Cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat,
Antiphatem, Scyllamque et cum Cyclope Charybdim.’
(Horatius.)
Verlag von J. E. Schaub.
1839.
[[II]][[III]]
Inhalt
des dritten Theils.
Fünftes Buch.
Hochzeit und Liebesgeſchick.
Erſtes Capitel.
- Seite
- Worin der Hofſchulze dem einäugigen Spielmann
auseinanderſetzt, warum er keine ſeiner neun
Jacken einbüßen wolle 3 - Zweites Capitel.
Ein Topf läuft über und eine Braut wird ge-
ſchmückt 21 - Drittes Capitel.
Worin der Autor fortfährt, die Vorbereitungen
zur Hochzeit zu beſchreiben 28 - Seite
- Viertes Capitel.
Der Jäger und ſein Wild 37 - Fünftes Capitel.
Die Störung. Was ſich in einer Dorfkirche zu-
trug 53 - Sechstes Capitel.
Die ferneren Ereigniſſe eines Hochzeittages 79 - Siebentes Capitel.
Der vornehme Herr vom Hofe macht vergebliche
Anſtrengungen, ſich herabzulaſſen. Der Spaß-
macher Steinhauſen wird Jedermann verſtänd-
lich 97 - Achtes Capitel.
Eine Idylle in Feld und Buſch 113 - Neuntes Capitel.
Jäher Sturz 127 - Die Wunder im Speſſart
Waldmährchen141
[V]
Sechstes Buch.
Walpurgisnacht bei Tage.
- Seite
- Erſtes Capitel.
Wache Träume 189 - Zweites Capitel.
Eine Ueberraſchung eigener Art 205 - Drittes Capitel.
Die drei Unbefriedigten treten mehr in die Hand-
lung ein 209 - Viertes Capitel.
Ein chroniſcher Schläfer und ein ſeltenes Beiſpiel
von Bediententreue 218 - Fünftes Capitel.
Wofür Semilaſſo von dem Ehinger Spitzenkrämer
angeſehen wird. — Der alte Baron rennt nach
einem Bürgermeiſter und a publick character
im braunen Oberrock tritt auf, deſſen Erſchei-
nung die wenigſten Leſer vermuthen mögen 255 - Seite
- Sechstes Capitel.
Der bekannte Schriftſteller Immermann führt
eine ſehr ernſte Unterredung mit dem Freiherrn
von Münchhauſen. Karlos der Schmetterling ent-
ſchließt ſich, bewogen durch den Anblick eines
Sauerbratens und durch die Zuredungen ſeiner
Geliebten, endlich die Maske abzuwerfen 267 - Siebentes Capitel.
Der Mann im braunen Oberrock beginnt ſein
allgemeines Vermittelungsgeſchäft 292 - Achtes Capitel.
Entdeckungen über Entdeckungen 300 - Neuntes Capitel.
Der Schriftſteller Immermann eröffnet das Pro-
tocoll über die Frage Münchhauſen 317 - Zehntes Capitel.
Ein Munkel! Ein Munkel! 324 - Eilftes Capitel.
Der Brief eines Erbprinzen rettet den Helden
vor der Polizei 335 - Zwölftes Capitel.
Eine wunderſam verwickelte Hofgeſchichte 344 - Seite
- Dreizehntes Capitel.
Der einzige practiſche Charakter dieſes Buches
erreicht ſeinen Zweck 352 - Vierzehntes Capitel.
Eine furchtbare Laune des Geſchicks 358 - Fünfzehntes Capitel.
Wie der Freiherr von Münchhauſen plötzlich Muth
bekommt und überhaupt ein ganz anderer Mann
iſt, als Mancher ſich denken mag 364 - Sechszehntes Capitel.
Walpurgisnacht bei Tage 378 - Siebenzehntes Capitel.
Gedanken in einer Krypte 392 - Intermezzo402
[VIII]
Druckfehler des dritten Theils.
- Seite 46 Zeile 20 lies: ihren ſtatt: ihn.
- ‒ 58 ‒ 12 ‒ mit ſt. mir.
- ‒ 90 ‒ 8 ‒ Küſter ſt. Schulmeiſter.
- ‒ 93 ‒ 12 ‒ den ſt. der.
- ‒ 122 ‒ 4 ‒ ſich ſt. ſie.
- ‒ 127 ‒ 15 ‒ fünf ſt. vier.
- ‒ 176 letzte Zeile lies: Ränder ſt. Räder.
- ‒ 201 Zeile 12 lies: ses ſt. des.
- ‒ 208 ‒ 6 fällt: ſich nach: ohne weg.
- ‒ 235 ‒ 18 lies: meinen ſt. mein.
- ‒ 238 ‒ 15 ‒ eben ſt. aber.
- ‒ 311 ‒ 11 ‒ dieſer ſt. dieſen.
- ‒ 322 ‒ 6 fehlt ein: „ nach: mittheilt.
- ‒ 350 ‒ 12 ‒ „, nach: warf.
Fuͤnftes Buch.
Hochzeit und Liebesgeſchick.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 1
[[2]][[3]]
Erſtes Capitel.
Worin der Hofſchulze dem einäugigen
Spielmann auseinanderſetzt, warum er
keine ſeiner neun Jacken einbüßen wolle.
An einem klaren Auguſtmorgen brannten im
Oberhofe ſo viele Kochfeuer, als ob die Bevölke-
rung ſämmtlicher Ortſchaften in der Runde zum
Mittagsmahle erwartet werde. Ueber der Heerd-
flamme, durch große Klötze und Scheiter zu unge-
wöhnlicher Größe entzündet, ſchwebte an dem ein-
gezahnten eiſernen Haken der mächtigſte Keſſel,
welchen die Wirthſchaft bewahrte. Sechs oder ſieben
eiſerne Töpfe umſtanden mit ihrem ſiedenden und
brodelnden Inhalte dieſe Gluthen. Auf dem Platze
vor dem Hauſe nach dem Eichenkampe zu praſſel-
ten, wenn die Geſchichte die Wahrheit ſagt, neun
Feuer, und ebenſoviele, oder höchſtens eins weniger
auf dem Hofe in der Nähe der Linden. Ueber
1*
[4] allen dieſen Kochſtätten waren Böcke oder Roſte
errichtet, auf welchen Bratpfannen ſtanden, oder an
welchen Keſſel von nicht geringer Größe hingen,
obſchon keiner derſelben ſich mit dem Umfange deſſen,
der über dem Heerde ſeine Pflicht leiſtete, ver-
gleichen durfte. Die Gluthen verbreiteten in dem
Hauſe und um daſſelbe eine ſtarke Hitze, rothe
Funken ſprühten allenthalben empor und flogen auch
wohl unter das Strohdach, erloſchen aber unſchäd-
lich inmitten des gefährlich Brennbaren, gleichſam,
als wollte das Element dem argloſen Zutrauen,
welches die Hofesbewohner in ſeine Treue ſetzten,
dankbar entſprechen.
Die Mägde des Oberhofes gingen mit Schaum-
löffeln oder Gabeln zwiſchen den Kochſtätten ge-
ſchäftig hin und her. Es durfte, ſollte die Speiſe
den Gäſten munden, nicht gefeiert werden mit Ab-
ſchäumen und Umwenden, denn in dem großen
Keſſel über dem Heerde gaben acht Hühner die
Kraft zur Suppe her, und in den übrigen drei-
undzwanzig oder vierundzwanzig Töpfen, Keſſeln
oder Pfannen ſotten oder brieten ſechs Schinken,
drei Truthähne, fünf Schweinsbraten, nebſt der
entſprechenden Anzahl von Hühnern.
[5]
Dieſem Geflügel war nämlich das bevorſtehende
Feſt am verhängnißvollſten geworden. Der Hahn,
welcher die gelichteten Reihen ſeiner Theuren über
die Nährplätze des Hofes führte, ſah ſich unter-
weilen wehmüthig um, oder blickte zornig nach den
Feuern, die ſein Liebſtes für fremde Freuden zu-
richteten, und in einer entfernten Ecke des Hofes
bewegte der Morgenwind einen großen Haufen
brauner, gelber und weißer Federn, hin und wieder
eine derſelben bis in die Nähe der Feuer wirbelnd.
Während die Mägde in den Bratpfannen nach-
goſſen, die Schinken anſtachen, unter den Trut-
hähnen die Gluth erfriſchten, von den Hühnern
und der Suppe den Schaum hinwegnahmen, waren
auch die Knechte fleißig an ihrem Werke. Der
ſchwarzäugige Verwegene richtete im Baumgarten
mit Böcken, Blöcken und Brettern eine gewaltige
lange Tafel zwiſchen den Blumenbeeten und unter
den Fruchtſtämmen zu, nachdem ihm ein ähnliches
Gerüſt bereits im Flure gelungen war. Der dicke
Langſame bekleidete die Pforten des Hauſes, die
Wände des Flures und die Thüren der beiden
Zimmer, in denen wir den Diaconus und ſeinen
Küſter einſtmals haben ſpeiſen ſehen, mit grünen
[6] Birkenſtämmen. Er ſeufzte nachdrücklich über dieſe
grüne und luſtige Arbeit, auch fiel ihm, wie es
ſchien, die Gluth beſchwerlich. Dennoch war ihm
ein nachgiebigeres Geſchäft zugefallen, als ſeinem
Mitknechte, dem zornigen Rothhaarigen. Denn er
hatte doch nur mit ſchmiegſamen Maien zu thun,
Jenem aber lag ob, das Vieh feſtlich zu zieren.
Den Kühen nämlich und Rindern, welche an der
einen Seite des Flurs hinter ihren Krippen ſtan-
den, vergoldete der Rothhaarige mit Schaumgold
die Hörner, oder band ihnen bunte Schleifen und
Quaſten um dieſelben. In der That war dieſes
eine verdrießliche Arbeit beſonders für einen jäh-
zornigen Menſchen. Denn manche Kuh und dieſes
und jenes Rind wollte ſchlechterdings nichts von
dem Feſte wiſſen, ſchüttelte mit dem Kopfe oder
ſchwang die Hörner ſeitwärts, ſo oft ihm der
Rothhaarige mit dem Leimpinſel und den Schaum-
goldblättern nahte. Er bezwang lange ſeine Natur
und gab nur zuweilen ein dumpfes Murren von ſich,
wenn ihm ein Horn den Pinſel oder die Blätter
aus der Hand ſchlug. Laute, welche die allgemeine
Stille, womit alle Beſchäftigte ihre Arbeit verrich-
teten, kaum unterbrachen.
[7]
Als aber die Zierde des Stalles, eine große
Weißgefleckte, mit welcher er ſich wohl ſchon eine
Viertelſtunde lang umſonſt abgemüht hatte, endlich
ſogar heimtückiſch ward und ihm einen gefährlichen
Stoß verſetzen wollte, da riß dem Rothhaarigen
die Geduld. Er ſprang zur Seite, ergriff jenen
Zaunpfahl, mit dem er einſt den Pitter vom Band-
kotten verſchont hatte, und der ſich zufällig in der
Nähe befand, und gab dem widerſpänſtigen Thiere
mit dem dickſten Ende des Pfahls einen ſo ge-
waltigen Schlag in die Weichen, daß die Kuh auf-
ſtöhnte. Ihre Seiten begannen zu fliegen und ihre
Nüſtern zu ſchnauben.
Der Langſame ließ die Maie, welche er in der
Hand hielt, ſinken, die erſte Magd ſah vom Keſſel
auf, und Beide riefen wie aus einem Munde: Gott
behüt’ uns! Was thuſt du?
Wenn ſo ein Aas keine Raiſon annehmen will,
und will ſich nicht mit Manier vergolden laſſen, ſo
ſoll ihm das Donnerwetter die Knochen zerſchmei-
ßen! rief der Rothhaarige. Er riß der Kuh das
Haupt herum und ſchmückte ſie nun ſchöner als
alle ihre Gefährtinnen. Denn das Thier, in ſei-
nen Schmerzen ſanftmüthiger geworden, ſtand jetzt
[8] ganz ſtill und ließ mit ſich vornehmen, was der
rauhe Künſtler wollte.
Das kann Euch eine theure Hochzeit werden,
ſagte die erſte Magd. Denn die Bläſſe iſt melk,
und wenn ſie verkalbt, ſo ſeid Ihr vom Hof.
Und wenn Ihr noch ein einzigesmal Euren
Rachen aufreißt, ſo kriegt Ihr auch den Zaunpfahl
an den Hirnkaſten! rief der Zornige. — Denn der
Baas hat mir lange keinen Spruch mitgetheilt und
jach ſeyn zum Hader thut auch mitunter gut, und
an ſo einem Ehrentage muß man keinen Menſchen
cujoniren. — Er gab der geſchmückten Bläſſe einen
Schlag auf die Hüften und ſagte: Nun ſtehe ge-
rade und halte die Hörner ſteif, damit du nach
etwas ausſiehſt, wenn die Herrſchaften hier ſpeiſen.
Während auf dieſe nachdrückliche Weiſe unten
die Hochzeitsanſtalten betrieben wurden, legte der
Hofſchulze oben in der Kammer, worin er das
Schwert Karls des Großen verwahrte, ſeinen
Staat an. Das hauptſächlichſte Stück des Feier-
putzes, welches die Bauern der dortigen Gegend
tragen, iſt die Menge der Jacken, welche ſie unter
dem Rocke anziehen. Je reicher der Bauer iſt,
um ſo mehrere Jacken zieht er bei außerordentlichen
[9] Gelegenheiten an. Der Hofſchulze beſaß deren
neun, und alle waren von ihm beſtimmt, ſich am
heutigen Tage auf ſeinem Leibe zu verſammeln.
Er hatte ſie hinter einem Saatlaken, welches wie
ein Vorhang den einen Theil der Kammer von dem
andern ſchied, der Reihe nach an Pflöcken neben
einander aufgehängt, erſt die unteren von wollenem
geblümtem Damaſt, ſilbergrauem oder rothem, dann
die oberen von braunem, gelbem, grünem Tuche. Dieſe
waren mit ſchweren ſilbernen Knöpfen geziert. Hinter
dem Saatlaken beſorgte der Hofſchulze ſeinen Anzug.
Er hatte ſein weißes Haar ſauber gekämmt,
und das gelbe, friſchgewaſchene Antlitz leuchtete
darunter hervor wie ein Rübſenfeld, über welchem
im Mai Schnee gefallen iſt. Der Ausdruck natür-
licher Würde, welcher dieſen Zügen eigen war,
hatte ſich heute noch um ein Großes vermehrt; er
war Brautvater und fühlte das. Seine Bewegun-
gen waren noch langſamer und gemeſſener als da-
mals, wo er mit dem Roßkamm feilſchte. Sorg-
fältig prüfend beſchaute er jede Jacke, bevor er ſie
von ihrem Pflocke nahm, und legte ſie darauf be-
dachtſam eine nach der andern an, ohne ſich bei
dem Zuknöpfen irgend zu übereilen.
[10]
Eben war er mit den damaſtenen fertig ge-
worden und wollte zu denen von Tuch übergehen,
als draußen vor der Thüre der Kammer ein Leier-
kaſten erklang, und folgendes Lied aus einer von
Trunk und Heiſerkeit verwüſteten Kehle zu tönen
begann:
Weiter ließ der Hofſchulze den Schwanengeſang
Kosciusko’s nicht kommen, ſondern raſch hinter dem
Saatlaken hervortretend, ging er zur Thüre und
rief ärgerlich hinaus: Was ſoll das? Was ſoll
das Geplärr im ſtillen Hochzeitshaus?
Ich wollt’ mich nur anmelden, erwiederte die
heiſere Stimme, indem die Pfeife des Leierkaſtens,
welche bei dem letzten Worte des Liedes in Thä-
tigkeit geweſen war, auspfiff. Herein trat, oder
vielmehr drängte ſich eine mißgewachſene, kahlkopfige
Geſtalt, in eine kurze, grobe Jacke und zerriſſene
Hoſen gekleidet, mit Holzſchuhen an den Füßen.
Es war der einäugige Spielmann, der bei den
Bauern in der Gegend der Patriotencaspar hieß,
weil er in den Unruhen von 1787 als fünfzehn-
[11] jähriger Knabe zu den holländiſchen Patrioten ge-
laufen war. Er wußte viel von Schonhoven,
Gorkum und Nieuuwport zu erzählen; jener Feld-
zug war die große Zeit ſeines Lebens geweſen.
Uebrigens galt er für einen ſchlechten Menſchen,
dem man nicht gern begegnete, ſchützte ſich vor
dem Hungertode durch den Pfennigerwerb ſeines
Leierkaſtens, und lag oft wochenlang unter freiem
Himmel, oder in einſamen Schoppen und Ställen.
denn ein eigenes Obdach beſaß er nicht, obgleich
er in ſeiner Jugend ein artiges Erb angetreten
hatte, welches ihm aber in ſonderbarer Weiſe ver-
loren gegangen war. Neben ſeinem Singen ſchöner
neuer Lieder, gedruckt in dieſem Jahr, trieb er
auch einen kleinen Handel mit Schriften, wie: „Des
Herzogs von Luxemburg Verbündniß mit dem Sa-
tan“ oder „Die ſchöne Caroline als Huſarenoberſt“,
welche auf dem Leierkaſten zur Anreizung der Wiß-
begierigen ausgebreitet lagen, wenn er ſang und ſpielte.
Der Hofſchulze war, verdrießlich über die Un-
verſchämtheit des Patriotencaspars, zurückgetreten,
ſtemmte die Arme in die Seiten und rief: Wer ruft
Euch? Scheert Euch vom Hofe! Hier wird Euch
nichts gereicht.
[12]
Nein, verſetzte der einäugige Spielmann, indem
er das unverſehrt gebliebene Auge tückiſch unter den
dünnen Brauen zuſammenkniff, hier wird mir nichts
gereicht, das weiß ich wohl, Hofſchulze. Ihr laßt
mich durch den Hund vom Hofe herunter hetzen,
wenn ich hier anſtimmen will: Auf! Auf, Ihr
Brüder, und ſeid ſtark! oder das Mantellied, oder:
Das Canapé iſt mein Vergnügen. Ja, ſo thut
Ihr, und wenn es nach Euch ginge, wäre ich längſt
vor Hunger zuſammengeſchnurrt, wie eine Back-
pflaume. Dieſes verrichtet Ihr an mir, obgleich
Ihr wohl wißt, daß Ihr derjenige ſeid, welcher
einſtmals mir Haus und Hof abfeimte und mich
zu dieſem Leierkaſten darniedergebracht hat.
Der Hofſchulze warf einen Blick auf den eiſen-
beſchlagenen Koffer, worin ſein Richtſchwert lag,
dann trat er dem einäugigen Spielmann einen
Schritt näher, ſah ihn lange groß und gelaſſen an,
und fragte ihn darauf: Wer iſt Schuld, daß der
Oberhof nach meinem Tode in die fremde Freund-
ſchaft übergeht und nicht bei meinem Saamen
bleibt?
Ich, antwortete der Spielmann, und drehte am
Leierkaſten, daß dieſer einige Mißtöne von ſich gab.
[13] Ich habe Euch dazumal Euren Jungen und Erben
todtgeſchlagen. Ihr wißt aber wohl, was der Junge
wider mich erſonnen hatte, und wie ich um mein
linkes Auge gekommen bin. Und deßhalb hättet
Ihr nicht ſo mit mir verfahren dürfen, wie Ihr
verfahren ſeid, denn man darf den Menſchen wohl
abthun, aber ihn nicht elend machen.
Seid Ihr anders als gehörig geheiſchen und
geladen worden? fragte der Hofſchulze kalt. Habe
ich Euch nicht nach richtigem Freiſtuhlsrecht und
Königsbann vermaledeiet und Euch gewieſen echt-
los, rechtlos, friedelos, ehrlos, ſicherlos, mißthätig?
— He?
Nein, verſetzte der Spielmann und lachte höh-
niſch. Mein Fleiſch und Blut und Gebein iſt,
wie es ſich gebühret, gewieſen und zugetheilt den
Krähen und Raben und den Vögeln und andern
Thieren in der Luft, meine Seele aber dem lieben
Herrgott, wenn ſie derſelbe zu ſich nehmen will.
Amen, ſprach der Hofſchulze. Warum rührt
Ihr dieſe Dinge auf?
Es ſind alte Geſchichten, ſie mögen ſchlafen,
ſagte der Spielmann, ingrimmig eine ſeiner flie-
genden Schriften zerreißend, welche auf dem Deckel
[14] des Leierkaſtens lag und das hölliſche Verbündniß
des Herzogs von Luxemburg enthielt. Ich komme
wegen Hungers zu Euch. Mich hungert. Ich hab’
ſeit drei Tagen nichts gefreſſen. Die Leute wollen
mir nichts mehr geben, weil ſie der Lieder über-
drüſſig ſind. Hochzeitshaus iſt offen Haus. Deß-
halb habe ich das Recht und die Befugniß, auf
den Oberhof zu kommen. Ich wollte Euch gebeten
haben, daß Ihr mich zum Spaßmacher für heute
Nachmittag annehmet und mir dafür, wie Recht,
Speiſe und Trank reichen laſſet.
Der Hofſchulze beſah den unglücklichen Spaß-
macher von oben bis unten und ſagte dann lang-
ſam: Ihr habt nicht die Statur und Manier, daß
die Leute über Euch lachen können. Auch iſt
Steinhauſen bereits genommen worden und mit
zwei Spaßmachern giebt es Zank.
Steinhauſen, rief der Spielmann zornig, weiß
nicht halb die Späße, wie ich! Ich habe die beſten
und neueſten, von denen ſich Steinhauſen nichts
träumen läßt.
Dennoch bleibt es bei Steinhauſen, erwiederte
der Hofſchulze, ohne die Miene zu verziehen, denn
er hatte im Laufe des Geſprächs ſeine gewöhnliche
[15] Ruhe bald wiedergewonnen. Er fügte aber dem
abweiſenden Beſcheide hinzu, daß der Andere ſich
fern von den Gäſten in den Eichenkamp ſetzen
dürfe und dort der Stillung ſeines Hungers ge-
wärtig ſeyn könne.
Aber in dieſem ſonderbaren Volke lebt ſelbſt
bei den Geächteten und Ausgeſtoßenen ein gewiſſer
Stolz fort. Der Spielmann warf auf das letzte
Anerbieten ſeines rauhen Feindes trotzig den Nacken
empor und rief: Umſonſt habe ich noch nie Brod
gegeſſen, und wenn Ihr mir nicht vergönnen wollt,
für Euch zu arbeiten, ſo will ich fortfahren zu
hungern.
Er wandte ſich und ging der Thüre zu. Der
Hofſchulze wartete ſeine völlige Entfernung nicht
ab, um hinter das Saatlaken zurückzutreten. Der
Spielmann blieb aber in der Thüre ſtehen, und
als er ſah, daß ſein Widerſacher ihn nicht bemerken
konnte, ſetzte er leiſe ſeinen Leierkaſten ab, ſchlich
auf den Zehen unhörbar wieder in die Kammer,
blickte ſich ſpähend um, flüſterte: Hier muß es
irgendwo herum ſtecken! Wo ſteckt es?
Der Koffer erregte ſeine Aufmerkſamkeit, er
ſchlug ſacht den Deckel zurück und hätte beinahe
[16] ſeine Freude durch einen Schrei verrathen, als er
das roſtige Gewaffen darin liegen ſah. Nun iſt
es gut, nun will ich dir ſchon einen Tort anthun,
den du zeitlebens nicht verwinden ſollſt, murmelte
er. Ohne Geräuſch zu machen, klappte er den
Deckel zu, bewegte ſich leiſe nach der Thüre, zog
den Schlüſſel von derſelben, warf den Leierkaſten
an dem Tragriemen über die Schulter, trat jetzt,
als kehre er noch einmal zurück, hart auf und
rief mit lauter Stimme: Hofſchulze, noch ein Wort!
Der Hofſchulze, der gerade mit ſeinem Hoch-
zeitsputze fertig geworden war, ſchritt in dieſem
Augenblicke hinter dem Saatlaken hervor. Sein
Anſehen war höchſt ſtattlich. Ein lichtblauer offen
hängender Tuchrock mit weiten, geräumigen Aermeln
gab der großen, markigen Geſtalt Umfang und
Fülle, darunter ſaßen die [neun] Jacken, die er nur
ſo weit zugeknöpft hatte, daß alle, eine unter der
andern, ſichtbar blieben. Auf das Haupt hatte er
ſich den dreieckichten Hut mit breitem Rande, an
der Seite in die Höhe gekrempt, gedrückt, an den
Füßen trug er leinene Kamaſchen, glänzend von
Weiße, und ein großer Stock bewehrte die braune,
runzlichte Fauſt. Erſtaunt über die vermeintliche
[17] Wiederkehr des Spielmanns blieb er einige Augen-
blicke ſchweigend ſtehen, der Spielmann ſchwieg
ebenfalls, weil er ſich an dem Anblicke ſeines
Feindes, dem er einen tödtlichen Verdruß bereiten
zu können ſich bewußt war, wie an dem eines auf-
geſchmückten Opfers, im Stillen weiden mochte.
So ſtanden einander der Reiche und der Bettler
des Standes ſchweigend gegenüber; der Reiche voll
Verachtung, der Bettler mit dem Gefühle, daß
auch ihm eine Macht über den Reichen geworden ſei.
Endlich fragte der Hofſchulze: Was wollt Ihr
noch?
Hofſchulze, verſetzte der Spielmann mit er-
heuchelter Demuth, Hunger thut doch gar zu weh
und Standhaftigkeit hält nicht vor gegen knurrende
Eingeweide. Ich wollte Euch nur noch ſagen, daß
ich im Eichenkampe heute Nachmittag ſitzen und auf
die Brocken warten werde, die von Eurem Tiſche
fallen.
Ich dacht’s wohl, ſagte der Glückliche ſtolz.
Hochzeit macht Alle ſatt, iſt ein Sprichwort, es
ſoll bei Euch auch zutreffen. — Er wollte gehen.
Der Spielmann vertrat ihm den Weg. Erlaubt,
ſagte er, daß ich Euch noch einen Augenblick be-
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 2
[18] trachte. Ihr ſeid trefflich gekleidet. Der Rock
koſtet ſeine Mandel Thaler. Aber eine Sitte will
mir nicht gefallen, die mit den neun Jacken. Wenn
man herumgekommen iſt in der Welt, wenn man
dabei war, wie die alte Orange dazumal in Schon-
hoven vermoleſtirt wurde, *) und bei der Uebergabe
von Gorkum und hernach auch noch allerhand Dieſes
und Jenes in der Fremde geſehen hat, ſo lobt
man nicht Jegliches, was die Leute daheim thun.
Neun Jacken, eine unter der andern — darin könnt
Ihr Euch ja gar nicht rühren, und werdet müſſen,
beſonders bei’m Eſſen, eine Hitze ausſtehen, nicht
zu ertragen.
Für Plaiſir wird dergleichen überhaupt nicht
angezogen, antwortete der Hofſchulze feierlich.
Sondern, weil ich neun Jacken bezahlen kann, ſo
trage ich neun Jacken, und weil es ſo hergebracht
iſt ſeit hundert und mehreren Jahren, und die gute
Sitte es erfordert, und mein Vater und mein
Großvater immer neun Jacken trugen auf allen
[19] Hochzeiten und Kindelbieren. Wie viele ſollte ich
denn nach Eurem Rathe anziehen, Caspar?
Der Patriotencaspar dachte nach und ſagte
dann: Etwa ſechs.
Gut. Alſo die ſiebente, achte und neunte lege
ich ab, wenn ich Eurer Meinung folge. Nun kommt
aber Einer, dem die ſechſte Jacke nicht gefällt, und
ein Anderer, dem die fünfte mißbehagt, und wieder
Einer, dem die vierte anſtößig iſt. Dieſes geht
nun ſo fort. Es werden ſich, wenn ich erſt bis
zur dritten Jacke herunterproceſſirt bin, ſtäts Leute
finden, die mir dieſe, und Freunde, die mir die
zweite widerrathen. Kein vernünftiger Grund iſt
aber vorhanden, warum ich dieſen Leuten abſchla-
gen ſoll, was ich Euch gewährte. Jetzt trage ich
alſo noch eine Jacke und meinen Rock darüber.
Weil ich jedoch einmal in das Ausziehen gekommen
bin, und weil mir in der Sommerwärme überhaupt
alles und jegliches Zeug auf dem Leibe Beſchwer-
niß macht, ei, ſo bleibe ich vielmehr in der Uebung,
werfe erſt den Rock ab und dann die letzte Jacke,
und wofern die Hitze einigermaßen ſtark iſt, auch
noch endlich das Hemde, gehe dann alſo ſplitter-
2*
[20] faſelnackt umher, wie ein gerupfter Sperling, was
eine Schande iſt und nicht gut läßt.
In allen Sachen muß man daran halten, wie
ſie eine Ordnung und ihren Beſtand haben und
des Herkommens ſind. Wäret Ihr nicht zu den
holländiſchen Patrioten und noch ſonſt allerwärts
herumgelaufen, ſondern hübſch im Colonate ſitzen
geblieben, ſo wären Euch die dummen Dinge und
Hoffährtigkeiten aus dem Kopfe geblieben. Weil
Ihr aber die alte Orange draußen mit hattet ver-
moleſtiren helfen, ſo dachtet Ihr, Ihr dürftet uns
hier auch Moleſten machen, die Welt gehöre Euer
und außerdem noch Etwas. Ihr erhobet Eure
Augen zu meiner Tochter, was Ihr als Colon nicht
durftet, und daraus entſprang Sünde und Schande,
Vergewaltigung, Mord und Todſchlag. Ich mußte
an Euch Recht nehmen, ihr ſeid bis zum Leier-
kaſten heruntergekommen, und ich trage noch meine
neun Jacken. Wer dazu die Macht und Gewalt
hat, der ſoll ſich auch die neunte nicht abdisputiren
laſſen, denn er weiß wohl, womit er anfängt, aber
nicht, wo er aufhört, und dieſes iſt die Moral
von der Sache.
[21]
Zweites Capitel.
Ein Topf läuft über und eine Braut wird
geſchmückt.
Der Hofſchulze war nach ſeiner Rede langſam
aus der Kammer und die Treppe hinuntergegan-
gen, gefolgt von dem Spielmann, der auf die
Schlußfolgerungen des Alten nichts zu erwidern
wußte und ſich unten aus dem Hofe ſchlich. Im
Flur überſchaute der Hofſchulze die getroffenen
Anſtalten; die Feuer, die Keſſel, die Töpfe, die
grünen Maien, die bebänderten und vergoldeten
Hörner ſeines Rindviehs. Er ſchien mit Allem
zufrieden zu ſeyn, denn er nickte mehreremale wohl-
gefällig mit dem Kopfe. Er ſchritt durch den
Flur hofwärts und dann nach der Seite des Eichen-
kamps, ſah die dortigen Feuer lodern und gab
gleiche Zeichen des Beifalls, jedoch immer mit einer
gewiſſen Hoheit. Wenn der weiße Sand, womit
[22] der ganze Flur und der Platz vor dem Hauſe dick
beſtreut war, unter ſeinen Füßen ſo recht lebhaft
rauſchte und knackte, ſchien ihm dies ein beſonderes
Vergnügen zu machen.
Jetzt war er von ſeinem beaufſichtigenden
Gange in die Nähe des Heerdes zurückgelangt.
Ein Topf, welchen die Mägde zu tief in die Glu-
then geſchoben, war im Ueberkochen begriffen und
drohte, ſeinen Inhalt zu verſchütten. Schon war
ein Theil des letzteren in das Feuer gewallt, wel-
ches ſich ziſchend gegen dieſen Feind wehrte. Von
den Mägden und Knechten war eben zufällig Nie-
mand im Flur, da ſie im Baumgarten ſich mit der
Tafel beſchäftigten. Der Hofſchulze hätte nun
allerdings dem Fortſchritte des Unheils durch Ab-
rücken mit eigener Hand Einhalt thun können, aber
er war weit entfernt, ſo die Haltung des Braut-
vaters, welche ihm verbot, irgend etwas an dieſem
Tage ſelbſt anzufaſſen, zu verlieren. Vielmehr ſtand
er ruhig neben dem überkochenden Topfe, ruhig
wie jener ſpaniſche König, welcher die glühende
Kohle lieber ſeinen Fuß verſengen ließ, als daß
er ſie etiquettewidrig ſelbſt weggenommen hätte.
Er begnügte ſich damit: Gitta! zu rufen, auch
[23] nicht haſtig und leidenſchaftlich, ſondern langſam und
ruhig. Es dauerte daher einige Zeit, bevor die
Magd Gitta herbeikam, und als ſie endlich gekom-
men war, erſchien die Hülfe zu ſpät, denn der
Topf hatte nichts mehr zu verſchütten.
Der Hofſchulze ließ ſich dieſen Verluſt nicht
kümmern, die Magd mußte ihm einen Stuhl vor
das Haus ſetzen, er nahm dort, dem Eichenkampe
gegenüber, Platz, und erwartete, die Schenkel ge-
rade vor ſich hingeſtreckt, Hut und Stock in der
Hand, von der goldenen Sonne prächtig beleuchtet,
ſtill und wacker den weiteren Fortgang der Dinge.
Inzwiſchen ſchmückten zwei Brautjungfern die
Braut auf ihrer Kammer. Rings um ſie her ſtan-
den bunt mit Blumen bemalte Laden und Packen
in Leinwand, welche die Ausſtattung an Gebild,
Betten, Garn, Waſche und Flachs enthielten.
Selbſt in der Thüre und bis weit auf den Gang
hinaus war Alles beſetzt. Inmitten dieſer Reich-
thümer ſaß die Braut vor einem kleinen Spiegel,
hochroth und ernſthaft. Die erſte Brautjungfer
legte ihr die blauen Strümpfe mit rothen Zwickeln
an, die zweite warf ihr den Rock von ſchwarzem,
feinem Tuche über, und ließ dieſem Stücke die
[24] Jacke gleichen Stoffes und gleicher Farbe folgen.
Darauf beſchäftigten ſich beide mit dem Haare,
welches zurückgeſtrichen und hinten in einer Art
von Rad zuſammengeflochten wurde.
Während dieſer Zurüſtungen ſagte die Braut
kein Wort. Deſto geſprächiger waren ihre Freun-
dinnen. Sie lobten den Putz, prieſen die aufge-
ſtapelten Schätze, und hin und wieder ließ ein
verſtohlener Seufzer ahnen, daß ſie lieber Ge-
ſchmückte als Schmückende geweſen wären. Un-
erſchöpflich waren ſie in Hochzeitsgeſchichten, welche
jedoch ſämmtlich darauf hinausliefen, daß die und
die daſſelbe angezogen habe, was nun auch die
Tochter vom Oberhofe der Landesſitte gemäß zu
tragen hatte. Als dieſe Erzählungen endlich doch
verſiegten, kam das Ausbleiben der dritten Braut-
jungfer an die Reihe. Sie hatte ſich unpaß mel-
den, jedoch zugleich ſagen laſſen, ſie werde wohl
noch im Stande ſeyn, zu kommen, wenn auch ſpäter
als die Andern. Nun war es aber ſchon zehn Uhr
Vormittags, in einer halben Stunde mußte die
Glocke anfangen zur Trauung zu läuten, es war
die höchſte Zeit, daß die dritte erſchien, ohne welche
die Braut für nicht gehörig begleitet gelten konnte.
[25] Sie kommt gewiß, ſagte die zweite Brautjungfer,
an ſo einem Tage macht ſich ja kein Menſch etwas
daraus, wenn ihm auch etwas ſchlimm iſt. — Und
was wollt Ihr mit mir wetten, rief die Erſte,
daß ſie nicht kommt? Ich weiß, was ich weiß,
weiß, mit den Schmerzen iſt es ſo weit nicht her,
aber der Verdruß iſt zu groß, und ſie kann ſich
nicht zwingen; das hat ihr von je her gefehlt.
Ei Gott, ſagte die Braut, welche hier zum
erſtenmale ihre Sprache fand, ängſtlich, das wäre
ja ein erſchreckliches Unglück, und wenn ſie aus-
bliebe, ſo würde aus der ganzen Hochzeit nichts. —
Sie würde lieber den Bräutigam gemißt, als die
dritte Brautjungfer entbehrt haben.
Wenn du mir folgen willſt, Kordelchen, ſo laß
uns auf den Nothfall denken, ſprach die zweite
Brautjungfer, ein flinkes, anſtelliges Mädchen. Ich
pack’ deinen zweiten Feiertagsanzug aus, wir war-
ten noch ein Stückchen, und wenn die Sibyll’ dann
nicht da iſt, ſo kleid’ ich die Stellvertreterin für
ſie ein.
Ohne die Antwort der Braut abzuwarten,
hatte das Mädchen eine der Laden aufgethan und
aus derſelben den ſaubern neuen Staat mit allem
[26] Zubehör an Bändern und Krauſen genommen. Ihre
Gefährtin ſtieß während deſſen durch das Radge-
flecht der Haare einen ſilbernen Pfeil, und dann
brachten beide Mädchen mit feierlichen Mienen der
Braut die Krone zugetragen. Denn die Mädchen
der dortigen Gegend tragen an ihrem Ehrentage
keinen Kranz, ſondern eine Krone von goldenen
und ſilbernen Flittern. Der Kaufmann, welcher
ihren Putz liefert, leiht die Krone nur dar und
nimmt ſie nach dem Hochzeitstage zurück. So
wandert ſie von einem bräutlichen Haupte zum
andern. Es liegt etwas Schönes und Wahres
in dieſem Gebrauche und ich müßte mich ſehr irren,
wenn er nicht aus dem göttlichen Inſtincte des
Volkes entſprungen wäre, der freilich darin, wie
in Allem, worin er ſchöpferiſch hervortritt, nur
unbewußt gewaltet hat. Das Höchſte, Einzige,
was nur einmal das Leben zieren kann, ſoll nie
als Eigenthum in Beſitz genommen werden, ſoll
ſtäts nur leihweiſe die Stirn des Glücklichen be-
rühren. So darf der Lorbeerkranz um die Scheitel
des Helden und Dichters, ſo darf das Blatt, wel-
ches ſich, wann Vater und Mutter weinend ſegnen,
durch die Locke der Jungfrau ſchlingt, nur Gunſt
[27] und Zeichen eines Augenblicks ſeyn. O es wäre
zu wünſchen, daß mancher unſerer ſtädtiſchen Da-
men verſagt wäre, mit anſpruchsvollem Stolze die
welke Myrthe zu betrachten, die ſie im geſchmückten
Käſtchen unter dem großen Spiegel verwahren,
daß ſie ſich vielmehr hätten gewöhnen müſſen, gleich
den weſtphäliſchen Bäuerinnen die Krone morgen
auf einem andern Haupte zu erblicken, welche ſie
heute trugen, und welche geſtern ebenfalls eine An-
dere getragen hat!
[28]
Drittes Capitel.
Worin der Autor fortfährt, die Vorbe-
reitungen zur Hochzeit zu beſchreiben.
Die Braut ſenkte ihr Haupt ein wenig, als
die Freundinnen ihr die Krone aufſetzten, und ihr
Antlitz wurde, als ſie die leichte Laſt auf ihrem
Haare fühlte, wo möglich noch röther als früher.
Es iſt ſchön im Menſchenleben, daß Jeder einen
Augenblick erlebt, worin alle königliche Macht und
Majeſtät vor ihm zu nichte wird. Dieſen Augen-
blick erlebt nicht nur der Feldherr, der durch einen
Sieg die Hauptſtadt rettet, oder der Kanzler, der
mit einem Federzuge die Grenzen des Reichs um
das Doppelte zu mehren weiß; es erlebt ihn Jeder
einmal, er müſſe ſich auch ſonſt Tag für Tag durch
ein gedrücktes Daſeyn hindurch beugen und winden.
Der Tagelöhner hat ihn, der ſein neugeborenes
erſtes Kind auf den Arm nimmt und ſelbſt der
[29] todtkranke Bettler empfindet ihn, wenn ihm ein
pflichtgetreuer und gewiſſenhafter Prieſter die heilige
Communion reicht.
Auch unſere Braut, von der ſonſt nicht viel zu
ſagen iſt, fühlte dieſen Augenblick, als ſie die Krone
auf ihrem Haupte empfing. In dem dunkelſchwar-
zen Haare, welches ſie ausnahmsweiſe mitten unter
dem blonden Volke beſaß, funkelten die goldenen
und ſilbernen Flitter gar luſtig. Sie richtete ſich,
angefaßt von ihren Freundinnen auf, und die beiden
breiten golddurchwirkten Streifen, welche zur Krone
gehören, fielen ihr lang auf den Rücken hinunter.
Die Knechte ſtanden ſchon vor der Thüre, um die
Ausſtattung in den Flur hinabzuſchaffen, die Braut-
jungfern nahmen ihre Freundin bei der Hand,
eine erhob das Spinnrad, welches bei den nach-
folgenden Ceremonien ebenfalls ſeine Beſtimmung
hatte, und ſo gingen die Drei langſam die Treppe
hinunter zum Brautvater, während die Knechte die
Laden und Packen ergriffen und ſie in den Flur
zu tragen begannen.
Inzwiſchen hatte der Hofſchulze unten vor der
Thüre Gelegenheit gehabt, ſeine Faſſung zu be-
weiſen. Denn kaum war er draußen einige Minuten
[30] lang geweſen, als ein junger Burſche, der Hochzeit-
bitter, langſam durch den Eichenkamp gegen das
Haus zu geſchritten kam, deſſen verlegene Miene
mit ſeinem Putze und mit dem luſtigen Buſche von
gewiß fünfzig farbigen Bändern am Hute wenig
übereinſtimmte.
Nun, was iſt das? fragte ihn der Hofſchulze.
Was ſoll das traurige Geſicht? Paſſirte ein Unglück?
Ach, verſetzte der junge Hochzeitbitter, werdet
mir nicht böſe, Hofſchulze. Hölſcher will nicht
kommen.
Der Alte ließ vor Schreck ſeinen Hut fallen
und ſeine Züge verwandelten ſich. — Wie? rief er
nach einigem Schweigen. Hölſcher will nicht kom-
men? Mein nächſter Nachbar? Ei, das wäre ja
dem ganzen Plaiſir und Feſte ein großer Schimpf.
Und warum will er nicht kommen? Du biſt gewiß
in deiner Rede ſtecken geblieben.
Nein, das nicht, verſetzte der Hochzeitbitter.
Ihr wißt, an Maulwerk fehlt mir’s nimmer, und
ich bringe auch Alles immer heraus, gehörig ge-
ſchrieen, wie es ſeyn muß. Ich kann die Rede
auf’s Schnürchen, wie ich ſie aller Orten herſagte,
und ſo auch bei Hölſcher:
[31]
Der junge Burſche würde noch lange in dieſen
Verſen, die er laut ſchreiend mit eintönigem Fall
der Stimme vortrug, fortgefahren haben, wenn ihn
nicht der Hofſchulze ungeduldig unterbrochen und
zu ihm geſagt hätte: Ich brauche deinen Spruch
nicht. Warum bleibt Hölſcher aus?
Weil ich ihn ſtatt geſtern, erſt heute früh ein-
geladen habe, erwiederte kleinlaut der Hochzeitbitter.
Sie hatten mir geſtern überall ſo viel eingeſchenkt,
daß ich gegen Abend duſelig geworden war und
[32] einſchlief und Hölſcher ganz verſchlief, wo ich denn
nun heute früh nachholen wollte, aber …
Hölſcher ließ das nicht gelten und ſagte, es
ſchicke ſich nicht, erſt am Hochzeitmorgen gebeten
zu werden, es gehöre ſich ſpäteſtens den Tag zuvor,
nicht wahr? fiel der Hofſchulze ein.
Ja wohl, antwortete der Burſche, und er ſagte
auch, es heiße in dem Spruch:
Kommt morgen auf den Hof, nicht heute —
wenn er aber morgen komme, ſo habe er das leere
Nachſehen.
Der Hofſchulze bohrte ſeinen Stock tief in die
Erde. Das Blut war ihm dermaßen in das Antlitz
getreten, daß ſeine Stirnadern geſchwollen ſtarrten.
Er ſah den Hochzeitbitter mit einem furchtbaren
Blicke an, vor dem dieſer den Hut abnahm und
drei Schritte zurücktrat. Dann ſagte er: Wenn
ich mich nicht menagiren müßte, abſonderlich heute,
ſo kriegteſt du dieſen Stock hinter die Ohren, daß
du das Aufſtehen vergeſſen ſollteſt. Hölſcher kommt
nicht, das weiß ich, ich kenne ihn darin, er iſt
Einer, der ſich nicht vernegligiren läßt. Und wenn
ich ſelbſt zu ihm ginge, was ſich aber auch durch-
aus nicht ſchickt, er würde es abſchlagen. Jedermann
[33] wird nun nach Hölſcher fragen, das wird ein
Cujoniren geben, ei! ei! ei! — Was für einen
Schaden haſt du mir an der Hochzeit geſtiftet!
Könnt Ihr denn das verruchte Zechen nicht laſſen?
Denkt Ihr immer, ohne das gediehet Ihr nicht?
Sieh mich an, ich werde zu Martini Neun und
Sechszig und faſſe Alles noch ſtramm mit an, und
doch ſoll der noch auftreten, der mir nachſagen
kann, er habe mich anders wie gewöhnlich geſehen.
Ihr ſeid auch was Apartes, mit Euch kann
ſich Niemand in Vergleichung ſtellen, ſagte der
junge Burſche ſchüchtern.
Ei was! fuhr der Hofſchulze auf. So wie
ich bin, hat der liebe Herrgott alle Menſchen haben
wollen, und es iſt nur Eure Schlemmerei und
Liederlichkeit, die Euch nicht ſo werden läßt.
Während dieſes rauhen Auftrittes hatten die
Knechte mit den Packen und Laden auf der Treppe
und im Flur ein großes Geräuſch gemacht, und es
war ſonach die frühere Stille des Oberhofes ſehr
unterbrochen worden. Jetzt trat die Braut, geführt
von den beiden Brautjungfern, in die Thüre, das
Haupt feſt und ſteif unter der zitternden Goldkrone
haltend, als ob ſie fürchte, den Ehrenſchmuck zu
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 3
[34] verlieren. Sie reichte dem Vater die Hand und
bot ihm, ohne aufzuſehen, den guten Morgen, wor-
auf der Alte ohne alle Rührung Schön Dank ver-
ſetzte und ſeine frühere Poſitur wieder annahm.
Die Braut ſetzte ſich an die andere Seite der
Thüre, nahm ihr Spinnrad vor ſich und begann
eifrig zu ſpinnen, in welcher Arbeit ſie obſervanz-
mäßig bis zu dem Augenblicke, wo der Bräutigam
ſie zum Brautwagen führte, fortfahren mußte.
Der nachläſſige Hochzeitbitter hatte ſich unter-
deſſen verſtohlen entfernt. Die zweite Brautjung-
fer unterrichtete den Hofſchulzen von dem Ausbleiben
der Sibylle, woran, wie ſie hinzufügte, keine Un-
päßlichkeit, ſondern das boshafte Weſen Schuld
ſei, weil ſie nämlich ſelbſt ein Auge auf den Wil-
helm, den Bräutigam, gehabt habe. Die Glocke
begann eben zum erſtenmale zu läuten und es war
nun durchaus keine Zeit zu verlieren. Der Hof-
ſchulze, der ſeit einer Viertelſtunde aus einer Ver-
drießlichkeit in die andere geſtürzt wurde, murmelte
tiefſinnig vor ſich hin: Wenn nur Alles klug geht
bei dieſer Hochzeit! — Alle die Scheerereien —
hm! hm! ei! ei! — Indeſſen muß der Menſch ſeine
Contenance behalten. — Er gab, wiewohl ſehr
[35] ungern die Erlaubniß, anſtatt der boshaften Eifer-
ſüchtigen Lisbeth als dritte Brautjungfer einzuklei-
den, mit welchem Beſcheide ſich die Zweite entfernte,
um den Putz zu Lisbeth zu tragen. Auch die Erſte
ging, im Baumgarten den Strauß für den Bräu-
tigam zu pflücken.
In der Ferne ließen ſich ſchon einzelne Töne
der Muſik hören, welche das Herannahen des Braut-
wagens verkündigten. Aber auch dieſes Zeichen,
daß der entſcheidende Augenblick bevorſtehe, der ein
Kind vom Hauſe der Eltern löſet und den Vater
bei dem Kinde in den Hintergrund der Anhäng-
lichkeit ſchiebt, brachte keine Regungen in den Per-
ſonen hervor, welche wie Muſterbilder alter Bräuche
an den beiden Seiten der Hofthüre ſaßen. Die
Tochter ſpann, hochroth aber gleichgültig ausſehend,
unverdroſſen fort, der Vater ſah gerade vor ſich
hin, und beide, Braut und Brautvater, wechſelten
mit einander kein Wort.
Die Brautjungfer ſuchte unterdeſſen im Baum-
garten den Strauß für den Bräutigam zuſammen.
Sie wählte ſpät-blühende Roſen, Feuerlilien, oran-
gegelbe Sternblumen, Blumen, welche ſie dort
Jelängerjelieber, an andern Orten Jeſublümlein
3*
[36] nennen, und Salbei. Groß, daß man drei Hoch-
zeiter höherer Stände damit hätte ausſtatten kön-
nen, gerieth dieſer Strauß, denn bei den Bauern
muß Alles in das Gewicht fallen. Auch nicht
ganz lieblich duftete er, denn die Salbei verbreitete
einen ſtarken, die Sternblume ſogar einen übeln
Geruch; indeſſen durfte Beides, insbeſondere die
Salbei, nicht fehlen, ſollte der Strauß herkömmliche
Vollſtändigkeit beſitzen. Als ſie ihn fertig hatte,
hielt ihn das Mädchen mit ſtolzer Freude vor ſich
hin, und verknüpfte ihn dann mit einer breiten
dunkelrothen Schleife. Darauf ging ſie ihren Poſten
bei der Braut einzunehmen.
[37]
Viertes Capitel.
Der Jäger und ſein Wild.
Während das Ceremoniell ſo durch den ganzen
Oberhof waltete, waren auf dem Zimmer, welches
der wilde Jäger früher bewohnt hatte, zwei junge
Leute ohne alles Ceremoniell beiſammen. Vier
warme Wangen hielten keine beſtimmte Farbe,
ſondern ſpielten bald in Purpur, bald in Roſen-
röthe, bald in einem fliegenden Bleich; vier blaue
Augen ſuchten einander, und wenn ſie ſich gefunden,
zogen ſie, wie erſchrocken über ihr Wagniß, den
Vorhang der Wimpern vor ſich nieder; zwei Lip-
penpaare hätten gern gemeinſame Beſchäftigung
vorgenommen; da dieſe ihnen aber noch verſagt
war, ſo zuckten ſie für ſich in wunderſamer, unru-
higer Thätigkeit, die des eigentlichen Ziels entbehrte.
Das junge Mädchen ſaß am Fenſtertiſchchen
und ſäumte ein ſchönes Tüchlein, welches der Jüng-
[38] ling für ſie in der Stadt gekauft und ihr zum
Feſtputz verehrt hatte. Sie ſtach ſich heute noch
öfter in die Finger, als an dem Abende, da ſie
der Braut am Linnen nähen half, denn wenn die
Augen die Nadel nicht überwachen, ſo geht dieſe
ihre eigenen boshaften Wege.
Der Jüngling ſtand vor ihr und hatte eine
Arbeit für ſie unter Händen. Er ſchnitt ihr näm-
lich eine Feder. Denn endlich, hatte das Mädchen
geſagt, müſſe ſie doch Nachricht geben, wo ſie ge-
blieben ſei und um Erlaubniß bitten, noch einige
Tage im Oberhofe verweilen zu dürfen. Er ſtand
an der andern Seite des Tiſchchens, und zwiſchen
ihm und dem Mädchen duftete eine weiße Lilie
und eine Roſe, friſch abgeſchnitten, im Glaſe.
Mit der Arbeit übereilte er ſich nicht, er fragte,
bevor er das Meſſer anlegte, das Mädchen viel-
fältig, ob ſie lieber mit weicher oder mit harter
Spitze ſchreibe, fein oder ſtumpf, ob er die Fahne
ſtutzen oder lang laſſen ſolle? und richtete noch
mehrere dergleichen Fragen an ſie, ſo gründlich,
als ſolle ein Schreibmeiſter mit der Feder ein
kalligraphiſches Kunſtwerk liefern. Auf dieſe um-
ſtändlichen Fragen gab das Mädchen mit halber
[39] Stimme viele und unbeſtimmte Antworten, bald
ſollte die Feder ſo und bald ſollte ſie ſo geſchnit-
ten werden, und dann ſah ſie ihn zuweilen an und
ſeufzte jedesmal, wenn ſie das that. Der Jüngling
ſeufzte noch öfter, ich weiß nicht ob über die un-
beſtimmten Antworten, oder über ſonſt etwas.
Einmal gab er ihr die Feder in die Hand, damit
ſie an der zeigen ſollte, wie lang ſie die Spalte
wünſche. Sie that es, und als ſie ihm die Feder
zurückreichte, empfing er noch etwas mehr, nämlich
ihre Hand. Dieſe wurde von der ſeinigen ſo
ergriffen, daß die Feder darüber zu Boden fiel
und eine Zeitlang ihnen aus dem Gedächtniſſe
kam, weil alles Bewußtſeyn in die beiden Hände
gefahren war, die einander ſanft ſtreichelten oder
drückten — darüber lauten meine Quellen verſchieden.
Ich will Euch ein großes Geheimniß verrathen.
Der Jüngling und das Mädchen waren der Jäger
und die ſchöne blonde Lisbeth. Und wenn Ihr
einmal recht freundlich gegen mich ſeyn, mich nicht
immer ſo bezweifeln und bemäkeln wollt, wodurch
Ihr manches Gute in mir, und Euch manche Freude
zerſtört habt, ſo thue ich Euch jetzt den Gefallen,
und erzähle Euch, wie es den beiden jungen Leuten
[40] im Oberhofe ergangen war, nachdem der Jäger
die Lisbeth ſtatt des Rehes geſchoſſen hatte.
Die Verwundete war in jener Nacht auf ihr
Zimmer getragen worden und der Hofſchulze, der
ganz verſtört, was ihm ſelten begegnete, aus ſeiner
Kammer hervorkam, hatte ſogleich nach dem nächſten
Chirurgus geſchickt. Dieſer Mann wohnte aber
anderthalb Stunden vom Oberhofe, er ſchlief feſt
und ging ungern bei Nacht aus. Der Morgen
war daher ſchon angebrochen, als er endlich mit
ſeinen nothdürftigen Inſtrumenten anlangte. Er
nahm das Tuch von den Schultern, betrachtete die
Wunde und machte ein äußerſt ſchwieriges Geſicht.
Indeſſen müſſen ſelbſt die Bedenklichkeiten eines
Dorfchirurgen vor der offenbaren Geringfügigkeit
eines Falls weichen. Der Schuß des jungen
Schwaben hatte Lisbeth glücklicherweiſe bloß ge-
ſtreift, nur zwei Schrotkörner waren in das reine,
jungfräuliche Fleiſch gedrungen, aber auch nicht
tief. Der Chirurgus zog ſie heraus, legte einen
Verband auf, empfahl Ruhe und kaltes Waſſer und
ging mit dem ſtolzen Gefühle nach Haus, daß,
wenn er nicht ſo ſchleunig herbeigerufen worden
wäre und nicht ſo unverdroſſen bei Nacht ſeine
[41] Pflicht gethan hätte, unfehlbar der kalte Brand zu
der Wunde hätte treten müſſen.
Lisbeth war während des Harrens auf die
Hülfe gefaßt geweſen, und hatte kaum geklagt,
obgleich ihr todtenblaſſes Geſicht verrieth, daß ſie
Schmerzen litt. Auch die Operation, welche durch
die ſchwere Hand des Chirurgen peinigender wurde,
als nöthig, hatte ſie muthig ausgehalten. Sie
ließ ſich die Schrotkörner geben und ſchenkte ſie
dem Jäger mit einem Scherze. Es ſeien Treff-
körner, ſagte ſie zu ihm, er ſolle ſie aufheben, er
werde damit glücklich ſeyn.
Der Jäger nahm die Treffkörner, wickelte ſie
in Papier und ließ das Haupt ſeines ſchönen Wil-
des, weil es ſchlummern wollte, aus den ſanft um-
fangenden Armen. In denen hatte Lisbeth ſeit
dem Eintritte in die Stube des Oberhofes mit
ihren Schmerzen geruht, wie droben am Freiſtuhl.
Unverwandt hatte er mit kummervollem Auge in
ihr Antlitz geſchaut und war zuweilen einem freund-
lichen Blicke begegnet, welchen ſie, wie um ihn zu
beruhigen, zu ihm emporſchickte.
Er ging in das Freie. Unmöglich konnte er
jetzt den Oberhof verlaſſen, er mußte, ſo ſagte er,
[42] doch die Heilung der armen Verletzten abwarten,
das erforderte die Menſchlichkeit, fügte er hinzu.
Im Baumgarten fand er den Hofſchulzen, der, da
er erfahren, daß keine Gefahr vorhanden ſei, ſeinen
Geſchäften nachging, als habe ſich nichts ereignet.
Er bat den Alten, ihm noch länger Quartier zu
geben. Der Hofſchulze ſann nach und wußte kein
Gelaß für den Jäger. Und wenn es auch nur
ein Verſchlag auf dem Speicher wäre! rief der
Jäger, der auf die Entſchließung ſeines alten
Wirthes mit einer Aengſtlichkeit harrte, als hange
davon ſein Schickſal ab.
Nach langem Beſinnen fiel dieſem endlich ein
ſolcher Verſchlag auf dem Speicher ein, worin er
Frucht bewahrte, wenn die Ernte für die gewöhn-
lichen Räume zu ergiebig ausgefallen war. Jetzt
war er leer und dieſen wies nun der Alte ſeinem
jungen Gaſte an, ſetzte aber hinzu, daß es ihm da
droben wohl nicht gefallen werde. Der Jäger
ging hinauf, und obgleich der kahle und verdrieß-
liche Raum nur von einer Dachluke ſein geringes
Licht empfing, und zum Sitzen ſich da nichts vor-
fand, als ein Brett und ein Kaſten, ſo gefiel es
dem Jäger doch dort oben wohl. Denn, ſagte er,
[43] Alles iſt mir einerlei, wenn ich hier nur bleiben
darf, bis ich darüber ſicher bin, daß ich mit mei-
nem verwünſchten Schießen keinen Schaden ange-
richtet habe. Es iſt ſchönes Wetter, und ich werde
nicht viel oben zu ſeyn brauchen.
Er war auch wirklich nicht viel oben in ſeinem
Verſchlage, ſondern mehr unten bei Lisbeth. Er
bat ſie ſo oft wegen des Schuſſes um Verzeihung,
daß ſie ungeduldig wurde und ihm mit einem
Stirnfältchen des Verdruſſes, welches ihr allerliebſt
ſtand, ſagte, er ſolle das nun ſeyn laſſen. Nach
fünf Tagen war ſie vollkommen geheilt, der Ver-
band konnte abgelegt werden und nur leichte röth-
liche Pünctchen an der weißen Schulter deuteten
noch die Stellen der Verwundung an.
Sie blieb im Oberhofe, denn ſie war vom
Hofſchulzen, wie wir wiſſen, ſchon früher zur Hoch-
zeit gebeten worden. Dieſe verſpätete ſich um
Einiges, weil die Ausſtattung zum beſtimmten Tage
nicht fertig werden wollte. Der junge Jäger blieb
auch, obgleich ihn der Hofſchulze nicht einlud. Er
lud ſich aber ſelbſt zur Hochzeit, indem er eines
Tages dem Alten ſagte, die Landesgebräuche ſeien
ihm ſo merkwürdig, daß er ſie auch auf einer
[44] Hochzeit kennen zu lernen wünſche. Er ſagte dieß,
nachdem er ſchon vielfältig unten bei Lisbeth geweſen
war. Und als er es vorbrachte, flammte ſein
Geſicht und er konnte das Verlangen nach Erwei-
terung der Kenntniſſe nicht ſo recht ohne zu ſtocken
kund thun.
Bald hatte der Jäger zwei Tageszeiten, eine
unglückliche und eine glückliche. Die unglückliche
war, wenn Lisbeth, und ſie that es alle Tage, am
Brautlinnen half. Der Jäger wußte dann gar
nicht, was er mit ſeiner Zeit beginnen ſollte. Nun
ſahen ihn die Bäume des Gartens und die Eichen
des Kamps erſt recht wie ſein Waldmährchen an.
Zuweilen blickte er gen Himmel, aber noch öfter
zur grünen, ſchwellenden Erde nieder, die er hin
und wieder hätte küſſen mögen, ſo lieb war ihm
der Boden geworden, auf dem er gar Manches
erlebt hatte. Wenn ſeine Gedanken Worte wur-
den, ſo lauteten ſie: Das ſchöne Mädchen an der
ſchönen Blume — und dann ihr liebes Blut droben
am Freiſtuhl — und nun — und nun — —
Aber das Alles füllte ihm die Seele nicht aus.
Er bedurfte einer Geſellſchaft, freilich war ihm
nicht jede recht, denn dem Hofſchulzen wich er eher
[45] aus, wenn er ihm begegnete. Aber nach der Lin-
nenkammer war er oft unterweges, worin er die
Mädchen plaudern hörte, und worin Lisbeth ſtill
half. Hatte er aber die Klinke in der Hand um
aufzudrücken, dann überzog ſein Antlitz dunkle Gluth,
er wandte ſich ſtolz und ging trotzig, wie ein Löwe,
die Treppe hinunter, zum Hofe hinaus, weit, weit
in das Feld, ohne ſich umzuſehen.
Die glückſelige Zeit begann, wenn Lisbeth von
ihrer Arbeit ruhte und friſche Luft ſchöpfte. Dann
war es gewiß, daß Beide zuſammentrafen, der Jä-
ger und ſie. Und wäre er noch ſo weit hinten im
Gebüſch geweſen, es kam ihm dann vor, als ſagte
ihm Jemand: Jetzt iſt Lisbeth im Freien. Dann
flog er hin, wo er ſie vermuthete, und ſiehe, ſeine
Ahnung hatte ihn nicht getäuſcht, denn ſchon von
weitem erblickte er die ſchlanke Geſtalt und das
liebliche Antlitz. Sie pflegte ſich dann wohl ſeit-
wärts nach einer Blume zu bücken, als achte ſie
ſeiner nicht. Vorher hatte ſie freilich nach der
Gegend geſehen, woher er kam.
Nun gingen ſie zuſammen durch Feld und Aue,
denn er bat ſie darum ſo herzlich, daß es ihr wie
eine Sünde vorkam, ihm die kleine Bitte abzuſchlagen.
[46] Und je weiter ſie ſich vom Hofe in die wallenden
Felder, in die grünen Wieſen verloren, deſto freier
und fröhlicher wurde ihnen zu Muthe. Und wenn
die rothe ſinkende Sonne Alles rings umher und
ihre jugendlichen Geſtalten mit verklärte, dann
meinten ſie, es könne ihnen keine Angſt und Pein
mehr im Leben kommen.
Der Jäger that der Lisbeth auf dieſen Gängen
Alles zu gefallen, was er ihr nur an den Augen
abſehen konnte. Wenn ſie zufällig nach einem Buſche
wilder Feldblumen ſah, die entfernt vom Wege
auf einer hohen Hecke blühten, ſo hatte er ſich auf
die Hecke geſchwungen, ehe noch der Wunſch nach
den Blumen in ihre Seele gekommen war. Und wo
der Weg ſich etwas abſchüſſig ſenkte, oder ein Stein
im Wege lag, oder wo es ein geringes Wäſſer-
lein zu überſchreiten gab, da ſtreckte ſich ſein Arm
ihr ſtützend und führend entgegen und ſie lachte
über die unnöthige Dienſtfertigkeit, und — nahm
den Arm dennoch, und ließ ihn noch eine Zeitlang
in dem ſeinigen, auch wo der Weg wieder eben
geworden war.
Auf dieſen ſtillen und anmuthigen Gängen hatten
die jungen Seelen einander viel mitzutheilen. Er
[47] erzählte ihr von den ſchwäbiſchen Bergen, von dem
grünen Neckar, von der Alb, vom Murgthale und
von dem Berge Hohenſtaufen, auf dem das große
Kaiſergeſchlecht entſproſſen ſei, deſſen Thaten er
ihr auch erzählte. Dann ſprach er von der gro-
ßen Stadt, worin er ſtudirt habe, und von den
vielen klugen Leuten, die ihm dort bekannt gewor-
den ſeien. Und endlich erzählte er ihr von ſeiner
Mutter, wie er dieſe ſo zärtlich lieb gehabt habe,
und wie es daher wohl kommen möge, daß ihm
nachher jede Frau theuer und werth erſchienen ſei,
weil er bei jeder an ſeine ſelige Mutter gedacht
habe.
Die Lisbeth mußte dagegen von ihrem einfachen
Leben erzählen. Darin kamen keine großen Städte
und keine klugen Leute vor und — auch keine
Mutter! — Und dennoch meinte er, nie etwas Schö-
neres gehört zu haben. Denn jede niedere Pflicht,
die ſie geleiſtet, hatte ſie durch Liebe geadelt, und
von dem Fräulein und dem alten Herrn Baron
wußte ſie tauſend rührende Züge anzugeben, auf
allen Plätzen im Schloßgarten und hinter demſel-
ben waren ihr Geſchichten begegnet, und aus den
Büchern, die ſie ſich verſtohlen vom Söller geholt,
[48] hatte ſie erſtaunliche Dinge über fremde Völker
und Länder herausgeleſen, und ſonderbare Vorgänge
zu Waſſer und zu Lande, und Alles hatte ſie be-
halten.
Wohl hatte der Diaconus Recht gehabt, als er
die Lisbeth mit der Blume verglich, die in Duſt
und Moder erblüht war. Die Natur hatte an die-
ſem blonden Mädchen ihre Allmacht bewähren wol-
len. Sie hatte ſich in einem Maienrauſche vorge-
ſetzt, durch die That zu ſprechen: Sehet da mein
Werk! Eure Erziehung iſt Stückerei und Flickerei.
— In der Seele dieſes Mädchens war Alles neu,
ganz, friſch, jungfräulich. Dieſes Mädchen war
verſtändig, wie ein Rechenmeiſter, und hatte mit
den Bauern um den letzten Zinsgroſchen ſich ge-
ſtritten, den ſie ihrem Pflegevater verſchaffen wollte,
und dieſes Mädchen war doch auch ganz lyriſch,
ganz hingeriſſen, ganz quellendes und wiedergebä-
rendes Empfangen. Ueber ihr Antlitz zogen die
Geiſter der Dinge, die ſie ſah und hörte, ein ſicht-
barer Reigen. Wenn der Jäger ihr von den klu-
gen Geſprächen der Weiſen erzählte, ſo lag ein
feines Verſtehen um die Lippen, wenn er ihr ſagte,
daß Karl von Anjou mit finſterem unbeweglichem
[49] Geſichte zugeſehen, als er den jungen unſchuldigen
Konradin hinrichten laſſen, ſo faltete ſich die reine
Stirn und Thränen floſſen unter dieſen lieben
zornigen Falten; aber eine ſüße Trunkenheit, ein
ſeliger Sonnenſchein durchleuchtete das Antlitz, wenn
er ihr das grüne, wilde Murgthal ſchilderte und
dazu mit ſeiner tiefen, wohlklingenden Stimme das
Lied ſang:
Alles, was er in dieſe unberührte Bruſt ſäte,
das keimte, ſproßte, wurzelte darin, blühte und
trug Frucht. Der Jäger ward nicht müde, ihr
aus ſeinem Vorrathe zu geben, denn er empfing
wieder das hundertſte Korn; ſeine Welt kam ihm
verklärt, gelichtet, vergöttlicht zurück aus dem Lächeln
Lisbeths und von ihren friſchen Lippen. So wogte
es zwiſchen ihnen hin und wieder, ein Seliges,
Unausgeſprochenes, Unausſprechliches und war der
Wonne kein Ende. Jegliches gefiel ihm an ihr.
Wenn er ihr an einer ſchlimmen Stelle des Weges
die Hand reichte und wohl fühlte, daß der leiſe
Druck leiſer erwiedert wurde, ſo durchſchauerte ihn
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 4
[50] die Freude, und wenn er ihr dann gleich wieder
die Hand drückte, und die ihrige nun regungslos
in der ſeinigen blieb, gleich als wollte ſie ſagen:
Verſchwenden wir das Beſte nicht! ſo gefiel ihm
das auch. Eben ſo war es mit den Blicken. Ihr
Auge ruhte einmal oder zweimal des Tages hin-
gegeben an ihm und dann nicht wieder, er mochte
es mit dem ſeinigen auffordern, wie dringend er
wollte. Daß ſie in Allem Maaß hielt, gefiel ihm
ſo ſehr. Ja, es gefiel ihm ſogar, daß ihre Ober-
lippe ein klein wenig zu kurz war, und die weiße-
ſten Zähne zum Vorſchein kamen, wenn ſie lachte
oder lebhaft ſprach. Denn dieſer Mangel gab in
ſeinen Augen ihrem Geſichte etwas reizend Kind-
liches, lieblich Unfertiges, was wie Alles in ihr
auf die letzte, ſüßeſte Vollendung durch den Hauch
der Zärtlichkeit harrte.
So gingen ihnen die Tage hin, einer nach dem
andern im Oberhofe. Der Hofſchulze ſah freilich
mit andern Augen drein, mußte zwar geſchehen
laſſen, was er nicht hindern konnte, aber er ſchüt-
telte häufig den Kopf, wenn er ſeine jungen Gäſte
ſo viel mit einander gehen und verkehren ſab.
Dann pflegte er für ſich zu ſagen: Es it Unrecht
[51] von ſo einem Junker. — Seine rauhen Gedanken
flogen wie ein widriger Sturm um dieſe reine
Knospe, die zur Blüthe aufbrechen wollte. Er
nahm ſich vor Lisbeth bei erſter günſtiger Gele-
genheit zu warnen.
Wovor? — Zwiſchen ihr und ihrem Freunde
war Alles Unſchuld, Demuth, der keuſcheſte Traum
eines guten Geiſtes. Noch war das Wort Liebe
nicht über ihre Lippen gekommen und geküßt hat-
ten ſie einander auch noch nicht. Wenn er zu
Nacht in dem elenden Verſchlage auf ſein Stroh-
lager ſank, ſo hatte er vorher die Luke aufgeſtoßen
und die Sterne ſchienen ihm wie Lisbeths Augen
tief in das Herz hinein, bis er entſchlummerte.
Wenn ſie ihr Bettchen unten im Stüblein ſuchte,
ſo kniete ſie am Stuhle vor dem Bettchen nieder,
und faltete die Hände und meinte, ein ſchönes
Gebet zu ſprechen, obgleich ihre Lippen kein Wort
ſagten. Er rief oben leiſe für ſich hin, wenn ſeine
Wimpern ſich ſchloſſen: Der ganzen Welt möchte
ich vertrauen, wie ſie mir ſo wohl gefällt. — Sie
flüſterte, indem ſie ſanft ihre Wange an das Kiſſen
drückte: Er iſt der beſte Menſch, den ich noch
geſehen habe — und dann ſchliefen ſie Beide ein und
4*
[52] die harmloſen Gedanken beſuchten einander in den
webenden Schatten der Nacht.
Das waren die Tage, von welchen geſchrieben
ſteht: Sie blühen einmal und nicht wieder!
[53]
Fuͤnftes Capitel.
Die Störung. Was ſich in einer Dorf-
kirche zutrug.
Endlich hatte der Jäger die Feder geſchnitten.
Er ſchob Lisbeth ein Blatt Papier hin und bat
ſie, zu verſuchen, ob ſie ſchreibe. Sie that es,
konnte aber damit nicht zurecht kommen, ſie habe
Zähne, ſagte ſie. Er ſah, was ſie geſchrieben, es
war ihr eigener Name in den klarſten, ebenſten
Zügen. Die feinen Buchſtaben entzückten ihn. Ich
glaube, an der Feder liegt es nicht, ſtammelte er,
ich wollte wohl, ohne ſie zu kappen, ein ganzes
Gedicht damit niederſchreiben. — Thun Sie es,
verſetzte Lisbeth und ſchlug die Augen nieder,
Sie ſagten mir ja überdieß, daß Sie mir das Tuch
mit einem Scherze haben ſchenken wollen.
Oh — der Scherz wird wohl ausbleiben —
rief der Jäger, nahm Feder und Papier, ſetzte zu
[54] dem Worte: Lisbeth das Wörtlein: An, und ſchrieb
einige Reimzeilen nieder.
Lacht nicht über ſie! — Der Jäger konnte ſei-
nen guten, runden ſchwäbiſchen Vers machen, und
hätte beſſere zu Stande gebracht, wäre er freieren
Herzens geweſen.
Er hatte dieſe Verſe mit fliegender Feder ge-
ſchrieben, denn die Glocke läutete ſchon, und Lis-
beth, die im Hochzeitszuge nicht fehlen durfte,
ſchien unruhig zu werden. Jetzt reichte er das
Blatt mit abgewandtem Geſichte ihr bin und trat
[55] von ihr hinweg an das andere Fenſter. Nach eini-
gen Secunden hörte er hinter ſich tief athmen und
dann leiſe ſchluchzen. Raſch wandte er ſich und
hatte den rührendſten Anblick. Lisbeth ſtand, etwas
gebeugt, als drücke ſie die Verehrung, welche ſie
empfangen, und hielt das Blatt in der reizendſten
Unbehülflichkeit mit beiden Händen vor ſich hin,
wie ein Kind, das die glänzende Weihnachtbeſchee-
rung ſich noch gar nicht anzueignen wagt. Die
hellen Thränen floſſen ihr unter den Wimpern,
dabei lächelte ſie, und ſah den Jäger mit dem gläu-
bigſten Vertrauen an, als wollte ſie ſagen: Wenn
du einen armen Findling ſo hübſch beſingen kannſt,
ſo mußt du es wohl recht herzlich mit ihm meinen.
— Endlich fand ihre Empfindung ein lautes Wort
und ſie lispelte: Sie machen zu viel aus mir
und ich werde noch ganz eitel durch Sie werden.
Er trat, feſt ſeinen flammenden und doch ſo
ſanften Blick auf ſie heftend, ihr entgegen und
wollte ihre Hand küſſen. Sie war küſſenswerth,
dieſe Hand. Es iſt, als ob Manchem nichts ſcha-
den könne. Trotz aller Arbeit war die Hand
weich und zart geblieben. Lisbeth entzog ſie ſeinem
Munde und bot ihm, die Augen ſchließend, die
[56] Lippen dar. Jauchzend wollte er mit den ſeinigen
ſie rühren, da öffnete ſich die Thüre und die [Braut-
jungfer] trat mit dem Putze und ihrem Anliegen
ein. Die Geſtörten traten erſchreckt aus einander,
Lisbeth zu ihrem Tüchlein, der Jäger, ohne ſie an-
zuſehen, an das Fenſter, von wo er dann mit nie-
dergeſchlagenem Blicke aus dem Zimmer ſchlich.
Denn das Gefühl iſt auch darin nur ſich ſelbſt
gleich, daß es mit dem Bewußtſein der reinſten
Tugend die Furcht des lichtſcheuſten Verbrechens
paart. — Du denkſt an das geliebte Mädchen zu-
gleich mit deinen Gedanken an Gott, du ſagſt, wie
der Jäger in deinen einſamen Entzückungen: Könnte
ich dieſe Liebe, wie meine beſte That, von den
Dächern rufen! und dann verläugneſt du ſie wie
Petrus den Herrn der erſten Baſenfrage, und rufſt,
ob man von dir glaube, daß du ſo thöricht ſeiſt? —
Draußen war unter dem Glockengeläute die
Muſik immer näher gekommen, und jetzt wurde der
Brautwagen, gezogen von zwei ſtarken Pferden am
andern Ende des Weges, der durch den Eichenkamp
leitete, ſichtbar. Die erſte Brautjungfer ſtand mit
ihrem dicken, zum Theil übelriechenden Strauße
ehrbar neben der Braut, die Knechte ſtanden bei
[57] den Packen und Laden im Flur, zum letzten An-
faſſen bereit; der Hofſchulze ſchaute unruhig nach der
zweiten und nach der improviſirten dritten Braut-
jungfer ſich um; denn wenn dieſe nicht vor der Er-
ſcheinung des Bräutigams den Platz, den ihnen der
Tag anwies, nahmen, ſo war es nach ſeinem Ge-
fühle um die ganze Feierlichkeit geſchehen. Doch da
kamen die beiden Erwarteten eben noch zur rech-
ten Zeit die Treppe herunter und ſtellten ſich zu
der Erſten, als der Wagen gerade auf den freien
Platz vor dem Hauſe hinauslenkte.
Gleichmüthig im Geſicht, wie alle Hauptperſo-
nen dieſes Feſtes, ſtieg der Bräutigam vom Wa-
gen. Junge Leute, ſeine nächſten Freunde, folgten
ihm bebändert und beſtraußt. Er ſchritt langſam
auf die Braut zu, die auch jetzt noch nicht empor-
ſah, ſondern immerfort nur ſpann und ſpann.
Nun befeſtigte ihm die erſte Brautjungfer den gro-
ßen Strauß, worin Sternblume und Salbei duf-
teten, vorn auf der Bruſt an dem hochzeitlichen
Kleide. Der Bräutigam empfing dieſen Schmuck,
ohne zu danken, denn der Dank gehörte nicht zum
Herkommen. Er reichte ſeinem Schwiegervater ſtill-
ſchweigend die Hand, dann ſie eben ſo ſtillſchweigend
[58] der Braut, die ſich darauf erhob und zu den Braut-
jungfern ſtellte, zwiſchen die Erſte und Zweite und
vor die Dritte.
Während deſſen hatten die Knechte die Aus-
ſtattung auf den Wagen geſchafft. Die Scene be-
kam etwas Wildes, denn indem die Menſchen mit
dem Gepäck zwiſchen den Kochfeuern hindurchliefen,
wurde mancher brennende Klotz von ſeinem Orte
hinweggeſtoßen, kniſterte und ſprühte in dem Wege,
den das Brautpaar zu gehen hatte. Nach dem
Linnen, dem Flachs, den Betten, den Kleidungs-
ſtücken nahm die Braut mir ihren drei Jungfern
und dem Spinnrade, welches ſie ſelbſt trug, auf
dem Wagen Platz. Der Bräutigam ſetzte ſich ab-
geſondert von ihr in den hinterſten Theil des
Fahrzeuges, und die jungen Burſche mußten dieſem
zu Fuße folgen, da die Ausſtattung zu viel Raum
einnahm, um ihnen noch Sitze zu geſtatten. Hier-
über machte der Eine hergebrachte Späße gegen
den Hofſchulzen, auf welche dieſer ſchmunzelnd
antwortete. Er ging hinter den jungen Burſchen
her, und zu ihm geſellte ſich der Jäger. So gin-
gen Zwei zuſammen, welche an dieſem Tage die
entgegengeſetzteſten Empfindungen hegten. Denn der
[59] Hofſchulze dachte an Nichts, als an die Hochzeit,
und der Jäger an nichts weniger, als an ſie, ob-
gleich ſeine Gedanken um den Brautwagen flogen.
Fahre dieſer nun langſam nach dem Hofe des
Bräutigams, wo ſchon die ganze Hochzeitsgeſell-
ſchaft; Männer, Frauen, Mädchen, junge Burſche
aus allen umliegenden Wehren, und überdieß die
Freunde aus der Stadt, der Hauptmann und der
Sammler ſeiner warten. Dort wird abgeladen;
wir gehen inzwiſchen voran zur Kirche, die in der
Mitte der ganzen Bauerſchaft auf einem grünen
Hügel, beſchattet von Wallnußbäumen und wilden
Kaſtanien liegt. — In der Sakriſtei beſchäftigte ſich
der Diaconus ſtill mit ſeinem Texte. Er gehörte
zu den glücklichen Geiſtlichen, deren innerſte Glau-
benskraft vom Zweifel, welchen die neuere Wiſſen-
ſchaft erſt recht gründlich ausgeſchaffen hat, nicht
berührt wird. Die verflüchtigenden Vorſtellungen,
welche in das Chriſtenthum eingedrungen ſind,
waren ihm nicht fremd geblieben, und ſein Geiſt
mußte zu ſich ſagen, daß darin mehr Wahrheit ſei,
als in dem Buchſtaben des Orthodoxen. Aber es
ging ihm mit der heiligen Geſchichte, wie es uns
mit unſern Eltern geht. Wir erkennen ihre Schwä-
[60] chen und ſind doch, wo es auf etwas ankommt,
immer ihre Kinder. Denn er wurde gleich ein
Anderer, wenn er das Heiligthum betrat; zwiſchen
deſſen Wänden verſchwand ihm die Kälte, er empfand
das Evangelium in allen ſeinen Ausſtrahlungen,
Wundern und Widerſprüchen als eine ewige That-
ſache, und als eine wirkliche, nicht als eine ge-
machte. So war er denn nie in der Kirche Lip-
pengläubiger, ſondern erbaut, um Andere zu er-
bauen.
Auch heute war er in den Gegenſtand ſeiner
Predigt fromm vertieft. Indeſſen ſtörte ihn eini-
germaßen der Küſter, welcher, ohne noch dort ein
Geſchäft zu haben, auch in der Sakriſtei verweilte,
ſeinen Oberen mit verlegenen Blicken anſchaute
und dazu unabläſſig ſeufzte. Der Diaconus ſah
ſich endlich genöthigt, ihn zu fragen, was dies zu
bedeuten habe?
Beklemmung, Beängſtigung, ein ungemeines
Blutwallen und Zudringen der Säfte nach dem
Kopfe hat es zu bedeuten, Herr Diaconus, ver-
ſetzte der ſeufzende Küſter.
Es iſt nicht zu verwundern, daß Ihr beklom-
men ſeid, antwortete lächelnd der Diaconus. Dieſes
[61][Kopfkiſſen], welches Ihr Jahraus, Jahrein, ſobald
wir die Stadt verlaſſen, eingeknöpft auf dem Un-
terleibe tragt, die Witterung mag ſo ſchön ſeyn,
wie ſie will, muß Euch das Blut wallen machen
und die Säfte zu Kopfe treiben.
Es iſt nicht dieſes, mein Herr Diaconus, er-
wiederte der Küſter, indem er ſeinen ausgeſtopften
Unterleib ſtreichelte, welcher ſich in ſonderbaren
Wellenlinien, Wülſten und Knoten darwies, weil
der Inhaber die Federn des Kiſſens nicht ganz
gleich vertheilt und verſtrichen hatte. Es iſt nicht
dieſes. Beſſer bewahrt, wie beklagt, ich weiß ja,
was eine hartnäckige Verkältung auf ſich hat. Das
Kiſſen iſt gleichſam ein Theil von mir geworden
und ruht mir ohne die mindeſte Beſchwer auf dem
Herzen. Aber weshalb ich beklommen bin, das iſt
die Furcht vor einer Herabſetzung meines Anſe-
hens und vor einer Schändung ſo zu ſagen des
ganzen Küſterſtandes, welche mir auf dieſer unglück-
ſeligen Hochzeit bevorſteht.
Wie denn ſo?
Der Herr Diaconus wiſſen, daß der Schul-
meiſter loci vor nunmehr beinahe acht Tagen ver-
ſtorben iſt, und ſeine Stelle noch keine Beſetzung
[62] gefunden hat. So fehlet alſo dieſer Hochzeit der
zweite obſervanzmäßige Aufwärter *), und da hat
nun der Hofſchulze, dieſer alte eigenſinnige Mann
ſich nicht entblödet, mir geſtern an- und zumuthen
zu laſſen, ich ſolle ſtatt des fehlenden Schulmei-
ſters aufwarten, weil Küſter und Schulmeiſter mit
einander die meiſte Aehnlichkeit und Verwandtſchaft
hätten, worüber ich denn die ganze Nacht hindurch
kein Auge zugethan habe. Annoch kann ich vor
Herzklopfen mich nicht zufrieden geben.
Freilich würde bei der Aufwartung die eigene
Leibesnahrung nicht ſo wohl gedeihen, ſagte der
Diaconus.
Dieſes nebenbei, ſprach der Küſter ſehr ernſt.
Nöthigenfalls würde durch Bündelſchnüren und Ser-
viettenverpackung dafür geſorgt werden, daß Küſterei
in ihren Gerechtſamen keinen Schaden erlitte. Aber
daß die Würde eine Beeinträchtigung dulden müßte
und die Freiheit der Stelle von allen und jeden Auf-
wartedienſten eine Verletzung erführe; dieſes iſt
die Hauptſache. Und ehe ich ein ſolches Präjudiz
[63] aufkommen laſſe, wodurch mittelſt fernerer Nach-
läſſigkeit der Amtsnachfolger Küſterei einer immer-
währenden Laſt unterzogen werden könnte, ſterbe
ich lieber, obſchon ich einſehe, daß meine Weigerniß
einen furchtbarlichen Lärmen hervorbringen kann,
denn der Hofſchulze iſt in Allem feſt, was er ſich
vorſetzte. Daher entſprießet denn wohl nicht ohne
Grund einiger Kummer.
Der Diaconus, der durch das Geſchwätz des
närriſchen Küſters ſich in ſeinen Gedanken unan-
genehm geirrt fühlte, beſchwichtigte ihn mit der
Verſicherung, daß er ſeinen Einfluß verwenden
werde, um den Hofſchulzen von dem rechtswidri-
gen Verlangen abzubringen. Der Küſter ging,
etwas erleichtert, da es Zeit war, und die Men-
ſchen ſich ſchon in der Kirche verſammelt hatten,
hinaus und begann auf der Orgel die hergebrachte
Schlacht von Prag zu ſpielen. Er kannte nämlich
nur ein Präludium, und dieſes war jene verſchol-
lene Schlachtmuſik, an welche ſich vielleicht noch
einige ältere Leute erinnern, wenn ich ihnen in
das Gedächtniß zurückrufe, daß das Tongemälde
mit dem Aufmarſche der Ziethenſchen Huſaren an-
fängt. Von dieſem Aufmarſche wußte der Küſter
[64] dann immer mit freilich nicht ſelten kühnen Gän-
gen ſich in die gangbaren Kirchenmelodien hinüber-
zuſchwingen.
Während des Liedes betrat der Diaconus die
Kanzel, und als er die Augen zufällig auf die Ver-
ſammlung warf, hatte er einen unerwarteten An-
blick. Ein vornehmer Herr vom Hofe ſtand näm-
lich mitten unter den Bauern, deren Aufmerkſam-
keit er zerſtreute, weil ſie von ihrem Geſangbuche
immer empor- und nach ſeinem Sterne ſchielten.
Der vornehme Herr wollte mit irgend einem
Bauern in das Geſangbuch ſehen, um in das Lied
einzuſtimmen, da aber Jeder, ſo wie der Herr vom
Hofe ſich ihm näherte, ehrerbietig auswich, ſo ge-
langte er nicht zum Zwecke und erregte nur eine
faſt allgemeine Unruhe. Denn wenn er in eine
Kirchenbank ſich ſetzte, ſo rutſchten auf der Stelle
ſämmtliche darin ſeßhafte Bauern bis in die äußerſte
entgegengeſetzte Ecke, und entflohen der Bank gänz-
lich, wenn der Vornehme ihnen nachrutſchte. Dieſes
Rutſchen und Entrutſchen wiederholte ſich in drei bis
vier Bänken, ſo daß der Herr vom Hofe, der in der
beſten Abſicht dieſen Dorfgottesdienſt beſuchte, es end-
lich aufgeben mußte, zu einer thätigen Theilnahme an
[65] demſelben zu gelangen. Er hatte Geſchäfte in der
Gegend und wollte die Gelegenheit nicht verab-
ſäumen, durch Herablaſſung die Herzen dieſer Land-
leute für den Thron zu gewinnen, dem er ſich ſo nahe
wußte. Deshalb war in ihm, ſobald er von der Bauern-
hochzeit hörte, in ihm der Vorſatz entſtanden, ihr
leutſelig von Anfang bis zu Ende beizuwohnen.
Den Diaconus berührte der Anblick des Vor-
nehmen, den er aus den glänzenden Cirkeln der
Hauptſtadt kannte, nicht wohlthuend. Er wußte,
welche ſonderbare Sitte der Predigt folgen werde,
und fürchtete den Spott des Vornehmen. Seine
Gedanken verloren daher von ihrer gewöhnlichen
Klarheit, ſeine Gefühle waren etwas bedeckt und
er kam, je weiter er redete, um deſto weiter aus
der Sache. Seine Zerſtreuung wuchs, da er be-
merkte, daß der Vornehme ihm verſtehende Blicke
zuwarf und bei einigen Stellen beifällig mit dem
Haupte nickte; meiſtentheils da, wo der Redner
mit ſich am unzufriedenſten geweſen war. Er
beſchnitt daher die einzelnen Theile der Traurede,
und eilte ſich, zur Ceremonie zu gelangen.
Das Brautpaar kniete nieder und die verhäng-
nißvollen Fragen ergingen an daſſelbe. Da trug
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 5
[66] ſich etwas zu, was den vornehmen Fremden in den
äußerſten Schreck verſetzte. Denn er ſah links und
rechts, vor ſich und hinter ſich, Männer und Frauen,
Mädchen und junge Burſche dicke Knittel, aus Sack-
tüchern gewunden, hervorziehen. Alles war aufge-
ſtanden, ziſchelte unter einander und ſah ſich, wie
es ihm vorkam, mit wilden und heimtückiſchen
Blicken um. Da es ihm nun unmöglich war, den
richtigen Sinn dieſer Vorbereitungen zu errathen,
ſo verließ ihn alle Faſſung, und weil die Knittel
doch unwiderſprechlich auf Jemand deuteten, der
Schläge empfangen ſollte, ſo kam ihm der Gedanke,
daß er der Gegenſtand einer allgemeinen Miß-
handlung ſeyn werde. Er erinnerte ſich, wie ſcheu
man ihm ausgewichen war, und er bedachte, wie
roh der Charakter des Landvolkes iſt, und wie die
Bauern vielleicht, weil ihnen ſeine herablaſſende
Geſinnung nicht bekannt ſei, ſich vorgenommen hät-
ten, den ihnen unbequemen Eindringling zu ent-
fernen. Alles dieſes ging blitzſchnell durch ſeine
Seele und er wußte nicht, wie er Würde und
Perſon vor dem entſetzlichen Angriffe wahren ſollte.
Als er noch rathlos nach Entſchlüſſen rang,
chloß der Diaconus die Feierlichkeit, und es ent-
[67] ſtand augenblicklich der wildeſte Tumult. Sämmt-
liche Knittelträger und Knittelträgerinnen ſtürzten
ſchreiend und tobend und ihre Waffen ſchwingend
nach vorwärts, der Herr vom Hofe aber war über
mehrere Bänke mit drei Sätzen ſeitwärts nach der
Kanzel zu geſprungen, erſtieg dieſelbe im Nu
und rief von dieſem erhöhten Standpuncte mit
lauter Stimme in die tobende Menge hinunter:
Ich rathe Euch, mich nicht anzutaſten! Ich hege
die beſten und herablaſſendſten Geſinnungen gegen
Euch, aber jede mir zugefügte Beleidigung wird
der Monarch ahnden, wie eine ihm ſelbſt wider-
fahrene.
Die Bauern aber hörten nach dieſer Rede nicht
hin, von ihrem Vorhaben begeiſtert. Sie rannten
dem Altare zu, und unterweges bekam ſchon Dieſer
und Jener unabſichtliche Prügel, bevor das eigent-
liche Ziel derſelben erreicht war. Dieſes war der
Bräutigam. Die Hände über den Kopf ſchlagend,
bahnte er ſich mit aller Anſtrengung eine Gaſſe
durch die Menge, welche ihre Knittel auf ſeinem
Rücken, ſeinen Schultern und überhaupt aller Orten,
wo Platz war, tanzen ließ. Er lief, ſich gewalt-
ſam Raum ſchaffend, nach der Kirchthüre zu, hatte
5*
[68] aber, bevor er dieſelbe erreichte, gewiß über hun-
dert Schläge [empfangen], und kam ſo, wacker zer-
bläut an ſeinem Ehrentage aus dem Heiligthume.
Alles lief ihm nach; der Brautvater, die Braut
folgten, der Küſter ſchloß unmittelbar hinter dem
Letzten die Thüre ab und verfügte ſich in die Sa-
kriſtei, welche einen beſonderen Ausgang in das
Freie hatte. In wenigen Secunden war die
Kirche leer geworden.
Noch ſtand indeſſen der vornehme Herr auf
der Kanzel. Der Diaconus aber ſtand vor dem
Altare, ſich gegen den Vornehmen mit freundli-
chem Lächeln verbeugend. Dieſer hatte, als er auf
ſeinem Felſen Ararat ſah, daß die Prügel nicht
ihm zugedacht waren, beruhigt die Arme ſinken
laſſen, und fragte, als jetzt Stille eingetreten war,
den Diaconus: Sagen Sie mir um des Himmels
willen, Herr Prediger, was bedeutete dieſer wü-
thende Auftritt und was hatte der arme Menſch
ſeinen Angreifern gethan?
Nichts, Ew. Excellenz, verſetzte der Diaconus,
der ungeachtet der Würde des Orts Mühe hatte,
ein Lachen über den Höfling auf der Kanzel zu
verbeißen. Dieſes Abklopfen des Bräutigams nach
[69] der Trauung iſt ein uralter Gebrauch, den ſich die
Leute nicht nehmen laſſen. Sie ſagen, er ſolle
bedeuten, daß der Bräutigam fühle, wie weh
Schläge thun, damit er ſein künftiges hausherrli-
ches Recht wider die Frau nicht mißbrauche.
Ja, das ſind denn doch aber wunderbare Sit-
ten … murmelte die Excellenz und ſtieg von
der Kanzel. Unten empfing ſie der Diaconus ſehr
höflich und wurde von ihr mit drei Küſſen auf der
flachen Wange beehrt. Dann führte der Geiſtliche
ſeinen vornehmen Bekannten in die Sakriſtei, um
ihn von dort in das Freie zu entlaſſen. Der noch
immer Erſchrockene ſagte, er müſſe erſt überlegen,
ob er an dem ferneren Verlaufe der Feſtlichkeit
Theil nehmen könne. Der Geiſtliche bedauerte
dagegen auf dem Wege nach der Sakriſtei unend-
lich, daß er nicht früher von dem Vorhaben Seiner
Excellenz Kunde erhalten habe, weil er dann im
Stande geweſen ſei, Nachricht von der Prügelſitte
zu ertheilen und ſo Furcht und Schreck abzuwenden.
Nachdem Beide ſich entfernt hatten, war Stille
und Schweigen in der Kirche. Es war ein arti-
ges Kirchlein, reinlich und nicht zu bunt; ein
reicher Wohlthäter hatte Manches dafür gethan.
[70] Die Decke war blau gemalt mit goldenen Ster-
nen, an der Kanzel zeigte ſich künſtliches Schnitz-
werk und unter den Leichentafeln der alten Pfar-
rer, welche den Fußboden bedeckten, befanden ſich
ſogar zwei oder drei von Meſſing. Reinlich und
ſauber wurden die Bänke gehalten, auch darauf
hatte der Hofſchulze mit ſeinem großen Einfluſſe
hingewirkt. Eine ſchöne Decke zierte den Altar,
über dem ſich ein geſchlungenes marmorirt ange-
ſtrichenes Säulenwerk erhob.
Hell fiel das Licht zu dem Kirchlein ein, die
Bäume ſäuſelten draußen und zuweilen bewegte ein
gelindes Lüftchen, das durch eine zerbrochene Scheibe
drang, die weiße Schärpe, womit der Engel über
dem Taufbecken bekleidet war, oder die Flit-
ter der Kronen, welche, von den Särgen der
Jungfrauen genommen, die Pfeiler umher ſchmückten.
Braut und Bräutigam waren fort, der Braut-
zug war fort, und doch war es nicht ganz einſam
in dem ſtillen Kirchlein. Zwei junge Leute waren
darin zurückgeblieben und wußten nicht von ein-
ander und das war ſo zugegangen. Der Jäger
hatte ſich, als die Hochzeitleute die Kirche betra-
ten, von ihnen abgeſondert und war ſtill eine
[71] Treppe zu einer oberen Prieche hinaufgegangen.
Dort ſetzte er ſich auf einen Schemel ungeſehen
von den Andern, abgewendet von ihnen und von
dem Altare, ganz für ſich und allein. Er ſchlug
ſein Geſicht in ſeine Hand, aber das konnte er
nicht lange ertragen, die Wange und Stirn
glühte ihm zu ſtark. Das Kirchenlied drunten fiel
mit ſeinen ernſtgezogenen Tönen wie ein kühlender
Thau in ſeine Gluth, er dankte Gott, daß end-
lich, endlich ihm das größte Glück beſchieden ſei,
und in die frommen Worte da unten ſang er un-
aufhörlich ſeine weltlichen Verſe hinein:
Ein kleines Kind, welches ſich neugierig herauf-
geſchlichen hatte, nahm er ſanft bei der Hand und
ſtreichelte dieſe. Dann wollte er ihm Geld geben,
aber er ließ es ſeyn, drückte es an ſich und küßte
ihm die Stirn. Und als das Kind, ängſtlich von
den heißen Liebkoſungen, die Treppe hinuntergehen
wollte, führte er es ſacht hinab, daß es nicht falle.
Dann kehrte er zu ſeinem Sitze zurück und hörte
nichts von der Rede und nichts von dem Lärmen,
der ihr folgte, in tiefe, ſelige Träume verſunken,
[72] die ihm ſeine ſchöne Mutter zeigten und ſein wei-
ßes Schloß auf grünem Berge und ihn und noch
Jemand in dem Schloſſe.
Lisbeth war in ihrem fremdartigen Anzuge ver-
legen und ſcheu hinter der Braut hergegangen.
Ach, dachte ſie, in dem Augenblicke, wo der gute
Menſch von mir ſagt, ich wäre immer natürlich,
muß ich geborgte Kleider tragen. Sie ſehnte ſich
in die ihrigen zurück. Die Bauern, die Leute aus
der Stadt hörte ſie hinter ſich ziſchelnd ihren
Namen nennen, der vornehme Herr, welcher vor
der Kirche dem Zuge entgegentrat, beſah ſie lange
prüfend durch ſeine Lorgnette. Das Alles mußte
ſie erleiden, als ſie eben ſo ſchön beſungen worden
war, als ihr Herz von Freude und Entzücken
überfluthete. Sie trat halbbetäubt in die Kirche
ein und nahm ſich vor, bei dem Rückwege von
dem Zuge zu bleiben, damit ſie auf keine Weiſe
wieder der Gegenſtand des Geſprächs oder gar der
Scherze werde, über welche ſie ſich ſeit einer Vier-
telſtunde weit hinaus fühlte. Auch ſie hörte von
der Rede wenig, ſo ſehr ſie ſich zwang, dem Vor-
trage ihres verehrten geiſtlichen Freundes zu fol-
gen. Und als die Ringe gewechſelt wurden, da
[73] erregten ihr die gleichgültigen Geſichter des Braut-
paares eine ſonderbare Empfindung, gemiſcht aus
Wehmuth, Neid und dem ſtillen Unwillen, daß ein
ſo himmliſcher Augenblick an ſtumpfen Seelen vor-
übergehe.
Nun entſtand der Tumult und da entfloh ſie
unwillkührlich hinter den Altar. Als es wieder
ſtill geworden war, holte ſie tief Athem, zupfte an
ihrer Schürze, ſtrich ſich eine Locke, die ihr auf die
Stirn gefallen war, ſacht zurück und faßte ſich ein
Herz. Sie wollte ſehen, wie ſie unbemerkt auf
Nebenwegen zum Oberhofe zurückgelangen und der
leidigen Kleider quitt werden möchte. Mit kleinen
Schritten und niedergeſchlagenen Augen ging ſie
durch einen Seitengang nach der Thüre zu.
Aus ſeinen Träumen endlich erwacht, kam der
Jäger die Treppe hinunter. Auch er wollte die
Kirche verlaſſen, wußte aber freilich nicht, wohin
dann? Sein Herz bebte, als er Lisbeth ſah; ſie
ſchlug die Augen auf und blieb ſchüchtern und
fromm ſtehen. Dann gingen ſie, ohne einander
anzuſchauen, ſtumm der Thüre zu, auf deren Drücker
er ſeine Hand legte, ſie zu öffnen. Sie iſt ver-
ſchloſſen! rief er mit einem Laut des Entzückens,
[74] als ſei ihm das höchſte Glück wiederfahren. Wir
ſind in der Kirche eingeſchloſſen!
Eingeſchloſſen? fragte ſie voll ſüßem Schreck. —
Warum macht Sie das beſtürzt? Wo kann man
beſſer aufgehoben ſeyn als in einer Kirche? ſagte
er ſeelenvoll. Er ſchlug ſanft ſeine Arme um ihren
Leib, mit der andern Hand faßte er ihre Hand,
ſo führte er ſie nach einer Bank, nöthigte ſie darauf
nieder und ſetzte ſich neben ſie. Sie ſah in ihren
Schooß und ließ die Bänder an dem buntfarbigen
Jäckchen, welches ſie trug, durch die Finger gleiten.
Er hatte ſeinen Kopf auf dem Betbrette aufge-
ſtützt, ſah ſie von der Seite an und berührte das
Häubchen, welches ſie trug, wie um den Stoff zu
prüfen. Er hörte ihr Herz klopfen und ſah ihren
Hals geröthet. — Nicht wahr, es iſt ein abſcheu-
licher Anzug? fragte ſie nach langem Schweigen kaum
hörbar. — Oh! rief er und knöpfte ſeine Weſte auf,
ich ſah nicht nach dem Anzuge! — Er faßte ihre
beiden Hände, drückte ſie ſtürmiſch gegen ſeine Bruſt
und zog ſie dann von der Bank.
Ich ertrag’s nicht ſo ſtill zu ſitzen! Laſſen Sie
uns die Kirche beſehen! rief er. — Hier iſt wohl
nicht viel Sehenswürdiges, verſetzte ſie zitternd.
[75]
Er ging mit ihr zu dem Taufſteine, auf deſſen
Grunde noch etwas von dem heiligen Naß ſtand,
denn es war vor der Hochzeit ſchon eine Taufe in
der Kirche geweſen. Sie mußte mit ihm auf den
Grund und in das Waſſer hinabſehen. Dann
tauchte er den Finger hinein und netzte erſt ihre
und dann ſeine Stirn.
Um Gotteswillen, was machen Sie? rief ſie
ängſtlich und wiſchte raſch die ihr frevelhaft dün-
kende Befeuchtung ab. — Wiedertäuferei treibe ich,
ſagte er wunderbar lächelnd. — Dieſes Waſſer
weiht die Geburt zum Leben, und dann geht das
Leben ſo fort — lange, lange, heißt Leben und iſt
keins — und dann bricht das wahre Leben auf,
und man ſollte dann von neuem taufen. — Sie
wurde ängſtlich in ſeiner Nähe und ſtammelte: Kom-
men Sie, ein Ausgang wird durch die Sakriſtei
zu finden ſeyn. — Nein, rief er, erſt die Todten-
kronen wollen wir beſehen; zwiſchen Geburt und
Grab erlebt unſer Leben ſein Leuchtendes, ſein
Schönes! — Er führte ſie zu der ſtattlichſten Tod-
tenkrone am gegenüberſtehenden Pfeiler und mur-
melte auf dem Wege mit trunken-irren Blicken
die Stelle von Gray, welche mit ſeinen übri-
[76] gen Gedanken nicht zuſammenhing, und auf welche
ihn nur der Ort bringen konnte: „Viel Trop-
fen reinſten Glanzes bergen des Meeres dun-
kele unermeſſene Tiefen, viel Blumen brachen
auf, um ungeſehen zu blühen und ihre Süße an die
öde Luft zu verſchwenden!“
Dachte er an das Mädchen, von deſſen Sarge
die ſtrahlende Todtenkrone war? — Ich weiß es
nicht. — Flittern und glänzende Ringe hingen an
dünnem Zindel herunter. Er riß zwei Ringe ab
und flüſterte: Ihr ſeid nur ſchlechte Reifen, aber
zu köſtlichem Gold will ich Euch weihen und hei-
ligen! — Er ſteckte, ehe die Lisbeth es verwehren
konnte, ihr den einen und den andern darauf ſich
an. Dabei ſah er zornig aus, ſeine Lippen ſchürzte
ein erhabener Unmuth, er legte ſeine geballte Fauſt
dem Mädchen auf den Nacken, als wollte er ſie
züchtigen, daß ſie ſeine Seele ihm entwendet habe.
In dieſem ſtarken jungen Gemüthe riß die Liebe,
wie ein Waldſtrom im Gebirge, tiefe Schluchten
und Spalten.
Oswald! rief ſie und trat vor ihm zurück. Es
war das erſtemal, daß ſie ſeinen Vornamen nannte. —
Wir können das eben ſo gut thun, wie die dum-
[77] men Bauern, ſagte er, und ſind keine anderen Ringe
zur Hand, ſo nehmen wir ſie vom Sargſchmuck,
denn das Leben iſt ſtärker als der Tod. — Nun
gehe ich, ſeufzte ſie athmend und wankte. Ihr
Buſen flog, daß das Mieder wild bewegt wurde.
Aber ſchon hatten ſeine ſtarken Arme ſie um-
ſtrickt und aufgehoben und vor den Altar getra-
gen. Dort ließ er ſie nieder, die halbohnmächtig
an ſeiner Bruſt lag, und ſtammelte ſchluchzend vor
Liebesweh und Liebeszorn: Lisbeth! Liebe! Einzige!
Entſetzliche! Feindin! Räuberin! Vergieb mir!
Willſt du mein Du ſeyn? Mein ewiges, ſüßes Du?
Sie antwortete nicht. Ihr Herz ſchlug an ſeinem,
ſie ſchmiegte ſich ihm an, als wollte ſie mit ihm
verwachſen. Ihre Thränen floſſen auf ſeine Bruſt.
Nun hob er ihr Haupt empor, und die Lippen fan-
den ſich. In dieſem Kuſſe ſtanden ſie lange, lange.
Dann zog er ſie ſanft neben ſich auf die Kniee
nieder, und Beide erhoben vor dem Altare betend
die Hände. Sie konnten aber nichts vorbringen
als: Vater! lieber Vater im Himmel! Und das
wurden ſie nicht müde, mit wonnezitternder Stimme
zu rufen. Sie riefen es ſo zutraulich, als ob der
Vater, den ſie meinten, thnen die Hand reiche.
[78]
Endlich verſtummte dieſes Rufen und ſie legten
das Geſicht ſchweigend an das Altartuch. Mit
dem Arme aber umſchlang Eines des Andern
Nacken, die Wangen glühten, eine an der andern,
und die Finger ſpielten ſanft in den Locken. Es
war keine Unruhe mehr in den Herzen; ſie ſchlu-
gen ſtill und gleichmäßig.
So knieten die Beiden eine Zeit lang vereinigt
lautlos im Heiligthume. Plötzlich fühlten ſie ihre
Häupter leiſe angerührt und ſahen empor. Der
Diaconus ſtand zwiſchen ihnen mit leuchtendem
Antlitz und hielt ſeine Hände ſegnend auf ihren
Scheiteln. Er war zufällig aus der Sakriſtei noch
einmal in die Kirche getreten und hatte mit gerühr-
tem Erſtaunen die Verlobung geſehen, die hier
abſeitig der Hochzeit und im Angeſichte Gottes zu
Stande gekommen war. Auch er redete nicht, aber
ſeine Augen ſprachen. Er zog den Jüngling und
das Mädchen an ſeine Bruſt und drückte ſeine
Lieblinge herzlich an ſich.
Dann ging er mit dem Paare, es führend, in
die Sakriſtei, um es von dort zu entlaſſen. So
gingen die Drei aus der kleinen, ſtillen, hellen
Dorfkirche.
[79]
Sechstes Capitel.
Die ferneren Ereigniſſe eines Hochzeit-
tages.
Unterdeſſen hatte ſich das Hochzeitgefolge mit
den Muſicanten und dem Brautpaare wieder im
Oberhofe eingefunden, und Alles ſtand und ſaß im
Flur, Hof und Garten umher. Noch immer loder-
ten die Feuer und waren die Mägde geſchäftig.
Die farbigen Jacken der Mädchen, die ſonderbar
geformten Schneppenhauben der Frauen und die
lichtblauen Röcke der Männer gaben der Scene ein
buntes und fremdartiges Anſehen. Der Oberhof
hatte ſich ganz mit Menſchen erfüllt, denn es waren
wohl an die hundert Perſonen verſammelt, welche
der Brautvater hatte einladen laſſen. Steinhauſen,
der Spaßmacher, war auch ſchon unter ihnen, ver-
hielt ſich aber noch ſtill, denn ſeine Stunde ſollte
erſt Nachmittags kommen. Um das Brautpaar
[80] bekümmerte ſich Niemand ſonderlich. Der Bräu-
tigam half den Tiſch im Flure decken. Die Braut
ſaß mit den beiden ihr treugebliebenen Brautjung-
fern für ſich und in einiger Entfernung von den
übrigen Frauen unter den Linden im Hofe. Zu-
weilen und inſoweit ſie ſich von ihrem Getränke
abmüſſigen konnten, ſpielten die Muſicanten, denen
ein beſonderer Tiſch im Baumgarten angewieſen wor-
den war, kurze Stücklein, ohne jedoch eine eigent-
liche Aufmerkſamkeit zu erregen, denn die Meiſten
hielten ihren Sinn nur auf die weißgedeckten
Tafeln geheftet, auf welchen nun die Mägde allge-
mach anzurichten begannen.
Der Brautvater hatte unterdeſſen von Neuem
Gelegenheit gehabt, ſeine Faſſung zu erweiſen.
Zwar, daß ihm der Diaconus, als er in den Hof
kam, verkündigte, die fremde Excellenz, welche er
ſo eben im Kruge becomplimentirt, ſei von ihm
ungeachtet des Schrecks in der Kirche dennoch
veranlaßt worden, die Hochzeit zu beſuchen, konnte
ſeinem Stolze nur behaglich ſeyn. Aber ſonſt ging
ſo Manches bei dem Plaiſir, wie er für ſich hin-
murmelte, nicht in der gehörigen Manier. Schon
daß ſeine Vorausſagung eintraf und daß ihn bei
[81] der Rückkehr in den Oberhof ein Jeder befragte,
warum Hölſcher nicht komme? war ihm ſehr ver-
drießlich geweſen. Dann verdroß es ihn, daß die
dritte Brautjungfer Lisbeth zurückgeblieben war und
nicht, wie ſich gebührte, bei ſeiner Tochter ſaß.
Der Hauptmann, der heute ſeinen preußiſchen Tag
hatte und das eiſerne Kreuz trug, ſteigerte den
Aerger. Nach uralter Sitte war nämlich für die
vornehmen und ſtädtiſchen Gäſte im Flure gedeckt
worden, und für die geringeren Leute im Baum-
garten. Denn der Bauer, welcher nicht zum Ver-
gnügen, ſondern in Laſt und Plage viel draußen
ſeyn muß, hält das Obdach des Hauſes für den
beſten Segen und glaubt den zu ehren, dem er
dieſes anbietet. Der Hauptmann aber, der raſch
einſah, daß der Aufenthalt in der heißen und dum-
pfen Enge unangenehm ſeyn werde, ordnete an und
commandirte, daß er mit der Braut, dem Paſtor,
dem Brautvater und dem Sammler im Baumgarten
ſpeiſen wolle, ließ auch ſofort die Gabeln, welche
die vornehmen Gäſte ausnahmsweiſe bekamen, nach
der Tafel im Freien tragen. Es war dies ſchon
geſchehen, als der Hofſchulze hinzukam und mit
großem Unmuthe die abermalige Abweichung vom
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 6
[82] Hergebrachten gewahrte. Er ſtieß einen tiefen
Seufzer aus, welches bei ihm ein Zeichen verhal-
tenen Zornes war, bezwang ſich indeſſen und äußerte
gegen den Hauptmann, der ihn militairiſch kurz
fragte, ob er des Henkers geweſen ſei, daß er
ſeine Freunde aus der Stadt habe am Heerde
röſten wollen? mit gehaltener Höflichkeit: Wie die
Herrſchaften es ſich am liebſten einrichteten, ſo
ſei es ihm auch recht und angenehm.
Aber dem Diaconus, der ihn darauf bei Seite
nahm, um eine Angelegenheit von Wichtigkeit mit
ihm zu ordnen, hielt er deſto hartnäckiger Stich.
Der Diaconus wollte nämlich ſeinen unglücklichen
Küſter von dem Aufwartedienſte frei haben, weil
er wirklich befürchtete, daß das Ehr- und Rechts-
gefühl dieſes Mannes es auf den äußerſten Wider-
ſtand ankommen laſſen und vielleicht die völlige
Störung des ganzen Hochzeitfeſtes herbeiführen
werde. Bei dieſem Puncte fühlte ſich jedoch der
Hofſchulze zu feſt in ſeinen begründeten Anſprü-
chen und verblieb unweigerlich dabei, daß der Küſter
die Gäſte bedienen müſſe, da der alte Schulmeiſter
geſtorben und ein neuer noch nicht angekommen ſei.
Aus ſeinen Reden ging hervor, daß er einen Küſter
[83] nur für die Spielart eines Schulmeiſters hielt, wie
denn in der That auch an vielen Orten beide
Poſten in einer Perſon vereinigt zu ſeyn pflegen.
Der Geiſtliche ſuchte mit aller Gelaſſenheit ihn
durch verſchiedene Gründe auf andere Gedanken zu
bringen, und ſchlug endlich vor, den Spaßmacher
Steinhauſen zum zweiten Aufwärter zu ernennen.
Dieſer Vorſchlag verletzte aber recht eigentlich den
Hofſchulzen, er erklärte dem Diaconus, daß er
nur deshalb, weil der Herr noch nicht lange in der
Gegend ſei und darum die Manieren nicht inne
haben könne, ihm die Rede hingehen laſſe. Denn erſt-
lich ſei nicht die mindeſte Aehnlichkeit zwiſchen einem
Schulmeiſter und dem Spaßmacher, und zweitens
werde es ja für ſeinen Eidam im höchſten Grade
deſpectirlich ſeyn, einen ſolchen Compagnon zu haben.
Die Debatte dauerte zwiſchen beiden Männern
unentſchieden fort. Sie wurde mit Anſtand und
Ruhe geführt, aber ein Ende und Ziel ließ ſich
nicht vorausſehen. Dieß war um ſo beklagens-
werther, als bereits die meiſten Suppenkübel und
Schüſſeln auf den Tafeln dampften, und Alles nach
der Mahlzeit verlangte, die doch ohne die gehörige
Aufwartung nicht zu Stande kommen konnte.
6*
[84]
Der Küſter hatte ſich, da er ſeine Sache in
guten Händen ſah, aus Politik, um nicht perſön-
lich überrumpelt zu werden, auf einige Zeit vom
Oberhofe entfernt. Er ging zwiſchen den Wall-
hecken ſpazieren, und mit ihm ging einer der frem-
den Hochzeitgäſte, ein alter Schirrmeiſter, der im
nächſten Poſtorte gerade ſeine zehn Ruheſtunden
genoß, und die Gelegenheit nicht hatte vorbeigehen
laſſen wollen, vom Hochzeitbraten zu koſten — ein
weitläuftiger Anverwandter des Hofſchulzen. Er
gehörte zu den ausgedienten Kriegsknechten, die
nach vielen Mühen und Strapazen einen ſogenann-
ten Ruhepoſten bekommen. Der Ruhepoſten unſe-
res Schirrmeiſters geſtattete ihm viermal im
Monat ſein Bette aufzuſuchen, ſonſt lag er bei
Nacht und bei Tage auf der Landſtraße. Er hatte
ſo viel Kupfer auf der Naſe, als ein rechtſchaffener
Schirrmeiſter haben muß, war ein Fünfziger, d. h.
hoch in den Fünfzigen, rüſtig und wacker, und litt
nur von ſeinen Feldzügen her an der Gicht, die
ihn zuweilen ganz contract machte.
Der Küſter und der Schirrmeiſter unterhielten
ſich in dieſer Zwiſchenzeit vor Tiſche vom menſch-
lichen Leben und vom höchſten Gute. — Wenn man
[85] ſo wie ich auf vielen Hochzeiten geweſen iſt, ſagte
der Küſter, wenn man ſieht, wie die jungen Leute
einander heirathen, nach neun Monaten ein Kind
kriegen, und dann immer ſo fort, jedes Jahr ein
friſches Kind — nun ſtirbt dieſes und jenes Kind,
und die, welche leben bleiben, heirathen nach meh-
reren Jahren auch, und zuletzt ſtirbt Alles mit
einander, und man hat das, wenn man ſeine ſechzig
Jahre auf den Schultern trägt, wie geſagt, eini-
gemale mit durchmachen müſſen, ſo kommt Einem
das menſchliche Leben ganz einerlei vor und wie
eine Kugel, die ſich immer umdreht.
Das menſchliche Leben kommt mir mehr gleich-
ſam als wie eine Reiſe vor, ſagte der Schirr-
meiſter.
Der Küſter ſah ſeinen Gefährten lange erſtaunt
an und ſprach darauf: Dieſer Gedanke iſt ganz
neu, denn ich fand ihn noch nirgends in den vie-
len Büchern, die ich doch geleſen habe.
Der Schirrmeiſter fühlte ſich geſchmeichelt und
verſetzte: Unterweges fällt Unſer Einem allerhand
ein. Es ſoll mir ganz recht ſeyn, wenn dieſer
Gedanke noch nirgendwo geſchrieben ſteht, denn
Bücher zu leſen habe ich freilich keine Zeit.
[86]
Der Küſter fuhr in ſeinen Betrachtungen fol-
gendermaßen fort: In dieſer vernünftigen Faſſung
über das menſchliche Leben ſänftigen ſich auch die
menſchlichen Wünſche. Ich war zu meiner Zeit
in der Jugend ſehr oben aus und wollte platter-
dings Theologie ſtudiren. Frühprediger mußte ich
wenigſtens werden; das ſtand feſt. Es war aber
dazumal mit dem Unterrichte eine verkehrte Sache,
und die Lehrer hatten nicht die Manier, daß man
etwas begreifen konnte. Ich begriff nichts und
wurde ſo nach und nach Küſter, wozu man freilich
auch nicht ohne Gaben ſeyn darf. Gegenwärtig
habe ich eigentlich nur noch drei Wünſche auf
dieſer Welt.
Und die ſind? fragte der Schirrmeiſter.
Erſtlich wünſchte ich, daß Jemand einmal ein
ordentliches und ausführliches Buch von Küſter-
ſachen ſchriebe und darin auseinanderſetzte, worin
das Amt und die Würde eines Küſters beſteht,
was man ihm mit Fug zumuthen darf und was
nicht. Denn Alles will uns jetzt zu Leibe, und
es giebt keinen angefochteneren Stand, weshalb es
denn ein wahres Bedürfniß der Zeit wäre, daß
in den Vorſtellungen über Küſter und Küſte-
[87] reien einmal wieder beſſere Ordnung geſtiftet
würde.
Was ich mir wünſche, iſt geringer, ſagte der
kupfernaſige Schirrmeiſter. Ich bin mit meinem
Poſten ganz zufrieden, man lernt auf jeder Sta-
tion andere Menſchen kennen, es giebt immer etwas
Neues, und die fremden Gegenden auf dem Curs
verſchaffen Einem auch beſtändig Abwechſelung.
Hat man einmal Langeweile, nun, ſo lieſt man zur
Unterhaltung ſeinen Perſonenzettel, kurz, ich möchte
dieſen Beruf mit keinem anderen vertauſchen und
wäre ganz glücklich, wenn ich nur ein einzigesmal
tüchtig ſchwitzen könnte.
Thut Ihnen das ſo Noth und kommen Sie nie
dazu? fragte der Küſter.
Noth ſehr, denn das Reißen in den Gliedern
von meinen Strapazen her nimmt von Jahr zu
Jahr zu. Das iſt auch ganz regulair, denn der-
gleichen Uebel mehren ſich immer, wenn man bei
jedem Wind und Wetter hinaus muß. Könnte
ich aber einmal ſo recht von Grund der Seele
ſchwitzen, ich hätte wohl auf einige Zeit Ruhe.
Dazu gelange ich indeſſen nie, weil ich nur vier-
mal im Monate zu Hauſe ſchlafe.
[88]
Dann könnten Sie ja doch ſchwitzen, ſagte der
Küſter.
Keine Möglichkeit. Habe es verſucht, aber die
Gedanken laſſen den Schweiß nicht vorbrechen, ver-
ſetzte der Schirrmeiſter. Nämlich, wenn ich eben
ein Paar Stunden im Bette gelegen habe und der
Fliederthee nun ſeine Wirkung thun will, ſo fange
ich an zu denken: Jetzt füttern die Pferde, die
du vorgelegt kriegſt, jetzt wird ſchon der Wagen
geſchmiert, nun ſtehen der Herr Secretair auf,
nun ſehe ich Sie in Ihrem Warſchauer Schlafpelz
ſitzen und die Charten und Papiere fertig machen,
alleweile iſt der Briefzettel geſchrieben, und alle-
weile die Perſonenkarte — da ſchlägt es ſechs,
und ich muß aufſtehen, trocken, wie ich mich hin-
legte, denn wenn man ſeine völlige Ruhe nicht hat
und an andere Dinge denken muß, ſo löſt ſich die
Natur nicht, und wenn man den Fliederthee Eimer-
weis tränke. Dieſes fehlt alſo an meiner völligen
Zufriedenheit, und ſo iſt das menſchliche Glück nie
vollkommen.
Ja, ſagte der Küſter, es mangelt immerdar
etwas, welches auch heilſam ſeyn mag, denn ſonſt
verlangten wir nicht nach dem Himmel. — Mein
[89] zweiter Wunſch wäre, daß doch endlich ein Einſe-
hen gethan würde und alle Hunde abkämen, oder
wenigſtens mit Knüppeln vor den Beinen umher-
laufen müßten, wegen der möglichen Tollheit. Hier
an dieſer Stelle, Schirrmeiſter, war es, wo ich
durch eine ſolche Canaille, die von jener Wallhecke
herabſprang, am letzten Zinstage einen Todesſchreck
hatte. Man ſollte überhaupt ſeinen Nebenmenſchen
vor Alterationen mehr behüten und bewahren.
Tolle Menſchen läßt man auch viel zu frei umher-
gehen. So habe ich zu meinem Erſtaunen gehört,
daß der übergeſchnappte Schulmeiſter von Hackel-
pfiffelsberg, welcher eine Zeitlang bei dem alten
Herrn Baron eingeſperrt war, ſeit geſtern frank
in der Gegend geſehen worden iſt. Wenn Einem
nun unverſehens dieſer Wüthige begegnete —
Aber der Küſter konnte ſeinen Satz nicht enden,
denn es ereignete ſich etwas, was ſelten vorzukom-
men pflegt, nämlich: Der Wolf in der Fabel er-
ſchien. Um die Ecke herum trat nämlich plötzlich
mit einer Flinte bewaffnet der Schulmeiſter
Ageſilaus oder vielmehr Ageſel in der veilchenblauen
Pekeſche mit Sammetvorſtößen. Er ging munteren
und beherzten Schrittes auf die beiden Männer zu,
[90] denn er war auf dem Wege nach dem Oberhofe.
Aber ihn ſehen, einen Laut des Schreckens ausſto-
ßen, ſich blitzſchnell umkehren und mit gewaltiger
Schnelligkeit entfliehen, war bei dem Küſter Eins.
Er lief, die Hände vorgeſtreckt, ſpornſtreichs
nach dem Hochzeithauſe und ſtürzte mit dem Ge-
ſchrei: Rettet Euch! unter die Gäſte, die alſobald
aufgeſtört, theils den Schulmeiſter in bewegten
Gruppen umwogten, theils zum Flüchten Anſtalt
machten. Der Hofſchulze, welcher von der allge-
meinen Unruhe nicht angeſteckt wurde, trat fragend
zum Küſter und erhielt von ihm den Beſcheid, daß
einer oder mehrere Tolle, ja vermuthlich das ganze
Irrenhaus in der Nähe ausgebrochen ſei, und die
verrückte Geſellſchaft, furchtbar mit Flinten und
Keulen bewaffnet, ſich nahe.
Die Weiber erhoben ein Geſchrei, der Hof-
ſchulze, welcher von ſich auf Andere ſchloß und
nicht annehmen konnte, daß die Furcht in dem
Maaße übertreibe, wie hier der Fall war, machte
zum Erſtenmale in ſeinem Leben ein verlegenes
Geſicht, und Alles war in Beſtürzung — als der
Schirrmeiſter mit dem vermeintlichen Tollen in
den Hof trat.
[91]
Ageſel! riefen Alle, die ihn kannten, und deren
waren nicht wenige. Iſt dieſes das ganze ent-
ſprungene Irrenhaus? fragte der Hauptmann.
Ihr ſeid und bleibt ein Poltron, Küſter! — Man
kann noch nicht wiſſen — ſtammelte der zitternde
Küſter, der ſeinen Verſteck hinter der Excellenz
vom Hofe, die indeſſen auch unter den Gäſten ein-
getroffen war, genommen hatte, vermuthlich weil
er im Schutz des Vornehmſten am ſicherſten zu
ſeyn glaubte. Die Excellenz ſah verwundert umher
und wußte abermals nicht, woran ſie war.
Ageſel warf einen wehmüthigen Blick auf die
Verſammlung, einen ſchmerzlichen gen Himmel und
ſagte dann ſeufzend: Ich ahne recht wohl, was
dieſer Vorgang zu bedeuten hat. Ja, wer einmal
einem gewiſſen Unglücke unterworfen geweſen iſt,
vor deſſen Schritten fleucht immerdar die Furcht
her und ruft: Geht aus dem Wege! — Meine
Herren aus der Stadt! Ich kann Sie verſichern,
daß ich gewöhnlicher Menſch in der vollſten Bedeu-
tung des Wortes bin. Euch Bauern, die Ihr dieß
vielleicht nicht verſtehen würdet, ſage ich, daß es
bei mir keinesweges rappelt, ſondern daß ich auf
den Oberhof komme, um mich nach der Pflege-
[92] tochter vom Schloſſe zu erkundigen. Wer mir das
glauben will, der thut wohl daran, und wer es
nicht glauben will, der kann es bleiben laſſen.
Die Flinte, welche den Küſter vielleicht erſchreckt
hat, habe ich droben am Freiſtuhl, bei dem ich
vorbeikam, im Walde gefunden. Schaft und
Rohr lagen geſondert und zum Theil beſchä-
digt an verſchiedenen Stellen, mich jammerte das
gute Eiſen und Holz, ich band es nothdürftig mit
Baſt und Bindfaden zuſammen, und ſtellte ſo den
Anſchein einer Flinte dar, welcher aber, wie der
Augenſchein lehrt, durchaus unſchädlich iſt.
Er zeigte das zuſammengeflickte Schießgewehr
vor, welches, wie man leicht erräth, das des Jägers
war. Wer es zu ſehen bekam, überzeugte ſich mit
einem Blicke, daß es keine Gefahr bringen könne.
Die geſetzten Reden des Schulmeiſters brachten
ein allgemeines Zutrauen in ſeinen hergeſtellten
Verſtand zu Wege. Dem Diaconus kam plötzlich
ein Gedanke, durch den ſo unvermuthet in die
Hochzeit eintretenden Ageſel den ganzen Streit
über das Aufwarten beizulegen. Er ſagte dem
Hofſchulzen ſeine Meinung, dieſer billigte ſie, und
Beide richteten an den Schulmeiſter das Erſuchen,
[93] als zweiter Aufwärter bei der Mahlzeit zu dienen.
Nichts konnte dem Manne erwünſchter ſeyn. Er
verſetzte, daß ſein ganzes Beſtreben jetzt dahin
gehe, nützlich zu wirken, daß er daher mit Freu-
den die Gelegenheit, die ihm heute dazu durch
das Bedienen der Gäſte gewährt werde, ergreife,
und in dieſem anſcheinend zufälligen Ereigniſſe eine
wahre Fügung des Himmels erkenne, indem er
nicht verſchweigen könne, daß der Herr Schulrath
Thomaſius ihm gewiſſe Ausſicht auf die Schul-
meiſterſtelle der Bauerſchaft gegeben habe, daher
das vorläufige Aufwarten gleichſam ſchon der An-
fang des ihm zugeſagten Dienſtes darſtelle. Nach
dieſer Rede band er ſich hurtig eine weiße Schürze
vor, holte mit Geſchicklichkeit einen gekochten
Schinken vom Feuer und ſetzte ihn anſtandsvoll
auf die Tafel im Baumgarten.
Sonach waren alle Hinderniſſe beſeitiget, und
die ganze Hochzeitgeſellſchaft nahm auf eine ge-
reimte Einladung des Burſchen, der Hölſcher zu
bitten vergeſſen hatte, Platz. Die Braut, die
Brautjungfern, der Diaconus, der Brautvater, die
ſtädtiſchen Freunde, die Excellenz, der Schirrmei-
ſter und die größten Hofesbeſitzer mit ihren Frauen
[94] ſtellten ſich um die Tafel unter den Bäumen im
Garten, die geringeren Leute und die jungen Bur-
ſche und Mädchen unter Anführung des Küſters
um die im Flur. Der Diaconus ſprach an ſeinem
[Tiſche] ein Gebet, der Küſter eins an dem ſeinigen.
Hierauf wurde an beiden Tiſchen ein geiſtliches
Lied angeſtimmt.
Für Lisbeth war zwiſchen den Brautjungfern
ein Platz offen gelaſſen worden. Der Hofſchulze
ſah ſich unruhig nach ihr um. Sie kam nicht.
Dagegen kam während des Geſanges der Jäger,
überblickte die Tafel, fand für ſich keinen Platz
offen, weil die zwei unerwarteten Gäſte, die Excel-
lenz und der Schirrmeiſter, ſchon allen Raum hin-
weggenommen hatten, Lisbeths Platz aber unbe-
ſetzt. Freudeglänzend wurde ſein Antlitz, er ſchlich
ſich ſacht ſeitwärts nach dem Hauſe, um ſein
Mädchen aufzuſuchen. Sie trat ihm bei den Lin-
den entgegen, umgekleidet, in ihrem gewöhnlichen
Anzuge, den Strohhut auf dem Haupte. — Nun iſt
mir wohl, nun bin ich wieder, wie ich ſeyn muß!
rief ſie freundlich. — Ich weiß, ſagte er, du magſt
dich nicht verſtellen, du wollteſt neulich nicht ein-
mal leiden, daß ich dir an deinem Haare zeigen
[95] durfte, was für Zöpfe die ſchwäbiſchen Mädchen
tragen.
Nein, ſagte ſie, niemals was vorſtellen, was
man nicht iſt.
Sie wollte nach dem Tiſche im Baumgarten
gehen, der Jäger hielt ſie aber zurück und rief:
Wie? In dem leichten ſtädtiſchen Kleidchen willſt
du dich als Brautjungfer an den Tiſch ſetzen! Da
erwarte nur, daß dich der Hofſchulze, der ſtreng
auf Ordnung und Coſtüm hält, fortweiſet! — Ja,
was ſoll ich beginnen? fragte ſie verlegen; das
häßliche ſteife Zeug lege ich nimmermehr wieder an.
O meine Geliebte, ſagte der Jäger zärtlich,
wollen wir denn unſer Glück unter die Bauern
tragen? Daſitzen und rohe Späße anhören und
langweilige Bräuche mit anſchauen? Iſt’s denn
nicht der Tag unſerer Tage? Gehört er nicht
ganz uns unter Gottes liebem Himmel und auf
Gottes grüner Erde? Müſſen wir Zwei nicht
allein bei einander bleiben, fern, fern von den
anderen Menſchen? Ich wollte dich bitten, mit
mir zu gehen, den Hügeln zu, den Platz ſuchen,
wo ich dich zum erſtenmale fand bei der ſchonen
Blume!
[96]
Wie darf ich das? Was würden ſie von mir
im Oberhofe ſagen, verſetzte ſie ſcheu. Sie ent-
fernte ſich von ihm.
Wohl! Wohl! rief er halbzornig. So ſetze dich
denn nieder bei deinen Cameradinnen; für mich
iſt aber nicht gedeckt, ich gehe zu Wald! — Er
ging trotzig einer Seitenpforte zu, die in das
Freie führte. Ein ſtechender Schmerz ſaß ihm im
Herzen. Um nichts, wenn Ihr wollt. Das iſt
die Liebe. — Aber er hatte noch nicht die Pforte
erreicht, als er ſeine Schulter leiſe angerührt
fühlte. Er wandte ſich um; Lisbeth war ihm
nachgefolgt. — Wenn ſie dir nichts zu eſſen geben
wollen, da mag ich auch nichts und wo du bleibſt,
bleibe ich auch; ſagte ſie herzlich und zog ihn,
bevor er etwas erwiedern konnte, nun ſelbſt durch
die Pforte in das Freie. Er umfaßte ſie und
Beide ſprangen durch Wieſe und Feld.
[97]
Siebentes Capitel.
Der vornehme Herr vom Hofe macht ver-
gebliche Anſtrengungen, ſich herabzulaſſen.
Der Spaßmacher Steinhauſen wird
Jedermann verſtändlich.
Die Braut ſaß quer vor dem Tiſche und rührte
keinen Biſſen an. Der Brautvater, welcher dem Auf-
tritte zwiſchen dem Jäger und Lisbeth aus der
Entfernung zugeſchaut hatte und in Folge deſſel-
ben den Platz der dritten Jungfer leer bleiben
ſehen mußte, flüſterte gekränkt und ingrimmig:
Dieſer Untugend werde ich noch vor Abend mit
der Manier ein Ende machen. — Auch er aß
wenig. Deſto angelegener ließen die Bauern ſich
dieſes ſeyn, hatten ihre Meſſern, ein Jeder das
ſeinige aus der Taſche hervorgezogen, womit ſie
ohne Gabeln fertig zu werden wußten, und ſpra-
chen den Hühnern tapfer zu, ohne darüber ihre
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 7
[98] muthigen Vorſätze auf Schinken, Moſtertſtücke und
Braten daran zu geben. Eine unendliche Laſt von
Eßbarem dampfte auf den Tafeln, faſt ſchien es,
ſelbſt dieſen Appetiten gegenüber, unmöglich, Alles
zu bewältigen, wenn nicht dennoch die Schnelligkeit,
womit die erſten Gänge vom Angeſichte der Welt
verſchwanden, dazu die Ausſicht gegeben hätte.
Alles ſchrotete, käute, ſchluckte, und es iſt nicht
erlogen, — denn ich bin ja nicht Münchhauſen,
oder wenigſtens nur zur Hälfte Er — wenn ich
ſage, daß mancher Bauer binnen wenigen Minuten
ein ganzes Huhn überwunden hatte, und daß ein
Schinken für ſechs Mann nur ſo eben zureichte.
Auch die Städter ließen ſich die reinliche, derbe
Koſt trefflich munden, der Schirrmeiſter aber aß
für zwei Bauern und trank für drei. Was das
Getränk betrifft, ſo muß ich leider, wie undichte-
riſch dieß klingen mag, von Bier berichten. Jeder
hatte ſeinen irdenen Deckelkrug gefüllt vor ſich
ſtehen, und wenn derſelbe geleert war, ſo klappte
der Inhaber auf eine eigene landesübliche Weiſe
mit dem zinnernen Deckel, worauf friſche Füllung
erfolgte. Selbige beſorgte der erſte Aufwärter,
der Bräutigam, aus einer mächtigen Schleifkanne
[99] eingießend, mit welcher er, eine weiße Serviette
vorgeſteckt, die Tafeln umkreiſte. Dieſer König
des Feſtes hatte von ſeinem Ehrentage nichts als
Prügel vorhin und Mühe anjetzt, denn die Deckel
klappten unaufhörlich, bald hier, bald da. — Nur
der Diaconus und die ſtädtiſchen Gäſte erhielten
Wein vorgeſetzt. Der Schulmeiſter lag der Auf-
wartung in Betreff des Feſten ob, flink und ge-
wandt, recht heiter in dieſem Geſchäfte.
Es gab unter den Gäſten nur Zwei, welche
die allgemeine Befriedigung nicht ganz theilten, der
Eine aus Verlegenheit, der Andere aus Furcht.
In Furcht befand ſich nämlich der Küſter und in
Verlegenheit der vornehme Herr vom Hofe. Dem
Küſter hätte der größte Irrenarzt von Europa ein
ſchriftliches Zeugniß einhändigen können, daß der
Schulmeiſter bei Sinnen ſei, es würde ihm doch
nicht wohl geworden ſeyn in der Nähe dieſes Men-
ſchen, der mit ſo gefährlichen Werkzeugen, wie
Schüſſeln, Tellern, Meſſern, unbewacht um ihn her
handthierte. Er dachte im Stillen an alle die
Fälle, worin ein Verrückter, lange Zeit ſcheinbar
hergeſtellt, plötzlich wieder wüthend geworden iſt,
und nun mit dem, was er gerade in der Hand
7*
[100] hat, dem Nächſten, Beſten die Hirnſchaale zer-
ſchmettert. Dieſem Schickſale wenigſtens einiger-
maßen vorzubeugen, ſetzte er unter dem Vorwande,
daß es in dem von Hitze glühenden Flure kühl
ziehe, ſeinen Hut auf, obgleich dieß allgemein auf-
fiel. Wirklich war der arme Küſter in einer trau-
rigen Lage. Seine Eßluſt überſtieg wo möglich
noch die des Schirrmeiſters, der heutige Tag war
ein ſolcher, an dem er hatte zeigen wollen, was
Kinnbacken zu leiſten vermögen, und nun ging ihm
dieſer ſchöne Traum ſo häßlich aus. Denn nichts
hindert den Menſchen mehr am Schlucken als
Furcht und Angſt. Der Küſter fühlte ſich un-
glaublich gehemmt. Hatte er eben auch in einem
ſelbſtvergeſſenen Augenblicke einen ſtarken Biſſen
zum Munde geführt, etwa eine Hühnerkeule oder
einen Streifen Rindfleiſch von der Mächtigkeit einer
halben Hand, ſiehe! ſo flog hinter ihm der auf-
wartende Schulmeiſter, vielleicht eine Kelle in der
Fauſt, vorbei, und Hühnerkeule oder Rindfleiſch-
ſtreifen ſaßen ihm auf der Stelle feſt, verzaubert,
wie Schiffe auf dem Lebermeere, zwiſchen den
Zähnen. — Umſonſt ſuchte er durch häufiges Trin-
ken die hinabführenden Wege geſchmeidiger zu ma-
[101] chen; der Schreck erhielt ſeine Kehle in Trockniß
trotz alles Gießens. So, zwiſchen Entſetzen und
Appetit, glich er, wenn dieſes Gleichniß nicht zu
niedrig klingt, dem Hunde, der vor einer erwiſch-
ten Bratwurſt ſitzt, vor Wolluſt zittert, ſie zu ver-
ſchlingen, und dabei ſcheu nach dem Herrn ſieht,
der aus der Entfernung bereits mit der Peitſche
herbeieilt.
Der vornehme Herr vom Hofe machte unter-
deſſen vergebliche Verſuche, ſich herabzulaſſen, und
gerieth darüber in Verlegenheit. Er ſaß zwiſchen
dem Hofſchulzen und dem Diaconus, und hatte
gegenüber zwei Bauerfrauen, die bei ihren Män-
nern ſaßen. Als das gewaltige Eſſen begann,
fühlte er wohl, daß er in dieſe Thätigkeit nicht
einzugreifen vermöge, auch erregten ihm die Spei-
ſen keinen Hunger und er begnügte ſich, nur zum
Schein etwas auf den Teller zu nehmen. Dort
aber blieb es unberührt liegen, ungeachtet der Hof-
ſchulze, der ſeine Koſt nicht gern verſchmäht ſah,
ihn mit einiger Empfindlichkeit nöthigte, auch zu
eſſen. Das konnte er nicht, jedoch beſtrebte er
ſich, leutſelig zu ſeyn, denn zu dieſem Ende und
um das Volk, ſo viel an ihm war, durch hinrei-
[102] ßende Manieren für den Thron gewinnen zu helfen,
war er ja nur wieder unter die Bauern gekommen.
Um in dieſe Manieren einen gewiſſen Fort-
ſchritt vom Geringeren zum Größeren zu bringen,
ſah er die gegenüber ſitzenden Bauern mit einer
ſußen Freundlichkeit an und winkte dazu gnädig
mit dem Haupte, als wollte er ſagen: Nun,
ſchmeckt’s, Ihr ehrlichen Landleute? — Darüber lach-
ten aber die Bauern, und Einer ſtieß ſeinen Nach-
bar an mit den Worten: Iſt der Kerl verrückt? —
Der vornehme Herr vom Hofe glaubte, als er des
Lachens inne ward, ſeine Huld nicht deutlich genug
von ſich gegeben zu haben, er beſchloß daher, zu-
vörderſt das andere Geſchlecht zu gewinnen, ließ
ſich zwei Teller geben, ſtellte ſie vor ſich hin,
ſchnitt zwei gute Stücke von dem vor ihm ſtehen-
den Truthahne ab, legte ſie auf die Teller und
reichte dieſe Leckerbißlein den beiden Bauerweibern,
die noch ziemlich rund und hübſch waren. Die
Weiber, zugleich mit einer artigen Redensart,
welche ihnen unverſtäudlich blieb, angeſprochen,
guckten verlegen, roth und ſtumm auf die Teller,
ohne die Gaben der Courtoiſie anzurühren. Ihre
Männer aber ſahen mit ſonderbaren Blicken nach
[103] dem Geber hinüber; der Eine nahm ſeiner Frau
den Teller mit den Worten: Du brauchſt nicht von
anderer Leute Tellern zu eſſen, du haſt deinen
eigenen; weg und reichte ihn dem ſo eben geſchäf-
tig vorbeifliegenden Schulmeiſter. Der Andere warf
ihn ſogar ärgerlich mit der Befrachtung unter den
Tiſch, indem er halblaut rief: Was zu grob iſt,
iſt zu grob! — Der vornehme Herr vom Hofe
begriff durchaus dieſe Einhergänge nicht, er ſuchte
ſich rechts und links, gerade und ſchräge hinüber ſo
liebenswürdig als möglich zu machen, aber Alles
war vergebens, weil er immer mit holder Unge-
zwungenheit, die zwiſchen die feſtgeſtellte Ordnung
der Tafel trat, darthun wollte, daß es ihn gar
nicht beenge, unter ſo geringen Leuten zu ſitzen.
Aber das erſchien den bäuerlichen Tiſchgenoſſen eben
wie die größte [Unart], und bis zum Schweinsbra-
ten hatte ſich flüſternd ſo ziemlich die Meinung
feſtgeſtellt, daß man vornehme Leute für höflicher
gehalten habe. Der umſonſt ſich Herablaſſende,
welcher äußerlich die Faſſung des Hofes behielt,
obgleich ihm innerlich immer übler zu Muthe ward,
ſagte [e]ndlich zum Hofſchulzen: Ihr habt hier recht
eigenthumliche Sitten, Alterchen.
[104]
Auf dieſe huldreiche Anrede maaß der Hof-
ſchulze ſeinen vornehmen Gaſt mit den Augen und
verſetzte dann ſtolz und bedächtig: Ich weiß nicht,
Herr, ob die Sitten hier anders ſind, als anderer
Orten, denn ich bin nie über Börde und Haar-
ſtrang hinausgekommen, habe auch niemalen Luſt
dazu gehabt. Richtig iſt es, daß hier Alles mit
der Manier zugeht, Alles und Jedes ſeine Ord-
nung, Zeit und den gewieſenen Platz hat, Jeder-
mann die ihm gebührende Reverenz genießt, ſo daß
ich den Halbhüfner, den Kötter und wer es ſonſt
ſeyn mag, Jeden bei ſeiner Gebühr nennen muß,
freilich aber auch prätendire, daß mich Niemand
anders als Hofſchulze nennt, das heißt, verſteht
ſich, von meines Gleichen, denn, Herr, hinter den
Bergen mögen wohl andere Sitten und Gebräuche
herrſchen.
Es war gut, daß in dieſem Augenblicke das
letzte Gericht der Mahlzeit, der Rollkuchen verzehrt
war, und von weiterer Herablaſſung Seitens des
vornehmen Herren nicht mehr die Rede ſeyn konnte,
denn man kann nicht wiſſen, bis zu welchen unan-
genehmen Auftritten dieſelbe noch geführt haben
würde. Der Diaconus ſprach das Gratias, aber-
[105] mals ertönte ein geiſtliches Lied, und darauf ging
Alles von den Tiſchen, die gleich einem Schlacht-
felde nur noch Knochen, Gerippe und Schwarten
zeigten. Die Weiber tranken Caffee, die Männer
ſetzten ihr Biertrinken fort, die Muſicanten ſtimm-
ten allgemach ihre Inſtrumente. Steinhauſen, der
Spaßmacher, begann ſein Amt, indem er von einer
Gruppe zur Andern ging, hier das Räthſel auf-
gab: Wann der Haſe über die meiſten Löcher
laufe? dort einen Rothkopf warnte, er ſolle nicht
ſo nahe an die Scheune gehen, um nicht Feuer
anzulegen, einem dritten Haufen die Geſchichte
vom Prinzen Pralle erzählte, der gefallen ſei vom
Stalle, hätte weinen wollen, aber keine Augen ge-
habt, und was dergleichen mehr war an Räthſeln,
Schwänklein und Pößlein, die er auf jeder Hoch-
zeit anbrachte und die nie ihre Wirkung verfehl-
ten. Die Bauern lachten, daß die Hofesmauern
hätten Riſſe bekommen mögen; wen er recht ent-
zückte, der gab ihm einen Puff, nicht eben allzu
ſanft, worauf Steinhauſen einen Klaps zurückgab,
oder mit den Füßen ausſchlug, wie ein Pferd,
ohne daß dieſe Thätlichkeiten irgend eine Störung
des guten Vernehmens und des allervollkommenſten
[106] Verſtändniſſes hervorbrachten, welches zwiſchen dem
Spaßmacher und ſeinen Zuhörern herrſchte.
Während man ſo dort einander durchaus be-
griff, dauerten in einer andern Ecke des Hofes
die Mißverſtändniſſe fort. Der vornehme Herr
hatte ſich nämlich mit dem alten Hauptmann in
ein Geſpräch eingelaſſen, welches eine patriotiſche
Färbung erhielt. Der Alte war ſehr geſprächig
über die Affairen, denen er auf der vaterländiſchen
Seite beigewohnt, und erging ſich mit Behagen in
dieſen Kriegesgeſchichten. Jener Cavalier war
vor Zeiten dem Hauptquartiere attachirt geweſen,
und konnte alſo ſo ziemlich folgen. Im Verlaufe
dieſer Unterredungen rief er plötzlich mit einem
feucht verklärten Blicke: Dieſe große Zeit, die der
Herr ſegnete! Was für herrliche Früchte hat ſie
aber auch gebracht! — Er faltete die Hände dabei.
Das Geſicht des alten Hauptmanns wurde ſo
trocken, wie ein Sandfeld, welches ſeit ſechs Wo-
chen keinen Regen geſehen, und er verſetzte:
Früchte? Ei!
Ein Vaterland! rief der Hofmann mit Pathos.
Der alte Hauptmann hatte etwas zu viel
Wein getrunken. Er ſchüttelte ſich, als ob er,
[107] mit Erlaubniß zu reden, an Ungeziefer litte und
polterte dann rückſichtslos: Vaterland! — Schwere
Angſt! Und Alles vergeſſen oben, was geſchehen,
mit Schlauchſpritzen die Feuer ausgeſpritzt, und
wenn wir künftiges Jahr das Jubiläum feiern,
vermuthlich damit wegkriechen müſſen bei Seite,
nur damit ſo geduldet werden, keine Anerkennung,
keine Unterſtützung von — — Donnerwetter!
Verzeihen Excellenz, daß ich Sie ſtehen laſſe, aber
ich kann die Pfeife nicht entbehren und will ſie
mir dort bei den Bauern anſtecken.
Er ging und ließ den Cavalier ſtehen, deſſen
Beziehungen im Oberhofe anfingen mythiſch zu
werden. Im Grunde war es ihm lieb, daß der
alte Offizier ſich ſo brüsk von ihm entfernte, denn
er erwog, daß der angeregte Gegenſtand zu zarter
Natur ſei, um ihm, in ſeiner Stellung ſo nahe
dem Throne, ein ferneres Geſpräch zu verſtatten.
Ein Unwille hatte ſich ſeiner Seele bemei-
ſtert, er nahm ſich vor, geeigneten Ortes ein Wort
über den in dieſen Gegenden herrſchenden ſchlech-
ten Geiſt fallen zu laſſen, vor der Hand aber ſeine
Rolle rein auszuſpielen. — Wenn dieſe Beſtien
die feineren Andeutungen von Güte und Huld
[108] nicht verſtehen, ſo will ich mich gleichſam encanail-
liren, ſagte er für ſich. Er trat zu einer Gruppe
von Bauern, welche Steinhauſen eben verlaſſen
hatte, faßte Zwei bei der Hand (denn er konnte
ſich dazu verſtehen, weil er Handſchuhe trug) und
rief im biederſten Hoftone, deſſen er mächtig wer-
den konnte: Wie freut man ſich, wenn man immer
in Zwangsverhältniſſen leben muß, darf man ein-
mal unter Euch gemüthliche, von jeder Feſſel der
Convenienz entbundene Naturmenſchen treten!
Dieſes Lob klang den Bauern wie Chaldäiſch,
und ſie begannen ſich nun vor ihrem Gönner zu
fürchten, denn ſie meinten, er habe ihnen eine neue
Steuer ankündigen wollen. Sie wichen daher, wie
in der Kirche, ſcheu vor ihm zurück, und die bei-
den an der Hand Ergriffenen ſteckten die Hände
in die Rocktaſchen. — Der Diaconus, welcher die
ganze Zeit über den Mühwaltungen ſeiner vorneh-
men Bekanntſchaft mit Behagen gefolgt war, trat
zu dem unglücklichen Herablaſſenden und ſagte:
Excellenz, die Leute ſind zu dumm, um Sie zu
faſſen. Uebrigens bin ich der unterthänigen Mei-
nung, daß Sie, wofern Sie länger unter ihnen verweil-
ten, bald von Ihrem Glauben zurückkommen würden.
[109]
Wie ſo?
Gemüthlich ſind die Bauern gar nicht. Excel-
lenz, die Leute haben keine Zeit zum Gemüth.
Gemüth kann man nur haben, wenn man wenig
zu thun hat, der Bauer aber muß ſich zu viel
placken und ſchinden, um ſich auf das Gemüth
legen zu können. Er iſt durch und durch gerader
Verſtand, Ernſt, Eigenſinn und erlaubter Eigen-
nutz. Weil dieſe Miſchung nun aber wie für die
Ewigkeit bei ihm zu ſeyn ſcheint, ſo hat ſie etwas
Ehrwürdiges, etwas ſo Ehrwürdiges, wie der Gra-
nit, der auch, hart und ſchwer, die Erde hält. Der
Bauernſtand iſt der Granit der bürgerlichen Ge-
meinſchaft.
Sie müſſen ſie beſſer kennen. — Wenigſtens
aber hatte ich darin Recht, daß ich ſie von den
Feſſeln der Convenienz gelöſte Naturmenſchen
nannte.
Im Gegentheil — Excellenz verzeihen — der
Bauer iſt zwar viel im Freien, aber nichts weni-
ger als ein Naturmenſch. Er hängt ſo ſehr von
Convenienz, Herkommen, Standesbegriffen und
Standesvorurtheilen ab, wie nur die höchſte Claſſe
der Geſellſchaft. Im Mittelſtande allein gilt die
[110] Freiheit des Individuums, in dieſem Stande fließt
einzig der Strom der Selbſtbeſtimmung nach Charak-
ter, Talent, Laune und Willkühr. Der Bauer denkt,
handelt, empfindet ſtandesmäßig und hergebrachter
Weiſe. Die Abſtufungen werden in den Dorfern
wenigſtens eben ſo feſt gehalten als in den Schlöſ-
ſern und Palläſten. Ich unterſtehe mich, Ihnen
zu verſichern, daß dieſer Hofſchulze auf den Colonen
mit demſelben Stolze hinunterſieht, wie nur der
reichſte Majoratsherr auf den Briefadel von ge-
ſtern blicken kann. Ich wollte es keinem Burſchen
aus einem kleinen Hofe rathen, um die Tochter
aus einem Oberhofe zu freien. Dieſelben Ver-
wickelungen würden entſtehen, als in dem Falle,
wenn ein Kaufmannsdiener zu einer Erbgräfin
emporblickt. Gerade hier — vom Oberhofe —
geht eine alte halbverklungene Sage umher, die
den ſchauderhaften Ausgang einer ſolchen mißge-
gewandten Neigung meldet. Durch meinen nahen
Verkehr mit dieſen Leuten hat ſich die Anſicht bei
mir feſtgeſtellt, duß der Bauernſtand nur einen
zweiten ihm ähnlichen hat, den ſogenannten alten
oder hohen Adel, wo ein ſolcher nämlich noch
wahrhaft beſteht. Der Mittelſtand iſt eine von Bei-
[111] den ganz verſchiedene Schicht. Bauer aber und hoher
Ariſtocrat ſtimmen darin überein, daß Erſterer ſo-
wohl als Letzterer weniger ſich, als ihrer Gattung
angehören, zuvörderſt Bauer ſind und Ariſtocrat
und erſt nachher Menſch.
Der mythiſche Cavalier, welcher dieſe uner-
wartete Parallele zu hören bekam, ſchwieg einige
Zeit tiefſinnig. Dann verſetzte er: Sie haben,
Herr Prediger, dieſes mehr aus Büchern. Ich ver-
ſichere Sie, daß wir mit der Zeit fortgeſchritten
ſind. Wir heirathen ſogar Jüdinnen.
Excellenz, fuhr der Diaconus mit aller Ver-
geſſenheit eines deutſchen Gelehrten heraus, der
Adel, den Sie meinen, iſt ein reines Garnichts
und kommt mir höchſtens vor wie der Schwamm
im Hauſe.
Hierauf wollte die [Excellenz] ein Geſicht machen,
welches erhaben ausſehen ſollte; es ließ ſich jedoch
nur vornehm an. In dieſem Augenblicke kam ſein
Privatſecretair und meldete, daß der Wagen, zur
Weiterreiſe fertig, vor dem Hofe halte. Er ging
hierauf, ſehr höflich von dem Hofſchulzen und dem
Diaconus geleitet, zur Pforte, wo er Beide ent-
ließ. Gedanken hatte er nicht über das Vorge-
[112] fallene, ſondern nur die Abſicht, auch den Diaco-
nus als unruhigen Kopf bei Gelegenheit zu
denunciiren.
Dieſer ging mit dem Hofſchulzen ſtill lächelnd
zurück, ſagte aber nichts. Im Baumgarten ſpiel-
ten die Muſicanten auf und der Tanz begann. Der
Bräutigam, welcher nun endlich auch zu einem Ver-
gnügen gelangte, führte zuerſt die Braut auf, dann
brachte er ſie den nächſten Anverwandten, einem
nach dem Andern zu, um auch ein Gängelchen mit
ihr zu machen. Erſt tanzten ſie Menuett, einen
munteren darauf, und dann den ſogenannten Schu-
ſtertanz mit ſeinen poſſierlichen Sprüngen. Das
Gras im Baumgarten war bald niedergetanzt und
der Boden ſo glatt geworden wie eine Tenne. Die
Köpfe hatten ſich erhitzt, die Männer jauchzten, die
Mädchen kreiſchten und es war viel Lärmens,
Springens und Jubilirens im Oberhofe.
[113]
Achtes Capitel.
Eine Idylle in Feld und Buſch.
Indeſſen liefen der Jäger und ſein Wild durch
den Eichenkamp nach den Kornfeldern, Triften
und Hügeln. Das Wild floh nicht vor dem
Schützen, es ließ ſich küſſen und ſtreicheln; es war
ein ſehr zahmes Wild geworden. Der Jäger trieb
tauſend Poſſen mit dem Wilde, er ringelte die
gelben Locken ſich um die Finger, und dann küßte
er ſie, er drückte, wenn die weißen Zähne ſeines
Mädchens zwiſchen den Lippen zu ſehr hervorſchie-
nen, die Lippen ſanft zuſammen und ſagte, das
Geſichtchen ſei nicht fertig geworden und er müſſe
es vollenden. Er faßte das feine Ohrläppchen,
und kniff es etwas, doch nicht allzuſehr. Dann
zupfte er ſie auch wohl am Kleide und wendete
ſich um und that, als habe er es nicht gethan.
Solche kindiſche Poſſen trieb der erwachſene Menſch.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 8
[114] — Lisbeth ging ſtill mit freudeſchwimmendem Ge-
ſicht für ſich hin und ihre Hände falteten ſich oft
unwillkührlich wie zum Gebet. Zuweilen flüſterte
ſie: O du! Aber weiter ſagte ſie nichts. Trieb
der Jäger ſeine Poſſen zu arg, ſo drohte ſie ihm
mit dem Finger, dann ſah er ſie aus ſeinen dun-
kelblauen tiefen Augen ſo ernſt an, als zögen Ge-
danken der Ewigkeit durch ſeine Seele. Dann
lachte ſie und rief: Ich fürchte mich vor dir, und
er ſchmeichelte: So flüchte dich in Sicherheit!
und breitete die Arme aus. Das that ſie denn
auch. Sie ſtürzte mit heftiger Zärtlichkeit wider
ſeine Bruſt, daß die Locken ſchütterten und manche
ſich löſete, und dann ruhten ſie lange umſchlingend
umſchlungen, er in ihr und ſie in ihm, der einige,
ganze, vollkommene Menſch.
Er nannte ſie ſein Herz, ſein Mädchen, ſein
Reh. Sie nannte ihn nur Oswald, aber immer
mit einem anderen Ausdrucke, und alle Töne auf
der Laute der Liebe, vom ſchwärmeriſchen Ent-
zücken bis zum ſcherzenden Schmeichelgeflüſter klan-
gen und zitterten in dem einen Worte. Sie hatte
keine eigentlich ſchöne Stimme, es lag darin etwas
Bedecktes, Rauhes, aber ſeit heute quoll etwas
[115] unendlich Süßes aus dieſer Umhüllung hervor. Es
war, als ob auch die Pſyche ihrer Töne erwacht
ſei und die Flügel nach Entfaltung rängen.
Jeder dieſer Scherze, alle dieſe Poſſen und die
kleinſten Kleinigkeiten hatten einen Engel, der
nahm ſie und legte ſie am Throne Gottes nieder.
Denn es war die erſte Liebe, die ächte, die ein-
zige, die in dieſen beiden jungen, unſchuldigen
Herzen brannte und klopfte! In der Fülle ihrer
Vorahnungen, von geſunder, treibender Hoffnung
ſchwanger, hatten ſie einander gefunden, kein Ent-
ſagen, keine Täuſchung hatte ſie noch um einen
Tropfen warmen Blutes gebracht, vollendet, wie
Aphrodite aus dem Schaume des Meeres, erſtand
ihnen das Glück. Das iſt die Liebe, die wie jene
Wunderpflanze aus Oſten, vor unſeren ſichtlichen
Augen wächſt.
Dieſe Liebe kümmert ſich nicht um die Landes-
ſtege und Wege. Der Jäger und ſein Wild hatten
nach der ſchönen Blume gehen wollen, vergaßen
aber dieſen Vorſatz, ehe ſie noch fünfhundert
Schritte vom Hofe waren. Sie gingen, liefen,
ſchwankten umher, ſie wußten nicht, wo? War der
Himmel nicht überall blau, war die Erde nicht
8*
[116] aller Orten grün? — Es gingen Leute vorüber, die
ſahen ſie nicht; zuweilen hatten ſie gar keinen
Weg unter den Füßen, deß achteten ſie nicht. Zu-
fällig kamen ſie ſo Hand in Hand auf die Höhe
am Freiſtuhl. Ei! rief der Jäger, das iſt ſchön,
wie fromme Pilgrimme ſollen wir alle Stationen
beſuchen. — Er führte ſie zu dem Steine, darauf
ſie in jener Schmerzensnacht zuſammen geſeſſen
hatten.
Das überreife Korn, welches der Hofſchulze
noch immer nicht hatte ſchneiden laſſen, knickte faſt
unter der Bürde ſeiner Aehren, die Sonne ſchwamm
wie ein zerfloſſenes Gold in dieſem Segen, und
doch war die Stelle kühl und friſch, denn aus dem
Forſte wehte ein gelinder Wind. Die Kronen der
Linden über ihnen ſchauerten leiſe. Da ſaßen ſie
nun wieder, glücklich vereinigt und ſchauten über
die helle freundliche Gegend hin und freuten ſich,
daß ſie auf der Welt waren. — Ich will deine
Wunden um Verzeihung bitten, ſagte der Jäger,
nahm ihr das Tuch ab und küßte die feinen rothen
Pünctchen zwiſchen dem Buſen und der glänzenden
Schulter. Sie duldete es ohne Sträuben, ſie
hatte die kleinen Hände kreuzweis auf ihren Schooß
[117] gelegt, ſo ſaß ſie da, ein ergebenes Opfer der
Liebe, aber ſie ſah ihn ſchamhaft bittend an. Den
Blick ertrug er nicht, Thränen ſtürzten ihm aus
den Augen, wie damals, als er mit ihrem Häub-
chen ſein Spiel trieb, er legte ihr haſtig das Tuch
um Buſen und Schulter, fiel ihr zu Füßen, drückte
ihre Kniee wider ſein Herz und lief dann eine
Strecke von ihr weg auf den Rain, um ſeiner
Bewegung Meiſter zu werden.
Als er zurückkam, fand er ſie nicht mehr auf
dem Steine. Beſtürzt blickte er umher. Da er-
ſcholl ein leiſes Kichern aus einer der alten Linden.
Er ſah erſtaunt nach dem Baume und machte eine
Entdeckung, die er früher überſehen hatte. Der
Baum war hohl und bot in ſeinem Inneren geräu-
migen Platz für ein Verſteckens dar. Er zog ſein
Mädchen ſcherzend und ſchäkernd heraus.
Nun ſtand ſie vor ihm, und er maaß ihre
Größe an der ſeinen. Sie reichte ihm gerade bis
zur Bruſt, hatte alſo das rechte Maaß, denn der
Kopf des Weibes ſoll nur bis zum Herzen des
Mannes reichen, dann giebt es den ächten Bund,
den rechten Bund. Er faßte ſie bei beiden Hän-
den, ſah ihr liebevoll in die klugen, treuen Augen,
[118] und fragte ſie: Sag mir an, meine Lisbeth, wie
iſt es nur zugegangen, daß du ſo geworden biſt,
ſo eigen, tief und ſonderbar?
Wie bin ich denn? fragte ſie unſchuldig. Ich
bin, wie ich bin, wie ſoll man anders ſeyn? Ich
that, was mir oblag, viel verdanke ich auch dem
Fräulein und dem alten Herrn Baron, die beide
ſo klug und gebildet ſind. Was in den Büchern
ſtand, die ich für mich las, behielt ich, und dann
hatte ich jederzeit ſchon als Kind über Alles
meine Gedanken, von denen ich gar nicht wußte,
woher ſie kamen.
Die werden wohl das Beſte an dir gethan
haben, meine Lisbeth. Wollen wir nun zur ſchö-
nen Blume gehen? Mich dünkt, ſie blüht nahebei.
Sie nahm ſeinen Arm, bat ihn aber, nun ver-
nünftig zu ſeyn. Sie gingen durch den Forſt,
kleine grüne Stege hinab. Sein Herz, ihr Herz
war ruhiger geworden, ſie genoſſen ſich und ihre
Seligkeit geſänftigter; eine Sabbathſtille hatte ſich
in ihre Buſen geſenkt. Von gleichgültigen Dingen
ſprachen ſie, dazwiſchen von ihrer Zukunft, die wie
ein roſenrother Traum vor ihnen ſchwebte. Sie
ſagte ihm, er möge nur Alles ſo einrichten, wie
[119] ihn gut dünke, wenn er wolle, ſei ſie die Seinige;
an der Einwilligung ihrer Pfleger zweifle ſie nicht.
Ich auch nicht! rief er mit unwillkührlichem
ſtolzem Jauchzen. Sie ſah ihn fragend und erſtaunt
an. Er erſchrak und ſuchte ſich mit einer übeler-
fundenen Ausrede zu helfen, die nur ein liebendes
Mädchen glauben konnte. Von ſeinen Verhältniſſen
wußte ſie nichts, ſie hatte auch eigentlich nie ſo
recht danach gefragt. War nicht ſein Blick treu,
ſeine Rede ehrlich und verſtändig, der Druck ſeiner
Hand ſanft und bieder? Hieß er nicht Oswald
Waldburg? Was brauchte ſie mehr zu wiſſen? —
Er aber hatte ſich einen Streich heute auserſonnen,
einen Streich — bei dem Gedanken an das Ge-
lingen dieſes Streiches ſchwindelte ihm der Kopf
vor Freude. Er wollte die Wonne genießen, ſein
Liebſtes mit einer Fülle von Glück zu überraſchen.
An der Senkung des Forſtes, da wo er in die
Wieſen auslief, begegnete ihnen eine Frau mit
einem Korbe voll früher Aepfel. Er kaufte ihr
einige ab, denn, ſagte er, wir müſſen doch an
unſere Wirthſchaft denken. Wenn wir noch ein
Stückchen Brod dazu hätten, ſo könnten wir eine
Herrenmahlzeit halten. — Damit will ich Ihnen
[120] dienen, ſagte die Frau, ich habe Weißbrod aus
der Stadt mitgenommen, um es in den Kotten
umher zu verkaufen, wenn Sie mir aber etwas
abnehmen, brauche ich es nicht weiter zu tragen.
Sie öffnete ein weißes Tuch, welches ſie nebſt dem
Korbe trug und er nahm zwei Brödchen heraus.
Nun gingen ſie quer durch die Wieſen und
nicht lange, ſo ſahen ſie ihren lieben Platz, den
ſie ſeit dem erſten Zuſammentreffen noch nicht wie-
der beſucht hatten. Als ſie die Büſche erblickten,
die kleinen Felſen und die ſchwarzen Baumtrüm-
mer, freuten ſie ſich wie die Kinder. Ihr erſter
Gang war nach der Blume. Die war aber in-
zwiſchen verwelkt und die rothen Kelche hingen
blaß und erſchöpft vom Stengel herunter. Lisbeth
ſeufzte, er aber ſagte: Die Blume ſtarb, die Liebe
lebte auf, geben wir der Blume ein Grab im Hei-
ligthume der Liebe! Er ſtreifte die Kelche vom
Stengel, pflückte das Blatt einer wilden Lilie,
bereitete daraus ein Röllchen, ſteckte das Ver-
welkte hinein und reichte Lisbeth den kleinen grü-
nen Sarg. Sie ſah ihn, eine Thräne im Auge,
an, dann ſchob ſie ihn unter ihr Tuch und beſtat-
tete ihn an ihrem Buſen.
[121]
Es war zwiſchen Nachmittag und Abend und
das Waſſer unter den kleinen Felſen ſchickte berau-
ſchenden Duft empor. Nun wollen wir ſpeiſen
wie die Könige! rief er fröhlich. Biſt du hungrig?
— Ei ja, verſetzte ſie lachend, es iſt nicht wahr,
daß die Liebe von der Luft lebt. — Höre, mein
Herz, ſagte er, da haſt du eine kühne Wahrheit
ausgeſprochen, wirſt es aber mit allen Roman-
ſchreibern zu thun bekommen. Im Vertraueu:
Mich hungert auch! — Es iſt doch ein Unter-
ſchied, ſagte ſie lächelnd. Sie nahm jetzt ſeinen
Ohrzipfel, wie er früher ihren, legte die Lippen an
ſein Ohr und flüſterte: Man hungert wohl, aber
der Hunger thut nicht ſo weh.
Sie wollte ſich auf einen Baumtrumm ihm
gegenüber ſetzen, er zog ſie auf ſeinen Schooß.
Sie aß aus ſeiner Hand und er aß aus ihrer,
und ſo vollbrachten ſie ihr kleines Mahl von Brod
und Aepfeln. Dann ſetzten ſie ſich unter einen
Haſelſtrauch am Bache und ſahen den klaren Well-
chen zu und den Fiſchlein, die darin hin und her
ſcherzten. Du könnteſt mir jetzt einen Gefallen
thun und mir dein Waldmährchen erzählen, wovon
du mir ſchon öfter ſpracheſt, ſagte ſie Ach! rief
[122] er, haben wir nichts Beſſeres zu thun, als erzählen
und vorleſen? Er wollte ſie umarmen, ſie entzog
ſich ihm aber, legte einen Zweig von der Haſel-
ſtaude zwiſchen ihn und ſie und ſagte: Da bleib
jenſeits ſitzen und erzähle, zum Küſſen haben wir
immer noch Zeit genug.
Er zog die Blätter und Blättchen, auf welche
er das Mährchen geſchrieben hatte, und die er zu-
fällig bei ſich trug, aus der Taſche, las und er-
zählte frei, wechſelsweiſe. Wenn er ein Blatt zu
Ende geleſen hatte, ſo warf er es in den Bach,
da trugen es die Wellen davon. — Was thuſt
du? fragte Lisbeth. — Es hat ſeine Beſtimmung
erfüllt, wenn du es gehört haſt, verſetzte er. —
Die Wellen ließen es aber nicht verloren gehen,
ſie trugen es zu mir; Ihr ſollt es nachher hören.
Anfangs hörte ſie achtſam zu und ließ ſich
Manches erklären, was ſie nicht verſtand. Später-
hin ſchien ſie zerſtreut zu werden. Sie flocht ein
Krönchen von Blumen und Gras, wie um durch
dieſe Arbeit ihre Gedanken zuſammenzuhalten. Auch
er eilte zum Ende, ſeine Fabel gefiel ihm nicht mehr.
Dieſer Wirklichkeit gegenüber ſchien ihm ſein Er-
ſonnenes matt und ſchaal.
[123]
Als er auserzählt hatte und ſie nichts ſagte,
fragte er ſie, wie es ihr gefallen habe? — Ja
ſieh, erwiederte ſie ſchüchtern, es ging mir eigen
mit deinen Wundern im Speſſart. Ich glaube, ich
hätte ſie in der Stube hören müſſen, da würde
ich mir den Wald hinzugedacht haben, aber hier
unter den grünen Blättern, bei den wehenden Win-
den und dem fließenden Waſſer kam mir Alles
ſo unnatürlich vor, und ich konnte nicht recht daran
glauben.
Die Antwort machte ihn froh, als habe er das
begeiſtertſte Lob vernommen. — Aber deinen Lohn
ſollſt du dennoch erhalten, denn Manches hat mir
ſehr darin gefallen. Ich hab’ dir ein Krönlein
geflochten, damit will ich dich krönen als meinen
König und Herrn, ſagte ſie liebreich.
Er ſank vor ihr nieder, drückte ſein Geſicht an
ihren Leib und empfing die Blumenkrone von ihr
auf ſeinem Haupte. Zu ihr aufſchauend mit ver-
klärten Blicken rief er: Weihe meine Lippen, daß
ſie immer Reines reden! Lege deine Finger auf
ſie! — Ihre Hände hatten die Eigenheit, daß
ſie oft plötzlich erkalteten, was freilich auf ein
warmes Herz deutete. So war es auch jetzt. Er
[124] fühlte die reine Kühle an ſeinen heißen Lippen, er
ſog ſie ein; ſie ſchauerte ihm wie Tempelſchauer
bis in das tiefſte Herz. Lieblich fühlte ſie dage-
gen ihre Finger von ſeiner Lippengluth erwärmt.
Das Abendroth glänzte durch die Klippen und
Büſche. Trunken gingen ſie längs des Baches auf
und nieder. Ein Lied fiel ihm ein, er ſang:
Sie hatte dem Liede faſt ängſtlich zugehört. —
Ei, wie biſt du darauf gekommen? fragte ſie.
Das paßt nicht auf unſere Liebe, unſere Liebe iſt
[125] ein Nachen, der auf dem Spiegel eines klaren
Weihers ſchaukelt. — Es iſt auch nicht auf unſere
Liebe gemacht, verſetzte er, es iſt das Lied eines
Freundes, meines beſten Freundes, an deſſen ge-
fährliche Liebe ich in meinem Glücke denken mußte.
Sein Liebesſchiff fährt dahin durch’s wüſte Meer,
und möge ein Gott an ſeinem Steuer ſtehen, wie
er geſungen hat!
Ach, das muß wohl eine verwegene frevelhafte
Liebe ſeyn, die Liebe deines Freundes, deren Schiff
ſo dahin fährt!
O nein, Lisbeth, eine fromme Liebe, eine hei-
lige Liebe, und dennoch ſtarren die Widerſprüche
rings um ſie her, wie Klippen!
Kann denn auch die fromme Liebe ein ſolches
Schickſal haben? fragte ſie. — O Kind! Kind!
rief er, von einem ſeltſamen Schauer gefaßt, laß
uns nicht weiter davon ſprechen! Gebe der Him-
mel, daß unſere Liebe nicht — Ich will dir etwas
ſagen. Ich gehe gleich nach dem Schloſſe zu dei-
nen Pflegern und bringe unſere Sache in Ordnung.
Noch vor völliger Nacht erreiche ich wohl den Ort auf
der Hälfte des Weges, da ſchlafe ich, und bin morgen
in der Frühe am Ziel und am Abend wieder bei dir.
[126]
Er wollte ſie erſt nach dem Oberhofe zurück-
geleiten. Nein, ſagte ſie, laß uns hier auseinan-
der gehen, hier wo wir ſo froh waren! — Er
gab ihr eine Rolle Gold, die er jetzt immer bei
ſich tragen mußte, weil er keinen Verſchluß dafür
hatte, und bat ſie, ihm ſie zu verwahren.
Sie ſchieden. Als ſie eine Strecke auseinan-
der gegangen waren, ſahen ſie ſich um, eilten noch
einmal zurück, umſchlangen ſich inniglich, ohne zu
reden und gingen dann ſtumm ihre verſchiedenen
Wege, der Jäger über die Klippen der Gegend zu,
wo das Schloß lag, Lisbeth durch die Wieſe nach
dem Oberhofe.
[127]
Neuntes Capitel.
Jäher Sturz.
Nur das Weib weiß, was Liebe iſt, in Wonne
und Verzweiflung. Bei dem Manne bleibt ſie
zum Theil Phantaſie, Stolz, Habſucht; das Weib
wird durch den Kuß ganz Herz vom Scheitel bis
zur Fußſohle. Da iſt keine Fiber, kein Nerv, der
nicht jubelte, oder — jammervoll zuckte!
Lisbeth kam nach dem Oberhofe, ohne zu wiſſen,
wie. Ihr Buſen klopfte, ihre Wangen waren heiß,
ſie drückte die Rolle Gold zärtlich an ihr Herz,
denn er hatte ſie ihr ja gegeben. Unaufhörlich
flüſterte ſie: Er iſt gar zu gut; und wußte wei-
ter nichts zu ſagen. Ach, das Wörterbuch eines
liebenden Mädchens enthält nur dieſe vier Worte
und dann das Wörtlein: du! aber was iſt der
Reichthum aller Sprachen gegen die ſelige Armuth
dieſes Wörterbuches?
[128]
Im Oberhofe toſete das Tanzgelag. Alles
hatte ſich nun nach dem Baumgarten gezogen, wo
man Lichter und Laternen angezündet hatte, weil
die Dämmerung bereits eingebrochen war. Die
Gäſte, welche nicht tanzten, ſaßen und ſtanden
umher. Lisbeth wurde durch den Lärmen zuerſt
aus ihren Träumen geweckt, ſie ſchlüpfte von der
Seitenpforte, durch welche ſie wieder in den Hof
eintrat, raſch in das Haus, um nicht bemerkt und
dann wohl gar zum Tanze aufgefordert zu werden.
Sie ging nach ihrem Stüblein und zündete
arglos das Lämpchen an, obgleich ſie ſich hätte
ſagen können, daß der Schein durch das Fenſter
ihre Anweſenheit verrathen müſſe. Aber ſie hatte
zu dieſem und allem Aehnlichen keine Ueberlegung.
Ihre Seele wallte, fluthete, es war ihr zu Muthe,
als ſtehe ſie auf einem hohen Berge, rothe Wolken
zu ihren Füßen, rothe Wolken, ſo weit ſie blickte,
und in der Ferne ragten goldene Kuppeln aus den
rothen Wolken hervor. Nun wußte ſie, was Glück
iſt, ſie konnte es aber nicht ausſprechen.
Sie ſetzte ſich an das Tiſchchen im Fenſter,
ſah die Blumen an, die dort im Glaſe blühten,
dann hob ſie ein Blatt der Lilie auf, welches ab-
[129] gefallen war und vereinigte es wieder ſanft mit
dem Kelche, dann warf ſie durch das Fenſter einen
Kuß ihrem Wanderer nach und bat die Lüfte, den
Kuß ihm zuzubringen.
Sie ſtand auf und ging hin und her, denn ihr
Gemüth war zu ſehnſuchtsvoll und unruhig. Sie
wollte das grüne Särglein aus ihrem Buſen neh-
men, da rührte ſie mit ihrer Hand an die junge
Bruſt, und es überflog ſie bei dieſer Berührung
ein Schauer der Ehrfurcht vor ihr ſelbſt. Ihr
Leib kam ihr geheiligt vor, denn ſie war geliebt.
Aber nicht lange blieb ſie in dieſer erhabenen
Stimmung. Scherzender Jubel ergriff ſie. Sie
faßte ihre Schürze mit beiden Händen und machte
zu dem Schrei der Muſik da draußen für ſich ein
Tänzchen rund um das Zimmer. Dann fiel ihr
die Goldrolle wieder ein, welche ſie auf das Tiſch-
chen gelegt hatte. — Was ſein iſt, iſt mein, ich
muß doch ſehen, wie viel er geerbt hat! rief ſie.
Er hatte ihr geſagt, er ſei ein Förſter aus Schwa-
ben, der nach der hieſigen Gegend gereiſt ſei, um
eine Erbſchaft zu heben. Als ſie die Rolle öffnete,
ſah das Gold ſie mit blitzenden Augen an. Sie
zählte und zählte, das wollte für ſie kein Ende
Immermann’s Münchhauſen 3. Th. 9
[130] nehmen. Nimmermehr hätte ſie geglaubt, daß ſo
viel Gold auf Erden ſei. — Ach, iſt er ſo reich?
rief ſie fröhlich in die Hände klopfend, als ſie die
hundert und etlichen Doppelpiſtolen auf den Tiſch
gezählt hatte.
Da bauen wir uns ein eigenes Haus mit
Milchkämmerchen und einem Brünnlein, klar und
kalt! jauchzte ſie. Jetzt aber laß ſehen, wie ſich
das Gold in eine Reihe gezählt ausnimmt, ſo auf
dem Haufen ſieht man gar nicht, wie viel man
hat. Ich will es am Boden in einer langen
Reihe aufzählen, und die Lampe ſtelle ich dazu, ſo
geht mir nichts verloren.
So badete der arme ſchöne Findling oben in
den Wellen der ſeligſten Luſt. Der Hofſchulze aber ſagte
zum alten Schmitz, dem Sammler, der auch, wie
er, den ganzen Tag über verdrießlich geweſen war
und ihm jetzt eröffnete, daß er ihn nothwendig
über die Amphora und das Schwert Karls des
Großen zu ſprechen habe: Nach dieſem, Herr
Schmitz, jetzt habe ich eine nothwendige Verrich-
tung. — Er hatte den Schein des Lämpchens in
Lisbeths Stube wahrgenommen und ſich ſogleich
vorgeſetzt, zu ihr zu gehen, um, wie er für ſich ſagte,
[131] Ordnung in dem Handel zwiſchen ihr und dem
Jäger zu ſtiften. Ich werde dem Kinde ſagen —
ſprach er, indem er, ſeinen Hut auf dem Haupte
und den Stab in der Hand, langſam und bedäch-
tig durch den Flur ſchritt. Bei ſeinem Vieh ſtand
er einen Augenblick ſtille, denn die prächtig ge-
ſchmückte Bläſſe ſtöhnte ungeachtet ihres Putzes an
Stirn und Hörnern erbärmlich und als er hin-
leuchtete, ſtand das arme Thier ganz krumm zu-
ſammengezogen. Was iſt denn das nun wieder?
rief der Hofſchulze. — Was wird es ſeyn? ver-
ſetzte der Rothhaarige, der aus einer dunkeln Ecke
des Stalles hervorkam, trotzig, das Vieh hat ſeinen
Eigenſinn, davon iſt es krank, ich habe ihm aber
ſchon was eingegeben. — Der Hofſchulze beſchaute
mit zornigem Schmerz die Leiden ſeines beſten
Stücks; aber auch dieſer Anblick entlockte ihm
kein Fluch- oder Scheltwort, ſondern er ſtieß nur
ſein gewöhnliches: Ei! Ei! Ei! aus und ſetzte
dann dumpf hinzu: Dieſe Hochzeit, auf welche ich
geſpart und gehofft habe, nimmt ein übles Ende.
Er ſtieg die Treppe empor und trat ſo hart
auf, daß die Stufen dröhnten. Dann öffnete er
die Thüre von Lisbeths Stube feſt und rauh. Sie
9*
[132] hatte die Lampe in der Hand, und in dem Schürz-
chen die Goldſtücke, mit denen ſie ihr kindliches
Spiel treiben wollte. Bei ſeinem plötzlichen Ein-
tritte erſchrak ſie, faßte ſich jedoch und blieb ruhig
am Tiſchchen ſtehen.
Etwa eine Viertelſtunde mochte er mit ihr in
einem Geſpräche geweſen ſeyn, welches ſie anfangs
gar nicht verſtand, als Jemand, der unter dem
offenen Fenſter vorbeiging, einen Schrei, ein Klin-
gen, wie von fallendem Gelde und ein Geräuſch
hörte, wie wenn Einer zu Boden ſtürzt und dabei
ein Geräth hart berührt. Zugleich erloſch der
Schein. Der Mann blieb ſtehen und gleich darauf
kam der Hofſchulze aus dem Hauſe. — Was gab
es da droben? fragte ihn Jener. — Eben nichts,
verſetzte der Alte. Junge Frauenzimmer ſind
ſchreckhaft, wenn man ihnen die Sache in aller
Manier bei dem rechten Namen nennt. Beſſer Leid
tragen, als Schmach tragen. Er ging in den Baum-
garten und gab der erſten Brautjungfer den Auf-
trag, hinaufzugehen.
Das Mädchen verſtand ihn in dem Getöſe nicht
recht und meinte, ſie ſolle Lisbeth zum Tanze her-
unterholen. Sie ſprang raſch hinauf und rief, um
[133] ſich nicht zu lange von ihrem Vergnügen abzumüſſi-
gen, in die dunkele Stube hinein: Sind Sie hier?
Sie werden gebeten zum Tanze zu kommen! er-
ſchrak aber heftig, als ihr aus der Ecke des Zim-
mers ein inniges Schluchzen antwortete. Beſtürzt
rannte ſie hinab, fand unten ihre Gefährtin, und
beide Mädchen kehrten darauf mit einem Lichte
zurück.
Nun hatten ſie einen Anblick, der ſelbſt dieſe
rohen Geſchöpfe erſchütterte. Denn an der Stelle,
wo noch vor einer Viertelſtunde eine Jubelnde und
Frohlockende geſtanden, lag nun eine Zerbrochene.
Lisbeth war an dem Tiſche niedergeſunken in ihre
Kniee, ihre Arme hingen ſchlaff herab, ſchlaff ruhte
der Leib in den Hüften, die blonden Locken hatten
ſich gelöſt und umfloſſen das gebeugte und wei-
nende Geſicht. Das Gold war ihrer Schürze ent-
fallen und hatte ſich, eine blanke Saat, um ſie
ausgeſtreut, nicht weit von ihr lag die ausge-
löſchte Lampe.
Die Mädchen ſtanden eine Weile verlegen
und ſtumm. Sie wußten mit dieſem Bilde des
tiefſten Schmerzes nichts anzufangen. Eine
erhob die Lampe, zündete ſie wieder an, und
[134] ſtellte ſie auf den Tiſch, die Zweite wiederholte
ſchüchtern die Worte: Sie werden gebeten, zum
Tanze zu kommen.
Hierauf hob Lisbeth ihr Antlitz gegen ſie empor,
und nun zogen ſich die Mädchen voll Grauen aus
der Stube zurück. Denn die Wangen waren lei-
chenweiß geworden und die Augen in ihren Höhlen
zurückgetreten und ſo voll Thränen, daß ſie ſtro-
menden Quellen glichen. Die Brautjungfern gin-
gen hinunter zum Tanze, tanzten, hatten den Vor-
fall bald vergeſſen, und Lisbeth blieb allein. Denn
Niemand ſprach unten von ihr, ſonſt wäre der
Diaconus wohl zu ihr gegangen, da er ſie ſehr
lieb hatte.
Als ſie allein war, begann ſie ein Werk, ſo
ernſt und traurig, als ihre Spiele von vorhin fröh-
lich und ausgelaſſen geweſen waren. Mit einem
Blicke des Ekels und Abſcheus ſah ſie das Gold
am Boden an, dann überwand ſie ſich dennoch,
raffte mit zitternden Fingern die Stücke auf, die
nun nur noch ihre Schande wiederſpiegeln ſollten,
und rollte ſie wieder ein, indem ein erhabener
Hohn ihren Mund umzuckte. Dann warf ſie die
Rolle verächtlich in einen Kaſten, und verächtlich
[135] warf ſie das grüne Särglein dazu, und deckte dann
ein Tuch über das Hingeworfene. Sie fand das
Blatt mit den Verſen Oswald’s an ſie; da brachen
noch einmal heftige Thränenfluthen aus ihren
Augen; es waren die letzten Zähren, welche ſie
heute Abend weinte. Dann hielt ſie das Papier
an die Flamme der Lampe, und ſah kalt es ver-
lodern. Das Tuch, welches der Jäger ihr geſchenkt,
zerſchnitt ſie und ließ die Stücke zu Boden fallen,
da, wo die Aſche von dem Papiere lag. Nun nahm
ſie an ſich entſühnende Handlungen vor. Sie
wuſch ihre Finger, die ſie auf ſeinen Mund hatte
legen müſſen. Dann wuſch ſie die Lippen, welche
ſeine Küſſe geduldet und wiedergegeben hatten.
Alle dieſe Handlungen verrichtete ſie ſchweigend,
nicht einmal einen Seufzer ſtieß ſie aus. Ihr
Schmerz war ſo groß, daß er auch nicht durch ein
Selbſtgeſpräch ſich erleichtern mochte. — In den
Kelch der Roſe, den der ſüßeſte Hauch ſo eben
aufgeſchmeichelt, war ein ätzendes Gift getropft
worden — fühlt Ihr, wie die Roſe in ihren keu-
ſcheſten Tiefen zucken mußte? — Fragt Ihr mich,
ob ſie dem glauben konnte, was der alte Bauer
ihr geſagt, ſo antworte ich, daß ich es nicht weiß.
[136] Denn Alles weiß der Dichter zwiſchen Himmel
und Erden, aber Eines weiß er nicht: Das
Innerſte, Feinſte, Heimlichſte eines liebenden
Mädchens.
Das kann ich ſagen: Sie mußte ihre Seele
ſchänden laſſen, als dieſe nackt dalag vor Gott
und Oswald, weil ſie nichts von ihrer Seele für
ſich behalten, ſondern Alles an Gott und den Ge-
liebten ergeben hatte. Nur in Gott und in ihrem
Geliebten wollte ſie ihre Seele noch beſitzen, da
hörte ſie, daß dieſer Wille eine Sünde geweſen
ſei und eine Thorheit.
Sie weinte nicht mehr, ihre Augen waren heiß
und trocken geworden. Ihre Geſtalt hatte ſich ge-
ſtreckt, ſie hielt ſich gerader als ſonſt, ihre Bewe-
gungen waren langſamer geworden, ſie ſah vornehm
aus. Ruhig ordnete ſie ihr Haar unter dem Mütz-
chen, welches ſie aufſetzte, dann verhing ſie das
Fenſter und entkleidete ſich ſtill und züchtig. Sie
löſchte die Lampe und beſtieg ihr Lager, auf dem
ſie ſich gerade ausſtreckte, die Hände über der Bruſt
gefaltet. In dieſer Lage, worin ſie kein Schlum-
mer beſuchte, obgleich ſie die Wimpern geſchloſſen
hielt, ließ ſie, ohne daß ein Laut von ihr hörbar
[137] wurde, wie eine ſchöne Leiche, die Kräfte in ſich
wühlen, welche ein neues Leben der Auferſtehung
in ihr entzünden wollten.
Während die Geliebte ſo traurige Abend- und
Nachtſtunden zubrachte, ſtürmte der Liebende durch
das Dunkel fröhlich der Gegend zu, die er am an-
dern Morgen erreichen wollte. Er hatte noch
immer ſein Blumenkrönchen auf dem Haupte und
noch immer ſang er das Schifflied ſeines Freundes,
freilich in lyriſcher Unordnung, oft die letzte Stro-
phe zuerſt, und die Erſte zuletzt, auch wohl Verſe
der einen Strophe in die Andere hinein. Nun
wußte er, warum die Frauen ihm ſtäts eine ſo
wonnevolle Ahnung erweckt hatten, ſie waren ihm
die Traube geweſen aus dem Canaan der Liebe,
darin Milch und Honig fließt. An meine Mutter
werde ich freilich nun weniger denken! rief er —
oder noch öfter als ſonſt — ſetzte er gleich dar-
auf hinzu. Sein Daſeyn war ihm voll, ganz, ge-
ründet worden.
Er freute ſich ſeines Streichs, ſeines Schwaben-
ſtreichs. Es iſt im Grunde ſehr gleichgültig, daß ſie
[138] Gräfin Waldburg-Bergheim wird, ſagte er, aber eine
Luſt wird es doch ſeyn, wenn ich ſie aus dem Wagen
hebe in die Fähre über den Neckar, und ſie nun drüben
auf der grünen Höhe das Schloß mit den beiden
Seitenflügeln ſieht und mich fragt: Ei, Oswald,
wem gehört das prächtige Schloß? — Ich werde
dann ſprechen: Meine liebe Lisbeth, dem reichſten
Cavalier der Gegend, und ich wollte dir eine un-
verhoffte Freude machen, ich bin ſein Förſter, wir
wohnen auch auf der ſchönen Höhe, dort, ſieh, in
der kleinen Dienſtwohnung, die du neben dem Schie-
ferthürmchen ſchauſt. Vorläufig bring’ ich dich aber
ehrbar zu meiner Frau Baaſe, die bei der Herr-
ſchaft Ausgeberin iſt. — Nun ſteigen wir aus und
gehen den Weg durch den Park ſacht den Schloß-
berg hinan. Die Leute, die uns begegnen, grüßen
gar ehrerbietig, da fragt die Lisbeth: Du mußt
hier gute Freunde haben, Oswald? — O ja, ver-
ſetze ich, die Leute halten etwas von mir, haben
aber auch gar Manches durch mich. — Nun ſind
wir am Schloß, gehen durch eine Hinterthüre ein,
daß kein Aufſehen entſteht. Ich bring’ ſie in’s
purpurne Damaſtzimmer, da wird ſie wohl etwas
ſtaunen über die Teppiche und die Vergoldungen
[139] und meinen, ſie dürfe in dem prächtigen Raume
nicht bleiben. — Bleibe immerhin und mache dir’s
bequem, Lisbeth, ſage ich, der gnädige Herr iſt gut
und dir ſchon gewogen, ich habe ihm von wegen
deiner geſchrieben, werde mir nur nicht untreu um
ſeinetwillen. — Jetzt habe ich eigentlich vor, daß
ich aus dem Zimmer gehen und nach einiger Zeit
wiederkehren will, aber ich glaube, daß ich mich
nicht werde halten können, ſondern ich werde mich
unter der Thüre umwenden und ſprechen: Hör’
Lisbeth, noch ein Wort. Nimm mir’s nicht übel,
ich hab’ dich doch betrogen. Ich bin leider nicht
der Förſter, ſondern nur der Graf ſo und ſo.
Willſt du die Frau Förſterin daran geben und
ſeine gnädige Frau Gräfin werden? — Da bin
ich denn begierig, was für ein Geſicht ſie machen
wird. Und meine Hauptfreude iſt, daß ich mir
denke; ſie wird nach dem erſten Schreck eben gar
kein verlegenes oder abſonders freudiges machen,
ſondern ſanft und liebevoll antworten: Du ſollſt
mir ſo lieb ſeyn, wie der Förſter. — Es iſt, wie
geſagt, an allem dem wenig gelegen, aber es freuet
Einen doch, wenn man ſein Lieb in Sammet und
Seide kleiden kann, und ihm Perlen um den Hals
[140] hängen, und Brillianten in das Haar ſtecken und
den Fuß der Trauten auf Teppiche von Brüſſel
ſetzen darf.
So ſchwärmte und ſcherzte ſich der Jüngling
die Bilder der lachendſten Zukunft zuſammen. Es
war hoch Mitternacht geworden und ſein Körper
denn doch der Ruhe bedürftig. Auf der Höhe des
Gebirges fand er einen einſamen Schoppen. Er
ging hinein und fühlte, daß der Raum voll Heu war.
Abgehärtet durch ſeine Reiſen und in den letzten
Wochen nicht verwöhnt, ſtellte ihn dieſes einfache
Lager vollkommen zufrieden. Er beſchloß die Nacht
in den Schoppen zuzubringen. Als er die Augen
ſchloß, ſagte er: Jetzt wird ſie träumen und dich
auch im Traume mit lieben Namen nennen!
Das ſagte er vielleicht in dem Augenblicke,
als Lisbeth in ihrem Bette von den wüthenden
Schmerzen überwältigt, ſich krampfhaft krümmte
und endlich doch in ein leiſes und jammervolles
Stöhnen ausbrach.
[141]
Die Wunder im Speſſart.
Waldmährchen.
Biſt du wohl ſchon, Lisbeth, an einem klaren
Sonnenmorgen durch einen ſchönen Wald gegangen,
zu dem der blaue Himmel durch die grünen Kro-
nen einblickte, wo dich der Othem der Bäume wie
ein Hauch Gottes anwehte und dein Fuß von den
Spitzen der Gräſer tauſend blitzende Perlen ſtreifte?
Wohl bin ich das, Oswald, erſt noch neu-
lich, als ich durch das Gebirg nach den Zinſen und
Gülten ging. Es iſt gar herrlich im grünen, fri-
ſchen Wald; ich könnte Tagelang hindurchwandern,
ohne einem Menſchen zu begegnen, und fürchtete mich
nicht. Der Raſen iſt der Mantel Gottes, man iſt
von tauſend Englein beſchirmt, man ſtehe oder ſitze
darauf. Jetzt ein Hügel und dann eine Ecke; ich
lief und lief, weil ich immer dachte, dahinter ſchwebe
der Wundervogel mit blauen und rothen Schwingen
[142] und dem Goldkrönchen auf dem Haupte. Ich lief
mich heiß und roth, und nicht müd; man wird
nicht müde im Walde!
Und ſahſt du hinter Hügel und Hecke den
Wundervogel nicht ſchweben, ſo ſtandeſt du athmend
ſtill und hörteſt weit, weit aus dem Eichenthal
herauf den Schall der Axt, die Uhr des Forſtes,
die da anſagt, daß auch in ſolcher lieben Einöde
dem Menſchen ſeine Stunde rinne.
Oder weiterhin, Oswald, die freie Sicht den
Hang hinauf zwiſchen dunkeln, runden Buchen und
oben doch wieder der Kamm der Halde von hohen
Stämmen beſchloſſen! Da weideten rothe Kühe
und ſchwangen die Glöcklein, der Thau im Graſe
gab der Senkung im Sonnenlicht einen ſilbergrauen
Schein, und die Schatten der Kühe und der Bäume
ſpielten darauf Verſteckens mit einander.
An einem ſolchen ſonnenklaren Morgen begeg-
neten vor vielen hundert Jahren zwei Jünglinge
einander im Walde. Es war in dem großen Wald-
gebirge, der Speſſart genannt, welches die Mark-
ſcheide zwiſchen den luſtigen rheiniſchen Gauen und
dem geſegneten Frankenlande macht. Das iſt dir
ein Wald, liebe Lisbeth, der zehn Stunden in der
[143] Breite und zwanzig in der Länge, Ebenen und
Berge, Thäler und Klüfte bedeckt.
Auf der großen Heerſtraße, die querdurch vom
Rheinlande nach Würzburg und Bamberg läuft,
begegneten einander die Jünglinge. Der Eine kam
von Abend, der Andere von Morgen. Ihre Thiere
waren ſo verſchieden als ihre Wege. Der vom
Morgen ſaß auf einem gelben fröhlich tanzenden
Rößlein und ſtolzirte gar ſtattlich im bunten Wap-
penrock unter rothem Sammetbarret, von welchem
die Reiherfedern herabwallten; der vom Abend trug
eine ſchwarze Kappe ohne Abzeichen, einen langen
Schülermantel gleicher Farbe, und ritt auf einem
beſcheidenen Maulthiere.
Als der junge Ritter dem fahrenden Schüler
ſich auf Roſſeslänge genähert hatte, hielt er ſeinen
Gelben an, bot dem Andern freundlich die Zeit
und ſagte: Guter Geſell, ich wollte ſo eben abſtei-
gen und meinen Morgen-Imbiß halten. Da nun
aber zur Minne, zum Spiele und zum Mahl Zwei
gehören, wenn dieſe drei luſtigen Dinge gehörig
von Statten gehen ſollen, ſo wollte ich Euch fra-
gen, ob Ihr nicht auch abſteigen und mein Part-
ner ſeyn wollt? Eurem Grauen würde ein Maul-
[144] voll Gras nicht minder ſchmecken, als meinem
Gelben. Der Tag wird heiß werden, und den
Thieren iſt einige Raſt vonnöthen.
Der fahrende Schüler war mit dem Vorſchlage
zufrieden. Beide ſtiegen ab und ſetzten ſich an der
Straße auf dem wilden Thymian und Lavendel
nieder, von welchem, wie ſie ſich ſetzten, eine ganze
Wolke Wohlgeruchs emporſtieg, und hundert Bien-
chen, die in ihrer Arbeit geſtört wurden, ſich ſum-
mend erhoben. Ein Knapp, der mit einem ſchwer-
beladenen Gaule dem jungen Ritter gefolgt war,
nahm die beiden Thiere in Empfang, reichte ſeinem
Herrn aus dem Schnappſack Flaſche und Becher
nebſt Brod und Fleiſch, kandarte die Thiere ab
und ließ ſie ſeitwärts vom Heerwege graſen.
Der fahrende Schüler faßte in die Seitentaſche
des Mantels, zog die Hand verdrießlich zurück und
rief: O über meine ewige Zerſtreuung! Hatte
ich mir doch heute Morgen in der Herberge das
Frühſtück ſo ſauber zurecht gelegt und eingewickelt,
da muß mir etwas Anderes eingefallen ſeyn, und
über dieſen Gedanken habe ich meine Koſt vergeſſen.
Wenn es weiter nichts iſt, rief der junge Rit-
ter, hier iſt genug für Euch und mich! Er theilte
[145] Brod und Fleiſch, ſchenkte den Becher voll und
reichte Feſtes und Flüſſiges dem Andern hin.
Hiebei faßte er ihn ſchärfer in’s Auge, und ſo that
der Andere auch, und da entfuhr ihnen Beiden ein
Ausruf des Erſtaunens. Seid Ihr nicht …
Biſt du nicht … riefen ſie. Freilich bin ich der
Konrad von Aufſeß! rief der junge Ritter. Und
ich Petrus von Stetten! der Andere. Sie um-
armten einander und konnten ſich vor Freude über
dieſes unvermuthete Wiederſehen kaum faſſen.
Es waren Spielcameraden, die ſich zufällig im
grünen Speſſart trafen. Die Väter hatten auch
Freundſchaft mit einander gehabt, die Söhne hat-
ten zuſammen Ball geſchlagen, ſich hundertmal des
Tages gezankt und eben ſo oft verſöhnt. Der
junge Petrus war aber von jeher ſtiller und nach-
denklicher geweſen als ſein Gefährte, dem nichts
im Kopfe ſitzen blieb, als die Namen der Waffen-
ſtücke und des Reitzeugs. Endlich hatte Petrus
dem Vater erklärt, er wolle gelahrt werden, und
war gen Cöln gezogen, zu den Füßen des berühm-
ten Albertus Magnus zu ſitzen, der aller bekannten
Wiſſenſchaften Meiſter war, und von dem das Gerücht
ſagte, er ſei auch in geheime Künſte tief eingeweiht.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 10
[146]
Eine geraume Zeit verfloß ſeitdem, in welchem
Keiner etwas von dem Anderen hörte. Nachdem der
erſte Sturm der Freude ſich jetzt gelegt hatte, und
das Frühſtück beſeitigt worden war, fragte der
Ritter den Schüler, wie es ihm denn gegangen ſei?
Darauf, mein Freund, kann ich dir eine ſehr
kurze und müßte ich dir eine ſehr lange Antwort
geben, verſetzte der Schüler. Eine kurze, wenn ich
dir bloß die äußere Figur und Schaale meines
zeitherigen Lebens vorzeichnen ſoll; eine lange, o
eine unendlich lange, begehrſt du, den inneren Kern
aus dieſer Schaale zu koſten!
Ei, Närrchen, rief der Ritter, was für ſchwere
Reden führſt du da! Gieb mir die Schaale und
ein Stückchen vom Kern, wenn die ganze Nuß zu
groß für eine Mahlzeit iſt.
So wiſſe, erwiederte der Andere, daß mein
ſichtbares Leben zwiſchen engen Ufern rann. Ich
wohnte in einem kleinen düſteren Gäßchen bei ſtil-
len Leuten, im Hinterhauſe. Mein Fenſter ging
auf den Garten hinaus, deſſen Bäume und Stau-
den ihren ernſten Hintergrund von den Mauern
des Tempelhauſes erhielten. Ich hielt mich ſehr
einſam und für mich, knüpfte weder mit den Bür-
[147] gern, noch mit den Schülern Umgang an. So iſt
es gekommen, daß ich von der großen Stadt nichts
kennen gelernt habe, als die Straße von meinem
Häuschen nach den Dominicanern, wo mein großer
Meiſter lehrte.
Wenn ich nun in meine Klauſe zurückgekehrt
war und die Mitternacht bei der Studirlampe her-
angewacht hatte, ſo blickte ich wohl aus dem Fen-
ſter, um die erhitzten Augen an dem dunkeln Ster-
nenhimmel abzukühlen. Dann ſah ich nicht ſelten
in dem gegenüberliegenden Tempelhauſe Licht; bei
dem Scheine rother Fackeln zogen die Ritter in
ihren weißen Ordensmänteln wie Geiſter durch
die Gallerien, verſchwanden hinter den Pfeilern
und kamen dann wieder zum Vorſchein; im äußer-
ſten Eck des Flügels wurden vor den Fenſtern
Vorhänge niedergelaſſen, durch deren dünne Stel-
len aber ein wunderſamer Schein drang, und hin-
ter welchen ſich Weiſen vernehmen ließen, welche
ſüß und ſchaurig wie verbotenes Gelüſte durch
die Nacht drangen.
So gingen meine Tage hin, unſcheinbar von
außen, innen aber ein glänzendes Feſt aller Wun-
der. Albertus zeichnete mich bald vor den übrigen
10*
[148] Schülern aus; nicht lange, ſo merkte ich, daß er
gewiſſe Worte, die den Andern unbeachtet vorüber-
ſchlüpften, gegen mich mit einer beſonderen Beto-
nung zu wiederholen pflegte; Worte, die auf den
geheimnißvollen Zuſammenhang alles menſchlichen
Wiſſens und auf eine tief unten in dunkler Ver-
ſchwiegenheit treibende gemeinſame Wurzel des gro-
ßen Baumes hinwieſen, welcher da droben am
Lichte ſeine gewaltigen Zweige als Grammatik,
Dialectik, Redekunſt, Zahlenlehre, Geometrie, Aſtro-
nomie und Muſik auseinanderlegte. — Sein Auge
ruhte bei ſolchen Worten durchdringend auf mir,
und meine Blicke ließen ihn erkennen, daß er eine
tiefe Sehnſucht nach den letzten und größten Schä-
tzen ſeines Geiſtes in mir entzündet hatte.
So kam es denn allgemach, daß ich der Ver-
traute ſeiner heimlichen Werkſtatt und der Lehrling
wurde, auf den er einen Theil ſeines Pfundes als
koſtbares Vermächtniß vererben wollte. — Es giebt
nur ein Mark der Dinge, welches hier im Me-
tall laſtet und wieget, dort in der ſchwankenden
Pflanze, im leichtſinnigen Vogel vom Urkern ſich
abzulöſen ringt. Alles wandelt und verwandelt
ſich; Gott wirkt zwar in der Natur, aber die Na-
[149] tur wirkt auch für ſich, und wer der rechten Kräfte
Meiſter iſt, der kann ihr eigenes und ſelbſtſtändi-
ges Leben hervorrufen, daß ihre ſonſt in Gott ge-
bundenen Glieder ſich zu ganz neuen Regungen
entfalten. — Mein hoher Meiſter führte mich an
ſicherer Hand dem Brunnen zu, wo jenes Mark der
Dinge quillt. Ich tauchte meinen Finger hinein,
da wurden alle meine Sinne voll übermenſchlichen
Schauens. In der rußigen Schmelzküche ſaßen
wir ſeitdem oft zuſammen und ſchauten in die
Gluthen des Ofens; er vorn auf niedrigem Sche-
mel, ich hinter ihm kauernd, mich feſt an ihn
drückend und ihm die Kohlen oder die Erze dar-
reichend, die er mit der Linken in den Tiegel warf,
denn mit der Rechten hielt er mich liebreich gefaßt.
Da wehrten ſich die Metalle, die Salze und die
Säuren praſſelten, wie in einer feſten Burg wollte
ſich der hohe König, der alle Welt regiert, inmit-
ten ſcharfwinklichter Kryſtalle vertheidigen, zornig
entbrannten die rothen, blauen und grünen Vaſal-
len und ſtreckten uns die glühenden Speere ab-
wehrend entgegen, aber wir brachen die Werke und
kämpften die Mannen danieder, und über Schlacken-
trümmer hinüber lieferte ſich uns demüthig der
[150] glänzende Fürſt aus. Das Gold an ſich iſt Nichts
für den, der ſein Herz nicht an Irdiſches hängt,
aber dieſe theuerſte und köſtlichſte Gabe der Natur
in Allem und Jedem, auch in dem Geringfügigſten
und Unſcheinbarſten zu erkennen, das gilt dem
Weiſen viel. Zu andern Stunden wieſen uns die
Sterne ihre Kreiſe, die als Geſchichte ſich ablöſten
und zur Erde ſanken, oder die innigen Verwandt-
ſchaften der Töne und der Zahlen wurden wach,
und zeigten uns die Bündniſſe, welche zu ſchildern
kein Wort genügt, die ſich vielmehr nur wieder in
Zahl und Ton offenbaren. In allem dieſem gehei-
men Weſen und Weben aber ſchwebte, daß es nicht
wieder zu kalter klebriger Geſtaltung gerinne, ewig
verbindend und ewig löſend, ſich in dem Hader
nieverwelkender Jugendkraft in ſich und an den
Dingen entzweiend, das Große, Unergründliche;
der dialectiſche Gedanke.
O ſelige, genügliche Zeit des erſchloſſenen Ver-
ſtehens, des Wandelns durch die inneren Säle des
Pallaſtes, an deſſen metallener Pforte die Andern
vergeblich anklopfen! Endlich — —
Der fahrende Schüler, deſſen Lippen bei der
Erzählung ſich in einem dunkeln Nothe immer glü-
[151] hender gefärbt hatten, und deſſen Augen von einem
ſeltſamen Feuer blitzten, hielt hier, wie aus ſeiner
Begeiſterung plötzlich ernüchtert, inne. Der Ritter
wartete vergeblich auf die Vollendung der Rede,
dann ſagte er zu ſeinem Freunde: Nun? Endlich —
Endlich, verſetzte der Schüler mit einem ge-
zwungen- gleichgültigen Tone, mußten wir uns doch
trennen, wenn auch nur auf kurze Zeit. Mein
hoher Meiſter ſchickt mich jetzt nach Regensburg,
aus der Sakriſtei des Domes gewiſſe Schriften zu
erbitten, die er als Biſchof dort zurückgelaſſen hat.
Ich bringe ſie ihm und werde dann freilich meine
Tage, wenn es angeht, bei ihm verleben.
Der junge Ritter tröpfelte den Reſt des Weins
in den Becher, ſah hinein und trank den Wein be-
dächtiger als er früher gethan hatte. Du haſt mir
da wunderbare Sachen vertraut, hob er nach eini-
gem Schweigen an, Sachen, in die ich mich nicht
wohl zu finden weiß. Gottes Welt ſcheint mir
ſo ſchön geputzt zu ſeyn, daß es mir kein Vergnügen
machen würde, dieſe lieblichen Schleier abzuſtreifen,
und, wie du ſagſt, in das Innere der Creatur zu
ſchauen. Der Himmel blaut, die Sterne leuchten,
der Wald rauſcht, die Kräurerlein duften, und iſt
[152] dieſes Blauen, Leuchten, Rauſchen und Duften nicht
das Allerſchönſte, hinter welchem es kein Schöne-
res mehr giebt? Verzeihe mir; aber ich bin nicht
neidiſch auf deine geheime Wiſſenſchaft. — Du
Armer! Roth macht ſie nicht, dieſe Wiſſenſchaft.
Deine Wangen ſind ganz bleich und eingefallen.
Einem Jeden werden ſeine Pfade gewieſen,
dem Einen dieſer, dem Andern jener, verſetzte der
Schüler. Nicht der Sprung des Blutes macht das
Leben aus; weiß iſt der Marmor, und Marmor-
wände pflegen die Räume einzuſchließen, in welchen
Götterbilder aufgerichtet ſtehen. — Doch genug
davon, und nun zu dir. Was haſt du denn ge-
trieben, ſeit wir uns nicht ſahen?
Ach davon, rief der junge Ritter Konrad mit
ſeiner ganzen Luſtigkeit, iſt wenig zu vermelden!
Ich ſtieg zu Roß und ſtieg wieder herunter, fuhr
an manchen guten Fürſtenhöfen umher, verſtach
manchen Speer, gewann manchen Dank, miſſte man-
chen Dank, ſchaute in manches minniglichen Wei-
bes Auge. Meinen Namen kann ich ſchreiben,
meinen Degenknopf drücke ich daneben in Wachs
ab, ein Lied kann ich reimen, wenn auch nicht ſo
gut, wie Meiſter Gottfried von Straßburg.
[153] Schwertleite und Waffenwacht brachte ich hinter
mich und empfing den Ritterſchlag zu Forchheim,
jetzt reite ich gen Maynz, wo der Kaiſer das Tur-
nier halten will, mich baß zu tummeln und des
Lebens zu freuen.
Der Schüler ſah nach dem Stande der Sonne
und ſagte: Es iſt traurig, daß wir nach dieſem
herzlichen Treffen uns ſo bald wieder trennen ſollen.
Aber doch wird es, wenn wir unſer Ziel heute zu
erreichen wünſchen, nothwendig ſeyn.
Komm mit gen Maynz! rief der Andere, indem
er aufſprang und den Schüler in einer ſonderbar
gerührten Stimmung, die gleichwohl ein Lachen zu-
ließ, anſah. Laß das finſtere Regensburg und den
Dom und die Sakriſtei; erheitere dein Antlitz un-
ter fröhlichen Geſellen am runden Tiſch in der
Weinlaube und vor den Blumenfenſtern lieblicher
Mädchen, laß deine Ohren durch Flöten- und Schall-
meienklang rein baden von den ſchauerlichen Vigilien
der Tempelherren, die ja in der ganzen Chriſtenheit
für arge Ketzer und Baffometusprieſter gelten.
Komm mit gen Maynz, mein Petrus!
Die letzten Worte ſprach er ſchon im Sattel.
Er ſtreckte dabei wie flehend ſeine Hand nach dem
[154] Freunde aus. Dieſer wandte ſich ſeitwärts ab und
zog ſeinen Arm verweigernd zurück. Was fällt dir
ein? rief er unwillig lächelnd. Ach, mein Konrad,
hätte ich nicht vorher geſagt, daß Jedem ſeine Straße
gewieſen ſei, ſo würde ich dir zurufen: Kehre du
um, du Leichtſinn, du Fahrläſſiger! Die Jugend
vergeht, der Scherz verklingt, das Lachen will
eines Tages plötzlich nicht mehr gelingen, weil das
Antlitz zu ſtarr geworden iſt, oder grinſet wider-
wärtig aus welken Runzeln! Wehe dem, weſſen
Scheuren dann nicht voll, weſſen Kammern nicht
gerüſtet ſind! Ach! es muß etwas Trübes um ſo ein
kahles, verarmtes Alter ſeyn, und das Sprichwort
hat wohl Recht, welches ſagt: Zu luſtig am Morgen,
ſchafft Abends Kummer und Sorgen. Wenn ich dich
ſo anſehe, mein Jugendbruder, kann mir recht bange
um dich werden, o wer weiß, wie verwandelt ich
dich wieder treffe!
Der Ritter ſchüttelte dem ernſten Schüler herz-
lich die Hand und rief: Vielleicht biſt du verwan-
delt, ſtoßen wir wieder auf einander, prunkſt in
Sammer und Seide, und thuſt’s uns Allen zuvor!
— Er ſprengte davon, und aus der Ferne hörte
der Schüler ihn noch ein Lied ſingen, welches
[155] damals von Mund zu Munde ging und ungefähr
ſo lautete;
Ein Schmetterling flog vor dem Schüler auf.
Iſt das Leben der meiſten Menſchen nicht dem Flat-
tern dieſes Falters zu vergleichen? ſagte er. Bunt
und leicht prunkt er dahin und doch ſind ſeine
Freuden ſo kurz und öde. Mit gewaltigen, großen
Augen blickt er umher, aber die matten Spiegel
empfinden nur eine leere Abwechſelung von Licht
und Schatten, nicht die volle Geſtalt, die feſte
Farbe. — Der Wald ſah ihn aus ſeinen grünen
Tiefen mit unwiderſtehlichem Blick an. Was thut’s,
rief er, wenn mein geduldig Thier auf dieſem Raſen
eine Weile allein zurückbleibt! Es läuft mir nicht
davon, ich ſpüre ſo eine innige Sehnſucht, ein
[156] Stündchen da hinein zu wandern, wie labend muß
es da tief drinnen ſeyn!
Er ſchritt ſeitab von der Landſtraße auf einem
engen Pfade, der ſich nach kurzem Gehen zwiſchen
den hohen Stämmen zu Thale ſenkte, in den Wald,
und war bald in einer völligen Einſamkeit, in der
es um ihn her rauſchte, flüſterte, ſchwirrte, und nur
einzelne Sonnenlichter, grünlich gebrochen, wie Irr-
lichter ihn umſpielten. Zuweilen war es ihm, als
ob ſein Name hinter ihm aus der Ferne gerufen
werde, er wußte ſelbſt nicht, der Ruf kam ihm
widerwärtig und haſſenswürdig vor, dann hielt er
den Ton auch wohl wieder für eine Täuſchung,
aber er mochte dies oder das denken, fürbaß ſchritt
er nur immer tiefer in den dunkeln Forſt. Große
knorrige Baumwurzeln lagen wie Schlangen quer
über den Weg hin geſpannt, daß der Schüler bei-
nahe über ſie geſtolpert wäre, Hirſchkäfer ſtanden
wie Edelwild im Mooſe. Aus kleinen Felsgrotten
leuchtete der Pſittichglanz des Goldmooſes. Der
Schweiß ſtand ihm vor der Stirne, wie er ſo im-
mer haſtiger ſich in das Dickicht hineinarbeitete und
vor der lichten Sonnenwelt da draußen floh. Aber
es war nicht bloß der Gang, der ihm heiß machte,
[157] auch ſein Gemüth arbeitete unter der Laſt ſchwerer
Erinnerungen. — Endlich kam er, nachdem ihm der
Pfad längſt unter den Füßen geſchwunden war,
auf einen ſchönen, glatten, dunkeln Platz unter
mächtigen Eichen. Noch immer hörte er aus der
Ferne ſeinen Namen rufen. Hier wird mich der
rohe Laut von da draußen nicht mehr erreichen,
ſagte er, hier werde ich ſtill geborgen ſeyn. Er
ſank an einem großen moosbedeckten Steine nieder,
ſeine Bruſt wogte, er kämpfte mit einem gewalti-
gen Gelüſte. Vergieb mir, hoher Meiſter, meinen
Fürwitz, rief er; aber es giebt ein Wiſſen, dem
die That folgen muß, ſonſt erdrückt es den Sterb-
lichen! Hier, näher dem Herzen der großen Mut-
ter, wo unter dem Sprießen und Wachſen ſchon
vernehmlicher ihre Pulſe klopfen, hier muß ich es
ausſprechen, das Zauberwort, welches ich von dei-
nen ſchlafenden Lippen ablauſchte, als du es im
Traume ſpracheſt; das Wort, auf deſſen Ertönen
die Creatur den Schleier hinwegwirft, die Kräfte
ſichtbar werden, die unter Rinde und Haut und im
Kerne des Felſens arbeiten, und die Sprache des
Vogels dem Ohre verſtändlich klingt.
[158]
Seine Lippen zuckten, das Wort zu ſprechen,
aber noch hielt er inne, denn vor ſein Auge trat
der kummervolle Blick, mit dem ihn ſein großer
Meiſter Albertus gebeten hatte, nach ſeinem Bei-
ſpiele von der zufällig erlangten Kunde keinen Ge-
brauch zu machen, da ſchwere Dinge dem Menſchen
bevorſtänden, der mit Abſicht das Zauberwort ſpräche.
Plötzlich jedoch rief er es, wie von dem Verbote
und von der Furcht nur um ſo gewaltiger vorwärts
geſtoßen, laut in den Wald, indem er ſeine Rechte
ausreckte.
Alſobald that es in ihm einen Schlag und ei-
nen Ruck, daß er meinte, der Blitzſtrahl habe ihn
getroffen. Seine Augen erblindeten, und es war
ihm, als ob ihn ein reißender Wirbelwind im Kreiſe
durch den unermeßlichen Raum ſchleudere. Als er
entſetzt und ſchwindlicht mit den Händen umhergriff,
fühlte er zwar den mooſigen Stein, an dem er ge-
ſtanden, und kam dadurch in ſeinem Innern wieder
zur Erde zurück, aber nun geſchah an ihm ein neues
unheimliches Zeichen. Denn wie er vorher gleich
einem Sandkorn durch das All geſchleudert worden
war, ſo kam es ihm nun vor, als ob ſich ſein Leib
in das Unendliche ausdehne. Unter furchtbaren
[159] Schmerzen trieb die neue in ihm aufgewachte Kraft
ſeine Gliedmaßen zu ungeheurer Größe, daß er
meinte, er müſſe an den Himmel rühren. Die
Wände ſeines Hauptes und ſeiner Bruſt wurden
tempelweit, in ſein Ohr fielen Töne, fremd, zerrei-
ßend, himmliſch, und er ſagte zu ſich: Das iſt der
Geſang der Sterne in ihren goldenen Bahnen. End-
lich machten die Schmerzen einer prickelnden Wol-
luſt Raum, in welcher er ſeinen Körper wieder
zu gewöhnlichem Maaße zuſammenſchrumpfen fühlte,
während die Rieſengeſtalt wie eine äußere Schaale
oder eine Art von Atmosphäre in luftigen Umriſſen
um ihn ſtehen blieb. Die Finſterniſſe wichen von
ſeinen Augen, indem ſich große, gelbglänzende Licht-
flächen, wie bei dem Gefühle der Blendung, von
den Aepfeln ablöſten und in die Augenwinkel zogen,
wo ſie allmählig verſchwanden.
Während er ſo wieder ſehend wurde, ſang ein
feiner, ſüßſtimmiger Chor um ihn her — er wußte
nicht, waren es die Vögel allein, oder gaben auch
Zweige, Stauden und Gräſer ihren Beitrag? —
ganz vernehmlich:
[160]
In dem mooſigen Felsblock murrte es leiſe aber
hörbar, es war, als ob der Stein ſich regen wollte
und könnte es nicht, wie ein Scheintodter. Der
Schüler blickte auf die Fläche des Steins, ach! da
liefen die grünen und rothen Adern zu einem ural-
ten Antlitz zuſammen, welches ihn aus müden Au-
gen ſo wehmüthig und hülfeflehend anſchaute, daß
er ſich erſchüttert abwandte und bei den Bäumen,
Pflanzen und Vögeln Troſt ſuchte.
Unter denen war auch Alles verwandelt. Wenn
er auf das kleine braune Moos trat, ſo ächzte es
und ſchrie über den unſanften Druck, und er ſah,
wie es die behaarten Händchen rang und die gelben
oder grünen Häuptlein ſchüttelte. Die Stengel der
Pflanzen und die Stämme der Bäume befanden
ſich in einer immerwährenden ſchraubenförmigen Be-
wegung, und zugleich ließ ihn die Rinde oder die
äußere Haut in das Innere blicken, worin feine
Geiſterlein zartglänzende Tröpfchen in die Röhren
ſchütteten. Dann ſtieg das klare Naß von Röhre
[161] zu Röhre, indem ſich unaufhörlich Klappen öffneten
und zuſchloſſen, bis es oben in den Haarröhrchen
der Blätter zu einem grünen Dufte wurde. Leichte
Verpuffungen und Feuer entzündeten ſich nun in
dem Geäder der Blätter; ein Aetheriſches, Flam-
mendes ſpieen unaufhörlich ihre fein-geſchnitte-
nen Lippen aus, während eben ſo unaufhörlich
der ſchwerere Theil jener feurigen Erſcheinun-
gen in weichen Dampfwellen durch die Blätter
hin und her ſchlich. In den blauen Glockenblumen,
die auf dem feuchten Waldgrunde ſtanden, war ein
Klingen und Singen; ſie tröſteten mit einem ſchö-
nen Liede das arme alte Antlitz im Stein und
ſagten, wenn ſie nur vom Boden los könnten, ſo
würden ſie ihm herzlich gern die Erlöſung bringen.
Aus den Lüften blickten den Schüler ſonderbare
grüne, gelbe und rothe Zeichen an, die immer ſich
zum Bilde fügen wollten und dann wieder ausein-
anderbrachen, von allen Seiten kroch und ſchritt
das Gewürm und Gekäfer an ihn heran und trug
ihm verworrene Anliegen vor; der Eine wollte
dies ſeyn, der Andere das, der Eine begehrte eine
neue Flügeldecke, der Andere hatte ſich den Rüſſel
abgebrochen; was in den Lüften zu ſchweben pflegte,
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 11
[162] bettelte um Sonnenſchein, das Kriechende dagegen
um die Feuchtigkeit. Dieſes ganze Geſindel nannte
ihn ſeinen Herrgott, ſo daß ihm faſt wieder die
Sinne zu ſchwanken begannen.
Auch bei den Vögeln war des Zwitſcherns,
Plapperns und Erzählens kein Ende. Ein Bunt-
ſpecht kletterte an der Borke einer großen Eiche
auf und nieder, hackte und pickte nach den Wür-
mern und ward nicht müd’ zu ſchreien: Ich bin
der Förſter; ich muß für den Wald ſorgen! — Der
Zaunkönig ſagte zum Finken: Es iſt gar keine
Freundſchaft mehr unter uns; der Pfau will nicht
leiden, daß auch ich ein Rad ſchlage, er meint, er
habe allein das Recht dazu, und hat mich verklagt
beim höchſten Gericht, und ich kann doch ein ſo
ſchönes Rädlein ſchlagen mit meinem braunen
Schwänzlein. — Der Fink verſetzte: Laß mich zufrie-
den. Ich freß’ mein Korn und kümmere mich ſonſt
um Nichts; ich hab’ ganz andere Sorgen, zu mei-
nem Waldſchlag lern’ ich die eigentlichen kunſt-
mäßigen Weiſen nur hinzu, wenn ſie mich blenden;
es iſt aber ſchrecklich, daß aus Einem erſt was
Rechtes wird, wenn man ſo hart verſtümmelt wor-
den iſt. — Von Diebſtählen plauderten die Andern
[163] und von Mordthaten, die Niemand geſehen, als die
Vögel:
Dann ſetzten ſie ſich auf den Zweigen ſtraff zurecht,
kuckten den Schüler ſpöttiſch an und zwei freche
Kohlmeiſen riefen: Da ſteht der Zauberer und hört
uns zu und weiß nicht, was mit ihm geſchieht;
nun, der wird Augen machen! — Der wird Augen
machen! ſchrie der ganze Haufen und flog mit
einem Gezwitſcher davon, welches wie ein halbes
Lachen klang.
Indem bekam der Schüler einen Wurf in das
Geſicht, er blickte empor, da ſah er ein ungeſchlif-
fenes Eichhorn, das hatte ihm die hohle Nuß auf
die Stirne geworfen, lag platt auf ſeinem Aſte auf
dem Bauche, ſtierte ihm in’s Geſicht, und rief:
Die hohle für dich, die volle für mich! — Ihr
ungezogenes Geſindel, laßt den fremden Herrn doch
zufrieden! rief eine ſchwarz und weiße Elſter, die
wackelnd durch das Gras herzugeſchritten kam.
Sie ſetzte ſich dem Schüler auf die Schulter und
ſagte ihm in’s Ohr: Ihr müßt nicht uns Alle nach
jenen unhöflichen Beſtien beurtheilen, gelahrter Herr,
11*
[164] es giebt auch unter uns wohlgezogene Leute. Da
ſeht einmal durch die Oeffnung hindurch jenen wei-
ſen Mann, das Wildſchwein, wie es ruhig ſteht
und ſeine Eicheln verzehrt, und dabei im Stillen
ſeine Gedanken hat. Herzlich gern will ich Euch
Geſellſchaft leiſten und Euch erzählen, was ich nur
weiß, das Reden iſt mein Vergnügen, beſonders
mit alten Leuten.
Wenn das iſt, ſo wirſt du bei mir deine Rech-
nung nicht finden, ich bin noch jung, verſetzte der
Schüler.
Ach Himmel, wie ſich die Menſchen täuſchen
können! rief die Elſter und ſah ganz gedankenvoll
vor ſich hin.
Indem war es dem Schüler, als höre er aus
noch größerer Tiefe des Waldes ein Seufzen, deſſen
Ton ihm durch das Herz drang. Er fragte ſeine
ſchwarz und weiß geſprenkelte Geſellſchafterin nach
der Urſache, die ſagte ihm aber, ſie wolle zwei
Eidexen darum ausforſchen, die dort ihr Morgen-
brod äßen. Er ging nun mit der Elſter auf der
Schulter nach dem Orte, wo dieſe Thierchen ſich
befinden ſollten. Da hatte er eine wunderhübſche
Schau. Die beiden Eidexchen waren gewiß vor-
[165] nehme Fräulein, denn ſie ſaßen unter einem gro-
ßen Pilze, der wie ein prachtvolles Schirmzelt ſein
goldgelbes Dach über ihnen ausſpannte. Dort
ſaßen ſie und ſchlürften mit den braunen Züngel-
chen den Thau vom Graſe, dann wiſchten ſie ſich
die Mäulchen an einem Hälmlein ab und gingen
mit einander im anſtoßenden Luſthain von Farren-
kräutern ſpazieren, welcher vermuthlich der Einen
zugehörte, die ihre Freundin bei ſich zum Beſuch
hatte. Schack! Schack! rief die Elſter; der Herr
möchte gern wiſſen, wer geſeufzt hat? Die Eidex-
chen hoben die Köpfchen empor, wedelten mit den
Schwänzchen und riefen:
Hm! Hm! ſagte die Elſter und wackelte mit dem
Kopfe, daß man ſo vergeßlich ſeyn kann! Ja frei-
lich, in der nahen Hainbuchenlaube ſchläft die ſchöne
Prinzeſſin Doralice, die der böſe König Kanker
eingeſponnen hat. O möchtet Ihr ſie erretten, ge-
lahrter Herr! — Den Schüler trieb das Herz,
er fragte die Elſter, wo die Laube ſei? Der Vogel
flog voran von Zweig zu Zweig, den Weg zu zei-
gen, ſo kamen ſie an eine ſtille Wieſe, rings ein-
[166] geſchloſſen, durch welche ein Bächlein, aus einer
Felſenſpalte ſpringend, floß, wo gar artige Läublein
von Hainbuchen ſtanden. Die Bäumchen hatten
ihre Zweige zur Erde geſchlagen, ſo daß ſie den
Boden wie ein Dach überwölbten, durch dieſe Dä-
cher aber ſtachen die Fächerblätter des Farrenkrauts
und ſchufen den Laubhäuslein die Lucken und Gie-
bel. Die Elſter ſprang auf eins der Laubhäuslein,
ſchaute durch eine Lucke und flüſterte geheimnißvoll:
Hier ſchläft die Prinzeſſin. — Mit klopfendem
Herzen trat der Schüler hinzu, kniete vor der
Oeffnung der Laube nieder und blickte hinein —
ach! da wurde ihm ein Anblick, der ihm Sinn und
Seele in noch gewaltigeren Aufruhr jagte, als da
er das Zauberwort ausſprach. Auf dem Mooſe,
welches wie ein Pfühl die ſchöne Laſt umquoll, ruhte
die reizendſte Jungfrau und ſchlummerte. Ihr Haupt
lag etwas erhöht, den einen Arm hatte ſie unter
den Nacken geſchoben, die weißen Finger leuchteten
aus dem Goldbraun der Locken, welche in langen
weichen Fluthen ſich zärtlich um Hals und Buſen
ſchmiegten. Mit unſäglicher Wonne und Wehmuth
ſchaute der Schüler in das herrliche Antlitz, auf
den Purpur der Lippen, auf die Blüthe der Glieder,
[167] von denen ein verklärender Wiederſchein auf das
dunkele Mooslager fiel. Daß die Schläferin, wie
von einem geheimen Drucke belaſtet, in ſüßer Angſt
zu athmen ſchien, machte ſie in ſeinen Augen nur
noch verlockender, er fühlte, daß ſein Herz auf im-
merdar gefangen genommen ſei, und nur an dieſem
Munde ſein Lechzen ſtillen könne. Iſt es nicht
Schade, ſagte die Elſter, die durch die Lucke in die
Laube gehüpft war, und ſich der Schläferin auf den
Arm ſetzte, daß eine ſo ſchöne Prinzeſſin ſich hat
müſſen einſpinnen laſſen? — Wie? Einſpinnen?
fragte der Schüler; ſie ruht ja, in ihren weißen
Schleier gehüllt. O Thorheit! rief die Elſter, ich
ſage, es ſind Spinnweben und der König Kanker
hat ſie eingeſponnen. — Wer iſt der König Kanker?
Im menſchlichen Zuſtande war er ein reicher
Garnſpinnerherr, verſetzte die Elſter, indem ſie wohl-
gefällig mit dem Schwanze wippte. Er hatte ſei-
ne Garnſpinnerei nicht weit von hier, außer dem
Walde, am Flüßchen, und an die hundert Arbeiter
ſpannen unter ihm. Das Garn wuſchen ſie im
Flüßchen. Darin wohnt aber der Nix, und der
war ihnen ſchon lange bitterböſe, weil ſie mit der
ekelhaften Wäſche ſeine klaren Fluthen trübten,
[168] und weil alle ſeine Kinder, die Schmerlen und die
Forellen, von der Beize abſtanden. Er wirrte das
Garn untereinander, die Wellen mußten es über
den Rand des Ufers ſchleudern, er trieb es abwärts
in die Strudel, um den Spinnerherrn zu warnen,
aber Alles war vergeblich. Endlich, am Johannis-
tage, an welchem die Flußgeiſter Macht haben, zu
ſchrecken und zu ſchaden, ſpritzte er der ganzen
Garnwäſcherzunft und ihrem Haupte, da ſie eben
wieder ihre Wäſcherei recht frech und gewiſſenlos
trieben, Feienwaſſer in das Antlitz, und, wie wilde
und blutdürſtige Menſchen Währ-Wölfe und Währ-
Kater werden können, ſo ſind die Garner und ihr
Haupt Währ-Kanker geworden. Sie liefen Alle
vom Flüßchen zum Walde und hangen mit ihren
Geweben überall an Bäumen und Sträuchen umher.
Die Spinner ſind gewöhnliche kleine Kanker gewor-
den, fangen Fliegen und Mücken; ihr Herr aber
hat faſt ſeine frühere Größe behalten und heißt der
Kanker-König. Er ſtellt den ſchönen Mädchen nach,
umſpinnt ſie, betäubt ſie mit ſeinem giftigen Dunſte
und ſaugt ihnen dann das Blut vom Herzen.
Zuletzt hat er dieſe Prinzeſſin überwältigt, welche
von ihrem Gefolge im Walde abgekommen war.
[169] Sieh dort — dort — dort regt er ſich zwiſchen den
Büſchen.
Wirklich war es dem Schüler, als ſehe er durch
die Zweige gegenüber einen rieſigen Spinnenleib
ſchimmern, zwei haarige Füße, dick wie Menſchen-
arme arbeiteten ſich durch das Laub; eine entſetz-
liche Angſt um die ſchöne Schläferin ergriff ihn,
er wollte dem Ungeheuer entgegenſtürzen. Umſonſt!
rief die Elſter und ſchlug mit den Flügeln; alle
verzauberte Menſchen haben furchtbare Kräfte, das
Ungethüm würde dich in der Umknotung erſticken,
aber ſtreue deiner Schönen Farrenſaamen auf die
Bruſt, der macht ſie unſichtbar vor dem Kanker-
König, und ſo lange nur ein Stäubchen davon
liegt, dauert der Segen aus. Eiligſt ſtreifte der
Schüler den braunen Staub von der unteren Fläche
eines Farrenblattes ab und that, wie ihm der
Vogel geſagt hatte. Indem er ſich hiebei über die
Schläferin beugte, rührte ihr Othem ſeine Wange.
Verzückt rief er: Giebt es kein Mittel, dieſes ge-
liebte Bild zu befreien? Oh! ſchrie der Vogel
und ſchoß wie toll in Zickzackflügen um den Schü-
ler, wenn Ihr mich um ſo ein Mittel befragt,
das giebt es wohl. Unſer weiſer Alter in der
[170] Kluft hat den Eibenbaum in Verwahr, wenn Ihr
davon einen Zweig bekommt und mit demſelben die
Stirne der Schönen dreimal berührt, ſo weicht alle
Feſſelung von ihr,
ſie wird in Eure Arme ſinken und Euch, als ihrem
Retter, angehören. In dieſem Augenblicke war es,
als ob die Schlafende die Reden des Vogels ver-
nähme. Ihr ſchönes Geſicht wurde von einer zar-
ten Röthe überzogen, ihre Züge nahmen den Aus-
druck einer unendlichen Sehnſucht an. Führe mich
zum weiſen Alten! rief der Schüler halb von Sinnen.
Der Vogel ſprang in die Büſche, der Schüler
eilte ihm nach. Die Elſter flatterte einen engen
Felſenweg empor, der bald nur noch über Mo-
raſt und wildumhergeworfene Steinblöcke gefährlich
hinanleitete. Von Block zu Block mußte der Schü-
ler klimmen, wollte er nicht im Sumpfe verſinken.
Seine Kniee zitterten, ſeine Bruſt keuchte, ſeine
Schläfe bedeckte kalter Schweiß. Er rupfte in der
Eile Blumen und Blätter ab und ſtreute ſie auf
die Steine, damit er den Weg wiederfinden möchte.
Endlich ſtand er auf bedeutender Höhe vor einem ge-
[171] räumigen Felſenportal, aus deſſen dunkelem Schlunde
ihm eine Eisluft entgegenſtrich. Die Natur ſchien
hier noch in der uralten Gährung zu ſeyn, ſo fürch-
terlich und zerriſſen ſtarrte das Geſtein über, neben,
vor der Höhle.
Hier wohnt unſer Weiſer! rief die Elſter, in-
dem ſich ihre Federn vom Kopf bis zum Schweife
ſträubten und krauſ’ten, ſo daß ſie ein unheimliches
und widerwärtiges Anſehen bekam. Ich will dich
bei ihm anmelden und fragen, wie er über deinen
Wunſch geſonnen iſt? mit dieſen Worten ſchlüpfte
ſie in die Kluft. Sie kam aber gleich wieder her-
ausgeſprungen und rief: Der Alte iſt mürriſch und
eigenſinnig, er will nicht anders dir den Eiben-
zweig geben, als wenn du ihm alle Ritzen der
Höhle verſtopfeſt, denn er ſagt, die Zugluft ſei
ihm empfindlich. Aber ehe du damit fertig wirſt,
kann manches Jahr vergehen. — Der Schüler raffte
des Mooſes und Krautes zuſammen, ſo viel er
faſſen konnte, und ging nicht ohne Schauder in
die Höhle. Drinnen ſahen ihn von den Wänden
Tropfſteinfratzen an, er wußte nicht, wohin er ſein
Auge vor den abſcheulichen Geſtalten retten ſollte.
Er wollte tiefer in den Felsgang dringen, da
[172] ſchnarchte es ihm aus der hinterſten Ecke entgegen:
Zurück! Störe mich nicht in meinen Forſchungen,
treibe da vorne dein Weſen! Er wollte entdecken,
wer da ſpreche, ſah aber nichts als ein Paar glüh-
rother Augen, die aus dem Dunkel leuchteten. Nun
gab er ſich an ſeine Arbeit, ſtopfte überall Moos
und Kraut ein, wo er eine Spalte ſah, durch
welche ein Schimmer des Tageslichtes drang, aber
das war ein ſchwieriges und, wie es ſchien, un-
endliches Werk. Denn, glaubte er mit einer Spalte
fertig zu ſeyn und ſich zu einer Anderen wenden zu
können, ſo fiel das Eingeſtopfte wieder heraus und
er mußte von vorn beginnen. Dazu ſchnarrte das
Schnarchende im Hintergrunde der Höhle Töne und
Laute ohne Sinn ab und ließ nur bisweilen ver-
ſtändliche Worte ausgehen, die ſo klangen, als ob
es ſich ſeiner tiefen Forſchungen berühme.
Die Zeit ſchien dem Schüler im reißenden Fluge
unter ſeiner verzweiflungsvollen Arbeit vorüber zu
eilen. Tage, Wochen, Monate, Jahre kamen, ſo
dünkte ihm, und ſchwanden, und dennoch ſpürte er
weder Hunger noch Durſt. Er glaubte ſich dem
Wahnwitze nahe und wiederholte ſich ſtill mit einer
Art von raſender Leidenſchaft die Jahreszahl und
[173] daß er am Tage Peter und Paul zu Walde gegan-
gen ſei, um nicht gar aus aller Zeit zu treten.
Wie aus weiter Ferne ſah ihn das Bild ſeiner
geliebten Schlummernden an, er weinte vor Sehn-
ſucht nnd Trauer und doch fühlte er keine Thräne
über die Wangen rinnen. Auf einmal war es ihm,
als ſehe er eine bekannte Geſtalt ſich der Schläfe-
rin nähern, entzückt ſie betrachten und ſich dann
wie zum Kuſſe über ſie beugen. In dieſem Augen-
blicke übermannten ihn Schmerz und Eiferſucht, Alles
um ſich her vergeſſend ſtürzte er gegen den dunkeln
Hintergrund der Höhle. Den Eibenzweig! rief er
heftig. Da wächſt er! antwortete das Glühende,
Schnarchende, und zugleich fühlte er die Zweige
eines Baumes in der Hand, der aus einer finſteren
Spalte der Grotte emporſtand. Er brach an einem
Zweige, da that es ein Winſeln um ihn her, das
Glühende ſchnarchte ſtärker als jemals, die Höhle
ſchwankte, ſchütterte, ſtürzte zuſammen, Nacht wurde
es vor den Augen des Schülers, und unwillkührlich
rief es aus ihm hervor:
Als ſeine Augen wieder helle wurden, ſah er ſich
[174] um. Ein dürrer, ſonderbar mißfarbiger Stecken
lag in ſeiner Hand. Er ſtand zwiſchen Geſtein,
welches ſich zu einer Kluft wölbte, die aber nicht
eben mächtig war. In der Tiefe klangen ſchrillende,
pfeifende Töne, wie ſie die großen Eulen von ſich
zu geben pflegen. Die Gegend umher war wie
verwandelt. Es war eine mäßige Anhöhe, kahl
und ärmlich, mit unbedeutenden Steinen überſäet,
zwiſchen denen auf der einen Seite nach der Tiefe
zu durch feuchtes Erdreich der Weg hinableitete,
den er heraufgekommen war. Von den großen
Felsblöcken war keiner mehr zu erſchauen. Ihn
fror, obgleich die Sonne hoch am Himmel ſchien.
Es bedünkte ihn, als habe ſie denſelben Stand,
wie damals, als er ausgegangen war, den Zweig
zu holen, der nun zum dürren Stecken in ſeiner
Hand geworden war. Er ging den Pfad über die
Steine hinab, das Wandern fiel ihm beſchwerlich,
er mußte ſich auf den Stecken ſtützen, das Haupt
hing auf die Bruſt hinab, er hörte ſeinen Othem, der
mühſam aus ihr hervordrang. An einer ſchlüpf-
richten Stelle des Pfades glitt er aus und mußte
ſich am Gebüſch halten. Dabei kam ihm ſeine
Hand dicht vor das Auge, die ſah grau und runz-
[175] licht aus. Herr Gott! rief er, von einem Schau-
der gepackt, bin ich denn ſo lange — —? Er
wagte ſeinen eigenen Gedanken nicht auszuſprechen.
Nein, ſagte er, ſich gewaltſam beruhigend, es thut
die kühle Waldluft, daß mich ſo friert, matt bin
ich von der Anſtrengung geworden, und das gebrochene
fahlgrüne Licht, welches durch die Büſche fällt, giebt
den Händen die ſeltſame Farbe. Er ſchritt weiter
und ſah auf den Steinen die wilden Blumen und
Blätter liegen, welche er bei dem Hinaufklimmen
dahin geſtreut hatte, den Weg zu merken. Sie
waren friſch, als ſeien ſie eben hingelegt worden.
Damit war ihm ein neues Räthſel geſetzt. Ein
Köhler hockte ſeitwärts vom Wege im Gehölz und
ſchnitt Aeſte ab, den fragte er nach dem Tage.
Ei Vater, verſetzte der Köhler, ſeid Ihr ein ſo
böſer Chriſt, daß Ihr Apoſtelntag nicht kennt?
Wir haben Peter und Paul, wo der Hirſch aus
dem Wald ins Korn tritt. Ich will meinem Jun-
gen da aus dem Maſeraſt ein Spielwerk ſchneiden,
ſonſt arbeit’ ich nicht an dem Tag, aber das iſt zur Luſt
und Ergötzlichkeit, und die iſt erlaubt, ſagt der Caplan.
Ich bitte dich, Geſell, rief der Schüler, den
das Grauen immer ſtärker durchrieſelte, ſag’ mir
[176] an, welche Jahrzahl ſchreibt Ihr in der Chriſten-
heit? Der Köhler, von dem auch die Feiertags-
wäſche den Ruß nicht hatte bringen mögen, hob
ſich mit ſeinen mächtigen Gliedern ſchwarz zwiſchen
den grünen Büſchen empor, und ſprach nach einigem
Beſinnen die Jahreszahl aus. — O du mein Hei-
land! ſchrie der Schüler und ſtürzte, von ſeinem
Stecken nicht gehalten, auf den Steinen zuſammen.
Dann ſchleuderte er den Stecken hinweg und kroch
zitternd den Steinpfad hinab.
Verwundert trat der ſchwarze Köhler, den Ma-
ſeraſt in der Hand, aus den Sträuchen auf die
Steine, ſah den Stecken liegen, bekreuzte ſich und
ſprach: Der iſt von der Eibe, die da droben wächſt
im Eulenſtein, wo der Schuhu horſtet. Sie ſagen,
ſie ſchaffe den Zauber, und löſe geſchaffenen Zauber.
Gott behüte uns! der Alte hatte böſe Dinge aus-
laufen laſſen. — Dann ging er in die Büſche zu-
rück, ſeiner Hütte zu, um das Spielwerk für ſeinen
Knaben zu ſchnitzen.
Unten auf der luſtigen Waldwieſe neben der
Hainbuchenlaube, am klaren Wäſſerlein, welches
dort ſeine Räder zu einem breiten Becken ausein-
[177] ander geſpült hatte, ſaßen der junge Ritter Kon-
rad und die Schöne, welche er ohne magiſche Künſte
aus dem Schlummer geweckt hatte. Lieblich dräng-
ten ſich rothe, blaue und gelbe Kelche aus den Grä-
ſern um ſie her, und das Paar blühte in Jugend
und Schönheit, der Ritter in ſeinem bunten Schmuck,
die Jungfrau in ihren ſilberglänzenden Schleiern,
als die herrlichſte Blume aus dieſem Schmelz empor.
Er hatte ſeinen Arm ſanft um ihren Leib gelegt
und ſagte, ihr treu und zärtlich in das Auge ſehend:
Bei der Aſche meiner lieben Mutter, und bei dem
heiligen Zeichen auf dem Griffe dieſes Schwerts,
ich bin, der ich mich dir genannt habe, Herr mei-
ner Schlöſſer und meiner Tage, und beſchwöre dich
nun, du holdſeliges Wunder dieſes Forſtes, daß
deine Lippen das Wort ſprechen, welches mich auf
ewig dir in den Beſitz geben wird, den der Prie-
ſter vor dem Altare weihen und ſegnen ſoll. —
Was für ein Wort begehrſt du noch? ſagte
die Schöne leiſe, indem ſie züchtig die Wimpern
ſenkte. Hat nicht mein Auge, meine Wange, mein
klopfender Buſen Alles geſprochen? Minne iſt eine
gewaltige Königin; ſie fährt daher unverſehens und
ergreift, den ſie mag, ohne Widerſtand zu dulden.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 12
[178] Bringe mich, bevor der Tag ſinkt, nach dem Klo-
ſter am Odenwald zur frommen Aebtiſſin, ſie wird
mich unter Schirm nehmen, dort will ich zwiſchen
ſtillen Mauern harren, ob du kommen und mich
heimführen willſt. Sie wollte aufſtehen, der junge
Ritter hielt ſie aber ſanft zurück und ſagte: Laß
uns an dieſem Platze, wo meine Seligkeit wie ein
goldenes Mährchen emporſproßte, noch einige Augen-
blicke verweilen. Fürchte ich doch noch immer, daß
du mir, gleich einer reizenden Waldnymphe ver-
ſchwindeſt! Hilf mir, daß ich an dich glaube und
an deine holde Sterblichkeit. Wie biſt du herge-
kommen? Was war mit dir?
Ich war, verſetzte die Schöne, heute Morgen
zu Walde geflohen vor meinem Vormunde, dem
Grafen Archimbald, deſſen Abſichten plötzlich, ich
weiß nicht ob auf mich, oder auf meine Güter,
bös und erſchreckend hervorgetreten waren. Was
hilft der Jugend und dem Weibe reiches Erbe?
Es iſt immerdar ſchutzlos und verlaſſen. Ich wollte
mich zur Aebtiſſin flüchten, ich wollte den Kaiſer
in Maynz antreten, kaum wußte ich ſelbſt, was
ich wollte. So kam ich in dieſe grünen Baum-
hallen. Mein Herz war nicht auf den Helfer
[179] gerichtet, meine Gedanken haderten mit dem
Himmel.
Auf einmal, wie ich dieſe Wieſe ſchon vor mir
liegen ſah, war mir, als würde da drüben in den
Büſchen etwas geſprochen, worauf ich mich und
Alles um mich her verwandelt fühlte. Ich kann
dir das Wort, oder den Laut nicht beſchreiben,
mein Geliebter! Der Geſang der Nachtigall klingt
heiſer gegen ſeine Süßigkeit und das Rollen des
Donners iſt, mit ihm verglichen, nur ein ſchwaches
Flüſtern. Es war gewiß das Geheimſte und Zwin-
gendſte, was es zwiſchen Himmel und Erde geben
kann. Auch auf mich übte es eine unwiderſtehliche
Gewalt, da es in meinen faſſungsloſen Geiſt, in
das Getümmel meiner Sinne fiel und kein Ge-
danke des Heils ihm in mir entgegentrat. Meine
Augen ſchloſſen ſich und doch ſah ich den Weg vor
meinen Füßen, den die Füße, wie von unſichtba-
ren, weichen Händen gelenkt, wandeln mußten.
Ich ſchlief und ſchlief doch nicht, es war ein un-
beſchreiblicher Zuſtand, in dem ich endlich unter
jener Laube auf weichem Mooſe niederſank. Es
ſprach und ſang Alles um mich her, in mir fühlte
ich den Wogenſchlag der jubelndſten Wonne, jeder
12*
[180] Tropfen Blutes leuchtete und tanzte durch die Adern
und doch ſaß mir im tiefſten Herzen das aller-
äußerſte Grauen vor dieſer Verfaſſung und die
heißeſte Bitte um Erweckung aus meinem Schlafe.
Aber ich ſpürte, daß von dem Grauen nichts in
mein Antlitz trat, wunderbarer Weiſe konnte ich
mich ſelbſt ſchauen und ſah, daß meine Wangen
von der Wonne lächelten, als würden mir himm-
liſche Freudenlieder zugeſungen. Immer weiter
griff die Wonne in mein Herz, immer weiter
drängte ſie das Grauen zurück, eine furchtbare
Angſt befiel mich, daß dieſes Pünctchen ganz aus
mir getilgt und ich eitel Wonne werden würde.
In dieſer Noth, und dem Verſchwinden alles
Bewußtſeyns nahe, gelobte ich mich dem, der mich
erwecken und befreien werde, zu eigen. Ich ſah
nun durch meine geſchloſſenen Augenlieder eine dunkele
Geſtalt ſich über mich beugen. Das Antlitz war
edel und groß, und doch fühlte ich einen tiefen
Widerwillen gegen Dieſen und es flog wie ein
Schatten durch meine Empfindung, daß er es ge-
weſen ſeyn möchte, der das verdammliche Wort
geſprochen habe. Aber immer rief ich ſtumm in
mir und doch laut für mich: Wenn er dich weckt
[181] und befreit, ſo mußt du ihm für dieſe überſchwäng-
liche Wohlthat angehören, denn du haſt es gelobt.
— Er hat mich nicht geweckt!
Ich, ich habe dich geweckt, mein theures Lieb,
und nicht mit Zauberſpruch und Segen, nein, mit
heißem Kuß auf deine rothen Lippen! rief der junge
Ritter entzückt und hielt die ſchöne Emma feſt
umſchlungen. — Das ſind wohl rechte Wunder im
Speſſart geweſen, die uns zuſammengeführt haben.
Ich hatte mich draußen am Heerweg von meinem
geliebten Freunde Petrus getrennt nach ſeltſamen
verfänglichen Geſprächen. Als ich einige hundert
Schritte geritten war, überfiel mich noch einmal
eine große Sorge um ihn, ich ſaß ab und wollte
wiederholt ihm ans Herz legen, ſeine dunkelen Wege
zu laſſen und mit mir gen Maynz zu ziehen. Als
ich mich wandte, ſah ich ihn in den Wald ſchlüp-
fen. Ich rief ſeinen Namen, er aber hörte mich
nicht. Die Sporen verhinderten mich am raſchen
Gehen; ich konnte ihm nur von Weitem folgen,
doch ließ ich nicht ab, hinter ihm her zu rufen,
was aber vergeblich blieb. Endlich verſchwand mir
ſein ſchwarzer Mantel zwiſchen den Bäumen. Auch
ich ſah die ſchöne grüne Wieſe ſchimmern und
[182] wollte mir den lichten Blumenſchein beſehen. So
kam ich her, nachdem ich noch die Kreuz und Quer
nach meinem Freunde geſucht hatte. Auch mich
umgab es hier im Walde aus den Lüften wie ein
Wühlen und Schwingen, das Gewürm war in einer
Bewegung, die Vögel verführten ein ſo eigenes
Flattern und Zirpen. — Weil ich aber an die helle
gute Straße dachte, auf die ich den Petrus gern
bringen wollte, ſo hat mir vermuthlich das Weſen
nichts anhaben können. Als ich dich ſchlummernd
fand, drang mir mit der Gewalt der ſüßeſten Liebe
ein ungeheures Mitleid um dich in das Herz, ich
frohlockte und weinte doch Thränen, die heißeſten,
die je aus meinen munteren Augen gekommen. Ich
glaube, daß mir vergönnt war, in den Winkel zu
ſchauen, wo dir das Grauen wohnte. Schluch-
zend und lachend rief ich:
und da boten meine Lippen in Gottes Namen den
Deinen ihren Gruß…
[183]
Und die Feſſeln fielen ab von mir, ich erwachte,
und mein erſter Blick traf in dein treues weinen-
des Auge, rief die ſchöne Emma. Ich dankte
Gott, auf deſſen Namen ich mich jetzt wieder be-
ſann, daß ich erlöſet ſei, und dann dankte ich ihm,
daß du es geweſen, der mich befreiet habe, und
nicht jener Dunkle.
Der junge Ritter war nachdenklich geworden.
Ich fürchte, ſagte er, alle dieſe geheimnißvollen Wald-
wunder ſtehen mit Petrus in Zuſammenhang. Ich
fürchte, daß ich an dem Tage, wo ich meine Liebe
gewann, meinen Freund verloren habe. Wo mag
er nur geblieben ſeyn?
Das Paar fuhr erſchreckt auseinander, denn
ſie ſahen in dem Waſſer zu ihren Füßen zwiſchen
ihren blühenden Häuptern ein eisgraues, greiſes
abgeſpiegelt. Hier iſt er, ſagte ein zitternder, ge-
beugter, ſchneeweißer Alter, der hinter ihnen ſtand.
Er trug den neuen, ſchwarzen Mantel des Schülers.
Ja, ſagte der Alte mit ſchwacher, erloſchener
Stimme; ich bin dein Freund Petrus von Stetten.
Ich ſtand ſchon lange hinter Euch und hörte Eure
Reden, und die Geſchicke ſind klar geworden. Es
iſt noch der Peter- und Paulstag, an dem wir
[184] uns trafen und trennten draußen auf dem Heer-
wege, der kaum tauſend Schritte weit von hier
läuft und ſeit wir von einander gegangen ſind, mag
eine Stunde verſtrichen ſeyn, denn der Schatten,
den der Strauch da auf den Raſen wirft, iſt nur
um ein Geringes gewachſen. Wir waren vier und
zwanzig Jahre alt vor dieſer Stunde, du biſt darin
um ſechszig Minuten, ich aber bin derweile um
ſechszig Jahre älter geworden. Ich habe vierund-
achtzig. — So ſehen wir uns wieder; ich habe es
freilich nicht gedacht.
Konrad und Emma waren aufgeſtanden. Sie
ſchmiegte ſich ſcheu an den Geliebten und ſagte
leiſe: Es iſt ein armer Irrſinniger. — Nein, du
ſchöne Emma, ſagte der Alte, ich bin nicht irre.
Dich habe ich geliebt, mein Zauber fiel auf dich,
und ich hätte dich haben können, wäre es mir
vergönnt geweſen, in Gottes Namen dir den rothen
Mund zu küſſen, was der einzige Segen iſt, womit
ſchöne Minne erweckt wird. Statt deſſen mußte ich
nach dem Eibenzweige gehen und dem Schuhu ſeine
Klauſe vor Wind und Wetter verwahren helfen. Nun,
wie es gekommen iſt, ſo mußte es kommen. Er hat
die Braut, und ich habe den Tod davon getragen.
[185]
Konrad hatte immerfort ſtarr in das Geſicht
des Alten geſehen, um durch die Runzeln und Fal-
ten hindurch ein früheres Lineament des Jugend-
freundes zu entdecken. Endlich ſtammelte er: Ich
beſchwöre dich, Menſch, uns zu verkünden, wie dieſe
Verwandlung hat zugehen können, damit uns nicht ein
Schwindel faßt und zu ſchrecklichen Dingen treibt!
Wer Gott verſucht und die Natur, über den
ſtürzen Geſichte, an denen er raſch verwittert, ant-
wortete der Alte. Dabei bleibt der Menſch, wenn
er auch die Pflanzen wachſen ſieht und die Reden
der Vögel verſtehen lernt, ſo einfältig wie zuvor,
läßt ſich von einer albernen Elſter Fabeln von der
Prinzeſſin und vom Kankerkönige aufbinden, und
ſieht Frauenſchleier für [Spinnweben] an. Die Natur
iſt Hülle, kein Zauberwort ſtreift ſie von ihr ab,
dich macht es nur zur grauen Fabel.
Er ſchlich langſam in die Waldgründe. Konrad
wagte nicht, ihm zu folgen. Er leitete ſeine Emma
aus dem Schatten der Bäume nach der heiteren
Straße, wo das Licht in allen Farben um die
Kronen der Stämme ſpielte.
Noch einige Zeit lang hörten die Wanderer im
Speſſart hinter Felſen und dichten Baumgruppen
[186] zuweilen mit einer hohlen und geiſterhaften Stimme
Reime ſprechen, die dem Einen wie Unſinn, dem
Anderen wie tiefe Weisheit klangen. Gingen ſie
dem Schalle nach, ſo fanden ſie den Alten, der
noch ſo wenige Jahre zählte, wie er, erloſchenen
Auges, die Hände auf die Kniee geſtützt, ſtarr in
die Weite blickte und die Sprüche vor ſich hin-
ſagte, deren Keiner aufbehalten geblieben iſt. Nicht
lange aber, ſo wurden ſie nicht mehr gehört, und
auch den Leichnam des Alten fand man nicht.
Konrad freite ſeine Emma; ſie gebar ihm ſchöne
Kinder und er lebte bis zu ſpäten Jahren mit ihr
in großer Freude und Luſt.
[[187]]
Sechstes Buch.
Walpurgisnacht bei Tage.
[[188]][189]
Erſtes Capitel.
Wache Träume.
Als der Jäger am Morgen nach ſeinem ſchön-
ſten Tage im Heu erwachte, ſchmerzte ihn heftig ſein
Kopf. Denn man ſei ſo verliebt, als man will,
der Duft von friſchem Heu nimmt den Kopf ein,
und er hätte den Tod von der unvorſichtig gewähl-
ten Lagerſtatt haben können. Anfangs zwar hatten
die lieblichſten Träume von Lisbeth ſein Hirn um-
gaukelt. Ihm träumte, ein Bauer trete mit einem
verſchloſſenen Korbe zu ihm und ſage, darin ſei ein
Geſchenk, der Herr wiſſe wohl, von wem? Nun
öffnete er den Korb, und ein weißes Täubchen
war darin mit purpurrothen Füßchen und purpur-
rothem Schnabel. Er erſtaunte über die Weiße
und Schönheit des Thierchens und hatte ſeine
große Freude daran. Wie wurde ihm aber, als
das Thierchen ſein rothes Schnäblein öffnete und
[190] zu ihm ſprach: Lisbeth ſchickt mich zu dir und
läßt dir ſagen — die Taube redete aber nicht aus;
ſie wurde ängſtlich, flatterte ſcheu fort, und er be-
kümmerte ſich im Traume darüber, daß er nicht zu
erfahren bekam, was ſein Mädchen ihm durch den
zarten Boten hatte ſagen laſſen wollen.
Nach dieſem hatte er verworrene Geſichter und
gegen Morgen eins, was ihm kaum noch wie ein
Traum vorkam, es ſchien ihm Wirklichkeit zu ſeyn,
die in ſeine vom Heuduft umwölkten Sinne fiel.
Es war ihm, als ob — oder vielmehr, es war
in der That ſo. In einer anderen Ecke des Schop-
pens begann es, ſich zu rühren, und der Jäger
ſah, wie eine dunkele Geſtalt ſich reckte, er hörte,
wie ſie gähnte und darauf ſprach: Mein Treu, ich
glaub’, ’s iſt halber ſieb’n. Die Stimme war eine
ihm ganz bekannte. Die Geſtalt erhob ſich, taſtete
umher und kam an den Ort, wo der Jäger lag,
befangen von dem Dunſte des Schoppens und un-
fähig ein Glied zu bewegen, ängſtlich ſtarr unter
der Laſt des Alps, der ihn drückte. — Ei, was a
wüſter G’ſell! rief die Geſtalt. Haſt nit heime
finden können? Biſt in’s Heu gekrochen? Nun-
ſchlaf aus, ich verſtör’ dich nit weiter.
[191]
Mit dieſen Worten entfernte ſich die Geſtalt.
Der Jäger wollte: Jochem! rufen, konnte aber
keinen Laut aus der zuſammengeſchnürten Kehle
bringen. So lag er noch eine Zeit lang. Endlich
ſetzte ſich das ſtockende Blut doch wieder gewalt-
ſam in Bewegung, er konnte ſeine Arme und Füße
regen. Haſtig ſprang er von dem gefährlichen La-
ger auf und eilte in das Freie, um Gottes reine
Luft einzuathmen.
Draußen pfiff ihm ein rauher Nordoſtwind ent-
gegen. Ein brenzlichter Geruch ſchwebte in der
Luft, und ein Bauer, der vorbeiging, ſagte: Es
giebt heut Haarrauch. Er fragte den Mann nach
dem nächſten Wirthshauſe, welches ihm in einiger
Entfernung auf einer Höhe gezeigt wurde. Sein
Weg lief über ein hohes, braunes Haideland, in
geringer Entfernung in der Tiefe ſah er aber grüne
Wieſen, durch welche ſich der Fluß, der ſie ſpeiſte,
in zwanzig Windungen ſchlängelte. Schaaren von
Landleuten waren mit dem zweiten Hiebe auf den
Wieſen beſchäftigt. Auf manchen Wieſen wurde
die Grummet auch ſchon gewendet.
Im Wirthshauſe heilte ſich der Jäger von ſei-
nen Kopfſchmerzen durch das kalte Waſſer, in wel-
[192] ches er ſein brennendes Antlitz eintauchte. Aber
er blieb nichts deſtoweniger unwohl. In der Bruſt
fühlte er ein eigenes Drücken und Wühlen, was
ihn zwar nicht ängſtlich machte, aber ihn doch an
den Blutſturz erinnerte, den er als Achtzehnjähri-
ger gehabt hatte und dem ähnliche Empfindungen
vorhergegangen waren. Sein Arzt auf der Uni-
verſität hatte ihn damals nach der Herſtellung
gewarnt und ihm geſagt, er müſſe ſich vor unor-
dentlichem Leben und Gemüthsbewegungen in Acht
nehmen, denn ſo vollſaftigen Conſtitutionen, wie
der ſeinigen, droheten beſtändig Rückfälle des Uebels,
wenn es einmal ſich Bahn gebrochen habe. Nun
war ſeine Lebensweiſe in den letzten Wochen frei-
lich nicht die ordentlichſte, ſeine Stimmung aber
nur eine Gemüthsbewegung geweſen.
Er nahm Speiſe und Trank um dadurch die
erregten Lebensgeiſter zu beruhigen. Wirklich fühlte
er ſich auch danach beſſer. Er fragte nach dem
Schloſſe, wo es liege? Da hörte er nun ſeltſame
Dinge. — Sie müſſen bald fertig ſeyn da droben,
der alte Herr Baron und das gnädige Fräulein
und der fremde Herr, ſagte der Wirth. Denn man
ſieht ſie kaum noch außer dem Hauſe. Das ſieht
[193] auch ganz gefährlich aus, und der Landbaumeiſter,
der geſtern hier vorſprach, ſagte, wenn nicht bald
reparirt werde, ſo müſſe die Obrigkeit Einſehen
haben und auf Abtragung des Dinges dringen,
welches jeden Tag einſtürzen könne.
Der Jäger verwunderte ſich über dieſe Reden,
die mit Lisbeths Beſchreibungen in ſo großem Wi-
derſpruch ſtanden. Die Anweſenheit eines Frem-
den in dem ſogenannten Schloſſe kam ihm ſtörend
vor; er fragte den Wirth: Was für ein Fremder
das ſei?
O, verſetzte der Mann, dieſen Menſchen kann
keine Menſchenſeele beſchreiben; ich glaube aber,
daß er Gold macht.
Der Jäger ſchüttelte den Kopf über die när-
riſchen Nachrichten, die er hier empfing und machte
ſich raſch auf den Weg, denn ihn drängte es,
das Geſchäft, was ſeiner Liebe beigeſellt war, zu
Ende zu bringen. An dieſe dachte er mit aller
Freude des Herzens und dennoch — ſchlich ein
tragiſcher Hauch über die reinen Wellen, welche
in ſeinem Buſen wallten. Denn ſo iſt es mit der
Liebe. Am Tage nach der ſüßeſten Erklärung wirſt
du, all dein Glück inniglich durchfühlend, verlegen
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 13
[194] ſeyn, außer Faſſung, in Zwieſpalt mit dir und
der Welt. Du wirſt es nicht ſagen, weder laut
noch leiſe, aber einen Gedanken wirſt du haben
und zürnen, daß du ihn nicht unterdrücken kannſt
— den Gedanken: Wäre es noch vorgeſtern! —
Das iſt keine Reue, das iſt kein Wankelmuth,
aber du fühlſt, vorbei ſei das alte Leben, ein
neues beginne. Und was dieſes dir bringen werde,
wiſſen nur die Spinnerinnen, deren Geſang du
hörſt, deren Werk aber erſt in deiner Todesſtunde
offenbar wird.
In ſo unruhiger Bewegung machte der Jäger
ſeinen Weg. Er glaubte einen Nachtraum ſeines
Traumes zu erleben, als er auf einmal nicht weit
von der Straße drei junge Leute unter einem
Baume ſitzen ſah, in welchen er, wenn nicht alle
Aehnlichkeiten trogen, die drei Unbefriedigten wie-
dererkannte, von welchen in dem Briefe an ſeinen
Freund Ernſt im Schwarzwalde die Rede geweſen
iſt. Sie trugen noch, wie damals in Stuttgart,
grüne Sammetröcke, grüne Sammethoſen und große
grüne Sammetſchirmkappen, und ihre Geſichter
waren im Gegenſatz zu dieſer hoffnungsfarbigen
Tracht auch noch ſo bleich und leidend wie da-
[195] mals. Der Jäger ſtand einen Augenblick ſtill und
hörte den Einen zu den Andern ſagen: Muth,
Brüder, wir ſind am Ziele, oder alle Zeichen, die
wir eingeſammelt haben und die auf unſeres Mei-
ſters Nähe deuten, trogen. — Der Jäger wollte ſich
ihnen nahen, denn er hatte hin und wieder mit
dieſen Unbefriedigten ſich in Stuttgart unterhal-
ten. Er wollte ſie fragen, was ſie ſo unvermuthet
in dieſe Gegend führe? Aber da ſtanden ſie alle
Drei auf und ſchlugen einen anderen Weg ein.
Ihnen nachzugehen hatte er aber keine Luſt. Viel-
mehr verfolgte er ſeine Straße.
Er war jedoch nicht lange gegangen, ſo ſah er
einen neuen Bekannten, oder wenigſtens einen Lands-
mann, wie das erſte Grußwort ihm den Wanderer als
ſolchen zu erkennen gab. Ein unterſetzter Mann, der
einen Packen auf dem Rücken trug, kam ihm der-
ben Schrittes entgegen. Da er ſich Schwäbiſch
angeſprochen hörte, ſo blieb der Jäger bei dem
Landsmanne ſtehen und fragte ihn nach Herkunft
und Gewerbe. Ei, verſetzte der Packenträger, ich
bin ja der Ehinger Spitzenmann. Ja, die Ehin-
ger wandern überall umher, mußt’ einmal auch
dieſe Gegend beſuchen. Zudem hab’ ich noch ein
13*
[196] apartes Geſchäft hier, wann ich meine Spitzen
bei einigen Bauern herum ausgeboten hab’. Ich
ſuch’ was oder wen in dem Schloß nahzu, darf
nicht davon reden, denn die Sach’ betrifft eine
Ehinger Heimlichkeit, aber wie ich mein’, iſt die
Spur nach dem Schloß richtig.
Der Ehinger Spitzenkrämer trennte ſich darauf
von dem Jäger. Letzterer hatte abentheuerliche
Gedanken über den Fremden im Schloſſe, der ein
Goldmacher ſeyn ſollte und den ſein Landsmann
ſuchte, konnte jedoch denſelben nicht lange nach-
hangen, denn bald feſſelte ein Anblick der uner-
wartetſten Art ſeine Aufmerkſamkeit. Der Weg
kreuzte die große Heerſtraße, welche den Oſten
Deutſchlands mit dem Weſten verbindet, und auf
dieſer ſah er ein wunderſames Fahrzeug ſich lang-
ſam heranbewegen. Gezogen wurde es von zwei
Ochſen mit Bügeln, woran Schellen klingelten, den
Wagen ſelbſt aber hätte man von weitem für einen
ſogenannten überdeckten Wurſtwagen halten können.
Er war dieſes aber nicht, ſondern ebenfalls ein
öſtliches oder wenigſtens oſtartiges Gefähr. Auf
Stützen ruhte ein Dach von rothem Tuch mit gel-
ben Troddeln über einem weitläuftigen Kaſten, den
[197] ſchmale Borde umſchloſſen. In dieſem Kaſten lagen
orientaliſche Polſter, und auf den Polſtern ſaß mit
gekreuzten Beinen ein Türke und hielt den Bern-
ſteinknopf ſeiner Pfeife am Munde. Nicht allein
war dieſer Türke in dem Kaſten, ſondern verſchie-
denes anderes Gethier theilte denſelben mit ihm;
ein Paar Affen in Käfichen und drei oder vier
Papageien. Neben den Ochſen ging ein junger
Neger in weißen Hoſen und rother Jacke, lenkte
ſie, wo es nöthig war, trieb ſie jedoch nicht ſon-
derlich an, ſo daß das Fuhrwerk ſich nur langſam
fortſchob.
Der Jäger begriff nicht, wie der Orient plötz-
lich hieher komme, ſein Erſtaunen wuchs aber,
als der Türke, deſſen blaſſes und geiſtreiches Ge-
ſicht etwas ungemein Gelangweiltes offenbarte, ihn
in reinem Deutſch nach der Entfernung des Schloſ-
ſes fragte, dem der junge Liebende ebenfalls
zuſtrebte. Als er den Fremden bei der Antwort
näher anſah, ſchoß ihm plötzlich eine Erinnerung
durch den Kopf. Ein ſehr ähnlicher Kupferſtich,
den er kurz vor ſeiner Abreiſe aus Schwaben ge-
ſehen hatte, fiel ihm ein, und es wurde ihm klar,
daß er ſo glücklich ſei, zwiſchen den Affen und
[198] Papageien den berühmteſten Reiſenden der Gegen-
wart zu erblicken, den Liebling aller modernen
Damen und Herren.
Als der Jäger beſcheiden ſeine Vermuthung
ausſprach, wurde ihm die Beſtätigung aus dem
Munde des deutſchen Türken und Semilaſſo gab
ſich ſogleich mit dem jungen Grafen in ein geiſt-
reiches Geſpräch. Er erzählte ihm, daß er aus
dem Morgenlande zurückkehre, um den Abend jetzt
mit ſeinen gewonnenen Erfahrungen aufzuklären. —
Die Journale haben verbreitet, ſagte er, daß ich
noch eine Zeit lang in Smyrna verweilen werde,
ich pronirte auch dieſes Gerücht und reiſte in der
Stille ab, theils um den Occident zu überraſchen,
theils um einen Streit unter den Gelehrten an-
zufachen über die Frage, wo ich nun eigentlich ſei,
ob in Oſt oder in Weſt? Die Einen werden ſich
auf Augenzeugen berufen, die mich in Smyrna
geſehen, die Anderen werden meine Karte abdrucken
laſſen, die ich ihnen ſandte. Es kann, ſagte Se-
milaſſo mit feierlicher Leichtigkeit und anmuthigem
Gähnen, eine intereſſante Debatte werden, welche
das Publicum ein Paar Monate lang beſchäftigt,
denn das will immer angeregt und gekitzelt ſeyn. —
[199]
Der Jäger befragte ihn über ſeine Reiſeroute,
worauf Semilaſſo verſetzte: Ich beſtieg in Smyrna
ein öſterreichiſches Schiff, fuhr quer durch das
Mittelländiſche Meer an den Säulen des Hercules
vorbei, um Portugal herum durch die Biscayiſche
See, lenkte in den Canal ein und debarquirte
in Havre. Die gerade Linie iſt ſo langweilig; es
lebe die krumme! Mein Dromedar und der
Hengſt von Dongola folgen mir um einen Tage-
marſch. Mein Kammerdiener geht, armeniſch ge-
kleidet, als Fourier voraus, und ſo haben die
Leute an jedem Orte, den die Reiſe berührt, drei
Tage lang von mir zu reden, einen, wo der Fou-
rier ankommt, einen, wo ich ankomme, und einen
wo der Dromedar und der Hengſt ankommen.
Der Jäger ſah verwundert das Ochſengefähr
an. Semilaſſo errieth ſeine Gedanken, lachte und
ſagte: Meine Ochſen ſind Ihnen auffallend. Ich
kaufte ſie in der Normandie; im Orient fährt man
faſt nur mit dieſen Thieren, ſie paßten in meine
jetzige Liebhaberei und in mein Syſtem. Denn
ſeit alle Welt ſich blitzſchnell fortbewegt, iſt es
bei mir Princip geworden, nur Schritt zu fahren,
habe daher, um mich nicht von der plebejiſchen Eile
[200] verführen zu laſſen, dieſe Ochſen vorgeſpannt und
mache ſo täglich höchſtens vier Meilen. Von Ha-
vre bin ich drei Wochen unterwegs. Theodor
Mundt wird — if possible — an dieſes Schritt-
fahren tiefſinnige Unterſuchungen über Weltfragen
und wichtige Probleme der Civiliſation knüpfen.
In dieſem Theodor erlebe ich überhaupt mein eigent-
liches Reflexions- und ſpeculatives Leben. Ich
kann ſagen, daß ich Manches aus Laune und in
unbewußten Anſtößen gethan habe. Aber Theodor
rückt Alles welthiſtoriſch und bedeutend zurecht —
im Kleinen auf ſeinem Studierſtübchen. Theodor
und ich ſtellen eine umgekehrte telegraphiſche An-
ſtalt dar. Ich mache da droben im Freien wun-
derbar arbeitende Bewegungen, welche die Hand
Theodor’s, des Telegraphiſten, regieren, ſo daß
ſie unten im Thurmgemache ein niedlich Figürchen
meiner Winkel und Charaktere nachzeichnet. Er
hat mich ſogar zu einem Stylmuſter gemacht.
Darüber habe ich doch lachen müſſen. Denn an
meinen Styl glaube ich nicht. Ich will eher glau-
ben, daß Theodor eine Comödie machen könne,
als daß ich glaube, ich ſchreibe einen Styl. Wie
käme ich zu Styl? Gehöre ich denn zur Roture?
[201] Meine Wappenvögel fliegen über allen Styl hin-
aus. — Aber, passons là dessus, Theodor ſagt,
ich habe Styl, es mag alſo drum ſeyn. — Wenn
er mich nur nicht copirte! Ich habe ihm aus-
drücklich geſagt, als ich ihn bei der erſten Bekannt-
ſchaft zum Handkuß zuließ, daß er ſich nicht unter-
ſtehen ſolle, nun auch offiziell reiſen zu wollen.
Dennoch hat er ſein Wort gebrochen und iſt auch
ein Spaziergänger und Weltfahrer geworden. Nichts
laſſen dieſe Leute Einem über. Was will ſo ein
Ding erſpaziergängern und erweltfahrern? C’est
un singe, qui a fait des études.
Der Halbtürke Semilaſſo hatte ſich in einen
ſolchen Aerger über ſeinen getreueſten Anhänger
hineingeredet, daß ihm die Pfeife ausgegangen war.
Er faßte ſich jedoch bald wieder und ſprach von
dem Zwecke ſeiner heutigen Reiſe. Abermals ver-
nahm der Jäger mit Erſtaunen von Einem, der
mit ihm daſſelbe Ziel hatte. Auch Semilaſſo wollte
auf dem Schloſſe ſeinen Beſuch abſtatten.
Als der junge Jäger fragte, wen Semi-
laſſo dort kenne oder zu finden hoffe? glitt
der berühmte Reiſende darüber hin und ſprang,
wie es ſchien, von einer plötzlichen Erinnerung
[202] überwältigt, zu Betrachtungen allgemeiner Art ab,
die mit ſeinen vorigen Aeußerungen keinen erkennba-
ren Zuſammenhang hatten. — Ich habe immer, rief er
angenehm lebhaft, im Stillen lachen müſſen, wenn
man ſich, wie es jetzt Mode iſt, den Kopf darüber
zerbricht, durch welche ſtyptiſche Mittel der allge-
meinen Erſchlaffung des Menſchengeſchlechtes ent-
gegenzutreten ſei. Das Abnüchtern und Verſanden
der Jetztlebenden iſt ein ziemlich conſtatirtes Fac-
tum. Das will man nun mit Religion, Patrio-
tismus, Philoſophie, Naturbetrachtung, mit, was
weiß ich noch? hemmen. Es hilft nichts, da liegt
der Troſt nicht, er ſteckt ganz wo anders, iſt mit
Händen zu greifen, und Niemand hat ihn gefaßt,
es geht damit, wie mit dem Ei des Columbus.
Wie entſtehen die Menſchen? Wie entſtehen
ſie denn, mein Beſter? Der Schwächling heirathet
die kräftige Jungfrau, der kräftige Mann die Bleich-
ſüchtige, häufig kommen auch Hektik und Hektik
zuſammen. Was für Kinder muß das geben?
Auf das Phyſiſche wird gar nicht mehr geſehen,
es iſt, als ob wir nichts als Geiſt, Rückſicht, Ver-
hältniß, Geld wären. Daher rührt denn das matte,
aſchgraue, todtlebendige Geſchlecht.
[203]
Sehen wir uns dagegen unter den Thieren
um! Gehen wir in die Stammſchäfereien, in die
Geſtüte, ja, beſuchen wir nur einen tüchtigen Oeco-
nomen, der auf ſein reines frieſiſches Vieh hält.
Wie macht man es denn da? Man hält auf Voll-
blut. Und eine edle Raſſe folgt der andern. Da
ſitzt es. There’s the rub. Will man wieder ein
munteres, geiſtreiches, poetiſches, lebensfriſches
Menſchengeſchlecht haben, ſo muß man vor allen
Dingen für Vollblut ſorgen, man muß Raſſe ſtiften.
Reine Kreuzungen, reine Kreuzungen, junger Freund,
darauf kommt es an! Daß aber dieſe nicht mög-
lich ſind, wenn wir gewiſſe veraltete Meinungen
und Formalitäten feſthalten, leuchtet ein.
Lange mit dieſen Ideen beſchäftigt, fand ich
in Egypten das Genie, welches ſie befruchtete.
Ich ſage nichts, qui a compagnon, a maitre,
aber unter uns: Haben mich hier meine Vermu-
thungen nicht getrogen, ſo werden Sie binnen Jah-
resfriſt von einem Inſtitute unter den Caſſuben
auf meiner Herrſchaft hören, gegründet nach
dem Muſter von Trakehnen. Suffit! Ich kann
ſagen, ich ſchwärme dafür, mein Dromedar iſt
mir nicht ſo lieb wie dieſer Gedanke, von deſſen
[204] Ausführung ich mir ungeheure Reſultate ver-
ſpreche.
Semilaſſo, der dieſe Gedanken mit großem
Feuer vortrug, ließ unerörtert, ob er auch bei
ſeinen Standesgenoſſen Vollblut zu ſchaffen für
möglich halte, Vollblut, nicht im ariſtocratiſchen,
ſondern im phyſiſchen Sinne. Aber mit graziöſem
Lächeln ſetzte er hinzu: Ich bedaure nur Eins, daß
ich nicht mehr in den Jahren bin, um ſelbſt prac-
tiſch die Sache angreifen zu können, ich werde
mich leider auf die Verwaltung beſchränken müſſen,
auf die trockene Verwaltung.
[205]
Zweites Capitel.
Eine Ueberraſchung eigener Art.
Den jungen Jäger widerten dieſe Auseinander-
ſetzungen an. Sobald es die Höflichkeit erlaubte,
machte er Semilaſſo’n eine Verbeugung und eilte,
dem langſamen türkiſchen Fahrzeuge voranzukommen,
was auch ſeinen raſchen Füßen gelang. Der Deutſch-
türke blieb im Schritte, ſo daß der Jäger ihn
bald weit zurückgelaſſen hatte. Dieſer ſah nach
einer Stunde das ſogenannte Schloß auf ſeinem
kahlen Hügel liegen. Schon die Straße mit den
ausgeriſſenen Steinen und den grundlos gewordenen
Geleiſen hatte ihn ſonderbar überraſcht, noch mehr
aber ſetzte ihn das Anſehen des Gebäudes in Er-
ſtaunen. Er zweifelte einen Augenblick, ob er
auch an der rechten Stelle ſei. Als er aber die
beiden Wappenlöwen ſah, den ſtehenden und den
liegenden, ſo mußte er ſich davon überzeugen.
[206] Nun ſchritt er über den Schloßhof auf das Haus
zu. Es war ganz ſtill in demſelben und um
daſſelbe her; nur die Bachſtelzchen liefen an der
Pfütze im Hofe auf und nieder. Er klinkte an
der Thüre; ſie war zwar nicht verſchloſſen, aber
von innen verrammelt, und Lärmen wollte er doch
nicht gleich zur Eröffnung der Bekanntſchaft machen.
Er ließ alſo von weiteren Verſuchen gegen dieſen
Eingang ab. Das Loch neben der Thüre war
ebenfalls mit Tonnen und Kiſten verſtellt; auch
hier hätte er nur polternd und ungeſtüm eindrin-
gen können; er glaubte das gleichfalls unterlaſſen
zu müſſen. Selbſt die Fenſter des Hauſes, näm-
lich die practicabeln, nicht die mit Brettern oder
Läden geblendeten Fenſterhölen waren ſämmtlich
verſchloſſen, nur eins ſtand offen, und er hörte in
dem Zimmer, zu dem es gehörte, heftig ſchnar-
chen, ein Beweis, daß ein Lebendiger in dem Zim-
mer war. Eine Leiter ſtand in der Nähe, ſo daß
die Möglichkeit vorhanden war, ſich mit dieſem
Lebendigen in Verbindung zu ſetzen. Indeſſen
konnte ihm auch dieß nicht recht anſtändig vor-
kommen. Er beſchloß daher, geduldig in einem
Hofe der Nachbarſchaft zu warten, bis das ver-
[207] wünſchte einſame Caſtell zugänglich werden würde.
Vorläufig aber ſetzte er ſich auf einem Stein, der
im Hofe lag, zur kurzen Raſt nieder, denn der
Weg ſeit früh Morgens — und jetzt ging es ſchon
auf Mittag — hatte ihn ermüdet. Von dieſem
Steine überblickte er den Schauplatz. Er ſah den
verwilderten unordentlichen Platz voll Neſſeln, Di-
ſteln und Wegerich, die zerſtörte Pforte, das
elende, klüftige, verfallene Haus mit dem durch-
löcherten Dache. Alles das ſah in dem nun ſchon
heranwehenden grauen Haarrauche noch unheimlicher
und jammervoller aus, als gewöhnlich.
Und dennoch ergriff unſeren jungen Jäger bei
dem Anblicke dieſes bettelhaften Elendes eine
fromme Rührung, welche die zwieſpältigen Empfin-
dungen in ſeiner Bruſt verwiſchte, die von den
ſonderbaren Begegniſſen des Morgens hervorgerufen
worden waren. Denn er erinnerte ſich an die an-
muthigen Beſchreibungen, die ihm Lisbeth von
dieſer Zerſtörung gemacht hatte, die er nun vor
Augen ſah. So giebt es denn Gemüther, für
welche das Häßliche nicht da iſt, weil ſie in Allem
nur das Schöne erblicken! rief er freudig aus.
So blüht eine Unſchuld des Geiſtes, welche ro-
[208] ſengleich auch den ödeſten Schutt überwächſt und
zudeckt. — Ich las einmal in einem Aufſatze
von Ranke, der alte ehrwürdige Pius ſei ein
Charakter geweſen, der in Allem nur das Tröſt-
liche geſehen habe. Ich las das damals, wie man
Manches lieſt, ohne ſich mir dabei eben viel zu
denken. Nun aber habe ich etwas Aehnliches erlebt
und nicht an einem alten Manne, ſondern an einem
jungen Mädchen, und was das Süßeſte bei der
Sache iſt, an meinem Mädchen.
[209]
Drittes Capitel.
Die drei Unbefriedigten treten mehr in die
Handlung ein.
Kaum hatte der Jäger einige Minuten den Hof
verlaſſen, als derſelbe von neuen Wanderern be-
treten ward. Die drei Jünglinge in grünem Sam-
met kamen nämlich aus den Dornen neben dem
Garten und krochen durch eine Oeffnung der Hof-
mauer, weil ſie ihre Brillen nicht aufgeſetzt hatten
und wegen Kurzſichtigkeit die offene Pforte nicht
ſahen. Das Haus erblickten ſie indeſſen nothdürf-
tig, ſie näherten ſich demſelben, verſuchten zu öff-
nen, aber auch ihnen wollte das nicht gelingen.
Sie ſeufzten und klagten, daß vielleicht nur wenige
Schritte ſie von ihrem erſehnten Meiſter trennten,
und eine verrammelte Thüre ihrem Drange ein
Ziel ſetze. Traurig gingen ſie vor dem Schloſſe
auf und nieder.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 14
[210]
Die Geſchichte dieſer drei unbefriedigten Jüng-
linge in grünem Sammet war einfach aber lehr-
reich. Sie waren Brüder, Söhne eines reichen
Banquiers in Hamburg und hießen Karl Emanuel,
Karl Nathanael und Karl Gabriel. Ihr Vater
hatte ihnen die ſorgfältigſte Erziehung geben laſſen,
weil er wünſchte, drei ausgezeichnete Männer er-
zeugt zu haben. Sie wuchſen in geiſtreicher Geſell-
ſchaft heran, denn in dem Hauſe des alten Ban-
quiers verſammelte ſich Alles, was auf den Na-
men eines klugen Mannes Anſpruch machen konnte.
Die Fähigkeiten der drei Knaben entwickelten
ſich auch früh in der entſchiedenſten Weiſe. Karl
Gabriel lief jeden Abend in die Comödie, hatte
in ſeinem vierzehnten Jahre einen kleinen Roman
mit der Tänzerin Roſamira, ſtand in den Zwi-
ſchenacten am Büffet, aß Eis oder trank
Punſch und gab danach Kritik von ſich. — Karl
Nathanael ging dagegen auf das Kaffeehaus, las
Zeitungen und ſpeculirte, als er den Cornelius
Nepos exponirte, in den Fonds, Karl Emanuel
war ein ſtiller Junge, der am liebſten zu Hauſe
ſaß, gern Bratäpfel aß und bei allen Dingen
nach dem: Warum? fragte. — Der alte Banquier
[211] beobachtete dieſe Erſcheinungen, ließ eines Tages,
als er ſeine Taſſe Morgenchocolade trank, die Söhne
vor ſich treten und ſagte zu Karl Emanuel: In
dir ſteckt ein Philoſoph; zu Karl Nathanael: Aus
dir wird ein Staatsmann; zu Karl Gabriel: Du
biſt zum Dichter geboren. Dieſer Beruf war ihm
nicht ganz erwünſcht. Er hätte lieber einen gro-
ßen Maler in der Familie gehabt, weil die Maler
jetzt beſſer bezahlt werden als die Dichter. In-
deſſen ließ er ſich, da es nun einmal nicht anders ſeyn
ſollte, auch den Dichter gefallen. Die drei Brü-
der aber hielten ſich nach jenem Tage für das,
wozu ſie der Vater beſtimmt hatte, und wurden in
ihrer Meinung von einigen Schauſpielern, Docto-
ren der Philoſophie und von einem dimittirten
Legationsſecretair unterſtützt, welche Perſonen bei
ihrem Vater offenes Couvert hatten.
Karl Gabriel ſtudirte in Berlin, um durch
keinen Natureindruck von der Poeſie abgezogen zu
werden, Karl Nathanael in München, der tiefen
politiſchen Weisheit wegen, welche er da immer vor
Augen haben konnte, Karl Emanuel in Göttingen,
weil er glaubte, daß Mettwurſt die Speculation
ſtärke. — Als ſie in die Jahre gekommen waren,
14*
[212] worin der Menſch ſeine Thaten zu vollbringen an-
fängt, ſchrieb ihr Vater an ſie drei gleichlautende
Billette des Inhalts, er erwarte jetzt von ihnen
Großes. Karl Emanuel ſetzte ſich darauf hin, um
ein neues Syſtem zu erfinden, Karl Nathanael
griff zur Feder, um eine nie erhörte politiſche
Wahrheit zu offenbaren, Karl Gabriel ging im
Thiergarten ſpazieren, um ein Trauerſpiel zu er-
ſinnen, welches die Reformation der Bühne bewir-
ken ſollte. Sie gaben ſich die größte Mühe Jeder
in ſeinem Fache, aber ſie war umſonſt. Nicht
einmal den Titel zu einem Trauerſpiele fand Karl
Gabriel trotz ſeiner vielen Spaziergänge im Thier-
garten, er begriff nicht, wie einen geborenen Dich-
ter die Muſen ſo im Stich laſſen konnten. Karl
Nathanael brachte nach langem Sinnen den Satz
heraus: Die Staaten theilen ſich in Monarchien,
Ariſtocratien und Democratien. Aber ein kundi-
ger Freund, dem er davon ſprach, rieth ihm, mit
dieſer politiſchen Wahrheit nicht hervorzutreten,
weil ſie kaum ganz neu zu nennen ſei. Karl Emanuel
machte es, wie Karl Gabriel, nämlich, er machte Nichts.
Als ſie die Vergeblichkeit ihrer Beſtrebungen
einſahen, zerfielen ſie mit dem Leben. Gabriel
[213] nannte die Quelle der Dichtung überhaupt verſiegt
und knüpfte in dieſem Unmuthe ein kurzes ver-
drießliches Verhältniß mit Gervinus an, bis ſie
ſich auch wieder trennten, weil ein Malcontenter
dem Anderen bald unausſtehlich wird; Emanuel
hatte einen Augenblick Luſt, fromm zu werden,
konnte aber dazu nicht recht gelangen, weil ſein
Gedächtniß ſchwach war, und die Frommen viele
Redensarten auswendig behalten müſſen. Am
glücklichſten war noch verhältnißmäßig Nathanael,
er reſignirte und legte ſich in ſeinem zweiundzwan-
zigſten Jahre auf den reinen Papierwucher. Frei-
lich klagte auch er, wie ſeine Brüder, daß der
Himmel dumm und die Erde abgeſchmackt ſei, in-
deſſen machte er doch guten Profit.
Die drei Brüder hatten ſich, als ihre Hoff-
nungen ſcheiterten, zuſammengethan. Sie klagten
einander vor, wenn ihr Gähnen es zuließ. Auch
darin waren ſie unglücklich, daß Niemand ſonſt ihr
Weh mitempfand. Emanuel pflegte zu ſagen:
Nichtiges Daſeyn; Nathanael: Nüchterne Zuſtände;
Gabriel: Kahles, vernutztes Leben. — Viele Leute
hielten ſie für Narren. Ich aber ſage: Es iſt ein
großes Mißgeſchick, wenn ein Jüngling kein refor-
[214] matoriſches Trauerſpiel machen, kein neues philo-
ſophiſches Syſtem erfinden, keinen Umſchwung in den
politiſchen Ideen des Zeitalters hervorbringen kann.
Als ſie am tiefſten herunter waren, ſtand ihnen
jedoch die Hülfe am nächſten. Sie lernten nämlich
einen Mann kennen, einen wunderbaren Mann, einen
Mann, der mehr zu ſeyn ſchien als ein Menſch.
Nach wenigen Unterredungen, die in geheimniß-
vollen Worten geführt wurden, hörten ſie, daß
dieſer übermenſchliche Mann das Mittel beſitze, ein
claſſiſches Trauerſpiel zu verfertigen, dem Philoſo-
phen aber und dem Politiker auch zu helfen.
Die Exiſtenz dieſes Mannes war ein Geheim-
niß und ein Wunder. Sie erfuhren in einer Stunde
der Weihe von ihm, was ſie vor Erſtaunen bei-
nahe ſtarr machte. — Der Umgang mit dem Mei-
ſter übte auf die drei Unbefriedigten den wohl-
thätigſten Einfluß. Damals war es, wo ſie grü-
nen Sammet anlegten, das Kleid der Zukunft und
der Erwartung. Karl Gabriel fand ſogar den
Titel und die Begeiſterung zu einem Trauerſpiele,
welches „das Trauerſpiel“ heißen und das Tragi-
ſche an und für ſich ohne Rückſicht auf ein beſtimm-
tes Ereigniß behandeln ſollte.
[215]
Aber die Hülfe blieb nicht nahe, ſondern ver-
ſchwand in die Ferne. Seit dieſem Trauertage liefen
die drei Unbefriedigten umher wie Frauen mit fal-
ſchen Wehen. Die falſchen Wehen leiteten indeſſen
nach einiger Zeit auf die wahre Spur, die wahre
Spur jedoch leider nur bis zu einer verrammelten
Thüre vor der Hand. Ueber dieſes ſymboliſche
Ereigniß ergingen ſich die drei grünen Sammet-
röcke in Betrachtungen. Karl Gabriel ſagte, er
wolle den Helden ſeines Trauerſpiels: Das Trauer-
ſpiel, auf eine erſchütternde Weiſe an einer ver-
rammelten Thüre niederſtechen laſſen, in welche er
hineingewollt, aber nicht hineingekonnt; Karl Ema-
nuel behauptete, alle Philoſophie beſtehe eigentlich
darin, zugemachte Thüren nicht aufzumachen, wo-
gegen Karl Nathanael verſicherte, die höchſte Ma-
xime der Staatsweisheit ſei, alte Tonnen und Ka-
ſten von Innen vorzuſchieben, wenn Schloß und
Riegel nicht mehr halten wollten.
Als ſie, ich weiß nicht zum wievielſten Male
vor dem Schloſſe und vor der Fronte ſeiner Bau-
fälligkeit auf und nieder gegangen waren, ſtieß der
Dichter mit ſeiner Naſe an die gegengelehnte Lei-
ter und entdeckte dadurch dieſes Motiv. Der Phi-
[216] loſoph ſetzte die Brille auf und ſah das oben
offenſtehende Fenſter, der Staatsmann aber, der
von dieſer doppelten Entdeckung hörte, ſchlug vor,
auf der Leiter emporzuklimmen und zum Fenſter
einzublicken. Denn auch ſie hörten oben ſchnarchen
und zogen daraus den Schluß, daß dort Jemand
ſeyn müſſe, der ſchnarche. Vielleicht ließ er ſich
erwecken und möglich, daß man dann mit ihm über
die Eröffnung des Schloſſes unterhandeln konnte.
Dieſe Idee war wohl eine glückliche zu nen-
nen und ſie wurde ſogleich ausgeführt. Karl Ga-
briel ſtieg zuerſt die Leiter hinauf, die andern
Brüder folgten und alle Drei reckten ſich oben ſo
hoch empor, daß ſie in das Zimmer ſehen konn-
ten. Als dieſer Moment gekommen war, ließ ſich
ein dreifaches: Ach! des Entzückens von ihnen
hören. Mit ſanfter Stimme riefen ſie nun einen
großen Namen vergebens, darnach riefen ſie lau-
ter, jedoch umſonſt; endlich ſchrieen ſie, es war
indeſſen fruchtlos. Dieſer Schlaf ſchien ein Tod-
tenſchlaf zu ſeyn.
Karl Gabriel, der kühne Dichter, ſchlug darauf
vor, den Schlummernden mit einigem Kalk zu be-
werfen, wogegen ſich aber Karl Emanuel und
[217] Karl Nathanael erklärten, indem ſie ſagten, daß
man einen ſolchen Mann nicht mit Kalk werfen
dürfe. — Bisweilen kommt es mir vor, ſagte Ga-
briel, als blinzle er. Optiſche Täuſchung, mein
Bruder, verſetzte Nathanael, warum ſollte er ſich
gegen uns, ſeine treueſten Anhänger, verſtellen?
Als Nathanael das geſagt hatte, knackte es
unter ihnen. Die alte Leiter, welche über die
Jahre hinaus war, das Gewicht von drei Unbe-
friedigten tragen zu können, bekam einen gefährlichen
Sprung und eiligſt ſtiegen ſie und erſchrocken hinab,
nicht gewillt von der Höhe ihres Standpunctes
zu ſtürzen. Sie gingen in den verwilderten fran-
zöſiſchen Garten, um dort das Weitere zu erharren.
[218]
Viertes Capitel.
Ein chroniſcher Schläfer und ein ſeltenes
Beiſpiel von Bediententreue.
Während dieſer Begebenheiten ſaß der alte
Baron, unwiſſend noch über die Verrammelung des
Schloſſes, etwa eine Viertelſtunde von dieſem in
einem krauſen und durcheinandergewirrten Buſche
von Hagdornen, Eſchen und Birken, der auf einem
kleinen Hügel wuchs. Er hatte den Ort in ſeinen
wohlhabenden Tagen zum Vogelheerde benutzt; es
ſtand aber von der früheren Vorrichtung nichts
mehr als der Pfahl für den Lockvogel nebſt den
vier Pfoſten, zwiſchen welchen die Hütte erbaut
geweſen war. Das Dach und Bretterwerk war
längſt verfault oder von armen Leuten geſtohlen.
An dieſem ſtillen und wüſten Platze ſaß der Schloß-
herr und lauerte auf einen gleichſam Vogel, aber
nicht auf einen Finken, Hänfling oder Kreuzſchna-
[219] bel, ſondern auf den Bedienten Karl Butter-
vogel.
Die Straße nach der Stadt zog ſich nämlich
unter dem Hügel durch. Karl’n hatte er vor Kur-
zem auf ihr fortwandern ſehen, und ſogleich war
von ihm beſchloſſen worden, dem Bedienten bei
der Heimkehr, die Mittags zu erwarten ſtand,
den Weg zu verlegen, ihn auf den Vogelheerd zu
rufen, mit ihm dort, begünſtigt von der Einſam-
keit des Ortes, ein ſcharfes Verhör anzuſtellen
und dadurch wo möglich hinter die Geheimniſſe
Münchhauſen’s zu kommen.
Der alte Herr hatte lange über dieſen Ent-
ſchluß mit ſeinem Zartſinne gefochten, endlich aber
war er doch zu dem Reſultate gediehen, daß er
ihn unbeſchadet ſeines Gewiſſens ausführen dürfe,
weil ein ſo dankvergeſſener Gaſt, wie der Frei-
herr von Münchhauſen, durchaus keine Rückſicht
verdiene.
Die Verhältniſſe im Inneren des Schloſſes
hatten ſich nämlich folgendermaßen geſtellt:
Durch den Abzug des Schulmeiſters waren die
Akademiker von Schnick-Schnack-Schnurr desjenigen
Individuum’s quitt geworden, welches einer jeden
[220] menſchlichen Gemeinſchaft Noth thut, nämlich des
Sündenbockes. Irgend Einer muß in jedem Hauſe
vorhanden ſeyn, an welchem die übeln Launen,
die Zornmüthigkeiten und die verdrießlichen Stim-
mungen ausgelaſſen werden dürfen. Ohne einen
ſolchen Abzugscanal läßt ſich ein dauerhafter häus-
licher Friede gar nicht denken. Ich habe ein Haus-
weſen gekannt, in welchem ſo lange zwiſchen der
Herrſchaft und den übrigen Hauptperſonen eine
vortreffliche Einigkeit beſtand, als ein dummes
und ungeſchicktes Mädchen, eine entfernte Ver-
wandte, tagtäglich auszuſchmälen war. Herr und
Frau begingen aber den Thorenſtreich, dieſes Mäd-
chen fortzuſchicken aus dem Grunde, weil der
Aerger und Lärmen mit ihr im Hauſe zu groß
ſei. Und von Stund an hörte alle Verträglich-
keit auf; es war als ob in der Dummen und
Ungeſchickten der Schutzgeiſt des Heerdes verſcheucht
worden ſei, der Mann zankte mit der Frau, die
Frau ſchmollte mit dem Manne, der erwachſene
Sohn und die mannbare Tochter hatten ein be-
ſtändiges Schrauben und unangenehmes Reiben mit
einander; ſelbſt die Hausfreunde bekamen Augen
für die Schwächen ihrer Wirthe und erkalteten,
[221] kein Geſinde wollte mehr bleiben, weil es die er-
ſchwerte Laſt der übeln Behandlung nicht zu tra-
gen vermochte — kurz, es war eben mit allem
Comfort zwiſchen jenen vier Pfählen vorbei, als
man rechten Comfort darin ſtiften wollte. So
können ſich die Menſchen über ihre nächſten Ver-
hältniſſe und Umgebungen täuſchen. Und in der
großen Welthiſtorie geht es mitunter nicht anders
zu. Einem Volke thut ein tüchtiger Feind Noth,
nur ſo lange es ihn beſitzt, iſt es in Flor. So
lange Rom ſich mit Carthago herumbiß, ſetzte
es alles böſe Weſen draußen ab, als aber die
Nebenbuhlerin in Trümmern rauchte, ging die
innerliche böſe Wirthſchaft an; von Napoleon hat
nicht Einer bloß geſagt, er ſei für uns viel zu
früh gefallen.
Doch um von Rom und Carthago und Napo-
leon und uns zum Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr
zurückzugelangen — ſo lange der Schulmeiſter auf
dem Gebirge Taygetus ſaß, wußten der alte Ba-
ron und ſeine Tochter, wohin mit ihren verdrieß-
lichen Stimmungen, und als er abzog, wurde es
buchſtäblich wahr, was der Schloßherr geſagt
hatte: Es kam eine Lücke in den ſchönen Kreis.
[222] Das Glück war bekanntlich nicht die Göttin des
dortigen Heerdes, es gab alſo viel Anlaß zu Ver-
ſtimmungen, an wem ſollten ſie nun ausgelaſſen
werden? Hätte das Fräulein Lisbeth gehabt, ſo
wäre wenigſtens ihr geholfen geweſen, ſo aber
wie die Sachen ſtanden, gab es durchaus keinen
Rath. Vater und Tochter waren zu ſehr an ein-
ander gewöhnt um mit einander hadern zu können.
Der Bediente Karl Buttervogel war für Emeren-
tien Karlos, der geliebte und verehrte Schmetter-
ling, für den alten Baron ein zu geringfügiges
Individuum. In dieſer Noth und Verlegenheit
ſank der Freiherr von Münchhauſen von einem
langweiligen Erzähler, der er für den alten Ba-
ron bereits geworden war, zum Sündenbock herab.
Ja, es iſt richtig, wenn auch betrübt; dieſer
große und wunderbare Charakter war bald dahin
gediehen, wo der verachtete Schulmeiſter Ageſel
geſtanden hatte; er wurde wechſelsweiſe von dem
alten Baron und ſeiner Tochter über die Achſel
angeſchaut. Das war nämlich ſo zugegangen.
Der Baron Schnuck-Muckelig in der Boccage
zum Warzentroſt verbrachte einige unmuthige Tage
nach dem Abzuge des Schulmeiſters und ſuchte
[223] ſich durch wiederholtes Beſichtigen des freien Pla-
tzes, wo die Luftverdichtungsfabrik zu ſtehen kom-
men ſollte, leidlich hinzuhalten. Er dachte, Münch-
hauſen werde rückſichtsvoll genug ſeyn, auch ohne
Erinnerung ihm das Geheimniß der Bereitung
kund zu thun. Münchhauſen ſchwieg. Hiernächſt
ſpielte er von ferne auf Pflichten der Gaſtfreund-
ſchaft an, welche nicht verabſäumt werden dürften.
Münchhauſen ſchwieg. Darauf gab er die Sache
näher und ſagte, es ſei nicht gleichviel, Jeman-
dem etwas in den Kopf zu ſetzen, man müſſe auch
Wort halten können. Münchhauſen ſchwieg. End-
lich wurde er klar und rief: Wenn du mir nicht
die Luftfabrik machſt, ſo biſt du kein ehrlicher
Mann! Münchhauſen ſeufzte und ſchwieg.
Emerentien war die Zeit eben ſo lang gewor-
den, wie ihrem Vater. Der Prätendent von He-
chelkram aß Wurſt, Eier und Rindfleiſch, ſo viel
ihm von dieſen Dingen die Hand der Liebe reichte,
blieb aber nach wie vor Bedienter, die Gemein-
heit ſeiner Maske täuſchend in Worten und Wer-
ken feſthaltend. Unglaublich war es, bis zu wel-
chem Grade ſich dieſer masquirte Fürſt verſtellen
konnte, beſonders ſeitdem er fern von den vorneh-
[224] meren Perſonen dieſer Geſchichte in dem Garten-
hauſe auf dem Taygetus wohnte und bis auf die
zu leiſtenden Dienſte ſein eigener Herr geworden
war. Emerentia begann zu zittern, wenn ſie, die
Wurſt unter der Schürze, das Stiftskreuz im
Herzen, nach dem verfallenen Schneckenberge ging-
und war eines Tages bei einem unbeſchreiblichen
Anblicke genöthigt geweſen, zu Karl’n zu ſagen:
Fürſt, ſpielen Sie nicht zu natürlich. — Bei die-
ſer Gelegenheit hatte Karl Buttervogel erwiedert:
Immer und ewig ſich geniren müſſen, thut keinem
Menſchen gut. Wofür bin ich hieher in des Schul-
meiſters ſeine alte Kabache gezogen, wenn ich meine
Freiheit nicht haben ſoll? Ich verlange und be-
ſtehe darauf, daß wofern ich es platterdings ſeyn
ſoll, mir meine fernerweite Verköſtigung draußen
hingeſetzt wird, ſtillſchweigend, ohne Anſprache und
Bekümmerniß um mich.
Emerentia wurde hochroth vor Zorn, denn
dieſe Antwort war zu grob, um ſie ſelbſt einem
Fürſten hingehen zu laſſen. Sie rief: Und ich
beſtehe darauf, daß Ew. Durchlaucht nunmehr
bald aus Ihrem Incognito hervortreten, denn
meine Lage wird Ihnen gegenüber von Tage zu
[225] Tage zärter und peinlicher. — Gnädiger Herr,
erwacht denn nicht Ihr Mitleid mit einem armen
Mädchen, deſſen Lebenshoffnung Sie ſind? ſetzte
ſie weicher werdend hinzu, und einige Thränen
liefen über ihre Wangen. Karl aß ſchon die Wurſt,
die ihm Emerentia gebracht hatte, und da ſein
Herz der Rührung immer am offenſten war, wenn
er Wurſt aß, ſo that ihm die Weinende leid, er
trat daher, das letzte Stück in der Hand, zu ihr
und ſagte: Ich bin ja, weiß Gott, kein ſchlechter
Kerl und Frauensperſonen muß man Alles zu
Gefallen thun, was nur menſchenmöglich iſt. Wenn
ich alſo nur wüßt’, wie ich’s anfangen ſollte, ſo
geſchäh’s ja alſobald. Wofern aber mit meinem
Herrn Rückſprach’ genommen würde, ſo könnt’ es
ſeyn, daß ich’s würde, denn er weiß für Alles
Rath und hat mehr Grütz’ im kleinen Finger als
wir Beide im ganzen Leib, ſonſt wär’ er nicht
vermöglich, ſo ſchreckbar zu lügen, wie er lügen
thut. — Ich verſtehe Ihren Wink, verſetzte das Fräu-
lein, wiſchte ſich die Thränen ab und ging getrö-
ſtet vom Taygetus.
Dieſer Vorfall ereignete ſich an dem Tage, an
welchem der alte Baron gegen den Freiherrn klar
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 15
[226] geworden war. Emerentia hatte ſich ſeit der
Stunde, wo ſie Münchhauſen zum erſtenmale
nicht verſtanden, in einer ſtillen Entfernung von
ihm gehalten, welche jedoch die Fortdauer achtungs-
voller Empfindungen noch nicht ganz ausſchloß.
Jetzt war es ihr ſogar lieb, eine Gelegenheit zu
finden, mit ihm wieder anknüpfen zu dürfen. Sie
ſetzte ſich daher nieder und ſchrieb folgenden Brief
an ihn:
Münchhauſen!
Ich nenne Sie nicht mehr Du, denn ſchmerz-
lich habe ich einſchen lernen, daß wir einander
doch nicht ganz ſo nahe ſtanden, als ſchöne
Träume mir ſagen wollten. Denken Sie an
den Augenblick, da ich die Bohnenſchüſſel fallen
ließ, weil Sie mich nicht begriffen. Indeſſen
iſt mir ein hohes Gefühl von Ihnen geblieben,
und das Schickſal lehrt uns wohl uns begnü-
gen, wo uns die volle Befriedigung verſagt
wird.
Münchhauſen, Karl hofft auf Sie. Sie
haben, wenn Sie wollen, Alles in der Hand;
einem Manne, gleich Ihnen, iſt nichts unmög-
[227] lich. Erinnern Sie ſich Ihrer Verpflichtungen
gegen ihn, helfen Sie ihm zu dem Seinigen.
Ich ſage nichts weiter.
Emerentia.
Münchhauſen rieb ſich die Augen, als er die-
ſen Brief überleſen hatte. Er las ihn zweimal,
bevor er einen Sinn finden konnte, endlich glaubte
er doch einen ſolchen gefunden zu haben und rief:
Die Beſtie hat mich alſo endlich auch noch bei
meiner Anbeterin wegen des rückſtändigen Lohnes
verklagt. Schlimm, ſchlimm, ſchlimm! Aber man
muß ſchon in den ſauren Apfel beißen, denn es
giebt nichts Gefährlicheres für die weibliche Ver-
ehrung, als wenn der Verehrte ſeinem Bedienten
etwas ſchuldig bleibt.
Er hatte eben eine kleine dünne Einnahme
von fernher empfangen. Traurig riß er das Cou-
vert mit den fünf Siegeln auf, zählte, was er
nothdürftig entbehren konnte, wehmüthig ab, rief
den Schmetterling und gab ihm das Geld mit
einer Fluth harter Reden. Karl hörte nicht auf
die Beſchimpfungen hin. Wenn er Geld bekam,
ſo war er gegen alles Andere gleichgültig, er dankte
15*
[228] dem Himmel, der ihm abermals ſo unerwartet
half. Freudetrunken lief er in den verwilderten
franzöſiſchen Garten und zählte ſein Geld auf dem
Poſtamente des Schäfers ohne Flöte über.
Münchhauſen ſchrieb an Emerentien:
Diotima!
Denn das bleibſt du mir. Nenne dich Eme-
rentia, mir bleibſt du Diotima. Karl iſt be-
zahlt. Ich war ihm allerdings ſeit Lichtmeß
Lohn ſchuldig. Vielfache Gedanken, und unter
dieſen hauptſächlich die tiefe Seelenbewegung,
in welche mich dein Umgang und Geiſt verſetzt
hatten, bewirkten, daß mir die Kleinigkeit aus
dem Sinne gekommen war.
Dank für deine Erinnerung. Wie ich nie,
oder nur ein einzigesmal in meinem Leben log,
ſo bezahlte ich auch ſtáts meine Schulden; denn
Ausnahmen von dieſer Regel befeſtigten ſie eben.
Deine Wünſche ſind Befehle
Deinem Münchhauſen.
Emerentia wurde ſtarr, als ſie dieſen Brief
empfing. Sie hatte darauf gerechnet, daß der
[229] Freiherr durch ſeine großen diplomatiſchen Verbin-
dungen die Reſtauration des Fürſtenthums Hechel-
kram bewirken ſolle, und — er gab dem Präten-
denten Lohn! — Zerſtört ging ſie in den Garten.
Karl ſprang ihr vom Schäfer entgegen, ſchüttelte
in einem ledernen Beutelchen den klingenden In-
halt und rief jauchzend: Ich hab’ mei’ Geld, ich
hab mei’ Geld! O was für ein glückſeliger Tau-
ſendſaſſa bin ich! Ich möcht’ den ganzen Markt
von Canſtatt auskaufen. — Emerentia verſetzte
nichts; ſie ſtand bleich und entſetzt da. — So iſt
es denn alſo wahr, ſagte ſie, nachdem Karl fort
und auf ſeinen Schneckenberg geſprungen war, daß
ein fortwährendes Rolleſpielen mit der Rolle iden-
tificirt. Dieſer Fürſt wird mir noch innerlich zum
Bedienten, wenn ich nicht bald die Entſcheidung
herbeiführe. Für’s Erſte aber ſoll das gekränkte
Weib zu jenem Verderblichen reden, über den ich
mich ſo hart enttäuſcht ſehe.
Sie ging nach ihrem Zimmer und ſchrieb an
Münchhauſen:
Mein Herr!
Ich bin fortan für Sie weder Diotima, noch
Emerentia, ſondern das Fräulein von Schnuck.
[230] Die Linie, der ich angehöre, iſt die Linie Mu-
ckelig. Verſtehen Sie mich? Nein, Sie ver-
ſtehen mich nicht. Ich aber durchſchaue Sie.
Sie wollen mich erniedrigen. Sie wollen, daß
mir der Bediente Bedienter bleibt. Armer Spöt-
ter! In dem vollen Gefühle meiner Würde,
erhaben über Ihre Poſſen
Emerentia, Freiin von Schnuck-Muckelig
in der Boccage zum Warzentroſt.
Münchhauſen verwünſchte ſein Loos, als er
dieſen Zettel erhielt. Das Geld an den Schlin-
gel weggeworfen und nun das noch! rief er.
Was will denn dieſes verrückte Fräulein, die mir
wahrhaftig ſo unleidlich zu werden anfängt, als —
Pſt! Still, Münchhauſen — Der Alte läßt mir
keine Ruhe, ich weiß mir nicht Rath gegen ſeine
verdammten Luftgedanken, und nun büße ich auch
dieſen letzten Stützpunct ein. — O Münchhauſen,
Münchhauſen, könnteſt du doch nur — —
Er wollte ſagen: Von deinen Renten leben —
vollendete aber nicht, ſondern ſchrieb gleich ein
zweites Billet, welches nichts als das Wort enthielt:
Diotima?!
[231] Aber er fand es nach einiger Zeit uneröffnet vor
ſeiner Thüre wieder.
Der alte Baron und Emerentia begegneten
einander draußen in der Gegend zwiſchen dem
Schloſſe und dem Platze, wo die Luftſteinfabrik
ſtehen ſollte. Der Vater ſah verdrießlich und zer-
ſtört, die Tochter kalt und ſtolz aus. — Ich
fürchte Renzel, ſagte der Alte, wir haben einen
Phantaſten im Quartier. Noch hängt meine Hoff-
nung an einem dünnen Faden, Gott gebe, daß
der nicht reißt! — Meine Hoffnung iſt bei den
Todten, verſetzte das Fräulein erhaben. Edle
Seelen werden leicht betrogen, ich ſchäme mich
nicht, daß mich ein dürftiger Witzling täuſchen
konnte. Die Schuppen fallen mir von den Augen,
nur Gemeines ſehe ich noch, wo ich ſonſt gut-
müthig bewunderte. — Ich verachte ihn auch be-
reits recht herzlich, ſagte der alte Baron, es iſt
nur der Punct hier in Erwägung zu ziehen, daß
auch ſolche Haſelanten im Beſitze wichtiger Fabrik-
geheimniſſe ſeyn können, und wenn denn das doch
der Fall wäre und man hätte ihn, ohne die Sache
zu erfahren, aus dem Hauſe getrieben, ſo wäre
es außerordentlich ſchlimm.
[232]
Wir wollen ihm daher unſere Geſinnungen fühl-
bar machen, Renzel, aber ſo, daß ihm noch eine Hin-
terthüre offen bleibt, damit wo möglich ſeine Ambi-
tion erweckt wird, und mir das Syndicat nicht ent-
geht. Nur wenn alle Ausſicht verſchwindet, wollen
wir ihm ſagen, daß er ſich packen könne.
Nach dieſem Tage gaben der alte Baron und
das Fräulein dem Freiherrn ihre Geſinnungen zu
erkennen, d. h. ſie behandelten ihn ſchlecht. Münch-
hauſen, welcher fühlte, wie ſehr er durch ſeine
politiſchen Fehler ſich die Stellung im Schloſſe
Schnick-Schnack-Schnurr verdorben habe, machte ver-
zweifelte Anſtrengungen ſie herzuſtellen und ließ
das glänzendſte Brilliantfeuer ſeines Witzes in tau-
ſend Einfällen, wunderbaren Capriccio’s und Mäh-
ren ſpielen. Das Fräulein aber zeigte ſich um ſo
gelangweilter, je brillanter Münchhauſen wurde.
Sie wandte ihm bei den Colloquiis im Garten
den Rücken, fiel ihm häufig mit einer Bemerkung
über ſchlechtes Wetter in die Rede, oder ſagte,
wenn ſie ihn hatte ausſprechen laſſen, weiter nichts,
als: Späße für den Volkskalender. — Ihr Ver-
halten drückte unbedingte Geringſchätzung aus.
Der Schloßherr knüpfte dagegen die ſeinige noch
[233] an Bedingungen. Die Summe ſeiner Reden ging
dahin, daß er an den Erzählungen des Gaſtes,
ehe und bevor die Fabrikangelegenheit in Ordnung
gebracht ſei, wenig Geſchmack zu finden vermöge.
Zuweilen hörten beide Schloßbewohner gar nicht
zu, ſondern ſprachen mit einander von Wirthſchafts-
angelegenheiten, während der Freiherr die bunte-
ſten Wunder vortrug.
So gingen mehrere Tage hin. Die Situation
war für den Helden immer peinlicher geworden.
Doch die Kräfte ſeines Geiſtes waren unerſchöpf-
lich und gerade in Verlegenheiten entfaltete ſich
erſt deren ganzer Reichthum. Eines Abends, wo
das Fräulein auf ihrem Zimmer an ihrem Tage-
buche ſchrieb, der alte Baron und er aber ſtumm
lange Zeit neben einander im Verſammlungsge-
mache auf und nieder gegangen waren; brauchte
er die Rührung als großes, heroiſches Mittel. Er
fing nämlich plötzlich an heftig zu ſchluchzen, und
da der alte Baron ſich erſtaunt umwandte, ſo
ſtellte er ſich mit den ſtrömenden doppelfarbigen
Augen vor ſeinen Wirth, nahm deſſen beide Hände,
ſah ihm bewegt in das Antlitz und rief mit einer
von Weinen gehemmten Stimme: Könnt Ihr es
[234] über das Herz bringen, du und deine göttliche
Tochter, Euren Freund ſo zu mißhandeln, wie
Ihr thut? Nennen wir uns nicht du? Bin ich nicht
dein Bruder in des Worts verwegenſter Bedeutung?
Eben darum, weil wir uns du nennen, muß
Offenheit herrſchen, verſetzte trocken und ungerührt
der alte Schloßherr. Ich merke ſchon, was dieſe Cro-
codilsthränen bezwecken ſollen. Du biſt ein Crocodil
— ein Kamäleon will ich ſagen. Ich laſſe mich nicht
länger foppen, nicht länger laſſe ich mich an der
Naſe herumführen. Von deinen Ziegen und deinen
Holländern und deinen Poltergeiſtern habe ich den
Pfifferling gehabt. Darum ein Wort für tauſend:
Kannſt du Luft verſteinern?
Bruder, ſei nicht ſo hart — —
Hart bin ich, hart will ich ſeyn, ſteinhart wie
Luftſtein. Wiſch dir die Thränen von der Naſe,
ſie erweichen mich nicht. Du haſt mir den Gehei-
men Rath verleidet und die tröſtlichen Gedanken
an das höchſte Gericht durch dein Luftproject, du
Luftſpringer! Die Ruhe meines Alters haſt du
vergiftet. Nun ſind zwei Fälle möglich. Entwe-
der kannſt du Luft verſteinern oder du haſt mir’s
vorgelogen. Im erſten Falle ſoll dir Alles ver-
[235] geben ſeyn, ich werde Syndicus, kriege für
ſechstauſend Thaler Fabricat jährlich und damit
Baſta. Haſt du mir’s aber vorgelogen, ſo wollte
ich dich erſuchen, dich an deine vielfachen ander-
weitigen Verbindungen in der Welt zu erinnern,
die ſich gewiß ſchon lange nach dir ſehnen und dir
es übel nehmen würden, wenn du länger dein
Pfund in dieſem abgelegenen Schloſſe vergraben
wollteſt. — Hierüber ſehe ich morgen deiner be-
ſtimmten Erklärung ohne alle Einkleidungen, Ge-
ſchichten und Carmina entgegen.
Mit dieſen unzweideutigen Worten trennte ſich
der Wirth von ſeinem Gaſte. Letzterer blieb im
Zimmer ſtehen, legte die Hand an ſeine Stirn
und ſagte nach tiefem Beſinnen: Behaupten muß
ich mich noch eine Zeit lang hier, es geht nicht
ohne dieſes. Ich muß ihn erwarten hier, ihn,
mein Freund, meinen Curator. Kann ich mich nicht
durch Worte und Thränen halten, ſo muß ich es
durch den Zuſtand des Epimenides verſuchen. —
Er ging auf ſein Zimmer und legte ſich augen-
blicklich nieder.
Am folgenden Vormittage um Eilf Uhr fragte
der alte Baron Karl Buttervogel’n, der von des
[236] Freiherrn Gemache herabkam: Iſt ſein Herr noch
nicht aufgeſtanden? Nein, verſetzte Karl, er ſchnarcht,
daß es nur ſo eine Art hat, wenn das ſo fortgeht,
kann es lange dauern. — Der Schloßherr ſtellte
ſich vor das Zimmer ſeines Gaſtes und hörte wirk-
lich ein ungemein kräftiges Schnarrwerk dadrinnen.
Um Ein Uhr bei Tiſche, wo ſich nur Vater
und Tochter zuſammenfanden, warf Emerentia
nachläſſig die Worte hin: Dieſer Menſch ſcheint
uns heute zu verſchmähen. — Karl wurde berufen,
hinaufgeſandt und brachte den Beſcheid, der gnädige
Herr habe ſich eben ſo weit ermuntert, um allen-
falls etwas Suppe und Gemüſe zu ſich nehmen
zu können, wenn man die Güte haben wollte, ihm
davon zu ſenden. — Emerentia gab dem Bedien-
ten das Verlangte, der alte Baron ließ hinaufbe-
ſtellen, er bitte, daß der Freiherr aufſtehe. Nach
einiger Zeit kam Karl mit den leeren Tellern zu-
rück und ſagte: Mit dem letzten Biſſen im Munde
wieder auf die linke Seite gefallen und weiter ge-
ſchnarcht. — Zum Henker, was bedeutet das?
rief der Schloßherr. — Um vier Uhr Nachmittags
ging er, da kein Münchhauſen ſichtbar wurde, ſelbſt
hinauf. Münchhauſen ſchlief. Der alte Baron rief
[237] ihn an, rüttelte ihn, ſchüttelte ihn, Münchhauſen
richtete ſich etwas auf, ſah ihn ſchlaftrunken an,
lallte mit ſchwerer Zunge: Warum weckſt du mich?
und fiel auf den Rücken. Um ſechs Uhr, um
acht Uhr Abends hatten gleiche Weckverſuche die
gleichen Erfolge, oder vielmehr Nichterfolge. Münch-
hauſen ſchlief.
Der erſte Tag war ſonach verſchlafen. Am
andern nahm der alte Baron allerhand lärmende
Geſchäfte vor, er brachte z. B. ſchweres Geräth
und Möbelwerk von der Gerichtsſtube herab und
hatte deſſen kein ſonderlich Arg, wenn ein Stück
donnernd gegen Münchhauſen’s Stubenthüre flog.
Denn, brummte er ingrimmig, ich will dieſen ver-
ruchten Kerl denn doch wohl wach kriegen! Alles
vergebens. Münchhauſen ſchlief auch den zweiten
Tag hindurch mit Ausnahme kurzer Eßpauſen.
Karl Buttervogel berichtete, ſein Herr ſei zwar auf-
geſtanden und habe ſich angekleidet, aber immer mit
halbgeſchloſſenen Augen und mit Gähnen. Sobald
er das letzte Stück angezogen gehabt, ſei er wieder
in einen Stuhl geſunken und ſitzend eingeſchlafen.
Am dritten Tage ſchnarchte Münchhauſen ſtär-
ker, als je zuvor. Der alte Baron, der die ganze
[238] Nacht ſchlummerlos zugebracht hatte, ſaß beküm-
mert auf der Gerichtsſtube. Emerentia ſang unten
im Hauſe auf Befehl ihres Vaters. Denn dieſer
meinte, was ſein Rütteln und Rumoren nicht zu
Wege gebracht, werde der helle und durchdringende
Geſang der Tochter bewirken. Als ſie ihre beſten
Gänge und Cadenzen von ſich gegeben hatte und
eine Pauſe entſtand, ſtellte ſich der Schloßherr an
die Söllertreppe und rief hinunter: Karl! — Karl
Buttervogel trat aus des Freiherrn Dormitorium.
Iſt er wach? fragte der alte Baron. — Ich hab’
mir die Ohren zugehalten, denn ich bin kitzlich
gegen Muſik, verſetzte der Bediente, mein gnädiger
Herr aber legten ſich auf die andere Seite und
lächelten im Schlaf, wie ein Engel. Jetzt aber
verlangen Sie mit zugemachten Augen Waſchwaſſer,
werden alſo wohl aufſtehen wollen, um ſich dann
zum Schlummer niederzuſetzen. Glauben mir der
Herr Baron, Sie treiben es mit meinem Herrn
nicht durch, was der ſich vornimmt, das führt er
aus, wachend oder ſchlafend.
Zornig lief der alte Baron in die Gerichtsſtube
zurück, rannte mit großen Schritten auf ihr hin
und her, ſtieß an den Tiſch, daß ein Theil der
[239] aufgeſtellten juriſtiſchen Handbibliothek herabfiel und
polterte: Da habe ich mir einen ſchönen Stören-
fried und eine wackere Ruthe Gottes in das Haus
geladen! Das iſt nun der Gipfel des Unglücks!
Ich ſehe es kommen! Ich ſehe es kommen! Die-
ſer Menſch ſchläft uns allen Schlaf weg in und
um Schnick-Schnack-Schnurr! Wie ein ſtarker
Freſſer eine ganze Wirthſchaft auszehren kann, ſo
wird uns der Schnarcher an Schlummer bankerott
machen. Schon thue ich die Nacht kein Auge zu.
— Der Henker hole die Stunde, in welcher der
Sünder in unſere Mitte geſchleudert wurde!
Er ſtieg die Treppe hinab und fand unten
auf dem Vorſaale Emerentien, welche wieder be-
ginnen wollte zu ſingen. — Laß nur das Geplärr!
fuhr ſie der Vater an, Sanct Urſel mit den eilf-
tauſend Jungfrauen ſänge den nicht auf. — Ver-
achten wir ihn, mein Vater, erwiederte Emerentia
und laſſen wir ihn ſich der Vergeſſenheit entgegen-
ſchlummern! — Ich kann doch den Schlummerbalg
nicht immer im Hauſe behalten und ihn unnütz
füttern! fuhr der alte Baron auf.
Wenn er nur wenigſtens die Eßſtunden auch ver-
ſchlummerte! Aber zum Frühſtück, Mittags- und
[240] Nachtmahl iſt er regelmäßig wach! Folglich darf
ich ihn nicht verachten. Verachten kann man nur
den, der Einen nicht incommodirt. Und Münch-
hauſen iſt mir jetzt zur größten Beſchwer und ich
würde den für meinen beſten Freund halten, der
mir dieſen Gaſt vom Halſe ſchaffte.
Er ging in das Zimmer des Freiherrn. Dieſer
ſaß auf ſeinem Stuhle und das Haupt hing ihm
auf die Bruſt hinab. Er ſchlief feſt und tief.
Der alte Baron nahm eine Feder, ſetzte ſich vor
ihn, kitzelte ihn mit der Feder um den Mund und
rief: Münchhauſen, wach auf!
Einer kitzelnden Feder mußte ſelbſt der beharr-
liche Schlummer des Freiherrn weichen. Er kratzte
ſich an der gekitzelten Stelle, riß die Augen weit
auf, ſah ſeinen Wirth wüſt an und fragte dann
matt und verdroſſen: Was willſt du, Schnuck?
Warum läſſeſt du mich nicht in Ruhe?
Ich wünſchte von dir zu erfahren, wie lange
du hier noch zu ſchlafen gedenkſt? ſagte der alte
Baron ſehr ernſt.
Ich wünſchte, daß du mich lieber fragteſt, wo-
her dieſer chroniſche Schlummer rührt? verſetzte in
gedehntem Tone der Freiherr.
[241]
Ich wünſchte allerdings, daß du auch darüber
mir eine Aufklärung geben möchteſt, ſprach der
alte Baron.
Ich wünſchte, daß du dich an meine Jugend-
bildungsgeſchichte erinnerteſt, die ich dir einſt vor-
trug, verſetzte der Freiherr, ſchon wieder lallend
und nur noch das braune Auge offenhaltend; denn
das blaue war ihm bereits von Neuem zugefallen.
— Habe ich dir nicht erzählt, daß mein ſoge-
nannter Vater mich in ſo vielen Sprachen und
Wiſſenſchaften unterrichtete, daß an gewöhnlichen,
ausreichenden Schlummer damals nicht zu denken
war? Es blieb alſo in meiner Jugend aller Schlaf,
welchen andere Menſchen zu der Zeit abmachen und
entwickeln, in mir unabgemacht und unentwickelt
ſtecken. Dieſer verſetzte und zurückgehaltene Schlaf
bricht nun jetzt in meinen Mannesjahren aus, er
entfaltet ſich unaufhaltſam und wird nicht eher zu
Ende ſeyn, als bis ich nachgeholt habe, was ich
in der Jugend verſäumte. Dieſes iſt die natür-
liche Erklärung meines gegenwärtigen Zuſtandes,
über den mich ein Traum inſpirirte.
Wohl. Wer mit dir verkehrt, muß ſich immer
auf Wunderdinge gefaßt halten. Kalt will ich
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 16
[242] alſo bei dieſer inſpirirten Ankündigung bleiben,
ganz kalt, und dich nur in aller Seelenruhe fra-
gen: Wie lange dauerte jener anſtrengende Jugend-
unterricht, und wie viel weniger als andere Men-
ſchen ſchliefeſt du während deſſelben?
Drei Jahre. Mäßig angeſchlagen, büßte ich
Nacht für Nacht ſechs Stunden Schlummer ein,
erwiederte der Freiherr kaum hörbar und träu-
meriſch das Haupt hin und her wiegend.
Der alte Baron ſchob ſeinen Stuhl an den
Tiſch, nahm ein Stück Kreide, welches dort lag
und rechnete auf dem Tiſche. Nachdem er den
Strich unter den Zahlen gezogen hatte, ſagte er:
Vorausgeſetzt, daß unter jenen drei Jahren kein
Schaltjahr war, ſo haſt du während derſelben
ſechstauſend fünfhundert und ſiebenzig Stunden
Schlafdeficit gehabt, und würdeſt folglich neun
Monate, drei Tage und achtzehn Stunden jetzt bei
mir nachſchlummern müſſen. Wie?
Er wendete ſich um, da er keine Antwort be-
kam und ſah, daß der chroniſche Zuſtand ſeines
Gaſtes ſchon wieder eingetreten war. — Stolz
erhob er ſich und rief: Keine Rückſicht der Gaſt-
freundſchaft und Höflichkeit kann mich verpflichten,
[243] einen Menſchen neun Monate, drei Tage und acht-
zehn Stunden bei mir ſchlafen zu laſſen. Ich habe
an dir gehandelt, wie ein Cavalier ſich gegen den
Anderen benehmen ſoll, die Geduld iſt aber nun
erſchöpft, und — höre es, oder höre es nicht —
ich kündige dir hiemit Krieg und Fehde an. Dar-
unter verſtehe ich, daß ich dich aus dem Schloſſe
zu bringen wiſſen werde, in dem du nichts als
Unheil und Verwirrung geſtiftet haſt.
Nach dem Abgange des Schloßherrn öffnete
Münchhauſen die Augen und ſagte zu Karl Butter-
vogel, der ein ſtummer Zeuge dieſer Scene geweſen
war: Karl, willſt du mir treu bleiben? — O mein
gnädiger Herr, rief Karl Buttervogel, wie könnte
ich es wohl über das Herz bringen, Ihnen untreu
zu werden, da Sie mir ſo eben noch vor Kurzem
meinen vollen Lohn gegeben haben, zwölf Gulden
vierundzwanzig Kreuzer. Nein, wenn der Menſch
Geld kriegt, ſo muß er treu ſeyn, wie ein Hund,
und Häuſer muß man auf ihn bauen können, und ſo
lange wie der letzte Kreuzer vorhält, muß er an ſei-
nem Herrn halten, denn dafür iſt er Bedienter, und ein
Bedienter, der ſeinen Herrn verräth, der ihn ordentlich
bezahlt, iſt kein Bedienter nicht, ſondern ein Schuft.
16*
[244]
Schweige! rief Münchhauſen. Rede nicht, ſon-
dern handle, Buttervogel. Es liegt mir jetzt Alles
daran, allein im Schloſſe zu ſeyn, aus dem mich
der Alte forttreiben will. Locke daher das Fräu-
lein in’s Freie —
Das wird nicht nöthig ſeyn, fiel Karl Butter-
vogel ein, denn ſie hat ſich ſelber ſchon, ganz blüme-
rant aufgetakelt, in’s Freie gelockt, ich habe ſie
eben mit einem großen Dinge unter der Schürze
nach meinem Schneckenberge gehen ſehen.
Gut, das halbe Werk iſt ſonach gethan. Locke
denn alſo noch den Alten in’s Freie.
Ich will ſo thun, als ginge ich nach der Stadt
in die Apotheke für Sie, um wieder Species zu
holen für’s chemiſche Schmieren, und wenn ich an
ihm im Hauſe vorbeigehe, ſo will ich munkeln:
Ja, wenn ich ſprechen dürfte — ſo wird er mir
nachgegangen kommen, um mich auszufragen.
Thue das, Karl, mache mir das Schloß rein
von allem läſtigen Perſonal, ich will daraus eine
Feſtung für mich ſchaffen, ſprach der Freiherr von
Münchhauſen mit ſeiner ganzen ihm ſo eigenthüm-
lichen Würde.
[245]
Auf dem Vogelheerde ſaß alſo, verlockt von
dem ſcheinbaren Stadtgange des Bedienten, der
alte Baron, während Emerentia dieſes nämlichen
Bedienten, der für ſie kein Bedienter war, mit
einem leckeren Gerichte am Schneckenberge harrte.
Der Schloßherr hatte ſeinen Plan entworfen. So
geradezu Jemand aus dem Schloſſe zu bringen,
der ſich darauf verſteift zu haben ſchien, bei ihm
neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden
mit den Wachpauſen für Eſſen und Trinken abzu-
ſchlafen, konnte mißlich erſcheinen. Der alte Baron
wünſchte daher nichts mehr, als irgend einen Um-
ſtand zu erkunden, welcher ihn allenfalls berechtigte,
die öffentliche Macht gegen den Propheten anzu-
rufen, der ihm nun wie ein Tagedieb vorkam. Einen
ſolchen Umſtand hoffte er von dem Bedienten Karl
Buttervogel herauszubringen, denn das Wort „Mun-
kel“ und die beſtändige Erwähnung von ungeheuren
Geheimniſſen, welche um die Perſönlichkeit des
Freiherrn nebelten, deutete nach ſeiner Meinung
offenbar auf Verſchuldungen oder wenigſtens auf
Verwickelungen hin, die ihm den Arm der Polizei,
ſo hoffte er, wider den chroniſchen Schläfer will-
fährig machen ſollten.
[246]
Er hatte ſich mit dieſen Gedanken unter eine
Vogelbeerſtaude geſetzt und überlegte die Mittel,
mit denen er Karl Buttervogel’n plaudern machen
wollte. Der Menſch hatte ihn immer ſo freund-
lich und gerührt, wir wiſſen weßhalb? ſeither an-
geſehen, daß er hoffte, auf ſein Gefühl wirken und
ſeinen Mund durch Liebe und Dankbarkeit auf-
ſchließen zu können. Er nahm ſich daher vor ihn
auf bewegliche Weiſe zu bewegen.
Karl ſaß indeſſen, um ſeinen Stadtgang glaub-
lich zu machen, eine halbe Stunde vom Vogel-
heerde in einem Kruge und vertrank einen Theil
des Lohnes, den ihm die diplomatiſchen Mißver-
ſtändniſſe zwiſchen dem Fräulein und ſeinem Herrn
geſpendet hatten. Dem alten Baron wurde darüber
die Zeit lang und da er an ſeiner Kriegsliſt nichts
mehr zu denken fand, ſo nahmen ſeine Vorſtellun-
gen eine andere Richtung, welche folgendes Selbſt-
geſpräch offenbarte.
Ich habe mich reſignirt, ſagte er. Der heutige
Tag zeigt mir meine Lage im wahren Lichte. Münch-
hauſen erſcheint mir als das, was er iſt, als ein
großer Frevler. Vielleicht iſt er der Vater von
Kaspar Hauſer. Möglich auch, daß er ein berüch-
[247] tigter Giftmiſcher iſt wegen der beſtändigen chemi-
ſchen Experimente. Auf jeden Fall ein Mann,
dem zu vertrauen bedenklich ſeyn muß. Ein
unnatürlicher Charakter, abnorm in jeder Bezie-
hung. Welcher Menſch außer ihm, ſammelt Schlaf
von ſeiner Jugendzeit auf für neun Monate, drei
Tage, achtzehn Stunden. Es iſt zwar eine Klage
manches Schulmanns, wie ich geleſen habe, daß
auch die jetzt gar zu ſehr angeſtrengte Jugend nach-
her ſchläfrig werde, aber dann ſchlafen ſie mit
offenen Augen, die Jungens werden rein dumm
vom vielen Lernen, natürlichen Nachſchlaf kriegen
ſie aber deßhalb nicht. Dieſer Nachſchlaf iſt folg-
lich wieder ganz eine Veranſtaltung à la Münch-
hauſen.
Ich traue ihm nicht mehr. Seit heute verlaſſe
ich mich auf meine geſunden Sinne und nicht auf
Flirren und Flauſen. Luft iſt Luft und wird
mein Tage nicht Stein. Das ganze Project iſt
Windbeutelei und die Luftverdichtungsactiencom-
pagnie nicht ſo viel werth.
Der alte Baron blies bei den letzten Worten
über ſeine flache Hand hin, ſenkte dann tiefſinnig
das Haupt und ſprach nach einer Pauſe: Wunder-
[248] bar! — Wie demjenigen, der eine große Wahrheit
entdeckt, zugleich viele andere Wahrheiten mit einem
Schlage aufzugehen pflegen, ſo zerſtört die Zer-
ſtörung eines großen Irrthums auch ſeine Nach-
barn. Seit ich nicht mehr an verſteinerte Luft
glaube, bin ich auch mißtrauiſch geworden über die
Rückkehr der alten Verhältniſſe und meinen Ein-
tritt in das höchſte Gericht als geborener Gehei-
merrath. Es iſt zu viel Gras darüber hingewachſen,
meine Tage ſind gezählt; ich erlebe es nicht mehr,
das fühle ich wohl.
Und ſo wäre ich denn ein armer, alter, zer-
brochener, abgebrauchter Mann? — Nein! Mit
nichten. Schon regen ſich neue Gedanken in mir,
die jugendliche Kräfte aufwecken. Das iſt eben
der wunderbare Segen der Gegenwart, daß Nie-
mand untergehen kann, der ſich mit rüſtigem
Arm und beherzter Bruſt in ihre Fluthen wirft.
Erliſcht hier ein Licht, ſo flammt es da wieder
auf, die unendliche Mannichfaltigkeit der Mittel,
Gedanken und Anregungen macht jede welkende
Hoffnung zu einem Phönix, der ſich zwar be-
ſtattet, aber aus dem Feuergrabe immer wieder
auflebt.
[249]
Ich habe ſchon wieder Ausſicht, Muth, eine
Zukunft. Ich glaube nicht mehr an den geborenen
Geheimenrath, ich glaube nicht mehr an die Luft-
verdichtungscompagnie; ade Syndicat! Ade Ihr
ſechsmalhunderttauſend Luftſteine, mit denen ich
ſalariirt werden ſollte — Fahret wohl, Ihr nich-
tigen Träume und Schäume und macht einem ſoliden
Geſchäfte Platz. — Das religiöſe Bedürfniß iſt
mächtig erwacht in der Zeit und ſchmachtet nach
der Herſtellung der Hierarchie. Dieſem Bedürf-
niſſe zu genügen muß ein großartiges Inſtitut in
das Leben gerufen werden. Ich werde Jeſuiten
auf Actien kommen laſſen. Schon morgen reiſe
ich, um die nöthige Protection und Förderung mir
zu verſchaffen, wenn ich inzwiſchen Münchhauſen
los werden kann, nach —
Der alte Baron gab nicht an, wohin er reiſen
wollte, denn es unterbrach ihn ein Geräuſch unten
auf der Straße. Er ſah den Bedienten kommen und
rief ihn an. Karl Buttervogel murmelte für ſich,
indem er dem Rufe auf den Vogelheerd folgte:
Treu bin ich meinem Herrn bis fünf Thaler, wenn
er aber mehr geben will, da kann der Menſch nicht
widerſtehen.
[250]
So kamen Beide auf dem Vogelheerde zuſam-
men; der Bediente mit der Abſicht, ſich um mehr
als fünf Thaler beſtechen zu laſſen, der Schloßherr
in der Meinung, ihn durch Güte zu rühren, denn
außer Güte hatte er nichts bei ſich.
Er hat wohl auch von dem Wege viel Mühe ge-
habt bei der Wärme, mein Freund? Setze Er ſich mir
da gegenüber unter die Rüſter — ſagte der Schloß-
herr im gütigſten Tone. — Ich kann ſchon ſtehen,
verſetzte der Bediente, ich würde unter der Rüſter
ſitzen wie auf Kohlen und mir, mit Reſpect zu
melden, das Geſäß verbrennen, wenn ich in Ge-
genwart von einem ſo gnädigen Herren ſitzen thun
ſollte. Jeder an ſeinem Platz und an ſeinem Ort,
das iſt ſo das Beſte, der Herr Baron ſitzend und
ich hier ſtehend in alle Ewigkeit.
Es kommt mir ſo vor, als halte Er etwas auf
mich, ſagte der alte Baron nach einer Pauſe, wäh-
rend welcher er vergeblich nach einem ſchicklichen
Anknüpfungspuncte ſuchte.
O gnädiger Herr, rief Karl Buttervogel erregt,
beugte ſich zu dem Schloßherrn nieder und küßte
deſſen Rock, wie ich Sie liebe, das kann keine
Menſchenzunge ausſprechen. Denn warum ſollte
[251] ich Sie denn auch nicht lieben, da Wurſt und Eier
bis jetzt nicht gemangelt haben, und da ich gewiß
fernerweite gute Verköſtigung kriege, und der gnä-
dige Herr ſo ein ehrwürdiges Anſehen haben, und
die ganze Poſitur ſo etwas Martialiſches und da
die nähere Verbindung bevorſteht, und Schwieger-
ſöhne Schwiegerväter ſchon aus Pflicht lieben
müſſen, und da —
Nun wohl, Buttervogel, rief der alte Baron,
laß’ Er die vielen Gründe, die mir auch zum Theil
dunkel ſind, denn ich weiß nicht, was Er mit der
Wurſt und mit den Eiern und den Verbindungen
und den Schwiegervätern und Schwiegerſöhnen
ſagen will. Wenn Er wirklich auf mich etwas hält,
ſo kann Er mir einen Gefallen thun, und ich er-
ſuche Ihn darum.
Tauſend Gefallen für Einen, gnädiger Herr!
rief Karl Buttervogel. Soll ich Ihnen den grü-
nen Rock ausbürſten, oder an dem Schlafrock mit
den Weinranken das Loch im Aermel zunähen,
oder —
Nichts von allem dem. Sondern mich intereſ-
ſirt Sein Herr bis in die kleinſten Umſtände ſeines
Lebens und über Manches möchte ich Aufſchluß
[252] haben. Erinnere Er ſich nun, wie gut ich an Euch
gehandelt habe, ſei Er dankbar für ſo viele Gaſt-
freundſchaft, erwäge Er, was Er mir für meine
Güte ſchuldig iſt, und wenn dadurch in Ihm ein
richtiges Gefühl entſtand, ſo ſage Er mir, warum
Sein Herr Seine Grobheiten vermiſcht mit gehei-
men Anſpielungen duldet? denn dahinter muß noth-
wendig etwas ſtecken.
Dahinter ſteckt auch etwas, ſagte Karl Butter-
vogel ernſthaft. Und ich wollte mich wohl ver-
führen laſſen aus Liebe und Erkenntlichkeit zu dem
gnädigen Herrn Baron und zum Delinquenten an
meinem Herrn von Münchhauſen werden, wenn nur …
Er ſah ſtarr nach der Hoſentaſche des alten Barons.
Was, Karl? Spreche Er ſich deutlich aus,
mein Sohn.
Karl Buttervogel machte eine krumme Hand
und ſah den Schloßherrn dabei gerührt an. Sie
haben als Vater an uns gehandelt, und wer ſo
iſt, wie Sie, der macht mich weichherzig und da
kenne ich gar keine Pflichten und laß’ meinen eige-
nen Bruder im Stich. Aber inſofern …
Aber inſofern? — Stocke Er doch nicht ſo oft.
Heraus mit der Sprache! Was verſteht Er unter
[253] dem Munkel, wie Er Seinen Herrn nennt, und
unter den Geheimniſſen der Erzeugung?
Karl Buttervogel ſpuckte vor ſich nieder, ſah
dann wieder nach der Hoſentaſche des alten Ba-
rons, machte den Geſtus des Geldzählens und
fuhr darauf plötzlich, als der Schloßherr dieſen
Gebärden ſtumm und verwundert und ohne auf
den Sinn ihrer Forderung einzugehen, zuſah, mit
der Frage heraus: Haben Sie wohl über fünf
Thaler bei ſich?
Nein, verſetzte der alte Baron etwas verlegen.
Ich trage kein Geld bei mir.
So bleibt auch das Geheimniß bei mir, ſagte
Karl Buttervogel.
Der alte Baron rief entrüſtet: Alſo aus Liebe
zu mir will Er mir nichts ſagen, aber für Geld
würde Er Seinen Herrn verrathen!
Ja, rief der Bediente, für Geld kann man
Alles kriegen, denn die Zeiten ſind theuer und
ohne Nebenverdienſt geht es einmal nicht in der
Welt, und weil es in der Freundſchaft bliebe, ſo
wäre es auch kein Verrath, und die Liebe zu Ihnen
iſt zu groß, und Sie könnten es mir gewiſſermaßen
befehlen von wegen der kindlichen Ehrfurcht, die
[254] ich gegen Sie haben thun muß, und warum fängt
mein Herr ſolche Sachen an und ich würde es
auch nicht für ein Paar Groſchen thun, denn das
wäre ſchimpflich, aber fünf Thaler machen einen
Unterſchied, und das Hemde iſt mir näher als der
Rock, und Beſtechung iſt nur ein Vorurtheil, aber
ohne Geld und Gaben bin ich meinem Herrn ſo
treu wie Gold, und keine Menſchenmacht ſoll mich
von meiner Schuldigkeit abwendig machen, und
das können Sie mir auch gar nicht verdenken, denn
Sie würden ſich auch ſo einen ehrlichen Kerl zum
Bedienten wünſchen, der Alles mit ſich in die
Sterbegrube nähme, wenn Sie ſich chemiſch ſchmie-
ren müßten, weil nämlich —
Schweige Er! rief der alte Baron, welcher
befürchtete, daß Karl Buttervogel ſich in ein neues
Meer von Gründen ſtürzen würde. Verdrießlich
riß er Blätter von den Stauden, zwiſchen denen
er ſaß, und zerpflückte ſie. Karl Buttervogel ent-
fernte ſich gleichfalls verſtimmt über die unverletzte
Treue, die er ſeinen Grundſätzen gemäß dem Herrn
bewahrt hatte, von dem Vogelheerde.
[255]
Fuͤnftes Capitel.
Wofür Semilgſſo von dem Ehinger Spi-
tzenkrämer angeſehen wird. — Der alte Ba-
ron rennt nach einem Bürgermeiſter und
a publick character im braunen Ober-
rock tritt auf, deſſen Erſcheinung die
wenigſten Leſer vermuthen mögen.
Das türkiſche Fahrzeug war langſam bis an
den Fuß des Schloßberges oder Hügels gediehen,
konnte jedoch dort nicht weiter auf der holprichten
Straße vordringen. Semilaſſo ſah ſich daher ge-
nöthigt, abzuſteigen und zu Fuß bergan zu gehen.
Der Ehinger Spitzenkrämer holte ihn ein und gab
ſich mit ihm in ein vertrauliches Geſpräch, weil
er ihn wegen der fremdartigen Kleidung, worin
der berühmte Reiſende ſich zeigte, für ſeines Glei-
chen oder vielmehr für etwas noch Geringeres, als
er ſelbſt war, hielt, nämlich für einen Kunſtreiter
[256] oder für den Inhaber einer Thierbude. Denn
zwiſchen dieſen beiden Vermuthungen ſchwankte der
Ehinger in ſeinen Gedanken.
Semilaſſo hielt es bei ſeinem freien Weltblicke
nicht unter ſich, mit den verſchiedenartigſten Leuten
ohne Zwang zu verkehren. Er gab daher der
Anſprache des Ehingers leichte und natürliche Er-
wiederung, redete mit ihm über die Spitzenklöppe-
leien in dem Diſtricte, woher der Ehinger gebürtig
war und die er auf ſeinen Reiſen beſucht hatte.
Den Standesunterſchied bewahrte er nur inſofern,
daß er nicht auf der Seite des Weges gehen
mochte, den die Füße des Spitzenkrämers traten.
Vielmehr wollte er gern die ganze Breite der
Straße zwiſchen ſich und dem Ehinger ſehen. Kam
daher dieſer zu ihm hinüber, ſo kreuzte Semilaſſo
die Straße nach der anderen Seite zu. Da aber
der Ehinger die geheime Abſicht dieſer ausweichen-
den Bewegungen nicht kannte und am liebſten dicht
neben ſeinen Reiſebegleitern gehen mochte, ſo folgte
er dem vornehmen Türken überallhin und Beide
waren daher die Schloßſtraße hinauf in einer be-
ſtändigen Zickzack- und Schlängelwanderung be-
griffen.
[257]
Oben ſtand Semilaſſo ſtill und wiſchte ſich mit
einem Taſchentuche von feinem Battiſt den Schweiß
von der Stirn. Der Ehinger zog eine Brannt-
weinflaſche aus dem Ränzel, nahm einen derben
Schluck und bot ſeinem Genoſſen, deſſen Eigen-
ſchaften ihm ſo unbekannt waren, die Flaſche
gleichfalls dar. Semilaſſo wies aber mit einem
Zuge des innigſten Widerwillens in dem feinen
blaſſen Geſichte den Schnaps zurück und ſchien
überhaupt nach gerade den Ehinger läſtig zu finden.
Seine Neigung zu dem Manne ſtieg nicht, als
dieſer mit der Frage ſich an ihn wandte: Sagt
mir, Landsmann, wo Ihr Eure Bude ſtehen habt?
und als er durch verwunderungsvolle Erkundigung
von ihm herausbrachte, wofür er angeſehen wurde.
Voilà ce qui est bien drôle! ſagte er mit einer
ſüßſäuerlichen Miſchung im Tone der Stimme und
ſuchte dem Ehinger zu entkommen, der ihn aber
mit wiederholentlichen Fragen nach der Bude bis
vor die Thüre des Schloſſes verfolgte. Denn er
hatte viel Geld gelöſt und wollte ſich nun [auch] in
der Thier- oder Bereiterbude ein Vergnügen machen.
An der Schloßthüre nahm jedoch die Verram-
melung derſelben die Aufmerkſamkeit beider Wan-
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 17
[258] derer ſtatt alles Anderen in Anſpruch. Sie riefen,
ſie pochten, ſie rüttelten, aber im Innern des
vereinſamten Schloſſes antwortete Niemand, Nie-
mand kam von innen an die Thüre, ſondern es
ſchnarchte da drinnen nur taub und gefühllos wei-
ter. Zuletzt mußten ſie ſich wie die übrigen an
der Thüre Geweſenen auch von der Nothwendigkeit
des Wartens überzeugen. Zufällig hatten ſie ein-
ander von dem Zwecke ihrer Wanderung nichts
mitgetheilt, ſie gingen auch jetzt ohne nähere Er-
klärung nach verſchiedenen Seiten ab. Semilaſſo
ſchlug, da der Ehinger mit ihm wieder die Schloß-
ſtraße hinunterwandern wollte, einen Nebenweg
in das Gebüſch ein, um nur von dieſem Plebejer
ſich loszumachen. Er brauchte dabei einen wahr-
ſcheinlichen Vorwand; die Geſchichte hat ihn aber
vergeſſen oder Scheu getragen, ihn aufzuzeichnen.
Der Ehinger ſtellte ſich dagegen unten am Fuße
des Hügels zu dem türkiſchen Fahrzeuge und ſuchte
ſich die Zeit, ſo gut es gehen wollte, mit den
Affen und Papageien zu vertreiben. Auch mit
dem jungen Neger ſprach er. Dieſer redete ge-
brochen deutſch und antwortete auf die Frage, wo
ſein Herr die Bude ſtehen habe? nachdem er ihren
[259] Sinn gefaßt hatte: Kein Herr mein Bud’ halten
— wollt’ ſagen — Mein Herr kein Bud’ halten —
Furſt ſeyn — heißen — nicht ausſprechen kann den
Namen ſchwierig.
Ueber dieſe Auskunft wollte ſich der Ehinger
des Todes verwundern, lachte aus vollem Halſe
und rief: O, was für ein Anſehen ſich ſo ein Volk
geben kann! Der Junge lügt wahrhaftig ſchon
wie gedruckt und wenn ich den Herrn nach ſeinem
Stand’ frag’, iſt er ein König wenigſtens.
In dieſem Augenblicke ging der alte Baron
raſch an dem Gefähr vorüber. Er war ſo ver-
drießlich, daß ihm ſelbſt der fremdartige Anblick
des Fahrzeuges keinen Blick abnöthigte, er ſtieg
vielmehr, ohne ſich umzuſehen, die Schloßſtraße
empor. — Landsmann, rief der Ehinger, der alle
Völker der Erde für ſeine Compatrioten hielt,
dem Alten nach, Euer Laufen hilft Euch nit,
Ihr kommt oben nit ein, die Zugäng’ ſind ver-
bollwerkt. — Der Baron wandte ſich um, fragte,
was das bedeuten ſollte? und erfuhr zu ſeinem größ-
ten Aerger, was wir ſchon wiſſen.
Nein! rief der alte Baron knirſchend vor Zorn,
was zu arg iſt, iſt zu arg! Ich füttere den Ha-
17*
[260] ſenfuß, er verrückt uns Allen die Köpfe und zum
Beſchluß und zur Krönung der Schandthaten treibt
er die rechtmäßigen Eigenthümer aus dem Hauſe
und ſetzt ſich darin feſt. Das iſt offenbare Gewalt,
Friedensbruch und Beſchädigung mit gemeiner Ge-
fahr, und auf der Stelle laufe ich zum Bürger-
meiſter, denn jetzt, jetzt thut Polizeihülfe Noth.
— Mit einer Schnelligkeit, die man ſeinem Alter
nicht hätte zutrauen ſollen, lief der Schloßherr
zurück und bog in den Weg, der nach dem Dorfe
führte, worin der Bürgermeiſter wohnte.
Als er aber raſch um eine Hecke ſchwenkte
und nichts im Sinn und Auge hatte, als den ihm
nun ſo verhaßt gewordenen Dutzbruder, rannte er
heftig mit einem Andern zuſammen. Dieſer Andere
war ein Mann, der in entgegengeſetzter Richtung
dahergeſchritten kam und wegen ſeiner Kurzſichtig-
keit oder aus Zerſtreuung auf den alten Baron
nicht geachtet hatte. Da er auch ſehr raſch ging,
ſo war das Zuſammenprallen, wie geſagt, ein
heftiges, der Schloßherr verlor ſeine Seehunds-
kappe vom Haupte, der Mann im braunen Ober-
rock (denn einen ſolchen trug der Zweite) den
Strohhut. Nachdem Beide ihre Kopfbedeckungen
[261] aufgerafft hatten, machten ſie einander gegenſeitige
Entſchuldigungen, denen der im braunen Oberrock
die ironiſche Bemerkung hinzufügte, daß dieſe Art
Bekanntſchaften zu knüpfen die glücklichſte ſei, weil
ſie mit dem Gefühle beginne, daß Einer dem An-
deren etwas nachzuſehen habe, der erſte Moment
derſelben daher ſich von aller Ueberſpannung in
den Erwartungen fern halte.
Mit wem habe ich die Ehre? … fragte der
alte Baron.
Ach, verſetzte der im braunen Oberrock, laſſen
wir meinen Namen unausgeſprochen! — Durch eine
ſeltſame Laune des Schickſals, deren es mehrere
an mir übte, iſt mir auch ein Name zu Theil
geworden, der mehr verſprach, als meine geringe
Perſönlichkeit zu halten im Stande geweſen iſt.
Aber vergönnen Sie mir dagegen eine Frage: Wiſſen
Sie nicht, ob ſich ein gewiſſer Freiherr von Münch-
hauſen hier herum in der Nähe aufhält?
Der alte Baron ſah den Fremden groß an.
Haben Sie auch durch ihn gelitten? Können Sie
mir irgend einen haltbaren Verdacht wider ihn lie-
fern, mittelſt welches ich ihn vor die Gerichte
bringe? fragte er darauf mit Eifer.
[262]
Mein Herr, verſetzte der Andere, was denken
Sie von mir? ich habe mit dieſem Freiherrn von
Münchhauſen ganz eigene und zarte Beziehungen,
die mir die Lippen über ihn verſiegeln würden,
ſelbſt wenn ich etwas Schlechtes von ihm wüßte.
— Sonach kann ich nur meine Frage wiederholen:
Hält ſich dieſer Mann hier in der Nähe auf?
In meinem Schloſſe ſitzt der Spitzbube und
hat ſich verbarricadirt! rief der alte Baron. Dort
geht die Straße hinauf und ich bin in dieſem
Augenblicke auf dem Wege, die Polizei wider ihn
zu Hülfe zu rufen. — Er lief eilig ſeine Straße
nach dem Dorfe weiter.
Halten Sie an! rief der Fremde mit ſtarker
Stimme dem Davoneilenden nach. Der Freiherr
iſt zwar ein großer Schalk, gehört aber doch nicht
in die Kategorie der Spitzbuben und iſt über die
Angriffe der Polizei erhaben. — Der alte Baron
hörte aber nicht auf ihn, ſondern rannte ſporn-
ſtreichs ſeinen Weg. — O der Unſelige, in welche
Verwickelungen hat er ſich gebracht! ſagte der
Fremde. — Ich muß ſehen, wie ich ihn rette,
ſetzte er murmelnd hinzu und lief die Schloßſtraße
hinauf.
[263]
Denn auch er lief mehr als er ging, was einen
ziemlichen Contraſt mit ſeiner Figur abgab, die
man ſchon zu den corpulenten zählen konnte. Es
war ein breitſchulteriger unterſetzter Mann, dieſer
Fremde im braunen Oberrock, der ſeinen Wander-
ſtock bei jedem Schritte mit Energie auf die Erde
ſtieß. Er beſaß eine große Naſe, eine marquirte
Stirn, deren Protuberanzen jedoch mehr Charakter
als Talent anzeigten und einen feingeſpaltenen
Mund, um den ſich ironiſche Falten wie junge
ſpielende Schlangen gelagert hatten, die jedoch
nicht zu den giftigen gehörten. Seine Augen wur-
den in den Reiſepäſſen gewöhnlich als graue be-
zeichnet. Sie lagen auch wirklich wie hellgraue
Perlhühner in ihren Höhlen unter Brauen einge-
wühlt, die trockenem gelbbräunlichem Reiſig glichen.
Mehrere Damen ſeiner Bekanntſchaft aber, die
ihm wohlwollten, behaupteten, dieſe Augen hätten
einen angenehmen blauen Ausdruck, und ſeit der Zeit
glaubte er ſelbſt an ihre Bläue. Nicht allein in dem
Antlitze dieſes Mannes, der nach ſeinem Habitus ein
Vierziger zu ſeyn ſchien, ſondern überhaupt in
ſeinem geſammten Weſen war eine eigene Mi-
ſchung von Stärke, ſelbſt Schroffheit, mit Weich-
[264] heit, die hin und wieder in das Weichliche über-
ging, ſichtbar.
Es wäre ja traurig, wenn dieſer merkwürdige
Charakter in einem elenden Abentheuer umkäme,
man muß ſehen, man muß ſehen … flüſterte
der braune corpulente Laufende, als er die beiden
Wappenlöwen erreicht hatte.
Da die Abſicht der gegenwärtigen Geſchichten
nicht ſeyn kann, den Leſer bei Zeiten über jenen
Fremden zu unterrichten …
Brief des Herausgebers an den Buchbinder.
Hiebei, lieber Herr Buchbinder, Manuſcript
des Münchhauſen, ſo weit ich geſchrieben habe.
Nicht wahr, hier wäre wieder ſo ein Ort, über
den Braunen eine ungemeine Spannung zu ſtiften?
Geheimnißvoll … dunkel … Andeutungen u. ſ. w.
Sie verſtehen mich. Ich wollte doch aber nicht
ohne Ihren Rath verfahren. Der ich mit aller
Achtung u. ſ. w.
[265]
Antwort des Buchbinders.
Beileibe jetzt keine Spannung mehr. Spannung
genug durch Semilaſſo, den Jäger, die drei Unbe-
friedigten, den Ehinger Spitzenmann und den alten
Herrn Baron, der zum Bürgermeiſter läuft. Zu-
viel Spannung überſpannt; die Leſer möchten Ihnen
am Ende gar abgeſpannt werden. Nein, jetzt
durch eine tüchtige Entdeckung Effect gemacht, je
unerwarteter, deſto beſſer. Mit beſonderer Hoch-
achtung u. ſ. w.
Fortſetzung der Erzählung.
Da die Abſicht der gegenwärtigen Geſchichten
nur ſeyn kann, den Leſer bei Zeiten über jenen
Fremden zu unterrichten, indem die Folter längſt
abgeſchafft iſt und nur noch in engliſchen Romanen
durch dreibändelange Spannung mißbräuchlicherweiſe
angewendet wird, ſo iſt hier zu ſagen, daß der
corpulente Mann im braunen Oberrock Niemand an-
ders als der bekannte Schriftſteller Immermann war.
[266]
Er befand ſich auf einer ſeiner jährlichen Ferien-
reiſen, während welcher die eine Hälfte ſeiner
Düſſeldorfer Freunde ihn da, die Andere dort ver-
ſorgt. Er kommt aber immer wieder nach Düſſel-
dorf zurück, weil — — — —
So kommt er denn immer wieder von dieſen
Kreuz- und Querzügen durch Deutſchland zurück,
nachdem er durch Berge, Thäler, Höhlen und Klüf-
te, Hütten, Palläſte, Kirchen und Gräber ge-
ſchweift iſt, ein weltdurſtiger und weltfroher Odyſ-
ſeus, den keine Calypſo zurückzuhalten für gut fand.
Gegenwärtig befand er ſich auf einer Wande-
rung nach den Exterſteinen, die er noch nicht ge-
ſehen hatte. In der Nähe der Stadt, worin der
Diaconus wohnt, bog er jedoch von der geraden
Straße ab, um den Helden dieſer Geſchichten auf-
zuſuchen, mit welchem er wirklich Beziehungen der
eigenſten Art hatte, und dem er wichtige Mitthei-
lungen machen wollte, entſcheidende Mittheilungen
für ſeines Schützlinges Geſchick. Denn in dieſem
Verhältniſſe ſtand Münchhauſen zu Immermann.
Immermann übte eine Art von Curatel über den
Freiherrn aus.
[267]
Sechstes Capitel.
Der bekannte Schriftſteller Immermann
führt eine ſehr ernſte Unterredung mit
dem Freiherrn von Münchhauſen. Karlos
der Schmetterling entſchließt ſich, bewo-
gen durch den Anblick eines Sauerbratens
und die Zuredungen ſeiner Geliebten,
endlich die Maske abzuwerfen.
Der Schriftſteller lief, als er den Schloßhof
erreicht hatte, gerade auf das Haus zu, indem
er fortwährend für ſich murmelte: Hätte ich ihn
nur erſt aus dieſer Klemme! Sich ſo zu verfah-
ren und zu verſteigen, gerade in dem Augenblicke,
wo ich ihm ein anſtändiges und ſicheres Brot ver-
ſchaffen kann! Wenn ſie mein Wort nur gelten
laſſen! — Er drückte an der Klinke der Thüre.
Da ſie ſich aber ſo nicht öffnen laſſen wollte, ſo
ſtemmte er ſich mit der ganzen Gewalt ſeiner
Schultern gegen ſie, und da ihn die Natur mit
[268] einer ziemlichen Leibeskraft ausgeſtattet hatte, ge-
lang ihm, was Semilaſſo’n und den drei Unbe-
friedigten ſo wenig, als dem Jäger möglich gewe-
ſen war. Die morſche Thüre wich nämlich aus
den Angeln, einige innen vorgeſetzte Tonnen und
Kiſten fielen um, die Thüre fiel auf ſie und in
das Innere des Flurs, der Schriftſteller fiel auf
die Thüre, wenigſtens halb, und ſolchergeſtalt, faſt
mit der Thüre in das Haus fallend, eröffnete er
gewaltſam den Zugang zu dem Schloſſe Schnick-
Schnack-Schnurr, deſſen Inneres ohne ſeine Da-
zwiſchenkunft vielleicht lange unzugänglich geblieben
wäre. Einen Augenblick ſich erholend und im
Flure ſtehenbleibend hörte auch er oben das hef-
tige Schnarchen. — Der Schäker! Was hat er
nun da vor! rief der Schriftſteller lachend und eilte
die Treppe hinauf. In Münchhauſen’s Zimmer
ſtanden mehrere Fläſchchen und Gläſerchen mit den
ſeltſam-ſchillernden Feuchtigkeiten, deren ſchon ein-
mal Erwähnung geſchehen iſt, gefüllt, auf dem
Tiſche. Der Inhalt war hin und wieder verſchüt-
tet und ein ſcharfer mineraliſcher Dunſt würzte
die Luft. Nahe bei dem Tiſche ſchlief aber der
Freiherr auf einem Stuhle, das Haupt zur Seite
[269] hängend, den feſteſten und geſundeſten Schlaf, ob-
gleich der Apparat auf dem Tiſche anzudeuten
ſchien, daß er noch wenige Minuten zuvor gewacht
haben müſſe. Ganz überaus ſchnarchte er und
lächelte wirklich, wie Karl Buttervogel geſagt hatte,
gleich einem Engel in ſeinem Schlummer. Der
Schriftſteller überblickte einige Augenblicke ſchwei-
gend und ironiſch ſchmunzelnd den Schläfer und die
chemiſchen Zurüſtungen, dann ſetzte er ſeine Brille
auf, wie er immer vor wichtigen Momenten zu thun
pflegt, ſchlich ſich auf den Zehen zu dem Freiherrn,
ſchlug ihm auf die Schulter und flüſterte ihm in das
Ohr: Keine Verſtellung gegen mich, alter Freund!
Das hangende Haupt des Freiherrn fuhr raſch
empor, ſo daß er gegen die Naſe des Schrift-
ſtellers anſtieß und die Brille aus ihrer richtigen
Stellung brachte, die Augen Münchhauſen’s öffne-
ten ſich weit, ſtarrten mit dem Ausdrucke eines
unglaublich freudigen Erſtaunens den Beſuch an
und ſchienen zu ſagen: Nun, das muß wahr ſeyn,
wenn die Noth am höchſten, iſt die Hülfe am
nächſten. Er blieb aber ſprachlos.
Der Schriftſteller nahm die Brille ab, wiſchte
die Gläſer mit ſeinem Taſchentuche rein und rief
[270] dann mit der Brille in der Hand [lebhaft] geſticu-
lirend, dem Freiherrn zu: Nun ſagt mir, Erzkauz
und Herzog der Phantaſterei, Marquis von Traum-
land und König aller modernen Zigeuner und Bet-
telſtudenten —
… gefürſteter Abt in qualitate qua, Herr zu
Irrlicht, Nebelthau und Wildfeuer, Baron des
unheiligen Reichs der Motten, Ziegenmelker und
Karpfenſchwänze *), Grand aller böhmiſchen Dörfer,
Erbbelehnter in ſämmtlichen künftigen neuen Entde-
ckungen, Großpenſionair von Lirum Larum ꝛc. ꝛc. ꝛc.
fiel der Freiherr ſeinem Curator in die Rede. Ihr
ſeid im Zuge mit Euren gewöhnlichen unaufhalt-
ſamen Bezeichnungen, und ich will Euch darin
helfen, ſetzte er hinzu.
Nein, Herr von Münchhauſen, erwiederte der
Schriftſteller, der plötzlich ernſt geworden war,
kalt. Vergeuden wir die edle Zeit nicht mit
müßigen Spielen des Witzes! Ich bin mit Ihnen
ſehr unzufrieden. Immer noch ſah ich Sie auf
der Höhe der Wogen, jetzt aber ſcheinen Sie gänz-
lich unter der Fluth zu ſeyn. Was ſoll dieſes
[271] Schlafen? Was ſoll das Verrammeln in einem
Hauſe, welches nicht Ihnen gehört? Fühlen Sie denn
nicht, daß Sie durch ſolche Eulenſpiegeleien ſich fallen
laſſen?
Herr Immermann, Sie irren, verſetzte Münch-
hauſen. Ich ſchlief ein, als ich mir gegen den
alten Narren, meinen Wirth, durchaus nicht anders
mehr zu helfen mußte. Darin ahmte ich nur das
Stratagem erfinderiſcher Köpfe nach. Ich verſichere
Sie, man wird vielleicht bald von dem chroniſchen
Schlummer mehrerer Projectenmacher hören, wenn
ihr Latein erſchöpft iſt.
Und das Thürverrammeln?
Konnte ich denn wiſſen, daß Ihre gewichtige
Kraft mir ſo nahe ſei? Ich wollte Zeit gewinnen,
eine halbe Stunde entſcheidet oft Alles, in einer
halben Stunde kann der Himmel einfallen und
dann ſind wir durch jegliche Erdennoth hindurch.
Und wirklich habe ich Recht gehabt. Sie ſind da,
der alte Baron nicht, der ſonſt vielleicht ſchon hier
wäre und alle ruhige Beſprechung unmöglich machte.
Mein Herr, laſſen Sie dieſe poſſenhafte Be-
trachtung einer intricaten Lage! fuhr der Schrift-
ſteller ſeinen Clienten barſch an. Der alte Baron
[272] läuft nach dem Bürgermeiſter, um Polizeihülfe
herbeizuſchaffen? Begreifen Sie nun Ihre Poſi-
tion? Sorge ich darum väterlich für Sie, ſchicke
ich deshalb gewiſſenhaft die Fläſchchen der von
Ihnen bereiteten Tinctur an den Oberkammerherrn,
ſchreibe ich mir, um Ihnen endlich ein ſicheres
Brod bei dem geiſtreichen Erbprinzen von Dünkel-
blaſenheim zu verſchaffen, beinahe die Finger lahm,
damit Sie nun ſchmachvoll in dem Protocolle irgend
eines obſcuren Polizeibeamten endigen? Nein,
Münchhauſen, ich kann Sie faſt nicht mehr achten,
Sie ſind doch ein gar zu verlogener Schelm.
Der Freiherr hatte während dieſer harten An-
rede ſacht unter ſeinen Kleidungsſtücken gewühlt.
Jetzt zog er daraus einen ſchwarzen Frack hervor
und einen kleinen zuſammengelegten Klapphut. Was
ſehen Sie? fragte er ſeinen rauhen Beſchützer in
einem ruhigen, man möchte ſagen, überlegenen Tone.
Einen Frack und einen Klack! rief der Schrift-
ſteller noch immer zornig, obgleich dieſe harmloſen
Gegenſtände keine Entrüſtung verdienten.
Münchhauſen zog an dem kleinen Klapphute,
da wurde er größer, er griff dehnend in die Oeff-
nung, da wurde er dreieckicht, er nahm aus den
[273] Seitenwänden einen weißen Federbuſch und ſteckte
ihn auf, da war es ein Offizierhut, wie er nur
ſeyn mußte. Dann krämpelte er den Frack um,
häckelte das ſeidene Unterfutter los, da kam überall
rothes Tuch zum Vorſchein und am Kragen und
an den Aufſchlägen weißes mit Goldſtickerei. Er
warf ſeinen Rock ab, zog dieſe phantaſievolle Uni-
form an, ſetzte den Hut auf und ein Offizier in
fremden Dienſten ſtand vor dem Schriftſteller.
Dieſer betrachtete die neue Geſtalt, welche ſich
wie durch Zauberei vor ihm gebildet hatte, mit
Erſtaunen. So ſind Sie denn alſo wirklich —
was ich noch immer nicht glauben wollte — Sie
ſind …
St! mein Lieber — rief der Freiherr plötzlich
ängſtlich werdend. Sprechen Sie ein gewiſſes Wort
nicht aus; es iſt das Einzige, was mir Schrecken
erregt! Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß meine
Mittel nicht erſchöpft ſind. Aus jenen Weſten,
Jacken und Tüchern, die Sie da liegen ſehen,
kann ich auf Verlangen Neugriechen, Matroſen,
Jockey’s herſtellen mittelſt Knöpfens, Wendens,
Steckens — ein ziemlich gewandter Proteus. Und
ſo möge der alte Baron und ein Bürgermeiſter,
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 18
[274] der Teufel und ſeine Großmutter gegen dieſes
Schloß heranrücken, mir ſoll das Herz nicht ab-
wärts ſinken. — Sie haben mich in Ihrer rauhen
Manier angefahren, Sie haben einen hohen Ton
gegen mich angeſtimmt, als ſeien Sie wunder wie
weit über mir und ich nur eine mediocre Figur.
Ich bin gegen ſolche Beleidigungen empfindlich.
Deßhalb frage ich Sie jetzt, womit habe ich ſie
verdient? Wiſſen Sie einen einzigen ſchlechten
Streich von mir, mein Herr?
Der Schriftſteller verſetzte nach einigem Beſin-
nen: Nein. Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Einen
eigentlich ſchlechten Streich weiß ich allerdings nicht
von Ihnen. Wie hätte ich mich auch mit einem
Escroc ſo weit einlaſſen mögen?
Nun denn! rief Münchhauſen, und ſeine Ge-
ſtalt, von der rothen Uniform gehoben, nahm eine
Art komiſcher Erhabenheit an. Ich habe phanta-
ſirt, ja! Ich habe tolle Streiche ausgehen laſſen,
ja! Ich habe es mit der Wahrheit ziemlich oder
vielmehr unziemlich leicht genommen, ja! Ich war
überall und nirgends, mein Name war mir ſtäts
ſo gleichgültig, wie der Rock, den ich gerade zu-
fällig trug — aber mein Ehrenwort hatte ich mir
[275] darauf gegeben, alles dieſes Schwärmen, Phanta-
ſiren, Fabuliren, Vagabondiren uneigennützig zu
treiben, und obgleich ich der Freiherr von Münch-
hauſen heiße, dieſes Ehrenwort habe ich gehalten.
Die Caſſe manches Narren ſtand mir zu Gebote
und blieb unberührt von mir; höchſtens erlog ich
mir hin und wieder Obdach und freie Beköſtigung,
wenn ich ſonſt nicht wußte, wohin mein Haupt
legen und was beißen oder brechen?
Waren Sie ſtäts ſo uneigennützig? fragte der
Schriftſteller mit ſcharfem Accent.
Nein, rief Münchhauſen plötzlich wieder klein-
laut, ich will mich gegen Sie nicht beſſer machen,
als ich bin. Einmal habe ich einer einfältigen
Gans Liebe vorgelogen, um zu ihres Vaters Geld
und Gut zu gelangen und da mußte ich zuletzt er-
fahren, daß kein Geld und Gut vorhanden ſei.
Dieſe eigennützige Lüge ohne Erfolg brachte nun
eine ganz gräuliche und ekelhafte Nachwirkung in
mir hervor. Denn es giebt kein abſcheulicheres
Gefühl für einen Charakter, wie ich bin, als Witz
und Phantaſie umſonſt ausgeſpendet zu haben.
Und da gab ich mir eben das Ehrenwort, fortan
in der reinen unſelbſtiſchen Erfindung zu ſchwelgen.
18*
[276]
Doch im Grunde eine traurige Schwelgerei!
ſagte der Schriftſteller.
Die lieblichſte und üppigſte! rief der Freiherr
begeiſtert. Seine Züge nahmen ein Gepräge an,
wie es noch niemals in ihnen geſehen worden war.
Seine Augen leuchteten wunderlich und ſchrecklich,
durch die Irrgänge ſeiner Lineamente ſchlichen Schel-
merei, Spott, trunkenes Behagen, wie ſchöne Mäd-
chen, die in einem vernachläſſigten Park ſpazieren
gehen. Mit den Fingern griff er in die Lüfte,
als wollte er da tauſend luſtige Erinnerungen ſich
greifen, er ſah wie der Geiſt Capriccio aus. —
Was iſt das ſüße Feuer, welches die Traube in
unſere Adern gießt, was ſind die verathmenden
Ohnmachten des höchſten Liebesrauſches gegen das
ſelige Behagen, mit allen ſtolzen Thorheiten der
Zeit zu tändeln, zu ſcherzen, zu ſpielen und des
Witzes urkräftige Blitze in alle Spelunken hinab-
leuchten zu laſſen! Man fühlt ſich wahrhaft als
Schöpfer; eine neue Welt erſteht, durch welche
man als König und Wohlthäter hinzieht, denn
hinter den Rädern des Siegeswagens blühen in
den Geleiſen phantaſtiſche Blumen auf, welche dem
Gefolge lieblicher duften als Roſen und Jasminen.
[277] Ich habe viele Narren glücklich gemacht und da
die Welt aus Narren beſteht, ſo habe ich die Welt
beglückt, ſo weit mein ſtreifender Fuß ſie betrat.
Was ſoll ein geſcheidter Kerl jetzt anders thun
als lügen, die Prahlhänſe zum Beſten haben, um-
herlaufen, ſich wandeln und verwandeln? In Kriegs-
dienſte gehen? — Napoleon hat das Heldenthum
ausgebeutet, wie er ſelbſt ungefähr mit den näm-
lichen Worten auf Sanct Helena ſagte, für fünf-
zig und mehrere Jahre, es iſt heutzutage als ſähe
man bleierne Soldaten aufgeſtellt, darunter iſt
auch immer noch Einer als General und Mehrere
ſind als Hauptleute lackirt, aber bleierne Solda-
ten ſind ſie Alle. In der Staatskunſt ſich ver-
ſuchen? Auch da verlangt man nach einem Chef,
der’s iſt, der nicht bloß ſo heißt. Zeigt mir einen
Richelieu, oder nur einen ſchlauen, geſchminkten
Mazarin und ich werde Legationsrath. In Papier
ſpeculiren? Pfui! Ich bin ja kein Jude. Den
Tiefdenker machen, das Original, den Sonderling,
den Unglücklichen? Abgebraucht. Was bleibt übrig?
Lügen, Flirren, Flauſen produciren. Ein Lügner
war ich, ein Lügner bin ich, ein Lügner will ich
ſeyn! Ich habe auf Tollheiten ſpeculirt, das iſt
[278] das höchſte und nobelſte Hazardſpiel, was es giebt.
Lucian iſt mein Evangelium und Ebu Seid von
Serug mein Herr und Meiſter!
Und da ich ein Solcher bin, wie können Sie,
mein Herr, ſich herausnehmen, mir ſo unhöflich
zu begegnen?
Was! rief der Schriftſteller Immermann, du
empörſt dich, Geſchöpf, wider deinen Schöpfer?
Alter Freund, verſetzte der Freiherr mit ruhi-
ger Hoheit, Ihr ſeid nicht der Mann, einen Mann
wie mich zu ſchaffen. Ihr habt einige meiner Aben-
theuer aufgeſchrieben und demnach ein Stück mei-
ner Biographie geliefert, das iſt das Ganze, und
wer weiß noch, ob mir und meinem Rufe damit
ſehr gedient geweſen iſt, denn Ihr habt wenig
Credit in der Literatur. Ihr beſorgt mir die Fla-
ſchen mit der Hühneraugeneſſenz an den Oberkam-
merherrn, und wollt mir durch dieſes und andere
Mittel mein ſicheres Brod bei dem Erbprinzen von
Dünkelblaſenheim verſchaffen. Ob ich Euch dafür
zu danken habe, weiß ich erſtlich noch gar nicht,
denn vielleicht ſagt mir die gebundene Lage nicht
zu. Wäre das aber auch, ſo ſind jene Dienſte
kleine Gefälligkeiten, die ich Euch dadurch reichlich
[279] vergütet habe, daß ich Euch erlaubte, aus mir ein
Buch zu machen.
Sie behaupten alſo im vollen Ernſte, ein
ſelbſtſtändiger Charakter zu ſeyn? fragte der Schrift-
ſteller befremdet.
Freilich. Ich weiß gar nicht, wie Sie mir
vorkommen. Nehmen Sie ſich nur in Acht, daß
Sie nicht ganz gegen mich verſchwinden, daß Sie
nicht für eine Erfindung von mir gelten. Was
hätten Sie mir geben oder leihen können? —
Sie ſind kein Genie —
Nein, verſetzte der Andere ohne alle Ironie
oder Empfindlichkeit.
Sie ſind höchſtens ein Talent, doch ſind Sie
auch das nicht, ſondern nur ein Nachahmer. Sie
ahmten immer nach, erſt Shakspeare, dann Schiller,
zuletzt Goethe. In Ihren Arbeiten iſt mehr Witz,
Phantaſie, Reichthum als in denen der Andern,
die Ideen ſtrömen Ihnen aus ergiebigeren Quellen
zu als den Andern, aber Sie ſind ein mittel-
mäßiger Kopf und ein ſeichter Geiſt. Adel und
Hoheit der Weltanſchauung kann man Ihnen nicht
abſprechen, wenn Sie nur nicht ſo trivial wären.
Sie haben einige Figuren in vollendeter Wahrheit
[280] geſchaffen, könnten Sie ſich an eine Erſcheinung
hingeben, ſo wäre Ihnen vielleicht geholfen. Sie
waren ſtäts ein Dichter von Geſinnung, leider
aber ohne alles Gefühl und ohne Liebe.
Der Schriftſteller ſchüttelte dem Freiherrn die
Hand, lachte und ſagte: Ich hatte ſchon gemeint,
daß Ihr ernſthaft mit mir anbinden wolltet, nun
ſehe ich aber, daß Ihr Spaß macht, alter Spötter.
Ihr habt den Ton meiner öffentlichen Beurtheiler
ziemlich luſtig copirt. Jetzt beſtehen allerhand Leute
hauptſächlich darauf, daß ich mehr Liebe haben
ſolle. Sie fordern es aber ſo entſetzlich grob, daß
die Liebe, welche ein ſcheues, feines Kind iſt, ſich
weinend verſteckt, oder ſchleicht, ſie ahnen nicht, wohin?
In dieſem Augenblicke ſah er durch das Fen-
ſter und erſchrak. Denn er erblickte den alten
Baron in der Ferne, der mit dem Bürgermeiſter
herbeikam. Wir ſchwatzen hier Allotria! rief er haſtig,
und da naht ſchon das Corps Ihrer Angreifer!
Raſch einen Plan der Vertheidigung und des Rück-
zuges aus dieſem Caſtelle erſonnen. Wie wäre es —
Wenn wir improviſirten! fiel Münchhauſen ein
und warf die rothe Uniform ab benebſt dem Hute. —
So gelingt Alles am beſten. Das ganze Leben
[281] iſt ein Impromptü. Er verwandelte das militai-
riſche Kleid in den Frack und den dreieckichten
Hut in den Klack zurück, forderte auch, daß ſein
Biograph ſich entferne, denn er wolle, ſagte er,
allein ſeinen Mann ſtehen. Dieſer aber ſchwor,
daß er ſeinen Helden nicht verlaſſen werde und
ſo mußte er ſich die Waffenbrüderſchaft gefallen
laſſen, wohl die ungewöhnlichſte, die ſeit langer
Zeit vorgekommen iſt. Freilich aber hatte der
Schriftſteller noch außer ſeinem zärtlichen auch
ein großes egoiſtiſches Intereſſe dabei, daß der
Freiherr von Münchhauſen in dieſem Kampfe nicht
umkam. Denn um von tauſend Gründen nur einen
anzuführen: Er hatte Herrn Schaub in Düſſeldorf
die Fortſetzung der münchhauſenſchen Abentheuer
verſprochen, und wo blieben die Abentheuer, wenn
Münchhauſen unterging?
Schriftſteller und Held verabredeten in der
Eile doch einige allgemeine Maaßregeln. Wir
aber überlaſſen vor der Hand die Ereigniſſe im
Schloſſe ihrer Entwickelung und verfügen uns nach
dem Schneckenberge. Auf dieſem Gebirge Tayge-
tus ſaß das Fräulein mit feierlicher Miene und
im ungewöhnlichſten Putze, der aus einem ehemals
[282] roſenfarbenen Seidenkleide, einem weißen Flortuche,
einer Schärpe, worauf der Tempel der Liebe ge-
ſtickt war, und grünen Atlasſchuhen beſtand. In
der Hand hielt ſie einen elfenbeinernen Fächer mit
der Geſchichte Amor’s und Pſychen’s, und ihr Haar
zierte ein Paradiesvogel, dem nur vor Alter die
Schwungfedern ausgefallen waren. Einen Ridicule
von ſogenannten Freundſchaftsläppchen zuſammen-
gefügt, trug ſie an einem Arme und eine Tändel-
ſchürze von ſchwarzem Taffent mit Phantaſieblumen
eingefaßt, hatte ſie vorgebunden.
In dieſem Aufzuge ſtellte ſie die verſchollene
Freiin von Schnurrenburg-Mixpickel aus den Bä-
dern zu Nizza dar. So coſtumirt war ſie dort
mit Rucciopuccio geluſtwandelt und den Juden
in die Arme gefallen, als die verhängnißvolle
Stunde der Trennung ſchlug. In frommer Erin-
nerung an die ſüßeſte und ſchwerſte Zeit ihres
Lebens hatte ſie den ganzen Staat aufbewahrt und
er war durch alle Stürme der Zeiten, durch das
ganze Elend der Verarmung hindurch gerettet wor-
den. Heute hatte ſie ihn mit erhabenem Lächeln
aus dem Koffer hervorgeholt, und ihn, nachdem
ſie ihr Werk in der Küche beſorgt, angelegt, denn
[283] ihre Seele brütete einen großen Entſchluß und ſie
wollte mit ſtarken Mitteln auf den masquirten
Fürſten wirken. Sie ſaß vor einem kleinen Tiſch-
chen, welches der Schulmeiſter aus einem alten
Brette und mehreren abgeſtumpften Zaunſtacken da
droben zuſammengefügt hatte, um, wenn das Wet-
ter ſchön war, ſeine ſchwarze Suppe im Freien
genießen zu können. Auf dieſes Tiſchchen hatte ſie
einen Korb geſtellt, der mit einer weißen Serviette
zugedeckt war. Gänzlich in die Welt ihrer Träume
verloren, achtete ſie der drei unbefriedigten Jüng-
linge nicht, welche nach ihr in den Garten gekom-
men waren. Dieſe achteten ihrerſeits wieder nicht
auf Emerentien, und ſo nahm Keiner von dem
Anderen Notiz, was bei idealiſtiſchen Naturen öfter
vorzukommen pflegt, auch wenn ſie im engſten Raume
zuſammen ſind. Die Unbefriedigten ſaßen alle Drei
um das trockene Waſſerbecken und ſahen den kup-
fernen Delphin ohne Strahl tiefſinnig an. Emeren-
tia dagegen wiegte ſinnend ihr Haupt, daß der nicht
recht feſt eingeſteckte Paradiesvogel zuweilen nach der
Wange zu eine trunkene Bewegung machte, und
faltete ſpielend den elfenbeinernen Fächer auf
und zu.
[284]
In dieſem Sinnen, Wiegen und Spielen hatte
ihre Seele die reizendſten und glänzendſten Bilder
der Vergangenheit hervorgezaubert, als ſie plötzlich
durch den Ruf: Alle Donnerwetter! aus ihren
Phantaſien erweckt wurde. Karl Buttervogel ſtand
vor ihr. Er war auf ſeinem Rückwege vom Vogel-
heerde durch ein Loch in der Hecke unter dem Schne-
ckenberge gekrochen, denn er ging, wie alle Bedien-
ten nicht gern auf dem geraden Wege nach Hauſe,
ſondern pflegte ſich, wo es nur möglich war, einen
heimlichen Katzenſteig zu bahnen.
Nichts in der Welt hätte ihn mehr überraſchen kön-
nen, als was er jetzt vor ſeiner Wohnung zu ſehen be-
kam. Er ſtand, eine ſtarre Bildſäule vor Emerentien,
muſterte mit rollenden Augen ihre Geſtalt und ihren
bunten Putz, der Mund lief ihm voll Waſſer und:
Alle Donnerwetter! waren die einzigen Worte, die
er von Zeit zu Zeit hervorbringen konnte.
Emerentia ſah, wie ſie auf den Prätendenten
von Hechelkram wirkte. Ihre Bruſt ſchwoll von
dem ſüßen Triumphe, den ſie erlebte. Nach
einer Pauſe, während welcher ſie ſich an ſeinem
Entzücken geweidet hatte, lispelte ſie, ihr Antlitz
hinter dem Fächer verbergend: Nun? O Nizza!
[285]
Nitze! Nitze! ſchrie Karl Buttervogel berauſcht.
O meine vierzehn Berliner Herrn! Was würden
meine vierzehn Berliner Herrn ſagen, wenn ſie
mich jetzt ſähen, mich glückſeligen Eſel und Kerl!
Karl Buttervogel war nicht gefühllos. Rieke
in Stuttgart hatte wirklich ſein ganzes Herz be-
ſeſſen, und wenn er ihr auch um die beſſere Ver-
köſtigung im Schloſſe untreu geworden war, ſo
wiſſen wir aus ſeinem Tagebuche, welche Kämpfe
ihn dieſer Wandel gekoſtet hatte. Emerentien’s
Neigung war nun, die Wahrheit zu ſagen, bisher
mehr ſeiner Eitelkeit und ſeines Appetites Schmeich-
lerin geweſen, erwiedert hatte er ſie bis heute
nicht. Aber als er das Fräulein ſo wunderbar
geſchmückt ſah, ging in ſeinem Buſen eine Um-
wälzung vor. Ganz richtig hatte ſie ihn geſchätzt;
es bedurfte ſtarker Reize, um dieſen Schmetterling
zu vermögen, ſeine Flügel zum Fluge der Liebe
zu entfalten. Das rothe Kleid, die grünen Schuhe,
die gelbe Schärpe, der Paradiesvogel, der ganze
bunte Putz — — alles das machte ihn wirblicht
und er ſchwor bei der Aſche ſeiner Väter, daß er
noch nie eine ſo prachtvolle Perſon, wie ſein ſtum-
mes Wort über ſie lautete, geſehen habe. Nach
[286] langem Staunen, Muſtern und Seufzen ſchleuderte
er ſeinen lackirren Hut weit hinter ſich, wiſchte ſich
das Maul und that einen Schritt gegen Emeren-
tien, unfehlbar in der Abſicht, ihr den Handſchuh
zu küſſen, denn bis zu ihren Lippen verſtiegen ſich
ſeine kühnſten Gedanken nicht.
Emerentia ſtreckte den Fächer ſtreng und zu-
rückweiſend ihm entgegen. Er blieb beſtürzt ſtehen,
ſah ſie verlegen an und wußte nicht, was dieſe
Sprödigkeit bedeuten ſollte. Auch ſie ſchwieg, denn
ſie hatte beſchloſſen, die Größe dieſes Momentes
nicht durch rohe Worte herabzuziehen, ſie wollte
nur durch Zeichen mit ihrem Verehrer reden. —
Gnädiges Fräulein, rief Karl Buttervogel endlich
mit klagender Stimme, dieſes iſt ſehr unrecht, und
heißt einen armen Schuft auf den Geruch von
einem Braten einladen. — Doch wie iſt mir denn?
Alle Donnerwetter! Wenn man den Teufel an
die Wand malt, ſo kommt der Cujon! Auch ein
Braten muß hier in der Nähe ſeyn, denn meine
Naſe trügt mich nicht und es ſteigt ein Düftlein auf
und in dem Korbe — hol’ mich Dieſer und Jener —
Emerentia gab mit dem Fächer ein Zeichen,
welches Karl’n berechtigte, die Serviette von dem
[287] Korbe zu erheben. Er that es und nun ereignete
ſich etwas, was erfunden in einem Gedichte zu
den größten Fehlern gezählt werden würde; zwei
Motive wurden nämlich für die Handlung gleich-
zeitig in Bewegung geſetzt. — Sauerbraten! rief
Karl Buttervogel und ließ die Serviette fallen. —
Sauerbraten! wiederholte er jubelnd. In der That
lag ein lecker zubereiteter Sauerbraten, Karl’s
Lieblingseſſen, auf der Schüſſel in dem Korbe.
Seine Augen gingen wie trunkene Wanderer zwi-
ſchen dem Fräulein und dem Sauerbraten hin und
her, ſeine Seele ſpaltete ſich in zwei Hälften und
in jeder ſchlug ſein Herz, endlich überwog die eine
Hälfte, er riß ein Meſſer aus der Taſche und
wollte damit dem Sauerbraten eins verſetzen.
Da ſchlug ihm aber Emerentia mit dem Fächer
auf die Hand und zwar nicht ſanft, ſondern empfind-
lich, ihm zugleich mit dem Zeigefinger der anderen
Hand drohend.
Der zurückgeſchreckte Prätendent gerieth in eine
Art von Wuth. Alle Hagel! ſchrie er, erboſt
mit dem Meſſer nach dem Braten ſtechend, was
ſoll das bedeuten? Denn ſich ſo aufzudonnern,
daß es Einem roth und grün und gelb vor den
[288] Augen wird, und man gar nicht weiß, wo man
vor Angſt und Herzeleid bleiben ſoll, und Einem
Sauerbraten dazu aufzuſetzen und noch dazu mit
Zwiebeln, und dann das Zurückweiſen und Fächer-
geſchlage iſt nicht auszuhalten. Denn entweder,
oder. Alle Geſchichten und Siebenſachen in der
Welt haben ihren Grund, oder ſie haben ihren
Grund nicht. Und alſo entweder ſoll ich den Sauer-
braten freſſen oder ich ſoll ihn nicht freſſen. Und
entweder wollen das gnädige Fräulein nunmehr
recht liebreich gegen mich ſeyn, oder Sie wollen
es bleiben laſſen. Und für die Langeweile ſtehe
ich hier nicht mit meinem Herzeleid und mit dem
erbärmlichen Hunger im Leibe, ſondern wiſſen muß
der Menſch, woran er iſt, und was er thun ſoll,
und das will ich auch thun, wie ein rechtſchaffener
Kerl, wenn ich nur erſt weiß, was.
Emerentia warf auf die Maske dieſer Gemein-
heit einen ihrer leidendſten und zugleich verächt-
lichſten Blicke. Dann beſchrieb ſie mit dem Fächer
eine ſtolze ſchwungvolle Linie in der Luft, hierauf
deutete ſie mit demſelben nach dem Schloſſe und
endlich gab ſie das Zeichen, womit eine Dame an-
deutet, daß Jemand ſich entfernen könne.
[289]
Karl Buttervogel folgte mit geſpannter Auf-
merkſamkeit allen dieſen Zeichen. Seine Seelen-
kräfte waren durch die Extaſe des Augenblicks ge-
ſchärft; er verſtand den Sinn ſeiner Herrin. —
Ich hab’s! Ich hab’s! rief er und drehte ſich auf
den Abſätzen um. Denn daß ich mich immer ſo
gemein gemacht habe und ſo niederträchtig, das
gefällt gnädigem Fräulein nicht, und ich ſoll’s
jetzo ſeyn, Fürſt und Hechelkram und ſo weiter,
wofern fernerweite gute Verköſtigung ausgemacht
wird, und nach dem Schloſſe ſoll ich gehen und
es dem gnädigen Herrn Baron anſagen, denn der
muß es doch vor allen Dingen wiſſen und die
Heimlichkeit und das Gepuſchele unter der Hand
gefällt gnädigem Fräulein nicht mehr, und wenn
ich das gethan habe, dann machen wir uns frei
öffentlich über den Sauerbraten her, und gnädiges
Fräulein läßt mich die Hand küſſen und die ganze
Sache wird, wie gnädiges Fräulein wollen und
befehlen, mit mir nichtsnutzigem Tauſendſappermen-
ter in Ordnung gebracht.
Karlos! rief Emerentia, vor Freuden, ſich ſo
ohne Worte verſtanden zu ſehen, ihr Gelübde bre-
chend, endlich laſſen Sie alſo die Maske fallen!
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 19
[290] Alſo fühlen Sie doch nun ſelbſt, daß dieſes ge-
heime Verhältniß, welches zwiſchen uns beſtand,
für ein zartes Mädchen länger nicht tragbar war,
daß wenigſtens der Vater Sie kennen und in der
Sache klar ſehen muß! Ja, Sie haben begriffen,
was ich meinte. Gehen Sie, Fürſt, zu meinem
Vater, entdecken Sie ſich ihm; ich will Ihrer hier
mit der Speiſe warten, welche Sie ſo lieben und
die ich Ihnen lieber als uns gönnen mochte.
Den Augenblick gehe ich zu ihm, und wenn er
mit Güte nicht will, ſo werde ich ſackgrob ſeyn,
denn ich bin in einer ausnehmenden Rage, denn
wenn man ſich ſo rausſtaffirt, wie gnädiges Fräu-
lein, und den fremden Kuckuck da in’s Haar ſteckt,
ſo muß das einen Menſchen ganz toll machen und
die Natur in Unordnung bringen und der Braten
thut freilich auch das Seinige dazu! rief Karl
Buttervogel. — Bleiben gnädiges Fräulein nur hier
oben bei dem Braten, damit ihn die Katze nicht
holt und ich will mich unten am Schmerlenbach
ein wenig renoviren, damit Alles mit der Sau-
berkeit geſchieht, und der gnädige Herr Baron
gleich ſehen, wenn ich auftrete, daß mit mir nicht
zu ſpaßen iſt. Das Geſicht waſch’ ich mir unten
[291] am Schmerlenbach, und mit meinem Kamm, den
ich bei mir hab’, kämm’ ich mir das Haar glatt,
und den Rock ſtäub’ ich aus, und — —
Genug, Fürſt! rief Emerentia. Ich brauche
Ihre Toilette nicht näher kennen zu lernen. Gehen
Sie, Ruhe meinen Tagen und Schlummer meinen
Nächten zurückzubringen!
Der Prätendent und Schmetterling raffte ſei-
nen lackirten Hut auf, ſprang den Schneckenberg
hinunter und kroch wieder unten durch die Hecke
in das Freie. Emerentia lächelte wohlgefällig
und flüſterte: Erſte Liebe, einzige Liebe! Dann
deckte ſie den Korb mit der Serviette zu, denn
die Fliegen waren, weil man Auguſt ſchrieb, etwas
zahlreich und zudringlich. Hierauf wiegte ſie wie-
der ſinnend das Haupt und ſpielte abermals mit
dem Fächer, ihn auf- und zufaltend. Sie beglei-
tete dieſe Gebärden mit der Abſchiedsode von
Nizza, nämlich mit den erſten beiden Zeilen der-
ſelben, denn die folgenden hatte ſie vergeſſen.
Anfangs ſummte ſie dieſelben leiſe, nach und nach
fing ſie an, lauter zu ſingen.
19*
[292]
Siebentes Capitel.
Der Mann im braunen Oberrock beginnt
ſein allgemeines Vermittelungsgeſchäft.
So wollen wir alſo die Sache angreifen! mit
dieſen Worten ſchloß die eilige Unterredung zwi-
ſchen dem Freiherrn von Münchhauſen und dem
Schriftſteller Immermann.
Und Sie haben mein Patent in der Taſche?
fragte Münchhauſen.
Den eigenhändigen Brief des Erbprinzen, ver-
ſetzte der Schriftſteller. Thun Sie mir jetzt den
Gefallen und ſchlafen Sie wieder ein, derweile ich
für Sie wirke. — Münchhauſen wollte Einwen-
dungen machen. — Lieber, keine Worte weiter!
rief ſein Bundesgenoß. Die Garde wird aufge-
ſpart für die Höhe und den Gipfel des Gefechtes,
zu früh die Kerntruppen verbrauchen, heißt die
Niederlage muthwillig herbeiführen. Mich alſo
[293] laſſen Sie ja die erſten Schwärmfeuer, Chocs und
Chargen für Sie machen, es kommt vielleicht der
Augenblick auch, wo Sie in’s Feuer müſſen. —
Er ging eilig die Treppe hinunter und Münchhauſen
warf ſich halb unwillig in ſeinen Kleidern auf das
Bette.
Raſch, um Terrain zu gewinnen, machte der
Schriftſteller unten eine Bewegung über den Hof
und trat dem alten Baron und dem Bürgermeiſter
ſchon in der Nähe der Wappenlöwen entgegen.
Dem Bürgermeiſter folgte ein Polizeiſoldat von
ziemlich grimmigem Anſehen. Der Schloßherr er-
ſtaunte über den fremden Mann in ſeinem Hofe,
noch mehr aber über die Breſche, welche in den
Umſchließungen der Burg entſtanden war. Er
wollte auf den Schriftſteller zürnen, als dieſer
ſich zu der gewaltſamen Eröffnung bekannte, wurde
aber durch deſſen Auseinanderſetzung beſänftiget,
daß manche Hinderniſſe nicht zart zu behandeln
ſeien und man hin und wieder, um nur vorwärts
zu kommen, die Thüre einrennen müſſe.
Indeſſen winkte er dem Bürgermeiſter, ihm in
das Schloß zu folgen. Der Bürgermeiſter winkte
ſeinerſeits dem Polizeiſoldaten, der bloß ein Ban-
[294] delier aber keinen Säbel trug, denn dieſen hatte er
während der letzten Prügelei unter den Bauern,
wobei er einhauen müſſen, verloren. Der Poli-
zeiſoldat griff ingrimmig nach der Stelle, wo der
Säbel ſitzen ſollte, zog aber nichts hervor und
empor als ſeine eigene leere jedoch zuſammenge-
ballte Fauſt, die er dräuend nach vorwärts in die
Luft ſchlenkerte. Hierauf rückte die feindliche Co-
lonne gegen das Schloß vor und der Beſchützer
Münchhauſen’s wich, Schritt vor Schritt ihr Raum
gebend, gegen die Breſche zurück.
Während dieſes Rückzuges ſuchte er alle Mittel
hervor, die entſchloſſenen Gegner von ihrem Vor-
haben abzubringen. — Was wollen Sie eigentlich?
rief er den alten Baron an. — Den ſchlummer-
köpfigen Haſelanten, den Hanswurſt von Thüren-
verrammler einſtecken laſſen! verſetzte der Schloß-
herr. — Einſtecken laſſen, wiederholte der Bür-
germeiſter. — Laſſen, ſagte der Polizeiſoldat und
ſchob ſeine Dienſtmütze verwegen auf das linke
Ohr. Der Bürgermeiſter wendete ſich mit Anſehen
zu ſeinem Untergebenen um und ſagte: Es iſt
wohl gut, Marzeters, daß Ihr die Worte Eures
Vorgeſetzten aufhebt, aber immer hübſch mit Um-
[295] ſicht verfahren! Ihr laßt ihn nicht einſtecken, ſon-
dern Ihr ſteckt ihn ein. — Ein. Ganz wohl,
Herr Bürgermeiſter, ſagte Marzeters.
Schloßherr und Behörden drangen weiter vor.
Münchhauſen ſchnarchte oben, daß die Luft unten
zitterte. — Schnarch du nur! rief der alte Baron
hinauf zum Fenſter. Lebendig oder todt, wachend
oder ſchlafend mußt du fort. Könnt Ihr wohl
einen ſchlafenden Menſchen tragen, Marzeters? —
Marzeters ſagte: Wenn er nicht gar zu feſt ſchläft,
denn dann wird die Creatur ſo ſchwer wie ein
Bleiklumpen, ſo trage ich ihn hinweg und wäre
er drei Mann hoch da. — Der Schriftſteller be-
fand ſich in der höchſten Verlegenheit. Gerade
in dieſem Augenblicke, wo ſeinem Curanden ein
glänzendes Glück bevorſtand, mußte ihm Alles
daran liegen, daß deſſen Name von keinem öffent-
lichen Scandal unangenehm berührt werde. Er
hatte in der Taſche, was die Feinde, wenn ſie
es erblickten, augenblicklich zurückſchrecken mußte,
und dennoch wagte er nicht, davon Gebrauch zu
machen, weil ja die neue Stellung Münchhauſen’s
keinen oſtenſibeln Charakter haben ſollte. Wahr-
lich diplomatiſche Verwickelungen der eigenſten
[296] Art! — Er war unter denſelben bis an die ein-
gebrochene Thüre zurückgewichen. — Können Sie
es denn vor Ihrem Gefühle verantworten, ſo
redete er in dieſer letzten Noth den Schloßherrn
an, einen Mann, der, wie ich vernommen, von
Ihnen ſo hochgeſchätzt worden iſt, in dieſer harten
Manier zu behandeln? — Eben darum, weil ich
ihn ganz überaus verehrt habe, ſoll er nun ſitzen,
erwiederte der alte Baron. Der Schriftſteller fand
dieſe Entſchließung natürlich, nur nicht troſtreich. —
Kennen Sie mich, Herr Bürgermeiſter? fragte er
den Beamten. O ja, Herr — verſetzte dieſer und
gab ihm ſeinen vollen Titel und Namen. Wir
waren ja noch kürzlich in — dings — da — zu-
ſammen. — Nun denn, ich verbürge mich für den
Freiherrn von Münchhauſen und verſpreche, Ihnen
denſelben in jeder anſtändigen Art zu geſtellen;
laſſen Sie nur jetzt von ihm ab!
Ihre Bürgſchaft in Ehren für jeden ſicheren
Mann, von dem man weiß, woher? und wohin?
erwiederte der Bürgermeiſter, aber der Münchhau-
ſen da hat, wie ich höre, weder Paß noch ſonſti-
ges Legitimationspapier, deßhalb kann ich Sie nicht
für ihn gut ſprechen laſſen, denn er iſt Vagabonde
[297] im rechtlichen Sinne des Worts. — Worts, ſagte
der Polizeiſoldat Marzeters.
Nun denn! rief der Schriftſteller, der bereits
in die Thüröffnung ſelbſt zurückgedrängt war und
in dieſem Extreme ſeine ganze Entſchloſſenheit wie-
derfand — alle menſchlichen Mittel ſind erſchöpft —
treibt mich nicht zum Aeußerſten! Ehe ich den
Freiherrn verhaften und beſchimpfen laſſe, mit
dem ich es mir habe ſo ſauer werden laſſen, ehe
breche das Verderben über uns Alle herein! Ihr
ſeht, unbarmherzige Verfolger meines Schützlings,
ich habe ziemlich ſtarke Arme, zwar bin ich kein
Simſon, aber dieſes Schloß iſt auch nicht das
philiſtervolle Haus zu Gaſa; ſondern geborſten,
zerſpalten und kaum noch in ſeinen Wänden ſtehend.
Ich faſſe dieſe Pfoſten an und neige mich vor-
wärts, wenn Ihr beharret, und die Sprünge und
Wandriſſe hier herum müßten mich ſehr täuſchen,
oder es gelingt mir, einen Theil des Mauerwerks
auf mich und Euch zu ſtürzen, und möge Münch-
hauſen dann mit herabfallen, immerhin! Denn es
iſt beſſer, daß er ehrlich von Freundes Hand ſterbe,
als daß er ſchmählich in die Feſſeln der Polizei
gerathe!
[298]
Er faßte die Thürpfeiler an. Der Bürger-
meiſter rief ängſtlich: Um Gotteswillen, Herr
Baron, zurück! Er macht Ernſt; man kennt ihn
darin. Er pflegt zu ſeinen Bekannten zu ſagen,
daß er bis auf einen gewiſſen Punct Geduld habe
wie ein Lamm, aber über den Punct hinaus ſei
es mit dem Lamme für ewige Zeiten vorbei.
Was wollen Sie denn? fragte der alte Baron
zitternd vor ohnmächtigem Grimme. Marzeters
war über die muthmaßliche Fallweite des Schloſſes
zurückgeſprungen, und wiederholte zum erſtenmale
in ſeinem Leben Entſetzens halber nicht das letzte
Wort des Vorgeſetzten. Der Schriftſteller begehrte
kalt einen Waffenſtillſtand von einer Stunde, wäh-
rend welcher ihm, wie er ſagte, hoffentlich etwas
einfallen werde, wodurch ſich alle Theile zufrieden
ſtellen laſſen möchten. Widrigenfalls ſollten die
Feindſeligkeiten dann auf’s Neue beginnen. Dieſer
Vorſchlag wurde angenommen. Dem Schloßherrn
geſtattete der Vertheidiger, zu der Burg ſeiner
Väter einzugehen, doch mußte er ſich auf Ehren-
wort verpflichten, innerhalb ſeiner vier Wände nichts
Feindliches wider den Freiherrn vorzunehmen und
mit Ablauf des Waffenſtillſtandes ſich wieder hin-
[299] auszubegeben. Dem Bürgermeiſter und dem Poli-
zeiſoldaten wurde ihr Standquartier auf dem Hofe
angewieſen.
Der Schriftſteller ging ſtirnreibend in das
Schloß. Das war ein großer Fehler. Er büßte
damit den beſten ſtrategiſchen Vortheil ein. Vor
dem Schloſſe beherrſchte er den Kampf, nun aber
wurden Ereigniſſe möglich, welche dem ganzen
Gange der Operationen eine von ſeinem Willen
unabhängige Wendung gaben.
Immer heftiger war der Wind geworden. Er
hatte den unheimlichen Nebel herangeweht, Haar-
rauch geheißen Man konnte nicht vierzig Schritte
weit ſehen. Unter dem Schutze dieſes Dunſtes
rückten, als kaum der tapfere Commandant von
Schnick-Schnack-Schnurr das Zimmer ſeines Curan-
den betreten hatte, von allen Seiten, geführt durch
den blinden Zufall, Maſſen gegen das Schloß vor,
welche den Waffenſtillſtand nicht mit abgeſchloſſen
hatten und folglich den Burgfrieden keinesweges
zu achten brauchten.
[300]
Achtes Capitel.
Entdeckungen über Entdeckungen.
Es war ein Uhr Mittags. Der alte Baron
hatte heute noch nicht einen Biſſen genoſſen. Ihn
hungerte trotz alles Aergers. Er ſuchte Emeren-
tien, ſie war aber freilich weder im Wohnzimmer
noch in ihrem Schlafgemache zu finden. In der
Küche ſah er ein verglimmendes Feuer. Mich dünkt,
wir ſollten heute Sauerbraten bekommen, ſagte er,
vielleicht iſt er gahr und ich kann mir immer ſchon
ein Stückchen abſchneiden für den erſten Angriff. —
Es roch recht lieblich und nahrhaft da zwiſchen.
den Brandmauern, aber ach, die Töpfe und Schüſſeln
auf dem Heerde waren leer. Auf dem Schemel
lag die Hauskatze, eine von den ſchwarz und gelb-
geſtreiften, ruhig und harmlos, mit zugekniffenen
Augen ſpinnend. Der alte Baron ſah grimmig
von den leeren Schüſſeln nach der Katze, von die-
[301] ſer nach jenen. Er hielt ſich nicht länger und mit
dem Rufe: Ich will dir Beſtie denn doch endlich
das Freſſen wohl verleiden! gab er der armen
Unſchuldigen einen ſo heftigen Schlag, daß das
treue Hausthier ſchreiend aufſprang und winſelnd
forthinkte, denn eine Pfote war ihm von dem
Stockſchlage gelähmt worden.
Der Blick des zornigen Hausherrn fiel auf ein
Buch, welches neben dem Heerde lag. Er er-
kannte Emerentia’s Handſchrift, wurde neugierig
und begann darin zu leſen, nur die letzten Blät-
ter, ſo daß er nicht den ganzen Zuſammenhang
von ſeiner Tochter Gedanken und Gefühlen daraus
entnehmen konnte, aber leider erfuhr er ſchon durch
das, was er las, ein neues, nur zu großes
Unheil.
Es war Emerentia’s Tagebuch. Sie pflegte,
was ſie am Abend geſchrieben, am Morgen darauf
in der Küche zu ihrer Erholung ſich vorzuleſen.
Nun hatte ſie in den letzten Wochen, da ſich der
Schatz ihrer anderweitigen Vorſtellungen und Er-
innerungen ausgeleert haben mochte, nur einge-
zeichnet, was ſie an Lebensmitteln dem masquirten
Fürſten zugeſteckt hatte, den ſie aus einer zärt-
[302] lichen Grille gerade auf dieſen Blättern nur Kar-
los nannte, alſo mit dem Namen, der ihrem Vater
entzifferbar war. Zu ſeinem Entſetzen las er dem-
nach, daß der Bediente Karl Buttervogel die Katze
geweſen war, welche das Schloß in Hungersnoth
verſetzt, daß ſein eigenes Fleiſch und Blut dieſes
häusliche Elend geſtiftet hatte.
Obne ein Wort zu ſagen, ließ er das Tage-
buch fallen. Heimlich murmelnd ging er die Treppe
nach dem Söller hinauf in ſeine Gerichtsſtube,
als müſſe ihm da irgend ein Gedanke kommen,
der ihm Luft in der Bruſt ſchaffen könne. Münch-
hauſen hatte er faſt vergeſſen. Karlos den Schmet-
terling oder die Katze, wie man ihn nun nennen
will, abzuſtrafen, nicht mit Worten, ſondern mit
Werken, dahin zielten alle ſeine Gedanken. Oben
muſterte er irren Blickes die abgelegte Garderobe
ſeiner Gemahlin, die an den Pflöcken umherhing.
Man hätte ſehen können, daß ſeine Vorſtellungen
nicht bei dieſen Roben, Spencern und Taffent-
mänteln waren, die Augen ſuchten nur mechaniſch
Gegenſtände, um ſich anzuheften. Er riß, ohne
zu wiſſen, was er that, ein altes Kleid vom
Pflocke, dahinter wurde ihm ein Paar Piſtolen an
[303] Nägeln aufgehängt, ſichtbar, und neben den Piſto-
len hing ein Pulverhorn. Die Piſtolen von den
Nägeln nehmend, verſuchte er ihre Schlöſſer. Sie
waren gut eingeölt geweſen, die Hähne knackten
und die Steine gaben luſtig Feuer. Er ſchüttelte
das Pulverhorn, es war nicht leer. Er lud die
eine Piſtole, und würde zum Verhängniß vielleicht
auch noch eine Kugel gefunden haben, wenn er
nicht in ſeinem gefährlichen Werke von Jemand
unterbrochen worden wäre, und zwar von dem,
den er in ſeinem erbitterten Sinne trug.
Karl Buttervogel betrat nämlich, gerade als der
alte Baron die Piſtole mit Pulver geladen hatte,
ohne vorher anzupochen, die Gerichtsſtube, um die
Gebote ſeiner Dame auszuführen. Er betrat die
Stube mit den Empfindungen eines Fürſten, eines
Liebenden und eines Eßluſtigen. Hechelkram ſchwebte
zwar ſeiner Seele immer nur noch in unbeſtimmten
Umriſſen vor, deſto feſter zeichneten ſich die Ge-
fühle des Liebenden und Eßluſtigen in ihm. Stolz
und keck trug er ſich, hatte Stiefeln und Rock
rein abgebürſtet, den lackirten Hut in der Hand,
und das roth und weißgeblümte Halstuch von
Zitz vorn in einer übermäßig großen Schleife zu-
[304] ſammengebunden. Zum Zierrath war von ihm in
dem Knopfloche ein Tannenreis und eine gelbe
Malve befeſtigt worden.
So trat er höchſt muthvoll und ſicher, denn
ihn ſtärkte die Erinnerung an Emerentia’s rothes
Kleid, zu dem Manne ein, deſſen Schwiegerſohn
zu heißen jetzt ſein heißeſtes Verlangen war.
Die Züge des alten Baron’s nahmen bei Karl’s
Erſcheinen den Ausdruck einer giftigen Süßigkeit
an. Er ſetzte ſich in ſeinen Lehnſtuhl, legte die
Piſtolen vor ſich auf den Tiſch, holte tief Athem
und ſagte dann: Er kommt mir gerade recht,
mein Sohn.
Allerdings Sohn, nichts als Sohn, und ſo
weiter Sohn, verſetzte Karl ſich räuſpernd.
Trete Er doch etwas näher hieher zu mir,
ſagte der alte Baron, indem die Finger ſeiner
rechten Hand unruhig auf dem Tiſche ſpielten.
Niemals vor jetzt, erwiederte Karl Buttervo-
gel und ſetzte ſeinen lackirten Hut auf, denn er
glaubte als Fürſt und glücklich Liebender ſich dieſe
Rückſicht ſchuldig zu ſeyn. — Sondern hier ſtehen
bleiben und der Tiſch zwiſchen uns, während die
Anhaltung geſchieht und Maske fallen gelaſſen wird.
[305] Denn Alles muß ſeine Ordnung haben, und wenn
keine Ordnung mehr in der Welt iſt in Fürſten-
und Heirathsſachen, ſo wäre der Menſch ein Dum-
merjahn und ein rechter Flegel. Alſo hier ſtehen
bleiben aus der Entfernung, in dieſer Diſtanz und
Augenmaß von zehn Fuß wird Rede gehalten und
nachher noch Zeit genug zum Hingehen und Nie-
derfallen und Handküſſen, wenn Rührung ausbricht,
geſchluchzt wird, und Schwiegervater Schwiegerſohn
umarmt, inſofern nämlich nichts weiter als dieſes
außer allem dem Sonſtigen platterdings unmöglich
wenn gleich ſchwierig und wirklich effectiv.
Der alte Baron ſah den Bedienten, der in
dieſen fremden Zungen redete, ſprachlos an.
Da man nämlich Fürſt iſt —
Der Schloßherr faßte ſeinen Kopf mit beiden
Händen. Karl fuhr, ohne ſich ſtören zu laſſen,
die Hände in die Hoſentaſchen ſteckend, (denn er
hielt dieß für vornehm) und ſich auf den Füßen
hin und her wiegend, (das kam ihm nämlich erha-
ben vor) fort: Da man nämlich Fürſt iſt, ſo
wird Hechelkram ſich finden, wenn auch verborgen
vor jetzt und in Zukunft. Maske wäre hiemit
fallen gelaſſen, hier oben wie unten im Garten.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 20
[306] Nach dieſem Schwiegerſohnsangelegenheit ſehr nöthig
und faſt ſchon zu ſpät. Nichtsdeſtoweniger, weil
nämlich überhaupt und dennoch gnädiges Fräulein
ſehr von mir angegriffen geweſen, und durchaus
gewollt, ich ſoll’s ſeyn, zugeſagt darauf, immer
Wurſt und Eier und Rindfleiſch gegeben, und jetzt
ſich meiſterhaft angezogen, Sauerbraten gekocht, ſo
wird Widerſtand unmöglich und wofern fernerweite
gute Verköſtigung ausgemacht wird, muß ſich Rieke
in Stuttgart das Maul wiſchen und obgleich keine
Beſtechung erfolgt iſt, was ſchmerzlich war und
unrecht, einen Bedienten für nichts und wieder
nichts verführen zu wollen, ſo wird hiemit um
die Hand gebeten und gänzlich entſchloſſen iſt man,
Fräulein unten im Garten zu heirathen.
Er will ſich mit meiner Tochter verbinden?
ſtammelte der alte Baron.
Dieſes wäre die Abſicht und das Contentement,
wofern Heirath zur Verbindung gehört, ſagte Karl.
Komme Er jetzt wenigſtens, mein Söhnchen,
ſchmeichelte der Schloßherr in einem keuchenden
Tone. Komme Er jetzt wenigſtens zu mir.
Ganz wohl, verſetzte Karl Buttervogel. —
Man ſieht, daß Rührung im Gang iſt und Thrä-
[307] nen nicht ohne ſeyn werden. — Er ging zu ſeinem
Schwiegervater, der die Zeit kaum erwarten zu
können ſchien, um ſich an dem Schwiegerſohne zu
letzen. Den Hut auf dem Kopfe behaltend, kniete
er vor dem alten Baron nieder und ſagte: Folg-
lich bäte man hiedurch um Ihren Segen!
Da haſt du den Segen, du Racker, du Spitz-
bube! ſchrie der Alte und reichte dem Liebenden
eine der ſchwerſten, klatſchendſten und ſchmerzhaf-
teſten Ohrfeigen, welche wohl jemals in Deutſch-
land geſchlagen worden ſind. Der Hut fiel dem
Geohrfeigten vom Kopfe, er ſprang heulend auf,
hielt die blutige feuernde Wange mit beiden Hän-
den und ſtürzte nach der Thüre. Der grimmig-
gereizte alte Mann aber ſtürzte ihm, die eine Pi-
ſtole ergreifend nach zur Treppe, überlaut rufend:
Todt ſchieß’ ich den Hallunken! den Hund! die
Katze, die ganz Schnick-Schnack-Schnurr kahl ge-
freſſen hat!
Der Bediente voran auf der Treppe, der alte
Baron hinterher — —
Hier verrichtet unſere Erzählung das Mirakel,
welches einſt jenem Wunderthäter, deſſen Name mir
entfallen iſt, gelang. Er war in ein Sterbehaus
20*
[308] berufen, um einen Todten aufzuerwecken, unter-
weges ſah er einen Schneider aus dem Fenſter
ſtürzen, den hieß er, weil er keine Zeit für ihn
übrig hatte, ſo lange in der Luft ſchweben, bis er
vom Todten zurück wäre, that hierauf im Sterbe-
hauſe was ſeines Amtes war, kehrte darnach zu
dem ſchwebenden Schneider zurück und ließ ihn
ſänftlich zur Erde nieder kommen.
Unſere Erzählung hat dringende Geſchäfte in
Münchhauſens Zimmer, ſie fixirt daher den Be-
dienten Karl Buttervogel und den alten Baron
Schnuck im Herabſtürzen von der Treppe und
läuft zum Freiherrn, wo ſie in dem engen Stüb-
chen vor den vielen Menſchen, die es inzwiſchen
erfüllt haben, kaum noch ein Unterkommen finden
kann. Denn unter dem Mantel des Haarrauches
waren die drei Unbefriedigten, der Ehinger Spi-
tzenkrämer und Semilaſſo in das Schloß eingedrun-
gen. Froh über die Oeffnung, die nach ihrem Abzuge
entſtanden war, hatten ſie nicht auf einander geachtet,
waren, vom Inſtinct geleitet, die Treppe hinauf und
in das Zimmer gegangen, worin ſich nun große und
merkwürdige Entdeckungen zutragen ſollten.
Ja, er iſt es! riefen die drei Unbefriedigten.
[309]
C’est lui, ſagte Semilaſſo.
’S iſt der Nämliche, ſprach der Ehinger Spi-
tzenkrämer.
Dieſe Perſonen umſtanden in verſchiedener
Stellung das Bette des Freiherrn. Der Ehinger
klopfte nämlich mit ſeinem Stocke den Schläfer
ſanft unter den Fußſohlen, um ihn zu erwecken,
Semilaſſo ſah ihn mehr von weitem durch ſeine
Gläſer an, die drei Unbefriedigten hatten die
Hände des Schlafenden inbrünſtig gefaßt und
Karl Gabriel der Dichter war neben dem Bette
auf die Kniee geſunken. Münchhauſen ließ ſich
von dem klopfenden Stocke des Ehingers nicht er-
wecken, ſondern behielt ſein Engelslächeln bei.
Der Schriftſteller, welcher ſich ſo hatte überrum-
peln laſſen, ſaß mit einem verlegenen Geſichte
hinter dem Tiſche und zeichnete mit der Feder
allerhand ſeltſame und incorrecte Arabesken auf
einen Bogen Papier, welcher vor ihm lag. Die
Fremden aber ergingen ſich in freudigen Ausrufun-
gen über das Glück, ihre Vermuthungen beſtätigt
zu finden, Karl Gabriel ſprach von der poetiſchen
Divination, die ihm Schnick-Schnack-Schnurr als
das leuchtende Grab gezeigt habe, worin dieſer
[310] Merlin des neunzehnten Jahrhunderts ruhe und
Orakel ſpende, Karl Emanuel ſagte, er habe ſich,
als der Meiſter ihnen in Schwaben jammervoll
abhanden gekommen ſei, a priori conſtruirt, daß
er in Weſtphalen ſeyn müſſe, Karl Nathanael
ſprach von einem glücklichen politiſchen aperçu,
welches ihm den Weg gewieſen, der Ehinger ſchwatzte
von ſeinem Vetter Beſtelmeier, der hauſirend hier
durchgekommen und ihm in Aſchaffenburg auf der
Schloßterraſſe erzählt habe, ſo ein grüngelber Teu-
felskerl, wie damals Einer bei ihnen zu Ehingen
geweſen, ſei ihm allhier zu Pferd ſichtbar gewor-
den, der vornehme Deutſchtürke wollte durch Cor-
reſpondenten in Bonn die Nachricht erhalten haben,
welche ihn gleichzeitig mit den Anderen nach dieſem
Schloſſe gezogen hatte.
Nach ſo freudigen Reden ſchien aber die Scene
ernſter werden zu wollen. Denn der Ehinger,
welcher die drei Unbefriedigten wie die Kletten an
dem Freiherrn hangen ſah, und ihn mit ſeinem
Stocke nicht erwecken konnte, meinte vermuthlich,
dieß durch ein herzhaftes Schütteln bei den Händen
ſicherer bewerkſtelligen zu können, rief ihnen daher
zu: Marſch, Ihr Grünröck’! Was thut Ihr ſo
[311] nahe bei meinem Captain, laßt mich hinzu, denn
das Hemd iſt ihm näher als der Rock! und wollte
Karl Gabriel wegziehen. Karl Gabriel ſtieß aber
mit der anderen verwandten Hand den Ehinger
zurück, der Ehinger wollte Gewalt brauchen, Karl
Nathanael und Karl Emanuel ſchützten den Bruder,
der Ehinger tobte und ſchimpfte, die drei Brüder
riefen: Was will der Menſch bei unſerem Meiſter?
und Alles ſchien ſich zu einer Zänkerei oder gar
Schlägerei anzulaſſen. Semilaſſo litt während die-
ſen lauten Vorgänge ſehr. Auch er hatte die
ſchmerzlichſte Sehnſucht nach dem Freiherrn und
wußte ja, daß er nur ihm angehöre. Dennoch
verbot ihm ungeachtet ſeiner Genialität das ange-
ſtammte Wappengefühl ſich zwiſchen ſo niedere Per-
ſönlichkeiten zu drängen, von denen er leicht einen
Stoß oder Schlag erhalten konnte. Er ſah ſich
daher ängſtlich nach dem Schriftſteller um und ſagte
zu dieſem, während die Anderen um den Frei-
herrn, wie um den Leichnam des Patroklus ſich
ſtritten: Mein Herr, Sie ſcheinen hier der einzige
Unpartheiiſche zu ſeyn, ich erſuche Sie, das Rich-
teramt zu übernehmen und jene Franken und
Ungläubigen dort von meinem Doctor durch
[312] die Kraft vernünftiger Zuredungen zu entfernen,
denn mein iſt er und mir gehört er an!
Meine Herren! rief hier der Schriftſteller, froh,
wieder zu der Leitung der Angelegenheiten berufen
zu werden, mit ſeiner Stentorſtimme. Die Strei-
tenden ließen ab und horchten auf. Meine Herren,
dieſer wunderſame Mann, der trotz des Lärmens,
welchen Sie zu erregen ſo gefällig ſind, ſeinen
Schlummer fortſetzt, ſcheint eine alte Bekanntſchaft
von Ihnen zu ſeyn. — Nun freilich! verſetzten Alle.
Gleichwohl will es mir vorkommen, als wal-
teten noch etliche und zwar nicht geringe Mißver-
ſtändniſſe in Betreff der Perſönlichkeit ob, fuhr
der Schriftſteller fort.
Kein Mißverſtändniß nit, nit das mindeſte
Mißverſtändniß, kein Gedank’ von einem Mißver-
ſtändniß, eiferte der Ehinger Spitzenmann. Er
iſt kein Mißverſtändniß nit, ſondern der Captain
Gooſeberry, wie er ſich ſelbſt genannt hat, in
Dienſten der Königin der Coralleninſeln im ſtillen
Weltmeer, welcher letzthin bei uns auf der Schwä-
biſchen Alb war, und uns das große, profitliche
Auswanderungsproject vorlegte, mir und meinen
fünfzig Freunden zu Ehingen.
[313]
Je proteste hautement contre toute atteinte,
qu’on voudroit porter à mes droits, lispelte
Semilaſſo. Der Mann täuſcht ſich auf eine ecla-
tante Weiſe. Ich verſichere bei meiner Ehre, daß
ich das Vergnügen habe, in dieſem Schläfer den
Doctor Reifenſchläger wiederzuerkennen, den großen
productiven Kopf, deſſen Bekanntſchaft ich vor kaum
einem Jahre in Egypten machte. Er war es, der
meine Ideen von Raſſeveredelung unter den Men-
ſchen durch reine Kreuzungen geſunder Exemplare
ohne weitere Formalitäten, ausbildete und in vier
und zwanzig Stunden den Plan zu einem Voll-
blutsinſtitute — vorläufig unter den Caſſuben —
entwarf. Ich verlor ihn zufällig bei der Pyramide
des Cheops aus den Augen und nachmals hörte
ich, er habe ſich in Alexandrien eingeſchifft, von
wo mir denn aber ſpäterhin eine Zeit lang alle
Spuren ausgingen.
Grenzenloſe Irrthümer! riefen die drei Unbe-
friedigten. — Laßt mich reden, Brüder, ſagte Karl
Emanuel, denn als Philoſoph werde ich die Faſſung
behalten, welche hier Noth thut. — Schlummern-
der vergieb, daß ich vor ſolchen Ohren es entweihe!
Nein, Packenmann Ihr und Morgenländer Ihr,
[314] der Mann da, der mehr als Menſch iſt, dieſer
heilig Ruhende iſt weder ein elender Captain Goo-
ſeberry von den Corallenriffen, noch der Vollbluts-
doctor Reifenſchläger bei der Pyramide des Cheops,
ſondern kein Anderer, als — — Er hielt ath-
mend inne.
Wer? fragten Alle voll der höchſten Spannung.
… der größte Mann der Zeit, kein Mann
eigentlich mehr, ſondern der Begriff des Mannes,
oder der männliche Begriff, vielleicht noch zu con-
cret iſt dieſes gefaßt, abſtracter gegriffen muß es
von ihm heißen, der Begriff. …
Münchhauſen nieſete im Schlummer. — Zur
Geſundheit! riefen die Anweſenden.
… griff, riff, iff, ff, fuhr Karl Emanuel
fort. O, könnte ich ihn doch nur abſtract genug
nennen! Der reine Begriff, riff, iff, ff; ſchein-
bar nur geſtorben am vierzehnten November 1831
an den Folgen der Cholera, ſcheinbar begraben
auf dem Kirchhofe draußen vor dem Thore, wo
in dem Sarge ſtatt ſeiner das Nichts liegt, wel-
ches wieder das Etwas iſt, in der That fortlebend,
Taback ſchnupfend und Whiſt ſpielend, alſo nicht
bloß mit dem ſubjectiven Fühlen, Meinen und
[315] Wähnen gefaßt, ſondern wirklich und folglich ver-
nünftig — mit einem Worte: Der große, unſterb-
liche, ewige Hegel, welcher iſt der Paraclet, das
heißt der Geiſt, zur Vollendung der Zeiten ver-
ſprochen, mit dem anhebt das tauſendjährige Reich,
in welchem herrſchen ſollen die Hegelianer.
Erlauben Sie, ſagte der Schriftſteller, dieſes
wird mir ſelbſt etwas zu tranſcendental. Wie
verſtehen Sie das eigentlich, mein Allerwertheſter?
Rede du in Bildern, Gabriel, zu der Menge,
ſprach Karl Emanuel. Die Ausdrücke des Syſtems
klingen unbeſchnittenen Ohren dunkel.
Karl Gabriel, der Dichter, ſagte: Der große
Mann fühlte nämlich, daß ſein Werk vollendet ſei
auf Erden für den großen Haufen. Er fühlte,
daß es Zeit ſei, ſich in die heilige Unſichtbarkeit
zurückzuziehen und in dieſer für wenige Einge-
weihte durch die letzten und höchſten Wunder des
Geiſtes zu wirken. Er that daher mit Hülfe einer
grandioſen Intrigue, welche die Redner am Grabe
ſpielten, ſo, als ſterbe er und werde begraben,
wurde aber aufgehoben von ſeinen Jüngern, nahm
bei Nacht Extrapoſt nach Zehlendorf und weiter,
und geht nun umher in der Verborgenheit, ſich
[316] einzelnen Erwählten offenbarend und dieſen die
innerſten Arcana der Weisheit enthüllend.
Uns drei Brüdern manifeſtirte er ſich auf einem
Spaziergange bei Stuttgart, ſtillte alle unſere
Schmerzen, befriedigte unſer Sehnen und ſpielte
mit uns Whiſt. Dann verſchwand er uns, und
endlich nach Jammer und Leid ſehen wir ihn hier
wieder, zwar ſchlafend, aber auch im Schlafe als
Gott.
[317]
Neuntes Capitel.
Der Schriftſteller Immermann eröffnet das
Protocoll über die Frage Münchhauſen.
Die Eröffnungen Karl Emanuel’s und Karl
Gabriel’s würden bei nur einigermaßen ruhigen Men-
ſchen die größte Senſation hervorgebracht haben.
Aber in dem erregten Kreiſe, welcher ſich um das
Bette des ſchlafenden Freiherrn gebildet hatte,
verhallten ſie faſt wirkungslos. Alle drängten auf
den Schriftſteller ein und verlangten, ein Jeder
an ſeinem Theile, er ſolle die Anderen aus dem
Zimmer entfernen, wobei jedoch, wie ſich von ſelbſt
verſteht, die drei Unbefriedigten nur für einen
Mann ſtanden. Keiner kannte den erwählten
Schiedsrichter; das that aber nichts; denn es kam
ihnen nur auf einen Richterſpruch an. So geſchah
hier, was allenthalben unter ähnlichen Umſtänden
geſchieht. Wenn ein Paar Menſchen ſich tüchtig
[318] zanken, ſo rufen ſie einen zufällig Vorübergehenden
zur Entſcheidung auf, weil Jeder meint, daß dieſe
unmöglich wider ihn ausfallen könne.
Der Schriftſteller ſah auf ſeine Uhr und er-
ſchrak, weil nur noch fünfzehn Minuten vom Waffen-
ſtillſtande übrig waren. Er ſagte den Intereſſenten
an Münchhauſen in fliegender Haſt, der Gegen-
ſtand ihrer Liebe und Verehrung liege gewiſſer-
maßen da wie Polen vor der erſten Theilung oder
heut zu Tage Luxemburg und Limburg *). Er
wolle daher über die allſeitigen Behauptungen,
Anſprüche und Befugniſſe Protocoll eröffnen, bitte
aber, ſie deutlich und vor allen Dingen kurz zu
faſſen.
Damit waren Alle einverſtanden. Semilaſſo
bat nur mit einem feinen Lächeln, einige Arrière-
penſeés haben zu dürfen. — Immermann faltete
den Bogen, auf den er die Arabesken gekritzelt
hatte, ſchrieb an den Kopf des Bogens: Actum
dann und dann, und verzeichnete zwiſchen den
Schnörkeln, Ranken, Vogelköpfen und Fratzen,
[319] womit das Papier bedeckt war, folgende Erklärun-
gen der Anweſenden *).
Semilaſſo giebt hiſtoriſch zu erkennen, daß
Schlummernder, welcher kein Anderer ſei, als der
Doctor Reifenſchläger von der Pyramide des Cheops,
ihm verſprochen habe, das Vollbluts- und Men-
ſchenveredelungsinſtitut auf ſeinen Gütern in der
Lauſitz einzurichten. Verlangt daher, daß Schlum-
merer, ſobald er erwache, mit ihm in Schritt ab-
und nach der Lauſitz fahre, wo die Fonds für
das Inſtitut ſchon bereit geſtellt ſeien.
Ehinger Spitzenkrämer: Captain Goo-
ſeberry, der da ſchläft, hat ihm und ſeinen fünf-
zig Ehinger Freunden im Auftrage der Königin
der Coralleninſeln Land auf dem ſtillen Weltmeere
zugeſagt. Wer dreißig Morgen nimmt, bekommt
vierzig Gulden Belohnung. Geld braucht Keiner
[320] mitzubringen, denn es iſt Alles an Ort und Stelle
umſonſt zu haben. Man lebt dort meiſtens von
Paſteten, die der große Paſtetenbaum trägt, die
Landespflanze. Er kommt wild fort, trägt dann
aber warme Paſteten, die geringere Frucht. Wird
einige Cultur an den Baum gewandt, ſo trägt er
die wohlſchmeckenderen kalten Paſteten, und, jenach-
dem der Dünger iſt, mit Rebhühner- oder Haſen-
gefüllſel. Die Königin der Coralleninſeln wird die
Coloniſten Reihe herum heirathen; nach der Hoch-
zeitnacht erhält der jedesmalige Gatte ein Paar
baumwollener Strümpfe, eine ſchwarz ſeidene Nacht-
mütze, einen Rock von Zwillich, und heißt Prinz
von Geblüt. Die Coloniſtinnen kriegen Miniſter und
heißen dann bürgerliche Madamen. Verlangt, daß
Captain Gooſeberry ſich baldigſt nach Bremen be-
gebe, ihm und ſeinen fünfzig Ehinger Freunden das
Schiff anzeige, mit welchem ſie abſegeln können,
ihnen zugleich Reiſegeld und Landſcheine überſchicke.
Die drei Unbefriedigten durch den
Mund Karl Gabriel’s: Bitten wörtlich ihre
Erklärungen zu Protocoll zu nehmen. „Wir waren
bodenlos unglücklich, das Leben ſah uns dürr an
wie die Wüſte Saharah und trieb uns Staubwir-
[321] bel in die Augen. Wir lechzten wie trockene Eimer
in der Sonnengluth, denn ich Karl Gabriel konnte
kein Trauerſpiel machen, Karl Nathanael keine nie
erhörte politiſche Wahrheit, Karl Emanuel kein
neues Syſtem. Da erſchien uns jener ſchlum-
mernde Gottmenſch, vernahm unſere Nöthe, ent-
deckte ſich uns und die Geſchichte ſeiner wunder-
baren Entrückung in die Unſichtbarkeit, erlöſte uns
von der Pein der Nichtbefriedigung. Er offen-
barte uns nämlich, daß ſeine Philoſophie da drau-
ßen in der Welt nur die Hülle einiger geheim-
abgezogener Formeln ſei, mit Hülfe welcher man
Alles zu Stande bringen könne, ſelbſt Butter und
Käſe. Mir, dem Dichter, gelobte er die Formel
für das reine und abſtracte Trauerſpiel, welches
ich das Trauerſpiel nennen ſolle, dem Staatsmann
verhieß er die Formel für die nie erhörte politiſche
Wahrheit, dem Philoſophen machte er kund, daß
zwar über ſein eigenes Syſtem hinaus, wie für
ſich klar ſei, nichts liege, daß er ihm aber die For-
mel geben wolle, wonach es verſtändlich werde.
Wir beiden Anderen ſpürten einen ſtillen Neid auf
Karl Emanuel, denn offenbar war dieſem das
größte Geſchenk verheißen worden.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 21
[322]
Inmitten der vorbereitenden Weihen verſchwand
er, entſchwand er, ſchwand. — Wir verlangen,
daß man uns allein laſſe bei ihm, zu küſſen ſeine
leuchtenden Füße, zu faſſen den Zipfel ſeines Man-
tels, zu harren, bis er aufwacht und uns die drei
abſtracten Formeln mittheilt.
Es waren nur noch zehn Minuten vom Waffen-
ſtillſtande übrig. Der Schriftſteller befand ſich in
der ſichtlichſten Verlegenheit, denn ſämmtliche In-
tereſſenten an Münchhauſen riefen ihn jetzt zur
Entſcheidung auf, die, das ſah er vorher, ſie
mochte ausfallen, wie ſie wollte, ihm die Intereſ-
ſenten nicht vom Halſe ſchaffen, ſondern ſie ihm
erſt recht [auf] den Hals bringen würde. Immer
dichter zog ſich der Knäuel der Anweſenden um
ihn zuſammen, da rief er in einem Anſtoße von
Verzweiflung: Ich ſetze hiemit ein Proviſorium
feſt, denn nur die Zeit kann die Schlichtung ſo
verſchiedenartiger Forderungen bringen. Jener
große Mann und angebliche Reifenſchläger-Gooſe-
berry-Hegel bleibt auf gemeinſchaftliche Koſten lie-
gen, ſämmtliche Herren, welche ihn für ſich reclami-
ren, ziehen ſich vor das Schloß zurück und auch ich
halte mir Protocoll offen für die Anſprüche des Ho-
[323] fes, in deſſen geheimen Dienſten ich zu ſtehen die
Ehre habe. Dieſer wunderbare Schläfer iſt näm-
lich weder der Doctor Reifenſchläger, noch der Cap-
tain Gooſeberry, noch der in die Unſichtbarkeit auf-
gehobene unſterbliche Hegel, ſondern — —
21*
[324]
Zehntes Capitel.
Ein Munkel! Ein Munkel!
Ein Munkel, ein Munkel! ſchrie Karl Butter-
vogel, entſetzt hereinſtürzend und den Kopf mit
beiden Händen haltend. Ein Schuß fiel dicht vor
der Thüre, alle Anweſende erſchraken und zogen
ſich in eine Fenſterecke zurück, der alte Baron
aber trat wüthend mit der abgeſchoſſenen Piſtole
in der Hand zur Thüre herein.
Karl Buttervogel war auf den Schuß gegen
den Tiſch geſtürzt, hatte dieſen umgerannt, die
Gläſer zerbrochen, die chemiſchen Flüſſigkeiten
rauchten am Boden umher, oder ätzten Löcher in
das Arabeskenprotocoll — bei dem Eintritte ſei-
nes Verfolgers aber taumelte er aufheulend hinter
das Bette des Freiherrn, kauerte ſich dort nieder
und ergoß ſich in einer unhemmbaren Fluth von
Gründen, Bitten und Geſtändniſſen, denn die To-
[325] desfurcht hatte ſeine Zunge zu wunderſamer Ge-
läufigkeit entbunden, und er ſchwatzte unaufhalt-
ſam vermuthlich deßhalb, weil er glaubte, ſo lange
als er rede, noch nicht todtgeſchoſſen zu ſeyn.
Der Schriftſteller, der in dieſem Dunſt, Dampf,
Knall, Getümmel kaum ſich ſelbſt vor dem Umge-
ranntwerden zu bewahren vermocht hatte, trat
über den umgeſtürzten Tiſch, das theilweiſe durch-
löcherte Conferenzprotocoll und die rauchenden
Flüſſigkeiten hinweg heftig auf den alten Baron
zu und rief, die Uhr ihm vor die Augen haltend:
Dieſen gröblichen Bruch der Verträge möge Ihnen
das Völkerrecht verzeihen, Herr Baron, ich kann
es nicht. Sie haben die Feindſeligkeiten dreißig
Secunden vor Ablauf des Waffenſtillſtandes be-
gonnen.
Mein Herr, polterte der alte Baron, der Sie
ſich hier einmiſchen, ohne daß ich begreife, mit
welchem Rechte, ich habe es nicht mit Ihrem
albernen Waffenſtillſtande, noch mit jenem verruch-
ten Nachſchläfer von neun Monaten, drei Tagen
und achtzehn Stunden zu thun, ſondern ich ver-
folge mein Recht wider den Kerl von Bedienten,
der mich noch gröblicher beleidigt hat, als der
[326] Herr, der Thürenverrammler! Erſt mich abge-
freſſen, und kahlgefreſſen; die Katze, das unſchul-
dige Thier, in ſchändlichen Verdacht und Prügel
gebracht, und dann zu guter Letzt mich und meine
Tochter noch durch freche Reden beſchimpft — der
Gaudieb — —
… in Rührung geweſen, ganz aufgelöſt faſt
vor Thränen, nichts als Schwiegerſohn vom Kopf
zum Fuß, hingekrochen wie ein Hund zum gnädi-
gen Herrn, um den Segen gebeten, und dann
ſtatt des Segens Ohrfeigen gekriegt, oh, oh, oh,
das ſchmerzt, das thut weh … wimmerte Karl
Buttervogel dazwiſchen.
Alſo hinweg, mein Herr, und hindern Sie
mich nicht in meinem Hausrechte! rief der alte
Baron. Dieſe Piſtole war nur blind geladen und
ich ſchoß ab, weil Donner und Knall das Herz
des Mannes erfriſcht, aber den Schuft da will
ich hinter dem Bette ſeines Schelms von Gebieter
hervorholen und ihm mit dem Kolben der Piſtole
ſo lange den Rücken dreſchen, bis er genug hat,
und das ſoll kein leerer Lärmen ſeyn.
Nun dann in Gottes Namen! rief der Schrift-
ſteller. Ich ſehe, die Gegenwart iſt zu einer plan-
[327] mäßigen Behandlung großer Angelegenheiten nicht
geeignet. Vergebens, daß man über eine Frage
der Zeit den Bogen zum Protocolle bricht und
Alles in den ſchönſten Gang bringt — in der
Nachbarſchaft fangen ein Paar Narren mit einan-
der Spectakel an, blind wird geknallt, der eine
Narr flüchtet ſich auf neutrales Gebiet, der An-
dere hinterdrein und umgeſchmiſſen iſt Protocoll,
Conferenz, Tiſch, und die Sache ſteht auf dem
Kopfe, die eben noch auf den Füßen ſtand. So
walte denn du weiter, Macht der Umſtände! Ich
ergebe mich in deine Fügungen. — Er trat zur
Seite, einen wehmüthigen Blick auf den Schlum-
mernden werfend.
Der alte Baron näherte ſich mit ſtarken Schrit-
ten dem Bette und rief Karl Buttervogel’n mit
donnernder Stimme zu: Will Er wohl gleich da-
hinter hervorkommen?
Nein, niemals dahinter hervor! rief Karl, der
inzwiſchen unaufhörlich fortgeſprochen hatte, ohne
daß auf ihn gehört worden war, zitternd. —
Niemals dahinter hervor, denn ſo ein Piſtolen-
kolben ſieht nicht, wohin er ſchlägt, aber alles
Andere dem gnädigen Herrn zu Gefallen thun, wie
[328] gerne! Denn durch ſo eine Ohrfeige wird das
Menſchenkind ſchon klug gemacht und alle ſchlechten
Gedanken gehen ihm aus dem Kopfe von Fürſt
und Hechelkram und vornehmer Lieb’ und es ſeyn
Wollen, wenn fernerweite gute Verköſtigung zuge-
ſagt wird, und Riek’ in Stuttgart iſt vor mich
gut genug und keine Andere, und auf dieſen Herrn
da, der ſchläft, ganz und gar keine Rückſicht zu
nehmen nöthig, denn wer ſo ſeinen Bedienten in
der Noth verläßt und einſchlummert, wenn man
blind geladen todtgeſchoſſen worden iſt, der iſt gar
kein Herr nicht, ſondern nur ein ſchlechter Munkel.
Was? Der Doctor Reifenſchläger? Der Cap-
tain Gooſeberry? Der unſterbliche Hegel? riefen
die Intereſſenten an Münchhauſen dazwiſchen.
Munkel! Munkel! Munkel! Nichts als Mun-
kel, ſo hat er ſich ſelbſt genannt, wenn er mir
von ſeiner Erzeugung die verfluchten und ganz un-
menſchlichen Geſchichten erzählte! ſchrie Karl But-
tervogel lauter.
Der Menſch will vermuthlich Homunculus ſagen,
ſprach der Schriftſteller.
Und ich weiß doch, was der gnädige Herr
Baron da mit der Piſtole bedeuten wollen und
[329] wornach Ihr Sinn ſteht, und Noth bricht Eiſen
und für nichts und wieder nichts verrathe ich mei-
nen Herrn nicht, aber für fünf Thaler hätte ich’s
ſchon heut Morgen gethan und ſein Leben muß
der Menſch retten und wenn Einem das Waſſer
bis an den Kragen geht, ſo ſchreit die Creatur,
und niederträchtig iſt es dabei hergegangen, wie
mein Herr entſtanden iſt, und wenn der Menſch
nicht mehr von Vater und Mutter abſtammt, ſo
hört aller Verlaß auf; denn bloß ſo zuſammenge-
kocht zu werden, wie mein Herr, das iſt Nichts
und kann ein Jeder. Und weil meines gnädigen
Herrn ſein gnädiger Herr Vater mit ſeiner gnädi-
gen Frau Gemahlin keine Kinder zu Wege brin-
gen konnte, weil die gnädige Frau den gnädigen
Herrn nur aus Achtung für den alten Lügenmünch-
hauſen, den gnädigen Herrn Großvater von mei-
nem gnädigen Herrn geheirathet hatte, was eine
trockene Ehe giebt, und der gnädige Herr Vater
doch ſo gern einen Herrn Sohn gehabt hätten ganz
vor ſich und apart und ohne ſchönen Dank an die
gnädige Frau und ſo viel verſtanden haben von
Apothekerwiſſenſchaften und unnatürlichen Schnur-
ralien, ſo haben ſie da meinen Herrn einſtmals
[330] aus verſchiedenem Jux und Siebenſachen, Gaſſen,
Kochſalz, Salpeter und was weiß ich ſonſt noch
Alles von Teufelskram zuſammengebraten, geſchmort,
gekocht, geſchmolzen, geröſtet, abfiltrirt, worüber
ſie eine überaus ausnehmende Freude gehabt, aber
in ſchrecklichen Verdruß mit der gnädigen Frau
gekommen, die den ſogenannten Herrn Sohn aus
dem Schmelztiegel und der Bratpfanne gar nicht vor
Augen haben leiden mögen, denn das können die
Weibsleute nicht vertragen, ſo etwas, und Alles
muß ſeinen regulairen Gang gehen bei ihnen, und
deßhalb auch immer nachmals mein gnädiger Herr
ſich chemiſch geſchmiert, mit den Sachen, die ich
aus der Apotheke geholt, um ſich wieder aufzufüllen
und herzuſtellen, und mir alles Dieſes vor Jahren
ſchon entdeckt aus Bedürfniß nach einem liebenden
Freunde, weil ſie auch ſehr betrübt geweſen ſind
über dieſe Geheimniſſe und nur mit Schmerzen an
ihren Herrn Vater gedacht, und da fließt ſie ja
noch heute am Boden umher die chemiſche Schmie-
rung und alſo iſt es nun heraus und am Tage,
was mein gnädiger Herr eigentlich ſind, und weil
ich doch nun meinem ehemaligen Herrn Schwieger-
vater ganz umſonſt einen ſo ſchönen Gefallen ge-
[331] than habe, ſo bitte ich gehorſamſt, daß Sie die
Abſicht aufgeben mit dem Piſtolenkolben, denn ich
bin unglücklich genug, und von Wurſt und Eiern
und Rindfleiſch wird wohl nichts weiter gebrummt
werden, weßhalb mir noch der techniſche Mitdirec-
tor bleibt und das iſt gewiß und wahrhaftig, daß
er kein natürlich entſtandener Menſchenchriſt iſt,
wie wir Alle, ſondern ein von ſeinem chemiſchen
Säurenvater, wie er ihn auch unterweilen nannte,
zuſammenpräparirter Munkel, dieſer Herr von
Münchhauſen.
Münchhauſen? riefen die Intereſſenten erſtaunt.
Münchhauſen heißt der Mann, der Ihnen das
Menſchenraſſeveredelungsinſtitut organiſiren, Ihnen
Land auf den Coralleninſeln verſchaffen, Ihnen
die drei magiſchen abſtracten Formeln mittheilen
wollte, ſagte der Schriftſteller. — Es dürften noch
mehrere Plane und Projecte von ihm an das Ta-
geslicht kommen, die er unter verſchiedenen Ge-
ſtalten zum Wohle der Menſchheit erſonnen, wenn
einmal ſein Leben vollſtändig beſchrieben werden wird.
Aber wer iſt er denn eigentlich? fragten Alle.
Sein eigener Vater und Großvater, der nie
geſtorbene nimmer verwelkte ehemalige Jagd- und
[332] Pferdegeſchichtenerzähler Freiherr von Münchhauſen
auf und zu Bodenwerder, ſagte der Freiherr, der
ſich hier zum Erſtaunen der Verſammlung ſtarr
und ſteif von ſeinem Bette emporrichtete, mit hoh-
lem Ton und weitgeöffneten gläſernen Augen. — Im
Beſitz eines Lebens- und Verjüngungselixiers; da-
durch erhalten, reſtaurirt und nach Maaßgabe der
Zeiten metamorphoſirt ſchon ſeit nunmehro zwei
Menſchenaltern, was jener Tropf von Bedienten
mißverſtändlich aufgefaßt hat, wie denn überhaupt
der Freiherr von Münchhauſen oft ſo unglücklich
geweſen iſt, mißverſtanden zu werden.
Nach dieſer neuen Erklärung ſchloß Reifen-
ſchläger-Gooſeberry-Hegel-Homunculus-Münchhau-
ſen die Augen und fiel abermals zu dem Schlum-
mer des Gerechten nieder. Unter den Anweſenden
aber zeigten ſich Symptome, daß ihr Verſtand
ſolchen Vorfällen nicht gewachſen ſei.
Der alte Baron ſtand abſeitig und ſtieß mit
der Fußſpitze an die Scherben der Gläſer, als
wollte er deren Inhalt unterſuchen. Er hatte,
ſobald Karl Buttervogel ſeiner wunderſamen Ent-
deckungen quitt geworden war, die Piſtole ſinken
laſſen und ſeine Augen nahmen allgemach einen
[333] ſeltſam-irren Ausdruck an. Zuweilen warf er dem
Schläfer einen ſcheuen Blick von der Seite zu und
murmelte dabei: Nicht einmal ein Menſch, nur ein
Munkel, o pfui, und ihn du genannt — pfui —
pfui! — Die Intereſſenten rieben mit ſonderbaren
Gebärden die Stirnen, Semilaſſo recitirte franzö-
ſiſche Verſe, der Ehinger hieb mit dem Stocke
auf den Boden, die drei Unbefriedigten kehrten
ihre Sammetkappen um, ſo daß die Schirme hin-
ten zu ſitzen kamen. Draußen pfiff der Wind,
das alte Schloß bewegte ſich in ſeinen Grundveſten
und die Sonne ſah durch den weißen Dunſt, in
ihrem Strahlenlichte geſchwächt und entſtellt, wie
ein rieſiger gelber Eidotter zum Fenſter herein.
Alle fühlten, daß ihre Vernunft im Schwanken
war, und nur Karl Buttervogel war mit ſeinem
Looſe zufrieden. Er ſaß hinter dem Bette und
dankte Gott, daß er durch einen Verrath zur
rechten Zeit dem drohenden Piſtolenkolben entgan-
gen war.
In dieſer allgemeinen Noth und Bedrängniß
erſchien der Schriftſteller wieder als der einzige
noch übrige Halt; und Alle wiederholten ihre Frage
an ihn: Wer iſt er denn eigentlich?
[334]
Meine Herren, verſetzte der Schriftſteller, ich
weiß es nicht.
Wie?
Mir iſt vielleicht mehr von ſeinen Lebensum-
ſtänden bekannt, als Ihnen, ſagte Immermann,
wer er aber eigentlich iſt, daß weiß ich ſo wenig,
als Sie.
[335]
Eilftes Capitel.
Der Brief eines Erbprinzen rettet den Hel-
den vor der Polizei.
Wenn er nur erſt ſitzt, ſo wollen wir es bald
herauskriegen — mit dieſen Worten betrat der
Bürgermeiſter, den kein Waffenſtillſtand mehr
hemmte, gefolgt von ſeinem Untergebenen, die
Stube. — Denn ſolche Angaben, wie ich zum
Theil unten vor dem Fenſter gehört habe, ſtreiten
gegen alle Wahrſcheinlichkeit und dadurch laſſe ich
mich nicht irre machen, ſetzte der entſchloſſene
Mann hinzu und gab dem Polizeiſoldaten Marze-
ters den Befehl, Münchhauſen, wenn er nicht er-
wachen wollte, aufzuheben und fortzutragen. Mar-
zeters näherte ſich dem Bette. In dieſem Augen-
blicke aber erwachte der ganze Enthuſiasmus der
Anhänger. Ohne an ihre Spaltungen zu denken,
die unheimlichen Entdeckungen über des Freiherrn
[336] Perſönlichkeit vergeſſend, ſchaarten ſich die Unbe-
friedigten und der Ehinger um das Lager, ent-
ſchloſſen zum äußerſten Widerſtande gegen die
öffentliche Macht, welche ihnen den Helden ihrer
Hoffnungen und Ausſichten rauben wollte. Selbſt
Semilaſſo vergaß ſeinen Stand und ſtellte ſich als
Camerad dicht neben den Ehinger, denn er dachte
nur an ſein Inſtitut nach dem Muſter von Tra-
kehnen und an weiter nichts ſonſt. Vergebens
war es, daß der Bürgermeiſter Gehorſam dem Ge-
ſetze forderte, die Intereſſenten riefen, dieſer Mann
ſei über dem Geſetze. Der Bürgermeiſter aber,
der in ſeinem Amte nicht mit ſich ſcherzen ließ,
ſagte zu Marzeters: Der Kerls ſind zu viele und
wir ſtehen gegen die Uebermacht, alſo lauft und
holt Bauernhülfe, Landſturm aus der nächſten
Nachbarſchaft! Haben müſſen wir ihn! — Ihn, wie-
derholte Marzeters und lief fort. Auch die Dro-
hung ſchreckte indeſſen die Anhänger nicht, ihre
Mienen wurden nur noch entſchloſſener. Die Un-
befriedigten krämpelten ihre Rockärmel auf, der
Ehinger ſchwang ſeinen ſchweren Prügel, Semi-
laſſo zog ſogar einen türkiſchen Dolch, von dem er
behauptete, er ſei an der Spitze vergiftet. Alles
[337] redete durcheinander und die Scene ſchien ſich zu
einem Blutvergießen anzulaſſen, wenn die aufge-
botene Hülfe wirklich herbeikam. In dieſem Ge-
wirre hatte ſich der Schriftſteller dem Kopfende
des Bettes genähert und der Freiherr flüſterte ihm
aus ſeinem Schlummer unhörbar für die Anderen
zu: Es hilft nicht, das letzte Mittel muß gebraucht
werden, brauchen Sie es! — Als nun das Getöſe
am heftigſten tobte und der Bürgermeiſter ſchon
rief: Da kommen ja die Bauern! zog der Schrift-
ſteller raſch einen Brief mit großem Siegel aus
der Taſche und ſprach mit lauter Stimme: Im
Namen des Hofes, in deſſen geheimen Dienſten
ich zu ſtehen die Ehre habe, bitte ich um Ruhe
und Gehör.
Der Lärmen verſtummte, das Siegel wurde
beſehen, von Semilaſſo und von dem Bürgermei-
ſter in ſeiner bedeutenden Eigenſchaft anerkannt,
von den Anderen nicht bezweifelt. Der Bürger-
meiſter rief den Bauern, die inzwiſchen vor dem
Schloſſe angekommen waren, zu, ſie ſollten unten
warten, der Schriftſteller aber eröffnete der gan-
zen Verſammlung, daß dieſer Mann, an den ſich
ſo viele Forderungen und Erwartungen knüpften,
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 22
[338] fernerhin nicht mehr dem Privatleben angehören
könne, am allerwenigſten ein Gegenſtand polizei-
licher Verfolgung ſei, ſondern zu hohen Dingen,
zu einer öffentlichen Stellung berufen, nunmehr in
eine ganz andere Sphäre übergehe. Der geiſt-
reiche Erbprinz von Dünkelblaſenheim wähle ihn
nämlich zu ſeinem Geſellſchafter und Vertrauten.
Obgleich nun das Gebiet, auf dem ſich unſere
Geſchichte ereignete, nicht zu Dünkelblaſenheim
gehörte, und obgleich die Anweſenden, außer Se-
milaſſo, kaum früher von dem Lande Dünkelblaſen-
heim gehört hatten, ſo wirkte doch die bloße Er-
wähnung eines Hofes mit magiſcher Kraft auf die
Loyalität ſämmtlicher Verſammelten. Kein Wort
wurde laut, in den Mienen ſprach ſich Hingebung
und Unterwürfigkeit unter die Beſchlüſſe irgend-
welches Erbprinzen aus; der Bürgermeiſter nahm
ſeine Mütze ab.
Der Schriftſteller erbrach den Brief und las
folgendes Berufungsſchreiben vor:
„Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Nie habe
ich mich auf Jemand ſo gefreut, wie auf Sie.
Seitdem ich Sie im Bade zu * ſah, nahmen Sie mir
Kopf und Herz, wie eine Geliebte ein. Sie ken-
[339] nen die ſchwierigen Verhältniſſe, unter denen Sie
hier vor der Hand auftreten müſſen, der Ober-
kammerherr wird aber Ihre Schritte leiten, er
beherrſcht das Terrain und Sie dürfen ihm ver-
trauen. Ich mag nicht gern verſprechen, hoffe
aber, daß Sie mit mir zufrieden ſeyn ſollen, wenn
die Todten ihre Todten begraben haben werden
und das Leben an das Tageslicht kommt.
Münchhauſen, hören Sie das Wort eines Man-
nes, deſſen Hände leider noch gebunden ſind: Ih-
nen wird er die Zukunft des Landes anbefehlen.
— Inzwiſchen wollen wir über den alten Sauer-
teig lachen, ſchöne Plane bilden, einander von
Tage zu Tage mehr werden. Sehen Sie in mir
nicht den Herrn; ich bin ſtolz darauf, den geiſt-
reichſten und liebenswürdigſten Mann unſerer Zeit
meinen Freund nennen zu dürfen. Unſer Unter-
händler hat ſich die Bürgerkrone damit verdient,
daß er Sie hieher zu bringen wußte.“
Empfindungen verſchiedener Art erregte dieſes
Schreiben. Erſtaunen, Verehrung und Schmerz
machten ſich durch halbe Reden, Ausrufungen,
Seufzer Luft. Am kürzeſten faßte ſich der Bür-
germeiſter, denn nachdem er noch einmal das Sie-
22*
[340] gel angeſehen hatte, machte er vor dem Schlä-
fer eine tiefe Verbeugung, bat den Schriftſteller,
er möge, wenn der Freund des ihm unbekannten
Erbprinzen aufwache, ein gutes Wort für ihn ein-
legen und ihm ſagen, wie zart er ſich benommen
habe, denn Gunſt am Hofe, liege dieſer, wo er wolle,
könne nicht und niemals ſchaden. Dann ging er hin-
unter, ſagte zu den Bauern und zu Marzeters, ſie
möchten nach Hauſe gehen, es ſei ein Irrthum
vorgefallen, der Fremde ſei kein Vagabonde, ſon-
dern ein angeſehener Mann und eine große Crea-
tur, und begab ſich dann ſelbſt nach Hauſe.
Aber die drei Unbefriedigten und der Ehinger
Spitzenkrämer wehklagten, daß ihre Freude ſo kurz
gedauert habe. Sie fragten auch mit niederge-
ſchlagenen Blicken, ob denn alle Hoffnung ver-
ſchwunden ſei, daß der Wiedergefundene nicht den-
noch der Captain Gooſeberry von den Corallen-
inſeln, oder der unſterbliche Hegel ſeyn könne,
und der Name Münchhauſen nur eine Larve ſei?
worauf der Schriftſteller ihnen erwiederte, daß
ihm zwar jene Charaktere problematiſch zu ſeyn
ſchienen, daß aber dadurch der wunderbare Gehalt
des außerordentlichen Mannes durchaus nicht ge-
[341] ſchmälert werde, daß man vielmehr feſt glauben
müſſe, er werde halten, was er verſprochen. Der
Schriftſteller fügte tröſtend hinzu, ſie möchten dem-
nach nur mit Vertrauen der Anweiſungen auf Land
in den Coralleninſeln, wo die warmen und kalten Pa-
ſtetenbäume wüchſen, ſo wie der abſtracten drei For-
meln harren, er werde bei ſeinem großen Freunde die
Sache in Anregung bringen, ſobald dieſer die erſten
Wochen am Hofe überwunden habe. Münchhauſen
werde nach wie vor der Heiland der nach dem
Unerhörten verlangenden Menſchheit bleiben.
Damit mußten ſich die abgewieſenen Intereſ-
ſenten nun freilich zufrieden geben, aber das Schei-
den that ihnen doch weh. Die drei Unbefriedigten
waren noch bleicher geworden, als ſie gewöhnlich
ausſahen; ſie küßten dem ſchlummernden Meiſter
die Hände. Karl Gabriel hauchte einen leiſen
Kuß auf ſeine Lippen und flüſterte: O ſei den-
noch Hegel und gieb uns die drei Formeln! und
dann gingen ſie aus der Stube und hätten gern
geweint, wenn ſie vor Trockenheit dazu ver-
mögend geweſen wären. Der Ehinger ſchlug
mit ſeinem Stocke abermals ſanft gegen die Fuß-
ſohlen des Freiherrn und ſagte: Adieu! — Ei,
[342] was werden die fünfzig Ehinger Freunde ſagen!
und ging dann auch.
Semilaſſo war zurückgeblieben. — Reifenſchlä-
ger oder Nichtreifenſchläger, ſagte er; das Inſtitut
richtet er mir ein, das weiß ich, denn mag er
den anderen Leuten etwas vorgeflunkert haben, mit
mir meinte er es wahr, die Idee von der Verede-
lung der Menſchenraſſe hatte ihn wahrhaft ergriffen.
He took a french leave d. h. er wollte ab-
ziehen, wie Katz vom Taubenſchlag, doch unter
der Thüre wandte er ſich um. Er näherte ſich dem
Schriftſteller und ſagte: Apropos, die Anſtellung
an dem Hofe, in deſſen geheimen Dienſten Sie
zu ſtehen die Ehre haben, hat noch ein dessous
des cartes, bekennen Sie das nur. Mir ſind die
Verhältniſſe jenes Hofes ſo ziemlich klar, ich
weiß, wie abhängig der Erbprinz iſt, niemals hätte
er gewagt ſich ſelbſtſtändig einen Geſellſchafter an-
zuſchaffen, alſo muß der alte Herr ſeinen Conſens
gegeben haben; wie aber paßt unſer Held für den?
Nun freilich, verſetzte der Schriftſteller, die
Sache hat allerdings noch ihren Haken. Mit Ew.
Gnaden kann man ſchon frei reden, Sie verſtehen
ſich auf ſolche Feinheiten. Vor den geringen
[343] Leuten mochte ich nicht davon ſprechen. Münch-
hauſen wird nur anonymer Geſellſchafter des Erb-
prinzen, eigentlich geheimer Hühneraugeneſſenzbe-
reiter bei dem alten regierenden Herrn ohne offi-
ciellen Charakter wegen der Rückſichten, die auf
den Oberſanitätsrath zu nehmen ſind.
[344]
Zwoͤlftes Capitel.
Eine wunderſam verwickelte Hofgeſchichte.
Geheimer Hühneraugeneſſenzbereiter? fragte Se-
milaſſo mit einem feinen Lächeln.
Geheimer Hühneraugeneſſenzbereiter, ſagte der
Schriftſteller. Wenn Sie die Verhältniſſe des
Hofes, in deſſen geheimen Dienſten ich zu ſtehen
die Ehre habe, kennen, ſo werden Sie wiſſen,
daß der alte Herzog in dem Spleen ſeiner vor-
gerückten Jahre nur noch ein Intereſſe an ſeinen
Hühneraugen nimmt, die ihn in der That auch arg
plagen. Ohne dieſe Pein aber würde dennoch die
ganze Exiſtenz des alten Herrn zuſammenbrechen,
denn der Verdruß gehört ihm zum Leben nothwen-
dig hinzu; er iſt einer von den Charakteren, die
aus Liebhaberei verdrießlich ſind. Dieſe mauſſade
Laune erleichtert übrigens die Staatsverwaltung
außerordentlich. Die Regierungsgeſchäfte werden in
[345] Dünkelblaſenheim auf eine höchſt einfache Art ge-
trieben; nämlich wenn den alten Herrn die Hüh-
neraugen zu heftig ſchmerzen, ſo ſchlägt er etwas
ab, und wenn es leidlich damit ſteht, ſo geneh-
migt er, auf ſolche Weiſe motiviren ſich die uner-
wartetſten Entſchließungen ganz natürlich. Das
Schneiden der Hühneraugen war daher auch von
jeher eines der wichtigſten Geſchäfte am Hofe; der
Oberſanitätsrath war damit begnadiget, nun iſt
der Mann auch alt geworden, hat blöde Augen
bekommen und in den letzten Jahren den Herzog
mehrmals in das Fleiſch geſchnitten, woraus denn
ſtrenge Regierungsmaaßregeln entſprangen. Der
alte Herr verlangte daher ſchon ſeit einiger Zeit
nach einer Abhülfe dieſes Uebelſtandes.
Semilaſſo lächelte noch feiner, und der Erzäh-
ler fuhr fort:
Dem Vater gegenüber ſteht nun der Erbe, ein
von Jenem durchaus verſchiedener Charakter, witzig,
phantaſievoll, ein geiſtreicher Herr, gleichſam ein
Genie, oder — kurz — ja — hm …
Semilaſſo lächelte immer feiner, und der Er-
zähler fuhr fort:
Er langweilt ſich auch, denn er möchte gern
[346] regieren. Seine gewöhnliche Geſellſchaft war ihm
etwas abſchmeckend geworden und es mochte dieß
ungefähr zu derſelben Zeit ſich ereignet haben, als
der Oberſanitätsrath den Vater am häufigſten in
das Fleiſch geſchnitten hatte. Er begann daher
ſich nach einem anregenden Umgange zu ſehnen,
nach einem Univerſalkopfe, der ihn beſtändig be-
ſchäftige, gerade als der Vater nach einer ſanf-
teren Behandlung ſeiner Hühneraugen verlangte.
Semilaſſo lächelte nun ſo fein, daß keine
Feder die Feinheit dieſes Lächelns mehr be-
ſchreiben kann. Der Erzähler kam dadurch beinahe
aus der Faſſung, die jedem Erzähler Noth thut,
fuhr indeſſen doch fort:
Der Oberkammerherr hatte die Wünſche des
regierenden und zukünftigen Herrn, welche ihm
Befehle ſeyn mußten, zu vernehmen. Der Ober-
kammerherr hat eine ſehr zarte Stellung zwiſchen
Gegenwart und Zukunft. Der Oberkammerherr hatte
mit den größten Schwierigkeiten nach allen Seiten
hin zu kämpfen. Die offenbarſte war, dem Erben
zu genügen. Niemals, wie Sie ſehr richtig ahneten,
würde der regierende Herr zugelaſſen haben, daß
der Erbe ſich ein Genie zum Ideenaustauſche halte,
[347] denn von Ideen und Genie mag er überhaupt
nichts wiſſen.
In dieſer Verlegenheit konnte ich dem Ober-
kammerherrn helfen. Daß Münchhauſen der Mann
für den Erbprinzen ſei, darüber waren wir bald
einig, es wäre aber hiemit noch nichts gewonnen
geweſen, wenn dieſer ſeltene Charakter, der nichts
unter ſeiner Würde hält, nicht zufällig einer neuen
Hühneraugeneſſenz auf der Spur geweſen wäre
und ſie wirklich endlich entdeckt hätte, ein proba-
tes Mittel, welches das Uebel zwar nicht zu heben
vermag, da es überhaupt unheilbar iſt, aber es
doch bedeutend lindert, ſo daß der alte Herr, der
ſchon mehrere Flaſchen derſelben verbraucht hat,
ſich ſeitdem nur in dem Zuſtande einer fortwäh-
renden Semi-Verdrießlichkeit befindet. Durch die-
ſen glücklichen Zufall war der Ausweg gebahnt.
Münchhauſen geht nämlich an den Hof von Dün-
kelblaſenheim und der alte Herr weiß nicht anders,
als daß er bloß ſeiner Hühneraugen wegen komme.
Nur unter der Hand wird er das Geſellſchafts-
Genie des jungen Herrn, der an ihm, wie an
einer verbotenen Frucht naſchen will. Man fühlt
aber wohl, daß eben wegen dieſer Heimlichkeit
[348] ſein Einfluß unberechenbar werden muß, und daß
er recht eigentlich dazu beſtimmt iſt, künftig eine
große Rolle im Herzogthume zu ſpielen. Ich
habe mir daher auch ſchon ein Heft weißen Pa-
pieres einbinden laſſen und den Titel darauf ge-
ſetzt: Münchhauſen am Hofe; denn meine
Feder ſoll ſeinen Schritten auch in dieſer hohen
Sphäre mit der Zeit folgen.
Sie ſagten aber, wenn ich nicht irre, daß
auch ſeine Anſtellung bei dem regierenden Herrn
keinen offiziellen Charakter haben werde?
Ja, das iſt eben das Schönſte. Der Umſtand,
den ich nun zu berichten habe, bot die zweite in-
tereſſante Schwierigkeit dar. Der alte Herr hängt
nämlich an dem Oberſanitätsrath, nicht aus Liebe,
ſondern aus Gewohnheit, wie an einem alten
Stück Meuble, weil der Mann denn doch ſeine vier
und zwanzig Jahre hindurch das Amt verſehen hat.
Er befahl daher ausdrücklich, daß der Oberſani-
tätsrath von dem Subſtituten und deſſen Mittel
nichts erfahren dürfe. Dieſes Geheiß war nun in
der That ſchwer auszuführen. Endlich fanden wir
dennoch Rath, der Oberkammerherr und ich. Der
Oberſanitätsrath bekommt nämlich alle Sonnabende,
[349] welche von jeher die gewöhnlichen Schneidetage
waren, ein ſtumpfes Meſſer in die Hand geſcho-
ben, womit er dem Herzoge weder helfen noch
ſchaden kann und damit bildet er ſich denn ein
ſein Amt zu verrichten. Wir hatten für dieſe Liſt
Antecedentien, denn es giebt ihrer Mehrere in
Dünkelblaſenheim, welche ſich die Illuſion machen,
mit ſtumpfen Meſſern ihre Pflicht zu thun.
Der alte Herr iſt aber ganz glücklich darüber,
daß er zum erſtenmale in ſeinem Leben ein Ge-
heimniß vor Hof und Staat hat, da bisher Hof
und Staat nur Geheimniſſe vor ihm hatten. So
iſt dieſe Intrigue in mehreren Gängen und Stock-
werken, einem über dem Anderen, gleich den Stol-
len in dem Salzbergwerke von Wieliczka oder
den Todtenkammern in den Katakomben ausgehölt
und ausgetieft, und man wird immer recht den
Kopf zuſammennehmen müſſen, um die Beziehun-
gen, in welchen Münchhauſen nur geheimer Hüh-
neraugeneſſenzbereiter und in welchen er geheimſter
Geſellſchafter des Erbprinzen iſt, klar auseinander
zu halten.
Aber irgend einen öffentlichen und anerkannten
Charakter muß er doch haben, um Figur in Dün-
[350] kelblaſenheim machen zu können, ſagte Semilaſſo.
Car sans titre vous n’y êtes rien du tout.
Der Herzog hat ihm den Schatz übertragen,
verſetzte der Schriftſteller. — So hat er Ehre,
und kann doch keinen Schaden thun, denn im
Schatze von Dünkelblaſenheim iſt nie etwas.
Ew. Gnaden ſehen nun zugleich, fuhr der
Schriftſteller fort, indem er einen bedeutenden
Blick auf die Glasſcherben und auf die Flecke,
welche die inzwiſchen verdampften chemiſchen Flüſ-
ſigkeiten in das Arabeskenprotocoll eingefreſſen hat-
ten, warf wie für uns Eingeweihte das Homuncu-
luswunder, welches dieſer ſeltene Schwärmer ſeinen
nächſten Umgebungen vorgeredet hatte, oder ſeine
Umgebungen ſich hatte einbilden laſſen, natürlich
ausgeht. — Hühneraugeneſſenzbereitungsverſuche!
Nichts als Hühneraugeneſſenzbereitungsverſuche!
Schade! rief Semilaſſo und ſeufzte. Ich hatte
mir ſchon gedacht … Er vollendete nicht, ſondern
ging nach einem zweiten Seufzer und einem Blicke
auf Münchhauſen, in dem ſich eine gemiſchte Em-
pfindung ſpiegelte, von dannen. — In ſeiner
Seele war durch den Wunderbericht Karl Butter-
vogel’s eine große Bewegung entſtanden; er war
[351] der Einzige in dem Kreiſe der Intereſſenten ge-
weſen, der ihm eine gewiſſe Sympathie, wenig-
ſtens eine Hinneigung zur Sympathie gewidmet
und ſchon im Stillen erwogen hatte, ob nicht ſtatt
des Menſchenraſſeveredelungsinſtitutes eine chemiſche
Menſchenfabrik zu gründen ſeyn möchte. Denn
Semilaſſo hielt ſo wenig als irgend ein Cavalier
auf die Wunder des Evangeliums, um deſto mehr
aber auf die modernen Wunder. Nun an der
Quelle unterrichtet, daß Münchhauſen kein ſich mit
Gas und Säuren auffüllender Homunculus, ſon-
dern nur ein wirklicher geheimer Hühneraugen-
eſſenzbereiter war, fühlte er ſich etwas enttäuſcht,
ging in dieſer Stimmung die Schloßſtraße hinunter,
ſetzte ſich verſtimmt zu ſeinen Affen und Papagaien
in die türkiſche Ochſenkarre, fuhr im Schritt durch
Sturm und Nebel davon, fror und hätte heute
gern im Dampfwagen auf der Eiſenbahn oder auch
nur in der Schnellpoſt geſeſſen, denn er begriff,
daß es Lagen des Lebens giebt, in welchen man
am liebſten warm ſitzt und wie andere gewöhnliche
Menſchen raſch vom Flecke kommt.
[352]
Dreizehntes Capitel.
Der einzige practiſche Charakter dieſes
Buches erreicht ſeinen Zweck.
Die letzten Verhandlungen zwiſchen dem Schrift-
ſteller und Semilaſſo’n waren ohne einen anderen
Zeugen als den ſchlafenden Helden, um deſſen
Ruheſtatt die Ereigniſſe ſich in ſo ſtürmiſchem
Wirbel drehten, vor ſich gegangen. Der alte
Baron war nämlich noch vor dem Scheiden der
Intereſſenten ſtillſchwärmend aus der Stube ge-
wankt, mit den Fingern vor ſich hin geſticulirend,
die Söllertreppe hinauf. Sein altes Gehirn ſtand
dem vereinten Angriffe ſo vieler Abentheuer nicht
länger, es wich und gab der Zerſtörung nach.
Oben auf der Gerichtsſtube begann er ein gefähr-
liches Werk, unbemerkt, denn in dem Schloſſe
achtete jetzt Keiner auf den Anderen.
[353]
Karl Buttervogel hatte ſich dagegen, als die
Intereſſenten an Münchhauſen und der Bürgermei-
ſter ſich zum Kampfe rüſteten, in dieſer Aufregung
und Verwirrung leiſe hinter dem Bette empor
und in das Fenſter geſchwungen, wo die Leiter
von den drei Unbefriedigten her noch angelehnt
ſtand. Katzengeſchwinde ſetzte er ſeine Füße auf
dieſes erwünſchte Fluchtmittel und klomm darauf
mit ungemeiner Schnelligkeit draußen hinunter, fe-
ſten Willens, das Schloß, in welchem er ſo trübe
Erfahrungen gemacht hatte, nie wieder zu betreten.
Auch in ihm war während der vorangegangenen
drangvollen Momente eine große Veränderung ge-
ſchehen. Die Ohrfeige, welche er zum Segen
empfangen, und dann der angedrohte Piſtolenkolben
hatten ihn gänzlich hergeſtellt und in die ihm ge-
wieſenen Schranken zurückgeführt. Karl Butter-
vogel war ein durchaus practiſcher Charakter; die
Täuſchungen des Gefühls und der Einbildungskraft
konnten ihn auch wohl eine Zeit lang mitnehmen,
aber die Wirklichkeit blieb ſeine Lehrerin und
Freundin.
Sein Streben ging jetzt nach dem Gartenhauſe
auf dem Schneckenberge, aber die größte Furcht
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 23
[354] hatte er, dem Fräulein zu begegnen. Denn alle
Gedanken an eine Verbindung mit ihr, an ſeine
Fürſtenwürde und an Hechelkram waren aus ihm
herausgeohrfeigt worden und ſelbſt auf fernerweite
gute Verköſtigung wollte er lieber verzichten, als
immer einem Manne gegenüber ſtehen, der auf
eine ſo ſchmerzliche Art ſich weigerte, ihm Vater
zu werden.
Der Himmel hilft dem, der mit Ernſt ſich
vorſetzt ein neues Leben zu beginnen. — Als er von
der Seite in den Garten lugte, ſah er den Schne-
ckenberg von ſeiner Geliebten unbeſetzt. Sie war
in ihrer ungeduldigen Erwartung auf die Entſchei-
dungen aus dem Schloſſe aufgeſtanden, hatte den
Berg verlaſſen und ging unten im Garten zwiſchen
den ausgewachſenen Taxuswänden mit großen Schrit-
ten hin und her, immerdar die erſten beiden Verſe
ihres Schickſalsliedes ſingend.
Karl Buttervogel ſchlich, um ganz ſicher zu
verfahren, entlängſt der Hecke außen durch die
Dornen, kroch abermals durch das Loch in der
Hecke, rutſchte, um nicht geſehen zu werden, auf
dem Bauche den Schneckenberg hinan, fand zu
ſeiner größten Freude oben den Sauerbraten un-
[355] verſehrt, nahm ihn eiligſt und ſchlüpfte damit
ſchleunigſt in ſein Gartenhäuslein. Dort geborgen
dankte er zuvörderſt Gott, daß ihm in dem Schiff-
bruche ſeiner Hoffnungen wenigſtens dieſer Tröſter
geblieben ſei. Dann aber faßte er den Entſchluß,
der ihm wie durch eine Erleuchtung von Oben
kam. Er beſchloß nämlich, die Verbindung mit
dem Freiherrn, die zu ſeinem Naturell und We-
ſen ihm immer unpaſſender zu werden ſchien, zu
löſen, mit anderen Worten, unverweilt und auf
der Stelle ganz und gar fortzulaufen. Es giebt
Orte, an welchen die Leute, wie in der Höhle
des Trophonius, erhabenen Wahnſinn zu ſprechen
anfangen, wenn ſie dieſelben betreten; dieſes Gar-
tenhaus ſchien dagegen beſtimmt zu ſeyn, die In-
ſaſſen zur geſunden Vernunft zurückzubringen. Der
Schulmeiſter Ageſel hatte darin einſt ſich und ſei-
nen Verſtand gefunden, Karl war der Zweite,
dem zwiſchen dieſen Wänden ein Licht über ſeine
eigentliche Lage aufging.
Er entſagte der Ausſicht auf die techniſche
Mitdirectorſchaft und fühlte bloß, daß er ein Be-
dienter ſei, dem ſein Herr vor wenigen Tagen
den Lohn vollaus bezahlt habe, und der ein Paar
23*
[356] Stiefeln von Jenem in Verwahrung führe, die ihm
für das ſeitdem Verfallene Bezahlung ſeien. Raſch
ſeine Siebenſachen zuſammenpackend, den Torniſter
auf den Rücken hängend, die Stiefeln Münchhau-
ſen’s darüber geſchnallt, den Sauerbraten nicht
vergeſſend, ſondern ihn in die Serviette ſtürzend,
erſpähte er den Augenblick, wo Emerentia zwiſchen
den Taxuswänden dem Gebirge Taygetus den Rü-
cken wendete. Jetzt ſprang er mit Torniſter, Stie-
feln und Sauerbraten zum Gartenhauſe hinaus,
das Gebirge hinunter, kroch wiederum, nun aber
zum letztenmale durch das Heckenloch, fühlte ſich
im Freien und frei, hielt ſich aber nicht auf, ſon-
dern lief was er laufen konnte durch Dornen, Di-
ſteln und Geſträuch, bis er athmend eine freie
Anhöhe erreichte, auf der er ſtillſtehend ſich um-
blickte. Er ſah Niemand in der Nähe und beſchloß
daher die Wanderung nun gemüthlicher fortzuſetzen,
vorher aber ſich durch eine Mahlzeit zu ſtärken.
Es war die Anhöhe, auf welcher die weiland
Luftfabrik zu ſtehen kommen ſollte. Jetzt ſetzte
ſich Karl Buttervogel darauf nieder und aß dort
ſeinen Sauerbraten, der keine Luftgeſtalt war.
So hatte dieſer practiſche Menſch einen wahren
[357] und reellen Vortheil aus dem Schloſſe Schnick-
Schnack- Schnurr davon getragen, an dem Tage,
an welchem den Uebrigen, die mit großen Erwar-
tungen in daſſelbe einzogen, dort nur Verfehlung,
Enttäuſchung, Schmerz über den großen Mann, der
vor ihren Augen zwar nicht zum Himmel aber doch
zu Hofe emporgehoben wurde, aufging. — Nachdem
er den Sauerbraten verzehrt hatte, dankte er aber-
mals Gott und ging dann, ſich der erſten Herr-
ſchaft, die er auf ſeinem Wege finden möchte, als
einen treuen und geſchickten Menſchen, der auch mit
Pferden umzugehen wiſſe, anzubieten. Unterweges
trug er ſich nach ſeiner Manier wohl an die hun-
dert Gründe vor, warum er weglaufe; genügend
erſchien ſchon der einzige, daß er ſich vor ferneren
Prügeln im Schloſſe fürchtete.
[358]
Vierzehntes Capitel.
Eine furchtbare Laune des Geſchicks.
Triumph! rief der Schriftſteller, als Münch-
hauſen’s Zimmer rein geworden war.
Triumph! rief der Freiherr und ſprang vom
Lager auf. Das war eine Schlacht, wie die an
der Moskwa, und ſchlafend habe ich ſie gewonnen,
bloß durch meinen General habe ich geſiegt.
Laſſen wir die ſiniſtern Erinnerungen ruhen!
verſetzte der Schriftſteller. Sie wollten Euch zer-
reißen, wie die Bachantinnen den Orpheus und
Jeder wollte ſich ſeinen Theil zueignen, aber ich
habe Euch ganz, unzertheilt, unzerſtückelt erhalten,
Reifenſchläger, Gooſeberry u. ſ. w. u. ſ. w.
… Profeſſor Pips, Lord Drum, Mr. Raquette,
Legationsrath von Sachtleben, Duca di … di …
… u. ſ. w. u. ſ. w. Vertieft Euch nicht in
[359] die Vergangenheit. Fort aus dem verwünſchten
Schloſſe! Wenn noch Jemand käme —
Münchhauſen ſchrak etwas zuſammen, dann aber
faßte er ſich und ſagte: Dieſer Jemand wird nicht
kommen. Es wäre ja die albernſte Laune, eine
Laune, die ich ſelbſt dem Schickſale nicht zutraue,
wenn ein junger, plumper, unerfahrener Menſch mich
ausfindig machte; zudem iſt das Schloß in dieſem
verruchten Nebel auf zwanzig Schritte Entfernung
nicht zu ſehen.
Ein Hacken wie mit einem Beile ließ ſich über
ihren Köpfen vernehmen, zugleich ſang Emeren-
tia unten lauter, ohne daß die Worte verſtändlich
waren. Der Wind ſchnob, pfiff, die Wände ſchüt-
terten. Der Schriftſteller machte ein ängſtliches
Geſicht. Er verlangte, daß Münchhauſen augen-
blicklich mit ihm das Schloß verlaſſen ſolle. —
Nein! rief der Freiherr, dort im Schlafe iſt mir
ein allerliebſtes ſpirituelles Billet an den Erb-
prinzen eingefallen, worin ich ihm den Plan unſerer
künftigen geheimen genialen Lebensweiſe vorzeichnen
will, und zugleich ein ſubmiſſes Dankſagungsſchrei-
ben an den regierenden Herrn für meine ſemioffi-
zielle Anſtellung in den angemeſſenſten Ausdrücken;
[360] ſolche Ideen, Penſee’n, Attrappen und Calembourgs
müſſen aber improviſirt und nicht deſtillirt werden,
nur aus dem Stegreif gerathen ſie.
Toller Menſch! rief der Schriftſteller und be-
zeichnete ihm den Ort, wo er ſeiner mit den
Wechſeln zur Reiſe nach Dünkelblaſenheim warten
wollte. Es war ein Dorf ganz in der Nähe, wo
ſich eine für Alterthumsfreunde merkwürdige Kirche
mit einer ſonderbar geformten Krypte befand. — Be-
ſtellt ein gutes Abendeſſen, ſprengt einen Burſchen
für doppeltes Trinkgeld nach der Stadt, um uns
Champagner zu verſchaffen; wir wollen einen
luſtigen Abend haben und uns des Lebens freuen,
das wie Champagner zu brauſen beginnt! rief
der Freiherr ſeinem Curator nach.
Er ging trällernd ein Paarmal in der Stube
auf und nieder, richtete den umgeſtürzten Tiſch
auf, legte ſich zwei Bogen Poſtpapier zurecht, und
ſchrieb nun, während das Schloß ſchütterte, der Wind
heulte und das Lied Emerentia’s unten wie das Lied
der Parzen immer ſchrillender klang, gleichzeitig die
beiden Briefe, den ſpirituellen und den ſubmiſſen,
erſt eine Zeile Geiſt an den Erbprinzen und dann
eine Zeile Angemeſſenes an den regierenden Herrn.
[361]
Dazwiſchen ſchnitt er luſtige Grimaſſen, pfiff
die Anfänge von Opernarien, oder declamirte große
Rauſcheworte aus Tragödien. Sein buntes,
abentheuerliches, wildes Leben war ihm während
des Schlafes in der Schlacht vor der Seele vor-
übergegangen, er fühlte ſich von ſich begeiſtert, er
war in einer komiſchen Extaſe. Das Leben bei Hofe,
ſeine wunderbare Doppelſtellung zwiſchen den Hüh-
neraugen des alten und dem geiſtigen Bedürfniſſe
des jungen Herrn ſah ihn ariſtophaniſch ſchillernd
an, er blickte in eine ganze Welt von Schnurren
und diplomatiſchen Faxen hinein.
In dieſem Rauſche vernahm er nicht, daß Je-
mand mit entſchiedenem Schritte die Treppe her-
aufkam, die Thüre öffnete und ſich hinter ihn
ſtellte. Er ſaß, das Haupt tief auf die Brief-
bogen gebückt, ſo daß ihm der Fremde nicht in
das Geſicht ſehen konnte. Nachdem dieſer einige
Augenblicke ſo ſtillſchweigend geſtanden hatte, wäh-
rend Münchhauſen immer emſig fortſchrieb, ſagte
der Fremde: Verzeihen Sie meine Dreiſtigkeit,
ich ſuche den Herrn Baron —
Münchhauſen fuhr empor, unwillkührlich fiel
ſein Blick in den gegenüberhangenden Spiegel; er
[362] ſah das Antlitz des Fremden darin, die Feder
entſank ſeiner Hand, ſein gelbes Geſicht wurde
nicht grünlich, ſondern weißgrau, ſeine Züge, die
eben ſich ſarkaſtiſch geformt hatten, blieben wie
gefroren in dieſem Ausdrucke ſtehen, ſein Mund
öffnete ſich; er glich einer komiſchen Maske aus
Stein. Der Fremde ſeinerſeits ſtand gleichfalls
vor Ueberraſchung regungs- und ſprachlos. So
bildeten die Beiden, welche ſich hier ſo wunderbar
fanden, einige Secunden lang die ſeltſamſte Gruppe.
Was!? rief endlich Münchhauſen, als er die
Sprache wiederfand.
Was!? rief der Fremde.
Habe ich ſo unerwartet die Ehre, den Herrn
Grafen von Waldburg — ſtammelte Münchhauſen.
Zu dienen, Herr Schrimbs oder Peppel, ver-
ſetzte der Jäger.
Ei, das iſt ja heute ein an plötzlichen Ren-
contres überaus geſegneter Tag, ſagte der Freiherr,
deſſen Züge jetzt wieder flüſſig wurden, um in ein
unverhehlbares Beben überzugehen. — Der Teufel
hole den Teufel! fügte er ingrimmig murmelnd
hinzu. Er hat mich mit den Poſſenſpielen des
Morgens und mit dem Lockgeſange des Erbprinzen
[363] eingelullt, um mich nun unter die Fäuſte dieſes
Schwaben zu werfen.
In der That, ich erwartete Sie nicht hier,
ſagte der Jäger. Da es ſich indeſſen wider alles
Vermuthen ſo fügt —
So will ich den Herrn vom Hauſe rufen, nach
dem Sie, wenn ich nicht irre, verlangten, rief
Münchhauſen, ſprang auf und wollte zur Thüre
hinausrennen. — Der Jäger vertrat ihm aber den
Weg, ſah auf die Piſtole, die am Boden lag und
ſagte kalt: Ich danke Ihnen, Herr Schrimbs oder
Peppel. Den Herrn Baron will ich mir ſchon
ſelbſt aufſuchen zu ſeiner Zeit, erſt aber mit Ihnen
ein altes Geſchäft in Ordnung bringen.
Wenn ich Sie nur verſtände! verſetzte Münchhauſen.
Der Jäger erhob die Piſtole vom Boden und
ſagte: Ich werde mich gleich ganz deutlich machen,
Herr Schrimbs oder Peppel.
Freiherr von Münchhauſen, wenn ich bitten
darf, rief der Held, ſich ſelbſt vergeſſend.
Deſto beſſer. So ſind Sie alſo von Adel und
ich kann Sie bei dieſer Qualität für mein Vor-
haben um ſo feſter halten.
[364]
Fuͤnfzehntes Capitel.
Wie der Freiherr von Münchhauſen plötz-
lich Muth bekommt und überhaupt ein ganz
anderer Mann iſt, als Mancher ſich denken
mag.
Münchhauſen machte Schritte nach dem Fenſter
zu. Der Jäger aber, welcher allen ſeinen Bewe-
gungen mit dem Scharfblicke eines Falken folgte,
ſprang ihm vor und warf die von außen angelehnte
Leiter in den Hof. — Sie ſcheinen mich ver-
hindern zu wollen, friſche Luft zu ſchöpfen, ſagte
Münchhauſen, gezwungen lächelnd.
Mein Herr, fuhr der Jäger mit ſeiner tiefen
Stimme, die in dieſem Raume wie ein Donner
klang, auf, ich will im Gegentheile mit Ihnen
einen Gang in die freie Luft machen. Zu dieſer
Piſtole wird ſich eine Zweite hier irgend wo herum
finden, denn ein Paar gehört immer zuſammen,
[365] und ſonach erſuche ich Sie, mir anzuzeigen, wo
dieſe Zweite liegt und etwas Pulver und Blei,
denn ſo wahr ich Der bin, deſſen Namen Sie ge-
nannt haben, heute werden Sie mir nicht ver-
ſchwinden, ſondern mir für das anmuthige Mähr-
lein vom Gänſerich und Gänschen Rede ſtehen.
Obgleich ich Sie beinahe vergeſſen hatte, in ganz
andere Empfindungen verloren, ſo lebt doch bei
Ihrem Anblicke in mir das Gedächtniß an Das
auf, was ich mir und hauptſächlich meiner An-
verwandten ſchuldig bin.
Wenn ich mich über den Sinn Ihrer Reden
nicht täuſche, ſo wollen Sie ſich mit mir ſchießen?
ſagte der Freiherr, mit den Naſenflügeln zitternd.
— Sein Gegner machte eine unruhige Bewegung.
— Nur noch eine Frage: War das Mährchen
von Gänſerich und Gänschen witzig? — Der Jäger
ſchlug die Augen nieder. — Nun denn — Ihr
Schweigen iſt auch eine Antwort — was beweiſet
dann Ihr Piſtolenſchuß gegen den Witz? Sie ſchießen
das ſterbliche Individuum Münchhauſen nieder, der
Witz bleibt von Ihrer Kugel ungetroffen und lebt
unſterblich fort.
Es iſt noch ſehr die Frage, ob ich Sie treffe;
[366] Sie können eben ſo wohl mich erſchießen! rief der
Jäger.
Nein, ſagte Münchhauſen auf einmal ganz
ruhig, indem er den Jäger von oben bis unten
mit ſeinen Blicken muſterte, Sie werden mich todt
ſchießen, wenn ich mich Ihrem Piſtolenlaufe gegen-
über ſtelle. Ich weiß das ſicherlich. Der ver-
rückte Zufall, der die Verſpätung meiner Perſon
an dieſem Orte zuließ, der Sie nicht einige Mi-
nuten ſpäter kommen machte, wo Sie in das leere
Neſt getreten wären, beweiſet mir, daß das Schick-
ſal gegenwärtig betrunken iſt und hin und her
torkelt. Mich ergreift, mich ergreift die heiße,
dicke, blinde Fauſt! Gerade ſo ein junger Herr
und Graf, der ein junger Herr und Graf iſt,
wird berufen, einem Manne, wie ich bin, das
Lebenslicht auszublaſen. Ich weiß, daß Sie noch
nie etwas getroffen haben, mich würden Sie treffen,
wenn ich ſo toll wäre, Ihnen zur Scheibe zu die-
nen. Um alſo Ihnen ein großes Verbrechen an
den Erwartungen der Welt und der Welt einen
großen Verluſt zu erſparen —
Refüſiren Sie das Duell? fragte der Jäger
zornfunkelnd.
[367]
Ja, verſetzte der Freiherr ruhig. — Das Duell
iſt für Narren und junge Landjunker, die weiter
nichts als Blut in ſich haben. Wiſſen Sie, was
in mir ſteckt? Geiſt! Geiſt! Geiſt! Wenn ich
ſterbe, ſtirbt ein ganzes Göttergeſchlecht von Ein-
fällen, Phantaſien, unvergleichlichen Sprüngen der
Laune und Erfindung. Können Sie meinen über
das ganze Erdenrund verbreiteten Anhängern Erſatz
ſchaffen? Nein. Sind Sie im Stande, den Erb-
prinzen über mich zu tröſten? Nein. Und alſo
ſage ich Ihnen, wie Mirabeau ſeinen Herausfor-
derern, die ihn mit dem Munde nicht widerlegen
konnten, ſagte: Wartet, bis die Conſtitution fertig
ſeyn wird — warten Sie, bis ich alle meine
Erzählungen, die dieſes Rund wie ungeborene
Embryonen bevölkern, vorgetragen haben werde.
— Er ſchlug bei den letzten Worten an ſeinen
Kopf.
Des Jägers Züge begannen, die äußerſte Ver-
achtung auszudrücken. Seine Geſtalt erhob ſich
ſtolz, er ſtand wie ein Löwe da, der, ſeine Beute
zu verſchlingen eben im Begriff, plötzlich von ihrem
Zittern zu einer geringſchätzigen Großmuth hinge-
riſſen, die aufgehobene Tatze ſinken läßt.
[368]
Münchhauſen’s Glieder flogen, er faßte irr mit
der Hand in ſein Haar, welches ſich geſträubt
hatte. Es war ein erbarmenswürdiger Anblick. —
Ja, rief er dumpf und keuchend, indem er die
Worte mühſam hervorſtieß, ich fürchte mich vor
dem Tode! Der gedankenloſeſte Narr, der ſich
nicht vor ihm fürchtet! Da wird mein Leib liegen,
und da herum verſpritzt mein Gehirn, die Werk-
ſtatt prächtiger Gebilde. Um den Mund noch ein
Spott, der nicht ſterben kann, und den die bleichen
Lippen doch verſchweigen müſſen. Und dann die
erſtickende Erde über Einem — eingepackt wie ein
Hering, nur leider nicht eingeſalzen — dieſes all-
gemeine Burken der Menſchengeſchlechter — und
endlich gar die Würmer — o pfui! pfui! Aus —
aus mit dem letzten Athemzuge!
Woher kommen wir, als aus dem Nichts? —
Wohin werden wir gehen anders als in’s Nichts?
Wir entſtehen, alſo werden wir auch vergehen.
Läugnet die Conſequenz, wenn Ihr’s wagt! Ich
ſagte es mir oft, wenn ich um Mitternacht bei
meiner Kerze eingeſchlafen war, dann auffuhr in
Gedanken der Vernichtung und mein entſetztes
Geſicht gegenüber im Spiegel ſah …
[369]
Aber das Leben auch nur ein Fieber, ein Fieber
des Nichts, mithin ein krankes Nichts! — ſchüttelt’s
ab, ihr meine Nerven, laßt Euch nicht unterkriegen,
Ihr meine tapferen Muskeln und Sehnen — die Kno-
chen bleiben ja doch eine Zeit lang nachher übrig —
nichts in der Welt geht über ein ſchönes, reinliches Ske-
lett — ſo — ſo — ſo — ah! ah! Luft! Wärme! Im-
mer beſſer! beſſer! Dieu merci, es iſt überſtanden —
Der Jäger hatte während dieſer verworrenen
Reden dem Freiherrn den Rücken gewendet und das
Piſtol an einen Nagel gehängt. Jetzt wollte er,
ohne dem von ihm verachteten Feinde einen Blick
zu gönnen, aus der Thüre gehen. Münchhauſen
aber rief ihm mit feſter Stimme zu: Herr Graf, ich
erſuche Sie, zu bleiben! — Der Jäger drehte ſich
um und ſah erſtaunt einen verwandelten Menſchen.
Münchhauſen’s Glieder hatten Ruhe gewonnen, er
ſtand, wie ein Mann ſtehen muß, ſein Geſicht ſah
gleichmüthig und zuverſichtlich aus.
Im geſetzteſten Tone ſprach er: Wenn Sie ſich
zu dem alten Herrn Baron hinauf bemühen wollen,
der ſich da oben mit Holzhacken ein Vergnügen
zu machen ſcheint, ſo werden Sie vermuthlich von
ihm eine zweite Piſtole nebſt Pulver und Kugeln
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 24
[370] erhalten können. Ich nehme dieſe da an der Wand
und bin bereit, mit Ihnen draußen die begehrte
Schießübung anzuſtellen.
Die Reihe, in Verwirrung zu gerathen, war
jetzt an dem Jäger, der ſich in dieſe plötzliche
Umwandelung einer Memme nicht zu finden wußte.
— Gehen Sie, mein Herr, ſagte Münchhauſen,
warum ſtaunen Sie? Der Muth iſt ein Paroxys-
mus, die Feigheit iſt auch ein Paroxysmus. Ich
habe dieſen Paroxysmus, an dem manche Menſchen
Zeitlebens leiden, in einem acuten Anfalle über-
ſtanden. Fortan werde ich ſeyn, was freilich bis
jetzt zu dem vollen Blüthenkranze meiner Eigen-
ſchaften noch mangelte, ein todverachtender Held.
Der junge Jäger, der ſich dieſem urplötzlich
entſtandenen Heroismus gegenüber mit Worten
nicht zu helfen wußte, fuhr in ſeiner Unbehülf-
lichkeit heraus: Ich fürchte, Sie ſind auch darin
nur wieder ein Lügner.
Lügner! rief Münchhauſen ſtolz. — Jetzt haben
Sie mich beleidigt, ſtärker, als ich Sie beleidigt
hatte. Ich könnte jetzt den erſten Schuß verlan-
gen; der Lügner verzichtet aber auf dieſes Recht.
— Lügner! wiederholte er mit Hoheit. Es kann
[371] ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald
verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von
Lüge und Wahrheit zu leſen.
Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur
mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht
den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge;
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem
maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten
ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu
der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,
wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute
lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell
mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,
aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt:
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie
geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-
ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu
Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen,
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und
von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz
24*
[372] lügt, wenn er an Hinzen ſchreibt: Der Ihrige,
denn er gehörte niemals Hinzen. Der Familien-
vater lügt, wenn er von Pflichten gegen Frau und
Kinder redet; nein, ſein Haus iſt ſeine Bequem-
lichkeit, und die muß er ſich natürlich ſeiner-
ſeits auch zu erhalten wiſſen; der Offizier,
der ſeine Leute mit einer Rede vom Vaterlande
in das Feuer führt, lügt; denn an das Vaterland
denkt er nicht, ſondern an’s Avancement, wenn die
Burſche ihm muthig folgen; der Prediger auf der
Kanzel lügt, der Richter im Richterſtuhle lügt,
der Fürſt auf dem Throne lügt — ſie lügen Alle,
Alle, nur haben ſie nicht die Virtuoſität darin,
ſie bringen ungeſchickte, phantaſieloſe, entkräftete
Lügen hervor, nnd ihr ſchweres Blut, ihr maſſiges
Fleiſch, ihre dicken Stirnhäute nennen die Halb-
lügner Tugend.
Wie anders bei uns begünſtigten Sonntags-
kindern, deren es freilich immer nur wenige giebt,
ich aber bin ihr Chef! Gleich ſchönen, nackten,
ſchlafenden Mädchen liegen die Dinge um uns her,
der Empfängniß gewärtig; wir heirathen ſie nicht
in plumper Ehe, wir zeugen nicht mit ihnen
ſchläfrig-legitime Kinder, nein, Don Juans der
[373] Erfindung, gehen wir zwiſchen dieſen wollüſtig
geöffneten Lippen, zwiſchen dieſen Buſen und
Hüften auf und nieder und ſcherzen hier und küſſen
dort, und erwacht fühlen ſie ſich Mütter, worüber
die alten Vettern und Baſen ſich des Todes ver-
wundern wollen; den geſegneten Schooßen aber
entſpringen kleine muthige Kobolde, tolle Kinder
der Liebe, an denen freilich kein gutes Haar und
kein wahres Wort iſt. — Sie ſind ein durchaus
rechtſchaffener Mann, Herr Graf, und unfähig
ſolches Leichtſinnes, danken Sie Gott für Ihre
Tugend, aber richten Sie nicht über Unſer Einen.
Ich bin der Cäſar der Lügen; ich kann von mir
ſagen, wie „der krummnaſige Kerl von Rom“: Ich
kam, ſah und — log!
Jetzt hole ich das Piſtol! rief der Jäger.
Das wäre nun eine Antwort! — Aber halt
noch einen Augenblick! ſagte Münchhauſen, zog
aus ſeinem Buſen eine goldene Kapſel von ziem-
licher Größe, drückte am Charnier, daß ſie auf-
ſprang und ließ den Jäger hineinſehen. Es lag
ein Päckchen Staatspapiere, feſt zuſammengefaltet,
darin, und am inneren Rande waren Namen ein-
gravirt, die der Jäger auf das Geheiß ſeines
[374] wunderlichen Feindes leſen mußte. — Was ſoll
das? fragte er.
Ein Vermächtniß an Ihre Ehre, wenn ich blei-
ben ſollte, ſagte Münchhauſen. In Fällen, wie
der unſrige, wo man ſich ohne Secundanten ſchießt,
iſt der Ueberlebende zu ſolchen Ritterdienſten ver-
pflichtet. Ich habe eine Tochter —
Sie?
Ich; hab’ ſie, weil ſie mein iſt, könnte ich mit
Polonius ſagen, wollte ich ſcherzen, ich will aber
über dieſe Tochter nicht ſcherzen. — Mein Herr,
ich werde Ihnen jetzt nichts vorſeufzen, mein Herr,
ich werde Ihnen nichts vorweinen, überhaupt, mein
Herr, nicht den Sentimentalen vor Ihnen ſpielen;
ich werde Ihnen nur ſagen, daß, auch wenn man
viel gelogen und manches Abentheuer gehabt hat,
es immer ein eigenes Gefühl bleibt, eine Tochter
zu beſitzen, von der man nicht weiß, wo ſie iſt.
Ich zeugte ſie vor nunmehr zwanzig Jahren fern
von hier mit einer einfältigen aber ziemlich hüb-
ſchen Gans. Sie laſen die Namen der Mutter,
des Orts, auch wie ich damals hieß. Wenige
Wochen nach ihrer Geburt ſah ich ſie zufällig bei
einem alten Weibe, der ſie übergeben worden war,
[375] und — da nahm ich mir einen Augenblick vor, zu
werden, was man einen ordentlichen, geſetzten
Mann nennt. Ich gab der Alten meine Baarſchaft
für das Kind, weil es aber nicht viel war, ſo
ſuchte ich ihren Eigennutz durch Hoffnungen zu
ködern, imaginirte eine höchſt ſeltſame Vorrichtung
von Inſtrument, welches, wenn es richtig gebraucht
wurde, die Herkunft des Kindes offenbarte, und
bildete der Vettel ein, dadurch werde einmal ein
hoher Stand ihres Pfleglings an das Tageslicht
kommen. — So glaubte ich vorläufig für mein
Fleiſch und Blut geſorgt zu haben. Aber ich
täuſchte mich, denn als ich nach einiger Zeit in
beſſeren Umſtänden mich wieder nach dem Kinde
erkundigte, war das alte Weib durchgegangen, hatte
vermuthlich mein Geld ſich zu Nutze gemacht und
den Säugling vor eine fremde Pforte gelegt.
Wenn man Ihnen nur glauben dürfte —
Hier aber gerieth der Freiherr in einen erha-
benen Zorn, daß er ſelbſt ſeinem jungen Feinde
imponirte. Er ballte die Fäuſte, knirſchte mit
den Zähnen, rollte die Augen, ſtampfte mit den
Füßen und rannte wie raſend einigemale auf und
nieder. — Bei Himmel und Hölle! rief er, wenn
[376] man ein Genie iſt, muß man darum ein Gaudieb
ſeyn? — Bin ich ein zuſammengeronnener Ho-
munculus, wie der Spitzbube Karl mir nachplau-
derte, oder bin ich nicht ein Fabricat, in derſelben
Retorte ausgebacken, worin Ihr Anderen Alle aus-
gebacken wurdet? — Sackerlot! Wenn ich von
dem Kinde rede, ſo meine ich’s ernſthaft, obgleich
durchaus nicht empfindelnd — ich bitte mir Glau-
ben für dieſe Verſicherung aus. — Aber ich denke
ſie mir ſo reizend, ſo ſchön, ſo gut — ſo — ſo …
ich kann’s nicht ausſprechen, wie ich ſie mir denke.
An etwas muß der Menſch ſeine Gedanken hängen,
wenn er auch kein Herz hat.
Er ſchlug wüthend an ſeine Bruſt und ſchrie
faſt: Nein! Nein! Hier iſt kein Herz drinnen, ich
weiß es! Alles leer, nüchtern, dumpf — oh! hu! ’s
iſt, als wenn man an einen hohlen Topf ſchlägt.
— Was kann ich dafür? Warum hat er mir
keins hineingeſchaffen? Anderen giebt er keinen Ver-
ſtand, die werden von Jedermann entſchuldigt;
mir gab er kein Herz, und die Entſchuldigung
ſoll nicht gelten? — Aber Gedanken habe ich und
die hangen an der Tochter. Immer ſuchte ich ſie,
nimmer fand ich ſie. Indeſſen habe ich einen Freund
[377] bei Ihnen in Stuttgart, der hat mir vor Kurzem
Hoffnung gemacht, es ſei vielleicht möglich, dem
Daſeyn des Kindes noch auf die Spur zu kommen.
Ich ſchreibe ſeine Adreſſe auf, derweil Sie hin-
aufgehen. Schießen Sie mich todt, ſo beſorgen
Sie die Kapſel an die Adreſſe. Der Inhalt ge-
hört dem Kinde, wenn es entdeckt wird, es iſt
von Geſchenken erſpart, die ich hin und wieder
bekam, und ich habe lieber gehungert, als berührt,
was ich einmal in der Kapſel zurückgelegt hatte.
Jetzt gehen Sie, und holen Sie die zweite
Piſtole!
[378]
Sechszehntes Capitel.
Walpurgisnacht bei Tage.
Der junge Jäger, welchem in dieſem tollen
Schloſſe ſo unerwartete Dinge begegnen ſollten,
ging wie träumend die Söllertreppe hinauf, dem
Schalle der Beilſchläge nach, welche mit kurzen
Zwiſchenpauſen immer von Neuem zu tönen be-
gannen. Er öffnete die Thüre der Bodenkammer,
welche die Gerichtsſtube des Schloßherrn bedeuten
mußte, aber da hatte er einen Anblick, der ihm
Grauen und Schreck erregte. Der alte Baron
wirthſchaftete nämlich in dem verwirrteſten Auf-
zuge dort umher. Er hatte ſich eine Pferdedecke
wie einen Mantel um die Schultern geworfen,
auf den Kopf einen alten Damenhut mit verbliche-
nen Blumen geſetzt, einen Strick wie eine Kette
ſich um den Hals geknüpft. Die weißen Haare
[379] ſahen ſtruppicht unter dem Hute in einzelnen
Flocken hervor, die Augen ſtarrten wild und glä-
ſern — ſo trieb er, ein komiſcher Lear, die Werke
des Wahnſinns, welchen Nachtwachen, Erwartungen,
Grübeln, Zorn und zuletzt die aberwitzigſten Phan-
taſtereien in ihm ausgebrütet hatten. Er fuhr
mit großen Schritten auf der Bodenkammer hin
und her, ein Beil in der Hand; der Tiſch war
zur Seite geſchleudert, der alte Lehnſtuhl lag in
Trümmern, um dieſe Trümmer hatte er Kleidungs-
ſtücke, Flaſchen, Gerüll und Gerümpel aller Art,
welches die Bodenkammer verwahrte, aufgehäuft.
Jetzt lief er mit dem Beile an das Giebelfenſter,
bog ſich hinaus, hackte an der Stütze, welche gegen
die Giebelwand gelehnt war, dann kehrte er zu
dem Gerümpel zurück, nahm was er faſſen konnte
und warf Kleider, Flaſchen, zerbrochenes Geräth
zum Fenſter hinaus. So wechſelte er in ſeinen
verrückten Beſchäftigungen von Secunde zu Se-
cunde ab und trieb dieſelben mit ſolcher Anſtren-
gung, daß ihm der Schweiß vom Haupte floß.
Dazwiſchen rief er mit voller und tönender Stimme
unverſtändliche Worte wie: Fort mit Euch! Fort
mit Euch Eindringlingen, erkennt Euren Herrn,
[380] der in Frankfurt gekrönt wurde, dem Ihr Treue
auf die Wahlcapitulation geſprochen habt!
Der Jäger hatte ſich bei ſeinem Eintreten in
eine Ecke gedrückt und ſah dem unheimlichen Schau-
ſpiele einige Minuten lang entſetzt zu. Dann faßte
er ſich ein Herz, ſchritt muthig vor, ging zu dem
Wahnwitzigen, der eben wieder am Hacken war und
ſagte feſten Tones: Herr Baron, was treiben Sie?
Der Alte fuhr haſtig herum, ſah den Jäger
mit ſeinen ſtarren Augen groß an, ſchwang das
Beil und rief: Sie müſſen ſehr unwiſſend ſeyn,
daß Sie mich ſo fragen. Kennen Sie den letzten
deutſchen Kaiſer nicht? Mein Bruder iſt gebore-
ner Geheimerrath im höchſten Gericht. Ich ward
in Frankfurt geſalbt und gekrönt. — Nun legte
er die Hand an ſeine Stirn, wie wenn er nach-
ſänne und ſprach dann leiſer, wie ein Menſch, der
im Schlaf redet: Ich war lange abweſend — lange
— lange — gefangen genommen vom Reichsfeinde,
von Münchhauſen — o pfui! nannte mich Du mit
einem Munkel — Luftverſteinerung — Actien auf
Jeſuiten — und dann — dann —
Aber — hier richtete er ſich majeſtätiſch auf
und ſeine Stimme donnerte — das heilige Römi-
[381] ſche Reich iſt ewig, die alten Verhältniſſe kehren
immer wieder und der Kaiſer ſtirbt nicht. — Ich
komme zurück, jedoch da iſt Alles in Unordnung,
da hat ſich Geniſt aller Orten eingehängt, da muß
ich Ordnung ſtiften und reine Bahn machen.
Er warf die Trümmer des Lehnſtuhls hinaus
und ein Paar leerer Flaſchen. — Das ſind die
Fürſten! rief er. Wie haben ſie ſich mauſig ge-
macht! Aber ich leide keine Hoheit neben meiner,
denn ich bin der Kaiſer. — Er hackte draußen
vor dem Giebelfenſter. — Den Bundestag habe ich
bald durchgehackt, dieſe Stütze iſt ohnehin ſehr
morſch! rief er erhaben lachend.
Bei dieſen grauenvoll lächerlichen Dingen faßte
ſich der Jäger in den geſunden Tiefen ſeines ſchwä-
biſchen Herzens und ſprach zu ſich: Der unglück-
liche Alte hat den Verſtand verloren und du kannſt
ihn in dieſem Zuſtande nicht um die Lisbeth bitten.
Sie iſt dein, das Mädchen, du wirſt ihr den trau-
rigen Zuſtand mit Schonung beibringen und ihr
dann für den armen Pflegevater ſorgen helfen.
Jetzt haſt du weiter nichts hier zu thun, als dich
mit dem verruchten Schrimbs oder Peppel oder
Freiherrn von Münchhauſen zu ſchießen. — Er
[382] konnte nicht wiſſen, in welche Gefahr der Alte ſich
und ihn durch das Hacken ſetzte, ſonſt würde er
ihm mit Gewalt das Beil entwunden haben.
Walpurgisnacht bei Tage! ſetzte er, ſich den-
noch ſchüttelnd vor Grauen, ſeinen Worten hinzu.
Er ſah die zweite Piſtole auf dem Tiſche liegen,
die nahm er und das Pulverhorn dazu; beides
ſteckte er zu ſich. Sein ſcharfes Auge ſpähte nach
Kugeln; es entdeckte ſich ihm ein lederner Beutel,
der von einem Brette herabhing, welches der Alte
durch das Hinwegräumen des Gerülls von ſeiner
Verhüllung entblößt hatte. Er ging nach dem
Brette, ſeine Vermuthung täuſchte ihn nicht, es
war ein Kugelbeutel, der da herabhing.
Er nahm ihn, da rollte Etwas nach, was
auch auf dem Brette vergeſſen gelegen hatte, es
fiel auf den Boden. Mechaniſch hob er es auf;
es war ein Cylinder mit dickem Staube überzo-
gen, viele Jahre mochte der dort gelegen haben.
Ein Papier war um den Cylinder gewunden.
Der alte Baron ſchoß wie ein Pfeil herbei
und faßte beide Arme des jungen Mannes.
Halt Räuber! rief er, du darfſt die Mitgift der
kaiſerlichen Prinzeſſin nicht entwenden. — Ja!
[383] Ja! — ſagte er, den Cylinder tiefſinnig betrachtend
und das Papier von demſelben loswickelnd; das
iſt die Mitgift der kaiſerlichen Prinzeſſin, meiner
lieben Tochter. — Der Jäger mochte mit dieſem
neuen Ausbruche des Unſinns nichts weiter zu
ſchaffen haben, er ließ daher dem Alten, was die-
ſem ſo wichtig zu ſeyn ſchien, und wollte gehen.
Der Alte hatte das Papier, auf welchem, wie dem
Jäger ein flüchtiger Blick gezeigt hatte, in den
Ecken allerhand Buchſtaben und Charaktere ſtanden,
glatt und grade geſtrichen, die Gläſer des Cylin-
ders abgewiſcht und hindurch geſehen. — Ach Lis-
beth! Lisbeth! ſeufzte er.
Dieſes Zauberwort feſſelte den Jäger an die
Stätte. Zu ſeiner Verwunderung ſah er, daß
der Alte ſich platt auf den Boden ſetzte und bit-
terlich zu weinen anfing wie ein Kind. Ach, ſagte
er und ſah wieder durch den Cylinder in die leere
Luft, indem er dabei das Blatt Papier ſteif in
der anderen Hand hielt, ich ſehe mein Kind Lisbeth
noch immer nicht dadurch. O wie gern legte ich mei-
nen Kopf auf ihren Schooß und ließe ihn ſtreicheln von
ihren ſanften Händen, denn die Regierungsſorgen
machen müde und ein Kaiſer bleibt auch ein Menſch!
[384]
Vergebens bemühte ſich der Jäger, Aufſchlüſſe
von dem Alten zu erlangen. Dieſer faſelte nur
durcheinander von Lisbeth und von der kaiſerlichen
Prinzeſſin, welche einſt die Mitgift in das Haus
gebracht habe, aber durch die Gläſer nicht zu ent-
decken ſei.
Hm! rief der Jäger, der vor Ungeduld brannte,
irgend etwas zu entdecken, was die unſichtbaren
Keime der Dinge, die um ihn her zu ſproſſen
ſchienen, an das Tageslicht bringen möchte; das
Ding da muß doch eine Beziehung auf die Lisbeth
haben. Was iſt es denn eigentlich? — Er nahm
es dem Alten aus der Hand, der nun ganz weich
und nachgiebig geworden war, ſeine Thränen abge-
trocknet hatte und ſelig lächelte, weil dem zerſtörten
Geiſte die Geſtalt der lieblichen Pflegetochter vor-
ſchwebte. Es bedurfte keiner langen Unterſuchung
um ihn in’s Klare zu ſetzen. Der Cylinder war
eine jener optiſchen Spielereien mit einem Ocular-
glaſe und einem concentrirenden Objectivglaſe, wel-
ches verſchiedene Figuren oder einzelne Buchſtaben,
die auf einer Fläche umher zerſtreut ſind, zum
Bilde oder zum lesbaren Satze verſammelt. Man
fertigt zu dieſen Gläſern Blätter, die in der Mitte
[385] wenn der Scherz vollkommen ſeyn ſoll, ein kleines
Bild oder ein Wort tragen, in den Ecken und
Winkeln umher aber nur ein ſinnloſes Gemiſch
zeigen. Sieht man nun auf ein ſolches Blatt durch
das Glas, ſo verſchwindet, was in der Mitte ſteht
und es fügt ſich aus den Ecken und Winkeln eine
andere Geſtaltung zuſammen.
Der Jäger nahm auch das Blatt dem Alten
aus der Hand. In der Mitte ſtand das Wort:
Nizza und kein Comma oder Punctum dahinter.
Er ſtellte ſich an den Tiſch, legte das Blatt
zurecht und richtete das Glas darauf, um zu ſehen,
was ihm daſſelbe aus den Ecken und Winkeln zu-
ſammenführen würde.
Das Auge des Dichters gleicht einem ſolchen
Glaſe. Es verſammelt zum Bilde, was weit um-
her zerſtreut iſt und keine Geſtalt annehmen zu
können ſcheint, und oft verſchwindet ihm das, was
ihm zunächſt vorſchwebt.
Münchhauſen ſchrieb unten haſtig ſeinen Kreuz-
und Querbrief an den Erbprinzen und deſſen Va-
ter zu Ende, ſiegelte beide, ſetzte die Adreſſe an
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 25
[386] den Freund in Stuttgart auf, that ſie in die gol-
dene Kapſel und ſagte: Es iſt nicht wahr, daß
ich mich nicht vor dem Tode fürchte, aber ich habe
Ehre zwiſchen mich und meine Feigheit geſchoben,
getrieben, gekeilt; Ehre ſteckt wie ein Pflock vor
der Feigheit und läßt ſie nicht zum Herzen drin-
gen, Ehre iſt etwas Großes und mehr werth als
Tugend, denn zur Ehre gehört kein Herz, ohne
welches Tugend ſich nicht zu behelfen weiß.
Brav will ich ſterben, wie ein Bräutigam!
rief er. — Als Offizier ſieht man ſelbſt noch im Tode
beſſer aus, darum raſch meine Uniform angelegt,
meine rothe Phantaſieuniform und hinweg ihr un-
angenehmen Erinnerungen, die Ihr Euch an den
Rock hängt! Sie iſt todt! todt! todt! die Gans,
oder eingeſperrt, oder verheirathet. O du meines
Lebens einzige Lüge, deren ich mich ſchäme und
die mir ſelbſt dieſe Abſchiedsſtunde vergiften will,
hinweg!
Er legte die rothe Uniform an, ſetzte den Of-
fizierhut auf, der aus dem kleinen Klack entſtan-
den war, ſah ſich mit einer Art von ſchmerzlichem
Wohlgefallen im Spiegel und philoſophirte, ver-
muthlich um den Pflock vor ſeinem Herzen feſtzu-
[387] halten, ſo weiter: Ein Edelmann zu ſeyn, uner-
meßlicher Vortheil, unſchätzbares Glück, ſelbſt wenn
man, wie ich, nicht die Ehre hat der Freiherr
von Münchhauſen zu ſeyn, ſondern nur der —
doch ſtill! Selbſt die Lüfte ſollen nicht erfahren,
wer ich bin. — Karl! — Als Schrimbs, Peppel,
Reifenſchläger liefe ich jetzt fort, wahrhaftig, ſo
thäte ich, als Freiherr von Münchhauſen halte ich
Stich. Karl! — Wo bleibt der Schlingel? Ich
will ihn noch abſtrafen vor meinem Ende, das
ſoll meine letzte gute Handlung auf Erden ſeyn.
— Thut der Name ſchon ſo viel, wie viel mehr
erſt die Sache. Ja, der Adel iſt eine Magie,
Bourgeoiſie und Philoſophie mögen ſagen, was ſie
wollen. Adel iſt eine Schrift mit ſympathetiſcher
Dinte; tauſendmal verſchwunden kommt ſie immer
wieder zum Vorſchein. Selbſt, wenn man ſich in
eigener Perſon zum Ritter ſchlägt, kriegt man
Ehre, und Ehre iſt wieder eine Magie, ein Bann,
eine Zauberformel. Hätten die Haſen Ehre, ſie
ſtänden wie die Löwen. Wohl hatte Heine Recht,
wenn er ſagte, Mirabeau würde den Thron zu
erſchüttern nicht den Muth gehabt haben, wäre er
nicht Graf geweſen, und ich ſage, der Artillerie-
25*
[388] lieutenant Bonaparte wäre nicht Kaiſer der Fran-
zoſen geworden, hätten ſeine Vorfahren nicht im
goldenen Buche von Bologna geſtanden. Hundert
bürgerliche Stimmen in mir rufen: Reiß aus,
denn du kannſt es, reiß aus vor dieſem mörderi-
ſchen Schwaben! Aber Münchhauſen ſteht, Münch-
hauſen ſteht wie ein Held, Münchhauſen wird als
Held zu fallen wiſſen. Karl! Karl! Ich muß den
Eſel mir ſelbſt herbeiholen.
Münchhauſen ſchoß in ſeiner rothen Uniform
gleich einer Feuerflamme des Herrn durch den
Vorſaal, die Treppe hinunter, aus dem Hauſe
nach dem Garten, um den Schneckenberg zu er-
klimmen, in deſſen Häuslein er den Diener ver-
muthete.
In dieſem Augenblicke kam der junge Jäger
vom Söller. Seine Schritte waren ſchwankend,
er hielt ſich, was er wohl noch nie gethan hatte,
am Treppengeländer feſt, wie ein Siecher. Es
mußte ihm etwas ganz Unerhörtes begegnet ſeyn,
denn man würde umſonſt verſuchen, den Ausdruck
ſeines Antlitzes zu ſchildern. Ein halbes Lächeln
[389] wurde von Zügen des äußerſten Schmerzes und
einer zornigen Verachtung durchſchnitten, Ueber-
raſchung, Spott, herber Unwille, dieſer vielleicht
nicht auf einen einzelnen Menſchen, ſondern auf
ein unbarmherzig neckendes Geſchick, kämpften auf
dieſen reinen Wangen, auf dieſer edeln Stirn,
wie Sonnenblitze, Regenſchauer, fahle Lichter und
tückiſche Wolkenſchatten an manchem Tage kämpfen,
den die Natur auserſehen zu haben ſcheint, ge-
heime Prozeſſe unter den Lamien, Empuſen und
Lemuren zur Entſcheidung zu führen.
Seine Piſtole brachte er nicht mit. An dem
Zimmer Münchhauſen’s ſchlich er vorbei, ſcheu wie
ein Verbrecher. Er hielt die Hand den Augen vor,
als fürchte er Jemand zu begegnen. Es war ein
Knarren und Knacken in dem alten wurmfräßigen
Schloſſe, als wolle der Baugeiſt, der es zuſam-
mengefügt, ausziehen.
In dem Nebel draußen ſtanden die Gegenſtände
unheimlich zu Schemen verſchattet. Er wollte eben
den Weg nach der Schloßſtraße einſchlagen, als ein
wilder Lärmen im Garten ſeine Schritte einen Au-
genblick lang hemmte. Auf den Geſang des Fräu-
leins, welchen er ſchon früher von weitem gehört
[390] hatte, war ſeine Aufmerkſamkeit nicht gerichtet ge-
weſen; plötzlich aber ward Münchhauſen’s Stimme
vernehmbar, welcher überlaut rief: Was! Hölle,
Teufel und alle Furien und Parzen —
„Jetzt holet das Schickſal, der Racker“ —
Das Fräulein kreiſchte:
„Erſt den Nußknacker, dann holt es mich!“
Gütiger Himmel, dieſe Kaiſerlich Birmaniſche
Uniform —
Dieſer Anzug, — das rothe Kleid, der Pa-
radiesvogel — o Tod und Elend! —
Das Gartenthor raſſelte. Eine Geſtalt kam
herbeigeſprungen. Es war Münchhauſen. Er hatte
den Hut verloren. Sein Haar flatterte im
Winde. Als er den Jäger erblickte, rief er keu-
chend: Bei meiner Ehre, ich wollte nicht ausrei-
ßen, aber —
Ich — kann mich nicht mit Ihnen ſchießen!
rief der Jäger und lachte zerſtört.
… Der böſe Feind iſt hinter mir … Saſſa!
Adieu! — Er ſprang fort und über die Mauer.
Das Fräulein kam gelaufen, auch flatternden
Haares. Rucciopuccio! Wo hatte ich meine Au-
[391] gen? — rief ſie und verſchwand nach wenigen
Schritten im Nebel.
Walpurgisnacht bei Tage! murmelte der Jäger
abermals. — Als er den Thalgrund erreicht hatte,
hörte er hinter ſich oben ein Krachen und dann
ein donnerartiges Getöſe, wie wenn ein Gebäude
zuſammenſtürzt.
[392]
Siebenzehntes Capitel.
Gedanken in einer Krypte.
Der Schriftſteller, welcher ſeinen Namen zu
dieſer Arabeskengeſchichte hergegeben hat, weil eben
kein Anderer zu finden war, ſah ſich achtſam
in der Krypte um. Dergleichen Krypten oder Klüfte
finden ſich unter vielen katholiſchen Kirchen.
Die Kirche, von welcher hier die Rede iſt,
gehörte ſonſt zu einer alten, reichen, nachmals
aufgehobenen und endlich bis auf die Fundamente
abgebrochenen Abtei. Sie iſt daher alt, reichver-
ziert, nur etwas in Verfall gerathen. Neben dem
Hochaltare und zu beiden Seiten deſſelben führen
die unter einem Ueberbau befindlichen Stufen in
die unterirdiſche Kirche. Durch Geräumigkeit und
überall hin vertheilte Zierrathen entſpricht ſie dem
oberen Tempel. Eine vierfache Reihe von kurzen,
dicken Säulen trägt das Gewölbe, an den Capi-
[393] tälern der Säulen ſind bizarre Vogel-, Schlangen-
und Menſchenköpfe angebracht; hinter dem Altare,
der ſich in der Austiefung nach Morgen befindet,
erhebt ſich das Kreuz und der Gekreuzigte hängt
daran, Maria und Johannes ſtehen unten am
Stamme des Kreuzes und dieſe ganze Gruppe iſt
von derber Fauſt mit grellen Zügen der Trauer
und des Schmerzes in Sandſtein ausgehauen, den
man, in der Abſicht zu verſchönern, mit glänzend
weißer Oelfarbe überſtrichen hat. Ringsumher ſind
Seitenniſchen, in welchen die Paſſionsgeſchichte in
kleineren Darſtellungen aus Holz oder Stein er-
ſcheint, untermiſcht mit Grabmonumenten der Aebte,
deren Einige dieſen unterirdiſchen Ort zu ihrer
Beſtattung wählten. Die Steine, welche von einem
Theile weggebrochenen Mauerwerks herrühren, lie-
gen in einigen unordentlichen Haufen in dem dü-
ſterſten Theile der Krypte umher, dazwiſchen liegen
auch Pfeiler, welche ſchadhaft geworden waren und
deßhalb hölzernen Stützbäumen haben Platz machen
müſſen, und einer iſt ſchief gegen die Wand gelehnt.
Auch hier verbreitete die ewige Lampe ein
dämmerndes Licht, welches mit dem durch die klei-
nen Fenſteröffnungen von außen einfallenden Ta-
[394] gesſcheine verbunden, die wunderbarſten Schatten-
ſpiele um die Gruppe am Kreuz, um die Kriegs-
knechte, die den Heiland begleiten, um Simon
von Cyrene, an den Gräbern, an den Pfeilern
und ihren Capitälern umher ſchuf, und ſelbſt zwi-
ſchen den Schutthaufen und den umgewandten
Pfeilern dunkle geiſterhafte Winkel errichtete. Die
Züge des Schmerzes ſahen in dieſem Lichte noch
ſchärfer und entſetzlicher aus, ein fürchterlicher
Hohn ſchien von den Fratzen an den Capitälern
in ſie hineinzuſchreien; Schutt und Trümmer er-
ſchienen größer als ſie waren.
Solche Krypten wurden als Grabeskirchen um
die Gebeine der Märtyrer ausgetieft, über welchen
ſich die Kirchen der alten Zeit erhoben. Denn
wie das Heidenthum die Erfindungen des Lebens
verewigte und die Stätten feſtlich bezeichnete, wo
das Roß entſprang und der erſte Oelbaum gepflanzt
wurde, ſo hat das Chriſtenthum mit ſeiner Erfin-
dung Beſitz von der Erde genommen, mit dem
Grabe. Erſt das Chriſtenthum hat das Grab er-
funden und ſeine ſüßen Zauber. Die morſchen Kno-
chen der Enthaupteten, Gepfählten und Geſteinig-
ten machten, wo ſie lagen, das Land in der Runde
[395] umher zinsbar und über dem Erdreiche, welches
das Blut der Zeugen gedüngt hatte, blühten die
Rieſenblumen, die Dome, auf, in welchen Andacht,
Askeſe, Pracht des Cultus und die Magie der
Künſte wie ein berauſchender Duft wallte und
wehte. —
Geadelt wurden die Grabeskirchen durch den Ge-
danken an die Katakomben und Höhlen, in welchen
die erſten Geſchlechter der Bekenner den Auferſtan-
denen feierten, durch den Gedanken an das Grab
der Gräber, welches den Auferſtandenen zu feſſeln
unvermögend geweſen war.
Der Wanderer erlebte an dieſem einſamen Orte,
wo alles Geſpenſtiſche, Schattenartige, Sonnen-
abgewandte der Religion ſich zu einer Leichenorgie
zuſammengefunden hatte, eine jener Stunden, die
er ſeine myſtiſchen nennt, von denen er aber nach-
mals nur ſtammelnd Rechenſchaft zu geben weiß.
In dieſen Stunden malt ihm ſeine Phantaſie keine
glänzenden Bilder vor, noch erlegt ihm der Ver-
ſtand, der ſcharfe Schütz, einen haltbaren Satz,
noch treibt ihm das Gefühl Thränen in das Auge,
ſondern er iſt in den Dingen und ſie ſind in ihm.
Ihr weſenhaftes Leben iſt der Pulsſchlag ſeines
[396] Blutes. — Indem er auf einem der umgeſtürzten
Pfeiler ſaß, den Kopf auf den Arm geſtützt, um-
ſpielt von den Schatten und Lichtern dieſer Gra-
beskluft, war er in den frühen, buntgemiſchten
Urſprungszeiten des Chriſtenthums und ſah die
Götter im Streite mit dem Lamme. Lamm und
Olymp kämpfen um die Seelen der gottverworre-
nen Menſchen, die mit der einen Hand ſich an
dem geheiligten Zeichen der äußerſten Schmach, mit
der andern an den Hörnern des Altars anklammern.
Sie eſſen das Fleiſch und trinken das Blut des
Gottes, um den neuen Bund in ſich zu ſtärken;
bis in die Grüfte der Todten wird der verwan-
delte Wein geſpendet, um die Abgeſchiedenen von
Hades und Tartarus fern zu halten und im Him-
melreiche zu conſigniren, aber das hilft Alles nichts,
die Götter ſind ſchlau und ſchleichen ſich unter
mancherlei Verkleidungen in das feindliche Lager,
dort neckenden Mißverſtand, Irren und Wirren
anzurichten. Der Vogel der Juno ſpreizt ſein
Rad an den Wänden der Katakomben aus und
ſchreit von Unſterblichkeit, Bachus der Gott ſchickt
ſeine Tiger, ſchleudert den Wurfſpieß in den Wein-
berg des Herrn, Apoll erinnert ſich, wie er bei
[397] Admeten die Schafe gehütet und masquirt ſich als
guter Hirte, frech zeigt ſich ſogar der Phallus in
der Welt, welche Entſagung buchſtabirend einlernt,
das allerſchwerſte Wort, das Wort, immer wieder
von der armen Menſchenlippe vergeſſen.
Eigenthümliches Kampfgewimmel, ſchwärmen-
des Larvenſpiel der Vorſtellungen! Wunder auf
Wunder müſſen geſchehen, um die Macht des drän-
genden Paganismus abzuwehren; dieſe Zeiten,
die man zu den einfachſten, geiſtigſten des Chri-
ſtenthums hat umprägen wollen, ſind die ſinnlich-
ſten, materiellſten; man will es mit Händen grei-
fen, das Heilige, der Glaube hat ſich in ſeinen
eigenen Tiefen anſtatt der Wolken, die Zeus ver-
ſammelt, und der Furche, in welche Demeter das
Korn ſät, einen neuen Stoff erzeugt. Dieſer Stoff
iſt die Thräne, das Leiden, das Geheimniß, die Ent-
zückung. Er ſchwelgt an dem Stoffe, er genießt ihn.
Und nun? — Wer mag die Strömung nennen,
in welcher das Schiff unſerer Tage fährt. Wer
das Wort des Räthſels ausſprechen, an dem die
Geſchlechter der Erde nagen? So viel iſt richtig;
der Tod und der Himmel ſind zurückgewichen in
den Hintergrund der Gedanken, und auf der Erde
[398] will der Menſch wieder menſchlich heimiſch werden.
Heißt das: Er will das Fleiſch bei Champagner
und Auſtern emancipiren? Nein. Heißt’s: Die
Erde ſoll ihm nur das Miſtbeet ſeyn, in dem er
ſich ſein Gemüſe zieht? Nein. — Sondern mit
den Blitzen ſeines Geiſtes will er die Erde durch-
dringen, daß ſie geiſtſchwanger werde, er will ſich
an ihr eine Freundin ſeiner beſten Stunden, eine
ernſte und doch heitere Gefährtin ſeiner reifſten
und männlichſten Jahre gewinnen.
Und da wird wieder die Religion in das Mit-
tel treten müſſen. Denn die Weltgeſchichte iſt
immer nur das Gewand der Gottesgeſchichte. Aber
wie? Der Athem der Zeit ſauſet, und wen er
berührt, der weiß nicht, wie er geſtern dachte,
noch wie er morgen denken wird. Abgethan liegt
das Mittelalter hinter uns mit ſeinen zwei Ent-
deckungen, der Hierarchie und der chriſtlichen Kunſt.
Die Kunſt büßt, wo ſie ſich jetzt gegen den Him-
mel wenden will, ihre Naivetät ein und mit der
Naivetät hat eine Kunſt ihre Jungfrauſchaft ver-
loren und mit ihrer Jungfrauſchaft Alles. Denn
die Kunſt wird nie ehrbare Hausfrau und Mutter;
ſie iſt entweder Jungfrau oder Metze. — Rom
[399] kann noch donnern und blitzen, es kann von man-
cher ſäuerlichen Stimmung ausgebeutet werden,
es kann ſogar noch großen Nutzen ſtiften durch
Verbindung mit tüchtigen Welfen allzutölpelhaften
Ghibellinen gegenüber, aber ſein Regiment iſt vor-
bei, ſeitdem ſelbſt mancher Bauer weiß, daß man
der Sonne nicht gebieten dürfe, um die Erde zu laufen.
Alſo eine neue Entdeckung thut der Religion
Noth, wenn das dritte Weltalter anbrechen ſoll.
Wie, wenn es abermals etwas von einem heiteren
Paganismus annähme? — Wenn das Formeln- und
Dogmenweſen aufhörte, und die Satzungen des
tridentiniſchen Concils und die Sätze der ſymbo-
liſchen Bücher ſich völlig und ehrlich antiquirten,
anſtatt die gegenwärtige fictive Herrſchaft noch ſo
fortzuſchleppen? Wenn die Sprüche des Evan-
geliums nicht mehr gebraucht würden, die Men-
ſchen und die Verhältniſſe zu verwirren? Wenn
Jeder ſich rechtſchaffen überzeugte, das Chriſten-
thum ſei eine von Ewigkeit beſchloſſene und in
Ewigkeit fortzeugende Thatſache, erhaben über die
kleinliche Diplomatie, die ſich in der Folgerung
offenbart: Das darf nicht zugegeben werden; denn
ſonſt fällt auch das und das über den Haufen?
[400]
Der Geiſt der Geſchichte muß allgemeiner die
Geiſter durchdringen, als bisher geſchehen iſt. Die
Kirchengeſchichte muß die Menſchen mehr belehren
als der Katechismus und das Credo und das
Symbolum. Sich inniglich und haltbedürftig als
eines der letzten Glieder der großen Kette zu em-
pfinden, die aus unzähligen Ringen beſteht, unter
denen auch die Secten, die Ketzereien, der Krieg
gegen die Waldenſer und die Weihnacht zu Ca-
noſſa ſo wenig fehlen dürfen, als die Concilien,
die Gedanken der Kirchenväter und die Glaubens-
thaten der Reformatoren — das wird das neue
Chriſtenthum ſeyn, welches mit der Krippe zu
Bethlehem im Buſen des Gläubigen beginnt und
in deſſen letzten andächtigen Minute die jüngſte
Offenbarung feiert. Die Erleber dieſer neuen Con-
feſſion (denn Lippen werden nicht oft ſie zu beken-
nen vermögend ſeyn, weil dieſes Dogma über
das Wort hinausgeht) werden zugleich Katholiken
ſeyn und Proteſtanten und Quäker und Ketzer.
Anfangs wird die Gemeine klein ſeyn und verach-
tet oder des abſcheulichſten Indifferentismus be-
züchtiget, nach und nach wird ſie ſich ausbreiten
und zuletzt die allgemeine Kirche werden.
[401]
Die Stiftung dieſer Kirche wird nicht von
dem Willen der Einzelnen abhangen. Unbewußt,
durch ſchwere, vielleicht furchtbare Ereigniſſe wird
der Geiſt Gottes ſein unwiderſtehliches Nöthigungs-
recht ausüben. — Aber ſo ausgeweitet, in dieſem
erſchloſſenen Bewußtſeyn, wird der Menſch erſt
würdig ſeyn, von der Erde auf neue Weiſe Beſitz
zu nehmen. Dann wird ſie ihm Kränze bieten,
deren Duft und Glanz noch Niemand ahnet. In
dem Sinne werden der Enkel Enkel wieder Hei-
den werden, daß ſie es für Gewinn achten, wenn
ſie einen Gott mehr bekommen.
[402]
Intermezzo.
Während der Schriftſteller ſich in der Krypte
ſeinen zur Zeit noch verbotenen Gedanken ergab,
trug ſich in der nahen Schenke eine derbe Scene
des Lebens zu. In der Stube nämlich fuhr durch
einen Kreis gaffender Bauern eine Geſtalt, deren
auffallender Anzug durch die Eile, womit ſie ihr
Ziel verfolgt hatte, in Unordnung gerathen war.
Sie hatte eine Erkundigung angeſtellt, welche ihr
von den Bauern nicht hatte gegeben werden kön-
nen, und war darauf raſch zur Thüre hinaus wie-
der dem Ziele ihrer Verfolgung nachgeeilt. Ob-
gleich dieſe Geſtalt die wunderlichſte und lächer-
lichſte Figur bildete, ſo lachten die Bauern dennoch
nicht, ſondern ſtanden in ſtummen, nachdenklichen
und zum Theil verlegenen Gruppen umher. Ei-
nige ſtrichen ſich das Haar glatt, Andere ſagten:
Hm! und Zwei legten den Finger an die Naſe.
In der Mitte aber ſtand ein Mann, deſſen Anzug
eine etwas höhere Beſchäftigung anzeigte, denn er
[403] trug einen abgeſchabten grauen Frack und eine
gelbe Nankingmütze mit einer Troddel. Dieſer
hatte eine beſonders nachdenkliche Miene angelegt,
er öffnete endlich ſeinen Mund und ſprach: Hab’
ich’s Euch nicht hundertmal geſagt, Leute, die
Natur ſteckt voller Wunder, hab’ ich’s nicht?
Choc, Gegenchoc, das iſt ein großes Geheimniß.
Die Bauern gaben ihm theils mit Worten,
theils durch Gebärden Recht, denn er erfreute ſich
unter ihnen einer großen Autorität. Er war der
Chirurgus, welcher Lisbeth verbunden hatte und
erklärte alle Uebel, welche den Menſchen treffen
können, aus dem Choc und Gegenchoc, wie er ſich
in ſeiner Terminologie ausdrückte.
Zum Beiſpiel, fuhr der Chirurgus fort, indem
er ein Glas Wachholderbranntwein gegen den böſen
Nebel trank; die Natur draußen wird im Herbſt,
oder ſo gegen das Frühjahr rheumatiſch, das thut
ein Geſchnaube von Winden hin und her, in die-
ſem Augenblicke warm, im nächſtfolgenden kalt,
Regnen und Graupeln vom Himmel, Feuchtigkeit —
mit einem Worte: Katarrh draußen — Choc —
Gleich die Natur inwendig auch zu ſchnauben an-
gefangen — Hitze, Kälte, Augen thränend und
26*
[404] fließend — Katarrh inwendig — Gegenchoc! Ver-
ſtanden, Leute?
Die Bauern bejahten und gaben dem Chirur-
gus vollkommen Recht, denn ſie hatten ſeine Theo-
rie an Feier- und Werkeltagen oftmals vortragen
hören, und ſie mit ihrem Spruche: Wie du mir,
ſo ich dir, vollkommen übereinſtimmend gefunden.
Aber wie die Anwendung derſelben auf die Perſon
zu machen ſei, welche ſo eben das Zimmer ver-
laſſen hatte, darüber waren ſie weniger im Klaren.
Sie erwogen in ihren Geſprächen, wie das Fräu-
lein, worüber ſie immer, wo ſie ſich gezeigt, we-
gen ihren „gecken“ Reden gelacht, nun auf einmal
ſo gefaßt und ganz bei ſich unter ſie getreten ſei,
ſie gefragt habe, ob ſie keinen Mann in rother
Uniform vorbeikommen geſehen, wie das Fräu-
lein ſie beſchworen habe, ihr die Wahrheit zu
ſagen und zu glanben, daß ſie wohl wiſſe, was
ſie thue, denn ſie habe zwar früher viel an einen
Fürſten gedacht und an ein Stiftskreuz, aber es
könne ſeyn, daß dergleichen nur Lüge von einem
Anderen, oder eine Einbildung von ihr geweſen
ſei, den Mann jedoch habe ſie plötzlich an ſeiner
rothen Uniform und an einem Liede wirklich und
[405] wahrhaftig wiedererkannt, und dieſen Mann müſſe
ſie ausforſchen, denn er habe ihr einſt großes Un-
recht zugefügt, und dafür müſſe er ihr Genug-
thuung leiſten, ſollte ſie ihn auch bis an das Ende
der Welt verfolgen. — Sie brachte das Alles ſo
erbärmlich und anzüglich und ſo recht adrett her-
aus, daß man ihr glauben mußte, und daß wir
ihr gern den Rothen entdeckt hätten, wäre er
uns nur bekannt geweſen, ſagte der alte Bauer,
der ſich am geſprächigſten in jenen Erläuterungen
gezeigt hatte. — Aber wo liegt hier der Choc?
ſetzte er fragend hinzu.
Ja, und abſonderlich der Gegenchoc? fragte
ein jüngerer Bauer.
Der Chirurgus ließ ſich noch ein Glas Wach-
holderbranntwein geben, um ſeine Darſtellungs-
kräfte zu ſchärfen, ſo thaten auch die Bauern um
ihre Faſſungsgaben zu ſtärken. Nachdem die Glä-
ſer geleert und dem Wirthe zurückgegeben worden
waren, erhob der Chirurgus wieder ſeine Stimme
und ſprach: Das wißt Ihr doch Alle, Leute, daß es
ſich bei den Frauensperſonen lediglich und ganz
allein um den Punct dreht, ob ſie einen Mann
kriegen oder ob ſie keinen Mann kriegen?
[406]
Verſteht ſich! riefen die Bauern ohne den min-
deſten Zweifel.
Nun alſo. Ein Frauenzimmer, wie à propos
das Fräulein, hat keinen Mann, aber vor Alters
einen Liebhaber gehabt. Der Liebhaber iſt weg —
Einſamkeit — lauter Einbildungen, Geckereien —
pure Verrücktheit — Fürſt — Stiftskreuz. —
Plötzlich von draußen der alte Liebhaber wieder
da — Choc —
Freudig riefen die Bauern: Aha! Inwendig
im Frauenzimmer auch nichts als der ſimple Liebha-
ber — ſchlechtweg — Frauenzimmer wieder klug —
Gegenchoc!
Der Chirurgus ſah mit großer Genugthuung
umher und empfand ein außerordentliches Behagen,
daß ſeine Lehren in dieſem Kreiſe ſchon ſo tiefe
Wurzeln geſchlagen hatten und daß die Bauern
mit einer leichten Nachhülfe von ſeiner Seite fertig
zu argumentiren wußten. Das Geſpräch zwiſchen
ihm und den Bauern ſetzte ſich nun über denſelben
Gegenſtand, nämlich über die Verwandlung des
Fräuleins, fort, und mancher Wunſch wurde laut,
daß es ihr gelingen möge, ihren rothen Liebhaber
einzuholen, obgleich es, wie Einige bemerkten,
[407] verwunderlich ſei, daß eine ſo alte Perſon hinter
einem Manne her durch die Welt laufe. — Sie
ſah aber auch heute im Geſicht ganz anders und
jünger aus, bemerkte Einer. Das kam von der
kalten Luft, verſetzte ein Anderer. Nein, vom
Gegenchoc, ſprach der Chirurgus mit Anſehen und
ſchloß durch dieſes Wort die Debatte.
Während der Geſpräche, deren Inhalt ſo eben
nothdürftig angeführt worden iſt, fütterten vier
Pferde vor dem Eingange zur Schenke aus Krip-
pen, die ihnen untergeſtellt worden waren und in
welche der Poſtillion Brot einſchnitt, in der Wirths-
ſtube aber ſaß ein ernſter Mann hinter dem Tiſche
in der Ecke. Die Pferde gehörten zu einer glän-
zenden Reiſeequipage, welche an den Schlägen ein
adeliches Wappen zeigte, unten und oben Maga-
zine und hinten einen Sitz hatte, in welchem eine
ſchlafende Kammerjungfer ſaß, während der Kam-
merdiener, der mit ihr ſonſt den Sitz theilte, neben
dem Schlage ſtand und in dieſer vom Dienſt freien
Pauſe eine Cigarre rauchte. Denn die Herrſchaft
war ungeachtet des dichten Nebels nach einer nahen
romantiſch gelegenen Klippe gehüpft, um ſo viel
zu ſehen, als eben zu ſehen war. Gehüpft —
[408] muß es heißen, denn ſie gingen nicht, ſondern
ſie hüpften, wann ſie aus dem Wagen ſtiegen.
Es waren junge vornehme Gatten, die unmittel-
bar nach der Vermählung ihr friſches Glück durch
die Welt ſpazieren führten.
Der Mann in der Stube ſaß dagegen ſehr
ernſthaft hinter einem Buche und las. Er war
ein alter Bekannter, ſogar ein Stück von einem ehe-
maligen Nebenvormunde der jungen Dame. Zufällig
hatte ſie ihn einen Tag nach ihrer Vermählung
mit dem Cavalier aus den öſterreichiſchen Erblan-
den getroffen, von ihm erfahren, daß auch er eine
Rheinreiſe anzuſtellen im Begriff ſtehe und ihm
ſogleich einen Platz in ihrem Wagen angeboten.
Der junge Ehemann machte zwar über dieſen Zeu-
gen ſeiner Flitterwochen ein etwas verdrießliches
Geſicht, die junge Dame ſpürte einen Augenblick
ſpäter aus gleichem Grunde eine leichte Reue,
aber Verdrießlichkeit und Reue kamen zu ſpät, denn
der ernſte Mann hatte das liebenswürdige Erbie-
ten ſchon angenommen. Man mußte ſich alſo zu-
ſammen auf den Weg begeben und in einander zu
ſchicken ſuchen, wie es gehen wollte. Nicht wenig
lachte die junge Dame, als ſie erfuhr, welches
[409] der eigentliche Reiſezweck ihres Begleiters ſei. Sie
meinte, es ſei wunderſeltſam, daß die Vernunft
hinter der Thorheit her jage, das Einholen ſei
zweifelhaft, denn die Vernunft habe Elephanten-
füße und die Thorheit federnde Sohlen. Und als
er über dieſe leichten Reden ein verſtimmtes Ge-
ſicht machen wollte, ſo hatte ſie muthwillig geru-
fen: Was gilt die Wette, daß Sie der Einzige
von uns Allen ſind, welcher auf dieſer Reiſe Schwa-
benſtreiche begeht?
Nie war eine verſchiedenartigere Geſellſchaft
zuſammen auf Reiſen geweſen. Die jungen Gat-
ten wollten immer weiter, immer weiter, in Maynz
ſprachen ſie von Rotterdam, in Coblenz von Am-
ſterdam, in Cöln ſprach der junge Cavalier von
England, was beſucht werden ſolle, ſeine Dame
rief: Nein, Schottland muß ich wenigſtens ſehen!
— Der ernſte Begleiter ſehnte ſich dagegen ſchon
nach den erſten zwanzig Meilen in ſeine Amtsſtube
zurück. Den jungen Gatten war kein Thurm zu
hoch und kein Felſen zu ſteil, ſie mußten ihn er-
klimmen; er blieb dagegen meiſtentheils unten,
und ſuchte ſich ſo leidlich als möglich im Thale
auf ſeine eigene Hand zu unterhalten. Wenn die
[410] Dame nun davon hörte, ſo kannte ihre Munter-
keit keine Schranken. Doch waren ihr und dem
Gemahle die beſonderen Neigungen, denen ihr Ge-
fährte unterweges nachging, nicht gerade unlieb,
denn er ſtörte ſie deßhalb weniger, als ſie anfangs
befürchtet hatten.
Dieſer Mann beſaß ein ſehr ehrliches, wohl-
gebildetes, aber etwas aſchgräuliches Geſicht, und
zwiſchen Naſe, Wangen und Kinn die Runzel, welche
man die Actenrunzel nennen kann. Er mochte in
der Mitte der Dreißig ſtehen, ſah jedoch viel älter
aus. Er gehörte zu einer Claſſe von Reiſenden,
die Yorik nicht in der Vorrede im Deſobligeant
aufzählt, und die immer mehr ausſtirbt; er war
der Geſchäftsmann auf Reiſen.
Der Oberamtmann Ernſt vom Schwarzwalde
— denn ſo wird er wohl heißen — hatte unter-
weges nur Gedanken an ſein Amt, an ſeinen alten
Actuarius und an die gelb angeſtrichenen Schränke
ſeines Archives. Ihn verließ der Aerger darüber
nicht, daß er es bei ſeiner Oberbehörde nicht hatte
durchſetzen können, die Formulare zu den gewöhn-
lichen Expeditionen lithographiren laſſen zu dürfen,
wodurch nach ſeiner innigſten und pflichtmäßigſten
[411] Ueberzeugung nicht allein Zeit, ſondern ſelbſt Auf-
wand an Koſten erſpart werde; ein Punct, der
ihm beinahe das Herz abſtieß, denn, pflegte er
für ſich zu ſagen, wenn der Unverſtand zu breit
regiert, ſo wird er dem ruhigſten Staatsbürger
unerträglich. — Gern wäre er ſchon bei Frank-
furt wieder umgekehrt, und nur die Vorſtellung,
daß dieſe Reiſe ein Geſchäft ſei, hielt ihn bei ihr feſt.
Ihr Ende wünſchte er jedoch mit Sehnſucht heran.
Indeſſen ſollte ſein Beharren doch auch einen
Lohn empfangen, der ihn einigermaßen ſchadlos
hielt für die Felſen, Burgen, Kirchen, Samm-
lungen, die er, wie er vielleicht nicht ganz unrich-
tig bemerkte, daheim ſchon eben ſo gut geſehen
hatte. In der Nähe des Rheins und den Strom
entlängſt begannen nämlich die Reſte der franzöſi-
ſchen Verwaltung und die öffentliche Gerichtspflege,
welche ihm neu war, ſeine Aufmerkſamkeit zu
feſſeln und nahmen bald ſein ganzes Intereſſe in
Anſpruch. Nun gab es kein Regierungs- und kein
Juſtizhaus, was er nicht beſuchte, ja ſeine Wiß-
begierde erſtreckte ſich bis zu den Friedensrichtern
und Polizeibüreaus hinunter. Er ſtellte ſich überall
ſelbſt als den Oberamtmann Ernſt vom Schwarz-
[412] walde vor und in dieſem dienſtlichen Charakter ge-
lang es ihm, mit Geſchäftsleuten mannichfaltige
Verbindungen anzuknüpfen, die ihm bisweilen auf
Spaziergängen am Strome unter Klippen und
Trümmern, oder byzantiniſchen Portalen und Wein-
hügeln vorbei zu ſchönen Aufſchlüſſen über Stempel-
ſachen verhalfen, oder ihn mit dem Mechanismus der
Sicherheitspolizei bekannt machten. Dann und wann
hatte er ſelbſt den Troſt, ſeinen Gram über die nicht
zu erlangen geweſene Lithographirung der Formu-
lare in den vertrauten Buſen eines Friedensrich-
ters auszuſchütten, der ähnliche Gebreſten über
die Kurzſichtigkeit ſeiner Vorgeſetzten ihm verſtoh-
len entdeckt und ihm dadurch eine Zuverſicht auf-
geregt hatte. So konnte er denn eher die Be-
ſchwerden dieſer Reiſe ertragen. Er ließ das junge
Ehepaar, wie er ſich ausdruckte, umherraſen nach
Belieben, und fing an, ſich in der Fremde mehr
zu Hauſe zu fühlen. War er auf ſein eigenes
Selbſt angewieſen, ſo las er in dem Buche, wel-
ches er mitgenommen hatte, nämlich im würtem-
bergiſchen Geſetzbuche. Er war, nachdem er ſich
ſo eingerichtet hatte, jetzt zuweilen recht munter.
Nur darüber empfand er Kummer, daß in keiner
[413] der Rheinſtädte, welche die Reiſe berührte, gerade
Aſſiſen gehalten wurden. Denn einer ſolchen Ver-
handlung beizuwohnen wäre ſeine höchſte Freude
geweſen, weil er nicht zu begreifen vermochte, wie
man einen armen Sünder bloß ſo mündlich und
ohne wenigſtens hundert Protocolle zum Schaffot
befördern könne. Von Cöln war er, wie er dem
Jäger früher angekündigt hatte, rechts abgegan-
gen nach Weſtphalen. Gern wäre er allein gerei-
ſet, aber die junge Dame Clelia bekam plötzlich
die Laune, ihren Vetter, den ſie ſehr lieb hatte,
auch ſehen zu wollen, und ſo mußte er ſich mit
einem ſauerſüßen Geſichte unendlich glücklich ſchä-
tzen, noch länger die Ehre des Zuſammenſeyns
mit ihr zu haben.
Nach der Klippe, die in der Nähe dieſer Schenke
über einem rauſchenden Waldbache hing, mitzuge-
hen, hatte er natürlich auf das Entſchiedenſte und
Höflichſte abgelehnt, ſich vielmehr während des
Aufenthalts zu ſeiner Lectüre niedergeſetzt. Dieſe
brachte in ihm ſtäts eine Art von Rauſch hervor.
Er fühlte ſich immer, ſo lange er in dem würtem-
bergiſchen Geſetzbuche las, oder unmittelbar nach
der Leſung der Gegenwart und Umgebung entrückt.
[414] Dadurch hätte er heute faſt eine unangenehme
Scene haben können.
Die Erſcheinung des Fräuleins zog ihn näm-
lich eine Zeit lang von dem Buche ab. Er be-
trachtete ihren Anzug, er hörte ihre Reden und
ſeine Meinung hatte ſich bald feſtgeſtellt. Nachher
vernahm er von den Geſprächen der Bauern und
des Chirurgen wenig oder nichts, denn er wünſchte
die Materie zu Ende zu leſen, bei deren Erwägung
ihn jener ſonderbare Auftritt geſtört hatte. Als
dieſes geſchehen war, ſtand er auf, ging zu dem
Haufen und fragte mit Würde, indem ſein Auge
den Chirurgen als einen Nichtlandmann herausge-
funden hatte: Iſt hier Niemand unter Euch, der
eine Art von Amt bekleidet?
Die Bauern, die bisher nicht auf ihn geachtet
hatten, betrachteten ihn jetzt aufmerkſam und neu-
gierig. Schon ſeine Bekleidung mußte ihre Ver-
wunderung erregen, denn eine dergleichen war in
dieſer Gegend noch nicht geſehen worden. Er trug
nämlich gegen Regen und Staub einen ſogenann-
ten Mackintoſh, welcher offenſtehend, dem Manne
das Anſehen einer Vogelſcheuche, zugeknöpft aber
die Geſtalt einer Wurſt giebt. Der Oberamtmann
[415] hatte ihn zugeknöpft und ſah daher aus wie eine
Wurſt. Dieſer Rock und die plötzliche Frage
machte die Bauern ſtutzen; ſie ſtießen einander an,
flüſterten, aber Niemand gab eine Antwort.
Iſt hier Niemand unter Euch, der eine Art
von Amt bekleidet? wiederholte der Oberamtmann,
ſchärfer betonend.
Der Chirurgus trat vor, denn ſeine Ehre er-
laubte ihm nicht, auf eine ſo beſtimmte Frage
anonym zu bleiben. Er war ſich zwar bewußt, keiner-
lei Staatsexamen gemacht zu haben und mitunter in
Nothfällen auch zu raſiren; das ſchadete aber dem
Gefühle ſeiner Würde nicht und trotzig, das Che-
miſet aus der Weſte zerrend, ſagte er: Aller-
dings habe ich ein Amt in dieſer Gemeine, nicht
eine Art von Amt, ſondern ein Amt.
So geht, Freund, jener Perſon nach und
bringt ſie zum Vorſteher, damit ſie nach ihren Pa-
pieren befragt werde, denn ihr Anzug und ihr gan-
zes Betragen war höchſt auffallend, und das Paß-
reglement ſchreibt vor, auf ſolche Verdacht erregende
Individuen überall Augenmerk zu haben.
Freundſchaft, verſetzte der Chirurgus mit dem
landüblichen Ausdrucke, ich verſtehe Euch nicht.
[416]
Der Oberamtmann, welcher ſich weit aus Weſt-
phalen entrückt wähnte, rief zornig: Ich ſage Euch,
Ihr ſollt mit jener Perſon zum Gemeinevorſteher
gehen.
Freundſchaft, erwiederte der Chirurgus, wenn
Ihr etwas bei’m Vorſteher zu ſuchen habt, ſo geht
ſelbſt zu ihm. — Die Bauern murrten und dräng-
ten ſich halb lachend und halb ergrimmt näher.
Der Oberamtmann, der vom Schwarzwalde
her die Mittel kannte, widerſpänſtige Eingeſeſſene
zum Gehorſam zu bringen, warf rollende Blicke
im Kreiſe umher und rief mit ſtarker Stimme:
Wißt Ihr, wer ich bin?
Ihr ſeid nicht recht klug, Freundſchaft, fuhr
der Chirurgus heraus, der in ſo ſtarker Geſell-
ſchaft einen ausnehmenden Muth beſaß. — Sich
vergeſſend, trat der Oberamtmann auf ihn zu,
die Hand erhoben, die Bauern aber drängten ſich
tumultuariſch zwiſchen Beide, der Chirurgus ſah
in ſolcher Verſchanzung ſehr giftig und tollkühn
aus, ein Bauer fing die aufgehobene Hand des
Oberamtmannes, zwei Andere zerrten hinten an
dem Mackintoſh, ſo daß die Figur des Oberamt-
manns dem Schmetterlinge zu gleichen begann,
[417] welcher der Trauermantel heißt, die Anderen ließen
bedrohliche Gebärden ſehen, und die wildeſte Unbill
ſtand bevor, wenn nicht in dieſem verhängnißvollen
Augenblicke das junge Paar die Stube betreten
hätte.
Clelia hatte auf einen Augenblick ihre Laune
eingebüßt und ſich ſchüchtern hinter den Gemahl
geſtellt. Dieſer rief den Bauern einige freundlich
begütigende Worte zu, und da ſie ſchon wußten,
daß er ein Vornehmer war, ſo ließen ſich die Leute
auch ſogleich beſchwichtigen. Die Hand des Ober-
amtmannes wurde ihrer Haft entlaſſen. Der Ma-
ckintoſh bekam ebenfalls ſeine Freiheit wieder, die
Bauern ſetzten ſich ſtill in eine Ecke. Nur der
Chirurgus drohte noch einigemale von fern mit der
Fauſt.
Clelia ſaß bei dem Buche und ſah lächelnd
nach dem Oberamtmanne, der verlegen und ver-
drießlich im Zimmer auf und nieder ging. Um
des Himmels willen, was hatten Sie denn hier
vor? fragte ihn der junge Cavalier leiſe.
Dieſe Schelme verſagten mir den Gehorſam,
als ich Einen zu dem Gemeinevorſteher ſchicken
wollte, polterte der Oberamtmann.
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 27
[418]
Aber, mein Gott, Freund, wir ſind ja nicht
im Schwarzwalde, ſagte ſein Reiſegefährte lächelnd.
Hier ſchien der eifrige Beamte erſt wieder ganz
zu ſich ſelbſt zu kommen. Er warf einen beſtürz-
ten Blick auf ſein Buch, wurde etwas roth und
ſtotterte: Man kann ſich wohl einmal vergeſſen,
wenn man ſich in eine Materie vertieft hat. —
Er wollte das Buch nehmen, der Cavalier kam ihm
aber zuvor, las den Titel und rief verwundert:
Wie? Sie ſtudiren gar auf der Reiſe in Ihrem
Geſetzbuche? — Ich habe es allerdings mitgenom-
men, verſetzte der Oberamtmann, um in müſſigen
Stunden, deren es auf Reiſen manche giebt, einige
ſchwierige Puncte darin reiflicher zu überdenken,
als dieſes bei der Geſchäftslaſt zu Hauſe möglich iſt.
Clelia ſummte halb ſingend zwiſchen den
Lippen:
Ihr Gemahl biß ſich auf die Lippen und Alles
ſah dem Ausbruche eines Gelächters über den ar-
men Oberamtmann ähnlich, als dieſer ſich mit gro-
[419] ßem Ernſte zu der jungen muthwilligen Dame
wandte und ſagte: Gnädigſte Frau, wenn Sie
mich für eine Art von Acten-Don Quixote halten,
dem das würtembergiſche Landrecht überall ſeinen
Oberamtsbezirk phantasmagoriſch zeigt, ſo erlaube
ich mir Ihnen zu erwiedern, daß der Ritter von
La Mancha in ſeinem Wahne von einer Zeit der
Großmuth, Tapferkeit und Courtoiſie in einer
nüchternen Gegenwart durchaus nicht gering zu ſchä-
tzen war, und daß daher, wer jetzt in dieſer zer-
fahrenen, reiſenden, umherrennenden Zeit nur in
einem Dinge, und ſei es auch nur das würtem-
bergiſche Landrecht und ein Oberamtsbezirk, zu
Hauſe ſeyn mag, keinesweges zu den ſchlechteſten
Staatsbürgern gehören dürfte.
Auf dieſe komiſch-feierliche Anrede ſtreifte die
junge Dame den Handſchuh von ihrer weißen Hand,
hielt dieſe zum Kuſſe dem Geſchäftsmanne hin und
ſagte: Ich vergebe Ihnen, denn eigentlich blutet
Ihnen doch das Herz, Ernſt, wenn Sie ſich ſo
rauh gegen mich anſtellen, was Sie freilich meines
Gemahles wegen thun müſſen, um ihn nicht eifer-
ſüchtig zu machen, da man ja weiß, daß ich immer
Ihre ſtille Liebe war.
27*
[420]
Solchen plötzlichen Wendungen war er nicht
gewachſen und wußte ihnen um ſo weniger zu
ſtehen, als es ihm immer beſonders wohl that,
wenn man ihn für eine zärtliche Natur hielt. Er
beugte ſich daher auf Clelia’s Hand, küßte ſie
nicht ohne Ausdruck, ſah ihr gedankenvoll in das
ſchöne, blühende Antlitz, ſeufzte und lachte dann
plötzlich, wie in tiefer Zerſtreuung, auf. In dieſes
Lachen waren nunmehr die jungen Gatten einzu-
ſtimmen berechtigt und ſo endete der ganze Ein-
hergang luſtig.
Der Kammerdiener meldete, daß der Oberhof
nur wenige Stunden entfernt ſei. Clelia aber,
die noch bis vor Kurzem ihr Vergnügen geäußert
hatte, den Vetter mitten aus den Bauern her-
auszuholen, änderte jetzt plötzlich, was ihr täglich
zu öfterem begegnete, ihre Meinung, hielt es für
ſchicklich, nach der Stadt zu fahren und Oswald
dahin beſtellen zu laſſen. Wie hätte der junge
Gemahl, der nichts als Gluth und Zärtlichkeit
war, wie hätte der geheime zärtliche alte Anbeter
widerſtehen können? So ſchwebte denn die kleine
volle Geſtalt, die ein braunſeidener Ueberrock knapp
umſchloß, am Arme des Gemahls graziös zur
[421] Thüre hinaus und zeigte, als die Männer ihr die
Hand zum Einſteigen boten, das zierlichſte Bein
über dem feinen Fuße. Der Oberamtmann er-
klärte, als er einſteigen ſollte, daß er nach der
Stadt gehen wolle, weil er um dieſe Stunde da-
heim ſich ſeine Motion zu machen pflege. Der
junge Cavalier konnte kaum einen Ausruf des
Entzückens bei dieſer Nachricht, die ihm den Wa-
gen ungetheilt mit ſeiner Dame verſprach, unter-
drücken. Sie ſah erröthend mit halbgeöffneten
Lippen vor ſich hin, er ſtieg zu ihr ein, legte ihr
aufmerkſam die Boa, welche herunter gefallen war,
um Schulter und Leib, und die beiden Glücklichen,
deren ganzes Weſen in ſüßer, ſüddeutſcher Sinn-
lichkeit ſchwamm, rollten davon.
Auch der Oberamtmann kehrte in erhöhter
Stimmung nach der Schenkſtube zurück, um ſein
Buch zu holen. Er pfiff ſogar für ſich ein Stück-
chen aus der Zauberflöte, worüber er jedoch er-
ſchrak, als er es hörte. Inzwiſchen war der Mann
im braunen Oberrock aus der Krypte wieder nach
der Schenke gekommen und erkundigte ſich in der
Stube ungeduldig bei dem Wirthe, ob noch kein
Freiherr von Münchhauſen da geweſen ſei und
[422] nach ihm gefragt habe. Auf die verneinende Ant-
wort des Wirthes, der ſehr einfältig zu ſeyn ſchien,
gab ihm der Schriftſteller, der nicht gern in der
Schenke warten, ſondern ſich durch einen aberma-
ligen Gang die Zeit vertreiben wollte, ſeine Karte,
damit kein Mißverſtändniß und keine Namenver-
wechſelung vorfallen möge. Der einfältige Wirth,
der nicht leſen gelernt hatte und vermuthlich glaubte,
daß ein dritter unpartheiiſcher Zeuge in dieſer
dunkelen Angelegenheit das beſte Licht verbreiten
könne, reichte die Karte dem Oberamtmanne mit
der Bitte ſie ihm zu entziffern. Dieſer las
was darauf gedruckt ſtand, und muſterte dann
den Fremden, zu dem ihn ſchon bei dem erſten
Sehen eine gewiſſe Sympathie hingezogen, mit
glänzenden Blicken. Der Blitz von Galanterie,
der bei dem Kuſſe auf Clelia’s Hand ſich in ſei-
nem Herzen entbunden hatte, fachte die geſchäft-
liche Begeiſterung nur noch mehr bei ihm an. Er
fragte den Anderen raſch und leidenſchaftlich: Wiſſen
Sie vielleicht, ob in einem der Orte weiter abwärts
von Cöln gegenwärtig Aſſiſen gehalten werden?
Der Gefragte ſtutzte, beſann ſich und verſetzte:
Aſſiſen? Gegenwärtig? Weiter abwärts? Ich weiß
[423] nicht — doch ja — wenn mir recht iſt — ich er-
innere mich — in Elberfeld können ſie bald im
Gang ſeyn.
Elberfeld? Wie weit von hier?
Acht bis neun Meilen.
Der Oberamtmann ſchnippte wie ein Knabe
der unvermuthet erfährt, daß keine Schule heute
ſei, mit den Fingern und rief fröhlich: So kann
ich ja wahrhaftig doch noch ſo glückſelig ſeyn, einer
Aſſiſe beizuwohnen!
Der im braunen Oberrock ſetzte jetzt abermals
ſeine Brille auf, legte die Hände auf den Rücken,
trat dem Oberamtmanne dicht unter die Augen,
zog ſeine Brauen zuſammen, ſah ihn ſcharf an und
ſagte darauf: Glückſelig, mein Herr? — Sonder-
barer Schwärmer! — Er ging.
Der Oberamtmann blickte ihm nach. — Wäre
doch kein Mann für mich, ſagte er nach einer
Pauſe. Auch er ging, ſein Buch in der Taſche,
die Galanterie für Clelia und die Elberfelder
Aſſiſe im Herzen.
Auch die Bauern erhoben ſich und wollten ge-
hen, desgleichen der Chirurgus. Da kam aber
der Ehinger Spitzenkrämer in das Zimmer geſtürzt
[424] und rief überlaut: Wißt’s was Neues? Wißt’s
was Neues? Ja, wann die Ehinger nit wären,
Ihr erführt Euer Lebtag’ nichts Neues?
Was iſt denn vorgefallen? fragten die Bauern.
Vorgefallen? Nichts vorgefallen, eingefallen
iſt was. Das alte Schloß da droben eine halbe
Stund’ von hier iſt eingefallen in Eurem wüſten
Wind und Wetter hier zu Land. Ein Mann, der
am Dorf vorbeilief, ſagt’ es mir ſo eben! O
wenn mein Captain Gooſeberry nur nicht noch
darin verweilt hat!
Zum Henker! riefen die Bauern, das iſt ja
ein vertrackter Streich. Wenn nur der alte Herr
Baron nicht darunter zu Schaden gekommen iſt!
Kommt Alle hin! — Sie brachen ſtürmiſch auf,
die Einen um zu helfen, die Anderen aus Neugier.
Der Chirurgus war tiefſinnig in der Mitte
der Stube ſtehen geblieben, den Finger an die
Naſe gelegt. — Wollt Ihr nicht mit? fragte der
Ehinger, der noch einmal zurückkam. Ihr könnt
vielleicht Hülf’ ſchaffen.
Allerdings, verſetzte der Chirurgus, und brachte
den noch von früherer Zeit heraushangenden Buſen-
ſtreifen in Ordnung. Trepaniren oder zum wenig-
[425] ſten ſeciren. — Aber, Freundſchaft, laßt uns
langſam nachgehen, denn der Schutt muß doch erſt
hinweggeräumt werden, bevor die Lebendigen oder
zum wenigſten die Todten herauskommen. — Uebri-
gens kann dieſes anſcheinliche große Unglück eine
ſehr nützliche allgemeine Hauptveränderung bei dem
alten Herrn Baron hervorbringen.
Wie das? fragte der Ehinger.
Freundſchaft, paßt auf. Sturz — Fall auf
einen harten Körper — Choc! Pia Mater —
Revolution im Cerebellululo — Lebensgeiſter in
Aufruhr — Befreiung — Gegenchoc! — Ich ſage
nichts weiter.
Womit ſoll ich dich vergleichen, alte närriſche
Erde? Biſt du ein Käſe, auf dem Milben umher
krabbeln? Biſt du ein Schachbrett, auf welches
eine unſichtbare Hand die Figuren nach einer ge-
wiſſen Ordnung und Regel ſtellt, und wo dann
der große Spieler ſie planvoll Zug und Gegenzug
machen läßt, weil er mit ſich ſelber die geheim-
nißvolle Parthie ſpielt? Oder biſt du ein Mit-
telding von Beiden, ein ſchönes, getäfeltes, blank-
[426] gebohntes Parquet, auf dem bei dem Schalle der
Flöten und Geigen reizende Mädchen und hübſche
Jünglinge den Cotillon tanzen, den reichen, tou-
renunerſchöpflichen Tanz, und alte Herren umher-
ſtehen, und zärtliche verwelkte Mütter umherſitzen?
Niemand weiß, ob ihn nicht eine Schöne in einer
artigen Caprice, wie das launenvolle Glück, holt,
auf daß er mit dem holdathmenden Glücke noch
eine unerwartete Runde durch den Saal mache;
und Andere, welche meinen, ihnen könne es nicht
entgehen, bleiben ungeholt. — Plötzlich zerſtört
ein ungeſchickter und überſehener Stuhl die künſt-
lichſten Reigen und manche zärtliche Mutter wird
unverſehens auf den Fuß getreten, und die alten
Herren wiſſen nicht, wohin ſie ſich vor einer im-
proviſirten wilden Promenade der Jugend retten
ſollen. Mänadiſch raſet der Schwarm bis in die
fernſten Seitenzimmer, und die Whiſttiſche werden
umkreiſet; einen Augenblick ſehen runzlichte Ge-
ſichter aus Gallakleidern von der gemalten Coeur-
dame auf nach den luſtklopfenden Buſen der tan-
zenden Mädchen und zwei Tiefdenker, die Punſch
trinken und philoſophiren über ſchwerbewegliche
Dinge, ſind geſtört und verſenken ſich in die Be-
[427] trachtung leichtgeſchwungener Glieder — einen Au-
genblick nur — die Jugend promenirt nach dem
Saale zurück und Robber und Philoſopheme neh-
men wieder ihren Fortgang.
Ja, alte närriſche Erde, du biſt kein Milben-
tragender Käſe, du biſt auch kein quadrirtes Brett
für ſtreng berechnete Züge. Du biſt das Parquet,
auf dem wir im Cotillon geholt werden, oder
ſtehen bleiben nach Damenlaune, auf dem die alten
Herren in’s Gedränge kommen und die zärtlichen
Mütter vor Schmerz über ihre gemißhandelten Füße
zuweilen aufſchreien möchten, auf dem hölzerne
Stühle den ſchönſten Reigen zerbrechen können,
auf dem der Uebermuth der Jugend zwiſchen die
Karten und Argumente der Galla und Philoſophie
fährt, auf dem plötzlich Alles auseinander läuft
und ſich eben ſo plötzlich Alles wieder zuſammen-
findet! —
Iſt es möglich? bin ich verzaubert heute? oder
biſt du es wirklich? rief der junge Graf Oswald,
der jetzt den Kamm des Gebirges wieder erreicht
hatte einen Menſchen in blauem Kittel und Holz-
[428] ſchuhen an, der ihm entgegenkam, ein großes Bund
Heu auf dem Rücken.
Der alte Menſch ſah auf, ließ zwar das Bund
Heu ſinken, gab aber ſonſt kein Zeichen lebhafter
Verwunderung von ſich, ſondern ſagte bloß: Ei,
da ſind Sie ja! Ich dacht’ wohl, daß Sie mich
nicht ſitzen laſſen würden. — Darauf küßte er ſeinem
jungen Gebieter freundlich die Hand.
Jochem, biſt du’s, oder biſt du’s nicht?
Ja freilich bin ich’s, mein Herr Graf.
Aber um des Himmels willen, wie kommſt du
denn hieher, und was treibſt du hier? Und warum
ſuchteſt du mich denn nicht auf? — Er legte ſeine
Hand auf den Kittel des Alten, gleichſam um ſich
durch das körperliche Gefühl zu überzeugen, daß ein
wirklicher Menſch vor ihm ſtehe.
Der Alte ließ ſich ruhig befühlen, ehe er ant-
wortete. Denn er gehörte zu den Leuten, die nur
ſehr ſelten aus der Faſſung kommen. Er ſchob ſeinem
jungen Gebieter das Bund Heu hin, dieſer mußte
ſich darauf ſetzen, Jochem ſtellte ſich vor ihn und
erzählte nun folgendermaßen.
Will Ihnen Alles vermelden, mein Herr Graf,
ſagte er, aber Eins nach dem Anderen. Wie ich
[429] hieher komm’? Zurück von der großen Reiſ’, die
ich auf Ihren Befehl machte. Hab’ mich immer
rechts gehalten, wie meine Commiſſion lautete,
kam erſt nach Caſſel, wüſte Kerl’ dort, ſonſt nichts
zu ſehen, dann nach Magdeburg, auch wüſte Kerl’
dort, ſonſt auch nichts zu ſehen, dann nach Berlin,
ebenfalls wüſte Kerl’ dort, ebenfalls ſonſt nichts zu
ſehen; und ſo retour wieder hieher über Magdeburg
und Caſſel, da ’s Geld gerad’ zur Hälft’ ausge-
ben war zu Berlin, und ich überdieß meine Com-
miſſion ſchön ausgerichtet hatte alldort. — Was
ich hier treib’? — Sitz’ ſchon ſeit acht Tagen
bei’m Bauer im Heu, helf’ ihm Heu machen, um
mir mein Tagbrod zu verdienen, denn der letzte
Kreuzer war ausgeben, als ich dieſe wüſte Ge-
gend wieder erreicht hatt’. — Warum ich Sie nicht
aufgeſucht? — Hatten damals bei’m Abſchied keine
recht deutliche Sprach’ mit einander geführt, wo
ich meinen Herrn Grafen wieder finden ſollt’.
Dacht’ alſo, das Sicherſte wär’, wenn ich ſitzen
blieb’, wo ich eben war, denn das wußt’ ich, daß
mein Herr Graf mich ausſpüren würden und ab-
holen, und ſäß’ ich im Mittelpunct der Erd’.
Blieb deßhalb auch ganz ruhig und macht’ in Zu-
[430] friedenheit mein Heu, obgleich es eine Lebensart
iſt, die ſich nicht ganz für meinen ſonſtigen Stand
ſchickt. Dacht’ aber immer: Heut kommt der Herr
Graf und holt dich ab, und kommt er heut’ nicht,
ſo kommt er morgen, und ſo hat ſich’s nun auch
zugetragen.
Unſerem Oswald that es nach den fratzenhaften
Ereigniſſen des Tages wehmüthig wohl, mit ſei-
nem Alten zuſammenzutreffen. Eine Thräne trat
in ſein Auge. Er drückte dem Alten die Hand
und ſagte: Du hatteſt ganz Recht, Jochem, als
du glaubteſt, ich werde nach dir forſchen, und
ſäßeſt du im Mittelpuncte der Erde. — Jochem
blieb hiebei trocken, wie immer und verſetzte: Sie
haben auch ſchwäbiſch Blut im Leib, mein Herr
Graf, und das verläßt einander nicht. — Oswald
ſah ſich um und erblickte verwundert einen Heu-
ſchoppen in der Nähe, der ihm ſo vorkam, wie
der, in welchem er die Nacht zugebracht hatte.
Wo haſt du in voriger Nacht geſchlafen? fragte er.
Dort im Schoppen, verſetzte der Alte, wie alle Nacht
mein Amt iſt, um dem Bauer ſein Heu zu bewachen.
Sein Gebieter erzählte ihm nun, daß ſie die-
ſem Umſtande zu Folge ſchon in der Nacht unwiſ-
[431] ſend zuſammen geweſen ſeien, worüber Jochem
anfangs erſtaunte und äußerte, unter dem wüſten
Volk wiſſe man gar nicht, was Einem Alles be-
gegnen könne, es ſei erſtaunlich, daß zwei Lands-
leut’ zuſammen im Heu lägen und einander nicht
erkennten. Ich wollt’ anfangs den Menſchen,
der ſich da in’s Heu eingedrungen, bei Nacht hin-
austreiben, fügte er hinzu, ließ es aber doch
ſeyn, weil ich dacht’, er möchte ſich draußen er-
kälten. So iſt Menſchenfreundlichkeit doch immer
etwas Gutes und zu vielen Dingen nutz.
Jochem, ſagte der Graf, hätteſt du mich hin-
ausgetrieben, ſo würdeſt du mich früher erkannt
haben.
Dieſer Einwurf machte den Alten verwirrt.
Er ſah ſtutzig vor ſich nieder, dann ballte er die
Fauſt und murmelte ingrimmig: Nun ſag’ ich’s
doch! In der Fremd’, unter dem wüſten Volk
ſteht Alles windſchief. Man weiß bei den Sachſen
und Pollacken nicht, ob man menſchenfreundlich
oder menſchenfeindlich ſeyn ſoll.
Er beſann ſich und fuhr fort: Von meiner
Commiſſion habe ich noch gar nicht geredt. Den
Schrimbs oder Peppel —
[432]
Laß ihn, unterbrach ihn ſein Gebieter beſtürzt.
Nein, ſeine Commiſſion muß man gehörig aus-
richten! rief Jochem eifrig. Den Schrimbs oder
Peppel hab’ ich richtig gefunden. Ich hab’ ihn
auf der Schloßbrucken zu Berlin ſtehen ſehen, er
kuckt’ in’s Waſſer und ich ſah ihn von hinten und
da ging er fort und ich konnt’ ihn nicht einholen,
aber ich hab’ mich nicht getäuſcht und wenn wir
nun uns Beide dahin auf den Weg machen, ſo
werden wir ihn gar nicht verfehlen.
Wie nach Homer der Menſch, er mag noch ſo
unglücklich ſeyn, immer Hunger behält, ſo giebt
es auch Dinge, die den Betrübteſten zu lachen
machen können. Der junge Graf Oswald war ſehr
betrübt, aber die Entdeckung Jochem’s, daß Schrimbs
oder Peppel auf der Schloßbrücke zu Berlin ge-
ſtanden habe, bewirkte, daß er lachen mußte. Jo-
chem, der ſeine Sachen ſehr gut gemacht zu haben
glaubte, fühlte ſich dadurch etwas beleidigt. Nach
einer Pauſe fragte er: Was hätten mir denn nun
der Herr Graf zu befehlen?
Oswald war von ſeiner kurzen Luſtigkeit ſchon
wieder zurückgekommen. Er ſtand auf, ging heftig
hin und her, ballte ſeine Hand, drückte ſie wider
[433] die Stirn, ſein ſchönes Antlitz zuckte vor Schmerz,
er riß an ſeinen braunen Locken, er nagte an ſei-
ner Lippe. Der Alte, der ſich in ſeinen jungen
Herrn nicht zu finden wußte, ſtellte ſich, die Kniee
nach vorn gebogen, die Hände nnd Arme auf ſeine
Schenkel geſtemmt, hin und ſah ihm traurig zu.
Mit Ihnen iſt etwas vorgegangen, mein Herr
Graf, ſagte er ehrlich und ſanft.
Da trat Oswald raſch zu ihm. Er drückte
den Kopf des Alten heftig gegen ſeine Bruſt und
rief im herzzerreißendſten Tone: Ja! Ja! mit mir
iſt etwas vorgegangen! Leiſe weinend ſagte er ihm
in’s Ohr: Ich habe eine Braut, Jochem! —
Aber hier brachen die Gefühle des alten trocke-
nen Menſchen mit einem Ungeſtüm aus, der nicht
zu beſchreiben iſt. Jubelnd und ſchreiend ſtieß er
ſeinen jungen Herrn wie einen niederen Knaben
von ſich zurück, ſprang in dem Nebel auf dem
braunen Haideplatze ſchwerfällig und ungeſchickt
wie ein alter treuer Hund, der den Herrn wie-
derſieht, umher, klatſchte in die Hände und rief:
Juchhe! Juchhe! Ach, das Glück, das ausbün-
dige Glück! Ach, ſo ſollen meine alten Augen
denn noch den Tag erleben, wo ich meinem Herrn
Immermann’s Münchhauſen. 3. Th. 28
[434] Grafen und ſeiner ſchönen, lieben gnädigen Braut
zur Hochzeit aufwarten darf! O über den klugen
Einfall von meinem Herrn Grafen! Ach wo iſt
ſie, wo iſt das liebe gute gnädige Fräulein, daß
ich ihr die Füße küſſe und den Saum des Rocks?
— Seine abgenutzten Kräfte reichten aber nicht
weiter. Er mußte ſtill ſtehen, hielt ſich die Sei-
ten, keuchte und war außer Athem.
Der junge Graf Oswald hatte ſich auf die
Erde geworfen, das Geſicht in das Heu gedrückt.
Seine Arme waren ausgeſtreckt darüber hingebrei-
tet; er ſchluchzte bitterlich. — Alles, Alles kann
die Liebe ertragen! jammerte er. — Noth erträgt
ſie und Elend verkittet ſie und ſelbſt die Untreue
weiß ſie zu überdauern und in die Bahn der Treue
hold zurückzuführen! Aber Eines erträgt Liebe nicht:
Das Lächerliche! Das ſcheußlich-Lächerliche! Mußt du
lachen, wenn du dein Lieb im Arme hältſt und denkſt,
woher ſie rührt, ſo iſt es aus mit der Liebe, aus! Liebe
ſtirbt vom grellen Lachen! O mein ſüßer, einziger
Tag — o du Tag meiner Tage! ſo raſch gingſt du
unter, herrliche Sonne? Ach, meine Bruſt, wie thut
ſie weh! Die Fratzen haben ſie zerſchnitten mit dem
grellen Lachen und ſie wird bluten, ſehr bluten!
[435]
Er richtete ſich empor und ſchüttelte ſich wie
vor Fieberfroſt in dem häßlichen kalten Dunſt da
droben auf der Bergeshalde. Seine dunkelen Lo-
cken hingen ihm tief wie Wolken in das Geſicht.
Dumpf ſagte er: Nimm dieſes Geld, Jochem,
bezahle damit, was du etwa ſchuldig biſt und deine
Zehrung. Erwarte mich in der Stadt bei dem
Diaconus. Morgen, oder vielleicht noch heute
Abend komme ich hin. Jetzt gehe ich nach dem
Oberhofe, um dem Mädchen Adieu zu ſagen.
Adieu? fragte der Alte, der aus dem Himmel
ſeiner Freude geſtürzt war.
Ich werde das Mädchen, mit welchem ich mich
verlobte, nicht heirathen, ſagte Oswald, bemüht,
ſeiner Stimme Feſtigkeit zu geben. Sie ging aber
bei den letzten Worten in ein gebrochenes Zittern
über. Er ſchritt ſchnell über den Abhang des Ber-
ges nach der Börde hinunter.
Der alte Jochem ſah ihm nach. Er beſchaute
das Geld, welches ihm der Graf gegeben hatte,
dann ſah er die Stelle an, wo die Klagen ſeines
Herrn erſchollen waren, dann nahm er ſeinen Hut
in die Hand und drehte ihn, Kopf und Krämpe
achtſam betrachtend, hin und her. Er ſetzte den
28*
[436] Hut wieder auf und ſprach ſodann: Wenn dieſer
mein Herr Graf ſich mit dem Mädchen verlobt
hat, ſo wird er ihr nicht Adieu ſagen, ſondern ſie
heirathen.
Hierauf ging er nach dem Gehöfte ſeines
Bauern, um mit dieſem Alles in Richtigkeit zu
ſtellen, ſeinen eigentlichen Rock wieder anzuziehen
und ſodann zu thun, was ihm der Graf befohlen
hatte.
Der Schriftſteller ging zum zweitenmale nach
der Krypte. — Sollte er mich mißverſtanden haben?
Sollte er mich dort erwarten? Geſprochen habe
ich freilich davon … ſagte er für ſich. Münch-
hauſen’s Ausbleiben machte ihn unruhig. Er ging
nicht ohne einen leichten Schauder durch die Kirche
nach den Stufen, die in die Kluft hinunter führ-
ten. Seine ſonderbaren Gedanken hatten ihm den
düſteren Ort myſtiſch bevölkert.
Die Ahnung hatte ihn nicht getäuſcht. Indem
er zu den Schatten und trüben Lichtern der Kluft
eintrat, hörte er ein Geräuſch in der Nähe des
Altars. Er faßte ſich ein Herz, ging zu der Stelle
[437] und fand wirklich den, auf den er ſo lange gewar-
tet hatte. Hinter der Gruppe am Kreuz ſaß
Münchhauſen auf einem alten Opferſtocke, den
man, weil er unbrauchbar geworden ſeyn mochte,
dort hingeſtellt hatte. Als der Schriftſteller ſeinen
Curanden näher betrachtete, ſo weit dieſes die
Dunkelheit des Ortes zuließ, erſchrak er, denn der
Abentheurer ſah ganz anders aus, wie am Mor-
gen. Sein Geſicht ſchien völlig eingefallen zu ſeyn,
die Backenknochen ſchienen weit hervorzuſtehen. Auch
der Anzug war in Unordnung. Keinen Hut hatte
er auf dem Kopfe, die Uniform klaffte vorn weit
auseinander, die Weſte war aufgeriſſen, die nackte
Bruſt zeigte ſich. Er ſprach kein Wort. Der
Schriftſteller faßte ſeine Hand an, ſie war grabeskalt.
Dieſer nahm ſich zuſammen und ſagte feſt:
Was ſoll das? Warum ſitzt Ihr hier? Folgt
mir nach der Schenke!
Kommt ſie? flüſterte Münchhauſen leiſe mit
hohler Stimme.
Wer?
Sie! Der böſe Feind. Hu! — An den Rö-
cken kennt man ſich wieder, wenn die Geſichter
unkenntlich geworden ſind. Warum zog ich mei-
[438] nen rothen Rock an, warum ging das Roſakleid
nicht verloren und der grüne Schuh und der Pa-
radiesvogel? — Abſcheuliche Erinnerung!
Welche Erinnerung?
Die! — Erinnert Euch an heute Morgen!
Einen Punct giebt es im Leben jedes Menſchen,
an den darf man nicht rühren, ſonſt wird der
Menſch toll. Eine Geſtalt giebt es, wenn die
kommt und ſich an den Pfeiler Lara’n gegenüber
ſtellt, und nichts weiter ſagt als: Er iſt’s! ſo
kann Lara ſich nicht mehr zufrieden geben. Eine
Gans zu belügen und zu verführen, um Geld zu
kriegen und dann hören zu müſſen, die Gans ſei
kahl, gerupft! Puh! Einzige Sünde meines Le-
bens! Abbüßen wollte ich ſie durch tauſend buß-
fertige uneigennützige Lügen! — Umſonſt! Die
Gans erſcheint wieder. Armer Münchhauſen! Wie
herrlich ſtandeſt du da noch vor drei Stunden!
Münchhauſen war groß, Münchhauſen war ein
Held, denn Münchhauſen hatte ſelbſt die Feigheit
überwunden und wollte ſich ſchießen. Und ſo zer-
trümmern zu müſſen! —
Man wird Euch ja wohl vor Angriffen und
Zudringlichkeiten ſchützen können, ſagte der Schrift-
[439] ſteller, der nun allgemach den Zuſammenhang
begriff.
Wer? Schützen? Nein! antwortete der Frei-
herr todesmatt. Du kannſt dich vor dem Lichte
verbergen, du kannſt eine Höhle finden vor dem
Orkan, wenn er daher ſauſet, und bückſt du dich
bei Zeiten, ſo fährt die Kanonenkugel über dich
hin, aber du kannſt dich nicht verſtecken vor einem
tollen Weibe, das dir nachläuft. Sie hat mich
ausgewittert, ſie wird mich finden aller Orten.
Es giebt Vorurtheile in der Welt. Man ſoll hei-
rathen, wen man … Sie heirathen! Schrecklicher
Gedanke!
Der Schriftſteller dachte: Ich hoffe, der Ehr-
geiz ſoll auf ihn wirken. Er ſagte daher: Münch-
hauſen, der Erbprinz erwartet Euch. — Aber mit
einer vielſagenden Gebärde nahm der Freiherr
aus der Taſche ſeiner Uniform den Brief jener
hohen Perſon und zerriß ihn. Der Schriftſteller,
den dieſe ſymboliſche Handlung äußerſt betroffen
machte, fragte ihn, was er denn nun eigentlich
vorhabe, was er beginnen wolle?
Verdampfen! Verduften! Verſchwinden! ſagte
der Freiherr. — Ihr ſeht mich nie wieder, ihr hört
[440] nichts mehr von mir. Lebt wohl! Mein Tagwerk
iſt gethan. Laßt uns wie Männer ſcheiden! Keine
Thräne bei dieſem Abſchiede! — Sie werden mir
nachzupfuſchen ſuchen, aber Ihr werdet, das weiß
ich, ewig Euren Freund vermiſſen.
Sein Curator ſuchte alle Gründe hervor, wo-
mit ein Mann, der ſich in heiler Haut weiß, den
Leidenden überzeugen zu können glaubt, daß es
die Pflicht des Leidenden ſei, nicht zu leiden. Er
erinnerte ihn an die Aufgabe, die das Leben Je-
dem zu löſen gebe, nämlich ſich zuſammenzuneh-
men und unter allen Umſtänden gefaßt zu bleiben.
Er ſprach von Cato, Socrates und von anderen
großen Männern des Alterthums, er ſagte ihm
zuletzt, eine feuchte und kalte Krypte ſei wenig-
ſtens auf keinen Fall der Ort, um lange darin
ohne Schnupfen und Huſten zu verweilen.
Nun denn! rief Münchhauſen, deſſen Lebens-
geiſter noch einmal wild aufzuſpringen ſchienen,
ſo will ich eine neue Religion ſtiften und Ihr ſollt
Ali ſeyn, der Erſte der Gläubigen. Bringt Wein
her, feurigen Wein, ſchäumenden Wein, wir wol-
len den Manen des Todten da am Kreuz Eins
zutrinken!
[441]
Der Schriftſteller trat drei Schritte zurück. —
Nein, das wollen wir hübſch bleiben laſſen! rief
er ſo tönend, daß es durch das Gewölbe hallte.
Alles muß ſeine Grenzen haben.
Wofern Ihr das nicht wollt, ſo verſchafft mir
wenigſtens einen Mantel und einen Hut, damit
ich mich anſtändig ſehen laſſen kann, ſagte der
Freiherr.
Der Andere wandte ſich, ſtieg aus der Krypte
empor, um das Begehrte herbeizuſchaffen. Er war
jedoch kaum oben angelangt, als er ein heftiges
Getöſe unten vernahm. Es war, als ob Steine
von ihrem Orte gebrochen würden und dann ſchol-
lernd niederfielen. Sogleich eilte er, ſchlimmer
Ahnung voll, in die Kluft zurück. Münchhauſen
war von ſeinem Sitze verſchwunden. Der Andere ſah
ſich um; nirgends war er zu erblicken. Er rief; es
erfolgte aber keine Antwort. Er ſuchte hinter den
Pfeilern, in den Seitenniſchen hinter den Grab-
mälern, bei den Steinhaufen; vergebens! Der
Freiherr hatte ſich nirgends verſteckt.
Nach der Schenke zurückgekehrt, bewog er einige
Bauern, ihm mit Laternen und Windlichtern zu
folgen. Bei deren Scheine wurde nun eine zweite
[442] ſorgfältige Nachſuchung vorgenommen. Umſonſt!
Man forſchte nach einem geheimen Gange aus der
Krypte, aber dieſe zeigte ſich, wohin man
leuchtete, umſchloſſen, auch wollten die Bauern
von einem ſolchen nie etwas gehört haben. Man
prüfte endlich mit Stöcken und Hacken das Pfla-
ſter und Gemäuer, ob es nicht irgendwo losgebro-
chen und nur nothdürftig wieder zugeſetzt ſei.
Pflaſter und Gemäuer waren überall feſt. Dieſe
vergebliche Arbeit dauerte über eine Stunde. End-
lich mußte man von ihr abſtehen. Münchhauſen
war und blieb auf unbegreifliche Weiſe verſchwunden.
halterin in den holländiſchen Unruhen auf ihrer Reiſe
nach dem Haag erlebte.
gend warten der Bräutigam und der Schulmeiſter auf;
ſonſt Niemand.
falter mit dem fiſchſchweifartigen Hinterleibe genannt.
reſſenten nicht von der ihrem Meiſter und Freunde dro-
henden Gefahr in Kenntniß? Sie würden ſich mit ihm
gegen die Feinde verbündet haben und nachher hätten ſich
die allſeitigen Anſprüche ordnen laſſen. Statt deſſen ver-
liert er die Zeit mit unnützem Protocolliren! Es iſt offen-
bar, daß ſein erſter Fehlſchritt ihm das klare Bewußtſeyn
von der Lage der Sache getrübt hatte.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Münchhausen. Münchhausen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn8x.0