und
Gertrud.
1787.
[][]
An Herrn
Felix Battier
Sohn
in Baſel.
Du fandeſt mich wie eine zertretene Pflanze am
Weg — und retteteſt mich unter dem Fußtritt der
Menſchen.
— Davon rede ich nicht. —
Liſ Freund! dieſe Bogen. Ich ende mit
Ihnen das Ideal meiner Dorffuͤhrung. — Ich
fieng bey der Huͤtte einer gedruͤckten Frauen, und
)( 3
[] mit dem Bild der groͤſten Zerruͤttung des Dorfs
an, und ende mit ſeiner Ordnung. —
Das Vaterland ſagte laut und allgemein,
als ich anfieng, das Bild der armen Huͤtte und
der Zerruͤttung des Dorfs iſt Wahrheit. — Der
Mann am Ruder des Staats und der Tagloͤh-
ner im Dorf fanden einſtimmig, es iſt ſo! —
Es war das Bild meiner Erfahrung — ich
konnte nicht irren. —
Nun gieng ich weiter, ſtieg zu den Quellen
des Uebels hinauf. Ich wollte nicht blos ſagen
es iſt ſo — ich verſuchte zu zeigen, warum iſt es
ſo? Und wie kann man machen, daß es anderſt
werde?
[]
Das Bild ward umfaſſender. — Die Huͤtte
der armen Frauen verſchwand im Bild der allge-
mach anruͤckenden Darſtellung des Ganzen. —
Es foderte viel. Die Maͤngel des Dorfs muß-
ten in allen Verhaͤltniſſen dargelegt werden, wie
die Maͤngel des Lienhards und des Hummels.
Die Mißbraͤuche im Einfluß der Religion —
und die Irrthuͤmer in der Geſetzgebung muͤßten
beruͤhrt, die Hinderniſſe des Fortſchritts einer
wahrhaft guten Menſchenbildung mußten enthuͤllet,
und ihre Quellen dargelegt werden.
Die Schwierigkeiten einer beſſern Volksfuͤh-
rung mußten auf eine dem wahren Zuſtand des
Volks angemeſſene Art gehoben, und die Moͤg-
[] lichkeit der gaͤnzlichen Umſchaffung der Seelenſtim-
mung deſſelben, im Zuſammenhang aller ſeiner
Verhaͤltniſſe entwickelt und dargelegt werden.
Der Geiſt im Dienſt des Staats — die in-
nere Enzwecke ſeiner Verwaltung — und eben ſo
der Geiſt des Dienſts am Altar — und der Einfluß
ſeiner wirklichen Verwaltung mußte aufgedeckt,
und bey beyden in allen Branchen ſeines Einfluſ-
ſes gezeiget werden, was dieſe Dienerſchaft ſeyn
koͤnnte — ſollte — und nicht iſt. —
Die wahren Grundſaͤtze der geſellſchaftlichen
Ordnung mußten durch alles Gewirr der tauſend-
fachen Hinderniſſe hinab in die niedern Huͤtten ge-
bracht — und das alles ſollte ſich allenthalben an
[] wirkliche Volksbegriffe und Volksgefuͤhle anſchlieſ-
ſen, und allenthalben ſollte die innere Stimmung
der niedern Menſchheit den Bildern nahe ſtehen,
die ich hinwerfe ſie zu reizen, ſich ſelber zu helfen.
Ich wollte offen handeln vor dem Volk wie
vor ſeinen Herren, und beyde durch richtigere Kennt-
niſſe der gegenſeitigen Wahrheit in ihren Verhaͤlt-
niſſen einander naͤher bringen.
Das iſt, was ich verſuchte zu leiſten; das
weſentliche, von allem, was ich ſage, habe ich
geſehen. —
Und ſehr vieles von dem, was ich anrathe,
hab ich gethan. — Ich verlor den Genuß mei-
[] nes Lebens in der Anſtrengung meines Verſuchs
fuͤr die Bildung des Volks — und ich habe den
wahren Zuſtand deſſelben, ſo wie die Mittel es zu
aͤndern ſowohl in ihrem großen Zuſammenhang
als im ungeheuern Detail ſeiner Millionenfachen
ſich immer vom Ganzen abſondernden und allein wir-
kenden Verhaͤltniſſe geſehen, wie vielleicht Nie-
mand. — Auch iſt meine Bahn unbetreten, es
hat es noch Niemand verſucht den Gegenſtand in
dieſen Geſichtspunkten zu behandeln — alles was
ich ſage, ruhet in ſeinem Weſen ganz bis auf ſei-
nen kleinſten Theil auf meinen wirklichen Erfah-
rungen. —
Freylich irrte ich mich in dem, was ich aus-
fuͤhren wollte, aber eben dieſe Irrthuͤmer meines
[] thaͤtigen Lebens haben mich in Lagen geſezt, das
zu lernen, was ich nicht konnte, da ich es that.
Liſ Freund! dieſe Bogen, und nimm meinen
Dank fuͤr die wichtigſten Geſichtspunkte derſelben
— die ohne dich nie ſo weit zur Reife gekommen
waͤren, und laß mich von denſelben dir ſagen, —
ich kenne Niemand, von dem ich mehr gelernt
habe, und deſſen Urtheil mir in Abſicht auf die
wichtigſten Theile der Volksfuͤhrung und ihrer
Fundamente wichtiger iſt, als das deine! —
Freund! die Laſt meiner Erfahrungen liegt
noch auf mir — noch leb ich wie im Traum, im
Bild dieſes Thuns, und mein Streben nach die-
ſem Ziel endet nicht in mir ſo lang ich athme —
[] und ſo lang ich athme, bin ich nicht in meine[r]
Sphaͤre bis ich fuͤr die erſte Geſichtspumkte mei-
nes Lebens wirklich thaͤtig werden kann.
Sey forthin mein Freund! Ich bin ewig
mit Dank und Liebe
der Deine
P**
[[1]]
§. 1.
Anfangs Sonnenſchein.
Wir ſind um einen Schritt weiter — mit die-
ſem Wort endete ich. —
— Ich fange wiederum an. —
Als er heim kam, fand er zwey Briefe auf
ſeinem Pult; der eine den er zuerſt aufſchnitt,
war von dem Grafen Bylifsky, und lautet alſo —
„Lieber! der Herzog iſt entzuͤckt uͤber alles was
du machſt. Er hat mir deinen letzten Brief, den
er nicht genug leſen konnte, noch izt nicht wieder
zuruͤckgegeben; und will dich, wie du unter den
Kindern von Bonnal im Pfarrhausgarten am Bo-
den ſitzeſt, von unſern Menzow abmahlen laſſen;
und ſagte, das Gemaͤhlde muͤſſe in das kleine
Zimmer, das er ſeinen Winkel heißt, in welchem
noch kein einziges Portrait iſt, als das einige,
A
[2] deſſen Original du an Hals und Augen dem ſchlim-
men großen Kopf gleich fandeſt, den Fuͤeßli in
Lavaters Phyſiognomie gezeichnet — neben dieſen
kommſt izt du — du gute Seele! gerade vor ihm
voruͤber. — Was wirſt du wohl auch — ſo ge-
rade vor dieſem Kopf voruͤber auf dieſer Wand
machen? — Und was wird der Herzog denken,
wenn er dieſen Kontraſt — der wahrlich eine große
Satire auf ſeine Regierung iſt — fuͤhlen wird,
wie er ihn gewiß fuͤhlen wird! — Die Zeit wird
es lehren. Freund! man redt izt von dir bey
Hof; und wie natuͤrlich haſſet dich der Mann
ſchon, dem alles zuwider, was den Herzog an das
Menſchengeſchlecht erinnert. Er ſagt laut: dieſer
Gedanke ſey ihm nicht geſund; und doch wird er
ihm anrathen, ſeinen Geluſt zu erfuͤllen, deine Anſtal-
ten ſelber zu ſehen; aber ich werde es noch lang
hintertreiben. Wenn je ein Mittel iſt, aus allem
was du gethan, geſchwind wieder Nichts zu ma-
chen; ſo iſt es dieſes, daß der Herzog eine Lan-
desſache daraus mache, ehe du ſie als deine Pri-
vatſache vollendeſt. Das koͤnnte Helidor wuͤn-
ſchen, aber die Freude muß ihm nicht werden,
dein Portrait auf dieſem Wege von dem grauem
Gobelin herabzubringen, auf dem er ſich ſo wohl
gefaͤllt allein zu hangen. Waͤreſt du doch nur ſchon
dort! du verdienſt es mehr als Niemand — Du
lebſt in deiner Unſchuld wie ein Kind — und
[3]
weißeſt weder was du biſt, noch was du thuſt;
aber in einem ganz umgekehrten Sinn als wir
hier, denen das leider auch begegnet.
Dein Lieutenant iſt Gold werth: ſage ihm
von meinetwegen, er ſolle dein Werk vollenden;
und es ſichs nicht verdrießen laſſen, ſo lang es
noͤthig, auf dieſer niedern Stafel ſeiner ſo ſichern
als großen Leiter zu ſtehen.
Was machen deine Kinder? Und Thereſe?
Gruͤß mir ſie; und ſage ihr, ich ſehe die Hofcer-
kles nicht mehr, ſeit dem der Schwan weggeflo-
gen, deſſen ſich unſere Gaͤnſe auch izt, nur noch
mit Neid erinnern. *) Lebe wohl! Schreib mir
bald wieder. — Ich muͤßte dich izt um Briefe
bitten, wenn ich ſie auch ſchon nicht gern haͤtte. —
Was ich dir wuͤnſche, mein Freund! iſt, daß
dein Gluͤck dem Meinigen nie gleich werde, denn
es druͤckt mich auf beyden Achſeln.
Bylifsky —
[4]
§. 2.
Folget Regen.
Die Freude uͤber dieſen Brief verlohr ſich ob dem
andern. Dieſer war von ſeinem Onkle, dem Ge-
neral von Arnburg, der mit Sylvia, ſeiner Niece,
einen Beſuch fuͤr etliche Wochen ankuͤndigte.
Ob ihm erſchracken ſie nicht. Er war ein
guter Mann, der den Morgen mit ſeiner Schok-
kolade und Toilette durchbrachte, ohne jemand zu
plagen, und zufrieden war, wenn man ihn denn
nur nach dem Mittagsſchlaf bis zum Nachteſſen
vergeſellſchaftete. — Aber ob der Sylvia erſchra-
cken ſie herzlich. Es waͤre das gleiche geweſen,
wo er ſie immer mitgenommen haͤtte — denn außer
ihm wuͤrde gewiß kein Menſch, der ſie kennt, nicht
erſchrecken etliche Wochen mit ihr unter einem
Dache zu wohnen, und er ſelber gewiß auch; aber
ſie war ſeines Bruders Tochter, und aus Mitlei-
den hatte er ſich ihrer beladen.
In der Jugend, von einem verſchwenderiſchen
Vater wie eine Prinzeßin verderbt, hatte ſie in vollem
Maaß die Fehler der Menſchen, die nicht wiſſen, wo
das Brod herkommt; und durch ſeinen Tod ploͤtzlich
in Armuth und Abhaͤnglichkeit verſezt, haſſet ſie
[5] izt jedermann, dem es beſſer geht als ihr; und
braucht das Einzige was ſie eigenthuͤmliches hat,
ihr bischen Geiſt, zu kraͤnken wen ſie beneidet.
Ihr ganzes Weſen iſt krum. Sie ſchaͤmt ſich
nicht. — Was ſie redet, thut der Unſchuld weh,
oder macht ſie erroͤthen. — Sie haſſet was den
geraden Weg gehet, und verachtet was natuͤrlich,
unverdreht und unverkehrt iſt. —
— So ein Menſch iſt ſie. —
Wenn man von einem ſchwangern Weib
redt, ſo ſpeyt ſie auf den Boden, und es iſt ihr
Wort — „Haͤtte der Narr nichts geſcheiders thun
koͤnnen, als noch ein elendes Geſchoͤpf mehr auf
die Welt ſetzen?„ —
Die Perſon, die ſie mit ſich gebracht, hat
viel aͤhnliches mit ihr; aber ſie iſt mehr —
Sie giebt ihr den Namen Freundin; ich denke ſo
lange es gut geht, denn ſie ſteht bey ihr im Jahr-
lohn, ſie heißt Aglee. — Beyde ſind nicht gern
auf das Land gekommen, und hatten den Onkle
ſchon zwey Jahre von dieſer Reiſe abgehalten.
Dieß Jahr konnten ſie es nicht; und brachten alſo
neben ihren Karaktern noch ihre boͤſe Laune mit ſich.
Der Rollenberger war der erſte ob dem ſie ſie
ausſtießen. Er legte mit ſeinem Karl einiges Saa-
menzeug im Garten auf einer Bank in Ordnung;
A 3
[6] als dieſe beyde ſchon am andern Morgen ihres daſi-
gen Aufenthalts, ſo franzoͤſiſch neben ihn auf beyden
Seiten abſaßen, daß das halbe Saamenzeug ab der
Bank in Boden fallen mußte.
Der Karl, der ſeiner Lebtag kein Bauernweib
in einem fremden Hauſe ſo auf einer Bank die
voll Zeug war, abſitzen geſehen, machte ihnen Au-
gen, wie er auch ſeiner Lebtag noch keiner Bauern
Frau gemacht — und das Maul war ihm ſchon
mehr als halb offen, als er ſah, daß ihm der
Rollenberger winkte. — Er that es wieder zu, und
gieng, ohne ein Wort zu ſagen, fort — aber man
ſahe ihm an, daß es ihm weh that — er ward
roth. — Sylvia lachte ſpoͤttiſch uͤber ſein Roth-
werden gegen Aglee; ſagte dann zum Rollenberger,
was er ihn auch lehre, es duͤnke ſie, er wiſſe ſo
nichts.
Betroffen uͤber dieſe Frage antwortete dieſer,
er hoffe, wenn ſie ſich eine Weile hier aufhalten,
ſo werden ſie es dann ſelber ſehen. —
Sie erwiederte, ob er auch eine Bibliothek
habe? und wo er ſtudiere?
Nicht gewohnt, alſo gefragt zu werden; und
unwiſſend, wo dieſe Fragen hinlangen, ſchwieg er
einen Augenblick ſtill, dann antwortete er ihr ſteif
[7] ins Geſicht ſehend: Nein! er habe nirgend ſtudiert
und habe keine Bibliothek!
Sie blieb ihm, wie natuͤrlich, mit den Augen
nichts ſchuldig und fuhr fort — Ob er ſchon eine
Erziehung unter den Haͤnden gehabt?
Daruͤber antwortete er Ja und das eine von
zwoͤlf Kindern. —
Sie. Was er aus ihnen gemacht?
Er. Nach einigen Staunen — brauchbare
Kinder, uͤber die bis izt Gottlob noch Niemand
einige Klage hat. —
Sie. Wo dieſe Kinder ſeyen?
Er. Daheim bey ihrem Vater. —
Sie. So — Wer iſt denn ihr Vater?
Er. Der Amtmann von Cleberg.
Sie. Sie wolle wohl glauben, daß er im
Stande ſey, fuͤr einen Bauernamtmann eine ganze
Heerde Kinder zu erziehen — aber ihr Vetter ſey
ein Narr, und wiſſe nicht, was eine Erziehung
fuͤr ſeinen Stand brauche — und er haͤtte auch
dieſen Dienſt nicht ſuchen ſollen. —
Er. Er habe den Dienſt (das Wort Dienſt
langſam ausſprechend) — nie geſucht.
Sie. Man werde ihm fuͤr dieſen Dienſt (das
Wort Dienſt hart und eben ſo langſam ihn ver-
ſpottend ausſprechend) nachgelaufen ſeyn? —
A 4
[8]
Sie ſprach in dieſem Ton noch lange fort.
Es trieb dem guten Menſchen den Schweiß in
die Fingerſpitzen; aber endlich nahm er den Reißaus.
Als die Frage zum Drittenmal wieder kam,
was er denn in aller Welt auch verſtehe und koͤnne
den Buben zu lehren? Antwortete er: Muß ich ih-
nen denn alles ſagen, was ich kann?
Sie erwiederte, fang er nur einmal an etwas
zu ſagen.
Auf dieſes hin ſagte er, nun dann — ich kann
Kuͤhe und Ochſen maͤſten — ich kann zu Acker trei-
ben, und anſaͤen; ich kann Waſſermatten und Klee-
felder anlegen — ich verſtehe den Waldbau, wie
den Bergbau — ich kann mit den Bauern rechnen
wie mit den Herren; und was man mir anver-
traut, dem lieg ich fruͤh und ſpaͤt ob.
Dieſe Antwort ſprengte die Dame von der
Bank auf — So ein Maul habe ich in meinem
Leben nicht geſehen fuͤr einen Idioten, ſagte ſie
beym Weggehen zur Aglee. Dieſe erwiederte ihr,
ſagen ſie ihm nicht ſo, er iſt ihrer Meiſter worden.
[9]
§. 3.
Von der adelichen Erziehung.
Von den adelichen Rechten.
Und auch etwas von Bauern Rechten.
Sich zu raͤchen, erzaͤhlte ſie die ganze Unterredung,
und noch mit Zuſaͤtzen, dem Arner, und dann noch
in Gegenwart des Generals, von dem ſie wußte,
daß er auf des Adels hinterſte Zugabe kindiſch auf-
merkſam immer glaubte, man koͤnne faſt nicht ge-
nug thun, ein adeliches Kind unterſchieden genug
von den andern zu erziehen. Dieſer fand auch,
wie natuͤrlich, der Vetter ſey mit einem ſolchen
Menſchen hiezu nicht verſorget; und der Knabe
werde fuͤr ſeinen Stand, und fuͤr ſeine hohen Rechte,
bey weitem nicht in der Ordnung erzogen.
Bey dieſem Worte fiel ihm Sylvia in die Re-
de, und ſagte — ja Onkle, der Vetter achtet die
hohen Rechte nicht viel, er achtet ſie ſo wenig,
daß er den ſchon angefangenen Weg uͤber die Fel-
ſen, der das Schloß doppelt ſo viel werth machen
wuͤrde, und den ſein Großvater mit ſo vieler Muͤhe
von den Bauern erſtritten, eingehen laͤßt, wie wenn
dieſes Recht nichts waͤre; aber er kann ſo den lie-
[10] ben Bauern und dem lieben Bauernvieh die Arbeit
ſchenken.
Erbittert uͤber dieſen Ton und dieſes Anbrin-
gen erwiederte Arner kurz und trocken, ſie waren
mir den Weg nicht ſchuldig.
Sylvia. Es iſt doch ein Urtheil von Hof
aus wider ſie ergangen. —
Arner. Es iſt ihnen Unrecht geſchehen. —
Sylvia. Das waͤre!
General. Aber wie iſt ihnen Unrecht ge-
ſchehen?
Arner. Sie haben Brief und Siegel dafuͤr,
daß ſie den Weg nicht ſchuldig ſind. —
Sylvia. Warum verlohren ſie denn den
Prozeß?
Arner. Nur um des kleinen Umſtands wil-
len, weil man ihnen die Briefe und Siegel im
Amte hinterhalten; und deutſch geſagt, gerade zu
abgelaͤugnet hat.
Sylvia. Und Sie haben ſie ihnen da wie-
der gegeben?
Arner. Das verſteht ſich; und beſtaͤtiget
dazu.
General. Das iſt izt doch zu viel. —
Arner. Warum lieber Onkle?
General. Deine Kinder und Kindeskinder
[11] koͤnnten anderſt denken als du; und man muß nie
eine Gewalt die man hat aus den Haͤnden laſſen:
wenn man meynt man habe das Recht nicht dazu,
ſo kann man ſie ſo lang man will nicht brauchen,
und das iſt doch denn ja genug.
So wie er den Karl erzieht, iſt er ſicher, daß
er nicht anders denken wird, ſagte Sylvia.
Der General erwiederte, das gehoͤrt izt nicht
hieher. —
Und Arner — Onkle! man thut gewiß am
Beſten, man laſſe einem jeden ſeine Rechte, wie
man die ſeinigen auch gern hat.
Sylvia erwiederte, das iſt nicht geredt. Die
Bauern haben keine Rechte; ihre Rechte ſind nur
Gnadenſachen.
General. Voͤllig ſo iſt es doch auch nicht.
Arner. Und wenns auch waͤre, ſo waͤr es
nicht fuͤr mich. Die Bauern machen ſo widrige
Geſichter wenn man ihnen ihre Rechte nimmt, daß
ich auch nur kein Roß im Stall haben moͤchte, das
den Kopf und das Maul haͤngen, und Augen ma-
chen wuͤrde wie dergleichen Bauern. —
Sylvia. Die Roßordnung und die Bauern-
ordnung laſſen ſich nicht miteinander vergleichen.
Arner. Ihr meynet etwa, man koͤnnte nicht
beſtehen, wenn man die Bauern ſo gut halten wuͤr-
de als die Pferde? —
[12]
Sylvia. Meinethalben! probiert es, ihr
werdet es denn erfahren.
Das Geſpraͤch machte dem Onkle Muͤhe; er
war mit beyden unzufrieden; und gieng bey Anlaß
der Pferde in den Stall, zu ſehen, was ſein Brauner
mache. — Der Knecht hatte ihm geſtern geſagt,
es fehle ihm etwas am Fuß. —
§. 4.
Die Spinne arbeitet fleißig an ihrem
Gewebe.
Sie fuͤrchteten Niemand; und nichts als des Lieu-
tenants Augen und Stille. Sie ſahen wohl, daß er
reden konnte, wenn er wollte; dafuͤr aber ſuchten ſie
ihn aus dem Schloſſe zu ſprengen, ſo bald ſie koͤnn-
ten; und da ſie vernommen, er ſchneide den Kin-
dern in der Schule die Haare und die Naͤgel ab,
hatten ſie ihre Sache in der Ordnung. —
Bey dem erſten Eſſen ruͤckte Aglee, da er ihr,
wie gewoͤhnlich, den Teller anboth, mit dem Stuhl
hinter ſich von ihm hinweg. Er wußte nicht was
es war, der ganze Tiſch ſah hinunter, was es ge-
ben wolle, und Sylvia ſagte dann ganz laut und
vernehmlich von oben herab: „Es ſey nichts an-
„ders, als ihre Freundin ſey ein wenig eckel, und
[13]
"ihr Herr Nachbar ſchneide den Kindern in der
"Schule die Haare und die Naͤgel ab.„ —
Izt ſtund der Lieutenant auf, nahm ſeinen
Stock und Hut, und gieng auf ſein Zimmer.
Der General rief ihm zwar, es ſey nicht ſo Boͤſe
gemeynt; er muͤſſe es nicht ſo nehmen, es ſeyen
Frauenzimmer. Aber Sylvia ſagte eben ſo laut:
Laßt ihn doch gehen, es iſt juſt was wir wollen. —
Arner rief, indem er auch aufſtund, ſeinen
Knechten vom Tiſch weg, wo ſie aufwarteten; und
befahl noch in der Stuben, im Augenblick ſeine
Kutſche anzuſpannen. Schrieb dann in des Lieute-
nants Zimmer mit Bleyſtift auf eine Karte an den
Pfarrer von Bonnal:
„Ich habe Leute bey mir, die keine Men-
"ſchen ſind; und bis dieſe fort ſind, kann ich
"keine Menſchen bey mir haben.„ —
Und ſandte den lieben Mann mit dieſem Fracht-
brief auf Bonnal. Als er ihm in die Kutſche hin-
einhalf, ſagte er ihm noch: Was mir leid iſt, mein
Lieber! iſt, daß ich nicht mit kann. —
Alles war izt am Tiſche ſtill; und man hoͤrte
keinen Ton, als daß Karl halb laut zu ſeinem Rol-
lenberger ſagte — „Es darf izt nur Niemand kein
"Wort ſagen! es iſt doch nicht recht, es wiſſens
[14] "alle, wie die Jungfern in ihrer Stube eine Ord-
"nung haben, und wie ihnen aller Gattung Haa-
"re und Straͤle, und dergleichen Zeug, in allen
"Ecken herumliegen; gehe man in Herrn Lieute-
"nants Zimmer, und ſehe, ob man ſo etwas da-
"rinn finde.„
So gab es alle Tage etwas — Auch frug der
Karl alle Tage die Mama, wann gehen ſie auch
wieder fort?
Armer Karl! du wirſt noch viel erleben bis
dann — Der General will den Selzer hier trinken,
und hat ihn kaum angefangen, aber er kann ihm
nicht wohl thun; er hat keine Freude dabey; Syl-
via verbittert alles.
Arner hatte doch das ganze Haus, von oben
bis unten, ihrenthalben in Ordnung gebracht;
Stall und Jagdzeug, und Kutſchengeſchirr ausputzen
laſſen; und Thereſe alle Huͤner, und alles was le-
bendig war, aus dem Hofe wegſchaffen und ein-
ſperren laſſen; und auch um ihrentwillen keinen
Miſt in die Gaͤrten gethan, da juſt darein ſollte;
und hingegen alle Spatziergaͤnge mit Sand uͤber-
fuͤhren laſſen. Auch hatten ſie ihnen faſt alle Tage
Geſellſchaft, oder fuhren mit ihnen aus, und das
allemal auf Schloͤſſer, nie in kein Pfarrhaus, und
nie zu keinem Buͤrger, damit ſie ja nichts zu klagen
haͤtten. Aber es war umſonſt; Sylvia hatte ſich
[15] vorgenommen ihnen Verdruß zu machen, und
machte den General taͤglich auf hundert Umſtaͤnde
aufmerkſam, die ſeinen Adelſtolz reizten, indem ſie
ihm bald alle Stunden etwas zeigte, das er fuͤr ih-
ren Stand nicht ſchicklich hielt. — Sie bracht' es
auch bald dahin, daß er es nicht mehr ausſtehen
konnte, wenn Arner von der Schule, vom Lieute-
nant, oder vom Pfarrer in Bonnal nur ein Wort
redte, und ihm taͤglich ſagte: du plageſt dich mit
Sachen, die dich nichts angehen; und beladeſt dich
mit Leuten, von denen du keine Ehre haſt, auch
kannſt du ſo unmoͤglich geſund ſeyn, wie du dich
den ganzen Tag anſtrengſt. — Umſonſt ſagte ihm
dieſer, es mache ihm keine Muͤhe, er thue es ja
gern. Man ſiehts dir ja an, erwiederte der Alte,
daß du nicht wohl biſt; es iſt nichts daran ſchuld
als dieſes, und der taͤgliche Verdruß, den du dir
noch damit zuzieheſt. — Das plagte Arnern, und
der Plage los zu werden ſagte er endlich dem Hof-
mann, es ſtehe nicht mehr bey ihm, ob er dieſe
Sachen wollte liegen laſſen oder nicht, der Herzog
wiſſe davon, halte die Sache fuͤr gar wichtig, und
er muͤſſe gar oft Berichte von allem nach Hof ſchi-
cken, die ſeiner Durchlaucht ſelbſt zu Handen kom-
men.
Dann iſts etwas anders, wenn der Herzog
davon weißt! — dann iſts etwas anders — ſagte
izt der Alte; und es freute ihn ſo ſehr, daß er nicht
[16] mehr daran ſinnte, es ſchade dem Vetter an ſei-
ner Geſundheit. —
§. 5.
Die Spinne glaubt ihn wie eine Muͤcke
im Netz; aber die Muͤcke fallt durch,
und zerreißt ihr das Garn.
Er ſagte wohl noch viermal, dann iſts etwas an-
ders — und gieng bald hinauf in der Sylvia Zim-
mer, ſagte ihr das gleiche, und der Herzog wiſſe
davon, man muͤſſe ſich gewahren; aber dieſe lachte
ihn aus, und erwiederte ihm, ſie muͤßte es auch
wiſſen, wenn im geringſten ſo etwas wahr waͤre;
aber ſie koͤnne ihn verſichern, alles was man vom
guten Vetter bey Hof wiſſe und ſage, ſey mehr nicht
und minder nicht, als er ſey ein Narr.
Du mußt izt dieſes auch nicht ſagen, ſagte der
Alte. Sie aber erwiederte: Nun — ihr wiſſet
doch gewiß noch, daß ich es ſchon vor 5 Wochen
erzaͤhlt, daß Helidor, da ich ihm von euerer Reiſe
hierher etwas geſagt, mir zur Antwort gegeben,
was wir auch hier thun wollten, Arner ſey einer
der erſten Fantaſten in der Welt. Das iſt wahr,
antwortete der General; aber er ſteht mit Bylifsky
gut. —
Aber
[17]
Aber was iſts dann? antwortete Sylvia, By-
lifsky iſt fuͤr den Herzog nur ein Karrenroß, der
andere iſt Kutſcher, und der Bylifsky, der gut
weiß daß der andere das iſt, hat ſeinen Platz zu
lieb, als daß er dem Herzog von Sachen rede,
die dem Helidor zuwider ſind wie Gift. —
Meynſt du denn der Herzog wiſſe gar nichts
davon, und er habe mir dieß nur ſo angegeben?
ſagte der General. —
Silvia. Der Vetter muß ihnen das vor
dem Nachteſſen noch ſelber bekennen. —
General. Wenn du das machen koͤnnteſt,
ich wuͤrde Morgen wieder verreiſen, wenn ich ſchon
meine Cur erſt angefangen.
Sylvia. Auf dieſes hin will ich noch heute
einpacken.
General. Nein: wart doch bis Morgen,
es iſt dann noch Zeit.
Sylvia. Fangen ſie nur beym Thee wieder
davon an. —
Der Thee kam, und der Herzog war bald da.
Der Vetter wird wohl geſpaßet haben, ſagte
Sylvia alſobald. — Das juſt nicht, erwiederte Ar-
ner. —
Sylvia. Aber der Herzog — was wird
wohl der Herzog von ihrer Schule wiſſen?
Arner. Vieles. —
B
[18]
Sylvia. Gewiß? —
Arner. Ich koͤnnte noch mehr ſagen. —
Sylvia. Was koͤnnten ſie wohl mehr ſagen?
Arner. Ich koͤnnte ſagen, — Alles. —
Sylvia. Ich denke wohl, ſie koͤnnten ſagen
— alles — Aber wenn man es dann auch glaubte.
Arner. Sie haben recht, es iſt beſſer, ich
bleibe beym Vieles.
Sylvia. Ich wuͤßte etwas, das noch beſſer
waͤre. —
Arner. Was das?
Sylvia. Wenn ſie ſagen wuͤrden, gar nichts —
Arner. Wenn ſie allein da waͤren, ich wuͤr-
de ihnen ſicher ſagen, gar nichts. —
So woͤrtleten ſie miteinander, bis Arner end-
lich Bylifskys Brief herabholte, und zwey davon
dem Generalen ganz zu leſen gab; den dritten laſ'
er ihm vor bis auf die Stell im Anfang, in der
Bylifsky die Gleichheit Helidors mit Fuͤeßlis Teufel
in Lavaters Phyſiognomik bemerkte, das dorfte er
ihm nicht vorleſen, weil Sylvia ihn kannte. —
Sie gieng, ſo bald der Onkle die Brille aufſetzte
und anfieng laut zu leſen, vom Tiſch weg, aber der
General ſagte, indem er einen Augenblick ſtill hielt,
es iſt izt gleich viel, es ſcheint du habeſt recht,
und ſie habe unrecht. — Er laſ dann mit ſeiner
Brille an den Ohren fort, das Herz klopfte ihm
[19] vor Freuden, beſonders daß der Miniſter dem Vetter
noch Du ſage; das haͤtte zu meiner Zeit nicht ſtatt
gehabt, ſagte er, wenn einer ſo hoch hinauf geſtiegen,
ſo hat er das gegen Niemand mehr gethan.
Er haͤtte mir bald ausgeſchrieben, erwiederte
Arner, wenn er ſeinen Ton um ſeines Poſtens wil-
len geaͤndert haͤtte, ich wuͤrde ihm gewiß kein Wort
antworten.
Der General wußte vor Freuden nicht, was er
machen wollte, und ſagte etlichemal, er muͤſſe izt
ſehen, daß er aufrichtig ſey, und er wolle es ihm
ſeiner Lebtage nicht vergeſſen. Dann fieng er vor
lauter Freude an uͤber Sylvia zu klagen, und ſag-
te, er ſey auch nicht mit ihr zufrieden, und ſie
mache es ihm auch nicht wie ſie ſollte, er wolle es
izt nur ſagen, er wiſſe wohl daß es im Vertrauen ge-
redt ſey, ſie haben die vorige Woche auf ihrer Stube
etwas gemacht, das ihm gar nicht gefallen habe.
Arner fieng an vom Herzog zu reden, um ihn
von dieſem Geſpraͤch wegzulenken, aber er fuhr fort,
und ſagte, Nein: du mußt mich es izt doch ſagen
laſſen, ſie haben von ihrem kleinen Hund den
Schattenriß genommen, und dann den Hundskopf
in Hut und Zopf und Kleid mit des Lieutenants
ſeinem Profil ſo gleich gemacht als ſie haben koͤn-
nen, und ich weiß nicht, wozu ſie dieſe Bosheit
brauchen wollen.
B 2
[20]
Arner und Thereſe waͤren beyde froh geweſen,
ſie haͤtten das nicht vernommen, und ſagten dem
Onkle, es iſt einem woͤhler, wenn man dergleichen
Sachen nicht weißt. — Ich habe es euch einmal
auch ſagen muͤſſen, erwiederte der Alte — aber es
habe ihn doch gereuet, ſo bald es zum Maul hin-
aus war, denn er fuͤrchtete Sylvia.
Dieſe ſagte auf ihrem Zimmer ganz kalt und
bitter zu Aglee, ſie koͤnne nicht begreifen, daß By-
lifsky es wage von ſolchen Affereyen mit dem Her-
zog zu reden. Aglee erwiederte, ſie verwundere ſich
gar nicht daruͤber, es ſey izt das Modefieber an
vielen Hoͤfen.
Aber an unſerm, ſagte Sylvia, wo der Her-
zog ſchon vor 20 Jahren darob ein Narr wor-
den, da iſts doch gewiß ein Wunder, daß mans
wagt, ihm muthwillig und oͤffentlich dieſes Fieber
wieder in den Leib zu jagen, damit ich der ſchoͤnen
Krankheit keinen andern Namen gebe.
Dann ſtaunte ſie eine Weile, und ſagte bald
darauf noch, entweder weiß Helidor etwas davon,
und dann iſt es nichts anders als eine Falle, die
er dem Bylifsky legt, und ich glaube es, der Dick-
hals mache izt den Blinden, und wiſſe von allem
nichts, bis der Miniſter mit ſeinem guten Freund
bis uͤber die Ohren hinauf im Kothe ſteckt, denn
[21] juckt er einsmal hervor, und zeigt ſie dem Herzog
wie ſie ſtecken. Im andern Fall, wenn es ein Um-
weg vom Bylifsky waͤre, was am Ende auch moͤg-
lich iſt, hat Helidor Bericht noͤthig; und es traͤum-
te ihr, ſie ſey izt am Platz, wo ſie ihm in beyden
Faͤllen mehr als ein Menſch dienen koͤnne; denn
ſagte ſie zu ſich ſelbſt, er muß gewiß, und wuͤnſcht
gewiß, ſeiner blinden Durchlaucht hieruͤber den
Nebel von den Augen weg zu thun, und die Herren
Menſchlichkeitskraͤmer mit Raritaͤtenkaͤſtchen recht
geſchwind in das Koth hineinzufuͤhren, wo ſie hin-
eingehoͤren, und wo ſie fruͤher oder ſpaͤter, auch
ohne daß man ihnen helfen wuͤrde, hineinkommen
muͤſſen.
Von dieſem Augenblick an waren alle ihre
Sinnen auf dieſen Zweck gerichtet.
§. 6.
Das Herz giebt allem, was der Menſch
ſieht und hoͤrt, und weißt, die Farbe.
Ihr Jaͤger kannte den Lieutenant, und hatte
ihr, ſo bald er gemerkt, wie ſie es mit ihm habe,
ſchon laͤngſt erzaͤhlt, daß er nichts mehr und nichts
weniger ſey als ein armer Schlukker, der ſich viele
Jahre lang in dieſen Gegenden auf den Schloͤſſern
B 3
[22] herum gebettelt, und reichen und armen Junkern
fuͤr das liebe Brod Land ausgemeſſen; er ſey aber,
nach ſeiner Erzaͤhlung, woruͤber angetroffen, hochmuͤ-
thig, und ſo verachtet worden, daß die Dienſte in den
Schloͤſſern die Bauern und das junge Volk allenthal-
ben gegen ihn aufgehezt, ſo daß ſie ihm hinter allen
Hecken nachgerufen: „Joggeli willt Geld? und Jog-
geli haſt Geld?„ Dieſen Jaͤger rief ſie auf ihr Zim-
mer, und ſagte ihm, er muͤſſe ihr des Joggeli willt
Geld? und die Ungeziefer Hiſtorie unter die Bauern
von Bonnal bringen, und wenn es auch ſchon etli-
che Maaß Wein koſte, ſuchen aufzutreiben, was
die Leute in dieſer Gegend uͤber dieſe drey Herren
und ihre ſchoͤne neue Ordnung alles ſagen.
Er thats wie ein Held. — Vor Uebermorgen
wußten alle Kinder in Bonnal das Joggeli, willt
Geld? und die Ungeziefer Luͤge wie auswendig. —
Und der Sylvia bracht er ab dem Riedt heim, es ſey
eine Lumpen-Maurersfrau, die, wie man glaube,
dem Junker gar wohl gefalle, an allem Schuld;
ſie habe dem Lieutenant die neue Schulordnung und
das Spinnen und Lernen mit einander angegeben,
und ihm im Anfang in der Schul ſelber zeigen
muͤſſen wie ſie es mache. — Die Kinder lernen zwar
mehr; aber ſie werden geizig und hochmuͤthig, und
verachten die Aeltern, und meynen es wiſſe Nie-
mand nichts als ſie. Und dann — der Junker ha-
[23]
be freylich einen Vogt abgeſezt, der ein Schelm ge-
weſen, aber dafuͤr einen gemacht, der ein Narr
ſey, und im Grund habe es das Dorf nicht beſſer,
es gehe unter Narren immer noch ſchlimmer als
unter Schelmen, und man thue izt im Geheim,
was man zuvor oͤffentlich gethan. — Und dann —
Der Pfarrer achte den Gottesdienſt nichts,
predige wann er wolle, und wann er nicht wolle,
ſo laſſe er es bleiben, und wann es ihn ankomme,
ſo laufe er mit ſeinen Leuten wie mit einer Heer-
de Schaafe zur Kirche hinaus, und im Dorf herum.
Vom Teufel ſey keine Rede mehr und uͤber
die Geſpenſter treiben ſie ihr Muthwillen ſo weit,
daß ſie es nicht achten, wenn ſchon das halbe
Dorf dabey koͤnnte ungluͤcklich werden. Sein Kut-
ſcher habe vor wenig Wochen beynahe den halben
Kirchgang im Eybach erſaͤuft, er habe zu Nacht
um 12 Uhr, da die guten Leute auch mit einem
Glas voll Wein im Kopf vom Markt heimgekom-
men, mit ſeinen großen Kutſchenlichtern aus Muth-
wille mitten in der Straße ſtill gehalten, und die
armen Leute erſchreckt, daß alle miteinander in den
Bach gefallen, und wenn er groß geweſen waͤre,
wie er zu Zeiten ſey, gewiß ihrer etliche haͤtten er-
trinken koͤnnen.
B 4
[24]
Wann Buben Voͤgel fangen, haben ſie kei-
ne groͤßere Freude, als Sylvia, wann der Jaͤger
ſolche Nachrichten heimbrachte. — Das iſt Waare
— fuͤr den Dickhals — ſagte ſie bey ſich ſelbſt, ich
koͤnnte keine beſſere wuͤnſchen, und plagte dann noch
den guten Onkle damit, daß ſie ihm alles erzaͤhlte,
und noch mehr ihm als der Jaͤger ihr ſelbſt prophe-
zeyte, mit der ganzen Behaglichkeit eines den gu-
ten Mann druͤckenden Wohlgefallens, wie des Vet-
ters großer Ruhm ſich gewiß mit einer luſtigen Hof-
komoͤdie endigen werde!
Es machte dem armen Alten ſo angſt, und je
mehr es ihm angſt machte, je mehr glaubte er es;
und je mehr er es glaubte, je mehr kam die boͤſe
Laune wieder in ihn hinein: der Vetter koͤnnte auch
anderſt ſeyn — wenn es dennoch nichts nuͤtze, ſo
ſey es doch widrig, daß er auch nicht ſey wie an-
dere Leute, und wie ſeines gleichen.
Auf dieſem Wege ward er wieder unzufrieden,
wenn nur ein Bauer kam; und wenn einer kam,
zeigte ihn ihm Sylvia ſchon von Weitem, und machte
gemeiniglich dabey noch die Anmerkung, es kommt
wieder jemand fuͤr ihn, er wird euch izt wohl ſte-
hen laſſen.
Das begegnete alle Tage, und alle Tage ward
der Alte daruͤber empfindlicher, und das um ſo
[25] mehr, da er izt zu Arner nichts mehr daruͤber
ſagte. Sylvia ſah es, und ſagte dieſer Tage zur
Aglee, es kochet in ihm, wie ich es gern ſehe!
Sie hatte recht, es kochte wirklich in ihm,
und uͤberſott bald wie ſie es gerne ſah.
§. 7.
Ein Mann, ein Weib, ein Hund, und
ein Kind.
Der Tag war heiß, ſie hatten Fremde, und er
hatte mehr als gewohnt getrunken. Er erkuͤhlete
ſich nach der Mahlzeit auf der Terraſſe. Da zeigte
ihm Sylvia wieder einen Bauern am Thor, und
wieder mit den Worten: Er wird uns izt bald wie-
der laſſen, da er jemand fuͤr ihn hat.
Das Feuer war im Dach, er rief dem Bauern
hinunter, er ſolle ſich packen, ſo lieb ihm Gott ſey.
Aber der Michel am Thor dachte, der Wein
redt aus dem Herrn — ich muß meinen Brief ab-
legen, gieng nur ein wenig beyſeits und nicht fort.
Da ſehet ihr, ſagte Sylvia, es weißt ein jeder
Bauer, was ihr hier zu befehlen habt, und reizte
ihn mit allem Fleiß ſo fort, bis er endlich dem Jaͤ-
[26] ger rief, er ſoll den Kerl da unten mit den Hun-
den wegjagen.
Er hatte es kaum geſagt, ſo rief man ihm
wieder in die Stube an ſein Spiel — und der Jaͤ-
ger hatte Hund und Mann jeden an ſeinem Ort
gelaſſen — aber Sylvia winkte ihm, er ſolle ihn
hetzen.
Der Karl ſah ihn zur Scheuer hinabſpringen
und die Hunde abloͤſen. Was will das geben?
dachte er bey ſich ſelber. Aber als er ſie hetzte,
dacht' er nicht mehr — er lief ihnen, was er ver-
mochte nach, rief ſie zuruͤck, faßte den Sultan
der ihm folgte, am Halsband, und lief ſo den
Hund mit an der Hand dem andern nach, und rief
immer, Tuͤrk, Tuͤrk, hier, hier, aber er kame nicht.
Sylvia ſahe dem Spiel wie eine Komoͤdie von
der Terraſſe hinab zu, und rief ihm von da hinun-
ter, du Narrenbub! er wird ihn nicht freſſen.
Es iſt wahr, er haͤtte ihn nicht gefreſſen, er
haͤtte ihn nicht einmal gebiſſen, wenn er ſeine Ord-
nung verſtanden haͤtte. Der Schloßhund war ge-
wohnt, den armen Leuten, gegen die man ihn hetzte,
nichts zu thun als ihnen ein Stuͤck, aber nicht gar
ein kleines von ihren Fetzenkleidern vom Leibe zu
reißen, wenn er dann aber das hatte, ſetzte er ſich
nieder, nahm es zwiſchen die Tatzen ins Maul,
[27] und ſpielte damit, aͤhnlich wie ein Menſch, der
Freude daran hat, wenn er einen armen gekraͤnkten
Menſchen voll Furcht, er ſey von ihm gebiſſen,
von ihm weglaufen ſiehet.
Das war des Hunds ſeine Ordnung, aber
wie geſagt, der Michel verſtund ſie nicht, und
ſtellte ſich, ſo bald er ihn gegen ſich anſpringen ſahe,
mit dem Ruͤcken gegen die Mauer, ſagte ganz laut,
iſt es ſo gemeynt? Empfieng ihn da mit ſeinem
Knorrenſtock, wie ein Mann, der auch ſchon Hunde
geſehen, und nicht vor einem jeden flieht. Der
Hund dieſes Empfangs ſo ungewohnt als der Mi-
chel des Angrifs, vergaß ob dem Streich ſeine Er-
ziehungsregeln vollends, und packte ſeinen Mann
wie ein ganz natuͤrlicher und ohne Kunſt gezogener
Hund mit der vollen Kraft ſeiner Zaͤhne am Schen-
kel; aber dieſer ſtaͤrker als der Hund, ſchwenkte
ihm den Schenkel aus der Schnorren, und ſchlug
ihm den zweyten Streich ſo hart auf die Rippen,
daß er heulend zuruͤck wich, und auf dem Bauch
kroch.
Du verfluchter Bube, wart! wenn der Hund
drauf geht, rief ihm Sylvia von der Terraſſe hin-
unter, und er, der vor Schmerz und Wuth nur
den Hund im Kopf hatte, und in dieſem Augen-
blick noch nicht im Stand war einen genugſamen
Unterſchied zwiſchen ihr und ihm zu machen, rief
[28] ihr hinauf, und wenn ich darauf gehe, ſo wart
denn Du! —
Schweig doch, ſchweig doch, und gieb ihr kei-
ne Antwort! du ſieheſt ja wohl wer es iſt, ſagte
der Karl, der izt mit ſeinem Sultan neben ihm ſtand.
Biſt du es Bub? ja komm doch, komm doch,
ſagte das Kind, und zog ihn am Rocke fort.
Der Michel mußte izt weinen ob der Guͤte des
Buben, an deſſen Hand er izt fortgieng.
Er verdiente die Thraͤnen des Mannes. Er
entſchuldigte ſeinen Vater, und ſagte zu ihm, er ſey
gewiß nicht Schuld, und werde ihm gewiß helfen. —
Ich weiß es wohl, daß dein Papa nicht Schuld
iſt, und wenn ich auch ſterben muͤßte, er waͤre mir
gleich lieb, ſagte Michel.
Aber du ſtirbſt doch nicht? Gelt! du ſtirbſt
doch nicht? Es war ihm angſt, er ſah ihm das
Blut uͤber ſein Bein herabfließen.
Wie der Donquiſchotte Bub das Haͤndchen dem
Mann giebt! den ſein Onkle mit den Hunden fort-
jagen laſſen, ſagte Sylvia auf ihrer Mauer zu Ag-
lee — und war das erſte Wort, das ſie redte, ſeit
dem er ihr, „und wenn ich drauf gehe, ſo mußt
"denn du warten!„ hinaufgerufen. Sie ſchaͤm-
[29] te *) ſich ob dieſem Wort vor Aglee, that derglei-
chen, wie wenn ſie ihn nicht verſtanden — aber
doch redte ſie bis izt nichts. —
Es iſt gleich viel, erwiederte dieſe. Der Mann
hat ſich doch beſſer gehalten als der Hund.
Es iſt wahr, ſagte Sylvia, die Beſtie hat kein
Herz, ich habe es geſehen, ſie hat ihr ſchon ge-
fuͤrchtet, eh' er ihr den erſten Streich gab. Dann
gieng auch ſie in die Stube, ſagte dem Onkle ins
Ohr, ſie glaube, der Hund habe dem Kerl zu Ader
gelaſſen, aber nur ein wenig am Bein, und es ma-
che nichts. Dieſer gaͤhnte eben als ſie es ſagte,
und hoͤrte es kaum. — Aber der Michel blutete
immer ſtaͤrker, und unten am Vorreyn wollte ihm
ohnmaͤchtig werden, er merkte es und ſchickte den
Karl fort, dem Klaus zu ſagen, er ſoll zu ihm
hinunter kommen, und das geſchwind. —
Du biſt izt hier ſicher, und es thut dir hier ge-
wiß Niemand nichts, ſagte der Knabe, und dann
[30] im Fortſpringen einsmal uͤber das andere zu ſich
ſelber, die Hundsleute, die Hundsleute! das iſt
Zwingherrn Arbeit, wie auf der Tapete.
§ 8.
Die Weisheit der Alten, und das Maul
der Neuen.
Er meynte die Tapete im alten Ritterſaal, die der
gute Ahnherr, von dem alle Dorffreyheiten herſtam-
men, ſeinen Kindern und Kindskindern und auch
den Rittern, ſeinen Nachbarn zur Lehre und zum
Exempel, mit den groͤſten Fehlern und den beſten
Tugenden der Ritterleuten hat bemahlen laſſen.
Es ſind 12 ſolche Tapeten, und auf einer jeden
Tafel ein ſogeheißener Ritterſtreich; dann oben an
dem Ritterſtreich diejenige chriſtliche Tugend, die
dieſem Ritterſtreich entgegen iſt, abgemahlt. Vor-
nen an der erſten Tafel iſt auf einer Fahne, die Blut
roth iſt, mit großen Buchſtaben das Wort Heiden
Ritter, und oben vornen an den Tugenden auf
einem weißen Schild das Wort chriſtlicher
Adel.
Die ſchoͤnſte unter den 12 Tafeln, oder ein-
mal die, woruͤber der Karl am meiſten gelacht,
ſtellt einen ſolchen Heiden Ritter vor, mit einem gro-
[31] ßen Hut, einer Kette darum, und einer weißen
Feder darauf, juſt wie man izt auf allen Pettſchaf-
ten ſieht, und wie ich glaube, Freyheits-Hut
heißt. Dieſer Heiden Ritter laͤßt auf der Tafel einen
Bauern, der ihm Wild geſchoſſen, auf einen großen
Hirſchen ſchmieden; aber hinter ihm iſt dann der
Teufel abgemahlt, wie er ſeine ſchwarzen Klauen
gegen eine weiße Freyheitsfeder, und gegen ſeinen
Hals ausſtreckt, und wie ihm die Worte „Laß ihn
"nur reiten, du mußt dann auch reiten„ — zum
ſchwarzen Maul hinausfallen. — Die Buchſtaben
ſind alle roth, und eng an einander, ſo daß es iſt,
wie wenn er die Worte zum Maul aus blutete.
Auch iſt von dieſen rothen Buchſtaben im Schloſſe
das Spruͤchwort entſtanden, daß man wohl 300
Jahr in dem Hauſe allen unmenſchlichen und harten
Worten, und allen dergleichen Ritterſtreichen kei-
nen andern Namen gegeben, als Teufels Blut.
So bald der Karl den Klaus gefunden und
fortgeſchickt, gieng er wie er war, die Haare uͤber
die Stirne, und mit Blut am Kleid und an den
Haͤnden, in die Stube, wo man ſpielte, und draͤng-
te ſich zwiſchen Herren und Frauen, die er nicht ſah,
hindurch zum Papa ihm zu ſagen, was begegnet ſey.
Thereſe ſah, daß es etwas unrichtiges ſeyn muͤſſe,
und ſtund von ihrem Tiſch auf. Sylvia hinge-
gen blieb ſitzen, und rief mit den Karten in der
[32] Hand gegen ſie uͤber, „ſie bitte den jungen Herrn,
"daß er nicht ſo viel Weſens mache, ſie habe allem
"zugeſehen, der Kerl ſey friſch und geſund vom
"Schloß weggegangen, und alſo koͤnne ihm nicht
"viel fehlen, uͤbrigens ſey er an allem ſelber
"Schuld, und habe es ſo wollen. —„
Arner fiel ihr in die Rede, und ſagte, und er
bitte ſie, dem Kind zu erlauben, ſeinem Vater zu
erzaͤhlen, was begegnet.
Alles ward aufmerkſam, man legte an allen
Tiſchen das Spiel ab — alles ſtund auf, und um
ihn her, und Sylvia ſah izt aus, wie wenn ſie eine
gute natuͤrliche Farbe haͤtte, als er wieder anfieng.
„Eben ſie iſt Schuld — und ſonſt kein Menſch!„
Aber in dieſem Augenblick kam die Haushaͤlterin
außer Athem in das Zimmer und ſagte — der
Mann liegt todt auf dem Vorreyn! — Mit dem
Wort war Arner aus dem Saale und die Treppe
hinunter. — Er riß mit ſeinem Sporn das Tafel-
tuch nach, und Porzellain, und Glas, und Silber,
was darauf war, lag am Boden. — Er ſah nicht
zuruͤck, auch Thereſe, die ihm folgte, ſah nicht
zuruͤck. —
Sylvia war ob dem Wort todt betroffen —
aber ſie konnte ſich doch nicht enthalten auch izt noch
zu ſagen — das iſt eein Ordnung —!
[33]
§. 9.
Was mich zum Schweigen bringt.
Was red' ich von ihr! — Er iſt nicht todt —
er lag nur in Ohnmacht. — Thereſe ſizt izt unter
freyem Himmel in ihrer Seide auf einem Stein am
Weg, unter dem Baume, an dem er liegt; ſie nimmt
ſeinen Kopf vom Boden auf ihren Schoos, reibt
ihm Stirn und Schlaͤfe mit riechendem Waſſer,
haͤlt ihm die Flaſche an die Naſe. —
Wie einer Mutter ihr Herz klopft, deren Kind
ohnmaͤchtig auf ihrem Schoos liegt, bis es wieder
erwacht, ſo klopfte ihr Herz, bis er wieder erwa-
chete. —
Und wie einer Mutter Thraͤnen uͤber die Backen
laufen, wann es wieder die Augen oͤfnet —
Er oͤfnet ſie wieder — ſie ſiehts — Freuden-
thraͤnen fallen auf ihre Wangen. — Er weiß nicht,
wo er iſt — ſieht zuerſt hinauf gegen den hellen
Himmel — dann an den Baum, unter dem er
liegt — Er ſieht ſie, und eine Freudenthraͤne uͤber
ſein Erwachen faͤllt auf ſein Angeſicht. —
Ich muß ſchweigen — meine todte Feder hat
nun am wenigſten Kraft, wo ich am meiſten empfinde.
C
[34]
Koͤnnt', koͤnnt ich dieſes Erwachen mahlen,
daß es lebendig waͤre und redte! ich wuͤrde Men-
ſchen, Menſchen regieren lernen — aber ich kann
es nicht — ich kann dieſes Erwachen nicht mahlen
— daß es lebendig wuͤrde und redte.
Leſer! denk dir dieſes Erwachen, und mahl' es
aus bey dir ſelber — ich aber will ſchweigen —
dir dieſes Bild nicht zu verderben. —
Edler! biſt du fertig? — Soll ich wieder
reden? —
Als die erſte Empfindung uͤber dieſes Erwachen
voruͤber war, ſagte er, er habe dem Karl das Leben
zu danken! — und er waͤre beyder Hunden zugleich
nicht Meiſter geworden.
Ja — wenn ich nur den andern auch haͤtte
zuruͤckbringen koͤnnen! erwiederte Karl, aber der
garſtige Tuͤrk hat mir nicht folgen wollen. —
Du haſt genug gethan — mehr als genug!
ſagte der Mann, und erzaͤhlte dann, wie der gute
Knab ihn ſo ſorgfaͤltig weggefuͤhrt, auch wie er ſei-
nen Papa entſchuldiget und geſagt, er ſey gewiß
nicht Schuld — und alle Woͤrtchen, die er zu ihm
geſagt hatte.
Arner und Thereſe freueten ſich herzlich, und
ſagten ihm: Wehre dich deiner Lebtag ſo brav fuͤr
deine Leute, wann ihnen jemand etwas thun will! —
[35]
Ja! ſagte Karl, aber wann dergleichen Leute,
wie die ſind, zu mir kommen, und ich groß und
Meiſter bin, ſo ſchicke ich ſie fort. — Und einen
Augenblick darnach ſagte er, nicht wahr, Papa!
wenn ſie fort ſind, ſo iſt dann ihren Huͤnden ſchon
gewehrt? —
Dieſes Wort freute den Michel ſo, daß er
ſagte, er wollte nicht um den Biß, ſo weh er ihm
thue, daß er das nicht gehoͤrt haͤtte. —
Sie ließen ihn, da er verbunden und vollends
beſorgt war, in ihrem Tragſeſſel uͤber den Berg
heim bringen. Er wollte zwar nicht in das ſchoͤne
Haus hinein, und ſagte, wenn er auch noch ſo ſehr
Sorg haben wuͤrde, ſo koͤnnte er doch etwas daran
verderben.
Es iſt nichts daran gelegen, wenn du ſchon
etwas verderbſt, wir ſind dir mehr ſchuldig als das,
erwiederte Arner — und half ihm denn noch ſelbſt
hinein. —
[39[36]]
§. 10.
Glaubet mir, ein ſolcher Mann iſt brauch-
bar — aber glaubet mir auch, es kann
ihn nicht jeder brauchen.
Der Michel dachte nur erſt an den Brief, den er
bey ſich hatte — er war voll Blut — und lautete
alſo. —
„Es ſtuͤrmt alles uͤber den guten Mann los, den
Sie mir geſandt haben, ſie verfolgen ihn in unſerm
Thal nicht weniger als an Ihrem Tiſch. Ihr Jaͤ-
ger kommt izt alle Tage in unſere Bahn, und ſtreut
Sachen aus, die ihn auf den Tod kraͤnken muͤßten,
wenn ihn etwas kraͤnken koͤnnte. Er ſagt nichts
geringers von ihm, als er ſey ein Landſtreicher —
und ſey noch aus allen Schloͤſſern, wo er ihn ange-
troffen, weggejagt worden, wie aus dieſem — und
man habe ihm allenthalben hinter allen Hecken
„Joggeli willt Geld? und Joggeli haſt Geld?“ und
dergleichen Bosheiten nachgerufen, und auch in
Ihrem Schloß habe er ſicher fuͤr ſeiner Lebtage aus-
geeſſen. — — Ich mag nicht fortfahren — —
Alle Kinder im Dorf reden davon, und er weiß
[37] alles, aber es wagt es doch kein Menſch, wie es
ſonſt unter den Bauern der Gebrauch iſt, mit ihm
davon zu reden.
Sie haben, wie Sie wiſſen, an nichts anderm
eine ſolche Freude, als wenn ſie in dergleichen Faͤllen
jemanden mit dem Heuchler Ton von Mitleiden
und Theilnehmung kraͤnken koͤnnen — aber ihn
laſſen ſie gehen. Es hat es ein einziger gewagt —
der Naͤggelſpitz — ein Kerl, von dem Freund und
Feind ſagen: wenn er etwas im Mund habe, koͤnne
er nicht ſchweigen, auch wenn der Henker mit dem
Schwert vor ihm ſtuͤnde — aber der Lieutenant hat
nur die Augen etwas mehr als gewohnt gegen ihn
aufgethan, auch den Kopf etwas mehr als gewohnt
ob ſich und gegen ihn gerichtet. Das Wort iſt
dem armen Niggel, wie geſagt, vor meinen Augen
im Maul ſtocken geblieben.
So viel Gewalt hat er uͤber die Leute, und
ihm macht es nichts, aber hingegen iſt es doch fatal
fuͤr unſere Ordnung, und kann uns ſehr ſchaden.
Alles Gute iſt noch Nagelneu, der alte Sauerteig
noch nichts weniger als todt, man braucht nur
Waſſer dazu zu ſchuͤtten, ſo geht er in allen Ecken
wieder auf. —
Ich ſpuͤre alle Tage mehr, daß noch viele Leute,
und dieſe noch von den erſten im Dorf ſind, die
C 3
[38] darnach hungern und duͤrſten, etwas Widriges gegen
unſere Ordnung auszuſpuͤren, und bey ſo neuen
noch unreifen Einrichtungen iſt man nie ſicher, wie
weit auch die kleinſten Umſtaͤnde, die widrig ſind,
langen moͤgen. Aber ich bin vielleicht zu aͤngſtlich,
und will von dieſem ſchweigen, um mit Ihnen
noch von ihm zu ſchwatzen. —
Ich glaubte laͤngſt, daß ich ihn kenne, aber ich
bin bey weitem noch nicht da. Man ſollte glauben,
ſeine Schul ſey ihm alles, aber ſie iſt ihm nichts.
Junker! dieſe Schule, aus der er alles macht, ſie iſt
ihm ſicher nichts, er macht ſie ohne Maaß zu gut,
als daß ſie ihm etwas ſeyn koͤnnte. Ich weiß es,
wann ſie gemacht iſt, er wirft ſie weg wie einen
Ball, mit dem er einen Wurf that, blos um zu
zeigen, wie leicht er darmit ſpiele. Die Richtung
ſeines Geiſtes, mit der er bey jedem Wort, und bey
jeder Handlung die Beduͤrfniſſe des Menſchenge-
ſchlechts umfaßt, laßt ihm keine Ruhe, weder Tag
noch Nacht; — er muß — er kann nicht anderſt
als die groͤſten Endzwecke haben — deſſen bin ich
ſicher. Ich hoͤrte ihn einmal in der Stube, da er
ſich in ſeinem Ecken allein glaubte, und mit ſich
ſelber redte, beſtimmt die Worte ſagen, ich will ih-
nen zeigen wer ich bin: und eine Weile darauf,
wenn die Staffeln an der Leiter gluͤhend waͤren,
ſo muß es ſeyn! — Sie wiſſen die Worte von den
Staffeln an der Leiter in des Grafen Brief? —
[39]
Sein Selbſtgefuͤhl hat keine Graͤnzen. Er haßt
den Faden, der ihn an das Menſchengeſchlecht bin-
det, und im Grund iſt kein Fuͤrſt ſo ſtolz als er. —
Er ſagte bey einem Anlaß, wann einer unter zehen
Tauſenden allein ſteht, ſo merken die neun Tauſend
neun hundert und neun und neunzig nichts weniger
als daß er nicht mit ihnen Heu frißt. —
Ich durfte ihn nicht fragen, aber ich hatte es
auf der Zunge, ob er mit dieſer Zeile die Geſchichte
und die Leiden ſeines Lebens entworfen? —
Bey allem dem iſt er gut wie ein Kind, und
ich kann Ihnen nicht ſagen, wie wehe es ihm that,
daß Gertrud um ſeinetwillen ihr Liſeli in der Schule
abgeſtraft. Die Schwaͤtzerin ſagte unter der Schul-
thuͤre zu dem Knaben, dem er das Leztemal die
Haare abgeſchnitten: Du! — es ſind gewiß von
deinen Thierchen geweſen, um derenwillen der Hr.
Lieutenant hat aus dem Schloß muͤſſen! Gertrud
brachte es mit der Ruthe ſelber in die Schule, und
hatte daſſelbe ſo hart abgeſtraft, als ich es nicht von
ihr erwartet, und als gewiß keine Frau im Dorf
es gethan haͤtte. Ich mußte den Lieutenant unter
einem Vorwand ins Pfarrhaus nehmen, ſonſt haͤtte
er es nicht zugelaſſen. — Ich muß enden. Ich
ſchwatze, wie wenn wir einander nie mehr ſehen
wuͤrden, und wie wenn Sie ſonſt nichts zu thun
haͤtten. Leben Sie wohl! Ich kann nicht ſatt
C 4
[40] werden Ihnen, edler, lieber Junker, Vater zu ſa-
gen. Gott ſegne Sie und Ihren Sie verehrenden
Pfarrer Ernſt.
§. 11.
Der Suͤnde Sold iſt wohl der Tod;
aber der Sichelmann nimmt immer
den eigentlichen Suͤnder.
Es war zu viel fuͤr heute! Er zitterte ob dem An-
fang des Briefs, und konnte ihn nicht fortleſen. —
Der Schreck ob dem Michel hatte ihn erſchuͤttert,
und der Verdruß daruͤber empoͤrt — Er war noch
wie im Jaſt, und izt uͤbernahmen ihn die Bos-
heiten mit den Bauern in Bonnal, die ihm ganz
neu waren, daß er zitterte und den Brief nicht fort-
leſen konnte; es war ihm, wie wenn ſein Herz
zerſpringen wollte. —
Thereſe, die in der dunkeln Stube des Bauern
am Vorreyn, und ob der Angſt und der Arbeit mit
dem Michel keine Veraͤnderung an Arner bemerkte,
ſahe erſt izt, wie blaß und entſtellt Er ausſah, und
ſagte, was iſt es doch wieder? — Jeſus! du ſieheſt
elender aus als der Michel! Er hatte den Brief in
[41] ſeiner ſinkenden Hand, und konnte ihn ihr faſt nicht
geben. —
Haͤtt' mich, haͤtt' mich, erwiederte Er, —
und ſeine Augen ſtarrten — haͤtt' mich nur ein
Hund gebiſſen, aber es nagt ein ſchlimmers Thier
an meinem Herzen. —
So ein Wort hatte Arner in ſeinem Leben
nicht geredt; auch erſchrack Thereſe mehr darob,
als ſie ob einem Donnerſchlag, die ſie doch fuͤrch-
tete, erſchrocken waͤre. Sie ſah, daß Er aufs
Aeußerſte getrieben, und dem Ausbruch einer Krank-
heit nahe ſey, und ſtammelte mehr, als ſie ſagte:
„Geh doch ins Bett, wann du heimkommſt, du
biſt krank —!„
Immer noch ſo innig herzgut, ſagte Er, ſie
wuͤrden dann meynen, es waͤre eine Schalkheit um
des Hunds willen. —
Da ſie gegen die Linde kamen, ſtund Sylvia
vor ihren Augen von der Bank auf und gieng fort.
Das that Arnern von neuem weh. — Da Er auf
ſein Zimmer kam, legte er ſeinen Kopf auf ſein Pult
ab. Alles, was heute begegnet war, ſtund ihm wie
ein Gemaͤhlde vor ſeinen Augen — und Sylvia
war der Anfang und das Ende von allem, was ihm
vor Augen ſtund, ſein Blut wallte, und ſein In-
nerſtes empoͤrte ſich immer ſtaͤrker, je mehr er ſie
vor Augen ſah. Es uͤberfiel ihn ein Froſt, daß
[42] Stuhl und Tiſch mit ihm zitterten — dann rollten
ſeine Augen — ſeine Fauſt ballete ſich — er ſtampfte
mit dem Fuße, und ſagte einmal uͤber das andere,
was habe ich dem Thier, was habe ich dem ver-
fluchten Thier auch gethan, daß ſie es mir ſo
macht? —
Thereſe hoͤrte das Zittern des Pults, und dann
das Stampfen ſeines Fußes, ſprang hinauf, und
verſtand noch vor der Thuͤre die Worte, „was habe
ich dem Thier, dem verfluchten Thier auch ge-
than? —„
Da Er ſie ſah, wollte er ruhiger ſcheinen, aber
er zitterte noch und konnte nicht reden; — Sie eben
ſo wenig — Sie ſaß mit ſtummer Beklemmung
neben ihn ab, und er legte ſein Todtengeſicht auf
den Schooß, auf dem ſo eben der Michel gelegen
— Sein Athem war laut, und das Fieber ſicht-
bar — aber er redte nicht, und lag ſo bis man zum
Eſſen klingelte, auch da noch wollte er herabkom-
men, damit ſie nicht zoͤrneten, aber Er ſank in den
Stuhl zuruͤck, von dem er aufſtehen wollte, und
mußte ins Bett. —
Sylvia machte bey dem Tiſche boͤſe Anmer-
kungen, daß man ſie allein laſſe, und Thereſe eilte
bey ihrem kranken Manne, daß ſie ſie nicht lang
allein laſſen muͤſſe.
[43]
Aber Arner hatte eine ſchlimme Nacht. Froſt
und Hitze wechſelten miteinander ab, und die Em-
poͤrung ſeines Innerſten erhoͤhte das Wallen ſeines
Bluts und ſeines Fiebers. — Sein Karl hoͤrte ihn
zweymal nacheinander halb laut, daß es Thereſe
nicht verſtund, bey ſich ſelber ſagen — ſie bringen
mich noch ins Grab — ſie bringen mich noch ins
Grab. —
Das gute Kind huͤllte ſich tief in ſeine Decke,
damit der Papa und die Mama ſein Schluchzen
nicht hoͤrten. —
§. 12.
Knechten Groͤße iſt auch Menſchen Groͤße.
So bald der Wein verraucht war, konnte der Ge-
neral auch nicht mehr ſchlafen. Der Mann, den
der Hund gebiſſen, gieng ihm im Kopf herum. Es
war ihm wie ein Traum, — er ſey todt, dann war
ihm wider, nein, er ſey nicht todt! — dann ſtaunte
er nach, wie es auch gekommen, daß er ihn mit
den Hunden gehezt — glaubte halb, Sylvia ſey
daran Schuld — dachte dann wieder, nein, er
koͤnnte ihr unrecht thun, der Wein thue viel im
Menſchen, das er nicht wiſſe — dann duͤnkte ihn
wieder — ſie ſey doch neben ihm geſtanden, und
[44] haͤtte ihn koͤnnen abhalten — Dann wars ihm
auch, er habe nur keinen Hund geſehen, und doch
das in ſeinem Leben nie gethan, und auch der Jaͤ-
ger haͤtte es nicht thun ſollen, wenn er es ihn auch
geheißen haͤtte. —
So wirbelten ihm in ſeiner Schlafloſigkeit Ge-
danken von Angſt und Gutmuͤthigkeit durcheinan-
der, und das erſte und letzte dieſer Gedanken war
immer, wenn der Mann nur nicht todt iſt! —
Daß Arner krank ſey, dachte er nur nicht —
aber da er ſeine Thuͤre einmal uͤber das andere auf-
und zugehen hoͤrte, wunderte es ihn was es ſey!
Und da er den Klaus, der die Treppe hinauf- und
hinabgieng, an ſeinem Schritte erkannte, ſtund
er auf, gieng unter die Thuͤre, und fragte ihn, ob
es etwas Unrichtiges ſey? — Der Knecht antwor-
tete ihm, der Junker ſey gar nicht wohl; und erſt da
kam ihm wieder in den Sinn, Er ſey ſchon geſtern
nicht bey dem Nachteſſen geweſen. Aber das erſte
Wort, das er daruͤber ſagte, war, iſt es auch vom
Hund her? —
Ich weiß nicht, es wird alles zuſammenge-
ſchlagen haben, der Hund und die Leute, erwie-
derte der Klaus. —
Jeſus! iſt es uͤbel? ſagte der General — und
in gleichem Augenblicke — eh der Knecht hierauf
[45] antworten konnte — ſage mir doch, iſt der Mann
todt, der gebiſſen worden? —
Klaus. Nein, er iſt nicht todt, aber er haͤtte
es koͤnnen werden — und mit dem Junker iſt es gar
nicht gut.
General. Komme doch eine Viertelſtunde
zu mir hinein, du muſt mir erzaͤhlen, wie es mit
dem Hund zugegangen? ſagte er zum Klaus. —
Dieſer aber mußte hinauf, denn der Junker hatte
entſetzlichen Durſt, und das Waſſer zum Thee ko-
chete eben. Der General wollte mit hinauf, ihn zu
ſehen was er mache, der Klaus aber ſagte ihm, ſie
wurden izt nur ob euch erſchrecken! —
Der General erwiederte, ſo will ich dann da
bleiben, aber ſage ihnen, daß ich habe wollen kom-
men, und ich laſſe ihm gute Beſſerung wuͤnſchen
— und dann, ſezte er hinzu, wann du nichts mehr
oben zu thun haſt, ſo komme doch dann noch zu
mir, und bring mir auch Theewaſſer — ich muß
mit dir reden. —
Es freuete Arner und Thereſe, daß er habe
hinauf kommen wollen; ſie ſagten beyde, waͤre er
doch allein da, es waͤre uns allen ſo wohl bey ein
ander, und machten recht geſchwind mit dem, was
der Klaus bey ihnen zu thun hatte, damit er bald
mit dem Thee zu ihm herab kam, und er nicht
lang auf ihn warten muͤſſe.
[46]
So bald er kam, fragte er ihn wieder, wie es
auch mit dem Hund zugegangen?
Er antwortete ihm gerad heraus, Sylvia ſey
an allem die Schuld, er ſey ſchon ab der Terraſſe
fort und wieder in der Stube geweſen, ehe der Jaͤ-
ger noch zum Thor hinausgegangen, auch waͤre da
gewiß nichts mehr begegnet, wenn Sylvia ihm
nicht gewunken, daß er doch gehe — daß ſie das
gethan, haben von den Dienſten, ſo wohl von den
Fremden, als von denen die im Hauſe, gar viele
geſehen.
General. Es wiſſen alſo viele Leute, daß
ſie ſchuldig iſt?
Klaus. Freylich. —
General. Was haben ſie auch dazu geſagt?
Klaus. Ihr Gnaden koͤnnen ſich wohl ein-
bilden, was gemeine Leute, die bey dergleichen Faͤl-
len denken, es koͤnnte ihnen ein anderer oder eine
andere auch ſo machen, dazu ſagen! —
General. Nein — ſag es mir doch, ich
moͤchte es wiſſen, was ſie darzu geſagt? —
Klaus. In Gottes Namen! ſie ſagten, es
ſey ein gottloſes Stuͤck, und es werde ihr wohl be-
kommen, wenn ſie den Lohn darfuͤr noch auf dieſer
Welt bekomme. — Ihr Gnaden, man redt un-
ter gemeinen Leuten nicht anderſt uͤber dergleichen
[47] Sachen, und ich bitte nicht ungnaͤdig zu nehmen,
Sie haben es befohlen. —
General. Es macht nichts — es macht
nichts — Gottlob! daß der Mann nicht todt iſt. —
Klaus. Ihr Gnaden laſſen dieß das Fraͤu-
lein ſagen „Gottlob! daß er nicht todt iſt„ —
General. Warum das? —
Klaus. Sie waͤre ihres Lebens nicht ſicher,
wenn er todt waͤre. —
General. Meynſt du das?
Klaus. Ganz gewiß. Die Bauern neh-
mens hier nicht ſo leicht auf, wenn man ihrer einen
zu tod hezt. —
General. Wiſſen es die Bauern izt auch
ſchon?
Klaus. Sie haben auf dem ganzen Burg-
feld die Pfluͤg ſtill ſtehen laſſen, und ſind zu Dutzen-
den zugelaufen, man ſage, er liege todt am Reyn.
General. Aber es thut ihr izt doch Niemand
nichts? — weil das nicht iſt. —
Klaus. Ich moͤchte nicht dafuͤr gut ſtehen,
und ihr auch nicht rathen, bis der erſte Sturm vor-
uͤber, gar zu weit vom Schloß allein wegzugehen. —
General. Es waͤre erſchrecklich, wenn ſie
nicht ſicher waͤre.
[48]
Klaus. Es iſt wohl ſo, Ihr Gnaden, aber
man muß auch nicht ſeyn, wie ſie iſt, ſie hat keinen
guten Menſchen.
General. Warum doch auch das?
Klaus. Sie will es nicht anderſt. Sie ſagt
zu keinem Menſchen weder einen guten Tag, noch
gute Nacht, und giebt Niemandem kein gutes Wort,
außert ſie wolle von jemand etwas, dann kann ſie
ſo freundlich ſeyn als keine. —
Der General erwiederte ihm, das wolle doch
izt nichts ſagen, es ſey mit dem Gruͤßen und Behuͤ-
ten ſo eine Gewohnheit, der eine habe ſie, der an-
dere habe ſie nicht.
Aber Klaus ließe ihm nichts daraus gehen, und
ſagte, die gemeine Leute koͤnnen den Unterſchied ge-
wiß ſo gut machen als die andern; ob eine Herr-
ſchaft ſo etwas aus Gewohnheit thue, oder aus boͤ-
ſem Willen, und in der Abſicht zu kraͤnken: und
das thue Sylvia gegen Große und Kleine, gegen die
Herrſchaft, und gegen die Dienſte, und ſo gar ge-
gen unſchuldige Kinder. Wo ſie nur den guten
Karl ſehe, der doch außer ihr allen Menſchen lieb
ſey, koͤnne ſie ſich nicht enthalten, es moͤge um den
Weg ſeyn wer immer wolle, ihn zu verſpotten.
General. Aber thut ſie doch das? —
Klaus. Mein Gott! was fuͤr ein Unmenſch
muͤßte ich auch ſeyn, wenn ich ſo etwas wider je-
mand
[49] mand ſagen koͤnnte, und nicht gewiß wuͤßte, daß es
wahr waͤre! —
General. (Mit einem Seufzer) Nein,
nein: ich glaube nicht, daß das gelogen ſey. —
Klaus. Erlauben Ihr Gnaden, ich muß izt
einmal noch etwas ſagen, das mir auf dem Herzen
liegt; Ihr Gnaden ſind ſo gut, und Sie meynen
es auch mit dem Fraͤulein ſo gut, daß ich nicht
anderſt koͤnnte als es Ihnen klagen; ſie treibt wider
einen Menſchen, der an der Jugend in Bonnal ei-
nen Gotteslohn und mehr thut als, glaube ich, kein
Menſch in der Welt an Bauernkindern gethan hat,
und der darum auch dem Junker ſo lieb wie ein
Bruder iſt, wider dieſen Mann treibt ſie Boshei-
ten, die himmelſchreyend ſind, und braucht den
gleichen Jaͤger dazu, den ſie geſtern zum Hundhe-
tzen gebraucht hat — und ſie bringt den Junker
ins Grab — wenn ſie ſo fortfahrt. —
Der gute Klaus kam nach und nach ins Feuer.
Die Nacht, die Umſtaͤnde, die Guͤte des Genera-
len, und alles brachte ihn dahin, daß er faſt mit
ihm redete, wie mit ſeines Gleichen, aber er brachte
dem alten Herrn ſo viel auf einmal in den Kopf,
daß er ihm Angſt machte; er fieng an zu wuͤnſchen,
daß er doch ſchwiege, und es duͤnkte ihn, es ſey
doch zu viel fuͤr einen Knecht — denn es war zu viel
fuͤr ihn. — Er ſeufzete ein paarmal, dann ſagte
D
[50] er, du wirſt gar eifrig — und ich moͤchte doch izt
bald wieder ſchlafen — damit ſchickte er ihn —
Aber er empfande doch, daß der Kerl ein ſeltenes
Stuͤck von Ehrlichkeit fuͤr einen Knecht ſey, und
daß zwiſchen ihm und allen Dienſten, die er noch
gehabt, ein groͤßerer Unterſchied ſey, als zwiſchen
einem Offizier und einem Gemeinen; auch wollte
er ihm ein Trinkgeld geben, aber Klaus nahm es
nicht, und ſagte, ich werde euch ſonſt immer dar-
fuͤr danken, wenn ihr mir etwas geben wollet, aber
in der Stunde, in der ich etwas boͤſes uͤber jemand
geſagt, waͤre es mir nicht anderſt, als ich wuͤrde
einen Judas-Pfenning fuͤrs Verrathen annehmen
— und ich ſcheue dergleichen Pfenninge. —
Nun, nun, ſagte der General — wenn du es
lieber ein Andermal willt, ſo ſey es, aber fuͤr den
Mann, den mein Hund gebiſſen, muſt du etwas
anders abnehmen, du muſt mir Morgen Brod,
Fleiſch, und Wein fuͤr ihn kaufen, und ſag' ihm
nur, ich wolle ihn nicht vergeſſen, bis er wieder
geſund ſey, und es ſey mir ſo leid als es mir nur
ſeyn kann, daß dieſes begegnet ſey, er ſolle es mir
verzeihen.
Der Klaus ſagte, er kenne den Mann, und
wiſſe, daß dieſe Worte ihm mehr als ein Pflaſter
auf ſeine Wunden wohlthun werden.
[51]
§. 13.
Es giebt eine Seelenſtimmung, die dem
Menſchen zu einem Kropf helfen kann.
So viel Wahrheiten fuͤr einen Knecht, uͤber den
er auch ob keinem Wort zoͤrnen konnte, machten den
alten Mann nachſinnen, bis die Sonne hoch war.
Sylvia fand ihn bey der Schokkolade, die
ſie immer mit ihm trank, gegen ſie ganz veraͤndert,
und Aglee hoͤrte in der Kuͤche, daß er tief in der
Nacht mit dem Klaus geredt. Sylvia zweifelte
nicht, ſie habe dieſe Veraͤnderung, dieſem falſchen,
ſchimmelgrauen Krauskopf zu danken, der unter
ihren Augen, wenn ſie etwas rede oder thue, im
Stand ſey den Kopf zu ſchuͤtteln.
Eine Weile darauf vernahm ſie wieder, er
muͤſſe dem Michel einen ganzen Korb voll Eßwaa-
ren bringen, und ihn im Namen des Generalen
um Verzeihung bitten.
Es iſt gut, daß die Leute von dem Zorn ande-
rer nicht gleich ſterben, ſonſt waͤre der Klaus izt
maustodt, ſo ſehr brachte ſie das Letzte auf; ſie
ſtampfte vor Zorn, und ſagte unter vielem andern,
der Onkle wird in dieſem Bauernneſt ein Narr
wie der Vetter. —
D 2
[52]
Der General aber aͤngſtigte ſich in ſeiner Stube
uͤber den Kranken, und nahm einsmal den Ent-
ſchluß, gieng zu ihr in ihr Zimmer und ſagte, ſie
ſoll ſich in Acht nehmen, der Vetter ſey gar nicht
wohl, und er wolle nicht zwey Ungluͤck, es ſey ge-
nug an einem. — Izt war ſie aufs aͤußerſte ge-
trieben, ſie verlohr alle Maͤßigung, trozte, und
ſagte ihrem Wohlthaͤter, ſie laſſe nicht ſo mit ſich
umgehen.
Du kraͤnkſt Niemand als alle Menſchen, er-
wiedert' er, und gieng fort. —
Sie kehrte ihm den Ruͤcken, noch ehe er hin-
aus war — und er hatte kaum die Thuͤre be-
ſchloſſen, ſo ſagte ſie zu Aglee — ich frag ihm nichts
nach. — Es war wirklich ſo — die Renten, die er
ihr gab, waren izt verſichert — und mir nichts
und dir nichts — ſie frug ihm nichts nach, und
gieng ihm auf dem Fuß nach in Arners Zimmer,
ſpatzierte da hinein wie ein Pfau, oder wie eine
Taͤnzerin, und fragte den guten Kranken vom ge-
ſtreckten Hals herab, mit verbiſſenem Maul — die
Woͤrter geſezt, wie wenn ſie die Buchſtaben zaͤhlte
„Wie befinden Sie ſich Vetter?„ ſchwenkte dann,
ehe er ihr antworten konnte, hinter dem General
vorbey ans Fenſter, und ſah dann auf dem Geſimſe
den blutigen Brief von Bonnal; Thereſe hatte ihn
geſtern dahin gelegt, und vergeſſen ihn ins Pult zu
[53] legen, und Sylvia, die ſich von allen, die am Bett
ſaßen, durch die Vorhaͤnge bedeckt ſah, laſ den
Brief ſo friſch fort, wie wenn er an ſie lautete,
aber er erbaute ſie nicht.
§. 14.
Vom Papier verbrennen, und vom wie-
der zu ſich ſelbſt kommen.
Ein unbeſchreibliches Gemiſch von Empfindungen
durchkreuzte ihr Innerſtes; es war, wie wenn es in
ihrem Kopf hammerte, da ſie ihn laſ, und da ſie
ihn geleſen, mußte ſie ihn wieder leſen. Das Bild
des Lieutenants druͤckte ſie wie Bley, ſie konnte nicht
ſagen, es iſt nicht wahr, ſie ſelber hat ihn gefuͤrch-
tet, wenn er den Kopf etwas mehr als gewohnt hin-
ter ſich gerichtet, und etwas mehr als gewohnt die
Augen aufgethan; deſto mehr empoͤrte das Bild,
und die 9999, die nicht mit ihm Heu freſſen, und die
gluͤhende Stafel an der Leiter Bylifsky — und ihrer
mit keinem Wort gedacht — und ſie doch gemeynt
— und ihr ganzes Abſcheu verrathen, und dann
der Geiſt, der bey jedem Wort, und bey jeder
Handlung die Beduͤrfniſſe des Menſchengeſchlechts
umfaßt — und das Wegwerfen der Schule wie ein
Ball, mit dem er blos einen Wurf thue, nur um
3
[54] zu zeigen, wie leicht er damit ſpiele, und dann der
Pfarrer, der nicht ſatt werden kann dem Vetter,
lieber Junker Vater zu ſagen. — —
Das alles war zu viel — ſie ſteckte den Brief
zu ſich, lief mit fort — laſ' ihn dann wieder —
dann wirft ſie ihn ploͤtzlich in die Glut, die vor ihr
zum Friſieren da ſteht — er iſt izt darinn — izt
will ſie ihn wieder — „es iſt ein Stuͤck vor Helidor
wie ich keines mehr finde„ — ſie will ihn wieder
— ſie greift in die Glut — ſie faßt ihn — er
brennt — ſie kann ihn nicht halten — er fallt ihr
aus den Fingern an den Boden — iſt ganz eine
Flamme — und hin!! — Aber ihre Finger waren
verbrannt, ſie mußte ſie izt oͤlen, und waͤhrend
dem ſie ſie im Glas hielt, wiederholte ſie den Brief
in ihrem Gedaͤchtniß — es machte einen Unterſchied
— das blutige Papier — — Aber das blutige
Papier, die Handſchrift des Pfarrers, den ſie haßte
— ſeine eigenen Worte — ſeine eigenen Buchſtaben
— waren izt Aſche. — So wie ihre Finger im Oel
erkalteten, ſo erkaltete auch der erſte Eindruck uͤber
dieſen Brief. Sie fieng an zu finden, er habe zwo
Seiten, und auch eine fuͤr ſie. —
So bald ſie das fand, ſuchte ſie natuͤrlich nur
dieſe, und wie ſie dieſe fand, verlor ſich der Ein-
druck der andern. — Sie erinnerte ſich deutlich der
Worte „Es ſey noch alles Nagelneu — der alte
[55] Sauerteig ſey noch nichts weniger als todt — es
brauche nur Waſſer daran zu ſchuͤtten, ſo gehe er
wieder in allen Ecken auf — und es ſeyen noch gar
viele Leute, und zwar von den erſten im Dorf die
darnach hungern und duͤrſten, etwas wider die neue
Ordnung auszuſpuͤhren, und bey ſo neuen unreifen
Einrichtungen koͤnne man nie wiſſen, wie weit
die kleinſten Umſtaͤnde, die widrig ſeyen, langen
koͤnnen„ — Dieſe Seite des Briefs machte
ſie izt die andere voͤllig wieder vergeſſen. — Es
duͤnkte ſie izt vollends nichts anders als bloße Groß-
ſprecherey, was vom Lieutenant darinn geſagt ſey,
und alles unvernuͤnftig uͤbertrieben — ſie konnte
auch nicht begreifen, wie ſie, da ſie den Brief noch
in der Hand gehabt, und er noch nicht verbrannt
geweſen, daruͤber ſo habe in die Hitze kommen koͤn-
nen. — ꝛc.
Es macht zwar einen Unterſchied, aber es iſt
doch wunderbar, das gleiche mit dem Papierver-
brennen iſt ſchon Herren und Obrigkeiten, die ſich
gar nicht zu einer ſolchen Jungfer rechnen ließen,
begegnet, daß ſie, wann ſie ganz im Eifer Papier
verbrennt oder verbrennen laſſen, dann auch ſo, faſt
ehe die Aſche davon unter dem Staatshaus recht
kalt geworden, wieder, nicht anderſt als die Jung-
fer mit dem verbrannten Finger, auch zu ſich ſelber
gekommen, und dann auch nicht haben begreifen
koͤnnen, wie ſie uͤber dieſe Papiere, ehe ſie verbrennt
D 4
[56] geweſen, ſo haben koͤnnen — ich darf nicht ſagen
— außer ſich ſelbſt kommen — aber das darf ich
ſagen — Gebe Gott, daß in Zukunft mehr Jung-
fern als Herren ſich ſo die Finger verbrennen, oder
wenn ihr lieber wollt, ſo wieder zu ſich ſelber kom-
men! —
Es freute Sylvia izt, da ſie wieder in ihrem
Gleiſe war, nichts mehr, als daß ſie die Peitſcherey
der Gertrud mit ihrem Kind durch dieſen Brief ver-
nommen.
Das muß ein Weib ſeyn, dachte ſie bey ſich
ſelbſt, wie der Teufel! —
Freudig wie ein Philoſoph, wenn er meynt,
er habe eine neue Wahrheit entdeckt, ſagte ſie izt zu
ſich ſelbſt, das iſt izt das Meiſterweib, wornach ſich
die andern modeln wollen! — und boshaft wie ein
Mauſchel (Jud) der glaubt, er habe einen Chriſten
bald im Garn, und ſchon die Gaͤnge zaͤhlt, die er
noch braucht, bis er mit ihm am Ziel iſt, ſezt ſie
hinzu, es braucht nicht mehr viel, zwo oder drey
ſolcher Hiſtorien, ſo habe ich es im Sack mit ihnen
zu machen was ich nur will, und ihnen Schande
anzuthun ſo viel ſie nur brauchen. —
Das Kind, ſetzte ſie bey ſich ſelber hinzu, das
muß ich ſehen, koſte es was es wolle, und ſtellte ſich
vor, wie ſie ſelbſt in dieſem Alter uͤber ihre Mutter
raſend geworden waͤre, wenn ſie ihr ſo etwas ge-
[57] than! — Sie dachte, das Liſeli muͤſſe izt uͤber
die Gertrud eben ſo raſend ſeyn; und traͤumte ſchon,
was ſie alles aus ihm herausbringen werde, was es
fuͤr eine ſchoͤne Mutter habe, wann ſie es einmal im
Schloß habe. —
So war ſie vollends wieder in ihrer Ordnung,
und eifriger als noch nie, dem Dickhals zu dienen,
und Arners Weſen mit ihren beyden Haͤnden unter
uͤber ſich zu kehren.
Mit dieſem Vorſatz gieng ſie auch nach dem
Eſſen auf die Straße von Bonnal, um heute ein-
mal die Freude zu haben, das ſelbſt zu thun, was
bisher ihr Jaͤger fuͤr ſie verrichtete.
Der General warnete ſie vor dieſem Spatzier-
gang. — Da ſie am Tiſch ſagte, ſie wolle nach dem
Eſſen uͤber Feld, ſo kam dem guten Mann in den
Sinn, daß der Klaus dieſe Nacht zu ihm geſagt
habe, ſie koͤnnte vielleicht nicht ſicher ſeyn, wenn
ſie zu weit von dem Schloß weggienge; es machte
ihm Angſt, er ſagte ihr ſo freundlich als moͤglich,
ſie ſolle doch nicht allein gehen. —
Warum das? war ihre Antwort. Er ſtund
auf, gieng zu ihr hin, und ſagte ihr ins Ohr, es
ſeyen ihr nicht alle Leute wohl, und es koͤnnte ihr
auf den geſtrigen Vorfall leicht Jemand etwas zu
Leid thun.
[58]
Sagt es nur laut, ich weiß wohl, daß mir
hier alles Feind iſt, aber probiere es jemand, und
thue mir etwas, es wird ſich dann zeigen. — Mit
dieſem gieng' ſie zur Thuͤr hinaus, und der Gene-
ral meynte, ſie thue wie gewohnt nur mit dem
Maul ſo groß, und nehme dann doch jemand mit
ſich. Er irrte ſich diesmal, ſie nahm Niemand
mit, und ſagte zur Aglee — „du muſt izt expreß
daheim bleiben!„ und wenn ihm ſchon Angſt
wird, ſo komme mir nicht nach, ſag' ihm nur, ich
hab' es dir verboten. — Ich will ihm es ſo ſa-
gen, erwiederte Aglee, und die andere gieng. —
§. 15.
Der Alte iſt gut, — darum fallen ſeine
Fehler vor den Augen des Kindes weg.
Der Karl wollte nicht zum Tiſch — er ſagte zu
ſeiner Mamma — er wollte lieber Hunger ſterben,
als mehr zum Tiſch kommen, ſo lang die Leute
noch da ſeyen, ſie bringen alles Ungluͤck ins Haus
— und den Papa ins Grab. —
Thereſe wollte es ihm ausreden, und ſagte, er
ſolle izt nicht ſo ſeyn, es werde mit dem Papa wohl
wieder beſſer werden, und der Onkle meyne es
gut mit ihm, und ſey dem Papa lieb.
[59]
Du wirſt dann wohl anderſt reden, wann der
Papa todt iſt, erwiederte der Knab — und ſetzte
hinzu — ſie machen es ihm wie dem Michel. Ich
weiß ſchon, was er geſtern geſagt hat — und warum
es mir alſo iſt.
Was hat er denn geſagt, erwiederte Thereſe?
— und Karl — ich hab' es dir nicht wollen ſa-
gen, aber ich muß es izt doch ſagen. —
Er hat im Bette einmal uͤber das andere ge-
ſagt, — ſie bringen mich ins Grab — ſie bringen
mich noch ins Grab. — Du haſt es nicht gehoͤrt,
du biſt nicht nahe genug bey ihm geweſen, und er
hat es nur ſo halb laut geſagt.
Hat er das geſagt — haſt du das gehoͤrt? —
frug Thereſe mit leiſer Stimme. —
Ja — er hat es gewiß geſagt, antwortete der
Knabe, und ſezte hinzu — ich habe geglaubt, ich
muͤſſe mich zu tod weinen, und die ganze Nacht
konnte ich kein Auge zuſchließen, und meynte im-
mer, ich hoͤre es ihn noch einmal ſagen. —
Izt ſahen ſie einander an. Das Druͤcken der
Wehmuth beſchloß ihre Lippen, machte ihre Augen
naß, und preßte ihren Athem. — So ſahen ſie
ſchweigend einander an, als die Thuͤr aufgieng und
der General vor ihnen ſtund.
Die Thuͤre war vorher ſchon halb offen. —
Er hatte alle Worte gehoͤrt — in ſeinem Leben war
[60] ihm nichts alſo zu Herzen gegangen — er em-
pfand das Recht des Kinds, und es war ihm,
er ſehe den Vetter todt vor ſeinen Augen — er
fuͤhlte den Schauer des Entſetzens bey dem Ge-
danken, er ſey daran Schuld; er ſchwankte
hinein, wie wenn ihn ſeine Beine nicht tragen
wollten, hielt die Hand vor den Mund, ſein
Schluchzen zu hemmen; und winkte wie ein Stum-
mer Thereſen mit dem Kopf beyſeits. —
Dem Karl und der Thereſe uͤbergieng das
Herz, da ſie ihn ſo ſahen — beyde weinten —
beyde ſtunden an ihn an — Thereſe gab ihm die
Hand — und er ſagte, giebſt du mir ſie auch
von Herzen? — Das war ſein erſtes Wort. —
Ja, gewiß lieber Onkle! zweifelt doch nicht an
dem — erwiederte Thereſe. —
Ich kann es faſt nicht glauben, ſagte der
Alte, und ſezte hinzu, ich hab' in Gottes Namen
alles gehoͤrt, ich meynte, es toͤdte mich, ſo weh
that es mir — aber wenn du mir izt einen Ge-
fallen thun willſt, ſo zwing den Knaben nicht zum
Tiſch, er hat recht, ſo lang er den erſchrecklichen
Gedanken hat, ich wolle ihm ſeinen Vater ins
Grab bringen; aber ich will ihm wills Gott zei-
gen, daß das nicht iſt, und daß mir ſein Vater
lieb iſt. —
[61]
Der Knabe ſah an ihn hinauf. Zweifel und
Mitleid waren in ſeinen Augen, und auf ſeiner
Stirn. Da ſagte ihm Thereſe, ſiehſt izt auch,
wie gut der Onkle iſt? willſt izt nicht mit ihm zum
Tiſche? — O wohl! ich will mit ihm gehen —
erwiederte der Knabe.
Es freute den Alten ſo, daß er ihn wuͤrde
auf den Arm genommen haben, wenn er ihn haͤtte
tragen koͤnnen. — Sie nahmen ihn beyde in die
Mitte, und brachten ihn ſo zu Tiſche. Auf dem
Weg ſagte der General, es wird wills Gott mit
dem Vetter auch wieder beſſer werden! — und
ſie trockneten noch vor der Thuͤr alle drey ihre
Augen. —
Sylvia ſah den General nicht anderſt an, als
ob er ihr unrecht thue, daß er den Knaben ſo an
der Hand an den Tiſch bringe. Er achtete es
nicht, aber der Karl achtete es, und ſagte zur
Mamma, da ſie ihm das Handtuch umlegte, ſie
macht uns ſchon wieder Augen! Er kehrte ihr auch
bey dem Tiſch den Ruͤcken, und da ſie ihm ein
Stuͤck Fiſch auf den Teller legte, ruͤhrte er es
nicht an, und gab, ohne daß es die Mamma merkte,
den Teller dem Klaus fort.
Sylvia ſah wieder einen Augenblick gut aus,
das Blut ſtieg ihr in die Backen (Wangen) da
[62] ſie ſah, daß der Klaus, oder wie ſie ihn nannte,
der Grauſchimmel lachte, da er dem Knaben den
Teller abnahm.
§. 16.
Ihr kennet die Thiere, die meiſtens paar-
weis aus einem Trog eſſen, und hier
findet ihr etwas dergleichen.
Deſto geſchwinder ſtund ſie vom Tiſch auf, und
gieng an ihren Spatziergang.
So gerade nach Mittag ſind die Straßen
meiſtens leer. Sie kam weit, und traf keine
Seele an. Endlich neben dem Hochwald, unter
dem Berg, kommt ein dickes Weib mit einem
Korb auf dem Kopf den Hohlweg hinab. — Es
iſt die Rechte, unter allen in Bonnal iſt keine, die
die drey Herren und ihre Ordnung haſſet, wie dieſe. —
Es iſt die nemliche, die der Klaus am lezten
Maymarkt voll und toll in ſeiner Kutſche ins
Schloß fuͤhrte, und mit einer andern im Bettler-
ſtall uͤbernachten ließ. Dieſe beyde muͤſſen izt,
wann ſie mit jemand im Dorf Streit haben, alle-
mal ihre Kutſchenfahrt hoͤren, und ſelber ihr
Mann, der Speckmolch, ſagt ihr, wann er unzu-
[63] frieden iſt, nichts anders als der Klaus ſollte dich
nur wieder einmal in den Bettlerſtall fuͤhren, und
ſezt oft noch gar hinzu, es war mir ſo wohl an
dieſer Markt-Nacht am lezten May! —
Sylvia verdoppelte ihre Schritte, daß ſie ihr
nicht entrinne.
Es war unnoͤthig; die Speckmolchin ſuchte
nichts wenigers als zu entrinnen; ſie ſah die Jung-
fer kaum, ſo dachte ſie, wie gewiß iſt das die, ſo
den Lieutenant aus dem Schloß vertrieben! —
Klein, mager, gekleidet wie ſonſt keine, voller
Ecke, Schnoͤrkel — und ſo, daß man etwas anders
an ihr zu ſehen hat, als ſie ſelber — ſo war ſie
beſchrieben — ſo war ſie — das iſt ſie — ich kann
nicht fehlen — ſagte die Molchin — mit dieſer
muß ich reden — ſtellte den Korb auf einen Stein
ab, als ob ſie ausruhen wollte. —
Seyt ihr nicht die Jungfer, die den Herrn
Lieutenant ſo hat koͤnnen aus dem Schloß auf
das Dorf ſpatzieren machen?
Und wenn ich es waͤre? — So gieng das
Geſpraͤch an. — Dann kam ſie bald auf die gott-
loſe Kutſchenfahrt — und wie man ſie nicht an-
derſt als ein Hauptvieh die ganze Nacht im Stall
und auf Stroh habe liegen laſſen — und vom Stall
[64] wars gar nicht weit in die Schule — wie da eine
gottloſe Ordnung ſey, und wie man nicht anderſt
handle, als wenn es voͤllig genug ſey, wenn die
Kinder nur die Freßordnung recht lernen, und
Geld verdienen, als wenn an allem andern gar
nichts gelegen waͤre. —
Es melkt ein Kuͤher ſeinen Stall aus bis auf
den Tropfen — ſo melkte Sylvia das Menſch aus
in allem, was es wider die neue Ordnung wußte,
bis auf den Tropfen.
Dann ſagte ſie am Ende noch, ſind aber viele
Leute im Dorf, die hierinn denken, wie du? —
Mein Gott, Ja! erwiederte die Speckmol-
chin. Es wird es euch zwar nicht eine jede, wie
ich, ſo gerade heraus ſagen, aber nicht der zehen-
de Theil iſt ganz zufrieden, daß es iſt, wie es iſt,
und die ſo am meiſten zufrieden thun, ſind Lum-
penleute, denen ihre Kinder mehr Geld heimbrin-
gen als vorher; wenn das nicht waͤre, ich will
glauben, ihr wuͤrdet im ganzen Dorf nicht einen
Menſchen finden, der nicht ſagte, wie gottlos die
Kinder in der Religion verſaͤumt, und nur auf
das Zeitliche gezogen werden.
Sylvia gab ihr dann an, ſie ſollen ihre Kin-
der, wenn es ſo ſey, nicht mehr in die Schul
ſchicken, und fragte ſie, ob ſie machen koͤnnte, daß
das
[65] das ihrer etliche thaͤten, und gab ihr Erlaubniß ih-
ren Namen zu brauchen, und zu ſagen, ſie finde
es auch gottlos, daß es ſo ſey. Wenn ich das darf,
ſagte die Molchin, ſo macht es mir dann keinen
Kummer noch vor Morgen Abend ein halb Dotzend
bey einander zu haben, die ihre Kinder dieſem Pe-
ruͤquenmachergeſell nicht mehr in die Schul ſchicken.
Sylvia. Warum ſagſt du ihm, Peruͤquen-
machergeſell?
Speckmolchin. Ja, als wenn ihr es nicht
wuͤßtet!
Sylvia. Nein, das weiß ich nicht.
Speckmolchin. Wißt ihr auch nicht, wer
uns geſagt hat, daß er Joggeli heißt?
Sylvia. (Lachend) Es ſcheint doch, ihr
ſeyd gelehrige Leute?
Speckmolchin. Dergleichen Sachen be-
halten auch die Dummen. —
Sylvia. Aber noch etwas — kennſt du der
Maurerin ihr Liſeli?
Speckmolchin. Ja freylich.
Sylvia. Die gottloſe Frau hat das Kind auf
eine unverſchaͤmte Art in der Schule geſchlagen.
Speckmolchin. Wißt ihr das auch
ſchon?
E
[66]
Sylvia. Das denk ich — du glaubſt nicht,
wie mich das Kind dauert, ſag' ihm doch, es ſoll
nicht fehlen, und zu mir in das Schloß kommen,
ich wolle ihm etwas ſchenken, das es freuen werde,
weil es ſo unſchuldig habe leiden muͤſſen. —
Auch das verſprach die Speckmolchin auszu-
richten.
Aber Sylvia ſahe, daß der Schatten vom Wald
gegen ſie kam, und fieng an zu denken, es ſey doch
beſſer, bey Tage heim zu gehen. —
Auch das Weib nahm ihren Korb auf den
Kopf, und ſagte, geht ihr izt ſo allein heim, und
iſt noch ſo weit?
§. 17.
Duͤnkts dich luſtig Nachbar? Gut! aber
behaupte nicht, daß gar kein Hang zur
Grauſamkeit in der menſchlichen Na-
tur liege! —
Sie haͤtte izt wohl gern jemand bey ſich gehabt,
ſah ſich auch links und rechts um, ob jemand auf
dem Weg ſey, aber es war alles todt und ſtill um
ſie her wie die Nacht — und ſie das Erſtemal auf
[67] dieſer Straße — ſo weit vom Hauſe und Allein —
aber es war izt nichts anders zu machen — ſie
mußte gehen — und gieng — und die Freude uͤber
alles was ſie von der Molchin vernommen, und
was ſie mit ihr abgeredt, machte, daß ſie an nichts
anders dachte — ſo vergieng ihr die Angſt. —
„Die andere Woche gehen izt ſchon, denk
ich, wohl ein Dutzend Kinder nicht mehr in die
Schule — Morgen oder Uebermorgen kommt mir
das Liſeli in das Schloß — und die Woche hernach
ſchreib ich dem Dickhals. — So traͤumte ſie,
ſchuͤttelte vor Freude die ſeidenen Wellen des Kopf-
zeugs — und gieng ihre Straße. —
Aber izt geht ein Mezger an der Wand des
Hochwalds, nicht weit von ihr — ſo ſteigt bey der
Stille des Himmels ein Woͤlkchen am Berg auf,
hinter dem Woͤlklein flieht die Stille des Himmels,
und Sturm und Gewitter erheben ſich. —
Der Mezger an der Wand des Hochwalds
kommt aus dem Wirthshaus — da redten die Ti-
ſche voll Bauern nur von ihr. —
Es war nur ein Wort, und nur eine Stimme
in allen Ecken der Stube „ein ſolches Laſterthier
ſollte man lehren Gott erkennen„! — und alle ſag-
ten, es waͤr' ein Gottslohn, wenn ſie der erſte, der
ſie antraͤfe, auch mit den Hunden hezte, daß ſie
E 2
[68] lernte Menſchen fuͤr Menſchen achten. — Selbſt
die Aelteſten ſprachen nichts dagegen — ſie ſagten
vielmehr mit allem Nachdruck, das ſey etwas un-
erhoͤrtes, und bey Mannsdenken nicht mehr ge-
ſchehen — auch die ſchlechteſten und wildeſten Jun-
kern haben es ſeit dem man 1700 zaͤhle, nicht mehr
gewagt die Hunde wider einen Bauern zu hetzen,
wie man ſage, daß es vor Altem begegnet ſey. —
Es war ſogar, als wenn ſie die Jugend noch
aufhezten. — Sie ſagten einmal laut, man haͤtte
unrecht, wenn man das wieder aufkommen laſſen
wuͤrde. —
Izt ſieht ſie der Mezger — das iſt ſie — erkennt
ſie — klein, mager, gekleidet wie ſonſt keine —
voller Ekken und Schnoͤrkel — und ſo daß man
auch etwas anders an ihr zu ſehen habe als ſie ſel-
ber — ſo war ſie beſchrieben — ſo war ſie — es
iſt ſie! —
Dem Mezger wallet das Blut, er ſieht ſich um
— alles iſt todt um ihn her wie die Nacht und wie
um Sylvia — er ſtaunt — lenkt uͤber den Graben
ins Gehoͤlz — ſein junger Hund waͤdelt um ihn her
— und macht ſeine Spruͤnge, wie er ſie macht
wenn er meynt, er ſey bey dem Stall, wo er ſein
Kalb findet.
— Soll ich — ſoll ich — ſagte der Mann,
ſein Herz ſchlug — er war blaß — ich will, ſprach
[69] er izt — ſo eine ſtraft keine Obrigkeit — ich will —
ſprach er izt — zeigt ſie mit dem Finger durch die
Tannen dem Hund und hezt ihn. — Der Hund
war ſicher — er hatte ſeine Zeichen — und auf das
Zeichen ruͤhrete er ſie mit der Schnorre nicht an, er
ſtund nur mit den Pfoten an ſie auf, ſprang dann
um ſie herum, und dann wieder an ſie herauf, und
bellete laut. — Das war alles — es war freylich
nicht wenig. — Ihr Guͤrtel brach unter ſeinen
Klauen — das Band lag am Boden — und das
weite Oberkleid riß von oben herunter, ſo oft der
Hund anſprang; ſeine langen weißen Stuͤck flogen
um ſie her, und an ihr auf, wie Tuͤcher an der
Haͤnke eines Bleicherhauſes, wenn der Wind wehet;
— und der Korb ihres Kopfzeuges hieng an ihrem
Ruͤcken herab, daß all ſein Innwendiges hervor-
gieng. Zwo Minuten, ſagte der Mann, muß ſie
mir leiden — Nahm ſeine Uhr in die Hand — und
als ſie voruͤber, pfiff er dem Hund. —
Ihr Geſchrey erfuͤllte den Himmel. — Nein, ſo
weit herauf kam es nicht — aber unten auf dem
Boden toͤnte es weit herum in die Runde. —
Der Jaͤger, den der General, da es dunkelte,
nachgeſchickt, hoͤrte ſie von weitem, aber er dachte
lang, es ſey nur ein Bauerngeſchrey, und gieng
keinen Schritt geſchwinder. Es iſt ihm nicht zu
verargen, er konnte nicht denken, daß ſein gnaͤdi-
E 3
[70] ges Fraͤulein ſo heule; aber als er hinzu kam,
merkte er da, daß das Geſchrey dem Kraͤhen gar
gleich komme, das ſie daheim allemal treibt, wann
eine Muͤcke gegen ſie fliegt, oder eine Maus, oder
eine Spinne um den Weg iſt. Izt hieß es laufen.
— Er lief auch, und war bald da. — Aber als
er um eine Ecke herum kam, und ſie ploͤtzlich vor
den Augen hatte, ſtellte es ihn ſtill, er mußte ſich
umkehren und lachen. — Die weißen Tuͤcher in
den Luͤften, ihre Haͤnde uͤber den kahlen Kopf rin-
gend — und der Haarkorb mit Miſt und Federn
am Ruͤcken — wer mußte nicht lachen! Der Jaͤ-
ger mußte ſich umkehren, den Bauch in die Haͤnde
nehmen und den Athem zuruͤckhalten, daß ſie ihn
nicht hoͤre. —
Sie kannte ihn nicht, und als ſie ihn kannte,
konnte ſie nicht reden, ſie verkruͤmmte den Mund,
ballte die Zunge, und konnte einige Augenblicke
keinen vernehmlichen Ton herausbringen. —
Er fragte, ich weiß nicht wie manchmal, was
doch Ihr Gnaden, der Fraͤulein begegnet? Ehe er
verſtehen konnte, daß ein wuͤtender Hund ſie ange-
fallen habe. —
Aber er glaubte es nicht, und meynte Buben,
die ſie im Wald angetroffen, ſeyen der Hund —
er gab ihr auch zu verſtehen, die wuͤtenden Hunde
[71] haben es ſonſt nicht in der Gewohnheit, den Leuten
gerade Riſſe in die Kleider zu machen. —
Indeß ſchob er ihr Gnaden der Fraͤulein den
Haarkorb mit Miſt und Federn von hinten herauf
wieder uͤber den Kopf, ſuchte in allen Taſchen
Schnuͤre, die fliegenden Stuͤcke ihrer Robe zuſam-
men zu binden, fand aber nichts als einen ziemlich
dicken Strick, den er ſonſt zu etwas ganz anderm
brauchte, aber er war izt ihr Gnaden der Fraͤulein
recht gut, ſie band die fliegenden Stuͤcke ihres Ober-
kleids wieder zuſammen, und ſo giengen ſie dann
mit einander heim.
§. 18.
Von Volks Ausdruͤcken, und von ſeinem
wahren Vortheil.
Guter Klaus! da du geſtern zum General ſagteſt,
es werde ihr wohl bekommen, wenn ſie den Lohn
darfuͤr noch in dieſer Welt erhalte, dachteſt du
wohl nicht, daß ſie ihn noch heut erhalten werde,
und dann noch auf dem Bonnaler Weg, und von
einem Hund? —
Und du arme Sylvia! dachteſt auch nicht, daß
ein Mezger-Pfiff dich noch vor heut Abend von
E 4
[72] deinen Hoͤhen herabblaſen und dahin bringen wer-
de, daß du izt nicht einmal mehr ſelbſt an die
Traͤume glaubeſt, die dich geſtern noch ſo ſtark
aufgeblaſen?
Die arme Sylvia! — ſie iſt wie außer ſich
ſelbſt, ſie meynt nichts anders als ſie werde wuͤ-
tend werden — und in wenigen Tagen bellen wie
ein Hund, und dann ſterben. —
Sie waͤlzt ſich am Boden, und ſchreyt einmal
uͤber das andere „ich bin gebiſſen, ich muß ſterben
— ich muß ſterben! —
Umſonſt ſagte Aglee, ein ſolches Betragen har-
moniere nicht mit ihren Grundſaͤtzen. —
Grundſaͤtze — ja Grundſaͤtze — ich bin ge-
biſſen — ich bin gebiſſen — und muß ſterben! —
ſagt ſie, und waͤlzte ſich fort.
Es iſt wirklich ſo mit den Grundſaͤtzen — er-
wiederte Aglee, und legte ihr Kuͤſſen und Tuͤcher an
Boden. —
Umſonſt ſagte der Schaͤrer — die kleinen Ritze,
die ſie hie und da habe, ſeyen nicht von den Zaͤh-
nen, ſondern nur von den Tatzen des Hunds, und
ſie ſey nicht gebiſſen.
— Es iſt doch wahr — ich bin dabey gewe-
ſen, und weiß es gar wohl — ich bin gebiſſen —
[73]
ich bin gebiſſen — und Morgen, werdet ihr ſehen,
bin ich wuͤtend — ſagte ſie wieder — und wo ihr ein
Glas oder ein Becken mit Waſſer ins Aug kam, fuhr
ſie wirklich zuſammen, und zitterte, wie wenn ſie die
Krankheit ſchon haͤtte. Dieſes machte dem Gene-
ralen und der Thereſe ſelber Angſt, aber der Schaͤ-
rer ſagte, es habe gar nichts zu bedeuten, die Ein-
bildung mache eine kurze Zeit die gleiche Wirkung,
wie die Wahrheit, man muͤſſe in ſolchen Faͤllen nur
warten — und ſezte hinzu — wenn ſie izt geſchla-
fen, und dann wieder erwachet, ſo iſt das alles
vorbey! —
Ohne dieſe drey war ſonſt kein Menſch im
Haus, der Mitleiden mit ihr hatte; es war faſt
nur ein Wort, ſie thue izt wie ein Narr, und habe
aber immer ſo gethan. Sie hat keinen guten Men-
ſchen — Die Dienſte geben ihr ſchon lange unter
einander keinen andern Namen, als der Teufel
Asmodi. Sie hatten aber fuͤr alle drey ihre
Namen — die Aglee hießen ſie das Buͤchergeſpenſt,
und den Generalen den Hofgriggi.
Das iſt ein unverſchaͤmt Geſindel — und von
von des Arners Dienſten haͤtt' ich das nicht erwar-
tet, — hoͤr' ich ſagen — aber halt ein wenig Nach-
bar! die Sache hat eine andere Seite. — Das
Volk druͤckt mit ſolchen Namen ſein Wahrheitsge-
fuͤhl aus; und da ihm Bildung, Begriffe, Worte
[74] und Ausdruͤcke verſagt ſind, die Menſchen nach
unſerm Buͤchermodell, und nach unſern Allgemein-
heiten zu ſchildern, ſo ſind dergleichen Ausdruͤcke
in ſeinem Munde nicht vollends das gleiche, was ſie
in unſerm waͤren — Pasquillen und Laͤſterworte —
und ich muß dir ſagen, lieber Nachbar, man thut
dem Volk, wenn man in der Ahndungsart ſolcher
Worte nicht auf den Unterſchied ſiehet, woher ſie
kommen, und einen jeden, dem etwan ein ſolcher
Ausdruck an einem unrechten Ort oder zur Unzeit
entrinnt, leicht alzuhart ſtraft, unrecht. —
Die gemeinen Leute brauchen dieſe Ausdruͤcke
unter ſich ſelber alle Tage und ungeſcheut gegen
einander, die braͤvſten wie die ſchlechteſten: Es iſt
ihre Sprache, ſie haben keine andere, und es kann
nicht anderſt ſeyn, es muß ihnen hier und da auch
ein ſolches Wort entrinnen, wo es nicht ſollte.
Sie brauchen dergleichen tauſende, ſo bald ſie
allein ſind, und allein mit einander reden. —
Doch nein ich irre; — man ſtrafe ſie immerhin
dafuͤr — es waͤre unharmoniſch mit ihrer uͤbrigen
Fuͤhrung — und wider ihren wahren Vortheil,
wenn man es nicht thun wuͤrde. —
Der Menſch, der das Gefuͤhl der Rechten ſei-
ner Natur in ſich ſelber erſticken muß — muß auch
[75] lernen ſein Maul halten. — Und es iſt des Volks
eigener Vortheil, daß es lerne behutſam ſeyn, vor
ſeinen Obern, vor den Knechten ſeiner Obern, und an
einigen Orten noch weiter vor den Spionen dieſer
Knechten, und dann an andern noch weiters auch
vor den Hunden dieſer Spionen — das iſt an vie-
len Orten der Welt des Volks liebe Nothdurft —
und die Sach iſt nicht leicht zu aͤndern — die Ur-
ſache davon liegt in den Finanzen des Staats. —
Alſo laſſe mans mit dem Maulbrauchen fuͤrs Volk
gelten, wie es iſt — und goͤnne ihm ferners den
Vortheil, daß es lerne ſchweigen.
§. 19.
Volks Gefuͤhl in Frevelſachen, und ſeine
Folgen auf die Juſtiz.
Das haͤtteſt du nicht von mir erwartet, Leſer!
aber es glaubte kein Menſch in dem Hauſe mehr,
daß der Hund die Sylvia gebiſſen und wuͤtend ge-
weſen ſey — der Klaus ſagte dem Generalen viel-
mehr, es ſey gewiß, daß er an ſie gehezt worden,
und man muͤſſe ſie fragen, wie er ausgeſehen. —
Sie antwortete, er ſey entſetzlich groß gewe-
ſen, groͤßer als ſie; es ſey ihr izt noch, ſie ſehe ihm
in ſeinen Rachen hinunter, ſie habe in ihrem Le-
[76] ben kein ſolches Gebiß geſehen, und keinen ſolchen
Schlund. —
Der General erwiederte, das ſey den Hund
nicht beſchrieben, ſie ſoll doch ſagen, wie er aus-
geſehen, und was er fuͤr eine Farb habe? —
Und ſie — das koͤnne ſie nicht ſagen — er ſey
ihr im Anfange weiß vorgekommen, und hernach
ſchwarz — und es ſey ihr izt, als wenn ſie ihm nur
den Kopf und das Maul geſehen habe. —
Das war nichts. — Der General ſahe wohl,
daß es nichts ſey, und minder als nichts — aber
er fragte doch links und rechts, ob denn auch izt
nichts zu machen ſey? —
Der Eine rieth' ihm das, der Andere dieſes —
die meiſten ſagten ihm, was ſie meynten, das er gern
hoͤrte.
Der Schreiber kam mit dem Einſtecken — der
Schafner mit dem Geld darauf bieten — der Schloß-
vogt mit dem Herumſchicken der Spionen in den
Doͤrfern — eine Frau meynte, man muͤſſe auf der
Kanzel darauf predigen — ſie ſagte, wenn ſich die
Pfarrer recht angreifen, und recht darauf druͤcken,
ſo koͤnne die Stunde ſo gut ſeyn, daß der Thaͤter
auf dem Stuhl ſchwitzen muͤſſe, und nicht zur
Kirche hinaus koͤnne, ohne daß man es ihm an-
ſaͤhe — dann koͤnne man ihn greifen. —
[77]
So wurde er vom Pontio zum Pilato gewieſen.
Wers ehrlich meynte, und nicht in den Tag
hinein redte, ſagte ihm, es ſey ſchwer zu rathen,
und nicht viel zu machen. Der Klaus ſagte das
gleiche, und ſezte hinzu, wenn in einem ſolchen Fall
die Leute gegen den Beſchaͤdigten kein Mitleiden
haben, und einer dem andern ins Ohr ſagt, es
ſey ihm recht geſchehen, er habe es ob dem oder
ob dieſem verdient, ſo helfe dann das alles, den
Thaͤter zu verbergen, und weit die meiſten Bauers-
leute machen ſich in dieſem Fall ein Gewiſſen ihn
der Obrigkeit zu entdecken, das ſey oben und unten
im Land ſo eingewurzelt, daß er Frevel erlebt habe,
wo zwanzig und dreyßig Menſchen davon gewußt
haben, und doch ſey es der Obrigkeit unmoͤglich
geweſen, den Thaͤter herauszubringen; die jungen
Burſche haben in ſolchen Faͤllen eine Freude daran,
und alles macht ſich eine Ehre daraus zu helfen,
daß es nicht an den Tag komme — es komme aber
gewoͤhnlich am meiſten an Tag, wenn man ſtill
dazu thue und ſchweige, und alſo rathe er zu die-
ſem. —
[78]
§. 20.
Herzens Ruͤhrung, und Bekehrungsge-
danken.
Aber das war nicht der Sylvia Meynung; da ſie
den Tag darauf nach einem langen Schlafe wie-
der erwachte, und wie der Schaͤrer prophezeyet,
nicht mehr ſchrie — ich bin gebiſſen — ich bin ge-
biſſen — erinnerte ſie ſich, daß ſie im Wald pfei-
fen gehoͤrt, und fand izt ſelber, der Hund ſey an
ſie gehezt worden; aber ſie meynte nun, man ſollte
faſt halbe Doͤrfer einſtecken, wenigſtens jedermann,
der Hunde halte und pfeife, auch wer ihr feind
ſey, und namentlich den Schulmeiſter, der, wenn ei-
ner, ſagte ſie heftig, im Stande iſt einen ſolchen
Streich anzugeben, ſo iſt es gewiß dieſer. Aber der
General wollte nicht in dieſe Nuß beißen. Von
dieſem iſt keine Rede, war aufs erſte Wort ſeine
Antwort, mit dem Zuſatz, waͤreſt du daheim ge-
blieben, oder haͤtteſt jemand mit genommen, wie
ich dirs angerathen, ſo wuͤrde dir das nicht be-
gegnet ſeyn.
Wollt ihr denn keinen Menſchen fuͤr mich ein-
ſtecken laſſen? ſagte Sylvia.
[79]
Keine Katze auf gerathwohl hin — erwiederte
der General. — Er war zornig — er hatte ſein
moͤglichſtes gethan zu ſehen was zu machen ſey —
fuͤhlte, daß ſie nicht einmal das verdiene — und
izt forderte ſie ſolche Unverſchaͤmtheiten.
Wie geſagt, er gab ihr zur Antwort — keine
Katze auf gerathwohl hin, aber wenn wir auf et-
was fußen koͤnnen, ſo kannſt du dir ſelber einbilden,
man werde thun was moͤglich iſt — Mit dieſem
gieng er fort.
Beydes, die Antwort und ſein Fortgehen,
ſchlugen ſie nieder. So lange ſie hofte, ſich raͤchen
zu koͤnnen, konnte ſie ſich beſitzen; aber izt fieng ſie
an zu weinen wie ein Kind, und ſagte, man laſſe
ſie ihre Armuth entgelten, und ihr nicht einmal
Gerechtigkeit wiederfahren wie dem geringſten Men-
ſchen. Sie fiel izt von ihrem Stolz in eine Gat-
tung uͤbernaͤchtliche Schwermuth, daß es ſchien,
daß ſie ein ganz anderes Menſch waͤre als vorher. —
Sie haͤngt den Kopf wie eine Suͤnderin, und
fuͤhlt wie eine Buͤßerin, daß ſie nichts in der Welt
iſt, und daß ſie nichts darinn kann, daß ſie izt
nicht einmal mehr dem verachteten Arner den Tritt
kann werden laſſen, den ſie ihm zugedacht.
Mezger-Hund! das danken wir dir! kein
Menſch in der Welt hatte ſie noch ſo weit zur Er-
[80] kenntniß ihrer ſelbſt gebracht. Lohns dir dein Mei-
ſter mit Kaͤlberkutlen und mit Schaafsfuͤßen! ich
will ihn bezahlen — wenn er ſich dafuͤr meldet.
Ich bin ſonſt nicht unbarmherzig, aber ich
kanns nicht verheelen, es iſt mir angenehm, ſie vor
mir zu ſehen, wie ſie izt da ſizt, und Bange hat ob
dem Gedanken, das Geſpoͤtt, das ſie ob der Bon-
naler Ordnung habe treiben wollen — falle izt auf
ſie. —
Sie glaubte nichts anders, als im erſten Brief,
wenn der Junker dieſe Geſchichte dem Bylifsky
ſchreiben werde, ſo werde es nicht fehlen, der Men-
zow mahle ſie ihm ab — und dann ſtellte ſie ſich
vor, was das fuͤr ein Gemaͤhlde geben werde mit
den Tuͤchern, die um ſie herumfliegen, und mit dem
leeren Kopf, und mit dem Strick, und mit dem Jaͤger
— konnte ſich ſchon einbilden, wie der Herzog darob
lachen werde — und dachte dann richtig zu dieſem
allem hinzu, wenn er darob lacht, ſo giebt mich
der Helidor preiß wie ein Schuhlumpen.
Es preßte ihr den Schweiß aus. — Was bin
ich denn mehr in der Welt! ſagte ſie izt zu ſich
ſelber — und huͤllte ſich in die Decke des Betts, wie
geſtern der Karl, aber ſie biſſ' in die Tuͤcher, da
er mit denſelben ſich die Augen getrocknet. —
Das iſt der Unterſchied.
Und
[81]
Und wenn ſie den Kopf unter der Decke hervor
hat — ſagt ſie in einem Athemzug — ſie wollte, ſie
waͤr nicht mehr in der Welt — und im gleichen
Augenblick zankt ſie mit Aglee, und ſagt ihr, ſie
glaube nicht, daß ſie ihr verboten habe mitzukom-
men, und wenn ſie ihr verboten habe mitzukom-
men, ſo haͤtte ſie nachkommen koͤnnen — und
murrte ſo was unverſtaͤndliches von Schuldigkeit
mit unter. —
Aber Aglee, die, wie ihr wißt, es nicht ſo mit
ihr verſteht, gab ihr, da ſie das that, zur Antwort,
ſie ſolle warten bis ſie ihre fuͤnf Sinne alle wieder
bey einander habe, und dann mit ihr reden. —
Mit dieſem ließ ſie ſie ſitzen.
§. 21.
Unter den Voͤgeln iſt der Nachtigall Kla-
geton der ſchoͤnſte; aber unter den
Menſchen iſt wohl ein jeder anderer
Ton beſſer.
Sie gieng hinaus, der Jaͤger gieng hinein, und
ſagte, es ſey eine große dicke Bauernfrau im Hofe,
die gerne mit ihr Gnaden der Fraͤulein reden
moͤchte. —
F
[82]
Aber ihr Gnaden die Fraͤulein hatte izt nicht
Luſt mit der Baͤuerin zu reden, obwohl ſie verſtan-
den, es ſey juſt die, die ſie geſtern auf dem Spa-
tziergang angetroffen. Es war nicht mehr geſtern —
ſie habe nichts mit ihr zu reden, ſie ſolle nur gehen
wo ſie wolle, war izt die Antwort. Der Jaͤger
ſagte ihr dieſe Worte. Die Frau aber ſagte zum
Jaͤger — Iſt etwann das Ungluͤck daran Schuld,
das, wie ich hoͤre, ihr geſtern im Wald mit ei-
nem Hund begegnet? —
Du haſt izt deine Antwort, und kannſt gehen,
erwiederte der Jaͤger. —
Das wohl — das wohl — ſagte die Baͤuerin
aber ſaget ihr nur noch, es ſey auch nichts, was ſie
von mir wollen, in beyden Stuͤcken ſey es nichts.
— Er gieng noch einmal hinein, und ſagte auch
dieſes. —
Meinethalben, ſagte Sylvia, gehe alles wie
es wolle, und ſezte, da er fort war, hinzu, es be-
triegt mich doch alles, und es hilft mir doch kein
Menſch — ich bin ein armes ungluͤckliches Ge-
ſchoͤpf. —
Gebe doch Niemand viel auf dieſe Sprach Ach-
tung! Sie iſt die mißbrauchteſte und die betrieglich-
ſte, die den Staub dieſer Erde befleckt; kaum iſt
ſie unter tauſend Faͤllen einmal nicht Unſinn, oder
[83]
Larve. Der Wolf braucht ſie in der Grube, der
Fuchs in der Falle, der Eſel, wenn er im Koth
ſteckt, und das Faulthier, wenn der Baum, deſſen
Blaͤtter es gefreſſen, nun leer iſt, und es ihm Muͤ-
he macht auf einen andern zu kriechen. —
Aber wer gut bey Sinnen und Gedanken iſt,
der redt nicht ſo. Brave Leute klagen wenig —
wer viel heulet iſt nichts nuͤtz. Ein gutes Herz em-
pfindet immer, was es gutes hat, und wer etwas
werth iſt, den macht Erfahrung und Ungluͤck beſ-
ſer. — Was will der Menſch mehr auf dieſer Erde?
Die neue Kopfhaͤngerin hat der Speckmolchin
unrecht gethan, ſie hatte ſich auf das moͤglichſte be-
fliſſen auszurichten, was ſie ihr zugemuthet, und
das in beyden Stuͤcken. —
Kaum war ſie heim, ſo ſchlich ſie gegen des
Maurers Haus, und ließ es ſich nicht dauren wie
ein Affe herumzuſehen, und wie ein Fuͤllen, das an
den Hecken Gras ſucht, auf- und abzugehen, bis
das Liſeli ſich unter der Thuͤre zeigte, winkte ihm
hinter den Schweinſtall, und ſagte ihm, wie die
Jungfer im Schloße mit ihm Mitleid habe, daß
es ſo geſchlagen worden, und wie ſie ihm etwas
recht ſchoͤnes ſchenken wolle, wenn es zu ihr ins
Schloß komme.
F 2
[84]
Beydes, das Mitleiden und das Geſchenk, ge-
fiel dem Kind recht wohl, aber da die Molchin fort-
fuhr zu predigen, und der Laͤnge und Breite nach
herauszuſtreichen, wie gottlos und unchriſtlich ſeine
Mutter mit ihm gehandelt habe, u. ſ. w. roch es dem
Kind auf, daß das nicht in der Ordnung ſey; und
einsmals, da die Frau meynte, ſie ſey mit ihm in
der beſten Ordnung — machte es ein veraͤchtliches
Maul — ſchuͤttelte den Kopf, und ſagte, die Jung-
fer im Schloß mag mir ein Narr ſeyn! meine Mut-
ter iſt mir lieb, haͤtte ich mein Maul gehalten, ſo
haͤtte ſie mir nichts gethan; mit dem ſprang es
fort in ſeine Stube, und die Molchin ſah, daß es
aus war, und mußte auch weiters.
An den andern Orten ſchien es im Anfange
beſſer zu gehen.
Zwey Weiber verſprachen ihr, wenn es ſo ſey,
wie ſie ſage, und ſie die Jungfer im Schloß ſelber
darum fragen doͤrfen, ſo wollen ſie ihre Kinder
nicht mehr in die Schule ſchicken. —
Aber die Kinder, die nicht mehr in die Schul
ſollten, fiengen ein Geſchrey an, daß die Leute vor
den Fenſtern ſtill ſtunden.
Wohl ließen die Muͤtter ſie ſchreyen —
Wohl wollten ſie es auch bey den Vaͤtern er-
zwingen, aber ſie bekamen zur Antwort, das iſt nur
[85]
eine Aufwieglung von der Kutſchenfahrerin, um
ihrentwillen machen wir keine Aufruhr mit unſern
Kindern. —
Selbſt ihr Mann wollte es nicht thun, und
da ſie mit der Jungfer im Schloß kam, gab er ihr
zur Antwort, die Jungfer im Schloß iſt die Jung-
fer im Schloß, und du biſt der Eſel im Dorf;
mit dem mußten ſeine Kinder, wie die andern, den
folgenden Tag auch wieder in die Schule.
Ihrer etliche ſagten bey dieſem Anlaß, es iſt
heut gut, daß der Vater Meiſter iſt. —
So giengs der Speckmolchin geſtern und izt,
da ſie es izt auch ihrer Jungfer im Schloß klagen
wollte, war ſie abgewieſen. —
Heute hatte ſie nur mit Niemanden nichts mehr
von ihr reden doͤrfen.
Der Grund iſt — der General hatte jeder-
mann geklagt, es ſey ſo uͤbel, daß ſie nicht wiſſe
wie der Hund ausgeſehen, und erzaͤhlte einem je-
den alle Worte, die ſie daruͤber geredt. —
— Und wie ein Lauffeuer gieng izt von Mund zu
Mund, er ſey ihr zu erſt weiß vorgekommen, und her-
nach ſchwarz, und ſie habe nichts an ihm geſehen,
als den Kopf und das Gebiß und einen erſchreckli-
chen Schlund; es brauchte nicht mehr, von Dorf
zu Dorf herumzubringen, der Hund ſey kein natuͤr-
F 3
[86]
licher Hund geweſen, ſondern durch Zulaſſung Got-
tes ein erſchreckliches Strafgericht vom leidigen
Satan, das ſie aber auch ob dem Michel verdienet
habe. —
Auf das hin, denket ihr wohl, es haͤtte die
Molchin gewiß von ihrer Jungfer geſchwiegen.
§. 22.
Wie verſchieden die Aeußerungen gleicher
Eindruͤcke bey den Menſchen ſind.
Aber Arner war immer kraͤnker, mit jedem Abend
war das Fieber ſtaͤrker, und mit jedem Morgen
ſeine Schwaͤche groͤßer. —
Mit jeder Stunde ſtieg die Jammerverwirrung
des Schloſſes. —
Du lieſeſt auf allen Geſichtern Furcht und
Schrecken — Bangigkeit iſt in aller Augen — druͤ-
ckende Angſt preßt alle Lippen — die Stunden waͤh-
ren Jahre, die Tage Ewigkeiten, und die Naͤchte
haben kein Ende. —
Ohne Schlaf und ohne Speiſe wartet ihm
Thereſe ab. Ohne Schlaf und ohne Speiſe ſteht
der Karl wie ein Verwirrter umher, und faltet in
[87]
Winkeln und Ecken die Haͤnde, und bethet mit ſei-
nen Schweſtern auf den Knien. —
Der Rollenberger kann ſie nicht mehr lehren,
er weißt oft nicht was er redt. —
Gedruͤckter, als ſie alle, iſt noch der General.
Er hat 70 Jahre hinter ſich, und vielleicht nicht
zwey Naͤchte hinter einander nicht geſchlafen, und
vielleicht keinen Tag ohne Zerſtreuung verlebt —
Kummer und Sorgen ſind bey ihm immer in
Minuten leichter Kuͤrze vorbey gegangen. Izt hat
er ſchon vier ſchlafloſe Naͤchte und vier ruhloſe
Tage nur einen einzigen Gedanken, nur eine ein-
zige Empfindung in ſeiner belaſteten Seele. — Er
nimmt an Fleiſch und Farbe mehr als der Kranke
im Bett ab, meynt es ſey nichts anders, Arner
muͤſſe ſterben, kann nicht aufhoͤren zu denken, er
ſey die Schuld daran, und glaubt, er ſterbe ihm
bald nach.
In dieſem Zuſtand flieht er Sylvia, wo er ſie
ſieht. — Und da Thereſe ihrer Schwermuth hal-
ben Mitleiden zeigte, gab er zur Antwort, ſie hat
das Haus angezuͤndet, izt ſchalket ſie noch. —
Sie gieng umher wie der Schatten an der
Wand, zog den Athem, daß man ſie von weitem
hoͤrte; ſtellte ſich vor, es ſey ihr izt alles gleich,
und es moͤge kommen wie es wolle, ſo ſey ſie im-
F 4
[88]
mer verloren; und ſagte oft, ſie moͤchte nur wuͤn-
ſchen, daß ſie nichts mehr ſehen, nichts mehr hoͤ-
ren, und nichts mehr denken muͤßte — auch ſuchte
ſie zu ſchlafen wo ſie konnte, und aß und trank von
ſtarken Sachen und Gewuͤrz, was um den Weg
war, und ſo tief ſie den Kopf haͤngte, kaͤute ſie
doch immer etwas mit dem Maul: aber auch izt
meynte ſie noch nicht, daß ſie unrecht habe, und
glaubte, Arner habe ſein Schickſal, das ſie minder
bekuͤmmerte als eine Floh, ſeinen Narrheiten zu
danken.
Die Dienſte im Haus waren uͤber ſie aufge-
bracht, daß ihrer viele nicht wußten, was ſie tha-
ten, wenn ſie um den Weg war. Die Kuͤchenmagd
warf allemal, wenn ſie ſie ſah, was ſie in den Haͤn-
den hatte, an den Boden. Es haͤtte einen Wink
gebraucht, ſie haͤtten ſie uͤber alle Mauren hinab-
geworfen, und den Jaͤger in Stuͤcke zerriſſen. —
Sie waren eigentlich wild uͤber Arners Krank-
heit, oder vielmehr uͤber ihre Urſachen. —
Der Huͤnerbub warf dem Tuͤrk Maͤuſegift dar,
und ſagte, du muſt mir auch nicht mehr leben, du
biſt auch ſchuldig; und als er beym Stall ſchon
verreckt da lag, ſo ſtieß der Kuͤher dem Aas noch
die Miſtgabel in den Leib, und ſagte, wenn ich ſie
dem rechten Aas in den Leib hineinſtoßen doͤrfte, ich
wollte anderſt ſtoßen. —
[89]
Die guten Leute aßen uͤber dieſe Zeit blos fuͤr
den Hunger, ſtunden im Augenblick wieder vom
Tiſch auf, damit ſie nicht lange neben des Gene-
rals Dienſten ſitzen muͤſſen, und nahmen das Brod,
das ſie nicht bey Tiſch aßen, mit ſich in dem Sack
fort; und da des Generals Dienſte ſie fragten,
warum ſie ſo unfreundlich mit ihnen ſeyen? und
ſagten, ſie wiſſen doch nicht, was ſie ihnen zu Leid
gethan, bekamen ſie zur Antwort, es ſey ihnen izt
nicht um reden, ſie ſollen ſelbſt unter einander re-
den, es ſeyen ihrer genug, und ſie gehoͤren zuſam-
men.
Der Klaus aber, der in ſolchen Faͤllen kein
Blatt fuͤr das Maul nahm, ſagte, er habe nichts
wider die andern, aber es ſey einer unter ihnen —
tauſend und tauſend ſeyen am Galgen verfault, die
nicht den zehenden Theil ſo viel Schlimmes gethan
haben als er — und neben dieſem, muͤſſe er geſte-
hen, ſitze er nicht gern lange am Tiſch. —
Die andern ſagten, er ſolle dem Kind den Na-
men geben, und ſagen, wen er meyne?
Ich meyne den, antwortete der Klaus, der
dem Michel den Hund angehezt, und uͤber den Lieu-
tenant Sachen geredt, die den Junker ins Bett
gebracht, und wer weiß wohl, ob nicht noch ins
Grab! —
[90]
Der Jaͤger wollte das nicht leiden, und gieng
auf der Stelle es dem General zu klagen, aber
dieſer ſagte ihm, man hat izt anders zu ſchaffen als
mit dir — und da er nicht ſchweigen wollte, und
immer vom Klaus redte, antwortete er, komm
mir nicht mit dem Klaus — ein ganzes Regiment
Schlingel wie du, hat keinen Tropfen ſo ehrliches
Blut wie der alte Mann die Haut voll hat — und
geh mir nur aus den Augen. — Er mußte gehen
— und gieng — zur Sylvia — klagte dann dieſer,
wie er durch ſie in dieſes Ungluͤck gekommen, und
wie ihm ſein Herr weder Hilf noch Rath ertheile! —
Was willt du reden? Er macht es dir dann
nur wie auch mir — er haͤtte nur keine Katze um
meinetwillen eingeſteckt — antwortete Sylvia. —
Dann beſann ſie ſich wieder, daß ihr izt an
allem nichts gelegen — und ſagte, was geht das
mich an! — da haſt Geld — Geld iſt fuͤr alles —
aber plag mich mit nichts — ich will nichts von
allem mehr wiſſen. —
Sie ſagts — der Jaͤger ſchiebt die Thaler in
den ehrloſen Sack — Aglee geht aus der Stube —
und iſt nicht ſo bald vor der Thuͤre, ſo ſagt Sylvia
dem Jaͤger, du haͤtteſt es dieſer ſagen koͤnnen, wie
mir — ſie iſt ſchuldig wie ich.
[91]
Aber was haͤtte ich davon, wenn ich es thun
wuͤrde? Sie wuͤrde mir keinen faulen Vierer an
den Schaden geben, erwiederte der Jaͤger. — Syl-
via ſagte, du haſt recht — und Aglee hoͤrte vor
der Thuͤre, was ſie ſagte. —
§. 23.
Unſterblichkeit und Wahrheit.
Deutſchland und Aſien.
Im Sturm dieſer Verwirrung war Arner allein
ruhig. Das Fieber, das ihm ſeinen Kopf frey
ließ, gab ſeiner Einbildungskraft eine Stimmung,
die ihn bey Stunden wie in einem Traum erhielt,
in welchem ihm wohl war. —
Er ſtaunte in dieſem Zuſtand zuruͤck in ſein
Leben, alles Thun der Menſchen ſchien ihm ein
Spiel, das nicht ſo faſt um ſeiner Wirkung willen,
als um die Kraͤfte des Menſchen in Uebung zu er-
halten, und deſſelben Anlagen zu entwickeln, eini-
gen Werth habe.
So ſah er ſein Werk in Bonnal an; es freute
ihn, daß er ſich darnach beſtrebt, aber das Uebrige
war ihm izt nichts, und die Bilder des Todes und
der Ewigkeit waren ihm ſo lebhaft und reizend,
[92]
daß er oft mit einer Art Sehnſucht beym Stun-
denſchlag zu ſich ſelber ſagte, wann izt die Uhr noch
ſo und ſo manchmal ſchlagt, ſo bin ich dann dort!
— Er ſagte ſo gern, das Leben duͤnke ihn nichts
— und da er einmal ſah, daß es Thereſe wehe that,
ſagte er zu ihr — kraͤnke dich doch nicht daruͤber,
daß ich das ſage, Geliebte! die Ueberzeugung, daß
das Leben nichts iſt, iſt mir Ueberzeugung der Un-
ſterblichkeit! — und ſezte hinzu, Fleiſch und Blut
koͤnnen nicht glauben, daß das Leben nichts iſt,
vom Wurm hinauf bis zum Menſchen iſt ihnen das
Leben alles. — Er hielt ſeinen Tod fuͤr gewiß, und
nahm am fuͤnften Tage von allen Abſchied — es
war ihm dieſen Morgen leicht ums Herz.
Die Sonne gieng ſchoͤn auf, er ſah gegen ſie
hin, und ſagte zu Thereſe, ſie ſtehet auf zu ihrem
Tagwerk; ſuchte dann mit Worten, denen er Stun-
den lang nachgedacht, ihre gute Seele zu der Noth-
wendigkeit des Seinigen vorzubereiten. —
Sie faßte ihre Kraͤfte zuſammen — und er
ſchien ſo ruhig — und ſagte ſo herzlich, ſo manch-
mal, und ſo heiter, es ſey ja nur zur Vorſorge,
daß ſie heute minder litte, als an einem andern
Tage. —
Er redte zuerſt von ſeinen Kindern, drang auf
die Fortſetzung einer einfachen haͤuslichen Arbeits-
[93]
Erziehung, als auf das beſte Mittel, dem Schwin-
delgeiſt, und der Anmaßungsſucht unſerer Zeit und
ihren Folgen bey den Menſchen vorzubeugen.
Er ſagte, der Verſtand bildet ſich am beſten
bey Geſchaͤften, weil ſich aller Irrthum, und alles
Verſehen bey denſelben ſo viel als auf der Stell zei-
get, und Gottlob fuͤr das menſchliche Geſchlecht zei-
gen muß; — da man hingegen in Meynungen und
Buͤcherſachen einander ganze Ewigkeiten hindurch
die Worte im Mund umkehren, und wieder um-
kehren kann.
Eben ſo behauptete er, bewahre die trockene,
kalte, ſchwerfaͤllige, und auf der Nothwendigkeit
ruhende Natur der Geſchaͤftswahrheit, das Herz
der Menſchen vor Geluͤſten nach dem Sommervo-
gelleben unſerer Zeit, und vor dem Hang gleich
dieſen Wuͤrmern mit Goldfluͤgeln auf dieſer Erde
wie auf Blumenbetten herum zu flattern und herum
zu ſchmachten.
Liebe deutſche Frau! ſagte er, die Reichen
und die Hofleute, und das Haͤpfengeſchlecht der
Staͤdter, die ſie verderbt, naͤhern ſich in ihrem In-
nern und Aeußern immermehr den ſchwachen Ge-
ſchoͤpfen aus den heißen Erdſtrichen; Geſichter,
Stellungen, Kleidungsarten, die ſogar mit den
verunſtalteten Figuren auf dem Chineſiſchen Por-
[94] zellan auffallende Aehnlichkeit haben, werden immer
gemeiner; man ſucht immermehr fuͤr die thieriſche
Vegetation die Reize dieſer Erdſtrichen zu erzwin-
gen, und die ſtarken weichen Genießungen, die uns
unſer Klima verſagt hat, wenn wir an der Luft le-
ben, in das Innere unſerer Zimmer zu bringen,
wo man mit Geld eine Luft machen kann, wie man
ſie haben will — daher die Naͤherung unſerer Ge-
muͤthsſtimmung mit den ſchwachen Laſtern und
Thorheiten der heißern Gegenden — daher das in
unſerer Zeit auffallende Steigen des Aberglaubens,
der Rentes viageres, der Lottos, der Bleichſucht,
des vielartigen Kindermords, des Hautgouts in
unſern Meynungen, und die allmaͤchtige Ehrerbie-
tung fuͤr alles was außen fix und innen nix iſt —
daher die tauſend ſonderbaren Auftritte unſerer Zeit
— daher die ſchwaͤrmeriſche Religioſitaͤt deſpotiſcher
Menſchen — daher die Neigung zum Bilderdienſt,
und zu ſinnlichen Vorſtellungsarten von Gott dem
Herrn, der ſeinem Volk ſo gar in heißen Laͤndern
ſolche Vorſtellungsarten verboten — daher die Ge-
walt geheimer Verbindungen, und des Glaubens
an Menſchen, die ihre wichtigſten Verſprechen nicht
halten — daher das freche Steigen aller Charla-
tanerieen, ſo gar das laute Ruͤhren der Zauber-
trommel — das alles hat den eigentlichen Feuer-
heerd, wo es ſeinen Gift kochet, in der Naͤherung
des Innwendigen der vornehmen und reichen Haͤu-
ſer, gegen den aſiatiſchen Zuſchnitt. —
[95]
Kaltes Waſſer, liebe deutſche Frau! zum trin-
ken und baden, und alle Jahr einmal zur Probe
viermal mit den Kindern, am Maytag auf unſern
Hackenberg hinauf und hinunter — und Garten,
Kuche und Keller — und lieber Rollenberger! der
gute Bauerngewerb, und das Einmaleins, und die
Mathematik dazu, das erhaltet in Buben und Maͤd-
chen deutſches Blut, deutſches Hirn, und deutſchen
Muth. — Gottlob! Es iſt mir fuͤr meine Kinder,
wie wenn das alles nicht in der Welt waͤre. —
§. 24.
Der chriſtliche Junker; eine Kloſterge-
ſchichte aus der Ritter-Zeit.
Er haßte die Schwaͤrmerey, und empfahl auch
in dieſem Geſichtspunkte der Thereſe die Geſchichte
des alten Ahnherrn, der noch auf ſeinem Schloßgut
ſelber pfluͤgte, und den weit und breit alles den
chriſtlichen Junker nannte, weil er gerecht
war, ſeinen Bauern ein harmloſes, ſicheres und
vergnuͤgtes Leben verſchafte, und das Kloſter Him-
mel auf dem Boden eben machte.
Seine Vorfahren hatten daſſelbe geſtiftet; aber
den vergabten Bauern große und wichtige Rechte
[96] vorbehalten, namentlich — daß ſie vom Kloſter zu
ewigen Zeiten nicht anderſt doͤrfen angeſehen und
behandelt werden als die uͤbrige Angehoͤrige der
Herrſchaften der Herren von Arnburg, mit Zuſiche-
rung ihres und ihrer Nachkommenden pflichtmaͤßi-
gen Schutzes; aber da die Stifter die Augen zuge-
than, und das Kloſter ſeine offen behalten, verlo-
ren die Bauern ein Recht nach dem andern. Die
Ehrwuͤrdigen Herren wollten bald von keiner Ver-
gabungsbedingniß mehr wiſſen, und behandelten
die Bauern unbedingt als des Kloſters eigne bloße
Gnadenleute; als nach hundert und fuͤnf und ſie-
benzig Jahren der chriſtliche Junker unter den Pa-
pieren ſeiner Ahnen die eigenhaͤndig vom Stifter ge-
ſchriebene Vergabungsbedingniſſe wieder vorfand,
und den Tag darauf dann den beeintraͤchtigten Leu-
ten durch den Weibel in ſeiner Farb einen Schutz-
und Schirmbrief gegen die Eingriffe dieſes Klo-
ſters zuſtellen ließ. —
Wenn er das Mariabild ab ihrem Altar haͤtte
wegtragen laſſen, die Patres waͤren kaum ſtaͤrker
zuſammen gelaufen, als ſie izt zuſammen liefen;
ſie proteſtirten zu erſt, und thaten dergleichen, als
wenn ſie alle Papiere in ihren Archiven durchſuch-
ten, und verſicherten heilig, daß ſie keine Spur
von einer Verkommniß faͤnden, die dem Ritter ein
ſolches Recht ertheile.
Er
[97]
Er trug mit deutſcher Treu des Vaters Schrift
ins Kloſter; aber es war als wenn ihn die Patres
flohen. — Es zeigte ſich ein einziger hagerer langer,
den er nicht kannte — der Ritter gab ihm die
Schrift — der Pater laſ ſie, buͤckte ſich tief, und
ſagte mit der Hand auf der Bruſt — Ihr Hoch-
wuͤrden und Gnaden, der Abt, und ein howuͤrdiges
Konvent, werden die Schrift reiflich bedenken. —
Aber uͤber 8 Tage wollte Ihr Hochwuͤrden
und Gnaden der Abt und ein hochwuͤrdiges Kon-
vent nichts von der Schrift wiſſen. —
Der Ritter ſtand da wie Loths geſalzenes
Weib, die Patres ſtoben und flohen von ihm weg,
kreuzigten ſich, wenn er nur wieder zur Pforte
hinaus waͤr.
Der Ritter gehet die Halle auf und nieder; in
einer Ecke an dem dunkelſten Orte erſcheint ihm
wieder der lange hagere Pater; es war ihm er ſehe
ein Geſpenſt in dem Dunkeln des Gangs, er buͤckte
ſich wieder ſo tief, hielt die Hand wieder auf die
Bruſt, und ſagte zum Ritter: Er ſolle in Gnaden
verzeihen, ſeine Hochwuͤrdigen Obern koͤnnen ihm
dieſe ganz unſtatthafte, ſiegelloſe und nichtsbewei-
ſende Schrift um ſeiner Seele Heil willen nicht wie-
der zuruͤckſtellen, indem dieſelbige den wunderthaͤ-
tigen Gnadenſitz ihres Kloſters widerrechtlich bekuͤm-
G
[98] mere, und ihre Bauern zu aufruͤhriſchen, laͤſterli-
chen Worten und Handlungen gegen daſſelbe ver-
fuͤhre, mit dem Zuſatz: daß das alles auf ſeine, des
Ritters Seele fallen wuͤrde, wenn er fortfahren
werde, ihre Unterthanen mit einer ſolchen falſchen
Schrift ferner gegen ihre leibliche und geiſtliche Ob-
rigkeit aufzuwiegeln. — Der Pater ſagte es, und
war' in ſeine Hoͤhle verſchwunden — Er that
wohl — der Ritter grif nach ihm eben da er ver-
ſchwand; — aber er ſtieß ſich den Kopf an — lief
dann wie wuͤtend zu ſeinen Pferden, ſaß wieder auf,
und ſagte im Reiten — Ha — meines Vaters
Schrift — eine falſche Schrift! — von ihnen —
die ſein Brod eſſen; gut, daß das H....ch mein
iſt, Großvater hat es Gott gegeben, nicht Sch...n
— dann zog er aus, machte das Kloſter Him-
mel auf dem Boden eben, nahm ſeine Bauern und
ſein Land wieder zu ſeinen Handen, und ſtiftete
zur Ruhe ſeiner Seele ein ewiges Allmoſen, groͤſſer
als der Werth des Eingezogenen, ſchrieb an den
Biſchof was er gethan habe, und weil er des Kaiſers
Freund war, kam er nicht in den Bann. —
Der Meyerhof, der an dem Ort ſteht, wo das
Kloſter geſtanden, heißt izt noch der Himmelhof,
und ſeine naͤchſte groſſe Matte, die Himmel-
matte. Es waͤchst herrlicher Klee auf der Mat-
te, zwanzig auserleſene Kuͤhe weyden auf ihr, und
izt ein einziger Ochs.
[99]
§. 25.
Grundſaͤtze zur Bildung des Adels.
Zoͤrnet es nicht, gute Kloͤſter! ihr ſeyd nicht allein
diejenige, welche etwann zu Zeiten die Gewalt ge-
gen das Volk mißbraucht, und ihm etwann zu Zei-
ten eine Schrift hinterhalten habt, die euern Finan-
zen im Wege ſtund, ſelber die Nachkommen des
chriſtlichen Ritters haben Jahrhunderte lang aus
der Lebensgeſchichte dieſes Ritters, ihrem aͤlteſten
Familienſtuͤck, ein Geheimniß gemacht, weil die
Rechte und Freyheiten, die er ſeinen Bauern gege-
ben, alle darinn aufgeſchrieben waren, und ſie eben
ſo wenig als die Patres im Himmelauf, Lumpen-
bauern gerne Treu und Glauben hielten, und ihnen
Jahrhunderte durch eben ſo wenig behagte in die-
ſem Buche zu leſen; die einfaͤltige, gutmuͤthige und
unverfaͤngliche Art, mit der er mit ſeinen Bauern
umgieng, wie er allem Streit vorbog, und haupt-
ſaͤchlich, wie wenig er zu ſeinem Edelmanns Auf-
wand, nach ſeinem Ausdruck, von dem Brod ſeiner
Bauern abſchnitt, und dabey ſein Haus doch aͤuf-
nete, wie kein Edelmann ſeiner Nachbarſchaft, und
daſſelbe weit uͤber diejenige emporbrachte, die un-
geſaͤttigt vom Brod ihrer armen Leuten, noch ſie
ſelber aufaßen. —
G 2
[100]
Dieſes alte Denkmal ihres Hauſes empfahl
Arner der Thereſe zum erſten Lehrbuch ihres Karls,
mit den Worten: praͤg ihm fruͤh die alte Lehre ein,
die Mittel, durch welche ſein Haus gegruͤndet wor-
den, werden auf immer die beſten ſeyn, es auch zu
erhalten. —
Dann ſezte er den Karl zu ſich auf das Bett,
und ſagte ihm, er ſolle ſeiner Lebtag daran denken,
daß ſein Vater ihn izt, da er nicht wiſſe, ob er
noch mehr leben werde oder nicht, ſo zu ſich auf
das Bett genommen, und ſo in den Haͤnden ge-
habt, und ihn gebethen habe, daß er ſo ein chriſt-
licher Junker werde wie der Großvater, und ſeiner
Lebtag nie ſuche zu ſchneiden, wo er nicht geſaͤet —
und ſeiner Lebtag nie ſeine Doͤrfer und ſeine Bauern
unbeſorgt und ungeleitet ſich ſelber und dem blinden
Gluͤck uͤberlaſſen, und ſo verwahrloſen wolle, daß
die armen Leute aufwachſen und werden muͤſſen
wie herrenloſes Geſindel. —
Dann that er das alte Buch auf, zeigte ihm
zuerſt die Figuren und Gemaͤhlde, die darinn ſind —
und dann die Rechnungen — und ſagte, Karl!
wir ziehen izt, wo der Großvater einen Gulden aus
dieſen guten Doͤrfern bezogen, mehr als zehen, und
duͤnkt es dich nicht auch, wir waͤren keine ehren-
veſte, rittermaͤßige und chriſtliche Edelleute, ſondern
vielmehr unedelmuͤthige, unchriſtliche und harte
[101] Judenleute, wenn wir uns weniger Muͤhe geben
wuͤrden, dieſen guten Leuten zu einem vergnuͤgten,
ſichern, harmloſen Leben zu verhelfen, als er in
ſeiner Zeit und in ſeinen Umſtaͤnden ſich Muͤhe da-
fuͤr gegeben! — Uebrigens, ſezte er hinzu, thun
wir, was wir ihnen thun, nur uns, und eine jede
von dieſen fuͤnf hundert Haushaltungen muß uns,
wenn wir auch auf nichts als auf unſern Nutzen ſe-
hen wollten, immer in dem Grade viel werther
ſeyn als wir wohl fuͤr ſie ſorgen, oder welches gleich
viel iſt, als ſie wohl ſtehet und in der Ordnung iſt.
— Glaube mir das, dieſe drey Stuͤcke gehoͤren
unzertrennt zuſammen. —
Dann wandte er ſich an den Rollenberger und
ſagte ihm, fuͤhren Sie ihn doch fleißig und immer zu
allem Schweiß und zu aller Muͤhe dieſer Leute,
und rechnen Sie ihm anhaltend und umſtaͤndlich
aus, wie wenig ihnen in allen Theilen ihrer Wirth-
ſchaft und ihres Erwerbs reinen Vortheil uͤbrig
bleibe, und machen Sie ihn doch nie vergeſſen, daß
der reine Ertrag der Wirthſchaft ſeiner Leute und
ihr Hausgluͤck der einzige ſichere Maaßſtab ſey, wie
weit er fuͤr ſich und ſeine Unterthanen wohl regie-
ren werde! —
Dann kam er auch auf die Ruhmſucht unſers
Zeitalters, und ſagte, er ſey ſo froh, daß er unter
ſeinen Haͤnden unmoͤglich koͤnne ruhmſuͤchtig wer-
G 3
[102] den; aber hingegen, fuhr er fort, guter, beſchei-
dener Mann! muß ich euch ſagen, machet auch
daß er anderer Leuten ihrer Ruhmſucht nie Bock
ſtehe — (aufhelfe, unterſtuͤtze) — und ohne Furcht
ihn damit zu verderben, ſagte er in dieſem Augen-
blick zu ſeinem Karl, flieh du deiner Lebtag die Leu-
te, die du von unten auf ſehen muſt, ſie ſind nicht
fuͤr dich — und werde du keines Menſchen Knecht!
— — er redte aber nicht blos von der Knechtſchaft
des Leibs, ſondern auch von der Knechtſchaft des
Geiſts — und ſagte bald darauf — uͤber das Brod,
um deßwillen der Menſch ſeinen Leib in die Knecht-
ſchaft giebt, iſt der ſtaͤrkere Meiſter, aber ein See-
lenknecht hat nicht einmal des Leibes Nothdurft vor-
zuwenden — glaub du nie, daß einer alles wiſſe —
es iſt das Loos des Menſchen, daß die Wahrheit
keiner hat — ſie haben ſie alle, aber vertheilt — und
wer nur bey einem lehrt, der vernimmt nie, was die
andern wiſſen.
Einen Augenblick darauf ſagte er, es iſt eine
boͤſe Zeit mit der Wahrheit, es meynt ein jeder ſein
Traum ſey dieſelbe, und ein jeder will ſeinen Traum
aufs Hoͤchſte hinauftreiben — und brauchte dann
hieruͤber den Ausdruck eines Manns, der, indem
er ſich ſelber zerreißt, aus dem Menſchen mehr zu
machen als er auf der Erde ſeyn kann, Goldkoͤrner
und Diamanten von Menſchlichkeit, Seelengroͤße
und Weisheit auswirft, die, wenn der Wurm der
[103]
Zeit das Richtige ſeiner Meynungen wird zernagt
haben, wie er das Richtige der Meynungen aller
Menſchen zernagt, noch Goldkoͤrner und Diaman-
ten ſeyn werden, und die, wann einſt die Zauberli-
nien die Welt im Menſchen mit Gott, und im Men-
ſchen ohne Gott zu vertheilen, und ſie vor der Zeit
in zwo Heerden zu ſoͤndern in ihre Beſtandtheile
aufgeloͤſt, und die Zahl und die Namen der Stuͤr-
mer dieſer Linien, wie die Zahl und die Namen ih-
rer Vertheidiger vergeſſen, und der Reiz ihres
Blendwerks auch von ſeinen Augen wird wegge-
fallen ſeyn, ihm noch den Dank unſers Geſchlechts
und die Aufmerkſamkeit der Nachwelt ſichern wer-
den. — Er ſagte nemlich zum Rollenberger mit
Lavaters Worten, „ſorgen ſie, daß mein Kind
nie an keine Allgemeinheiten glaube, die nicht ir-
gendwo in einem Individuo in der Welt wirklich
exiſtiren.„
Den General, der vor ihm zu faſt in Thraͤnen
vergieng, zu beruhigen, ſagte er, er ſoll doch nicht
glauben, daß ſeine Krankheit nicht ſchon lange in
ihm gelegen ſey, und berief ſich auf den Pfarrer
von Bonnal, der ihm bezeugen werde, er habe ſie
ſchon vor Monaten voraus geſehen, und mit ihm
ſchon damals auf dem Bonnaler Riedt auf den Fall
ſeines Todes Einrichtungen und Abreden getrof-
fen.
G 4
[104]
Mit dem Pfarrer redete er von der Unſterblich-
keit der Seele, und ſagte, das Leben und Leiden
Chriſti ſey ihm ein groͤßerer Beweis davon, als
ſeine Auferſtehungsgeſchichte; und die Gewißheit,
daß der Menſch den ſtaͤrkſten Trieben ſeiner Natur
entgegen handeln und fuͤr andere leiden und ſterben
koͤnne, um ſich beſſer, groͤßer und vollkommner zu
fuͤhlen, als wenn er das nicht thun wuͤrde, ſey
ihm ein groͤßerer Beweis der Unſterblichkeit, als
alles, was man davon ſagen koͤnne. —
Der Lieutenant litt mehr, und ſaß niederge-
ſchlagener da, als am Abend der Schlacht, da er
ſein Bein verloren, und Stunden lang Niemand
fuͤr ihn da war, ihn zu beſorgen. —
Arner ſagte ihm, ſeyd ein Mann! wenn unter
uns beyden einer ſterben muß, ſo iſt es beſſer ich
ſterbe. — Ihr kommet ohne mich fort, aber ich
wuͤrde ohne euch nicht fort kommen — Gott ſteh
euch bey! Wann ich ſterbe, ſo iſt Bylifsky euer
Freund, und ihr bleibt der Freund meines Hauſes
und meiner Doͤrfer! —
Der Pfarrer litt minder; gewohnt am Tod-
bette der Menſchen nur das Druͤckende ihres nichti-
gen zu Grundgehens, und ihres ſeelenloſen Ausloͤ-
ſchens zu ſehen, war ihm auf eine Art wirklich
wohl um Arner. —
[105]
Nur erſt da er von ihm fortgehen und wieder
allein laſſen mußte, uͤbernahm ihn die volle Gewalt
des Schmerzens. Die Vorſtellung von ſeinem Ver-
luſt und dem Verluſt ſeiner Gemeinde, und den
Hofnungen, die er geſchoͤpft — und dem Zuſtand,
dem ſie kaum halb entronnen, und in welchen ſie
izt wieder hinabſinken — das alles brachte ihn dann
am Abend, da er wieder allein war — und die
Nacht durch — faſt in Verzweiflung. —
§. 26.
Viele Menſchen wuͤnſchen Arner den Tod.
Arner fuͤhlte ſich dieſen Abend entkraͤftet, und
mußte allein ſeyn. Sein Fieber ward wieder ſtaͤr-
ker, und er traumte in ſeiner Hitze uͤber das nichti-
ge Schickſal der Menſchen — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
— — — — — — — — — —
Am Morgen lag er in einer Todes-Ermattung.
Sein Athem war kurz — ſeine Glieder erkaltet —
und alle Zeichen der aͤußerſten Entkraͤftung ſtiegen
auf das Hoͤchſte. — So verließen ihn der Pfarrer
und der Lieutenant, und fuhren auf Bonnal.
[106]
Das Volk des Dorfs, das aus allen Haͤuſern
herzuſtroͤmte zu fragen, wie es ſtehe? ſahe ihre Au-
gen ausgeweint, und ihre Geſichter entſtellt wie tief
kranker Leuten — und verſtund ihre Antwort, ehe
ſie redten, ſie machten aber auch ſelber wenige Hof-
nung. — Viele Kinder weinten laut, und viele alte
Leute, welche die Kinder weinen ſahen, weinten
mit — und es war in dieſem Augenblicke unter dem
Volk nur Eine Stimme: „Wenns doch nur Got-
tes Wille waͤr, daß Er wieder aufkommen wuͤrde!!
— Er ſey ein ſo braver Herr! —„ und ein jedes
wußte in dieſem Augenblick etwas Liebes und Gu-
tes zu erzaͤhlen, das er ihnen und den ihrigen
erwieſen. —
Aber nur eine Stunde hernach war es ſchon
nicht mehr vollends ſo —
Sie achteten ihn izt alle ſo viel als todt. —
Sie hatten es von des Pfarrers Knecht, der auch
im Schloß war, ſelbſt gehoͤrt, daß man ihm die-
ſen Morgen ſo viel als auf das Ende gewartet ha-
be. In dieſem Glauben giengen ſie von der Kut-
ſche weg; und als ſie heimkamen, ein jedes in ſeine
Stube, und anfiengen auch denen zu erzaͤhlen, die
daheim geblieben waren, und die Menge der wei-
nenden Kinder, und die entſtellten Geſichter des
Pfarrers und des Lieutenants nicht mehr vor ih-
ren Augen hatten — und der erſte Eindruck der
[107] Neuheit und des Theilnehmens vorbey war —
waren die Leute bald da — daß ein jeder, juſt ſo
wie ihm ſein Kopf ſtund, und wie ihm ſein Herz
ſchlug, ſich dieſe oder jene Gedanken machte, und
dieſe oder jene Vorſtellungen hatte, wie es dann
auch kommen werde, wann er todt ſey? —
Und ſchneller als der Faden der Spinne, ent-
ſpannen ſich in den Koͤpfen der Leute die ſonder-
barſten Gedanken — und reger als das Kroſſeln
vieler Krebſe in einem Kratten regten ſich in ihren
Herzen die ſonderbarſten Begierden, und verdeck-
ter als hinter Buſch und Schilf und unter den
Halmen des Roggens ein Ausreißer da liegt, zit-
tert ſich zu zeigen, und doch immer weiters vorruͤckt
wohin er zielet, ſo ſteckte hinter dem Spinnen der
ſonderbaren Gedanken, und hinter dem Regen der
ſonderbaren Begierden ein abſcheulicher Wunſch,
der ſich zitterte zu zeigen, und doch immer weiter
vorruͤckte, wohin er zielte. —
Wer etwas gerne gehabt haͤtte, und weil er
lebte, nicht dazu kommen konnte, der dachte, ich
komme dann dazu. —
Wer etwas nicht gerne ſah, oder nicht gerne
hatte, und nicht aͤndern konnte, weil er lebte, der
dachte, es hoͤrt dann auf. —
Das war der Anfang — dann kamen ſie wei-
ter zu denken — in Gottes Namen, er iſt auch ein
[108] Menſch, und muß auch ſterben wie ich — und wie
alle andere — ich kann ihm nicht helfen. —
Andere druͤckten ſich ſo aus — es ſcheint doch,
es koͤnnte noch kommen, wie der Jaͤger es geſagt
hat, daß die alte Ordnung vor dem andern Jahr
wieder Meiſter werden muͤſſe. —
Wieder andere — es iſt ein Laͤrm, wie wenn
ein Koͤnig ſterben wollte! — zulezt wird kein Pflug
ſtill ſtehen, wann er nicht mehr iſt. —
So wurden die Gedanken nach und nach im-
mer haͤrter und ſchlechter, und hie und da floß ſo
gar ein Wort, ich will es dem oder dieſem denn
auch zeigen, wann es ſo kommt. —
Die Vorgeſezten hatten es ihm nichts weniger
als vergeſſen, daß ſie mit dem Hut in der Hand,
und auf den Knien ihre Armen um Verzeihung
hatten bitten muͤſſen — und von denen, die Geißen
von ihm hatten, dachten nicht wenige, ſie muͤſſen
ſie ihm dann nicht mehr bezahlen. —
Mit jeder Stunde ſagten ihrer mehrere, es
wuͤrde einmal viel wieder anderſt kommen, und
anderſt werden, wann er todt waͤre; und die ſo
es ſagten, hatten ſicher alle in dem oder dieſem
Stuͤck einen Grund, warum ſie es ſagten, und wa-
rum ſie es wuͤnſchten, und ſagten es ſich nur um
deßwillen, weil ſie es wuͤnſchten. —
[109]
Aber der Menſch iſt in ſolchen Faͤllen gar hoͤflich
mit ſich ſelber, und glaubt nichts weniger als et-
was dergleichen von der ehrlichen Chriſtenhaut, in
der er ſteckt, und die er ſo wohl kennt. — So iſt
es in aller Welt, ſo war es auch hier. — Dem
Schlimmſten traumte es nicht, daß er das wuͤnſche,
oder nur den geringſten Gedanken davon in dem
hinterſten Schlupfwinkel ſeines Herzens habe. —
Die guten Leute! ſie konnten ja nichts wider
Gottes Willen, und wenn ſie ein Kraut oder ein
Pulver, das fuͤr den Tod gut iſt, gehabt oder ge-
wußt haͤtten, ſie waͤren dennoch darnach gelaufen
und haͤtten's ihm gebracht oder gegeben, wenn denn
das, was ſie etwan gewuͤnſcht, ſchon nicht anderſt
gekommen waͤr. —
Ich weiß nicht — vielleicht waͤren doch nicht
alle gelaufen. —
— Es greift immer weiter — es wird immer
lauter, ein freches und hie und da laͤchlendes Re-
den unter den Weibern und Maͤnnern — ich will
gerne ſehen, wie es noch koͤmmt. —
Es zeigt ſich, die Menge fuͤrchtet ihn ſchon
izt nicht mehr, weil er im Bett liegt. —
Man reichte, was bey Monaten nie mehr
als im Geheim bey Nacht und Nebel geſchah,
[110] izt bey hellem Tage, Wein uͤber den Berg zum
Saufen. —
Es ſpielten Buben die Nacht durch mit Kar-
ten. —
Die Weydhirten fuhren am Morgen im Nebel
in die Einſchlaͤge der Armen.
Die Reichen lachten ungeſcheut daruͤber, und
ſagten, den Armen zu kraͤnken unverhohlen, es
ſcheint, die Buben merken es ſchon, wie es etwann
bald wieder kommen moͤchte. —
Von den Armen dachten ſchon mehr als die
Haͤlfte, es iſt aus mit unſerm Traum — und ihrer
viele ſagten, das Gluͤck hilft nur denen, die etwas
haben. —
Arme Leute! iſt denn eine gute Obrigkeit nur
ein Gluͤck? — *)
Der Kienaſt mit den vielen Kindern glaubte
auch, mit den geſchenkten Frohndienſten und dem
Buͤrgerholz ſey es dann aus, die Vorgeſezte geben
ihm dann nichts mehr — und dem Untervogt, der,
ſeit dem der Junker zu ihm geſagt, er koͤnne mit
[111] einer jeden Frau im Dorf mehr ausrichten als mit
ihm, vom Morgen bis in die Nacht nachgedacht,
wie er mit Ehren wieder koͤnnte vom Dienſte kom-
men, dem wars izt nicht mehr ſo — wenn er todt
iſt, dachte er, ſo ſagt er mir nichts mehr derglei-
chen, und es ſchien ihm, es moͤchte ihm dann bey
der Stelle recht wohl ſeyn, wann er des Meiſters
los waͤre. — Auch fragte er jedermann, der vom
Schloß in das Dorf kam, ob es auch gewiß wahr
ſey, daß es ſo uͤbel mit ihm ſtehe? und gar keine
Hofnung zum Aufkommen mehr da ſey? — Er
war auch, ſo lange er den Mantel trug, nie ſo
guten Muths als izt. —
§. 27.
Was die Meyerin zur Braut macht.
Und ſeine Frau meynte, es koͤnnte izt gar mit dem
Sonnenwirth gerathen. — Es kann nicht anderſt
ſeyn, ſagte ſie, ſie hat dem Lumven Rudi nur um
des Junkers willen Hofnung gemacht, und weil es
izt ſo iſt, ſo iſt ſie gewiß froh, wenn der Sonnen-
wirth ſich wieder meldet.
Es wird ſich, wohl geben, wenn er todt iſt,
ſagte ihr Mann, ſie aber antwortete, du kommſt
immer mit deinem „Es wird ſich wohl geben„
[112] Du Narr! es giebt ſich nichts, als das, was man
macht — und mit deiner Schweſter warten, bis er
todt iſt, heißt juſt den Wagen vor das Roß ge-
ſpannt, und dann wollen fahren — du ſollteſt dich
ſchaͤmen, dreyßig Jahre eine Schweſter zu haben,
und ſie nicht beſſer zu kennen. —
Du zankeſt immer, und zankeſt ob allem, ſagte
der Untervogt — und ſie — es iſt doch wahr, man
muß blind ſeyn, in den Tag hinein zu reden wie
du redeſt, kommt dir dann nicht auch in den Sinn,
ſie ſcheue ſich, wenn der Junker todt iſt — und
wolle dann nicht den Namen haben, daß es ſey wie
es iſt. Nein, wenns gerathen muß, ſo iſt izt die
rechte Zeit, weil ſie noch mit Ehren kann umkeh-
ren. —
Der Vogt an ihre Sprache ſo gewoͤhnt als an
ſeine Mittagsſuppe, ſagte kein Wort daruͤber, als:
darinn haſt du izt recht. —
Hab ich recht, erwiederte die Voͤgtin? Es iſt
mir lieb, daß du es merkſt — aber es iſt nichts zu
verſaumen — geh doch, ſo geſchwind als du kannſt,
rede noch einmal mit ihr — aber mache deine Sa-
che beſſer als das Leztemal meine Waͤſcherin. —
So ſchickte ſie ihn — doch ſezte ſie noch hinzu
— die Stunde iſt vielleicht ſo gut, daß ſie izt froh
iſt, wenn du kommſt. —
Er
[113]
Er gieng', aber er bekam von ſeiner Schwe-
ſter zur Antwort — ſie brauche keine Anſchicksmaͤn-
ner, wie ſie ihm ſchon einmal geſagt, und er ſolle
nur ſchweigen, ſie verliere kein Wort mit ihm uͤber
dieſen Punkt. —
Es machte ſie wild, beydes, daß ſie glaubten,
ſie nehme den Rudi nur um des Junkers willen,
und denn, daß ſie izt wie Schelmen des guten
Herren ſeine Krankheit dazu brauchen wollen, ſie
dem armen Rudi auf eine ſolche hinterliſtige Art
abzujagen, und gleichſam abzuſtehlen.
Nein! erſt izt muß er mich haben, ſagte ſie zu
ſich ſelber — ſo bald ihr Bruder, der mehr aus-
richten ſollte, und minder ausrichtete, als ſeiner
Frauen Waͤſcherin wieder fort war. —
Und ich will ihnen izt zeigen, ſezte ſie hinzu,
daß ich ihn nicht um des Junkers willen genom-
men — aber weil es ſo iſt, und ſie es ſo machen,
ſo muß es izt ſeyn — er hat lange genug gewar-
tet — ſo ſagt ſie — ihr Herz ſchlaͤgt — ſie ſtaunt
— Thraͤnen fallen uͤber ihre Wangen — und ſie
ſagt wieder — ich will ihn in Gottes Namen neh-
men — ſtaunt wieder — denkt izt nicht mehr an
den Vogt, und nicht mehr an die Voͤgtin — und
eben ſo wenig, wie ſie zu dem Entſchluſſe ihn izt
heute zu nehmen gekommen ſey — ſie ſieht ihn izt ſel-
H
[114] ber vor ihren Augen, und ſeine Kinder, und ſeine
Stube, bis auf die Helgen (Kupferſtiche) die an
der Wand hangen — ſie ſtaunt wieder — Thraͤnen
fallen auf Thraͤnen — ſie verriegelt die Thuͤre —
ſizt nieder zum Tiſch — ſie nimmt ihn — ſie nimmt
das Gebethbuch von der Wand, und bethet laut
das Gebeth einer Tochter, die in den Ehſtand tre-
ten will; legt dann ihren Kopf uͤber ihre Haͤnde,
und uͤber das Buch, netzet beyde mit Thraͤnen,
und bethet noch ſelber, daß Gott ihren Entſchluß
ſegne und heilige; ſtehet dann wieder auf, trocknet
ihre Augen, fuͤhlt ſich mit ſich ſelber zufrieden, und
ſagt, ich will in Gottes Namen izt zur Gertrud,
kleidet ſich langſam an, trocknet noch manchmal
ihre Augen — und geht. —
§. 28.
Ein Mißverſtand.
Gertrud dachte an nichts weniger, als daß ſie eine
gute Botſchaft haͤtte; ſie war vielmehr unzufrie-
den, daß ſie den guten Rudi ſo lange aufziehe;
und da ſie ſie langſam und ſtaunend die Gaſſe hin-
auf kommen ſah, dachte ſie wirklich mit einer Art
von Unwille, was hat ſie izt wohl im Kopfe? und
gieng nicht einmal ihr fuͤr die Thuͤr entgegen.
[115]
Das Herz war der Meyerin ſo voll — ſie ſezte
ſich nieder, wie wenn ſie krank waͤre, und ſagte leiſe
und ſchnaufend — wie eine kurzathmende Frau,
die gar bange hat — zur Gertrud, du! ich habe
mich in Gottes Namen entſchloſſen, ich will ihn
nehmen. —
Dieſe verſtund es vom Sonnenwirth, und
antwortete mit einem Gemiſch von Unwillen und
Wehmuth, ich haͤtte dir das nicht zugetraut. —
Ae — was haͤtteſt du mir nicht zugetraut?
ſagte die Meyerin, die nicht wußte, was ſie meynte. —
Daß du den Mantel ſo nach dem Wind haͤn-
gen wuͤrdeſt, erwiederte dieſe. —
Meyerin. Ae — wie haͤng ich den Mantel
nach dem Wind? — Haſt nicht verſtanden was ich
ſage? oder was ſteckt dir im Kopfe? —
Gertrud. (Noch immer im Irrthum) Du
machſt ſo viel Fragen — ich wuͤßte nicht, auf wel-
che ich dir lieber antworten moͤchte. —
Meyerin. So biſt du mir noch nie begeg-
net — was iſt das? —
Gertrud. Es thut mir auch weh, daß du
juſt, weil der Junker krank iſt, das thuſt, und ſo
einsmals den Sonnenwirth nimmſt. —
Izt verſtund ſie die Meyerin, ſchwieg einen
Augenblick, und ſagte dann laͤchelnd: izt redeſt du
H 2
[116] doch auch, daß man dich verſteht, vorher habe ich
nicht gewußt, was du meynſt? —
Gertrud. Izt mit naſſen Augen — und
du lacheſt noch? —
Meyerin. Ich habe Urſache. —
Gertrud. Schweige! du haſt keine — und
macheſt mich boͤs. —
Meyerin. Ich will dich dann auch wieder
gut machen.
Gertrud. Du kannſt noch ſpotten? So
wareſt du nie! —
Meyerin. Siehe, ich hab es nur im Spaß
geſagt, er weißt es noch nicht, wann du wieder
gut mit mir biſt, wer weißt, was ich dir noch zu
Gefallen thue! —
Gertrud. Du machſt mich wild! —
Meyerin. Und du mich lachen — merkſt
auch nicht, daß du im Traum biſt? —
Gertrud. Wie im Traum?
Meyerin. Ich will den Sonnenwirth nicht —
Gertrud. Ae — was hab ich denn gehoͤrt?
— und einen Augenblick darauf — Herr Jeſus!
— haſt vom Rudi geredt? —
Izt war ſie aus ihrem Traume, und fuͤhrte
die Meyerin bald zu ihrem lieben Rudi. —
[117]
§. 29.
Die Brautſtunde einer Stiefmutter.
Er haſpelte eben das Garn ſeiner Kinder, aber der
Haſpel ſtund ihm in der Hand ſtille, wie die Augen
im Kopf, als ſie in die Stube hinein kamen. — Er
ſaß da wie angenagelt, und konnte die Hand nur
nicht zur Kappe (Muͤtze) hinaufbringen, ſie abzuzie-
hen. — Die Meyerin ſaß neben ihn ab, und Ger-
trud ſagte zu ihm — ſie iſt izt dein! — Eine Weile
war alles ſtill — die Kinder ſtunden von ihren Raͤ-
dern auf. — Gertrud ſagte ihnen, ſie iſt izt euere
Mutter! — Dann ermunterte ſich die Meyerin, ſtund
auf, gab den Kindern einem nach dem andern die
Hand, und ſagte, liebe Kinder, geb uns Gott ſei-
nen Segen bey einander; dann ſagte auch Ger-
trud, und der Rudi, der die Hand der Meyerin in
ſeinen beyden Haͤnden hielt — das gebe Gott! —
Es war das erſte Wort, das er redte, und lange
darauf ſagte er noch kein anders. Seine Stille ge-
fiel der Meyerin; ſie ſagte ſelber zu den Kindern, wir
wollen doch izt nicht viel reden; aber ſie blieb den
ganzen Abend da, und ſo bald es ihr der erſte Ein-
druck zugelaſſen, ſagte ſie zur Gertrud, ſie ſolle doch
izt nichts anruͤhren, es freue ſie izt ein paar Stunden
zu thun, als wenn ſie ſchon eingeſeſſen waͤre; dann
H 3
[118] nahm ſie dem Rudi den Haſpel, und ſagte, es geht
dir izt doch nicht recht — haſpelte munter darauf
los, half den Kindern an ihren Raͤdern wo es fehl-
te, flochte zweyen die Zoͤpfe, kochte der Kleinen den
Brey, gab den Engelkind auf ihrem Schooß zu
eſſen, zog es dann ab, hielt es eine Weile nackend,
wie die Mutter Gottes den lieben Heiland, auf
ihrem Arme — machte dann daſſelbe ſeinen Ge-
ſchwiſterten alen gute Nacht ſagen, hielt ihm das
Koͤpfgen an ihre Backen, ſie kuͤßten daſſelbe alle —
und es machte allen Ae — Ae — dann that ſie es
ins Bett, konnte faſt nicht von ihm weg, und ſang
ihm noch bis es entſchlafen war. Der Rudi ſtand
bey allem hinter ihr her wie ihr Schatten. — Doch
als ſie fortgehen wollten, machte er ſeine Kinder
aufſtehen, und der Gertrud danken — aber er hatte
ein ſilber und vergoldetes Halsband mit Granaten
und Bollen in einem Papier in der Hand — Ach,
mein Gott! er hatte es unter der Frauen ſelig einer
reichen Baͤurin verſezt, und izt, da er es konnte,
auf dieſen Fall wieder heraus geloͤſt, und dachte
wohl tauſendmal, ſo oft er es anſah, wanns auch
die Frau ſelig wuͤßte, daß ich wieder dazu gekom-
men, es wuͤrde ſie doch auch freuen. — Aber er
dorfte das Papir der Meyerin faſt nicht geben, ſie
merkte es, und fragte ihn noch ſelber, was haſt
du da in den Haͤnden? — Nahm ihm es ab —
und trug es den lieben Rudi zur Freude am Hals
[119] heim, pfluͤckte dann noch in ſeinem Garten Blu-
men, und trug ſie in einem Koͤrbchen, das auch
ſein war, mit ſich heim.
§. 30.
Schleck' Salz — ſo duͤrſtets dich —
Das Weib, das mit den Fehlern und Schwaͤchen
ihres Geſchlechts, noch die Roheit und Haͤrte des
maͤnnlichen verband — die Voͤgtin — ahndete
nichts weniger als daß izt ſo etwas begegne, ſie
meynte vielmehr die Antwort, „ſie brauche keinen
Anſchicksmann“ u. ſ. w. wolle nur ſo viel ſagen,
wenn der Vetter etwas mit ihr wolle, ſo ſoll er ſel-
ber kommen! — Flugs ſandte ſie uͤber den Berg,
und der, den ſie ſandte, brachte den Vetter hinuͤ-
ber. —
Die Meyerin fand ihn, da ſie heim kam, vor
der Thuͤre ſtehen. — Es duͤnkte ſie doppelt ſo un-
verſchaͤmt als die Anfrage am Morgen, doch war
ſie freundlich, machte ihn in die Stube hineinkom-
men, und er hatte ſchon gute Hofnung — als ſie
ihn izt fragte, was er Guts wolle? —
Er muͤſſe ihr einmal, war ſeine Antwort, uͤber
die Sache, die ſie wohl wiſſe, und die er ſchon lange
an ſie geſucht habe, noch einmal etwas ſagen. —
H 4
[120]
Du kommſt mir eben recht, erwiederte die
Meyerin, ich habe dir juſt auch etwas daruͤber zu
ſagen — dann that ſie das Koͤrbchen auf, das ſie
unter dem Arme getragen, nahm friſche Roſen her-
aus weiße und rothe, Roſmarin und Majoran, und
ein großes dunkelgelbes Nelken, buͤſchelte einen
Straus, band' ein buntes Band darum, und lach-
te immer darzu. —
Der Ochſenfeißt wußte nicht, was das abgeben
wollte; endlich war ſie fertig, gab ihm den Strauß
— und ſagte — da haſt du den erſten, den ich ma-
che, ſeit dem ich Braut bin — die Blumen gehoͤ-
ren dem Rudi, du kannſt ihm dann an der Hochzeit
danken. —
Der Ochſenfeißt that das Maul auf, und haͤng-
te es hinab, daß die Meyerin fuͤrchtete, es falle an
Boden hinunter. —
Sie lachte fort — und er kam mit Zeit und
Muͤhe dahin, zu ſagen — wenns ſo iſt — ſo bin
ich doch heut wohl vergebens gelaufen. —
Biſt du ſo gar muͤde geworden? erwiederte
die Meyerin. —
Das eben nicht, ſagte der Ochſenfeißt, aber
es iſt doch weit und ein wuͤſter Weg. —
Jaͤ — aber denk', ich habe dich nicht heißen
kommen, bey dem ſchlechten Weg, ſagte die Meyerin.
[121]
Mit dem gieng er. — Die Untervoͤgtin warf
ihm ſeinen Strauß mit ſamt dem Band zum Fen-
ſter hinaus auf den Miſt. — Ihr Mann ſagte, es
iſt izt aus — der Sonnenwirth ſezte hinzu — Katz
und d'Maus.
§. 31.
Zwey Schulmeiſterherzen.
Der Gedanke, es nimmt alles wieder ein Ende,
wenn er die Augen zuthut, griff immer weiter,
und hatte immer mehrere Folgen. Da die Kinder
aus der Schule ihren Aeltern daheim erzaͤhlten,
der Lieutenant habe immer rothe Augen, und
weine faſt den ganzen Tag, gaben ihrer viele
ihnen zur Antwort, er hat wohl Urſach, ſein
Brodkorb iſt auch dahin, wenn der Junker todt
iſt. —
Aber bleibt er dann nicht mehr unſer Schul-
meiſter? ſagten die Kinder, und es war ihnen ſo
angſt! —
Wer wollte ihn bezahlen? erwiederten die
Aeltern; und viele ſezten hinzu, er kann dann auch
wieder ſpatzieren woher er gekommen. —
Das that den Kindern ſo weh, ſie konntens
nicht alle glauben, und redten mit einander ab,
[122] ſie wollen ihn ſelber fragen, das ſey das aller-
beſte.
Ihm zerſprengte es faſt das Herz, als ſie nach
der Schule mit naſſen Augen vor ihm zu ſtunden,
und das ihm naͤchſte Kind mit ſichtbarem Zittern zu
ihm ſagte, ſie doͤrfen ihn faſt nicht fragen, aber
es ſey ihnen auch ſo angſt, er ſolle ihnen doch ſa-
gen, wenn der Junker ſterbe, ob er dann nicht
mehr ihr Schulmeiſter ſeyn koͤnne? — Er mußte
ſich umkehren, Luft ſchoͤpfen unter dem Fenſter —
ſein Athem toͤnte wie eines Menſchen, der einen
großen Berg hinunter gejagt worden, und izt den
erſten Augenblick ſtille ſteht. — So bald er reden
konnte, kehrte er ſich wieder um, ſtreckte die Haͤn-
de gegen ſie aus, wie wenn er ſie alle darein neh-
men wollte, und ſagte dann, wohl Kinder! auch
wenn es Gott gefallen ſollte, den Junker nicht
mehr aufkommen zu laſſen, will ich doch bey euch
bleiben — dann druͤckte er allen die Hand — und
er fuͤhlte, weißt Gott, daß die meiſten ſchwizten —
Wie ihm das zu Herzen gieng — und wie die Kin-
der ſo freudig heimgiengen! —
Aber viele Aeltern durften ihnen noch ſagen,
pochet nicht zu laut, wenn er ſchon will bleiben,
es iſt denn die Frage, ob er es koͤnne? Aber die
Kinder glaubten dem Schulmeiſter, und pocheten
fort. —
[123]
Indeſſen traͤumte ſich der alte Schulmeiſter
wieder in ſeinen Platz, und ließ ſich verlauten, die
Krankheit Arners, und ſein fruͤhzeitiger Tod, ſey
ein ſichtbares Strafgericht fuͤr ſeine Entheiligung
der Kirchen und Schulen. —
§. 32.
Es faͤngt ſich an zu zeigen, daß der Baum
Wurzeln hat.
Aber habt nicht bange, lieben Leute, ihr wiſſet ja,
daß der alte Schulmeiſter ein Narr iſt — ſo ohne
Schwertſtreich geht Arners Ordnung nicht verlo-
ren, auch wenn er ſterben ſollte; und ihr wiſſet ja
noch nicht einmal das. — Hoͤret einmal was izt
begegnet. —
Da die Spinnweiber zum Mareili kamen —
und demſelben klagten, was man ſage und was ſie
hoͤren, und wie uͤbel es waͤre, wenn es kommen
wuͤrde, wie man ſage und meyne, gab es ihnen zur
Antwort — wenn ſo leicht ein Kraut zu finden
waͤre dem Junker zu helfen, als es fuͤr das, was
ihr fuͤrchtet, Mittel und Wege hat, ſo haͤtte ich izt
etliche Naͤchte mehr geſchlafen, als ich nicht ge-
than. —
[124]
Ja, ja, wenn du wuͤßteſt, was man aller Or-
ten ſagt, und wie viele Leute izt ſchon zeigen, daß
ſie darauf warten und blangen (ungeduldig ſind)
bis es wieder anderſt werde — erwiederten die
Weiber. —
Und das Mareili gieng zur Stunde zu ſeinem
Bruder in die obere Stube, und ſagte zu ihm, ich
bin izt 20 Jahre bey dir, und habe noch nie nichts
von dir begehrt, und was mein iſt, iſt dein —
aber izt muſt du dich angreifen, und zeigen, daß
du nicht mehr der Bettler Marti biſt. —
Was willt du mit dieſer Vorrede? ſagte der
Meyer. —
Ha — ich will darmit, du muͤſſeſt machen,
daß wenn in Gottes Namen der Junker, wie man
fuͤrchtet, zum Sterben kommen ſollte, der Schul-
meiſter da bleiben koͤnne, und die neue Ordnung
nicht gleich wieder zu nichten gehe. —
O — dafuͤr haſt du mich nicht zu bitten —
erwiederte der Meyer — ich bin mir ſelber nicht ſo
feind, daß ich eine Schul und Einrichtungen ſo
leicht wieder zu Grund gehen laſſe, die meine Ar-
beiter ſo weit in eine Ordnung und fuͤr ſich gebracht
haben, als ich ſie ohne Hilfe mein Lebtag nicht
haͤtte fuͤr ſich bringen koͤnnen. —
Er ſezte hinzu, wenn ich ihn allein bezahlen
muͤßte, ich wuͤrde ihn nicht fortlaſſen, aber in ſol-
[125] chen Faͤllen thut man immer beſſer, man mache,
daß die andern auch wollen —
Das iſt wahr, ſagte das Mareili, und gieng
innig mit ihm zufrieden, auf der Stell zur Reinol-
din, auch mit ihr daruͤber zu reden.
Es verſteht ſich, antwortete dieſe, ehe es kaum
halb geſagt hatte, was es wollte, daß er nicht wie-
der fort muß — ließ es ſtehen, und ſprang hin-
aus zu ihrem Mann, der eben bey einem kranken
Hauptvieh im Stall war. —
Dieſer antwortete ihr uͤber ſeine Kuͤhe heruͤber
— ja freylich, wie du willt! —
Ja — aber wir muͤſſen mit deinem Vater
daruͤber reden, erwiederte die Frau, ihm darf es
Niemand abſchlagen, willt du nicht mit uns kom-
men? —
Ich will nur auch zuerſt mit der Kuh fertig
machen, ſagte der Mann. —
Und die Frau — aber es geht doch nicht lang?
Es gieng nicht lang, und ſie nahmen das
Mareili mit ſich. —
Ihr Anbringen freuete den Alten ſo ſehr, daß
er ihnen ſagte, er wiſſe ſich nicht zu gedenken, daß
ihm vor Freude das Herz ſo geklopft haͤtte wie
izt. —
[126]
Er zog alſobald eine neue warme Kappe uͤber
die Ohren, ſezte den Hut daruͤber auf, nahm war-
me Handſchuh, und ſeinen Stab aus dem Kaſten,
und gieng. —
Ae — was will doch der Großvater, daß er
bey dem ſchlechten Wetter zu uns kommt? fragte
ihn ein jedes, wo er zuſprach — und wo er zu-
ſprach, war er der liebe alte Mann, der jedermann
gedient, und den jedermann in Ehren hielt — er
war der Reichſte, und obgleich ſchon alt, ſo war
kein Haus, in welchem Mann und Frau, ſo bald
er ſagte was er wollte, einander nicht anſahen, und
Winke ſich gaben, es gelte ſich zu beſinnen, was
man antworte, und man doͤrfe es ihm nicht ab-
ſchlagen. —
Er bettelte nicht, er ſagte die Sach, und ſezte
hinzu, die Sache iſt ſo noͤthig und gut, und es ſind
unſer uͤber die zwanzig Bauern, die das wohl koͤn-
nen, und die, wenn ſie es nicht thun, an ihren
Kindern und am ganzen Dorf auf eine leichtfertige
Art ſich verſuͤndigen — ich hoffe, ihr ſchlaget es
mir nicht ab; aber ich ſage es zum voraus, wenn
mir einer abſchlagt, ſo muß es doch ſeyn; ich will
es denn fuͤr ihn thun, und ſeinen Kindern und dem
Dorf zum Allmoſen geben, und es muß mir denn
ſo eingeſchrieben werden. — Aber es ließ ſich das
Niemand zum Allmoſen einſchreiben — mancher
[127] ſchuͤttelte zwar wohl den Kopf, und haͤtte es ſicher
Niemand anderm eingeſchrieben, aber ihm ſchlug
es Niemand ab, und der Rodel war, ehe die Son-
ne untergegangen, vollſtaͤndig. —
Es ſcheint ein Miſchmaſch durcheinander —
die Freude der Leuten, daß es wieder anderſt kom-
me, wenn der Junker ſterbe — und das leichte
Vollmachen dieſes Rodels.
Aber das Thun aller Menſchen iſt ſo ein Miſch-
maſch, und das Unbegreiflichſte, das der Menſch
mit ſich herum traͤgt, iſt die Schwaͤche, mit der er
in tauſend und aber tauſend Faͤllen um nichts und
aber nichts ſich dahin bringen laͤßt, zu thun, was
ihm in der Seele zuwider iſt. —
Ach, es braucht ſo wenig einen ganzen Haufen
Menſchen nach ſeiner Pfeife tanzen zu machen, daß
mir ein Baͤrenfuͤhrer ein anderer Kerl iſt, als einer,
der die Menſchen tanzen macht.
Im Grund aber, wenn ſchon viele dieſes oder
jenes gerne in der alten Ordnung gehabt haͤtten,
ſo wars doch nicht an dem, daß ihrer viele die ganze
alte Ordnung wieder zuruͤck gewuͤnſcht haͤtten, das
durfte nur Niemand ſagen; und es waren immer
noch die Mehrere, und die Stillen und Armen alle,
welche aufrichtig wuͤnſchten, daß alles ſo bleibe. —
[128]
Der Alte brauchte auch die Liſt, wenn er ſchon
den Weg doppelt machen mußte, daß er zuerſt zu
denen gieng, die es gerne thaten; er wußte wohl,
wann es einmal einen Anfang habe, ſo ſchrieben
ſich die andern auch ein — wie die Gaͤnſe gagen
— er war immer ſein Lebtag in guter Laune, und
hatte immer mit den Leuten Spaß — und auch izt
ſagte er etlichen, wenn ſie ihre Federn abgelegt,
und er ihre Tolgen-Namen auf dem Papier getrocknet
im Sack hatte, wiſſet ihr izt auch, daß ihr euch
dem Baumwollen Meieli, und nicht mir, unter-
ſchrieben? — Ae (Ey) — wie das — wie das?
Es wird etwa nicht ſo ſeyn, ſagten Maͤnner und
Weiber. — Wohl freylich, antwortete der Reinold,
laßt es euch nur nicht gereut haben, es hat mich
dafuͤr angeſprochen, daß ich mit euch rede, und
es und ſein Bruder haben zuerſt verſprochen, aber
ſie wollen dann zulezt unterſchreiben.
Das wurmte nicht nur einem ſo, daß er mit
Kopfſchuͤtteln ſagte, wenn er das gewußt haͤtte, daß
die Bettlerherrin darhinter ſteckte, ſo haͤtt' er es ge-
wiß nicht gethan.
Ein Mann, der kein Narr war, gab ihm zur
Antwort — du biſt nicht ſchuld — deine Sohns-
frau und das Mareili ſchicken dich im Dorf her-
um; ohne ihren Weiberbund wuͤrdeſt du izt daheim
ſitzen und die Haͤnde am Ofen halten. — Der
Alte
[129] Alte mußte lachen, und trug den Weiberbund her-
um, wo er hinkam. —
Und das Baumwollen Mareili ſagte, ſo bald
es von dieſem Bund hoͤrte — izt, weil mans ſagt,
iſts eben recht ihn zu machen; und was vorher nicht
beſtimmte Abred war, das war es izt. — Die
Reinoldin, die Meyerin, Gertrud, und es ver-
banden ſich izt foͤrmlich zuſammen, es moͤge nun
mit dem Junker kommen wie es wolle, im Dorfe
alles daran zu ſetzen, daß die Sachen bleiben, wie
ſie ſeyen, und wie ſie der Junker angefangen und
haben wolle. —
§. 33.
Ein Phantaſt, der auf eine Religions-
wahrheit kommt — und ein Pfarrer,
der ſich auf der Kanzel vergißt, und
nur wie ein Menſch redt.
Der Bund machte allen Leuten Gedanken. —
Wer haͤtte auch das gemeynt? ſagten Maͤnner und
Weiber — aber die groͤſte Betruͤbnis daruͤber hatte
der alte Schulmeiſter. — Der arme Tropf fand
heute nicht mehr wie geſtern, es ſey ein Wunder
vom Herrn, daß Arner auf dem Todbett liege —
J
[130] er lobpreiſete auch den Namen des Herrn heute nicht
mehr ſo laut mit dem Maul — er ſagte es nicht
mehr, die Wege des Herrn ſind richtig und recht
— er ſagte nur, ſie ſind unerforſchlich. —
Das findet zulezt auch der Thor, wenn es ihm
nicht geht wie er will — aber wer Gott nicht fuͤr
einen Menſchen, und nicht fuͤr ein Kind achtet, der
findet es immer — und meynt nie, er wiſſe was
Gott mache, oder was er wolle.
Aber der aberglaͤubiſche Menſch und der Goͤ-
tzendiener weißt das immer — es iſt ihm nie ver-
borgen, was Gott thut, und was der will, der die
Himmel regiert. — Es iſt ihm nichts unerforſch-
lich und nichts verborgen als das, was ihm vor
der Naſe liegt. —
Mitten in allem dieſem floſſen viele ſtille Thraͤ-
nen fuͤr den kranken Mann — viele Gebethbuͤcher
wurden naß, die bey Jahren nie naß geworden,
und viele hundert Menſchen lagen ſeinetwegen
Naͤchte durch ſchlaflos. — Der Kummer der in-
nigſten Liebe trieb ihrer viele bis zum Zagen der
Verzweiflung. —
Das Kind der Rickenbergerin ſank wieder in
den Zuſtand, in welchen es gerade nach ſeines Va-
ters Tod gefallen, blieb ganze Naͤchte auf ſeinem
Grab, weinte da, und oft, wenn ſeine Mutter und
[131] ſeine Geſchwiſterte bey ihm ſtunden, ſah es ſie nicht.
— Wo es war, verfolgte daſſelbe der erſchreckli-
che Gedanke, es ſey nicht Gottes Wille, daß ein
guter Vater auf der Welt ſey, wenn einer da ſey,
ſo muͤſſe er ſterben, und es duͤnkte ihns, die Men-
ſchen muͤſſen nicht werth ſeyn einen zu haben, ſonſt
waͤr' es anderſt. —
Und der Pfarrer fuͤhrte am Sonntag auf der
Kanzel, weiß Gott, faſt die gleiche Sprache.
Es ſey, ſagte er, wie wenn es nicht ſeyn
muͤſſe, daß Menſchen durch ihre Mitmenſchen ver-
ſorget werden. — Die ganze Natur und die ganze
Geſchichte rufe dem Menſchengeſchlecht zu, es ſoll
ein jeder ſich ſelber verſorgen, es verſorge ihn Nie-
mand, und koͤnne ihn Niemand verſorgen; und
das Beſte, das man an dem Menſchen thun koͤnne,
ſey, daß man ihn lehre, es ſelber zu thun.
Auch hat Arner nichts anders geſucht als die-
ſes, ſagte er mit einer Stimme, die an allen Waͤn-
den klang, und ſezte mit dumpfem leiſem Ton hin-
zu, aber was wird izt daraus werden?
Nach einer Weile ſagte er wieder, es liege in
Gottes Namen in der Natur, daß der Menſch auf
Niemanden auf Erden zaͤhle; ſelbſt Aeltern, die
fuͤr den Saͤugling in Feuer und Waſſer ſpringen,
den lezten Biſſen im hungrigen Mund kaͤuen, und
J 2
[132] nicht hinunter ſchlucken, ſein Leben zu erretten,
ſpringen fuͤr ihn nicht mehr in Feuer und Waſſer,
theilen nicht mehr mit ihm den lezten Biſſen, wann
er erwachſen iſt, und ſagen ihm vielmehr, hilf dir
izt ſelber, du biſt erzogen! —
Und im Grund iſt es vollkommen recht, und
fuͤr das Menſchengeſchlecht gut, daß Aeltern und
Obrigkeiten die Menſchen dahin weiſen, und es iſt
wider ihre Rede, „ihr ſeyd erzogen, und helfet
euch ſelber“, nichts zu ſagen, wenn ſie nemlich
wahr iſt, aber wenn ſie nicht wahr iſt, wenn Kind
und Volk nicht erzogen ſind, ſich ſelber helfen zu
koͤnnen, wenn vielmehr die armen Geſchoͤpfe in
beyden Verhaͤltniſſen verwahrloſet, zu Kruͤppeln und
Serblingen (Schwindſuͤchtigen) gemacht und un-
muͤndig gelaſſen werden, nichts ſind, und nichts
aus ſich machen, und ſich nicht helfen koͤnnen, und
man ihnen dann doch ſagt, hilf dir ſelber, du biſt
erzogen! — und — wohl noch etwas anders darzu
— dann iſt es freylich was anders. —
O — Arner — Arner! wie ſaheſt du das ein,
und wie wuͤrdeſt du helfen, wenn du lebteſt; aber
Gott im Himmel, was koͤnnen wir hoffen? Lernet
doch arme Menſchen! lernet euch ſelber verſorgen,
es verſorget euch Niemand! —
So redete der Mann —! Und wer verziehet
ihm, wer verziehet der Rickenbergerin dieſe Sprache
nicht? —
[133]
Wer will ſagen, es ſey wider Gott, wenns
dem Menſchen fuͤr Menſchen bange macht? —
und es ſey wider die Obrigkeit, wenn er fuͤr die
Armen und Elenden, und Unverſorgten im Land
mit einem Feuer redet, das brennt? —
O! ihr Menſchen, das Feuer des Eiferers,
der im Gefuͤhl der Verwahrloſung unſers Geſchlechts
dahinkommt, die Sprache der Verzweiflung zu re-
den, iſt ein heiliges Feuer, und ſeine Sprache iſt
wie ein Schatten der himmliſchen Wahrheit, und
wie ein verblichenes Siegel der Goͤttlichkeit unſerer
Natur —! — Der Pfarrer aber ſagte nicht nur
dieſes.
§. 34.
Ein Staatsminiſter auf dem Dorf.
Indeſſen breitete ſich das Geruͤcht von ſeiner Krank-
heit, und von ihren Urſachen, weit umher aus,
und kam ſchnell, wie auf den Fluͤgeln des Windes
mit allen Zuſaͤtzen, die es auf dem Wege von 20
Stunden aufnehmen konnte, an den Hof des Fuͤr-
ſten. — Durch allen Wirwarr der Berichten ſchien
ſo viel gewiß, daß Arner ſehr krank, und Sylvia
daran ſchuld ſeyn moͤchte. Der Herzog, der war-
men Antheil an Arners Krankheit nahm, und uͤber
I 3
[134] die muthmaßlichen Urſachen derſelben aͤußerſt auf-
gebracht ſchien, ſtund eben vor Arners neuem Ge-
maͤhlde, darinn Menzow wirklich ſich ſelbſt uͤber-
troffen, als Bylifsky zu ihm kam, um die Freyheit
zu bitten, nach Arnburg zu reiſen — und er be-
fahl ihm, ſeinen Leibarzt mitzunehmen, und von
ſeinetwegen eben ſo wohl uͤber die Urſachen der
Krankheit genauen Bericht einzuziehen, als auch
alles zu veranſtalten, was er noͤthig finde, den Ar-
ner vor Verdruß zu ſichern. —
Helidor hatte zwar ſchon angefangen, die Be-
griffe ſeiner Durchlaucht uͤber den guten Arner her-
unter zu ſtimmen, aber da der Herzog vor dem
Leibarzt ſich uͤber Sylvia unwillig zeigte, ſtimmte
er hierinn vollends ein, und ſagte, es ſey wahr,
ſie habe ein Maul zum toͤden, wenn ſie anfange je-
mand zu quaͤlen. —
So muß man ſie von meinetwegen, wenn es
im geringſten noͤthig, auf der Stelle aus dem
Schloſſe wegſchaffen, erwiederte der Herzog. —
Und auch hierin widerſprach Helidor kein Wort. —
Der ſchnellſte Jagdzug flog mit ihnen die Nacht
durch, und am Mittag waren ſie in Bonnal.
Da ſtieg Bylifsky aus, und ließ den Leibarzt
allein weiter fahren. Er wollte einen Augenblick
zum Pfarrer. — Dieſer war in der Kirche und be-
[135] thete eben mit den Schulkindern ein ſtilles Gebeth
fuͤr das Leben des Junkers. — Bylifsky hoͤrts —
geht auch zur Kirche, thut mit leiſer Hand die
Thuͤre auf, tritt mit ſtillem unhoͤrbarem Schritt
hinein, ſiehet die Schaar der Kinder, und den
Pfarrer und ihren Lehrer vor dem Altar auf den
Knien, und ihr Angeſicht unverwandt gegen den
Boden, hoͤrt ihr Schluchzen, faͤllt in ſeinem Ecken
auf die Knie, weinet und bethet mit dieſen Kindern
fuͤr ſeinen Freund; und da ſie wieder aufſtehen, ge-
het er zu ihnen hervor, ſagt wer er ſey, gruͤßet ſie
alle, und giebt wie der Pfarrer und der Lieutenant
den Behuͤte Gott ſagenden Kindern die Hand —
ſiehet eines nach dem andern ſo ſteif und genau an,
als ob er keinen Gedanken in ſeiner Seele habe als
dieſe Kinder — ißt dann mit dem Pfarrer ſeine
Suppe geſchwind, wie ſie da ſtund, und geht mit
ihm und dem Lieutenant zu Fuß uͤber den Berg
nach Arnburg.
[136]
§. 35.
Eine Dienſtmagd begehrt Abſcheid und
Rekommendationsbriefe von der gnaͤ-
digen Herrſchaft.
Der Leibarzt zuckte die Achſel — ſo bald er den
Kranken ſah — machte dann ſeine Feldapotheken
auf; und Geruͤche aller Art fuͤllten die Stube. —
Fuͤrchterliche Silber- und Goldzangen und Na-
deln, und Meſſer, Schwaͤmme und Binden, Stuͤ-
cke von Schlangen, zerriebene Muͤcken, Gift, Me-
tallen, und halbe Metallen, chymiſche Geheimniſſe,
und natuͤrliche Pulver, Salben und Pflaſter, lagen
ſichtbar und unſichtbar in dieſer Kiſte. Er nahm
heraus, wog, miſchete, rieb, ſtoßte, ließ warm
machen und wieder kalt werden, ſtrich Pflaſter und
Salben, und innert einer Stunde hatte Arner aller-
hand davon an ſeinem Leib, und nicht weniger da-
von ſelber darinn. —
Dann ließ er ihn eine Weile allein, und nuͤzte
dieſen Augenblick, Sylvien, die er ſchonen wollte,
zu ſagen, was er gehoͤrt. — Sie ſtellte ſich ganz
gleichguͤltig, machte die kranke launige Dame, und
that, ſo lang er vom Herzog redete, wie wenn ihr
[137] an allem nichts liege; da er aber vom Helidor an-
fieng, konnte ſie das nicht mehr — ſie fragte mit
Haſtigkeit, hat er nichts dazu geſagt? — aber er
wollte nicht mit der Sprache heraus — ſie bat,
und zwang, und drang, und ließ ihn nicht ruhen,
bis er es ihr ſagte. — In Gottes Namen, weil
ihr Gnaden befehlen — Er hat geſagt, ihr Gna-
den haben ein Maul, es haue und ſteche. So —
er hat das geſagt? erwiederte ſie — ſtund ploͤtzlich
auf — verließ das Zimmer — lief unter ein Fen-
ſter, und wartete da dem Herzklopfen ab, das ſie
anwandelte — da ſeh ich — da ſeh ichs — ja izt
ſchon, daß er mir beym erſten Anlaß wie einem
Schuhlumpen den Tritt giebt. — Ihr Herz ſchlug
— und ſo bald ſie wieder zu Athem kam und die
Augen aufhub, ſah ſie Bylifsky, zwiſchen dem
Pfarrer und dem Lieutenant, den Vorreyn vor der
Burghalden hinaufkommen; ſie redten von der
Schule, und der Lieutenant verthat ſeiner Gewohn-
heit nach die Haͤnde, weil er im Eifer war, ſie
aber meynte, er erzaͤhle izt ſicher von nichts anderm
als von ihr — ſie floh in ihre Stube, ſtampfte
mit dem Fuß, beſaß ſich nicht mehr — wuͤtete izt
mit Aglee, gab ihr in allem die Schuld, behaup-
tete, ſie haͤtte ſie von allem zuruͤckhalten ſollen, und
hatte zum Grund, ſie wiſſe wohl, was ſie uͤber ſie
vermoͤge. —
[138]
Dieſe gab ihr keine Antwort — aber am Mor-
gen fand Sylvia auf ihrem Pult folgenden Brief. —
„Ich habe Sie beſtohlen, und bin fort —
meine Gruͤnde liegen zum Theil in Ihrem geſtrigen
Betragen, zum Theil in meiner immer mehr ſtei-
genden Ueberzeugung, daß wir nicht fuͤr einander
geſchaffen; aber ich bin izt nichts weniger als in
der Laune, mich uͤber das, was ich thue, zu er-
klaͤren, oder mich zu rechtfertigen; das iſt gewiß,
daß ich fuͤr das, wozu Sie mich brauchten, nicht
bezahlt bin, und dieſes iſt, wie Sie wiſſen, von
einer Natur, daß wir beyde es nicht wohl von der
Obrigkeit koͤnnen ausmachen laſſen, was mir da-
fuͤr gebuͤhre.
Aber erſchrecken Sie um deßwillen nicht, ich
habe mich nicht uͤber die Gebuͤhr vergriffen; Ihr
Schmuckkaͤſtchen iſt klein, und das Halbe und das
Beſte davon habe ich daraus weggethan, und in
die Ecke Ihres Schranks neben die blaue Haube ge-
legt, die Sie geſtern getragen. Ich will nichts als
von Ihnen fortkommen, meine philoſophiſche Jung-
fer! mit dem Glauben, daß den Menſchen nichts
entehre als der Diebſtahl. Ich kenne Sie zu wohl,
um nicht auch als eine Diebin auf meiner Hut zu
ſeyn, daß Sie mich mit Recht nicht verachten koͤn-
nen, wie ich Sie verachte.
[139]
Laſſen Sie mich Ihnen nur noch ſagen —
wir denken in keinem Stuͤck gleich; und wenn wir
je das gleiche thaten, ſo hatten wir doch nie die
gleichen Gruͤnde. Ich half Ihnen freylich hier
den Junker und ſeine Leute kraͤnken, aber verachte
weder ihn noch die Juͤnkerin, noch den Rollenber-
ger, am wenigſten den Lieutenant; der lezte zwang
mir eine Hochachtung ab, die ich keinem Menſchen
mehr ſchenken will.
Aber was geht es Sie an, wie ich daruͤber
denke? Ich gehe uͤber Regenſpurg nach England,
und erwarte am erſten Orte bey Ihrer Couſine ein
paar mir noͤthige Empfehlungsſchreiben von Ih-
nen; und damit Sie nicht in Verſuchung gera-
then, mich einen Poſttag darauf warten zu laſſen,
und eben ſo wenig ſich von Ihrer Hitze verleiten
laſſen, Morgens in den erſten Augenblicken von
meiner Abreiſe anderſt als in der Ordnung zu re-
den, finde ich noch noͤthig, Ihnen die Anzeige zu
machen, daß ich diejenige Papiere alle mit mir
genommen, die ich vor 3 Wochen, wie Sie glaub-
ten, vor Ihren Augen verbrannte. Ich habe die-
ſelben mit den neuern Geheimbriefen, die Sie bey
ſich herumtrugen, mit der Brieftaſche ebenfalls
mitgenommen. So viel brauchte ich, um Ihnen
mit Sicherheit vor die 2 erſten Stunden dieſes
Morgens ſo viel Verſtand zutrauen zu doͤrfen, als
[140] ich will, daß Sie izt haben. Einen andern Ge-
brauch davon werd' ich nie machen. —
Ich habe weiter nichts mehr zu ſagen, als
lernen Sie in Zukunft den Namen Freundin gegen
Niemanden mehr alſo zu brauchen, wie Sie es
gethan haben gegen Ihre
gehorſame Dienerin
Aglee.
§. 36.
Der Staatsminiſter in der Schule und
bey dem Schulmeiſter.
Aber es wird immer ſchlimmer mit Arner! —
— Thereſe faͤllt aus einer Ohnmacht in die an-
dere. —
Der Leibarzt foderte, daß man ihn vollends
allein laſſe — und izt ſinkt er in eine aͤußerſte Er-
mattung, entſchlaͤft in derſelben — auf den Lip-
pen aller ſteht der Gedanke — Er iſt todt — und
wird nicht wieder erwachen. —
Thereſe reißt ſich aus den Armen Bylifsky —
Er iſt todt — Er iſt todt — und ſinkt vor ihm
nieder — Der Rollenberger liegt mit den Kindern
[141] auf den Knien — der Pfarrer bethet laut, und alles
erwartet das Wort — Er athmet nicht mehr! —
Wie bang — wie bang — wie bang iſt ih-
nen allen! — wie horchet alles vor ſeiner Thuͤre!
man hoͤrt keinen Laut. — Iſt er todt? — ach!
— iſt er noch nicht todt? — vielleicht — viel-
leicht — vielleicht — —
Still! ſeyd doch ſtill —! man hoͤrt eine Be-
wegung — was iſts — was iſts —? Der Leibarzt
kommt an die Thuͤr — er oͤfnet ſie faſt ohne einen
Laut, und ſagt faſt ohne zu athmen — es zeigt
ſich ein Schweiß, ich habe wieder einige Hofnung
— er ſchlaͤft fort — man eilt zu Thereſe — ſagt
ihr die Worte — ſie wills nicht glauben — und
faͤllt wieder in Ohnmacht. — Nach einer Viertel-
ſtunde oͤfnet er wieder, und ſagt, der Schweiß
wird immer ſtaͤrker — geht doch — und ſagts!
— Alle Viertelſtunden kommt er wieder, und
bleibt bey der Rede — er habe wieder Hofnung! —
Gegen 9 Uhr erwachte der Kranke, und ſagte,
es ſey ihm wie im ganzen Leib anderſt und leich-
ter — aber er war aͤußerſt ſchwach — entſchlief
bald wieder — und das bange Warten der Nacht
war entſezlich — man hoͤrte keinen Laut als be-
then — Thereſe hatte keine Ohnmachten mehr,
und bethete izt auch — die Berichte kamen immer
[142] gleich, es gehe ſo gut moͤglich, und es ſey gewiß
Hofnung! — Und am Morgen durfte Thereſe wie-
der zu ihm hinein; aber ſie kam nur, und verſchwand
wieder. — Der Leibarzt foderte heute noch die glei-
che Stille — und Bylifsky ſah' ihn nur durch eine
Seitenthuͤr, und brachte den Tag mit dem Pfarrer
und dem Lieutenant in Bonnal zu.
Er ſah da alles, und alles mit den Augen des
Manns, der im Stand iſt, im Saamenkorn des
Oelbaums ſich das allmaͤhlige Wachsthum der
Pflanzen von ihren Keimen an bis zu derjenigen
Groͤße vorzuſtellen, in welcher die Voͤgel des Him-
mels auf ſeinen Aeſten niſten, und die Menſchen
ſich unter ſeinem Schatten lagern.
Er ſah lang und genau nach allen Seiten,
war im Anfang ſtill, redte wenig, nach und nach
aber immer mehr; trat in die kleinſten Umſtaͤn-
de dieſer Leute hinein, und forſchte mit Genau-
heit dem Einfluß der neuen Ordnung auf dieſe
Umſtaͤnde nach, und kam dahin faſt mit dem hal-
ben Dorf zu reden, ſah den Baumwoll-Meyer,
das Mareili, Gertrud, den alten Renold, die jun-
ge Renoldin, den Lindenberger, den Michel, und
ſelbſt den Hummel; blieb, ſo lang die Schule
dauerte, am Morgen und Nachmittag, vom Anfang
bis zum Ende darinn, ſah aller Kinder Arbeit, und
warf die genaueſte Aufmerkſamkeit auf die Verbin-
[143]
dung des Lernens mit dem Arbeiten; forſchte genau,
wie weit das Eine das Andere nicht hindere, ur-
theilte kein Wort, bis er alles geſehen, alles ge-
pruͤft, dann erſt ſagte er zum Lieutenant, der frey-
lich izt auch gern ein Wort gehoͤrt haͤtte, was er
etwann meyne.
Ich finde euere Einrichtungen mit der innern
Natur des Menſchen, und mit ihrem wirklichen
geſellſchaftlichen Zuſtand gleich uͤbereinſtimmend —
und einen Augenblick darauf — die Großen ſchaͤ-
tzen den Menſchen nur in dem Grade, in welchem
ſie Nutzen von ihm ziehen koͤnnen, und das innere
Triebrad aller wirklichen Geſezgebungen iſt kein an-
ders, als jeden Staat fuͤr ſeinen Fuͤrſten ſo hoch
hinauf zu treiben als moͤglich, und die darinn le-
benden Menſchen ebenfalls ſo gut als moͤglich zu
dieſem Endzweck aufs Beſte zu nutzen und zu brau-
chen, und wenns gut geht, auch dazu zu bilden
und zu fuͤhren. — So wie das innere Triebrad
der wirklichen Einrichtungen eines jeden Eigenthuͤ-
mers dieſes iſt — ſein Haus und Hof, Beruf und
Gewerb, ſo hoch hinauf zu treiben als moͤglich,
und ſeine Leute zu dieſem Endzweck eben ſo zu
nuͤtzen und zu brauchen, und wenns gut geht, auch
zu bilden und zu fuͤhren — desnahen iſt der Menſch
im Großen in dieſer Welt auch nur in ſo fern gluͤck-
lich und ſicher, als er dienſtfaͤhig gebildet und ge-
[144] modelt iſt, den Platz, den er in der Geſellſchaft
mit geſetzlichem Recht behauptet, wohl auszufuͤl-
len. — —
Ihre Einrichtungen, mein Freund! entſpre-
chen dieſem vorzuͤglichen Beduͤrfnis der Menſchen
auf eine Art, wie ich es noch nirgend geſehen,
und koͤnnen nicht anderſt als das Urtheil der Fuͤrſten
uͤber den Werth ihrer Menſchen, und mit dieſem
die Aufmerkſamkeit ihrer Geſezgeber oder Geſez-
macher, auf das Gluͤck und die Sicherheit derſel-
ben erhoͤhen — in dem ſie dieſen wichtigen Ge-
ſichtspunkt nicht durch chimaͤriſche Traͤume — an
welche die Fuͤrſten durch die erſte Beduͤrfniſſe ihres
Stands in Ewigkeit gehindert werden, im Ernſt zu
glauben — ſondern durch viele Erhoͤhungen des
wirklichen Ertrags, und Dienſtfaͤhigkeit der Men-
ſchen, an die ſie immer gerne glauben, zu erzielen
ſuchen.
Auch halte ich, lieber Lieutenant! Ihre Erzie-
hungsart und Ihre ganze Dorfeinrichtungen ſo be-
ſtimmt fuͤr eine Finanzſache, daß, wenn das Ka-
binet den Plan gemacht haͤtte, das Volk ganz allein
nach dem Geſichtspunkt ſeiner mehrern Ertragsfaͤ-
higkeit erziehen zu laſſen, daſſelbe ganz gewiß ſein
Werk mit Einrichtungen anfangen muͤßte, wie die
Ihrigen ſind. —
Gott! denkt euch izt den Mann, dem noch
vorgeſtern Bonnals Geſindel gewagt hat, Joggeli
willt
[145] willt Geld? und Joggeli haſt Geld? nachgerufen,
und dem izt der erſte Miniſter ſeines Fuͤrſten dieſes
ſagt! —
Wenn nach Jahre-langem innerm Kaͤmpfen
eine Beterin ſich ploͤzlich wie durch eine Erſchei-
nung erhoͤrt, und weit uͤber ihren Glauben erhoͤrt
ſieht, ſo ſteht ſie im erſten Gefuͤhle des Heils, das
ihr wiederfahren iſt, vor ihrem Gott da, wie die-
ſer Mann vor Bylifsky. —
Eine Thraͤne zitterte in ſeinem Auge, und auf
ſeinen Lippen das Verſtummen ſeiner ganzen Er-
ſchuͤtterung.
Der Miniſter kannte dieſes Verſtummen, es
war der beſte Lohn des Dienſts, den er ſeinem
Fuͤrſten that, er hatte ihn aber auch nicht ſelten
genoſſen, und nahm izt dem zitternden Mann ſeine
Hand, ſagte ihm, „zaͤhlen Sie auf mich, aber
handeln Sie an ihrem Plaz vollends wie wenn Sie
mich nicht kennen wuͤrden, und wie wenn ich nicht
in der Welt waͤre. Der Weg, zu welchem Ihr
Werk fuͤhret, fodert dieſes.„ —
Mit dieſem verreißte er. Der Lieutenant ſah'
ihm nach, ſo weit er konnte; er ſaß am Ende der
Schulmatten unter dem Nußbaum auf einem
Markſtein, hielt die Haͤnde zuſammen, entzog ihm
kein Aug, ſo lang er ihn ſah, und da er ihn nicht
K
[146] mehr ſah, ſank ihm ſein Haupt gegen dem Boden,
ſein Herz ſchlug, und ſein hoͤlzernes Bein zitterte
auf ſeinem Stumpen — er ſah es — armer
Stumpen, ſagte er zu ſich ſelber, ich habe dich
lang muͤhſelig herumgeſchleppt; aber wenn ich auf
dir noch dahin huͤlpen kann, wohin mir izt ahn-
det, ſo iſt mir die Muͤhſeligkeit meines Lebens wie
nichts, und der Tag, an dem ich zum Kruͤppel
worden, wird mir dann der gluͤcklichſte meines
Lebens!
Ach! er ſah mit inniger Freude, wie ſein
hoͤlzernes Bein zitterte; und der Miniſter reißte
mit dem beruhigenden Gefuͤhl fort, eine Bahn
zur ſichern Verbeſſerung der Volksgeſezgebung ent-
deckt, und den Mann gefunden zu haben, der in
den Labyrinthen der Tiefe, in welchen die Geſez-
macher immer wie in der Irre herumtappen, und
in der Finſterniß wandeln ſo viel Licht anzuͤnden
kann, als einer braucht.
[147]
§. 37.
Aeußerungen der Freude und Freund-
ſchaft — Und der Strafe eines Ver-
laͤumders. —
Ehe er verreißte, nahm er noch in der Stille;
aber ſehr genau, verſchiedene Zeugniſſe auf, was
des Generalen Jaͤger uͤber den Lieutenant in Bon-
nal fuͤr Reden ausgeſtreut — dann eilte er einſam
zu Fuß fort uͤber den Berg. Der Traum uͤber ſein
Dorf, und der Gedanke, wie es um Arner ſtehe[,]
theilten ſeine Empfindungen bis gegen das Schloß.
So wie er ſich dieſem naͤherte, vergaß er die Schule[;]
Furcht und Hofnung ſchlugen in ſeiner Bruſt, er
verdoppelte ſeine Schritte — er hatte befohlen,
wann es im geringſten einen Anſchein zum Schlim-
merwerden habe, daß man ihn augenblicklich be-
richte — nun war es Abend, und kein Bericht da,
das ſchien gut — Er eilte — Er eilte — izt iſt
er hinter den Tannen, ſieht das Schloß wieder,
ſein Herz ſchlaͤgt, er entzieht ihm kein Aug, und
ploͤzlich ſieht er alle — alle — zum Schloß hin-
aus ihm entgegen. —
Thereſe — die Kinder — der General —
der Leibarzt — er ſiehts — ſie gehen — ſie lau[-]
K 2
[148] fen — ſie zittern nicht — ſie ſind nicht mehr wie
geſtern — es fuͤhrt Thereſe Niemand — es iſt kein
Jammer in ihrer Geberde — er ſiehts — Arner
iſt gerettet — und ſpringt! — der Karl ſpringt
auch von der Mamma weg, ruft ihm laut und von
weitem — es beſſert mit dem Papa!! Bylifsky
nimmt ihn bey der Hand, ſpringt wie der Knab —
Thereſe lauft izt auch, und ſinkt außer Athem und
ohne zu reden ihm in die Arme — Alle ſtehen um
ihn her — alle draͤngen ſich an ihn an, der Leib-
arzt ſagt wieder — Er iſt wills Gott gerettet! und
ihm uͤberfließt das Herz von Wehmuth und
Wonne. —
So lauft ein Haus, das in den Flutten ge-
ſtanden, und wie im graͤßlichen Eisſtoß ſich wie ein
Wunder erhalten, einem Vater entgegen, der in
der Verheerung nicht da war; die gerettete Mut-
ter ſinkt ihm ſprachlos an den Arm, ſein Aelteſter
ſpringt vor den andern her, ruft ihm von Ferne,
wir ſind alle noch da! und alle — alle — die noch
da ſind, ſtehen um ihn her, draͤngen ſich an ihn
an — und ihm uͤberfließt das Herz von Wehmuth
und Wonne. —
Arner wußte izt, daß Bylifsky da war, der
Leibarzt hatte es ihm geſagt, aber ihn auch gebe-
ten, ſich nicht in Gefahr zu begeben, und wenig
mit ihm zu reden. Das gleiche bat er den Bylifs-
[149] ky. — Er gieng hinein, daß man ihn kaum hoͤrte,
wog die Worte wie Gold ab, vermied jede Em-
pfindung, und ſaß nicht einmal nieder. —
Dieſe Aufmerkſamkeit hielt den Arner in
Schranken, daß ihm dieſe Freude nicht nachtheilig
war. Er ſagte ihm wohl einmal, du thuſt doch
vollends, als wenn dir an meiner Geſundheit mehr
liege als an mir! Aber Bylifsky ließ ſich nicht
einmal zu einem Laͤcheln bewegen — er ſagte ihm:
ein andermal wollen wir ſpaßen! — Arner fuͤhlte
daß er recht habe; und da die halbe Viertelſtunde
vorbey war, die der Leibarzt erlaubt hatte, ließ
er ihn mit Willen von ſich, und Bylifsky verreißte
bald darauf, voll Hofnung ſeiner Geneſung —
Er konnte nicht laͤnger bleiben. —
Vorher ſtellte er dem General noch einen Be-
fehl zu, ſeinen Jaͤger geſchloſſen auf Bonnal fuͤh-
ren zu laſſen, um allda von Haus zu Haus den
Widerruf zu thun alles deſſen, was er gegen den
Lieutenant ausgeſtreut; mit dem Beyfuͤgen, er er-
warte, daß, wenn Arner von Sylvia auch nur
dem entfernteſten Verdruß wieder ausgeſezt ſeyn ſoll-
te, der Herr General ſie in dieſem Fall auf der
Stelle von hier entferne. —
Dieſe Nota war unterzeichnet „Auf ſpezialen
Befehl Sr. Durchlaucht —„
Bylifsky.
K 3
[150]
Sylvia erwartete ſelber ſo etwas. So lang
er da war, machte er allemal, wenn ſie ihm zu Ge-
ſicht kam, Augen, die ihr durch Leib und Seel gien-
gen; ſie konnte es ſich nicht verhehlen, es war der
Blick des Manns, der es in ſeiner Hand hatte,
ſie zu erdruͤcken, und beynahe darnach geluͤſtete.
§. 38.
Leidensgeſchichte eines herzguten Men-
ſchen, der aber das Handwerk, das er
treiben ſollte, nicht gut gelernet hatte.
Indeſſen nuzte Helidor dieſe Tage, Ihr Durch-
laucht wegen der Bonnaler Arbeit, ſo viel an ihm
ſtund, erkalten zu machen.
Der gute Herzog war ſeit einiger mehr als je
in der Gewalt des Manns, der die beſten Empfin-
dungen ſeines Herzens in ihm zu Staub rieb, wie
man eine duͤrre Wurzel in dem Moͤrſel zu Staub
reibt — und er liebte den Mann, der ſeine Freude
daran hatte, ihm alle Augenblicke den Todtenge-
ruch vor die Naſe zu halten, der in ihm lag, und
taͤglich vor ihm zu lachen, bis er das Menſchenge-
ſchlecht aus dem Sinn ſchlug.
Armes dahingegebenes Geſchlecht der Menſchen!
Wenn deine Fuͤrſten dahin kommen, ſolche deines
[151] gleichen zu lieben, die lachen, bis du ihnen aus
dem Sinn biſt — Armes verwahrloſetes Geſchlecht,
wie biſt du dann zu bedauern? — Aber dennoch
bey allem, ihr Fuͤrſten! bey allem iſts noch die Fra-
ge, wer mehr zu bedauern ſey, das arme Geſchlecht
oder Ihr? wenn ihr ſolche Lieblinge habt wie He-
lidor, der eine Stunde, ehe Bylifsky wieder heim
kam, lachend von ſeinem Fuͤrſten weggieng, weil
er den guten Mann, der mit herzlicher Theilneh-
mung zu ihm ſagte, er hoffe wills Gott, er bringe
gute Nachrichten von Arner, mit einem Wort er-
ſchuͤttert hatte, das ihm durch die Seele gieng. —
Vergeſſen Ihr Durchlaucht, ſagte er zu ihm, doch
niemal das Wort, womit Ihr Leibarzt Sie von
der gefaͤhrlichſten Krankheit geheilet, die Sie je wie-
der befallen konnte.
Ganze Reihen von Lebenserfahrungen, die alle
den Endzwecken Arners entgegen zu ſeyn ſchienen,
kamen dem Herzog mit dieſem Wort, wie mit ei-
nem Schlag, wieder ins Gedaͤchtniß, und das große
druͤckende Bild der Verwirrungen, ſeiner Jugend
Gutmuͤthigkeit, ſtund ihm damit ploͤzlich vor Au-
gen. — Er gieng beyſeits — und Helidor hatte,
was er wollte. —
Die Sach iſt dieſe. — Ihr Durchlaucht ka-
men im 21. Jahr mit einem Engelherzen, aber
als ein unwiſſendes Kind, an die Regierung, fan-
K 4
[152] den beym [Antritt]einen verſchuldeten Staat, ein
elendes Volk, und ein Leben am Hof, das einem
ewigen Karneval glich. — So wollten Sie es
nicht — Sie wollten es anderſt erzwingen — Sie
boten jedem Projektmacher die Hand, jeder Schwaͤr-
mer und jeder Heuchler fand Eingang, aber Ihr
Volk ward immer elender, Ihr Hof immer ver-
wirrter, und der Staat immer verſchuldeter. —
Es rieb den jungen Mann faſt auf, er verlor
Muth, Farb, Heiterkeit, Sinnen, und ſank in
eine Abſchwaͤchung hinab, die fuͤr ſein Leben be-
ſorgt machte.
Ein Leibarzt alter Art, der ſchon mit ſeinem
Großvater geſpaßet, ſuchte ihn aufzumuntern, und
alle Morgen, wenn er ins Zimmer trat, war ſein
gewoͤhnliches Wort: „Ihr Durchlaucht — Ihr
Durchlaucht — die Welt iſt ein Narrenhaus! laſſen
Sie ſie gelten, was ſie iſt, und werden Sie ge-
ſund! —„ Der Herzog gab ihm freylich im An-
fang zur Antwort, „er iſt ein leichtſinniger Mann,
ſchweig er mit ſolchen Worten, und geb er mir
ſeine Arzney.„ —
Aber der Leibarzt ſchuͤttelte den Wanſt, und
ſagte, dieſer Spruch gehoͤre mit zur Arzney; und
Ihr Durchlaucht muͤſſen ihm wenigſtens noch 4
Wochen erlauben, dieſe Worte alle Morgen zu ſa-
[153]
gen, wie er ſie bisher geſagt, und dazu zu lachen,
wie er bisher gelachet habe.
Ihr Durchlaucht ließen den Narren machen;
aber es half. Der Herzog fand alle Morgen mehr
Wahrheit in dem Wort, das ihm der Dokter ſo
alle Morgen nuͤchter brachte und eingab, und ſein
Glaube an Projektmacher, Schwaͤrmer und Heuch-
ler, ſtimmte ſich wirklich hinunter, aber ſein Herz
aͤnderte ſich nicht; ſo bald er wieder geſund war,
konnte er nichts weniger als aufhoͤren, ſich an Men-
ſchen zu binden, von denen er glaubte, daß ſie an
ſeinem Volk vaͤterlich handeln wollten und koͤnnten
— aber er betrog ſich an allen; dieſe Vaͤter hat-
ten immer ihre eigene Kinder, und die, ſo derglei-
chen thaten, als haͤtten ſie keine, hatten die mei-
ſten; das Volk kam bey allen und jeden hinten
nach, wie es ohne ſeine Muͤhe vorher ſchon hin-
ten nach war. —
Er war großmuͤthig und ſtandhaft, und ließ
bey allem Fehlſchlagen nichts unverſucht, gieng
einmal ſogar zu den Frommen hinuͤber, und fand
da wirklich mehr Sorgfalt und mehr Verſtand in
Beſorgung einiger weſentlicher Angelegenheiten des
Volks, als er ſonſt noch nirgendwo gefunden; aber
das Ganze ihrer Einrichtungen und ihrer Stim-
mung behagte ihm nicht — es war ſeiner Natur
zuwider, an Leute zu glauben, die ſo wenig mit
[154] geradem Ruͤcken und feſtem Tritte vor ihm ſtehen
konnten, als mit natuͤrlichen Augen; und es wollte
nicht in ihn hinein, daß das Gluͤck der Menſchen
in einer Seelenſtimmung beſtehe, die ihn in ſolchem
Grad ſchwach mache; er kannte den Zuſammen-
hang zwiſchen dem ſchwach ſeyn und krumm wer-
den, und hielt es fuͤr das erſte Beduͤrfniß des
Menſchen, daß er gerad bleibe.
Auch ſah er nicht blos ihre Obern und Klu-
gen, er ſah auch ihre Untern und Dummen; und
es fiel ihm auf, daß die erſtern ſind, was ſie wol-
len, und die andern, was ſie muͤſſen; auch dieſer
Unterſchied behagte ihm nicht, noch weniger die
Gewalt, die er ſie uͤber die Koͤpfe ihrer Leute haben
ſah, der Seinige war ihm um keinen Preis feil;
und wenn er auch ſein Volk damit auf eine Art
haͤtte gluͤcklich machen koͤnnen, ſo waͤre ihm das
nicht moͤglich geweſen, ihnen alſo ſein Haupt da-
hin zu geben, daß ſie daſſelbe, wie die Taͤnzerin
im Evangelio das Haupt Johannes des Taͤufers in
einer Schuͤſſel herum tragen konnten, zu Frau Muͤt-
tern, und wohin ſie wollten. Nein, das waͤre
ihm nicht moͤglich geweſen; auch ſahen die Obern
den Fehler dieſer Eigenſuͤchtigkeit an ihm gar bald,
wie ſie denn dieſen Fehler an jedermann geſchwind
bemerken, und immer gar hoch halten; ſie nennen
ihn in ihrem Kinder-Unterricht den ſchlimmſten Tuck
des leidigen Satans, der allen Glauben verſcheue. —
[155]
Auch das lag ihm in der Natur, daß er alle
Haͤndel haßte, mit denen man nie zu Ende kom-
men konnte; und es war ihm unmoͤglich, zu glau-
ben, daß das wahre Gluͤck des Menſchen von Got-
tes wegen, an Lehren, Meynungen und Urtheile
gebunden ſey, die ſeit Jahrhunderten zwiſchen ehrli-
chen Leuten im Streit ſind, und ihrer Natur nach
wahrſcheinlich bis ans Ende der Tagen im Streit
bleiben werden. —
Kurz es war nichts mit ihm zu machen, er
brach ab, ſo bald er merkte, daß es den Kopf
gelte, und wollte lieber mit offenen Augen in der
Irre herumlaufen, als mit verbundenen — viel-
leicht — in ein Paradies kommen.
So ſchwamm er Jahre lang wie auf den Wel-
len des Meers, fand fuͤr ſein Herz nirgend kein ſi-
cheres Ufer — und ſuchte zulezt — kurze Zeit. —
Er fand ſie meiſtens in der Einſamkeit — ſaß
Stundenlang einzig in ſeinem Winkel beym Kamin,
brannte oft Feuer bis ihm der Kopf heiß war, warf
ganze Stoͤße Papier in die Flammen, und wenn
ſie Aſchen waren, ſagte er oft, „das, was izt da-
von uͤbrig iſt, iſt ihre Wahrheit!„
Die Regierungsgeſchaͤfte wurden ihm zur Laſt,
ſie ſchienen ihm nichts anders als das Treiben eines
Fuhrmanns an einem uͤberladenen Wagen, der
[156] durch Sumpf und Koth fort muß; geh es wie es
geh. Auch iſt wahr, was Sylvia ſagte: Er hieß
ſeine beſten Miniſter gar oft Karrenroß — freylich
gab er ihnen dieſen Namen eben, wie gewiſſe Leute
ein wichtigers Scheltwort, der halben Welt nicht
mit Unwillen und Verachtung, ſondern mit Be-
dauren und Mitleiden; aber ſie hoͤrtens doch nicht
gern, inſonderheit weil er mit dem ſchlechteſten
Mann, der am Hof war, eine Ausnahme machte,
und dieſen nicht ſo nannte, aber er that es um
deßwillen nicht minder.
Oft gieng er einſam von der Jagd weg in die
Huͤtte des Landmanns, aß von ſeinem Brod, trank
von ſeiner Milch, legte ihm Gold in die Becken,
floh dann wieder die niedere Huͤtte, und ſagte, waͤr
ich doch wie ihrer einer, und haͤtte ichs wie ſie! —
Er gab dem Bettler am Weg ſeine Uhr, und
dem Kind, das ihn um Brod bat, ſeine Boͤrſe;
ſagte oft im ganzen Gefuͤhl ſeines Ungluͤcks laut
ſeufzend: „Ich meynte, ich wollte und koͤnnte ih-
nen ſeyn wie ein Vater. Aber waͤren ſie izt nur
vor mir ſicher, ſie ſind nicht einmal das — wer
mich kennt, den flieht das Volk, es zittert vor dem
Mann, der weißt, was meine Befehle ausweiſen,
und mein Geſez iſt in ihren Augen und in ihrem
Mund nichts anders, als der Schluͤſſel zu ihren
Geldkiſten, den meine Knechte allenthalben wider
ſie im Sack haben.„
[157]
Ein anders Geſezbuch zu machen, dachte er
wohl, aber die es konnten, ſagten, ſie koͤnnen es
nicht; und die, ſo es nicht konnten, wollten es
machen, aber er ſah, daß ſie es nicht konnten.
Das war ſeine Lage. Er ſah im Allgemeinen
wohl, wo er hindenken ſollte, aber er irrte ſich
Stuͤck fuͤr Stuͤck in den Mitteln, und kam endlich
dahin, wo viele Menſchen in aͤhnlichen Faͤllen hin-
kommen, zu glauben, es ſey unmoͤglich zu ſeinem
Ziel zu gelangen.
§. 39.
Grundſaͤtze des Dickhalſes, der dem Teu-
fel in der Lavateriſchen Phyſiognomik
gleich ſieht.
In dieſer Lag und in dieſer Stimmung war er,
als er mit Helidor Bekanntſchaft machte, und ſich
an ihm irrte. Zeitvertreib und Zerſtreuung waren
ihm wieder koͤrperliche Beduͤrfniſſe geworden, und
die unerſchoͤpfliche Kunſt des Manns, jeden Spiegel
umzukehren, der etwas unangenehmes darſtell-
te, und jeden Gedanken wegzubannen, den er
weg wuͤnſchte, der Anſchein eines unerſchuͤtter-
ten Muths, und ſeine Kunſt immer zu lachen
[158] mußte dem Herzog in dieſer Lage behagen; es ahn-
dete ihm nicht, daß dieſes alles die Frucht ſeiner
Gottesvergeſſenheit und ſeiner Menſchenverhoͤhnung
ſeyn konnte: er meynte vielmehr, ſeine Grundſaͤtze,
ſo roh ſie toͤnen, ſeyen nicht boͤs gemeynt, und
bloße Folgen trauriger aber wahrer Erfahrun-
gen. — So gut war der Herr; er war uͤber fuͤnf-
zig, und irrte ſich noch ſo! —
Der andere nuzte den Irrthum; er hatte die
unnachahmliche Kunſt, Sachen, die er wie in den
Tag hinein zu reden ſchien, den Menſchen tief in
die Seele hineinzubringen. Wenn man glaubte,
er pfeife den Voͤgeln ein Lied vor, oder er ſehe zum
Fenſter hinaus auf die Bruck, ſo warf er, eh man
ſichs verſah, ein Wort weg, mit dem er ihrer Zehen
den Kopf umdrehete, die kaum ſahen, daß er da
war. Seine Meynungen waren kurz und beſtimmt,
es war immer viel Wahrheit darinn, ſie ſchmei-
chelten dem Fuͤrſten, und er ſchien dem Volk nicht
unrecht thun zu wollen, indem er es wirklich that.
Man meynte, er kehre ihm den Ruͤcken nur da-
rum, weil es nicht moͤglich ſey, ihm die Haͤnde zu
bieten; ſeine Entſchloſſenheit mahlte das Leben
leicht, er lenkte Muͤhſeligkeit ab, zerſchnitt den
Faden, wo er ihn nicht aufloͤſen konnte, und
machte kein Geheimniß aus dem Glaubensbekennt-
niß, das tauſend Schwaͤchere ſeines gleichen ver-
[159] bergen, „er ſorge fuͤr ſich ſelber, und das ſey die
Beſtimmung des Menſchen.„
Etliche ſeiner vorzuͤglichen Aeußerungen waren
dieſe: Wer herrſchen will, muß ſein Herz alſo in
den Kopf hinauf nehmen, daß er in keinem Fall
unter dem Hals mehr viel von ſich ſelber empfinde.
— Item — Es ſey die Hauptkunſt eines Fuͤrſten,
weder Menſchen noch Sachen vor ſich kommen zu
laſſen, die ihm an einem Ort warm machen koͤnn-
ten, wo es einem Fuͤrſten nie warm werden ſoll. —
— Weiter: Ein Fuͤrſt muß nicht glauben, daß
er die Heerde wolle weyden lehren, dafuͤr hat ſie
ſelber ein Maul, und er iſt nicht um deswillen da.
— Item: Es liegt im Grund nicht ſo viel
daran, was er wirklich thut, die Heerde zu huͤten,
als an dem, was er thut, den Hund und den
Wolf, und die Schaafe glauben zu machen, daß
er ſie huͤte.
Er machte ſich auch gar nichts daraus, laut
zu behaupten, man koͤnne die Menſchen nie in eine
Ordnung bringen, daß ſie wirklich vor einander
ſicher ſeyen, die Grundſaͤtze von der allgemeinen
Sicherheit ſeyen eine Chimaͤre, und wer daran
glaube, ein Narr oder Charletan.
Zur Beſtaͤtigung dieſes Satzes behauptete er,
der Menſch habe einen Zahn im Mund gegen ſein
[160] Geſchlecht, den ihm Niemand ausziehen koͤnne,
und ſo lange er dieſen habe, ſo hoͤre ſein Beißen
nicht auf.
Es braucht viel und mehr als der Herzog
hatte, das Wahre und Falſche dieſer Saͤtze zu ſoͤn-
dern; aber weil er ein ſo innig gutes Herz hatte, ſo
ſchadete ihm der Miſchmaſch nichts, er that ihm
vielmehr manchmal wohl, zerſtreute ihn, und
machte ihm gutes Blut — und ſonſt nichts; wenn
es ihm ſchon zu Zeiten vorkam, es ſey wie er ſage,
ſo blieb er im Grund immer was er war — und
Bylifsky zaͤhlte in allweg ſo ſicher auf ſein Herz,
als der andere auf die Kunſt, ihm fuͤr einen Au-
genblick den Kopf herumzudrehen, wohin er wollte.
§. 40.
Ein zweyfacher Unterſchied zwiſchen Sa-
chen und zwiſchen Menſchen.
Der erſte war klug genug, ſeinen Bericht von
Bonnal alſo einzurichten, daß er zwar mit Be-
ſtimmtheit aͤußerte, die Sache gehe gut, und ihre
allgemeine Ausfuͤhrung koͤnne mit der Zeit dem
Land von Wichtigkeit werden, aber hingegen ſich
nichts weniger als eifrig dafuͤr zeigte, ſondern
vielmehr eben ſo beſtimmt beyfuͤgte, ſe fodere
einen
[161] einen langſamen Gang, und muͤſſe am Ort, wo
ſie angefangen, zu ihrer voͤlligen Reife gedeihen,
ehe man daran denken koͤnne, einen Schritt weiters
zu gehen. —
Lang hernach, und nur wie beylaͤufig, ſezte
er hinzu, der Lieutenant iſt der Mann, der die
Sache ſeiner Zeit in vielen Doͤrfern ausfuͤhren
kann, wie ers izt in Bonnal thut.
Der Herzog ließ ihn von gar nichts anderm
reden; er fieng wieder von neuem davon an, und
drang beſonders auf eine beſtimmte Antwort auf
die Frage, worinn der Unterſchied zwiſchen dieſem
Verſuch und den aͤhnlichen, die ihm ſo wohl als
andern Leuten ſo vielfaͤltig mißlungen, beſtehe?
Der Miniſter antwortete: Ihr Durchlaucht!
man ſucht die Leute in Bonnal zu nichts anderm zu
machen, als was ſie in ihrem Plaz nothwendig wer-
den muͤſſen, aber man ruhet nicht, bis man da iſt,
daß ſie dieſes recht werden, und braucht dazu in
einem jeden einzeln Stuck, vom Ackerfahren an bis
zum Maus und Ratzen fangen, allemal den Mann,
der das einzelne Stuck, warum es zu thun iſt, am
beſten verſteht.
Dieſe Erklaͤrung gieng dem Fuͤrſten zu Herzen.
Das Bewußtſeyn, daß er ſelber an ſeinem Plaz
nicht ſey, was er darinn ſeyn ſollte; und daß die-
L
[162] jenige, die ihn dazu haͤtten bilden und fuͤhren ſol-
len, das gar nicht verſtanden, was ſie ihn haben
lehren ſollen, gab es ihm mit innigſter Bewegung
zu fuͤhlen, wie wichtig ſolche Anſtalten ſeyn wuͤr-
den, durch welche die Menſchen das wirklich wer-
den muͤßten, was ſie an ihrem Plaz ſeyn ſollen,
und durch welche ſie das, was ſie in erwachſenen
Jahren treiben muͤſſen, durch Leute lernen koͤnn-
ten, die es ausuͤben.
Er ließ ſich alle Umſtaͤnde erzaͤhlen, und ſagte
am Ende, wenn es in der Welt moͤglich iſt, daß
aus einem Verſuch von dieſer Art etwas heraus-
kommt, ſo muß hier etwas herauskommen. —
Aber das machte den Helidor nicht irre; als er
noch an dieſem Abend wieder zum Herzog kam,
und ihm dieſer ſagte, kommen Sie mir izt heute
nicht damit, die Sachen in Bonnal ſeyen Charla-
tanerien wie die andern, erwiederte Helidor laͤchelnd,
ich ſagte niemals, die Sachen in Bonnal ſeyen
Charlatanerien wie die andern, zog das Wort in
Bonnal und wie die andern langſam ſpoͤt-
tiſch — und ſezte hinzu: aber erlauben Ihr Durch-
laucht, wie viel ſteht Ihnen dieſen Monat im Spiel?
Verflucht viel — erwiederte der Herzog — und
ſagte, es waͤre bald Zeit, daß ich wieder eine Ambe
gewinne.
[163]
Warum zaͤhlen Ihr Durchlaucht auf keine Ter-
ne oder Quaterne? ſagte der Liebling, und laͤ-
chelte. —
Der Fuͤrſt ſah ihn an, und waͤhrend dem er
ihn anſah, fuͤhlte er, was er meynte, nemlich drey
Menſchen wie die in Bonnal treffen ſeltener zuſam-
men, als vielleicht eine Terne oder Quaterne. —
Es duͤnkte ihn wirklich es ſey ſo, und ſchwieg.
— Aber Helidor ſah, daß er es fuͤhlte, und druͤ-
ſtete ſich hernach mit ſeiner Terne und Quaterne,
daß es Bylifsky wieder vernahm. —
Es machte ihm nichts; er wußte, daß man
aus den Menſchen machen kann, was ſie nicht
ſind, und daß man ſie zuſammen ſtellen koͤnne,
wenn das Gluͤck ſie nicht zuſammen tragen wolle —
daß alſo die Vergleichung hinke; und es war ihm
gar recht, daß es dem Herzog da[r]uͤber kalt mache;
er hatte vielmehr gefuͤrchtet, es werde das Gegen-
theil thun, und ihn verleiten, den Verſuch in ſei-
nem unreifen Zuſtand weiter zu treiben, um ihm
alſo den Herzſtoß zu geben.
Habe keinen Kummer, Leſer! Der andere
wird vor ihm verſchwinden wie ein Kameel mit ei-
nem Hocker und Aufſaz vor einer Pyramide.
[164]
§. 41.
Die Philoſophie meines Lieutenants,
und diejenige meines Buchs.
Ein Schiffer, den jenſeits der Linie, wenn er
ſchon das Feuer des halben Himmels befahren, zu-
lezt noch ein Sturm uͤber die Abgruͤnde vielfarbi-
ger Meere ſchleudert, ſehnet ſich nicht ſo ſehr nach
den weißen Voͤgeln, die das Ufer verkuͤnden, als
Arner ſich nach Bonnal ſehnte, da er wieder leich-
ter Athem ſchoͤpfte.
So warm und treibend redte er auch von kei-
nem Werk ſeines Hauſes, als er mit dem Pfarrer
und dem Lieutenant von Bonnal redte. Sie fan-
den alle drey, das Werk ſey ſo viel als angefan-
gen; aber zu ſeiner eigentlichen Vollendung und
zur Sicherſtellung der Zukunft fehle ihm nichts —
als Alles — und vor allem aus, eine mit ihren
Einrichtungen und ihren Endzwecken uͤbereinſtim-
mende Geſezgebung. —
Aber der Junker und der Pfarrer ſchoben die-
ſen Punkt auf den Lieutenant, und ſagten ihm, er
ſollte ſich nur darauf gefaßt machen; auch By-
lifsky erwarte dieſes Stuͤck ihres Werks nicht von
einem alten Pfarrer, und nicht von einem jungen
[165] Junker, ſondern von ſeiner Erfahrung. — Er
machte kein Kompliment, und war wirklich darauf
gefaßt. —
Da er, ſeit dem er Bylifsky erſten Brief gele-
ſen, die Nachforſchungen uͤber die Natur einer
wahren Volksgeſezgebung zum Gegenſtand ſeines
Nachtwachens und jedes freyen Augenblicks im
Tage gemacht, dachte er nunmehr mit einer Hei-
terkeit und Beſtimmtheit uͤber dieſen Gegenſtand,
daß er ſich nicht entzog, ſeine Begriffe daruͤber in
einem der erſten Abenden, den ſie bey dem wieder-
geneſenden Junker zubrachten, auseinander zu ſe-
zen — wie folget. —
Die neuern Geſezgebungen, die man aber nicht
im Ernſt fuͤr Volksgeſezgebungen ausgeben wird,
ſetzen alle vom Menſchen, und beſonders vom min-
dern Menſchen, voraus, daß er ohne alles Verhaͤlt-
niß mehr und beſſer ſey, als er iſt, und als er,
ohne daß ſie ihn in Stand ſtellen es zu werden,
ſeiner Natur nach nicht ſeyn kann.
Der Menſch, fuhr er fort, iſt von Natur, wenn
er ſich ſelbſt uͤberlaſſen wild aufwaͤchst, traͤg, un-
wiſſend, unvorſichtig, unbedachtſam, leichtſinnig,
leichtglaͤubig, furchtſam, und ohne Graͤnzen gierig,
und wird dann noch durch die Gefahren, die ſeiner
Schwaͤche, und die Hinderniſſe, die ſeiner Gierig-
keit aufſtoßen, krumm, verſchlagen, heimtuͤckiſch,
L 3
[166] mißtrauiſch, gewaltſam, verwegen, rachgierig,
und grauſam. — Das iſt der Menſch, wie er von
Natur, wenn er ſich ſelbſt uͤberlaſſen, wild auf-
waͤchst, werden muß; er raubet wie er ißt, und
mordet wie er ſchlaͤft. — Das Recht ſeiner Natur
iſt ſein Beduͤrfniß, der Grund ſeines Rechts iſt ſein
Geluſt, die Graͤnzen ſeiner Anſpruͤche iſt ſeine Traͤg-
heit, und die Unmoͤglichkeit weiters zu gelangen.
In dieſem Grad iſt es wahr, daß der Menſch,
ſo wie er von Natur iſt, und wie er, wenn er ſich
ſelbſt uͤberlaſſen, wild aufwaͤchst, und ſeiner Na-
tur nach nothwendig werden muß, der Geſellſchaft
nicht nur nichts nuͤtz, ſondern ihr im hoͤchſten Grad
gefaͤhrlich und unertraͤglich iſt.
Desnahen muß ſie, wenn er fuͤr ſie einigen
Werth haben, oder ihr auch nur ertraͤglich ſeyn ſoll,
aus ihm etwas ganz anders machen, als er von
Natur iſt, und als er, wenn er ſich ſelbſt uͤber-
laſſen wild aufwaͤchst, werden koͤnnte.
Und der ganze buͤrgerliche Werth des Menſchen,
und alle ſeine der Geſellſchaft nuzbare und brauch-
bare Kraͤfte ruhen auf Einrichtungen, Sitten, Er-
ziehungsarten, und Geſezen, die ihn in ſeinem In-
nerſten veraͤndern und umſtimmen, um ihn ins
Gleis einer Ordnung hineinzubringen, die wider
die erſten Triebe ſeiner Natur ſtreitet, und ihn fuͤr
[167] Verhaͤltniſſe brauchbar zu machen, fuͤr welche ihn
die Natur nicht beſtimmt, und nicht brauchbar ge-
macht, ſondern vielmehr ſelber die groͤſte Hinder-
niſſe dagegen in ihn hineingelegt hat: desnahen iſt
der Menſch allenthalben in dem Grad, als ihm
wahre buͤrgerliche Bildung mangelt, Naturmenſch;
und ſo weit ihm der Genuß von Einrichtungen,
Anſtalten, Erziehungsarten, Sitten, Geſezen,
welche nothwendig ſind, aus dem Menſchen das zu
machen was er in der Geſellſchaft ſeyn ſoll, man-
gelt, ſo weit bleibt er, troz aller innwendig leeren
Formen der aͤußerlichen buͤrgerlichen Einrichtungen,
in ſeinem Innern das ſchwache und gefaͤhrliche Ge-
ſchoͤpf, das er im Wald iſt; er bleibt, troz ſeines
ganzen aͤußerlichen Buͤrgerlichkeitsmodel, ein unbe-
friedigter Naturmenſch, mit allen Fehlern, Schwaͤ-
chen, und Gefaͤhrlichkeiten dieſes Zuſtands; iſt auf
der einen Seite fuͤr die Geſellſchaft ſo wenig nutz,
als ſie vor ihm ſicher iſt; er druͤckt und verwirrt ſie
nirgends, als wo er kann und mag — und auf
der andern Seite hat er von ihr eben ſo wenig einen
befriedigenden Genuß; und es waͤr' ihm, wenn er
in der Mitte der buͤrgerlichen Geſellſchaft von ihr
verwahrloſet, wild, und natuͤrlich aufwaͤchst, gewiß
beſſer, er waͤre nicht darinn, und koͤnnte ſeine nich-
tigen Tage thieriſch und wild, aber auch ungehemm-
und ungefeſſelt im Wald dahin leben, als Buͤrger
zu ſeyn, und aus Mangel buͤrgerlicher Bildung,
L 4
[168] am Fluch einer Ketten zu ſerben, die ihm das Ge-
fuͤhl der Rechten ſeiner Natur von allen Seiten ver-
wirrt, das Befriedigende ſeiner Naturtrieben in
allen Theilen beſchraͤnkt, und ihm nichts dargegen
giebt, als die Foderung das zu ſeyn, was weder
Gott noch Menſchen aus ihm gemacht haben, und
was ihn die Geſellſchaft, die es von ihm fodert,
noch am meiſten hindert zu ſeyn. — Indeſſen iſt
es nichts weniger als leicht, aus dem Menſchen
etwas ganz anders zu machen als er von Natur
iſt, und es fodert die ganze Weisheit eines die
menſchliche Natur tiefkennenden Geſezgebers, oder
wenn ihr lieber wollt, (denn beydes iſt wahr) die
Frommkeit einer Engeltugend, die ſich Anbethung
erworben, den Menſchen dahin zubringen, daß er
beym Werk ſeines buͤrgerlichen Lebens, und bey
Verrichtung ſeiner Stands- Amts- und Berufs-
Pflichten eine das Innere ſeiner Natur befriedigen-
de Laufbahn finde, und an einer Kette nicht ver-
wildere, welche die erſten Grundtriebe ſeiner Natur
mit unerbittlicher Haͤrte beſchraͤnkt, und mit eiſer-
nem Gewalt etwas anders aus ihm zu machen be-
ginnet, als das iſt, wozu ihm alle Triebe ſeiner
Natur mit uͤbereinſtimmender Gewalt unwillkuͤhr-
lich in ihm liegender Reize hinlocken.
Eine jede Luͤcke in der buͤrgerlichen Geſellſchaft
— ein jeder Anſtoß im geſellſchaftlichen Leben —
eine jede Ahndung durch Gewalt oder durch Liſt
[169] ſeine natuͤrliche Freyheit behaupten, und außer
dem Gleis der buͤrgerlichen Ordnung zur Befriedi-
gung ſeiner Naturtrieben gelangen koͤnnen, das
alles fachet in jedem Fall den Funken der Empoͤ-
rung gegen dieſe Kette, der tief in der Natur liegt,
von neuem wieder an — das alles belebt in jedem
Fall die nie in uns ſterbende Keime unſerer erſten
Triebe, und ſchwaͤch[t] in jedem Fall von neuem die
Kraͤfte unſerer buͤrgerlichen Bildung, die dieſe
Triebe beſchraͤnken.
So viel, und weniger nicht, hat ein Geſezge-
ber zu bekaͤmpfen, der den Menſchen durch die
buͤrgerliche Verfaſſung gluͤcklich machen, und ihm
die erſten Vortheile der geſellſchaftlichen Verbin-
dung, Gerechtigkeit und Sicherheit nicht nur ver-
ſprechen, ſondern auch halten will — denn allent-
halben, wo man die Menſchen wild aufwachſen,
und werden laͤßt, was ſie von ſich ſelbſt werden,
da iſt Gerechtigkeit und Sicherheit in einem Staat
ein bloßer Traum. Beydes iſt in einem Staat
nur in dem Grad wahrhaft moͤglich, als die Men-
ſchen, die darinn wohnen, von den Hauptfehlern
ihres Naturlebens, namentlich vom Aberglauben,
vom Leichtſinn, Gedankenloſigkeit, Liederlichkeit,
Furchtſamkeit, von Unordnung, Unweſen, ſchwaͤr-
meriſchen Lebensarten, und von den Folgen dieſer
Grundfehler, oder vielmehr Schwaͤchen unſerer
Natur, vom Troz ihrer Dummheit, von der Ver-
[170] wegenheit ihres Leichtſinns, von den Verwicklungen
ihrer Unordnung, von der Noth ihrer Liederlichkeit,
von den Verlegenheiten ihrer Unanſtelligkeit, von
dem Unſinn ihrer Gierigkeit, von der Gewaltſam-
keit ihrer Anſpruͤchen, und von der Grauſamkeit
ihrer Rache, geheilet, und zu einem bedaͤchtlichen,
vorſichtigen, thaͤtigen, veſten, im Zutrauen ſo wohl
als im Mistrauen ſicher gebenden, und die Mittel
zur Befriedigung ſeiner erſten Wuͤnſche in ſich
ſelber, und im Gebrauch ſeiner durch buͤrgerliche
Bildung erworbenen Fertigkeiten und Kraͤften fuͤh-
lenden Menſchen zu machen.
Denn wo dieſes nicht iſt, und die Geſellſchaft
mit ihren Gliedern handelt wie ein Bauer, der aus
ſeinem Weinberg nimmt, was Gott und die Reb
giebt, ohne ihn im Fruͤhjahr zu hacken, und den
Sommer uͤber zu ſchneiden und zu binden — wo
ſie vielmehr umgekehrt in dem Grad, als ein Buͤr-
ger in der Stufenfolge hoͤher ſtehet als der andere,
ihm es leichter macht, ihren Banden zu entſchluͤp-
fen, und der Natur nach zu leben, da muß die
buͤrgerliche Geſellſchaft — ſie kann nicht anderſt —
eine Gerechtigkeit und eine Sicherheit erhalten,
wie ſie der Geſezgeber in dieſem Land verdient, die
aber auch ausſieht, wie eines jeden liederlichen
Haushalters ſeine Hausordnung — und wie
zum Exempel, da — wo ſoll ich ſagen — ich
will in der Tiefe bleiben, wo ſich die hi[her] zie-
[171] lende Wahrheit mit ganz unvernuͤnftig mehrerer
Behaglichkeit ſagen laͤßt — alſo — da z. Ex. wo
Schulz, Weibel, Untervogt, u. ſ. w. notoriſch,
landskundig, und allgemein minder ehrlich, min-
der aufrichtig, minder unbeſcholten, minder zu-
verlaͤßig, gutmuͤthig, und treuherzig ſind, als ge-
meine Leute im Land; und eben dadurch, daß ſie
Untervoͤgte, Weibel und Schulze ſind, dahin kom-
men, daß ſie, unbeſchadet ihrer Ehre, ihres guten
Namens und ihres Seckels, alles, was recht iſt,
ſo auffallend minder ſeyn koͤnnen und doͤrfen, als
jeder gemeine Menſch im Land — und wieder, wo
ſie eben dadurch, daß ſie Untervoͤgte, Schulze, u.
ſ. w. ſind, dahin kommen, daß ſie in allem, was
Hausordnung, Erziehung, gemeinen Landesfleiß
u. ſ. w. antrift, minder anſtellig, und minder
rathlich, als alte kindlichgewordene Weiber und
Kuͤhhirten — Und im Gegentheil in allem, was
die Menſchen zur Verwilderung eines unbuͤrgerli-
chen und ungeſellſchaftlichen Lebens hinabfuͤhrt, und
ſie zu verdrehten, krummen, hinterliſtigen, falſchen,
traͤgen, unordentlichen, und dabey verlogenen,
heimtuͤckiſchen, gewaltthaͤtigen, rachſuͤchtigen und
grauſamen Naturmenſchen macht, ganze Meiſter
ſind, und eben dadurch, daß ſie Regierungsbeam-
tete ſind, und alſo in der Stufenfolge der geſell-
ſchaftlichen Ordnung hoͤher ſtehen als andere,
dahin kommen koͤnnen, in dieſen Kunſtſtuͤcken
[172] des Naturlebens ſolche Meiſter und Vorbilder zu
werden. —
Allenthalben, wo es immer ſo iſt, und wo im-
mer das wirkliche Reſultat der Geſezgebung im Ein-
fluß habenden Menſchen alſo ausſieht und auffaͤllt,
da iſt Sicherheit der Perſonen und des Eigen-
thums, Freyheit und Gerechtigkeit eine Chimaͤre,
weil unter dieſen Umſtaͤnden das Volk, das iſt, ſo
viel als alles was auf zwey Beinen geht — zu einem
Geſindel wird, das auf der einen Seite ſeine Sin-
nen und Gedanken und ſein ganzes Beſtreben da-
hin lenkt, auch, wie ſeine Obern, von der ver-
haßten Kette loszukommen, und wie ſie auch wie
im Wald zu leben, und dabey, wo moͤglich, noch
bey ihrem Waldleben andere zweybeinigte Geſchoͤpfe
zu ihrer Bedienung, zu ihrer Kommlichkeit und
ihrem Schutz unter ſich zu haben. — Und denn
aber auf der andern Seite von einer unter dieſen
Umſtaͤnden allerhoͤchſt wichtigen und allerhoͤchſt
nothduͤrftigen Galgen-Rad- und Galeeren-Gerech-
tigkeit *) zuruͤckgeſchreckt, zuruͤckgebunden, und zu-
[173] ruͤckgemetzelt dahinkommen, durch die Umwege der
Falſchheit, des Betrugs, der Verſtellung und ei-
nes huͤndiſchen Kriechens zur Befriedigung der Trie-
be zu gelangen, wozu ihnen, durch den offenen ge-
raden Weg der Gewalt zu gelangen, alſo der Weg
geſperrt wird.
So, ſezte er mit Hitze hinzu, ließ man einſt
in Staaten fuͤr das Kopfgeld Zigeuner, und anders
Volk ihrer Art, ins Land, und verbot ihnen uͤbri-
gens bey Strafe und Ungnade den Bauern Enten
zu ſtehlen, und andere dergleichen Sachen zu machen.
Dieſer Unfug iſt noch allenthalben in der Welt;
aber alle Gerechtigkeit, welche unter dieſen Umſtaͤn-
den in einem Staate moͤglich, iſt denn auch nichts
anders, als eine armſelige Nothjagd gegen ver-
wahrloſete und verwilderte Thiermenſchen, welche
aber das Geſchlecht ſo wenig aͤndert, beſſert, oder
zahm macht, als die Fallen und Gruben im Wald
den Fuchs, und den Baͤr und den Wolf anders
machen als ſie ſind.
[174]
Dieſes Geſchlecht wird nicht anders und nicht
beſſer, als wo es durch eine mit ſeiner Natur uͤber-
einſtimmende Bildung und Fuͤhrung, mit Weis-
heit, zu ſeiner buͤrgerlichen Beſtimmung empor
gehoben, und zu dem gemacht wird, was es in
der Welt wirklich ſeyn ſoll.
So redete der Lieutenant uͤber den Fundamen-
talirrthum der neuern Geſezgebungen. Es machte
den Herren beyderſeits bange: denn obwohl dieſe
Vorſtellungsart dem Pfarrer eine wichtige Frage
in ſeinem Katechiſmus erklaͤrte, und auch dem Jun-
ker Stuͤck fuͤr Stuͤck nichts dagegen in den Sinn
kam, ſo ſahen ſie doch, daß dieſelbe nicht weniger
weit lange, als die ganze im philoſophiſchen Jahr-
hundert wirklich in Ausuͤbung ſtehende Geſezgebung
auf den Kopf zu ſtellen — und wenn ſie Hollaͤnder
geweſen waͤren, ſo haͤtten ſie die Sache ad refe-
rendum genommen, oder als ein unlauteres Ge-
ſchaͤft ihre Aufheiterung Gott und der Zeit uͤber-
laſſen; aber ſie waren deutſche Maͤnner, und gien-
gen ohne Furcht und Seitenſpruͤnge ihren geraden
Weg fort, mit dem Bleymaß in der Hand, den
Grund und Boden des Gewaͤſſers zu ſondieren, wel-
ches zu befahren ſie nun einmal ſich verpflichtet
hielten.
[175]
§. 42.
Uebereinſtimmung der Philoſophie mei-
nes Lieutenants mit der Philoſophie
des Volks.
Sie hatten dieſe Tage alle Abende den Lindenber-
ger, den Baumwollen Meyer, den Michel, den al-
ten Renold, und noch mehrere Bauern von Bon-
nal bey ſich, und forſchten umſtaͤndlich nach, was
auch ſie glaubten, das man machen koͤnne, um
auf eine dauerhafte, Kind und Kindskinder ſicher
ſtellende Art, eine beſſere Ordnung im Dorf in allen
Stuͤcken einzurichten und feſtzuſetzen; und erſtaun-
ten, zu ſehen, wie die Bauern Stuͤck fuͤr Stuͤck
mit den Meynungen des Lieutenants uͤbereinkamen,
bey den kuͤhnſten Aeußerungen deſſelben nicht die ge-
ringſte Verwunderung zeigten, ſondern in allen
Theilen eintraten, ſeine Meynungen durch ihre Er-
fahrungen zu bekraͤftigen. — Das konnte nicht
anders, es mußte die Bangigkeit, die den geiſtli-
chen und weltlichen Herren uͤber die Kuͤhnheit des
erfahrnen Lieutenants befallen hatte, verſchwinden
machen — es that es wirklich — und fuͤhrte ſie
beyde zu einer der erſten Quellen des menſchlichen
Muths, nemlich zum Glauben, daß alles, was all-
[176] gemein als hoͤchſtnothwendig auffalle, hoͤchſtwahr-
ſcheinlich auch moͤglich ſey.
Die Bauern, die beſtimmt — wie er — fan-
den, daß die Menſchen, ſo bald ſie ſich ſelbſt uͤber-
laſſen, traͤg, unwiſſend, unvorſichtig, und voͤllig,
wie er ſie beſchrieben, werden, hielten ſich, ihre
Meynung hieruͤber deutlich zu machen, an die Be-
ſchreibung der alten Ordnung in Bonnal, und ſag-
ten, die Leute ſeyen ſo ſinnlos und vergeßlich ge-
worden, daß ſie nicht mehr zu gebrauchen gewe-
ſen, und man mit ihnen in allen Stuͤcken nicht
mehr das Halbe habe ausrichten koͤnnen, was vor-
mals landsuͤblich geweſen.
Die Gruͤnde zum Rechtthun ſeyen den Leuten
wie vor den Augen weggethan — und hingegen
die Gruͤnde zum Lumpen und Schelmen wie vorge-
mahlt und vorgeſungen worden. Man habe es mit
Lumpenſtreichen und Bosheiten gar viel weiters
bringen, mehr dabey gewinnen, und damit leich-
ter zu Wein, Brod und Fleiſch kommen koͤnnen;
auch haben ſie das Rechtthun fuͤr keine Ehre mehr
gehalten, und keine Freude dabey gehabt, ſo we-
nig als Scham und Furcht. Die kleinſten Kinder,
wenn man ihnen etwas abgewehret, ſeyen im Stand
geweſen, den Ruͤcken zu kehren, und anfangen zu
ſingen: „Was reden die Leute, was bellen die
Hunde!„ Wer der Frecheſte und der Schlaueſte,
und
[177] und der Staͤrkſte geweſen, und das groͤſte Maul ge-
habt, der ſey an der Gemeinde, im Gericht und
im Chorgerichte, und allenthalben Meiſter geweſen,
und dahin habe ſich natuͤrlich ein jedes gelenkt,
wodurch er glaubte auch Meiſter zu werden. —
Man habe die Kinder laufen und aufwachſen laſſen
wie das unvernuͤnftige Vieh. — In der fruͤhen
Jugend haben die Aeltern uͤber ihre Bosheiten ge-
lacht, und dann, wenn ſie ihnen damit uͤber den
Kopf gewachſen, haben ſie mit Streichen dieſelben
wieder aus ihnen herausſchlagen wollen. — Die
Obrigkeit habe es nicht anders gemacht; aber die
Erfahrung habe gezeiget, daß ſie auf beyden Sei-
ten 7 Teufel hineingeſchlagen, wo ſie geglaubt, ei-
nen auszutreiben. Am Ende ſeyen die Leute dieſes
Lebens gewohnt worden, daß ſie alles haben gehen
laſſen, wie wenns ſo ſeyn muͤßte, und ſich uͤber
nichts mehr graue Haare haben wachſen laſſen, ſo
wie die Schelmen und Bettler im Wald es auch
machen, und ſo lang ſie zu eſſen und zu trinken
haben, die luſtigſten Leute von der Welt ſeyen.
Die Kinder ſeyen bey dieſem Leben, wenn ſie nicht
in den erſten Monaten geſtorben, dennoch geſund
und friſch aufgewachſen, und da man ſie Schaa-
renweis mit rothen Backen, und mit Augen wie
Feuer in den groͤſten Fetzen, und halb nackend
im Schnee und Eis, und Koth geſehen herum-
laufen und Freude haben, ſo habe man faſt nicht
M
[178] anders koͤnnen als denken, es ſey nicht ſo gar ſchlimm
mit dieſem Leben; aber wann ſie dann aͤlter ge-
worden, und keines zu nichts zu brauchen gewe-
ſen, und man keinem nichts habe anvertrauen, und
auf keines in nichts ſich habe verlaſſen koͤnnen,
dann haben einen die rothen Backen nicht mehr
verblendet, ſie ſeyen aber auch von ſich ſelber wieder
weggekommen; und Kinder, die im zwoͤlften Jahre
ausgeſehen wie Engel, und gutmuͤthig geweſen wie
Laͤmmer, ſeyen im 16. bis 18ten geworden, daß
man ſie nicht mehr gekennt, und im zwanzigſten
wie eingefleiſchte Teufel. So weit gieng die Ueber-
einſtimmung der Ausſagen der Bauern mit den
Grundſaͤtzen des Lieutenants.
Der Lieutenant aber verſtund aus den Bauern
aller Arten ihre wahre Meynung uͤber das, was er
wunderte, ſo gut herauszulocken, als ein Apothe-
ker aus Knochen, Kraͤutern und Wurzeln, den
Geiſt, welchen er heraus haben will. Er fand
aber auch meiſtens etwas ganz anders bey ihnen,
als z. Ex. ein Pfarrer, der ſich die ſchlauen Buben
etwas von dem Wohlgefallen des lieben Gottes an
der Keuſchheit, und den uͤbrigen chriſtlichen Tu-
genden vorheucheln laͤßt, wovon ſie kein Wort glau-
ben; oder ein Junker, der mit Schloßeifer mit ihm
von der ſchuldigen Treue der Zehendknechte und
Gefaͤlleintreibern redet, und auch ſo dumm iſt zu
glauben, was ſie ihm daruͤber antworten; welcher
[179] lezte Glaubensfall aber freylich, und ganz natuͤrlich,
ohne Vergleichung ſeltener iſt, als das erſte, weil
das Intereſſe dem Edelmann hierinn die Augen zu
viel oͤfnet, als daß er ſo ga[r], wie der andere, im
Glauben verirren koͤnnte.
Ich ſollte es nicht noch ſagen muͤſſen, ſolche
gemeine Pfarrer- und Edelmanns-Arten, Bauern-
geiſt zu ſammeln, ſind nichts nuͤtz. — Was dabey
herauskommt, iſt der wirklichen Wahrheit ſo ganz
entgegen und ungleich, als wenn man des Apothe-
kers Wurzeln und Kraͤuter blos in die Hand neh-
men, und den Geiſt davon mit derſelben heraus-
druͤcken wollte — was er herausbringt, iſt Koth-
ſaft und Waſſertropfen — zwar wird freylich gar
viel ſolcher Kothſaft, und ſolche Waſſertropfen, als
aͤchter Bauerngeiſt in hundert Apotheken verkauft,
und die Guttern (Flaſchen) davon alle Michaelis
und Oſtern hoch aufgefuͤllt, wie zu leſen im Meß-
katalogus unter dem Titul: „Buͤcher fuͤrs Volk.„
Der Lieutenant ſah dem ſchlauſten Buben un-
ter den Bauern in die Seele, und konnte ihm
aufs Wort zeigen, daß er ihn durch und durch
ſehe, und vollkommen wiſſe, was er dabey denke;
damit brachte er, ſo bald er wollte, von ihnen her-
aus, wofuͤr ſie ſonſt kein Maul haben, und was ſie
unter ſich ſelber meiſtens einander auch nicht mit
Worten, ſondern nur mit Laͤcheln, mit Nicken,
M 2
[180] mit Kopfſchuͤtteln, Maulverziehen, Augenverziehen,
Naſenruͤmpfen, und dergleichen Zeichen, mit denen
ſie ſaͤmtlich gar wohl verſehen ſind, zu verſtehen
geben.
Auch brachte er ſeine Bonnaler Bauern dahin,
daß ſie ihre wahre Meynung gar nicht mehr vor
ihm verbargen, und z. Ex. uͤber das Stehlen, vor
dem Junker und dem Pfarrer gerade herausſagten,
das Volk ſtehle allenthalben, wo man ihns nicht
mit vieler Muͤhe, Arbeit und Sorgfalt dahinbrin-
ge, daß es nicht mehr ſtehle.
§. 43.
Volksbegriffe uͤber das Stehlen.
Sie ſagten gerade heraus, das Stehlen ſtecke in
dem Menſchen, und das Nichtſtehlen muͤſſe man
ihn lehren; aber an den meiſten Orten koͤnne man
nicht einmal das, und an vielen Orten wolle man
es nicht.
Allenthalben, wo keine Ordnung ſey; allent-
halben, wo der Landes Fleiß nicht feſt gegruͤndet;
allenthalben, wo Zuͤgelloſigkeit und Liederlichkeit
im Schwang geht, da ſtihlt das Volk. — Wie-
der, wo es unterdruͤckt wird, und keinen Schutz
findet — wieder, wo es nicht lernt zum Geld
[181] Sorge tragen — wieder, wo die gemeine Landes-
ehr zertreten, und am meiſten, wo der Prozeßteu-
fel eingeriſſen, und einer den andern leicht um das
Seine bringt. — An allen dieſen Orten macht ſich
das Volck ſo wenig daraus zu ſtehlen, als es ſich
etwas daraus macht Brod zu eſſen.
Es iſt zwar freylich nicht, daß es ſich das ſel-
ber geſtehe; es waͤre wohl gut, man koͤnnte ſich
dann darnach richten, und mit ihm darnach um-
gehen — aber ſie haben ihren Katechiſmus im
Kopf, und glauben im Allgemeinen ganz gut, das
Stehlen ſey nicht recht — aber in jedem beſondern
Fall, wo ſie den Anlas haben, finden ſie denn alle-
mal, dießmal und dießmal ſey nicht ſo viel daran
gelegen, und haben fuͤr einen jeden ſolchen Fall
immer einen ganzen Karren voll Entſchuldigungen,
die ihnen genug thun, im Kopf und Herzen parat
da ſind, als dieſe: „Er hat mir auch geſtohlen, oder
wenn er koͤnnte, wuͤrde er mir noch mehr ſtehlen“
— „Es iſt mehr als geſtohlen, wie er ſein Gut
zuſammen gebracht“ — „Was mag ihm der Bet-
tel ſchaden!“ — „Er verſpielt mehr auf einer
Karten“ — „Wenn ich ein gutes Maͤdchen waͤr,
er gaͤb' mirs vergebens.“ Item: „Er iſt ein ver-
fluchter Bub, daß ſeines gleichen nicht iſt — es iſt
Suͤnde was man ihm thut“ — „Er kommt doch
um ſeine Sachen, nehme ich ſie ihm nicht, ſo
nimmt ſie ihm ein anderer.“ — Wieder: „Ich
M 3
[182] hab es doch auch ſo noͤthig — ſo wenig macht
dem lieben Gott nicht viel — ich bin ſonſt doch
auch ſo geplagt — ich habe izt juſt auch muͤſſen da-
zukommen, wie wenn es Gottes Wille geweſen.“ —
Dergleichen Worte ſind ihnen unter beruͤhrten
Umſtaͤnden gelaͤufiger als das Vater Unſer; und ſie
erlauben ſich allenthalben wo ſie ſo verflucht natuͤrlich
denken, das Stehlen — dennoch gegen Niemand
lieber als gegen die Obrigkeit — Sie nimmt auch,
wo Sie kann und mag — haben ſie unter dieſen
Umſtaͤnden im Augenblicke gegen die Obrigkeit im
Munde. — Und auch gegen Fremde macht ſich
das Volk unendlich minder aus dem Stehlen —
„waͤren ſie geblieben, wo ſie daheim ſind“ — ſa-
gen die Ehrlichſten; — „was haben ſie uns noch
enger zu machen — wir ſind ſonſt genug eingeſperrt
— wenn ihnen Zaͤune und Gaͤrten niedergeriſſen
worden, ſo iſt ihnen nur recht geſchehen.“ — *)
[183]
Sie erzaͤhlten die ſonderbarſten Umſtaͤnde von
den Dieben, und wie leicht Unordnung, und Druck
und Mangel, etwas rechtes gelernt zu haben, zum
Stehlen bringe, und wie oft die kleinſten Umſtaͤnde
daruͤber den Ausſchlag geben. — Unter anderm das
Wort eines Gehenkten, der unter der Leiter zu ſei-
nem Vater ſagte: „Wenn du mich gemacht haͤtteſt
mein Wamms zu Nacht ordentlich an den Nagel auf-
zuhenken, ſo wuͤrde man mich izt nicht aufhenken —
Und eines andern — der durch ein unvorſichtiges
Wort in einen Prozeß verflochten, und hinten nach
auch zum Stehlen gekommen, geſagt hat: — „ Es
macht mir nichts zu ſterben, wenn izt nur auch
jemand die henkte, die mir Haus und Habe ge-
ſtohlen, aber es henkt ſie Niemand, ſie ſitzen beym
Blutgerichte„ — und es war ſo. —
Die Bauern machten einen Unterſchied zwi-
ſchen dem geſezmaͤßigen und dem galgenmaͤßigen
Stehlen; und behaupteten, wo das erſte leicht ſey,
und man in geſezlicher Form und Ordnung die Leute
um das Ihrige bringen koͤnne, ſey dem andern
nicht zu ſteuern, und es gehe gewoͤhnlich ſo, daß
*)
M 4
[184] wenn der Vater in einer Haushaltung beym Ge-
ſezmaͤßigen bleibe, der Sohn denn ſo viel als ge-
wis zum Galgenmaͤßigen dieſes Handwerks herab-
ſinke. Auch das ſagten die Bauern, wo man im-
mer die Menſchen nicht dahinbringe, daß ſie um
ihrer ſelbſt willen nicht ſtehlen, ſo werde man in
Ewigkeit mit ihnen nicht dahin kommen, daß ſie
weder um Gottes willen, noch um anderer Leute
willen, darinn aufhoͤren. —
Sie ſagten, das Bauernvolk achte fremde Leu-
te, und jedermann der ſie nichts angehe, ſo viel als
nichts — und ſezten hinzu, ſie wuͤßten es nicht wie
es die Herren darinn haben; aber einmal unter
den Bauern ſey es gewiß, daß ſie auf andere Leute
nur in ſo weit Achtung tragen, als es ihr Nutzen
iſt, es zu thun. —
Auch Mangel geſunder Nahrung, ſagten ſie,
mache das Volk gar oft ſtehlen; und wenn ſie, be-
ſonders im Alter von 16 Jahren bis zum Auswach-
ſen, ſchlecht zu eſſen haben, ſo koͤnne man ſie mit
einem Pfnnd Kaͤſe, und einem Stuͤck Fleiſch hin-
bringen, wohin man wolle.
Auch die Langeweile, ſagten ſie, bringe viele
Menſchen zum Stehlen, an Ort und Stelle, wo
es beym Rechtthun gar nicht mehr luſtig ſey, und
man ob nichts Gutem und Unſchuldigem Freude
[185] mehr haben koͤnne, da koͤnnen noch oft die beſten,
und die ſo zu gut ſind, zu Hauſe Schaͤlke zu wer-
den, und die Ihrigen mit ihrer Langeweile zu
plagen, dahin, daß ſie Anlas ſuchen, wo es luſtig
geht, und unter gewiſſen Umſtaͤnden finden ſie die-
ſes, wenn ſie das Dorf hinauf- und hinabgehen
nirgends als im Wirthshaus und bey Schelmen. —
§. 44.
Volksphiloſophie uͤber den Geſchlechts-
trieb.
Sie behaupteten, es komme hierin gaͤnzlich auf
die Erziehung der Toͤchtern an, ſo bald ſie erzogen
werden, als ob ſie nichts in der Welt werden muͤß-
ten als ſchoͤne Jnngfern, ſo ſpringen ſie in dieſer
Abſicht mit offnen Fluͤgeln und Schaarenweis ih-
rem Elend entgegen, wie Huͤner, denen man Ha-
ber ſtreue, ihrem Fraß, und da ſey es dann gleich
viel, wenn man die halben Glukthiere den andern
vor den Augen bey ihren Fekken (Fluͤgeln) weg-
nimmt, wuͤrgt, und an den Boden wirft; die
andern freſſen neben den todten Schweſtern fort;
und wann man ihnen am Morgen wieder Gluk —
Gluk — ruft, ſo kommen ſie wieder, laſſen ſich
wieder fangen, wuͤrgen, und an Boden werfen
— ſo gehe es immer, und es ſey unmoͤglich den
[186] Unordnungen des Geſchlechttriebs abzuhelfen, wenn
man nicht mache, daß die Toͤchtern mehr werden
als dergleichen Gluckthiere. Man muͤſſe ihnen,
wenn man das wolle, von Jugend auf den Kopf
wohl mit der Wirthſchaft anfuͤllen, und es trach-
ten dahin zu bringen, daß ſie mit anhaltender Ar-
beit, Uebung im Ueberlegen, im Ausrechnen, und
in allen Arten von haͤuslichen Aufmerkſamkeiten
verbinden — und zugleich einen Ehreifer in ſie
hineinbringe, daß keine in keiner Art von Weiber-
arbeit, und in keinem Stuͤck der Haushaltungs-
kunſt die Hinterſte ſeyn wolle; und es ſey in dieſer
Abſicht gar viel daran gelegen, daß ſie bey ihrer
Landtracht bleiben, und ſich nicht eine jede vor der
andern mit ihrer Decke mehr unterſcheiden koͤnne
als mit ihrer Arbeit, und mit ihrem Verdienſt;
man ſollte alles thun, diejenigen zum Geſpoͤtt zu
machen, die eine beſondere Hoffart (Pracht) treiben,
und damit zeigen, daß ſie mehr als die andern noͤthig
haben ſich feil zu bieten. Einer meynte, man ſollte
Lieder uͤber ſie machen, und ihnen darinn ſagen,
daß die Juden es mit alten bauchſtoͤßigen, faulen
und hirnmuͤthigen Roſſen juſt auch ſo machen, und
ſie mit Baͤndern am Hals und Kopf ſo ſonderlich
und wunderlich ausſtafirt auf den Markt bringen,
wie kein recht und gerechtes Roß dahin komme —
aber ein geſcheider Haͤndler gehe zu einem ſo ge-
zeichneten Judenthier nicht einmal hinzu — es
[187] kaufe ſie Niemand, als etwa ein dummer Herr
und Burger aus einer Stadt. —
So meynte der Bauer in Bonnal, ſollte man
ſolchen Toͤchtern ein Lied machen; wann es izt nur
jemand thun wuͤrde.
Hingegen ſollte man ihnen Anlaß geben zeigen
zu koͤnnen, wie weit es eine jede in aller Weiber
Arbeit gebracht, daß ſie Ehre und Aufmunterung
davon haͤtten, wenn ſie in etwas dergleichen weiter
waͤren als die andern.
Auf dieſe Art, meynten ſie, waͤre es moͤglich,
wenn man wollte den Unordnungen des Geſchlecht-
triebs Einhalt zu thun; es muͤßten dann, meynten
ſie, die Aeltern auch nicht mehr wie izt erſchrecken,
wenn ein Sohn ans Heurathen denkt, und fuͤrch-
ten, er falle etwan auf eine, daß es beſſer waͤre,
das Hagelwetter oder der Viehpreſten gienge uͤber
ihren Hof. Sie ſagten, es ſey den Aeltern nicht
zu verdenken, wenn eine Tochter uͤbel ausfalle, ſo
ſey nichts mehr zu machen — es ſey nicht einmal
wie mit den Knaben, die doch auch noch manch-
mal, wenn ſie heurathen, umkehren, und etwas
rechtes werden, wenn ſie vorher noch ſo nichtsnuͤtz
geweſen ſeyen — bey den Toͤchtern ſey das nie zu
hoffen; ſie ſterben lieber, und heulen ſich lieber die
Augen aus, als daß ſie im 24ten Jahre die Haͤnde
ein wenig ſtaͤrker brauchen, als ſie es im 14ten ge-
[188] wohnt geweſen. — Auch ſollte man alles thun,
daß die Dorfjugend unter ſich zuſammen hielte,
und fremde Leute, die keine Heurathsabſichten haͤt-
ten, nicht leicht mit einer Tochter aus einem Dorf
unter 4 Augen zur Red kommen koͤnnten — und
die Amtmanns-Soͤhne, Pfarrers-Soͤhne, Schrei-
ber, und dergleichen Leute, mit Ernſt und von
Obrigkeits wegen den Bauerstoͤchtern drey Schritt
vom Leib halten; und es der Dorfjugend nicht
uͤbel nehmen, wann ſie zu Zeiten einen dergleichen
Herren im Brunnen abkuͤhlen wuͤrde.
Sie behaupteten, es gehe keiner und ſtehle den
Zehenden von einem Acker, mit Gefahr, dafuͤr ge-
henkt zu werden, wenn er machen koͤnne, daß der
Acker mit ſamt dem Zehnden von Rechtswegen ſein
werde; und ſo ſey es auch mit den Toͤchtern, wenn
ſie nemlich das auch machen koͤnnen; wenn ſie es
aber nicht koͤnnen, und nicht dazu erzogen werden,
ſo ſtuͤrzen ſie ſich ja dann Schaarenweis uͤber die-
ſen Punkt in ein Elend, daß ihnen beſſer waͤre, ſie
wuͤrden auch gehenkt, ſie waͤren dannzumal doch
der Noth los, meynten die Bauern in Bonnal.
Ich laſſe ſie in ihrer rohen Sprache fort reden,
ich habe es probiert ſie zu aͤndern, aber ich kann
ſie nicht beſſer machen; ſie ſagten, wenn da gehol-
fen waͤre, ſo wuͤrden hundert und hundert Umſtaͤn-
de, uͤber die man izt großes Geſchrey mache, weg-
[189] fallen wie nichts; und behaupteten z. Ex. uͤber die
Liechtſtubeten *), es ſey von Altem her ein naͤchtli-
ches Zuſammenkommen der Knaben und Toͤchtern
fuͤr ehrlich gehalten und fuͤr erlaubt angeſehen wor-
den, aber es habe allenthalben ſeine feſtgeſezte Re-
geln gehabt, ob welchen die Knaben und Toͤchtern
ſteifer gehalten, als ob keinem Geſez der Obrigkeit;
an einigen Orten habe der Knab bey Monaten auf
der Leiter und vor dem Fenſter der Tochter bleiben
muͤſſen, und gewoͤhnlich habe ſie denſelben das Er-
ſtemal an einer Regennacht, oder wenn es gar kalt
geweſen, wie aus Mitleiden hineingelaſſen.
An andern Orten haben die Knaben die erſten
Fuͤnf- und Sechsmal in die Stuben kommen
muͤſſen, wo dann die Aeltern aufgeblieben, bis der
Knab fort, und das Haus beſchloſſen geweſen.
Wenn ſie denn nichts wider ihn gehabt, ſo haben
ſie in der 6ten 7ten Wochen die jungen Leute in
Gottes Namen allein beyeinander gelaſſen, und ih-
nen gewoͤhnlich mit den Worten, habet Gott vor
Augen, und thut nichts Boͤſes, eine gute Nacht ge-
wuͤnſcht.
So ſey alles Schritt fuͤr Schritt abgemeſſen
geweſen, wie eine Ehrentochter einen Knaben bey
[190] Tag und bey Nacht nach und nach doͤrfe naͤher
kommen laſſen, und wie ſie ihn zugleich in der
Ordnung halten, und doch, wie ſie ſagten, nicht
aus dem Garn laſſen.
Und dann ſey es faſt eine unerhoͤrte Sache ge-
weſen eine Tochter zu verderben; die Leute haben
noch nicht gewußt, daß es minder zu bedeuten habe,
das aͤrmſte Kind im Land ungluͤcklich zu machen,
als ab einem Pflug im Feld ein paar Pfund Eiſen,
die daran ſeyen, abzureißen und heim zu tragen;
im Gegentheil, es habe noch Leute gehabt, welche
die alten Lieder uͤber die Voͤgte, die man mit
Axen todt geſchlagen, weil ſie Weiber und Toͤch-
tern im Lande verfuͤhrt, in einem ſolchen Ton ge-
ſungen, daß ſich nicht ein jeder getraut haͤtte allent-
halben ins Bad zu ſitzen.
Es muͤſſe ſeyn, daß die alten Herrſchaften die
Seele mehr geachtet haben als wir, denn ſie habe
mehr Recht gehabt; und man werde finden, daß
alles, was die Herrſchaften fuͤr viel und hoch ach-
ten, auch viel Recht im Land habe — izt habe ſie
an vielen Orten ſo viel als gar keines mehr, und
mit der Ehre ſey es das gleiche; wenn die Herr-
ſchaften die Ehre der gemeinen Leute nicht fuͤr ſo
wichtig halten, als die Schnepf- und Rebhuͤner,
ſo haben ſie auch kein Rebhuͤner- und Schnepfen-
recht im Lande, an vielen Orten habe ſie nicht
[191] einmal Wachtelnrecht — und wo ſie das nicht habe,
ſo gehe dann auch verloren, wie alles, was man
gar nichts achte, verloren gehe. —
Sie behaupteten, der Unzucht Unordnungen,
vom Eheſchimpf *) an bis zum Kindermord, loͤſe
ſich nirgend als in dieſem Punkte auf, und vergli-
chen die Art und Weiſe, wie viele Herrſchaften mit
der Ehre im Lande umgehen, dem Feuer einer Lam-
pe, das alles Oel aus ihr herausziehe und eſſe,
aber wenn es das Oel aufgezehrt habe, dann auch ſel-
ber erloͤſche; und ſo meynten die Bauern, brennen
die Herrſchaften, die die gemeine Landesehre nicht
achten, ſich ſelber in ihren Ehrenampelen **) auch
zu tod.
Sie konnten nicht genug erzaͤhlen, was fuͤr
ein Unterſchied in Ehrenſachen zwiſchen der itzigen
und alten Zeit geweſen, wann ein Knab einer Toch-
ter etwas Gefaͤhrliches und Beleidigendes zugemu-
thet habe, und ſie ſich nur ein Wort bey ihren Ge-
ſpielen davon habe verlauten laſſen, er ſey nicht
[192] einer von den Beſten, man muͤſſe ſich mit ihm ge-
wahren, ſo habe er koͤnnen ſpatzieren, und Jahr
und Tag wandern und ſuchen, ehe er wieder eine
gefunden, die ſich ſeiner etwas angenommen.
Ueberhaupt ſagten ſie, es komme die Leichtfer-
tigkeit nicht von den jungen Leuten, ſie komme von
den Alten, und von der Ehrloſigkeit im Lande her;
die jungen Leute haben allenthalben eine Freude
daran, auf ihren guten Namen Acht zu haben, wo
ſie auch nur ein wenig dazu aufgeweckt und aufge-
muntert werden, ſo machen ſie ſich eine Ehre dar-
aus, gute Farb zu haben, ſtark zu ſeyn, an der
Oſtern ohne Ermel in die Kirche zu gehen, beym
Tanz, Schneiden und Maͤhen munter und aufge-
weckt zu ſeyn, und nichts an ſich kommen zu
laſſen, das ihnen Schand machen koͤnnte.
Sie behaupteten auch, die Nachtfreyheiten der
Jugend haben die Leichtfertigkeit der Alten und
Verehlichten, die das Land ehrlos mache, verhuͤ-
tet, aber ſie ſeyen auch meiſtens um deßwillen ver-
boten worden.
Zu Kuͤllau ſey das in die Augen gefallen; man
habe gerad 8 Tag hernach den Knaben verboten,
ſich am Samſtag und Sonntag zu Nacht auf den
Gaſſen betreten zu laſſen, nachdem ſie einem nacht-
wandelnden verehlichten Geſpenſt, das ihren Toͤch-
tern
[193]
tern nachgezogen, die Peruͤque abgenommen, und
ſie dem Harniſchmann auf dem Brunnen bey der
Kirche aufgeſezt. Izt haben freylich die Peruͤquen-
Geſpenſter in Kuͤllau ſicherer des Nachts zu wan-
deln, aber man behauptet es fuͤr gewiß, es ge-
ſchehe unter den Knaben und Toͤchtern daſelbſt izt
gar viel mehr Boͤſes als vorher.
Auch das behaupteten ſie, man koͤnne in die-
ſer Sache nicht ganz allein auf die Verhuͤtung des
fruͤhzeitigen Beyſchlafs acht haben, ſondern man
muͤſſe vielmehr auch auf die Verhuͤtung der ungluͤck-
lichen Ehen bedacht ſeyn; und zu dieſem Endzweck
ſeyen die Nachtfreyheiten, mit der ganzen alten
Ordnung verbunden, eine Sache geweſen, die ihre
recht gute Seite gehabt habe. Wann der Menſch
das Alter und das Recht habe eine Frau zu ſuchen,
ſo muß man in Gottes Namen ihn eine ſuchen
laſſen; und es ſey, ſezten ſie hinzu, einem nicht
zuzumuthen, ſeine Katze im Sack zu kaufen, wie
man ſich bey ihnen ausdruͤckt. *)
N
[194]
So deutlich kamen die Bauern mit ihrer Mey-
nung da hinaus, daß man gegen dieſen Fehler nicht
beſſer wirken koͤnne, als daß man die Kinder wohl
und mit Sorgfalt zu dem erziehe und bilde, was
ſie in ihrem Stand und in ihrem Platz in der Welt
ſeyn muͤſſen, und dem Leichtſinn, der Zuͤgelloſigkeit
und Gedankenloſigkeit ihrer Begierden von Jugend
auf entgegen arbeite, um ſie zu bedaͤchtlichen,
ſorgfaͤltigen, den morgenden Tag, das Alter und
die Nachkommenſchaft feſt im Aug haltenden Men-
ſchen zu machen, auf die man in jedem Geſchaͤfte
des Lebens, alſo auch in dieſem ein gutes Ver-
trauen haben koͤnne.
Wie weit ſich dieſes Vertrauen unter den Alten
gegen die Kinder erſtreckt, zeige ſich, ſagten ſie,
auch hierdurch, daß die Bauern ſogar auf den Hoͤ-
*)
[195] fen, wo es doch unſicher ſey, um deßwillen, wenn
ſie Toͤchtern gehabt, nicht ſcharfe Hunde gehalten,
und dennoch ſie des Samſtag- und Sonntag-Nachts
an die Ketten gelegt, damit ſich die Knaben nicht
ſcheuen zu ihren Haͤuſern hinzuzukommen, und daß
das ihren Toͤchtern nicht an einer Heurath ſchade.
Mit einem Wort, man habe faſt ohne Sor-
gen trauen doͤrfen. Etwan gar fromme Leute ha-
ben an einer Samſtags- und Sonntags-Nacht noch
ein Vater Unſer deſto mehr fuͤr ihre Kinder gebe-
tet, daß ihnen der liebe Gott ſeinen guten Geiſt
nicht entziehe, und ſie mit ſeinem Segen nicht ver-
laſſen woͤlle; es ſey aber auch damals in einem
Ehrenhaus ſo viel als nie ein Ungluͤck begegnet;
aber wohl hernach, da wo der Pflug im Feld nicht
mehr ſicher geweſen, wo Altes und Junges zu le-
ben angefangen wie die Heiden im Wald, da wo
man ſich aus dem Eidſchwoͤren nicht vielmehr ge-
macht, und Leute beym Nachtmahl haben zudienen
doͤrfen, die als die Schlimmſten hieruͤber im Land
verſchreyt geweſen, da ſeyen freylich auch die Toͤch-
tern in ſonſt braven Haͤuſern in ihren Kammern
nicht mehr ſicher geweſen.
Mit einem Wort, ſagten ſie, und dieſes war
das lezte, man habe die Hauptſachen, worauf es in
dieſem Stuͤck ankomme, izt wie aus den Augen
verloren, und mache Kindereyen daruͤber, die nicht
N 2
[196] anderſt ſeyen, als wenn einer, anſtatt ſich das
Geſicht zu waſchen, ein Tuch uͤber den Spiegel
herabhaͤngen wollte.
Es ſey vor Altem Niemandem in den Sinn
gekommen, daß es den Toͤchtern an Ehren zuwider
ſey, wenn ſie zu Dutzenden mit einander in See
gehen zu baden; und eben ſo habe man nichts da-
von gewußt, daß die Muͤtter, wenn ſie ſaͤugen, in
ihrer Wohnſtube ihre Bruſt vor ihren eigenen Kin-
dern verbergen, und daß dieſes der Leichtfertigkeit
vorbiegen ſolle; im Gegentheil, man habe juſt um-
gekehrt geglaubt, Unſchuld pflanze Unſchuld, und
die halb erwachſenen Knaben ſeyen neben den Muͤt-
tern geſtanden, und mit dem Bruͤderli oder Schwe-
ſterli freundlich geweſen, wenns an ihren Bruͤſten
gelegen, und die Knaben ſeyen dardurch bewahrt
worden, daß ſie nicht ſo fruͤhe in das giftige Stau-
nen gefallen, welches die Wolluſt mehr reize, als
alles andere; ſo ſey es damals geweſen, izt ſey
es anderſt.
So kamen die Bauern in Bonnal, in Abſicht
auf alle Verbrechen, auf die Meynung des Lieute-
nants hinaus; und ſagten auch uͤber Mord und
Aufruhr; Bauern, die erzogen werden, daß ſie ihre
Aecker und Matten, Gaͤrten und Buͤndten wohl
beſorgen, einander freundlich gruͤßen, im taͤglichen
Leben nicht in die Rede fallen, den alten Leuten
[197] aus dem Weg gehen, und dabey doch die Augen
im Kopf haben, daß ihnen nichts unrechts geſchehe;
ſolche Bauern, werden nicht leicht weder Moͤrder
noch Aufruͤhrer; wohl aber werden ſie es in aller
Welt gar leicht, wenn ſie nicht zu Bauern ge-
macht, und zu ihrem Beruf gezogen werden, ſon-
dern wie die Wilden aufwachſen, und wie die Wil-
den ihre Natur ungebaͤndigt mit ſich herumtragen.
§. 45.
Wenn ihr nicht werdet wie eines dieſer
Kleinen, ſo werdet ihr nicht eingehen
in das Reich der Himmeln.
So brauchte der wieder Geneſende ſeine Abende:
Alles wollte ihn izt wieder ſehen. Es war dem
Volk in Bonnal izt wieder Niemand ſo lieb als er.
Wer zum Mareili kam, ſagte, Gottlob! daß er
wieder lebt — und zur Renoldin, es iſt auf der
Welt Niemand wie er! der liebe Gott hat ihn uns
wieder gegeben — und jedermann wuͤnſchte Gluͤck!
— Die Weiber neigten ſich vor dem Lieutenant,
und die Maͤnner zogen vor ihm den Hut ab —
und es hatte nichts zu bedeuten, daß der Pfarrer
die Wochenpredigt nicht hielt; ſie fanden izt ſelber,
es nuͤtze nicht alles, ſo viel Geſchwaͤzwerk immer
N 3
[198] und immer — und der Untervogt dachte izt wieder
im Ernſt darauf, ein gemeiner Mann zu werden
wie er vorher war — ſo wars izt — vor 8 Tagen
wars anderſt. —
Der Karl plagte den Papa mit ſeinen Buben
von Bonnal, und bat ihn, du muſt mir ſie auch
kommen laſſen, ſie muͤſſen auch ſehen, daß du wie-
der geſund biſt. — So mache ſie eben kommen,
aber nicht allein deine Buben, alle Kinder aus der
Schule miteinander, ſagte ihm endlich der Jun-
ker — und die Geißen auch mit bringen, erwie-
derte Karl — ja die Geißen auch mit bringen, ſag-
te der Junker.
Er ſaͤumte ſich nicht; er fragte, durfte, und
gieng noch dieſen Abend nach Bonnal, ladete ſeine
Buben auf Morn ein; aber es machte vielen Angſt.
Sie hatten nicht ſo gar zu den Geißen Sorge ge-
tragen; ihrer viele hatten an beyden Seiten weit
hinauf Kothzotteln, ſie ſchnitten ſie ihnen izt mit
Scheeren ab, fuͤhrten ſie an Bach, und waſchten
ſie da — es kam eine ganze Heerd mit einander. —
Morndeß gieng der Karl ihnen, ſo bald er ſie ſah,
entgegen, und ſprang, da ſie die Geißen auf dem
Vorreyn an der Zaͤunung anbanden, von einer zur
andern, da ſah er, daß ihrer viele an den Huͤften
weit umher das Haar abgeſchnitten hatten. — Ja,
ich weiß wohl, was das iſt! die haben Kothzotteln
[199] gehabt, und ihr habt ſie ihnen erſt heut oder geſtern
abgeſchnitten — und die auch — und die auch —
ſagte er, und ſprang von einer zur andern, und
wo ers ſah, da ſagte er — auch dieſe. — Ja,
aber ſags doch auch dem Papa nicht, (baten die
Knaben, es war ihnen ſo angſt,) wir haben doch
auch ſo einen ſchlechten Stall, und koͤnnen ſie nicht
trocken legen; und dergleichen ſagten ſie viel, nah-
men ihn bey der Hand, und beym Rock, und baten
immer, ſags doch auch dem Papa nicht, ſags doch
auch dem Papa nicht! —
Karl. Jaͤ — meynet ihr, er ſehe es nicht
von ſich ſelbſt? —
Die Kinder. Nein, er ſiehts gewiß nicht,
wenn du ihms nicht ſagſt.
Karl. Ihr wiſſet es nicht recht. —
Die Kinder. Nein doch! — ich bitte, bit-
te, ſag ihm doch du nichts. —
Karl. Ich will ſchweigen, aber ich haͤtte
doch geglaubt, die Geißen waͤren euch lieber als
ſo! —
Ihrer viele hatten aus Hoffart die Muͤttern
heut nicht einmal ausmelken laſſen, daß man
meyne, ſie geben viel Milch; auch das merkte
Karl, und ſagte, die ſind heut nicht gemolken
worden.
N 4
[200]
Daruͤber lachten die Kinder. Er aber ſagte,
es iſt doch dumm, es thut ihnen weh, und ihr fah-
ret ja nicht damit zu Markt.
Dann fuͤhrte er ſie zum Papa, gieng der Lezte
hinter allen die Treppe hinauf, und der Lezte in die
Stube hinein; es mußten ihm alle vorgehen, und
er that die Thuͤr zu, und ſchlich ſich dann hinter
den andern an der Wand und um den Ofen herum
zum Papa und der Mamma hervor.
Der gute Junker war noch ſchwach; er ſah
in ſeinem Krankenſtuhl noch ſo eingefallen und blaß
aus, daß alle Kinder erſchracken als ſie ihn ſahen.
Er konnte noch nicht recht laut reden; aber er nahm
eines nach dem andern zu ſich zu, fragte ihns auf
den Heller aus, was es izt mehr verdiene als vor
7 Wochen? da er es das Leztemal in der Schule
geſehen. —
Das Herz klopfte den guten Kindern; wenn
eines etwan einen halben Kreuzer minder verdienet
als ein anderes von ſeinem Alter, oder eines das juͤn-
ger war, ſo war ihm ſo angſt, daß es faſt nicht recht
reden und vorbringen konnte, warum es bis izt
nicht beſſer gegangen, und wie ſie ſich aber izt ge-
wiß antreiben, und nicht mehr die Hinterſten blei-
ben wollen. Aber denn die andern, ſo etwas
mehr verdienet, ihr haͤttet ſie ſehen ſollen, wie das
Eine ein breites Maul und ſchmale Backen bekom-
[201] men, ein anderes mit den Fuͤßen nicht mehr konnte
ſtill ſtehen, bis er ihm rufte — wieder ein anders
Feuerzuͤndend roth worden — noch ein anders mit
den Augen geſperbert — und wie eins, das ſich
hat zwingen wollen nicht zu lachen, doch hat muͤſſen
lachen, und vor Freuden kein verſtaͤndliches Wort
hat reden koͤnnen. —
Er mußte auch lachen, und ſagte ihm, du biſt
nicht witzig; ich weiß wohl, ſagte das Kind; aber
ſeine Arbeit war die braͤvſte, und Thereſe ſagte ihm,
es ſolle ſie ihr am Sonntag bringen.
Dann fragte er ſie alle insgeſamt, wie es auf
der Weyd mit dem Huͤten und ihrem Verſprechen
gehe? Eines ſah das andere an, und keines redete.
Warum ſagt ihr nichts? fragte der Junker.
Sie ſchwiegen noch izt, und ein jedes ſah, ob nicht
ein anders reden wollte. — Einsmals ſagte eines
zur kleinern Rickenbergerin, (der Schweſter derjeni-
gen, die wir kennen) du kannſt am beſten erzaͤhlen
wie es zugegangen, du haſt uns gar manchmal er-
weckt, wenn wir zu lang im Schatten haben liegen
und ſchlafen wollen.
So — ſagte der Junker — und nahm das
Rickenbergerli, das nahe an ihm ſtund, bey
der Hand, und Thereſe zog es zu ſich zu, faſt auf
den Schoos.
[202]
Es hat im Anfang nicht recht wollen gehen,
aber izt geht es einmal beſſer, ſagte es da. —
Junker. Warum hats nicht wollen gehen?
Kind. Darum, wir ſind uns, ſo lang wir
huͤten, gewohnt geweſen, wenn es warm worden,
unter den Baͤumen zu liegen, und zu ſchlafen, und
die Geißen laufen zu laſſen; izt, wenns Nachmit-
tag worden, und heiß geweſen, ſind wir allemal
ſchlaͤfrig worden, und wenn wir haben ſtricken
wollen, ſo ſind uns die Augen faſt zugefallen, man
muß gar fruͤh aufſtehen, wenn man zur Weyde
fahrt.
Junker. Wie habt ihr es denn gemacht,
daß es beſſer worden?
Kind. Wir haben miteinander abgeredt,
wir wollen es uns nach und nach abgewoͤhnen; zu
erſt haben wir eine Stunde lang geſchlafen, dann
aber einander geweckt, wenn die Stunde vorbey
geweſen; darnach faſt eine Stunde, dann eine hal-
be Stunde, dann nur eine Viertelſtunde geſchlafen.
Wir haben Waſſer genommen, und die Augen und
den Kopf kalt gemacht, daß wir munter bleiben,
und ſo iſt es beſſer gekommen; und weil du krank
geweſen, iſt uns kein Sinn mehr ans Schlafen ge-
kommen; wir haben wahrlich da auch zu Nacht
nicht koͤnnen ſchlafen, und izt gehts beſſer, und
es giebt alle Wochen mehr Arbeit auf der Weyd. —
[203]
Junker. Das iſt ein Punkt, aber weißeſt
du die andern auch noch?
Kind. Ja — mit dem Wuͤſtreden, und mit
dem Schlagen, und Stein nachwerfen den Geißen.
Junker. Ja, wie gehts mit dieſen?
Kind. Gut — ſeit dem der Herr Lieutenant
die Kinder ſo ordentlich macht das Haar ſtrehlen,
Haͤnd und Geſicht waſchen, und in allem, bis auf
die Treppe hinunter zu gehen, eine Ordnung hat,
daß keines an den andern nur anſtoßen darf, ſo
ſind die rauheſten Buben nicht mehr ſo wild, und
alle Kinder gewoͤhnen ſich in der Schule Sorge zu
haben, Niemanden nichts zu Leid zu thun; und
denn haben wir darinn auch mit einander abge-
redt, wir wollen zweymal einander ein wuͤſtes
Wort ſchenken, aber dann das Drittemal muͤſſe ei-
ner angegeben ſeyn.
Junker. Hat das geholfen?
Kind. Ja. —
Junker. Es freut mich. —
Kind. Und dann hat das auch wieder ge-
holfen, daß du krank worden, es haͤtte in dieſer
Zeit gewiß keines dem andern etwas nachgerufen.
Junker. Weiß doch nicht, wenn ein Ka-
minfeger oder ein Schneider bey der Weyd vorbey
gegangen waͤr —!
Kind. Nein gewiß nicht. — Die andern
[204] waͤren alle zuſammen geſtanden, und haͤtten einen
geſchlagen und weggejagt, wenn er das gethan haͤtte.
Junker. Nu, ich will es glauben; aber
wie gehts mit dem Freveln? Es iſt izt bald Herbſt —
Kind. O! — mit dem gehts gar gut —
wenn du wuͤßteſt —
Junker. Was, wenn ich wuͤßte?
Kind. Daß wir Aepfel, Birren und Erd-
aͤpfel zu braten bekommen, ſo viel wir wollen;
gelt, du wuͤrdeſt dann nicht meynen, wir freveln
noch —? —
Junker. Aber wer giebt euch das?
Kind. Alle Leute, die Land und Baͤume
haben, die an die Weyd ſtoßen. —
Junker. Wie iſt das izt gekommen?
Kind. Da ſie das Leztemal die Haͤg (Zaͤu-
ne) ausgebeſſert, ſind eine ganze Menge Maͤnner
da geweſen, haben uns zuerſt ausgelacht, und ge-
fragt, ob wir ihnen izt im Herbſt auch das Halbe
ſtehlen wollen, wie das letzte Jahr? Wir haben
auch gelacht, und geſagt, es ſey eben ſchlimm,
wir doͤrfen izt nicht mehr; da hat der alte Renold
geſagt, es koͤnne nicht ſo ſeyn, der Tag ſey lang,
und die jungen Leute moͤgen eſſen, man koͤnne ſie
nicht laſſen hungern auf der Weyd, wir ſollen nur
brav huͤten, wenn ſie das Obſt ableſen, und die
Erdaͤpfel austhun, ſo wollen ſie uns von allem
[205] auch geben; und wir haben ſchon viel bekommen,
und bekommen noch mehr, viel mehr als wir nie
geſtohlen haͤtten. —
So, ſo! ſagte der Junker, ſo denke ich wohl,
frevelt ihr nicht mehr; aber der Renold muß doch
ein guter Kindermann ſeyn, nicht wuhr?
Kind. Das denk ich; er hat immer, wo er
ſteht und geht, Angſter (Pfenning) und Rappen im
Sack, und wenn ihm ein Kind heiſchet, ſo giebt
er ihm, und daheim große Stuͤck Brod; und er
kann noch eine halbe Stund bey ſo einem Kind,
das ihm bettelt, ſtehen, und mit ihm reden.
Dann erzaͤhlten ſie ihm, wie ſie geglaubt ha-
ben, er ſterbe, und wie ſie mit dem Herr Lieute-
nant, dem Herr Pfarrer, alle Tage in der Kirche
fuͤr Ihn gebetet; und daß einmal ein fremder Herr
in die Kirche gekommen, der auch mit ihnen fuͤr
Ihn gebetet, er ſey ſo freundlich geweſen, habe
ihnen allen die Hand gegeben, und ſey Morndeß
den ganzen Tag bey ihnen in der Schule geweſen.
Beym Abendeſſen, im alten Ritterſaal, konn-
ten ſie ſich nicht ſatt ſehen an den Figuren an der
Wand. Der Karl erklaͤrte ihnen luſtig der Zwing-
herren Ordnung, die da abgemahlt iſt, und ſie
buchſtabirten das Teufelsblut, lachten uͤber das
Reiten des dicken Junkers, und machten ſaure Au-
gen uͤber den Bauer auf dem Hirſchen.
[206]
Der Junker ſezte den Heirli auf die Lehne ſei-
nes Seſſels, ſo, daß er ihn wie auf dem Arm
hatte; der gute Heirli ſtreichelte ihn wieder an Ba-
cken, und ſagte ihm, Gelt, du ſtirbſt izt auch nicht
mehr? Bald darauf — du ſieheſt aus, wie ein
Großvater — und dann — kannſt izt auch nicht
mehr gehen? — Der Junker ſtund ihm zu ge-
fallen auf, gieng die Stuben auf und ab, und ſag-
te ihm, ſieh', wenn man krank geweſen, ſo mag
man nicht gleich wieder ſpringen wie im Garten.
Aber es wird wohl wieder kommen — daß du wie-
der ſpringen kannſt wie im Garten? ſagte das
Kind. —
So redte er mit vielen; und ſie erzaͤhlten ihm
auch von dem Freudenfeſt, welches man in Bon-
nal halten wollte, wenn er das Erſtemal wieder zu
ihnen in die Kirche kommen werde. Des Huͤbel
Rudis Kind ſagte, ſein Vater wolle an dieſem
Tage, und an keinem andern, Hochzeit halten.
Er gab dem Kind zur Antwort, ſag deinem Va-
ter nur, er muͤſſe nicht mehr lang warten, uͤber
8 Tag komm ich in die Kirche.
Dann gieng er noch unter die Thuͤre, auch
ihre Geißen zu ſehen, die ſie da vorbey fuͤhrten
zum Brunnen; aber ihrer viele liefen mit ihren
Thieren ſo geſchwind vorbey, als wenn ſie jemand
jagte. Der Karl lachte allemal, wenn einer ſo
[207] geſchwind mit ſeiner Geiß vorbey ſtrich; und ſie,
wenn ſie vorbey waren, lachten auch gegen ihm,
und nickten ihm mit dem Kopf und mit den Au-
gen, ihm zu danken, daß er dem Papa nichts ge-
ſagt; aber da ſie fort waren, konnte er nicht mehr
ſchweigen, und ſagte zum Papa, haſt izt nichts
gemerkt von den Geißen? Meynſt, es ſey alles
gut in der Ordnung geweſen? — Der Junker
hatte nichts gemerkt, und der Rollenberger wußte
auch nicht, was er meynte; ſie riethen allerhand,
er aber ſagte ihnen allemal, es iſt nicht das, es
iſt etwas ganz anders. Zulezt ſagte er, es waren
doch auch 25 Geißen, die es alle hatten; aber ſie
konntens doch nicht errathen, bis er ihnen ſagte,
daß die Haare wegen den Kothzotteln abgeſchoren
worden ſeyen. —
§. 46.
Der Kopf und das Herz hat mit den
Menſchen gleich ſein Spiel, wenn
man nicht beyden wohl auf den Ei-
ſen iſt.
Einen andern Abend waren die zwey Bruͤder bey
ihm, die vor wenigen Wochen in den Dorfgruben
noch von ihm glaubten, er ſey ihnen wegen ihren
[208] Religionsmeynungen nicht guͤnſtig. Aber der Lin-
denberger hatte ſie ſeither ganz von ihrer Abſoͤn-
derungsfrommkeit zum gottesfuͤrchtigen Rechtthun
des Lieutenants und zur Ueberzeugung hinuͤber ge-
bracht, es ſey beſſer, man mache ein ganzes Dorf
brav, als ein paar Leute in einem Winkel; ſie
waren beyde herzgut, und auch da, wo ſie noch
ihrer Sekte blind anhiengen, lag treues, edles und
reines Beſtreben nach wahrer menſchlicher Wahr-
heit und Weisheit in ihrer Neigung fuͤr die Nebel-
huͤlle ihrer Bruderſchaftsmeynungen; alſo ruhet der
ſtille Glanz des Monds im Schatten der Erde,
aber der die Himmel waͤlzet, laͤßt den Schatten
der Erde nicht ewig uͤber dem Glanz des guten
Mondes, der Schatten der Erde geht voruͤber,
und der Mond leuchtet ſein Licht. — Der Junker
hatte erſt nach ſeiner Krankheit vernommen, daß
ſie der Bruderſchaft oͤffentlich abgeſagt, und ſich
deutlich erklaͤrt, ſie muͤſſen Gewiſſens halber zu
denen ſtehen, die dem ganzen Dorf helfen wollen,
und koͤnnen ſich durch keine Meynungen einſchraͤn-
ken und hindern laſſen, dem Junker und dem
Schulmeiſter zu helfen, die gleiche Sorgfalt gegen
alle Gemeindsgenoſſen zu brauchen, die die Bru-
derſchaft nur gegen die Ihrigen brauche; und ſie
finden es izt nicht mehr recht, ſich wie in einen
Garten einzuzaͤunen, und da freylich fuͤr die ein-
gezaͤunten Bluͤmchen wohl zu ſorgen, indeſſen aber
ganze
[209] ganze Aecker und Matten, die einem auch zugehoͤ-
ren, darob zu verſaͤumen, und in Abgang kom-
men zu laſſen; ein Bauer, der das thun wuͤrde,
wuͤrde mit ſeinem Land uͤbel fahren, und ſie glau-
ben izt, es ſey mit den Menſchen das gleiche.
Sie druͤckten izt dem Junker die Hand ſo
traulich wie einſt den Bruͤdern, und ſagten ihm,
es ſey nicht anderſt, als ob der liebe Gott ihnen
einen Vater wieder geſchenkt habe. — Ihm machte
es faſt bange, er wußte wie ſie an ihrer Bruͤder-
ſchaft hiengen, und antwortete ihnen, ich moͤchte
euch wohl gern ſeyn wie ein Vater, aber ich fuͤrchte
eher, ich habe euch Schaden gebracht als Nutzen,
und das waͤre mir leid. Sie ſtaunten uͤber dieſe
Rede, und beyde fragten ihn, warum er doch das
ſage? Der Jakob war etwas ſchuͤchtern, aber
der Chriſtoph ließ ſich daruͤber mit ihm in ein Ge-
ſpraͤch ein. —
Auf die Antwort des Junkers — „euere
Bruͤderſchaft war euch wie Vater und Mutter, und
da ihr ſie um meinetwillen verlaſſen, ſo muß ich
natuͤrlich fuͤrchten, ich koͤnne euch das nicht ſeyn,
und ihr findet das bey mir nicht, was ihr hofftet
bey ihr zu finden, und was euch bey ihr wohl
machte, ſo lang ihr an ſie glaubtet“ — antwor-
tete Chriſtoph, wenn wir unſere Bruͤderſchaft ver-
laſſen haͤtten, um bey euch eine andere zu finden,
O
[210] ſo koͤnnte es wirklich kommen wie ihr ſagt, aber
das iſt nicht unſer Fall. —
Junker. Was iſt denn euer Fall?
Chriſtoph. Wir haben ſie verlaſſen, um
keine mehr zu haben, und gegen jedermann gleich
zu ſeyn, gegen Niemanden zu gut, und gegen Nie-
manden zu boͤs, und heut und morgen, und in
jedem Fall, ſo handeln zu doͤrfen, wie es uns ſelbſt
am beſten duͤnken wird.
Der Junker bat ſie darauf, ihm aufrichtig
ihre wahre Meynung uͤber die Bruͤderſchaft, die ſie
verlaſſen, zu ſagen. —
Sie antworteten ihm beyde, ſie glauben noch
izt, die Sache habe gar viel Gutes; und muͤſſen
bekennen, dieſe Verbindung habe zu einer Zeit zu
ihnen Sorge getragen, und ſie in vielen Stuͤcken
eine vernuͤnftige und ſorgfaͤltige Leitung genießen
laſſen, ohne welche ſonſt ſo viel als das ganze
Dorf in der abſcheulichſten Unordnung gelebt, und
allgemein verwahrloſet worden waͤre. —
Aber eben das, ſezte Chriſtoph hinzu, macht
mich izt von ihnen abfallen, daß ich einſehe, man
koͤnne und muͤſſe fuͤr alle Leute ſo Sorge tragen, wie
die Bruͤder es fuͤr die Ihrige thun; und man muͤſſe
ſich nicht durch Meynungen einſchraͤnken laſſen, es
nur an den wenigen, und nur an denen thun zu
wollen, die in allem Ja zu uns ſagen.
[211]
Der Junker laͤchelte, und Chriſtoph ſagte, der
Lindenberger hat Muͤhe mit uns genommen wie ein
Pfarrer, und nicht nachgelaſſen, bis wir es, wie
er, eingeſehen, daß alle geiſtliche Bruͤderſchaften
das Menſchliche ihrer Sachen dem lieben Gott an-
binden, und ſo dahin kommen, daß ſie auch das,
was ſie Fehlerhaftes an ſich haben, fuͤr ein Heilig-
thum achten muͤſſen. Wir erkennen izt, daß den
andern Menſchen dadurch ein Unrecht geſchiehet,
und ihr Gutes nicht anderſt als verunglimpfet, er-
niedriget, und gehindert werden muß, ſo viele
Fruͤchte zu tragen, als es tragen koͤnnte und muͤßte,
wenn die Menſchen von allerley Bruͤderſchaftsmey-
nungen die Eitelkeit ablegen wuͤrden, zu glauben,
mit ihren Meynungen dem lieben Gott wie in dem
Schoos zu ſitzen. Es kann nicht anderſt ſeyn,
ſagte er, ſo bald man eine geiſtliche Bruͤderſchaft
hat, und ſich um Gottes, und um goͤttlich geheiße-
ner Meynungen und Woͤrter willen, von andern
Menſchen ſoͤndert, ſo wird einem die ganze Welt
wie Nichts gegen die Bruͤder und Schweſtern, die
von dieſer gnadenreichen Meynung ſind; und in
dieſem Fall ſind auch die beſten Menſchen bey
aller ungeheuchelten Ehrlichkeit in Gefahr, ſo wohl
ob dieſen Meynungen, die ſie als das Band zwi-
ſchen Gottund ihnen anſehen, als ob den Menſchen,
die ſie bekennen, blind zu werden, und uͤberhaupt
alles in der Welt nur nach dem Maaß zu ſchaͤtzen,
O 2
[212] in wie weit es auf dieſe Meynungen einen guten
oder ſchlimmen Einfluß hat; und ſich dann ſogar
einzubilden, der liebe Gott mache es droben in ſei-
nem hohen Himmel juſt auch ſo, und waͤge das
ganze Menſchengeſchlecht auf dergleichen Meynun-
gen-Waag, die ſie in ihrem Dorf haben. Je
ſchwaͤcher dann die Menſchen ſeyen, je duͤmmer
werde dann dieſe Bruͤderſchafts-Einbildung; aber
auch die Beſten bringe es gegen alles Gute, was von
Menſchen, die ſich außer ihrem Bruͤderſchafts-Gna-
denſtand befinden, herkomme, dahin, daß ſie daſ-
ſelbe, wie ſie ſagen, der Leitung Gottes anheim-
ſtellen, aber ſelber mit keinem Finger beruͤhren,
indeſſen ſie das, was von ihren Leuten herkommt,
unter dem Beyſtand Gottes, gar wohl und ſorg-
faͤltig beſorgen; dann gehe es freylich gar oft beſſer
bey ihren Gnadenwerken, die in der Ordnung be-
ſorgt werden, als bey den Weltkinder-Arbeiten,
die etwas außer dem Gnadenſtand unvernuͤnftig an-
gegriffen, und unſinnig verwahrloſet.
So natuͤrlich das ſey, ſo verblenden ſich die
Bruͤder doch immer darinn, und behaupten allemal
in dieſem Fall — Gott im Himmel ſelber mache
alſo allen Tand der Heiden vor den Augen ſeines
auserwaͤhlten Volks zu ſchanden.
Daraus entſteht, daß alle ſolche Bruͤderſchafts-
Menſchen unmoͤglich reinen und unbeſchraͤnkten
[213] Antheil an allgemeinen obrigkeitlichen Volksanſtal-
ten nehmen koͤnnen, wenn ſelbige nicht, wie der
Lindenberger geſagt habe, auch in allen aͤußern
Theilen nach dem Kleid des Goͤzenbilds zugeſchnit-
ten, das ſie mit ſich im Kopf herumtragen.
Der Junker fragte ihn auf dieſes hin, warum
ſo wenige Menſchen von ſolchen Bruͤderſchaften da-
hingebracht werden koͤnnen, dieſes alſo einzuſe-
hen? —
Davon, erwiederte Chriſtoph, iſt die Haupt-
urſach ſicher dieſe, daß man ihnen auf der andern
Seite auch Unrecht thut. —
Junker. Worinn thut man ihnen haupt-
ſaͤchlich Unrecht? —
Chriſtoph. Man erkennt das wahre Gute,
das ſie haben, nicht; man verſteht ſie nicht, und wirft
eine Verachtung auf ſie, die ſie nicht verdienen.
Junker. Er ſoll doch hieruͤber ausfuͤhrlicher
ſagen, was wahr ſey.
Chriſtoph. Sie ſeyen unter dem gemei-
nen Volk die Menſchlichſten, die Liebreichſten, die
Gutmuͤthigſten; es ſey Rath und Troſt bey ihnen
zu finden, wie ſonſt faſt bey Niemand; auch ſeyen
ſie gegen Ruchloſigkeit und Gewaltthaͤtigkeit, die das
andere gemeine Volk in den Doͤrfern ſo oft faſt un-
ter die Thiere herabſezt, unter ihren Leuten voͤllig
Meiſter, und das ſey doch ein Segen im Land, da-
O 3
[214] vor danke ihnen Niemand, es frage ſie Niemand,
wie ſie es machen, wie ſie mit ihren Leuten und mit
ihren Kindern dahin kommen, wo die andern Bauern
doch nicht ſind, und wo man von einem Pfarrer,
der ſein Dorf dahinbringen wuͤrde, in der ganzen
Welt Ruͤhmens und Weſens machen wuͤrde, das
ſey eines; das andere ſey, man ſage ihnen in den
Tag hinein, ſie verderben mit ihren Meynungen
die Leute, und zeige ihnen nicht wie, und gebe
ihnen kein Exempel, wie man das Volk beſſer fuͤh-
ren koͤnne als ſie. — Dann ſage man ihnen, ſie
ſeyen dumm und einfaͤltig; und ſie ſehen doch, daß
ſie bey den Leuten mehr ausrichten und mehr Gu-
tes ſtiften, und in ihren Haushaltungen meiſtens
gluͤcklicher ſeyen, als die ſo ſagen, ſie ſeyen dumm;
und ſeyen ſich gewohnt, Vernunft und Verſtand
nach dem, was man damit ausrichte, zu meſſen
und zu ſchaͤtzen; ſie heißen in ihrer Sprache das
etwas ausrichten Segen, und das nichts
ausrichten Unſegen; und ſo lang ſie den Se-
gen auf ihrer Seite haben, ſo glauben ſie auch
nicht, daß ſie die Dummen in der Welt ſeyen, es
mag es ihnen ſagen wer da will.
Dann wirft man ihnen vor, ſie ſeyen hart-
naͤckig, und laſſen ſich nicht berichten, und die,
ſo es ihnen am lauteſten vorwerfen, ſind, auf das
Gelindeſte davon zu reden, im gleichen Spital
krank, und nehmen noch viel weniger von ihnen
[215] das Gute an, das ſie ſo ausgezeichnet haben; aufs
Hoͤchſte koͤnne man ſagen, es heiße ein Eſel den
andern Langohr. —
Wahr ſey, ſie binden ihren Verſtand wie an
eine Kette an, und laſſen ihn keinen Schritt weiter
ſpatzieren, als ſie gern wollen, daß er gehe. Aber
dann ſey es auch wahr, ſo angebunden als ſie ihn
halten, ſo brauchen ſie ihn, und das wirklich mehr
in der Ordnung und ſorgfaͤltiger, und kommen
darinn gewoͤhnlich ſichtbar weiter, als die andern
Dorfleute, die ihn nicht ſo anbinden; auch ſey ge-
wiß, daß viele Leute, die ihnen das vorwerfen, ſie
haben ihren Verſtand ſo an der Kette, gar viel
weniger koͤnnten an die Ketten legen, wenn ſie die
Luſt dazu auch einmal anwandeln wuͤrde, den ih-
rigen auch ſo anzubinden. — Ueberall, ſagte er,
ſind ihre Gegner ſelten die Leute, die ihnen Luſt ma-
chen koͤnnten, ihren Verſtand nicht angebunden zu
halten, und es iſt gar nicht, daß ſie mit ihnen um-
gehen, ſie den Schaden dieſes Anbindens empfin-
den zu machen, und etwan mit ihnen einzutreten,
und abzumeſſen, wie weit man ohne Gefahr, ſeine
Kraft in den naͤchſten und nothwendigſten Sachen
wohl anzuwenden und zu gebrauchen, zu ſchwaͤ-
chen, ihn weniger anbinden und freyer laufen laſ-
ſen koͤnnte. — Er ſagte, es duͤnke ihn doch,
man mache den Verſtand wie zu einem Modekleid,
und ein jeder Narr in der Welt wolle izt ſo ein
O 4
[216] Verſtandsmaͤntelchen mit ſich herumtragen, es moͤ-
ge dann fuͤr Tuch daran ſeyn, was es wolle, und
es reiße unter den gemeinen Leuten eine Peſt ein,
die er die Verſtandspeſt heißen moͤchte. Der Herr
Lieutenant habe zwar ihm das nicht wollen gelten
laſſen, und behauptet, es ſey nur ein Anmaßungs-
fieber, aber er halte es fuͤr eine wahre Peſt, und
muͤſſe ſagen, juſt die Leute, die mit dieſer Peſt an-
geſteckt ſind, ſeyen die Allerunbilligſten gegen ihre
Bruͤderſchaft.
Der Junker bat ihn, er ſolle ſich uͤber die Ver-
ſtandspeſt deutlicher erklaͤren, was er meyne? —
Er ſagte, er meyne uͤberhaupt, wenn der
Menſch etwas Gutes, das an ihm iſt, wie eine
Eli-Mutter ein Kind, in das ſie vernarret iſt, zu hoch
hinauf, und alles andere Gute und Brauchbare
wie ein Stiefkind Himmelweit uͤber das Herzens-
ſchaͤzchen hinabſezt, ſo richte ein ſolcher Menſch
das Gute, das an ihm iſt, wie eine ſolche Eli-
Mutter ihr Kind und ihr Stiefkind miteinander
zu Grund, und werde ſchlecht, und ein halber
Menſch.
So gehe es, wenn der Menſch auf dieſe Art
alles aus dem Verſtand mache, und wieder, wenn
er alles auf das Herz baue; im erſten Fall habe
er die Verſtandspeſt, und im andern die Herzens-
peſt — in beyden Faͤllen mache er die einte ver-
[217] nachlaͤßigte Haͤlfte von ſich ſelber ausſterben, und
ſtecke mit ihrem Tod auch diejenige an, mit der er
es alſo gehalten, als wenn ſie allein leben muͤßte.
Dann ſagte er, es ſey zwiſchen den Menſchen,
die von der Verſtandspeſt, und denen, die von der
Herzenspeſt angeſteckt ſind, wie zwiſchen dem Saa-
men des Weibs, und dem Saamen der Schlange,
eine ewige Feindſchaft, und des in die Ferſeſte-
chen- und des Kopfzertreten-Wollens unter die-
ſen ohnmaͤchtigen Kranken nie kein Ende — und je
hoͤher die Krankheit ſteige, je groͤßer werde die
Wuth einander ſo ſtechen und treten zu wollen.
Izt verſtund ihn der Junker, und fand die
Geſchichte neuerer Streitigkeiten darinn beſchrieben.
Er hatte ſchon viel von der Herzenspeſt gehoͤrt,
aber das Wort Verſtandspeſt war ihm neuer, und
er bat den Bauern, er ſolle doch fortfahren und
ihm die Leute beſchreiben, die an der Verſtands-
peſt krank liegen.
Der Chriſtoph fuhr fort, und ſagte, es liegen
alle Leute daran krank, die es mit der Liebe zur
Wahrheit haben, wie der Killer ſelig mit dem
Rechnen, welcher den Bauern im Wirthshaus gar
leicht hat ausrechnen koͤnnen, wie viel Minuten ein
jeder alt ſey, oder gar, wie viel Tropfen Waſſer
in einer Stunde aus einer Brunnenroͤhre laufen,
[218] aber es dann nicht geachtet hatte, wenn ihm der
Wirth fuͤr 3 Schoppen Wein, die er trank, das
Geld von vieren gefodert.
Auch die ſeyen daran krank, ſagte er, die mit
allem, was ſie wiſſen, oder meynen zu wiſſen, ein
Weſen machen, wie wenn es ganze Berge waͤren,
die ſie mit ſich herumtragen, und zu einem Viertel
Korn Saͤcke machen laſſen, wie wenn ſie einen
Kirchthurm darein einpacken ſollten, und Waͤgen,
mit denen man halbe Berge koͤnnte wegfuͤhren.
Er ſagte, es gebe hier und dort Pfarrer, die der-
gleichen Verſtandsſaͤcke und Verſtandswaͤgen mit
ſich aufs Dorf bringen, und die, wenn ſie alle
Wahrheit und alles Gute in kleinen Koͤrnern auf
dem Boden zerſtreut finden, und aufleſen ſollten,
keinen Ruͤcken und keine Haͤnde dazu haben, und
es lieber die Spatzen auffreſſen laſſen, und dann
ihre großen Waͤgen, damit ſie ſolche doch nicht
vergebens aufs Dorf gebracht, zu Spatzierwaͤgen
machen — die großen Saͤcke brauchen ſie dann zu
Kutſchen-Kuͤſſen fuͤr ſich und ihre Frauen. —
Auch die Herren Pfarrer, ſagte er, haben
dieſe Peſt, deren Wahrheit nur blitze und wetter-
leuchte. — Das Volk fuͤrchte das Donnern, das
darauf folge, und die Menſchen ſeyen ein Unſegen
im Lande, die Freude daran haben, mit der Wahr-
heit einzuſchlagen wie mit Stralſtreichen, die die
[219] Eichen zerſplittern, und den Athem der Lebenden
ausloͤſchen.
Auch die, ſagte er, liegen an dieſer Krank-
heit, deren Wahrheit den Eisgebirgen gleiche, die
zwar Himmel hoch ſich gegen die Sonne aufthuͤr-
men, aber von ihr nicht aufthauen — ein Regen-
tropfen im Thal ſey mehr werth, als ein ganzes
Meer ſolcher Wahrheit unter dem Eis und in un-
zugaͤnglichen Kluͤften.
So viel ſagte er von der Verſtandspeſt. —
Als er damit fertig war, fragte ihn der Jun-
ker noch: Aber wer hat denn die Herzenspeſt? —
Meine alten Bruͤder und Schweſtern, erwie-
derte der Mann — ſezte aber bald hinzu — den-
noch iſt es ſchade, daß man in der Welt nicht an-
derſt mit ihnen umgeht, und das Gute nicht er
kennt, das ſie an ſich haben.
So lang es ſo iſt, werden ſie ſich immer aus-
ſchlieſſend fuͤr das Salz der Erde achten, das ſeine
Naͤße noch nicht verloren — und bis man ihnen,
wie der Herr Lieutenant, durch eine auffallend
beſſere Menſchenfuͤhrung zeiget, daß es noch beſſere
Salzquellen gebe, als die, ſo aus dem Berg ihrer
unnatuͤrlich umzaͤunten Frommkeit herausfließen,
ſo iſt es ihnen nicht zu verargen, daß ſie ſo lang
[220] immerhin ſich ſelber, und ihre gebenedeyte Mey-
nungen fuͤr das beſte Salz der Erde achten.
Er verglich zulezt das Gluͤck, das dieſe Leute in
ihrer Beſchraͤnktheit beſitzen, dem Genuß einer hel-
len, ſtillen, und warmen Sternennacht, bey wel-
cher dem Menſchen ſo innig wohl ſeyn kann, daß
er wie hingeriſſen wird zu denken, es koͤnne nichts
ſchoͤners und nichts groͤßers auf der Welt ſeyn,
als eine ſolche Sternennacht; aber wenn die Sonne
dann aufgeht in ihrer Pracht, und der Menſch der
Erde den Segen ihres waͤrmenden Lichts, und die
Sicherheit ihrer hellen Tages-Erleuchtung genießt,
da denkt er nicht mehr, daß die Sternennacht, und
das truͤgliche Mondlicht, das ſchoͤnſte und beſte ſey,
das er auf der Erde genießen koͤnne. —
§. 47.
Wer bloß gut iſt, muß nicht regieren,
und niemals und Niemands Vogt ſeyn
wollen.
Wer nicht zu ihm kam, war der Vogt Meyer;
aber er machte ihn kommen, und fragte ihn, ob
er nichts von den Unordnungen wiſſe, die waͤhrend
ſeiner Krankheit begegnet?
[221]
Er antwortete ihm, er habe wohl davon reden
gehoͤrt, aber Beſtimmtes wiſſe er nichts.
Arner. Warum er nicht beſſer nachgefragt?
Vogt. Er habe nicht daran gedacht — und
es habe ihms Niemand befohlen.
Junker. Ob die Unordnungen ſelber nicht
Befehls genug geweſen ſeyen?
Vogt. Das wohl, er habe auch ſo gefragt,
aber nichts vernommen. —
Arner ſchuͤttelte den Kopf, und ſagte ihm, du
biſt froh, wenn du nichts weißt; und es iſt nichts
anders, als was ich dir ſchon geſagt, du biſt zu die-
ſem Dienſt nicht brauchbar.
Vogt. So gebet mir meine Entlaſſung. —
Junker. Da haſt du ſie — und geh izt. —
Er ſaͤumte nicht lange, nahm den Thuͤrenan-
gel in die Hand, und vor der Thuͤr den Stecken,
und gieng mit leichtem Herzen die Treppe hinun-
ter. Als er heim kam, ſagte ihm ſeine Frau, da
ſieheſt izt, daß ich recht habe, wenn ich zu dir
ſage, du ſeyeſt gar zu nichts nuͤtz. — Und im
Dorf ſagte izt ein jedes, der Hummel ſey doch noch
ein anderer Mann geweſen zum Vogt als er. —
Und Leute von ſeinem Alter erzaͤhlten, wenn ihn der
Junker ſo, wie ſie, von Jugend her gekennt haͤtte,
ſo haͤtte er ihn gewiß nicht zum Vogt gemacht; wenn
[222] ſie als Buben unter einander Haͤndel gehabt, ſo
ſey das immer ſein Wort geweſen, „thut mir doch
nichts, ich will euch auch nichts thun;“ und es
ſey unter ihnen zum Spruͤchwort worden, gaͤlt, du
haſts auch wie der Chriſtopheli, „thu mir nichts,
ich will dir auch nichts thun.“
Als ſeine Schweſter, die Meyerin, es vernom-
men, gieng ſie auf der Stelle zu ihm, traf ihn
allein an, und wuͤnſchte ihm Gluͤck, daß er ſich
von der zweyten Marterfrau, mit der er ſich ohne
Noth verheurathet, ſo gluͤcklich habe ſcheiden laſſen
koͤnnen. Aber als die Nachricht in das Dorf kam,
der Baumwollen-Meyer ſey Vogt, waren zehen
Stimmen gegen eine, er ſey der einzige, der fuͤr
den Junker, ſo wie er einen brauche, recht ſey;
und viele Leute ſagten, die Armen haben izt einen
Vater, die Unordentlichen einen Vogt, und die ſo
Gewalt brauchen wollen, einen Meiſter. —
Ihr Herren! die ihr Untervoͤgte macht und
abſezt wie nichts, mit einem einzigen Wort; wenn
euch etwas daran gelegen, daß ſie recht ausfallen,
ſo nehmet dieſes zum Zeichen, wenn das Volk von
euerm Mann alſo redt, ſo kann er recht ausfallen;
aber auch dann iſts noch noͤthig, daß ihr zu ihm
Sorge traget. Die Reichen waren freylich nicht
zufrieden, daß von einem ſolchen Lumpenſtammen
ein Vogt geworden; aber ſie ſagten es doch nicht
[223]
zu laut, und er erklaͤrte ſich beſtimmt, er habe den
Dienſt um der Armen willen angenommen, die
Reichen haben ihren Vogt in der Kiſte, aber die
Armen haben einen noͤthig. Und das Mareili
ſprang faſt vor Freuden, daß ſein Bruder izt alſo
des guten Junkers Diener worden, und machte
ſich Tag und Nacht den Kopf voll, wie es izt gewiß
in allen Ecken im Dorf gehen muͤſſe, wie es der
Junker wolle.
Ihns und den ganzen Weiberbund machte
der Junker auch einen Abend zu ihm kommen —
und die Weiber beredten ihren Weibel, den alten
Renold, er ſolle mitkommen — er wollte nicht —
aber ſie verſprachen ihm, ſie wollten es verantwor-
ten — wenns ſo iſt, ſo will ich kommen, ſagte
der Alte, und es freute den Junker gar — er redte
die halbe Zeit nur mit ihm, und ließ ihn erzaͤh-
len, wie vor Altem in allen Stuͤcken eine Ordnung
geweſen, die im Grund derjenigen vollends gleich
ſey, die er izt einfuͤhre.
Der gute Alte ſagte ihm, eine Woche freue ihn
jezt mehr zu leben, als vorher ein ganzes Jahr. —
Der Junker erwiederte ihm, wills Gott werde er erſt
dann recht Freude haben, wenn die angefangenen
Sachen auch einmal in ihrem Gleis ſeyen, und
mehr Feſtigkeit haben. — Zu den Weibern ſagte
er: wenn er alles geglaubt haͤtte, ſo haͤtte er doch
[224] das nicht geglaubt, daß ſie die Bauern haͤtten da-
hinbringen koͤnnen, Geld dafuͤr zu verſprechen, um
den Schulmeiſter behalten zu koͤnnen. — Das
Mareili ſagte ihm daruͤber, man thut den Bauern
unrecht, wenn man glaubt, ſie gaͤben nicht gern
Geld aus fuͤr ihre Kinder, ſie thun es freylich nie,
bis ſie ſehen und erfahren, daß es etwas nuͤzt.
Aber meynſt du, ſagte der Junker, wenn man
machen wuͤrde, daß ſie erfahren koͤnnten, und die
Probe in ihren Haͤnden haͤtten, daß man ihre
Kinder weiter bringen koͤnnte, als man ſie nicht
bringt, meynſt du denn, ſie wuͤrden an vielen Or-
ten auch ſelber gerne etwas dazu beytragen, die
Leute, die man hierzu noͤthig haͤtte, zu bezahlen?
An allen Orten, und ganz gewiß wuͤrden ſie
es dann gerne thun, ſagte das Mareili, und alle
Weiber, auch der alte Renold beſtaͤtigte das. Er
ſezte hinzu, man muͤßte ihnen nur ſo einen Mann
zwey oder drey Monat ohne ihre Koͤſten auf die
Probe geben, dann wuͤrden ſie ihn gewiß nehmen,
und wenn man es foderte, die Probkoͤſten noch darzu
bezahlen. Dieſe Bemerkung war dem Junker und
dem Lieutenant ſehr wichtig; ſie widerlegt das un-
richtige Geſchrey, daß die Beſſerung der Landſchu-
len unerſchwingliche Geldſummen erfodere, es fehlt
weit mehr an Anſtelligkeit und Sachkenntniß.
Und
[225]
Und an Leuten — ſagte der Pfarrer von Bon-
nal. —
Nein, erwiederte der Lieutenant, wenn man
Anſtelligkeit und richtige Grundſaͤtze daruͤber hat, ſo
kann man faſt ohne Muͤhe Leute hierzu bilden, wie
man ſie gebraucht, dafuͤr will ich ſtehen!
Sie wurden bald einig, wenn man annehme,
das Volk wuͤrde gern helfen, dergleichen Leute zu
bezahlen, und auch zugleich, daß eine jede gute
Schule auf Arbeit muͤſſe gegruͤndet ſeyn, und hier-
mit, ſo ſie recht eingerichtet, in ſich ſelber einen Ver-
dienſt finde, ſo falle die Sorge von großen Geld-
ausgaben, welche die Verbeſſerung der Schulen
nach ſich ziehen wuͤrde, von ſelbſt weg. Der Lieu-
tenant ſagte wieder, wenn man ſie ſchlecht macht,
und halb, ſo werden ſie koſten; und wenn man ſie
recht macht, und ganz, ſo werden ſie eintragen.
Dann redte der Junker noch mit der Meyerin
uͤber die Entlaſſung des Vogts. Sie ſagte ihm,
er koͤnne izt auch wieder zu einem Menſchen wer-
den. — Und die Renoldin fragte ihn, wer ihm ihn
auch gerathen? Der Herr Pfarrer, antwortete er.
— Und ſie — das glaube ſie — er habe immer
auch bey den Leuten zu viel daraus gemacht, wenn
Sie mir gut geweſen. — Sie ſezte hinzu, der Herr
Lieutenant haͤtte ihn auch gewiß nicht gerathen —
Ich glaubs auch nicht, ſagte der Junker, dankt[e]
P
[226] ihnen dann fuͤr ihren Bund, und ſagte ihnen, ſie
ſollen zu ihrem guten alten Weibel recht Sorge
tragen, und ihm nicht zu viel Muͤhe aufladen.
Er ſoll izt bleiben der Weiberbund, ſagte The-
reſe, ich will es mit euch halten, wir wollen dem
Junker helfen zu ſeinem Ziel zu kommen.
§. 48.
Arners Feſt.
Bey Sonnenaufgang laͤuteten alle Glocken. Alle
Kinder waren mit Blumen geſchmuͤckt; das ganze
Dorf, Altes und Junges, gieng ihm den Berg hin-
auf entgegen. Des Rudis Hochzeitleute voraus,
und in der Mitte der Gemeinde der gute Pfarrer;
ſangen den Berg hinauf der Sonne entgegen frohe
Lieder; aber als ſie von Ferne das Geraſſel ſeiner
Kutſche hoͤrten, da toͤnte ihr Lied nicht mehr.
Er kommt — Er kommt — rief das Volk,
und hundert Stimmen jauchzten ihm zu. Sie ver-
doppelten die Schritte, liefen ihm, wie Kinder dem
Vater, den ſie lange nicht geſehen, entgegen. Er
hoͤrte ihr Jauchzen von Ferne, da er noch tief hinter
den Tannen ſie noch lange nicht ſah; aber ſo bald
er ſie hoͤrte, ſtieg er aus ſeinem Wagen, und gieng
[227] ſeinem geliebten Volk von Bonnal mit all den Sei-
nen zu Fuß entgegen. Er ſah izt den Aufgang der
Sonne nicht, nicht den hellen Himmel und das
glaͤnzende Thal, und die ſchlaͤngelnde Ita, die zu
ſeinen Fuͤßen lag; er eilte zu ſeinem froͤlichen Volk,
miſchte ſich in ihr Gedraͤnge, und hoͤrte mit Va-
terluſt ihr Jauchzen und ihr Rufen — Er lebe! —
Er lebe! — das durch Buch und Tannen hinab
ins Thal toͤnte. Innige Freude erhob ſein Herz.
Es war kein Kind, und kein Menſch, dem er nicht,
und dem Thereſe nicht ihre Hand bot. — Er hatte
den Hut ab, ſo lang er ſie gruͤßte, und ſagte mit
einem ſtillen hohen Ernſt — Er wuͤnſche fuͤr ſie zu
leben! — das Volk erwiederte ihm, ſie wuͤßtens,
und der Tag ſeiner Wiedergeneſung ſey ihnen der
freudigſte ihres Lebens — dann ſtellt ſich das Volk
wieder in Ordnung, die Hochzeitleute voraus —
Er nahm den Huͤbel-Rudi bey der Hand — The-
reſe die Meyerin, und ſeine Kinder die Kinder des
armen Manns, fuͤhrten ſie alſo den Berg hinab
bis in die Kirche; das Volk ſang, jauchzte, der
Geiger ſpielte auf bis unter die Thuͤre, und die jun-
gen Leute giengen, wie wenn ſie tanzten, bis in die
Stuͤhle. —
Da ſtund der Pfarrer neben dem Taufſtein an
den Ort hin, an dem er neun Abende nach einan-
der mit ſeinen Kindern auf den Knien, und mit
Thraͤnen, Gott fuͤr das Leben des Junkers gebe-
P 2
[228] tet. Der große Blumenſtrauß, den er auf ſeinem
Kleid hatte, war mit dem Perlenband, das ihm
Thereſe geſchenkt, umwunden; ſtille Freude in ſei-
nem Auge, und eine Thraͤne, leicht und duͤnn wie
ein Morgennebel in heißen Tagen, zeugte von der
Erhebung ſeines Herzens. Er ſtand eine Weile ſtill,
dann hob er die Hand auf zum Zeichen des Schwei-
gens — eine Stille erfolgte, und das Volk und
die Kinder, die nahe an ihm ſtunden, richteten die
Augen auf ihn, dann ſagte er die einzigen Worte —
Laſſet uns Gott danken, daß er uns unſern
Vater Arner wieder geſchenkt! — ſah dann hinab
zu ſeinen Kindern — und ſagte — ihr habet mit
mir an dieſer Stelle viele Thraͤnen vergoſſen; freuet
euch izt, daß Gott das Gebet euerer guten Herzen
erhoͤrt hat — kommt, laſſet uns ihm danken —
da bog er ſich nieder und kniete — die Kinder
knieten mit ihm, und in einem Augenblick lag die
ganze Gemeinde, und auch Thereſe, und ſeine Kin-
der, und der General, vor ſeinen Auger auf den
Knien — Er ſtand allein noch — ſah die ganze
Gemeinde als niedergebogen Gott fuͤr ſein Leben
danken.
Wer kann den Anblick beſchreiben, und die
Erhebung des Manns (Arners), der in dieſem Au-
genblick an ſeine Pflicht dachte, dieſem Volk, das
vor ihm kniete, auf Kind und Kindeskinder hinun-
[229] ter ſein Gluͤck zu beveſtnen. Es ſchwellte ſeine
Bruſt; er wandte ſein Angeſicht weg, fiel auch auf
ſeine Knie, weinte eine Weile auf den Knien, dan-
kete dann Gott fuͤr ſeine Rettung, und fuͤr ſeinen
Stand, und fuͤr den Lieutenant, fuͤr den Pfarrer,
und fuͤr ſein Volk, und bat ihn um ſeinen Segen
zu ſeinem aufrichtigen Vorhaben, dieſe ihm von ſei-
ner Vaterhand anvertrauten Menſchen dem Zufall
des blinden Schickſals zu entreißen, und durch fe-
ſte, ihrer Natur, und ihren Umſtaͤnden angemeſſene
Geſeze, ſo viel als moͤglich, auf dieſer Welt gluͤck-
lich zu machen.
Faſt eine Viertelſtunde lag das Volk auf ſeinen
Knien; dann ſtund der Pfarrer, und mit ihm die
Gemeinde auf, aber der Junker war todtblaß,
that einen Schritt hervor, bog ſich gegen die Ge-
meinde, aber er konnte izt nicht reden. — Eine
Weile war wieder alles ſtill — der Pfarrer gab da
wieder ein Zeichen — und die Gemeinde ſang das
Lied „Herr Gott! wir loben dich ꝛc. —
Der Lieutenant hatte zehen Mann mit Wald-
horn, Trompeten und Baßgeigen beſtellt; und das
Freudengeſang an Arners Feſt toͤnte in der Kirche
ſo, wie in dem Thal von Bonnal noch kein Freu-
dengeſang ertoͤnte.
Da es vollendet war, fuͤhreten Arner und The-
reſe die Meyerin und den Huͤbel-Rudi zum Altar. —
P 3
[230]
So eine Hochzeit hat von uns keiner, dachten
alle Juͤnglinge des Dorfs; und die Maͤdchen, die
ſonſt bey allen Hochzeiten fluͤſtern, waren ſtill, da
der Pfarrer ſie ſegnete. — Dann laͤuteten wieder
alle Glocken; der Junker fuͤhrte die Braut, und
Thereſe gieng mit dem Huͤbel-Rudi aus der Kirche
ins Pfarrhaus, und die Waldhorn und Trompe-
ten machten mit den Stimmen des Volks und den
laͤutenden Glocken ein frohes Getuͤmmel.
Er gab der Gemeinde einen Freuden-Trunk fuͤr
das Feſt, das ſie ihm feyerten; rund um, faſt um
die halbe Matten des Pfarrhauſes ſtunden Stuͤhle
und Tiſche, Wein, und Brod, und Kaͤs, warme
und kalte Milch, Wuͤrſt und Kuchen fuͤr Junge und
Alte genug auf den Tiſchen. — Mitten im runden
Kreis der Gemeinde ſaßen die Hochzeitgaͤſte und das
ganze Schloß, und das Pfarrhaus, an einem Tiſch;
ſie hatten ein maͤßiges Mahl, nur wenig mehr als
die ganze Gemeinde — aber in der Mitte des Eſ-
ſens brachte die Magd aus dem Pfarrhaus den
Hochzeitleuten ihre Geſchenke, aus dem Schloß und
aus dem Pfarrhaus — es war gar viel ſchoͤnes und
gar viel nuͤzliches, doch war unter allem das ſchoͤn-
ſte, was ihnen der Lieutenant ſchenkte.
Hinter hellem Waſſer-reinem Glas, in einer
goldenen Rahm, wie ein großer Spiegel, ſchenk-
te er ihnen die lezten Worte der Großmutter:
[231] mit ſilbernen Buchſtaben auf ſchwarzem Boden ge-
ſchrieben.
Oben in den Segensworten umſchlang ein
dunkelgruͤner Kranz einen Bienenkorb, der daſtund
wie lebendig; neben den Worten hinab hiengen
Palmen von blaͤſſerm Gruͤn, die unten wieder dunk-
ler mit Oelzweig verbunden einen Todtenkopf um-
wanden, und dieſen umgaben dann ringsherum
goldene Stralen wie die ſchoͤnſte Glorie der Heiligen.
— Oben an den ſilbernen Worten waren die er-
ſten „Denk an mich, Rudi, es wird dir noch wohl
gehen“! — groͤßer als die andern geſchrieben, und
mit goldenen Buchſtaben; und unten am Kranz
des Rudis und der Meyerin Namen, und der Tag
ihrer Hochzeit an Arners Feſt, auch ſo groß und
auch ſo mit goldenen Buchſtaben, und unter ih-
rem Namen noch zwey Herzen, die ſich in den Stra-
len des Todtenkopfs verloren. — Das ganze Dorf,
Junge und Alte, laſen die ſilbernen und goldenen
Worte — Bauer und Baͤuerinnen ſagten, es habe
mancher Haus und Hof, die nicht werth ſeyen, was
dieſes Stuͤck. Der Rudi ließ Thraͤnen darob fallen,
und ſeine Kinder wollten nicht eſſen, und nur der
Großmutter Worte leſen. Die Braut nahm eines
nach dem andern auf ihren Schoos, und ließ ſie
leſen und buchſtabieren.
Nach dem Eſſen tanzte das Volk, und Arner
und Thereſe, ſelber der General und die Frau Pfar-
P 4
[232] rerin tanzten mit den geliebten froͤlichen Leuten.
Die aͤltern Maͤnner und Weiber blieben bey ihren
Tiſchen, und der Lieutenant, der mit dem lahmen
Beine auch nicht tanzen konnte, ſo gern er wollte,
ſtund auch bey ihnen. —
§. 49.
Hochzeit-Wahrheiten fuͤr Bettlerleute
und fuͤr Geſezgeber.
Und weil er ſo in ihrer Mitte ſtand, kam dem alten
grauen Renold in den Sinn, er verdiene auch ihren
Dank, und er freue ihn an dieſem Tag am meiſten.
Er ſtund auf, und ſagte zu ihm —
Er wiſſe, daß er allen Aeltern, die da ſeyen,
aus dem Herzen rede, wenn er ihm izt fuͤr ihre
Kinder danke und ihm ſage, ſie erkennen es, daß
er ſich ihrer annehme, wie ſich vielleicht kein Menſch
in der Welt armer Dorfkinder annehme. Maͤn-
ner und Weiber ſtunden eins nach dem andern auf,
dankten ihm auch wie der Alte. Es freute ihn
herzlich; aber er nahm dabey Anlaß ihnen izt etwas
zu ſagen, was er ihnen ſchon lange gern geſagt
haͤtte: er that aber eine Weile nicht dergleichen,
redte mit ihnen von ihren Kindern, erzaͤhlte ihnen
[233]
allerhand Gutes von ihnen, aber ließ doch nach
und nach eins nach dem andern merken, wie er ei-
nem jeden in der Schule anſpuͤhre, wie ſie bey
Haus mit ihnen umgehen, und als er ſie ſo traulich
hatte, und ernſthaft wie er wollte, trank er noch
auf ihre Geſundheit und die Geſundheit ihrer Kin-
der, und ſagte dann — wenn er einmal izt nicht
glaubte, es moͤchte ihnen Muͤhe machen, ſo wuͤrde
er ihnen gern noch etwas ſagen; ſie erwiederten
ihm, er ſolle doch ſagen, was er wolle, ſie ſehen,
wie er es meyne, und ſagen ja auch, was ſie wol-
len; er fragte noch einmal, ob ſie es gewiß nicht
zoͤrnen wollen? — Und ſagte dann —
„Es iſt mir immer, wie wenn vielen von Euch
nicht ganz recht Ernſt ſeyn koͤnnte, weder mit der
Freude wegen dem Junker, noch mit dem Dank
gegen mich.“ Die Leute begriffen nicht, was er
meynte, ſtaunten, ſahen einander an; endlich frag-
ten ihn etliche, warum er doch auch das ſage? Er
antwortete ihnen, „Ihr muͤßt mir verzeihen, aber
ich will es euch den geraden Weg ſagen; es ſind
gar zu viel Leute unter euch, die in dieſem oder je-
nem Stuͤck noch immer gern in der Unordnung leb-
ten, und dieſe alle koͤnnen im Grund ihres Herzens
keine wahre Freude, und keinen wahren Dank ge-
gen jemand haben, der ſie und ihre Kinder aus
aller Unordnung herauszutreiben, und alle Unge-
ſchicklichkeit, Unanſtelligkeit und Verwirrung, die
[234] im Dorf iſt, aufzudecken, und an den Tag zu brin-
gen ſucht.“
Dieſe Erklaͤrung machte ſie betroffen, ſie fien-
gen ihn an zu verſtehen, und er fuhr fort —
„Weil ich nun einmal angefangen, will ich mich
nun voͤllig erklaͤren; es iſt gewiß, daß zum Exempel
eine Frau, die ſich von Jugend auf der Unordnung
und der Unachtſamkeit gewohnt iſt, ihre Kinder
nicht beſorgt, vieles in der Haushaltung zu Grund
gehen, und wie Miſt durch einander und in einan-
der liegen laͤßt; und wiederum, daß ein Mann,
der in ſeinen Sachen es eben ſo hat, keine Freud
und Dank gegen jemand in ſeinem Herzen haben
koͤnne, welcher ihn in die Ordnung bringen will.
Es iſt gar zu vieles zu tief in ſeinem Innerſten ein-
gewurzelt, das er ſchwer hat abzulegen; und ich
glaube faſt, ein ſolcher Mann und eine ſolche Frau
wuͤrden leichter dahin zu bringen ſeyn, mit dem
Jaunervolk in die Haͤuſer einzubrechen, und mit
den Zigeunern und Bettlern im Wald bey geſtohle-
nen und gebettelten Braten und Kuchen um ein Hei-
denfeuer herum zu tanzen, als aufrichtige Freude
daran zu haben, wenn man ſie wollte in eine Ord-
nung bringen wie recht iſt, daß ſie nichts Unor-
dentliches mehr verbergen und bemaͤnteln koͤnnen.“
Aber die Maͤnner und Weiber meynten doch
nicht, daß ſie Leute ſeyen, welche man mit Hei-
[235] den- und Zigeunervolk vergleichen ſollte, und ſagten
noch einmal, es ſeyen gewiß blutwenige Leute un-
ter ihnen, denen es nicht Ernſt ſey mit ihm und
dem Junker. Er antwortete ihnen, „Er habe ſie
nicht mit Zigeuner- und Heidenvolk verglichen, ſon-
dern nur ihre Ordnung; ſo koͤnnte er die groͤſten
Herren mit dergleichen Volk vergleichen wie ſie; es
ſey nur davon die Rede, ob die eingewurzelte Un-
ordnung das Gemuͤth des Menſchen nicht von der
Liebe und Dank gegen Leute ablenke, die gern rechte
Ordnung haͤtten.“
Sie gaben das wohl zu, aber meynten dabey,
auch das treffe ſie nicht einmal ſtark; er ſagte ih-
nen aber darauf, ihr zwinget mich, daß ichs euch
doch ſagen muß; erinnert euch, was fuͤr Sachen
in euerm Dorf geſchehen, und was fuͤr Reden ge-
floſſen ſind, da man bey euch meynte, der Junker
komme nicht mehr auf. Die Worte „ſtrenge Her-
ren werden nie alt“; wieder, „es ſcheint doch
nicht Gotts Wille, daß alles nach ſeinem Kopf ge-
he“; wieder, „es wird einmal viel anderſt wer-
den, wenn er die Augen zuthut.“ — Erinnert
euch nur deſſen, und ſaget mir, ob ihr ſelber glau-
bet, das alles haͤtte ſo vorfallen und geredt werden
koͤnnen, wie es geſchehen und geredt worden iſt,
wenn nicht hundert und hundert dergleichen ver-
ſteckte Jauner- und Zigeuner-Geluͤſte der Grund
dazu geweſen.
[236]
Izt kamen ſie nicht mehr fort in ihrem men-
ſchenfreundlichen ſich ſelber Weißwaſchen. Ihrer
etliche ſagten, ſie muͤſſen izt ſchweigen, ſie ſehen ſel-
ber, daß etwas daran wahr ſey, wie er es izt ſage;
er erwiederte ihnen, er habe es nie anderſt geſagt.
Und da Arner bey der tanzenden Jugend ſah,
wie ernſtlich ihre Aeltern mit dem Lieutenant re-
deten, ſtund er zu ihnen, und fragte ſie, was ſie
ſo Ernſthaftes haben?
Der Lieutenant gab ihm mit einem Wort,
aber freundlich ſchauend gegen das Volk, einen
Wink, was es antreffe.
Das Geſpraͤch wendete ſich liebreich und mit
kurzem dahin, daß der Junker ſagte, es werde ſich
bald zeigen, ob er ihnen wirklich lieb ſey? Er muͤſſe
ihnen ſelber einen Anlaß dazu machen. Maͤnner
und Weiber fragten ihn dringend, worinn doch?
Und er erwiederte, ich kann euere Haushaltungen
und euer ganzes Weſen nicht in eine Ordnung brin-
gen, daß es auf Kind und Kindskinder in eine Ord-
nung gebracht iſt, wenn nicht ein jeder, der in ir-
gend einer Sache, ſey es im Ackerbau oder im
Hausweſen, etwas beſſer verſteht als die andern,
mir darinn Hand bietet, die andern darinn auch
in eine beſſere Ordnung zu bringen. —
[237]
Es war keiner, der nicht hieruͤber Ja ſagte.
Aber es war ihm nicht genug, was ſie ihm ins
Allgemeine hinein verſprachen; er fragte dann den
dicken Binzbauer, der den Namen hatte, er ver-
ſtehe den Kornbau am beſten, wie iſts, willt du
mir helfen, daß deine Nachbarn, die im Kornbau
ſo weit hinter dir ſind, darinn nach und nach auch
in die Ordnung kommen? Dann fragte er das
gleiche den Lindenberger mit der Hacknaſe, der den
Namen hatte, er verſtehe den Wieſenbau am be-
ſten, und ſo mehrere, von denen man ſagte, ſie
verſtehen irgend ein Stuͤck der Wirthſchaft beſſer
als die andern. — Zum Baumwollen-Meyer ſagte
er, dich frage ich nicht, ob du mir an die Hand
gehen willſt, denn du weißt, und haſt mir es ſelber
geſagt, daß ein jeder im Grund nur ſich ſelber an
die Hand geht, wenn er mir an die Hand geht. —
Er fragte ſogar die alte Frau, die den Gartenbau
ſo wohl verſtund, ob ſie in ihren alten Tagen ſich
noch ſo viel Muͤhe nehmen wolle, der lieben Ju-
gend zu etwas mehr Gartenzeug, als zu dem Saͤu-
kraut, welches ſie in ihren Gaͤrten faſt allein pflan-
zen, zu verhelfen? — Und es freute einen jeden,
den er ſo auszeichnete; ſie verſprachen ihm faſt alle
noch mehr als er forderte.
Das waͤre izt Eins, ſagte er da. Das An-
dere iſt, ein jeder, der irgend eine Sache von ſei-
nem Hausweſen und von ſeinem Landbau nicht ſo
[238] gut verſteht als ein anderer, ſollte mir eben ver-
ſprechen, ſich darinn gutmuͤthig weiſen und rathen zu
laſſen; aber er ließe es auch hierinn nicht beym bloßen
man ſollte, und ihr ſolltet, bewenden; ſondern
wandte ſich auch dießfalls vor allen an ihrer etliche,
die in einigen Hauptſtuͤcken ihrer Wirthſchaft kund-
barlich nicht in einer guten Ordnung waren, und
ſagte: Wie iſts? Willt du dir in dieſem oder jenem
Stuck, in dem du nicht laͤugnen kannſt, daß du
es noch weiter treiben koͤnnteſt als du thuſt, rathen
und helfen laſſen? Auch hierinn ſchien es, daß ſie
alle mit Freuden Ja ſagten. — Aber er war auch
ſo innig gut — zeigte ihnen dann noch zulezt ihre
tanzenden Kinder, und ſagte ihnen, wenn ihr es
nicht um meinetwillen, und nicht um euer ſelbſt
willen thun wolltet, ſo ſolltet ihr es um dieſer wil-
len thun. — Er ſezte hinzu — es wird mit ihren
Freuden bald aus ſeyn, wenn ihr nicht fuͤr ſie ſor-
get, und alle Luſtbarkeit ihres Lebens, die ihnen ſo
wohl thut, iſt an die Art und Weiſe, wie ihr euere
Geſchaͤfte machet, und wie ihr ſie auch dazu anzie-
het, gebunden; fehlet ihr darinn, ſo erwahret das
alte Spruͤchwort an ihnen, „Je freudiger, je trau-
riger“, und ſie werden daruͤber Niemanden als euch
anklagen.
Das Volk war geruͤhrt; aller Augen waren
auf ihn geheftet, und viele hielten ihre Haͤnde zu-
ſammen, wie wenn ſie beteten; ihr Stillſchweigen
[239] erhob ſein Herz: Er ſagte ihnen noch einmal, ich
kann mir nicht vorſtellen, daß ihr mich, und mit
mir euch ſelber, alſo betruͤgen wollet, mir hierinn
euer Wort nicht zu halten; und fehlet ihr mir nicht,
ſo kann ich euch verſprechen, mit der Hilfe Gottes
ſoll in kurzen Jahren nicht leicht mehr eines unter
euch ſeyn, das nicht mit Ruhe und Freude auf Kind
und Kindeskinder herab ſehen koͤnne. —
Mit dieſem verließ er die Aeltern, gieng noch
eine Weile zu den tanzenden Kindern, ſahe mit Luſt
ihre Freuden-Reihen, und dachte mit noch groͤße-
rer Luſt an ſeine Geſezgebung, mit der er zu der
Quelle dieſer Freuden Sorge tragen wolle, und laͤ-
chelte der Laſt entgegen, die ihm dieſe Vater-Freu-
de auflegen wuͤrde.
Und am Abend, um 4 Uhr, umringte ihn der
Kreis der tanzenden Jugend; die Braut dankte ihm
im Namen der Hochzeitleute, und der Gemeinde,
fuͤr ſeinen Freudentag, den er ihnen allen zum Freu-
dentag gemacht, und ein lautes Rufen des danken-
den Volks unterbrach die redende Braut. Er fuͤhrte
ſie dann noch aus dem Pfarrhaus heim in ihre
Huͤtte; das ganze Dorf begleitete ihn dahin, dankte
ihm noch einmal, als er da in den Wagen ſaß
und fort fuhr.
[240]
§. 50.
Hummels Tod.
Und der Rudi war kaum heim, ſo ſchlich er mit
einer Flaſchen Wein, und einer Blatten von allem
Guten, das ſie hatten, von ſeiner Braut und den
Hochzeitgaͤſten fort, trug alles unter ſeinem Rock,
wie verborgen, zu dem alten Feind ſeines Lebens.
Der gute Mann konnte nicht anders, als er mußte
denken, der arme Tropf ſehe izt alle Freuden dieſes
Tags, hoͤre alle ihre Luſtbarkeit, und ihm ſey kein
froher Augenblick mehr beſchehrt auf dieſer Erde.
— Bewahr doch — ſagte er, da er dieſes dachte,
der liebe Gott einen jeden Chriſtenmenſchen vor ei-
nem boͤſen Leben! — und gieng dann fort. Der
Vogt war in einem erbaͤrmlichen Zuſtand. — Das
Abfaulen und Abdorren des Menſchen, an dem
nichts mehr Menſch iſt, iſt entſezlich; ſchon lange
lebte in ihm nichts mehr, als was im Hund und
im Fuchs und im Wolf auch lebt; wenn er ſchon
wollte, er hatte fuͤr kein Gutes kein Leben mehr in
ſeinen Sinnen; und konnte, was menſchlich iſt, ſo
wenig mehr in ſich behalten, als ein durchloͤcher-
tes Geſchirr Waſſer, das man darein ſchuͤttet. Der
arme Tropf ſchrieb es dem Teufel zu; als ob es
mehr brauche, als ein Leben wie das ſeine, einen
Menſchen
[241] Menſchen in ſeinem Alter lebendig todt zu machen.
Aber es iſt ſo der Menſchen Art, ſie wollen noch
lieber vom Teufel ſchlecht ſeyn, als von ſich ſelber;
und laſſen ſich gar oft leichter dahin bringen, aus
dummer Furcht vor dem Beelzebub in die Gichter zu
fallen, als auf ſich ſelber Acht zu geben.
Das war ſein Fall: Er bruͤllte in ſeiner Teu-
felsangſt gar oft wie ein Vieh, inſonderheit zu
Nacht, ſo daß ihm auch Niemand abwarten wollte,
und der Rudi ein armes Bettelweib, das ihm ver-
wandt war, mit dem groͤſten Verſprechen kaum
dazu bewegen konnte; er meynte nichts anders, als
der Teufel werde ihn holen wie den Doktor Fauſt,
der das Pulver erfand; und konnte ſich vorſtellen,
er warte vor ſeiner Thuͤr auf den Glockenſchlag,
wann es mit ihm aus ſey, wie etwa Waͤchter und
Harſchier einer Schelmenbande aufpaſſen, wenn
die Stunde verrathen iſt, in der ſie an einen Ort
hinkommen.
Dieſe Narrenſchrecken ſeiner unſinnigen Teu-
felsfurcht hinderten die zerruͤtteten Kraͤfte ſeines
Kopfs und Herzens noch mehr, daß nichts Gutes
und nichts Menſchliches darinn Platz fand, und
alles Bemuͤhen des guten Pfarrers, ſeine Sinne
wieder zu ſtaͤrken, umſonſt war.
Das war ſein Lebensende. — So dorret ein
Baum ab, der auf einer Brandſtaͤtte bis auf das
Q
[242] Mark verſengt iſt — Umſonſt treibt ſeine Wurzel
noch einigen Saft in die todten Gefaͤße, er ſtocket in
allen Adern bis auch ſeine Wurzel erſtarret, und
es dann ganz mit ihm aus iſt. Sein zerruͤttetes
Leben ſtockete in allen Sinnen, und er konnte bey
Monaten nicht mehr einen beruhigenden menſchli-
chen Gedanken feſt halten.
Bis am Morgen dieſes Tags, da alle Glocken
laͤuteten, und er den Rudi an der Hand des Jun-
kers, und die Meyerin an der Hand der Thereſen,
und die Kinder des armen Manns an der Hand der
Kinder aus dem Schloß, unten an ſeiner Gaß vor-
uͤber zur Kirchen gehen ſah, und das Getuͤmmel
des frohen Volks hoͤrte — da ward ihm in dieſem
Augenblick wie anderſt ums Herz, und wie, als ob
ihm Gott auch noch einen guten Gedanken zu ſeiner
lezten Erquickung in ſeine Seele gegoſſen — er
konnte izt denken — wann es zu ſeiner Zeit alſo
geweſen waͤr, ſo waͤr er auch nicht geworden, was
er geworden. —
So wirft eine Lampe noch vor ihrem Erloͤſchen
einen hellern Schimmer, und ſtirbt dann. —
Das Bettelweib, das ihm abwartete, ſagte, er
habe dieſe Worte mehr als zehnmal nach einander
wiederholet, und dabey Thraͤnen in den Augen ge-
habt, und ausgeſehen wie ein anderer Menſch. —
[243] Auch das habe er ein paarmal geſagt, „wann er
izt nur ſterben koͤnnte, weil ihm ſo ſey“ — und
noch einmal uͤber das andere — „Mein Gott!
Mein Gott!“ gerufen, das er ſonſt auch nicht gethan.
Aber eine Saite, die Jahre lang in einem
Winkel verroſtet, ſpringt entzwey, ſo bald du ſie
ſpannſt, und dieſer Gedanken toͤdete den Mann; er
konnte nichts anders mehr als dieſen Gedanken den-
ken, ſtaunte eine Weile demſelben anhaltend nach,
und da traf ihn der Schlag.
Das Bettelweib, das bey ihm war, freute
ſich, daß er an ſeinem Ende noch ſo zu guten Ge-
danken gekommen, und nahm das beſte Buch in
die Hand, betete ihm in ſeinen lezten Noͤthen das
Gebet eines armen Suͤnders vor, den man auf die
Richtſtatt fuͤhrt, und glaubte, es koͤnnte im gan-
zen Buch nichts finden, das ſich beſſer fuͤr ihn
ſchicke. Es wußte ſonſt nichts zu machen, weil
ſich ſeiner ſonſt Niemand nichts annahm als der
Rudi, und dieſer izt an ſeiner Hochzeit war. Aber
der gute Menſch zoͤrnete das, und ſagte ihm, es
ſey ein Unmenſch, daß es ihn habe ſo da liegen
laſſen koͤnnen. — Was willt doch ſagen — er-
wiederte das Weib — er iſt, ſo lang ich ihm ab-
warte, nie ſo ſchoͤn da gelegen — und eine Weile
darauf — man kann dem armen Tropfen izt nichts
mehr Gutes thun, als Gott fuͤr ihn bitten, daß
Q 2
[244] er ihm ſeine Suͤnden verzeihe, und ihm eine ſelige
Aufloͤſung beſcheere; und es haͤtte ihm nichts ge-
holfen, wenn ich dich auch heut mit ihm geplagt
haͤtte, du biſt ja dein Lebtag lang genug mit ihm
geplagt geweſen. —
In dieſem Augenblick ſah der Rudi, daß es
das arme Suͤndergebet auf dem Tiſch vor ſich
hatte, und ſagte ihm, das iſt erſchrecklich, was
denkſt auch? — Haſt du es ihm laut vorgele-
ſen? —
Ja freylich, ſagte das Weib.
Aber um Gotteswillen! was denkſt auch?
Wenn ers noch verſtanden, es hat ihm ja muͤſſen
faſt das Herz abdruͤcken.
Nichts wenigers, erwiederte das Menſch —
er hats gar wohl noch verſtanden, und mir im An-
fang noch mit dem Kopf dazu genickt — es ſey
recht. —
Der gute Rudi legte den armen Sterbenden
noch, ſo gut er konnte, zu recht, und ſeinen Kopf
hoͤher, ſprang dann heim, ſagte es ſeiner Braut,
und bat die Hochzeitleute, ſie ſollen doch aufhoͤren
tanzen, und uͤberall nicht mehr laut thun, er fuͤrch-
te, wann ers noch hoͤre, ſo koͤnnte es ihm noch
weh thun, und das waͤr ihm leid.
[245]
Es war Niemand bis auf die kleinſten Kin-
der, der nicht fand, er habe recht, und ſie doͤrfen
ihn in ſeiner lezten Stunde nicht kraͤnken. — Die
Kinder baten den Rudi, weil ſie ſich izt nicht mehr
luſtig machen doͤrfen, um den goldenen und ſilber-
nen Bienenkorb der Großmutter, daß ſie auch et-
was zur Freude haben, da ſie doch muͤſſen ſtill
ſeyn. — Er gab ihn ihnen; eilte dann mit ſeiner
Braut mit Tuͤchern und Bettzeug, und Eſſig, und
allem, was ſie im Hauſe hatten, und meynten,
daß es ihm dienen koͤnnte, zu dem Sterbenden,
und blieben an ihrer Hochzeit bey ihm bis zwiſchen
zwoͤlf und ein Uhr, da er dann verſchieden. —
Der Pfarrer blieb auch ſo lang, und druͤckte noch
beym Weggehen dem armen Todten die Augen zu
— und dann ihnen beyden die Haͤnde ſo warm
und fromm und prieſterlich, als heut am Morgen,
da er ſie einſegnete.
[246]
§. 51.
Arners Geſezgebung.
Und nun eile ich zur Vollendung meines Werks,
und bitte den Geiſt der Einfalt, der mich leitete,
als ich meinen Volks-Geſang bey der Huͤtten der
armen Frauen, und im Tumult der großen Ver-
wirrung des verwahrloſeten Dorfs anhub, und
der mich auf meinem unbetretenen Pfad an der
Hand der Erfahrung fortfuͤhrte. — Geiſt der Ein-
falt, du mein Geiſt! verlaß mich izt nicht, da ich
ermuͤdet mich meinem Ziele naͤhere, und meinen
Geſang mit der Hofnung vollende, Arners Ge-
ſezgebung ſetze die Moͤglichkeit einer die menſch-
liche Natur, auch in der Tiefe des Volks, befrie-
digenden Staatsweisheit und Staatsgerechtigkeit
außer Zweifel.
Ich ſaͤume mich nicht —
Das ſind die Einrichtungen, Geſe-
ze, Anſtalten und Vorſorgen, durch
welche Arner ſein Volk in Bon-
nal von den Fehlern eines ſich
ſelbſt uͤberlaſſenen Naturlebens zu
heilen, und ſie aus einem leichtſin-
[247] nigen, gedankenloſen, traͤgen, un-
vorſichtigen, untreuen, verwege-
nen, mit einem Wort, verwahrlo-
ſeten Naturgeſindel, welches ſie
waren, zu bedaͤchtlichen, feſten,
fuͤrſichtigen, treuen, frommen, in
ihrem Zutrauen ſowohl, als in ih-
rem Mistrauen ſicher gehenden[,] und
im Innern ihrer Haushaltungen
Gluͤck und Zufriedenheit findenden
und zu finden faͤhigen Menſchen zu
machen.
Er ließ zuerſt in einem jeden Fach des Land-
baus und der Hauswirthſchaft den Mann, von
dem er mit Zuverlaͤßigkeit erfahren, daß er in die-
ſem Fach vorzuͤgliche Kenntniſſe und Erfahrung
habe, zu ſich kommen, erinnerte ihn des Verſpre-
chens, welches ſie ihm alle am Abend ſeines Wie-
dergeneſungfeſts in Bonnal gethan, daß ihm nem-
lich jeder in dem, was er am beſten verſtehe, ſo
an die Hand gehen wolle, die andern in dieſem
Stuͤck, ſo viel ihm moͤglich, auch in eine beſſere
Ordnung zu bringen; und ſagte ihm dann, er fin-
de, daß er dieſes oder jenes Stuͤck der Wirthſchaft
vorzuͤglich wohl kenne, er bitte ihn alſo hieruͤber
ſein Dorfrath zu ſeyn. —
Q 4
[248]
So machte er den, der den Kornbau am be-
ſten verſtund, zu ſeinem Dorfrath uͤber den Korn-
bau; den, der den Wieſenbau am beſten behan-
delte, zu ſeinem Dorfrath uͤber den Wieſenbau —
der den Wald am beſten beſorgte, uͤber den Wald-
bau — der, ſo die Fruchtbaͤume am beſten be-
ſorgte, uͤber die Fruchtbaͤume; und waͤhlte ſo fuͤr
alle kleine und groͤßere Theile der Wirthſchaft den
Mann, der ſich darinn als den beſterfahrnen aus-
zeichnete, hieruͤber zu ſeinem Dorfrath.
Dann gab er dieſen Maͤnnern, einem jeden
fuͤr ſein Fach, ein Dorfrathsbuch, darinn erſtlich
Auszuͤge aus den Schloß-Protokollen, ſo weit aus
denſelben das Fach, darinn einer Dorfrath war,
Licht erhalten konnte; z. Ex. im Kornbau, wie
viel die ganze Gemeinde dieſer Art Land beſitze, und
dann, wie viel ein jeder Bauer einzeln beſitze: wor-
uͤber in den Protokollen ſich nichts fand, z. Ex. uͤber
die Baumzucht, das mußten die Dorfraͤthe ſelber
aufzeichnen — und dann mußten ſie in ihren Faͤ-
chern allemal in Rubriken, die ihnen vorgezeichnet
waren, den Zuſtand aller Theilen dieſes Fachs, im
Großen und in ſeinen beſondern Stuͤcken, deutlich
und klar bemerken, z. Ex. in der Rubrik des Acker-
baus: 1°. wie viel von dieſem Land gut, wie viel
ſchlecht, wie viel trocken, wie viel naſſes, wie viel
leimartig, wie viel ſandartig, wie viel gemiſcht u.
ſ. w. dann 2°, was fuͤr Hauptverbeſſerungen man
[249] im Trockenen, im Naſſen, im Sandigen, im Leim-
artigen vornehmen koͤnnte und ſollte — ferner,
wie weit dieſe Verbeſſerungen wirklich ſtatt haben,
und wie weit ſie nicht ſtatt haben, und welches die
groͤßern und kleinern Hinderniſſe ſeyen, um deren-
willen ſie nicht allgemein ſtatt haben; dieſe Rubri-
ken fuͤllten den erſten Theil dieſes Dorfraths-Buchs
aus.
Der zweyte Theil deſſelben enthielt wieder in
jedem Fach die umſtaͤndliche Soͤnderung des Gan-
zen in die beſondern Theile, die ein jeder in dieſem
Stuͤck beſaß oder verwaltete. Ein jeder Buͤrger
hatte in dieſem Theil ſeinen Plaz, oder ſeinen Hof,
in welchem der Dorfrath die Rubriken des erſtern
Theils auf ihn beſonders anwenden, und z. Ex. im
Feldbau zeigen mußte, wie viel er ſandiges, oder
leimichtes Land beſitze, wie viel er davon wohl, und
wie viel er davon nicht wohl beſorge, und ſo wars
in allen Theilen der laͤndlichen Wirthſchaft; ein je-
der Dorfrath, der fuͤr den Kleebau, der fuͤr die
Waͤſſerung, der fuͤr den Forſtbau, der fuͤr den
Obswachs, hatte alſo ſein doppeltes Buch mit allen
Rubriken, die er meiſtens nur mit kleinen Zeichen
ausfuͤllen mußte; und der Lieutenant machte dann
dem Junker aus dieſen Dorfraths-Buͤchern ein
allgemeines Dorfwirthſchafts-Buch, darinn zuerſt
wieder im Allgemeinen von allen Theilen der Wirth-
ſchaft in Bonnal zuſammen gezogen war, was in
[250] jedem beſondern Buch von dem Dorfrath bemerkt
und rubrizirt ward; und dann zweytens, was in
demſelben von jedem beſondern Hauswirth uͤber
jeden Theil ſeiner Wirthſchaft in Verbindung mit
dem erſten Theil des Buchs bemerkt und rubrizirt
war. —
So erhielt Arner ein reales und vollſtaͤndiges
Grundbuch uͤber die allgemeine Dorfwirthſchaft in
Bonnal, und ein auf dieſes ſich beziehendes eben
ſo vollſtaͤndiges Rechenſchafts-Buch von dem Zu-
ſtande der Wirthſchaft eines jeden Bonnalers in
allen ihren Theilen, von den groͤſten Hauptſtuͤcken,
die ſie beſaßen, bis auf das juͤngſte Schwein im
Stall und dem kleinſten neugeſezten Baum.
Er hatte dieſes nicht ſo bald, ſo verſammelte
er die Gemeinde wieder, erinnerte von neuem an
ihr Verſprechen, ſich in allem, wodurch er ſie fuͤr
ihre Kinder und Kindskinder in Ordnung bringen
koͤnne, rathen und helfen zu laſſen.
Und mit dieſem vorbereitet, machte er dann
einen Hausvater nach dem andern zum großen
Rechenſchaftsbuch ins Pfarrhaus kommen, und
zeigte ihnen ganz unerwartet und auf einmal den
wahren Zuſtand ihres ganzen Hausweſens, auf
ihrem Blatt, wie in einem Spiegel. — Er ließ
einen jeden neben ſich niederſitzen, und ſeine ganze
Rechnung da leſen, und dem, der nicht leſen konn-
[251] te, las er ſie vor, vom Anfang bis zum Ende. —
Weit die meiſten hatten in ihrem Leben nie einen
Augenblick mit dem Eins mal Eins im Kopf ihr
Hausweſen in allen ſeinen Theilen uͤberſchlagen,
und niemals, weder im Ganzen noch in ſeinen Thei-
len, eine heitere Einſicht darein gehabt, ſtunden
auch desnahen vor ihrem Spiegel wie vor einem
Wunder, und vor dem Junker wie Narren. —
Sie konnten gar nicht begreifen, wie ihre Sa-
chen alle ſo deutlich und klar auf dieſes Papier ge-
kommen — und wie das, woran ſie ſelber nie ge-
dacht, hier bemerkt, und das, was ſie ſelber nicht
gezaͤhlt, hier gerechnet ſeyn koͤnnte; was ſie laͤngſt
vergeſſen, das war hier wie neu wieder da; was
ſie vernachlaͤſſiget, das fanden ſie da bemerkt; was
ſie fuͤr nichts geachtet, das ſtund doch da, wie wenns
gar nicht wenig waͤre; und er fragte ſie dann uͤber
einen jeden Punkt ihrer Rechnung, iſts ihm nicht
ſo? Iſts ihm nicht ſo? Und druͤckte die meiſten ge-
waltig mit dieſem Wort, ſo daß es alle duͤnkte, es
wolle kein Ende haben, dieſes: Iſt ihm nicht ſo? —
Doch ſagten ſie ihm alle faſt in allen Stuͤcken
Ja, aber freylich oft mit einer unbeſchreiblichen
Verlegenheit.
Hingegen ſagten gar viele, und die Verſtaͤn-
digſten alle von ſich ſelber, wo ſie eine Abſchrift
[252] von dieſem Blatt haͤtten, es koͤnnte ihnen gar viel
dienen; er gab ſie allen, und viele konnten das
Blatt auf dem Heimweg, und auch daheim, nicht
aus den Haͤnden laſſen, bis ſie ſich genug darinn
erſehen. Der Niggel Spiz ſagte einem ganzen
Haufen von ihnen, da er ſie ſo mit ihrem Papier
in der Hand vor dem Pfarrhaus ſpatzieren ſah —
So hat noch kein Pfarrer ſeine Gemeinde aus einer
Predigt oder aus einer Kinderlehre heimgeſchickt!
— Einer gab ihm zur Antwort — ja dieſe fangen
nicht beym Leib an fuͤr den Menſchen zu ſorgen —
Es geht darum, ſagte der Niggel, denke ich, ihnen
mit der Seelſorge ſo gut, weil ſie ſie allein trei-
ben.
Ihrer viele kamen nicht ſo bald unter ihr Dach,
ſo giengen ſie mit Schaufeln und Karſt, oder einem
andern Inſtrument auf der Achſel, oder unter den
Armen, wieder zur Thuͤre hinaus, um dieſes oder
jenes geſchwind in die Ordnung zu machen, woruͤ-
ber ſie am ſtaͤrkſten durch ihren Spiegel beſchaͤmt
worden waren.
So giengs am erſten Tag, und der Junker
trug Sorge, daß ihnen der Spiegel alle Jahr wie-
der neu werde.
Alle Fronfaſten mußte ein jeder Dorfrath ſein
Buch erneuern, und in allen Rubriken anzeigen,
ob in denſelben einige groͤßere oder kleinere Veraͤn-
[253]
derungen vorgefallen? Hieraus erneuerte dann der
Lieutenant eben ſo in allen ſeinen Theilen ſein großes
Dorfwirthſchafts-Buch. Aus dieſem ließ der Jun-
ker dann alljaͤhrlich einem jeden Haushaͤlter ſeinen
Wirthſchafts-Spiegel in allen ſeinen Theilen wieder
erneuern, und ließ ihn auf die gleiche Art wieder
uͤber eine jede Abaͤnderung Antwort geben, ob ſie
richtig ſey oder nicht? —
Aber auch das war ihm noch nicht genug. Er
ſah die Kopfs-Einſchraͤnkung ſeiner meiſtens nur ein-
ſeitig gebildeten Dorfraͤthen, und erkannte, daß
Leute, die in einem beſondern und einzelnen Theil der
Wirthſchaft vorzuͤgliche Erfahrungen haben, in ei-
nem gewiſſen Alter oft beſtimmt dadurch gehindert
werden, ſo wohl mit Unpartheylichkeit, als mit
genugſamer Geduld anderer, in ihrem Fach min-
der erfahrnen Leuten ſo an die Hand zu gehen, daß
ihnen wirklich an die Hand gegangen iſt — und
eben ſo, daß ihre einſeitigen Erfahrungen und Kennt-
niſſe ſie meiſtens auch dahinbringen, aus ihrem
Fach alles, oder einmal viel mehr, zu machen, als
es im Ganzen und mit allem uͤbrigen verbunden
wirklich iſt. — Es begegnet ihnen auch nicht ſel-
ten, daß ſie meynen, ſie verſtehen alles, wie ſie eins
verſtehen — eben ſo, wie ſie auch oft durch ihr
Alter und abnehmende Kraͤfte gehindert werden,
auf die Art, wie es ſeyn ſollte, einem ganzen
Dorf in ihrem Fach an die Hand zu gehen, und
[254] etwan, wo es noͤthig, die Handgriffe ſelber zu
zeigen.
Dieſem allem, und noch mehrerm, half Ar-
ner dadurch ab, daß er dieſen Dorfraͤthen fuͤr jede
Gaſſe noch zwey juͤngere, noch lernbegierige, aber
doch ſchon in allen Theilen der Wirthſchaft eigene
Erfahrung beſitzende Maͤnner zugab, die er mit
Zuthun der aͤltern Dorfraͤthe fuͤr ſie waͤhlte, und
die dann im engern Kreis ihrer Gaß ihren Nach-
barn in allen Theilen ihrer Wirthſchaft allemal
nach der Wegweiſung des Dorfraths, in deſſen Fach
ein jeder Gegenſtand einſchlug, an die Hand gehen
mußten.
Dieſe blos wie zu ihrer Erleichterung vorge-
nommene Einrichtung ſchmeichelte den aͤltern Dorf-
raͤthen um ſo mehr, da ſie auf dieſe Art die ver-
ſtaͤndigſten, ordentlichſten und fleißigſten juͤngern
Hauswirthe auf eine Art wie zu ſich in die Schule
gewieſen, und ſich untergeordnet ſahen — auf der
andern Seite aber, da dieſe juͤngere Maͤnner bey
einem jeden dieſer Dorfraͤthen nur in demjenigen
Fach Rath ſuchen mußten, das er wirklich ver-
ſtund, und nur in ſo weit, als ſie denſelben fuͤr die
Wirthſchaft der Leuten ſeiner Gaß wirklich brauch-
ten, ſo machte ihnen das auch nicht viel Muͤhe,
und ſie wurden hingegen durch den Rath und die
vielſeitigen Erfahrungen dieſer Maͤnner, die ſie in
[255] allen Faͤchern dennoch oft und nothwendig brau-
chen mußten, auf eine ſehr natuͤrliche, einfache,
und ſichere Art gefuͤhrt und geleitet, die Gegenſtaͤn-
de der Wirthſchaft in ihrem Zuſammenhang anzuſe-
hen, ohne die feſte und genaue Aufmerkſamkeit auf
jede einzelne Theile derſelben zu ſchwaͤchen; und
genoſſen auf dieſe Art im eigentlichſten Verſtande,
und in einem ſehr ausgedehnten Sinn, den Geiſt
und das Weſentliche der beſtmoͤglichſten Landwirth-
ſchafts-Schule fuͤr ihr Dorf.
Dieſen zehn Maͤnnern uͤbergab Arner aus dem
allgemeinen Dorfwirthſchafts-Buch die Abſchriften
der ſo geheißenen Wirthſchafts-Spiegel, die ein
jeder Bauer von Bonnal darinn hatte; nemlich je
zwey und zweyen allemal diejenigen Spiegel, die
die Hauswirthe der Gaſſe, die ihnen angewieſen
war, betrafen, aber ſie mußten dann dieſelbe noch
groͤßer machen, und weiter ausdehnen, als es den
alten Dorfraͤthen in ihrem Buch uͤber alle Bonna-
ler, wenn ſchon einem jeden nur in einem einzigen
Fach, nicht moͤglich geweſen waͤre; dieſe konnten
es hingegen leichter, weil ſie dieſe Buͤcher nur uͤber
die Buͤrger ihrer Gaſſe fuͤhrten, und allemal ihrer
zwey zu den Buͤchern uͤber die Hauswirthe einer
Gaſſe waͤren. — Aber freylich mußten ſie dann
dieſe Buͤcher allgemein und uͤber alle Theile der
Wirthſchaft ihrer Leute vollſtaͤndig fuͤhren, und in
jedem Buch von einem Hauswirth alle Rubriken
[256] beſtimmt ausfuͤllen, wie ſie ihnen vorgezeichnet uͤber-
geben worden; z. Ex. in der Rubrik Akerbau
bey einem jeden bemerken:
- „So viel im voͤlligen Abtrag.
- "So viel im mittlern Abtrag.
- "So viel im ſchlechten Abtrag.“ —
Dann mußten ſie auch dieſe Unterſcheidungen
in allen Faͤchern der Wirthſchaft an ihrem Ort
richtig ausfuͤllen, bis auf die kleinſten Theile der-
ſelben, alſo daß auch nicht das kleinſte Baͤumchen
ohne die beſtimmteſte Beurtheilung, ob ſeine Be-
ſorgung gut, mittelmaͤßig, oder ſchlecht ſey, ge-
laſſen wurde; und uͤber jeden einzelnen Mann muß-
ten ſie eben ſo bemerken, ob er verſtaͤndig und er-
fahren, und in welchen Stuͤcken ſeiner Wirthſchaft
ſich das zeige, und aus welchen man das Gegen-
theil ſchließen ſollte. —
Dann hatte auch ſeine Frau, und ein jedes
ſeiner Kinder, ſeinen Plaz in dieſem Buch; und
von einem jeden ward umſtaͤndlich nach allen wich-
tigen Geſichtspunkten, die ſeinethalben zu bemerken
waren, aufgezeichnet, wie es mit ihm ſtehe, was
es taͤglich arbeite, wori[n]n es ſich im Guten oder
im Boͤſen auszeichne, was ſein Vater aus ihm
machen wolle, und ob daſſelbe ſich fuͤr ihns und
ſeine Umſtaͤnde beym Leben und Sterben ſeiner
Aeltern ſchicke? — Und endlich, ob in einer jeden
Haus-
[257] Haushaltung kein freſſender Krebs, und nichts ge-
faͤhrliches um den Weg ſey, das fruͤh oder ſpaͤt
dieſe Haushaltung in Unordnung bringen, und den
Weg zu ihrem Verderben anbahnen koͤnnte. —
Und die Buͤcher der zehen Maͤnner waren vom
Lieutenant ſo eingerichtet, daß ſie in weit den mei-
ſten Stuͤcken nur kleine Zeichen und Zahlen einzu-
tragen hatten; und auch uͤber dieſe hatte Arner wie-
der ein allgemeines Buch, daraus er am Ende des
Jahrs im Augenblick einem jeden Bonnaler ſeine
Rechnung ausziehen, ſie in allen ihren Theilen,
und in jedem beſonders, an die Rechnung deſſelben
vom vorigen Jahr anſchließen, und ſich alſo bis
auf die kleinſten Unterſcheidungen, wie weit ſich
ſein Zuſtand beſſere oder ſchlimmere, in allen
Stuͤcken leicht bemerken konnte; wie z. Ex. in der
Rubrik des Ackerbaus — Der Jakob Meyer hatte
gut beſorgte Aecker 1785,5 Juchart — 1786,8;
alſo 1786 3 Juchart mehr gut beſorgte. — Mit-
telbeſorgte 1785,6 Juchart — 1786,10; alſo
mittelbeſorgte Aecker 1786,4 mehr als 1785. Schlecht
beſorgte 1785,10 — 1786,3; alſo ſchlecht be-
ſorgte Jucharten minder als 1785, 7. —
So deutlich und leicht fiel ein jeder Unterſchied
in allen Theilen eines vergangenen und gegenwaͤrti-
gen Jahrzuſtands auf, und Arner ließ daruͤber ein
unveraͤnderliches Geſez verfertigen, und daſſelbe zu
R
[258] den von ihm beſtaͤtigten Gerechtſamen und Frey-
heiten des Dorfs in ihre Gemeindlade hineinlegen,
und in ihr Dorfbuch eintragen, daß alljaͤhrlich in
der Weihnachtswoche Gemeind gehalten werden
muͤſſe, und in derſelben zur Aufmunterung des
Fleißes und aller guten Ordnung, in Gegenwart
des Junkers und des Pfarrers, und der Gemeinde,
einem jeden zu Lob und Ehren, aus dieſer Rech-
nung oͤffentlich muͤſſe vorgeleſen werden, was in
derſelben ihm Lob und Ehre bringen koͤnne.
Hingegen ward durch ein eben ſo beſtimmtes
Geſez, und eben ſo feyerlich, zum Wohl und Nutzen
der Gemeinde, und zur Sicherheit der guten Be-
ſorgung alles Ihrigen, auf Kind und Kindskinder
hinunter befohlen, und der Befehl als von der gan-
zen Gemeinde, und als zu ihrer Sicherheit und zur
Hinterlag ihres langdauernden Wohlſtands, allge-
mein angenommen, und eben ſo in ihre Gemeind-
lade verwahret, und in ihrem Dorfbuch eingetra-
gen, daß ein jeder, der irgend ein Stuͤck ſeiner
Wirthſchaft ſchlechter beſorgt als im vorigen Jahr,
dem Junker und dem Dorfrath ſagen muͤſſe, wa-
rum und wie das gekommen? — Das erſtemal in
aller Freundlichkeit — und ohne daß man ihm daruͤ-
ber Vorwuͤrfe machen doͤrfe, warnen; — dennoch
aber muͤſſen die Dorfraͤthe und die Aufſeher ſeiner
Gaſſe, aber ohne ihn dazu zu ziehen, zuſammen
treten, genau zu unterſuchen, wie weit ſeine Ent-
[259] ſchuldigungen wahr und begruͤndt geweſen oder
nicht, und uͤberhaupt was etwan die beſten Mittel
ſeyn moͤchten, in der Stille und Freundlichkeit einen
guten Einfluß auf ihn und ſeine Haushaltung zu
haben. — So dann aber der Mann das zweyte
Jahr in dieſem Stuͤck, oder in andern eben ſo wich-
tigen, gleich als ein ſchlechter und nachlaͤßiger
Haushalter zum Vorſchein kam, ſo mußte er dann
mit ſeiner ganzen Haushaltung vor dem Junker und
dem Dorfrathe erſcheinen, und in ihrer aller Ge-
genwart ſich erklaͤren, welches die Gruͤnde der fort-
dauernden Vernachlaͤßigung dieſes oder jenes Stuͤcks
ſeiner Wirthſchaft ſeyen? —
Aber dann war es ſchon ernſthafter. — Die
Dorfraͤthe und die Aufſeher ſeiner Gaſſe mußten
ſich einen Tag vorher verſammeln, die Gruͤnde, die
er ihnen das vorige Jahr angegeben, von neuem uͤber-
legen, und ſich als auf eine ſehr ernſthafte und fuͤr
das Dorf ſehr wichtige Sache gefaßt machen, ſich
von ihm in keinem Wort blenden zu laſſen, und
von ihm keine leere unguͤltige Entſchuldigung als
guͤltig anzunehmen, ſondern ihm vielmehr ein jedes
falſches, heuchleriſches, unrichtiges Wort, mit der
groͤſten Kraft, die ihnen moͤglich, im Mund umzu-
kehren, und eben ſo ſeiner Frau und ſeinen Kin-
dern, um ſie ſaͤmtlich in dem Grad zu beſchaͤmen,
als ſie es wagen wollten, mit Luͤgen und Blend-
werken durchzuſchluͤpfen. — Die Dorfraͤthe muß-
R 2
[260] ten, als auf die wichtigſte Sache gefaßt ſeyn, ihm
gegen alles unrichtige Geſchwaͤz genau und beſtimmt
zu zeigen, wie ſie die Sache haͤtten angreifen ſollen,
und warum es, wenn ſie es alſo gemacht haͤtten,
ihnen darinn nicht hinter ſich, ſondern fuͤr ſich ge-
gangen waͤre.
Der Junker war bey allen dieſen Real-
Examen, die im Dorf den Namen der Schweiß-
baͤder bekamen, gegenwaͤrtig, und ließ es nie-
mals ermangeln, den Dorfraͤthen und Aufſehern zu
zeigen, wie wichtig es ſey, gegen das Blendwerk
von Haushaltern, die anfangen ſchlecht zu werden,
druͤckend zu Werk zu gehen.
Die Leute konnten das nicht ausſtehen, Jahr
fuͤr Jahr ſo behandelt zu werden, und es waren
immer auch in den ſchlechteſten Haushaltungen,
die, dieſes auszuweichen, dann im Haus daran
trieben, daß es beſſer gehe.
Hingegen wurden die, welche in einem Stuͤck
der Wirthſchaft verhaͤltnismaͤßig gegen andere ihres
gleichen mehr geleiſtet, vor der ganzen Gemeinde
aufgefodert, ſich zu erklaͤren, wie, und wodurch ſie
in dieſem Stuͤck weiter gekommen?
So trieb er alles Gute in ſeinem Dorf, wie
ein Gaͤrtner, der alle Tage und alle Stunden mit
ſeiner Arbeit und mit ſeinem Dung hinter ſeinen
Blumen und hinter ſeinem Kohl her iſt, ſie vor den
[261] Winden ſchuͤzt, vor der Kaͤlte deckt, vor Troͤckne
und Naͤſſe ſicher ſtellt, ihren Boden fett und rein
haͤlt, und jedes Unkraut fruͤhe daraus reißt. Auch
ließ er ſie nicht ins Wilde aufſchießen, und keinen
Menſchen uͤber Nichts ins Blinde hinein Meiſter,
nicht einmal uͤber ſeine Geſundheit — die Aufſeher
mußten ihm genaue Rechenſchaft geben, ob die
Haushaltungen in ihren Gaſſen, und die einzelnen
Perſonen derſelben geſund ſeyen, oder nicht. Der
Dorfrath, nebſt den Aufſehern, hatten zu unterſu-
chen, woher der Mangel der Geſundheit, der ſich
ſo wohl bey ganzen Haushaltungen als einzelnen
Perſonen zeigte, entſpringe, und wie ihm abzuhel-
fen ſeyn moͤchte?
Er wußte aber auch, daß der Menſch nichts
gern umſonſt thue, und er hingegen ſo gern um
allerley Lohn arbeitet; er hatte desnahen einen Jahr-
tag, und nannte denſelben den Tag der Beſten,
an welchem er die Dorfraͤthe und Aufſeher, die in
dieſem Jahr eine auf irgend eine Art zerruͤttete
Haushaltung wieder in Ordnung gebracht, auf ein
Mittageſſen zu ſich ins Schloß kommen ließ, und
einem jeden derſelben eine ehrenvolle, aber nicht
koſtbare Belohnung gab, die ihnen Thereſe aus-
theilte; aber vorher mußte ein jeder auch erzaͤhlen,
wie er das gemacht, und wie er in dieſer Haushal-
tung einem jeden, vom Hausvater an bis zum
kleinſten Kind, habe zu Leib kommen, und ſie da-
R 2
[262] hin bringen koͤnnen, daß ſie ſich geaͤndert, auch
worinn es bey einem jeden am ſchwerſten gehal-
ten?
Der Erzaͤhler ſaß dann oben am Tiſch, der
Pfarrer, Junker, und der ganze Dorfrath um ihn
her; und der erſte ſchrieb alles deutlich und be-
ſtimmt in ein Wegweiſungs- und Berathungs-Buch
fuͤr die Dorfraͤthe und die Aufſeher auf.
Vornen an dieſem Buch ſtunden nach der Zeit-
ordnung die Namen der Rechtſchaffenen, von denen
eine ſolche ſchoͤne That in demſelben aufgezeichnet
war, mit großen Buchſtaben vom Lieutenant ſchoͤn
geſchrieben; und neben ihnen war die Zahl der
Seite bemerkt, auf welcher ihre That aufgeſchrie-
ben war.
Nach dem Thereſe dieſe Ordnung ganz einge-
ſehen, ſagte ſie in ihrer Freude daruͤber zum Lieu-
tenant, es ſeyen eine ganze Menge Sachen im
Hausweſen, woruͤber ihre Maͤnner-Buͤcher in Ewig-
keit nie genug thun wuͤrden, und ſchlug vor, fuͤr
die 5 Hauptgaſſen noch 5 Weiber auszuſuchen,
die auf eben dieſe Art dem Junker und dem Dorf-
rathe durch Weiber-Buͤcher, die ihnen hierzu einge-
richtet werden muͤßten, uͤber diejenigen Sachen Re-
chenſchaft geben ſollten, von denen man zum Voraus
wiſſe, daß ſie in ſolchen Maͤnner-Buͤchern nicht ge-
nugſam aufgeheitert werden koͤnnen, und zu denen
[263]
man, wenn ſie auch in den Buͤchern vollends in
Ordnung kommen wuͤrden, am Ende doch Weiber
noͤthig habe, ſie im Dorfe in Ordnung zu bringen,
wenn ſie nicht darinn ſeyen; z. Ex. ob in ihrer Gaſſe
die Kindbetterinnen verſorget? Ob man mit den
ſaͤugenden und kleinen Kindern in allen Theilen ſo
umgehe, daß ſie dabey geſund ſeyn und truͤhen (zu-
nehmen) koͤnnen? Wie es mit der Reinlichkeit in
jedem Haus, im Geraͤth, an den Kleidern und an
den Leuten ſelber ausſehe? Wie es mit dem kleinen
und großen Weibereigenthum, dem Hausvorrath,
und der Ordnung mit demſelben, in allen Stuͤcken
ſtehe? Ob er beſorgt und unterhalten werde? Ob
und wie die Muͤtter ſich auf das Aufwachſen ihrer
Kinder, und auf ihr kuͤnftiges Ausſteuern allent-
halben, wie es brav und in ihren Haushaltungen
nothwendig iſt, zu rechter Zeit vorbereiten? und
ſo weiter —
Man war bald einig, das ſey gut; und der
Junker verſammelte ſogleich ſeinen Weiberbund,
und theilte die 5 Gaſſen unter ſie ab; aber dem
Mareili war eine einzige Gaſſe zu eng, es ſagte, es
ſey in allen daheim, und wolle keine allein, und
verſprach den andern in allem an die Hand zu ge-
hen, und das war dieſen auch gar recht; ſie wuß-
ten, daß jedermann an ihns gewoͤhnt, und daß es
ſchon, ſo lange es Baumwollen ausgiebt, den Leu-
ten immer in den Ohren gelegen, ſie ſollten in ih-
R 4
[264] ren Haushaltungen nicht ſeyn, wie ſie ſeyen; und
auch, daß die Leute ihns auf eine Art ſcheuen muͤß-
ten, wie keine andere, weil es ihre Ordnung, in-
ſonderheit der Armen ihre, vollkommen kannte:
den andern war dieſe Arbeit ſo viel als neu; ſie
waren nichts weniger als ſo geſchwind in den Haus-
haltungen ihrer Gaſſe daheim, und ihrer Sache ſo
ſicher, machten auch im Anfang mit Nachfragen
und Rathen wie recht iſt, gar zahm, und dorften
aber auch manchmal ſo wenig mit der Sprache
heraus, daß ſie das Mareili auslachte. Die Re-
noldin allein war nicht in dieſem Fall; da ſie reich
war, konnte ſie es nicht ſo leicht bey den Leuten
verſchuͤtten, und ſagte bey jedermann, ihrer Ge-
wohnheit nach, heraus, was ihr ins Maul kam,
aber manchmal freylich auch, daß es weder gehauen
noch geſtochen war.
Das Weſentliche dieſes erſten Punkts der Ein-
richtungen, Geſezen und Anſtalten Arners, durch
welche er ſein Volk in Bonnal aus verwilderten
Naturmenſchen zu andern Leuten machte, als ſie
vorher waren, beſtund alſo darinn, daß er in den
dunkeln Lumpenwinkeln des Dorfs allenthalben das
helle Licht des Eins mal Eins anzuͤndete, und ſeine
Leute zwang, in den Sachen ihres Brodkorbs ihre
Augen zu gebrauchen, und auch vor ihren Mit-
dorfleuten diesfalls offen zu erſcheinen, daß weder
die erſten noch die lezten hierinn Gefahr liefen,
[265] weiß fuͤr ſchwarz anzuſehen; kurz, daß er in ſeinem
Dorfe zwang, was der Koͤnig in Frankreich in ſei-
nem Reiche nicht erzwingen koͤnnen, wenns ihm
ſchon Necker angegeben, das Wohl des Volks nem-
lich auf die Offenheit ſeiner Rechnungen zu gruͤn-
den, und an nichts zu glauben, als was ſich zaͤh-
len, waͤgen, meſſen, und dadurch erproben laſſe.
Aber wie iſt es moͤglich geweſen, daß bey der
Menge der Raͤthe, Aufſehern und Weibern in die-
ſem Dorfe, nicht hundert Schwaͤzereyen und Unord-
nungen entſtanden, die alles Gute, das er erzwecket,
zu Nichts gemacht?
— Das war moͤglich —
1) Und vorzuͤglich, weil große kaufmaͤnniſche
Ordnung in dieſem Geſchaͤft war, und vom Groͤ-
ſten bis auf das Kleinſte hinunter allenthalben die
Sache ſelber, und das Eins mal Eins alſo Red
und Antwort, und Licht geben mußte, daß die
Rathsgalle, und das Weibermaul hier nicht dieje-
nige Spielung hatte, welche man ſonſt freylich
beyden in den ehrenden Staͤdten und Doͤrfern un-
ſers immer lieber ſchwazenden als rechnenden Nar-
renmunds allenthalben zu geſtatten, unordentlich
und ſchafskoͤpfig genug iſt.
2) Muß man nicht vergeſſen, der Geiſt des
Menſchen aͤndert, wo man wahrhaft gut mit ihm
[266] umgeht, und dem Volk auffallend zeiget, daß man
durch ſeine Regierungs-Einmiſchung nicht zum
Schein und nur fuͤr ſich, ſondern im Ernſt und
wirklich fuͤr ihns, ſein Wohl ſucht, und Kinder
von Menſchen, die unter harten, dummen, ſie
nichts achtenden, ſie nicht verſtehenden Herren ſind,
wie unbaͤndige Ochſen, und ſich mit keiner Liebe
zu paaren treiben laſſen, folgen wie Schaafe der
Stimme des Fuͤhrers, der ihnen ſeine Volksweis-
heit, Menſchenfreundlichkeit und Vaterſorgfalt er-
probt hat.
Und endlich hatte Arner
3) Alljaͤhrlich einen ſogenannten Sorgfaltstag
fuͤr den Dorfrath und die Aufſeher, der eigentlich
und beſtimmt den gewohnten Herren- und Raths-
Fehlern gewiedmet war. Dieſer Tag war ſo frey,
daß an demſelben unter den Dorfraͤthen und Aufſe-
hern ein gewohntes Wort war, ſie wollen nicht ſo
dumm ſeyn, als Herren, die an ſo vielen Orten
lieber nichts mit dem Volk ausrichten, als ſich ſelbſt
uͤberwinden, ſo mit ihm umzugehen, wie man
mit ihm umgehen muß, wenn man etwas mit ihm
ausrichten will. —
Die dummen Herren — ſagten die Bauern,
und Arner gabs ihnen ins Maul — die dummen
Herren denken nicht daran, daß ſie allenthalben
[267] dergleichen Sorgfaltstage haben ſollten, ſie meynen
vielmehr, das Volk ſollte fuͤr ſie dergleichen Sorg-
falts- und Unterthanen-Tage halten, und darinn
auszirkeln, wie es mit ihren Herren umgehen ſoll-
te; aber das ſey juſt, ſagten die Bauern, wie
wenn die Ochſen, Eſel und Schaafe, dergleichen
Thiertage halten ſollten, um ſich daran zu bera-
then, wie ſie mit ihren Herren, den Menſchen,
umgehen ſollten. — *)
[268]
Dieſer Sorgfaltstag war dem Arner ſehr wich-
tig; er ſezte mit dem Lieutenant eine genaue, und
dieſen Raths- Meiſter- und Herren-Fehlern mit
Staͤrke zu Leib gehende Berathſchlagungs-Form
fuͤr dieſen Tag auf, und machte ſie zur unabaͤn-
derlichen Regel deſſelben; ließ ſich auch durch nichts
abhalten, alljaͤhrlich an demſelben gegenwaͤrtig zu
ſeyn, und ſagte ſeinen Dorfraͤthen und Aufſehern
beſtimmt: wenn ich die Meiſter- Herren- und Raths-
Fehler bey euch einreißen laſſe, ſo ſetze ich den
ſchlimmſten Wurm in das Fundament meines Ge-
baͤudes, der mir alle Augenblicke den wichtigſten
Balken deſſelben, wo ich mich deſſen am wenigſten
verſehe, unterfreſſen kann. — Auch das Weiber-
maul, das, wo es etwas zu regieren hat, leicht
dahin koͤmmt, ſchlimmer noch an dem beſten Bal-
ken zu nagen als keine Herren-Fehler, kam wegen
den 5 Bundsfrauen an dieſem Tage in Betrach-
tung; Arner und ſeine Dorfraͤthe uͤberlegten, wie
bey den Maͤnnern, ob ſich keine im geringſten einen
Ton anmaße, der bey den andern boͤſes Blut
koche. —
[269]
§. 52.
Arner faͤhrt fort mit ſeinen Grundſaͤtzen,
an den Lieblingsfehler unſerer Zeit —
an die Traͤgheit, anzuſtoßen.
Auch ſeine Art, Streit und Prozeß im Dorf vor-
zubeugen, ruhete auf gleichen Grundſaͤtzen. Er
fand, daß die Bauern immer in dem Grad mit
einander leicht in Streit kommen, als ſie unor-
dentlich und nachlaͤßig ſind, es auch an genugſa-
mer Aufmerkſamkeit auf die Sicherheit und Nuz-
nießung ihrer Recht amen und ihres Eigenthums
ermangeln laſſen, und urtheilte alſo: Die wahren
Mittel, Streit und Prozeß bey ihnen vorzubiegen,
beſtehen in ſorgfaͤltigen Bemuͤhungen, ſie in Abſicht
auf ihre Rechtſamen und Eigenthum behutſamer
und ſorgfaͤltiger zu machen, und dahin zu bringen,
daß ſie ſich hieruͤber gegen Niemand bloß geben,
und die Titel, Kennzeichen, Merkmale, und Be-
weisthuͤmer derſelben immer, und gegen jedermann
in der beſten Ordnung zu halten, fuͤr eine ihrer er-
ſten Lebens-Angelegenheiten achten.
Er ließ desnahen auch zu dieſem Endzweck die
Hausvaͤter von Bonnal zuſammen kommen, zeigte
ihnen einen ganzen Abend vom Schlag 1 Uhr bis
[270] nach 6 Uhr, mit dem Pfarrer und dem Lieutenant
drey gleiche Modell von der Einrichtung, Form und
Ordnung eines realen Haus- Rechnungs- und Ei-
genthums-Buchs fuͤr einen Bauern, und nachdem
ſie es alle, und ein jeder recht lang in den Haͤnden
gehabt, und es ſich aller Weitlaͤufigkeit nach von
den drey Herren, auch vom Lindenberger und vom
Untervogt, und andern, die es zuerſt begriffen,
erklaͤren laſſen, und izt ſaͤmtlich und einmuͤthig ein-
geſtunden, ein ſolches Haus- Rechnungs- und Ei-
genthums-Buch wuͤrde die meiſten Streitigkeiten in
den Doͤrfern ſo viel als moͤglich machen, und koͤnn-
te nicht anderſt, als beynahe in allen Faͤllen, faſt
im Augenblick Licht ſchaffen, wer recht habe, er-
kannte er zur Stund, ſie muͤſſen alle ein ſolches
Buch haben und fuͤhren. —
Sie wandten ihm zwar ein, um deßwillen daß
ſie erkennen, es waͤre gut, daß ſie ein ſolches Buch
haͤtten, koͤnnten ſie es noch nicht fuͤhren, und wenn
er drey oder vier finde, die es koͤnnen, ſo werde er
alle bey einander haben. Er antwortete ihnen,
daruͤber wolle er Rath ſchaffen, aber es muͤſſe ſeyn;
und wiederholte ihnen nochmals, daß in einem ſol-
chen Buch nicht blos ihr taͤgliches Einnehmen und
Ausgeben, ſondern auch ihr ſaͤmtliches Eigenthum,
bis auf den geringſten Hausrath, muͤſſe aufgezeich-
net, und bey einem jeden Stuͤck Land die Anſtoͤßer,
die Marchen, die Breite, die Laͤnge, die Haͤge,
[271] (die Zaͤune) die Waſſerfurchen, kurz, eine voll-
ſtaͤndige Beſchreibung mit allen Rechten und Be-
ſchwerden muͤſſe angezeigt werden; und daß, wer
immer ein Recht auf des andern Gut beſizt, dem-
ſelben die Richtigkeit dieſes Rechts, und wie weit
daßelbe gehe, beſcheinen laſſen, und in ſeinem
Hausbuch anerkennen muͤſſe. Auf gleiche Weiſe
muͤßten alle Marchen, Unterſcheidungszeichen, und
die Breite und Laͤnge eines Stuͤck Lands von den
Anſtoͤßern, mit Zuzug des Gaſſenaufſehers und
noch eines Zeugen, gegenſeitig in dieſen Hausbuͤ-
chern unterſchrieben werden. —
Aber wie geſagt, er meynte nichts weniger,
als daß dieſe Einrichtungen blos durch ſeinen Be-
fehl richtig werden; er hielt vielmehr dieſen Befehl
fuͤr eine wahre Nebenſache, von der Arbeit und
Muͤhe, die er erfodere, bis er koͤnne ausgefuͤhrt
werden.
Und gab ſeinen Bonnalern erſtlich Jahr und
Tag Zeit, ſich mit dieſer neuen Ordnung bekannt
zu machen. —
Zweytens, ließ er ſie dieſes ganze Jahr durch,
alle Donnſtag und Sonntag Abends von 4 Uhr
bis zu dem Nachteſſen, durch den Lieutenant, in
der Kunſt dieſe Buͤcher in allen ihren Theilen recht
zu fuͤhren, und ſich auf dem Land und in dem
Haus in allen Stuͤcken ſo einzurichten, wie es die
[272] Fuͤhrung dieſer Buͤcher erfordere, foͤrmlich und ſorg-
faͤltig unterrichten. Der Untervogt und Lindenber-
ger, denen dieſe Einrichtung wichtig war, gaben
ſich alle Muͤhe, dem Lieutenant hierinn zu helfen;
es war dem Untervogt ſo angelegen, daß er laut
ſagte, es ſey ihm fuͤr ſeine 9 Kinder lieber, daß
dieſe Einrichtung zu Stande gekommen, als wenn
man ihm das Buͤrgerrecht in einer Stadt ſchenken
wuͤrde, die kein hoͤlzernes Haus haͤtte.
Drittens, machte der Lieutenant den Unter-
richt uͤber die Einrichtungen dieſes Hausbuchs zu
einem Haupttheile ſeines Schulunterrichts, darinn
er alle Kinder, beſonders diejenigen, deren Aeltern
weder ſchreiben noch leſen konnten, unterrichtete.
Viertens, brachte er vor Ende des Lehrjahrs
15 junge Maͤnner dahin, daß ſie verſprachen, es
uͤber ſich zu nehmen, denjenigen Buͤrgern, die
dieſe Einrichtungen nicht mehr lernen koͤnnen, wenn
ihnen damit gedient ſey, ihre Buͤcher einzurichten,
und zu fuͤhren. Sie fanden ſelber, ſo wenig als
die meiſten Bauern zu rechnen und auszugeben
haben, brauche es in der Woche ein paar Stun-
den, ſo ſey das in der Ordnung.
Fuͤnftens, erlaubte der Junker denjenigen,
die es weder ſelber lernen, noch einem von dieſen
jungen Maͤnnern anvertrauen wollten, jemand,
den
[273]
den ſie ſelber wuͤnſchten, auszuſuchen, der ſie ih-
nen fuͤhren ſoll, und ſo gar ſie durch ihre unter-
wieſenen Kinder, wann ſelbige das 15te Jahr uͤber-
lebt, einrichten und fuͤhren zu laſſen, mit der ein-
zigen Bedingniß, daß ſie woͤchentlich alle Samſtag
vor Sonnenuntergang alles, was ihr Sohn, oder
ihre Tochter, die Woche uͤber in das Buch einge-
ſchrieben, als richtig und der Wahrheit gemaͤß
eigenhaͤndig unterſchreiben mußten. — Im Fall
ſie aber weder Geſchriebenes leſen, noch ſich ſelber
unterſchreiben koͤnnten, ſo mußten ſie ihren Gaſſen-
Aufſeher erbitten, ſolches woͤchentlich, und eben-
falls am Samſtag Abends vor Sonnenuntergang
zu thun, und ſich dann allemal von dieſem Punkt
fuͤr Punkt vorleſen laſſen, was ihre Kinder einge-
tragen haben, und von jedem Punkt beſonders ſich
erklaͤren, daß er der Wahrheit gemaͤß vollkommen
lauter, genugſam, und deutlich ſey.
Hingegen war dann ſechstens ein jeder, der
ſein Haus nicht auf irgend eine oben beſchriebene
Art in Ordnung bringen wollte, als ein unberathe-
licher, unordentlicher, unzuverlaͤßiger und unſich-
rer Menſch, der ſich der Rechten der buͤrgerlichen
Geſellſchaft, weil er nicht in ihre Ordnung hinein
wolle, ſelber begebe, und fuͤr halb wild geachtet
werden muͤſſe, ohne weiters fuͤr unfaͤhig erklaͤrt,
uͤber ſein ererbtes Gut frey zu ſchalten und zu wal-
ten. —
S
[274]
Denn ſo wie Arner die unbegraͤnzte Freyheit
der Menſchen uͤber ihr ſelbſt erworbenes Gut fuͤr
einen billigen Lohn ihrer buͤrgerlichen Tugend und
ihres Verdienſts anſah, ſo hielt er hingegen die
unbeſchraͤnkte Freyheit mit ererbtem Gut zu han-
deln, dem erſten Endzweck der buͤrgerlichen Ver-
bindung, der Gruͤndung und Feſthaltung eines all-
gemeinen Familien-Wohlſtands, der, ſo viel moͤg-
lich, auf Kind und Kindskinder hinunter ſollte ver-
ſichert werden, entgegen ſtreitend; und behauptete,
die Kinder der gemeinen Leute haben auch bey
Lebzeiten ihrer Aeltern ein reales Recht auf die Er-
haltung ihrer noch ſo kleinen Stamm- und Erbguͤ-
ter, und dieſes Recht gruͤnde ſich auf die gleichen
richtigen Grundſaͤtze, nach welchen die groͤßern Fa-
milien ihre Hauptbeſitzungen unveraͤußerlich ma-
chen; und der Staat habe in Abſicht auf das ge-
meine Volk die wichtigſten Pflichten, die Erhaltung
des Erbeigenthums, in der Hand der zeitlichen Nuz-
nießern derſelben, zur Sicherheit ihrer Erbfolger
beſtens zu verwahren. Nach dieſen Grundſaͤtzen
nahm er ſolchen Halbwilden, die in der Verwal-
tung ihres Eigenthums in keine buͤrgerliche Ord-
nung hinein wollten, das Recht ihrer Verwaltung
— und band —
Siebentens, die Freyheit ſeiner Bonnaler an
ihre Hausordnung, an ihr Worthalten, und be-
fahl in dieſem Geſichtspunkt, daß eine jede Schuld,
[275] die innert 8 Tagen von dem Schuldner nicht be-
zahlt werde, von ihm in dem Hausbuch des Glaͤu-
bigers muͤſſe anerkennt, und zugleich der Tag be-
merkt werden, wenn ſie ſolle bezahlt werden, und
ſo dieſes auf den beſtimmten Tag nicht erfolge, ſo
muͤſſe die Unterſchrift innert zweymal 24 Stunden
erneuert, und gleichfalls wieder der Bezahlungstag
beſtimmt werden; wann dann aber derſelbe zum
Zweytenmal fehle, ſo ſtehe es nicht mehr am
Glaͤubiger, die Schuld blos zu erneuern, es muͤſſe
das doppelte Verſaͤumnis des Manns dem Aufſe-
her der Gaſſe, und dieſer dem Dorfrathe anzeigen,
welcher ihn ſogleich unter ſeine beſondere Aufſicht
zu nehmen, und ſo ſich Unordnung und Verwir-
rung in ſeinen Sachen zeige, dieſelben ihm in ein
heiters Licht zu ſetzen habe, dabey aber ſeine Frey-
heit im geringſten nicht antaſten doͤrfe, wann es
ſich nicht finde, daß ein Drittel ſeines ererbten
Guts durchgebracht; in welchem Fall ſie ohne wei-
ters den Verwandten des Manns die obrigkeitliche
Anzeige zu thun haben, daß ſie fuͤr die nicht wei-
tergehende Abſchwaͤchung des Erbguts dieſes Manns
ſtehen muͤſſen. Er behauptete, die Aufrechthaltung
der gemeinen Familie, die dem Staat ſo wichtig
ſey, als diejenige der Großen, koͤnne ohne Sorg-
falt des Staats fuͤr Hausordnung, fuͤr Treu und
Glauben, und Wort halten, unter dem niedern
Volk nicht erzielet werden; und ſagte, die Nacht-
S 2
[276] kappen-Gerechtigkeit, die in ihrer Sorgfalt dem
gemeinen Mann im Land den Genuß der Verdien-
ſten ſeiner Vordern auf Kind und Kindskind hin-
unter ſicher zu ſtellen, nicht weiter geht, als zu
trachten, daß ihm nicht leicht etwas geſtohlen wer-
de; und hingegen jedem Hausvater, der ſeinen
Kindern den Verdienſt ſeiner Vordern zu Grund
richtet, unter dem Titel des heiligen Eigenthums-
recht, Thuͤr und Thor dazu aufthut, eine ſolche
Nachtkappen-Gerechtigkeit laſſe die erſten Quellen
des buͤrgerlichen Wohlſtands zum bodenloſen Sumpf
werden, und mache anbey den armen Leuten, die
mit Lebensgefahr uͤber dieſen Sumpf wandeln
muͤſſen, dann am Ende deſſelben das Anerbieten,
ihnen dann die Schuhe zu putzen, die ihnen in die-
ſem Moraſt kothig geworden, wo ſie ſich nemlich
an der Zollſtaͤtte dafuͤr anmelden, und die Schuh-
putzergebuͤhr bezahlen, oder verbuͤrgen.
Er behauptete, es ſey ein abſcheulicher, und
den erſten Endzwecken der buͤrgerlichen Verbindung
geradezu widerſtreitender, und alle wahre Segens-
kraͤfte der geſellſchaftlichen Bande zerſtoͤrender
Grundſatz, die Regierung und Richterſtuͤhle ſeyen
nicht ſchuldig, einem jeden Narren zu huͤten, der
zu dem Seinigen nicht Sorge trage, und es gern
einem andern uͤberlaſſen moͤge, weil es dem Staat
gleichguͤltig ſey, ob der Hans oder Heiri im Land
reich ſey.
[277]
Dieſes Geſchwaͤz mit dem Hans und dem Heiri
waͤre wahr, wenn es dem Staat gleich ſeyn koͤnn-
te, ob viel oder wenig zerruͤttete Haushaltungen
im Lande ſeyen, und ob das gemeine Eigenthum
in ſtiller, regelmaͤßiger Ordnung zu Jahrhunderten
von Vater auf Sohn und auf Kindeskinder herab-
gebracht werde, oder ob es zwiſchen den Truͤm-
mern ruinirter Haushaltungen, in den wunderlich-
ſten Spruͤngen im Lande herum tanze, und in ei-
nem ewigen Wechſel von Narren zu Schurken hin-
uͤbergehe.
Er kannte des Landes Ungluͤck dieſes Ueber-
gangs des Eigenthums von Narren zu Schurken,
und die Gewalt, welche die Fahrlaͤßigkeit, Leicht-
ſinnigkeit, und Unordnung der gemeinen Dorfein-
wohnern den lezten in die Hand geben, entweder
geradezu ohne Schwertſtreich ſie um das Ihrige zu
bringen, oder ſie in Streit und Prozeß zu verwi-
ckeln, durch welche ſie in Form und Ordnung des
heiligen Rechts, das im roͤmiſchen Reich, und
rund um an ſeinen Graͤnzen ſtatt hat, darum ge-
bracht werden, daß er es fuͤr ſeine wichtigſte An-
gelegenheit achtete, ſein gutes Dorf vor dieſer Ge-
fahr ſicher zu ſtellen.
Achtens: Er erlaubte desnahen keinem Wirth,
keinem Muͤller, keinem Kraͤmer, keinem Schmied,
keinem Baumwollenhaͤndler, kurz, Niemandem,
S 3
[278] der woͤchentlichen und oͤffentlichen Verkehr mit den
Leuten im Dorf hatte, irgend eine Anfoderung an
jemand uͤber 14 Tage in ſeinem Buch haben, ohne
mit dem Schuldner zu Boden zu rechnen, und ſich
die Richtigkeit der Anfoderung von ihm unterſchrei-
ben zu laſſen.
Er kannte den Blutſauger-Kunſtgriff, mit klei-
nen Anfoderungen zu warten, und die Rechnun-
gen mit armen Leuten haͤngen zu laſſen, der in den
Doͤrfern ſo gemein iſt. — Der Schuldner wartet
aus Mismuth und Scham gern, ſo lang er das
Geld nicht hat, und der andere aus Schelmerey,
um ſich der Fahrlaͤßigkeit, Unordnung, falſche
Scham und Muthloſigkeit des Schuldners zu nutz
zu machen, mit doppelter Kreide mit ihm zu rech-
nen; dieſes Landuͤbel, das in allen Gegenden, wo
das Volk unordentlich und unwirthſchaftlich iſt,
faſt keine Graͤnzen hat, fuͤhrt freylich in Zehenma-
len, wo dem Armen Unrecht geſchiehet, ihn kaum
einmal in Streit und Prozeß; aber es ſezt ihn da-
vor Neunmal in die Lage, daß er ſich den Hals
zuſchnuͤren laſſen muß, ohne einen Laut geben zu
doͤrfen, womit freylich dann aller Streit und Pro-
zeß ein Ende hat.
Aber Arner wollte auch die lezte Spur einer
ſolchen Donnersbuben-Gewalt *) die unter ſeinem
[279] Großvater eine ſolche Verheerung in ſeinem Lande
angerichtet, ausloͤſchen. Er richtete darum im
hoͤchſten Grade ſeine Aufmerkſamkeit auf die kleinen
laufenden Rechnungen ſeiner Dorfleute, um es ih-
nen unmoͤglich zu machen, Baͤren anzubinden, und
Jahr und Tag nicht daran zu ſinnen, wie groß ſie
ein Maul haben. Er befahl alſo bey Verluſt der
Schuld, dieſe 14taͤgigen Abrechnungen, auch der
geringſten Kleinigkeiten, nebſt beſtimmter Eintra-
gung der Zahlungszeit, deren doppelte Nichthal-
tung auf oben beſchriebene Weiſe an die Aufſeher,
und von dieſen an den Dorfvogt gelangen mußte.
— Endlich ließ er —
Neuntens, alljaͤhrlich einen jeden Hausvater,
in Gegenwart ſeiner Frauen, ſeiner erwachſenen
Kinder, ſeiner naͤchſten Anverwandten, und des
Aufſehers ſeiner Gaſſe, antworten, ob er in allem
mit jedermann richtig und gichtig, und die Kenn-
zeichen, Titel, Unterſcheidungen und Marchen von
allem, was er beſitze, allenthalben in einer Ord-
*)
S 4
[280] nung ſeyen, daß er beym Leben und Sterben mit
Niemand gefahre, weder wenig noch viel in Streit
zu kommen? Frau, Kind, Verwandte, Nachbarn
und Aufſeher mußten dem Junker beſtaͤtigen, und
dafuͤr anloben, daß ihnen nichts bekannt, das die
Ausſage des Manns in irgend einem Theile zwei-
felhaft und unzuverlaͤßig mache.
Eben ſo mußten die Dorfraͤthe ihm alljaͤhrlich
in der Woche vor Oſtern umſtaͤndlich, und ein je-
der nach einer von dem Lieutenant, auf eine ſei-
nem beſondern Fach angemeſſene und daßelbe in
allen ſeinen Theilen erſchoͤpfende Form, puͤnktliche
Antwort geben, ob ſie wenig oder viel Unſicherheit
und Gefehrden in ihrem Fach uͤberhaupt, oder in
einzelnen Theilen davon ſpuͤren? Und wieder, muß-
ten die Aufſeher an dieſem Tage, nach einer eben
ſo genau ihrer Lage und Beſtimmung anpaſſenden
Form, Antwort geben, ob ſie in den Abtheilungen
ihrer Gaſſen bey irgend jemand Urſach haben zu
vermuthen, daß er in dieſem oder jenem Stuͤck
fruͤh oder ſpaͤt in Streit oder Unordnung gelangen
koͤnne? —
Endlich mußten bey Todesfaͤllen die Aufſeher
von der Gaſſe des Verſtorbenen, ehe der Todte
begraben worden, die ſaͤmtlichen Erben in Gegen-
wart zweyer Dorfraͤthen, der Frau und der er-
wachſenen Kinder der Erben, im Namen des Jun-
[281] kers und von des Dorfraths wegen vermahnen,
bey ihrer Theilung nichts zu verſaͤumen, was kuͤnf-
tigen Streit und Misverſtand vorbiegen koͤnne, und
in allen Sachen, die ihnen nicht glaslauter ſchie-
nen, ſich Raths zu erholen.
Und nach der Theilung, deren Vollendung ſie
zur Stund dem Aufſeher ihrer Gaſſe anzeigen muͤſ-
ſen, wieder alſo verſammelt, mußten ſie anloben,
daß dieſes geſchehen; und waren ferner verbunden,
innert einem Vierteljahr die ganze Theilung in
allen Stuͤcken nach einer ihnen vorgeſchriebenen
Regel in eine vollkommene feſte Ordnung und Si-
cherheit zu bringen. Dieſe Regel ſezte mit um-
ſtaͤndlicher Beſtimmtheit feſt, was in Abſicht auf
alle Theile des laͤndlichen Eigenthums, Aecker,
Matten, Haͤuſer, Guͤlten, und Rechten, wie
Brunnenrecht, Wegrecht, Marchen, u. ſ. w. fuͤr
Aufmerkſamkeit und Sorgfaltsſchritte zu vollkom-
men beruhigender Sicherſtellung aller dieſer Titeln
nothwendig ſey, und wann das Vierteljahr ver-
floſſen, ſo mußten ſaͤmtliche Erben zu Handen des
Junkers bey offener Gerichtsſtelle antworten, ob
und wie ſie dieſe Sicherheits-Regeln in guter Ord-
nung und in allen Theilen allerſeits gegen einan-
der genommen? Und wo die geringſte Fahrlaͤßig-
keit, Leichtſinn, und Unordnung hervor ſchien, da
mußten ſie auf der Stelle zwey Dorfraͤthe erwaͤh-
len, die ſie anhalten und berathen mußten, in die-
[282] ſem Geſchaͤft alſo zu Werk zu gehen, wie wann ſie
Morgen Feinde mit einander wuͤrden, und in La-
gen kommen koͤnnten, wo eine aͤngſtliche Vorſich-
tigkeit gegen einander ihnen unumgaͤnglich noth-
wendig werden koͤnnte.
So bog er den Dorfſtreitigkeiten uͤber das Ei-
genthum vor, und glaubte, auch ihre Haͤndel uͤber
Ehrenſachen kommen von der gleichen Quelle her,
wie ihre Streitigkeiten uͤber das Eigenthum, nem-
lich von ihrer Unordnung. Er behauptete, die
Bauern haben ſicher auch in dem Grad weniger
Ehrenſtreit, als ſie zu ſorgfaͤltigen und ordentlichen
Haushaͤltern gemacht werden; desnahen fand er,
er habe durch die oben beruͤhrte Bildung ſeines
Volks, zu ſorgfaͤltiger Aufmerkſamkeit auf ſein Ei-
genthum und ſeine wahre Rechte, auch den Nar-
reneinbildungen falſcher Ehrenanmaßungen, die
ſonſt freylich auch in jeder Kohlenhuͤtte die groͤſten
Verwirrungen anrichten koͤnnen, ihren giftigſten
Stachel benommen.
§. 53.
Arners Prozeßform fuͤr ſein niederes Ge-
richt in Bonnal, darinn auf Bauern-
geiſt, Bauernordnung, und Art, und
Dorfbeduͤrfniſſe, in Verbindung mit
den Hauptendzwecken der Dorfregie-
rung, Ruͤckſicht genommen wird.
Wann dann alles dieſes nichts half, und alle
dieſe, ſo in ſtiller, einfacher Bewegung laufenden
Triebraͤder der guten Ordnung, dennoch nicht im
Stand waren, in einem beſondern Fall das An-
ſpinnen eines Streits, oder einer Rechtsſache, zu
verhuͤten, ſo gieng denn Arner in dieſem Fall alſo
zu Werk, daß er vor allem aus einen jeden, der
glaubte, er habe das Recht, ſeinen Nachbar entwe-
der rechtlich anzugreifen, oder ihm das abzuſchla-
gen, was jener an ihm ſuchte, vollkommen wohl
erkalten, und zu ſich ſelber kommen ließ, ehe er
ihm erlaubte, gegen ihn ins Recht zu ſtehen, um
auf dieſe Art der gegenſeitigen Anfangs Wildboͤcke-
rey, die faſt immer das erſte und gefaͤhrlichſte Gift
aller Rechtshaͤndeln wird, vorzubiegen; zu dieſem
Ende ließ er Niemanden eine Rechtshandlung an-
fangen, der nicht vorher zweymal, und beydemal
[284] am Morgen vor 8 Uhr, unter 4 Augen mit ſeinem
Gegner uͤber ſeine Anforderung geredt. — Das
Erſtemal mußte dieſes im Haus des Beklagten,
oder wo dieſer gut fand, den Klaͤger empfangen zu
wollen, das Anderemal aber im Pfarrhaus geſche-
hen; aber der Pfarrer mußte ſie bey dieſer Hand-
lung bey einander vollends allein laſſen, und durfte
erſt hernach, wann ſie zu ihm kamen, ihm anzuzei-
gen, daß ſie ſich nicht haben vereinigen koͤnnen,
mit kurzen Worten, ohne im geringſten in ihren
Handel einzutreten, ihnen die Wichtigkeit der Ge-
muͤthsruhe und Kaltbluͤtigkeit in ihrer Lage vor-
ſtellen — und ſo auch dieſes ihre freundliche Verei-
nigung nicht bewerkſtelligte, ſo mußten ſie ſich 8
Tage hernach noch einmal im Pfarrhaus, aber izt
in Gegenwart ihrer beyderſeitigen Gaſſenaufſeher,
eines Dorfraths und des Hrn. Pfarrers ſelber, noch
einmal uͤber ihre Angelegenheit gegen einander er-
klaͤren, und bey allen dieſen Vorerklaͤrungen mußte
alles, was gegenſeitig von beyden Theilen geredet,
anerbotten, und verhandelt worden, fuͤr beyde
Theile als im Rechten unſtatthaft, unverbindend,
und ungefaͤhrlich angeſehen werden, damit in die-
ſen Vorerklaͤrungen weder die Gutmuͤthigkeit noch
die Heftigkeit eines von beyden Theilen ihm ver-
faͤnglich werden koͤnne.
Erſt nach allem dieſem dorfte der Klaͤger ſeine
Klage rechtlich machen, und ſelbige bey dem Un-
[285] tervogt in das Klag- und Streitbuch des Gerichts
eintragen laſſen; hierauf erfolgte die obrigkeitliche
Weiſung zur Beſitzung der rechtlichen Freundlich-
keit, mit welcher alle Rechtshandlungen anheben
mußten. — Im Gefolg dieſer mußte der Klaͤger
am Tag, an welchem er ſeine Klage in das Streit
und Rechtsbuch des Untervogts eingetragen, dem
Beklagten die rechtliche Freundlichkeit durch den
Weibel auf einen der drey naͤchſten Tage, welchen
auszuwaͤhlen bey dem Beklagten ſtund, anſagen,
mit Befehl, laut Geſetzes, zwey ſechszigjaͤhrige
Freundlichkeits-Maͤnner zu erwaͤhlen, und ſie auf
abgeredten Tag und Stund zu ſich kommen zu
laſſen. —
Ein gleiches mußte er den Aeltern, Schwieger-
Aeltern, der Frau, und den Bruͤdern des Beklag-
ten anzeigen, mit obrigkeitlichem Befehl, dieſer
rechtlichen Freundlichkeits-Handlung beyzuwohnen,
um wo moͤglich, ſie in ihrer Streitſache mit Frie-
den von einander zu bringen.
Und auch auf ſeiner Seite mußte er ſeine Ael-
tern, Schwiegeraͤltern, ſeine Frau, und ſeine Bruͤ-
der zu dieſer rechtlichen Freundlichkeit zu ziehen,
laut obrigkeitlicher Ordnung ſie foͤrmlich dazu citie-
ren zu laſſen; auch mußte der Beklagte den aller-
ſeits citierten Leuten ebenfalls den Zutritt zu dieſer
rechtlichen Handlung in ſeinem Haus geſtatten.
[286] Der Ort der Zuſammenkunft war geſezlich bey
ihm, und der Klaͤger war in allweg gehalten, den
erſten Schritt zu dieſer Freundlichkeit zu thun,
deren Form folgende war —
Zu erſt, ehe der Klaͤger mit ſeinen Verwand-
ten und Beyſtaͤndern in das Haus des Beklagten
hineintrat, kam der juͤngere von den ſechszigjaͤhri-
gen Maͤnnern, die dem Klaͤger beyſtunden, zu ſe-
hen, ob man auf der Seite des Beklagten ſich in
der Ordnung anſchicke, den Klaͤger auf eine ehren-
veſte Art zu empfangen, und anzuhoͤren, ob dieje-
nige Perſonen, die obrigkeitlich citiert, da ſeyen,
ob ſich alles geſezt, und kurz, alles in der Ordnung
ſey, welche von Rechtswegen bey jeder ſolchen Hand-
lung vorgeſchrieben iſt. — Wenn er das ſo fand,
ſo dankte er dem Beklagten, daß er ſeinen Klaͤger
als einen Ehrenmann nach Landesbrauch und Ord-
nung friedlich und liebreich empfangen wolle. —
Dann erſt trat der Klaͤger mit ſeinen Verwandten
und Beyſtaͤndern hinein, und er und alle mußten
dem Beklagten und allen ſeinen Leuten, einem nach
dem andern, ohne weiter ein Wort reden zu doͤr-
fen, die Hand bieten, und ſie freundlich gruͤßen;
dann wann ſie ſich geſezt, mußte der Schreiber des
Gerichts, eine vom Lieutenant aufgeſezte Erlaͤute-
rung, wohin alle Rechtshaͤndel den Menſchen, ſo
wohl in Abſicht auf den Zuſtand ſeines Gemuͤths,
als aber ſeines wahren Hausgluͤcks nothwendig hin-
[287] fuͤhren, vorleſen; waͤhrend der Zeit berichtete der
Weibel den Pfarrer, daß alles zur Freundlichkeit
bey einander, dann mußte auch er des Amts hal-
ber erſcheinen; uͤberbrachte, wenn er kam, in der,
einen Hand das Kreuz Jeſu, in der andern einen
Todtenkopf, ſtund ſo in die Mitte der Stuben hin-
ein, und ſtellte, wann der Schreiber mit ſeiner Er-
klaͤrung, wohin die Prozeſſe fuͤhren, fertig war,
das Kreuz Jeſu Chriſti und den Todtenkopf mitten
auf den Tiſch, um welchen die Partheyen herum
ſaſſen, ſagte dann die einzigen Wort — „laſſet
uns bedenken, daß wir Chriſten ſind, und an eine
Auferſtehung der Todten glauben“ —! — Und
einen Augenblick darauf — „Gottes heiliger Geiſt
bewahre euch alle vor aller Ungerechtigkeit, und vor
aller Liebloſigkeit“! — Mit dem bog er ſich nie-
der gegen das Kreuz Jeſu Chriſti, wandte ſein
Angeſicht weg, und gieng aus der Verſammlung
der Streitenden. Dann gab der Schreiber das
Kreuz Chriſti und den Todtenkopf dem Klaͤger in
ſeine Hand, der dann aufſtehen, laut und vernem-
lich ſagen mußte: „Ich habe ernſtlich bedacht,
daß wir Chriſten ſind, die an eine Auferſtehung
der Todten glauben, und daß aller Streit der Men-
ſchen ihre Tage verkuͤrzet“! — Nach dieſem that
der Beklagte das gleiche, und redete die gleichen
Worte. — Dann mußte der Klaͤger abtreten, und
der aͤltere ſeiner zwey ſechszigjaͤrigen Beyſtehern trug
[288] ſeine Klage in gemaͤßigten, und die Ehre des Be-
klagten auf alle moͤgliche Art ſchonenden Ausdruͤ-
cken vor, fragte dann vor allem aus, ob ſie ihn
deutlich verſtanden? worauf der Aeltere der Bey-
ſteher des Beklagten die Klage puͤnktlich wiederho-
len, und ihm ſagen mußte, ſie wollen izt ihrerſeits
den Beklagten daruͤber vernehmen, und dann in
einer oder zwey Stunden ſehen, wie es etwan moͤg-
lich, im Frieden von einander zu kommen! Dann
traten die Verwandten und die Beyſtaͤnder des Klaͤ-
gers ab; der Beklagte blieb ſo lang bey ſeinen Leu-
ten allein, und konnte in dieſer Zeit mit ihnen
uͤberlegen, was er dem Klaͤger antworten, und
Friedens halber etwan anerbieten wolle? Dann,
wann die verabredeten Stunden voruͤber, kam die
Gegenparthie wieder, ſezte ſich an ihren Plaz, und
der Aeltere von den ſechszigjaͤrigen Maͤnnern, auf
Seiten des Beklagten, trug dann in eben ſo ge-
maͤßigten Ausdruͤcken, und ebenfalls die Ehre des
Klaͤgers auf alle moͤgliche Weiſe ſchonend, die Ant-
wort des Beklagten vor, und bot darauf in ſeinem
Namen den Anweſenden einen Friedenstrunk an;
dann trank ein jeder ein Glas Wein, zu erſt auf
das Wohlſeyn des Beklagten, dann auf dasjenige
des Klaͤgers; und nun wurden erſt entweder Schieds-
richter erwaͤhlt, welche die Sache nach ihrem Gut-
duͤnken, und ſo, wie ſie es fuͤr beyde Theile am
Billigſten finden, ausmachen ſollten; oder, wenn
man
[289] man ſich wegen der Wahl der Schiedsrichter nicht
vergleichen konnte, ſo wurden gegenſeitig oͤffentli-
che Vergleichs-Vorſchlaͤge gegen einander gethan,
und diejenige Parthey, welche einen ſogethanen
Vorſchlag von der Hand wieß, mußte die Gruͤnde,
warum ſie dieſes thue, und zugleich ihr leztes
Wort, wie weit ſie ſich den Forderungen und Er-
wartungen des Gegners naͤhern wolle, ſchriftlich
abfaſſen laſſen.
So ſtellte Arner im Anfang der Prozeſſen, wo
die Gemuͤther noch nicht erhitzet, die Unwahrheiten
noch nicht erhaͤrtet, das Geſchaͤft noch nicht ver-
wirrt, und in dem Zeitpunkt, welcher die friedli-
che Auseinanderſetzung der Sache am leichteſten
machte, dem Streitgeiſt ſeiner Bonnaler, den Zwang
ehrenveſter Sitten, die aͤußere Form einer ſteifen
abgemeſſenen Bedaͤchtlichkeit, und hauptſaͤchlich
diejenige religioſe Feyerlichkeit entgegen, welcher
ſich die gewohnte Gerechtigkeit ſonſt bedient, dem
Miſt aller Abſcheulichkeiten verjaͤhrter Troͤlerver-
drehungen zu einer Zeit ein Ende zu machen, wo
beyde Partheyn meiſtens Jahre lang in einer Lage
waren, daß ſie beyderſeits ſo lang kein heiligs Va-
ter Unſer mehr haben beten koͤnnen; aber Arner
wollte keine Gerechtigkeit, die durch die eigentliche
Natur ihrer beſtimmten Rechtsform den Gemuͤths-
zuſtand der Streitenden nothwendig verwildern,
und dann erſt, wann ſie die Menſchen ſo weit ge-
T
[290] bracht, daß weder Feyerlichkeit, noch Religion,
diesfalls mehr einen reinen, beruhigenden Eindruck
auf ſie haben kann, feyerlich und ernſthaft zu wer-
den beginnt. — Er glaubte, man koͤnne nicht zu
viel thun, ſtreitende Bauern lange genug von dem
Schwertſtreich der geſezlichen Rechtsgerechtigkeit
entfernt zu halten, um ſie durch die fuͤr die Bauern
ſicher beſſere Wege ihres auf den gegenwaͤrtigen
Streitfall hingelenkten eigenen Billigkeitsgefuͤhl aus
einander zu bringen.
Aber bey dem allem war es nichts weniger,
als daß er dadurch den ſchwachen, gutmuͤthigen
Beklagten den Klauen des anmaßlichen und frechen
Klaͤgers Preis gab.
Die Steifigkeit, und der langſame, ſchwer-
faͤllige Gang ſeiner Freundlichkeits-Manier, iſt dem
gierigen, frechen, unordentlichen, gewaltſamen
und ungeduldigen Troͤler gar nicht Heu fuͤr ſeinen
Eſel. Wenn man dem Troͤler das Schwert der
harten Gerechtigkeit aus den Haͤnden windet, ſo
verliehrt er ſeine Kraft darob wie Samſon ob der
Freundlichkeit der Jungfrau, die ihn geſchoren.
Das war eins. — Zweytens wurde ein jeder
der zweymal als Angreifer gegen jemand vor dem
Rechten im Ungrund erfunden worden, in ſeinen
Rechten auf 5 Jahr dahin ſtill geſtellt, daß er ſo
[291] lang in keinem Fall ſein Recht gegen jemand an-
derſt, als durch einen ihm obrigkeitlich gegebenen
biedern, beſcheidenen, und nie vor keinem Recht
verfaͤllten Ehrenmann fuͤhren doͤrfte. —
Drittens wurden alle diejenigen, die ſich den
Einrichtungen Arners, in Abſicht auf Hausbuͤcher
und Hausordnung, nicht unterzogen, eben ſo we-
nig fuͤr Rechtsfaͤhig erkannt, und mußten wie die
erſten, wenn ſie an jemand etwas zu ſuchen hat-
ten, ſelbiges durch einen ihnen zugeordneten ordent-
lichen Haushalter verrichten.
Auf dieſe Art war die Troͤler-Race und die
blinden Zaͤnker, die in ihrer Unordnung nicht wiſſen
was ihnen gehoͤrt, und was ſie ſchuldig, bey aller
Gutmuͤthigkeit dieſes friedlichen Rechtgangs gut
am Seil gehalten; auch zeigte die Erfahrung, daß
in dem Grad, als Arners Ordnung ſich in Bon-
nal feſt gruͤndete, ſich auch die Menſchen minder-
ten, die ſich in irgend einer Sache rechtlich zu
belangen ſuchten. Man ſcheute den ſtillen, kalten
Ernſt dieſes Rechtsgangs, den auch kein Stral des
gemeinen Troͤlerfeuers erwaͤrmte, und es ließ es faſt
Niemand bis zum Todtenkopf kommen; je ſchlim-
mer einer war, deſto ſchneller war er auf dieſem
Weg muͤde. —
Leſer! dieſes Muͤdwerden iſt die beſte Lobrede
des Wegs; er dauerte fort. —
T[2]
[292]
Und wer im Anfang ermuͤdete, ſah in Zukunft
nichts beſſers voraus. Die Prozeßform wurde in
dem Grade, als die Partheyen es weiter kommen
ließen, immer druͤckender und beſchaͤmender, und
fuͤhrte ſie in ein Meer von Unannehmlichkeiten,
in dem ſie ſicher in dem Grad oft und viel baden
mußten, als ſie unſauber erfunden worden.
Wenn die rechtliche Freundlichkeit ſie nicht zum
Ziel brachte, ſo mußte der Dorfrath, ehe die Par-
theyen weiter ſchreiten durften, unterſuchen, ob die
Urſache des Streits nicht von ihm, oder von den
Gaſſenaufſehern, oder von den Partheyen ſelber,
haͤtte koͤnnen vorgebogen werden; und es mußte
protokollirt werden, wenn es ſich fand, daß der
Streit ſich durch Verſaͤumnis dieſes oder jenes Vor-
beugungsmittel, oder durch die Fahrlaͤßigkeit dieſer
oder jener Perſonen ſich entſponnen; und dieſen
ward dann von Seiten des Junkers ſein Misfallen
bezeuget, und ihnen angezeiget, man habe um ih-
res Fehlers willen ein beſonderes Recht, von ihnen
zu erwarten, daß ſie ſich die Beylegung dieſer Sa-
che, als ihre eigene, auf die ernſthafteſte Art laſſen
angelegen ſeyn.
Endlich war der Fortgang des Rechtshandels
fuͤr den Betruͤger voller Schlingen, und das Oeffent-
liche aller Handlungen, das Intereſſe ſo vieler Men-
ſchen dagegen, machten die gewoͤhnlichen Kruͤm-
[293]
mungen des gemeinen Rechtsgangs in dieſem Dorf
unmoͤglich.
Wer im Rechtslauf ſich einer Unwahrheit
ſchuldig gemacht, der durfte nicht anderſt als mit
und neben einem Harſchier vor Gericht erſchei-
nen.
Zweytens, man laͤutete an einem Rechtstage,
an welchem eine ſolche Hartnaͤckigkeits-Sache ob-
waltete, in Bonnal die Sturmglocke.
Drittens, mußte der Pfarrer fuͤr ſolche Strei-
tende in der Kirche beten, gerade hinter dem Ge-
bet fuͤr Kranke und Angefochtene.
Viertens, mußte er, wann ein Feſt einfiel,
ihnen anzeigen laſſen, man habe vor Altem Leute,
die im oͤffentlichen Streit miteinander gelebt, nicht
zum Nachtmahl gelaſſen, izt aber koͤnnen ſie kom-
men, wenn ſie ſich nicht ſchaͤmen.
Es war aber nicht dem Pfarrer uͤberlaſſen,
ob er es ihnen wolle ſagen laſſen oder nicht, ſon-
dern gehoͤrte ganz beſtimmt zur geſezlich anbefohle-
nen Prozeßform, durch welche Arner, in Verbin-
dung ſeiner Vorbeugungs-Mitteln dagegen, allem
gerichtlichen Streit in Bonnal ſo viel als den Gar-
aus machte. Die Muͤhe, welche ſolche, dem Ruin
des Hausgluͤckes und der Seelenruh vorbiegende
T 3
[294] Verhuͤtungsmittel den Dorfſtreitigkeiten, und die-
ſem Endzweck angemeſſene Prozeßformen bey den
niedern Gerichten erheiſchen, wird in dem Grad
nicht groß und nicht laͤſtig, als die Vorbiegungs-
mittel und Prozeßformen gut ſind und anſchlagen.
Aber es waͤre mir freylich unbegreiflich, warum
die Menſchen die Muͤhe bey Feuer- und Waſſers-
noth zu helfen ſo gering, und hingegen die Arbeit,
dieſer Noth vorzubiegen, ſo groß achten, wenn ich
nicht wuͤßte, daß das einzige Mittel, ſchlecht erzo-
gene Menſchen aus ihrer Traͤgheit aufzuwecken nur
dasjenige iſt, was auch die Wilden im Wald dar-
aus aufweckt — die gegenwaͤrtige Noth. — Dar-
um aber iſt Arners Prozeßform fuͤr das Ganze der
guten buͤrgerlichen Bildung um ſo viel mehr werth,
in dem ſie eigentlich der Quelle des Uebels, dem
Sinn des wilden und verwilderten Menſchen entge-
gen ſtehend, den weſentlichen Grundſaͤtzen einer
Geſezgebung genug that, die der Gedankenloſigkeit,
dem Leichtſinn, der Traͤgheit, der Unwiſſenheit,
Unuͤberlegtheit, Unordnung, Gewaltthaͤtigkeit und
Verwegenheit eines uͤber ein halbes Jahrhundert
ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Volkes, und der ganzen Ge-
walt eingewurzelter Naturgewohnheiten im Dorf
mit Erfolg entgegen wirken, und ſeine Bonnaler
zu ganz andern Leuten machen ſollte, als der
Menſch von Natur nicht iſt, und ſie unter der
[295] Verwahrloſung ſeines Großvaters nicht werden
konnten.
So umfaſſend der Endzweck dieſer Geſezge-
bung war, ſo that er ihm ein Genuͤgen; er be-
ſchraͤnkte den Hang zum freyen, wilden, unver-
dienten Lebensgenuß von allen Seiten; band die
Befriedigung ihrer Naturtrieben in allen ihren
Theilen an den Zwang des buͤrgerlichen Verdienſts,
und an die Regelmaͤßigkeit der geſellſchaftlichen Ord-
nung:
- Der Trieb zum Eigenthum —
- Der Geſchlechtstrieb —
- Die Liebe zur Freude —
- Der Hang der Ruhe — und
derjenige zur Ehre. —
Mit einem Wort, alle Grundtriebe unſerer
Natur wurden von ihm alle in dieſe Schranken ge-
lenkt, und darinn befriedigt.
[296]
§. 54.
Seine Geſezgebung wider den Diebſtahl.
Nicht wenn du in ſeinem Moraſt wuͤhleſt, ſon-
dern wenn du ſeine Waſſer tiefer legſt, und ihnen
einen ſichern Ablauf giebſt, trockneſt du einen
Sumpf auf.
Arner machte den Arbeits-Fleiß in Bonnal
eben ſo leicht als angenehm und befriedigend. Das
Dorf hatte nicht mehr und rechnete nicht mehr blos
von der Hand ins Maul; auch der Arme hatte izt
Vorrath und Eigenthum, und darum war ihnen
allen Ordnung und Sicherheit wichtig; ein jeder,
und auch der Aermſte ſah, daß er ſeine Kinder mit
Sitzen und Spinnen weiter bringe als mit Strol-
chenmuth und Raͤuberordnung.
Die erſte Quelle des Diebſtahls, des Gewalts
der Reichen, die in der Unordnung des unwirth-
ſchaftlichen Volks, den Frevel zu ihrem Morgen-
brod, und den Diebſtahl zu ihrem Abendeſſen mach-
ten, war gehoben; die Leute hatten weniger Grund
und weniger Anlas zu ſtehlen; und viele, die es
ehedem ſelber gethan, ſagten nunmehr, es muͤßte
izt einer ein Narr ſeyn, wenn er es thun wuͤrde.
[297] Arner ließ Niemanden am Nothwendigen Mangel
leiden, und Niemanden durch unvorgeſehene Be-
duͤrfniſſe in Verwirrung kommen.
Die Einſicht, die er in alle Theile der Dorf-
haushaltung hatte, und die Ordnung und das
Licht, das er in ihre Verwaltung hineinbrachte,
ſezte ihn in den Stand, ſo vieles leiſten zu koͤnnen.
Er gab bey uͤberhandnehmendem Holzmangel ih-
nen die Freyheit, in ſeinen Waldungen die alten Stoͤcke
auszugraben; ſchafte ihnen große ſtarke Ausſtockungs-
Inſtrumente an; und damit ſie der Aermſte wie der
Reiche genieße, mußten ſie die Vorgeſezten der Reihe
nach den Haushaltungen zu dieſem Gebrauch zuſtel-
len. Eben ſo mußten die Gaſſenaufſeher von Haus zu
Haus unterſuchen, ob die Feuerſtaͤtte zu Erſparung
des Holzes gut eingerichtet; ob die Mauern, Waͤn-
de, Tielen ihrer Stuben die Waͤrme halten? Den
Vermoͤglichen, die etwas hieran mangeln ließen,
ſchlug er das Gnadenholz ab, den Unvermoͤglichen
half er zur Nothdurft ſelbſt darzu; aber dann ahn-
dete er den Holzfrevel in dem Grade ſtreng, als
es dem wahren Beduͤrfnis des Volks hierin ein Ge-
nuͤgen geſchah, und uͤberhaupt den Reiz zum Raͤu-
berleben minderte. Er ſtrafte den Holzfrevel wie
Diebſtahl, und das naͤchtliche Rauben deſſelben;
das Umhauen junger Staͤmme mit kleinen Saͤgen,
das Umbinden der dickern mit Seilern, den Ton
[298] des Schlagens zu hemmen, und das Wachtſtehen
an den Graͤnzen des Walds, waͤhrend des Fre-
vels, wie Einbruch und Feldraub.
Je weiter die Vernachlaͤßigung einer Sache
eine Haushaltung fuͤhren konnte, deſtomehr Sorg-
falt wandte er darauf, alle Jahr alle Haͤuſer un-
terſuchen zu laſſen, ob und wie weit ſie baufaͤllig
ſeyen, und einem jeden Eigenthuͤmer durch ſeinen
Baumeiſter Bericht abzuſtatten, wie weit er ohne
Gefahr groͤßern Schadens mit einer jeden Ausbeſſe-
rung noch warten koͤnne oder nicht, was fuͤr und
wie viel Baumaterialien er dazu brauche, und wie
er ſie mit den wenigſten Koͤſten und am kommlich-
ſten zur Hand bringen koͤnne. Er that das gleiche
mit ihrenSchwellen, Waſſerruͤnzen u. ſ. w. um in
allen Theilen ihrer Wirthſchaft mit Sorgfalt zu
verhuͤten, daß ſie nicht von unerwarteten groͤßern
Ausgaben ſchnell uͤberfallen wuͤrden.
Das machte einen Unterſchied; die Leute baue-
ten zur rechten Zeit, und ums halbe wohlfeiler und
beſſer; und er wußte bey ſeiner guten Ordnung
von einem jeden, der etwas verwahrloſete, oder zu
Grund gehen ließ, wie wenn er an ſeiner Thuͤr zu
wohnte, und ließ es nie zu weit kommen.
So bog er durch die Kraft einer Ordnungs-
vollen und dadurch wahrhaft weiſen Verwaltung
[299] aller Verwirrung ihrer aͤußern Umſtaͤnden, die ſie
zu Dieben machen koͤnnte, vor; aber er wußte da-
bey, daß auch dieſes nichts helfen wuͤrde, wenn ſie
nicht von fruͤher Jugend auf zu einem ordentlichen
buͤrgerlichen Beruf, und zu einem ſichern Erwerb
ihres Brods wohl angezogen wuͤrden.
Er ſtellte desnahen nicht einem jeden Narren-
vater und einer jeden Narrenmutter frey, ob ſie
aus ihren Kindern Etwas oder Nichts machen
wollen, und ſagte gerade zu: er wiſſe nicht, was
eine Obrigkeit im Land nuͤtze, wenn alles Lumpen-
volk das Recht habe, ſeine Kinder ſo aufwachſen
zu laſſen, und ſo zu verwahrloſen, daß ſie zu kei-
ner Art buͤrgerlichen Berufs und Brods-Erwerbs
recht tuͤchtig, nicht anderſt koͤnnen, als ihre Na-
turbeduͤrfniſſe auſſert dem Gleis der buͤrgerlichen
Ordnung befriedigen zu ſuchen, und alſo ſo viel
als nothwendig ein Lumpen- und Schelmenvolk
abgeben muͤſſen. Er wollte es nicht ſo; er ließ
ſich von allen Hausvaͤtern, ſo bald ihre Kinder 7
Jahr erreicht haben, Antwort geben, was ſie aus
ihnen machen wollen; und der Dorfrath mußte
jaͤhrlich Erlaͤuterung geben, wie die Erziehung ei-
nes jeden Kindes dem Endzwecke, den ſeine Aeltern
mit ihm haben, entſpreche oder nicht? Das Licht
und die Heiterkeit, die er in die Hausumſtaͤnde ſei-
ner Bonnaler hineingebracht, hinderte dann den
Diebſtahl mit Kraft. Es ſah izt ein jeder in allen
[300] Theilen richtiger ein, was ſeine Umſtaͤnde erleiden
moͤgen, und was ſie nicht erleiden moͤgen. Und
die unvernuͤnftige Hoffart der Armen, ſich in Klei-
dung, Eſſen und Trinken den Reichen gleich zu
ſtellen, nahm ſichtbar ab; man ſchaͤmte ſich das
zu ſcheinen, was jedermann wußte, das man es
nicht war; man ward darob ausgelacht; denn die
Kinder machten in der Schule ſich nichts daraus,
dem erſten beſten, das alſo Hoffart ſpiegelte, zu
ſagen: du haͤtteſt dein Geld leicht an etwas beſſers
anwenden koͤnnen, als an dergleichen Narrenzeug;
und er hatte im Dorf unter allen Leuten das
Spruͤchwort aufbringen koͤnnen: Seine Kinder wohl
ſetzen, ſey die beſte Hoffart.
So griff er der Quelle des Diebſtahls, der
Unordnung, der Rechnungsloſigkeit und Liederlich-
keit von allen Seiten ans Herz.
Wer ſeine Wirthſchaft nicht wohl verwaltete
— wer keinen taͤglichen Verdienſt hatte, und ſich
einrichtete, daß man ihm vorrechnen konnte, daß
er mehr ausgebe, als er einnahm; wer ſich in
Haͤndel miſchte, die ihn nichts angiengen, wer
fremden Leuten Unterſchlauf gab, wer bey ver-
ſchloſſenen Thuͤren ſpielte, kurz, wer ſich durch er-
wieſene Handlungen verdaͤchtig und gefaͤhrlich er-
zeigte, der ward auch von Obrigkeits wegen fuͤr
gefaͤhrlich und verdaͤchtig geachtet; und wenn er
[301] auf gedoppelte Warnung in ſeinem Fehler fortfuhr,
dem Dorfrath zu beſonderm Aufſehen empfohlen,
und dann dorfte der Harſchier bey Tag und bey
Nacht zu jeder Stund in ſeinem Haus erſcheinen,
und bey ihm ausſuchen was er wollte.
Auch nahm der Junker allem fremden Geſin-
del, das unter der alten Dorfregierung als abge-
dankte Schloß-Schuhputzer, Kammerdiener, Kam-
mermaͤgde, Peruͤquenmacher und dergleichen, mit
dem ganzen Gefolg von Toͤchtern, Maͤgden, in
ſeinen Doͤrfern eingeniſtet, die Bewilligung, ſich in
der Herrſchaft aufzuhalten; gab ihnen ſaͤmtlich ei-
nen Laufpaß bis auf die naͤchſte Stadt, und den
Doͤrfern auf der Stelle einen Freyheitsbrief und das
Recht, zu ewigen Zeiten nicht ſchuldig zu ſeyn, ei-
nem Herrſchaftsherrn eine fremde Manns- oder
Weibsperſon wider ihren Willen abzunehmen, und
auf ihren Doͤrfern ſitzen zu laſſen
Auch die Lumpenwaͤchter, mit den rothen Na-
ſen und roſtigen Spießen, hob er auf; ſezte aber
an den Graͤnzen der Herrſchaft allenthalben Huͤt-
ten, bey denen er Tag und Nacht fuͤnf bis ſechs
Maͤnnern abwechſelnd Arbeit gab, mit Kohlen
brennen, Holzſagen und ſpalten, die dann zugleich
Wachtdienſt thun mußten. Eben ſo mußten die
Schloßwachten mit ihren alten rothen Roͤcken ihm
ab den Augen. Er konnte Menſchen, die an Leib
[302] und Seel ſo unnatuͤrlich verlaͤhmet waren, wie dieſe
Ueberreſte von verfauleten Muͤßiggaͤngern, nicht
vor Augen leiden; er ſorgte aber fuͤr ihr Maul, ſo
lang ſie noch herumkriechen wuͤrden; ſie dankten
ihm unterthaͤnig, und waren nicht mehr Waͤch-
ter. —
Unter dieſen Vorſorgen konnte es nicht anderſt
ſeyn, das Staͤhlen mußte abnehmen, und der Jun-
ker machte den Abſcheu dagegen, ſo wie gegen alle
Arten von Liederlichkeit und Unbrauchbarkeit auf
alle Weiſe rege; und ein Kind, das in der Schule
nur einen Apfel, oder ein Mund voll Brod einem
andern genommen, oder auf der Weyd nur eine
Erdapfelſtaude ausgeriſſen, entgieng einer oͤffentli-
chen Auslacherſtrafe nicht. Bey dem kleinſten
Diebſtahl kam das ganze Dorf in Bewegung; die
Gaſſenaufſeher kamen zuſammen, die geringſten
verdaͤchtigen Umſtaͤnde mußten verantwortet, die
Moͤglichkeit, der Sache auf die Spur zu kommen,
von allen Seiten erforſcht, und alle Sorgfaltsan-
ſtalten fuͤr die oͤffentliche Sicherheit von neuem ge-
pruͤft und in Thaͤtigkeit geſezt werden; und wenn
ein Diebſtahl entdeckt war, ſo war geſezlich befoh-
len, daß das Dorfgericht keinen Umſtand unerforſcht
laſſe, wie die Perſon zu dieſer landsgefaͤhrlichen
Gewohnheit gekommen, welche in dem Fall betre-
ten worden, wie weit ihre Erziehung daran
[303]
Schuld, und wie lang ſie den Fehler getrieben,
wie ſie jede einzelne That vor den Aufſehern, vor
den Hausleuten, und Nachbarn habe verbergen
koͤnnen, wer den eint oder andern Fehler mehr
oder minder nothwendig haͤtte merken ſollen, und
nicht gemerkt? Ferner, in wie weit die Liederlich-
keit und Unordnung des Beſtohlnen, oder ſeiner
Hausleute, Gelegenheit zum Diebſtahl gegeben?
Eben ſo, wie weit er verfuͤhrt, und durch die oder
dieſe Umſtaͤnde zu den Fehlern, die ihn uͤberhaupt
zum Diebe gemacht, oder au chzu der beſondern
Diebshandlung verleitet worden? Dieſem allem
ward mit druͤckender Umſtaͤndlichkeit geſezlich von
Gerichts wegen nachgeforſcht.
Und wenn es ſich fand, daß einer den Dieb-
ſtahl nothwendig haͤtte merken ſollen, und ihn nur
durch ſeine Liederlichkeit, Nachlaͤßigkeit, und Un-
aufmerkſamkeit nicht gemerkt, ſo ward er vor
offenem Gericht ermahnet, in Zukunft ſeine fuͤnf
Sinnen zur oͤffentlichen Sicherheit alſo zu brau-
chen, wie er wuͤnſchen werde, daß ſeine Mitbuͤr-
ger ſelbige zu der ſeinigen brauchen.
Fand ſich, daß einer den Diebſtahl durch wirk-
liche Fehler von einem unordentlichen, liederlichen
Leben moͤglich gemacht, ſo ward er vor offenem
Gericht, als Miturſaͤcher des Diebſtahls, verur-
theilt, einen Theil der Schande mit dem Gefange-
[304] nen zu theilen, ihm in ſeiner Gefangenſchaft abzu-
warten, und ſo ihm auch einen Theil ſeiner Leiden
zu erleichtern, wie er ihm einen Theil ſeines Diebs-
und Schelmen-Lebens erleichtert.
Fand ſich aber gar, daß einen ſolchen beſtimmte
Verfuͤhrungs-Handlungen zu einem Dieben gebil-
det, und ihn einer zu gottloſen, ehrvergeſſenen Hand-
lungen, entweder in ſeinen Dienſt misbraucht,
oder ihn um Geld dazu gedungen, oder ihm mit
Wiſſen Vorſchub dazu gethan, ſo ward der geſezlich
verurtheilt, fuͤr die Gefahr, welcher die menſchli-
che Geſellſchaft von einem ſolchen notoriſch ver-
fuͤhrten Menſchen ausgeſezt iſt, zu haften, und
nach Maßgebung der Umſtaͤnde der Obrigkeit zu
helfen, daß er verſorgt, und die Geſellſchaft vor
ihm ſicher geſtellt werde.
Ueberhaupt aber beſtimmte er die Strafe des
Diebſtahls nichts weniger, als nach dem Geldwerth
des Geſtohlenen, der meiſtens zufaͤllig iſt; ſondern
hauptſaͤchlich nach dem Grad des Lumpen- und
Tagdieben-Lebens, deſſen der Dieb ſchuldig erfun-
den worden.
Es iſt nicht ſowohl der Raub eines elenden
Stuͤck Geldes, als das Austreten aus dem Gleis
der buͤrgerlichen Ordnung, was den Menſchen ei-
gentlich entehrt; darum brauchte er weder Strick
noch
[305] noch Schwert gegen ſein Volk nach der Schatzung
der Pfennigen, ſondern ſuchte es vielmehr auch bey
der Beſtrafung des Diebſtahls auffallend zu ma-
chen, daß nicht die einzelne Handlung des Dieben,
ſondern ein ungewerbſames, Verdienſt- Ordnung-
Regelmaͤßigkeit- und Ehrloſes Leben der eigentliche
Grund des Rechts ſey, Vermoͤge deſſen ein Menſch
aus der buͤrgerlichen Geſellſchaft ausgeſtoßen, oder
darinn angebunden werden muß.
Desnahen auch die kleinen Anfaͤnge des Dieb-
ſtahls der Geſellſchaft eben ſo wichtig ſind, als die ſpaͤ-
tern groͤßern Ausbruͤche derſelben; und Arner hielt
die Geſetze, die gegen die Anfaͤnge dieſes Laſters
ſchwach, und gegen die ſpaͤtern Ausbruͤche deſſel-
ben hart, ſo wie diejenige, die die Strafe des Feh-
lers blos von dem zufaͤlligen Geldwerth des Ge-
ſtohlenen abhaͤngig machen, fuͤr widerſprechend
mit allen Regeln einer wahren Menſchenfuͤhrung,
und ſagte, eines Bauern Frau ſchaͤmt ſich, ein
Kind, das uͤber 7 Jahr alt iſt, vor den Leuten we-
gen ſeiner Ungezogenheit abzuſtrafen, ſie fuͤhlt, daß
ſeine Ungezogenheit auf ſie zuruͤck faͤllt; aber die
erſte Tochter des Himmels, die Geſezgebung, ſchaͤmt
ſich nicht, tauſend buͤrgerliche Abſcheulichkeiten
oͤffentlich zu beſtrafen, wovon keine einzige moͤglich
waͤr, wenn die Herren Voͤgte dieſer Himmelstoͤch-
ter, und ihre nachgeſezten Verwalter, den Detail
der Volksordnung ſo gut beſorgten, als eine brave
U
[306] Bauersfrau den Detail ihres Hauſes beſorgen
muß, wenn ſie nicht Schande davon haben will.
Es iſt eine Schande, man laͤßt alles Unkraut
wachſen, bis es erſtarket; dann wuͤhlet man mit
der oͤffentlichen Gerechtigkeit unter dem verheerten
Volk wie die wilde Saͤu im Korn, und meynt
noch, mit dieſer Schnoͤrren-Arbeit die hoͤchſte Weis-
heit der buͤrgerlichen Geſezgebung erreicht zu ha-
ben. Man laͤßt es an allem, was zur Erzielung
einer wahren buͤrgerlichen Ordnung in der Tiefe
des Volks nothwendig waͤre, ermangeln, und
wundert ſich dann, warum man mit keinen Galeen
und Zuchthaͤuſern ſo wenig als mit dem alten Gal-
gen dahin komme, wohin, ſo lang die Welt ſteht,
keine Obrigkeit ohne gute und allgemeine Einrich-
tungen fuͤr die Bildung des Volks niemals gekom-
men iſt, und niemals kommen wird. *)
[307]
Aber ich fahre fort. — Die Menſchen moͤ-
gen ſich ſelber ſchaͤnden, mein Buch ſoll keine
Schmaͤhſchrift auf ſie ſeyn, ſo ſchwer es iſt, keine
uͤber ſie zu ſchreiben.
§. 55.
Seine Geſezgebung wider den Geſchlechts-
trieb.
Beydes, Scham und Vernunft, ſind Folgen des
Eigenthums, und des auf demſelben ruhenden Vor-
ſchritts der Ausbildung unſerer Natur. Der
Menſch, in ſeinem wilden Zuſtand eben ſowohl als
in ſeiner buͤrgerlichen Verwilderung, zeiget kaum
leichte Spuren dieſer in ihm liegenden Vorzuͤgen
ſeiner Natur.
Nicht das, was der Menſch weißt, macht ihn
vernuͤnftig; es iſts ſein feſter, kalter Fels im Kopf,
ſeine Uebung im Zaͤhlen, Waͤgen, Meſſen, For-
ſchen, und die Richtung ſeines Geiſtes nicht zu re-
*)
U 2
[308] den, nicht zu urtheilen, vielweniger zu handeln,
bis er erwogen, ermeſſen, erforſcht, und berech-
net, das iſts, was ihn unter ſeinen Mitmenſchen
vernuͤnftig darſtellt.
Eben ſo beſteht eine wahre Scham in ſeiner
Sorgfalt in dem, was er redt, urtheilt, handelt,
und leidet, darauf zu achten, daß es nicht unuͤber-
legt, unbedacht, und unerwogen ſcheine.
Beydes, Vernunft und Scham, finden als
Kinder des Eigenthums ihre erſte, beſte und rein-
ſte Nahrung an der Bruſt ihrer Mutter; und ſo
wohl der Uebergang von den Fehlern des Naturle-
bens, als die Verhuͤtung der Verwilderung des
Menſchen in der Geſellſchaft, iſt im Allgemeinen
durch nichts ſicherer zu erzielen, als durch eine weiſe
Bildung deſſelben zur guten Beſorgung ſeines Ei-
genthums, in dem er durch nichts beſſer, als durch
Einlenkung ſeiner Kraͤften auf dieſen Punkt, zu
derjenigen Bedaͤchtlichkeit, Vorſicht, Ueberlegung
und Ordnung gebracht werden kann, ohne welche
weder wahre Vernunft, noch wahre Scham, im
buͤrgerlichen Leben Plaz haben kann.
Desnahen ruhen die Regeln einer weiſen Ge-
ſezgebung fuͤr die Erhaltung und Bildung der wah-
ren Schamhaftigkeit auf den gleichen Grundſaͤtzen,
auf denen auch diejenigen gegen den Diebſtahl ru-
[309] hen. Auch ſchlug Arner vollends den gleichen Weg
ein, gegen die Fehler des Geſchlechtstriebs zu wir-
ken, welchen er mit ſo vielem Erfolg gegen die
Fehler des Diebſtahls gebraucht; und die allge-
meine Bildung der Aufmerkſamkeit auf alle Arten
der Tagsarbeit, feſte Uebung in allen Theilen des
Fleißes und der Ordnung, ſorgfaͤltige Achtſamkeit
auf das Urtheil ſeiner Mitmenſchen in allen Stuͤ-
cken der taͤglichen Thaͤtigkeit, das waren die erſten
Fundamente ſeiner Keuſchheits-Geſezgebung.
So geliebt und beſorgt das Kind in der Wie-
ge war, ſo mußte es ſich dennoch an feſte Regel-
maͤßigkeit in ſeiner Beſorgung gewoͤhnen, und in
den erſten Tagen ſeines Daſeyns lernen, ſich uͤber-
winden und ſchweigen, bis nach der harten buͤr-
gerlichen unbiegſamen Zeitrechnung ihm die Stun-
de fuͤr eine jede Sache in ihrer Ordnung anruͤckt.
Und da es aus der Wiege in die Schule kam,
ſo warteten ſeiner auch da die gleichen Bande des
buͤrgerlichen Zwanges, ohne welche die gute Be-
ſorgung des Eigenthums, worauf die innern Kraͤfte
der buͤrgerlichen Einrichtungen ruhen, unmoͤglich
iſt; es war in derſelben in einer taͤglichen Uebung
fuͤr ſeine Ehre aufmerkſam zu ſeyn; es ward fuͤr
jede Unordnung, fuͤr jede Nachlaͤßigkeit beſchaͤmt:
unter der Hand des Lieutenants erroͤtheten die Kin-
der ob jedem kleinen Flecken Dinten, der ihnen auf
U 3
[310] die Schrift fiel; es waren darunter, die, weil ſie
unordentliche Muͤtter hatten, am Samſtag die
halbe Nacht durch auf waren, zu waſchen und zu
flicken, daß ſie am Montag mit Ehren wieder in
die Schule gehen doͤrfen; und es haͤtte ſich keines
unterſtanden ihm zu ſagen, es koͤnne etwas, wenn
es noch ein Woͤrtchen daran gefehlt, oder ihm ei-
nen Buchſtaben in der Schrift als recht vorzuwei-
ſen, zu dem es nicht alle Sorgfalt getragen, ihn
recht zu machen; ſie waren daran gewoͤhnt, das
Langweilige wie das Kurzweilige, mit der Feder
wie mit der Nadel, zehen- und zwanzigmal zu pro-
bieren, bis es recht war. —
Die Schande, ſeinen Feyerabend nicht zu ha-
ben, die Nothwendigkeit, das Verſaͤumte vor dem
Schlafengehen nachzumachen, die Ehre, in jedem
anbefohlnen und vertrauten Geſchaͤft ſich keinen Feh-
ler, keine Ungeſchicklichkeit vorwerfen zu laſſen,
die Aufmerkſamkeit in allem, bis auf Kleidung und
Geraͤth, Tadel-frey zu erſcheinen, mit einem Wort,
das Weſentliche der wahren Berufsbildung und
Hausweisheit, legte den Grund der Kraͤfte der
Schamhaftigkeit, auf welche Arner ſeine Geſezge-
bung gegen die Verwirrungen des Geſchlechtstriebs,
vom Liebaͤugeln hinauf bis zum Kindermord gruͤn-
dete, in dem er der Gewaltſamkeit dieſes Triebs
durch Uebung in Bedaͤchtlichkeit und Ordnung ent-
gegen arbeitete, ehe er da war — kam er dann,
[311] ſo fand er ſein Haus buͤrgerlich gewiſcht und ge-
ziert; und der Herr des Hauſes hatte Kraͤfte, den
boͤſen Geiſt an die reinliche Ordnung, die einmal
in ſeinem Haus Uebung war, zu gewoͤhnen, und
ihn allfaͤllig, wenn er poltern wollte, an die Ket-
ten zu legen.
So wenig, als gegen den Diebſtahl, wuͤhlete
er blos im Sumpf; er legte ſeine Waſſer tiefer,
und gab ihnen ſichern Ablauf. Er erneuerte wieder
die alten Dorfſitten, die der Unſchuld und dem ſpaͤ-
ten Reifen der Kinder ſo nuͤzlich waren.
Thereſe redete mit den beſcheidenſten Frauen,
wie ſchaͤdlich die neumodiſchen Geheimnismache-
reyen, und das Verbergen des Saugens in der
Wohnſtube der Kinder ſey, und wie viel unſchul-
diger ſie aufwachſen, wenn die Muͤtter hieruͤber
ohne Scheu ihre Pflicht thun; auch brachte ſie es
dahin, daß eben dieſe Muͤtter, mit einem ganzen
Kreis erwachſener Toͤchter des Dorfs, die Ehren-
feſtigkeits-Regeln verabredeten, nach welchen eine
brave Tochter den Knaben, der ſie in Ehren ſucht,
Schritt fuͤr Schritt naͤher kommen laſſen doͤrfte —
wie den neueingeriſſenen Frechheiten mit Wein und
Geſchenken auf einmal, durch eine allgemeine Ab-
rede, abzuhelfen ſey. — Die Toͤchter lachten, und
den Knaben ward es ganz recht, daß einmal eine
Ordnung in ihr Weiberſuchen hinein komme; ſie fan-
U 4
[312] den ſelber, die wilde Schweinordnung, die ſo oft
Tod und Mordſchlag veranlaſſet, mache ſie zu ehr-
loſen Leuten. Und durch dieſe Abrede veranlaſſet,
verbanden ſich die jungen Leute auf beyden Seiten
zu einem Ehrenſtand, und wurden, indem ſich die
Gefuͤhle ihres Alters von Muth und Ehre unter
dieſen Umſtaͤnden in ihnen immer mehr entwickeln
mußten, ſich ſelber, in Abſicht auf den Geſchlechts-
trieb, die beſten Waͤchter unter einander.
So leicht Arner ihnen im Gleis der buͤrgerli-
chen Ordnung die Ehe machte, ſo feſt band er ſie
an dieſelbe. Von Jugend auf erlernten ſie die Be-
griffe, ſie muͤſſen die Ehe verdienen wie ihr Brod.
Im Schulbuch ihrer Kindheit lernten ſie ſchon,
was eine Haushaltung koſte, und was ſie in ge-
ſunden und kranken Tagen fuͤr ein großes Maul
habe? Aber nicht minder, wie ein jeder Menſch
von ſeinem ſiebenden Jahr an zu dieſen nothwen-
digen Ausgaben ſich vorbereiten, und wie viel er
bis in ſein zwanzigſtes Jahr dazu erſparen und
beyſeits legen koͤnne, wenn er es recht anſtelle.
Schon im vierten Jahr ſpielten die Maͤdchen in
Bonnal mit ihren Puppen, und ſpaͤter mit ihren
kleinern Geſchwiſterten auf der Gaſſe und in der
Stube die Hausmuͤtter, und der Knaben erſtes
Spiel war der Hausvater, der ſeinen Buben ſag-
te, wie er ein rechter Bub ſeyn muͤſſe, und ein
rechter Mann werden koͤnne! Wenn ein Kind 7
[313]
Jahr alt war, fiengen alle Ehrenmuͤtter ſchon an,
ihm an ſeinem Ausſteuerzeug vorzuarbeiten, und
im vierzehenden Jahr zeigten ſie es ihnen das Er-
ſtemal auf eine feyerliche Art, gewoͤhnlich am Abend
eines heiligen Feſts, und zugleich die Rechnung,
was ſie ſelber in ihrem Leben vorgeſpart. Der
Pfarrer mußte an einem ſolchen Tage ſelber da
ſeyn, und redete dann mit dem Kind in Gegenwart
ſeiner Aeltern, uͤber die Nothwendigkeit in dieſem
Alter, mit beſonderer Sorgfalt auf ſich ſelber acht
zu geben, bat dann Gott um ſeinen Segen zu die-
ſem Anfang eines ehrlichen braven Hausweſens,
und uͤbergab dem Kind in dieſer Stunde ein kleines
Buch, das den Titel hatte, „der abgemahlte
Chriſtenweg zu einem gluͤcklichen Eheſtand, und der
abgemahlte Jammer des wilden Heidenlebens.“
Das Buch war ein Erfahrungsbuch, darinnen
ihnen, nicht uͤbertrieben, aber deutlich vor Augen
gemahlt waren, die Freuden eines ordentlichen
Hauslebens, von den Jugend-Jahren an bis ins
hoͤchſte Alter, die fromme Sorgfalt, vom vierzehn-
den bis ins zwanzigſte Jahr nicht verfuͤhrt zu wer-
den, und das Gluͤck der Menſchen, im reifen Al-
ter durch das lange Thal des Lebens mit unbeſchol-
tenem Haupte einher zu gehen, und im Greiſenal-
ter im Angeſichte ſeiner Kindeskinder keines ſeiner
grauen Jahre mit Schande befleckt zu haben, und
am Rande des Grabs mit frohem Herzen auf die
[314] Nachwelt zuruͤck ſehen zu doͤrfen, und keines ſeiner
von Gott vertrauten Kindern durch ſeine Thorheit
und ſeine Lebens-Fehler an Leib und Seel verderbt
und ungluͤcklich zu wiſſen — und dann im Ge-
gentheil das Bild, der vom vierzehnden bis ins
zwanzigſte Jahr verlohrenen Ehre und Scham einer
Bauerstochter und eines Bauerknaben mit ihren
Folgen auf Leib und Seel, auf Haus und Hof,
auf Kind und Kindskinder, in allen Umſtaͤnden
des Wohlſtands und der Armuth, und in allen
Zeitpunkten des Lebens, vom zwanzigſten bis ins
ſiebenzigſte Jahr, eben ſo kanntlich abgemahlt.
Berechnet Leſer! die Wirkung dieſes Buchs
— es war recht gemacht — nicht einzig — ihr
muͤßt es in Bonnal in Verbindung mit allem Uebri-
gen, was Arner fuͤr ſein Volk that, berechnen,
und glaubet mir, ſeine Wirkung war groß; es
war dem jungen Volk uͤber dieſen Punkt zufoderſt
im Maul, es muͤßte einer unglaublich unvernuͤnf-
tig ſeyn, ſo er ſich, wie die Sachen izt ſeyen, mit
dieſem Fehler in Gefahr begeben wuͤrde, das ganze
Gluͤck ſeines Lebens in die Schanz zu ſchlagen.
Das junge Volk in Bonnal war mit dem Ge-
ſchlechtstrieb gar nicht mehr vollends da zu Hauſe,
wo das Jauner- und Bettlervolk, das die Schan-
de ſeines diesfaͤlligen Heidenlebens damit entſchul-
diget, ſie haben ſonſt nichts Gutes in der Welt. —
[315]
Ein jedes legte von Jugend auf ſich ſelber mit
ſeiner eigenen Handarbeit den Grundſtein zu einem
ehrenhaften, unabhangenden Leben; ſie ſahen mit
jedem Jahr den kleinen Pfenning, mit dem ſie ih-
ren Sparhafen anfiengen, groͤßer werden, und das
Geld, das ihnen vom ſiebenden Jahr an manche
ſaure Stunde, und manche raſtloſe Nacht gekoſtet,
war ihnen im zwanzigſten Jahr ſo wenig, als ihre
Ehre ſo leicht fuͤr eine Gaukelnacht feil; ihre ge-
bildete Bedaͤchtlichkeit machte ſie auch hierinn rech-
nen, und laͤcheln, wenn jemand viel fuͤr wenig
von ihnen wollte. —
Arner hielt ihnen in dieſem Alter den Kopf
uͤber dieſen Punkt immer offen. Juͤnglinge und
Toͤchter des Dorfs kamen alle Vierteljahr zuſam-
men, und das einzige Geſez dieſes Ehr- und Freu-
dentags war dieſes, keinen Schandbuben und keine
Schandtochter unter ſich zu leiden. Sie machten
das ſo: ſie hatten ein Spiel, und jagten ſie fort;
ſie verbanden einander die Augen, ſtanden in einen
Kreis, dann rief eins mit verſtellter Stimme —
Schandleute — Schandleute — ſind Schandleute
da? Auf den Ruf antworteten die beyden Kreiſe,
ein jeder beſonder, entweder, es ſind keine da —
oder es ſind da. — Wenn alle ſagten, es ſind
keine da, ſo nahmen die Verbundenen die Binde
vom Auge, und der Reihentanz gieng an: wenn
ſie aber riefen, es ſind da — ſo ſagte der Meiſter
[316] vom Spiel, nennet ſie mit Namen! dann nannte
wer wollte, mit verſtellter Stimme den Namen;
und der Meiſter vom Spiel rief wieder, iſts wahr?
ſaget alle, iſts wahr? — Wenn dann es rings um
toͤnte, Ja, ja! ſo mußte der genannte fliehen, da
war keine Gnade — wenns aber laut ertoͤnte,
Nein, nein! und der Haufen rings um ſagte, Klaͤ-
ger du luͤgſt! ſo durfte der Genannte bleiben, und
machte zur Schadloshaltung den erſten Tanz. —
So wirkte Arner mit den Spielen des Volks, wie
mit dem Ernſt ſeiner Vorſorge. Die Aufſeher je-
der Gaſſe mußten bey der geringſten Spur eines
unehrenveſten abwechſelnden Einzugs von jungen
Leuten im Haus einer erwachſenen Perſon, ihrer
Verwandſchaft die Unordnung und Unehrenveſtig-
keit ihrer Auffuͤhrung anzeigen, und ſie von Obrig-
keits wegen auffordern, Sorge zu tragen, daß ſie
keine Unehre erleben.
Er kam auf alle Weiſe der Gedankenloſigkeit
und dem Leichtſinn des Geſchlechts in dieſem Punkte
vor, und reizte ihre Aufmerkſamkeit auf Ehre und
Schande dadurch, daß er beydes ihnen lebhaft und
oft vor Augen ſtellte.
Das erſte Kind einer jeden Ehe hatte ſeine
Ehrentaufe mit vielen Ceremonien — der ganze
Haufen von Juͤnglingen und Toͤchtern umringten
den Taufſtein in ihren Ehrenkleidern; aber ſie zaͤhl-
[317] ten richtig die Tage ſeit der Hochzeit, und es dorf-
ten nicht gar viele, ich weiß nicht recht wie viel,
fehlen, ſo kamen ſie nicht: auch die alten Rechte
der Kraͤnzchen wurden wieder erneuert.
Hingegen beſtimmte er dem unehlichen Bey-
ſchlaf keine Strafe. — Er war Volksſchande —
Wer iſt klug, und will mehr aus ihm machen? Ar-
ner wollte es nicht, aber er hemmte auch den Aus-
druck des Volkgefuͤhls uͤber ſeine Schande nicht.
Die Knaben des Dorfs durften einer Schandtoch-
ter vier Wochen nach der Kindbett einen Zigeuner-
Tanz tanzen; ſie bauten ihr vor dem Haus eine
Heidenhuͤtte von Tannaͤſten, und Stroh darinn
und Mies zu einem Lager wohl fuͤr ihrer drey oder
vier; wenn ſie hinein wollten, ſpielten ſie mit ihrer
Zigeunertrommel dreymal nach einander um die
Huͤtte herum einen Heidentanz, und die unordent-
liche Kindsmutter mußte dieſe Huͤtte ſechs Wochen
drey Tage vor ihrer Thuͤr dulden, ſonſt durften
die Knaben ihr eine neue bauen, und wieder trom-
meln und tanzen; aber das war nicht ſo faſt ſie zu
ſtrafen, als vielmehr die andern zu warnen, daß
keine eine Mutter werde — wie eine Naͤrrin —
oder wie eine Heidentochter.
Glaubet mir, es iſt keine Buß an Geld oder
Leib, die das wirkt, was dieſer Tanz. — Der
liebſte Bub, der bey einer Bonnalerin zu muth-
[318] willig war, bekam zur Antwort, was willt du? —
mag keinen Heidentanz. — Es behagte vielen Maͤn-
nern und vielen Knaben nicht ganz, daß dieſes
Spruͤchwort den Toͤchtern in Bonnal ſo gar ins
Maul gewachſen. —
§. 56.
Der Einfluß ſeiner Geſezgebung auf die
Liebe zur Freude, und den Hang zur
Ruhe und zur Ehre.
So band er jeden Grundtrieb unſerer Natur an
den Zwang des buͤrgerlichen Verdienſts, und an die
Regelmaͤßigkeit der buͤrgerlichen Ordnung. —
So ihre Freuden. — Die Abendſpiele der
Kinder hiengen feſt mit dem recht zugebrachten Tag,
und mit dem vollendeten Feyerabend zuſammen.
Als die erſte Lehre ihrer Kindheit, praͤgte ih-
nen der Lieutenant die Wahrheit ein, daß nur ver-
diente Freuden wahre Freuden, und hingegen alle
Freuden in den Tag hineingenoſſen, zur Zigeuner-
Ordnung gehoͤren, die ſich fuͤr das Wald- und
Bruder-Leben, aber nicht fuͤr ein braves Haus
in einem ehrlichen Dorf ſchicken.
[319]
Es hatten alle Staͤnde, und alle Alter im
Dorf ihren Freudentag. Die Juͤnglinge und Toͤch-
tern hatten, wie ihr wißt, viere im Jahr. — Er
trug zu dieſem Alter beſonders Sorge, und glaubte,
man koͤnne ihm faſt nicht genug Freude machen.
Er ließ ſie in dieſer Zeit auch in der Religion un-
terrichten, that ſonſt was er konnte, die Kraͤfte ih-
res Geiſts und ihres Leibs in dieſem Zeitpunkt in
reger Thaͤtigkeit zu erhalten.
Alle andere Staͤnde hatten im Jahr einen ſolchen
Freudentag. Die Kinder mußten von den Aeltern und
Schulmeiſtern Zeugniſſe aufweiſen, daß ſie den Freu-
dentag das Jahr uͤber verdienet, ſonſt wurden ſie aus-
geſchloſſen von der Luſt des Tages, und durften
nicht mit den andern ins Schloß kommen, um mit
ihrem ihnen ſo lieben Junker Vater vom fruͤhen
Morgen bis am ſpaͤten Abend Freude zu haben.
Das einzige Geſez dieſes Tags fuͤr alle Staͤnde
war, ihn vernuͤnftig anzufangen. Sie ſaßen in
ihren Kreiſen, unterredeten ſich von den Freuden
ihres Stands und ihres Alters, wie ſie alle, oder
doch ihrer viele, mehr dergleichen haben koͤnnten:
was ihnen dieſe Freuden verbittere, und wie ſie
demſelben abhelfen koͤnnen; und nahmen dann jaͤhr-
lich einen guten Vorſaz, in dieſem oder jenem
Stuͤck fuͤr die Freuden ihres Lebens vernuͤnftige
Sorge zu tragen.
[320]
An einem ſolchen Tage erkannten die jungen
Leute die alte Bauerntracht wieder zu ihrer Hoffarts-
tracht zu machen.
Ein andermal erkannten ſie, den Witwen im
Dorf in der Erndte ihre Aecker zu ſchneiden.
Wieder ein andermal ihren Großvaͤtern, und
jedem grauen Mann, und jeder grauen Frau, meh-
rere Kennzeichen der Ehrerbietung zu geben, als
bisher die Uebung war, und ſie niemals mehr in
der Kirche beym Herausgehen ſo ins Gedraͤng kom-
men zu laſſen, ſondern alle mit einander, wie eine
Mauer, ſtill ſtehen zu bleiben, b[i]s die ſchwanken-
den Greiſe, und die zitternde Großmuͤtter, außert
der Thuͤre heraus ſeyen.
Es iſt nicht zu ſagen, wie ſehr das die Alten
gefreuet hat.
Eben ſo bog er ihren Hang zur Ruhe ins
Joch der gleichen Ordnung; reizte von allen Seiten
den Fleiß; trat der Traͤgheit mit aller Kraft ſeines
Fußtritts auf den Nacken. Die Freuden der Ruhe
wurden durch ſeine Geſezgebung Lohn der Arbeit,
Folgen der Ordnung, und Genuß von Erholung
nach muͤhſam angeſtrengten Kraͤften. Das Kind
fand ſie nicht, bis es ſein Tagwerk vollendet; und
Maͤnner und Weiber, die das Werk ihres Lebens
in irgend einem Stuͤck nachlaͤßig thaten, verfolgte
das
[321] das Treiben der alles jagenden Rechnung; und die
Schande, die auf jede Nachlaͤßigkeit unerbittlich
wartete, brachte den Hang zur Ruhe in denjenigen
Schranken, in die er in der buͤrgerlichen Geſell-
ſchaft hinein muß; aber dennoch befriedigte er auch
dieſen Trieb unſerer Natur.
Wer Ruhe verdiente, fand ſie ſicher, und
konnte ſie ungeſtoͤrt und ohne Kraͤnkung genießen.
Die Regelmaͤßigkeit ſeiner Verwaltung ent-
fernte die Unruh der haͤuslichen Verwirrung, und
die ſchweren Leiden des Unrechts, der Lohn des
Verdienſts, war jedem Arbeiter gewiß; und bey
der immer ſteigenden Anſtelligkeit des Dorfs, war
die Muͤhe der guten Beſorgung der Laſt nicht mehr
zu vergleichen, unter welcher die Menſchen in der
alten Zeit und in der Verwirrung ihrer gedanken-
loſen Notharbeit erliegen, und an Leib und Seel
verwildert und verlahmet. Er lenkte den Hang zur
Ruh zum Ziel, ſicherte ihn am feſteſten am Ende
der Laufbahn; und machte ſeine Bonnaler ſelber
dahin ſtreben, in ihren alten Tagen des friedlichen
Genuſſes ihrer ungeſtoͤrten Erquickung, nach dem
wohl vollbrachten Werk ihres Lebens gewiß zu ſeyn.
So ſchuf er auch dieſen Hang der Natur,
der im wilden und unverwilderten Leben, die Quelle
der Traͤgheit und die Erſchlappung der menſchlichen
X
[322] Kraͤften, zu einem edeln Trieb ſeiner Thaͤtigkeit
und der Anſtrengung derſelben um.
Nicht weniger befriedigte er den Hang zur
Ehre auch beym armen Mann, der unter dem
zerriſſenen Strohdach in Lumpen gehuͤllt lebt. Er
iſt ein Menſch; und jeder Trieb der Natur, welchen
du ihm befriedigeſt, macht ihn vollkommner —
und jeder Trieb ſeiner Natur, den du ihm nicht
befriedigſt, laͤßt ihn unvollkommner — und —
Geſezgeber! was du ihm nicht giebſt, das haſt du
nicht von ihm. — Merk dir das — und rechne
— nicht fuͤr ihn — rechne nur fuͤr dich, und du
wirſt ihm geben, ſo viel du kannſt, damit du ihn ſo
vollkommen brauchen koͤnneſt, als du ihn machen
kannſt.
Arner mangelte ſeinem Volk auch in dieſem
Stuͤck nicht. Er reizte die Ehrliebe des Niedrig-
ſten wie des Oberſten, und band ſie eben ſo feſt,
als die uͤbrigen Grundtriebe, an das buͤrgerliche
Verdienſt.
Auf die einfachſte Art genoß ein jeder durch die
offene Rechnungen ſeiner Wirthſchaftsbuͤcher Lob,
Ehre, und Unterſcheidung in allen Stuͤcken, be-
ſtimmt nach dem Maße ſeines Verdienſts. — Nicht
blos ſeine Wirthſchaft allein, die gute Erziehung
ſeiner Kinder, der untadelhafte Frieden mit ſeinen
Nachbarn, die großmuͤthige Sorgfalt fuͤr Arme,
[323]
Kranke, Leidende, kurz, jede gute That, brachte
dem Mann, der ſie that, Lob und Ehre; denn
Arner hatte eine Ordnung, daß ihm keine derſel-
ben entgieng.
Und er ließ keine unbelohnt.
Der ſchoͤnſte Lohn, den er einem gab, war
vielleicht der, den der Lienhart erhielt. — Der
gute Menſch wagte ſein Leben fuͤr den Friedrich,
ſeinen Mauergeſellen — als dieſer von einem wan-
kenden Geruͤſt glitſchte, und mit dem halben Leib
ſchon unter das Geruͤſt herab hieng, und ſchwebte,
ſprang der Lienhart auf die wankenden Balken, bog
ſich zwiſchen weichenden Hoͤlzern hinab gegen den
ſchwebenden Mann, klemmte ſich an ihn an, und
hielt ihn mit wundgequetſchten Arm feſt, bis eine
angeſtellte Leiter ſie beyde rettete.
Er war verwundet, und konnte 4 Wochen nicht
arbeiten. Als er in der fuͤnften zur Kirche kam, waren
drey neue Stuͤhle im Chor gerade dem Junker
zu; in der Mitte von allen ſtunden mit großen
Buchſtaben die Worte, „dieſe Stuͤhle ſind fuͤr Maͤn-
ner, die ihr Leben fuͤr ihren Naͤchſten gewagt“! —
Und als es verlaͤutet, und der Pfarrer und
alles ſchon in der Kirche war, winkte der Junker
dem Vorſinger, daß er noch nicht ſinge; dann gieng
der Untervogt aus ſeinem Stuhl die Kirche hinun-
X 2
[324] ter zu dem Lienhart, der in dem hinterſten Stuhle
ſaß, nahm ihm mit ſich an der Hand durch alle
Leute hindurch herfuͤr zum Junker ins Chor —
der Junker ſtund auf, zeigte ihm ſeinen Plaz, und
dann kam (der Junker hatte es ihm im Geheim be-
fohlen) auch der Friedrich hervor, und dankte ihm
vor dem ganzen Volk, daß er ihm ſein Leben ge-
rettet.
Selber die Ehre der Todten bey ihrem Grab
war an ihre Verſtienſte gebunden; mit der einfach-
ſten Wahrheit ließ er noch uͤber ihren Sarg, im
Kreis der Ihrigen, aus ſeinen Buͤchern vorleſen,
wie viel Kinder ſie erzogen, was ſie aus ihnen ge-
macht, wie ſie in ihren Umſtaͤnden vorwaͤrts ge-
ruͤckt, wie ſie ihr vaͤterliches Erbgut verbeſſert, wie
ſie ihren Kindern Vortheile hinterlaſſen, die ſie in
dieſer Welt nicht genoſſen, und uͤberall, was ſie
fuͤr vorzuͤglich gute Handlungen gethan.
Durch dieſe Feſtknuͤpfung der Ehre an das
Verdienſt, war, indem er den Trieb der Ehre ſei-
nes Volks genugſam befriediget, dennoch auch die
Anmaßungsſucht des verdienſtloſen Stolzes, und
die tropfkoͤpfige Bauern-Einbildung auf das Ab-
ſtammen von Vaͤtern und Großvaͤtern, die viel
Ochſen im Stall, und viel Schulden im Buch,
uͤberdas noch Maͤntel und Eide am Halſe und am
Ruͤcken tragen, gehemmt, und bekam oft und viel
[325] toͤdtliche Beaͤngſtigungen durch die Vorzuͤge des
wirklichen Verdienſts.
Das iſt der Inbegrif der Geſezgebung Arners,
durch welche er ſein Volk in Bonnal von Verwil-
derung eines ungezaͤhmten Lebens, und von den
Verirrungen der Grundtrieben der menſchlichen
Natur zu heilen geſucht, um ſie auf der Bahn ei-
ner guten buͤrgerlichen Bildung durch weiſe Be-
ſorgung des Ihrigen zu gluͤckſeligen Menſchen zu
machen, als ſie ohne die Vorſorge ſeiner Geſezge-
bung nicht haͤtten werden koͤnnen.
§. 57.
Religion.
Und nun ſteige ich zu dir empor, Dienerin
Gottes und der Menſchen! das Werk ſeiner Geſez-
gebung in deinem Heiligthum zu vollenden.
Wie ein Morgennebel dem Sonnenſtral weicht,
wenn er vom unbewoͤlkten windſtillen Himmel auf
ihn herabfaͤllt, ſo weicht der wilde Schwarm der
truͤben Trieben unſerer unerleuchteten Natur dem
Stral deines Heiligthums, wann du vom unbe-
woͤlkten windſtillen Himmel auf ihn herabfaͤllſt. —
Geliebte Gottes! ſeitdem die Erde gegruͤn-
det, und der Menſch auf derſelben ſein nichtiges
X 3
[326] Werk treibt, warſt du die erſte Siegerin der wil-
den Trieben des ungebaͤndigten Geſchlechts. —
Herrſcherinn der Erden! auf hundert tauſend
Altaͤren opfert die Menſchheit, ſeit dem ſie lebt,
Dir ihr Opfer; dann ſeit dem ſie lebt, befriedigt
der Glaube an Gott das Innerſte ihrer Natur,
und alle Geſchlechter der Erden ſtammeln kniefaͤllig
vor Dir ihre Bitten und ihren Dank; ſie vereh-
ren jeden Schatten des Bilds deines Gottes, und
beten jeden Fußſtapfen ſeiner Wege ſelbſt im truͤg-
lichſten Koth an.
Der Fels im Meer bricht die Wellen des
Sturms, ſie ſtroͤmen in hohen Wogen raufend ge-
gen ihn an, reißen an ihm Mitten entzwey — und
wirbeln ſchaͤumend in ihrem Tode um ſeine uner-
ſchuͤtternde Kraft — ſo zerreißeſt Du das Raſen
der Macht; und wie ein Feuerſtrom, der unter
dem Berge gluͤhet, erſchuͤtterſt Du den unermeßli-
chen Boden des Reichthums, wie einen Haufen
nichtigen Staubs.
Herrſcherin uͤber den Sinn des Volks! Du
bezwingſt den Herrſcher der deiner nichts will.
Unter den Truͤmmern der Erde, und unter
den Wellen des Meers, lobet der Menſch ſeinen
Schoͤpfer; er erhebt ſich uͤber den Troz ſeiner Na-
tur; und unter dem Fußtritt der Geſchoͤpfen, und
[327] in der Aufloͤſung ſeines Staubs, nennet er Gott
ſeinen Retter, und lebt im Augenblick ſeiner Zer-
nichtung jenſeits des Grabs.
O geheiligte Gottes! Du zeigeſt dem Gewal-
tigen in ſeinem Sklaven das Kind des Ewigen. —
Du zwingſt den Tirannen ſein Auge wegzuwen-
den vom Blut ſeines Knechts. — Du machſt ſein
Eingeweide zittern vor dem Recht des Armen und
vor den Thraͤnen des Waiſlins.
Du ſetzeſt der Wuth der Menſchen und ihrem
Unſinn ein Ziel.
Du ſegneſt ihre Miriaden in der Furcht Got-
tes durch die Bande des Friedens, und durch dei-
nen ſanften heiligen Geiſt.
Du erhebeſt den Menſchen uͤber das Unrecht,
und machſt deine Anbeter die Hartherzigkeit der
Thoren mit Seelengroͤße ertragen.
Du giebſt dem Menſchen Weisheit in ſeinem
Thun, und erhebſt ihn uͤber das Werk ſeiner Haͤn-
den. Du ſtilleſt das Wallen des Bluts und das
Schlagen des bruſtzerſprengenden Herzens.
Du zeigeſt deinem Anbeter in der Nothwendig-
keit — Gott — im druͤckenden Leiden die Liebe
des Vaters! Du beruhigeſt den Sinn des Er-
ſchlagenen in ſeinem Blut. —
X 4
[328]
Dnrch dich vollendet der Geſezgeber ſein uner-
meßliches Werk.
Wie ein gebaͤndigter Loͤwe an der Hand des
Fuͤhrers ſicher einher geht — ſo geht der Menſch
an der Hand deiner Anbetung mit reinem Herzen
einher, als waͤr er nicht der Sohn der Freyheit
und der Koͤnig des Raubs.
Warum ſollte ich ihn nicht ſo nennen bey der
Unermeßlichkeit der Anſprachen ſeiner Natur, beym
unausloͤſchlichen Gewalt ſeiner Trieben fuͤr Freyheit
und Raub? —
Geheiligte Gottes! ohne Dich baͤndiget kein
Geſezgeber den Sohn der Freyheit und den Koͤnig
des Raubs. —
In den Banden der Macht wird der Loͤwe zur
Schlange, die jeder Feſſel entſchluͤpft; er windet
ſich unter dem Boden der Thuͤrmen und durch
der Mauern vermooſete Ritzen hindurch, und bleibt
in ihren Banden, heiligeſt Du ſie nicht, was er
vorher war — der Sohn der Freyheit, und der
Koͤnig des Raubs, aber mit giftigerer Zunge. —
Im Innerſten des Menſchen tobet ein ewiger
Aufruhr gegen Nothwendigkeit und Pflicht — aber
die Kraft deiner Anbetung beruhiget das Toben des
ewigen Aufruhrs; und, verbunden mit weiſer Bil-
dung des Staats, kommt der Menſch an deiner
[329] Hand dahin, daß er ſeyn will, was er ſeyn muß. —
Er erhebt ſich in deiner Liebe, daß er ſich opfert,
und im Ueberwinden ſeiner tobenden Trieben ſeine
Vollkommenheit findet.
Allmaͤchtige! darum vollendet kein Geſezgeber
ſein Werk ohne Dich; und darum ſteigt Arner em-
por, und naͤhert ſich deinem Altar.
Er kommt zu Dir, geheiligte Gottes! aber
nicht wie deine Gewaltige und deine Streiter, an-
gethan mit dem Harniſch ſeiner Meynungen — er
kommt zu Dir wie ein Armer, und bringt in der
ſtillen Stunde ſeines demuͤthigen Dienſts ein heiliges
Opfer, das Bild der Ordnung und der Ewigkeit.
Nimm es gnaͤdig auf, Dienerin Gottes! und
lehre die Menſchen immer mehr Zeit und Ewigkeit
in Eins verbinden, und Gott und dem Staat auf
gleichen Altaͤren dienen.
Arner ſah die Uebereinſtimmung der Endzwe-
cken einer wahrhaft weiſen Geſezgebung mit den
Endzwecken einer wahrhaft weiſen Religion — und
die innere Gleichheit der Mittel, unſer Geſchlecht
durch eine gute buͤrgerliche Bildung zu veredeln,
mit den Mitteln, daſſelbe durch den Dienſt des
Allerhoͤchſten zu vervollkommen. —
[330]
§. 58.
Aberglauben und Abgoͤtterey.
Aber er kannte auch den Geiſt der Pfafheit *) —
und namenloſe Dienerin des Aberglaubens; er
achtete dich nicht als waͤreſt du Gott —!
[331]
Er leckte den Staub nicht von deinen Fuͤßen,
Knecht aller Knechten! Er ſah wem du dienſt. —
Truͤgerin! ſo lang die Welt ſteht, misbrauchſt
du den Glauben an Gott, die Menſchen zu der
Thorheit und zu dem Sinn eines abgoͤttiſchen
Sinns zu lenken. —
Du fuͤlleſt ihre Gedanken mit Bildern von
Gott; und du machſt das Spintiſiren deiner heißen
Stunden zu Offenbarungen des Allmaͤchtigen.
Du loͤſeſt den Guͤrtel auf der die Erde verbin-
det — er iſt Liebe Gottes — und du bindeſt deine
Haufen mit den Stricken deiner Meynungen. —
Du ſetzeſt den Menſchen mit dem Schlangen-
gerippe verfaͤnglicher Worte, im Namen Gottes,
das Schwert an die Kehle; und trittſt mit deinem
Buchſtabendienſt die Menſchen in Staub, die an-
ders denken als du. —
Du ſchleichſt den Fuͤrſten nach, um deſto beſſer
Gott alſo zu ehren; du brauchſt die Schwaͤche der
Koͤnige, und die Heucheley der Hoͤfen, deinem
Glauben aufzuhelfen.
[332]
Du bringſt der ewigen Weisheit die Dumm-
heit der Gewaltigen, und des Ewigen Liebe die
boͤſen Gewiſſen der Maͤchtigen zum Opfer.
Du nimmſt den Menſchen in der Stunde ih-
rer Anbetung gefangen. —
Du entmanneſt die Soͤhne des Staats, und
machſt den Prieſter zum Koͤnig. —
Seit dem die Welt ſteht, haſt du die Erde
erſchuͤttert. —
Seit dem die Welt ſteht, haſt du den Koͤnigen
Ketten gegeben wider den Menſchen, und den
Menſchen Schwerter wider die Koͤnige. —
Wie in ſtillen Meeren ein ſicheres Schif an
unſichtbaren Felſen ſcheitert, ſo ſcheitert die Menſch-
heit an unſichtbaren Klippen. —
Wie in den Eingeweiden der Bergen und Huͤ-
geln erkalteter Aſchen ein Feuerſtrom lebet und gluͤ-
het, ſo lebet und gluͤhet Unreine! in der Nacht dei-
nes unergruͤndlichen Dienſts das Feuer der wilden
Natur. —
An den Ketten des Aberglaubens ſtirbt nicht der
Leidenſchaften Gewalt — und der Sohn der Frey-
heit, und der Koͤnig des Raubs, wird an den Al-
taͤren der Dummheit nicht reines Herzens — und
der Laſtern inneres Raſen hebt keine geheimnisrei-
che Weihe. —
[333]
Der Pfafheit gebundener Sinn naͤhret das
Laſter — und des Goͤzendienſts ſinnenbehagliche
Feyer iſt wie Minnengeſang jedem Naturtrieb. —
Truͤgerin! du fragſt das Waiſlin, kennſt du
meinen Gott? Und den Unterdruͤckten, kannſt
du meinen Glauben auswendig?
Auch deine Liebe iſt an deinen Goͤzen gebun-
den. Du zerreißeſt die Bande des Friedens ob ei-
nem einzigen Wort. —
Du bindeſt die Sicherheit und den Wohlſtand
des Staats, wie das Allmoſen des Bettlers, mit
Gefaͤhrde an deiner Meynungen Dienſt. —
Du verunglimpfeſt außer ihm alle Quellen der
Weisheit, und des haͤuslichen und buͤrgerlichen
Wohls, und nenneſt deinen Glauben den allein ſe-
ligmachenden. —
Heuchlerin! du ſagſt, du verdammeſt nicht!
was ſollen denn die andern, wenn nicht ſelig machen?
Wann du redſt, ſo haſt du Vorbehalt in dei-
ner Seele (Reſervatio mentalis.)
Du weheſt die Fahne des Mords, als waͤren
ſie Fahnen der Liebe.
Kennerin des Elends —! du rufeſt die Ver-
wahrloſeten zu deinem truglichen Troſt — du lo-
[334] beſt ſie in ihrer Noth, und rufſt ſie mit der Stimme
der armen verwaiſeten Kuͤchlein unter deine eiſer-
ne Fluͤgel; und wann der Moͤrder Weih uͤber ih-
rem Haupt fliegt, folgen ſie in der Angſt gern und
kopflos deiner Simme, und werden erdruͤckt. —
Der Sohn der Freyheit, und der Koͤnig des
Raubs, iſt dein Getreuer; und du nutzeſt die Ver-
wirrung des Staats, und die Schulden der Großen,
und den Bettel der Armen zu deinem Dienſt. —
Selbſt der fromme Sinn der Tugend wird dein
Knecht. Wem du den Kopf nimmſt, der dienet
dir; wenn du dem verwahrloſeten Volk, das wie
ein Rohr vom Wind getrieben wird, und wie ein
Schifbruͤchiger, der nach jeder Staude langt, deine
Hand darſtreckſt, ſo haſt du es gefangen. —
Du biſt den Menſchen kaum ein wenig minder
worden als Gott; und dein Dienſt geht den Voͤl-
kern der Erde uͤber den Dienſt des Allerhoͤchſten. —
Du ſchwingſt dich, Giftige! dem Geſezgeber
an den Buſen — und giebſt ihm den Tod, wenn
du fuͤhlſt, daß ſein Innerſtes nicht fuͤr dich, und
der Sitz in ſeinem Schoos dir nicht ſicher ſeyn
ſollte. —
Das haſt du immer gethan! —
[335]
§. 59.
Wodurch Arner das Volk vor dem Aber-
glauben bewahrt.
Arner kannte dieſen Sinn der Pfafheit — und
ſoͤnderte den Endzweck der Kopfsbildung von dem
Endzweck des Religions-Unterrichts. —
Er fand, der lezte ſey nun einmal lang ge-
nug zu dem misbraucht worden, wozu er nicht
taugt.
Er trennte die Gottsgelehrtheit vom Volks-
Unterricht, in ſo fern er Kopfuͤbung und buͤrgerli-
che Geiſtesbildung ſeyn ſoll, und wollte ſein gutes
Volk durch den Katechismuskram, uͤber die Lehr-
ſaͤtze der ſchwierigſten aller Wiſſenſchaften, nicht
zum Dienſt der Pfafheit ſo dumm und anmaßlich
machen, als alle Voͤlker der Erde, vom Strande
des Indus bis zu den beyden Polen, zum Dienſt
der Pfafheit anmaßlich und dumm werden muͤſſen,
wenn man die Grundlage ihrer Kopfbildung und
Geiſtesrichtung durch die Erklaͤrung ihrer Religions-
lehre erzielen will. —
Alles Wiſſentſchaftliche in der Religion iſt
menſchlich, und eine eigentliche Kunſtſache. Ken-
ner ſind Richter — und es iſt Gefaͤhrde und Ver-
[336] ſuch zum Aufruhr, wider die Rechte der Wahr-
heit, das Wiſſentſchaftliche in der Religion vor das
Volk zu bringen, und vor ihm, als waͤr es der
Richter, daruͤber zu plaidiren; ſo gut als es Ti-
ranney iſt, das Urtheil uͤber dieſes Wiſſentſchaftli-
che in der Religion der buͤrgerlichen Macht zu un-
terwerfen.
Der Dienſt des Allerhoͤchſten iſt von wiſſen-
ſchaftlichen Meynungen uͤber Religionsſachen un-
abhangend; und das Volk ſoll vom Altar weg
nicht behelliget werden mit irgend einer Streitigkeit
der Prieſter.
Laͤßt man es zu — ſo giebt man den Kopf
des Volks in die Hand des Prieſters — und ver-
zeihet mir ihr Fuͤrſten! aber ich glaube, wer den
Kopf des Volks in ſeiner Hand hat, der iſt auch
ſeines Kopfgelds ſicher wenn er will; die Sache
hat nicht kleinen Reiz aus ihren Wirkungen zu
ſchließen.
Menſchheit! auf allen Blaͤttern ruft die Ge-
ſchichte, du toͤdteſt eher die Thiere der Erde, und
vertilgeſt eher die Fiſche im Meer, als die Macht
der Prieſter und den Sinn ihrer Pfafheit, wenn du
das Wiſſentſchaftliche ihres Religions-Unterrichts
zur Grundlegung der Kopfbildung des Volks machſt.
Die Kopfbildung des Volks iſt die Sache ſei-
ner haͤuslichen und buͤrgerlichen Sicherheit, und
alſo
[337] alſo Staatsſache — und als ſolche muß ſie noth-
wendig unabhangend vom Religions-Unterricht er-
zielt, und in dieſem Geſichtspunkt mit Feſtigkeit
von demſelben getrennt werden.
Noch einmal: der Glaube an Gott, und die
Lehre ſeines Dienſts, iſt nicht zur Vernunftlehre be-
ſtimmt, und nicht dazu gut.
Der Glaube an Gott, und die Lehre von ſei-
nem Dienſt, iſt fuͤr das Volk nicht die Sache ſeines
Kopfs, ſondern ſeines Herzens. — Gemuͤthsruhe
im Dunkel ſeiner Nacht — Ergebenheit in den
Willen Gottes im Thal von Thraͤnen, und ein kind-
liches Aufſehen auf den Herzogen und Vollender
des Lebens — das iſt die Beſtimmung des Glau-
bens, aber nicht Kopfuͤbung fuͤrs Volk.
Die ganze Bibel, von Anfang des erſten Buch
Moſes bis zur Offenbarung Johannes — und bis
zum „Heilig, heilig, heilig iſt das Lamm, das
geſchlachtet iſt“, iſt nicht zur Kopfuͤbung des Volks
beſtimmt, und taugt nicht dazu. *)
— Mag es Maulchriſten emvoͤren — ich
achte es nicht — dieſes Geſchlecht empoͤrt alles, was
V
[338] kalt und was warm iſt. — Darum hat aber auch
der, ſo die ſieben Leuchter hat, den Engel ſeiner
großen Gemeinde aus ſeinem Munde ausgeſpeyt,
und ihn hingeworfen zu zertreten, fuͤr jedermann,
der vorbey geht — was ſoll mir alſo ſein Aerger? —
Der Aberglaube findet in den Umſtaͤnden der
Zeit unermeßliche Nahrung. — Die Seelenſtim-
mung der Menſchen wird taͤglich mehr ſchwankend
und traͤumend. — Das Fundament eines vernuͤnf-
tigen Gottesdienſts — die Vernunft des Volks —
und eine feſte, ruhige, biedere, gleichmuͤthige und
bedaͤchtliche Geiſtes-Richtung, ſchwindet vor un-
ſern Augen. —
Seys Zufall oder Hinderliſt — ich weiß es
nicht, und unterſuche es nicht — aber wahr iſts —
die Seelenſtimmung der Menſchheit neigt ſich zu
der Schwaͤche des Aberglaubens.
Der Misbrauch der Bibel und der Glaubens-
lehre, zu dem, wozu beydes nicht taugt, wird
lebhafter als er je war.
Die Hinlenkung der Volksſtimmung zu Be-
guͤnſtigung eines uͤberwiegenden Einfluſſes der Kraͤf-
ten der Einbildung gegen die Kraͤfte des Verſtan-
des —
— Die allgemeine Reizung des poetiſchen
Sinns, und auf dieſen poetiſchen Sinn gebaute
[339] Kopffuͤllung der Menſchen mit bildreichen Reli-
gionslehren, und die Hinlenkung ihres Geiſtes, ſol-
che Meynungen als Vorſchritt in wiſſenſchaftlicher
Erleuchtung — und als Gegenſtand ihres Nachden-
kens, ihrer Unterſuchung und ihres Forſchens im
Kopf herum zu tragen —
Das alles — wenn es ſchon freylich nicht den
geraden Weg zu aberglaͤubiſchen kirchlichen Lehrſaͤ-
tzen fuͤhrt — fuͤhrt dennoch ſicher zu einer Seelen-
ſtimmung, die das Innere der Abgoͤtterey und des
Aberglaubens beguͤnſtigt, und das Volk einem je-
den Religionsverfuͤhrer in die Haͤnde ſpielt, der im
Stand iſt, daſſelbe zu einem ſchwaͤrmeriſchen Glau-
ben an ſeine Lehre, und zu einer fantaſtiſchen An-
haͤnglichkeit an ſeine Perſon zu verleiten. —
Noch einmal: ich weiß nicht, ob es wahr iſt,
was man ſagt, daß dem Volk wirklich planmaͤßige
und gefaͤhrdvolle Glaubensſchlingen gelegt werden:
aber das weiß ich, daß eine Seelenſtimmung be-
guͤnſtigt wird, die es, wenn ihm ſolche Schlingen
gelegt wuͤrden, ſchaarenweis darein zu ſpringen,
ſicher verleiten wuͤrde. —
Das weiß ich. — Aber ich verarge es denen
nicht einmal, die es thun, und die wenigſten wiſſen
was ſie thun, und tagloͤhnen meiſtens am Werk
der Frommkeit mit ehrlichem Sinn, ohne weder
V 2
[340] zu ahnden, noch zu verſtehen, wohin die Seelen-
ſtimmung, welche die Art und Weiſe ihrer Glau-
bensform beym Volk hervorbringen, daſſelbe fuͤh-
ren koͤnnte. —
Das Geheimnis der Abgoͤtterey ſizt auf einem
heiligen Dreyfuß, und mitten, in dem es den Men-
ſchen fuͤr alles, was es ihm entreißt, ſtockblind
macht, giebt es ihm Luchsaugen fuͤr das was er
ſehen muß, um anhaͤnglich zu bleiben, und ſchließt
ſich immer von allen Seiten an viel Auffallendes,
dem Menſchenſinn und dem Volksgefuͤhl Auffallen-
des, Wahres und Gutes an — und es liegt in
unſerer Natur, die verwahrloſete und leidende, ſo
wie die traͤumende Menſchheit, wirft ſich ſo lange
in die Arme der gegen die Leidenden immer Theil
nehmend, gegen die Verwahrloſeten immer ſorg-
faͤltig erſcheinenden Abgoͤtterey, ſo lang ihr nicht
entgegen geſezt wird, was mehr Realitaͤt hat, als
eine zwar ſo geheißene vernuͤnftige Religionslehre,
die aber nichts weiter leiſtet, als daß ſie mit gro-
ßem Gepraͤnge eine mehrere Richtigkeit in den Aus-
druͤcken uͤber Glaubens-Meynungen, die das Volk
richtig oder unrichtig gleich nicht verſteht, zum We-
ſen der gottesdienſtlichen Verehrung macht, und in-
deſſen durch das ſchwerfaͤllige Schleppen des Heer-
wagens dieſer Worterklaͤrungen den Prieſtern dieſes
neuen Dienſts, Zeit, Aufmerkſamkeit und See-
lenſtimmung raubt, den weſentlichen Pflichten des
[341] wahren Gottesdienſts mit Erfolg obzuliegen, der
Verwahrloſung der Menſchen vorzukommen, die
Qualen der Leiden abzulenken, und den Traͤumer-
ſinn ihres Lebens durch weiſen Einfluß auf ihr buͤr-
gerliches Leben zu entkraͤften. —
So lang es ſo iſt, und das Volk beym ſchwaͤr-
riſchen, unerleuchteten Prieſter fuͤr ſich mehr findet,
als bey dem, der ihm beweiſen kann, daß der an-
dere ſchwaͤrmt, ſo bleibt das Volk natuͤrlich auf der
Seiten des leztern. — Auch laſſen die Prieſter des
Aberglaubens die guten Maͤnner, die nach Weis-
heit fragen, mit ſichtbarer Verachtung reden, was
ſie nur wollen, und bleiben indeſſen Meiſter des
Volks, und derer, die ſie zu ihrem Volk machen. —
So iſt es — die Maͤnner, die nach Weisheit
fragen, verſtehen ſich nicht das Volk zu fuͤhren,
und ihren Reformationsgeiſt anſteckend zu machen,
wie der Aberglaube, und das iſt ein großer Fehler. —
1520 war es nicht ſo; der Reformationsgeiſt
war damals anſteckender als der Aberglaube, weil
er wohlthaͤtiger war als dieſer, und die einzelnen
Menſchen im Lande auffallend an Leib und Seele
weiter brachte, als ſie unter der Moͤnchs-Huth
nicht kommen konnten.
Der damalige Reformationsgeiſt belebte die
Kraͤfte des Verſtands, er erhoͤhete das Streben nach
V 3
[342] leiblicher und geiſtlicher Sicherheit, Unabhaͤngigkeit
und Freyheit; er pflanzte eine allgemeine Aufmerk-
ſamkeit der Menſchen auf ſich ſelber, eine allge-
meine Sorgfalt derſelben fuͤr die Ihrigen und
das Ihrige; er verband den Sinn der Liebe
mit thaͤtigem Beſtreben nach den Mitteln wirklich
helfen zu koͤnnen, und ward ſo die Quelle einer
Induſtrie, die, verbunden mit dem Sinn der
Frommkeit dieſer Zeit, eine Sparſamkeit und
Hausordnung hervorbrachte, deren Folgen die buͤr-
gerliche Verfaſſung Europens weſentlicher aͤnderte,
als die Meynungen der Reformatoren den Kirchen-
zuſtand dieſes Welttheils veraͤnderte. —
Ich bin weitlaͤuftiger als gewohnt, weil in die-
ſem Geſichtspunkt die aͤchten Mittel gegen die Hin-
derniſſe des Vorſchritts, die der wahren Erleuchtung
und Veredlung des Menſchengeſchlechts in den Weg
gelegt werden, auffallen.
Es iſt Beduͤrfnis der Zeit, daß der aͤchte Geiſt
einer wahrhaft weiſen und gefaͤhrdloſen Fuͤhrung
des Volks tief und mit Sorgfalt erforſcht —
Daß der Kopf des Menſchen nicht hindange-
ſezt —
Daß der Trieb der Selbſterhaltung, mit Kennt-
niß von Mitteln, und mit Uebung von Fertigkeiten
[343]
gepaaret werden, die den Menſchrn in der Ord-
nung des buͤrgerlichen Lebens ſicher ſtellen und be-
ruhigen —
Daß den Quellen ihrer erſten Naturfehler,
namentlich ihres Leichtſinns, ihrer Gedankenloſig-
keit, und allen Folgen ſeines unordentlichen und
ungebildeten Zuſtands vielſeitig und mit Weisheit
und Kraft entgegen gearbeitet werde —
Daß in Abſicht auf die Bildung des Menſchen,
auf ihren Kopf, auf ihre Haͤnde und Fuͤße, und
nicht auf ihr Herz abgeſtellt werde —
Daß der Wohlſtand der buͤrgerlichen Haͤuſer
nicht an ihren Glauben, noch weniger an die nich-
tigen Menſchenwerke ſeiner aͤußern Huͤlle gebunden,
und dadurch vom Prieſter abhaͤnglich werde —
Daß die Geiſtes-Richtung des Volks, und ſeine
innerſte Stimmung bedaͤchtlich, kaltbluͤtig, vor-
ſichtig, und auf einen merklichen Grad mistrauiſch
gemacht werde.
Daß alle Arten von Traͤumerſtimmung, in-
ſonderheit die Lebhaftigkeit des Miſchmaſch-Gefuͤhls
von Elend und Gluͤckſeligkeit, in welchen die Men-
ſchen in einer Stunde bis zur Erhabenheit dichte-
riſch und bis zum Schrecken gichteriſch erſcheinen,
durch den Ton und die Sitten der Zeit Hinderniſſe
in ihrer Anſteckung finden. —
Y 4
[344]
Mit einem Wort, daß die Bildung und Erhe-
bung aller wahren Kraͤften unſerer Natur beguͤn-
ſtigt, und ihre Abſchwaͤchung, ſo wie ihre Verwil-
derung, verhuͤtet werde. —
Arner ſuchte dieſem Beduͤrfnis der Zeit Genuͤ-
gen zu thun, indem er die buͤrgerliche Fuͤhrung
und die Kopfsbildung ſeiner Bonnaler ganz von
ihrem Glaubens-Unterricht ſoͤnderte; dem erſten
ganz unabhangend vom lezten, durch die Kraft
ſeiner Geſezgebung, ein Genuͤgen leiſtete. —
§. 60.
Ein Wort uͤber das Beduͤrfnis des Got-
tesdienſts zur wahren Volksaufklaͤ-
rung.
Aber ſo wie er der Schwaͤrmerey, und dem ſich
unter das Joch der Abgoͤtterey ſchmiegenden Aber-
glauben entgegen arbeitete, ſo kannte er auch die
Unvollkommenheit und Ungenuͤgſamkeit einer blos
buͤrgerlichen Bildung.
Er wußte und ſagte, keine geſezgeberiſche Weis-
heit hebt die Quelle des ewigen Elends der Erde
ganz auf, und die beſte buͤrgerliche Stimmung iſt
nicht genug, den Sinn des Menſchen zu derjenigen
[345] Veredlung zu erheben, deren er bedarf, um real
beruhiget zu ſeyn. — Das bloße Anbinden deſſel-
ben an die Nothbeduͤrfniſſe der Erde erdruͤckt ſein
Herz. Im Schweiß ſeines Angeſichts, und im Ge-
wuͤhl ſeines Staubs, erhebt er ſich nicht uͤber ſich
ſelbſt, noch weit weniger uͤber das Unrecht, und
im Werk ſeiner Haͤnden vergraben, ſtirbt er als
ein Tagloͤhner des Koths. —
Arner fuͤhlte das Beduͤrfnis, die Veredlung
des ſchwachen, traͤgen, und ſo leicht ſinkenden,
und ſo gern an der Erde klebenden Menſchen durch
den Dienſt des Allerhoͤchſten zu erzielen, zu vollen-
den — verſaͤumte desnahen nicht, mitten, in dem
er alles that, den Geiſt der Abgoͤtterey, und eines
gefaͤhrdvollen Einfluſſes der Geiſtlichkeit auf die
Kopfsbildung des Volks und ſeine buͤrgerliche Si-
cherheit und Rechte zu hindern, eben ſo ſorgfaͤltig
ſein geliebtes Volk durch den Segensgenuß der rei-
nen Anbetung Gottes, durch rege Dankbarkeit ge-
gen ſeinen erhabenen Sohn, durch Treu und kind-
liches Beſtreben nach den Gaben ſeines ſanften rei-
nen heiligen Geiſtes, zu derjenigen Vollkommen-
heit zu erheben, deren die Menſchheit faͤhig, wenn
ſie in Verbindung einer feſten, weiſen, buͤrgerli-
chen Bildung noch die Segensſtimmung edler, rei-
ner und ungefaͤlſchter Anbetung Gottes genie-
ßet. —
[346]
So machte er die Religionslehre zum Schluß-
ſtein des Werks ſeiner Geſezgebung, die er auf das
Fundament der feſten und vollendeten Mauern ei-
ner weiſen buͤrgerlichen Bildung gebauet. Er hatte
aber auch den Pfarrer dazu, ſein Werk alſo zu be-
ſchließen. —
Bonnal ſah dieſen Edeln, in der Mitternacht-
ſtunde am Todbette der Menſchen — vor Aufgang
der Sonnen auf den Wegen zu den zerſtreuten fer-
nen Berghuͤtten ſeines Dorfs — in der Mittag-
ſtunde bey der hungernden Witwe — am Abend
im Kreis der Kinder des Dorfs — in jeder Stun-
de des Tags am Ort, wo ihn ſeine Pflicht hinrief,
und der leiſeſte Wunſch eines Menſchen in ſeinem
Dorf war ihm Ruf ſeiner Pflicht, ſo bald er ihn
ahndete. — Und auf dieſem Gottesdienſt ſeines
Lebens ruhete und gruͤndete ſich der Dienſt ſeiner
oͤffentlichen Lehre, die meiſtens in einfachen, aber
Seel erhebenden Lobpreiſungen und Dankſagungen
fuͤr die Wohlthaten Gottes beſtunde, und durch
ihre, das Innere unſerer Natur erhebende und
veredlende Wirkung, das Beduͤrfnis nach Wort-
erklaͤrungen und großen Reden uͤber Pflicht und
Meynungen bey ſeinen Bonnalern immer mehr
verminderte. Er dachte und ſagte hieruͤber die
Worte Chriſti: „Wenn dein Auge heiter iſt, ſo iſt
auch dein ganzer Leib heiter“, und redete wenig
mit dem Volk, und redete viel lieber und viel mehr
[347] mit einem jeden allein; und that er es, ſo that er
es nichts weniger als ununterbrochen, ſondern
wandte ſich mitten in ſeinen einfachen Volksreden
bald an dieſen, bald an jenen, trat mit ihm auf
die natuͤrlichſte Art ins Geſpraͤch ein, wie ein Haus-
vater, wann er mit ſeinen Hausgenoſſen redet. —
Er ſtellte Maͤnner auf, die in Feld oder Vieh Un-
gluͤck gehabt — Mutter, deren Kinder, und Kin-
der, deren Muͤtter geſtorben — Mit einem Wort,
er nuͤzte die Vorfaͤlle der Zeit, und die Umſtaͤnde,
die Eindruck auf einzelne Menſchen in der Gemeinde
gemacht. Dieſe Eindruͤcke zu berichtigen, zu ver-
edeln und gemein zu machen, Weisheit, Gottes-
furcht, und Gottes Ergebenheit, durch die Kraft
derſelben in ſeinem Volk immer mehr auszu-
breiten.
Er meynte nichts weniger, als daß es etwas
Feyerliches und Großes ſey, auf der Kanzel allein
zu reden; es duͤnkte ihn vielmehr, es ſey unnatuͤr-
lich, und zeige vielweniger Verſtand, als wenn man
im Stand ſey, das, ſo man ſagt, dem Volk ſo an-
zubringen, daß es im Augenblick ſelber ins Geſpraͤch
eintrete, und dem Lehrer Schritt fuͤr Schritt in
dem, was er mit ihm redt, Fuß halten kann.
Er glaubte, das ſey das Siegel und Zeichen der
wahren Kraͤften eines Volkslehrers, und das aͤchte
Fundament aller wahre Volkserbauung. —
[348]
Nachmittag war ſein Gottesdienſt gaͤnzlich
Nichts, als eine Unterredung mit dem Volk. Er
ſtund im Kreis ſeiner Dorfkinder, denen dieſe Volks-
Unterredungen zu ihrem Religions-Unterricht die-
nen mußten. Die ganze Gemeinde war in ſechs
und zwanzig Abtheilungen abgetheilt; alle Ge-
meindsgenoſſen mußten jaͤhrlich zweymal nach der
Ordnung dieſer Abtheilungen, vom aͤlteſten Greiſen
an bis zun ſiebenjaͤhrigen Kindern, zum Altar her-
fuͤr; er redete dann mit ihnen im Kreis dieſer Dorf-
kinder, nach der Form eines von ihm und dem
Lieutenant aufgeſezten natuͤrlichen Volks- und
Dorfs-Unterricht, von Gott, den Pflichten und den
Umſtaͤnden des Lebens. Er trat izt in die Umſtaͤn-
de der Leuten, die er genau kannte, hinein; machte
Alte und Junge jede nuͤtzliche Erfahrung, die ſie
in ihrem Kreis gemacht, erzaͤhlen, ließ dann die
andern mit ihnen ins Geſpraͤch eintreten, wie auch
ſie an ihrem Plaz die Erfahrungen benutzen, oder
wie auch ſie in ihren Kreiſen aͤhnliche Erfahrungen
gemacht haben. —
Es war ihm nichts zu klein. Ein Kind, das
gegen eine Geiß, die ihns geſtoßen, vernuͤnftig oder
unvernuͤnftig gehandelt, war eben ſo gut, als eins,
das das ſchoͤnſte Loblied auf Gott auswendig ge-
lernt, ein Gegenſtand ſeines Religions-Unterrichts,
und mußte ſo gut von ſeiner Geiß und ſeiner Auffuͤh-
[349] rung gegen ſie mit ihm reden, als eines, das ſei-
nem kranken Großvater abwartete, und von ſeiner
Krankheit mit ihm reden mußte.
So band er durch die Art ſeines Religions-
Unterrichts jede Weisheit des Lebens an die Kraft
ſeiner gottesdienſtlichen Lehre, und zeigte von allen
Seiten den Zuſammenhang des Einfluſſes einer
durch gute Staats-Einrichtungen den Menſchen
verſicherten Hausweisheit, auf die Realitaͤt ſeiner
Gottesfurcht und ſeiner Menſchenliebe. Auch dankte
er in ſeiner Kirche oͤffentlich Gott fuͤr die Einrich-
tungen, Geſeze und Anſtalten Arners, durch wel-
che ſie auf eine ihrer Natur ſo angemeſſene Art,
zur wahren Erkenntnis ihrer ſelbſt, zu realer, wirk-
ſamer und thaͤtiger Liebe ihres Naͤchſten, und zu
einer ungeheuchelten Anbetung Gottes erhebt und
tuͤchtig gemacht werden.
[350]
§. 61.
Seine Feſtform ruhet eben ſo auf Bauern-
geiſt und Bauernordnung, als ſie die
Endzwecke eines weiſen Geſezgebers,
und diejenige eines frommen Religions-
Lehrers vereinigt, und auf die eigent-
liche Individual-Lage derjenigen Men-
ſchen gebauet iſt, welche das Feſt feyern.
So wie dieſer gute Pfarrer in ſeinem taͤglichen
Thun, und in der ſtuͤndlichen Erfuͤllung ſeines
Stands- und Berufspflichten, dem Leichtſinn und
der Gedankenloſigkeit, als den erſten Quellen ihrer
Fehler und Schwaͤchen, und den erſten Hinder-
niſſen ihrer wahren Veredlung, durch den Geiſt
und die Kraft ſeiner gottesdienſtlichen Fuͤhrung ent-
gegen arbeite, ſo that er dieſes beſonders an den
heiligen Feſten.
Am ſtillen Abend, vor der Feyer eines heiligen
Tages, verſammelte ſich das Volk ſeiner Gemeinde
vor den Kirchen auf dem Kirchhof, ein jedes bey
der Ruheſtaͤtte der Seinigen; dann kam auch er,
kniete auf das Grab ſeines Vorfahrs, und ſagte
zum Volk: „Erinnert euch derer, die vor euch ge-
[351] lebt, und hoͤret die Worte der Wahrheit, die ſie
mit euch geredt haben aus ihren Graͤbern!“ —
Dann laͤuteten alle Glocken; das Volk und der Pfar-
rer blieben eine Viertelſtunde auf den Graͤbern ih-
rer Vordern in ihrer Andacht; dann gieng die Ge-
meinde in die Kirche; alle Aeltern fuͤhrten ihre
Kinder zu ihm hin, zum Altar. Nachdem der
ganze Kreis der Kinder um ihn her geſtellt war,
ſagte er in Mitten dieſer Kinder zu der Gemeinde:
„Erinnert euch derer, die nach euch kommen wer-
den, und bittet Gott, daß ihr nichts an ihnen ver-
ſaͤumet“! dann bog er ſich nieder, betete im Kreis
der um ihn her knienden Kinder laut fuͤr die Nach-
welt des Dorfs, deren Fuͤhrung und Bildung der
liebe Gott in ihre Haͤnde gelegt; die ganze Ge-
meinde kniete mit ihm, und betete ihm nach fuͤr
ihre Kinder, und wann er endete, ſo ſprach alles
Volk ihm nach das Wort Amen; dann nahmen die
Aeltern ihre Kinder vom Altar weg an ihre Hand,
fuͤhrten ſie bis außert die Kirchen, und ließen ſie
heimgehen; ſie aber blieben noch in der Kirche,
und der Pfarrer fieng dann die Pruͤfungsſtunde
dieſes Abends an.
Die Ordnung dieſer Pruͤfungsſtunde iſt dieſe:
Zu erſt betete der Pfarrer niedergebogen vor dem
Kreuz Jeſu Chriſti ſtill; dann ſtund er auf, las
mit lauter Stimm: das iſt die Pruͤfung eines am
Feſte des Herrn! ob er in der Liebe wandle vor
[352] dem Herrn ſeinem Gott, und vor ſeinem Volk? —
Mangelt jemand deines Raths? — Kennſt du die
Ordnung deines Volks? — Hanget die Jugend an
deinem Herzen? — Biſt du der Alten Troſt? —
und der Leidenden Heil? Steheſt du in der Ver-
wirrung des Volks wie ein Fels? — Und wer in
der Welt Schifbruch leidet, findet er bey dir Troſt,
wenn ihn die Wellen der See an dein Ufer tragen?
— Wandelſt du in der Kraft des Herrn deines
Gottes einher, und in ſeiner Liebe? —
So las er; — dann bog er ſich wieder tief
zur Erde, und ſagte: Herr! ſey mir gnaͤdig in mei-
ner Schwachheit, denn ich bin ein Menſch, und
habe viel uͤber mich genommen, in deinem Namen
und vor deinem Volk —! Dann las er fort,
oͤffentlich vor der ganzen Gemeinde, die Pflichten
und den Beruf eines chriſtlichen Pfarrers, und das
Gemaͤhlde des Guten, das er durch ſeine Sorgfalt,
Weisheit, Ordnung und Amtstreu im Dorf, und
zum Segen deſſelben, auf Kind und Kindskinder
hinab ſtiften und feſt gruͤnden koͤnne — dann auch
das Gemaͤhlde des großen Unſegens und Ungluͤcks,
das einer durch Mangel von Sorgfalt, Ordnung,
Einſichten und Amtstreue eben ſo, wie durch ein
ungoͤttliches, ſorg- und pflichtloſes Leben in einem
Dorf anrichten, und auf Kind und Kindskinder
hinunter fortpflanzen koͤnne. In dieſem Volksge-
maͤhlde uͤber die Pfarrer und ihren Dienſt, war
der
[353]
der erſte dargeſtellt als ein Diener Gottes, und ein
Vater des Volks, der andere hingegen als eine
voͤllige Ueberlaſt der Geſellſchaft, und als ein Mann,
der ohne Ehre im Leib, auf Rechnung und Zehrung
der Religion, und auf Unkoſten des Staats, un-
verdientes Brod eſſe, und dafuͤr großen Schaden
ſtifte. Dieſes doppelte Bild des guten und des
ſchlechten Pfarrers, und das Gluͤck der wahren
Volksvorſorge unter dem erſten, und der Ver-
wahrloſung deſſelben unter dem andern, las er laut
vor allem Volk vor. —
Dann traten die Vorgeſezten vor den Altar,
knieten nieder — dann las der Pfarrer —
Das iſt die Pruͤfung eines Vorgeſezten zur
Vorbereitung am Feſte des Herrn! —
Iſt Ordnung und Licht in allem was dir uͤber-
geben worden? — Beſorgſt du die Sachen des
Dorfs wie deine Eigene? — Legt dich die Noth
der Witwen und der Mangel des Waiſleins un-
geſchlafen? — Iſt keinem Unſchuldigen und Armen
Angſt, wann du um den Weg biſt? — Und wann
du in die Haͤuſer des Dorfs hinein kommſt, fuͤrch-
tet das Weib des Armen, und ſein Kind nichts
Boͤſes von dir? — Gehet es denen Kindern auf,
deren Vogt du biſt? — Und wann dein Haus und
deine Habe beſorgt wuͤrde, wie das und die Habe
Z
[354] deiner Vogtanvertrauten, wuͤrdeſt du nicht ſagen,
das Gott erbarm'? — Und wuͤrde kein Waiſlein,
deſſen Gut du unter den Haͤnden haſt, wenn es
alles wuͤßte was du thuſt, ſeufzen, das Gott er-
barm? — Wann du Gutes willſt, und Gutes
thuſt, thuſt du es dem Armen wie deinem Kind?
— Oder thuſt du es mit der Geiſel in der Hand?
— Wuͤrgſt du dem Menſchen, dem du Brod
giebſt, das Herz ab? — Kannſt du ſtandhaft,
anhaltend, geduldig und nachſichtig helfen, wo
ohne Standhaftigkeit, Geduld und Nachſicht un-
moͤglich zu helfen iſt? —
So las der Pfarrer; und der Aelteſte der
Vorgeſezten antwortete ihm mit lauter Stimme
vor allem Volk: — Diener des Allerhoͤchſten! wir
ſind ein ſchwaches Geſchlecht, und vergeßlos wie
unſere Vaͤter, die vor uns gelebt; — aber werde
nicht muͤde, uns den Spiegel unſerer Pflichten
immer vor Augen zu halten, damit wir in der
Furcht Gottes bleiben, und unſere Pflichten je laͤn-
ger je weniger vergeſſen! — Dann las der Pfar-
rer auch ihnen das Bild eines guten und eines
ſchlechten Dorfvorgeſezten oͤffentlich vor allem Volk
vor. — Das Bild war auf keiner Seite uͤbertrie-
ben; aber es ſezte deutlich und vielſeitig ins Licht,
wie ein guter Vorgeſezter auf Kind und Kindskin-
der hinunter Wohlſtand und Segen, der andere
hingegen Verwirrung und Ungluͤck veranlaſſen und
[355] faſt nothwendig machen koͤnne. — Und alles, ſo
in ihrer Sprache, und ſo auf die Faͤlle ihrer taͤgli-
chen Erfahrung eingerichtet, daß ein jedes Kind
bey dem Vorleſen dieſer Bilder denken konnte,
wenn der Vorgeſezte mit meinem Vater, oder mit
meiner Mutter, izt ſo und ſo handelt, ſo iſt es
juſt wie es da ſteht. —
Auf dieſe kamen die alten grauen Maͤnner
und Weiber — und der Pfarrer las —
Das iſt die Pruͤfung des grauen Alters fuͤr den
Feſttag des Herrn! — Iſt dein Sinn deinem Al-
ter angemeſſen? — Hangeſt du nicht mehr an der
Erde, als die Tage werth ſind, die du noch zu leben
haſt? — Biſt du denen, die nach dir kommen,
was du ihnen ſeyn ſollſt? — Kannſt du den Berg,
der hinter dir iſt, anſehen, als ob er dich nichts
mehr angehe? — Kannſt du liegen laſſen, was
Niemand mehr von dir fodert, was andere izt beſſer
machen als du? — Plageſt du Niemand mit dei-
ner Schwaͤche? — Goͤnneſt du der Jugend die
Freuden ihrer Staͤrke? — Haſt du keinen Saa-
men der Unruhe ausgeſaͤet, der hinter deinem Grab
keimen koͤnnte? — Kannſt du aus den Erfahrun-
gen deines Lebens nicht mehr Nutzen ziehen fuͤr dich,
die Deinigen, und fuͤr alle Menſchen? — Nimmſt
du nichts mit dir unter den Boden, das jemand
nuͤtzen konnte, wenn du es ihm zeigteſt oder ſagteſt?
Z 2
[356] — Sollteſt du keiner Wahrheit Zeugniß geben, die
verdreht werden kann, wenn du nicht mehr da biſt?
— Kannſt du nicht mehr thun als du thuſt, vor
deinem Ende ſicher zu werden, daß keines der Dei-
nigen dem andern Unrecht thun koͤnne? — Sieheſt
du mit Ruhe uͤber das Grab? Und werden deine
Enkel Gott loben, wenn ſie deinen Namen hoͤren
und von dir ſagen, er war wahrlich unſer Vater
— ſie war wahrlich unſere Mutter? —
Dann antwortete einer der Alten —
Diener Gottes! unſere Staͤrke iſt dahin, und
unſere Kraft iſt vergangen, wir ſind worden wie
die Blaͤtter eines Baums, die den Winter uͤber am
leeren Aſt hangen geblieben. — Sey der Stab
unſers Alters, Diener Gottes! fuͤhre uns an deiner
Hand zu allem was wir noch thun koͤnnen, damit
keiner unſerer wenigen Tagen mehr verloren gehe
— es ſind ihrer genug verloren. —
Dann las er ihnen mit kurzen Worten das
Bild alter Leute vor, die in ihrer Schwaͤche noch
der Segen der Nachwelt, und bis ans Grab die
Freude der Ihrigen ſind. —
Aber das Bild der Fehlern und Schwaͤchen
des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde
nicht vor. Er wußte daß der Menſch in der ſpaͤ-
ten Neige ſeiner Tage nicht mehr zu aͤndern iſt,
[357] und daß alten Leuten Vorwuͤrfe mehr, als
alle Laſt des Lebens wehe thun. Er kannte die
Pflicht, das heilige Alter nicht zu kraͤnken, und
wollte darum ihren Nachkommen und Hausgenoſſen
mit dem Bild ihrer Fehler nicht Anlas geben
ungeduldiger mit ihnen zu werden, und unfreund-
licher mit ihnen zu handeln. Hingegen das Bild
des Guten, das ſie noch in der Welt ausrichten,
und die Umſtaͤnde und Anlaͤſſe, bey denen ſie ihre
Erfahrungen brauchen konnten, die Menſchen, die
hinter ihnen aufwachſen, auf diejenigen Sachen
aufmerkſam zu machen, die ihnen vorzuͤglich zum
Nutzen oder Schaden gereichen koͤnnten, und beſon-
ders, wie ſie hinter ihrem Grab Streit und Un-
ruh, Eifer und Neid, unter ihren Nachkommen
vorbiegen konnten. —
Das alles las er ihnen in liebreichen, ſorgfaͤl-
tigen, und ihr Alter ehrenden Ausdruͤcken vor;
und erquickte ihr Herz mit der Liebe, mit der er ſich
ihnen anbot, an ihrer Statt alles zu thun, was
ihnen in ihrem Alter und in ihrer Schwaͤche zu
ſchwer fallen wuͤrde, wenn ſie es ihm nur ſagen,
und machen, daß nichts verſaͤumt werde, und ſie
ruhig ihrem nahen Fortgang aus dieſer Erde ent-
gegen ſehen koͤnnen.
Die Alten knieten nicht vor dem Altar, ſie
ſaßen auf Baͤnken.
Z 3
[358]
Nach ihnen kamen die Hausvaͤter und Haus-
muͤtter, und er ſagte zu ihnen — ſeyd ihr wie ein
guter Baum, der da ſteht voll reifer Fruͤchten? —
Dann las er: Das iſt die Pruͤfung eines Vaters
und einer Mutter, ob ſie in der Liebe wandeln vor
dem Herrn ihrem Gott —! —
Wendeſt du die Kraͤfte deines Leibs und dei-
ner Seele an, daß es deinen Kindern in Zeit und
Ewigkeit wohl gehe? — Weißeſt du, daß deine
Kinder das Ebenbild Gottes ihres Schoͤpfers in
ihrem Innerſten herumtragen? Und heiligeſt du
ſie zu einem Tempel der Herrlichkeit Gottes die in
ihnen wohnet? — Oder iſt deine Liebe zu ihnen
blos die Liebe des Thiers das ſeinen Jungen an-
hanget? — Kenneſt du die Beduͤrfniſſe der Seele,
und den Segen des Friedens, und die Ruhe des
Herzens? — Biſt du eben ſo geſchaͤftig ihren See-
len Nahrung zu ſchaffen, und ihren Geiſt zu beklei-
den als ihren Leib? — Weißeſt du, daß wenn du
ihre Seelen verſchmachten, und blos und unbe-
kleidet aufwachſen laͤßeſt, ſie verwildern, und wie
die Thiere der Felder werden, wie die wilden
Thiere, die man abthun und ausrotten muß von
der Erde, damit das Leben und das Eigenthum
des Menſchen vor ihnen ſicher ſey? — Weißeſt du,
daß deine Hausordnung das Meiſte dazu beytraͤgt,
ihre Seelen gut zu bilden, und ſie vor allem Boͤſen
zu bewahren? — Wacheſt du in dieſem Geſichts-
[359] punkt d[e]ſto ſorgfaͤltiger uͤber alle Theile deines Hau-
ſes? — Beteſt du mit ihnen? — Weißeſt du ſie in
den Uberwindungen des Lebens auf Gott hin?
daß ſie ruhig bleiben bey der Laſt des Lebens in
ihrem Herzen. — Thuſt du ihnen nichts, als
wahrhaft Gutes? — Laͤßeſt du ſie an Leib und
Seele in nichts ſchwach und krumm werden? —
Bringſt du den Segen deiner Aeltern zum ſichern
Zeichen deiner Liebe und Treu ungeſchwaͤcht auf
ſie herab? — Gehet das Gut deiner Aeltern in
deiner Hand nicht fuͤr ſie verloren? — Und werden
deine Kinder hinter dir nicht ſeufzen und klagen,
mein Vater und meine Mutter haben mir Unrecht
gethan, und ich bin um der Fehler ihres Lebens
willen eender geworden, als keine Waiſe? —
Ihm antwortete der erſte der Hausvaͤter: —
Auch wir ſind ein ſchwaches Geſchlecht, und die
Seele unſerer Kinder iſt oft und viel ſo wenig in
unſerer Hand, als ihr zeitliches Gluͤck; dennoch
aber lehre uns unſere Kinder bewahren, wie unſern
Augapfel, Diener des Allerhoͤchſten! —
Dann las er ihnen das Bild eines ſchlechten
und eines guten Hausvaters, und dasjenige einer
ſchlechten und einer guten Hausmutter vor, und
mahlte mit wahren und ſtarken Farben die Haupt-
ſachen einer guten Hausordnung, ſo wie die Haupt-
fehler einer ſchlechten Hausordnung und einer
Z 4
[360] ſchlechten Kindererziehung deutlich ab, mit Dar-
ſtellung der vielerley Folgen, die beydes auf Aeltern
und Kinder bis auf das Todbett der erſten, und
auf die Nachkommenſchaft der andern habe, und
haben muͤſſe.
Nach ihnen kam die reife Jugend des Dorfs;
feyerlicher noch als die andern wurden ſie von ih-
ren Aeltern und Großaͤltern herfuͤr zum Altar ge-
fuͤhrt; und wann ſie knieten, ſtund der Kreis ihrer
Aeltern und Großaͤltern rings um ſie herum, und
falteten die Haͤnde vor der Gemeinde, dann ſagte
der Pfarrer —
Soͤhne der Vaͤter! und Toͤchter der Muͤtter,
die euch zum Altar Gottes bringen! Was ſeyd ihr?
— Was werdet ihr werden? — Warum kom-
met ihr hieher? —
Ein Augenblick darauf —
Du unſere Hofnung und unſer Stolz, bluͤ-
hende Jugend! du biſt wie ein Garten in ſeiner
Pracht; aber wiſſe, die Erde naͤhret ſich von den
Fruͤchten des Felds, nicht von der Zierde der Gaͤr-
ten, ruͤſte dich auf die Tage, wo du ohne Zierde
und ohne Schmuck das Werk deines Lebens wirſt
verrichten muͤſſen. Aber die Tage entſcheiden uͤber
die Frucht des Weinbergs und der Baͤume, und
der Gebrauch der Stunden deiner itzigen Zeit, ent-
ſcheidet uͤber den Werth deines Lebens. Im Som-
[361] mer deines Lebens, und im Herbſt deiner Tage,
wirſt du umſonſt dann Weisheit ſuchen, wann du
ſie izt nicht ſucheſt, vergebens die Kraͤfte wuͤnſchen,
die du izt nicht uͤbeſt. Was du izt verlierſt, wirſt
du nie wieder finden; und was du verſaͤumſt, wird
dir verſaͤumt ſeyn, bis an dein Grab. —
Dann las er ferners —
Das iſt deine Pruͤfung, bluͤhende Jugend!
ob du in der Liebe wandelſt vor dem Herrn dei-
nem Gott?
Nimmſt du zu in allem Fleiß? — In aller
Ordnung, in allen Kenntniſſen des Lebens, und in
allen Vorzuͤgen der Seele? — Wachſeſt du auf
zum ſichern Troſt deiner Aeltern — Sind ihre
Bemuͤhungen an dir nicht verloren? — Macht
deine Liebe, und dein Dank, ihnen ihr Leben
leicht? — Und ſorgſt du fuͤr dich ſelber, wie ein
Menſch in deinem Alter, der mit Ehren zu grauen
Haaren kommen will, thun muß? — Kenneſt du
die Beſtimmung und die Gefahren des Lebens, und
die Schreckensabgruͤnde der Wege in deinen Jah-
ren? — Flieheſt du den Schein des Uebels, damit
dich das Uebel nicht ſelber ergreife? — Kenneſt du
die Schwaͤchen deines Geſchlechts? — Und laͤſſeſt
du dich warnen vor der Menge der Menſchen, die
ſich in Gefahr begeben, und vor deinen Augen dar-
[362] inn umkommen? — Kenneſt du den Schaz, den
du in dir ſelber herumtraͤgſt, die Tage deines Le-
bens zu ſchmuͤcken? — Und die Stunde deines
Abſterbens zu erheitern? —
Soͤhne und Toͤchter meines Volks! ihr pruͤfet
euch vor dem Altar unſers Gottes, ob ihr in der
Liebe wandelt? Ich aber frage euch, iſt keiner
unter euch der Moͤrder des andern? — Denn wiſ-
ſet, wer einen Menſchen verderbt mit ſeiner Suͤn-
de, der iſt ein Moͤrder. — Du, unſere Hofnung
unſer Stolz! bluͤhende Jugend! niedergebuͤckt vor
dem Altar Gottes, an der Seiten deiner Aeltern
und vor der ganzen Gemeinde, muß ich dir ſagen,
es ſind Soͤhne der Erden, die die Toͤchter des Lan-
des wie Raubvoͤgel die Unſchuld einer Taube wuͤr-
gen, und ſie dann liegen laſſen in ihrem Elend wie
ein Aas in dem Wald. Wiſſe, o du Hofnung un-
ſers Volks, und du unſer Stolz! es ſind Toͤchter
auf Erden, die den Knaben Schlingen legen auf
Leben und Tod, und die Soͤhne des Lands mit
dem Gift ihrer Wuth toͤdten, und die Frucht ihres
Leibs erſticken, wie kein Vieh auf der Erde die
Frucht ſeines Leibs erſtickt.
Beuge dich nieder, Krone unſers Haupts!
vor dem Altar der Liebe, und frage dich ſelbſt, iſt
keiner des andern Moͤrder? Und erkenne die Schwaͤ-
chen deines Geſchlechts, und die Gefahren deines
Alters —!
[363]
Dann antwortete ihm der aͤlteſte der Juͤng-
linge —
Es iſt wahr, wer immer ſeinen Nebenmen-
ſchen in der Suͤnde verdirbt, der iſt ſein Moͤrder,
Diener des Allerhoͤchſten! werde nicht muͤde, uns
ferner die Schwaͤchen unſers Geſchlechts, und die
Gefahren unſers Alters zu lehren! —
Dann las er auch ihnen das Bild ihrer Ta-
gen, und das junge Volk hoͤrte kniend der Leiden-
ſchaften Gefahrem, und die Schreckensgeſchichte der
Wolluſt, vom Anfang der Schamhaftigkeit bis an
die Graͤnzen der Selbſtverheerung, und die Ab-
gruͤnde des Kindermords, und dann auch die Mit-
tel der Weisheit und Gottesfurcht, gegen dieſes
Verderben der Schwaͤche unſerer Natur. —
Nach dieſem wandte er ſich an ihre Aeltern,
und ſagte: Nehmet von ihnen das heilige Verſpre-
chen, das keines das andere ungluͤcklich machen
wolle! —
Dann giengen die Reihe der Soͤhne und die
Reihe der Toͤchter zu ihren Vaͤtern und Großvaͤ-
tern, die hinter ihnen ſtunden, verſprachen ihnen,
ihre Haͤnde in die Haͤnde ihrer Aeltern gelegt, daß
ſie zu einander Sorge tragen, und einander nicht
ungluͤcklich machen wollen. —
Nach ihnen kamen die Witwen und Waiſen;
dann ſtund die ganze Gemeinde auf, und der Pfar-
[364] rer redete mit der Gemeinde, als mit den wahren
Aeltern und Pflegvaͤtern der Witwen und Waiſen;
dann las er auch die Pruͤfung der Witwen und Wai-
ſen, und das Bild ihres Zuſtands. —
So endete ſich die Pruͤfungsſtunde des Volks
in Bonnal am Abend vor den heiligen Feſten. —
Den folgenden Tag, als am Feſte ſelber, wie-
derholte der Pfarrer faſt mit aͤhnlichen Worten einer
jeden Klaſſe ſeiner Pfarrkinder das Weſentliche die-
ſer Pruͤfung, in dem Augenblick vor dem Genuß
des Mahls der Liebe, und nach dieſer heiligen
Handlung ſagte er zum Volk —
Irret euch nicht! — Die Liebe beſtehet nicht
in Einbildungen und Worten, ſondern in der Kraft
der Menſchen, die Laſt der Erden zu tragen, ihr
Elend zu mindern, und ihren Jammer zu heben. —
Der Gott der Liebe hat die Liebe an die Ord-
nung der Erde gebunden, und wer fuͤr das, was
er in der Welt ſeyn ſoll, nicht in der Ordnung iſt,
der iſt auch fuͤr die Liebe Gottes und des Naͤchſten
in der Welt nicht in der Ordnung. Wer immer
nicht iſt, was er ſeyn ſoll, nicht kann, was ſeine
Pflicht iſt, und zu dem nicht taugt, was ihm ob-
liegt, dem mangelt die erſte Kraft der reinen Liebe
Gottes und des Naͤchſten. —
[365]
Sie iſt nicht ein Traum, und nicht wie das
Saͤuſeln des Windes, das ſanft in deinen Adern
ſchlaͤgt, und nicht wie das Wiegen eines Kinds,
das unter dem Singen der taͤndelnden Amme ent-
ſchlaͤft.
Alle Liebe der Menſchen, die ohne Kraft und
ohne Wirkung iſt, iſt ſo viel als keine. Ohne Le-
bensweisheit, ohne Lebensſtaͤrke, ohne Ueberwin-
dungskraͤfte, ohne Hausordnung, ohne eine vor-
ſichtige, bedaͤchtliche, und die Grundfeſten des
menſchlichen Wohlſtands, feſthaltende Seelenſtim-
mung, iſt ſie nichts anders, als die gleiche thieri-
ſche Theilnehmung, die faſt ein jedes Thier beym
Leiden eines andern ſeiner Art zeiget; aber dieſe
Art bloßer Thierliebe iſt im buͤrgerlichen Leben
Nichts und minder als Nichts werth, ſie iſt gaͤnz-
lich Verdienſt-leer und Wirkungs-los — Sie hilft
Niemanden, ſie bringt Niemanden in Ordnung;
was ſie will, das kann ſie nicht: was ſie verſpricht,
das haltet ſie nicht; was ſie anfaͤngt, das gera-
thet ihr nicht — ſie macht den Hungrigen nicht
ſatt — ſie hat den Durſtigen nichts zu trinken —
ſie macht den Frierenden nicht warm — ſie laͤßt
den ſinkenden im Koth — kurz, ſie betruͤgt, ihre
Hofnungen ſind leerer Schein — ſie nimmt dem
Menſchen was er hat, und giebt ihm nichts wie-
der, und thut Niemanden darmit wohl. — Der
Menſch iſt nur in ſo weit wahrer wirkſamer Liebe
[366] faͤhig, als er den Naturfehlern ſeines Geſchlechts
Meiſter, den Leichtſinn, die Gedankenloſigkeit, die
Traͤgheit, die Unwiſſenheit, die Unbedachtſamkeit,
die Leichtglaubigkeit, den Starrſinn, die Tollkuͤhn-
heit und Gewaltthaͤtigkeit des wilden Naturlebens
beſiegen gelernt, und fuͤr ſeinen Beruf, und fuͤr
ſeine Umſtaͤnde zuverlaͤßig, arbeitſam, bedaͤchtlich,
uͤberlegend, anſtellig gebildet, und als zu einem
eben ſo gutmuͤthigen als weiſen Betragen gegen
alle ſeine Nebenmenſchen geſchickt gemacht worden.
So eng band er die Grundſaͤtze ſeiner buͤrgerli-
chen Volksbildung an die Religionsbegriffe, und
an die Andachtshandlungen deſſelben; hielt beſon-
ders dafuͤr, alle gottesdienſtliche Verſprechen muͤſſen
ſo viel als moͤglich ihre buͤrgerliche Kraft haben,
und der Wortbruch gegen gottesdienſtliche Verſpre-
chen muͤſſe nothwendig auch buͤrgerlich entehren.
Er brachte darum eine ſolche Deutlichkeit, Be-
ſtimmtheit, Offenheit, und Feyerlichkeit in dieſel-
ben, und arbeitete mit eben der Sorgfalt, mit der
er im buͤrgerlichen Leben dem Leichtſinn, der Ge-
dankenloſigkeit, und der Wortbruͤchigen Untreu ent-
gegen arbeitete, eben ſo dieſen Fehlern in allen Re-
ligionshandlungen entgegen, indem er es fuͤr das
Fundament des reinen wahren Gottesdienſts achtete,
daß der Menſch mit dem Werk ſeiner Andacht we-
der ſich ſelbſt betruͤge, noch dem lieben Gott ein
Blendwerk damit fuͤr die Augen machen wolle. Er
[367] that das beſonders in Abſicht auf die ſo auffallend
und allgemein misbrauchte Verſprechen bey den
Taufhandlungen, und hob die alte Form, Gevat-
terleute zu erbitten, gaͤnzlich auf; und verordnete
dagegen, daß ein jeder Vater den Perſonen, die er
zu Taufzeugen ſeines Kindes ſuche, ſeinen Wunſch
durch den Pfarrer des Orts muͤſſe anzeigen laſſen;
welcher dann eine beſtimmte Antwort von denſelben
zu fodern habe, ob ſie ſich in der Lage befinden,
und mit gutem freyem Willen bereit ſeyen, den
Wunſch des Vaters in ſeiner ganzen Ausdehnung
mit allem Ernſt, und mit Ruͤckſicht auf die Folgen,
welche ein ſolches Verſprechen auf ſie haben koͤnn-
ten, zu entſprechen? Die Angefragten waren voͤllig
frey, dieſe Bitte abzuſchlagen; wenn ſie ſie aber
annahmen, ſo mußten ſie ihr Verſprechen bey dem
Pfarrer ſchriftlich niederlegen, der es nicht dem
Vater zuſtellte, ſondern zu Handen der Gemeinde,
und zu ihrer allfaͤlligen Sicherheit aufbehielt. So
wie auf der andern Seite der Vater eben ſo be-
ſtimmt dem Pfarrer zu Handen der Gemeinde ſchrift-
lich geben mußte, daß er die erbetenen Taufzeugen
ſeines Kinds wirklich fuͤr faͤhig, geneigt, und im
Stand halte, ihm in Abſicht auf daſſelbe an die
Hand zu gehen, und daß er ſelbige um deßwillen
zu dieſem Endzweck fuͤr dieſen Chriſtendienſt ange-
ſprochen. — Wer Niemanden fand, der eine ſo
ernſthafte Verpflichtung fuͤr ſein Kind auf ſich neh-
[368] men wollte, dem mußte die Gemeinde, das iſt, die
Kirche, die Pathenſtelle vertreten; die Vorgeſezten
uͤbernahmen die Pflichten dieſer heiligen Verbind-
lichkeit, und bey Arners Ordnung mangelten ſie
nicht, dieſelbe zu erfuͤllen.
Auch die heuchleriſchen Taufzedel, in denen
Schaaren verlaſſener Wuͤrmchen von ihren Tauf-
zeugen dem lieben Heiland uͤbergeben werden, wie
der Joſeph von ſeinen Bruͤdern den Arabern, damit
er nicht umkomme, aber ihnen doch aus den Au-
gen — verbot er. Die Pfarrer, ſagte er, ſollen
Taufſcheine machen, und das ſey genug. — Der
Misbrauch dieſer Heuchlerzedel empoͤrte ihn aͤußerſt.
In der Zeit, da er hierinn dieſe Aenderung traf,
ſagte er mehrmalen, wann er die Stube auf- und
abgieng, zu ſich ſelber, Gottesdienſt! Gottesdienſt!
was machſt du aus den Menſchen? wenn deine
Handlungen keine buͤrgerlichen Verbindlichkeiten ha-
ben, und blos auf den ſchwankenden Sinn einer
Gutmuͤthigkeit ruhen, die jeder Wind wehet, wo-
hin er will! — Arner wollte es nicht ſo; er bauete
den Gottesdienſt auf den Einfluß ſeiner geſezgebe-
riſchen Volksbildung, die den Geiſt ſeiner Bonnaler
in allen Sachen auf das Weſentliche derſelben auf-
merkſam, und fuͤr daſſelbe real betriebſam machten.
Daß das Kind in der Wiegen verſorget, daß
das Alter am Rande des Grabes beruhiget, daß
die
[369] die Wange der Witwe, und das Auge der Waiſen
thraͤnenlos ſey, daß das Herz des Knechts nicht
verhaͤrtet, und die Unſchuld der Magd nicht ver-
ſchmaͤhet, und ein jedes im treuen Dienſt ſeines
Lebens Befriedigung finde, das war das Ziel ſei-
ner gottesdienſtlichen Lehre; und er baute die Mit-
tel, zu dieſem Ziel zu gelangen, auf diejenige See-
lenſtimmung des Volks, welche zu aller Weisheit,
zu allem Recht, und zu aller Ordnung des buͤrgerli-
chen Lebens die allervorzuglichſte iſt. —
§. 62.
Dahin zielte ich von Anfang — Und
wenn du Nein ſagſt Leſer! ſo muſt
du zuruͤckgreifen, und zu vielen vor-
hergehenden Nein ſagen.
Auf dieſer Bahn, nemlich durch die Feſthaltung
der Grundſaͤtze ſeiner geſezgeberiſchen Volksbil-
dung, kam er dahin, den wahren und einzigen Weg
zu entdecken, auf welchem die hoͤhere Endzwecke
einer weiſen Staatsgeſezgebung zuerzielen, na-
mentlich —
- Erſtlich: Die Vereinfachung der Abgaben des
Staats.
A a
[370]
- Zweytens: Die Sicherſtellung des wirklichen
Genuſſes buͤrgerlicher Rechte fuͤr die niedere
Menſchheit. - Drittens: Die Befreyung des Volks von dem
Druck der Knechtſchaft, die auf dem Landei-
genthum ruhet. - Viertens: Die Sicherſtellung niedern Men-
ſchen vor den ruinirenden Folgen, welche die
Feuersbruͤnſte, Waſſerſchaͤden, Hagelwetter
und Viehvreſten auf ſie haben. - Fuͤnftens: Die Moͤglichkeit den Militairdienſt fuͤr
die Sitten, die Bevoͤlkerung und den Wohl-
ſtand des Volks minder ſchaͤdlich zu machen. - Sechstens: Die außerordentliche Staatsabgaben
ohne verheerenden Druck auf das niedere Volk
zu beſtreiten, und - Siebendens: Ueberhaupt einen merklichen allge-
meinen Vorſchritt in dem Wohlſtand und der
Bevoͤlkerung des Lands mit zuverlaͤßiger Si-
cherheit auf Kind und Kindeskinder herunter zu
bringen. - Achtens: Und endlich das Schwert der Gerech-
tigkeit in der Scheide wahrhaft menſchlicher
Grundſaͤtze halten, und die andern Menſchen
mit ſo gefaͤhrlicher Schaͤrfe nicht unſchuldig zu
verletzen.
[371]
In dieſem allem fand Arner in der einfachen
Aufmerkſamkeit auf die buͤrgerliche Bildung ſeines
Dorfs gebahnte Wege. —
Leſer! es iſt kein Traum, die gute Bildung
des Volks zur Induſtrie iſt die einzige moͤgliche
Bahn zu allen dieſen Endzwecken. — Und Geſez-
geber! Geſezmacher! und Fuͤrſten! wollt ihr dieſe
nicht, ſo findet ihr — keine — und kommt in kei-
nem einzigen von allen hoͤhern Endzwecken einer
weiſen Geſezgebung auf tauſend Schritte nicht, auch
nur zu einem Anſchein eines vernuͤnftigen Ziels —
doch ich rede ja nicht mit Fuͤrſten, und haͤtte wirk-
lich ohne dieſe Anmerkung fortfahren koͤnnen.
Es war nun Jahr und Tag verſtrichen ſeit
ſeiner Krankheit, die Raͤder ſeines Werks giengen
alle ihren ſtillen Gang fort, und alle Anſtoͤße wur-
den mit jedem Tag ſchwaͤcher.
Wo der Grund und Boden geruͤſtet, da wach-
ſen die Fruͤchte des Feldes, und die Pflanzen des
Gartens heben ſich von der Erde empor, wenn die
Hand des Gaͤrtners ihnen nie mangelt — ſie man-
gelte in Bonnal der kleinſten Pflanze ſo wenig als
dem erſten Baum des Gartens — die feſte und gute
Ordnung, die in allem war, hob den Geiſt des
Menſchen hoͤher empor, als er da empor ſteigen
kann, wo keine Ordnung iſt, und der Leiter, die
A a 2
[372] man ihm zum Steigen darſtellt, nichts mangel[t]
als alle Sproſſen.
Der neue Vogt, der den Einfluß der immer
groͤßer werdenden Geldmenge, die in der Welt in
Umlauf gebracht wird, auf die gaͤnzliche Veraͤnde-
rung der Umſtaͤnde des Volks tief kannte, und ein-
ſah, wie alle Fundamente ſeiner buͤrgerlichen Si-
cherheit und ſeines haͤuslichen Gluͤcks von dieſer
Geldmaſſe, und von der mehr und mindern Sorg-
falt die der Menſch fuͤr denjenigen Antheil, der ihm
davon zukommt, hat, gaͤnzlich abhange — that
izt einen Schritt, der Arnern und den Lieutenant
ſelber in Erſtaunen ſezte.
Er trug nemlich der verſammelten Gemeinde
vor, es ſey moͤglich, durch Einrichtungen und Er-
ſparniſſen, die ihnen gar nicht ſchwer fallen wer-
den, innert 25 Jahren zu einem Kapital zu gelan-
gen, welches vollkommen genugſam ſey, die herr-
ſchaftlichen Gefaͤlle und die Abgaben, die ſamt
und ſonders auf ihrem Land, wie durch einen ewi-
gen Zins haften, von dieſem Kapital alſo zu be-
ſtreiten, daß ſie dannzumalen alle dieſe Gefaͤlle ſo
viel als getilget, und ihre Guͤter und Perſonen von
herrſchaftlichen Abgaben in ſo weit als befreyt anſe-
hen koͤnnten.
Er bewies ihnen zuerſt mit den Amtlichen-
Rechnungen, daß die ganze wirkliche Einnahme,
[373]
welche die Herrſchaft von allen Gefaͤllen aus ihrem
Dorf ziehe, noch in keinem Jahr vollends auf die
Summe von 1200 Gulden gekommen; daß folg-
lich, um der Herrſchaft zu allen Zeiten den Werth
ihrer Einnahme ſicher zu ſtellen, und auch noch
dem Werth, den die Verbeſſerung der Guͤter moͤg-
lich machen koͤnnte, gewachſen zu ſeyn, nicht mehr
als 40000 Gulden Kapital erfordert w[e]rde: dieſes
feſtgeſezt, bewies er dann mit der Kreide in der
Hand, und mit der großen Bauernzahl auf dem
Gemeindtiſch, um den ſich alles was rechnen konn-
te, und alles, was zur Sache auch ohne Rechnen
immer ein Wort redte, herumdraͤngte, daß wenn
ſie ſich entſchließen wollen —
- 1) Anderthalb Kreuzer von jeder Garbe, die
einer ſchneide, jaͤhrlich fuͤr den Steuerfond bei-
ſeits zu legen, und zu bezahlen. - 2) Alle noch uͤbrige Weiden dem Hoͤchſtbieten-
den ſo lang zu gaͤnzlich freyer Benutzung zu uͤber-
laſſen. - 3) Die vom Junker ausgetheilten Weiden, ſo
wohl die, ſo zu Buͤndten, als die ſo zu Matten
gelegt worden, fuͤr ſo viele Jahr mit dem halben
Zins ihres gegenwaͤrtigen Zinſes zu belegen, alſo
daß einer, deſſen Stuͤck Land 100 Gl. werth waͤr,
ſo lang jaͤhrlich davon 2 Gl. an den Steuerfond
bezahlen muͤßte; und endlich
A a 3
[374]
- 4) Die Einnahme und Beſorgung dieſer Gel-
der ohne alle Koͤſten, was Namens ſie auch ha-
ben wuͤrden, beſorgt werden muͤßte. —
So wolle er mit Haab und Gut davor ſtehen, die-
ſes Kapital muͤſſe innert 25 Jahren beyeinander
ſeyn. Dann bemerkte er noch, was er anbringe,
ſage er nicht als Vogt, ſondern als Buͤrger, auch
nicht um des Junkers willen und zu ſeinem Dienſt,
ſondern um der Gemeinde, und ihrer und ſeiner ei-
genen Nachkommenſchaft willen. Das freute die
Bauern beſonders; und der Vogt ließ noch ein
paar Worte fallen, wie viel leichter es dann ihren
Kindern ſeyn werde, auf einen gruͤnen Zweig zu
kommen — und kam dann auch dem Einwurf vor,
daß anderthalb Kreuzer viel gerechnet ſey auf eine
Garbe, indem er ihnen zeigte, daß ſie die Summe,
die dieſe Schatzung einem jeden betrage, nicht ei-
gentlich nach dem Werth der Garben berechnen,
ſondern vom Ganzen ihres Jahreinkommens abzie-
hen muͤßten — gieng dann mit ihnen in die Um-
ſtaͤnde ihrer Ausgaben und ihrer Einnahmen hin-
ein, und zeigte ihnen, immer mit der Kreide in
der Hand, voͤllig mit ihrer Bauernzahl und Ord-
nung, wie viel jaͤhrlich unnoͤthiger Weiſe von ih-
nen verbraucht werde, und wie viel ſie ohne Muͤhe
[er]ſparen koͤnnen, wenn ſie ſich darnach einrichteten.
Es kam Sonnen klar hinaus, daß ſie den Steuer-
fond, wie er geſagt, zuſammen bringen koͤnnen,
[375] wenn ſie nur wollten. Er brachte einen jeden Ein-
wurf in Anſchlag; er blieb keinem einzigen ein
Wort ſchuldig; war auch gegen den Duͤmmſten,
der ihm widerſprach, geduldig; und hatte ſo we-
nig, als vor 40 Jahren, da er noch bettelte, den
gewoͤhnlichen Vorgeſezten Ton, der immer alles,
was die Bauern ſelber machen, und ſelber wollen
ſollten, verdirbt. Zulezt ſagte er, ich weiß, es
iſt keiner da, der nicht lieber ſeinen Kindern ſein
Land, Bodenzins, Zehnden- und Steuerfrey hin-
terlaſſen wollte, um doppelt ſo viel Gut als er be-
ſizt, und keiner, der nicht erkennt, es waͤre auf
die erſte Manier beſſer fuͤr ſie geſorgt, als auf die
lezte; und dann auch, daß keiner da ſizt, der nicht
uͤberzeugt iſt, daß wir dieſe Summe zuſammen
bringen koͤnnen, wenn wir nur wollen. —
Wer die Bauern kennt, der weiß, daß ſie ſich
dafuͤr faſt haͤngen laſſen wuͤrden, ihr Land Zehn-
den- Bodenzins- und Steuerfrey zu bekommen.
Stelle dir alſo vor Leſer! was dieſer Vortrag auf
ſie fuͤr einen Eindruck gemacht! Ein Heide iſt nicht
ſo luͤſtern nach dem Raub, als ſie nach der Zehn-
den-Freyheit waren; ſie ſtuͤzten ihre Backen, kraz-
ten im Haar, und thaten viel anders d[a]s zeigte,
wie gern ſie moͤchten, aber auch, wie ſehr ſie nicht
trauten. Ihrer etliche ſagten ihm, du machſt uns
das Maul verflucht waͤſſerig — aber —
A a 4
[376]
Was aber? ſagte der Vogt. — Und ſie —
Du weißſt wohl, der Teufel iſt ein Schelm; wir
koͤnnen 25 Jahr zuſammen legen, und dann koͤnnte
einer das Geld an einem Regentag in ſeinen Sack
ſchieben, und weg tragen, wie wenn es ſein waͤr. —
Vogt. Dieſem muͤſſet ihr vorbiegen. —
Bauern. Koͤnnen wir das? —
Vogt. Ja freylich. —
Bauern. Das iſt bald geſagt, aber nicht
bald bewieſen. —
Vogt. Ihr wißt doch, daß ein jeder Herr
ſein Geld ſicher anlegen kann, wenn er will. —
Bauern. Das wiſſen wir freylich. —
Vogt. Aber warum ſollten wir das gleiche
nicht auch koͤnnen? —
Bauern. Weil wir Bauern ſind, und die
Herren mit unſerm Geld nicht ſo viele Komplimente
machen als mit Herrengeld; und denn verſtehen
wir das auch nicht ſo wie ſie. —
Vogt. Ihr ſaget zwey Gruͤnde; gebt izt
Achtung; ich will euch auf beyde antworten: Erſt-
lich ſaget ihr, ihr verſtehet es nicht mit dem Geld
anlegen, das mag fuͤr euch wahr ſeyn, fuͤr mich iſt
es nicht wahr, ich verſtehe das Geld anlegen, und
kann euch dienen; aber ich begehre gar nicht, daß
ihr mir trauet; im Gegentheil, ich anerbiete euch
[377] fuͤr jeden Heller, den ich euch anzulegen rathen
werde, kanzleyiſche Sicherheit auf mich ſelbſt, und
alles was ich beſitze, aber mit dieſem hoffe ich
dann, werde dieſer Einwurf gehoben ſeyn.
Dann ſaget ihr ferner, die Herrſchaften ma-
chen gar wenig Komplimente mit dem Bauerngeld,
das iſt wahr; aber ich muß euch doch ſagen, es iſt
auch hierinn nicht mehr wie vor alters, und es
wird alle Tage, auch fuͤr die groͤſten Herren immer
mehr eine kizliche Sache, Gewalt gegen anderer
Leuten ihr Geld zu gebrauchen; aber wir muͤſſen
gleichwohl gegen die Herrſchaft hierinn ſo zu Werk
gehen, als wenn man das Schlimmſte von ihr
zu befuͤrchten haͤtte, und wann wir ſo etwas zu
Stand bringen wuͤrden, ſo muͤßten wir hoͤhern
Orts als nur be[y] Arner unſere Sicherheit ſuchen.
Bauern. Aber duͤrften wir ihm zeigen, daß
wir ihm nicht trauen? —
Vogt. Ja freylich! es duͤrfen Kaͤſehaͤndler
und Uhrenkraͤmer vom Koͤnig in Frankreich Sicher-
heit fodern, wann ſie ihm Geld liehen. — Man
macht in der ganzen Welt hieruͤber keine Kompli-
mente mehr mit einander, es iſt auch kein Koͤnig
der izt mehr fodert, daß man ihm blind traue.
Bauern. Alſo meyneſt du, wir koͤnnten das
Geld anbinden, daß es ſicher angebunden waͤre? —
[378]
Der Vogt verſicherte ſie noch einmal, daß ſie
es gewiß koͤnnen, und daß er ihnen gut dafuͤr ſte-
hen wolle.
Wenns ſo iſt, ſagten die Bauern, ſo iſt es was
anders, und es laͤßt ſich der Sache nachſinnen —
Er redete noch eine Weile mit ihnen, zeigte
ihnen in allem, wie, wo, und wann; ſagte ihnen
auch noch das, wer gar nichts ſezt, kann auch
nichts gewinnen; ließ ſie dann heimgehen, und den
folgenden Tag, nach uͤbernaͤchtigen Rath, nahmen
ſie ſeinen Vorſchlag in allen Theilen an, beſchloſſen
mit dem neuen Jahr den erſten Beytrag an dieſen
Steuerfond zu leiſten, und dann in zwey oder drey
Jahren zu ſehen, wie es mit der Sicherheit fuͤr
dieſes Geld einzurichten. —
Wie geſagt, der Junker und der Lieutenant
erſtaunten uͤber dieſen Entſchluß. Man iſt den
Geſchaͤften nur Narren gegen die Donnersbauern,
wenn ſie einmal einer Sache recht auf der Spur
ſind, ſagte der Lieutenant — und der Junker —
ich habe noch nichts geſehen, daß dieſem Entſchluß
aͤhnlich iſt — und machte eilends den Vogt ins
Schloß kommen.
Dieſer glaubte, ſein Schritt habe misfallen,
aber ſein Entſchluß war genommen, will man das
nicht, ſo will ich nicht Vogt ſeyn. Er ſagte den
[379] geraden Weg, entweder muß der Zuſtand des Volks
auf einen feſten Fuß geſezt werden, und es muß
Dorf, als Dorf, und im Großen ſo gut frey ge-
ſtellt werden, aus ſeinen guten Umſtaͤnden, ohne
Nachtheil und zum Nutzen der Herrſchaft fuͤr ſeine
Nachkommen, wahre und weſentliche Vortheile zu
ſuchen, als es einem jeden einzelnem Menſchen er-
laubt iſt, dieſes zu thun, oder es kommt nichts
heraus. Er murrete bey ſich ſelber, es waͤre ja,
wenn man dieſes nicht erlauben wollte, vollends,
wie wenn man einem ſagte, du darfſt in einem
Haus ſo viel ſchoͤne Zimmer machen als du willt,
aber die 4 Hauptwaͤnde des Hauſes darfſt du nicht
in Stand ſtellen, daß ſie nicht zuſammen fallen.
Und er kam wie ein Jud, der auf dem Weg zu
einem Markt immer mit ſich ſelber rechnet, den
Kopf immer ſchuͤttelt, und das Maul nie ſtill haͤlt,
— diesmal ins Schloß.
Arner bat ihn, ihm zu zeigen, wie es moͤg-
lich, daß das Dorf eine Summe von dieſer Groͤße
zuſammen bringen koͤnnte! — Der Lieutenant ſezte
ſich neben den Vogt hin, rechnete Satz fuͤr Satz
nach was er angab — eine Viertelſtunde gieng
voruͤber, und der Ausſpruch ward: Die Sache
ſey moͤglich! — Der Junker und der Lieutenant
ſtunden eine Weile erſtaunt bey der ſo lang mis-
kannten und ungenuzten erſten Quelle des menſch-
lichen Wohlſtands. —
[380]
Es war nun am Tag, ein Dorf, das mit ſei-
ner Landwirthſchaft eine gut geleitete Gewerbſam-
keit verbindet, und das, was es erſparen kann,
ſo gut zu Rath zieht, als wohl regierte Staͤdte, und
gut gefuͤhrte buͤrgerliche Haͤuſer dieſes mit ihren
Erſparniſſen thun, kann ein Kapit[a]l anlegen, deſ-
ſen Zins ihm alle Laſten, die auf ſeinem Land lie-
gen, bezahlt. — Und ein Dorf, das dies kann,
kann auch ohne Maaß mehr. — Der Vogt machte
kein Geheimnis daraus, und der Lieutenant und
der Junker ſahen es ein; ein Dorf, das im Stand
iſt, auf den erſten Streich in 25 Jahren 40000
Gl. zuſammen zu bringen, iſt ſicher auch im
Stand, in den naͤchſtfolgenden Jahren auf 100000
Gl. zu kommen. — Es fiel auf, daß durch die-
ſen Plan —
Die Kraͤfte des Staats ohne Maaß erhoͤhet,
die Simplifikation aller Staatsauflagen erzie-
let —
Die Rechte der Menſchheit dem niedern Volk
verſichert —
Eine dem Beduͤrfnis der Induſtrie und des
ſteigenden Wohlſtands angemeſſene Volkserzie-
hung allgemein erſtrit[t]en —
Die zufaͤllige Ungluͤcksfaͤlle einzelner Familien
von der Geſellſchaft erleichtert, oder verguͤtet —
Die Landes Bevoͤlkerung ohne Maaß und mit
Sicherheit erweitert —
[381] Der Militaͤrdienſt durch den Ueberfluß von
Geld und Volk dem Land minder druͤckend ge-
macht; außerordentliche Staatsausgaben ohne
die geringſte Volksbedruͤckung erhoben: mit
einem Wort, die hoͤhern Endzwecke einer wahr-
haft weiſern Staatsgeſezgebung erzielet wer-
den koͤnnen. —
Es fiel auf, daß der einzige moͤgliche Weg et-
was reales zur Veredlung der Menſchheit im Großen
beyzutragen, auf einer weiſen Bildung des Volks
zur Induſtrie ruhet; und der Lieutenant ſagte am
Ende des Geſpraͤchs, es iſt wahr, Weisheit in Er-
werbung und Anwendung des Gelds, iſt das Fun-
dament des Menſchen, und aller Einfluß des Staats,
der nicht auf dieſes Fundament gebaut iſt, richtet
zum wirklichen Wohl der menſchlichen Geſellſchaft
nichts ſolides und allgemeines aus. —
Der Schluß war kurz: Arner verſprach dem
Vogt eine Ehrenſaͤule, wenn er zu Stand bringe,
worauf er angetragen; und verſicherte ihn zu Han-
den des Dorfs, ihnen fuͤr jeden Heller ihrer Er-
ſparniſſen, die ſie zu dieſem Endzwecke zuſammen
legen werden, die hoͤchſtmoͤglichſte Sicherheit, die
irgend ein Kapital im Lande haben koͤnne, von
Seiten der Landsſtaͤnde zu ertheilen. —
Der Vogt erwiederte dem Junker, die Eh-
renſaͤule die er ſuche, ſey die Sicherheit, daß er
[382] fuͤr ſeine Kinder und Kindeskinder nicht vergebens
gearbeitet, und ſie nicht in Lagen und Umſtaͤnde
kommen, in denen bis izt ſo viel als alle Dorfleute
ſeyen, daß ihr Zuſtand ganz unzuverlaͤßig, und alle
Augenblicke von einem jeden Wind abhange, der
uͤber ſie wehe; dieſes aber koͤnne in der Welt nicht
anderſt kommen, bis alle Grundherren-Rechte nach
ihrem realen Geldwerth angeſchlagen, und den
Unterthanen der Weg gebahnet werde, zu ihrem
und der Grundherren beyderſeitigen Vortheil, und
zur Sicherſtellung und Feſtſetzung des Wohlſtand
des Volks auf Kinder und Kindskinder hinab, ihre
Schuldigkeiten durch vernuͤnftigen Gebrauch ihrer
Erſparniſſe, und durch Kapitalien, die ſie aus den-
ſelben zuſammen legen koͤnnen, zu entrichten. —
Wenn Arner ihm, und dem Dorf, zu dieſen helfe,
ſo brauche er dann keines Steins zu ſeinem Ange-
denken, er hoffe, es werde dann ſonſt bleiben. —
Hingegen das Anerbieten, dem Dorf von Seiten
der Landsſtaͤnden Sicherheit fuͤr diejenigen Sum-
men, die ſie zu dieſem Endzwecke zuſammen legen
werden, zu verſchaffen, nehme er mit hoͤchſtem
Dank an, und bitte ihn ſo gar von Seiten des
Dorfs fuͤr dieſe Wohlthat, welche zur Ausfuͤhrung
dieſes Vorſchlags aͤußerſt wichtig ſey. —
§. 63.
Er ſchaft den Galgen ab, bauet ein
Spital, und ſtellt den Henker zufrieden.
Arner erkannte die Wahrheit dieſes Syſtems, tra[t]
in alle Geſichtspunkte des Manns, der die Mittel
und Wege die Umſtaͤnde der niedern Menſchen ſolid
zu verbeſſern durch Erfahrung erkennen gelernt
hatte, ein. Er fand ſeine Begriffe voͤllig uͤberein-
ſtimmend mit der Richtung, welche der Zuſtand der
Welt durch den immer mehr ſteigenden Geldverkehr
der Menſchen in allen Klaſſen und Staͤnden ge-
nommen. — Die kleine Erfahrung, die ſie in ih-
rem Dorf hatten, beſtaͤtigte es ihnen auffallend,
wie weit die Aufmerkſamkeit auf Erſparniſſe, ſo ſie
mit Hang und Ausſichten fuͤr Freyheit und verſicher-
ten Wohlſtand verbanden, auch den niedrigſten Men-
ſchen bringen und emporheben koͤnne.
Und der Einwurf, daß das Volk, das mit
Geld ſich von jeder Kette loskaufen koͤnnte, allen
Laſtern ſich ergeben, und man ſeiner nicht mehr
wuͤrde Meiſter werden; dieſer Einwurf, der ſo viel
geſagt wird — ſo wenig Menſchenkenntniß zeigt —
und ſo wenig Erfahrung vorausſezt, wie eine ver-
nuͤnftige Stimmung zum Geld erſparen den Men-
[384] ſchen bilde — ſchien ihnen, wie ers iſt, in Tag
hineingeredt. —
Ein Volk, das ſich durch Thaͤtigkeit in gute
Umſtaͤnde ſezt, und den Geſichtspunkt feſt hat, ſeine
Kinder und Kindskinder darinn zu erhalten, iſt an
der beſten Kette gegen alle Verbrechen, und vielleicht
an der einzig realen; aber ſo es die Fruͤchte ſeiner
Thaͤtigkeit ohne Ausſicht auf wahre Verbeſſerung
ſeiner Umſtaͤnde, und ohne Ruͤckſicht auf die Nach-
kommenſchaft nur auffrißt, durchbringt, oder ſich
ſtehlen laͤßt, ſo iſt es juſt da, wo man es nicht im
Zaum halten, und mit keiner Gewalt dem Ausbruch
ſeiner Verbrechen, mehr als zum Schein, ſteuern
kann. — Die Erfahrung zeigte ihnen in ihrem klei-
nen Dorf, daß die Verbrechen in demſelben in dem
Maaß abnaͤhmen, als darinn die Leute ſparen ge-
lernt; ſie wurden dadurch ſichtbar und allgemein
minder anſteckend — Und da Arner wußte, daß das
untruͤgliche Kennzeichen der Zeit und des Orts, wo
und wann die oͤffentliche Gerechtigkeit menſchlicher
werden koͤnne, dieſes ſey, wenn die Verbrechen
nicht mehr anſteckend ſind, ſo ſchafte er, ſo bald
er von der ſichtbaren Verminderung derſelben und
ihrer Anſteckung ſicher war, den Galgen ab, und
erklaͤrte feyerlich an der Gemeinde, ſo lange kein
Blutgericht in Bonnal mehr halten zu laſſen, als ſich
in der Gemeinde nicht 3 Menſchen faͤnden, die nach
der alten Art die Verbrechen zu behandeln, das Leben
verwirkt haͤtten. —
Es
[385]
Es war an eben der Gemeinde, an welcher er
den Entſchluß ihrer Erſparniſſe, zur Befreyung ihres
Lands anzuwenden, lobte, und ihnen noch einmal
Sicherheit von der Seite der Landsſtaͤnden ver-
ſprach. — Wo die Menſchen in eine Ordnung ge-
bracht, und in einer Ordnung gehalten werden,
daß man nicht alle Augenblicke von ihnen fuͤrchten
muß, ſie jagen einander das Meſſer in den Leib,
oder ſie zuͤnden einander die Haͤuſer an, da gehoͤren
die Verbrecher nicht mehr an den Galgen, ſondern
in den Spital, ſagte er an eben dieſer Gemeinde,
und ſchenkte ihnen und ſeiner Herrſchaft ein altes
Jagdſchloß mit Wall und Mauer, darinn 15-20
Juchart Land eingeſchloſſen, zu einem ſolchen Spi-
tal fuͤr die Verbrecher. — Das Thor am Schloß
war von den Steinen des abgebrochenen Galgens
aufgefuͤhrt, und das Aeußerſte des Spitals ſo ſchauer-
lich und abſchreckend gemacht, als das Innere deſ-
ſelben ordentlich, regelmaͤßig und ſchonend, die ar-
men Leute in eine beſſere, vernuͤnftigere, und fuͤr
das buͤrgerliche Leben brauchbarere Seelenſtimmung
zu bringen, geſchickt, und mit aͤußerſter Sorgfalt,
vieler Pſychologie, und noch mehrerer Volks-
kenntnis dazu angelegt war.
Aber er mußte noch mit dem Henker abſchaffen,
daß er dieſes gethan habe. Am Tag darauf ſtund
er ihm vor der Thuͤr, brachte die unterthaͤnige
Vorſtellung ein, „daß er einmal Henker ſey, und
B b
[386] kein Brod habe, ſo der edelveſte Junker den Gal-
gen abſchaffe, und auch den Pranger nicht mehr
gebrauche, wie es die Zeit her geſchehen.“ —
Arner dachte wohl, er koͤnnte ihm ſagen, er
ſey noch jung und ſtark, und koͤnnte noch wohl et-
was andens lernen, als Menſchen haͤngen und aus-
peitſchen; aber er wußte, was das in der Welt fuͤr
Schwierigkeiten habe, fand es wirklich billig, wenn
die Geſellſchaft jemanden in ihrem Dienſt zu etwas
mache, daß er faſt nichts mehr anders werden koͤn-
ne, ſo muͤſſe ſie ihn dann auch erhalten, wie er ſey.
Er fragte ihn, wie viel ihm ſein Dienſt eingetragen,
da er noch nichts zu klagen gehabt? Und auf ſeine
Antwort, bot er ihm das Doppelte an; und im
Heimgehen wuͤnſchte dieſer herzlich, daß auf dieſe
Weiſe alle Galgen in der Welt abgiengen. —
Aber der Junker mußte noch mit mehrern Leu-
ten, als nur mit dem Henker, abſchaffen, die durch
die gute Ordnung Dienſt- und Brodlos wurden.
Ich mag ſie nicht nennen. —
Am Ort, wo der Galgen geſtanden, richtete
er eine Saͤule auf, mit der Ueberſchrift: „Das
Hochgericht abgeſchaft durch gute Ordnung 1786.“
Run ließ er auch die Urkunden ſeines Volkfeſts oͤf-
nen, und der Gemeinde vorleſen; beſtimmte den
Mayen kuͤnftigen Jahrs zur erſten Feyer deſſelben;
[387] und mit dieſem Schritt hielt er ſein ganzes U[nter]-
nehmen, in Abſicht au[f] dieſes Dorf, in allen ſeinen
Theilen nun vollendet, oder damit ich mich richti-
ger ausdruͤcke, vollkommen angefangen. —
§. 64.
Ein Bild der Welt — im Wirrwarr von
Irrthum und Trugſchluͤſſen.
Indeſſen vernahmen ſie in Bonnal die ganze Zeit
nichts vom Herzog. Bylifsky ſchrieb zwar immer
an Arner, foderte forthin Nachrichten vom Fort-
gang der Sachen, billigte Schritt fuͤr Schritt was
ſie vornahmen, lobte und ermunterte in jedem Brief
den Lieutenant, aber vom Herzog nie keine Sylbe.
Arner fand es ſelber ſonderbar, und ſagte den ge-
raden Weg, es mache ihm Muͤhe. Der Lieutenant
hingegen widerſprach allemal, wenn davon die Rede
war, und behauptete, das aͤndere im Ganzen
nichts, und man koͤnne gleich auf ihn zaͤhlen wie
Gold, er habe ihm ſchon in Bonnal den Wink ge-
geben, daß es ſo kommen koͤnnte, da er beym
Pfarrhaus die Worte zu ihm geſagt, deren er ſich
noch gar wohl erinnere: „Er ſolle vollends han-
deln, wie wenn er ihn nicht kennte, und wie wenn
er nicht in der Welt waͤre.“ —
B b 2
[388]
Er hatte Recht; ſeitdem Bylifsky den Entſchluß
genommen, den Dickhals in ſeiner Arbeit, den Her-
zog uͤber das Bonnalerweſen erkalten zu machen,
nicht zu ſtoͤren, bis es Zeit ſey, konnte er ihnen
auch nichts weiters ſagen, als er wirklich that.
Es war ein Meiſterſtuͤck der treuen Ehrlichkeit,
und der ſichergehenden Unſchuld gegen den hoͤch-
ſten Flug des feinſten und ſchlaueſten Gegnermuths.
Er ließ Helidor vollkommen ſiegen. Der ganze
Hof ſang ſein Lied. Der Herzog ſelber ſagte: es ſey
mit dem Bonnalerweſen ein Traum, und nichts
anders; und jedermann glaubte, Bylifsky laſſe es
gelten, und ſchaͤme ſich izt ſelber, daß er ſo viel
daraus gemacht. —
Niemand als der Dickhals ſah was wahr war,
daß der Feind ſich nur zuruͤck gezogen, und daß er
ihn nichts weniger als geſchlagen, ſondern viel
mehr ganz ſicher noch einen Kampf mit ihm zu be-
ſtehen haben werde; er fuͤhlte auch, daß die Sie-
gerſtellung, in der er zu ſtehen ſchien, nichts weni-
ger als vortheilhaft fuͤr den Angriff, der ihm bevor
ſtehen koͤnnte, ſey; aber es war zu ſpaͤt; der Ton
war gegeben, und er konnte izt nichts mehr ma-
chen, als die Umſtaͤnde abwarten, und Bylifsky
beobachten, welches langweilig und ſchwer war,
weil dieſer nichts that — (verſteht ſich in dieſem
Stuͤck) — und es iſt Steintrager-Arbeit, paſſen
[389] und lauren, wo ſich nichts regt; und dazu machte
er Bylifsky mit ſeinem Lauren noch Vergnuͤgen:
das Bollaug konnte nicht anderſt, als ſich aufthun,
wenn dieſer um den Weg war; ſo ſehr ſein Meiſter
ſonſt ſein Geſicht und ſeine Falten in ſeiner Gewalt
hatte, und ſo gern er gegen jedermann that, als
ob er Niemanden achte, ſo konnte er es izt nicht
mehr gegen Bylifsky. —
Aber es war lange nicht ſo; ſehr lange glaubte
er, er habe das Feld wirklich behauptet; und der
Eindruck, den er mit dem Wort, „die Welt iſt ein
Narrenhaus“, mit ſeiner Terne und Quaterne, und
mit vielem anderm, dießfalls auf den Herzog ge-
macht, habe Bylifsky mit ſeiner Traͤumerprotek-
tion gaͤnzlich zum Schweigen gebracht. —
Der Herzog war ſo viel als ganz abgelenkt; es
that ihm freylich manchmal noch weh, das ſchoͤne
Ding fuͤr Nichts zu achten, und ganz aus dem Kopf
zu ſchlagen; aber Helidor wußte immer alle ſeine
Launen zufrieden zu ſtellen, und ihn vergeſſen zu ma-
chen, was er wollte, daß er vergeſſe. Bylifsky
that ſeine Geſchaͤfte, und ließ kein Wort mehr da-
von fallen. Ein einzigesmal ſagte der Herzog zu
ihm: Es iſt Schade, daß auch dieſes nichts iſt, und
es thut mir weh; aber es iſt wahr, die Menſchen
ſind nicht in der Welt, die darinn ſeyn muͤßten,
wenn man ſo etwas als eine Staatsſache ausfuͤh-
B b 3
[390] ren wollte. Ihr Durchlaucht! erwiederte Bylifs-
ky, der Menſch iſt ein ſehr gelehriges Thier *), aber
man muß ihm alles zeigen, was er nicht kann, und
ihn zu allem anfuͤhren, was er ſeyn muß, und ſo iſt
es auch mit dieſem, man muß ihn dazu anfuͤhren. —
Ach Gott! ſagte der Fuͤrſt, das iſt nicht moͤg-
lich, und brach das Geſpraͤch ab. Der ganze Hof
meynte, er habe alles aus dem Sinn geſchlagen;
und Sylvia, die auch wieder da war, und ihren
Mezgerhund voͤllig wieder vergeſſen, ſtreckte den
Hals wieder wie vor und ehe, und wie ſie ihn wie-
der ſtreckte, wuchs in ihrem alten lahmen Seelchen
der einzige Muth, der darinn Plaz hatte, der Muth,
ſich zu raͤchen; ſie glaubte, es ſey izt die rechte Zeit,
und erzaͤhlte die Bettlergeſchichte des verlo[ff]enen
Lieutenants, und den Brodmangel des armen
Manns, der zum Schulmeiſterhandwerk gezwun-
gen, wo ſie konnte und mochte; und ſo, wie die
Karten lagen, gab es Herren und Damen recht viele,
die das gern hoͤrten, und was ſie nur wußte, und
noch mehr dazu, erzaͤhlte ſie von dieſem Landſtrei-
cher, der ihren guten Vetter mit ſeinen Dorfkindern
bis in des Herzogs Stuben hieinbringen koͤnnen, wo
[391] er izt noch hange, aber vielleicht nicht lange mehr
hangen werde, wenigſtens unter keinem Titel hin-
paſſe. Das iſt wohl wahr, ſagte einer, der den
Herzog recht gut kannte, und es nimmt mich Wun-
der, wenn er ihn nicht einmal verbrennt, oder zum
Fenſter hinaus wirft — und erzaͤhlte, wie er den
Bauernbuben die Haare abſchneide, wie er ſie ſchoͤn
ſchreiben und Feldmeſſen lehre, indeſſen der blinde
arme Vetter ſeimen eigenen Buben in der groͤßeſten
Unwiſſenheit aufwachſen, und zu einem Bauern-
toͤlpel werden laſſe, daß weit und breit wohl kein
groͤßerer herum laufe; vergaß auch die ſchoͤne Frau
nicht, die dem Herr Lieutenant ſein Gluͤck gemacht,
und ihm die ganze ſaubere Schulordnung einge-
richtet, und was das fuͤr ein Muſtermenſch ſey, und
wie es mit ſeinen Kindern umgehe, wenn etwa ei-
nem ein Wort entrinne, das dem Hrn. Lieutenant
und Kompagnie nicht anſtehe, wenn es ſchon wahr
ſey.
Das gab dem Muͤßiggaͤngervolk, das vom He-
lidor ſchon auf dieſen Ton geſtimmt war, Stof,
daruͤber ſein Geſpoͤtt zu treiben; und da ſie meyn-
ten, der Miniſter achte es nicht, und dem Liebling
ſey es Weihrauch, ſo thats jeder; man ſpoͤttelte am
Spieltiſch, man laͤchelte an der Tafel, man bemit-
leidete in der Geſellſchaft, man hoͤnte laut unter
vier Augen; die tiefſte Niedertraͤchtigkeit ruͤhmte die
Engelſeele des Junkers, der ſich zu ſolchen Narr-
B b 4
[392] heiten verleiten laſſe. En Geiſtlicher ſagte, im
Himmel, im Himmel! da ſehen wir den heiligen
Engeln dann gleich; aber auf Erden, ſezte der
Prieſter hinzu, gehoͤrt der Bauer ins Koth, und die
Obrigkeit hat das Recht zu fiſchen und zu jagen.
Ein Philoſoph meynte, es koͤnnte nicht anderſt
ſeyn, es muͤßte kommen wie in der verkehrten Welt,
wo der Eſel dem Herrn den Bart puzt — Baronen
und Grafen, wenn ſie luͤmpelen, muͤßten ſo Bauern
werden; und Bauern, die ſchakkerten, koͤnnten
Baronen und Grafen werden, und man koͤnnte
dann keine Dienſt mehr finden.
Es iſt dumm, ſagte ein anderer, das iſt ja, wie
wenn das Menſchengeſchlecht in der Welt zu ſpinnen
und zu weben waͤre, es iſt viel zu edel dafuͤr. —
Juſt umgekehrt, ſagte ein anderer, wenn das
Menſchengeſchlecht edel waͤr, ſo koͤnnte man wohl ſo
etwas mit ihm probieren, aber Gott behuͤte uns vor
ſeinem Adel — die Quelle alles dieſes Narrenpro-
bierens iſt juſt, daß man das glaubt, und das natuͤr-
liche Verderben der Menſchen nicht erkennen will;
aber man gehe nur aufs Dorf, ſetzte er hinzu, und pro-
biere, wer einem danke, wenn man ihm etwas Gu-
tes rathen will, ich habe es erfahren, ich habe auch
Projekte gemacht, und es gewiß gut gemeynt — aber
der Menſch iſt im Grund verderbt, und nimmt das
Gute nicht einmal an, wenn man ihm es noch ſo
deutlich ſagt, und ſo zu reden, umſonſt zeigen will.
[393]
Selig wer fuͤr ſich ſelber ſorgt, ſagte ein Rau-
cher, und bließ dem andern, der vor ihm zuſtund,
den Knaſter ins Geſicht.
So war es izt. — Selbſt der Fuͤrſt hoͤrte hie
und da ein Wort von dieſem Unfug; aber er zeigte,
daß er keinen Gefallen daran habe, und wich es aus
mit jemand davon zu reden.
Es gab immer noch Augenblicke, da ihm das
Waſſer in die Augen kam, wenn er vor Arner und
ſeinen Kindern zuſtund, aber das war ihm auch
nicht recht. — Daß ich doch ſo ein Narr bin, und
mich immer mit meinen Traͤumen plagen muß, ſagte
er einmal, da ihm ſeine Augen ſo zur Unzeit daruͤ-
ber naß wurden, zu ſich ſelber, ſein Herz ſchlug ihm da
ers ſagte. — Er blieb noch einen Augenblick vor dem
Gemaͤhlde ſtehen, ſah es ſtarr an — ſagte dann wie-
der — Nein, es iſt doch nichts als Traum —! —
Und einen Augenblick darauf — es betruͤgt und plagt
mich. — Mit dem Wort warf er einen Marmor,
der auf ſeinen Papieren ihm an der Hand lag, ge-
gen das Gemaͤhlde hin, der gieng durch, machte
mitten durch Arners Kopf einen Riß — wie es ge-
woͤhnlich geht, wenn Fuͤrſten einem Menſchen im
Mißmuth das an Kopf ſchmeißen, was ſie in Haͤn-
den haben.
Aber der Herzog ſchaͤmte ſich, ſo bald Arner
das Loch im Kopf hatte, und nahm das Gemaͤhlde
[394] mit eigener hohen Hand von der Wand herunter,
that es hinter den Schluͤſſel, wo Niemand ſo leicht
hinkommt, und ſah es noch, ehe er die Thuͤr be-
ſchloß, mit einer Art von Wehmuth, die ihn wie-
der weinen machte, an; ſagte dann zu ſich ſelber —
er hat doch das nicht verdient! — Aber es war
nun einmal ſo; es war von der grauen Wand hin-
unter, der Dickhals hieng wieder allein da wie
vorher, doch wußte kein Menſch wie es gekommen,
und der Herzog ſagte auch dem Helidor nicht was
begegnet; aber das Affenvolk von der Aufwart
glaubte es dennoch zu wiſſen, hielt es fuͤr ein un-
truͤgliches Zeichen der allerhoͤchſten Ungnade, und
dieſe Notables des Herzogthums, die in den Ge-
maͤchern des Fuͤrſten aus- und eingehen, trieben izt
die Unverſchaͤmtheit uͤber den Arner und ſein Weſen
zu reden aufs Aeußerſte, ſo, daß Helidor ſelber an-
fieng zu widerſprechen, wenn es zu bunt gieng; es
machte ihm wirklich bang, ihr wiſſet warum, aber
er konnte izt nicht mehr helfen; er hatte den Bach
anlaufen laſſen, und nun war es umſonſt, dem
Waſſer zu ſagen, wie weit er gern haͤtte, daß es
naß mache. —
Der arme General ſaß bey Hof wie auf Na-
deln. Er war gekommen, und meynte ſein Vetter
waͤr oben am Bret, und der Herzog werde ſicher
mit ihm von ihm reden — izt war es ſo, der Her-
zog hatte noch kein Wort mit ihm geſprochen. By-
[395] lifsky wich ihn aus; und der Hof ſpottete, wenn
von ihm die Rede war. Das einzige liebreiche und
billige Wort, das er uͤber den Vetter gehoͤrt, war
von Helidor; auch ſchrieb er ihm in den erſten 8
Tagen folgenden Brief —
„Du biſt betrogen! Der Miniſter, der dir aufs
Dorf hinaus ſo freundlich ſchreibt, thut hier, als
wenn du nicht in der Welt waͤreſt; ich habe ihn ſo
vielmal geſehen, und noch kein einzigesmal gehoͤrt
nur deinen Namen ausſprechen: es ſcheint, deine
Sachen muͤſſen dem Herzog auf einer Seite vorge-
ſtellt worden ſeyn, daß ſie ihm mißfallen. Izt laͤßt
es Bylifsky gelten, und ſchweigt von allem: Auch
dein Gemaͤhlde iſt, wie ich es mir aber vorher ein-
gebildet, aus dem Kabinet fort, und Helidor
haͤngt wieder allein darinn. Meine Ehrlichkeit
fodert, daß ich dir das alles ſage, du haſt keinen
Menſchen hier, der ſich deiner annimmt; und ſo iſt
doch zulezt alles wahr, was ich dir im Anfang ge-
ſagt, daß du dich umſonſt plageſt; du wirſt es nicht
glauben, aber wenn jemand noch hier iſt, der es
gut mit dir meynt, ſo iſt es Helidor; es moͤchte mir
das Herz zerſprengen, daß der andere izt ſo gegen
dich iſt, wie ich ihn izt erfahren.“ —
So ſchrieb der General, und meynte, daß
das, was er ſchrieb, ſo wahr als das Wort Got-
[396] tes. — Er hatte ja alles mit ſeinen Augen geſehen,
und mit ſeinen Ohren gehoͤrt, und es fehlte ihm
gar nichts, als die Urſachen und den Zuſammen-
hang davon. —
§. 65.
Das Gewaͤſch uͤber Arners Weſen, das
in Tag hinein ſo laut toͤnte, wird denn
wohl enden.
Der Hof vernahm jeden Schritt, den Arner
weiters that. Aber die Nachricht von der Ab-
ſchaffung des Galgens, und vom Zuſammenlegen der
40000 Gulden, ſchien unglaublich; man zog Nach-
richten ein; die Sache beſtaͤtigte ſich; der ganze Hof
ſtaunte; und der Herzog ſagte auch bey dieſem Anlaß,
der Traum iſt Himmel ſchoͤn; aber je weiter er ihn
treibt, je deutlicher faͤllt es auf, daß die Ausfuͤh-
rung im Großen unmoͤglich. —
Man hats ja in B** und O** erfahren, daß es
mit dem Galgen nicht ſo angeht, ſagte das Hofvolk —
Aber es iſt doch erſtaunlich, daß es ihm angeht,
ſagten einander einige Weiber — dennoch ſpottete
man izt mehr ſo; man hielt das Weſen nunmehr
fuͤr eine Raritaͤt und fuͤr einen Guckkaſten, und es
[397] wurden Partheyen abgeredt, auf den kuͤnftigen
Sommer das Weſen in Bonnal zu ſchauen, wie
man Partheyen abredt, den Gletſcher zu ſehen, und
vor kurzem auch den Micheli von Langnau. Dieſer
Gang der Dingen aber gefiel dem Helidor gar nicht,
er fieng an daruͤber ſehr ernſthaft zu werden; das
unabaͤnderliche Schweigen Bylifsky bey ſeiner eben
ſo ununterbrochenen Aufmerkſamkeit auf dieſen Ge-
genſtand laſtete ihn, wie ihn noch nichts laͤſtete;
es ahndete ihn, was ihm bevor ſtund; und er ver-
heelte es ſich nicht, es naͤhere ein Sturm, der ihm
ſeinen Sieg entreißen koͤnnte. Dieſer Menſch, ſagte
er zu ſich ſelber, zieht mich durch die Stille, mit
der er ſeinen Karren anhaltend fortſchleppt, in
Grund. Er wußte, daß Bylifsky ſeinen Brief-
wechſel mit Arnern beſtaͤndig unterhielt, und daß
er ſeit ein paar Monat alle Wochen zwey Abende
regelmaͤßig mit Endorf, der an der Spitze der Fi-
nanz, und Nelkron, der an der Spitze der Juſtiz
ſtund, ganz allein zubringe; wußte, daß dieſe zwey
alte Diener des Herzogs, ſeit Anfang ſeiner Regie-
rung, allen Projekten deſſelben entgegen geweſen,
und ohne Widerred, in Abſicht auf den Zuſtand
der Verwaltung des Lands und die Quellen ſeines
Wohlſtands entſcheidende und aͤußerſt ausgebreite-
te Kenntniſſe hatten. Dieſe beyden Maͤnner ſchwie-
gen izt uͤber Arners Thun, wie Bylifsky; Heli-
dor kam nicht dazu, ihnen ein Wort zu entlocken,
[398] wie ſie daruͤber denken. Er fuͤhlte, daß das Wet-
ter von dieſer Seite gegen ihn anruͤcke, und war
aͤußerſt betroffen; da er ſonſt mit ſeiner weiten Naſe
alles ſchnell roch, hatte er doch dieſes lange nicht
gerochen, und ließ es ſich vor wenigen Wochen
nicht von Ferne traͤumen, daß Bylifsky in dieſer
Sache mit dieſen Maͤnnern einſtimmig werden wuͤr-
de, aber es war nun ſo — ſie hatten es Monate
lang uͤberlegt, aber nunmehr ſich beſtimmt erklaͤrt,
die ehemalige Projekte des Herzogs ſeyen alle dahin
aus gelaufen, man ſolle trauen und geben;
von dieſem hingegen beſtehe das Weſentliche darinn,
zu machen, daß man trauen muͤſſe, und vom
Geben ſey gar keine Rede. — Auch habe man bey
den andern Projekten immer alles Gute, das ſchon
da geweſen, wie nichts fortfliegen, und wie die
Goldmacher das Gold im Rauch aufgehen laſſen.
Arner hingegen ſuche mit der thaͤtigſten Sorgfalt
ein jedes auch noch ſo kleines Gute, das ſchon da
ſey, zu erhalten, zu nutz zu ziehen, und hoͤher zu
treiben; auch paſſe er alles Alte ſeiner Manier an,
und er uͤberfluͤgle dadurch dieſe Freßthiere wie ein
Adler eine Fledermaus. Sie erkannten ſelber, er
binde den Faden der Juſtiz und Finanz da wieder
an, wo bis izt alle Weisheit der Kabineter ſein Ab-
ſchneiden nicht hindern konnten, und wirke beſtimmt
auf diejenige Stellen, und nach denjenigen Ge-
ſichtspunkten, die theoretiſch ſchon laͤngſt allgemein
[399] als die Hauptſtellen und Hauptgeſichtspunkte, auf
welche, und nach welchen man bey aller wahren
Menſchenfuͤhrung wirken ſoll, anerkannt ſeyen, in-
deſſen aber niemalen durch praktiſche Verſuche,
mit richtiger Ueberſicht des Ganzen, alſo erprobet
worden, wie er es gethan. —
Sie geſtunden, die Finanz, wie ſie gegenwaͤr-
tig betrieben werde, halte ſich faſt vollends nur bey
der Ausbeute auf; er hingegen ſteige bis in das
Innere des Bergs, und mache bey den Quellen der
Ausbeute Ordnung, wo faſt noch gar nie eine ge-
weſen.
Eben ſo bekannten ſie, der wahre Vortheil der
Landsgerechtigkeit hange ganz von dieſer Sorgfalt
fuͤr die Quellen der Finanz ab.
Nelkron ſagte deutſch, die Finanz des Staats
bleibt ein ewiger Meerſtrudel, der alles, was ſich
ihm naͤhert, in ſeinen Abgrund verſchlingt, und nie
nichts wieder giebt; und die Gerechtigkeit iſt wie
die Peſt, die oͤffentlich toͤdtet, was ſie im Finſtern
anſteckt, ſo lange die Menſchen nicht zu dem ge-
macht werden, was ſie ſeyn ſollen, und die Lei-
tung, Fuͤhrung und Bildung der Menſchen nicht
einerſeits mit ihren Umſtaͤnden uͤberhaupt, ander-
ſeits mit den Beduͤrfniſſen der Finanz, und den
Foderungen der Gerechtigkeit in Harmonie gebracht
werden — und fand einſtimmig die gute Bildung
[400] des Menſchen zur Induſtrie, das iſt, zur Hervor-
bringung und zu Rathhaltung des Hervorgebrach-
ten, oder zum Verdienſt und zur Sorgfalt fuͤr das
Erworbene, ſey das einzige wahre Mittel, zu die-
ſem Ziel zu gelangen, und dadurch auch der endli-
chen Erreichung der hoͤhern Endzwecken der Staats-
geſezgebung entgegen zu ruͤcken, und namentlich
die Vereinfachung der Finanzoperationen dahin
moͤglich zu machen, daß der Beytrag der einzeln
Menſchen zu den oͤffentlichen Abgaben zwiſchen den
Belaſteten in ein billiges Ebenmaaß gebracht, und
ihre Enthebung nicht weiter durch die volksbedruͤ-
ckenden Umſtaͤnde, mit denen ſie begleitet, der Quelle
aller Staatsreſource ohne Maaß mehr ſchade, als
der Betrag des Beytrags von Seiten der zerruͤtte-
ten niedern Staͤnden ihm werth ſein kann — an-
derſeits den Quellen der Verbrechen zu ſteuern, die
ſo ſichtbar und ſo allgemein von dem Mangel der
Bildung der Menſchen fuͤr die Befriedigung der in
der Welt immer wachſenden Staatsbeduͤrfniſſe her-
ruͤhren.
Sie machten keine Schwierigkeit mit Bylifsky
einzutreten, dem Herzog als eine Staatsangelegen-
heit vorzutragen, Arners Volksbildung in ihren
Grundſaͤtzen genau und mit dem Endzweck zu unter-
ſuchen, den Mitteln nachzuforſchen, ihre Ausfuͤhrung
allgemein zu machen.
Auch
[401]
Auch fanden ſie zum Vorans, dieſer ſo weit
gehende Vorſaz fodere keine andere Einmiſchung des
Staats, als erſtlich einen oͤffentlichen Lehrſtuhl
uͤber die Wiſſenſchaft der Volksfuͤhrung nach Arners
Grundſaͤtzen, um beſonders den jungen Adel auf
ſein großes Intereſſe in dieſer Sache aufmerkſam
zu machen: zweytens, die Errichtung einer Staats-
kommißion, die mit dem Weſentlichen dieſer
Grundſaͤtzen, ſo, wie mit den Lokalbeduͤrfniſſen
und Lagen der verſchiedenen Theilen des Reichs
bekannt, mit den einzelnen Perſonen, die mehr
oder weniger auf dies Syſtem zu arbeiten ſich ent-
ſchließen wuͤrden, in Verbindung treten muͤßte,
um ſie mit ihrem Rath und ihren Einſichten zu un-
terſtuͤtzen, mit dem Erfolg ſowohl, als mit den
Schwierigkeiten aͤhnlicher Verſuchen bekannt zu
machen, und indeſſen ſelbſt genaue Tabellen von
dem allſeitigen Fortgang der Sache aufzunehmen,
und ſich ſo des wahren Zuſtands eines jeden einzel-
nen Verſuchs in allen ſeinen Theilen zu verſichern
haͤtte, um die Mittel zur Hand zu bringen, den
allſeitigen Fortgang der Sache von Staatswegen
zu befoͤrdern, und das beſtimmte Maaß des Ein-
fluſſes dieſer verſchiedenen Verſuchen auf das Ganze
ſo richtig beurtheilen als leiten zu koͤnnen; wobey
indeſſen Niemandem im Land zugemuthet wuͤrde,
weder mittelbar, noch unmittelbar, mit dieſer
Staatskommißion in Verbindung zu treten, wenn
C c
[402] er nicht wollte. — Das war ihr Plan. — Sie rech-
neten in demſelben gar nicht auf die Tugend der
Menſchen, ſondern blos auf ihre Gierigkeit; aber
ſie wußten, daß ihre Tugend wie ein Propfreiß auf
dem wilden Stamm dieſer Gierigkeit kann gezwei-
get werden, und auf demſelben ſo feine Fruͤchte zu
tragen im Stande iſt, als ihre Natur jemals her-
vorgebracht hat. —
Nelkron ſagte, wenn die Ausfuͤhrung dieſer
Grundſaͤtze ſich durch nichts erproben wuͤrde, ſo fiel
ſie dadurch auf, daß die erſten Menſchenfreſſer dieſer
Erde, den Schaafpelz dieſer Grundſaͤtze anziehen
muͤßten, um dadurch zu ihrem Fraß zu gelangen,
wie zu leſen in den Lobpreiſungen des Fleißes, der
Betriebſamkeit, und der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit,
als den erſten Stuͤtzen des Staats, in Kabinetsor-
dern und motivirten Befehlen beſtohlner Fuͤrſten an
ausgeſogene Voͤlker. —
Auch das fanden ſie, Arner waͤre nicht dahin
gekommen, den Galgen abzuſchaffen, und in einem
Dorf einen Steuerfond entſtehen zu ſehen, wenn er
auf dieſe beſtimmte Endzwecke hin gearbeitet haͤtte;
ſondern ſey eigentlich dadurch dahin gekommen, weil
er nichts geſucht, als jeden einzeln Menſchen in ſei-
nem Dorf fuͤr ſich ſelber, und fuͤr das Seinige in
Ordnung zu bringen; und die weitern allgemeinen
Geſichtspunkte ſeiner Dorfregierung nicht anderſt,
[403]
und durch keine beſondere Anſtalten allein betrieben;
ſondern ſie blos als Folgen ſeiner Aufmerkſamkeit
auf den Vorſchritt ſeiner Dorfleute in ihrer Pri-
vatweisheit, Privatordnung, Privatwohlſtand an-
geſehen, abgewartet, und benuzt.
Und dieſe Bemerkung ſchien ſie auf eine einfache
und ſichere Art zu dem Grundſatz zu fuͤhren, daß
die groͤßern Geſichtspunkte der Staatsweisheit bey
einem Volk auf eben dieſe Art muͤſſen erzielet wer-
den, und daß ihre Erreichung ebenfalls darauf ruhe,
daß die Regierung in ihren groͤßern Kreiſen ihre
Aufmerkſamkeit und ihren Einfluß eben ſo dahin
lenke, daß ein jedes Glied der Geſellſchaft fuͤr ſich
ſelbſt, und fuͤr das Seinige, in eine gute Ordnung
gebracht und darinn erhalten werde; und denn auch
das uͤbrige, nemlich die groͤßern Staatsendzwecke,
als die Verbeſſerung der Finanz und Juſtiz, als na-
tuͤrliche Folgen des allgemeinen Vorſchritts der Men-
ſchen, in ſeinen verſicherten, und feſt auf haͤusliche
Weisheit und Ordnung gegruͤndeten Privatwohl-
ſtand anſehe, abwarte, und benutze.
Sie betrachteten in dieſem Geſichtspunkt einen
ganzen Abend den Einfluß der Reformations-Epoche
auf Europa, und erſtaunten ab der Bemerkung, wie
wenig es zur allgemeinen Erheiterung der Regierun-
gen, uͤber die aͤchten Grundſaͤtze, die Menſchheit
weiter zu bringen, beygetragen, daß alle Laͤnder,
in denen durch die Reformation die Aufmerkſamkeit
C e [2]
[404] der einzeln Menſchen, auf ihre geiſtliche und zeitli-
che Wohlfart und Sicherheit allgemein rege gemacht
worden, einen ſo auffallenden Vorſprung gegen die
katholiſchen Laͤnder, in denen dieſe Aufmerkſamkeit
der einzeln Menſchen auf ihre Wohlfart und Sicher-
heit damals durch Nichts ſo l[e]bhaft rege gemacht
worden, genommen haben. —
Und wie es dann geht, ſie kamen in dieſem
Geſpraͤch auf das neue Maͤhrchen, daß Europa eine
Religions-Veraͤnderung zugeruͤſtet werde. —
Nelkron, der alte Feind der Pfaffen und ihres
Einfluſſes, behaupte die einzige Bemerkung von dem
auffalenden Unterſchied des Finanz-Zuſtands der re-
formirten und der katholiſchen Laͤnder, in dem
zwey Jahrhundert ſich beyderſeitige Lande, in Ab-
ſicht auf den Vorſchritt, in allen Kraͤften des Staats,
und des Vorſchritts des Wohlſtands der Einwohner
noch izt befinden, muͤſſe ein jedes Kabinet von Eu-
ropa gegen den Gedanken einer ſolchen Seelenver-
einigung der Menſchen empoͤren. — Wenn je et-
was wahr iſt, ſezte er hinzu, ſo iſt es dieſes: die
Staͤrke des Staats ruhet darauf, daß ſeine Glieder
Raum und Spielkraft und Reiz finden, an Leib
und Seel fuͤr ſich ſelber zu ſorgen, und eine ſolche
Vereinigung wuͤrde dieſen Raum und dieſe Spiel-
kraft, und dieſen bildenden Reiz im Menſchen er-
ſchlaffen, wie weiche Betten die Glieder eines Kaͤm-
pfers — und mit Eifer ſezte er hinzu, Geſchichte
[405] und Erfahrung beweiſen, daß die Kraͤfte des Men-
ſchen und ganzer Geſchlechter von Menſchen ſchwin-
den, wenn ſie dahin gebracht werden zu glauben,
es ſorge jemand ohne ihr Zuthun an Leib und Seel
vor ſie, hieße er dann wie er wolle, Koͤnig oder
Prieſter. —
Es iſt dann noch ein Unterſchied, obs der Koͤ-
nig oder Prieſter gemeynt ſey; es ſind dem Men-
ſchen fuͤr den Koͤnig ſeine fuͤnf Sinnen nicht halb ſo
feil als fuͤr den Prieſter, ſagte Bylifsky.
Da haben ſie recht, erwiederte Endorf, es iſt
als wenn er ſeiner Natur nach nicht anderſt koͤnnte,
als fuͤr die Sache ſeiner gottesdienſtlichen Lehre
blind ſeyn; er iſt es ſicher nicht den Zehenden ſo ſtark
und ſo gern fuͤr das Syſtem ſeines Koͤnigs in der
Verwaltung des Lands. — Aber uͤberall und in
allem, ſezte er hinzu, hoͤrt der Menſch auf die Oh-
ren zu ſpitzen, und die Augen offen zu halten, ſo
bald er ſich vereinigt und ſicher glaubt; im Gegen-
theil macht ihn nichts ſo Augen und Ohren brau-
chen, und auf ſeiner Huth zu ſeyn, als das rege
Bewußtſeyn der Unſicherheit und Trennung; und
wenn etwas auffallend wahr iſt, ſo iſt es dieſes:
das Aufgeben dieſes regegemachten Gefuͤhls der Un-
ſicherheit in Religionsſachen koͤnnte eine unabſeh-
bare ſchaͤdliche Wirkung zur Abſchwaͤchung der dem
Menſchengeſchlecht ſo allgemein und dringend noth-
wendigen Vorſichtigkeits- und Sorgfaltskraͤften her-
vorbringen.
C e 3
[406]
Das iſt richtig, erwiederte Bylifsky, es koͤnnte
unmoͤglich anders ſeyn, als der Glaube, es ſey mit
der Religion alles in Ordnung, mußte die Meſch-
heit nothwendig uͤber dieſen Punkt blind und ſorg-
los machen; und eben ſo nothwendig mußten die
in ſeinem Innerſten beguͤnſtigte Schwaͤche und
Sorgloſigkeit ſich auf das Ganze ſeines Zuſtands
und ſeiner Stimmung ausbreiten — und doch waͤre
dieſer Glauben, es ſey dann mit der Religion alles
in Ordnung, das oͤffentliche Ziel einer ſolchen Ver-
einigung. —
Endorf aber meynte, die Welt ſey zu ſtark vor-
geſchritten, als daß ſie izt noch etwas von einer
Schlinge zu befahren haͤtte, die ihr von dieſer Seite
gelegt werden koͤnnte.
Aber Nelkron ſagte, der Menſch legt ſich mit
Leib und Seele ſo gern auf die faule Haut, und es
kommt darauf an, wie weit die Urheber eines ſol-
chen Vereinigungsplans einen mehr oder minder
klugen Gebrauch von dieſer Menſchenſchwaͤche, die
unſere Tage dennoch ſo ganz beſonders auszeichnen,
machen wuͤrden. — Wenn ſie z. Ex. den erſten Be-
cher dieſes Seelenopiums Fuͤrſten austrinken ma-
chen wuͤrden, ſo bin ich ſicher, daß ganze Voͤlker
nach ihnen den Hepfen dieſes Schlaftranks hinun-
terſchlucken, wie einen Goͤttertrank. —
Der Grad unſerer Aufklaͤrung macht das un-
moͤglich, meynte Endorf.
[407]
Schweig doch mit deiner Aufklaͤrung, erwie-
derte Nelkron; wenn ich das Wort hoͤre, ſo faͤllt
mir der Stadt-Rathsherr ein, der ob ſeinem Glau-
ben an dieſe Aufklaͤrung eine Wette mit einem
Schauſpieler verlor: er behauptete, ſeine (nemlich
des Rathsherrn ſeine Stadt) ſey zu aufgeklaͤrt, als
daß ſie ein ſchlechtes Theaterſtuͤck nicht auspfeifen
wuͤrde. Der Schauſpieler erwiederte, die duͤmmſte
Harliquinade muͤſſe der Stadt gut genug ſeyn, und
mehr gefallen, als alles, was ſie bisher geſehen. —
Der Herr Rathsherr ließ ſich in ſeiner Stadt
gegen den Fremden ſo weit hinab, daß er mit ihm
wettete, das ſey nicht moͤglich; und dieſer, mit der
Zuverſicht eines Manns, der in ſeinem Leben ſchon
durch gar viele Thore hineingegangen, nahm des
Rathsherrn Wette an, ſpielte zwey Stuͤck, und die
gute Stadt klatſchte dem Narrenſtuͤck, und gaͤhnte
beym Guten — ſo viel iſt ſich auf ein ſolches Raths-
herren-Vertrauen auf die Aufklaͤrung ihrer Staͤdten
und Landen zu verlaſſen! — Einen Augenblick dar-
auf ſagte er noch: die Geſchichte der großen Welt,
oder vielmehr der großen Staͤdten, beweiſet nichts
auffallender, als daß dieſes Phantom unſerer Zeit,
ſo einſeitig als ſein Vorſchritt gelaſſen wird, ſo ſon-
derbar als es ſich an falſche Begriffe von natuͤrlicher
Einheit ankettet, und bey dem ſichtbaren Mangel
daſſelbe auf den wahren Wohlſtand des Volks, auf
gute, haͤusliche Sitten, und buͤrgerliche Weisheit
C c 4
[408] zu bauen, unter dieſen Umſtaͤnden leicht eine Wen-
dung nehmen kann, den Menſchen in eine ſeinem
wilden Zuſtand ſich naͤhernde Vervieherung (abru-
tiſſement) hinabzuſtuͤrzen, in welcher die religioſe
Schwaͤrmerey denn wirklich gegen dieſe Aufklaͤrung
wie ein Himmels Licht, das mitten im Rauch und
Dampf eines fuͤrchterlichen Erdbrands leuchtet, er-
ſcheinen koͤnnte. —
Gott bewahre uns vor beydem! vor dem
Dampf des Erdbrands, und vor der Lufterſchei-
nung, die mitten im Erdbrand wie ein Himmels
Licht leuchtet, ſagte Endorf.
§. 66.
Ein Schurkenverſuch, der aber mehr als
halb mislingt.
Aber was wuͤrden Sie thun, wenn auch Nel-
kron und Endorf anbringen wuͤrden, das Rari-
taͤten-Dorf in Bonnal verdiene die Aufmerkſamkeit
der Regierung? — So ſagte der Liebling dieſer
Tagen zum Fuͤrſten, als dieſer unter Scherz und
Tand mit ihm das Schach zog.
Du willt mich das Spiel verlieren machen,
mit dieſer dummen Frage, ſagte der Fuͤrſt. —
[409]
O! ich will ihre Antwort gern erſt dann, wenn
Sie ihren Zug gethan haben, verſezte Helidor. —
Da ſteht er, ſagte der Fuͤrſt — that den Zug
— und wiederholte, eine duͤmmere Frage konnteſt
du nicht wohl erdenken. —
Helidor. Aber warum das Ihr Durchlaucht?
Fuͤrſt. Es ſind im Land nicht zwey Maͤnner, vor
denen du ſicher ſeyn kannſt, daß ſie in ihrem Leben nie
in kein Projekt hineingehen werden, als dieſe. —
Helidor. Ich glaubte es auch; aber doch
nimmt mich Wunder, was Ihr Durchlaucht thun
wuͤrden, wenn ſie Ihnen izt mit einem kaͤmen. —
Fuͤrſt. Genau das, was ich thun wuͤrde, wenn
der Mond auf die Erde herunter fiel — vorher Nie-
mandem kein Wort davon ſagen. —
Helidor. Sie halten es alſo fuͤr ganz unmoͤg-
lich?
Fuͤrſt. Ganz ſicher — Schach dem Koͤnig —
Helidor. Zieht —
Fuͤrſt. Der war gut —
Helidor. Aber es iſt ſicher nicht unmoͤglich, daß
Nelkron und Endorf mit dem Bonnalerweſen, und
mit Projekten, die ſich darauf gruͤnden, einkom-
men werden.
Fuͤrſt. Haſt du deinen Kopf verloren, daß du
anfaͤngſt alſo zu traͤumen? Sie haben in ihrem Le-
ben noch zu keinem Projekt Ja geſagt, und dadurch
[410] in 20 Jahren den Ruhm behalten, ſich ſelber, und
mich hierinn nie betrogen zu haben; und dieſen
werden ſie gewiß nicht verlieren wollen.
Helidor. Das alles weiß ich; doch halte ich
es fuͤr mehr als wahrſcheinlich, ſie gehen mit By-
lifsky in Bonnaler-Projekte. —
Fuͤrſt. Dieſer redt ja ſelber kein Wort mehr
davon. —
Helidor. Das wird ſchon ſchon kommen; er
ſchweigt genau, um dann deſto ſicherer mit Erfolg
davon zu reden. —
Der Fuͤrſt lehnt ſich hinter ſich — hoͤrt auf
zu ſpielen, ſagt, was iſt das? Was ſetzeſt du mir
in Kopf? Was weißeſt du?
Helidor. Ihr Durchlaucht! uͤber Jahr und
Tag laͤuft eine regelmaͤßige Korreſpondenz zwiſchen
ihm und Arner; und bey der Menge ſeiner Geſchaͤf-
ten, bey der Vernachlaͤßigung aller ſeiner uͤbrigen
Korreſpondenz, ſendet er immer Briefe von ſichtba-
rer Weitlaͤufigkeit und Schwere dahin — empfaͤngt
noch gar viel groͤßere, und monatlich ganze Rollen
Papiere von dort her — Von allem dem ſehen we-
der Ihr Durchlaucht, noch kein Menſch am Hof ein
Wort; hingegen kommen Nelkron und Endorf, ſeit
Monaten, alle Donſtag und Samſtag Abends zu-
ſammen, das weiß ich gewiß; die Papiere von Ar-
ner liegen dannzumal auf dem Tiſch, und die vorige
[411] Woche haben ſie alle drey eine Schrift unterzeich-
net, die mitten unter Arners Papieren da lag —
das iſt eins. — Denn iſt die Abſchaffung des Gal-
gens, und das Projekt mit dem Steuerfond, das
ſind beydes nicht Sachen, von denen man glauben
kann, ſie ſeyen ohne Ruͤckſicht auf groͤßere Geſichts-
punkte von dem guten Arner blos zum Nutzen und
Frommen ſeines Dorfs ausgeheckt worden. —
Er ſchwieg izt, und ſah den Eindruck, den es auf
den Herzog machte. — Dieſer ſaß ſtaunend da, ſtoß-
te ſeine Lippen vorwaͤrts, nahm ſie dann wieder zu-
ruͤck unter die Zaͤhne, ſagte dann — wenn du dich
nicht irreſt, ſo iſt das die ſonderbarſte Sache, die
mir in meinem Leben begegnet. —
Helidor. Ich irre mich gewiß nicht — und auf
alle Umſtaͤnde, die ich erzaͤhlt, koͤnnen Sie bauen. —
Fuͤrſt. Bey allem dem ſcheint mir die Sache
noch unglaublich —
Helidor. Sie iſt aber ſicher, und ſie werden Ih-
nen gewiß mit einem Menſchlichkeitsprojekt kommen.
Fuͤrſt. Ich will ſehen was es giebt. —
Helidor. Werden Sie ihnen Gehoͤr geben? —
Fuͤrſt. (Nach einigem Staunen) — Das weiß
ich nicht. —
Helidor. Aber ich weiß es, Sie werden es
thun. —
Fuͤrſt. Traͤumeſt du noch einmal in einer
Stunde?
[412]
Helidor. Nein — ich weiß es, Sie werden es
thun — die ganze Kraft ihres Lebens vermag nicht,
Sie von ihrer Krankheit zu heilen; und Sie werden
ſich mit der Lufterſcheinung ihrer Menſchlichkeitsi-
dee plagen laſſen bis ins Grab.
Fuͤrſt. Laß mich — izt plagſt mich du, und
nicht die Menſchlichkeitsidee. —
Helidor. Es iſt wahr — ich bin dem ſuͤßen
Traum entgegen. —
Fuͤrſt. Laß mich — auch wenn dieſe kommen,
werde ich der Sache nicht geneigt ſeyn. —
Helidor. Aber anhoͤren werden Sie dieſelben?
Fuͤrſt. Und denn — wenn ich ſie hoͤre?
Helidor. Ihr geneigt werden? —
Fuͤrſt. Das will ich nicht — ich bin aller Pro-
jekten zu ſehr muͤde, als daß ich nicht auf meiner
Huth ſeyn werde.
Helidor. Sie nicht anzuhoͤren, waͤr die beſte
Huth, und vielleicht die einzige, die Sie rettet.
Fuͤrſt. Das koͤnnte ich nicht —
Helidor. Warum das? —
Fuͤrſt. Wenn dieſe drey einſtimmig ſind, ſo wuͤr-
de mir mein Kopf und mein Herz voll von dem was ſie
wollten, wenn ich auch kein Wort mit ihnen redte. —
Helidor. Das koͤnnte ſo kommen, wenn Sie
einmal eintreten wuͤrden, aber Sie muͤſſen den An-
faͤngen huͤten.
[413]
Fuͤrſt. Die Anfaͤnge davon liegen in mir ſelber —
Helidor. Bylifsky wird den Umſtand benutzen?
Fuͤrſt. Das iſt moͤglich. —
Helidor. Sie ſollten ſie nicht hoͤren.
Fuͤrſt. Das kann ich nicht. —
Helidor. Soll ich machen, daß Sie es koͤn-
nen? —
Fuͤrſt. Das kannſt du nicht. —
Helidor. Vielleicht — wenn wir izt nicht
mehr davon reden, kann ich doch etwas.
Fuͤrſt. Nein Helidor, das kann kein Menſch —
Du weißſt, ich ſezte alles darauf, vom Gedanken los
zu werden, es ſey den Menſchen zu helfen, es gieng
ein halbes Menſchenalter, ehe ich dieſer Plage in
meinem Innern los wurde. Was mich am meiſten
dahin brachte Ruhe zu finden, war mein Glaube an
Nelkron u[n]d Endorf, und die Erfahrung, daß ſie alle
meine Projekte mit Recht vor untauglich erklaͤrten.
— Auf ſie geſtuͤzt, nahm ich den Entſchluß, kein
Menſchlichkeitsprojekt mehr anzuhoͤren, bis ſie ein-
mal zu einem Ja ſagen — und izt, wenn ſie kom-
men und ſagen wuͤrden, Arners Projekt iſt gut;
urtheile ſelber, ob du — ob jemand in der Welt
mich abhalten koͤnnte, ſie anzuhoͤren? —
Helidor ſah, daß er ihn nicht weiters bringe —
lenkte ein, und ſagte, wir wollen dann mit einan-
der wieder ſehen, was es giebt. —
[414]
§. 67.
Arners Troſt — und ein Geſpraͤch, wel-
ches man doch wohl uͤberſchreiben duͤrf-
te: Siehe, welch ein Fuͤrſt!
Indeſſen war Arner in der groͤſten Verlegenheit,
was er endlich dem General antworten wollte, der
ihn mit einem Brief um den andern beſtuͤrmte,
daß er doch einmal aufhoͤre, ſich dem Hof und der
ganzen Welt zum Geſpoͤtt zu machen, und was er
dergleichen Zeug mehr ſagte. — Thereſe lag ihm in
den Ohren, er muͤſſe ihm doch einmal antworten;
und er ſaß eben an einem Brief, den er gerne fer-
tig gehabt, und nicht anfangen konnte, als er ploͤz-
lich aus dieſer Verlegenheit geriſſen wurde. — By-
lifsky, der anderthalb Jahr nichts mehr geſchrieben
hatte, woraus man Troſtgruͤnde fuͤr den guten al-
ten Onkle hernehmen koͤnnte, ſandte ihm izt juſt zu
rechter Zeit einen Brief, mit dem er ihn wieder
einmal ins Paradies ſetzen konnte. — Der Mini-
ſter meldete ihm nemlich, „die Sachen ſeyen nun
einmal dahin reif, daß er ſich izt in der Lage ſehe,
auch das Seinige thun zu koͤnnen, wie ſie das Ih-
rige bis izt redlich gethan haben; er werde auch
innert den naͤchſten zweymal 24 Stunden dem Her-
zog es dahin antragen, ſeine Dorfeinrichtungen in
[415] der Abſicht unterſuchen zu laſſen, wie es moͤglich
ſey, dieſelben moͤglich zu machen. Endorf und Nel-
kron ſeyen von der Moͤglichkeit der Ausfuͤhrung der
Sache uͤberzeugt wie er, und ſie werden ihn in allen
Theilen unterſtuͤtzen. — Auch zaͤhle er bey ſeinen
weitern Abſichten auf ſeinen Lieutenant und auf ſei-
nen Vogt, und werde wahrſcheinlich beyde mit der
Landskommißion, die er vorzuſchlagen gedenke, in
Verbindung bringen.“ — Wer war ſo froh als
Arner, daß er izt den Onkle wieder zufrieden ſtellen
konnte. — Er dachte beym Anfang des Briefs nicht
an das Herzogthum, ſo froh war er, daß er der
Noth ſeines Briefs los war; und ſandte dem Ge-
neral, der izt aber auch nicht mehr bey Hof war,
den Brief in eben der Stunde, in der er ihn bekam,
im Original, mit der einzigen Bitte, izt noch nicht
zu viel der Sylvia davon zu ſagen.
Es war vielleicht um die gleiche Stunde, daß
Bylifsky dem Herzog um eine Privataudienz bat,
die ihm Derſelbe in dem Augenblick gab, in wel-
chem er darum anfragen ließ. — Ahndend was er
wo[llte], und bereitet auf ſeinen Vortrag, nahm er
ihn bey der Hand, ſezte ſich mit ihm an das Ka-
min unten an die leere Stelle, wo vor ein paar
Monaten noch Menzows Arner Bylifskys Herz er-
quickte. Der Herzog ſah ſein Auge mit Wehmuth
an dieſer Stelle vorbey blicken. — In dem Augen-
blick, in welchem er anfieng ihn an das Entzuͤcken
[416] zu erinnern, das der erſte Eindruck von Arners
Bemuͤhungen auf ihn gehabt, erzaͤhlte er ihm dann
mit Beſtimmtheit und Kuͤrze den Gang dieſer Sa-
chen ſeit Jahre und Tagen, entwickelte ihm die
Natur der Mittel, die Arner gebraucht, zu ſeinem
Endzweck zu gelangen; zeigte, worinn das Weſent-
liche ihrer Kraͤfte beſtehe, und wie ihre Ueberein-
ſtimmung mit den erſten Beduͤrfniſſen der menſchli-
chen Natur, den Erfolg den ſie gehabt, ſo viel als
nothwendig gemacht; und legte dann in ununter-
brochenem Fortreden ihm ein richtiges Bild, vom
Zuſtand ſeines Volks, vor Augen; zeigte mit Deut-
lichkeit den Unterſchied des Zuſtands aller ſeiner
Volkseinrichtungen im Großen gegen diejenige die-
ſes Dorfs im Kleinen; und ſagte — die Millionen
der Staatseinkuͤnfte freſſen ſich in der Verwirrung
der Verwaltung ſelber auf — die Quelle der Mil-
lionen verſiegt im Sumpf des Schadens, den das
Volk von der Unordnung nimmt, in der es gelaſſen
wird; und die Landesgerechtigkeit ſchlaͤgt bey all-
gemeiner Verwahrloſung deſſelben mit dem Weiber-
arm ihrer Blindheit auf Gerathewohl aufs Vol[k][zu]
und kennet keine Mittelſtraße zwiſchen der Tiran-
ney-Gewalt der Ketten, und der noch groͤßern, der
Eidsverfaͤnglichkeiten, und der Rechtslangwierig-
keiten; ſelber der anſcheinende allgemeine Wohlſtand
des Lands, und der ſteigende Verdienſt des Volks,
und die wachſenden Summen der Finanzeinkuͤnfte,
ſind
[417] ſind ein truͤgender Tand, wenn der Quelle derſelben
nicht Vorſehung gethan, und der Wohlſtand der
Menſchen in den niedern Huͤtten dem Staat nicht
durch einen feſten Einfluß auf ihre allgemein gute,
zweckmaͤßige, und zuverlaͤßige Bildung verſichert
wird. —
Sie wiſſen, unterbrach ihn der Fuͤrſt, Bylifs-
ky! wie ſehr ich dieſes alles fuͤhle; aber eben ſo ſehr
bin ich uͤberzeugt, daß es unmoͤglich iſt zu helfen. —
Bylifsky erwiederte, Ihr Durchlaucht erlau-
ben, ich widerſpreche nicht, daß ſchwer iſt zu helfen,
auch daß der Endzweck zu tauſend Abwegen fuͤhrt,
die oft ſchlimmer ſind als das Uebel; aber dennoch
bin ich izt uͤberzeugt, daß ein Mittel da iſt, real zu
helfen, und zwar ein einziges —
Und dieſes waͤre? — ſagte der Herzog.
Ein bedaͤchtlicher und mit abgemeſſenen Schrit-
ten eingelenkter Regierungs-Einfluß in die Bildung
des Volks zur Induſtrie. Von dieſer, ſonſt von
Nichts auf Erden, iſt zu erwarten, daß ſie es einſt
den Fuͤrſten moͤglich machen werde, die Finanzope-
rationen zu vereinfachen, das Druͤckende ihrer Laſt
zu heben, und die Jammergerechtigkeit des Landes,
die in der Lage der Verwirrung in Ewigkeit unrecht
thun muß, in Ordnung zu bringen, daß wir, was
ihre zahlloſe Forderungen, mit denen ſie ohne alle
Seelenkunde das Menſchengeſchlecht wie einen Laim-
D d
[418] ſchollen zu modeln beginnt, auseinander ſetzen —
ausmuſtern, was auszumuſtern iſt, und das Uebrige
der menſchlichen Natur angemeſſen darzuſtellen —
den Reiz der Umſtaͤnde, Sitten und Gewohnheiten
den Geſezen entgegen zu handeln, zu vermindern,
und die Kraͤfte des Volks, ihnen gemaͤß zu handeln,
zu erhoͤhen, und den innerſten Willen der Menſchen
ſelber mit denſelben uͤbereinſtimmend zu machen. —
Fuͤrſt. Wie ſie traͤumen Bylifsky! — ſie brin-
gen mich ganz in meine Jugendjahre zuruͤck. —
Bylifsky. Ihr Durchlaucht! ich habe diesmal
die heitere Erfahrung fuͤr mich, ohne dieſe wuͤrde
ich nicht ſo reden.
Fuͤrſt. Auch dieſe truͤgt, Bylifsky! und oft
ſtaͤrker als ſonſt alles andere, wenn man ſich ihrer
vollkommenen Richtigkeit und Trugloſigkeit nicht
ganz verſichert. — Nicht wahr —? Sie denken,
wenn alle Doͤrfer waͤren wie Arners Bonnal, ſo waͤre
es denn, wie Sie ſagen, ſo, und ich bin mit ihnen
vollends einſtimmig; aber die große Frage iſt, wie's
ſo machen? —
Bylifsky. Und auf die Unterſuchung dieſer Fra-
ge iſt es, worauf ich bey Eu. Durchlaucht antrage. —
Fuͤrſt. Es wird nichts herauskommen, By-
lifsky! — Die Welt iſt ein Narrenhaus. —
Bylifsky. Ihr Durchlaucht! in dieſem Nar-
renhaus ſind einige Zimmer beſſer in Ordnung als
andere. —
[419]
Fuͤrſt. Das iſt wahr. —
Bylifsky. Es iſt ein himmelweiter Unterſchied
zwiſchen Menſchen die wohl verſorgt, und denen,
die es nicht ſind. —
Fuͤrſt. Auch das iſt wahr — Aber es iſt ein Loos
in der Lotterie, unter Zehntauſenden iſt hie und da
eines ſo gluͤcklich, und wird wohl beſorgt. —
Bylifsky. Ihr Durchlaucht! das iſt nicht voͤllig
ſo: es ſind unter dem Volk fuͤr das, was ſie ſeyn
ſollen, eine Menge Menſchen wohl in der Ordnung
— aber es koͤnnten es freylich unendlich mehrere
ſeyn, und eben dieſe Ueberzeugung iſt was mich
zwingt, Eur. Durchl. meine Wuͤnſche vorzutragen.
Fuͤrſt. Ich wollte wohl gern, ich koͤnnte mein
Volk in Ordnung bringen; aber ſie wiſſen, wie ſehr
ich's erfahren, daß nichts zu machen iſt. — Sicht-
bare Wehmuth war bey dieſem Wort im Auge des
Fuͤrſten. —
Bylifsky ſchwieg eine Weile; denn ſagte der
Fuͤrſt wieder — reden Sie nur fort! —
Nein, Ihr Durchlaucht! fuhr Bylifsky fort,
die gute Ordnung unter den Menſchen iſt kein Loos
in der Lotterie, es ſtehet in der Hand des Staats,
durch weiſen Einfluß auf ſeine Bildung ihn wohl zu
verſorgen, und den erſten Quellen ſeines Elends
mit Erfolg entgegen zu wirken. —
D d 2
[420]
Fuͤrſt. Was wird im Stande ſeyn, dem Greuel
aller Nothhandlungen der Gerechtigkeit, und dem
millionenfachen Druck der Finanzbeduͤrfniſſe abzu-
helfen? Womit werdet ihr ſelber dem Triebrad der
Gewerbſamkeit, auf das ihr ſo baut, die alles ver-
giftende Geldwuth der Menſchen im Zaum halten? —
Bylifsky. Mit einem feſten Einfluß der Re-
gierung auf eine unſerer Natur und den Umſtaͤnden
angemeſſene Stimmung und Bildung des Volks. —
Fuͤrſt. Iſt eine ſolche moͤglich —?
Bylifsky. Das ſollte der Erfolg, den Arners
Verſuche gemacht, wenigſtens wahrſcheinlich ma-
chen. —
Fuͤrſt. Kann euch der Unterſchied zwiſchen der
Regierung eines ganzen Volks, und dem Partikular-
Einfluß, den ein Edelmann auf ſeinem Dorfe hat,
entgehen? —
Bylifsky. Mir nicht entgehen, wo er wirklich
iſt; aber eben ſo wenig ſoll mir entgehen, daß das
Weſentliche der Mitteln, durch welche Arner auf
ſeinem Dorf dahingekommen iſt, wo er iſt, vollkom-
men ſo ſicher und Verhaͤltnismaͤßig fuͤr das Allge-
meine mit gleicher Kraft in der Hand Sr. Durch-
laucht liegt, als es fuͤr ſein Dorf in der Hand mei-
nes Freundes lag.
Fuͤrſt. Ich wollte, Sie koͤnnten mir dieſe
Meynung verbuͤrgen. —
[421]
Bylifsky. Wer wuͤrde Ihr Durchlaucht gut
genug ſeyn fuͤr dieſe Buͤrgſchaft? —
Der Fuͤrſt verſtund ihn, und ſagte halblaͤchelnd
Niemand! —
Bylifsky merkte aber noch nichts, und ſagte,
ich daͤchte, wenn Ihnen Niemand fuͤr ein Menſch-
lichkeitsprojekt gut ſeyn duͤrfte, ſo wuͤrden es Nel-
kron und Endorf ſeyn. —
(Der Fuͤrſt ihn ſteif anſehend) Es iſt alſo
wahr! — Dann ſtaunte er einen Augenblick —
ſagte wieder: ich weiß es — ſchwieg dann wieder
— war in ſichtbarer Bewegung — und ſagte dann
— Nein — auch ſie ſollen mir das lezte Viertel
meines Lebens nicht zu Grund richten, wie mir
die drey uͤbrigen zu Grund gegangen.
Erſtaunt und erblaßt ſagte Bylifsky, Ihr
Durchlaucht! wer ſollte das thun? —
Fuͤrſt. Was wollet ihr denn? Wollet ihr Geld?
Bylifsky. Nein —
Fuͤrſt. Sonderbar, was wollet ihr dann? —
Bylifsky. Von Seiten des Staats unterſu-
chen, wie weit die Grundſaͤtze Arners in ſeiner Volks-
fuͤhrung im Allgemeinen anwendbar ſind. —
Fuͤrſt. Und denn Weiters? —
Bylifsky. Sicher nichts verſuchen, als was
mit Sicherheit zum Wohl des Landes kann ausge-
fuͤhrt werden. —
D d 3
[422]
Fuͤrſt. Thut was ihr wollt; aber fordert nicht,
daß ich glaube, bis ich ſehe.
Bylifsky. Alſo billigen Ihr Durchlaucht un-
ſern Vorſaz, die Sache zu pruͤfen? —
Fuͤrſt. Ich werde ihn ſo gar fodern, nur mein
Glaube daran iſt was ich mir vorbehalte.
Bylifsky. Dieſes wird der Unterſuchung noch
dienlicher ſeyn. —
Fuͤrſt. Ich ſehe voraus, Bylifsky, die Unterſu-
chung wird zu einem Plan fuͤhren, der von uner-
meßlichem Umfang, aber auch von einer alles Ge-
wicht uͤberſteigenden Laſt ſeyn wird; und muß auch
ſagen, es iſt mir nicht anderſt, als ihr wollet euch
gegen den Schutt eines zuſammenfallenden Berges
ſtemmen, um darunter begraben zu werden.
Bylifsky. Ihr Durchlaucht! wir haben die
Sache gepruͤft, und ſehen keine andere Laſt, die
dadurch auf den Staat fallen kann, voraus, als
die Errichtung eines neuen Lehrſtuhls, um ihre
Edelleute mit den Grundſaͤtzen einer beſſern Volks-
fuͤhrung bekannt zu machen, und einer Landeskom-
mißion, um jedermann der Neigung zeigte, mehr
oder weniger von dieſen Grundſaͤtzen auszufuͤhren,
mit Rath und Leitung an die Hand zu gehen.
Fuͤrſt. Sonderbar — ſehr ſonderbar —
braucht ihr kein Geld? keine Gebaͤude? keine An-
ſtalten? Nichts dergleichen? —
[423]
Bylifsky. Nichts dergleichen; als einige Du-
tzend Rechnungsbuͤcher.
Fuͤrſt. Wozu die? —
Bylifsky. Um alles was von den Leuten, die
mit dieſer Kommißion in Verbindung ſtehen wuͤr-
den, verſucht und gethan wuͤrde, ſo heiter und klar
vor Augen zu haben, als ein Kaufmann die Rech-
nungen und den Zuſtand aller deren, mit denen er
in Verbindung ſteht, vor Augen hat.
Fuͤrſt. So etwas hat mir doch Niemand vor-
geſchlagen.
Bylifsky. Es iſt aber das Fundament von
allem worinn man ſolid zu Werk gehen will; es
ſollte nie jemand einem Fuͤrſten etwas vorſchlagen,
ohne daſſelbe auf dieſes Fundament zu gruͤnden.
Der Fuͤrſt ſaß izt eine Weile in ſich ſelbſt ge-
kehrt, wie wenn Niemand bey ihm waͤre; dann
ſagte er, Bylifsky! der Verſuch ihres Freunds riß
mich im Anfang hin, wie ein Kind, ich haͤtte ſei-
nen Schulmeiſter in den erſten Stunden zum Staats-
miniſter gemacht; nach und nach machte mich die
Erinnerung alles deſſen, was mir fehl geſchlagen,
wieder kaͤlter. Indeſſen ſezt mich der Erfolg ſeiner
Sachen in Erſtaunen, und noch viel mehr izt die
Natur euers Antrags. Ihr wollet das Volk ohne
Gewalt, ohne Zudringlichkeit, und ohne anmaßli-
che willkuͤhrliche Einmiſchung, durch den bloßen
D d 4
[424] Einfluß einer gutmuͤthigen Leitung, in ihrem haͤus-
lichen Gluͤck weiter bringen, blos dadurch das
Druͤckende der Finanz und der Juſtiz, das Gefaͤhrli-
che der allgemeinen Geldjagd mindern, und eben
dadurch die Wege anbahnen, die Verwaltung des
Staats in allen ihren Theilen mit den Beduͤrfniſſen
der menſchlichen Natur in Uebereinſtimmung zu brin-
gen, das iſt ihr Plan —! Was ſoll ich ihnen ſagen,
Bylifsky? Iſt es moͤglich, ich wollte Steine tragen
ihn zu erzielen; iſt es aber unmoͤglich, ſo wollte ich
auch die ewige Plage, immer unnuͤz an ſolche Sa-
chen zu denken, haͤtte einmal ein Ende. Ich bin
alt, die Sachen fangen an, mich mehr zu belaſten
als in meinen jungen Tagen, kommen Sie, ich
will ihnen etwas zeigen —! Mit dieſem Wort
ſtund er auf, oͤfnere einen Schrank, zeigte ihm Ar-
ners zerriſſenes Gemaͤld — ſehen Sie, wie ſchwach
bin ich! wohin mich mein Unmuth bringt? Ich
ſtund, es mag 3 Monat ſeither ſeyn, vor ihm zu,
es kaͤmpfte noch in mir, ob ich ſeinen Traͤumen
mein Herz geben wolle? aber ich konnte es nicht,
und warf im Unmuth da dieſen Stein gegen ihn
uͤber. — Bylifsky nahm das ſchoͤne zerriſſene Stuͤck
mit Waͤrme in ſeine Hand, und ſagte, Gottlob,
daß du lieber Arner alſo von dieſer Wand wegge-
kommen, und nicht anders! — Der Fuͤrſt ſag-
te, ich darf ihn, wie er iſt, nicht wieder hinhaͤn-
gen, ſonſt wuͤrd' ich es thun — aber Sie ſind izt
[425] auch de einzige Menſch, der weiß, wie er weggekom-
men. —
Bylifsky. Darf ich eine Gnade bitten, Ihr
Durchaucht?
Fuͤrſt. Nun welche?
Bylifsky. Dieſes auch Arner ſagen zu duͤrfen?
Fuͤrſt. O ja! ſchreiben Sie es ihm — aber
kommen Sie, wir ſind noch nicht fertig. Mit die-
ſem ſez[t]e er ſich, und ſagte, ich will, ehe Sie weiter
gehen, einer Kommißion auftragen, ihnen die Gruͤn-
de vorzulegen, welche die Schwierigkeiten einer all-
gemeinen Ausfuͤhrung der Grundſaͤtzen Arners ins
Licht ſetzen, dann werden Sie mir ihre Antwort ein-
ſenden. — Mit dieſem entließ er Bylifsky; und
da er fort war, nahm er den weitern Entſchluß, er
mag izt Recht haben oder Unrecht, ſo will ich un-
partheyiſch ſeyn, und Helidor muß mit ihm offen
fechten. Mit dem ſezte er ſich hin, ſandte dem Lieb-
ling ein Handbillet, des Innhalts: „Er ſolle,
wen er immer tuͤchtig finde, die Unmoͤglichkeit der
allgemeinen Ausfuͤhrung der Bonnaler Grundſaͤtzen
in behoͤriges Licht zu ſetzen, von ſeinetwegen dazu
befehlen, und machen, daß dieſe mit moͤglichſter
Befoͤrderung ſo wohl, als mit moͤglicher Deutlich-
keit geſchehe, Bylifsky werde dannzumal ſolches zu
beantworten haben; er aber ſelber wolle inzwiſchen
muͤndlich mit Niemand mehr kein Wort daruͤber
verlieren.“ —
[426]
Wie ein Donner in den Bergen rollt, ſo rollte
die Zeile, „er wolle muͤndlich mit Niemand kein
Wort mehr daruͤber verlieren“ durch den Schaͤdel
des Lieblings; und wann der Feind in das Herz der
Linien eingedrungen, iſt es einem General nicht ſo
bang, als es izt Helidor war; er ſah keinen Aus-
weg, als beſtimmt zu thun, was der Fuͤrſt befoh-
len, und eilte zuſammen zu treiben, wen er immer
konnte, um Einwuͤrfe gegen Arners Grundſaͤtze zu
machen. Am dritten Morgen war fertig, was er
mit ſeinen Helfern dagegen zuſammen bringen konn-
te; ſie proteſtierten aber am Ende, daß die Sache
ſelber ſich viel beſſer in der Natur und auf den Doͤr-
fern, als auf dem Papier widerlege.
Noch viel geſchwinder, blos ein paar Stunden
darauf, hatte der Herzog Bylifskys Antwort. Er
proteſtierte aber auch faſt mit gleichen Worten, daß
die Sache viel beſſer in der Natur ſelber, und auf
den Doͤrfern ſich zeigen und beweiſen laſſe, als auf
dem Papier. —
Das Weſentliche dieſer beyden Schriften iſt
mit kurzem dieſes —
[427]
§. 68.
Mene Mene Thekel, Uphraſin.
Einwuͤrfe.
- 1.Er ſtreite wider alle
Erfahrung, daß
man ein Volk in der Welt
ſo weit bringen koͤnne, als
man ſage, daß Arner ſei-
ne Bauern in Bonnal
bringen wolle. - 2. Alle Anſtalten fuͤrs
Volk, ſo gut man es mey-
ne, und ſo gut man ſie
mache, arten immer aus,
und werden oft ſchneller
als der Wind wehet, aus
Volks-Anſtalten blos
Pfruͤnde fuͤr die Maͤntel-
traͤger und Schattenbil-
der der Verſorger, die
man dem Volk geben
wolle. - 3. Es mangle den
Landedelleuten allgemein:
Antworten.
- 1. Die Geſchichte der
Alten zeige we-
nigſtens, daß man ein Volk
weit bringen koͤnne, und
zu verſorgen ſey man es
ſchuldig. - 2. Das ſey wahr, aber
ſie wollen zum voraus er-
klaͤren, daß ſie auf keine
Anſtalten antragen wer-
den, die zu Pfruͤnden fuͤr
die Manteltraͤger und
Schattenbilder der Volks-
verſorger ausarten koͤnn-
ten. Im Gegentheil ſey
das Weſen deſſen, ſo ſie
anzutragen Luſt haben,
von einer Natur, daß es
vielen ſolchen Manteltraͤ-
gern ihre Maͤntel recht
ſchwer machen wuͤrde. - 3. Die Edelleute ſeyen
Menſchen wie andere; ih-
Einwuͤrfe.
- an derjenigen Betrieb-
ſamkeit, und an demjeni-
gen Ton, der hiezu erfo-
dert werde, wenn man ſo
etwas von ihnen erwar-
ten ſollte.
Antworten.
- re Betriebſamkeit und ihr
Ton hange von den Um-
ſtaͤnden ab, mehr als ein
Sohn vom Koͤnig in Eng-
land, Georg dem Zwey-
ten lerne Seedienſte thun;
viele Prinzen dienen ſogar
denen Myne Herren in
Holland, es ſey aber auch
nicht die Rede davon, die
Edelleute in ihrem Ton,
und in ihrer Unbetrieb-
ſamkeit zu genieren, oder
ihnen im geringſten etwas
zuzumuthen, das ihren
Geſchmack ſtoßen koͤnnte.
Alles, was man in Sinn
haͤtte, waͤre ihnen ein paar
Spiegel zuzuſchicken, ſie
ſehen zu machen, wo ſie
zu Haus ſind, und wo ſie
hinkommen koͤnnten, weñ
ſie wollten mit voͤlliger
Freyheit fuͤr einen jeden
ſich in nichts rathen, weil
geſchweigen befehlen zu
laſſen, bis es eines jeden
ſeiner Gnaden auffallen
Einwuͤrfe.
- 4. Sie ſeyen zu traͤg,
launig und ungeduldig,
und haben gar nicht den
Geiſt, und die Stim-
mung, die zu ſo etwas ha-
ben muͤſſen. - 5. Mit den Pfarrern
ſey es eben das, ſie ſeyen
weder aͤußerlich noch in-
nerlich, was ſie ſeyn muͤß-
ten, wenn man ſo etwas
mit ihnen ausrichten ſoll-
te. - 6. Es werde am Volk
Antworten.
- wuͤrde, daß es die andern
beſſer haben, die ſich ra-
then laſſen. - 4. Sie werden nicht
durch eine Konſpiration
eben ſo wenig durch einen
ihrem Stand anklebenden
Naturfehler traͤg, launig
und ungeduldig ſeyn; und
wenn ſie dieſe Fehler nur
wie andere Menſchen ha-
ben, ſo werden ſie auch
wie andere Menſchen da-
von zu heilen ſeyn. - 5. Man wolle das gar
nicht widerſprechen, aber
es ſey wieder die gleiche
Sache, wie mit den Edel-
leuten, auch die Pfarrer
werden nicht durch eine
Konſpiration, und nicht
durch beſondere ihrem
Stand anklebende Na-
turfehler ganz anderſt ge-
ſtimmt ſeyn, als ſie fuͤr das,
was ſie ſind, ſeyn ſollen. - 6. Es fehle am Volk
[430]
Einwuͤrfe.
- ſelber fehlen, daß es ſich
nicht werde helfen laſſen. - 7. Man koͤnne auf
100. Stund weit nicht
6. bis 7. Perſonen zuſam-
men bringen, wie der Zu-
fall Arnern ein halb du-
zend Leute zugeſchneiet
habe, die zu ſeinem Spiel
gut ſeyen. — Das ſey
von ſeinem Schulmeiſter
an bis auf die Frau, die
den Kindern die Struͤm-
pfe binde, wahr.
Antworten.
- nie, daß es ſich nicht hel-
fen laſſe, wenn man wiſſe
mit ihm umzugehen, es
ſteige ein jeder gern die
Leiter hinauf, wenn er
ſehe, daß er mit Sicher-
heit hinaufſteigen koͤnne. - 7. Man koͤnne Leute
zuſammenſtellen, wenn ſie
auch der Zufall nicht zu-
ſammenſchneie. Es ſey
freylich wahr, um Arners
Ordnung im ganzen zu-
erſt einzurichten, brauche
es eine Art Schnee, wie
es vielleicht in 100 Jah-
ren kaum einen lege, aber
nachdem ſie einmal einge-
richtet, und in der Ord-
nung daſtehe, ſo brauche
es zum Nachmachen kaum
mehr den Zehenden vom
Kopf, den es brauchte, es
einzurichten; es ſeyen fuͤr
alle Theile dieſes Werks
Tabellen, Vorſchriften,
Wegweiſungen eingerich-
[431]
Einwuͤrfe.
- 8. Mit ſolchen großen
Volks-Ausſichten und
Staats-Geſichtspunkten
mache man die Menſchen
nur zu politiſchen Kan-
nengießern, und veran-
laſſe 100. und 100. un-
vorhergeſehene Anmaſ-
Antworten.
- tet, daß Edelleute, Schul-
meiſter, Pfarrer, Kauf-
leute, Dorfrichter, ein je-
der ſeinen deutlichen und
ſichern Leitfaden finde, an
dem er ſich halten kann;
und die Hausvaͤter, die
Hausmuͤtter, bis auf das
Schulkind hinunter, fin-
den die Wege gebahnt
nach dieſen Plan ſich wei-
ter zu bringen. Uebrigens
fall' es auf, daß es ſo we-
nig als beym Soldaten-
ſtand darum zu thun ſey,
daß die Mittelsperſonen
das ganze uͤberſehen, ſon-
dern nur, daß ſie fuͤr ihre
Stelle und fuͤr ihren Po-
ſten in Ordnung kom̃en. - 8. Arners Plan fuͤh-
re den Menſchen zu ſei-
nem Heerd, und lenke die
ganze Kraft ſeiner Auf-
merkſamkeit auf dieſen
hin, ſo daß, wenn irgend
etwas dem politiſchen
Kannengießer-Geiſt des
[432]
E[i]nwuͤrfe.
- ſungen u[n]d Unordnun-
gen. - 9. Ar[n]er untergrabe
den einzi[g]en Grund, und
das einz[i]ge Fundament
aller wah[r]en buͤrgerlichen
Ordnung, die Religions-
lehre. —
Antworten.
- Volks, und uͤberhaupt ſei-
nen Anmaßungen und Un-
ordnungen entgegen wir-
ken koͤnne, ſo ſey es dieſes. - 9. Die Religionsleh-
re ſey ſo wenig der einzi-
ge Grund und das einzi-
ge Fundament aller buͤr-
gerlichen Ordnung, als
ſie der einzige Grund,
und das einzige Funda-
ment des Schneider- und
Schuhmachers-Hand-
werks ſey. Die Religion
ſoll ſeyn ohne allen Wi-
derſpruch goͤttlich, und
die Furcht Gottes ohne
Widerred zu allen Din-
gen nutz; aber ihre Lehre
gehe durch Menſchenhaͤn-
de und Menſchenmaͤuler,
und werde nicht ſelten
unrein. Unrein desnahen
muͤſſe man das menſchli-
che der Religionslehre
immer wohl von der Re-
ligion
[433]
Einwuͤrfe.
- 10. Ein ſolcher Grad
von Wohlſtand wie Arner
ihn traͤume, wuͤrde das
Volk frech, und ſelber die
Regierung gefaͤhrlich ma-
chen.
Antworten.
- ligion ſelber ſoͤndern. Ihr
ſelber, und der Liebe und
dem Zutrauen zu Gott,
den Dankempfindungen
des Menſchen gegen ſei-
nen Schoͤpfer, u. ſ. w.
koͤnne man nicht beſſer
aufhelfen, alswenn man
ihre Hausordnung, ihre
Faͤhigkeit ſich ſelber und
den ihrigen vor aller Ver-
wirrung, vor allem Un-
gluͤk zu bewahren, und
durch Bedaͤchtlichkeit,
Sorgfalt, die Kraͤfte ih-
rer Hilfsbegierde und ih-
rer Neigung ihren Mitge-
ſchoͤpfen wohl zu thun feſt
gruͤnde, u. ſicher mache. - 10. Noth, Unſicher-
heit, Unordnung, macht
den Menſchen frech. Kein
Volks Wohlſtand, der auf
Arbeit, Fleiß, und Haus-
ordnung ruhet, wird der
Regierung gefaͤhrlich.
E e
[434]
Einwuͤrfe.
- 11. Mit einem Wort,
die Sache ſey nicht aus-
fuͤhrbar.
Antworten.
- 11. Mit einem Wort
das ſey zu unterſuchen.
§. 69.
Ihr kennet das Spiel — Meine Muͤlli
gaht (geht); deine Muͤlli bſtaht (ſteht).
Das war der Innhalt von Helidors Einwuͤrfen,
und von den Antworten Bylifskys. Der Fuͤrſt er-
ſtaunte, als er ſie las, und ſagte zu ſich ſelber, ent-
weder muͤſſen ſie ihre Sachen nicht verſtehen, oder
Bylifsky iſt darinn begruͤndter als ich es vermuthet.
— Er las es wieder — und noch einmal — konnte
nicht begreifen, daß etwas ſo Schwaches von Heli-
dor an Ihn gelange; doch kam ihm auch zu Sinn,
dieſer laſſe ſich in Nichts hinein, das geſchrieben
wird; aber es ſtaͤrkte den Fuͤrſten um ſo viel mehr
in ſeinem Vorſaz, unpartheyiſch zu ſeyn, und der
Sache ihren natuͤrlichen Gang zu laſſen, auf wel-
che Seite ſie auch hinſchlagen werde. Er ließ auch
am gleichen Abend Bylifsky zu ſich kommen, ſagte
ihm, wenn er an Ort und Stelle Meiſter werde,
wie er auf dem Papier Meiſter worden, ſo werde er
in ſeinen alten Tagen von ihm lernen, was er in
[435] ſeinen jungen Jahren ſo gern gelernt haͤtte, aber
keinen Menſchen dazu fand. —
Helidor brachte alles in Bewegung, den Streich
abzulenken, und ihn noch dahin zu bringen, daß er
die Sache liegen laſſe. Von allen Seiten ſtroͤmten
Leute zu, die laͤchelten, und von dieſem Traͤumer-
weſen redten; ſelber die Religion, die Helidor in ſei-
nem Leben zu Nichts gebraucht hatte, ſchien ihm izt
gut genug, ihm hierinn einen Dienſt zu leiſten.
Ein Geiſtlicher, der, ich weiß nicht wie, Zugang
zum Fuͤrſten hatte, bog ſich vor dem Herzog, wie die
Patres von der Aufwart vor ihrem Herrn Abt; und
da er nach geduldigem Warten den Augenblick er-
ſah, da er reden durfte, verunglimpfte er Arnern,
und winkte mit beſcheidenen Worten, er raube den
armen Menſchen, die ſonſt nichts in der Welt ha-
ben, als ihren Gott und ihren Jeſum, den einzigen
Troſt ihres Lebens; und wenn es ſchon hart ſchiene,
ſo ſey es doch wahr: er verſchmaͤhe die Erkenntniß
Gottes und ſeines Worts, und ſey wahrlich einer
aus denen, die den Herrn der Herrlichkeit Gottes
verlaͤugnen und kreuzigen. — Das war zu rund —
Der Fuͤrſt warf den Kopf hinter ſich, ſah den Pfaff
an, und ſagte, was iſt das? was thut er dann? —
Demuͤthig und gebuͤckt, erwiederte der Prieſter,
er meynt= = = =
Ich frage nicht, was er meyne? Ich frage, was
hat er gethan?
E e 2
[436]
Die Frage verwirrte den Geiſtlichen; er wollte
von dem reden was er meyne, und nicht von dem
was er thue; dennoch erholte er ſich, und ſagte,
Ihr Durchlaucht! er hat die Chriſtenlehre kuͤrzer
gemacht. —
Fuͤrſt. Das mag nicht uͤbel ſeyn. —
Prieſter. Und ſein Pfarrer predigt wenn er
will, und wenn er nicht will, ſo laͤßt er es gelten.
Fuͤrſt. Nun — wenn er es nur dann gut
macht! —
Prieſter. Es iſt doch keine Ordnung, Ihr
Durchlaucht! ſo wenig, als daß er waͤhrend der
Predigt mit ſeinen Leuten redt, und ſie fragt, ob
alles daheim geſund ſey? und der Großvater und die
Großmutter dieſe Nacht wohl geſchlafen haben? —
Der Fuͤrſt lachte, und ſagte, aber das iſt doch
nicht den Herrn der Herrlichkeit gekreuziget? —
Prieſter. Ja — ich vergaß mich faſt, Ihr
Durchlaucht! man hoͤrt die Hauptlehren des Chri-
ſtenthums, und das Wort Jeſus und Heiland manch-
mal in einer ganzen Predigt, kein einzigesmal aus
ſeinem Munde. —
Fuͤrſt. Das thut ja nicht er, ſondern ſein Pfar-
rer — und auch das iſt nicht den Herrn der Herr-
lichkeit gekreuziget. —
Hier wollte der Prieſter deſſerrieren, aber der
Herzog ſagte ihm, er ſolle ſchweigen, das Ueber-
[437] triebene ſey bey keiner Klage gut, und mit dem,
was er gehoͤrt habe, kreuzige der Pfarrer in Bonnal
den lieben Heiland ſo wenig, als er ſeine 85 jaͤhrige
Tante damit ins Grab gebracht habe, daß er nicht
ſo geſchraubet bey ſeinem A B C Buch habe ſitzen
koͤnnen, als ſeine Franzoͤſin es gern geſehen; ſie
habe ihm freylich wohl hundertmal geſagt, er brin-
ge ſie mit ſeinem Nichtſtillſitzen ins Grab, dann koͤn-
ne ſie ihm keine bon bon mehr geben. —
Mit dieſem mußte der Pfarrer gehen, und es
waͤr Helidor faſt etwas ſchlimmes begegnet, als er
ihm dieſe Geſchichte erzaͤhlte.
Es geſchah noch gar viel anders, und wurde
noch gar viel mehr geredt in dieſen Tagen, aber es
wuͤrde mich ab dem Heimweg fuͤhren, wenn ich allem
dieſem nachlaufen wollte; und es geluͤſtet mich
wahrlich bald zu Hauſe zu ſeyn, wie du mir es
wohl anſehen wirſt, lieber Leſer! —
Durch alles hindurch blieb der Fuͤrſt bey dem
Entſchluß, der Unterſuchung dieſer Sache ihren Lauf
zu laſſen, und ſich durch keine Privateinmiſchungen
weder links noch rechts davon abwendig zu machen,
und gab Bylifsky das naͤchſtemal, da er ihn ſah,
folgende Nota in die Hand —
— Zu unterſuchen iſt —
- 1) Ob Arner wirklich in Abſicht auf die F[in]anz,
Juſtiz und den Erwerb da ſey, wo wir izt vor-
ausſetzen.
E e 3
[438]
- 2) Wenn er wirklich in allen dieſen Stuͤcken da iſt,
durch was fuͤr Mittel er dazu gelangt? - 3) Ob die Mittel, die er dazu gebraucht, im Gro-
ßen eines Reichs anwendbar? Und im ausge-
dehntern Gebrauch auf die Finanz, Juſtiz und
den Erwerb, eben die Wirkung hervorbringen
werden, die ſie in dieſem Dorf hervorgebracht? - 4) Und endlich, wenn man alles dieſes moͤglich
finden wuͤrde, auf was Art und Weiſe man zu
dieſem Ziel vorſchreiten muͤßte? —
Bylifsky las dieſe Nota, uͤberlegte ſie, und
ſagte dann: In Abſicht auf den dritten Punkt, kann
das Ob nicht entſchieden werden, bis unterſucht
iſt, Wie — und es ſcheint mir, es komme eigent-
lich in die Frage: Kann man die Einrichtungen, die
Arner auf ſeinem Dorf gemacht, auf 10, 20 und
100 Doͤrfern auch machen? Und denn, wenn es ge-
ſchehen wuͤrde, ſollte es nach dem Verhaͤltniß der
Anzahl dieſer Doͤrfer nicht auf das Ganze des
Reichs, in Abſicht auf Finanz, Juſtiz und Erwerb,
den gleichen Einfluß haben, den es in Bonnal hat? —
Der Fuͤrſt nahm die Nota zuruͤck, aͤnderte den
dritten Punkt, ſtrich den vierten durch, ſagte dann,
weil ich ſo weit gehe, ſo will ich keine Seite der
Sache unerforſcht laſſen, und mich gaͤnzlich nicht
der Unannehmlichkeit ausſetzen, daß hintennach ſich
[439] Schwierigkeiten zeigen, an die Niemand gedacht;
es muͤſſen Rechts[gelehrte], Beamtete von der Fi-
nanz, Herrſchaftsherren, Kaufleute, Geiſtliche, Un-
terbeamtete ab dem Land, Schulmeiſter und Aerzte
dabey ſeyn, und von den meiſten Staͤnden will ich
noch Frauen dabey haben, um auch mit Weiber-
augen der Sache nachzuſehen, und ſicher zu ſeyn,
daß nichts Romanenhaftes darhinter ſtecke. Aber
nicht wahr, ſezte er laͤchelnd hinzu, darvor muß ich
lauter Unglaubige zur Unterſuchung nehmen? —
Nehmen Sie doch, ſagte Bylifsky, weder Glau-
bige noch Unglaubige, ſondern fuͤr jedes Fach den er-
fahrenſten Mann, den Sie dazu auftreiben koͤnnen —
Ich nehme ihrer fuͤr jedes Fach zwey, und wie
geſagt, auch noch einige erfahrne Weiber — ihr Her-
ren, ihr habt mich ſchon ſo manchmal betrogen! —
Helidor war aufs Aeußerſte getrieben; der
Fuͤrſt erklaͤrte ſich noch einmal, er wolle mit Un-
partheylichkeit die Sache erforſchen, und auch ihn
zur Unterſuchung ziehen, aber er ſolle ſich ein Fach
waͤhlen, um daſſelbe in der Ordnung zu beurthei-
len, und dann dem Uebrigen ſeinen natuͤrlichen
Gang laſſen. Das behagte dem Liebling nicht; er
wollte, ohne fuͤr etwas ſich zu beſtimmen, mit-
kommen und ſehen; aber der Fuͤrſt ſagte ihm be-
ſtimmt, er wolle keine andere Einmiſchung, als
eine regelmaͤßige Unterſuchung der Sache; Helidor
E e 4
[440] zog es vor, wenn es ſo ſey, lieber dem Spiel in
der Ferne zuzuſehen; alles was ihm uͤbrig blieb
Staub in die Milch zu werfen, war dieſes, daß er
am Abend, ehe der Herzog verreißte, noch zu ihm
ſagte, er ſolle Arner, den Lieutenant und den Pfar-
rer waͤhrend der Unterſuchung entfernen. — Dieſe
Herren, ſagte er, wiſſen izt, daß Sie kommen,
und ihre Uhr iſt aufgezogen, daß ſie waͤhrend ihrem
Daſeyn gut gehet; aber ſo ſie die drey erſten Raͤ-
der davon eine Weile ſtill ſtellen, ſo iſt die Stunde
vielleicht ſo gut, daß Sie dahin kommen die Schwaͤ-
che des Werks, die mir ſicher iſt, einzuſehen, ohne
dieſes aber gewiß nicht. —
Nun verreißte der Herzog, und das ganze Per-
ſonale der Unterſuchung hatte Befehl, in den erſten
Tagen, und ſo lang bis ein jeder in ſeinem Fach
dem Herzog Bericht abgeſtattet, kein Urtheil daruͤ-
ber zu faͤllen, ſich auch gegen Niemand verlauten
zu laſſen, was ihre wahre Urtheile daruͤber ſeyen —
Das war gut, aber nicht um deswillen warum es
der Fuͤrſt glaubte — Er meynte nemlich — der
erſte Eindruck der Sache werde ſie einnehmen, daß
ſie alſobald mit einem Trompetenſtoß zum Vortheil
davon herausruͤcken, und denn nicht mehr zuruͤck-
ſtimmen koͤnnen. Es war das Gegentheil; da ſie
das Ganze ſahen, ſchwindelte es den Herren und
Frauen, ſie meynten nichts anders, als dieſes all-
gemein auszufuͤhren uͤberſteige alle Menſchen Kraͤfte,
[441] und ſey gaͤnzlich unmoͤglich. Sie haͤtten auch in den
erſten Stunden dieſes alles mit einem Mund rund
heraus geſagt, wenn ſie nicht dieſen Befehl gehabt
haͤtten zu ſchweigen.
Aber als ſie an ihre Arbeit mußten, und ein
jeder in dem beſondern Fach, das er zu beurtheilen
hatte, naͤher forſchte, was eigentlich da ſey, und
wie Arner darzu gekommen, den beſtimmten Vor-
ſchritt dieſes Fachs ſo hoch hinauf zu treiben als
ſie ihn ſahen, vergieng ihnen nach und nach der
Schwindel, der ſie beym erſten Anblick dieſes blen-
denden Werks uͤbernommen, und ſie kamen Tag
fuͤr Tag mehr dahin, die Mittel, die Arner zu
dieſem Zweck gebraucht, nichts weniger als un-
nachahmlich zu finden; ſonder im Gegentheil, ſie
ſtimmten am ſechsten Tage, da der Herzog ihren
erſten Bericht abnahm, einmuͤthig fuͤr die Moͤg-
lichkeit der allgemeinern Ausfuͤhrung der Sache im
Großen. —
[442]
§. 70.
Der Autor rezenſiert ſein Buch — Und
die Herren von der Kommißion erſtat-
ten dem Fuͤrſten Bericht. —
Die zwey Juſtizraͤthe urtheilten:
1. Es ſey wahr, es ſeyen bey den Einrichtungen,
die Arner gemacht, unter zehn Dorfſtreitigkeiten,
neune geradezu unmoͤglich; und ſein Rechtsgang
habe die Fehler der gewohnten Rechtsform, uͤber
welche man allenthalben ſo laut und allgemein kla-
ge, gaͤnzlich nicht; er untergrabe die Gutmuͤthig-
keit, Billigkeit und Gemuͤthsruhe des Volks nicht;
er verderbe den Sinn der Nation weder durch
Verfaͤnglichkeit noch Gewaltthaͤtigkeit, und ſchuͤtze
und erhalte uͤbrigens ſeine Leute auf eine Art bey
dem Ihrigen, daß ſie nichts ſehen, das hierinn
mangle. — Im Kriminale ſey es das gleiche; bey
ſeinen Einrichtungen ſeyen wieder unter zehn Kri-
minalfaͤllen neune geradezu unmoͤglich; und er ſey
wirklich vollkommen da, daß er ohne die geringſte
Bloͤße zu geben, den Galgen mit allen Ehren fuͤr
dieſes Dorf habe abſchaffen koͤnnen, indem die Ver-
brechen beym Ganzen ſeiner Einrichtungen unmoͤg-
lich mehr den anſteckenden Reiz haben koͤnnen, um
[443]
deſſentwillen der Gebrauch des Galgens einzig und
allein vor Gott und Menſchen zu entſchuldigen iſt. —
2. Die Mittel, durch die er dahin gekommen,
ſeine Gerechtigkeit auf einen ſo guten Fuß zu ſetzen,
ſeyen nichts anders, als die Feſtigkeit eines regel-
maͤßigen Einfluſſes ſeiner Dorfregierung auf den
haͤuslichen Zuſtand ſeiner Leute, die ihn ſicher ſtelle,
daß ein jeder einzelner Menſch in allen Theilen ſei-
ner Beduͤrfniſſen, und fuͤr alle Ordnungen ſeines
Lebens, Rath, Leitung und Bildung finde.
3. Sie koͤnnen auf der einen Seite nicht finden,
warum es nicht einem jeden Edelmann, dem der
gute Zuſtand ſeiner Dorfleute im Ernſt angelegen
waͤre, eben ſo wohl als Arnern moͤglich ſeyn ſollte,
in ſeinen Doͤrfern mehr oder minder eben diejenige
Einrichtungen zu machen; aber denn muͤſſen ſie
auf der andern Seite auch ſagen, daß eben die-
ſes, nemlich eine uͤbereinſtimmende Bemuͤhung vie-
ler Partikularen zu dieſem Ziel, der einzige Weg ſey,
durch welchen die Juſtizform Arners im Großen
ausfuͤhrbar ſeyn wuͤrde; das aber ſetze zum Vor-
aus, daß ſowohl die Kenntniſſe der Edelleute, in
Abſicht auf die Fuͤhrung und Bildung des Volks,
als auch ihre Neigung fuͤr den Wohlſtand deſſelben,
ihre Thaͤtigkeit zu verwenden, erhoͤhet werden muß.
In dieſem Fall nemlich, bey feſter und allgemeiner
Ausbreitung der Kenntniſſen von der Volksfuͤhrung
[444] bey den Edelleuten, und beym Allgemein bey den-
ſelben rege gemachten Intereſſe fuͤr dieſen Gegen-
ſtand, koͤnnte es nicht anderſt ſeyn, als daß nach
Maaßgebung der Ausdehnung ſolcher Privatein-
richtungen, die Juſtiz des Landes im Ganzen mit
den Einrichtungen Arners harmoniſch werden muͤßte.
Dann bemerkten ſie noch, Arners Rechtsgang
laſſe ſich noch mehr vereinfachen, und ſagten, er
ſchiene bey der Schwerfaͤlligkeit des Ceremoniels in
ſeinen Rechtsſchritten nicht genug Ruͤckſicht auf den
Zuſtand genommen zu haben, in welchen ſein Volk
durch den fortgeſezten Genuß ſeiner Einrichtungen
nothwendig kommen muͤſſe. — Im rohen Zuſtand
des Landvolks, und in der daſſelbe verwilderten Ver-
wirrung in der es lebt, auch noch in den Anfaͤngen ei-
ner beſſern Fuͤhrung, iſt dieſe druͤckende Schwerfaͤl-
ligkeit des Ceremoniels in den Rechtsſchritten von
weſentlichem Nutzen — aber nach Maaßgebung daß
ein Volk ſeine Rohheit verliert, und in eine ehren-
veſte ſittliche Ordnung gebracht wird, wird auch
das ſchwerfaͤllige Ceremoniel bey der Rechtsform
bey ihm uͤberfluͤßig — das wird aber Arner bey der
Erfahrung im Augenblick finden. —
Die Finanzraͤthe giengen mit dem Bleyſtift in
der Hand in mehr als 15 Haͤuſer, ließen ſich von
den Hausvaͤtern mit eben ſo viel Genauheit als
Umſtaͤndlichkeit vorrechnen, was die neuen Ein-
[445] richtungen des Dorfs fuͤr einen beſtimmten Einfluß
auf ihr Hausweſen gehabt, und was fuͤr einen Un-
terſchied ſie ſowohl in Abſicht auf den Kapitalwerth
ihres Eigenthums, als auf den Jahrgenuß ihrer
Wirthſchaft gezeigt haͤtten.
Das Samtliche dieſer genau aufgenommenen
Unterſuchungen bewieß, daß Arners Einrichtungen
wirklich ſowohl den Kapitalwerth des Eigenthums
ſeiner Bonnaler, als ihren Jahrvorſchlag verdop-
peln, und ihnen Erſparniſſe moͤglich machen, die
zu ſo wichtigen Staatsendzwecken hinfuͤhren koͤnn-
ten, als ihr angefangener Steuerfond, wenn er in
einer großen Anzahl von Doͤrfern errichtet wuͤrde,
erzielen koͤnnte.
Sie bemerkten dabey, es waͤre Arner ohne den
Baumwollen-Meyer unmoͤglich geweſen, dieſes zu
leiſten; und ſagten, der Detail dieſer Rechnungen
zeige, daß zwey Drittel von einem Vorſchlag des
Dorfs von der Handarbeit, und kaum ein Drittel
vom Abtrag ihrer Landbeſitzungen herruͤhre; indeſſen
ſey dieſer Gewuͤnſt (Gewinn) unter der Regierung
des alten Arners vollends draufgegangen, ohne daß
ein Menſch einen Heller beyſeits gelegt, und allent-
halben wo die Gewerbsleute fuͤr ihre Arbeiter nicht
eine ſolche Sorgfalt tragen, wie der Baumwollen-
Meyer, und von der Regierung weder Aufmunte-
rung noch Handbietung hierzu genießen, zeiget die
[446] Erfahrung, daß aller dieſer Gewinnſt verlohren
geht, und der Endzweck, das Volk durch die In-
duſtrie immer mehr zu heben, und es in Lagen zu
ſetzen, einen merklichen Vorſchritt in ſeinem Wohl-
ſtand zu thun, und fuͤr ſeine Nachkommenſchaft auf
eine zuverlaͤßige und beruhigende Art zu ſorgen,
oder ſo gar Erſparniſſe zu machen, um ſich von den
Beduͤrfniſſen der oͤffentlichen Finanz, und dem ver-
wirrenden Druck der Landeslaſten wie in Bonnal
ledig zu machen, ſetze offenbar voraus, daß die
Edelleute den kaufmaͤnniſchen Stand auf eine ſehr
ſorgfaͤltige Art in ihr Intereſſe ziehen — indem
der Kaufmann izt die Brodquellen des Volks in ſei-
nem Porte-Feuille herumtrage, wie ehedem der
Edelmann in ſeinem Stiefel, und gewoͤhnlich von
ſeinem herausfließenden Einfluß auf den Zuſtand des
Volks einer auf ſeinen wahren Wohlſtand eben ſo
wenig aufmerkſamen Gebrauch mache, als ehedem
die Edelleute von dem Recht ihres Sporrens — der
Staat aber koͤnne dieſes nicht laͤnger dem Zufall
uͤberlaſſen, und muͤſſe, wenn er den Zuſtand ſeiner
Einwohner nicht gaͤnzlich hindanſetzen wolle, un-
umgaͤnglich einmal anfangen, jedermann, der mit
ſeiner Gewerbſamkeit Menſchen im Land, wenn es
auch nur 20 waͤren, beſchaͤftige, zu verpflichten,
der Regierung Rechenſchaft zu geben, wer dieſe Ar-
beiter ſeyen, was ſie woͤchentlich gewinnen, was ſie
gewinnen koͤnnten, wenn ſie ihre Arbeit beſſer ver-
[447] ſtuͤnden und fleißiger waͤren? Was ſie fuͤr einen
Gebrauch von ihrem Verdienſt machen? Durch
was fuͤr Mittel er glaube daß es moͤglich waͤre ſie
dazuzubringen, ſie weiter zu bringen? —
Auf dieſe Art wuͤrde der Staat in allen Faͤ-
chern des gemeinen Verdienſts Nachrichten erhal-
ten, durch die er von Leuten, die des Details
kundig, auf die Spur bringen koͤnnte, durch was
fuͤr Mittel das Volk in dieſen wichtigen Geſichts-
punkten in allen Ecken des Landes weiters zu
bringen waͤre? —
§. 71.
Der Autor weiß zum Voraus, daß der
Schlendrian der Geiſtlichkeit nicht fuͤr
ihn ſtimmt.*)
Die Herren von der Unterſuchungs-Kommißion
konnten alle rechnen. Bylifsky bat den Fuͤrſten, daß
[448] er keine unordentliche Haushalter, und keine Leu-
te, die ſich aus dem Rechnen nichts machen, dazu
ziehe. Der Fuͤrſt konnte ihm dieſes nicht abſchlagen,
und ſah bey ihrer Wahl allgemein darauf; bey den
Geiſtlichen allein kam ihm nicht zu Sinn, daß er
auch hierauf Ruͤckſicht nehmen ſollte. Es gieng nicht
gut, da alle andere Staͤnde im Eins mal Eins und
in der Erfahrung ihre Handhebe hatten, woran ſie
ſich hielten, ſo hatten dieſe Herren keine, und wuß-
ten nicht recht was ſie ſagen wollten.
Es war ihnen nicht genug ein wohlverſorgtes
Volk, mit ruhigem Gemuͤth, voller Kraͤften, zu
weiſer haͤuslicher Gluͤckſeligkeit, und zu wirkſamer
Menſchenliebe gebildet vor ihren Augen zu ſehen;
nicht genug, bey ihnen ein ernſthaft frohes, be-
daͤchtliches Vertrauen auf Gott, und eine Dank-
barkeit gegen ihn, die ſich durch allgemeine Sorg-
falt fuͤr ihre erſte Lebenspflichten als real erprobte,
und eine Menſchenfuͤhrung zu finden, die den Quel-
len der groͤßeſten und traurigſten Menſchenleiden,
und den vorzuͤglichſten Reizen zu den meiſten Bos-
heiten
*)
[449] heiten und Suͤnden mehr und allgemeiner entgegen
wirkte, und ihre Gemuͤthsruhe, und jede gute Kraft
der Seele weit mehr und allgemeiner befoͤrderte,
als ſie es noch nie geſehen. Sie meynten dennoch,
erſtlich: der Pfarrer unterrichte die Leute nicht ge-
nug in der Religionslehre; zweytens, er erwaͤrme
ſie nicht genug mit den Heiligthuͤmern des Glau-
bens; drittens, er ſetze einen zu großen Werth auf
irrdiſche Dinge; und viertens, er binde ihr Ver-
trauen auf Gott an das gefaͤhrliche Strohhalm ih-
rer eigenen Sorgfalt.
Die Antworten des Pfarrers und des Lieute-
nants uͤber dieſe Punkte beſtunden darinn —
1. Der wiſſenſchaftliche Unterricht uͤber die Re-
ligion ſey eine Menſchenfoderung, und werde von
der Bibel auf keine Weiſe als ein Bedingniß der
Seligkeit gefodert, nicht einmal als ein Mittel zu
derſelben empfohlen. — Das Volk im Ganzen ſey
unfaͤhig irgend einen wiſſenſchaftlichen Unterricht
anderſt zu faſſen, als es die armſeligſten Blend-
werke des trugvollſten Aberglaubens auch faſſen
wuͤrde. — Die Bibel fodere vom Menſchen nicht
Religions-Wiſſenſchaft, ſondern Religions-Ausuͤ-
bung. — Alle Verſuche, die Religion zu erklaͤren,
bringe das Volk von der einfaͤltigen, geraden, ſich
in nichts Fremdes, und in nichts das ob der Hand
iſt miſchenden Seelenſtimmung ab, und mache es
dadurch ſehr vieles verlieren. —
F f
[450]
2. Er erwaͤrme ſeine Leute nicht mit Religions-
Woͤrtern, und nicht mit irgend einem Bild, we-
der deſſen was daroben iſt, noch deſſen was auf
Erden iſt, noch deſſen was unter der Erden iſt; aber
mit einer Seelenſtimmung, die der Ausuͤbung der
Religionspflichten angemeſſen.
3. Das Zeitliche und Irrdiſche ſey, ſeitdem die
Erde geſchaffen, und die Welt gegruͤndet worden,
das reinſte, ſicherſte und untruͤglichſte Fundament
der wahren Volks-Religion geweſen; die Doͤrner
und Diſteln, die der Herr des Himmels zur Uebung
unſerer Kraͤfte auf Erden wachſen laͤßt, ſeyen noch
izt wie vor 6000 Jahren, das was den Menſchen
am Beſten lehre Gott erkennen, und er muͤſſe darum
recht zum Irrdiſchen erzogen werden, weil ſonſt die
Reize zu allem Boͤſen ohne Maaß groͤßer, und die
Kraͤfte zu allem Guten ohne Maaß kleiner in ihm
werden, und er dadurch, daß er zu ſeinem Stand-
punkt nicht wohl erzogen wird, ſo viel als noth-
wendig in Lagen und Verwicklungen kommen muß,
darinn das Vernuͤnftige in der Religion keinen Ein-
druck mehr auf ihn machen kann, und er nothwen-
dig gegen die Gewalt ſeines leidenſchaftlichen Zu-
ſtands, bey einer ſo leicht zum Unſinn aller Schwaͤr-
merey hinfuͤhrenden Anſpannung ſeiner Einbildungs-
kraft Hilfe ſuchen muß.
Aber wehe dem, ſagte der Lieutenant, der mit
Verſtand nicht zu Gott kommen kann — und lieber
braucht — zur Rettung ſeiner Seele. —
[451]
4. Daß Arners Sorgfalt auf Kind und Kindes-
kinder hinunter dem wahren Vertrauen auf Gott
ſchaͤdlich, und das Chriſtenthum einer ſolchen Sorge
fuͤr den morndrigen Tag entgegen — daruͤber ſagte
der Lieutenant — iſt es wahr, daß das Chriſten-
thum der feſten genauen Sorgfalt, die die Fuͤrſten
fuͤr ihre Succeßion haben, entgegen?
Das wollten die Geiſtlichen nicht behaupten —
Alſo waͤre es dieſem Grad von Sorgfalt nur bey ge-
gemeinen Leuten entgegen? ſagte der Lieutenant.
Aber ſie wollten ihm das auch nicht gelten laſ-
ſen, und ſich mit der großen Wichtigkeit der fuͤrſtli-
chen Succeßion heraus helfen — aber der Lieute-
nant ſagte ihnen, als Chriſten muͤſſen ſie wiſſen, das
Kind des Fuͤrſten ſey vor Gott nicht mehr als das
Kind ſeines Knechts, und er brauche zu ſeiner Vor-
ſehung uͤber ihns, und uͤber den Staubhaufen ſei-
nes Reichs ſo wenig eine uͤberfluͤßige Menſchenſorg-
falt zur Hilfe, als uͤber den Staubhaufen der Bett-
lerhuͤtte des andern — Und als Buͤrger muß ich ih-
nen ſagen, die Sorgfalt fuͤr die Scceßion des Volks
iſt im Ganzen der Menſchheit wichtiger, als die
Sorgfalt fuͤr die Succeßion des Fuͤrſten, und viel-
leicht das einzige reale Mittel fuͤr die Succeßion des
Fuͤrſten zuverlaͤßig zu ſorgen. —
Der Lieutenant wurde uͤber dieſen Punkt leb-
haft, und ſagte, man koͤnne denſelben unmoͤglich
F f [2]
[452] im Dunkeln laſſen, er entſcheide gaͤnzlich, ob man
links oder rechts mit der Volksfuͤhrung hinlenken
muͤſſe; ein einziger Schritt auf die unrechte Seite
ſey hierinn in den Folgen unabſehbar. —
Entweder, ſagte er, iſt das Chriſtenthum fuͤr
einen Glauben, bey dem man die natuͤrlichen Mittel
der Sorgfalt fuͤr ſich und die Seinigen auf Gott
hin vernachlaͤßigen darf, ohne dabey fuͤr ſich und
ſeine Nachkommen zu gefahren. In dieſem Fall
ſind taͤgliche Wunder unumgaͤnglich noͤthig, oder
das Chriſtenthum muͤßte ſeiner Natur nach das offe-
ne Grab des Menſchengeſchlechts werden; aber die
Kraft unſerer Natur und des ſchlichten Menſchen-
verſtands wirket auch hierinn den Verirrungen ſei-
nes Kunſtſyſtems entgegen, wie ſie den Verirrungen
aller menſchlichen Kunſt und Syſtemen durch Got-
tes Vorſehung zur Rettung des Menſchengeſchlechts
entgegen gewirkt hat.
Iſt es aber nicht, iſt das Chriſtenthum fuͤr einen
Glauben, bey dem man die natuͤrlichen Mittel der
Selbſterhaltung und Sorgfalt fuͤr die Seinigen auf
Gott hin vernachlaͤßigen darf, und iſt es ſeine offe-
ne, unzweydeutige, und allgemeine Meynung, es
ſey Gott verſucht, die Haͤnde in den Schoos zu le-
gen, und die natuͤrlichen Mittel der Selbſterhal-
tung und Vorſorge nicht mit aller noͤthigen Auf-
merkſamkeit, Sorgfalt und Thaͤtigkeit zu gebrau-
chen; [ſo] kann es auf der andern Seite die Bemuͤ-
[453]
hungen des Staats, das Volk im Ganzen ſeiner
Bildung, in einem ſolchen Grad auf das Irrdiſche
aufmerkſam zu machen, als es zur Erzielung der
Kraͤften, die dem Menſchen zur Selbſterhaltung
und Vorſorge in ſeiner beſtimmten Lage erforderlich
ſind, nothwendig iſt, nicht mißbilligen.
Aber es iſt unmoͤ[g]lich, den Schlendrian der
Geiſtlichkeit uͤber dieſem Punkt zu feſten, heitern,
praktiſch ſichern Begri[ff]en empor zu heben. Es lie-
gen in ihren Umſtaͤnd[e]n und in ihrer Bildung zu
viele Reize, ihre Aufm[e]rkſamkeit von dem Grad der
Kraft fuͤr das Irrdiſche, welche in die innerſte
Stimmung des Volks muß hineingebracht werden,
abzulenken, wenn daſſelbe in den erſten Beduͤrfniſſen
des Lebens, auf deren Befriedigung im Allgemeinen
alles andere ruhet, nicht verwahrloſet ſeyn ſoll.
Es war umſonſt, der einte Geiſtliche konnte
nicht rechnen, hingegen unendlich reden; er hatte in
ſeinem Leben noch nie nachgegeben, wenn er etwas
behauptete, und ſagte izt hinter allem dieſem noch,
eine ſolche fuͤr das Irrdiſche aufmerkſame Volksſtim-
mung koͤnnte nicht anderſt als der Religion gefaͤhr-
lich ſeyn.
Wohlehrwuͤrdiger Herr! erwiederte der Lieute-
nant, die Erfahrung zeigt, daß nichts ſo ſehr die
Menſchen von Gott und allem Guten wegbringt, als
wenn ſie ſich ſelbſt und die Ihrigen nicht verſorgen
koͤnnen.
Ff 3
[454]
Das macht nichts, ſagte der Geiſtliche, wenn
man die Begriffe der Religion auseinander ſezt, ſo
ſieht man es deutlich und klar, daß eine ſolche Volks-
ſtimmung der Religion Gefahr bringen muͤſſe.
Aber wohlehrwuͤrdiger Herr! erwiederte dieſer
nochmals, die Erfahrung ſezt mir dieſe Begriffe ge-
gen Sie ſo heiter auseinander, daß mir bey dieſem
Einwurf iſt, ich hoͤre in einer Hungersnoth mitten
im Klaggeſchrey von Tauſenden, die nach Brod ru-
fen, einen Menſchen behaupten, das Brod ſey nicht
geſund zu eſſen. —
Das ſey nicht geredt, ſagte der Geiſtliche.
Und der Lieutenant — man denke bey dem Wort
„es ſey etwas fuͤr die Religion gefaͤhrlich“ ſo oft
weder an Gott noch an die Menſchen, und brauche
es unzaͤhlichemal ſo in Tag hinein.
Wie ein benachbarter Pfarrer, der vor etlichen
Monaten, da der Stral ein ſteinern Kreuz am Weg
zerſchmettert, auch behauptete, es ſey der Religion
gefaͤhrlich, wenn man die zerſchmetterte Stuͤcken
Steine dem Volk lang vor den Augen laſſe, man
muͤſſe geſchwind wieder ein neues machen — das
iſt blos laͤcherlich — aber wenn man die Sorgfalt
des Staats fuͤr des Volks erſte Nothdurft, und fuͤr
ſein Brod und fuͤr die Nachkommenſchaft, die ohne
feſte Richtung ſeines Geiſts auf das Irrdiſche nie zu-
verlaͤßig iſt, als der Religion gefaͤhrlich erklaͤren
[455] wollte, denn waͤr es etwas — anders, als blos
laͤcherlich. —
Aber der gleiche Geiſtliche war dannnoch im
Stande, hinter dieſem zu ſagen, der Lieutenant und
der Pfarrer haben weder Phyſik noch Landbaukennt-
niß, die ſie in Stand ſetzen, das Volk real auch nur
hierinn weiter zu bringen, ſie haben nicht einmal
Kenntniß der neuern Hilfsmittel der Volksaufklaͤ-
rung. —
Herr! antwortete der Lieutenant, ihr kennet
das Volk nicht, und verſteht nicht, was es heißt,
es zu fuͤhren, und was es braucht, es weiters zu
bringen; und trat dann in dieſe Materie hinein,
und ſagte: es iſt gar nicht, daß einer, der das Volk
fuͤhren will, in allem den Detail verſtehen muͤſſe,
was er will daß es lerne. Die Kunſt iſt, daß er es
lehre angreifen was es muß, und denken, woruͤber
es ihm noͤthig zu denken iſt, alles uͤbrige giebt ſich
dann von ſelber; wenn man wolle die Bauern da-
durch, daß man ihre Sachen im Detail ſelber ſtu-
diere, und einfaͤltig und deutlich mit ihnen rede,
und ihnen Buͤchelchen, die ſo klar als Brunnenwaſ-
ſer ſeyen, machen koͤnne, weiters bringen, ſo gehe
man an den Waͤnden, man bringe den Bauer
nicht weiter, außer man ziehe ihn, daß er des Den-
kens gewohnt werde, und bringt ſeine Vorurtheile
nicht aus ihm heraus, außer man bilde ſeinen
Wahrheitsſinn mit einer Kraft, die dieſen Vorur-
Ff 4
[456] theilen angemeſſen; und einzelne oͤkonomiſche, phy-
ſikaliſche und moraliſche Wahrheiten, ohne ſie auf
das Fundament einer ſolchen Bildung zu gruͤnden,
und alle Verſuche, die mit Vorbeygang eines feſten
Einfluſſes auf das Ganze ſeiner Stimmung, aller-
ley Kunſt und Wiſſenſchaften in das Volk werfen
wollen, ſeyen Schloͤſſer in die Luft, und Arbeit in
den Wind.
Iſt einer im Stand das Volk ordentlich, an-
ſtellig, bedaͤchtlich und thaͤtig zu machen, ſo muß
er es weder eggen noch pfluͤgen lehren, kann er aber
das nicht, ſo arbeitet er umſonſt es eggen und pfluͤ-
gen zu lehren; es iſt umſonſt daß er zum Schwein
ſage, es ſolle nicht im Koth wuͤhlen, und zum
Bauer, der in ſeiner innerſten Bildung fuͤr Ord-
nung und Thaͤtigkeit zuruͤck iſt, er ſoll auf Phyſik
und Arzneykunſt gegruͤndete Regeln der Selbſter-
haltung und des Feldbaues anwenden.
Er ſagte fort, ich verſtehe von allem Bauern-
weſen im Detail gar nichts *); aber meine Kinder
[457] muͤſſen mir den Kleebau dennoch wie die Spitze ma-
chen, das Wolleweben wie das Ruͤbenhacken, und
wenn es noͤthig iſt, das Uhrenmachen ſo gut als das
Miſtverzetteln wohl lernen. — Auch desfalls blieb
der Geiſtliche bey ſeiner Meynung, und behauptete,
es wuͤrde doch nichts ſchaden, wenn das Volk et-
was von der Phyſik und Arzneykunſt verſtuͤnde. —
Als wenn Zerſtreuung und Halbwiſſen, und das
Ablenken ſeines Kopfs von der einfachen Richtung
auf das Nothwendigſte nicht der groͤßeſte Schaden
waͤre, den man ihm thun koͤnnte, ſagte mit Eifer
der Lieutenant — ſezte hinzu — Nein, nein, dieſe
Art Aufklaͤrung, die uns Romanenbauern machen
koͤnnte, wie wir Romanenbuͤrger haben, iſt nichts
nutz, und die Faſſungskraft des Volks durch feſten
Einfluß auf ſeine Berufsbildung zu erweitern, iſt
das einzige wahre Mittel zu ſeiner rechten Aufklaͤ-
rung.
In der Fuͤlle ſeiner Wiſſenſchaft vergraben,
und fuͤr alles, was der andere ſagt, immer eine Ant-
wort findend, machte endlich den Lieutenant muͤde,
daß er ſchwieg.
Den erſten verdroß es, daß der Lieutenant ge-
ſchwiegen, eh die Sache, wie er meynte, waͤre aus-
gemacht worden, und ergab ſich hernach auch allge-
mach.
[458]
Aber hingegen der andere Geiſtliche, der faſt
nichts redete, kam wirklich unter dieſem Geſpraͤch
dahin, zu fuͤhlen, daß die aͤußere Form der Chri-
ſtenlehre, in Ruͤckſicht auf den Einfluß, den ihr
wiſſenſchaftlicher Zuſchnitt auf die Volksſtimmung
habe, einee allgemeinen Reviſion beduͤrfe; ſondierte
nach ſeiner Art das Volk in Bonnal wie ein Spion,
ob es auch wirklich an den Heiland glaube, oder
nur dieſen Herren anhange — die es im Zeitlichen
verſorgen? Und fragte, ſeiner Meynung zum Vor-
aus ſicher, neben dem Lieutenant zu ein Kind in der
Schule, ob ihm der Heiland mehr lieb ſey als der
Schulmeiſter? —
Ja freylich, ſagte das Kind.
Warum doch das? ſagte der Mann, und meyn-
te es koͤnnte nun izt nichts mehr antworten, und
waͤre froh geweſen, denn ſeine Antwort war ihm
ſchon zum Voraus geruͤſtet — ſieheſt du, gutes Kind!
du weißt nicht ſo viel vom lieben Heiland als vom Hr.
Schulmeiſter, darum kann er dir auch nicht ſo lieb
ſeyn, wenn du es ſchon ſagſt und es vielleicht
meynſt. —
Aber der Seitenſprung zur Ehre des Heilands
gerieth ihm nicht. — Das Kind antwortete —
Wenn der Herr Schulmeiſter noch ſo gut iſt,
er ließe ſich doch keinen Nagel durch die Hand ſchla-
gen um ander Leute willen. —
[459]
Es war dem Prieſter leid, daß die Unſchuld
ſo wider ihn zeugte — und er glaubte doch nicht. —
§. 72.
Die andern Staͤnde fahren fort fuͤr ihn
zu ſtimmen, bis zu Ende der Rezen-
ſion ſeines Buchs.*)
Die Kaufleute giengen wie die Finanzraͤthe in die
Stuben des Volks, und ſahen die Arbeit dieſer
Leute und ihre Ordnung mit Genauheit, unterſuch-
ten die Urſachen dieſes Vorſchritts in ihrem Ver-
dienſt ſowohl, als in ihrer Arbeitsfaͤhigkeit, und
erklaͤrten ſich, nachdem ſie alles dieſes genau ge-
ſehen, beſtimmt, die Einrichtungen Arners fuͤh-
ren zu einer ſolchen Totalveraͤnderung in den Um-
ſtaͤnden des Volks, und geben ihm einen ſolchen
Grad von Erwerbskraͤften, daß ſie, wenn ſie all-
gemein auf den Doͤrfern eingefuͤhrt wuͤrden, in
Abſicht der Feſtgruͤndung und Ausdehnung der
Handlung eines Reichs unuͤberſehbar große Fol-
gen haben muͤßten.
Dieſes, den Fuͤrſten heiter zu machen, er-
klaͤrten ſie.
[460]
Die Hauptſchwierigkeiten, die der Errichtung
aller neuen Gewerbsbranches im Weg ſtehen, ſey
die Rohheit, Unordnung, Unanſtelligkeit des ge-
meinen Volks. Alles, was ſolche Leute in die Hand
nehmen, gehe zu Grund, was ſie gerad machen
ſollen, machen ſie krumm, und da ſie weder Kennt-
niß noch Erfahrung im Geldgebrauch haben, ſo
gehe es unter ihren Haͤnden zu grund wie nichts,
je mehr ſie verdienen, je mehr verthun ſie wieder,
das erniedrige ſie zu falſchen, untreuen, gefaͤhr-
lichen Menſchen, und alle dieſe Umſtaͤnde bringen
den meiſten Anfaͤngern von neuen Gewerbsbran-
chen einen ihnen unerſchwinglichen Verlurſt, auch
ſehe man ſie alltaͤglich unter ſolchen Haͤnden dahin
ſchwinden, wie Fruͤhlingsmuͤkken bey einem Win-
terfroſt.
Wenn hingegen der Staat durch ſolche Dorf-
einrichtungen ſolchen Unternehmern, darinn an die
Hand gehen wuͤrde, daß ſie ſeines feſten Einfluſ-
ſes in die Bildung des Volks zur Anſtelligkeit,
Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Genauheit und Spar-
ſamkeit zum Voraus verſichert ſeyn koͤnnten, ſo wuͤr-
de der erſte Stein des Anſtoſſes gehoben ſeyn, an
welchem die nach allen Arten von Handlungsetab-
liſſements ſo duͤrſtende Gierigkeit aller Reichen ſo
lang anſtoſſen wird, bis ihre Geſetzgeber erken-
nen, daß ſie in dieſer Sache auf Fundamente ar-
beiten, und mit Geduld durch vorhergehende Ein-
[461] richtungen zur zweckmaͤßigen Bildung des Volks
die Moͤglichkeit eines allgemeinen Handlungs und
Gewerbsgeiſts vorbereiten, und abwarten muͤſſen,
eh ſie ihn genießen koͤnnen.
Denn, ſagten ſie, beſonders in Ruͤckſicht auf
den Zuſtand Seiner Durchlaucht, wo das Volk
wohlfeil Brod habe, da ſey die Etablirung einer all-
gemeinen Gewerbſamkeit doppelt ſchwierig, alle In-
duſtrie gedeihe am beſten in duͤrren brodloſen Bergen
und auf hartem unfruchtbaren Boden, wo der
Druck der Noth den Menſchen lehre ihre Kraͤfte
anſpannen, und ſo hoch treiben als moͤglich, um
Brod zu finden. Im platten Land und in frucht-
reichen Thaͤlern koͤnne man das Volk unmoͤglich
zur gleichen Anſtrengung im Kunſtfleiß empor he-
ben, wenn man nicht durch feſten Einfluß in ſeine
Nationalbildung ſie durch die Beweggruͤnde der
Ehre, und die Reize ſicherer und ungluͤcklicherer
Umſtaͤnde zu der Thaͤtigkeit erhebt, zu welcher ſie
die Noth nicht zwingt; aber wenn man dieſes thun
wuͤrde, und durch Einrichtungen wie in Bonnal
bey dieſen gluͤcklichern Gegenden, dieſem Ziel ent-
gegen ſtreben wuͤrde, ſo wuͤrden dieſelben am En-
de, denn auch ſicher hierinn den Vorzug behaup-
ten, den ihnen die Natur allgemein verliehen. —
Eben ſo wuͤrde eine ſolche Bildung des Volks
auf die einzeln Menſchen, die bey der Induſtrie
[462] Verdienſt finden, eine ganz andere Wirkung her-
vor bringen, und auch in der Tiefe des Volks,
und beym niederſten Arbeiter die Grundlag ſolider
Umſtaͤnden, und eines den Faͤhigkeiten, dem Fleiß,
der Anſtelligkeit eines jeden Menſchen proportionir-
ten Vorſchritts in ſeinen Vermoͤgensumſtaͤnden
moͤglich machen, und dann wuͤrde die ganze Maſſa
dieſeserhoͤheten und ſicher geſtellten Landesverdienſts
allgemein auf die Fundamente des menſchlichen
Wohlſtands wirken, und wirken muͤſſen, ſo daß
man dannzumal die Wirkungen der Handlung nicht
mehr ſogar im Pomp truͤglicher Palaͤſten als im
Flor eines untruͤglichen allgemeinen Volks Wohl-
ſtands bewundern, und lebhafter als izt erkennen
wuͤrde, daß hundert Millionen auf hunderttau-
ſend Menſchen vertheilt, dem Staat unendlich mehr
Werth ſind, als zwey und dreyhundert Millionen
auf wenigen Koͤpfen, — und daß es dem Staat
weit wichtiger iſt, daß der Pfenning in der Hand
von hunderttauſend Wuchern, als daß Millio-
nen in der Hand eines einzigen ohne Ruͤckſicht auf
den Pfennig der Hunderttauſend, oder gar zu
ihrem Ruin ſich haͤufen, und durch jede Laune ei-
nes ſchwierigen Erben dem Staat entriſſen, und
mit ſeinem Handzug in ein fremdes Land gewor-
fen werde.
Sie ſagten beyde, das erſte Kennzeichen wahr-
haft ſolider und den Staat ſicher ſtellenden Hand,
[463]
lungsgrundſaͤtzen ſey dieſes, wenn ein Haus in oͤko-
nomiſchen Vorſchritt, alle Menſchen mit denen es im
Verkehr ſtehet, ſein wahres Intereſſe kennet und
findet, wie im Gegentheil es eben ſo das Kenn-
zeichen einer beſchraͤnkten, unſichern, dem Land
gefaͤhrlichen Handlungsmanier iſt, wenn ein Kauf-
mann alles braucht, was ihm zur Stund dienet,
und im mitten unter ſich haͤufenden Menſchen E-
lend von jedem zieht, was er kann, und noch froh
iſt, wenn die Menſchenhaufen, die er beſchaͤftigt,
den Verdienſt, den er ihnen zuwirft, geſchwind
wieder zu Grund richten, damit ſie ihm immer de-
ſto wohlfeiler an der Ketten bleiben, und alſo de-
ſto leichter ohne viel Muͤhe und Sorgen beym An-
ſchwellen ſeiner Geldhaufen aufduͤmſen, wie er
aufdumſet.
Es giebt viele Leute in der Welt, ſagten ſie,
die mit allem Geld, das ſie beſitzen, ihrem Lande
nicht den Zehnden von dem Schaden wieder ver-
guͤten koͤnnten, den ſie ihm durch eine ſolche Hand-
lungsweiſe gethan haben.
Aber davon iſt izt nicht die Rede; hingegen
muß ich noch ſagen, daß die beyde Kaufleute ge-
urtheilt haben, Arners Einrichtungen wuͤrden ein
jedes Land vor dieſer Klippen ſicher ſtellen.
Auch ſeine Edelleute konnten zum Gluͤk rech-
nen, und geſtunden, wenn ſie etwas auf die wah-
[464] ren Vortheile ihres Stands aufmerkſam machen,
und ihnen darin Licht geben koͤnne, ſo ſeyen es die
Verſuche Arners, und ihr Erfolg; ſie verheelten
nicht in Gegenwart des Fuͤrſten, es ſey hohe Zeit,
daß ſie fuͤr ihren Stand, nach den veraͤnderten Um-
ſtaͤnden, ganz neue und dieſen gemaͤſſe Entſchlieſ-
ſungen nehmen, und bey dem Einfluß den der im-
mer mehr ſteigende Geldverkehr auf den Zuſtand
der Welt habe, nicht laͤnger Gedankenlos auf ih-
rem Heerde ſitzen, und mit Vernachlaͤſſigungen von
Einrichtungen durch die ſie ihrer Familie und ih-
ren Unterthanen zugleich Vorſehung thun koͤnnen,
ſich durch dumme Anhaͤnglichkeit an die aͤußere
Form abgeſtorbener Eitelkeitsrechten, bey denen ſie
und ihre Unterthanen immer mehr zugleich zu kurz
kommen, von einem realen Vorſchritt in ihren Um-
ſtaͤnden zuruͤckbinden laſſen.
Sie geſtunden ohne Zuruͤckhalt, daß Einrich-
tungen im Land, die es den Bauern moͤglich ma-
chen wuͤrden, den Betrag ihrer Schuldigkeiten
durch niedergelegte Kapitalien zu verſichern, den
Werth ihrer Herrſchaften erhoͤhen, ihre Einkuͤnfte
ſolider machen, ſie von ſehr wichtigen Ausgaben
und Risque befreyen, eine Menge Schwierigkei-
ten, die das Verhaͤltniß zwiſchen ihnen und ihren
Unterthanen ſo oft unangenehm und laͤſtig machen,
aus dem Wege raͤumen, und die Rechte und Ge-
nieſſungen ihres Standes mit dem Wohlſtand der
Einwohner
[465] Einwohner ihrer Doͤrfer, und mit dem allgemei-
nen Intereſſe des Staats in eine fuͤr ſich ſelbſt vor-
theilhafte Uebereinſtimmung bringen wuͤrde.
Eben ſo erklaͤrten ſie ſich, ſie wußten gar nicht
warum nicht eine große Anzahl Edelleute mit Freu-
den eine Laufbahn ergreifen ſollten, die ſo ehren-
voll vor ſie, und ſo vortheilhaft fuͤr ihre Haͤuſer
ſeyn muͤßten, wenn der Staat eine ſolche Lauff-
bahn beguͤnſtigen wuͤrde.
Zwey Aerzte, die den gleichen Weg der freyen
Nachforſchung giengen, hatten eine Menge Krank-
heiten aufgezeichnet, die, ſeitdem Arner Ordnung
ins Dorf gebracht, nachgelaſſen. Die Ruͤtz (Kraͤ-
tze) war allgemein im Dorf, und iſt faſt voͤllig
fort. — Eben ſo haben ſich die Kinderkrankhei-
ten faſt voͤllig verloren, ſeitdem man ihnen Rath
anthun kann, und Rath anthun muß. — Sie
fanden auch, der Fabrikverdienſt ſchade dieſen Kin-
dern an ihrer Geſundheit gar viel weniger als an-
derswo, und der Grund davon ſey, weil ſie mit
Ordnung dazu gezogen, auf ihre Geſundheit ſelbſt
aufmerkſam gemacht, ihren Verdienſt nicht wie
hungerige Thiere einen gefundenen Fraß mit wil-
dem Unſinn immer nur auf der Stell verſchlingen,
und ihre Hausarbeit mit einem ihrer Geſundheit
ſehr vortheilhaften kleinen Feldbau verbinden. —
Sie machten auch uͤber den Vorſchritt dieſer Leute
folgende Bemerkung. —
Gg
[466]
Es haben ſchon mehrere Aeltern ihren Kindern
die Blatern einpfropfen laſſen. —
Der Gebrauch unbekannter Aerzte, und unſi-
cherer Arzneyen habe ſich beynahe gaͤnzlich verloren,
und ſeitdem gar viele Leute durch eine beſſere
Ordnung ihre Krankheiten von ſich ſelber verloren,
auch das Zutrauen zu den Aerzten ſelber habe
dadurch abgenommen, wovon aber der Schaden
um ſo weniger groß ſey, weil eben noch kein recht
guter in der Naͤhe wohne.
Die Hexerey und Lachsner-Glauben habe weit
und breit keinen ſolchen Stoß erlitten, ſie heiſſen
izt dergleichen Sachen nur Hummelsglauben,
und das Wort habe mehr Narrenſachen aus ihrem
Kopf herausgetrieben, als man durch ein halbes
Menſchenalter durch noch ſo vernuͤnftige Vorſtel-
lungen aus dem Kopf heraustreiben konnte. Sie
machten bey dem Anlaß die Bemerkung, wie viel
man mit einem ſolchen Wort beym Volk ausrichten
koͤnne, wenn man ihm daſſelbe zum Spruͤchwort
machen koͤnne.
Das Urtheil zweyer Dorfſchulmeiſter war dieſes. —
Sie haben im Anfang geglaubt, ſie koͤnnten
eher lernen Meß leſen, als die Kinder alſo lehren,
aber es ſey ihnen izt nicht mehr ſo, ſie wollen,
ſo bald ſie wieder heimkommen, es auch anfangen
und probiren, wie weit ſie es koͤnnen. —
[467]
Der Fuͤrſt ſagte ihnen, das ſey brav. — und
ſie erwiederten, wenn ſie duͤrften, ſo wollen ſie es
von Ihro Durchlaucht zur Gnade ausbitten, ſie
noch einen Monat hier zu laſſen; — der Herr
Lieutenant habe ihnen verſprochen, er wolle ſie in
dieſer Zeit voͤllig in der Ordnung ſeiner Schule
unterrichten, und wenn er das thue, und ſie es
recht begreifen koͤnnen, ſo wuͤnſchten ſie Daheim
keinen beſſern Dienſt, als ihren Schuldienſt. —
Ob das einen Unterſchied in ihrem Schuldienſt
machen wuͤrde, fragte der Fuͤrſt? —
Es wuͤrde ihnen, antworteten ſie, jedermann
die Haͤnde unter die Fuͤße legen, wenn ſie eine
ſolche Schule einrichten koͤnnten. —
Aber auch mehr Lohn geben? fragte der Fuͤrſt. —
Gewiß ſo viel ſie fodern duͤrften, erwiederten
die Maͤnner, und ſetzten hinzu, wenn ſie ihre Kinder
ſo weit bringen koͤnnten, es die hier gebracht, und
ſo alles zum Nutzen; die Aeltern wuͤrden alles auftrei-
ben, ihnen fuͤr einen ſolchen Dienſt rechtzu danken.
Vielleicht iſt das wichtigſte Urtheil von allen
dasjenige eines ſehr alten Landmanns, der naͤm-
lich ſagte, es ſeyen vor hundert und mehr Jah-
ren, ſo wie ihn die Alten berichtet, von der Zeit
der Reformation an, bis auf ſeinen Vater ſelig,
beynahe eine gleiche Ordnung geweſen, wie izt
Arner eine einfuͤhren wolle; die Pfarrer haben faſt
Gg 2
[468] auf eben dieſe Art Roͤdel gehabt, darein ſie ge-
nau aufgeſchrieben, was ſie von Haus zu Haus
von einem jeden ihrer Pfarrkinder zu wiſſen noth-
wendig gehabt, um mit Rath und That ihnen an
die Hand zu gehen. Sie haben nicht, wie es
izt uͤblich ſey, es blos bey ihrem Predigen, Kin-
derlehrhalten, und den Sterbenden vorbeten gel-
ten laſſen, ſondern ihre Sorgfalt fuͤrs Volk viel
weiter getrieben, und Jahr fuͤr Jahr, Haus fuͤr
Haus nachgeſehen, ob ſie bey irgend jemand et-
was helfen und nuͤtzen koͤnnen, da wo ihre Kan-
zelarbeit umſonſt ſey, auch haben es die Dorfleute
bis auf die Schulkinder hinunter alle wohl ge-
wußt, daß ihre Pfarrer an dem Zuſtand ihrer
Hausordnung, Kinderzucht, und auch an ihren
Feldern und Matten die Probe machen, ob ihr
Chriſtenthum und ihr Aufſagen in der Kirche mehr
als nichts ſey. Es ſey uͤberall mehr in der Uebung
geweſen, auf die Menſchen acht zu geben, ſie zu
leiten, und an der Hand zu halten, daß ſie nicht
zu ſtark verirren, und jedermann habe das fuͤr
eine ausgemachte Sache angeſehen, daß ein jeder
Menſch fuͤr andere Menſchen, die ihm anvertraut
ſind, mehr als fuͤr irgend eine zeitliche Sache auf-
richtig und redlich zu ſorgen ſchuldig ſeyen, ſo
daß wenn einer das nicht gethan, oder gar Urſach
geweſen, daß dergleichen ihm anvertraute Leute an
Leib und Seel Schaden gelitten, ſo habe ihm das
Volk dieſes ſo gut, als wenn er geſtohlen, oder
[469] eine Mordthat gethan, zur Suͤnde gerechnet, und
ſo ein Menſch habe darauf zaͤhlen koͤnnen, daß
er im Land verachtet, und fuͤr ein Unchriſt, und
Unmenſch gehalten worden ſey, habe er dann Jun-
ker geheißen, oder Pfarrer, oder Ehegaumer, oder
auch nur Hebamme. — Auch nur kein Meiſter
und keine Meiſterin habe ihren Knecht, oder ihre
Magd wie izt in allem was nicht den Dienſt an-
betrift, ſich ſelber uͤberlaſſen, und ſich nicht da-
rum bekuͤmmert, ob ſie an Leib und Seel fuͤr ſich
ſelber ſorgen oder nicht. — So lang du bey mir
biſt, und mein Brod iſſeſt, ſo hab ich dich zu ver-
antworten. — Wenn du denn nicht mehr bey mir
biſt, ſo thue denn in Gottes Namen was du willſt,
dann gehts mich nichts mehr an, — das ſey das
Land hinauf, und das Land hinab die Sprache
der Meiſterleuten gegen ihre Dienſte geweſen. —
Auch das ſey vor gar altem ungefaͤhr ſo ge-
weſen, wie es Arner izt wieder einrichten will,
daß die Junkern alle Jahr durch alle Zelgen ge-
ritten, und ſich vom Herrſchaftsweibel einen je-
den Acker, der beſonders ſchoͤn, oder beſonders
ſchlecht geweſen, aufſchreiben laſſen; denn hernach
im Gemeindhaus mit den Bauern daruͤber geredt,
und bey einem jeden den Urſachen nachgefragt,
warum er in dieſem Zuſtand ſey?
Eben ſo haben die Schulkinder jaͤhrlich zwey
Freudentaͤg gehabt, und die Oſterbroͤdchen kom-
Gg 3
[470] men noch vor dieſen Tagen her, aber freylich ſey
von ihrer Freud dem Volk nichts mehr uͤbrig ge-
blieben, als ein Pfund Brod auf den Kopf von
einem jeden Kind, wie ich eben geſagt habe, auf
die Oſtern.
So meynte der Mann, im Grund ſey alles
alt, was der Junker machen wolle, aber es ſey
nichts deſto ſchlimmer, die Prob ſey dann ſchon
da geweſen, daß es gut ſey.
Sein Urtheil hatte viel aͤhnliches mit dem,
was zwo Frauen von Edelleuten und eine Pfar-
rersfrau daruͤber ſagten, nemlich das zugleich
Lernen und Arbeiten ſey nichts anders, als was
weuigſtens in gemeinen Buͤrgershaͤuſern vielfaͤltig
ausgeuͤbt werde, daß die Muͤtter und Toͤchter
miteinander um einen Tiſch herumſitzen, in allem
Ernſt darauf losarbeiten, und doch zugleich etwas
auswendig lernen, ſich im franzoͤſiſch Leſen uͤben,
und wirklich auch rechnen; es ſey nicht daran zu
zweifeln, daß ein Mann wie der Lieutenant eine
Ordnung und Einrichtung koͤnne angeben, bey der
man dieſen alten Hausvortheil bey vielen Toͤch-
tern, die nicht gar reich ſeyen, und doch auch
hinkommen moͤchten, noch gar viel weiters treiben
koͤnnte. Indeſſen werde es auch izt ſchon in
vielen Penſions- und Lehranſtalten fuͤr die gemei-
nen Staͤnde getrieben, daß man den Kindern bey
[471] ihrer Arbeit zugleich auch noch den Kopf beſchaͤf-
tige, und in den Bergen in dem Neuenburgiſchen
ſey es bis auf die gemeinſte Spitzmacherin herun-
ter ein Gewohntes, daß ſie bey ihrer Arbeit bey-
einander etwas leſen und lernen. — Auch das
ſagten dieſe Frauen, die Kinder in Bonnal ha-
ben eine voͤllig buͤrgerliche Erziehung, mit der ſie
das geſunde, gute, und natuͤrliche vom Bauern-
ſtand verbinden; und die zwo erſten ſagten, es
habe ſie noch nie gefreut Herrſchaften haben, und
die andere eine Pfarrerin zu ſeyn, wie izt. Die
erſten ſezten hinzu, ſie wollen die groͤßeſten Freu-
den, die Menſchen haben koͤnnen, gewiß nicht mehr
uͤber Sachen die wie Kartenhaͤuschen fuͤr Kinder
ſeyen, verſaͤumen, und es muͤſſe ihnen nicht mehr
ſeyn, daß ihr Staͤlle beſſer in der Ordnung, als
ihre Schul ſeyen. Und die Frau Pfarrerin ſagte,
ſie ſeye ihres Obſtdoͤrrens, und ihrer Schuͤtte,
und ihres Kellers auch gewiß noch nie ſo muͤde
geweſen, und wolle auch nicht mehr fuͤr dieſes
allein Pfarrerin ſeyn. —
Zwey Vorgeſetzte antworteten dem Fuͤrſten auf
die Frage, ob ſie im Stand ſeyen die Roͤdel uͤber
die Menſchen, uͤber ihre Geſundheit, Ordnung,
ihren Fleiß, und ihren Verdienſt auch zu machen,
wie ſie in Bonnal gemacht werden? Sie haben
dergleichen Roͤdel ſchon mehrmal uͤber Pferd und
Hornvieh, und Schaf machen muͤſſen, wenn et [...]
Gg 4
[472][u]nrechtes unter ihnen geweſen, uͤber die Menſchen
noch nie, aber ſie meynten, ſie wuͤrden es eben
ſowohl lernen, als uͤber das Vieh, wenn es ſeyn
muͤßte, und ſie die Formen und Einrichtungen,
die der Junker den Vorgeſetzten in Bonnal gemacht,
auch haͤtten. —
§. 73.
Das iſt wieder langweilig fuͤr Leute,
die nicht fuͤrs allgemeine denken, und
dieſer ſind viel.
Der Fuͤrſt ſaß wie im Traum da. Was er
tief verworren glaubte, fand er unverwikelt vor
ſeinen Augen. Wo er unuͤberſteigliche Schwierig-
keiten ahndete, fand er nichts als gemeinen Fleiß,
und gemeinen Menſchenverſtand, wie in allen Sa-
chen auf der Welt nothwendig. —
In einer Art von Betaͤubung ſagte er —
aber, wenn izt alles ſo waͤre, was muͤßte ich
denn thun, ſo geſchwind als moͤglich zu dieſem
Ziel zu kommen? — Er hatte ſeine Augen auf
den Lieutenant geworfen, da er das ſagte. —
Und dieſer, mit dem Feuer des Menſchen, der
Jahre lang auf den Anlaß gewartet, zu reden,
[473]
wo er ſicher war, es nicht ohne Erfolg zu thun,
und mit Bylifsky uͤber die Schritte zu ihrem Ziel
zu gehen einig, drang auf einen oͤffentlichen Lehr-
ſtuhl uͤber die Natur der Volksfuͤhrung in allen
Theilen, auf die Landskommißion, die ihr kennet.
Dann, ſagte er zum Fuͤrſten, auch die Wai-
ſen und Findelhaͤuſer, ſo wie die Gefangenſchaft
und Zuchthaͤuſer ſind in ihrer Hand wichtige und
weitfuͤhrende Mittel, die Nationalbildung nach
den Geſichtspunkten, die Arner auf ſeinem Dorf
hat, zu leiten.
Der Fuͤrſt wollte, daß er ſich uͤber beydes
naͤher erlaͤuterte. — Der Lieutenant zeigte um-
ſtaͤndlich, wie natuͤrlich und leicht, und ſogar mit
wenigen Unkoſten mit der Auferziehung der Wai-
ſen und Findelkinder eine vorzuͤglich gute Bildung
derſelben zu verbinden moͤglich ſey, und wie denn
dieſe Kinder in fortdaurender Verbindung mit ih-
rem Erziehungshaus, als ein ſicherer Saamen zur
allgemeinen Volksbildung fuͤr die Induſtrie koͤnn-
ten benutzt werden.
Aber der Abſchaum der Gefangenen, und
der Auswurf der Menſchen in den Zuchthaͤuſern,
— — was ſoll ich hiezu mit dieſen? ſagte der
Fuͤrſt.
[474]
Erlauben Ihr Durchlaucht! erwiederte der
Lieutenant, der Menſch in der Tiefe wird ſo un-
ſinnig verwahrloſet, und ſo gewaltſam vertreten,
daß die beſten Anlagen ſeiner Natur, das Gefuͤhl
ſeines Werths, die beſtimmten Vorzuͤge ſeiner Kraͤf-
ten, und das dringende Beduͤrfniß der Anwen-
dung ſeiner Anlagen ihn in unendlich vielen Faͤl-
len faſt nothwendig zum Verbrecher machen.
Auch findet man in Zuchthaͤuſern und Ge-
faͤngniſſen beſtaͤndig eine Menge Menſchen, die ein
beſſeres Schickſal verdient haͤtten, und die auch
izt noch, was ſie unter andern Umſtaͤnden weit mehr
geweſen waͤren, der menſchlichen Geſellſchaft von
weſentlichem Nutzen ſeyn koͤnnen, wenn man im
Stand iſt, ſie dazu zu gebrauchen. — Dieſe Leute
beſitzen einen ſolchen Grad von Lokalkenntniſſen im
Land, und Fertigkeiten ſich an Ort und Stelle
Einfluß zu verſchaffen, — ſie kennen ſo genau den
Zuſtand des Volks, und die naͤchſten Quellen ih-
rer Verbrechen, die erſten Hinderniſſe des Guten,
— ſie wiſſen ſo wie Niemand, was alles dem
guten Willen der Regierung in der Tiefe des Volks
entgegen ſtehet, an Ort und Stelle an den Fingern
abzuzaͤhlen, und was ſie bey der unterſten Hefen
des Menſchengeſchlechts im Stand ſind auszurich-
ten, das beſſere Menſchen bey ihnen nie ausrich-
ten werden. Man lehre ſie in ihren Stockhaͤuſern
[475] eine Branche von Induſtrie, und ſetze ihnen ihre
Freyheit zum Preiß bey einer Anzahl von Gefan-
genen, die zu einer beſtimmten Vollkommenheit
in einer Erwerbsbranche gebracht. Man gebrau-
che ihre Freyheit durch beſtaͤndige Verbindung mit
dem Gefangenſchaftshaus, ihrer Thaͤtigkeit durch
Ausbreitung ihrer Arbeitskenntniſſen Raum zu ver-
ſchaffen, und man wird finden, daß durch viele
von ihnen im Land Sachen erzielet werden koͤnnen,
die durch Niemand anders alſo zu erzielen moͤglich. —
Auch das ſchiene dem Fuͤrſten nicht unwahr-
ſcheinlich. Hingegen fand er im Allgemeinen, eine
ſolche Volksumſchaffung zur Induſtrie wuͤrde zu
einer Bevoͤlkerung fuͤhren, die das Verhaͤltniß des
Landabtrags bey weitem uͤberſteigen, die Einwoh-
ner des Lands ganz von ihrem Handverdienſt ab-
haͤnglich, und ihren Unterhalt bey theuren Zeiten,
und bey Stockung des Gewerbs mißlich machen
koͤnnte. —
Der Lieutenant antwortete ihm, die dießfaͤl-
lige Sicherheit der Menſchen ruhe unter dieſen
Umſtaͤnden.
- 1. Auf ihren Erſparniſſen.
- 2. Auf ihrer Fertigkeit, bey Stockung einer
Art von Gewerb, auf eine andere zu lenken.
[476]
- 3. Auf ihrer Uebung im Sparen und Abthei-
len, und uͤberhaupt auf ihrer mehr ausge-
bildeten Fertigkeiten ſich nach den Umſtaͤnden
zu richten. —
Und ſetzte hinzu, er wuͤnſchte, daß Ihr
Durchlaucht uͤber dieſen Punkt ſowohl, als uͤber
denjenigen, wie die Waiſenkinder zur allgemeinen
Ausbreitung der Induſtrie im Land zu gebrauchen
waͤren, mit dem Baumwollen-Meyer reden moͤch-
ten. —
Und der Herzog gieng mit ihm und Arner
und dem Pfarrer in das Haus des Meyers. —
Dieſer ſagte ihm uͤber den erſten Punkt, es
ſey ſehr wichtig, daß die Kinder, deren Brod von
ihrem Hausverdienſt abhange, in ihrer Jugend
gleichſam den Katechiſmus lernen, wie ſie ſich
einzurichten haben, um bey Stockung der Ge-
werbſamkeit, und in theuren Zeiten nicht in Ver-
wicklung zu kommen. Das ſey ein weſentli-
cher Grund, warum eine jede Obrigkeit Rechen-
ſchaft von den Unterthanen uͤber die Anwendung
ihres Fabriken-Verdienſts fodere, und ſie gewoͤh-
nen ſollte, von Kindesbeinen auf alles moͤgliche,
was ſie erſparen koͤnnen, beyſeits zu legen. Uebri-
gens aber fuͤhre der Gewinnſt einer gut geleiteten
Gewerbſamkeit ſo weit, daß einem jeden Dorf[,]
[477] deſſen Bevoͤlkerung durch die Gewerbſamkeit alſo
zunehmen wuͤrde, eben dadurch auch ſo viel Mit-
tel zufließen muͤßten, genugſame Einrichtungen zu
ſeiner Sicherheit mit Leichtigkeit zu machen. —
Und es komme hierinn nur auf den Gebrauch an,
der im Dorf von dieſen Umſtaͤnden gemacht werde,
und auf die Obrigkeit, zu was fuͤr einem Gebrauch
ihrer Umſtaͤnde ſie das Volk fuͤhre und anhalte. —
Ueber das andere: Wie die Waiſenkinder als
eine Pflanzſchule die Gewerbſamkeit im Volk all-
gemein zu machen, zu gebrauchen waͤr? — ſagte
er, man muͤſſe einen Unterſchied machen zwiſchen
bloßen Arbeitern, die nur wieder andere Arbeiter
nachzuziehen haͤtten, und denen die in Stand kom-
men ſollten, irgend eine Art Gewerb an einem
Ort ſelber anzulegen. Fuͤr die erſtern erfodere es
nichts, als daß ſie ihre Handgriffe vollkommen
lernen und fleißig ſeyen — aber die andern muͤſ-
ſen, wenn ſie die Handgriffe vollends gelernt, aus
einem ſolchen Erziehungshauſe weg, und zu Leu-
ten gethan werden, die dieſen Gewerb ſelber trei-
ben, um ihnen alle Arten Vorſichtigkeitsregeln
gelaͤufig zu machen, die es in der Welt braucht,
wenn man den Menſchen auch noch ſo wenig an-
vertrauen muß; und dann auch zu lernen, ſich
die Menſchen an die Hand zu bringen, und an der
Hand zu halten, oder wie man ſich unter den
[478] Bauern ausdruͤcke, den Maͤuſen zu pfeifen. Hin-
gegen koͤnnten ſie in ſolchen Erziehungshaͤuſern dar-
inn einen großen Vortheil genießen, wenn ſie in den-
ſelben wohl rechnen, ſchreiben, und die Hand-
lungsbuͤcher fuͤhren lernten, welches alles er aus
ſich ſelber habe lernen muͤſſen, und alſo erfahren,
wie viel es ihm hinderlich geweſen. —
Eben ſo beſtaͤtigte er, daß in den Gefangen-
ſchaften und Zuchthaͤuſern zu dieſen Endzwecken
ſehr brauchbare Menſchen zu Grund gehen, und
daß man wichtige Vortheile von ihnen ziehen koͤn-
ne, wenn man die Manier kennen wuͤrde, dieſes
Geſchaͤft recht anzugreifen, und auch das ſey ſi-
cher, daß man dieſe Manier bey Niemand als bey
den Zuͤchtlingen ſelber erforſchen muͤſſe.
Dann ſah der Fuͤrſt auch noch die Gertrud,
und die Kinder des Huͤbel-Rudis, die vor Jahr
und Tagen noch im Elend faſt verfaulet keine Ar-
beit verſtunden, und von dieſem Weib ſo in Ord-
nung gebracht worden. Der Lieutenant ſagte dem
Fuͤrſten vor ihr, ſie hatte meine Schule in ihrer
Stube, ehe ich noch daran dachte, ohne ſie haͤtte
ich meine Einrichtungen nicht in dieſe Ordnung
gebracht.
Denn hat ſie viel gethan, ſagte der Fuͤrſt,
ſah ſie ſteif an; und bald darauf — ich will noch
[479] mehr mit ihr reden — aber izt war er wie in einem
Sturm — Gedanken draͤngten ſich uͤber Gedan-
ken — ſein Herz ſchlug — er fuͤhlte daß ſeine
ganze Stimmung ihn nicht mehr ruhig urtheilen
laſſe — er entfernte ſich einige Augenblick, ſtund
an des Rudis Matten, an der Zaͤunung, gegen
die untergehende Sonne, ſuchte Luft fuͤr ſein klop-
fendes Herz — Nein — es iſt zu viel — ſagte er da
an des Rudis Zaun — wenn es weniger waͤr, ich
wollte ihnen glauben, aber ſo viel kann und will
ich nicht glauben — Eine Weile darauf — er
hat recht — ich muß noch die drey Raͤder ſtill
ſtellen, wenn ich die Wahrheit ſehen will, mit dem
gieng er wieder zu Arner, ſagte ihm, und dem
Lieutenant und dem Pfarrer und dem Baumwollen-
Meyer, der bey ihm ſtund, ihr muͤſſet mir alle 4
nach Sklavenheim, ich will euch da 3 Tage allein
laſſen, aber am Samſtag bin ich auch dort, ſo lang
unterſuchet in dieſer Zeit an Ort und Stelle, ſowohl
mit den Waiſenkindern als mit den Zuͤchtlingen,
was ihr von dem, was ihr ſaget, ausfuͤhrbar fin-
det. Indeſſen will ich hier noch die Gegenſtaͤnde,
die ich izt wie in einem Traum ſehe, ein wenig
kaltbluͤtiger ins Auge zu faſſen ſuchen. —
[480]
§. 74.
Der Lieutenant zeigt noch wie im Flug,
was er in einer hoͤhern Sphaͤre ſeyn
wuͤrde. — Und der Autor beſchließt
ſein Werk.
So ſchickte er ſie fort. — Der Lieutenant merk-
te es, und ſagte, da ſie Morgens darauf mit ein-
ander im Wagen ſaßen, er ſezt uns fuͤr hie und
da auf die Probe: die andern ſtuzten; er aber
ſagte, es macht nichts — er will nicht betrogen
ſeyn, und darinn hat er recht. — Wir wollen ihm
aber um deswillen doch auch nicht minder zeigen,
als was wahr iſt. —
Dann rief er dem Poſtknecht, daß er davon
jage was immer moͤglich; und ſagte zu den Her-
ren, dieſe drey Tage entſcheiden izt — bringen
wir in Sklavenheim etwas wirkliches zu Stand,
ſo iſt er gewonnen; kommen wir ihm nur mit
Worten, ſo ſind wir in dieſer Sache nicht weiter,
als wir vor zwey Jahren waren. Die Herren
ſagten ihm alle, er ſolle von ihnen fodern, was er
begehre, und wenn ſie 3 Tage kein Auge zuthun muͤſ-
ſen, ſo wollen ſie ihm helfen zu thun was moͤg-
lich. —
[481] lich. — Der Poſtknecht jagte, ſie waren in der
halben Zeit dort, und in der erſten Stunde hatte
der Lieutenant ſchon 12 Kinder aus der Waiſen-
ſtube ausgeſucht, ſie einer Spinnerin uͤbergeben,
an ihre Raͤder geſezt, und fieng nun an mit einem
nach dem andern zu reden, dann mit allen, dann
ihnen etwas vorzuſprechen, das ſie ihm nachſagen
mußten. Am gleichen Abend brachte er ſie noch
dahin, einige Zahlen Reyhen bis auf 50 — zu 3 —
und zu 4 — und zu 5 — hoch zuruͤck und vor-
waͤrts zu zaͤhlen — und das alles bey ihrem Spin-
nen — das aber freylich im Anfang nicht ganz or-
dentlich gehen wollte. — In der gleichen Stunde
ſuchte der Baumwollen-Meyer im Zuchthaus 10
Maͤnner aus, von denen er glaubte, ſie ſeyen im
Stande weben zu lernen; er fand zwey vollkom-
mene Weber, die als Contrebandiers aus dem be-
nachbarten Fuͤrſtenthum mit verbotener Tuchwaare
ergriffen, eingeſezt worden; dieſe beredete er bald,
mit ihm Hand ans Werk zu legen, und die zehn
Maͤnner, die auf ihren Stuͤhlen vor Hofnung der
Erloͤſung zitterten, das Handwerk zu lernen. —
Sie fanden im Dorf, und zum Theil im Zucht-
haus ſelber, Stuͤhle, Geſchirr, Zettel, und Spuh-
ler genug — vor Abend war das alles in Ord-
nung.
Eben ſo bald fieng Arner an, die Geſchichte
der Gefangenen aufzunehmen, und hauptſaͤchlich
Hh
[482] aufzuzeichnen, was ſie gelernt — wodurch ſie glaub-
ten, ihr Brod verdienen zu koͤnnen — und denn,
wodurch ſie ungluͤcklich geworden — wie ſtark ihre
Fehler in ihrem Land und in ihrem Dorf eingeriſ-
ſen — was und wer daran ſchuldig — wie ſie
glaubten, daß dieſen Fehlern am Beſten geſteuert
werden koͤnnte — ob ſie glaubten, wenn ſie in der
Freyheit waͤren, ſelber etwas dazu beytragen zu
koͤnnen — und uͤberhaupt, womit ſie im Land et-
was nuͤzliches anzufangen ſich im Stand glaubten
— und endlich, ob ſie nicht gern in der Gefan-
genſchaft ſelber ſich anſtrengen, und etwas lernen
wollten, das ſie in Stand ſetzen koͤnnte, mit Nutzen
fuͤr ſich ſelber und fuͤr ihren Nebenmenſchen in der
Welt zu leben? Sie fielen faſt vor ihm auf die
Knie, jammerten, daß ſie das Unmoͤgliche thun
wollten, dieſem Elend zu entkommen. Ihrer viele
ſagten, ſie muͤßten an Leib und Seele faſt verfau-
len, und die Leute ſeyen Kinder von Unſchuld,
wann ſie in dieſe Oerter hineingebracht werden,
gegen den Zuſtand, in welchem ſie ſich befinden,
wann ſie wieder herauskommen.
Er war am dritten Abend mit der Geſchichte
und Ausſage dieſer Leute fertig; eben ſo der Pfar-
rer mit der Beſchreibung des Zuſtands von 70
Kindern, die in dieſem Hauſe an Kraͤtze, Blaͤſſe,
Dummheit und Unanſtelligkeit bewieſen, daß ihre
[483]
Verwalter Diebe, und die Obern dieſer Verwal-
ter etwas anders zu thun haben, als nach ihnen
zu ſehen. —
Und auch der Lieutenant war mit ſeinen Kin-
dern ſo weit, daß ſie ſeine Ordnung kannten wie
die in Bonnal; und die Zuͤchtlinge des Meyers
kamen in dieſen Tagen mit ihrem Weben weiters
als man es moͤglich geglaubt haͤtte.
Indeſſen hatte der Herzog mit Luchsaugen
ausgeſpaͤht, ob es in Bonnal einen Unterſchied
mache, daß er dieſe drey Raͤder ſtill geſtellt — Er
fand keinen — vielmehr ſagten ihm verſchiedene
von den Herren ſeiner Kommißion, die Sache ſey
ſo tief gegruͤndet, daß ſie, wenn dieſe ſaͤmtlichen
Anfaͤnger ſterben wuͤrden, um deswillen nicht zu
Grund gehen muͤſſe. —
Nunmehr ſtieg eine ruhige Hofnung, daß doch
wenigſtens etwas, wo nicht alles, von dieſen Ver-
ſuchen ausfuͤhrbar, in dem Herzog empor. Er
nahm am vierten Tage Thereſen mit ſich auf Skla-
venheim; aber er ahndete von Fernem nicht, was
er da antraf.
Er fand Bonnalsſchule mit zwoͤlf Waiſenkin-
dern angefangen.
H h 2
[484]
Er ſah den Vorſchritt, den der Meyer mit dem
Gebrauch der Zuͤchtlinge in dieſen Tagen moͤglich
gemacht.
Er las in der Geſchichte der Gefangenen den
Zuſtand ſeines Reichs, in der Schilderung der 70
Waiſenkinder den Zuſtand ſeiner Anſtalten fuͤrs
Volk. —
Staunte uͤber das Werk dreyer Tagen; und
ward von einem Geraͤuſch unterbrochen. Die
Schaar der Gefangenen, und die Menge ſeiner
Kinder lag zu ſeinen Fuͤßen, ſie baten um Vaͤter
und Verſorger wie dieſe vier Herren.
Stehet auf, ſagte er, Gefangene! Stehet
auf meine Kinder, euer Schickſal iſt in ihrer
Hand! —
Ich bin uͤberzeugt; er konnte nicht mehr —
die Kinder blieben auf den Knien — es umgab
ihn eine heilige Stille, und der Ahndungen groͤſte
hob ſich in aller Herzen empor.
[[485]][[486]][[487]][[488]][[489]][[490]]
ters, ſie ſchaͤmt ſich nie — daß ſie ſich izt
ſchaͤmt, widerſpricht dieſem Zug nicht, ſo wie
der Hochmuth ohne Ehrliebe ſtatt hat, ſo hat
falſche Scham ohne wahre Schamhaftigkeit
ſtatt. — —
licher Weiſe hier keinen andern Sinn als
Loos in der Lotterie — hazard — ꝛc.
heißt eine Galgen-Rad- und Galeeren-Gerech-
tigkeit nicht eine ſolche, die Galgen und Rad
braucht, ſondern eine, die ſie darum brau-
chen muß, weil ſie das Volk verwahrloſet,
und ſelber zu dem macht, wofuͤr ſie ihn hin-
tennach ſtraft — eine ſolche Gerechtigkeit, die
Land ungerecht macht, und denn die Kinder
ihrer eigenen Ungerechtigkeit behandelt, als
wenn ſie keine menſchliche Natur haͤtten, und
bey der buͤrgerlichen Verwahrloſung nicht noth-
wendig verwildern muͤßten — eine ſolche Ge-
rechtigkeit, und keine andere, heißt mein Lieu-
tenant eine Galgen- Rad- und Galeeren-Ge-
rechtigkeit.
ſer Stelle. Ich werfe keine boͤſe Gedanken
ins Volk: der Bauer denkt das alles ohne mein
Buch; er denkt noch mehr als dieſes mit einer
Einſeitigkeit, Lebhaftigkeit, und mit einer dun-
keln Stille, gegen deren Gift ich kein beſſers
Mittel kenne, als offen gegen ihn zu handeln,
und ihm zu zeigen, daß man weißt was er
denkt; aber daß man mehr weißt, und nichts
ſucht, als ihn durch die Wahrheit, ſo wie er
ſere Hilfe nicht kommen konnte. Das ſuche ich
Leſer! und alſo fuͤrchte dich nicht, wenn ich
meine Bauern in alleweg, und auch von der
Obrigkeit reden laſſe, wie ſie denken. ꝛc.
cher die Knaben am Samſtag- und Sonntag-
Nachts die Toͤchtern in ihrer Kammer beſuchen.
Beleidigung, auf mehr oder minder rechtliche
Art die Ehe zu verſprechen, und dann ſein
Wort nicht zu halten.
von Oellampen.
einer Art verfeinerten ſittlichen Gefuͤhls ſtoßen
— Volkskenner werden ſie nicht ſtoßen. Wer
mit den Gradationen des ſittlichen Gefuͤhls
bekannt iſt, der weiß, daß die Sprache des
feinſten Gefuͤhls in den Mund zu nehmen, und
den rohern Ton des Mittlern zu verlaͤugnen,
lenerhebung in ihrer ganzen Reinheit beſizt,
zu nichts als zur Verſtellung fuͤhrt, und den
rohern Arbeitsmenſchen den Geradſinn und die
beſchraͤnkte aber ſichere Kraft ſeiner eigentlichen
Berufs- und Standsſittlichkeit verlieren macht,
ohne ihm etwas beſſers dafuͤr zu geben; wer
das weiß, der wird mir die Katz im Sack ver-
ziehen. Es ſind Bauernreden, die mit der
Katz im Sack gar nicht die gleichen Vorſtellun-
gen verbinden, als die gemeine Leſer-Welt,
die aber auch, ehe ſie uͤber die Bauernſprache
urtheilt, ſie zu erſt verſtehen lernen ſollte. —
Adieu. —
iſt auch dumm, daß du ihnen ſo ſagſt! ſagt
mir eben meine liebe N.... Ich antwor-
tete ihr, die Bauern lieben es gar zu ſehr, ſo
von den Herren zu reden, und ein Volksbuch,
das ihnen die Herren-Fehler in ihrer Sprache
nicht Preis geben wollte, wuͤrde die beſte Wuͤrze
mangeln, die die Bauern Laune, und ihr, ih-
nen eigener wirklicher Unterhaltungston hat —
darum liebe N.... laß mich nur immer reden,
und mach mich nicht ſorgen, du kommeſt etwa
auch auf die Gedanken, man koͤnne mit Holz-
ſchnitten, rothen Buchſtaben, und den uͤbri-
gen Kalender Zeichen, bey den Bauern eben
das ausrichten, was mit einer freyen, in die
eigentliche Richtung ihres Geiſtes eintretenden
Nachahmung ihrer eigenen Manier — Und
denn liebe N.... laß doch einen jeden, der
etwas anders in dieſer Manier findt, ſie erſt
— — ſtudieren, und dann hernach mit mir
reden. —
Dorf kommt, und von Armen geleſen wird,
ſchrecken Frevler mehr ab, als oft die beſtge-
meynten hochobrigkeitlichen Verordnungen;
alſo verzeih mir den Donnersbub, den ich im
taͤglichen Leben immer brauche, wenn ich mit
dem Volk von ſolchen Burſchen rede.
Menſchen nicht, wenn er im Gefuͤhl der Ver-
wahrloſung ſeines Geſchlechts die Sprache der
Verzweiflung redt? — ſagte ich, da die Sti-
ckelbergerin und der Pfarrer dieſe Sprache re-
deten, als ſie fuͤr das Leben Arners keine Hof-
nung mehr hatten; und izt — muß ich dich
fragen, Leſer! willt du mir es nicht verzeihen,
wenn ich die oͤffentliche Gerechtigkeit, die es
an allem, was zur Erzielung einer wahren
buͤrgerlichen Bildung in der Tiefe des Volks
meiner Erfahrung, mit dem Wuͤhlen der Wild-
ſau vergleiche, und ihre Arbeit und ihr Maul-
waſchen — Schnorren-Arbeit heiße? — Ich
hoffe, du verzeiheſt Leſer! —
Verzeihet! ich werde bald muͤde. Ao. 1520-
30 machte man wenige Komplimente mit dem
Aberglauben und die ihn beguͤnſtigenden See-
lenſtimmung, und ihn naͤhrenden Form des
Gottesdienſts. Der Misbrauch der buͤrgerli-
chen Gewalt heißt in der Volksſprache Tiran-
ney, und die Naͤherung der Seelenſtimmung
zu dieſem Misbrauch tiranniſcher Sinn. —
Aber in der Volksſprache iſt kein Ausdruck, den
Misbrauch der kirchlichen Gewalt, und die
Naͤherung der Seelenſtimmung zu dieſem Mis-
brauch zu bezeichnen. — Merk dirs Volk! du
haſt kein Wort in deiner Sprache, den Unwillen
gegen die Bande der Seelen und die Knecht-
ſchaft des Geiſtes auszudruͤcken, wie du deinen
Unwillen gegen den Misbrauch der buͤrgerli-
chen Gewalt ausdruͤckſt — und nimm, wenn
du kein beſſers weißeſt, die Woͤrter Pfafheit
und Pfaffenſinn in deine Sprache auf, wie du
die Worte Tiranney und Tirannen Sinn darin
aufgenommen — dieß iſt meine Entſchuldi-
gung. — Fodert ihr mehr Schonung als Fuͤr-
ſten — ſo redet! Gott braucht keine Scho-
als mit der buͤrgerlichen Sicherheit der Men-
ſchen beſtehen kann — Prieſter des Gottes-
dienſts —! —
Volk. Der Gelehrte mag in der Bibel freylich
Stof zur Kopfuͤbung finden, ich wende nichts
dawider ein.
Anmerkung. Muß ich auch hier wieder-
holen? Ich ſage nicht, der Menſch iſt ein Thier
— ich ſage nur, der Miniſter Bylifsky hat ge-
ſagt, der Menſch iſt ein gelehriges Thier. —
Schlendrian anderer Staͤnden, und iſt hinge-
gen der Beyſtimmung erleuchteter Geiſtlicher
in vielen Punkten ſehr ſicher. Da aber die
Sache mit den andern Staͤnden durchs Rech-
nen muß eroͤrtert werden, ſo braucht es einer-
ſeits weniger Redens gegen ihren Schlendrian,
ihr Nutzen und Schaden ſie allgemein fruͤher zu
richtigen Grundſaͤtzen in der Volksfuͤhrung er-
heben werde, als daß der große Theil der Geiſt-
lichkeit, unter den Umſtaͤnden darinn er lebt,
dahin gelangen moͤchte.
des Verfaſſers, und der Geiſt des Buchs,
es enthaͤltet kein einziges Recept fuͤr irgend
einigen Detail-Umſtand von den Millionen
einzelnen Beduͤrfniſſen des Volks, dennoch ſoll
es den Bauern in dieſen einzelnen Beduͤrf-
niſſen dienen koͤnnen, und indem es auf die
Richtung ihres Kopfs und ihres Herzens
tailrecepten, die ſie noͤthig haben, fuͤhren. —
Meynung, und eben ſo daß dieſe Meynung
noch zu unterſuchen iſt.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Lienhard und Gertrud. Lienhard und Gertrud. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn9t.0