[][][][][][][]
Anton Reiſer.


Ein
pſychologiſcher Roman
.

[figure]



Erſter Theil.


Berlin,: 1785.
bei Friedrich Maurer.
[][]

Dieſer pſychologiſche Roman koͤnnte
auch allenfalls eine Biographie genannt
werden, weil die Beobachtungen groͤßten¬
theils aus dem wirklichen Leben genommen
ſind. — Wer den Lauf der menſchlichen
Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige
oft im Fortgange des Lebens ſehr wichtig
werden kann, was anfaͤnglich klein und
unbedeutend ſchien, der wird ſich an die
anſcheineude Geringfuͤgigkeit mancher Um¬
ſtaͤnde, die hier erzaͤhlt werden, nicht ſtoſ¬
ſen. Auch wird man in einem Buche, wel¬
ches* 2[] ches vorzuͤglich die innere Geſchichte des
Menſchen ſchildern ſoll, keine große Man¬
nigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn
es ſoll die vorſtellende Kraft nicht verthei¬
len, ſondern ſie zuſammendraͤngen, und den
Blick der Seele in ſich ſelber ſchaͤrfen. —
Freilich iſt dieß nun keine ſo leichte Sache,
daß gerade jeder Verſuch darinn gluͤcken
muß — aber wenigſtens wird doch vor¬
zuͤglich in paͤdagogiſcher Ruͤckſicht, das Be¬
ſtreben nie ganz unnuͤtz ſeyn, die Auf¬
merkſamkeit des Menſchen mehr auf den
Menſchen ſelbſt zu heften, und ihm ſein in¬
dividuelles Daſeyn wichtiger zu machen.


[[1]]

In P., einem Orte, der wegen ſeines Ge¬
ſundbrunnens beruͤhmt iſt, lebte noch im Jahr
1756 ein Edelmann auf ſeinem Gute, der das
Haupt einer Sekte in Deutſchland war, die
unter dem Namen der Quietiſten oder Separa¬
tiſten bekannt iſt, und deren Lehren vorzuͤglich
in den Schriften der Mad. Guion, einer be¬
kannten Schwaͤrmerin, enthalten ſind, die zu
Fenelons Zeiten, mit dem ſie auch Umgang
hatte, in Frankreich lebte.


Der Hr. v. F., ſo hieß dieſer Edelmann,
wohnte hier von allen uͤbrigen Einwohnern des
Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Ge¬
braͤuchen, eben ſo abgeſondert, wie ſein Haus
von den ihrigen durch eine hohe Mauer geſchie¬
den war, die es von allen Seiten umgab.


Dieß Haus nun machte fuͤr ſich eine kleine
Republik aus, worin gewiß eine ganz andre
Verfaſſung, als rund umher im ganzen Lande
herrſchte. Das ganze Hausweſen bis auf den
geringſten Dienſtbothen beſtand aus lauter ſol¬
chen Perſonen, deren Beſtreben nur dahin ging,
A[2] oder zu gehen ſchien, in ihr Nichts (wie es die
Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle
Leidenſchaften zu ertoͤdten, und alle Eigenheit
auszurotten.


Alle dieſe Perſonen mußten ſich taͤglich ein¬
mal in einem großen Zimmer des Hauſes zu
einer Art von Gottesdienſt verſammlen, den der
Herr v. F. ſelbſt eingerichtet hatte, und welcher
darinn beſtand, daß ſie ſich alle um einen Tiſch
ſetzten, und mit zugeſchloßnen Augen, den Kopf
auf den Tiſch gelegt, eine halbe Stunde war¬
teten, ob ſie etwa die Stimme Gottes oder das
innre Wort, in ſich vernehmen wuͤrden. Wer
dann etwas vernahm, der machte es den uͤbri¬
gen bekannt.


Der Herr v. F. beſtimmte auch die Lektuͤre
ſeiner Leute, und wer von den Knechten oder
Maͤgden eine muͤſſige Viertelſtunde hatte, den
ſahe man nicht anders, als mit einer von der
Mad. Guion Schriften, vom innern Gebet,
oder dergleichen, in der Hand, in einer nach¬
denkenden Stellung ſitzen und leſen.


Alles, bis auf die kleinſten haͤuslichen Be¬
ſchaͤftigungen, hatte in dieſem Hauſe ein ernſtes,
[3] ſtrenges, und feierliches Anſehn. In allen
Mienen glaubte man Ertoͤdtung und Verleug¬
nung
, und in allen Handlungen Ausgehen aus
ſich ſelbſt
und Eingehen ins Nichts zu leſen.


Der Herr v. F. hatte ſich nach dem Tode
ſeiner erſten Gemahlin nicht wieder verheirathet,
ſondern lebte mit ſeiner Schweſter, der Fr. v. P.,
in dieſer Eingezogenheit, um ſich dem großen
Geſchaͤfte, die Lehren der Mad. Guion auszu¬
breiten, ganz und ungeſtoͤrt widmen zu koͤnnen.


Ein Verwalter, Namens H., und eine Haus¬
haͤlterin mit ihrer Tochter, machten gleichſam
den mittlern Stand des Hauſes aus, und dann
folgte das niedrige Geſinde. — Dieſe Leute
ſchloſſen ſich wirklich feſt aneinander, und alles
hatte eine unbegraͤnzte Ehrfurcht gegen den Hrn.
v. F., der wirklich einen unſtraͤflichen Lebens¬
wandel fuͤhrte, obgleich die Einwohner des Orts
ſich mit den aͤrgerlichſten Geſchichten von ihm
trugen.


Er ſtand jede Nacht dreimal zu beſtimmten
Stunden auf, um zu beten, und bei Tage brachte
er ſeine meiſte Zeit damit zu, daß er die Schriften
der Mad. Guion, deren eine große Anzahl von
A 2[4] Baͤnden iſt, aus dem Franzoͤſiſchen uͤberſetzte,
die er denn auf ſeine Koſten drucken ließ, und
ſie umſonſt unter ſeine Anhaͤnger austheilte.


Die Lehren, welche in dieſen Schriften ent¬
halten ſind, betreffen groͤßtentheils jenes ſchon
erwaͤhnte voͤllige Ausgehen aus ſich ſelbſt, und
Eingehen in ein ſeliges Nichts, jene gaͤnzliche
Ertoͤdtung aller ſogenannten Eigenheit oder
Eigenliebe, und eine voͤllig unintereſſirte Liebe
zu Gott, worin ſich auch kein Fuͤnkchen Selbſt¬
liebe mehr miſchen darf, wenn ſie rein ſeyn ſoll,
woraus denn am Ende eine vollkommne, ſelige
Ruhe entſteht, die das hoͤchſte Ziel aller dieſer
Beſtrebungen iſt.


Weil nun die Mad. Guion ſich faſt ihr gan¬
zes Leben hindurch, mit nichts als mit Buͤcher¬
ſchreiben beſchaͤftigt hat, ſo ſind ihrer Schriften
eine ſo erſtaunliche Menge, daß ſelbſt Martin
Luther ſchwerlich mehr geſchrieben haben kann.
Unter andern macht allein eine myſtiſche Erklaͤ¬
rung der ganzen Bibel wohl an zwanzig Baͤnde
aus.


Dieſe Mad. Guion mußte viel Verfolgung
leiden, und wurde endlich, weil man ihre Lehr¬
[5] ſaͤtze fuͤr gefaͤhrlich hielt, in die Baſtille geſetzt,
wo ſie nach einer zehnjaͤhrigen Gefangenſchaft
ſtarb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf
oͤfnete, fand man ihr Gehirn faſt wie ausge¬
trocknet. Sie wird uͤbrigens noch itzt von ihren
Anhaͤngern, als eine Heilige der erſten Groͤße,
beinahe goͤttlich verehrt, und ihre Ausſpruͤche
werden den Ausſpruͤchen der Bibel gleich ge¬
ſchaͤtzt; weil man annimmt, daß ſie durch gaͤnz¬
liche Ertoͤdtung aller Eigenheit, ſo gewiß mit
Gott ſey vereinigt worden, daß alle ihre Gedan¬
ken auch nothwendig goͤttliche Gedanken werden
mußten.


Der Herr v. F. hatte die Schriften der Mad.
Guion auf ſeinen Reiſen in Frankreich kennen
gelernt, und die trockne, metaphyſiſche Schwaͤr¬
merei, welche darinn herrſcht, hatte fuͤr ſeine
Gemuͤthsbeſchaffenheit ſo viel Anziehendes, daß
er ſich ihr mit eben dem Eifer ergab, womit er
ſich wahrſcheinlich, unter andern Umſtaͤnden,
dem hoͤchſten Stoicismus wuͤrde ergeben haben,
womit die Lehren der Mad. Guion, in Anſe¬
hung der gaͤnzlichen Ertoͤdtung aller Begierden
u. ſ. w. oft eine auffallende Aehnlichkeit haben.


[6]

Er wurde nun auch von ſeinen Anhaͤngern
ebenfalls wie ein Heiliger verehrt, und ihm wirk¬
lich zugetrauet, daß er, beim erſten Anblick, das
Innerſte der Seele eines Menſchen durchſchauen
koͤnne.


Zu ſeinem Hauſe geſchahen Wallfahrten von
allen Seiten, und unter denen, die jaͤhrlich,
wenigſtens einmal, dieſes Haus beſuchten, war
auch Antons Vater.


Dieſer, ohne eigentliche Erziehung aufge¬
wachſen, hatte ſeine erſte Frau ſehr fruͤh ge¬
heirathet, immer ein ziemlich wildes herumir¬
rendes Leben gefuͤhrt, wohl zuweilen einige
fromme Ruͤhrungen gehabt, aber nicht viel dar¬
auf geachtet. Bis er nach dem Tode ſeiner er¬
ſten Frau ploͤtzlich in ſich geht, auf einmal tief¬
ſinnig, und wie man ſagt, ein ganz andrer
Menſch wird, und bei ſeinem Aufenthalt in P.
zufaͤlliger Weiſe erſtlich den Verwalter des Hrn.
v. F. und nachher durch dieſen den Hrn. v. F.
ſelber kennen lernte.


Dieſer giebt ihm denn nach und nach die
Guionſchen Schriften zu leſen, er findet Ge¬
[7] ſchmack daran, und wird bald ein erklaͤrter An¬
haͤnger des Hrn. v. F.


Demohngeachtet fiel es ihm ein, wieder zu
heirathen, und er machte mit Antons Mutter
Bekanntſchaft, welche bald in die Heirath wil¬
ligte, das ſie nie wuͤrde gethan haben, haͤtte ſie
die Hoͤlle von Elend vorausgeſehen, die ihr im
Eheſtande drohete. Sie verſprach ſich von ihrem
Manne noch mehr Liebe und Achtung, als ſie
vorher bei ihren Anverwandten genoſſen hatte,
aber wie entſetzlich fand ſie ſich betrogen.


So ſehr die Lehre der Mad. Guion von der
gaͤnzlichen Ertoͤdtung und Vernichtung aller,
auch der ſanften und zaͤrtlichen Leidenſchaften,
mit der harten und unempfindlichen Seele ihres
Mannes uͤbereinſtimmten, ſo wenig war es ihr
moͤglich, ſich jemals mit dieſen Ideen zu ver¬
ſtaͤndigen, wogegen ſich ihr Herz auflehnte.


Dieß war der erſte Keim zu aller nachheri¬
gen ehelichen Zwietracht.


Ihr Mann fing an, ihre Einſichten zu ver¬
achten, weil ſie die hohen Geheimniſſe nicht
faſſen wollte, die die Madam Guion lehrte.


[8]

Dieſe Verachtung erſtreckte ſich nachher auch
auf ihre uͤbrigen Einſichten, und je mehr ſie dies
empfand, je ſtaͤrker mußte nothwendig die ehe¬
liche Liebe ſich vermindern, und das wechſelſei¬
tige Mißvergnuͤgen aneinander mit jedem Tage
zunehmen.


Antons Mutter hatte eine ſtarke Beleſenheit
in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Er¬
kenntniß von ihrem Religionsſyſtem, ſie wußte
z. E. ſehr erbaulich davon zu reden, daß der
Glaube ohne Werke todt ſey, u. ſ. w.


In der Bibel las ſie wirklich zu ganzen
Stunden mit innigem Vergnuͤgen, aber ſobald
ihr Mann es verſuchte, ihr aus den Guionſchen
Schriften vorzuleſen, ſo empfand ſie eine Art
von Bangigkeit, die vermuthlich aus der Vor¬
ſtellung entſtand, ſie werde dadurch in dem rech¬
ten Glauben irre gemacht werden.


Sie ſuchte ſich alsdann auf alle Weiſe loszu¬
machen. — Hiezu kam nun noch, daß ſie vieles
von der Kaͤlte und dem liebloſen Weſen ihres
Mannes auf Rechnung der Guionſchen Lehre
ſchrieb, die ſie nun in ihrem Herzen immermehr
zu verwuͤnſchen anfing, und bei dem voͤlligen
[9] Ausbruch der ehelichen Zwietracht ſie laut ver¬
wuͤnſchte.


So wurde der haͤusliche Friede und die Ruhe
und Wohlfahrt einer Familie Jahre lang durch
dieſe ungluͤcklichen Buͤcher geſtoͤrt, die wahr¬
ſcheinlich einer ſo wenig, wie der andere ver¬
ſtehen mochte.


Unter dieſen Umſtaͤnden wurde Anton ge¬
bohren, und von ihm kann man mit Wahrheit
ſagen, daß er von der Wiege an unterdruͤckt ward.


Die erſten Toͤne, die ſein Ohr vernahm, und
ſein aufdaͤmmernder Verſtand begriff, waren
wechſelſeitige Fluͤche und Verwuͤnſchungen des
unaufloͤslich geknuͤpften Ehebandes.


Ob er gleich Vater und Mutter hatte, ſo
war er doch in ſeiner fruͤheſten Jugend ſchon von
Vater und Mutter verlaſſen, denn er wußte
nicht, an wen er ſich anſchließen, an wen er
ſich halten ſollte, da ſich beide haßten, und ihm
doch einer ſo nahe wie der andre war.


In ſeiner fruͤheſten Jugend hat er nie die
Liebkoſungen zaͤrtlicher Eltern geſchmeckt, nie
nach einer kleinen Muͤhe ihr belohnendes Laͤcheln.


[10]

Wenn er in das Haus ſeiner Eltern trat, ſo
trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des
Zorns, der Thraͤnen und der Klagen.


Dieſe erſten Eindruͤcke ſind nie in ſeinem
Leben aus ſeiner Seele verwiſcht worden, und
haben ſie oft zu einem Sammelplatze ſchwarzer
Gedanken gemacht, die er durch keine Philoſo¬
phie verdraͤngen konnte.


Da ſein Vater im ſiebenjaͤhrigen Kriege mit
zu Felde war, zog ſeine Mutter zwei Jahre lang
mit ihm auf ein kleines Dorf.


Hier hatte er ziemliche Freiheit und einige
Entſchaͤdigung fuͤr die Leiden ſeiner Kindheit.


Die Vorſtellungen von den erſten Wieſen,
die er ſahe, von dem Kornfelde, das ſich einen
ſanften Huͤgel hinanerſtreckte, und oben mit
gruͤnem Gebuͤſch umkraͤnzt war, von dem blauen
Berge, und den einzelnen Gebuͤſchen und Baͤu¬
men, die am Fuß deſſelben auf das gruͤne Gras
ihren Schatten warfen, und immer dichter und
dichter wurde, je hoͤher man hinaufſtieg, miſchen
ſich noch immer unter ſeine angenehmſten Ge¬
danken, und machen gleichſam die Grundlage
[11] aller der taͤuſchenden Bilder aus, die oft ſeine
Phantaſie ſich vormahlt.


Aber wie bald waren dieſe beiden gluͤcklichen
Jahre entflohen!


Es ward Friede, und Antons Mutter zog
mit ihm in die Stadt zu ihrem Manne.


Die lange Trennung von ihm verurſachte ein
kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht, aber bald
folgte auf die betruͤgliche Windſtille ein deſto
ſchrecklicherer Sturm.


Antons Herz zerfloß in Wehmuth, wenn
er einem von ſeinen Eltern Unrecht geben ſollte,
und doch ſchien es ihm ſehr oft, als wenn ſein
Vater, den er bloß fuͤrchtete, mehr Recht habe,
als ſeine Mutter, die er liebte.


So ſchwankte ſeine junge Seele beſtaͤndig
zwiſchen Haß und Liebe, zwiſchen Furcht und
Zutrauen, zu ſeinen Eltern hin und her.


Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebahr
ſeine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun
vollends die wenigen Ueberreſte vaͤterlicher und
muͤtterlicher Liebe fielen, ſo daß er nun faſt ganz
vernachlaͤßiget wurde, und ſich, ſo oft man von
ihm ſprach, mit einer Art von Geringſchaͤtzung
[12] und Verachtung nennen hoͤrte, die ihm durch
die Seele ging.


Woher mochte wohl dieß ſehnliche Ver¬
langen nach einer liebreichen Behandlung bei
ihm entſtehen, da er doch derſelben nie ge¬
wohnt geweſen war, und alſo kaum einige Be¬
griffe davon haben konnte?


Am Ende freilich ward dieß Gefuͤhl ziemlich
bei ihm abgeſtumpft; es war ihm beinahe, als
muͤſſe es beſtaͤndig geſcholten ſeyn, und ein
freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war
ihm ganz etwas ſonderbares, das nicht recht zu
ſeinen uͤbrigen Vorſtellungen paſſen wollte.


Er fuͤhlte auf das innigſte das Beduͤrfniß
der Freundſchaft von ſeines Gleichen: und oft,
wenn er einen Knaben von ſeinem Alter ſahe,
hing ſeine ganze Seele an ihm, und er haͤtte
alles drum gegeben, ſein Freund zu werden;
allein das niederſchlagende Gefuͤhl der Verach¬
tung, die er von ſeinen Eltern erlitten, und die
Scham, wegen ſeiner armſeligen, ſchmutzigen,
und zerrißnen Kleidung hielten ihn zuruͤck, daß
er es nicht wagte, einen gluͤcklichern Knaben
anzureden.


[13]

So ging er faſt immer traurig und einſam
umher, weil die meiſten Knaben in der Nach¬
barſchaft ordentlicher, reinlicher, und beſſer, wie
er, gekleidet waren, und nicht mit ihm umgehen
wollten, und die es nicht waren, mit denen
mochte er wieder, wegen ihrer Liederlichkeit,
und auch vielleicht aus einem gewiſſen Stolz,
keinen Umgang haben.


So hatte er keinen, zu dem er ſich geſellen
konnte, keinen Geſpielen ſeiner Kindheit, keinen
Freund unter Großen noch Kleinen.


Im achten Jahre fing denn doch ſein Vater
an, ihn ſelber etwas leſen zu lehren, und kaufte
ihm zu dem Ende zwei kleine Buͤcher, wovon
das eine eine Anweiſung zum Buchſtabiren, und
das andre eine Abhandlung gegen das Buchſta¬
biren enthielt.


In dem erſten mußte Anton groͤßtentheils
ſchwere bibliſche Namen, als: Nebukadnezar,
Abednego, u. ſ. w., bei denen er auch keinen
Schatten einer Vorſtellung haben konnte, buch¬
ſtabiren. Dieß ging daher etwas langſam.


Allein ſobald er merkte, daß wirklich ver¬
nuͤnftige Ideen durch die zuſammengeſetzten
[14] Buchſtaben ausgedruͤckt waren, ſo wurde ſeine
Begierde, leſen zu lernen, von Tage zu Tage
ſtaͤrker.


Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden
Anweiſung gegeben, und er lernte es nun, zur
Verwunderung aller ſeiner Angehoͤrigen, in
wenig Wochen von ſelber.


Mit innigem Vergnuͤgen erinnert er ſich
noch itzt an die lebhafte Freude, die er damals
genoß, als er zuerſt einige Zeilen, bei denen er
ſich etwas denken konnte, durch vieles Buchſta¬
biren, mit Muͤhe herausbrachte.


Nun aber konnte er nicht begreifen, wie es
moͤglich ſey, daß andre Leute ſo geſchwind leſen
konnten, wie ſie ſprachen; er verzweifelte da¬
mals gaͤnzlich an der Moͤglichkeit, es je ſo weit
zu bringen.


Um deſto groͤßer war nun ſeine Verwunde¬
rung und Freude, da er auch dieß nach einigen
Wochen konnte.


Auch ſchien ihn dieſes bei ſeinen Eltern,
noch mehr aber bei ſeinen Anverwandten in ei¬
nige Achtung zu ſetzen, welches von ihm zwar
[15] nicht unbemerkt blieb, aber doch nie die eigent¬
liche Urſach ward, die ihn zum Fleiß anſpornete.


Seine Begierde zu leſen, war nun unerſaͤtt¬
lich. Zum Gluͤcke ſtanden in dem Buchſtabier¬
buche, außer den bibliſchen Spruͤchen, auch ei¬
nige Erzaͤhlungen von frommen Kindern, die
mehr wie hundertmal von ihm durchgeleſen wur¬
den, ob ſie gleich nicht viel Anziehendes hatten.


Die eine handelte von einem ſechsjaͤhrigen
Knaben, der zur Zeit der Verfolgung die chriſt¬
liche Religion nicht verlaͤugnen wollte, ſondern
ſich lieber auf das entſetzlichſte peinigen, und
nebſt ſeiner Mutter, als ein Maͤrtyrer fuͤr die
Religion ſein Leben ließ; die andre von einem
boͤſen Buben, der ſich im zwanzigſten Jahre
ſeines Lebens bekehrte, und bald darauf ſtarb.


Nun kam auch das andre kleine Buch an die
Reihe, worin die Abhandlung gegen das Buch¬
ſtabiren ſtand, und er zu ſeiner großen Verwun¬
derung laß, daß es ſchaͤdlich, ja ſeelenverderblich
ſey, die Kinder durch Buchſtabiren leſen zu lehren.


In dieſem Buche fand er auch eine Anwei¬
ſung fuͤr Lehrer, die Kinder leſen zu lehren,
und eine Abhandlung uͤber die Hervorbringung
[16] der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge:
ſo trocken ihm dieſes ſchien, ſo las er es doch
aus Mangel an etwas beſſern, mit der groͤßten
Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.


Durch das Leſen war ihm nun auf einmal
eine neue Welt eroͤfnet, in deren Genuß er ſich
fuͤr alle das Unangenehme in ſeiner wirklichen
Welt einigermaßen entſchaͤdigen konnte. Wenn
nun rund um ihn her nichts als Lermen und
Schelten und haͤusliche Zwietracht herrſchte,
oder er ſich vergeblich nach einem Geſpielen um¬
ſah, ſo eilte er hin zu ſeinem Buche.


So ward er ſchon fruͤh aus der natuͤrlichen
Kinderwelt in eine unnatuͤrliche idealiſche Welt
verdraͤngt, wo ſein Geiſt fuͤr tauſend Freuden
des Lebens verſtimmt wurde, die andre mit vol¬
ler Seele genießen koͤnnen.


Schon im achten Jahre bekam er eine Art von
auszehrender Krankheit. Man gab ihn voͤllig auf,
und er hoͤrte beſtaͤndig von ſich, wie von einem,
der ſchon wie ein Todter beobachtet wird, reden.
Dieß war ihm immer laͤcherlich, oder vielmehr
war ihm das Sterben ſelbſt, wie er ſich damals
vorſtellte, mehr etwas Laͤcherliches, als etwas
Ernſt¬[17] Ernſthaftes. Seine Baſe, der er doch etwas
lieber, wie ſeinen Eltern zu ſeyn ſchien, ging
endlich mit ihm zu einem Arzt, und eine Kur
von einigen Monaten ſtellte ihn wieder her.


Kaum war er einige Wochen geſund, als
ihn gerade bei einem Spatziergange mit ſeinen
Eltern auf das Feld, der ihm ſehr etwas ſeltnes,
und eben daher deſto reizender war, der linke
Fuß an zu ſchmerzen fing. Dieß war nach uͤber¬
ſtandner Krankheit ſein erſter und ſollte auf
lange Zeit ſein letzter Spatziergang ſeyn.


Am dritten Tage war die Geſchwulſt und
Entzuͤndung am Fuße ſchon ſo gefaͤhrlich gewor¬
den, daß man am vierten zur Amputation ſchrei¬
ten wollte. Antons Mutter ſaß und weinte,
und ſein Vater gab ihm zwei Pfennige. Dieß
waren die erſten Aeußerungen des Mitleids
gegen ihn, deren er ſich von ſeinen Eltern er¬
innert, und die wegen der Seltenheit einen
deſto ſtaͤrkern Eindruck auf ihn machten.


An dem Tage vor der beſchloßnen Amputa¬
tion kam ein mitleidiger Schuſter zu Antons
Mutter, und brachte ihr eine Salbe, durch de¬
ren Gebrauch ſich die Geſchwulſt und Entzuͤn¬
B[18] dung im Fuße, waͤhrend wenigen Stunden legte.
Zum Fußabnehmen kam es nun nicht, aber der
Schaden dauerte demohngeachtet vier Jahre
lang, ehe er geheilt werden konnte, in welcher
Zeit unſer Anton wiederum unter oft unſaͤg¬
lichen Schmerzen alle Freuden der Kindheit ent¬
behren mußte.


Bei dieſen Schaden konnte er zuweilen ein
ganzes Vierteljahr nicht aus dem Hauſe gehen,
nachdem er eine Weile zuheilte, und immer wie¬
der aufbrach.


Oft mußte er ganze Naͤchte hindurch wim¬
mern und klagen, und die abſcheulichſten
Schmerzen faſt alle Tage beim Verbinden er¬
dulden. Dieß entfernte ihn natuͤrlicher Weiſe
noch mehr aus der Welt und von dem Umgange
mit ſeines Gleichen, und feſſelte ihn immer
mehr an das Leſen und an die Buͤcher. Am
haͤufigſten las er, wenn er ſeinen juͤngern Bru¬
der wiegte, und wann es ihm damals an einem
Buche fehlte, ſo war es, als wenn es ihm itzt
an einem Freunde fehlt: denn das Buch mußte
ihm Freund, und Troͤſter, und alles ſeyn.


[19]

Im neunten Jahre las er alles, was Ge¬
ſchichte in der Bibel iſt, vom Anfange bis zu
Ende durch; und wenn einer von den Haupt¬
perſonen, als Moſes, Samuel, oder David,
geſtorben war, ſo konnte er ſich Tage lang dar¬
uͤber betruͤben, und es war ihm dabey zu Muthe,
als ſey ihm ein Freund abgeſtorben, ſo lieb wur¬
den ihm immer die Perſonen, die viel in der
Welt gethan, und ſich einen Namen gemacht
hatten.


So war Joab ſein Held, und es ſchmerzte
ihn, ſo oft er ſchlecht von ihm denken mußte.
Insbeſondre haben ihn oft die Zuͤge der Gro߬
muth in Davids Geſchichte, wenn er ſeines aͤrg¬
ſten Feindes ſchonte, da er ihn doch in ſeiner
Gewalt hatte, bis zu Thraͤnen geruͤhrt.


Nun fiel ihm das Leben der Altvaͤter in die
Haͤnde, welches ſein Vater ſehr hochſchaͤtzte, und
dieſe Altvaͤter bei jeder Gelegenheit als Autori¬
taͤten anfuͤhrte. So fingen ſich gemeiniglich
ſeine moraliſchen Reden an: die Madam Guion
ſpricht
, oder der heilige Makarius oder An¬
tonius ſagt
u. ſ. w.


[20]

Die Altvaͤter, ſo abgeſchmackt und aben¬
theuerlich oft ihre Geſchichte ſeyn mochte, wa¬
ren fuͤr Anton die wuͤrdigſten Muſter zur Nach¬
ahmung, und er kannte eine Zeitlang keinen
hoͤhern Wunſch, als ſeinem großen Namensge¬
noſſen, dem heiligen Antonius, aͤhnlich zu wer¬
den, und wie dieſer Vater und Mutter zu verlaſſen
und in eine Wuͤſte zu fliehen, die er nicht weit
vom Thore zu finden hofte, und wohin er ein¬
mal wirklich eine Reiſe antrat, indem er ſich
uͤber hundert Schritte weit von der Wohnung
ſeiner Eltern entfernte, und vielleicht noch wei¬
ter gegangen waͤre, wenn die Schmerzen an
ſeinem Fuße ihn nicht genoͤthiget haͤtten, wieder
zuruͤck zu kehren. Auch fing er wirklich zuwei¬
len an, ſich mit Nadeln zu pricken, und ſonſt zu
peinigen, um dadurch den heiligen Altvaͤtern
einigermaßen aͤhnlich zu werden, da es ihm doch
ohnedem an Schmerzen nicht fehlte.


Waͤhrend dieſer Lektuͤre ward ihm ein kleines
Buch geſchenkt, deſſen eigentlichen Titel er ſich
nicht erinnert, das aber von einer fruͤhen Got¬
tesfurcht handelte, und Anweiſung gab, wie
[21] man ſchon vom ſechſten bis zum vierzehnten
Jahre in der Froͤmmigkeit wachſen koͤnne. Die
Abhandlungen in dieſem Buͤchelchen hießen alſo:
fuͤr Kinder von ſechs Jahren, fuͤr Kinder
von ſieben Jahren
u. ſ. w. Anton las alſo
den Abſchnitt fuͤr Kinder von neun Jahren,
und fand, daß es noch Zeit ſey, ein frommer
Menſch zu werden, daß er aber ſchon drei Jahre
verſaͤumt habe.


Dieß erſchuͤtterte ſeine ganze Seele, und er
faßte einen ſo feſten Vorſatz ſich zu bekehren, wie
ihn wohl ſelten Erwachſene faſſen moͤgen. Von
der Stunde an befolgte er alles, was von
Gebet, Gehorſam, Geduld, Ordnung u. ſ. w.
in dem Buche ſtand, auf das puͤnktlichſte, und
machte ſich nun beinahe jeden zu ſchnellen Schritt
zur Suͤnde. Wie weit, dachte er, werde ich
nun nicht ſchon in fuͤnf Jahren ſeyn, wenn ich
hierbey bleibe. Denn in dem kleinen Buche
war das Fortruͤcken in der Froͤmmigkeit gleich¬
ſam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie
man etwa ſich freuet, aus einer Klaſſe in die
andere immer hoͤher geſtiegen zu ſeyn.


[22]

Wenn er, wie natuͤrlich, ſich zuweilen vergaß,
und einmal, wenn er Linderung an ſeinem Fuße
fuͤhlte, umher ſprang oder lief, ſo fuͤhlte er dar¬
uͤber die heftigſten Gewiſſensbiſſe, und es war
ihm immer, als ſey er nun ſchon einige Stufen
wieder zuruͤckgekommen.


Dieſes kleine Buch hatte lange einen ſtarken
Einfluß auf ſeine Handlungen und Geſinnung¬
gen: denn was er las, das ſuchte er auch gleich
auszuuͤben. Daher las er auf jeden Tag in der
Woche ſehr gewiſſenhaft den Abend- und Mor¬
genſegen, weil im Katechismus ſtand, man
muͤſſe ihn leſen; auch vergaß er nicht, das Kreuz
dabey zu machen, und das walte zu ſagen, wie
es im Katechismus befohlen war.


Sonſt ſahe er nicht viel von Froͤmmigkeit,
ob er gleich immer viel davon reden hoͤrte, und
ſeine Mutter ihn alle Abend einſegnete, und nie¬
mals vergaß, ehe er einſchlief, das Zeichen des
Kreuzes uͤber ihn zu machen.


Der Herr v. F. hatte unter andern die geiſt¬
lichen Lieder der Madam Guion ins Deutſche
uͤberſetzt, und Antons Vater, der muſikaliſch
[23] war, paßte ihnen Melodien an, die groͤßten¬
theils einen raſchen, froͤhlichen Gang hatten.


Wenn es ſich nun fuͤgte, daß er etwa einmal
nach einer langen Trennung wieder zu Hauſe
kam, ſo ließ ſich denn doch die Ehegattin uͤber¬
reden, einige dieſer Lieder mitzuſingen, wozu
er die Zitter ſpielte. Dieß geſchahe gemeiniglich
kurz nach der erſten Freude des Wiederſehens,
und dieſe Stunden mochten wohl noch die gluͤck¬
lichſten in ihrem Eheſtande ſeyn.


Anton war dann am froheſten, und ſtimmte
oft ſo gut er konnte, in dieſe Lieder ein, die ein
Zeichen der ſo ſeltnen wechſelſeitigen Harmonie
und Uebereinſtimmung bei ſeinen Eltern waren.


Dieſe Lieder gab ihm nun ſein Vater, da er
ihn fuͤr reif genug zu dieſer Lektuͤre hielt, in die
Haͤnde, und ließ ſie ihn zum Theil auswendig
lernen.


Wirklich hatten dieſe Geſaͤnge, ohngeachtet
der ſteifen Ueberſetzung, immer noch ſo viel
Seelenſchmelzendes, eine ſo unnachahmliche
Zaͤrtlichkeit im Ausdrucke, ſolch ein ſanftes Hell¬
dunkel in der Darſtellung, und ſo viel unwi¬
derſtehlich Anziehendes fuͤr eine weiche Seele,
B 4[24] daß der Eindruck, den ſie auf Antons Herz
machten, bei ihm unausloͤſchlich geblieben iſt.


Oft troͤſtete er ſich in einſamen Stunden,
wo er ſich von aller Welt verlaſſen glaubte,
durch ein ſolches Lied vom ſeligen Ausgehen aus
ſich ſelber, und der ſuͤßen Vernichtung vor dem
Urquelle des Daſeyns.


So gewaͤhrten ihm ſchon damals ſeine kin¬
diſchen Vorſtellungen oft eine Art von himmli¬
ſcher Beruhigung.


Einmal waren ſeine Eltern bei dem Wirth
des Hauſes, wo ſie wohnten, des Abends zu
einem kleinen Familienfeſte gebeten. Anton
mußte es aus dem Fenſter mit anſehen, wie die
Kinder der Nachbarn ſchoͤn geputzt zu dieſem
Feſte kamen, indeß er allein auf der Stube zu¬
ruͤckbleiben mußte, weil ſeine Eltern ſich ſeines
ſchlechten Aufzuges ſchaͤmten. Es wurde Abend,
und ihn fing an zu hungern; und nicht einmal
ein Stuͤckchen Brod hatten ihm ſeine Eltern zu¬
ruͤckgelaſſen.


Indeß er oben einſam ſaß und weinte, ſchallte
das froͤhliche Getuͤmmel von unten zu ihm her¬
auf. — Verlaſſen von allem, fuͤhlte er erſt
[25] eine Art von bitterer Verachtung gegen ſich ſelbſt,
die ſich aber ploͤtzlich in eine unausſprechliche
Wehmuth verwandelte, da er zufaͤlliger Weiſe
die Lieder der Madam Guion aufſchlug, und
eins fand, das gerade auf ſeinen Zuſtand zu
paſſen ſchien. — Eine ſolche Vernichtung, wie
er in dieſem Augenblick fuͤhlte, mußte nach dem
Liede der Mad. Guion vorhergehen, um ſich in
dem Abgrunde der ewigen Liebe, wie ein Tro¬
pfen im Ocean, zu verlieren. — — Allein, da
nun der Hunger anfing, ihm unausſtehlich zu
werden, ſo wollten auch die Troͤſtungen der
Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte
es, hinunter zu gehen, wo ſeine Eltern in großer
Geſellſchaft ſchmauſeten, oͤfnete ein klein wenig
die Thuͤre, und bat ſeine Mutter um den Schluͤſ¬
ſel zum Speiſeſchranke, und um die Erlaubniß,
ſich ein wenig Brod nehmen zu duͤrfen, weil
ihn ſehr hungere.


Dieß erweckte erſt das Gelaͤchter und nach¬
her das Mitleid der Geſellſchaft, nebſt einigen
Unwillen gegen ſeine Eltern.


Er ward mit an den Tiſch gezogen, und ihm
von dem Beſten vorgelegt, welches ihm denn
B 5[26] freylich eine ganz andre Art von Freude, als
vorher die Guionſchen Troſtlieder, gewaͤhrte.


Allein auch jene ſchwermuthsvolle thraͤnen¬
reiche Freude behielt immer etwas Anziehendes
fuͤr ihn, und er uͤberließ ſich ihr, indem er die
Guionſchen Lieder las, ſo oft ihm ein Wunſch
fehlgeſchlagen war, oder ihm etwas trauriges
bevorſtand, als wenn er z. B. vorher wußte,
daß ſein Fuß verbunden, und die Wunde mit
Hoͤllenſtein beſtrichen werden ſollte.


Das zweyte Buch, was ihn ſein Vater nebſt
den Guionſchen Liedern leſen ließ, war eine
Anweiſung zum innern Gebet von eben die¬
ſer Verfaſſerin.


Hierin ward gezeigt, wie man nach und nach
dahin kommen koͤnne, ſich im eigentlichen Ver¬
ſtande mit Gott zu unterreden, und ſeine Stim¬
me im Herzen, oder das eigentliche innre Wort,
deutlich zu vernehmen; indem man ſich nehmlich
zuerſt ſo viel wie moͤglich von den Sinnen loß
zu machen, und ſich mit ſich ſelbſt und ſeinen
eignen Gedanken zu beſchaͤftigen ſuchte, oder
meditiren lernte, welches aber auch erſt aufhoͤ¬
ren, und man ſich ſelbſt ſogar erſt vergeſſen
[27] muͤſſe, ehe man faͤhig ſey, die Stimme Gottes
in ſich zu vernehmen.


Dieß ward von Anton mit dem groͤßten Ei¬
fer befolgt, weil er wirklich begierig war, ſo
etwas Wunderbares, als die Stimme Gottes,
in ſich zu hoͤren.


Er ſaß daher halbe Stunden lang mit ver¬
ſchloßnen Augen, um ſich von der Sinnlichkeit
abzuziehen. Sein Vater that dieſes zum groͤßten
Leidweſen ſeiner Mutter ebenfalls. Auf Anton
aber achtete ſie nicht, weil ſie ihn zu keiner Ab¬
ſicht faͤhig hielt, die er dabey haben koͤnne.


Anton kam bald ſo weit, daß er glaubte, von
den Sinnen ziemlich abgezogen zu ſeyn, und
nun fing er an, ſich wirklich mit Gott zu unter¬
reden, mit dem er bald auf einen ziemlich ver¬
traulichen Fuß umging. Den ganzen Tag uͤber,
bei ſeinen einſamen Spatziergaͤngen, bei ſeinen
Arbeiten, und ſogar bei ſeinem Spiele ſprach
er mit Gott, zwar immer mit einer Art von
Liebe und Zutrauen, aber doch ſo, wie man ohn¬
gefaͤhr mit einem ſeines Gleichen ſpricht, mit
dem man eben nicht viel Umſtaͤnde macht, und
[28] ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott
dieſes oder jenes antwortete.


Freylich ging es nicht ſo ab, daß es nicht zu¬
weilen einige Unzufriedenheit ſollte geſetzt haben,
wenn etwa ein unſchuldiges Spielwerk, oder
ſonſt ein Wunſch vereitelt ward. Dann hieß es
oft: aber mir auch dieſe Kleinigkeit nicht einmal
zu gewaͤhren! oder, das haͤtteſt du doch wohl
koͤnnen geſchehen laſſen, wenn's irgend moͤglich
geweſen waͤre! und ſo nahm es ſich denn Anton
nicht uͤbel, zuweilen ein wenig mit Gott nach
ſeiner Art boͤſe zu thun; denn obgleich davon
nichts in der Madam Guion Schriften ſtand,
ſo glaubte er doch, es gehoͤre mit zum vertrau¬
lichen Umgange.


Alle dieſe Veraͤnderungen gingen mit ihm
vom neunten bis zum zehnten Jahre vor. Waͤh¬
rend dieſer Zeit nahm ihn auch ſein Vater, wegen
des Schadens am Fuße, mit nach dem Geſund¬
brunnen in P. Wie freute er ſich nun, den
Hrn. v. F. perſoͤnlich kennen zu lernen, von dem
ſein Vater beſtaͤndig mit ſolcher Ehrfurcht, wie
von einem uͤbermenſchlichen Weſen geredet hatte,
und wie freute er ſich, dort von ſeinen großen
[29] Fortſchritten in der innern Gottſeligkeit Rechen¬
ſchaft ablegen zu koͤnnen: ſeine Einbildungskraft
mahlte ihm dort eine Art von Tempel, worin er
auch als Prieſter eingeweiht, und als ein ſolcher
zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zu¬
ruͤckkehren wuͤrde.


Er machte nun mit ſeinem Vater die erſte
Reiſe, und waͤhrend derſelben war dieſer auch
etwas guͤtiger gegen ihn, und gab ſich mehr mit
ihm ab, als zu Hauſe. Anton ſahe hier die
Natur in unausſprechlicher Schoͤnheit. Die
Berge rund umher in der Ferne und in der
Naͤhe und die lieblichen Thaͤler entzuͤckten ſeine
Seele, und ſchmolzen ſie in Wehmuth, die theils
aus der Erwartung der großen Dinge entſtand,
die hier mit ihm vorgehen ſollten.


Der erſte Gang mit ſeinem Vater war in
das Haus des Hrn. v. F., wo dieſer den Ver¬
walter, Hrn. H., zuerſt ſprach, ihn umarmte
und kuͤßte, und auf das freundſchaftlichſte von
ihm bewillkommt wurde.


Ohngeachtet der großen Schmerzen, die An¬
ton durch die Reiſe an ſeinem Fuße empfand,
war er doch beim Eintritt in das Haus des Hrn.
[30] v. F. vor Freuden außer ſich. Anton blieb dieſen
Tag in der Stube des Hrn. H., mit dem er
kuͤnftig alle Abend ſpeiſen mußte. Uebrigens
bekuͤmmerte man ſich doch im Hauſe lange nicht
ſo viel um ihn, wie er erwartet hatte.


Seine Uebungen im innern Gebet ſetzte er
nun ſehr fleißig fort; allein es konnte denn frey¬
lich nicht fehlen, daß ſie nicht zuweilen eine ſehr
kindiſche Wendung nehmen mußten. Hinter
dem Hauſe, wo ſein Vater in P. logirte, war
ein großer Baumgarten: hier fand er zufaͤlliger
Weiſe einen Schiebkarn, und machte ſich das
Vergnuͤgen, damit im ganzen Garten herum¬
zuſchieben.


Um dieß nun aber zu rechtfertigen, weil er
anfing, es fuͤr Suͤnde zu halten, bildete er ſich
eine ganz ſonderbare Grille. Er hatte nehmlich
in den Guionſchen Schriften und anderwaͤrts
viel von dem Jeſulein geleſen, von welchem ge¬
ſagt wurde, daß es allenthalben ſey, und man
beſtaͤndig und an allen Orten mit ihm umgehen
koͤnne.


Das Diminutivum machte, daß er ſich einen
Knaben, noch etwas kleiner wie er, darunter
[31] vorſtellte, und da er nun mit Gott ſelber ſchon
ſo vertraut umging, warum nicht noch vielmehr
mit dieſem ſeinen Sohne, dem er zutraute, daß
er ſich nicht weigern werde, mit ihm zu ſpielen,
und alſo auch nichts dawider haben werde, wenn
er ihn ein wenig auf den Schiebkarn herum
fahren wollte.


Nun ſchaͤtzte er es ſich aber doch fuͤr ein ſehr
großes Gluͤck, eine ſo hohe Perſon auf den
Schiebkarren herum fahren zu koͤnnen, und ihr
dadurch ein Vergnuͤgen zu machen; und da dieſe
Perſon nun ein Geſchoͤpf ſeiner Einbildungs¬
kraft war, ſo machte er auch mit ihr, was er
wollte, und ließ ſie oft kuͤrzer, oft laͤnger an
dem Fahren Gefallen finden, ſagte auch wohl
zuweilen mit der groͤßten Ehrerbietigkeit, wenn
er vom Fahren muͤde war: ſo gern ich wollte, iſt
es mir doch jetzt unmoͤglich, dich noch laͤnger
zu fahren.


So ſahe er dieß am Ende fuͤr eine Art von
Gottesdienſt an, und hielt es nun fuͤr keine
Suͤnde mehr, wenn er ſich auch halbe Tage
mit dem Schiebkarren beſchaͤftigte.


[32]

Nun aber bekam er ſelbſt mit Bewilligung
des Hrn. v. F. ein Buch in die Hand, daß ihn
wieder in eine ganz andre und neue Welt fuͤhrte.
Es war die Acerra philologika. Hier las er
nun die Geſchichte von Troja, vom Ulyſſes,
von der Circe, vom Tartarus und Elyſium, und
war ſehr bald mit allen Goͤttern und Goͤttinnen
des Heidenthums bekannt. Bald darauf gab
man ihm auch den Telemach, ebenfalls mit Be¬
willigung des Hrn. v. F. zu leſen, vielleicht weil
der Verfaſſer deſſelben, Hr. v. Fenelon, mit der
Madam Guion Umgang hatte.


Die Acerra philologika war ihm zur Lektuͤre
des Telemach eine ſchoͤne Vorbereitung geweſen,
weil er dadurch mit der Goͤtterlehre ziemlich
bekannt geworden war, und ſich ſchon fuͤr die
meiſten Helden intereßirte, die er im Telemach
wieder fand.


Dieſe Buͤcher wurden verſchiedne male nach
einander mit der groͤßten Begierde und mit
wahrem Entzuͤcken von ihm durchgeleſen, ins¬
beſondere der Telemach, worin er zum erſten¬
male die Reize einer ſchoͤnen zuſammenhaͤngen¬
den Erzaͤhlung ſchmeckte.


[33]

Die Stelle, welche ihn im ganzen Tele¬
mach am lebhafteſten geruͤhrt hat, war die
ruͤhrende Anrede des alten Mentors an den
jungen Telemach, als dieſer auf der Inſel
Cypern die Tugend mit dem Laſter zu vertau¬
ſchen im Begriff war, und ihm nun ſein ge¬
treuer lange von ihm fuͤr verlohren gehaltener
Mentor ploͤtzlich wieder erſchien, deſſen trauren¬
der Anblick ihn bis in das innerſte ſeiner Seele
erſchuͤtterte.


Dieß hatte nun freylich fuͤr Antons Seele
weit mehr Anziehendes, als die bibliſche Ge¬
ſchichte, und alles, was er vorher in dem Leben
der Altvaͤter, oder in den Guionſchen Schriften
geleſen hatte; und da ihm nie eigentlich geſagt
worden war, daß jenes wahr, und dieſes falſch
ſey, ſo fand er ſich gar nicht ungeneigt, die
heidniſche Goͤttergeſchichte mit allem, was da
hineinſchlug, wirklich zu glauben.


Eben ſo wenig konnte er aber auch, was in
der Bibel ſtand, verwerfen; um ſo vielmehr, da
dieß die erſten Eindruͤcke auf ſeine Seele gewe¬
ſen waren. Er ſuchte alſo, welches ihm allein
uͤbrig blieb, die verſchiedenen Syſteme, ſo gut
C[34] er konnte, in ſeinem Kopfe zu vereinigen, und
auf die Weiſe die Bibel mit dem Telemach, das
Leben der Altvaͤter mit der Acerra philologika,
und die heidniſche Welt mit der chriſtlichen zu,
ſammen zu ſchmelzen.


Die erſte Perſon in der Gottheit und Jupi¬
ter, Calypſo und die Madam Guion, der Him¬
mel und Elyſium, die Hoͤlle und der Tartarus,
Pluto und der Teufel, machten bey ihm die
ſonderbarſte Ideenkombination, die wohl je in
einem menſchlichen Gehirn mag exiſtirt haben.


Dieß machte einen ſo ſtarken Eindruck auf
ſein Gemuͤth, daß er noch lange nachher eine
gewiſſe Ehrfurcht gegen die heidniſchen Gotthei¬
ten behalten hat.


Von dem Hauſe, wo Antons Vater logirte,
bis nach dem Geſundbrunnen und der Allee
dabei, war ein ziemlich weiter Weg. Anton
ſchleppte ſich demohngeachtet mit ſeinem ſchmer¬
zenden Fuße, das Buch unterm Arm, hinaus,
und ſetzte ſich auf eine Bank in der Allee, wo
er im Leſen nach und nach ſeinen Schmerz ver¬
gaß, und bald nicht nur auf der Bank in P.
ſondern auf irgend einer Inſel mit hohen
[35] Schloͤſſern und Thuͤrmen, oder mitten im wil¬
den Kriegsgetuͤmmel ſich befand.


Mit einer Art von wehmuͤthiger Freude laß
er nun, wenn Helden fielen, es ſchmerzte ihn
zwar, aber doch daͤuchte ihm, ſie mußten fallen.
Dieß mochte auch wohl einen großen Einfluß
auf ſeine kindiſchen Spiele haben. Ein Fleck
voll hochgewachſener Neſſeln oder Diſteln waren
ihm ſo viele feindliche Koͤpfe, unter denen er
manchmal grauſam wuͤthete, und ſie mit ſeinem
Stabe einen nach dem andern herunter hieb.


Wenn er auf der Wieſe ging, ſo machte er
eine Scheidung, und ließ in ſeinen Gedanken
zwey Heere gelber oder weißer Blumen gegen¬
einander anruͤcken. Den groͤßten unter ihnen
gab er Namen von ſeinen Helden, und eine
benannte er auch wohl von ſich ſelber. Dann
ſtellte er eine Art von blinden Fatum vor, und
mit zugemachten Augen hieb er mit ſeinem
Stabe, wohin er traf.


Wenn er dann ſeine Augen wieder eroͤffnete,
ſo ſah er die ſchreckliche Zerſtoͤrung, hier lag ein
Held und dort einer auf den Boden hingeſtreckt,
und oft erblickte er mit einer ſonderbaren weh¬
C 2[36] muͤthigen und doch angenehmen Empfindung ſich
ſelbſt unter den Gefallenen.


Er betrauerte dann eine Weile ſeine Helden,
und verließ das fuͤrchterliche Schlachtfeld. Zu
Hauſe, nicht weit von der Wohnung ſeiner
Eltern, war ein Kirchhof, auf welchem er eine
ganze Generation von Blumen und Pflanzen
mit eiſernem Scepter beherrſchte, und keinen
Tag hingehen ließ, wo er nicht mit ihnen eine
Art von Muſterung hielt.


Als er von P. wieder nach Hauſe gereiſt war,
ſchnitzte er ſich alle Helden aus dem Telemach
von Papier, bemahlte ſie nach den Kupferſti¬
chen mit Helm und Panzer, und ließ ſie einige
Tage lang in Schlachtordnung ſtehen, bis er
endlich ihr Schickſal entſchied, und mit grauſa¬
men Meſſerhieben unter ihnen wuͤthete, dieſem
den Helm, jenem den Schaͤdel zerſpaltete, und
rund um ſich her nichts als Tod und Verder¬
ben ſahe.


So liefen alle ſeine Spiele auch mit Kirſch-
und Pflaumkernen auf Verderben und Zerſtoͤ¬
rung hinaus. Auch uͤber dieſe mußte ein blin¬
des Schickſal walten, indem er zwei verſchiedne
[37] Arten als Heere gegeneinander anruͤcken, und
nun mit zugemachten Augen den eiſernen Ham¬
mer auf ſie herabfallen ließ, und wem es traf,
den trafs.


Wenn er Fliegen mit der Klappe todt ſchlug,
ſo that er dieſes mit einer Art von Feierlichkeit,
indem er einer jeden mit einem Stuͤcke Meßing,
das er in der Hand hatte, vorher die Todten¬
glocke laͤutete. Das allergroͤßte Vergnuͤgen
machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papier¬
nen Haͤuſern erbauete Stadt verbrennen, und
dann nachher mit feierlichem Ernſt und Weh¬
muth den zuruͤckgebliebenen Aſchenhaufen be¬
trachten konnte.


Ja als in der Stadt, wo ſeine Eltern wohn¬
ten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus ab¬
brannte, ſo empfand er bei allem Schreck eine
Art von geheimen Wunſche, daß das Feuer nicht
ſobald geloͤſcht werden moͤgte.


Dieſer Wunſch hatte nichts weniger als
Schadenfreude zum Grunde, ſondern entſtand
aus einer dunklen Ahndung von großen Veraͤn¬
derungen, Auswanderungen und Revolutionen,
wo alle Dinge eine ganz andre Geſtalt bekom¬
C 3[38] men, und die bisherige Einfoͤrmigkeit aufhoͤren
wuͤrde.


Selbſt der Gedanke an ſeine eigne Zerſtoͤrung
war ihm nicht nur angenehm, ſondern verur¬
ſachte ihm ſogar eine Art von wolluͤſtiger Em¬
pfindung, wenn er oft des Abends, ehe er ein¬
ſchlief, ſich die Aufloͤſung und das Auseinander¬
fallen ſeines Koͤrpers lebhaft dachte.


Antons dreimonatlicher Aufenthalt in P.
war ihm in vieler Ruͤckſicht ſehr vortheilhaft,
weil er faſt immer ſich ſelbſt uͤberlaſſen war, und
das Gluͤck hatte, dieſe kurze Zeit wieder von ſei¬
nen Eltern entfernt zu ſeyn, indem ſeine Mut¬
ter zu Hauſe geblieben war, und ſein Vater
andre Geſchaͤfte in P. hatte, und ſich nicht viel
um ihn bekuͤmmerte; doch aber ſich hier, wenn
er ihn zuweilen ſahe, weit guͤtiger, als zu Hauſe,
gegen ihn betrug.


Auch logirte mit Antons Vater in demſelben
Hauſe ein Englaͤnder, der gut deutſch ſprach,
und ſich mit Anton mehr abgab, wie irgend einer
vor ihm gethan hatte, indem er anfing, ihn
durch bloßes Sprechen Engliſch zu lehren, und
ſich uͤber ſeine Progreſſen freute. Er unterre¬
[39] dete ſich mit ihm, ging mit ihm ſpatzieren, und
konnte am Ende faſt gar nicht mehr ohne ihn
ſeyn.


Dies war der erſte Freund, den Anton auf
Erden fand: mit Wehmuth nahm er von ihm
Abſchied. Der Englaͤnder druͤckte ihm bei ſeiner
Abreiſe ein ſilbern Schauſtuͤck in die Hand, das
ſollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er
einmal nach England kaͤme, wo ihm ſein Haus
offen ſtaͤnde: nach funfzehn Jahren kam Anton
wirklich nach England, und hatte noch ſein
Schauſtuͤck bei ſich, aber der erſte Freund ſeiner
Jugend war todt.


Anton ſollte einmal dieſen Englaͤnder gegen
einen Fremden, der ihn beſuchen wollte, ver¬
laͤugnen, und ſagen, er ſey nicht zu Hauſe.
Man konnte ihn auf keine Weiſe dazu bringen,
weil er keine Luͤge begehen wollte.


Dies wurde ihm damals ſehr hoch angerech¬
net, und war juſt einer der Faͤlle, wo er tugend¬
hafter ſcheinen wollte, als er wirklich war, denn
er hatte ſich ſonſt eben aus einer Nothluͤge nicht
ſo ſehr viel gemacht; aber ſeinen wahren innern
Kampf, wo er oft ſeine unſchuldigſten Wuͤnſche
C 4[40] einem eingebildeten Mißfallen des goͤttlichen We¬
ſens aufopferte, bemerkte niemand.


Indes war ihm das liebreiche Betragen, das
man in P. gegen ihn bewies, ſehr aufmunternd,
und erhob ſeinen niedergedruͤckten Geiſt ein
wenig. Wegen ſeiner Schmerzen am Fuße be¬
zeugte man ihm Mitleid, im v. F..ſchen Hauſe
begegnete man ihm leutſelig, und der Hr. v. F.
kuͤßte ihn auf die Stirne, ſo oft er ihm auf der
Straße begegnete. Dergleichen Begegnungen
waren ihm ganz etwas Ungewohntes und Ruͤh¬
rendes, das ſeine Stirne wieder freier, ſein Auge
offner, und ſeine Seele heitrer machte.


Er fing nun auch an, ſich auf die Poeſie zu
legen, und beſang, was er ſah und hoͤrte. Er
hatte zwei Stiefbruͤder, die beide in P. das
Schneiderhandwerk lernten, und deren Meiſter
ebenfalls Anhaͤnger der Lehre des Hrn. v. F.
waren. Von dieſen nahm er in Verſen, die er
ſelbſt gemacht und auswendig gelernt hatte, ſehr
ruͤhrend Abſchied, ſo wie auch von dem v. F..ſchen
Hauſe.


Freilich kehrte er nun nicht ſo wieder von P.
zu Hauſe, wie er erwartet hatte, aber doch war
[41] er in dieſer kurzen Zeit ein ganz andrer Menſch
geworden, und ſeine Ideenwelt um ein Großes
bereichert.


Allein zu Hauſe wurde durch die erneuerte
Zwietracht ſeiner Eltern, wozu vermuthlich die
Ankunft ſeiner beiden Stiefbruͤder vieles beitrug,
und durch das unaufhoͤrliche Schelten und Toben
ſeiner Mutter, die guten Eindruͤcke, die er in P.
und beſonders in dem v. F. .ſchen Hauſe erhal¬
ten hatte, bald wieder ausgeloͤſcht, und er be¬
fand ſich aufs neue in ſeiner vorigen gehaͤſſigen
Lage, wodurch ſeine Seele ebenfalls finſter und
menſchenfeindlich gemacht wurde.


Da Antons beide Stiefbruͤder bald abreiſe¬
ten, um ihre Wanderſchaft anzutreten, ſo war
auch der haͤusliche Friede eine Zeitlang wieder
hergeſtellt, und Antons Vater las nun zuweilen
ſelber, anſtatt aus der Madam Guion Schriften,
etwas aus dem Telemach vor, oder erzaͤhlte ein
Stuͤck aus der aͤltern oder neuern Geſchichte,
worin er wirklich ziemlich bewandert war (denn
neben ſeiner Muſik, worin er es im Praktiſchen
weit gebracht hatte, machte er beſtaͤndig aus dem
Leſen nuͤtzlicher Buͤcher ein eignes Studium,
C 5[42] bis endlich die Guionſchen Schriften alles uͤbrige
verdraͤngten.


Er redte daher auch eine Art von Buͤcher¬
ſprache, und Anton erinnert ſich noch ſehr ge¬
nau, wie er im ſiebenten oder achten Jahre oft
ſehr aufmerkſam zuhoͤrte, wann ſein Vater
ſprach, und ſich wunderte, daß er von allen den
Woͤrtern, die ſich auf heit, und keit, und ung
endigten, keine Sylbe verſtand, da er doch ſonſt,
was geſprochen wurde, verſtehen konnte.


Auch war Antons Vater außer dem Hauſe
ein ſehr umgaͤnglicher Mann, und konnte ſich
mit allerlei Leuten uͤber allerlei Materien ange¬
nehm unterhalten. Vielleicht waͤre auch alles
im Eheſtande beſſer gegangen, wenn Antons
Mutter nicht das Ungluͤck gehabt haͤtte, ſich oft
fuͤr beleidigt, und gern fuͤr beleidigt zu halten,
auch wo ſie es wirklich nicht war, um nur Urſach
zu haben, ſich zu kraͤnken und zu betruͤben, und
ein gewiſſes Mitleid mit ſich ſelber zu empfinden,
worin ſie eine Art von Vergnuͤgen fand.


Leider ſcheint ſie dieſe Krankheit auf ihren
Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft ver¬
geblich damit zu kaͤmpfen hat.


[43]

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen,
und ihm ſein Antheil hingelegt wurde, ohne da¬
bei zu ſagen, es ſey der ſeinige, ſo ließ er ihn
lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fuͤr ihn
beſtimmt war, um nur die Suͤßigkeit des Un¬
rechtleidens zu empfinden, und ſagen zu koͤnnen,
alle andre haben etwas, und ich nichts bekom¬
men! Da er eingebildetes Unrecht ſchon ſo ſtark
empfand, um ſo viel ſtaͤrker mußte er das wirk¬
liche empfinden. Und gewiß iſt wohl bei nie¬
manden die Empfindung des Unrechts ſtaͤrker,
als bei Kindern, und niemanden kann auch
leichter Unrecht geſchehen; ein Satz, den alle
Paͤdagogen taͤglich und ſtuͤndlich beherzigen
ſollten.


Oft konnte Anton ſtundenlang nachdenken,
und Gruͤnde gegen Gruͤnde auf das genaueſte
abwaͤgen, ob eine Zuͤchtigung von ſeinem Vater
recht oder unrecht ſey?


Jetzt genoß er in ſeinem eilften Jahre zum
erſtenmale das unausſprechliche Vergnuͤgen ver¬
botner Lektuͤre.


Sein Vater war ein abgeſagter Feind von
allen Romanen, und drohete ein ſolches Buch
[44] ſogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es in
ſeinem Hauſe faͤnde. Demohngeachtet bekam
Anton durch ſeine Baſe die ſchoͤne Baniſe, die
Tauſend und eine Nacht, und die Inſel Felſen¬
burg in die Haͤnde, die er nun heimlich und ver¬
ſtohlen, obgleich mit Bewußtſeyn ſeiner Mutter,
in der Kammer laß, und gleichſam mit unerſaͤtt¬
licher Begierde verſchlang.


Dies waren einige der ſuͤßeſten Stunden in
ſeinem Leben. So oft ſeine Mutter hereintrat,
drohete ſie ihm bloß mit der Ankunft ſeines Va¬
ters, ohne ihm ſelber das Leſen in dieſen Buͤchern
zu verbieten, worin ſie ehemals ein eben ſo ent¬
zuͤckendes Vergnuͤgen gefunden hatte.


Die Erzaͤhlung von der Inſel Felſenburg
that auf Anton eine ſehr ſtarke Wirkung, denn
nun gingen eine Zeitlang ſeine Ideen auf nichts
geringers, als einmal eine große Rolle in der
Welt zu ſpielen, und erſt einen kleinen, denn
immer groͤßern Cirkel von Menſchen um ſich her
zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt waͤre:
dieß erſtreckte ſich immer weiter, und ſeine aus¬
ſchweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich
ſogar Thiere, Pflanzen, und lebloſe Kreaturen,
[45] kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphaͤre
ſeines Daſeyns hineinziehen, und alles mußte
ſich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, um¬
her bewegen, bis ihm ſchwindelte.


Dieſes Spiel ſeiner Einbildungskraft machte
ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je
nachher wieder genoſſen hat.


So machte ſeine Einbildungskraft die mei¬
ſten Leiden und Freuden ſeiner Kindheit. Wie
oft, wenn er an einem truͤben Tage bis zum
Ueberdruß und Eckel in der Stube eingeſperrt
war, und etwa ein Sonnenſtrahl durch eine
Fenſterſcheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm
Vorſtellungen vom Paradieſe, von Elyſium,
oder von der Inſel der Kalypſo, die ihn ganze
Stunden lang entzuͤckten.


Aber von ſeinem zweiten und dritten Jahre
an erinnert er ſich auch der hoͤlliſchen Quaalen, die
ihm die Maͤhrchen ſeiner Mutter und ſeiner Baſe
im Wachen und im Schlafe machten: wenn er
bald im Traume lauter Bekannte um ſich her
ſahe, die ihn ploͤtzlich mit ſcheußlich verwandel¬
ten Geſichtern anbleckten, bald eine hohe duͤſtre
Stiege hinaufſtieg, und eine grauenvolle Geſtalt
[46] ihm die Ruͤckkehr verwehrte, oder gar der Teufel
bald wie ein fleckigtes Huhn, bald wie ein ſchwar¬
zes Tuch an der Wand ihm erſchien.


Als ſeine Mutter noch mit ihm auf dem
Dorfe wohnte, jagte ihm jede alte Frau Furcht
und Entſetzen ein, ſo viel hoͤrte er beſtaͤndig von
Hexen und Zaubereien; und wenn der Wind oft
mit ſonderbaren Getoͤn durch die Huͤtte pfif, ſo
nannte ſeine Mutter dies im allegoriſchen Sinn
den handloſen Mann, ohne weiter etwas dabei
zu denken.


Allein ſie wuͤrde es nicht gethan haben, haͤtte
ſie gewußt, wie manche grauenvolle Stunde und
wie manche ſchlafloſe Nacht dieſer handloſe
Mann ihrem Sohne noch lange nachher ge¬
macht hat.


Insbeſondre waren immer die letzten vier
Wochen vor Weihnachten fuͤr Anton ein Fege¬
feuer, wogegen er gerne den mit Wachslichtern
beſteckten und mit uͤberſilberten Aepfeln und
Nuͤſſen behaͤngten Tannenbaum entbehrt haͤtte.


Da ging kein Tag hin, wo ſich nicht ein ſon¬
derbares Getoͤſe wie von Glocken, oder ein
Scharren vor der Thuͤre, oder eine dumpfe
[47] Stimme haͤtte hoͤren laſſen, die den ſogenann¬
ten Ruprecht oder Vorgaͤnger des heiligen
Chriſts anzeigte, den Anton denn im ganzen
Ernſt fuͤr einen Geiſt oder ein uͤbermenſchliches
Weſen hielt, und ſo ging auch dieſe ganze Zeit
uͤber keine Nacht hin, wo er nicht mit Schre¬
cken und Angſtſchweiß vor der Stirne aus dem
Schlaf erwachte.


Dies waͤhrte bis in ſein achtes Jahr, wo erſt
ſein Glaube an die Wirklichkeit des Ruprechts ſo¬
wohl als des heiligen Chriſts an zu wanken fing.

So theilte ihm ſeine Mutter auch eine kin¬
diſche Furcht vor dem Gewitter mit. Seine
einzige Zuflucht war alsdann, daß er, ſo feſt er
konnte, die Haͤnde zuſammen faltete, und ſie
nicht wieder auseinander ließ, bis das Gewitter
voruͤber war; dies, nebſt dem uͤber ſich geſchla¬
genen Kreuze, war auch ſeine Zuflucht, und
gleichſam eine feſte Stuͤtze, ſo oft er alleine
ſchlief, weil er dann glaubte, es koͤnne ihm
weder Teufel noch Geſpenſter etwas anhaben.


Seine Mutter hatte einen ſonderbaren Aus¬
druck, daß einem, der vor einem Geſpenſte flie¬
hen will, die Ferſen lang werden; dies fuͤhlte
[48] er im eigentlichen Verſtande, ſo oft er im Dun¬
keln etwas Geſpenſteraͤhnliches zu ſehen glaubte.
Auch pflegte ſie von einem Sterbenden zu ſagen,
daß ihm der Tod ſchon auf der Zunge ſitze; dies
nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verſtande,
und als der Mann ſeiner Baſe ſtarb, ſtand er
neben dem Bette, und ſahe ihm ſehr ſcharf in
den Mund, um den Tod auf der Zunge deſſel¬
ben, etwa, wie eine kleine ſchwarze Geſtalt, zu
entdecken.


Die erſte Vorſtellung uͤber ſeinen kindiſchen
Geſichtskreis hinaus bekam er ohngefaͤhr im
fuͤnften Jahre, als ſeine Mutter noch mit ihm
in dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit
einer alten Nachbarin, ihm, und ſeinen Stief¬
bruͤdern allein in der Stube ſaß.


Das Geſpraͤch fiel auf Antons kleine Schwe¬
ſter, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre ge¬
ſtorben war, und woruͤber ſeine Mutter beinahe
ein Jahr lang untroͤſtlich blieb.


Wo wohl jetzt Julchen ſeyn mag? ſagte ſie
nach einer langen Pauſe, und ſchwieg wieder.
Anton blickte nach dem Fenſter hin, wo durch
die duͤſtre Nacht kein Lichtſtrahl ſchimmerte, und
fuͤhlte[49] fuͤhlte zum erſtenmale die wunderbare Einſchraͤn¬
kung, die ſeine damalige Exiſtenz von der gegen¬
waͤrtigen beinahe ſo verſchieden machte, wie das
Daſeyn vom Nichtſeyn.


Wo mag jetzt wohl Julchen ſeyn? dachte er
ſeiner Mutter nach, und Naͤhe und Ferne, Enge
und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch
ſeine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt
kein Federzug; tauſendmal iſt ſie wieder in ſeiner
Seele, aber nie mit der erſten Staͤrke, erwacht.


Wie groß iſt die Seligkeit der Einſchraͤnkung,
die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen ſuchen!
Sie iſt wie ein kleines gluͤckliches Eiland in ei¬
nem ſtuͤrmiſchen Meere: wohl dem, der in ihrem
Schooße ſicher ſchlummern kann, ihn weckt keine
Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe
dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben,
ſich uͤber dies daͤmmernde Gebirge hinauswagt,
das wohlthaͤtig ſeinen Horizont umſchraͤnkt.


Er wird auf einer wilden ſtuͤrmiſchen See
von Unruh und Zweifel hin und her getrieben,
ſucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne,
und ſein kleines Eiland, auf dem er ſo ſicher
wohnte, hat alle ſeine Reize fuͤr ihn verlohren.


[50]

Eine von Antons ſeeligſten Erinnerungen
aus den fruͤheſten Jahren ſeiner Kindheit iſt,
als ſeine Mutter ihn in ihren Mantel eingehuͤllt,
durch Sturm und Regen trug. Auf dem klei¬
nen Dorfe war die Welt ihm ſchoͤn, aber hinter
dem blauen Berge, nach welchem er immer ſehn¬
ſuchtsvoll blickte, warteten ſchon die Leiden auf
ihn, die die Jahre ſeiner Kindheit vergaͤllen
ſollten.


Da ich einmal in meiner Geſchichte zuruͤck¬
gegangen bin, um Antons erſte Empfindungen
und Vorſtellungen von der Welt nachzuholen,
ſo muß ich hier noch zwei ſeiner fruͤheſten Erin¬
nerungen anfuͤhren, die ſeine Empfindung des
Unrechts betreffen.


Er iſt ſich deutlich bewußt, wie er im zweiten
Jahre, da ſeine Mutter noch nicht mit ihm auf
dem Dorfe wohnte, von ſeinem Hauſe nach dem
gegenuͤberſtehenden, uͤber die Straße hin und
wieder lief, und einem wohlgekleideten Manne
in den Weg rannte, gegen den er heftig mit den
Haͤnden ausſchlug, weil er ſich ſelbſt und andre
zu uͤberreden ſuchte, daß ihm Unrecht geſchehen
[51] ſey, ob er gleich innerlich fuͤhlte, daß er der be¬
leidigende Theil war.


Dieſe Erinnerung iſt wegen ihrer Seltenheit
und Deutlichkeit merkwuͤrdig: auch iſt ſie aͤcht,
weil der Umſtand an ſich zu geringfuͤgig war,
als daß ihm nachher jemand davon haͤtte erzaͤh¬
len ſollen.


Die zweite Erinnerung iſt aus dem vierten
Jahre, wo ſeine Mutter ihn wegen einer wirk¬
lichen Unart ſchalt; indem er ſich nun gerade
auszog, fuͤgte es ſich, daß eines ſeiner Kleidungs¬
ſtuͤcke mit einigem Geraͤuſch auf den Stuhl fiel:
ſeine Mutter glaubte, er habe es aus Trotz hin¬
geworfen, und zuͤchtigte ihn hart.


Dies war das erſte wirkliche Unrecht, was
er tief empfand, und was ihm nie aus dem
Sinne gekommen iſt; ſeit der Zeit hielt er auch
ſeine Mutter fuͤr ungerecht, und bei jeder neuen
Zuͤchtigung fiel ihm dieſer Umſtand ein.


Ich habe ſchon erwaͤhnt, wie ihm der Tod
in ſeiner Kindheit vorgekommen ſey. Dies
dauerte bis in ſein zehntes Jahr, als einmal
eine Nachbarin ſeine Eltern beſuchte, und er¬
zaͤhlte, wie ihr Vetter, der ein Bergmann war,
D 2[52] von der Leiter hinunter in die Grube gefallen
ſey, und ſich den Kopf zerſchmettert habe.


Anton hoͤrte aufmerkſam zu, und bei dieſer
Kopfzerſchmetterung dachte er ſich auf einmal
ein gaͤnzliches Aufhoͤren von Denken und Em¬
pfinden, und eine Art von Vernichtung und
Ermangelung ſeiner ſelbſt, die ihn mit Grauen
und Entſetzen erfuͤllte, ſo oft er wieder lebhaft
daran dachte. Seit der Zeit hatte er auch eine
ſtarke Furcht vor dem Tode, die ihm manche
traurige Stunde machte.


Noch muß ich etwas von ſeinen erſten Vorſtel¬
lungen, die er ſich ebenfalls ohngefaͤhr im zehn¬
ten Jahre von Gott und der Welt machte, ſagen.

Wenn oft der Himmel umwoͤlkt, und der
Horizont kleiner war, fuͤhlte er eine Art von
Bangigkeit, daß die ganze Welt wiederum mit
eben ſo einer Decke umſchloſſen ſey, wie die
Stube, worin er wohnte, und wenn er dann
mit ſeinen Gedanken uͤber dieſe gewoͤlbte Decke
hinausging, ſo kam ihm dieſe Welt an ſich viel
zu klein vor, und es daͤuchte ihm, als muͤſſe ſie
wiederum in einer andern eingeſchloſſen ſeyn,
und das immer ſo fort.


[53]

Eben ſo ging es ihm mit ſeiner Vorſtellung
von Gott, wenn er ſich denſelben, als das hoͤch¬
ſte Weſen, denken wollte.


Er ſaß einmal in der Daͤmmerung an einem
truͤben Abend allein vor ſeiner Hausthuͤre, und
dachte hieruͤber nach, indem er oft gen Himmel
blickte, und dann wieder die Erde anſahe, und
bemerkte, wie ſie ſelbſt gegen den truͤben Him¬
mel ſo ſchwarz und dunkel war.


Ueber den Himmel dachte er ſich Gott, aber
jeder, auch der hoͤchſte Gott, den ſich ſeine Ge¬
danken ſchufen, war ihm zu klein, und mußte
immer wieder noch einen hoͤhern uͤber ſich haben,
gegen den er ganz verſchwand, und das ſo ins
Unendliche fort.


Doch hatte er hieruͤber nie etwas geleſen
noch gehoͤrt. Was am ſonderbarſten war, ſo
gerieth er durch ſein beſtaͤndiges Nachdenken und
in ſich gekehrt ſeyn, ſogar auf den Egoismus,
der ihn beinahe haͤtte verruͤckt machen koͤnnen.


Weil naͤmlich ſeine Traͤume groͤßtentheils
ſehr lebhaft waren, und beinahe an die Wirklich¬
keit zu grenzen ſchienen; ſo fiel es ihm ein, daß
er auch wohl am hellen Tage traͤume, und die
D 3[54] Leute um ihn her, nebſt allem, was er ſahe,
Geſchoͤpfe ſeiner Einbildungskraft ſeyn koͤnnten.


Dies war ihm ein erſchrecklicher Gedanke,
und er fuͤrchtete ſich vor ſich ſelber, ſo oft er ihm
einfiel, auch ſuchte er ſich dann wirklich durch
Zerſtreuung von dieſen Gedanken los zu machen.


Nach dieſer Ausſchweifung wollen wir der
Zeitfolge gemaͤß in Antons Geſchichte wieder
fortfahren, den wir eilf Jahr alt bei der Lektuͤre
der ſchoͤnen Baniſe und der Inſel Felſenburg
verlaſſen haben. Er bekam nun auch Fenelons
Todtengeſpraͤche, nebſt deſſen Erzaͤhlungen zu
leſen, und ſein Schreibmeiſter fing an, ihn eigne
Briefe und Ausarbeitungen machen zu laſſen.


Dies war fuͤr Anton eine noch nie empfun¬
dene Freude. Er fing nun an, ſeine Lektuͤre zu
nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem
Geleſenen anzubringen, wodurch er ſich den
Beifall und die Achtung ſeines Lehrers erwarb.


Sein Vater muſicirte mit in einem Konzert,
wo Ramlers Tod Jeſu aufgefuͤhrt wurde, und
brachte einen gedruckten Text davon mit zu
Hauſe. Dieſer hatte fuͤr Anton ſo viel Anzie¬
hendes und uͤbertraf alles Poetiſche, was er
[55] bisher geleſen hatte, ſo weit, daß er ihn ſo oft,
und mit ſolchem Entzuͤcken las, bis er ihn bei¬
nahe auswendig wußte.


Durch dieſe einzige ſo oft wiederholte zufaͤlli¬
ge Lektuͤre bekam ſein Geſchmack in der Poeſie
eine gewiſſe Bildung und Feſtigkeit, die er ſeit
der Zeit nicht wieder verlohren hat; ſo wie in
der Proſe durch den Telemach; denn er fuͤhlte
bei der ſchoͤnen Baniſe und Inſel Felſenburg,
ohngeachtet des Vergnuͤgens, das er darin fand,
doch ſehr lebhaft das Abſtechende und Unedlere
in der Schreibart.


Von poetiſcher Proſe fiel ihm Carl v. Moſers
Daniel in der Loͤwengrube in die Haͤnde, den er
verſchiednemale durchlas, und woraus auch ſein
Vater zuweilen vorzuleſen pflegte.


Die Brunnenzeit kam wieder heran, und
Antons Vater beſchloß, ihn wieder mit nach P.
zu nehmen, allein dismal ſollte Anton nicht ſo
viel Freude als im vorigen Jahre dort genießen,
denn ſeine Mutter reiſte mit.


Ihr unaufhoͤrliches Verbieten von Kleinig¬
keiten und beſtaͤndiges Schelten und Strafen
zu unrechter Zeit, verleidete ihm alle edlern
D 4[56] Empfindungen, die er hier vor einem Jahre ge¬
habt hatte; ſein Gefuͤhl fuͤr Lob und Beifall ward
dadurch ſo ſehr unterdruͤckt, daß er zuletzt, bei¬
nahe ſeiner Natur zuwider eine Art von Ver¬
gnuͤgen darin fand, ſich mit den ſchmuzigſten
Gaſſenbuben abzugeben, und mit ihnen gemeine
Sache zu machen, bloß weil er verzweifelte, ſich
je die Liebe und Achtung in P. wieder zu erwer¬
ben, die er durch ſeine Mutter einmal verlohren
hatte, welche nicht nur gegen ſeinen Vater, ſo
oft er zu Hauſe kam, ſondern auch gegen ganz
fremde Leute, beſtaͤndig von nichts, als von ſei¬
ner ſchlechten Auffuͤhrung ſprach, wodurch die¬
ſelbe denn wirklick anfing, ſchlecht zu werden
und ſein Herz ſich zu verſchlimmern ſchien.


Er kam auch nun ſeltner in das v. F..ſche
Haus, und die Zeit ſeines diesmaligen Aufent¬
halts in P. ſtrich fuͤr ihn hoͤchſt unangenehm
und traurig voruͤber, ſo daß er ſich oft noch mit
Wehmuth an die Freuden des vorigen Jahres
zuruͤckerinnerte, ob er gleich diesmal nicht ſo viel
Schmerzen an ſeinem Fuß auszuſtehn hatte, der
nun, nachdem der ſchadhafte Knochen herausge¬
nommen war, wieder an zu heilen fing.


[57]

Bald nach der Zuruͤckkunft ſeiner Eltern in
H... trat Anton in ſein zwoͤlftes Jahr, worin
ihm wiederum ſehr viele Veraͤnderungen bevor¬
ſtanden: denn noch in dieſem Jahre ſollte er
von ſeinen Eltern getrennt werden. Fuͤrs erſte
ſtand ihm eine große Freude bevor.


Antons Vater ließ ihn auf Zureden eini¬
ger Bekannten in der oͤffentlichen Stadtſchule
eine lateiniſche Privatſtunde beſuchen, damit
er wenigſtens auf alle Faͤlle, wie es hieß,
einen Kaſum ſolle ſetzen lernen. In die uͤbri¬
gen Stunden der oͤffentlichen Schule aber,
worin Religionsunterricht die Hauptſache war,
wollte ihn ſein Vater, zum groͤßten Leidweſen
ſeiner Mutter und Anverwandten, ſchlechter¬
dings nicht ſchicken.


Nun war doch einer von Antons eifrigſten
Wuͤnſchen, einmal in eine oͤffentliche Stadtſchule
gehen zu duͤrfen, zum Theil erfuͤllt.


Beim erſten Eintritt waren ihm ſchon die
dicken Mauern, dunklen gewoͤlbten Gemaͤcher,
hundertjaͤhrigen Baͤnke, und vom Wurm durch¬
loͤcherten Katheder, nichts wie Heiligthuͤmer, die
ſeine Seele mit Ehrfurcht erfuͤllten.


[58]

Der Konrektor, ein kleines muntres Maͤnn¬
chen, floͤßte ihm, ohngeachtet ſeiner nicht ſehr
gravitaͤtiſchen Miene, dennoch durch ſeinen
ſchwarzen Rock und Stutzperuque einen tiefen
Reſpekt ein.


Dieſer Mann ging auch auf einen ziemlich
freundſchaftlichen Fuß mit ſeinen Schuͤlern um:
gewoͤhnlich nannte er zwar einen jeden ihr, aber
die vier oͤberſten, welche er auch im Scherz Ve¬
teraner hieß, wurden vorzugsweiſe er genannt.


Ob er dabei gleich ſehr ſtrenge war, hat doch
Anton niemals einen Vorwurf noch weniger
einen Schlag von ihm bekommen: er glaubte
daher auch in der Schule immer mehr Gerech¬
tigkeit, als bei ſeinen Eltern zu finden.


Er mußte nun anfangen, den Donat aus¬
wendig zu lernen, allein freilich hatte er einen
wunderbaren Accent, der ſich bald zeigte, da er
gleich in der zweiten Stunde ſein Menſa aus¬
wendig herſagen mußte, und indem er Singu¬
lariter und Pluraliter ſagte, immer den Ton
auf die vorletzte Sylbe legte, weil er ſich beim
Auswendiglernen dieſes Penſums, wegen der
Aehnlichkeit dieſer Woͤrter mit Amoriter, Je¬
[59] buſiter
, u. ſ. w., feſt einbildete, die Singula¬
riter waͤren ein beſonderes Volk, das Menſa,
und die Pluraliter ein andres Volk, das Menſaͤ
geſagt haͤtte.


Wie oft moͤgen aͤhnliche Mißverſtaͤndniſſe
veranlaßt werden, wenn der Lehrer ſich mit den
erſten Worten des Lehrlings begnuͤgen laͤßt, ohne
in den Begriff deſſelben einzudringen!


Nun ging es an das Auswendiglernen.
Das amo, amem, amas, ames, ward bald
nach dem Takte hergebetet, und in den erſten
ſechs Wochen wußte er ſchon ſein oportet auf
den Fingern herzuſagen; dabei wurden taͤglich
Vokabeln auswendig gelernt, und weil ihm
niemals eine fehlte, ſo ſchwang er ſich in kurzer
Zeit von einer Stuffe zur andern empor und
ruͤckte immer naͤher an die Veteraner heran.


Welch eine gluͤckliche Lage, welch eine herr¬
liche Laufbahn fuͤr Anton, der nun zum erſten¬
male in ſeinem Leben einen Pfad des Ruhms
vor ſich eroͤfnet ſahe, was er ſo lange vergeblich
gewuͤnſcht hatte.


Auch zu Hauſe brachte er dieſe kurze Zeit
ziemlich vergnuͤgt zu, indem er alle Morgen,
[60] waͤhrend daß ſeine Eltern Kaffee tranken, ihnen
aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge
Chriſti vorleſen mußte, welches er ſehr gern that.


Es ward alsdann daruͤber geſprochen, und
er durfte auch zuweilen ſein Wort dazu geben.
Uebrigens genoß er das Gluͤck, nicht viel zu
Hauſe zu ſeyn, weil er noch die Stunden ſeines
alten Schreibmeiſters zu gleicher Zeit beſuchte,
den er, ohngeachtet mancher Kopfſtoͤße, die er
von ihm bekommen hatte, ſo aufrichtig liebte,
daß er alles fuͤr ihn aufgeopfert haͤtte.


Denn dieſer Mann unterhielt ſich mit ihm
und ſeinen Mitſchuͤlern oft in freundſchaftlichen
und nuͤtzlichen Geſpraͤchen, und weil er ſonſt von
Natur ein ziemlich harter Mann zu ſeyn ſchien,
ſo hatte ſeine Freundlichkeit und Guͤte deſto mehr
Ruͤhrendes, das ihm die Herzen gewann.


So war nun Anton einmal auf einige Wo¬
chen in einer doppelten Lage gluͤcklich: aber wie
bald wurde dieſe Gluͤckſeligkeit zerſtoͤrt! Damit
er ſich ſeines Gluͤcks nicht uͤberheben ſollte, wa¬
ren ihm fuͤrs erſte ſchon ſtarke Demuͤthigungen
zubereitet.


[61]

Denn ob er nun gleich in Geſellſchaft geſitte¬
ter Kinder unterrichtet ward, ſo ließ ihn doch
ſeine Mutter die Dienſte der niedrigſten Magd
verrichten.


Er mußte Waſſer tragen, Butter und Kaͤſe
aus den Kramlaͤden holen, und wie ein Weib
mit dem Korbe im Arm auf den Markt gehen,
um Eßwaaren einzukaufen.


Wie innig es ihn kraͤnken mußte, wenn als¬
dann einer ſeiner gluͤcklichern Mitſchuͤler haͤ¬
miſchlaͤchelnd vor ihm vorbeiging, darf ich nicht
erſt ſagen.


Doch dies verſchmerzte er noch gerne gegen
das Gluͤck in eine lateiniſchen Schule gehen zu
duͤrfen, wo er nach zwei Monaten ſo weit ge¬
ſtiegen war, daß er nun an den Beſchaͤftigungen
des oͤberſten Tiſches, oder der ſogenannten vier
Veteraner, mit Theil nehmen konnte.


Um dieſe Zeit fuͤhrte ihn auch ſein Vater
zum erſtenmale zu einem aͤußerſt merkwuͤrdigen
Manne in H., der ſchon lange der Gegenſtand
ſeiner Geſpraͤche geweſen war. Dieſer Mann
hieß Tiſcher, und war hundert und fuͤnf Jahr alt.


[62]

Er hatte Theologie ſtudirt, und war zuletzt
Informator bei den Kindern eines reichen Kauf¬
manns in H., geweſen, in deſſen Hauſe er noch
lebte, und von dem gegenwaͤrtigen Beſitzer deſ¬
ſelben, der ſein Eleve geweſen, und jetzt ſelber
ſchon beinahe ein Greis geworden war, ſeinen
Unterhalt bekam.


Seit ſeinem fuͤnfzigſten Jahre war er taub,
und wer mit ihm ſprechen wollte, mußte beſtaͤn¬
dig Dinte und Feder bei der Hand haben, und
ihm ſeine Gedanken ſchriftlich aufſetzen, die er
denn ſehr vernehmlich und deutlich muͤndlich
beantwortete.


Dabei konnte er noch im hundert und fuͤnf¬
ten Jahre ſein kleingedruktes griechiſches Teſta¬
ment ohne Brille leſen, und redete beſtaͤndig
ſehr wahr und zuſammenhaͤngend, obgleich oft
etwas leiſer, oder lauter, als noͤthig war, weil er
ſich ſelber nicht hoͤren konnte.


Im Hauſe war er nicht anders, als unter
dem Namen, der alte Mann, bekannt. Man
brachte ihm ſein Eſſen, und ſonſtige Bequem¬
lichkeiten, uͤbrigens bekuͤmmerte man ſich nicht
viel um ihn.


[63]

Eines Abends alſo, als Anton gerade bei
ſeinem Donat ſaß, nahm ihn ſein Vater bei
der Hand und ſagte: komm, jetzt will ich dich
zu einem Manne fuͤhren, in dem du den heili¬
gen Antonius, den heiligen Paulus, und den
Erzvater Abraham wieder erblicken wirſt.


Und indem ſie hingingen, bereitete ihn ſein
Vater immer noch auf das, was er nun bald
ſehen wuͤrde, vor.


Sie traten ins Haus. Antons Herz pochte.


Sie gingen uͤber einen langen Hof hinaus,
und ſtiegen eine kleine Windeltreppe hinauf, die
ſie in einen langen dunkeln Gang fuͤhrte, worauf
ſie wieder eine andre Treppe hinauf, und dann
wieder einige Stuffen hinabſtiegen: dies ſchie¬
nen Anton labyrinthiſche Gaͤnge zu ſeyn.


Endlich oͤfnete ſich linker Hand eine kleine
Ausſicht, wo das Licht durch einige Fenſter¬
ſcheiben, erſt von einem andern Fenſter hineinfiel.


Es war ſchon im Winter, und die Thuͤre
auswendig mit Tuch behangen; Antons Vater
eroͤfnete ſie: es war in der Daͤmmerung, das
Zimmer weitlaͤuftig und groß, mit dunkeln Ta¬
peten ausgeziert, und in der Mitte an einem
[64] Tiſche, worauf Buͤcher hin und her zerſtreut
lagen, ſaß der Greiß auf einem Lehnſeſſel.


Er kam ihnen mit entbloͤßtem Haupt ent¬
gegen.


Das Alter hatte ihn nicht danieder gebuͤckt,
er war ein langer Mann, und ſein Anſehn war
groß und majeſtaͤtiſch. Die ſchneeweiſſen Locken
zierten ſeine Schlaͤfe, und aus ſeinen Augen
blickte eine unnennbare ſanfte Freundlichkeit her¬
vor. Sie ſetzten ſich.


Antons Vater ſchrieb ihm einiges auf. Wir
wollen beten, fing der Greis nach einer Pauſe
an, und meinen kleinen Freund mit einſchließen.


Drauf entbloͤßte er ſein Haupt und kniete
nieder, Antons Vater neben ihm zur rechten,
und Anton zur linken Seite.


Freilich fand dieſer nun alles, was ihm ſein
Vater geſagt hatte, mehr als zu wahr. Er
glaubte wirklich neben einem der Apoſtel
Chriſti zu knieen, und ſein Herz erhob ſich zu
einer hohen Andacht, als der Greis ſeine Haͤnde
ausbreitete, und mit wahrer Inbrunſt ſein Ge¬
bet anhub, das er bald mit lauter, bald mit
leiſerer Stimme fortſetzte.


[65]

Seine Worte waren, wie eines, der ſchon
mit allen ſeinen Gedanken und Wuͤnſchen jenſeit
des Grabes iſt, und den nur noch ein Zufall et¬
was laͤnger, als er glaubte, dieſſeits verweilen
laͤßt.


So waren auch alle ſeine Gedanken aus je¬
nem Leben gleichſam heruͤber geholt, und ſo wie
er betete, ſchien ſich ſein Auge und ſeine Stirne
zu verklaͤren.


Sie ſtanden vom Gebet auf, und Anton be¬
trachtete nun den alten Mann in ſeinem Herzen
beinahe ſchon wie ein hoͤheres, uͤbermenſchliches
Weſen.


Und als er den Abend zu Hauſe kam, wollte
er ſchlechterdings mit einigen ſeiner Mitſchuͤler
ſich nicht auf einen kleinen Schlitten im Schnee
herumfahren, weil ihm dies nun viel zu unhei¬
lig vorkam, und er den Tag dadurch zu entwei¬
hen glaubte.


Sein Vater ließ ihn nun oͤfters zu dieſem
alten Manne gehen, und er brachte faſt die ganze
Zeit des Tages bei ihm zu, die er nicht in der
Schule war.


[66]

Alsdann bediente er ſich deſſen Bibliothek,
die groͤßtentheils aus myſtiſchen Buͤchern be¬
ſtand, und las viele davon von Anfang bis zu
Ende durch. Auch gab er dem alten Manne
oft Rechenſchaft von ſeinen Progreſſen im Latei¬
niſchen, und von den Ausarbeitungen bei ſeinem
Schreibmeiſter. So brachte Anton ein paar
Monate ganz ungewoͤhnlich gluͤcklich zu.


Aber welch ein Donnerſchlag war es fuͤr
Anton, als ihn beinahe zu gleicher Zeit die
ſchreckliche Ankuͤndigung geſchahe, daß noch mit
dieſem Monate ſeine lateiniſche Privatſtunde
aufhoͤren, und er zugleich in eine andre Schreib¬
ſchule geſchickt werden ſolle.


Thraͤnen und Bitten halfen nichts, der Aus¬
ſpruch war gethan. Vierzehn Tage wußte es
Anton vorher, daß er die lateiniſche Schule ver¬
laſſen ſollte, und je hoͤher er nun ruͤckte, deſto
groͤßer ward ſein Schmerz.


Er griff alſo zu einem Mittel, ſich den Ab¬
ſchied aus dieſer Schule leichter zu machen, das
man einem Knaben von ſeinem Alter kaum haͤtte
zutrauen ſollen. Anſtatt, daß er ſich bemuͤhete,
weiter heraufzukommen, that er das Gegentheil,
[67] und ſagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch
wußte, oder legte es auf andre Weiſe darauf an,
taͤglich eine Stuffe herunter zu kommen, welches
ſich der Konrektor und ſeine Mitſchuͤler nicht
erklaͤren konnten, und ihm oft ihre Verwunde¬
rung daruͤber bezeugten.


Anton allein wußte die Urſache davon, und
trug ſeinen geheimen Kummer mit nach Hauſe
und in die Schule. Jede Stuffe, die er auf
die Art freywillig herunterſtieg, koſtete ihm tau¬
ſend Thraͤnen, die er heimlich zu Hauſe vergoß;
aber ſo bitter dieſe Arznei war, die er ſich ſelbſt
verſchrieb, ſo that ſie doch ihre Wirkung.


Er hatte es ſelber ſo veranſtaltet, daß er ge¬
rade am letzten Tage der unterſte werden mußte.
Allein dies war ihm zu hart. Die Thraͤnen
ſtanden ihm in den Augen, und er bat, man
moͤgte ihn nur noch heute an ſeinem Orte ſitzen
laſſen, morgen wolle er gern den unterſten Platz
einnehmen.


Jeder hatte Mitleiden mit ihm, und man
ließ ihn ſitzen. Den andern Tag war der Mo¬
nat aus, und er kam nicht wieder.


[68]

Wie viel ihm dieſe freiwillige Aufopferung
gekoſtet habe, laͤßt ſich aus dem Eifer und der
Muͤhe ſchließen, wodurch er ſich jeden hoͤhern
Platz zu erwerben geſucht hatte.


Oft, wenn der Konrektor in ſeinem Schlaf¬
rocke aus dem Fenſter ſahe, und er vor ihm vor¬
beiging, dachte er, o koͤnnteſt du doch dein Herz
gegen dieſen Mann ausſchuͤtten; aber dazu ſchien
doch die Entfernung zwiſchen ihm und ſeinem
Lehrer noch viel zu groß zu ſeyn.


Bald darauf wurde er auch, ohngeachtet alles
ſeines Flehens und Bittens, von ſeinem geliebten
Schreibmeiſter getrennt.


Dieſer hatte freilich einige Nachlaͤßigkeit in
Antons Schreib- und Rechenbuche paſſiren laſ¬
ſen, woruͤber ſein Vater aufgebracht war.


Anton nahm mit dem groͤßten Eifer alle
Schuld auf ſich, und verſprach und gelobte,
was nur in ſeinen Kraͤften ſtand, aber alles half
nichts; er mußte ſeinen alten treuen Lehrer ver¬
laſſen, und zu Ende des Monats anfangen, in
der oͤffentlichen Stadtſchule ſchreiben zu lernen.


Dieſe beiden Schlaͤge auf einmal waren fuͤr
Anton zu hart.


[69]

Er wollte ſich noch an die letzte Stuͤtze hal¬
ten, und ſich von ſeinen ehemaligen Mitſchuͤlern
jedes aufgegebene Penſum ſagen laſſen, um es
zu Hauſe zu lernen, und auf die Weiſe mit ihnen
fortzuruͤcken, als aber auch dies nicht gehen
wollte, ſo erlag ſeine bisherige Tugend und
Froͤmmigkeit, und er ward wirklich eine Zeitlang
aus einer Art von Mißmuth und Verzweiflung,
was man einen boͤſen Buben nennen kann.


Er zog ſich muthwilliger Weiſe in der Schule
Schlaͤge zu, und hielt ſie alsdann mit Trotz und
Standhaftigkeit aus, ohne eine Miene zu ver¬
ziehen, und dies machte ihm dazu ein Vergnuͤ¬
gen, das ihm noch lange in der Erinnerung an¬
genehm war.


Er ſchlug und balgte ſich mit Straßenbuben,
verſaͤumte die Lehrſtunden in der Schule, und
quaͤlte einen Hund, den ſeine Eltern hatten,
wie und wo er nur konnte.


In der Kirche, wo er ſonſt ein Muſter der
Andacht geweſen war, plauderte er mit ſeines
Gleichen den ganzen Gottesdienſt uͤber.


Oft fiel es ihm ein, daß er auf einem boͤſen
Wege begriffen ſey, er erinnerte ſich mit Weh¬
E 3[70] muth an ſeine vormaligen Beſtrebungen, ein
frommer Menſch zu werden, allein ſo oft er im
Begriff war, umzukehren, ſchlug eine gewiſſe
Verachtung ſeiner ſelbſt, und ein nagender Mi߬
muth ſeine beſten Vorſaͤtze nieder, und machte,
daß er ſich wieder in allerlei wilden Zerſtreuun¬
gen zu vergeſſen ſuchte.


Der Gedanke, daß ihm ſeine liebſten Wuͤn¬
ſche und Hoffnungen fehl geſchlagen, und die
angetretene Laufbahn des Ruhms auf immer
verſchloſſen war, nagte ihn unaufhoͤrlich, ohne
daß er ſich deſſen immer deutlich bewußt war,
und trieb ihn zu allen Ausſchweifungen.


Er ward ein Heuchler gegen Gott, gegen
andre, und gegen ſich ſelbſt.


Sein Morgen- und Abendgebet las er puͤnkt¬
lich wie vormals, aber ohne alle Empfindung.


Wenn er zu dem alten Manne kam, that er
alles, was er ſonſt mit aufrichtigem Herzen ge¬
than hatte, aus Verſtellung, und heuchelte in
frommen Mienen und aufgeſchriebnen Worten,
worin er faͤlſchlich einen gewiſſen Durſt und
Sehnſucht nach Gott vorgab, um ſich bei dieſem
Manne in Achtung zu erhalten.


[71]

Ja zuweilen konnte er heimlich lachen, indeß
der alte Mann ſein Geſchriebnes las.


So fing er auch an, ſeinen Vater zu betruͤ¬
gen. Dieſer ließ ſich einmal gegen ihn verlau¬
ten: damals vor drei Jahren ſey er noch ein
ganz andrer Knabe geweſen, als er in P. ſich
weigerte, eine Nothluͤge zu thun, indem er den
Englaͤnder verlaͤugnen ſollte.


Weil ſich nun Anton bewußt war, daß ge¬
rade dies damals mehr aus einer Art von Affec¬
tation, als wuͤrklichem Abſcheu gegen die Luͤge
geſchehen ſey, ſo dachte er bei ſich ſelber: wenn
ſonſt nichts verlangt wird, um mich beliebt zu
machen, das ſoll mir wenig Muͤhe koſten; und
nun wußte er es in kurzer Zeit durch eine Art
von bloßer Heuchelei, die er doch aber vor ſich
ſelber als Heuchelei zu verbergen ſuchte, ſo weit
zu bringen, daß ſein Vater uͤber ihn mit dem
Hrn. v. F. korreſpondirte, und denſelben von
Antons Seelenzuſtande Nachricht gab, um ſei¬
nen Rath daruͤber einzuholen.


Indeß wie Anton ſahe, daß die Sache ſo
ernſthaft wurde, ward er auch ernſthafter dabei,
und entſchloß ſich zuweilen, ſich nun im Ernſt
E 4[72] von ſeinem boͤſen Leben zu bekehren, weil er die
bisherige Heuchelei nicht laͤnger mehr vor ſich
ſelbſt verdecken konnte.


Allein nun fielen ihm die Jahre ein, die er
von der Zeit ſeiner vormaligen wirklichen Be¬
kehrung an verſaͤumt hatte, und wie weit er
nun ſchon ſeyn koͤnnte, wenn er das nicht gethan
haͤtte. Dies machte ihn aͤußerſt mißvergnuͤgt
und traurig.


Ueberdem las er bei dem alten Manne ein
Buch, worinn der Proceß der ganzen Heils¬
ordnung durch Buße, Glauben, und gottſelig
Leben, mit allen Zeichen und Symptomen aus¬
fuͤhrlich beſchrieben war.


Bei der Buße mußten Thraͤnen, Reue,
Traurigkeit und Mißvergnuͤgen ſeyn: dies alles
war bei ihm da.


Bei dem Glauben mußte eine ungewohnte
Heiterkeit und Zuverſicht zu Gott in der Seele
ſeyn: dies kam auch.


Und nun mußte ſich drittens das gottſelige
Leben von ſelber finden: aber dies fand ſich nicht
ſo leicht.


[73]

Anton glaubte, wenn man einmal fromm
und gottſelig leben wolle, ſo muͤſſe man es auch
beſtaͤndig, und in jedem Augenblicke, in allen
ſeinen Mienen und Bewegungen, ja ſogar in
ſeinen Gedanken ſeyn; auch muͤſſe man keinen
Augenblick lang vergeſſen, daß man fromm
ſeyn wolle.


Nun vergaß er es aber natuͤrlicher Weiſe
ſehr oft: ſeine Miene blieb nicht ernſthaft, ſein
Gang nicht ehrbar, und ſeine Gedanken ſchweif¬
ten in irdiſchen weltlichen Dingen aus.


Nun glaubte er, ſey alles vorbei, er habe
noch ſo viel, wie nichts gethan, und muͤſſe wie¬
der von vorn anfangen.


So ging es oft verſchiednemale in einer
Stunde, und dies war fuͤr Anton ein hoͤchſt
peinlicher und aͤngſtlicher Zuſtand.


Er uͤberließ ſich wieder, aber beſtaͤndig mit
Angſt und klopfendem Herzen, ſeinen vorigen
Zerſtreuungen.


Dann fing er das Werk ſeiner Bekehrung
einmal von vorn wieder an, und ſo ſchwankte er
beſtaͤndig hin und her, und fand nirgends Ruhe
und Zufriedenheit, indem er ſich vergeblich die
E 5[74] unſchuldigſten Freuden ſeiner Jugend verbitterte,
und es doch in dem andern nie weit brachte.


Dies beſtaͤndige Hin- und Herſchwanken iſt
zugleich ein Bild von dem ganzen Lebenslaufe
ſeines Vaters, dem es im funfzigſten Jahre
ſeines Lebens noch nicht beſſer ging, und der
doch immer noch das Rechte zu finden hoffte,
wornach er ſo lange vergeblich geſtrebt hatte.


Mit Anton war es anfaͤnglich ziemlich gut
gegangen: allein ſeitdem er kein Latein mehr
lernen ſollte, litte ſeine Froͤmmigkeit einen
großen Stoß; ſie war nichts, als ein aͤngſtli¬
ches, gezwungenes Weſen, und es wollte nie
recht mit ihm fort.


Er las darauf irgendwo, wie unnuͤtz und
ſchaͤdlich das Selbſtbeſſern ſey, und daß man
ſich bloß leidend verhalten, und die goͤttliche
Gnade in ſich wuͤrken laſſen muͤſſe: er betete
daher oft ſehr aufrichtig: Herr bekehre du mich,
ſo werde ich bekehret! aber alles war vergeblich.


Sein Vater reiſte dieſen Sommer wieder
nach P., und Anton ſchrieb ihm, wie ſchlecht
es mit dem Selbſtbeſſern vorwaͤrts ginge, und
[75] daß er ſich wohl darin geirrt habe, weil die
goͤttliche Gnade doch alles thun muͤſſe.


Seine Mutter hielt dieſen ganzen Brief fuͤr
Heuchelei, wie er denn wirklich nicht ganz davon
frei ſeyn mochte, und ſchrieb eigenhaͤndig dar¬
unter: Anton fuͤhrt ſich auf, wie alle gottloſe
Buben.


Nun war er ſich doch eines wirklichen Kam¬
pfes mit ſich ſelbſt bewußt, und es mußte alſo
aͤußerſt kraͤnkend fuͤr ihn ſeyn, daß er mit allen
gottloſen Buben in eine Klaſſe geworfen wurde.


Dies ſchlug ihn ſo ſehr nieder, daß er nun
wirklich eine Zeitlang wieder ausſchweifte, und
ſich muthwillig mit wilden Buben abgab; wor¬
in er denn durch das Schelten und ſogenannte
Predigen ſeiner Mutter noch immer mehr be¬
ſtaͤrkt wurde: denn dies ſchlug ihn immer noch
tiefer nieder, ſo daß er ſich oft am Ende ſelbſt
fuͤr nichts mehr, als einen gemeinen Gaſſenbu¬
ben hielt, und nun um deſto eher wider Gemein¬
ſchaft mit ihnen machte.


Dies dauerte, bis ſein Vater von P. wie¬
der zuruͤckkam.


[76]

Nun eroͤfneten ſich fuͤr Anton auf einmal
ganz neue Ausſichten.


Schon zu Anfange des Jahres war ſeine
Mutter mit Zwillingen niedergekommen, wo¬
von nur der eine leben blieb, zu welchen ein
Hutmacher in B., Namens L., Gevatter ge¬
worden war.


Dieſer war einer von den Anhaͤngern des
Hrn. v. F., wodurch ihn Antons Vater ſchon
ſeit ein paar Jahren kannte.


Da nun Anton doch einmal bei einem Mei¬
ſter ſollte untergebracht werden, (denn ſeine bei¬
den Stiefbruͤder hatten nun ſchon ausgelernt,
und jeder war mit ſeinem Handwerke unzufrie¬
den, wozu er von ſeinem Vater mit Gewalt ge¬
zwungen war) und da der Hutmacher L. gerade
einen Burſchen haben wollte, der ihn fuͤrs erſte
nur zur Hand waͤre: welch eine herrliche Thuͤre
eroͤffnete ſich nun, nach ſeines Vaters Meynung,
fuͤr Anton, daß er eben ſo, wie ſeine beiden
Stiefbruͤder, bei einem ſo frommen Manne,
der dazu ein eifriger Anhaͤnger des Hrn. v. F.
war, ſchon ſo fruͤh koͤnne untergebracht, und
[77] von demſelben zur wahren Gottſeligkeit und
Froͤmmigkeit angehalten werden.


Dies mochte ſchon laͤnger im Werk geweſen
ſeyn, und war vermuthlich die Urſach, warum
Antons Vater ihn aus der lateiniſchen Schule
genommen hatte.


Nun aber hatte Anton, ſeitdem er Latein ge¬
lernet, ſich auch das Studieren feſt in den Kopf
geſetzt; denn er hatte eine unbegraͤnzte Ehr¬
furcht gegen alles, was ſtudiert hatte und einen
ſchwarzen Rock trug, ſo daß er dieſe Leute bei¬
nahe fuͤr eine Art uͤbermenſchlicher Weſen hielt.


Was war natuͤrlicher, als daß er nach dem
ſtrebte, was ihm auf der Welt das Wuͤnſchens¬
wertheſte zu ſeyn ſchien?


Nun hieß es, der Hutmacher L. in Braun¬
ſchweig wolle ſich Antons, wie ein Freund, an¬
nehmen, er ſolle bei ihm wie ein Kind gehalten
ſeyn, und nur leichte und anſtaͤndige Arbeiten,
als etwa Rechnungen ſchreiben, Beſtellungen
ausrichten, u. d. gl. uͤbernehmen, alsdann ſolle
er auch noch zwei Jahre in die Schule gehen,
bis er konfirmirt waͤre, und ſich dann zu etwas
entſchlieſſen koͤnnte.


[78]

Dies klang in Antons Ohren aͤußerſt ange¬
nehm, insbeſondre der letzte Punkt von der
Schule; denn wenn er dieſen Zweck nur erſt
erreicht haͤtte, glaubte er, wuͤrde es ihm nicht
fehlen, ſich ſo vorzuͤglich auszuzeichnen, daß ſich
ihm zum Studiren von ſelber ſchon Mittel und
Wege eroͤffnen muͤßten.


Er ſchrieb ſelber zugleich mit ſeinem Vater
an den Hutmacher L., den er ſchon im Voraus
innig liebte, und ſich auf die herrlichen Tage
freute, die er bei ihm zubringen wuͤrde.


Und welche Reize hatte die Veraͤnderung des
Orts fuͤr ihn!


Der Aufenthalt in H., und der ewige ein¬
foͤrmige Anblick eben derſelben Straßen und
Haͤuſer ward ihm nun unertraͤglich: neue Thuͤr¬
me, Thore, Waͤlle und Schloͤſſer ſtiegen beſtaͤn¬
dig in ſeiner Seele auf, und ein Bild verdraͤngte
das andre.


Er war unruhig, und zaͤhlte Stunden und
Minuten bis zu ſeiner Abreiſe.


Der erwuͤnſchte Tag war endlich da. Anton
nahm von ſeiner Mutter, und von ſeinen beiden
Bruͤdern Abſchied, wovon der aͤltere Chriſtian
[79] fuͤnf Jahr, und der juͤngere Simon, der nach
dem Hutmacher L. genannt war, kaum ein Jahr
alt ſeyn mochte.


Sein Vater reiſte mit ihm, und es ging nun
halb zu Fuße, halb zu Wagen, mit einer wohl¬
feilen Gelegenheit fort.


Anton genoß jetzt zum erſtenmale in ſeinem
Leben das Vergnuͤgen zu wandern, welches ihm
in der Zukunft mehr wie zu haͤufig aufgeſpart
war.


Je mehr ſie ſich Braunſchweig naͤherten,
je mehr war Antons Herz voll Erwartung. Der
Andreasthurm ragte mit ſeiner rothen Kuppel
majeſtaͤtiſch hervor.


Es war gegen Abend. Anton ſahe in der
Ferne die Schildwache auf dem hohen Walle hin
und her gehen.


Tauſend Vorſtellungen, wie ſein kuͤnftiger
Wohlthaͤter ausſehen, wie ſein Alter, ſein Gang,
ſeine Mienen ſeyn wuͤrden, ſtiegen in ihm auf
und verſchwanden wieder.


Er ſetzte endlich von demſelben ein ſo ſchoͤ¬
nes Bild zuſammen, daß er ihn ſchon im Vor¬
aus liebte.


[80]

Ueberhaupt pflegte Anton in ſeiner Kindheit
durch den Klang der eignen Namen von Perſo¬
nen oder Staͤdten zu ſonderbaren Bildern und
Vorſtellungen von den dadurch bezeichneten Ge¬
genſtaͤnden veranlaßt zu werden.


Die Hoͤhe oder Tiefe der Vokale in einem
ſolchen Namen trug zur Beſtimmung des Bil¬
des das meiſte bei.


So klang der Name Hannover beſtaͤndig
praͤchtig in ſeinem Ohre, und ehe er es ſahe,
war es ihm ein Ort mit hohen Haͤuſern und
Thuͤrmen, und von einem hellen und lichten
Anſehen.


Braunſchweig ſchien ihm laͤnglicht von dunk¬
lerm Anſehen und groͤßer zu ſeyn, und Paris
ſtellte er ſich, nach eben einem ſolchen dunklen
Gefuͤhle bei dem Namen, vorzuͤglich voll heller
weißlichter Haͤuſer vor.


Es iſt dieſes auch ſehr natuͤrlich: denn von
einem Dinge, wovon man nichts wie den Na¬
men weiß, arbeitet die Seele, ſich, auch vermit¬
telſt der entfernteſten Aehnlichkeiten, ein Bild
zu entwerfen, und in Ermangelung aller andern
Vergleichungen, muß ſie zu dem willkuͤhrlichen
Namen[81] Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen, wo
ſie auf die hart oder weich, voll oder ſchwach,
hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Toͤne
merkt, und zwiſchen denſelben und dem ſichtba¬
ren Gegenſtande eine Art von Vergleichung an¬
ſtellt, die manchmal zufaͤlliger Weiſe eintrift.


Bei dem Namen L. dachte ſich Anton ohnge¬
faͤhr einen etwas langen Mann, deutſch und
bieder, mit einer freien offnen Stirne, u. ſ. w.


Allein diesmal taͤuſchte ihn ſeine Namen¬
deutung ſehr.


Es fing ſchon an, dunkel zu werden, als
Anton mit ſeinem Vater uͤber die großen Zug¬
bruͤcken, und durch die gewoͤlbten Thore in die
Stadt B. .. einwanderte.


Sie kamen durch viele enge Gaſſen, vor dem
Schloſſe vorbei, und endlich uͤber eine lange
Bruͤcke in eine etwas dunkle Straße, wo der
Hutmacher L. einem langen oͤffentlichen Gebaͤude
gegenuͤber wohnte.


Nun ſtanden ſie vor dem Hauſe. Es hatte
eine ſchwaͤrzliche Auſſenſeite, und eine große
ſchwarze Thuͤr, die mit vielen eingeſchlagenen
Naͤgeln verſehen war.


[82]

Oben hing ein Schild mit einem Hute her¬
aus, woran der Name L. zu leſen war.


Ein altes Muͤtterchen, die Ausgeberin vom
Hauſe, eroͤffnete ihnen die Thuͤr, und fuͤhrte ſie
zur rechten Hand in eine große Stube, die
mit dunkelbraun angeſtrichnen Brettern getaͤfelt
war, worauf man noch mit genauer Noth eine
halb verwiſchte Schilderung von den fuͤnf Sin¬
nen entdecken konnte.


Hier empfing ſie denn der Herr des Hauſes.
Ein Mann von mittlern Jahren, mehr klein als
groß, mit einem noch ziemlich jugendlichen aber
dabei blaſſen und melancholiſchen Geſichte, das
ſich ſelten in ein andres, als eine Art von bitter¬
ſuͤßen Laͤcheln verzog, dabei ſchwarzes Haar, ein
ziemlich ſchwaͤrmeriſches Auge, etwas feines und
delikates in ſeinen Reden, Bewegungen, und
Manieren, das man ſonſt bei Handwerksleuten
nicht findet, und eine reine aber aͤußerſt lang¬
ſame, traͤge und ſchleppende Sprache, die die
Worte, wer weiß wie lang zog, beſonders wenn
das Geſpraͤch auf andaͤchtige Materien fiel: auch
hatte er einen unertraͤglich intoleranten Blick,
wenn ſich ſeine ſchwarzen Augenbraunen uͤber
[83] die Ruchloſigkeit und Bosheit der Menſchenkin¬
der, und insbeſondre ſeiner Nachbaren, oder
ſeiner eignen Leute, zuſammenzogen.


Anton erblickte ihn zuerſt in einer gruͤnen
Pelzmuͤtze, blauem Bruſttuch und braunen Ka¬
miſol druͤber, nebſt einer ſchwarzen Schuͤrze,
ſeiner gewoͤhnlichen Hauskleidung, und es war
ihm beim erſten Blick, als ob er in ihm einen
ſtrengen Herrn und Meiſter, ſtatt eines kuͤnf¬
tigen Freundes und Wohlthaͤters gefunden haͤtte.


Seine vorgefaßte innige Liebe verloſch, als
wenn Waſſer auf einen Funken geſchuͤttet waͤre,
da ihn die erſte kalte, trockne, gebieteriſche Miene
ſeines vermeinten Wohlthaͤters ahnden ließ, daß
er nichts weiter, wie ſein Lehrjunge ſeyn werde.


Die wenigen Tage uͤber, daß ſein Vater da
blieb, wurde noch einige Schonung gegen ihn
beobachtet; allein ſobald dieſer abgereiſt war,
mußte er eben ſo, wie der andre Lehrburſch, in
der Werkſtatt arbeiten.


Er wurde zu den niedrigſten Beſchaͤftigun¬
gen gebraucht; er mußte Holz ſpalten, Waſſer
tragen, und die Werkſtatt auskehren.


[84]

So ſehr dies gegen ſeine Erwartungen ab¬
ſtach, wurde ihm doch das Unangenehme eini¬
germaßen durch den Reiz der Neuheit erſetzt.
Und er fand wirklich eine Art von Vergnuͤgen,
ſelbſt beim Auskehren, Holzſpalten, und Waſ¬
ſertragen.


Seine Phantaſie aber, womit er ſich alles
dies ausmalte, kam ihm auch ſehr dabei zu ſtat¬
ten. — Oft war ihm die geraͤumige Werkſtatt,
mit ihren ſchwarzen Waͤnden, und dem ſchauer¬
lichem Dunkel, das des Abends und Morgens
nur durch den Schimmer einiger Lampen erhellt
wurde, ein Tempel, worin er diente.


Des Morgens zuͤndete er unter den großen
Keſſeln das heilige belebende Feuer an, wodurch
nun den Tag uͤber alles in Arbeit und Thaͤtig¬
keit erhalten, und ſo vieler Haͤnde beſchaͤftiget
wurden.


Er betrachtete dann dies Geſchaͤft, wie eine
Art von Amt, dem er in ſeinen Augen eine ge¬
wiſſe Wuͤrde ertheilte.


Gleich hinter der Werkſtatt floß die Oker,
auf welcher eine Fuͤlle oder Vorſprung von Bret¬
tern zum Waſſerſchoͤpfen hinausgebauet war.


[85]

Er betrachtete dies alles gewiſſermaßen als
ſein Gebiet — und zuweilen, wenn er die Werk¬
ſtatt gereinigt, die großen eingemauerten Keſſel
gefuͤllt, und das Feuer unter denſelben angezuͤn¬
det hatte, konnte er ſich ordentlich uͤber ſein
Werk freuen — als ob er nun einem jeden ſein
Recht gethan haͤtte — ſeine immer geſchaͤftige
Einbildungskraft belebte das Lebloſe um ihn her,
und machte es zu wirklichen Weſen, mit denen
er umgieng, und ſprach.


Ueberdem machte ihm der ordentliche Gang
der Geſchaͤfte, den er hier bemerkte, eine Art
von angenehmer Empfindung, daß er gern ein
Rad in dieſer Maſchine mit war, die ſich ſo or¬
dentlich bewegte: denn zu Hauſe hatte er nichts
dergleichen gekannt.


Der Hutmacher L. hielt wirklich ſehr auf
Ordnung in ſeinem Hauſe, und alles gieng hier
auf den Glockenſchlag: Arbeiten, Eſſen, und
Schlafen.


Wenn ja eine Ausnahme gemacht wurde, ſo
war es in Anſehung des Schlafs, der freilich
ausfallen mußte, wenn des Nachts gearbeitet
wurde, welches denn woͤchentlich wenigſtens ein¬
mal geſchahe.


[86]

Sonſt war das Mittagseſſen immer auf den
Schlag zwoͤlf, das Fruͤhſtuͤck Morgens, und das
Abendbrod Abends um acht Uhr, puͤnktlich da.


Dies war es denn auch, worauf bei der Ar¬
beit immer gerechnet wurde — ſo verfloß damals
Antons Leben: des Morgens von ſechs Uhr an
rechnete er bei ſeiner Arbeit aufs Fruͤhſtuͤck, das
er immer ſchon in der Vorſtellung ſchmeckte, und
wenn er es erhielt, mit dem geſundeſten Appetit
verzehrte, den ein Menſch nur haben kann, ob
es gleich in weiter nichts, als dem Bodenſatz
vom Kaffee, mit etwas Milch, und einem Zwei¬
pfennigbrodte beſtand.


Dann gieng es wieder friſch an die Arbeit,
und die Hoffnung aufs Mittagseſſen brachte
wiederum neues Intereſſe in die Morgenſtunden,
wenn die Einfoͤrmigkeit der Arbeit zu ermuͤdend
wurde.


Des Abends wurde Jahr aus, Jahr ein,
eine Kalteſchale von ſtarkem Biere gegeben.
Reiz genug, um die Nachmittagsarbeiten zu
verſuͤßen.


Und dann vom Abendeſſen an, bis zum
Schlafengehen, war es der Gedanke an die
[87] baldbevorſtehende ſehnlichgewuͤnſchte Ruhe, der
nun uͤber das Unangenehme und Muͤhſame der
Arbeit, wieder ſeinen troͤſtlichen Schimmer ver¬
breitete.


Freilich wußte man, daß den folgenden Tag
der Kreislauf des Lebens ſo von vorn wieder
anfieng. Aber auch dieſe zuletzt ermuͤdende
Einfoͤrmigkeit im Leben, wurde durch die Hoff¬
nung auf den Sonntag wieder auf eine ange¬
nehme Art unterbrochen.


Wenn der Reiz des Fruͤhſtuͤcks, und des
Mittags- und Abendeſſens nicht mehr hinlaͤnglich
war, die Lebens- und Arbeitsluſt zu erhalten,
dann zaͤhlte man, wie lange es noch bis auf den
Sonntag war, wo man einen ganzen Tag von
der Arbeit feiern, und einmal aus der dunklen
Werkſtatt vors Thor hinaus in das freie Feld
gehen, und des Anblicks der freien offnen Natur
genießen konnte.


O, welche Reize hat der Sonntag fuͤr den
Handwerksmann, die den hoͤheren Klaſſen von
Menſchen unbekannt iſt, welche von ihren Ge¬
ſchaͤften ausruhen koͤnnen, wenn ſie wollen. —


[88]

„Daß deiner Magd Sohn ſich erfreue!“ —
Nur der Handwerksmann kann es ganz fuͤhlen,
was fuͤr ein großer, herrlicher, menſchenfreund¬
licher Sinn in dieſem Geſetze liegt! —


Wenn man nun auf einen Tag Ruhe von
der Arbeit ſchon ſechs Tage lang rechnete, ſo
fand man es wohl der Muͤhe werth, auf drei
oder gar vier Feiertage nach einander, ein Drit¬
theil des Jahres zu rechnen.


Wenn ſelbſt der Gedanke an den Sonntag
oft nicht mehr faͤhig war, den Ueberdruß an dem
Einfoͤrmigen zu verhindern, ſo wurde durch die
Naͤhe von Oſtern, Pfingſten, oder Weihnachten
der Lebensreiz wieder aufgefriſcht.


Und wenn dies alles zu ſchwach war, ſo kam
die ſuͤße Hoffnung an die Vollendung der Lehr¬
jahre, an das Geſellenwerden hinzu, welche alles
andre uͤberſtieg, und eine neue große Epoche ins
Leben brachte.


Weiter ging nun aber auch der Geſichtskreis
bei Antons Mitlehrburſchen nicht — und ſein Zu¬
ſtand war dadurch gewiß um nichts verſchlimmert.


Nach einer allguͤtigen und weiſen Einrichtung
der Dinge hat auch das muͤhevolle, einfoͤrmige
[89] Leben des Handwerksmannes, ſeine Einſchnitte
und Perioden, wodurch ein gewiſſer Takt und
Harmonie hereingebracht wird, welcher macht,
daß es unbemerkt ablaͤuft, ohne ſeinem Beſitzer
eben Langeweile gemacht zu haben.


Aber Antons Seele war durch ſeine roman¬
haften Ideen einmal zu dieſem Takt verſtimmt.


Dem Hauſe des Hutmachers grade gegen¬
uͤber war eine lateiniſche Schule, die Anton zu
beſuchen vergeblich gehofft hatte — ſo oft er die
Schuͤler heraus- und hineingehen ſahe, dachte
er mit Wehmuth an die lateiniſche Schule, und
an den Konrektor in H. zuruͤck — und wenn er
gar etwa vor der großen Martinsſchule vorbei¬
gieng, und die erwachſenen Schuͤler herauskom¬
men ſahe, ſo haͤtte er alles darum gegeben, dies
Heiligthum nur einmal inwendig betrachten zu
koͤnnen.


Einmal eine ſolche Schule beſuchen zu duͤr¬
fen, hielt er zwar bei ſeinem jetzigen Zuſtande
beinahe fuͤr unmoͤglich; demohngeachtet aber
konnte er ſich einen ſchwachen Schimmer von
Hoffnung dazu nicht ganz verſagen.


[90]

Selbſt die Chorſchuͤler ſchienen ihm Weſen
aus einer hoͤhern Sphaͤre zu ſeyn; und wenn er
ſie auf der Straße ſingen hoͤrte, konnte er ſich
nicht enthalten, ihnen nachzugehen, ſich an
ihrem Anblick zu ergoͤtzen, und ihr glaͤnzendes
Schickſal zu beneiden.


Wenn er mit ſeinem Mitlehrburſchen in der
Werkſtatt alleine war, ſuchte er ihm alle die klei¬
nen Kenntniſſe mitzutheilen, welche er ſich theils
durch eignes Leſen, und theils durch den Unter¬
richt, den er genoſſen, erworben hatte.


Er erzaͤhlte ihm vom Jupiter und der Juno,
und ſuchte ihm den Unterſchied zwiſchen Adjek¬
tivum und Subſtantivum deutlich zu machen,
um ihn zu lehren, wo er einen großen Buchſta¬
ben, oder einen kleinen ſetzen muͤſſe.


Dieſer hoͤrte ihm denn aufmerkſam zu, und
zwiſchen ihnen wurden oft moraliſche und reli¬
gioͤſe Gegenſtaͤnde abgehandelt. Antons Mit¬
lehrburſche war bei dieſen Gelegenheiten vorzuͤg¬
lich ſtark in Erfindung neuer Woͤrter, wodurch
er ſeine Begriffe bezeichnete. So nannte er
z. B. die Befolgung der goͤttlichen Befehle, die
Erfuͤlligkeit Gottes — Und indem er vorzuͤglich
[91] die religioͤſen Ausdruͤcke des Hrn. L. von Ertoͤd¬
tung, u. ſ. w. nachzuahmen ſuchte, gerieth er oft
in ein ſonderbares Galimathias.


Mit vorzuͤglichem Nachdruck wußte er ſich
einiger Stellen aus den Pſalmen Davids,
worinn eben keine ſanftmuͤthigen Geſinnungen
gegen die Feinde geaͤußert werden, zu bedienen,
wenn er glaubte, durch die Haushaͤlterin oder
jemand anders, angeſchwaͤrzt und verlaͤumdet
zu ſeyn.


So waren faſt alle Hausgenoſſen mehr oder
weniger von den religioͤſen Schwaͤrmereien des
Hrn. L. angeſteckt, ausgenommen der Geſelle.
Dieſer warf ihm, wenn er ihm manchmal zuviel
von Ertoͤdtung und Vernichtung ſchwatzte, einen
ſolchen toͤdtenden und vernichtenden Blick zu,
daß Hr. L. ſich mit Abſcheu wegwandte, und
ſtill ſchwieg.


Sonſt konnte Hr. L. zuweilen ſtundenlange
Strafpredigten gegen das ganze menſchliche Ge¬
ſchlecht halten. Mit einer ſanften Bewegung der
rechten Hand theilte er dann Segen und Ver¬
dammniß aus. Seine Miene ſollte dabei mitleids¬
voll ſeyn, aber die Intoleranz und der Menſchen¬
[92] haß hatten ſich zwiſchen ſeinen ſchwarzen Augen¬
braunen gelagert.


Die Nutzanwendung lief denn immer, poli¬
tiſch genug, darauf hinaus, daß er ſeine Leute
zum Eifer und zur Treue — in ſeinem Dienſte
ermahnte, wenn ſie nicht ewig im hoͤlliſchen
Feuer brennen wollten.


Seine Leute konnten ihm nie genug arbei¬
ten — und er machte ein Kreuz uͤber das Brod
und die Butter, wenn er ausgieng.


Dem Anton, der ihm vielleicht nicht gnug
arbeiten konnte, verbitterte er ſein Mittagseſſen
durch tauſend wiederholte Lehren, die er ihm
gab, wie er das Meſſer und die Gabel halten,
und die Speiſe zum Munde fuͤhren ſollte, daß
dieſem oft alle Luſt zum Eſſen vergieng; bis ſich
der Geſelle einmal nachdruͤcklich ſeiner annahm,
und Anton doch nun in Frieden eſſen konnte. —


Uebrigens aber durfte er es auch nicht wa¬
gen, nur einen Laut von ſich zu geben, denn an
allem, was er ſagte, an ſeinen Mienen, an ſei¬
nen kleinſten Bewegungen, fand L. immer etwas
auszuſetzen; nichts konnte ihm Anton zu Danke
machen, welcher ſich endlich beinahe in ſeiner
[93] Gegenwart zu gehen fuͤrchtete, weil er an jedem
Tritt etwas zu tadeln fand. — Seine Intole¬
ranz erſtreckte ſich bis auf jedes Laͤcheln, und
jeden unſchuldigen Ausbruch des Vergnuͤgens,
der ſich in Antons Mienen oder Bewegungen
zeigte: denn hier konnte er ſie einmal recht nach
Gefallen auslaſſen, weil er wußte, daß ihm nicht
widerſprochen werden durfte.


Waͤhrend der Zeit wurden die ganz verblich¬
nen fuͤnf Sinne an dem ſchwarzen Getaͤfel der
Wand wieder neu uͤberfirnißt — die Erinnerung
an den Geruch davon, welcher einige Wochen
dauerte, war bei Anton nachher beſtaͤndig mit
der Idee von ſeinem damaligen Zuſtande verge¬
ſellſchaftet. So oft er einen Firnißgeruch em¬
pfand, ſtiegen unwillkuͤhrlich alle die unange¬
nehmen Bilder aus jener Zeit in ſeiner Seele
auf; und umgekehrt, wenn er zuweilen in eine
Lage kam, die mit jener einige zufaͤllige Aehn¬
lichkeiten hatte, glaubte er auch, einen Firni߬
geruch zu empfinden.


Ein Zufall verbeſſerte Antons Lage in etwas.


Der Hutmacher L. . . war ein aͤußerſt hypo¬
chondriſcher Schwaͤrmer; er glaubte an Ahndun¬
[94] gen und hatte Viſionen, die ihm oft Furcht und
Grauen erweckten. Eine alte Frau, die zur Mie¬
the im Hauſe gewohnt hatte, ſtarb, und erſchien
ihm bei naͤchtlicher Weile im Traume, daß er oft
mit Schaudern und Entſetzen erwachte, und weil
er dann wachend noch forttraͤumte, auch ihren
Schatten in irgend einer Ecke ſeiner Kammer
noch zu ſehen glaubte. Anton mußte ihm von
nun an zur Geſellſchaft ſeyn, und in einem Bette
neben ihm ſchlafen. Dadurch wurde er ihm gewiſ¬
ſermaßen zum Beduͤrfniß, und er wurde etwas
guͤtiger gegen ihn geſinnt. — Er ließ ſich oft mit
ihm in Unterredungen ein, fragte ihn, wie er in
ſeinem Herzen mit Gott ſtehe, und lehrte ihn, daß
er ſich Gott nur ganz hingeben ſolle; wenn er
dann zu dem Gluͤck der Kinder Gottes auser¬
waͤhlt waͤre, ſo wuͤrde Gott ſelbſt das Werk der
Bekehrung in ihm anfangen und vollenden, u.
ſ. w. — Des Abends mußte Anton, ehe er zu
Bette ging, fuͤr ſich ſtehend, leiſe beten, und
das Gebet durfte auch nicht allzu kurz ſeyn —
ſonſt fragte L. . . wohl, ob er denn ſchon fertig
ſey, und Gott nichts mehr zu ſagen habe? —
Dies war fuͤr Anton eine neue Veranlaſſung zur
[95] Heuchelei und Verſtellung, die ſonſt ſeiner Na¬
tur ganz entgegen war. — Ob er gleich leiſe be¬
tete, ſo ſuchte er doch ſeine Worte ſo vernehm¬
lich auszuſprechen, daß er von L. . . recht gut
verſtanden werden konnte — und nun herrſchte
durch ſein ganzes Gebet nicht ſowohl der Ge¬
danke an Gott, als vielmehr, wie er ſich durch
irgend einen Ausdruck von Reue, Zerknirſchung,
Sehnſucht nach Gott und dergleichen wohl am
beſten in die Gunſt des Hrn. L. . . einſchmeicheln
koͤnnte. — Das war der herrliche Nutzen, den
dies erzwungne Gebet auf Antons Herz und
Charakter hatte.


Doch aber fand Anton auch zuweilen im ein¬
ſamen Gebete noch eine Art von heimlichen Ver¬
gnuͤgen, wenn er in irgend einem Winkel der
Werkſtatt kniete, und Gott bat, daß er doch eine
einzige von den großen Veraͤnderungen in ſeiner
Seele hervorbringen moͤgte, wovon er ſeit ſeiner
Kindheit ſchon ſo viel geleſen und gehoͤrt hatte.
Und ſo weit gieng die Taͤuſchung ſeiner Einbil¬
dungskraft, daß es ihm zuweilen wirklich war,
als gienge etwas ganz beſonders im Innerſten
ſeiner Seele vor; und ſogleich war auch der
[96] Gedanke da, wie er nun dieſen ſeinen Seelen¬
zuſtand etwa in einem Briefe an ſeinen Vater
oder den Hrn. v. F. einkleiden, oder ihn Hrn.
L. . . erzaͤhlen wollte. Es waren alſo dergleichen
eingebildete innere Gefuͤhle immer eine ſuͤße
Nahrung ſeiner Eitelkeit, und das innige Ver¬
gnuͤgen, was er daruͤber empfand, wurde vor¬
zuͤglich durch den Gedanken erweckt, daß er doch
nun ſagen koͤnnte, er habe ein ſolches goͤttliches,
himmliſches Vergnuͤgen in ſeiner Seele empfun¬
den — es ſchmeichelte ihn immer ſehr, wenn
erwachſene und bejahrte Leute ſeinen Seelenzu¬
ſtand fuͤr ſo wichtig hielten, daß ſie ſich darum
bekuͤmmerten. Das war der Grund, daß er ſich
ſo oft einen abwechſelnden Seelenzuſtand zu
haben einbildete, um dann etwa dem Hrn. L. . .
klagen zu koͤnnen, daß er ſich in einem Zuſtande
der Leere, der Trockenheit befinde, daß er keine
rechte Sehnſucht nach Gott bei ſich verſpuͤre,
u. ſ. w., und ſich alsdann den Rath des Hrn.
L. . . uͤber dieſen ſeinen Seelenzuſtand ausbitten
zu koͤnnen, der ihm denn auch immer mit vieler
fuͤr ihn ſchmeichelhaften Wichtigkeit ertheilt
ward.


[97]

Ja es kam gar einmal ſo weit, daß uͤber ſei¬
nen Seelenzuſtand mit dem Hrn. v. F. korre¬
ſpondirt, und ihm eine Stelle in dem Briefe
des Hrn. v. F., die ſich auf ihn bezog, gezeigt
wurde. Was Wunder, daß er auf die Weiſe
veranlaßt wurde, ſich durch allerlei eingebildete
Veraͤnderungen ſeines Seelenzuſtandes, in ſei¬
nen eignen Augen ſowohl, als in den Augen
andrer, bei dieſer Wichtigkeit zu erhalten,
da er als ein Weſen betrachtet wurde, bei dem
ſich eine ganz eigne beſondre Fuͤhrung Gottes
offenbarte.


Er bekam nun auch eine ſchwarze Schuͤrze,
wie der andre Lehrburſche, und anſtatt, daß ihn
dieſer Umſtand haͤtte niederſchlagen ſollen, trug
er vielmehr vieles zu ſeiner Zufriedenheit bei.
Er betrachtete ſich nun als einen Menſchen, der
ſchon anfing, einen gewiſſen Stand zu beklei¬
den. Die Schuͤrze brachte ihn gleichſam in
Reihe und Glied mit andern ſeines Gleichen,
da er vorher einzeln und verlaſſen da ſtand —
er vergaß uͤber die Schuͤrze eine Zeitlang ſeinen
Hang zum Studieren; und fing an, auch an
den uͤbrigen Handwerksgebraͤuchen eine Art
G[98] von Gefallen zu finden, der ihn nichts eifriger
wuͤnſchen ließ, als dieſelben einmal mitmachen
zu koͤnnen. — Er freute ſich innerlich, ſo oft er
den Gruß eines einwandernden Geſellen hoͤrte,
der das gewoͤhnliche Geſchenk zu fordern kam;
und keine groͤßere Gluͤckſeligkeit konnte er ſich
denken, als wenn er auch einmal als Geſelle ſo
einwandern, und dann, nach Handwerksge¬
brauch, den Gruß mit den vorgeſchriebnen Wor¬
ten herſagen wuͤrde. —


So haͤngt das jugendliche Gemuͤth immer
mehr an den Zeichen, als an der Sache, und
es laͤßt ſich von den fruͤhen Aeußerungen bei
Kindern, in Anſehung der Wahl ihres kuͤnfti¬
gen Berufes, wenig oder gar nichts ſchließen. —
Sobald Anton leſen gelernt hatte, fand er ein
unbeſchreibliches Vergnuͤgen darin, in die Kirche
zu gehen: ſeine Mutter und ſeine Baſe konn¬
ten ſich nicht gnug daruͤber freuen. Was ihn
aber in die Kirche trieb, war der Triumph, den
er allemal genoß, wenn er nach dem ſchwarzen
Brette, wo die Nummern der Geſaͤnge ange¬
ſchrieben waren, hinſehen, und etwa einen er¬
wachſenen Menſchen, der neben ihm ſtand, ſagen
[99] konnte, was es fuͤr eine Nummer ſey: und wenn
er denn eben ſo, und oft noch geſchwinder, als
die erwachſenen Leute, dieſe Nummer in ſeinem
Geſangbuche aufſchlagen, und nun mitſingen
konnte. —


Die Zuneigung des Hrn. L. . . gegen Anton
ſchien itzt immer groͤßer zu werden, jemehr die¬
ſer nach ſeiner geiſtlichen Fuͤhrung ein Verlan¬
gen bezeigte. — Er ließ ihn oft bis um Mitter¬
nacht an den Geſpraͤchen mit ſeinen vertraute¬
ſten Freunden Theil nehmen, mit denen er ſich
gemeiniglich uͤber ſeine und anderer Erſcheinun¬
gen zu unterhalten pflegte, welche zuweilen ſo
ſchaudervoll waren, daß Anton mit berganſtehen¬
dem Haare zuhorchte. Gemeiniglich wurde erſt
ſpaͤt zu Bett gegangen. Und wenn der Abend
mit ſolchen Geſpraͤchen zugebracht war, ſo pflegte
L. . . am folgenden Morgen beim Aufſtehen wohl
zu fragen, ob Anton die Nacht nichts vernom¬
men, nichts in der Kammer gehen gehoͤrt habe?


Manchmal unterhielt ſich auch L. . . des Abends
mit Anton allein, und ſie laſen dann zuſammen
etwa in den Schriften des Taulerus, Johan¬
nes vom Kreuz
, und aͤhnlichen Buͤchern. —
G 2[100] Es ſchien, als ob zwiſchen ihnen eine dauerhafte
Freundſchaft entſtehen wuͤrde. Anton faßte auch
wirklich eine Art von Liebe gegen L. . ., aber
dieſe Empfindung war immer mit etwas Her¬
ben untermiſcht, mit einem gewiſſen Ge¬
fuͤhl von Ertoͤdtung und Vernichtung, welches
durch L. . .s bitterſuͤßes Laͤcheln erzeugt
wurde.


Indeß blieb Anton jetzt von harten und nie¬
drigen Arbeiten, mehr wie ſonſt, verſchont. L. . .
ging zuweilen mit ihm ſpatzieren; ja er nahm
ihm ſogar einen Klaviermeiſter an. — Anton
war entzuͤckt uͤber ſeinen Zuſtand, und ſchrieb
einen Brief an ſeinen Vater, worin er demſelben
auf das lebhafteſte ſeine Zufriedenheit bezeigte.


Nun hatte aber auch Antons Gluͤck im L. . .ſchen
Hauſe den hoͤchſten Gipfel erreicht, und ſein Fall
war nahe. Alles ſahe ihn mit neidiſchen Augen
an, ſeitdem ihm der Klaviermeiſter gehalten
wurde. Es wurden hier Kabalen, wie an einem
kleinen Hofe geſpielt; man verlaͤumdete ihn,
man ſuchte ihn zu ſtuͤrzen.


So lange L. . . gegen Anton hart und unbil¬
lig verfahren war, genoß er des Mitleids und
[101] der Freundſchaft aller uͤbrigen Hausgenoſſen;
ſobald es aber ſchien, als ob dieſer ihm ſeine
Freundſchaft und Vertrauen zuwenden wuͤrde,
nahm in eben dem Maße ihre Feindſchaft und
Mißtrauen gegen ihn zu. Und ſobald es ihnen
nur gelungen war, ihn wieder zu ſich herunter zu
bringen, und man es ſo weit gebracht hatte, daß der
Klaviermeiſter wieder abgedankt war, hatte man
auch weiter nichts mehr gegen Anton: man war
ſein Freund, wie zuvor.


Nun hielt es aber nicht ſchwer, ihn der Ge¬
wogenheit eines ſo argwoͤhniſchen und mißtraui¬
ſchen Mannes, wie L. . . war, zu berauben; man
durfte nur einige lebhafte Aeußerungen von ihm
erzaͤhlen; man durfte Hrn. L. . . nur auf ver¬
ſchiedne wirkliche Fehler der Nachlaͤßigkeit und
Unordnung, die Anton an ſich hatte, bei jeder
Gelegenheit aufmerkſam machen, um ſeinen Ge¬
ſinnungen bald eine andre Richtung zu geben.
Dieß wurde denn von der Haushaͤlterin, und
den uͤbrigen Untergebenen ſehr gewiſſenhaft ge¬
than. — Indeß dauerte es doch noch einige Mo¬
nate, ehe man voͤllig ſeinen Zweck erreichte.
Waͤhrend welcher Zeit L. . . ſogar Antons Kla¬
G 3[102] viermeiſter zu bekehren ſich Muͤhe gab, welcher
ein ſehr rechtſchaffner und frommer Mann war,
aber Hrn. L...s Meinung nach, ſich Gott noch
nicht ganz hingegeben hatte, und ſich nicht lei¬
dend gnug gegen ihn verhielt.


Dieſer Mann mußte denn auch oft bei Hrn.
L... ſpeiſen, verdarb es aber am Ende dadurch,
daß er ſich zu viel Butter auf das Brod ſchmierte;
auf dieſen Umſtand machte die Haushaͤlterin
Hrn. L... aufmerkſam, um dadurch ihren Zwek
zu erreichen, dem Klavierſpielen Antons ein
Ende zu machen, damit er nicht mehr uͤber die
andern Hausgenoſſen erhoben waͤre.


Anton hatte uͤberdem nicht viel Genie zur
Muſik, und lernte folglich nicht viel in ſeinen
Stunden. Ein paar Arien und Choraͤle waren
alles, was er mit vieler Muͤhe faſſen konnte.
Und die Klavierſtunde war ihm immer eine ſehr
unangenehme Stunde. Auch wurde ihm die
Applikatur ſehr ſchwer, und L... fand immer
an der Figur ſeiner weitausgeſpreiteten Finger
etwas auszuſetzen.


Indeß gelang es ihm doch einmal, wie dem
David beim Saul, den boͤſen Geiſt des Hrn.
[103] L. . . durch die Kraft der Muſik zu vertreiben.
Er hatte ein kleines Verſehen begangen, und
weil die Neigung des Hrn. L. . . gegen ihn ſchon
anfing, ſich in Haß zu verwandeln, ſo hatte
dieſer ihm des Abends vor dem Schlafengehen
eine harte Zuͤchtigung dafuͤr zugedacht. Anton
merkte dies an allem wohl. Und als die Stunde
heranzunahen ſchien, faßte er den Muth, einen
Choral, den erſten den er gelernt hatte, auf dem
Klavier zu ſpielen, und dazu zu ſingen. Dies
uͤberraſchte Hrn. L. . ., er geſtand ihm, daß grade
dieſe Stunde zu einer nachdruͤckliche Beſtrafung
beſtimmt geweſen waͤre, die er ihm nun ſchenkte.


Anton erdreiſtete ſich nun ſogar, ihm einige
Vorſtellungen wegen der anſcheinenden Abnahme
ſeiner Freundſchaft und Liebe gegen ihn zu thun,
worauf L. . . ihm geſtand, daß ſeine Zuneigung
gegen ihn freilich ſo ſtark nicht mehr ſey, und
daß dieſes nothwendig an Antons verſchlimmer¬
tem Seelenzuſtande liegen muͤſſe, wodurch gleich¬
ſam eine Scheidewand zwiſchen ihm und ſeiner
ehemaligen Liebe gezogen waͤre. Er habe die
Sache Gott im Gebet vorgetragen, und dieſen
Aufſchluß daruͤber erhalten.


[104]

Dies war [nun] ſehr traurig fuͤr Anton, und
er fragte, wie er es denn anzufangen habe, um
ſeinen verſchlimmerten Seelenzuſtand wieder zu
verbeſſern? — Seinen Weg in Einfalt zu wandeln,
und ſich ganz Gott zu uͤberlaſſen, war die Ant¬
wort, ſey das einzige Mittel, ſeine Seele zu
retten. — Weiter wurden keine naͤhern Anwei¬
ſungen ertheilt. Hr. L. . . hielt es nicht fuͤr gut,
Gott gleichſam vorzugreifen, der ſich ſelber von
Anton abgezogen zu haben ſchien. — Die nach¬
druͤcklich ausgeſprochnen Worte aber, ſeinen
Weg in Einfalt zu wandeln, hatten darauf
Bezug, daß ihm Anton ſeit einiger Zeit zu klug
zu werden anfing, zu viel ſprach und vernuͤnf¬
telte, und uͤberhaupt, wegen der Zufriedenheit
mit ſeinem Zuſtande, zu lebhaft wurde. — Dieſe
Lebhaftigkeit war ihm der gerade Weg zu Antons
Verderben, der nach dieſer Heiterkeit in ſeinem
Geſichte nothwendig ein ruchloſer, weltlichge¬
ſinnter Menſch werden mußte, von dem nichts
anders zu vermuthen ſtand, als daß ihn Gott
ſelbſt in ſeinen Suͤnden dahin geben wuͤrde. —


Haͤtte Anton ſeinen Vortheil beſſer verſtan¬
den, ſo haͤtte er itzt durch ein niedergeſchlagenes,
[105] miſantropiſches Weſen, vorgegebene Beaͤngſti¬
gungen und Beklemmungen ſeiner Seele noch
alles wieder gut machen koͤnnen. Denn nun
wuͤrde L. . . geglaubt haben, Gott ſey im Begriff,
die verirrte Seele wieder zu ſich zu ziehen. —


Aber weil L. . . den Grunſatz hatte, daß der¬
jenige, welchen Gott bekehren wolle, auch ohne
ſein Zuthun bekehrt werde; und daß Gott er¬
waͤhlet, welchen er will, und verwirft und ver¬
ſtocket, welchen er will, um ſeine Herrlichkeit zu
offenbaren — ſo ſchien es ihm gleichſam gefaͤhr¬
lich, ſich in die Sache Gottes zu miſchen, wenn
es etwa den Anſchein hatte, als ob einer wirk¬
lich von Gott verworfen waͤre.


Mit Anton hatte es nun, ſeinen lebhaften
und weltlich geſinnten Mienen nach, bey dem
Herrn L. . . wuͤrklich beynahe dieſen Anſchein. —
Die Sache war ihm ſo wichtig geweſen, daß er
daruͤber mit dem Hrn. v. F. korreſpondirt hatte. —
Und nun zeigte er Anton wiederum in dem Briefe
des Hrn. v. F. eine Stelle, die ihn betraf; und
worin der Hr. v. F. verſicherte, allen Kennzeichen
nach habe der Satan ſeinen Tempel in An¬
tons Herzen ſchon ſo weit aufgebauet
, daß
G 5[106]er ſchwerlich wieder zerſtoͤrt werden
koͤnnen
. —


Das war wirklich ein Donnerſchlag fuͤr An¬
tou — aber er pruͤfte ſich, und verglich ſeinen
jetzigen Zuſtand mit dem vorhergehenden, und
es war ihm unmoͤglich, irgend einen Unterſchied
dazwiſchen zu entdecken; er hatte noch eben ſo
oft, eingebildete goͤttliche Ruͤhrungen und Em¬
pfindungen, wie ſonſt; er konnte ſich nicht uͤber¬
zeugen, daß er ganz aus der Gnade gefallen,
und von Gott verworfen ſeyn ſollte. Er fing an
der Wahrheit des Orakelſpruchs von dem Hrn.
v. F. an zu zweifeln.


Dadurch verlohr ſich ſeine Niedergeſchlagen¬
heit wieder, die ihm ſonſt vielleicht aufs neue den
Weg zu der Gunſt des Hrn. L. . . wuͤrde gebahnt
haben, deſſen Freundſchaft er nun durch ſeine
fortgeſetzten vergnuͤgten Mienen vollends ver¬
ſcherzte.


Die erſte Folge davon war, daß ihn L. . . aus
ſeiner Kammer entfernte, und er wieder bei dem
andern Lehrburſchen ſchlafen mußte, der nun
anfing wieder ſein Freund zu werden, weil er
ihn nicht mehr beneidete; die andre, daß er wie¬
[107] der anfangen mußte, mehr wie jemals die ſchwer¬
ſten und niedrigſten Arbeiten zu verrichten, wo¬
bei er immer in der Werkſtatt bleiben mußte,
und nur ſelten zu Hrn. L... in die Stube kom¬
men durfte. Der Klaviermeiſter wurde nur
noch deswegen beibehalten, weil L... das ange¬
fangne Werk der Bekehrung in ihm vollenden,
und alſo ſtatt einer verlohrnen Seele Gott wie¬
der eine andre zufuͤhren wollte.


Der Winter kam heran, und jetzt fing An¬
tons Zuſtand wirklich an, hart zu werden: er
mußte Arbeiten verrichten, die ſeine Jahre und
Kraͤfte weit uͤberſtiegen. L... ſchien zu glauben,
da nun mit Antons Seele doch weiter nichts an¬
zufangen ſey, ſo muͤſſe man wenigſtens von ſei¬
nem Koͤrper allen moͤglichen Gebrauch machen.
Er ſchien ihn jetzt wie ein Werkzeug zu betrach¬
ten, daß man wegwirft, wenn man es gebraucht
hat.


Bald wurden Antons Haͤnde durch den Froſt
und die Arbeit zum Klavierſpielen gaͤnzlich un¬
tauglich gemacht. — Er mußte faſt alle Woche
ein paarmal des Nachts mit dem andern Lehr¬
burſchen aufbleiben, um die geſchwaͤrzten Huͤte
[108] aus dem ſiedenden Faͤrbekeſſel herauszuholen,
und ſie dann unmittelbar darauf in der vorbei¬
flieſſenden Oker zu waſchen, wo zu dem Ende
erſt eine Oeffnung in das Eis mußte gehauen
werden. Dieſer oft wiederholte Uebergang von
der Hitze zum Froſt, machte, daß Anton beide
Haͤnde aufſprangen, und das Blut ihm heraus¬
ſpruͤtzte.


Allein ſtatt daß dieſes ihn haͤtte niederſchla¬
gen ſollen, erhob es vielmehr ſeinen Muth. Er
blickte mit einer Art von Stolz auf ſeine Haͤnde,
und betrachtete die blutigen Merkmahle daran,
als ſo viel Ehrenzeichen von ſeiner Arbeit; und
ſo lange dieſe harten Arbeiten noch fuͤr ihn den
Reiz der Neuheit hatten, machten ſie ihm ein
gewiſſes Vergnuͤgen, das vorzuͤglich im Gefuͤhl
ſeiner koͤrperlichen Kraͤfte beſtand; zugleich ge¬
waͤhrten ſie ihm eine Art von ſuͤßem Freiheits¬
gefuͤhl, das er bisher noch nicht gekannt hatte.


Es war ihm, als wenn er nun auch ſich
ſelbſt etwas mehr nachſehen koͤnne, nachdem er
eben ſo wie die andern gearbeitet, und des Tages
Laſt und Hitze wie ſie getragen hatte. Unter
den beſchwerlichſten Arbeiten empfand er eine
[109] Art von innerer Werthſchaͤtzung, die ihm die
Anſtrengung ſeiner Kraͤfte verſchafte; und oft
wuͤrde er dieſen Zuſtand kaum gegen die peinliche
Lage wieder vertauſcht haben, worin er ſich beim
Genuß der ſtrengen und alle Freiheit vernichten¬
den Freundſchaft L. . .s befand.


Dieſer aber fing jetzt an, ihn immer haͤrter
zu druͤcken: oft mußte er in der bitterſten Kaͤlte,
den ganzen Tag uͤber, in einer ungeheitzten
Stube Wolle kratzen. Dies war ein kluͤglich
ausgeſonnenes Mittel des Hrn. L. . ., um An¬
tons Arbeitſamkeit zu vermehren: denn wenn er
nicht vor Kaͤlte umkommen wollte, ſo mußte er
ſich ruͤhren, ſo viel nur in ſeinen Kraͤften ſtand,
daß ihm Abends oft beide Arme wie gelaͤhmt,
und doch Haͤnde und Fuͤße erfroren waren.


Dieſe Arbeit machte ihm wegen ihrer ewigen
Einfoͤrmigkeit ſein Loos am bitterſten. Beſon¬
ders, wenn manchmal ſeine Phantaſie dabei nicht
in Gang kommen wollte; war dieſe hingegen
durch den ſchnellern Umlauf des Bluts einmal
in Bewegung gerathen, ſo floſſen ihm oft die
Stunden des Tages unvermerkt voruͤber. Er
verlohr ſich oft in entzuͤckenden Ausſichten. Zu¬
[110] weilen ſang er ſeine Empfindungen, in Recita¬
tiven, von ſeiner eignen Melodie. Und wenn
er ſich beſonders von der Arbeit ermuͤdet, ſeine
Kraͤfte erſchoͤpft, und von ſeiner Lage gedruͤckt
fuͤhlte, mochte er ſich am liebſten in religioͤſen
Schwaͤrmereien, von Aufopferung, gaͤnzlicher
Hingebung
, u. ſ. w. verlieren, und der Aus¬
druck Opfersaltar war ihm vorzuͤglich ruͤhrend,
ſo daß er dieſen in alle die kleinen Lieder und
Recitative von ſeiner Erfindung mit einwebte.


Die Unterhaltungen mit ſeinem Mitlehr¬
burſchen (dieſer hieß Auguſt) fingen nun wieder
an, einen neuen Reiz fuͤr ihn zu bekommen, und
ihre Geſpraͤche wurden vertraulich, da ſie nun
einander wieder gleich waren. Die Naͤchte,
welche ſie oft zuſammen durchwachen mußten,
machten ihre Freundſchaft noch inniger. Am
allervertraulichſten wurden ſie aber, wenn ſie
zuſammen in der ſogenannten Trockenſtube ſaßen.
Dieſes war ein in die Erde gemauertes, oben
mit Backſteinen zugewoͤlbtes Loch, worin gerade
ein Menſch aufrecht ſtehen, und ohngefaͤhr zwei
Menſchen ſitzen konnten. In dieſes Loch wurde
ein großes Kohlenbecken geſetzt, und an den
[111] Waͤnden umher, die mit Scheidenwaſſer beſtrich¬
nen Haſenfelle aufgehangen, deren Haar hier
weichgebeizt wurde, um nachher zu den feinern
Huͤten als Zuthat gebraucht zu werden.


Vor dieſem Kohlenbecken und in dieſem
Dunſtkreiſe ſaßen Anton und Auguſt in dem
halbunterirrdiſchen Loche, in welches man mehr
hineinkriechen als hineingehen mußte, und fuͤhl¬
ten ſich durch die Enge des Orts, der nur durch
die Gluth der Kohlen ſchwach erleuchtet wurde,
und durch das Abgeſonderte, Stille und Schauer¬
liche dieſes dunklen Gewoͤlbes, ſo feſt zuſammen¬
geſchloſſen, daß ihre Herzen oft in wechſelſeiti¬
gen Ergießungen der Freundſchaft uͤberſtroͤmten.
Hier entdeckten ſie ſich die innerſten Gedanken
ihrer Seele; hier brachten ſie die ſeligſten Stun¬
den zu.


L. . . war, wie der Hr. v. F. und alle ſeine
Anhaͤnger, ein Separatiſt, der ſich nicht zu
Kirche und Abendmahl hielt. So lange alſo die
Freundſchaft zwiſchen ihm und Anton gedauert
hatte, war dieſer faſt gar in keine Kirche in B. . .
gekommen. Jetzt nahm ihn Auguſt des Sonn¬
tegs mit in die Kuͤche, und ſie gingen immer in
[112] andre, weil Anton ein Vergnuͤgen daran fand,
die verſchiedenen Prediger nach einander zu
hoͤren. —


Nun ſaßen Anton und Auguſt einmal um
Mitternacht zuſammen in der Trockenſtube, und
ſprachen uͤber verſchiedene Prediger, die ſie gehoͤrt
hatten, als der letztre dem Anton verſprach, ihn
kuͤnftigen Sonntag mit in die B. . .kirche zu
nehmen, wo er einen Prediger hoͤren wuͤrde,
der alles uͤbertraͤfe, was er ſich denken und vor¬
ſtellen koͤnnte. Dieſer Prediger hieß P. . .,
und Auguſt konnte nicht aufhoͤren, zu erzaͤhlen,
wie er oft durch die Predigten dieſes Mannes
erſchuͤttert und bewegt ſey. Nichts war fuͤr
Anton reizender, als der Anblick eines oͤffent¬
lichen Redners, der das Herz von Tauſenden in
ſeiner Hand hat. Er hoͤrte aufmerkſam auf das,
was Auguſt ihm erzaͤhlte. Er ſahe ſchon im
Geiſt den Paſtor P . . auf der Kanzel, er hoͤrte
ihn ſchon predigen. Sein einziger Wunſch war,
daß es nur erſt moͤchte Sonntag ſeyn!


Der Sonntag kam heran. Anton ſtand
fruͤher, wie gewoͤhnlich, auf, verrichtete ſeine
Geſchaͤfte, und kleidete ſich an. Als gelaͤutet
wurde,[113] wurde, hatte er ſchon eine Art von angeneh¬
men Vorgefuͤhl deſſen, was er nun bald hoͤren
werde. Man ging zur Kirche. Die Straßen,
welche nach der B. . . kirche fuͤhrten, waren voller
Menſchen, die ſtromweiſe hinzueilten. — Der
Paſtor P. . . war eine Zeitlang krank geweſen,
und predigte nun zum erſtenmale wieder: das
war auch die Urſach, warum Auguſt nicht gleich
zuerſt mit Anton in dieſe Kirche gegangen war.


Als ſie herein kamen, konnten ſie kaum noch
ein Plaͤtzchen der Kanzel gegenuͤber finden. Alle
Baͤnke, die Gaͤnge und Choͤre waren voller Men¬
ſchen, welche alle einer uͤber den andern wegzu¬
ſehen ſtrebten. Die Kirche war ein altes Gothi¬
ſches Gebaͤude mit dicken Pfeilern, die das hohe
Gewoͤlbe unterſtuͤtzten, und ungeheuren langen
bogigten Fenſtern, deren Scheiben ſo bemahlt
waren, daß ſie nur ein ſchwaches Licht durch¬
ſchimmern ließen.


So war die Kirche ſchon von Menſchen er¬
fuͤllt, ehe der Gottesdienſt noch begann. Es
herrſchte eine feierliche Stille. Auf einmal er¬
toͤnte die vollſtimmige Orgel, und der ausbre¬
chende Lobgeſang einer ſolchen Menge von Men¬
H[114] ſchen ſchien das Gewoͤlbe zu erſchuͤttern. Als der
letzte Geſang zu Ende ging, waren aller Augen
auf die Kanzel geheftet, und man bezeigte nicht
minder Begierde, dieſen faſt angebeteten Pre¬
diger zu ſehen, als zu hoͤren.


Endlich trat er hervor, und kniete auf den
unterſten Stuffen der Kanzel, ehe er hinauf
ſtieg. Dann erhob er ſich wieder, und nun ſtand
er da vor dem verſammleten Volke. Ein Mann
noch in der vollen Kraft ſeiner Jahre — ſein
Antlitz war bleich, ſein Mund ſchien ſich in
ein ſanftes Laͤcheln zu verziehen, ſeine Augen
glaͤnzten himmliſche Andacht — er predigte ſchon,
wie er da ſtand, mit ſeinen Minen, mit ſei¬
nen ſtillgefaltenen Haͤnden.


Und nun, als er anhub, welche Stimme,
welch ein Ausdruck! — Erſt langſam und feier¬
lich, und dann immer ſchneller und fortſtroͤmen¬
der: ſo wie er inniger in ſeine Materie eindrang,
ſo fing das Feuer der Beredtſamkeit in ſeinen
Augen an zu blitzen, aus ſeiner Bruſt an zu ath¬
men, und bis in ſeine aͤußerſten Fingerſpitzen
Funken zu ſpruͤhen. Alles war an ihm in Be¬
wegung; ſein Ausdruck durch Minen, Stellung
und[115] und Gebehrden uͤberſchritt alle Regeln der Kunſt,
und war doch natuͤrlich, ſchoͤn, und unwider¬
ſtehlich mit ſich fortreißend.


Da war kein Aufenthalt in dem maͤchtigen
Erguß ſeiner Empfindungen und Gedanken; das
kuͤnftige Wort war immer ſchon im Begriff her¬
vorzubrechen, ehe das vorhergehende noch voͤllig
ausgeſprochen war; wie eine Welle die andere
in der ſtroͤmenden Fluth verſchlingt, ſo verlohr
ſich jede neue Empfindung ſogleich in der fol¬
genden, und doch war dieſe immer nur eine leb¬
haftre Vergegenwaͤrtigung der vorhergegangnen.


Seine Stimme war ein heller Tenor, der
bei ſeiner Hoͤhe eine ungewoͤhnliche Fuͤlle hatte;
es war der Klang eines reinen Metalls, welcher
durch alle Nerven vibrirt. Er ſprach nach An¬
leitung des Evangeliums gegen Ungerechtigkeit
und Unterdruͤckung, gegen Ueppigkeit und Ver¬
ſchwendung; und im hoͤchſten Feuer der Begeiſte¬
rung redete er zuletzt die uͤppige und ſchwelgeriſche
Stadt, deren Einwohner groͤßtentheils in dieſer
Kirche verſammlet waren, mit Nahmen an;
deckte ihre Suͤnden und Verbrechen auf; erin¬
nerte ſie an die Zeiten des Krieges, an die Be¬
H 2lage¬[116] lagerung der Stadt, an die allgemeine Gefahr
zuruͤck, wo die Noth alle gleich machte, und
bruͤderliche Eintracht herrſchte; wo den uͤppigen
Einwohnern, ſtatt ihrer jetzo unter der Laſt der
Schuͤſſeln ſeufzenden Tiſche, Hunger und Theu¬
rung, ſtatt ihrer Armbaͤnder und Geſchmeide,
Feſſeln drohten. — Anton glaubte einen der
Propheten zu hoͤren, der im heiligen Eifer das
Volk Iſrael ſtrafte, und die Stadt Jeruſalem
wegen ihrer Verbrechen ſchalt. —


Anton ging aus der Kirche nach Hauſe, und
ſagte zu Auguſt kein Wort; aber er dachte von
nun an, wo er ging und ſtund, nichts als den
Paſtor P. . . Von dieſem traͤumete er des
Nachts, und ſprach von ihm bei Tage; ſein Bild,
ſeine Mine, und jede ſeiner Bewegungen hat¬
ten ſich tief in Antons Seele eingepraͤgt. — Beim
Wollekratzen in der Werkſtatt, und beim Huͤte¬
waſchen beſchaͤftigte er ſich die ganze Woche uͤber
mit den entzuͤckenden Gedanken an die Predigt
des Paſtor P. . ., und wiederholte ſich jeden
Ausdruck, der ihn erſchuͤttert, oder zu Thraͤnen
geruͤhrt hatte, zu unzaͤhligen malen. Seine
Einbildungskraft ſchuf ſich dann die alte maje¬
ſtaͤtiſche[117] ſtaͤtiſche Kirche, und die lauſchende Menge, und
die Stimme des Predigers hinzu, welche itzt in
ſeiner Phantaſie noch weit himmliſcher klang. —
er zaͤhlte Stunden und Minuten bis zum naͤch¬
ſten Sonntage.


Dieſer kam; und iſt je ein unausloͤſchlicher
Eindruck auf Antons Seele gemacht worden, ſo
war es die Predigt, die er an dem Tage hoͤrte.—
Die Anzahl von Menſchen war womoͤglich noch
groͤßer, als am vorigen Sonntage. — Vor
der Predigt wurde ein kurzes Lied geſungen,
worin die Worte des Pſalms vorkommen:


„Herr, wer wird wohnen in deiner Huͤtte?
„wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?


„Wer ohne Wandel einher gehet und recht
„thut, und redet die Wahrheit von Herzen.


„Wer mit ſeiner Zungen nicht verlaͤumdet,
„und ſeinem Naͤchſten kein Arges thut, und ſei¬
„nen Naͤchſten nicht ſchmaͤhet.


„Wer die Gottloſen nichts achtet, und ehret
„die Gottesfuͤrchtigen: Wer ſeinem Naͤchſten
„ſchwoͤret, und haͤlts.


„Wer ſein Geld nicht auf Wucher giebt, und
„nimmt nicht Geſchenk uͤber den Unſchuldigen.
„Wer das thut, der wird wohl bleiben.


[118]

Durch dies kurze und erſchuͤtternde Lied
wurde man gleichſam voll Erwartung deſſen,
was da kommen ſollte. Das Herz war zu
großen und erhabnen Eindruͤcken vorbereitet,
als der Paſtor P. . . mit feierlichem Ernſt in
ſeiner Miene, wie ganz in ſich verſenkt, auftrat,
und ohne Gebet und Eingang, mit ausgeſtreck¬
tem Arm, zu reden anhub und ſprach:


„Wer nicht Witwen und Waiſen druͤckt; wer
„nicht heimlicher Verbrechen ſich bewußt iſt;
„wer ſeinen Naͤchſten nicht mit Wucher uͤber¬
„vortheilet; wem kein Meineid die Seele be¬
„laſtet; der hebe voll Zutrauen ſeine Haͤnde mit
„mit mir zu Gott empor, und bete: Vater
unſer! u. ſ. w.


Und nun las er das Sonntagsevangelium
von Johannes dem Taͤufer, wo dieſer gefragt
wird, ob er Chriſtus ſey? „und er bekannte und
leugnete nicht, und er bekannte, ich bin nicht
Chriſtus! —“ Von dieſen Worten nahm er
Gelegenheit vom Meineide zu predigen, und
nachdem er die Worte des Evangeliums mit einer
etwas gedaͤmpften, feierlichern Stimme geleſen
hatte, hub er nach einer Pauſe an:


[119]
Weh dir, der du gewiſſenlos

Gott, deinen Herrn verlaͤugnet!

Was traͤgſt du deine Stirne blos,

Die ſchwarzer Meineid zeichnet? —

Mit dieſer Stirne logſt du Gott,

Sein heilger Nahme war dir Spott,

Wie tief biſt du gefallen!

Weh dir, vor Gottes Angeſicht

Tritſt du — er kennet deiner nicht —

Ungluͤcklichſter von allen,

Die einer Mutter Bruſt geſaͤugt —

Verzweifle nicht — vielleicht, vielleicht,

Daß einſt nach deiner Thraͤnen Menge.

Die Flamm' in deinem Buſen loͤſcht,

Und Reue, mit der Jahre Laͤnge,

Die Schuld von deiner Seele waͤſcht.

Der du die Frevelthat begannſt,

O gieb, wenn du noch weinen kannſt,

Die Hoffnung nicht verlohren —

Gott wendet noch ſein Angeſicht,

Er will den Tod des Suͤnders nicht,

Sein Mund hat es geſchworen. —

Dieſe Worte, mit oͤftern Pauſen, und
dem erhabenſten Pathos geſprochen, thaten
eine unglaubliche Wirkung. — Man athmete,
daH 4[120] da ſie geendigt waren, tiefer herauf; man wiſchte
ſich den Schweiß von der Stirn. — Und nun
wurde die Natur des Meineides unterſucht,
ſeine Folgen in ein ſchreckliches und immer ſchreck¬
licher Licht geſtellt. Der Donner rollte auf das
Haupt des Meineidigen herab, das Verderben
nahte ſich ihm, wie ein gewapneter Mann, der
Suͤnder erbebte in den innerſten Tiefen ſeiner
Seele — er rief, ihr Berge fallet uͤber mich,
und ihr Huͤgel bedecket mich! — Der Meinei¬
dige erhielt keine Gnade, er wurde vor dem
Zorn des Ewigen vernichtet. —


Hier ſchwieg er, wie erſchoͤpft — ein pani¬
ſches Schrecken bemaͤchtigte ſich aller Zuhoͤrer. —
Anton rechnete in der Eile die Jahre ſeines Le¬
bens hindurch, ob er ſich nicht etwa eines Mein¬
eids ſchuldig gemacht habe.


Aber nun begann der Zuſpruch — dem Ver¬
zweifelnden wurde Gnade und Verzeihung an¬
gekuͤndigt — wenn er zehnfach buͤßte, was er
Wittwen und Waiſen entriſſen; wenn er ſein
ganzes Leben hindurch ſeine Schuld mit Thraͤ¬
nen der Reue und guten Werken wieder abzu¬
waſchen ſuchte.


[121]

Die Gnade wurde dem Verbrecher nicht ſo
leicht gemacht; ſie mußte durch Gebet und Thraͤ¬
nen errungen werden. Und jetzt war es, als
wolle er ſie durch ſein eignes Gebet und Thraͤnen
vor allem Volke vor Gott erringen, indem er ſich
ſelbſt an die Stelle des ſeelenzerknirſchten Suͤn¬
ders ſetzte. —


Dem Verzweifelnden wurde zugerufen: knie
nieder in Staub und Aſche, bis deine Knie wund
ſind, und ſprich: ich habe geſuͤndiget im Himmel
und vor dir — und ſo fing ſich ein jeder Periode
an mit: ich habe geſuͤndigt im Himmel und vor
dir! und dann folgte nach der Reihe das Be¬
kenntniß: Wittwen und Waiſen hab' ich unter¬
druͤckt; dem Schwachen hab' ich ſeine einzige
Stuͤtze, dem Hungrigen ſein Brod genommen —
ſo ging es durch das ganze Regiſter der Freveltha¬
ten. — Und ieder Periode ſchloß ſich dann — Herr,
iſt es moͤglich, daß ich noch Gnade finde! —


Alles zerſchmolz nun in Wehmuth und Thraͤ¬
nen — Der Refrain bei jedem Perioden that eine
unglaubliche Wirkung — es war, als wenn
jedesmal die Empfindung einen neuen elektriſchen
Schlag erhielt, wodurch ſie bis zum hoͤchſten
GradeH 5[122] Grade verſtaͤrkt wurde. — Selbſt die zu¬
letzt erfolgende Erſchoͤpfung, die Heiſerkeit
des Redners (es war, als ſchrie er zu Gott fuͤr
die Suͤnden des Volks) trug zu der allgemeinen
um ſich greifenden Ruͤhrung bei, die dieſe Pre¬
digt verurſachte; da war kein Kind, das nicht
ſympathetiſch mitgeſeufzt und mitgeweint haͤtte.


Drittehalb Stunden waren ſchon, wie Mi¬
nuten verfloſſen — ploͤtzlich hielt er inne, und
ſchloß nach einer Pauſe mit denſelben Ver¬
ſen, womit er begann. — Mit erſchoͤpfter ge¬
daͤmpfter Stimme las er nun die oͤffentliche
Beichte, das Suͤndenbekenntniß, und die dar¬
auf erfolgende angekuͤndigte Vergebung ab; dar¬
auf betete er fuͤr diejenigen, welche zum Abend¬
mahl gehen wollten, worinn er ſich mit ein¬
ſchloß, und dann ſprach er mit aufgehabenen
Haͤnden den Segen. — Der Abfall der Stimme
bei dieſem allen gegen den Ton, welcher in der
Predigt herrſchte, hatte viel Feierliches und
Ruͤhrendes.


Anton ging nun nicht aus der Kirche, er
mußte erſt den Paſtor P. . . zum Abendmahl
gehen ſehen. — Alle Schritte deſſelben waren
ihm[123] ihm nun heilig. Mit einer Art von Ehrfurcht
trat er auf den Fleck, wo er wußte, daß der Pa¬
ſtor P. . . gegangen war. — Was haͤtte er itzt
darum gegeben, daß er ſchon zum Abendmahl
haͤtte mitgehen duͤrfen! Er ſahe nun den Paſtor
P. . . zu Hauſe gehen, deſſen Sohn, ein Knabe
von neun Jahren, neben hergieng. — Seine
ganze Exiſtenz haͤtte Anton darum gegeben, um
dieſer gluͤckliche Sohn zu ſeyn. — Wenn er
nun den Paſtor P. . . ſahe, wie er mit der Ge¬
meine, die ihn von allen Seiten umwallte, uͤber
die Straße ging, und immer von beiden Seiten,
denen, die ihn gruͤßten, freundlich dankte, ſo
war es, als ob er um ſein Haupt einen ge¬
wiſſen Schimmer erblickte, und unter den uͤbri¬
gen Sterblichen ein uͤbermenſchliches Weſen da¬
hin wandeln ſahe, — ſein hoͤchſter Wunſch war,
durch ſein Hutabnehmen, nur einen ſeiner Bli¬
cke auf ſich zu ziehen — und als ihm das gelun¬
gen war, eilte er ſchnell nach Hauſe, um die¬
ſen Blick gleichſam in ſeinem Herzen zu be¬
wahren.


Den folgenden Sonntag predigte der Paſtor
P. . . des Mittages von der Liebe gegen die
Bruͤ¬[124] Bruͤder, und ſo Seelenerſchuͤtternd ſeine Predigt
wider den Meineid geweſen war, ſo ſanftruͤh¬
rend war dieſe; die Worte floſſen nun wie Ho¬
nig von ſeinen Lippen, jede ſeiner Bewegungen
war anders, ſein ganzes Weſen ſchien ſich nach
dem Stoff, wovon er predigte, veraͤndert zu
haben. Und doch war hiebei nicht die mindeſte
Affektation. Es war ihm natuͤrlich, ſich mit
allen ſeinen Gedanken und Empfindungen, die
der Stoff ſeiner Rede veranlaßte, zu verweben.


Dieſen Vormittag hatte Anton mit erſtaun¬
lich langer Weile dem andern Prediger dieſer
Kirche zugehoͤrt — er gerieth ein paarmal in eine
Art von Wuth gegen ihn, da ſich alles anließ,
als ob er jetzt Amen ſagen wuͤrde, und er dann
von neuem in dem alten Tone wieder anfing.
Jetzt war es mehr wie jemals Antons groͤßte
Qual, einer ſolchen langweiligen Predigt zuzu¬
hoͤren, da er ſich nicht enthalten konnte, beſtaͤn¬
dig Vergleichungen anzuſtellen, nachdem er ſich
einmal die Predigt des Paſtor P... als das
hoͤchſte Ideal, gedacht hatte, welches ihm von
jedem andern unerreichbar ſchien.


[125]

Als die Vormittagspredigt vorbei war, ſo
war die Reihe an den Paſtor P... die Einſeg¬
nung beim Abendmahl zu verrichten, welche An¬
ton nun zum erſtenmal von ihm hoͤrte. — Und
nun, in welcher ehrwuͤrdigen Geſtalt erſchien
er ihm itzt! er ſtand im Hintergrunde der Kirche
vor dem hohen Altare, und ſang die Worte:
Danket dem Herrn, denn er iſt freundlich, und
ſeine Guͤte waͤhret ewiglich — mit einer ſo him¬
melerhebenden Stimme, und einem ſo maͤchti¬
gen Ausdruck, daß Anton ſich in dem Augen¬
blick in hoͤhere Regionen verzuͤckt glaubte —
auch war ihm dies alles wie etwas, das hinter
einem Vorhange, im Allerheiligſten, geſchahe,
wozu ſich ſein Fuß nicht nahen durfte — wie be¬
neidete er einen jeden, der zum Altar hinzutreten
und aus den Haͤnden des Paſtor P... das
Abendmahl empfangen durfte! — Ein ſehr jun¬
ges Frauenzimmer, die ſchwarz gekleidet, mit
blaſſen Wangen, und einer Miene voll himmli¬
ſcher Andacht zum Altar hinzu trat, machte zu¬
erſt auf Antons Herz einen Eindruck, den er
bisher noch nicht gekannt hatte. Er hat dies
junge Frauenzimmer nie wieder geſehen, aber ihr
Bild iſt nie in ſeiner Seele verloſchen.


[126]

Nun hatte ſeine Phantaſie ein neues Spiel. —
Die Idee vom Abendmahl war jetzt diejenige,
womit er zu Bette ging und aufſtund, und wo¬
mit er ſich den ganzen Tag uͤber, wenn er bei
ſeiner Arbeit allein war, beſchaͤftigte; dabei
ſchwebte ihm immer der Paſtor P... im Sinne,
mit ſeiner ſanften, ſchwellenden Stimme, und
ſeinen gen Himmel gehobnem Auge, das von
mehr als irdiſcher Andacht erleuchtet ſchien. Zu¬
weilen draͤngte ſich denn auch in ſeiner Phantaſie
das Bild des ſchwarz gekleideten jungen Frauen¬
zimmers, mit der blaſſen Farbe und andachts¬
vollen Miene, wieder vor.


Durch diß alles wurde ſeine Einbildungs¬
kraft ſo begeiſtert, daß er ſich itzt fuͤr den gluͤck¬
lichſten Menſchen unter der Sonne wuͤrde gehal¬
ten haben, wenn er den kuͤnftigen Sonntag
haͤtte zum Abendmahl gehen duͤrfen. Er ver¬
ſprach ſich eine ſo uͤberirdiſche himmliſche Troͤ¬
ſtung beim Genuß des Abendmahls, daß er
ſchon im voraus Freudenthraͤnen daruͤber vergoß;
wobei er zugleich ein gewiſſes ſanftes beruhigen¬
des Mitleid mit ſich ſelber empfand, daß ihm nun
alles bittre und unangenehme ſeiner Lage ver¬
ſuͤßte,[127] ſuͤßte, wenn er bedachte, daß ihn doch als Hut¬
macherburſche einmal niemand dieſes Troſtes
wuͤrde berauben koͤnnen. Alle vierzehn
Tage wenigſtens nahm er ſich dann vor zum
Abendmahl zu gehen, wenn er erſt ſo weit waͤre —
und dann ſchlich ſich ganz geheim in dieſen
Wunſch die Hoffnung mit ein, daß durch diß
oͤftere zum Abendmahlgehen der Paſtor P. . .
ihn vielleicht am Ende bemerken wuͤrde: und
dieſer Gedanke war es wohl vorzuͤglich, welcher
bei ihm die unausſprechliche Suͤßigkeit in dieſe
Vorſtellungen brachte. So lag auch hier die Ei¬
telkeit im Hinterhalt verborgen, wo ſie mancher
vielleicht am wenigſten vermuthet haͤtte.


Das war ihm unmoͤglich zu glauben, daß er
immer ſo, wie jetzt, wuͤrde verkannt, und ver¬
nachlaͤßiget werden. Gewiſſen romanhaften Ideen
nach, die er ſich in den Kopf geſetzt hatte, mußte
es ſich etwa einmal fuͤgen, daß ein edler Mann,
der auf der Straße ihm begegnete, etwas auf¬
fallendes an ihm bemerkte, und ſich dann ſeiner
annehme. — Eine gewiſſe ſchwermuͤthige me¬
lancholiſche Miene, die er zu dem Ende an¬
nahm, glaubte er, wuͤrde am erſten dieſe Auf¬
merk¬[128] merkſamkeit erregen. — Darum affektirte
er ſie nun oft noch in hoͤherm Grade, als ſie
ihm natuͤrlich war. — Ja oft war er ſchon bei¬
nahe im Begriff, wenn ihm die Phiſiognomie
irgend eines vornehmen Mannes Zutrauen ein¬
floͤßte, ihn geradezu anzureden, und ihm ſeine
Umſtaͤnde zu entdecken. — Der Gedanke ſchreckte
ihn aber immer wieder zuruͤck, daß ihn dieſer
vornehme Mann vielleicht fuͤr naͤrriſch halten
moͤchte.


Zuweilen ſang er auch, wenn er auf der
Straße ging, mit einer gewiſſen klagen¬
den Stimme, einige von den Liedern der
Mad. Guion, die er auswendig gelernt hatte,
und worinn er Anſpielungen auf ſein Schick¬
ſal zu finden glaubte; und dann dachte er, weil
zuweilen in den Romanen, durch ein ſolches kla¬
gendes Lied, das einer ſingt, Wunderdinge ge¬
wuͤrkt werden, wuͤrde es auch ihm vielleicht ge¬
lingen, dadurch, daß er die Aufmerkſamkeit ir¬
gend eines Menſchenfreundes auf ſich zoͤge, ſei¬
nem Schickſal eine andere Wendung zu geben.


Fuͤr den Paſtor P. . . ging ſeine Ehrfurcht
viel zu weit, als daß er es je haͤtte wagen ſollen,
ihn[129] ihn anzureden. — Wenn er nahe bei ihm ſtand,
ſo uͤberfiel ihn ein Schauder, als ob er ſich in
der Naͤhe eines Engels befaͤnde. —


Er konnte es ſich entweder gar nicht denken,
oder ſuchte den Gedanken mit Fleiß zu vermei¬
den, daß dieſer Paſtor P. . . wie andre Men¬
ſchen aufſtaͤnde, und zu Bette ginge, und alle
natuͤrliche Handlungen, wie ſie, verrichtete.
Sich ihn im Schlafrock und der Nachtmuͤtze
vorzuſtellen, war ihm ganz unmoͤglich — oder er
flohe vielmehr vor dieſem Gedanken, als wenn
dadurch eine Luͤcke in ſeiner Seele waͤre hervor¬
gebracht worden. Beſonders war ihm das Bild
von der Nachtmuͤtze ganz etwas Unausſtehliches,
ſo oft es ihm bei dem Paſtor P. . . einfiel; es
war, als ob dadurch eine Disharmonie in alle
ſeine uͤbrigen Vorſtellungen kaͤme.


Nun fuͤgte es ſich aber einmal, daß Anton ge¬
rade in der Kirchthuͤre ſtand, als der Paſtor P. . .
herein trat, und in platdeutſcher Sprache zu
dem Kuͤſter ſagte, daß ſie nachher noch ein Kind
zu taufen haͤtten.


Wuͤrkte je ein Kontraſt lebhaft auf Antons
Seele, ſo war es dieſe — den Mann, welchen
Jer[130] er ſich nie anders, als mit jenem feierlichen Herz¬
erſchuͤtternden Tone, zu dem verſammelten Volke
redend, gedacht hatte, zuerſt platdeutſch, wie
der ſimpelſte Handwerksmann mit dem Kuͤ¬
ſter, uͤber eine ſo feierliche Sache, als die Taufe
war, ſprechen zu hoͤren; und das in einem Tone,
der nichts weniger als feierlich war, und wo¬
mit man einem ſagen wuͤrde, er ſolle ja nicht
vergeſſen, das Waſchbecken zu bringen.


Durch dieſen einzigen Vorfall wurde Antons
Abgoͤtterei gegen den Paſtor P. . . einigermaßen
herabgeſtimmt. Er betete ihn etwas weniger
an, und liebte ihn deſto mehr.


Indes hatte er ſich ſein Ideal von Gluͤck¬
ſeligkeit voͤllig von dem Paſtor P. . . abſtrahirt —
Er konnte ſich nichts Erhabeners und Reizenderes
denken, als wie der Paſtor P. . ., oͤffentlich
vor dem Volke reden zu duͤrfen, und alsdann,
ſo wie er, manchmal gar die Stadt mit
Nahmen anzureden — Diß letzte hatte insbe¬
beſondre fuͤr ihn etwas Großes Pathetiſches —
ſo daß er ſich oft ganze Tage uͤber in ſeinen Ge¬
danken beſtaͤndig mit dieſer Anrede beſchaͤftigte —
und ſogar, wann er etwa, um Bier zu holen‚
uͤber[131] uͤber die Straßen ging, und ein paar Jungen
ſich balgen ſahe, nicht unterlaſſen konnte, im
Geiſte die Worte des Paſtor P... zu wiederho¬
len, und die ruchloſe Stadt vor ihrem Verderben
zu warnen, wobei er zugleich den Arm drohend
in die Hoͤhe hob. — Wo er ging und ſtand,
haranguirte er in Gedanken fuͤr ſich ſelber, und
wenn er dann in recht heftigen Affekt gerieth,
ſo hielt er die Predigt gegen den Meineid.


So ſchwebte er eine Zeitlang in dieſen ange¬
nehmen Phantaſien hin, die ihn das Wollekra¬
tzen in der kalten Stube, das Huͤtewaſchen im
Eiſe, und den Mangel des Schlafs, wenn er
oft mehrere Naͤchte hindurch wachen mußte, faſt
ganz vergeſſen ließen. — Die Stunden entflo¬
hen ihm zuweilen waͤhrend der Arbeit wie Mi¬
nuten, wenn es ihm gelang, ſich in den Charak¬
ter eines oͤffentlichen Redners hinein zu phan¬
taſiren.


Allein, ſey es nun, daß dieſe unnatuͤrliche
Ueberſpannung ſeiner Seelenkraͤfte, oder die fuͤr
ſeine Jahre zu große Anſtrengung ſeines Koͤr¬
pers zur Arbeit, ihn zuletzt niederwerfen mu߬
te — er ward gefaͤhrlich krank. Seine Pflege
warJ 2[132] war nicht die beſte. Er phantaſirte im Fieber,
und lag oft ganze Tage lang allein, ohne daß
ſich jemand um ihn bekuͤmmerte.


Endlich arbeitete doch ſeine gute Natur ſich
durch: er ward wieder hergeſtellt. — Eine ge¬
wiſſe Traͤgheit und Niedergeſchlagenheit blieb
aber demohngeachtet von dieſer Krankheit zu¬
ruͤck— und der menſchenfreundliche Herr L. . .
haͤtte ihm beinahe durch eine ſeiner ſanften Er¬
mahnungen ein toͤdtliches Recidiv verurſacht.


Es war eines Abends in der Daͤmmerung,
da L. . . in einem dunklen abgelegenen Gemache
ſich eines warmen Kraͤuterbades bediente, wobei
ihm Anton zur Hand ſeyn mußte. Da er
nun in dieſem Bade ſchwitzte, und große Angſt
ausſtund, ſo ſagte er zu Anton mit einer Stim¬
me, die ihm durch Mark und Beine drang: An¬
ton! Anton! huͤte dich vor der Hoͤlle! — und
dabei ſah er ſtarr in eine Ecke hin.—


Anton zitterte bei dieſen Worten, ein ploͤtz¬
licher Schauder lief ihm durch den ganzen Koͤr¬
per. Alle Schrecken des Todes uͤberfielen ihn, —
denn er zweifelte nicht im geringſten, daß L. . .
in dieſem Augenblick eine Erſcheinung gehabt
habe[133] habe, wodurch ihm Antons Tod angedeutet ſey;
und das habe ihn zu dem fuͤrchterlichen Ausruf:
Huͤte, ach! huͤte dich vor der Hoͤlle! bewogen.


L. . . ſtieg nach dieſen Ausruf ploͤtzlich aus dem
Bade, und Anton mußte ihn zu ſeiner Kammer
leuchten. Mit bebenden Knien ging er vor ihm
her: und L. . . ſchien ihm blaſſer als der Tod aus¬
zuſehen, da er von ihm wegging.


Iſt nun je mit wahrer Andacht und Heftig¬
keit zu Gott gebetet worden, ſo geſchahe es itzt
von Anton, ſo bald er allein war; er warf ſich
in einem Verſchlag bei der Werkſtaͤtte, nicht auf
die Knie, ſondern aufs Angeſicht nieder, und
flehte zu Gott, und bat ihn, wie ein Miſſethaͤ¬
ter uͤber den ſchon der Stab gebrochen iſt, um
ſein Leben — nur um eine Friſt zur Bekehrung,
wenn er ja ſterben ſolle — denn ihm fiel ein, daß
er mehr als zwanzigmal auf der Straße gelau¬
fen, geſprungen, und muthwillig gelacht hatte —
und nun lagen alle die Qualen der Hoͤlle auf
ihm, welche er dafuͤr ewig wuͤrde erdulden muͤſ¬
ſen. — Huͤte, ach, huͤte dich vor der Hoͤlle!
gellte noch immer in ſeinen Ohren, als ob ein
Geiſt aus dem Grabe ihm dieſe Worte zugeru¬
fenI 3[134] fen haͤtte — und er fuhr fort eine volle Stunde
nacheinander zu beten, und wuͤrde die ganze
Nacht nicht aufgehoͤrt haben, wenn er keine Lin¬
derung ſeiner Angſt verſpuͤrt haͤtte; — aber ſo wie
ſeine Bruſt einen aͤngſtlichen Seufzer nach dem
andern ausſtieß, und endlich ſeine Thraͤnen floſ¬
ſen, ſchien es ihm, als ſey ihm von Gott Erhoͤ¬
rung ſeiner Bitte gewaͤhrt – der nun lieber, wie
dort bei den Niniviten, einen Propheten wolle
zu Schanden werden laſſen, als daß er eine
Seele verderben ließe. — Anton hatte ſein Fie¬
ber weggebetet, worinn er wahrſcheinlich wie¬
der zuruͤckgefallen ſeyn wuͤrde, wenn ſeine em¬
poͤrten Geiſter nicht dieſen Ausweg gefunden haͤt¬
ten. — So heilt oft eine Schwaͤrmerei, eine
Tollheit die andere — die Teufel werden ausge¬
trieben durch Beelzebub.


Anton wurde nach dieſer Ermattung durch
einen ruhigen Schlaf erquickt, und ſtand am
andern Morgen wieder geſund auf — aber der
Gedanke an den Tod erwachte wieder mit ihm —
hoͤchſtens glaubte er, ſey ihm eine kleine Friſt
zur Bekehrung gegeben, und nun muͤſſe er ſehr
eilen, wenn er noch ſeine Seele retten wolle.


[135]

Das that er denn auch, ſo ſehr er konnte; er
betete des Tages unzaͤhligemal in einem Winkel
auf ſeinen Knien, und ertraͤumete ſich zuletzt da¬
durch eine feſte Ueberzeugung von der goͤttlichen
Gnade, und eine ſolche Heiterkeit der Seele,
daß er ſich oft ſchon im Himmel glaubte, und ſich
nun manchmal den Tod wuͤnſchte, ehe er wieder
von dieſem guten Wege abkommen moͤchte.


Aber es konnte nicht fehlen, daß bei allen
dieſen Ausſchweifungen ſeiner Phantaſie, die
Natur ihren Zeitpunkt wahrnahm, wo ſie wie¬
der zuruͤckkehrte — und dann die natuͤrliche Liebe
zum Leben, um des Lebens willen, in Antons
Seele wieder erwachte. — Dann war ihm frei¬
lich der Gedanke an ſeinen bevorſtehenden Tod
ſehr etwas Trauriges und Unangenehmes, und
er betrachtete dieſe Augenblicke, als ſolche, wo
er wieder aus der goͤttlichen Gnade gefallen ſey,
und gerieth daruͤber in neue Angſt, weil es ihm
nicht moͤglich war, die Stimme der Natur in
ſich zu unterdruͤcken.


Jetzt empfand er doppelt alle die traurigen
Folgen des Aberglaubens, der ihm von ſeiner
fruͤheſten Kindheit an, eingefloͤßet war — ſeine
LeidenJ 4[136] Leiden konnte man, im eigentlichen Verſtande,
die Leiden der Einbildungskraft nennen —
ſie waren fuͤr ihn doch wuͤrkliche Leiden, ſie raub¬
ten ihm die Freuden ſeiner Jugend. —


Von ſeiner Mutter wußte er, es ſey ein
ſicheres Zeichen des nahen Todes, wenn einem
beim Waſchen die Haͤnde nicht mehr rauchen —
nun ſahe er ſich ſterben, ſo oft er ſich die Haͤnde
wuſch. — Er hatte gehoͤrt, wenn ein Hund im
Hauſe mit der Schnautze zur Erde gekehrt, heule,
ſo wittre er den Tod Menſchen; — nun pro¬
phezeite ihm jedes Hundegeheul ſeinen Tod. —
Wenn ſogar ein Huhn wie ein Hahn kraͤhete, ſo
war das ein untruͤgliches Zeichen, daß bald je¬
mand im Hauſe ſterben wuͤrde — und nun ging
hier gerade ein ſolches ungluͤckweißagendes Huhn
auf dem Hofe herum, welches beſtaͤndig auf eine
unnatuͤrliche Weiſe wie ein Hahn kraͤhte. — Fuͤr
Anton klang keine Todtenglocke ſo fuͤrchterlich,
als dieſes Kraͤhen; und dieſes Huhn hat ihm
mehr truͤbe Stunden in ſeinem Leben gemacht, als
irgend eine Widerwaͤrtigkeit, die er ſonſt erlit¬
ten hat.


Oft ſchoͤpfte er wieder Troſt und Hoffnung zum
Leben, wenn das Huhn einige Tage ſchwieg —
ſobald[137] ſobald es ſich dann wieder hoͤren ließ, waren alle
ſeine ſchoͤnen Hoffnungen und Entwuͤrfe ploͤtz¬
lich geſcheitert.


Da er [nun] ſo ſchon mit lauter Todesgedan¬
ken umging, fuͤgte es ſich, daß er das erſtemal
nach ſeiner Krankheit wieder zu dem Paſtor P..
in die Kirche kam. Dieſer ſtand ſchon auf der
Kanzel, und predigte uͤber — den Tod.


Das war fuͤr Anton ein Donnerſchlag; denn
da er nun einmal gelernet hatte, nach dem, was
ihm von einer beſondern goͤttlichen Fuͤhrung
in den Kopf geſetzt war, alles auf ſich zu bezie¬
hen — wem anders, als ihm ſollte nun wohl
die Predigt vom Tode gehalten werden? — Mit
nicht mehr Herzensangſt kann ein Miſſethaͤter
ſein Todesurtheil anhoͤren, als Anton dieſe Pre¬
digt — der Paſtor P. . . fuͤgte zwar Troſtgruͤnde
gnug gegen die Schrecken des Todes hinzu, aber
was verſchlug das alles gegen die natuͤrliche Liebe
zum Leben, die, trotz aller Schwaͤrmereien, wo¬
von Anton den Kopf vollgepfropft hatte, dennoch
bei ihm die Oberhand behielt.


Niedergeſchlagnes und betruͤbtes Herzens
ging er zu Hauſe, und vierzehn Tage lang
machteI 5[138] machte ihn dieſe Predigt melancholiſch, die
der Paſtor P. . ., wenn er gewußt haͤtte, daß
ſie noch auf zwei Menſchen ſolche Wuͤrkung, wie
auf Anton thun wuͤrde, wahrſcheinlich nicht
wuͤrde gehalten haben.


So war Anton nun in ſeinem dreizehnten
Jahre, durch die beſondre Fuͤhrung, die ihm die
goͤttliche Gnade, durch ihre auserwaͤhlten Werk¬
zeuge hatte angedeihen laſſen, ein voͤlliger Hy¬
pochondriſt geworden, von dem man im eigent¬
lichen Verſtande ſagen konnte, daß er in jedem
Augenblick lebend ſtarb. — Der um den Ge¬
nuß ſeiner Jugend ſchaͤndlich betrogen wur¬
de — dem die zuvorkommende Gnade den Kopf
verruͤckte. —


Aber der Fruͤhling kam wieder heran, und
die Natur, die alles heilet, fing auch hier allmaͤ¬
lig an, wieder gut zu machen, was die Gnade
verdorben hatte.


Anton fuͤhlte neue Lebenskraft in ſich; er
wuſch ſich, und ſeine Haͤnde rauchten wieder —
es heulten keine Hunde mehr — das Huhn hoͤrte
auf zu kraͤhen — und der Paſtor P. . . hielt keine
Todespredigten mehr. —


[139]

Anton fing wieder an, des Sonntags fuͤr
ſich allein ſpatzieren zu gehen, und einmal
fuͤgte es ſich, daß er, ohne es erſt ſelbſt zu wiſ¬
ſen, gerade an das Thor kam, wo er vor ohn¬
gefaͤhr anderthalb Jahren mit ſeinem Vater zu¬
erſt von H. . . eingewandert war. Er konnte
ſich nicht enthalten, hinaus zu gehn, und die mit
Weiden bepflanzte breite Heerſtraße zu verfol¬
gen, die er damals gekommen war. Sonder¬
bare Empfindungen entwickelten ſich dabei in ſei¬
ner Seele. — Sein ganzes Leben von jener
Zeit an — da er zuerſt die Schildwache auf
dem hohen Walle hin und hergehend erblickte,
und ſich allerlei Vorſtellungen machte, wie nun
wohl die Stadt inwendig ausſehen, und wie das
L. . .ſche Haus beſchaffen ſeyn wuͤrde?— ſtand
jetzt auf einmal in ſeiner Erinnerung da. — Es
war ihm, als ob er aus einem Traume erwach¬
te — und nun wieder auf dem Flecke waͤre, wo
der Traum anhub; — alle die abwechſelnden Sce¬
nen ſeines Lebens, die er dieſe anderthalb Jahre
hindurch in B. . . gehabt hatte, draͤngten ſich
dicht ineinander, und die einzelnen Bilder ſchie¬
nen ſich nach einem groͤßern Maßſtabe, dem ſeine
Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern.—


[140]

So maͤchtig wirkt die Vorſtellung des Orts,
woran wir alle unſre uͤbrige Vorſtellungen knuͤ¬
pfen. — Die einzelnen Straßen und Haͤuſer,
die Anton taͤglich wieder ſahe, waren das Blei¬
bende in ſeinen Vorſtellungen, woran ſich das
immer abwechſelnde in ſeinem Leben anſchloß,
wodurch es Zuſammenhang und Wahrheit er¬
hielt, wodurch er das Wachen vom Traͤumen un¬
terſchied — —


In der Kindheit iſt es insbeſondre noͤthig,
daß alle uͤbrigen Ideen ſich an die Ideen des
Orts anſchließen, weil ſie gleichſam in ſich noch
zu wenig Konſiſtenz haben, und ſich an ſich ſel¬
ber noch nicht feſt halten koͤnnen.


Es faͤllt daher auch wuͤrklich in der Kindheit
oft ſchwer, das Wachen vom Traume zu unter¬
ſcheiden; und ich erinnere mich, daß einer un¬
ſerer groͤßten jetztlebenden Philoſophen, mir in
dieſer Ruͤckſicht eine ſehr merkwuͤrdige Beob¬
achtung aus den Jahren ſeiner Kindheit erzaͤh¬
let hat.


Er war wegen einer gewiſſen boͤſen Ange¬
wohnheit, die bei Kindern ſehr gewoͤhnlich iſt,
oft mit der Ruthe gezuͤchtigt worden. Es hatte
ihm[141] thn aber, wie es auch gewoͤhnlich iſt, immer
ſehr lebhaft getraͤumet, er habe ſich an die Wand
geſtellt, und . . . Wenn er ſich nun manchmal
bei Tage zu dem Ende wirklich an die Wand ge¬
ſtellt hatte; ſo fiel ihm die harte Zuͤchtigung
ein, die er ſo oft erlitten hatte, — und er ſtand
oft lange an, ehe er es wagte, einem dringenden
Beduͤrfniß der Natur ein Gnuͤge zu thun, weil er
befuͤrchtete, es moͤchte wieder ein Traum ſeyn,
fuͤr den er wieder eine ſcharfe Zuͤchtigung er¬
warten muͤßte — bis er ſich erſt allenthalben um¬
geſehen, und dann auch in Anſehung der Zeit
zuruͤckgerechnet hatte, ehe er ſich voͤllig uͤberzeu¬
gen konnte, daß er nicht traͤume.


Auch pflegt man des Morgens beym Erwa¬
chen, oft noch halb zu traͤumen, und der Ueber¬
gang zum Wachen wird allmaͤlig dadurch ge¬
macht, daß man erſt anfaͤngt, ſich zu orienti¬
ren, und wenn man denn nur erſt einmal den
hellen Schein des Fenſters gefaßt hat, ſo ordnet
ſich nach und nach alles uͤbrige von ſelber.


Daher war es ſehr natuͤrlich, daß Anton,
nachdem er ſchon einige Wochen in B. . . im
L. . .ſchen Hauſe war, des Morgens noch immer
glaubte,[142] glaubte, er traͤume, wenn er ſchon wirklich
wachte, weil der Stift, woran er ſonſt, immer des
Morgens, beym Erwachen, die Ideen vom vo¬
rigen Tage ſowohl als von ſeinem vorigen Leben
anknuͤpfte, und wodurch ſie erſt Zuſammenhang
und Wahrheit erhielten, nun gleichſam ver¬
ruͤckt war; weil die Idee des Ortes nicht mehr
dieſelbe war.


Iſt es alſo wohl zu verwundern, wenn die
Veraͤnderung des Orts oft ſo vieles beitraͤgt, uns
dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich
denken, wie einen Traum vergeſſen zu machen?


In ſpaͤtern Jahren, und insbeſondre, wenn
man viel gereiſt iſt, verliert ſich diß Anſchließen
der Ideen an den Ort in etwas. Wo man hin¬
koͤmmt, ſieht man entweder Daͤcher, Fenſter, Thuͤ¬
ren, Steinpflaſter, Kirchen und Thuͤrme, oder
man ſieht Wieſe, Wald, Acker, oder Heide. —
Die auffallenden Unterſchiede verſchwinden; die
Erde wird ſich uͤberall gleich. —


Wenn Anton in B. . . auf der Straße ging,
ſo war es ihm beſonders des Abends im Anfange
der Daͤmmerung, manchmal ploͤtzlich wie im
Traume. — Auch pflegte ſich diß bei ihm zu er¬
eig¬[143] eignen, wenn er in irgend eine Straße ging,
die ihm eine entfernte Aehnlichkeit mit einer
Straße in H. . . zu haben ſchien. — Dann
daͤuchte ihm einige Augenblicke ſein Zuſtand in
H. . . wieder gegenwaͤrtig; die Scenen ſeines
Lebens verwirreten ſich untereinander.


Bei ſeinen Spatziergaͤngen fand er nun im¬
mer einen beſondern Reiz darin, Gegenden in
der Stadt aufzuſuchen, wo er noch gar nicht
geweſen war. Seine Seele erweiterte ſich dann
immer, es war ihm, als ob er aus dem engen
Kreiſe ſeines Daſeyns einen Sprung gewagt haͤt¬
te; die alltaͤglichen Ideen verlohren ſich, und große
angenehme Ausſichten, Labyrinthe der Zukunft
eroͤfneten ſich vor ihm.


Allein es war ihm noch nie gelungen, ſein
ganzes Leben in B. . . mit allen ſeinen mannich¬
faltigen Veraͤnderungen in einen einzigen vollen
Blick zuſammen zu faſſen. Der Ort, wo er ſich
jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu ſtark an
irgend einen einzelnen Theil deſſelben, als daß
noch fuͤr das Ganze in ſeiner Denkkraft Platz
geweſen waͤre; er drehete ſich mit ſeinen Vor¬
ſtellungen immer in einem engen Cirkel ſeines
Daſeyns herum.


[144]

Um von dem Ganzen ſeines hieſigen Lebens
ein anſchauliches Bild zu haben, war es noͤthig,
daß gleichſam alle die Faͤden abgeſchnitten wur¬
den, die ſeine Aufmerkſamkeit immer an das
Momentane, Alltaͤgliche und Zerſtuͤckte deſſelben
hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt
wieder verſetzt wurde, aus welchem er ſein Leben
in B... betrachtete, ehe er es anfing, da es noch
wie eine daͤmmernde Zukunft vor ihm lag.


In dieſen Standpunkt wurde er nun gerade
verſetzt, da er zufaͤlligerweiſe aus dem Thore
ging, durch welches er vor ohngefaͤhr anderthalb
Jahren, auf der breiten mit Weiden bepflanzten
Heerſtraße herein gekommen war, und die
Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin
und her gehen ſehen.


Dieſer Ort mußte es gerade ſeyn, der ihn
durch die ploͤtzliche Erinnerung an tauſend Klei¬
nigkeiten gerade in den Zuſtand wieder zu ver¬
ſetzen ſchien, worin er ſich unmittelbar vor dem
Anfange ſeines hieſigen Lebens befand. — Alles,
was dazwiſchen lag, mußte ſich nun in ſeiner
Einbildungskraft zuſammendraͤngen, wie Schat¬
ten ineinander gehen, einem Traum aͤhnlich
werden.[145] werden. Denn ſein jetziges Daſtehen auf
der Bruͤcke, und den hohen Wall hinauf¬
ſehen
, wo die Schildwache ſtand, ſchloß ſich
dicht an ſein Daſtehen und den hohen Wall
hinauf ſehen
vor anderthalb Jahren an. Die
Vergangenheit, alle die Scenen des Lebens, das
Anton in B. . . gefuͤhret hatte, ſtellte er ſich jetzt
wieder vor, wie er ſie ſich damals vor anderthalb
Jahren noch als zukuͤnftig gedacht hatte, und
die zu lebhafte Vorſtellung und Wiedererinne¬
rung des Orts, machte, daß die Erinnerung
an den Zwiſchenraum der Zeit, welche unterdeß
verfloſſen war, verloſch, oder ſchwaͤcher wurde — —
anders wenigſtens laͤßt ſich wohl ſchwerlich das
Phaͤnomen jener ſonderbaren Empfindung erklaͤ¬
ren, die Anton damals hatte, und die ein jeder
wenigſtens einigemale in ſeinem Leben gehabt zu
haben ſich erinnern wird.


Mehr als zehnmal ſtand Anton auf dem
Punkte, nicht wieder in die Stadt zuruͤckzukeh¬
ren, ſondern gerade den Weg vor ſich hin, wie¬
der nach H. . . zu gehen, wenn ihn nicht der
Gedanke an Hunger und Kaͤlte wieder zuruͤck¬
geſchreckt haͤtte.


[146]

Aber von dem Tage an, blieb der Vorſatz
feſt bei ihm, im L. . .ſchen Hauſe nicht laͤnger mehr
zu bleiben, es koſte auch, was es wolle. Er
wurde daher auch gegen alles gleichguͤltiger, weil
er ſich vorſtellte, daß es nun nicht lange mehr ſo
dauren wuͤrde. L. . . ſelbſt fing nun an, ſeiner
ſo uͤberdruͤßig zu werden, daß er endlich nach
H. . . an Antons Vater ſchrieb, dieſer moͤchte
ſeinen Sohn, mit dem nichts anzufangen waͤre,
nur immer wieder abholen.


Nichts haͤtte fuͤr Anton erwuͤnſchter ſeyn
koͤnnen, als die Nachricht, daß ſein Vater ihn
nun mit naͤchſten wieder zu Hauſe holen wuͤr¬
de. — In eine Schule, ſchloß er, muͤſſe er
doch in H. . . auf alle Faͤlle geſchickt werden,
ehe er zum Abendmahl zugelaſſen wuͤrde, und
dann wollte er ſich ſchon ſo auszeichnen, daß
man aufmerkſam auf ihn werden ſolle. —
So ſehr er vorher nach B. . . zu kommen ge¬
ſtrebt hatte, ſo ſehr verlangte ihn jetzt nach H..
wieder zuruͤck, und er wiegte ſich nun aufs neue
in angenehmen Traͤumen von der Zukunft ein.


Ohngeachtet ſeiner harten Lage aber waren
ihm dennoch viele Dinge in B. . . ſehr lieb ge¬
wor¬[147] worden, ſo daß ſich in ſeine angenehmen Hoff¬
nungen oft eine Wehmuth miſchte, die ihn in
eine ſanfte Melancholie verſetzte. — Oft ſtand
er einſam an der Oder, und ſahe irgend einem
vorbeifahrenden kleinem Kahne nach, ſo weit
er ihn mit den Augen verfolgen konnte — dann
war es ihm oft ploͤtzlich, als habe er einen Blick
in die dunkle Zukunft gethan, aber wenn er
eben das angenehme Blendwerk feſt zu halten
glaubte, ſo war es auf einmal verſchwunden.


Er ſuchte ſich nun an allen Gegenden der Stadt,
die er bisher auf ſeinen Spaziergaͤngen des
Sonntags beſucht hatte, gleichſam noch einmal
zu letzen, und nahm von einer nach der andern
wehmuͤthig Abſchied, ſo wie er ſie nie wieder zu
ſehen hoffte.


Er hoͤrte von dem Paſtor P. . . noch ver¬
ſchiedne Predigten, worinn manche einzelne
Stellen nie aus ſeinem Gedaͤchtniß gekommen
ſind. —


Ganz außerordentlich ruͤhrte ihn in einer
Predigt vom Leiden Jeſu, der immerſteigende
Affekt, womit der Paſtor P. . . die Worte ſagte:
mitleidsvoll ſieht er auf ſeine Moͤrder herab,
K 2und[148] und betet, und betet, und betet — Vater, ver¬
gieb ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun!


Und in einer Predigt uͤber die Beichte, wel¬
che uͤber das Evangelium vom Ausſaͤtzigen ge¬
halten wurde, der ſich dem Prieſter zeigen
ſollte
, die Anrede an die Heuchler, die alle aͤußere
Gebraͤuche der Religion gewiſſenhaft beobachten,
und doch ein feindſeliges Herz im Buſen tragen,
und wo ſich jeder Periode anfing, mit: ihr kommt
in den Beichtſtuhl, ihr zeiget euch dem Prieſter,
aber er kann in euer Herz nicht ſchauen, u. ſ. w. —
Dann wurde in dieſer Predigt auch oft ein Aus¬
druck wiederholt, der fuͤr Anton außerordentlich
ruͤhrend war, dieſer klang ihm, als: ihr kommt
in den Heben
. — Das letzte Wort nehmlich,
was immer verſchlungen wurde, ſo daß er es
nicht recht verſtehen konnte, klang ihm wie He¬
ben
, und diß Wort oder dieſer Laut ruͤhrte ihn
bis zu Thraͤnen, ſo oft er wieder daran dachte.


Eben ſo reizend klang ihm der Ausdruck, der
ſehr oft in den Predigten des Paſtor P. . . vor¬
kam. Die Hoͤhen der Vernunft — diß hatte
aber ſeine beſondern Urſachen, deren Entwi¬
ckelung nicht unnuͤtz ſeyn wird. Das Chor in
der[149] der Kirche, wo die Orgel war, und die Schuͤler
ſangen, ſchien ihm immer etwas fuͤr ihn uner¬
reichbares zu ſeyn; ſehnſuchtsvoll blickte er
oft dahin auf, und wuͤnſchte ſich keine groͤßere
Gluͤckſeligkeit, als nur einmal den wunderba¬
ren Bau der Orgel, und was ſonſt da war, in
der Naͤhe betrachten zu koͤnnen, da er diß alles
jetzt nur in der Ferne anſtaunen durfte. — Dieſe
Phantaſie war mit einer andern verwandt, die
er noch aus H. . . mitgebracht hatte — ſchon
dort war ein gewiſſer Thurm fuͤr ihn immer ein
aͤußerſt reizender Gegenſtand geweſen; er be¬
trachtete ihn mit Entzuͤcken und beneidete oft die
Stadtmuſikanten, die oben auf der Gallerie
ſtanden, um des Morgens und Abends hinun¬
ter zu blaſen.


Stundenlang konnte er dieſe Gallerie be¬
trachten, die ihm von unten ſo klein ſchien, daß
ſie ihm nicht bis an die Knie reichen wuͤrde, und
uͤber welche doch kaum die Koͤpfe der blaſenden
Stadtmuſikanten hervorragten; und vollends
das Zifferblatt, welches nach der Verſicherung
verſchiedner Leute, die oben geweſen waren, ſo
groß ſeyn ſollte, wie ein Wagenrad, und ihm
K 3doch[150] doch unten nicht groͤßer, als irgend ein Rad in
einem Schiebkarren vorkam. — Dies alles erregte
ſeine Neugierde im hoͤchſten Grade, ſo daß er oft
ganze Tage lang mit nichts, als dem Gedanken
und dem Wunſch umging, dieſe Gallerie und
diß Zifferblatt einmal in der Naͤhe betrach¬
ten zu koͤnnen.


Nun konnte man auf dem Thurme in H. . .
durch die Schalloͤcher, welche uͤber der Gallerie
offen ſtanden, auch die Glocken treten ſehen;
und Anton verſchlang beinahe mit ſeinen Augen
dieſes ihm ganz neue Schauſpiel, da er die
große metallne Maſchine, die den alles erſchuͤt¬
ternden Klang verurſachte, unter den Fuͤßen
der ganz klein ſcheinenden Leute, die in dieſer
Hoͤhe ſtanden und auf die Balken traten, wech¬
ſelsweiſe in die Hoͤhe ſteigen ſahe.


Es war ihm, als habe er in das innerſte
Eingeweide des Thurms geblicket, und als habe
ſich ihm das geheimnißvolle Triebwerk, des wun¬
derbaren Schalles, den er ſo oft mit Ruͤhrung
vernommen hatte, nun in der Ferne enthuͤllt —
Allein ſeine Neugierde wurde hierdurch nur noch
mehr erregt, ſtatt befriedigt zu werden — er
hatte[151] hatte nur die eine Haͤlfte der Glocke, die ſich mit
ihrer ungeheuren Woͤlbung empor hub, und nicht
ihren ganzen Umfang geſehen — von der Groͤße
dieſer Glocke hatte er von Kindheit an gehoͤrt,
und ſeine Einbildungskraft vergroͤßerte das Bild
in ſeiner Seele noch zu unzaͤhligenmalen, ſo daß
er ſich davon die romanhafteſten und aus¬
ſchweifendſten Ideen machte.


Bei ſeinen Schmerzen nun, die er am Fuße
erduldete; bei aller Bedruͤckung von ſeinen El¬
tern, worunter er ſeufzte; was war ſein Troſt?
was war der angenehmſte Traum ſeiner Kind¬
heit? was ſein ſehnlichſter Wunſch, uͤber den er
oft alles vergas? — — Was anders, als die nahe
Beſchauung des Zifferblatts und der Gallerie
am neuſtaͤdtiſchen Thurme in H. . ., und der
Glocken, die darinn hingen.


Laͤnger als ein Jahr hindurch verſuͤßte ihm
diß Spiel ſeiner Phantaſie die truͤbſten Stun¬
den ſeines Lebens — aber ach, er mußte H...
verlaſſen, ohne ſeines ſehnlichſten Wunſches ge¬
waͤhrt zu werden. — — Doch das Bild vom
neuſtaͤdtiſchen Thurme wich nie aus ſeinen Ge¬
danken, es verfolgte ihn nach B. . ., und
K 4ſchwebte[152] ſchwebte ihm dort oft in naͤchtlichen Traͤumen
auf hohen Treppen in tauſend labyrinthiſchen
Kruͤmmungen vor, wo er den Thurm hinauf
ſtieg, auf der Gallerie ſtand, und mit unaus¬
ſprechlichem Vergnuͤgen das Zifferblatt am
Thurme betaſtete, und dann inwendig nicht nur
die große Glocke, ſondern noch unzaͤhlige an¬
dre kleinere, nebſt mehr wunderbaren Dingen
dicht vor Augen ſahe, bis er etwa mit dem Ko¬
pfe an den unuͤberſehbaren Rand der großen
Glocke ſtieß, und erwachte.


So oft nun der Paſtor P. . . von den Hoͤhen
der Vernunft
ſprach, ſo dachte Anton mit Ent¬
zuͤcken an die Hoͤhen ſeines geliebten Thurms,
an die Glocke darinn und an das Zifferblatt, — und
und dann auch an das hohe Chor, worauf die
Orgel in der B. .. . Kirche ſtand — dann er¬
wachte auf einmal alle ſeine Sehnſucht wie¬
der und der Ausdruck: die Hoͤhen der Ver¬
nunft
, preßte ihm Thraͤnen der Wehmuth aus
den Augen.


Der eigentliche abhandelnde Theil von den
Predigten des Paſtor P. . ., wo derſelbe mit
erſtaunlicher Geſchwindigkeit ſprach, war fuͤr
Anton[153] Anton freilich verloren, weil er ihm mit ſeinen
Gedanken unmoͤglich folgen konnte. In der
Hoffnung aber auf den ermahnenden Theil
hoͤrte er ihn dennoch mit Vergnuͤgen an — es
war ihm dann, als wenn ſich nun erſt die Wolken zu¬
ſammen zoͤgen, die bald in ein wohlthaͤtiges Gewit¬
ter oder einen ſanften Regen ausbrechen wuͤrden.


Nun ging er aber einmal mit dem Gedanken
in die Kirche, die Predigt des Paſtor P. . . zu
Hauſe aufzuſchreiben, und auf einmal war es,
als ob es, indem er zuhoͤrte, in ſeiner Seele
licht wurde, ſeine Aufmerkſamkeit hatte eine
neue Richtung erhalten — vorher hatte er mit
dem Herzen zugehoͤrt, jetzt hoͤrte er zum erſten¬
male mit dem Verſtande zu — er wollte nicht
nur durch einzelne Stellen erſchuͤttert werden,
ſondern das Ganze der Predigt faſſen, und nun
fing er an, den abhandelnden Theil eben ſo inte¬
reſſant als den ermahnenden Theil zufinden. —
Die Predigt handelte von der Naͤchſten-Liebe,
wie gluͤcklich die Menſchen ſeyn wuͤrden,
wenn jeder das Wohl aller uͤbrigen, und alle
uͤbrige das Wohl jedes einzelnen zu befoͤrdern
ſuchten. — Nie iſt ihm dieſe Predigt mit allen
K 5ihren[154] ihren Abtheilungen und Unterabtheilungen aus
dem Gedaͤchtniß gekommen, die er mit dem Vor¬
ſatz hoͤrte, um ſie aufzuſchreiben, welches er
that, ſobald er zu Hauſe kam, und den Auguſt,
dem er es nun vorlas, ſehr dadurch in Verwun¬
drung ſetzte.


Das Aufſchreiben dieſer Predigt hatte
gleichſam eine neue Entwickelung ſeiner Verſtan¬
deskraͤfte bewirkt. — Denn von der Zeit fingen
ſeine Ideen an ſich allmaͤlig untereinander zu
ordnen — er lernte ſelbſt fuͤr ſich uͤber einen Ge¬
genſtand nachdenken — er ſuchte die Reihe ſeiner
Gedanken wieder außer ſich darzuſtellen, und
weil er ſie niemanden ſagen konnte, ſo
machte er ſchriftliche Aufſaͤtze, die denn frei¬
freilich oft ſonderbar genug waren.— Denn hatte
er vorher mit Gott muͤndlich geſprochen, ſo fing
er nun an, mit ihm zu korreſpondiren, und
ſchrieb lange Gebete an ihn, worinn er ihm ſei¬
nen Zuſtand ſchilderte.


Er fuͤhlte ſich jetzt um ſo mehr zu ſchriftli¬
chen Aufſaͤtzen gedrungen, weil es ihm gaͤnzlich
an aller Lektuͤr fehlte — denn L. . . hatte ihm
ſchon lange kein Buch mehr in die Haͤnde gege¬
ben,[155] ben, ausgenommen Engelbrechts, eines Tuch¬
machergeſellen zu Winſen an der Allee Be¬
ſchreibung von dem Himmel und der Hoͤlle
,
welches er ihm geſchenkt hatte. —


Einen aͤrgern Aufſchneider kann es nun wohl
in der Welt nicht mehr geben, als dieſer Engel¬
brecht geweſen ſeyn muß, von dem man geglaubt
hatte, daß er wirklich todt waͤre, und der nun,
nachdem er ſich wieder erholt hatte, ſeiner alten
Großmutter weiß machte, er ſey wirklich im
Himmel und in der Hoͤlle geweſen; dieſe hatte
es dann weiter erzaͤhlt, und ſo war diß koͤſtliche
Buch entſtanden.


Der Kerl entbloͤdete ſich nicht zu behaupten,
er ſey mit Chriſto und den Engeln Gottes bis
dicht unter dem Himmel geſchwebt, und habe da
die Sonne in die eine, und den Mond in die
andre Hand genommen, und am Himmel die
Sterne gezaͤhlt.


Demohngeachtet waren ſeine Vergleichungen
zuweilen ziemlich naiv, — ſo verglich er z. B.
den Himmel mit einer koͤſtlichen Weinſuppe,
wovon man auf Erden nur wenige Tropfen ge¬
koſtet hat, und die man alsdenn mit Loͤffeln
eſſen[156] eſſen koͤnne — und die himmliſche Muſik war
eben ſo weit uͤber die irdiſche Muſik erhaben,
als ein ſchoͤnes Konzert uͤber das Geleier eines
Dudelſacks, oder uͤber das Tuͤten eines Nacht¬
waͤchterhorns.


Und was ihm fuͤr Ehre im Himmel wieder¬
fahren war, davon konnte er nicht genug
ruͤhmen.


In Ermangelung beſſerer Nahrung mußte
ſich nun Antons Seele mit dieſer loſen Speiſe
begnuͤgen, und wenigſtens wurde doch ſeine Ein¬
bildungskraft dadurch beſchaͤftigt, — ſein Ver¬
ſtand blieb gleichſam neutral dabei — er glaubte
es weder, noch zweifelte er daran; er ſtellte ſich
das alles bloß lebhaft vor.


Indeß ging jetzt L. . .s Unwillen und Haß
gegen ihn haͤufig bis zu Scheltworten und
Schlaͤgen; er verbitterte ihm ſein Leben auf die
grauſamſte Weiſe; er ließ ihn die niedrigenſten
und demuͤthigendſten Arbeiten thun. — Nichts
aber war fuͤr Anton kraͤnkender, als wie er zum
erſtenmale in ſeinem Leben, eine Laſt auf dem
Ruͤcken
, und zwar einen Tragkorb mit Huͤten be¬
packt, uͤber die oͤffentliche Straße tragen mußte,
in¬[157] indem L. . . vor ihm herging — es war ihm, als
ob alle Menſchen auf der Straße ihn anſaͤhen.


Jede Laſt, die er vor ſich, oder unter dem
Arme, oder an den Haͤnden tragen konnte,
ſchien ihm vielmehr ehrenvoll zu ſeyn, als das
er glaubte, ſie mache ihm Schande. — Nur
daß er itzt gebuͤckt gehen, ſeinen Nacken unter
das Joch beugen mußte, wie ein Laſtthier,
indeß ſein ſtolzer Gebieter vor ihm herging, das
beugte zugleich ſeinen ganzen Muth darnieder,
und erſchwerte ihm die Laſt tauſendmal. Er glaubte
ſowohl vor Muͤdigkeit als vor Schaam in die
Erde ſinken zu muͤſſen, ehe er mit ſeiner Buͤrde
an den beſtimmten Ort kam.


Dieſer beſtimmte Ort, war das Zeughaus,
wo die Huͤte, welche Kommisarbeit waren, ab¬
geliefert wurden. — Nicht ſehnlicher hatte ſich
Anton gewuͤnſcht, die Glocken und das Ziffer¬
blatt auf dem neuſtaͤdtiſchen Thurm in H. . ., als
diß Zeughaus, inwendig zu ſehen, vor welchem
er ſo oft, ohne ſeinen Wunſch befriedigen zu
koͤnnen, vorbei gegangen war. Aber wie ſehr
wurde ihm itzt diß Vergnuͤgen verſalzen, da er
es in ſolchem Zuſtande zu ſehen bekam.


[158]

Diß Tragen auf dem Ruͤcken ſchwaͤchte ſeinen
Muth mehr, als irgend eine Demuͤthigung, die
er noch erlitten hatte, und mehr als L...s
Scheltworte und Schlaͤge. Es war ihm, als
ob er nun nicht tiefer ſinken koͤnne; er betrach¬
tete ſich beinahe ſelbſt, als ein veraͤchtliches, weg¬
geworfenes Geſchoͤpf: Es war diß eine der
grauſamſten Situationen in ſeinem ganzen Le¬
ben, an die er ſich nachher, ſo oft er ein Zeug¬
haus ſahe, lebhaft wieder erinnerte, und deren
Bild wieder in ihm aufſtieg, ſo oft er das Wort
Unterjochung hoͤrte.


Wenn ihm ſo etwas begegnet war, ſo ſuchte
er ſich vor allen Menſchen zu verbergen; jeder
Laut der Freude war ihm zuwider; er eilte auf
das Plaͤtzchen hinter dem Hauſe an die Oker hin,
und blickte oft Stundenlang ſehnſuchtsvoll
in die Fluth hinab. — Verfolgte ihn dann ſelbſt
da irgend eine menſchliche Stimme, aus einem
der benachbarten Haͤuſer, oder hoͤrte er ſingen,
lachen, oder ſprechen, ſo daͤuchte es ihm, als
treibe die Welt ihr Hohngelaͤchter uͤber ihn, ſo
verachtet, ſo vernichtet glaubte er ſich, ſeitdem
er ſeinen Nacken unter das Joch eines Tragkor¬
bes gebeugt hatte.


[159]

Es war ihm denn eine Art von Wonne ſelbſt
in das Hohngelaͤchter mit einzuſtimmen, daß er
ſeiner ſchwarzen Phantaſie nach uͤber ſich er¬
ſchallen hoͤrte — in einer dieſer fuͤrchterlichen
Stunden, wo er uͤber ſich ſelbſt in ein verzwei¬
flungsvolles Hohngelaͤchter ausbrach, war der
Lebensuͤberdruß bei ihm zu maͤchtig, er fing auf
dem ſchwachen Brette, worauf er ſtand, an zu
zittern und zu wanken. — Seine Knie hielten
ihn nicht mehr empor; er ſtuͤrzte in die Fluth —
Auguſt war ſein Schutzengel; er hatte ſchon
eine Weile unbemerkt hinter ihm geſtanden, und
zog ihn beim Arm wieder heraus — es waren
demohngeachtet mehr Leute dazu gekommen —
das ganze Haus lief zuſammen, und Anton
wurde von dem Augenblick an, als ein gefaͤhr¬
licher Menſch betrachtet, den man, ſo bald, wie
moͤglich, aus dem Hauſe fortſchaffen muͤſſe. —
L. . . ſchrieb den Vorfall ſogleich an Antons Va¬
ter, und dieſer kam vierzehn Tage darauf mit
unmuthsvoller Seele, nach B. . ., um ſeinen
mißrathenen Sohn, in deſſen Herzen ſich,
nach dem Urtheil des Hrn. v. F. . ., der Sa¬
tan einen unzerſtoͤrbaren Tempel aufgebauet
Er nach H. . . wieder abzuholen.



[160]

Er hielt ſich noch ein paar Tage bei dem
Hutmacher L. . . auf, waͤhrend welcher Zeit An¬
ton noch mit verdoppeltem Eifer, in Gegen¬
wart ſeines Vaters, alle ſeine Geſchaͤfte verrich¬
tete, und eine Beruhigung darinn ſuchte, noch
zuletzt alles zu thun, was in ſeinen Kraͤften
ſtand. Von der Werkſtatt, von der Trocken¬
ſtube, vom Holzboden, und von B. . .
Kirche nahm er nun in Gedanken Abſchied —
und ſeine allerangenehmſte Vorſtellung, wenn er
wieder nach H. . . kommen wuͤrde, war, daß er
dann ſeiner Mutter von dem Paſtor P. . . wuͤrde
erzaͤhlen koͤnnen.


Je naͤher die Abſchiedsſtunde herannahte,
deſto leichter wurde ihm ums Herz. — Er ſollte
nun bald aus ſeiner engen druͤckenden Lage her¬
auskommen. — — Die weite Welt eroͤfnete
ſich wieder vor ihm.


Von Auguſt war der Abſchied zaͤrtlich, von
L. . . kalt wie Eis — es war an einem Sonntag
Nachmittage, bei truͤbem Himmel, da Anton
mit ſeinem Vater wieder aus dem L. . .ſchen
Hauſe ging, — er blickte die ſchwarze Thuͤre mit
den großen eingeſchlagenen Naͤgeln noch einmal
an,[161] an, und wandte ihr getroſt den Ruͤcken, um
wieder aus dem Thore zu wandern, vor wel¬
chem er vor kurzem noch einen ſo intereſſanten
Spaziergang gemacht hatte. — Die hohen
Waͤlle der Stadt, und der Andreas-Thurm waren
bald aus ſeinem Geſicht verſchwunden, und er
ſahe nur noch den Brocken in der Ferne mit
Schnee bedeckt, in truͤber Daͤmmrung ſich in
den dicht aufliegenden Wolken verlieren.


Das Herz ſeines Vaters war gegen ihn
kalt und verſchloſſen; denn dieſer betrachtete
ihn voͤllig mit den Augen des Hutmacher L...,
und des Hrn. von F.., als einen in deſſen Her¬
zen der Satan einmal ſeinen Tempel errichtet ha¬
be — es wurde unterwegens wenig geſprochen, ſon¬
dern ſie wanderten immer ſtillſchweigend fort,
und Anton bemerkte kaum die Laͤnge des Weges,
auf eine ſo angenehme Art unterhielt er ſich mit
ſeinen Gedanken, — wenn er nun ſeine Mutter
und ſeine Bruͤder wieder ſehen, und ihnen ſeine
Schickſale wuͤrde erzaͤhlen koͤnnen.


Die vier ſchoͤnen Thuͤrme von H.. ragten
endlich wieder hervor — und wie einen Freund, den
man nach langer Trennung wieder ſieht, be¬
Ltrach¬[162] trachtete Anton den neuſtaͤdtiſchen Thurm, und
ſeine Glockenliebe erwachte auf einmal wieder. —


Er ſahe ſich nun wieder in den Mauern von
H. . . und alles war ihm neu — ſeine Eltern
hatten eine andre kleinere und dunklere Woh¬
nung auf einer abgelegenen Straße bezogen —
das war ihm alles ſo fremd, indem er die Treppen
hinaufſtieg, als ob er da unmoͤglich zu Hauſe
gehoͤren koͤnne. —


Allein ſo kalt und abſchreckend das Betragen
ſeines Vaters gegen ihn geweſen war, ſo laut
und ausbrechend war itzt die Freude, womit
ihm ſeine Mutter und Bruͤder entgegen eilten,
die ſeine von Froſt aufgeſprungen Haͤnde beſa¬
hen, und von denen er nun zum erſtenmal wieder
bedauert wurde.


Als er am andern Tage ausging, beſuchte
er alle die bekannten Plaͤtze, wo er ſonſt geſpielt
hatte — es war ihm, als ſey er waͤhrend der
Zeit alt geworden, und als wollte er ſich nun
an die Jahre ſeiner Tugend zuruͤck erinnern —
ihm begegnete ein Trupp ſeiner ehemaligen Mit¬
ſchuͤler und Spielkameraden, die ihm alle die
Haͤnde druͤckten, und ſich uͤber ſeine Wiederkunft
freueten.


[163]

Und ſo bald er nur mit ſeiner Mutter
allein war, was konnte er wohl anders thun
als ihr von dem Paſtor P. . . erzaͤhlen? — Sie
hatte ohnedem eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen
alles Prieſterliche, und konnte mit Anton recht
gut in ſeinen Gefuͤhlen fuͤr den Paſtor P. . .
ſympathiſiren. — O! welche ſelige Stunden
waren das, da Anton ſo ſein Herz ausſchuͤtten,
und Stundenlang von dem Manne ſprechen
konnte, gegen den er, unter allen Menſchen auf
Erden, die meiſte Liebe und Achtung hatte.


Er hoͤrte nun die H...ſchen Prediger, aber
welch ein Abſtand! unter allen fand er keinen
P. . ., einen ausgenommen Nahmens N..., der
wenn er im heftigen Affekt ſprach, einige Aehn¬
lichkeit mit ihm hatte. —


Kein Prediger konnte bei Anton Beifall fin¬
den, wenn er nicht wenigſtens ſo geſchwind, wie
der Paſtor P. . . ſprach, — und ich weiß nicht,
wenn der Prediger als Redner betrachtet wird,
ob er denn ſo ganz unrecht hatte? — der Lehrer
muß langſam, der Redner muß geſchwind ſpre¬
chen. — Der Lehrer ſoll allmaͤlig den Verſtand
erleuchten, der Redner unwiderſtehlich in das
L 2Herz[164] Herz eindringen — mit dem Verſtande muß man
langſam, mit dem Herzen ſchnell zu Werke
gehen, wenn man ſeines Zweckes nicht verfehlen
will — freilich wird der immer ein ſchlechter Leh¬
rer ſeyn, der nicht zuweilen Redner wird, und der
ein ſchlechter Redner, der nicht zuweilen Lehrer
wird — aber wenn Fox im Engliſchen Parla¬
mente ſpricht, ſo geſchieht es mit einer Ge¬
ſchwindigkeit, die ihres Gleichen nicht hat, und
in dieſem brauſenden Strome reißt er alles mit
ſich fort, und erſchuͤttert die Seelen ſeiner Zu¬
hoͤrer, wie es der Paſtor P. . . durch ſeine
Meineidspredigt that.


Einen Prediger, Nahmens M. . . an der
G. . . kirche in H. . . hoͤrte Anton eines Sonn¬
tags mit dem groͤßten Widerwillen predigen, weil
derſelbe auch nicht die mindeſte Aehnlichkeit mit
dem Paſtor P. . . , hatte, ſondern in Anſehung ſei¬
ner etwas langſamen und bequemen Sprache faſt
gerade das Gegentheil von ihm war. Anton konnte
ſich nicht enthalten, da er zu Hauſe kam, gegen
ſeine Mutter eine Art von Haß zu aͤußern, den er
auf dieſen Prediger geworfen hatte — aber wie
erſtaunte er, als dieſe ihm ſagte, daß er bei
eben[165] eben dieſen Prediger wuͤrde zum Religionsun¬
terricht, und Beichte und Abendmahl gehen muͤſ¬
ſen, weil er ihr Beichtvater waͤre, und ſie zu ſei¬
ner Gemeine gehoͤrte.


Wem haͤtte es Anton geglaubt, daß er dieſen
Mann, gegen den er damals eine unwiderſtehliche
Abneigung empfand, einmal wuͤrde lieben koͤnnen,
daß dieſer einmal ſein Freund, ſein Wohlthaͤter
werden wuͤrde?


Indes ereignete ſich ein Vorfall, der Antons
Seele, die ſchon zur Schwermut geneigt war,
in eine noch traurigere Stimmung verſetzte: ſeine
Mutter wurde toͤdtlich krank, und ſchwebte vier¬
zehn Tage lang in Lebensgefahr. — Was An¬
ton dabei empfand, laͤßt ſich nicht beſchreiben. —
Es war ihm, als ob er in ſeiner Mutter ſich
ſelbſt abſterben wuͤrde, ſo innig war ſein
Daſeyn mit dem ihrigen verwebt. — Ganze
Naͤchte durch weinte er oft, wenn er gehoͤrt hatte,
daß der Arzt die Hoffnung zur Geneſung auf¬
gab. — Es war ihm, als ſey es ſchlechterdings
nicht moͤglich, daß er den Verluſt ſeiner Mut¬
ter wuͤrde ertragen koͤnnen. — Was war na¬
tuͤrlicher, da er von aller Welt verlaſſen war,
L 3und[166] und ſich nur noch in ihrer Liebe und in ihrem
Zutrauen wieder fand.


Der Paſtor M. . . kam, und reichte Antons
Mutter das Abendmahl — nun glaubte er, ſey
keine Hoffnung mehr, und war untroͤſtlich — er
flehte zu Gott um das Leben ſeiner Mutter, und
ihm fiel der Koͤnig Hiskias ein, der ein Zei¬
chen von Gott erhielt, daß ſeine Bitte erhoͤrt,
und ihm ſein Leben gefriſtet ſey.


Nach einem ſolchen Zeichen ſahe ſich itzt auch
Anton um, ob nicht etwa der Schatten an der
Mauer im Garten zuruͤckgehen wollte? — und
der Schatten ſchien ihm endlich zuruͤckzugehen —
denn eine duͤnne Wolke hatte ſich vor der
Sonne hingezogen — oder ſeine Phantaſie hatte
dieſen Schatten zuruͤckgedraͤngt — aber von dem
Augenblick an faßte er neue Hoffnung; und ſeine
Mutter fing wirklich wieder an, zu geneſen. Er
lebte nun auch von neuem wieder auf — und
that alles, um ſich bei ſeinen Eltern beliebt zu
machen. Allein bei ſeinem Vater gelang es ihm
nicht; dieſer hatte, ſeitdem er ihn aus B...
wieder abgeholt, einen bittern, unverſoͤhnlichen
Haß auf ihn geworfen, den er ihn bei jeder Ge¬
legen¬[167] legenheit empfinden ließ — jede Mahlzeit wurde
ihm zugezaͤhlt, und Anton mußte oft im eigent¬
lichen Verſtande ſein Brod mit Thraͤnen eſſen.


Sein einziger Troſt in dieſer Lage waren
ſeine einſamen Spaziergaͤnge mit ſeinen beiden
kleinern Bruͤdern, mit denen er ordentliche
Wanderungen auf den Waͤllen der Stadt an¬
ſtellte, indem er ſich immer ein Ziel ſetzte, nach
welchem er mit ihnen gleichſam eine Reiſe
that. —


Diß war ſeine liebſte Beſchaͤftigung von ſei¬
ner fruͤheſten Kindheit an, und als er noch kaum
gehen konnte, ſetzte er ſich ſchon ein ſolches Ziel
an einer Ecke der Straße, wo ſeine Eltern wohn¬
ten, welches die Grenze ſeiner kleinen Wande¬
rungen war.


Er ſchuf ſich nun den Wall, welchen er hin¬
auf ſtieg in einen Berg, das Geſtraͤuch, durch
welches er ſich durcharbeite in einen Wald, und
einen kleinen Erdhuͤgel im Stadtgraben, in
eine Inſel um; und ſo ſtellte er mit ſeinen Bruͤ¬
dern in einem Bezirk von wenigen hundert
Schritten, oft viele meilenweite Reiſen an —
er verlohr ſich und verirrte ſich mit ihnen in Waͤl¬
L 4dern,[168] dern, erſtieg hohe Klippen, und kam auf unbe¬
wohnte Inſeln, — kurz, er realiſirte ſich mit
ihnen, ſeine ganze idealiſche Romanenwelt, ſo
gut er konnte. —


Zu Hauſe ſtellte er allerlei Spiele mit ihnen
an, wobei es oft ſcharf zuging — er bela¬
gerte Staͤdte, eroberte Veſtungen von den
Buͤchern der Mad. Guion zuſammengebaut,
mit wilden Kaſtanien, die er wie Bomben dar¬
auf abſchoß.— Zuweilen predigte er auch, und
ſeine Bruͤder mußten ihm zuhoͤren. — Das
erſtemal hatte er ſich denn eine Kanzel von Stuͤh¬
len zuſammengebaut, und ſeine Bruͤder ſaßen
vor ihm auf Fußſchemeln; er gerieth in heftigen
Affekt — die Kanzel ſtuͤrzte ein, er fiel herun¬
ter, und zerſchlug mit dem Stuhle, worauf er
ſtand, ſeinen Bruͤdern die Koͤpfe. — Das
Geſchrei und die Verwirrung war allgemein —
indem trat ſein Vater herein, und fing an, ihn
fuͤr die gehaltne Predigt ziemlich derbe zu be¬
lohnen. — Antons Mutter kam dazu, und
wollte ihn den Haͤnden ſeines Vaters entreißen;
da ſie das nicht konnte, ſo nahm ihr Zorn eine
ganz entgegengeſetzte Richtung, und ſie fing nun
auch[169] auch aus allen Kraͤften an, auf Anton zuzu¬
ſchlagen, dem alle ſein Flehen und Bitten nichts
half. — Nie iſt wohl eine Predigt ungluͤck¬
licher abgelaufen, als dieſe erſte Predigt, welche
Anton in ſeinem Leben hielt. — Das Andenken
an dieſen Vorfall hat ihn oft noch im Traume
erſchreckt.


Indes wurde er dadurch nicht abgeſchreckt,
noch oͤfter wieder ſeine Kanzel zu beſteigen,
und ganze geſchriebne Predigten mit Evange¬
lium, Thema und Eintheilung abzuleſen. —
Denn ſeitdem er angefangen hatte, zum erſten¬
mal die Predigt des Paſtor P... nachzuſchrei¬
ben, war es ihm auch leichter, ſeine Gedanken
zu ordnen, und ſie in eine Art von Verbindung
mit einander zu bringen.


Kein Sonntag ging hin, wo er itzt nicht eine
Predigt nachſchrieb, und er bekam dadurch bald
eine ſolche Fertigkeit, daß er das Fehlende da¬
zwiſchen durch ſein Gedaͤchtniß ergaͤnzen, und
eine Predigt, die er gehoͤrt, und die Hauptſa¬
chen nachgeſchrieben hatte, zu Hauſe beinahe
vollſtaͤndig wieder zu Papier bringen konnte.


[170]

Anton war nun uͤber vierzehn Jahr alt; und
es war noͤthig, daß er, um konfirmirt oder in
den Schoos der chriſtlichen Kirche aufgenom¬
men zu werden, einige Zeit vorher in irgend
eine Schule gehen mußte, wo Religionsunter¬
richt ertheilt wurde.


Nun war in H. . . ein Inſtitut, in welchem
junge Leute zu kuͤnftigen Dorfſchulmeiſtern ge¬
bildet wurden, und womit zugleich eine Frei¬
ſchule verknuͤpft war, welche den angehenden
Lehrern znr Uebung im Unterricht diente. Dieſe
Schule war alſo eigentlich mehr der Lehrer we¬
gen, als daß die Lehrer gerade dieſer Schule
wegen da geweſen waͤren, — weil aber die
Schuͤler nichts bezahlen durften, ſo war dieſe
Anſtalt eine Zuflucht fuͤr die Armen, welche dort
ihre Kinder ganz unentgeldlich konnten unter¬
richten laſſen; und weil Antons Vater eben
nicht geſonnen war, viel an ſeinen ſo ganz aus
der Art geſchlagenen, und aus der goͤttlichen
Gnade gefallenen Sohn zu wenden, ſo brachte
er ihn denn endlich in dieſe Schule, wo derſelbe
nun auf einmal wieder eine ganz neue Laufbahn
vor ſich eroͤfnet ſahe.


[171]

Es war fuͤr Anton ein feierlicher Anblick,
da er gleich in der erſten Stunde des Morgens,
alle die kuͤnftigen Lehrer mit den Schuͤlern und
Schuͤlerinnen in einer Klaſſe verſammlet ſahe. —
Der Inſpektor dieſer Anſtalt, der ein Geiſtlicher
war, hielt alle Morgen mit den Schuͤlern eine
Katechiſation, welche den Lehrern zum Muſter die¬
nen ſollte. — Dieſe ſaßen alle an Tiſchen, um die
Fragen und Antworten nachzuſchreiben, waͤhrend
daß der Inſpektor auf und nieder ging und
fragte. In einer Nachmittagsſtunde mußte
denn irgend einer von den Lehrern, in Gegen¬
wart des Inſpectors, die Katechiſation mit den
Schuͤlern wiederholen, welche derſelbe am Mor¬
gen gehalten hatte.


Nun war das Nachſchreiben fuͤr Anton ſchon
eine ſehr leichte Sache geworden, und als der
Lehrer den Nachmittag die Vormittagslektion
wiederholte, ſo hatte ſie Anton weit beſſer als
der Lehrer ſtehend, in ſeiner Schreibtafel nachge¬
ſchrieben, und konnte alſo freilich mehr antwor¬
ten, als jener fragte, welches bei dem Inſpektor
einige Aufmerkſamkeit zu erregen ſchien, die aͤuſ¬
ſerſt ſchmeichelhaft fuͤr ihn war.


[172]

Allein damit er ſich nun nicht ſeines Gluͤcks
uͤberheben ſollte, ſtand ihm am andern Tage eine
Demuͤthigung bevor, die beinahe jene in B...
noch uͤbertraf, da er zum erſtenmale mit dem
Tragkorbe auf dem Ruͤcken gehen mußte.


Es wurde nehmlich in der zweiten Stunde
den folgenden Morgen eine Buchſtabiruͤbung
angeſtellt, wo einer der Knaben immer eine
Silbe erſt allein buchſtabiren und vorſchreien,
und dann die andern alle, wie aus einem Munde,
nachſchreien mußten. — Diß Geſchrei, wovon
einem die Ohren gellten, und dieſe ganze
Uebung kam Anton wie toll und raſend vor, und
er ſchaͤmte ſich nicht wenig, da er ſich ſchmei¬
chelte, ſchon mit Ausdruck leſen zu koͤnnen, daß
er hier erſt wieder anfangen ſollte, buchſtabiren
zu lernen, — aber die Reihe vorzuſchreien, kam
bald an ihn, denn diß ging, wie ein Lauffeuer
herum; und nun ſaß er und ſtockte, und
die ganze ſchoͤne Muſik gerieth auf einmal aus
dem Takt. — „Nun fort! ſagte der Inſpector,
und als es nicht ging, ſah er ihn mit einem Blick
der aͤußerſten Verachtung an, und ſagte: „dum¬
mer Knabe!“ und ließ den folgenden weiter
buch¬[173] buchſtabiren — Anton glaubte in dem Augen¬
blick vernichtet zu ſeyn, da er ſich ploͤtzlich in der
Meinung eines Menſchen auf deſſen Beifall
er ſchon ſo viel gerechnet hatte, ſo tief herabge¬
ſunken ſahe, daß dieſer ihm nicht einmal mehr
zutrauete, daß er buchſtabiren koͤnne.


War ehemals in B. . . ſein Koͤrper, durch
die Buͤrde, die er trug, unterjocht worden, ſo
ſo wurde es itzt noch weit mehr ſein Geiſt, der
unter der Laſt erlag, mit welcher die Worte:
dummer Knabe! von dem Inſpektor auf ihn
fielen.


Allein, dißmal galt bei ihm, was vom The¬
miſtokles erzaͤhlt wird, da dieſer auch einmal in
ſeiner Jugend einen oͤffentlichen Schimpf erlitt:
non fregit eum, ſed erexit — Er ſtrengte ſich
ſeit dem Tage, an welchem er dieſe Demuͤthi¬
gung erlitt, noch zehnmal mehr, als vorher, an,
ſich bei ſeinen Lehrern in Achtung zu ſetzen, um
den Inſpektor, der ihn ſo verkannt hatte, gleich¬
ſam einſt zu beſchaͤmen, und ihm uͤber das Un¬
recht, das er von ihm erlitten hatte, Reue zu
erwecken.


[174]

Der Inſpektor trug alle Morgen in den
Fruͤhſtunden den Lehrbegriff der lutheriſchen
Kirche, ganz dogmatiſch, mit allen Widerle¬
gungen der Papiſten ſowohl, als der Reformir¬
ten, vor, und legte Geſenii Auslegung von Lu¬
thers kleinem Katechismus dabei zum Grunde —
Antons Kopf wurde dadurch freilich mit vielem
unnuͤtzem Zeuge angefuͤllt, aber er lernte doch
Hauptabtheilungen und Unterabtheilungen ma¬
chen, er lernte ſyſtematiſch zu Werke gehen.


Seine nachgeſchriebenen Hefte wuchſen immer
ſtaͤrker an, und in weniger als einem Jahre be¬
ſaß er eine vollſtaͤndige Dogmatik mit allen Be¬
weisſtellen aus der Bibel, und einer vollſtaͤndi¬
gen Polemik gegen Heiden, Tuͤrken, Juden,
Griechen, Papiſten und Reformirten, ver¬
knuͤpft — er wußte von der Transſubſtantiation
im Abendmahl, von den fuͤnf Stuffen der Er¬
hoͤhung und Erniedrigung Chriſti, von den
Hauptlehren des Alkorans, und den vorzuͤglich¬
ſten Beweiſen der Exiſtenz Gottes, gegen die
Freigeiſter, wie ein Buch zu reden.


Und er redete nun auch wirklich, wie ein
Buch von allen dieſen Sachen. Er hatte nun
reichen[175] reichen Stoff zu predigen, und ſeine Bruͤder be¬
kamen alle die nachgeſchriebenen Hefte, von der
halsbrechenden Kanzel in der Stube wieder von
ihm zu hoͤren.


Zuweilen wurde er des Sonntags zu einem
Vetter eingeladen, bei welchem eine Verſamlung,
von Handwerksburſchen war, hier mußte er ſich
vor den Tiſch ſtellen, und in dieſer Verſamm¬
lung eine foͤrmliche Predigt, mit Text, Thema
und Eintheilung halten, wo er denn gemeinig¬
lich die Lehre der Papiſten von der Transſub¬
ſtantiation, oder die Gotteslaͤugner widerlegte,
mit vielem Pathos die Beweiſe fuͤr das Daſeyn
Gottes nach einander aufzaͤhlte, und die Lehre
vom Ohngefaͤhr in ihrer ganzen Bloͤße dar¬
ſtellte.


Nun war die Einrichtung in dem Inſtitut,
wo Anton unterrichtet wurde, daß die erwachſe¬
nen Leute, welche zu Schulmeiſtern gebildet
wurden, ſich des Sonntags in alle Kirchen ver¬
theilen, und die Predigten nachſchreiben mu߬
ten, die ſie dann dem Inſpektor zur Durchſicht
brachten. — Anton fand alſo jetzt noch einmal
ſo viel Vergnuͤgen am Predigr nachſchreiben, da
er[176] er ſahe, daß er auf die Art mit ſeinen Lehrern
einerlei Beſchaͤftigung trieb, und dieſe, denen
er nun die Predigten zeigte, bewieſen ihm immer
mehr Achtung, und begegneten ihm beinahe,
wie ihres Gleichen.


Er bekam am Ende einen dicken Band nach¬
geſchriebener Predigten zuſammen, die er nun als
einen großen Schatz betrachtete, und worunter
ihm insbeſondre zwei wahre Kleinodien zu ſeyn
ſchienen: die eine war von dem Paſtor U. . ., der
mit dem Paſtor P. . . wegen der Geſchwindig¬
keit im Sprechen die meiſte Aehnlichkeit hatte,
in der A.. Kirche gehalten, und handelte vom
juͤngſten Gericht. — Mit wahrem Entzuͤcken
haranguirte Anton dieſe Predigt oft ſeiner Mut¬
ter wieder vor, worinn die Zerſtoͤrung der Ele¬
mente, das Krachen des Weltbaues, das Zit¬
tern und Zagen des Suͤnders, das froͤhliche Er¬
wachen der Frommen, in einem Kontraſt dar¬
geſtellt wurde, der die Phantaſie bis auf den
hoͤchſten Grad erhitzte — und dies war eben An¬
tons Sache. Er liebte die kalten Vernunftpre¬
digten nicht. Die zweite Predigt, welche er un¬
ter allen vorzuͤglich ſchaͤtzte, war eine Abſchieds¬
predigt[177] predigt des Paſtor L. . ., die er in der C. . . Kirche
hielt, und worinn derſelbe faſt vom Anfange bis
zu Ende durch Thraͤnen und Schluchzen unter¬
brochen wurde, ſo beliebt war er bei ſeiner Ge¬
meine. Das ruͤhrende Pathos, womit dieſe
Rede wirklich gehalten wurde, machte auf Antons
Herz einen unausloͤſchlichen Eindruck, und er
wuͤnſchte ſich keine groͤßre Gluͤckſeligkeit, als ein¬
mal auch vor einer ſolchen Menge von Menſchen,
die alle mit ihm weinten, eine ſolche Abſchieds¬
rede halten zu koͤnnen.


Bei ſo etwas war er in ſeinem Elemente, und
fand ein unausſprechliches Vergnuͤgen an der
wehmuͤthigen Empfindung, worinn er dadurch
verſetzt wurde. Niemand hat wohl mehr die
Wonne der Thraͤnen (the joy of grief) empfun¬
den, als er bei ſolchen Gelegenheiten. Eine
ſolche Erſchuͤtterung der Seele durch eine ſolche
Predigt war ihm mehr werth, als aller andre
Lebensgenuß, er haͤtte Schlaf und Nahrung dar¬
um gegeben.


Auch das Gefuͤhl fuͤr die Freundſchaft erhielt
jetzt bei ihm neue Nahrung. Er liebte einige
von ſeinen Lehrern, im eigentlichen Verſtande,
Mund[178] und empfand eine Sehnſucht nach ihrem Um¬
gange — insbeſondre aͤußerte ſich ſeine Freund¬
ſchaft gegen einen derſelben Nahmens R. . ., der
dem aͤußern Anſchein nach, ein ſehr harter und
rauher Mann war, in der That aber das edelſte
Herz beſaß, was nur bei einem kuͤnftigen Dorf¬
ſchulmeiſter gefunden werden kann.


Bei dieſem hatte doch Anton eine Privat¬
ſtunde im Rechnen und Schreiben, welche ſein
Vater fuͤr ihn bezahlte — denn Rechnen und
Schreiben war noch das einzige, welches dieſer
fuͤr Anton zu lernen der Muͤhe werth hielt. —
R. . . ließ ihn denn bald, weil er ſchon ortographiſch
ſchrieb, eigne Ausarbeitungen machen, die ſeinen
Beifall erhielten, welcher fuͤr Anton ſo ſchmeichel¬
haft war, daß er ſich endlich erkuͤhnte, dieſem Leh¬
rer ſein Herz zu entdecken, und ſo offenherzig und
freimuͤthig mit ihm zu ſprechen, wie er lange mit
niemanden hatte ſprechen duͤrfen.


Er entdeckte ihm alſo ſeine unuͤberwindliche
Neigung zum Studiren, und die Haͤrte ſeines
Vaters, der ihn davon abhielte, und der ihn
nichts,[179] nichts, als ein Handwerk wolle lernen laſſen.
Der rauhe R. . . ſchien uͤber diß Zutrauen geruͤhrt
zu ſeyn, und ſprach Anton Muth ein, ſich dem
Inſpektor zu entdecken, der ihm vielleicht noch eher
zu ſeinem Endzweck wuͤrde behuͤlflich ſeyn koͤnnen.
Das war nun eben der Inſpector, welcher zu An¬
ton, da er beim Buchſtabiren nicht vorſchreien
wollte, mit der veraͤchtlichſten Miene; „dum¬
mer Knabe!
“ geſagt hatte, welches er noch
nicht vergeſſen konnte, und alſo noch lange Be¬
denken trug, einem ſolchen Manne ſeine Neigung
zum Studiren zu entdecken, der gezweifelt hatte,
ob er auch buchſtabiren koͤnne.


Indeß nahm die Achtung, worinn ſich Anton
in dieſer Schule ſetzte, von Tage zu Tage zu, und er
erreichte ſeinen Wunſch, hier der erſte zu ſeyn, und
die meiſte Aufmerkſamkeit auf ſich gerichtet zu
ſehn. Diß war freilich eine ſolche Nahrung fuͤr
ſeine Eitelkeit, daß er ſich oft ſchon im Geiſt als
Prediger erblickte, insbeſondere, wenn er ſchwarze
Unterkleider trug — dann trat er mit einem gra¬
vitaͤtiſchen Schritt, und ernſthafter, als ſonſt ein¬
her. —


[180]

Am Ende der Woche des Sonnabends wurde
immer, nachdem vorher das Lied: Bis hieher
hat mich Gott gebracht
, geſungen war, von
einem der Schuͤler ein langes Gebet geleſen, —
wenn diß an Anton kam, ſo war das ein wahres
Feſt fuͤr ihn — er dachte ſich auf der Kanzel, wo
er noch waͤhrend der letzten Verſe des Geſanges
ſeine Gedanken ſammelte, und nun auf einmal,
wie der Paſtor P. . . mit aller Fuͤlle der Bered¬
ſamkeit, in ein bruͤnſtiges Gebet ausbrach. —
Seine Deklamation bekam alſo fuͤr einen Schul¬
knaben freilich zu viel Pathos, als daß dieſes nicht
haͤtte auffallend ſeyn ſollen. Der Lehrer ließ ihn
alſo nur ſelten das Gebet leſen. —


Ja es entſtand zuletzt ſogar eine Art von Neid
gegen ihn bei den Lehrern. — Einer derſelben
ſtellte eine Uebung an, wo eine von Huͤbners
bibliſchen Hiſtorien von den Schuͤlern mit eignen
Worten mußte wieder erzaͤhlt werden. Anton
ſchmuͤckte dieſe Hiſtorie, mit aller ſeiner Phantaſie,
auf eine poetiſche Art aus, und trug ſie mit einer
Art von redneriſchem Schmuck wieder vor — das
be¬[181] beleidigte den Lehrer, der am Ende die Bemer¬
kung machte, Anton ſolle kuͤrzer erzaͤhlen. Das
kuͤnftigemal faßte er alſo die ganze Erzaͤhlung in
ein paar Worte zuſammen, und war in zwei
Minuten damit fertig. — Das war dem Lehrer
wieder zu kurz, und brachte ihn aufs neue auf —
endlich ließ er ihn gar keine Hiſtorien mit eignen
Worten mehr erzaͤhlen. — Des Nachmittags
fuͤrchteten ſich die Lehrer, welche die Katechiſation
wiederholten, ihn zu fragen, weil er immer mehr
als ſie nachgeſchrieben hatte, — er konnte alſo
gar nicht einmal mehr dazu kommen, ſeine Faͤhig¬
keiten zu zeigen, welches doch ſein hoͤchſter Wunſch
war, um Aufmerkſamkeit auf ſich zu erregen.


Voller Unwillen daruͤber, daß er immer un¬
gefragt und ſtumm da ſitzen mußte, ging er end¬
lich einmal mit thraͤnenden Augen zum Inſpektor,
der ihn in den Morgenſtunden nun auch oͤfter ge¬
fragt hatte, und ſein Urtheil uͤber ihn geaͤndert zu
haben ſchien, — dieſer fragte ihn, was ihm fehle,
ob ihm etwa von einem ſeiner Mitſchuͤler unrecht
geſchehen ſey, und Anton antwortete: nicht von
M 3ſeinen[182] ſeinen Mitſchuͤlern, ſondern von ſeinen Lehrern ſey
ihm Unrecht geſchehn, dieſe vernachlaͤßigten ihn,
und niemand fragte ihn mehr, wenn er gleich die
Sache beſſer, als andre wuͤßte. Hierinn moͤchte
man ihm doch Recht verſchaffen!


Der Inſpektor ſuchte ihm das auszureden, und
entſchuldigte die Lehrer mit der Menge der Schuͤler,
von der Zeit an aber fing er an, ſelbſt aufmerk¬
ſamer auf ihn zu werden, und fragte ihn des Mor¬
gens in der Fruͤhſtunde oͤfter, als ſonſt.


In einer Stunde woͤchentlich wurde eine Ue¬
bung mit den Pſalmen angeſtellt, wo ein jeder
der Schuͤler ſich Lehren herausziehn mußte; dieſe
wurden auf ein Blatt Papier oder eine Rechentafel
geſchrieben, und dann abgeleſen, wobei mancher
ſtark zu ſchwitzen pflegte. — Der Inſpector war
dabei. Anton ſchrieb nichts auf. Als aber die
Reihe an ihn kam, ging er den ganzen Pſalm
durch, und hielt eine ordentliche Abhandlung oder
Predigt daruͤber, die faſt eine halbe Stunde dau¬
erte, ſo daß der Inſpector ſelbſt am Ende ſagte:
es ſey nun gnug; — er ſolle den Pſalm nicht
eigent¬[183] eigentlich erklaͤren, ſondern nur einige moraliſche
Lehren herausziehen.


Auf die Weiſe ging beinahe ein Jahr hin, wo
Anton ſo außerordentliche Fortſchritte in ſeinem
Fleiß that, und ſich ſo untadelhaft betrug, daß er
ſeinen Zweck, Aufmerkſamkeit auf ſich zu erregen,
im hoͤchſten Grade erreichte, indem er ſich ſogar
den Neid ſeiner Lehrer zuzog.


Nun ſtand er aber auch auf dem entſcheidenden
Punkte, wo er irgend eine Lebensart waͤhlen
ſollte, und die Haͤrte ſeines Vaters, der nun daran
arbeitete, ihn bald los zu werden, nahm von Tage
zu Tage gegen ihn zu, ſo daß die Schule gleich¬
ſam ein ſichrer Zufluchtsort fuͤr ihn, vor der Be¬
druͤckung und Verfolgung zu Hauſe war.


Sein geliebter Lehrer R. . . wurde indeß zu
einem Dorfſchulmeiſter befoͤrdert, und nun hatte
er keinen eigentlichen Freund mehr unter ſeinen
Lehrern. — Dieſer rieth ihm bei ſeinem Abſchiede
noch einmal, ſich geradezu an den Inſpektor zu
wenden — und weil es nun ohnedem die hoͤchſte
Zeit war, irgend einen Entſchluß zu faſſen, ſo
M 4wagte[184] wagte er es eines Tages mit klopfendem Herzen
den Inſpector um Gehoͤr zu bitten, weil er ihm
etwas wichtiges zu ſagen habe. — Dieſer nahm
ihn mit auf ſeine Stube, und hier wurde Anton
freimuͤthiger, erzaͤhlte ihm ſeine Schickſale, und
entdeckte ihm ſein ganzes Herz — der Inſpektor
ſchilderte ihm die Schwierigkeiten, die Koſten des
Studirens, benahm ihm aber demohngeachtet
nicht alle Hoffnung, ſondern verſprach ſich, wo
moͤglich, fuͤr ihn zu verwenden, daß er unentgeldlich
eine lateiniſche Schule beſuchen koͤnnte — indeß war
das alles ſehr weit ausſehend, weil von ſeinen Eltern
zu ſeiner Unterſtuͤtzung gar nichts, nicht einmal
Wohnung und Nahrung hoffen durfte, indem ſein
Vater noch ſechs Meilen hinter H... eine kleine
Bedienung erhalten hatte, und alſo in kurzem ganz
aus H.. wegziehen mußte.


Indeſſen hatte der Inſpektor dem Konſiſtorial¬
rath G..., unter deſſen Direktion das Schul¬
meiſterinſtitut ſtand, Antons wegen geredet, und
dieſer ließ ihn zu ſich kommen. — Der Anblick
dieſes ehrwuͤrdigen Greiſes ſchlug zuerſt Antons
Muth[185] Muth darnieder, und ſeine Knie bebten, da er
vor ihm ſtand — als ihn aber der Greis leutſelig
bei der Hand faßte, und mit ſanfter Stimme an¬
redete, fing er an, freimuͤthig zu ſprechen, und
ſeine Neigung zum Studiren zu entdecken. —
Der K. G. ließ ihn darauf eine von Gellerts
geiſtlichen Oden laut leſen, um zu hoͤren, wie
ſeine Ausrede und Stimme beſchaffen ſey, wenn
er ſich dereinſt dem Predigtamt widmen wollte —
Darauf verſprach er, ihm freien Unterricht zu ver¬
ſchaffen, und ihn mit Buͤchern zu unterſtuͤtzen;
das ſey aber auch alles, was er fuͤr ihn thun
koͤnne.— Anton war ſo voller Freuden uͤber dieſes
Anerbieten, daß ſeine Dankbarkeit gar keine
Grenzen hatte, und er nun alle Berge auf einmal
uͤberſtiegen zu haben glaubte. Denn daß er auſ¬
ſer freiem Unterricht und Buͤchern auch noch
Nahrung, Wohnung und Kleider brauche, fiel ihm
gar nicht ein.


Triumphirend eilte er nach Hauſe, und ver¬
kuͤndigte ſeinen Eltern ſein Gluͤck — aber wie
ſehr wurde ſeine Frende niedergeſchlagen, da ſein
M 5Vater[186] Vater ihm ganz kaltbluͤtig ſagte: er duͤrfe, wenn
er ſtudiren wolle, auf keinen Heller von ihm rech¬
nen — wenn er ſich alſo ſelbſt Brod und Kleider
zu verſchaffen im Stande ſey, ſo habe er gegen ſein
Studiren weiter nichts einzuwenden. — In eini¬
gen Wochen wuͤrde er von H... wegreiſen, und
wenn Anton alsdann noch bei keinem Meiſter
waͤre, ſo moͤchte er ſehen, wo er unter kaͤme, und
nach Gefallen abwarten, ob einer von den Leuten,
die ihm das Studiren ſo eifrig anriethen, auch fuͤr
ſeinen Lebensunterhalt ſorgen wuͤrde.


Traurig und tiefſinnig ging Anton itzt umher
und dachte ſeinem Schickſal nach — der Gedanke
zu ſtudiren war feſt in ſeiner Seele, und ſollten
ſich ihm auch noch weit mehr Schwierigkeiten in
den Weg ſetzen — mancherlei Projekte durch¬
kreuzten ſich in ſeinem Kopfe.— Er erinnerte ſich,
geleſen zu haben, daß es einſt in Griechenland
einen lehrbegierigen Juͤngling gab, der fuͤr ſeinen
Unterhalt Holz haute und Waſſer trug, um die
Zeit, die ihm noch uͤbrig blieb, dem Studiren wid¬
men zu koͤnnen. — Dieſem Beiſpiele wollte er
folgen,[187] folgen, und war oft ſchon willens, ſich als Tage¬
loͤhner auf gewiſſe Stunden zu verdingen, um die
uͤbrige Zeit zu ſeinem freien Gebrauch zu haben —
dann konnte er aber wieder die Schulſtunden nicht
ordentlich abwarten, — ſo machte ihn alle ſein
Nachdenken und Ueberlegung immer nur noch tief¬
ſinniger und unentſchloßner. Indes ruͤckte der ent¬
ſcheidende Zeitpunkt immer naͤher heran, wo er
einen Entſchluß faſſen mußte. — Er ſollte nun
die Schule, die er bisher beſucht hatte, verlaſſen,
um noch eine Zeitlang in die Garniſonſchule zu ge¬
hen, weil er von dem Garniſonprediger M. . .
konfirmirt werden ſollte, deſſen Vorbereitungs-
und Katechiſationsſtunden er itzt ſchon zu beſuchen
anfing, und der wegen ſeiner Antworten aufmerkſam
auf ihn geworden war. Allein er wuͤrde es von
ſelbſt nie gewagt haben, dieſen Mann, zu welchem
er zuerſt gar kein Zutrauen faſſen konnte, den
Kummer ſeiner Seele zu entdecken.


Da ſich nun fuͤr Anton keine ſolide Ausſicht
zum Studiren eroͤfnen wollte, ſo wuͤrde er doch
am Ende wahrſcheinlich den Entſchluß haben faſ¬
ſen[188] ſen muͤſſen, irgend ein Handwerk zu lernen, wenn
nicht, wieder Vermuthen, ein ſehr geringfuͤgig¬
ſcheinender Umſtand ſeinem Schickſal in ſeinem
ganzen kuͤnftigen Leben eine andre Wendung
gegeben haͤtte. —

[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Anton Reiser. Anton Reiser. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn9x.0