen Buben werden ſich von Euch nichts mehr
einſchwatzen und vorgreinen laſſen und kein Mitgefühl für all
die Thorheiten haben, für welche Ihr ſeit Menſchengedenken
ſchwärmt und faſelt: ſie werden das Erbrecht aufheben, d. h.
ſie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr
ſie von den Vätern geerbt habt; ſie vertilgen die Erbſünde.
Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchſten —
ſo werden ſie antworten: Wenn er Uns beugen will, ſo komme
er ſelbſt und thue es; Wir wenigſtens wollen Uns nicht von
freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit ſeinem Zorne
und ſeinen Strafen droht, ſo werden ſie's nehmen, wie ein
Drohen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen
Geſpenſterfurcht einzujagen, ſo iſt die Herrſchaft der Geſpenſter
zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen — Glauben.
Und ſind es nicht gerade wieder die Liberalen, die auf
eine gute Erziehung und Verbeſſerung des Erziehungsweſens
dringen? Denn wie könnte auch ihr Liberalismus, ihre „Frei¬
heit in den Grenzen des Geſetzes“ ohne Zucht zu Stande
kommen? Erziehen ſie auch nicht gerade zur Gottesfurcht, ſo
fordern ſie doch um ſo ſtrenger Menſchenfurcht, d. h.
Furcht vor dem Menſchen, und wecken durch Zucht die „Be¬
geiſterung für den wahrhaft menſchlichen Beruf“.
Eine lange Zeit verfloß, in welcher man ſich mit dem
Wahne begnügte, die Wahrheit zu haben, ohne daß man
daran ernſtlich dachte, ob man ſelbſt vielleicht wahr ſein müſſe,
[109] um die Wahrheit zu beſitzen. Dieſe Zeit war das Mittel¬
alter. Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtſein,
demjenigen Bewußtſein, welches nur für Dinge oder Sinnliches
und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Unding¬
liche, Unſinnliche zu faſſen. Wie man freilich auch ſein Auge
anſtrengt, um das Entfernte zu ſehen, oder ſeine Hand müh¬
ſam übt, bis ſie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die
Taſten kunſtgerecht zu greifen: ſo kaſteite man ſich ſelbſt auf
die mannigfachſte Weiſe, damit man fähig würde, das Ueber¬
ſinnliche ganz in ſich aufzunehmen. Allein, was man kaſteite,
war doch nur der ſinnliche Menſch, das gemeine Bewußtſein,
das ſogenannte endliche oder gegenſtändliche Denken. Da
dieſes Denken jedoch, dieſer Verſtand, welchen Luther unter
den Namen der Vernunft „anpfuit“, der Auffaſſung des Gött¬
lichen unfähig iſt, ſo trug ſeine Kaſteiung gerade ſo viel dazu
bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr
aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, ſie würden auf
dieſem Wege endlich Flöten blaſen lernen. — Erſt Luther, mit
welchem das ſogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der
Menſch ſelber ein anderer werden müſſe, wenn er die Wahr¬
heit auffaſſen wolle, nämlich eben ſo wahr, als die Wahrheit
ſelbſt. Nur wer die Wahrheit ſchon im Glauben hat, nur
wer an ſie glaubt, kann ihrer theilhaftig werden, d. h. nur
der Gläubige findet ſie zugänglich und ergründet die Tiefen
derſelben. Nur dasjenige Organ des Menſchen, welches über¬
haupt aus den Lungen zu blaſen vermag, kann auch das
Flötenblaſen erreichen, und nur derjenige Menſch kann der
Wahrheit theilhaftig werden, der für ſie das rechte Organ hat.
Wer nur Sinnliches, Gegenſtändliches, Dingliches zu denken
im Stande iſt, der ſtellt ſich auch in der Wahrheit nur Ding¬
[110] liches vor. Die Wahrheit iſt aber Geiſt, durchaus Unſinn¬
liches, daher nur für das „höhere Bewußtſein“, nicht für das
„irdiſch geſinnte“.
Demnach geht mit Luther die Erkenntniß auf, daß die
Wahrheit, weil ſie Gedanke iſt, nur für den denkenden
Menſchen ſei. Und dieß heißt, daß der Menſch fortan einen
ſchlechthin anderen Standpunkt einnehmen müſſe, nämlich den
himmliſchen, gläubigen, wiſſenſchaftlichen, oder den Standpunkt
des Denkens gegenüber ſeinem Gegenſtande dem — Ge¬
danken, den Standpunkt des Geiſtes gegenüber dem Geiſte.
Alſo: Nur der Gleiche erkennt den Gleichen! „Du gleichſt
dem Geiſt, den Du begreifſt.“
Weil der Proteſtantismus die mittelalterliche Hierarchie
knickte, konnte die Meinung Wurzel faſſen, es ſei die Hierarchie
überhaupt durch ihn gebrochen worden, und gänzlich überſehen
werden, daß er gerade eine „Reformation“ war, alſo eine Auf¬
friſchung der veralteten Hierarchie. Jene mittelalterliche war
nur eine ſchwächliche Hierarchie geweſen, da ſie alle mögliche
Barbarei des Profanen unbezwungen neben ſich hergehen laſſen
mußte, und erſt die Reformation ſtählte die Kraft der Hierarchie.
Wenn Bruno Bauer meint *): „Wie die Reformation haupt¬
ſächlich die abſtracte Losreißung des religiöſen Princips von
Kunſt, Staat und Wiſſenſchaft, alſo die Befreiung deſſelben
von jenen Mächten war, mit denen es ſich im Alterthum der
Kirche und in der Hierarchie des Mittelalters verbunden hatte,
ſo ſind auch die theologiſchen und kirchlichen Richtungen, welche
aus der Reformation hervorgingen, nur die conſequente Durch¬
führung dieſer Abſtraction des religiöſen Princips von den
[111] andern Mächten der Menſchheit:“ ſo ſehe Ich gerade in dem
Gegentheil das Richtige und meine, die Geiſterherrſchaft oder
Geiſtesfreiheit — was auf Eins hinauskommt — ſei nie
zuvor ſo umfaſſend und allmächtig geweſen, weil die jetzige,
ſtatt das religiöſe Princip von Kunſt, Staat und Wiſſenſchaft
loszureißen, vielmehr dieſe ganz aus der Weltlichkeit in das
„Reich des Geiſtes“ erhob und religiös machte.
Man ſtellte paſſend Luther und Carteſius zuſammen in
dem „Wer glaubt, iſt ein Gott“ und „Ich denke, alſo bin
Ich“ (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menſchen iſt das
Denken, der — Geiſt. Alles kann ihm entriſſen werden,
das Denken nicht, nicht der Glaube. Beſtimmter Glaube,
wie Glaube an Zeus, Aſtarte, Jehova, Allah u. ſ. w. kann
zerſtört werden, der Glaube ſelbſt hingegen iſt unzerſtörbar.
Im Denken iſt Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich
Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr ge¬
währt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürſprache der Hei¬
ligen, oder durch die löſende und bindende Kirche, ſondern
Ich verſchaffe Mir's ſelber. Kurz Mein Sein (das sum) iſt
ein Leben im Himmel des Denkens, des Geiſtes, ein cogitare.
Ich ſelber aber bin nichts anderes als Geiſt, als denkender
(nach Carteſius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib,
das bin Ich nicht; Mein Fleiſch mag leiden von Gelüſten
oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleiſch, ſondern Ich bin
Geiſt, nur Geiſt.
Dieſer Gedanke durchzieht die Reformationsgeſchichte bis
heute.
Erſt die neuere Philoſophie ſeit Carteſius hat Ernſt da¬
mit gemacht, das Chriſtenthum zu vollendeter Wirkſamkeit zu
bringen, indem ſie das „wiſſenſchaftliche Bewußtſein“ zum
[112] allein wahren und geltenden erhob. Daher beginnt ſie mit
dem abſoluten Zweifel, dem dubitare, mit der „Zerknirſchung“
des gemeinen Bewußtſeins, mit der Abwendung von Allem,
was nicht durch den „Geiſt“, das „Denken“ legitimirt wird.
Nichts gilt ihr die Natur, nichts die Meinung der Menſchen,
ihre „Menſchenſatzungen“, und ſie ruht nicht, bis ſie in Alles
Vernunft gebracht hat und ſagen kann „das Wirkliche iſt das
Vernünftige und nur das Vernünftige iſt das Wirkliche“. So
hat ſie endlich den Geiſt, die Vernunft zum Siege geführt,
und Alles iſt Geiſt, weil Alles vernünftig iſt, die ganze Na¬
tur ſo gut als ſelbſt die verkehrteſten Meinungen der Menſchen
Vernunft enthalten: denn „es muß ja Alles zum Beſten die¬
nen“, d. h. zum Siege der Vernunft führen.
Das dubitare des Carteſius enthält den entſchiedenen
Ausſpruch, daß nur das cogitare, das Denken, der Geiſt —
ſei. Ein vollkommener Bruch mit dem „gemeinen“ Bewußt¬
ſein, welches den unvernünftigen Dingen Wirklichkeit zu¬
ſchreibt! Nur das Vernünftige iſt, nur der Geiſt iſt! Dieß
iſt das Princip der neueren Philoſophie, das ächt chriſtliche.
Scharf ſchied ſchon Carteſius den Körper vom Geiſte, und
„der Geiſt iſt's, der ſich den Körper baut“ ſagt Goethe.
Aber dieſe Philoſophie ſelbſt, die chriſtliche, wird doch das
Vernünftige nicht los, und eifert darum gegen das „bloß
Subjective“, gegen die „Einfälle, Zufälligkeiten, Willkühr“
u. ſ. w. Sie will ja, daß das Göttliche in Allem ſichtbar
werden ſoll, und alles Bewußtſein ein Wiſſen des Göttlichen
werde und der Menſch Gott überall ſchaue; aber Gott iſt
eben nie ohne den Teufel.
Ein Philoſoph iſt eben darum Derjenige nicht zu nennen,
welcher zwar offene Augen für die Dinge der Welt, einen
[113] klaren und unverblendeten Blick, ein richtiges Urtheil über die
Welt hat, aber in der Welt eben nur die Welt, in den Ge¬
genſtänden nur die Gegenſtände, kurz Alles proſaiſch, wie es
iſt, ſieht, ſondern ein Philoſoph iſt allein Derjenige, welcher
in der Welt den Himmel, in dem Irdiſchen das Ueberirdiſche,
in dem Weltlichen das — Göttliche ſieht und nachweiſt
oder beweiſt. Jener mag noch ſo verſtändig ſein, es bleibt
doch dabei: Was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht, das
übet in Einfalt ein kindlich Gemüth. Dies kindliche Gemüth
macht erſt den Philoſophen, dieſes Auge für das Göttliche.
Jener hat nur ein „gemeines“ Bewußtſein, wer aber das
Göttliche weiß und zu ſagen weiß, der hat ein „wiſſenſchaft¬
liches“. Aus dieſem Grunde verwies man den Baco aus dem
Reiche der Philoſophen. Und weiter ſcheint allerdings Das¬
jenige, was man engliſche Philoſophie nennt, es nicht gebracht
zu haben, als zu den Entdeckungen ſogenannter „offener Köpfe“,
wie Bacon und Hume waren. Die Einfalt des kindlichen
Gemüthes wußten die Engländer nicht zu philoſophiſcher Be¬
deutung zu erheben, wußten nicht aus kindlichen Gemüthern
— Philoſophen zu machen. Dies heißt ſo viel als: ihre
Philoſophie vermochte nicht, theologiſch oder Theologie
zu werden, und doch kann ſie nur als Theologie ſich wirklich
ausleben, ſich vollenden. In der Theologie iſt die Wahl¬
ſtatt ihres Todeskampfes. Bacon bekümmerte ſich nicht um
die theologiſchen Fragen und Cardinalpunkte.
Am Leben hat das Erkennen ſeinen Gegenſtand. Das
deutſche Denken ſucht mehr als das der Uebrigen zu den An¬
fängen und Quellpunkten des Lebens zu gelangen, und ſieht
im Erkennen ſelbſt erſt das Leben. Carteſius's cogito, ergo
sum hat den Sinn: Man lebt nur, wenn man denkt. Den¬
8[114] kendes Leben heißt: „geiſtiges Leben“! Es lebt nur der Geiſt,
ſein Leben iſt das wahre Leben. Ebenſo ſind dann in der
Natur nur die „ewigen Geſetze“, der Geiſt oder die Vernunft
der Natur das wahre Leben derſelben. Nur der Gedanke, im
Menſchen, wie in der Natur, lebt; alles Andere iſt todt! Zu
dieſer Abſtraction, zum Leben der Allgemeinheiten oder des
Lebloſen muß es mit der Geſchichte des Geiſtes kommen.
Gott, welcher Geiſt iſt, lebt allein. Es lebt nichts als das
Geſpenſt.
Wie kann man von der neueren Philoſophie oder Zeit
behaupten wollen, ſie habe es zur Freiheit gebracht, da ſie
Uns von der Gewalt der Gegenſtändlichkeit nicht befreite?
Oder bin Ich etwa frei vom Despoten, wenn Ich mich zwar
vor dem perſönlichen Machthaber nicht fürchte, aber vor jeder
Verletzung der Pietät, welche Ich ihm zu ſchulden wähne?
Nicht anders verhält es ſich mit der neueren Zeit. Sie ver¬
wandelte nur die exiſtirenden Objecte, den wirklichen Ge¬
walthaber u. ſ. w. in vorgeſtellte, d.h. in Begriffe, vor
denen der alte Reſpect ſich nicht nur nicht verlor, ſondern an
Intenſität zunahm. Schlug man auch Gott und dem Teufel
in ihrer vormaligen craſſen Wirklichkeit ein Schnippchen, ſo
widmete man nur um ſo größere Aufmerkſamkeit ihren Begrif¬
fen. „Den Böſen ſind ſie los, das Böſe iſt geblieben.“ Den
beſtehenden Staat zu revoltiren, die beſtehenden Geſetze umzu¬
ſtürzen, trug man wenig Bedenken, da man einmal entſchloſſen
war, ſich von dem Vorhandenen und Handgreiflichen nicht
länger imponiren zu laſſen; allein gegen den Begriff des
Staates zu ſündigen, dem Begriffe des Geſetzes ſich nicht
zu unterwerfen, wer hätte das gewagt? So blieb man „Staats¬
bürger“ und ein „geſetzlicher“, loyaler Menſch; ja man dünkte
[115] ſich nur um ſo geſetzlicher zu ſein, je rationaliſtiſcher man
das vorige mangelhafte Geſetz abſchaffte, um dem „Geiſte des
Geſetzes“ zu huldigen. In alle dem hatten nur die Objecte
eine Umgeſtaltung erlitten, waren aber in ihrer Uebermacht
und Oberhoheit verblieben; kurz, man ſteckte noch in Gehorſam
und Beſeſſenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen
Gegenſtand, auf welchen man reflectirte, den man reſpectirte,
und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte
nichts anderes gethan, als daß man die Dinge in Vorſtel¬
lungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwan¬
delte, und die Abhängigkeit um ſo inniger und unauflöslicher
wurde. So hält es z. B. nicht ſchwer, von den Geboten der
Aeltern ſich zu emancipiren, oder den Ermahnungen des On¬
kels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwe¬
ſter ſich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorſam fährt
einem leicht ins Gewiſſen, und je weniger man auch den ein¬
zelnen Zumuthungen nachgiebt, weil man ſie rationaliſtiſch
aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, deſto gewiſſen¬
hafter hält man die Pietät, die Familienliebe feſt, und vergiebt
ſich um ſo ſchwerer eine Verſündigung gegen die Vorſtel¬
lung, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht
gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die exiſtirende Fa¬
milie erlößt, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem
Familienbegriff: man wird vom Familiengeiſte beherrſcht. Die
aus Hans und Grete u. ſ. w. beſtehende Familie, deren Herr¬
ſchaft machtlos geworden, iſt nur verinnerlicht, indem ſie als
„Familie“ überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur an¬
wendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als
dem Menſchen, deſſen Bedeutung hier dieſe iſt: Ich kann zwar
Euren unſinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als
8 *[116] meine „Familie“ bleibt Ihr doch der Gegenſtand meiner Liebe
und Sorge; denn „die Familie“ iſt ein, heiliger Begriff, den
der Einzelne nie beleidigen darf. — Und dieſe zu einem Ge¬
danken, einer Vorſtellung, verinnerlichte und entſinnlichte Fa¬
milie gilt nun als das „Heilige“, deſſen Despotie noch, zehn¬
mal ärger iſt, weil ſie in meinem Gewiſſen rumort. Dieſe
Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die vorgeſtellte
Familie Mir zu einem Nichts wird. Die chriſtlichen Sätze¬
„Weib, was habe Ich mit Dir zu ſchaffen?“ *)„Ich bin
kommen, den Menſchen zu erregen wider ſeinen Vater und die
Tochter wider ihre Mutter“ **)und andere werden von der
Verweiſung auf die himmliſche oder eigentliche Familie begleitet,
und bedeuten nicht mehr, als die Forderung des Staates,
bei einer Colliſion zwiſchen ihm und der Familie, ſeinen Ge¬
boten zu gehorchen.
Aehnlich, wie mit der Familie, verhält ſich's mit der
Sittlichkeit. Von der Sitte ſagt ſich Mancher los, von der
Vorſtellung „Sittlichkeit“ ſehr ſchwer. Die Sittlichkeit iſt die
„Idee“ der Sitte, ihre geiſtige Macht, ihre Macht über die
Gewiſſen: dagegen die Sitte zu materiell iſt, um den Geiſt
zu beherrſchen, und einen „geiſtigen“ Menſchen, einen ſoge¬
nannten Unabhängigen, einen „Freigeiſt“ nicht feſſelt.
Der Proteſtant mag es anſtellen, wie er will, heilig bleibt
ihm doch die „heilige Schrift“, das „Wort Gottes“. Wem
dies nicht mehr „heilig“ iſt, der hat aufgehört ein — Prote¬
ſtant zu ſein. Hiermit bleibt ihm aber auch heilig, was in
ihr „verordnet“ iſt, die von Gott eingerichtete Obrigkeit u. ſ. w.
[117] Dieſe Dinge bleiben ihm unauflöslich, unnahbar, „über allem
Zweifel erhaben“, und da der Zweifel, der in der Praxis
ein Rütteln wird, des Menſchen Eigenſtes iſt, ſo bleiben
dieſe Dinge über ihm ſelbſt „erhaben“. Wer nicht davon
loskommen kann, der wird — glauben; denn daran glau¬
ben heißt daran gebunden ſein. Dadurch, daß im Prote¬
ſtantismus der Glaube ein innerlicherer wurde, iſt auch die
Knechtſchaft eine innerlichere geworden: man hat jene Hei¬
ligkeiten in ſich aufgenommen, ſie mit ſeinem ganzen Tichten
und Trachten verflochten, ſie zur „Gewiſſensſache“ ge¬
macht, ſich eine „heilige Pflicht“ aus ihnen bereitet.
Darum iſt dem Proteſtanten heilig das, wovon ſein Gewiſſen
nicht loskommen kann, und die Gewiſſenhaftigkeit be¬
zeichnet am deutlichſten ſeinen Charakter.
Der Proteſtantismus hat den Menſchen recht eigentlich
zu einem „Geheimen-Polizei-Staat“ gemacht. Der Spion
und Laurer „Gewiſſen“ überwacht jede Regung des Geiſtes,
und alles Thun und Denken iſt ihm eine „Gewiſſensſache“,
d.h. Polizeiſache. In Zerriſſenheit Zeriſſenheit des Menſchen in
„Naturtrieb“ und „Gewiſſen“ (innerer Pöbel und innere Po¬
lizei) beſteht der Proteſtant. Die Vernunft der Bibel (an
Stelle der katholiſchen „Vernunft der Kirche“) gilt als heilig,
und dieß Gefühl und Bewußtſein, daß das Bibelwort heilig
ſei, heißt — Gewiſſen. Damit iſt denn die Heiligkeit einem
„ins Gewiſſen geſchoben“. Befreit man ſich nicht vom Ge¬
wiſſen, dem Bewußtſein des Heiligen, ſo kann man zwar un¬
gewiſſenhaft, niemals aber gewiſſenlos handeln.
Der Katholik findet ſich befriedigt, wenn er den Befehl
vollzieht; der Proteſtant handelt nach „beſtem Wiſſen und Ge¬
wiſſen“. Der Katholik iſt ja nur Laie, der Proteſtant iſt
[118] ſelbſt Geiſtlicher. Das eben iſt der Fortſchritt über das
Mittelalter und zugleich der Fluch der Reformationsperiode,
daß das Geiſtliche vollſtändig wurde.
Was war die jeſuitiſche Moral anders, als eine Fort¬
ſetzung des Ablaßkrames, nur daß der ſeiner Sünden Entlaſtete
nunmehr auch eine Einſicht in den Sündenerlaß gewann
und ſich überzeugte, wie wirklich ſeine Sünde von ihm genom¬
men werde, da es ja in dieſem oder jenem beſtimmten Falle
(Caſuiſten) gar keine Sünde ſei, was er begehe. Der Abla߬
kram hatte alle Sünden und Vergehen zuläſſig gemacht und
jede Gewiſſensregung zum Schweigen gebracht. Die ganze
Sinnlichkeit durfte walten, wenn ſie nur der Kirche abgekauft
wurde. Dieſe Begünſtigung der Sinnlichkeit wurde von den
Jeſuiten fortgeſetzt, während die ſittenſtrengen, finſtern, fanati¬
ſchen, bußfertigen, zerknirſchten, betenden Proteſtanten allerdings
als die wahren Vollender des Chriſtenthums, den geiſtigen
und geiſtlichen Menſchen allein gelten ließen. Der Katholi¬
cismus, beſonders die Jeſuiten leiſteten auf dieſe Weiſe dem
Egoismus Vorſchub, fanden innerhalb des Proteſtantismus
ſelbſt einen unfreiwilligen und unbewußten Anhang und rette¬
ten Uns vor dem Verkommen und Untergang der Sinnlich¬
keit. Gleichwohl breitet der proteſtantiſche Geiſt ſeine Herr¬
ſchaft immer weiter aus, und da das Jeſuitiſche neben ihm,
dem „Göttlichen“, nur das von allem Göttlichen untrennbare
„Teufliſche“ darſtellt, ſo kann es nirgends ſich allein behaup¬
ten, ſondern muß zuſehen, wie z. B. in Frankreich endlich das
Philiſterthum des Proteſtantismus ſiegt und der Geiſt oben¬
auf iſt.
Dem Proteſtantismus pflegt das Compliment gemacht zu
werden, daß er das Weltliche wieder zu Ehren gebracht habe,
[119] z. B. die Ehe, den Staat u. ſ. w. Ihm aber iſt gerade
das Weltliche als Weltliches, das Profane, noch viel gleich¬
gültiger als dem Katholicismus, der die profane Welt beſtehen,
ja ſich ihre Genüſſe ſchmecken läßt, während der vernünftige,
conſequente Proteſtant das Weltliche ganz und gar zu ver¬
nichten ſich anſchickt, und zwar einfach dadurch, daß er es
heiligt. So iſt die Ehe um ihre Natürlichkeit gebracht
worden, indem ſie heilig wurde, nicht im Sinne des katholi¬
ſchen Sacraments, wo ſie nur von der Kirche ihre Weihe
empfängt, alſo im Grunde unheilig iſt, ſondern in dem Sinne,
daß ſie fortan etwas durch ſich Heiliges iſt, ein heiliges Ver¬
hältniß. Ebenſo der Staat u. ſ. w. Früher gab der Papſt
ihm und ſeinen Fürſten die Weihe und ſeinen Segen; jetzt iſt
der Staat von Haus aus heilig, die Majeſtät iſt es, ohne des
Prieſterſegens zu bedürfen. Ueberhaupt wurde die Ordnung
der Natur oder das Naturrecht als „Gottesordnung“ geheiligt.
Daher heißt es z. B. in der Augsburgiſchen Confeſſion Art.
11: „So bleiben wir nun billig bei dem Spruch, wie die
Jurisconſulti weislich und recht geſagt haben: daß Mann und
Weib bei einander ſein, iſt natürlich Recht. Iſt's nun na¬
türlich Recht, ſo iſt es Gottes Ordnung, alſo in der
Natur gepflanzt und alſo auch göttlich Recht.“ Und iſt es
etwa mehr als aufgeklärter Proteſtantismus, wenn Feuerbach
die ſittlichen Verhältniſſe zwar nicht als Gottes Ordnung, dafür
aber um des ihnen inwohnenden Geiſtes willen heilig ſpricht?
„Aber die Ehe — natürlich als freier Bund der Liebe — iſt
durch ſich ſelbſt, durch die Natur der Verbindung, die
hier geſchloſſen wird, heilig. Nur die Ehe iſt eine religi¬
öſe, die eine wahre iſt, die dem Weſen der Ehe, der Liebe
entſpricht. Und ſo iſt es mit allen ſittlichen Verhältniſſen.
[120]
Sie ſind nur da moraliſche, ſie werden nur da mit ſittlichem
Sinne gepflogen, wo ſie durch ſich ſelbſt als religiöſe
gelten. Wahrhafte Freundſchaft iſt nur da, wo die Gränzen
der Freundſchaft mit religiöſer Gewiſſenhaftigkeit bewahrt wer¬
den, mit derſelben Gewiſſenhaftigkeit, mit welcher der Gläubige
die Dignität ſeines Gottes wahrt. Heilig iſt und ſei Dir
die Freundſchaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig
das Wohl jedes Menſchen, aber heilig an und für ſich
ſelbſt.“ *)
Das iſt ein ſehr weſentliches Moment. Im Katholicis¬
mus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder gehei¬
ligt, iſt aber nicht ohne dieſen prieſterlichen Segen heilig;
dagegen im Proteſtantismus ſind weltliche Verhältniſſe durch
ſich ſelbſt heilig, heilig durch ihre bloße Exiſtenz. Mit der
Weihe, durch welche Heiligkeit verliehen wird, hängt genau die
jeſuitiſche Maxime zuſammen: „Der Zweck heiligt die Mittel.“
Kein Mittel iſt für ſich heilig oder unheilig, ſondern ſeine Be¬
ziehung zur Kirche, ſein Nutzen für die Kirche, heiligt das
Mittel. Königsmord wurde als ein ſolches angegeben; ward
er zum Frommen der Kirche vollführt, ſo konnte er ihrer, wenn
auch nicht offen ausgeſprochenen Heiligung gewiß ſein. Dem
Proteſtanten gilt die Majeſtät für heilig, dem Katholiken könnte
nur die durch den Oberprieſter geweihte dafür gelten, und gilt
ihm auch nur deshalb dafür, weil der Papſt dieſe Heiligkeit
ihr, wenn auch ohne beſonderen Akt, ein für allemal ertheilt.
Zöge er ſeine Weihe zurück, ſo bliebe der König dem Katho¬
liken nur ein „Weltmenſch oder Laie“, ein „Ungeweihter“.
[121]
Sucht der Proteſtant im Sinnlichen ſelbſt eine Heiligkeit
zu entdecken, um dann nur an Heiligem zu hängen, ſo ſtrebt
der Katholik vielmehr, das Sinnliche von ſich weg in ein be¬
ſonderes Gebiet zu verweiſen, wo es wie die übrige Natur
ſeinen Werth für ſich behält. Die katholiſche Kirche ſchied aus
ihrem geweihten Stande die weltliche Ehe aus und entzog die
Ihrigen der weltlichen Familie; die proteſtantiſche erklärte die
Ehe und das Familienband für heilig und darum nicht un¬
paſſend für ihre Geiſtlichen.
Ein Jeſuit darf als guter Katholik alles heiligen. Er
braucht ſich z. B. nur zu ſagen: Ich als Prieſter bin der
Kirche nothwendig, diene ihr aber eifriger, wenn Ich meine
Begierden gehörig ſtille; folglich will Ich dieß Mädchen ver¬
führen, meinen Feind dort vergiften laſſen u. ſ. w.; Mein
Zweck iſt heilig, weil der eines Prieſters, folglich heiligt er
das Mittel. Es geſchieht ja am letzten Ende doch zum Nutzen
der Kirche. Warum ſollte der katholiſche Prieſter ſich ſcheuen,
dem Kaiſer Heinrich VII. die vergiftete Hoſtie zu reichen zum
— Heil der Kirche?
Die ächt — kirchlichen Proteſtanten eiferten gegen jedes
„unſchuldige Vergnügen“, weil unſchuldig nur das Heilige,
das Geiſtige ſein konnte. Worin ſie nicht den heiligen Geiſt
nachweiſen konnten, das mußten die Proteſtanten verwerfen:
Tanz, Theater, Prunk (z. B. in der Kirche) u. dergl.
Gegen dieſen puritaniſchen Calvinismus iſt wieder das
Lutherthum mehr auf dem religiöſen, d. h. geiſtigen Wege, iſt
radicaler. Jener nämlich ſchließt flugs eine Menge Dinge als
ſinnlich und weltlich aus und purificirt die Kirche; das
Lutherthum hingegen ſucht wo möglich in alle Dinge Geiſt
zu bringen, den heiligen Geiſt in Allem als Weſen zu erken¬
[122] nen, und ſo alles Weltliche zu heiligen. („Einen Kuß in
Ehren kann niemand wehren.“ Der Geiſt der Ehrbarkeit hei¬
ligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er er¬
klärt ſich an irgend einer Stelle dafür: „er wolle Lutheraner
bleiben“) die vollſtändige Durchführung des Begriffs durch
Alles. In allem iſt Vernunft, d.h. heiliger Geiſt, oder „das
Wirkliche iſt vernünftig“. Das Wirkliche iſt nämlich in der
That Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit auf¬
gedeckt werden kann: es giebt keine abſolute Lüge, kein abſolut
Böſes u. dergl.
Große „Geiſteswerke“ wurden faſt nur von Proteſtanten
geſchaffen, da ſie allein die wahren Jünger und Vollbringer
des Geiſtes waren.
Wie weniges vermag der Menſch zu bezwingen! Er muß
die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer ſeine Wellen treiben,
die Berge zum Himmel ragen laſſen. So ſteht er machtlos
vor dem Unbezwinglichen. Kann er ſich des Eindruckes
erwehren, daß er gegen dieſe rieſenhafte Welt ohnmächtig
ſei? Sie iſt ein feſtes Geſetz, dem er ſich unterwerfen muß,
ſie beſtimmt ſein Schickſal. Wohin arbeitete nun die vor¬
chriſtliche Menſchheit? Dahin, das Einſtürmen der Geſchicke
loszuwerden, ſich durch ſie nicht alteriren zu laſſen. Die
Stoiker erreichten dieß in der Apathie, indem ſie die Angriffe
der Natur für gleichgültig erklärten, und ſich nicht dadurch
afficiren ließen. Horaz ſpricht das berühmte Nil admirari
aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern,
der Welt, bekundet: ſie ſoll auf Uns nicht einwirken, Unſer
Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae
[123] drückt ebendieſelbe Unerſchütterlichkeit aus, wie Pſalm
46, 3: „Wir fürchten Uns nicht, wenn gleich die Welt unter¬
ginge.“ In alle dem iſt für den chriſtlichen Satz, daß die Welt
eitel ſei, für die chriſtliche Weltverachtung der Raum geöffnet.
Der unerſchütterliche Geiſt „des Weiſen“, mit wel¬
chem die alte Welt ihrem Schluſſe vorarbeitete, erfuhr nun
eine innere Erſchütterung, gegen welche ihn keine Ata¬
rarie, kein ſtoiſcher Muth zu ſchützen vermochte. Der Geiſt,
vor allem Einfluſſe der Welt geſichert, gegen ihre Stöße un¬
empfindlich und über ihre Angriffe erhaben, nichts bewun¬
dernd, durch keinen Einſturz, der Welt aus ſeiner Faſſung zu
bringen, — er ſchäumte unaufhaltſam wieder über, weil in
ſeinem eigenen Innern Gaſe (Geiſter) ſich entwickelten, und,
nachdem der mechaniſche Stoß, der von außen kommt,
unwirkſam geworden, chemiſche Spannungen, die im In¬
nern erregen, ihr wunderbares Spiel zu treiben begannen.
In der That ſchließt die alte Geſchichte damit, daß Ich
an der Welt mein Eigenthum errungen habe. „Alle Dinge
ſind Mir übergeben von Meinem Vater.“ (Matth. 11, 27.)
Sie hat aufgehört, gegen Mich übermächtig, unnahbar, heilig,
göttlich u. ſ. w. zu ſein, ſie iſt „entgöttert“, und Ich be¬
handle ſie nun ſo ſehr nach Meinem Wohlgefallen, daß, läge
Mir daran, Ich alle Wunderkraft, d. h. Macht des Geiſtes,
an ihr ausüben, Berge verſetzen, Maulbeerbäumen befehlen,
daß ſie ſich ſelbſt ausreißen und ins Meer verſetzen (Luc. 17,
6), und alles Mögliche, d. h. Denkbare könnte: „Alle
Dinge ſind möglich dem, der da glaubet.“ *)Ich bin der
Herr der Welt, Mein iſt die „Herrlichkeit“. Die Welt
[124] iſt proſaiſch geworden, denn das Göttliche iſt aus ihr ver¬
ſchwunden: ſie iſt Mein Eigenthum, mit dem ich ſchalte und
walte, wie Mir's (nämlich dem Geiſte) beliebt.
Als Ich Mich dazu erhoben hatte, der Eigner der
Welt zu ſein, da hatte der Egoismus ſeinen erſten vollſtän¬
digen Sieg errungen, hatte die Welt überwunden, war welt¬
los geworden, und legte den Erwerb eines langen Weltalters
unter Schloß und Riegel.
Das erſte Eigenthum, die erſte „Herrlichkeit“ iſt erworben!
Doch der Herr der Welt iſt noch nicht Herr ſeiner Ge¬
danken, ſeiner Gefühle, ſeines Willens: er iſt nicht Herr und
Eigner des Geiſtes, denn der Geiſt iſt noch heilig, der „hei¬
lige Geiſt“, und der „weltloſe“ Chriſt vermag nicht „gottlos“
zu werden. War der antike Kampf ein Kampf gegen die
Welt, ſo iſt der mittelalterliche (chriſtliche) ein Kampf gegen
ſich, den Geiſt, jenes gegen die Außenwelt, dieſes gegen die
innerliche Welt. Der Mittelalterliche iſt der „in ſich Gekehrte“,
der Sinnende, Sinnige.
Alle Weisheit der Alten iſt Weltweisheit, alle Weis¬
heit der Neuen iſt Gottesgelahrtheit.
Mit der Welt wurden die Heiden (auch Juden hierunter)
fertig; aber nun kam es darauf an, auch mit ſich, dem Geiſte.
fertig, d. h. geiſtlos oder gottlos zu werden.
Faſt zweitauſend Jahre arbeiten Wir daran, den heiligen
Geiſt Uns zu unterwerfen, und manches Stück Heiligkeit ha¬
ben Wir allgemach losgeriſſen und unter die Füße getreten;
aber der rieſige Gegner erhebt ſich immer von Neuem unter
veränderter Geſtalt und Namen. Der Geiſt iſt noch nicht ent¬
göttert, entheiligt, entweiht. Zwar flattert er längſt nicht mehr
als eine Taube über unſern Häuptern, zwar beglückt er nicht
[125] allein mehr ſeine Heiligen, ſondern läßt ſich auch von den
Laien fangen u. ſ. [w.], aber als Geiſt der Menſchheit, als
Menſchengeiſt, d. h. des Menſchen, bleibt er Mir, Dir,
immer noch ein fremder Geiſt, noch fern davon, Unſer un¬
beſchränktes Eigenthum zu werden, mit welchem Wir ſchal¬
ten und walten nach Unſerm Wohlgefallen. Indeß Eines ge¬
ſchah gewiß und leitete ſichtlich den Hergang der nachchriſt¬
lichen Geſchichte: dieß Eine war das Streben, den heiligen
Geiſt menſchlicher zu machen, und ihn den Menſchen oder
die Menſchen ihm zu nähern. Dadurch kam es, daß er zuletzt
als der „Geiſt der Menſchheit“ gefaßt werden konnte und
unter verſchiedenen Ausdrücken, wie „Idee der Menſchheit,
Menſchenthum, Humanität, allgemeine Menſchenliebe“ u. ſ. w.
anſprechender, vertrauter und zugänglicher erſchien.
Sollte man nicht meinen, jetzt könnte Jeder den heiligen
Geiſt beſitzen, die Idee der Menſchheit in ſich aufnehmen, das
Menſchenthum in ſich zur Geſtalt und Exiſtenz bringen?
Nein, der Geiſt iſt nicht ſeiner Heiligkeit entkleidet und
ſeiner Unnahbarkeit beraubt, iſt Uns nicht erreichbar, nicht
Unſer Eigenthum: denn der Geiſt der Menſchheit iſt nicht
Mein Geiſt. Mein Ideal kann er ſein, und als Gedanken
nenne Ich ihn Mein: der Gedanke der Menſchheit iſt Mein
Eigenthum, und ich beweiſe dieß zur Genüge dadurch, daß
Ich ihn ganz nach Meinem Sinne aufſtelle und heute ſo, mor¬
gen anders geſtalte: Wir ſtellen ihn Uns auf die mannigfal¬
tigſte Weiſe vor. Aber er iſt zugleich ein Fideicommiß, das
Ich nicht veräußern noch loswerden kann.
Unter mancherlei Wandlungen wurde aus dem heiligen
Geiſte mit der Zeit die „abſolute Idee“, welche wieder
in mannigfaltigen Brechungen zu den verſchiedenen Ideen der
[126] Menſchenliebe, Vernünftigkeit, Bürgertugend u. ſ. w. aus
einander ſchlug.
Kann Ich die Idee aber mein Eigenthum nennen, wenn
ſie Idee der Menſchheit iſt, und kann Ich den Geiſt für über¬
wunden halten, wenn Ich ihm dienen, ihm „Mich opfern“
ſoll? Das endende Alterthum hatte an der Welt erſt dann
ſein Eigenthum gewonnen, als es ihre Uebermacht und
„Göttlichkeit“ gebrochen, ihre Ohnmacht und „Eitelkeit“ er¬
kannt hatte.
Entſprechend verhält es ſich mit dem Geiſte. Wenn
Ich ihn zu einem Spuk und ſeine Gewalt über Mich zu ei¬
nem Sparren herabgeſetzt habe, dann iſt er für entweiht,
entheiligt, entgöttert anzuſehen, und dann gebrauche Ich
ihn, wie man die Natur unbedenklich nach Gefallen gebraucht.
Die „Natur der Sache“, der „Begriff des Verhältniſſes“
ſoll Mich in Behandlung derſelben oder Schließung deſſelben leiten.
Als ob ein Begriff der Sache für ſich exiſtirte und nicht viel¬
mehr der Begriff wäre, welchen man ſich von der Sache macht!
Als ob ein Verhältniß, welches Wir eingehen, nicht durch
die Einzigkeit der Eingehenden ſelbſt einzig wäre! Als ob es
davon abhinge, wie Andere es rubriciren! Wie man aber
das „Weſen des Menſchen“ vom wirklichen Menſchen trennte
und dieſen nach jenem beurtheilte, ſo trennt man auch ſeine
Handlung von ihm und veranſchlagt ſie nach dem „menſchli¬
chen Werthe“. Begriffe ſollen überall entſcheiden, Begriffe
das Leben regeln, Begriffe herrſchen. Das iſt die religiöſe
Welt, welcher Hegel einen ſyſtematiſchen Ausdruck gab, indem
er Methode in den Unſinn brachte und die Begriffsſatzungen
zur runden, feſtgegründeten Dogmatik vollendete. Nach Be¬
griffen wird Alles abgeleiert, und der wirkliche Menſch, d. h.
[127] Ich werde nach dieſen Begriffsgeſetzen zu leben gezwungen.
Kann es eine ärgere Geſetzesherrſchaft geben, und hat nicht
das Chriſtenthum gleich im Beginne zugeſtanden, daß es die
Geſetzesherrſchaft des Judenthums nur ſchärfer anziehen wolle?
(„Nicht ein Buchſtabe des Geſetzes ſoll verloren gehen!“)
Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs
Tapet gebracht, nämlich ſtatt der göttlichen menſchliche, ſtatt
der kirchlichen ſtaatliche, ſtatt der gläubigen „wiſſenſchaftliche“
oder allgemeiner ſtatt der „rohen Sätze“ und Satzungen wirk¬
liche Begriffe und ewige Geſetze.
Jetzt herrſcht in der Welt nichts als der Geiſt. Eine
unzählige Menge von Begriffen ſchwirren in den Köpfen um¬
her, und was thun die Weiterſtrebenden? Sie negiren dieſe
Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie ſagen:
Ihr macht Euch einen falſchen Begriff vom Rechte, vom
Staate, vom Menſchen, von der Freiheit, von der Wahrheit,
von der Ehe u. ſ. w.; der Begriff des Rechts u. ſ. w. iſt
vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufſtellen. So ſchreitet die
Begriffsverwirrung vorwärts.
Die Weltgeſchichte iſt mit Uns grauſam umgegangen,
und der Geiſt hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du
mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß
ſchützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genie߬
bar würden, und meine Prunkkaroſſe, deren Beſitz Dir alle
Noth auf einmal abnähme: Du darfſt nicht darnach langen.
Von alle dem und unzähligem Anderen ſoll der Menſch die
Selbſtſtändigkeit anerkennen, es ſoll ihm für unergreifbar
und unnahbar gelten, ſoll ihm entzogen ſein. Er muß es
achten, reſpektiren; wehe ihm, wenn er begehrend ſeine Finger
ausſtreckt: Wir nennen das „lange Finger machen“!
[128]
Wie ſo bettelhaft wenig iſt Uns verblieben, ja wie ſo
gar nichts! Alles iſt entrückt worden, an nichts dürfen Wir
Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben
nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel
darfſt Du aufheben, es ſei denn, Du habeſt Dir die Erlaub¬
niß geholt, daß Du es dürfeſt. Und geholt von wem?
Vom Reſpecte! Nur wenn er ſie Dir überläßt als Eigen¬
thum, nur wenn Du ſie als Eigenthum reſpectiren kannſt,
nur dann darfſt Du ſie nehmen. Und wiederum ſollſt Du
keinen Gedanken faſſen, keine Silbe ſprechen, keine Handlung
begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, ſtatt ſie von
der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menſchlichkeit zu
empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen
Menſchen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der
Befangenheit zu ſchlachten geſucht!
Um den Altar aber wölbt ſich eine Kirche, und ihre
Mauern rücken immer weiter hinaus. Was ſie einſchließen,
iſt — heilig. Du kannſt nicht mehr dazu gelangen, kannſt
es nicht mehr berühren. Aufſchreiend in verzehrendem Hunger
ſchweifſt Du um dieſe Mauern herum, das wenige Profane
aufzuſuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreiſe Deines
Laufes. Bald umſpannt jene Kirche die ganze Erde, und Du
biſt zum äußerſten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt,
und die Welt des Heiligen hat geſiegt: Du verſinkſt in
den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit iſt,
irre nicht länger umher im abgegraſten Profanen, wage den
Sprung und ſtürze hinein durch die Pforten in das Heiligthum
ſelber. Wenn Du das Heilige verzehrſt, haſt Du's zum
Eigenen gemacht! Verdaue die Hoſtie und Du biſt ſie los!
[129]
3. Die Freien.
Wenn oben die Alten und die Neuen in zwei Abtheilun¬
gen vorgeführt wurden, ſo könnte es ſcheinen, als ſollten hier
in einer dritten Abtheilung die Freien für ſelbſtändig und ab¬
geſondert ausgegeben werden. Dem iſt nicht ſo. Die Freien
ſind nur die Neueren und Neueſten unter den „Neuen“ und
werden bloß deshalb in eine beſondere Abtheilung gebracht,
weil ſie der Gegenwart angehören, und das Gegenwärtige vor
Allem unſere Aufmerkſamkeit hier in Anſpruch nimmt. Ich
gebe die „Freien“ nur als eine Ueberſetzung der Liberalen, muß
aber rückſichtlich des Freiheitsbegriffes wie überhaupt ſo man¬
ches Anderen, deſſen vorgreifliche Heranziehung nicht vermie¬
den werden kann, auf Späteres verweiſen.
§.1. Der politiſche Liberalismus.
Nachdem man den Kelch des ſogenannten abſoluten Kö¬
nigthums ſo ziemlich bis auf den Bodenſatz geleert hatte, ward
man im achtzehnten Jahrhundert zu deutlich inne, daß ſein
Getränk nicht menſchlich ſchmecke, um nicht auf einen andern
Becher lüſtern zu werden. „Menſchen“, was Unſere Väter doch
waren, verlangten ſie endlich, auch ſo angeſehen zu werden.
Wer in Uns etwas Anderes ſieht, als Menſchen, in dem
wollen Wir gleichfalls nicht einen Menſchen, ſondern einen
Unmenſchen ſehen, und ihm wie einem Unmenſchen begegnen;
wer dagegen Uns als Menſchen anerkennt und gegen die Ge¬
fahr ſchützt, unmenſchlich behandelt zu werden, den wollen Wir
als Unſern wahren Beſchützer und Schirmherrn ehren.
Halten Wir denn zuſammen, und ſchützen Wir einer im
andern den Menſchen; dann finden Wir in Unſerem Zuſam¬
9[130]menhalt den nöthigen Schutz, und in Uns, den Zuſam¬
menhaltenden, eine Gemeinſchaft derer, die ihre Menſchen¬
würde kennen und als „Menſchen“ zuſammenhalten. Unſer
Zuſammenhalt iſt der Staat, Wir Zuſammenhaltenden ſind
die Nation.
In Unſerem Zuſammen als Nation oder Staat ſind Wir
nur Menſchen. Wie Wir Uns ſonſt als Einzelne benehmen,
und welchen ſelbſtſüchtigen Trieben Wir da erliegen mögen,
das gehört lediglich Unſerem Privatleben an; Unſer öffent¬
liches oder Staatsleben iſt ein rein menſchliches. Was
Unmenſchliches oder „Egoiſtiſches“ an Uns haftet, das iſt zur
„Privatſache“ erniedrigt, und Wir ſcheiden genau den Staat
von der „bürgerlichen Geſellſchaft“, in welcher der „Egoismus“
ſein Weſen treibt.
Der wahre Menſch iſt die Nation, der Einzelne aber ſtets
ein Egoiſt. Damm ſtreifet Eure Einzelheit oder Vereinzelung
ab, in welcher die egoiſtiſche Ungleichheit und der Unfriede
hauſet, und weihet Euch ganz dem wahren Menſchen, der Na¬
tion oder dem Staate. Dann werdet Ihr als Menſchen gel¬
ten und alles haben, was des Menſchen iſt; der Staat, der
wahre Menſch, wird Euch zu dem Seinigen berechtigen und
Euch die „Menſchenrechte“ geben: der Menſch giebt Euch ſeine
Rechte!
So lautet die Rede des Bürgerthums.
Das Bürgerthum iſt nichts anderes als der Gedanke, daß
der Staat alles in allem, der wahre Menſch ſei, und daß des
Einzelnen Menſchenwerth darin beſtehe, ein Staatsbürger zu
ſein. Ein guter Bürger zu ſein, darin ſucht er ſeine höchſte
Ehre, darüber hinaus kennt er nichts Höheres als höchſtens
das antiquirte — ein guter Chriſt.
[131]
Das Bürgerthum entwickelte ſich im Kampfe gegen die
privilegirten Stände, von denen es als „dritter Stand“ cava¬
lièrement behandelt und mit der „canaille“ zuſammengeworfen
wurde. Man hatte alſo im Staate bis jetzt „die ungleiche Per¬
ſon angeſehen“. Der Sohn eines Adeligen war zu Chargen
auserſehen, nach denen die ausgezeichnetſten Bürgerlichen ver¬
gebens aufſchauten u.ſ.w. Dagegen empörte ſich das bürger¬
liche Gefühl. Keine Auszeichnung mehr, keine Bevorzugung
von Perſonen, kein Standesunterſchied! Alle ſeien gleich! Kein
Sonder-Intereſſe ſoll ferner verfolgt werden, ſondern das
allgemeine Intereſſe Aller. Der Staat ſoll eine Ge¬
meinſchaft von freien und gleichen Menſchen ſein, und Jeder
ſich dem „Wohle des Ganzen“ widmen, in den Staat auf¬
gehen, den Staat zu ſeinem Zweck und Ideal machen. Staat!
Staat! ſo lautete der allgemeine Ruf, und fortan ſuchte man
die „rechte Staatsverfaſſung“, die beſte Conſtitution, alſo den
Staat in ſeiner beſten Faſſung. Der Gedanke des Staats
zog in alle Herzen ein und weckte Begeiſterung; ihm zu dienen,
dieſem weltlichen Gotte, das ward der neue Gottesdienſt und
Cultus. Die eigentlich politiſche Epoche war angebrochen.
Dem Staate oder der Nation dienen, das ward höchſtes Ideal,
Staatsintereſſe — höchſtes Intereſſe, Staatsdienſt (wozu man
keineswegs Beamter zu ſein braucht) höchſte Ehre.
So waren denn die Sonder-Intereſſen und Perſönlich¬
keiten verſcheucht und die Aufopferung für den Staat zum
Schiboleth geworden. Sich muß man aufgeben und nur
dem Staate leben. Man muß „unintereſſirt“ handeln, muß
nicht ſich nützen wollen, ſondern dem Staate. Dieſer iſt da¬
durch zur eigentlichen Perſon geworden, vor welcher die ein¬
zelne Perſönlichkeit verſchwindet: nicht Ich lebe, ſondern Er
9 *[132] lebet in Mir. Darum war man gegen die frühere Selbſtſucht
gehalten, die Uneigennützigkeit und Unperſönlichkeit ſelber.
Vor dieſem Gotte, — Staat —, verſchwand jeder Egoismus,
und vor ihm waren Alle gleich: ſie waren ohne allen andern
Unterſchied — Menſchen, nichts als Menſchen.
An dem entzündlichen Stoffe des Eigenthums ent¬
brannte die Revolution. Die Regierung brauchte Geld. Jetzt
mußte ſie den Satz, daß ſie abſolut, mithin Herrin alles
Eigenthums, alleinige Eigenthümerin ſei, bewähren; ſie mußte
ihr Geld, welches ſich nur im Beſitz, nicht im Eigenthum der
Unterthanen befand, an ſich nehmen. Statt deſſen beruft
ſie Generalſtände, um ſich dieß Geld bewilligen zu laſſen.
Die Furcht vor der letzten Conſequenz zerſtörte die Illuſion
einer abſoluten Regierung; wer ſich etwas „bewilligen“
laſſen muß, der kann nicht für abſolut angeſehen werden. Die
Unterthanen erkannten, daß ſie wirkliche Eigenthümer
ſeien, und daß es ihr Geld ſei, welches man fordere. Die
bisherigen Unterthanen erlangten das Bewußtſein, daß ſie
Eigenthümer ſeien. Mit wenig Worten ſchildert dieß Bailly:
„Wenn ihr nicht ohne meine Einſtimmung über mein Eigen¬
thum verfügen könnt, wie viel weniger könnt ihr es über meine
Perſon, über Alles, was meine geiſtige und geſellſchaftliche
Stellung angeht! Alles das iſt mein Eigenthum, wie das
Stück Land, das ich beackere: und ich habe ein Recht, ein
Intereſſe, die Geſetze ſelber zu machen.“ Bailly's Worte klin¬
gen freilich ſo, als wäre nun Jeder ein Eigenthümer. Indeß
ſtatt der Regierung, ſtatt des Fürſten, ward jetzt Eigenthümerin
und Herrin — die Nation. Von nun an heißt das Ideal
— „Volksfreiheit — ein freies Volk“ u. ſ. w.
Schon am 8. Juli 1789 zerſtörte die Erklärung des
[133] Biſchofs von Autun und Barrère's den Schein, als ſei Jeder,
der Einzelne, von Bedeutung in der Geſetzgebung: ſie zeigte
die völlige Machtloſigkeit der Committenten: die Majo¬
rität der Repräſentanten iſt Herrin geworden. Als
am 9. Juli der Plan über Eintheilung der Verfaſſungsarbeiten
vorgetragen wird, bemerkt Mirabeau: „Die Regierung habe
nur Gewalt, kein Recht; nur im Volke ſei die Quelle alles
Rechts zu finden.“ Am 16. Juli ruft ebenderſelbe Mirabeau
aus: „Iſt nicht das Volk die Quelle aller Gewalt?“ Alſo
die Quelle alles Rechts und die Quelle aller — Gewalt!
Beiläufig geſagt, kommt hier der Inhalt des „Rechts“ zum
Vorſchein: es iſt die — Gewalt. „Wer die Gewalt hat,
der hat das Recht.“
Das Bürgerthum iſt der Erbe der privilegirten Stände.
In der That gingen nur die Rechte der Barone, die als
„Uſurpationen“ ihnen abgenommen wurden, auf das Bürger¬
thum über. Denn das Bürgerthum hieß nun die „Nation“.
„In die Hände der Nation“ wurden alle Vorrechte zurück¬
gegeben. Dadurch hörten ſie auf, „Vorrechte“ zu ſein: ſie
wurden „Rechte“. Die Nation fordert von nun an Zehnten,
Frohndienſte, ſie hat das Herrengericht geerbt, die Jagdgerech¬
tigkeit, die — Leibeigenen. Die Nacht vom 4. Auguſt war
die Todesnacht der Privilegien oder „Vorrechte“ (auch Städte,
Gemeinden, Magiſtrate waren privilegirt, mit Vorrechten und
Herrenrechten verſehen), und endete mit dem neuen Morgen
des „Rechtes“, der „Staatsrechte“, der „Rechte der Nation“.
Der Monarch in der Perſon des „königlichen Herren“
war ein armſeliger Monarch geweſen gegen dieſen neuen Mo¬
narchen, die „ſouveraine Nation“. Dieſe Monarchie war
tauſendfach ſchärfer, ſtrenger und conſequenter. Gegen den
[134] neuen Monarchen gab es gar kein Recht, kein Privilegium
mehr; wie beſchränkt nimmt ſich dagegen der „abſolute König“
des ancien régime aus. Die Revolution bewirkte die Um¬
wandlung der beſchränkten Monarchie in die abſolute
Monarchie. Von nun an iſt jedes Recht, welches nicht
von dieſem Monarchen verliehen wird, eine „Anmaßung“, jedes
Vorrecht aber, welches Er ertheilt, ein „Recht“. Die Zeit
verlangte nach dem abſoluten Königthum, der abſoluten
Monarchie, darum fiel jenes ſogenannte abſolute Königthum,
welches ſo wenig abſolut zu werden verſtanden hatte, daß es
durch tauſend kleine Herren beſchränkt blieb.
Was Jahrtauſende erſehnt und erſtrebt wurde, nämlich
jenen abſoluten Herrn zu finden, neben dem keine andern
Herren und Herrchen mehr machtverkürzend beſtänden, das hat
die Bourgeoiſie hervorgebracht. Sie hat den Herrn offenbart,
welcher allein „Rechtstitel“ verleiht, und ohne deſſen Gewäh¬
rung nichts berechtigt iſt. „So wiſſen wir nun, daß ein
Götze nichts in der Welt ſei, und daß kein ander Gott ſei
ohne der einige.“ *)
Gegen das Recht kann man nicht mehr, wie gegen ein
Recht, mit der Behauptung auftreten, es ſei „ein Unrecht“.
Man kann nur noch ſagen, es ſei Unſinn, eine Illuſion.
Nennete man's Unrecht, ſo müßte man ein anderes Recht
dagegen ſtellen und an dieſem es meſſen. Verwirft man hin¬
gegen das Recht als ſolches, das Recht an und für ſich, ganz
und gar, ſo verwirft man auch den Begriff des Unrechts, und
löſt den ganzen Rechtsbegriff (wozu der Unrechtsbegriff ge¬
hört) auf.
[135]
Was heißt das, Wir genießen Alle „Gleichheit der poli¬
tiſchen Rechte“? Nur dieß, daß der Staat keine Rückſicht auf
Meine Perſon nehme, daß Ich ihm, wie jeder Andere, nur
ein Menſch bin, ohne eine andere ihm imponirende Bedeutung
zu haben. Ich imponire ihm nicht als Adliger, Sohn eines
Edelmannes, oder gar als Erbe eines Beamten, deſſen Amt
Mir erblich zugehört (wie im Mittelalter die Grafſchaften
u. ſ. w. und ſpäter unter dem abſoluten Königthum, wo erb¬
liche Aemter vorkommen). Nun hat der Staat eine unzählige
Menge von Rechten zu vergeben, z. B. das Recht, ein Ba¬
taillon, Compagnie u. ſ. w. zu führen, das Recht, an einer
Univerſität zu leſen u. ſ. w., er hat ſie zu vergeben, weil ſie
die ſeinigen, d. h. Staatsrechte oder „politiſche“ Rechte ſind.
Dabei iſt's ihm gleich, an wen er ſie ertheilt, wenn der Em¬
pfänger nur die Pflichten erfüllt, welche aus den überlaſſenen
Rechten entſpringen. Wir ſind ihm Alle recht und — gleich,
Einer nicht mehr und nicht weniger werth, als der Andere.
Wer den Armeebefehl empfängt, das gilt Mir gleich, ſpricht
der ſouveraine Staat, vorausgeſetzt, daß der Belehnte die
Sache gehörig verſteht. „Gleichheit der politiſchen Rechte“
hat ſonach den Sinn, daß Jeder jedes Recht, welches der
Staat zu vergeben hat, erwerben darf, wenn er nur die daran
geknüpften Bedingungen erfüllt, Bedingungen, welche nur in
der Natur des jedesmaligen Rechtes, nicht in einer Vorliebe
für die Perſon (persona grata) geſucht werden ſollen: die
Natur des Rechtes, Officier zu werden, bringt es z. B. mit
ſich, daß man geſunde Glieder und ein angemeſſenes Maaß
von Kenntniſſen beſitze, aber ſie hat nicht adlige Geburt zur
Bedingung; könnte hingegen ſelbſt der verdienteſte Bürgerliche
jene Charge nicht erreichen, ſo fände eine Ungleichheit der
[136] politiſchen Rechte ſtatt. Unter den heutigen Staaten hat der
eine mehr, der andere weniger jenen Gleichheitsgrundſatz
durchgeführt.
Die Ständemonarchie (ſo will Ich das abſolute König¬
thum, die Zeit der Könige vor der Revolution, nennen) erhielt
den Einzelnen in Abhängigkeit von lauter kleinen Monarchien.
Dieß waren Genoſſenſchaften (Geſellſchaften), wie die Zünfte,
der Adelſtand, Prieſterſtand, Bürgerſtand, Städte, Gemeinden
u. ſ. w. Ueberall mußte der Einzelne ſich zuerſt als ein
Glied dieſer kleinen Geſellſchaft anſehen und dem Geiſte der¬
ſelben, dem esprit de corps, als ſeinem Monarchen unbeding¬
ten Gehorſam leiſten. Mehr als der einzelne Adlige z. B.
ſich ſelbſt, muß ihm ſeine Familie, die Ehre ſeines Stammes,
gelten. Nur mittelſt ſeiner Corporation, ſeines Standes,
bezog ſich der Einzelne auf die größere Corporation, den Staat;
wie im Katholicismus der Einzelne erſt durch den Prieſter ſich
mit Gott vermittelt. Dem machte nun der dritte Stand, in¬
dem er den Muth bewies, ſich als Stand zu negiren, ein
Ende. Er entſchloß ſich, nicht mehr ein Stand neben an¬
dern Ständen zu ſein und zu heißen, ſondern zur „Nation“
ſich zu verklären und verallgemeinern. Dadurch erſchuf er eine
viel vollkommnere und abſolutere Monarchie, und das ganze
vorher herrſchende Princip der Stände, das Princip der
kleinen Monarchien innerhalb der großen, ging zu Grunde.
Man kann daher nicht ſagen, die Revolution habe den beiden
erſten privilegirten Ständen gegolten, ſondern ſie galt den
kleinen ſtändiſchen Monarchien überhaupt. Waren aber die
Stände und ihre Zwingherrſchaft gebrochen (auch der König
war ja nur ein Ständekönig, kein Bürgerkönig), ſo blieben
die aus der Standesungleichheit befreiten Individuen übrig.
[137] Sollten ſie nun wirklich ohne Stand und „aus Rand und
Band“ ſein, durch keinen Stand (status) mehr gebunden
ohne allgemeines Band? Nein, es hatte ja nur deshalb der
dritte Stand ſich zur Nation erklärt, um nicht ein Stand
neben andern Ständen zu bleiben, ſondern der einzige
Stand zu werden. Dieſer einzige Stand iſt die Nation, der
„Staat“ (status). Was war nun aus dem Einzelnen ge¬
worden? Ein politiſcher Proteſtant, denn er war mit ſeinem
Gotte, dem Staate, in unmittelbaren Connex getreten. Er war
nicht mehr als Adliger in der Nobleſſenmonarchie, als Hand¬
werker in der Zunftmonarchie, ſondern Er wie Alle erkannten
und bekannten nur — Einen Herrn, den Staat, als deſſen
Diener ſie ſämmtlich den gleichen Ehrentitel „Bürger“ erhielten.
Die Bourgeoiſie iſt der Adel desVerdienſtes, „dem
Verdienſte ſeine Kronen“ — ihr Wahlſpruch. Sie kämpfte
gegen den „faulen“ Adel, denn nach ihr, dem fleißigen, durch
Fleiß und Verdienſt erworbenen Adel, iſt nicht der „Geborene“
frei, aber auch nicht Ich bin frei, ſondern der „Verdienſtvolle“,
der redliche Diener (ſeines Königs; des Staates; des Vol¬
kes in den conſtitutionellen Staaten). Durch Dienen er¬
wirbt man Freiheit, d. h. erwirbt ſich „Verdienſte“ und diente
man auch dem — Mammon. Verdient machen muß man
ſich um den Staat, d. h. um das Princip des Staates, um
den ſittlichen Geiſt deſſelben. Wer dieſem Geiſte des Staates
dient, der iſt, er lebe, welchem rechtlichen Erwerbszweige er
wolle, ein guter Bürger. In ihren Augen treiben die „Neuerer“
eine „brodloſe Kunſt“. Nur der „Krämer“ iſt „praktiſch“,
und Krämergeiſt iſt ſo gut der, der nach Beamtenſtellen jagt,
als der, welcher im Handel ſein Schäfchen zu ſcheeren oder
ſonſtwie ſich und Andern nützlich zu werden ſucht.
[138]
Gelten aber die Verdienſtvollen als die Freien (denn was
fehlt dem behaglichen Bürger, dem treuen Beamten an der¬
jenigen Freiheit, nach der ſein Herz verlangt?), ſo ſind die
„Diener“ die — Freien. Der gehorſame Diener iſt der freie
Menſch! Welch eine Härte der Widerſinnigkeit! Dennoch
iſt dieß der Sinn der Bourgeoiſie, und ihr Dichter Göthe, wie
ihr Philoſoph Hegel haben die Abhängigkeit des Subjects
vom Objecte, den Gehorſam gegen die objective Welt u. ſ. w.
zu verherrlichen gewußt. Wer nur der Sache dient, „ſich ihr
ganz hingiebt“, der hat die wahre Freiheit. Und die Sache
war bei den Denkenden die — Vernunft, ſie, die gleich
Staat und Kirche — allgemeine Geſetze giebt und durch den
Gedanken der Menſchheit den einzelnen Menſchen in
Bande ſchlägt. Sie beſtimmt, was „wahr“ ſei, wonach man
ſich dann zu richten hat. Keine „vernünftigeren“ Leute als
die redlichen Diener, die zunächſt als Diener des Staates gute
Bürger genannt werden.
Sei Du ſteinreich oder blutarm — das überläßt der
Staat des Bürgerthums Deinem Belieben; habe aber nur
eine „gute Geſinnung“. Sie verlangt er von Dir und hält
es für ſeine dringendſte Aufgabe, dieſelbe bei Allen herzuſtellen.
Darum wird er vor „böſen Einflüſterungen“ Dich bewahren,
indem er die „Uebelgeſinnten“ im Zaume hält und ihre auf¬
regenden Reden unter Cenſurſtrichen oder Preßſtrafen und hin¬
ter Kerkermauern verſtummen läßt, und wird anderſeits Leute
von „guter Geſinnung“ zu Cenſoren beſtellen und auf alle
Weiſe von „Wohlgeſinnten und Wohlmeinenden“ einen mo¬
raliſchen Einfluß auf Dich ausüben laſſen. Hat er Dich
gegen die böſen Einflüſterungen taub gemacht, ſo öffnet er Dir
um ſo emſiger die Ohren wieder für die guten Einflüſterungen.
[139]
Mit der Zeit der Bourgeoiſie beginnt die des Liberalis¬
mus. Man will überall das „Vernünftige“, das „Zeitge¬
mäße“ u.ſ.w. hergeſtellt ſehen. Folgende Definition des Li¬
beralismus, die ihm zu Ehren geſagt ſein ſoll, bezeichnet ihn
vollſtändig: „Der Liberalismus iſt nichts anders, als die Ver¬
nunfterkenntniß angewandt auf unſere beſtehenden Verhältniſſe.“ *)
Sein Ziel iſt eine „vernünftige Ordnung“ ein „ſittliches Ver¬
halten“, eine „beſchränkte Freiheit“, nicht die Anarchie, die
Geſetzloſigkeit, die Eigenheit. Herrſcht aber die Vernunft, ſo
unterliegt die Perſon. Die Kunſt hat längſt das Häßliche
nicht nur gelten laſſen, ſondern als zu ihrem Beſtehen noth¬
wendig erachtet und in ſich aufgenommen: ſie braucht den
Böſewicht u.ſ.w. Auch im religiöſen Gebiete gehen die
extremſten Liberalen ſo weit, daß ſie den religiöſeſten Menſchen
für einen Staatsbürger angeſehen wiſſen wollen, d.h. den
religiöſen Böſewicht; ſie wollen nichts mehr von Ketzergerichten
wiſſen. Aber gegen das „vernünftige Geſetz“ ſoll ſich Keiner
empören, ſonſt droht ihm die härteſte — Strafe. Man
will nicht eine freie Bewegung und Geltung der Perſon oder
Meiner, ſondern der Vernunft, d. h. eine Venunftherrſchaft,
eine Herrſchaft. Die Liberalen ſind Eiferer, nicht gerade
für den Glauben, für Gott u.ſ.w., wohl aber Ver¬
nunft, ihre Herrin. Sie vertragen keine Ungezogenheit und
darum keine Selbſtentwicklung und Selbſtbeſtimmung: ſie be¬
vormunden trotz den abſoluteſten Herrſchern.
„Politiſche Freiheit“ was ſoll man ſich darunter denken?
Etwa die Freiheit des Einzelnen vom Staate und ſeinen Ge¬
ſetzen? Nein, im Gegentheil die Gebundenheit des Ein¬
[140] zelnen im Staate und an die Staatsgeſetze. Warum aber
„Freiheit“? Weil man nicht mehr vom Staate durch Mit¬
telsperſonen getrennt wird, ſondern in directer und unmittel¬
barer Beziehung zu ihm ſteht, weil man — Staatsbürger iſt,
nicht Unterthan eines Andern, ſelbſt nicht des Königs als einer
Perſon, ſondern nur in ſeiner Eigenſchaft als „Staatsober¬
haupt“. Die politiſche Freiheit, dieſe Grundlehre des Libera¬
lismus, iſt nichts als eine zweite Phaſe des — Proteſtantis¬
mus und läuft mit der „religiöſen Freiheit“ ganz parallel. *)
Oder wäre etwa unter letzterer eine Freiheit von der Religion
zu verſtehen? Nichts weniger als das. Nur die Freiheit
von Mittelsperſonen ſoll damit ausgeſprochen werden, die Frei¬
heit von vermittelnden Prieſtern, die Aufhebung der „Laien¬
ſchaft“, alſo das directe und unmittelbare Verhältniß zur Re¬
ligion oder zu Gott. Nur unter der Vorausſetzung, daß man
Religion habe, kann man Religionsfreiheit genießen, Religi¬
onsfreiheit heißt nicht Religionsloſigkeit, ſondern Glaubenſin¬
nigkeit, unvermittelter Verkehr mit Gott. Wer „religiös frei“
iſt, dem iſt die Religion eine Herzens-Sache, iſt ihm ſeine
eigene Sache, iſt ihm ein „heiliger Ernſt“. So auch iſt's
dem „politiſch Freien“ ein heiliger Ernſt mit dem Staate, er
iſt ſeine Herzensſache, ſeine Hauptſache, ſeine eigene Sache.
Politiſche Freiheit ſagt dieß, daß die Polis, der Staat,
frei iſt, Religionsfreiheit dieß, daß die Religion frei iſt, wie
Gewiſſensfreiheit dieß bedeutet, daß das Gewiſſen frei iſt;
alſo nicht, daß Ich vom Staate, von der Religion, vom Ge¬
[141] wiſſen frei, oder daß Ich ſie los bin. Sie bedeutet nicht
Meine Freiheit, ſondern die Freiheit einer Mich beherrſchenden
und bezwingenden Macht; ſie bedeutet, daß einer Meiner
Zwingherrn, wie Staat, Religion, Gewiſſen, frei ſind.
Staat, Religion, Gewiſſen, dieſe Zwingherrn, machen Mich
zum Sklaven, und ihre Freiheit iſt Meine Sklaverei. Daß
ſie dabei nothwendig dem Grundſatze „der Zweck heiligt die
Mittel“ folgen, verſteht ſich von ſelbſt. Iſt das Staatswohl
Zweck, ſo iſt der Krieg ein geheiligtes Mittel; iſt die Gerech¬
tigkeit Staatszweck, ſo iſt der Todſchlag ein geheiligtes Mittel
und heißt mit ſeinem heiligen Namen: „Hinrichtung“ u. ſ. w.
der heilige Staat heiligt alles, was ihm frommt.
Die „individuelle Freiheit“, über welche der bürgerliche
Liberalismus eiferſüchtig wacht, bedeutet keineswegs eine voll¬
kommen freie Selbſtbeſtimmung, wodurch die Handlungen ganz
die Meinigen werden, ſondern nur Unabhängigkeit Per¬
ſonen. Individuell frei iſt, wer keinem Menſchen verant¬
wortlich iſt. In dieſem Sinne gefaßt — und man darf ſie
nicht anders verſtehen — iſt nicht bloß der Herrſcher indivi¬
duell frei d. i. unverantwortlich gegen Menſchen („vor
Gott“ bekennt er ſich ja verantwortlich), ſondern Alle, welche
„nur dem Geſetze verantwortlich ſind“. Dieſe Art der Freiheit
wurde durch die revolutionaire Bewegung des Jahrhunderts
errungen, die Unabhängigkeit nämlich vom Belieben, vom tel
est notre plaisir. Daher mußte der conſtitutionelle Fürſt ſelbſt
aller Perſönlichkeit entkleidet, alles individuellen Beſchließens
beraubt werden, um nicht als Perſon, als individueller
Menſch, die „individuelle Freiheit“ Anderer zu verletzen. Der
perſönliche Herrſcherwille iſt im conſtitutionellen Fürſten
verſchwunden; mit richtigem Gefühl wehren ſich daher die ab¬
[142] ſoluten dagegen. Gleichwohl wollen gerade dieſe im beſten
Sinne „chriſtliche Fürſten“ ſein. Dazu müßten ſie aber eine
rein geiſtige Macht werden, da der Chriſt nur dem Geiſte
unterthan iſt („Gott iſt Geiſt“). Conſequent ſtellt die rein
geiſtige Macht nur der conſtitutionelle Fürſt dar, er, der ohne
alle perſönliche Bedeutung in dem Grade vergeiſtigt daſteht,
daß er für einen vollkommenen unheimlichen „Geiſt“ gelten
kann, für eine Idee. Der conſtitutionelle König iſt der wahr¬
haft chriſtliche König, die ächte Conſequenz des chriſtlichen
Princips. In der conſtitutionellen Monarchie hat die indivi¬
duelle Herrſchaft, d. h. ein wirklich wollender Herrſcher,
ſein Ende gefunden; darum waltet hier die individuelle
Freiheit, Unabhängigkeit von jedem individuellen Gebieter,
von Jedem, der Mir mit einem tel est notre plaisir gebieten
könnte. Sie iſt das vollendete chriſtliche Staatsleben, ein
vergeiſtigtes Leben.
Das Bürgerthum benimmt ſich durch und durch liberal.
Jeder perſönliche Eingriff in die Sphäre des Andern em¬
pört den bürgerlichen Sinn: ſieht der Bürger, daß man von
der Laune, dem Belieben, dem Willen eines Menſchen als
Einzelnen (d. h. als nicht durch eine „höhere Macht“ Auto¬
riſirten) abhängig iſt, gleich kehrt er ſeinen Liberalismus her¬
aus und ſchreit über „Willkühr“. Genug, der Bürger be¬
hauptet ſeine Freiheit von dem, was man Befehl (ordonnance)
nennt: „Mir hat Niemand etwas zu — befehlen!“ Befehl
hat den Sinn, daß das, was Ich ſoll, der Wille eines andern
Menſchen iſt, wogegen Geſetz nicht eine perſönliche Gewalt
des Andern ausdrückt. Die Freiheit des Bürgerthums iſt die
Freiheit oder Unabhängigkeit vom Willen einer andern Perſon,
die ſogenannte perſönliche oder individuelle Freiheit; denn per¬
[143] ſönlich frei ſein heißt nur ſo frei ſein, daß keine andere Per¬
ſon über die Meinige verfügen kann, oder daß was Ich darf
oder nicht darf, nicht von der perſönlichen Beſtimmung eines
Andern abhängt. Die Preßfreiheit unter andern iſt eine ſolche
Freiheit des Liberalismus, der nur den Zwang der Cenſur als
den der perſönlichen Willkühr bekämpft, ſonſt aber jene durch
„Preßgeſetze“ zu tyranniſiren äußerſt geneigt und willig ſich
zeigt, d. h. die bürgerlichen Liberalen wollen Schreibefreiheit
für ſich; denn da ſie geſetzlich ſind, werden ſie durch ihre
Schriften nicht dem Geſetze verfallen. Nur Liberales d. h.
nur Geſetzliches ſoll gedruckt werden dürfen; ſonſt drohen die
„Preßgeſetze“ mit „Preßſtrafen“. Sieht man die perſönliche
Freiheit geſichert, ſo merkt man gar nicht, wie, wenn es nun
zu etwas Weiterem kommt, die grellſte Unfreiheit herrſchend
wird. Denn den Befehl iſt man zwar los, und „Niemand
hat Uns was zu befehlen“, aber um ſo unterwürfiger iſt man
dafür geworden dem — Geſetze. Man wird nun in aller
Form Rechtens geknechtet.
Im Bürger-Staate giebt es nur „freie Leute“, die zu
Tauſenderlei (z. B. zu Ehrerbietung, zu einem Glaubensbe¬
kenntnis u. dergl.) gezwungen werden. Was thut das
aber? Es zwingt ſie ja nur der — Staat, das Geſetz, nicht
irgend ein Menſch!
Was will das Bürgerthum damit, daß es gegen jeden
perſönlichen, d. h. nicht in der „Sache“, der „Vernunft“
u. ſ. w. begründeten Befehl eifert? Es kämpft eben nur im
Intereſſe der „Sache“ gegen die Herrſchaft der „Perſonen“!
Sache des Geiſtes iſt aber das Vernünftige, Gute, Geſetzliche
u. ſ. w.; das iſt die „gute Sache“. Das Bürgerthum will
einen unperſönlichen Herrſcher.
[144]
Iſt ferner das Princip dieß, daß nur die Sache den
Menſchen beherrſchen ſoll, nämlich die Sache der Sittlichkeit,
die Sache der Geſetzlichkeit u. ſ. w., ſo darf auch keinerlei
perſönliche Verkürzung des Einen durch den Andern autori¬
ſirt werden (wie früher z. B. der Bürgerliche um die Adels¬
ämter verkürzt wurde, der Adelige um bürgerliches Handwerk
u. ſ. w.), d. h. es muß freie Concurrenz ſtattfinden. Nur
durch die Sache kann Einer den Andern verkürzen (der Reiche
z. B. den Unbemittelten durch das Geld, eine Sache), als
Perſon nicht. Es gilt fortan nur Eine Herrſchaft, die Herr¬
ſchaft des Staats; perſönlich iſt Keiner mehr ein Herr des
Andern. Schon bei der Geburt gehören die Kinder dem
Staate und den Aeltern nur im Namen des Staates, der
z. B. den Kindermord nicht duldet, die Taufe derſelben for¬
dert u. ſ. w.
Aber dem Staate gelten auch alle ſeine Kinder ganz
gleich („bürgerliche oder politiſche Gleichheit“), und ſie mögen
ſelbſt zuſehen, wie ſie mit einander fertig weiden: ſie mögen
concurriren.
Freie Concurrenz bedeutet nichts Anderes, als daß Jeder
gegen den Andern auftreten, ſich geltend machen, kämpfen kann.
Dagegen ſperrte ſich natürlich die feudale Partei, da ihre
Exiſtenz vom Nichtconcurriren abhängt. Die Kämpfe in der
Reſtaurationszeit Frankreichs hatten keinen andern Inhalt, als
den, daß die Bourgeoiſie nach freier Concurrenz rang, und die
Feudalen die Zünftigkeit zurückzubringen ſuchten.
Nun, die freie Concurrenz hat geſiegt und mußte gegen
die Zünftigkeit ſiegen. (Das Weitere ſiehe unten.)
Verlief ſich die Revolution in eine Reaction, ſo kam da¬
durch nur zu Tage, was die Revolution eigentlich war.
[145] Denn jedes Streben gelangt dann in die Reaction, wenn es
zur Beſinnung kommt, und ſtürmt nur ſo lange in die ur¬
prüngliche Action vorwärts, als es ein Rauſch, eine „Unbe¬
ſonnenheit“ iſt. „Beſonnenheit“ wird ſtets das Stichwort der
Reaction ſein, weil die Beſonnenheit Grenzen ſetzt, und das
eigentliche Gewollte, d. h. das Princip, von der anfänglichen
„Zügelloſigkeit“ und „Schrankenloſigkeit“ befreit. Wilde Bur¬
ſche, renommirende Studenten, die alle Rückſichten aus den
Augen ſetzen, ſind eigentlich Philiſter, da bei ihnen wie bei
dieſen die Rückſichten den Inhalt ihres Treibens bilden, nur
daß ſie als Bramarbaſſe ſich gegen die Rückſichten auflehnen
und negativ verhalten, als Philiſter ſpäter ſich ihnen ergeben
und poſitiv dazu verhalten. Um die „Rückſichten“ dreht ſich
in beiden Fällen ihr geſammtes Thun und Denken, aber der
Philiſter iſt gegen den Burſchen reactionair, iſt der zur
Beſinnung gekommene wilde Geſelle, wie dieſer der unbeſon¬
nene Philiſter iſt. Die alltägliche Erfahrung beſtätigt die
Wahrheit dieſes Umſchlagens und zeigt, wie die Renommiſten
zu Philiſtern ergrauen.
So beweiſt auch die ſogenannte Reaction in Deutſchland,
wie ſie nur die beſonnene Fortſetzung des kriegeriſchen Frei¬
heitsjubels war.
Die Revolution war nicht gegen das Beſtehende ge¬
richtet, ſondern gegen dieſes Beſtehende, gegen einen be¬
ſtimmten Beſtand. Sie ſchaffte dieſen Herrſcher ab, nicht
den Herrſcher, im Gegentheil wurden die Franzoſen auf's un¬
erbittlichſte beherrſcht; ſie tödtete die alten Laſterhaften, wollte
aber den Tugendhaften ein ſicheres Beſtehen gewähren, d. h.
ſie ſetzte an die Stelle des Laſters nur die Tugend. (Laſter
10[146] und Tugend unterſcheiden ſich ihrerſeits wieder nur, wie ein
wilder Burſche von einem Philiſter) u. ſ. w.
Bis auf den heutigen Tag iſt das Revolutionsprincip
dabei geblieben, nur gegen dieſes und jenes Beſtehende an¬
zukämpfen, d. h. reformatoriſch zu ſein. So viel auch
verbeſſert, ſo ſtark auch der „beſonnene Fortſchritt“ einge¬
halten werden mag: immer wird nur ein neuer Herr an die
Stelle des alten geſetzt, und der Umſturz iſt ein — Aufbau.
Es bleibt bei dem Unterſchiede des jungen von dem alten
Philiſter. Spießbürgerlich begann die Revolution mit der Er¬
hebung des dritten Standes, des Mittelſtandes, ſpießbürgerlich
verſiegt ſie. Nicht der einzelne Menſch — und dieſer allein
iſt der Menſch — wurde frei, ſondern der Bürger, der citoyen,
der politiſche Menſch, der eben deshalb nicht der Menſch,
ſondern ein Exemplar der Menſchengattung, und ſpecieller ein
Exemplar der Bürgergattung, ein freier Bürger iſt.
In der Revolution handelte nicht der Einzelne weltge¬
ſchichtlich, ſondern ein Volk: die Nation, die ſouveraine,
wollte alles bewirken. Ein eingebildetes Ich, eine Idee, wie
die Nation iſt, tritt handelnd auf, d. h. die Einzelnen geben
ſich zu Werkzeugen dieſer Idee her und handeln als „Bürger“.
Seine Macht und zugleich ſeine Schranken hat das Bür¬
gerthum im Staatsgrundgeſetze, in einer Charte, in einem
rechtlichen oder „gerechten“ Fürſten, der ſelbſt nach „vernünf¬
tigen Geſetzen“ ſich richtet und herrſcht, kurz in der Geſetz¬
lichkeit. Die Periode der Bourgeoiſie wird von dem briti¬
ſchen Geiſte der Geſetzlichkeit beherrſcht. Eine Verſammlung
von Landſtänden ruft ſich z. B. ſtets ins Gedächtniß, daß
ihre Befugniſſe nur ſo und ſo weit gehen, und daß ſie über¬
haupt nur aus Gnaden berufen ſei und aus Ungnade wieder
[147] verworfen werden könne. Sie erinnert ſich ſtets ſelbſt an
ihren — Beruf. Es iſt zwar nicht zu leugnen, daß Mich
mein Vater erzeugt hat; aber nun Ich einmal erzeugt bin,
gehen Mich doch wohl ſeine Erzeugungs-Abſichten gar nichts
an, und wozu er Mich auch immer berufen haben mag,
Ich thue, was Ich ſelber will. Darum erkannte auch eine
berufene Ständeverſammlung, die franzöſiſche im Anfange der
Revolution, ganz richtig, daß ſie vom Berufer unabhängig ſei.
Sie exiſtirte und wäre dumm geweſen, wenn ſie das Recht
der Exiſtenz nicht geltend machte, ſondern ſich, wie vom Vater,
abhängig wähnte. Der Berufene hat nicht mehr zu fragen:
was wollte der Berufer, als er Mich ſchuf? — ſondern: was
will Ich, nachdem Ich einmal dem Rufe gefolgt bin? Nicht
der Berufer, nicht die Committenten, nicht die Charte, nach
welcher ihr Zuſammentritt hervorgerufen wurde, nichts wird
für ihn eine heilige, unantaſtbare Macht ſein. Er iſt zu allem
befugt, was in ſeiner Macht ſteht; er wird keine beſchrän¬
kende „Befugniß“ kennen, wird nicht loyal ſein wollen. Dieß
gäbe, wenn man von Kammern überhaupt ſo etwas erwarten
könnte, eine vollkommen egoiſtiſche Kammer, abgelöſt von
aller Nabelſchnur und rückſichtslos. Aber Kammern ſind ſtets
devot, und darum kann es nicht befremden, wenn ſo viel hal¬
ber oder unentſchiedener, d. h. heuchleriſcher „Egoismus“ ſich
in ihnen breit macht.
Die Ständemitglieder ſollen in den Schranken bleiben,
welche ihnen durch die Charte, durch den Königswillen u. dergl.
vorgezeichnet ſind. Wollen oder können ſie das nicht, ſo ſollen
ſie „austreten“. Welcher Pflichtgetreue könnte anders han¬
deln, könnte ſich, ſeine Ueberzeugung und ſeinen Willen als
das Erſte ſetzen, wer könnte ſo unſittlich ſein, ſich geltend
10 *[148] machen zu wollen, wenn darüber auch die Körperſchaft und
Alles zu Grunde ginge? Man hält ſich ſorglich innerhalb
der Grenzen ſeiner Befugniß; in den Grenzen ſeiner Macht
muß man ja ohnehin bleiben, weil Keiner mehr kann als er
kann. „Die Macht oder reſpective Ohnmacht Meiner wäre
meine alleinige Grenze, Befugniſſe aber nur bindende —
Satzungen? Zu dieſer alles umſtürzenden Anſicht ſollte Ich
Mich bekennen? Nein, Ich bin ein — geſetzlicher Bürger!“
Das Bürgerthum bekennt ſich zu einer Moral, welche
auf's engſte mit ſeinem Weſen zuſammenhängt. Ihre erſte
Forderung geht darauf hin, daß man ein ſolides Geſchäft,
ein ehrliches Gewerbe betreibe, einen moraliſchen Wandel führe.
Unſittlich iſt ihr der Induſtrieritter, die Buhlerin, der Dieb,
Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenloſe Mann
ohne Anſtellung, der Leichtſinnige. Die Stimmung gegen dieſe
„Unmoraliſchen“ bezeichnet der wackere Bürger als ſeine „tiefſte
Entrüſtung“. Es fehlt dieſen Allen die Anſäſſigkeit, das So¬
lide des Geſchäfts, ein ſolides, ehrſames Leben, das feſte
Einkommen u. ſ. w., kurz, ſie gehören, weil ihre Exiſtenz
nicht auf einer ſicheren Baſis ruht, zu den gefährlichen
„Einzelnen oder Vereinzelten“ zum gefährlichen Proletariat:
ſie ſind „einzelne Schreier“, die keine „Garantien“ bieten und
„nichts zu verlieren“, alſo nichts zu riskiren haben. Schlie¬
ßung eines Familienbandes z. B. bindet den Menſchen, der
Gebundene gewährt eine Bürgſchaft, iſt faßbar; dagegen das
Freudenmädchen nicht. Der Spieler ſetzt alles auf's Spiel,
ruinirt ſich und Andere; — keine Garantie. Man könnte
Alle, welche dem Bürger verdächtig, feindlich und gefährlich er¬
ſcheinen, unter den Namen „Vagabonden“ zuſammenfaſſen;
ihm mißfällt jede vagabondirende Lebensart. Denn es giebt
[149] auch geiſtige Vagabonden, denen der angeſtammte Wohnſitz
ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als daß ſie ferner
mit dem beſchränkten Raume ſich begnügen möchten: ſtatt ſich
in den Schranken einer gemäßigten Denkungsart zu halten
und für unantaſtbare Wahrheit zu nehmen, was Tauſenden
Troſt und Beruhigung gewährt, überſpringen ſie alle Grenzen
des Althergebrachten und extravagiren mit ihrer frechen Kritik
und ungezähmten Zweifelſucht, dieſe extravaganten Vagabonden.
Sie bilden die Claſſe der Unſtäten, Ruheloſen, Veränderlichen,
d. h. der Proletarier, und heißen, wenn ſie ihr unſeßhaftes
Weſen laut werden laſſen, „unruhige Köpfe“.
Solch weiten Sinn hat das ſogenannte Proletariat oder
der Pauperismus. Wie ſehr würde man irren, wenn man
dem Bürgerthum das Verlangen zutraute, die Armuth (Pau¬
perismus) nach beſten Kräften zu beſeitigen. Im Gegentheil
hilft ſich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröſtlichen
Ueberzeugung, daß „die Güter des Glückes nun einmal un¬
gleich vertheilt ſeien und immer ſo bleiben werden — nach
Gottes weiſem Rathſchluſſe“. Die Armuth, welche ihn auf
allen Gaſſen umgiebt, ſtört den wahren Bürger nicht weiter,
als daß er höchſtens ſich mit ihr durch ein hingeworfenes
Almoſen abfindet, oder einem „ehrlichen und brauchbaren“
Burſchen Arbeit und Nahrung verſchafft. Deſto mehr aber
fühlt er ſeinen ruhigen Genuß getrübt durch die neuerungs¬
ſüchtige und unzufriedene Armuth, durch jene Armen,
welche ſich nicht mehr ſtille verhalten und dulden, ſondern zu
extravagiren anfangen und unruhig werden. Sperrt den
Vagabonden ein, ſteckt den Unruhſtifter ins dunkelſte Verließ!
Er will im Staate „Mißvergnügen erregen und gegen beſtehende
Verordnungen aufreizen“ — ſteiniget, ſteiniget ihn!
[150]
Gerade aber von dieſen Unzufriedenen geht etwa fol¬
gendes Raiſonnement aus: Den „guten Bürgern“ kann es
gleich gelten, wer ſie und ihre Principien ſchützt, ob ein
abſoluter oder conſtitutioneller König, eine Republik u. ſ. w.,
wenn ſie nur geſchützt werden. Und welches iſt ihr Prin¬
cip, deſſen Schutzherrn ſie ſtets „lieben“? Das der Arbeit
nicht; das der Geburt auch nicht. Aber das der Mittel¬
mäßigkeit, der ſchönen Mitte: ein bischen Geburt und
ein bischen Arbeit, d. h. ein ſich verzinſender Beſitz.
Beſitz iſt hier das Feſte, das Gegebene, Ererbte (Geburt),
das Verzinſen iſt daran die Mühwaltung (Arbeit), alſo ar¬
beitendes Capital. Nur kein Uebermaaß, kein Ultra,
kein Radicalismus! Allerdings Geburtsrecht, aber nur an¬
geborner Beſitz; allerdings Arbeit, aber wenig oder gar keine
eigene, ſondern Arbeit des Capitals und der — unterthä¬
nigen Arbeiter.
Liegt eine Zeit in einem Irrthum befangen, ſo ziehen
ſtets die Einen Vortheil aus ihm, indeß die Andern den
Schaden davon haben. Im Mittelalter war der Irrthum all¬
gemein unter den Chriſten, daß die Kirche alle Gewalt oder
die Oberherrlichkeit auf Erden haben müſſe; die Hierarchen
glaubten nicht weniger an dieſe „Wahrheit“ als die Laien,
und beide waren in dem gleichen Irrthum feſtgebannt. Allein
die Hierarchen hatten durch ihn den Vortheil der Gewalt,
die Laien den Schaden der Unterthänigkeit. Wie es aber
heißt: „durch Schaden wird man klug“, ſo wurden die Laien
endlich klug und glaubten nicht länger an die mittelalterliche
„Wahrheit“. — Ein gleiches Verhältniß findet zwiſchen Bür¬
gerthum und Arbeiterthum ſtatt. Bürger und Arbeiter glauben
an die „Wahrheit“ des Geldes; ſie, die es nicht beſitzen,
[151] glauben nicht weniger daran, als jene, welche es beſitzen, alſo
die Laien wie die Prieſter.
„Geld regiert die Welt“ iſt der Grundton der bürger¬
lichen Epoche. Ein beſitzloſer Adliger und ein beſitzloſer Ar¬
beiter ſind als „Hungerleider“ für die politiſche Geltung be¬
deutungslos: Geburt und Arbeit thun's nicht, ſondern das
Geld giebt Geltung. Die Beſitzenden herrſchen, der Staat
aber erzieht aus den Beſitzloſen ſeine „Diener“, denen er in
dem Maaße, als ſie in ſeinem Namen herrſchen (regieren) ſol¬
len, Geld (Gehalt) giebt.
Ich empfange Alles vom Staate. Habe Ich etwas ohne
die Bewilligung des Staates? Was Ich ohne ſie
habe, das nimmt er Mir ab, ſobald er den fehlenden
„Rechtstitel“ entdeckt. Habe Ich alſo nicht Alles durch ſeine
Gnade, ſeine Bewilligung?
Darauf allein, auf den Rechtstitel, ſtützt ſich das
Bürgerthum. Der Bürger iſt, was er iſt, durch den Staats¬
ſchutz, durch die Gnade des Staats. Er müßte fürchten,
Alles zu verlieren, wenn die Macht des Staates gebrochen
würde.
Wie iſt's aber mit dem, der nichts zu verlieren hat, wie
mit dem Proletarier? Da er nichts zu verlieren hat, braucht
er für ſein „Nichts“ den Staatsſchutz nicht. Er kann im
Gegentheil gewinnen, wenn jener Staatsſchutz den Schützlin¬
gen entzogen wird.
Darum wird der Nichtbeſitzende den Staat als Schutz¬
macht des Beſitzenden anſehen, die dieſen privilegirt, ihn da¬
gegen nur — ausſaugt. Der Staat iſt ein — Bürger¬
ſtaat, iſt der status des Bürgerthums. Er ſchützt den Men¬
ſchen nicht nach ſeiner Arbeit, ſondern nach ſeiner Folgſamkeit
[152] („Loyalität“), nämlich danach, ob er die vom Staate anver¬
trauten Rechte dem Willen, d. h. Geſetzen des Staates gemäß
genießt und verwaltet.
Unter dem Regime des Bürgerthums fallen die Arbeiten¬
den ſtets den Beſitzenden, d. h. denen, welche irgend ein
Staatsgut (und alles Beſitzbare iſt Staatsgut, gehört dem
Staate und iſt nur Lehen der Einzelnen) zu ihrer Verfügung
haben, beſonders Geld und Gut, alſo den Capitaliſten in die
Hände. Es kann der Arbeiter ſeine Arbeit nicht verwerthen
nach dem Maaße des Werthes, welchen ſie für den Genießenden
hat. „Die Arbeit wird ſchlecht bezahlt!“ Den größten Ge¬
winn hat der Capitaliſt davon. — Gut und mehr als gut
werden nur die Arbeiten derjenigen bezahlt, welche den Glanz
und die Herrſchaft des Staates erhöhen, die Arbeiten hoher
Staatsdiener. Der Staat bezahlt gut, damit ſeine „guten
Bürger“, die Beſitzenden, ohne Gefahr ſchlecht bezahlen kön¬
nen; er ſichert ſich ſeine Diener, aus welchen er für die „guten
Bürger“ eine Schutzmacht, eine „Polizei“ (zur Polizei gehören
Soldaten, Beamten aller Art, z. B. die der Juſtiz, Erziehung
u. ſ. w., kurz die ganze „Staatsmaſchine“) bildet, durch gute
Bezahlung, und die „guten Bürger“ entrichten gern hohe
Abgaben an ihn, um deſto niedrigere ihren Arbeitern zu leiſten.
Aber die Claſſe der Arbeiter bleibt, weil in dem, was
ſie weſentlich ſind, ungeſchützt (denn nicht als Arbeiter genie¬
ßen ſie den Staatsſchutz, ſondern als ſeine Unterthanen haben
ſie einen Mitgenuß von der Polizei, einen ſogenannten Rechts¬
ſchutz), eine dieſem Staate, dieſem Staate der Beſitzenden,
dieſem „Bürgerkönigthum“, feindliche Macht. Ihr Princip,
die Arbeit, iſt nicht ſeinem Werthe nach anerkannt: es wird
ausgebeutet, eine Kriegsbeute der Beſitzenden, der Feinde.
[153]
Die Arbeiter haben die ungeheuerſte Macht in Händen,
und wenn ſie ihrer einmal recht inne würden und ſie gebrauch¬
ten, ſo widerſtände ihnen nichts: ſie dürften nur die Arbeit
einſtellen und das Gearbeitete als das Ihrige anſehen und
genießen. Dieß iſt der Sinn der hie und da auftauchenden
Arbeiterunruhen.
Der Staat beruht auf der — Sklaverei der Arbeit.
Wird die Arbeit frei, ſo iſt der Staat verloren.
§. 2. Der ſociale Liberalismus.
Wir ſind freigeborene Menſchen, und wohin Wir blicken,
ſehen Wir Uns zu Dienern von Egoiſten gemacht! Sollen
Wir darum auch Egoiſten werden? Bewahre der Himmel,
Wir wollen lieber die Egoiſten unmöglich machen! Wir
wollen ſie alle zu „Lumpen“ machen, wollen Alle nichts haben,
damit „Alle“ haben. —
So die Socialen. —
Wer iſt dieſe Perſon, die Ihr „Alle“ nennt? — Es iſt
die „Geſellſchaft“! — Iſt ſie denn aber leibhaftig? — Wir
ſind ihr Leib! — Ihr? Ihr ſeid ja ſelbſt kein Leib; — Du
zwar biſt leibhaftig, auch Du und Du, aber Ihr zuſammen
ſeid nur Leiber, kein Leib. Mithin hätte die einige Geſellſchaft
zwar Leiber zu ihrem Dienſte, aber keinen einigen und eigenen
Leib. Sie wird eben, wie die „Nation“ der Politiker, nichts
als ein „Geiſt“ ſein, der Leib an ihm nur Schein.
Die Freiheit des Menſchen iſt im politiſchen Liberalismus
die Freiheit von Perſonen, von perſönlicher Herrſchaft, vom
Herrn: Sicherung jeder einzelnen Perſon gegen andere Per¬
ſonen, perſönliche Freiheit.
[154]
Es hat keiner etwas zu befehlen, das Geſetz allein befiehlt.
Aber ſind die Perſonen auch gleich geworden, ſo doch
nicht ihr Beſitzthum. Und doch braucht der Arme den
Reichen, der Reiche den Armen, jener das Geld des Reichen,
dieſer die Arbeit des Armen. Alſo es braucht keiner den An¬
dern als Perſon, aber er braucht ihn als Gebenden, mit¬
hin als einen, der etwas zu geben hat, als Inhaber oder
Beſitzer. Was er alſo hat, das macht den Mann. Und
im Haben oder an „Habe“ ſind die Leute ungleich.
Folglich, ſo ſchließt der ſociale Liberalismus, muß Kei¬
ner haben, wie dem politiſchen Liberalismus zufolge Kei¬
ner befehlen ſollte, d. h. wie hier der Staat allein den
Befehl erhielt, ſo nun die Geſellſchaft allein die Habe.
Indem nämlich der Staat eines Jeden Perſon und Eigen¬
thum gegen den Andern ſchützt, trennt er ſie von einander:
Jeder iſt ſein Theil für ſich und hat ſein Theil für ſich.
Wem genügt, was er iſt und hat, der findet bei dieſem Stande
der Dinge ſeine Rechnung; wer aber mehr ſein und ha¬
ben möchte, der ſieht ſich nach dieſem Mehr um und findet
es in der Gewalt anderer Perſonen. Hier geräth er auf
einen Widerſpruch: als Perſon ſteht keiner dem Andern nach,
und doch hat die eine Perſon, was die andere nicht hat,
aber haben möchte. Alſo, ſchließt er daraus, iſt doch die eine
Perſon mehr als die andere, denn jene hat, was ſie braucht,
dieſe hat es nicht, jene iſt ein Reicher, dieſe ein Armer.
Sollen Wir, fragt er ſich nunmehr weiter, wieder auf¬
leben laſſen, was Wir mit Recht begruben, ſollen Wir
dieſe auf einem Umwege wiederhergeſtellte Ungleichheit der
Perſonen gelten laſſen? Nein, Wir müſſen im Gegentheil,
was nur halb vollbracht war, ganz zu Ende führen. Unſerer
[155] Freiheit von der Perſon des Andern fehlt noch die Freiheit
von dem, worüber die Perſon des Andern gebieten kann, von
dem, was ſie in ihrer perſönlichen Macht hat, kurz von dem
„perſönlichen Eigenthum“. Schaffen Wir alſo das perſön¬
liche Eigenthum ab. Keiner habe mehr etwas, jeder ſei
ein — Lump. Das Eigenthum ſei unperſönlich, es ge¬
höre der — Geſellſchaft.
Vor dem höchſten Gebieter, dem alleinigen Befehls¬
haber, waren Wir alle gleich geworden, gleiche Perſonen,
d. h. Nullen.
Vor dem höchſten Eigenthümer werden Wir alle
gleiche — Lumpe. Für jetzt iſt noch Einer in der Schätzung
des Andern ein „Lump“, „Habenichts“; dann aber hört dieſe
Schätzung auf, Wir ſind allzumal Lumpe, und als Geſammt¬
maſſe der communiſtiſchen Geſellſchaft könnten Wir Uns
„Lumpengeſindel“ nennen.
Wenn der Proletarier ſeine beabſichtigte „Geſellſchaft“,
worin der Abſtand von Reich und Arm beſeitigt werden ſoll,
wirklich gegründet haben wird, dann iſt er Lump, denn er
weiß ſich dann etwas damit, Lump zu ſein, und könnte „Lump“
ſo gut zu einer ehrenden Anrede erheben, wie die Revolution
das Wort „Bürger“ dazu erhob. Lump iſt ſein Ideal, Lumpe
ſollen Wir alle werden.
Dieß iſt im Intereſſe der „Menſchlichkeit“ der zweite
Raub am „Perſönlichen“. Man läßt dem Einzelnen weder
Befehl noch Eigenthum; jenen nahm der Staat, dieſes die
Geſellſchaft.
Weil in der Geſellſchaft ſich die drückendſten Uebelſtände
bemerkbar machen, ſo denken beſonders die Gedrückten, alſo
die Glieder aus den unteren Regionen der Societät, die Schuld
[156] in der Geſellſchaft zu finden, und machen ſich's zur Aufgabe,
die rechte Geſellſchaft zu entdecken. Es iſt das nur die
alte Erſcheinung, daß man die Schuld zuerſt in allem Ande¬
ren als in ſich ſucht; alſo im Staate, in der Selbſtſucht der
Reichen u. ſ. w., die doch gerade unſerer Schuld ihr Daſein
verdanken.
Die Reflexionen und Schlüſſe des Communismus ſehen
ſehr einfach aus. Wie die Sachen dermalen liegen, alſo
unter den jetzigen Staatsverhältniſſen, ſtehen die Einen gegen
die Andern, und zwar die Mehrzahl gegen die Minderzahl im
Nachtheil. Bei dieſem Stande der Dinge befinden ſich jene
im Wohlſtande, dieſe im Nothſtande. Daher muß der
gegenwärtige Stand der Dinge, d. i. der Staat (status =
Stand) abgeſchafft werden. Und was an ſeine Stelle? Statt
des vereinzelten Wohlſtandes — ein allgemeiner Wohl¬
ſtand, ein Wohlſtand Aller.
Durch die Revolution wurde die Bourgeoiſie allmächtig
und alle Ungleichheit dadurch aufgehoben, daß Jeder zur
Würde eines Bürgers erhoben oder erniedrigt wurde: der
gemeine Mann — erhoben, der Adlige — erniedrigt; der
dritte Stand wurde einziger Stand, nämlich Stand der —
Staatsbürger. Nun replicirt der Communismus: Nicht
darin beſteht unſere Würde und unſer Weſen, daß Wir alle
— die gleichen Kinder des Staates, unſerer Mutter, ſind,
alle geboren mit dem gleichen Anſpruch auf ihre Liebe und
ihren Schutz, ſondern darin, daß Wir alle für einander
da ſind. Dieß iſt unſere Gleichheit oder darin ſind Wir
gleich, daß Ich ſo gut als Du und Ihr alle, jeder für den
Andern, thätig ſind oder „arbeiten“, alſo darin, daß jeder von
Uns ein Arbeiter iſt. Nicht auf das kommt es Uns an,
[157] was Wir für den Staat ſind, nämlich Bürger, alſo nicht
auf unſer Bürgerthum, ſondern auf das, was Wir für
einander ſind, nämlich darauf, daß Jeder von Uns nur
durch den Andern exiſtirt, der, indem er für meine Bedürfniſſe
ſorgt, zugleich von Mir die ſeinigen befriedigt ſieht. Er ar¬
beitet z. B. für meine Kleidung (Schneider), Ich für ſein
Vergnügungsbedürfniß (Comödienſchreiber, Seiltänzer u. ſ. w.),
er für meine Nahrung (Landwirth u. ſ. w.), Ich für ſeine Be¬
lehrung (Gelehrter u. ſ. w.). Alſo das Arbeiterthum iſt
unſere Würde und unſere — Gleichheit.
Welchen Vortheil bringt Uns das Bürgerthum? Laſten!
Und wie hoch ſchlägt man unſere Arbeit an? So niedrig als
möglich! Arbeit iſt aber gleichwohl unſer einziger Werth; daß
Wir Arbeiter ſind, das iſt das Beſte an Uns, das iſt un¬
ſere Bedeutung in der Welt, und darum muß es auch unſere
Geltung weiden und muß zur Geltung kommen. Was
könnt Ihr Uns entgegenſtellen? Doch auch nur — Arbeit.
Nur für Arbeit oder Leiſtungen ſind Wir Euch eine Recom¬
penſe ſchuldig, nicht für eure bloße Exiſtenz; auch nicht für
das, was Ihr für Euch ſeid, ſondern nur für das, was Ihr
für Uns ſeid. Wodurch habt Ihr Anſprüche an Uns? Etwa
durch eure hohe Geburt u. ſ. w. ? Nein, nur durch das, was
Ihr Uns Erwünſchtes oder Nützliches leiſtet. So ſei es denn
auch ſo: Wir wollen Euch nur ſo viel werth ſein, als Wir
Euch leiſten; Ihr aber ſollt desgleichen von Uns gehalten
weiden. Die Leiſtungen beſtimmen den Werth, d.h. die¬
jenigen Leiſtungen, die Uns etwas werth ſind, alſo die Ar¬
beiten für einander, die gemeinnützigen Arbeiten.
Jeder ſei in den Augen des Andern ein Arbeiter. Wer
Nützliches verrichtet, der ſteht Keinem nach, oder — alle Ar¬
[158] beiter (Arbeiter natürlich im Sinne von „gemeinnütziger“,
d.h. communiſtiſcher Arbeiter) ſind gleich. Da aber der Ar¬
beiter ſeines Lohnes werth iſt, ſo ſei auch der Lohn gleich.
So lange das Glauben für die Ehre und Würde des
Menſchen ausreichte, ließ ſich gegen keine auch noch ſo anſtren¬
gende Arbeit etwas einwenden, wenn ſie nur den Menſchen
nicht im Glauben hinderte. Hingegen jetzt, wo Jeder ſich zum
Menſchen ausbilden ſoll, fällt die Bannung des Menſchen
an maſchinenmäßige Arbeit zuſammen mit der Sklaverei. Muß
ein Fabrikarbeiter ſich zwölf Stunden und mehr todtmüde ma¬
chen, ſo iſt er um die Menſchwerdung gebracht. Jedwede
Arbeit ſoll den Zweck haben, daß der Menſch befriedigt werde.
Deshalb muß er auch in ihr Meiſter werden, d. h. ſie als
eine Totalität ſchaffen können. Wer in einer Stecknadelfabrik
nur die Knöpfe aufſetzt, nur den Draht zieht u. ſ. w., der
arbeitet wie mechaniſch, wie eine Maſchine: er bleibt ein
Stümper, wird kein Meiſter: ſeine Arbeit kann ihn nicht be¬
friedigen, ſondern nur ermüden. Seine Arbeit iſt, für
ſich genommen, nichts, hat keinen Zweck in ſich, iſt nichts
für ſich Fertiges: er arbeitet nur einem Andern in die Hand,
und wird von dieſem Andern benutzt (exploitirt). Für dieſen
Arbeiter im Dienſte eines Andern giebt es keinen Genuß ei¬
nes gebildeten Geiſtes, höchſtens rohe Vergnügungen:
ihm iſt ja die Bildung verſchloſſen. Um ein guter Chriſt
zu ſein, braucht man nur zu glauben, und das kann unter
den drückendſten Verhältniſſen geſchehen. Daher ſorgen die
chriſtlich Geſinnten nur für die Frömmigkeit der gedrückten Ar¬
beiter, ihre Geduld, Ergebung u. ſ. w. All ihr Elend konn¬
ten die unterdrückten Claſſen nur ſo lange ertragen, als ſie
Chriſten waren: denn das Chriſtenthum läßt ihr Murren
[159] und ihre Empörung nicht aufkommen. Jetzt genügt nicht mehr
die Beſchwichtigung der Begierden, ſondern es wird ihre
Sättigung gefordert. Die Bourgeoiſie hat das Evangelium
des Weltgenuſſes, des materiellen Genuſſes verkündet und
wundert ſich nun, daß dieſe Lehre unter Uns Armen Anhänger
findet; ſie hat gezeigt, daß nicht Glaube und Armuth, ſondern
Bildung und Beſitz ſelig macht: das begreifen Wir Proleta¬
rier auch.
Von Befehl und Willkühr Einzelner befreite das Bürger¬
thum. Allein jene Willkühr blieb übrig, welche aus der Con¬
junctur der Verhältniſſe entſpringt und die Zufälligkeit der Um¬
ſtände genannt werden kann; es blieben das begünſtigende
Glück und die „vom Glück Begünſtigten“ übrig.
Wenn z. B. ein Gewerbszweig zu Grunde geht und
Tauſende von Arbeitern brodlos werden, ſo denkt man billig
genug, um zu bekennen, daß nicht der Einzelne die Schuld
trägt, ſondern „das Uebel in den Verhältniſſen liegt.“
Aendern Wir denn die Verhältniſſe, aber ändern Wir ſie
durchgreifend und ſo, daß ihre Zufälligkeit ohnmächtig wird
und ein Geſetz! Seien Wir nicht länger Sklaven des Zu¬
falls! Schaffen Wir eine neue Ordnung, die den Schwan¬
kungen ein Ende macht. Dieſe Ordnung ſei dann heilig!
Früher mußte man es den Herren recht machen, um zu
etwas zu kommen; nach der Revolution hieß es: Haſche das
Glück! Glücksjagd oder Hazardſpiel, darin ging das bürger¬
liche Leben auf. Daneben dann die Forderung, daß, wer et¬
was erlangt hat, dieß nicht leichtſinnig wieder aufs Spiel ſetze.
Seltſamer und doch höchſt natürlicher Widerſpruch. Die
Concurrenz, in der allein das bürgerliche oder politiſche Leben
ſich abwickelt, iſt durch und durch ein Glücksſpiel, von den
[160] Börſenſpeculationen herab bis zur Aemterbewerbung, der Kun¬
denjagd, dem Arbeitſuchen, dem Trachten nach Beförderung
und Orden, dem Trödel des Schacherjuden u. ſ. w. Gelingt
es, die Mitbewerber auszuſtechen und zu überbieten, ſo iſt der
„glückliche Wurf“ gethan; denn für ein Glück muß es ſchon
genommen werden, daß der Sieger mit einer, wenn auch durch
den ſorgſamſten Fleiß ausgebildeten Begabtheit ſich ausgeſtattet
ſteht, gegen welche die Andern nicht aufzukommen wiſſen, alſo
daß ſich — keine Begabteren finden. Und die nun mitten in
dieſem Glückswechſel ihr tägliches Weſen treiben, ohne ein
Arg dabei zu haben, gerathen in die ſittlichſte Entrüſtung,
wenn ihr eigenes Princip in nackter Form auftritt und als —
Hazardſpiel „Unglück anrichtet.“ Das Hazardſpiel iſt ja
eine zu deutliche, zu unverhüllte Concurrenz und verletzt wie
jede entſchiedene Nacktheit das ehrſame Schamgefühl.
Dieſem Treiben des Ungefährs wollen die Socialen Ein¬
halt thun und eine Geſellſchaft bilden, in welcher die Men¬
ſchen nicht länger vom Glücke abhängig, ſondern frei ſind.
Auf die natürlichſte Weiſe äußert ſich dieß Streben zuerſt
als Haß der „Unglücklichen“ gegen die „Glücklichen“, d. h.
derer, für welche das Glück wenig oder nichts gethan hat,
gegen diejenigen, für die es Alles gethan hat.
Eigentlich gilt der Unmuth aber nicht den Glücklichen,
ſondern dem Glücke, dieſem faulen Fleck des Bürgerthums.
Da die Communiſten erſt die freie Thätigkeit für das
Weſen des Menſchen erklären, bedürfen ſie, wie alle werkeltä¬
gige Geſinnung, eines Sonntags, wie alles materielle Stre¬
ben, eines Gottes, einer Erhebung und Erbauung neben ihrer
geiſtloſen „Arbeit“.
[161]
Daß der Communiſt in Dir den Menſchen, den Bruder
erblickt, das iſt nur die ſonntägliche Seite des Communismus.
Nach der werkeltägigen nimmt er Dich keineswegs als Men¬
ſchen ſchlechthin, ſondern als menſchlichen Arbeiter oder arbei¬
tenden Menſchen. Das liberale Princip ſteckt in der erſteren
Anſchauung, in die zweite verbirgt ſich die Illiberalität. Wä¬
reſt Du ein „Faulenzer“, ſo würde er zwar den Menſchen in
Dir nicht verkennen, aber als einen „faulen Menſchen“ ihn
von der Faulheit zu reinigen und Dich zu dem Glauben zu
bekehren ſtreben, daß das Arbeiten des Menſchen „Beſtimmung
und Beruf“ ſei.
Darum zeigt er ein doppeltes Geſicht: mit dem einen hat er
darauf Acht, daß der geiſtige Menſch befriedigt werde, mit dem
andern ſchaut er ſich nach Mitteln für den materiellen oder leibli¬
chen um. Er giebt dem Menſchen eine zwiefache Anſtellung,
ein Amt des materiellen Erwerbs und eines des geiſtigen.
Das Bürgerthum hatte geiſtige und materielle Güter frei
hingeſtellt und Jedem anheim gegeben, danach zu langen,
wenn ihn gelüſte.
Der Communismus verſchafft ſie wirklich Jedem, dringt
ſie ihm auf und zwingt ihn, ſie zu erwerben. Er macht Ernſt
damit, daß Wir, weil nur geiſtige und materielle Güter Uns
zu Menſchen machen, dieſe Güter ohne Widerrede erwerben
müſſen, um Menſch zu ſein. Das Bürgerthum machte den
Erwerb frei, der Communismus zwingt zum Erwerb, und
erkennt nur den Erwerbenden an, den Gewerbtreibenden.
Es iſt nicht genug, daß das Gewerbe frei iſt, ſondern Du
mußt es ergreifen.
So bleibt der Kritik nur übrig zu beweiſen, der Erwerb
dieſer Güter mache Uns noch keineswegs zu Menſchen.
11[162]
Mit dem liberalen Gebote, daß Jeder aus ſich einen
Menſchen oder Jeder ſich zum Menſchen machen ſoll, war die
Nothwendigkeit geſetzt, daß Jeder zu dieſer Arbeit der Ver¬
menſchlichung Zeit gewinnen müſſe, d. h. daß Jedem möglich
werde, an ſich zu arbeiten.
Das Bürgerthum glaubte dieß vermittelt zu haben, wenn
es alles Menſchliche der Concurrenz übergebe, den Einzelnen
aber zu jeglichem Menſchlichen berechtige. „Es darf Jeder
nach Allem ſtreben!“
Der ſociale Liberalismus findet, daß die Sache mit dem
„Dürfen“ nicht abgethan ſei, weil dürfen nur heißt, es iſt
Keinem verboten, aber nicht, es iſt Jedem möglich gemacht. Er
behauptet daher, das Bürgerthum ſei nur mit dem Munde
und in Worten liberal, in der That höchſt illiberal. Er ſei¬
nerſeits will Uns allen die Mittel geben, an Uns arbeiten
zu können.
Durch das Princip der Arbeit wird allerdings das des
Glückes oder der Concurrenz überboten. Zugleich aber hält
ſich der Arbeiter in ſeinem Bewußtſein, daß das Weſentliche
an ihm „der Arbeiter“ ſei, vom Egoismus fern und unterwirft
ſich der Oberhoheit einer Arbeitergeſellſchaft, wie der Bürger
mit Hingebung am Concurrenz-Staate hing. Der ſchöne Traum
von einer „Socialpflicht“ wird noch fortgeträumt. Man meint
wieder, die Geſellſchaft gebe, was Wir brauchen, und Wir
ſeien ihr deshalb verpflichtet, ſeien ihr alles ſchuldig *).
Man bleibt dabei, einem „höchſten Geber alles Guten“ die¬
[163] nen zu wollen. Daß die Geſellſchaft gar kein Ich iſt, das
geben, verleihen oder gewähren könnte, ſondern ein Inſtrument
oder Mittel, aus dem Wir Nutzen ziehen mögen, daß Wir keine
geſellſchaftlichen Pflichten, ſondern lediglich Intereſſen haben,
zu deren Verfolgung Uns die Geſellſchaft dienen müſſe, daß
Wir der Geſellſchaft kein Opfer ſchuldig ſind, ſondern, opfern
Wir etwas, es Uns opfern: daran denken die Socialen nicht,
weil ſie — als Liberale — im religiöſen Princip gefangen
ſitzen und eifrig trachten nach einer, wie es der Staat bisher
war, — heiligen Geſellſchaft!
Die Geſellſchaft, von der Wir alles haben, iſt eine neue
Herrin, ein neuer Spuk, ein neues „höchſtes Weſen“, das
Uns „in Dienſt und Pflicht nimmt!“
Die nähere Würdigung des politiſchen ſowohl als des
ſocialen Liberalismus kann ihre Stelle erſt weiter unten finden.
Wir gehen für jetzt dazu über, ſie vor den Richterſtuhl des
humanen oder kritiſchen Liberalismus zu ſtellen.
§. 3.Der humane Liberalismus.
Da in dem ſich kritiſirenden, dem „kritiſchen“ Liberalis¬
mus, wobei der Kritiker ein Liberaler bleibt und über das
Princip des Liberalismus, den Menſchen, nicht hinausgeht,
der Liberalismus ſich vollendet, ſo mag er vorzugsweiſe nach
dem Menſchen benannt werden und der „humane“ heißen.
Der Arbeiter gilt für den materiellſten und egoiſtiſchſten
Menſchen. Er leiſtet für die Menſchheit gar nichts, thut
alles für ſich, zu ſeiner Wohlfahrt.
Das Bürgerthum hat, weil es den Menſchen nur ſei¬
ner Geburt nach für frei ausgab, ihn im Uebrigen in den
11 *[164] Klauen des Unmenſchen (Egoiſten) laſſen müſſen. Daher hat
der Egoismus unter dem Regiment des politiſchen Liberalis¬
mus ein ungeheures Feld zu freier Benutzung.
Wie der Bürger den Staat, ſo wird der Arbeiter die
Geſellſchaft benutzen für ſeine egoiſtiſchen Zwecke. Du
haſt doch nur einen egoiſtiſchen Zweck, deine Wohlfahrt! wirft
der Humane dem Socialen vor. Faſſe ein rein menſch¬
liches Intereſſe, dann will Ich dein Gefährte ſein. „Da¬
zu gehört aber ein ſtärkeres, ein umfaſſenderes, als ein Ar¬
beiterbewußtſein.“ „Der Arbeiter macht Nichts, drum
hat er Nichts: er macht aber Nichts, weil ſeine Arbeit ſtets
eine einzeln bleibende, auf ſein eigenſtes Bedürfniß berechnete,
tägliche iſt.“ *)Man kann ſich dem entgegen etwa Folgendes
denken: die Arbeit Guttenbergs blieb nicht einzeln, ſondern er¬
zeugte unzählige Kinder und lebt heute noch, ſie war auf das
Bedürfniß der Menſchheit berechnet, und war eine ewige, un¬
vergängliche.
Das humane Bewußtſein verachtet ſowohl das Bürger-
als das Arbeiter-Bewußtſein: denn der Bürger iſt nur „ent¬
lüftet“ über den Vagabonden (über Alle, welche „keine be¬
ſtimmte Beſchäftigung“ haben) und deren „Immoralität“; den
Arbeiter „empört“ der Faulenzer („Faulpelz“) und deſſen
„unſittliche“, weil ausſaugende und ungeſellſchaftliche, Grund¬
ſätze. Dagegen erwidert der Humane: Die Unſeßhaftigkeit
Vieler iſt nur dein Product, Philiſter! Daß Du aber, Pro¬
letarier, Allen das Büffeln zumutheſt, und die Plackerei
zu einer allgemeinen machen willſt, das hängt Dir noch von
deiner ſeitherigen Packeſelei an. Du willſt freilich dadurch, daß
[165]Alle ſich gleichſehr placken müſſen, die Plackerei ſelbſt erleich¬
tern, jedoch nur aus dem Grunde, damit Alle gleichviel Muße
gewinnen. Was aber ſollen ſie mit ihrer Muße anfangen?
Was thut deine „Geſellſchaft“, damit dieſe Muße menſch¬
lich verbracht werde? Sie muß wieder die gewonnene Muße
dem egoiſtiſchen Belieben überlaſſen und gerade der Gewinn,
den deine Geſellſchaft fördert, fällt dem Egoiſten zu, wie der
Gewinn des Bürgerthums, die Herrenloſigkeit des Men¬
ſchen, vom Staate nicht mit einem menſchlichen Inhalt er¬
füllt werden konnte und deshalb der Willkühr überlaſſen wurde.
Allerdings iſt nothwendig, daß der Menſch herrenlos ſei,
aber darum ſoll auch nicht wieder der Egoiſt über den Men¬
ſchen, ſondern der Menſch über den Egoiſten Herr werden.
Allerdings muß der Menſch Muße finden, aber wenn der Egoiſt
ſich dieſelbe zu Nutze macht, ſo entgeht ſie dem Menſchen; dar¬
um müßtet Ihr der Muße eine menſchliche Bedeutung geben.
Aber auch eure Arbeit unternehmt Ihr Arbeiter aus egoiſti¬
ſchem Antriebe, weil Ihr eſſen, trinken, leben wollt; wie ſoll¬
tet Ihr bei der Muße weniger Egoiſten ſein? Ihr arbeitet nur,
weil nach gethaner Arbeit gut feiern (faulenzen) iſt, und wo¬
mit Ihr eure Mußezeit hinbringt, das bleibt dem Zufall
überlaſſen.
Soll aber dem Egoismus jede Thür verriegelt werden,
ſo müßte ein völlig „unintereſſirtes“ Handeln erſtrebt werden,
die gänzliche Unintereſſirtheit. Dieß iſt allein menſchlich,
weil nur der Menſch unintereſſirt iſt; der Egoiſt immer intereſſirt.
Laſſen Wir einſtweilen die Unintereſſirtheit gelten, ſo fra¬
gen Wir: Willſt Du an nichts Intereſſe nehmen, für nichts
[166] begeiſtert ſein, nicht für die Freiheit, Menſchheit u. ſ. w.?
„O ja, das iſt aber kein egoiſtiſches Intereſſe, keine Inter¬
eſſirtheit, ſondern ein menſchliches, d.h. ein theore¬
tiſches, nämlich ein Intereſſe nicht für einen Einzelnen oder
die Einzelnen („Alle“), ſondern für die Idee, für den
Menſchen!“
Und Du merkſt nicht, daß Du auch nur begeiſtert biſt
für deine Idee, deine Freiheitsidee?
Und ferner merkſt Du nicht, daß deine Unintereſſirtheit
wieder, wie die religiöſe, eine himmliſche Intereſſirtheit iſt?
Der Nutzen der Einzelnen läßt Dich allerdings kalt, und Du
könnteſt abſtrakt ausrufen: fiat libertas, pereat mundus. Du
ſorgeſt auch nicht für den andern Tag und haſt überhaupt
keine ernſtliche Sorge für die Bedürfniſſe des Einzelnen, nicht
für dein eigenes Wohlleben, noch das der Andern; aber Du
machſt Dir eben aus alle dem nichts, weil Du ein — Schwär¬
mer biſt.
Wird etwa der Humane ſo liberal ſein, alles Menſchen¬
mögliche für menſchlich auszugeben? Im Gegentheil! Ueber
die Hure theilt er zwar das moraliſche Vorurtheil des Phi¬
liſters nicht, aber „daß dieß Weib ihren Körper zur Geld¬
erwerb-Maſchine macht“*), das macht ſie ihm als „Menſchen“
verächtlich. Er urtheilt: Die Hure iſt nicht Menſch, oder: ſo
weit ein Weib Hure iſt, ſo weit iſt ſie unmenſchlich, entmenſcht.
Ferner: der Jude, der Chriſt, der Privilegirte, der Theologe
u. ſ. w. iſt nicht Menſch; ſo weit u. ſ. w. Jude biſt,
biſt Du nicht Menſch. Wiederum das imperatoriſche Poſtulat:
Wirf alles Aparte von Dir, kritiſire es weg! Sei nicht Jude,
[167] nicht Chriſt u. ſ. w., ſondern ſei Menſch, nichts als Menſch!
Mach deine Menſchlichkeit gegen jede beſchränkende Be¬
ſtimmung geltend, mach Dich mittelſt ihrer zum Menſchen und
von jenen Schranken frei, mach Dich zum „freien Menſchen“,
d. h. erkenne die Menſchlichkeit als dein alles beſtimmendes
Weſen.
Ich ſage: Du biſt zwar mehr als Jude, mehr als Chriſt
u. ſ. w., aber Du biſt auch mehr als Menſch. Das ſind
alles Ideen, Du aber biſt leibhaftig. Meinſt Du denn, jemals
„Menſch als ſolcher“ werden zu können? Meinſt Du, unſere
Nachkommen werden keine Vorurtheile und Schranken wegzu¬
ſchaffen finden, für die unſere Kräfte nicht hinreichten? Oder
glaubſt Du etwa in deinem 40ſten oder 50ſten Jahre ſo weit
gekommen zu ſein, daß die folgenden Tage nichts mehr an
Dir aufzulöſen hätten, und daß Du Menſch wäreſt? Die
Menſchen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen,
die Wir nicht einmal entbehren. Wozu brauchſt Du jene
ſpätere Freiheit? Wollteſt Du Dich für nichts achten, bevor
Du Menſch geworden, ſo müßteſt Du bis zum „jüngſten Ge¬
richt“ warten, bis zu dem Tage, wo der Menſch oder die
Menſchheit die Vollkommenheit erlangt haben ſoll. Da Du
aber ſicherlich vorher ſtirbſt, wo bleibt dein Siegespreis?
Drum kehre Du Dir die Sache lieber um und ſage Dir:
Ich bin Menſch! Ich brauche den Menſchen nicht erſt in
Mir herzuſtellen, denn er gehört Mir ſchon, wie alle meine
Eigenſchaften.
Wie kann man aber, fragt der Kritiker, zugleich Jude und
Menſch ſein? Erſtens, antworte Ich, kann man überhaupt
weder Jude noch Menſch ſein, wenn „man“ und Jude oder
Menſch daſſelbe bedeuten ſollen; „man“ greift immer über jene
[168] Beſtimmungen hinaus, und Schmul ſei noch ſo jüdiſch, Jude,
nichts als Jude, vermag er nicht zu ſein, ſchon weil er dieſer
Jude iſt. Zweitens kann man allerdings als Jude nicht
Menſch ſein, wenn Menſch ſein heißt, nicht Beſonderes ſein.
Drittens aber — und darauf kommt es an — kann Ich als
Jude ganz ſein, was ich eben ſein — kann. Von Samuel
oder Moſes und andern erwartet Ihr ſchwerlich, daß ſie über
das Judenthum ſich hätten erheben ſollen, obgleich Ihr ſagen
müßt, daß ſie noch keine „Menſchen“ waren. Sie waren
eben, was ſie ſein konnten. Iſt's mit den heutigen Juden
anders? Weil Ihr die Idee der Menſchheit entdeckt habt,
folgt daraus, daß jeder Jude ſich zu ihr bekehren könne?
Wenn er es kann, ſo unterläßt er's nicht, und unterläßt er es,
ſo — kann er's nicht. Was geht ihn eure Zumuthung an,
was der Beruf, Menſch zu ſein, den Ihr an ihn ergehen
laſſet? —
In der „menſchlichen Geſellſchaft“, welche der Humane
verheißt, ſoll überhaupt nichts Anerkennung finden, was Einer
oder der Andere „Beſonderes“ hat, nichts Werth haben, was
den Charakter des „Privaten“ trägt. Auf dieſe Weiſe rundet
ſich der Kreis des Liberalismus, der an dem Menſchen und
der menſchlichen Freiheit ſein gutes, an dem Egoiſten und
allem Privaten ſein böſes Princip, an jenem ſeinen Gott, an
dieſem ſeinen Teufel hat, vollſtändig ab, und verlor im „Staate“
die beſondere oder private Perſon ihren Werth (kein perſön¬
liches Vorrecht), büßt in der „Arbeiter- oder Lumpen-Geſell¬
ſchaft“ das beſondere (private) Eigenthum ſeine Anerkennung
ein, ſo wird in der „menſchlichen Geſellſchaft“ alles Beſon¬
[169] dere oder Private außer Betracht kommen, und wenn die
„reine Kritik“ ihre ſchwere Arbeit vollführt haben wird, dann
wird man wiſſen, was alles privat iſt, und was man „in
ſeines Nichts durchbohrendem Gefühle“ wird — ſtehen laſſen
müſſen.
Weil dem humanen Liberalismus Staat und Geſellſchaft
nicht genügt, negirt er beide und behält ſie zugleich. So heißt
es einmal, die Aufgabe der Zeit ſei „keine politiſche, ſondern
eine ſociale“, und dann wird wieder für die Zukunft der „freie
Staat“ verheißen. In Wahrheit iſt die „menſchliche Geſell¬
ſchaft“ eben beides, der allgemeinſte Staat und die allgemeinſte
Geſellſchaft. Nur gegen den beſchränkten Staat wird behaup¬
tet, er mache zu viel Aufhebens von geiſtigen Privatintereſſen
(z. B. dem religiöſen Glauben der Leute), und gegen die be¬
ſchränkte Geſellſchaft, ſie mache zu viel aus den materiellen
Privatintereſſen. Beide ſollen die Privatintereſſen den Privat¬
leuten überlaſſen, und ſich als menſchliche Geſellſchaft allein
um die allgemein menſchlichen Intereſſen bekümmern.
Indem die Politiker den eigenen Willen, Eigenwillen
oder Willkühr abzuſchaffen gedachten, bemerkten ſie nicht, daß
durch das Eigenthum der Eigenwille eine ſichere Zu¬
fluchtsſtätte erhielt.
Indem die Socialiſten auch das Eigenthum wegnehmen,
beachten ſie nicht, daß dieſes ſich in der Eigenheit eine
Fortdauer ſichert. Iſt denn bloß Geld und Gut ein Eigen¬
thum, oder iſt jede Meinung ein Mein, ein Eigenes?
Es muß alſo jede Meinung aufgehoben oder unperſön¬
lich gemacht werden. Der Perſon gebührt keine Meinung,
ſondern wie der Eigenwille auf den Staat, das Eigenthum
auf die Geſellſchaft übertragen wurde, ſo muß die Meinung
[170] auch auf ein Allgemeines, „den Menſchen“, übertragen
und dadurch allgemein menſchliche Meinung werden.
Bleibt die Meinung beſtehen, ſo habe Ich meinen
Gott (Gott iſt ja nur als „mein Gott“, iſt eine Meinung
oder mein „Glaube“); alſo meinen Glauben, meine Reli¬
gion, meine Gedanken, meine Ideale. Darum muß ein all¬
gemein menſchlicher Glaube entſtehen, der „Fanatismus der
Freiheit“. Dieß wäre nämlich ein Glaube, welcher mit
dem „Weſen des Menſchen“ übereinſtimmte, und weil nur „der
Menſch“ vernünftig iſt (Ich und Du könnten ſehr unvernünftig
ſein!), ein vernünftiger Glaube.
Wie Eigenwille und Eigenthum machtlos werden, ſo
muß die Eigenheit oder der Egoismus überhaupt es werden.
In dieſer höchſten Entwicklung „des freien Menſchen“
wird der Egoismus, die Eigenheit, principiell bekämpft, und
ſo untergeordnete Zwecke, wie die ſociale „Wohlfahrt“ der So¬
cialiſten u. ſ. w. verſchwinden gegen die erhabene „Idee der
Menſchheit“. Alles, was nicht ein „allgemein Menſchliches“
iſt, iſt etwas Apartes, befriedigt nur Einige oder Einen, oder
wenn es Alle befriedigt, ſo thut es dieß an ihnen nur
als Einzelnen, nicht als Menſchen, und heißt deshalb ein
„Egoiſtiſches“.
Den Socialiſten iſt noch die Wohlfahrt das höchſte
Ziel, wie den politiſchen Liberalen der freie Wettſtreit das
Genehme war; die Wohlfahrt iſt nun auch frei, und was ſie
haben will, mag ſie ſich verſchaffen, wie, wer in den Wettſtreit
(Concurrenz) ſich einlaſſen wollte, ihn erwählen konnte.
Allein an dem Wettſtreit Theil zu nehmen, braucht Ihr
nur Bürger, an der Wohlfahrt Theil zu nehmen, nur Ar¬
beiter zu ſein. Beides iſt noch nicht gleichbedeutend mit
[171] „Menſch“. Dem Menſchen iſt erſt „wahrhaft wohl“, wenn er
auch „geiſtig frei“ iſt! Denn der Menſch iſt Geiſt, darum
müſſen alle Mächte, die ihm, dem Geiſte, fremd ſind, alle
übermenſchlichen, himmliſchen, unmenſchlichen Mächte müſſen
geſtürzt werden, und der Name „Menſch“ muß über alle Na¬
men ſein.
So kehrt in dieſem Ende der Neuzeit (Zeit der Neuen)
als Hauptſache wieder, was im Anfange derſelben Hauptſache
geweſen war: die „geiſtige Freiheit“.
Dem Communiſten insbeſondere ſagt der humane Liberale:
Schreibt Dir die Geſellſchaft Deine Thätigkeit vor, ſo iſt dieſe
zwar vom Einfluß der Einzelnen, d. h. der Egoiſten frei, aber
es braucht darum noch keine rein menſchliche Thätigkeit,
und Du noch nicht ein völliges Organ der Menſchheit zu ſein.
Welcherlei Thätigkeit die Geſellſchaft von Dir fordert, das
bleibt ja noch zufällig: ſie könnte Dich bei einem Tempel¬
bau u. dergl. anſtellen, oder, wenn auch das nicht, ſo könnteſt
Du doch aus eigenem Antriebe für eine Narrheit, alſo Un¬
menſchlichkeit thätig ſein; ja noch mehr, Du arbeiteſt wirklich
nur, um Dich zu nähren, überhaupt, um zu leben, um des
lieben Lebens willen, nicht zur Verherrlichung der Menſchheit.
Mithin iſt die freie Thätigkeit erſt dann erreicht, wenn Du
Dich von allen Dummheiten frei machſt, von allem Nicht¬
menſchlichen, d. h. Egoiſtiſchen (nur dem Einzelnen, nicht dem
Menſchen im Einzelnen Angehörigen) Dich befreiſt, alle den
Menſchen oder die Menſchheits-Idee verdunkelnden, unwahren
Gedanken auflöſeſt, kurz, wenn Du nicht bloß ungehemmt biſt
in Deiner Thätigkeit, ſondern auch der Inhalt Deiner Thätig¬
keit nur Menſchliches iſt, und Du nur für die Menſchheit lebſt
und wirkſt. Das iſt aber nicht der Fall, ſo lange das Ziel
[172] deines Strebens nur deine und Aller Wohlfahrt iſt: was
Du für die Lumpengeſellſchaft thuſt, das iſt für die „menſchliche
Geſellſchaft“ noch nichts gethan.
Das Arbeiten allein macht Dich nicht zum Menſchen,
weil es etwas Formelles und ſein Gegenſtand zufällig iſt, ſon¬
dern es kommt darauf an, wer Du, der Arbeitende, biſt. Ar¬
beiten überhaupt kannſt Du aus egoiſtiſchem (materiellem) An¬
triebe, bloß um Dir Nahrung u. dergl. zu verſchaffen: es muß
eine die Menſchheit fördernde, auf das Wohl der Menſchheit
berechnete, der geſchichtlichen, d. h. menſchlichen Entwicklung
dienende, kurz eine humane Arbeit ſein. Dazu gehört zweier¬
lei, einmal daß ſie der Menſchheit zu Gute komme, zum An¬
dern, daß ſie von einem „Menſchen“ ausgehe. Das Erſtere
allein kann bei jeder Arbeit der Fall ſein, da auch die Arbeiten
der Natur, z. B. der Thiere, von der Menſchheit zur Förde¬
rung der Wiſſenſchaft u. ſ. f. benutzt werden; das Zweite er¬
fordert, daß der Arbeitende den menſchlichen Zweck ſeiner Arbeit
wiſſe, und da er dieß Bewußtſein nur haben kann, wenn er
ſich als Menſch weiß, ſo iſt die entſcheidende Bedingung
das — Selbſtbewußtſein.
Gewiß iſt ſchon viel erreicht, wenn Du aufhörſt ein
„Stückarbeiter“ zu ſein, aber Du überſiehſt damit doch nur
das Ganze deiner Arbeit, und erwirbſt ein Bewußtſein über
dieſelbe, was von einem Selbſtbewußtſein, einem Bewußtſein
über dein wahres „Selbſt“ oder „Weſen“, den Menſchen,
noch weit entfernt iſt. Dem Arbeiter bleibt noch das Verlan¬
gen nach einem „höheren Bewußtſein“, das er, weil die Arbeits¬
thätigkeit es nicht zu ſtillen vermag, in einer Feierſtunde be¬
friedigt. Daher ſteht ſeiner Arbeit das Feiern zur Seite, und
er ſieht ſich gezwungen, in Einem Athem das Arbeiten und
[173] das Faulenzen für menſchlich auszugeben, ja dem Faulenzer,
dem Feiernden, die wahre Erhebung beizumeſſen. Er arbeitet
nur, um von der Arbeit loszukommen: er will die Arbeit nur
frei machen, um von der Arbeit frei zu werden.
Genug, ſeine Arbeit hat keinen befriedigenden Gehalt,
weil ſie nur von der Geſellſchaft aufgetragen, nur ein Penſum,
eine Aufgabe, ein Beruf iſt, und umgekehrt, ſeine Geſellſchaft
befriedigt nicht, weil ſie nur zu arbeiten giebt.
Die Arbeit müßte ihn als Menſchen befriedigen: ſtatt
deſſen befriedigt ſie die Geſellſchaft; die Geſellſchaft müßte ihn
als Menſchen behandeln, und ſie behandelt ihn als — lum¬
pigen Arbeiter oder arbeitenden Lump.
Arbeit und Geſellſchaft ſind ihm nur nütze, nicht wie er
als Menſch, ſondern wie er als „Egoiſt“ ihrer bedarf.
So die Kritik gegen das Arbeiterthum. Sie weiſt auf
den „Geiſt“ hin, führt den Kampf des „Geiſtes mit der
Maſſe“ *)und erklärt die communiſtiſche Arbeit für geiſtloſe
Maſſenarbeit. Arbeitsſcheu, wie ſie iſt, liebt es die Maſſe,
ſich die Arbeit leicht zu machen. In der Literatur, die heute
maſſenweiſe geliefert wird, erzeugt jene Arbeitsſcheu die allbe¬
kannte Oberflächlichkeit, welche „die Mühe der Forſchung“
von ſich weiſt**).
Darum ſagt der humane Liberalismus: Ihr wollt die Ar¬
beit; wohlan, Wir wollen ſie gleichfalls, aber Wir wollen ſie
in vollſtem Maaße. Wir wollen ſie nicht, um Muße zu gewin¬
nen, ſondern um in ihr ſelber alle Genugthuung zu finden.
Wir wollen die Arbeit, weil ſie unſere Selbſtentwicklung iſt.
[174]
Aber die Arbeit muß dann auch darnach ſein! Es ehrt
den Menſchen nur die menſchliche, die ſelbſtbewußte Arbeit,
nur die Arbeit, welche keine „egoiſtiſche“ Abſicht, ſondern den
Menſchen zum Zwecke hat, und die Selbſtoffenbarung des
Menſchen iſt, ſo daß es heißen muß: laboro, ergo sum. Ich
arbeite, d. h. Ich bin Menſch. Der Humane will die alle
Materie verarbeitende Arbeit des Geiſtes, den Geiſt, der
kein Ding in Ruhe oder in ſeinem Beſtande läßt, der ſich bei
nichts beruhigt, alles auflöſt, jedes gewonnene Reſultat von
neuem kritiſirt. Dieſer ruheloſe Geiſt iſt der wahre Arbeiter,
er vertilgt die Vorurtheile, zerſchmettert die Schranken und
Beſchränktheiten, und erhebt den Menſchen über Alles, was
ihn beherrſchen möchte, indeß der Communiſt nur für ſich, und
nicht einmal frei, ſondern aus Noth arbeitet, kurz einen Zwangs¬
arbeiter vorſtellt.
Der Arbeiter ſolchen Schlages iſt nicht „egoiſtiſch“, weil
er nicht für Einzelne, weder für ſich noch für andere Einzelne,
alſo nicht für private Menſchen arbeitet, ſondern für die
Menſchheit und den Fortſchritt derſelben: er lindert nicht ein¬
zelne Schmerzen, ſorgt nicht für einzelne Bedürfniſſe, ſondern
hebt Schranken hinweg, in denen die Menſchheit eingepreßt
iſt, zerſtreut Vorurtheile, die eine ganze Zeit beherrſchen, über¬
windet Hemmniſſe, die Allen den Weg verlegen, beſeitigt Irr¬
thümer, in denen ſich die Menſchen verfangen, entdeckt Wahr¬
heiten, welche für Alle und alle Zeit durch ihn gefunden wer¬
den, kurz — er lebt und arbeitet für die Menſchheit.
Für's Erſte nun weiß der Entdecker einer großen Wahr¬
heit wohl, daß ſie den andern Menſchen nützlich ſein könne,
und da ihm ein neidiſches Vorenthalten keinen Genuß verſchafft,
ſo theilt er ſie mit; aber wenn er auch das Bewußtſein hat,
[175] daß ſeine Mittheilung für die Andern höchſt werthvoll ſei, ſo
hat er doch ſeine Wahrheit keinesfalls um der Andern willen
geſucht und gefunden, ſondern um ſeinetwillen, weil ihn ſelbſt
danach verlangte, weil ihm das Dunkel und der Wahn keine
Ruhe ließ, bis er nach ſeinen beſten Kräften ſich Licht und
Aufklärung verſchafft hatte.
Er arbeitete alſo um ſeinetwillen und zur Befriedigung
ſeines Bedürfniſſes. Daß er damit auch Andern, ja der
Nachwelt nützlich war, nimmt ſeiner Arbeit den egoiſtiſchen
Charakter nicht.
Für's Andere, wenn doch auch er nur ſeinetwegen arbei¬
tete, warum wäre ſeine That menſchlich, die der Andern un¬
menſchlich, d. h. egoiſtiſch? Etwa darum, weil dieſes Buch,
Gemälde, Symphonie u. ſ. w. die Arbeit ſeines ganzen We¬
ſens iſt, weil er ſein Beſtes dabei gethan, ſich ganz hingelegt
hat und ganz daraus zu erkennen iſt, während das Werk eines
Handwerkers nur den Handwerker, d. h. die Handwerksfertig¬
keit, nicht „den Menſchen“ abſpiegelt? In ſeinen Dichtungen
haben Wir den ganzen Schiller, in ſo und ſo viel hundert
Oefen haben Wir dagegen nur den Ofenſetzer vor Uns, nicht
„den Menſchen“.
Heißt dieß aber mehr als: in dem einen Werke ſeht Ihr
Mich möglichſt vollſtändig, in dem andern nur meine Fertig¬
keit? Bin Ich es nicht wiederum, den die That ausdrückt?
Und iſt es nicht egoiſtiſcher, ſich der Welt in einem Werke
darzubieten, ſich auszuarbeiten und zu geſtalten, als hinter
ſeiner Arbeit verſteckt zu bleiben? Du ſagſt freilich, Du offen¬
bareſt den Menſchen. Allein der Menſch, den Du offenbarſt,
biſt Du; Du offenbarſt nur Dich, jedoch mit dem Unterſchiede
vom Handwerker, daß dieſer ſich nicht in Eine Arbeit zuſam¬
[176] menzupreſſen verſteht, ſondern, um als er ſelbſt erkannt zu
werden, in ſeinen ſonſtigen Lebensbeziehungen aufgeſucht wer¬
den muß, und daß dein Bedürfniß, durch deſſen Befriedigung
jenes Werk zu Stande kam, ein — theoretiſches war.
Aber Du wirſt erwidern, daß Du einen ganz andern,
einen würdigern, höheren, größeren Menſchen offenbareſt, einen
Menſchen, der mehr Menſch ſei, als jener Andere. Ich will
annehmen, daß Du das Menſchenmögliche vollführeſt, daß Du
zu Stande bringeſt, was keinem Andern gelingt. Worin be¬
ſteht denn deine Größe? Gerade darin, daß Du mehr biſt
als andere Menſchen (die „Maſſe“), mehr biſt, als Men¬
ſchen gewöhnlich ſind, mehr als „gewöhnliche Menſchen“,
gerade in deiner Erhabenheit über den Menſchen. Vor an¬
dern Menſchen zeichneſt Du Dich nicht dadurch aus, daß Du
Menſch biſt, ſondern weil Du ein „einziger“ Menſch biſt.
Du zeigſt wohl, was ein Menſch leiſten kann, aber weil Du,
ein Menſch, das leiſteſt, darum können Andere, auch Menſchen,
es noch keineswegs leiſten: Du haſt es nur als einziger
Menſch verrichtet und biſt darin einzig.
Nicht der Menſch macht deine Größe aus, ſondern Du
erſchaffſt ſie, weil Du mehr biſt, als Menſch, und gewaltiger,
als andere — Menſchen.
Man glaubt nicht mehr ſein zu können, als Menſch.
Vielmehr kann man nicht weniger ſein!
Man glaubt ferner, was man immer auch erreiche, das
komme dem Menſchen zu Gute. In ſo fern Ich jederzeit
Menſch bleibe, oder, wie Schiller, Schwabe, wie Kant, Preuße,
wie Guſtav Adolph, Kurzſichtiger, ſo werde Ich durch meine
Vorzüge freilich ein ausgezeichneter Menſch, Schwabe, Preuße
oder Kurzſichtiger. Aber damit ſteht's nicht viel beſſer, wie
[177] mit Friedrich des Großen Krückſtock, der um Friedrich's willen
berühmt wurde.
Dem „Gebt Gott die Ehre“ entſpricht das Moderne:
„Gebt dem Menſchen die Ehre“. Ich aber denke ſie für Mich
zu behalten.
Indem die Kritik an den Menſchen die Aufforderung er¬
gehen läßt, „menſchlich“ zu ſein, ſpricht ſie die nothwendige
Bedingung der Geſelligkeit aus; denn nur als Menſch unter
Menſchen iſt man umgänglich. Hiermit giebt ſie ihren ſo¬
cialen Zweck kund, die Herſtellung der „menſchlichen Ge¬
ſellſchaft“.
Unter den Socialtheorieen iſt unſtreitig die Kritik die voll¬
endetſte, weil ſie Alles entfernt und entwerthet, was den Men¬
ſchen vom Menſchen trennt: alle Vorrechte bis auf das Vor¬
recht des Glaubens. In ihr kommt das Liebesprincip des
Chriſtenthums, das wahre Socialprincip, zum reinſten Voll¬
zug, und es wird das letzte mögliche Experiment gemacht, die
Ausſchließlichkeit und das Abſtoßen den Menſchen zu benehmen:
ein Kampf gegen den Egoismus in ſeiner einfachſten und
darum härteſten Form, in der Form der Einzigkeit, der Aus¬
ſchließlichkeit, ſelber.
„Wie könnt Ihr wahrhaft geſellſchaftlich leben, ſo lange
auch nur Eine Ausſchließlichkeit zwiſchen Euch noch beſteht?“
Ich frage umgekehrt: Wie könnt Ihr wahrhaft einzig
ſein, ſo lange auch nur Ein Zuſammenhang zwiſchen Euch
noch beſteht? Hängt Ihr zuſammen, ſo könnt Ihr nicht von
einander, umſchließt Euch ein „Band“, ſo ſeid Ihr nur ſelb¬
ander etwas, und Euer Zwölf machen ein Dutzend, Euer
Tauſende ein Volk, Euer Millionen die Menſchheit.
12[178]
„Nur wenn Ihr menſchlich ſeid, könnt Ihr als Menſchen
mit einander umgehen, wie Ihr nur, wenn Ihr patriotiſch
ſeid, als Patrioten Euch verſtehen könnt!“
Wohlan, ſo entgegne Ich: Nur wenn Ihr einzig ſeid,
könnt Ihr als das, was Ihr ſeid, mit einander verkehren.
Gerade der ſchärfſte Kritiker wird am ſchwerſten von dem
Fluche ſeines Princips getroffen werden. Indem er ein Aus¬
ſchließliches nach dem andern von ſich thut, Kirchlichkeit, Pa¬
triotismus u. ſ. w. abſchüttelt, löſt er ein Band nach dem
andern auf und ſondert ſich vom Kirchlichen, vom Patrioten
u. ſ. w. ab, bis er zuletzt, nachdem alle Bande geſprengt
ſind, — allein ſteht. Er gerade muß Alle ausſchließen, die
etwas Ausſchließliches oder Privates haben, und was kann
am Ende ausſchließlicher ſein, als die ausſchließliche, einzige
Perſon ſelber!
Oder meint er etwa, daß es beſſer ſtände, wenn Alle
„Menſchen“ würden und die Ausſchließlichkeit aufgäben? Eben
darum, weil „Alle“ bedeutet „jeder Einzelne“, bleibt ja der
grellſte Widerſpruch erhalten, denn der „Einzelne“ iſt die Aus¬
ſchließlichkeit ſelber. Läßt der Humane dem Einzelnen nichts
Privates oder Ausſchließliches, keinen Privatgedanken, keine
Privatnarrheit mehr gelten, kritiſirt er ihm Alles vor der
Naſe weg, da ſein Haß gegen das Private ein abſoluter und
ein fanatiſcher iſt, kennt er keine Toleranz gegen Privates,
weil alles Private unmenſchlich iſt: ſo kann er doch die
Privatperſon ſelbſt nicht wegkritiſiren, da die Härte der einzel¬
nen Perſon ſeiner Kritik widerſteht, und er muß ſich damit
begnügen, dieſe Perſon für eine „Privatperſon“ zu erklären,
und ihr wirklich alles Private wieder überlaſſen.
Was wird die Geſellſchaft, die ſich um nichts Privates
[179] mehr bekümmert, thun? Das Private unmöglich machen?
Nein, ſondern es dem „Geſellſchaftsintereſſe unterordnen und
z. B. dem Privatwillen überlaſſen, Feiertage, ſo viel wie er
will, zu ſetzen, wenn er nur nicht mit dem allgemeinen In¬
tereſſe in Colliſion tritt.“ *)Alles Private wird freigelaſ¬
ſen, d. h. es hat für die Geſellſchaft kein Intereſſe.
„Durch ihre Abſperrung gegen die Wiſſenſchaft haben die
Kirche und Religioſität ausgeſprochen, daß ſie ſind, was ſie
immer waren, was ſich aber unter einem andern Scheine ver¬
barg, wenn ſie für die Baſis und nothwendige Begründung
des Staats ausgegeben wurden — — eine reine Privatange¬
legenheit. Auch damals, als ſie mit dem Staate zuſammen¬
hingen und dieſen zum chriſtlichen machten, waren ſie nur der
Beweis, daß der Staat noch nicht ſeine allgemeine politiſche
Idee entwickelt habe, daß er nur Privatrechte ſetze — — ſie
waren nur der höchſte Ausdruck dafür, daß der Staat eine
Privatſache ſei und nur mit Privatſachen zu thun habe. Wenn
der Staat endlich den Muth und die Kraft haben wird, ſeine
allgemeine Beſtimmung zu erfüllen und frei zu ſein, wenn er
alſo auch im Stande iſt, den beſondern Intereſſen und Privat¬
angelegenheiten ihre wahre Stellung zu geben — dann werden
Religion und Kirche frei ſein, wie ſie es bisher noch nie ge¬
weſen. Als die reinſte Privatangelegenheit und Befriedigung
des rein perſönlichen Bedürfniſſes werden ſie ſich ſelbſt über¬
laſſen ſein, und jeder Einzelne, jede Gemeinde und Kirchenge¬
meinſchaft werden für die Seligkeit der Seele ſorgen können,
wie ſie wollen und wie ſie es für nöthig halten. Für ſeiner
Seele Seligkeit wird Jeder ſorgen, ſo weit es ihm perſönliches
12
[180] Bedürfniß iſt, und als Seelſorger denjenigen annehmen und
beſolden, der ihm die Befriedigung ſeines Bedürfniſſes am
beſten zu garantiren ſcheint. Die Wiſſenſchaft wird endlich
ganz aus dem Spiel gelaſſen.“ *
Was ſoll jedoch werden? Soll das geſellſchaftliche Leben
ein Ende haben und alle Umgänglichkeit, alle Verbrüderung,
alles, was durch das Liebes- oder Societätsprincip geſchaffen
wird, verſchwinden?
Als ob nicht immer Einer den Andern ſuchen wird, weil
er ihn braucht, als ob nicht Einer in den Andern ſich fügen
muß, wenn er ihn braucht. Der Unterſchied iſt aber der,
daß dann wirklich der Einzelne ſich mit dem Einzelnen ver¬
einigt, indeß er früher durch ein Band mit ihnen verbun¬
den war: Sohn und Vater umfängt vor der Mündigkeit ein
Band, nach derſelben können ſie ſelbſtſtändig zuſammentreten,
vor ihr gehörten ſie als Familienglieder zuſammen (waren
die „Hörigen“ der Familie), nach ihr vereinigen ſie ſich als
Egoiſten, Sohnſchaft und Vaterſchaft bleiben, aber Sohn und
Vater binden ſich nicht mehr daran.
Das letzte Privilegium iſt in Wahrheit „der Menſch“;
mit ihm ſind Alle privilegirt oder belehnt. Denn, wie Bruno
Bauer ſelbſt ſagt: „Das Prilegium bleibt, wenn es auch auf
Alle ausgedehnt wird.“ **
So verläuft der Liberalismus in folgenden Wandlungen:
„Erſtens: Der Einzelne iſt nicht der Menſch, darum gilt
ſeine einzelne Perſönlichkeit nichts: kein perſönlicher Wille, keine
Willkühr, kein Befehl oder Ordonnance!
[181]
Zweitens: Der Einzelne hat nichts Menſchliches, darum
gilt kein Mein und Dein oder Eigenthum.
Drittens: Da der Einzelne weder Menſch iſt noch Menſch¬
liches hat, ſo ſoll er überhaupt nicht ſein, ſoll als ein Egoiſt
mit ſeinem Egoiſtiſchen durch die Kritik vernichtet werden, um
dem Menſchen, „dem jetzt erſt gefundenen Menſchen“ Platz zu
machen.
Obgleich aber der Einzelne nicht Menſch iſt, ſo iſt der
Menſch in dem Einzelnen doch vorhanden und hat, wie jeder
Spuk und alles Göttliche, an ihm ſeine Exiſtenz. Daher
ſpricht der politiſche Liberalismus dem Einzelnen Alles zu,
was ihm als „Menſchen von Geburt“, als geborenem Men¬
ſchen zukommt, wohin denn Gewiſſensfreiheit, Beſitz u. ſ. w.,
kurz die „Menſchenrechte“ gerechnet werden; der Socialismus
vergönnt dem Einzelnen, was ihm als thätigem Menſchen,
als „arbeitendem“ Menſchen zukommt; endlich der humane
Liberalismus giebt dem Einzelnen, was er als „Menſch“ hat,
d. h. Alles, was der Menſchheit gehört. Mithin hat der
Einzige gar nichts, die Menſchheit Alles, und es wird die
Nothwendigkeit der im Chriſtenthum gepredigten „Wiedergeburt“
unzweideutig und im vollkommenſten Maaße gefordert. Werde
eine neue Creatur, werde „Menſch“!
Sogar an den Schluß des Vaterunſers könnte man ſich
erinnert glauben. Dem Menſchen gehört die Herrſchaft
(die „Kraft“ oder Dynamis); darum darf kein Einzelner Herr
ſein, ſondern der Menſch iſt der Herr der Einzelnen — ; des
Menſchen iſt das Reich, d. h. die Welt, deshalb ſoll der
Einzelne nicht Eigenthümer ſein, ſondern der Menſch, „Alle“,
gebietet über die Welt als Eigenthum — ; dem Menſchen
gebührt von Allem der Ruhm, die Verherrlichung oder
[182] „Herrlichkeit“ (Doxa), denn der Menſch oder die Menſchheit iſt
der Zweck des Einzelnen, für den er arbeitet, denkt, lebt, und
zu deſſen Verherrlichung er „Menſch“ werden muß.
Die Menſchen haben bisher immer geſtrebt, eine Gemein¬
ſchaft ausfindig zu machen, worin ihre ſonſtigen Ungleichheiten
„unweſentlich“ würden; ſie ſtrebten nach Ausgleichung, mithin
nach Gleichheit, und wollten Alle unter Einen Hut kom¬
men, was nichts Geringeres bedeutet, als daß ſie Einen Herrn
ſuchten, Ein Band, Einen Glauben („Wir glauben all' an
Einen Gott“). Etwas Gemeinſchaftlicheres oder Gleicheres
kann es für die Menſchen nicht geben, als den Menſchen
ſelbſt, und in dieſer Gemeinſchaft hat der Liebesdrang ſeine
Befriedigung gefunden: er raſtete nicht, bis er dieſe letzte Aus¬
gleichung herbeigeführt, alle Ungleichheit geebnet, den Menſchen
dem Menſchen an die Bruſt gelegt hatte. Gerade unter dieſer
Gemeinſchaft aber wird der Verfall und das Zerfallen am
ſchreiendſten. Bei einer beſchränkteren Gemeinſchaft ſtand noch
der Franzoſe gegen den Deutſchen, der Chriſt gegen den Mu¬
hamedaner u. ſ. w. Jetzt hingegen ſteht der Menſch gegen
die Menſchen, oder, da die Menſchen nicht der Menſch ſind,
ſo ſteht der Menſch gegen den Unmenſchen.
Dem Satze: „Gott iſt Menſch geworden“ folgt nun der
andere: „der Menſch iſt Ich geworden“. Dieß iſt das
menſchliche Ich. Wir aber kehren's um und ſagen: Ich
habe Mich nicht finden können, ſo lange Ich Mich als Men¬
ſchen ſuchte. Nun ſich aber zeigt, daß der Menſch darnach
trachtet, Ich zu werden und in Mir eine Leibhaftigkeit zu ge¬
winnen, merke Ich wohl, daß doch Alles auf Mich ankommt,
und der Menſch ohne Mich verloren iſt. Ich mag aber nicht
zum Schrein dieſes Allerheiligſten Mich hingeben und werde
[183] hinfort nicht fragen, ob Ich in Meiner Bethätigung Menſch
oder Unmenſch ſei: es bleibe mir dieſer Geiſt vom Halſe!
Der humane Liberalismus geht radical zu Werke. Wenn
Du auch nur in Einem Punkte etwas Beſonderes ſein oder
haben willſt, wenn Du auch nur Ein Vorrecht vor Andern
Dir bewahren, nur Ein Recht in Anſpruch nehmen willſt,
das nicht ein „allgemeines Menſchenrecht“ iſt, ſo biſt Du ein
Egoiſt.
Recht ſo! Ich will nichts Beſonderes vor Andern haben
oder ſein, Ich will kein Vorrecht gegen ſie beanſpruchen, aber
— Ich meſſe Mich auch nicht an Andern, und will überhaupt
kein Recht haben. Ich will Alles ſein und Alles haben,
was ich ſein und haben kann. Ob Andere Aehnliches ſind
und haben, was kümmert's Mich? Das Gleiche, daſſelbe
können ſie weder ſein, noch haben. Ich thue Ihnen keinen
Abbruch, wie Ich dem Felſen dadurch keinen Abbruch thue,
daß Ich die Bewegung vor ihm „voraus habe“. Wenn ſie
es haben könnten, ſo hätten ſie's.
Den andern Menſchen keinen Abbruch zu thun, darauf
kommt die Forderung hinaus, kein Vorrecht zu beſitzen. Allem
„Voraushaben“ zu entſagen, die ſtrengſte Entſagungs-
Theorie. Man ſoll ſich nicht für „etwas Beſonderes“ halten,
wie z. B. Jude oder Chriſt. Nun, Ich halte Mich nicht für
etwas Beſonderes, ſondern für einzig. Ich habe wohl
Aehnlichkeit mit Andern; das gilt jedoch nur für die Ver¬
gleichung oder Reflexion; in der That bin Ich unvergleichlich,
einzig. Mein Fleiſch iſt nicht ihr Fleiſch, mein Geiſt iſt nicht
ihr Geiſt. Bringt Ihr ſie unter die Allgemeinheiten „Fleiſch,
Geiſt“, ſo ſind das eure Gedanken, die mit meinem
Fleiſche, meinem Geiſte nichts zu ſchaffen haben, und
[184] am wenigſten an das Meinige einen „Beruf“ ergehen laſſen
können.
Ich will an Dir nichts anerkennen oder reſpectiren, weder
den Eigenthümer, noch den Lump, noch auch nur den Men¬
ſchen, ſondern Dich verbrauchen. Am Salz finde Ich, daß
es die Speiſen Mir ſchmackhaft macht, darum laſſe Ich's zer¬
gehen; im Fiſche erkenne Ich ein Nahrungsmittel, darum ver¬
ſpeiſe Ich ihn; an Dir entdecke Ich die Gabe, Mir das Leben
zu erheitern, daher wähle Ich Dich zum Gefährten. Oder
am Salze ſtudire Ich die Kryſtalliſation, am Fiſche die Ani¬
malität, an Dir die Menſchen u. ſ. w. Mir biſt Du nur
dasjenige, was Du für Mich biſt, nämlich mein Gegenſtand,
und weil mein Gegenſtand, darum mein Eigenthum.
Im humanen Liberalismus vollendet ſich die Lumperei.
Wir müſſen erſt auf das Lumpigſte, Armſeligſte herunter¬
kommen, wenn Wir zur Eigenheit gelangen wollen, denn
Wir müſſen alles Fremde ausziehen. Lumpiger aber ſcheint
nichts, als der nackte — Menſch.
Mehr als Lumperei iſt es indeſſen, wenn Ich auch den
Menſchen wegwerfe, weil ich fühle, daß auch er Mir fremd
iſt, und daß Ich Mir darauf nichts einbilden darf. Es iſt
das nicht mehr bloß Lumperei: weil auch der letzte Lumpen
abgefallen iſt, ſo ſteht die wirkliche Nacktheit, die Entblößung
von allem Fremden da. Der Lump hat die Lumperei ſelbſt aus¬
gezogen und damit aufgehört zu ſein, was er war, ein Lump.
Ich bin nicht mehr Lump, ſondern bin's geweſen.
Bis zur Stunde konnte die Zwietracht deshalb nicht zum
Ausbruch kommen, weil eigentlich nur ein Streit neuer Libe¬
[185] raler mit veralteten Liberalen vorhanden iſt, ein Streit derer,
welche die „Freiheit“ in kleinem Maaße verſtehen, und derer,
welche das „volle Maaß“ der Freiheit wollen, alſo der Ge¬
mäßigten und Maaßloſen. Alles dreht ſich um die Frage:
Wie frei muß der Menſch ſein? Daß der Menſch frei
ſein müſſe, daran glauben Alle; darum ſind auch Alle liberal.
Aber der Unmenſch, der doch in jedem Einzelnen ſteckt, wie
dämmt man den? Wie ſtellt man's an, daß man nicht mit
dem Menſchen zugleich den Unmenſchen frei läßt?
Der geſammte Liberalismus hat einen Todfeind, einen
unüberwindlichen Gegenſatz, wie Gott den Teufel: dem Men¬
ſchen ſteht der Unmenſch, der Einzelne, der Egoiſt ſtets zur
Seite. Staat, Geſellſchaft, Menſchheit bewältigen dieſen
Teufel nicht.
Der humane Liberalismus verfolgt die Aufgabe, den an¬
dern Liberalen zu zeigen, daß ſie immer noch nicht die „Frei¬
heit“ wollen.
Hatten die andern Liberalen nur vereinzelten Egoismus
vor Augen, und waren für ſie den größten Theil blind, ſo
hat der radicale Liberalismus den Egoismus „in Maſſe“
gegen ſich, wirft Alle, die nicht die Sache der Freiheit, wie
er, zur eigenen machen, unter die Maſſe, ſo daß jetzt Menſch
und Unmenſch ſtreng geſchieden als Feinde gegen einander
ſtehen, nämlich die „Maſſe“ und die „Kritik“*); und zwar
die „freie, menſchliche Kritik“, wie ſie (Judenfrage S. 114)
genannt wird, gegenüber der rohen, z.B. religiöſen Kritik.
Die Kritik ſpricht die Hoffnung aus, daß ſie über die
ganze Maſſe ſiegen und ihr „ein allgemeines Armuthszeugniß
[186] ausſtellen werde“. *)Sie will alſo zuletzt Recht behalten und
allen Streit der „Muthloſen und Zaghaften“ als eine egoiſti¬
ſche Rechthaberei darſtellen, als Kleinlichkeit, Armſeligkeit.
Aller Hader verliert an Bedeutung und die kleinlichen Zwiſtig¬
keiten werden aufgegeben, weil in der Kritik ein gemeinſamer
Feind ins Feld rückt. „Ihr ſeid alleſammt Egoiſten, einer
nicht beſſer als der andere!“ Nun ſtehen die Egoiſten zuſam¬
men gegen die Kritik.
Wirklich die Egoiſten? Nein, ſie kämpfen gerade darum
gegen die Kritik, weil dieſe ſie des Egoismus beſchuldigt; ſie
ſind des Egoismus nicht geſtändig. Mithin ſtehen Kritik und
Maſſe auf derſelben Baſis: beide kämpfen gegen den Egois¬
mus, beide weiſen ihn von ſich ab, und ſchieben ihn einan¬
der zu.
Die Kritik und die Maſſe verfolgen daſſelbe Ziel, Freiheit
vom Egoismus, und hadern nur darüber, wer von ihnen dem
Ziele ſich am meiſten nähere oder gar es erreiche.
Die Juden, die Chriſten, die Abſolutiſten, die Dunkel¬
männer und Lichtmänner, Politiker, Communiſten, kurz Alle
halten den Vorwurf des Egoismus von ſich fern, und da nun
die Kritik dieſen Vorwurf ihnen unverblümt und im ausge¬
dehnteſten Sinne macht, ſo rechtfertigen ſich Alle gegen die
Anſchuldigung des Egoismus, und bekämpfen den — Egois¬
mus, denſelben Feind, mit welchem die Kritik Krieg führt.
Egoiſtenfeinde ſind beide, Kritik und Maſſe, und beide
ſuchen ſich vom Egoismus zu befreien, ſowohl dadurch, daß
ſie ſich reinigen oder reinwaſchen, als dadurch, daß ſie ihn
der Gegenpartei zuſchreiben.
[187]
Der Kritiker iſt der wahre „Wortführer der Maſſe“, der
ihr den „einfachen Begriff und die Redensart“ des Egoismus
giebt, wogegen die Wortführer, welchen Lit. Ztg. V, 24 der
Triumph abgeſprochen wird, nur Stümper waren. Er iſt ihr
Fürſt und Feldherr in dem Freiheitskriege gegen den Egoismus;
wogegen er kämpft, dagegen kämpft auch ſie. Er iſt aber zu¬
gleich auch ihr Feind, nur nicht der Feind vor ihr, ſondern
der befreundete Feind, der die Knute hinter den Zaghaften
führt, um ihnen Muth zu erzwingen.
Dadurch reducirt ſich der Gegenſatz der Kritik und der
Maſſe auf folgende Gegenrede: „Ihr ſeid Egoiſten!“ —
„„Nein, Wir ſind's nicht!““ — „Ich will's Euch beweiſen!“
— „„Du ſollſt unſere Rechtfertigung erfahren!““ —
Nehmen Wir denn beide, wofür ſie ſich ausgeben, für
Nichtegoiſten, und wofür ſie einander nehmen, für Egoiſten.
Sie ſind Egoiſten und ſind's nicht.
Die Kritik ſagt eigentlich: Du mußt dein Ich ſo gänz¬
lich von aller Beſchränktheit befreien, daß es ein menſchli¬
ches Ich wird. Ich ſage: Befreie Dich ſo weit Du kannſt,
ſo haſt Du das Deinige gethan; denn nicht Jedem iſt es ge¬
geben, alle Schranken zu durchbrechen, oder ſprechender: Nicht
Jedem iſt das eine Schranke, was für den Andern eine iſt.
Folglich mühe Dich nicht an den Schranken Anderer ab; ge¬
nug, wenn Du die deinigen niererreißeſt. Wem iſt es jemals
gelungen, auch nur eine Schranke für alle Menſchen nie¬
derzureißen? Laufen nicht heute wie zu jeder Zeit Unzählige
mit allen „Schranken der Menſchheit“ herum? Wer eine ſei¬
ner Schranken umwirft, der kann Andern Weg und Mittel
gezeigt haben; das Umwerfen ihrer Schranken bleibt ihre
Sache. Auch thut Keiner etwas Anderes. Den Leuten zu¬
[188] muthen, daß ſie ganz Menſchen werden, heißt ſie auffordern,
alle menſchlichen Schranken zu ſtürzen. Das iſt unmöglich,
weil der Menſch keine Schranken hat. Ich habe zwar deren,
aber Mich gehen auch nur die meinigen etwas an, und
nur ſie können von Mir bezwungen werden. Ein menſch¬
liches Ich kann Ich nicht werden, weil Ich eben Ich und
nicht bloß Menſch bin.
Doch ſehen Wir noch, ob die Kritik Uns nicht etwas
gelehrt hat, das Wir beherzigen können! Frei bin Ich nicht,
wenn Ich nicht intereſſelos, Menſch nicht, wenn Ich nicht
unintereſſirt bin? Nun, verſchlägt es Mir auch wenig, frei
oder Menſch zu ſein, ſo will Ich doch keine Gelegenheit, Mich
durchzuſetzen oder geltend zu machen, ungenutzt vorbeilaſſen.
Die Kritik bietet Mir dieſe Gelegenheit durch die Lehre, daß,
wenn ſich etwas in Mir feſtſetzt und unauflöslich wird, Ich
der Gefangene und Knecht deſſelben, d. h. ein Beſeſſener,
werde. Ein Intereſſe, es ſei wofür es wolle, hat an Mir,
wenn Ich nicht davon loskommen kann, einen Sklaven erbeu¬
tet, und iſt nicht mehr mein Eigenthum, ſondern Ich bin das
ſeine. Nehmen wir daher die Weiſung der Kritik an, keinen
Theil unſers Eigenthums ſtabil werden zu laſſen, und Uns
nur wohl zu fühlen im — Auflöſen.
Sagt alſo die Kritik: Du biſt nur Menſch, wenn Du
raſtlos kritiſirſt und auflöſeſt! ſo ſagen Wir: Menſch bin Ich
ohnehin, und Ich bin Ich ebenfalls; darum will Ich nur
Sorge tragen, daß Ich mein Eigenthum Mir ſichere, und um
es zu ſichern, nehme Ich's jederzeit in Mich zurück, vernichte
in ihm jede Regung nach Selbſtſtändigkeit, und verſchlinge es,
ehe ſich's fixiren und zu einer „fixen Idee“ oder einer „Sucht“
werden kann.
[189]
Das thue Ich aber nicht um meines „menſchlichen Be¬
rufes“ willen, ſondern weil Ich Mich dazu berufe. Ich ſpreize
Mich nicht, Alles aufzulöſen, was einem Menſchen aufzulöſen
möglich iſt, und ſo lange Ich z. B. noch keine zehn Jahre
alt bin, kritiſire Ich den Unſinn der Gebote nicht, bin aber
gleichwohl Menſch und handle gerade darin menſchlich, daß Ich
ſie noch unkritiſirt laſſe. Kurz, Ich habe keinen Beruf, und folge
keinem, auch nicht dem, Menſch zu ſein.
Weiſe Ich nun zurück, was der Liberalismus in ſeinen
verſchiedenen Anſtrengungen errungen hat? Es ſei ferne, daß
etwas Errungenes verloren gehe! Nur wende Ich, nachdem
durch den Liberalismus „der Menſch“ frei geworden, den Blick
wieder auf Mich zurück und geſtehe Mir's offen: Was der
Menſch gewonnen zu haben ſcheint, das habe nur Ich ge¬
wonnen.
Der Menſch iſt frei, wenn „der Menſch dem Menſchen
das höchſte Weſen iſt“. Alſo gehört es zur Vollendung des
Liberalismus, daß jedes andere höchſte Weſen vernichtet, die
Theologie durch die Anthropologie umgeworfen, der Gott und
ſeine Gnaden verlacht, der „Atheismus“ allgemein werde.
Der Egoismus des Eigenthums hat ſein Letztes einge¬
büßt, wenn auch das „Mein Gott“ ſinnlos geworden iſt; denn
Gott iſt nur, wenn ihm das Heil des Einzelnen am Herzen
liegt, wie dieſer in ihm ſein Heil ſucht.
Der politiſche Liberalismus hob die Ungleichheit der Herren
und Diener auf, er machte herrenlos, anarchiſch. Der
Herr wurde nun vom Einzelnen, dem „Egoiſten“ entfernt, um
ein Geſpenſt zu werden: das Geſetz oder der Staat. Der
ſociale Liberalismus hebt die Ungleichheit des Beſitzes, der
Armen und Reichen auf, und macht beſitzlos oder eigen¬
[190] thumslos. Das Eigenthum wird dem Einzelnen entzogen
und der geſpenſtiſchen Geſellſchaft überantwortet. Der humane
Liberalismus macht gottlos, atheiſtiſch. Deshalb muß der
Gott des Einzelnen, „mein Gott“, abgeſchafft werden. Nun
iſt zwar die Herrenloſigkeit zugleich Dienſtloſigkeit, Beſitzloſig¬
keit zugleich Sorgloſigkeit, und Gottloſigkeit zugleich Vorur¬
theilsloſigkeit, denn mit dem Herrn fällt der Diener weg, mit
dem Beſitz die Sorge um ihn, mit dem feſtgewurzelten Gott
das Vorurtheil; da aber der Herr als Staat wieder auferſteht,
ſo erſcheint der Diener als Unterthan wieder, da der Beſitz
zum Eigenthum der Geſellſchaft wird, ſo erzeugt ſich die Sorge
von neuem als Arbeit, und da der Gott als Menſch zum
Vorurtheil wird, ſo erſteht ein neuer Glaube, der Glaube an
die Menſchheit oder Freiheit. Für den Gott des Einzelnen
iſt nun der Gott Aller, nämlich „der Menſch“ erhöht worden:
„es iſt ja Unſer Aller Höchſtes, Menſch zu ſein.“ Da aber
Niemand ganz das werden kann, was die Idee „Menſch“
beſagt, ſo bleibt der Menſch dem Einzelnen ein erhabenes Jen¬
ſeits, ein unerreichtes höchſtes Weſen, ein Gott. Zugleich
aber iſt dies der „wahre Gott“, weil er Uns völlig adäquat,
nämlich Unſer eigenes „Selbſt“ iſt: Wir ſelbſt, aber von
Uns getrennt und über Uns erhaben.
Anmerkung.
Vorſtehende Beurtheilung der „freien menſchlichen Kritik“
war, wie auch dasjenige, was anderwärts noch ſich aus Schrif¬
ten dieſer Richtung bezieht, unmittelbar nach dem Erſcheinen
[191] der betreffenden Bücher bruchſtückweiſe niedergeſchrieben worden,
und Ich that wenig mehr, als daß Ich die Fragmente zuſam¬
mentrug. Die Kritik dringt aber raſtlos vorwärts und macht
es dadurch nothwendig, daß Ich jetzt, nachdem mein Buch zu
Ende geſchrieben iſt, noch einmal auf ſie zurückkommen und
dieſe Schlußanmerkung einſchieben muß.
Ich habe das neuſte, das achte Heft der Allgemeinen Li¬
teraturzeitung von Bruno Bauer vor Mir.
Obenan ſtehen da wieder „die allgemeinen Intereſſen
der Geſellſchaft“. Allein die Kritik hat ſich beſonnen und
dieſer „Geſellſchaft“ eine Beſtimmung gegeben, wodurch ſie von
einer vorher damit noch verwechſelten Form abgeſondert wird:
der „Staat“, in früheren Stellen noch als „freier Staat“ ge¬
feiert, wird völlig aufgegeben, weil er in keiner Weiſe die
Aufgabe der „menſchlichen Geſellſchaft" erfüllen kann. Die
Kritik hat nur 1842 ſich „gezwungen geſehen, für einen Augen¬
blick das menſchliche und das politiſche Weſen zu identificiren“;
jetzt aber hat ſie gefunden, daß der Staat, ſelbſt als „freier
Staat“ nicht die menſchliche Geſellſchaft, oder, wie ſie eben¬
falls ſagen könnte, daß das Volk nicht „der Menſch“ iſt. Wir
ſahen, wie ſie mit der Theologie fertig wurde und klar bewies,
daß vor dem Menſchen der Gott zuſammenſinkt; Wir ſehen ſie
nun in derſelben Weiſe mit der Politik ins Reine kommen
und zeigen, daß vor dem Menſchen die Völker und Nationa¬
litäten fallen: Wir ſehen alſo, wie ſie mit Kirche und Staat
ſich auseinanderſetzt, indem ſie beide für unmenſchlich erklärt,
und Wir werden es ſehen — denn ſie verräth es Uns bereits
—, wie ſie auch den Beweis zu führen vermag, daß vor dem
Menſchen die „Maſſe“, die ſie ſogar ſelbſt ein „geiſtiges We¬
ſen“ nennt, werthlos erſcheint. Wie ſollten ſich auch vor dem
[192] höchſten Geiſte die kleineren „geiſtigen Weſen“ halten können!
„Der Menſch“ wirft die falſchen Götzen nieder.
Was der Kritiker alſo für jetzt beabſichtigt, das iſt die
Betrachtung der „Maſſe“, die er vor „den Menſchen“ hinſtellen
wird, um ſie von dieſem aus zu bekämpfen. „Was iſt jetzt
der Gegenſtand der Kritik?“ — „Die Maſſe, ein geiſtiges
Weſen!“ Sie wird der Kritiker „kennen lernen“ und finden,
daß ſie mit dem Menſchen in Widerſpruch ſtehe, er wird dar¬
thun, daß ſie unmenſchlich ſei, und dieſer Beweis wird ihm
eben ſo wohl gelingen, als die früheren, daß das Göttliche
und das Nationale, oder das Kirchliche und Staatliche, das
Unmenſchliche ſei.
Die Maſſe wird definirt als „das bedeutendſte Erzeugniß
der Revolution, als die getäuſchte Menge, welche die Illuſionen
der politiſchen Aufklärung, überhaupt der ganzen Aufklärung
des achtzehnten Jahrhunderts einer grenzenloſen Verſtimmung
übergeben haben“. Die Revolution befriedigte durch ihr Re¬
ſultat die Einen und ließ Andere unbefriedigt; der befriedigte
Theil iſt das Bürgerthum (Bourgeoiſie, Philiſter u. ſ. w.),
der unbefriedigte iſt die — Maſſe. Gehört der Kritiker, ſo
geſtellt, nicht ſelbſt zur „Maſſe“?
Aber die Unbefriedigten befinden ſich noch in großer Un¬
klarheit, und ihre Unzufriedenheit äußert ſich erſt in einer
„grenzenloſen Verſtimmung“. Deren will nun der gleichfalls
unbefriedigte Kritiker Meiſter werden: er kann nicht mehr wollen
und erreichen, als jenes „geiſtige Weſen“, die Maſſe, aus ihrer
Verſtimmung herausbringen, und die nur Verſtimmten „heben“,
d. h. ihnen die richtige Stellung zu den zu überwindenden
Revolutionsreſultaten geben, — er kann das Haupt der Maſſe
werden, ihr entſchiedener Wortführer. Darum will er auch
[193] „die tiefe Kluft, welche ihn von der Menge ſcheidet, aufheben“.
Von denen, welche „die unteren Volksklaſſen heben wollen“,
unterſcheidet er ſich dadurch, daß er nicht bloß dieſe, ſondern
auch ſich ſelbſt aus der „Verſtimmung“ erlöſen will.
Aber allerdings trügt ihn auch ſein Bewußtſein nicht,
wenn er die Maſſe für den „natürlichen Gegner der Theorie“
hält und vorausſieht, daß, „je mehr ſich dieſe Theorie entwickeln
wird, um ſo mehr ſie die Maſſe zu einer compacten machen
wird“. Denn der Kritiker kann mit ſeiner Vorausſetzung,
dem Menſchen, die Maſſe nicht aufklären noch befriedigen. Iſt
ſie, gegenüber dem Bürgerthum, nur „untere Volksklaſſe“, eine
politiſch unbedeutende Maſſe, ſo muß ſie noch mehr gegenüber
„dem Menſchen“ eine bloße „Maſſe“, eine menſchlich unbe¬
deutende, ja eine unmenſchliche Maſſe oder eine Menge von
Unmenſchen ſein.
Der Kritiker räumt mit allem Menſchlichen auf, und von
der Vorausſetzung ausgehend, daß das Menſchliche das Wahre
ſei, arbeitet er ſich ſelbſt entgegen, indem er daſſelbe überall,
wo es bisher gefunden wurde, beſtreitet. Er beweiſt nur, daß
das Menſchliche nirgends als in ſeinem Kopfe, das Unmenſch¬
liche aber überall zu finden ſei. Das Unmenſchliche iſt das Wirk¬
liche, das allerwärts Vorhandene, und der Kritiker ſpricht durch
den Beweis, daß es „nicht menſchlich“ ſei, nur deutlich den
tautologiſchen Satz aus, daß es eben, das Unmenſchliche ſei.
Wie aber, wenn das Unmenſchliche, indem es entſchloſſe¬
nen Muthes ſich ſelbſt den Rücken kehrte, auch von dem be¬
unruhigenden Kritiker ſich abwendete und ihn, von ſeiner Ein¬
rede unberührt und ungetroffen, ſtehen ließe? „Du nennſt Mich
das Unmenſchliche, könnte es zu ihm ſagen, und Ich bin es
wirklich — für Dich; aber Ich bin es nur, weil Du Mich
13[194] zum Menſchlichen in Gegenſatz bringſt, und Ich konnte Mich
ſelbſt nur ſo lange verachten, als Ich Mich an dieſen Gegen¬
ſatz bannen ließ. Ich war verächtlich, weil Ich mein „beſſe¬
res Selbſt“ außer Mir ſuchte; Ich war das Unmenſchliche,
weil Ich vom „Menſchlichen“ träumte; Ich glich den From¬
men, die nach ihrem „wahren Ich“ hungern und immer „arme
Sünder“ bleiben; Ich dachte Mich nur im Vergleich zu einem
Andern; genug Ich war nicht Alles in Allem, war nicht —
einzig. Jetzt aber höre Ich auf, Mir ſelbſt als das Un¬
menſchliche vorzukommen, höre auf, Mich am Menſchen zu
meſſen und meſſen zu laſſen, höre auf, etwas über Mir anzu¬
erkennen, und ſomit — Gott befohlen, humaner Kritiker! Ich
bin das Unmenſchliche nur geweſen, bin es jetzt nicht mehr,
ſondern bin das Einzige, ja Dir zum Abſcheu das Egoiſtiſche,
aber das Egoiſtiſche nicht, wie es am Menſchlichen, Humanen
und Uneigennützigen ſich meſſen läßt, ſondern das Egoiſtiſche
als das — Einzige.“
Noch auf einen andern Satz deſſelben Heftes haben Wir
zu achten. „Die Kritik ſtellt keine Dogmen auf und will
nichts als die Dinge kennen lernen.“
Der Kritiker fürchtet ſich „dogmatiſch“ zu werden oder
Dogmen aufzuſtellen. Natürlich, er würde dadurch ja zum
Gegenſatz des Kritikers, zum Dogmatiker, er würde, wie er
als Kritiker gut iſt, nun böſe, oder würde aus einem Uneigen¬
nützigen ein Egoiſt u. ſ. w. „Nur kein Dogma!“ das iſt
ſein — Dogma. Denn es bleibt der Kritiker mit dem Dog¬
matiker auf ein und demſelben Boden, dem der Gedanken.
Gleich dem letzteren geht er ſtets von einem Gedanken aus,
aber darin weicht er ab, daß er's nicht aufgiebt, den princi¬
piellen Gedanken im Denkproceſſe zu erhalten, ihn alſo
[195] nicht ſtabil werden läßt. Er macht nur den Denkproceß gegen
die Denkgläubigkeit, den Fortſchritt im Denken gegen den Still¬
ſtand in demſelben geltend. Vor der Kritik iſt kein Gedanke
ſicher, da ſie das Denken oder der denkende Geiſt ſelber iſt.
Deshalb wiederhole Ich's, daß die religiöſe Welt — und
dieſe iſt eben die Welt der Gedanken — in der Kritik ihre
Vollendung erreicht, indem das Denken über jeden Gedanken
übergreift, deren keiner ſich „egoiſtiſch“ feſtſetzen darf. Wo
bliebe die „Reinheit der Kritik“, die Reinheit des Denkens,
wenn auch nur Ein Gedanke ſich dem Denkproceſſe entzöge?
Daraus erklärt ſich's, daß der Kritiker ſogar hie und da
ſchon über den Gedanken des Menſchen, der Menſchheit und
Humanität leiſe ſpöttelt, weil er ahnt, daß hier ein Gedanke
ſich dogmatiſcher Feſtigkeit nähere. Aber er kann dieſen Ge¬
danken doch eher nicht auflöſen, bis er einen — „höheren“
gefunden hat, in welchem jener zergehe; denn er bewegt ſich
eben nur — in Gedanken. Dieſer höhere Gedanke könnte als
der der Denkbewegung oder des Denkproceſſes ſelbſt, d.h. als
der Gedanke des Denkens oder der Kritik ausgeſprochen werden.
Die Denkfreiheit iſt hierdurch in der That vollkommen
geworden, die Geiſtesfreiheit feiert ihren Triumph: denn die
einzelnen, die „egoiſtiſchen“ Gedanken verloren ihre dogmati¬
ſche Gewaltthätigkeit. Es iſt nichts übrig geblieben, als das
— Dogma des freien Denkens oder der Kritik.
Gegen alles, was der Welt des Denkens angehört, iſt
die Kritik im Rechte, d. h. in der Gewalt: ſie bleibt die Sie¬
gerin. Die Kritik, und allein die Kritik „ſteht aus der Höhe
der Zeit“. Vom Standpunkte des Gedankens aus giebt es
keine Macht, die der ihrigen überlegen zu ſein vermöchte, und
es iſt eine Luſt, zu ſehen, wie leicht und ſpielend dieſer Drache
13 *[196] alles andere Gedankengewürm verſchlingt. Es windet ſich frei¬
lich jeder Wurm, ſie aber zermalmt ihn in allen „Wendungen“.
Ich bin kein Gegner der Kritik, d. h. Ich bin kein Dog¬
matiker, und fühle Mich von dem Zahne des Kritikers, womit
er den Dogmatiker zerfleiſcht, nicht getroffen. Wäre Ich ein
„Dogmatiker“, ſo ſtellte Ich ein Dogma, d. h. einen Gedan¬
ken, eine Idee, ein Princip obenan, und vollendete dieß als
„Syſtematiker“, indem Ich's zu einem Syſtem, d. h. einem
Gedankenbau ausſpönne. Wäre Ich umgekehrt ein Kritiker,
nämlich ein Gegner des Dogmatikers, ſo führte Ich den Kampf
des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verthei¬
digte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder
der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens; denn
„Ich“, von dem Ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch
beſtehe Ich im Denken. An Mir, dem Unnennbaren, zerſplit¬
tert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geiſtes.
Die Kritik iſt der Kampf des Beſeſſenen gegen die Be¬
ſeſſenheit als ſolche, gegen alle Beſeſſenheit, ein Kampf, der in
dem Bewußtſein begründet iſt, daß überall Beſeſſenheit oder,
wie es der Kritiker nennt, religiöſes und theologiſches Ver¬
hältniß vorhanden iſt. Er weiß, daß man nicht bloß gegen
Gott, ſondern ebenſo gegen andere Ideen, wie Recht, Staat,
Geſetz u.ſ.w. ſich religiös oder gläubig verhält, d. h. er er¬
kennt die Beſeſſenheit aller Orten. So will er durch das
Denken die Gedanken auflöſen, Ich aber ſage, nur die Ge¬
dankenloſigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken. Nicht
das Denken, ſondern meine Gedankenloſigkeit oder Ich, der
Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Beſeſſenheit.
Ein Ruck thut Mir die Dienſte des ſorglichſten Denkens,
ein Recken der Glieder ſchüttelt die Qual der Gedanken ab,
[197] ein Aufſpringen ſchleudert den Alp der religiöſen Welt von der
Bruſt, ein aufjauchzendes Juchhe wirft jahrelange Laſten ab.
Aber die ungeheuere Bedeutung des gedankenloſen Jauchzens
konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht
erkannt werden.
„Welche Plumpheit und Frivolität, durch ein Abbrechen
die ſchwierigſten Probleme löſen, die umfaſſendſten Aufgaben
erledigen zu wollen!“
Haſt Du aber Aufgaben, wenn Du ſie Dir nicht ſtellſt?
So lange Du ſie ſtellſt, wirſt Du nicht von ihnen laſſen, und
Ich habe ja nichts dagegen, daß Du denkſt und denkend tau¬
ſend Gedanken erſchaffeſt. Aber Du, der Du die Aufgaben
geſtellt haſt, ſollſt Du ſie nicht wieder umwerfen können? Mußt
Du an dieſe Aufgaben gebunden ſein, und müſſen ſie zu ab¬
ſoluten Aufgaben werden?
Um nur Eines anzuführen, ſo hat man die Regierung
darum herabgeſetzt, daß ſie gegen Gedanken Mittel der Gewalt
ergreift, gegen die Preſſe mittelſt der Polizeigewalt der Cenſur
einſchreitet und aus einem literariſchen Kampfe einen perſön¬
lichen macht. Als ob es ſich lediglich um Gedanken handelte,
und als ob man gegen Gedanken uneigennützig, ſelbſtverleug¬
nend und aufopfernd ſich verhalten müßte! Greifen jene Ge¬
danken nicht die Regierenden ſelbſt an und fordern ſo den
Egoismus heraus? Und ſtellen die Denkenden nicht an die
Angegriffenen die religiöse Forderung, die Macht des Den¬
kens, der Ideen, zu verehren? Sie ſollen freiwillig und hin¬
gebend erliegen, weil die göttliche Macht des Denkens, die
Minerva, auf Seiten ihrer Feinde kämpft. Das wäre ja ein
Akt der Beſeſſenheit, ein religiöſes Opfer. Freilich ſtecken die
Regierenden ſelbſt in religiöſer Befangenheit und folgen der
[198] leitenden Macht einer Idee oder eines Glaubens; aber ſie ſind
zugleich ungeſtändige Egoiſten, und gerade gegen die Feinde
bricht der zurückgehaltene Egoismus los: Beſeſſene in ihrem
Glauben ſind ſie zugleich unbeſeſſen von dem Glauben der
Gegner, d. h. ſie ſind gegen dieſen Egoiſten. Will man ih¬
nen einen Vorwurf machen, ſo könnte es nur der umgekehrte
ſein, nämlich der, daß ſie von ihren Ideen beſeſſen ſind.
Gegen die Gedanken ſoll keine egoiſtiſche Gewalt auftre¬
ten, keine Polizeigewalt u. dergl. So glauben die Denkgläu¬
bigen. Aber das Denken und ſeine Gedanken ſind Mir nicht
heilig und Ich wehre Mich auch gegen ſie meiner Haut.
Das mag ein unvernünftiges Wehren ſein; bin Ich aber der
Vernunft verpflichtet, ſo muß Ich, wie Abraham, ihr das
Liebſte opfern!
Im Reiche des Denkens, welches gleich dem des Glau¬
bens das Himmelreich iſt, hat allerdings Jeder Unrecht, der
gedankenloſe Gewalt braucht, gerade ſo, wie Jeder Unrecht
hat, der im Reiche der Liebe lieblos verfährt, oder, obgleich
er ein Chriſt iſt, alſo im Reiche der Liebe lebt, doch unchriſt¬
lich handelt: er iſt in dieſen Reichen, denen er anzugehören
meint und gleichwohl ihren Geſetzen ſich entzieht, ein „Sünder“
oder „Egoiſt“. Aber er kann auch der Herrſchaft dieſer Reiche
ſich nur entziehen, wenn er an ihnen zum Verbrecher wird.
Das Reſultat iſt auch hier dieß, daß der Kampf der
Denkenden gegen die Regierung zwar ſoweit im Rechte, näm¬
lich in der Gewalt iſt, als er gegen die Gedanken derſelben
geführt wird (die Regierung verſtummt und weiß literariſch
nichts Erhebliches einzuwenden), dagegen im Unrechte, näm¬
lich in der Ohnmacht, ſich befindet, ſoweit er nichts als Ge¬
danken gegen eine perſönliche Macht ins Feld zu führen weiß
[199] (die egoiſtiſche Macht ſtopft den Denkenden den Mund). Der
theoretiſche Kampf kann nicht den Sieg vollenden und die
heilige Macht des Gedankens unterliegt der Gewalt des Egois¬
mus. Nur der egoiſtiſche Kampf, der Kampf von Egoiſten
auf beiden Seiten, bringt Alles ins Klare.
Dieß Letzte nun, das Denken ſelbſt zu einer Sache des
egoiſtiſchen Beliebens, einer Sache des Einzigen, gleichſam zu
einer bloßen Kurzweil oder Liebhaberei zu machen und ihm
die Bedeutung, „letzte entſcheidende Macht zu ſein“, abzuneh¬
men, dieſe Herabſetzung und Entheiligung des Denkens, dieſe
Gleichſtellung des gedankenloſen und gedankenvollen Ich's,
dieſe plumpe, aber wirkliche „Gleichkeit“ — vermag die Kritik
nicht herzuſtellen, weil ſie ſelbſt nur Prieſterin des Denkens iſt
und über das Denken hinaus nichts ſieht als — die Sündfluth.
Die Kritik behauptet z. B. zwar, daß die freie Kritik
über den Staat ſiegen dürfe, aber ſie wahrt ſich zugleich ge¬
gen den Vorwurf, welcher ihr von der Staatsregierung ge¬
macht wird, daß ſie „Willkühr und Frechheit“ ſei; ſie meint
alſo, „Willkühr und Frechheit“ dürften nicht ſiegen, nur ſie
dürfe es. Es iſt vielmehr umgekehrt: der Staat kann nur
von frecher Willkühr wirklich beſiegt werden.
Es kann nun, um hiermit zu ſchließen, einleuchten, daß
der Kritiker in ſeiner neuen Wendung ſich ſelber nicht umge¬
wandelt, ſondern nur „ein Verſehen gut gemacht“ hat, „mit
einem Gegenſtande ins Reine gekommen“ iſt und zu viel ſagt,
wenn er davon ſpricht, daß „die Kritik ſich ſelbſt kritiſire“;
ſie oder vielmehr er hat nur ihr „Verſehen“ kritiſirt und ſie
von ihren „ Inconſequenzen“ geläutert. Wollte er die Kritik
kritiſiren, ſo mußte er zuſehen, ob an der Vorausſetzung der¬
ſelben etwas ſei.
[200]
Ich Meinestheils gehe von einer Vorausſetzung aus, in¬
dem Ich Mich vorausſetze; aber meine Vorausſetzung ringt
nicht nach ihrer Vollendung, wie der „nach ſeiner Vollendung
ringende Menſch“, ſondern dient Mir nur dazu, ſie zu genie¬
ßen und zu verzehren. Ich zehre gerade an meiner Voraus¬
ſetzung allein und bin nur, indem Ich ſie verzehre. Darum
aber iſt jene Vorausſetzung gar keine; denn da Ich der Ein¬
zige bin, ſo weiß Ich nichts von der Zweiheit eines voraus¬
ſetzenden und vorausgeſetzten Ich's (eines „unvollkommenen“
und „vollkommenen“ Ich's oder Menſchen), ſondern, daß Ich
Mich verzehre, heißt nur, daß Ich bin. Ich ſehe Mich nicht
voraus, weil Ich Mich jeden Augenblick überhaupt erſt ſetze
oder ſchaffe, und nur dadurch Ich bin, daß Ich nicht voraus¬
geſetzt, ſondern geſetzt bin, und wiederum nur in dem Moment
geſetzt, wo Ich Mich ſetze, d. h. Ich bin Schöpfer und Ge¬
ſchöpf in Einem.
Sollen die bisherigen Vorausſetzungen in einer völligen
Auflöſung zergehen, ſo dürfen ſie nicht wieder in eine höhere
Vorausſetzung, d. h. einen Gedanken oder das Denken ſelbſt,
die Kritik, aufgelöſt werden. Es ſoll ja jene Auflöſung Mir
zu Gute kommen, ſonſt gehörte ſie nur in die Reihe der un¬
zähligen Auflöſungen, welche zu Gunſten Anderer, z. B. eben
des Menſchen, Gottes, des Staates, der reinen Moral u. ſ. w.
alte Wahrheiten für Unwahrheiten erklärten und lang genährte
Vorausſetzungen abſchafften.
Zweite Abtheilung.
Ich.
[[202]][[203]]
An dem Eingange der neuen Zeit ſteht der „Gott¬
menſch“. Wird ſich an ihrem Ausgange nur der Gott am
Gottmenſchen verflüchtigen, und kann der Gottmenſch wirklich
ſterben, wenn nur der Gott an ihm ſtirbt? Man hat an dieſe
Frage nicht gedacht und fertig zu ſein gemeint, als man
das Werk der Aufklärung, die Ueberwindung des Gottes, in
unſern Tagen zu einem ſiegreichen Ende führte; man hat nicht
gemerkt, daß der Menſch den Gott getödtet hat, um nun —
„alleiniger Gott in der Höhe“ zu werden. Das Jenſeits
außer Uns iſt allerdings weggefegt, und das große Unter¬
nehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenſeits in
Uns iſt ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneu¬
tem Himmelsſtürmen auf: der Gott hat Platz machen müſſen,
aber nicht Uns, ſondern — dem Menſchen. Wie mögt Ihr
glauben, daß der Gottmenſch geſtorben ſei, ehe an ihm außer
dem Gott auch der Menſch geſtorben iſt?
[[204]]
I.
Die Eigenheit.
„Lechzt der Geiſt nicht nach Freiheit?“ — Ach, mein
Geiſt nicht allein, auch mein Leib lechzt ſtündlich danach!
Wenn meine Naſe vor der duftenden Schloßküche meinem
Gaumen von den ſchmackhaften Gerichten erzählt, die darin
zubereitet werden, da fühlt er bei ſeinem trockenen Brote ein
fürchterliches Schmachten; wenn meine Augen dem ſchwieligen
Rücken von weichen Dunen ſagen, auf denen ſich's lieblicher
liegt, als auf ſeinem zuſammengedrückten Stroh, da faßt ihn
ein verbiſſener Grimm; wenn — doch verfolgen Wir die Schmer¬
zen nicht weiter. — Und das nennſt Du eine Freiheitsſehn¬
ſucht? Wovon willſt Du denn frei werden? Von deinem
Kommisbrot und deinem Strohlager? So wirf es weg! —
Damit aber ſcheint Dir nicht gedient zu ſein; Du willſt viel¬
mehr die Freiheit haben, köſtliche Speiſen und ſchwellende Bet¬
ten zu genießen. Sollen die Menſchen Dir dieſe „Freiheit“
geben —, ſollen ſie Dir's erlauben? Du hoffſt das nicht von
ihrer Menſchenliebe, weil Du weißt, ſie denken alle wie —
[205] Du: Jeder iſt ſich ſelbſt der Nächſte! Wie willſt Du alſo
zum Genuß jener Speiſen und Betten kommen? Doch wohl
nicht anders, als wenn Du ſie zu deinem Eigenthum machſt!
Du willſt, wenn Du es recht bedenkſt, nicht die Freiheit,
alle dieſe ſchönen Sachen zu haben, denn mit der Freiheit dazu
haſt Du ſie noch nicht; Du willſt ſie wirklich haben, willſt
ſie dein nennen und als dein Eigenthum beſitzen. Was
nützt Dir auch eine Freiheit, wenn ſie nichts einbringt? Und
würdeſt Du von allem frei, ſo hätteſt Du eben nichts mehr;
denn die Freiheit iſt inhaltsleer. Wer ſie nicht zu benutzen
weiß, für den hat ſie keinen Werth, dieſe unnütze Erlaubniß;
wie Ich ſie aber benutze, das hängt von meiner Eigenheit ab.
Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich
wünſche Dir mehr als Freiheit; Du müßteſt nicht bloß los
ſein, was Du nicht willſt, Du müßteſt auch haben, was
Du willſt, Du müßteſt nicht nur ein „Freier“, Du müßteſt
auch ein „Eigner“ ſein.
Frei — wovon? O was läßt ſich nicht alles abſchüt¬
teln! Das Joch der Leibeigenſchaft, der Oberherrlichkeit, der
Ariſtokratie und Fürſten, die Herrſchaft der Begierden und Lei¬
denſchaften: ja ſelbſt die Herrſchaft des eigenen Willens, des
Eigenwillens, die vollkommenſte Selbſtverleugnung iſt ja nichts
als Freiheit, Freiheit nämlich von der Selbſtbeſtimmung, vom
eigenen Selbſt, und der Drang nach Freiheit als nach etwas
Abſolutem, jedes Preiſes Würdigem, brachte Uns um die Ei¬
genheit: er ſchuf die Selbſtverleugnung. Je freier Ich indeß
werde, deſto mehr Zwang thürmt ſich vor meinen Augen auf,
deſto ohnmächtiger fühle Ich Mich. Der unfreie Sohn der
Wildniß empfindet noch nichts von all' den Schranken, die
einen gebildeten Menſchen bedrängen: er dünkt ſich freier als
[206] dieſer. In dem Maaße als Ich Mir Freiheit erringe, ſchaffe
Ich Mir neue Grenzen und neue Aufgaben; habe Ich die
Eiſenbahnen erfunden, ſo fühle Ich Mich wieder ſchwach, weil
Ich noch nicht, dem Vogel gleich, die Lüfte durchſegeln kann,
und habe Ich ein Problem, deſſen Dunkelheit meinen Geiſt
beängſtigte, gelöſt, ſo erwarten Mich ſchon unzählige andere,
deren Rätſelhaftigkeit meinen Fortſchritt hemmt, meinen freien
Blick verdüſtert, die Schranken meiner Freiheit Mir ſchmerz¬
lich fühlbar macht. „Nun ihr frei worden ſeid von der Sünde,
ſeid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit.“*). Die Repu¬
blikaner in ihrer weiten Freiheit, werden ſie nicht Knechte des
Geſetzes? Wie ſehnten ſich allezeit die wahren Chriſtenherzen,
„frei zu werden“, wie ſchmachteten ſie, von den „Banden die¬
ſes Erdenlebens“ ſich erlöſt zu ſehen: ſie ſchauten nach dem
Lande der Freiheit aus. („Das Jeruſalem, das droben iſt,
das iſt die Freie, die iſt unſer aller Mutter“. Gal. 4, 26.)
Frei ſein von etwas — heißt nur: ledig oder los ſein.
„Er iſt frei von Kopfweh“ iſt gleich mit: er iſt es los. „Er
iſt frei von dieſem Vorurtheil“ iſt gleich mit: er hat es nie
gefaßt oder er iſt es losgeworden. Im „los“ vollenden Wir
die vom Chriſtenthum empfohlene Freiheit, im ſündlos, gottlos,
ſittenlos u. ſ. w.
Freiheit iſt die Lehre des Chriſtenthums. „Ihr, lieben
Brüder, ſeid zur Freiheit berufen.“ **)„Alſo redet und alſo
thut, als die da ſollen durchs Geſetz der Freiheit gerichtet wer¬
den.“ ***)
[207] Müſſen Wir etwa, weil die Freiheit als ein chriſt¬
liches Ideal ſich verräth, ſie aufgeben? Nein, nichts ſoll
verloren gehen, auch die Freiheit nicht; aber ſie ſoll unſer
eigen werden, und das kann ſie in der Form der Freiheit
nicht.
Welch ein Unterſchied zwiſchen Freiheit und Eigenheit!
Gar vieles kann man los werden, Alles wird man doch nicht
los: von Vielem wird man frei, von Allem nicht. Innerlich
kann man trotz des Zuſtandes der Sklaverei frei ſein, obwohl
auch wieder nur von Allerlei, nicht von Allem; aber von der
Peitſche, der gebieteriſchen Laune u. ſ. w. des Herrn wird
man als Sklave nicht frei. „Freiheit lebt nur in dem Reich
der Träume“! Dagegen Eigenheit, das iſt mein ganzes We¬
ſen und Daſein, das bin Ich ſelbſt. Frei bin Ich von Dem,
was Ich los bin, Eigner von dem, was Ich in meiner
Macht habe, oder deſſen Ich mächtig bin. Mein eigen
bin Ich jederzeit und unter allen Umſtänden, wenn Ich Mich
zu haben verſtehe und nicht an Andere wegwerfe. Das Frei¬
ſein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich's nicht ma¬
chen, nicht erſchaffen kann: Ich kann es mir wünſchen und
darnach — trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk.
Die Feſſeln der Wirklichkeit ſchneiden jeden Augenblick in mein
Fleiſch die ſchärfſten Striemen. Mein eigen aber bleibe
Ich. Einem Gebieter leibeigen hingegeben, denke Ich nur an
Mich und meinen Vortheil; ſeine Schläge treffen Mich zwar:
Ich bin nicht davon frei; aber Ich erdulde ſie nur zu mei¬
nem Nutzen, etwa um ihn durch den Schein der Geduld
zu täuſchen und ſicher zu machen, oder auch um nicht durch
Widerſetzlichkeit Aergeres Mir zuzuziehen. Da Ich aber Mich
und meinen Eigennutz im Auge behalte, ſo faſſe Ich die
[208] nächſte, gute Gelegenheit beim Schopfe, den Sklavenbeſitzer
zu zertreten. Daß Ich dann von ihm und ſeiner Peitſche frei
werde, das iſt nur die Folge meines vorangegangenen Egois¬
mus. Man ſagt hier vielleicht, Ich ſei auch im Stande der
Sklaverei „frei“ geweſen, nämlich „an ſich“ oder „innerlich“.
Allein „an ſich frei“ iſt nicht „wirklich frei“ und „innerlich“
nicht „äußerlich“. Eigen hingegen, mein eigen war Ich
ganz und gar, innerlich und äußerlich. Von den Folterqua¬
len und Geißelhieben iſt mein Leib nicht „frei“ unter der
Herrſchaft eines grauſamen Gebieters; aber meine Knochen
ſind es, welche unter der Tortur ächzen, meine Fiebern zucken
unter den Schlägen, und Ich ächze, weil mein Leib ächzt.
Daß Ich ſeufze und erzittere, beweiſt, daß Ich noch bei Mir,
daß Ich noch mein eigen bin. Mein Bein iſt nicht „frei“
von dem Prügel des Herrn, aber es iſt mein Bein und iſt
unentreißbar. Er reiße Mir's aus und ſehe zu, ob er noch
mein Bein hat! Nichts behält er in der Hand als den —
Leichnam meines Beines, der ſo wenig mein Bein iſt, als
ein todter Hund noch ein Hund iſt: ein Hund hat ein pul¬
ſirendes Herz, ein ſogenannter todter Hund hat keines und iſt
darum kein Hund mehr.
Meint man, daß ein Sklave doch innerlich frei ſein könne,
ſo ſagt man in der That nur das Unbeſtreitbarſte und Trivialſte.
Denn wer wird wohl behaupten, daß irgend ein Menſch ohne
alle Freiheit ſei? Wenn Ich ein Augendiener bin, kann Ich
darum nicht von unzähligen Dingen frei ſein, z. B. vom Glau¬
ben an Zeus, von Ruhmbegierde u. dergl.? Warum alſo
ſollte ein gepeitſchter Sklave nicht auch innerlich frei ſein kön¬
nen von unchriſtlicher Geſinnung, von Feindeshaß u. ſ. w.?
Er iſt dann eben „chriſtlich frei“, iſt das Unchriſtliche los;
[209] aber iſt er abſolut frei, von Allem frei, z. B. vom chriſtlichen
Wahne oder vom körperlichen Schmerze u. ſ. w.?
Inzwiſchen ſcheint dieß Alles mehr gegen Namen als ge¬
gen die Sache geſagt zu ſein. Iſt aber der Name gleichgültig,
und hat nicht ſtets ein Wort, ein Schiboleth, die Menſchen
begeiſtert und — bethört? Doch zwiſchen der Freiheit und
der Eigenheit liegt auch noch eine tiefere Kluft, als die bloße
Wortdifferenz.
Alle Welt verlangt nach Freiheit, Alle ſehnen ihr Reich
herbei. O bezaubernd ſchöner Traum von einem blühenden
„Reiche der Freiheit“, einem „freien Menſchengeſchlechte“! —
wer hätte ihn nicht geträumt? So ſollen die Menſchen frei
werden, ganz frei, von allem Zwange frei! Von allem Zwange,
wirklich von allem? Sollen ſie ſich ſelbſt niemals mehr Zwang
anthun? „Ach ja, das wohl, das iſt ja gar kein Zwang!“
Nun, ſo ſollen ſie doch frei werden vom religiöſen Glauben,
von den ſtrengen Pflichten der Sittlichkeit, von der Unerbitt¬
lichkeit des Geſetzes, von — „Welch fürchterliches Mißver¬
ſtändnis)!“ Nun, wovon ſollen ſie denn frei werden, und
wovon nicht?
Der liebliche Traum iſt zerronnen, erwacht reibt man die
halbgeöffneten Augen und ſtarrt den proſaiſchen Frager an.
„Wovon die Menſchen frei werden ſollen?“ — Von der Blind¬
gläubigkeit, ruft der Eine. Ei was, ſchreit ein Anderer, aller
Glaube iſt Blindgläubigkeit; ſie müſſen von allem Glauben
frei werden. Nein, nein, um Gotteswillen, — fährt der Erſte
wieder los, — werft nicht allen Glauben von Euch, ſonſt
bricht die Macht der Brutalität herein. Wir müſſen, läßt ſich
ein Dritter vernehmen, die Republik haben und von allen ge¬
bietenden Herren — frei werden. Damit iſt nichts geholfen,
14[210] ſagt ein Vierter; Wir kriegen dann nur einen neuen Herrn,
eine „herrſchende Majorität“; vielmehr laßt Uns von der ſchreck¬
lichen Ungleichheit Uns befreien. — O unſelige Gleichheit,
höre Ich dein pöbelhaftes Gebrüll ſchon wieder! Wie hatte
Ich ſo ſchön noch eben von einem Paradieſe der Freiheit
geträumt, und welche — Frechheit und Zügelloſigkeit erhebt
jetzt ihr wildes Geſchrei! So klagt der Erſte und rafft ſich
auf, um das Schwert zu ergreifen gegen die „maßloſe Frei¬
heit.“ Bald hören Wir nichts mehr als das Schwertergeklirr
der uneinigen Freiheitsträumer.
Der Freiheitsdrang lief zu jeder Zeit auf das Verlangen
nach einer beſtimmten Freiheit hinaus, z. B. Glaubens¬
freiheit, d. h. der gläubige Menſch wollte frei und unabhängig
werden; wovon? etwa vom Glauben? nein! ſondern von den
Glaubensinquiſitoren. So jetzt „politiſche oder bürgerliche“
Freiheit. Der Bürger will frei werden, nicht vom Bürger¬
thum, ſondern von Beamtenherrſchaft, Fürſtenwillkühr u. dergl.
Fürſt Metternich ſagte einmal, er habe „einen Weg gefunden,
der für alle Zukunft auf den Pfad der echten Freiheit zu lei¬
ten geeignet ſei.“ Der Graf von Provence lief gerade zu der
Zeit aus Frankreich fort, als es ſich dazu anließ, das „Reich
der Freiheit“ zu ſtiften, und ſagte: „Meine Gefangenſchaft
war Mir unerträglich geworden, ich hatte nur Eine Leidenſchaft:
das Verlangen nach — Freiheit, Ich dachte nur an ſie.“
Der Drang nach einer beſtimmten Freiheit ſchließt ſtets
die Abſicht auf eine neue Herrſchaft ein, wie denn die Re¬
volution zwar „ihren Vertheidigern das erhebende Gefühl geben
konnte, daß ſie für die Freiheit kämpften“, in Wahrheit aber
nur, weil man auf eine beſtimmte Freiheit, darum auf eine
neue Herrſchaft, die „Herrſchaft des Geſetzes“ ausging.
[211]
Freiheit wollt Ihr Alle, Ihr wollt die Freiheit. Warum
ſchachert Ihr denn um ein Mehr oder Weniger? Die Frei¬
heit kann nur die ganze Freiheit ſein; ein Stück Freiheit iſt
nicht die Freiheit. Ihr verzweifelt daran, daß die ganze Frei¬
heit, die Freiheit von Allem, zu gewinnen ſei, ja Ihr haltet's
für Wahnſinn, ſie auch nur zu wünſchen? — Nun, ſo laßt
ab, dem Phantome nachzujagen, und verwendet Eure Mühe
auf etwas Beſſeres, als auf das — Unerreichbare.
„Ja es giebt aber nichts Beſſeres als die Freiheit!“
Was habt Ihr denn, wenn Ihr die Freiheit habt, näm¬
lich — denn von Euren brockenweiſen Freiheitsſtückchen will
Ich hier nicht reden — die vollkommene Freiheit? Dann ſeid
Ihr Alles, Alles los, was Euch genirt, und es gäbe wohl
nichts, was Euch nicht einmal im Leben genirte und unbequem
fiele. Und um weßwillen wolltet Ihr's denn los ſein? Doch
wohl um Euretwillen, darum, weil es Euch im Wege
iſt! Wäre Euch aber etwas nicht unbequem, ſondern im Ge¬
gentheil ganz recht, z. B. der, wenn auch ſanft, unwi¬
derſtehlich gebietende Blick eurer Geliebten — da wür¬
det Ihr nicht ihn los und davon frei ſein wollen. Warum
nicht? Wieder um Euretwillen! Alſo Euch nehmt Ihr
zum Maaße und Richter über Alles. Ihr laßt die Freiheit
gerne laufen, wenn Euch die Unfreiheit, der „ſüße Liebes¬
dienſt“, behagt; und Ihr holt Euch eure Freiheit gelegent¬
lich wieder, wenn ſie Euch beſſer zu behagen anfängt, vor¬
ausgeſetzt nämlich, worauf es an dieſer Stelle nicht ankommt,
daß Ihr Euch nicht vor einer ſolchen Repeal der Union aus
andern (etwa religiöſen) Gründen fürchtet.
Warum wollt Ihr nun den Muth nicht faſſen, Euch
wirklich ganz und gar zum Mittelpunkt und zur Hauptſache
14 *[212] zu machen? Warum nach der Freiheit ſchnappen, eurem
Traume? Seid Ihr euer Traum? Fragt nicht erſt bei euren
Träumen, euren Vorſtellungen, euren Gedanken an, denn
das iſt Alles „hohle Theorie.“ Fragt euch und fragt nach
Euch — das iſt praktiſch, und Ihr wollt ja gerne „praktiſch“
ſein. Da lauſcht aber der Eine, was wohl ſein Gott (na¬
türlich das, was er ſich bei dem Namen Gott denkt, iſt ſein
Gott) dazu ſagen wird, und ein Anderer, was wohl ſein ſitt¬
liches Gefühl, ſein Gewiſſen, ſein Pflichtgefühl, darüber be¬
ſtimme, und ein Dritter berechnet, was die Leute davon den¬
ken werden, — und wenn ſo Jeder ſeinen Herrgott (die Leute
ſind ein eben ſo guter, ja noch compacterer Herrgott als der
jenſeitige und eingebildete: vox populi, vox dei) gefragt hat,
dann ſchickt er ſich in den Willen ſeines Herrn und hört gar
nicht mehr darauf, was Er ſelber gerne ſagen und beſchlie¬
ßen möchte.
Darum wendet Euch lieber an Euch als an eure Götter
oder Götzen. Bringt aus Euch heraus, was in Euch ſteckt,
bringt's zu Tage, bringt Euch zur Offenbarung.
Wie Einer nur aus ſich handelt und nach nichts weiter
fragt, das haben die Chriſten in „Gott“ zur Vorſtellung ge¬
bracht. Er handelt, „wie's ihm gefällt.“ Und der thörichte
Menſch, der's gerade ſo machen könnte, ſoll ſtatt deſſen han¬
deln, wie's „Gott gefällt.“ — Sagt man, auch Gott ver¬
fahre nach ewigen Geſetzen, ſo paßt auch das auf Mich, da
auch Ich nicht aus meiner Haut fahren kann, ſondern an
meiner ganzen Natur, d. h. an Mir mein Geſetz habe.
Aber man braucht Euch nur an Euch zu mahnen, um
Euch gleich zur Verzweiflung zu bringen. „Was bin Ich?“
ſo fragt ſich Jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und
[213] geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein
Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne
Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die
Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬
nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬
gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬
diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine
Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. —
So hält Jeder ſich ſelbſt für den — Teufel; denn hielte er
ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für
ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur ſei¬
nem Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum
„Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte
thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern
Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor Uns in unſerer Nacktheit
und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß
Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬
lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das
„Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun,
wenn Ihr Euch fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme
aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des
Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott
und Belial?
Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬
derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w.
hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf
und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und
wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß
die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch
gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬
[214] tes- und Gewiſſensſtimme für Teufelswerk zu halten? Solche
heilloſe Menſchen giebt's; wie werdet Ihr mit ihnen fertig
werden? Auf eure Pfaffen, Aeltern und guten Menſchen
könnt Ihr Euch nicht berufen, denn die werden eben als eure
Verführer von jenen bezeichnet, als die wahren Jugendver¬
führer und Jugendverderber, die das Unkraut der Selbſtverach¬
tung und Gottesverehrung emſig ausſäen, die jungen Herzen
verſchlämmen und die jungen Köpfe verdummen.
Jene nun fahren aber fort und fragen: Um weß willen
bekümmert Ihr Euch um Gottes und die andern Gebote?
Ihr meint doch nicht, daß dieß bloß aus Gefälligkeit gegen
Gott geſchehe? Nein, Ihr thut's wieder — um Euret¬
willen. — Alſo auch hier ſeid Ihr die Hauptſache und
Jeder muß ſich ſagen: Ich bin Mir Alles und ich thue Alles
Meinethalben. Würde Euch's jemals klar, daß Euch der
Gott, die Gebote u. ſ. w. nur ſchaden, daß ſie Euch verkürzen
und verderben: gewiß, Ihr würfet ſie von Euch, gerade wie
die Chriſten einſt den Apollo oder die Minerva oder die heid¬
niſche Moral verdammten. Sie ſtellten freilich Chriſtus und
hernach die Maria, ſowie eine chriſtliche Moral an die Stelle;
aber ſie thaten das auch um ihres Seelenheils willen, alſo
aus Egoismus oder Eigenheit.
Und dieſer Egoismus, dieſe Eigenheit war's, durch die
ſie die alte Götterwelt los und von ihr frei wurden. Die
Eigenheit erſchuf eine neue Freiheit; denn die Eigenheit
iſt die Schöpferin von Allem, wie ſchon längſt die Genialität
(eine beſtimmte Eigenheit), die ſtets Originalität iſt, als die
Schöpferin neuer weltgeſchichtlicher Productionen angeſehen wird.
Soll's einmal doch „die Freiheit“ gelten mit eurem
Streben, nun ſo erſchöpft ihre Forderungen. Wer ſoll denn
[215] frei werden? Du, Ich, Wir. Wovon frei? Von Allem,
was nicht Du, nicht Ich, nicht Wir iſt. Ich alſo bin der
Kern, der aus allen Verhüllungen erlöſt, von allen beengenden
Schalen — befreit werden ſoll. Was bleibt übrig, wenn
Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich
und nichts als Ich. Dieſem Ich ſelber aber hat die Freiheit
nichts zu bieten. Was nun weiter geſchehen ſoll, nachdem
Ich frei geworden, darüber ſchweigt die Freiheit, wie unſere
Regierungen den Gefangenen nach abgelaufener Haftzeit nur
entlaſſen und in die Verlaſſenheit hinausſtoßen.
Warum nun, wenn die Freiheit doch dem Ich zu Liebe
erſtrebt wird, warum nun nicht das Ich ſelber zu Anfang,
Mitte und Ende wählen? Bin Ich nicht mehr werth als die
Freiheit? Bin Ich es nicht, der Ich Mich frei mache, bin
Ich nicht das Erſte? Auch unfrei, auch in tauſend Feſſeln
geſchlagen, bin Ich doch, und Ich bin nicht etwa erſt zu¬
künftig und auf Hoffnung vorhanden, wie die Freiheit, ſon¬
dern Ich bin auch als Verworfenſter der Sklaven — gegen¬
wärtig.
Bedenkt das wohl und entſcheidet Euch, ob Ihr auf eure
Fahne den Traum der „Freiheit“ oder den Entſchluß des
„Egoismus“, der „Eigenheit“ ſtecken wollt. Die „Freiheit“
weckt euren Grimm gegen Alles, was Ihr nicht ſeid; der
„Egoismus“ ruft Euch zur Freude über Euch ſelbſt, zum
Selbſtgenuſſe; die „Freiheit“ iſt und bleibt eine Sehnſucht,
ein romantiſcher Klagelaut, eine chriſtliche Hoffnung auf Jen¬
ſeitigkeit und Zukunft; die „Eigenheit“ iſt eine Wirklichkeit,
die von ſelbſt gerade ſo viel Unfreiheit beſeitigt, als Euch
hinderlich den eigenen Weg verſperrt. Von dem, was Euch
nicht ſtört, weidet Ihr Euch nicht losſagen wollen, und wenn
[216] es Euch zu ſtören anfängt, nun ſo wißt Ihr, daß „Ihr Euch
mehr gehorchen müſſet, denn den Menſchen!“
Die Freiheit lehrt nur: Macht Euch los, entledigt Euch
alles Läſtigen; ſie lehrt Euch nicht, wer Ihr ſelbſt ſeid. Los,
los! ſo tönt ihr Loſungswort, und Ihr, begierig ihrem Rufe
folgend, werdet Euch ſelbſt ſogar los, „verleugnet Euch ſelbſt“.
Die Eigenheit aber ruft Euch zu Euch ſelbſt zurück, ſie ſpricht:
„Komm zu Dir!“ Unter der Aegide der Freiheit werdet Ihr
Vielerlei los, aber Neues beklemmt Euch wieder: „den Böſen
ſeid Ihr los, das Böſe iſt geblieben“. Als Eigene ſeid Ihr
wirklich Alles los, und was Euch anhaftet, das habt
Ihr angenommen, das iſt eure Wahl und euer Belieben.
Der Eigene iſt der geborene Freie, der Freie von Haus
aus; der Freie dagegen nur der Freiheitsſüchtige, der
Träumer und Schwärmer.
Jener iſt urſprünglich frei, weil er nichts als ſich
anerkennt; er braucht ſich nicht erſt zu befreien, weil er von
vornherein Alles außer ſich verwirft, weil er nichts mehr ſchätzt
als ſich, nichts höher anſchlägt, kurz, weil er von ſich aus¬
geht und „zu ſich kommt“. Befangen im kindlichen Reſpect,
arbeitet er gleichwohl ſchon daran, aus dieſer Befangenheit
ſich zu „befreien“. Die Eigenheit arbeitet in dem kleinen
Egoiſten und verſchafft ihm die begehrte — Freiheit.
Jahrtauſende der Cultur haben Euch verdunkelt, was Ihr
ſeid, haben Euch glauben gemacht, Ihr ſeiet keine Egoiſten,
ſondern zu Idealiſten („guten Menſchen“) berufen. Schüt¬
telt das ab! Suchet nicht die Freiheit, die Euch gerade um
Euch ſelbſt bringt, in der „Selbſtverleugnung“, ſondern ſuchet
Euch Selbſt, werdet Egoiſten, werde jeder von Euch ein
allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur
[217] wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich ſeid, und laßt eure
heuchleriſchen Beſtrebungen fahren, eure thörichte Sucht, etwas
Anderes zu ſein, als Ihr ſeid. Heuchleriſch nenne Ich jene,
weil Ihr doch alle dieſe Jahrtauſende Egoiſten geblieben ſeid,
aber ſchlafende, ſich ſelbſt betrügende, verrückte Egoiſten, Ihr
Heautontimorumenen, Ihr Selbſtpeiniger. Noch niemals hat
eine Religion der Verſprechungen und „Verheißungen“ ent¬
rathen können, mögen ſie auf's Jenſeits oder Dieſſeits ver¬
weiſen („langes Leben“ u. ſ. w.); denn lohnſüchtig iſt der
Menſch, und „umſonſt“ thut er nichts. Aber jenes „das
Gute um des Guten willen thun“ ohne Ausſicht auf Beloh¬
nung? Als ob nicht auch hier in der Befriedigung, die es
gewähren ſoll, der Lohn enthalten wäre. Alſo auch die Re¬
ligion iſt auf unſern Egoismus begründet, und ſie — beutet
ihn aus; berechnet aus unſere Begierden, erſtickt ſie viele
andere um Einer willen. Dieß giebt denn die Erſcheinung
des betrogenen Egoismus, wo Ich nicht Mich befriedige,
ſondern eine meiner Begierden, z. B. den Glückſeligkeitstrieb.
Die Religion verſpricht Mir das — „höchſte Gut“; dieß zu
gewinnen achte Ich auf keine andere meiner Begierden mehr
und ſättige ſie nicht. — All euer Thun und Treiben iſt un¬
eingeſtandener, heimlicher, verdeckter und verſteckter Egois¬
mus. Aber weil Egoismus, den Ihr Euch nicht geſtehen
wollt, den Ihr Euch ſelbſt verheimlicht, alſo nicht offenbarer
und offenkundiger, mithin unbewußter Egoismus, darum iſt er
nicht Egoismus, ſondern Knechtſchaft, Dienſt, Selbſtver¬
leugnung. Ihr ſeid Egoiſten und Ihr ſeid es nicht, indem
Ihr den Egoismus verleugnet. Wo Ihr's am meiſten zu ſein
ſcheint, da habt Ihr dem Worte „Egoiſt“ — Abſcheu und
Verachtung zugezogen.
[218]
Meine Freiheit gegen die Welt ſichere Ich in dem Grade,
als Ich Mir die Welt zu eigen mache, d. h. ſie für Mich
„gewinne und einnehme“, ſei es durch welche Gewalt es
wolle, durch die der Ueberredung, der Bitte, der kategoriſchen
Forderung, ja ſelbſt durch Heuchelei, Betrug u. ſ. w.; denn
die Mittel, welche Ich dazu gebrauche, richten ſich nach dem,
was Ich bin. Bin Ich ſchwach, ſo habe Ich nur ſchwache
Mittel, wie die genannten, die aber dennoch für ein ziemlich
Theil Welt gut genug ſind. Ohnehin ſehen Betrug, Heuchelei,
Lüge ſchlimmer aus als ſie ſind. Wer hätte nicht die Polizei,
das Geſetz betrogen, wer hätte nicht vor dem begegnenden
Schergen ſchnell die Miene ehrſamer Loyalität vorgenommen,
um eine etwa begangene Ungeſetzlichkeit zu verbergen u. ſ. w. ?
Wer es nicht gethan hat, der hat ſich eben Gewalt anthun
laſſen: er war ein Schwächling aus — Gewiſſen. Meine
Freiheit weiß ich ſchon dadurch geſchmälert, daß Ich an einem
Andern (ſei dieß Andere ein Willenloſes, wie ein Fels, oder
ein Wollendes, wie eine Regierung, ein Einzelner u. ſ. w.)
meinen Willen nicht durchſetzen kann; meine Eigenheit ver¬
leugne Ich, wenn Ich Mich ſelbſt — Angeſichts des Andern
— aufgebe, d. h. nachgebe, abſtehe, Mich ergebe, alſo durch
Ergebenheit, Ergebung. Denn ein Anderes iſt es,
wenn Ich mein bisheriges Verfahren aufgebe, weil es nicht
zum Ziele führt, alſo ablenke von einem falſchen Wege, ein
Anderes, wenn Ich Mich gefangen gebe. Einen Felſen, der
Mir im Wege ſieht, umgehe Ich ſo lange, bis Ich Pulver
genug habe, ihn zu ſprengen; die Geſetze eines Volkes um¬
gehe Ich, bis Ich Kraft geſammelt habe, ſie zu ſtürzen. Weil
Ich den Mond nicht faſſen kann, ſoll er Mir darum „heilig“
ſein, eine Aſtarte? Könnte Ich Dich nur faſſen, Ich faßte
[219] Dich wahrlich, und finde Ich nur ein Mittel, zu Dir hinauf
zu kommen, Du ſollſt Mich nicht ſchrecken! Du Unbegreif¬
licher, Du ſollſt Mir nur ſo lange unbegreiflich bleiben, bis
Ich Mir die Gewalt des Begreifens erworben habe, Dich
mein eigen nenne; Ich gebe Mich nicht auf gegen Dich,
ſondern warte nur meine Zeit ab. Beſcheide Ich Mich auch
für jetzt, Dir etwas anhaben zu können, ſo gedenke Ich
Dir's doch!
Kräftige Menſchen haben's von jeher ſo gemacht. Hatten
die „Ergebenen“ eine unbezwungene Macht zu ihrer Herrin
erhoben und angebet, hatten ſie Anbetung von Allen verlangt,
ſo kam ein ſolcher Naturſohn, der ſich nicht ergeben wollte,
und jagte die angebetete Macht aus ihrem unerſteiglichen
Olymp. Er rief der laufenden Sonne ſein „Stehe“ zu, und
ließ die Erde kreiſen: die Ergebenen mußten ſich's gefallen
laſſen; er legte an die heiligen Eichen ſeine Art, und die
„Ergebenen“ ſtaunten, daß kein himmliſches Feuer ihn ver¬
zehre; er warf den Papſt vom Petersſtuhle, und die „Ergebe¬
nen“ wußten's nicht zu hindern; er reißt die Gottesgnaden¬
wirthſchaft nieder, und die „Ergebenen“ krächzen, um endlich
erfolglos zu verſtummen.
Meine Freiheit wird erſt vollkommen, wenn ſie meine —
Gewalt iſt; durch dieſe aber höre Ich auf, ein bloß Freier
zu ſein, und werde ein Eigener. Warum iſt die Freiheit der
Völker ein „hohles Wort“? Weil die Völker keine Gewalt
haben! Mit einem Hauch des lebendigen Ich's blaſe Ich
Völker um, und wär's der Hauch eines Nero, eines chineſi¬
ſchen Kaiſers oder eines armen Schriftſtellers. Warum ſchmach¬
ten denn die d . . . . . . . . Kammern vergeblich nach Freiheit,
und werden dafür von den Miniſtern geſchulmeiſtert? Weil
[220] ſie keine „Gewaltigen“ ſind! Die Gewalt iſt eine ſchöne
Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn „man kommt mit
einer Hand voll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht“.
Ihr ſehnt Euch nach der Freiheit? Ihr Thoren! Nähmet
Ihr die Gewalt, ſo käme die Freiheit von ſelbſt. Seht, wer
die Gewalt hat, der „ſteht über dem Geſetze“. Wie ſchmeckt
Euch dieſe Ausſicht, Ihr „geſetzlichen“ Leute? Ihr habt aber
keinen Geſchmack!
Laut erſchallt ringsum der Ruf nach „Freiheit“. Fühlt
und weiß man aber, was eine geſchenkte oder octroyirte Frei¬
heit zu bedeuten hat? Man erkennt es nicht in der ganzen
Fülle des Wortes, daß alle Freiheit weſentlich — Selbſtbe¬
freiung ſei, d. h. daß Ich nur ſo viel Freiheit haben kann,
als Ich durch meine Eigenheit Mir verſchaffe. Was nützt
den Schaafen, daß ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt?
Sie bleiben beim Blöken. Gebt einem, der innerlich ein Mu¬
hamedaner, ein Jude oder ein Chriſt iſt, die Erlaubniß zu
ſprechen, was er mag: er wird doch nur bornirtes Zeug vor¬
bringen. Rauben Euch dagegen gewiſſe Andere die Rede-
und Hörfreiheit, ſo verſtehen ſie ſich ganz richtig auf ihren
zeitweiligen Vortheil, da Ihr vielleicht etwas zu ſagen und zu
hören vermöchtet, wodurch jene „Gewiſſen“ um ihren Credit
kämen.
Wenn ſie Euch dennoch Freiheit geben, ſo ſind ſie eben
Schelme, die mehr geben, als ſie haben. Sie geben Euch
dann nämlich nichts von ihrem Eigenen, ſondern geſtohlene
Waare, geben Euch eure eigene Freiheit, die Freiheit, welche
Ihr Euch ſelbſt nehmen müßtet; und ſie geben ſie Euch nur,
damit Ihr ſie nicht nehmet, und die Diebe und Betrüger oben¬
ein zur Verantwortung zieht. In ihrer Schlauheit wiſſen ſie
[221] es wohl, daß die gegebene (octroyirte) Freiheit doch keine Frei¬
heit iſt, da nur die Freiheit, die man ſich nimmt, alſo die
Freiheit des Egoiſten, mit vollen Segeln ſchifft. Geſchenkte
Freiheit ſtreicht ſogleich die Segel, ſobald Sturm oder —
Windſtille eintritt: ſie muß immer — gelinde und mittelmäßig
angeblaſen werden.
Hier liegt der Unterſchied zwiſchen Selbſtbefreiung und
Emancipation (Freiſprechung, Freilaſſung). Wer heutigen Ta¬
ges „in der Oppoſition ſteht“, der lechzt und ſchreit nach
„Freilaſſung“. Die Fürſten ſollen ihre Völker für „mündig
erklären“ d. h. emancipiren! Betragt Euch als mündig, ſo
ſeid Ihr's ohne jene Mündigſprechung, und betragt Ihr Euch
nicht darnach, ſo ſeid Ihr's nicht werth, und wäret auch durch
Mündigſprechung nimmermehr mündig. Die mündigen Grie¬
chen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht
ſich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre
Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigſt bewilligten: ſie konnten
lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will,
wirft ein verſtändiger Vater aus dem Hauſe und behält das
Haus allein; dem Laſſen geſchieht Recht.
Der Freigegebene iſt eben nichts als ein Freigelaſſener,
ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitſchleppt: er
iſt ein Unfreier im Gewande der Freiheit, wie der Eſel in der
Löwenhaut. Emancipirte Juden ſind um nichts gebeſſert in
ſich, ſondern nur erleichtert als Juden, obgleich, wer ihren
Zuſtand erleichtert, allerdings mehr iſt als ein kirchlicher Chriſt,
da der Letztere dieß nicht ohne Inconſequenz vermag. Aber
emancipirter Jude oder nicht emancipirter: Jude bleibt Jude;
der Nicht-Selbſtbefreite iſt eben ein — Emancipirter. Der
proteſtantiſche Staat vermag allerdings die Katholiken freizu¬
[222] geben (zu emancipiren); weil ſie ſich aber nicht ſelbſt frei ma¬
chen, bleiben ſie eben — Katholiken.
Von Eigennutz und Uneigennützigkeit iſt oben ſchon ge¬
ſprochen worden. Die Freiheitsfreunde erboßen ſich gegen den
Eigennutz, weil ſie in ihrem religiöſen Freiheitsſtreben von der
erhabenen „Selbſtverleugnung“ ſich nicht — befreien können.
Dem Egoismus gilt der Zorn des Liberalen, denn der Egoiſt
bemüht ſich ja um eine Sache niemals der Sache wegen, ſon¬
dern ſeinetwegen: ihm muß die Sache dienen. Egoiſtiſch iſt
es, keiner Sache einen eigenen oder „abſoluten“ Werth beizu¬
legen, ſondern ihren Werth in Mir zu ſuchen. Zu den wider¬
lichſten Zügen egoiſtiſchen Betragens hört man häufig das ſo
gewöhnliche Brotſtudium zählen, weil es die ſchändlichſte Ent¬
weihung der Wiſſenſchaft bekunde; allein wozu iſt die Wiſſen¬
ſchaft als dazu, verbraucht zu werden? Wenn Einer ſie zu
nichts Beſſerem zu nutzen weiß, als zum Broterwerb, ſo iſt
ſein Egoismus zwar ein kleinlicher, weil die Macht dieſes
Egoiſten eine beſchränkte iſt, aber das Egoiſtiſche daran und
die Entweihung der Wiſſenſchaft kann nur ein Beſeſſener
tadeln.
Weil das Chriſtenthum, unfähig den Einzelnen als Ein¬
zigen gelten zu laſſen, ihn nur als Abhängigen dachte und
eigentlich nichts als eine Socialtheorie war, eine Lehre
des Zuſammenlebens, und zwar ſowohl des Menſchen mit
Gott als des Menſchen mit dem Menſchen: ſo mußte bei ihm
alles „Eigene“ in ärgſten Verruf kommen: Eigennutz, Eigen¬
ſinn, Eigenwille, Eigenheit, Eigenliebe u. ſ. w. Die chriſt¬
liche Anſchauungsweiſe hat überhaupt allmählich ehrliche Wör¬
ter zu unehrlichen umgeſtempelt; warum ſollte man ſie nicht
wieder zu Ehren bringen? So heißt „Schimpf“ im alten
[223] Sinne ſo viel als Scherz, für den chriſtlichen Ernſt ward aber
aus der Kurzweil eine Entbehrung, denn er verſteht keinen
Spaß; „Frech“ bedeutete früher nur kühn, tapfer: „Frevel“
war nur Wagniß. Bekannt iſt, wie ſcheel lange Zeit das
Wort „Vernunft“ angeſehen wurde.
Unſere Sprache hat ſich ſo ziemlich auf den chriſtlichen
Standpunkt eingerichtet, und das allgemeine Bewußtſein iſt noch
zu chriſtlich, um nicht vor allem Nichtchriſtlichen als vor einem
Unvollkommenen oder Böſen zurückzuſchrecken. Deshalb ſteht
es auch ſchlimm um den „Eigennutz“.
Eigennutz im chriſtlichen Sinne heißt etwa dieß: Ich ſehe
nur darauf, ob etwas Mir als ſinnlichem Menſchen nützt.
Iſt denn aber die Sinnlichkeit meine ganze Eigenheit? Bin
Ich bei Mir ſelbſt, wenn Ich der Sinnlichkeit hingegeben bin?
Folge Ich Mir ſelbſt, meiner eigenen Beſtimmung, wenn
Ich jener folge? Mein eigen bin Ich erſt, wenn nicht die
Sinnlichkeit, aber eben ſo wenig ein Anderer (Gott, Menſchen,
Obrigkeit, Geſetz, Staat, Kirche u. ſ. w.) Mich in der Gewalt
haben, ſondern Ich ſelbſt; was Mir, dieſem Selbſteigenen oder
Selbſtangehörigen, nützt, das verfolgt mein Eigennutz.
Uebrigens ſieht man ſich alle Augenblicke genöthigt, an
den Eigennutz, den allezeit geläſterten, als an eine Alles be¬
wältigende Macht zu glauben. In der Sitzung vom 10. Febr.
1844 begründet Welcker eine Motion auf die Abhängigkeit der
Richter und thut in einer ausführlichen Rede dar, daß entſetz¬
bare, entlaßbare, verſetzbare und penſionirbare Richter, kurz ſolche
Mitglieder eines Gerichtshofes, welche auf dem bloßen Admi¬
niſtrationswege verkürzt und gefährdet werden können, aller
Zuverläſſigkeit entbehren, ja aller Achtung und alles Vertrau¬
ens im Volke verluſtig gehen. Der ganze Richterſtand, ruft
[224] Welcker aus, iſt durch dieſe Abhängigkeit demoraliſirt! Mit
dürren Worten heißt dieß nichts anders, als daß die Richter
beſſer ihre Rechnung dabei finden, wenn ſie im miniſteriellen
Sinne Urtel fällen, als wenn ſie dieß nach geſetzlichem Sinne
thun. Wie ſoll dem abgeholfen werden? Etwa dadurch, daß
man den Richtern die Schmach ihrer Verkäuflichkeit zu Ge¬
müthe führt und dann das Vertrauen hegt, ſie werden in ſich
gehen und hinfort die Gerechtigkeit höher ſchätzen als ihren
Eigennutz? Nein, zu dieſem romantiſchen Vertrauen verſteigt
ſich das Volk nicht, denn es fühlt, daß der Eigennutz gewal¬
tiger ſei als jedes andere Motiv. Darum mögen dieſelben
Perſonen Richter bleiben, die dieß ſeither geweſen ſind, ſo ſehr
man ſich auch davon überzeugt hat, daß ſie als Egoiſten ver¬
fuhren; nur müſſen ſie ihren Eigennutz nicht länger durch die
Verkäuflichkeit des Rechtes gefördert finden, ſondern ſo unab¬
hängig von der Regierung daſtehen, daß ſie durch ein ſachge¬
mäßes Urtheil ihre eigene Sache, ihr „wohlverſtandenes Inter¬
eſſe“, nicht in Schatten ſtellen, vielmehr ein gutes Gehalt
und Achtung bei den Bürgern gemächlich mit einander ver¬
binden.
Alſo Welcker und die badiſchen Bürger halten ſich erſt für
geſichert, wenn ſie auf den Eigennutz rechnen können. Was
ſoll man ſich folglich von den unzähligen Uneigennützigkeits¬
phraſen denken, von denen ihr Mund ſonſt überſtrömt?
Zu einer Sache, die Ich eigennützig betreibe, habe Ich
ein anderes Verhältniß, als zu einer, welcher Ich uneigen¬
nützig diene. Man könnte folgendes Erkennungszeichen dafür
anführen: gegen jene kann Ich Mich verſündigen oder eine
Sünde begehen, die andere nur verſcherzen, von Mir
ſtoßen, Mich darum bringen, d. h. eine Unklugheit begehen.
[225] Beiderlei Betrachtungsweiſen erfährt die Handelsfreiheit, indem
ſie theils für eine Freiheit angeſehen wird, welche unter Um¬
ſtänden gewährt oder entzogen werden könne, theils für eine
ſolche, die unter allen Umſtänden heilig zu halten ſei.
Iſt Mir an einer Sache nicht an und für ſich gelegen
und begehre Ich ſie nicht um ihrer ſelbſt willen, ſo verlange
Ich ſie lediglich wegen ihrer Zweckdienlichkeit, Nützlichkeit,
um eines andern Zweckes willen, z. B. Auſtern zum Wohlge¬
ſchmack. Wird nun nicht dem Egoiſten jede Sache als Mittel
dienen, deſſen letzter Zweck er ſelber iſt, und ſoll er eine Sache
beſchützen, die ihm zu nichts dient, z. B. der Proletarier den
Staat?
Die Eigenheit ſchließt jedes Eigene in ſich und bringt
wieder zu Ehren, was die chriſtliche Sprache verunehrte. Die
Eigenheit hat aber auch keinen fremden Maaßſtab, wie ſie denn
überhaupt keine Idee iſt, gleich der Freiheit, Sittlichkeit,
Menſchlichkeit u. dgl.: ſie iſt nur eine Beſchreibung des —
Eigners.
15
II.
Der Eigner.
Ich — komme Ich zu Mir und dem Meinigen durch
den Liberalismus?
Wen ſieht der Liberale für Seinesgleichen an? Den Men¬
ſchen! Sei Du nur Menſch — und das biſt Du ja — ſo
nennt der Liberale Dich ſeinen Bruder. Er fragt nach dei¬
nen Privatmeinungen und Privatnarrheiten ſehr wenig, wenn
er nur den „Menſchen“ in Dir erblicken kann.
Da er aber deſſen wenig achtet, was Du privatim biſt,
ja bei ſtrenger Befolgung ſeines Princips gar keinen Werth
darauf legt, ſo ſieht er in Dir nur das, was Du generatim biſt.
Mit andern Worten; er ſieht in Dir nicht Dich, ſondern die
Gattung, nicht Hans oder Kunz, ſondern den Menſchen,
nicht den Wirklichen oder Einzigen, ſondern dein Weſen oder
deinen Begriff, nicht den Leibhaftigen, ſondern den Geiſt.
Als Hans wäreſt Du nicht Seinesgleichen, weil er Kunz,
alſo nicht Hans, iſt; als Menſch biſt Du daſſelbe, was er
iſt. Und da Du als Hans für ihn, ſoweit er nämlich ein
[227] Liberaler und nicht unbewußter Weiſe Egoiſt iſt, ſo gut als
gar nicht exiſtirſt, ſo hat er ſich die „Bruderliebe“ wahrlich
ſehr leicht gemacht: er liebt in Dir nicht den Hans, von wel¬
chem er nichts weiß und wiſſen will, ſondern den Menſchen.
In Dir und Mir nichts weiter zu ſehen, als „Menſchen“,
das heißt die chriſtliche Anſchauungsweiſe, wonach einer für
den andern nichts als ein Begriff (z. B. ein zur Seligkeit
Berufener u. ſ. w.) iſt, auf die Spitze treiben.
Das eigentliche Chriſtenthum ſammelt Uns noch unter
einem minder allgemeinen Begriffe: Wir ſind da „Kinder Got¬
tes“ und „der Geiſt Gottes treibet Uns“ *). Nicht Alle je¬
doch können ſich rühmen Gottes Kinder zu ſein, ſondern „der¬
ſelbige Geiſt, welcher Zeugniß giebt unſerem Geiſte, daß Wir
Gottes Kinder ſind, der offenbart auch, welche die Kinder des
Teufels ſind“ **). Mithin mußte ein Menſch, um Gottes
Kind zu ſein, nicht ein Kind des Teufels ſein; die Kindſchaft
Gottes excludirte gewiſſe Menſchen. Dagegen brauchen Wir,
um Menſchenkinder, d. h. Menſchen zu ſein, nichts als
zu der Menſchengattung zu gehören, brauchen nur Exem¬
plare derſelben Gattung zu ſein. Was Ich als dieſes Ich
bin, das geht Dich als guten Liberalen nichts an, ſondern iſt
allein meine Privatſache; genug, daß Wir beide Kinder ein
und derſelben Mutter, nämlich der Menſchengattung, ſind: als
„Menſchenkind“ bin Ich Deinesgleichen.
Was bin Ich Dir nun? Etwa dieſes leibhaftige Ich,
wie Ich gehe und ſtehe? Nichts weniger als das. Dieſes leib¬
haftige Ich mit ſeinen Gedanken, Entſchlüſſen und Leidenſchaf¬
15 *[228] ten iſt in deinen Augen eine „Privatſache“, welche Dich nichts
angeht, iſt eine „Sache für ſich“. Als eine „Sache für Dich“
exiſtirt nur mein Begriff, mein Gattungsbegriff, nur der
Menſch, der, wie er Hans heißt, eben ſo gut Peter oder
Michel ſein könnte. Du ſiehſt in Mir nicht Mich, den Leib¬
haftigen, ſondern ein Unwirkliches, den Spuk, d. h. einen
Menſchen.
Zu „Unſersgleichen“ erklärten Wir im Laufe der chriſtli¬
chen Jahrhunderte die Verſchiedenſten, aber jedesmal nach Maaß
desjenigen Geiſtes, den Wir von ihnen erwarteten, z. B.
Jeden, bei dem der Geiſt der Erlöſungsbedürftigkeit ſich vor¬
ausſetzen läßt, dann ſpäter Jeden, der den Geiſt der Recht¬
ſchaffenheit hat, endlich Jeden, der menſchlichen Geiſt und
ein menſchlich Antlitz zeigt. So variirte der Grundſatz der
„Gleichheit“.
Indem man nun die Gleichheit als Gleichheit des menſch¬
lichen Geiſtes auffaßt, hat man allerdings eine alle Men¬
ſchen einſchließende Gleichheit entdeckt; denn wer könnte leug¬
nen, daß Wir Menſchen einen menſchlichen, d. h. keinen
andern Geiſt als einen menſchlichen haben!
Aber ſind Wir darum nun weiter als im Anfange des
Chriſtenthums? Damals ſollten Wir einen göttlichen Geiſt
haben, jetzt einen menſchlichen; erſchöpfte Uns aber der
göttliche nicht, wie ſollte der menſchliche ganz das ausdrücken,
was Wir ſind? Feuerbach z. B. meint, wenn er das Gött¬
liche vermenſchliche, ſo habe er die Wahrheit gefunden. Nein,
hat Uns der Gott gequält, ſo iſt „der Menſch“ im Stande,
Uns noch martemder zu preſſen. Daß Wir's kurz ſagen: daß
Wir Menſchen ſind, das iſt das Geringſte an Uns und hat
nur Bedeutung, in ſo fern es eine unſerer Eigenſchaften,
[229] d. h. unſer Eigenthum iſt. Ich bin zwar unter anderm auch
ein Menſch, wie Ich z. B. ein lebendiges Weſen, alſo animal
oder Thier, oder ein Europäer, ein Berliner u. dergl. bin;
aber wer Mich nur als Menſchen oder als Berliner achten
wollte, der zollte Mir eine Mir ſehr gleichgültige Achtung.
Und weshalb? Weil er nur eine meiner Eigenſchaften
achtete, nicht Mich.
Gerade ſo verhält ſich's mit dem Geiſte auch. Ein
chriſtlicher, ein rechtſchaffener und ähnlicher Geiſt kann wohl
meine erworbene Eigenſchaft, d. h. mein Eigenthum, ſein,
Ich aber bin nicht dieſer Geiſt: er iſt mein, Ich nicht ſein.
Wir haben daher im Liberalismus nur die Fortſetzung
der alten chriſtlichen Geringachtung des Ich's, des leibhaftigen
Hanſen. Statt Mich zu nehmen, wie Ich bin, ſieht man
lediglich auf mein Eigenthum, meine Eigenſchaften und ſchließt
mit Mir einen ehrlichen Bund, nur um meines — Beſitz¬
thums willen; man heirathet gleichſam, was Ich habe, nicht
was Ich bin. Der Chriſt hält ſich an meinen Geiſt, der
Liberale an meine Menſchlichkeit.
Aber iſt der Geiſt, den man nicht als das Eigenthum
des leibhaftigen Ich's, ſondern als das eigentliche Ich ſelbſt
betrachtet, ein Geſpenſt, ſo iſt auch der Menſch, der nicht als
meine Eigenſchaft, ſondern als das eigentliche Ich anerkannt
wird, nichts als ein Spuk, ein Gedanke, ein Begriff.
Darum dreht ſich auch der Liberale in demſelben Kreiſe
wie der Chriſt herum. Weil der Geiſt des Menſchenthums,
d. h. der Menſch, in Dir wohnt, biſt Du ein Menſch, wie
Du, wenn der Geiſt Chriſti in Dir wohnt, ein Chriſt biſt;
aber weil er nur als ein zweites, wenngleich als dein eigent¬
liches oder „beſſeres“ Ich, in Dir wohnt, ſo bleibt er Dir
[230] jenſeitig, und Du mußt ſtreben, ganz der Menſch zu werden.
Ein eben ſo fruchtloſes Streben, als das des Chriſten, ganz
ſeliger Geiſt zu werden!
Jetzt, nachdem der Liberalismus den Menſchen proclamirt
hat, kann man es ausſprechen, daß damit nur die letzte Con¬
ſequenz des Chriſtenthums vollzogen wurde, und daß das Chri¬
ſtenthum in Wahrheit ſich von Haus aus keine andere Aus¬
gabe ſtellte, als „den Menſchen“, den „wahren Menſchen“ zu
realiſiren. Daher denn die Täuſchung, es lege das Chriſten¬
thum dem Ich einen unendlichen Werth bei, wie z.B. in der
Unſterblichkeitslehre, in der Seelſorge u. ſ. w. an den Tag
kommt. Nein, dieſen Werth ertheilt es allein dem Menſchen.
Nur der Menſch iſt unſterblich, und nur, weil Ich Menſch
bin, bin auch Ich's. In der That mußte das Chriſtenthum
lehren, daß Keiner verloren gehe, wie eben auch der Liberalis¬
mus Alle als Menſchen gleichgeſtellt; aber jene Ewigkeit, wie
dieſe Gleichheit, betraf nur den Menſchen in Mir, nicht
Mich. Nur als der Träger und Beherberger des Menſchen
ſterbe Ich nicht, wie bekanntlich „der König nicht ſtirbt“.
Ludwig ſtirbt, aber der König bleibt; Ich ſterbe, aber mein
Geiſt, der Menſch, bleibt. Um nun Mich ganz mit dem
Menſchen zu identificiren, hat man die Forderung erfunden und
geſtellt: Ich müſſe ein „wirkliches Gattungsweſen“ werden. *)
Die menſchlicheReligion iſt nur die letzte Meta¬
morphoſe der chriſtlichen Religion. Denn Religion iſt der Li¬
beralismus darum, weil er mein Weſen von Mir trennt und
über Mich ſtellt, weil er „den Menſchen“ in demſelben Maaße
erhöht, wie irgend eine andere Religion ihren Gott oder Götzen,
[231] weil el das Meinige zu einem Jenſeitigen, weil er überhaupt
aus dem Meinigen, aus meinen Eigenſchaften und meinem
Eigenthum, ein Fremdes, nämlich ein „Weſen“ macht, kurz,
weil er Mich unter den Menſchen ſtellt und Mir dadurch einen
„Beruf“ ſchafft; aber auch der Form nach erklärt ſich der Li¬
beralismus als Religion, wenn er für dieß höchſte Weſen, den
Menſchen, einen Glaubenseifer fordert, „einen Glauben, der
endlich auch einmal ſeinen Feuereifer beweiſen wird, einen
Eifer, der unüberwindlich ſein wird.“ *)Da der Liberalismus
aber menſchliche Religion iſt, ſo verhält ſich der Bekenner der¬
ſelben gegen den Bekenner jeder anderen (katholiſchen, jüdiſchen
u. ſ. w.) tolerant, wie Friedlich der Große gegen Jeden
ſich verhielt, der ſeine Unterthanenpfiichten verrichtet, welcher
Facon des Seligwerdens er auch zugethan ſein mochte. Dieſe
Religion ſoll jetzt zur allgemein üblichen erhoben und von den
andern als bloßen „Privatnarrheiten“, gegen die man übri¬
gens ſich wegen ihrer Unweſentlichkeit höchſt liberal verhält,
abgeſondert werden.
Man kann ſie die Staatsreligion, die Religion des
„freien Staates“ nennen, nicht in dem bisherigen Sinne, daß
ſie die vom Staate bevorzugte oder privilegirte ſei, ſondern als
diejenige Religion, welche der „freie Staat“ von jedem der
Seinigen, er ſei privatim Jude, Chriſt oder was ſonſt, zu for¬
dern nicht nur berechtigt, ſondern genöthigt iſt. Sie thut
nämlich dem Staate dieſelben Dienſte, wie die Pietät der Fa¬
milie. Soll die Familie von jedem der Ihrigen in ihrem Be¬
ſtande anerkannt und erhalten werden, ſo muß ihm das Band
des Blutes heilig, und ſein Gefühl dafür das der Pietät, des
[232] Reſpectes gegen die Blutsbande, ſein, wodurch ihm jeder Bluts¬
verwandte zu einem Geheiligten wird. So auch muß jedem
Gliede der Staatsgemeinde dieſe Gemeinde heilig, und der
Begriff, welcher dem Staate der höchſte iſt, gleichfalls der
höchſte ſein.
Welcher Begriff iſt aber dem Staate der höchſte? Doch
wohl der, eine wirklich menſchliche Geſellſchaft zu ſein, eine
Geſellſchaft, in welcher Jeder als Glied Aufnahme erhalten
kann, der wirklich Menſch, d. h. nicht Unmenſch, iſt. Gehe
die Toleranz eines Staates noch ſo weit, gegen einen Unmen¬
ſchen und gegen das Unmenſchliche hört ſie auf. Und doch
iſt dieſer „Unmenſch“ ein Menſch, doch iſt das „Unmenſch¬
liche“ ſelbſt etwas Menſchliches, ja nur einem Menſchen, kei¬
nem Thiere, möglich, iſt eben etwas „Menſchenmögliches“.
Obgleich aber jeder Unmenſch ein Menſch iſt, ſo ſchließt ihn
doch der Staat aus, d. h. er ſperrt ihn ein, oder verwandelt
ihn aus einem Staatsgenoſſen in einen Gefängnißgenoſſen
(Irrenhaus- oder Krankenhausgenoſſen nach dem Commu¬
nismus).
Mit dürren Worten zu ſagen, was ein Unmenſch ſei, hält
nicht eben ſchwer: es iſt ein Menſch, welcher dem Begriffe
Menſch nicht entſpricht, wie das Unmenſchliche ein Menſch¬
liches iſt, welches dem Begriffe des Menſchlichen nicht an¬
gemeſſen iſt. Die Logik nennt dieß ein „widerſinniges Urtheil“.
Dürfte man wohl dieß Urtheil, daß einer Menſch ſein könne,
ohne Menſch zu ſein, ausſprechen, wenn man nicht die Hypo¬
theſe gelten ließe, daß der Begriff des Menſchen von der Exi¬
ſtenz, das Weſen von der Erſcheinung getrennt ſein könne?
Man ſagt: der erſcheint zwar als Menſch, iſt aber kein
Menſch.
[233]
Dieß „widerſinnige Urtheil“ haben die Menſchen eine
lange Reihe von Jahrhunderten hindurch gefällt! Ja, was
noch mehr iſt, in dieſer langen Zeit gab es nur — Unmen¬
ſchen. Welcher Einzelne hätte ſeinem Begriffe entſprochen?
Das Chriſtenthum kennt nur Einen Menſchen, und dieſer Eine
— Chriſtus — iſt ſogleich wieder im umgekehrten Sinne ein
Unmenſch, nämlich ein übermenſchlicher Menſch, ein „Gott“.
Wirklicher Menſch iſt nur der — Unmenſch.
Menſchen, die keine Menſchen ſind, was wären ſie an¬
ders als Geſpenſter? Jeder wirkliche Menſch iſt, weil er
dem Begriffe „Menſch“ nicht entſpricht, oder weil er nicht
„Gattungsmenſch“ iſt, ein Spuk. Aber bleibe Ich auch dann
noch ein Unmenſch, wenn Ich den Menſchen, der nur als
mein Ideal, meine Aufgabe, mein Weſen oder Begriff über
Mich hinausragte und Mir jenſeitig blieb, zu meiner Mir
eigenen und inhärenten Eigenſchaft herabſetze, ſo daß der
Menſch nichts anderes iſt, als meine Menſchlichkeit, mein
Menſchſein, und alles, was Ich thue, gerade darum menſchlich
iſt, weil Ich's thue, nicht aber darum, weil es dem Begriffe
„Menſch“ entſpricht? Ich bin wirklich der Menſch und Unmenſch
in Einem; denn Ich bin Menſch und bin zugleich mehr als
Menſch, d. h. Ich bin das Ich dieſer meiner bloßen Eigenſchaft.
Es mußte endlich dahin kommen, daß man Uns nicht
mehr bloß zumuthete, Chriſten zu ſein, ſondern Menſchen zu
werden; denn obwohl Wir auch Chriſten niemals wirklich wer¬
den konnten, ſondern immer „arme Sünder“ blieben (der Chriſt
war ja eben auch ein unerreichbares Ideal), ſo kam dabei
doch die Widerſinnigkeit nicht ſo zum Bewußtſein und die Täu¬
ſchung war leichter, als jetzt, wo an Uns, die Wir Menſchen
ſind und menſchlich handeln, ja gar nicht anders können, als
[234] dieß zu ſein und ſo zu handeln, die Forderung geſtellt wird:
Wir ſollen Menſchen ſein, „wirkliche Menſchen“.
Unſere heutigen Staaten bürden zwar, weil ihnen von
ihrer kirchlichen Mutter noch allerhand anklebt, den Ihrigen
noch mancherlei Verpflichtungen auf (z. B. kirchliche Religio¬
ſität), die ſie, die Staaten, eigentlich nichts angehen; aber ſie
verleugnen doch im Ganzen ihre Bedeutung nicht, indem ſie
für menſchliche Geſellſchaften angeſehen werden wollen,
in welchen der Menſch als Menſch ein Glied ſein kann, wenn
er auch minder privilegirt iſt als andere Mitglieder; die meiſten
laſſen Anhänger jeder religiöſen Secte zu, und recipiren die
Leute ohne Racen- oder Nationalunterſchied: Juden, Türken,
Mohren u. ſ. w. können franzöſiſche Bürger werden. Der
Staat ſieht alſo bei der Aufnahme nur darauf, ob einer ein
Menſch ſei. Die Kirche, als eine Geſellſchaft von Gläubi¬
gen, konnte nicht jeden Menſchen in ihren Schooß aufnehmen;
der Staat, als eine Geſellſchaft von Menſchen, kann es. Aber
wenn der Staat ſein Princip, bei den Seinigen nichts voraus¬
zuſetzen, als daß ſie Menſchen ſeien, rein vollzogen hat (bis
jetzt ſetzen ſelbſt die Nordamerikaner bei den Ihrigen noch vor¬
aus, daß ſie Religion, wenigſtens die Religion der Recht¬
ſchaffenheit, der Honettetät, haben), dann hat er ſich ſein Grab
gegraben. Während er wähnen wird, an den Seinigen lauter
Menſchen zu beſitzen, ſind dieſe mittlerweile zu lauter Egoiſten
geworden, deren jeder ihn nach ſeinen egoiſtiſchen Kräften und
Zwecken benutzt. An den Egoiſten geht die „menſchliche Ge¬
ſellſchaft“ zu Grunde; denn ſie beziehen ſich nicht mehr als
Menſchen auf einander, ſondern treten egoiſtiſch als ein Ich
gegen ein von Mir durchaus verſchiedenes und gegneriſches
Du und Ihr auf.
[235]
Wenn der Staat auf unſere Menſchlichkeit rechnen muß,
ſo iſt's daſſelbe, wenn man ſagt: er müſſe auf unſere Sitt¬
lichkeit rechnen. In einander den Menſchen ſehen und gegen
einander als Menſchen handeln, das nennt man ein ſittliches
Verhalten. Es iſt das ganz und gar die „geiſtige Liebe“ des
Chriſtenthums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menſchen, wie
Ich in Mir den Menſchen, und nichts als den Menſchen ſehe,
ſo ſorge Ich für Dich, wie Ich für Mich ſorgen würde, denn
Wir ſtellen ja beide nichts als den mathematiſchen Satz vor:
A=C und B=C, folglich A=B, d. h. Ich nichts als
Menſch und Du nichts als Menſch, folglich Ich und Du
daſſelbe. Die Sittlichkeit verträgt ſich nicht mit dem Egois¬
mus, weil ſie nicht Mich, ſondern nur den Menſchen an Mir
gelten läßt. Iſt aber der Staat eine Geſellſchaft der
Menſchen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur ſich
im Auge hat, ſo kann er ohne Sittlichkeit nicht beſtehen und
muß auf Sittlichkeit halten.
Darum ſind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde.
Mir, dem Egoiſten, liegt das Wohl dieſer „menſchlichen Ge¬
ſellſchaft“ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze
ſie nur; um ſie aber vollſtändig benutzen zu können, verwandle
Ich ſie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geſchöpf, d. h.
Ich vernichte ſie und bilde an ihrer Stelle den Verein von
Egoiſten.
Alſo es verräth der Staat ſeine Feindſchaft gegen Mich
dadurch, daß er fordert, Ich ſoll Menſch ſein, was vorausſetzt,
daß Ich es auch nicht ſein und ihm für einen „Unmen¬
ſchen“ gelten könne: er legt Mir das Menſchſein als eine
Pflicht auf. Ferner verlangt er, daß Ich nichts thue, wobei
er nicht beſtehen könne; ſein Beſtand alſo ſoll Mir heilig
[236] ſein. Dann ſoll Ich kein Egoiſt, ſondern ein „honetter, recht¬
ſchaffener“, d. h. ſittlicher Menſch ſein. Genug, Ich ſoll
gegen ihn und ſeinen Beſtand ohnmächtig und reſpectvoll
ſein u. ſ. w.
Dieſer Staat, allerdings nicht ein gegenwärtiger, ſondern
des Erſchaffens erſt noch bedürftig, iſt das Ideal des fortſchrei¬
tenden Liberalismus. Es ſoll eine wahrhafte „Menſchengeſell¬
ſchaft“ entſtehen, worin jeder „Menſch“ Platz findet. Der
Liberalismus will „den Menſchen“ realiſiren, d. h. ihm eine
Welt ſchaffen, und dieß wäre die menſchliche Welt oder die
allgemeine (communiſtiſche) Menſchengeſellſchaft. Man ſagte:
„Die Kirche konnte nur den Geiſt, der Staat ſoll den ganzen
Menſchen berückſichtigen“*). Aber iſt „der Menſch“ nicht
„Geiſt“? Der Kern des Staates iſt eben „der Menſch“, dieſe
Unwirklichkeit, und er ſelber iſt nur „Menſchengeſellſchaft“.
Die Welt, welche der Gläubige (gläubige Geiſt) ſchafft, heißt
Kirche, die Welt, welche der Menſch (menſchliche oder humane
Geiſt) ſchafft, heißt Staat. Das iſt aber nicht meine Welt.
Ich verrichte nie in abstractoMenſchliches, ſondern immer
Eigenes, d. h. meine menſchliche That iſt von jeder andern
menſchlichen verſchieden und iſt nur durch dieſe Verſchiedenheit
eine wirkliche, Mir zugehörige That. Das Menſchliche an ihr
iſt eine Abſtraction, und als ſolches Geiſt, d. h. abſtrahirtes
Weſen.
Br. Bauer ſpricht es z. B. Judenfr. S. 84. aus, daß
die Wahrheit der Kritik die letzte, und zwar die vom Chriſten¬
thum ſelber geſuchte Wahrheit ſei, nämlich „der Menſch“. Er
ſagt: „die Geſchichte der chriſtlichen Welt iſt die Geſchichte
[237] des höchſten Wahrheitskampfes, denn in ihr — und nur in
ihr! — handelt es ſich um die Entdeckung der letzten oder der
erſten Wahrheit — des Menſchen und der Freiheit.“
Wohlan, laſſen Wir Uns dieſen Gewinn gefallen, und
nehmen Wir den Menſchen für das endlich gefundene Re¬
ſultat der chriſtlichen Geſchichte und überhaupt des religiöſen
oder idealen Strebens der Menſchen. Wer iſt nun der Menſch?
Ich bin es! Der Menſch, das Ende und Ergebniß des
Chriſtenthums, iſt als Ich der Anfang und das auszunutzende
Material der neuen Geſchichte, einer Geſchichte des Genuſſes
nach der Geſchichte der Aufopferungen, einer Geſchichte nicht
des Menſchen oder der Menſchheit, ſondern — Meiner.
Der Menſch gilt als das Allgemeine. Nun denn, Ich und
das Egoiſtiſche iſt das wirklich Allgemeine, da Jeder ein Egoiſt
iſt und ſich über alles geht. Das Jüdiſche iſt nicht das rein
Egoiſtiſche, weil der Jude ſich noch an Jehova hingiebt, das
Chriſtliche iſt es nicht, weil der Chriſt von der Gnade Gottes
lebt und ſich ihm unterwirft. Es befriedigt als Jude wie
als Chriſt ein Menſch nur gewiſſe ſeiner Bedürfniſſe, nur eine
gewiſſe Nothdurft, nicht ſich: ein halber Egoismus, weil
der Egoismus eines halben Menſchen, der halb er, halb Jude,
oder halb ſein Eigenthümer, halb ein Sklave iſt. Darum
ſchließen Jude und Chriſt ſich auch zur Hälfte immer aus,
d. h. als Menſchen erkennen ſie ſich an, als Sklaven ſchließen
ſie ſich aus, weil ſie zweier verſchiedener Herren Diener ſind.
Könnten ſie vollkommene Egoiſten ſein, ſo ſchlöſſen ſie ſich
ganz aus und hielten um ſo feſter zuſammen. Nicht daß ſie
ſich ausſchließen, iſt ihre Schmach, ſondern daß dieß nur halb
geſchieht. Dagegen meint Br. Bauer, als „Menſchen“ können
ſich Juden und Chriſten erſt betrachten und gegenſeitig behan¬
[238] deln, wenn ſie das beſondere Weſen, welches ſie trennt und
zu ewiger Abſonderung verpflichtet, aufgeben, das allgemeine
Weſen „des Menſchen“ anerkennen und als ihr „wahres We¬
ſen“ betrachten.
Nach ſeiner Darſtellung liegt der Fehler der Juden wie
der Chriſten darin, daß ſie etwas „Apartes“ ſein und haben
wollen, ſtatt nur Menſchen zu ſein und Menſchliches zu erſtre¬
ben, nämlich die „allgemeinen Menſchenrechte“. Er meint,
ihr Grundirrthum beſtehe in dem Glauben, ſie ſeien „privile¬
girt“, beſäßen „Vorrechte“, überhaupt in dem Glauben an
das Vorrecht. Dagegen hält er ihnen das allgemeine Men¬
ſchenrecht vor. Das Menſchenrecht! —
Der Menſch iſt der Menſch überhaupt und inſofern
Jeder, der Menſch iſt. Nun ſoll Jeder die ewigen Menſchen¬
rechte haben, und in der vollkommenen „Demokratie“ oder,
wie es richtiger heißen müßte — Anthropokratie, nach der
Meinung der Communiſten ſie genießen. Aber nur Ich habe
Alles, was Ich Mir — verſchaffe; als Menſch habe Ich
nichts. Man möchte jedem Menſchen alles Gute zufließen
laſſen, bloß weil er den Titel „Menſch“ hat. Ich aber lege
den Accent auf Mich, nicht daraus, daß Ich Menſch bin.
Der Menſch iſt nur etwas als meine Eigenſchaft
(Eigenthum), wie die Männlichkeit oder Weiblichkeit. Die
Alten fanden das Ideal darin, daß man im vollen Sinne
Mann ſei; ihre Tugend iſt virtus und arete, d. h. Männ¬
lichkeit. Was ſoll man von einem Weibe denken, die nur
vollkommen „Weib“ ſein wollte? Das iſt nicht jeder gegeben
und Manche würde ſich damit ein unerreichbares Ziel ſetzen.
Weiblich dagegen iſt ſie ohnehin, von Natur, die Weiblich¬
keit iſt ihre Eigenſchaft, und ſie braucht der „ächten Weiblich¬
[239] keit“ nicht. Ich bin Menſch, gerade ſo, wie die Erde Stern
iſt. So lächerlich es wäre der Erde die Aufgabe zu ſtellen,
ein „rechter Stern“ zu ſein, ſo lächerlich iſt's, Mir als Beruf
aufzubürden, ein „rechter Menſch“ zu ſein.
Wenn Fichte ſagt: „Das Ich iſt Alles“, ſo ſcheint dieß
mit meinen Aufſtellungen vollkommen zu harmoniren. Allein
nicht das Ich iſt Alles, ſondern das Ich zerſtört Alles, und
nur das ſich ſelbſt auflöſende Ich, das nie ſeiende Ich, das
— endliche Ich iſt wirklich Ich. Fichte ſpricht vom „abſo¬
luten“ Ich, Ich aber ſpreche von Mir, dem vergänglichen Ich.
Wie nahe liegt die Meinung, daß Menſch und Ich
daſſelbe ſagen, und doch ſieht man z. B. an Feuerbach, daß
der Ausdruck „Menſch“ das abſolute Ich, die Gattung, be¬
zeichnen ſoll, nicht das vergängliche, einzelne Ich. Egoismus
und Menſchlichkeit (Humanität) müßten das Gleiche bedeuten,
aber nach Feuerbach kann der Einzelne (das „Individuum“)
„ſich nur über die Schranken ſeiner Individualität erheben,
aber nicht über die Geſetze, die poſitiven Weſensbeſtimmungen
ſeiner Gattung“. *)Allein die Gattung iſt nichts, und wenn
der Einzelne ſich über die Schranken ſeiner Individualität er¬
hebt, ſo iſt dieß vielmehr gerade Er ſelbſt als Einzelner, er iſt
nur, indem er ſich erhebt, er iſt nur, indem er nicht bleibt,
was er iſt: ſonſt wäre er fertig, todt. Der Menſch iſt nur
ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes. Ein Menſch ſein,
heißt nicht das Ideal des Menſchen erfüllen, ſondern ſich,
den Einzelnen, darſtellen. Nicht, wie Ich das allgemein
Menſchliche realiſire, braucht meine Ausgabe zu ſein, ſon¬
dern wie Ich Mir ſelbſt genüge. Ich bin meine Gattung,
[240] bin ohne Norm, ohne Geſetz, ohne Muſter u. dgl. Möglich,
daß Ich aus Mir ſehr wenig machen kann; dieß Wenige iſt
aber Alles und iſt beſſer, als was Ich aus Mir machen laſſe
durch die Gewalt Anderer, durch die Dreſſur der Sitte, der
Religion, der Geſetze, des Staates u. ſ. w. Beſſer — wenn
einmal von Beſſer die Rede ſein ſoll — beſſer ein ungezoge¬
nes, als ein altkluges Kind, beſſer ein widerwilliger als ein
zu Allem williger Menſch. Der Ungezogene und Widerwillige
befindet ſich noch auf dem Wege, nach ſeinem eigenen Willen
ſich zu bilden; der Altkluge und Willige wird durch die „Gat¬
tung“, die allgemeinen Anforderungen u. ſ. w. beſtimmt, ſie
iſt ihm Geſetz. Er wird dadurch beſtimmt: denn, was iſt
ihm die Gattung anders, als ſeine „Beſtimmung“, ſein „Be¬
ruf“? Ob Ich auf die „Menſchheit“, die Gattung, blicke,
um dieſem Ideal nachzuſtreben, oder auf Gott und Chriſtus
mit gleichem Streben: wie wäre darin eine weſentliche Ver¬
ſchiedenheit? Höchſtens iſt jenes verwaſchener, als dieſes.
Wie der Einzelne die ganze Natur, ſo iſt er auch die ganze
Gattung.
Durch das, was Ich bin, iſt allerdings alles bedingt,
was Ich thue, denke u. ſ. w., kurz meine Aeußerung oder
Offenbarung. Der Jude z. B. kann nur ſo oder ſo wollen,
kann nur ſo „ſich geben“; der Chriſt kann ſich nur chriſtlich
geben und offenbaren u. ſ. w. Wäre es möglich, daß Du
Jude oder Chriſt ſein könnteſt, ſo brächteſt Du freilich nur
Jüdiſches oder Chriſtliches zu Tage; allein es iſt nicht mög¬
lich, Du bleibſt beim ſtrengſten Wandel doch ein Egoiſt, ein
Sünder gegen jenen Begriff, d. h. Du biſt nicht — Jude.
Weil nun immer das Egoiſtiſche wieder durchblickt, ſo hat man
nach einem vollkommneren Begriffe gefragt, der wirklich ganz
[241] ausdrückte, was Du biſt, und der, weil er deine wahre Natur
iſt, alle Geſetze deiner Bethätigung enthielte. Das Vollkom¬
menſte der Art hat man im „Menſchen“ erreicht. Als Jude
biſt Du zu wenig und das Jüdiſche iſt nicht deine Aufgabe;
ein Grieche, ein Deutſcher zu ſein, reicht nicht aus. Aber ſei
ein — Menſch, dann haſt Du alles; das Menſchliche ſieh' als
deinen Beruf an.
Nun weiß Ich, was Ich ſoll, und der neue Katechismus
kann abgefaßt werden. Wieder iſt das Subject dem Prädi¬
cate unterworfen, der Einzelne einem Allgemeinen; wieder iſt
einer Idee die Herrſchaft geſichert und zu einer neuen Reli¬
gion der Grund gelegt. Es iſt dieß ein Fortſchritt im
religiöſen, und ſpeciell im chriſtlichen Gebiete, kein Schritt über
daſſelbe hinaus.
Der Schritt darüber hinaus führt ins Unſagbare. Für
Mich hat die armſelige Sprache kein Wort, und „das Wort“,
der Logos, iſt Mir ein „bloßes Wort“.
Man ſucht mein Weſen. Iſt's nicht der Jude, der
Deutſche u. ſ. w., ſo doch — der Menſch. „Der Menſch iſt
mein Weſen.“
Ich bin Mir zuwider oder widerwärtig; Mir graut und
ekelt vor Mir, Ich bin Mir ein Gräuel, oder Ich bin Mir
nie genug und thue Mir nie genug. Aus ſolchen Gefühlen
entſpringt die Selbſtauflöſung oder Selbſtkritik. Mit der Selbſt¬
verleugnung beginnt, mit der vollendeten Kritik ſchließt die
Religioſität.
Ich bin beſeſſen und will den „böſen Geiſt“ loswerden.
Wie fange Ich's an? Ich begehe getroſt die Sünde, welche
dem Chriſten die ärgſte ſcheint, die Sünde und Läſterung
wider den heiligen Geiſt. „Wer den heiligen Geiſt läſtert, der
16[242] hat keine Vergebung ewiglich, ſondern iſt ſchuldig des ewigen
Gerichts!“ *)Ich will keine Vergebung und fürchte Mich
nicht vor dem Gerichte.
Der Menſch iſt der letzte böſe Geiſt oder Spuk, der
täuſchendſte oder vertrauteſte, der ſchlaueſte Lügner mit ehrlicher
Miene, der Vater der Lügen.
Indem der Egoiſt ſich gegen die Anmuthungen und Be¬
griffe der Gegenwart wendet, vollzieht er unbarmherzig die
maaßloſeſte — Entheiligung. Nichts iſt ihm heilig!
Es wäre thöricht zu behaupten, es gäbe keine Macht über
der meinigen. Nur die Stellung, welche Ich Mir zu derſelben
gebe, wird eine durchaus andere ſein, als ſie im religiöſen
Zeitalter war: Ich werde der Feind jeder höheren Macht ſein,
während die Religion lehrt, ſie Uns zur Freundin zu machen
und demüthig gegen ſie zu ſein.
Der Entheiliger ſpannt ſeine Kraft gegen jede Got¬
tesfurcht, denn Gottesfurcht würde ihn in allem beſtimmen,
was er als heilig beſtehen ließe. Ob am Gottmenſchen der
Gott oder der Menſch die heiligende Macht übe, ob alſo etwas
um Gottes oder um des Menſchen (der Humanität) willen
heilig gehalten werde, das ändert die Gottesfurcht nicht, da
der Menſch ſo gut als „höchſtes Weſen“ verehrt wird, als
auf dem ſpeciell religiöſen Standpunkte der Gott als „höchſtes
Weſen“ unſere Furcht und Ehrfurcht verlangt, und beide Uns
imponiren.
Die eigentliche Gottesfurcht hat längſt eine Erſchütterung
erlitten, und ein mehr oder weniger bewußter „Atheismus“,
[243] äußerlich an einer weit verbreiteten „Unkirchlichkeit“ erkennbar,
iſt unwillkührlich Ton geworden. Allein, was dem Gott ge¬
nommen wurde, iſt dem Menſchen zugeſetzt worden, und die
Macht der Humanität vergrößerte ſich in eben dem Grade, als
die der Frömmigkeit an Gewicht verlor: „der Menſch“ iſt der
heutige Gott, und Menſchenfurcht an die Stelle der alten
Gottesfurcht getreten.
Weil aber der Menſch nur ein anderes höchſtes Weſen
vorſtellt, ſo iſt in der That am höchſten Weſen nichts als eine
Metamorphoſe vor ſich gegangen und die Menſchenfurcht bloß
eine veränderte Geſtalt der Gottesfurcht.
Unſere Atheiſten ſind fromme Leute.
Trugen Wir in der ſogenannten Feudalzeit Alles von Gott
zu Lehen, ſo findet in der liberalen Periode daſſelbe Lehns¬
verhältniß mit dem Menſchen ſtatt. Gott war der Herr, jetzt
iſt der Menſch der Herr; Gott war der Mittler, jetzt iſt's der
Menſch; Gott war der Geiſt, jetzt iſt's der Menſch. In dieſer
dreifachen Beziehung hat das Lehnsverhältniß eine Umgeſtal¬
tung erfahren. Wir tragen jetzt nämlich erſtens von dem all¬
mächtigen Menſchen zu Lehen unſere Macht, die, weil ſie von
einem Höheren kommt, nicht Macht oder Gewalt, ſondern
„Recht“ heißt: das „Menſchenrecht“; Wir tragen ferner von
ihm unſere Weltſtellung zu Lehen, denn er, der Mittler, ver¬
mittelt unſern Verkehr, der darum nicht anders als „menſch¬
lich“ ſein darf; endlich tragen Wir von ihm Uns ſelbſt zu
Lehen, nämlich unſeren eigenen Werth oder alles, was Wir
werth ſind, da Wir eben nichts werth ſind, wenn er nicht in
Uns wohnt, und wenn oder wo Wir nicht „menſchlich“ ſind.
— Die Macht iſt des Menſchen, die Welt iſt des Menſchen,
Ich bin des Menſchen.
16*[244]
Wie aber, bleibt Mir's nicht unbenommen, Mich zum
Berechtiger, zum Mittler und zum eigenen Selbſt zu erklären?
Dann lautet es alſo:
Meine Macht iſt mein Eigenthum.
Meine Macht giebt Mir Eigenthum.
Meine Macht bin Ich ſelbſt und bin durch ſie mein
Eigenthum.
I. Meine Macht.
Das Recht iſt der Geiſt der Geſellſchaft. Hat die
Geſellſchaft einen Willen, ſo iſt dieſer Wille eben das Recht:
ſie beſteht nur durch das Recht. Da ſie aber nur dadurch
beſteht, daß ſie über die Einzelnen eine Herrſchaft übt, ſo
iſt das Recht ihr Herrſcherwille. Ariſtoteles ſagt, Gerech¬
tigkeit ſei der Nutzen der Geſellſchaft.
Alles beſtehende Recht iſt — fremdes Recht, iſt Recht,
welches man Mir „giebt“, Mir „widerfahren läßt“. Hätte
Ich aber darum Recht, wenn alle Welt Mir Recht gäbe? Und
doch, was iſt das Recht, das Ich im Staate, in der Geſell¬
ſchaft, erlange, anders, als ein Recht von Fremden? Wenn
ein Dummkopf Mir Recht giebt, ſo werde Ich mißtrauiſch ge¬
gen mein Recht; Ich mag ſein Rechtgeben nicht. Aber auch wenn
ein Weiſer Mir Recht giebt, habe Ich's darum doch noch nicht.
Ob Ich Recht habe, iſt völlig unabhängig von dem Rechtgeben
des Thoren und des Weiſen.
Gleichwohl haben Wir bis jetzt nach dieſem Rechte ge¬
trachtet. Wir ſuchen Recht und wenden Uns zu dem Zwecke
[245] ans Gericht. An welches? An ein königliches, ein päpſt¬
liches, ein Volksgericht u. ſ. w. Kann ein ſultaniſches Ge¬
richt ein anderes Recht ſprechen, als dasjenige, welches der
Sultan zu Recht verordnet hat? Kann es Mir Recht geben,
wenn Ich ein Recht ſuche, das nicht mit dem Sultansrechte
ſtimmt? Kann es Mir z. B. den Hochverrath als ein Recht
einräumen, da er doch nach des Sultans Sinne kein Recht
iſt? Kann es als Cenſurgericht Mir die freie Meinungs¬
äußerung als Recht gewähren, da der Sultan von dieſem
meinem Rechte nichts wiſſen will? Was ſuche Ich alſo bei
dieſem Gerichte? Ich ſuche ſultaniſches Recht, nicht mein
Recht; Ich ſuche — fremdes Recht. So lange dieß fremde
Recht mit dem meinigen übereinſtimmt, werde Ich freilich auch
das letztere bei ihm finden.
Der Staat läßt nicht zu, daß man Mann an Mann an ein¬
ander gerathe; er widerſetzt ſich dem Zweikampf. Selbſt jede
Prügelei, zu der doch keiner der Kämpfenden die Polizei ruft,
wird geſtraft, es ſei denn, daß nicht ein Ich auf ein Du los¬
prügele, ſondern etwa ein Familienhaupt auf das Kind:
die Familie iſt berechtigt, und in ihrem Namen der Vater,
Ich als Einziger bin es nicht.
Die Voſſiſche Zeitung präſentirt Uns den „Rechtsſtaat“.
Da ſoll Alles durch den Richter und ein Gericht entſchieden
werden. Das Ober-Cenſur-Gericht gilt ihr für ein „Gericht“,
wo „Recht geſprochen wird“. Was für ein Recht? Das
Recht der Cenſur. Um die Rechtsſprüche jenes Gerichts für
Recht anzuerkennen, muß man die Cenſur für Recht halten.
Man meint aber gleichwohl, dieß Gericht biete einen Schutz.
Ja Schutz gegen den Irrthum eines einzelnen Cenſors: es
ſchützt nur den Cenſurgeſetzgeber vor falſcher Auslegung ſeines
[246] Willens, macht aber gegen die Schreibenden ſein Geſetz um
ſo feſter durch die „heilige Macht des Rechts.“
Ob Ich Recht habe oder nicht, darüber giebt es keinen
andern Richter, als Mich ſelbſt. Darüber nur können An¬
dere urtheilen und richten, ob ſie meinem Rechte beiſtimmen,
und ob es auch für ſie als Recht beſtehe.
Faſſen Wir inzwiſchen die Sache noch anders. Ich ſoll
das ſultaniſche Recht verehren im Sultanat, das Volksrecht
in Republiken, das kanoniſche Recht in katholiſcher Gemeinde
u. ſ. w. Dieſen Rechten ſoll Ich Mich unterordnen, ſoll ſie
für heilig halten. Ein „Rechtsſinn“ und „rechtlicher Sinn“
ſolcher Art ſteckt den Leuten ſo feſt im Kopfe, daß die Revo¬
lutionairſten unſerer Tage Uns einem neuen „heiligen Rechte“
unterwerfen wollen, dem „Rechte der Geſellſchaft“, der Societät,
dem Rechte der Menſchheit, dem „Rechte Aller“ u. dergl.
Das Recht „Aller“ ſoll meinem Rechte vorgehen. Als ein
Recht Aller wäre es allerdings auch mein Recht, da Ich zu
Allen mitgehöre; allein, daß es zugleich ein Recht Anderer
oder gar aller Andern iſt, das bewegt Mich nicht zur Auf¬
rechthaltung deſſelben. Nicht als ein Recht Aller werde
Ich es vertheidigen, ſondern als mein Recht, und jeder An¬
dere mag dann zuſehen, wie er ſich's gleichfalls bewahre.
Das Recht Aller (z. B. zu eſſen) iſt ein Recht jedes Einzel¬
nen. Halte ſich Jeder dieß Recht unverkümmert, ſo üben es
von ſelbſt Alle; aber ſorge er doch nicht für Alle, ereifere er
ſich dafür nicht als für ein Recht Aller.
Aber die Socialreformer pretigen Uns ein „Geſell¬
ſchaftsrecht“. Da wird der Einzelne der Sklave der Ge¬
ſellſchaft, und hat nur Recht, wenn ihm die Geſellſchaft Recht
giebt, d. h. wenn er nach den Geſetzen der Geſellſchaft
[247] lebt, alſo — loyal iſt. Ob Ich loyal bin in einer Despotie
oder in einer Weitlingſchen „Geſellſchaft“, das iſt dieſelbe Recht¬
loſigkeit, inſofern Ich in beiden Fällen nicht mein, ſondern
fremdes Recht habe.
Beim Rechte fragt man immer: „Was oder Wer giebt
Mir das Recht dazu?“ Antwort: Gott, die Liebe, die Ver¬
nunft, die Natur, die Humanität u. ſ. w. Nein, nur deine
Gewalt, deine Macht giebt Dir das Recht (deine Vernunft
z. B. kann Dir's geben).
Der Communismus, welcher annimmt, daß die Menſchen
„von Natur gleiche Rechte haben“, widerlegt ſeinen eigenen Satz da¬
hin, daß die Menſchen von Natur gar kein Recht haben. Denn er
will z. B. nicht anerkennen, daß die Aeltern „von Natur“ Rechte
gegen die Kinder haben oder dieſe gegen jene: er hebt die Familie
auf. Die Natur giebt den Aeltern, Geſchwiſtern u. ſ. w. gar kein
Recht. Ueberhaupt beruht dieſer ganze revolutionnaire oder Ba¬
beufſche Grundſatz *)einer religiöſen, d. h. falſchen An¬
ſchauung. Wer kann, wenn er ſich nicht auch auf dem reli¬
giöſen Standpunkte befindet, nach dem „Rechte“ fragen? Iſt
„das Recht“ nicht ein religiöſer Begriff, d. h. etwas Heiliges?
„Rechtsgleichheit“, wie ſie die Revolution aufſtellte, iſt
ja nur eine andere Form für die „chriſtliche Gleichheit“, die
„Gleichheit der Brüder, der Kinder Gottes, der Chriſten u. ſ. w.“,
kurz fraternité. Alle und jede Frage nach dem Rechte ver¬
dient mit Schillers Worten gegeißelt zu werden:
Als die Revolution die Gleichheit zu einem „Rechte“
ſtempelte, flüchtete ſie ins religiöſe Gebiet, in die Region des
Heiligen, des Ideals. Daher ſeitdem der Kampf um die „hei¬
ligen, unveräußerlichen Menſchenrechte“. Gegen das „ewige
Menſchenrecht“ wird ganz natürlich und gleichberechtigt das
„wohlerworbene Recht des Beſtehenden“ geltend gemacht: Recht
gegen Recht, wo natürlich eines vom andern als „Unrecht“
verſchrieen wird. Das iſt der Rechtsſtreit ſeit der Revo¬
lution.
Ihr wollt gegen die Andern „im Rechte ſein“. Das
könnt Ihr nicht, gegen ſie bleibt Ihr ewig „im Unrecht“;
denn ſie wären ja eure Gegner nicht, wenn ſie nicht auch in
„ihrem Rechte“ wären: ſie werden Euch ſtets „Unrecht geben“.
Aber euer Recht iſt gegen das der Anderen ein höheres, größe¬
res, mächtigeres, nicht ſo? Mit Nichten! Euer Recht iſt
nicht mächtiger, wenn Ihr nicht mächtiger ſeid. Haben chine¬
ſiſche Unterthanen ein Recht auf Freiheit? Schenkt ſie ihnen
doch, und ſeht dann zu, wie ſehr Ihr Euch darin vergriffen
habt: weil ſie die Freiheit nicht zu nutzen wiſſen, darum ha¬
ben ſie kein Recht darauf, oder deutlicher, weil ſie die Freiheit
nicht haben, haben ſie eben das Recht dazu nicht. Kinder ha¬
ben kein Recht auf die Mündigkeit, weil ſie nicht mündig ſind,
d. h. weil ſie Kinder ſind. Völker, die ſich in Unmündigkeit
halten laſſen, haben kein Recht auf Mündigkeit; hörten ſie auf,
unmündig zu ſein, dann erſt hätten ſie das Recht, mündig zu
ſein. Dieß heißt nichts anderes, als: was Du zu ſein die
Macht haſt, dazu haſt Du das Recht. Ich leite alles Recht
und alle Berechtigung aus Mir her; Ich bin zu allem berech¬
tigt, deſſen Ich mächtig bin. Ich bin berechtigt, Zeus, Je¬
hova, Gott u. ſ. w. zu ſtürzen, wenn Ich's kann; kann
[249] Ich's nicht, ſo werden dieſe Götter ſtets gegen Mich im Rechte
und in der Macht bleiben, Ich aber werde Mich vor ihrem
Rechte und ihrer Macht fürchten in ohnmächtiger „Gottes¬
furcht“, werde ihre Gebote halten und in Allem, was Ich
nach ihrem Rechte thue, Recht zu thun glauben, wie etwa
die ruſſiſchen Grenzwächter ſich für berechtigt halten, die ent¬
rinnenden Verdächtigen todt zu ſchießen, indem ſie „auf höhere
Autorität“, d. h. „mit Recht“ morden. Ich aber bin durch
Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir's ſelbſt nicht ver¬
biete, wenn Ich ſelbſt Mich nicht vorm Morde als vor einem
„Unrecht“ fürchte. Dieſe Anſchauung liegt Chamiſſo's Ge¬
dichte „das Mordthal“ zu Grunde, wo der ergraute indianiſche
Mörder dem Weißen, deſſen Mitbrüder er gemordet, Ehrfurcht
abzwingt. Ich bin nur zu Dem nicht berechtigt, was Ich
nicht mit freiem Muthe thue, d. h. wozu Ich Mich nicht
berechtige.
Ich entſcheide, ob es in Mir das Rechte iſt; außer
Mir giebt es kein Recht. Iſt es Mir recht, ſo iſt es recht.
Möglich, daß es darum den Andern noch nicht recht iſt; das
iſt ihre Sorge, nicht meine: ſie mögen ſich wehren. Und
wäre etwas der ganzen Welt nicht recht, Mir aber wäre
es recht, d. h. Ich wollte es, ſo früge Ich nach der ganzen
Welt nichts. So macht es Jeder, der ſich zu ſchätzen weiß,
Jeder in dem Grade, als er Egoiſt iſt, denn Gewalt geht vor
Recht, und zwar — mit vollem Rechte.
Weil Ich „von Natur“ ein Menſch bin, habe Ich ein
gleiches Recht auf den Genuß aller Güter, ſagt Babeuf.
Müßte er nicht auch ſagen: weil Ich „von Natur“ ein erſt¬
geborener Prinz bin, habe Ich ein Recht auf den Thron?
Die Menſchenrechte und die „wohlerworbenen Rechte“ kommen
[250] auf daſſelbe hinaus, nämlich auf die Natur, welche Mir ein
Recht giebt, d.h. auf die Geburt (und weiter die Erb¬
ſchaft u. ſ. w.). Ich bin als Menſch geboren iſt gleich: Ich
bin als Königsſohn geboren. Der natürliche Menſch hat nur
ein natürliches Recht, weil Macht, und natürliche Anſprüche:
er hat Geburtsrecht und Geburtsanſprüche. Die Natur aber
kann Mich zu dem nicht berechtigen, d. h. befähigen oder ge¬
waltig machen, wozu Mich nur meine That berechtigt. Daß
das Königskind ſich über andere Kinder ſtellt, das iſt ſchon
ſeine That, die ihm den Vorzug ſichert, und daß die anderen
Kinder dieſe That billigen und anerkennen, das iſt ihre That,
die ſie würdig macht — Unterthanen zu ſein.
Ob Mir die Natur ein Recht giebt, oder Gott, die Volks¬
wahl u. ſ. w., das iſt Alles daſſelbe fremde Recht, iſt ein
Recht, das Ich Mir nicht gebe oder nehme.
So ſagen die Communiſten: die gleiche Arbeit berechtige
die Menſchen zu gleichem Genuſſe. Früher warf man die
Frage auf, ob nicht der „Tugendhafte“ auf Erden „glücklich“
ſein müſſe. Die Juden folgerten auch wirklich ſo: „Auf daß
Dir's wohlgehe auf Erben.“ Nein, die gleiche Arbeit berech¬
tigt Dich nicht dazu, ſondern der gleiche Genuß allein berech¬
tigt Dich zum gleichen Genuß. Genieße, ſo biſt Du zum
Genuß berechtigt. Haſt Du aber gearbeitet und läſſeſt Dir
den Genuß entziehen, ſo — „geſchieht Dir Recht“.
Wenn Ihr den Genuß nehmt, ſo iſt er euer Recht;
ſchmachtet Ihr hingegen nur darnach, ohne zuzugreifen, ſo
bleibt er nach wie vor ein „wohlerworbenes Recht“ derer,
welche für den Genuß privilegirt ſind. Er iſt ihr Recht, wie
er durch Zugreifen euer Recht würde.
[251]
In heftiger Bewegung ſchwankt der Streit um das „Recht
des Eigenthums“. Die Communiſten behaupten*): „die Erde
gehört rechtlich demjenigen, der ſie bebaut, und die Producte
derſelben denjenigen, die ſie hervorbringen.“ Ich meine, ſie
gehört dem, der ſie zu nehmen weiß, oder, der ſie ſich nicht
nehmen, ſich nicht darum bringen läßt. Eignet er ſie ſich an,
ſo gehört ihm nicht bloß die Erde, ſondern auch das Recht
dazu. Dieß iſt das egoiſtiſche Recht, d.h. Mir iſt's ſo
recht, darum iſt es Recht.
Sonſt hat eben das Recht „eine wächſerne Naſe“. Der
Tiger, der Mich anfällt, hat Recht, und Ich, der ihn nieder¬
ſtößt, habe auch Recht. Nicht mein Recht wahre Ich gegen
ihn, ſondern Mich.
Da das menſchliche Recht immer ein Gegebenes iſt, ſo
läuft es in Wirklichkeit immer auf das Recht hinaus, welches
die Menſchen einander geben, d. h. „einräumen“. Räumt
man den neugeborenen Kindern das Recht der Exiſtenz ein, ſo
haben ſie das Recht; räumt man's ihnen nicht ein, wie dieß
bei den Spartanern und alten Römern der Fall war, ſo haben
ſie's nicht. Denn geben oder „einräumen“ kann es ihnen
nur die Geſellſchaft, nicht ſie ſelbſt können es nehmen oder
ſich geben. Man wird einwenden: die Kinder hatten dennoch
„von Natur“ das Recht zu exiſtiren; nur verſagten die Spar¬
taner dieſem Rechte die Anerkennung. Aber ſo hatten ſie
eben kein Recht auf dieſe Anerkennung, ſo wenig als ſie ein
Recht darauf hatten, daß die wilden Thiere, denen ſie vorge¬
worfen wurden, ihr Leben anerkennen ſollten.
[252]
Man ſpricht ſo viel vom angebornen Rechte und klagt:
Was für ein Recht wäre denn mit Mir geboren? Das
Recht, Majoratsherr zu werden, einen Thron zu erben, eine
prinzliche oder adlige Erziehung zu genießen, oder auch, weil
Mich arme Aeltern zeugten, — Freiſchule zu bekommen, aus
Almoſenbeiträgen gekleidet zu werden, und endlich in den Koh¬
lenbergwerken oder am Weberſtuhle Mir mein Brod und mei¬
nen Hering zu verdienen? Sind das nicht angeborene Rechte,
Rechte, die von meinen Aeltern her durch die Geburt auf
Mich gekommen ſind? Ihr meint: nein; Ihr meint, dieß
ſeien nur mißbräuchlich ſogenannte Rechte, es ſeien eben jene
Rechte, welche Ihr durch das wirklich angeborene Recht
abzuſchaffen trachtet. Dieß zu begründen, geht Ihr auf das
Einfachſte zurück und behauptet, Jeder ſei durch die Geburt
dem Andern gleich, nämlich ein Menſch. Ich will Euch
zugeben, daß Jeder als Menſch geboren werde, mithin die
Neugeborenen einander darin gleich ſeien. Warum ſind ſie's?
Nur deshalb, weil ſie ſich noch als nichts Anderes zeigen und
bethätigen, als eben als bloße — Menſchenkinder, nackte
Menſchlein. Dadurch ſind ſie aber ſogleich verſchieden von
denen, welche bereits etwas aus ſich gemacht haben und nicht
mehr bloße „Menſchenkinder“ ſind, ſondern — Kinder ihrer eige¬
nen Schöpfung. Die letzteren beſitzen mehr als bloß ange¬
borene Rechte: ſie haben Rechte erworben. Welch' ein
Gegenſatz, welch' ein Kampffeld! Der alte Kampf der ange¬
borenen Menſchenrechte und der wohlerworbenen Rechte. Be¬
ruft Euch immerhin auf eure angeborenen Rechte; man wird
nicht ermangeln, die wohlerworbenen Euch entgegenzuſtellen.
[253]
Beide ſtehen auf dem „Rechtsboden“, denn jeder von beiden
hat ein „Recht“ gegen den Andern, der Eine das angeborene
oder natürliche, der Andere das erworbene oder „wohlerworbene“.
Bleibt Ihr auf dem Rechtsboden, ſo bleibt Ihr bei der
— Rechthaberei *). Der Andere kann Euch euer Recht nicht
geben, er kann Euch nicht „Recht widerfahren laſſen“. Wer
die Gewalt hat, der hat — Recht; habt Ihr jene nicht, ſo
habt Ihr auch dieſes nicht. Iſt dieſe Weisheit ſo ſchwer zu
erlangen? Seht doch die Gewaltigen und ihr Thun an!
Wir reden hier natürlich nur von China und Japan. Ver¬
ſucht's einmal, Ihr Chineſen und Japaneſen, ihnen Unrecht
zu geben, und erfahrt's, wie ſie Euch in den Kerker werfen.
(Verwechſelt damit nur nicht die „wohlmeinenden Rathſchläge“,
die — in China und Japan — erlaubt ſind, weil ſie den
Gewaltigen nicht hemmen, ſondern, möglicher Weiſe, fördern.)
Wer ihnen Unrecht geben wollte, dem ſtünde dazu nur Ein
Weg offen, der der Gewalt. Bringt er ſie um ihre Gewalt,
dann hat er ihnen wirklich Unrecht gegeben, hat ſie um ihr
Recht gebracht; im andern Falle kann er nichts, als ein
Fäuſtchen in der Taſche machen, oder als ein vorlauter Narr
zum Opfer fallen.
Kurz, fragtet Ihr Chineſen und Japaneſen nicht nach dem
Rechte, fragtet namentlich nicht nach dem Rechte, „das mit
Euch geboren iſt“, dann brauchtet Ihr auch nichts nach den
wohlerworbenen Rechten zu fragen.
Ihr ſchreckt vor den Andern zurück, weil Ihr neben ihnen
das Geſpenſt des Rechtes zu ſehen glaubt, das, wie in
[254] den homeriſchen Kämpfen, als Göttin an ihrer Seite helfend
mitzufechten ſcheint. Was thut Ihr? Werft Ihr den Speer?
Nein, Ihr ſchleicht umher, um den Spuk für Euch zu gewin¬
nen, damit er auf eurer Seite mitfechte: Ihr buhlt um die
Gunſt des Geſpenſtes. Ein Anderer früge einfach ſo: Will
Ich, was der Gegner will? „Nein!“ Nun, ſo mögen tau¬
ſend Teufel oder Götter für ihn kämpfen. Ich ſchlage doch
drauf los!
Der „Rechtsſtaat“, wie ihn unter Andern die Voſſiſche
Zeitung vertritt, verlangt, daß die Beamten nur durch den
Richter ihres Amtes ſollen entſetzt werden können, nicht durch
die Adminiſtration. Eitle Illuſion. Wenn geſetzlich be¬
ſtimmt würde, ein Beamter, der einmal trunken geſehen wird,
ſoll ſein Amt verlieren, ſo müßte der Richter auf Ausſage der
Zeugen ihn verurtheilen u.ſ.w. Kurz, der Geſetzgeber dürfte
nur alle möglichen Gründe genau angeben, welche den Verluſt
des Amtes nach ſich ziehen, möchten ſie auch noch ſo lächerlich
ſein (z.B. wer ſeinen Vorgeſetzten ins Geſicht lacht, wer nicht
ſonntäglich in die Kirche geht, wer nicht alle vier Wochen zum
Abendmahl geht, wer Schulden macht, wer unanſtändigen
Umgang hat, wer keine Entſchloſſenheit zeigt u.ſ.w., ſoll
entſetzt werden. Dieſe Dinge könnte der Geſetzgeber z.B. bei
einem Ehrengerichte aufzuſtellen ſich einfallen laſſen), ſo hätte
der Richter lediglich zu unterſuchen, ob Beklagter ſich jene
„Vergehen“ habe „zu Schulden kommen laſſen“, und müßte
nach erfolgtem Beweis gegen ihn „von Rechtswegen“ die Ab¬
ſetzung ausſprechen.
Der Richter iſt verloren, wenn er aufhört, mechaniſch
zu ſein, wenn er „von den Beweisregeln verlaſſen wird“.
Dann hat er nur noch eine Meinung, wie jeder Andere, und
[255] entſcheidet er nach dieſer Meinung, ſo iſt das keine Amts¬
handlung mehr; er darf als Richter nur nach dem Geſetze
entſcheiden. Da lobe Ich Mir noch die alten franzöſiſchen
Parlamente, die, was Rechtens ſein ſollte, ſelbſt prüfen und
nach eigener Zuſtimmung erſt regiſtriren wollten. Die richteten
wenigſtens nach eigenem Rechte und mochten ſich nicht zu
Maſchinen des Geſetzgebers hergeben, wenn gleich ſie als
Richter freilich ihre eigenen Maſchinen werden mußten.
Man ſagt, die Strafe ſei das Recht des Verbrechers.
Allein die Strafloſigkeit iſt ebenſo ſein Recht. Gelingt ihm
ſein Unternehmen, ſo geſchieht ihm Recht, und gelingt's nicht,
ſo geſchieht ihm gleichfalls Recht. Wie Du Dich betteſt, ſo
ſchläfſt Du. Begiebt ſich Jemand tollkühn in Gefahren und
kommt dann um, ſo ſagen Wir wohl: es geſchieht ihm Recht,
er hat's nicht beſſer gewollt. Beſiegte er aber die Gefahren,
d. h. ſiegte ſeine Macht, ſo hätte er auch Recht. Spielt
ein Kind mit dem Meſſer und ſchneidet ſich, ſo geſchieht ihm
Recht; aber ſchneidet ſich's nicht, ſo geſchieht ihm auch Recht.
Dem Verbrecher widerfährt daher wohl Recht, wenn er leidet,
was er riskirte; warum riskirte er's auch, da er die möglichen
Folgen kannte! Aber die Strafe, welche Wir über ihn ver¬
hängen, iſt nur unſer Recht, nicht das ſeine. Unſer Recht
reagirt gegen das ſeinige, und er „behält Unrecht“, weil —
Wir die Oberhand gewinnen.
Was aber Recht, was in einer Geſellſchaft Rechtens iſt,
das kommt auch zu Worte — im Geſetze.
Wie auch das Geſetz ſei, es muß reſpectirt werden vom
— loyalen Bürger. So wird der geſetzliche Sinn Old Eng¬
[256] lands gerühmt. Dem entſpricht ganz jenes euripideiſche Wort
(Oreſtes, 412): „Den Göttern dienen Wir, was immer auch
die Götter ſind.“ Geſetz überhaupt, Gott überhaupt,
ſo weit ſind Wir heute.
Man bemüht ſich, Geſetz von willkührlichem Befehl,
von einer Ordonnanz zu unterſcheiden: jenes gehe von einer
berechtigten Autorität aus. Allein ein Geſetz über menſchliches
Handeln (ethiſches Geſetz, Staatsgeſetz u. ſ. w.) iſt immer
eine Willenserklärung, mithin Befehl. Ja, wenn Ich
das Geſetz Mir auch ſelbſt gäbe, es wäre doch nur mein Be¬
fehl, dem Ich im nächſten Augenblick den Gehorſam verweigern
kann. Es mag Jemand wohl erklären, was er ſich gefallen
laſſen wolle, mithin durch ein Geſetz das Gegentheil ſich ver¬
bitten, widrigenfalls er den Uebertreter als ſeinen Feind be¬
handeln werde; aber über meine Handlungen hat Niemand
zu gebieten. Keiner Mir mein Handeln vorzuſchreiben und Mir
darin Geſetze zu geben. Ich muß Mir's gefallen laſſen, daß
er Mich als ſeinen Feind behandelt; allein niemals, daß er
mit Mir als ſeiner Creatur umſpringt, und daß er ſeine
Vernunft oder auch Unvernunft zu meiner Richtſchnur macht.
Es dauern die Staaten nur ſo lange, als es einen herr¬
ſchenden Willen giebt, und dieſer herrſchende Wille für
gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angeſehen wird. Des
Herrn Wille iſt — Geſetz. Was helfen Dir deine Geſetze,
wenn ſie Keiner befolgt, was deine Befehle, wenn ſich Nie¬
mand befehlen läßt? Es kann der Staat des Anſpruches ſich
nicht entſchlagen, den Willen des Einzelnen zu beſtimmen,
darauf zu ſpeculiren und zu rechnen. Für ihn iſt's unum¬
gänglich nöthig, daß Niemand einen eigenen Willen habe;
hätte ihn Einer, ſo müßte der Staat dieſen ausſchließen (ein¬
[257] ſperren, verbannen u. ſ. w.); hätten ihn Alle, ſo ſchafften ſie
den Staat ab. Der Staat iſt nicht denkbar ohne Herrſchaft
und Knechtſchaft (Unterthanenſchaft); denn der Staat muß der
Herr ſein wollen Aller, die er umfaßt, und man nennt dieſen
Willen den „Staatswillen“.
Wer, um zu beſtehen, auf die Willenloſigkeit Anderer
rechnen muß, der iſt ein Machwerk dieſer Anderen, wie der
Herr ein Machwerk des Dieners iſt. Hörte die Unterwürfig¬
keit auf, ſo wär's um die Herrſchaft geſchehen.
Der eigene Wille Meiner iſt der Verderber des Staats;
er wird deshalb von letzterem als „Eigenwille“ gebrandmarkt.
Der eigene Wille und der Staat ſind todfeindliche Mächte,
zwiſchen welchen kein „ewiger Friede“ möglich iſt. So lange
der Staat ſich behauptet, ſtellt er den eigenen Willen, ſeinen
ſtets anfeindenden Gegner, als unvernünftig, böſe u. ſ. w.
dar, und jener läßt ſich das einreden, ja er iſt es wirklich
ſchon deshalb, weil er ſichs noch einreden läßt: er iſt noch
nicht zu ſich ſelbſt und zum Bewußtſein ſeiner Würde gekom¬
men, mithin noch unvollkommen, noch beſchwatzbar u. ſ. w.
Jeder Staat iſt eine Despotie, ſei nun Einer oder
Viele der Despot, oder ſeien, wie man ſich's wohl von einer
Republik vorſtellt, Alle die Herren, d. h. despotiſire Einer den
Andern. Es iſt dieß nämlich dann der Fall, wenn das jedes¬
mal gegebene Geſetz, die ausgeſprochene Willensmeinung etwa
einer Volksverſammlung fortan für den Einzelnen Geſetz ſein
ſoll, dem er Gehorſam ſchuldig iſt, oder gegen welches er
die Pflicht des Gehorſams hat. Dächte man ſich auch ſelbſt
den Fall, daß jeder Einzelne im Volke den gleichen Willen
ausgeſprochen hätte und hiedurch ein vollkommener „Geſammt¬
wille“ zu Stande gekommen wäre: die Sache bliebe dennoch
17[258] dieſelbe. Wäre Ich nicht an meinen geſtrigen Willen heute
und ferner gebunden? Mein Wille in dieſem Falle wäre er¬
ſtarrt. Die leidige Stabilität! Mein Geſchöpf, nämlich
ein beſtimmter Willensausdruck, wäre mein Gebieter geworden.
Ich aber in meinem Willen, Ich, der Schöpfer, wäre in
meinem Fluſſe und meiner Auflöſung gehemmt. Weil Ich
geſtern ein Narr war, müßte Ich's zeitlebens bleiben. So
bin Ich im Staatsleben beſten Falls — Ich könnte eben ſo
gut ſagen: ſchlimmſten Falls — ein Knecht Meiner ſelbſt.
Weil Ich geſtern ein Wollender war, bin Ich heute ein Wil¬
lenloſer, geſtern freiwillig, heute unfreiwillig.
Wie zu ändern? Nur dadurch, daß Ich keine Pflicht
anerkenne, d. h. Mich nicht binde oder binden laſſe. Habe
Ich keine Pflicht, ſo kenne Ich auch kein Geſetz.
„Allein man wird Mich binden!“ Meinen Willen kann
Niemand binden, und mein Widerwille bleibt frei.
„Es müßte ja Alles drunter und drüber gehen, wenn
Jeder thun könnte, was er wollte!“ Wer ſagt denn, daß Jeder
Alles thun kann? Wozu biſt Du denn da, der Du nicht
Alles Dir gefallen zu laſſen brauchſt? Wahre Dich, ſo wird
Dir Keiner was thun! Wer deinen Willen brechen will, der
hat's mit Dir zu thun und iſt dein Feind. Verfahre gegen
ihn als ſolchen. Stehen hinter Dir zum Schutze noch einige
Millionen, ſo ſeid Ihr eine impoſante Macht und werdet einen
leichten Sieg haben. Aber wenn Ihr dem Gegner auch als
Macht imponirt, eine geheiligte Autorität ſeid Ihr ihm darum
doch nicht, er müßte denn ein Schächer ſein. Reſpect und
Achtung iſt er Euch nicht ſchuldig, wenn er ſich auch vor
eurer Gewalt in Acht nehmen wird.
[259]
Wir pflegen die Staaten nach der verſchiedenen Art, wie
„die höchſte Gewalt“ vertheilt iſt, zu claſſificiren. Hat ſie ein
Einzelner — Monarchie, Alle — Demokratie u. ſ. w. Alſo
die höchſte Gewalt! Gewalt gegen wen? Gegen den Ein¬
zelnen und ſeinen „Eigenwillen“. Der Staat übt „Gewalt“,
der Einzelne darf dieß nicht. Des Staates Betragen iſt Ge¬
waltthätigkeit, und ſeine Gewalt nennt er „Recht“, die des
Einzelnen „Verbrechen“. Verbrechen alſo, ſo heißt die Ge¬
walt des Einzelnen, und nur durch Verbrechen bricht er die
Gewalt des Staates, wenn er der Meinung iſt, daß der Staat
nicht über ihm, ſondern er über dem Staate ſei.
Nun könnte Ich, wollte Ich lächerlich handeln, als ein
Wohlmeinender Euch ermahmen, keine Geſetze zu geben, welche
meine Selbſtentwicklung, Selbſtthätigkeit, Selbſtſchöpfung beein¬
trächtigen. Ich gebe dieſen Rath nicht. Denn würdet Ihr
ihn befolgen, ſo wäret Ihr unklug, und Ich wäre um meinen
ganzen Gewinn betrogen. Von Euch verlange Ich gar nichts,
denn, was Ich auch forderte, Ihr würdet doch gebieteriſche
Geſetzgeber ſein und müßt es ſein, weil ein Rabe nicht ſingen,
ein Räuber ohne Raub nicht leben kann. Vielmehr frage Ich
diejenigen, welche Egoiſten ſein wollen, was ſie für egoiſtiſcher
halten, ſich von Euch Geſetze geben zu laſſen, und die gegebe¬
nen zu reſpectiren, oder Widerſpenſtigkeit, ja völligen Un¬
gehorſam zu üben. Gutmüthige Leute meinen, die Geſetze
müßten nur das vorſchreiben, was im Gefühl des Volkes als
recht und billig gelte. Was aber geht Mich's an, was im
Volke und dem Volke gilt? Das Volk wird vielleicht gegen
den Gottesläſterer ſein; alſo ein Geſetz gegen Gottesläſterung.
Soll Ich darum nicht läſtern? Soll Mir dieß Geſetz mehr
ſein, als ein „Befehl“? Ich frage!
17 *[260]
Lediglich aus dem Grundſatze, daß alles Recht und alle
Gewalt der Geſammtheit des Volkes angehöre, gehen
ſämmtliche Regierungsweiſen hervor. Denn keine derſelben
ermangelt dieſer Berufung auf die Geſammtheit, und der Des¬
pot ſo gut als der Präſident oder irgend eine Ariſtokratie
u. ſ. w. handeln und befehlen „im Namen des Staates“.
Sie ſind im Beſitze der „Staatsgewalt“, und es iſt völlig
gleichgültig, ob, wäre dieß möglich, das Volk als Geſammt¬
heit alle Einzelnen, oder ob nur die Repräſentanten dieſer Ge¬
ſammtheit, ſeien deren Viele, wie in Ariſtokratien, oder Einer,
wie in Monarchien, dieſe Staats-Gewalt ausüben. Immer
iſt die Geſammtheit über dem Einzelnen, und hat eine Ge¬
walt, welche berechtigt genannt, d. h. welche Recht iſt.
Der Heiligkeit des Staates gegenüber iſt der Einzelne
nur ein Geſäß der Unehre, in welchem „Uebermuth, Böswillig¬
keit, Spott- und Schmähſucht, Frivolität u. ſ. w.“ übrig
bleiben, ſobald er jenes Heiligthum, den Staat, nicht aner¬
kennenswerth findet. Der geiſtliche Hochmuth der Staats-
Diener und Staats-Unterthanen hat köſtliche Strafen gegen
den ungeiſtlichen „Uebermuth“.
Wenn die Regierung alles Spiel des Geiſtes gegen den
Staat als ſtrafbar bezeichnet, ſo kommen die gemäßigten Libe¬
ralen und meinen: Laune, Satyre, Witz, Humor u. ſ. w. mü߬
ten doch ſprudeln dürfen, und das Genie müſſe Freiheit ge¬
nießen. Alſo zwar nicht der einzelne Menſch, aber doch
das Genie ſoll frei ſein. Ganz in ſeinem Rechte ſagt da
der Staat, oder im Namen deſſelben die Regierung: Wer nicht
für mich iſt, iſt wider mich. Die Laune, der Witz u. ſ. w.,
kurz die Komödirung des Staatsweſens hat die Staaten von
jeher untergraben: ſie iſt nicht „unſchuldig“. Und ferner, welche
[261] Grenzen ſollen zwiſchen ſchuldigem und unſchuldigem Witze
u. ſ. w. gezogen werden? Die Gemäßigten kommen bei dieſer
Frage in große Verlegenheit und es reducirt ſich Alles auf die
Bitte, der Staat (Regierung) möge doch nicht ſo empfind¬
lich, ſo kitzlich ſein; er möge in „harmloſen“ Dingen nicht
gleich Böswilligkeit wittern und überhaupt ein wenig „tole¬
ranter“ ſein. Uebertriebene Empfindlichkeit iſt allerdings eine
Schwäche, ihre Vermeidung mag eine lobenswerthe Tugend
ſein; allein in Kriegszeiten kann man nicht ſchonend ſein, und
was unter ruhigen Verhältniſſen verſtattet ſein mag, hört auf
erlaubt zu ſein, ſobald der Belagerungszuſtand erklärt iſt.
Weil dieß die wohlmeinenden Liberalen wohl fühlen, ſo beeilen
ſie ſich zu erklären, daß ja bei der „Ergebenheit des Volkes“
keine Gefahr zu fürchten ſei. Die Regierung wird aber klü¬
ger ſein und ſich ſo etwas nicht einreden laſſen. Sie weiß
zu gut, wie man Einen mit ſchönen Worten abſpeiſt, und
wird ſich an dieſem Schaugerichte nicht genügen laſſen.
Man will aber ſeinen Spielplatz haben, denn man iſt ja
ein Kind und kann nicht ſo geſetzt ſein, wie ein Alter: Ju¬
gend hat keine Tugend.
Nur um dieſen Spielplatz, nur um ein Paar Stunden
luſtigen Umherſpringens feilſcht man. Man verlangt nur, der
Staat ſolle nicht, wie ein griesgrämlicher Papa, allzu mürriſch
ſein. Er ſolle einige Eſels-Proceſſionen und Narrenſpiele er¬
lauben, wie im Mittelalter die Kirche ſie geſtattete. Die Zeiten
aber, wo er dieß ohne Gefahr gewähren konnte, ſind vorüber.
Kinder, die jetzt einmal ins Freie kommen, und eine Stunde
ohne Zuchtruthe verleben, wollen nicht mehr in die Klauſe.
Denn das Freie iſt jetzt nicht mehr eine Ergänzung zur
Klauſe, nicht eine erfriſchende Erholung, ſondern ſein Ge¬
[262] genſatz, ein aut — aut. Kurz der Staat darf ſich entweder
nichts mehr oder er muß ſich Alles gefallen laſſen und zu
Grunde gehen; er muß entweder durchaus empfindlich, oder,
wie ein geſtorbener, unempfindlich ſein. Mit der Toleranz iſt's
aus. Reicht er erſt den Finger, ſo nimmt man gleich die
ganze Hand. Da iſt nicht mehr zu „ſpaßen“, und aller
Spaß, wie Laune, Witz, Humor u. ſ. w. wird zum bit¬
tern Ernſt.
Das Geſchrei der „Freiſinnigen“ um Preßfreiheit läuft
gegen ihr eigenes Princip, ihren eigentlichen Willen. Sie
wollen, was ſie nicht wollen, d.h. ſie wünſchen, ſie möch¬
ten gern. Daher fallen ſie auch ſo leicht ab, wenn einmal
ſogenannte Preßfreiheit erſcheint, dann möchten ſie Cenſur.
Ganz natürlich. Der Staat iſt auch ihnen heilig, ebenſo die
Sitte u. ſ. w. Sie betragen ſich nur als ungezogene Bälge
gegen ihn, als pfiffige Kinder, welche die Schwäche der Ael¬
tern zu benutzen ſuchen. Der Papa Staat ſoll ihnen erlau¬
ben, Manches zu ſagen, was ihm nicht gefällt, aber der Papa
hat Recht, ihnen durch einen ſtrengen Blick einen Cenſurſtrich
in ihr vorlautes Gewäſch zu ziehen. Erkennen ſie in ihm
ihren Papa, ſo müſſen ſie ſich in ſeiner Gegenwart die Cenſur
der Rede gefallen laſſen, wie jedes Kind.
Läßt Du Dir von einem Andern Recht geben, ſo mußt
Du nicht minder Dir von ihm Unrecht geben laſſen; kommt
Dir von ihm die Rechtfertigung und Belohnung, ſo erwarte
auch ſeine Anklage und Strafe. Dem Rechte geht das Un¬
recht, der Geſetzlichkeit das Verbrechen zur Seite. Was
biſt Du? — Du biſt ein — Verbrecher!
[263]
„Der Verbrecher iſt des Staates eigenſtes Verbrechen!“
ſagt Bettina*). Man kann dieſes Wort gelten laſſen, wenn
auch Bettina ſelbſt es nicht gerade ſo verſteht. Im Staate
vermag nämlich das zügelloſe Ich, Ich, wie Ich Mir allein
angehöre, nicht zu meiner Erfüllung und Verwirklichung zu
kommen. Jedes Ich iſt von Geburt ſchon ein Verbrecher
gegen das Volk, den Staat. Daher überwacht er auch wirk¬
lich Alle, er ſieht in Jedem einen — Egoiſten, und vor dem
Egoiſten fürchtet er ſich. Er ſetzt von Jedem das Schlimmſte
voraus, und hat Acht, polizeilich Acht, daß „dem Staat kein
Schaden geſchieht“, ne quid respublica detrimenti capiat.
Das zügelloſe Ich — und das ſind Wir urſprünglich, und in
unſerem geheimen Inneren bleiben Wir's ſtets — iſt der nie
aufhörende Verbrecher im Staate. Der Menſch, den ſeine
Kühnheit, ſein Wille, ſeine Rückſichtsloſigkeit und Furchtloſig¬
keit leitet, der wird vom Staate, vom Volke mit Spionen
umſtellt. Ich ſage, vom Volke! Das Volk — Ihr guther¬
zigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt — das Volk
ſteckt durch und durch voll Polizeigeſinnung. — Nur wer ſein
Ich verleugnet, wer „Selbſtverleugnung“ übt, iſt dem Volke
angenehm.
Bettina iſt im angeführten Buche durchweg gutmüthig
genug, den Staat nur für krank zu halten und auf ſeine Ge¬
neſung zu hoffen, eine Geneſung, welche ſie durch die „Dema¬
gogen“ **)bewirken will; allein er iſt nicht krank, ſondern in
voller Kraft, wenn er die Demagogen, die für die Einzelnen,
für „Alle“ etwas erwerben wollen, von ſich weiſt. Er iſt in
[264] ſeinen Gläubigen mit den beſten Demagogen, Volksführern,
verſehen. Nach Bettina ſoll *)„der Staat den Freiheits¬
keim der Menſchheit entwickeln, ſonſt iſt er Rabenmutter und
ſorgt auch für Rabenfutter!“ Er kann nicht anders, denn
eben indem er für die „Menſchheit“ ſorgt (was übrigens
ſchon der „humane“ oder „freie“ Staat ſein müßte), iſt der
„Einzelne“ für ihn Rabenfutter. Wie richtig ſpricht dagegen
der Bürgermeiſter**): „Wie? der Staat habe keine andere Ver¬
pflichtung, als bloß der Verpfleger rettungsloſer Kranker zu
ſein? — Das klappt nicht. Von jeher hat der geſunde Staat
des kranken Stoffes ſich entledigt, aber nicht ſich damit ge¬
miſcht. So ökonomiſch braucht er nicht mit ſeinen Säften zu
ſein. Die Räuberäſte ohne Zagen abgeſchnitten, damit die
andern blühen. — Man erbebe nicht über des Staates Härte,
ſeine Moral, ſeine Politik und Religion weiſen ihn darauf an;
man beſchuldige ihn keiner Gefühlloſigkeit, ſein Mitgefühl
ſträubt ſich dagegen, aber ſeine Erfahrung findet nur in dieſer
Strenge Heil! — Es giebt Krankheiten, in welchen nur draſti¬
ſche Mittel helfen. Der Arzt, welcher die Krankheit als ſolche
erkennt, aber zaghaft zu Palliativen greift, wird nie die Krank¬
heit heben, wohl aber den Patienten nach kürzerem oder län¬
gerem Siechthum unterliegen machen!“ Die Frage der Frau
Rath: „Wenn Sie den Tod als draſtiſches Mittel anwenden,
wie iſt da zu heilen?“ klappt nicht. Der Staat wendet den
Tod ja nicht gegen ſich an, ſondern gegen ein ärgerliches Glied;
er reißt ein Auge aus, das ihn ärgert u. ſ. w.
„Für den maladen Staat iſt's der einzige Weg der Ret¬
[265] tung, den Menſchen in ihm gedeihen zu laſſen.“ *)Verſteht
man hier, wie Bettina, unter dem Menſchen den Begriff
„Menſch“, ſo hat ſie Recht: der „malade“ Staat wird durch
das Gedeihen „des Menſchen“ geneſen, denn je vernarrter die
Einzelnen in „den Menſchen“ ſind, deſto beſſer ſteht ſich der
Staat dabei. Bezöge man's aber auf den Einzelnen, auf
„Alle“ (und halb und halb thut dieß die Verfaſſerin gleichfalls,
weil ſie über „den Menſchen“ im Unklaren ſtecken bleibt), ſo
klänge es etwa, wie Folgendes: Für eine malade Räuberbande
iſt's der einzige Weg der Rettung, den loyalen Bürger in ihr
gedeihen zu laſſen! Darüber ginge ja eben die Räuberbande als
Räuberbande zu Grunde, und weil ſie das ſpürt, darum er¬
ſchießt ſie lieber Jeden, der einen Zug hat, ein „ordentlicher
Kerl“ zu werden.
Bettina iſt in dieſem Buche eine Patriotin oder, was
wenig mehr, eine Philanthropin, eine Menſchenbeglückerin. Sie
iſt ganz in derſelben Weiſe mit dem Beſtehenden unzufrieden,
wie es das Titelgeſpenſt ihres Buches nebſt Allen iſt, die den
guten, alten Glauben, und was daran hängt, zurückführen
möchten. Nur denkt ſie umgekehrt, die Politiker, Staatsdiener
und Diplomaten verdürben den Staat, während jene daſſelbe den
Böswilligen, den „Volksverführern“ in die Schuhe ſchieben.
Was iſt der gewöhnliche Verbrecher anders, als einer,
der das verhängnißvolle Verſehen begangen hat, nach dem zu
ſtreben, was des Volkes iſt, ſtatt nach dem Seinen zu ſuchen.
Er hat das verächtliche, fremde Gut geſucht, hat gethan,
was die Gläubigen thun: die nach dem trachten, was Gottes
iſt. Was thut der Prieſter, der den Verbrecher vermahnt? Er
[266] ſtellt ihm das große Unrecht vor, das vom Staate Geheiligte,
das Eigenthum deſſelben (wozu ja auch das Leben der Staats¬
angehörigen gerechnet werden muß) durch ſeine That entweiht
zu haben; dafür könnte er ihm lieber vorhalten, daß er ſich
beſudelt habe, indem er das Fremde nicht verachtete, ſondern
des Raubes werth hielt: er könnte es, wenn er nicht ein Pfaffe
wäre. Redet mit dem ſogenannten Verbrecher als mit einem
Egoiſten, und er wird ſich ſchämen, nicht, daß er gegen eure
Geſetze und Güter ſich verging, ſondern daß er eure Geſetze
des Umgehens, eure Güter des Verlangens werth hielt;
wird ſich ſchämen, daß er Euch mitſammt dem Eurigen nicht
— verachtete, daß er zu wenig Egoiſt war. Aber Ihr könnt
nicht egoiſtiſch mit ihm reden, denn Ihr ſeid nicht ſo groß wie
ein Verbrecher, Ihr — verbrecht nichts! Ihr wißt nicht, daß
ein eigenes Ich nicht ablaſſen kann, ein Verbrecher zu ſein, daß
das Verbrechen ſein Leben iſt. Und doch ſolltet Ihr's wiſſen,
da Ihr glaubt, daß „wir allzumal Sünder ſind“; aber Ihr denkt
Euch über die Sünde wegzuſchwindeln, Ihr begreift's nicht —
denn Ihr ſeid teufelsfürchtig — daß die Schuld der Werth eines
Menſchen iſt. O wäret Ihr ſchuldig! So aber ſeid Ihr „Ge¬
rechte“. Nun— macht eurem Herrn nur alles hübſch gerecht!
Wenn das chriſtliche Bewußtſein oder der Chriſtenmenſch
ein Criminalgeſetzbuch verfaßt, was kann da anders der Be¬
griff des Verbrechens ſein, als eben die — Herzloſig¬
keit. Jede Trennung und Kränkung eines herzlichen Ver¬
hältniſſes, jedes herzloſe Verhalten gegen ein heiliges
Weſen iſt Verbrechen. Je herzlicher das Verhältniß ſein ſoll,
deſto ſchreiender iſt ſeine Verhöhnung, deſto ſtrafwürdiger das
Verbrechen. Den Herrn ſoll Jeder, der ihm unterthan iſt,
lieben: dieſe Liebe zu verleugnen, iſt ein todeswürdiger Hoch¬
[267] verrath. Der Ehebruch iſt eine ſtrafwürdige Herzloſigkeit, man
hat kein Herz, keine Begeiſterung, kein Pathos für die Heilig¬
keit der Ehe. So lange das Herz oder Gemüth Geſetze dic¬
tirt, genießt nur der herzliche oder gemüthliche Menſch den
Schutz der Geſetze. Daß der Gemüthsmenſch die Geſetze gebe,
heißt eigentlich nur, der ſittliche Menſch gebe ſie: was dem
„ſittlichen Gefühl“ dieſer Menſchen widerſpricht, das verpönen
ſie. Wie ſollte z. B. Untreue, Abfall, Eidbrüchigkeit, kurz
alles radicale Abbrechen, alles Zerreißen altehrwürdiger
Bande in den Augen derſelben nicht heillos und verbrecheriſch
ſein? Wer mit dieſen Forderungen des Gemüthes bricht, der
hat alle Sittlichen, alle Gemüthsmenſchen zu Feinden. Nur
die Krummacher und Conſorten ſind die rechten Leute, um einen
Strafcodex des Herzens conſequent aufzuſtellen, wie ein gewiſ¬
ſer Geſetzentwurf zur Genüge beweiſt. Die conſequente Ge¬
ſetzgebung des chriſtlichen Staates muß ganz in die Hände
der — Pfaffen gelegt werden, und wird nicht rein und fol¬
gerichtig werden, ſo lange ſie nur von — Pfaffendienern,
die immer nur halbe Pfaffen ſind, ausgearbeitet wird.
Dann erſt wird jede Ungemüthlichkeit, jede Herzloſigkeit als
ein unverzeihliches Verbrechen conſtatirt werden, dann erſt jede
Aufregung des Gemüths verdammlich, jede Einrede der Kritik
und des Zweifels anathematiſirt werden; dann erſt iſt der
eigene Menſch vor dem chriſtlichen Bewußtſein von Haus
aus ein überführter — Verbrecher.
Die Revolutionsmänner ſprachen oft von der „gerechten
Rache“ des Volkes als ſeinem „Rechte“. Rache und Recht
fallen hier zuſammen. Iſt dieß ein Verhalten eines Ich's
zum Ich? Das Volk ſchreit, die Gegenpartei habe gegen
daſſelbe „Verbrechen“ begangen. Kann Ich annehmen, daß
[268] Einer gegen Mich ein Verbrechen begehe, ohne anzunehmen,
daß er handeln müſſe, wie Ich's für gut finde? Und dieſes
Handeln nenne Ich das rechte, gute u. ſ. w.; das abweichende
ein Verbrechen. Mithin denke Ich, die andern müßten auf
daſſelbe Ziel mit Mir losgehen, d. h. Ich behandele ſie
nicht als Einzige, die ihr Geſetz in ſich ſelbſt tragen und dar¬
nach leben, ſondern als Weſen, die irgend einem „vernünfti¬
gen“ Geſetze gehorchen ſollen. Ich ſtelle auf, was „der
Menſch“ ſei, und was „wahrhaft menſchlich“ handeln heiße,
und fordere von Jedem, daß ihm dieß Geſetz Norm und Ideal
werde, widrigenfalls er ſich als „Sünder und Verbrecher“ aus¬
weiſe. Den „Schuldigen“ aber trifft die „Strafe des Geſetzes“!
Man ſieht hier, wie es wieder „der Menſch“ iſt, der auch
den Begriff des Verbrechens, der Sünde, und damit den des
Rechts zu Wege bringt. Ein Menſch, in welchem Ich nicht
„den Menſchen“ erkenne, iſt „ein Sünder, ein Schuldiger“.
Nur gegen ein Heiliges giebt es Verbrecher; Du gegen
Mich kannſt nie ein Verbrecher ſein, ſondern nur ein Gegner.
Aber den, der ein Heiliges verletzt, nicht haſſen, iſt ſchon ein
Verbrechen, wie St. Juſt gegen Danton ausruft: „Biſt Du
nicht ein Verbrecher und verantwortlich, daß Du nicht die
Feinde des Vaterlandes gehaßt haſt?“ —
Wird, wie in der Revolution, das, was „der Menſch“ ſei,
als „guter Bürger“ gefaßt, ſo giebt es von dieſem Begriffe „des
Menſchen“ die bekannten „politiſchen Vergehen und Verbrechen“.
In alle dem wird der Einzelne, der einzelne Menſch, als
Auswurf betrachtet, und dagegen der allgemeine Menſch, „der
Menſch“ honorirt. Je nachdem nun dieß Geſpenſt benannt
wird, wie Chriſt, Jude, Muſelmann, guter Bürger, loyaler
Unterthan, Freier, Patriot u. ſ. w., je nachdem fallen ſowohl
[269] die, welche einen abweichenden Begriff vom Menſchen durch¬
führen möchten, als diejenigen, welche ſich durchſetzen wollen,
vor dem ſiegreichen „Menſchen“.
Und mit welcher Salbung wird hier im Namen des Ge¬
ſetzes, des ſouverainen Volkes, Gottes u. ſ. w. geſchlachtet.
Wenn nun die Verfolgten ſich vor den ſtrengen, pfäffi¬
ſchen Richtern liſtig verbergen und wahren, ſo ſchilt man ſie
„Heuchler“, wie St. Juſt z. B. diejenigen, welche er in der
Rede gegen Danton anklagt. *)Man ſoll ein Narr ſein und
ſich ihrem Moloch überliefern.
Aus fixen Ideen entſtehen die Verbrechen. Die Hei¬
ligkeit der Ehe iſt eine fixe Idee. Aus der Heiligkeit folgt,
daß die Untreue ein Verbrechen iſt, und es ſetzt daher ein
gewiſſes Ehegeſetz eine kürzere oder längere Strafe darauf.
Aber dieſe Strafe muß von denen, welche die „Freiheit als
heilig“ ausrufen, als ein Verbrechen wider die Freiheit ange¬
ſehen werden, und nur in dieſem Sinne hat auch die öffent¬
liche Meinung das Ehegeſetz gebrandmarkt.
Die Geſellſchaft will zwar haben, daß Jeder zu ſeinem
Rechte komme, aber doch nur zu dem von der Geſellſchaft ſan¬
ctionirten, dem Geſellſchaftsrechte, nicht wirklich zu ſeinem
Rechte. Ich aber gebe oder nehme Mir das Recht aus eige¬
ner Machtvollkommenheit, und gegen jede Uebermacht bin Ich
der unbußfertigſte Verbrecher. Eigener und Schöpfer meines
Rechts — erkenne ich keine andere Rechtsquelle als — Mich,
weder Gott, noch den Staat, noch die Natur, noch auch den
Menſchen ſelbſt mit ſeinen „ewigen Menſchenrechten“, weder
göttliches noch menſchliches Recht.
[270]
Recht „an und für ſich“. Alſo ohne Beziehung auf
Mich! „Abſolutes Recht“. Alſo getrennt von Mir! Ein
an und für ſich Seiendes! Ein Abſolutes! Ein ewiges Recht,
wie eine ewige Wahrheit!
Das Recht ſoll nach liberaler Vorſtellungsweiſe für Mich
verbindlich ſein, weil es durch die menſchliche Vernunft
ſo eingeſetzt iſt, gegen welche meine Vernunft die „Unver¬
nunft“ iſt. Früher eiferte man im Namen der göttlichen Ver¬
nunft gegen die ſchwache menſchliche, jetzt im Namen der ſtar¬
ken menſchlichen gegen die egoiſtiſche, die als „Unvernunft“
verworfen wird. Und doch iſt keine andere wirklich als gerade
dieſe „Unvernunft“. Weder die göttliche noch die menſchliche
Vernunft, ſondern allein deine und meine jedesmalige Vernunft
iſt wirklich, wie und weil Du und Ich es ſind.
Der Gedanke des Rechts iſt urſprünglich mein Gedanke
oder er hat ſeinen Urſprung in Mir. Iſt er aber aus Mir
entſprungen, iſt das „Wort“ heraus, ſo iſt es „Fleiſch gewor¬
den“, eine fixe Idee. Ich komme nun von dem Gedanken
nicht mehr los; wie Ich Mich drehe, er ſteht vor Mir. So
ſind die Menſchen des Gedankens „Recht“, den ſie ſelber
erſchufen, nicht wieder Meiſter geworden: die Creatur geht
mit ihnen durch. Das iſt das abſolute Recht, das von Mir
abſolvirte oder abgelöſte. Wir können es, indem Wir's als
abſolutes verehren, nicht wieder aufzehren, und es benimmt
Uns die Schöpferkraft; das Geſchöpf iſt mehr als der Schö¬
pfer, iſt „an und für ſich“.
Laß das Recht einmal nicht mehr frei umherlaufen, zieh'
es in ſeinen Urſprung, in Dich, zurück, ſo iſt es dein Recht,
und recht iſt, was Dir recht iſt.
[271]
Einen Angriff hat das Recht innerhalb ſeiner, d. h.
vom Standpunkte des Rechtes aus erleben müſſen, indem von
Seiten des Liberalismus dem „Vorrecht“ der Krieg erklärt
wurde.
Bevorrechtet und Gleichberechtigt — um dieſe
beiden Begriffe dreht ſich ein hartnäckiger Kampf. Ausge¬
ſchloſſen oder zugelaſſen — würde daſſelbe ſagen. Wo gäbe
es aber eine Macht, ſei es eine imaginäre, wie Gott, Geſetz,
oder eine wirkliche, wie Ich, Du, — vor der nicht alle „gleich¬
berechtigt“ wären, d. h. kein Anſehen der Perſon gölte? Gott
iſt jeder gleich lieb, wenn er ihn anbetet, dem Geſetze gleich
genehm, wenn er nur ein Geſetzlicher iſt: ob der Liebhaber
Gottes oder des Geſetzes bucklig und lahm, ob arm oder
reich u. dergl., das macht Gott und dem Geſetze nichts aus;
ebenſo wenn Du ertrinken willſt, iſt Dir als Retter ein Neger
ſo lieb als der trefflichſte Caucaſier, ja ein Hund gilt Dir in
dieſer Lage nicht weniger als ein Menſch. Aber wem wäre
auch umgekehrt nicht jeder ein Bevorzugter oder Zurückgeſetzter?
Gott ſtraft die Böſen mit ſeinem Grimm, das Geſetz züchtigt
die Ungeſetzlichen, Du läſſeſt Dich vom Einen jeden Augen¬
blick ſprechen und weiſeſt dem Andern die Thür.
Die „Gleichheit des Rechts“ iſt eben ein Phantom, weil
Recht nichts mehr und nichts minder als Zulaſſung, d. h. eine
Gnadenſache iſt, die man ſich übrigens auch durch ſein
Verdienſt erwerben kann: denn Verdienſt und Gnade wider¬
ſprechen einander nicht, da auch die Gnade „verdient“ ſein
will und unſer gnädiges Lächeln nur Dem zufällt, der es Uns
abzuzwingen weiß.
So träumt man davon, daß „alle Staatsbürger gleich¬
berechtigt neben einander ſtehen ſollen“. Als Staatsbürger
[272] ſind ſie dem Staate gewiß alle gleich; ſchon nach ſeinen be¬
ſonderen Zwecken aber wird er ſie theilen und bevorzugen oder
hintanſetzen, mehr jedoch muß er ſie noch als gute und ſchlechte
Staatsbürger von einander unterſcheiden.
Br. Bauer erledigt die Judenfrage von dem Geſichtspunkte
aus, daß das „Vorrecht“ nicht berechtigt ſei. Weil Jude und
Chriſt, jeder etwas vor dem andern voraushaben, und in die¬
ſem Voraushaben ausſchließlich ſind, darum zerfallen ſie vor
dem Blick des Kritikers in Nichtigkeit. Mit ihnen trifft der
gleiche Tadel den Staat, der ihr Voraushaben berechtigt und
zu einem „Vorrecht“ oder Privilegium ausprägt, dadurch aber
ſich den Beruf, ein „freier Staat“ zu werden, verkümmert.
Etwas hat nun aber Jeder vor dem Andern voraus,
nämlich ſich ſelbſt oder ſeine Einzigkeit: darin bleibt Jedermann
ausſchließlich oder excluſiv.
Und wieder macht Jeder von einem Dritten ſeine Eigen¬
thümlichkeit ſo gut als möglich geltend und ſucht vor ihm,
wenn er anders ihn gewinnen will, dieſe anziehend erſcheinen
zu laſſen.
Soll nun der Dritte gegen den Unterſchied des Einen
vom Andern unempfindlich ſein? Verlangt man das vom
freien Staate oder von der Menſchheit? Dann müßten dieſe
ſchlechterdings ohne eigenes Intereſſe ſein, und unfähig, für
irgendwen eine Theilnahme zu faſſen. So gleichgültig dachte
man ſich weder Gott, der die Seinen von den Böſen ſcheidet,
noch den Staat, der die guten Bürger von den ſchlechten zu
trennen weiß.
Aber man ſucht eben dieſen Dritten, der kein „Vorrecht“
mehr ertheilt. Der heißt dann etwa der freie Staat oder die
Menſchheit oder wie ſonſt.
[273]
Da Chriſt und Jude deshalb von Br. Bauer niedrig
geſtellt werden, weil ſie Vorrechte behaupten, müßten ſie durch
Selbſtverleugnung oder Uneigennützigkeit aus ihrem beſchränk¬
ten Standpunkte ſich befreien können und ſollen. Streiften ſie
ihren „ Egoismus“ ab, ſo hörte das gegenſeitige Unrecht und
mit ihm überhaupt die chriſtliche und jüdiſche Religioſität auf:
es brauchte nur keiner von ihnen etwas Apartes mehr ſein zu
wollen.
Gäben ſie aber dieſe Ausſchließlichkeit auf, ſo wäre da¬
mit wahrlich der Boden, auf dem ihre Feindſchaft geführt
wurde, noch nicht verlaſſen. Sie fänden allenfalls ein Drit¬
tes, worin ſie ſich vereinigen könnten, eine „ allgemeine Religion“,
eine „Religion der Menſchlichkeit“ u. dergl., kurz eine Aus¬
gleichung, die nicht beſſer zu ſein brauchte als jene, wenn alle
Juden Chriſten würden, wodurch gleichfalls das „Vorrecht“
des Einen vor dem Andern ein Ende nähme. Es wäre zwar
die Spannung beſeitigt, allein in dieſer beſtand nicht das
Weſen der beiden, ſondern nur ihre Nachbarſchaft. Als Un¬
terſchiedene mußten ſie nothwendig geſpannt ſein, und die Un¬
gleichheit wird immer bleiben. Das iſt wahrhaftig nicht dein
Fehler, daß Du gegen Mich Dich ſpannſt und deine Abſon¬
derlichkeit oder Eigenthümlichkeit behaupteſt: Du brauchſt nicht
nachzugeben oder Dich ſelbſt zu verleugnen.
Man faßt die Bedeutung des Gegenſatzes zu formell
und ſchwächlich auf, wenn man ihn nur „auflöſen“ will, um
für ein Drittes „Vereinigendes“ Raum zu machen. Der Ge¬
genſatz verdient vielmehr verſchärft zu werden. Als Jude
und Chriſt ſeid Ihr in einem zu geringen Gegenſatz und ſtrei¬
tet Euch bloß um die Religion, gleichſam um Kaiſers Bart,
um eine Lappalie. In der Religion zwar Feinde, bleibt Ihr
18[274] im Uebrigen doch gute Freunde und z.B. als Menſchen
einander gleich. Gleichwohl iſt auch das Uebrige in Jedem
ungleich, und Ihr werdet euren Gegenſatz erſt dann nicht
länger bloß verhehlen, wenn Ihr ihn ganz anerkennt, und
Jedermann vom Wirbel bis zur Zehe ſich als einzig behaup¬
tet. Dann wird der frühere Gegenſatz allerdings ausgelöſt
ſein, aber nur deshalb, weil ein ſtärkerer ihn in ſich aufge¬
nommen hat.
Nicht darin beſteht unſere Schwäche, daß Wir gegen An¬
dere im Gegenſatze ſind, ſondern darin, daß Wir's nicht voll¬
ſtändig ſind, d.h. daß Wir nicht gänzlich von ihnen geſchie¬
den ſind, oder daß Wir eine „Gemeinſchaft“, ein „Band“
ſuchen, daß Wir an der Gemeinſchaft ein Ideal haben. Ein
Glaube, Ein Gott, Eine Idee, Ein Hut für Alle! Würden
Alle unter Einen Hut gebracht, ſo brauchte freilich keiner vor
dem andern den Hut noch abzunehmen.
Der letzte und entſchiedenſte Gegenſatz, der des Einzigen
gegen den Einzigen, iſt im Grunde über das, was Gegenſatz
heißt, hinaus, ohne aber in die „Einheit“ und Einigkeit zu¬
rückgeſunken zu ſein. Du haſt als Einziger nichts Gemein¬
ſames mehr mit dem Andern und darum auch nichts Tren¬
nendes oder Feindliches; Du ſuchſt nicht gegen ihn vor einem
Dritten Recht und ſtehſt mit ihm weder auf dem „Rechts¬
boden“, noch ſonſt einem gemeinſchaftlichen Boden. Der Ge¬
genſatz verſchwindet in der vollkommenen — Geſchiedenheit
oder Einzigkeit. Dieſe könnte zwar für das neue Gemeinſame
oder eine neue Gleichheit angeſehen werden, allein die Gleich¬
heit beſteht hier eben in der Ungleichheit und iſt ſelbſt nichts
als Ungleichheit: eine gleiche Ungleichheit, und zwar nur für
denjenigen, der eine „Vergleichung“ anſtellt.
[275]
Die Polemik wider das Vorrecht bildet einen Charakter¬
zug des Liberalismus, der gegen das „Vorrecht“ pocht, weil
er ſich auf das „Recht“ beruft. Weiter als zum Pochen kann
er's darin nicht bringen; denn die Vorrechte fallen nicht eher,
als das Recht fällt, da ſie nur Arten des Rechtes ſind. Das
Recht aber zerfällt in ſein Nichts, wenn es von der Gewalt
verſchlungen wird, d. h. wenn man begreift, was es heißt:
Gewalt geht vor Recht. Alles Recht erklärt ſich dann als
Vorrecht, und das Vorrecht ſelber als Macht, als — Ueber¬
macht.
Muß aber der mächtige Kampf gegen die Uebermacht nicht
ein ganz anderes Antlitz zeigen, als der beſcheidene Kampf
gegen das Vorrecht, der vor einem erſten Richter, dem „Rechte“,
nach des Richters Sinn auszufechten iſt?
Zum Schluſſe muß Ich nun noch die halbe Ausdrucks¬
weiſe zurücknehmen, von der Ich nur ſo lange Gebrauch machen
wollte, als Ich noch in den Eingeweiden des Rechtes wühlte,
und das Wort wenigſtens beſtehen ließ. Es verliert aber in
der That mit dem Begriffe auch das Wort ſeinen Sinn.
Was Ich „mein Recht“ nannte, das iſt gar nicht mehr „Recht“,
weil Recht nur von einem Geiſte ertheilt werden kann, ſei es
der Geiſt der Natur oder der der Gattung, der Menſchheit,
der Geiſt Gottes oder der Sr. Heiligkeit oder Sr. Durchlaucht
u. ſ. w. Was Ich ohne einen berechtigenden Geiſt habe,
das habe Ich ohne Recht, habe es einzig und allein durch
meine Macht.
Ich fordere kein Recht, darum brauche Ich auch keins
anzuerkennen. Was Ich Mir zu erzwingen vermag, erzwinge
18 *[276] Ich Mir, und was Ich nicht erzwinge, darauf habe Ich
kein Recht, noch brüſte oder tröſte ich Mich mit meinem un¬
verjährbaren Rechte.
Mit dem abſoluten Rechte vergeht das Recht ſelbſt, wird
die Herrſchaft des „Rechtsbegriffes“ zugleich getilgt. Denn
es iſt nicht zu vergeſſen, daß ſeither Begriffe, Ideen oder Prin¬
cipien Uns beherrſchten, und daß unter dieſen Herrſchern der
Rechtsbegriff oder der Begriff der Gerechtigkeit eine der bedeu¬
tendſten Rollen ſpielte.
Berechtigt oder Unberechtigt — darauf kommt Mir's nicht
an; bin Ich nur mächtig, ſo bin Ich ſchon von ſelbſt er¬
mächtigt und bedarf keiner anderen Ermächtigung oder Be¬
rechtigung.
Recht — iſt ein Sparren, ertheilt von einem Spuk;
Macht — das bin Ich ſelbſt, Ich bin der Mächtige und Eig¬
ner der Macht. Recht iſt über Mir, iſt abſolut, und exiſtirt
in einem Höheren, als deſſen Gnade Mir's zufließt: Recht iſt
eine Gnadengabe des Richters; Macht und Gewalt exiſtirt nur
in Mir, dem Mächtigen und Gewaltigen.
2. Mein Verkehr.
In der Geſellſchaft, der Societät, kann höchſtens die
menſchliche Forderung befriedigt werden, indeß die egoiſtiſche
ſtets zu kurz kommen muß.
Weil es kaum Jemand entgehen kann, daß die Gegen¬
wart für keine Frage einen ſo lebendigen Antheil zeigt, als
für die „ſociale“, ſo hat man auf die Geſellſchaft beſonders
[277] ſein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte In¬
tereſſe weniger leidenſchaftlich und verblendet, ſo würde man
über die Geſellſchaft nicht ſo ſehr die Einzelnen darin aus den
Augen verlieren, und erkennen, daß eine Geſellſchaft nicht neu
werden kann, ſo lange diejenigen, welche ſie ausmachen und
conſtituiren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdiſchen Volke
eine Geſellſchaft entſtehen, welche einen neuen Glauben über
die Erde verbreitete, ſo durften dieſe Apoſtel doch keine Pha¬
riſäer bleiben.
Wie Du biſt, ſo giebſt Du Dich, ſo benimmſt Du Dich
gegen die Menſchen: ein Heuchler als Heuchler, ein Chriſt als
Chriſt. Darum beſtimmt den Charakter einer Geſellſchaft der
Charakter ihrer Mitglieder: ſie ſind die Schöpfer derſelben.
So viel müßte man wenigſtens einſehen, wenn man auch den
Begriff „Geſellſchaft“ ſelbſt nicht Prüfen wollte.
Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und
Geltung kommen zu laſſen, haben die Menſchen bisher auch
ihre Geſellſchaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, ſie
haben nur „Geſellſchaften“ gründen und in Geſellſchaften leben
können. Es waren die Geſellſchaften immer Perſonen, mäch¬
tige Perſonen, ſogenannte „moraliſche Perſonen“, d. h. Ge¬
ſpenſter, vor welchen der Einzelne den angemeſſenen Sparren,
die Geſpenſterfurcht, hatte. Als ſolche Geſpenſter können ſie
am füglichſten mit dem Namen „Volk“ und reſpective „Völk¬
chen“ bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der
Hellenen u. ſ. w., endlich das — Menſchenvolk, die Menſch¬
heit (Anacharſis Cloots ſchwärmte für die „Nation“ der
Menſchheit), dann jegliche Unterabtheilung dieſes „Volkes“,
das ſeine beſonderen Geſellſchaften haben konnte und mußte,
das ſpaniſche, franzöſiſche Volk u. ſ. w., innerhalb deſſelben
[278] wieder die Stände, die Städte, kurz allerlei Körperſchaften,
zuletzt in äußerſter Zuſpitzung das kleine Völkchen der — Fa¬
milie. Statt zu ſagen, die ſpukende Perſon aller bisherigen
Geſellſchaften ſei das Volk geweſen, könnten daher auch die
beiden Extreme genannt werden, nämlich entweder die „Menſch¬
heit“ oder die „Familie“, beide die „naturwüchſigſten Ein¬
heiten“. Wir wählen das Wort „Volk“, weil man ſeine Ab¬
ſtammung mit dem griechiſchen Polloi, den „Vielen“ oder der
„Menge“ zuſammengebracht hat, mehr aber noch deshalb, weil
die „nationalen Beſtrebungen“ heute an der Tagesordnung
ſind, und weil auch die neueſten Empörer dieſe trügeriſche
Perſon noch nicht abgeſchüttelt haben, obwohl andererſeits die
letztere Erwägung dem Ausdruck „Menſchheit“ den Vorzug
geben müßte, da man von allen Seiten drauf und dran iſt,
für die „Menſchheit“ zu ſchwärmen.
Alſo das Volk, — die Menſchheit oder die Familie —,
haben ſeither, wie es ſcheint, Geſchichte geſpielt: kein egoiſti¬
ſches Intereſſe ſollte in dieſen Geſellſchaften aufkommen, ſon¬
dern lediglich allgemeine, nationale oder Volksintereſſen, Stan¬
desintereſſen, Familienintereſſen und „allgemein menſchliche
Intereſſen“. Wer aber hat die Völker, deren Untergang die
Geſchichte erzählt, zu Fall gebracht? Wer anders als der
Egoiſt, der ſeine Befriedigung ſuchte! Schlich ſich einmal
ein egoiſtiſches Intereſſe ein, ſo war die Geſellſchaft „verdor¬
ben“ und ging ihrer Auflöſung entgegen, wie z. B. das Römer¬
thum beweiſt mit ſeinem ausgebildeten Privatrecht, oder das
Chriſtenthum mit der unaufhaltſam hereinbrechenden „vernünf¬
tigen Selbſtbeſtimmung“, dem „Selbſtbewußtſein“, der „Auto¬
nomie des Geiſtes“ u. ſ. w.
Das Chriſtenvolk hat zwei Geſellſchaften hervorgebracht,
[279] deren Dauer mit dem Beſtande jenes Volkes ein gleiches
Maaß behalten wird: es ſind dieß die Geſellſchaften: Staat
und Kirche. Können ſie ein Verein von Egoiſten genannt
werden? Verfolgen Wir in ihnen ein egoiſtiſches, perſönliches,
eigenes, oder verfolgen Wir ein volksthümliches (volkliches,
d.h. ein Intereſſe des Chriſten-Volkes), nämlich ein ſtaat¬
liches und kirchliches Intereſſe? Kann und darf Ich in ihnen
Ich ſelbſt ſein? Darf Ich denken und handeln wie Ich will,
darf Ich Mich offenbaren, ausleben, bethätigen? Muß Ich
nicht die Majeſtät des Staates, die Heiligkeit der Kirche un¬
angetaſtet laſſen?
Wohl, Ich darf nicht, wie Ich will. Aber werde Ich
in irgend einer Geſellſchaft eine ſo ungemeſſene Freiheit des
Dürfens finden? Allerdings nein! Mithin könnten Wir ja
wohl zufrieden ſein? Mit nichten! Es iſt ein Anderes, ob
Ich an einem Ich abpralle, oder an einem Volke, einem All¬
gemeinen. Dort bin Ich der ebenbürtige Gegner meines Geg¬
ners, hier ein verachteter, gebundener, bevormundeter; dort
ſteh' Ich Mann gegen Mann, hier bin Ich ein Schulbube,
der gegen ſeinen Cameraden nichts ausrichten kann, weil dieſer
Vater und Mutter zu Hülfe gerufen und ſich unter die Schürze
verkrochen hat, während Ich als ungezogener Junge ausge¬
ſcholten werde und nicht „raiſonniren“ darf; dort kämpfe Ich
gegen einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menſchheit,
gegen ein Allgemeines, gegen eine „Majeſtät“, gegen einen
Spuk. Mir aber iſt keine Majeſtät, nichts Heiliges eine
Schranke, nichts, was Ich zu bewältigen weiß. Nur was
Ich nicht bewältigen kann, das beſchränkt noch meine Gewalt,
und Ich von beſchränkter Gewalt bin zeitweilig ein beſchränk¬
tes Ich, nicht beſchränkt durch die Gewalt außer Mir, ſon¬
[280] dem beſchränkt durch die noch mangelnde eigene Gewalt,
durch die eigene Ohnmacht. Allein „die Garde ſtirbt,
doch ſie ergiebt ſich nicht!“ Vor Allem nur einen leibhaftigen
Gegner!
Viele Privilegien ſind freilich mit der Zeit vertilgt wor¬
den, allein lediglich um des Gemeinwohls, um des Staates
und Staatswohls willen, keineswegs zur Stärkung Meiner.
Die Erbunterthänigkeit z. B. wurde nur aufgehoben, damit
ein einziger Erbherr, der Herr des Volkes, die monarchiſche
Macht, geſtärkt werde: die Erbunterthänigkeit unter dem Einen
wurde dadurch noch ſtraffer. Nur zu Gunſten des Monarchen,
er heiße: „Fürſt“ oder „Geſetz“, ſind die Privilegien gefallen.
In Frankreich ſind die Bürger zwar nicht Erbunterthanen des
Königs, dafür aber Erbunterthanen des „Geſetzes“ (der Charte).
Unterordnung wurde beibehalten, nur erkannte der chriſt¬
liche Staat, daß der Menſch nicht zweien Herren dienen könne
(dem Gutsherrn und dem Fürſten u. ſ. w.); darum erhielt
Einer alle Vorrechte; er kann nun wieder einen über den
andern ſtellen, kann „Hochgeſtellte“ machen.
Was aber kümmert Mich das Gemeinwohl? Das Ge¬
meinwohl als ſolches iſt nicht mein Wohl, ſondern nur
die äußerſte Spitze der Selbſtverleugnung. Das Ge¬
meinwohl kann laut jubeln, während Ich „kuſchen“ muß, der
Staat glänzen, indeß Ich darbe. Worin anders liegt die
Thorheit der politiſchen Liberalen, als darin, daß ſie das Volk
der Regierung entgegenſetzen und von Volksrechten ſprechen?
Da ſoll denn das Volk mündig ſein u. ſ. w. Als könnte
[281] mündig ſein, wer keinen Mund hat! Nur der Einzelne ver¬
mag mündig zu ſein. So wird die ganze Frage der Pre߬
freiheit auf den Kopf geſtellt, wenn ſie als ein „Volksrecht“
in Anſpruch genommen wird. Sie iſt nur ein Recht oder
beſſer die Gewalt des Einzelnen. Hat ein Volk Preßfrei¬
heit, ſo habe Ich, obwohl mitten in dieſem Volke, ſie nicht:
eine Volksfreiheit iſt nicht meine Freiheit, und die Preßfrei¬
heit als Volksfreiheit muß ein gegen Mich gerichtetes Pre߬
geſetz zur Seite haben.
Dieß muß überhaupt gegen die heurigen Freiheitsbeſtre¬
bungen geltend gemacht werden:
Volksfreiheit iſt nicht meine Freiheit!
Laſſen Wir die Kategorie: Volksfreiheit und Volksrecht
gelten, z. B. das Volksrecht, daß Jedermann Waffen tragen
darf. Verwirkt man denn nicht ein ſolches Recht? Sein
eigenes Recht kann man nicht verwirken, wohl aber ein Recht,
das nicht Mir, ſondern dem Volke gehört. Ich kann einge¬
ſperrt werden um der Volksfreiheit willen, kann als Sträfling
des Waffenrechts verluſtig gehen.
Der Liberalismus erſcheint als der letzte Verſuch einer
Schöpfung der Volksfreiheit, einer Freiheit der Gemeinde, der
„Geſellſchaft“, des Allgemeinen, der Menſchheit, der Traum
einer mündigen Menſchheit, eines mündigen Volkes, einer
mündigen Gemeinde, einer mündigen „Geſellſchaft“.
Ein Volk kann nicht anders, als auf Koſten des Ein¬
zelnen frei ſein; denn nicht der Einzelne iſt bei dieſer Freiheit
die Hauptſache, ſondern das Volk. Je freier das Volk, deſto
gebundener der Einzelne: das atheniſche Volk ſchuf gerade zur
freieſten Zeit den Oſtracismus, verbannte die Atheiſten, ver¬
giftete den redlichſten Denker.
[282]
Wie rühmt man nicht Sokrates über ſeine Gewiſſenhaf¬
tigkeit, die ihn dem Rache, aus dem Kerker zu entweichen,
widerſtehen läßt. Er iſt ein Thor, daß er den Athenern ein
Recht einräumt, ihn zu verurtheilen. Darum geſchieht ihm
allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf
gleichem Boden ſtehen! Warum bricht er nicht mit ihnen?
Hätte er gewußt und wiſſen können, was er war, er hätte
ſolchen Richtern keinen Anſpruch, kein Recht eingeräumt. Daß
er nicht entfloh, war eben ſeine Schwachheit, ſein Wahn,
mit den Athenern noch Gemeinſames zu haben, oder die Mei¬
nung, er ſei ein Glied, ein bloßes Glied dieſes Volkes. Er
war aber vielmehr dieſes Volk ſelbſt in Perſon und konnte
nur ſein eigener Richter ſein. Es gab keinen Richter über
ihm; wie er ſelbſt denn wirklich einen offenen Richterſpruch
über ſich gefällt und ſich des Prytaneums werth erachtet hatte.
Dabei mußte er bleiben, und wie er kein Todesurtheil gegen
ſich ausgeſprochen hatte, ſo auch das der Athener verachten
und entfliehen. Aber er ordnete ſich unter und erkannte in
dem Volke ſeinen Richter, dünkte ſich klein vor der Majeſtät
des Volkes. Daß er ſich der Gewalt, welcher er allein
unterliegen konnte, als einem „Rechte“ unterwarf, war Ver¬
rath an ihm ſelbſt: es war Tugend. Chriſtus, welcher ſich
angeblich der Macht über ſeine himmliſchen Legionen enthielt,
wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zu¬
geſchrieben. Luther that ſehr wohl und klug, ſich die Sicher¬
heit ſeines Wormſer Zuges verbriefen zu laſſen, und Sokrates
hätte wiſſen ſollen, daß die Athener ſeine Feinde ſeien, er
allein ſein Richter. Die Selbſttäuſchung von einem „Rechts¬
zuſtande, Geſetze“ u. ſ. w. mußte der Einſicht weichen, daß das
Verhältniß ein Verhältniß der Gewalt ſei.
[283]
Mit Rabuliſterei und Intriguen endigte die griechiſche
Freiheit. Warum? Weil die gewöhnlichen Griechen noch
viel weniger jene Conſequenz erreichen konnten, die nicht ein¬
mal ihr Gedankenheld Sokrates zu ziehen vermochte. Was
iſt denn Rabuliſterei anders, als eine Art, ein Beſtehendes
auszunutzen, ohne es abzuſchaffen? Ich könnte hinzuſetzen „zu
eigenem Nutzen“, aber es liegt ja in „Ausnutzung“. Solche
Rabuliſten ſind die Theologen, die Gottes Wort „drehen und
deuteln“; was hätten ſie zu drehen, wenn das „beſtehende“
Gotteswort nicht wäre? So diejenigen Liberalen, die an dem
„Beſtehenden“ nur rütteln und drehen. Alle ſind ſie Ver¬
dreher gleich jenen Rechtsverdrehern. Sokrates erkannte das
Recht, das Geſetz an; die Griechen behielten fortwährend die
Autorität des Geſetzes und Rechtes bei. Wollten ſie bei dieſer
Anerkenntniß gleichwohl ihren Nutzen, wollte Jeder den ſeini¬
gen behaupten, ſo mußten ſie ihn eben in der Rechtsverdre¬
hung oder Intrigue ſuchen. Alcibiades, ein genialer Intri¬
guant, leitet die Periode des athenienſiſchen „Verfalls“ ein;
der Spartaner Lyſander und Andere zeigen, daß die Intrigue
allgemein griechiſch geworden. Das griechiſche Recht, worauf
die griechiſchen Staaten ruhten, mußte von den Egoiſten
innerhalb dieſer Staaten verdreht und untergraben werden,
und es gingen die Staaten zu Grunde, damit die Einzel¬
nen frei wurden, das griechiſche Volk fiel, weil die Einzelnen
aus dieſem Volke ſich weniger machten, als aus ſich. Es ſind
überhaupt alle Staaten, Verfaſſungen, Kirchen u. ſ. w. an
dem Auſtritt der Einzelnen untergegangen; denn der Einzelne
iſt der unverſöhnliche Feind jeder Allgemeinheit, jedes
Bandes, d. h. jeder Feſſel. Dennoch wähnt man bis auf
den heutigen Tag, „heilige Bande“ brauche der Menſch, er,
[284] der Todfeind jedes „Bandes“. Die Weltgeſchichte zeigt, daß
noch kein Band unzeriſſen blieb, zeigt, daß der Menſch ſich
unermüdet gegen Bande jeder Art wehrt, und dennoch ſinnt
man verblendet wieder und wieder auf neue Bande, und meint
z. B. bei dem rechten angekommen zu ſein, wenn man ihm
das Band einer ſogenannten freien Verfaſſung, ein ſchönes,
conſtitutionnelles Band anlegt: die Ordensbänder, die Bande
des Vertrauens zwiſchen „— — —“ ſcheinen nachgerade
zwar etwas mürbe geworden zu ſein, aber weiter als vom
Gängelbande zum Hoſen- und Halsbande hat man's nicht
gebracht.
Alles Heilige iſt ein Band, eine Feſſel.
Alles Heilige wird und muß verdreht werden von Rechts¬
verdrehern; darum hat unſere Gegenwart in allen Sphären
ſolche Verdreher in Menge. Sie bereiten den Rechtsbruch,
die Rechtloſigkeit vor.
Arme Athener, die man der Rabuliſterei und Sophiſtik,
armer Alcibiades, den man der Intrigue anklagt. Das war
ja eben euer Beſtes, euer erſter Freiheitsſchritt. Eure Aeſchy¬
lus, Herodot u. ſ. w. wollten nur ein freies griechiſches
Volk haben; Ihr erſt ahndetet etwas von eurer Freiheit.
Ein Volk unterdrückt diejenigen, welche über ſeine Ma¬
jeſtät hinausragen, durch den Oſtracismus gegen die über¬
mächtigen Bürger, durch die Inquiſition gegen die Ketzer der
Kirche, durch die — Inquiſition gegen die Hochverräther im
Staate u. ſ. w.
Denn dem Volke kommt es nur auf ſeine Selbſtbehaup¬
tung an; es fordert „patriotiſche Aufopferung“ von Jedem.
Mithin iſt ihm Jeder für ſich gleichgültig, ein Nichts, und
es kann nicht machen, nicht einmal leiden, was der Einzelne
[285] und nur dieſer machen muß, nämlich ſeine Verwerthung.
Ungerecht iſt jedes Volk, jeder Staat gegen den Egoiſten.
So lange auch nur Eine Inſtitution noch beſteht, welche
der Einzelne nicht auflöſen darf, iſt die Eigenheit und Selbſt¬
angehörigkeit Meiner noch ſehr fern. Wie kann Ich z. B.
frei ſein, wenn Ich eidlich an eine Conſtitution, eine Charte,
ein Geſetz Mich binden, meinem Volke „Leib und Seele ver¬
ſchwören“ muß? Wie kann Ich eigen ſein, wenn meine Fä¬
higkeiten ſich nur ſo weit entwickeln dürfen, als ſie die „Har¬
monie der Geſellſchaft nicht ſtören“ (Weitling).
Der Untergang der Völker und der Menſchheit wird Mich
zum Aufgange einladen.
Horch, eben da Ich dieß ſchreibe, fangen die Glocken an
zu läuten, um für den morgenden Tag die Feier des tauſend¬
jährigen Beſtandes unſeres lieben Deutſchlands einzuklingeln.
Läutet, läutet ſeinen Grabgeſang! Ihr klingt ja feierlich ge¬
nug, als bewegte eure Zunge die Ahnung, daß ſie einem
Todten das Geleit gebe. Deutſches Volk und deutſche Völker
haben eine Geſchichte von tauſend Jahren hinter ſich: welch
langes Leben! Geht denn ein zur Ruhe, zum Nimmeraufer¬
ſtehen, auf daß Alle frei werden, die Ihr ſo lange in Feſſeln
hieltet. — Todt iſt das Volk. — Wohlauf Ich!
O Du mein vielgequältes, deutſches Volk — was war
deine Qual? Es war die Qual eines Gedankens, der keinen
Leib ſich erſchaffen kann, die Qual eines ſpukenden Geiſtes,
der vor jedem Hahnenſchrei in nichts zerrinnt und doch nach
Erlöſung und Erfüllung ſchmachtet. Auch in Mir haſt Du
lange gelebt, Du lieber — Gedanke, Du lieber — Spuk.
Faſt wähnte Ich ſchon das Wort deiner Erlöſung gefunden,
für den irrenden Geiſt Fleiſch und Bein entdeckt zu haben: da
[286] höre Ich ſie läuten, die Glocken, die Dich zur ewigen Ruhe
bringen, da verhallt die letzte Hoffnung, da ſummt die letzte
Liebe aus, da ſcheide Ich aus dem öden Hauſe der Verſtor¬
benen und kehre ein zu den — Lebendigen:
Denn allein der Lebende hat Recht.
Fahre wohl, Du Traum ſo vieler Millionen, fahre wohl, Du
tauſendjährige Tyrannin deiner Kinder!
Morgen trägt man Dich zu Grabe; bald werden deine
Schweſtern, die Völker, Dir folgen. Sind ſie aber alle ge¬
folgt, ſo iſt — — die Menſchheit begraben, und Ich bin mein
eigen, Ich bin der lachende Erbe!
Das Wort „Geſellſchaft“ hat ſeinen Urſprung in dem
Worte „Sal“. Schließt Ein Saal viele Menſchen ein, ſo
macht's der Saal, daß dieſe Menſchen in Geſellſchaft ſind.
Sie ſind in Geſellſchaft und machen höchſtens eine Salon-
Geſellſchaft aus, indem ſie in den herkömmlichen Salon-Re¬
densarten ſprechen. Wenn es zu wirklichem Verkehr kommt,
ſo iſt dieſer als von der Geſellſchaft unabhängig zu betrachten,
der eintreten oder fehlen kann, ohne die Natur deſſen, was
Geſellſchaft heißt, zu alteriren. Eine Geſellſchaft ſind die im
Saale Befindlichen auch als ſtumme Perſonen, oder wenn ſie
ſich lediglich in leeren Höflichkeitsphraſen abſpeiſen. Verkehr
iſt Gegenſeitigkeit, iſt die Handlung, das commercium der
Einzelnen; Geſellſchaft iſt nur Gemeinſchaftlichkeit des Saales,
und in Geſellſchaft befinden ſich ſchon die Statüen eines Mu¬
ſeum-Saales, ſie ſind „gruppirt“. Man pflegt wohl zu ſagen:
„man habe dieſen Saal gemeinſchaftlich inne“, es iſt aber
vielmehr ſo, daß der Saal Uns inne oder in ſich hat. So
[287] weit die natürliche Bedeutung des Wortes Geſellſchaft. Es
ſtellt ſich dabei heraus, daß die Geſellſchaft nicht durch Mich
und Dich erzeugt wird, ſondern durch ein Drittes, welches aus
Uns beiden Geſellſchafter macht, und daß eben dieſes Dritte
das Erſchaffende, das Geſellſchaft Schaffende iſt.
Ebenſo eine Gefängniß-Geſellſchaft oder Gefängniß-Ge¬
noſſenſchaft (die daſſelbe Gefängniß genießen). Hier gerathen
Wir ſchon in ein inhaltreicheres Drittes, als jenes bloß ört¬
liche, der Saal, war. Gefängniß bedeutet nicht mehr nur einen
Raum, ſondern einen Raum mit ausdrücklicher Beziehung auf
ſeine Bewohner: es iſt ja nur dadurch Gefängniß, daß es für
Gefangene beſtimmt iſt, ohne die es eben ein bloßes Gebäude
wäre. Wer giebt den in ihm Verſammelten ein gemeinſames
Gepräge? Offenbar das Gefängniß, da ſie nur mittelſt des
Gefängniſſes Gefangene ſind. Wer beſtimmt alſo die Lebens¬
weiſe der Gefängniß-Geſellſchaft? Das Gefängniß! Wer
beſtimmt ihren Verkehr? Etwa auch das Gefängniß? Aller¬
dings können ſie nur als Gefangene in Verkehr treten, d. h.
nur ſo weit, als die Gefängniß-Geſetze ihn zulaſſen; aber daß
ſie ſelbſt, Ich mit Dir, verkehren, das kann das Gefängniß
nicht bewirken, im Gegentheil, es muß darauf bedacht ſein,
ſolchen egoiſtiſchen, rein perſönlichen Verkehr (und nur als
ſolcher iſt er wirklich Verkehr zwiſchen Mir und Dir) zu ver¬
hüten. Daß Wir gemeinſchaftlich eine Arbeit verrichten,
eine Maſchine ziehen, überhaupt etwas ins Werk ſetzen, dafür
ſorgt ein Gefängniß wohl; aber daß Ich vergeſſe, Ich ſei ein
Gefangener, und mit Dir, der gleichfalls davon abſieht, einen
Verkehr eingehe, das bringt dem Gefängniß Gefahr, und kann
von ihm nicht nur nicht gemacht, es darf nicht einmal zuge¬
laſſen werden. Aus dieſem Grunde beſchließt die heilige und
[288] ſittlich geſinnte franzöſiſche Kammer, die „einſame Zellenhaft“
einzuführen, und andere Heilige werden ein Gleiches thun,
um den „demoraliſirenden Verkehr“ abzuſchneiden. Die Ge¬
fangenſchaft iſt das Beſtehende und — Heilige, das zu ver¬
letzen kein Verſuch gemacht werden darf. Die leiſeſte Anfech¬
tung der Art iſt ſtrafbar, wie jede Auflehnung gegen ein Heili¬
ges, von dem der Menſch befangen und gefangen ſein ſoll.
Wie der Saal, ſo bildet das Gefängniß wohl eine Ge¬
ſellſchaft, eine Genoſſenſchaft, eine Gemeinſchaft (z. B. Ge¬
meinſchaft der Arbeit), aber keinen Verkehr, keine Gegenſei¬
tigkeit, keinen Verein. Im Gegentheil, jeder Verein im Ge¬
fängniſſe trägt den gefährlichen Samen eines „Complotts“ in
ſich, der unter begünſtigenden Umſtänden aufgehen und Frucht
treiben könnte.
Doch das Gefängniß betritt man gewöhnlich nicht frei¬
willig und bleibt auch ſelten freiwillig darin, ſondern hegt das
egoiſtiſche Verlangen nach Freiheit. Darum leuchtet es hier
eher ein, daß der perſönliche Verkehr ſich gegen die Gefängni߬
geſellſchaft feindſelig verhält und auf die Auflöſung eben dieſer
Geſellſchaft, der gemeinſchaftlichen Haft, ausgeht.
Sehen Wir Uns deshalb nach ſolchen Gemeinſchaften
um, in denen Wir, wie es ſcheint, gerne und freiwillig blei¬
ben, ohne ſie durch Unſere egoiſtiſchen Triebe gefährden zu
wollen.
Als eine Gemeinſchaft der geforderten Art bietet ſich zu¬
nächſt die Familie dar. Aeltern, Gatten, Kinder, Geſchwi¬
ſter ſtellen ein Ganzes vor oder machen eine Familie aus, zu
deren Erweiterung auch noch die herbeigezogenen Seitenver¬
wandten dienen mögen. Die Familie iſt nur dann eine wirk¬
liche Gemeinſchaft, wenn das Geſetz der Familie, die Pietät
[289] oder Familienliebe, von den Gliedern derſelben beobachtet wird.
Ein Sohn, welchem Aeltern und Geſchwiſter gleichgültig ge¬
worden ſind, iſt Sohn geweſen; denn da die Sohnſchaft
ſich nicht mehr wirkſam beweiſt, ſo hat ſie keine größere Be¬
deutung, als der längſt vergangene Zuſammenhang von Mut¬
ter und Kind durch den Nabelſtrang. Daß man einſt in die¬
ſer leiblichen Verbindung gelebt, das läßt ſich als eine geſche¬
hene Sache nicht ungeſchehen machen, und in ſo weit bleibt
man unwiderruflich der Sohn dieſer Mutter und der Bruder
ihrer übrigen Kinder; aber zu einem fortdauernden Zuſammen¬
hange käme es nur durch fortdauernde Pietät, dieſen Familien¬
geiſt. Die Einzelnen ſind nur dann im vollen Sinne Glieder
einer Familie, wenn ſie das Beſtehen der Familie zu ihrer
Aufgabe machen; nur als conſervativ halten ſie ſich fern
davon, an ihrer Baſis, der Familie, zu zweifeln. Eines muß
jedem Familiengliede feſt und heilig ſein, nämlich die Familie
ſelbſt, oder ſprechender: die Pietät. Daß die Familie beſte¬
hen ſoll, das bleibt dem Gliede derſelben, ſo lange es ſich
vom familienfeindlichen Egoismus frei erhält, eine unantaſtbare
Wahrheit. Mit Einem Worte —: Iſt die Familie heilig, ſo
darf ſich Keiner, der zu ihr gehört, losſagen, widrigenfalls er
an der Familie zum „Verbrecher“ wird; er darf niemals ein
familienfeindliches Intereſſe verfolgen, z. B. keine Mißheirath
ſchließen. Wer das thut, der hat „die Familie entehrt“, hat
ihr „Schande gemacht“ u. ſ. w.
Hat nun in einem Einzelnen der egoiſtiſche Trieb nicht
Kraft genug, ſo fügt er ſich und ſchließt eine Heirath, welche
den Anſprüchen der Familie convenirt, ergreift einen Stand,
der mit ihrer Stellung harmonirt u. dergl., kurz er „macht der
Familie Ehre.“
19[290] Wallt hingegen in ſeinen Adern das egoiſtiſche Blut feu¬
rig genug, ſo zieht er es vor, an der Familie zum „Verbre¬
cher“ zu werden und ihren Geſetzen ſich zu entziehen.
Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Fami¬
lienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden
beide friedlich mit einander gehen und der Nutzen, welcher der
Familie zu Theil wird, zugleich der meinige ſein und umge¬
kehrt. Da läßt ſich's ſchwer entſcheiden, ob Ich eigennützig
oder gemeinnützig denke, und Ich ſchmeichle Mir vielleicht
wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt
der Tag, wo ein Entweder — Oder Mich zittern macht, wo
Ich meinen Stammbaum zu entehren, Aeltern, Geſchwiſter,
Verwandte vor den Kopf zu ſtoßen im Begriff ſtehe. Wie
dann? Nun wird ſich's zeigen, wie Ich im Grunde meines
Herzens geſonnen bin; nun wird's offenbar werden, ob Mir
die Pietät jemals höher geſtanden als der Egoismus, nun
wird der Eigennützige ſich nicht länger hinter den Schein der
Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunſch ſteigt in
meiner Seele auf, und wachſend von Stunde zu Stunde wird
er zur Leidenſchaft. Wer denkt auch gleich daran, daß ſchon
der leiſeſte Gedanke, welcher gegen den Familiengeiſt, die Pie¬
tät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denſelben in ſich
trägt, ja wer iſt ſich denn im erſten Augenblick ſogleich der
Sache vollkommen bewußt! Julie in „Romeo und Julie“ er¬
geht es ſo. Die unbändige Leidenſchaft läßt ſich endlich nicht
mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Frei¬
lich werdet Ihr ſagen, die Familie werfe aus Eigenſinn jene
Eigenwilligen, welche ihrer Leidenſchaft mehr Gehör ſchenken
als der Pietät, aus ihrem Schooße; die guten Proteſtanten
haben dieſelbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg
[291] gebraucht und ſelbſt daran geglaubt. Allein es iſt eben eine
Ausflucht, um die Schuld von ſich abzuwälzen, nichts weiter.
Die Katholiken hielten auf den gemeinſamen Kirchenverband,
und ſtießen jene Ketzer nur von ſich, weil dieſelben auf den
Kirchenverband nicht ſo viel hielten, um ihre Ueberzeugungen
ihm zu opfern; jene alſo hielten den Verband feſt, weil der
Verband, die katholiſche, d. h. gemeinſame und einige Kirche,
ihnen heilig war; dieſe hingegen ſetzten den Verband hintan.
Ebenſo die Pietätsloſen. Sie werden nicht ausgeſtoßen, ſon¬
dern ſtoßen ſich aus, indem ſie ihre Leidenſchaft, ihren Eigen¬
willen höher achten als den Familienverband.
Nun glimmt aber zuweilen ein Wunſch in einem minder
leidenſchaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie
war. Die Nachgiebige bringt ſich dem Familienfrieden zum
Opfer. Man könnte ſagen, auch hier walte der Eigennutz
vor, denn der Entſchluß komme aus dem Gefühl, daß die
Nachgiebige ſich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle
als durch die Erfüllung ihres Wunſches. Das möchte ſein;
aber wie, wenn ein ſicheres Zeichen übrig bliebe, daß der
Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunſch,
welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem
er geopfert worden, wenigſtens in der Erinnerung eines einem
heiligen Bande gebrachten „Opfers“ bliebe? Wie, wenn die
Nachgiebige ſich bewußt wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt
gelaſſen und einer höhern Macht ſich demüthig unterworfen zu
haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der
Pietät ſeine Herrſchaft an ihr geübt hat!
Dort hat der Egoismus geſiegt, hier ſiegt die Pietät,
und das egoiſtiſche Herz blutet; dort war der Egoismus ſtark,
hier war er — ſchwach. Die Schwachen aber, das wiſſen
19 *[292] Wir längſt, das ſind die — Uneigennützigen. Für ſie, dieſe
ihre ſchwachen Glieder, ſorgt die Familie, weil ſie der Familie
angehören, Familienangehörige ſind, nicht ſich angehören
und für ſich ſorgen. Dieſe Schwachheit lobt z. B. Hegel,
wenn er der Wahl der Aeltern die Heirathspartie der Kinder
anheimgeſtellt wiſſen will.
Als einer heiligen Gemeinſchaft, welcher der Einzelne
auch Gehorſam ſchuldig iſt, kommt der Familie auch die rich¬
terliche Function zu, wie ein ſolches „Familiengericht“ z. B.
im Cabanis von Wilibald Alexis beſchrieben wird. Da ſteckt
der Vater im Namen des „Familienrathes“ den unfolgſamen
Sohn unter die Soldaten und ſtößt ihn aus der Familie aus,
um mittelſt dieſes Strafactes die befleckte Familie wieder zu
reinigen. — Die conſequenteſte Ausbildung der Familien-Ver¬
antwortlichkeit enthält das chineſiſche Recht, nach welchem für
die Schuld des Einzelnen die ganze Familie zu büßen hat.
Heutigen Tages indeſſen reicht der Arm der Familienge¬
walt ſelten weit genug, um den Abtrünnigen ernſtlich in Strafe
zu nehmen (ſelbſt gegen Enterbung ſchützt der Staat in den
meiſten Fällen). Der Verbrecher an der Familie (Familien-
Verbrecher) flüchtet in das Gebiet des Staates und iſt frei,
wie der Staatsverbrecher, der nach Amerika entkommt, von
den Strafen ſeines Staates nicht mehr erreicht wird. Er,
der ſeine Familie geſchändet hat, der ungerathene Sohn, wird
gegen die Strafe der Familie geſchützt, weil der Staat, dieſer
Schutzherr, der Familienſtrafe ihre „Heiligkeit“ benimmt und
ſie profanirt, indem er decretirt, ſie ſei nur — „Rache“: er
verhindert die Strafe, dieß heilige Familienrecht, weil vor ſei¬
ner, des Staates, „Heiligkeit“ die untergeordnete Heiligkeit
der Familie jedesmal erbleicht und entheiligt wird, ſobald ſie
[293] mit dieſer höhern Heiligkeit in Conflict geräth. Ohne den
Conflict läßt der Staat die kleinere Heiligkeit der Familie gel¬
ten; im entgegengeſetzten Falle aber gebietet er ſogar das Ver¬
brechen gegen die Familie, indem er z. B. dem Sohne auf¬
giebt, ſeinen Aeltern den Gehorſam zu verweigern, ſobald ſie
ihn zu einem Staatsverbrechen verleiten wollen.
Nun, der Egoiſt hat die Bande der Familie zerbrochen
und am Staate einen Schirmherrn gefunden gegen den ſchwer
beleidigten Familiengeiſt. Wohin aber iſt er nun gerathen?
Geradesweges in eine neue Geſellſchaft, worin ſeines Ego¬
ismus dieſelben Schlingen und Netze warten, denen er ſo eben
entronnen. Denn der Staat iſt gleichfalls eine Geſellſchaft,
nicht ein Verein, er iſt die erweiterte Familie. („Landes¬
vater — Landesmutter — Landeskinder.“)
Was man Staat nennt, iſt ein Gewebe und Geflecht von
Abhängigkeit und Anhänglichkeit, iſt eine Zuſammengehö¬
rigkeit, ein Zuſammenhalten, wobei die Zuſammengeordneten
ſich in einander ſchicken, kurz gegenſeitig von einander abhän¬
gen: er iſt die Ordnung dieſer Abhängigkeit. Geſetzt,
der König, deſſen Autorität Allen bis zum Büttel herunter
Autorität verleiht, verſchwände, ſo würden dennoch Alle, in
welchen der Ordnungsſinn wach wäre, die Ordnung gegen
die Unordnung der Beſtialität aufrecht erhalten. Siegte die
Unordnung, ſo wäre der Staat erloſchen.
Iſt dieſer Liebesgedanke aber, ſich in einander zu ſchicken,
an einander zu hängen, und von einander abzuhängen, wirk¬
lich fähig, Uns zu gewinnen? Der Staat wäre hiernach die
realiſirte Liebe, das Füreinanderſein und Füreinanderleben
[294] Aller. Geht über den Ordnungsſinn nicht der Eigenſinn ver¬
loren? Wird man ſich nicht begnügen, wenn durch Gewalt
für Ordnung geſorgt iſt, d. h. dafür, daß Keiner dem Andern
„zu nahe trete“, mithin, wenn die Heerde verſtändig dislo¬
cirt oder geordnet iſt? Es iſt ja dann Alles in „beſter Ord¬
nung“, und dieſe beſte Ordnung heißt eben — Staat!
Unſere Geſellſchaften und Staaten ſind, ohne daß Wir
ſie machen, ſind vereinigt ohne unſere Vereinigung, ſind prä¬
deſtinirt und beſtehen oder haben einen eigenen, unabhängigen
Beſtand, ſind gegen Uns Egoiſten das unauflösliche Beſte¬
hende. Der heurige Weltkampf iſt, wie man ſagt, gegen das
„Beſtehende“ gerichtet. Man pflegt dieß jedoch ſo zu mi߬
verſtehen, als ſollte nur, was jetzt beſteht, mit anderem, beſ¬
ſerem Beſtehenden vertauſcht werden. Allein der Krieg dürfte
vielmehr dem Beſtehen ſelbſt erklärt ſein, d. h. dem Staate
(status), nicht einem beſtimmten Staate, nicht etwa nur dem
derzeitigen Zuſtande des Staates; nicht einen andern Staat
(etwa „Volksſtaat“) bezweckt man, ſondern ſeinen Verein, die
Vereinigung, dieſe ſtets flüſſige Vereinigung alles Beſtandes. —
Ein Staat iſt vorhanden, auch ohne mein Zuthun: Ich werde
in ihm geboren, erzogen, auf ihn verpflichtet und muß ihm
„huldigen“. Er nimmt Mich auf in ſeine „Huld“, und Ich
lebe von ſeiner „Gnade“. So begründet das ſelbſtändige
Beſtehen des Staates meine Unſelbſtändigkeit, ſeine „Natur¬
wüchſigkeit“, ſein Organismus, fordert, daß meine Natur nicht
frei wachſe, ſondern für ihn zugeſchnitten werde. Damit er
naturwüchſig ſich entfalten könne, legt er an Mich die Scheere
der „Cultur“; er giebt Mir eine ihm, nicht Mir, angemeſſene
Erziehung und Bildung, und lehrt Mich z. B. die Geſetze
reſpectiren, der Verletzung des Staatseigenthums (d. h. Pri¬
[295] vateigenthums) Mich enthalten, eine Hoheit, göttliche und
irdiſche, verehren u. ſ. w., kurz er lehrt Mich — unſträflich
ſein, indem Ich meine Eigenheit der „Heiligkeit“ (heilig iſt
alles Mögliche, z. B. Eigenthum, Leben der Andern u. ſ. w.)
„opfere“. Darin beſteht die Art der Cultur und Bildung,
welche Mir der Staat zu geben vermag: er erzieht Mich zu
einem „brauchbaren Werkzeug“, einem „brauchbaren Gliede
der Geſellſchaft.“
Das muß jeder Staat thun, der Volksſtaat ſo gut wie
der abſolute oder conſtitutionelle. Er muß es thun, ſo lange
Wir in dem Irrthum ſtecken, er ſei ein Ich, als welches er
ſich denn den Namen einer „moraliſchen, myſtiſchen oder ſtaat¬
lichen Perſon“ beilegt. Dieſe Löwenhaut des Ichs muß Ich,
der Ich wirklich Ich bin, dem ſtolzirenden Diſtelfreſſer abziehen.
Welchen mannigfachen Raub habe Ich in der Weltgeſchichte
Mir nicht gefallen laſſen. Da ließ Ich Sonne, Mond und
Sternen, Katzen und Krokodilen die Ehre widerfahren, als Ich
zu gelten; da kam Jehova, Allah und Unſer Vater und wur¬
den mit dem Ich beſchenkt; da kamen Familien, Stämme,
Völker und endlich gar die Menſchheit, und wurden als Iche
honorirt; da kam der Staat, die Kirche mit der Prätenſion,
Ich zu ſein, und Ich ſah allem ruhig zu. Was Wunder,
wenn dann immer auch ein wirklich Ich dazu trat und Mir
ins Geſicht behauptete, es ſei nicht mein Du, ſondern mein
eigenes Ich. Hatte das Gleiche doch der Menſchenſohn par
excellence gethan, warum ſollte es nicht auch ein Menſchen¬
ſohn thun? So ſah Ich denn mein Ich immer über und
außer Mir und konnte niemals wirklich zu Mir kommen.
Ich glaubte nie an Mich, glaubte nie an meine Gegen¬
wart und ſah Mich nur in der Zukunft. Der Knabe glaubt,
[296] er werde erſt ein rechtes Ich, ein rechter Kerl ſein, wenn er
ein Mann geworden; der Mann denkt, erſt jenſeits werde er
etwas Rechtes ſein. Und, daß Wir gleich näher auf die
Wirklichkeit eingehen, auch die Beſten reden's heute noch ein¬
ander vor, daß man den Staat, ſein Volk, die Menſchheit und
was weiß Ich Alles in ſich aufgenommen haben müſſe, um
ein wirkliches Ich, ein „freier Bürger“, ein „Staatsbürger“,
ein „freier oder wahrer Menſch“ zu ſein; auch ſie ſehen die
Wahrheit und Wirklichkeit Meiner in der Aufnahme eines
fremden Ich's und der Hingebung an daſſelbe. Und was
für eines Ich's? Eines Ich's, das weder ein Ich noch ein
Du iſt, eines eingebildeten Ich's, eines Spuks.
Während im Mittelalter die Kirche es wohl vertragen
konnte, daß vielerlei Staaten in ihr vereinigt lebten, ſo lernten
die Staaten nach der Reformation, beſonders nach dem drei¬
ßigjährigen Kriege, es toleriren, daß vielerlei Kirchen (Con¬
feſſionen) ſich unter Einer Krone ſammelten. Alle Staaten
ſind aber religiöſe und reſpective „chriſtliche Staaten“, und
ſetzen ihre Aufgabe darin, die Unbändigen, die „Egoiſten“,
unter das Band der Unnatur zu zwingen, d. i. ſie zu chriſtia¬
niſiren. Alle Anſtalten des chriſtlichen Staates haben den
Zweck der Chriſtianiſirung des Volkes. So hat das
Gericht den Zweck, die Leute zur Gerechtigkeit zu zwingen, die
Schule den, zur Geiſtesbildung zu zwingen, kurz den Zweck,
den chriſtlich Handelnden gegen den unchriſtlich Handelnden
zu ſchützen, das chriſtliche Handeln zur Herrſchaft zu brin¬
gen, mächtig zu machen. Zu dieſen Zwangsmitteln rechnete
der Staat auch die Kirche, er verlangte eine — beſtimmte
Religion von Jedem. Dupin ſagte jüngſt gegen die Geiſtlich¬
keit: „Unterricht und Erziehung gehören dem Staate“.
[297]
Staatsſache iſt allerdings alles, was das Princip der
Sittlichkeit angeht. Daher miſcht ſich der chineſiſche Staat ſo
ſehr in die Familienangelegenheit, und man iſt da nichts, wenn
man nicht vor Allem ein gutes Kind ſeiner Aeltern iſt. Die
Familienangelegenheit iſt durchaus auch bei Uns Staatsange¬
legenheit, nur daß unſer Staat in die Familien ohne ängſtliche
Aufſicht — Vertrauen ſetzt: durch den Ehebund hält er die
Familie gebunden, und ohne ihn kann dieſer Bund nicht gelöſt
werden.
Daß der Staat Mich aber für meine Principien verant¬
wortlich macht und gewiſſe von Mir fordert, das könnte Mich
fragen laſſen: Was geht ihn mein „Sparren“ (Princip) an?
Sehr viel, denn er iſt das — herrſchende Princip.
Man meint, in der Eheſcheidungsſache, überhaupt im Eherechte,
handle ſich's um das Maaß von Recht zwiſchen Kirche und
Staat. Vielmehr handelt ſich's darum, ob ein Heiliges
über den Menſchen herrſchen ſolle, heiße dieß nun Glaube
oder Sittengeſetz (Sittlichkeit). Der Staat beträgt ſich als
derſelbe Herrſcher wie die Kirche es that. Dieſe ruht auf
Frömmigkeit, jener auf Sittlichkeit.
Man ſpricht von der Toleranz, dem Freilaſſen der entge¬
gengeſetzten Richtungen u. dgl, wodurch die civiliſirten Staaten
ſich auszeichnen. Allerdings ſind einige ſtark genug, um ſelbſt
den ungebundenſten Meetings zuzuſehen, indeß andere ihren
Schergen auftragen, auf Tabackspfeifen Jagd zu machen.
Allein für einen Staat wie für den anderen iſt das Spiel der
Individuen untereinander, ihr Hin- und Herſummen, ihr täg¬
liches Leben, eine Zufälligkeit, die er wohl ihnen ſelbſt
überlaſſen muß, weil er damit nichts anfangen kann. Manche
ſeigen freilich noch Mücken und verſchlucken Kameele, während
[298] andere geſcheidter ſind. In den letzteren ſind die Individuen
„freier“, weil weniger geſchuhriegelt. Frei aber bin Ich in
keinem Staate. Die gerühmte Toleranz der Staaten iſt
eben nur ein Toleriren des „Unſchädlichen“, „Ungefährlichen“,
iſt nur Erhebung über den Kleinlichkeitsſinn, nur eine achtungs¬
weithere, großartigere, ſtolzere — Despotie. Ein gewiſſer Staat
ſchien eine Zeit lang ziemlich erhaben über die literariſchen
Kämpfe ſein zu wollen, die mit aller Hitze geführt werden
durften; England iſt erhaben über das Volksgewühl und
— Tabackrauchen. Aber wehe der Literatur, die dem Staate
ſelbſt an den Leib geht, wehe den Volksrottirungen, die den
Staat „gefährden“. In jenem gewiſſen Staate träumt man
von einer „freien Wiſſenſchaft“, in England von einem „freien
Volksleben“.
Der Staat läßt die Individuen wohl möglichſt frei ſpie¬
len, nur Ernſt dürfen ſie nicht machen, dürfen ihn nicht
vergeſſen. Der Menſch darf nicht unbekümmert mit dem
Menſchen verkehren, nicht ohne „höhere Aufſicht und Vermitt¬
lung“. Ich darf nicht Alles leiſten, was Ich vermag, ſon¬
dern nur ſo viel, als der Staat erlaubt, Ich darf nicht meine
Gedanken verwerthen, nicht meine Arbeit, überhaupt nichts
Meiniges.
Der Staat hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu
beſchränken, zu bändigen, zu ſubordiniren, ihn irgend einem
Allgemeinen Unterthan zu machen; er dauert nur ſo lange,
als der Einzelne nicht Alles in Allem iſt, und iſt nur die
deutlich ausgeprägte Beſchränktheit Meiner, meine Be¬
ſchränkung, meine Sklaverei. Niemals zielt ein Staat dahin,
die freie Thätigkeit der Einzelnen herbeizuführen, ſondern ſtets
die an den Staatszweck gebundene. Durch den Staat
[299] kommt auch nichts Gemeinſames zu Stande, ſo wenig als
man ein Gewebe die gemeinſame Arbeit aller einzelnen Theile
einer Maſchine nennen kann: es iſt vielmehr die Arbeit der
ganzen Maſchine als einer Einheit, iſt Maſchinenarbeit.
In derſelben Art geſchieht auch Alles durch die Staats¬
maſchine; denn ſie bewegt das Räderwerk der einzelnen Gei¬
ſter, deren keiner ſeinem eigenen Antriebe folgt. Jede freie
Thätigkeit ſucht der Staat durch ſeine Cenſur, ſeine Ueber¬
wachung, ſeine Polizei zu hemmen, und hält dieſe Hemmung
für ſeine Pflicht, weil ſie in Wahrheit Pflicht der Selbſterhal¬
tung iſt. Der Staat will aus den Menſchen etwas machen,
darum leben in ihm nur gemachte Menſchen; jeder, der Er
Selbſt ſein will, iſt ſein Gegner und iſt nichts. „Er iſt nichts“
heißt ſo viel, als: der Staat verwendet ihn nicht, überläßt ihm
keine Stellung, kein Amt, kein Gewerbe u. dergl.
E. Bauer *)träumt in den liberalen Beſtrebungen II,50
noch von einer „Regierung, welche aus dem Volke hervorgehend,
nie gegen daſſelbe in Oppoſition ſtehen könne“. Zwar nimmt
er (S. 69) das Wort „Regierung“ ſelbſt zurück: „In der
Republik gilt gar keine Regierung, ſondern nur eine ausführende
Gewalt. Eine Gewalt, welche rein und allein aus dem Volke
hervorgeht, welche nicht dem Volke gegenüber eine ſelbſtändige
Macht, ſelbſtändige Principien, ſelbſtändige Beamten hat, ſon¬
dern welche in der einzigen, oberſten Staatsgewalt, in dem
Volke ihre Begründung, die Quelle ihrer Macht und ihrer
Principien hat. Der Begriff Regierung paßt alſo gar nicht
[300] in den Volksſtaat.“ Allein die Sache bleibt dieſelbe. Das
„Hervorgegangene, Begründete, Entquollene“ wird ein „Selbſtän¬
diges“ und tritt, wie ein Kind aus dem Mutterleibe entbun¬
den, gleich in Oppoſition. Die Regierung, wäre ſie nichts
Selbſtändiges und Opponirendes, wäre gar nichts.
„Im freien Staate giebt es keine Regierung u. ſ. w.“
(S. 94.) Dieß will doch ſagen, das Volk, wenn es der
Souverain iſt, läßt ſich nicht leiten von einer oberen Ge¬
walt. Iſt's etwa in der abſoluten Monarchie anders? Giebt
es da etwa für den Souverain eine über ihm ſtehende Re¬
gierung? Ueber dem Souverain, er heiße Fürſt oder Volk,
ſteht nie eine Regierung, das verſteht ſich von ſelbſt. Aber
über Mir wird in jedem „Staate“ eine Regierung ſtehen, ſo¬
wohl im abſoluten als im republikaniſchen oder „freien“. Ich
bin in Einem ſo ſchlimm daran, wie im Andern.
Die Republik iſt gar nichts anderes, als die — abſolute
Monarchie: denn es verſchlägt nichts, ob der Monarch Fürſt
oder Volk heiße, da beide eine „Majeſtät“ ſind. Gerade der
Conſtitutionalismus beweiſt, daß Niemand nur Werkzeug ſein
kann und mag. Die Miniſter dominiren über ihren Herrn,
den Fürſten, die Deputirten über ihren Herrn, das Volk. Es
ſind alſo hier wenigſtens ſchon die Parteien frei, nämlich
die Beamtenpartei (ſogenannte Volkspartei). Der Fürſt muß
ſich in den Willen der Miniſter fügen, das Volk nach der
Pfeife der Kammern tanzen. Der Conſtitutionalismus iſt wei¬
ter als die Republik, weil er der in der Auflöſung begriffene
Staat iſt.
E. Bauer leugnet (S. 56), daß das Volk im conſtitu¬
tionellen Staate eine „Perſönlichkeit“ ſei; dagegen alſo in der
Republik? Nun, im conſtitutionellen Staate iſt das Volk —
[301]Partei, und eine Partei iſt doch wohl eine „Perſönlichkeit“,
wenn man einmal von einer „ſtaatlichen“ (S. 76) moraliſchen
Perſon überhaupt ſprechen will. Die Sache iſt die, daß eine
moraliſche Perſon, heiße ſie Volkspartei oder Volk oder auch
„der Herr“, in keiner Weiſe eine Perſon iſt, ſondern ein
Spuk.
Ferner fährt E. Bauer fort (S. 69): „die Bevormundung
iſt das Charakteriſtiſche einer Regierung,“ Wahrlich noch mehr
das eines Volkes und „Volksſtaates“; ſie iſt das Charak¬
teriſtiſche aller Herrſchaft. Ein Volksſtaat, der „alle Macht¬
vollkommenheit in ſich vereinigt“, der „abſolute Herr“, kann
Mich nicht mächtig werden laſſen. Und welche Chimäre, die
„Volksbeamten“ nicht mehr „Diener, Werkzeuge“ nennen zu
wollen, weil ſie den „freien, vernünftigen Geſetzeswillen des
Volkes ausführen“ (S. 73). Er meint (S. 74): „Nur da¬
durch, daß alle Beamtenkreiſe ſich den Anſichten der Regierung
unterordnen, kann Einheit in den Staat gebracht werden;“
ſein Volksſtaat ſoll aber auch „Einheit“ haben; wie wird da
die Unterordnung fehlen dürfen, die Unterordnung unter den —
Volkswillen.
„Im conſtitutionellen Staate iſt es der Regent und ſeine
Geſinnung, worauf am Ende das ganze Regierungsgebäude
beruht.“ (Ebendaſelbſt S. 130.) Wie wäre das anders im
„Volksſtaate“? Werde Ich da nicht auch von der Volks-
Geſinnung regiert und macht es für Mich einen Unter¬
ſchied, ob Ich Mich in Abhängigkeit gehalten ſehe von der
Fürſten-Geſinnung oder von der Volks-Geſinnung, der ſoge¬
nannten „öffentlichen Meinung“? Heißt Abhängigkeit ſo viel
als „religiöſes Verhältniß“, wie E. Bauer richtig aufſtellt, ſo
bleibt im Volksſtaate für Mich das Volk die höhere Macht,
[302] die „Majeſtät“ (denn in der „Majeſtät“ haben Gott und Fürſt
ihr eigentliches Weſen), zu der Ich im religiöſen Verhältniß
ſtehe. — Wie der ſouveraine Regent, ſo würde auch das ſou¬
veraine Volk von keinem Geſetze erreicht werden. Der ganze
E. Bauerſche Verſuch läuft auf einen Herren-Wechſel
hinaus. Statt das Volk frei machen zu wollen, hätte er auf
die einzig realiſirbare Freiheit, auf die ſeinige, bedacht ſein ſollen.
Im conſtitutionellen Staate iſt endlich der Abſolutis¬
mus ſelbſt in Kampf mit ſich gekommen, da er in eine Zwei¬
heit zerſprengt wurde: es will die Regierung abſolut ſein,
und das Volk will abſolut ſein. Dieſe beiden Abſoluten wer¬
den ſich aneinander aufreiben.
E. Bauer eifert dagegen, daß der Regent durch die Ge¬
burt, durch den Zufall gegeben ſei. Wenn nun aber „das
Volk die einzige Macht im Staate“ (S. 132) geworden ſein
wird, haben Wir dann nicht an ihm einen Herrn aus Zu¬
fall? Was iſt denn das Volk? Das Volk iſt immer nur
der Leib der Regierung geweſen: es ſind Viele unter Einem
Hute (Fürſtenhut) oder Viele unter Einer Verfaſſung. Und
die Verfaſſung iſt der — Fürſt. Fürſten und Völker werden
ſo lange beſtehen, als nicht beide zuſammenfallen. Sind
unter Einer Verfaſſung mancherlei „Völker“, z. B. in der alt¬
perſiſchen Monarchie und heute, ſo gelten dieſe „Völker“ nur
als „Provinzen“. Für Mich iſt jedenfalls das Volk eine —
zufällige Macht, eine Natur-Gewalt, ein Feind, den Ich be¬
ſiegen muß.
Was hat man unter einem „organiſirten“ Volke ſich vor¬
zuſtellen (ebendaſelbſt S. 132)? Ein Volk, „das keine Re¬
gierung mehr hat“, das ſich ſelbſt regiert. Alſo worin kein
Ich hervorragt, ein durch den Oſtracismus organiſirtes Volk.
[303] Die Verbannung der Iche, der Oſtracismus, macht das Volk
zum Selbſtherrſcher.
Sprecht Ihr vom Volke, ſo müßt Ihr vom Fürſten re¬
den; denn das Volk, ſoll es Subject ſein und Geſchichte ma¬
chen, muß, wie alles Handelnde, ein Haupt haben, ſein
„Oberhaupt“. Weitling ſtellt dieß im „Trio“ dar, und Proud'¬
hon äußert: une société, pour ainsi dire acephale, ne peut
vivre.*)
Die vox populi wird Uns jetzt immer vorgehalten, und
die „öffentliche Meinung“ ſoll über die Fürſten herrſchen. Ge¬
wiß iſt die vox populi zugleich vox dei, aber ſind ſie beide
etwas nutz, und iſt die vox principis nicht auch vox dei?
Es mag hierbei an die „Nationalen“ erinnert werden.
Von den achtunddreißig Staaten Deutſchlands verlangen, daß
ſie als Eine Nation handeln ſollen, kann nur dem unſin¬
nigen Begehren an die Seite geſtellt werden, daß achtund¬
dreißig Bienenſchwärme, geführt von achtunddreißig Bienen¬
königinnen, ſich zu Einem Schwarme vereinigen ſollen. Bie¬
nen bleiben ſie alle; aber nicht die Bienen als Bienen gehö¬
ren zuſammen und können ſich zuſammenthun, ſondern nur die
unterthänigen Bienen ſind mit den herrſchenden Wei¬
ſeln verbunden. Bienen und Völker ſind willenlos, und es
führt ſie der Inſtinct ihrer Weiſel.
Verwieſe man die Bienen auf ihr Bienenthum, worin ſie
doch Alle einander gleich ſeien, ſo thäte man daſſelbe, was
man jetzt ſo ſtürmiſch thut, indem man die Deutſchen auf ihr
Deutſchthum verweiſt. Das Deuſchthum gleicht ja eben darin
ganz dem Bienenthum, daß es die Nothwendigkeit der Spal¬
[304] tungen und Separationen in ſich trägt, ohne gleichwohl bis
zur letzten Separation vorzudringen, wo mit der vollſtändigen
Durchführung des Separirens das Ende deſſelben erſcheint:
Ich meine, bis zur Separation des Menſchen vom Menſchen.
Das Deutſchthum trennt ſich zwar in verſchiedene Völker und
Stämme, d. h. Bienenkörbe, aber der Einzelne, welcher die
Eigenſchaft hat, ein Deutſcher zu ſein, iſt noch ſo machtlos,
wie die vereinzelte Biene. Und doch können nur Einzelne mit
einander in Verein treten, und alle Völker-Allianzen und Bünde
ſind und bleiben mechaniſche Zuſammenſetzungen, weil die Zu¬
ſammentretenden, ſoweit wenigſtens die „Völker“ als die Zu¬
ſammengetretenen angeſehen werden, willenlos ſind. Erſt
mit der letzten Separation endigt die Separation ſelbſt und
ſchlägt in Vereinigung um.
Nun bemühen ſich die Nationalen, die abſtracte, lebloſe
Einheit des Bienenthums herzuſtellen; die Eigenen aber wer¬
den um die eigen gewollte Einheit, den Verein, kämpfen. Es
iſt dieß das Wahrzeichen aller reactionairen Wünſche, daß ſie
etwas Allgemeines, Abſtractes, einen leeren, lebloſen Be¬
griff herſtellen wollen, wogegen die Eigenen das ſtämmige,
lebenvolle Einzelne vom Wuſt der Allgemeinheiten zu ent¬
laſten trachten. Die Reactionairen möchten gerne ein Volk,
eine Nation aus der Erde ſtampfen; die Eigenen haben nur
Sich vor Augen. Im Weſentlichen fallen die beiden Beſtre¬
bungen, welche heute an der Tagesordnung ſind, nämlich die
Wiederherſtellung der Provinzialrechte, der alten Stammesein¬
theilungen (Franken, Baiern u. ſ. w., Lauſitz u. ſ. w.) und die
Wiederherſtellung der Geſammt-Nationalität in Eins zuſam¬
men. Die Deutſchen werden aber nur dann einig werden,
d. h. ſich vereinigen, wenn ſie ihr Bienenthum ſowohl als
[305] alle Bienenkörbe umſtoßen; mit andern Worten: wenn ſie mehr
ſind als — Deutſche; erſt dann können ſie einen „Deutſchen
Verein“ bilden. Nicht in ihre Nationalität, nicht in den
Mutterleib müſſen ſie zurückkehren wollen, um wiedergeboren
zu werden, ſondern in ſich kehre Jeder ein. Wie lächerlich¬
ſentimental, wenn ein Deutſcher dem andern den Hand¬
ſchlag giebt und mit heiligem Schauer die Hand drückt, weil
„auch er ein Deutſcher iſt“! Damit iſt er was Rechtes!
Aber das wird freilich ſo lange noch für rührend gelten, als
man für „Brüderlichkeit“ ſchwärmt, d. h. als man eine „Fa¬
miliengeſinnung“ hat. Vom Aberglauben der „Pietät“,
von der „Brüderlichkeit“ oder „Kindlichkeit“, oder wie die
weichmüthigen Pietäts-Phraſen ſonſt vom Familien¬
geiſte vermögen die Nationalen, die eine große Familie
von Deutſchen haben wollen, ſich nicht zu befreien.
Uebrigens müßten ſich die ſogenannten Nationalen nur
ſelbſt recht verſtehen, um ſich aus der Verbindung mit den
gemüthlichen Deutſchthümlern zu erheben. Denn die Vereini¬
gung zu materiellen Zwecken und Intereſſen, welche ſie von
den Deutſchen fordern, geht ja auf nichts Anderes, als einen
freiwilligen Verein hinaus. Carriere ruft begeiſtert aus*):
„Die Eiſenbahnen ſind dem tieferblickenden Auge der Weg zu
einem Volksleben, wie es in ſolcher Bedeutung noch nir¬
gends erſchienen iſt.“ Ganz recht, es wird ein Volksleben ſein,
das nirgends erſchienen iſt, weil es kein — Volksleben iſt. —
So beſtreitet denn Carriere S. 10 ſich ſelbſt. „Die reine Menſch¬
lichkeit oder Menſchheit kann nicht beſſer, als durch ein ſeine
Miſſion erfüllendes Volk dargeſtellt werden“. Dadurch ſtellt
20[306] ſich ja nur die Volksthümlichkeit dar. „Die verſchwommene
Allgemeinheit iſt niedriger, als die in ſich geſchloſſene Geſtalt,
die ein Ganzes ſelber iſt, und als lebendiges Glied des wahr¬
haft Allgemeinen, des Organiſirten, lebt“. Es iſt ja eben das
Volk die „verſchwommene Allgemeinheit“, und ein Menſch erſt
die „in ſich geſchloſſene Geſtalt“.
Das Unperſönliche deſſen, was man „Volk, Nation“
nennt, leuchtet auch daraus ein, daß ein Volk, welches ſein
Ich nach beſten Kräften zur Erſcheinung bringen will, den
willenloſen Herrſcher an ſeine Spitze ſtellt. Es befindet
ſich in der Alternative, entweder einem Fürſten unterworfen
zu ſein, der nur ſich, ſein individuelles Belieben verwirk¬
licht — dann erkennt es an dem „abſoluten Herrn“ nicht den
eigenen, den ſogenannten Volkswillen —, oder einen Fürſten
auf den Thron zu ſehen, der keinen eigenen Willen gel¬
tend macht — dann hat es einen willenloſen Fürſten,
deſſen Stelle ein wohlberechnetes Uhrwerk vielleicht eben ſo gut
verſähe —. Deshalb darf die Einſicht nur einen Schritt
weiter gehen, ſo ergiebt ſich von ſelber, daß das Volks-Ich
eine unperſönliche, „geiſtige“ Macht ſei, das — Geſetz. Das
Ich des Volkes, dieß folgt daraus, iſt ein — Spuk, nicht ein
Ich. Ich bin nur dadurch Ich, daß Ich Mich mache, d. h.
daß nicht ein Anderer Mich macht, ſondem Ich mein eigen
Werk ſein muß. Wie aber iſt es mit jenem Volks-Ich?
Der Zufall ſpielt es dem Volke in die Hand, der Zufall
giebt ihm dieſen oder jenen gebornen Herrn, Zufälligkeiten ver¬
ſchaffen ihm den gewählten; er iſt nicht ſein, des „ſouverai¬
nen“ Volkes, Product, wie Ich mein Product bin. Denke
Dir, man wollte Dir einreden, Du wäreſt nicht dein Ich,
ſondern Hans oder Kunz wäre dein Ich! So aber geht's
[307] dem Volke, und ihm mit Recht. Denn das Volk hat ſo wenig
ein Ich, als die elf Planeten zuſammengerechnet ein Ich haben,
obwohl ſie ſich um einen gemeinſamen Mittelpunkt wälzen.
Bezeichnend iſt die Aeußerung Bailly's für die Sklaven¬
geſinnung, welche man vor dem ſouverainen Volke, wie vor
dem Fürſten hat. „Ich habe, ſagt er, keine Extravernunft
mehr, wenn die allgemeine Vernunft ſich ausgeſprochen. Mein
erſtes Geſetz war der Wille der Nation: ſobald ſie ſich ver¬
ſammelt hatte, habe ich nichts weiter gekannt, als ihren ſou¬
verainen Willen.“ Er will keine „Extravernunft“ haben, und
doch leiſtet allein dieſe Extravernunft Alles. Ebenſo eifert
Mirabeau in den Worten: „Keine Macht auf Erden hat das
Recht, zu den Repräſentanten der Nation zu ſagen: Ich will!“
Wie bei den Griechen möchte man den Menſchen jetzt
zu einem zoon politicon machen, einem Staatsbürger oder
politiſchen Menſchen. So galt er lange Zeit als „Him¬
melsbürger“. Der Grieche wurde aber mit ſeinem Staate
zugleich entwürdigt, der Himmelsbürger wird es mit dem Him¬
mel; Wir hingegen wollen nicht mit dem Volke, der Nation
und Nationalität zugleich untergehen, wollen nicht bloß poli¬
tiſche Menſchen oder Politiker ſein. „Volksbeglückung“ ſtrebt
man ſeit der Revolution an, und indem man das Volk glück¬
lich, groß u. dergl. macht, macht man Uns unglücklich: Volks¬
glück iſt — mein Unglück.
Welch' leeres Gerede die politiſchen Liberalen mit empha¬
tiſchem Anſtande machen, das ſieht man wieder recht in Nau¬
werk's „Ueber die Theilnahme am Staate“. Da wird über
die Gleichgültigen und Theilnahmloſen geklagt, die nicht im
vollen Sinne Staatsbürger ſeien, und der Verfaſſer ſpricht ſo,
als könne man gar nicht Menſch ſein, wenn man ſich nicht
20*[308] lebendig am Staatsweſen betheilige, d. h. wenn man nicht
Politiker ſei. Darin hat er Recht; denn wenn der Staat für
den Hüter alles „Menſchlichen“ gilt, ſo können Wir nichts
Menſchliches haben, ohne an ihm Theil zu nehmen. Was
iſt aber damit gegen den Egoiſten geſagt? Gar nichts, weil
der Egoiſt ſich ſelbſt der Hüter des Menſchlichen iſt und mit
dem Staate nur die Worte ſpricht: Geh' Mir aus der Sonne.
Nur wenn der Staat mit ſeiner Eigenheit in Berührung kommt,
nimmt der Egoiſt ein thätiges Intereſſe an ihm. Wenn den
Stubengelehrten der Zuſtand des Staates nicht drückt, ſoll er
ſich mit ihm befaſſen, weil es ſeine „heiligſte Pflicht“ iſt?
So lange der Staat es ihm nach Wunſche macht, was braucht
er da von ſeinen Studien aufzuſehen? Mögen doch diejeni¬
gen, welche die Zuſtände aus eigenem Intereſſe anders haben
wollen, ſich damit beſchäftigen. Die „heilige Pflicht“ wird
nun und nimmermehr die Leute dazu bringen, über den Staat
nachzudenken, ſo wenig als ſie aus „heiliger Pflicht“ Jünger
der Wiſſenſchaft, Künſtler u. ſ. w. werden. Der Egoismus
allein kann ſie dazu antreiben, und er wird es, ſobald es viel
ſchlechter geworden iſt. Zeigtet Ihr den Leuten, daß ihr
Egoismus die Beſchäftigung mit dem Staatsweſen fordere, ſo
würdet Ihr ſie nicht lange aufzurufen haben; appellirt Ihr
hingegen an ihre Vaterlandsliebe u. dergl., ſo werdet Ihr
lange zu dieſem „Liebesdienſte“ tauben Heizen predigen. Frei¬
lich, in eurem Sinne werden ſich die Egoiſten überhaupt nicht
am Staatsweſen betheiligen.
Eine ächt liberale Phraſe bringt Nauwerk S. 16: „Der
Menſch erfüllt erſt damit vollſtändig ſeinen Beruf, daß er ſich
als Mitglied der Menſchheit fühlt und weiß, und als ſolches
wirkſam iſt. Der Einzelne kann die Idee des Menſchen¬
[309] thums nicht verwirklichen, wenn er ſich nicht auf die ganze
Menſchheit ſtützt, nicht aus ihr wie Antäos ſeine Kräfte
ſchöpft.“
Ebendaſelbſt heißt es: „Die Beziehung des Menſchen zur
res publica wird von der theologiſchen Anſicht zur reinen Pri¬
vatſache herabgewürdigt, wird ſomit hinweg geleugnet.“ Als
ob die politiſche Anſicht es mit der Religion anders machte!
Da iſt die Religion eine „Privatſache“.
Wenn ſtatt der „heiligen Pflicht“, der „Beſtimmung des
Menſchen“, des „Berufes zum vollen Menſchenthum“ und
ähnlicher Gebote den Leuten vorgehalten würde, daß ihr Ei¬
gennutz verkümmert werde, wenn ſie im Staate Alles gehen
laſſen, wie's geht, ſo würden ſie ohne Tiraden ſo angeredet,
wie man ſie im entſcheidenden Augenblicke wird anreden müſſen,
wenn man ſeinen Zweck erreichen will. Statt deſſen ſagt der
Theologenfeindliche Verfaſſer: „Wenn irgend eine Zeit, ſo iſt
es auch die unſrige, in welcher der Staat auf alle die Sei¬
nigen Anſprüche macht. — Der denkende Menſch erblickt in
der Betheiligung an der Theorie und Praxis des Staates eine
Pflicht, eine der heiligſten Pflichten, welche ihm obliegen“
— und zieht dann die „unbedingte Nothwendigkeit, daß Jeder¬
mann ſich am Staate betheilige“, näher in Betrachtung.
Politiker iſt und bleibt in alle Ewigkeit der, welchem der
Staat im Kopfe oder im Herzen oder in beiden ſitzt, der vom
Staate Beſeſſene oder der Staatsgläubige.
„Der Staat iſt das nothwendigſte Mittel für die vollſtän¬
dige Entwicklung der Menſchheit.“ Er iſt's allerdings ge¬
weſen, ſo lange Wir die Menſchheit entwickeln wollten; wenn
Wir aber Uns weiden entwickeln wollen, kann er Uns nur ein
Hemmungsmittel ſein.
[310]
Kann man jetzt noch Staat und Volk reformiren und
beſſern? So wenig als den Adel, die Geiſtlichkeit, die Kirche
u. ſ. w.: man kann ſie aufheben, vernichten, abſchaffen, nicht
reformiren. Kann Ich denn einen Unſinn durch Reformiren
in Sinn verwandeln, oder muß ihn geradezu fallen laſſen?
Es iſt fortan nicht mehr um den Staat (die Staats¬
verfaſſung u. ſ. w.) zu thun, ſondern um Mich. Damit ver¬
ſinken alle Fragen über Fürſtenmacht, Conſtitution u. .ſ. w.
in ihren wahren Abgrund und ihr wahres Nichts. Ich, dieſes
Nichts, werde meine Schöpfungen aus Mir hervortreiben.
Zu dem Capitel der Geſellſchaft gehört auch „die Partei“,
deren Lob man jüngſt geſungen hat.
Im Staate gilt die Partei. „Partei, Partei, wer ſollte
ſie nicht nehmen!“ Der Einzelne aber iſt einzig, kein Glied
der Partei. Er vereinigt ſich frei und trennt ſich wieder frei.
Die Partei iſt nichts als ein Staat im Staate, und in dieſem
kleineren Bienenſtaate ſoll dann ebenſo wieder „Friede“ herr¬
ſchen, wie im größeren. Gerade diejenigen, welche am laute¬
ſten rufen, daß im Staate eine Oppoſition ſein müſſe, eifern
gegen jede Uneinigkeit der Partei. Ein Beweis, wie auch ſie
nur einen — Staat wollen. Nicht am Staate, ſondern am
Einzigen zerſcheitern alle Parteien.
Nichts hört man jetzt häufiger als die Ermahnung, ſeiner
Partei treu zu bleiben, nichts verachten Parteimenſchen ſo ſehr
als einen Parteigänger. Man muß mit ſeiner Partei durch
Dick und Dünn laufen und ihre Hauptgrundſätze unbedingt
gutheißen und vertreten. Ganz ſo ſchlimm wie mit geſchloſſe¬
nen Geſellſchaften ſteht es zwar hier nicht, weil jene ihre Mit¬
[311] glieder an feſte Geſetze oder Statuten binden (z. B. die Orden,
die Geſellſchaft Jeſu u. ſ. w.). Aber die Partei hört doch
in demſelben Augenblicke auf, Verein zu ſein, wo ſie gewiſſe
Principien bindend macht und ſie vor Angriffen geſichert
wiſſen will; dieſer Augenblick iſt aber gerade der Geburtsact
der Partei. Sie iſt als Partei ſchon eine geborne Geſell¬
ſchaft, ein todter Verein, eine fix gewordene Idee. Als
Partei des Abſolutismus kann ſie nicht wollen, daß ihre Mit¬
glieder an der unumſtößlichen Wahrheit dieſes Principes zwei¬
feln; ſie könnten dieſen Zweifel nur hegen, wenn ſie egoiſtiſch
genug wären, noch etwas außer ihrer Partei ſein zu wollen,
d. h. unparteiiſche. Unparteiiſch vermögen ſie nicht als Par¬
teimenſchen zu ſein, ſondern nur als Egoiſten. Biſt Du Pro¬
teſtant und gehörſt zu dieſer Partei, ſo darfſt Du den Pro¬
teſtantismus nur rechtfertigen, allenfalls „reinigen“, nicht
verwerfen; biſt Du Chriſt und gehörſt unter den Menſchen
zur chriſtlichen Partei, ſo kannſt Du nicht als Mitglied dieſer
Partei, ſondern nur dann, wenn Dich dein Egoismus, d. h.
Unparteilichkeit, dazu treibt, darüber hinausgehen. Welche
Anſtrengungen haben die Chriſten bis auf Hegel und die
Communiſten herab gemacht, um ihre Partei ſtark zu machen;
ſie blieben dabei, daß das Chriſtenthum die ewige Wahrheit
enthalten müſſe, und man ſie nur herauszufinden, feſtzuſtellen
und zu rechtfertigen brauche.
Kurz die Partei verträgt nicht die Unparteilichkeit, und in
dieſer eben erſcheint der Egoismus. Was ſchiert Mich die
Partei. Ich werde doch genug finden, die ſich mit Mir ver¬
einigen, ohne zu meiner Fahne zu ſchwören.
Wer von einer Partei zur andern übertritt, den ſchimpft
man ſofort einen „Ueberläufer“. Freilich fordert die Sitt¬
[312] lichkeit, daß man zu ſeiner Partei halte, und ihr abtrünnig
werden, heißt ſich mit dem Makel der „Untreue“ beflecken;
allein die Eigenheit kennt kein Gebot der „Treue, Anhänglich¬
keit u. ſ. w.“, die Eigenheit erlaubt Alles, auch die Abtrün¬
nigkeit, den Uebertritt. Unbewußt laſſen ſich auch ſelbſt die
Sittlichen von dieſem Grundſatze leiten, wenn es gilt, einen
zu ihrer Partei Uebertretenden zu beurtheilen, ja ſie machen
wohl Proſelyten; ſie ſollten nur zugleich ſich darüber ein Be¬
wußtſein verſchaffen, daß man unſittlich handeln müſſe, um
eigen zu handeln, d. h. hier, daß man die Treue brechen
müſſe, ja ſelbſt ſeinen Eid, um ſich ſelbſt zu beſtimmen, ſtatt
von ſittlichen Rückſichten beſtimmt zu werden. In den Augen
der Leute von ſtreng ſittlichem Urtheil ſchillert ein Apoſtat
ſtets in zweideutigen Farben, und wird nicht leicht ihr Ver¬
trauen erwerben: ihm klebt ja der Flecken der „Untreue“ an,
d. h. einer Unſittlichkeit. Bei dem niederen Manne findet
man dieſe Anſicht faſt allgemein: die Aufgeklärten gerathen,
wie immer, auch hier in eine Unſicherheit und Verwirrung,
und der in dem Principe der Sittlichkeit nothwendig begrün¬
dete Widerſpruch kommt ihnen wegen der Confuſion ihrer Be¬
griffe nicht zum deutlichen Bewußtſein. Den Apoſtaten gerade¬
hin unſittlich zu nennen, getrauen ſie ſich nicht, weil ſie ſelbſt
zur Apoſtaſie, zum Uebertritt von einer Religion zur andern
u. ſ. w. verleiten, und den Standpunkt der Sittlichkeit ver¬
mögen ſie doch auch nicht aufzugeben. Und doch wäre hier
die Gelegenheit zu ergreifen, um aus der Sittlichkeit hinaus¬
zuſchreiten.
Sind etwa die Eignen oder Einzigen eine Partei? Wie
könnten ſie Eigne ſein, wenn ſie die Angehörigen einer
Partei wären!
[313]
Oder ſoll man es mit keiner Partei halten? Eben indem
man ſich ihnen anſchließt und in ihren Kreis eintritt, knüpft
man einen Verein mit ihnen, der ſo weit dauert, als Partei
und Ich ein und daſſelbe Ziel verfolgen. Aber heute theile
Ich noch die Tendenz der Partei und morgen ſchon kann Ich
es nicht mehr und werde ihr „untreu“. Die Partei hat nichts
Bindendes (Verpflichtendes) für Mich und Ich reſpectire ſie
nicht; gefällt ſie Mir nicht mehr, ſo feinde Ich ſie an.
In jeder Partei, welche auf ſich und ihr Beſtehen hält,
ſind die Mitglieder in dem Grade unfrei oder beſſer uneigen,
ſie ermangeln in dem Grade des Egoismus, als ſie jenem
Begehren der Partei dienen. Die Selbſtändigkeit der Partei
bedingt die Unſelbſtändigkeit der Parteiglieder.
Eine Partei kann, welcher Art ſie auch ſei, niemals ein
Glaubensbekenntniß entbehren. Denn an das Princip
der Partei müſſen ihre Angehörigen glauben, es muß von
ihnen nicht in Zweifel gezogen oder in Frage geſtellt werden,
es muß das Gewiſſe, Unzweifelhafte für das Parteiglied ſein.
Das heißt: Man muß einer Partei mit Leib und Seele ge¬
hören, ſonſt iſt man nicht wahrhaft Parteimann, ſondern mehr
oder minder — Egoiſt. Hege einen Zweifel am Chriſten¬
thum und Du biſt ſchon kein wahrer Chriſt mehr, haſt Dich
zu der „Frechheit“ erhoben, darüber hinaus eine Frage zu
ſtellen und das Chriſtenthum vor deinen egoiſtiſchen Richter¬
ſtuhl zu ziehen. Du haſt Dich am Chriſtenthum, dieſer Partei¬
ſache (denn z. B. Sache der Juden, einer andern Partei, iſt ſie
doch nicht) — verſündigt. Aber wohl Dir, wenn Du Dich
nicht ſchrecken läſſeſt: deine Frechheit verhilft Dir zur Eigenheit.
So könnte ein Egoiſt alſo niemals Partei ergreifen oder
Partei nehmen? Doch, nur kann er ſich nicht von der Partei
[314] ergreifen und einnehmen laſſen. Die Partei bleibt für ihn
allezeit nichts als eine Partie: er iſt von der Partie, er
nimmt Theil.
Der beſte Staat wird offenbar derjenige ſein, welcher die
loyalſten Bürger hat, und je mehr der ergebene Sinn für
Geſetzlichkeit ſich verliert, um ſo mehr wird der Staat
dieſes Syſtem der Sittlichkeit, dieſes ſittliche Leben ſelbſt, an
Kraft und Güte geſchmälert werden. Mit den „guten Bür¬
gern“ verkommt auch der gute Staat und löſt ſich in Anarchie
und Geſetzloſigkeit auf. „Achtung vor dem Geſetze!“ Durch
dieſen Kitt wird das Staatsganze zuſammengehalten. „Das
Geſetz iſt heilig, und wer daran frevelt, ein Verbrecher.“
Ohne Verbrechen kein Staat: die ſittliche Welt — und das
iſt der Staat — ſteckt voll Schelme, Betrüger, Lügner, Diebe
u.ſ.w. Da der Staat die „Herrſchaft des Geſetzes“, die
Hierarchie deſſelben iſt, ſo kann der Egoiſt in allen Fällen, wo
ſein Nutzen gegen den des Staates läuft, nur im Wege des
Verbrechens ſich befriedigen.
Der Staat kann den Anſpruch nicht aufgeben, daß ſeine
Geſetze und Anordnungen heilig ſeien. Dabei gilt dann
der Einzelne gerade ſo für den Unheiligen (Barbaren, na¬
türlichen Menſchen, „Egoiſten“) gegenüber dem Staate, wie er
von der Kirche einſt betrachtet wurde; vor dem Einzelnen
nimmt der Staat den Nimbus eines Heiligen an. So erläßt
er ein Duellgeſetz. Zwei Menſchen, die beide darüber einig
ſind, daß ſie ihr Leben für eine Sache (gleichviel welche) ein¬
ſetzen wollen, ſollen dieß nicht dürfen, weil's der Staat nicht
haben will: er ſetzt eine Strafe darauf. Wo bleibt da die
[315] Freiheit der Selbſtbeſtimmung? Ganz anders verhält es ſich
ſchon, wann, wie z. B. in Nordamerika, ſich die Geſellſchaft
dazu beſtimmt, die Duellanten gewiſſe üble Folgen ihrer
That tragen zu laſſen, z. B. Entziehung des bisher genoſſenen
Credits. Den Credit zu verweigern, das iſt Jedermanns
Sache, und wenn eine Societät ihn aus dieſem oder jenem
Grunde entziehen will, ſo kann ſich der Betroffene deshalb nicht
über Beeinträchtigung ſeiner Freiheit beklagen: die Societät
macht eben nur ihre eigene Freiheit geltend. Das iſt keine
Sündenſtrafe, keine Strafe für ein Verbrechen. Das Duell
iſt da kein Verbrechen, ſondern nur eine That, wider welche
die Societät Gegenmaaßregeln ergreift, eine Abwehr ſtatuirt.
Der Staat hingegen ſtempelt das Duell zu einem Verbrechen,
d. h. zu einer Verletzung ſeines heiligen Geſetzes: er macht es
zu einem Criminalfall. Ueberläßt jene Societät es dem
Beſchluſſe des Einzelnen, ob er ſich üble Folgen und Ungele¬
genheiten durch ſeine Handlungsweiſe zuziehen wolle, und er¬
kennt ſie hierdurch ſeinen freien Entſchluß an, ſo verfährt der
Staat gerade umgekehrt, indem er dem Entſchluſſe des Ein¬
zelnen alles Recht abſpricht, und dafür dem eigenen Beſchluſſe,
dem Staatsgeſetze, das alleinige Recht zuerkennt, ſo daß, wer
gegen das Gebot des Staates ſich vergeht, ſo angeſehen wird,
als handle er wider Gottes Gebot; eine Anſicht, welche gleich¬
falls von der Kirche eingehalten wurde. Gott iſt da der
Heilige an und für ſich, und die Gebote der Kirche wie des
Staates ſind die Gebote dieſes Heiligen, die er der Welt
durch ſeine Geſalbten und Gottesgnaden-Herrn zuſtellt. Hatte
die Kirche Todſünden, ſo hat der Staat todeswürdige
Verbrechen, hatte ſie Ketzer, ſo hat er Hochverräther,
jene Kirchenſtrafen, er Criminalſtrafen, jene inqui¬
[316] ſitoriſche Proceſſe, er fiscaliſche, kurz dort Sünden, hier
Verbrechen, dort Sünder, hier Verbrecher, dort Inquiſition und
hier — Inquiſition. Wird die Heiligkeit des Staats nicht
gleich der kirchlichen fallen? Der Schauer ſeiner Geſetze, die
Ehrfurcht vor ſeiner Hoheit, die Demuth ſeiner „Unterthanen“,
wird dieß bleiben? Wird das „Heiligengeſicht“ nicht verun¬
ziert werden?
Welch' eine Thorheit, von der Staatsgewalt zu verlangen,
daß ſie mit dem Einzelnen einen ehrlichen Kampf eingehen
und, wie man bei der Preßfreiheit ſich ausdrückt, Sonne und
Wind gleich theilen ſolle. Wenn der Staat, dieſer Gedanke,
eine geltende Macht ſein ſoll, ſo muß er eben eine höhere
Macht gegen den Einzelnen ſein. Der Staat iſt „heilig“ und
darf ſich den „frechen Angriffen“ der Einzelnen nicht ausſetzen.
Iſt der Staat heilig, ſo muß Cenſur ſein. Die politiſchen
Liberalen geben das erſtere zu und beſtreiten die Conſequenz.
Jedenfalls aber räumen ſie ihm die Repreſſivmaaßregeln ein,
denn — ſie bleiben dabei, daß Staat mehr ſei als der Ein¬
zelne und eine berechtigte Rache ausübe, Strafe genannt.
Strafe hat nur dann einen Sinn, wenn ſie die Sühne
für die Verletzung eines Heiligen gewähren ſoll. Iſt Einem
etwas heilig, ſo verdient er allerdings, wo er es anfeindet,
Strafe. Ein Menſch, der ein Menſchenleben beſtehen läßt,
weil es ihm heilig iſt, und er eine Scheu vor ſeiner Anta¬
ſtung trägt, iſt eben ein — religiöſer Menſch.
Weitling legt die Verbrechen der „geſellſchaftlichen Unord¬
nung“ zur Laſt und lebt der Erwartung, daß unter communi¬
ſtiſchen Einrichtungen die Verbrechen unmöglich werden, weil
die Verſuchungen zu denſelben, z. B. das Geld, wegfallen.
Da indeß ſeine organiſirte Geſellſchaft auch zur heiligen und
[317] unverletzlichen erhoben wird, ſo verrechnet er ſich bei jener
gutherzigen Meinung. Solche, die ſich mit dem Munde zur
communiſtiſchen Geſellſchaft bekenneten, unter der Hand hin¬
gegen an ihrem Ruin arbeiteten, würden nicht fehlen. Bei
„Heilmitteln gegen den natürlichen Reſt menſchlicher Krank¬
heiten und Schwächen“ muß Weitling ohnehin verbleiben, und
„Heilmittel“ kündigen immer ſchon an, daß man die Einzelnen
als zu einem beſtimmten „Heil berufen“ anſehen, mithin ſie
nach Maaßgabe dieſes „menſchlichen Berufes“ behandeln werde.
Das Heilmittel oder die Heilung iſt nur die Kehrſeite
der Strafe, die Heiltheorie läuft parallel mit der Straf¬
theorie; ſieht dieſe in einer Handlung eine Verſündigung
gegen das Recht, ſo nimmt jene ſie für eine Verſündigung des
Menſchen gegen ſich, als einen Abfall von ſeiner Geſund¬
heit. Das Richtige aber iſt, daß Ich ſie entweder als eine
anſehe, die Mir recht oder Mir nicht recht iſt, als Mir
feindlich oder freundlich, d. h. daß Ich ſie als Mein Eigen¬
thum behandle, welches Ich pflege oder zertrümmere. „Ver¬
brechen“ oder „Krankheit“ iſt beides keine egoiſtiſche Anſicht
der Sache, d. h. keine Beurtheilung von Mir aus, ſondern
von einem Andern aus, ob ſie nämlich entweder das Recht,
das allgemeine, oder die Geſundheit theils des Einzelnen
(des Kranken), theils des Allgemeinen (der Geſellſchaft)
verletzt. Das „Verbrechen“ wird mit Unerbittlichkeit behandelt,
die „Krankheit“ mit „liebreicher Milde, Mitleid“ u. dergl.
Dem Verbrechen folgt die Strafe. Fällt das Verbrechen,
weil das Heilige verſchwindet, ſo muß nicht minder die Strafe
in deſſen Fall hineingezogen werden; denn auch ſie hat nur
einem Heiligen gegenüber Bedeutung. Man hat die Kirchen¬
ſtrafen abgeſchafft. Warum? Weil, wie Jemand ſich gegen
[318] den „heiligen Gott“ benehme, Jedermanns eigene Sache ſei.
Wie aber dieſe eine Strafe, die Kirchenſtrafe, gefallen iſt,
ſo müſſen alle Strafen fallen. Wie die Sünde gegen den
ſogenannten Gott des Menſchen eigene Sache iſt, ſo die gegen
jede Art des ſogenannten Heiligen. Nach unſern Strafrechts¬
theorieen, mit deren „zeitgemäßer Verbeſſerung“ man ſich ver¬
geblich abquält, will man die Menſchen für dieſe oder jene
„Unmenſchlichkeit“ ſtrafen und macht dabei das Alberne die¬
ſer Theorieen durch ihre Conſequenz beſonders deutlich, indem
man die kleinen Diebe hängt und die großen laufen läßt. Für
Eigenthumsverletzung hat man das Zuchthaus, und für „Ge¬
dankenzwang“, Unterdrückung „natürlicher Menſchenrechte“, nur
— Vorſtellungen und Bitten.
Der Criminalcodex hat nur durch das Heilige Beſtand
und verkommt von ſelbſt, wenn man die Strafe aufgiebt. Al¬
lerwärts will man gegenwärtig ein neues Strafgeſetz ſchaffen,
ohne ſich über die Strafe ſelbſt ein Bedenken zu machen.
Gerade die Strafe aber muß der Genugthuung den Platz räu¬
men, die wiederum nicht darauf abzielen kann, dem Rechte
oder der Gerechtigkeit genug zu thun, ſondern Uns ein Ge¬
nüge zu verſchaffen. Thut Uns Einer, was Wir Uns nicht
gefallen lassen wollen, ſo brechen Wir ſeine Gewalt und
bringen die Unſere zur Geltung: Wir befriedigen Uns an
ihm und verfallen nicht in die Thorheit, das Recht (den Spuk)
befriedigen zu wollen. Nicht das Heilige ſoll ſich gegen
den Menſchen wehren, ſondern der Menſch gegen den Men¬
ſchen, ſo wie ja auch nicht mehr Gott ſich gegen den Men¬
ſchen wehrt, dem ſonſt und zum Theil freilich noch jetzt alle
„Diener Gottes“ die Hand boten, um den Läſterer zu ſtrafen,
wie ſie eben heute noch dem Heiligen ihre Hand leihen. Jene
[319] Hingebung an das Heilige bewirkt denn auch, daß man, ohne
lebendigen, eigenen Antheil, die Uebelthäter nur in die Hände
der Polizei und Gerichte liefert: ein theilnahmloſes Ueberant¬
worten an die Obrigkeit, „die ja das Heilige aufs Beſte ver¬
walten wird“. Das Volk iſt ganz toll darauf, gegen Alles
die Polizei zu hetzen, was ihm unſittlich, oft nur unanſtändig
zu ſein ſcheint, und dieſe Volkswuth für das Sittliche beſchützt
mehr das Polizeiinſtitut, als die Regierung es nur irgend
ſchützen könnte.
Im Verbrechen hat ſich ſeither der Egoiſt behauptet und
das Heilige verſpottet: der Bruch mit dem Heiligen, oder viel¬
mehr des Heiligen kann allgemein werden. Eine Revolution
kehrt nicht wieder, aber ein gewaltiges, rückſichtsloſes, ſcham¬
loſes, gewiſſenloſes, ſtolzes — Verbrechen, grollt es nicht
in fernen Donnern, und ſiehſt Du nicht, wie der Himmel
ahnungsvoll ſchweigt und ſich trübt?
Wer ſich weigert, ſeine Kräfte für ſo beengte Geſellſchaf¬
ten, wie Familie, Partei, Nation zu verwenden, der ſehnt ſich
immer noch nach einer würdigeren Geſellſchaft und meint etwa
in der „menſchlichen Geſellſchaft“ oder der „Menſchheit“ das
wahre Liebesobject gefunden zu haben, dem ſich zu opfern
ſeine Ehre ausmache: von nun an „lebt und dient er der
Menſchheit“.
Volk heißt der Körper, Staat der Geiſt jener herr¬
ſchenden Perſon, die ſeither Mich unterdrückt hat. Man
hat Völker und Staaten dadurch verklären wollen, daß man
ſie zur „Menſchheit“ und „allgemeinen Vernunft“ erweiterte;
allein die Knechtſchaft würde bei dieſer Ausweitung nur noch
[320] intenſiver werden, und die Philanthropen und Humanen ſind
ſo abſolute Herrn als die Politiker und Diplomaten.
Neuere Kritiker eifern gegen die Religion, weil ſie Gott,
das Göttliche, Sittliche u. ſ. w. außer dem Menſchen ſetze
oder zu etwas Objectivem mache, wogegen ſie eben dieſe Sub¬
jecte vielmehr in den Menſchen verlegen. Allein in den eigent¬
lichen Fehler der Religion, dem Menſchen eine „Beſtimmung“
zu geben, verfallen jene Kritiker nicht minder, indem auch ſie
ihn göttlich, menſchlich u. dgl. wiſſen wollen: Sittlichkeit,
Freiheit und Humanität u. ſ. w. ſei ſein Weſen. Und wie
die Religion, ſo wollte auch die Politik den Menſchen „er¬
ziehen“, ihn zur Verwirklichung ſeines „Weſens“, ſeiner
„Beſtimmung“ bringen, etwas aus ihm machen, nämlich
einen „wahren Menſchen“, die eine in der Form des „wahren
Gläubigen“, die andere in der des „wahren Bürgers oder
Unterthanen“. In der That kommt es auf Eins hinaus, ob
man die Beſtimmung das Göttliche oder Menſchliche nennt.
Unter Religion und Politik befindet ſich der Menſch auf
dem Standpunkte des Sollens: er ſoll dieß und das wer¬
den, ſoll ſo und ſo ſein. Mit dieſem Poſtulat, dieſem Gebote
tritt nicht nur Jeder vor den Andern hin, ſondern auch vor
ſich ſelbſt. Jene Kritiker ſagen: Du ſollſt ein ganzer, ein freier
Menſch ſein. So ſtehen auch ſie in der Verſuchung, eine
neue Religion zu proclamiren, ein neues Abſolutes, ein Ideal
aufzuſtellen, nämlich die Freiheit. Die Menſchen ſollen frei
werden. Da könnten ſelbſt Miſſionaire der Freiheit erſte¬
hen, wie das Chriſtenthum in der Ueberzeugung, daß Alle
eigentlich dazu beſtimmt ſeien, Chriſten zu werden, Miſſionaire
des Glaubens ausſandte. Die Freiheit würde dann, wie bis¬
her der Glaube als Kirche, die Sittlichkeit als Staat, ſo als
[321] eine neue Gemeinde ſich conſtituiren und von ihr aus eine
gleiche „Propaganda“ betreiben. Allerdings läßt ſich gegen
ein Zuſammentreten kein Einwand aufbringen; um ſo mehr
aber muß man jeder Erneuerung der alten Fürſorge, der
Heranbildung, kurz dem Principe, aus Uns etwas zu ma¬
chen, gleichviel ob Chriſten, Unterthanen oder Freie und
Menſchen, entgegentreten.
Wohl kann man mit Feuerbach und Andern ſagen, daß
die Religion das Menſchliche aus dem Menſchen hinausgerückt
und in ein Jenſeits ſo verlegt habe, daß es dort unerreich¬
bar als ein für ſich Perſönliches, als ein „Gott“ ſein ei¬
genes Daſein führte; allein der Irrthum der Religion iſt
damit keineswegs erſchöpft. Man könnte ſehr wohl die Per¬
ſönlichkeit des entrückten Menſchlichen fallen laſſen, könnte
den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch
religiös. Denn das Religiöſe beſteht in der Unzufriedenheit
mit dem gegenwärtigen Menſchen, d. h. in der Aufſtel¬
lung einer zu erſtrebenden „Vollkommenheit“, in dem
„nach ſeiner Vollendung ringenden Menſchen“.* *)(„Darum
ſollt Ihr vollkommen ſein, wie Euer Vater im Himmel voll¬
kommen iſt“. Matth. V, 48.): es beſteht in der Fixirung
eines Ideals, eines Abſoluten. Die Vollkommenheit iſt
das „höchſte Gut“, der finis bonorum; das Ideal eines
Jeden iſt der vollkommene Menſch, der wahre, der freie
Menſch u. ſ. w.
Die Beſtrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal
des „freien Menſchen“ aufzuſtellen. Könnte man's finden,
gäb's eine neue — Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein
21[322] neues Sehnen, ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine
neue Gottheit, eine neue Zerknirſchung.
Mit dem Ideal der „abſoluten Freiheit“ wird daſſelbe
Unweſen getrieben, wie mit allem Abſoluten, und nach Heß
z. B. ſoll ſie „in der abſoluten menſchlichen Geſellſchaft rea¬
liſirbar ſein“. *)Ja dieſe Verwirklichung wird gleich nachher
ein „Beruf“ genannt; ebenſo beſtimmt er dann die Freiheit als
„Sittlichkeit“: es ſoll das Reich der „Gerechtigkeit“ (d. i. Gleich¬
heit) und „Sittlichkeit“ (d. i. Freiheit) beginnen u. ſ. w.
Lächerlich iſt, wer, während Genoſſen ſeines Stammes,
Familie, Nation u. ſ. w. viel gelten, — nichts iſt als „auf¬
gebläht“ über der Genoſſen Verdienſt; verblendet aber auch
derjenige, der nur „Menſch“ ſein will. Keiner von ihnen ſetzt
ſeinen Werth in die Ausſchließlichkeit, ſondern in die
Verbundenheit oder in das „Band“, welches ihn mit An¬
dern zuſammenſchließt, in die Blutsbande, Nationalbande,
Menſchheitsbande.
Durch die heurigen „Nationalen“ iſt der Streit wieder
rege geworden zwiſchen denen, welche bloß menſchliches Blut
und menſchliche Blutsbande zu haben meinen, und den andern,
welche auf ihr ſpecielles Blut und die ſpeciellen Blutsbande
pochen.
Sehen Wir davon ab, daß Stolz eine Ueberſchätzung
ausdrücken könnte, und nehmen Wir's allein für Bewußtſein,
ſo findet ſich ein ungeheurer Abſtand zwiſchen dem Stolze dar¬
auf, einer Nation „anzugehören“, alſo ihr Eigenthum zu ſein,
und dem, eine Nationalität ſein Eigenthum zu nennen. Die
Nationalität iſt meine Eigenſchaft, die Nation aber meine Eig¬
[323] nerin und Herrin. Haſt Du Körperſtärke, ſo kannſt Du ſie
geeigneten Ortes anwenden und auf ſie ein Selbſtgefühl oder
Stolz haben; hat hingegen dein ſtarker Körper Dich, ſo juckt er
Dich überall und am ungeeignetſten Orte, ſeine Stärke zu zeigen:
Du kannſt Keinem die Hand geben, ohne ſie ihm zu drücken.
Die Einſicht, daß man mehr als Familienglied, mehr als
Stammesgenoſſe, mehr als Volksindividuum u. ſ. w. ſei, hat
endlich dahin geführt zu ſagen: man iſt mehr als alles dieß,
weil man Menſch iſt, oder: der Menſch iſt mehr als der Jude,
Deutſche u. ſ. w. „Darum ſei Jeder ganz und allein —
Menſch!“ Konnte man nicht lieber ſagen: Weil Wir mehr
als das Angegebene ſind, darum wollen Wir ſowohl dieß als
auch jenes „mehr“ ſein? Alſo Menſch und Deutſcher, Menſch
und ein Welfe u. ſ. w.? Die Nationalen haben Recht; man
kann ſeine Nationalität nicht verleugnen, und die Humanen
haben Recht: man muß nicht in der Bornirtheit des Natio¬
nalen bleiben. In der Einzigkeit löſt ſich der Widerſpruch:
das Nationale iſt meine Eigenſchaft. Ich aber gehe nicht in
meiner Eigenſchaft auf, wie auch das Menſchliche meine Ei¬
genſchaft iſt, Ich aber dem Menſchen erſt durch meine Einzig¬
keit Exiſtenz gebe.
Die Geſchichte ſucht den Menſchen: er iſt aber Ich, Du,
Wir. Geſucht als ein myſteriöſes Weſen, als das Göttliche,
erſt als der Gott, dann als der Menſch (die Menſchlich¬
keit, Humanität und Menſchheit), wird er gefunden als der
Einzelne, der Endliche, der Einzige.
Ich bin Eigner der Menſchheit, bin die Menſchheit und
thue nichts für das Wohl einer andern Menſchheit. Thor,
der Du eine einzige Menſchheit biſt, daß Du Dich aufſpreizeſt,
für eine andere, als Du ſelbſt biſt, leben zu wollen.
21 *[324]
Das bisher betrachtete Verhältniß Meiner zur Men¬
ſchenwelt bietet einen ſolchen Reichthum an Erſcheinungen
dar, daß es bei anderen Gelegenheiten wieder und wieder auf¬
genommen, hier aber, wo es nur im Großen anſchaulich ge¬
macht werden ſollte, abgebrochen werden muß, um einer Auf¬
faſſung zweier andern Seiten, nach denen hin es ausſtrahlt,
Platz zu machen. Da Ich Mich nämlich nicht bloß zu den
Menſchen, ſo weit ſie den Begriff „Menſch“ in ſich darſtellen
oder Menſchenkinder ſind (Kinder des Menſchen, wie von
Kindern Gottes geredet wird), in Beziehung finde, ſondern
auch zu dem, was ſie von dem Menſchen haben und ihr Eige¬
nes nennen, alſo Mich nicht allein auf das, was ſie durch
den Menſchen ſind, ſondern auch auf ihre menſchliche Habe
beziehe: ſo wird außer der Menſchenwelt auch die Sinnen- und
Ideenwelt in den Kreis der Beſprechung zu ziehen und ſowohl
von dem, was die Menſchen an ſinnlichen, als dem, was ſie
an geiſtigen Gütern ihr eigen nennen, einiges zu ſagen ſein.
Je nachdem man den Begriff des Menſchen entwickelt
und ſich vorſtellig gemacht hatte, gab man Uns denſelben als
dieſe oder jene Reſpectsperſon zu achten, und aus dem
weiteſten Verſtändniß dieſes Begriffes ging endlich das Gebot
hervor: „in Jedem den Menſchen zu reſpectiren“. Reſpectire
Ich aber den Menſchen, ſo muß mein Reſpect ſich gleichfalls
auf das Menſchliche oder das, was des Menſchen iſt, erſtrecken.
Es haben die Menſchen Eigenes, und Ich ſoll dieß
Eigene anerkennen und heilig halten. Ihr Eigenes beſteht theils
in äußerlicher, theils in innerlicher Habe. Jenes ſind Dinge,
dieſes Geiſtigkeiten, Gedanken, Ueberzeugungen, edle Gefühle
u.ſ.w. Aber immer nur die rechtliche oder menſchliche Habe
ſoll Ich reſpectiren; die unrechtliche und unmenſchliche brauche
[325] Ich nicht zu ſchonen, denn der Menſchen wirklich Eigenes iſt
nur das Eigene des Menſchen. Innerliche Habe dieſer Art iſt
z. B. die Religion; weil die Religion frei, d. h. des Men¬
ſchen iſt, darum darf Ich ſie nicht antaſten. Ebenſo iſt eine
innerliche Habe die Ehre; ſie iſt frei und darf von Mir nicht
angetaſtet werden. (Injurienklage, Carricaturen u. ſ. w.) Re¬
ligion und Ehre ſind „geiſtiges Eigenthum“. Im dinglichen
Eigenthum ſteht obenan die Perſon: meine Perſon iſt mein
erſtes Eigenthum. Daher Freiheit der Perſon; aber nur die
rechtliche oder menſchliche Perſon iſt frei, die andere wird
eingeſperrt. Dein Leben iſt Dein Eigenthum; es iſt aber den
Menſchen nur heilig, wenn es nicht das eines Unmenſchen iſt.
Was der Menſch als ſolcher an körperlichen Gütern nicht
behaupten kann, dürfen Wir ihm nehmen: dieß der Sinn der
Concurrenz, der Gewerbefreiheit. Was er an geiſtigen Gütern
nicht behaupten kann, verfällt Uns gleichfalls: ſo weit geht die
Freiheit der Discuſſion, der Wiſſenſchaft, der Kritik.
Aber unantaſtbar ſind die geheiligten Güter. Gehei¬
ligt und garantirt durch wen? Zunächſt durch den Staat, die
Geſellſchaft, eigentlich aber durch den Menſchen oder den „Be¬
griff“, den „Begriff der Sache“: denn der Begriff der gehei¬
ligten Güter iſt der, daß ſie wahrhaft menſchliche ſeien, oder
vielmehr, daß ſie der Inhaber als Menſch und nicht als Un¬
menſch beſitze.
Geiſtiger Seits iſt ein ſolches Gut der Glaube des Men¬
ſchen, ſeine Ehre, ſein ſittliches, ja ſein Anſtands-, Scham¬
gefühl u. ſ. w. Ehrenrührige Handlungen (Reden, Schriften)
ſind ſtrafbar; Angriffe auf „den Grund aller Religion“; An¬
griffe auf den politiſchen Glauben, kurz Angriffe auf Alles,
was ein Menſch „mit Recht“ hat.
[326]
Wie weit der kritiſche Liberalismus die Heiligkeit der
Güter ausdehnen würde, darüber hat er noch keinen Ausſpruch
gethan und wähnt auch wohl, aller Heiligkeit abhold zu ſein;
allein da er gegen den Egoismus ankämpft, ſo muß er dieſem
Schranken ſetzen und darf den Unmenſchen nicht über das
Menſchliche herfallen laſſen. Seiner theoretiſchen Verachtung
der „Maſſe“ müßte, wenn er die Gewalt gewönne, eine prakti¬
ſche Zurückweiſung entſprechen.
Welche Ausdehnung der Begriff „Menſch“ erhalte, und
was durch ihn dem einzelnen Menſchen zukomme, was alſo
der Menſch und das Menſchliche ſei, darüber liegen die ver¬
ſchiedenen Stufen des Liberalismus aus einander, und der
politiſche, der ſociale, der humane Menſch nehmen, der eine
immer mehr als der andere, für „den Menſchen“ in Anſpruch.
Wer dieſen Begriff am beſten gefaßt hat, der weiß am beſten,
was „des Menſchen“ iſt. Der Staat faßt dieſen Begriff noch
in politiſcher, die Geſellſchaft in ſocialer Beſchränktheit, die
Menſchheit erſt, ſo heißt es, erfaßt ihn ganz oder „die Ge¬
ſchichte der Menſchheit entwickelt ihn“. Iſt aber „der Menſch
gefunden“, dann kennen Wir auch das dem Menſchen Eigene,
das Eigenthum des Menſchen, das Menſchliche.
Mag aber der einzelne Menſch darum, weil ihn der
Menſch oder der Begriff Menſch, d. h. weil ihn ſein Menſch¬
ſein dazu „berechtigt“, auf noch ſo viel Rechte Anſpruch machen:
was kümmelt Mich ſein Recht und ſein Anſpruch? Hat er
ſein Recht nur von dem Menſchen und hat er's nicht von
Mir, ſo hat er für Mich kein Recht. Sein Leben z.B.
gilt Mir nur, was Mir's werth iſt. Ich reſpectire weder
ſein ſogenanntes Eigenthumsrecht oder ſein Recht auf dingliche
Güter, noch auch ſein Recht auf das „Heiligthum ſeines In¬
[327] nern“, oder ſein Recht darauf, daß dir geiſtigen Güter und
Göttlichkeiten, ſeine Götter, ungekränkt bleiben. Seine Güter,
die ſinnlichen wie die geiſtigen, ſind mein und Ich ſchalte
damit als Eigenthümer nach dem Maaße meiner — Gewalt.
Die Eigenthumsfrage birgt einen weiteren Sinn in
ſich, als die beſchränkte Fragſtellung herauszubringen erlaubt.
Auf das, was man unſere Habe nennt, allein bezogen, iſt ſie
keiner Löſung fähig; die Entſcheidung findet ſich erſt bei dem,
„von welchem Wir Alles haben“. Vom Eigner hängt das
Eigenthum ab.
Die Revolution richtete ihre Waffen gegen Alles, was
„von Gottes Gnaden“ kam, z.B. gegen das göttliche Recht,
an deſſen Statt das menſchliche befeſtigt wurde. Dem von
Gottes Gnaden Verliehenen wird das „aus dem Weſen des
Menſchen“ Hergeleitete entgegengeſtellt.
Wie nun das Verhältniß der Menſchen zu einander im
Gegenſatz zum religiöſen Dogma, welches ein „Liebet Euch
unter einander um Gottes willen“ gebietet, ſeine menſchliche
Stellung durch ein „Liebet einander um des Menſchen willen“
erhalten mußte, ſo konnte die revolutionaire Lehre nicht anders,
als, was zunächſt die Beziehung der Menſchen auf die Dinge die¬
ſer Welt betrifft, feſtſtellen, daß die Welt, die bisher nach Got¬
tes Ordnung eingerichtet war, hinfort „dem Menſchen“ gehöre.
Die Welt gehört „dem Menſchen“, und ſoll von Mir als
ſein Eigenthum reſpectirt werden.
Eigenthum iſt das Meinige!
Eigenthum im bürgerlichen Sinne beteutet heiliges Ei¬
genthum, der Art, daß Ich dein Eigenthum reſpectiren
muß. „Reſpect vor dem Eigenthum!“ Daher möchten die
Politiker, daß Jeder ſein Stückchen Eigenthum beſäße, und
[328] haben durch dieß Beſtreben zum Theil eine unglaubliche Par¬
cellirung herbeigeführt. Jeder muß ſeinen Knochen haben,
daran er was zu beißen finde.
Anders verhält ſich die Sache im egoiſtiſchen Sinne. Von
deinem und eurem Eigenthum trete Ich nicht ſcheu zurück, ſon¬
dern ſehe es ſtets als mein Eigenthum an, woran Ich nichts
zu „reſpectiren“ brauche. Thuet doch desgleichen mit dem, was
Ihr mein Eigenthum nennt!
Bei dieſer Anſicht werden Wir Uns am leichteſten mit
einander verſtändigen.
Die politiſchen Liberalen tragen Sorge, daß wo möglich
alle Servituten abgelöſt werden, und Jeder freier Herr auf
ſeinem Grunde ſei, wenn dieſer Grund auch nur ſo viel Bo¬
dengehalt hat, als von dem Dünger Eines Menſchen ſich hin¬
länglich ſättigen läßt. (Jener Bauer heirathete noch im Alter,
„damit er vom Kothe ſeiner Frau profitire.“) Sei es auch noch
ſo klein, wenn man nur Eigenes, nämlich ein reſpectirtes
Eigenthum hat! Je mehr ſolcher Eigener, ſolcher Kothſaſſen,
deſto mehr „freie Leute und gute Patrioten“ hat der Staat.
Es rechnet der politiſche Liberalismus, wie alles Religiöſe,
auf den Reſpect, die Humanität, die Liebestugenden. Darum
lebt er auch in unaufhörlichem Aerger. Denn in der Praxis
reſpectiren eben die Leute nichts, und alle Tage werden die
kleinen Beſitzungen wieder von größeren Eigenthümern aufge¬
kauft, und aus den „freien Leuten“ werden Tagelöhner.
Hätten dagegen die „kleinen Eigenthümer“ bedacht, daß
auch das große Eigenthum das ihrige ſei, ſo hätten ſie ſich
nicht ſelber reſpectvoll davon ausgeſchloſſen, und würden nicht
ausgeſchloſſen worden ſein.
Das Eigenthum, wie die bürgerlichen Liberalen es ver¬
[329] ſtehen, verdient die Angriffe der Communiſten und Proud'hons:
es iſt unhaltbar, weil der bürgerliche Eigenthümer wahrhaft
nichts als ein Eigenthumsloſer, ein überall Ausgeſchloſſener
iſt. Statt daß ihm die Welt gehören könnte, gehört ihm nicht
einmal der armſelige Punkt, auf welchem er ſich herumdreht.
Proud'hon will nicht den propriétaire, ſondern den pos¬
sesseur oder usufruitier. *)Was heißt das? Er will, daß
der Boden nicht Einem gehöre; aber der Nutzen deſſelben —
und geſtände man ihm auch nur den hundertſten Theil dieſes
Nutzens, dieſer Frucht, zu — der iſt ja doch ſein Eigenthum,
mit welchem er nach Belieben ſchalten kann. Wer nur den
Nutzen eines Ackers hat, iſt allerdings nicht der Eigenthümer
deſſelben; noch weniger, wer, wie Proud'hon will, von dieſem
Nutzen ſo viel abgeben muß, als zu ſeinem Bedarf nicht noth¬
wendig erfordert wird; allein er iſt der Eigenthümer des ihm
verbleibenden Antheils. Alſo negirt Proud'hon nur dieß und
jenes Eigenthum, nicht das Eigenthum. Wenn Wir den
Grundeigenthümern den Grund nicht länger laſſen, ſondern
Uns zueignen wollen, ſo vereinigen Wir Uns zu dieſem Zwecke,
bilden einen Verein, eine société, die ſich zur Eigenthümerin
macht; glückt es Uns, ſo hören jene auf, Grundeigenthümer
zu ſein. Und wie von Grund und Boden, ſo können Wir ſie
noch aus manchem andern Eigenthum hinausjagen, um es zu
unſerm Eigenthum zu machen, zum Eigenthum der —
Erobernden. Die Erobernden bilden eine Societät, die
man ſich ſo groß denken kann, daß ſie nach und nach die ganze
Menſchheit umfaßt; aber auch die ſogenannte Menſchheit iſt
als ſolche nur ein Gedanke (Spuk); ihre Wirklichkeit ſind die
[330] Einzelnen. Und dieſe Einzelnen werden als eine Geſammt¬
maſſe nicht weniger willkührlich mit Grund und Boden um¬
gehen, als ein vereinzelter Einzelner, oder ſogenannter pro¬
priétaire. Auch ſo bleibt alſo das Eigenthum beſtehen,
und zwar auch als „ausſchließlich“, indem die Menſchheit,
dieſe große Societät, den Einzelnen von ihrem Eigenthum
ausſchließt (ihm vielleicht nur ein Stück davon verpachtet, zu
Lehn giebt), wie ſie ohnehin alles, was nicht Menſchheit iſt,
ausſchließt, z. B. die Thierwelt nicht zum Eigenthum kommen
läßt. — So wird's auch bleiben und werden. Dasjenige,
woran Alle Antheil haben wollen, wird demjenigen Ein¬
zelnen entzogen werden, der es für ſich allein haben will, es
wird zu einem Gemeingut gemacht. Als an einem Ge¬
meingut hat Jeder daran ſeinen Antheil, und dieſer An¬
theil iſt ſein Eigenthum. So iſt ja auch in unſeren alten
Verhältniſſen ein Haus, welches fünf Erben gehört, ihr Ge¬
meingut; der fünfte Theil des Ertrages aber iſt eines Jeden
Eigenthum. Proud'hon konnte ſein weitläuftiges Pathos ſpa¬
ren, wenn er ſagte: Es giebt einige Dinge, die nur Wenigen
gehören, und auf die Wir übrigen von nun an Anſpruch oder
— Jagd machen wollen. Laßt ſie Uns nehmen, weil man
durch's Nehmen zum Eigenthum kommt, und das für jetzt noch
uns entzogene Eigenthum auch nur durch's Nehmen an die
Eigenthümer gekommen iſt. Es wird ſich beſſer nutzen laſſen,
wenn es in Unſer Aller Händen iſt, als wenn die Weni¬
gen darüber verfügen. Aſſociiren wir Uns daher zu dem Zwecke
dieſes Raubes (vol). — Dafür ſchwindelt er Uns vor, die
Societät ſei die urſprüngliche Beſitzerin und die einzige Eigen¬
thümerin von unverjährbarem Rechte; an ihr ſei der ſogenannte
Eigenthümer zum Diebe geworden. (La propriété c'est le
[331] vol); wenn ſie nun dem dermaligen Eigenthümer ſein Eigen¬
thum entziehe, ſo raube ſie ihm nichts, da ſie nur ihr unver¬
jährbares Recht geltend mache. — So weit kommt man mit
dem Spuk der Societät als einer moraliſchen Perſon.
Im Gegentheil gehört dem Menſchen, was er erlangen kann:
Mir gehört die Welt. Sagt Ihr etwas anderes mit dem
entgegengeſetzten Satze: „Allen gehört die Welt“? Alle ſind
Ich und wieder Ich u. ſ. w. Aber Ihr macht aus den
„Allen“ einen Spuk, und macht ihn heilig, ſo daß dann die
„Alle“ zum fürchterlichen Herrn des Einzelnen werden. Auf
ihre Seite ſtellt ſich dann das Geſpenſt des „Rechtes“.
Proud'hon, wie die Communiſten, kämpfen gegen den
Egoismus. Darum ſind ſie Fortſetzungen und Conſequen¬
zen des chriſtlichen Princips, des Princips der Liebe, der Auf¬
opferung für ein Allgemeines, ein Fremdes. Sie vollenden
z. B. im Eigenthum nur, was längſt der Sache nach vor¬
handen iſt, nämlich die Eigenthumsloſigkeit des Einzelnen.
Wenn es im Geſetze heißt: Ad reges potestas omnium per¬
tinet, ad singulos proprietas; omina rex imperio possidet,
singuli dominio, ſo heißt dieß: Der König iſt Eigenthümer,
denn Er allein kann über „Alles“ verfügen, ſchalten, er hat
potestas und imperium darüber. Die Communiſten machen
dieß klarer, indem ſie jenes imperium der „Geſellſchaft Aller“
übertragen. Alſo: Weil Feinde des Egoismus, darum ſind
ſie — Chriſten, oder allgemeiner: religiöſe Menſchen, Geſpen¬
ſtergläubige, Abhängige, Diener irgend eines Allgemeinen (Got¬
tes, der Geſellſchaft u. ſ. w.). Auch darin gleicht Proud'hon
den Chriſten, daß er dasjenige, was er den Menſchen abſpricht,
Gott beilegt. Ihn nennt er (z. B. Seite 90) den Propriétaire
der Erde. Hiermit beweiſt er, daß er den Eigenthümer
[332] als ſolchen nicht wegdenken kann; er kommt zuletzt auf ei¬
nen Eigenthümer, verlegt ihn aber ins Jenſeits.
Eigenthümer iſt weder Gott noch der Menſch (die „menſch¬
liche Geſellſchaft“), ſondern der Einzelne.
Proud'hon (auch Weitling) glaubt das Schlimmſte vom
Eigenthum auszuſagen, wenn er es einen Diebſtahl (vol)
nennt. Ganz abgeſehen von der verfänglichen Frage, was
gegen den Diebſtahl Gegründetes einzuwenden wäre, fragen
Wir nur: Iſt der Begriff „Diebſtahl“ überhaupt anders mög¬
lich, als wenn man den Begriff „Eigenthum“ gelten läßt.
Wie kann man ſtehlen, wenn nicht ſchon Eigenthum vorhan¬
den iſt? Was Keinem gehört, kann nicht geſtohlen werden:
das Waſſer, welches Einer aus dem Meere ſchöpft, ſtiehlt
er nicht. Mithin iſt nicht das Eigenthum Diebſtahl, ſondern
durch das Eigenthum erſt wird ein Diebſtahl möglich. Auch
muß Weitling darauf hinauskommen, da er ja Alles als Ei¬
genthum Aller betrachtet: iſt Etwas „Eigenthum Aller“,
ſo ſtiehlt freilich der Einzelne, der ſich's zueignet.
Das Privateigenthum lebt von der Gnade des Rechts.
Nur im Rechte hat es ſeine Gewähr — Beſitz iſt ja noch
nicht Eigenthum, er wird erſt „das Meinige“ durch Zuſtim¬
mung des Rechts —; es iſt keine Thatſache, nicht un fait.
wie Proud'hon meint, ſondern eine Fiction, ein Gedanke. Das
iſt das Rechtseigenthum, rechtliches Eigenthum, garantirtes
Eigenthum. Nicht durch Mich iſt es mein, ſondern durch's
— Recht.
Dennoch iſt Eigenthum der Ausdruck für die unum¬
ſchränkte Herrſchaft über Etwas (Ding, Thier, Menſch),
[333] womit „Ich ſchalten und walten kann nach Gutdünken“.
Nach römiſchem Rechte freilich ius utendi et abutendi re sua,
quatenus iuris ratio patitur, ein ausſchließliches und
unumſchränktes Recht; aber Eigenthum wird durch Ge¬
walt bedingt. Was Ich in der Gewalt habe, das iſt mein
eigen. So lange Ich Mich als Inhaber behaupte, bin Ich
der Eigenthümer der Sache; entgeht Mir's wieder, gleichviel
durch welche Macht, z. B. durch mein Anerkenntniß eines
Anrechts Anderer an die Sache —, ſo iſt das Eigenthum er¬
loſchen. So fällt Eigenthum und Beſitz in Eins zuſammen.
Nicht ein außerhalb meiner Gewalt liegendes Recht legitimirt
Mich, ſondern lediglich meine Gewalt; habe Ich die nicht
mehr, ſo entſchwindet mir die Sache. Als die Römer keine
Gewalt mehr gegen die Germanen hatten, gehörte dieſen
das Weltreich Rom, und es klänge lächerlich, wollte man
darauf beſtehen, die Römer ſeien dennoch die eigentlichen
Eigenthümer geblieben. Wer die Sache zu nehmen und
zu behaupten weiß, dem gehört ſie, bis ſie ihm wieder ge¬
nommen wird, wie die Freiheit Dem gehört, der ſie ſich
nimmt. —
Ueber das Eigenthum entſcheidet nur die Gewalt, und da
der Staat, gleichviel ob Staat der Bürger oder der Lumpe oder
der Menſchen ſchlechthin, der allein Gewaltige iſt, ſo iſt er
allein Eigenthümer; Ich, der Einzige, habe nichts, und werde
nur belehnt, bin Lehnsmann und als ſolcher Dienſtmann.
Unter der Herrſchaft des Staates giebt es kein Eigenthum
Meiner.
Ich will den Werth Meiner heben, den Werth der Eigen¬
heit, und ſollte das Eigenthum herabſetzen? Nein, wie Ich
ſeither nicht geachtet wurde, weil man Volk, Menſchheit und
[334] tauſend andere Allgemeinheiten darüber ſetzte, ſo iſt auch bis
auf dieſen Tag das Eigenthum noch nicht in ſeinem vollen
Werthe anerkannt worden. Auch das Eigenthum war nur
Eigenthum eines Geſpenſtes, z. B. Volkseigenthum; meine
ganze Exiſtenz „gehörte dem Vaterlande“: Ich gehörte dem
Vaterlande, dem Volke, dem Staate an, darum auch Alles,
was Ich mein eigen nannte. Man fordert von den Staa¬
ten, ſie ſollen den Pauperismus beſeitigen. Mir ſcheint, das
heißt verlangen, der Staat ſolle ſich ſelbſt den Kopf abſchnei¬
den und vor die Füße legen; denn ſo lange der Staat das
Ich iſt, muß das einzelne Ich ein armer Teufel, ein Nicht-
Ich ſein. Der Staat hat nur ein Intereſſe daran, ſelbſt reich
zu ſein; ob Michel reich und Peter arm iſt, gilt ihm gleich;
es könnte auch Peter reich und Michel arm ſein. Er ſieht
gleichgültig zu, wie der Eine verarmt, der Andere reich wird,
unbekümmert um dieß Wechſelſpiel. Als Einzelne ſind ſie
vor ſeinem Angeſichte wirklich gleich, darin iſt er gerecht: ſie
ſind beide vor ihm — Nichts, wie Wir „vor Gott allzumal
Sünder ſind“; dagegen hat er ein ſehr großes Intereſſe daran,
daß diejenigen Einzelnen, welche Ihn zu ihrem Ich machen,
an ſeinem Reichthum Theil haben: er macht ſie zu Theil¬
nehmern an ſeinem Eigenthum. Durch Eigenthum, wo¬
mit er die Einzelnen belohnt, kirrt er ſie; es bleibt aber ſein
Eigenthum, und Jeder hat nur ſo lange den Nießbrauch davon,
als er das Ich des Staates in ſich trägt, oder ein „loyales
Glied der Geſellſchaft“ iſt; im Gegenfalle wird das Eigen¬
thum confiscirt oder durch peinliche Proceſſe zu Waſſer ge¬
macht. Das Eigenthum iſt und bleibt ſonach Staatseigen¬
thum, nicht Eigenthum des Ichs. Daß der Staat nicht
willkührlich dem Einzelnen entzieht, was er vom Staate hat,
[335] iſt nur daſſelbe, wie dieß, daß der Staat ſich ſelbſt nicht be¬
raubt. Wer ein Staats-Ich, d. h. ein guter Bürger oder
Unterthan iſt, der trägt als ſolches Ich, nicht als eigenes,
das Lehen ungeſtört. Dieß nennt der Codex dann ſo: Eigen¬
thum iſt, was ich „von Gottes- und Rechtswegen“ mein
nenne. Von Gottes- und Rechtswegen iſt es aber nur mein,
ſo lange — der Staat nichts dagegen hat.
In den Expropriationen, Waffenablieferungen und Aehn¬
lichem (wie denn z. B. der Fiskus Erbſchaften einzieht, wenn
die Erben ſich nicht zeitig genug melden) ſpringt ja das ſonſt
verdeckte Princip, daß nur das Volk, „der Staat,“ Eigen¬
thümer ſei, der Einzelne hingegen Lehnsträger, deutlich in
die Augen.
Der Staat, dieß wollte Ich ſagen, kann nicht beabſichti¬
gen, daß Jemand um ſein ſelbſt willen Eigenthum habe,
oder gar reich, ja nur wohlhabend ſei, er kann Mir als Mir
nichts zuerkennen, zukommen laſſen, nichts gewähren. Der
Staat kann dem Pauperismus nicht ſteuern, weil die Pau¬
vretät des Beſitzes eine Pauvretät Meiner iſt. Wer nichts iſt,
als was der Zufall oder ein Anderer, nämlich der Staat, aus
ihm macht, der hat ganz mit Recht auch nichts, als was ein
Anderer ihm giebt. Und dieſer Andere wird ihm nur geben,
was jener verdient, d. h. was er durch Dienen werth iſt.
Nicht Er verwerthet ſich, ſondern der Staat verwerthet ihn.
Die Nationalökonomie beſchäftigt ſich viel mit dieſem Ge¬
genſtande. Er liegt indeß weit über das „Nationale“ hinaus
und geht über die Begriffe und den Horizont des Staats, der
nur Staatseigenthum kennt und nur dieſes vertheilen kann.
Deshalb knüpft er den Beſitz des Eigenthums an Bedin¬
gungen, wie er Alles daran knüpft, z. B. die Ehe, indem
[336] er nur die von ihm ſanctionirte Ehe gelten läßt, und ſie mei¬
ner Gewalt entreißt. Eigenthum iſt aber nur mein Eigen¬
thum, wenn Ich daſſelbe unbedingt inne habe: nur Ich,
als unbedingtes Ich, habe Eigenthum, ſchließe ein Liebes¬
verhältniß, treibe freien Handel.
Der Staat bekümmert ſich nicht um Mich und das
Meine, ſondern um Sich und das Seine: Ich gelte ihm nur
als ſein Kind etwas, als „Landeskind“, als Ich bin Ich
gar nichts für ihn. Was Mir als Ich begegnet, iſt für den
Verſtand des Staates etwas Zufälliges: mein Reichthum
wie meine Verarmung. Bin Ich aber mit allem Meinigen
für ihn ein Zufall, ſo beweiſt dieß, daß er Mich nicht be¬
greifen kann: Ich gehe über ſeine Begriffe, oder ſein Verſtand
iſt zu kurz, um Mich zu begreifen. Darum kann er auch
nichts für Mich thun.
Der Pauperismus iſt die Werthloſigkeit Meiner,
die Erſcheinung, daß Ich Mich nicht verwerthen kann. Des¬
halb iſt Staat und Pauperismus Ein und daſſelbe. Der
Staat läßt Mich nicht zu meinem Werthe kommen und beſteht
nur durch meine Werthloſigkeit: er geht allezeit darauf aus,
von Mir Nutzen zu ziehen, d. h. Mich zu exploitiren, aus¬
zubeuten, zu verbrauchen, beſtände dieſer Verbrauch auch nur
darin, daß Ich für eine proles ſorge (Proletariat); er will,
Ich ſoll „ſeine Creatur“ ſein.
Nur dann kann der Pauperismus gehoben werden, wenn
Ich als Ich Mich verwerthe, wenn Ich Mir ſelber Werth
gebe, und meinen Preis ſelber mache. Ich muß Mich em¬
pören, um empor zu kommen.
Was Ich ſchaffe, Mehl, Leinwand oder Eiſen und Kohlen,
die Ich der Erde mühſam abgewinne, u. ſ. w., es iſt meine
[337] Arbeit, die Ich verwerthen will. Da kann Ich aber lange
klagen, meine Arbeit werde Mir nicht nach ihrem Werthe be¬
zahlt: es wird der Bezahlende Mich nicht hören und der Staat
gleichfalls ſo lange apathiſch ſich verhalten, bis er glaubt,
Mich „beſchwichtigen“ zu müſſen, damit Ich nicht mit meiner
gefürchteten Gewalt hervorbreche. Bei dieſer „Beſchwichtigung“
aber wird es ſein Bewenden haben, und fällt Mir mehr zu
verlangen ein, ſo wendet ſich der Staat wider Mich mit aller
Kraft ſeiner Löwentatzen und Adlerklauen: denn er iſt der
König der Thiere, iſt Löwe und Adler. Laſſe Ich Mir nicht
genügen an dem Preiſe, den er für meine Waare und Arbeit
feſtſetzt, trachte Ich vielmehr, den Preis meiner Waare ſelbſt
zu beſtimmen, d. h. „Mich bezahlt zu machen“, ſo gerathe
Ich zunächſt mit den Abnehmern der Waare in einen Conflict.
Löſte ſich dieſer durch ein Uebereinkommen von beiden Seiten,
ſo würde der Staat nicht leicht Einwendungen machen; denn
wie die Einzelnen mit einander fertig werden, kümmert ihn
wenig, ſo fern ſie ihm dabei nur nicht in den Weg kommen.
Sein Schaden und ſeine Gefahr beginnt erſt da, wo ſie nicht
mit einander auskommen, ſondern, weil keine Ausgleichung
ſtattfindet, ſich bei den Köpfen faſſen. Der Staat kann es
nicht dulden, daß der Menſch zum Menſchen in einem direkten
Verhältniſſe ſtehe; er muß dazwiſchen treten als — Mittler,
muß — interveniren. Was Chriſtus war, was die Hei¬
ligen, die Kirche, das iſt der Staat geworden, nämlich „Mitt¬
ler“. Er reißt den Menſchen vom Menſchen, um ſich als
„Geiſt“ in die Mitte zu ſtellen. Die Arbeiter, welche höheren
Lohn verlangen, werden als Verbrecher behandelt, ſobald ſie
ihn erzwingen wollen. Was ſollen ſie thun? Ohne Zwang
bekommen ſie ihn nicht, und im Zwange ſieht der Staat eine
22[338] Selbſthülfe, eine vom Ich geſetzte Preisbeſtimmung, eine wirk¬
liche, freie Verwerthung ſeines Eigenthums, die er nicht zulaſſen
kann. Was ſollen alſo die Arbeiter anfangen? Auf ſich halten
und nach dem Staate nichts fragen?
Wie es ſich aber mit meiner gegenſtändlichen Arbeit ver¬
hält, ſo auch mit meiner geiſtigen. Es erlaubt Mir der
Staat alle meine Gedanken zu verwerthen und an den Mann
zu bringen (Ich verwerthe ſie ja z. B. ſchon dadurch, daß ſie
Mir von den Zuhörern Ehre einbringen u. dergl.); allein nur
ſo lange als meine Gedanken — ſeine Gedanken ſind.
Hege Ich dagegen Gedanken, welche er nicht approbiren, d. h.
zu den ſeinigen machen kann, ſo erlaubt er Mir durchaus
nicht, ſie zu verwerthen, ſie in den Austauſch, den Ver¬
kehr zu bringen. Meine Gedanken ſind nur frei, wenn ſie
Mir durch die Gnade des Staats vergönnt ſind, d.h. wenn
ſie Gedanken des Staats ſind. Frei philoſophiren läßt er
Mich nur, ſofern Ich Mich als „Staatsphiloſoph“ bewähre:
gegen den Staat darf Ich nicht Philoſophiren, ſo gerne er's
auch nachſieht, daß Ich ihm von ſeinen „Mängeln“ helfe, ihn
„fördere“. — Alſo wie Ich Mich nur als ein vom Staate
gnädigſt verſtattetes, als ein mit ſeinem Legitimitätszeugniß
und Polizeipaſſe verſehenes Ich betragen darf, ſo iſt es Mir
auch nicht vergönnt, das Meinige zu verwerthen, es ſei denn,
daß es ſich als das Seinige ausweiſe, welches Ich von ihm
zu Lehen trage. Meine Wege müſſen ſeine Wege ſein, ſonſt
pfändet er Mich; meine Gedanken ſeine Gedanken, ſonſt ſtopft
er Mir den Mund.
Vor nichts hat der Staat ſich mehr zu fürchten, als vor
dem Werthe Meiner, und nichts muß er ſorgfältiger zu verhü¬
ten ſuchen, als jede Mir entgegenkommende Gelegenheit, Mich
[339] ſelbſt zu verwerthen. Ich bin der Todfeind des Staates,
der ſtets in der Alternative ſchwebt: Er oder Ich. Darum
hält er ſtrenge darauf, nicht nur Mich nicht gelten zu laſſen,
ſondern auch das Meinige zu hintertreiben. Im Staate
giebt es kein — Eigenthum, d. h. kein Eigenthum des Ein¬
zelnen, ſondern nur Staatseigenthum. Nur durch den Staat
habe Ich, was Ich habe, wie Ich nur durch ihn bin, was Ich
bin. Mein Privateigenthum iſt nur dasjenige, was der Staat
Mir von dem Seinigen überläßt, indem er andere Staats¬
glieder darum verkürzt (privirt): es iſt Staatseigenthum.
Im Gegenſatze aber zum Staate, fühle Ich immer deut¬
licher, daß Mir noch eine große Gewalt übrig bleibt, die Ge¬
walt über Mich ſelbſt, d. h. über alles, was nur Mir eignet
und nur iſt, indem es mein eigen iſt.
Was fange Ich an, wenn meine Wege nicht mehr ſeine
Wege, meine Gedanken nicht mehr ſeine Gedanken ſind? Ich
halte auf Mich, und frage nichts nach ihm! An meinen
Gedanken, die Ich durch keine Beiſtimmung, Gewährung oder
Gnade ſanctioniren laſſe, habe Ich mein wirkliches Eigenthum,
ein Eigenthum, mit dem Ich Handel treiben kann. Denn als
das Meine ſind ſie meine Geſchöpfe, und Ich bin im Stande,
ſie wegzugeben gegen andere Gedanken: Ich gebe ſie auf
und tauſche andere für ſie ein, die dann mein neues erkauftes
Eigenthum ſind.
Was iſt alſo mein Eigenthum? Nichts als was in
meiner Gewalt iſt! Zu welchem Eigenthum bin Ich be¬
rechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich — ermächtige.
Das Eigenthums-Recht gebe Ich Mir, indem Ich Mir Eigen¬
thum nehme, oder Mir die Macht des Eigenthümers, die Voll¬
macht, die Ermächtigung gebe.
22 *[340]
Worüber man Mir die Gewalt nicht zu entreißen vermag,
das bleibt mein Eigenthum; wohlan ſo entſcheide die Gewalt
über das Eigenthum, und Ich will Alles von meiner Gewalt
erwarten! Fremde Gewalt, Gewalt, die Ich einem Andern
laſſe, macht Mich zum Leibeigenen: ſo möge eigene Gewalt
Mich zum Eigner machen. Ziehe Ich denn die Gewalt zurück,
welche Ich Andern aus Unkunde über die Stärke meiner eige¬
nen Gewalt eingeräumt habe! Sage Ich Mir, wohin meine
Gewalt langt, das iſt mein Eigenthum, und nehme Ich alles
als Eigenthum in Anſpruch, was zu erreichen Ich Mich ſtark
genug fühle, und laſſe Ich mein wirkliches Eigenthum ſoweit
reichen, als Ich zu nehmen Mich berechtige, d. h. — er¬
mächtige.
Hier muß der Egoismus, der Eigennutz entſcheiden, nicht
das Princip der Liebe, nicht die Liebesmotive, wie Barm¬
herzigkeit, Mildthätigkeit, Gutmüthigkeit oder ſelbſt Gerechtig¬
keit und Billigkeit (denn auch die iustitia iſt ein Phänomen der
— Liebe, ein Liebesproduct): die Liebe kennt nur Opfer und
fordert „Aufopferung“.
Der Egoismus denkt nicht daran etwas aufzuopfern, ſich
etwas zu vergeben; er entſcheidet einfach: Was Ich brauche,
muß Ich haben und will Ich Mir verſchaffen.
Alle Verſuche, über das Eigenthum vernünftige Geſetze
zu geben, liefen vom Buſen der Liebe in ein wüſtes Meer
von Beſtimmungen aus. Auch den Socialismus und Com¬
munismus kann man hiervon nicht ausnehmen. Es ſoll jeder
mit hinreichenden Mitteln verſorgt werden, wobei wenig darauf
ankommt, ob man ſocialiſtiſch ſie noch in einem perſönlichen
Eigenthum findet, oder communiſtiſch aus der Gütergemein¬
ſchaft ſchöpft. Der Sinn der Einzelnen bleibt dabei derſelbe,
[341] er bleibt Abhängigkeitsſinn. Die vertheilende Billigkeits¬
behörde läßt Mir nur zukommen, was ihr der Billigkeitsſinn,
ihre liebevolle Sorge für Alle, vorſchreibt. Für Mich, den
Einzelnen, liegt ein nicht minderer Anſtoß in dem Geſammt¬
vermögen, als in dem der einzelnen Andern; weder
jenes iſt das meinige, noch dieſes: ob das Vermögen der Ge¬
ſammtheit gehört, die Mir davon einen Theil zufließen läßt,
oder einzelnen Beſitzern, iſt für Mich derſelbe Zwang, da Ich
über keins von beiden beſtimmen kann. Im Gegentheil, der
Communismus drückt Mich durch Aufhebung alles perſönlichen
Eigenthums nur noch mehr in die Abhängigkeit von einem
Andern, nämlich von der Allgemeinheit oder Geſammtheit,
zurück, und ſo laut er immer auch den „Staat“ angreife, was
er beabſichtigt, iſt ſelbſt wieder ein Staat, ein status, ein meine
freie Bewegung hemmender Zuſtand, eine Oberherrlichkeit über
Mich. Gegen den Druck, welchen Ich von den einzelnen
Eigenthümern erfahre, lehnt ſich der Communismus mit Recht
auf; aber grauenvoller noch iſt die Gewalt, die er der Ge¬
ſammtheit einhändigt.
Der Egoismus ſchlägt einen andern Weg ein, um den
beſitzloſen Pöbel auszurotten. Er ſagt nicht: Warte ab, was
Dir die Billigkeitsbehörde im Namen der Geſammtheit —
ſchenken wird (denn ſolche Schenkung geſchah von jeher in
den „Staaten“, indem „nach Verdienſt“, alſo nach dem Maaße,
als ſich's jeder zu verdienen, zu erdienen wußte, Jedem
gegeben wurde), ſondern: Greife zu und nimm, was Du
brauchſt! Damit iſt der Krieg Aller gegen Alle erklärt. Ich
allein beſtimme darüber, was Ich haben will.
„Nun, das iſt wahrlich keine neue Weisheit, denn
ſo haben's die Selbſtſüchtigen zu allen Zeiten gehalten!“
[342] Iſt auch gar nicht nöthig, daß die Sache neu ſei, wenn nur
das Bewußtſein darüber vorhanden iſt. Dieſes aber wird
eben nicht auf hohes Alter Anſpruch machen können, wenn
man nicht etwa das ägyptiſche und ſpartaniſche Geſetz hierher
rechnet; denn wie wenig geläufig es ſei, geht ſchon aus obi¬
gem Vorwurf hervor, der mit Verachtung von dem „Selbſt¬
ſüchtigen“ ſpricht. Wiſſen ſoll man's eben, daß jenes Ver¬
fahren des Zugreifens nicht verächtlich ſei, ſondern die reine
That des mit ſich einigen Egoiſten bekunde.
Erſt wenn Ich weder von Einzelnen, noch von einer Ge¬
ſammtheit erwarte, was Ich Mir ſelbſt geben kann, erſt dann
entſchlüpfe Ich den Stricken der — Liebe; erſt dann hört der
Pöbel auf, Pöbel zu ſein, wenn er zugreift. Nur die Scheu
des Zugreifens und die entſprechende Beſtrafung deſſelben
macht ihn zum Pöbel. Nur daß das Zugreifen Sünde,
Verbrechen iſt, nur dieſe Satzung ſchafft einen Pöbel, und daß
dieſer bleibt, was er iſt, daran iſt ſowohl er ſchuld, weil er
jene Satzung gelten läßt, als beſonders diejenigen, welche
„ſelbſtſüchtig“ (um ihnen ihr beliebtes Wort zurückzugeben)
fordern, daß ſie reſpectirt werde. Kurz der Mangel an Be¬
wußtſein über jene „neue Weisheit“, das alte Sünden¬
bewußtſein trägt allein die Schuld.
Gelangen die Menſchen dahin, daß ſie den Reſpect vor
dem Eigenthum verlieren, ſo wird jeder Eigenthum haben, wie
alle Sklaven freie Menſchen werden, ſobald ſie den Herrn als
Herrn nicht mehr achten. Vereine werden dann auch in
dieſer Sache die Mittel des Einzelnen multipliciren und ſein
angefochtenes Eigenthum ſicher ſtellen.
Nach der Meinung der Communiſten ſoll die Gemeinde
Eigenthümerin ſein. Umgekehrt Ich bin Eigenthümer, und
[343] verſtändige Mich nur mit Andern über mein Eigenthum.
Macht Mir's die Gemeinde nicht recht, ſo empöre Ich Mich
gegen ſie und vertheidige mein Eigenthum. Ich bin Eigen¬
thümer, aber das Eigenthum iſt nicht heilig. Ich wäre
bloß Beſitzer? Nein, bisher war man nur Beſitzer, geſichert
im Beſitz einer Parcelle, dadurch, daß man Andere auch im
Beſitz einer Parcelle ließ; jetzt aber gehört Alles Mir, Ich
bin Eigenthümer von Allem, deſſen Ich brauche und
habhaft werden kann. Heißt es ſocialiſtiſch: die Geſellſchaft
giebt Mir, was Ich brauche, — ſo ſagt der Egoiſt: Ich
nehme Mir, was Ich brauche. Gebärden ſich die Commu¬
niſten als Lumpe, ſo benimmt ſich der Egoiſt als Eigenthümer.
Alle Pöbelbeglückungs-Verſuche und Schwanenverbrüde¬
rungen müſſen ſcheitern, die aus dem Principe der Liebe ent¬
ſpringen. Nur aus dem Egoismus kann dem Pöbel Hülfe
werden, und dieſe Hülfe muß er ſich ſelbſt leiſten und — wird
ſie ſich leiſten. Läßt er ſich nicht zur Furcht zwingen, ſo iſt
er eine Macht. „Die Leute würden allen Reſpect verlieren,
wenn man ſie nicht ſo zur Furcht zwänge“ ſagt der Popanz
Geſetz im geſtiefelten Kater.
Alſo das Eigenthum ſoll und kann nicht aufgehoben, es
muß vielmehr geſpenſtiſchen Händen entriſſen und mein Eigen¬
thum werden; dann wird das irrige Bewußtſein verſchwinden,
daß Ich nicht zu ſo viel, als Ich brauche, Mich berechtigen
könne. —
„Was kann aber der Menſch nicht Alles brauchen!“ Je
nun, wer viel braucht und es zu bekommen verſteht, hat ſich's
noch zu jeder Zeit geholt, wie Napoleon den Continent und
die Franzoſen Algier. Es kommt daher eben nur darauf an,
daß der reſpectvolle „Pöbel“ endlich lerne, ſich zu holen, was
[344] er braucht. Langt er Euch zu weit, ei, ſo wehrt Euch. Ihr
habt gar nicht nöthig, ihm gutwillig etwas zu — ſchenken,
und wenn er ſich kennen lernt, oder vielmehr wer aus dem
Pöbel ſich kennen lernt, der ſtreift die Pöbelhaftigkeit ab, indem
er ſich für eure Almoſen bedankt. Lächerlich aber bleibt's, daß
Ihr ihn für „ſündig und verbrecheriſch“ erklärt, wenn er nicht
von euren Gutthaten leben mag, weil er ſich etwas zu Gute
thun kann. Eure Schenkungen betrügen ihn, und halten ihn
hin. Vertheidigt euer Eigenthum, ſo werdet Ihr ſtark ſein;
wollt Ihr hingegen eure Schenkungsfähigkeit erhalten und
etwa gar um ſo mehr politiſche Rechte haben, je mehr Ihr
Almoſen (Armenſteuer) geben könnt, ſo geht das eben ſo lange,
als Euch die Beſchenkten ſo gehen laſſen. *)
Genug, die Eigenthumsfrage läßt ſich nicht ſo gütlich
löſen, als die Socialiſten, ja ſelbſt die Communiſten träumen.
Sie wird nur gelöſt durch den Krieg Aller gegen Alle. Die
Armen werden nur frei und Eigenthümer, wenn ſie ſich —
empören, emporbringen, erheben. Schenkt ihnen noch ſo viel,
ſie werden doch immer mehr haben wollen; denn ſie wollen
nichts Geringeres, als daß endlich — nichts mehr ge¬
ſchenkt werde.
Man wird fragen: Wie wird's denn aber werden, wenn
die Beſitzloſen ſich ermannen? Welcher Art ſoll denn die Aus¬
gleichung werden? Ebenſo gut könnte man verlangen, daß Ich
einem Kinde die Nativität ſtellen ſolle. Was ein Sklave thun
wird, ſobald er die Feſſeln zerbrochen, das muß man — erwarten.
[345]
Kaiſer hofft in ſeiner der Form- wie der Gehaltloſigkeit
wegen werthloſen Broſchüre („Die Perſönlichkeit des Eigen¬
thümers in Bezug auf den Socialismus und Communismus
u. ſ. w.“) vom Staate, daß er eine Vermögensausgleichung
bewirken werde. Immer der Staat! der Herr Papa! Wie
die Kirche für die „Mutter“ der Gläubigen ausgegeben und
angeſehen wurde, ſo hat der Staat ganz das Geſicht des vor¬
ſorglichen Vaters.
Aufs genaueſte mit dem Princip der Bürgerlichkeit ver¬
bunden zeigt ſich die Concurrenz. Iſt ſie etwas Anderes
als die Gleichheit (égalité)? Und iſt die Egalität nicht eben
ein Erzeugniß derſelben Revolution, welche vom Bürgerthum
oder den Mittelclaſſen hervorgebracht wurde? Da es Keinem
verwehrt iſt, mit Allen im Staate (den Fürſten, weil er den
Staat ſelbſt vorſtellt, ausgenommen) zu wetteifern und zu ihrer
Höhe ſich hinaufzuarbeiten, ja ſie zu eigenem Vortheil zu ſtür¬
zen oder auszubeuten, ſie zu überflügeln und durch ſtärkere An¬
ſtrengung um ihren Wohlſtand zu bringen, ſo dient dieß zum
deutlichen Beweiſe, daß vor dem Richterſtuhl des Staats Je¬
der nur den Werth eines „ſimplen Individuums“ hat und auf
keine Begünſtigung rechnen darf. Ueberrennt und überbietet
Euch, ſo viel Ihr mögt und könnt, das ſoll mich, den Staat,
nicht kümmern! Unter einander ſeid Ihr frei im Concurriren,
ſeid Concurrenten; das iſt eure geſellſchaftliche Stellung.
Vor mir, dem Staate, aber ſeid Ihr nichts als „ſimple In¬
dividuen“! *)
[346]
Was in principieller oder theoretiſcher Form als die Gleich¬
heit Aller aufgeſtellt wurde, das hat eben in der Concurrenz
ſeine Verwirklichung und practiſche Ausführung gefunden; denn
die égalité iſt die — freie Concurrenz. Alle ſind vor dem
Staate — ſimple Individuen, in der Geſellſchaft oder im Ver¬
hältniß zu einander — Concurrenten.
Ich brauche nichts weiter als ein ſimples Individuum zu
ſein, um mit jedem Andern, außer dem Fürſten und ſeiner
Familie, concurriren zu können, eine Freiheit, welche früher
dadurch unmöglich war, daß man nur mittelſt ſeiner Corpo¬
ration und innerhalb derſelben einer Freiheit des Strebens
genoß.
In der Zunft und Feudalität verhält ſich der Staat in¬
tolerant und wähleriſch, indem er privilegirt; in der Con¬
currenz und dem Liberalismus verhält er ſich tolerant und ge¬
währen laſſend, indem er nur patentirt (dem Bewerber ver¬
brieft, daß ihm das Gewerbe offen [patent] ſtehe) oder „con¬
ceſſionirt“. Da nun ſo der Staat alles den Bewerbern
überlaſſen hat, muß er in Conflict mit Allen kommen, weil
ja alle und jeder zur Bewerbung berechtigt ſind. Er wird
„beſtürmt“ werden und in dieſem Sturme zu Grunde gehen.
Iſt die „freie Concurrenz“ denn wirklich „frei“, ja iſt ſie
wirklich eine „Concurrenz“, nämlich der Perſonen, wofür
ſie ſich ausgiebt, weil ſie auf dieſen Titel ihr Recht gründet?
Sie ging ja daraus hervor, daß die Perſonen gegen alle per¬
*)[347] ſönliche Herrſchaft frei wurden. Iſt eine Concurrenz „frei“,
welche der Staat, dieſer Herrſcher im bürgerlichen Princip, in
tauſend Schranken einengt? Da macht ein reicher Fabrikant
glänzende Geſchäfte, und Ich möchte mit ihm concurriren.
„Immerhin, ſagt der Staat, ich habe gegen deine Perſon
als Concurrenten nichts einzuwenden.“ Ja, erwiedere Ich,
dazu brauche Ich aber einen Raum zu Gebäuden, brauche
Geld! „Das iſt ſchlimm, aber wenn Du kein Geld haſt,
kannſt Du nicht concurriren. Nehmen darfſt Du Keinem et¬
was, denn ich ſchütze und privilegire das Eigenthum.“ Die
freie Concurrenz iſt nicht „frei“, weil Mir die Sache zur
Concurrenz fehlt. Gegen meine Perſon läßt ſich nichts ein¬
wenden, aber weil Ich die Sache nicht habe, ſo muß auch
meine Perſon zurücktreten. Und wer hat die nöthige Sache?
Etwa jener Fabrikant? Dem könnte Ich ſie ja abnehmen!
Nein, der Staat hat ſie als Eigenthum, der Fabrikant nur
als Lehen, als Beſitzthum.
Weil es aber mit dem Fabrikanten nicht geht, ſo will
Ich mit jenem Profeſſor der Rechte concurriren; der Mann
iſt ein Gimpel, und Ich, der Ich hundertmal mehr weiß, als
er, werde ſein Auditorium leer machen. „Haſt Du ſtudirt und
promovirt, Freund?“ Nein, aber was thut das? Ich verſtehe,
was zu dem Lehrfache nöthig iſt, reichlich. „Thut mir leid,
aber die Concurrenz iſt hier nicht „frei“. Gegen deine Per¬
ſon iſt nichts zu ſagen, aber die Sache fehlt, das Doctor¬
diplom. Und dieß Diplom verlange ich, der Staat. Bitte
mich erſt ſchönſtens darum, dann wollen wir zuſehen, was zu
thun iſt.“
Dieß alſo iſt die „Freiheit“ der Concurrenz. Der Staat,
mein Herr, befähigt Mich erſt zum Concurriren.
[348]
Concurriren aber wirklich die Perſonen? Nein, wie¬
derum nur die Sachen! Die Gelder in erſter Reihe u. ſ. w.
In dem Wettſtreit wird immer Einer hinter dem Andern
zurückbleiben (z. B. ein Dichterling hinter einem Dichter).
Allein es macht einen Unterſchied, ob die fehlenden Mittel des
unglücklichen Concurrirenden perſönliche oder ſächliche ſind, und
ebenſo, ob die ſächlichen Mittel durch perſönliche Kraft
gewonnen werden können oder nur durch Gnade zu erhalten
ſind, nur als Geſchenk, und zwar, indem z. B. der Aermere
dem Reichen ſeinen Reichthum laſſen, d. h. ſchenken muß.
Muß Ich aber überhaupt auf die Genehmigung des
Staates warten, um die Mittel zu erhalten oder zu gebrau¬
chen (z. B. bei der Promotion), ſo habe Ich die Mittel durch
die Gnade des Staates. *)
Freie Concurrenz hat alſo nur folgenden Sinn: Alle gel¬
ten dem Staate als ſeine gleichen Kinder, und jeder kann
laufen und rennen, um ſich die Güter und Gnadenſpen¬
den des Staates zu verdienen. Darum jagen auch
alle nach der Habe, dem Haben, dem Beſitz (ſei es von Geld
oder Aemtern, Ehrentiteln u. ſ. w.), nach der Sache.
Nach dem Sinne des Bürgerthums iſt Jeder Inhaber
oder „Eigenthümer“. Woher kommt es nun, daß doch die
Meiſten ſo viel wie nichts haben? Es kommt daher, weil
[349] die Meiſten ſich ſchon darüber freuen, nur überhaupt Inhaber,
ſei's auch von einigen Lappen, zu ſein, wie Kinder ſich ihrer
erſten Höschen oder gar des erſten geſchenkten Pfennigs freuen.
Genauer indeß iſt die Sache folgendermaßen zu faſſen. Der
Liberalismus trat ſogleich mit der Erklärung auf, daß es zum
Weſen des Menſchen gehöre, nicht Eigenthum, ſondern Eigen¬
thümer zu ſein. Da es hierbei um „den Menſchen, nicht um
den Einzelnen zu thun war, ſo blieb das Wieviel, welches
gerade das ſpecielle Intereſſe des Einzelnen ausmachte, dieſem
überlaſſen. Daher behielt der Egoismus des Einzelnen in
dieſem Wieviel den freieſten Spielraum, und trieb eine uner¬
müdliche Concurrenz.
Indeß mußte der glückliche Egoismus dem minder be¬
glückten zum Anſtoß werden, und dieſer, immer noch auf dem
Principe des Menſchenthums fußend, ſtellte die Frage nach
dem Wieviel des Innehabens auf und beantwortete ſie dahin,
daß „der Menſch ſo viel haben müſſe als er brauche“.
Wird ſich mein Egoismus damit genügen laſſen können?
Was „der Menſch“ braucht, das giebt keineswegs für Mich
und mein Bedürfniß einen Maaßſtab her; denn Ich kann weni¬
ger oder mehr gebrauchen. Ich muß vielmehr ſo viel haben,
als Ich Mir anzueignen vermögend bin.
Die Concurrenz leidet an dem Uebelſtande, daß nicht
Jedem die Mittel zum Concurriren zu Gebote ſtehen, weil
ſie nicht aus der Perſönlichkeit entnommen ſind, ſondern aus
der Zufälligkeit. Die meiſten ſind unbemittelt und deshalb
unbegütert.
Die Socialen fordern daher für Alle die Mittel und
erzielen eine Mittel bietende Geſellſchaft. Deinen Geldwerth,
ſagen ſie, erkennen Wir nicht ferner als dein Vermögen an,
[350] Du mußt ein anderes Vermögen aufzeigen, nämlich deine Ar¬
beitskräfte. Im Beſitze einer Habe oder als „Inhaber“
zeigt ſich der Menſch allerdings als Menſch, darum ließen
Wir auch den Inhaber, den Wir „Eigenthümer“ nannten, ſo
lange gelten. Allein Du haſt doch die Dinge nur ſo lange
inne, als Du nicht „aus dieſem Eigenthum hinausgeſetzt wirſt“.
Der Inhaber iſt vermögend, aber nur ſo weit, als die
Andern unvermögend ſind. Da deine Waare nur ſo lange
dein Vermögen bildet, als Du ſie zu behaupten vermagſt, d.h.
als Wir nichts über ſie vermögen, ſo ſieh' Dich nach einem
anderen Vermögen um, denn Wir überbieten jetzt durch unſere
Gewalt dein angebliches Vermögen.
Es war außerordentlich viel gewonnen, als man es durch¬
ſetzte, als Inhaber betrachtet zu werden. Die Leibeigenſchaft
wurde damit aufgehoben und Jeder, der bis dahin dem Herrn
gefrohndet hatte, und mehr oder weniger deſſen Eigenthum ge¬
weſen war, ward nun ein „Herr“. Allein forthin reicht dein
Haben und deine Habe nicht mehr aus und wird nicht mehr
anerkannt; dagegen ſteigt dein Arbeiten und deine Arbeit im
Werthe. Wir achten nun deine Bewältigung der Dinge,
wie vorher dein Innehaben derſelben. Deine Arbeit iſt dein
Vermögen! Du biſt nur Herr oder Inhaber des Erarbei¬
teten, nicht des Ererbten. Da aber derzeit Alles ein Er¬
erbtes iſt und jeder Groſchen, den Du beſitzeſt, nicht ein
Arbeits-, ſondern ein Erbgepräge trägt, ſo muß alles umge¬
ſchmolzen werden.
Iſt denn aber wirklich, wie die Communiſten meinen,
meine Arbeit mein einziges Vermögen, oder beſteht dieß nicht
vielmehr in allem, was Ich vermag? Und muß nicht die
Arbeitergeſellſchaft ſelbſt dieß einräumen, indem ſie z. B. auch
[351] die Kranken, Kinder, Greiſe, kurz die Arbeitsunfähigen unter¬
hält? Dieſe vermögen noch immer gar manches z. B. ihr
Leben zu erhalten, ſtatt es ſich zu nehmen. Vermögen ſie es
über Euch, daß Ihr ihren Fortbeſtand begehrt, ſo haben ſie
eine Gewalt über Euch. Wer platterdings keine Macht über
Euch übte, dem würdet Ihr nichts gewähren; er könnte ver¬
kommen.
Alſo was Du vermagſt, iſt dein Vermögen! Ver¬
magſt Du Tauſenden Luſt zu bereiten, ſo werden Tauſende
Dich dafür honoriren, es ſtände ja in deiner Gewalt, es zu
unterlaſſen, daher müſſen ſie deine That erkaufen. Vermagſt
Du keinen für Dich einzunehmen, ſo magſt Du eben ver¬
hungern.
Soll Ich nun etwa, der Vielvermögende, vor den Unver¬
mögenderen nichts voraus haben?
Wir ſitzen Alle im Vollen; ſoll Ich nun nicht zulangen,
ſo gut Ich kann, und nur abwarten, wie viel Mir bei einer
gleichen Theilung bleibt?
Gegen die Concurrenz erhebt ſich das Princip der Lum¬
pengeſellſchaft, die — Vertheilung.
Für einen bloßen Theil, Theil der Geſellſchaft, angeſe¬
hen zu werden, erträgt der Einzelne nicht, weil er mehr iſt;
ſeine Einzigkeit wehrt dieſe beſchränkte Auffaſſung ab.
Daher erwartet er ſein Vermögen nicht von der Zuthei¬
lung Anderer, und ſchon in der Arbeitergeſellſchaft entſteht das
Bedenken, daß bei einer gleichen Vertheilung der Starke durch
den Schwachen ausgebeutet werde; er erwartet ſein Vermögen
vielmehr von ſich und ſagt nun: was Ich zu haben vermag,
das iſt mein Vermögen. Welch' Vermögen beſitzt nicht das
Kind in ſeinem Lächeln, ſeinem Spielen, ſeinem Geſchrei, kurz
[352] in ſeinem bloßen Daſein. Biſt Du im Stande, ſeinem Verlan¬
gen zu widerſtehen oder reichſt Du ihm als Mutter nicht die
Bruſt, als Vater ſo viel von deiner Habe, als es bedarf? Es
zwingt Euch, darum beſitzt es das, was Ihr das Eure nennt.
Iſt Mir an deiner Perſon gelegen, ſo zahlſt Du Mir
ſchon mit deiner Exiſtenz; iſt's Mir nur um eine deiner Ei¬
genſchaften zu thun, ſo hat etwa deine Willfährigkeit oder
dein Beiſtand einen Werth (Geldwerth) für Mich, und Ich
erkaufe ihn.
Weißt Du Dir keinen andern, als einen Geldwerth in
meiner Schätzung zu geben, ſo kann der Fall eintreten, von
dem Uns die Geſchichte erzählt, daß nämlich deutſche Landes¬
kinder nach Amerika verkauft wurden. Sollten ſie, die ſich
verhandeln ließen, dem Verkäufer mehr werth ſein? Ihm war
das baare Geld lieber, als dieſe lebendige Waare, die ſich
ihm nicht koſtbar zu machen verſtand. Daß er in ihr nichts
Werthvolleres entdeckte, war allerdings ein Mangel ſeines Ver¬
mögens; aber ein Schelm giebt mehr als er hat. Wie ſollte
er Achtung zeigen, da er ſie nicht hatte, ja kaum für ſolches
Pack haben konnte!
Egoiſtiſch verfahrt Ihr, wenn Ihr einander weder als
Inhaber noch als Lumpe oder Arbeiter achtet, ſondern als
einen Theil eures Vermögens, als „brauchbare Subjecte“.
Dann werdet Ihr weder dem Inhaber („Eigenthümer“) für
ſeine Habe etwas geben, noch dem, der arbeitet, ſondern allein
dem, den Ihr braucht. Brauchen Wir einen König? fragen
ſich die Nordamerikaner, und antworten: Nicht einen Heller
iſt er und ſeine Arbeit Uns werth.
Sagt man, die Concurrenz ſtelle Alles Allen offen, ſo iſt
der Ausdruck nicht genau, und man faßt es beſſer ſo: ſie macht
[353] Alles käuflich. Indem ſie es ihnen preisgiebt, überläßt
ſie es ihrem Preiſe oder ihrer Schätzung und fordert einen
Preis dafür.
Allein die Kaufluſtigen ermangeln meiſtens der Mittel,
ſich zu Käufern zu machen: ſie haben kein Geld. Für Geld
ſind alſo zwar die käuflichen Sachen zu haben („Für Geld iſt
Alles zu haben.“), aber gerade am Gelde fehlt's. Wo
Geld, dieß gangbare oder courſirende Eigenthum, hernehmen?
Wiſſe denn, Du haſt ſo viel Geld als Du — Gewalt haſt;
denn Du giltſt ſo viel, als Du Dir Geltung verſchaffſt.
Man bezahlt nicht mit Geld, woran Mangel eintreten
kann, ſondern mit ſeinem Vermögen, durch welches allein Wir
„vermögend“ ſind; denn man iſt nur ſo weit Eigenthümer, als
der Arm unſerer Macht reicht.
Weitling hat ein neues Zahlmittel erdacht, die Arbeit.
Das wahre Zahlmittel bleibt aber, wie immer, das Vermö¬
gen. Mit dem, was Du „im Vermögen“ haſt, bezahlſt Du.
Darum denke auf die Vergrößerung deines Vermögens.
Indem man dieß zugiebt, iſt man jedoch gleich wieder mit
dem Wahlſpruch bei der Hand: „Einem Jeden nach ſeinem Ver¬
mögen!“ Wer ſoll Mir nach meinem Vermögen geben?
Die Geſellſchaft? Da müßte Ich Mir ihre Schätzung gefallen
laſſen. Vielmehr werde Ich Mir nach meinem Vermögen
nehmen.
„Allen gehört Alles!“ Dieſer Satz ſtammt aus derſelben
gehaltloſen Theorie. Jedem gehört nur, was er vermag.
Sage Ich: Mir gehört die Welt, ſo iſt das eigentlich auch
leeres Gerede, das nur in ſo fern Sinn hat, als Ich kein
fremdes Eigenthum reſpectire. Mir gehört aber nur ſo viel,
als Ich vermag oder im Vermögen habe.
23[35 [354]]
Man iſt nicht werth zu haben, was man ſich aus
Schwachheit nehmen läßt; man iſt's nicht werth, weil man's
nicht fähig iſt.
Gewaltigen Lärm erhebt man über das „tauſendjährige
Unrecht“, welches von den Reichen gegen die Armen begangen
werde. Als hätten die Reichen die Armuth verſchuldet, und
verſchuldeten nicht gleicherweiſe die Armen den Reichthum!
Iſt zwiſchen beiden ein anderer Unterſchied als der des Ver¬
mögens und Unvermögens, der Vermögenden und Unvermö¬
genden? Worin beſteht denn das Verbrechen der Reichen?
„In ihrer Hartherzigkeit.“ Aber wer hat denn die Armen er¬
halten, wer hat für ihre Ernährung geſorgt, wenn ſie nichts
mehr arbeiten konnten, wer hat Almoſen geſpendet, jene Almo¬
ſen, die ſogar ihren Namen von der Barmherzigkeit (Eleemo¬
ſyne) haben? Sind die Reichen nicht allezeit „barmherzig“
geweſen, ſind ſie nicht bis auf den heutigen Tag „mildthätig“,
wie Armentaren, Spitäler, Stiftungen aller Art u. ſ. w. be¬
weiſen?
Aber das alles genügt Euch nicht! Sie ſollen alſo wohl
mit den Armen theilen? Da fordert Ihr, daß ſie die Ar¬
muth aufheben ſollen. Abgeſehen davon, daß kaum Einer
unter Euch ſo handeln möchte, und daß dieſer Eine eben ein
Thor wäre, ſo fragt Euch doch: warum ſollen die Reichen
Haar laſſen und ſich aufgeben, während den Armen dieſelbe
Handlung viel nützlicher wäre? Du, der Du täglich deinen
Thaler haſt, biſt reich vor Tauſenden, die von vier Groſchen
leben. Liegt es in deinem Intereſſe, mit den Tauſenden zu
theilen, oder liegt es nicht vielmehr in dem ihrigen? — —
Mit der Concurrenz iſt weniger die Abſicht verbunden, die
Sache am beſten zu machen, als die andere, ſie möglichſt
[355]einträglich, ergiebig zu machen. Man ſtudirt daher auf
ein Amt los (Brodſtudium), ſtudirt Katzenbuckel und Schmei¬
cheleien, Routine und „Geſchäftskenntniß“, man arbeitet „auf
den Schein.“ Während es daher ſcheinbar um eine „gute
Leiſtung“ zu thun iſt, wird in Wahrheit nur auf ein „gutes
Geſchäft“ und Geldverdienſt geſehen. Man verrichtet die Sache
nur vorgeblich um der Sache willen, in der That aber wegen
des Gewinnes, den ſie abwirft. Man möchte zwar nicht gerne
Cenſor ſein, aber man will — befördert werden; man möchte
nach beſter Ueberzeugung richten, adminiſtriren u. ſ. w., aber
man fürchtet Verſetzung oder gar Abſetzung: man muß ja doch
vor allen Dingen — leben.
So iſt dieß Treiben ein Kampf ums liebe Leben, und in
ſtufenweiſer Steigerung um mehr oder weniger „Wohlleben“.
Und dabei trägt doch den Meiſten all ihr Mühen und
Sorgen nichts als das „bittere Leben“ und „bittere Armuth“
ein. Dafür all der bittere Ernſt!
Das raſtloſe Werben läßt Uns nicht zu Athem, zu ei¬
nem ruhigen Genuſſe kommen: Wir werden unſers Beſitzes
nicht froh.
Die Organiſation der Arbeit aber betrifft nur ſolche Ar¬
beiten, welche Andere für Uns machen können, z. B. Schlach¬
ten, Adern u. ſ. w.; die übrigen bleiben egoiſtiſch, weil z.B.
Niemand an deiner Statt deine muſikaliſchen Compoſitionen
anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen u. ſ. w. kann:
Raphaels Arbeiten kann Niemand erſetzen. Die letzteren ſind
Arbeiten eines Einzigen, die nur dieſer Einzige zu vollbringen
vermag, während jene „menſchliche“ genannt zu werden ver¬
dienten, da das Eigene daran von geringem Belang iſt, und
ſo ziemlich „jeder Menſch“ dazu abgerichtet werden kann.
23 *[356]
Da nun die Geſellſchaft nur die gemeinnützigen oder
menſchlichen Arbeiten berückſichtigen kann, ſo bleibt, wer
Einziges leiſtet, ohne ihre Fürſorge, ja er kann ſich durch
ihre Dazwiſchenkunft geſtört finden. Der Einzige wird ſich
wohl aus der Geſellſchaft hervorarbeiten, aber die Geſellſchaft
bringt keinen Einzigen hervor.
Es iſt daher immer förderſam, daß Wir Uns über die
menſchlichen Arbeiten einigen, damit ſie nicht, wie unter
der Concurrenz, alle unſere Zeit und Mühe in Anſpruch neh¬
men. In ſo weit wird der Communismus ſeine Früchte
tragen. Selbſt dasjenige nämlich, wozu alle Menſchen
befähigt ſind oder befähigt werden können, wurde vor der
Herrſchaft des Bürgerthums an Wenige geknüpft und den
Uebrigen entzogen: es war ein Privilegium. Dem Bürger¬
thum dünkte es gerecht, freizugeben Alles, was für jeden
„Menſchen“ dazuſein ſchien. Aber, weil freigegeben, war es
doch Keinem gegeben, ſondern vielmehr Jedem überlaſſen, es
durch ſeine menſchlichen Kräfte zu erhaſchen. Dadurch
ward der Sinn auf den Erwerb des Menſchlichen, das fortan
Jedem winkte, gewendet, und es entſtand eine Richtung, welche
man unter dem Namen des „Materialismus“ ſo laut bekla¬
gen hört.
Ihrem Laufe ſucht der Communismus Einhalt zu thun,
indem er den Glauben verbreitet, daß das Menſchliche ſo vie¬
ler Plage nicht werth ſei und bei einer geſcheidten Einrichtung
ohne den großen Aufwand von Zeit und Kräften, wie es zeit¬
her erforderlich ſchien, gewonnen werden könne.
Für wen ſoll aber Zeit gewonnen werden? Wozu braucht
der Menſch mehr Zeit, als nöthig iſt, ſeine abgeſpannten Ar¬
beitskräfte zu erfriſchen? Hier ſchweigt der Communismus.
[357]
Wozu? Um ſeiner als des Einzigen froh zu werden,
nachdem er als Menſch das Seinige gethan hat!
In der erſten Freude darüber, nach allem Menſchlichen
die Hand ausſtrecken zu dürfen, vergaß man, noch ſonſt etwas
zu wollen, und concurrirte friſch drauf los, als wäre der Be¬
ſitz des Menſchlichen das Ziel aller unſerer Wünſche.
Man hat ſich aber müde gerannt und merkt nachgerade,
daß „der Beſitz nicht glücklich macht“. Darum denkt man
darauf, das Nöthige leichteren Kaufes zu erhalten und nur ſo
viel Zeit und Mühe darauf zu verwenden, als ſeine Unent¬
behrlichkeit erheiſcht. Der Reichthum ſinkt im Preiſe und die
zufriedene Armuth, der ſorgloſe Lump, wird zum verführeriſchen
Ideal.
Solche menſchliche Thätigkeiten, die ſich Jeder zutraut,
ſollten theuer honorirt und mit Mühe und Aufwand aller Le¬
benskräfte geſucht werden? Schon in der alltäglichen Redens¬
art: „Wenn Ich nur Miniſter oder gar der . . . . wäre, da
ſollte es ganz anders hergehen“ drückt ſich jene Zuverſicht aus,
daß man ſich für fähig halte, einen ſolchen Würdenträger vor¬
zuſtellen; man ſpürt wohl, daß zu dergleichen nicht die Einzig¬
keit, ſondern nur eine, wenn auch nicht gerade Allen, ſo doch
Vielen erreichbare Bildung gehöre, d.h. daß man zu ſo etwas
nur ein gewöhnlicher Menſch zu ſein brauche.
Nehmen Wir an, daß, wie die Ordnung zum Weſen
des Staates gehört, ſo auch die Unterordnung in ſeiner
Natur gegründet iſt, ſo ſehen Wir, daß von den Untergeord¬
neten oder Bevorzugten die Zurückgeſetzten unverhältnißmäßig
übertheuert und übervortheilt werden. Doch die Letz¬
tern ermannen ſich, zunächſt vom ſocialiſtiſchen Standpunkte
aus, ſpäter aber gewiß mit egoiſtiſchem Bewußtſein, von dem
[358] Wir ihrer Rede darum gleich einige Färbung geben wollen,
zu der Frage: wodurch iſt denn euer Eigenthum ſicher, Ihr
Bevorzugten? — und geben ſich die Antwort: dadurch, daß
Wir Uns des Eingriffes enthalten! Mithin durch unſern
Schutz! Und was gebt Ihr Uns dafür? Fußtritte und Ge¬
ringſchätzung gebt Ihr dem „gemeinen Volke“; eine polizeiliche
Ueberwachung und einen Katechismus mit dem Hauptſatze:
Reſpectire, was nicht dein iſt, was Andern gehört! re¬
ſpectire die Andern und beſonders die Obern! Wir aber er¬
wiedern: Wollt Ihr unſern Reſpect, ſo kauft für den
Uns genehmen Preis. Wir wollen euer Eigenthum Euch
laſſen, wenn Ihr dieſes Laſſen gehörig aufwiegt. Womit
wiegt denn der General in Friedenszeiten die vielen Tauſende
ſeiner Jahreseinnahme auf, womit ein Anderer gar die jähr¬
lichen Hunderttauſende und Millionen? Womit wiegt Ihr's
auf, daß Wir Kartoffeln kauen und eurem Auſternſchlürfen
ruhig zuſehen? Kauft Uns die Auſtern nur ſo theuer ab, als
Wir Euch die Kartoffeln abkaufen müſſen, ſo ſollt Ihr ſie fer¬
ner eſſen dürfen. Oder meint Ihr, die Auſtern gehörten Uns
nicht ſo gut als Euch? Ihr werdet über Gewalt ſchreien,
wenn Wir zulangen und ſie mit verzehren, und Ihr habt
Recht. Ohne Gewalt bekommen Wir ſie nicht, wie Ihr nicht
minder ſie dadurch habt, daß Ihr Uns Gewalt anthut.
Doch nehmt einmal die Auſtern und laßt Uns an unſer
näheres Eigenthum (denn jenes iſt nur Beſitzthum), an die
Arbeit kommen. Wir plagen Uns zwölf Stunden im Schweiße
unſeres Angeſichts, und Ihr bietet Uns dafür ein Paar Gro¬
ſchen. So nehmt denn auch für eure Arbeit ein Gleiches.
Mögt Ihr das nicht? Ihr wähnt, unſere Arbeit ſei reichlich
mit jenem Lohne bezahlt, die eure dagegen eines Lohnes von
[359] vielen Tauſenden werth. Schlüget Ihr aber die eurige nicht
ſo hoch an, und ließet Uns die unſere beſſer verwerthen, ſo
würden Wir erforderlichen Falls wohl noch wichtigere Dinge
zu Stande bringen, als Ihr für die vielen tauſend Thaler,
und bekämet Ihr nur einen Lohn wie Wir, Ihr würdet bald
fleißiger werden, um mehr zu erhalten. Leiſtet Ihr aber et¬
was, was Uns zehn und hundert Mal mehr werth ſcheint,
als unſere eigene Arbeit, ei, da ſollt Ihr auch hundert Mal
mehr dafür bekommen; Wir denken Euch dagegen auch Dinge
herzuſtellen, die Ihr Uns höher als mit dem gewöhnlichen
Tagelohn verwerthen werdet. Wir wollen ſchon mit einander
fertig werden, wenn Wir nur erſt dahin übereingekommen ſind,
daß Keiner mehr dem Andern etwas zu — ſchenken braucht.
Dann gehen Wir wohl gar ſo weit, daß Wir ſelbſt den Krüp¬
peln und Kranken und Alten einen angemeſſenen Preis dafür
bezahlen, daß ſie nicht aus Hunger und Noth von Uns ſchei¬
den; denn wollen Wir, daß ſie leben, ſo geziemt ſich's auch,
daß Wir die Erfüllung unſeres Willens — erkaufen. Ich
ſage „erkaufen“, meine alſo kein elendes „Almoſen“. Ihr
Leben iſt ja das Eigenthum auch derer, welche nicht arbeiten
können; wollen Wir (gleichviel aus welchem Grunde), daß ſie
Uns dieß Leben nicht entziehen, ſo können Wir das allein
durch Kauf bewirken wollen; ja Wir werden vielleicht, etwa
weil Wir gern freundliche Geſichter um Uns haben, ſogar ihr
Wohlleben wollen. Kurz, Wir wollen von Euch nichts ge¬
ſchenkt, aber Wir wollen Euch auch nichts ſchenken. Jahr¬
hunderte haben Wir Euch Almoſen gereicht aus gutwilliger —
Dummheit, haben das Scherflein der Armen geſpendet und
den Herren gegeben, was der Herren — nicht iſt; nun thut
einmal euren Seckel auf, denn von jetzt an ſteigt unſere Waare
[360] ganz enorm im Preiſe. Wir wollen Euch nichts, gar nichts
nehmen, nur bezahlen ſollt Ihr beſſer für das, was Ihr haben
wollt. Was haſt Du denn? „Ich habe ein Gut von tauſend
Morgen.“ Und Ich bin dein Ackerknecht und werde Dir
deinen Acker fortan nur für 1 Thaler Tagelohn beſtellen.
„Da nehme Ich einen andern.“ Du findeſt keinen, denn Wir
Ackersknechte thun's nicht mehr anders, und wenn einer ſich
meldet, der weniger nimmt, ſo hüte er ſich vor Uns. Da iſt
die Hausmagd, die fordert jetzt auch ſo viel, und Du findeſt
keine mehr unter dieſem Preiſe. „Ei ſo muß ich zu Grunde
gehen.“ Nicht ſo haſtig! So viel wie Wir wirſt Du wohl
einnehmen, und wäre es nicht ſo, ſo laſſen Wir ſo viel ab,
daß Du wie Wir zu leben haſt. „Ich bin aber beſſer zu
leben gewohnt.“ Dagegen haben Wir nichts, aber es iſt nicht
unſere Sorge; kannſt Du mehr erübrigen, immerhin. Sollen
Wir Uns unterm Preiſe vermiethen, damit Du wohlleben
kannſt? Der Reiche ſpeiſt immer den Armen mit den Worten
ab: „Was geht Mich deine Noth an? Sieh, wie Du Dich
durch die Welt ſchlägſt; das iſt nicht meine, ſondern deine
Sache.“ Nun, ſo laſſen Wir's denn unſere Sache ſein, und
laſſen Uns von den Reichen nicht die Mittel bemauſen, die
Wir haben, um Uns zu verwerthen. „Aber Ihr ungebildeten
Leute braucht doch nicht ſo viel.“ Nun, Wir nehmen etwas
mehr, damit Wir dafür die Bildung, die Wir etwa brauchen,
Uns verſchaffen können. „Aber, wenn Ihr ſo die Reichen
herunterbringt, wer ſoll dann noch die Künſte und Wiſſen¬
ſchaften unterſtützen?“ I nun, die Menge muß es bringen;
Wir ſchießen zuſammen, das giebt ein artiges Sümmchen, Ihr
Reichen kauft ohnehin jetzt nur die abgeſchmackteſten Bücher und
die weinerlichen Muttergottesbilder oder ein Paar flinke Tän¬
[361] zerbeine. „O die unſelige Gleichheit!“ Nein, mein beſter
alter Herr, nichts von Gleichheit. Wir wollen nur gelten,
was Wir werth ſind, und wenn Ihr mehr werth ſeid, da ſollt
Ihr immerhin auch mehr gelten. Wir wollen nur Preis¬
würdigkeit und denken des Preiſes, den Ihr zahlen werdet,
Uns würdig zu zeigen.
Kann einen ſo ſicheren Muth und ſo kräftiges Selbſt¬
gefühl des Hausknechts wohl der Staat erwecken? Kann er
machen, daß der Menſch ſich ſelbſt fühlt, ja darf er auch nur
ſolch Ziel ſich ſtecken? Kann er wollen, daß der Einzelne ſei¬
nen Werth erkenne und verwerthe? Halten Wir die Doppel¬
frage auseinander und ſehen Wir zuerſt, ob der Staat ſo
etwas herbeiführen kann. Da die Einmüthigkeit der Acker¬
knechte erfordert wird, ſo kann nur dieſe Einmüthigkeit es be¬
wirken, und ein Staatsgeſetz würde tauſendfach umgangen
werden durch die Concurrenz und insgeheim. Kann er es
aber dulden? Unmöglich kann er dulden, daß die Leute von
Andern, als von ihm, einen Zwang erleiden; er könnte alſo
die Selbſthülfe der einmüthigen Ackerknechte gegen diejenigen,
welche ſich um geringeren Lohn verdingen wollen, nicht zugeben.
Setzen Wir indeß, der Staat gäbe das Geſetz, und alle Acker¬
knechte wären damit einverſtanden, könnte er's dann dulden?
Im vereinzelten Falle — ja; allein der vereinzelte Fall
iſt mehr als das, er iſt ein principieller. Es handelt ſich
dabei um den ganzen Inbegriff der Selbſtverwerthung
des Ich's, alſo auch ſeines Selbſtgefühls gegen den Staat.
So weit gehen die Communiſten mit; aber die Selbſtverwer¬
thung richtet ſich nothwendig, wie gegen den Staat, ſo auch
gegen die Geſellſchaft, und greift damit über das Commune
und Communiſtiſche hinaus — aus Egoismus.
[362]
Der Communismus macht den Grundſatz des Bürger¬
thums, daß Jeder ein Inhaber („Eigenthümer“) ſei, zu einer
unumſtößlichen Wahrheit, zu einer Wirklichkeit, indem nun die
Sorge um's Erlangen aufhört und Jeder von Haus aus
hat, was er braucht. In ſeiner Arbeitskraft hat er ſein
Vermögen, und wenn er davon keinen Gebrauch macht, ſo iſt
das ſeine Schuld. Das Haſchen und Hetzen hat ein Ende,
und keine Concurrenz bleibt, wie jetzt ſo oft, ohne Erfolg, weil
mit jeder Arbeitsregung ein zureichender Bedarf in's Haus
gebracht wird. Jetzt erſt iſt man wirklicher Inhaber,
weil Einem, was man in ſeiner Arbeitskraft hat, nicht mehr
ſo entgehen kann, wie es unter der Concurrenzwirthſchaft jeden
Augenblick zu entwiſchen drohte. Man iſt ſorgloſer und
geſicherter Inhaber. Und man iſt dieß gerade dadurch, daß
man ſein Vermögen nicht mehr in einer Waare, ſondern in
der eigenen Arbeit, dem Arbeitsvermögen, ſucht, alſo dadurch,
daß man ein Lump, ein Menſch von nur idealem Reichthum
iſt. Ich indeß kann Mir an dem Wenigen nicht genügen
laſſen, was Ich durch mein Arbeitsvermögen erſchwinge, weil
mein Vermögen nicht bloß in meiner Arbeit beſteht.
Durch Arbeit kann Ich die Amtsfunctionen eines Präſi¬
denten, Miniſters u.ſ.w. verſehen; es erfordern dieſe Aemter
nur eine allgemeine Bildung, nämlich eine ſolche, die allgemein
erreichbar iſt (denn allgemeine Bildung iſt nicht bloß die, welche
Jeder erreicht hat, ſondern überhaupt die, welche Jeder errei¬
chen kann, alſo jede ſpecielle, z. B. mediciniſche, militairiſche,
philologiſche Bildung, von der kein „gebildeter Menſch“ glaubt,
daß ſie ſeine Kräfte überſteige), oder überhaupt nur eine Allen
mögliche Geſchicklichkeit.
Kann aber auch Jeder dieſe Aemter bekleiden, ſo giebt
[363] doch erſt die einzige, ihm allein eigene Kraft des Einzelnen
ihnen ſo zu ſagen Leben und Bedeutung. Daß er ſein Amt
nicht wie ein „gewöhnlicher Menſch“ führt, ſondern das Ver¬
mögen ſeiner Einzigkeit hineinlegt, das bezahlt man ihm noch
nicht, wenn man ihn überhaupt nur als Beamten oder Mi¬
niſter bezahlt. Hat er's Euch zu Dank gemacht und wollt
Ihr dieſe dankenswerthe Kraft des Einzigen Euch erhalten, ſo
werdet Ihr ihn nicht wie einen bloßen Menſchen bezahlen dür¬
fen, der nur Menſchliches verrichtete, ſondern als Einen, der
Einziges vollbringt. Thut mit eurer Arbeit doch desgleichen!
Ueber meine Einzigkeit läßt ſich keine allgemeine Taxe
feſtſtellen, wie für das, was Ich als Menſch thue. Nur über
das Letztere kann eine Taxe beſtimmt werden.
Setzt alſo immerhin eine allgemeine Schätzung für menſch¬
liche Arbeiten auf, bringt aber eure Einzigkeit nicht um ihren
Verdienſt.
Menſchliche oder allgemeine Bedürfniſſe können
durch die Geſellſchaft befriedigt werden; für einzige Bedürf¬
niſſe mußt Du Befriedigung erſt ſuchen. Einen Freund und
einen Freundſchaftsdienſt, ſelbſt einen Dienſt des Einzelnen
kann Dir die Geſellſchaft nicht verſchaffen. Und doch wirſt
Du alle Augenblicke eines ſolchen Dienſtes bedürftig ſein und
bei den geringfügigſten Gelegenheiten Jemand brauchen, der
Dir behülflich iſt. Darum verlaß Dich nicht auf die Geſell¬
ſchaft, ſondern ſieh' zu, daß Du habeſt, um die Erfüllung
deiner Wünſche zu — erkaufen.
Ob das Geld unter Egoiſten beizubehalten ſei? — Am
alten Gepräge klebt ein ererbter Beſitz. Laßt Ihr Euch nicht
mehr damit bezahlen, ſo iſt es ruinirt, thut Ihr nichts für
dieſes Geld, ſo kommt es um alle Macht. Streicht das
[364]Erbe und Ihr habt das Gerichtsſiegel des Executors abge¬
brochen. Jetzt iſt ja Alles ein Erbe, ſei es ſchon geerbt oder
erwarte es ſeinen Erben. Iſt es das Eure, was laßt Ihr's
Euch verſiegeln, warum achtet Ihr das Siegel?
Warum aber ſollt Ihr kein neues Geld creiren? Ver¬
nichtet Ihr denn die Waare, indem Ihr das Erbgepräge von
ihr nehmt? Nun, das Geld iſt eine Waare, und zwar ein
weſentliches Mittel oder Vermögen. Denn es ſchützt vor
der Verknöcherung des Vermögens, hält es im Fluß und be¬
wirkt ſeinen Umſatz. Wißt Ihr ein beſſeres Tauſchmittel, im¬
merhin; doch wird es wieder ein „Geld“ ſein. Nicht das
Geld thut Euch Schaden, ſondern euer Unvermögen, es zu
nehmen. Laßt euer Vermögen wirken, nehmt Euch zuſammen,
und es wird an Geld — an eurem Gelde, dem Gelde eures
Gepräges — nicht fehlen. Arbeiten aber, das nenne Ich
nicht „euer Vermögen wirken laſſen“. Die nur „Arbeit ſuchen“
und „tüchtig arbeiten wollen“, bereiten ſich ſelbſt die unaus¬
bleibliche — Arbeitloſigkeit.
Vom Gelde hängt Glück und Unglück ab. Es iſt darum
in der Bürgerperiode eine Macht, weil es nur wie ein Mäd¬
chen umworben, von Niemand unauflöslich geehelicht wird.
Alle Romantik und Ritterlichkeit des Werbens um einen
theuren Gegenſtand lebt in der Concurrenz wieder auf. Das
Geld, ein Gegenſtand der Sehnſucht, wird von den kühnen
„Induſtrierittern“ entführt.
Wer das Glück hat, führt die Braut heim. Der Lump
hat das Glück; er führt ſie in ſein Hausweſen, die „Geſell¬
ſchaft“, ein und vernichtet die Jungfrau. In ſeinem Hauſe
iſt ſie nicht mehr Braut, ſondern Frau, und mit der Jung¬
fräulichkeit geht auch der Geſchlechtsname verloren. Als Haus¬
[365] frau heißt die Geldjungfer „Arbeit“, denn „Arbeit“ iſt der
Name des Mannes. Sie iſt ein Beſitz des Mannes.
Um dieß Bild zu Ende zu bringen, ſo iſt das Kind von
Arbeit und Geld wteder ein Mädchen, ein unverehelichtes, alſo
Geld, aber mit der gewiſſen Abſtammung von der Arbeit, ſeinem
Vater. Die Geſichtsform, das „Bild“, trägt ein anderes Gepräge.
Was ſchließlich noch einmal die Concurrenz betrifft, ſo
hat ſie gerade dadurch Beſtand, daß nicht Alle ſich ihrer
Sache annehmen und ſich über ſie mit einander verſtändi¬
gen. Brod iſt z. B. das Bedürfniß aller Einwohner einer
Stadt; deshalb könnten ſie leicht übereinkommen, eine öffent¬
liche Bäckerei einzurichten. Statt deſſen überlaſſen ſie die Lie¬
ferung des Bedarfs den concurrirenden Bäckern. Ebenſo Fleiſch
den Fleiſchern, Wein den Weinhändlern u ſ. w.
Die Concurrenz aufheben heißt nicht ſo viel als die Zunft
begünſtigen. Der Unterſchied iſt dieſer: In der Zunft iſt das
Backen u. ſ. w. Sache der Zünftigen; in der Concurrenz
Sache der beliebig Wetteifernden; im Verein Derer, welche
Gebackenes brauchen, alſo meine, deine Sache, weder Sache
des zünftigen noch des conceſſionirten Bäckers, ſondern Sache
der Vereinten.
Wenn Ich Mich nicht um meine Sache bekümmere, ſo
muß Ich mit dem vorlieb nehmen, was Andern Mir zu
gewähren beliebt. Brod zu haben, iſt meine Sache, mein
Wunſch und Begehren, und doch überläßt man das den Bäckern,
und hofft höchſtens durch ihren Hader, ihr Rangablaufen, ih¬
ren Wetteifer, kurz ihre Concurrenz einen Vortheil zu erlangen,
auf welchen man bei den Zünftigen, die gänzlich und al¬
lein im Eigenthum der Backgerechtigkeit ſaßen, nicht rechnen
konnte. — Was Jeder braucht, an deſſen Herbeiſchaffung und
[366] Hervorbringung ſollte ſich auch Jeder betheiligen; es iſt ſeine
Sache, ſein Eigenthum, nicht Eigenthum des zünftigen oder
conceſſionirten Meiſters.
Blicken Wir nochmals zurück. Den Kindern dieſer Welt,
den Menſchenkindern, gehört die Welt; ſie iſt nicht mehr Got¬
tes, ſondern des Menſchen Welt. So viel jeder Menſch von
ihr ſich verſchaffen kann, nenne er das Seinige; nur wird der
wahre Menſch, der Staat, die menſchliche Geſellſchaft oder die
Menſchheit darauf ſehen, daß Jeder nichts anderes zum Sei¬
nigen mache, als was er als Menſch, d. h. auf menſchliche
Weiſe ſich aneignet. Die unmenſchliche Aneignung iſt die
vom Menſchen nicht bewilligte, d. h. ſie iſt eine „verbrecheriſche“,
wie umgekehrt die menſchliche eine „rechtliche“, eine auf dem
„Rechtswege“ erworbene iſt.
So ſpricht man ſeit der Revolution.
Mein Eigenthum aber iſt kein Ding, da dieſes eine von
Mir unabhängige Exiſtenz hat; mein eigen iſt nur meine Ge¬
walt. Nicht dieſer Baum, ſondern meine Gewalt oder Ver¬
fügung über ihn iſt die meinige.
Wie drückt man dieſe Gewalt nun verkehrter Weiſe aus?
Man ſagt, Ich habe ein Recht auf dieſen Baum, oder er ſei
mein rechtliches Eigenthum. Erworben alſo habe Ich
ihn durch Gewalt. Daß die Gewalt fortdauern müſſe, damit
er auch behauptet werde, oder beſſer: daß die Gewalt nicht
ein für ſich Exiſtirendes ſei, ſondern lediglich im gewaltigen
Ich, in Mir, dem Gewaltigen, Exiſtenz habe, das wird ver¬
geſſen. Die Gewalt wird, wie andere meiner Eigenſchaf¬
ten, z. B. die Menſchlichkeit, Majeſtät u. ſ. w., zu einem
Fürſichſeienden erhoben, ſo daß ſie noch exiſtirt, wenn ſie längſt
nicht mehr meine Gewalt iſt. Derart in ein Geſpenſt ver¬
[367] wandelt, iſt die Gewalt das — Recht. Dieſe verewigte
Gewalt erliſcht ſelbſt mit meinem Tode nicht, ſondern wird
übertragen oder „vererbt“.
Die Dinge gehören nun wirklich nicht Mir, ſondern dem
Rechte.
Andererſeits iſt dieß weiter nichts, als eine Verblendung.
Denn die Gewalt des Einzelnen wird allein dadurch perma¬
nent und ein Recht, daß Andere ihre Gewalt mit der ſeinigen
verbinden. Der Wahn beſteht darin, daß ſie ihre Gewalt
nicht wieder zurückziehen zu können glauben. Wiederum die¬
ſelbe Erſcheinung, daß die Gewalt von Mir getrennt wird.
Ich kann die Gewalt, welche Ich dem Beſitzer gab, nicht wie¬
der nehmen. Man hat „bevollmächtigt“, hat die Macht weg¬
gegeben, hat dem entſagt, ſich eines Beſſeren zu beſinnen.
Der Eigenthümer kann ſeine Gewalt und ſein Recht an
eine Sache aufgeben, indem er ſie verſchenkt, verſchleudert
u. dergl. Und Wir könnten die Gewalt, welche Wir jenem
liehen, nicht gleichfalls fahren laſſen?
Der rechtliche Menſch, der Gerechte, begehrt nichts ſein
eigen zu nennen, was er nicht „mit Recht“ oder wozu er nicht
das Recht hat, alſo nur rechtmäßiges Eigenthum.
Wer ſoll nun Richter ſein und ihm ſein Recht zuſprechen?
Zuletzt doch der Menſch, der ihm die Menſchenrechte ertheilt:
dann kann er in einem unendlich weiteren Sinne als Terenz
ſagen: humani nihil a me alienum puto, d. h. das Menſch¬
liche iſt mein Eigenthum. Er mag es anſtellen, wie er
will, von einem Richter kommt er auf dieſem Standpunkte
nicht los, und in unſerer Zeit ſind die mancherlei Richter,
welche man ſich erwählt hatte, in zwei todfeindliche Perſonen
gegen einander getreten, nämlich in den Gott und den Men¬
[368] ſchen. Die Einen berufen ſich auf das göttliche, die Andern
auf das menſchliche Recht oder die Menſchenrechte.
So viel iſt klar, daß in beiden Fällen ſich der Einzelne
nicht ſelbſt berechtigt.
Sucht Mir heute einmal eine Handlung, die nicht eine
Rechtsverletzung wäre! Alle Augenblicke werden von der einen
Seite die Menſchenrechte mit Füßen getreten, während die Geg¬
ner den Mund nicht aufthun können, ohne eine Blasphemie
gegen das göttliche Recht hervorzubringen. Gebt ein Almoſen,
ſo verhöhnt Ihr ein Menſchenrecht, weil das Verhältniß von
Bettler und Wohlthäter ein unmenſchliches iſt; ſprecht einen
Zweifel aus, ſo ſündigt Ihr wider ein göttliches Recht. Eſſet
trockenes Brod mit Zufriedenheit, ſo verletzt Ihr das Men¬
ſchenrecht durch euren Gleichmuth: eſſet es mit Unzufrieden¬
heit, ſo ſchmäht Ihr das göttliche Recht durch euren Wider¬
willen. Es iſt nicht Einer unter Euch, der nicht in jedem
Augenblicke ein Verbrechen beginge: eure Reden ſind Verbrechen,
und jede Hemmung eurer Redefreiheit iſt nicht minder ein
Verbrechen. Ihr ſeid allzumal Verbrecher!
Doch Ihr ſeid es nur, indem Ihr Alle auf dem Rechts¬
boden ſteht, d. h. indem Ihr es nicht einmal wißt und zu
ſchätzen verſteht, daß Ihr Verbrecher ſeid.
Das unverletzliche oder heilige Eigenthum iſt auf eben
dieſem Boden gewachſen: es iſt ein Rechtsbegriff.
Ein Hund ſieht den Knochen in eines andern Gewalt und
ſteht nur ab, wenn er ſich zu ſchwach fühlt. Der Menſch aber
reſpectirt das Recht des Andern an ſeinem Knochen. Dieß
alſo gilt für menſchlich, jenes für brutal oder „egoiſtiſch“.
Und wie hier, ſo heißt überhaupt dieß „menſchlich“,
wenn man in Allem etwas Geiſtiges ſieht (hier das Recht),
[369] d. h. alles zu einem Geſpenſte macht, und ſich dazu als zu
einem Geſpenſte verhält, welches man zwar in ſeiner Erſchei¬
nung verſcheuchen, aber nicht tödten kann. Menſchlich iſt es,
das Einzelne nicht als Einzelnes, ſondem als ein Allgemeines
anzuſchauen.
An der Natur als ſolcher, reſpectire Ich nichts mehr,
ſondern weiß Mich gegen ſie zu Allem berechtigt; dagegen an
dem Baume in jenem Garten muß Ich die Fremdheit re¬
ſpectiren (einſeitiger Weiſe ſagt man: „das Eigenthum“),
muß meine Hand von ihm laſſen. Das nimmt ein Ende
nur dann, wenn Ich jenen Baum zwar einem Andern über¬
laſſen kann, wie Ich meinen Stock u. ſ. w. einem Andern
überlaſſe, aber nicht von vornherein ihn als Mir fremd, d. h.
heilig, betrachte. Vielmehr mache Ich Mir kein Verbrechen
daraus, ihn zu fällen, wenn Ich will, und er bleibt mein
Eigenthum, auf ſo lange Ich ihn auch Andern abtrete: er iſt
und bleibt mein. In dem Vermögen des Banquiers ſehe
Ich ſo wenig etwas Fremdes, als Napoleon in den Ländern
der Könige: Wir tragen keine Scheu, es zu „erobern“,
und ſehen Uns auch nach den Mitteln dazu um. Wir ſtrei¬
fen ihm alſo den Geiſt der Fremdheit ab, vor dem Wir
Uns gefürchtet hatten.
Darum iſt es nothwendig, daß Ich nichts mehr als
Menſch in Anſpruch nehme, ſondern alles als Ich, dieſer
Ich, mithin nichts Menſchliches, ſondem das Meinige, d. h.
nichts, was Mir als Menſch zukommt, ſondern — was Ich
will und weil Ich's will.
Rechtliches oder rechtmäßiges Eigenthum eines Andern
wird nur dasjenige ſein, wovon Dir's recht iſt, daß es ſein
Eigenthum ſei. Hört es auf, Dir recht zu ſein, ſo hat es
24[370] für Dich die Rechtmäßigkeit eingebüßt und das abſolute Recht
daran wirſt Du verlachen.
Außer dem bisher beſprochenen Eigenthum im beſchränk¬
ten Sinne wird unſerem ehrfürchtigen Gemüthe ein anderes
Eigenthum vorgehalten, an welchem Wir Uns noch weit we¬
niger „verſündigen ſollen“. Dieß Eigenthum beſteht in den
geiſtigen Gütern, in dem „Heiligthume des Innern“. Was
ein Menſch heilig hält, damit ſoll kein anderer ſein Geſpötte
treiben, weil, ſo unwahr es immer ſein und ſo eifrig man den
daran Hängenden und Glaubenden „auf liebevolle und be¬
ſcheidene Art“ von einem wahren Heiligen zu überzeugen ſuchen
mag, doch das Heilige ſelbſt allezeit daran zu ehren iſt:
der Irrende glaubt doch an das Heilige, wenn auch an ein
unrichtiges, und ſo muß ſein Glaube an das Heilige wenig¬
ſtens geachtet werden.
In roheren Zeiten, als die unſeren ſind, pflegte man ei¬
nen beſtimmten Glauben und die Hingebung an ein beſtimm¬
tes Heiliges zu verlangen und ging mit den Andersgläubigen
nicht auf's ſanfteſte um; ſeit jedoch die „Glaubensfreiheit“
ſich mehr und mehr ausbreitete, zerfloß der „eifrige Gott und
alleinige Herr“ allgemach in ein ziemlich allgemeines „höchſtes
Weſen“, und es genügte der humanen Toleranz, wenn nur
Jeder „ein Heiliges“ verehrte.
Auf den menſchlichſten Ausdruck gebracht, iſt dieß Heilige
„der Menſch ſelbſt“ und „das Menſchliche“. Bei dem trüge¬
riſchen Scheine, als wäre das Menſchliche ganz und gar un¬
ſer Eigenes und frei von aller Jenſeitigkeit, womit das Gött¬
liche behaftet iſt, ja als wäre der Menſch ſo viel als Ich
oder Du, kann ſogar der ſtolze Wahn entſtehen, daß von ei¬
nem „Heiligen“ nicht länger die Rede ſei, und daß Wir Uns
[371] nun überall heimiſch und nicht mehr im Unheimlichen, d. h.
im Heiligen und in heiligen Schauern fühlten: im Entzücken
über den „endlich gefundenen Menſchen“ wird der egoiſtiſche
Schmerzensruf überhört und der ſo traulich gewordene Spuk
für unſer wahres Ich genommen.
Aber „Humanus heißt der Heilige“ (ſ. Göthe), und das
Humane iſt nur das geläutertſte Heilige.
Umgekehrt ſpricht ſich der Egoiſt aus. Darum gerade,
weil Du etwas heilig hältſt, treibe Ich mit Dir mein Ge¬
ſpötte und, achtete Ich auch Alles an Dir, gerade dein Heilig¬
thum achte Ich nicht.
Bei dieſen entgegengeſetzten Anſichten muß auch ein wider¬
ſprechendes Verhalten zu den geiſtigen Gütern angenommen
werden: der Egoiſt inſultirt ſie, der Religiöſe (d. h. jeder,
der über ſich ſein „Weſen“ ſetzt) muß ſie conſequenter Weiſe —
ſchützen. Welcherlei geiſtige Güter aber geſchützt und welche
ungeſchützt gelaſſen werden ſollen, das hängt ganz von dem
Begriffe ab, den man ſich vom „höchſten Weſen“ macht, und
der Gottesfürchtige z. B. hat mehr zu ſchirmen, als der Men¬
ſchenfürchtige (der Liberale).
An den geiſtigen Gütern werden Wir im Unterſchiede
von den ſinnlichen auf eine geiſtige Weiſe verletzt, und die
Sünde gegen dieſelbe beſteht in einer directen Entheili¬
gung, während gegen die ſinnliche eine Entwendung oder
Entfremdung ſtattfindet: die Güter ſelbſt werden entwerthet
und entweiht, nicht bloß entzogen, das Heilige wird unmit¬
telbar gefährdet. Mit dem Worte „Unehrerbietigkeit“ oder
„Frechheit“ iſt Alles bezeichnet, was gegen die geiſtigen Gü¬
ter, d. h. gegen Alles, was Uns heilig iſt, verbrochen
werden kann, und Spott, Schmähung, Verachtung, Bezweif¬
24 ☼[372] lung u. dergl. ſind nur verſchiedene Schattirungen der ver¬
brecheriſchen Frechheit.
Daß die Entheiligung in der mannigfachſen Art verübt
werden kann, ſoll hier übergangen und vorzugsweiſe nur an
jene Entheiligung erinnert werden, welche durch eine unbe¬
ſchränkte Preſſe das Heilige mit Gefahr bedroht.
So lange auch nur für Ein geiſtiges Weſen noch Reſpect
gefordert wird, muß die Rede und Preſſe im Namen dieſes
Weſens geknechtet werden; denn eben ſo lange könnte der Egoiſt
durch ſeine Aeußerungen ſich gegen daſſelbe „vergehen“,
woran er eben wenigſtens durch die „gebührende Strafe“ ver¬
hindert werden muß, wenn man nicht lieber das richtigere
Mittel dagegen ergreifen will, die vorbeugende Polizeigewalt,
z. B. der Cenſur.
Welch ein Seufzen nach Freiheit der Preſſe! Wovon
ſoll die Preſſe denn befreit werden? Doch wohl von einer
Abhängigkeit, Angehörigkeit und Dienſtbarkeit! Davon aber
ſich zu befreien, iſt eben die Sache eines Jeden, und es iſt
mit Sicherheit anzunehmen, daß wenn Du Dich aus der
Dienſtbarkeit erlöſt haſt, auch das, was Du verfaſſeſt und
ſchreibſt, Dir eigen gehören werde, ſtatt im Dienſte irgend
einer Macht gedacht und aufgeſetzt worden zu ſein. Was
kann ein Chriſtgläubiger ſagen und drucken laſſen, das freier
wäre von jener Chriſtgläubigkeit, als er ſelbſt es iſt? Wenn
Ich etwas nicht ſchreiben kann und darf, ſo liegt die nächſte
Schuld vielleicht an Mir. So wenig dieß die Sache zu tref¬
fen ſcheint, ſo nahe findet ſich dennoch die Anwendung. Durch
ein Pretzgeſetz ziehe oder laſſe Ich meinen Veröffentlichungen
eine Grenze ziehen, über welche hinaus das Unrecht und deſſen
Strafe folgt. Ich ſelbſt beſchränke Mich.
[373]
Sollte die Preſſe frei ſein, ſo wäre gerade nichts ſo wich¬
tig, als ihre Befreiung von jedem Zwange, der ihr im Na¬
men eines Geſetzes angethan werden könnte. Und daß es
dazu komme, müßte eben Ich ſelbſt vom Gehorſam gegen das
Geſetz Mich entbunden haben.
Freilich, die abſolute Freiheit der Preſſe iſt wie jede ab¬
ſolute Freiheit ein Unding. Von gar Vielem kann ſie frei
werden, aber immer nur von dem, wovon auch Ich frei bin.
Machen Wir Uns vom Heiligen frei, ſind Wir heillos und
geſetzlos geworden, ſo werden's auch unſere Worte werden.
So wenig Wir in der Welt von jedem Zwange losge¬
ſprochen werden können, ſo wenig läßt ſich unſere Schrift
demſelben entziehen. Aber ſo frei als Wir ſind, ſo frei kön¬
nen Wir auch jene machen.
Sie muß alſo Unſer eigen werden, ſtatt, wie bisher,
einem Spuk zu dienen.
Man bleibt ſich unklar bei dem Rufe nach Preßfreiheit.
Was man angeblich verlangt, iſt dieß, daß der Staat die
Preſſe frei geben ſolle; was man aber eigentlich, und ohne es
ſelbſt zu wiſſen, haben will, iſt dieß, daß die Preſſe vom Staate
frei oder den Staat los werde. Jenes iſt eine Petition an
den Staat, dieſes eine Empörung gegen den Staat. Als
eine „Bitte um Recht“, ſelbſt als ein ernſtes Fordern des
Preßfreiheitsrechtes ſetzt ſie den Staat als den Geber vor¬
aus und kann nur auf ein Geſchenk, eine Zulaſſung, ein
Octroyiren hoffen. Wohl möglich, daß ein Staat ſo unſinnig
handelt, das geforderte Geſchenk zu gewähren; es iſt aber
Alles zu wetten, daß die Beſchenkten das Geſchenk nicht zu
gebrauchen wiſſen werden, ſo lange ſie den Staat als eine
Wahrheit betrachten: ſie werden ſich an dieſem „Heiligen“
[374] nicht vergehen und gegen Jeden, der dieß wagen wollte, ein
ſtrafendes Preßgeſetz aufrufen.
Mit Einem Worte, die Preſſe wird von dem nicht frei,
wovon Ich nicht frei bin.
Weiſe Ich Mich hierdurch etwa als einen Gegner der
Preßfreiheit aus? Im Gegentheil, Ich behaupte nur, daß man
ſie nie bekommen wird, wenn man nur ſie, die Preßfreiheit,
will, d. h. wenn man nur auf eine unbeſchränkte Erlaubniß
ausgeht. Bettelt nur immerfort um dieſe Erlaubniß: Ihr
werdet ewig darauf warten können, denn es iſt Keiner in der
Welt, der ſie Euch geben könnte. So lange Ihr für den
Gebrauch der Preſſe Euch durch eine Erlaubniß, d. h. Pre߬
freiheit, „berechtigen“ laſſen wollt, lebt Ihr in eitler Hoffnung
und Klage.
„Unſinn! Du, der Du ſolche Gedanken, wie ſie in dei¬
nem Buche ſtehen, hegſt, kannſt ſie ja ſelbſt leider nur durch
einen glücklichen Zufall oder auf Schleichwegen zur Oeffent¬
lichkeit bringen; gleichwohl willſt Du dagegen eifern, daß man
den eigenen Staat ſo lange dränge und überlaufe, bis er die
verweigerte Druckerlaubniß giebt?“ Ein alſo angeredeter Schrift¬
ſteller würde aber vielleicht — denn die Frechheit ſolcher Leute
geht weit — Folgendes erwidern: „Erwägt eure Rede genau!
Was thue Ich denn, um Mir für mein Buch Preßfreiheit zu
verſchaffen? Frage Ich nach der Erlaubniß, oder ſuche Ich
nicht vielmehr ohne alle Frage nach Geſetzlichkeit eine günſtige
Gelegenheit, und ergreife ſie in völliger Rückſichtsloſigkeit gegen
den Staat und ſeine Wünſche? Ich — es muß das ſchrecken¬
erregende Wort ausgeſprochen werden — Ich betrüge den
Staat. Unbewußt thut Ihr daſſelbe. Ihr redet ihm von
euren Tribünen aus ein, er müſſe ſeine Heiligkeit und Unver¬
[375] letzlichkeit aufgeben, er müſſe den Angriffen der Schreibenden
ſich Preis geben, ohne daß er deshalb Gefahr zu fürchten
brauche. Aber Ihr hintergeht ihn; denn es iſt um ſeine Exi¬
ſtenz gethan, ſobald er ſeine Unnahbarkeit einbüßt. Euch
freilich könnte er die Schreibefreiheit wohl geſtatten, ſo wie Eng¬
land es gethan hat; Ihr ſeid Staatsgläubige und unver¬
mögend, gegen den Staat zu ſchreiben, ſo viel Ihr immer auch
an ihm zu reformiren und ſeinen „Mängeln abzuhelfen“ haben
mögt. Aber wie, wenn Staatsgegner das freie Wort ſich zu
Nutze machten, und gegen Kirche, Staat, Sitte und alles
„Heilige“ mit unerbittlichen Gründen losſtürmten? Ihr wäret
dann die Erſten, welche unter ſchrecklichen Aengſten die Sep¬
tembergeſetze ins Leben riefen. Zu ſpät gereute Euch dann
die Dummheit, welche Euch früher ſo bereit machte, den Staat
oder die Staatsregierung zu beſchwatzen und zu bethören. —
Ich aber beweiſe durch meine That nur zweierlei. Einmal
dieß, daß die Preßfreiheit immer an „günſtige Gelegenheiten“
gebunden, mithin niemals eine abſolute Freiheit ſein werde;
zweitens aber dieß, daß, wer ſie genießen will, die günſtige
Gelegenheit aufſuchen und wo möglich erſchaffen muß, indem
er gegen den Staat ſeinen eigenen Vortheil geltend macht,
und ſich und ſeinen Willen für mehr hält als den Staat und
jede „höhere Macht“. Nicht im, ſondern allein gegen den
Staat kann die Preßfreiheit durchgeſetzt werden; ſie iſt, ſoll ſie
hergeſtellt werden, nicht als Folge einer Bitte, ſondern als
das Werk einer Empörung zu erlangen. Jede Bitte und
jeder Antrag auf Preßfreiheit iſt ſchon eine, ſei es bewußte
oder unbewußte, Empörung, was nur die philiſterhafte Halb¬
heit ſich nicht geſtehen will und kann, bis ſie zuſammenſchau¬
ernd es am Erfolge deutlich und unwiderleglich ſehen wird.
[376]
Denn die erbetene Preßfreiheit hat freilich im Anfange ein
freundliches und wohlmeinendes Geſicht, da ſie nicht im ent¬
fernteſten geſonnen iſt, jemals die „Preßfrechheit“ aufkommen
zu laſſen; nach und nach wird aber ihr Herz verhärteter, und
die Folgerung ſchmeichelt ſich bei ihr ein, daß ja doch eine
Freiheit keine Freiheit ſei, wenn ſie im Dienſte des Staates,
der Sitte oder des Geſetzes ſteht. Zwar eine Freiheit vom
Cenſurzwange, iſt ſie doch keine Freiheit vom Geſetzeszwange.
Es will die Preſſe, einmal vom Freiheitsgelüſte ergriffen, immer
freier werden, bis der Schreibende ſich endlich ſagt: Ich bin
doch dann erſt gänzlich frei, wenn Ich nach Nichts frage; das
Schreiben aber iſt nur frei, wenn es mein eigenes iſt, das
Mir durch keine Macht oder Autorität, durch keinen Glauben,
keine Scheu dictirt wird; die Preſſe muß nicht frei ſein —
das iſt zu wenig —, ſie muß mein ſein: — Preßeigen¬
heit oder Preßeigenthum, das iſt's, was Ich Mir neh¬
men will.“
„Preßfreiheit iſt ja Preßerlaubniß, und der
Staat wird und kann Mir freiwillig nie erlauben, daß Ich
ihn durch die Preſſe zermalme.“
„Faſſen Wir es nun ſchließlich, indem Wir die obige,
durch das Wort „Preßfreiheit“ noch ſchwankende Rede ver¬
beſſern, lieber ſo: Preßfreiheit, die laute Forderung der
Liberalen, iſt allerdings möglich im Staate, ja ſie iſt nur im
Staate möglich, weil ſie eine Erlaubniß iſt, der Erlaubende
folglich, der Staat, nicht fehlen darf. Als Erlaubniß hat ſie
aber ihre Grenze an eben dieſem Staate, der doch billiger
Weiſe nicht mehr wird erlauben ſollen, als ſich mit ihm und
ſeiner Wohlfahrt verträgt: er ſchreibt ihr dieſe Grenze als das
Geſetz ihres Daſeins und ihrer Ausdehnung vor. Daß ein
[377] Staat mehr als ein anderer verträgt, iſt nur ein quantitativer
Unterſchied, der jedoch allein den politiſchen Liberalen am Her¬
zen liegt: ſie wollen in Deutſchland z.B. nur eine „ausge¬
dehntere, weitere Geſtattung des freien Wortes“. Die
Preßfreiheit, welche man nachſucht, iſt eine Sache des Vol¬
kes, und ehe das Volk (der Staat) ſie nicht beſitzt, eher darf
Ich davon keinen Gebrauch machen. Vom Geſichtspunkte des
Preßeigenthums aus verhält ſich's anders. Mag mein Volk
der Preßfreiheit entbehren, Ich ſuche Mir eine Liſt oder Ge¬
walt aus, um zu drucken — die Druckerlaubniß hole Ich Mir
nur von — Mir und meiner Kraft.“
„Iſt die Preſſe mein eigen, ſo bedarf Ich für ihre
Anwendung ſo wenig einer Erlaubniß des Staates, als Ich
dieſe nachſuche, um meine Naſe zu ſchneutzen. Mein Eigen¬
thum iſt die Preſſe von dem Augenblicke an, wo Mir nichts
mehr über Mich geht: denn von dieſem Moment an hört
Staat, Kirche, Volk, Geſellſchaft u. dergl. auf, weil ſie nur
der Mißachtung, welche Ich vor Mir habe, ihre Exiſtenz ver¬
danken, und mit dem Verſchwinden dieſer Geringſchätzung ſelbſt
erlöſchen: ſie ſind nur, wenn ſie über Mir ſind, ſind nur als
Mächte und Mächtige. Oder könnt Ihr Euch einen
Staat denken, deſſen Einwohner alleſammt ſich nichts aus ihm
machen? der wäre ſo gewiß ein Traum, eine Scheinexiſtenz,
als das „einige Deutſchland“.
„Die Preſſe iſt mein eigen, ſobald Ich ſelbſt mein eigen,
ein Eigener bin: dem Egoiſten gehört die Welt, weil er keiner
Macht der Welt gehört.“
„Dabei könnte meine Preſſe immer noch ſehr unfrei
ſein, wie z. B. in dieſem Augenblick. Die Welt iſt aber groß,
und man hilft ſich eben, ſo gut es geht. Wollte Ich vom
[378]Eigenthum meiner Preſſe ablaſſen, ſo könnte Ich's leicht
erreichen, daß Ich überall ſo viel drucken laſſen dürfte, als
meine Finger producirten. Da Ich aber mein Eigenthum
behaupten will, ſo muß Ich nothwendig meine Feinde übers
Ohr hauen. „„Würdeſt Du ihre Erlaubniß nicht annehmen,
wenn ſie Dir gegeben würde?““ Gewiß, mit Freuden; denn ihre
Erlaubniß wäre Mir ein Beweis, daß Ich ſie bethört und auf
den Weg des Verderbens gebracht habe. Um ihre Erlaubniß
iſt Mir's nicht zu thun, deſto mehr aber um ihre Thorheit
und ihre Niederlage. Ich werbe nicht um ihre Erlaubniß,
als ſchmeichelte Ich Mir, gleich den politiſchen Liberalen, daß
Wir beide, ſie und Ich, neben und mit einander friedlich aus¬
kommen, ja wohl gar einer den andern heben und unterſtützen
können, ſondern Ich werbe darum, um ſie an derſelben ver¬
bluten zu laſſen, damit endlich die Erlaubenden ſelbſt aufhören.
Ich handle als bewußter Feind, indem Ich ſie übervortheile
und ihre Unbedachtſamkeit benutze.“
„Mein iſt die Preſſe, wenn Ich über ihre Benutzung
durchaus keinen Richter außer Mir anerkenne, d. h. wenn
Ich nicht mehr durch die Sittlichkeit oder die Religion oder
den Reſpect vor den Staatsgeſetzen u. dergl. beſtimmt werde
zu ſchreiben, ſondern durch Mich und meinen Egoismus!“ —
Was habt Ihr nun ihm, der Euch eine ſo freche Antwort
giebt, zu erwidern? — Wir bringen die Frage am ſprechend¬
ſten vielleicht in folgende Stellung: Weſſen iſt die Preſſe, des
Volkes (Staates) oder mein? Die Politiſchen ihrerſeits beab¬
ſichtigen nichts weiter, als die Preſſe von perſönlichen und
willkührlichen Eingriffen der Machthaber zu befreien, ohne
daran zu denken, daß ſie, um wirklich für Jedermann offen zu
ſein, auch von den Geſetzen, d. h. vom Volkswillen (Staats¬
[379] willen) frei ſein müßte. Sie wollen aus ihr eine „Volks¬
ſache“ machen.
Zum Eigenthum des Volkes geworden iſt ſie aber noch
weit davon entfernt, das meinige zu ſein, vielmehr behält ſie
für Mich die untergeordnete Bedeutung einer Erlaubniß.
Das Volk ſpielt den Richter über meine Gedanken, für die
Ich ihm Rechenſchaft ſchuldig oder verantwortlich bin. Die
Geſchworenen haben, wenn ihre fixen Ideen angegriffen werden,
eben ſo harte Köpfe und Herzen, als die ſtierſten Despoten
und deren knechtiſche Beamten.
In den „Liberalen Beſtrebungen“ *)behauptet E. Bauer,
daß die Preßfreiheit im abſolutiſtiſchen und im conſtitutionellen
Staate unmöglich ſei, im „freien Staate“ hingegen ihre Stelle
finde. „Hier,“ heißt es, „iſt es anerkannt, daß der Einzelne,
weil er nicht mehr einzelner, ſondern Mitglied einer wahrhaften
und vernünftigen Allgemeinheit iſt, das Recht hat, ſich aus¬
zuſprechen.“ Alſo nicht der Einzelne, ſondern das „Mitglied“
hat Preßfreiheit. Muß aber der Einzelne ſich zum Behuf der
Preßfreiheit erſt über ſeinen Glauben an das Allgemeine, das
Volk, ausweiſen, hat er dieſe Freiheit nicht durch eigene Ge¬
walt, ſo iſt ſie eine Volksfreiheit, eine Freiheit, die ihm
um ſeines Glaubens, ſeiner „Mitgliedſchaft“ willen verliehen
wird. Umgekehrt, gerade als Einzelnem ſteht Jedem die Frei¬
heit offen, ſich auszuſprechen. Aber er hat nicht das „Recht“,
jene Freiheit iſt allerdings nicht ſein „heiliges Recht“. Er
hat nur die Gewalt; aber die Gewalt allein macht ihn zum
Eigner. Ich brauche keine Conceſſion zur Preßfreiheit, brauche
nicht die Bewilligung des Volkes dazu, brauche nicht das
[380] „Recht“ dazu und keine „Berechtigung“. Auch die Preßfrei¬
heit, wie jede Freiheit, muß Ich Mir „nehmen“; das Volk
„als eben der einzige Richter“ kann ſie Mir nicht geben.
Es kann ſich die Freiheit, welche Ich Mir nehme, gefallen
laſſen oder ſich dagegen wehren: geben, ſchenken, gewähren
kann es ſie nicht. Ich übe ſie trotz dem Volke, rein als
Einzelner, d.h. Ich kämpfe ſie dem Volke, meinem — Feinde,
ab, und erhalte ſie nur, wenn Ich ſie ihm wirklich abkämpfe,
d.i. Mir nehme. Ich nehme ſie aber, weil ſie mein Ei¬
genthum iſt.
Sander, gegen welchen E. Bauer ſpricht, nimmt (Seite 99)
die Preßfreiheit „als das Recht und die Freiheit des Bürgers
im Staate“ in Anſpruch. Was thut E. Bauer anders?
Auch ihm iſt ſie nur ein Recht des freien Bürgers.
Auch unter dem Namen eines „allgemein menſchlichen
Rechtes“ wird die Preßfreiheit gefordert. Dagegen war der
Einwand gegründet: Nicht jeder Menſch wiſſe ſie richtig zu
gebrauchen; denn nicht jeder Einzelne ſei wahrhaft Menſch.
Dem Menſchen als ſolchen verweigerte ſie niemals eine Re¬
gierung: aber der Menſch ſchreibt eben nichts, weil er ein
Geſpenſt iſt. Sie verweigerte ſie ſtets nur Einzelnen, und
gab ſie Andern, z.B. ihren Organen. Wollte man alſo ſie
für Alle haben, ſo mußte man gerade behaupten, ſie gebühre dem
Einzelnen, Mir, nicht dem Menſchen oder nicht dem Einzelnen,
ſofern er Menſch ſei. Ein Anderer als ein Menſch (z. B.
ein Thier) kann ohnehin von ihr keinen Gebrauch machen.
Die franzöſiſche Regierung z.B. beſtreitet die Preßfreiheit nicht
als Menſchenrecht, ſie fordert aber vom Einzelnen eine Caution
dafür, daß er wirklich Menſch ſei; denn nicht dem Einzelnen,
ſondern dem Menſchen ertheilt ſie die Preßfreiheit.
[381]
Gerade unter dem Vorgeben, daß es nicht menſchlich
ſei, entzog man Mir das Meinige: das Menſchliche ließ man
Mir ungeſchmälert.
Die Preßfreiheit kann nur eine verantwortliche Preſſe
zuwege bringen, die unverantwortliche geht allein aus
dem Preßeigenthum hervor.
Für den Verkehr mit Menſchen wird unter allen, welche
religiös leben, ein ausdrückliches Geſetz obenangeſtellt, deſſen
Befolgung man wohl ſündhafter Weiſe zuweilen zu vergeſſen,
deſſen abſoluten Werth aber zu leugnen man ſich niemals getraut;
dieß iſt das Geſetz der — Liebe, dem auch Diejenigen noch
nicht untreu geworden ſind, die gegen ihr Princip zu kämpfen
ſcheinen und ihren Namen haſſen; denn auch ſie haben der
Liebe noch, ja ſie lieben inniger und geläuterter, ſie lieben
„den Menſchen und die Menſchheit.“
Formuliren Wir den Sinn dieſes Geſetzes, ſo wird er
etwa folgender ſein: Jeder Menſch muß ein Etwas haben,
das ihm über ſich geht. Du ſollſt dein „Privatintereſſe“ hint¬
anſetzen, wenn es die Wohlfahrt Anderer, das Wohl des Va¬
terlandes, der Geſellſchaft, das Gemeinwohl, das Wohl der
Menſchheit, die gute Sache u. dgl. gilt! Vaterland, Geſell¬
ſchaft Menſchheit u. ſ. w. muß Dir über Dich gehen, und
gegen ihr Intereſſe muß dein „Privatintereſſe“ zurückſtehen;
denn Du darfſt kein — Egoiſt ſein.
Die Liebe iſt eine weitgehende religiöſe Forderung, die
nicht etwa auf die Liebe zu Gott und den Menſchen ſich be¬
ſchränkt, ſondern in jeder Beziehung obenanſteht. Was Wir
auch thun, denken, wollen, immer ſoll der Grund davon die
[382] Liebe ſein. So dürfen Wir zwar urtheilen, aber nur „mit
Liebe“. Die Bibel darf allerdings kritiſirt werden und zwar
ſehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen ſie
lieben und das heilige Buch in ihr ſehen. Heißt dieß etwas
anderes als: er darf ſie nicht zu Tode kritiſiren, er muß ſie
beſtehen laſſen, und zwar als ein Heiliges, Unumſtößliches? —
Auch in unſerer Kritik über Menſchen ſoll die Liebe unverän¬
derter Grundton bleiben. Gewiß ſind Urtheile, welche der
Haß eingiebt, gar nicht unſere eigenen Urtheile, ſondern Ur¬
theile des Uns beherrſchenden Haſſes, „gehäſſige Urtheile“.
Aber ſind Urtheile, welche Uns die Liebe eingiebt, mehr unſere
eigenen? Sie ſind Urtheile der Uns beherrſchenden Liebe, ſind
„liebevolle, nachſichtige“ Urtheile, ſind nicht unſere eigenen,
mithin gar nicht wirkliche Urtheile. Wer vor Liebe zur Gerech¬
tigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann
wohl fragen und forſchen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich
ſei oder fordere und worin ſie beſtehe, aber nicht, ob ſie etwas ſei.
Es iſt ſehr wahr „Wer in der Liebe bleibet, der bleibet
in Gott und Gott in ihm“. (1 Joh. 4, 16.) Der Gott
bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und
er bleibet in Gott, kommt nicht zu ſich und in ſeine eigene
Heimath, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos.
„Gott iſt die Liebe! Alle Zeit und alle Geſchlechter er¬
kennen in dieſem Worte den Mittelpunkt des Chriſtenthums.“
Gott, der die Liebe iſt, iſt ein zudringlicher Gott: er kann die
Welt nicht in Ruhe laſſen, ſondern will ſie beſeligen.
„Gott iſt Menſch geworden, um die Menſchen göttlich zu
machen.“ *)Er hat ſeine Hand überall im Spiele, und nichts
[383] geſchieht ohne ſie; überall hat er ſeine „beſten Abſichten“, ſeine
„unbegreiflichen Pläne und Rathſchlüſſe“. Die Vernunft,
welche er ſelbſt iſt, ſoll auch in der ganzen Welt befördert
und verwirklicht werden. Seine väterliche Fürſorge bringt Uns
um alle Selbſtändigkeit. Wir können nichts Geſcheidtes thun,
ohne daß es hieße: das hat Gott gethan! und können Uns
kein Unglück zuziehen, ohne zu hören: das habe Gott verhängt;
Wir haben nichts, was Wir nicht von ihm hätten: er hat
alles „gegeben“. Wie aber Gott, ſo macht's der Menſch.
Jener will partout die Welt beſeligen, und der Menſch will
ſie beglücken, will alle Menſchen glücklich machen. Da¬
her will jeder „Menſch“ die Vernunft, welche er ſelbſt zu
haben meint, in Allen erwecken: Alles ſoll durchaus vernünftig
ſein. Gott plagt ſich mit dem Teufel und der Philoſoph mit
der Unvernunft und dem Zufälligen. Gott läßt kein Weſen
ſeinen eigenen Gang gehen, und der Menſch will Uns
gleichfalls nur einen menſchlichen Wandel führen laſſen.
Wer aber voll heiliger (religiöſer, ſittlicher, humaner)
Liebe iſt, der liebt nur den Spuk, den „wahren Menſchen“,
und verfolgt mit dumpfer Unbarmherzigkeit den Einzelnen, den
wirklichen Menſchen, unter dem phlegmatiſchen Rechstitel des
Verfahrens gegen den „Unmenſchen“. Er findet es lobens¬
werth und unerläßlich, die Erbarmungsloſigkeit im herbſten
Maaße zu üben; denn die Liebe zum Spuk oder Allgemeinen
gebietet ihm, den nicht Geſpenſtiſchen, d. h. den Egoiſten oder
Einzelnen, zu haſſen: das iſt der Sinn der berühmten Liebes¬
erſcheinung, die man „Gerechtigkeit“ nennt.
Der peinlich Angeklagte hat keine Schonung zu erwarten,
und Niemand deckt freundlich eine Hülle über ſeine unglückliche
Blöße. Ohne Rührung reißt der ſtrenge Richter die letzten
[384] Fetzen der Entſchuldigung dem armen Angeſchuldigten vom
Leibe, ohne Mitleid ſchleppt der Kerkermeiſter ihn in ſeine
dumpfe Wohnung, ohne Verſöhnlichkeit ſtößt er den Gebrand¬
markten nach abgelaufener Strafzeit wieder unter die verächtlich
anſpeienden Menſchen, ſeine guten, chriſtlichen, loyalen Mit¬
brüder! Ja, ohne Gnade wird ein „todeswürdiger“ Verbre¬
cher auf das Blutgerüſt geführt, und vor den Augen einer
jubelnden Menge feiert das geſühnte Sittengeſetz ſeine erhabene
— Rache. Eines kann ja nur leben, das Sittengeſetz, oder
der Verbrecher. Wo die Verbrecher ungeſtraft leben, da iſt
das Sittengeſetz untergegangen, und wo dieſes waltet, müſſen
jene fallen. Ihre Feindſchaft iſt unzerſtörbar.
Es iſt gerade das chriſtliche Zeitalter das der Barm¬
herzigkeit, der Liebe, der Sorge, den Menſchen zukommen
zu laſſen, was ihnen gebührt, ja ſie dahin zu bringen, daß
ſie ihren menſchlichen (göttlichen) Beruf erfüllen. Man hat
alſo für den Verkehr obenan geſtellt: dieß und dieß iſt das
Weſen des Menſchen und folglich ſein Beruf, wozu ihn ent¬
weder Gott berufen hat oder (nach heutigen Begriffen) ſein
Menſchſein (die Gattung) ihn beruft. Daher der Bekehrungs¬
eifer. Daß die Communiſten und Humanen mehr als die
Chriſten vom Menſchen erwarten, bringt ſie keineswegs von
demſelben Standpunkte weg. Dem Menſchen ſoll das Menſch¬
liche werden! War es den Frommen genug, daß ihm das
Göttliche zu Theil wurde, ſo verlangen die Humanen, daß
ihm das Menſchliche nicht verkümmert werde. Gegen das Ego¬
iſtiſche ſtemmen ſich beide. Natürlich, denn das Egoiſtiſche
kann ihm nicht bewilligt oder verliehen werden (Lehen), ſon¬
dern er muß es ſelbſt ſich verſchaffen. Jenes ertheilt die Liebe,
dieſes kann Mir allein von Mir gegeben werden.
[385]
Der bisherige Verkehr beruhte auf der Liebe, dem rück¬
ſichtsvollen Benehmen, dem Füreinanderthun. Wie man
ſich's ſchuldig war, ſich ſelig zu machen oder die Seligkeit,
das höchſte Weſen in ſich aufzunehmen und zu einer verité
(einer Wahrheit und Wirklichkeit) zu bringen, ſo war man's
Andern ſchuldig, ihr Weſen und ihren Beruf ihnen realiſiren
zu helfen: man war's eben in beiden Fällen dem Weſen des
Menſchen ſchuldig, zu ſeiner Verwirklichung beizutragen.
Allein man iſt weder ſich ſchuldig, etwas aus ſich, noch
Andern, etwas aus ihnen zu machen: denn man iſt ſeinem
und Anderer Weſen nichts ſchuldig. Der auf das Weſen ge¬
ſtützte Verkehr iſt ein Verkehr mit dem Spuk, nicht mit Wirk¬
lichem. Verkehre Ich mit dem höchſten Weſen, ſo verkehre
Ich nicht mit Mir, und verkehre Ich mit dem Weſen des
Menſchen, ſo verkehre Ich nicht mit den Menſchen.
Die Liebe des natürlichen Menſchen wird durch die Bil¬
dung ein Gebot. Als Gebot aber gehört ſie dem Menſchen
als ſolchem, nicht Mir; ſie iſt mein Weſen, von dem man
viel Weſens macht, nicht mein Eigenthum. Der Menſch, d.h.
die Menſchlichkeit, ſtellt jene Forderung an Mich; die Liebe
wird gefordert, iſt meine Pflicht. Statt alſo wirklich
Mir errungen zu ſein, iſt ſie dem Allgemeinen errungen, dem
Menſchen, als deſſen Eigenthum oder Eigenheit: „dem Men¬
ſchen, d.h. jedem Menſchen ziemt es zu lieben: Lieben iſt die
Pflicht und der Beruf des Menſchen u.s.w.“
Folglich muß Ich die Liebe Mir wieder vindiciren und
ſie aus der Macht des Menſchen erlöſen.
Was urſprünglich mein war, aber zufällig, inſtinct¬
mäßig, das wurde Mir als Eigenthum des Menſchen ver¬
liehen; Ich wurde Lehnsträger, indem Ich liebte, wurde der
25[386] Lehnsmann der Menſchheit, nur ein Exemplar dieſer Gattung,
und handelte liebend nicht als Ich, ſondern als Menſch,
als Menſchenexemplar, d. h. menſchlich. Der ganze Zuſtand
der Cultur iſt das Lehnsweſen, indem das Eigenthum das
des Menſchen oder der Menſchheit iſt, nicht das meinige.
Ein ungeheurer Lehnsſtaat wurde gegründet, dem Einzelnen
Alles geraubt, „dem Menſchen“ Alles überlaſſen. Der Ein¬
zelne mußte endlich als „Sünder durch und durch“ erſcheinen.
Soll Ich etwa an der Perſon des Andern keine lebendige
Theilnahme haben, ſoll ſeine Freude und ſein Wohl Mir
nicht am Herzen liegen, ſoll der Genuß, den Ich ihm bereite,
Mir nicht über andere eigene Genüſſe gehen? Im Gegen¬
theil, unzählige Genüſſe kann Ich ihm mit Freuden opfern.
Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung ſeiner Luſt ver¬
ſagen, und was Mir ohne ihn das Theuerſte wäre, das kann
Ich für ihn in die Schanze ſchlagen, mein Leben, meine Wohl¬
fahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Luſt und mein
Glück aus, Mich an ſeinem Glücke und ſeiner Luſt zu laben.
Aber Mich, Mich ſelbſt opfere Ich ihm nicht, ſondern
bleibe Egoiſt und — genieße ihn. Wenn ich ihm Alles opfere,
was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, ſo iſt das
ſehr einfach und ſogar gewöhnlicher im Leben, als es zu ſein
ſcheint; aber es beweiſt nichts weiter, als daß dieſe eine Lei¬
denſchaft in Mir mächtiger iſt, als alle übrigen. Dieſer Lei¬
denſchaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Chriſtenthum.
Opfere Ich aber einer Leidenſchaft andere, ſo opfere Ich darum
noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich
wahrhaft Ich ſelber bin, nicht meinen eigentlichen Werth,
meine Eigenheit. Wo dieſer ſchlimme Fall eintritt, da ſieht's
um nichts beſſer mit der Liebe aus, als mit irgend welcher
[387] andern Leidenſchaft, der Ich blindlings gehorche. Der Ehr¬
geizige, der vom Ehrgeiz fortgeriſſen wird und gegen jede
Warnung, welche ein ruhiger Augenblick in ihm erzeugt, taub
bleibt, der hat dieſe Leidenſchaft zu einer Zwingherrin an¬
wachſen laſſen, wider die er jede Macht der Auflöſung ver¬
loren giebt: er hat ſich ſelbſt aufgegeben, weil er ſich nicht
auflöſen, mithin nicht aus ihr erlöſen kann: er iſt beſeſſen.
Ich liebe die Menſchen auch, nicht bloß einzelne, ſondern
jeden. Aber Ich liebe ſie mit dem Bewußtſein des Egoismus;
Ich liebe ſie, weil die Liebe Mich glücklich macht, Ich liebe,
weil Mir das Lieben natürlich iſt, weil Mir's gefällt. Ich
kenne kein „Gebot der Liebe“. Ich habe Mitgefühl mit
jedem fühlenden Weſen, und ihre Qual quält, ihre Erquickung
erquickt auch Mich: tödten kann Ich ſie, martern nicht. Da¬
gegen ſinnt der hochherzige, tugendhafte Philiſterfürſt Rudolf
in den Myſterien von Paris, weil ihn die Böſen „entrüſten“,
auf ihre Marter. Jenes Mitgefühl beweiſt nur, daß das
Gefühl der Fühlenden auch das meinige, mein Eigenthum,
iſt, wogegen das erbarmungsloſe Verfahren des „Rechtlichen“
(z. B. gegen den Notar Ferrand) der Gefühlloſigkeit jenes
Räubers gleicht, welcher nach dem Maaße ſeiner Bettſtelle den
Gefangenen die Beine abſchnitt oder ausreckte: Rudolfs Bett¬
ſtelle, wonach er die Menſchen zuſchneidet, iſt der Begriff des
„Guten“. Das Gefühl für Recht, Tugend u. ſ. w. macht
hartherzig und intolerant. Rudolf fühlt nicht wie der Notar,
ſondern umgekehrt, er fühlt, daß „dem Böſewicht Recht ge¬
ſchieht“; das iſt kein Mitgefühl.
Ihr liebt den Menſchen, darum peinigt Ihr den einzelnen
Menſchen, den Egoiſten; eure Menſchenliebe iſt Menſchenquälerei.
Sehe Ich den Geliebten leiden, ſo leide Ich mit, und es
25 *[38 [388]] läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles verſucht habe, um ihn
zu tröſten und aufzuheitern; ſehe Ich ihn froh, ſo werde auch
Ich über ſeine Freude froh. Daraus folgt nicht, daß Mir
dieſelbe Sache Leiden oder Freude verurſacht, welche in ihm
dieſe Wirkung hervorruft, wie ſchon jeder körperliche Schmerz
beweiſt, den Ich nicht wie er fühle: ihn ſchmerzt ſein Zahn,
Mich aber ſchmerzt ſein Schmerz.
Weil Ich aber die kummervolle Falte auf der geliebten
Stirn nicht ertragen kann, darum, alſo um Meinetwillen,
küſſe Ich ſie weg. Liebte Ich dieſen Menſchen nicht, ſo möchte
er immerhin Falten ziehen, ſie kümmerten Mich nicht; Ich ver¬
ſcheuche nur meinen Kummer.
Wie nun, hat irgendwer oder irgendwas, den und das
Ich nicht liebe, ein Recht darauf, von Mir geliebt zu wer¬
den? Iſt meine Liebe das Erſte oder iſt ſein Recht das Erſte?
Aeltern, Verwandte, Vaterland, Volk, Vaterſtadt u. ſ. w., end¬
lich überhaupt die Mitmenſchen („Brüder, Brüderlichkeit“) be¬
haupten ein Recht auf meine Liebe zu haben und nehmen ſie
ohne Weiteres in Anſpruch. Sie ſehen ſie als ihr Eigen¬
thum an und Mich, wenn Ich daſſelbe nicht reſpectire, als
Räuber, der ihnen entzieht was ihnen zukommt und das Ihre
iſt. Ich ſoll lieben. Iſt die Liebe ein Gebot und Geſetz,
ſo muß Ich dazu erzogen, herangebildet und, wenn Ich da¬
gegen Mich vergehe, geſtraft werden. Man wird daher einen
möglichſt ſtarken „moraliſchen Einfluß“ auf Mich ausüben,
um Mich zum Lieben zu bringen. Und es iſt kein Zweifel,
daß man die Menſchen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann
wie zu andern Leidenſchaften, z. B. gleich zum Haſſe. Der Haß
zieht ſich durch ganze Geſchlechter, bloß weil die Ahnen des einen
zu den Guelphen, die des andern zu den Ghibellinen gehörten.
[389]
Aber die Liebe iſt kein Gebot, ſondern, wie jedes meiner
Gefühle, mein Eigenthum. Erwerbt, d. h. erkauft mein
Eigenthum, dann laſſe Ich's Euch ab. Eine Kirche, ein Volk,
ein Vaterland, eine Familie u. ſ. w., die ſich meine Liebe nicht
zu erwerben wiſſen, brauche Ich nicht zu lieben, und Ich ſtelle
den Kaufpreis meiner Liebe ganz nach meinem Gefallen.
Die eigennützige Liebe ſteht weit von der uneigennützigen,
myſtiſchen oder romantiſchen ab. Lieben kann man alles Mög¬
liche, nicht bloß Menſchen, ſondern überhaupt einen „Gegen¬
ſtand“ (den Wein, ſein Vaterland u. ſ. w.). Blind und toll
wird die Liebe dadurch, daß ein Müſſen ſie meiner Gewalt
entzieht (Vernarrtheit), romantiſch dadurch, daß ein Sollen
in ſie eintritt, d. h. daß der „Gegenſtand“ Mir heilig wird,
oder Ich durch Pflicht, Gewiſſen, Eid an ihn gebunden werde.
Nun iſt der Gegenſtand nicht mehr für Mich, ſondern Ich bin
für ihn da.
Nicht als meine Empfindung iſt die Liebe eine Beſeſſen¬
heit — als jene behalte Ich ſie vielmehr im Beſitz als Eigen¬
thum —, ſondern durch die Fremdheit des Gegenſtandes. Die
religiöſe Liebe beſteht nämlich in dem Gebote, in dem Gelieb¬
ten einen „Heiligen“ zu lieben oder an einem Heiligen zu
hangen, für die uneigennützige Liebe giebt es abſolut lie¬
benswürdige Gegenſtände, für welche mein Herz ſchlagen
ſoll, z. B. die Mitmenſchen, oder den Ehegatten, die Ver¬
wandten u. ſ. w. Die heilige Liebe liebt das Heilige am Ge¬
liebten, und bemüht ſich darum auch, aus dem Geliebten immer
mehr einen Heiligen (z. B. einen „Menſchen“) zu machen.
Der Geliebte iſt ein Gegenſtand, der von Mir geliebt
werden ſoll. Er iſt nicht Gegenſtand meiner Liebe darum,
weil oder dadurch, daß Ich ihn liebe, ſondern iſt Gegenſtand
[390] der Liebe an und für ſich. Nicht Ich mache ihn zu einem
Gegenſtande der Liebe, ſondern er iſt von Haus aus ein ſol¬
cher, denn daß er es etwa durch meine Wahl geworden iſt,
wie Braut, Ehegatte u. dergl., thut hier nichts zur Sache,
da er auch ſo immer als einmal Erwählter ein eigenes „Recht
auf meine Liebe“ erhalten hat, und Ich, weil Ich ihn geliebt
habe, auf ewig ihn zu lieben verpflichtet bin. Er iſt alſo
nicht ein Gegenſtand meiner Liebe, ſondern der Liebe über¬
haupt: ein Gegenſtand, der geliebt werden ſoll. Die Liebe
kommt ihm zu, gebührt ihm, oder iſt ſein Recht, Ich aber
bin verpflichtet, ihn zu lieben. Meine Liebe, d.h. die
Liebe, welche Ich ihm zolle, iſt in Wahrheit ſeine Liebe, die
er nur als Zoll von Mir eintreibt.
Jede Liebe, an welcher auch nur der kleinſte Flecken von
Verpflichtung haftet, iſt eine uneigennützige, und ſo weit dieſer
Flecken reicht, iſt ſie Beſeſſenheit. Wer dem Gegenſtande ſei¬
ner Liebe etwas ſchuldig zu ſein glaubt, der liebt romantiſch
oder religiös.
Familienliebe z. B., wie ſie gewöhnlich als „Pietät“ auf¬
gefaßt wird, iſt eine religiöſe Liebe; Vaterlandsliebe, als „Pa¬
triotismus“ gepredigt, gleichfalls. All' unſere romantiſche Liebe
bewegt ſich in demſelben Zuſchnitt: überall die Heuchelei oder
vielmehr Selbſttäuſchung einer „uneigennützigen Liebe“, ein
Intereſſe am Gegenſtande um des Gegenſtandes willen, nicht
um Meinet- und zwar allein um Meinetwillen.
Die religiöſe oder romantiſche Liebe unterſcheidet ſich von
der ſinnlichen Liebe zwar durch die Verſchiedenheit des Gegen¬
ſtandes, aber nicht durch die Abhängigkeit des Verhaltens zu
ihm. In letzterer Beziehung ſind beide Beſeſſenheit; in der
erſteren aber iſt der eine Gegenſtand profan, der andere heilig.
[391] Die Herrſchaft des Gegenſtandes über Mich iſt in beiden Fäl¬
len dieſelbe, nur daß er einmal ein ſinnlicher, das andere Mal
ein geiſtiger (geſpenſtiſcher) iſt. Mein eigen iſt meine Liebe
erſt, wenn ſie durchaus in einem eigennützigen und egoiſtiſchen
Intereſſe beſteht, mithin der Gegenſtand meiner Liebe wirklich
mein Gegenſtand oder mein Eigenthum iſt. Meinem Eigen¬
thum bin Ich nichts ſchuldig und habe keine Pflicht gegen
daſſelbe, ſo wenig Ich etwa eine Pflicht gegen mein Auge
habe; hüte Ich es dennoch mit größter Sorgſamkeit, ſo ge¬
ſchieht das Meinetwegen.
An Liebe fehlte es dem Alterthum ſo wenig als der chriſt¬
lichen Zeit; der Liebesgott iſt älter, als der Gott der Liebe.
Aber die myſtiſche Beſeſſenheit gehört den Neuen an.
Die Beſeſſenheit der Liebe liegt in der Entfremdung des
Gegenſtandes oder in meiner Ohnmacht gegen ſeine Fremdheit
und Uebermacht. Dem Egoiſten iſt nichts hoch genug, daß
er ſich davor demüthigte, nichts ſo ſelbſtändig, daß er ihm
zu Liebe lebte, nichts ſo heilig, daß er ſich ihm opferte. Die
Liebe des Egoiſten quillt aus dem Eigennutz, fluthet im Bette
des Eigennutzes und mündet wieder in den Eigennutz.
Ob dieß noch Liebe heißen kann? Wißt Ihr ein anderes
Wort dafür, ſo wählt es immerhin; dann mag das ſüße Wort
der Liebe mit der abgeſtorbenen Welt verwelken; Ich wenig¬
ſtens finde für jetzt keines in unſerer chriſtlichen Sprache,
und bleibe daher bei dem alten Klange und „liebe“ meinen
Gegenſtand, mein — Eigenthum.
Nur als eines meiner Gefühle hege Ich die Liebe, aber
als eine Macht über Mir, als eine göttliche Macht (Feuer¬
bach), als eine Leidenſchaft, der Ich Mich nicht entziehen ſoll,
als eine religiöſe und ſittliche Pflicht — verſchmähe Ich ſie.
[392] Als mein Gefühl iſt ſie mein; als Grundſatz, dem Ich meine
Seele weihe und „verſchwöre“, iſt ſie Gebieterin und göttlich,
wie der Haß als Grundſatz teufliſch iſt: eins nicht beſſer
als das andere. Kurz die egoiſtiſche Liebe, d. h. meine Liebe
iſt weder heilig noch unheilig, weder göttlich noch teufliſch.
„Eine Liebe, die durch den Glauben beſchränkt iſt, iſt
eine unwahre Liebe. Die einzige dem Weſen der Liebe nicht
widerſprechende Beſchränkung iſt die Selbſtbeſchränkung der
Liebe durch die Vernunft, die Intelligenz. Liebe, die die Strenge,
das Geſetz der Intelligenz verſchmäht, iſt theoretiſch eine falſche,
praktiſch eine verderbliche Liebe.“ *)Alſo die Liebe iſt ihrem
Weſen nach vernünftig! So denkt Feuerbach; der Gläu¬
bige hingegen denkt: die Liebe iſt ihrem Weſen nach gläubig.
Jener eifert gegen die unvernünftige, dieſer gegen die un¬
gläubige Liebe. Beiden kann ſie höchſtens für ein splen¬
didum vitium gelten. Laſſen nicht beide die Liebe beſtehen,
auch in der Form der Unvernunft und Ungläubigkeit? Sie
wagen nicht zu ſagen: unvernünftige oder ungläubige Liebe
iſt ein Unſinn, iſt nicht Liebe, ſo wenig ſie ſagen mögen: un¬
vernünftige oder ungläubige Thränen ſind keine Thränen.
Muß aber auch die unvernünftige u. ſ. w. Liebe für Liebe
gelten, und ſollen ſie gleichwohl des Menſchen unwürdig ſein,
ſo folgt einfach nur dieß: Liebe iſt nicht das Höchſte, ſondern
Vernunft oder Glaube; lieben kann auch der Unvernünftige
und der Ungläubige; Werth hat die Liebe aber nur, wenn ſie
die eines Vernünftigen oder Gläubigen iſt. Es iſt ein Blend¬
werk, wenn Feuerbach die Vernünftigkeit der Liebe ihre „Selbſt¬
beſchränkung“ nennt; der Gläubige könnte mit demſelben Rechte
[393] die Gläubigkeit ihre „Selbſtbeſchränkung“ nennen. Unvernünf¬
tige Liebe iſt weder „falſch“ noch „verderblich“; ſie thut als
Liebe ihre Dienſte.
Gegen die Welt, beſonders gegen die Menſchen, ſoll Ich
eine beſtimmte Empfindung annehmen, und ihnen von
Anfang an mit der Empfindung der Liebe, „mit Liebe entgegen¬
kommen“. Freilich offenbart ſich hierin weit mehr Willkühl
und Selbſtbeſtimmung, als wenn Ich Mich durch die Welt
von allen möglichen Empfindungen beſtürmen laſſe und den
krauſeſten, zufälligſten Eindrücken ausgeſetzt bleibe. Ich gehe
vielmehr an ſie mit einer vorgefaßten Empfindung, gleichſam ei¬
nem Vorurtheil und einer vorgefaßten Meinung; Ich habe mein
Verhalten gegen ſie Mir im Voraus vorgezeichnet, und fühle
und denke trotz all' ihrer Anfechtungen nur ſo über ſie, wie
Ich zu fühlen einmal entſchloſſen bin. Wider die Herrſchaft
der Welt ſichere Ich Mich durch den Grundſatz der Liebe;
denn was auch kommen mag, Ich — liebe. Das Häßliche z. B.
macht auf Mich einen widerwärtigen Eindruck; allein, entſchloſ¬
ſen zu lieben, bewältige Ich dieſen Eindruck, wie jede Antipathie.
Aber die Empfindung, zu welcher Ich Mich von Haus
aus determinirt und — verurtheilt habe, iſt eben eine bor¬
nirte Empfindung, weil ſie eine prädeſtinirte iſt, von welcher
Ich ſelber nicht loskommen oder Mich loszuſagen vermag.
Weil vorgefaßt, iſt ſie ein Vorurtheil. Ich zeige Mich
nicht mehr gegenüber der Welt, ſondern meine Liebe zeigt ſich.
Zwar beherrſcht die Welt Mich nicht, deſto unabwendbarer
aber beherrſcht Mich der Geiſt der Liebe. Ich habe die Welt
überwunden, um ein Sklave dieſes Geiſtes zu werden.
Sagte Ich erſt, Ich liebe die Welt, ſo ſetze Ich jetzt
ebenſo hinzu: Ich liebe ſie nicht, denn Ich vernichte ſie, wie
[394] Ich Mich vernichte: Ich löſe ſie auf. Ich beſchränke Mich
nicht auf Eine Empfindung für die Menſchen, ſondern gebe
allen, deren Ich fähig bin, freien Spielraum. Wie ſollte Ich's
nicht in aller Grellheit auszuſprechen wagen? Ja, Ich be¬
nutze die Welt und die Menſchen! Dabei kann Ich Mich
jedem Eindruck offen erhalten, ohne von einem derſelben Mir
ſelber entriſſen zu werden. Ich kann lieben, mit voller Seele
lieben und die verzehrendſte Gluth der Leidenſchaft in meinem
Herzen brennen laſſen, ohne den Geliebten für etwas Anderes
zu nehmen, als für die Nahrung meiner Leidenſchaft, an der
ſie immer von Neuem ſich erfriſcht. All meine Sorge um ihn
gilt nur dem Gegenſtande meiner Liebe, nur ihm, den
meine Liebe braucht, nur ihm, dem „Heißgeliebten“. Wie
gleichgültig wäre er Mir ohne dieſe — meine Liebe. Nur
meine Liebe ſpeiſe Ich mit ihm, dazu nur benutze Ich ihn:
Ich genieße ihn.
Wählen Wir ein anderes naheliegendes Beiſpiel. Ich
ſehe, wie die Menſchen von einem Schwarm Geſpenſter in
finſterem Aberglauben geängſtigt werden. Laſſe Ich etwa darum
nach Kräften ein Tageslicht über den nächtlichen Spuk ein¬
fallen, weil Mir's die Liebe zu Euch ſo eingiebt? Schreibe
Ich aus Liebe zu den Menſchen? Nein, Ich ſchreibe, weil
Ich meinen Gedanken ein Daſein in der Welt verſchaffen
will, und ſähe Ich auch voraus, daß dieſe Gedanken Euch
um eure Ruhe und euren Frieden brächten, ſähe Ich auch
die blutigſten Kriege und den Untergang vieler Generationen
aus dieſer Gedankenſaat aufkeimen: — Ich ſtreute ſie dennoch
aus. Macht damit, was Ihr wollt und könnt, das iſt eure
Sache und kümmert Mich nicht. Ihr werdet vielleicht nur
Kummer, Kampf und Tod davon haben, die Wenigſten ziehen
[395] daraus Freude. Läge Mir euer Wohl am Herzen, ſo han¬
delte Ich wie die Kirche, indem ſie den Laien die Bibel entzog,
oder die chriſtlichen Regierungen, welche ſich's zu einer heili¬
gen Pflicht machen, den „gemeinen Mann vor böſen Büchern
zu bewahren“.
Aber nicht nur nicht um Euret-, auch nicht einmal um
der Wahrheit willen ſpreche Ich aus, was Ich denke. Nein —
Ich ſinge, weil — Ich ein Sänger bin. Euch aber ge¬
brauche Ich dazu, weil Ich — Ohren brauche.
Wo Mir die Welt in den Weg kommt — und ſie kommt
Mir überall in den Weg — da verzehre Ich ſie, um den Hun¬
ger meines Egoismus zu ſtillen. Du biſt für Mich nichts als
— meine Speiſe, gleichwie auch Ich von Dir verſpeiſet und
verbraucht werde. Wir haben zu einander nur Eine Bezie¬
hung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit, des Nutzens.
Wir ſind einander nichts ſchuldig, denn was Ich Dir ſchul¬
dig zu ſein ſcheine, das bin Ich höchſtens Mir ſchuldig. Zeige
Ich Dir eine heitere Miene, um Dich gleichfalls zu erheitern,
ſo iſt Mir an Deiner Heiterkeit gelegen, und meinem
Wunſche dient meine Miene: tauſend Anderen, die Ich zu
erheitern nicht beabſichtige, zeige Ich ſie nicht.
Zu derjenigen Liebe, welche ſich auf das „Weſen des
Menſchen“ gründet oder in der kirchlichen und ſittlichen Periode
als ein „Gebot“ aus Uns liegt, muß man erzogen werden.
[396] In welcherlei Art der moraliſche Einfluß, das Hauptingredienz
unſerer Erziehung, den Verkehr der Menſchen zu regeln ſucht,
ſoll hier wenigſtens an Einem Beiſpiele mit egoiſtiſchen Augen
betrachtet werden.
Die Uns erziehen, laſſen ſich's angelegen ſein, frühzeitig
Uns das Lügen abzugewöhnen und den Grundſatz einzuprägen,
daß man ſtets die Wahrheit ſagen müſſe. Machte man für
dieſe Regel den Eigennutz zur Baſis, ſo würde Jeder leicht
begreifen, wie er das Vertrauen zu ſich, welches er bei Andern
erwecken will, durch Lügen verſcherze, und wie richtig ſich der
Satz erweiſe: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und
wenn er auch die Wahrheit ſpricht. Zu gleicher Zeit würde
er jedoch auch fühlen, daß er nur demjenigen mit der Wahr¬
heit entgegenzukommen habe, welchen er befugt, die Wahrheit
zu hören. Durchſtreicht ein Spion verkleidet das feindliche
Lager und wird gefragt, wer er ſei, ſo ſind die Fragenden
allerdings befugt, nach dem Namen ſich zu erkundigen, der
Verkleidete giebt aber ihnen das Recht nicht, die Wahrheit
von ihm zu erfahren; er ſagt ihnen, was er mag, nur nicht
das Richtige. Und doch heiſcht die Moral: „Du ſollſt nicht
lügen!“ Durch die Moral ſind jene dazu berechtigt, die
Wahrheit zu erwarten; aber von Mir ſind ſie nicht dazu be¬
rechtigt, und Ich erkenne nur das Recht an, welches Ich er¬
theile. In eine Verſammlung von Revolutionairen drängt ſich
die Polizei ein und fragt den Redner nach ſeinem Namen;
Jedermann weiß, daß die Polizei dazu das Recht hat, allein
vom Revolutionair hat ſie's nicht, da er ihr Feind iſt: er
ſagt ihr einen falſchen Namen und — belügt ſie. Auch handelt
die Polizei nicht ſo thöricht, daß ſie auf die Wahrheitsliebe
ihrer Feinde rechnete; im G[e][ſ][a][m]theil glaubt ſie nicht ohne
[397] Weiteres, ſondern „recognoscirt“, wenn ſie kann, das quäſtio¬
nirte Individuum. Ja der Staat verfährt überall ungläubig
gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus ſeinen na¬
türlichen Feind erkennt: er verlangt durchweg einen „Ausweis“,
und wer ſich nicht ausweiſen kann, der verfällt ſeiner nach¬
ſpürenden Inquiſition. Der Staat glaubt und vertraut dem
Einzelnen nicht, und ſtellt ſich ſo ſelbſt mit ihm auf den Lü¬
gen-Comment: er traut Mir nur, wenn er ſich von der
Wahrheit meiner Ausſage überführt hat, wozu ihm oft kein
anderes Mittel bleibt als der Eid. Wie deutlich beweiſt auch
dieſer, daß der Staat nicht auf unſere Wahrheitsliebe und
Glaubwürdigkeit rechnet, ſondern auf unſer Intereſſe, unſe¬
ren Eigennutz: er verläßt ſich darauf, daß Wir Uns nicht
durch einen Meineid werden mit Gott überwerfen wollen.
Nun denke man ſich einen franzöſiſchen Revolutionair im
Jahre 1788, der unter Freunden das bekanntgewordene Wort
fallen ließe: die Welt hat nicht eher Ruhe, als bis der letzte
König am Darm des letzten Pfaffen hängt. Damals hatte
der König noch alle Macht, und als die Aeußerung durch ei¬
nen Zufall verrathen wird, ohne daß man jedoch Zeugen auf¬
ſtellen kann, fordert man vom Angeklagten das Geſtändniß.
Soll er geſtehen oder nicht? Leugnet er, ſo lügt er und —
bleibt ſtraflos; geſteht er, ſo iſt er aufrichtig und — wird ge¬
köpft. Geht ihm die Wahrheit über Alles, wohlan ſo ſterbe
er. Nur ein elender Dichter könnte es verſuchen, aus ſeinem
Lebensende eine Tragödie herzuſtellen; denn welches Intereſſe
hat es, zu ſehen, wie ein Menſch aus Feigheit erliegt? Hätte
er aber den Muth, kein Sklave der Wahrheit und Aufrichtig¬
keit zu ſein, ſo würde er etwa ſo fragen: Wozu brauchen die
Richter zu wiſſen, was Ich unter Freunden geſprochen habe?
[398]
Wenn Ich wollte, daß ſie's wüßten, ſo würde Ich's ihnen
geſagt haben, wie Ich's meinen Freunden ſagte. Ich will
nicht, daß ſie's wiſſen. Sie drängen ſich in mein Vertrauen,
ohne daß Ich ſie dazu berufen und zu meinen Vertrauten ge¬
macht habe; ſie wollen erfahren, was Ich verheimlichen will.
So kommt denn heran, Ihr, die Ihr meinen Willen durch
euren Willen brechen wollt, und verſucht eure Künſte. Ihr
könnt Mich durch die Folter peinigen, könnt Mir mit der Hölle
und ewigem Verdammniß drohen, könnt Mich ſo mürbe machen,
daß Ich einen falſchen Schwur leiſte, aber die Wahrheit ſollt
Ihr nicht aus Mir herauspreſſen, denn Ich will Euch belü¬
gen, weil Ich Euch keinen Anſpruch und kein Recht auf meine
Aufrichtigkeit gegeben habe. Mag der Gott, „welcher die
Wahrheit iſt“, noch ſo drohend auf Mich herabſehen, mag das
Lügen Mir noch ſo ſauer werden, Ich habe dennoch den Muth
der Lüge, und ſelbſt wenn ich meines Lebens überdrüſſig wäre,
ſelbſt wenn Mir nichts willkommener erſchiene, als euer Hen¬
kerſchwerdt, ſo ſollt Ihr dennoch die Freude nicht haben, an
Mir einen Sklaven der Wahrheit zu finden, den Ihr durch
eure Pfaffenkünſte zum Verräther an ſeinem Willen macht.
Als Ich jene hochverrätheriſchen Worte ſprach, da wollte Ich,
daß Ihr nichts davon wiſſen ſolltet; denſelben Willen behalte
Ich jetzt bei und laſſe Mich durch den Fluch der Lüge nicht
ſchrecken.
Sigismund iſt nicht darum ein jämmerlicher Wicht, weil er
ſein Fürſtenwort brach, ſondern er brach das Wort, weil er ein
Wicht war; er hätte ſein Wort halten können, und wäre doch
ein Wicht, ein Pfaffenknecht geweſen. Luther wurde, von einer
höhern Macht getrieben, ſeinem Mönchsgelübde untreu: er
wurde es um Gottes willen. Beide brachen ihren Eid als
[399] Beſeſſene: Sigismund, weil er als ein aufrichtiger Beken¬
ner der göttlichen Wahrheit, d. h. des wahren Glaubens,
des ächt katholiſchen erſcheinen wollte; Luther, um aufrichtig
und mit ganzer Wahrheit, mit Leib und Seele, Zeugniß für
das Evangelium abzulegen; beide wurden meineidig, um gegen
die „höhere Wahrheit“ aufrichtig zu ſein. Nur entbanden
jenen die Pfaffen, dieſer entband ſich ſelbſt. Was beachteten
beide anders, als was in jenen apoſtoliſchen Worten enthalten
iſt: „Du haſt nicht Menſchen, ſondern Gott gelogen?“ Sie
logen den Menſchen, brachen vor den Augen der Welt ihren
Eid, um Gott nicht zu lügen, ſondern zu dienen. So zeigen
ſie Uns einen Weg, wie man's mit der Wahrheit vor den
Menſchen halten ſoll. Zu Gottes Ehre und um Gottes willen
ein — Eidbruch, eine Lüge, ein gebrochenes Fürſtenwort!
Wie wäre es nun, wenn Wir die Sache ein wenig än¬
derten und ſchrieben: Ein Meineid und Lüge um — Mei¬
netwillen! Hieße das nicht jeder Niederträchtigkeit das
Wort reden? Es ſcheint allerdings ſo, nur gleicht es darin
ganz und gar dem „um Gottes willen“. Denn wurde nicht
jede Niederträchtigkeit um Gottes willen verübt, alle Blutgerüſte
um ſeinetwillen erfüllt, alle Autodafes ſeinetwegen gehalten,
alle Verdummung ſeinetwegen eingeführt, und bindet man nicht
noch heute ſchon bei den zarten Kindern durch religiöſe Er¬
ziehung den Geiſt um Gottes willen? Brach man nicht hei¬
lige Gelübde um ſeinetwillen, und ziehen nicht alle Tage noch
Miſſionaire und Pfaffen umher, um Juden, Heiden, Proteſtan¬
ten oder Katholiken u. ſ. w. zum Verrath am Glauben ihrer
Väter zu bringen — um ſeinetwillen? Und das ſollte bei
dem um Meinetwillen ſchlimmer ſein? Was heißt denn
Meinetwegen? Da denkt man gleich an „ſchnöden Ge¬
[400] winn“. Wer aber aus Liebe zu ſchnödem Gewinne handelt,
thut das zwar ſeinetwegen, wie es überhaupt nichts giebt, was
man nicht um ſein ſelbſt willen thäte, unter andern auch Alles,
was zu Gottes Ehre geſchieht; jedoch iſt er, für den er den
Gewinn ſucht, ein Sklave des Gewinnes, nicht erhaben über
Gewinn, iſt Einer, welcher dem Gewinn, dem Geldſack an¬
gehört, nicht ſich, iſt nicht ſein eigen. Muß ein Menſch, den
die Leidenſchaft der Habgier beherrſcht, nicht den Geboten die¬
ſer Herrin folgen, und wenn ihn einmal eine ſchwache Gut¬
müthigkeit beſchleicht, erſcheint dieß nicht eben nur als ein
Ausnahmsfall gerade derſelben Art, wie fromme Gläubige zu¬
weilen von der Leitung ihres Herrn verlaſſen und von den
Künſten des „Teufels“ berückt werden? Alſo ein Habgieriger
iſt kein Eigener, ſondern ein Knecht, und er kann nichts um
ſeinetwillen thun, ohne es zugleich um ſeines Herrn willen zu
thun, — gerade wie der Gottesfürchtige.
Berühmt iſt der Eidbruch, welchen Franz II. gegen Kaiſer
Karl V. beging. Nicht etwa ſpäter, als er ſein Verſprechen
reiflich erwog, ſondern ſogleich, als er den Schwur leiſtete,
nahm ihn König Franz in Gedanken ſowohl, als durch eine
heimliche, vor ſeinen Räthen urkundlich unterſchriebene Pro¬
teſtation zurück: er ſprach einen vorbedachten Meineid aus.
Seine Freilaſſung zu erkaufen zeigte ſich Franz nicht abgeneigt,
nur ſchien ihm der Preis, welchen Karl darauf ſetzte, zu hoch
und unbillig. Betrug ſich auch Karl knickerig, als er mög¬
lichſt viel zu erpreſſen ſuchte, ſo war es doch lumpig von Franz,
ſeine Freiheit um ein niedrigeres Löſegeld einhandeln zu wollen,
und ſeine ſpäteren Handlungen, worunter noch ein zweiter
Wortbruch vorkommt, beweiſen ſattſam, wie ihn der Schacher¬
geiſt geknechtet hielt und zum lumpigen Betrüger machte. In¬
[401] deß was ſollen Wir zu dem Vorwurf ſeines Meineides ſagen?
Zunächſt doch wieder dieß, daß nicht der Meineid ihn ſchän¬
dete, ſeine Filzigkeit, daß er nicht Verachtung verdiente
für ſeinen Meineid, ſondern des Meineides ſich ſchuldig machte,
weil er ein verächtlicher Menſch war. Franzens Meineid aber
für ſich betrachtet erheiſcht eine andere Beurtheilung. Man
könnte ſagen, Franz habe dem Vertrauen, welches Karl bei der
Freigebung auf ihn ſetzte, nicht entſprochen. Allein hätte Karl
wirklich ihm Vertrauen geſchenkt, ſo würde er ihm den Preis
genannt haben, deſſen er die Freilaſſung werth achte, dann aber
hätte er ihn in Freiheit geſetzt und erwartet, daß Franz die
Loskaufungsſumme bezahle. Karl hegte kein ſolches Zutrauen,
ſondern glaubte nur an die Ohnmacht und Leichtgläubigkeit
Franzens, die ihm nicht erlauben werde, gegen ſeinen Eid zu
handeln; Franz aber täuſchte nur dieſe — leichtgläubige Be¬
rechnung. Als Karl ſich durch einen Eid ſeines Feindes zu
verſichern glaubte, da gerade befreite er dieſen von jeder Ver¬
bindlichkeit. Karl hatte dem Könige eine Dummheit, ein enges
Gewiſſen zugetraut, und rechnete, ohne Vertrauen zu Franz,
nur auf Franzens Dummheit, d. h. Gewiſſenhaftigkeit: er ent¬
ließ ihn nur aus dem Madrider Gefängniß, um ihn deſto
ſicherer in dem Gefängniſſe der Gewiſſenhaftigkeit, dem großen
durch die Religion um den Menſchengeiſt gezogenen Kerker,
feſtzuhalten: er ſchickte ihn, feſtgeſchloſſen in unſichtbaren Ketten,
nach Frankreich zurück, was Wunder, wenn Franz zu entkom¬
men ſuchte und die Ketten zerſägte. Kein Menſch hätte es
ihm verübelt, wenn er aus Madrid heimlich entflohen wäre, denn
er war in Feindes Gewalt; jeder gute Chriſt aber ruft Wehe
über ihn, daß er auch aus Gottes Banden ſich losmachen
wollte. (Der Papſt entband ihn erſt ſpäter ſeines Eides.)
26[402] Es iſt verächtlich, ein Vertrauen, das Wir freiwillig her¬
vorrufen, zu täuſchen; aber Jeden, der Uns durch einen Eid
in ſeine Gewalt bekommen will, an der Erfolgloſigkeit ſeiner
zutrauensloſen Liſt verbluten zu laſſen, macht dem Egoismus
keine Schande. Haſt Du Mich binden wollen, ſo erfahre
denn, daß Ich deine Bande zu ſprengen weiß.
Es kommt darauf an, ob Ich dem Vertrauenden das
Recht zum Vertrauen gebe. Wenn der Verfolger meines
Freundes Mich fragt, wohin dieſer ſich geflüchtet habe, ſo werde
Ich ihn ſicherlich auf eine falſche Fährte bringen. Warum
fragt er gerade Mich, den Freund des Verfolgten? Um nicht
ein falſcher, verrätheriſcher Freund zu ſein, ziehe Ich's vor,
gegen den Feind falſch zu ſein. Ich könnte freilich aus mu¬
thiger Gewiſſenhaftigkeit antworten: Ich wolle es nicht ſagen
(So entſcheidet Fichte den Fall); dadurch ſalvirte Ich meine
Wahrheitsliebe und thäte für den Freund ſo viel als — nichts,
denn leite Ich den Feind nicht irre, ſo kann er zufällig die
rechte Straße einſchlagen, und meine Wahrheitsliebe hätte den
Freund preisgegeben, weil ſie Mich hinderte an dem — Muthe
zur Lüge. Wer an der Wahrheit ein Idol, ein Heiliges
hat, der muß ſich vor ihr demüthigen, darf ihren Anforde¬
rungen nicht trotzen, nicht muthig widerſtehen, kurz er muß
dem Heldenmuth der Lüge entſagen. Denn zur Lüge ge¬
hört nicht weniger Muth als zur Wahrheit, ein Muth, an
welchem es am meiſten Jünglingen zu gebrechen pflegt, die
lieber die Wahrheit geſtehen und das Schaffot dafür beſteigen,
als durch die Frechheit einer Lüge die Macht der Feinde zu
Schanden machen mögen. Jenen iſt die Wahrheit „heilig“,
und das Heilige fordert allezeit blinde Verehrung, Unterwerfung
und Aufopferung. Seid Ihr nicht frech, nicht Spötter des
[403] Heiligen, ſo ſeid Ihr zahm und ſeine Diener. Man ſtreue
Euch nur ein Körnchen Wahrheit in die Falle, ſo pickt Ihr
ſicherlich darnach, und man hat den Narren gefangen. Ihr
wollt nicht lügen? Nun ſo fallt als Opfer der Wahrheit und
werdet — Märtyrer! Märtyrer — wofür? Für Euch, für
die Eigenheit? Nein, für eure Göttin, — die Wahrheit. Ihr
kennt nur zweierlei Dienſt, nur zweierlei Diener: Diener der
Wahrheit und Diener der Lüge. Dient denn in Gottes Na¬
men der Wahrheit!
Andere wieder dienen auch der Wahrheit, aber ſie dienen
ihr „mit Maaß“ und machen z. B. einen großen Unterſchied
zwiſchen einer einfachen und einer beſchworenen Lüge. Und
doch fällt das ganze Kapitel vom Eide mit dem von der Lüge
zuſammen, da ein Eid ja nur eine ſtark verſicherte Ausſage
iſt. Ihr haltet Euch für berechtigt zu lügen, wenn Ihr nur
dazu nicht noch ſchwört? Wer's genau nimmt, der muß eine
Lüge ſo hart beurtheilen und verdammen als einen falſchen
Schwur. Nun hat ſich aber ein uralter Streitpunkt in der
Moral erhalten, der unter dem Namen der „Nothlüge“ abge¬
handelt zu werden pflegt. Niemand, der dieſer das Wort zu
reden wagt, kann conſequenter Weiſe einen „Notheid“ von der
Hand weiſen. Rechtfertige Ich meine Lüge als eine Nothlüge,
ſo ſollte Ich nicht ſo kleinmüthig ſein, die gerechtfertigte Lüge
der ſtärkſten Bekräftigung zu berauben. Was Ich auch thue,
warum ſollte Ich's nicht ganz und ohne Vorbehalt (reservatio
mentalis) thun? Lüge Ich einmal, warum dann nicht voll¬
ſtändig, mit ganzem Bewußtſein und aller Kraft lügen? Als
Spion müßte Ich dem Feinde jede meiner falſchen Ausſagen
auf Verlangen beſchwören; entſchloſſen, ihn zu belügen, ſollte
Ich plötzlich feige und unentſchloſſen werden gegenüber dem
26*[404] Eide? Dann wäre Ich von vorn herein zum Lügner und
Spion verdorben geweſen; denn Ich gäbe ja dem Feinde frei¬
willig ein Mittel in die Hände, Mich zu fangen. — Auch
fürchtet der Staat den Notheid und läßt deshalb den Ange¬
klagten nicht zum Schwure kommen. Ihr aber rechtfertigt die
Furcht des Staates nicht; Ihr lügt, aber ſchwört nicht falſch.
Erweiſet Ihr z. B. Einem eine Wohlthat, ohne daß er's wiſſen
ſoll, er aber vermuthet's und ſagt's Euch auf den Kopf zu,
ſo leugnet Ihr; beharrt er, ſo ſagt Ihr: „wahrhaftig nicht!“
Ging's ans Schwören, da würdet Ihr Euch weigern, denn
Ihr bleibt aus Furcht vor dem Heiligen ſtets auf halbem
Wege ſtehen. Gegen das Heilige habt Ihr keinen eigenen
Willen. Ihr lügt mit — Maaß, wie Ihr frei ſeid „mit
Maaß“, religiös „mit Maaß“ (die Geiſtlichkeit ſoll nicht
„übergreifen“, wie jetzt hierfür der fadeſte Streit von Sei¬
ten der Univerſität gegen die Kirche geführt wird), monar¬
chiſch geſinnt „mit Maaß“ (Ihr wollt einen durch die Ver¬
faſſung, ein Staatsgrundgeſetz, beſchränkten Monarchen), Alles
hübſch temperirt, lau und flau, halb Gottes, halb des
Teufels.
Es herrſchte auf einer Univerſität der Comment, daß von
den Studenten jedes Ehrenwort, welches dem Univerſitäts-
Richter gegeben werden mußte, für null und nichtig angeſehen
wurde. Die Studenten ſahen nämlich in der Abforderung
deſſelben nichts als einen Fallſtrick, dem ſie nicht anders ent¬
gehen könnten, als durch Entziehung aller Bedeutſamkeit deſſel¬
ben. Wer ebendaſelbſt einem Commilitonen ſein Ehrenwort
brach, war infam; wer es dem Univerſitäts-Richter gab, lachte
im Verein mit eben dieſen Commilitonen den Getäuſchten aus,
der ſich einbildete, daß ein Wort unter Freunden und unter
[405] Feinden denſelben Werth habe. Weniger eine richtige Theorie
als die Noth der Praxis hatte dort die Studirenden ſo
zu handeln gelehrt, da ſie ohne jenes Auskunftsmittel er¬
barmungslos zum Verrath an ihren Genoſſen getrieben worden
wären. Wie aber das Mittel praktiſch ſich bewährte, ſo hat
es auch ſeine theoretiſche Bewährung. Ein Ehrenwort, ein
Eid iſt nur für den eines, den Ich berechtige, es zu empfan¬
gen; wer Mich dazu zwingt, erhält nur ein erzwungenes, d. h.
ein feindliches Wort, das Wort eines Feindes, dem man
zu trauen kein Recht hat; denn der Feind giebt Uns das
Recht nicht.
Uebrigens erkennen die Gerichte des Staats nicht einmal
die Unverbrüchlichkeit eines Eides an. Denn hätte Ich Einem,
der in Unterſuchung kommt, geſchworen, nichts wider ihn aus¬
zuſagen, ſo würde das Gericht trotz dem, daß ein Eid Mich
bindet, meine Ausſagen fordern und im Weigerungsfalle Mich
ſo lange einſperren, bis Ich Mich entſchlöſſe, — eidbrüchig
zu werden. Das Gericht „entbindet Mich meines Eides“; —
wie großmüthig! Kann Mich irgend eine Macht des Eides
entbinden, ſo bin Ich ſelber doch wohl die allererſte Macht,
die darauf Anſpruch hat.
Als Curioſität und um an allerlei übliche Eide zu erin¬
nern, möge hier derjenige eine Stelle finden, welchen Kaiſer
Paul den gefangenen Polen (Kosciuszko, Potocki, Niemce¬
wicz u. ſ. w.), als er ſie freiließ, zu leiſten befahl: „Wir
ſchwören nicht bloß dem Kaiſer Treue und Gehorſam, ſondern
verſprechen auch noch, unſer Blut für ſeinen Ruhm zu vergie¬
ßen; Wir verpflichten Uns, alles zu entdecken, was Wir jemals
für ſeine Perſon oder ſein Reich Gefahrdrohendes erfahren;
wir erklären endlich, daß, in welchem Theile des Erdkreiſes
[406] wir uns auch befinden, ein einziges Wort des Kaiſers ge¬
nügen ſolle, Alles zu verlaſſen und uns ſogleich zu ihm zu
begeben.“
In Einem Gebiete ſcheint das Princip der Liebe längſt
vom Egoismus überflügelt worden zu ſein und nur noch des
ſichern Bewußtſeins, gleichſam des Sieges mit gutem Gewiſſen,
zu bedürfen. Dieß Gebiet iſt die Speculation in ihrer dop¬
pelten Erſcheinung als Denken und als Handel. Man denkt
friſch darauf los, was auch herauskommen möge, und man
ſpeculirt, wie Viele auch unter unſeren ſpeculativen Unterneh¬
mungen leiden mögen. Aber wenn es endlich zum Klappen
kommt, wenn auch der letzte Reſt von Religioſität, Romantik
oder „Menſchlichkeit“ abgethan werten ſoll, dann ſchlägt das
religiöſe Gewiſſen und man bekennt ſich wenigſtens zur
Menſchlichkeit. Der habgierige Speculant wirft einige Gro¬
ſchen in die Armenbüchſe und „thut Gutes“, der kühne Den¬
ker tröſtet ſich damit, daß er zur Förderung des Menſchenge¬
ſchlechts arbeite und daß ſeine Verwüſtung der Menſchheit „zu
Gute komme“, oder auch, daß er „der Idee diene“; die Menſch¬
heit, die Idee iſt ihm jenes Etwas, von dem er ſagen muß:
es geht Mir über Mich.
Es iſt bis auf den heutigen Tag gedacht und gehandelt
worden um — Gottes willen. Die da ſechs Tage durch ihre
eigennützigen Zwecke alles niedertraten, opferten am ſiebenten
dem Herrn, und die hundert „gute Sachen“ durch ihr rück¬
ſichtsloſes Denken zerſtörten, thaten dieß doch im Dienſte einer
andern „guten Sache“ und mußten — außer an ſich — noch
an einen Andern denken, welchem ihre Selbſtbefriedigung zu
[407] Gute käme, an das Volk, die Menſchheit u. drgl. Dieſes
Andere aber iſt ein Weſen über ihnen, ein höheres oder höch¬
ſtes Weſen, und darum ſage Ich, ſie mühen ſich um Gottes
willen.
Ich kann daher auch ſagen, der letzte Grund ihrer Hand¬
lungen ſei die — Liebe. Aber nicht eine freiwillige, nicht
ihre eigene, ſondern eine zinspfiichtige, oder des höhern We¬
ſens (d. h. Gottes, der die Liebe ſelbſt iſt) eigene Liebe, kurz
nicht die egoiſtiſche, ſondern die religiöſe, eine Liebe, die aus
ihrem Wahne entſpringt, daß ſie einen Tribut der Liebe ent¬
richten müſſen, d. h. daß ſie keine „Egoiſten“ ſein dürfen.
Wollen Wir die Welt aus mancherlei Unfreiheit erlöſen,
ſo wollen Wir das nicht ihret- ſondern Unſertwegen: denn da
Wir keine Welterlöſer von Profeſſion und aus „Liebe“ ſind, ſo
wollen Wir ſie nur Andern abgewinnen. Wir wollen ſie Uns
zu eigen machen; nicht Gott (der Kirche), nicht dem Geſetze
(Staate) ſoll ſie länger leibeigen ſein, ſondern unſer eigen;
darum ſuchen Wir ſie zu „gewinnen“, für Uns „einzunehmen,“
und die Gewalt, welche ſie gegen Uns wendet, dadurch zu
vollenden und überflüſſig zu machen, daß Wir ihr entgegen
kommen, und Uns ihr, ſobald ſie Uns gehört, gleich Uns
„ergeben“. Iſt die Welt unſer, ſo verſucht ſie keine Gewalt
mehr gegen Uns, ſondern nur mit Uns. Mein Eigennutz
hat ein Intereſſe an der Befreiung der Welt, damit ſie —
mein Eigenthum werde.
Nicht die Iſolirtheit oder das Alleinſein iſt der urſprüng¬
liche Zuſtand des Menſchen, ſondern die Geſellſchaft. Mit
der innigſten Verbindung beginnt unſere Exiſtenz, da Wir ſchon,
ehe Wir athmen, mit der Mutter zuſammenleben; haben Wir
dann das Licht der Welt erblickt, ſo liegen Wir gleich wieder
[408] an der Bruſt eines Menſchen, ſeine Liebe wiegt Uns im
Schooße, leitet Uns am Gängelbande und kettet Uns mit tau¬
ſend Banden an ſeine Perſon. Die Geſellſchaft iſt unſer Na¬
tur-Zuſtand. Darum wird auch, je mehr Wir Uns fühlen
lernen, der früher innigſte Verband immer lockerer, und die
Auflöſung der urſprünglichen Geſellſchaft unverkennbarer. Die
Mutter muß das Kind, welches einſt unter ihrem Herzen lag,
von der Straße und aus der Mitte ſeiner Spielgenoſſen ho¬
len, um es wieder einmal für ſich zu haben. Es zieht das
Kind den Verkehr, den es mit Seinesgleichen eingeht,
der Geſellſchaft vor, in welche es nicht eingegangen, in der
es vielmehr nur geboren iſt.
Die Auflöſung der Geſellſchaft aber iſt der Verkehr
oder Verein. Allerdings entſteht auch durch Verein eine Ge¬
ſellſchaft, aber nur wie durch einen Gedanken eine fixe Idee
entſteht, dadurch nämlich, daß aus dem Gedanken die Energie
des Gedankens, das Denken ſelbſt, dieſe raſtloſe Zurücknahme
aller ſich verfeſtigenden Gedanken, verſchwindet. Hat ſich ein
Verein zur Geſellſchaft cryſtalliſirt, ſo hat er aufgehört, eine
Vereinigung zu ſein; denn Vereinigung iſt ein unaufhörliches
Sich-Vereinigen; er iſt zu einem Vereinigtſein geworden, zum
Stillſtand gekommen, zur Fixheit ausgeartet, er iſt — todt
als Verein, iſt der Leichnam des Vereins oder der Vereinigung,
d. h. er iſt — Geſellſchaft, Gemeinſchaft. Ein ſprechendes
Exempel dieſer Art liefert die Partei.
Daß eine Geſellſchaft, z. B. die Staatsgeſellſchaft, Mir
die Freiheit ſchmälere, das empört Mich wenig. Muß Ich
Mir doch von allerlei Mächten und von jedem Stärkeren, ja
von jedem Nebenmenſchen die Freiheit beſchränken laſſen, und
wäre Ich der Selbſtherrſcher aller R . . . . . ., Ich genöſſe doch
[409] der abſoluten Freiheit nicht. Aber die Eigenheit, die will
Ich Mir nicht entziehen laſſen. Und gerade auf die Eigen¬
heit ſieht es jede Geſellſchaft ab, gerade ſie ſoll ihrer Macht
unterliegen.
Zwar nimmt eine Geſellſchaft, zu der Ich Mich halte,
Mir manche Freiheit, dafür gewährt ſie Mir aber andere Frei¬
heiten; auch hat es nichts zu ſagen, wenn Ich ſelbſt Mich um
dieſe und jene Freiheit bringe (z. B. durch jeden Contract).
Dagegen will Ich eiferſüchtig auf meine Eigenheit halten.
Jede Gemeinſchaft hat, je nach ihrer Machtfülle, den ſtärkeren
oder ſchwächeren Zug, ihren Gliedern eine Autorität zu
werden und Schranken zu ſetzen: ſie verlangt und muß ver¬
langen einen „beſchränkten Unterthanen-Verſtand“, ſie verlangt,
daß ihre Angehörigen ihr unterthan, ihre „Unterthanen“ ſeien,
ſie beſteht nur durch Unterthänigkeit. Dabei braucht kei¬
neswegs eine gewiſſe Toleranz ausgeſchloſſen zu ſein, im Ge¬
gentheil wird die Geſellſchaft Verbeſſerungen, Zurechtweiſun¬
gen und Tadel, ſo weit ſolche auf ihren Gewinn berechnet ſind,
willkommen heißen; aber der Tadel muß „wohlmeinend“, er
darf nicht „frech und unehrerbietig“ ſein, mit andern Worten,
man muß die Subſtanz der Geſellſchaft unverletzt laſſen und
heilig halten. Die Geſellſchaft fordert, daß ihre Angehörigen
nicht über ſie hinausgehen und ſich erheben, ſondern „in den
Grenzen der Geſetzlichkeit“ bleiben, d. h. nur ſo viel ſich er¬
lauben, als ihnen die Geſellſchaft und deren Geſetz erlaubt.
Es iſt ein Unterſchied, ob durch eine Geſellſchaft meine Frei¬
heit oder meine Eigenheit beſchränkt wird. Iſt nur jenes der
Fall, ſo iſt ſie eine Vereinigung, ein Uebereinkommen, ein
Verein; droht aber der Eigenheit Untergang, ſo iſt ſie eine
Macht für ſich, eine Macht über Mir, ein von Mir Uner¬
[410] reichbares, das Ich zwar anſtaunen, anbeten, verehren, reſpec¬
tiren, aber nicht bewältigen und verzehren kann, und zwar des¬
halb nicht kann, weil Ich reſignire. Sie beſteht durch meine
Reſignation, meine Selbſtverleugnung, meine Muth¬
loſigkeit, genannt — Demuth. Meine Demuth macht ihr
Muth, meine Unterwürfigkeit giebt ihr die Herrſchaft.
In Bezug aber auf die Freiheit unterliegen Staat und
Verein keiner weſentlichen Verſchiedenheit. Der Letztere kann
eben ſo wenig entſtehen oder beſtehen, ohne daß die Freiheit
auf allerlei Art beſchränkt werde, als der Staat mit ungemeſ¬
ſener Freiheit ſich verträgt. Beſchränkung der Freiheit iſt überall
unabwendbar, denn man kann nicht alles los werden; man
kann nicht gleich einem Vogel fliegen, bloß weil man ſo flie¬
gen möchte, denn man wird von der eigenen Schwere nicht
frei; man kann nicht eine beliebige Zeit unter dem Waſſer
leben, wie ein Fiſch, weil man der Luft nicht entrathen und
von dieſem nothwendigen Bedürfniß nicht frei werden kann
u. dgl. Wie die Religion und am entſchiedenſten das Chri¬
ſtenthum den Menſchen mit der Forderung quälte, das Unna¬
türliche und Widerſinnige zu realiſiren, ſo iſt es nur als die
ächte Conſequenz jener religiöſen Ueberſpanntheit und Ueber¬
ſchwenglichkeit anzuſehen, daß endlich die Freiheit ſelbſt,
die abſolute Freiheit zum Ideale erhoben wurde, und ſo
der Unſinn des Unmöglichen grell zu Tage kommen mußte. —
Allerdings wird der Verein ſowohl ein größeres Maaß von
Freiheit darbieten, als auch namentlich darum für „eine neue
Freiheit“ gehalten werden dürfen, weil man durch ihn allem
dem Staats- und Geſellſchaftsleben eigenen Zwange entgeht;
aber der Unfreiheit und Unfreiwilligkeit wird er gleichwohl
noch genug enthalten. Denn ſein Zweck iſt eben nicht — die
[411] Freiheit, die er im Gegentheil der Eigenheit opfert, aber auch
nur der Eigenheit. Auf dieſe bezogen iſt der Unterſchied
zwiſchen Staat und Verein groß genug. Jener iſt ein Feind
und Mörder der Eigenheit, dieſer ein Sohn und Mitarbeiter
derſelben, jener ein Geiſt, der im Geiſt und in der Wahrheit
angebetet ſein will, dieſer mein Werk, mein Erzeugniß; der
Staat iſt der Herr meines Geiſtes, der Glauben fordert und
Mir Glaubensartikel vorſchreibt, die Glaubensartikel der Ge¬
ſetzlichkeit; er übt moraliſchen Einfluß, beherrſcht meinen Geiſt,
vertreibt mein Ich, um ſich als „mein wahres Ich“ an deſſen
Stelle zu ſetzen, kurz der Staat iſt heilig und gegen Mich,
den einzelnen Menſchen, iſt er der wahre Menſch, der Geiſt,
das Geſpenſt; der Verein aber iſt meine eigene Schöpfung,
mein Geſchöpf, nicht heilig, nicht eine geiſtige Macht über
meinen Geiſt, ſo wenig als irgend eine Aſſociation, welcher
Art ſie auch ſei. Wie Ich nicht ein Sklave meiner Maximen
ſein mag, ſondern ſie ohne alle Garantie meiner ſteten Kri¬
tik blosſtelle und gar keine Bürgſchaft für ihren Beſtand zu¬
laſſe, ſo und noch weniger verpflichte Ich Mich für meine
Zukunft dem Vereine und verſchwöre ihm meine Seele, wie
es beim Teufel heißt und beim Staate und aller geiſtigen
Autorität wirklich der Fall iſt, ſondern Ich bin und bleibe
Mir mehr als Staat, Kirche, Gott u. dgl., folglich auch
unendlich mehr als der Verein.
Jene Geſellſchaft, welche der Communismus gründen will,
ſcheint der Vereinigung am nächſten zu ſtehen. Sie ſoll
nämlich das „Wohl Aller“ bezwecken, aber Aller, ruft Weitling
unzählige Male aus, Aller! Das ſieht doch wirklich ſo aus,
als brauchte dabei Keiner zurückzuſtehen. Welches wird denn
aber dieſes Wohl ſein? Haben Alle ein und daſſelbe Wohl,
[412] iſt Allen bei Ein und Demſelben gleich wohl? Iſt dem ſo,
ſo handelt ſich's vom „wahren Wohl“. Kommen Wir damit
nicht gerade an dem Punkte an, wo die Religion ihre Gewalt¬
herrſchaft beginnt? Das Chriſtenthum ſagt: Seht nicht aus
irdiſchen Tand, ſondern ſucht euer wahres Wohl, werdet —
fromme Chriſten: das Chriſtſein iſt das wahre Wohl. Es
iſt das wahre Wohl „Aller“, weil es das Wohl des Men¬
ſchen als ſolchen (dieſes Spuks) iſt. Nun ſoll das Wohl
Aller doch auch mein und dein Wohl ſein? Wenn Ich
und Du aber jenes Wohl nicht für unſer Wohl anſehen,
wird dann für das, wobei Wir Uns Wohlbefinden, geſorgt
werden? Im Gegentheil, die Geſellſchaft hat ein Wohl als
das „wahre Wohl“ dekretirt, und hieße dieß Wohl z. B. red¬
lich erarbeiteter Genuß, Du aber zögeſt die genußreiche Faulheit,
den Genuß ohne Arbeit vor, ſo würde die Geſellſchaft, die für
das „Wohl Aller“ ſorgt, für das, wobei Dir wohl iſt, zu
ſorgen ſich weislich hüten. Indem der Communismus das
Wohl Aller proclamirt, vernichtet er gerade das Wohlſein derer,
welche ſeither von ihren Renten lebten und ſich dabei wahr¬
ſcheinlich wohler befanden, als bei der Ausſicht auf die ſtren¬
gen Arbeitsſtunden Weitlings. Dieſer behauptet daher, bei
dem Wohle von Tauſenden könne das Wohl von Millionen
nicht beſtehen, und jene müßten ihr beſonderes Wohl aufgeben
„um des allgemeinen Wohles willen.“ Nein, man fordere
die Leute nicht auf, für das allgemeine Wohl ihr beſonderes
zu opfern, denn man kommt mit dieſem chriſtlichen Anſpruch
nicht durch; die entgegengeſetzte Mahnung, ihr eigenes Wohl
ſich durch Niemand entreißen zu laſſen, ſondern es dauernd
zu gründen, werden ſie beſſer verſtehen. Sie werden dann
von ſelbſt darauf geführt, daß ſie am beſten für ihr Wohl
[413] ſorgen, wenn ſie ſich mit Andern zu dieſem Zwecke verbin¬
den, d. h. „einen Theil ihrer Freiheit opfern“, aber nicht
dem Wohle Aller, ſondern ihrem eigenen. Eine Appellation
an die aufopfernde Geſinnung und die ſelbſtverleugnende Liebe
der Menſchen ſollte endlich ihren verführeriſchen Schein ver¬
loren haben, nachdem ſie hinter einer Wirkſamkeit von Jahr¬
tauſenden nichts zurückgelaſſen als die heutige — Miſere.
Warum denn immer noch fruchtlos erwarten, daß die Auf¬
opferung Uns beſſere Zeiten bringen ſoll; warum nicht lieber
von der Uſurpation ſie hoffen? Nicht mehr von den Ge¬
benden, Schenkenden, Liebevollen kommt das Heil, ſondern von
den Nehmenden, den Aneignenden (Uſurpatoren), den Eig¬
nern. Der Communismus und, bewußt oder unbewußt, der
den Egoismus läſternde Humanismus zählt immer noch auf
die Liebe.
Iſt einmal die Gemeinſchaft dem Menſchen Bedürfniß
und findet er ſich durch ſie in ſeinen Abſichten gefördert, ſo
ſchreibt ſie ihm auch, weil ſein Princip geworden, ſehr bald
ihre Geſetze vor, die Geſetze der — Geſellſchaft. Das Prin¬
cip der Menſchen erhebt ſich zur ſouverainen Macht über ſie,
wird ihr höchſtes Weſen, ihr Gott, und als ſolcher — Geſetz¬
geber. Der Communismus giebt dieſem Princip die ſtrengſte
Folge, und das Chriſtenthum iſt die Religion der Geſellſchaft,
denn Liebe iſt, wie Feuerbach richtig ſagt, obgleich er's nicht
richtig meint, das Weſen des Menſchen, d. h. das Weſen der
Geſellſchaft oder des geſellſchaftlichen (communiſtiſchen) Men¬
ſchen. Alle Religion iſt ein Cultus der Geſellſchaft, dieſes
Principes, von welchem der geſellſchaftliche (cultivirte) Menſch
beherrſcht wird; auch iſt kein Gott der ausſchließliche Gott
eines Ich's, ſondern immer der einer Geſellſchaft oder Gemein¬
[414] ſchaft, ſei es der Geſellſchaft „Familie“ (Lar, Penaten) oder
eines „Volkes“ („Nationalgott“) oder „aller Menſchen“ („er
iſt ein Vater aller Menſchen“).
Somit hat man allein dann Ausſicht, die Religion bis
auf den Grund zu tilgen, wenn man die Geſellſchaft und
alles, was aus dieſem Principe fließt, antiquirt. Gerade
aber im Communismus ſucht dieß Princip zu culminiren, da
in ihm Alles gemeinſchaftlich werden ſoll, zur Herſtellung
der — „Gleichheit“. Iſt dieſe „Gleichheit“ gewonnen, ſo
fehlt auch die „Freiheit“ nicht. Aber weſſen Freiheit? die der
Geſellſchaft! Die Geſellſchaft iſt dann Alles in Allem,
und die Menſchen ſind nur „für einander“. Es wäre die
Glorie des — Liebes-Staates.
Ich will aber lieber auf den Eigennutz der Menſchen an¬
gewieſen ſein, als auf ihre „Liebesdienſte“, ihre Barmherzig¬
keit, Erbarmen u. ſ. w. Jener fordert Gegenſeitigkeit
(wie Du Mir, ſo Ich Dir), thut nichts „umſonſt“, und läßt
ſich gewinnen und — erkaufen. Womit aber erwerbe Ich
Mir den Liebesdienſt? Es kommt auf den Zufall an, ob
Ich's gerade mit einem „Liebevollen“ zu thun habe. Der
Dienſt des Liebreichen läßt ſich nur — erbetteln, ſei es
durch meine ganze beklagenswerthe Erſcheinung, durch meine
Hülfsbedürftigkeit, mein Elend, mein — Leiden. Was kann
Ich ihm für ſeine Hülfleiſtung bieten? Nichts! Ich muß ſie
als — Geſchenk annehmen. Liebe iſt unbezahlbar, oder
vielmehr: Liebe kann allerdings bezahlt werden, aber nur durch
Gegenliebe („Eine Gefälligkeit iſt der andern werth“). Welche
Armſeligkeit und Bettelhaftigkeit gehört nicht dazu, Jahr aus
Jahr ein Gaben anzunehmen, ohne Gegendienſt, wie ſie z. B.
vom armen Tagelöhner regelmäßig eingetrieben werden. Was
[415] kann der Empfänger für jenen und ſeine geſchenkten Pfennige,
in denen ſein Reichthum beſteht, thun? Der Tagelöhner hätte
wahrlich mehr Genuß, wenn der Empfänger mit ſeinen Ge¬
ſetzen, ſeinen Inſtitutionen u. ſ. w., die jener doch alle bezah¬
len muß, gar nicht exiſtirte. Und dabei liebt der arme Wicht
ſeinen Herrn doch.
Nein, die Gemeinſchaft, als das „Ziel“ der bisherigen
Geſchichte, iſt unmöglich. Sagen Wir Uns vielmehr von je¬
der Heuchelei der Gemeinſchaft los und erkennen Wir, daß,
wenn Wir als Menſchen gleich ſind, Wir eben nicht gleich
ſind, weil Wir nicht Menſchen ſind. Wir ſind nur in Ge¬
danken gleich, nur wenn „Wir“ gedacht werden, nicht wie
Wir wirklich und leibhaftig ſind. Ich bin Ich, und Du biſt
Ich, aber Ich bin nicht dieſes gedachte Ich, ſondern dieſes Ich,
worin Wir alle gleich ſind, iſt nur mein Gedanke. Ich
bin Menſch und Du biſt Menſch, aber „Menſch“ iſt nur ein
Gedanke, eine Allgemeinheit; weder Ich noch Du ſind ſagbar,
Wir ſind unausſprechlich, weil nur Gedanken ſagbar
ſind und im Sagen beſtehen.
Trachten Wir darum nicht nach der Gemeinſchaft, ſondern
nach der Einſeitigkeit. Suchen Wir nicht die umfaſſendſte
Gemeinde, die „menſchliche Geſellſchaft“, ſondern ſuchen Wir
in den Andern nur Mittel und Organe, die Wir als unſer
Eigenthum gebrauchen! Wie Wir im Baume, im Thiere
nicht Unſersgleichen erblicken, ſo entſpringt die Vorausſetzung,
daß die Andern Unſersgleichen ſeien, aus einer Heuchelei.
Es iſt Keiner Meinesgleichen, ſondern gleich allen andern
Weſen betrachte Ich ihn als mein Eigenthum. Dagegen ſagt
man Mir, Ich ſoll Menſch unter „Mitmenſchen“ ſein (Juden¬
frage S. 60); Ich ſoll in ihnen den Mitmenſchen „reſpectiren“.
[416] Es iſt Keiner für Mich eine Reſpectsperſon, auch der Mit¬
menſch nicht, ſondern lediglich wie andere Weſen ein Gegen¬
ſtand, für den Ich Theilnahme habe oder auch nicht, ein in¬
tereſſanter oder unintereſſanter Gegenſtand, ein brauchbares oder
unbrauchbares Subject.
Und wenn Ich ihn gebrauchen kann, ſo verſtändige Ich
wohl und einige Mich mit ihm, um durch die Uebereinkunft
meine Macht zu verſtärken und durch gemeinſame Gewalt
mehr zu leiſten, als die einzelne bewirken könnte. In dieſer
Gemeinſamkeit ſehe Ich durchaus nichts anderes, als eine
Multiplication meiner Kraft, und nur ſo lange ſie meine
vervielfachte Kraft iſt, behalte Ich ſie bei. So aber iſt ſie ein
— Verein.
Den Verein hält weder ein natürliches noch ein geiſtiges
Band zuſammen, und er iſt kein natürlicher, kein geiſtiger Bund.
Nicht Ein Blut, nicht Ein Glaube (d.h. Geiſt) bringt ihn
zu Stande. In einem natürlichen Bunde, — wie einer Fa¬
milie, einem Stamme, einer Nation, ja der Menſchheit — ha¬
ben die Einzelnen nur den Werth von Exemplaren derſel¬
ben Art oder Gattung; in einem geiſtigen Bunde — wie ei¬
ner Gemeinde, einer Kirche — bedeutet der Einzelne nur ein
Glied deſſelbigen Geiſtes; was Du in beiden Fällen als
Einziger biſt, das muß — unterdrückt werden. Als Einzigen
kannſt Du Dich bloß im Vereine behaupten, weil der Ver¬
ein nicht Dich beſitzt, ſondern Du ihn beſitzeſt oder Dir zu
Nutze machſt.
Im Vereine, und nur im Vereine, wird das Eigenthum
anerkannt, weil man das Seine von keinem Weſen mehr zu
Lehen trägt. Die Communiſten führen nur conſequent weiter,
was während der religiöſen Entwicklung und namentlich im
[417] Staate längſt vorhanden war, nämlich die Eigenthumsloſigkeit,
d. h. das Feudalweſen.
Der Staat bemüht ſich den Begehrlichen zu zähmen, mit
andern Worten, er ſucht deſſen Begierde allein auf ihn zu rich¬
ten und mit dem ſie zu befriedigen, was er ihr bietet.
Die Begierde um des Begehrlichen willen zu ſättigen, kommt
ihm nicht in den Sinn: im Gegentheil ſchilt er den die un¬
gezügelte Begierde athmenden Menſchen einen „egoiſtiſchen“,
und der „egoiſtiſche Menſch“ iſt ſein Feind. Er iſt dieß für
ihn, weil die Befähigung, mit demſelben zurecht zu kommen,
dem Staate abgeht, der gerade den Egoiſten nicht „begreifen“
kann. Da es dem Staate, wie nicht anders möglich, ledig¬
lich um ſich zu thun iſt, ſo ſorgt er nicht für meine Bedürf¬
niſſe, ſondern ſorgt nur, wie er Mich umbringe, d. h. ein an¬
deres Ich aus Mir mache, einen guten Bürger. Er trifft
Anſtalten zur „Sittenverbeſſerung“. — Und womit gewinnt er
die Einzelnen für ſich? Mit Sich, d. h. mit dem, was des
Staates iſt, mit Staatseigenthum. Er wird unabläſſig
thätig ſein, Alle ſeiner „Güter“ theilhaftig zu machen, Alle
mit den „Gütern der Kultur“ zu bedenken: er ſchenkt ihnen
ſeine Erziehung, öffnet ihnen den Zugang zu ſeinen Kultur¬
anſtalten, befähigt ſie auf den Wegen der Induſtrie zu Eigen¬
thum, d. h. zu Lehen zu kommen u. ſ. w. Für all dieß
Lehen fordert er nur den richtigen Zins eines ſteten Dankes.
Aber die „Undankbaren“ vergeſſen dieſen Dank abzutragen
— Weſentlich anders nun, als der Staat, kann es die „Ge¬
ſellſchaft“ auch nicht machen.
In den Verein bringſt Du deine ganze Macht, dein
Vermögen, und machſt Dich geltend, in der Geſellſchaft
wirſt Du mit deiner Arbeitskraft verwendet; in jenem lebſt
27[418] Du egoiſtiſch, in dieſer menſchlich, d. h. religiös, als ein
„Glied am Leibe dieſes Herrn“: der Geſellſchaft ſchuldeſt Du,
was Du haſt, und biſt ihr verpflichtet, biſt von „ſocialen Pflich¬
ten“ — beſeſſen, den Verein benutzeſt Du und giebſt ihn,
pflicht- und treulos, auf, wenn Du keinen Nutzen weiter aus
ihm zu ziehen weißt. Iſt die Geſellſchaft mehr als Du, ſo
geht ſie Dir über Dich; der Verein iſt nur dein Werkzeug
oder das Schwert, wodurch Du deine natürliche Kraft ver¬
ſchärfſt und vergrößerſt; der Verein iſt für Dich und durch
Dich da, die Geſellſchaft nimmt umgekehrt Dich für ſich in
Anſpruch und iſt auch ohne Dich; kurz die Geſellſchaft iſt
heilig, der Verein dein eigen: die Geſellſchaft verbraucht
Dich, den Verein verbrauchſt Du.
Man wird gleichwohl mit dem Einwande nicht zurück¬
halten, daß Uns die geſchloſſene Uebereinkunft wieder läſtig
werden und unſere Freiheit beſchränken könne; man wird ſagen,
Wir kämen auch endlich darauf hinaus, daß „Jeder um des
Allgemeinen willen einen Theil ſeiner Freiheit opfern müſſe“.
Allein um des „Allgemeinen“ willen fiele das Opfer ganz und
gar nicht, ſo wenig als Ich die Uebereinkunft um des „Allge¬
meinen“ oder auch nur um irgend eines andem Menſchen
willen ſchloß; vielmehr ging Ich auf ſie nur um meines eige¬
nen Nutzens willen, aus Eigennutz, ein. Was aber das
Opfern betrifft, ſo „opfere“ Ich doch wohl nur dasjenige, was
nicht in meiner Gewalt ſteht, d. h. „opfere“ gar nichts.
Auf das Eigenthum zurückzukommen, ſo iſt Eigenthümer
der Herr. Wähle denn, ob Du der Herr ſein willſt, oder die
Geſellſchaft Herrin ſein ſoll! Davon hängt es ab, ob Du ein
Eigner oder ein Lump ſein wirſt: Der Egoiſt iſt Eigner,
der Sociale ein Lump. Lumperei aber oder Eigenthumsloſig¬
[419] keit iſt der Sinn bei Feudalität, des Lehnsweſens, das ſeit
dem vorigen Jahrhundert nur den Lehnsherrn vertauſcht hat,
indem es „den Menſchen“ an die Stelle Gottes ſetzte und vom
Menſchen zu Lehen annahm, was vorher ein Lehen von Got¬
tes Gnaden geweſen war. Daß die Lumperei des Commu¬
nismus durch das humane Princip zur abſoluten oder lum¬
pigſten Lumperei hinausgeführt wird, iſt oben gezeigt worden,
zugleich aber auch, wie nur ſo die Lumperei zur Eigenheit um¬
ſchlagen kann. Das alte Feudalweſen wurde in der Revo¬
lution ſo gründlich eingeſtampft, daß ſeitdem alle reactionaire
Liſt fruchtlos blieb und immer fruchtlos bleiben wird, weil das
Todte — todt iſt; aber auch die Auferſtehung mußte in der chriſt¬
lichen Geſchichte ſich als eine Wahrheit bewähren und hat ſich
bewährt: denn in einem Jenſeits iſt mit verklärtem Leibe die
Feudalität wiedererſtanden, die neue Feudalität unter der
Oberlehnsherrlichkeit „des Menſchen“.
Das Chriſtenthum iſt nicht vernichtet, ſondern die Gläu¬
bigen haben Recht, wenn ſie bisher von jedem Kampfe dagegen
vertrauungsvoll annahmen, daß er nur zur Läuterung und Be¬
feſtigung deſſelben dienen könne; denn es iſt wirklich nur verklärt
worden, und „das Chriſtenthum“iſt Chriſtenthum“ iſt das — menſchliche.
Wir leben noch ganz im chriſtlichen Zeitalter, und die ſich
daran am meiſten ärgern, tragen gerade am eifrigſten dazu bei,
es zu „vollenden“. Je menſchlicher, deſto lieber iſt Uns die
Feudalität geworden; denn deſto weniger glauben Wir, daß ſie
noch Feudalität ſei, deſto getroſter nehmen Wir ſie für Eigen¬
heit und meinen unſer „Eigenſtes“ gefunden zu haben, wenn
Wir „das Menſchliche“ entdecken.
Der Liberalismus will Mir das Meinige geben, aber nicht
unter dem Titel des Meinigen, ſondern unter dem des „Menſch¬
27*[420] lichen“ gedenkt er Mir's zu verſchaffen. Als wenn es unter dieſer
Maske zu erreichen wäre! Die Menſchenrechte, das theure Werk der
Revolution, haben den Sinn, daß der Menſch in Mir Mich zu
dem und jenem berechtige: Ich als Einzelner, d. h. als dieſer,
bin nicht berechtigt, ſondern der Menſch hat das Recht und be¬
rechtigt Mich. Als Menſch kann Ich daher wohl berechtigt ſein,
da Ich aber, mehr als Menſch, nämlich ein abſonderlicher
Menſch bin, ſo kann es gerade Mir, dem Abſonderlichen, ver¬
weigert werden. Haltet Ihr hingegen auf den Werth eurer
Gaben, haltet ſie im Preiſe, laßt Euch nicht zwingen, unter
dem Preiſe loszuſchlagen, laßt Euch nicht einreden, eure Waare
ſei nicht preiswürdig, macht Euch nicht zum Geſpötte durch
einen „Spottpreis“, ſondern ahmt dem Tapfern nach, welcher
ſagt: Ich will mein Leben (Eigenthum) theuer verkaufen,
die Feinde ſollen es nicht wohlfeilen Kaufes haben: ſo habt
Ihr das Umgekehrte vom Communismus als das Richtige
erkannt, und es heißt dann nicht: Gebt euer Eigenthum auf!
ſondern: Verwerthet euer Eigenthum!
Ueber der Pforte unſerer Zeit ſteht nicht jenes apollini¬
ſche: „Erkenne Dich ſelbſt“, ſondern ein: Verwerthe Dich!
Proud'hon nennt das Eigenthum „den Raub“ (le vol).
Es iſt aber das fremde Eigenthum — und von dieſem allein
ſpricht er — nicht minder durch Entſagung, Abtretung und
Demuth vorhanden, es iſt ein Geſchenk. Warum ſo ſenti¬
mental als ein armer Beraubter das Mitleid anrufen, wenn
man doch nur ein thörichter, feiger Geſchenkgeber iſt. Warum
auch hier wieder die Schuld Andern zuſchieben, als beraubten
ſie Uns, da Wir doch ſelbſt die Schuld tragen, indem Wir
die Andern unberaubt laſſen. Die Armen ſind daran ſchuld,
daß es Reiche giebt.
[421]
Ueberhaupt ereifert ſich Niemand über ſein Eigenthum,
ſondern über fremdes. Man greift in Wahrheit nicht das
Eigenthum an, ſondern die Entfremdung des Eigenthums.
Man will mehr, nicht weniger, ſein nennen können, man
will alles ſein nennen. Man kämpft alſo gegen die Fremd¬
heit, oder, um ein dem Eigenthum ähnliches Wort zu bilden,
gegen das Fremdenthum. Und wie hilft man ſich dabei?
Statt das Fremde in Eigenes zu verwandeln, ſpielt man den
Unparteiiſchen und verlangt nur, daß alles Eigenthum einem
Dritten (z. B. der menſchlichen Geſellſchaft) überlaſſen werde.
Man reclamirt das Fremde nicht im eigenen Namen, ſondern
in dem eines Dritten. Nun iſt der „egoiſtiſche“ Anſtrich weg¬
gewiſcht und alles ſo rein und — menſchlich!
Eigenthumsloſigkeit oder Lumperei, das iſt alſo das „We¬
ſen des Chriſtenthums“, wie es das Weſen aller Religioſität
(d. h. Frömmigkeit, Sittlichkeit, Menſchlichkeit) iſt, und nur in
der „abſoluten Religion“ am klarſten ſich verkündete und als
frohe Botſchaft zum entwickelungsfähigen Evangelium wurde.
Die ſprechendſte Entwicklung haben Wir im gegenwärtigen
Kampfe wider das Eigenthum vor Uns, einem Kampfe, der
„den Menſchen“ zum Siege führen und die Eigenthumsloſig¬
keit vollſtändig machen ſoll: die ſiegende Humanität iſt der Sieg
des — Chriſtenthums. Das ſo „entdeckte Chriſtenthum“ aber
iſt die vollendete Feudalität, das allumfaſſende Lehnsweſen,
d. h. die — vollkommene Lumperei.
Alſo wohl noch einmal eine „Revolution“ gegen das Feu¬
dalweſen? —
Revolution und Empörung dürfen nicht für gleichbedeu¬
tend angeſehen werden. Jene beſteht in einer Umwälzung der
Zuſtände, des beſtehenden Zuſtandes oder status, des Staats
[422] oder der Geſellſchaft, iſt mithin eine politiſche oder ſociale
That; dieſe hat zwar eine Umwandlung der Zuſtände zur unver¬
meidlichen Folge, geht aber nicht von ihr, ſondern von der Unzu¬
friedenheit der Menſchen mit ſich aus, iſt nicht eine Schilderhebung,
ſondern eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen, ohne
Rückſicht auf die Einrichtungen, welche daraus entſprießen.
Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen, die Empö¬
rung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu laſſen, ſon¬
dern Uns ſelbſt einzurichten, und ſetzt auf „Inſtitutionen“ keine
glänzende Hoffnung. Sie iſt kein Kampf gegen das Beſtehende,
da, wenn ſie gedeiht, das Beſtehende von ſelbſt zuſammenſtürzt,
ſie iſt nur ein Herausarbeiten Meiner aus dem Beſtehenden.
Verlaſſe Ich das Beſtehende, ſo iſt es todt und geht in
Fäulniß über. Da nun nicht der Umſturz eines Beſtehenden
mein Zweck iſt, ſondern meine Erhebung darüber, ſo iſt
meine Abſicht und That keine politiſche oder ſociale, ſondern,
als allein auf Mich und meine Eigenheit gerichtet, eine ego¬
iſtiche.
Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, ſich
auf- oder emporzurichten heiſcht die Empörung. Welche
Verfaſſung zu wählen ſei, dieſe Frage beſchäftigte die revo¬
lutionairen Köpfe, und von Verfaſſungskämpfen und Verfaſſungs¬
fragen ſprudelt die ganze politiſche Periode, wie auch die ſocia¬
len Talente an geſellſchaftlichen Einrichtungen (Phalanſterien
u. dergl.) ungemein erfinderiſch waren. Verfaſſungslos zu
werden, beſtrebt ſich der Empörer. *)
[423]
Indem Ich zu größerer Verdeutlichung auf einen Vergleich
ſinne, fällt Mir wider Erwarten die Stiftung des Chriſten¬
thums ein. Man vermerkt es liberaler Seits den erſten Chri¬
ſten übel, daß ſie gegen die beſtehende heidniſche Staatsord¬
nung Gehorſam predigten, die heidniſche Obrigkeit anzuerken¬
nen befahlen und ein „Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers
iſt“ getroſt geboten. Wie viel Aufruhr entſtand doch zu der¬
ſelben Zeit gegen die römiſche Oberherrſchaft, wie aufwieg¬
leriſch bewieſen ſich die Juden und ſelbſt die Römer gegen
ihre eigene weltliche Regierung, kurz wie beliebt war die „po¬
litiſche Unzufriedenheit“! Davon wollten jene Chriſten nichts
wiſſen; wollten den „liberalen Tendenzen“ nicht beitreten.
Die Zeit war politiſch ſo aufgeregt, daß man, wie's in den
Evangelien heißt, den Stifter des Chriſtenthums nicht erfolg¬
reicher anklagen zu können meinte, als wenn man ihn „poli¬
tiſcher Umtriebe“ bezüchtigte, und doch berichten dieſelben
Evangelien, daß gerade er ſich am wenigſten an dieſem poli¬
tiſchen Treiben betheiligte. Warum aber war er kein Revo¬
lutionair, kein Demagoge, wie ihn die Juden gerne geſehen
hätten, warum war er kein Liberaler? Weil er von einer
Aenderung der Zuſtände kein Heil erwartete, und dieſe ganze
Wirthſchaft ihm gleichgültig war. Er war kein Revolutionair,
wie z.B. Cäſar, ſondern ein Empörer, kein Staatsumwälzer,
ſondern Einer, der ſich emporrichtete. Darum galt es ihm
auch allein um ein „Seid klug wie die Schlangen“, was den¬
ſelben Sinn ausdrückt, als im ſpeciellen Falle jenes „Gebet
dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt“; er führte ja keinen libera¬
len oder politiſchen Kampf gegen die beſtehende Obrigkeit, ſon¬
dern wollte, unbekümmert um und ungeſtört von dieſer Obrig¬
keit, ſeinen eigenen Weg wandeln. Nicht minder gleichgültig
[424] als die Regierung waren ihm deren Feinde, denn was er
wollte, verſtanden beide nicht, und er hatte ſie nur mit Schlan¬
genklugheit von ſich abzuhalten. Wenn aber auch kein Volks¬
aufwiegler, kein Demagog oder Revolutionair, ſo war er und
jeder der alten Chriſten um ſo mehr ein Empörer, der
über Alles ſich emporhob, was der Regierung und ihren
Widerſachern erhaben dünkte, und von Allem ſich entband,
woran jene gebunden blieben, und der zugleich die Lebens¬
quellen der ganzen heidniſchen Welt abgrub, mit welchen der
beſtehende Staat ohnehin verwelken mußte: er war gerade
darum, weil er das Umwerfen des Beſtehenden von ſich wies,
der Todfeind und wirkliche Vernichter deſſelben; denn er mauerte
es ein, indem er darüber getroſt und rückſichtslos den Bau
ſeines Tempels aufführte, ohne auf die Schmerzen des Ein¬
gemauerten zu achten.
Nun, wie der heidniſchen Weltordnung geſchah, wird's
ſo der chriſtlichen ergehen? Eine Revolution führt gewiß das
Ende nicht herbei, wenn nicht vorher eine Empörung voll¬
bracht iſt!
Mein Verkehr mit der Welt, worauf geht er hinaus?
Genießen will Ich ſie, darum muß ſie mein Eigenthum ſein,
und darum will Ich ſie gewinnen. Ich will nicht die Frei¬
heit, nicht die Gleichheit der Menſchen; Ich will nur meine
Macht über ſie, will ſie zu meinem Eigenthum, d.h. genie߬
bar machen. Und gelingt Mir das nicht, nun, die Gewalt
über Leben und Tod, die Kirche und Staat ſich vorbehielten,
Ich nenne auch ſie die — meinige. Brandmarkt jene Offi¬
cier-Wittwe, die auf der Flucht in Rußland, nachdem ihr das
Bein weggeſchoſſen, das Strumpfband von dieſem abzieht, ihr
Kind damit erdroſſelt und dann neben der Leiche verblutet, —
[425] brandmarkt das Andenken der — Kindesmörderin. Wer weiß,
wie viel dieß Kind, wenn es am Leben blieb, „der Welt hätte
nützen“ können! Die Mutter ermordete es, weil ſie befrie¬
digt und beruhigt ſterben wollte. Dieſer Fall ſagt eurer
Sentimentalität vielleicht noch zu, und Ihr wißt nichts Wei¬
teres aus ihm herauszuleſen. Es ſei; Ich Meinerſeits ge¬
brauche ihn als Beiſpiel dafür, daß meine Befriedigung über
mein Verhältniß zu den Menſchen entſcheidet, und daß Ich
auch der Macht über Leben und Tod aus keiner Anwandlung
von Demuth entſage.
Was überhaupt die „Socialpflichten“ anlangt, ſo giebt
Mir nicht ein Anderer meine Stellung zu Andern, alſo weder
Gott noch die Menſchlichkeit ſchreibt Mir meine Beziehung
zu den Menſchen vor, ſondern Ich gebe Mir dieſe Stellung.
Sprechender iſt dieß damit geſagt: Ich habe gegen Andere
keine Pflicht, wie Ich auch nur ſo lange gegen Mich eine
Pflicht habe (z. B. die der Selbſterhaltung, alſo nicht Selbſt¬
mord), als Ich Mich von Mir unterſcheide (meine unſterb¬
liche Seele von meinem Erdendaſein u. ſ. w.).
Ich demüthige Mich vor keiner Macht mehr und er¬
kenne, daß alle Mächte nur meine Macht ſind, die Ich ſo¬
gleich zu unterwerfen habe, wenn ſie eine Macht gegen oder
über Mich zu werden drohen; jede derſelben darf nur eins
meiner Mittel ſein, Mich durchzuſetzen, wie ein Jagdhund
unſere Macht gegen das Wild iſt, aber von Uns getödtet wird,
wenn er Uns ſelbſt anfiele. Alle Mächte, die Mich beherr¬
ſchen, ſetze Ich dann dazu herab, Mir zu dienen. Die Götzen
ſind durch Mich: Ich brauche ſie nur nicht von neuem zu
ſchaffen, ſo ſind ſie nicht mehr; „höhere Mächte“ ſind nur
dadurch, daß Ich ſie erhöhe und Mich niedriger ſtelle.
[426]
Somit iſt denn mein Verhältniß zur Welt dieſes: Ich
thue für ſie nichts mehr „um Gottes willen“, Ich thue nichts
„um des Menſchen willen“, ſondern, was Ich thue, das thue
Ich „um Meinetwillen“. So allein befriedigt Mich die Welt,
während für den religiöſen Standpunkt, wohin Ich auch den
ſittlichen und humanen rechne, es bezeichnend iſt, daß Alles
darauf ein frommer Wunſch (pium desiderium), d. h. ein
Jenſeits, ein Unerreichtes bleibt. So die allgemeine Seligkeit
der Menſchen, die ſittliche Welt einer allgemeinen Liebe, der
ewige Friede, das Aufhören des Egoismus u. ſ. w. „Nichts
in dieſer Welt iſt vollkommen“. Mit dieſem leidigen Spruche
ſcheiden die Guten von ihr und flüchten ſich in ihr Kämmer¬
lein zu Gott oder in ihr ſtolzes „Selbſtbewußtſein“. Wir
aber bleiben in dieſer „unvollkommenen“ Welt, weil Wir ſie
auch ſo brauchen können zu unſerem — Selbſtgenuß.
Mein Verkehr mit der Welt beſteht darin, daß Ich ſie
genieße und ſo ſie zu meinem Selbſtgenuß verbrauche. Der
Verkehr iſt Weltgenuß und gehört zu meinem — Selbſt¬
genuß.
3 . Mein Selbſtgenuß.
Wir ſtehen an der Grenzſcheide einer Periode. Die bis¬
herige Welt ſann auf nichts als auf Gewinn des Lebens,
ſorgte für's — Leben. Denn ob alle Thätigkeit für das
dieſſeitige oder für das jenſeitige, für das zeitliche oder für das
ewige Leben in Spannung geſetzt wird, ob man nach dem
„täglichen Brote“ lechzt („Gieb Uns unſer täglich Brot“) oder
nach dem „heiligen Brote“ („das rechte Brot vom Himmel;“
[427] das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und der Welt das
Leben giebt;“ „das Brot des Lebens.“ Joh. 6.), ob man
ums „liebe Leben“ ſorgt oder um das „Leben in Ewigkeit“:
das ändert den Zweck der Spannung und Sorge nicht, der im
einen wie im andern Falle ſich als das Leben ausweiſt.
Kündigen ſich die modernen Tendenzen anders an? Man
will, daß Niemand mehr um die nöthigſten Lebensbedürfniſſe
in Verlegenheit komme, ſondern ſich darin geſichert finde, und
anderſeits lehrt man, daß der Menſch ſich ums Dieſſeits zu be¬
kümmern und in die wirkliche Welt einzuleben habe, ohn eitle
Sorge um ein Jenſeits.
Faſſen Wir dieſelbe Sache von einer andern Seite auf.
Wer nur beſorgt iſt, daß er lebe, vergißt über dieſe Aengſt¬
lichkeit leicht den Genuß des Lebens. Iſt's ihm nur ums Leben
zu thun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, ſo
verwendet er nicht ſeine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen,
d. h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem
man's verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem
man's verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin ſich, den
Lebendigen, indem man es und ſich verzehrt. Lebensgenuß
iſt Verbrauch des Lebens.
Nun — den Genuß des Lebens ſuchen Wir auf! Und
was that die religiöſe Welt? Sie ſuchte das Leben auf.
„Worin beſteht das wahre Leben, das ſelige Leben u. ſ. w.?
Wie iſt es zu erreichen? Was muß der Menſch thun und
werden, um ein wahrhaft Lebendiger zu ſein? Wie erfüllt er
dieſen Beruf?“ Dieſe und ähnliche Fragen deuten darauf hin,
daß die Fragenden erſt ſich ſuchten, ſich nämlich im wahren
Sinne, im Sinne der wahrhaftigen Lebendigkeit. „Was Ich
bin, iſt Schaum und Schatten; was Ich ſein werde, iſt mein
[428] wahres Ich.“ Dieſem Ich nachzujagen, es herzuſtellen, es zu
realiſiren, macht die ſchwere Aufgabe der Sterblichen aus, die
nur ſterben, um aufzuerſtehen, nur leben, um zu ſterben,
nur leben, um das wahre Leben zu finden.
Erſt dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und Mich nicht
mehr ſuche, bin Ich wahrhaft mein Eigenthum: Ich habe
Mich, darum brauche und genieße Ich Mich. Dagegen kann
Ich Meiner nimmermehr froh werden, ſo lange Ich denke,
mein wahres Ich hätte Ich erſt noch zu finden, und es müſſe
dahin kommen, daß nicht Ich, ſondern Chriſtus in Mir lebe
oder irgend ein anderes geiſtiges, d. h. geſpenſtiſches Ich,
z. B. der wahre Menſch, das Weſen des Menſchen u. dgl.
Ein ungeheurer Abſtand trennt beide Anſchauungen: in
der alten gehe Ich auf Mich zu, in der neuen gehe Ich von
Mir aus, in jener ſehne Ich Mich nach Mir, in dieſer habe
Ich Mich und mache es mit Mir, wie man's mit jedem an¬
dern Eigenthum macht, — Ich genieße Mich nach meinem
Wohlgefallen. Ich bange nicht mehr um's Leben, ſondern
„verthue“ es.
Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben
erwerben, ſondern wie man's verthun, genießen könne, oder
nicht wie man das wahre Ich in ſich herzuſtellen, ſondern wie
man ſich aufzulöſen, ſich auszuleben habe.
Was wäre das Ideal wohl anders, als das geſuchte,
ſtets ferne Ich? Sich ſucht man, folglich hat man ſich
noch nicht, man trachtet nach dem, was man ſein ſoll, folg¬
lich iſt man's nicht. Man lebt in Sehnſucht und hat
Jahrtauſende in ihr, hat in Hoffnung gelebt. Ganz an¬
ders lebt es ſich im — Genuß!
Trifft dieß etwa nur die ſogenannten Frommen? Nein, es
[429] trifft Alle, die der ſcheidenden Geſchichtsperiode angehören, ſelbſt
ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein
Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer beſ¬
ſeren Welt, von einem allgemeinen Menſchenglück, kurz ein
Ideal. Aber namentlich die Philoſophen werden den From¬
men gegenübergeſtellt. Nun, haben die an etwas anderes ge¬
dacht, als an das Ideal, auf etwas anderes geſonnen, als
auf das abſolute Ich? Sehnſucht und Hoffnung überall, und
nichts als dieſe. Nennt es meinetwegen Romantik.
Soll der Lebensgenuß über die Lebensſehnſucht
oder Lebenshoffnung triumphiren, ſo muß er ſie in ihrer dop¬
pelten Bedeutung, die Schiller im „Ideal und das Leben“
vorführt, bezwingen, die geiſtliche und weltliche Armuth ecra¬
ſiren, das Ideal vertilgen und — die Noth ums tägliche Brot.
Wer ſein Leben aufwenden muß, um das Leben zu friſten, der
kann es nicht genießen, und wer ſein Leben erſt ſucht, der hat
es nicht und kann es ebenſo wenig genießen: beide ſind arm,
„ſelig aber ſind die Armen.“
Die da hungem nach dem wahren Leben, haben keine
Macht über ihr gegenwärtiges, ſondern müſſen es zu dem
Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und
müſſen es ganz dieſem Trachten und dieſer Ausgabe opfern.
Wenn an jenen Religiöſen, die auf ein jenſeitiges Leben hof¬
fen und das dieſſeitige bloß für eine Vorbereitung zu demſel¬
ben anſehen, die Dienſtbarkeit ihres irdiſchen Daſeins, das ſie
lediglich in den Dienſt des gehofften himmliſchen geben, ziem¬
lich ſcharf einleuchtet, ſo würde man doch. weit fehl greifen,
wollte man die Aufgeklärteſten und Erleuchtetſten für minder
aufopfernd halten. Läßt doch im „wahren Leben“ eine viel
umfaſſendere Bedeutung ſich finden, als das „himmliſche“ aus¬
[430] zudrücken vermag. Iſt etwa, um ſogleich den liberalen Be¬
griff deſſelben vorzuführen, das „menſchliche“ und „wahrhaft
menſchliche“ nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder
ſchon von Haus aus dieß wahrhaft menſchliche Leben, oder
muß er mit ſaurer Mühe ſich erſt dazu erheben? Hat er es
ſchon als ſein gegenwärtiges, oder muß er's als ſein zukünfti¬
ges Leben erringen, das ihm erſt dann zu Theil wird, wenn
er „von keinem Egoismus mehr befleckt iſt“? Das Leben iſt
bei dieſer Anſicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und
man lebt nur, um das Weſen des Menſchen in ſich lebendig
zu machen, man lebt um dieſes Weſens willen. Man hat
ſein Leben nur, um ſich mittelſt deſſelben das „wahre“, von
allem Egoismus gereinigte Leben zu verſchaffen. Daher fürch¬
tet man ſich, von ſeinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu
machen: es ſoll nur zum „rechten Gebrauche“ dienen.
Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe,
hat durch ſein Leben Etwas zu verwirklichen und herzuſtellen,
ein Etwas, für welches unſer Leben nur Mittel und Werk¬
zeug iſt, ein Etwas, das mehr werth iſt, als dieſes Leben,
ein Etwas, dem man das Leben ſchuldig iſt. Man hat
einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die
Rohheit des Menſchenopfers hat ſich mit der Zeit verloren;
das Menſchenopfer ſelbſt iſt unverkürzt geblieben, und ſtündlich
fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir „ar¬
men Sünder“ ſchlachten Uns ſebſt zum Opfer für „das
menſchliche Weſen“, die „Idee der Menſchheit“, die „Menſch¬
lichkeit“ und wie die Götzen oder Götter ſonſt noch heißen.
Weil Wir aber unſer Leben jenem Etwas ſchulden, darum
haben Wir — dieß das Nächſte — kein Recht es uns zu
nehmen.
[431]
Die conſervative Tendenz des Chriſtenthums erlaubt nicht
anders an den Tod zu denken, als mit der Abſicht, ihm ſei¬
nen Stachel zu nehmen und — hübſch fortzuleben und ſich zu
erhalten. Alles läßt der Chriſt geſchehen und über ſich erge¬
hen, wenn er — der Erzjude — ſich nur in den Himmel
hineinſchachern und ſchmuggeln kann; ſich ſelbſt tödten darf
er nicht, er darf ſich nur — erhalten, und an der „Bereitung
einer zukünftigen Stätte“ arbeiten. Conſervatismus oder „Ueber¬
windung des Todes“ liegt ihm am Herzen: „Der letzte Feind,
der aufgehoben wird, iſt der Tod.“ *)„Chriſtus hat dem Tode
die Macht genommen und das Leben und ein unvergäng¬
liches Weſen ans Licht gebracht durch das Evangelium.“ **)
„Unvergänglichkeit“, Stabilität.
Der Sittliche will das Gute, das Rechte, und wenn er
die Mittel ergreift, welche zu dieſem Ziele führen, wirklich
führen, ſo ſind dieſe Mittel nicht ſeine Mittel, ſondern die
des Guten, Rechten u. ſ. w. ſelbſt. Unſittlich ſind dieſe Mit¬
tel niemals, weil der gute Zweck ſelbſt ſich durch ſie vermit¬
telt: der Zweck heiligt die Mittel. Dieſen Grundſatz nennt
man jeſuitiſch, er iſt aber durchaus „ſittlich.“ Der Sittliche
handelt im Dienſte eines Zweckes oder einer Idee: er macht
ſich zum Werkzeuge der Idee des Guten, wie der Fromme
ein Werk- oder Rüſtzeug Gottes zu ſein ſich zum Ruhme an¬
rechnet. Den Tod abzuwarten, heiſcht das ſittliche Gebot als
das Gute; ihn ſich ſelbſt zu geben, iſt unſittlich und böſe:
der Selbſtmord findet keine Entſchuldigung vor dem Rich¬
terſtuhle der Sittlichkeit. Verbietet der Religiöſe ihn, weil
[432] „du dir das Leben nicht gegeben haſt, ſondern Gott, der es dir
auch allein wieder nehmen kann“ (als ob, auch in dieſer Vor¬
ſtellung geſprochen, Mir's Gott nicht ebenſowohl nähme, wenn
ich Mich tödte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feind¬
liche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentſchluß auch in
mir geweckt!): ſo verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein
Leben dem Vaterlande u. ſ. w. ſchulde, „weil ich nicht wiſſe,
ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne.“
Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie
Gott ein Rüſtzeug. Bin ich unſittlich, ſo iſt dem Guten mit
meiner Beſſerung gedient, bin Ich „gottlos“, ſo hat Gott
Freude an meiner Bußfertigkeit. Selbſtmord iſt alſo ſo¬
wohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, deſſen Standpunkt die
Religioſität iſt, ſich das Leben nimmt, ſo handelt er gottver¬
geſſen; iſt aber der Standpunkt des Selbſtmörders die Sitt¬
lichkeit, ſo handelt er pflichtvergeſſen, unſittlich. Man quälte
ſich viel mit der Frage, ob Emilie Galotti's Tod vor der
Sittlichkeit ſich rechtfertigen laſſe (man nimmt ihn, als wäre
er Selbſtmord, was er der Sache nach auch iſt). Daß ſie in
die Keuſchheit, dieß ſittliche Gut, ſo vernarrt iſt, um ſelbſt
ihr Leben dafür zu laſſen, iſt jedenfalls ſittlich; daß ſie aber
ſich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, iſt wieder un¬
ſittlich. Solche Widerſprüche bilden in dem ſittlichen Trauer¬
ſpiele den tragiſchen Conflict überhaupt, und man muß
ſittlich denken und fühlen, um daran ein Intereſſe nehmen
zu können.
Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird
nothwendig auch die Menſchlichkeit treffen, weil man dem
Menſchen, der Menſchheit oder Gattung gleichfalls ſein Leben
ſchuldig iſt. Nur wenn ich keinem Weſen verpflichtet bin, iſt
[433] die Erhaltung des Lebens — meine Sache. „Ein Sprung
von dieſer Brücke macht Mich frei!“
Sind Wir aber jenem Weſen, das Wir in Uns lebendig
machen ſollen, die Erhaltung unſeres Lebens ſchuldig, ſo iſt
es nicht weniger unſere Pflicht, dieſes Leben nicht nach un¬
ſerer Luſt zu führen, ſondern es jenem Weſen gemäß zu ge¬
ſtalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein
Thun und Trachten gehört — ihm.
Was jenem Weſen gemäß ſei, ergiebt ſich aus dem Be¬
griffe deſſelben, und wie verſchieden iſt dieſer Begriff begriffen
oder wie verſchieden iſt jenes Weſen vorgeſtellt worden! Welche
Forderungen macht das höchſte Weſen an den Muhamedaner,
und welch' andere glaubt wieder der Chriſt von ihm zu ver¬
nehmen; wie abweichend muß daher beider Lebensgeſtaltung
ausfallen! Nur dieß halten Alle feſt, daß das höchſte Weſen
unſer Leben zu richten habe.
Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und
in ſeinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich
überall nur erinnerungsweiſe vorüber, weil ſie einer verlebten
Entwicklungsperiode angehören und als Verſteinerungen immer¬
hin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unſerer Zeit
haben nicht mehr die Frommen, ſondern die Liberalen das
große Wort, und die Frömmigkeit ſelbſt kann ſich deſſen nicht
erwehren, mit liberalem Teint ihr blaſſes Geſicht zu röthen.
Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und
wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab,
ſondern richten ſich nach dem Menſchen: nicht „göttlich“, ſon¬
dern „menſchlich“ wollen ſie ſein und leben.
Der Menſch iſt des Liberalen höchſtes Weſen, der Menſch
ſeines Lebens Richter, die Menſchlichkeit ſein Leitfaden
28[434] oder Katechismus. Gott iſt Geiſt, aber der Menſch iſt der
„vollkommenſte Geiſt“, das endliche Reſultat der langen Geiſtes¬
jagd oder der „Forſchung in den Tiefen der Gottheit“, d. h.
in den Tiefen des Geiſtes.
Jeder deiner Züge ſoll menſchlich ſein; Du ſelbſt ſollſt es
vom Wirbel bis zur Zehe, im Innern wie im Aeußern ſein:
denn die Menſchlichkeit iſt dein Beruf.
Beruf — Beſtimmung — Aufgabe! —
Was Einer werden kann, das wird er auch. Ein gebo¬
rener Dichter mag wohl durch die Ungunſt der Umſtände ge¬
hindert werden, auf der Höhe der Zeit zu ſtehen und nach den
dazu unerläßlichen großen Studien ausgebildete Kunſtwerke
zu ſchaffen; aber dichten wird er, er ſei Ackerknecht oder ſo
glücklich, am Weimarſchen Hofe zu leben. Ein geborener
Muſiker wird Muſik treiben, gleichviel ob auf allen Inſtru¬
menten oder nur auf einem Haferrohr. Ein geborener philo¬
ſophiſcher Kopf kann ſich als Univerſitätsphiloſoph oder als
Dorfphiloſoph bewähren. Endlich ein geborener Dummerjan,
der, was ſich ſehr wohl damit verträgt, zugleich ein Pfiffikus
ſein kann, wird, wie wahrſcheinlich Jeder, der Schulen beſucht
hat, an manchen Beiſpielen von Mitſchülern ſich zu vergegen¬
wärtigen im Stande iſt, immer ein vernagelter Kopf bleiben,
er möge nun zu einem Büreauchef einexercirt und dreſſirt wor¬
den ſein, oder demſelben Chef als Stiefelputzer dienen. Ja
die geborenen beſchränkten Köpfe bilden unſtreitig die zahl¬
reichſte Menſchenklaſſe. Warum ſollten auch in der Menſchen¬
gattung nicht dieſelben Unterſchiede hervortreten, welche in jeder
Thiergattung unverkennbar ſind? Ueberall finden ſich Begab¬
tere und minder Begabte.
So blödſinnig ſind indeß nur Wenige, daß man ihnen
[435] nicht Ideen beibringen könnte. Daher hält man gewöhnlich
alle Menſchen für fähig, Religion zu haben. In einem ge¬
wiſſen Grade ſind ſie auch zu andern Ideen noch abzurichten,
z. B. zu einigem muſikaliſchen Verſtändniß, ſelbſt etwas Phi¬
ſophie u. ſ. w. Hier knüpft denn das Pfaffenthum der Reli¬
gion, der Sittlichkeit, der Bildung, der Wiſſenſchaft u. ſ. w.
an, und die Communiſten z. B. wollen durch ihre „Volks¬
ſchule“ Allen alles zugänglich machen. Eine gewöhnliche Be¬
hauptung wird gehört, daß dieſe „große Maſſe“ ohne Religion
nicht auskommen könne; die Communiſten erweitern ſie zu dem
Satze, daß nicht nur die „große Maſſe“, ſondern ſchlechthin
Alle zu Allem berufen ſeien.
Nicht genug, daß man die große Maſſe zur Religion ab¬
gerichtet hat, nun ſoll ſie gar mit „allem Menſchlichen“ ſich
noch befaſſen müſſen. Die Dreſſur wird immer allgemeiner
und umfaſſender.
Ihr armen Weſen, die Ihr ſo glücklich leben könntet,
wenn Ihr nach eurem Sinne Sprünge machen dürftet, Ihr
ſollt nach der Pfeife der Schulmeiſter und Bärenführer tanzen,
um Kunſtſtücke zu machen, zu denen Ihr ſelbſt Euch nimmer¬
mehr gebrauchen würdet. Und Ihr ſchlagt nicht endlich einmal
dagegen aus, daß man Euch immer anders nimmt, als Ihr Euch
geben wollt. Nein, Ihr ſprecht Euch die vorgeſprochene Frage
mechaniſch ſelber vor: „Wozu bin Ich berufen? Was ſoll
Ich?“ So braucht Ihr nur zu fragen, um Euch ſagen und
befehlen zu laſſen, was Ihr ſollt, euren Beruf Euch vor¬
zeichnen zu laſſen, oder auch es Euch ſelbſt nach der Vorſchrift
des Geiſtes zu befehlen und aufzuerlegen. Da heißt es denn
in Bezug auf den Willen: Ich will, was Ich ſoll.
Ein Menſch iſt zu nichts „berufen“ und hat keine „Auf¬
28 *[436] gabe“, keine „Beſtimmung“, ſo wenig als eine Pflanze oder
ein Thier einen „Beruf“ hat. Die Blume folgt nicht dem
Berufe, ſich zu vollenden, aber ſie wendet alle ihre Kräfte auf,
die Welt, ſo gut ſie kann, zu genießen und zu verzehren, d. h.
ſie ſaugt ſo viel Säfte der Erde, ſo viel Luft des Aethers, ſo
viel Licht der Sonne ein, als ſie bekommen und beherbergen
kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht
ſeine Kräfte ſo viel es geht: er haſcht Käfer und ſingt nach
Herzensluſt. Der Blume und des Vogels Kräfte ſind aber
im Vergleich zu denen eines Menſchen gering, und viel gewal¬
tiger wird ein Menſch, der ſeine Kräfte anwendet, in die Welt
eingreifen als Blume und Thier. Einen Beruf hat er nicht,
aber er hat Kräfte, die ſich äußern, wo ſie ſind, weil ihr Sein
ja einzig in ihrer Aeußerung beſteht und ſo wenig unthätig
verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine
Sekunde „ſtille ſtände“, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte
man dem Menſchen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in
dieſen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es ſei des
Menſchen Aufgabe, ſeine Kraft zu gebrauchen. So iſt es
nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder ſeine Kraft, ohne
dieß erſt für ſeinen Beruf anzuſehen: es gebraucht Jeder in
jedem Augenblicke ſo viel Kraft als er beſitzt. Man ſagt wohl
von einem Beſiegten, er hätte ſeine Kraft mehr anſpannen
ſollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblicke des
Erliegens die Kraft gehabt hätte, ſeine Kräfte (z. B. Leibes¬
kräfte) anzuſpannen, er es nicht unterlaſſen haben würde: war
es auch nur die Muthloſigkeit einer Minute, ſo war dieß doch
eine minutenlange — Kraftloſigkeit. Die Kräfte laſſen ſich
allerdings ſchärfen und vervielfältigen, beſonders durch feind¬
lichen Widerſtand oder befreundeten Beiſtand; aber wo man
[437] ihre Anwendung vermißt, da kann man auch ihrer Abweſenheit
gewiß ſein. Man kann aus einem Steine Feuer ſchlagen,
aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art
bedarf auch ein Menſch des „Anſtoßes“.
Darum nun, weil Kräfte ſich ſtets von ſelbſt werkthätig
erweiſen, wäre das Gebot, ſie zu gebrauchen, überflüſſig und
ſinnlos. Seine Kräfte zu gebrauchen iſt nicht der Beruf und
die Aufgabe des Menſchen, ſondern es iſt ſeine allezeit wirk¬
liche, vorhandene That. Kraft iſt nur ein einfacheres Wort
für Kraftäußerung.
Wie nun dieſe Roſe von vorn herein wahre Roſe, dieſe
Nachtigall ſtets wahre Nachtigall iſt, ſo bin Ich nicht erſt
wahrer Menſch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Be¬
ſtimmung nachlebe, ſondern Ich bin von Haus „wahrer
Menſch“. Mein erſtes Lallen iſt das Lebenszeichen eines
„wahren Menſchen“, meine Lebenskämpfe ſeine Kraftergüſſe,
mein letzter Athemzug das letzte Kraftaushauchen „des Menſchen“.
Nicht in der Zukunft, ein Gegenſtand der Sehnſucht, liegt
der wahre Menſch, ſondern daſeiend und wirklich liegt er in
der Gegenwart. Wie und wer Ich auch ſei, freudvoll und
leidvoll, ein Kind oder ein Greis, in Zuverſicht oder Zweifel,
im Schlaf oder im Wachen, Ich bin es, Ich bin der wahre
Menſch.
Bin Ich aber der Menſch und habe Ich ihn, den die
religiöſe Menſchheit als fernes Ziel bezeichnete, wirklich in
Mir gefunden, ſo iſt auch alles „wahrhaft Menſchliche“ mein
eigen. Was man der Idee der Menſchheit zuſchrieb, das
gehört Mir. Jene Handelsfreiheit z. B., welche die Menſch¬
heit erſt erreichen ſoll, und die man wie einen bezaubernden
Traum in ihre goldene Zukunft verſetzt, Ich nehme ſie Mir
[438] als mein Eigenthum vorweg und treibe ſie einſtweilen in der
Form des Schmuggels. Freilich möchten nur wenige Schmugg¬
ler ſich dieſe Rechenſchaft über ihr Thun zu geben wiſſen,
aber der Inſtinct des Egoismus erſetzt ihr Bewußtſein. Von
der Preßfreiheit habe Ich daſſelbe oben gezeigt.
Alles iſt mein eigen, darum hole Ich Mir wieder, was
ſich Mir entziehen will, vor allem aber hole Ich Mich ſtets
wieder, wenn Ich zu irgend einer Dienſtbarkeit Mir entſchlüpfet
bin. Aber auch dieß iſt nicht mein Beruf, ſondern meine na¬
türliche That.
Genug, es iſt ein mächtiger Unterſchied, ob Ich Mich
zum Ausgangs- oder zum Zielpunkte mache. Als letzteren
habe Ich Mich nicht, bin Mir mithin noch fremd, bin mein
Weſen, mein „wahres Weſen“, und dieſes Mir fremde
„wahre Weſen“ wird als ein Spuk von tauſenderlei Namen
ſein Geſpött mit Mir treiben. Weil Ich noch nicht Ich bin,
ſo iſt ein Anderer (wie Gott, der wahre Menſch, der wahrhaft
Fromme, der Vernünftige, der Freie u. ſ. w.) Ich, mein Ich.
Von Mir noch fern trenne Ich Mich in zwei Hälften,
deren eine, die unerreichte und zu erfüllende, die wahre iſt.
Die eine, die unwahre, muß zum Opfer gebracht werden,
nämlich die ungeiſtige; die andere, die wahre, ſoll der ganze
Menſch ſein, nämlich der Geiſt. Dann heißt es: „Der Geiſt
iſt das eigentliche Weſen des Menſchen“ oder „der Menſch
exiſtirt als Menſch nur geiſtig.“ Nun geht es mit Gier dar¬
auf los, den Geiſt zu fahen, als hätte man ſich dann erwiſcht,
und ſo im Jagen nach ſich verliert man ſich, der man iſt, aus
den Augen.
Und wie man ſtürmiſch ſich ſelbſt, dem nie erreichten,
nachſetzt, ſo verachtet man auch die Regel der Klugen, die
[439] Menſchen zu nehmen wie ſie ſind, und nimmt ſie lieber wie
ſie ſein ſollen, hetzt deshalb Jeden hinter ſeinem ſeinſollenden
Ich her und „ſtrebt Alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren,
gleich ſittlichen oder vernünftigen Menſchen zu machen“. *)
Ja, „wenn die Menſchen wären, wie ſie ſein ſollten,
ſein könnten, wenn alle Menſchen vernünftig wären, alle ein¬
ander als Brüder liebten“, dann wär's ein paradieſiſches Le¬
ben. **)— Wohlan, die Menſchen ſind, wie ſie ſein ſollen,
ſein können. Was ſollen ſie ſein? Doch wohl nicht mehr
als ſie ſein können! Und was können ſie ſein? Auch eben
nicht mehr als ſie — können, d. h. als ſie das Vermögen,
die Kraft zu ſein haben. Das aber ſind ſie wirklich, weil,
was ſie nicht ſind, ſie zu ſein nicht im Stande ſind: denn
im Stande ſein heißt — wirklich ſein. Man iſt nichts im
Stande, was man nicht wirklich iſt, man iſt nichts im Stande
zu thun, was man nicht wirklich thut. Könnte ein am Staar
Erblindeter ſehen? O ja, wenn er ſich den Staar glücklich
ſtechen ließe. Allein jetzt kann er nicht ſehen, weil er nicht
ſiebt. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zuſammen.
Man kann nichts, was man nicht thut, wie man nichts thut,
was man nicht kann.
Die Sonderbarkeit dieſer Behauptung verſchwindet, wenn
man erwägt, daß die Worte „es iſt möglich, daß u. ſ. w.“
faſt nie einen andern Sinn in ſich bergen, als dieſen: „Ich
kann Mir denken, daß u. ſ. w.“ z. B. Es iſt möglich, daß
alle Menſchen vernünftig leben, d. h. Ich kann Mir denken,
daß alle u. ſ. w. Da nun mein Denken nicht bewirken kann,
[440] mithin auch nicht bewirkt, daß alle Menſchen vernünftig leben,
ſondern dieß den Menſchen ſelbſt überlaſſen bleiben muß, ſo
iſt die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denk¬
barkeit, als ſolche aber in der That eine Wirklichkeit,
die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, näm¬
lich die Vernünftigkeit der Andern, eine Möglichkeit genannt
wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menſchen
vernünftig ſein, denn Du haſt nichts dagegen, ja ſo weit dein
Denken reicht, kannſt Du vielleicht auch kein Hinderniß ent¬
decken, und mithin ſteht auch in deinem Denken der Sache
nichts entgegen: ſie iſt Dir denkbar.
Aber da die Menſchen nun doch nicht alle vernünftig
ſind, ſo werden ſie es auch wohl — nicht ſein können.
Iſt oder geſchieht etwas nicht, wovon man ſich vorſtellt,
es wäre doch leicht möglich, ſo kann man verſichert ſein, es
ſtehe der Sache etwas im Wege und ſie ſei — unmöglich.
Unſere Zeit hat ihre Kunſt, Wiſſenſchaft u. ſ. w.: die Kunſt
mag herzlich ſchlecht ſein; darf man aber ſagen, Wir verdien¬
ten eine beſſere zu haben und „könnten“ ſie haben, wenn Wir
nur wollten? Wir haben gerade ſo viel Kunſt, als Wir
haben können. Unſere heutige Kunſt iſt die dermalen einzig
mögliche und darum wirkliche.
Selbſt in dem Verſtande, worauf man das Wort „mög¬
lich“, zuletzt noch reduciren könnte, daß es „zukünftig“ bedeute,
behält es die volle Kraft des „Wirklichen“. Sagt man z. B.
Es iſt möglich, daß morgen die Sonne aufgeht, — ſo heißt
dieß nur: für das Heute iſt das Morgen die wirkliche Zu¬
kunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, daß eine
Zukunft nur dann wirkliche „Zukunft“ iſt, wenn ſie noch nicht
erſchienen iſt.
[441]
Jedoch wozu dieſe Würdigung eines Wortes? Hielte
ſich nicht der folgenreichſte Mißverſtand von Jahrtauſenden
dahinter verſteckt, ſpukte nicht aller Spuk der beſeſſenen Men¬
ſchen in dieſem einzigen Begriffe des Wörtleins „möglich“, ſo
ſollte Uns ſeine Betrachtung hier wenig kümmern.
Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrſcht die beſeſſene
Welt. Nun denn, die Möglichkeit iſt nichts anders, als die
Denkbarkeit, und der gräßlichen Denkbarkeit ſind ſeither
unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, daß die Men¬
ſchen vernünftig werden könnten, denkbar, daß ſie Chriſtum er¬
kennen, denkbar, daß ſie für das Gute ſich begeiſtern und
ſittlich werden, denkbar, daß ſie alle in den Schooß der Kirche
ſich flüchten, denkbar, daß ſie nichts Staatsgefährliches ſinnen,
ſprechen und thun, denkbar, daß ſie gehorſame Unterthanen
ſein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es —
ſo lautete der Schluß — möglich, und weiter, weil es den
Menſchen möglich war (hier eben liegt das Trügeriſche: weil
es Mir denkbar iſt, iſt es den Menſchen möglich), ſo ſoll¬
ten ſie es ſein, ſo war es ihr Beruf; und endlich — nur
nach dieſem Berufe, nur als Berufene, hat man die Men¬
ſchen zu nehmen, nicht „wie ſie ſind, ſondern wie ſie ſein
ſollen“.
Und der weitere Schluß? Nicht der Einzelne iſt der
Menſch, ſondern ein Gedanke, ein Ideal iſt der Menſch,
zu dem der Einzelne ſich nicht einmal ſo verhält, wie das
Kind zum Manne, ſondern wie ein Kreidepunkt zu dem ge¬
dachten Punkte, oder wie ein — endliches Geſchöpf zum ewi¬
gen Schöpfer, oder nach neuerer Anſicht, wie das Exemplar
zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der
„Menſchheit“ zum Vorſchein, der „ewigen, unſterblichen“, zu
[442] deren Ehre (in maiorem humanitatis gloriam) der Einzelne
ſich hingeben und ſeinen „unſterblichen Ruhm“ darin finden
muß, für den „Menſchheitsgeiſt“ etwas gethan zu haben.
So herrſchen die Denkenden in der Welt, ſo lange die
Pfaffen- oder Schulmeiſter-Zeit dauert, und was ſie ſich den¬
ken, das iſt möglich, was aber möglich iſt, das muß verwirk¬
licht werden. Sie denken ſich ein Menſchen-Ideal, das
einſtweilen nur in ihren Gedanken wirklich iſt; aber ſie denken
ſich auch die Möglichkeit ſeiner Ausführung, und es iſt nicht
zu ſtreiten, die Ausführung iſt wirklich — denkbar, ſie iſt eine
— Idee.
Aber Ich und Du, Wir mögen zwar Leute ſein, von
denen ſich ein Krummacher denken kann, daß Wir noch gute
Chriſten werden könnten; wenn er Uns indeß „bearbeiten“
wollte, ſo würden Wir ihm bald fühlbar machen, daß unſere
Chriſtlichkeit nur denkbar, ſonſt aber unmöglich iſt: er
würde, grinzte er Uns fort und fort mit ſeinen zudringlichen
Gedanken, ſeinem „guten Glauben“, an, erfahren müſſen,
daß Wir gar nicht zu werden brauchen, was Wir nicht
werden mögen.
Und ſo geht es fort, weit über die Frömmſten und From¬
men hinaus. „Wenn alle Menſchen vernünftig wären, wenn
Alle das Rechte thäten, wenn Alle von Menſchenliebe geleitet
würden u. ſ. w.“! Vernunft, Recht, Menſchenliebe u. ſ. w.
wird als der Menſchen Beruf, als Ziel ihres Trachtens ihnen
vor Augen geſtellt. Und was heißt vernünftig ſein? Sich
ſelbſt vernehmen? Nein, die Vernunft iſt ein Buch voll Ge¬
ſetze, die alle gegen den Egoismus gegeben ſind.
Die bisherige Geſchichte iſt die Geſchichte des geiſtigen
Menſchen. Nach der Periode der Sinnlichkeit beginnt die
[443] eigentliche Geſchichte, d. h. die Periode der Geiſtigkeit, Geiſt¬
lichkeit, Unſinnlichkeit, Ueberſinnlichkeit, Unſinnigkeit. Der
Menſch fängt nun an, etwas ſein und werden zu wollen.
Was? Gut, ſchön, wahr; näher ſittlich, fromm, wohlgefällig
u. ſ. w. Er will einen „rechten Menſchen“, „etwas Rechtes“
aus ſich machen. Der Menſch iſt ſein Ziel, ſein Sollen,
ſeine Beſtimmung, Beruf, Aufgabe, ſein — Ideal: er iſt
ſich ein Zukünftiger, Jenſeitiger. Und was macht aus ihm
einen „rechten Kerl“? Das Wahrſein, Gutſein, Sittlichſein
u. dgl. Nun ſieht er jeden ſcheel an, der nicht daſſelbe „Was“
anerkennt, dieſelbe Sittlichkeit ſucht, denſelben Glauben hat: er
verjagt die „Separatiſten, Ketzer, Secten“ u. ſ. w.
Kein Schaaf, kein Hund bemüht ſich, ein „rechtes Schaaf,
ein rechter Hund“ zu werden; keinem Thier erſcheint ſein We¬
ſen als eine Aufgabe, d. h. als ein Begriff, den es zu reali¬
ſiren habe. Es realiſirt ſich, indem es ſich auslebt, d. h. auf¬
löſt, vergeht. Es verlangt nicht, etwas Anderes zu ſein
oder zu werden, als es iſt.
Will Ich Euch rathen, den Thieren zu gleichen? Daß
Ihr Thiere werden ſollt, dazu kann Ich wahrlich nicht ermun¬
tern, da dieß wieder eine Aufgabe, ein Ideal wäre („Im Fleiß
kann Dich die Biene meiſtern“). Auch wäre es daſſelbe, als
wünſchte man den Thieren, daß ſie Menſchen werden. Eure
Natur iſt nun einmal eine menſchliche, Ihr ſeid menſchliche
Naturen, d. h. Menſchen. Aber eben weil Ihr das bereits
ſeid, braucht Ihr's nicht erſt zu werden. Auch Thiere werden
„dreſſirt“, und ein dreſſirtes Thier leiſtet mancherlei Unnatürli¬
ches. Nur iſt ein dreſſirter Hund für ſich nichts beſſeres, als
ein natürlicher, und hat keinen Gewinn davon, wenn er auch
für Uns umgänglicher iſt.
[444]
Von jeher waren die Bemühungen im Schwange, alle
Menſchen zu ſittlichen, vernünftigen, frommen, menſchlichen
u. dgl. „Weſen zu bilden“, d. h. die Dreſſur. Sie ſcheitern
an der unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am
Egoismus. Die Abgerichteten erreichen niemals ihr Ideal
und bekennen ſich nur mit dem Munde zu den erhabenen
Grundſätzen, oder legen ein Bekenntniß, ein Glaubensbe¬
kenntniß, ab. Dieſem Bekenntniſſe gegenüber müſſen ſie im
Leben ſich „allzumal für Sünder erkennen“ und bleiben hinter
ihrem Ideal zurück, ſind „ſchwache Menſchen“ und tragen ſich
mit dem Bewußtſein der „menſchlichen Schwachheit“.
Anders, wenn Du nicht einem Ideal, als deiner „Be¬
ſtimmung“, nachjagſt, ſondern Dich auflöſeſt, wie die Zeit
alles auflöſt. Die Auflöſung iſt nicht deine „Beſtimmung“,
weil ſie Gegenwart iſt.
Doch hat die Bildung, die Religioſität der Menſchen
dieſe allerdings frei gemacht, frei aber nur von einem Herrn,
um ſie einem andern zuzuführen. Meine Begierde habe Ich
durch die Religion bezähmen gelernt, den Widerſtand der Welt
breche Ich durch die Liſt, welche Mir von der Wiſſenſchaft
an die Hand gegeben wird; ſelbſt keinem Menſchen diene Ich:
„Ich bin keines Menſchen Knecht“. Aber dann kommt's:
Du mußt Gott mehr gehorchen als dem Menſchen. Ebenſo
bin Ich zwar frei von der unvernünftigen Beſtimmung durch
meine Triebe, aber gehorſam der Herrin: Vernunft. Ich
habe die „geiſtige Freiheit“, „Freiheit des Geiſtes“ gewonnen.
Damit bin Ich denn gerade dem Geiſte unterthan geworden.
Der Geiſt befiehlt Mir, die Vernunft leitet Mich, ſie ſind
meine Führer und Gebieter. Es herrſchen die „Vernünftigen“,
die „Diener des Geiſtes“. Wenn Ich aber nicht Fleiſch bin,
[445] ſo bin Ich wahrlich auch nicht Geiſt. Freiheit des Geiſtes
iſt Knechtſchaft Meiner, weil Ich mehr bin als Geiſt oder
Fleiſch.
Ohne Zweifel hat die Bildung Mich zum Gewaltigen
gemacht. Sie hat Mir Gewalt über alle Antriebe gegeben,
ſowohl über die Triebe meiner Natur als über die Zumuthun¬
gen und Gewaltthätigkeiten der Welt. Ich weiß und habe
durch die Bildung die Kraft dazu gewonnen, daß Ich Mich
durch keine meiner Begierden, Lüſte, Aufwallungen u. ſ. w.
zwingen zu laſſen brauche: Ich bin ihr — Herr; gleicher¬
weiſe werde Ich durch die Wiſſenſchaften und Künſte der Herr
der widerſpenſtigen Welt, dem Meer und Erde gehorchen und
ſelbſt die Sterne Rede ſtehen müſſen. Der Geiſt hat Mich
zum Herrn gemacht. — Aber über den Geiſt ſelbſt habe Ich
keine Gewalt. Aus der Religion (Bildung) lerne Ich wohl
die Mittel zur „Beſiegung der Welt“, aber nicht, wie Ich auch
Gott bezwinge und ſeiner Herr werde; denn Gott „iſt der
Geiſt“. Und zwar kann der Geiſt, deſſen Ich nicht Herr zu
werden vermag, die mannigfaltigſten Geſtalten haben: er kann
Gott heißen oder Volksgeiſt, Staat, Familie, Vernunft, auch
— Freiheit, Menſchlichkeit, Menſch.
Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der
Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich weg¬
werfen und aufgeben: Ich habe nicht umſonſt gelebt. Die
Erfahrung, daß Ich Gewalt über meine Natur habe und
nicht der Sklave meiner Begierden zu ſein brauche, ſoll Mir
nicht verloren gehen; die Erfahrung, daß Ich durch Bildungs¬
mittel die Welt bezwingen kann, iſt zu theuer erkauft, als daß
Ich ſie vergeſſen könnte. Aber Ich will noch mehr.
Man fragt, was kann der Menſch werden, was kann
[446] er leiſten, welche Güter ſich verſchaffen, und ſtellt das Höchſte
von Allem als Beruf hin. Als wäre Mir alles möglich!
Wenn man Jemand in einer Sucht, einer Leidenſchaft
u. ſ. w. verkommen ſieht (z. B. im Schachergeiſt, Eiferſucht),
ſo regt ſich das Verlangen ihn aus dieſer Beſeſſenheit zu er¬
löſen und ihm zur „Selbſtüberwindung“ zu verhelfen. „Wir
wollen einen Menſchen aus ihm machen!“ Das wäre recht
ſchön, wenn nicht eine andere Beſeſſenheit gleich an die Stelle
der früheren gebracht würde. Von der Geldgier befreit man
aber den Knecht derſelben nur, um der Frömmigkeit, der Hu¬
manität oder welchem ſonſtigen Princip ihn zu überliefern und
ihn von neuem auf einen feſten Standpunkt zu verſetzen.
Dieſe Verſetzung von einem beſchränkten Standpunkt auf
einen erhabenen ſpricht ſich in den Worten aus: der Sinn
dürfe nicht auf das Vergängliche, ſondern allein auf das Un¬
vergängliche gerichtet ſein, nicht auf's Zeitliche, ſondern Ewige,
Abſolute, Göttliche, Reinmenſchliche u. ſ. w. — auf's Geiſtige.
Man ſah ſehr bald ein, daß es nicht gleichgültig ſei,
woran man ſein Herz hänge, oder womit man ſich beſchäftige;
man erkannte die Wichtigkeit des Gegenſtandes. Ein über
die Einzelheit der Dinge erhabener Gegenſtand iſt das We¬
ſen der Dinge; ja das Weſen iſt allein das Denkbare an
ihnen, iſt für den denkenden Menſchen. Darum richte nicht
länger Deinen Sinn auf die Dinge, ſondern Deine Ge¬
danken auf das Weſen. „Selig ſind, die nicht ſehen und
doch glauben“, d.h. ſelig ſind die Denkenden, denn die
haben's mit dem Unſichtbaren zu thun und glauben daran.
Doch auch ein Gegenſtand des Denkens, welcher Jahrhunderte
lang einen weſentlichen Streitpunkt ausmachte, kommt zuletzt
dahin, daß er „nicht mehr der Rede werth iſt“. Das ſah
[447] man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für
ſich gültige Wichtigkeit des Gegenſtandes, einen abſoluten
Werth deſſelben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem
Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigſte wäre. So lange
Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, iſt's gleichgültig, von
welchem Gegenſtande Ich „viel Weſens“ mache, und nur mein
größeres oder kleineres Verbrechen gegen ihn iſt von Werth.
Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet
den Standpunkt meiner Dienſtbarkeit, der Grad meiner Ver¬
ſündigung zeigt das Maaß meiner Eigenheit.
Endlich aber muß man überhaupt ſich Alles „aus dem
Sinn zu ſchlagen“ wiſſen, ſchon um — einſchlafen zu können.
Es darf Uns nichts beſchäftigen, womit Wir Uns nicht be¬
ſchäftigen: der Ehrſüchtige kann ſeinen ehrgeizigen Plänen nicht
entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott;
Vernarrtheit und Beſeſſenheit fallen in Eins zuſammen.
Sein Weſen realiſiren oder ſeinem Begriffe gemäß leben
zu wollen, was bei den Gottgläubigen ſo viel als „fromm“
ſein bedeutet, bei den Menſchheitsgläubigen „menſchlich“ leben
heißt, kann nur der ſinnliche und ſündige Menſch ſich vorſetzen,
der Menſch, ſo lange er zwiſchen Sinnenglück und Seelen¬
frieden die bange Wahl hat, der Menſch, ſo lange er ein
„armer Sünder“ iſt. Der Chriſt iſt nichts anderes, als ein
ſinnlicher Menſch, der, indem er vom Heiligen weiß und ſich
bewußt iſt, daß er daſſelbe verletzt, in ſich einen armen Sün¬
der ſieht: Sinnlichkeit, als „Sündlichkeit“ gewußt, das iſt
chriſtliches Bewußtſein, das iſt der Chriſt ſelber. Und wenn
nun „Sünde“ und „Sündlichkeit“ von Neueren nicht mehr in
den Mund genommen wird, ſtatt deſſen aber „Egoismus“,
„Selbſtſucht“, „Eigennützigkeit“ u. dergl. ihnen zu ſchaffen
[448] macht, wenn der Teufel in den „Unmenſchen“ oder „egoiſti¬
ſchen Menſchen“ überſetzt wurde, iſt dann der Chriſt weniger
vorhanden als vorher? Iſt nicht der alte Zwieſpalt zwiſchen
Gut und Böſe, iſt nicht ein Richter über Uns, der Menſch,
iſt nicht ein Beruf, der Beruf, ſich zum Menſchen zu machen,
geblieben? Nennt man's nicht mehr Beruf, ſondern „Auf¬
gabe“ oder auch wohl „Pflicht“, ſo iſt die Namensänderung
ganz richtig, weil „der Menſch“ nicht gleich Gott ein perſön¬
liches Weſen iſt, das „rufen“ kann; aber außer dem Namen
bleibt die Sache beim Alten.
Es hat Jeder ein Verhältniß zu den Objecten, und zwar
verhält ſich Jeder anders zu denſelben. Wählen Wir als
Beiſpiel jenes Buch, zu welchem Millionen Menſchen zweier
Jahrtauſende ein Verhältniß hatten, die Bibel. Was iſt, was
war ſie einem Jeden? Durchaus nur das, was er aus ihr
machte! Wer ſich gar nichts aus ihr macht, für den iſt
ſie gar nichts; wer ſie als Amulet gebraucht, für den hat ſie
lediglich den Werth, die Bedeutung eines Zaubermittels; wer,
wie Kinder, damit ſpielt, für den iſt ſie nichts als ein Spiel¬
zeug u.ſ.w.
Nun verlangt das Chriſtenthum, daß ſie für Alle daſ¬
ſelbe ſein ſoll, etwa das heilige Buch oder die „heilige
Schrift“. Dieß heißt ſo viel als daß die Anſicht des Chriſten
auch die der andern Menſchen ſein ſoll, und daß Niemand
ſich anders zu jenem Object verhalten dürfe. Damit wird
denn die Eigenheit des Verhaltens zerſtört, und Ein Sinn,
Eine Geſinnung, als der „wahre“, der „allein wahre“ feſt¬
geſetzt. Mit der Freiheit, aus der Bibel zu machen, was Ich
[449] daraus machen will, wird die Freiheit des Machens über¬
haupt gehindert, und an deren Stelle der Zwang einer An¬
ſicht oder eines Urtheils geſetzt. Wer das Urtheil fällte, es
ſei die Bibel ein langer Irrthum der Menſchheit, der urtheilte
— verbrecheriſch.
In der That urtheilt das Kind, welches ſie zerfetzt oder
damit ſpielt, der Inka Atahualpa, der ſein Ohr daran legt
und ſie verächtlich wegwirft, als ſie ſtumm bleibt, eben ſo
richtig über die Bibel, als der Pfaffe, welcher in ihr das
„Wort Gottes“ anpreiſt, oder der Kritiker, der ſie ein Mach¬
werk von Menſchenhänden nennt. Denn wie Wir mit den
Dingen umſpringen, das iſt die Sache unſeres Beliebens,
unſerer Willkühr: Wir gebrauchen ſie nach Herzensluſt,
oder deutlicher, Wir gebrauchen ſie, wie Wir eben können.
Worüber ſchreien denn die Pfaffen, wenn ſie ſehen, wie Hegel
und die ſpeculativen Theologen aus dem Inhalte der Bibel
ſpeculative Gedanken machen? Gerade darüber, daß jene nach
Herzensluſt damit gebahren oder „willkührlich damit verfahren“.
Weil Wir aber Alle im Behandeln der Objecte Uns will¬
kührlich zeigen, d. h. ſo mit ihnen umgehen, wie es Uns am
beſten gefällt, nach unſerem Gefallen (dem Philoſophen
gefällt nichts ſo ſehr, als wenn er in Allem eine „Idee“ auf¬
ſpüren kann, wie es dem Gottesfürchtigen gefällt, durch Alles,
alſo z. B. durch Heilighaltung der Bibel, ſich Gott zum
Freunde zu machen): ſo begegnen Wir nirgends ſo peinlicher
Willkühr, ſo fürchterlicher Gewaltthätigkeit, ſo dummem Zwange,
als eben in dieſem Gebiete unſerer — eigenen Willkühr.
Verfahren Wir willkührlich, indem Wir die heiligen Gegen¬
ſtände ſo oder ſo nehmen, wie wollen Wir's da den Pfaffen¬
geiſtern verargen, wenn ſie Uns ebenſo willkührlich nach ihrer
29[450]Art nehmen, und Uns des Ketzerfeuers oder einer andern
Strafe, etwa der — Cenſur, würdig erachten?
Was ein Menſch iſt, das macht er aus den Dingen;
„wie Du die Welt anſchauſt, ſo ſchaut ſie Dich wieder an“.
Da läßt ſich denn gleich der weiſe Rath vernehmen: Du mußt
ſie nur „recht, unbefangen“ u. ſ. w. anſchauen. Als ob das
Kind die Bibel nicht „recht und unbefangen“ anſchaute, wenn
es dieſelbe zum Spielzeug macht. Jene kluge Weiſung giebt
Uns z. B. Feuerbach. Die Dinge ſchaut man eben recht an,
wenn man aus ihnen macht, was man will (unter Dingen
ſind hier Objecte, Gegenſtände überhaupt verſtanden, wie Gott,
unſere Mitmenſchen, ein Liebchen, ein Buch, ein Thier u. ſ. w.).
Und darum ſind die Dinge und ihre Anſchauung nicht das
Erſte, ſondern Ich bin's, mein Wille iſt's. Man will Ge¬
danken aus den Dingen herausbringen, will Vernunft in der
Welt entdecken, will Heiligkeit in ihr haben: daher wird man
ſie finden. „Suchet, ſo werdet Ihr finden.“ Was Ich ſuchen
will, das beſtimme Ich: Ich will Mir z. B. aus der Bibel
Erbauung holen: ſie iſt zu finden; Ich will die Bibel gründ¬
lich leſen und prüfen: es wird Mir eine gründliche Belehrung
und Kritik entſtehen — nach meinen Kräften. Ich erkieſe Mir
das, wonach mein Sinn ſteht, und erkieſend beweiſe Ich Mich
— willkührlich.
Hieran knüpft ſich die Einſicht, daß jedes Urtheil, welches
Ich über ein Object fälle, das Geſchöpf meines Willens iſt,
und wiederum leitet Mich jene Einſicht dahin, daß Ich Mich
nicht an das Geſchöpf, das Urtheil, verliere, ſondern der
Schöpfer bleibe, der Urtheilende, der ſtets von neuem ſchafft.
Alle Prädicate von den Gegenſtänden ſind meine Ausſagen,
meine Urtheile, meine — Geſchöpfe. Wollen ſie ſich losreißen
[451] von Mir, und etwas für ſich ſein, oder gar Mir imponiren,
ſo habe Ich nichts Eiligeres zu thun, als ſie in ihr Nichts,
d. h. in Mich, den Schöpfer, zurückzunehmen. Gott, Chriſtus,
Dreieinigkeit, Sittlichkeit, das Gute u.ſ.w. ſind ſolche Ge¬
ſchöpfe, von denen Ich Mir nicht bloß erlauben muß, zu
ſagen, ſie ſeien Wahrheiten, ſondern auch, ſie ſeien Täuſchun¬
gen. Wie Ich einmal ihr Daſein gewollt und decretirt habe,
ſo will Ich auch ihr Nichtſein wollen dürfen; Ich darf ſie
Mir nicht über den Kopf wachſen, darf nicht die Schwachheit
haben, etwas „Abſolutes“ aus ihnen werden zu laſſen, wo¬
durch ſie verewigt und meiner Macht und Beſtimmung ent¬
zogen würden. Damit würde Ich dem Stabilitätsprin¬
cip verfallen, dem eigentlichen Lebensprincip der Religion, die
ſich's angelegen ſein läßt, „unantaſtbare Heiligthümer“, „ewige
Wahrheiten“, kurz ein „Heiliges“ zu creiren und Dir das
Deinige zu entziehen.
Das Object macht Uns in ſeiner heiligen Geſtalt [...]nſo
zu Beſeſſenen, wie in ſeiner unheiligen, als überſinnliches [o]b¬
ject ebenſo, wie als ſinnliches. Auf beide bezieht ſich [d]ie
Begierde oder Sucht, und auf gleicher Stufe ſtehen Geld[g][i][e]r
und Sehnſucht nach dem Himmel. Als die Aufklärer die
Leute für die ſinnliche Welt gewinnen wollten, predigte Lavater
die Sehnſucht nach dem Unſichtbaren. Rührung wollen die
Einen hervorrufen, Rührigkeit die Andern.
Die Auffaſſung der Gegenſtände iſt eine durchaus ver¬
ſchiedene, wie denn Gott, Chriſtus, Welt u.ſ.w. auf die
mannigfaltigſte Weiſe aufgefaßt wurden und werden. Jeder
iſt darin ein „Andersdenkender“, und nach blutigen Kämpfen
hat man endlich ſo viel erreicht, daß die entgegengeſetzten An¬
ſichten über ein und denſelben Gegenſtand nicht mehr als
29 *[452] todeswürdige Ketzereien verurtheilt werden. Die „Andersden¬
kenden“ vertragen ſich. Allein warum ſollte Ich nur anders
über eine Sache denken, warum nicht das Andersdenken bis
zu ſeiner letzten Spitze treiben, nämlich zu der, gar nichts
mehr von der Sache zu halten, alſo ihr Nichts zu denken,
ſie zu ecraſiren? Dann hat die Auffaſſung ſelbſt ein Ende,
weil nichts mehr aufzufaſſen iſt. Warum ſoll Ich wohl ſagen:
Gott iſt nicht Allah, nicht Brahma, nicht Jehovah, ſondern
— Gott; warum aber nicht: Gott iſt nichts, als eine Täu¬
ſchung? Warum brandmarkt man Mich, wenn Ich ein „Got¬
tesleugner“ bin? Weil man das Geſchöpf über den Schöpfer
ſetzt („Sie ehren und dienen dem Geſchöpf mehr, denn dem
Schöpfer“ *)und ein herrſchendes Object braucht, damit
das Subject hübſch unterwürfig diene. Ich ſoll unter
das Abſolute Mich beugen, Ich ſoll es.
Durch das „Reich der Gedanken“ hat das Chriſtenthum
ſich vollendet, der Gedanke iſt jene Innerlichkeit, in welcher
alle Lichter der Welt erlöſchen, alle Exiſtenz exiſtenzlos wird,
der innerliche Menſch (das Herz, der Kopf) Alles in Allem
iſt. Dieß Reich der Gedanken harret ſeiner Erlöſung, harret
gleich der Sphinx des ödipiſchen Räthſelwortes, damit es end¬
lich eingehe in ſeinen Tod. Ich bin der Vernichter ſeines
Beſtandes, denn im Reiche des Schöpfers bildet es kein eige¬
nes Reich mehr, keinen Staat im Staate, ſondern ein Ge¬
ſchöpf meiner ſchaffenden — Gedankenloſigkeit. Nur zugleich
und zuſammen mit der erſtarrten, denkenden Welt kann die
Chriſtenwelt, das Chriſtenthum und die Religion ſelbſt, zu
Grunde gehen; nur wenn die Gedanken ausgehen, giebt es
[453] keine Gläubigen mehr. Es iſt dem Denkenden ſein Denken
eine „erhabene Arbeit, eine heilige Thätigkeit“, und es ruht
auf einem feſten Glauben, dem Glauben an die Wahrheit,
Zuerſt iſt das Beten eine heilige Thätigkeit, dann geht dieſe
heilige „Andacht“ in ein vernünftiges und raiſonnirendes
„Denken“ über, das aber gleichfalls an der „heiligen Wahr¬
heit“ ſeine unverrückbare Glaubensbaſis behält, und nur eine
wundervolle Maſchine iſt, welche der Geiſt der Wahrheit zu
ſeinem Dienſte aufzieht. Das freie Denken und die freie
Wiſſenſchaft beſchäftigt Mich — denn nicht Ich bin frei,
nicht Ich beſchäftige Mich, ſondern das Denken iſt frei und
beſchäftigt Mich — mit dem Himmel und dem Himmliſchen
oder „Göttlichen“, das heißt eigentlich, mit der Welt und dem
Weltlichen, nur eben mit einer „andern“ Welt; es iſt nur die
Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beſchäftigung mit
dem Weſen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der
Denkende iſt blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und
ſie zu bemeiſtern unfähig: er ißt nicht, trinkt nicht, genießt
nicht, denn der Eſſende und Trinkende iſt niemals der Den¬
kende, ja dieſer vergißt Eſſen und Trinken, ſein Fortkommen
im Leben, die Nahrungsſorgen u. ſ. w. über das Denken; er
vergißt es, wie der Betende es auch vergißt. Darum erſcheint
er auch dem kräftigen Naturſohne als ein närriſcher Kauz,
ein Narr, wenngleich er ihn für heilig anſieht, wie den Alten
die Raſenden ſo erſchienen. Das freie Denken iſt Raſerei,
weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloß in¬
nerliche Menſch, welcher den übrigen Menſchen leitet und
regelt. Der Schamane und der ſpeculative Philoſoph bezeich¬
nen die unterſte und oberſte Sproſſe an der Stufenleiter des
innerlichen Menſchen, des — Mongolen, Schamane und
[454] Philoſoph kämpfen mit Geſpenſtern, Dämonen, Geiſtern,
Göttern.
Von dieſem freien Denken total verſchieden iſt das
eigene Denken, mein Denken, ein Denken, welches nicht
Mich leitet, ſondern von Mir geleitet, fortgeführt oder abge¬
brochen wird, je nach meinem Gefallen. Dieß eigene Denken
unterſcheidet ſich von dem freien Denken ähnlich, wie die ei¬
gene Sinnlichkeit, welche Ich nach Gefallen befriedige, von
der freien, unbändigen, der Ich erliege.
Feuerbach pocht in den „Grundſätzen der Philoſophie der
Zukunft“ immer auf das Sein. Darin bleibt auch er, bei
aller Gegnerſchaft gegen Hegel und die abſolute Philoſophie,
in der Abſtraction ſtecken; denn „das Sein“ iſt Abſtraction,
wie ſelbſt „das Ich“. Nur Ich bin nicht Abſtraction allein,
Ich bin Alles in Allem, folglich ſelbſt Abſtraction oder Nichts,
Ich bin Alles und Nichts; Ich bin kein bloßer Gedanke, aber
Ich bin zugleich voller Gedanken, eine Gedankenwelt. Hegel
verurtheilt das Eigene, das Meinige, die — „Meinung“.
Das „abſolute Denken“ iſt dasjenige Denken, welches vergißt,
daß es mein Denken iſt, daß Ich denke und daß es nur
durch Mich iſt. Als Ich aber verſchlinge Ich das Meinige
wieder, bin Herr deſſelben, es iſt nur meine Meinung, die
Ich in jedem Augenblicke ändern, d. h. vernichten, in Mich
zurücknehmen und aufzehren kann. Feuerbach will Hegel's
„abſolutes Denken“ durch das unüberwundene Sein
ſchlagen. Das Sein iſt aber in Mir ſo gut überwunden als
das Denken. Es iſt mein Sinn, wie jenes mein Denken.
Dabei kommt Feuerbach natürlich nicht weiter, als zu
dem an ſich trivialen Beweiſe, daß Ich die Sinne zu Allem
brauche oder daß Ich dieſe Organe nicht gänzlich entbehren
[455] kann. Freilich kann Ich nicht denken, wenn Ich nicht ſinn¬
lich exiſtire. Allein zum Denken wie zum Empfinden, alſo
zum Abſtracten wie zum Sinnlichen brauche Ich vor allen
Dingen Mich, und zwar Mich, dieſen ganz Beſtimmten,
Mich dieſen Einzigen. Wäre Ich nicht dieſer, z. B. Hegel,
ſo ſchaute Ich die Welt nicht ſo an, wie Ich ſie anſchaue,
Ich fände aus ihr nicht dasjenige philoſophiſche Syſtem heraus,
welches gerade Ich als Hegel finde u. ſ. w. Ich hätte zwar
Sinne wie die andern Leute auch, aber Ich benutzte ſie nicht
ſo, wie Ich es thue.
So wird von Feuerbach gegen Hegel der Vorwurf auf¬
gebracht *), daß er die Sprache mißbrauche, indem er anderes
unter manchen Worten verſtehe, als wofür das natürliche Be¬
wußtſein ſie nehme, und doch begeht auch er denſelben Fehler,
wenn er dem „Sinnlichen“ einen ſo eminenten Sinn giebt,
wie er nicht gebräuchlich iſt. So heißt es S. 69: „das
Sinnliche ſei nicht das Profane, Gedankenloſe, das auf plat¬
ter Hand Liegende, das ſich von ſelbſt Verſtehende“. Iſt es
aber das Heilige, das Gedankenvolle, das verborgen Liegende,
das nur durch Vermittlung Verſtändliche — nun ſo iſt es
nicht mehr das, was man das Sinnliche nennt. Das Sinn¬
liche iſt nur dasjenige, was für die Sinne iſt; was hin¬
gegen nur denjenigen genießbar iſt, die mit mehr als den
Sinnen genießen, die über den Sinnengenuß oder die Sin¬
nenempfängniß hinausgehen, das iſt höchſtens durch die Sinne
vermittelt oder zugeführt, d. h. die Sinne machen zur Er¬
langung deſſelben eine Bedingung aus, aber es iſt nichts
Sinnliches mehr. Das Sinnliche, was es auch ſei, in Mich
[456] aufgenommen, wird ein Unſinnliches, welches indeß wieder
ſinnliche Wirkungen haben kann, z. B. durch Aufregung mei¬
ner Affecte und meines Blutes.
Es iſt ſchon gut, daß Feuerbach die Sinnlichkeit zu Eh¬
ren bringt, aber er weiß dabei nur den Materialismus ſeiner
„neuen Philoſophie“ mit dem bisherigen Eigenthum des Idealis¬
mus, der „abſoluten Philoſophie“, zu bekleiden. So wenig
die Leute ſich's einreden laſſen, daß man vom „Geiſtigen“
allein, ohne Brot, leben könne, ſo wenig werden ſie ihm glau¬
ben, daß man als ein Sinnlicher ſchon alles ſei, alſo geiſtig,
gedankenvoll u.ſ.w.
Durch das Sein wird gar nichts gerechtfertigt. Das
Gedachte iſt ſo gut als das Nicht-Gedachte, der Stein auf
der Straße iſt und meine Vorſtellung von ihm iſt auch. Beide
ſind nur in verſchiedenen Räumen, jener im luftigen, dieſer in
meinem Kopfe, in Mir: denn Ich bin Raum wie die Straße.
Die Zünftigen oder Privilegirten dulden keine Gedanken¬
freiheit, d. h. keine Gedanken, die nicht von dem „Geber alles
Guten“ kommen, heiße dieſer Geber Gott, Papſt, Kirche oder
wie ſonſt. Hat Jemand dergleichen illegitime Gedanken, ſo
muß er ſie ſeinem Beichtvater ins Ohr ſagen und ſich von
ihm ſo lange kaſteien laſſen, bis den freien Gedanken die Skla¬
venpeitſche unerträglich wird. Auch auf andere Weiſe ſorgt
der Zunftgeiſt dafür, daß freie Gedanken gar nicht kommen,
vor allem durch eine weiſe Erziehung. Wem die Grundſätze
der Moral gehörig eingeprägt wurden, der wird von morali¬
ſchen Gedanken niemals wieder frei, und Raub, Meineid,
Uebervortheilung u. dgl. bleiben ihm fixe Ideen, gegen die
ihn keine Gedankenfreiheit ſchützt. Er bat ſeine Gedanken
„von oben“ und bleibt dabei.
[457]
Anders die Conceſſionirten oder Patentirten. Jeder muß
Gedanken haben und ſich machen können, wie er will. Wenn
er das Patent oder die Conceſſion einer Denkfähigkeit hat,
ſo braucht er kein beſonderes Privilegium. Da aber
„alle Menſchen vernünftig ſind“, ſo ſteht jedem frei, irgend¬
welche Gedanken ſich in den Kopf zu ſetzen, und je nach
dem Patent ſeiner Naturbegabung einen größeren oder gerin¬
geren Gedankenreichthum zu haben. Nun hört man die Er¬
mahnungen, daß man „alle Meinungen und Ueberzeugun¬
gen zu ehren habe“, daß „jede Ueberzeugung berechtigt ſei“,
daß man „gegen die Anſichten Anderer tolerant“ ſein müſſe
u. ſ. w.
Aber „eure Gedanken ſind nicht meine Gedanken und
eure Wege ſind nicht meine Wege“. Oder vielmehr das Um¬
gekehrte will Ich ſagen: Eure Gedanken ſind meine Gedan¬
ken, mit denen Ich ſchalte, wie Ich will, und die ich unbarm¬
herzig niederſchlage: ſie ſind mein Eigenthum, welches Ich, ſo
Mir's beliebt, vernichte. Ich erwarte von Euch nicht erſt die
Berechtigung, um eure Gedanken zu zerſetzen und zu verblaſen.
Mich ſchiert es nicht, daß Ihr dieſe Gedanken auch die euri¬
gen nennt, ſie bleiben gleichwohl die meinigen, und wie Ich
mit ihnen verfahren will, iſt meine Sache, keine Anmaßung.
Es kann Mir gefallen, Euch bei euren Gedanken zu laſſen;
dann ſchweige Ich. Glaubt Ihr, die Gedanken flögen ſo vo¬
gelfrei umher, daß ſich Jeder welche holen dürfte, die er dann
als ſein untaſtbares Eigenthum gegen Mich geltend machte?
Was umherfliegt, iſt alles — mein.
Glaubt Ihr, eure Gedanken hättet Ihr für Euch und
brauchtet ſie vor keinem zu verantworten, oder, wie Ihr auch
wohl ſagt, Ihr hättet darüber nur Gott Rechenſchaft abzule¬
[458] gen? Nein, eure großen und kleinen Gedanken gehören Mir,
und Ich behandle ſie nach meinem Gefallen.
Eigen iſt Mir der Gedanke erſt, wenn Ich ihn jeden
Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage,
wenn Ich ſeinen Verluſt nicht als einen Verluſt für Mich,
einen Verluſt Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen iſt der
Gedanke erſt dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich
unterjochen kann, nie Mich fanatiſirt, zum Werkzeug ſeiner
Realiſation macht.
Alſo Gedankenfreiheit exiſtirt, wenn Ich alle möglichen
Gedanken haben kann; Eigenthum aber werden die Gedanken
erſt dadurch, daß ſie nicht zu Herren werden können. In der
Zeit der Gedankenfreiheit herrſchen Gedanken (Ideen); bringe
Ich's aber zum Gedankeneigenthum, ſo verhalten ſie ſich als
meine Creaturen.
Wäre die Hierarchie nicht ſo ins Innere gedrungen, daß
ſie den Menſchen allen Muth benahm, freie, d.h. Gott viel¬
leicht mißfällige Gedanken zu verfolgen, ſo müßte man Ge¬
dankenfreiheit für ein ebenſo leeres Wort anſehen, wie etwa
eine Verdauungsfreiheit.
Nach der Meinung der Zünftigen wird Mir der Gedanke
gegeben, nach der der Freidenker ſuche Ich den Gedanken.
Dort iſt die Wahrheit bereits gefunden und vorhanden, nur
muß Ich ſie vom Geber derſelben durch Gnade — empfangen;
hier iſt die Wahrheit zu ſuchen und mein in der Zukunft lie¬
gendes Ziel, nach welchem Ich zu rennen habe.
In beiden Fällen liegt die Wahrheit (der wahre Gedanke)
außer Mir, und Ich trachte ihn zu bekommen, ſei es durch
Geſchenk (Gnade), ſei es durch Erwerb (eigenes Verdienſt).
Alſo 1) Die Wahrheit iſt ein Privilegium, 2) Nein, der
[459] Weg zu ihr iſt Allen patent, und weder die Bibel, noch der
heilige Vater, oder die Kirche oder wer ſonſt iſt im Beſitz der
Wahrheit: aber man kann ihren Beſitz — erſpeculiren.
Beide, das ſieht man, ſind eigenthumslos in Be¬
ziehung auf die Wahrheit: ſie haben ſie entweder als Lehen
(denn der „heilige Vater“ z. B. iſt kein Einziger; als Ein¬
ziger iſt er dieſer Sixtus, Clemens u. ſ. w., aber als Sixtus,
Clemens u. ſ. w. hat er die Wahrheit nicht, ſondern als
„heiliger Vater“, d. h. als ein Geiſt), oder als Ideal. Als
Lehen iſt ſie nur für Wenige (Privilegirte), als Ideal für
Alle (Patentirte).
Gedankenfreiheit hat alſo den Sinn, daß Wir zwar alle
im Dunkel und aus den Wegen des Irrthums wandeln, Je¬
der aber auf dieſem Wege ſich der Wahrheit nähern könne
und mithin auf dem rechten Wege ſei („Jede Straße führt nach
Rom, an's Ende der Welt u. ſ. w.“). Gedankenfreiheit bedeutet
daher ſo viel, daß Mir der wahre Gedanke nicht eigen ſei;
denn wäre er dieß, wie wollte man Mich von ihm abſchließen?
Das Denken iſt ganz frei geworden, und hat eine Menge
von Wahrheiten aufgeſtellt, denen Ich Mich fügen muß. Es
ſucht ſich zu einem Syſtem zu vollenden und zu einer abſo¬
luten „Verfaſſung“ zu bringen. Im Staate z. B. ſucht es
etwa nach der Idee ſo lange, bis es den „Vernunft-Staat“
herausgebracht hat, in welchem Ich Mir's dann recht ſein
laſſen muß; im Menſchen (der Anthropologie) ſo lange, bis
es „den Menſchen gefunden hat“.
Der Denkende unterſcheidet ſich vom Glaubenden nur da¬
durch, daß er viel mehr glaubt als dieſer, der ſich ſeinerſeits
bei ſeinem Glauben (Glaubensartikel) viel weniger denkt.
Der Denkende hat tauſend Glaubensſätze, wo der Gläubige
[460] mit wenigen auskommt; aber jener bringt in ſeine Sätze Zu¬
ſammenhang und nimmt wiederum den Zuſammenhang für
den Maaßſtab ihrer Würdigung. Paßt ihm einer oder der
andere nicht in ſeinen Kram, ſo wirft er ihn hinaus.
Die Denkenden laufen in ihren Ausſprüchen den Gläu¬
bigen parallel. Statt: „Wenn es aus Gott iſt, werdet Ihr's
nicht tilgen“, heißt's: „Wenn es aus der Wahrheit iſt,
wahr iſt“; ſtatt: „Gebt Gott die Ehre“ — „Gebt der Wahr¬
heit die Ehre“. Es gilt Mir aber ſehr gleich, ob Gott oder
die Wahrheit ſiegt; zuvörderſt will Ich ſiegen.
Wie ſoll übrigens innerhalb des Staates oder der Ge¬
ſellſchaft eine „unbeſchränkte Freiheit“ denkbar ſein? Es kann
der Staat wohl Einen gegen den Andern ſchützen, aber ſich
ſelbſt darf er doch nicht durch eine ungemeſſene Freiheit, eine
ſogenannte Zügelloſigkeit, gefährden laſſen. So erklärt der
Staat bei der „Unterrichtsfreiheit“ nur dieß, daß ihm Jeder
recht ſei, der, wie es der Staat, oder faßlicher geſprochen, die
Staatsgewalt haben will, unterrichtet. Auf dieß „wie es
der Staat haben will“ kommt es für die Concurrirenden an.
Will z. B. die Geiſtlichkeit nicht, wie der Staat, ſo ſchließt
ſie ſich ſelber von der Concurrenz aus (ſ. Frankreich). Die
Grenze, welche im Staate aller und jeder Concurrenz noth¬
wendig gezogen wird, nennt man „die Ueberwachung und
Oberaufſicht des Staates“. Indem der Staat die Unterrichts¬
freiheit in die gebührenden Schranken weiſt, ſetzt er zugleich
der Gedankenfreiheit ihr Ziel, weil nämlich die Leute in der
Regel nicht weiter denken, als ihre Lehrer gedacht haben.
Man höre den Miniſter Guizot *): „Die große Schwie¬
[461] rigkeit der heutigen Zeit iſt die Leitung und Beherrſchung
des Geiſtes. Ehemals erfüllte die Kirche dieſe Miſſion,
jetzt iſt ſie dazu nicht hinreichend. Die Univerſität iſt es, von
der dieſer große Dienſt erwartet werden muß, und ſie wird
nicht ermangeln, ihn zu leiſten. Wir, die Regierung, ha¬
ben die Pflicht, ſie darin zu unterſtützen. Die Charte will
die Freiheit des Gedankens und die des Gewiſſens.“ Zu
Gunſten alſo der Gedanken- und Gewiſſensfreiheit fordert der
Miniſter „die Leitung und Beherrſchung des Geiſtes“.
Der Katholicismus zog den Examinanden vor das Forum
der Kirchlichkeit, der Proteſtantismus vor das der bibliſchen
Chriſtlichkeit. Es wäre nur wenig gebeſſert, wenn man ihn
vor das der Vernunft zöge, wie z. B. Ruge will*). Ob die
Kirche, die Bibel oder die Vernunft (auf die ſich übrigens
ſchon Luther und Huß beriefen) die heilige Autorität iſt,
macht im Weſentlichen keinen Unterſchied.
Lösbar wird die „Frage unſerer Zeit“ noch nicht einmal
dann, wenn man ſie ſo ſtellt: Iſt irgend ein Allgemeines berech¬
tigt oder nur das Einzelne? Iſt die Allgemeinheit (wie Staat,
Geſetz, Sitte, Sittlichkeit u. ſ. w.) berechtigt oder die Einzel¬
heit? Lösbar wird ſie erſt, wenn man überhaupt nicht mehr
nach einer „Berechtigung“ fragt und keinen bloßen Kampf
gegen „Privilegien“ führt. — Eine „vernünftige“ Lehrfreiheit,
die „nur das Gewiſſen der Vernunft anerkennt“**), bringt
Uns nicht zum Ziele; Wir brauchen vielmehr eine egoiſti¬
ſche, eine Lehrfreiheit für alle Eigenheit, worin Ich zu einem
Vernehmbaren werde und mich ungehemmt kund geben
[462] kann. Daß Ich Mich „vernehmbar“ mache, das allein
iſt „Vernunft“, ſei Ich auch noch ſo unvernünftig; indem Ich
Mich vernehmen laſſe und ſo Mich ſelbſt vernehme, genießen
Andere ſowohl als Ich ſelber Mich, und verzehren Mich
zugleich.
Was wäre denn gewonnen, wenn, wie früher das recht¬
gläubige, das loyale, das ſittliche u.ſ.w. Ich frei war,
nun das vernünftige Ich frei würde? Wäre dieß die Frei¬
heit Meiner?
Bin Ich als „vernünftiges Ich“ frei, ſo iſt das Vernünf¬
tige an Mir oder die Vernunft frei, und dieſe Freiheit der
Vernunft oder Freiheit des Gedankens war von jeher das Ideal
der chriſtlichen Welt. Das Denken — und, wie geſagt, iſt
der Glaube auch Denken, wie das Denken Glaube iſt —
wollte man frei machen, die Denkenden, d. h. ſowohl die
Gläubigen als die Vernünftigen, ſollten frei ſein, für die
Uebrigen war Freiheit unmöglich. Die Freiheit der Denken¬
den aber iſt die „Freiheit der Kinder Gottes“ und zugleich die
unbarmherzigſte — Hierarchie oder Herrſchaft des Gedankens:
denn dem Gedanken erliege Ich. Sind die Gedanken frei, ſo
bin Ich ihr Sklave, ſo habe Ich keine Gewalt über ſie und
werde von ihnen beherrſcht. Ich aber will den Gedanken ha¬
ben, will voller Gedanken ſein, aber zugleich will Ich gedan¬
kenlos ſein, und bewahre Mir ſtatt der Gedankenfreiheit die
Gedankenloſigkeit.
Kommt es darauf an, ſich zu verſtändigen und mitzuthei¬
len, ſo kann Ich allerdings nur von den menſchlichen Mit¬
teln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Menſch
bin, zu Gebote ſtehen. Und wirklich habe Ich nur als
Menſch Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos.
[463] Wer einen Gedanken nicht los werden kann, der iſt ſoweit
nur Menſch, iſt ein Knecht der Sprache, dieſer Menſchen¬
ſatzung, dieſes Schatzes von menſchlichen Gedanken. Die
Sprache oder „das Wort“ tyranniſirt Uns am ärgſten, weil
ſie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt.
Beobachte Dich einmal jetzt eben bei deinem Nachdenken, und
Du wirſt finden, wie Du nur dadurch weiter kommſt, daß
Du jeden Augenblick gedanken- und ſprachlos wirſt. Du biſt
nicht etwa bloß im Schlafe, ſondern ſelbſt im tiefſten Nach¬
denken gedanken- und ſprachlos, ja dann gerade am meiſten.
Und nur durch dieſe Gedankenloſigkeit, dieſe verkannte „Gedan¬
kenfreiheit“ oder Freiheit vom Gedanken biſt Du dein eigen.
Erſt von ihr aus gelangſt Du dazu, die Sprache als dein
Eigenthum zu verbrauchen.
Iſt das Denken nicht mein Denken, ſo iſt es bloß ein
fortgeſponnener Gedanke, iſt Sklavenarbeit oder Arbeit eines
„Dieners am Worte“. Für mein Denken iſt nämlich der An¬
fang nicht ein Gedanke, ſondern Ich, und darum bin Ich auch
ſein Ziel, wie denn ſein ganzer Verlauf nur ein Verlauf mei¬
nes Selbſtgenuſſes iſt; für das abſolute oder freie Denken iſt
hingegen das Denken ſelbſt der Anfang, und es quält ſich da¬
mit, dieſen Anfang als die äußerſte „Abſtraction“ (z. B. als
Sein) aufzuſtellen. Ebendieſe Abſtraction oder dieſer Gedanke
wird dann weiter ausgeſponnen.
Das abſolute Denken iſt die Sache des menſchlichen Gei¬
ſtes, und dieſer iſt ein heiliger Geiſt. Daher iſt dieß Denken
Sache der Pfaffen, die „Sinn dafür haben“, Sinn für die
„höchſten Intereſſen der Menſchheit“, für „den Geiſt“.
Dem Gläubigen ſind die Wahrheiten eine ausgemachte
Sache, eine Thatſache; dem frei Denkenden eine Sache, die erſt
[464] noch ausgemacht werden ſoll. Das abſolute Denken ſei noch
ſo ungläubig, ſeine Ungläubigkeit hat ihre Schranken, und es
bleibt doch ein Glaube an die Wahrheit, an den Geiſt, an
die Idee und ihren endlichen Sieg: es ſündigt nicht gegen den
heiligen Geiſt. Alles Denken aber, das nicht gegen den hei¬
ligen Geiſt ſündigt, iſt Geiſter- oder Geſpenſterglaube.
Dem Denken kann ich ſo wenig entſagen, als dem Em¬
pfinden, der Thätigkeit des Geiſtes ſo wenig als der Sinnen¬
thätigkeit. Wie das Empfinden unſer Sinn für die Dinge,
ſo iſt das Denken unſer Sinn für die Weſen (Gedanken).
Die Weſen haben ihr Daſein an allem Sinnlichen, beſonders
am Worte. Die Macht der Worte folgt auf die der Dinge:
erſt wird man durch die Ruthe bezwungen, hernach durch
Ueberzeugung. Die Gewalt der Dinge überwindet unſer Muth,
unſer Geiſt; gegen die Macht einer Ueberzeugung, alſo des
Wortes, verliert ſelbſt die Folter und das Schwert ſeine
Uebermacht und Kraft. Die Ueberzeugungsmenſchen ſind die
pfäffiſchen, die jeder Lockung des Satans widerſtehen.
Das Chriſtenthum nahm den Dingen dieſer Welt nur ihre
Unwiderſtehlichkeit, machte Uns unabhängig von ihnen. Gleicher¬
weiſe erhebe Ich Mich über die Wahrheiten und ihre Macht:
Ich bin wie überſinnlich ſo überwahr. Die Wahrheiten ſind
vor Mir ſo gemein und ſo gleichgültig wie die Dinge, ſie
reißen Mich nicht hin und begeiſtern mich nicht. Da iſt auch
nicht Eine Wahrheit, nicht das Recht, nicht die Freiheit, die
Menſchlichkeit u. ſ. w., die vor Mir Beſtand hätte, und der
ich mich unterwürfe. Sie ſind Worte, nichts als Worte,
wie dem Chriſten alle Dinge nichts als „eitle Dinge“ ſind.
In den Worten und den Wahrheiten (jedes Wort iſt eine
Wahrheit, wie Hegel behauptet, daß man keine Lüge ſagen
[465] könne) iſt kein Heil für Mich, ſo wenig als für den Chriſten
in den Dingen und Eitelkeiten. Wie Mich die Reichthümer
dieſer Welt nicht glücklich machen, ſo auch die Wahrheiten
nicht. Die Verſuchungsgeſchichte ſpielt jetzt nicht mehr der
Satan, ſondern der Geiſt, und dieſer verführt nicht durch die
Dinge dieſer Welt, ſondern durch die Gedanken derſelben, durch
den „Glanz der Idee“.
Neben den weltlichen Gütern müſſen auch alle heiligen
Güter entwerthet hingeſtellt werden.
Wahrheiten ſind Phraſen, Redensarten, Worte (λόγος);
in Zuſammenhang oder in Reih' und Glied gebracht, bilden
ſie die Logik, die Wiſſenſchaft, die Philoſophie.
Zum Denken und Sprechen brauche Ich die Wahrheiten
und Worte, wie zum Eſſen die Speiſen; ohne ſie kann Ich
nicht denken noch ſprechen. Die Wahrheiten ſind der Men¬
ſchen Gedanken, in Worten niedergelegt und deshalb ebenſo
vorhanden, wie andere Dinge, obgleich nur für den Geiſt oder
das Denken vorhanden. Sie ſind Menſchenſatzungen und
menſchliche Geſchöpfe, und wenn man ſie auch für göttliche
Offenbarungen ausgiebt, ſo bleibt ihnen doch die Eigenſchaft
der Fremdheit für Mich, ja als meine eigenen Geſchöpfe ſind
ſie nach dem Schöpfungsacte Mir bereits entfremdet.
Der Chriſtenmenſch iſt der Denkgläubige, der an die
Oberherrſchaft der Gedanken glaubt und Gedanken, ſogenannte
„Principien“ zur Herrſchaft bringen will. Zwar prüft Man¬
cher die Gedanken und wählt keinen derſelben ohne Kritik zu
ſeinem Herrn, aber er gleicht darin dem Hunde, der die Leute
beſchnoppert, um „ſeinen Herrn“ herauszuriechen: aus den
herrſchenden Gedanken ſieht er's allezeit ab. Der Chriſt
kann unendlich viel reformiren und revoltiren, kann die herr¬
30[466] ſchenden Begriffe von Jahrhunderten zu Grunde richten: im¬
mer wird er wieder nach einem neuen „Principe“ oder neuen
Herrn trachten, immer wieder eine höhere oder „tiefere“ Wahr¬
heit aufrichten, immer einen Cultus wieder hervorrufen, immer
einen zur Herrſchaft berufenen Geiſt proclamiren, ein Geſetz
für Alle hinſtellen.
Giebt es auch nur Eine Wahrheit, welcher der Menſch
ſein Leben und ſeine Kräfte widmen müßte, weil er Menſch
iſt, ſo iſt er einer Regel, Herrſchaft, Geſetz u. ſ. w. unter¬
worfen, iſt Dienſtmann. Solche Wahrheit ſoll z. B. der
Menſch, die Menſchlichkeit, die Freiheit u. ſ. w. ſein.
Dagegen kann man ſo ſagen: Ob Du mit dem Denken
Dich des Weiteren befaſſen willſt, das kommt auf Dich an;
nur wiſſe, daß, wenn Du es im Denken zu etwas Erheblichem
bringen möchteſt, viele und ſchwere Probleme zu löſen ſind, ohne
deren Ueberwindung Du nicht weit kommen kannſt. Es exiſtirt
alſo keine Pflicht und kein Beruf für Dich, mit Gedanken
(Ideen, Wahrheiten) Dich abzugeben, willſt Du's aber, ſo
wirſt Du wohlthun, das, was Anderer Kräfte in Erledigung
dieſer ſchwierigen Gegenſtände ſchon gefördert haben, zu benutzen.
So hat alſo, wer denken will, allerdings eine Aufgabe,
die er ſich mit jenem Willen bewußt oder unbewußt ſetzt; aber
die Aufgabe zu denken oder zu glauben hat Keiner. — Im
erſteren Falle kann es heißen: Du gehſt nicht weit genug, haſt
ein beſchränktes und befangenes Intereſſe, gehſt der Sache nicht
auf den Grund, kurz bewältigſt ſie nicht vollſtändig. Anderer¬
ſeits aber, ſo weit Du auch jedesmal kommen magſt, Du biſt
doch immer zu Ende, haſt keinen Beruf weiter zu ſchreiten und
kannſt es haben, wie Du willſt oder vermagſt. Es ſteht da¬
mit, wie mit einer andern Arbeit, die Du aufgeben kannſt,
[467] wenn Dir die Luſt dazu abgeht. Ebenſo wenn Du eine Sache
nicht mehr glauben kannſt, ſo haſt Du zum Glauben Dich
nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahr¬
heit Dich fortdauernd zu beſchäftigen, wie es die Theologen
oder Philoſophen machen, ſondern kannſt getroſt dein Intereſſe
aus ihr zurückziehen und ſie laufen laſſen. Die pfäffiſchen
Geiſter werden Dir freilich dieſe Intereſſeloſigkeit für „Faulheit,
Gedankenloſigkeit, Verſtocktheit, Selbſttäuſchung“ u. dgl. aus¬
legen. Aber laß Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine
Sache, kein ſogenanntes „höchſtes Intereſſe der Menſchheit“,
keine „heilige Sache“ iſt werth, daß Du ihr dieneſt, und um
ihretwillen Dich damit befaſſeſt; ihren Werth magſt Du
allein darin ſuchen, ob ſie Dir um Deinetwillen werth iſt.
Werdet wie die Kinder, mahnt der bibliſche Spruch. Kinder
aber haben kein heiliges Intereſſe und wiſſen nichts von einer
„guten Sache“. Deſto genauer wiſſen ſie, wonach ihnen der
Sinn ſteht, und wie ſie dazu gelangen ſollen, das bedenken
ſie nach beſten Kräften.
Das Denken wird ſo wenig als das Empfinden aufhören.
Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrſchaft der
Theorien und Principien, die Oberherrlichkeit des Geiſtes, kurz
die — Hierarchie währt ſo lange, als die Pfaffen, d. h.
Theologen, Philoſophen, Staatsmänner, Philiſter, Liberale,
Schulmeiſter, Bedienten, Aeltern, Kinder, Eheleute, Proud'hon,
George Sand, Bluntſchli u. ſ. w., u. ſ. w. das große Wort
führen: die Hierarchie wird dauern, ſo lange man an Princi¬
pien glaubt, denkt, oder auch ſie kritiſirt: denn ſelbſt die un¬
erbittlichſte Kritik, die alle geltenden Principien untergräbt,
glaubt ſchließlich doch an das Princip.
Es kritiſirt Jeder, aber das Kriterium iſt verſchieden.
30*[468] Man jagt dem „rechten“ Kriterium nach. Dieß rechte Krite¬
rium iſt die erſte Vorausſetzung. Der Kritiker geht von einem
Satze, einer Wahrheit, einem Glauben aus. Dieſer iſt nicht
eine Schöpfung des Kritikers, ſondern des Dogmatikers, ja er
wird ſogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne Weiteres auf¬
genommen, wie z. B. „die Freiheit“, „die Menſchlichkeit“
u. ſ. w. Der Kritiker hat nicht „den Menſchen gefunden“,
ſondern als „der Menſch“ iſt dieſe Wahrheit vom Dogmatiker
feſtgeſtellt worden, und der Kritiker, der übrigens mit jenem
dieſelbe Perſon ſein kann, glaubt an dieſe Wahrheit, dieſen
Glaubensſatz. In dieſem Glauben und beſeſſen von dieſem
Glauben kritiſirt er.
Das Geheimniß der Kritik iſt irgend eine „Wahrheit“:
dieſe bleibt ihr energirendes Myſterium.
Aber Ich unterſcheide zwiſchen dienſtbarer und eige¬
ner Kritik. Kritiſire Ich unter der Vorausſetzung eines höch¬
ſten Weſens, ſo dient meine Kritik dem Weſen und wird um
ſeinetwillen geführt: bin Ich z. B. beſeſſen von dem Glauben
an einen „freien Staat“, ſo kritiſire Ich alles dahin Einſchla¬
gende von dem Geſichtspunkte aus, ob es dieſem Staate con¬
venirt; denn Ich liebe dieſen Staat; kritiſire ich als From¬
mer, ſo zerfällt Mir Alles in göttlich und teufliſch, und die
Natur beſteht vor meiner Kritik aus Gottesſpuren oder Teu¬
felsſpuren (daher Benennungen wie: Gottesgabe, Gottesberg,
Teufelskanzel u. ſ. w.), die Menſchen aus Gläubigen und
Ungläubigen u. ſ. w.; kritiſire Ich, indem Ich an den Men¬
ſchen als das „wahre Weſen“ glaube, ſo zerfällt Mir zunächſt
Alles in den Menſchen und den Unmenſchen u. ſ. w.
Die Kritik iſt bis auf den heutigen Tag ein Werk der
Liebe geblieben: denn wir übten ſie allezeit einem Weſen zu
[469] Liebe. Alle dienſtbare Kritik iſt ein Liebesproduct, eine Be¬
ſeſſenheit, und verfährt nach jenem neuteſtamentlichen: „Prü¬
fer Alles und das Gute behaltet.“ *)„Das Gute“ iſt der
Prüfſtein, das Kriterium. Das Gute, unter tauſenderlei Na¬
men und Geſtalten wiederkehrend, blieb immer die Vorauſſe¬
tzung, blieb der dogmatiſch feſte Punkt für dieſe Kritik, blieb
die — fixe Idee.
Unbefangen ſetzt der Kritiker, indem er ſich an die Arbeit
macht, die „Wahrheit voraus, und in dem Glauben, daß ſie
zu finden ſei, ſucht er die Wahrheit. Er will das Wahre er¬
mitteln und hat daran eben jenes „Gute“.
Vorauſſetzen heißt nichts anders, als einen Gedanken
voranſtellen, oder etwas vor allem Andern denken und von
dieſem Gedachten aus das Uebrige denken, d. h. es daran
meſſen und kritiſiren. Mit andern Worten ſagt dieß ſo viel,
daß das Denken mir einem Gedachten beginnen ſoll. Begönne
das Denken überhaupt, ſtatt begonnen zu werden, wäre das
Denken ein Subject, eine eigene handelnde Perſönlichkeit, wie
ſchon die Pflanze eine ſolche iſt, ſo wäre freilich nicht davon
abzuſtehen, daß das Denken mit ſich anfangen müſſe. Allein
die Perſonification des Denkens bringt eben jene unzähligen
Irrthümer zu Stande. Im Hegel'ſchen Syſteme wird immer
ſo geſprochen, als dächte und handelte das Denken oder „der
denkende Geiſt“, d. h. das perſonificirte Denken, das Denken
als Geſpenſt; im kritiſchen Liberalismus heißt es ſtets: „die
Kritik“ thue das und das, oder auch: „das Selbſtbewußtſein“
finde das und das. Gilt aber das Denken für das perſön¬
lich Handelnde, ſo muß das Denken ſelbſt vorausgeſetzt ſein,
[470] gilt die Kritik dafür, ſo muß gleichfalls ein Gedanke voran¬
ſtehen. Denken und Kritik könnten nur von ſich aus thätig,
müßten ſelbſt die Vorausſetzung ihrer Thätigkeit ſein, da ſie,
ohne zu ſein, nicht thätig ſein könnten. Das Denken aber,
als Vorausgeſetztes, iſt ein fixer Gedanke, ein Dogma: Den¬
ken und Kritik könnten alſo nur von einem Dogma ausge¬
hen, d. h. von einem Gedanken, einer fixen Idee, einer Vor¬
ausſetzung.
Wir kommen damit wieder auf das oben Ausgeſprochene
zurück, daß das Chriſtenthum in der Entwicklung einer Ge¬
dankenwelt beſtehe, oder daß es die eigentliche „Gedankenfrei¬
heit“ ſei, der „freie Gedanke“, der „freie Geiſt“. Die „wahre“
Kritik, die Ich die „dienſtbare“ nannte, iſt daher ebenſo die
„freie“ Kritik, denn ſie iſt nicht mein eigen.
Anders verhält es ſich, wenn das Deinige nicht zu einem
Fürſichſeienden gemacht, nicht perſonificirt, nicht als ein eige¬
ner „Geiſt“ verſelbſtändigt wird. Dein Denken hat nicht
„das Denken“ zur Vorausſetzung, ſondern Dich. Aber ſo
ſetzeſt Du Dich doch voraus? Ja, aber nicht Mir, ſondern
meinem Denken. Vor meinem Denken bin — Ich. Daraus
folgt, daß meinem Denken nicht ein Gedanke vorhergeht,
oder daß mein Denken ohne eine „Vorausſetzung“ iſt. Denn
die Vorausſetzung, welche Ich für mein Denken bin, iſt
keine vom Denken gemachte, keine gedachte, ſondern iſt
das geſetzte Denken ſelbſt, iſt der Eigner des Denkens,
und beweiſt nur, daß das Denken nichts weiter iſt, als —
Eigenthum, d. h. daß ein „ſelbſtändiges“ Denken, ein
„denkender Geiſt“ gar nicht exiſtirt.
Dieſe Umkehrung der gewöhnlichen Betrachtungsweiſe
könnte einem leeren Spiel mit Abſtractionen ſo ähnlich ſehen,
[471] daß ſelbſt diejenigen, gegen welche ſie gerichtet iſt, ihrer harm¬
loſen Wendung ſich ergäben, wenn nicht practiſche Folgen ſich
daran knüpften.
Um dieſe in einen bündigen Ausdruck zu bringen, ſo wird
nun behauptet, daß nicht der Menſch das Maaß von Allem,
ſondern daß Ich dieſes Maaß ſei. Der dienſtbare Kritiker
hat ein anderes Weſen, eine Idee, vor Augen, welchem er
dienen will; darum ſchlachtet er ſeinem Gotte nur die falſchen
Götzen. Was dieſem Weſen zu Liebe geſchieht, was wäre es
anders, als ein — Werk der Liebe? Ich aber habe, wenn
Ich kritiſire, nicht einmal Mich vor Augen, ſondern mache Mir
nur ein Vergnügen, amüſire Mich nach meinem Geſchmacke:
je nach meinem Bedürfniß zerkaue Ich die Sache, oder ziehe
nur ihren Duft ein.
Sprechender noch wird der Unterſchied beider Verfaſſungs¬
arten ſich herausſtellen, wenn man bedenkt, daß der dienſtbare
Kritiker, weil ihn die Liebe leitet, der Sache ſelbſt zu die¬
nen meint.
Die Wahrheit oder „die Wahrheit überhaupt“ will man
nicht aufgeben, ſondern ſuchen. Was iſt ſie anders als das
être suprême, das höchſte Weſen? Verzweifeln müßte auch
die „wahre Kritik“, wenn ſie den Glauben an die Wahrheit
verlöre. Und doch iſt die Wahrheit nur ein — Gedanke,
aber nicht bloß einer, ſondern ſie iſt der Gedanke, der über
alle Gedanken iſt, der unumſtößliche Gedanke, ſie iſt der Ge¬
danke ſelbſt, der alle andern erſt heiligt, iſt die Weihe der
Gedanken, der „abſolute“, der „heilige“ Gedanke. Die Wahr¬
heit hält länger vor, als alle Götter; denn nur in ihrem
Dienſte und ihr zu Liebe hat man die Götter und zuletzt ſelbſt
den Gott geſtürzt. Den Untergang der Götterwelt überdauert
[472] „die Wahrheit“, denn ſie iſt die unſterbliche Seele dieſer ver¬
gänglichen Götterwelt, ſie iſt die Gottheit ſelber.
Ich will antworten auf die Frage des Pilatus: Was iſt
Wahrheit? Wahrheit iſt der freie Gedanke, die freie Idee, der
freie Geiſt; Wahrheit iſt, was von Dir frei, was nicht dein
eigen, was nicht in deiner Gewalt iſt. Aber Wahrheit iſt auch
das völlig Unſelbſtändige, Unperſönliche, Unwirkliche und Unbe¬
leibte; Wahrheit kann nicht auftreten, wie Du auftrittſt, kann
ſich nicht bewegen, nicht ändern, nicht entwickeln: Wahrheit er¬
wartet und empfängt alles von Dir und iſt ſelbſt nur durch Dich:
denn ſie exiſtirt nur in — deinem Kopfe. Du giebſt das zu,
daß die Wahrheit ein Gedanke ſei, aber nicht jeder Gedanke
ſei ein wahrer, oder, wie Du's auch wohl ausdrückſt, nicht jeder
Gedanke iſt wahrhaft und wirklich Gedanke. Und woran miſſeſt
und erkennſt Du den wahren Gedanken? An deiner Ohn¬
macht, nämlich daran, daß Du ihm nichts mehr anhaben
kannſt! Wenn er Dich überwältigt, begeiſtert und fortreißt,
dann hälſt Du ihn für den wahren. Seine Herrſchaft über
Dich documentirt Dir ſeine Wahrheit, und wenn er Dich be¬
ſitzt und Du von ihm beſeſſen biſt, dann iſt Dir wohl bei ihm,
denn dann hast Du deinen — Herrn und Meiſter gefunden.
Als Du die Wahrheit ſuchteſt, wonach ſehnte ſich dein Herz
da? Nach deinem Herrn! Du trachteteſt nicht nach deiner
Gewalt, ſondern nach einem Gewaltigen, und wollteſt einen
Gewaltigen erhöhen („Erhöhet den Herrn, unſern Gott!“).
Die Wahrheit, mein lieber Pilatus, iſt — der Herr, und
Alle, welche die Wahrheit ſuchen, ſuchen und preiſen den Herrn.
Wo exiſtirt der Herr? Wo anders als in deinem Kopfe?
Er iſt nur Geiſt, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken
glaubſt, da iſt er ein — Geſpenſt; der Herr iſt ja bloß ein
[473] Gedachtes, und nur die chriſtliche Angſt und Qual, das Un¬
ſichtbare ſichtbar, das Geiſtige leibhaftig zu machen, erzeugte
das Geſpenſt und war der furchtſame Jammer des Geſpenſter¬
glaubens.
So lange Du an die Wahrheit glaubſt, glaubſt Du nicht
an Dich und biſt ein — Diener, ein — religiöſer
Menſch. Du allein biſt die Wahrheit, oder vielmehr, Du
biſt mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts iſt. Aller¬
dings fragſt auch Du nach der Wahrheit, allerdings „kritiſirſt“
auch Du, aber Du fragſt nicht nach einer „höhern Wahrheit“,
die nämlich höher wäre als Du, und kritiſirſt nicht nach dem
Kriterium einer ſolchen. Du machſt Dich an die Gedanken
und Vorſtellungen wie an die Erſcheinungen der Dinge nur
zu dem Zwecke, um ſie Dir mundgerecht, genießbar und eigen
zu machen, Du willſt ſie nur bewältigen und ihr Eigner
werden, willſt Dich in ihnen orientiren und zu Hauſe wiſſen,
und befindeſt ſie wahr oder ſiehſt ſie in ihrem wahren Lichte
dann, wenn ſie Dir nicht mehr entſchlüpfen können, keine un¬
gepackte oder unbegriffene Stelle mehr haben, oder wenn ſie
Dir recht, wenn ſie dein Eigenthum ſind. Werden ſie
nachgehends wieder ſchwerer, entwinden ſie deiner Gewalt ſich
wieder, ſo iſt das eben ihre Unwahrheit, nämlich deine Ohn¬
macht. Deine Ohnmacht iſt ihre Macht, deine Demuth ihre
Hoheit. Ihre Wahrheit alſo biſt Du oder iſt das Nichts,
welches Du für ſie biſt und in welches ſie zerfließen, ihre
Wahrheit iſt ihre Nichtigkeit.
Erſt als das Eigenthum Meiner kommen die Geiſter, die
Wahrheiten, zur Ruhe, und ſie ſind dann erſt wirklich, wenn
ihnen die leidige Exiſtenz entzogen und ſie zu einem Eigenthum
Meiner gemacht werden, wenn es nicht mehr heißt: die Wahr¬
[474] heit entwickelt ſich, herrſcht, macht ſich geltend, die Geſchichte
(auch ein Begriff) ſiegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit
geſiegt, ſondern ſtets war ſie mein Mittel zum Siege, ähnlich
dem Schwerte („das Schwert der Wahrheit“). Die Wahr¬
heit iſt todt, ein Buchſtabe, ein Wort, ein Material, das Ich
verbrauchen kann. Alle Wahrheit für ſich iſt todt, ein Leich¬
nam; lebendig iſt ſie nur in derſelben Weiſe, wie meine Lunge
lebendig iſt, nämlich in dem Maaße meiner eigenen Lebendig¬
keit. Die Wahrheiten ſind Material wie Kraut und Unkraut;
ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entſcheidung
in Mir.
Mir ſind die Gegenſtände nur Material, das Ich ver¬
brauche. Wo Ich hingreife, faſſe Ich eine Wahrheit, die Ich
Mir zurichte. Die Wahrheit iſt Mir gewiß, und Ich brauche
ſie nicht zu erſehnen. Der Wahrheit einen Dienſt zu leiſten,
iſt nirgends meine Abſicht; ſie iſt Mir nur ein Nahrungsmittel
für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen ver¬
dauenden Magen, der Freund für mein geſelliges Herz. So
lange Ich Luſt und Kraft zu denken habe, dient Mir jede
Wahrheit nur dazu, ſie nach meinem Vermögen zu verarbeiten.
Wie für den Chriſten die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, ſo iſt
für Mich die Wahrheit „eitel und nichtig“. Sie exiſtirt ge¬
rade ſo gut, als die Dinge dieſer Welt fortexiſtiren, obgleich
der Chriſt ihre Nichtigkeit bewieſen hat; aber ſie iſt eitel, weil ſie
ihren Werth nicht in ſich hat, ſondern in Mir. Für ſich
iſt ſie werthlos. Die Wahrheit iſt eine — Creatur.
Wie Ihr durch eure Thätigkeit unzählige Dinge herſtellt,
ja den Erdboden neu geſtaltet und überall Menſchenwerke er¬
richtet, ſo mögt Ihr auch noch zahlloſe Wahrheiten durch euer
Denken ermitteln, und Wir wollen Uns gerne daran erfreuen.
[475] Wie Ich Mich jedoch nicht dazu hergeben mag, eure neu ent¬
deckten Maſchinen maſchinenmäßig zu bedienen, ſondern ſie nur
zu meinem Nutzen in Gang ſetzen helfe, ſo will Ich auch
eure Wahrheiten nur gebrauchen, ohne Mich für ihre Forde¬
rungen gebrauchen zu laſſen.
Alle Wahrheiten unter Mir ſind Mir lieb; eine Wahr¬
heit über Mir, eine Wahrheit, nach der Ich Mich richten
müßte, kenne Ich nicht. Für Mich giebt es keine Wahrheit,
denn über Mich geht nichts! Auch nicht mein Weſen, auch
nicht das Weſen des Menſchen geht über Mich! Und zwar
über Mich, dieſen „Tropfen am Eimer“, dieſen „unbedeutenden
Menſchen“!
Ihr glaubt das Aeußerſte gethan zu haben, wenn Ihr
kühn behauptet, es gebe, weil jede Zeit ihre eigene Wahrheit
habe, keine „abſolute Wahrheit“. Damit laßt Ihr ja dennoch
jeder Zeit ihre Wahrheit, und erſchafft ſo recht eigentlich eine
„abſolute Wahrheit“, eine Wahrheit, die keiner Zeit fehlt,
weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer ſei, doch eine
„Wahrheit“ hat.
Soll nur geſagt ſein, daß man in jeder Zeit gedacht, mit¬
hin Gedanken oder Wahrheiten gehabt hat, und daß dieſe in
der folgenden Zeit andere waren, als in der früheren? Nein,
es ſoll heißen, daß jede Zeit ihre „Glaubenswahrheit“ hatte;
und in der That iſt noch keine erſchienen, worin nicht eine
„höhere Wahrheit“ anerkannt worden wäre, eine Wahrheit,
der man als „Hoheit und Majeſtät“ ſich unterwerfen zu müſſen
glaubte. Jede Wahrheit einer Zeit iſt die fixe Idee derſelben,
und wenn man ſpäter eine andere Wahrheit fand, ſo geſchah
dieß immer nur, weil man eine andere ſuchte: man reformirte
nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn
[476] man wollte doch — wer durfte an der Berechtigung hierzu
zweifeln? — man wollte von einer „Idee begeiſtert“ ſein.
Man wollte von einem Gedanken beherrſcht, — beſeſſen ſein!
Der modernſte Herrſcher dieſer Art iſt „unſer Weſen“ oder
„der Menſch“.
Für alle freie Kritik war ein Gedanke das Kriterium,
für die eigene Kritik bin Ich's, Ich, der Unſagbare, mithin
nicht bloß Gedachte; denn das bloß Gedachte iſt ſtets ſagbar,
weil Wort und Gedanke zuſammenfallen. Wahr iſt, was
mein iſt, unwahr das, dem Ich eigen bin; wahr z. B. der
Verein, unwahr der Staat und die Geſellſchaft. Die „freie
und wahre“ Kritik ſorgt für die conſequente Herrſchaft eines
Gedankens, einer Idee, eines Geiſtes, die „eigene“ für nichts
als meinen Selbſtgenuß. Darin aber gleicht die letztere in
der That — und Wir wollen ihr dieſe „Schmach“ nicht er¬
ſparen! — der thieriſchen Kritik des Inſtinctes. Mir iſt es,
wie dem kritiſirenden Thiere, nur um Mich, nicht „um die
Sache“ zu thun. Ich bin das Kriterium der Wahrheit, Ich
aber bin keine Idee, ſondern mehr als Idee, d. h. unaus¬
ſprechlich. Meine Kritik iſt keine „freie“, nicht frei von Mir,
und keine „dienſtbare“, nicht im Dienſte einer Idee, ſondern
eine eigene.
Die wahre oder menſchliche Kritik bringt nur heraus, ob
etwas dem Menſchen, dem wahren Menſchen convenire;
durch die eigene Kritik aber ermittelſt Du, ob es Dir con¬
venirt.
Die freie Kritik beſchäftigt ſich mit Ideen, und iſt des¬
halb ſtets theoretiſch. Wie ſie auch gegen die Ideen wüthen
möge, ſo kommt ſie doch von ihnen nicht los. Sie ſchlägt
ſich mit den Geſpenſtern herum, aber ſie kann dieß nur, in¬
[477] dem ſie dieſelben für Geſpenſter hält. Die Ideen, mit denen
ſie's zu thun hat, verſchwinden nicht völlig: der Morgenhauch
eines neuen Tages verſcheucht ſie nicht.
Der Kritiker kann zwar zur Ataraxie gegen die Ideen
kommen, aber er wird ſie niemals los, d. h. er wird nie
bereiſen, daß nicht über dem leibhaftigen Menſchen et¬
was Höheres exiſtire, nämlich ſeine Menſchlichkeit, die Freiheit
u. ſ. w. Es bleibt ihm immer noch ein „Beruf“ des Men¬
ſchen übrig, die „Menſchlichkeit“. Und dieſe Idee der Menſch¬
lichkeit bleibt unrealiſirt, weil ſie eben „Idee“ bleibt und blei¬
ben ſoll.
Faſſe Ich dagegen die Idee als meine Idee, ſo iſt ſie
bereits realiſirt, weil Ich ihre Realität bin: ihre Realität be¬
ſteht darin, daß Ich, der Leibhaftige, ſie habe.
Man ſagt, in der Weltgeſchichte realiſire ſich die Idee
der Freiheit. Umgekehrt, dieſe Idee iſt reel, ſowie ein Menſch
ſie denkt, und ſie iſt in dem Maaße reel als ſie Idee iſt, d.h.
als Ich ſie denke oder habe. Nicht die Idee der Freiheit
entwickelt ſich, ſondern die Menſchen entwickeln ſich und ent¬
wickeln in dieſer Selbſtentwicklung natürlich auch ihr Denken.
Kurz der Kritiker iſt noch nicht Eigner, weil er mit den
Ideen noch als mit mächtigen Fremden kämpft, wie der Chriſt
nicht Eigner ſeiner „ſchlechten Begierden“ iſt, ſo lange er ſie
zu bekämpfen hat: wer gegen das Laſter ſtreitet, für den
exiſtirt das Laſter.
Die Kritik bleibt in der „Freiheit des Erkennens“, der
Geiſtesfreiheit, ſtecken, und der Geiſt gewinnt ſeine rechte Frei¬
heit dann, wenn er ſich mit der reinen, der wahren Idee er¬
füllt; das iſt die Denkfreiheit, die nicht ohne Gedanken ſein
kann.
[478]
Es ſchlägt die Kritik eine Idee nur durch eine andere,
z. B. die des Privilegiums durch die der Menſchheit, oder
die des Egoismus durch die der Uneigennützigkeit.
Ueberhaupt tritt der Anfang des Chriſtenthums in ſei¬
nem kritiſchen Ende wieder auf, indem hier wie dort der
„Egoismus“ bekämpft wird. Nicht Mich, den Einzelnen,
ſondern die Idee, das Allgemeine, ſoll Ich zur Geltung
bringen.
Krieg des Pfaffenthums mit dem Egoismus, der geiſt¬
lich Geſinnten mit den weltlich Geſinnten macht ja den In¬
halt der ganzen chriſtlichen Geſchichte aus. In der neueſten
Kritik wird dieſer Krieg nur allumfaſſend, der Fanatismus
vollſtändig. Freilich kann er auch ſo erſt, nachdem er ſich
ausgelebt und ausgewüthet hat, vergehen.
Ob, was Ich denke und thue, chriſtlich ſei, was küm¬
mert's Mich? Ob es menſchlich, liberal, human, ob unmenſch¬
lich, illiberal, inhuman, was frag' Ich darnach? Wenn es
nur bezweckt, was Ich will, wenn Ich nur Mich darin be¬
friedige, dann belegt es mit Prädikaten wie Ihr wollt: es
gilt Mir gleich.
Auch Ich wehre Mich vielleicht ſchon im nächſten Augen¬
blicke gegen meinen vorigen Gedanken, auch Ich ändere wohl
plötzlich meine Handlungsweiſe; aber nicht darum, weil ſie der
Chriſtlichkeit nicht entſpricht, nicht darum, weil ſie gegen die
ewigen Menſchenrechte läuft, nicht darum, weil ſie der Idee
der Menſchheit, Menſchlichkeit und Humanität in's Geſicht
ſchlägt, ſondern — weil Ich nicht mehr ganz dabei bin, weil
ſie Mir keinen vollen Genuß mehr bereitet, weil Ich an dem
[479] früheren Gedanken zweifle oder in der eben geübten Handlungs¬
weiſe Mir nicht mehr gefalle.
Wie die Welt als Eigenthum zu einem Material ge¬
worden iſt, mit welchem Ich anfange, was Ich will, ſo muß
auch der Geiſt als Eigenthum zu einem Material herab¬
ſinken, vor dem Ich keine heilige Scheu mehr trage. Zunächſt
werde Ich dann nicht ferner vor einem Gedanken ſchaudern,
er erſcheine ſo verwegen und „teufliſch“ als er wolle, weil,
wenn er Mir zu unbequem und unbefriedigend zu werden
droht, ſein Ende in meiner Macht liegt; aber auch vor keiner
That werde Ich zurückbeben, weil ein Geiſt der Gottloſigkeit,
Unſittlichkeit, Widerrechtlichkeit darin wohne, ſo wenig als der
heilige Bonifacius von dem Umhauen der heiligen Heideneiche
aus religiöſer Bedenklichkeit abſtehen mochte. Sind einſt die
Dinge der Welt eitel geworden, ſo müſſen auch die Gedan¬
ken des Geiſtes eitel werden.
Kein Gedanke iſt heilig, denn kein Gedanke gelte für
„Andacht“, kein Gefühl iſt heilig (kein heiliges Freundſchafts¬
gefühl, Muttergefühl u. ſ. w.), kein Glaube iſt heilig. Sie
ſind alle veräußerlich, mein veräußerliches Eigenthum, und
werden von Mir vernichtet wie geſchaffen.
Der Chriſt kann alle Dinge oder Gegenſtände, die ge¬
liebteſten Perſonen, dieſe „Gegenſtände“ ſeiner Liebe, verlieren,
ohne Sich, d. h. im chriſtlichen Sinne ſeinen Geiſt, ſeine
Seele, verloren zu geben. Der Eigner kann alle Gedanken,
die ſeinem Herzen lieb waren und ſeinen Eifer entzündeten,
von ſich werfen und wird gleichfalls „tauſendfältig wieder ge¬
winnen“, weil Er, ihr Schöpfer, bleibt.
Unbewußt und unwillkührlich ſtreben Wir alle der Ei¬
genheit zu, und ſchwerlich wird Einer unter Uns ſein, der
[480] nicht ein heiliges Gefühl, einen heiligen Gedanken, einen hei¬
ligen Glauben aufgegeben hätte, ja Wir begegnen wohl kei¬
nem, der ſich nicht aus einem oder dem andern ſeiner heiligen
Gedanken noch erlöſen könnte. All unſer Streit wider Ueber¬
zeugungen geht von der Meinung aus, daß Wir den Gegner
etwa aus ſeinen Gedankenverſchanzungen zu vertreiben fähig
ſeien. Aber was Ich unbewußt thue, das thue Ich halb, und
darum werde Ich nach jedem Siege über einen Glauben wie¬
der der Gefangene (Beſeſſene) eines Glaubens, der dann
von neuem mein ganzes Ich in ſeinen Dienſt nimmt und
Mich zum Schwärmer für die Vernunft macht, nachdem Ich
für die Bibel zu ſchwärmen aufgehört, oder zum Schwärmer
für die Idee der Menſchheit, nachdem Ich lange genug für
die der Chriſtenheit gefochten habe.
Wohl werde Ich als Eigner der Gedanken ſo gut mein
Eigenthum mit dem Schilde decken, wie Ich als Eigner der
Dinge nicht Jedermann gutwillig zugreifen laſſe; aber lächelnd
zugleich werde Ich dem Ausgange der Schlacht entgegenſehen,
lächelnd den Schild auf die Leichen meiner Gedanken und
meines Glaubens legen, lächelnd, wenn Ich geſchlagen bin,
triumphiren. Das eben iſt der Humor von der Sache. Sei¬
nen Humor an den Kleinlichkeiten der Menſchen auszulaſſen,
das vermag Jeder, der „erhabnere Gefühle“ hat; ihn aber mit
allen „großen Gedanken, erhabenen Gefühlen, edler Begeiſte¬
rung und heiligem Glauben“ ſpielen zu laſſen, das ſetzt vor¬
aus, daß Ich der Eigner von Allem ſei.
Hat die Religion den Satz aufgeſtellt, Wir ſeien allzu¬
mal Sünder, ſo ſtelle Ich ihm den andern entgegen: Wir ſind
allzumal vollkommen! Denn wir ſind jeden Augenblick Alles,
was Wir ſein können, und brauchen niemals mehr zu ſein.
[481]
Da kein Mangel an Uns haftet, ſo hat auch die Sünde kei¬
nen Sinn. Zeigt Mir noch einen Sünder in der Welt, wenn's
Keiner mehr einem Höheren recht zu machen braucht! Brauche
Ich's nur Mir recht zu machen, ſo bin Ich kein Sünder,
wenn Ich's Mir nicht recht mache, da Ich in Mir keinen
„Heiligen“ verletze; ſoll Ich dagegen fromm ſein, ſo muß
Ich's Gott recht machen, ſoll Ich menſchlich handeln, ſo muß
Ich's dem Weſen des Menſchen, der Idee der Menſchheit
u. ſ. w. recht machen. Was die Religion den „Sünder“
nennt, das nennt die Humanität den „Egoiſten“. Nochmals
aber, brauche Ich's keinem Andern recht zu machen, iſt dann
der „Egoiſt“, in welchem die Humanität ſich einen neumodi¬
ſchen Teufel geboren hat, mehr als ein Unſinn? Der Egoiſt,
vor dem die Humanen ſchaudern, iſt ſo gut ein Spuk, als
der Teufel einer iſt: er exiſtirt nur als Schreckgeſpenſt und
Phantaſiegeſtalt in ihrem Gehirne. Trieben ſie nicht zwiſchen
dem altfränkiſchen Gegenſatz von Gut und Böſe, dem ſie die
modernen Namen von „Menſchlich“ und „Egoiſtiſch“ gegeben
haben, unbefangen hin und her, ſo würden ſie auch nicht den
ergrauten „Sünder“ zum „Egoiſten“ aufgefriſcht und einen neuen
Lappen auf ein altes Kleid geflickt haben. Aber ſie konnten
nicht anders, denn ſie Halten's für ihre Aufgabe, „Menſchen“
zu ſein. Den Guten ſind ſie los, das Gute iſt geblieben!
Wir ſind allzumal vollkommen, und auf der ganzen Erde
iſt nicht Ein Menſch, der ein Sünder wäre! Es giebt Wahn¬
ſinnige, die ſich einbilden, Gott Vater, Gott Sohn oder der
Mann im Monde zu ſein, und ſo wimmelt es auch von
Narren, die ſich Sünder zu ſein dünken; aber wie jene nicht
der Mann im Monde ſind, ſo ſind dieſe — keine Sünder.
Ihre Sünde iſt eingebildet.
31[482]
Aber, wirft man verfänglicher Weiſe ein, ſo iſt doch ihr
Wahnſinn oder ihre Beſeſſenheit wenigſtens ihre Sünde. Ihre
Beſeſſenheit iſt nichts als das, was ſie — zu Stande bringen
konnten, das Reſultat ihrer Entwicklung, wie Luthers Bibel¬
gläubigkeit eben Alles war, was er herauszubringen — ver¬
mochte. Der Eine bringt ſich mit ſeiner Entwicklung in's
Narrenhaus, der Andere bringt ſich damit in's Pantheon und
um die — Walhalla.
Es giebt keinen Sünder und keinen ſündigen Egoismus!
Geh' Mir vom Leibe mit Deiner „Menſchenliebe“!
Schleiche Dich hinein, Du Menſchenfreund, in die „Höhlen
des Laſters“, verweile einmal in dem Gewühl der großen
Stadt: wirſt Du nicht überall Sünde und Sünde und wieder
Sünde finden? Wirſt Du nicht jammern über die verderbte
Menſchheit, nicht klagen über den ungeheuern Egoismus?
Wirſt Du einen Reichen ſehen, ohne ihn unbarmherzig und
„egoiſtiſch“ zu finden? Du nennſt Dich vielleicht ſchon Atheiſt,
aber dem chriſtlichen Gefühle bleibſt Du treu, daß ein Kameel
eher durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher kein „Un¬
menſch“ ſei. Wie viele ſiehſt Du überhaupt, die Du nicht
unter die „egoiſtiſche Maſſe“ würfeſt? Was hat alſo deine
Menſchenliebe gefunden? Lauter unliebenswürdige Menſchen!
Und woher ſtammen ſie alle? Aus Dir, aus deiner Men¬
ſchenliebe ! Du haſt den Sünder im Kopfe mitgebracht, darum
fandeſt Du ihn, darum ſchobſt Du ihn überall unter. Nenne
die Menſchen nicht Sünder, ſo ſind ſie's nicht: Du allein biſt
der Schöpfer der Sünder: Du, der Du die Menſchen zu lie¬
ben wähnſt, Du gerade wirfſt ſie in den Koth der Sünde,
Du gerade ſcheideſt ſie in Laſterhafte und Tugendhafte, in
Menſchen und Unmenſchen, Du gerade beſudelſt ſie mit dem
[483] Geifer deiner Beſeſſenheit; denn Du liebſt nicht die Men¬
ſchen, ſondern den Menſchen. Ich aber ſage Dir, Du haſt
niemals einen Sünder geſehen, Du haſt ihn nur — geträumt.
Der Selbſtgenuß wird Mir dadurch verleidet, daß Ich
einem Andern dienen zu müſſen meine, daß Ich Mich ihm
verpflichtet wähne, daß Ich Mich zu „Aufopferung“, „Hin¬
gebung“, „Begeiſterung“ berufen halte. Wohlan, diene Ich
keiner Idee, keinem „höheren Weſen“ mehr, ſo findet ſich's
von ſelbſt, daß Ich auch keinem Menſchen mehr diene, ſondern
— unter allen Umſtänden — Mir. So aber bin Ich nicht
bloß der That oder dem Sein nach, ſondern auch für mein
Bewußtſein der — Einzige.
Dir kommt mehr zu, als das Göttliche, das Menſchliche
u. ſ. w.; Dir kommt das Deinige zu.
Sieh Dich als mächtiger an, als wofür man Dich aus¬
giebt, ſo haſt Du mehr Macht; ſieh Dich als mehr an, ſo
haſt Du mehr.
Du biſt dann nicht bloß berufen zu allem Göttlichen,
berechtigt zu allem Menſchlichen, ſondern Eigner des Dei¬
nigen, d. h. alles deſſen, was Du Dir zu eigen zu machen
Kraft beſitzeſt, d.h. Du biſt geeignet und befähigt zu allem
Deinigen.
Man hat immer gemeint, Mir eine außerhalb Meiner
liegende Beſtimmung geben zu müſſen, ſo daß man zuletzt Mir
zumuthete, Ich ſollte das Menſchliche in Anſpruch nehmen,
weil Ich — Menſch ſei. Dieß iſt der chriſtliche Zauberkreis.
Auch Fichte's Ich iſt daſſelbe Weſen außer Mir, denn Ich
iſt Jeder, und hat nur dieſes Ich Rechte, ſo iſt es „das Ich“,
nicht Ich bin es. Ich bin aber nicht ein Ich neben andern
Ichen, ſondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Daher
31*[484] ſind auch meine Bedürfniſſe einzig, meine Thaten, kurz Alles
an Mir iſt einzig. Und nur als dieſes einzige Ich nehme
Ich Mir Alles zu eigen, wie Ich nur als dieſes Mich be¬
thätige und entwickle. Nicht als Menſch und nicht den Men¬
ſchen entwickle Ich, ſondem als Ich entwickle Ich — Mich.
Dieß iſt der Sinn des — Einzigen.
III.
Der Einzige.
Vorchriſtliche und chriſtliche Zeit verfolgen ein entgegen¬
geſetztes Ziel; jene will das Reale idealiſiren, dieſe das Ideale
realiſiren, jene ſucht den „heiligen Geiſt“, dieſe den „verklär¬
ten Leib“. Daher ſchließt jene mit der Unempfindlichkeit ge¬
gen das Reale, mit der „Weltverachtung“; dieſe wird mit der
Abwerfung des Idealen, mit der „Geiſtesverachtung“ enden.
Der Gegenſatz des Realen und Idealen iſt ein unverſöhn¬
licher, und es kann das eine niemals das andere werden:
würde das Ideale zum Realen, ſo wäre es eben nicht mehr
das Ideale, und würde das Reale zum Idealen, ſo wäre allein
das Ideale, das Reale aber gar nicht. Der Gegenſatz beider
iſt nicht anders zu überwinden, als wenn man beide ver¬
nichtet. Nur in dieſem „man“, dem Dritten, findet der Ge¬
genſatz ſein Ende; ſonſt aber decken Idee und Realität ſich
nimmermehr. Die Idee kann nicht ſo realiſirt werden, daß
ſie Idee bliebe, ſondern nur, wenn ſie als Idee ſtirbt, und
ebenſo verhält es ſich mit dem Realen.
[486]
Nun haben Wir aber an den Alten Anhänger der Idee,
an den Neuen Anhänger der Realität vor Uns. Beide kom¬
men von dem Gegenſatze nicht los und ſchmachten nur, die
Einen nach dem Geiſte, und als dieſer Drang der alten Welt
befriedigt und dieſer Geiſt gekommen zu ſein ſchien, die An¬
dern ſogleich wieder nach der Verweltlichung dieſes Geiſtes,
die für immer ein „frommer Wunſch“ bleiben muß.
Der fromme Wunſch der Alten war die Heiligkeit, der
fromme Wunſch der Neuen iſt die Leibhaftigkeit. Wie
aber das Alterthum untergehen mußte, wenn ſeine Sehnſucht
befriedigt werden ſollte (denn es beſtand nur in der Sehnſucht),
ſo kann es auch innerhalb des Ringes der Chriſtlichkeit nim¬
mermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Hei¬
ligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waſchun¬
gen u. ſ. w.), ſo geht der der Verleiblichung durch die chriſt¬
liche: der Gott ſtürzt ſich in dieſe Welt, wird Fleiſch und will
ſie erlöſen, d. h. mit ſich erfüllen; da er aber „die Idee“ oder
„der Geiſt“ iſt, ſo führt man (z. B. Hegel) am Schluſſe die
Idee in Alles, in die Welt, ein und beweiſt, „daß die Idee,
daß Vernunft in Allem ſei“. Dem, was die heidniſchen
Stoiker als „den Weiſen“ aufſtellten, entſpricht in der heuti¬
gen Bildung „der Menſch“, jener wie dieſer ein — fleiſch¬
loſes Weſen. Der unwirkliche „Weiſe“, dieſer leibloſe „Hei¬
lige“ der Stoiker, wurde eine wirkliche Perſon, ein leiblicher
„Heiliger“ in dem fleiſchgewordenen Gotte; der unwirk¬
liche „Menſch“, das leibloſe Ich, wird wirklich werden im
leibhaftigen Ich, in Mir.
Durch das Chriſtenthum ſchlingt ſich die Frage nach dem
„Daſein Gottes“ hindurch, die, immer und immer wieder auf¬
genommen, Zeugniß dafür ablegt, daß der Drang nach dem
[487] Daſein, der Leibhaftigkeit, der Perſönlichkeit, der Wirklichkeit,
unaufhörlich das Gemüth beſchäftigte, weil er niemals eine
befriedigende Löſung fand. Endlich fiel die Frage nach dem
Daſein Gottes, aber nur, um wieder aufzuſtehen in dem Satze,
daß das „Göttliche“ Daſein habe (Feuerbach). Aber auch
dieſes hat kein Daſein, und die letzte Zuflucht, daß das „rein
Menſchliche“ realiſirbar ſei, wird auch nicht lange mehr Schutz
gewähren. Keine Idee hat Daſein, denn keine iſt der Leib¬
haftigkeit fähig. Der ſcholaſtiſche Streit des Realismus und
Nominalismus hat denſelben Inhalt; kurz, dieſer ſpinnt ſich
durch die ganze chriſtliche Geſchichte hindurch und kann in
ihr nicht enden.
Die Chriſtenwelt arbeitet daran, die Ideen in den ein¬
zelnen Verhältniſſen des Lebens, den Inſtitutionen und Geſetzen
der Kirche und des Staates zu realiſiren; aber ſie wider¬
ſtreben und behalten immer etwas Unverkörpertes (Unrealiſir¬
bares) zurück. Raſtlos geht es gleichwohl auf dieſe Verkör¬
perung los, ſo ſehr auch ſtets die Leibhaftigkeit ausbleibt.
Dem Realiſirenden liegt nämlich wenig an den Realitä¬
ten, alles aber daran, daß dieſelben Verwirklichungen der Idee
ſeien; daher unterſucht er ſtets von neuem, ob dem Verwirk¬
lichten in Wahrheit die Idee, ſein Kern, inwohne, und indem
er das Wirkliche prüft, prüft er zugleich die Idee, ob ſie ſo,
wie er ſie denkt, realiſirbar ſei oder von ihm nur unrichtig
und deshalb unausführbar gedacht werde.
Als Exiſtenzen ſollen den Chriſten Familie, Staat u. ſ. w.
nicht mehr kümmern; nicht, wie die Alten, ſollen die Chriſten
für dieſe „göttlichen Dinge“ ſich opfern, ſondern dieſelben ſollen
nur benutzt werden, um in ihnen den Geiſt lebendig zu
machen. Die wirkliche Familie iſt gleichgültig geworden,
[488] und eine ideale, die dann die „wahrhaft reale“ wäre, ſoll
aus ihr entſtehen, eine heilige, von Gott geſegnete, oder, nach
liberaler Denkweiſe, eine „vernünftige“. Bei den Alten iſt
Familie, Staat, Vaterland u. ſ. w. als ein Vorhandenes
göttlich: bei den Neuen erwartet es erſt die Göttlichkeit, iſt
als vorhandenes nur ſündhaft, irdiſch, und muß erſt „erlöſt“,
d.h. wahrhaft real werden. Das hat folgenden Sinn: Nicht
die Familie u. ſ. w. iſt das Vorhandene und Reale, ſondern
das Göttliche, die Idee, iſt vorhanden und wirklich; ob dieſe
Familie durch Aufnahme des wahrhaft Wirklichen, der Idee,
ſich wirklich machen werde, ſteht noch dahin. Es iſt nicht
Aufgabe des Einzelnen, der Familie als dem Göttlichen zu
dienen, ſondern umgekehrt, dem Göttlichen zu dienen und die
noch ungöttliche Familie ihm zuzuführen, d. h. im Namen der
Idee alles zu unterwerfen, das Panier der Idee überall aufzu¬
pflanzen, die Idee zu realer Wirkſamkeit zu bringen.
Da es aber dem Chriſtenthum wie dem Alterthum um’s
Göttliche zu thun iſt, ſo kommen ſie auf entgegengeſetzten
Wegen ſtets wieder darauf hinaus. Am Ende des Heiden¬
thums wird das Göttliche zum Außerweltlichen, am Ende
des Chriſtenthums zum Innerweltlichen. Es ganz außer¬
halb der Welt zu ſetzen, gelingt dem Alterthum nicht, und als
das Chriſtenthum dieſe Aufgabe vollbringt, da ſehnt ſich augen¬
blicklich das Göttliche in die Welt zurück und will die Welt
„erlöſen“. Aber innerhalb des Chriſtenthums kommt und kann
es nicht dazu kommen, daß das Göttliche als Innerweltliches
wirklich das Weltliche ſelbſt würde: es bleibt genug übrig,
was als das „Schlechte“, Unvernünftige, Zufällige, „Egoiſti¬
ſche“, als das im ſchlechten Sinne „Weltliche“ undurchdrun¬
gen ſich erhält und erhallen muß. Das Chriſtenthum beginnt
[489] damit, daß der Gott zum Menſchen wird, und es treibt ſein
Bekehrungs- und Erlöſungswerk alle Zeit hindurch, um dem
Gotte in allen Menſchen und allem Menſchlichen Aufnahme
zu bereiten und alles mit dem Geiſte zu durchdringen: es
bleibt dabei, für den „Geiſt“ eine Stätte zu bereiten.
Wenn zuletzt auf den Menſchen oder die Menſchheit der
Accent gelegt wurde, ſo war es wieder die Idee, die man
„ewig ſprach“: „Der Menſch ſtirbt nicht!“ Man meinte
nun die Realität der Idee gefunden zu haben: Der Menſch
iſt das Ich der Geſchichte, der Weltgeſchichte; er, dieſer Ide¬
ale, iſt es, der ſich wirklich entwickelt, d. h. realiſirt. Er
iſt der wirklich Reale, Leibhaftige, denn die Geſchichte iſt ſein
Leib, woran die Einzelnen nur die Glieder ſind. Chriſtus iſt
das Ich der Weltgeſchichte, ſogar das der vorchriſtlichen; in
der modernen Anſchauung iſt es der Menſch, das Chriſtusbild
hat ſich zum Menſchenbilde entwickelt: es iſt der Menſch
als ſolcher, der Menſch ſchlechthin der „Mittelpunkt“ der
Geſchichte. In „dem Menſchen“ kehrt der imaginäre Anfang
wieder; denn „der Menſch“ iſt ſo imaginär als Chriſtus es
iſt. „Der Menſch“ als Ich der Weltgeſchichte ſchließt den
Cyclus chriſtlicher Anſchauungen.
Der Zauberkreis der Chriſtlichkeit wäre gebrochen, wenn
die Spannung zwiſchen Exiſtenz und Beruf, d. h. zwiſchen
Mir, wie Ich bin, und Mir, wie Ich ſein ſoll, aufhörte; er
beſteht nur als die Sehnſucht der Idee nach ihrer Leiblichkeit
und verſchwindet mit der nachlaſſenden Trennung beider: nur
wenn die Idee — Idee bleibt, wie ja der Menſch oder die
Menſchheit eine leibloſe Idee iſt, iſt die Chriſtlichkeit noch
vorhanden. Die leibhaftige Idee, der leibhaftige oder „vollen¬
dete“ Geiſt ſchwebt dem Chriſten vor als „das Ende der Tage“,
[490] oder als das „Ziel der Geſchichte“; er iſt ihm nicht Ge¬
genwart.
Nur Theil haben kann der Einzelne an der Stiftung des
Gottesreiches oder, nach moderner Vorſtellung von derſelben
Sache, an der Entwicklung und Geſchichte der Menſchheit,
und nur ſoweit er daran Theil hat, kommt ihm ein chriſtlicher
oder, nach modernem Ausdruck, menſchlicher Werth zu, im
Uebrigen iſt er Staub und ein Madenſack.
Daß der Einzelne für ſich eine Weltgeſchichte iſt und an
der übrigen Weltgeſchichte ſein Eigenthum beſitzt, das geht
über's Chriſtliche hinaus. Dem Chriſten iſt die Weltgeſchichte
das Höhere, weil ſie die Geſchichte Chriſti oder „des Men¬
ſchen“ iſt; dem Egoiſten hat nur ſeine Geſchichte Werth,
weil er nur ſich entwickeln will, nicht die Menſchheits-Idee,
nicht den Plan Gottes, nicht die Abſichten der Vorſehung,
nicht die Freiheit u. dgl. Er ſieht ſich nicht für ein Werkzeug
der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menſchheit dazu¬
ſein und ſein Scherflein dazu beitragen zu müſſen, ſondern er
lebt ſich aus, unbeſorgt darum, wie gut oder ſchlecht die
Menſchheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverſtändniß
zu, als ſollte ein Naturzuſtand geprieſen werden, ſo könnte
man an Lenau's „Drei Zigeuner“ erinnern. — Was, bin Ich
dazu in der Welt, um Ideen zu realiſiren? Um etwa zur
Verwirklichung der Idee „Staat“ durch mein Bürgerthum das
Meinige zu thun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater,
die Idee der Familie zu einem Daſein zu bringen? Was
ficht Mich ein ſolcher Beruf an! Ich lebe ſo wenig nach
einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächſt und
duftet.
[491]
Das Ideal „der Menſch“ iſt realiſirt, wenn die chriſt¬
liche Anſchauung umſchlägt in den Satz: „Ich, dieſer Einzige,
bin der Menſch“. Die Begriffsfrage: „was iſt der Menſch?“
— hat ſich dann in die perſönliche umgeſetzt: „wer iſt der
Menſch?“ Bei „was“ ſuchte man den Begriff, um ihn zu
realiſiren; bei „wer“ iſt's überhaupt keine Frage mehr, ſondern
die Antwort im Fragenden gleich perſönlich vorhanden: die
Frage beantwortet ſich von ſelbſt.
Man ſagt von Gott: „Namen nennen Dich nicht“. Das
gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was
man als mein Weſen angiebt, erſchöpft Mich; es ſind nur
Namen. Gleichfalls ſagt man von Gott, er ſei vollkommen
und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu ſtreben. Auch
das gilt allein von Mir.
Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann,
wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt
ſelbſt der Eigner in ſein ſchöpferiſches Nichts zurück, aus wel¬
chem er geboren wird. Jedes höhere Weſen über Mir, ſei es
Gott, ſei es der Menſch, ſchwächt das Gefühl meiner Einzig¬
keit und erbleicht erſt vor der Sonne dieſes Bewußtſeins. Stell'
Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann ſteht ſie auf
dem Vergänglichen, dem ſterblichen Schöpfer ſeiner, der ſich
ſelbſt verzehrt, und Ich darf ſagen:
Ich hab' mein' Sach' auf Nichts geſtellt.
Appendix A
Leipzig, Druck von J. B. Hirſchfeld.
Appendix B
In meinem Verlage erſcheinen:
Franzöſiſche Claſſiker.
Neue, correcte und wohlfeilſte Ausgabe.
16. 1843–44. In Umſchlag broſch.
Bereits ſind erſchienen:
Montesquieu, Geiſt der Geſetze. Nebſt Deſtutt de Tracy's
Kommentar und Noten von Helvetius und Voltaire. Deutſch
und mit Anmerkungen von Dr. A. Elliſſen. 12 Theile. 1 Thlr.
18 Ngr.
Voltaire'sWerke in zeitgemäßer Auswahl. à Theil 4 Ngr.
1. u. 2. Theil: Kandid oder die beſte Welt. Deutſch mit Einleitung
und Anmerkungen von Dr. A. Eliſſen. 2 Theile. 8 Ngr.
3. u. 4. Theil: Zadig oder das Geſchick. Eine morgenländiſche Ge¬
ſchichte. Nebſt einigen andern kleinen Erzählungen. Deutſch
von Dr. A. Elliſſen. 2 Theile. 8 Ngr.
5. u. 6. Theil: Der Hurone. Der Weiße und der Schwarze. Jean¬
not und Colin. Geſchichte eines guten Braminen. Deutſch
mit Anmerkungen von Dr. A. Elliſſen. 2 Theile. 8 Ngr.
7. u. 8. Theil: Die Prinzeſſin von Babylon. Amabed. Good¬
man. Deutſch mit Anmerkungen von Dr. A. Elliſſen. 2 Theile.
8 Ngr.
Rouſſeau, Bekenntniſſe. Deutſch von G. Julius. 9 Theile.
1 Thlr. 6 Ngr.
—— Ueber den Geſellſchaftsvertrag, oder Grundzüge des
Staatsrechts. Deutſch von Dr. A. Marx. 4 Ngr.
—— Die neue Heloiſe. Deutſch von G. Julius. 12 Theile.
1 Thlr. 18 Ngr.
—— Emil, oder über die Erziehung. Deutſch von K. Große.
8 Theile. 1 Thlr. 2 Ngr.
[]Thiers' ſämmtliche hiſtoriſche Werke.à Theil 5 Ngr.
1. Geſchichte der franzöſiſchen Revolution. Deutſch von
Dr. W. Jordan. Vollſtändig in 20 Theilen. (Jeder Theil ent¬
hält 8—9 Bogen aus der Petit.)
Gallois, Geſchichte der ſpaniſchen Inquiſition. Deutſch
von Dr. L. Eichler. 2 Theile. 8 Ngr.
George Sand's ſämmtliche Werke. Mit einer kritiſchen Einlei¬
tung von Arnold Ruge. 69 Theile. à Theil 4 Ngr.
Der Handwerker. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 4 Thle. 16 Ngr.
Simon. Deutſch v. Dr. L. Eichler. 2 Thle. 8 Ngr.
Conſuelo. Deutſch v. G. Julius. 9 Thle. 1 Thlr. 6 Ngr.
Horace. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 3 Thle. 12 Ngr.
André. Deutſch v. Dr. L. Eichler. 2 Thle. 8 Ngr.
Pauline. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 1 Theil. 4 Ngr.
Leone Leoni. Deutſch v. Dr. L. Eichler. 1 Theil. 4 Ngr.
Die letzte Aldini. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 2 Thle. 8 Ngr.
Indiana. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 3 Thle. 12 Ngr.
Spiridion. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 3 Thle. 12 Ngr.
Der Corſar. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 2 Thle. 8 Ngr.
Die Gräfin von Rudolfſtadt. Deutſch v. Dr. L. Meyer.
8 Thle. 1 Thlr. 4 Ngr.
Mauprat. Deutſch von Dr. L. Meyer. 4 Thle. 16 Ngr.
Briefe eines Reiſenden. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 4 Thle.
16 Ngr.
Die Moſaikarbeiter. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 2 Thle, 8 Ngr.
Lelia. Deutſch v. Dr. W. Jordan. 6 Thle. 24 Ngr.
Jacques. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 4 Thle. 16 Ngr.
Valentine. Deutſch v. Dr. L. Meyer. 3 Thle. 12 Ngr.
Der Geheimſekretär. Deutſch v. Dr.L.Meyer. 2 Thle. 8Ngr.
Johanna. Deutſch v. Dr. A. Diezmann. 4 Theile. 16 Ngr.
Otto Wigand.
[][][]
Lucas 11, 13.
Hebräer 11, 13.
Marc. 10, 29.
2 Cor. 5, 17.
„Weſen des Chriſtenthums.“
Vergl, z. B. Weſen des Chriſtenthums S. 402.
Z. B. Römer 8, 9; 1 Corinther 3, 16; Johannes 20, 22 und un¬
zählige andere Stellen.
Wie ſie klingeln, die Pfaffen, wie angelegen ſie's machen,
Daß man komme, nur ja plappre, wie geſtern, ſo heut.
Scheltet mir nicht die Pfaffen! Sie kennen des Menſchen Bedürfniß:
Denn wie iſt er beglückt, plappert er morgen, wie heut.
Achtzehntes Jahrhundert II, 519.
De la création de l'ordre etc., pag. 36.
Anekdota II, 64.
Weſen des Chriſtenthums, zweite Auflage. S. 402.
S. 403.
S. 408.
und Intelligenz an, aber ſie überſahen, daß dieſe in allen Chriſten¬
dung los.
Volksphiloſophie unſerer Tage, S. 22.
Anekdota II, 152.
Joh. 2, 4.
Matth. 10, 35.
Weſen des Chriſtenthums. S. 403.
Marc. 9, 23.
1 Corinther 8; 4.
Ein und zwanzig Bogen. S. 12.
Louis Blanc ſagt (histoire des dix ans, I. p. 138) von der Zeit
der Reſtauration: Le protestantisme devint le fond des idées et des
moeurs.
Proudhon: Création de l'ordre ruft z. B. p. 414 aus: „In der
Induſtrie wie in der Wiſſenſchaft iſt die Veröffentlichung einer Erfindung
die erſte und heiligſte der Pflichten!“
Br. Bauer Lit. Ztg. V, 18.
Lit. Ztg. V, 26.
Lit. Ztg. V, 24.
Lit. Ztg. ebendaſelbſt.
Bruno Bauer: Judenfrage. S. 66.
) Bruno Bauer: Die gute Sache der Freiheit. S. 62 – 63.
) Judenfrage. S. 60.
Lit. Ztg. V. 23; dazu V, 12 ff.
Lit. Ztg. V, 15.
Römer 6, 18.
1 Petri 2, 16.
Jacobi 2, 12.
Röm. 8, 14.
Vergl. mit Röm. 8, 14. — 1 Joh. 3, 10.
Z. B. Marx in den deutſch-franz. Jahrbb. S. 197.
Br. Bauer Judenfr. S. 61.
Heß, Triarchie. S. 76.
Weſen d. Chriſtenth., zweite Auflage. S. 401
Marc. 3, 29.
Vergl.: „Die Communiſten in der Schweiz“, Commiſſional¬
bericht. S. 3.
A. Becker, Volksphiloſophie. S. 22 f.
„Ich bitte Dich, verſchone meine Lunge! Wer Recht behalten will
und hat nur eine Zunge, behält's gewiß!“
Dieß Buch gehört dem König. S. 376.
S. 376.
S. 374.
S. 381.
S. 385.
S. Politiſche Reden 10. S. 153.
Vom Nachfolgenden gilt, was in der Schlußanmerkung hinter
dem humanen Liberalismus geſagt wurde, daß es nämlich ebenfalls gleich
nach dem Erſcheinen des angeführten Buches niedergeſchrieben wurde.
Création de l'ordre p. 485.
Kölner Dom. S. 4.
B. Bauer Lit. Ztg. 8, 22.
E. u. Z. B. S. 89 ff.
Z. B. Qu'est ce que propriété, p. 83.
In einer Regiſtrationsbill für Irland ſtellte die Regierung den
Antrag, Wähler diejenigen ſein zu laſſen, welche 5 Pfund Sterling Ar¬
menſteuer entrichten. Alſo wer Almoſen giebt, der erwirbt politiſche
Rechte, oder wird anderwärts Schwanenritter.
Reiſach, als er dieſen der bairiſchen Regierung kaltherzig preisgab, weil
müſſe, als ein ſimples Individuum“. Reiſach hatte im Auftrage Stein's
gegen Montgelas geſchrieben, und Stein willigte ſpäter in die von Mont¬
gelas gerade dieſes Buchs wegen geforderte Auslieferung Reiſachs, S.
Hinrichs Politiſche Vorleſungen I, 280.
Auf Gymnaſien und Univerſitäten u. ſ. w. concurriren Arme mit
Reichen. Aber ſie vermögens meiſt nur durch Stipendien, die — was
bedeutend — faſt alle aus einer Zeit ſtammen, wo die freie Concurrenz
noch weit davon entfernt war, als Princip zu walten. Das Princip der
Concurrenz ſtiftet keine Stipendien, ſondern meint: Hilf Dir ſelbſt, d. h.
verſchaff Dir die Mittel. Was der Staat zu ſolchem Zwecke hergiebt,
das legt er auf Intereſſen an, um ſich „Diener“ heranzubilden.
II, S. 91. ff. (Siehe meine obige Anmerkung.)
Athanaſius.
Feuerbach, Weſen d. Chr. 394.
Um Mich gegen eine Criminalklage zu ſichern, bemerke Ich zum
Ueberfluß ausdrücklich, daß Ich das Wort „Empörung“ wegen ſeines
etymologiſchen Sinnes wähle, alſo nicht in dem beſchränkten Sinne
gebrauche, welcher vom Strafgeſetzbuche verpönt iſt.
1 Cor. 15, 26.
2 Tim. 1, 10.
Der Communismus in der Schweiz. S. 24.
Ebend. S. 63.
Römer 1, 25.
S. 47 ff.
Pairskammer den 25. April 1844.
Anecdota 1, 120.
Anecdota 1, 127.
1 Theſſ. 5, 21.
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- TextGrid Repository (2025). Stirner, Max. Der Einzige und sein Eigenthum. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnb9.0