[][][][][][][]
Muͤnchhauſen.

Eine Geſchichte in Arabesken


Non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem
Cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat,
Antiphatem, Scyllamque et cum Cyclope Charybdim.

(Horatius.)

Vierter Theil.

Duͤſſeldorf,:
Verlag von J. E. Schaub.
1839.

[][]

Inhalt
des vierten Theils
.


  • Seite
  • An Ludwig Tieck I
  • Siebentes Buch.
  • Das Schwert Karl’s des Großen.
  • Erſtes Capitel.
  • Seite
  • Der Lendemain in einem Oberhofe 1
  • Zweites Capitel.
    Wie der Sammler und der Hofſchulze ſich aber-
    mals entzweiten 31
  • Drittes Capitel.
    Die Geſchichte eines Geächteten 41
  • Seite
  • Viertes Capitel.
    Der Hofſchulze kommt wieder zu ſich und Lisbeth
    ſchreibt an den Diaconus 67
  • Fünftes Capitel.
    Lisbeth und Oswald 79
  • Sechstes Capitel.
    Suchen und nicht Finden 87
  • Siebentes Capitel.
    Ein Trauerſpiel im Oberhofe 92
  • Achtes Capitel.
    Wie der einäugige Spielmann ſeine Abſicht bei
    einem leidenſchaftlichen Juriſten erreicht 101
  • Neuntes Capitel.
    Das Freigericht und was dieſem folgte 110
  • Zehntes Capitel.
    Wie der Hofſchulze und der Graf Oswald an ein-
    ander und aus einander geriethen 127
  • Eilftes Capitel.
    Eine Art von Feldzug 141
  • Seite
  • Zwölftes Capitel.
    Aus dem Tode Leben 163
  • Achtes Buch.
  • Weltdame und Jungfrau.
  • Erſtes Capitel.
    Worin der Diaconus vom Zufall und von der
    wahren Liebe ſpricht 175
  • Zweites Capitel.
    Worin ein humoriſtiſcher Arzt nützliche Wahrheiten
    über die Behandlung kranker Perſonen vorträgt 185
  • Drittes Capitel.
    Speiſeſaal und Krankenzimmer 195
  • Viertes Capitel.
    Die Leiden einer jungen Strohwittwe 213
  • Fünftes Capitel.
    Worin der Hofſchulze ſeine letzte Rede über aller-
    hand wichtige Gegenſtände hält 229
  • Seite
  • Sechstes Capitel.
    Ernſte und feierliche Erklärungen zwiſchen der
    Baroneſſe und dem Oberamtmann 248
  • Siebentes Capitel.
    Was Lisbeth auf die Ermahnungen zu einer un-
    eigennützigen und entſagenden Liebe antwortete 259
  • Letztes Capitel.
    Fröhliche Siege 281
  • Anhang.
    Zwei Briefe 296

Druckfehler des vierten Theils.


  • Seite 93 Zeile 8 lies: verſpart ſtatt: erſpart.
  • ‒ 114 ‒ 16 ‒ oben ſt. eben.
  • ‒ 175 ‒ 15 ‒ welche ſt. welches.
  • ‒ — ‒ 16 ‒ hinausgingen ſt. hinausging.
  • ‒ 301 ‒ 6 ‒ Vernünftigen ſt. Vernünftige
[[I]]

An
Ludwig Tieck.


[[II]][[III]]

Sie ſchrieben mir vor einigen Monaten und
ſprachen mir Ihre Freude uͤber den erſten Theil
des Muͤnchhauſen aus, den Sie damals geleſen
hatten. Dieſer Brief kam ganz frei aus Ihrer
Seele, denn ich hatte es unterlaſſen, Ihnen
ein Exemplar meines Buches zu ſenden. Er
war mir unverhofft und eine freudige Ueberra-
ſchung. Doppelt aber erfreute er mich. Denn
einmal mußte es mir wohl ſehr lieb ſeyn,
daß Sie ſich ſo an den Anfaͤngen meines Wer-
kes ergoͤtzt hatten, dann aber zeugte die liebens-
wuͤrdige Lebhaftigkeit Ihrer Worte von der fort-
bluͤhenden Jugend, welche wie ein Kranz ſchoͤner
Roſen Ihre ehrwuͤrdigen Schlaͤfen umſchmuͤckt.


Ich nahm mir gleich vor, Ihnen zu ant-
worten und zu danken. Nachher aber uͤberlegte
ich, daß der beſte Dank die That iſt und ſchwieg
daher bis zur Vollendung des ganzen Werkes.
Nun iſt es fertig und ich widme Ihnen ſeinen
Abentheurer und ſeine guten Menſchen, ſeine
[IV] Poſſen und ſeinen Ernſt mit dieſem letzten
Theile. Daruͤber reden kann ich nicht; es
wirke auf Sie, wie es eben die Kraft und
Faͤhigkeit in ſich beſitzt. Aber einen offenen
Brief ſchreibe ich Ihnen dazu vor dem Ange-
ſichte auch anderer Leſer, denn Manches wollte
ich Ihnen ſagen, was ſich in einem ſolchen
doch noch beſſer ausnimmt, als unter einem
Siegel, welches nur Ihre Hand erbraͤche.


Immer habe ich mich am gluͤcklichſten gefuͤhlt,
wenn mein freies Gemuͤth ſich zum Schuldner
fuͤr empfangene Wohlthat bekennen durfte. Die-
ſes reine Gluͤck empfinde ich auch jetzt, indem
ich an Sie ſchreibe. — Man hat mich oft einen
Nachahmer genannt, und der Tadel, der in
dieſer Bezeichnung liegt, mag meine fruͤheſten
Verſuche nicht ohne Grund getroffen haben,
obgleich mich nie ein aͤffiſcher Trieb kitzelte, ſon-
dern ſtaͤts ein innerer Drang bewegte. Spaͤter,
als mich Leben und Bildung gereift hatten, meine
ich jederzeit ein Eigenes gebracht zu haben,
wenn ich mich fremden Muſtern anlehnte. Ich
vermied keine Reminiſcenzen, weil ich wußte,
daß dieſe doch immer ein nur mir gehoͤriges
[V] Leben in mir aufgeweckt hatten. So moͤchte ich
denn eher den Namen eines Schuͤlers fuͤr mich
in Anſpruch nehmen. Und in einer Zeit, worin
ſo viele Meiſter, wie ſie behaupten, vom Him-
mel fallen, duͤrfte ein guter Schuͤler der Ab-
wechſelung halber kein ganz veraͤchtlicher Gaſt
am Parnaß ſeyn.


Auch zu Ihrem Schuͤler bekenne ich mich
gern, freudig und oͤffentlich. Sie haben unter
uns Deutſchen einen ganz neuen Scherz erfun-
den, Sie haben der Natur fuͤr manchen ihrer
geheimſten magiſchen Toͤne die Zunge geloͤſet,
viele Beobachtungen und Erfahrungen haben
Sie mitgetheilt, die vor Ihnen Niemand ge-
macht hatte. Alles nun, was in mich von
Ironie, Spott, Laune gelegt worden war, ein
tiefes Beduͤrfniß, welches mich von meiner
Kindheit her oft froh machte, oft auch aͤngſtigte,
die Signatur der ſtummen Dinge zu erkennen,
endlich mein Verlangen, mich uͤber das eigenſte
Weſen der Dichter und der Buͤhne aufzuklaͤren
— alles Das fand, wie haͤufig! bei Ihnen
Lehre, Beiſpiel, Fuͤhrung. Ich verehre Sie als
einen meiner Meiſter und in meinen guten Stun-
[VI] den wage ich mir zu ſagen, daß Ihnen der
Schuͤler gerade keine Schande mache.


Aber eine elegiſche Empfindung kann ich
nicht bewaͤltigen, wenn ich an Sie denke. Sie
ſtehen gefeiert, wuͤrdig, nachwirkend da, das
iſt wahr. Um eine Entfaltung jedoch hat das
Mißgeſchick der Umſtaͤnde Sie und uns gebracht.
Sie haͤtten der Vater des deutſchen Luſtſpiels
werden koͤnnen, wenn die Buͤhne Ihrer fri-
ſcheſten Zeit entgegengekommen waͤre, und dieſes
Luſtſpiel wuͤrde das groͤßte der modernen Zeiten
geworden ſeyn. Denn nicht auf das Einzelge-
ſchick eines Liebespaares, oder auf die Schilde-
rung einer naͤrriſchen Sitte, oder eines in der
Verborgenheit ſein Weſen treibenden Thoren kam
es Ihnen an, ſondern Ihre komiſche Muſe laͤchelte
uͤber die ganze Breite der Welt und der Zeit,
ſie ſchmuͤckte mit bunten Blumen, die ſich dann
wieder zauberiſch in Schellen verwandelten, die
oͤffentlichen Charaktere, ſie fuͤhrte mit reizender
Schalkheit, die wie Ehrfurcht ausſah, komiſche
Koͤnige und Helden im Triumphe auf. Wenn
ich an die Kraft und Gewalt Ihrer Figuren
mich erinnere, an den tiefſinnigen, freien, gro-
[VII] ßen, unerſchrockenen Humor in Octavian, Zer-
bino, Kater, Daͤumchen, Blaubart, Fortunat
und in der verkehrten Welt, ſo weiß ich nur
ein Gegenbild zu dieſem Luſtſpiele in der ganzen
Geſchichte der Poeſie zu finden; es iſt das des
Ariſtophanes. — Ich habe oft Ihre Gedichte
vorgetragen, und wenn es mir gelang, dem
Dichter nachzukommen, ſo kann ich wohl ſagen,
daß empfaͤngliche Zuhoͤrer in einen bacchiſchen
Taumel der Luſt geriethen.


Aber keine attiſche Buͤhne empfing Sie und
brachte auf den Brettern Ihre Production zu
der Fuͤlle und Vollreife, die nun einmal der
Dramatiker nur gewinnen kann, wenn er ſeine
Geſchoͤpfe da droben auf dem Geruͤſte in Fleiſch
und Blut umherwandeln ſieht. Man ſagte, dieſe
Sachen ſeien ſehr ſchoͤn, ſehr witzig und ließen
ſich uͤberaus wohl anhoͤren, aber aufzufuͤhren
ſeien ſie nicht. Das war aber eine Unwahr-
heit. Denn ich habe hier den Blaubart zwei-
mal darſtellen laſſen. Ich hatte weniger Muͤhe
von ihm, als zum Beiſpiel vom Gloͤckner von
Notredame, die Schauſpieler fanden ſich bald
hinein und ſpielten mit Luſt und Liebe darin,
[VIII] was aber den Erfolg betrifft, ſo war dieſer
bei der erſten Darſtellung ein entſchiedener und
bei der zweiten der allerglaͤnzendſte. Wenig
hatte das Stuͤck gekoſtet und viel brachte es
ein. — Ich wollte nicht dabei ſtehen bleiben,
ſondern ich dachte ſchon an Fortunat, ſelbſt an
Daͤumchen und an das ſchnurrende Thier in
Stiefeln. Aber die Duͤſſeldorfer Buͤhne ging we-
gen Mangels an Gunſt, Schutz und Geld unter,
und ſo blieben denn jene Gedanken Traͤume.


Warum ich dieſe Saite hier beruͤhrt habe?
Weil mir Ihr ganzes Bild vorſchwebte und zu
einem vollen Menſchenleben die Entwickelungen
und die Vereitelungen gehoͤren. Wenn ich mit
Ihnen Mund gegen Mund reden durfte, ſo
hatten unſere Geſpraͤche immer einen Gehalt;
eine gewoͤhnliche Dedications-Epiſtel konnte ich
Ihnen daher nicht ſchreiben. Nehmen Sie meine
Worte auf, wie ich ſie gemeint habe, und vor allen
Dingen — leben Sie noch lange, leben Sie
munter und kraͤftig fort, ſich und uns zum Segen!


Duͤſſeldorf den 20. April 1839,


(an dem Tage, wo die letzten Seiten des Münch-
hauſen zu Ende geſchrieben wurden.)


Immermann.


[[9]]

Siebentes Buch.
Das Schwert Karl’s des Großen.


[[10]][[11]]

Erſtes Capitel.
Der Lendemain in einem Oberhofe.


Während des Hochzeitſchmauſes und des Tages,
der darauf folgte, hatte der einäugige Spielmann
im Eichenkampe nicht weit vom Oberhofe geſeſſen.
Man brachte ihm Speiſe und Trank dorthin, er
rührte aber nur wenig an und genoß auch dieſes
Wenige mit Widerſtreben, etwa ſo viel, als hin-
reichte, ſeinen wüthenden Hunger zu ſtillen. Die
Stelle, wo ſich dieſer Menſch aufhielt, lag kaum
fünf Schritte von der Straße ab, die durch den
Kamp führte, ſie war von den dickſten und höch-
ſten Stämmen überſtanden, deren Einer mit ſeinen
gewaltigen Wurzelknorren eine natürliche Bruſtwehr
vor dem Erdreich bildete, welches hinter ihm in
eine Vertiefung ablief, auf deren Rande man be-
quem ſitzen konnte.


[12]

Dort ſaß denn auch der Spielmann und ſah
beharrlich lauernd nach dem Hauſe hinüber. Zu-
weilen erhob er ſich mit halbem Leibe, um aufzu-
ſtehen, und dieß geſchah, wenn ſich eben Niemand
in der Thüre und im Flure des Oberhofes blicken
ließ, aber bei dem Ab- und Zulaufen der Men-
ſchen dauerte das immer nur einen Augenblick.
Sobald wieder Menſchen ſichtbar wurden, ſetzte er
ſich immer wieder unwillig hin. Auch drehte er
zuweilen heftig an ſeinem Leierkaſten, worauf dieſer
widerwärtige Töne von ſich gab, die pfeifend und
heulend ausklangen. Darüber machten die Leute,
die eben vorbeigingen, (und es gingen Viele an
jenem Tage durch den Eichenkamp) ihre groben
Späße, und Einer oder der Andere ſagte, der
Patriotencaspar pfeife aus dem letzten Loche. Doch
äußerte ſich ſo meiſtens nur das junge Volk, deſſen
Erinnerung den Spielmann bloß als eine lächer-
liche Geſtalt kannte; die Alten bekümmerten ſich
hier ſo wenig um ihn als anderer Orten, wenn
ſie ihm zufällig begegneten. Die Späße der jun-
gen Leute ließ der Patriotencaspar ruhig und ohne
Erwiederung an ſich vorübergleiten, oder höchſtens
zwinkerte er dazu mit ſeinem unverſehrt gebliebenen
[13] Auge. Ging aber ein Alter vorbei, der gar nicht
that, als ob er, der Patriotencaspar, der die alte
Orange in Schonhoven mit hatte vermoleſtiren
helfen, da ſitze, ſo ballte er grimmig in deſſen
Rücken die Fauſt und murmelte: Ihr Schubjacken!
aber ich werde Euren Oberſten ſchon …


Was ihm am Tage mißlungen war, näm-
lich in das Haus einzudringen, das meinte er,
werde ihm in der Dunkelheit des Abends glücken.
Aber er hatte ſich getäuſcht. Denn als es finſter
wurde, begannen ein Paar Mägde vor dem Hauſe
ein Topfwaſchen und Keſſelſcheuern, welches bis
ſpät dauerte und ihn verhinderte, unbemerkt
hineinzuſchlüpfen. Als dieſe mit dem letzten Keſſel
fertig waren, hatten inzwiſchen zwei Betrunkene
ſich in die Thüre geſtellt, wovon der Eine dem
Anderen ſeinen Prozeß klar machen wollte, den er
ſeit mehreren Jahren über eine Durchgangsgerech-
tigkeit führte. Der Andere ſagte nach jedem Satze
ſeines Nachbarn: Verſtanden, und fragte darauf:
Wie war es aber eigentlich? Der Prozeßführende
wiederholte dann ſeinen Satz, der Andere noch
einigemale ſein verſtehendes und fragendes Wort;
ſo rückte die Geſchichte äußerſt langſam vor und
[14] es war kein Ende derſelben abzuſehen. Dabei
hatten die Beiden noch gerade ſo viel Beſinnung,
um Jeden, der zwiſchen ihnen durch in die Thüre
gehen wollte, mit heftigen Gebärden zurückzuweiſen,
weil ſie, in die Prozeßgeſchichte vertieft, behaupte-
ten, hier ſei keine Durchgangsgerechtigkeit. Weß-
halb denn auch Mehrere, die ſich mit jener Abſicht
ihnen näherten, um Streit zu vermeiden, zurück
und neben dem Hauſe vorbei nach der Hofthüre
gingen, der Spielmann aber die Ausführung des
Vorſatzes, der ihn an ſeine Stelle feſſelte, aufge-
ben mußte, ſo lange die Betrunkenen da ſtanden.
Endlich, es war ſchon Mitternacht, kam ein Dritter
vom Flure nach der Thüre gegangen, faßte, ohne
ein Wort zu ſagen, die Beiden von hinten am
Kragen, zog ſie zurück und in den Flur, ſchlug
aber darauf ſogleich die Thüre zu und verriegelte
ſie von inwendig. Sie wurde nachmals nicht wie-
der aufgethan.


Die Hochzeitgeſellſchaft verlor ſich gegen Ein
Uhr Nachts und der Oberhof lag nun in dunkelen
Schatten ſtill und lautlos da. Jetzt erhob ſich
der Spielmann von ſeinem Sitze und umſchlich
das ganze Gehöfte tückiſchſpähend wie eine Katze,
[15] um irgendwo eine offenſtehende Lucke oder ſonſt
eine vergeſſene Oeffnung zu finden, durch welche
er eindringen könnte. Aber es wollte ſich nichts
dergleichen finden, und als er an der niedrigſten
Stelle der Hofesmauer ſich bereitete, überzuſteigen,
erhoben die Hunde im Hofe ein ſolches Gebell,
daß er befürchten mußte, es möge Jemand im Ge-
höfte wach werden. Er wich daher auf den Zehen
und die Zähne zuſammenbeißend zurück und ging
wieder, ſeine Flüche verſchlingend, nach der Sitz-
ſtelle im Eichenkampe, wo er nun eben ſo hart-
näckig in der Nacht ausharrte, wie bei Tage.


So ſaß dieſer Menſch einen ganzen Nachmittag,
einen Abend und mehrere Stunden der Nacht hin-
durch, erpicht auf ſein Vorhaben. Und gleichwohl
war dieſes nicht auf ein großes Verbrechen oder
auf einen reichlichen Vortheil gerichtet; er wollte
dem Hofſchulzen weder ſeine Geldſäcke rauben,
noch ihm das Haus über dem Kopfe anzünden,
ſondern nur ihm einen Schabernack anzuthun übte
der Feind des Reichen eine ſolche zähe Beharr-
lichkeit.


Gegen vier Uhr Morgens endlich, als die Ge-
gend noch im halben Dämmer lag, wurde die Thüre
[16] aufgeſtoßen, ein Knecht kam herausgegangen um
Waſſer zu holen und dieſen Augenblick benutzte
der Lauerer, um in das Haus zu ſchlüpfen. Er
lief über den Flur und die Treppe hinauf, ſich
vorläufig zu verbergen und während des Tages,
wann, wie er vorher wußte, der Oberhof von allen
Bewohnern verlaſſen werden würde, mit ſeiner
Beute zu entkommen.


Nachdem es heller Morgen geworden war, ging
der Hofſchulze, zwei große Geldſäcke tragend von
dem oberen Theile des Hauſes nach der Stube
unten neben dem Flure und hinter ihm drein
ging der Schwiegerſohn. Dort ſetzten ſich Beide
ſchweigend, wie geſtern bei allen weſentlichen Stü-
cken der Hochzeit, an einen großen Tiſch. Jeder
von ihnen öffnete einen Sack und zählte aus dem-
ſelben dreitauſend Thaler in harten runden Thalern
auf. Es ſtörte den Hofſchulzen nicht, daß mehrere
Hausgenoſſen und auch einige Nachbarn, welche
ſich ſchon im Hofe eingefunden hatten, vom
Flure aus, oder in der Thüre der Stube ſtehend,
dieſem Aufzählen zuſahen. Vielmehr ſchien es ihm
lieb zu ſeyn, Zeugen bei dieſer Handlung zu haben,
die ſeinen Reichthum darthat, wie ein hin und
[17] wieder zur Seite geworfener ſtolzer und ſchmun-
zelnder Blick andeutete. Das ganze Geſchäft nahm
wie es begonnen worden, ſeinen Fortgang und er-
reichte auch ſo ſeine Endſchaft; nämlich beide Haupt-
perſonen redeten kein Wort mit einander während
des Geldzählens. Als ſechstauſend blanke Thaler
auf dem Tiſche lagen und von dem Schwiegerſohne
ſorgfältig nachgeſehen worden waren, ſchrieb dieſer
ſtumm die Quittung über die empfangene Mitgift
und reichte ſeinem Schwiegervater den Schein,
ohne Dank zu ſagen, hin, ſtrich ſodann das Geld
wieder in die beiden Säcke ein und ſetzte ſie zur
vorläufigen Verwahrung in einen Wandſchrank, der
ſich in der Stube befand und von welchem er die
Schlüſſel zu ſich ſteckte.


Der alte Schmitz hatte das Geſchäft unter-
brechen wollen und war mit der Aeußerung, daß
er nach der Stadt zurück wolle, vorher aber ſeine
Sache mit dem Hofſchulzen in Ordnung bringen
müſſe, zu dieſem in die Stube getreten. Der
Hofſchulze verweigerte jedoch heute wie geſtern,
ohne von ſeinen Thalern aufzuſehen, jede Ein-
laſſung, bis das ganze Plaiſir, wie er ſich aus-
druckte, zu Ende ſeyn werde, worauf er gern
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 2
[18] über Alles und Jedes zu Dienſt ſtehen wolle.
Denn zwei Sachen zu gleicher Zeit zu treiben,
war nicht ſein Ehrgeiz, er brachte immer erſt eine
vollſtändig zu ihrer Richtigkeit, ehe und bevor er
eine Andere angriff, und mit dieſem Grundſatze
war er zu den guten Umſtänden gelangt, in denen
wir ihn kennen gelernt haben. — Der alte Samm-
ler entfernte ſich verdrießlich und ging nach einem
Stalle, worin er Etwas hatte niederſetzen laſſen,
deſſen Beſitz jetzt ſeine Seele drückte. Er ſah es
unter wehmüthigen Gedanken an und wünſchte
ſehnlich das Ende des Plaiſirs herbei, welches
für ihn kein Plaiſir war, weil es die Qual der
Unentſchiedenheit für ihn verlängerte.


Von der Regel, nur ein Geſchäft zu derſelben
Zeit zu treiben, machte indeſſen der Hofſchulze in
Betreff der kranken Bläſſe eine Ausnahme. Er
begab ſich ungeachtet der noch bevorſtehenden Hoch-
zeitvergnügungen zu dem Thiere, ſah nach, ob
ihm auch die Hausmittel gereicht würden, die er
verordnet hatte, ſchaute es mitleidig an, ſchüttelte
den Kopf, ſtreichelte ihm ſanft die Weichen und
behandelte es überhaupt viel zärtlicher, als ſeine
Tochter oder ſeinen Schwiegerſohn. Leider ſchien
[19] dieſe Sorgfalt wenig zu verſchlagen, da der Zaun-
pfahl die Kuh zu hart berührt hatte. Sie ſtöhnte
noch erbärmlicher als geſtern. Ueber den rothhaa-
rigen Knecht fühlte er den heftigſten Verdruß,
denn er hatte deſſen Gewaltſamkeit noch ſpät in
der Nacht vor dem Schlafengehen erfahren. So-
gleich hatte er dem Menſchen den Dienſt aufgeſagt.
Als er ihn daher jetzt anſichtig wurde, rief er
heftig: Was treibſt du dich hier noch umher?


Ich wollte Euch nur fragen, Baas, ob es Euch
ein Ernſt geweſen iſt mit dem Aufſagen? verſetzte
der Rothhaarige.


Wenn ich aufſage, ſo heißt das Aufſagen und
wenn ich nicht lache, ſo iſt das kein Spaß, erwie-
derte der Hofſchulze.


Es iſt aber Unrecht, daß wenn man den beſten
Willen hat zur Luſtbarkeit und dafür ſorgen will,
daß Alles recht ſchön wird, man aufgeſagt kriegt,
antwortete der Rothhaarige.


Wenn ich einer Creatur, die in ihrer Unver-
nunft keinen Begriff davon hat, daß Hochzeit iſt,
die Rippen im Leibe caput ſchlage, ſo hilft das
nicht abſonderlich zur Luſtbarkeit, verſetzte der Hof-
ſchulze kaltblütig. — Genug, du biſt aus dem Dienſte
2*
[20] und kannſt froh ſeyn, daß ich dir nicht den Scha-
den vom Lohne abziehe, wie Rechtens wäre.


Der Rothhaarige bat hierauf ſeinen geweſenen
Herrn nur um die Vergünſtigung, wenigſtens noch
ein Paar Tage im Hofe bleiben zu dürfen, da es
ihm gar zu deſpectirlich ſei, gerade auf einer Hoch-
zeit fortgejagt worden zu ſeyn. Dieſe Erlaubniß
gab ihm der Hofſchulze, jedoch unter der Bedin-
gung, daß er ſich nicht in den heutigen Zug miſche,
denn er wolle ihn, ſagte er, bei dem Plaiſir nicht
vor Augen haben. Der Rothhaarige ſetzte ſich mit
einem giftigen Blicke auf einen Schemel im Flur,
nicht weit von der kranken Bläſſe, deren Qualen
ihm durchaus keine Gewiſſensbiſſe aufzuregen ſchie-
nen. Er greinte und ſagte halblaut für ſich:
Könnte ich dem alten Hunde noch zu guter Letzt
einen rechten Poſſen ſpielen, ſo würde mir das
eine wahre Herzerquickung ſeyn. — Der Hof-
ſchulze ging mit den Worten: Es muß Alles mit
Manier behandelt werden, ſelbſt ein Vieh — zu ſei-
nen Gäſten, die ſich ſchon wieder in bedeutender
Anzahl zu verſammeln angefangen hatten, und den
Platz vor dem Hauſe nach dem Eichenkampe zu
trinkend und rauchend erfüllten.


[21]

Denn heute war der Tag, an welchem die Neu-
verheirathete mit uralt hergebrachter Feierlichkeit
in ihr künftiges Wohnhaus eingeführt werden
mußte. Zu dieſer Feierlichkeit gehörte eine Fahne,
viel Schießgewehr, abermals ein Schmaus, jedoch
dieſesmal im Gehöfte des jungen Ehemannes und
wieder das Spinnrad, welches bei der Hochzeit
ſeine Dienſte geleiſtet hatte.


Der Hochzeitbitter befeſtigte an einer Stange,
von welcher bunte Bänder herabflatterten, ein
großes weißes Leintuch und richtete ſo die Fahne
zu. Gegen dreißig junge Burſchen hatten Flinten
bei ſich, dieſe luden ſie mit grobem Schrot oder
auch mit Kugeln, ſich in lauter und geräuſchiger
Art vermeſſend, daß ſie der Fahne tüchtig eins
verſetzen wollten. Die eine Brautjungfer brachte
das Spinnrad getragen und endlich erſchien die
Braut in ihrem geſtrigen Putze, gar ſehr verſchämt,
nichts deſtoweniger aber immer noch mit der Braut-
krone geſchmückt, obgleich ſie von den Anweſenden
unter derben Scherzreden als Jungefrau begrüßt
wurde. Nun ordnete ſich der Zug und ſetzte ſich
nach dem Gehöfte des Schwiegerſohnes in Bewe-
gung. Der Burſche mit der Fahne marſchirte an
[22] der Spitze, ſodann folgte das Ehepaar, dieſem
ſchloſſen ſich Die mit den Flinten an, und darauf
ſchritt der Brautvater einher, den übrigen Hoch-
zeitgäſten zuvor.


Von den ſtädtiſchen Gäſten erſchien nur der
alte Schmitz im Zuge. Denn die Uebrigen, der
Diaconus, der Hauptmann und der Küſter waren
nach der Stadt zurückgekehrt. Der Küſter war
kein Freund vom Schießen, am wenigſten machte
ihm eine ſolche Ergötzlichkeit Freude, wenn ſcharf
geladen war. Er pflegte daher an dem zweiten
Tage der bäuerlichen Hochzeiten jederzeit eilige
und unaufſchiebbare Geſchäfte vorzuſchützen, um
ſich mit Anſtand entfernen zu dürfen. Am dritten
Tage kehrte er dann mit ſeiner Magd in das Hoch-
zeithaus zur Abholung des ihm gebührenden Bün-
dels zurück. Heute hatte er noch einen beſonderen
Grund gehabt, ſich ſchleunigſt fortzubegeben. Denn
von Ageſel, der ſich auch heiter und rüſtig An-
fangs unter den Feſtgenoſſen auf dem Platze be-
funden hatte, war ihm mit einem der unheimlich-
ſten Blicke, wie ihn wenigſtens bedünkte, das ver-
hängnißvolle Wort zugeraunt worden: Ich muß
Sie durchaus im Vertrauen ſprechen, Herr Amts-
[23] bruder! — Grund genug, ſeine Schritte ſtadt-
wärts zu beflügeln.


Was den Diaconus betrifft, ſo hatte er vor
ſeiner Abreiſe das junge Paar, welches er ſo un-
erwartet vor dem Altare gefunden, ſprechen wollen,
um mit ihnen über ihre Zukunft zu berathen, die
ihm freilich, nachdem er von der Ueberraſchung
jenes Augenblicks zum Bedenken zurückgekommen
war, ſehr zweifelhaft ausſah. Er erſtaunte, als
er hörte, daß der Jäger abweſend und Lisbeth
unpaß ſei. Indeſſen hatte er wirkliche Geſchäfte
in der Stadt, wie der Küſter erdichtete, und deß-
halb konnte er nicht länger außerhalb verweilen.
Er verließ ſich darauf, daß die jungen Leute zu
ihm kommen würden, und daß dann das Nöthige
überlegt werden könnte. Manche Sorge machte
ihm das liebliche Verhältniß; er ſah, da er den
Stand des Jägers kannte, nicht ein, wie aus jener
Liebe ſich ein Bund für das Leben geſtalten ſollte.


Ageſel trennte ſich, ſobald der Zug den Platz
vor dem Hauſe verließ, von den Anderen, denn
auch ihn riefen nähere Intereſſen ab. Er ging
nach dem Schulhauſe, welches zu beziehen er ge-
gründete Ausſicht hatte, beſichtigte das Gebäude
[24] oder vielmehr das Baufällige, welches ein Haus
vorſtellen wollte, maaß den Weidefleck ab und verglich
deſſen Flächeninhalt mit dem Hackelpfiffelsberger.
Dieſe Unterſuchung lieferte ein günſtiges Ergebniß.
Er hatte hier drei Quadratruthen mehr als dort,
worauf ſich immer noch eine Gans mit ſatt freſſen
konnte. Während des Abmeſſens hing er ſeinem
Plane nach, den er in den Worten zu dem Küſter
angedeutet hatte.


Als der Zug über die nächſten Umgebungen
des Oberhofes hinaus war, wurde es in dieſem
ganz ſtill, ſo daß man die Fliege an der Wand
gehen hören konnte, denn auch die Knechte und
Mägde waren nach der Snaat *) des Schwieger-
ſohnes gelaufen. Nur der rothhaarige Knecht ſaß
grollend unten im Flur bei den Kühen. Er war
ein wilder tückiſcher Kerl und ſeine Gedanken gin-
gen in dieſer Einſamkeit von einem Frevel zum
anderen. Er blickte das Feuer auf dem Kochheerde
an und ſagte: Wenn ein Brand davon in das
Stroh des Stalles geſchleudert würde, ſo flöge
der rothe Hahn dem Alten auf das Dach, und es
[25] würde dennoch immerhin heißen, ein Funken ſei
zufällig, da kein Menſch auf das Feuer Acht ge-
habt, in das Stroh geſprungen. — Nach dem
Wandſchranke, worin die Mitgift ſtand, ſah er und
murmelte: Ein tüchtiger Beilſchlag und der Deckel
ſpränge auf und Unſereins hätte ſechstauſend Tha-
ler, womit ſich weit außer Landes kommen läßt.
Da fragt kein Kuckuck nach Einem. — Ihn überlief
es heiß, er ſtreckte zuweilen ſeine Hand nach dem
Feuer aus und zuweilen erhob er ſich dann wieder
vom Schemel, als wollte er nach der Stube gehen,
worin ſich der Wandſchrank befand.


In dieſen gefährlichen Gedanken horchte er plötz-
lich auf, denn oben an der Treppe hörte er Ge-
räuſch, als ob Jemand ſacht über den Gang ſchleiche
nach der Treppe zu. Er ſtand auf und ſchlich
ebenfalls ſacht nach dem Treppenfuße, um zu ſehen,
wer denn da oben ſo verſtohlen zu gehen genöthiget
ſei. Man konnte nämlich von unten den Raum
des Ganges zunächſt der Treppe überblicken. Nicht
lange währte es, ſo blickten zwei überraſchte Ge-
ſichter einander an, von denen Eins blitzſchnell den
Ausdruck des größten Schrecks und Entſetzens an-
nahm. Der Knecht ſah nämlich zu dem Spielmann
[26] auf, der einen langen mit einem Tuche umwickel-
ten Gegenſtand unter dem Arme vorſichtig nach
der Treppe geſchlichen kam und ſchon den einen
Fuß auf deren erſte Stufe geſetzt hatte, als er
den Blick hinunterwerfend, Den unten anſichtig
ward, den er freilich weit vom Hofe bei dem
Schießen um die Snaat vermuthend geweſen war.
Einige Augenblicke ſtanden die Beiden, die einan-
der unwillkommene Zeugen wurden, der Eine des
ausgeführten, der Andere des vorgeſetzten Frevels,
glotzend einander gegenüber, der Eine oben, der
Andere unten. Dann aber ſprang der Spielmann
zurück, und der Knecht hörte ihn die Treppe nach
dem Söller hinauflaufen. — Der Kerl hat ſtehlen
wollen! rief der Knecht und ſtürzte die Treppe
hinauf.


In jenem vielverſprechenden Fragmente des
Fauſt, welches Leſſing hinterlaſſen hat, erklärt der
Magus den Geiſt der Hölle für den ſchnellſten
unter Allen, welcher von ſich rühmt, daß er ſo
ſchnell ſei, als der Uebergang vom Guten zum
Böſen. Aber auch einen Engel giebt es, der die-
ſem Teufel die Spitze bietet, er wirkt die Ueber-
gänge vom Böſen zum Guten, oder wenigſtens
[27] zum minder Schlimmen, und dieſe ſind in der
Menſchenbruſt, ſelbſt in der rohſten, oft nicht lang-
ſamer als die Werke jenes Teufels.


Der rothhaarige tückiſche Knecht, welcher noch
ſo eben ſelbſt an Mordbrennerei und Raub gedacht
und ſich in dem Augenblicke, wo er den Spielmann
erblickte, nur geärgert hatte, daß ſein Vorhaben
durch einen Lauſcher vereitelt werde, hegte ſchon
in der zweiten Hälfte des nämlichen Augenblicks
keinen anderen Gedanken, als daß der Spitzbube
von Spielmann ſeinen Herrn beſtehlen wolle, und
daß er, der Knecht, das nicht leiden dürfe, ſon-
dern den Dieb feſtnehmen und dem Hofſchulzen
überliefern müſſe. Er ſtürzte alſo die Treppe hinauf,
fiel vor übergroßer Eile über einen Kaſten, der
oben auf dem Gange ſtand, ſo, daß er ſich vor
Schmerz nur langſam aufrichten konnte, ließ aber
dennoch von ſeinem Vorſatze nicht ab, ſondern
ſetzte die Verfolgung fort, wenn auch langſamer,
als er ſie angefangen hatte.


Oben auf dem Söller kam ihm der Spielmann
aus der Ecke, worin ſich der Verſchlag des Jägers
befand, entgegen. Der Knecht, deſſen Arme von
dem Falle nicht gelitten hatten, packte ihn bei der
[28] Schulter, dergeſtalt, daß der Spielmann wie eine
Jacke ohne körperlichen Inhalt hin und her flog,
und rief: Hallunke, was haſt du geſtohlen?


Nichts, verſetzte der Spielmann, der ungeachtet
aller Angſt vor dem baumſtarken Knechte den Trotz
beibehielt, der ſolchen Leuten in ſolchen Lagen
eigen zu ſeyn pflegt; ſeht Ihr etwas bei mir? —
Wirklich trug der Spielmann nichts mehr unter
dem Arme. Der Knecht unterſuchte ſeine Klei-
dungsſtücke, aber auch in denen war nichts zu
entdecken. Außer der alten grauen Jacke, den
zerriſſenen und geflickten Hoſen und ſeinem eigenen
armſeligen Leibe führte er nichts an und bei ſich.
Der Knecht ließ die Hände ſinken und ſah aus
wie Einer, der nicht weiß, was er thun oder
denken ſoll.


Der Spielmann, deſſen Zuverſicht wuchs, je
unſchlüſſiger er den Knecht werden ſah, ſagte keck:
Nun, habe ich geſtohlen? — Ich weiß nicht, ver-
ſetzte der Rothhaarige, wohin du es abgeworfen
haſt, aber ich will dich prügeln, daß dir die Seele
aus dem Leibe geht, damit du mir die Stelle anzeigſt.


Gut, rief der Spielmann, der ſich nicht ein-
ſchüchtern ließ, prügelt mich nur ab, prügelt einen
[29] unſchuldigen Menſchen nur ab, Eurem Herrn zu
Gefallen, der Euch aus dem Dienſte jagte! —
Er hatte von ſeinem Verſteck das Geſpräch zwi-
ſchen dem Hofſchulzen und dem Rothhaarigen gehört.


Dieſe Erinnerung warf den Knecht auf die
andere Seite hinüber. Nein! rief er mit einem
Fluche, ſtehlen ſoll zwar Keiner bei ihm, ſo lange
ich noch im Hofe bin, denn dafür bin ich ſein
Knecht, aber zu Gefallen thue ich ihm auch
nichts, denn dazu hat er mich zu ſchlecht behan-
delt. — Nun denn, ſo laßt mich laufen, ſagte der
Spielmann.


Sprich, was du begangen haſt, Kerl, und du
ſollſt laufen, verſetzte der Knecht.


Der Spielmann ſah ſich um, als fürchte er
ſelbſt hier einen Lauſcher, dann murmelte er dem
Knechte in’s Ohr: Einen Schabernack habe ich
dem Hofſchulzen anthun wollen, und, wie ich
hoffe, auch angethan. Sonſt habe ich nichts wi-
der ihn vorgenommen, noch vornehmen wollen.


Der Knecht dachte nach. — Vor Schabernack
brauche ich den Alten nicht zu bewahren, ſondern
nur vor Stehlen, Brennen und Viehſchaden; das
iſt meine Obliegenheit. — Dann gab er dem Spiel-
[30] mann einen Streich mit der Hand und rief: Lauf,
du Hund! — Der Spielmann folgte dieſer Wei-
ſung und ſprang behende die Söllertreppe hinunter.
— Der Rothhaarige hinkte ihm langſam nach.
Unten im Flure ſagte er: Wenn der Baas ein
Stück Schabernack hat, ſo kann es mir ganz recht
ſeyn, wofern er nur nicht an Geld oder Gut be-
ſchädiget wird. Denn „hilf dir zuvor ſelber, ehe
du Andere arzeneieſt“. Dieſen Spruch hat er
mir letzte Martini mitgetheilt und danach halte ich
mich nun. Ich helfe mir zu allererſt ſelber und
meiner Bosheit auf ihn durch den Schabernack, den
ihm der blinde Hallunke angethan hat. — Hier-
auf ſetzte er ſich wieder, wo er geſeſſen hatte, als
ob nichts vorgefallen wäre; entſchloſſen, um keinen
Preis etwas von dem geheimen Beſuche des Pa-
triotencaspar’s im Oberhofe zu verlautbaren.


[31]

Zweites Capitel.
Wie der Sammler und der Hofſchulze ſich
abermals entzweiten
.


Der Hochzeitzug umging indeſſen die Snaat
des Schwiegerſohnes. Die Menſchen ſchrien und
jauchzten, von häufig genoſſenen geiſtigen Geträn-
ken erregt, dazwiſchen knallten die Gewehre, wo-
mit die jungen Burſchen nach dem Tuche der Fahne
zielten, und ſo oft ein Schuß traf, erhob ſich ein
noch lauterer Jubel, denn es iſt ein Ehrenpunct
bei dieſem Brauche, daß die Fahne ganz zerſchoſſen
in das Haus der jungen Eheleute gelangt, weil
der Umſtand für ein günſtiges Vorzeichen gilt.
Alles war heute wilder und ſtürmiſcher als geſtern,
denn die Bauern lieben es, die letzten Augenblicke
einer Feſtesfreude beſonders gierig auszukoſten.


Das Firmament ſpielte bei dieſer heftigen
und lärmenden Scene mit. Der Zug um das
[32] weitläuftige Gelände dauerte, da er nur im lang-
ſamen Schritt vorrückte, mehrere Stunden, und
ſchon hatte ſich der Haarrauch herbeigemacht, der
bald Alles in ſeine Nebel hüllte. Die Bauern
waren über den alten Bekannten durchaus nicht ver-
drießlich, vielmehr ſteigerte der Schwaden, Qualm
und Geruch ihre Luſt. Wie nun ſo die Geſtalten
grau durch den Nebel zogen, das Jauchzen aus
dem Schwaden hervorbrach und die Blitze von den
Schüſſen gelbröthlich in dem Qualme zuckten, be-
kam das Ganze etwas Schattenhaftes, und es
war, als ob Götze Krodo mit ſeinem Koboldsge-
folge emporgeſtiegen ſei und unter Knall und Ge-
praſſel von ſeiner alten Domaine Beſitz nehme.


Auf dieſe Weiſe wurde der jungen Frau ihr
Eigenthum gezeigt. Die Fahne kam, kaum noch
aus Fetzen beſtehend, in das Haus des Schwie-
gerſohnes und Alles hatte ſonach einen guten An-
ſchein. Es war über dem Zuge zwei Uhr Nach-
mittags geworden und die ganze Hochzeitgenoſſen-
ſchaft ſetzte ſich nun im Hauſe der neuen Gatten
abermals zu einem derben Schmauſe nieder, man
kann denken, mit welcher Eßluſt. Dießmal wurde
das Eſſen durch keine vornehmen und ſonſtigen fremd-
[33] artigen Einwirkungen geſtört; die Bauern waren
rein unter ſich und thaten nichts als eſſen und
trinken.


Nach dem Schluſſe des Mahles erfolgte die
letzte Handlung in dieſem Feſtdrama. Die junge
Frau hatte nämlich jetzt noch die Gaben einzuneh-
men. Sie erhob ſich mit feierlicher Miene von
der Speiſetafel, ſetzte ſich an einen Tiſch zur Seite,
ließ Spinnrad und Haspel neben ſich ſtellen, ſchlug
zwei ihrer Röcke, deren ſie mehrere trug, über
den Schooß zurück, und erwartete ſo, die Augen
niedergeſchlagen, die Spenden der Gäſte. Dieſe
ſtanden Einer nach dem Anderen eben ſo feierlich
auf, gingen zu ihr, und legten ein Jeder ſchwei-
gend einige Groſchen ihr unter die zurückgeſchlage-
nen Röcke. Einige legten auch Naturalien auf
den Tiſch vor ihr; ein Huhn, einen Kuchen, ein
Mandel Eier, oder ſonſt dergleichen. Nachdem
Jeder ſeine Gabe dargebracht hatte, ging die Be-
ſchenkte Reihe herum bei den Gäſten und dankte
einem Jeden derſelben mit den nämlichen Worten.
Nun war ſie erſt wirkliche Hausfrau im Jürgens-
erbe (ſo hieß der Hof des Schwiegerſohnes) gewor-
den. Sie legte ihre Brautkrone ab und tanzte
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 3
[34] als Frau in dem Reigen mit, der nun zum Schluſſe
der Hochzeit im Baumgarten begann.


Während des Tanzes ſprach der Hofſchulze leiſe
und eifrig mit einigen Bauern. Es waren die Beſitzer
der reichſten Nachbarhöfe. Sie nickten und ſagten:
Es bleibt dabei, wir kommen Alle. — Hierauf nahm
er den Schwiegerſohn bei Seite und flüſterte ihm
zu: Vergiß nicht … zu morgen … die Looſung …
— Ich werde es wahrhaftig nicht vergeſſen, denn
ich trage das größte Begehren danach; der Haar-
rauch kommt wie gerufen, ſo bleibt Alles in der
Heimlichkeit, verſetzte der Schwiegerſohn.


Der alte Schmitz hatte ungeduldig in der Nähe
gewartet. Sobald der Hofſchulze von ſeinem Ei-
dam zurücktrat, ging der Sammler auf ihn zu und
ſagte ihm mit einer zugleich mürriſchen und ver-
legenen Miene, daß es nun wohl endlich an der
Zeit ſei, ihr Geſchäft abzumachen.


Allerdings kann nun das Geſchäft vor ſich
gehen, denn der Tanz iſt nur noch ein Plaiſir für
die jungen Leute, erwiederte der Hofſchulze. Was
iſt es denn, Herr Schmitz?


Nicht hier, verſetzte der Sammler. Zwar möchte
ich gern von hier abgehen, denn ich muß doch
[35] wieder durch, wenn ich nach der Stadt will und
deßhalb hätte ich gewünſcht, heute Morgen auf
dem Oberhofe die Sache richtig zu machen. —
Dort aber muß ſie vorgenommen werden, weil ich
das Meinige gleich mit mir nehmen will. — Er
ſagte die letzten Worte mit ſichtlicher Ueberwindung.


Auch dieſes, antwortete der Hofſchulze. — Die
beiden alten Leute gingen nebeneinander nach dem
Oberhofe. Der Sammler ſprach faſt gar nicht und
der Hofſchulze nur Weniges. — Dazu gehörte,
daß er ſagte, er ſei von Herzen froh, daß das
Plaiſir ſeine Endſchaft erreicht habe, denn nach
den erſten Confuſionen und Tumulten, die ſich
zugetragen, habe ihm immer ein Druck am Her-
zen geſeſſen, als müſſe ein großes Malheur bevor-
ſtehen.


Es iſt bekannt, daß Ihr an Ahnungen glaubt,
Hofſchulze, ſagte der alte Schmitz.


Von Ahnungen weiß ich nichts Sonderliches,
erwiederte der Hofſchulze kalt. — Aber Vorge-
ſchichten giebt es, fuhr er ſehr ernſthaft fort.
— So habe ich damals Anno Zwölf die ganze
ruſſiſche Armee über den Hellweg ziehen ſehen,
als ich auswärts geweſen war und nach Hauſe ging.


3*
[36]

Es war wohl um die Mitternachtsſtunde, Hof-
ſchulze?


Nein, Nachmittags um vier Uhr bei trübem
Wetter im September, mich dünkt, gerade um
die Zeit, als der Franzoſe in Moskau einzog;
Herr Schmitz.


Dergleichen iſt nun purer Aberglaube! rief
der alte Schmitz, welchem ein Streit mit dem Hof-
ſchulzen vielleicht angenehm geweſen wäre, um ſich
für das, was bevorſtand, in Feuer zu jagen.


Der Hofſchulze blieb aber ganz freundlich und
erwiederte gelaſſen: Nein, eine Gabe Gottes,
Herr Schmitz.


Unter dieſen Reden waren ſie nach dem Ober-
hofe gekommen. Der Alte ſtutzte einigermaßen,
als ſein Gaſt ihn bat, mit ihm zu den Ställen
zu gehen, und noch mehr befremdete es ihn, da er
wahrnahm, daß dieſer kaum ein Zittern verbergen
konnte. Wie wuchs aber ſein Erſtaunen, als der
Sammler die Thüre des Hühnerſtalls aufriß, heftig
mit der Hand hinein deutete und erſtickten Tones
rief: Da ſteht Eure Amphora und ich bitte mir da-
gegen meinen Schein aus! Wirklich ſah der Hof-
ſchulze im Stalle den Weinkrug ſtehen, der ſchon
[37] einmal der Gegenſtand eines ſo heftigen Streites
geweſen war, und den der Sammler in der Dun-
kelheit des vorigen Abends hatte dahin bringen
laſſen. — Er trat drei Schritte zurück und fragte,
indem er den alten Schmitz groß anſah: Was ſoll
das, und was bedeutet dieſes?


Der alte Sammler, dem die Sache das Herz
durchſchnitt, ſprudelte wie eine Flaſche, von wel-
cher der Pfropfen abgeflogen iſt: Es bedeutet, daß
Ihr Eure Amphora wiederbekommt, um welche
ich mein Gewiſſen, welches in einer ſchwachen
Stunde eingeſchlafen war, nicht belaſten will, und
welche mir zwar, das weiß Gott, noch das aller-
größte Vergnügen macht, jedoch ein unrechtes und
verbotenes! Durch ſolche Schandthaten, und indem
immer ein Schelm dem Anderen ſeinen Plunder
als ächtes Alterthum atteſtirte, ſind die Samm-
lungen mit Narrenpoſſen und Quisquilien ange-
füllt worden. Ich aber will dazu nicht die Hand
bieten, daß Euer Lerchenſpieß noch einmal künftig
von einem großen Herrn, der in ſolchen Sachen
die liebe Einfalt und Dummheit iſt, für ſchweres
Geld angekauft wird, ſondern ich begehre meinen
Schein zurück, worauf das ſogenannte Karls-des-
[38] Großen-Schwert wieder wird, was es war und
iſt und bleiben ſoll, nämlich ein Bratenſpieß frü-
heſtens aus der Soeſter Fehde, den ein Reiſiger
des Erzbiſchofs hier mag in den Büſchen haben
ſtehen laſſen.


Demnach wollen Sie alſo die alten Zweifel
an dem Schwerte von Carolus Magnus wieder
regen und rühren? fragte der Hofſchulze, der ſich
zwar gegen den Anderen ſcheinbar ruhig ausnahm,
jedoch auch mit einiger Mühe nach Athem rang.


Es ſind keine Zweifel, es iſt die klarſte Ge-
wißheit; meinen Schein, meinen Schein her! ſtam-
melte der Sammler, der die ſchleunigſte Beendi-
gung des Geſchäfts wünſchte, weil er fühlte, wie
der Muth der Wahrheit im Angeſichte der Amphora
bei ihm ſank.


Sie behalten den alten Topf, und ich behalte
den Schein, Herr Schmitz, ſagte der Hofſchulze
und bohrte ſeinen Stock wieder wie geſtern bei
dem Vorfalle mit dem Hochzeitbitter, tief in die
Erde. — Der Sammler fragte ihn heftig, ob
das ſein letztes Wort ſei? welche Frage der
Hofſchulze bejahte, mit dem Hinzufügen: Handel
iſt Handel.


[39]

Dann kommt die ganze Sache in den Anzei-
ger! rief der alte Schmitz zornig und machte ſich,
ohne von ſeinem Wirthe Abſchied zu nehmen, auf
den Weg. Der Hofſchulze ſtand noch einige Au-
genblicke voll nachdenklichen Verdruſſes vor dem
Stalle. Er war ſo böſe auf die Amphora, daß
er ſie hätte zerſchlagen können, wäre ſie nicht
eines Anderen Eigenthum geweſen. Die Erwäh-
nung des rheiniſch-weſtphäliſchen Anzeigers war ihm
ſchwer auf das Herz gefallen. Denn er wußte,
daß dieſes Blatt, welches durch alle Ortſchaften,
Weiler und Gehöfte des Landes ſeine Wanderung
macht, dem Credit des Schwertes ſehr ſchaden
könne, wenn darin ſtehen werde, Letzteres ſei ein
Bratenſpieß früheſtens aus der Soeſter Fehde.


Ei! Ei! Ei! ſagte er mißmuthig, muß mir
das doch noch heute begegnen, nachdem ich glaubte,
allen Aerger überſtanden zu haben! Es iſt alſo
doch wahr, daß man von dem, was Einem das
Liebſte iſt, zu keinem Menſchen reden ſoll; ſie
fechten es Einem nur an. Hätte ich dem Herrn
Schmitz nicht einſtmalen in der Vertraulichkeit die
Sache mit dem Schwerte entdeckt, nimmer wäre
mir darüber die Streiterei und Zweifelſucht und
[40] Mäkelung entſtanden, die mich ſeitdem Jahraus
Jahrein verfolgt hat. — Er ging in das Haus,
fragte den rothhaarigen Knecht, ob Jemand da
geweſen ſei? welches dieſer grinſend verneinte, und
ſtieg dann zu der Kammer empor, in welcher er
die Waffe verwahrte, um an ihrem Anblicke ſeinen
Muth zu erfriſchen. Auch wollte er ſie für die
morgende heimliche Weihe, bei welcher ſie eine
Hauptrolle ſpielen ſollte, vom Staube ſäubern.
Denn das Schwert war lange nicht gebraucht
worden.


[41]

Drittes Capitel.
Die Geſchichte eines Geächteten.


Der Patriotencaspar hatte ſich, nachdem er
vom Rothhaarigen verabſchiedet worden war, noch
immer in der Nähe des Oberhofes umhergetrieben,
um mit dem alten Schmitz zu ſprechen. Denn zu
dieſem hatte der gemiedene und geringgeſchätzte
Menſch eine Art von Verhältniß. Der Sammler
hatte ihm manchen Groſchen geſchenkt und ſah ihn
nicht ungern. Weil der Patriotencaspar überall
umherſtrich und kroch, ſo war es ihm möglich ge-
weſen, dem alten Raritätenfreunde hin und wieder
eine nützliche Nachweiſung zu ertheilen, oder ihm
auch wohl ſelbſt irgend ein ſeltſam geformtes
Schnitzwerk zuzubringen. Der alte Sammler war
daher auch der Einzige, bei deſſen Anblick in die
arme und elende Bruſt dieſes jämmerlichen Bett-
lers ein Gefühl drang, daß er doch nicht ganz und
[42] gar auf dieſer Gotteswelt ein Ausgeſtoßener ſei.
Für den alten Schmitz wäre er durch’s Feuer
gegangen, er, der ſonſt am vergnügteſten lachte,
wenn Anderen etwas recht Uebles begegnet war.


Jetzt lauſchte er hinter einer Wallhecke an
einem Felde des Oberhofes, ob er ſeinen alten
Gönner nicht allein anſichtig werden möchte. Als
er ihn vorher in der Geſellſchaft des Hofſchulzen
vorbeiwandern geſehen, hatte er nicht gewagt,
ihn anzureden. Entdecken wollte er ihm etwas
vorlängſt Geſchehenes, und ihn um eine ſonderbare
Hülfe erſuchen. Nach langem Harren war ihm
endlich die rechte Stunde dazu gekommen. — Nun
ich meine Luſt gebüßt habe an dem alten Blut-
hunde und er den Tort hoffentlich nicht verwindet,
den ich ihm angethan — denn es liegt wohl ver-
ſteckt, tief verſteckt, und das Dach wird er dar-
nach nicht abdecken laſſen — nun will ich auch
mein Recht erleiden, wie Recht iſt, ſagte er hinter
ſeiner Wallhecke.


Der alte Schmitz kam vom Oberhofe zurück
und ging vorüber. Der Patriotencaspar begrüßte
ihn und ſagte: Herr Schmitz, ich habe hier auf Sie
gewartet, weil ich Ihnen etwas offenbaren wollte.


[43]

So verdrießlich der Sammler war; dieſe An-
rede, in welcher er nur die Ankündigung eines
Fundes für ſein Cabinet zu hören glaubte, machte
ihn aufmerkſam. Er ſtand ſtill und fragte: Was
iſt es denn, Caspar? — Nein, verſetzte der Spiel-
mann, indem er ſeinen Leierkaſten über den Rücken
warf, hier kann es nicht geſchehen, ſondern an
Ort und Stelle muß es veroffenbart werden.


Er ging dem Sammler auf dem Wege, der
nach dem Hofe des Schwiegerſohnes führte, voran,
bog jedoch einige hundert Schritte von dieſem
Hofe in einen Seitenpfad ein, der zwiſchen Erd-
wänden vertieft unter hohen Rüſtern dunkel fort-
lief. Nicht weit hinein kreuzte den erſten Pfad
ein zweiter. Er war noch dunkler, weil ihn noch
höhere Bäume überſchatteten.


An dieſem Kreuzwege, der einſam und ſchauer-
lich zwiſchen den Erdwällen, Rüſtern, zwiſchen
Brombeergebüſch, Nachtſchatten und Schierling lag,
ſetzte der Spielmann ſeinen Leierkaſten ab, bog
einen Brombeerbuſch zurück, ſo daß ein großer
Stein entblößt wurde, kniete vor dem Steine
nieder und ſagte dann, halbrückwärts nach dem
Sammler gewendet: Hier war’s.


[44]

Der Sammler, welcher glaubte, der Patrio-
tencaspar werde dort etwas für ihn aus der Erde
ſcharren, trat dicht zu ihm hin, ſenkte ſeinen Kopf,
ſo daß er faſt die Schulter des Knienden berührte
und fragte eifrig: Was? Was?


Der Patriotencaspar ſah ihm, mit dem Auge
unſtät zwinkernd in das Geſicht und ſagte heiſer
und gedämpft: Hier habe ich einſtmals des Hof-
ſchulzen ſeinen Sohn, den Fritze, todtgeſchlagen.


Ein Knabe, der von einem Strauche eben
eine leckere Beere pflücken will und dem unver-
ſehens unter dem Strauche eine Natter mit fun-
kelnden Augen entgegenziſcht, kann nicht erſchreck-
ter zurückfahren, als der alte Schmitz bei dieſer
Eröffnung vor dem Patriotencaspar zurückfuhr.
Den Blick ſtarr auf ihn heftend und rückwärts
vor ihm weichend, als fürchte er, einem geſtändi-
gen Mörder ſeinen Rücken Preis zu geben, ent-
fernte er ſich bis in die entgegengeſetzte Ecke des
Kreuzweges. Dort blieb er ſtehen, den Patrioten-
caspar immer in das Auge gefaßt, unſchlüſſig, ob
er nun ſich wenden, ſo fortgehen und dadurch den
gefährlichen Menſchen aus ſeinem beobachtenden
Blicke verlieren ſollte.


[45]

Der Patriotencaspar ſeinerſeits richtete ſich an
dem Steine empor. Als er bemerkte, welchen Ein-
druck ſeine Worte auf den einzigen Gönner mach-
ten, den er beſaß, nahm ſein Auge einen weh-
müthigen Glanz an, und in der verwüſteten Stimme
zitterte etwas wie Trauer, als er ſo ſprach: Ach,
mein lieber Herr Schmitz, warum fürchten Sie
ſich doch vor mir? Ich bin ja ein armer, zer-
lumpter, von Hunger entkräfteter Menſch. Sehen
Sie, da kehre ich meine Taſchen um, und es iſt
nichts darin, weder Meſſer, noch Hammer noch
ſonſt etwas, womit ich Sie erſtechen oder erſchla-
gen könnte. Wenn Sie ſich aber vor meinen
Fäuſten fürchten, ſo will ich da mit meinem Hals-
tuche ſie binden, ſo daß Sie ganz ſicher ſeyn kön-
nen, daß Ihnen kein Leid von mir widerfährt.
Ich wollte Ihnen bloß die alte Geſchichte erzählen
und Sie um eine Güte und Gefälligkeit bitten.


Der Sammler, der ſich noch immer nicht zu
faſſen wußte, ſagte: Ich glaube, Ihr ſeid betrun-
ken, Caspar.


Nein, Herr Schmitz, wüßte nicht, woher das
kommen ſollte, indem ich wenig genoſſen habe,
verſetzte der Patriotencaspar. Ich wiederhole Ihnen
[46] in der Nüchternheit: Hier habe ich des Hofſchulzen
ſeinen Fritze todtgeſchlagen. Es iſt aber lange her
und Gras iſt darüber gewachſen. Indeſſen will ich
mein Recht über dieſe That haben, denn nunmehr
iſt die Stunde dazu gekommen, nachdem ich mei-
nem Feinde und Ueberwältiger den Tort gethan
habe, den er verdiente, und dazu ſuche ich Ihren
Rath und Beiſtand, weil Sie ein Schriftgelehrter
ſind und mir mitunter eine Gütigkeit erwieſen haben.


Der klagende und ſanfte Ton, womit der Pa-
triotencaspar dieſes vorbrachte, flößte dem alten
Schmitz Muth ein. Neugierig, wie er von Natur
war, empfand er ein Verlangen nach den Dingen,
die einen Menſchen bewegen konnten, über einen
verſchollenen Frevel zum Ankläger wider ſich zu
werden. Der Patriotencaspar ſchwieg aber, ſenkte
ſeinen Blick und ſchien eine Aufmunterung erwar-
ten zu wollen. Endlich ſagte der Sammler: Ich
habe wohl vor Jahren davon gehört, daß ein Sohn
des Hofſchulzen plötzlich zu Tode gekommen ſei;
es hieß aber damals, er ſei mit der Stirn auf
einen Stein aufgeſchlagen.


Ja, ſo hieß es damals, verſetzte der Patrio-
tencaspar. Mit der Stirn ſchlug er allerdings
[47] auf einen Stein, und zwar auf dieſen da, neben
welchem ich ſtehe, allein nicht von ſelbſt, ſondern
von einem Anderen mit der Fauſt gegen den Stein
geſtoßen, und wer ihn ſo lange mit der Fauſt
gegen den Stein ſtieß, bis die Hirnſchaale zer-
barſt, das war ich.


Alſo hatte doch jenes zweite alte Gerücht, was
auch im Stillen hie und da umherlief, Recht! ſagte
der Sammler. Aber wie kam es, daß die Geſchichte
nicht angezeigt und den Gerichten überwieſen wurde?


Das hängt mit dieſem meinem ausgeſchlagenen
Auge, mit des Hofſchulzen ſeinem Hochmuth und
mit dem Freiſtuhl da droben an jenem Berge zu-
ſammen, ſagte der Spielmann.


Der Sammler verſetzte: Bringt Eure Geſchichte
ordentlich und im Zuſammenhange vor, Caspar.
Denn aus dieſen zerſtückelten Reden kann ſich Nie-
mand vernehmen.


Der Patriotencaspar erzählte hierauf an dem
Mordſteine ſtehend, dem alten Schmitz, welcher
ihm gegenüber an der anderen Seite des Kreuz-
weges ſtehen blieb, Folgendes:


Herr Schmitz, in den Geſchichten, die ich da
auf meinem Leierkaſten feil habe, kommen mitunter
[48] auch Sachen vor von Leuten, die Ihresgleichen
ächteten und von ſich ausſtießen. Als zum Bei-
ſpiel; Einen trieben ſie vor dieſem aus, weil er
gar zu gerecht war, und ein General wurde zu
alten Zeiten verbannt, weil ſie ihm nachſagten,
er mache den armen Leuten das Brod theuer, und
dann gab es auch wieder einmal einen Herzog,
der geächtet wurde, weil er ſeinen Freund nicht
hatte verlaſſen wollen. Dieſe armen elendigen
Verbannten führten ein jämmerliches Leben. Mei-
ſtentheils iſt zwar dergleichen nur bei großen Herren
und vornehmen Standesperſonen vorgekommen, aber
auch unter dem Bauerſtande kann ſich die Sache
zutragen, und mit mir hat ſie ſich begeben.


Herr Schmitz, ich war zu meiner Zeit ein
flinker, anſtelliger Kerl und hatte mehr Witz als
aller der Bauerpöbel hier herum zuſammengenom-
men. Sah auch recht gut aus —


Ei, fiel der Sammler ein, Ihr habt ja ſtäts
eine hohe Schulter gehabt, Caspar.


Das thut nichts, erwiederte der Patriotencaspar,
demohnerachtet kann man doch ſchön ausſehen. —
Sah alſo recht gut aus, ehe ich das eine Auge
verlor und in die Hungersnoth verſank, hatte was
[49] erlebt draußen als junger Menſch. Denn, wie
Sie wiſſen, war ich dabei, als die alte Orange
in Schonhoven vermoleſtirt wurde und kam auch
nach Gorkum und Nieuuwport mit den Patrioten
dazumal. Ich ſchor mich den Teufel um den
Krimskrams hier unter den Bauerkerls, ſagt’ ihnen
oft die Wahrheit über ihre Einfalt und es ſetzte
ſchon gleich zu Anfang viel Streit und Wortwech-
ſelung mit ihnen. Es gab nie keinen Vertrag
mit ihnen recht, denn ſie konnten es mir nicht
verzeihen, daß ich klüger war als ſie und gewitz-
ter. Alſo gut; wie ich meine vollen Jahre erreicht
hatte, trat ich das Colonat an, denn Sie müſſen
wiſſen, daß der Windkotten uns gehörte, mir und
meiner Familie; ein recht hübſches Erb mit Feld,
Baumgarten und Wieſenwachs, was nachgehends
freilich parcellirt worden iſt, und das Haus hat
der Jude abbrechen laſſen, der das Ganze zuletzt
kaufte, ſo daß ich ſelbſt kaum noch weiß, wo die
Stätte gelegen hat.


Wie ich nun ſo Colon und Hofesbeſitzer war,
da ging der rechte Verdruß erſt an, Herr Schmitz.
Denn ich konnte es gar nicht vertragen, daß die
Großen beſſer ſeyn wollten, als wir Kleinen und
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 4
[50] daß ſo ein Hofſchulte es wie eine Gnade anſah,
wenn er mit einem Kötter trank. Denn ich dachte:
Ich baue ſo gut mein Feld, wie Ihr, was habt
Ihr denn alſo voraus? Ich ſetzte mich alſo dreiſt
zu ihnen, wenn ich im Kruge mit ihnen zuſammen-
traf, ich ſprach bei ihnen ungefordert ein. Wenn
ich an einem der Großen vorüberging, that ich
ſo als müſſe er mich zuerſt grüßen, und meinte,
es wohl mit ihnen durchſetzen zu können. Aber,
Herr Schmitz, man ſetzt dergleichen mit den Men-
ſchen nicht durch, denn man iſt immer nur Einer
und ſie ſind Viele, und das hält zuſammen wie
Pech und Schwefel. Grob behandelten ſie mich,
wenn ich ſie beſuchte, im Kruge rückten ſie von
mir weg, und wollte ich von ihnen auf Landſtraße
und Nachbarweg zuerſt gegrüßt ſeyn, ſo lachten
ſie mir unter die Naſe und Keiner lupfte den
Hut. Von Allen aber war der Hofſchulze im
Oberhofe der Gröbſte und Stolzeſte und Schlimmſte;
denn er iſt immer unmenſchlich reich geweſen und
hat großes Anſehen von jeher gehabt.


Alſo, Herr Schmitz, den Hofſchulzen nahm ich
mir apart auf’s Korn und dachte: Du ſollſt mir
daran glauben. — Er hatte aber eine Tochter aus
[51] erſter Ehe, denn drei Frauen hat der alte Kerl
begraben laſſen und zum letztenmal, woraus nun
die iſt, die geſtern Hochzeit machte, freite er, wie
er ſchon ziemlich in den Jahren war. Die Tochter
ſah recht gut aus, und ich war ihr auch recht
gut, aber die Hauptſache, daß ich mich an ſie
machte, war doch der Stolz, und weil ich mir einbil-
dete, ich könne Alles durchſetzen, was ich wolle,
und werde das Mädchen ſchon ’rumkriegen, wenn
ich es nur recht anzufangen wiſſe. Ich hatte ſchon
gemerkt, daß ſie auf Tänzen und Kindelbieren
nach mir hinhörte, wenn ich ſo erzählte von mei-
nen Fahrten, und darauf baute ich meinen Rath-
ſchlag und ſah ſie unaufhörlich ſtarr an, wenn ich
ihr nahe kam, ſo daß ſie nicht wußte, wo ſie die
Augen laſſen ſollte. Fing auch an, mich über
mein Vermögen ſchön zu kleiden, das beſte licht-
blaue Tuch mußte ich zum Rocke haben und ließ
mir an die Jacken ſilberne Knöpfe ſetzen, die kein
Anderer von den Colonen hatte, wodurch ich in
Schulden gerieth. Eines Sonntages geht die
Magdalis an mir vorüber, wie ich beſonders
herausgeputzt war und ſagt: Ihr zieht Euch doch
an, wie Keiner ſonſt, Caspar. — Das geſchieht
4*
[52] ganz allein um Euch, Magdalis, antwortete ich,
und wenn ich all mein Hab und Gut zuſetzte, ſo
wollte ich mich noch ſchöner kleiden, wofern es
Euch nur gefiele. — Sie wurde roth und damit
hatte ich ſie weg. Denn wenn man den Mädchen
ſagt, daß man um ihretwillen einen neuen Rock
angezogen hat, ſo ſind ſie caput.


Alſo die Sache kam in Gang und ich will Sie
damit nicht aufhalten, Herr Schmitz. Genug, die
Magdalis gab zu, daß ich an ihr careſſiren durft’,
und war Alles bald zwiſchen uns in Richtigkeit,
wie es die Ordnung iſt unter Liebesleuten. Auch
die Magdalis dacht’ in ihrer Dummheit, daß der
Vater, weil es einmal ſo weit gekommen, werd’
ein Auge zudrücken müſſen. Deßhalb nahmen wir
beiden Gimpel die Abſprache zuſammen, daß ich
um ſie anhalten ſolle. — Aber — da kam ich ſchön
an, Herr Schmitz, wie ich die Sache vortrug bei
dem Alten. Denn ſelbſt mußte ich ſie vortragen;
ein Freiwerber wollte ſich dazu nicht verſtehen.
In meinem Leben iſt mir kein grimmigerer Menſch
vorgekommen, als der Hofſchulze, wie er ſich benahm,
da ich meinen Spruch herausgeſagt hatte. Ich
wurde mit einem ſolchen Zorn und Hohn ange-
[53] laſſen, daß mir die Knochen bebten vor Aergerniß.
Es fehlte nur, daß er mich fortpeitſchen ließ, und
noch heut am Tage weiß ich nicht, wie ich vom
Hofe gekommen bin.


Gut, dachte ich, willſt du ſie mir nicht zur
Frau geben, ſo ſoll ſie — — Der Alte hielt ſie
eingeſperrt und ſein Sohn, der Fritze, auch aus
der erſten Ehe, paßte mir auf. Aber man kann
die Leute ſchon belauern, wenn man nur will.
Was nicht bei Tage geht, das geht bei Nacht,
und darf man nicht zur Thür ’rein, ſo ſteigt man
über die Mauer. Ich war denn alſo alle Nächte,
die Gott werden ließ, bei der Magdalis, zu der
ich durch das Fenſter gelangte. — Doch ſie kamen
dahinter, Herr Schmitz, der Alte und ſein Sohn.
Und nun machten ſie zuſammen einen Plan auf
mich, mir aufzulauern und mir das Leben zu
nehmen.


Das iſt nicht wahr, unterbrach hier eifrig der
alte Schmitz die Erzählung. Der Hofſchulze iſt
ein eigenſinniger Mann, aber Schlechtigkeiten hat
er nie getrieben.


Nun dann hat es der Junge, der Fritze, auf
ſeine eigene Hand gethan, ſagte der Patrioten-
[54] caspar. Genug, ich weiß, was ich weggekriegt
habe bei der Gelegenheit. Alſo, Herr Schmitz,
eines Abends, wo es ganz dunkel war und ein
ſchweres Unwetter heraufzog, komme ich auch von
meinem Erb da herüber meinen gewöhnlichen Weg
geſchritten. So höre ich da, wo Sie jetzt ſtehen,
Herr Schmitz, etwas raſcheln in der Dunkelheit,
und ehe ich noch meine Gedanken zuſammennehmen
kann, ſpringt Das ohne einen Laut von ſich zu
geben, auf mich zu, und ich habe einen Schlag
mit einem Knüppel über den Kopf und einen Stoß
in das linke Auge weg, daß mir beinahe Hören
und Sehen vergeht. Im Auge iſt’s mir, als ob
ein Dutzend Meſſer darin umgedreht würden, Naſſes
läuft mir über die Backe — ich aber denke, hier
geht’s noch um Haut und Haar, iſt’s Auge ſchon
weg — und kriege meinen Cujon zu packen, und
reiße ihm den Knüppel weg, denn, Herr Schmitz,
ein Menſch, dem ſie das Auge ausſchlagen, hat
fürchterliche Kräfte — und gebe ihm die Erwiederung
auf ſeinen Schädel, daß er aufgrölzt und ich an
der Stimme den Fritze erkenne. Er bettelt um
Gnade, aber ich ſchreie: Meine Gnade ſollſt du
gleich ſpüren! reiße ihn in die Höhe; du verfluch-
[55] tiger Augenmörder! rufe ich, und ſtoße ſo lange
den Bengel mit dem Kopf gegen den Stein hier,
bis er ſtumm wird. Einen Ohrring hatte ich ihm
bei der Balgerei abgeriſſen (denn er trug welche)
den hielt ich in der Hand, wußte nicht, was da-
mit anfangen, konnte ihn freilich nur wegwerfen,
aber der Menſch iſt bei ſolcher Gelegenheit wie
von ſich; unter dem Stein habe ich den Ring ver-
ſcharrt, ſoll mich wundern, ob er noch da liegt?


Der Patriotencaspar, welcher den letzten Theil
der Erzählung mit ſo lebendigen Gebärden vorge-
bracht hatte, daß ſeinem alten Zuhörer ein Schau-
der über die Haut rieſelte, wälzte trotz ſeiner
anſcheinenden Kraftloſigkeit den Stein hinweg, kratzte
etwas in der Erde darunter und zog mit einem
gellenden Freudengeſchrei, als habe er den köſtlich-
ſten Schatz entdeckt, einen Ohrring hervor, der
nicht verroſtet war, weil er ſtark vergoldet gewe-
ſen ſeyn mochte. Ei, wie ſo ein Ding übrig
bleibt, wenn der Menſch längſt verrottet iſt! rief
er, und gab den Ring dem alten Schmitz, der ihn
nur zagend annahm.


Als ich nun dem Fritze das Seinige gereicht
hatte, ließ ich ihn liegen und ging nach Hauſe,
[56] Herr Schmitz, fuhr der Patriotencaspar fort. — Es
war nun ſtarkes Unwetter geworden und bei dem
Donnern und Blitzen unterweges wurde mir grau-
lich zu Muthe. Ich dachte: Die Magdalis erwartet
dich in ihrer Kammer, und ihr Bruder liegt da
todt am Kreuzweg, und der Hofſchulze ſchläft
und läßt ſich nichts träumen, und du gehſt über
das Stoppelfeld. — Zu Hauſe nahm freilich der
gräuliche Schmerz im Auge alle meine Beſinnung
weg, und nur unterweilen konnte ich mir vorſtellen,
daß ſie mir nun vielleicht den Kopf abſchlagen
würden. Es kam aber Alles ganz anders, Herr
Schmitz.


Den anderen Tag ließ ich den Feldſcherer holen,
und der ſagte mir, daß das Auge heidi ſei, denn
mit uns Bauersleuten machen die Doctors nicht
viele Umſtände. Na, das Auge lief auch wirklich
aus, Herr Schmitz, und ſchrumpfte weg und ich erwar-
tete alle Tage die Gerichte im Erb, die mich ab-
holen würden, denn fliehen mochte ich nicht. Aber
keine Gerichte kamen.


Dagegen kam ein Kerl, der der Frohnbot hieß,
von wegen des Dings droben unter den drei Linden,
und ſagte, ich ſei geheiſchen und geladen zum Stuhl,
[57] ſie wollten’s unter ſich abmachen, und ich ſollt’ Rede
und Antwort ſtehen. Ich rief: Er ſollte ſich zum
Teufel ſcheren, ſie könnten mir dieß und das thun,
dem Amtmann ſei ich Rede und Antwort ſchuldig.


Wie ich nun zum erſtenmale den Kopf wieder
aus dem Loch hervorſtrecke, höre ich curioſe Ge-
ſchichten. Der Alte hat ſeinen Sohn gleich nach-
dem die Leiche gefunden worden, begraben laſſen
und überall geſagt, der Junge ſei ſpät nach Hauſe
gegangen und habe einen böſen Fall gethan. Keine
Anzeige hat er gemacht und Alles bleibt ſtill von
der Sache, und kein Amtmann und kein Criminal
bekümmert ſich um mich. Ja, was ſoll das bedeu-
ten? denke ich.


Ich konnte es aber bald ſpüren, Herr Schmitz.
Es war mir ſchon auffällig geweſen, daß während
meiner Wehtage nicht eine Menſchenſeele nach mir
fragte, denn wenn ich auch nicht viele Freunde
hatte, ſo beſuchte mich doch jezuweilen ſonſt Einer
oder der Andere. Aber da ſaß ich ganz allein
und verlaſſen, und zuweilen that mich nicht nur
meine wunde Augenhöhle ſchmerzen, ſondern ich
heulte auch mit dem geſunden Auge meine bitteren
Thränen. Als ich nun wieder ’naus ging, ſo wollte
[58] ich, weil ich nicht verfolgt wurde, bei einem Nach-
bar vorſprechen, aber der ſchob zur Hinterthüre
hinaus, als ich in die Vorderthüre trat. Im
Kruge rückten ſie ziſchelnd zuſammen, als ich kam
und riefen den Wirth bei Seite und ſprachen ſacht
mit ihm und der kam dann zu mir und ſagte:
Caspar, Ihr könnt nicht verlangen, daß ich um
Euretwillen meine Nahrung einbüße. Sie wollen
nicht mehr bei mir ſitzen, wenn ich Euch zapfe. —
Nicht mehr bei Euch ſitzen? fragte ich wild. —
Still! rief er. Ich will’s Euch heute Abend
offenbaren, Ihr habt mir manchen Thaler zu ver-
dienen gegeben, und darum kann ich Euch den
Gefallen wohl thun. Kommt heute Abend, wenn
Alles zur Ruhe iſt, her, da ſag’ ich’s Euch.


So ging ich denn den Abend, wie Polizei-
ſtunde geboten war, und Niemand mehr in der
Stube ſaß, zu ihm. Und da erzählte er mir,
daß der Hofſchulze über den Tod ſeines Jungen
mit den Anderen zuſammen geweſen ſei droben
am Freiſtuhl, und habe geſagt, er wolle keine
Anzeige wider mich machen, und Keiner ſolle es
thun, aber er habe mich mit ſeinem Schwert von
Carolus Magnus verfeimt und geächtet, und die
[59] Sache ſei ſchon durch die Bauerſchaft und weil
die Großen drin einig ſeien, ſo ſeien die Kleinen
auch nicht dawider und ſei ich alſo nun aus dem
Frieden und aus der Freundſchaft geſetzt bei Allen.


Ich lachte und rief: Was ſcheer’ ich mich um
Euren Frieden und um Eure Freundſchaft! —
Aber ich hatte übel gelacht, Herr Schmitz. Keine
Anzeige kam wider mich bei den Gerichten ein,
was damals leicht möglich war, denn der große
Krieg war eben im Gange, und Alles lief bunt
über Eck, und als es wieder ruhig worden, war
die Sache ſchon alt; jedoch ein Verfeimter war
ich und ein Verfeimter blieb ich, und das war
böſer als Verhör und Urtheil. Herr Schmitz,
das Menſchenkind kann Alles ausſtehen, Noth und
Krankheit und Feuersbrunſt und Gewaltzwang,
aber von ſeines Gleichen verſtoßen ſeyn, das kann
das Menſchenkind nicht ausſtehen. Denn der Vo-
gel fliegt mit ſeines Gleichen, und der Hirſch geht
in Rudeln und der Fiſch im Waſſer ſchwimmt
ſelbzwanzig dahin und dorthin, ſelbſt der Wolken
wandern immer mehrere zuſammen, wie ſollte das
Menſchenkind es allein beſtehen können? — Sie hiel-
ten’s, was ſie oben am Freiſtuhl ausgemacht.
[60] Und die Kleinen mußten’s ihnen nachthun. Wenn
ich mir Stroh und Korn borgen wollte, wie der
Fall ſeyn kann in jeder Wirthſchaft, kriegte ich
nichts; einmal brannte meine Scheure, die ließen
ſie brennen und kamen mit der Spritze, als nur
noch die Trümmer rauchten, und wenn ſie an
meinem Erb vorbeigingen, ſo greinten ſie höhniſch
und ſpuckten aus, und wenn ich ſelbſt zu ihnen
trat, ſo wieſen ſie mir den Rücken. — Das fraß
mir in’s Herz hinein und ich ſagte: Ich will’s
Euch Allen zuvorthun, daß Ihr Seelenverkäufer
die Kränke vor Aerger kriegt und will mir Geſell-
ſchaft und Cameraden aus der Stadt halten. Zechte
alſo brav auf meine eigene Fauſt, ließ mich mit
Menſchen in der Stadt ein, Schreibersgehülfen
und Ladenburſchen und ſo dergleichen, gab denen
große Tractamente auf dem Erb. Aber es wollte
mir dergeſtalt nicht ſchmecken, Herr Schmitz, und
wenn ich noch ſo viele luſtige Schreibergehülfen
und Ladenburſchen bei mir hatte, ſo würgte es
mir in der Kehle, weil ich immer dachte: Sie ſind
doch nicht deines Gleichen. Natürlich gerieth ich
auch durch die Lebensart tief in die Schulden hin-
ein; auf einmal kam mir nun der Jude, der mir
[61] vorgeſchoſſen hatte, über den Hals und ließ mir
das Erb anſchlagen. Ich wurde heruntergepfändet
und hatte dann die Erde zum Lager und den Him-
mel zum Dach. Und ſo bin ich denn nach und
nach, Herr Schmitz, zu dem Leierkaſten, in dieſe
Lumpen, in den Hunger und in die Kälte gera-
then, und ſo ein räudiger Bettelhund geworden,
wie Sie mich da ſehen.


Der arme und jämmerliche Menſch ſah nach
dieſer Erzählung mit dem Blicke eines ſo kalten
und bodenloſen Elendes vor ſich hin, daß es den
alten Schmitz, der von Natur weichherzig war,
erbarmte. Er begriff nun wohl, daß er von dem
unglücklichen Mörder nichts zu befürchten habe,
trat ihm daher näher und ſagte: Ich faſſe noch
nicht recht den Grund, weßhalb der Hofſchulze
Euch den Gerichten entzog, denn, wenn ich auch
ſonſt wohl einſehen kann, warum er mit ſeinem
Freigerichte handthiert, ſo hätte ihm in dieſem Falle
Eure öffentliche Verurtheilung doch eine größere
Genugthuung gegeben.


O, rief der Patriotencaspar, das iſt eben die
ausbündige Bosheit des alten Blutſauger’s! — Er
raufte ſeine buſchichten Augenbraunen. — Denn
[62] wie ich nachgehends gehört habe, ſo ſind Zeugen
geweſen, zu denen der Bengel, der Fritze, ſich
berühmend geſagt hatte, er wolle mir an dem
Abende auflauern. Nun war der dicke Knüppel
neben dem Todten gefunden worden und mein Auge
war doch auch weg, alſo folglich konnte ich mich
auf Nothwehr berufen, und den Kopf hätten ſie
mir nicht ’runter gehauen, ſondern ich wäre ver-
muthlich mit etwas Gefängniß davon gekommen.
Das ſah der alte Satan voraus und deßhalb
wollte er mich auf ſeine eigene Hand für Zeit-
lebens unglücklich machen. Ich habe aber auch eine
Wuth auf ihn gehabt die Jahre her bei meinem
Leierkaſten, Herr Schmitz, ich kann Ihnen nicht
ſagen, was für eine Wuth. Und lange konnte
ich ihm nicht beikommen, aber nun — —


Pfui, ſagte der alte Schmitz. Schämt Euch,
Caspar, wer wollte ſo rachgierig ſeyn!


Der Patriotencaspar ſtürzte ſeinem Gönner
zu Füßen, umſchlang die Kniee des alten Mannes
mit ſeinen hageren und haarichten Fäuſten, als wollte
er ihn um Verzeihung für ſeine Sinnesart bitten
und rief mit hohlem zerreißendem Tone: O Herr
Schmitz! Rachgierig muß der Menſch ſeyn, wenn
[63] ſie ihm Alles genommen haben, ſonſt verkömmt
er gar. Ich wäre längſt verhungert, aber ich fraß
meine Rache, und ſo blieb ich leben. Es ſteht
wohl geſchrieben: Segnet, die Euch fluchen, aber
es giebt Keinen, Keinen auf Erden, für den es
geſchrieben ſteht, zum wenigſten keinen Unglück-
lichen.


Nun, und was ſoll ich mit dieſer ganzen ſon-
derbaren Geſchichte anfangen? Was treibt Euch,
ſie gerade mir und jetzt zu erzählen? fragte der
Sammler.


Der Patriotencaspar erhob ſich und ſagte:
Herr Schmitz, ich will nun mein Recht haben.
Ich habe mein Herze befriedigt und nun will ich
mein Recht deßgleichen haben. Ich will nicht län-
ger unter dem Banne von meines Gleichen leben,
ſondern mein Urtel haben von den Gerichten des
Königs. Ihnen habe ich die Sache erzählt, weil
Sie ſich doch auch auf Amtsſachen verſtehen, damit
Sie ein hübſches und richtiges Protocoll aufneh-
men, worin Alles gehörig ſteht von Nothwehr und
von den Zeugen, denen der Fritze geſagt hat, er
wolle mir auflauern, (denn es leben ihrer noch
Einige;) damit mir nicht der Kopf abgehauen wird.
[64] Dazu habe ich keine Luſt, aber ſitzen will ich ein
Paar Jahre recht gerne. Im Gefängniß betrage
ich mich ordentlich, mache mir Ueberverdienſt,
komme mit einem guten Atteſtat vom Director
zurück, lege von meiner Sparſumme einen Win-
kel *) an, und dann ſoll das Donnerwetter dem
in die Eingeweide fahren, der mich noch ferner
hohnnecken oder verachten will!


Alſo, Herr Schmitz, thun Sie mir die Ge-
fälligkeit, das Protocoll zu ſchreiben, ich will dann
drei Kreuze darunter ſetzen und es ſelbſt in die
Gerichte tragen.


Der Sammler ließ ſich das Jahr, worin die
Mordthat vorgefallen war, nennen. Er dachte
nach und ſagte dann: Caspar, das Protocoll
würde keinen Erfolg haben. Die Sache iſt verjährt.


Was heißt das: Verjährt?


Das heißt: Ihr mögt über die Sache angege-
ben werden, oder Euch ſelbſt angeben, ja, ihr
mögt, wie Ihr thut, die Strafe begehren, ſo
wird dem keine Statt gegeben, denn nach dem Ab-
laufe von dreißig Jahren iſt eine Unthat ab und
[65] todt vor dem Richter. Ihr müßt alſo Euer Ge-
ſchick ſchon ſo nehmen, wie es einmal liegt und
es bis an Euer Lebensende tragen.


Er ging an dem Todtſchläger vorüber, gab ihm
den ſilbernen Ring, da dieſer bei näherer Betrach-
tung ihm nichts Merkwürdiges gezeigt hatte, zu-
rück und entfernte ſich. Der Geächtete ſtand be-
troffen, ſann über die Verjährung und konnte
darin durchaus keinen Sinn finden. Alſo, ſagte
er endlich, meine Gedanken an die Miſſethat muß
ich behalten und bis in jene Ewigkeit mit hin-
überſchleppen; aber wenn ich mit meinem Fell die
Sache büßen will, ſo geht das nicht mehr an,
weil dreißig Jahre vorüber ſind! —


Ein Lärmen, der ganz in der Nähe entſtand,
unterbrach ſein Nachſinnen und machte ihn aufmerk-
ſam. Kaum zwanzig Schritte vom Kreuzwege
kamen auf dem Wege vom Oberhofe Menſchen ge-
laufen und Andere begegneten ihnen, die vom
Hofe des Eidams gegangen kamen. — Wißt Ihr’s
ſchon? fragten die vom Oberhofe überlaut. —
Was denn? verſetzten die Anderen. Ihren Weg
eiligſt nach dem Jürgenserbe fortſetzend, riefen Die
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 5
[66] vom Oberhofe: Der Hofſchulze hat eine Ueber-
fahrung! *)


Das wäre der Henker! riefen die Erſten und
liefen nach dem Oberhofe zu.


Der Patriotencaspar fletſchte die Zähne, ſprang
wie unſinnig auf dem Mordplatze umher und ſchrie:
Heiſa! Heiſa! So iſt’s recht. Die Tochter machte
ich Dir zur Hur’, den Jungen zu Brei, und dich
macht’ ich nun zunicht! Ihr ſollt erfahren, was
es heißt, geringere Leute verachten! Könnt’ ich
jetzt mein Protocoll aufgenommen kriegen, wäre
ich ganz zufrieden!


[67]

Viertes Capitel.
Der Hofſchulze kommt wieder zu ſich und
Lisbeth ſchreibt an den Diaconus
.


Auf der Kammer, worin er das Schwert Karl’s
des Großen verwahrte, ſaß oder lag der Hoſſchulze
blaß und halbbetäubt neben der eiſenbeſchlagenen
Kiſte. In dieſem Zuſtande war er von einer Magd,
die vor der Kammer vorbeiging, gefunden worden,
kurz nachdem er ſich die Treppe hinauf begeben
hatte. Sie war erſchreckt hinuntergeſprungen und
hatte von dem Vorfalle Lärmen gemacht, den einige
Vorübergehende weiter trugen.


Die Magd kehrte mit Eſſig zurück und beſtrich
ihres Brodherrn Schläfe. Das einfache Mittel
brachte ihn auch bald wieder zu ſich ſelbſt, denn
der Schlagfluß war eine Vergrößerung des Unfalls,
der den alten Bauer betroffen hatte. Er war nur
von einem Schwindel und von jener Betäubung
5*
[68] befallen worden, wie ſie die Folgen eines plötz-
lichen großen Schrecks zu ſeyn pflegen, beſonders
bei alten Leuten. Als er von dem ſcharfen Ge-
ruche des Eſſigs wieder erwachte, hob er ſich,
ohne daß ihn das Mädchen zu unterſtützen brauchte,
ſogleich ſtrack auf ſeine Füße, fuhr mit der Hand
über die Stirn und warf ſeinen erſten Blick in
die Kiſte, deren Deckel aufgeklappt war. Mit
einer Miſchung von Entſetzen und Kummer kehrte
aber der Blick des alten Mannes in ſich zurück;
er klappte haſtig den Deckel zu, als wollte er den
Verluſt ſeines Theuerſten jedem Auge verbergen
und trieb die Magd an, ihn zu verlaſſen. Dieſe
fragte zwar, was dem Baas zugeſtoßen ſei, erhielt
jedoch keine andere Antwort von ihm, als, daß
ihn eine plötzliche Schwäche, vielleicht von dem
vielen Plaiſir, welches geſtern und heute geweſen,
angewandelt habe.


Als er auf der Kammer allein war, ſtand der
Hofſchulze erſt eine geraume Zeit mit übereinander
geſchlagenen Händen ohne ſich zu regen, da. Dann
ſetzte er ſich auf die Kiſte und nahm ſeinen Kopf
in beide Hände, um alle Winkel des Gedächt-
niſſes zu durchforſchen. Darauf erhob er ſich,
[69] öffnete abermals die Kiſte, wie wenn er es nicht
für möglich halte, daß das Schwert daraus habe
verſchwinden können, ließ aber augenblicklich den
Deckel zufallen, da er wohl ſah, daß er nur in
die Leere blicke, und ſtöhnte wie ein verwundeter
Stier.


Nach dieſem begann der Alte ein ſtummes
eifriges Suchen in der Kammer. Er kehrte jedes
Geräth um, er durchſpürte jeden Winkel, er leerte
alle Kiſten und Kaſten aus, welche dort vor und
hinter dem Saatlaken umherſtanden. Kein Platz
blieb undurchforſcht, aber alle dieſe Mühe war
vergebens, denn das Schwert zeigte ſich nirgends.
Indem hörte er unten die Stimme ſeines Eidams
und ſeiner Tochter, ſo wie der Freunde und Nach-
barn, welche von der Tanzgeſellſchaft herbeigekom-
men waren, um nach ihm zu ſehen. Raſch ver-
ließ er die Kammer, um nicht in ſeinen Anſtren-
gungen betroffen zu werden und ging hinunter,
ſcheinbar gefaßt. Dort ſtellte ſich Alles mit Fra-
gen nach ſeinem Befinden um ihn, worauf er die-
ſelbe Antwort gab, welche ſchon die Magd empfan-
gen hatte und hinzufügte, daß ihm wieder ganz
wohl ſei. Er bat die Leute, ſich in ihrer Luſt-
[70] barkeit nicht ſtören zu laſſen und wieder zum Tanze
zurückzukehren; eine Aufforderung, welcher Mehrere
folgten, Andere aber auch nicht. Dieſe blieben
vielmehr im Hofe, weil ſie an dem Tanze kein
Vergnügen hatten, es kamen noch fortwährend
Leute vom Jürgenserbe und ſo war ein beſtändiges
Ab- und Zugehen von Menſchen.


Als nun der Hofſchulze ſah, daß er der Zeu-
gen nicht quitt werde, beſchloß er alles Fernere
auf die Nacht zu verſparen. Er ſetzte ſich ſtill in
ſeine Stube und ſagte dem Eidam, er möge die
Mitgift nach Hauſe tragen, was dieſer auch mit
einem Gehülfen that. Mehrere Nachbarn ſtellten
ſich zu ihm und mit dieſen ſprach er nun ſo ordent-
lich und vernünftig, wie immer ſeine Sitte war.
Niemand merkte ihm etwas an, und nur wer ge-
wußt hätte, was vorgefallen war, würde aus ſei-
nen geſchwollenen Stirnadern, aus den Augen,
die zuweilen hervorquollen, und aus den Griffen,
die der Alte hin und wieder nach ſeiner Bruſt
that, auf das, was in ihm vorging, haben ſchlie-
ßen können.


Während ein ungeheurer Verdruß und Schreck
unten ſich ſo heimlich hielt, hatte auch oben im
[71] Hauſe ein leidendes Kind ſeine Entſchlüſſe reif ge-
dacht. Lisbeth war in ſchweren Körperſchmerzen
den ganzen Vormittag über auf ihrem Lager ge-
blieben und hatte ſich erſt um die Zeit, als ihr
alter Gaſtfreund ſeine troſtloſe Entdeckung machte,
erhoben und angekleidet. Sie war ſo ernſt, bleich
und ſtill, wie am Abend zuvor, da ihre Thränen
verſiegten. Aber dieſe hatten den Augen des
Mädchens nicht geſchadet; ſie leuchteten von einem
faſt überirdiſchen Glanze. Der hohe Berg, auf
deſſen Gipfel ſie im Jubel ihrer Wonne zu ſtehen
gemeint hatte, war unter ihr eingeſunken, und
die rothen Wolken hatten ſich verzogen, aber den-
noch kam es ihr vor, als ſchritte ſie eben ſo hoch
und noch höher einher, und es war ihr, als trü-
gen Lüfte ohne Wolken, aetherreine und aetherklare
ihre Füße.


Sie ſetzte ſich an ihren Tiſch und ſagte mit
einer himmliſchen Zuverſicht im Ton: Ein Find-
ling iſt Gottes Kind. Und wen Vater und Mutter
in der Irre ſtehen gelaſſen haben, den wird Gott
bei der Hand nehmen und nach Hauſe führen. —
Die Schmerzen hatten eine wunderbare Verwan-
delung in ihr gewirkt. Zu ihren ſogenannten Pfle-
[72] gern wollte ſie nimmer zurückkehren. Denn als
ſie, von Leiden, wie von zuckenden Blitzen durch-
wühlt, während der Nacht auch einen Blick auf
ihre Vergangenheit warf, ſo ſah ſie ſchaudernd und
wie von einem ſtrengen Seher erbarmungslos un-
terrichtet, in welchen jämmerlichen und lachens-
dürren Umgebungen ſie gelebt hatte. Sie blickte
in die traurigen und unreinlichen Trümmer hinein,
zwiſchen denen ſie ſo muthfroh und rein geblieben
war, und ſie hätte weinen mögen, wenn ihr noch
eine Thräne übrig geweſen wäre, als ſie nun er-
kannte, daß ein faſelnder alter Mann und eine
halbverwirrte Thörin denn doch die Einzigen ge-
weſen waren, die ſich ihrer angenommen hatten.
In einen Augenblick des äußerſten Entſetzens drängte
ſich eine Ewigkeit von quälenden und widerwärtigen
Vorſtellungen zuſammen — zerriſſen und gepeinigt
wandte ſie den Blick von dieſen unheimlichen Geſich-
ten ab und in die Zukunft, worin freilich die Augen
Oswald’s erloſchen waren und nur noch das Auge
Gottes durch die Finſterniſſe ſtrahlte. — So hatte
das Unglück die ſüße Bewußtloſigkeit, worin das
Kind Jungfrau geworden war, zerſtört, und das Wa-
chen der Wahrheit in der wunden Bruſt geſchaffen.


[73]

Sie ſchrieb einen Brief an den Diaconus. Zu
dieſem hatte ſie großes Vertrauen, und den wollte
ſie zu ihrem Führer wählen. Nach dem Eingange,
in dem ſie ſagte, daß eine ſchmerzliche Aufregung
ſie über ihr Geſchick erleuchtet habe, lautete der
Brief folgendermaßen:


„Sie hätten wohl nicht gedacht, lieber Herr
Prediger, als Sie geſtern die Hand auf mein
Haupt legten, daß Sie von mir heute ſo traurige
Worte hören würden. Wenn ich es Ihnen nur
recht deutlich machen kann, wie mir eigentlich zu
Muthe iſt! Denn wenn Sie das nicht einſehen,
ſo können Sie mir auch nicht helfen. Es iſt aber
gewiß recht ſchwer, ſich deutlich zu machen mit
verwirrtem Kopfe und klopfendem Herzen und be-
bender Hand. Sie ſind jedoch ein ſo guter und
kluger Mann, daß Sie ſich auch vielleicht aus dem
Stammeln eines armen Mädchens vernehmen können.


Ach, lieber Herr Diaconus, es iſt mir außer-
ordentlich übel gegangen ſeit geſtern. Es hatte
wohl geſtern den Anſchein, als könne ich eine
Braut ſeyn, und das will bei einem ſo armen und
verlaſſenen Mädchen, wie ich bin, noch mehr ſagen,
als bei Anderen, die wiſſen, woher ſie ſtammen.
[74] Heute aber bin ich keine Braut mehr, nein gewiß
nicht. Warum ich Keine mehr bin, das kann ich
Ihnen nicht ſagen; ich ſchäme mich zu ſehr. Ihrer
lieben Frau werde ich es anvertrauen, wenn ich
erſt ruhiger geworden bin, ganz in der Stille.


Ein Mädchen, welches kein Kind mehr iſt,
denkt wohl zuweilen an das Heirathen und ſo habe
ich denn auch hin und wieder daran gedacht, ob-
gleich ich wenig Ausſicht dazu hatte. Wenn mir
aber die Vorſtellungen davon kamen und von der
Liebe, ſo war immer das erſte Gefühl, daß
die Liebe die ganze Wahrheit und nichts als Wahr-
heit ſei und zwar die Wahrheit in der Bruſt, und
eine ſolche Offenheit, daß man dem Anderen auch
nicht das Kleinſte verſchweigt. Hätte ich eine
Sünde begangen, wovor mich freilich Gott geſchützt
hat, ſo würde ich meinem Freunde die Sünde
haben beichten müſſen, ehe ich ihm noch meine
Liebe geſtand. Denn wenn zwei Menſchen, wie
es ja lautet, ein Leib und eine Seele werden
ſollen, ſo darf doch auch nicht ein Stäubchen zwi-
ſchen ihnen ſeyn von Verſchweigen, Hinterhalt,
Verſtellung und Künſtelei. Ja, noch offener ſoll
man gegen den Liebſten ſeyn, als gegen Gott, denn
[75] dieſer ſieht ſelbſt ſcharf genug, aber der arme Liebſte
hat ja nicht ſo durchdringende Augen und ſoll uns
doch eben ſo genau kennen, wie Gott, weil er
ſich nicht auf Dieſes und Jenes in uns, ſondern
auf Alles in Allem Zeit ſeines Lebens verlaſſen
muß. Wer mir alſo, wenn er ſagt, daß er mich
liebe, dennoch einen Schein vorweben kann, von
dem muß ich glauben, was ſie mir wider ihn vor-
bringen, und möchte es auch das Allerſchlimmſte
ſeyn. Wer mir ſagt, Herr Diaconus, er ſei ein
armer Förſter und iſt ein großer Graf, der kann
auch noch anderen Lug und Trug wider mich vor-
haben. — Ach Gott! Ach Gott! Zuweilen denke
ich: Es iſt gar nicht möglich, daß ein Menſch, der
ſo gut ausſieht, ſo ſchlimm ſeyn kann! — —


Ich bin eigentlich ganz elend worden, und
wäre in den Schmerzen dieſer Nacht wohl geſtor-
ben, hätte mir nicht mein Stolz geholfen. Weil
ich aber tief gedemüthigt werden ſollte, ſo hat
mich das ſehr ſtolz gemacht, ganz überaus ſtolz.
Nun iſt dieſer Stolz freilich wohl nur Hülfe in
der äußerſten erſten Noth, und deßhalb flüchte ich
mich zu Ihnen. Ich bitte Sie, gönnen Sie mir
eine Freiſtatt in Ihrem Hauſe, Koſten mache ich
[76] Ihnen ja nicht viel und Ihrer lieben Frau kann
ich doch immer etwas helfen. Sie ſind immer
ſehr gut und freundlich gegen mich geweſen und
werden mich gewiß nicht verlaſſen. Nach dem
Schloſſe gehe ich auf keinen Fall zurück, mich
ſchaudert davor. Das war wohl bisher gut ſo
weit, aber nun geht es nicht mehr; nein, nein.
Ich bin alſo wie eine Staude, die vom Boden
abgeſchnitten iſt und weiß noch kein Erdreich, worin
ich wieder wachſen kann.


Daß Sie ſich aber über mich nicht irren, ſo
muß ich Ihnen ſagen, daß ich gar kein Verlangen
nach der Kirche habe, oder nach der Religion,
wenigſtens nicht mehr als ſonſt. Ich habe mir
ſchon Vorwürfe darüber machen wollen, denn man
ſagt ja immer, daß der Menſch im Unglück haupt-
ſächlich viel beten müſſe, aber das muß denn wohl
ein anderes Unglück ſeyn, als meines. Ich fühle
mich als ein ſo ordentliches, unſchuldiges Mädchen,
daß ich nicht begreife, warum ich Gott gerade
jetzt beſonders bitten ſollte, mir beizuſtehen. Son-
dern es iſt über mich verhängt worden, und nun
trage ich es, und er läßt mich gehen in meiner
Weiſe. Auch kann der Gott, von dem gepredigt
[77] wird, einem Herzen nicht helfen, welches ſich
weggegeben hatte und ſich nun wieder zurückneh-
men muß. Dem hilft ſicherlich auch ein Gott,
aber er ſteht in keinem Liede, ſondern ganz tief
im Herzen ſelbſt iſt er verborgen, ſtumm, und
ich glaube, der große Stolz, den ich empfinde, iſt
ſein Kleid.


Haben Sie nur rechte Geduld mit mir, mein
lieber, lieber Herr Diaconus, Sie und Ihre
Frau; Sie ſollen ſehen, die Lisbeth hilft ſich ſchon
heraus, denn von einem Tage zum anderen kann
man doch nicht verloren ſeyn, wenn es gleich den
Anſchein davon hat. Es iſt aber erſtaunlich, was
für Schmerzen der Menſch aushalten kann. Wäre
ich nur katholiſch, ſo ginge ich zu den barmherzi-
gen Schweſtern; es muß eine recht angenehme
Beſchäftigung ſeyn, Zeitlebens die armen Kranken
zu pflegen. Und nehmen Sie mir das ſchlechte
Schreiben nicht übel; es wollte aber nicht beſſer
gehen. Durch den Ueberbringer bitte ich um
Antwort.“


Die Entſchuldigung wegen der Handſchrift
wäre nicht nöthig geweſen; denn die Züge waren
ſo eben und klar, wie ſonſt. Keine Thräne war
[78] auf das Blatt gefallen. Sie ſah ſogar gleich-
müthig aus und alle ihre Züge leuchteten wirklich
von einem wunderbaren Stolze. Sie rief einen
Knaben herbei und ſchickte ihn mit dem Briefe
nach der Stadt.


[79]

Fuͤnftes Capitel.
Lisbeth und Oswald.


Aber ihre ganze Faſſung war hin, als ſie ge-
dankenvoll durch das Fenſter nach den Hügeln
blickend, durch die Nebel einen Mann herankom-
men ſah, eine bekannte Geſtalt. Heftig bedeckte
ſie ihr Geſicht mit den Händen und noch einmal
brach ein Strom der bitterſten Thränen aus den
ſchon erſchöpft geweſenen Augen. Ihre Wangen
wurden eiskalt und ihre Hände ſtarben ab — Ach!
Ach! Ach! war Alles, was die Bruſt, die ſich ſo
grimmig beraubt wähnte, zu ächzen vermochte.
Was ſollte ſie thun? Ihre Seele wurde von der
Verzweiflung in zwei Hälften geſpalten. Ach, das
war er ja immer noch, der da ſo langſam herbei-
geſchritten kam, gewiß, dachte ſie blitzſchnell, gebt
er ſo langſam, weil ihn die Schuld drückt; wie
würde er ſonſt fliegen! Das iſt ſeine Kleidung,
[80] das iſt ſein Gang, das iſt ſein Antlitz, und nur
er iſt es nicht, nur er nicht!


Sie ſtrich über ihre Schläfe, die ein kal-
ter Schweiß bedeckte. — Dann ſah ſie ſich im
Zimmer um, wo noch Manches vom vorigen Abend
die Verwirrung ihrer Sinne bezeugte. Auch in
dieſer gramvollen Noth ſchämte ſie ſich, daß er
etwas unordentlich bei ihr finden könnte. Sorg-
fältig verbarg ſie ihre Nachtkleider unter der Decke
des Bettes und ſah nach, ob auch dieſes recht
in Ordnung und überall von der Decke überhüllt
wäre, denn gemacht hatte ſie es freilich gleich,
nachdem ſie aufgeſtanden war. Sie rückte den
Tiſch am Fenſter gerade und ſtellte die Stühle an
ihre Plätze, auch den Zunder von dem verbrannten
Gedichte kehrte ſie ſauber bei Seite, und die Stücke
des zerſchnittenen Tuches, welche auch noch am
Boden lagen, erhob ſie und legte ſie auf den Tiſch.
Sie that das Alles ſo emſig, wie wenn das glück-
lichſte Mädchen den Bräutigam erwartet, und doch
ſtockte ihr der Tod im Herzen.


Ach, er kam immer näher! — Was — was
ſollte ſie thun? Wie gern wäre ſie in ſeine Arme
geſtürzt und hätte ſich in dieſen ſüß-giftigen Schlin-
[81] gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und
doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg,
denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen
Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das
fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen
ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte
den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt
darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja
nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn
er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele.


Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher
Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen
das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder-
roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen
und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben
Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines
Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt,
iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht,
ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für
Alpengipfel anſieht.


Oswald betrat unten das Haus. Er hätte
nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu
wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein
grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6
[82] knäuel des Lebens, über den plumpen Spaß des
Daſeyns, welcher oft Spülicht und die Blume des
Weines zuſammenmiſcht, ſaß ihm am Herzen.
Immer kränker fühlte ſich dieſes Herz. Noch hin-
gen die Locken des Jünglings verwirrt vor ſeinem
Antlitz, um welches zuweilen eine fliegende Röthe
ergoſſen war, und ſeine Augen ſprangen unſtät
zwiſchen den Gegenſtänden hin und her, ohne einen
derſelben mit ihren Blicken zu treffen. Er ſchritt
an den Leuten vorüber, die im Flur waren und
an dem Hofſchulzen, ohne Jemand zu grüßen.


Sein Herz war voll von Gram aber auch voll
von Entſchluß. Zu Lisbeth ging er, zu der Lisbeth,
welche ihn geſtern mit dem Wieſenkrönchen als
ihren König und Herrn gekrönt hatte, und die er
nun der ſüßen Dienſtbarkeit entlaſſen wollte. Denn
ihr Bild war ihm beſudelt worden; freilich ohne
Schuld der Unſchuldigſten. Aber iſt das Liebes-
gefühl, ſtark wie der Tod, nicht auch verletzlich,
gleich den Hörnern der Schnecke? — Es muß mir
das nicht bei ihr einfallen, hatte Oswald unauf-
hörlich auf dem Wege zu ſich geſagt. — Sie wird
zwar unglücklich, aber werde ich’s nicht auch?
Nicht tief, tief unglücklich? — Ach, wie wollte
[83] ich an ihrer Seite daheime werden in meinem
Herzen, daheim und ſelig zu Hauſe ſeyn bei mir,
und jedes Winkelchen kennen lernen, darin lieblich
Geräthe ſteht und Krüge würzig duften voll ſanf-
ten Weines und Oeles, und muß nun doch wieder
mich ſelber draußen ſuchen gehen! Aber die Braut
des Grafen Waldburg darf nicht —


Er that die Thüre des Zimmers mit dem ge-
waltigſten Herzpochen auf. „Sie“ wollte er ſie
nennen und zu ihr ſagen, daß er komme, um von
ihr Abſchied zu nehmen, ſie ſolle ihn aber nicht
fragen, was ſich ſo plötzlich zwiſchen ſie Beide ge-
drängt habe. Mit dieſen Gedanken trat er in
das Stübchen, vernichtet faſt von dem bevorſtehen-
den Augenblicke und als er ſie nicht fand, da —
rief er: Sie iſt nicht hier! mit eben dem Ent-
zücken, mit welchem er geſtern die verſchloſſene
Thüre der Dorfkirche begrüßt hatte. Denn nun
hatte er ſie ja noch, vielleicht zwei, vielleicht gar
drei Minuten, bis ſie wieder in das Zimmer trat.


Er ſetzte ſich am Bette nieder und ſtreichelte
die Decke, als ſtreichle er ihre Hand. Dann
ſchob er die Hand unter die Decke am Fußende,
wo er ihre Nachtkleider vermuthete, und da gerieth
6*
[84] ihm ihr Mützchen zwiſchen die Finger. Er drückte
das Mützchen mit ſeinen Fingern, denn er wollte
Abſchied nehmen von Allem, was ſie berührt hatte.


Dann legte er die Hände in den Schooß und
ſah vor ſich hin und um ſich her, lange. Ach,
Alles war reinlich und ſauber umher und der
Hauch ihrer Nähe webte noch in dem kleinen Zim-
mer. Es kam ihm vor, als ſei es darin golden
helle, als ſcheine die Sonne draußen und doch
dunſtete der graue, häßliche Nebel auch um dieſes
Haus. — Nach einem langen Schweigen ſagte er
beklommen: Ich hätte nicht hieher kommen, ich
hätte ihr ſchreiben ſollen; ſo ſchwere Dinge ſoll
man ſchriftlich abmachen.


Sie blieb immer aus. Er begann, ſich nach
ihrer Erſcheinung zu ſehnen, ſtand auf und ging
unruhig hin und her. Was? rief er, indem er ſich
plötzlich über dieſer Sehnſucht ertappte, du ver-
langſt danach, von ihr Abſchied zu nehmen? —
Sein Blick fiel in den kleinen Spiegel an der
Wand, er ſah ſeine Locken in gräulicher Verwir-
rung, ſchämte ſich dieſes Anblickes, ſtrich ſie in
Ordnung, und ein Geſicht ſah dahinter hervor,
welches zwar bleich war, aber ſich doch nicht ſo
[85] übel ausnahm, wie er noch vor wenigen Augen-
blicken gemeint hatte, daß es ſich ausnehmen müſſe.


Denn eine ſanfte Wärme hatte ſein ganzes
Inneres durchdrungen, welches ſeit einigen Stun-
den wie erfroren geweſen war. Es hob ſich eine
Laſt von ſeinem Herzen, es trat wie ein ſchwerer
Fluch von ſeiner Seele zurück. Mit jedem Au-
genblicke wurde ihm freier und freier; ihm ward
zu Muthe, wie dem begnadigten Sünder, wie
dem verlorenen Sohne, da der Vater ihm ein köſt-
liches Mahl anrichten ließ. Ganz und voll durch-
drang ihn eine unausſprechliche Empfindung, die
aus hülfreichem Mitleid und ſchöpferiſcher Zärt-
lichkeit gemiſcht war; ein herzliches Wollen, ein
tiefes Entſchließen und eine göttliche Geburtswehe
des Gemüthes. Alles das wallte wie ein Meer
in ihm empor und in die Fluthen dieſes Meeres
ſanken die Fratzen des ſogenannten Schloſſes hinab
und wurden nicht mehr geſehen.


Ja, er hatte ſie wieder, die zufällig Gefundene,
raſch Geliebte, für die Ewigkeit Erkannte! — Er
hatte ſein Reh wieder, ſein Mädchen, ſein Herz,
und was geſtern noch Glück war, das war heute
eine ſchwere, ſüße Eroberung durch die Tapferkeit
[86] ſeiner wärmſten Blutstropfen geworden. Er rieb
ſich vor Vergnügen die Hände; jauchzend rief er:
Bin ich nicht frei, bin ich nicht zu meinem aller-
größten Glücke ganz frei? — Und dann ſetzte er
ſich auf den Stuhl am Fenſter, auf dem ſie zu
ſitzen pflegte, nahm die Feder, mit der ſie eben
den traurigen Brief an den Geiſtlichen geſchrieben
hatte und focht damit in der Luft hin und her,
fröhlich wie ein Junker, der ſeinen erſten Degen
erhalten hat. Er ſchrieb nicht mit der Feder auf
dem Papiere, nein in den Lüften zog er einen
ſchonen Schnörkel aus L. und O. geſchlungen und
freute ſich über die gefällige Form dieſer Buch-
ſtaben und um dieſelben zog er ein lateiniſches W.
Ihm dünkte das ein trefflicher Namenszug zu ſeyn.
Muthig rief er: Und wäre ſie von Räubern und
Mördern entſproſſen und wäre ſie unter dem Hoch-
gerichte geboren, ſie bliebe doch die Lisbeth und
doch würde ſie mein! —


Wer von der Geliebten Abſchied nehmen will,
gehe nicht in ihr Zimmer, ſondern ſchreibe an ſie,
obgleich auch dann wohl manches Billet zerriſſen
werden und ſtatt des Billets der Liebende ſich auf
den Weg machen möchte.


[87]

Sechstes Capitel.
Suchen und nicht Finden.


Er ſagte: Aber erfahren darf ſie es nie, nie
darf ſie nach ihrem Urſprunge forſchen. Auf mich
allein und in meine Bruſt muß ſie gepflanzt ſeyn.
— Da war nun das Erdreich, in welchem die
arme abgeſchnittene Staude wieder wachſen ſollte,
und ſie wußte es nicht. Sie war ſo nahe, daß
ſie faſt ſeine Stimme hören konnte und doch wußte
ſie es nicht. — Nichtige Nöthe! Ihr gehört zur
Liebe, wie Schwindel zum Rauſche.


Sie kam aber immer nicht. Er wurde unruhig,
ging hinunter und fragte nach ihr. Die eine Magd
wollte ſie den ganzen Tag über nicht geſehen haben,
die Andere meinte, ſie ſei aus dem Hofe gegan-
gen. Er durchſtrich die nächſten Umgebungen des
Oberhofes, aber da war nichts von Lisbeth zu
erblicken. Es fing ſchon an, düſter zu werden.


[88]

Sein Herz wurde ihm nach kurzer Freude noch
ſchwerer als früher. Ihr Verſchwinden war ihm
unerklärbar. Er ging wieder auf ihr Zimmer,
worin er wegen der Dunkelheit die Gegenſtände
nicht mehr unterſcheiden konnte. Nach kurzem Ver-
weilen trieb es ihn abermals hinunter, er traf nun
den Hofſchulzen an und erkundigte ſich bei dem,
wo ſie ſei? — Die wird nach Ihnen nicht viel
mehr fragen, junger Herr, verſetzte der Alte. Sie
iſt gewitziget. — Was! rief Oswald in äußerſter
Beſtürzung und wollte von dem Hofſchulzen nähere
Auskunft haben. Dieſe verſagte aber der Alte,
denn er hatte zwar ſeine Pflicht, wie er meinte,
gegen das Mädchen üben müſſen, aber mit dem
jungen verliebten Hitzkopfe mochte er nichts zu
thun haben. Liebesſachen gehörten überhaupt nicht
zu den Gegenſtänden, die für ihn von Wichtigkeit
waren, und worin er Treue und Glauben als
Pflichten anerkannte. Um ſich des Jünglings
durch irgend einen Vorwand, wahr oder falſch, zu
entledigen, ſetzte er hinzu: Junge Frauenzimmer
ſind wetterwendiſch; es mag ihr wohl ſo ernſt nicht
geweſen ſeyn, nun ſchämt ſie ſich und will ſich
nicht vor Ihnen ſehen laſſen.


[89]

Ein Weiteres war von dem Alten nicht her-
auszubringen. Außer ſich ſtürzte Oswald zum
drittenmale nach Lisbeths Zimmer, als müſſe ſie
dort ſeyn, wenn er ſie ſuche. Er hatte ein Licht
mitgenommen. Lisbeth fand er nicht, wohl aber
bei dem Scheine des Lichtes und mit dem Scharf-
ſinn, den der Kummer giebt, die traurigen Zeichen
der zerſtörten Liebeshuld. Er nahm, was auf
dem Kaſten lag, hinweg, da ſah er drinnen ſeine
Goldrolle und das grüne Särglein liegen, von Lis-
beths Buſen verſtoßen, hinweggeworfen! — Die
Stücke des zerſchnittenen Tüchleins ſah er; der
Schnitt ihrer Scheere hatte eigentlich dem Bande
zwiſchen ihnen gegolten! — Auch ein halbverbrann-
tes Stückchen Papier erhob er vom Boden, denn
Alles war ihm wichtig, was ſein Elend ihm er-
leuchten konnte. Noch ſtand darauf:
In deinem Ernſt, in deinem Lachen
Gehörſt du dir —

Weiter war nichts zu leſen. — Ja, rief er, du ge-
hörſt nur dir und keinem Anderen, aber das Lachen
wird dir wohl eigener ſeyn, als der Ernſt! — Er
war böſe auf ſie, er zürnte ihr ingrimmig, denn
auch er glaubte, was der Hofſchulze ihm geſagt
[90] hatte, und meinte, das Mädchen habe nur in
einem Anſtoß, der raſch verflogen ſei, ſich in ſeinen
Arm gelegt. Es war das Unglaublichſte, was es
nur geben konnte, aber er hätte nicht geliebt,
wenn er gezweifelt hätte. — Liebe iſt ſo feige, daß
ſie vor ihrem eigenen Schatten erſchrickt; Liebe iſt
blind in der Wahl, noch blinder in der Qual.


Er ſtellte ſich an die Thüre des Zimmers und
rief mit ſanfter Stimme über den Gang: Lisbeth!
— Sie hörte ihn wohl, aber ſie antwortete ihm
nicht, denn ſie war entſchloſſen, lieber zu verhun-
gern und zu verdurſten, als ſich zu zeigen, ſo lange
er im Oberhofe ſei. Feſt hielt ſie ihre Hand auf
die Lippen gedrückt und wimmerte leiſe wie ein
blutendes Kind, daß ſie nicht hinaus und an ſeine
Bruſt fliegen dürfe. — Er ſuchte in mehreren
Gemächern nach ihr, aber das überſah er, worin
ſie ſich befand. Nun ging er nach dem Zimmer
und ſah die Goldrolle und das grüne Särglein
abermals an, und wollte das Särglein zu ſich
ſtecken, denn was ging ihn das Gold an? aber er
nahm die Rolle und ließ das Särglein liegen, ſo
verwirrt waren ſeine Gedanken. Die Blumen riß
er aus dem Glaſe und warf ſie heftig zu Boden,
[91] aber dann that ihm dieſer Zorn doch leid, und
er hob ſie wieder auf, wenigſtens die Lilie,
weil er wußte, daß dieſe der Lisbeth beſonders
gefallen hatte.


Faſt wahnſinnig vor Leid machte er einen neuen
Gang in die Dunkelheit und als auch der verge-
bens war, blieb er erſchöpft vor dem Hofe ſtehen
und jeder Windſtoß, jeder ferne Ruf mußte ihm
Lisbeths Gang oder Stimme bedeuten. Aber ſie
kam nicht. — Zornig trat er in das Haus zurück
und fragte Jeden wild, ob er noch nicht Lisbeth
geſehen habe? und dann vertauſchte er wieder das
Haus mit dem Platze vor dem Hofe, dort immer
von Neuem horchend.


So trieb es Liebesmühe umſonſt bis ſpät
Abends. Mit der verzweiflungsvollen Unruhe des
Jünglings bildete die unzerſtörliche äußere Faſſung
des Hofſchulzen einen merkwürdigen Gegenſatz.
Während der junge Graf wie ein verwundeter
Löwe umhertoſete, ſaß der alte Bauer gleich einem
Bilde aus Stein an ſeinem Tiſche, die entſetzlichſte
Aufregung zurückhaltend im verſchwiegenen Herzen.


[92]

Siebentes Capitel.
Ein Trauerſpiel im Oberhofe.


Melpomene hat zwei Dolche. Der Eine iſt
blank, haarſcharf geſchliffen, ſchneidet ſchnell und
gräbt glatte, rein ausblutende Wunden. Der
Andere roſtig, voll Scharten, reißt in das Fleiſch
unſelige Zerſtörung. Mit dem Einen tritt ſie
Könige und Helden an, mit dem Anderen pflegt
ſie ſich öfter bei Bauern und Bürgern einzuſchleichen.
Der Eine trifft um große, unläugbare Güter, um
Krone, Reich, Leben, der Andere quält um Nich-
tigkeiten, um einen Schall, um des Schalles Wi-
derhall. Denn die Menſchen werden nicht von den
Dingen, ſondern von den Meinungen über die
Dinge gepeiniget.


Der Pallaſt iſt nicht der einzige Schauplatz der
Tragödie. — Wer jetzt bei den Schatten der Nacht
unter das Dach des Oberhofes hätte blicken kön-
[93] nen, würde haben zugeſtehen müſſen, daß dort die
leidenſchaftlichſte Tragödie im Gange ſei.


Es war ſo ſpät geworden, daß die Nachbarn
ſich zurückgezogen, die Knechte und Mägde ſich
ſchlafen gelegt hatten und das Feuer auf dem
Heerde erloſchen war. Der Hofſchulze verſchloß
darnach alle Thüren des Hauſes und bereitete ſich
zu ſeinem Werke, welches er für die Nacht erſpart
hatte. Für ganz einſam hielt er ſich, aber er war
belauſcht. Als die Thüren abgeſchloſſen wurden,
ſchlich ſich eine dunkele Geſtalt zu der Späheſtelle
im Eichenkamp und ſetzte ſich dort nieder, das
Geſicht nach dem Oberhofe gewendet. Es war
der einäugige Spielmann, welcher inzwiſchen ge-
hört hatte, daß ſein Feind nicht am Schlage ge-
ſtorben ſei und nun ſehen wollte, ob ihm nicht
wenigſtens die Qual aufliege, welche der Rachſüch-
tige ihm in heißem Grimme anwünſchte. Nicht
lange durfte er auf die Freude dieſes Anblicks
warten. Denn bald leuchtete in dem dunkelgewor-
denen Oberhofe ein Licht auf. — Aha, ſagte der
Spielmann, jetzt giebt er ſich an’s Suchen. —
Das Licht begann eine Wanderung, jetzt erſchien
es hier, dann zeigte es ſich da. — Nun ſucht er
[94] in den Stuben, ſagte der Spielmann. Zuweilen
verſchwand es. — Hinten hinaus liegt auch nichts!
frohlockte der Spielmann. Plötzlich kam es wieder
raſch zum Vorſchein. — Da biſt du ja ſchon ge-
weſen! murmelte der Feind voll ingrimmiger Luſt.
So begleitete er jeden Schritt des verrätheriſchen
Lichtes mit ſeinem Hohne. Wie das Licht nicht
müde ward zu wandern und der Reiche in ſeiner
verzweiflungsvollen Anſtrengung mit ihm, ſo ward
der Bettler draußen im Dunkel nicht müde, das
Licht und den Reichen zu verſpotten. Endlich als
es auf Mitternacht ging, und der Schein noch
immer da und dort flammte, konnte er ſich nicht
mäßigen, ſondern er feierte ſeinen nächtlichen Triumph
durch ein Lied, welches er auf dem Leierkaſten
tönen ließ. Es war eins der ſanften, ſtillen Lie-
der, welche das Volk auf den Gaſſen zu hören
bekommt, er aber riß an dem Griff, daß die
Walze, heftig umgeſchwungen, die langſame Weiſe
in das wildeſte Allegro trieb.


Damals um dieſe Mitternachtſtunde ſaß auf
dem Flure im Oberhofe der alte Bauer und ruhte
eine kurze Zeit lang von ſeinem Suchen aus. Das
Licht ſtand neben ihm und in deſſen mattem Scheine
[95] glichen die gefurchten Züge des Antlitzes tiefen
Gräben, die ſich durch ein graues Feld ziehen,
denn ſeine Geſichtsfarbe war von Schmerz und
Gram um den ihm unbegreiflichen Verluſt aſchfahl.
Die Augen waren faſt aus ihren Höhlen getreten
und er ſah ſtarr mit ihnen auf den Boden. Alles
hatte er unten durchſucht, ſelbſt das Stroh in
dem Stalle umgewendet und nichts gefunden.


Jetzt erhob er ſich, um in dem erſten Stock
des Hauſes nachzuſehen. Das Licht vor ſich hin-
haltend, ging er zitternd und gebeugt langſam die
Treppe hinauf und hielt ſich am Geländer. Oben
ſtand er ſtill und überſchlug, wo er ſeine For-
ſchungen anſtellen müſſe. Denn auch in dieſer
verzweiflungsvollen Seelenſtimmung verließ ihn
ſeine Bedächtigkeit nicht. Er erinnerte ſich, daß
er in der Kammer, worin die Kiſte ſtand, ſchon
gleich nach dem Wahrnehmen des Raubes nichts
undurchſtöbert gelaſſen hatte; dort alſo wäre jede
erneute Mühe umſonſt geweſen. Aber alle anderen
Gemächer, Gelaſſe, Ecken und Winkel durchſpähte
er. Er rückte die Schränke ab, wo dergleichen
ſtanden, und blickte hinter jede Kiſte. Er öffnete
die Schränke und Kiſten, bückte ſich über ſie und
[96] leuchtete hinein. Jedes Geräth, welches einen Ge-
genſtand verbergen konnte, nahm er auch hier von
ſeinem Platze und ſah nach, ob das Schwert nicht da-
hinter liege. Ueber dieſem ſtillen und vergeblichen
Suchen gingen wieder mehrere Stunden hin. Der
Morgen begann ſchon zu dämmern.


Wie der alte Mann ſo, unaufhörlich gehend,
ſich bückend, ſpähend, nie übereilt in ſeinen Be-
wegungen, aber auch nimmer raſtend, umherwan-
derte, gewährte dieſe unabläſſige, ſtumme, ſtäte,
gleichmäſſige Mühe einen peinlichen und faſt ſchauer-
lichen Anblick. Wäre er raſcher in ſeinen Bewe-
gungen geweſen, ſo würde man ihn haben einem
Raubthiere vergleichen können, welches nach ſeinen
Jungen ſucht; ſo aber, wie er ſich verhielt, glich
er einer ewigen, todten, ſtillwühlenden Naturkraft.


Das letzte Gemach, welches er durchforſchte,
war Lisbeth’s Zimmer. Er dachte nicht daran,
daß er ein entkleidetes und ſchlafendes Mädchen
dort hätte finden können. Er verwunderte ſich
auch nicht, daß er Lisbeth nicht darin fand, daß
ein Anderer es und in ſolcher Art, wie er ſah,
inne hatte, denn er hätte ſich über nichts ver-
wundert, ſeine Seele war gleichgültig gegen Alles,
[97] außer gegen den einen Gegenſtand, der ſie erfüllte.
— Nun hatte ſich die Sache gewendet. Der Alte
war in Bewegung und der junge Mann ruhte,
oder regte ſich wenigſtens nicht, erſchöpft von An-
ſtrengung und Leiden. Er hatte ſich, nachdem er
der Hoffnung leer geworden war, Lisbeth heute
wiederzuſehen, über ihr Bette geworfen, um etwas
zu berühren, was ihr Körper berührt hatte. So
lag er, die Arme über das Kiſſen gebreitet, und
dieſes an ſeine Wangen drückend. Leiſe ſtöhnte
er und rief zuweilen ſchluchzend den ſchwäbiſchen
Schmerzenswunſch: Ich wollt’, ich wär’ bei mei-
ner Mutter! — Die Mutter, nach der er hinver-
langte, lag aber im Grabe, und die Geliebte,
um die er bekümmert war, ſaß wenige Thüren von
ihm, in der Nachtkälte frierend, ein erſtarrtes Vög-
lein, welches Tages zuvor ſo lieblich geſungen hatte.


Der Hofſchulze bekümmerte ſich nicht um Os-
wald und der Jüngling hörte nicht, daß der Hof-
ſchulze in das Zimmer getreten war. Auch hier
that und vollbrachte nun der Alte ſein mühevoll
vergebliches Werk. Der Schweiß troff ihm von
der Stirne. Er ſeufzte tief und machte ſich jetzt
auf den Weg nach dem Söller, dem letzten noch
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 7
[98] undurchforſchten Raume des Hauſes. Als er in
die Nähe der Söllertreppe kam, ſtand er jedoch
plötzlich ſtill und ein Schauder ſchüttelte ſeine Glie-
der. Nachdem dieſer Schauder vorüber war, hatten
ſeine Züge ein verändertes Anſehen gewonnen.
Die Muskeln des Antlitzes ſpannten ſich ſtraff an,
die Augenhöhlen wurden weiter, in ſeine Augen
trat ein ſeheriſcher Glanz, ſie blickten unbeweglich
mit geiſterhaftem Blicke vor ſich hin, als ſchaue er
etwas, ein Ding oder einen Ort, und plötzlich
griff er mit der Hand nach der Luftgeſtalt, die
ihm der auf der Höhe ſeiner Anſtrengungen gewor-
dene ekſtatiſche Zuſtand vorſpiegelte. Jene Hand-
bewegung brachte ihn zu ſich ſelbſt zurück. Er
blickte nun mit ſeiner gewöhnlichen Art um ſich
her, ſtrich ſich über die Stirne, die Anſpannung
der Muskeln ließ nach, die Brauen ſanken herunter,
die Augenhöhlen nahmen ihre gewöhnliche Größe
an, er ſah aus, wie zuvor. Der ganze Paroxys-
mus hatte nur wenige Secunden gedauert. Aber
ohne Zweifel war während deſſelben etwas Außer-
ordentliches in ihm vorgegangen. — Alſo da liegt
es! murmelte er froh und beruhigt, und ſtieg
raſchen Schrittes die Söllertreppe hinauf.


[99]

Oben achtete er deſſen nicht, daß er mit dem
brennenden Lichte neben Stroh und Heu vorbei-
ging; eine Unvorſichtigkeit, wofür jeder Knecht
ohnfehlbar den Dienſt bei ihm verwirkt haben
würde. Geraden Schrittes ging er auf den Ver-
ſchlag zu, worin Oswald ſo unbequeme und doch
ſo glückſelige Nachtſtunden zugebracht hatte. Mit
der Sicherheit Eines, der weiß, daß ihn ſeine
Vermuthung nicht täuſcht, machte er die Thüre
auf und ſah ſich im Verſchlage um.


Aber als er nun das Lagerſtroh umgekehrt und
die wenigen Sachen, welche der enge, kahle Raum
enthielt, hinweggethan hatte, brach er gewaltſam
zuſammen. Denn zwiſchen dieſen vier leeren Bret-
terwänden war das Schwert Karl’s des Großen
auch nicht zu finden. Das brennende Licht ent-
ſank ſeiner Hand, er ſetzte ſich oder fiel vielmehr
auf einen dort ſtehenden Kaſten und ſtieß einen
furchtbaren Schrei aus, einen von den Lauten,
die ſich nicht beſchreiben laſſen, weil die Natur
in ihnen ihre eigenſten, nur ſich ſelbſt vorbehalte-
nen Rechte übt.


Das Licht ſchwelte mit ſeiner Flamme auf
dem Fußboden in der Nähe des umherzerſtreuten
7*
[100] Strohes. Der Hofſchulze aber hatte kein Auge
für dieſe Feuersgefahr. Er blieb auf dem Kaſten
ſitzen. Die Kniee hatte er zum Haupte emporge-
zogen, die Arme auf die Kniee geſtemmt und mit
ſeinem Munde nagte er an den Händen. So
blieb er, ohne daß er ſein Lager aufgeſucht hätte,
oben, bis es heller Tag geworden war.


[101]

Achtes Capitel.
Wie der einäugige Spielmann ſeine Ab-
ſicht bei einem leidenſchaftlichen Juriſten
erreicht
.


Am folgenden Morgen zwiſchen zehn und eilf
Uhr hielt ungefähr eine halbe Stunde vom Ober-
hofe ein kleiner leichter Wagen vor einem einzeln
ſtehenden Hauſe. Den Schlag des Wagens öffnete
der alte Jochem, welcher auch das Pferd — denn
der Wagen war ein Einſpänner — gelenkt hatte,
und half dem darin ſitzenden Manne heraus. Dieſer
war der Mann im graubraunen Mackintoſy, der
Oberamtmann Ernſt.


Ihr bleibt nun hier, Jochem, ſagte der Ober-
amtmann, ich aber will das Geſchäft in der Bauer-
kathe, in dem ſogenannten Oberhofe beſorgen.


Warum fahren Sie nicht vor, Herr Oberamt-
mann, fragte der alte Jochem.


[102]

Weil ich alles Aufſehen vermeiden will, ver-
ſetzte der Geſchäftsmann. Wie Ihr mir Euren
Herrn beſchreibt, Jochem, iſt er in einer etwas
erhöhten Stimmung. Unterhandlungen aber mit
Leuten in ſolcher Stimmung wollen ganz beſonders
vorſichtig angefaßt ſeyn, ſonſt mißlingen ſie leicht.
Ich würde mit dem Wagen die Leute im Hofe
aufmerkſam machen, der Graf könnte vielleicht durch
die Anweſenheit von Zeugen gereizt werden, und
was dergleichen mehr ſeyn dürfte. Deßhalb ziehe
ich es vor, allein, gleichſam ſchleichend, nach der
Kathe zu gehen, ihn ſo zu überraſchen und ſacht
mit fortzunehmen. — Eine Liebſchaft, Jochem,
ſagt Ihr?


So ſagt’ ich, Herr Oberamtmann, verſetzte
der alte Jochem. Aber er wollt’ nichts mehr damit
zu thun haben und weinte dabei erbärmlich.


Kenne das, Jochem, ſagte der Oberamtmann.
Rixae amantium u. ſ. w. — Er ſchlug die Hände
über dem Kopfe zuſammen, daß der Mackintoſh wie
das Segel eines Hamburger Evers flog und rauſchte
und rief: Großer Gott, ſo behielte ja der Mer-
cur Recht mit der Reiſe nach dem aufgeleſenen
Schätzchen!


[103]

Herr Oberamtmann, ſagte der alte Jochem,
wenn ich Ihnen rathen ſoll, ſo ſchicken Sie mich
nach dem Hofe, denn ich weiß doch allein meinen
Herrn zu behandeln. — Der Oberamtmann maaß
den Alten mit einem geringſchätzigen Blicke und
ſchüttelte das Haupt. Der Alte, den dieſer Blick
etwas verdroß, und der die Eigenheit hatte, daß
er zuweilen laut dachte, murmelte, daß Jeder es
verſtehen konnte: Wenn der ihn mit ſeiner Unter-
handlung aus dem Oberhofe fortbringt, ſo will ich
nicht Jochem heißen.


Nicht weit von dem Platze, auf welchem dieſes
Geſpräch vorfiel, torkelte unter den Tannen ein
Menſch umher, deſſen Gebärden einen Betrunkenen
verriethen. Was dieſen Betrunkenen vor Anderen
ſeines Zuſtandes auszeichnete, war, daß er nicht
fiel, obgleich ein Leierkaſten, den er auf dem Rü-
cken trug, hin und her rutſchend das Gewicht auf
der Seite vermehrte, auf welche er ſich gerade
neigte. So aber mit dem bald links bald rechts
fliegenden Leierkaſten gewährte der Patriotencaspar
— denn dieſer war der Betrunkene — das Schau-
ſpiel eines auf hohen Wellen treibenden Schiffes,
welches gleichwohl nicht untergeht. Er hatte
[104] ſich von dem Erlöſe des Silberringes, den er an
einen Hauſirer verkauft, auf das Rachegefühl der
Nacht in dem kalten Morgennebel gütlich gethan,
und war ſo in dieſe Verfaſſung gerathen, welche
ihn jedoch nicht hinderte, zwar heftige aber doch
völlig zuſammenhangende Reden zu führen, die er
unaufhörlich hervorſprudelte.


Der Weg nach dem Oberhofe lief durch die
Tannen. — Das Pferd bleibt wohl ruhig hier
ſtehen, ſagte der Oberamtmann. Geht doch etwas
voran, Jochem, und haltet mir den Menſchen da
ſeitab; Ihr wißt, daß ich mit Betrunkenen nicht
gern zu ſchaffen habe.


Jochem ging voran und der Oberamtmann
folgte in gemeſſener Entfernung. Er ſah, daß
der Alte mit dem Betrunkenen ſich in ein Geſpräch
gab, und rief, was da vor ſei? Jochem kam
zurück und meinte, das ſei der curioſeſte Fuſelichte,
der ihm jemals vorgekommen. Bloß die Beine ſind
benebelt, ſagte er; im Uebrigen iſt der wüſte Kerl
vernünftig und ſpricht verſtändlich wie ein nüchter-
ner Menſch von Protocoll und Mord und Todtſchlag.


Als der Oberamtmann dieſe Worte hörte,
horchte er hoch auf. Was giebt es denn damit?
[105] fragte er ſehr geſpannt. Sein Widerwille gegen
den Betrunkenen war viel kleiner als ſeine Neu-
gier nach dem Protocolle und nach dem Mord und
Todtſchlag. Er ging daher zu dem Patriotencas-
par, der wirklich einen eigenen Rauſch hatte, von
dem ſo zu ſagen nur die Extremitäten angegangen
waren, das Gehirn aber unverſehrt geblieben war.
Ein nicht ſeltener Fall bei erſchöpften Körpern.
Der betrunkene Spielmann rief dem Oberamtmanne
gleich entgegen: Könnt Ihr mir ein Protocoll
machen, he?


Mein Freund, das könnte ich allerdings wohl,
verſetzte der Oberamtmann mit einem juriſtiſchen
Lächeln.


Nun denn, ſo kommt Ihr mir ja wie ein wah-
rer Retter in der Noth entgegen, rief der Spiel-
mann und wollte den Oberamtmann umarmen.
Dieſer wich zurück, darüber verlor Caspar das
Gleichgewicht und fiel mit der Naſe auf die Erde.
Er raffte ſich aber gleich wieder empor, ließ den Fall
ſich nicht anfechten und fuhr fort: Macht mir ein
Protocoll, und ich will Euch Zeitlebens dankbar ſeyn.


Aber was ſoll denn in dem Protocolle ſtehen?
fragte der Oberamtmann. — Herr, ſagte der alte
[106] Jochem, wollen Sie nicht weiter nach dem Ober-
hofe? — Ich bitte Euch, Jochem, laßt mich doch;
man muß jeden Menſchen anhören, verſetzte unge-
duldig der Oberamtmann, deſſen Theilnahme an
dieſem nach einem Protocolle durſtigen Trunkenen
ſichtlich wuchs.


Mord und Todtſchlag ſoll darin ſtehen! rief
der Patriotencaspar. — Ich habe einen Menſchen
todtgeſchlagen und Keiner will mir ein Protocoll
darüber machen, auf daß ich mein Recht und meine
Strafe empfange, wie ſich gebührt.


Die Geſtalt des Oberamtmanns verwandelte
ſich bei dieſer unerwarteten Nachricht zu der höl-
zernen Säule, an welcher er ſeine Inculpaten
züchtigen ließ. Ein ſolcher Fall war ihm nie vor-
gekommen. Auch der alte Diener zeigte ſich er-
ſtaunt und rief: Ich ſag’s ja immer, wenn man
aus Schwabenland heraus iſt unter die Franken
und Sachſen und Polacken gekommen, hört Recht
und Gerechtigkeit auf. ’S iſt a wüſt Volk
haußen.


Ihr habt Einen todtgeſchlagen und ſie wollen
kein Protocoll darüber aufnehmen? fragte der Ober-
amtmann einigermaßen entſetzt.


[107]

Richtig Einen todtgeſchlagen und keine Mög-
lichkeit, mein Protocoll darüber gemacht zu kriegen!
erwiederte der Spielmann.


Der Oberamtmann bedachte ſich, ſenkte das
Haupt, ſpannte in dieſer denkenden Stellung den
Mackintoſh wie einen Wandſchirm aus, und ſagte
dann: Dieſer Menſch iſt entweder verrückt, denn
der Trunk hat ihn, wie augenſcheinlich, nicht um
ſeinen Verſtand gebracht, oder es herrſcht eine
Nachläſſigkeit der Behörden hier, die ohne Beiſpiel
ſeyn dürfte. — Er hielt dem Patriotencaspar die
fünf Finger ſeiner rechten Hand vor die Augen
und fragte: Was ſeht Ihr da?


Fünf Finger, verſetzte der Spielmann.


Guckt einmal da oben hinauf. Was ſeht Ihr
über Euch?


Den Himmel. Es iſt aber noch Haarrauch,
deßhalb ſieht man nicht viel vom Himmel.


Sagt mir die Wochentage her. — Der Spiel-
mann nannte alle Tage vom Sonntag bis zum
Samſtag in ihrer gehörigen Reihenfolge.


Welches ſind die zehn Gebote? — Der Spiel-
mann hob von dem „nicht andere Götter haben
neben mir“ an und ließ keins aus.


[108]

Nach dieſer Geiſteserforſchung ſprach der Ober-
amtmann: Dieſer Menſch iſt ſo wenig irr als ich
oder Ihr, Jochem. Folglich ein geſtändiger Todt-
ſchläger, der von Reue und Gewiſſensbiſſen zer-
fleiſcht, ſich angiebt, dennoch nicht eingezogen, ja
nicht einmal zur Anzeige gelaſſen wird. Schöne
Wirthſchaft! Was für ein Staat! — Kommt
mit hinein in jenes Haus, ſagte er zum Patrio-
tencaspar, es wird ja wohl ein Bogen Papier
nebſt Feder und Dinte darin zu haben ſeyn. Ich
will etwas kurzes Schriftliches von Euch aufneh-
men und mir während deſſen überlegen, was wei-
ter in der Sache zu thun iſt.


Aber Herr Oberamtmann, der Oberhof —
ſagte der alte Jochem.


Der Oberhof läuft uns ja nicht fort, verſetzte
der Juriſt, und Euren Herrn werde ich eine
Stunde ſpäter auch noch finden. Dieſe Sache geht
vor, man ſoll von mir nicht ſagen, daß ich von
einem Capitalverbrechen gehört habe und meiner
Wege dabei vorübergegangen ſei. Bleibt Ihr bei
dem Pferde, Jochem, und Ihr, Menſch, folgt mir.


Man ſieht, daß der Oberamtmann kurz vor
der Fahrt im würtembergiſchen Landrechte geleſen
[109] hatte. Er ging voran in das einſam liegende
Haus; der Patriotencaspar torkelte nach, ſehr
vergnügt, ein Protocoll gemacht zu bekommen, und
der alte Jochem blieb kopfſchüttelnd bei dem Pferde
ſtehen, welches eine Art von Krippenbeißer war,
denn es ſtieß beſtändig mit dem Kopfe nach vorn
hinunter.


[110]

Neuntes Capitel.
Das Freigericht und was dieſem folgte.


Oswald trat in einer ſeltſamen Stimmung
aus der Thüre des Oberhofes. Ihm wäre wohler
geweſen, ſo bedünkte es ihn, wenn er Lisbeth im
Sarge vor ſich geſehen hätte, dann wäre er jam-
mernd über den Sarg geſtürzt, hätte auf den er-
ſtarrten Lippen mit ſeinen Küſſen einen kurzen
Schein der Lebenswärme hervorgerufen, hätte ſich
das Herz in Thränen todt geweint. Aber ein Al-
bernes, eine Grille, etwas unbegreiflich Dummes
ſchied ihn von ihr, oder etwas noch Schlimmeres,
eine plötzliche Reue über den raſch geſchloſſenen
Bund; ſo mußte er auch glauben. Der Zorn, der
Schmerz über dieſen unſichtbaren Feind, über einen
dumpfen und ſtumpfen Zauber, den er nicht löſen,
ja nicht einmal anfaſſen konnte, fraß ihm tief in
die Bruſt hinein. — Ein leichtes, veränderliches
[111] Mädchen, die heute ſich hingiebt und morgen ſich
ſpröde verſagt! murrte er ingrimmig und empfand
es wie ein ſcharfes Meſſer in ſeinen Eingeweiden,
daß er ſolche Worte ſprach. Es fiel ihm nicht
ein, daß er ein großer Graf und Lisbeth ein ar-
mer Findling ſei, daß dieſes verlaſſene Mädchen
auch ihr reichſtes äußerliches Glück in der Ehe
mit ihm finden müſſe; in ſeinen ſchwärmeriſchen
und wüthenden Gedanken ſah er ſie hoch über ſich.
Er war der niedere Schäfer, ſie die Prinzeſſin,
die ihn nach Willkühr an ſich gezogen hatte, nach
Willkühr ihn nun verſtieß. In ſo furchtbarer
Gemüthsverfaſſung, in ſo bitterer Pein fand er
das große Geſetz der Liebe, welches dem Lieben-
den ewig ſeine Stelle zu den Füßen der Gelieb-
ten anweiſet, und wäre dieſe eine aus dem Staube
hervorgegangene Bäuerin. Habe du die Schätze
des Moguls, grüne der Lorbeerkranz des Ruhmes
um deine Schläfe, führe du Salomo’s geiſterbe-
herrſchenden Ring, kröne dich der Reif der Hoheit,
die Geliebte wird, und nicht im abgeſchmackten
Gleichniß, ſondern in der Wahrheit und Wirklich-
keit deine Königin ſeyn, demüthig wirſt du den
zaubergewaltigen Ring in ihren Schooß legen, der
[112] Kranz wird dich drücken in ihrer Nähe, ein Bettler
wirſt du immerdar bleiben vor ihr, und auch als
König ein Sclav.


In ſolchen ausgeweinten, ausgeleerten, ausge-
nüchterten Stunden ergreift den Menſchen eine
wilde Gleichgültigkeit und zugleich ſchärft ſich in
ihm eine Art von gedankenloſem Merken auf die
unbedeutendſten Dinge. An der Stelle, wo du
verzweifelteſt, ſahſt du, ob ein Grashalm ſo oder
ſo gebogen war, du wußteſt, daß an dem Buſche,
der da ſtand, zwanzig Knospen aufgebrochen waren,
genau ſo viele, nicht mehr und nicht minder, du
könnteſt den Hirten, der gerade ſeine Heerde dem
Platze vorbeitrieb, lange nachher aus der Erinne-
rung malen, ſo genau beobachteteſt du ſeinen Rock,
den meſſingenen Kamm im Haar und ſeine nichts-
bedeutenden Geſichtszüge. Du verwünſcheſt dein
Geſchick, und erkennſt während deiner ſchäumend-
ſten Flüche, daß der Vogel, der dort in weiter
Entfernung auf einem dürren Aſte ſitzt, eine Krähe
iſt und nicht eine Dohle.


Oswald war gleichgültig über Alles geworden
und wäre mit ſeinem juriſtiſchen Freunde abgereiſet,
hätte ſich dieſer jetzt am Oberhofe eingefunden.
[113] Aber er ſah auch mit den verwachten und geröthe-
ten Augen Alles, er hörte Alles, was um ihn
vorging. — Vor dem Hauſe ſtand der Hofſchulze
mit einem anderen Bauern im Geſpräch. Sie
ſtanden mit dem Rücken gegen die Thüre, ſo daß
ſie den jungen Grafen nicht bemerkten. — Hof-
ſchulze, ſagte der Bauer, es kann doch nun ein-
mal nichts helfen, kommt alſo nur immerhin zum
Stuhl, denn das Gericht muß gehegt werden auch
ohne dieſes. — Der Hofſchulze antwortete auf
das anfangs mit einem tiefen Seufzer, dann ſagte
er ſo hohl, als ſteige die Stimme aus dem Grabe
empor: Ich will kommen, aber ich weiß nicht, ob
es ohne das Schwert gelingen wird. — Der Bauer
ging ſeitwärts ab, der Hofſchulze wandte ſich um
und Oswald ſah, daß das Antlitz ſeines alten
Wirthes ganz verfallen war. So blickte auch der
Hofſchulze in das zerſtörte Antlitz ſeines jungen
Gaſtes; ſie warfen einander finſtere und doch
nichtsſagende Blicke zu, und dann ging Jeder
ſeiner Wege; der junge Graf durch die Felder,
der alte Bauer in das Haus. Auf ſeinem Wege
ſagte Oswald zerſtört lachend: Sie werden heute
ihren Hokuspokus am Freiſtuhl machen; ich will
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 8
[114] mich verſtecken und zuſehen, was kann der Menſch
Beſſeres thun, als etwas Neues beobachten?


Nicht lange nach dieſem Auftritte wanderten
zehn bis zwölf Bauern von verſchiedenen Seiten
die Pfade den Hügel hinauf nach dem Freiſtuhle.
Es waren die reichſten Hofesbeſitzer der Umgegend.
Die Geſichter dieſer Leute waren ernſthaft und
feierlich. Ihre Schritte übereilten ſie nicht, und
wo auch zwei zuſammengingen, wurde dennoch kein
Wort gewechſelt. Dieſe alten Freibankbauern tru-
gen auch heute noch ihren Feierputz und die großen
breitkrempigen Hüte gaben ihnen ein ſchweres und
würdiges Anſehen. Der Nebel, der noch immer
fortdauerte, umhüllte die heimlichen und ſchweigen-
den Wanderer.


Als ſie eben am Freiſtuhle angekommen waren,
Einer nach dem Anderen, ſetzten ſie ſich ſchweigend
und einander nicht begrüßend auf die Steine um-
her, die in der Einſenkung zwiſchen den Brom-
beergebüſchen lagen, der größte aber unter den
drei alten Linden blieb leer und für den Frei-
grafen aufbehalten. Sie ſaßen wohl eine Vier-
[115] telſtunde lang, ohne einander anzuſehen, geſchweige
daß ſie zuſammen geredet hätten. Jeder blickte
ſtarr und feſt vor ſich hin. Zuletzt kam der alte
Bauer, welcher mit dem Hofſchulzen geſprochen
hatte, der Frohnbote; nächſt dem Beſitzer des
Oberhofes der Kundigſte in den Sitten und Ge-
bräuchen der Väter. Dieſer ſtellte ſich außerhalb
des Kreiſes der Steine hin, auf ſeinen Knotenſtock
geſtützt und nach der Gegend des Oberhofes hin-
unterſehend.


Von dieſer Gegend kam nach einer Viertel-
ſtunde der Hofſchulze heraufgegangen, der Frei-
graf. Neben ihm ging ſein Eidam. Feiermäſſig
war auch ſein Anzug, aber gebückt und kummervoll
ſein Gang. Den Eidam ließ er an einer über
hundert Schritte vom Freiſtuhl entfernten Stelle
zurückbleiben, das Geſicht von dieſem abgekehrt.
Der Frohnbote ging dem Hofſchulzen entgegen,
führte ihn bis an den Kreis und ſagte:


Herr Graf, mit Urlaub und mit Behagen

Thue ich Euch fragen;

Soll ich, Euer Knecht,

Euch den Königsſtuhl ſetzen, wie Recht?

Der Hofſchulze erwiederte:


8*
[116]
Alldieweil die Sonne mit Rechte

Beſcheinet Herren und Knechte

Und alle unſere Werke,

Spreche ich, das Recht zu ſtärken,

Den Stuhl zu ſetzen eben,

Und rechte Maaß zu geben.

Der Frohnbote ging hierauf durch den Kreis zu
dem großen Steine unter den drei alten Linden,
legte die Hand an denſelben, als ſetzte er ihn
wie einen Stuhl zurecht, ſtellte ein kleines Korn-
maaß, welches er unter dem Rocke hervorzog, vor
den Stein, blieb ſelbſt daneben ſtehen und rief
dem Hofſchulzen, der ſich noch immer außerhalb
des Kreiſes befand, folgenden Spruch zu:


Herr Grafe, lieber Herre;

Ich vermahne Euch bei Eurer Ehre,

Ich bin Euer Knecht,

Darum ſagt mir für Recht,

Ob dieſe Maaß iſt gleich

Für Arm und Reich,

Zu meſſen Land und Sand

Bei Eurer Seelen Pfand?

Der Hofſchulze antwortete:


Ich erlaube Recht und verbiete Unrecht

Bei Peen der alten erkannten Recht.

Er ging nun auch in den Kreis, ſchritt, ohne
von ſeinen Genoſſen begrüßt zu werden, oder
[117] ſie zu begrüßen, auf den Stein unter den Linden,
den Königsſtuhl, zu, ſetzte ſich, ſtellte ſeine Füße
auf das Kornmaaß und entbloßte das Haupt, wel-
chem Beiſpiele die Bauern folgten. Dann zog er
eine Flechte von Weidenzweigen aus dem Rock-
ärmel und gab ſie dem Frohnboten, der ſie
auf einen tiſchartigen Stein vor dem Stuhle
legte.


Die Bauern murmelten und Einer fragte: Die
Wyd ſehen wir; wo iſt das Schwert?


Der alte Freigraf zuckte zuſammen und der
Frohnbote antwortete ſtatt ſeiner: Es hat nicht
gleich auf der Stelle gefunden werden können.


Nachbarn, ſagte der Hofſchulze zitternden Lau-
tes, es iſt ein Malheur mit dem Schwerte von
Carolus Magnus geſchehen, und wenn Ihr ſo wollt,
ſtehen wir auf und gehen heim.


Nein! riefen die Bauern; aber daß das Schwert
mangelt, iſt ſchlimm, denn es bedeutet das Kreuz,
woran der Herr Chriſtus gelitten hat.


Sie blieben in nachdenklichen Stellungen. Auch
ihr alter Vorſtand hatte Mühe, ſeine Faſſung zu
behalten. Er erhob indeſſen die Stimme und
ſprach zum Frohnboten:


[118]
Ich biete, zu ſagen mir:

Sind Nothſchöffen allhier?

Oder Mann, die nicht wiſſen?

Das ſage mir befliſſen.

Der Frohnbote ſah ſich im Kreiſe um und ver-
ſetzte dann mit lautem Tone:


Alle Mann ſind wiſſend und gerecht,

Weder Nothſchöffen, weder Juden, weder Knecht.

Jetzt redete der Hofſchulze die Verſammlung
mit folgenden Worten an: Iſt es die rechte Stätte
und die rechte Stunde, Ding und Gericht zu hal-
ten nach Freiſtuhlsrecht unter echtem Römiſchen
Königsbann? — Die Bauern antworteten ein-
ſtimmig: Ja, ſie iſt es; und der Hofſchulze fuhr
fort: So warne ich Euch vor Unluſt, Keif, Schelt-
wort. Niemand ſoll ſprechen, denn mit Fürſprach,
Niemand ſcheiden vom Gericht, denn mit Urlaub.
— Dieweil — ſetzte er hinzu —


Dieweil an dieſem Tage

Mit Eurer Aller Behagen

Unter dem hellen Himmel klar,

Ein frei Feldgericht offenbar

Wo Nothſchöffen keine

Gehegt beim lichten Sonnenſcheine,

Nicht in Schlüften

Nicht in Klüften

[119]
Zwiſchen ſieben Uhr frühe

Und Ein Uhr Mittags; ſiehe!

Alle Mann auch nüchtern kommen ſind,

Königsſtuhl und Maaß man recht befindt,

So ſprecht das Recht ohne Witz und Wonne,

Weil ſcheint die Sonne.

Die Bauern ſprachen: Wir wollen’s.


Der Hofſchulze fragte abermals: Was giebt
dem Freiſchöffen Fug und Recht?


Die Bauern murmelten dumpf: Hebende Hand,
blickender Schein, gichtiger Mund. —


Darauf ſagte der Frohnbote: Herr Grafe, es
ſteht draußen ein Mann, der Begehr am Ding
und Gericht hat.


Der Hofſchulze wandte ſich wieder an die Ver-
ſammlung und ſprach: Iſt es Euch genehm und
zum Behagen, daß mein Eidam vom Jürgenserb,
frei, Keinem eigenbehörig, ohne Schimpf noch
Schande, unverleumd’t im Lande, wiſſend gemacht
werde auf rother offener Erde, fahe Looſung und
Heimlichkeit, wie Kaiſer Carolus geſetzt zu ſeiner
Zeit?


Die Freiſchöffen erwiederten: Es geſchehe. —
Der Hofſchulze gab nun dem Frohnboten einen
Wink, dieſer ging zu dem Eidam und führte ihn
[120] herbei. Der junge Bauer ſah ſehr ſtolz und freu-
dig aus, als er in den Kreis trat, in welchem
er die höchſte Ehre von ſeines Gleichen empfan-
gen ſollte.


Der Frohnbote gab ihm Anweiſung, darauf
entblößte der junge Bauer ſein rechtes Knie,
kniete bedeckten Hauptes vor ſeinem Schwieger-
vater nieder, legte die linke Hand auf die Weide,
die ihm der Frohnbote vorhielt, und empfing in
dieſer Stellung vom Hofſchulzen die Vermahnung
vor Eidbruch, die ihm unter ſchweren Verwün-
ſchungen ertheilt wurde. Bei der Weide ſolle er
denken an den Strick um den Hals, hieß es darin,
und bei der Linde, die er ſehe, an den Baum,
der den Verräther trage. Vermaledeit ſei deſſen
Fleiſch und Blut, der Wind ſolle ihn verwehen,
die Krähen, Raben und Thiere in der Luft ſollen
ihn verführen und verzehren.


Noch ſchrecklichere Drohungen enthielt dieſes
Verwarnen. Der Eidam verzog aber keine Miene
dabei. Hierauf nahm ihm der Frohnbote den Eid
ab, den der neue Schöffe nachſprach. Er ſchwor,
die Fehme zu hüten:


[121]
Vor Mann, vor Weib,

Vor Dorf, vor Traid,

Vor Stock, vor Stein,

Vor Groß, vor Klein,

Auch vor Quick

Und vor allerhand Gottesgeſchick,

Ohne vor dem Mann,

Der die heilige Vehme hegen und hüten kann,

Und nicht zu laſſen davon

Um Lieb noch um Leid,

Um Pfand oder Kleid,

Noch um Silber, noch um Gold,

Noch um keinerlei Schuld.

Als der Eidam den Eid geleiſtet hatte, wollte
er aufſtehen, der Frohnbote hielt ihn aber in ſeiner
knieenden Stellung feſt und ſagte, ſich vergeſſend,
und aus der feierlichen Redeweiſe in ſeine Bauer-
ſprache fallend: Wollt Ihr denn wie das liebe
Vieh Schöffe ſeyn? Ihr kriegt ja erſt die Looſung.


Auch gut! rief der junge Bauer, dem die
fürchterliche Verwarnung und der Eid ein Behagen
erregt zu haben ſchien. Her mit der Looſung!


Der Hofſchulze ſetzte den Hut auf, der Eidam
mußte ihn abnehmen und nun ſagte Jener: Die
Looſung und das Nothzeichen, das ich dich lehre,
lautet: Stock, Stein, Gras, Grain.


[122]

Gut, verſetzte der Eingeweihte. Stock, Stein,
Gras, Grain, das iſt wohl zu behalten. Aber
was bedeutet: Stock, Stein, Gras, Grain?


Neige dein Ohr zu meinem Munde, verſetzte
der Freigraf, du ſollſt den heimlichen Sinn er-
fahren, den außer dir nicht einmal die Lüfte
hören dürfen.


Indem der Eidam ſich zu den Lippen des
Schwiegervaters hinüberbeugte, rief aber der alte
Frohnbote überlaut: Halt! Das Ding iſt geſchän-
det, wir haben einen Lauſcher in der Nähe, ich
hörte ein Geräuſch ganz deutlich.


Nun ja, ſagte Oswald, der hinter der alten
Linde hervortrat, gezwungen lachend, ich habe
Euch belauſcht. Ich ſtand in dem hohlen Baume
da. Das Horchen, welches ich noch nie gethau,
wollte mir aber ſo ſchlecht behagen, daß ich mich
rührte, um fortzugehen, wo möglich da in den
Forſt, Euch unbemerkt. Nehmt mir’s nicht übel,
ich werde nichts von Euren Sachen verrathen, es
iſt, als ob ich ſie nicht gehört hätte. — Er trat in
den Forſt zurück und verlor ſich unter den Bäumen.


Wie wenn bei einem fröhlichen Mahle plötzlich
ein fremder Eindringling durch eine ungeheure Be-
[123] leidigung der ganzen Geſellſchaft den Fehdehand-
ſchuh hinwirft — anfangs iſt Alles lautlos und
gleichſam verſteinert, mit einemmale aber ſpringt
Jeder auf und läßt das verletzte Gefühl in Blick,
Gebärde, Drohung, Zornes- und Racheworten
ausſchäumen, ſo wirkte hier die unerwartete Er-
ſcheinung des fremden Zeugen anfangs nur ein
athemloſes Staunen und die Bauern ſahen ihm,
ohne ein Wort zu ſagen, nach, bis er im Forſte
verſchwunden war. Dann aber ſprangen ſie wüthend
auf, ballten die Fäuſte und ergoſſen ſich in einem
Strome von wilden Reden, Drohungen, Verwün-
ſchungen. Einige riefen: Soll das geſchehen dürfen
wider uns? Andere antworteten: Nimmermehr;
Todt ſollte man ihn ſchlagen! Todt! riefen Alle
und bekräftigten dieſes finſtere Wort durch ein
lautes Murren, welches ſchauerlich von der nebel-
umgebenen Höhe klang. — An eine Fortſetzung des
Freigerichts wurde nicht gedacht.


Der Hofſchulze war während des Getöſes ſtumm
geblieben, ſein Antlitz ſah aber kreideweiß aus. Als
jetzt nach jenem Murren eine augenblickliche Stille ein-
trat, erhob er ſich und ſagte: Nachbarn, wollt Ihr mir
überlaſſen, die Sache in aller Manier zu ſchlichten?


[124]

Die Bauern verſetzten: Thut das, Hofſchulze.
Nur daß nichts auskommt von der Heimlichkeit.


Ich hoffe, es ſoll nichts auskommen, verſetzte
der Hofſchulze mit einem ſeltſamen Lächeln.


Wie wollt Ihr es anfangen? fragten ſeine
Nachbarn.


Ich will Euch nur veroffenbaren, ſagte der
Hofſchulze und ſein Lächeln wurde immer ſonder-
barer, daß ich eine Sache von meinem Vater ſeliger
ererbt habe, die, wenn man ſie gehörig braucht,
Jemandem den Mund ſchließt über jegliches Ding,
worüber man will.


Ja, ſagte Einer, ſo etwas müßt Ihr wohl
inne haben, denn vom Oberhofe iſt niemals was
herunter geſchwatzt worden. — Sie ſchüttelten
ihm die Hand und liefen nach allen Richtungen
hügelabwärts auseinander, unterweges ihr Murren,
Schelten und Verwünſchen fortſetzend.


Als die beiden Alten oben auf der Höhe
allein waren, wechſelten ſie mit einander die
allerverwunderlichſten Blicke. Der Frohnbote hatte
ſeit dem Abgange des jungen Grafen wie ein
Falke nach jedem Geſichtszuge ſeines Freigrafen
geſpäht.


[125]

Er verſtand ihn und der Freigraf verſtand
den Frohnboten; es bedurfte aber dazu keines
Woctes unter ihnen.


Nach langem Schweigen erhob zuerſt der Frohn-
bote ſeine Stimme und ſagte: Wollt Ihr mir eine
Nachbargefälligkeit thun, Hofſchulte?


Ja, wenn ich kann, verſetzte der Hofſchulze.


Ihr könnt ſchon, ſagte der alte Frohnbote.
Es fehlt mir im Nußholz an Fällern und auf der
Pfaffenwieſe an Grummetwenderinnen. Darf ich
Eure Knechte und Mägde dazu vom Oberhofe
mitnehmen, die Knechte nach dem Nußholze ſchicken
und die Mägde nach der Pfaffenwieſe? Ihr kriegt
ſie aber vor ſpät Abend nicht zurück, denn es iſt
viel zu thun.


Nehmt ſie nur Alle mit, Knechte und Mägde,
und behaltet ſie bis zum ſpäten Abend draußen;
antwortete der Hofſchulze.


Ich thue Euch auch einen Gefallen dagegen,
ſagte der Frohnbote. Ihr ſpracht neulich, daß
Ihr den alten Brunnen hinter der Scheure wieder
aufnehmen wolltet; er iſt aber ganz verſperrt; das
Geſtröhde vor dem Zugange will ich Euch daher immer
ſchon etwas wegräumen, wenn ich hinunter komme.


[126]

Es ſoll mir recht lieb ſeyn, erwiederte der
Hofſchulze.


Wohin geht Ihr von hieraus? fragte der
Frohnbote.


In die Hollenberge, um nach den Mandeln zu
ſehen, antwortete der Hofſchulze, und ſchlug, ohne
ſich weiter zu verweilen, einen Pfad zwiſchen den
Kornfeldern ein. Der Frohnbote ſah ihm nach
und ſagte dann: Wenn man nun einſtmals unver-
muthet um Sachen befragt werden ſollte, ſo kann
man ſchwören, daß er weder in den Oberhof noch
in den Forſt da gegangen iſt, dem Menſchen nach.
Hierauf ſchritt er den Weg zum Oberhofe hinunter.


Der Hofſchulze kehrte, als er einige hundert
Schritte gegangen war, um und ging in den Forſt,
bebend, bleich, außer ſich.


[127]

Zehntes Capitel.
Wie der Hofſchulze und der Graf Oswald
an einander und aus einander geriethen
.


Unten im Oberhofe befahl der Frohnbote den
Knechten zum Holzfällen nach dem Nußholze, den
Mägden zum Grummetwenden nach der Pfaffen-
wieſe zu gehen, der Baas habe ſie ihm für den
Tag verſtattet. Sie ſollten ſich Brod mitnehmen
und am Abend werde er ihnen das eingebüßte
Mittagseſſen wohl erſetzen; fügte er hinzu.


Die Knechte und Mägde gehorchten ihm, denn
der alte Frohnbote war des Hofſchulzen genaueſter
Freund und galt wie der Herr ſelbſt im Hofe,
wenn Jener entfernt war.


Nachdem ſich alle Menſchen, wie er glaubte,
aus dem Hofe entfernt hatten, blieb er noch einige
Minuten in dem ſtillen Hauſe ſtehen und ſagte
dann wohlgefällig: Jetzt kann hier geſchehen, was
[128] Recht iſt. Darauf ging er über den Hof nach den
Ställen. Zwiſchen der Scheure und dem Pferde-
ſtalle war ein ſchmaler Gang, der noch dazu durch
Raſen und Reiſig etwas verſperrt war. Dieſe Hin-
derniſſe räumte der Frohnbote hinweg, legte ſie
jedoch ſo, daß ſie mit leichter Mühe wieder an
ihren Platz gethan werden konnten. Von dem
Gange gelangte er auf ein kleines dunkeles Plätz-
chen hinter der Scheure, welches kaum acht Fuß
im Gevierte hielt. Nur ihm und dem Hofſchulzen
war das Daſeyn dieſes Plätzchens kund, auf wel-
chem der alte Brunnen des Oberhofes ſtand, der,
welcher gebraucht worden war, ehe durch den Bau
der neuen Scheure vor dreißig Jahren das Plätz-
chen verbaut wurde, welches durch einen Winkel
der hinter der Scheure durchziehenden Hofesmauer
entſtand.


Ein großer Hollunderbaum, welcher an dieſer
Mauer grünte, überſchattete das Plätzchen und
machte es feucht. Neſſeln und Unkrautspflanzen
wucherten dort in wilder Fülle. Der Frohnbote
ſchlug einige der höchſten Neſſeln zurück, und ſeine
rauhen Fäuſte empfanden nichts von ihrem Bren-
nen. Er ſtieß mit dem Fuße die Kröten fort,
[129] die auf den feuchten Steinen in Menge ſaßen,
nahm ein Paar morſcher Bretter, womit der Brun-
nen überdeckt war, hinweg, beugte ſich über die
niedrige Brunnenmauer, ließ einen Stein hinunter-
fallen und freute ſich, als das Plätſchern unten
anzeigte, daß noch Waſſer in dem Brunnen war.
Er legte einige große Steine neben den Brunnen
und einen Strick, den er aus der Taſche zog,
legte er dazu. Dann ſchwang er ſich ungeachtet
ſeines Alters rüſtig an dem Hollunderbaume über
die Mauer, nachdem er noch ein Blatt von dem
Baume abgebrochen hatte. Auf dem Blatte pfiff
er eine Melodie, während er draußen durch Wieſen
und Felder nach ſeinen Beſitzungen ging. Zuerſt wollte
er das Nußholz und dann die Pfaffenwieſe beſuchen.


Als das Haus des Oberhofes ganz ſtill gewor-
den war, that es oben an der Thüre der Kammer,
worin das Schwert Karl’s des Großen gelegen
hatte, ein leiſes Klinken, ſo leiſe, als fürchte der
Klinkende, daß auch nur das geringſte Geräuſch
von ihm vernommen werden möchte. Darauf ſchlich
es eben ſo leiſe über den Gang nach dem Zimmer
Lisbeth’s, und dann wurde es wieder eine Zeit-
lang ganz ſtill, als werde an der Thüre gehorcht,
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 9
[130] ob Jemand in dem Zimmer ſei. Darauf klinkte
die Thüre des Zimmers ſchon etwas lauter und
als nun letztere geöffnet worden war, ging es
oben und that ein Kramen wie von Jemand, der
nicht mehr darauf achtete, ungehört zu bleiben.


Aber plötzlich ertönte unter dem Kramen ein
Schrei, es kam aus dem Zimmer geſprungen, die
Thüre deſſelben wurde raſch zugeworfen, es rannte
über den Gang, huſchte in die Kammer und auch
deren Thüre flog mit Geräuſch zu.


Kurz nach dieſem Vorgange betrat der Hof-
ſchulze mit dem jungen Grafen Oswald das Haus.
Das war ungefähr um die Zeit, als der Frohnbote
ſein Geſchäft am Brunnen gethan hatte. — Welche
Verſicherung begehrt Ihr von mir, daß ich Eure
Heimlichkeit nicht ausbringe? fragte Oswald ſeinen
alten Gaſtfreund. Ich bin willfährig mit Euch
gegangen, als Ihr mich oben im Forſte darum
erſuchtet, aber nun beeilt Euch und ſagt mir an,
was Ihr wollt. — Mit einem ſchweren Seufzer
ſetzte er hinzu: Es gefällt mir nicht mehr bei Euch
und ich muß fort.


Ich werde Ihnen da droben meine Meinung
veroffenbaren, da droben in der Kammer am Gange,
[131] ſagte der Hofſchulze ſo mühſam und ſtockend, daß
jedes Wort ſich wie von Klammern in ſeiner Bruſt
loszuringen ſchien. Er ließ den Gaſt vorangehen
und folgte ihm mit ſchweren und dröhnenden
Schritten.


Als ſie oben in die Kammer eingetreten waren,
ſchob der Hofſchulze den Riegel vor das Schloß
und warf ſeinen lichtblauen Feiertagsrock ab. Dann
reckte er ſeine Glieder und die ganze Geſtalt wuchs
wieder wie damals, als er im Mondſchein den
Jäger warnte, an die Geheimniſſe des Schwertes
zu rühren. Er wiegte die Arme und Fäuſte,
gleichſam um ihre Kraft zu prüfen, hin und her.


Oswald, durch deſſen Seele eine finſtere Ahnung
flog, ſagte nicht ohne Schauder: Was ſoll das?


Der Alte zog die buſchichten Brauen in die
Höhe und verſetzte kalt: Einer von uns Beiden
verläßt dieſe Kammer nicht lebend.


Was! rief Oswald entſetzt. Ihr wollt mich
ermorden? Zum Meuchelmörder wollt Ihr an
Eurem Gaſte werden?


Keinesweges, ſagte der Hofſchulze ruhig wie
in guten Tagen. Sondern es ſoll Alles mit der
9*
[132] Manier zugehen. Jetzt höret mich an, junger Herr
Graf oder Fürſt, oder wer Ihr ſonſt ſeyn möget,
denn es kann ſich treffen, daß ich auf dieſer Kam-
mer liegen bleibe, und drum iſt mir ſehr vonnöthen,
daß Ihr eine gute Meinung von mir heget und
behaltet. Das Gemüthe des Menſchen kann ein
Vieles ertragen, aber vom Uebermaaß wird es
in die Deſperation gethan. Ich bin deſperat,
Herre, und kann dafür nichts. Meine Seele iſt
voll Nöthe und Pein und ſchreit wie ein Hirſch
nach der Waſſerquelle. Es iſt zu viel Kreuz und
Herzeleid über mich gekommen in dieſen Paar
Tagen und das Letzte war das Schlimmſte. Mein
Schwert iſt mir geſtohlen, mein Schwert! mein
Schwert! Das Schwert von Carolus Magnus!
Ich bin wie Aſche und Scherben, wenn ich daran
gedenke. Nun behorchen Sie auch noch die Heim-
lichkeit, meine Heimlichkeit! Ei, Herre, war das
Recht? Nachdem ich Ihnen Logement gegeben
manchen Tag und mich ganz in der Ordnung mit
Ihnen betragen? Sie werden es ausbringen und
haben uns eine Schande angethan, eine Schande,
daß mir zu Muthe iſt, als wäre meiner Tochter
durch Sie Gewalt geſchehen —


[133]

Oswald rief: Ich ſchwöre, nichts …


… Zu verrathen, das wollen Sie ſchwö-
ren, fiel der Hofſchulze ein. — Sie ſchwören
es heute und brechen es morgen, ich verſtehe
mich auf ſolche Schwüre. Wer dergleichen ab-
ſonderliche Heimlichkeit erfuhr, der verräth
ſie auch an ſeinen Freund, oder an ſeine
Liebſte, oder an ein Blatt Papier, oder an die
Lüfte und die Sache kommt unter das Schwaben-
volk draußen im Reich. Nein, nur der Tod ſtopft
den Mund über dieſe Dinge, auch ſagen die alten
Rechte ganz genau, wer Freigerichtes Heimlichkeit
ſieht, ohne wiſſend zu ſeyn, der iſt des Lebens
los. Ich habe einen Haß auf Sie, wie auf keinen
Menſchen ſonſt in der Welt, denn — ſagen muß
ich Ihnen auch nur: In der Nacht zeigte mir das
Geſicht mein Schwert in Ihrem Verſchlage, darunter
ſtecken Sie alſo auch mit, und nun thun Sie das
— das — das —


Er hielt, von innerer Wuth zuſammengeſchnürt,
einige Augenblicke inne. Dann fuhr er pathetiſch
fort: So dachte ich da droben auf der Höhe am
Stuhl: Herr, Herr, wie ſoll das werden? Die
Heimlichkeit darf nicht von der rothen Erde, wie
[134] aber magſt du es gleichwohl ſchlichten? Du kannſt
nicht drei hinter ihm hergehen laſſen, die ihn faſſen
am Kreuzweg und aufhenken und ihm laſſen Geld
und Gold und ihr Meſſer neben ihn ſtecken in die
Borke des Baumes nach Königsrecht! — Und
darfſt du ihn locken in dein Gehöfte und abmeu-
cheln und ſollſt noch ſo etwas Schandhaftiges auf
dich laden in deinen urälteſten Tagen, o pfui, o
pfui! — Auf einmal aber that es in mir einen
Blitzſchlag und eine innerliche Erleuchtung und ich
wußte, wie ich mich zu faſſen und zu verhalten
habe. Denn ich bin zwar noch ſtark bei Kräften,
aber Sie ſind jung und auch nicht ſchwach, und
ſo ſind wir einander gleich. Deßhalb wollen wir
nun kämpfen um unſer Leben, Mann gegen Mann,
Auge in Auge blickend. Schlage ich Sie darnieder,
ſo iſt Ihr Grab im alten Brunnen bereitet und
die Heimlichkeit bleibt auf der rothen Erde, thun
Sie es mir an, ſo hat es Gott alſo gewollt; auf
jegliche Weiſe aber iſt dieſes ein wahres und auf-
richtiges Gottesgericht. Alſo friſch an’s Werk,
denn ich weiß mir ſonſt nicht zu helfen!


Er erhob eine Axt, die neben ihm ſtand und
ſah, indem er ſie leicht wie eine Feder empor-
[135] ſchwang, furchtbar aus, gleich Einem von den Strei-
tern Wittekinds in den Schlachten bei Detmold
und an der Haſe.


Seid Ihr bei Sinnen, Hofſchulze? rief Os-
wald. Ich fürchte mich vor keinem Feinde, aber
womit ſoll ich mich vertheidigen gegen Euch alten,
raſenden Mann?


Dort ſteht eine zweite Axt, ſagte der Hof-
ſchulze. Nehmt ſie, Herre; jegliches Geräth kann
zu einer Waffe werden in des Mannes Fauſt,
und wie geſchrieben ſteht, ſo ſind ſie vor alten
Zeiten auch ſolcherweiſe mit Streitäxten auf ein-
ander losgegangen.


Ich nehme die Axt nicht und haue mich nicht
mit Euch herum wie ein Schlächter und Stier-
fäller, verſetzte ſtolz und feſt der junge Graf.
Ihr ſeid, ſcheint es, in der Berſerkerwuth, dem
uralten Wahnſinne Eures Stammes. Ihr werdet
aber zu Euch ſelbſt kommen und Euch dann ſchä-
men mit mir ſo verfahren zu ſeyn um Poſſen …


Poſſen! ſchrie der alte Bauer mit einer ent-
ſetzlichen Stimme. Poſſen! wiederholte er eben
ſo laut und ſtieß den Stiel der Axt ſo heftig auf
den Boden, daß ein Theil des Kalks von der
[136] Decke fiel. — Herr! Herr! In den Poſſen bin ich
alt und grau geworden, und mit den Poſſen habe
ich mir Recht genommen an einem Schalk und
Sohnesmörder, und mit den Poſſen folgen mir
meine Landsleute, wohin ich ſie haben will, wie
eine Lämmerheerde, und um die Poſſen verſtehen
ſie mich, ohne daß wir ein Wort mit einander zu
reden brauchen, alſo mögen es wohl für Euch da
draußen in Schwabenland Poſſen ſeyn, aber für
mich und meines Gleichen ſind es keine Poſſen
nicht. — Und Herr, ich will jetzo mein Recht
haben und meine Rache an Euch und die Sicher-
heit von wegen der Heimlichkeit. So wahr der
Herr lebt, ich ſuche das Alles nicht wie ein ſchlech-
ter und boshafter Menſch, ſondern in grauſamer
Herzensangſt und Unruhe — wißt Ihr ein ander
Mittel, ſagt es an — aber werden muß mir es;
mein Recht und die Sicherheit, und werden ſoll
mir es, ſo wahr uns hier Niemand hört als Gott
und die vier weißen Wände, denn der Frohnbote
hat die Menſchen hinweggeſchafft vom Hofe und nur
das blöde Vieh brüllt da drunten in ſeinem Stalle.


Das Saatlaken bewegte ſich und eine bleiche,
jungfräuliche Geſtalt trat dahinter hervor. Ihr
[137] irrt Euch, Hofſchulze, ſagte Lisbeth zitternd am
ganzen Körper, aber mit feſter Stimme. — Aus
meinem Verſtecke treibt es mich hervor, Euch vor
Thorheit zu retten. Nicht Gott allein hörte Euch
und die ſtumme Wand, ſondern auch ich hörte
Euch und er ſetzte mich zu einer Zeugin Eurer
wilden Gedanken. So hat Euch alſo Gott mit
Eurem Vermeſſen in mir zu Schanden werden
laſſen, deßhalb ſteht von den Werken blinden
Grimmes ab.


Die Gewalt dieſer plötzlichen Erſcheinung war
zu groß, als daß der Hofſchulze nicht vor ihr mit
ſeiner doch nur fieberhaften Aufregung hätte zu-
ſammenbrechen müſſen. Er ließ die Axt fallen,
ſeine Geſtalt ſchrumpfte gleichſam vor dem zittern-
den Mädchen, welches doch ſo feſt ſprechen konnte,
ein, ſtumm und gebeugt verließ er die Kammer.


Oswald war überraſcht, freudig und kummer-
voll vor Lisbeth in die Kniee geſunken. Ach, ſie
war wieder da, aber wie ſah ſie aus und wie
ſtreng und kalt hatte ſie ihn einen Augenblick an-
geſehen, um dann beharrlich von ihm wegzublicken! —
Kommſt du endlich wieder zum Vorſchein, Lisbeth?
ſtammelte er. O was hatteſt du vor? — Du
[138] haſt mir mein Leben gerettet, denn ich glaube, die
Kraft würde mir ausgegangen ſeyn dem wüthen-
den Alten gegenüber.


Sie haben mir dafür nicht zu danken, Herr
Graf oder Fürſt, um zu ſprechen wie der Hofſchulze
ſprach, verſetzte Lisbeth. Was ich hier that, würde
ich jedem Fremden erwieſen haben. Sie wollte
das in einem kalten Tone ſagen, aber die Stimme
bebte ſo heftig, daß es wie Zorn klang.


Die Liebe hört in ſolchen Fällen nur auf die
Worte und deren Klang. Zornig und beſtürzt
ſprang er auf, trat weit von ihr zurück und ſagte
ſchneidend: Alſo iſt es wahr? Alſo doch verab-
ſchiedet nach vierundzwanzig Stunden?


Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu reden,
erwiederte Lisbeth kaum hörbar. Ich bitte Sie,
mich ruhig meiner Wege gehen zu laſſen. Ich
wollte nach der Stadt zu dem Herrn Diaconus,
von dem ich vorhin einige Zeilen auf meinem
Zimmer gefunden habe, daß er mich aufnehmen
will.


Nach der Stadt wollte ich auch, ſagte er kalt
lächelnd. Wie aber die Sachen zwiſchen uns ſtehen,
ſo werden Sie wohl meine Begleitung ablehnen.


[139]

Ich fürchte mich nicht und bin gewohnt, allein
zu wandern, antwortete Lisbeth. — Uebrigens
darf ich Ihnen ja die offene Straße nicht verbieten,
die Ihnen wie mir gehört. — Sie verließ die
Kammer und wäre er ihr nachgefolgt, ſo hätte er
ein Schluchzen wahrnehmen können, welches das
ganze Weſen des armen Kindes aufzulöſen drohte.


Er hätte ſie nur fragen dürfen: Was haſt du
gegen mich Lisbeth? Sage mir’s! Selbſt wenn
du meinſt, daß ich geraubt und gemordet habe,
ſo mußt du mir mein Verbrechen doch nennen. —
Dann hätte ſie geſprochen und er hätte geſprochen
und aus dem Sprechen wäre wahrſcheinlich ein
Lachen über die unnützen Kümmerniſſe geworden.
Aber er dachte nicht daran ſie zu fragen. Denn
Liebe iſt Alles; auch ungerecht und hochmüthig iſt
Liebe, ſie ſieht in manchen Fällen die Geliebte
lieber treulos oder veränderlich, als unter der
Wucht eines Mißverſtändniſſes erliegend.


Ingrimmig knirrte er mit den Zähnen, als er
allein war. Es iſt unglaublich! rief er, freilich
aber doch wahr. Er ſtieß ſeine Stirn wider die
Wand, um nur einen recht heftigen körperlichen
Schmerz zu empfinden. Dann rief er in ſeine
[140] Bruſt hinein, in welcher es eben wieder unheim-
lich zu wühlen begann: Herauf Ihr kleinen rothen
Schlangen! Herauf an’s Tageslicht! — Die Art
nahm er, die der alte wilde Bauer ihm hatte auf-
nöthigen wollen und warf ſie mit ſolcher Gewalt
nach einem Kaſten, daß die Schärfe des Beils
tief in das Holz fuhr und darin ſtecken blieb.


Ein Geräuſch draußen verrieth ihm, daß Lis-
beth fortgehe. Obgleich ſie ihm nicht mehr gehörte,
ſo war ihm doch, als ſei noch Leben im Oberhofe,
ſo lange Lisbeth darin verweilte. Nun aber kam
es ihm vor, als öffne ſich das Grab. — Fort
aus dem Grabe! rief er und ſprang Lisbeth nach.
Sie ſtand, ihr Bündelchen unter dem Arme, unten
einen Augenblick ſtill und zuckte zuſammen, als
ſie Oswald kommen ſah. Er wollte ihr das Bün-
del abnehmen, ſie verſagte es mit ſtummer Gebärde.
Sie ging und er ſchlug, mehrere Schritte zwiſchen
ſich und ihr Raum laſſend, denſelben Weg ein. So
geſchieden und ſich ſcheidend verließen ſie den Ober-
hof, in welchem ihnen viel begegnet war, Beides,
Freude und Schmerz.


[141]

Eilftes Capitel.
Eine Art von Feldzug.


In keinem Trauerhauſe fehlt es an Jemand,
der auf eine ſo lächerliche Weiſe zu weinen weiß,
daß er die Wehklage der Anderen faſt in Unord-
nung bringt und nahe dem Umſchlagen in eine
geheime Heiterkeit. — Der würdigſte Vater mag ſich
bei der wohlgemeinteſten und wohlgeſprochenſten
Ermahnung an ſeine mannbare Tochter ja davor
in Acht nehmen, daß irgend ein ſonderbar mit-
handelnder Zipfel ihm ein durchaus komiſches An-
ſehen leihe. — Ernſte Männer vom größten Ver-
dienſt haben nicht ſelten das Unglück gehabt, daß
ihre feierlichſten Handlungen durch den ungeſchick-
ten Eifer eines Anhängers faſt wie Schnurren
ausliefen. — Mir iſt, um auf das Trauerhaus noch
einmal zurückzukommen, der Fall bekannt, daß
eine ganze Familie am Begräbnißtage einer theuren
[142] Verwandten in das tiefſte Leid eingetaucht um einen
Tiſch her verſammelt ſaß, plötzlich aber zu einem
ärgerlichen und unwiderſtehlichen Lachen fortgeriſſen
wurde, weil Einer, und gerade der Schluchzendſte,
ſacht eine baumwollene Nachtmütze hervorholte,
dieſe ſich auf den Kopf ſetzte und unter derſelben
fortfuhr zu ſchluchzen. An und für ſich war dieſe
Handlung höchſt vernünftig, weil er das Heran-
nahen eines Rheumatismus im Kopfe fühlte und
demſelben mit der wärmenden Hülle begegnen
wollte. Gleichwohl wirkte ſie in ſo anſtößig er-
heiternder Weiſe! Denn eine baumwollene Nacht-
mütze gehört nun einmal zu den Dingen, die un-
widerſtehlich jeden feierlichen Ernſt zerſtören.


Der neckende Geiſt, welcher bei allen trüben
oder erhabenen Angelegenheiten des Lebens ſein
Spiel zu treiben ſcheint, hatte auch den Küſter
wieder in die Nähe des Oberhofes geführt. Dieſer
Mann war nämlich gekommen, ſein Deputat an
Lebensmitteln von der Hochzeit einzufordern. Raſch
hatte ſich das Geſchäft gemacht, weil ſchon Alles
für ihn bereit ſtand. Jetzt wandelte er mit ſeiner
korbtragenden Magd den Weg voran, den auch
unſer leidendes Liebespaar zu gehen hatte. Der
[143] Nebel war endlich verweht, die Sonne ſah wieder
golden vom Himmel, es war ein angenehmer, klarer
Tag, wenn auch etwas kühl. In der Heiterkeit
der Lüfte war dem Küſter der Gedanke zugeweht,
nach ſo manchen Aengſten ein frohes und genüg-
liches Mahl im Freien zu halten, da er ſich auf
der Hochzeit ſelbſt, wie wir wiſſen, nicht zum
vierten Theile ſatt gegeſſen hatte. Er bezweckte
dabei zugleich, wie wir nachmals hören werden,
die Erfüllung ſeines dritten Lebenswunſches, des
Wunſches, der in dem Geſpräche mit dem kupfer-
naſigen Schirrmeiſter unausgeſprochen blieb, weil
das Geſpräch damals leider nicht zum ruhigen Ab-
ſchluſſe gedieh.


In ſolchen Gedanken ſchritt er denn alſo mit
ſeiner Magd fürbaß. Die Magd konnte wegen
des ſchweren Korbes nicht raſch gehen, er beſtellte
ſie daher nach dem ſogenannten alten Spritzen-
häuschen, welches auf der Hälfte des Weges lag,
und ging eilig voran, weil er unterweges in einem
einzelnen Hauſe noch eine Verrichtung hatte.


Zu der langſam nachwandelnden Magd geſellte
ſich aber, als ihr Herr ihrem Geſichte entſchwun-
den war, ein zweiter Wanderer, der Schulmeiſter
[144] Ageſel. Die Magd hatte wohl von den Einbil-
dungen des Schulmeiſters vernommen, da ſie aber
zu den muthvollen Perſonen ihres Geſchlechtes ge-
hörte, ſo fürchtete ſie ſich nicht vor ihrem Beglei-
ter, vielmehr war es ihr lieb, Geſellſchaft zu
finden. Der Schulmeiſter ſeinerſeits war erfreut,
die Magd zu finden, denn er wollte an ihren
Herrn, nicht ihm ein Leid zuzufügen, ſondern den
Läugner von ſeinen geſunden Verſtandeskräften zu
überzeugen. Nachdem er im Allgemeinen über dieſen
Punct mit der Magd geſprochen hatte, ſagte er zu
ihr: Es iſt ja mein offenbarer Schaden und eine Sache,
die mir mein ganzes Brod und den Credit in der
Bauerſchaft verderben kann, wenn der Küſter, der
noch dazu ein halber Amtsbruder von mir iſt, überall
umherläuft und mich bei den Leuten anſchwärzt.
Deßhalb muß ich ihn nothwendig davon überzeugen,
daß ich meine fünf Sinne beiſammen habe.


Natürlich, verſetzte die Magd. Wenn mich
Einer eine Diebin ſchilt, ſo muß er auch hören
können, warum ich keine Diebin bin.


Nun alſo! fuhr der Schulmeiſter eifrig fort.
und heute muß es geſchehen, denn die Gelegenheit
kommt mir nie ſo günſtig wieder.


[145]

Wie das? fragte die Magd.


Wenn ich ihn in der Stadt aufſuche oder im
Freien anſprenge, ſo reißt er aus, wie er mich
nur erblickt. Hält er aber, wie Ihr mir ſagt,
im alten Spritzenhäuschen ſeine Mahlzeit ab, und
ich trete mit meiner Rede unverſehens in den Ein-
gang, ſo muß er wohl Stich halten und alle meine
Gründe anhören, denn es iſt wider die Natur der
Furcht, daß er gegen mich ſtürzen, mich überren-
nen und ſo das Freie gewinnen ſollte.


Die Magd dachte einen Augenblick nach und
ſagte dann: Da iſt nur Eines zu befürchten.


Was? fragte der Schulmeiſter.


Daß er ein Fach an der anderen Seite aus-
ſchlägt und ſo durchbricht. Denn das Spritzen-
häuschen iſt ſehr alt und verfallen und die Lehm-
wände haben überall große Löcher, zu denen der
Tag einſcheint, und wenn mein Herr in der Angſt
und Furcht gegen ſo ein Loch ſtürzt, ſo ſtehe ich
nicht dafür, daß er die ganze Wand einrennt,
denn, kriegt er die Manſchetten, da iſt mit ihm
nicht zu ſpaßen.


Deßhalb müßt Ihr mir einen Gefallen thun,
Mädchen, ſagte der Schulmeiſter.


Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 10
[146]

Und welchen? fragte die Küſtermagd.


Tretet vor das größte Loch auf der anderen
Seite, und lehnt Euch gegen die Wand, damit
wenigſtens die Hauptgefahr des Entrinnens abge-
wehrt wird, denn daß er auch Euch umrennen
ſollte, iſt nicht wahrſcheinlich, weil Ihr eine robuſte
Perſon ſeid.


Ich will das recht gerne thun, verſetzte die
Magd, denn ſeinem Nebenmenſchen muß man helfen,
wo man kann.


Nachdem dieſes ſinnreiche Geſpräch zwiſchen
dem Schulmeiſter und der Magd ſo weit gediehen
war, wurde auch noch verabredet, zu welcher Zeit
der Anſchlag gegen den Küſter ausgeführt werden
ſollte. Der Schulmeiſter ſagte der Magd, daß er
ſie in der Nähe des Spritzenhäuschens vorangehen
laſſen und ſich verſtecken wolle, bis ſie ihm ein
Zeichen gebe, daß es für ihn Zeit ſei, hervorzu-
brechen und mit ſeinem Amtsbruder ein Wort der
Verſtändigung zu reden.


Nach dieſen Verabredungen gingen die beiden
Perſonen ihres Weges weiter. Einige Zeit lang
blieb nun die Straße ganz ſtill und einſam. Dann
aber erhob ſich ein auffallender Lärmen die Fel-
[147] der hindurch, welche ſie zu beiden Seiten begrenz-
ten. Die jungen Burſche, welche das Hochzeit-
gefolge gemacht hatten, waren nämlich noch in
irgend einem Kruge verſammelt geweſen, um einen
Nachtrunk zu halten, denn der Bauer kann eine
Luſtbarkeit, wenn ſie auch mit allen Anhängen
vorüber iſt, immer noch nicht ſchließen. Im
Kruge war nun unter ſie eine Kunde gedrungen,
daß der junge Fremde etwas Unrechtes habe aus-
gehen laſſen. Was es geweſen ſei, darüber lau-
teten die Nachrichten verworren oder ſchwiegen
auch wohl ganz. Nach einigen Berichterſtattern
ſollte er das Schwert weggenommen haben, nach
Anderen ausfallend gegen den Hofſchulzen geweſen
ſeyn, ein Dritter kam der Wahrheit näher, indem
er erzählte, der Fremde habe die Heimlichkeit dro-
ben am Freiſtuhle in Unordnung gebracht. Es
genügte ihnen aber überhaupt nur zu hören, daß
ein Fremder irgend ein Unrecht begangen habe,
um ihre ſchon erhitzten Köpfe noch mehr zu ent-
flammen. Die Meiſten hatten ihre Gewehre noch
bei ſich, in mehreren der Läufe ſtaken ſogar noch
Schüſſe. An Pulver fehlte es auch nicht und in
ſeiner Aufregung begann nun der Haufen, nach-
10*
[148] dem er viel getrunken hatte, durch die Gegend zu
ſchwärmen, ohne eine eigentlich feindſelige Abſicht,
aber doch gefährlich in ſeiner planloſen Leidenſchaft,
wenn dieſelbe durch den geringſten Anreiz zum
Ausbruche gebracht wurde.


Sie ſchoſſen ihre Gewehre ab, luden wieder,
lärmten und ſchrien. Zwiſchen dieſen Trupps von
drei, vier, fünf Menſchen, die näher oder ferner
die Straße umſchweiften, kam nun unſer verdü-
ſtertes Paar einhergegangen. Lisbeth ging auf
der linken Seite der Straße, Oswald auf der
rechten und zwiſchen ihnen war die ganze Breite
des Weges. Um nichts auch verminderten ſie die-
ſelbe, wenn ein lärmender Trupp mit drohender
Gebärde links oder rechts an ihnen vorüberſtreifte,
oder ein Schuß fiel, der, wie man am Pfeifen der
Kugel merkte, durch einen ſchlimmen Zufall leicht
das Verderben hätte bringen können. Schweigend,
bleich, ohne ſich irren zu laſſen, ging das einander
entfernte Paar ſeinen Weg durch dieſe Bedrohungen
und Schreckniſſe hindurch und nur, wenn an Lis-
beths Seite ſich ein lärmender Trupp zeigte, oder
ein Schuß fiel, ſah ſich Oswald beſorgt nach ihr
um, warf aber, wenn er bemerkte, wie ſie ohne
[149] ſeines Beiſtandes in dieſen Gefahren ſich bedürftig
zu zeigen, fürder ſchritt, einen Blick des ſchmerz-
lichſten Zornes dann nach der anderen Seite der
Felder.


Ungefähr eine halbe Stunde mochten ſie in
dieſem Lärmen und Schießen gegangen ſeyn und
wirklich mußte der Himmel über ihren Häuptern
wachen, denn ſonſt hätte gewiß die Hand irgend
eines der berauſchten Schützen den Lauf des Ge-
wehres in verhängnißvoller Richtung angeſchlagen.
Da ſah Oswald in einiger Entfernung auf einem
freien Platze unter Bäumen vor ſich einen Haufen
von wohl zwanzig Bauern, die ſämmtlich mit Ge-
wehren bewaffnet waren. Augenſcheinlich lauerten
die wilden Menſchen, deren Reden und Schwadro-
niren ſchon von weitem ſich hören ließ, ihm auf.
Er erſchrak. An ſich dachte er nicht, nur an
Lisbeth, wie er ſie ungefährdet dem rohen Haufen
vorüberbringen möchte. Es kam ihm in dieſer
Noth ein Gedanke und da ihm nichts Beſſeres ein-
fallen wollte, ſo beſchloß er ſein Heil mit dem zu
verſuchen, was ihm eben eingefallen war.


Raſch ging er voran und muthig auf den Haufen
zu. Zuvorderſt ſtand ein langer junger Kerl in
[150] blauem Kittel, der ſein Gewehr drohend durch
die Luft ſchwang und ihm wie der Anführer der
Uebrigen vorkam. An dieſen beſchloß er ſich mit
ſeiner Kriegsliſt zu wenden, die auf dem uralten
Grundſatze des Herrſchens durch Theilung beruhte.


Er begrüßte daher den Menſchen ſo freundlich,
als ſeine Stimmung es ihm geſtatten wollte und
bat ihn, mit ihm zur Seite zu treten, da er ihm
nothwendig etwas im Geheimen zu ſagen habe.
Der Menſch ſah ſeine Cameraden fragend an,
folgte aber doch dem Erſuchen. — Ihr ſcheint mich
hier nicht durchlaſſen zu wollen, ſagte Oswald zu
ihm, ſo daß es die Uebrigen nicht hören konnten.
Wirklich verſperrten ſie die ganze Straße. — Nein,
ſagte der Menſch, denn Sie haben was begangen.
— Ja, das habe ich auch, erwiederte Oswald,
und es thut mir herzlich leid, aber es läßt ſich
doch noch ein Wort darüber reden, und zu Euch
muß ich das ſprechen, denn Ihr ſeid der einzige
Nüchterne und Verſtändige von der ganzen Com-
pagnie da. — Ja, der bin ich, erwiederte der lange
Bauer und taumelte. — Alſo nur her das Wort,
denn ein Wort muß der Menſch mit ſich reden laſſen,
abſonderlich, wenn er vernünftig angeſprochen wird.


[151]

Ihr ſeht doch da das Frauenzimmer? ſagte
Oswald. — Die ſehe ich, verſetzte der Bauer. —
Nun, dieſem jungen Frauenzimmer habe ich ver-
ſprochen, ſie eine Strecke zu geleiten, und dagegen
könnt Ihr nichts haben. — Nein, dagegen kann
man nichts haben, ſagte der Bauer. So laßt
mich ſie alſo begleiten, bis wohin ich es ihr ver-
ſprochen habe und dann kehre ich hieher zu Euch
zurück, und bringe mit Euch meine Sache an
dieſem Platze in Ordnung, fuhr Oswald fort. —
Das müßt Ihr nun den Anderen verdeutſchen,
denn Ihr ſeid der einzige Nüchterne und Verſtän-
dige von der ganzen Compagnie da.


Der lange Bauer, der gerade noch ſo viel Ver-
ſtand beſaß, um gegen den Reiz der Eitelkeit
empfindlich zu ſeyn, wandte ſich ſtolz zu ſeinen
Genoſſen um und rief in einem hochfahrenden
Tone: Macht Platz da dem Herrn! — Was!
verſetzte der Haufen; biſt du geck? — Macht Platz
da, Ihr betrunkene Bagage, rief der einzige Nüch-
terne und Verſtändige noch lauter. — Selbſt Ba-
gage! ſchrien die Anderen und Einer rief: Ich
glaube, der hat Tollbeeren gefreſſen! — Ich will
dir die Tollbeeren an den Hirnkaſten geben! er-
[152] wiederte der Lange und ſchoß ſein Gewehr ab,
zwar nur in die Luft, indeſſen gab dieſer Knall
das Zeichen zu einer allgemeinen Schlägerei. Denn
Einige ſtürzten auf den Schießenden zu und rann-
ten dabei Andere über, die, hiedurch beleidiget,
ſich zu rächen entbrannten, in der Verwirrung ihrer
Sinne aber nicht die Ueberrennenden angriffen,
ſondern dritte Unſchuldige, welche ſich am fernſten
von dem Streit gehalten hatten. So war bald
Jeder, ohne daß er wußte wie? mit einem Gegner
verſehen; Alles balgte ſich herum, Ohrfeigen, Püffe,
Stöße regnete es, wenn auch nicht vom Himmel;
dazwiſchen platzten die Gewehre ab, die aber zum
Glück hier alle nur mit Pulver geladen waren,
und es gab eine wilde Kampf- und Blutſcene
(denn ſchon manche Wange und Naſe war aufge-
ſchlagen) welche ſich von der Straße nach dem an-
grenzenden Kornfelde wälzte, weil die Schwächeren
zufällig an dieſer Seite geſtanden hatten und ſich
dorthin zurückzogen, um wenigſtens auf Garben
und Mandeln zu einer weicheren Niederlage zu
gelangen.


Als Oswald ſeine Liſt ſelbſt über die Erwar-
tung hinaus gelungen und den Platz frei ſah,
[153] winkte er Lisbeth, die in einiger Entfernung ängſt-
lich ſtill geſtanden hatte. Scheu ging ſie über den
Platz, ohne ſich nach der Schlägerei umzuſehen,
und als ſie einige hundert Schritte von dort außer
dem Bereiche dieſer Rohheiten war, erwartete ſie
ihren Beſchützer. — Ich habe Ihnen Dank zu ſagen
für Ihren Beiſtand, ſprach ſie, als Oswald ſich
ihr genähert hatte. — Nicht den geringſten, ver-
ſetzte er. Ich würde mich jedes Frauenzimmers
angenommen haben, mit welchem ich deſſelben
Weges gegangen wäre. — Sie wandte ſich von
ihm ab und er von ihr und Beide gingen in der
früheren Weiſe weiter.


Eine halbe Stunde von dort lag das alte
Spritzenhäuschen. Dieſes kleine Gebäude war
unter den Streitigkeiten zweier Bauerſchaften dar-
über, welche daſſelbe zu erhalten habe? verfallen
und darauf hatten ſich die beiden Bauerſchaften
neue Spritzenhäuſer erbauen müſſen. Die Wolken
des Himmels ſchauten durch die Oeffnungen im
Dache und die Lüfte des Feldes fuhren zur Thür-
öffnung hinein und zu den Löchern in dem lehmer-
nen Fachwerke wieder hinaus. — In dieſem luf-
tigen Luſthäuschen hatte der Küſter ſein Mittags-
[154] quartier aufgeſchlagen, um eine recht vergnügliche
Mahlzeit zu halten, nach welcher ſein Sinn mit
einem beſonderen Verlangen ſtand. Er ſaß auf
altem Holzwerk, welches ſich dort noch hatte vor-
finden laſſen; vor ihm war eine Serviette ausge-
breitet, auf welche die Magd nun Brod und Fleiſch
legte, auch eine Flaſche Wein ſtellte, die man
ihm auf beſonderes Wünſchen vom Oberhofe hatte
mitgeben müſſen, weil er ſeiner Verſicherung nach
am Hochzeittage der Furcht vor dem Schulmeiſter
wegen zu keinem ordentlichen Schlucke gekommen
war. Die ganze Zurüſtung dieſes ländlichen Mahles
ließ der Küſter mit einem feierlichen Schmunzeln
geſchehen. Er weidete ſich wie es ſchien an den
großen Augen der Magd, welche nicht begriff,
warum ihr Herr, der, wenn er ſonſt im Freien
etwas verzehrte, ein Stück Brod ohne viele Um-
ſtände aus der Taſche aß, zu dieſer Mahlzeit ſo
ſchwerfällige Vorbereitungen machen ließ.


Nachdem alles Eßbare aufgeſetzt worden war,
und die Magd ein Glas Wein eingeſchenkt hatte
(denn auch ein Glas war vom Oberhofe leihweiſe
mitgegeben worden) theilte der Küſter ſeiner Die-
nerin ein Stück Brod und Fleiſch zu und fragte
[155] ſie dann, bevor er ſelbſt anbiß, was ſie wohl
davon denke, daß er ſich hier ſo häuslich nieder-
laſſe und ſein Mittagseſſen im Freien halte?


Ja, was ſoll ich davon denken? erwiederte die
Magd. — Ich denke, es giebt hin und wieder
curioſe Einfälle, die dem Menſchen anwehen, wie
der Wind.


Du denkſt das vermuthlich nur, Gudel, weil
wir uns hier im Winde befinden, der allerdings
einigermaßen ſtark durch das Spritzenhäuschen hin-
durch zieht. Nicht ein bloßer curioſer Einfall iſt
es von mir, im Freien hier mir gehörig decken
zu laſſen, ſondern lange hatte ich mir vorgenommen
und nur immer nicht der Gelegenheit dazu hab-
haft werden können, einmal Hochzeitfreude ohne
den läſtigen Zwang, den mir mein Stand aufer-
legt, zu genießen. Es war dieſes mein dritter
und größter Lebenswunſch. Denn wohl mag Man-
cher, der draußen umherſchleicht, den Küſter benei-
den, daß er ſich an der Hochzeittafel ſo vollſtopfen
kann, wie Jener denkt, weil er nahe der Schüſſel
ſitzt, und ihm unter den Erſten ſtäts präſentirt
wird. Aber die Bürde des Amtes beachtet der
oberflächliche Urtheiler nicht! Keinen beſchäftigteren
[156] Mann giebt es wohl auf einer Hochzeit als den
Küſter. Denn erſt muß er ſingen und dann muß er
beten und über Tiſche die Augen aller Orten haben,
ſeinen zierlichen Spaß anbringen zur rechten Zeit
und in rechten Einſchnitten, und abtrumpfen, wer
ſich zu mauſig macht und ermuntern, wer wie ein
Tuckmäuſer daſitzt. Während dieſer Amtshand-
lungen ißt und trinkt nun zwar ein Küſter, was
er kann, aber auch nur gleichſam pflichtmäßig
ſchlingt er Alles hinunter, ohne rechtes Gefühl
von Speiſe und Trank. Weßhalb ich ſagen darf,
daß mir von den mehreren hundert Hochzeiten,
denen ich beigewohnt habe, wenig Erinnerung ver-
blieben iſt. Nun aber muß es nach meiner Ueber-
zeugung eine der ſchönſten Empfindungen ſeyn,
in voller Seelenruhe und in dankbarer Erhebung
zu Gott, dem Geber alles Guten, zugleich der
Feſtesſpeiſe und Tränkung froh zu werden, zu
genießen und dabei der feierlichen Gelegenheit zu
denken, bei welcher man genießt, des Tages, an
welchem ein von Gott ſelbſt geſtifteter Stand ſich
begründet. Dieſe aus Erbauung und Wohlgeſchmack
zuſammengeſetzte Empfindung hätte ich gern ſchon
lange einmal gehabt, konnte aber wie geſagt auf
[157] den Hochzeitſchmäuſen ſelbſt nie dazu gelangen.
Als ich nun im Oberhofe vorgeſtern durch gerechte
Furcht vor einem Raſenden um alle Hungers-
ſtillung gebracht wurde, erkannte ich plötzlich den
Finger Gottes und entſchloß mich ſogleich zu dieſem
meinem heutigen Hochzeitnachſchmauſe, den ich
denn auch bei noch friſcher Erinnerung an Predigt,
Lied, Orgelſpiel, abgelegt die Laſt meines Amtes,
abgeſtreift die Feſſel des Ranges, hier unter
Gottes freiem Himmel (denn das Dach des Spri-
tzenhäuschens will wenig ſagen) in der ſchönen ge-
miſchten Empfindung zu halten denke, welche, wie
ich deutlich verſpüre, währenden Redens bereits
in mir aufgeſtiegen iſt. — Wollteſt du mich aber
fragen, Gudel, warum ich nicht zu Hauſe nach-
ſpeiſe, ſo wäre dieſes eine unnütze Frage. Denn
abgeſehen von der Currende, welche heute zu mir
gelaufen kommt, um die Büchſe zu überreichen,
und welche mir alle Gedanken vertreiben würde,
ſo fehlt mir überhaupt zwiſchen meinen vier Pfählen
bei dem Reden meiner Ehefrau jegliche Einbil-
dungskraft, und ſie würde nur gemeines Eſſen
ſeyn, dieſe Hochzeitſpeiſe, welche ich dort zu mir
nähme.


[158]

Die Magd hatte von der langen Rede ihres
Brodherrn wenig oder nichts verſtanden. Sie
dachte nur an den Schulmeiſter, von dem ihm eine
Ueberraſchung bevorſtand und fragte den Küſter:
Mögt Ihr Jemand lieber vor Tiſche ſprechen, oder
nach Tiſche, Herr?


Ich weiß nicht, wie du auf dieſe Frage kommſt,
Gudel, verſetzte der argloſe Küſter. Indeſſen, da
du einmal fragſt, ſo antworte ich; nach Tiſche
ſpreche ich Niemand gern, wie du weißt, ſondern
liebe zu ſchlummern.


Wohl, ſo will ich draußen auch mein Stück
Brod und Fleiſch verzehren, erwiederte die Magd
ohne allen logiſchen Zuſammenhang. Sie ging
aus dem Spritzenhäuschen, ſtellte ſich an die durch-
löcherte Wand und winkte dem Schulmeiſter, der
ſich in der Nähe ſchon verſteckt aufgeſtellt hatte.


Leiſe ſchleichend näherte ſich der Schulmeiſter
dem Spritzenhäuschen. Auch er hatte eine Rede
vorbereitet, faſt ſo lang als die des Küſters ge-
weſen war. Sie begann ſo: Herr Amtsbruder,
es iſt endlich Zeit, verjährten Irrthümern zu ent-
ſagen. Der Mann ſoll den Mann erkennen, wie
er iſt, das iſt Mannespflicht. Schämen ſoll der
[159] Mann ſich nicht, erkannten Irrthümern zu entſagen.
Blicken Sie in das Herz eines Mannes, welcher
Ihrer Freundſchaft nicht unwürdig iſt, ſtoßen Sie
einen Mann nicht von Ihrer Bruſt zurück, welcher
an derſelben zu ruhen recht herzlich ſich ſehnt! —
Nach dieſem Erregung des Gefühls bezweckenden
Eingange wollte er durch eine klare Auseinander-
ſetzung auf den Verſtand des Verſtandesläugners
wirken.


Jenen Eingang ſtill für ſich wiederholend ſchlich
er zum Spritzenhäuschen, worin der Andere eben,
auch durch ſeine Rede zu einer Art von erbau-
lichem Seelentaumel geſteigert, das erſte Stück
Rindfleiſch in die Hand genommen hatte. In
dieſem Augenblicke hörte der Küſter hinter der
Wand neben der Thüröffnung mit ſanfter Stimme
ſagen: (denn der Schulmeiſter wollte ſeine Er-
ſcheinung ſtufenweiſe vorbereiten) Herr Amtsbru-
der, es iſt endlich Zeit, verjährten Irrthümern
zu entſagen .... Er kannte die Stimme — „ge-
ronnen faſt zu Gallert durch die Furcht“ ſaß er
da, das Stück Rindfleiſch ſtarr erhoben haltend
vor dem geöffneten und doch nicht zufaſſenden
Munde, ein mitleidswürdiges Bild! Aber eine
[160] ſchwache Hoffnung im letzten Winkel ſeines Her-
zens flüſterte ihm zu: Nein, es iſt nicht möglich,
es muß eine Täuſchung ſeyn, ſo hart kann dich
der Herr nicht ſtrafen. — Doch da erſchien in
der Thüröffnung das Entſetzliche, die Harpye, die
nun abermals auch dieſe Nachmahlzeit beſudeln
wollte, das Haupt der Gorgone wurde ſichtbar,
wirklich ſtand der tolle Kerl, der Ageſilaus, in
der Thüre, dießmal ſogar mit einem Knotenſtocke
bewaffnet! Aufſprang der Küſter, ſchleuderte dem
Feinde, was er in der Hand hatte, in das Ant-
litz, nämlich das Rindfleiſch, und ſtürzte ſchreiend
nach dem hinteren Theile des Häuschens, ſich gegen
die lehmerne Wand drückend und mit Augen, die
faſt aus ihren Kreiſen ſchoſſen, nach ſeinem Gegner
ſtarrend. Der Schulmeiſter, von dieſer Unver-
nunft erzürnt und von dem Wurfe mit dem Rind-
fleiſche auf das Empfindlichſte beleidigt, verlor
nun alle Geduld. Mit den Worten: Wenn du
verfluchter Kerl nicht hören willſt, ſo ſollſt du
fühlen! ſprang er, den dicken Knotenſtock ſchwin-
gend, in das Häuschen auf den Küſter zu. Un-
fehlbar würde er dieſen jetzt für ſeine Meinung, er
ſei raſend, wie ein Raſender abgeſtraft haben, wenn
[161] nicht die Verzweiflung den Küſter gerettet hätte.
Hatte derſelbe vorher geſchrieen, ſo brüllte er
nunmehr. Brüllend griff er mit der Fauſt durch
ein Loch der Lehmwand hinter ſich und faßte die
Magd, welche außen wacker gegengeſtemmt ſtand,
in den Schopf. Die Magd, welche ſich ſo ſchmerz-
lich berührt fühlte, vergaß nun auch ihre Aufgabe,
die Wand zu halten; ſie zerrte ſich vielmehr mit
aller Kraft ihres ſtarken Leibes von der Wand
ab, um der Fauſt aus dem Schopfe quitt zu wer-
den. Dadurch wurde der Küſter, der ſich an dieſem
letzten Strohhalme in ſeiner äußerſten Noth, an
einem menſchlichen, mitfühlenden Weſen, krampf-
haft feſthielt, gegen die Lehmwand heftiger gepreßt.
Die Lehmwand leiſtete unter ſolchem Drucke keinen
längeren Widerſtand, ſondern brach zuſammen und
der Lehm überſchüttete den Küſter ſcheußlich gelb
von oben bis unten, ſo daß er ausſah, wie ein
König der gelben Erbſen; indeſſen wurde er von
der Magd, an deren Schopfe er gleichſam wie ein
Geſchleifter hing, in das Freie geriſſen und er-
hielt nur einen Schlag über die Naſe vom Schul-
meiſter. Der genothängſteten Magd glückte es
endlich, den Brodherrn mit Zurücklaſſung eines
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 11
[162] Haarbüſchels in ſeiner Hand abzuſchütteln und der
Küſter ſtürzte draußen immer brüllend zu Boden.
Die Magd ſprang von dannen, der belehmte und
naſenblutende Küſter raffte ſich nun auf und ſprang
ihr nach, und der Schulmeiſter, dem ſein wohl-
gemeinter Verſtändigungsverſuch ſo übel gerathen
war, raſete in ſeiner blinden Wuth, wie Ajax in
die Heerde, in das ſchuldloſe Mahl des Entſprun-
genen. Er zerriß die Serviette, trat die Fetzen
mit den Füßen, ſchleuderte die Weinflaſche gegen
einen Stein und warf Brod, Fleiſch, Hühner,
Eier, Salz, Kuchen nach allen vier Winden, kurz,
er benahm ſich ganz ſo, als ſei er der, wofür er
irrthümlich gehalten wurde.


Eine ſo traurige Wendung erbaulicher Eßge-
danken bereitete dem Küſter ſeine ausnehmende
Feigheit.


[163]

Zwoͤlftes Capitel.
Aus dem Tode Leben.


Aber dieſer abgeſchmackte Vorfall brachte
an einer anderen Stelle eine tragiſche Wirkung
hervor.


Lisbeth war auf ihrem Wege gerade dem Spri-
tzenhäuschen gegenüber angekommen, als das Ge-
brüll des Küſters in demſelben erſcholl. Was nun
die erhitzten Bauern mit ihrem gefährlichen Schie-
ßen nicht über ſie vermocht hatten, das bewirkte
das Geſchrei der Feigheit; ſie entſetzte ſich, floh
vor dem Orte, wo jener furchtbare Ton dröhnte,
und ſtürzte, wie von einem dunkelen Triebe ge-
leitet, bewußtlos in die Arme Oswald’s, die ſich
ihr entgegenbreiteten. Er fühlte die Geliebte
abermals an ſich ruhen, wenn auch nur aus Angſt,
aber dieſer neue plötzliche Uebergang von Einem
zum Anderen entfeſſelte die Dämonen in ihm, die
11*
[164] ſchon ſeit zwei Tagen an ihrem Gefängniſſe ge-
rüttelt hatten. — Das alte Uebel, welches
Schmerz, Angſt, Zorn, körperliche Anſtrengungen,
ſelbſt das Uebermaaß der Freude an ſeinem Lie-
bestage, in ihm emporgewühlt, brach kläglich aus.


Mit einem Schrei faßte er an ſeine Bruſt.
Mit einem zweiten Schrei ſtieß er Lisbeth faſt
zurück. Ich hab’s gedacht, mein Blut, da iſt es!
ächzte er und ein dunkler Purpurſtrom quoll aus
ſeinem Munde. Er taumelte und ſank auf eine
Raſenerhöhung. O mir! Ich erſticke — waren
ſeine letzten Worte, denn es folgte ein zweiter
Anfall des grimmigen Uebels. Sein Geſicht war
wie eines Todten Antlitz.


Im erſten Augenblicke war Lisbeth über das
Zurückſtoßen erſchrocken geweſen. Aber was wollte
dieſer Schreck gegen das Entſetzen bedeuten, als
ſie das Blut ihres Lieblings ſah? — Ja, ihres
Lieblings! Sein Aechzen, ſein Blut, ſein Todten-
antlitz gab ihr augenblicklich den Liebling zurück.
Vergeſſen war der Lügner, nur der ſterbende Ge-
liebte lag vor ihr. Mit einem Rufe, in dem ſich
Zärtlichkeit, Jammer und die alleräußerſte Beſorg-
niß zum herzzerreißendſten Tone miſchten, ſtürzte
[165] ſie zu ihm nieder und ſah ihm mit dem Blicke
der innigſten Verzweiflung in die müden und er-
loſchenen Augen. Weinend und wimmernd legte
ſie ihre unſchuldigen Finger auf ſeine Lippen, als
könne ſie damit den furchtbaren Blutſtrom hemmen.
Noch immer ſandte die in ihren Tiefen verſehrte
Bruſt einzelne Tropfen nach, obgleich die Gewalt
des Uebels bereits gebrochen zu ſeyn ſchien. Kei-
ner Befleckung an Händen und Kleid achtete ſie,
ſie, die Reine, Reinliche. Sie rief heftig und
mit lauter Stimme: Gott! Gott! Gott! als müſſe
Gott ihr helfen, denn auf Erden wußte ſich das
unglückliche Mädchen keinen Rath. Unwillkührlich
war ſie in die Kniee geſunken. So entſtand dem
Kranken eine Ruheſtätte für ſein Haupt auf ihrem
Schooße, denn ſie hatte ſich mit dem Leibe rück-
wärts gebeugt, um ihm die Lage bequem zu
machen. Er lag auf dem Rücken, ſeine Augen
waren geſchloſſen, ſeine Wangen völlig farblos.
Matt und kalt hingen die Arme in das Gras hin-
unter; in welchem liebliche Vergißmeinnicht blühten,
gleichſam ein Blumenſpott über den Jammer der
Menſchen. Sie aber hatte ihm um Haupt und
Bruſt ihre Arme gebreitet in der allerzärtlichſten
[166] und ſanfteſten Weiſe. Traurig ſchaute ſie in ſein
Geſicht, ſo viel ſie vermochte. So ruhte er ganz
von ihr umfangen und an ſie gelehnt im Heilig-
thume jungfräulicher Liebe und Bekümmerniß! Sie
wußte nicht, was ſie thun ſollte, ihm ſeinen
Schmerz zu erleichtern, ſie hätte zur Quelle wer-
den mögen, zum umſpülenden Bade, wenn das ihm
Linderung zu verſchaffen vermocht hätte. Schluch-
zend fragte ſie ihn, ob er auch ſo bequem ruhe?
und bat ihn dann inſtändigſt nicht zu antworten,
weil ihm das Sprechen ſchaden könne.


In der Tiefe dieſer Noth empfand ſie den
heißeſten Drang, ſich mit ihm zu verſtändigen.
Ach, ſchluchzte ſie, mein Oswald, vergieb mir
doch nur und fühle, daß du nicht ſterben darfſt!
O mein Gott, du mußt ja nicht ſterben, mußt’s
nicht, denn was ſollte dann aus mir werden, wenn
du ſtürbeſt?


Nicht wahr, Oswald, du ſtirbſt nicht, du
thuſt mir das nicht zu Leide? Ach, kannſt du es
mir denn ſo übel nehmen, daß ich ein ordentliches
Mädchen bleiben will? Siehſt du, mein Oswald,
deine Frau mußte ich werden, deine ehrliche Frau
und ſonſt nichts weiter! Denn wäre ich auf deine
[167] Schlechtigkeit eingegangen, Oswald, da hätte ich
mich auch an dir verſündigt und hätte dich mit
zum Böſewicht werden laſſen, und das darf die
Geliebte nicht; nicht einen Flecken darf ſie auf
ihren Freund kommen laſſen. Denn das iſt eine
ſchlechte Liebe, die nur den Anderen herzen und
küſſen will, wie es auch ſei, nein, daß das Leben
des Liebſten rein bleibe und unbefleckt und unver-
worren, das iſt die wahre Liebe, und die habe
und hege ich im Herzen zu dir, mein Oswald,
wie ſie nur ein Mädchen haben und hegen kann,
ja gewiß, ſo iſt es. Und habe ſie gehabt und
gehegt immerdar, wie ich nun wohl fühle, obgleich
ich mich vor dir verſteckte. Stürbeſt du hier auf
der Stelle, Oswald, und ich könnte dich retten
durch Unrecht, doch thäte ich es nicht, das ſage
ich dir frei heraus. Denn meine Schande könnte
ich noch allenfalls überſtehen, Oswald, aber nicht
deine; nein, wahrhaftig nicht. Deine Ehre ſitzt
mir tiefer im Herzen, als meine. Und ſo mußt
du mir auch von Herzen vergeben, Oswald, daß
ich nicht dein Liebchen, wie du wollteſt, werden
mochte, und ich weiß auch gar nicht, wie der böſe
Gedanke in dein gutes Herz gekommen iſt. Ich
[168] hätt’ es auch nimmer geglaubt, aber du hatteſt ge-
logen, Oswald, und die Lüge iſt aller Laſter
Siegel. Wer unter der Heimlichkeit einhergeht,
der hat, was er verbergen muß, und wer ſeinem
Mädchen etwas vorlügen kann, der will ſie auch
nicht in Wahrheit zu ſeiner Frau nehmen. Deß-
halb glaubte ich dem alten Bauer, was er mir
von dir ſagte, und wäre beinahe geſtorben an dem
Glauben. Es ſoll dir nun Alles vergeben ſeyn,
Alles, von meiner Seite ganz von Herzensgrunde,
und wir wollen einander recht, recht freundlich
Adieu ſagen, wenn du wieder geſund biſt, und
wenn du ſtirbſt, ſo will ich dir einen Buſch Gold-
lack auf das Grab ſetzen und mich todtweinen
darauf. Ach, wie haſt du mich ſo betrüben kön-
nen? wenn ich dich anſehe, iſt es mir noch immer
unbegreiflich. Aber ich zürne dir nicht, zürne du
mir nun aber auch nicht! Wie gerne wäre ich
deine Gräfin geworden, und dann hätteſt du mich
ja am dritten Tage nach der Hochzeit verſtoßen
können, ſo hätte ich doch an deinem Herzen geruht,
und hätte in Ehren dran geruhet, Oswald!


Die innerſte Seele des Mädchens ſchwatzte in
dieſem Geplauder, welches zuweilen von ſchweren
[169] Seufzern und heftigem Schluchzen und Erkundi-
gungen nach ſeinem Befinden unterbrochen wurde.


Aber wie ſtand es um Oswald? Glücklich.
Er horchte auf, er ahnete, er ſchloß den Zuſam-
menhang; durch alle Schmerzen ſeiner wunden
Bruſt ging ein himmliſches Erkennen. Er wußte
nun, daß er nur verläumdet worden war, daß
die keuſcheſte und ehrenzarteſte Liebe nicht einen
Augenblick aufgehört hatte, ihm anzugehören. Um
ſeine Wangen begann ein ſeliges Lächeln zu ſpielen,
die Augen öffneten ſich und helle Zähren der Wonne
blinkten darin. Lisbeth’s liebliches Antlitz ſchwamm
vor dieſen ſchwimmenden Blicken, ſie kam ihm
leuchtend, wie eine Heilige kam ſie ihm vor. Er
konnte nicht ſprechen, aber ein Zeichen mußte er
ihr geben. Er hob ſeinen rechten Arm auf, zeigte
Lisbeth mit einer freundlich-ſchmerzlichen Miene
den Ring, den er noch an einem Finger der rech-
ten Hand trug von der Dorfkirche her, legte ſie
auf ſein Herz, führte dann den Ring zum Munde,
und ſtreckte die Hand gen Himmel, dann ließ er
ſie wieder auf ſeine Bruſt ſinken und zog dann
ihre Hand herbei, ſie in die ſeinige zu legen, und
ſie mit ihr vereinigt auf ſeiner Bruſt ruhen zu
[170] laſſen. Dazu ſah er ſie mit einem Blicke an, daß,
wenn zwölf Zeugen von ihm vor dem Richter aus-
geſagt hätten: Dieſen haben wir morden ſehen,
und er mit einem ſolchen Blicke ſeine Unſchuld
verſichert hätte, der Richter ihm und nicht den
zwölf Zeugen geglaubt haben würde.


Ein zärtliches Mädchen iſt ein gläubiger Rich-
ter in ſolchen Dingen. — Lisbeth folgte ſeinen Ge-
bärden mit der Aufmerkſamkeit bräutlicher Liebe
und als ſie den Sinn gefaßt hatte, da ſagte ſie
weiter nichts als: Ah! — Aber in dieſem Laute
war alle Wonne, die ſeit dem Anfang der Zeiten
in menſchlichen Herzen gewallt hatte. Es war
ihr, als ſei ſie auf dem Hochgerichte, wo man ſie
unſchuldig hinrichten wollen, begnadiget worden;
bei lebendigem Leibe war ſie in den Himmel er-
hoben worden, in den Himmel ſeiner unbefleckt-
gebliebenen Liebe. — O mein Gott! ſagte ſie und
konnte ſonſt nichts vorbringen. Ein Zittern der
Entzückung durchflog ihren Körper, ſie meinte zu
ſinken und den geliebten Freund aus ihren Armen
zu verlieren. Da nahm ſie ſich zuſammen, um
nicht durch ihre Unruhe ihm zu ſchaden. Nun
wußte ſie, daß ſie ſeine Frau Gräfin werde, wenn
[171] er nicht ſterbe, und Oswald hatte Recht gehabt,
ſie machte ſich nicht ſonderlich viel aus der Frau
Gräfin, ſie wollte es eben ſo gern ſeyn, wie ſie
Frau Förſterin geworden wäre.


So fanden Lisbeth und Oswald einander wieder.
Stumm ruhte ihr Auge an ſeinem und ſeines an
ihrem und die herzlichſten Thränen floſſen von den
Wimpern. Die Hände blieben auf ſeiner Bruſt
vereinigt, ſanft ſtreichelte ſie ſeine Finger, zumal
den, an welchem er den Ring trug, den Dollmetſch
des hergeſtellten ſüßeſten Einverſtändniſſes. — Ein
Jüngling lag, vom heftigſten Blutſturze erſchöpft,
dem Tode nahe und ſein Mädchen war bei ihm
und wußte das, und Jüngling und Mädchen waren
dennoch Beide glückſelig.


[[172]][[173]]

Achtes Buch.
Weltdame und Jungfrau.


[[174]][175]

Erſtes Capitel.
Worin der Diaconus vom Zufall und von
der wahren Liebe ſpricht
.


Mehrere Wochen nach jenem glücklichen Unglück
ging die junge Dame Clelia mit dem Diaconus
in ſeinem Garten auf und nieder. Der Ober-
amtmann Ernſt, der die dunkleren Stellen des
würtembergiſchen Geſetzbuches doch endlich ergrün-
det hatte und daran vor der Hand nichts weiter
zu ſtudiren fand, ſaß gelangweilt in einer Jelän-
gerjelieber-Laube, und ihr Gemahl ſchoß mit
einer Windbüchſe, die er irgendwo aufgetrieben,
hinter dem Garten unter Bäumen nach Sperlingen.
Es war ganz ſtill in dem Predigerhauſe. Die
Fenſter eines Zimmers, welches nach dem Hofe
hinausging, waren grün verhangen und unter dieſen
Fenſtern ſaß Lisbeth mit einer weiblichen Arbeit
beſchäftigt.


[176]

Die junge Dame Clelia, welche ein leichtes
Gähnen nicht verbergen konnte, ſprach zum Diaco-
nus: Lieber Herr Prediger, ſagen Sie mir, was
dünkt Ihnen vom menſchlichen Leben? Denn ich
habe Luſt mit Ihnen etwas zu philoſophiren.


Das thut mir ſehr leid, gnädige Frau, ver-
ſetzte der Diaconus. Es beweiſet, wie ermüdend
Ihnen der Aufenthalt in meinem Hauſe ſeyn muß.
Wenn ſo ſchöne Lippen ſich zur Philoſophie be-
quemen, ſo müſſen wirklich alle Reſſourcen der
Unterhaltung verſiegt ſeyn.


Clelia lachte und ſagte: Zu galant für einen
Kanzelredner und für einen Lehrer der Moral viel
zu bösartig. — In ihrer raſchen Weiſe faßte ſie
die Hand des Geiſtlichen und rief: Wie wir Ihnen
Alle dankbar ſeyn müſſen für das Uebermaaß von
Gaſtfreundſchaft, womit Sie uns aus der abſcheu-
lichen Kneipe erlöſten und bei ſich in Ihrem be-
ſchränkten Häuslein aufnahmen, mich ſammt Jung-
fer und Gemahl; (ſie bediente ſich dieſer Reihen-
folge ganz naiv) und jenem meinem Geſchäftsan-
beter dort in der Laube, das fühlen Sie wohl
ohne Verſicherung von meiner Seite, und Sie
müſſen mir, wenn wir ſcheiden, unter Ihrem
[177] Amtseide verſichern, uns künftiges Jahr in Wien
Revanche zu geben. Daß man aber, wenn man
gern mit ſeinem jungen Manne in’s Weite möchte,
ungern zu lange bei einem kranken Vetter bleibt,
der ſein Tage nicht vernünftig werden wird —


Er leidet noch ſehr, ſagte der Diaconus ernſt.


Bin ich denn gefühllos für ſein Leiden? warf
Clelia kurz ein. Hätte ich noch Vergnügen in
Holland und England, wenn ich ſein krankes Bild
mit mir nähme? Bin ich ihm nicht herzlich gut?
Sehne ich mich nicht, ihm zwanzig Küſſe auf die
dummen Lippen zu geben, zwiſchen denen ſein Blut
hervorſtürzte? Aber iſt deßhalb ein ſolcher Wacht-
poſten bei einem Siechenbette, zu dem Einen der
Arzt nicht einmal hinzuläßt, etwas Angenehmes?
— Und ſein Sie nur ganz aufrichtig, lieber Herr
Paſtor, Ihre kleine Frau ſähe auch nicht ungern
einen gewiſſen Reiſewagen anſpannen.


Wie können Sie nur ſo etwas denken, meine
Gnädige! rief der Diaconus etwas verlegen, denn
er erinnerte ſich an den Text einiger Gardinen-
predigten.


Schelmiſch fuhr Clelia fort: Ich müßte mich
auf hochrothe Wangen und auf einen gewiſſen Glanz
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 12
[178] in den Augen der Hausfrauen nicht verſtehen! Es iſt
auch gar keine Kleinigkeit, fünf Menſchen mehr
im Hauſe zu haben, die man eigentlich nicht kennt,
und die Einem allen Platz wegnehmen. Der Herr
Gemahl laden in liebenswürdiger männlicher Un-
bekümmertheit ein und die arme Frau hat nachher
die Sorge. Aber laſſen Sie das nur gut ſeyn.
Trotz der rothen Wangen und der glänzenden Augen
bleibt ſie eine liebe, charmante Frau und ſoll in
Wien willkommen ſeyn. Dort iſt Raum im Hauſe
und der Haushofmeiſter ſorgt für Alles.


Der Diaconus, der ſein Zartgefühl durch dieſes
Geſpräch unangenehm berührt fand, ſagte, um es
zu unterbrechen: Sie wollten mit mir über das
menſchliche Leben philoſophiren, gnädige Frau.


Eigentlich wollte ich Sie nur fragen, ob das
menſchliche Leben nicht ein Ding ohne Sinn und
Verſtand ſei? ſagte Clelia. Ein junger Mann
läuft aus Schwaben weg, um mich an einem Men-
ſchen zu rächen, der ſeine Perſifflage über mich ge-
trieben; er rächt mich aber nicht, ſondern ſchießt
ein junges Mädchen und verliebt ſich in ſie. Dann
quälen die beiden Leutchen (wie wir nun nach und
nach herausgebracht haben, Ihre Frau und ich)
[179] einander bis auf den Tod um Nichts, und das
Ende dieſer höchſt lächerlichen Geſchichte iſt ein
furchtbarer Blutſturz, der leicht einen Todten in
die Comödie hätte liefern können. — Wo iſt da
vernünftiger Zuſammenhang?


Sie laſſen etwas aus in der Geſchichte, ſagte
der Diaconus.


Nun ja. Ich ſchrieb, als ich überall hören
mußte, ich ſei beſcholten, an meinen Bräutigam
nach Wien und erklärte ihm höchſt edel, eine Be-
ſcholtene dürfe nicht ſeine Gemahlin werden; er
ſei frei und des gegebenen Wortes ledig. Dieſer
affectvolle Brief wirkte denn dermaßen auf ihn,
daß er ſich in kürzeſter Friſt zum Herrn aller
Schwierigkeiten machte, die unſerer Verbindung
entgegengeſtanden hatten und, ſo raſch die Pferde
Tag und Nacht laufen wollten, nach Stuttgart
eilte.


Und aus ſolchen offenbaren Zeichen erkennen
Sie den Gott nicht, der in Ihrem und Ihres
Vetters Schickſale waltete, fragte der Diaconus
mit komiſchem Ernſt.


Welcher Gott?


Der Zufall! rief der Diaconus feierlich.


12*
[180]

Das iſt ein ſchöner Gott, verſetzte Clelia und
lachte.


Gnädige Frau, ſagte der Diaconus, glauben
Sie mir ſicherlich, die Welt wird erſt wieder an-
fangen zu leben, wenn die Menſchen ſich erſt wieder
vom Zufall hin und her ſtoßen laſſen, wenn man
z. B. ausgeht, um Rache zu nehmen, und ſich
nicht darüber verwundert, findet man ſtatt der Rache
eine Braut, wenn man (Sie verzeihen meine Frei-
müthigkeit) in einer zufälligen allerliebſten Auf-
wallung entſagende Briefe nach Wien ſchreibt, und
eben ſo zufällig von der Entſagung zum Häub-
chen abfällt. Unſere Zeit iſt ſo mit Planen,
Tendenzen, Bewußtheiten überdeckt, daß das Leben
gleichſam wie in einem zugeſetzten Meiler nur ver-
kohlt, und nie an der freien Luft zur luſtigen
Flamme aufſchlagen kann. Die Lebensweisheit
der wenigen Vernünftigen heut zu Tage beſteht
folglich darin, ſich von der Stunde und von dem
Ungefähr führen zu laſſen, nach Launen und An-
ſtößen des Augenblicks zu handeln.


Bravo! rief Clelia. Sie ſind ein wahrer Prie-
ſter für uns Weltkinder. Und das ſagt er Alles
ſo ernſthaft, als ſei es ihm damit bitterer Ernſt.


[181]

Ich predige ja nur über ein chriſtliches Gebot,
ſprach der Diaconus lächelnd.


Wie lautet dieſes ſogenannte chriſtliche Gebot?


Sorge nicht um den anderen Tag, verſetzte der
Diaconus.


Die junge Dame begehrte jetzt auch ſeine Exe-
geſe über die leeren Nöthe des Liebespaares. Er
bedachte ſich etwas und ſagte dann: Ich muß
hier ſchwerfälliger werden als bei dem anderen
Thema. Zuvörderſt ſei Ihnen geſagt, daß dieſe
Liebe mich rührt, die Liebe meines Freundes und
des guten Mädchens, welches er auf ſo ungewöhn-
liche Weiſe kennen gelernt hat. Ich meine, in
ihnen ein vom Schickſal bezeichnetes Paar zu ſehen
und ein völliges Aufgehen zweier Seelen in ein-
ander. Die Liebe iſt nun Leid, wie alle Dichter
ſingen, ſie iſt der Herzen ſelige Noth und ein
rührender Gram. Wer von der Liebe Thränen
ſcheidet, der ſcheidet ſie von ihrem Lebensquell;
eine lachende Liebe iſt keine.


Wahrlich, die ächte Liebe iſt ein Ungeheu-
res! fuhr er mit Wärme fort. Nicht in tauber
Redeblume, ſondern weſentlich, wirklich und
[182] wahrhaftig giebt der Liebende ſeine Seele weg! Dieſe
alſo weggegebene und der Hut berechnenden Ver-
ſtandes entlaſſene Seele iſt aus den Fugen, unbe-
ſchützt liegt ſie da und ohne Vertheidigung durch
irgend eine Selbſtſucht, welche unſere nüchternen
Tage ſchirmt. In dieſer ihrer göttlichen Schwäche
iſt ſie nun eine Beute für jedes Raubthier von
grimmigem Zweifel, fürchterlichem Argwohn, zer-
fleiſchendem Verdacht. Aber im Kampf mit dieſen
Raubthieren erſtarkt ſie. Aus ihren tiefſten und noch
nie bis dahin entdeckten Abgründen holt ſie neue
Waffen und eine ungebrauchte Rüſtung hervor; ſie
lernt ſich in ihren verborgenen Reichthümern be-
greifen, ſie vollzieht eine Art von herrlicher Wie-
dergeburt und feiert nun auf dieſer Stufe die
wahre, die himmliſche Hochzeit, von welcher die
Andere nur das vergröberte irdiſche Abbild iſt.
Unverwelklich iſt der Kranz, der auf jenem Sie-
gesfeſte der liebenden Seele getragen wird, und
er verſchwindet nicht in den Schatten der Braut-
nacht.


Darum zwingt eine ewige Nothwendigkeit die
wahre Liebe, ſich Noth zu ſchaffen, wenn ſie keine
Noth hat. Denn nicht träge genießen will ſie,
[183] ſondern kämpfen und ſiegen. Trübſal iſt ihr Orden
und Jammer ihr geheimes Zeichen. Traun, ein
Kind kann über die Leiden Oswald’s und Lisbeth’s
lachen, die nicht kindiſcher erfunden werden moch-
ten! Aber ohne dieſe kindiſchen Leiden wären zwei
Seelen von ſolcher Tiefe, Schwere, Süße und
Feurigkeit wohl wieder von einander gekommen,
ſtatt daß ſie in den Qualen der Einbildung ſich
das rechte Wort und den wahren Gruß gegeben
haben, an dem ſie einander über alle Zeit hinaus
erkennen werden.


Die junge Dame Clelia war durch dieſe Rede
des Diaconus in ein Gebiet geführt worden, in
welchem ihr nicht heimiſch zu Muthe ſeyn konnte.
Anfangs meinte ſie für ſich, ſie müſſe ſich etwas
ſchämen, denn mit ihrem Cavalier aus den öſter-
reichiſchen Erblanden hatte ſie freilich während des
Brautſtandes mehr gelacht als geweint. Nachher
meinte ſie, die Gelehrten ſprächen zuweilen nur,
um etwas zu ſagen; und endlich verſtand ſie den
Geiſtlichen gar nicht mehr. — Als er mit ſeiner
Auseinanderſetzung zu Ende war, rief ſie: Schade,
daß die beiden lieben Leute einander nicht heirathen
können!


[184]

Wie? rief der Diaconus voll äußerſten Er-
ſtaunens. Denn auf dieſe Wendung war er bei
der jungen, gutmüthigen Frau nicht im Traume
gefaßt geweſen, zumal nach ſolchem Geſpräche.


[185]

Zweites Capitel.
Worin ein humoriſtiſcher Arzt nützliche
Wahrheiten über die Behandlung kranker
Perſonen vorträgt
.


Das Nahen des Arztes, welcher von dem
Krankenzimmer herunter in den Garten kam, ſchnitt
weitere Erörterungen vorläufig ab. — Der Doctor
war ein überaus dicker Mann, der voll guter Einfälle
ſteckte und dieſe mit der größten Trockenheit her-
auszubringen wußte. Clelia, die mit ſolchen Leu-
ten eine natürliche Wahlverwandtſchaft hatte, pflegte
in ſeiner Gegenwart zu ſprechen, als ſei er nicht
zugegen. Und ſo ſagte ſie auch jetzt, als der
Arzt langſam über den Hof gewatſchelt kam, ganz
laut: Da kommt der Doctor und wird uns nun
ſagen, daß es mit Oswald anfange, beſſer zu
gehen. Das heißt, vierzehn Tage lang mag er
allenfalls Einen oder den Anderen von uns eine
[186] Viertelſtunde annehmen, vierzehn Tage darauf
können die Beſuche länger werden, und nach ſechs
Wochen werden wir hoffentlich ſo weit ſeyn, daß
der Reconvalescent in der Mittagsſonne eine halbe
Stunde ſpazieren gehen darf. Dieß nennen die
Aerzte Herſtellung.


Wirklich hatte der Arzt noch bis geſtern den
Zuſtand des Kranken als bedenklich und der höchſten
Schonung bedürftig dargeſtellt. Streng war jeder
Verkehr zwiſchen ihm und der Außenwelt unter-
ſagt geweſen; Niemand, weder die Frauen, noch
ſelbſt der Diaconus und ſein neuer Vetter aus
Oeſterreich hatten ihn beſuchen dürfen. Nur dem
alten Jochem war er zur Obhut und Pflege von
dem unnachſichtigen Arzte anvertraut worden, die
jener denn auch in aller Treue ausgeübt hatte.


Aengſtliche Sorge und Spannung, die in dem
kleinen mit Gäſten plötzlich ſo angefüllten Hauſe
Alle, beſonders in den erſten Tagen der Krankheit,
bewegte, konnte ſich daher nur durch eifriges Fra-
gen und Nachfragen und durch jede Liebesgefällig-
keit, die von draußen nach dem Krankenzimmer
hinein zu leiſten war, geltend machen. Am un-
ruhigſten war Clelia geweſen, welche ihren Vetter
[187] wahrhaft lieb hatte. Auch der Oberamtmann, der
in ſeinem Wagen den Leidenden nach der Stadt
befördert hatte, zeigte eine große Anhänglichkeit.
Tief betroffen waren der Diaconus und ſeine Frau
geweſen. Lisbeth hatte anfangs viel geweint.
Dann fiel es den Anderen auf, daß ſie plötzlich
die Gefaßteſte, und wie es ſchien, Gleichgültigſte
von Allen wurde. Dieſe Verwandelung geſchah nach
einer Unterredung, die ſie mit dem Arzte gehabt
hatte. — Sie wurde der Frau des Diaconus bei
deren vermehrten Hausſorgen ſehr nützlich, und ein
Geſchäft hatte ſie ſeit ihrem Eintritte in das
Haus ausſchließlich für ſich in Anſpruch genommen,
die Bereitung alles deſſen, was Oswald bedurfte.
Ein zarter und ſtiller Verkehr waltete zwiſchen
Beiden, ungeachtet daß Lisbeth, wie ſich von ſelbſt
verſteht, unter dem ſtrengſten Banne des ärztlichen
Verbotes befangen war. Sie ſandte ihm mit dem
leichten und kühlenden Tranke, welchen er genießen
durfte, jederzeit die ſchönſten Blumen, die ſie im Gar-
ten fand. Er hielt dieſe ſanften Boten in ſeiner
Hand des Tages, und bei Nacht ruhten ſie an ſeinem
Herzen und von dieſer Ruheſtätte empfing Lisbeth
ſie am anderen Morgen wieder. — Wenn die Haus-
[188] frau ſie nicht beſchäftigte, pflegte ſie im Hofe
unter den Fenſtern des Krankenzimmers zu ſitzen.
Dort verweilte ſie, bis es völlig dunkel geworden
war, ihre ſtille Mädchenarbeit verrichtend. Sie
war gegen Jedermann ſanft und freundlich, ließ
ſich aber mit Niemand ein, ſondern blieb ſehr für
ſich. Ein Vorfall hatte ſich während jener Tage
ereignet, der die Gäſte etwas wider ſie einnahm,
den Oberamtmann ſogar in Zorn verſetzte.


Auf heute hatte der Arzt den Eintritt einer
entſcheidenden Kriſis vorherverkündiget. Der Dia-
conus, Clelia und der Oberamtmann gingen ihm
daher geſpannt entgegen, während Lisbeth ruhig
unter dem Fenſter ſitzen blieb. Der Arzt hatte
die Worte Clelia’s gehört, wandte ſich daher an
dieſe, und ſagte: Gnädige Frau, ich darf Ihnen
etwas kürzere Friſten verſprechen. Unſer Patient
iſt hergeſtellt, und wenn allerſeits verehrte Anwe-
ſende heute und etwa morgen und etwanneſt über-
morgen noch einige Rückſicht auf ſeinen Zuſtand
nehmen, ſo wird er wohl überübermorgen ausgehen
dürfen, als ein zwar noch etwas blaſſer aber doch
durchaus geheilter Mann.


[189]

Wie? riefen Alle wie aus einem Munde.
Und Sie erklärten ihn noch geſtern für nicht außer
Gefahr?


Der Arzt zog ſein breites und fettes Geſicht
in ſolche Falten, daß er wie ein Silen ausſah
und ſagte: Eine Nothlüge, gnädige Frau und
liebe Herren, eine Nothlüge, ohne welche der recht-
ſchaffenſte Mann, abſonderlich aber der Arzt, nicht
durch dieſes Jammerthal kommt. Denn wollte der
Arzt immer die Wahrheit ſagen, ſo würfen ſie ihn
zum Hauſe hinaus.


O Sie Schelm! Gewiß haben Sie wieder
einen Ihrer Streiche auslaufen laſſen! ſagte der
Diaconus lächelnd. Clelia drang in den Arzt,
um den Zuſammenhang zu erfahren, und er fuhr
folgendermaßen fort. Wenn man, ſagte er, wie
ich, eine Reihe von Jahren doctert, wenn man
ſeine von vielen Recepten nicht mehr abhangende
Praxis hat, ſo beginnt man ohne Scheu einzu-
geſtehen, daß die Natur doch zuletzt der Geheime
Medicinalrath oder Obermedicinalrath iſt. Wir
Aerzte ſind nur ſchärfere Zeugen der Natur, hören
feiner, was ſie flüſtert und wispert, als andere
Menſchen, ſonſt aber ſind wir keine Hexenmeiſter.
[190] Der Natur, wenn ſie leiſe ſagt: Bitte! bitte!
die Bitte zu gewähren, Alles fern zu halten,
was ſie in ihrem Gange ſtört, das iſt unſere ganze
Kunſt. Die Krankheiten werden meiſtentheils nur
gefährlich durch Gelegenheitsurſachen, welche das
Walten der Natur ſtören. Auch dieſer Blutſturz
wäre bei der vortrefflichen Conſtitution des
Herrn Grafen wahrſcheinlich ganz von ſelbſt geheilt,
das Blutgefäß, welches ſich ergoſſen hatte, hätte
ſich mit Ruhe und höchſtens etwas zuſammenziehend
Säuerlichem von Natur geſchloſſen. — Meine Weis-
heit hat nur darin beſtanden, daß ich die der Na-
tur feindliche Gelegenheitsurſache entfernt zu halten
wußte.


Ich ſehe einmal wieder nicht, wohin dieſes
Kauffartheiſchiff ſteuert, ſagte Clelia. Welche Ge-
legenheitsurſache meinen Sie?


Ihre und der übrigen verehrten Anweſenden
Liebe, Freundlichkeit, Beſorgniß und Theilnahme
an meinem Patienten, verſetzte der Arzt trocken.
O meine geſchätzten Freunde, Sie glauben nicht,
wie viele Kranke dem Arzte durch Liebe und Theil-
nahme der Angehörigen zu Grunde gerichtet wer-
den! Zwar in den erſten Tagen läßt man den
[191] Leidenden wohl ruhig liegen und behandelt ihn
vernünftig, aber ſpäterhin, wenn es nun heißt, er
beſſere ſich, oder er ſei Reconvalescent, da beginnt
ein wahrer Cultus des Krankenzimmers, in den
Augen des gewiſſenhaften Arztes der ſchlimmſte
Teufelsdienſt. Vergebens rufen die müden und
zitternden Nerven: Laßt uns in Frieden! Umſonſt
ſehnt ſich das in Unordnung gebrachte Blut nach
Stille, fruchtlos iſt es, daß die letzten Kohlen der
Entzündung in ſich verglimmen möchten — es hilft
Alles nichts, beſucht wird, gefragt wird nach dem
Befinden, unterhalten wird, vorgeleſen wird, ſo-
genannte kleine Freuden werden bereitet und voll
Verzweiflung ſieht man das Schlachtopfer der Liebe,
was man geſtern voll guter Hoffnung verließ,
heute elend wieder. Deßhalb ſterben auch in Pri-
vathäuſern verhältnißmäßig mehr Menſchen als in
wohlbeaufſichtigten Lazarethen. Und darum pflege
ich auf Kranke mit Umgebungen voll Liebe und
Theilnahme, die ich nicht abhalten kann, von vorne
herein doppelt ſo viel Zeit zu rechnen, als auf
Kranke ohne liebevolle Umgebungen. Hier nun —


Es iſt doch abſcheulich, über die edelſten Em-
pfindungen ſo zu ſpotten! rief Clelia heftig.


[192]

… ſah ich einen ganzen Heerd von Liebe und
Theilnahme, als ich zum Grafen berufen wurde,
fuhr der Arzt, ohne ſich erregen zu laſſen, fort.
— Edle Empfindungen, über die mir nicht ein-
fällt zu ſpotten, welche mir aber als Arzt nur als
eben ſo viele widrige Gelegenheitsurſachen und In-
dicationen erſcheinen mußten, daß der Patient,
befragt, beſprochen, unterhalten, durch Vorleſungen
aufgeregt und durch kleine Freuden im entzünd-
lichen Stadio verzögert, leicht ſeine Paar Monate
abliegen könne. Deßhalb griff ich zu der Noth-
lüge, daß er in großer Gefahr ſei, dann folgte die
einfache Gefahr, dann der bedenkliche Zuſtand, dann
die langſame Hebung der Kräfte, und auf heute
endlich wurde die Wirkung einer entſcheidenden
Kriſe verſprochen. Er war aber nie, verehrte
Anweſende, in großer Gefahr und kehrte nach den
erſten zehn Tagen ſchon mächtig zu. Einem
Kranken thut Niemand Noth, als Einer, der ihm
zu den beſtimmten Stunden die Arzenei reicht und
allenfalls ein verſchobenes Kiſſen zurecht legt; und
dann Langeweile, o du nicht genug zu preiſende
Göttin des Siechenbettes! Man ſollte Hygieen
gähnend darſtellen, denn es iſt nicht auszuſagen,
[193] welche Rieſenſchritte die Beſſerung macht, wenn
der Leidende weiter gar nichts zu thun hat als zu
gähnen. Darum ſetzte ich unſeren Grafen auf die
wenig aufregende Geſellſchaft ſeines alten Dieners
und dann auf Langeweile und habe ihn durch dieſe
beiden Potenzen in kurzer Zeit wieder auf die Füße
gebracht und wenn ich ihn noch ferner beſuche, ſo be-
ſuche ich ihn jetzt mehr als Freund denn als Arzt.


Schade, rief Clelia nach dieſer Erörterung
ſpitz, daß Sie ſich nicht ſelbſt als niederſchlagendes
Pulver verſchreiben können. — So dürfen wir ihn
denn alſo heute ſehen?


Der Arzt ſchaute rund im Kreiſe um und
warf dabei auch ſeinen Blick in den Hof, wo Lis-
beth noch immer ſaß. Ich unterſcheide, ſagte er
nach einer Pauſe bedächtig. Sie, gnädige Frau
und der Herr Oberamtmann und der Paſtor
dürfen ihn ohne Schaden ſchon heute beſuchen,
mein Kind Lisbeth dort muß aber bis morgen warten.


Er empfahl ſich. Clelia’s muntere Seele war
durch die letzte Rede des alten Silen doch etwas
empfindlich gemacht; ſie ſtand einige Augenblicke
ſchweigend, nagte an ihrer ſchönen Lippe und rief
dann: Fancy!


Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 13
[194]

Fancy, die Kammerjungfer ließ ſich hören und
wurde gleich darauf ſichtbar. Fancy, bringe mir
meine Crespine und ſetz’ deinen Hut auf, wir
wollen noch etwas ſpazieren gehen, ſagte ihre junge
Gebieterin.


Dürfen wir Sie nicht zu unſerem Freunde beglei-
ten? fragten der Diaconus und der Oberamtmann.


Nein, verſetzte die ſchöne Empfindliche mit
kurzem Ton, zu den ganz unſchädlichen Beſuchern
mag ich mich denn doch nicht gern zählen laſſen.


Sie verſchwand mit Fancy. Die Männer
gingen nach dem Krankenzimmer. Als der Dia-
conus bei Lisbeth vorbeiging, ſagte er erſtaunt und
halb leiſe zu ihr: Sie ſcheinen ſich über des Doc-
tors Nachricht wenig gefreut zu haben.


Ich wußte ſchon lange die Wahrheit, verſetzte
Lisbeth mit niedergeſchlagenen Augen. Der Arzt
hatte meine Angſt geſehen und mir entdeckt, wie
die Sache ſtand.


Und Sie konnten ſich überwinden, Oswald nicht
zu beſuchen?


Warum nicht? Wenn er nur geſund wird!
Kam ich und meine Sehnſucht da in Betracht?


[195]

Drittes Capitel.
Speiſeſaal und Krankenzimmer.


Das Wiederſehen war ſehr freundlich und herz-
lich geweſen. — Als die beiden Männer das Kran-
kenzimmer verlaſſen hatten, gingen ſie nach dem
allgemeinen Verſammlungsſälchen und dort ſagte
der Oberamtmann: Ich habe eigentlich nie ein
ſchöneres Gefühl für einen Freund, als wenn ich
ihm wider ſeinen Willen einen Dienſt für das
Leben leiſten kann. Denn bei Gefälligkeiten, die
man den Wünſchen des Anderen erweiſet, iſt man
nie ſicher, daß ſich nicht Eitelkeit, weichliches und
ſelbſtliebiges Weſen mit einmiſcht. Wenn man
aber gegen die Schooßneigungen des Freundes an
ihm ſeine Schuldigkeit thut, dann hat man die
reine Empfindung treuerfüllter Pflicht; wohl die
ſchönſte im Leben.


13*
[196]

Soll das denn auf unſeren Freund eine An-
wendung finden? fragte der Diaconus etwas be-
fangen.


Allerdings, erwiederte der Oberamtmann, und
Ihren Beiſtand erbitte ich mir auch, Herr Diaco-
nus, zu dem, was ich vorhabe. Nachdem der Graf
nun wieder hergeſtellt iſt, oder wenigſtens in ganz
kurzer Zeit ſeyn wird, kann ich an mein Geſchäft
mit ihm oder vielmehr für ihn denken. Meine
erſte Obſorge muß nämlich jetzt ſeyn, dieſe unan-
gemeſſene und faſt verrückte Liebſchaft zu zerſtören.


Der Diaconus brauſ’te hier, ſeine geiſtliche
Faſſung etwas vergeſſend, auf und rief in den
beſtimmteſten Ausdrücken, daß er zur Zerſtörung
einer ſolchen Liebe, welche keine Liebſchaft ſei,
nicht die Hand biete, vielmehr ſie, ſo lange ſie
das Gaſtrecht ſeiner Schwelle genieße, zu ſchützen
wiſſen werde. Man wurde hierauf, obgleich man
ſich in gewiſſen Grenzen zu halten wußte, gegen-
ſeitig ſehr warm und erſchöpfte Alles, was an
heftigen und ſtarken Verſicherungen und Gegenver-
ſicherungen geſagt werden konnte. Endlich fiel dem
Diaconus die Frage ein, welche bei dergleichen
Gelegenheiten die erſte ſeyn müßte, meiſtentheils
[197] aber die letzte zu ſeyn pflegt. Er erkundigte ſich
nämlich nach den Gründen einer ſo ſtarken Abnei-
gung gegen dieſe Verbindung.


Ihre Frage kann mir auffallend erſcheinen,
Herr Diaconus, indeſſen will ich ſie beantworten,
erwiederte der Oberamtmann. Mein Freund iſt,
wie Sie wiſſen, aus der erſten Familie des Kö-
nigreiches, ſeine Herrſchaft gleicht an Umfang
manchem Fürſtenthume; geborener Reichsſtand iſt
er und das Blut unſerer Könige hat ſich mit ſei-
nem Geſchlechte mehreremale vermiſcht. Wenn er
nun den aufgeleſenen Findling heirathet, ſo fallen
ſeine Kinder, wie Baſtarde, von der Bank und
ſind ſucceſſionsunfähig, darüber verliert er die
Freude an ſeiner Herrſchaft, weil er nämlich weiß,
daß er ſie für die fremde Linie aufhebt. Mit den
Anverwandten verhetzt er ſich, in ſeinen Verhält-
niſſen zerrüttet er ſich, bei Hofe kehren ſie ihm
den Rücken, der Gemahlin muß er ſich ſchämen,
in der Kammer wird er aus übler Laune ein
hohler widerſprecheriſcher Schreier, kurz, er wird
auf alle Weiſe ein elender und verkümmerter Mann.
Weil er aber dazu gar keine Anlage hat, ſondern
vielmehr ungeachtet mancher Thorheit beſtimmt iſt,
[198] ſich zu einem ganz herrlichen und prächtigen Cha-
rakter herauszuarbeiten, zu einer Freude und Zier
des Landes, deßhalb Herr Diaconus, und deßhalb,
weil ich ſeiner ſterbenden Mutter mein Wort auf
ihn gegeben habe, iſt es meine Pflicht, dieſes Ver-
hältniß, welches für mich eine Liebſchaft bleibt, zu
zerſtören.


Die Streitenden gingen mit großen Schritten
auf und nieder.


Der Diaconus pries die Unſchuld und den
Schwung der Neigung, welche ſo entgegengeſetzte
Gefühle aufregte. Allein der hartnäckige Geſchäfts-
mann ließ ſich dadurch nicht rühren, ſondern ſagte:
Ich will ihn auch gar nicht daran hindern, das
Mädchen geliebt zu haben. Er feire ſie in ſeiner
Erinnerung, er mache Gedichte der Wehmuth an
ſie, Sonette und Terzinen ſo viel er will, er
trage ihre Locke oder ihren Schattenriß, was er
nun von ihr beſitzt, auf dem Herzen, immerhin!
Liebe iſt Liebe, aber Ehe iſt Ehe. Die Ehe iſt
ein Geſchäft, ein höchſt wichtiges Geſchäft. Nicht
umſonſt handelt ein Abſchnitt in allen Landrechten
von der Ehe und vom Eingebrachten und von der
Gütergemeinſchaft. Die Ehe ſoll dem Menſchen
[199] einen Boden unter die Füße geben, nicht den Bo-
den unter den Füßen wegziehen. Ein Geſchäft
muß ein Object haben, Liebe iſt aber kein Object.
Liebe gehört zur Ehe, wie der fröhliche Trunk zum
Abſchluß eines guten Kaufes; aber über das Glas
Wein ſchließt man den Handel nicht. Er braucht
noch gar nicht zu heirathen, denn er iſt noch ſehr
jung, will er es aber thun, ſo giebt es unter
unſeren Gräfinnen und Fürſtinnen und unter denen
nebenan in Baden und Bayern auch ſchöne, blü-
hende, gute Mädchen; darunter ſoll er ſich aus-
leſen, die Bettlerin aber ſoll er laſſen.


Ich weiß wohl, daß jedes mißgefügte Liebes-
paar von ſeiner Thorheit einen neuen Himmel und
eine neue Erde datirt und die erſte probehaltige
Ausnahme. Wenn man aber nach wenigen Jahren
die ſogenannten Ausnahmen wieder ſieht mit han-
genden Flügeln, den Schmetterlingsſtaub jämmer-
lich von den Schwingen gerieben, vernützt, abge-
blaßt, ſo wendet ſich Einem das Herz im Leibe
bei dem Anblicke von ſo trübſeligen Beſtätigungen
der allgemeinen Regel um.


Der Diaconus, deſſen Verſtand unwillig Man-
ches zugeben mußte, was der Andere vorbrachte,
[200] bediente ſich jetzt der Wendung, welche bei einem
Streite ſo ziemlich klar die Niederlage anzeigt.
Er ſagte nämlich, daß dieſe Drohungen wohl nicht
ganz der Ernſt des Oberamtmanns ſeyn möchten,
daß er gewiß Bedenken tragen werde, ſie in ihrem
vollen Umfange auszuführen.


Darauf verſetzte der Amtmann ſehr kalt und
feſt: Sie würden im Irrthume ſeyn, wenn Sie
dieſe Meinung wirklich hegten. Ich bemerke wohl,
daß die Scherze, welche die junge Baroneſſe in
ihrer liebenswürdigen Laune zuweilen über mich
macht, Sie zum Lachen über mich anreizen, und
es mag auch wahr ſeyn, daß ich eine ziemlich ſon-
derbare und graue Actenfigur bin. — Ich habe
neulich den ſogenannten Patriotencaspar verhört,
darüber den Grafen vergeſſen, kam zu ſpät auf
den Oberhof und fand meinen Freund, der viel-
leicht geſund mit mir gefahren wäre, erſt wieder,
als er blutend am Wege lag. Das war ein Schwa-
benſtreich. — Indeſſen kann man ſolche begehen
und doch bei manchem Puncte unbeſieglich ſeyn. —
Glauben Sie mir, daß, wo ich mich in meinem
Amte und Rechte fühle, Alles von mir abgleitet,
wie von einem Felſen und daß ich dann feſt zu
[201] ſtehen weiß, wie ein Fels. Meinen liebſten Freund
aber vor einem unſäglichen Elende zu bewahren,
wie ich es nun einmal anſehe, das iſt recht eigent-
lich meine Amtspflicht und mein Recht. Ich werde
demnach, was ich angekündiget habe, durchzuführen
wiſſen.


Aber was wollen Sie denn mit ihm beginnen?
Er iſt doch mündig! rief der Diaconus ereifert.


Leider! verſetzte der Oberamtmann. Es giebt
Leute, die wenigſtens bis zum dreißigſten Jahre
unter Curatel ſtehen ſollten. Indeſſen iſt auch
ein Mündiger anzufaſſen. Was ich beginnen will?
Ihm jeden nur möglichen Grund vortragen, die
Verbindung ihm unleidlich machen; Urlaub mir
verlängern laſſen, mit ihm auf ſein Schloß reiſen,
Oheime, Vettern und Baſen in Bewegung ſetzen,
die Sache vor den König bringen, ſeine Standes-
genoſſen aufregen, es darauf ankommen laſſen,
daß er mir die Thüre weiſet, dann doch nicht
gehen, immerfort einſprechen, den Einſpruch noch
zwiſchen die Verlobung werfen, ja ſelbſt am Altare,
wenn es nothwendig iſt, einen Scandal bereiten.
O ein Mann und Freund kann viel, wenn er nur
beharrlich will. So wahr ich der Oberamtmann
[202] Ernſt vom Schwarzwalde bin, mit meiner Zu-
ſtimmung wird ſie nicht Gräfin Waldburg-Bergheim.


Und mit meiner auch nicht, ſprach hier eine
dritte Stimme. Die ſchöne Clelia war, von
ihrem Spaziergange zurückgekehrt, in den Saal
getreten, und hatte unbemerkt von den Männern,
gehört, wovon die Rede war. Nein, Herr Dia-
conus, ſagte ſie, Sie ſehen die Sache doch etwas
zu ſehr von Ihrem Standpuncte an. Ich bin ge-
wiß gut und freundlich gegen Jeden und wünſche
Allen ein ſolches Lebensglück, wie ich es erlangt
habe, aber auch meine Erfahrung hat mich gelehrt,
daß Mißbündniſſe nie zum Heile führen, und da
es ſich hier um das Loos meines theuerſten An-
verwandten handelt, ſo ſtelle ich mich ganz auf
die Seite des Oberamtmannes.


Die ſchöne junge Frau ſagte dieß ſo feierlich,
als hätte ſie in ihrem zwanzigjährigen Leben ſchon
wenigſtens hundert üble Erfahrungen von Miß-
bündniſſen vor Augen gehabt. Der Oberamtmann
küßte ihr dankbar und gerührt die Hand und der
Diaconus ſchwieg.


Es war inzwiſchen im Nebenzimmer gedeckt
worden und man ſetzte ſich zu Tiſche. Auch der
[203] junge Gemahl hatte ſich nach ſeiner Sperlingsjagd,
die nicht ſehr ergiebig geweſen war, zur Geſell-
ſchaft gefunden und nur Lisbeth fehlte. Der Dia-
conus ſuchte, ſo gut es ihm gelingen wollte, der
vorhergegangenen Scenen ungeachtet den beredten
Wirth zu machen. Es glückte ihm aber nicht ganz,
denn ſeine Seele war abweſend und in Bekümmer-
niß bei dem Paare, über deſſen Häuptern ſich
nach manchem Leiden noch zuletzt ſo ſchwere Wol-
ken anhäuften.


Die ganze Geſellſchaft war eigentlich verſtimmt
und redete wenig. Der Oberamtmann fühlte die
Schwierigkeit ſeiner Aufgabe, zwei Herzen zu
trennen, die einen geiſtlichen Beiſtand hatten, und
dachte über die Mittel nach, dieſem Einfluſſe ent-
gegenzuarbeiten. Zwiſchen dem jungen Ehepaare
aber hatte ſich der erſte Streit erhoben und zwar
auch über das Liebespaar. Der Gemahl war näm-
lich nach ſeiner Rückkehr von dem Windbüchſen-
vergnügen unterrichtet worden, daß der Vetter
hergeſtellt ſei und hatte, als er ſeine Gemahlin
von dem Spaziergange heimkommend geſprochen,
ihr in aller Freundlichkeit aber mit beſtimmtem
Tone den Entſchluß eröffnet, nunmehr abreiſen zu
[204] wollen, da ſie unmöglich jetzt noch eine Sorge um
Oswald mit auf die Reiſe nehmen könne. Schon
daß er ſo beſtimmt ſprach, regte ihren Widerſpruch
auf und ſie fühlte wohl, daß wenn ſie den An-
fängen ſolcher Emancipation nicht entgegentrete,
es leicht um die ganze Zukunft ihres Regiments
geſchehen ſeyn dürfte. Sie erklärte daher eben ſo
beſtimmt, daß ſie noch bleiben und ſo lange bleiben
werde, bis ſie ihren geliebteſten Anverwandten
von einem ſchlimmeren Uebel befreit ſehe, als
dem Blutſturze, nämlich von ſeinem verkehrten
Heirathsvorſatze. Der Oberamtmann faſſe Alles
zu rauh an, ſie als Frau wiſſe allein in ſolcher
Verwickelung das Richtige zu treffen und den
Knäuel mit Feinheit zu entwirren. — Du kennſt
meine Feſtigkeit, Edmund, ſagte ſie zuletzt; ich
bin ganz feſt in dieſer Sache, zu deren Behand-
lung mich der Himmel ſelbſt offenbar hieher hat
kommen laſſen, alſo ſtehe ab von dem Vorſatze,
mich nach deinen Wünſchen bewegen zu wollen.
Er erwiederte ihr darauf höflich, daß er an ihrer
Feſtigkeit nie gezweifelt habe, daß ſie ihm aber
unter ſolchen Umſtänden verzeihen möge, wenn er,
ſo lange ihr Geſchäft hier daure, einen Beſuch bei
[205] ſeinem Oheim im Osnabrück’ſchen abſtatte, denn
an dieſem elenden Orte könne er es nicht länger
aushalten.


So endete demnach der ſüße Friede der Flit-
terwochen und es war noch keine Verſöhnung er-
folgt, als man ſich zu Tiſche ſetzte. Gemahl und
Gemahlin ſprachen daher auch nicht, ſondern ſahen
ſtumm auf ihre Teller. Was endlich die Haus-
frau betrifft, ſo hatte dieſe wirklich das hochrothe
Antlitz und die glänzenden Augen, von welchen
Clelia geſprochen hatte, und welche unwiderleglich
anzeigen, daß eine Wirthin ſich ſehnt, wieder un-
geſtört in ihrer ſtillen Häuslichkeit zu leben. Sie
war die gaſtfreiſte Frau von der Welt, aber die
Einladungen des Diaconus, die von ihm ohne
Rückſicht auf Raum und Grenzen des kleinen
Hausweſens ausgegangen waren, hatten ihr eine
Laſt aufgebürdet, unter welcher ſich ſelbſt der Sinn
einer Baucis geheimen Mißgefühls nicht würde
haben enthalten können.


Man ſtand auf und wünſchte einander gute
Nacht. Vor dem Fortgehen ſagte aber der Ober-
amtmann zum Diaconus: Unbegreiflich iſt es mir,
wie Sie, Herr Paſtor, die Parthei eines Mäd-
[206] chens nehmen können, welches nach allen Anzeigen
zu ſchließen, eine ſehr gefühlloſe Seele hat.


Gefühlloſe Seele?


Iſt ſie, als ſie von dem Unfalle ihres alten
Pflegevaters hörte, zu ihm geeilt, wie es einem
dankbaren Kinde eignete? Hat ſie ſich nicht be-
gnügt, zu fragen, ob er wohl aufgehoben ſei? und
als ſie erfuhr, daß gute Leute ſich ſeiner ange-
nommen hätten, that ſie da etwas Anderes, als
ihm das Geld ſchicken, welches ſie für ihn ver-
wahrte?


Herr Oberamtmann, verſetzte der Diaconus,
die Lisbeth hat den Spruch im Herzen empfangen
und ausgetragen: Du ſollſt Vater und Mutter
verlaſſen und dem Manne anhangen. Es thut
wohl, endlich einmal auch auf eine Natur zu ſtoßen,
wenn man ſo viele Puppen geſehen hat. Ich habe
da die Unterſcheidungen und Bezeichnungen auf-
geſtellt, welche, wie wir vernehmen, unſer großer
Dichter von weiblichen Weſen zu gebrauchen pflegte.
Mir will es ſo vorkommen als ob Goethe, wenn
er noch lebte und die Lisbeth ſähe, ſie eine Natur
nennen würde.


[207]

An dieſem Abende ereignete ſich, was hin und
wieder in Liebesſchickſalen vorkommt. Die Umher-
ſtehenden ſtreiten gewaltig mit einander und regen
eine wahre Ilias auf über die Frage, ob zwei
Menſchen verbunden bleiben ſollen oder nicht! und
die Liebe ruht während des Kampfes ſeitwärts
unter Roſenbüſchen in holder Eintracht. Lisbeth
und Oswald wußten nicht, welche Schlachten um
ihr Geſchick ausgefochten wurden oder ſich vorbereite-
ten. Lisbeth hatte eine heimliche liebliche Freude
ſich zugedacht. Sie pflückte die ſchönſten Aſtern
im Garten und wand ſie zum Kranze. Mit dem
Kranze ſchlich ſie, als es dunkelte, leiſe an die
Thüre des Krankenzimmers, horchte dort klopfen-
den Herzens und pochte, als ſie im Zimmer nicht
reden hörte, ſo ſacht an, daß nur ein feines Ge-
hör, wie es der alte Jochem beſaß, den faſt un-
hörbaren Schall vernehmen konnte. Auch er kam
in ſeinen Socken an die Thüre geſchlichen und
öffnete ſie ohne Geräuſch.


Wacht der Graf? flüſterte Lisbeth.


Nein, verſetzte eben ſo leiſe der Alte. Er
ſchlummert im Lehnſeſſel, das Geſpräch mit den
[208] beiden Herren hat ihn etwas matt gemacht. Kom-
men’s nur herein!


Kaum den Boden mit ihren Fußſohlen berüh-
rend ſchritt Lisbeth durch das Krankenzimmer. Im
Lehnſtuhle ſaß Oswald und ſchlief. Sein Antlitz
war ſo weiß wie Marmor, er ſah vornehmer und
prächtiger aus als je. Die ſchöne Stirn zeigte
noch klarer als ſonſt die lichten, innigen Gedanken,
welche hinter ihrer Wölbung wohnten. Leicht ge-
röthet waren die vollen, gutmüthigen Lippen, und
um ſie und um die reinen Wangen ſchwebte das
friedlichſte Lächeln. Er träumte vielleicht, und
mochte wohl von ſeiner Liebe träumen. So ſaß
er da, ein reizendes, hohes Jünglingsbild; eine
Miſchung von ſiegfreudigem Apoll und ſchwärmen-
dem gefühlstrunkenem Bacchus, noch nie ſo klar in
dieſer ſeiner Grundform ausgeprägt, als heute,
wo die geſchloſſenen Wimpern allen Zügen etwas
Feſtes und Ewiges gaben.


Lisbeth näherte ſich dem Schlafenden und beugte
ſich über ſein Haupt. Aber ſie rührte ihn nicht
an und ließ kaum ihren Athem um ſeine Wangen
ſpielen, um ihn nicht aufzuwecken. Dann legte
ſie leicht und leiſe wie eine beſchenkende Himmels-
[209] geſtalt ihren ſchönen Kranz von rothen, gelben und
blauen Aſtern in ſeinen Schooß. Und dann ſetzte
ſie ſich ihm gegenüber in einen Seſſel und ſah
ihn, die Hände über der Bruſt gekreuzt, lange an.


Nachdem ſie ſo lange ſtumm geſeſſen, wendete
ſie ihr Antlitz. Der Alte ſtand ihr zur Seite und
empfing ihren erſten Blick. Von dieſem Blicke er-
ſchüttert, ſank er leiſe auf das Knie und küßte
ihre Hand.


Die Gnoſtiker erzählen, daß die Engel einſt
eine unausſprechlich ſchöne Geſtalt flüchtig an ſich
vorüber ſchweben ſahen, die ſie nachmals nie wieder
erblickten, obgleich ſie Aeonen lang mit heißer Sehn-
ſucht einer zweiten Erſcheinung harrten. Sie ſchufen
dann endlich, ſagen die Gnoſtiker, in Nacherinne-
rung an die Geſchaute, ein ſchwaches Abbild jenes
himmliſchen Urbildes. Dieſes Abbild war der
Menſch. Es kann ſeyn, daß in Lisbeth’s Zügen
etwas von dem Ausdrucke der den Engeln einſt
erſchienenen Schönheit ſchimmerte. Der Alte ſtam-
melte flüſternd: O liebe, liebe, junge gnädige
Gräfin.


Lisbeth erröthete. Warum nennſt du mich
immer ſchon ſo? fragte ſie leiſe.


Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 14
[210]

Weil ich mir Sie gar nicht als Liebſte oder
Braut denken kann, ſondern Frau ſind Sie, liebe
Frau von meinem jungen Herrn, gar kein’ Sehn-
ſucht nicht und kein Verlangen, ſondern ſchon ganz
Eins mit ihm und herzenseinig.


Nun ſage mir, wie geht es ihm und wovon
hat er heute geſprochen? fragte Lisbeth.


Ach, ſagte der Alte, Kranke haben ſo ihre
wehmüthigen und zaghaften Stunden. Mein Herr
ſagte heut’, das Glück, was er mit Ihnen haben
würd’, käm’ ihm gar zu ſchön und herrlich vor,
er könnt’ nicht ausſprechen, wie unſäglich lieb er
Sie haben thät’ und deßhalb fürchtete er, die
wüſte Welt würd’ ſich drein legen zwiſchen ihn
und ſein Glück, und der Damon würde drauf
treten —


Dämon ſagte er wohl, ſprach Lisbeth.


Dämon oder Damon, ’s kommt Alles auf
Eins heraus, er meinte aber gewiß den Teufel; fuhr
Jochem fort. — Er ſagte dieſe trübſeligen Sachen
viel ſchöner und beſſer, als ich ſie hervorbringen
kann, indeſſen hatt’ ich rechte Müh’ ihm Troſt ein-
zuſprechen.


[211]

Lisbeth nahm die Hand des Alten und lis-
pelte: Wenn er erwacht, ſo ſage ihm, ich ſei hier
geweſen und habe mich an ihm gefreut. Sage
ihm dann auch, er ſolle mir nicht übel nehmen,
beſuche ich ihn morgen und auch vielleicht noch
übermorgen nicht, denn ganz geſund müſſe er erſt
ſeyn, wenn er mich ſehen ſolle, und ich ſei ohne
dieß doch immer und ewig bei ihm. — Tief ath-
mend, aber ſo leiſe, daß der Alte ſein Ohr ihren
Lippen nähern mußte, ſetzte ſie hinzu: Und wei-
ter ſollſt du ihm ſagen, er müſſe ſich nicht vor
der Welt und dem Dämon fürchten, denn er ſei
mein Oswald und ich ſei ſeine Lisbeth, und die
Welt und der Dämon hätten keine Macht über
zwei Menſchen, die einander von Grund des
Herzens gut ſeien. Er ſolle nur ganz getroſt an
mich denken, denn ich ſei Er, und er ſei Ich,
und wir ſeien Eins und zwiſchen uns könne nichts
kommen.


Werd’ Alles genau ausrichten und beſtellen,
antwortete der Alte. Und ’s iſt gut, daß mein
Herr es nicht von Ihnen hört, denn mit Ihrer
Stimm’ und dem ganzen Ton vorgetragen, möcht’s
ihn doch unruhig machen und der Bruſt noch ſcha-
14*
[212] den. Aber wenn ich’s ihm in meiner groben Ma-
nier erſt zuricht’ und hinterbring’, ſo überwindet
er’s ſchon eher.


Lisbeth erhob ſich und ging. Bald nachher
erwachte Oswald und hörte vom Alten, welche
liebliche Zuverſicht ſeinem Schlummer nahe ge-
weſen ſei.


[213]

Viertes Capitel.
Die Leiden einer jungen Strohwittwe.


Indeſſen ſchien wirklich die idylliſche Liebe bei
ihrem Zuſammentreffen mit der Außenwelt böſen
Geſchicken entgegenzugehen. Denn der Oberamt-
mann wiederholte am folgenden Tage in einem
zweiten ruhigeren Geſpräche dem Diaconus ſeine
unerſchütterlichen Vorſätze. Die ſchöne Clelia,
welche bei der höchſten Gutmüthigkeit doch alle
Meinungen einer vornehm erzogenen Dame hegte,
ſprach während einer Morgenunterhaltung ihm eben-
falls wieder ihre Ueberzeugung gegen ein Ehe-
bündniß aus.


Seine Seele war bekümmert und erſchüttert.
Auf der Seite der Gegner ſtand die Vernunft mit
hundert Gründen in Reihe und Glied, und er war
ſelbſt ein zu ruhiger und beſonnener Mann, als
daß er nicht insgeheim mancher Stimme im feind-
[214] lichen Lager beigefallen wäre. Das zerſchnitt ihm
aber das Herz, welches den beiden Liebenden mit
Innigkeit zugethan war und ſich ſchon an der Aus-
ſicht geweidet hatte, durch ſie die Anſchauung eines
ſeltenen Glückes zu gewinnen. Indeſſen hatte er
nur noch wenig Hoffnung darauf, denn er meinte
auch wie jeder dritte Zeuge eines Verhältniſſes,
daß keine Leidenſchaft den Angriffen des Verſtan-
des auf die Länge gewachſen ſei. So befürchtete
er denn von der Herſtellung Oswald’s nichts als
Einbuße, tiefes Leid und Zerſtörung.


Die ſchöne Clelia hatte übrigens bei’m Er-
wachen eine unerwartete Nachricht empfangen. Als
ſie nämlich in das Morgengewand geſchlüpft war
und ſich nach ihrem Gemahle erkundigte, brachte
ihr Fancy ein Billet von ihm, aus dem ſie ſah,
daß er wirklich in der Nacht Extrapoſt genommen
hatte und zum Beſuche bei dem Oheim im Osna-
brück’ſchen abgereiſet war. Das Billet ſagte ihr
das zärtlichſte Lebewohl, ſagte ihr, daß er ihren
Morgenſchlummer nicht habe ſtören wollen und
ſprach den empfundenſten Wunſch aus, daß eine
baldige Schlichtung der Verwirrung, wie ſie ſich
dieſelbe vorgenommen, die Dauer dieſer erſten ihm
[215] ſo ſchmerzlichen Trennung abkürzen möge. Selbſt
eine Locke von ſeinem Haare hatte er beigelegt,
Nachſchrift über Nachſchrift hinzugefügt und eine
Stelle im Briefe bezeichnet, welcher von ihm ein
Kuß aufgedrückt worden ſei, wie er ſagte.


Nachdem die ſchöne Verlaſſene dieſen Brief
geleſen hatte, ſchwieg ſie eine Zeit lang und ſah
das feine roſenrothe Papier ſo an, als ob es die
Abſage einer Soirée bei dem Fürſten, wie er nun
heißen mochte, enthalte, auf welche ſich die ganze
feine Welt Wiens ſchon ſeit vierzehn Tagen ge-
freut hatte. Fancy mußte ſie erinnern, daß die
Chocolade kalt werde; ſie verſetzte, daß ſie keinen
Appetit habe und befahl dem Mädchen, die Taſſe
wegzutragen. Fancy gehorchte.


Sie ſaß hierauf etwa eine Viertelſtunde im
Sopha und ſtützte das Haupt gedankenvoll auf
den ſchönen Arm. Dann ging ſie eine halbe Stunde
im Zimmer auf und nieder und dann klingelte ſie.
Fancy kam. Ihre Gebieterin ſtand mitten im
Zimmer und ſagte zu der Jungfer, die zugleich
Schatzmeiſterin und Vertraute war: Fancy, es
freut mich, daß mein Mann ſo feſt iſt. Ich bin
feſt, er iſt feſt, dieſes gegenſeitige Feſtſeyn ver-
[216] bürgt mir eine geordnete Zukunft. Nichts Unan-
genehmeres als zwei Gatten, die einander mit
weichen Nachgiebigkeiten quälen. Jeder muß ſeinen
Willen haben und den durchzuführen wiſſen, dann
findet man ſich gegenſeitig zurecht und es entſteht
ein heiterer geregelter Lebensgang. Es freut mich,
daß mein Mann abgereiſt iſt.


Warum ſollten Sie ſich auch darüber nicht
freuen, gnädige Frau? erwiederte Fancy, die der
Gebieterin nie widerſprach.


Ich werde ungeſtörter, in größerer Ruhe meine
Aufgabe hier löſen, die ich mir geſtellt habe, ſo
allein und für mich, ſagte Clelia.


Fancy erwiederte hierauf nichts, ſondern nickte
nur zuverſichtlich beiſtimmend mit dem Kopfe. —
Aber dennoch bleibt es auffallend, fing die Baro-
neſſe nach einer Pauſe an, daß mein Mann ab-
reiſen konnte.


Auffallend bleibt es allerdings, ſagte Fancy.
— Unterhalte mich, ſprach Clelia. Fancy unter-
hielt hierauf die Gebieterin ſo gut ſie konnte und
erzählte ihr von allen Bekanntſchaften, die ſie raſch
nach Art der Kammerjungfern im Städtchen ge-
macht hatte; von der Frau des Steuereinnehmers,
[217] von der Tochter eines Aſſiſtenten und auch vom
Küſter, der ihr mit ſeiner barocken Weiſe aufge-
fallen war, und über den ſie bei der und der
Gelegenheit herzlich hatte lachen müſſen, ſo komiſch
war ſein Betragen geweſen.


Der Stoff dieſer Mittheilungen hatte ſich noch
lange nicht erſchöpft, als die Dame ſie unterbrach
und ſie um Gotteswillen bat aufzuhören mit dem
albernen Zeuge von Steuereinnehmerfrauen und
Aſſiſtententöchtern und Küſtern, denn ſie habe ent-
ſetzliches Kopfweh. Fancy verſtummte auf der
Stelle, holte kölniſches Waſſer und rieb ihrer lei-
denden Herrin die Schläfe damit ein. — Du biſt
ein gutes Mädchen, Fancy, ſagte Clelia ſanft
während dieſer Mühwaltung zu der Dienerin, aber
ſehr langweilig kannſt du mitunter ſeyn.


Gnädige Frau, antwortete Fancy ſchüchtern
und doch mit einem gewiſſen Pathos, all mein
Verdienſt iſt, Ihnen treu zu ſeyn und Ihnen zu
gehorchen wie eine Sclavin. Unterhaltung kann
freilich ein ſo beſchränktes Mädchen, wie ich bin,
nicht haben.


Clelia ließ ſich darauf bei ihrem Vetter an-
melden. Die Begrüßung beider Verwandten war
[218] ſehr liebevoll, denn ſie waren einander gut wie
Bruder und Schweſter. Dennoch empfand Clelia
nach den erſten Reden einen gewiſſen Zwang, denn
ſie war ſich ja geheimer Abſichten gegen ſeine
Wünſche bewußt. Sie kürzte daher den Beſuch
unter dem Vorwande, daß viel Sprechen ihm
noch ſchädlich ſeyn möchte, ab. Dann hatte ſie
die Unterredung mit dem Diaconus. Darauf
wollte ſie die Hausfrau ſprechen, aber dieſe hatte
in ihrer Wirthſchaft die Hände voll zu thun. Sie
verlangte daher nach dem Oberamtmanne. Der
war jedoch auf dem Gerichte und ſprach mit einem
Beamten über Dienſtſachen. Nun begehrte ſie wie-
der den Diaconus zu ſprechen, welcher ſich indeſſen
zu einer Synode hinbegeben hatte.


Die Toilettenſtunde war hierüber herangekom-
men und dieſe gab nun einige Zerſtreuung. Wäh-
rend Fancy das Haar ihrer Dame ordnete, erfuhr
ſie das Project, welches dieſe beſchäftigte. Sie
faßte ihre eigenen verſchwiegenen Gedanken. Dieſe
halten wir uns nicht für berechtigt zu offenbaren,
denn auch gegen Kammerjungfern ſoll man discret
ſeyn. Nur ſo viel: Wie alle ihre Schweſtern war
Fancy eine geſchworene Freundin von Meſalliancen.
[219] Zwar hätte ſie auf Lisbeth neidiſch ſeyn dürfen,
dagegen aber ſtritt ihr Gemüth. Bei aller Schlau-
heit hatte das Mädchen ein dankbares Herz. Der
junge Graf Oswald hatte einſt ihrem alten inva-
liden Vater eine Verſorgung als Caſtellan ausge-
macht, ihn dadurch vom Hungertode gerettet. —
Man muß hübſch erkenntlich ſeyn, dachte Fancy
und entwarf ihren Soubrettenplan.


Sie legte etwas boshaft das ſchöne, noch nie
getragene blaue Mouſſeline de Laine Kleid heraus
und kleidete überhaupt ihre Herrin heute mit be-
ſonderer Sorgfalt. Als Clelia ſich im Spiegel ſo
ſchön geſchmückt ſah, ſeufzte ſie und ſagte: Schade,
daß man das für die Tauben und Sperlinge im
Hofe angezogen hat.


Recht Schade! verſetzte Fancy. Der Herr
hatten ſich ſo ſehr darauf gefreut die gnädige Frau
in dem neuen Kleide zu ſehen.


Nun, es wird ja hier keine Ewigkeit währen,
warf die ſchöne Frau leicht hin.


Die Ewigkeit iſt lang, verſetzte die gefällige
und nachgiebige Fancy. Nein, eine Ewigkeit wird
es wohl nicht währen.


[220]

Nach Tiſche (ſie ſpeiſte nur mit der Hausfrau,
denn die Männer hatten abſagen laſſen, und das
Mahl war deßhalb etwas einſylbig, wie alle Diners
zweier Damen und von ſehr kurzer Dauer) ließ
die junge Baroneſſe ihre Uhr repetiren und ſagte:
Halb drei. Das wird ein langer Nachmittag wer-
den. — Sie las etwas, aber das Buch zog ſie
nicht an, dann ſang ſie etwas zur Guitarre, aber
ſie hörte bald auf, denn ſie behauptete, heiſer zu
ſeyn. — Fancy, meine Creſpine! rief ſie. Fancy
brachte die ſchwarzſeidene Creſpine. Clelia ging
etwas in den Garten, aber die Mücken ſchwärmten
ihr dort zu wild, und deßhalb kehrte ſie bald wieder
in ihr Zimmer zurück.


Wenn mein Vetter erfährt, welcher Langenweile
ich mich um ſein wahres Heil ausgeſetzt habe, ſo
müßte er der undankbarſte Menſch ſeyn, ſagte er mir
nicht Zeitlebens Dank, ſprach ſie zu Fancy, die ihr
die Creſpine abgenommen hatte und in den verknitter-
ten Spitzen um den vollen Nacken Ordnung ſtiftete.


Er müßte der undankbarſte Menſch ſeyn, er-
wiederte Fancy.


Sie nahm Stramin zur Hand und fing etwas
an zu ſticken. Inzwiſchen war der Oberamtmann
[221] zurückgekommen und ließ anfragen, ob er aufwarten
dürfe. In der Dürre dieſes Tages erſchien ihr
der Geſchäftsmann wie ein Retter aus der Noth;
gern wurde er angenommen. Als er ſeine verehrte
Schöne in dem neuen, reizenden Anzuge ſah, be-
gannen ſeine Augen wacker zu werden, er ſah ganz
verklärt aus. — Das Sticken aus freier Hand
ſchien ihr einige Beſchwerde zu verurſachen. Er
fragte ſie lebhaft, ob er ihr den Stramin halten
dürfe? Sie bejahte im ſchmeichelndſten Tone.
Mit leuchtenden Blicken ſetzte ſich nun der Ober-
amtmann zum Dienſte der Galanterie auf ein Fuß-
bänkchen zu den Füßen der jungen Dame nieder,
nahm den Stramin feſt in ſeine beiden Hände
und ſah ſo ernſthaft auf die Roſen, die unter Cle-
lia’s Nadel entſtanden, als habe er ein Todesur-
theil vor Augen. Auch Clelia ſtickte eifrig, als
arbeite ſie um das tägliche Brod, und Fancy ſaß
im Fenſter, mit einer Beeiferung ohne Gleichen
nähend.


Die Spannung der nächſten Augenblicke war
nicht gering. Endlich fragte Clelia ihren grauen
Verehrer, wie er die Sache mit dem Vetter an-
zugreifen gedenke? worauf er ihr ungefähr die näm-
[222] liche Auskunft gab, wie dem Diaconus. Clelia
fuhr aber heftig auf und erklärte, daß ſie ein ſol-
ches Verfahren durchaus nicht zugeben werde, daß
das ein rauhes und unmenſchliches Verfahren ſei,
welches ohnehin nicht einmal einen günſtigen Er-
folg zuſichere, weil die Liebe durch ſo unmittel-
baren Widerſpruch nur wachſe, und was dergleichen
mehr war, geeignet, den ganzen Plan des Ober-
amtmanns umzuwerfen. Sie hatte den Stramin
aus ihren Händen entlaſſen und der Oberamtmann
hielt ihn ſonach beſtürzt und gedankenlos allein in
den ſeinigen.


Aber mein Gott, ſagte er traurig, was wollen
Sie denn, daß geſchehen ſoll?


Darüber habe ich meinen Entſchluß gefaßt,
erwiederte Clelia ernſt. — Er iſt auf die Kennt-
niß des weiblichen Herzens gegründet. Kurz, wenn
ich irgend etwas auf Sie vermag, wenn Sie wirk-
lich mir in dem Maaße vertrauen, wie es den
Anſchein hat, ſo überlaſſen Sie mir die Leitung
der Sache, denn von ſolchen Dingen begreift Ihr
Männer überhaupt nichts.


Der Geſchäftsmann wollte Widerſpruch erheben,
aber ſie ſah ihn ſo beſtimmt an, er fürchtete ſo
[223] ſehr von ihr verabſchiedet zu werden, ſie kam ihm
heute in dem blauen Mouſſeline de Laine-Kleide
reizender als je vor, er hatte ſich ſo glücklich ge-
fühlt, als er ihr den Stramin gehalten — genug,
er gab wehmüthig und kleinlaut nach. Unter der
Thüre aber wendete er ſich nochmals um, ging zu
ihr, faßte ihre beiden Hände, drückte ſie gegen
ſeine Bruſt, ſeufzte und ſagte: Das ganze Geſchick
unſeres Freundes ſteht auf dem Spiele. Nur
Kälte und Conſequenz kann ihn retten. Wird
Ihnen Ihre weibliche Gutmüthigkeit nicht einen
Streich ſpielen? Wenn ſich nun Stöhnen und
Wehklagen erhebt, werden Sie dann Stand halten?


Darüber ſein Sie ganz ruhig, verſetzte Clelia.
Fancy, du kennſt meine Feſtigkeit.


Ich kenne die Feſtigkeit der gnädigen Frau,
ſagte Fancy.


Nach der Entfernung des Oberamtmanns fragte
die Baroneſſe ihre Zofe: Ob ſie wohl ihren Plan
errathe? Die Zofe verſetzte, daß ſie ein zu dum-
mes Mädchen ſei, um ſo kluge Plane errathen zu
können. Ich werde, ſagte darauf die Baroneſſe,
indem ſie ſich von Fancy die ſeidenen Schuhe,
welche ſie etwas drückten, ausziehen ließ und ihre
[224] kleinen Füße in rothe goldgeſtickte Pantöffelchen
ſteckte, ich werde auf weibliche Art die Sache
ordnen, Fancy.


Sie nahm eine gefällige Lage auf dem Sopha
an, Fancy ſetzte ſich auf das Bänkchen des Ober-
amtmanns zu ihren Füßen, ſah ihr demüthig in
das Geſicht und erwiederte: Gnädige Frau, Sie
können gar nichts anderes ſeyn, als das edelſte
weibliche Weſen.


Meinſt du? verſetzte die Gebieterin lächelnd
und ſtreichelte ihrer ergebenen Jungfer die Wange.
— Nun höre meinen Plan. Nach Allem, was
ich von der Lisbeth höre, iſt ſie ein gutes und
braves Mädchen. Solche Gemüther leben nur im
Glücke ihres Freundes und entſagen dem eigenen,
wenn man ihnen klar macht, daß ſie das Unglück
des Zweiten werden können. Ich will auf das
Gemüth des Mädchens mit allen Gründen wirken
und bringe es ohne Zweifel dahin, daß ſie in meine
Hände ihre Liebe und meines Vetters Wort zu-
rückgiebt. Entſagen ſoll ſie, entſagen wird ſie,
dann werde ich ſie weitweg zu entfernen wiſſen.
Todt muß ſie für Oswald ſeyn, ich aber ſorge,
wie ſich von ſelbſt verſteht, Zeitlebens als Mutter
[225] für ſie. — Nur die ſchlechte, unwahre Liebe will
um jeden Preis den Beſitz des Geliebten; die reine,
wahre weiß ſich ſelbſt freudig zu opfern, ſetzte
Clelia begeiſtert hinzu, indem ſie ſich von Fancy
einen Handſpiegel vorhalten ließ, weil ſie fühlte,
daß eine Locke heruntergefallen war, die wieder
aufgeſteckt werden mußte.


Fancy ergoß ſich in Verſicherungen, daß die-
jenige ein elendes Mädchen ſeyn müſſe, welche
nicht willig auf den Geliebten verzichte, ſobald
ſeine Lebensruhe davon abhange, und Clelia fuhr
fort: Sehen aber darf ich ſie nicht vor der entſchei-
denden Unterredung, denn meine ganze Feſtigkeit
muß ich allerdings für dieſen Hauptſchlag zuſammen-
halten und keinem unzeitigen Mitleid mich ausſetzen.


Nein! rief Fancy eifrig, nein, ſehen dürfen
Sie ſie durchaus nicht. Denn dann könnten Sie
weich werden, Ihre Gründe würden ſich vielleicht,
ſo zu ſagen, zerbröckeln, und das Mädchen möchte
Sie gewinnen und Alles wäre verloren. Wenn
Sie aber plötzlich mit aller Ihrer Klugheit be-
waffnet, ſie kommen laſſen, gnädige Frau, dann
wollte ich doch wohl einmal Diejenige ſehen, die
Ihnen widerſtehen könnte. So wie Sie ſich die
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 15
[226] Sache ausgedacht haben, muß ſie gelingen und
mich dauert nur die arme Lisbeth, die um den
ſchönen Grafen kommt, denn ich, gnädige Frau,
bin freilich nicht ſo feſt wie Sie, ſondern nur ein
einfältiges, weichherziges Mädchen.


Nach dieſen Vorfällen verging der Abend der
jungen Dame in einer gewiſſen ſtillen Erhebung.
Die Nacht war jedoch unruhig und die Bewohner
des Hauſes wurden durch mehrmaliges Schellen
in dem Zimmer der Baroneſſe aus ihrem beſten
Schlummer geweckt. Clelia ſchellte nach ihrer
Jungfer deßhalb ſo oft, weil ſie durchaus nicht
ſchlafen konnte. Sie gab ihrem Lager die Schuld,
welches Fancy ganz abſcheulich gemacht habe, ließ
von ihr die Kiſſen anders legen, da das nicht
helfen wollte, die Decken beſſer ordnen, und als
auch die beſſer geordneten Decken keinen Schlaf
bringen wollten, die Matratze wenden.


So wurde Fancy geſchellt, entlaſſen, wieder
geſchellt, wieder entlaſſen. Fancy, der ihr Ge-
wiſſen in Betreff des Lagers nicht das Mindeſte
vorwarf, ertrug gleichwohl ſchweigend die Verweiſe
der Herrin, oder ſchalt ſich auch wohl ſelbſt einmal
wegen ihrer Nachläſſigkeit, und legte, ordnete, wen-
[227] dete mit der Geduld einer Heiligen die Beſtand-
theile des ſo ungerecht verklagten Lagers. Aber
es half Alles nichts und gegen Morgen bekam
Clelia einen Anfall von Krämpfen. Fancy pflegte
die arme Kranke mit Eſſigäther und Orangenblü-
thenthee, den ſie ſogleich raſch und ſtill zu bereiten
wußte, treulichſt. Das Uebel löſete ſich auch, und
unter Thränen, welche die beklommene Bruſt er-
leichterten, machte Clelia am Buſen ihrer Ver-
trauten dem verhaltenen Schmerze Luft. Sie
weinte ſehr und klagte über ihren Gemahl, der ſie
ſo herzlos habe verlaſſen können, ſie fürchte, ſagte
ſie, daß er ſie doch nicht ſo liebe, wie ſie gedacht,
ſie nannte ſich endlich ſchluchzend eine arme, auf-
gegebene ſchutzloſe Frau. — Fancy nöthigte ihr
ſo viel Orangenblüthenthee ein, wie nur möglich,
und ſchalt dabei auf das ganze männliche Geſchlecht,
von dem ſie behauptete, daß es im Allgemeinen
nichts tauge und nur zum Verderben der Frauen
erſchaffen ſei. Der gnädige Herr mache denn
leider auch keine Ausnahme, ſagte ſie und das
Uebelſte ſei, daß ſich, wenn er feſt dabei verbleibe,
ſeinen Oheim im Osnabrück’ſchen ſo lange zu be-
ſuchen, als die gnädige Frau hier Geſchäfte habe,
15*
[228] gar kein Ende des verzweiflungsvollen Zuſtandes
abſehen laſſe.


Am anderen Tage war Clelia ſehr leidend
und medicinirte. Ihr Befinden beſſerte ſich nicht,
als ſie vernahm, daß Lisbeth in der Frühe auf
eine halbe Woche zu ihrem alten Pfleger verreiſet
ſei, den ſie nun, da ſie über Oswald ganz ruhig
geworden war, wiederzuſehen verlangte. Sie hatte
ſich außerdem zu dieſer Reiſe deßhalb beſtimmt,
weil ſie jede Verſuchung meiden wollte, den Ge-
liebten durch ihre Gegenwart jetzt, wo er ſanft
und allmählig in das Leben zurückkehren ſollte, auf-
zuregen.


[229]

Fuͤnftes Capitel.
Worin der Hofſchulze ſeine letzte Rede
über allerhand wichtige Gegenſtände hält
.


An einem der nächſten Tage ging der Diaconus
auf das Gerichtshaus, wo er als Zeuge vernom-
men werden ſollte. Mehrere Menſchen, die gleich
ihm hinbeſchieden worden waren, ſtanden unten vor
der Thüre, und Andere ſprachen mit ihnen über
den Gegenſtand, der vor einigen Wochen die größte
Verwunderung im Städtchen erregt hatte, dann
den Leuten aus dem Sinne gekommen war, und
nun, als das Gericht die Sache wieder aufnahm,
von Neuem zu reden gab.


Die Zeugen ſollten über den Patriotencaspar
und den Oberhof verhört werden. Der Oberamt-
mann war nämlich an jenem Tage, wo er den
Einäugigen traf, über den Fall in’s Klare und
mit einer protocollariſchen Darſtellung deſſelben zu
[230] Stande gekommen. Auch er überzeugte ſich zwar,
daß die Sache verjährt ſei, gleichwohl meinte er,
ſie habe eine ſolche Geſtalt, daß wenigſtens das
Thatſächliche in aller Form Rechtens feſtgeſtellt
werden müſſe. Der Amtseifer des Geſchäftsman-
nes wurde ſelbſt durch den traurigen Zwiſchen-
fall mit ſeinem jungen Freunde nicht von dieſer
Bahn abgeleitet. Er trug daher, was er geſchrie-
ben, zu dem Vorſtande des Gerichts, gab die
nöthigen Erläuterungen dazu und das Gericht ging
ebenfalls in die Anſicht ein, daß ein geſtändiger
Mörder wenn auch von noch ſo alter Zeit her,
wenigſtens vor der Hand nicht auf freien Füßen
ſtehen und unverhört bleiben dürfe.


Man ſchritt daher gegen den Patriotencaspar
zur Verhaftung. Dieſer hielt von dem Leiterwagen
herunter, auf dem man ihn einbrachte, Reden an
das Volk, verfluchte die Gerichte von ſeines Glei-
chen und pries die Gerichte des Königs, vor denen
er nunmehr ſeine alte Schuld abbüßen wolle. Zu-
gleich berühmte er ſich des Torts, den er ſeinem
Todfeinde angethan. Das Gericht wollte ſich in-
deſſen auch nicht ſo ohne Weiteres mit einer viel-
leicht nachher getadelten Arbeit belaſten, fragte
[231] daher höheren Ortes an, von da geſchah eine
Rückfrage noch weiter hinauf und die Beſcheidung
erfolgte erſt nach mehreren Wochen. Sie ging
dahin, daß allerdings, um die Sache aufzuklären,
die nöthigen Vernehmungen geſchehen ſollten.


Gerade kurz vor den Tagen, von welchen hier
die Rede iſt, war jene Beſcheidung eingetroffen.


Beſichtigungen wurden daher vorgenommen,
Zeugen abgehört und dieſe Dinge brachten die An-
gelegenheit wieder in das Gedächtniß der Menſchen
zurück. Die ſonderbare Art von Macht, welche
der Hofſchulze ausgeübt, kam zur Sprache, der
einäugige Frevler hatte kein Hehl, daß er ſeinem
Feinde das Schwert an einen verborgenen Ort weg-
gethan habe und obgleich dieſer Thatumſtand kaum
ein Verbrechen, ſondern mehr nur einen Muth-
willen darſtellte, ſo war er es doch gerade, und
was mit ihm zuſammenhing, wodurch die Leute
am meiſten beſchäftigt wurden. Man verwunderte
ſich, daß ein Uraltes, längſt Verſchollenes ſich wie
eine unabhängige Macht im Staate hatte hinſtellen
können.


Auch der Name des Diaconus gerieth auf die
Zeugenliſte. Die Unterſuchung ruhte in den Hän-
[232] den eines Richters, der ſich viel mit hiſtoriſchen
Studien beſchäftigte, und dieſe fanden hier reich-
liche Nahrung. Er machte daher die Sache wohl
weitläuftiger, als ſie ſtreng genommen zu werden
brauchte, und hörte Jeden ab, der einigen Auf-
ſchluß über das Weſen des Oberhofes und das
Treiben ſeines Beſitzers zu geben vermochte. Deß-
halb hatte er denn den Diaconus gleichfalls vor-
laden laſſen, weil dieſer, wie bekannt war, viel
mit dem Hofſchulzen verkehrte, obgleich er von
dem eigentlichen Gegenſtande der Nachforſchungen
nicht das Mindeſte wußte.


Man ließ den Diaconus ſeines Standes wegen
nicht im Zeugenzimmer warten, ſondern berief ihn
ſofort in die Verhörſtube. Dort wohnte er einem
ſonderbaren Auftritte bei. An den Schranken
ſtand der einäugige Mörder und in einer Ecke ſaß
der Hofſchulze, über deſſen verfallenes Ausſehen
der Diaconus erſchrak. Der Mörder ſtand ganz
ſtrack da und ſein reicher Feind ſaß in zuſammen-
gekrümmter Haltung. — Noch einmal fordere ich
Euch auf, ſagte der Richter zum Patriotencaspar,
mir zu entdecken, wohin Ihr das Schwert gethan
habt; bedenkt, daß Ihr durch hartnäckiges Ver-
[233] läugnen Euer Schickſal erſchwert. — Hofſchulze,
ſagt ihm in’s Geſicht, daß Ihr Euer ganzes Haus
danach vergeblich durchſucht habt, daß es alſo nicht
im Oberhofe liegen könne.


Wenn der Menſch keine Hexenmeiſterkünſte
ausgeübt und es in einen Balken inwendig hinein-
gehext hat, ſo liegt es draußen irgendwo und der
Böſewicht muß wiſſen, wo es liegt, ſagte der Hof-
ſchulze, indem er einen Blick des grimmigſten Zor-
nes auf den Entwender warf.


Der Einäugige, der mehr ſeinen Feind im
Auge behielt, als den Richter, verſetzte: Und den-
noch liegt es im Oberhofe, Hofſchulze, aber finden
werdet Ihr es ſchwerlich, wenn Ihr nicht das
ganze Haus von Grund aus umreißt. Und das
iſt eben meine Freude, daß Ihr das wiſſen ſollt,
und daran vergehen, daß es Euch ſo nahe iſt und
dennoch verborgen bleibt. Mein Schickſal weiß
ich. Daumenſchrauben und Leiter gelten nicht mehr;
Ihr könnt mich alſo höchſtens länger ſitzen laſſen,
Herr Richter, und das mögt Ihr thun, denn ich
ſchweige und werde ſchweigen, müßte ich auch hun-
dert Jahre abſitzen. Wo das Schwert liegt, dieſe
Sache geht mit mir in die Grube.


[234]

Der Richter, welcher gar zu gern das alte
Schwert geſehen hätte, fuhr den hartnäckigen Ver-
läugner heftig an, der Hofſchulze aber richtete ſich
auf, unterbrach ihn und ſagte mit plötzlicher Ho-
heit: Laſſet es gut ſeyn, Herr Richter, wenn meine
Bitte etwas gilt, denn ich habe mich beſonnen und
dieſer Böſewicht wird nichts verrathen. Ich werde
mich ohne das Schwert zu behelfen wiſſen.


Der Richter ließ den Patriotencaspar abführen.
Seid nun ſo gut, ſagte der Hofſchulze, die Sachen
von mir aufzunehmen, die mit den anderen Dingen
ſtimmen, welche bereits von mir geſchrieben ſtehen.


Der Richter ſchien etwas in Verlegenheit zu
gerathen und erwiederte: Das gehört ja nicht zur
Sache und ich muß überhaupt erſt den Herrn Dia-
conus vernehmen. — Deſſen Verhör war kurz,
es drehte ſich eigentlich um Nichts. Der Hofſchulze
wartete ruhig die Beendigung ab; dann wiederholte
er ſeine frühere Bitte. — So weit ich Euch im
Allgemeinen verſtanden habe, ſagte der Richter, wollt
ihr Sachen aufgeſchrieben wiſſen, die ſich nicht ziemen.


Nicht ziemen! rief der Hofſchulze mit erhöh-
ter Stimme. Ich habe Euch auf alle Fragen
nach der Heimlichkeit und wie ich ſie verwaltet,
[235] Rede geſtanden, und nun verlange ich auch mit der
Manier, daß meine Auskünfte und Zuſätze gehörig
dazugethan werden, und ſoweit mir die Rechte bekannt
ſind, dürft Ihr mir die Zunge nicht ſtumm machen.


Nun denn, rief der Richter halb ängſtlich halb
ärgerlich ſeinem Schreiber zu, zeichnen Sie auf,
was der Alte ſagt.


Ja, alt bin ich, und alt ward ich in Ehren,
verſetzte der Hofſchulze gelaſſen. Der Diaconus
wollte gehen. — Nein, bleiben Sie, Herr Diaco-
nus, ſagte der Hofſchulze, es iſt mir gar ſehr
lieb, daß Sie zufällig hier ſind, denn ich äſtimire
Sie als einen frommen und gelehrten Mann von
Herzen, und es kann mir nicht ſchaden, wenn auch
Sie meiner Art und Manier Zeugenſchaft geben. —
Herr Scribent, ſagte er zu dem Schreiber ſo ge-
bietend, als habe er an Gerichtsſtelle zu befehlen,
ſchreibet genau auf, was ich zu wiſſen thue.


Herr Richter, ich mag mit meinem Schwerte
und mit der Heimlichkeit am Stuhl wohl wie ein
Narr da in den Schriften ſtehen, und Poſſen, wenn
mir recht iſt, nannte der junge vornehme Herr, an
dem ich mich in meiner Angſt vergreifen wollte,
die Sachen, woran mein Herz gehangen hat. Ich
[236] will aber jetzt expliciren, was vor eine Bewand-
niß es mit dieſen Poſſen gehabt hat. — Allerhand
habe ich erlebt in der Bauerſchaft, Friedenszeiten
und Kriegesläufte und Hagelſchlag, Ueberſchwem-
mung, gute Ernte und Mißwachs und Viehſterben.
Nun ſah ich denn, ſeitdem ich in die Jahre getre-
ten war, wo das Menſchenkind anfängt nachzuden-
ken, daß hin und her die Herren kamen, die ſich
auf die Schreiberei verſtehen und auf das Beſſer-
wiſſen als die Leute, welche die Sache angeht, und
die kuckten nach, wenn Alles geſchehen war, das
Korn niedergetreten und das Vieh in den letzten
Zügen lag und die Wäſſer wieder im Ablaufen
ſich befanden. Hatte aber gar der Feind geplün-
dert und ravagirt, da kamen ſie vollends erſt lange
darnach und notirten ſich’s auf, denn während der
Gefahr war meiſtens keiner der Herren zu finden.


Die Herren thaten dann ordiniren, wie Alles
wieder in Richtigkeit zu bringen ſei, mehreſtentheils
aber ſagten ſie Sachen des Sinnes und Verſtandes,
daß wenn der Hagel nicht gefallen wäre, ſo hätte
ſich das Korn nicht umgelegt und ohne die Lungen-
fäule müßten die Kühe noch am Leben ſeyn. Unter-
weilen wurde auch wohl einiges Geld geſchickt, es
[237] kam aber ſelten an den Rechten, und im Ganzen
rappelten Diejenigen ſich am beſten wieder heraus,
welche nicht auf die Hülfe der Herren da draußen
warteten, ſondern ſich ſelber halfen, wohingegen ich
manche Menſchen habe ganz herunterkommen ſehen,
die immerdar bei jedem Unfall meinten, es müſſe
nun von da draußen ihnen das Malheur gutge-
macht werden.


Erſtaunend abſonderlich aber war eine Sache.
Mitunter machte ein Herr von der Schreiberei
unter uns Bauern Dinge, worüber wir lachen muß-
ten und dann traf es ſich wohl, daß ein ſolcher
Herr ein Paar Jahre darauf von weither mit vier
Pferden durch die Bauerſchaft gefahren kam und
hatte eine Miene, als habe er bei Erſchaffung der
Welt mitgeholfen und allerhand bunte Bänder vor-
ne am Rocke.


Dieſes Alles nun in meinen einfältigen Ge-
danken betrachtend, vermeinte ich letztlich, daß die
Herren von der Schreiberei da draußen uns Bauern
eigentlich wenig hülfen, und das auch eigentlich
nicht wollten, ſondern nur ſchreiben und ſich nach
und nach in die Wägen mit vier Pferden hinein-
ſchreiben. Und Gott verzeihe mir die ſchwere Sünde,
[238] einſtmalen, als ich bei einem Rübſenfelde vorbei-
ging, worinnen die Pfeifer waren, ſo fielen mir die
Herren ein und wußte nicht, wie das geſchah. —
Nun auf der anderen Seite hatte ich meine Refle-
xion, wie das Weſen in der Welt ſo eigentlich be-
ſtellt ſei. Da dachte ich (denn ich habe immer in
meinem Leben Nachgedanken gehabt) daß ein or-
dentlicher Menſche ſchon durchkommt, der auf Wind
und Wetter achtet, und auf ſeine Füße ſchaut und
in ſeine Hände und ſich mit ſeinen Nachbarn ge-
treulich zuſammenhält.


Sehet, Ihr Herren, darauf kommt es mehre-
ſtentheils nur an. Und nach dieſem gewöhnte ich
mir ſelbſt zuerſt die Gedanken nach Hülfe von drau-
ßen ab, zahlte meine Steuern und trug meine Laſten,
im Uebrigen aber hielt ich mich vor mich und ließ
es mir lieber, wenn ein Malheur paſſirte, etwas
ſaurer werden, als daß ich die Herren da draußen
um Beiſtand angeſprochen hätte. Hernacher ge-
wöhnte ich es auch den Leuten um mich herum ab.
Sie nahmen an mir ein Exempel, und ſo thaten
wir Nachbarn uns allmählig zuſammen, ſprangen
einander bei, ordinirten unſer Weſen für uns, und
kam von vielen Sachen, um die ſie anderer Orten
[239] ein großes Halloh erheben, nichts über die Gemar-
kung hinaus. Und als der Mordhund da, der mir
nun mein Schwert geſtohlen hat, an meinem Sobne
zum Miſſethäter geworden war und zufälligerweiſe
auch ungefähr um die nämliche Zeit Einer am Stuhle
droben nach unſerer alten Regel und wie der her-
gebrachte Orden iſt, wiſſend gemacht werden ſollte,
kam es mir ein, dieſe alte heimliche Sache zu brau-
chen wider den Todtſchläger und es glückte und ich
ſetzte ihn aus dem Frieden, feimte ihn ins Elend
hinein und machte ihn zum Zeichen vor Großen
und Kleinen, daß Keiner Unrecht thun dürfe. Als
aber die Sache erſt einmal im Gang war, gelang
ſie immer beſſer; wenige Proceſſe wurden in das
Amt getragen, und die meiſten Frevel gar nicht
angezeigt, ſondern machten die Scherereien unter
uns ab. Denn über Mein und Dein und wem
die Mauer gehört und jener Wieſenſtreifen, kann
man ſchon ſelbſt mit ſeinem Bauerverſtande fer-
tig werden. Wenn aber wo eingebrochen iſt, ſo
kennt faſt immerdar das Dorf den Dieb, was
freilich oft nicht ſtrenge zu beweiſen ſteht, wornach
denn ein ſolcher angezeigter Spitzbube frech und
zum Scandal ganz ſchandhaft umhergeht und ſich
[240] ſeiner Beute wohl noch gar erfreut, die der Be-
ſtohlene nicht wiederkriegt. Handhabten alſo ſelber
Recht und Gerechtigkeit in allem Frieden und konnte
uns Niemand darum anfaſſen, denn wir thaten Kei-
nem was zu Leide, ſondern gingen nur nicht mit
dem Ungerechten und Frevelhaften um, wenn wir
ihn in die Feime geſetzt hatten; es entſtand aber
weit größere Furcht dieſerhalb unter den Leuten
als vor Urtel und Gefängniß.


Die Rede des alten Bauern rauſchte in ihren
rohen und ſtrudelnden Ausdrücken wie ein Wald-
bach daher, der über Wurzeln, Knoten und Kieſel
ſtrömt. Er ſprach ohne zu ſtocken. Der Richter
wollte ihn unterbrechen, der Hofſchulze aber ſagte:
Ich bitte und erſuche Euch, Herr Richter, mich
gänzlich ausſprechen zu laſſen, denn noch Manches
habe ich zu veroffenbaren. — Herr Richter und
Herr Diaconus, wenn wir ſo unſer Weſen für uns
allein in Geſchick brachten, ſo waren wir darum
keine Unruheſtifter und Tumultuanten. Denn hat-
ten wir auch die Herren von der Schreiberei nicht
ganz ſonderlich in der Aeſtimation, ſo ſchlug uns
doch jederzeit das Herz, wenn wir an den König
dachten. Ja, ja, gegenwärtig ſchlägt mir mein
[241] Herze in meinem Leibe, da ich ſeinen Namen aus-
ſpreche. Denn der König, der König muß ſeyn,
und nicht ein Buchſtabe darf abgenommen werden
von ſeiner Macht und von ſeinem Anſehen und von
ſeiner Majeſtät. Weil er nämlich iſt der oberſte
General und der allerhöchſte Richter und der ge-
meine Vormund. Denn es arriviren freilich mit-
unter Sachen, darin man ſich nicht ſelbſt helfen
kann und nicht zu rathen weiß mit ſeinen Nachbarn.
Da iſt es dann Zeit, daß man den König anruft
in der Noth. Aber, wie ein ordentlicher Menſche
dem lieben Gott nicht um jede Bagatelle Moleſten
macht, als zum Beiſpiel, wenn Einem der kleine
Finger wehe thut an der linken Hand: Sondern
wo die Creatur nicht mehr aus noch ein weiß, da
ſchreit ſie zu ihm, alſo ſoll der König nicht ange-
ſchrieen werden um jeden Groſchen, der mangelt,
ſondern in der rechten ächten Noth allein, und zu
allen übrigen Tagen ſoll man nur ſein Herze er-
freuen und erquicken an dem Könige; denn er iſt
das Abbild Gottes auf Erden. Zum Plaiſir iſt uns
hauptſächlich der König geſetzet und nicht zum Hans
in allen Ecken. Aber wo nun der Geängſtete und
Bedrängte ſeinem Leibe keinen Rath mehr weiß,
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 16
[242] da thut er ſich aufmachen und ſteckt Brod und ſon-
ſtigen Mundproviant zu ſich und thut viele Tage
gehen. Und endlich ſtellt er ſich an Ort und Stelle
vor das Schloß und hebt ſein Papier in die Höhe
und dieſes ſieht der König und ſchickt einen La-
quaien oder Heiducken, oder was für Kramerei
und Package er ſonſt um ſich hat zu ſeiner Auf-
wartung, herunter, und läßt ſich das Papier bringen
und lieſet es, und hilft, wenn er kann. Wenn er
aber nicht hilft, ſo ſteht nicht zu helfen, und das
weiß dann der arme Menſche, geht ſtille nach Hauſe
und leidet ſeine Noth wie Schwindſucht und Ab-
nehmungskrankheit.


Sie ſagen, er mache ſich nichts aus den Leuten;
dieſes iſt aber eine grobe Lüge, denn er hat die
Unterthanen ſehr gerne und behält es nur bei ſich,
und ein recht gutes Herz hat er, wie es ein deut-
ſcher Potentate haben muß, und ein ſehr prächtiges.
Es iſt erſtaunlich und eine Verwunderung kommt
Einen an, wenn man die Männer, die davon wiſſen,
hat erzählen hören, wie er ſich in der grauſamen
Noth, als der Franzoſe im Lande hauſete, ſo zu
ſagen das Brod vor dem Munde abgebrochen hat,
und hat ſeinen Prinzen und Prinzeſſinnen zu Ge-
[243] burtstägen und Weihnachten nur ganz erbärmliche
Präſente gemacht, bloß, damit er den armen Un-
terthanen, die ganz ausgeſogen waren, nicht viel
koſte. Dieſes ſegnet ihm nun der liebe Gott an
ſeinen alten Tagen in Fülle, und er iſt wieder
recht in guten Umſtänden und ganz wohlauf, und
Gott erhalte ihn lange dabei! Und noch neulich
hat er einem armen Menſchen in unſerer Nachbar-
ſchaft, den Einer wegen Zinſen und Laſten mitten
im Winter hatte vom Hofe herunter ſubhaſtiren
laſſen wollen, das Geld aus ſeiner Taſche gegeben,
und wenn er kann, ſoll ihm der es wiedergeben,
und wenn er nicht kann, ſo thut es auch nichts,
hat der König geſagt.


Deßhalb haben wir immer, mochten wir auch
von vielen Geſchichten um uns herum nichts wiſſen,
wenn wir anſtießen, gerufen: Der König ſoll leben!


Jetzt komme ich auf meine letzte Sprache, Herr
Diaconus und Herr Richter. Wenn der Menſche
bei ſich fertig iſt, ſo gehen ſeine Gedanken wandern
mit den Wolken, die da ziehen, und mit den Laſt-
wagen, die vorbeifahren über den Hellweg. Und
ſo gingen die meinigen auch mitunter über Börde
und Haarſtrang hinaus und ich dachte, wenn nun
16*
[244] da draußen ſich auch Jedermann ſo lernte auf ſich
verlaſſen, und ſtellte ſich zuſammen mit ſeines Glei-
chen, der Bürger mit dem Bürger, der Kaufmann
mit dem Kaufmann, der Gelahrte mit dem Gelahr-
ten und auch der Edelmann mit dem Edelmanne,
und machten ihre Sachen mehrentheils untereinan-
der ab ohne die Herren von der Schreiberei drau-
ßen, ſo wären die Pfeifer aus der Rübſaat gethan
und es müßte eine ganz herrliche und koſtbare
Wirthſchaft geben. Denn die Menſchen wären dann
nicht wie die dummen Kinder, die immer ſchreien:
Vater! Mutter! wenn ſie einen Augenblick alleine
ſind, ſondern gleichſam ein Fürſt wäre Jeder bei
ſich zu Hauſe und mit ſeines Gleichen. Dann wäre
auch erſt der König ein recht großer Potentate und
ein Herre ſonder Gleichen, denn er wäre der Kö-
nig über vielmalhunderttauſend Fürſten.


Dieſes iſt nun die Moral von der Heimlichkeit
am Stuhle und von dem Schwerte von Carolus
Magnus und von den ſogenannten Poſſen, die ich
getrieben. Schreibet Alles recht genau auf, Herr
Scribent, was ich geſagt habe, denn ich will nicht
wie ein einfältiger Mann in Euren Schriften
ſtehen, und es ſoll mir ganz lieb ſeyn, wenn meine
[245] Meinung noch Andere zu leſen bekommen und es
reflectirt mich nicht, wenn ſie ſelbſt bis zu dem
Könige getragen wird. Von dieſem habe ich nie
etwas zu bitten bedurft, und ich gebrauche ihn
nicht zu meines Leibes Nothdurft. — Aber voll
Freuden bin ich immer geweſen, ſein Unterthan
zu ſeyn wie ein geborener Fürſt und mein Herz
habe ich an ihm erfriſchet all mein Lebtage.


Leuchtend waren die hellblauen Augen des Hof-
ſchulzen während des letzten Theils dieſer Rede
geworden, ſeine weißen Haare hatten ſich wie
Flammen emporgerichtet, die Geſtalt ſtand wieder
groß und gerade da. Der Richter ſah vor ſich
nieder, der Diaconus dem Alten in das Antlitz;
er gemahnte ihn wie ein Prophet des alten Bun-
des. Mit höflicher Verbeugung und ſtillem Gruß
entfernte ſich der alte Bauer.


Der Diaconus folgte ihm tiefbewegt. Draußen
holte er ihn ein, legte ihm die Hand auf die Schulter,
ſchüttelte ſeine Rechte und ſagte ergriffen und gerührt:
Ihr habt mich erbaut, Hofſchulze. Jetzt aber will ich
als Euer Seelſorger und Prieſter Euch erbauen.


Der Alte war im Vorſaale ſchon wieder der
ſchlichte Bauer geworden, der krank und angegriffen
[246] ausſah. Thuen Sie das, ſagte er, Herr Diaconus,
denn Zuſprache iſt mir noth. Ich habe gar zu viel
Verdruß gehabt letzthin. Ich kann es nicht über-
kriegen, daß die Schaam geblößt iſt von den heim-
lichen und ſcheuen Dingen, und ſie nun umherge-
tragen werden in den Schriften und von dem jungen
Herrn in’s Reich geſchleppt. Nach dem Schwerte
will ich nicht weiter trachten, denn es hilft mir
doch nichts, aber der Kummer darum wird mein
Herz zernagen. Der Stuhl wird nun wohl ein-
gehen.


Laßt den Freiſtuhl verfallen, das Schwert aus
dem Auge des Tages geſchwunden ſeyn, laßt ſie
die Heimlichkeit von den Dächern ſchreien! rief der
Diaconus mit gerötheter Wange. Habt Ihr nicht
in Euch und mit Euren Freunden das Wort der
Selbſtſtändigkeit gefunden? Das iſt die heimliche
Looſung, an der Ihr Euch erkennt und die Euch
nicht genommen werden kann. Gepflanzt habt Ihr
den Sinn, daß der Menſch von ſeinen Nächſten
abhange, ſchlicht, gerade, einfach; nicht von Frem-
den, die nur das Werk ihrer Künſtlichkeit mit ihm
herauskünſteln, zuſammengeſetzt, erſchroben, verſchro-
ben; und dieſer Sinn braucht nicht der Steine
[247] unter den alten Linden, um gutes Recht zu ſchöpfen.
Eure Freiheit, Eure Männlichkeit, Eure eiſenfeſte
Natur, Ihr alter, großer, gewaltiger Menſch, das
iſt das wahre Schwert Karl’s des Großen, für
des Diebes Hand unantaſtbar!


Herr Diaconus, Sie machen mir viel zu viele
Complimente, erwiederte der Hofſchulze beſcheiden.
Indeſſen werde ich Ihre Worte im Herzen bewegen
und ſehen, was ich damit anfangen kann.


Sie gingen bis auf die Straße zuſammen.
Dann trennten ſie ſich. Der Diaconus war in einer
Erſchütterung, wie er ſie lange nicht empfunden hatte.


[248]

Sechstes Capitel.
Ernſte und feierliche Erklärungen zwiſchen
der Baroneſſe und dem Oberamtmann
.


Die [junge] Dame Clelia hatte inzwiſchen die
ermüdendſten Tage verlebt. Das Mediciniren unter-
hielt ſie wohl anfangs, indeſſen war doch der Reiz
der großen Arzeneiflaſche, welche der alte Silen
gefällig verſchrieben hatte, bald abgebraucht. Sie
fand, daß die Mixtur nach gar nichts ſchmecke und
ließ ſie, nachdem ſie einige Eßlöffel voll zum Theil
eingenommen hatte, ärgerlich zum Fenſter hinaus-
werfen. Sie ſagte, ſie wolle die Naturkräfte wal-
ten laſſen, die ganze ärztliche Kunſt ſei Charla-
tanerie.


Es fiel ihr ein, daß ſie einige Briefſchulden
abzutragen habe; Fancy mußte daher das mit ge-
preßtem braunem engliſchem Leder überzogene und
mit Goldſtäben gezierte Reiſeſchreibzeug auf den
[249] Tiſch ſetzen, öffnen, die feinen rothen, gelben und
blauen Briefblättchen, die Stahlfedern mit ſilbernem
Griff, die Oblaten von Mundlack mit Deviſen und
den bronzenen Briefbeſchwerer herausnehmen. Als
dieſer geſchmackvolle Apparat bereit geſtellt war,
erklärte Clelia, daß ſie nicht wiſſe, was ſie aus
dem elenden Orte ſchreiben ſolle. Fancy packte
ſtill den bronzenen Briefbeſchwerer, die farbigen
Blättchen, die Oblaten und die Stahlfedern ein,
ſchloß das Schreibzeug zu und ſtellte es wieder weg.


Gern wäre Clelia mit ihrem Vetter öfter zu-
ſammengekommen, aber es blieb bei kurzen, formel-
len Beſuchen, denn ihre Gutmüthigkeit konnte im
Bewußtſeyn deſſen, was geſchehen ſollte, eine be-
fangene Stimmung nicht überwinden. Auch Oswald
war einſylbig; er ſehnte ſich nach Lisbeth und ent-
behrte ſie ſchmerzlich. Dieſe blieb mehrere Tage
lang aus, und die Qual des Harrens gab der jun-
gen Baroneſſe die übelſte Laune, die ſich plötzlich
gegen das arme Kind wendete.


Fancy, ſagte ſie am dritten Tage, wenn das
Mädchen morgen nicht kommt, wenn ich noch län-
ger hier herumgeführt werde, ſo fürchte ich bei
der Unterredung von meiner Heftigkeit.


[250]

Es wäre nicht zu verwundern, wenn die gnä-
dige Frau heftig würden, denn ſo lange auf ſich
warten zu laſſen, iſt unerlaubt, erwiederte Fancy.


Die junge Dame bedachte ſich und ſagte: Aber
wenn mir recht iſt, ſo habe ich ihr ja gar nicht
ankündigen laſſen, daß ich mit ihr reden wollte.


Nein, ſie weiß nichts davon, ſagte Fancy.


Nun, ſo darf ich ihr ja auch deßhalb nicht zür-
nen! rief Clelia zornig.


Wenn Sie ſonſt nicht wollen, gnädige Frau, nein.


Der Stramin, dieſer Zeitvertreiber, wurde aber-
mals zur Hand genommen. Clelia nähte eine halbe
Dreifaltigkeitsblume, ſeufzte aber plötzlich, ließ den
Stramin in den Schooß ſinken und ſagte gepreßt
und ſchwer: Edmund kann es nie verantworten,
was er an mir gethan hat.


Fancy ſeufzte auch und ſprach: Ich hätte
das nimmermehr von dem Herrn gedacht.


Jungfer, ſagte ihre Gebieterin mit einem ſtren-
gen Tone, ich verbitte mir alle Bemerkungen über
meinen Gemahl.


O mein Gott! rief Fancy und weinte, nun
ſehen die gnädige Frau, was es zur Folge hat,
wenn Herrſchaften ihre Untergebenen durch zu große
[251] Güte verziehen. Ich erlaube mir ſchon Bemerkun-
gen über den gnädigen Herrn.


Sie ſchluchzte und konnte ſich über ihren Fehler
gar nicht zufrieden geben.


Laß es doch nur gut ſeyn, das Schluchzen! rief
Clelia ärgerlich. — Ich habe mich jetzt ganz kurz
entſchloſſen. Meine Geſundheit kann ich hier nicht
zuſetzen. Ich werde die Sache doch dem Oberamt-
mann überlaſſen.


Fancy war die Beredſamkeit ſelbſt, dieſen Ent-
ſchluß zu loben. Ja, ſagte ſie nach einer preiſenden
Rede über die doch ſtäts ſo richtigen Gedanken der
Herrin, ja, der Herr Oberamtmann mag nur die
Leutchen, die nicht zuſammengehören, auseinander
bringen. Für die gnädige Frau paßt das auch
nicht, Sie haben zu ſo etwas Feinem und Ver-
wickeltem keine Anlage, nicht ein Kind könnten
Sie, wenn es eine dumme Unart auslaſſen will,
davon abhalten, aber der Herr Oberamtmann iſt
darauf gewitzigt, o der hört das Gras wachſen und
macht Einen mit der feinen Liſt nach ſeiner Pfeife
tanzen, wie er will. Ich wette darauf; womit
Sie ſich in Gedanken ſchon drei Tage lang äng-
ſtigen, das hat er morgen in einem Viertelſtändchen
[252] fertig; die Mamſell reiſt ſacht ab, weint ein Paar
Thränen, trocknet ſie auf der nächſten Station,
den jungen Herrn Grafen wird er auch bald herum
haben, denn er beſitzt einen ganz außerordentlichen
Verſtand in dergleichen Sachen, und ſo klug Sie
ſind, gnädige Frau, darin ſtehen Sie ihm nach. —
Nein, Ihre Geſundheit dürfen Sie nicht zuſetzen
und noch dazu umſonſt, denn es würde Ihnen
ſchwerlich glücken, aber der Herr Oberamtmann iſt
der Mann dazu. Gleich hole ich ihn her, damit
Sie ihm Ihre veränderte Meinung ſagen können.


Die Baroneſſe hätte gern den unaufhaltſamen
Fluß dieſer Reden gehemmt, es war ihr aber nicht
möglich, Fancy’s Zunge zum Schweigen zu bringen.
Jetzt endlich konnte ſie zum Worte kommen. Hoch-
roth, und mit den kleinen Füßen ſtampfend, rief
ſie: Nein! Nein! Nein! du ſollſt den Oberamt-
mann nicht holen, ich bin eben ſo klug als er, Fancy
bleib hier, Fancy! Fancy! — Aber Fancy hörte
nicht, ſondern ſprang fort. — Gott! rief
Clelia faſt weinend vor Verdruß, es iſt doch zu
arg mit einer ſolchen Gans von Mädchen, die im-
mer das Echo von Einem macht, da bringt ſie
wahrhaftig den Actenmenſchen ſchon herauf; der
[253] Himmel ſei ihm gnädig, wenn er ſich über mich
moquirt! Aber was ſage ich ihm? denn nicht um
die Welt laſſe ich ihn ſich einmiſchen.


Der Oberamtmann betrat mit Fancy das Zim-
mer. Fancy hatte ihm wirklich geſagt, die gnädige
Frau wiſſe ſich durchaus keinen Rath, die Meſalli-
ance zu hindern, und der erfahrene Geſchäftsmann
konnte ſeinen Triumph darüber nicht verbergen.
Es wäre möglich geweſen, daß Clelia ihm dennoch
die ganze Angelegenheit in ſeine Hände zurückge-
geben hätte, aber dann mußte er ſich reſpectvoll,
ernſt und zurückhaltend nehmen. Er kam jedoch
ſchmunzelnd, mit einer gewiſſen Ueberlegenheit in
Blick und Haltung, er nahm ſich vor, einen Scherz
aus der Sache zu machen, ſie nicht zu wichtig zu
nehmen. Es war der erſte Scherz, den der arme
Oberamtmann auf der Reiſe ausgehen ließ und
Ort und Stunde konnten dazu nicht unglücklicher
gewählt ſeyn.


Sobald Clelia das Schmunzeln ihres Geſchäfts-
freundes und ehemaligen Nebenvormundes ſah, ſo-
bald ſie bemerkte, daß er ihr leichthin imponiren
wolle, und gar, als ſie mit weiblicher Ahnungs-
gabe ſeine Abſicht, ſcherzen zu wollen, ſpürte,
[254] kehrte ſie in den Beſitz ihrer ganzen Feſtigkeit
zurück, die wir an ihr zu bewundern ſchon mehr-
mals Gelegenheit gehabt haben.


Er trat ihr nahe und ſagte lächelnd: Nun,
liebes Kind, muß der Ritter von der traurigen
Geſtalt dennoch vorrücken? — Er wollte ihre Hand
ergreifen. Clelia zog ſie zurück und entfernte ſich
von ihm. Seine früheren Beziehungen zu ihr hatten
ihm das Recht vertraulicher Anreden gegeben, und
wie oft war von ihm dieſes Recht geübt worden!
Aber heute wollte Clelia nicht ſein liebes Kind
ſeyn, heute verlangte ſie die volle Courtoiſie und
Titulatur von ihm.


Er folgte ihr nach. — Clelchen, ſagte er noch
ſchmunzelnder, es iſt mir lieb, daß Sie ein-
ſehen, für dergleichen nicht zu paſſen. Nun,
ſchämen Sie ſich nur nicht; Don Quixote tritt
vor den Riß. — Abermals trachtete er nach
ihrer Hand, die er zärtlich küſſen wollte, denn
Geſchäftsmänner ſind nie galanter, als wenn ſie
den Gegenſtand ihrer Aufmerkſamkeit in Verlegen-
heit ſehen. Clelia riß jedoch beinahe ihre Hand
zurück und rief mit ſcharfem Accent: Herr Ober-
[255] amtmann, ich weiß durchaus nicht, was Sie bei
mir und von mir wollen!


Der Oberamtmann machte ein Geſicht, ähnlich
dem, was er zu machen pflegte, wenn einer ſeiner
Inculpaten, von dem er behaglich das unumwun-
denſte Geſtändniß erwartete, plötzlich ſich auf ein
entſchiedenes Läugnen verlegte. — Er ſah Clelia
ſtarr an, dann ging er im Zimmer auf und nieder.
Hierauf nahm er den Stramin in die Hand, als
ob dieſer ihm einen Faden in dem Labyrinthe dar-
leihen könne, dann öffnete er das Schreibzeug
und blickte tiefſinnig das farbige Poſtpapier an,
endlich ſtellte er ſeine Uhr, obgleich ſie richtig
ging. Nach dieſen vorbereitenden Handlungen
trat er vor Clelia und ſagte mit dem tiefſten
Ernſte: Gnädige Frau, ich bin kein Narr.


Clelia verſetzte nicht minder ernſthaft: Und ich
bin nicht Ihr liebes Kind und nicht Ihr Clelchen,
Herr Oberamtmann.


Die Feierlichkeit dieſer gegenſeitigen Aeußerun-
gen war ſo groß, daß Fancy ein Lachen verbeißen
mußte. Es trat wieder ein langes Schweigen
ein. Endlich unterbrach es der Oberamtmann und
ſagte: Ich muß Sie erſuchen, bis morgen Abend
[256] die Einwilligung der ſogenannten Braut, welche
wie ich höre, heute Abend zurückkommen wird,
herbeizuſchaffen. Wofern Umſtände dieß verhindern
ſollten, ſo werden Sie entſchuldigen, wenn ich
das Verſprechen Ihrer Mühwaltung in der Sache,
als von Ihnen widerrufen betrachte und mich der-
ſelben unterziehe. — Nach dieſen Worten, die er
gemeſſen und kalt vorgebracht hatte, empfahl er
ſich mit einer ſteifen Verbeugung.


Clelia kam an dieſem Abende nicht zu Tiſche.
Fancy ſuchte ſie durch eine Vorleſung zu zerſtreuen.
Sie las ihr nämlich ein vierzehn Tage altes rhei-
niſches Zeitungsblatt vor, welches auf dem Zim-
mer lag. Sie las es von Anfang bis zu Ende,
erſt las ſie von den Verwickelungen im Orient,
dann von den Kreuz- und Querzügen der Chriſtinos
und Carliſten, dann, wie liebenswürdig ſich Der
und Der da und da benommen, dann von der ſo
und ſo vielſten großen miniſteriellen Kriſis in Frank-
reich, endlich von einigen deutſchen Händeln. Hierauf
ging ſie zu den Anzeigen über, an deren Spitze
die Verkündigung von Aſſiſen in Elberfeld ſtand.
Es folgten zu vermiethende Wohnungen, brave
Mädchen ſagten, daß ſie gut nähen und bügeln
[257] könnten und ein Anſtreicher ſuchte einen geſitteten
Jüngling für ſein Geſchäft. Später ſehnte ſich
Jemand nach einem entflogenen Canarienvogel,
einem Anderen war dagegen ein brauner Dachs-
hund zugelaufen. Dazwiſchen fuhren die Dampf-
ſchiffe regelmäßig alle Morgen, auch waren rein
gehaltene Bleicharte zu haben, wobei aber ein
zweifelſüchtiger Leſer ein großes Fragezeichen mit
Rothſtift geſetzt hatte. Zuletzt wurde Harmo-
niemuſik an verſchiedenen Orten gemacht, und dazu
der Saiſon angemeſſene Speiſe dargeboten.


Clelia widmete dieſer ganzen Vorleſung wenig
Aufmerkſamkeit. Nur als ſie von den Aſſiſen
hörte, mochten ihre Gedanken, welche ſich noch
immer ärgerlich bei dem Oberamtmann aufhielten,
angeregt werden, weil ſie ihn ſo oft ſehnſüchtig
davon hatte reden hören. Sie rief: Nun dahin
könnte man ihn ja gleich ſchicken, wenn er ſich hier
läſtig machen will!


Spät hörte man einen Wagen vorfahren. Lis-
beth kehrte zurück.


Clelia befahl ihrer Jungfer, das Mädchen
gegen die Mittagsſtunde des folgenden Tages zu
ihr zu rufen, denn, ſagte ſie, wenn man Jemand
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 17
[258] wider ſeinen Willen zu etwas beſtimmen will,
ſo darf man ihn nicht im Negligé empfangen.
Sie ging mit vieler Würde zu Bett und dachte in
dieſer Nacht, wenn ſie erwachte, nicht einmal an
ihren pflichtvergeſſenen Gemahl, ſondern nur an
die Aufgabe des folgenden Tages.


[259]

Siebentes Capitel.
Was Lisbeth auf die Ermahnungen zu
einer uneigennützigen und entſagenden
Liebe antwortete
.


Fancy nahm im erſten Morgenſtrahl von dem
Blumenbrette vor ihrem Fenſter, wo der Diaconus
einige ſeiner ſchönſten Exemplare aufbewahrte, ein
prächtiges Myrthenbäumchen herein, muſterte die
längſten und friſcheſten Zweige, an denen ſich zu-
gleich Knöſpchen und runde friſche Blüthen befan-
den, wehte mit einem leichten bunten Federwedel
etwas Staub, der ſich auf die Blätter geſetzt hatte,
ab, ſummte dazu, aber ſo leiſe, daß ihre Gebieterin
nebenan es nicht hören konnte, die alte „veilchen-
blaue Seide“ aus dem Freiſchützen, lächelte, ſeufzte
dann, legte die Hand auf die Bruſt und ließ das
Myrthenbäumchen im Zimmer ſtehen, um es gleich
zu haben, wie ſie für ſich ſagte. Hierauf ging ſie
17*
[260] zu Lisbeth, und richtete ihre Beſtellung aus.
Lisbeth war ernſt und wehmüthig, denn ſie hatte
bei dem alten Pfleger eine trübe Probe zu beſtehen
gehabt. Fancy wollte ihr etwas ſagen, aber dieſem
ernſten Antlitze gegenüber erſtarb ihr ſchlaues Wort
auf der Lippe.


Die junge Dame, der im wahren Intereſſe
ihres nächſten Verwandten ein ſo ſchwieriges Ge-
ſchäft oblag, erhob ſich und ſagte nach dem Früh-
ſtück: Fancy, was ziehe ich denn wohl heute an?
— Gnädige Frau, erwiederte Fancy, Sie müſſen
ganze Toilette machen. — Nun, nur nicht zu
übertrieben, ſagte die Baroneſſe. Nein, nicht zu
übertrieben, verſetzte Fancy.


Sie kramte hierauf in den Koffern und Car-
tons und nahm den gewählteſten Putz heraus.
Zum Anzuge beſtimmte ſie das noch nicht getragene
prächtige Cachemirkleid von violetter Farbe mit
einer Schnippentaille, und fügte dem Kleide einen
weißen Mouſſeline de Soye Shawl hinzu. Unter
den Strümpfen ſuchte ſie die feinſten à jour ge-
webten aus und unter den Schuhen ein Paar von
ſchwarzem Atlas. Kurze weiße Handſchuhe mit
Spitzen garnirt nahm ſie aus einem Carton. Als
[261] es nun an die Muſterung des Schmuckes ging, ſo
ſchien ihr eine ſchwere Chatelaine mit goldenen
und ſilbernen Gliedern, gothiſchem Schloß und
Medaillon ſchicklich zu ſeyn. Drei Armbänder
dünkten ihr nicht zu viel, eins mit Steinen, deren
Anfangsbuchſtaben den Namen: Clelia zuſammen-
ſetzten, ein prächtiges Geſchenk des abweſenden
Herrn und zwei einfachere, das Eine ein ſchlichter
Goldreifen, das Andere mit Türquoiſen beſetzt.
Für die Haarflechten legte ſie eine goldene Kette
zurecht; ein blitzendes Diadem wollte ſie nachfolgen
laſſen, bedachte ſich aber noch zur rechten Zeit,
daß man im Guten zu viel thun könne und ſtellte
es wieder bei Seite. Es verſteht ſich, daß ein
geſticktes Taſchentuch vom feinſten Battiſt nicht
vergeſſen wurde.


Während dieſer ernſten und gründlichen Vor-
bereitung rüſtete ſich Clelia ebenfalls und zwar in
höherer Weiſe zu der Unterredung mit Lisbeth.
Sie las einen Roman und erwog dabei, was ſie
dem Mädchen ſagen wollte. In der That war
Oswald’s Abentheuer ſo ſehr gegen alle Voraus-
ſetzungen ſeiner Verhältniſſe, daß ihr die ſtärkſten
Gründe, hergenommen aus dem Weſen uneigen-
[262] nütziger Liebe, ächten Schicklichkeitsgefühls und
frommer Ergebung in reicher Fülle zuſtrömen muß-
ten; Gründe, die nach ihrer Meinung eine ſchla-
gende Wirkung auf ein edles weibliches Gemüth
nicht verfehlen konnten. Sie erging ſich mit Wohl-
gefallen in den Reden, welche dieſe Gründe näher
entwickeln ſollten, und las dazwiſchen immer einige
Seiten des Romans. Da er zu denen gehörte,
welche bei uns zweite Auflagen erleben, ſo leitete
er ihre Gedanken von dem Gegenſtande, der ihre
Seele beſchäftigte, nicht ab. Sie war ſo ſehr in
ihr Vorhaben vertieft, daß ſie auf Fancy’s Thun
und Treiben nicht achtete und des Fluges der
Stunden ebenfalls nicht inne ward, die unter
ſolchen Uebungen innerer Beredſamkeit raſch zu
verfließen pflegen.


Fancy mußte ſie erinnern, daß die Zeit ge-
kommen ſei, ſich kleiden zu laſſen. Noch immer
in ihre Gedanken und Gründe verloren widmete
ſie dem Anzuge keine Aufmerkſamkeit. Sie ließ
die einfachen Strümpfe von den zierlichen weißen
Füßen ſtreifen und dieſe mit den ſpinnwebenfeinen
durchbrochenen bekleiden, es fiel ihr nicht auf, als
Fancy, nachdem ſie die Flechten gemacht, dieſelben
[263] mit der goldenen Kette umwand, ſie ſchlüpfte in
das prächtige Cachemirkleid, empfing die ſchwere
Chatelaine um die ſchöne Taille, und ließ ſich den
Shawl von Mouſſeline de Soye um Hals und
Schultern legen, ohne bei einem dieſer Stücke eine
Erinnerung zu machen. Nur als ihr Fancy die
weißen garnirten Handſchuhe mit blaßrothen Band-
ſchleifen brachte, ſtutzte ſie und ſagte: Fancy, das
ſind ja Ballhandſchuhe.


Gnädige Frau, verſetzte Fancy ernſt, ſie ge-
hören zur vollen Parüre.


Clelia muſterte ſich, trat vor den Spiegel und
rief: Mein Gott, der Anzug iſt ja viel zu recher-
chirt! Du haſt mich geputzt, als führen wir zu
Liechtenſtein’s in die Soirée. Den Augenblick ein
anderes Kleid her, die Chatelaine fort, die Gold-
kette aus den Flechten!


O Himmel, was habe ich wieder gemacht!
jammerte Fancy. Ich dummes Mädchen! — Es
klopfte. — Ach! Ach! Da iſt die Lisbeth ſchon!


Hinaus, ſag ihr —


… daß die gnädige Frau zu recherchirte Toi-
lette gemacht hätten, ſich einfacher anziehen müßten
… Fancy wollte fort.


[264]

Bleib! rief Clelia außer ſich. Du wäreſt albern
genug, auch ſo etwas zu ſagen. Ich glaube, du
haſt in dem Neſte deinen Verſtand verloren. —
Es klopft ſchon wieder … Sie hat uns reden hören,
es fällt mir kein Vorwand ein. — Ach, du Im-
becille, in welche Verlegenheit ſetzeſt du mich!
Handſchuhe!


Hier, ſagte Fancy.


Weg damit! Soll ich wie eine Opernprinzeſſin
daſitzen, welche ſehen laſſen will, wie freigebig
ihre Liebhaber ſind? Willſt du mir nicht auch
noch gar einen Fächer in die Hand geben? —
Schwarze, beſcheidene!


Schwarze, beſcheidene! rief Fancy und brachte
die Verlangten.


Armband!


Fancy knüpfte mit unerhörter Schnelligkeit die
drei Armbänder um, während Clelia nach der
Thüre ſah.


Fertig?


Ja.


Herein! — Himmel, du haſt mir ja drei
Armb — aber ſie vollendete das Wort nicht und
der Ueberfluß des Armſchmuckes war nicht mehr
[265] zu beſeitigen. Denn ſchon trat Lisbeth herein.
Es war ein großer Gegenſatz, dieſe ſchlanke, vor-
nehme junge Geſtalt im einfachen Gewande der
etwas zu kleinen und vollen Baroneſſe im höchſten
Putz gegenüber. Sie trat beſcheiden aber ſicher
auf, Clelia wollte ſich anfangs Airs geben, dieſes
Beſtreben zerbrach indeſſen ſogleich an ihrem grund-
guten Weſen. Sie reichte verlegen-freundlich Lis-
beth die Hand, ſetzte ſich in’s Sopha, ließ einen
Seſſel ſtellen und flüſterte Fancy zu, ſie ſolle
ſich in ihrem Zimmer nebenan aufhalten. Als
ob es zufällig geſchähe, breitete ſie ihr Taſchen-
tuch aus und entzog dadurch wenigſtens die Pracht
der Chatelaine und der Armbänder (denn ſie wußte
auch die linke Hand mit dem Tuche zu bedecken)
den Blicken Lisbeth’s. Wie viel würde ſie darum
gegeben haben, wenn ſie ſtatt des Cachemirkleides
das von Mouſſeline de Laine angehabt hätte!
Der volle Putz raubte ihr die Hälfte ihrer Feſtig-
keit. Sie ſuchte eine Zeit lang vergebens nach
einem ſchicklichen Anknüpfungspuncte des Geſprächs
und ſo ſaßen Beide, als Fancy ſie allein gelaſſen
hatte, eine Zeit lang ſchweigend einander gegenüber.
Lisbeth ſah vor ſich hin und hatte keine Ahnung
[266] von dem, was folgen ſollte, denn Clelia war ihr
immer gütig begegnet.


Endlich ſammelte ſich dieſe ſo weit, um die
Unterredung beginnen zu können. Sie ſagte ihrem
Beſuche, daß bis jetzt der Gedanke an Oswald’s
Krankheit alle anderen Vorſtellungen in den Hinter-
grund gedrängt habe, daß aber nun mit ſeiner
Herſtellung die Verhältniſſe des Lebens in ihr Recht
wieder einzutreten begännen, und daß ſie daher
wünſche über die Geſtaltung der Zukunft mit ihr
ein eben ſo ernſtes als vertrauliches Wort zu
reden. — Da ſie dieſen Eingang zwar mit aller
ihr zu Gebote ſtehenden Würde aber doch höchſt
liebreich vorgebracht hatte, ſo konnte Lisbeth den-
ſelben nur für eine Vorrede zu freundlichen Er-
klärungen anſehen. Schüchtern verſetzte ſie, daß
die Baroneſſe ihr mit ſolchen Worten eine große
Freude mache, und faßte nach Clelia’s Hand, um
ſie zu küſſen. Indem ſie aber ihre Lippen der
Hand näherte, fiel ihr ein, wer ſie durch Os-
wald’s Liebe ſei, ſie richtete ſich daher ſanft
auf und ließ die Hand Clelia’s fallen, welche
ein Erſtaunen über dieſen Hergang nicht verbergen
konnte.


[267]

Nun alſo, mein Kind, wie ſoll denn das nun
werden? ſagte Clelia, etwas verlegen mit dem
Shawl ſpielend.


Lisbeth erröthete, ſenkte ihr Haupt wieder und
verſetzte: Von der Zeit unſerer Verbindung iſt
zwiſchen uns noch nicht die Rede geweſen, zwiſchen
dem Grafen und mir.


Verbindung! rief Clelia lebhaft. Ei! Ei!
mein liebes Kind, Sie ſprechen ja von der Ver-
bindung mit meinem Vetter, als ſei dieſe eine
ausgemachte und ſich von ſelbſt verſtehende Sache.


Lisbeth hob langſam ihr Antlitz empor, ſah
Clelien mit großen Augen an und fragte: Wovon
wollten Sie denn mit mir reden, gnädige Frau?


Die Wirkung einer einfachen aber zur rechten
Zeit angebrachten Frage iſt oft groß. Clelia
hatte ſich auf eine begeiſterte Verſicherung, auf
flammende Reden gefaßt gemacht und würde dieſen
Gluthen mit gleichem Feuer begegnet ſeyn. Nun
aber ſollte ſie ſchlichtweg ſagen, was ſie wolle?
und dieſe Zumuthung ſetzt in vielen Lagen des
Lebens in eine nicht geringe Verlegenheit. An
ihr war jetzt die Reihe, die Augen niederzuſchlagen;
ſie ſprach, daß man es hätte ein Stottern nennen
[268] können: Sie ſcheinen gar nicht erwogen zu haben,
Lisbeth — denken Sie nur nicht, mein liebes
Mädchen, daß ich Sie kränken will — Nein ge-
wiß nicht — und wären Sie nur — ſo wäre ich
ja voll Freude — indeſſen giebt es doch Dinge
in der Welt — unwiderleglich vorhandene Dinge
— Dinge, Lisbeth — mein Gott, Sie müſſen
mich ja wohl verſtehen …


Ja, gnädige Frau, ich verſtehe Sie nun, ſagte
Lisbeth mit einem Tone als unterdrücke ſie ein
ſtilles Weinen.


Auf denn alſo, Lisbeth, Muth! rief Clelia,
Athem ſchöpfend. — Nur zeigen darf man einem
ſo reinen Gemüthe das Richtige, und es ergreift
es. Die wahre Liebe liebt das Glück des Ge-
liebten. Und das Glück? Iſt es ein trunkener
Augenblick, iſt es die Aufwallung der Flitter-
wochen? Ach nein. Das wahre Glück beſteht
doch zuletzt nur in der Harmonie mit allen Ver-
hältniſſen des Lebens; in dem Gefühle von dieſer
Harmonie. Sie dem Gegenſtande der Neigung
unverſtimmt zu laſſen, das iſt Liebe, das iſt tugend-
hafte Liebe. Sie fühlen ja nun ſelbſt, theure
Lisbeth, was ich gern unausgeſprochen laſſe. —
[269] Es geht nicht, es geht wahrhaftig nicht. Mein
Gott, wären Sie doch nur — aber — Sie empfin-
den es, wenn Sie meinen Vetter aufrichtig lieben,
ſo dürfen Sie ihn nicht heirathen. Und nun
kommen Sie, mein armes Kind, kommen Sie an
meine Bruſt, und weinen Sie ſich aus, denn
wahrhaftig, ich weiß mit Ihnen zu empfinden.


Sie breitete ihre Arme gegen Lisbeth aus.
Dieſe lehnte aber mit einer demüthigen Bewegung
das Liebeszeichen ab und ſagte: Gnädige Frau,
entſchuldigen Sie, wenn ich an dieſer Stätte noch
nicht zu ruhen wage. — O mein Gott, wie weit
ſind wir aus einander, wie hätte ich das mir
denken können, und wie ſoll ich es nun anfangen,
Alles, was mir im Herzen wogt, Ihnen auszu-
ſprechen und dennoch die Beſcheidenheit gegen Sie
nicht zu verletzen? — Sie wüßten mit mir zu
empfinden? Gnädige Frau, ich wenigſtens weiß
mit Ihnen nicht zu empfinden.


Wie? Sie fühlen keine Verpflichtung, ihm zu
entſagen? fuhr Clelia auf.


O nein! nein! nein! rief Lisbeth muthig. Dieſe
Verpflichtung fühle ich durchaus nicht, Frau Ba-
roneſſe. Entſagen ſoll ich ihm, das iſt Ihre Mei-
[270] nung. Und warum? Daß der Findling nicht in
das Haus der Grafen Waldburg eindringe, daß
der Graf Oswald eine Gräfin heirathen könne
oder eine Fürſtin, daß er in Harmonie bleibe,
wie Sie es nennen, mit den Verhältniſſen des
Lebens. Ja, ich weiß, ſo ſteht es geſchrieben oft
in den Liebesgeſchichten, die ich geleſen. Das
Mädchen hält eine ſchöne Rede von Entſagung
und von Pflicht und dann verhüllt ſie ſich und
geht weg und der Liebſte ſieht ſie nie wieder.
Gnädige Frau, wenn die Leute, die ſolche Ge-
ſchichten aufſchreiben, das nicht aus ihrem Kopfe
erfinden, ſo ſind ſolche Mädchen ungereimte Mäd-
chen, abſcheuliche Mädchen, Verrätherinnen an ihren
Liebſten! — Glück? — Ich kenne nur ein Glück
und nur ein Elend! Und mein Glück iſt, wenn
ich mit Oswald zuſammenbleibe und ſein ehrlich
Weib werde und das Elend des Gegentheils kann
ich gar nicht ausdenken, denn es iſt unſäglich. So
alſo ſteht es mit mir. Und von ihm ſollte ich
geringer denken, als von mir? Von ihm, der
mich ſein Leben, ſeine Zuverſicht genannt hat?
Worte ſollten das geweſen ſeyn, Worte Eines,
der nicht weiß, was er ſpricht? Nein, ein treuer
[271] Menſch ſagte ſie, ein wahrer, ein aufrichtiger
Menſch. Die Entſagung, welche Sie von mir
verlangen, wäre ja alſo das ſchwerſte Verbrechen,
das ich nur an Oswald begehen könnte. Ich würde
ſündig an ſeiner unſterblichen Seele, zugäbe ich,
daß ihm ein Name, ein Wappen werther ſei, als
das Heiligthum ſeiner Empfindungen! Zur Schel-
min würde ich an dem Herzblute meines Bräuti-
gams, welches ſeine Lippen verſchütteten, weil er
einen Tag lang ſich nicht in Lisbeth zu finden
wußte. Zu Tode wollte er ſich bluten, weil ich
in meiner dummen Thorheit die Breite eines Land-
weges zwiſchen uns geſetzt hatte! Und er ſollte
leben bleiben, wenn ich die Welt und das Schwei-
gen und die Finſterniß zwiſchen uns würfe! Nein!
Ich entſage ihm nicht, nicht entſage ich ihn in das
Elend und in die Leere hinein!


Gott wird Sie aufklären! eiferte Clelia. Gott
wird dieſe Trugſchlüſſe der Leidenſchaft zu nichte
machen! Das iſt eben deren Entſetzliches, daß
nichts für ſie vorhanden iſt als ſie, nicht Erde
nicht Himmel, und daß ſie ſich ſo in die gräuliche
Oede hineinſtürmt, daraus nachher kein Entrinnen!
— Aber Gott wird Ihnen beiſtehen, wird Sie
[272] ſchirmen vor dem geiſtigen Tode. Sie ſind fromm,
ich ſehe Sie in die Kirche gehen, Sie im Geſang-
buche leſen. Gott wird ein Licht in Ihrer Seele
anzünden.


Gott iſt bei mir in dieſer Stunde, er legt
mir die Worte auf meine einfältigen Lippen, er-
wiederte Lisbeth. — Ich weiß nicht ob ich fromm
bin, kümmerlich bin ich herangewachſen, aber zur
Kirche habe ich mich freilich immer gehalten und
an den Allmächtigen glaube ich. Jedoch, ſeit ich
Oswald liebe, habe ich nur ein Gebet und das
lautet: Vater ſei mit ihm und mir! — Ich bete
nicht für ihn allein und nicht für mich allein, ſon-
dern für uns Beide bete ich, und das, meine ich,
iſt das Licht, welches Gott mir in der Seele ent-
zündet hat. Die Erde ſehe ich unter mir, den
Himmel über mir, und wo wehet der Sturm, der
mich fortſtürmt?


Leidenſchaftlich rief Clelia: Bedenken Sie doch
nur ſeine Verhältniſſe, bedenken Sie ſeine Ver-
wandten, von denen die Meiſten ſo ſtolz ſind, be-
denken Sie unſeren König, bedenken Sie endlich
Oswald’s eigenes Herz, das von äußeren Um-
ſtänden, vom Widerſpruch mit den Forderungen
[273] der Welt ſo leicht in Verlegenheit geſetzte Herz
eines Mannes, ſehen Sie doch um des Himmels
willen die Dinge, wie ſie ſind!


Ja, gnädige Frau, ich ſehe die Dinge, wie ſie
ſind, nicht wie ſie ſcheinen. Hätte er noch Eltern,
ſo wäre es etwas Anderes. Der Eltern Macht
iſt von Gott, das weiß ich, obgleich ich Arme
keine hatte. Entſagen würde ich ihm zwar immer
nicht, wenn er auch noch Vater und Mutter be-
ſäße, aber geduldig harren und zu ihm ſprechen:
Oswald, harre auch du in Geduld, bis Gott deiner
Eltern Sinn wendet. Jedoch ſo! Verhältniſſe
und immer Verhältniſſe! Ei, iſt es nicht auch
ein Verhältniß, wenn ich ſeine Frau bin? Alſo
Verhältniß gegen Verhältniß, und wir wollen er-
warten, welches das mächtigere und beſſere ſei! —
Nehmen ſeine ſtolzen Oheime und Tanten ihn in
ihre Arme, daß er darin ruhe und lächle und
wachſe und gedeihe? Nein. Aber ich werde es
thun. Baut ihm Ihr König ſein Haus auf?
Nein. Aber ich werde es thun mit des Himmels
Hülfe. Und wenn er einmal ſo ſchwach ſeyn ſollte,
verlegen auszuſehen über mich, denn es iſt möglich,
daß Sie darin Recht behalten — nun, der Schwäche
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 18
[274] wird eben die Stärke beigeſellt! Ich werde ſeine
Stärke ſeyn, ich werde ihn fragen: Oswald ſchämſt
du dich meiner? Und wahrlich, gnädige Frau,
auf die Frage wird er ja ſagen, aber er wird ſich
ermannen und für alle Zeiten den unwürdigen
Kleinmuth ablegen.


Clelia wurde immer erbitterter. Ich würde
mich tief gedemüthigt fühlen durch einen Gatten
ſo hoch über meinem Stande, ſagte ſie herb und
ſchneidend.


Das kann wohl ſeyn, verſetzte Lisbeth. Darin
hat Jeder ſeinen eigenen Sinn. Ich fühle mich
gar nicht gedemüthiget dadurch, daß er ein großer
Graf iſt und ich ein geringes Mädchen ohne Her-
kommen bin. Er könnte noch zehnmal größer ſeyn
und ich würde dennoch keine Demüthigung empfinden.
Ja, ich weiß, es hat auch Mädchen gegeben in
meiner Lage, die winſelnd ſprachen: O wärſt du
ein armer Hirt, mein hoher Liebſter! — Ich aber,
ich wünſche mir ihn gar nicht zum Hirten herunter;
nicht ſoll er ſeine Größe ablegen um meine Klein-
heit! Sondern das iſt eine neue Seligkeit für
mich, daß er ſo vornehm iſt, und mich emporhebt
aus meiner Niedrigkeit und mich zur Gräfin macht
[275] und auf ſein hohes Schloß führt. Ach, ich will
ja nichts mehr von mir oder durch mich, ſondern
Alles nur von ihm, Alles, Alles, neben ſeinem
Gefühle auch Ruhm, Anſehen, Reichthum! Je
mehr er mir giebt, deſto beglückter fühle ich mich.
Denn ſeine Liebe iſt überſtrömendes Geben und
meine durſtiges, lechzendes Empfangen. Ich bin
ſein Geſchöpf, er iſt mein irdiſcher Schöpfer;
Gott ſchafft mich durch ihn zum zweitenmale.
Unter den Flügeln der Liebe will ich ſchlummern
und träumen, auf der Höhe, wohin mich dieſe
Schwingen tragen, erwachen, und ſie mit frohem
Lerchengeſange als die Wohnſtätte begrüßen, die
mir mein Schickſal anwies.


Noch ſchneidender ſagte Clelia, vielleicht um
eine entgegengeſetzte Regung, die ſich anmelden
mochte, zu verbergen: Es iſt allerdings höchſt
wohlfeil und bequem, auf ſolche Art eine ſchran-
kenloſe Zärtlichkeit zu beweiſen.


Aber Lisbeth blieb ganz ruhig und antwortete
im mildeſten Tone: Gnädige Frau, das kam nicht
aus Ihrem Herzen. Sie ſagten es nur, weil Sie
ſich ſo in den Eifer gegen mich hineingeſprochen
haben. — Wir ſind hier zwei Frauen allein, kein
18*
[276] Mann hört uns und deßhalb darf ich wohl dreiſter
reden, als ſich ſonſt für mich ziemte. Ich weiß
nicht, wie mir wird, mein Auge ſchwimmt, und
meine Lippe fühl’ ich zittern; zum Aeußerſten
haben Sie mich gebracht, hören Sie denn das
Aeußerſte, was ein Mädchen ſprechen kann. Bin
ich’s noch ſelbſt? Wie kommen mir ſolche Ge-
danken? Aber Sie ſollen ſie hören. — Sie ſind
Frau, und Sie waren Mädchen. Bebten und er-
rötheten Sie nicht, wenn Sie nur dachten, daß
eine andere Hand als die Ihrige Ihre Schulter
berühre? Und nun haben Sie Ihrem Gemahle
Seele und Leib ergeben, Ihre Perſon haben Sie
ihm hingegeben und Ihre jungfräuliche Ehre! Sind
wir darin nicht gleich? Hat die Braut eines Kaiſers
etwas Höheres als die Majeſtät ihrer jungfräulichen
Ehre? Ich bin eine Jungfrau, meine gnädige Ba-
roneſſe. In der Ehre der Jungfrau fühle ich mich
geadelt und der Braut des Kaiſers gleich. Demü-
thig nehme ich Alles an von Oswald, aber nicht
gedemüthiget, mit freudigem Stolze kann auch ich
Mitgift nennen und Eingebrachtes, denn was Ihr
Vetter mir geben mag, ich gebe ihm ſtäts doch mehr,
als er zu geben jemals im Stande ſeyn wird.


[277]

Sie ſchwieg. Die Gluth der ſüßeſten Schaam
flammte ihr auf Wangen, Hals und Nacken. Ihr
Blick ruhte durchdringend auf Clelien. Dieſe fühlte
ihre Mittel erſchöpft. Sie winkte, daß Lisbeth
ſich entfernen möge. Lisbeth ging nach der Thüre.


Sobald aber Clelia die unwiderſtehlichen Augen
des Mädchens nicht mehr ſah, kam ihr noch einmal
der den Weltkindern eigenthümliche Uebermuth zu-
rück. Sie rief der Abgehenden leichthin nach: Ihr
ſeid Beide thörichte und unſinnige Kinder! Für jetzt
weiß ich nichts mit dir anzufangen, aber ich wette, in
wenigen Tagen ſprichſt du ganz anders und giebſt
mir Recht, denn das verfliegt, wie es angeflogen iſt.


Die Jungfrau wandte ſich um und näherte
ſich mit dem Anſehen einer Prieſterin der Welt-
dame. Erhaben leuchteten ihre Augen, mit
voller, tönender und gehaltener Stimme ſprach ſie:
Wie täuſchen Sie ſich! Laſſen Sie ab von der
Täuſchung, welche Sie um eine heilige Erſcheinung
bringt! Ich bitte Sie, laſſen Sie ab von dem
Wahne, hier mit einer Grille, mit einer Laune des
Augenblicks zu thun zu haben. Sie würden in
dieſem Wahne uns noch bittere Schmerzen und ſich
fruchtloſe Mühe machen.


[278]

Kennen Sie das Wort: Ewig, Frau Baroneſſe?
Ich hatte es, glaube ich, früher nie geſprochen,
denn ich pflegte überhaupt nichts zu ſagen, wobei
ich mir nichts zu denken wußte. Aber als er mich
in der Kirche aufhob und mich vor den Altar nie-
derwarf, ein Weihegeſchenk der Liebe für Gott
den Allmächtigen, da durchtönte plötzlich das Wort
wie mit tauſend Zungen mein Innerſtes und ſeit
der Stunde ſingt es durch alle meine Gedanken
und Empfindungen immer und immer wie ein
himmliſches Hallelujah: Ewig! Denn wer die
wahre Liebe empfängt, der empfängt die Ewigkeit
in ſeinem Herzen. An der Ewigkeit aber iſt kein
Vergang und ſo rühren Sie denn auch nicht weiter
das ewige Wort meines Herzens an, gnädige Ba-
roneſſe! — Die Frau unſeres Wirthes hier, die
ſich hin und wieder mit mir beſchäftiget hat und
der Meinung iſt, ein Mädchen brauche aus Büchern
nicht viel zu lernen, aber durch den Anblick ſchöner
Menſchen lerne ein Mädchen etwas, gab mir in
den letzten Wochen Briefe von einer Freundin zu
leſen. Die Freundin hat mit ihrem Manne in
einer kurzen, himmliſchen Ehe geſtanden, und der
Mann hatte immer geſagt, das Glück ſei zu ſchön,
[279] als daß es lange dauern könne. So war denn
auch ſein Tod wirklich bald erfolgt. Von den letz-
ten Tagen ſchrieb nun die Freundin unter Anderem
auch. Er hatte eine fürchterliche Krankheit, die
den Hals zuſammenſchnürt, ſo daß der Menſch er-
ſticken muß. Den letzten Tag nun hatte der Kranke
kaum noch ſprechen können, aber immerdar hatte
er auf ſeinen Trauring geſehen und auf denſelben
gewieſen und dazu mit der größten Anſtrengung
hervorgeſtoßen das Wort: Ewig! Er wand ſich
in ſeiner Todesqual, aber das Wort keuchte er, ſo
lange ein Laut aus ſeinem armen Munde kommen
konnte. Und ſo ſtarb er in der Ewigkeit der Liebe.


Alſo wird es nun auch mit mir ſeyn und Os-
wald. Es iſt möglich, daß wir nicht lange bei
einander ſind, denn auch uns ſteht ja ein großes
und unbeſchreibliches Glück bevor. Aber wer nun
zuerſt ſterben möchte, der wird dem Andern, ſo
lange die Lippe lallen kann, zuſtammeln: Ewig!
als ein Wort des Troſtes, daß die Erde des Gra-
bes die Liebe nicht überſchütte! — Was aber das
Grab nicht vermögen wird, davon werden Sie, gnä-
dige Frau, gewiß abſtehen, denn in Ihnen iſt ein
liebliches und freundliches Leben. — Vergeben Sie
[280] mir, daß ich ſo ohne Rückhalt ſprach, ich würde
Alles Ihrem Vetter überlaſſen haben, denn er iſt
mein Herr, wäre er ſchon ganz hergeſtellt. Da er
aber noch nachleidet, ſo mußte ich reden, weil ich zu
reden aufgefordert wurde, und mußte ihn und mich
vertheidigen gegen die Welt und den Dämon, wovon
er vor einigen Tagen vorahnend geſprochen hat!


[281]

Letztes Capitel.
Fröhliche Siege.


Clelia lag erſchüttert und aufgelöſt im Sopha.
Durch alle Thorheiten der lieblichen Thörin hatte
ſich die Natur gewaltig Bahn gebrochen. Sie ach-
tete nicht mehr darauf, die Chatelaine zu verbergen,
ihr Taſchentuch hatte ſie erhoben und vor das Ge-
ſicht gedrückt.


Fancy trat in die Thüre des Seitencabinets.
Kommen Sie einen Augenblick herein, laſſen Sie
ihr Zeit, flüſterte ſie. Lisbeth ging etwas beſtürzt
in das Cabinet. Fancy nöthigte ſie auf einen
Seſſel und maaß mit einem ſeidenen Faden den
Umkreis ihres Haargeflechtes und dann legte ſie
das Maaß an einige Zweige des Myrthenbäum-
chens. Sie ſchnitt die Zweige ab und verband
ſie zum Kranze.


[282]

Auch das Mädchen hatte eine Thräne im Auge.
Sie ſagte während ihrer Arbeit: Wenn ich ſie ſo
weinen ſehe, ſchäme ich mich meiner Liſten, und
doch waren ſie nothwendig. Denn hätte ich ſie nicht
durch meine Unterwürfigkeit confus gemacht und ſie
nicht in die Verlegenheit hineingeputzt, ſo hätten
Sie, junge gnädige Gräfin, mit ihr einen härteren
Stand bekommen, oder der Herr Oberamtmann
packte die Sache wieder an und dann würden Sie
es nicht durchgeſetzt haben. — Die Fancy iſt aber
dankbar. Seien Sie ſo gütig, dem Herrn Gemahl
zu ſagen, die Caſtellanstochter habe ſich für den
alten Vater revanchirt.


Lisbeth verſtand nicht, was das Mädchen wollte.
Sie hatte auch nicht Zeit, danach zu fragen, denn
in Clelia’s Zimmer hörte ſie laut ſchluchzen und
dann eben ſo laut lachen und darauf wieder ſchluch-
zen und ſo wechſelte es immer ab zwiſchen Lachen
und Schluchzen. Endlich rief es leiſe und innig
ihren Namen. Als ſie in das Zimmer trat, kam
ihr Clelia entgegen, ſchloß ſie in ihre Arme, nannte
ſie Couſine und ſagte: Du ſollſt ihn haben.


Die junge liebliche Thörin gehörte zu den glück-
lichen Naturen, die, wenn ſie närriſche Streiche
[283] gemacht zu haben einſehen, ohne viele Weiterungen
durch Wort und That bekennen: Wir haben när-
riſche Streiche gemacht. — Kein Schmollen, kein
Hinzögern, kein falſcher Widerſtand hauchte über
den Spiegel dieſer komiſch-anmuthigen Seele. Lis-
beth hatte ſie überwunden, und ſie ſchämte ſich nun
der Niederlage nicht. Sie drückte ſie an ſich, ſie
ſtreichelte ihre Wangen, ſie gab ihr die zärtlichſten
Namen, nannte ſie ihr kaiſerlich Kind und eine
geborene Prinzeſſin der Ehre. Lisbeth war von dem
plötzlichen Wechſel wie betäubt und ruhte freude-
trunken an der Bruſt der ihr noch vor wenigen
Minuten ſo feindlich geweſenen neuen Freundin.
Clelia ſchlug ihren Arm um den Nacken des bräut-
lichen Kindes und ging mit ihr halbtanzend auf
und nieder; dann ſtellte ſie ſich mit ihr vor den
Spiegel, ſtemmte die Hände in die Seite und ſagte,
drollige Vergleichungen anſtellend: Cendrillon und
daneben alle drei Fräulein Schweſtern in einer
Perſon. Sie drohte ihrem Spiegelbilde, ſchnitt
ihm neckiſche Geſichter und rief: Wie kann man
ſich ſo aufdonnern?


Sie war in einem Taumel der Luſt und trieb
darin Rührendes und Poſſenhaftes durcheinander.
[284] Plötzlich kam aber Fancy geſprungen und rief:
Gnädige Frau, der Oberamtmann!


O mein Himmel! rief Clelia. Der muß weg,
gleich weg, unter jeder Bedingung weg! Wie
kriegen wir ihn weg? Fancy, gieb einen guten
Rath! Sie lief hin und her, ihr Taſchentuch
windend.


Wenn wir nur einen Proceß oder ein Acten-
ſtück ihm in der Ferne zeigen könnten! rief Fancy,
die nun faſt eben ſo ängſtlich ſich zeigte, als ihre
Gebieterin. Mit Speck fängt man Mäuſe — Hm!
Wie? Ja — Was — Richtig — ich hab’s —
Victoria!


Was?


Wo iſt die Aſſiſe?


Die Aſſiſe?


Fancy lief auf das geſtern Abend geleſene
Zeitungsblatt zu. Hier! ſagte ſie und zeigte mit
dem Finger auf eine der Anzeigen.


Clelia lachte. — Nun, albernes Mädchen?


Hinein, gnädige Frau mit der jungen Dame
in mein Cabinet! rief ſie, Sie möchten ſich nicht
genug verſtellen können. Ich ſchaff’ den Oberamt-
mann fort.


[285]

Clelia eilte mit Lisbeth in das Cabinet. Der
Oberamtmann trat in das Zimmer. — Ich hörte
hier laut ſprechen, ſagte er. Die Stimme der
Baroneſſe unterſchied ich und die des Mädchens.
Wo iſt Ihre gnädige Frau? Wie ſteht es?


Ganz vortrefflich, verſetzte Fancy mit Emphaſe.
— Die ſogenannte Braut iſt beſeitigt, abgemacht,
hinüber. Noch heute Abend reiſ’t ſie nach Ham-
burg und wird dort Erzieherin in einer Penſion,
mit ſechs und fünfzig Thalern Gehalt. Aber, wie
haben auch die gnädige Frau geſprochen! Göttlich,
ſage ich Ihnen, Herr Oberamtmann, von Tugend,
Entſagung und uneigennütziger Liebe; Sie würden
Ihr blaues Wunder gehört haben, ich wurde recht
erbaut und faßte gute Vorſätze für mein ganzes
Leben, wenn ich auch einmal ſollte das Unglück
haben, daß mich ein junger vornehmer Herr heira-
then wollte. Die Lisbeth bat die Baroneſſe zuletzt
kniefällig um Verzeihung, daß ſie nur im Ernſt
an den Grafen gedacht habe. Jetzt iſt ſie mit
dem Kinde ſpazieren gegangen, um in der freien
Natur ſie zu tröſten und ſie noch recht in der
Vernunft zu befeſtigen. Wenn ſie aber nach Ham-
burg abgereiſt iſt, dann will ſie auch den Herrn
[286] Vetter auf eine gute Art zu behandeln an-
fangen.


Kein treuer Staatsdiener, dem von ſeiner
vorgeſetzten Behörde ein glänzendes Lob zugeht,
kann frohere Augen machen, als der Oberamtmann
machte. Er ſchlug in die Hände, daß es ſchallte,
zog einen ganzen Schoppen Luft in ſich und rief:
Nun, Gott ſei Dank! So wäre denn alſo dieſes
ſchwierige Geſchäft glücklich beendigt. Ach, Sie
glauben nicht, Fancy, was für eine Angſt ich
ausgeſtanden habe. Aber meinen Kopf hätte ich
daran geſetzt, es durchzutreiben.


Sie können lachen, ſagte Fancy. Wir haben
die Noth gehabt, und Sie hatten das Zuſehen.
— Und was halte ich hier in der Hand, Herr
Oberamtmann? — Sie hob das Zeitungsblatt
empor.


Was denn, liebe Fancy? — Er las. — Zei-
tung vom — vom — ei, die habe ich nicht zu
ſehen bekommen! — Hm! Was ſteht denn da?
— — Aſſiſen in Elberfeld! rief der Geſchäfts-
mann mit einem Freudenſchrei.


Das hat die gnädige Frau heute gefunden,
und feurige Kohlen ſammelt ſie auf Ihrem Haupte,
[287] vergiebt Ihnen die Scene von geſtern Abend und
trug mir auf, Ihnen das Blatt da zu zeigen,
damit Sie Ihren Wunſch erfüllen können. Der
Ort ſoll nicht gar zu weit von hier ſeyn. Wenn
Sie gleich Poſt nähmen, ſo kämen Sie noch ſpät
Abends dort an. Und unterdeſſen, daß Sie fort ſind,
machen wir hier Alles mit dem jungen Herrn fertig.


Alſo wirklich ſoll ich doch noch das öffentliche
Verfahren kennen lernen! ſprach der Oberamtmann
gerührt. — Großer Gott, wenn ſie nur nicht ſchon
vorüber ſind! Sie gingen nach der Anzeige da
vor vierzehn Tagen an. Ich hoffe indeſſen noch
zwei oder drei Tage zu erhaſchen, denn wie ich
am Rheine vernahm, ſo pflegen ſie in die dritte
Woche ihrer Dauer überzugreifen. — Er wiſchte
ſich die Augen. — Deine Baroneſſe iſt doch eine
herrliche Frau, ſagte er. Empfiehl mich ihr auf
das Angelegentlichſte und ſage ihr, in drei Tagen
ſei ich wieder da, wenn nicht etwa gar zu intereſ-
ſante Sachen vorkämen, denn dann bliebe ich
wohl noch etwas länger aus. Adieu, liebe Fancy.


Sie fahren?


Sogleich. Ich gehe auf der Stelle ſelbſt zum
Poſthalter.


[288]

Er eilte fort.


Fancy ſprang ausgelaſſen im Zimmer umher.
Clelia trat mit Lisbeth aus dem Cabinette. Lis-
beth trug den Myrthenkranz, den ihr Clelia drin-
nen aufgeſetzt hatte. Lauf, Fancy, lauf! rief ſie.
Schaff mir den Diaconus, lebendig oder todt,
ſetzte ſie in ihrer ſprudelnden Laune hinzu. Fancy
lief hinunter.


Was haben Sie denn mit mir vor, gnädige —


Clelia ſollſt du mich nennen, werde ich nicht
deine Couſine? verſetzte die Baroneſſe und gab ihr
einen leichten Schlag mit dem Zeigefinger über die
Wange. — Was ich mit dir vorhabe? Trauen
will ich Euch laſſen, im Augenblick!


Mein Gott, welche Uebereilung! rief Lisbeth
froh und beſtürzt.


Keine Widerrede, ſagte Clelia. Soll es ge-
ſchehen, ſo kann es nur in der Uebereilung geſche-
hen. Drei Tage bleibt der Oger weg, das Ac-
tenungeheuer; nicht drei Viertelſtunden will ich
verlieren. Euer Bund iſt außer aller Ordnung
und Regel, in der Ordnung und Regel kriegen
wir’s nimmer fertig. Hurli burli muß es gehen.
Himmliſch kannſt du ſprechen, Herzkind, und einer
[289] jungen Strohwittwe, die noch dazu das Unglück
hat, ſelbſt in ihren Landläufer von Gemahl ver-
liebt zu ſeyn, den Kopf ſchon verdrehen; aber
kennſt du die Welt, das taube, hartmäulige Thier?
Brautleute ſind zu trennen, eine Verlobung iſt
rückgängig zu machen, da muß man alſo einen
Riegel vorſchieben, einen von denen, die nicht
weichen und wanken. O die Ehe, der gute, feſte,
unweichſame Riegel! Immer gleich ſieht er aus,
man mag ihn von der oder der Seite beſchauen.
Seid Ihr getraut, ſo mögen ſie ſchimpfen, ſcan-
daliren, chicaniren, Ihr ſitzt geborgen hinter’m
Riegel. Da hat ſelbſt der Kaiſer ſeine Macht
verloren. Ihr ſeid Mann und Frau und ſie müſſen
ſehen, wie ſie ſich drein finden. — Jetzt aber
komm her, mein Bräutlein, daß ich dich ſchmücke.


Sie ſtellte ihren Juwelenkaſten neben ſich, ſetzte
ſich in einen Lehnſtuhl und Lisbeth mußte vor ihr
auf dem Fußſchemel knien. — Ein anderes Kleid
können wir dir nicht anziehen, denn meine ſind
dir zu weit, du ſchlankes Reh, aber die beſten
Brillanten ſchenke ich dir; ſagte ſie. Ein reiches
Collier, die Broche und die dazu gehörigen Ohr-
gehänge nahm ſie aus dem Kaſten. Sie legte der
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 19
[290] Knieenden die prächtigen Steine an und um und
wie gern ließ ſich die glückliche, halbbetäubte Lis-
beth zieren! — Sieht ſie in ihrem weißen Cam-
brickleidchen und mit den Diamanten vom reinſten
Waſſer nicht aus wie ein Märchen, einfach, ſtrah-
lend, ärmlich, feenreich? rief ſie, als ſie ihr Werk
vollendet hatte. Sie erhob die Geſchmückte und
drehte ſie nach allen Seiten, um die Wirkung der
Brillanten zu prüfen.


Der Diaconus kam. Fancy hatte ihn von der
Straße hereingeholt. Er kehrte eben aus dem
Gerichtshauſe zurück, den Auftritt mit dem Hof-
ſchulzen noch in Haupt und Herzen. Seine Frau,
die auch ſchon etwas von der Revolution in ihrem
Hauſe gehört hatte, folgte. Fancy ſchloß den
Zug. Die Wirthe ſahen mit Erſtaunen auf Lis-
beth, die wirklich daſtand, ein armes, reiches,
weißes, buntes Wunder. — Kleine Frau, rief
Clelia ihre Wirthin an, Sie bekommen heute freies
Haus. Sobald wir hier unſere Pflicht gethan
haben, reiſe ich ab, denn den Oberamtmann über-
laſſe ich Euch, Ihr Guten, und der wird denn
auch bald zornſchnaubend ſeiner Wege gehen.


[291]

Herr Paſtor, ſagte ſie gravitätiſch zum Dia-
conus, Sie werden erſucht, Ihren Mantel anzu-
legen, die Bäffchen vorzuſtecken und ſofort Ihr
heiliges Amt zu verrichten.


Wie? verſetzte der Diaconus äußerſt befremdet.
Ohne Aufgebot, ohne Formalitäten …


Einſpruch erfolgt nicht, auf Cavalierparole,
ſagte Clelia noch feierlicher. — Und was die For-
malitäten betrifft, ſo ſteht hier eine bekränzte
Braut, drüben im Zimmer ſitzt ein harrender
Bräutigam, ich habe mich als eheſtiftende Juno
aus dem Stegreife in Staat geworfen, zwei ehr-
liche Leute als Zeugen werden zu haben ſeyn,
weitere Formalitäten ſind wohl überall zu einer
Hochzeit nicht erforderlich.


Er verſagte auf das Beſtimmteſte die Bitte.
Clelia wurde aber dringender und fand an der
Frau des Geiſtlichen eine Bundesgenoſſin. Ich
dächte, liebes Kind, du gäbeſt nach, ſprach ſie
mit einem verlegenen vielſagenden Blicke.


Mit der ganzen Offenheit, welche ſeine Aeuße-
rung über den modernen Adel gegen die Excellenz
auf dem Oberhofe geziert hatte, rief der Diaco-
nus, ſich vergeſſend: Nein, mein Schatz, weil du
19*
[292] etwas länger Laſt in der Küche behältſt, deßhalb
kann ſich dein Mann nicht ſcharfen Verweiſen oder
gar Strafen ausſetzen!


Darüber will ich Sie beruhigen! rief Clelia.
Ich kenne Ihren * er iſt in Carlsbad ganz über-
aus freundlich gegen mich geweſen, denn er erwartet
von mir eine Gefälligkeit bei uns daheim. Eine Hand
wäſcht die Andere, ich verbürge mich dafür, daß
Sie mit einer leichten Zurechtweiſung, die Ihnen
nur des Scheins halber ertheilt werden wird, ent-
ſchlüpfen ſollen, zumal da in der Sache ſelbſt nichts
Unrechtes geſchieht. — Fancy ſchlich fort; ſie
wußte, wo der Ornat hing.


Gnädige Frau, verſetzte der Diaconus ernſt,
die Formen ſind einmal in der Welt und die For-
men ſind heilſam. Entſchuldigen Sie, wenn ich
mich innerhalb der mir gewieſenen Schranken halte.


Aber auch Clelia konnte ernſthaft werden.
So feſt und gehalten, daß es alle Anweſende über-
raſchte, ſagte ſie: Meine Eitelkeit erlebt wenig-
ſtens einen kleinen Triumph darüber, daß Sie mir
ſo bald und ſo vollſtändig Genugthuung geben.
Sie grollten mit mir gar ſehr in Ihrem Herzen,
daß ich die Bettlerin, das Findelkind — denn ich
[293] darf ſie ſo nennen, ſie weiß, wie lieb ich ſie ge-
wonnen habe — nicht in der älteſten Familie des
Reichs haben wollte, und nun weigern Sie ſich,
ja Sie, zwei Lieblinge Ihres Herzens allen Nöthen
zu entheben. Und weßhalb weigern Sie ſich?
Einer Form, einer armſeligen Form wegen, deren
Verletzung Ihnen möglicherweiſe eine kleine Unan-
nehmlichkeit im Amte machen könnte. O Ihr Anderen,
wann werdet Ihr doch ablaſſen, Euch über uns
aufzuhalten? Ich bin doch beſſer als Sie. Denn
ich ward wenigſtens von dem königlichen Gemüthe
dieſes Kindes, welches ich nun mit Freuden für
meine Verwandte, Gräfin Waldburg, erkenne, raſch
bekehrt. Sie aber ſcheinen der Bitte einer Frau
unnahbar zu ſeyn, die nur begehrt, was der Augen-
blick gebietet, den Sie mir ja auch als Lehrer der
Menſchen angeprieſen haben. — Wohl, ich dringe nicht
weiter in Sie. Aber die Zukunft der Beiden ſchiebe
ich Ihnen in Ihr Gewiſſen. Für alle Quälereien,
Hemmungen, Verdrießlichkeiten oder gar Mißgeſchicke,
welche Oswald und Lisbeth noch haben können, bin
ich für meine Perſon nicht ferner verantwortlich.


Der Diaconus ſtand betreten. Von Anfang
an hatte ja eine Stimme in ſeinem Inneren für
[294] die Bitte der Baroneſſe geſprochen. Dieſe Stimme
redete um ſo lauter, als er kurz zuvor ſo tief be-
wegt worden war. Das Große, Aechte, Menſch-
liche war ihm in der Gerichtshalle ſo nahe getre-
ten; er fühlte, daß es Dinge und Verwickelungen
gebe, in denen der Menſch ſich vergeſſen und nur an
das Weſen, und an das Loos Anderer denken ſoll.


Nach einigem Schweigen erwiederte er Clelien:
Sie haben mich auf eine Probe geſtellt. Selten
wird es vorgekommen ſeyn, daß ein Geiſtlicher ſich
ſcharf tadeln laſſen muß vor einer heiligen Hand-
lung, die man von ihm begehrt. Folgte ich einer
kleinlichen Empfindlichkeit, ſo würde ich bei meinem
Verſagen beharren. Ich bin aber nicht empfindlich,
ſondern erkläre Ihnen ganz einfach: Sie haben
Recht. Ich bin bereit, dem Bunde, welcher uns
Alle, wie es ſcheint, durch ſeine liebliche Kraft
über das Gewöhnliche erhebt, Weihe und Unlös-
barkeit zu geben.


Fancy hatte ſich ſchon während der letzten
Worte mit dem Ornate in der Thüre gezeigt.
Der Diaconus ging hinaus und kam nach einigen
Augenblicken im prieſterlichen Kleide zurück. —
Wollen wir ihn nicht vorbereiten laſſen? fragte
[295] Clelia. — Wozu? verſetzte der Diaconus. — Das
Göttliche regt nicht auf; es beruhigt. Still treten
wir bei ihm ein und ich ſage ihm dann in kurzen
Worten ſanft, was wir wollen; das iſt wohl die
beſte Vorbereitung.


Er nahm Lisbeth bei der Hand, die Frauen
folgten. Schweigend und gefaßt gingen dieſe guten
Menſchen nach dem Zimmer, in welchem ſich auf
den Glücklichen, der noch nichts ahnete, ſogleich
ein Segen herniederlaſſen ſollte, rein, groß, himmliſch.


Ende.


[296]

Anhang.
Zwei Briefe.


I.


Sie wollen mir, lieber Herr Buchbinder, wie
ein Londoner Publicum, das Nachſpiel zu der
Tragödie, die einen heiteren Ausgang gewann, nicht
erlaſſen. Sie fragen mich nach unterſchiedlichen
Dingen und Perſonen, und da Sie mir während
der Arbeit rechtſchaffen beigeſtanden haben, theils
durch Heften des Manuſcripts, theils durch guten
Rath, ſo will ich Ihnen auch darin gern, in wie
weit ich kann, gefällig ſeyn.


Vor allen Dingen wünſchen Sie zu wiſſen,
was der Arzt zu der Vermählung geſagt habe.
Herr Buchbinder, Sie ſind ein ſchlauer Vogel.
Der Doctor kam ungefähr eine Stunde nach der
Trauung in das Haus und fand noch Alles in
[297] Entzücken und Thränen. Er war aber gar nicht
entzückt und vergoß auch keine Thräne. Sondern
bitterböſe war er und rief: Verdammt, daß der
Humor immer wörtlich genommen wird! Aller-
dings war der Graf in großer Gefahr, und noch
jetzt iſt ein Rückfall zu beſorgen, wenn man ihn
nicht vor Gemüthsbewegungen in Acht nimmt.
Er hatte hierauf mit der Baroneſſe ein Geſpräch
unter vier Augen. In Folge deſſelben wußte die
junge Dame die neue Gräfin zu beſtimmen, daß
ſie noch an ihrem Hochzeittage mit ihr abreiſte,
und ſo trennte ſich das Paar wenige Stunden
nach ſeiner ewigen Vereinigung unter heißen Thrä-
nen, aber mit freiem und würdigem Entſchluſſe.
Nachdem Clelia ihren entronnenen Gemahl aus
dem Osnabrück’ſchen ſich wiedergeholt hatte, reiſten
ſie zuſammen durch Holland, Belgien, Frankreich,
England bis nach Schottland. Die junge Frau
oder Braut ſah Vieles, merkte auf Alles und
wechſelte mit ihrem Gemahle oder Bräutigam die
ſchönſten Briefe. Man ſah ihr nirgend an, daß
ſie nur ein Findling war, ſondern ſie betrug ſich
wie eine geborene Gräfin. In England wurde
ſie der Königin vorgeſtellt, dieſe küßte ſie auf die
[298] Wange und die Frau von Lehtzen nannte ſie my
dear Eliza.


Endlich nach ſechs oder ſieben Monaten ſchlug
die Stunde der Heimkehr. Der Graf, nun ganz
wieder hergeſtellt, kam den Reiſenden bis Rotter-
dam entgegen und führte ſein bräutliches Weib in
großer Wonne auf das hohe Schloß am Neckar.


Der alte Baron, über welchen ſich bei dem
Einſturze des Schloſſes ſchützend ein Stück Dach
geſpreitet hatte, wurde dadurch vor dem Zerquet-
ſchen bewahrt. Er ſchlug nur mit der Stirn auf
einen harten Körper, einen Stein oder Balken,
auf und trug eine große Brauſche davon. Einige
Tage lag er betäubt, als er aber wieder zukehrte,
war er von allen und jeglichen Einbildungen ge-
heilt. Entweder muß daher an ihm das Dogma
des Dorfchirurgen vom Choc und Gegenchoc ſich
bewährt haben, oder die fixen Ideen ſind ihm frü-
her von einem Knoten im Hirne entſtanden, den
ihm die Erſchütterung des Falles geſprengt hat.
Genug, er war auf den Kopf gefallen und dadurch
zu Verſtande gekommen.


Einen großen Schmerz hatte der alte Mann
über die Gefühlloſigkeit ſeiner Pflegetochter, wie
[299] er ihr Benehmen nannte. Er wollte ſie auch deß-
halb gar nicht ſehen, als ſie ihn endlich beſuchte,
und ſie mußte, nachdem ſie drei Tage inſtändig
bittend verweilt hatte, unverrichteter Sache abrei-
ſen. Jede Einladung nach dem Schloſſe am Neckar
hat er beharrlich abgelehnt. Die jungen Gatten
ſorgen aber dennoch für ihn durch einen ſeiner
alten Freunde, der von ihnen in’s Vertrauen gezo-
gen worden iſt. Dieſer zahlt ihm nämlich reich-
liche Summen aus unter dem Vorwande, es ſeien
Rückſtände von Zinſen, die ſein ehemaliger Rent-
meiſter nachläſſigerweiſe uneingefordert gelaſſen habe.
Der alte Baron wohnt bei dieſem Freunde zur
Miethe, hat ſich wieder Jagdgewehr angeſchafft,
ſchießt Rehe, ſo viele er treffen kann, trinkt
Rheinwein nach Bedürfniß und lebt ganz der Ge-
genwart.


Der Schulmeiſter Ageſel ließ in den rheiniſch-
weſtphäliſchen Anzeiger einrücken, er erkläre Jeden,
der ihn nicht für einen gewöhnlichen Menſchen im
vollen Sinne des Worts halte, für einen Schur-
ken, worauf der Küſter aus Furcht, inſultirt zu
werden, ſeine andere Furcht nach und nach bemei-
ſtern gelernt hat.


[300]

In Dünkelblaſenheim ſteht Alles bei’m Alten.
Nationallied iſt noch immer der Geſang der Fiſche
aus Wieland’s Märchen:


Hätten’s gern beſſer

Statt immer ſchlimmer;

Und rathen immer,

Und treffen’s nie.

Münchhauſen wird in den höchſten Kreiſen der Ge-
ſellſchaft ganz außerordentlich vermißt.


Von dem Verſchwinden dieſes wunderbaren
Mannes iſt der Schleier nie gelüftet worden. Na-
türlich muß die Krypte einen geheimen Ausgang
gehabt haben, wer nur wüßte, wo? — Eine ganz
ſonderbare Nachricht verbreitete ſich unlängſt. Ein
Reiſender wollte nämlich in einem kleinen Gebirgs-
ſtädtchen im Hohenzollern-Hechingen’ſchen einen
Mann, genau ausſehend wie unſer Held, mit einer
ältlichen Dame luſtwandeln geſehen haben. Auf
Befragen hatte man dem Reiſenden geſagt, jener
Mann heiße Münch, genannt Hauſen, lebe vom
Ackerbau, ſei ein nützlicher Staatsbürger, guter
Gatte und würde ohne Zweifel ein eben ſo guter
Vater werden, wenn ſeine Frau noch Kinder be-
kommen könnte.


[301]

Wäre dieſer unſchädliche Acker- und Staats-
bürger wirklich der Freiherr von Münchhauſen, ſo
hätte ſich in unſerer lehrreichen Geſchichte gerade
das Gegentheil von dem ereignet, was in anderen
Geſchichten vorzukommen pflegt. Denn in denen
werden meiſtens alle Vernünftige toll, in der
unſrigen aber wären durch tüchtige Eingriffe des
Lebens, ſei es mittelſt Nichtachtens auf die Schrolle,
ſei es mittelſt Fallens auf den Kopf, oder mittelſt
Wiedererſcheinens einer alten Geliebten, alle Tollen
oder Halbtollen vernünftig geworden. Gewiß ein
tröſtlicher Ausgang!


Mit Wehmuth wende ich mich zu Ihrer Frage
nach Karl Buttervogel. Dieſer practiſche Charak-
ter iſt leider an ſeiner einzigen Schwäche unter-
gegangen, er ſtarb nämlich am Uebermaaß von
Gründen. Das ging ſo zu. Bald nach dem Ver-
laſſen des münchhauſen’ſchen Dienſtes fand er eine
neue Herrſchaft, bei welcher er auch mit Pferden
umgehen mußte, d. h. er wurde zugleich Kutſcher.
Einſtmals fuhr er nun in einem holprichten Wege
ſo ſchlecht, daß ihn ſein Herr heftig anließ und
ihn fragte, warum er nicht im Geleiſe bleibe?
Karl hätte hierauf einfach antworten ſollen, daß
[302] er gen Himmel, ſtatt auf die Straße geſehen
habe. Er wandte aber den Kopf rückwärts und
trug dem Herrn unaufhaltſam eine Fülle von Grün-
den vor. Da ſchlug der Wagen in ein tiefes Loch,
Karl ſtürzte vom Bock, fiel vor das Rad, dieſes
ging über ihn weg und jämmerlich kam er um.
An ſeinem Grabe weint Rieke aus Stuttgart, die
er geheirathet hatte, mit zwei unmündigen Kindern.
Ich weiß, daß auch Sie ſeinem Andenken eine
Thräne zollen werden.


Was das optiſche Glas zu leſen gegeben, kann
ich Ihnen nicht ſagen. Es liegt unter den Trüm-
mern des Schloſſes, die nicht hinweggeräumt wor-
den ſind.


Habe ich Sie nun zufrieden geſtellt, lieber Herr
Buchbinder? Der ich mit aller Achtung u. ſ. w.


N. S.


Beinahe hätte ich den Oberamtmann vergeſſen.
Eine Geſchichte mit ſo vielen Perſonen iſt wie ein
Wirthshaus voll Gäſte. Bei der pünctlichſten
Aufmerkſamkeit wird doch immer Der und Jener
ſitzen gelaſſen. Er kam aus dem gewerbfleißigen
[303] Wupperthale zurück, ſchon ſehr verſtimmt, denn
von der Aſſiſe hatte er nichts zu ſehen bekommen.
Den erſten Tag ſeines Dortſeyns konnte er nämlich
wegen Ueberfüllung des Saales mit Menſchen nicht
hinein, am zweiten Tage wurde eine Sache bei
verſchloſſenen Thüren verhandelt und am dritten
eine ausgeſetzt, weil der Hauptzeuge fehlte; womit
die damalige Quartalſitzung ſchloß.


Als er nun gar ſeinen Freund, den er braut-
los erwartete, vermählt wiederfinden mußte, kannte
ſein Zorn keine Grenzen. Aber die Ehe ſaß wirk-
lich wie ein guter Riegel feſt und ſpottete jeglicher
Bemühung, ſie hinwegzuſchieben. Er reiſte auf der
Stelle ab, hat ſich in den Schwarzwald vergraben
und nichts mehr von ſich hören laſſen. Sein
Glaube an die Menſchheit ſoll ſehr geſunken ſeyn
und Clelien nennt er, wie man ſagt, nur Armiden,
die liſtige Verführerin. Oswald hofft indeſſen doch
noch ihn auszuſöhnen.


[304]

II.


Du fragſt mich nicht nach den komiſchen Leuten,
obgleich du, luſtig wie ein Knabe, an ihnen dein
Ergötzen hatteſt und dich ſelbſt nicht ſcheuteſt, über
„den gemeinſten aller gemeinen Bedienten“ wie du
ihn nannteſt, zu lachen. Du fragſt mich nach Os-
wald und Lisbeth. Ihre Geſchichte ſei ja noch
nicht aus, ſagſt du.


Nein, ihre Geſchichte iſt auch nicht aus, ſie
hat erſt begonnen. Ich hätte nicht ſolchen Antheil
Beiden gewidmet, wenn ſie zu denen gehörten,
deren Blüthe das Läuten der Hochzeitglocken zu
Grabe läutet. Die Geſchichte ihres Herzens und
innerſten Geiſtes nahm von dem Segen des Prie-
ſters den Ausgang.


Ein zu frühes Beieinanderſeyn der Liebenden
hat etwas Ungeſchicktes. Das Leben iſt nun
einmal roh, es trennt mehr, als daß es ver-
binde. Der Tag wirft viel Schaum und trübe
Fluth zwiſchen zwei Herzen, die noch nicht gelernt
[305] hatten und auch unter ſolchen Umſtänden nicht ler-
nen können, mit einander vertraut zu ſeyn — denn
auch das ächte Vertrauen will gelernt werden.
Daher kommt es denn, daß die Meiſten einander
zu fremd und doch zu nahe in den Eheſtand treten.
Und ſo entſteht die trübe und unreine Geſtalt
vieler Ehen. In manchem Zufälligen hatten die
Verbundenen das Weſenhafte zu finden gewähnt,
das nimmt Abſchied, und nun klagen ſie über bittere
Enttäuſchungen, wo ſie im Gegentheil ſich vielleicht
der Entfaltung eines Weſenhafteſten zu erfreuen
hätten.


Unſer Paar wurde durch anſcheinendes Mißge-
ſchick über dieſe gefährliche Sandbank des Lebens
hinübergeſpült. Draußen, in Wald und Feld,
außer dem Pferch der Civiliſation hatten ſie ein-
ander gefunden, hatten einander vor aller Bekannt-
ſchaft geliebt, der Blitz der Ahnung hatte dem
Einen des Andern ewiges Seyn und Werden er-
leuchtet. Aber nun galt es, den koſtbaren Gewinn
für die Erde zu feſtigen. An dem Tage ihres
Bundes wurden ſie getrennt! Trauriges Loos,
glückſeliges Loos! In Sehnſucht und Wehmuth,
in zartem Harren und Darben lernte nun Eines
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 20
[306] des Andern Tiefſtes aus; das Feinſte und Wahrſte
der Seelen, der Blüthenſtaub des inneren Menſchen
wehte hinüber und herüber. Die Leidenſchaft konnte
nicht aufkommen, denn die Hoffnung, feſt geankert
auf dem Grunde des Sacraments, hielt ſie mit
ſanfter Hand nieder, die Ferne zeigte Jedem die
zweite theure Geſtalt in verklärten Umriſſen.


Daher kannten ſie einander, als er ihr bei
Rotterdam aus dem Boote half, aber ſie kannten
einander in der edelſten und köſtlichſten Weiſe.
Den ewigen Menſchen hatte Eines in dem Andern
erſchauen gelernt, nicht den zufälligen. Die Be-
geiſterung des erſten Liebesrauſches hatte die ſüßeſte
und zugleich die ernſteſte hohe Schule durchgemacht.
In allen Tiefen des Bewußtſeyns hatte ſich das
Aufjauchzen des Gefühls als hohe Vernunft wie-
dergefunden.


Und nun haben ſie einen Glauben, den nichts
erſchüttern kann. Wenn der Tag ſeinen Schaum
heranſpült und das Bild des Liebſten verun-
reinigt; wenn die Laune kommt und das Sonder-
bare, Dumpfe, ſo ſprechen ſie: Das iſt nicht Os-
wald, das iſt nicht Lisbeth, das iſt der Zufall.
[307] Eines iſt für das Andere nur da in der ſchö-
nen Figur jener academiſchen Zeit ihrer Liebe.


Nach allen Seiten hin erbaut ſie die Ehe, die
den Namen einer heiligen verdient. Denn ſie haben
einander einen Doppelſchwur geleiſtet ohne Worte.
Eins wollen ſie ſeyn und bleiben, aber Eins im
Leben und in der Welt, nicht ſich verſteckend vor
Leben und Welt. Mit Liebe wollen ſie den ſtumpfen
Widerſtand der Materie überwinden. Der iſt groß.
Denn ihr Schritt hat freilich in alle Verhältniſſe
den tiefſten Riß gemacht. Man läßt Lisbeth’s
Liebenswürdigkeit zwar gelten, aber das Findelkind
bleibt ihnen doch ein Findelkind. Die Bekannten
haben geſtutzt, die Freunde getrauert, die Familie
iſt außer ſich geweſen, habſüchtige Vettern ſchielten
froh nach der Zukunft. Zwiſchen dieſen dürren
Klippen, in ſolcher Wildniß iſt ihnen die Aufgabe
geſetzt, den Garten eines ſchönen, fruchttragenden
Lebens auszuſäen. Daher hat denn ihre Geſchichte
nur erſt begonnen. Ueberallhin müſſen ſie ſich auf-
ſtellen, jeden Schatz aus ſich zu Tage fördern, ſie
müſſen ſich vollenden für die Welt und für die
Zwecke der Welt, um das Recht des Herzens
darzulegen.


20*
[308]

Eine Liebesgeſchichte und nichts weiter! werden
Manche ſagen. Wenn es nichts weiter wurde, ſo
iſt daran meine geringe Fähigkeit, nicht mein Sinn
ſchuld. Mein Sinn ſtand darauf, eine Geſchichte
der Liebe nachzuerzählen, der Liebe zu folgen bis
zu dem Puncte, wo ſie den Menſchen für Haus
und Land, für Zeit und Mitwelt reif, mündig,
wirkſam zu machen beginnt.


Deine Seele hat manchen Gedanken von mir
in ſich empfangen, du haſt ihn gepflegt und mir
ſchöner zurückgegeben. Von dir vernahm ich zu-
weilen erſt, was ich eigentlich gedacht hatte. Höre
denn auch jetzt, was meine rauhe und ungeſtüme
Lippe dir zuſtammelt; pflege es in einem feinen,
guten Gemüthe.


Unſere Zeit iſt groß, der Wunder voll, frucht-
bar und guter Hoffnung. Aber irr und wirr tau-
melt ſie noch oft hin und her, weiß die Stege
nicht und plaudert wie im Traume. Das rührt
daher, weil das Herz der Menſchheit noch nicht
wieder recht aufgewacht iſt. Denn nicht abhanden
kam der Menſchheit das Herz, es ward nur müde
und ſchlief etwas ein. Im Herzen müſſen ſich die
Menſchen erſt wieder fühlen lernen, um den neuen
[309] Weg zu erkennen, den die Geſchlechter der Erde
wandeln ſollen, denn vom Herzen iſt alles Größte
auf Erden ausgeſchritten. Moſes ſah an das
Elend ſeines Volkes und führete es hinweg; Chri-
ſtus wollte ſein göttliches Licht nicht für ſich be-
halten, ſondern in überſtrömender Liebe gab er es
ſeinen Brüdern; nach dem heiligen Grabe lechzete
die durſtige Bruſt der Kreuzfahrer, Luther that
mit ſeinem Herzen die tiefe Frage nach der ewi-
gen Seligkeit, vor welche ſich ſchmauchende Kirchen-
kerzen geſtellt hatten, die von Meßgewändern und
Weihrauchwolken verhüllt war.


Wenn ich aber das viel gemißbrauchte und
deßhalb übel berufene Wort brauche, ſo weißt du,
daß ich damit nicht den ſchlaffen, von der Empfin-
delei getauften Muskel meine, der in einer
Fluth matter Thränen ſchwimmt. Das volle,
ſtarke Herz meine ich, vom Athem Gottes und
göttlicher Nothwendigkeiten durchweht und begei-
ſtet. Ich meine das Herz, welches das ſchöne
Weib des Kopfes iſt. Von ihm wird es befruch-
tet und giebt die Kraft ſeines Mannes und Herrn
wieder als göttliches Kind mit tiefen welterlöſen-
den Augen. Dieſes Herz erſcheint den Schwachen
[310] nicht ſelten kalt und roh, und doch iſt es das
Wärmſte, was es giebt, denn es entzündet mit
ſeinem Brande die Völker. Und das Zärteſte iſt
es auch, denn nicht irdiſche Stümper rühren es,
ſondern die Himmliſchen ſpielen darauf, wie auf
einer Aeolsharfe, und es tönet ſeine ewigen Ac-
corde unter den Fingern der Elohim.


Unſere Zeit iſt ein Columbus. Sie ſieht wie
der Genueſer mit den Blicken des Geiſtes das ferne
Land hinter der Wüſte des Oceans. Deſſelben
gleichen erlebt ſie die Geſchicke des Columbus. Auch
ihr laufen die Kinder nach, halten ſie für wahnwitzig
und zeigen an den Kopf. Auch ſie ſteht vor
manchem Rathe von Salamanca und ſoll ſich aus
Kirchenvätern widerlegen laſſen. Auch heuer giebt es
dieſen und jenen heuchleriſchen Johann von Portugal,
der ihr das Geheimniß abgekauft zu haben wähnt
und die Caravele ausſendet von den Inſeln des
grünen Vorgebirges, aber nach vierzehn Tagen
den ſchlechten Bootsmann entmuthigt wiederkehren
ſieht. — Sie hat die Anker gelichtet und ſteuert
und ſteuert.


Aber der Genueſer hatte die Bouſſole am
Bord und nach der richtete er ſein Schiff und ließ
[311] ſich nicht irre machen, als die Nadel unter entle-
genen Graden abzuweichen begann. Die Nadel
zeigte ihm den Pfad.


In das Schiff der Zeit muß die Bouſſole
gethan werden, das Herz. Und keine Abwei-
chung muß den Seefahrer irren, wenn die Reiſe
immer weiter und weiter vordringt. Dann
wird nach verzweiflungsvollem Hoffen und Har-
ren plötzlich in einer Nacht vom Schiffe: Land!
gerufen werden, und die Inſel San Salvador wird
nächſten Morgens entdeckt daliegen, wild, üppig,
mit großen und ſchönen Wäldern, mit unbekannten
Blumen und Früchten, von reinen, lieblichen Lüf-
ten überhaucht und umſpült von einem kryſtall-
klaren Meere. — Und es kann ſeyn, daß auch
die Zeit nach Ophir und nach des Tartarchanes Ge-
biete entſteuert zu ſeyn wähnet, und in dieſem
Wahne, ein erhaben phantaſirender Columbus, ab-
ſtirbt, und daß erſt ſpätere Jahre erfahren, Ame-
rica ſei an jenem Morgen entdeckt worden.

[][][][]
Notes
*)
Die Umgrenzung des zu einem Hofe gehörigen Feld-, Wie-
ſen- und Baumgrundes.
*)
Kramladen.
*)
Anfall von Schlagfluß.

Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Immermann, Karl Leberecht. Münchhausen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn91.0