oder
45 Hundspoſttage.
In Karl Matzdorffs Buchhandlung.
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Druckfehler des1ten Heftleins.
Da ich ſelber die Unart habe, daß ich mich um
das Verzeichnis fremder Errata nicht im Geringſten
bekuͤmmere: ſo hoff' ich vom Leſer auch nichts beſſe¬
res: und dann werden folgende Druckfehler ganzen
halben Seiten den Sinn nehmen.
Seite 3 Zeile 2 von unten, ſtatt reiſen lies keifen.
— 19 letzte Zeile ſtatt ſehr l. ſehr auf.
— 44 erſte — von oben ſtatt Loch l. Loh.
— 47 12te — — — ſtatt niemals l. einſtmals.
— 84 — 7 von unten ſt. blinzenden l. blitzenden.
— 89 — 4 von oben ſt. ſeine l. feine.
— 101— 5 v. unt. ſt. Natur l. Statur.
— 129 — ſt. Schalltag l. allemal Schalttag.
— 133 —17 von oben ſt. komiſchen l. koniſchen.
— 139 —16 — ſt. dünner l. dümmer.
— 145 —12 von unt. ſt. Menopodium l. Chenopodium.
— 153 — 4 v. oben ſt. Silberwelle l. Silberwolle.
— 161 — 1 — — ſt. lies l. blies.
— 168 — 5 — — ſt. Muſen l. Muſeen.
— 191 — 6 — — ſt. ſanften lies ſanftern.
— 193 — 11 — — ſt. ſäuge l. ſauge.
— 212 — 3 — ſt. Sonnenfelder l. Samenfeldet.
— 214 — 9 von unten ſt. auch l. auf.
— 251 — 15 von oben ſt. Staaten- l. Staturen.
— — — 3 v unt. ſt. noch tiefer l. von noch tiefern.
— 274 — 16 von oben ſt. ehrloſen l. eheloſen.
— 319 — 13 von unten ſt. Unglücklichen l. Glücklichen.
— 329 letzte Zeile ſt. Koth l. Roth.
— 330 — 9 von oben ſt. erſchöpft l. erſchaft.
— 344 — 2 — — ſt. Leben l. Beben.
— 370 — 3 von unten ſt. Leben l. Beben.
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Motto.
»Die Erde iſt das Sakgäsgen in der großen Stadt Gottes
— die dunkle Kammer voll umgekehrter und zuſammenge¬
zogner Bilder aus einer ſchönern Welt — die Küſte zur
Schöpfung Gottes — ein dunſtvoller Hof um eine beſſere
Sonne — der Zähler zu einem noch unſichtbaren Nenner
— wahrhaftig ſie iſt faſt gar nichts.»
(Auswahl aus des Teufels Papieren P. 183.)
Vorrede, ſieben Bitten und Beſchluß.
Vorrede.
Ich wollte mich anfangs ereifern uͤber einige
Heere von Leſern, mit denen ich in dieſem Bu¬
che nichts anzufangen weiß; und wollte mich
vorn an den Heſperus als Pfoͤrtner ſtellen
und vorzuͤglich Leute mit der groͤßten Unhoͤflich¬
keit fortſchicken, die nichts taugen — fuͤr die wie
fuͤr einen Proſektor, das Herz nichts iſt als der
dickeſte Muſkel, und die Gehirn und Herz und
alles Innere, wie Formen der Gypsſtatuen ihr
eingefuͤlltes Gemengſel von Scheerwolle, Heu
und Thon, nur darum tragen, um hohl ge¬
goſſen auszufallen — Ich wollte ſogar mit ehr¬
lichen Geſchaͤftsleuten reiſen, die wie der große
Antonin den Goͤttern danken, daß ſie die Dicht¬
A 2[4] kunſt nicht weit getrieben — und mit ſolchen,
vor denen ſich der Kapelmeiſter Apollo auf einer
Strohfidel hoͤren laſſen ſoll, und ſeine neun Dis¬
kantiſtinnen mit dem Bier- und Strohbas —
ja ſogar mit der leſenden Schweſterſchaft der
Ritterromane, die ſo lieſet wie ſie heirathet und
die ſich unter den Buͤchern, wie unter den Ge¬
ſichtern der Herren, nicht die ſchoͤnen weiblichen
ſondern die wilden maͤnnlichen ausklaubt — —
Aber ein Autor ſolte kein Kind ſeyn, und
ſich ſeine Vorrede verſalzen, da er nicht alle
Tage eine zu machen hat. Warum hab' ich
nicht lieber in der erſten Zeile die Leſer angere¬
det und bei der Hand genommen‚ denen ich den
Heſperus freudig gebe und die ich mit einem
Freiexemplar davon beſchenken wolte, wenn ich
wuͤſte wo ſie wohnten? — Komm', liebe muͤde
Seele, die du etwas zu vergeſſen haſt, entweder
einen truͤben Tag oder ein uͤberwoͤlktes Jahr,
oder einen Menſchen, der dich kraͤnkt, oder ei¬
nen, der dich liebt, oder eine entlaubte Jugend
oder ein ganzes ſchweres Leben; und du, gedruͤk¬
ter Geiſt, fuͤr den die Gegenwart eine Wunde
und die Vergangenheit eine Narbe iſt, komm
in meinen Abendſtern und erquicke dich mit
[5] ſeinem kleinen Schimmer, aber ſchließe, wenn dir
die poetiſche Taͤuſchung fluͤchtige ſuͤße Schmer¬
zen giebt, daraus; »vielleicht iſt das auch eine,
was mir die laͤngern tiefern macht» — Und
dich, hoͤherer Menſch, der unſer Leben, das nur
in einem Spiegel gefuͤhret wird, kleiner fin¬
det als ſich und den Tod, und deſſen Herz ein
verhuͤllter großer Geiſt in dem Todtenſtaube an¬
derer zerfallener Menſchenherzen heller und rei¬
ner ſchleift, wie man den Demant im Staube
des Demants poliert, darf ich dich auch in mei¬
nen Abend- und Nachtſtern auf eine Anhoͤhe
herniederrufen, ſo wie ich ſie aufzuwerfen ver¬
mag; darf ich es, damit du, wenn du um ſie,
wie um den Veſuv, morganiſche Feen und
Nebel-Gruppierungen und Traum-Welten und
Schattenlaͤnder in der Tiefe ziehen ſieheſt, vielleicht
zu dir ſageſt: »und ſo iſt alles Traum und
»Schatten um mich her, aber Nebel ſetzen Laͤn¬
»der voraus und Traͤume Geiſter und der Erd¬
»ſchatten eine Sonne und eine Welt?« —
Aber zu dir habe ich nicht den Muth, zu
dir edler Geiſt, der des Jahrhunderts muͤde
iſt und des Nachwinters der Menſchheit, dem
zuweilen aber nicht immer das Menſchenge¬
[6] ſchlecht wie der Mond zuruͤckzuwandeln ſcheint,
weil er den Zug der Wolke, die darunter hin¬
fliegt, fuͤr den Gang des himmliſchen Koͤrpers
ſelber anſieht und der voll erhabner Seufzer,
voll erhabner Wuͤnſche und mit ſchweigendem Er¬
geben zwar neben ſich eine wuͤrgende Hand und
das Fallen ſeiner Bruͤder hoͤrt, aber doch das
aufgerichtete auf dem ewig heitern Sonnenange¬
ſicht der Vorſehung ruhende Auge nicht nieder¬
ſchlaͤgt, und den das Ungluͤk wie der Blitz den
Menſchen, zwar entſeelt aber nicht entſtellt;
edler Geiſt, ich habe freilich nicht den Muth,
zu dir zu ſagen: »wuͤrdige mich, auf mein
»Schattenſpiel zu ſchauen, damit du uͤber dem
»idealiſchen Abendſtern, den ich vor dir voruͤber
»fuͤhre, die Erde vergiſſeſt, auf der du ſteheſt
»und die ſich jetzt mit tauſend Graͤbern wie ein
»Vampyr an das Menſchengeſchlecht anlegt und
»Opferblut ſaugt« — — Und doch hab' ich an
dich unter dem ganzen Buche gedacht und die
Hofnung, mein kleines biographiſches Nacht-
und Abendſtuͤck vor naſſe, aufgerichtete und feſte
Augen zu bringen, war der tragende Malerſtok
der muͤden Hand geweſen.
[7]
Da ich mich jetzt zu ernſthaft geſchrieben,
ſo muß ich von den ſieben verſprochenen Bitten,
worunter nur vier es ſind, drei weglaſſen. —
Ich thue alſo nur die
Erſte Bitte, den Titel »Hundspoſttage«
ſo lange zu vergeben, bis ihn das erſte Kapitel
erklaͤrt und entſchuldigt hat — Und die
Zweite, allemal ein ganzes Kapitel zu leſen
und kein halbes, weil das große Ganze aus klei¬
nern Ganzen, wie nach den Homiomerien des
Anaxagoras, der Menſchenkoͤrper aus unzaͤhligen
kleinen Menſchenkoͤrpern beſteht — Und die
Siebente Bitte, die halb aus der zweiten
fließet aber nur die Kunſtrichter angeht, mir in
ihren fliegenden Blaͤttern, die ſie Rezenſionen
nennen, mit keiner Publikation meiner Haupt¬
begebenheiten vorzugreifen, ſondern dem Leſer
einige Ueberraſchungen, die er doch nur Ein¬
mal hat, zu laſſen — Und endlich die
Fuͤnfte Bitte, die man aus dem Vaterunſer
ſchon kennt.
Der Beſchluß.
Und ſo werde denn ſichtbar, kleiner ſtiller
Heſperus! — Du brauchſt eine kleine Wolke,
[8] um verdekt zu ſeyn, und ein kleines Jahr, um
deinen Umlauf vollfuͤhret zu haben! — Moͤgeſt
du der Tugend und Wahrheit, wie dein Eben¬
bild der Sonne, naͤher ſtehen als die Erde allen
dreien iſt, in die du ſchimmerſt und moͤgeſt du
wie jenes nur dadurch dich den Menſchen ent¬
ziehen, daß du dich in die Sonne huͤlleſt! Moͤge
dein Einfluß ſchoͤner, waͤrmer und gewiſſer ſeyn
als der des aſtronomiſchen Heſperus iſt, den der
Aberglaube auf den Dunſt-Thron dieſes Jah¬
res ſetzt! — Du wuͤrdeſt mich zum zweitenmal
gluͤklich machen, wenn du fuͤr irgend einen ab¬
gebluͤhten Menſchen ein Abendſtern, fuͤr
irgend einen aufbluͤhenden ein Morgenſtern
wuͤrdeſt! Gehe unter mit jenem und auf mit
dieſem; flimmere im Abendhimmel des erſtern
zwiſchen ſeinen Wolken und uͤberziehe ſeinen zu¬
ruͤkgelegten bergaufgehenden Lebensweg mit ei¬
nem ſanften Schimmer, damit er die entfernten
Blumen der Jugend wieder erkenne und ſeine
veralteten Erinnerungen zu Hofnungen verjuͤnge.
— Kuͤhle den friſchen Juͤngling in der Lebens¬
fruͤhe als ein ſtillender Morgenſtern ab, eh’ ihn
die Sonne entzuͤndet und der Strudel des Ta¬
ges einzieht! — fuͤr mich aber Heſperus biſt du
[9] nun wol untergegangen — du zogeſt bisher ne¬
ben dem Erdball wie mein Nebenplanet, wie
meine zweite Welt, auf die meine Seele aus¬
ſtieg, indes ſie den Koͤrper den Stoͤßen der Erde
lies — aber heute faͤllt mein Auge traurig und
langſam von dir und dem weißen Blumenflor,
den ich um deine Kuͤſten angepflanzet, auf den
naskalten Boden herab, wo ich ſtehe — und ich
ſehe uns alle von Kuͤhle und Abend umgeben —
weit von den Sternen abgeriſſen— von Jo¬
hanniswuͤrmgen beluſtigt, von Irwiſchen beun¬
ruhigt — alle einander verhuͤllet, jeder einſam
und ſein eignes Leben nur fuͤhlend durch die
warme pulſierende Hand eines Freundes, die er
im dunkeln haͤlt —
Ja, es wird zwar ein anderes Zeitalter kom¬
men, wo es licht wird und wo der Menſch aus
erhabnen Traͤumen erwacht und die Traͤume —
wieder findet, weil er nichts verlohr als den
Schlaf. —
Die Steine und Felſen, die zwei eingehuͤllte
Geſtalten (Nothwendigkeit und Laſter) wie Deu¬
kalion und Pyrrha hinter ſich werfen nach den
Guten, werden zu neuen Menſchen werden. —
[10]
Und auf dem Abendthore dieſes Jahrhun¬
derts ſteht: Hier geht der Weg zur Tugend und
Weisheit; ſo wie auf dem Abendthor zu Cher¬
ſon die erhabene Inſchrift ſteht: Hier geht der
Weg nach Byzanz. — —
Unendliche Vorſicht, du wirſt Tag werden
laſſen. —
Aber noch ſtreitet die zwoͤlfte Stunde der
Nacht: die Nachtraubvoͤgel ziehen; die Geſpen¬
ſter poltern; die Todten gaukeln; die Lebendigen
traͤumen.
In der Fruͤhlings-Tag- und Nacht¬
gleiche 1794.
Jean Paul.
[]
1. Hundspoſttag.
Unterſchied zwiſchen dem 1. und 4. Mai — Rattenſchlachtſtuͤcke
— Nachtſtuͤck — Drei Regimenter in kuͤnftigen Hoſen —
Staarnadek — Ouvertuͤre und geheime Inſtruktion dieſes
Buchs.
Im Hauſe des Hofkaplans Eymann im Baddorfe
St. Luͤne waren zwei Partheien: die eine war den
30. April froh, daß der Held dieſer Geſchichte, der
junge Englaͤnder Horion den 1. Mai aus Goͤttin¬
gen zuruͤkkaͤme und in der Kaplanei bliebe — der
andern wars nicht recht, ſie wollte haben, er ſollte
erſt den 4. Mai anlangen.
Die Parthei des erſten Mais beſtand aus dem
Kaplansſohn Flamin, der mit dem Englaͤnder bis
ins zwoͤlfte Jahr in London und bis ins achtzehnte
in St. Luͤne erzogen worden, und deſſen Herz mit
allen Aderzweigen in das brittiſche verwachſen und
in deſſen heiſſer Bruſt waͤhrend der langen Trennung
durch Goͤttingen Ein Herz zu wenig geweſen war —
[12] Ferner aus der Hofkaplaͤnin, einer gebornen Englaͤn¬
derin, die in meinem Helden den Landsmann liebte,
weil der magnetiſche Wirbel des Vaterlandes noch
an ihre Seele uͤber Meere und Laͤnder reichte —
Endlich aus ihrer aͤlteſten Tochter Agathe, die
den ganzen Tag alles auslachte und lieb hatte ohne
zu wiſſen warum, und die jeden, der nicht gar zu
viele Haͤuſer weit von ihr wohnte, mit ihren Polyp¬
penarmen als Nahrung ihres Herzens zu ſich zog.
Die Sekte des vierten Maies konnte ſich mit je¬
ner ſchon meſſen, da ſie auch ein Kollegium von drei
Gliedern ausmachte. Die Anhaͤnger waren die ko¬
chende Appel (Appollonia, die juͤngſte Tochter,) de¬
ren Kuͤchen-Ehre und Bak-Belobungsbrief dabei
lit, daß der Gaſt fruͤher ankam als die Weishefen:
ſie konnte ſich denken was eine Seele empfindet, die
vor einem Gaſte ſteht die Haͤnde voll Spik- und
Naͤhnadeln, neben der Platte der Fenſtervorhaͤnge,
und ohne die Friſur des Hutes und des Kopfes, der
darunter ſoll, nur halb fertig zu haben. Der zweite
Anhaͤnger dieſer Sekte, der am meiſten gegen den
erſten Mai haͤtte reden ſollen — ob er gleich am
wenigſten redete, weil ers nicht konnte und erſt kuͤrz¬
lich getauft war — ſolte am 4. Mai zum erſtenmale
in die Kirche getragen werden: dieſer Anhaͤnger war
das Pathgen des Gaſtes. Der Kaplan wuſte zwar,
daß der Mond ſeinen Gevatterbitter, den P. Riccio¬
[13] lum, bei den Erden-Gelehrten herumſchickte und ſie
als Pathen ſeiner Flecken ins Kirchenbuch des Him¬
mels bringe; aber er dachte, es iſt beſſer, ſich ſeinen
Gevatter ſchon in einer Naͤhe von 50 Meilen zu
nehmen. Der Apoſteltag des Kirchgangs und der
Feſttag der Ankunft des Herrn Gevatters waͤren
alſo ſchon in einander gefallen; aber ſo fuͤhrte das
Wetter (das huͤbſche) den Gevatter vier Tage eher
her! —
Der dritte Juͤnger des 4. Mais war im Grunde
der Haͤreſiarch dieſer Parthei, der Hofkaplan ſelber:
die Kaplanei, worin Horion ein einſtweiliges Hofla¬
ger haben ſolte, war ganz vol Ratten, ordentlich ein
Tanzſalon und Waffenplatz derſelben und dieſen wolte
der Kaplan ſein Haus und corpus pium vorher ab¬
jagen. Wenige Hofkaplaͤne, die Hektik im Leibe und
Ratten im Hauſe hatten, machten daher ſo viel Ge¬
ſtank als dieſer in St. Luͤne gegen die Beſtien. Mit
wenigen Wolken davon waͤren alle Hofdamen aus
Europa hinaus zu raͤuchern. Zuͤndete der Hektiker
nicht ſo viel vom Hufe ſeines Gaules an als er da¬
von abgeſaͤgt hatte? — Inhaftierte er nicht ein ſol¬
ches Nagethier ſelber und ſeifte den Kriegsgefangnen
mit Wagentheer und Fiſchthran ein und lies den
Arreſtanten fort, damit der Parias in den Loͤchern
auf und abgienge und Ratten edlerer Kaſten durch
ſeinen Nimbus zu entlaufen noͤthigte? — Gieng er
[14] nicht ins Große und nahm gar einen Bok in die
Koſt, von dem er nichts verlangte als daß er ſtank
und den geſchwaͤnzten Klausnern misfiel? — Und
waren nicht alle dieſe Mittel ſo gut wie umſonſt?
— — Denn der Henker relegiere Jeſuiten und
Ratten! — Indeſſen wird doch den Leuten hier
ſchon auf dem Bogen A die Moral dargereicht, daß
es gegen beide ſo gut wie gegen Zahnſchmerzen,
Seelenleiden und Wanzen tauſend gute Mittel gebe,
die nichts helfen.
Horion — der Akzent muß auf die erſte Sylbe
kommen — oder Sebaſtian (verkuͤrzt Baſtian) wie
ihn die Eymanniſchen nannten, oder Viktor, wie
ihn der Lord Horion, ſein Vater nannte (ich heiſſ'
ihn bald ſo bald ſo, wie es gerade mein proſaiſches
Sylbenmaas begehrt) Horion hatte ſie alle, um ſie
zu uͤberraſchen, angelogen und im Briefe ſeinen Ein¬
trit ins Haus auf den 4. Mai angeſetzt; aber ſei¬
nem Vater hatt' er die Wahrheit geſchrieben und
dieſer hatte ſie aus der Reſidenzſtadt Flachſenfin¬
gen, wo er dem Fuͤrſten moraliſche Augenleder und
Konſervationsbrillen und Hoͤrroͤhre und juͤdiſche
Handgedenkzettel anlegte, an den Kaplan geſchickt,
weil er (der Lord) blind war und ſich' bei ihm von
einem mit dem Sohne kommenden Okuliſten wolte
operiren laſſen. Er hatte ſeinen Sohn zum Doktor
Medicinaͤ promovieren heiſſen: warum aber ein ſo
[15] vornehmer Juͤngling das Doktor-Kopfzeug, dieſen
Plutos Helm der nicht den ganzen Menſchen, wie
der mythologiſche Helm ſondern oft nur ein Stuͤk
davon oder nur Pazienten unſichtbar macht, aufſetzen
muſte und den Doktorring anſtecken, dieſen Trau-
und Siegelring des Todes, das weis eigentlich kei¬
ner von [uns].
»Wir haben nun Hofnung, — ſagte der Kaplan
und ſtekte den Brief mit komiſcher Reſignation ins
Couvert zuruͤk — »daß unſer Baſtian morgen als
»den 1. Mai gewis eintrift ſamt den andern — ich
»ſehe huͤbſchen Luſttreffen und Brunnenbeluſtigungen
»entgegen, Frau, wenn der Morgen einwandelt und
»meine Razen tanzen wie Kinder vor ihm her —
»zu eſſen haben wir ſo nichts.« Aber die Kaplaͤnin
fiel ihm mit doppelten Ausrufungszeichen der Freude
an die Achſel und lief ſogleich davon, um zu dieſem
Roſenfeſte ihrer guten Seele die kleine Bruͤder- und
Schweſtergemeinde der Kinder zu ziehen. Der ganze
Familienzirkel zerfiel nun in drei erſchrockene und in
drei erfreuete Geſichter.
Wir wollen uns unter die frohen ſetzen und zu¬
horchen, wie ſie den Nachmittag als Gewaͤnderma¬
ler, als Koloriſten, als Gallerieinſpektoren am Ge¬
maͤlde des geliebten Britten arbeiten — alle Erin¬
nerungen werden zu Hofnungen gemacht und Viktor
ſoll nichts geaͤndert mitbringen als die Statur. Fla¬
[16] min, wild wie ein engliſcher Garten, aber fruchttra¬
gender, erquickte ſich und andere mit der Schilde¬
rung von Viktors ſanfter Treue und Redlichkeit und
von ſeinem Kopf und pries ſogar ſein Dichterfeuer,
das er ſonſt nicht hochſchaͤtzte. Agathe erinnerte an
ſeine humoriſtiſchen Roͤſſelſpruͤnge, wie er einmal mit
der Trommel eines durchpaſſierenden Zahndoktors
das Dorf vergeblich vor ſein Theater zuſammenge¬
trommelt habe, weil er vorher die ganze fahrende
Apotheke dieſes redlichen wahren Freund Hains
ausgekauft hatte — wie er oft nach einer Kindtaufe
ſich auf die Kanzel poſtiret und da ein paar andaͤch¬
tige Zuſchauer in der Werkeltags Schwarte ſo an¬
gepredigt habe, daß ſie mehr lachten als weinten —
und andern Spas, womit er niemand laͤcherlich ma¬
chen wolle als ſich und niemand lachend als andere.
Weiber billigen es aber nie (ſondern nur Maͤnner)
wenn einer wie Viktor zur brittiſchen Ordenszunge
der Humoriſten gehoͤret — denn bei ihnen und Hoͤf¬
lingen iſt ſchon Witz Laune — das billigen ſie
nicht, daß Viktor (wie z. B. Swift und viele Brit¬
ten) gern zu Fuhrleuten, Hanswuͤrſten und Matroſen
herunterſtieg, indes ein Franzos lieber zu Leu¬
ten von Ton hinaufkriecht. — Denn die Wei¬
ber die ſtets den Buͤrger mehr als den Menſchen
achten, ſehen nicht, daß ſich der Humoriſt weis
macht, alles was jene Plebejer ſagen, ſouflire er ih¬
nen[17] nen und daß er abſichtlich das unwilkuͤhrliche Ko¬
miſche zu artiſtiſchem adelt, die Narrheit zu Weis¬
heit, das Erden Irhaus zum Nationaltheater. Eben
ſo wenig begrif ein Amtmann, ein Kleinſtaͤdter, ein
Großſtaͤdter, warum Horion ſeine Lektuͤre oft ſo jaͤm¬
merlich waͤhle aus alten Vorreden, Programmen,
Anſchlagzetteln von Operateurs, die er alle mit un¬
beſchreiblichem Vergnuͤgen durchlas — blos weil er
ſich fingirte, dieſen geiſtigen Futterſak, der blos un¬
ter den Lumpenhacker gehoͤrte, hab' er ſelber gefertigt
und gefuͤllt aus ſatiriſcher Ruͤkſicht. — In der That,
da die Deutſchen Ironie weder faſſen noch ſchreiben
koͤnnen: ſo iſt man gezwungen, vielen ernſthaften
Buͤchern und Rezenſionen boshafte Ironie anzudich¬
ten, um nur was zu haben.
— Und das iſt ja nichts anders als was ich ſel¬
ber probire, wenn ich bei Terminen in Gedanken
die Gerichtsſtube zum Komoͤdienhaus erhebe, den
Rechtsfreund zum juriſtiſchen Le Kain und Kaſperl
und die ganze Verhandlung zur alten griechiſchen
Komoͤdie: denn ich raſte nicht bis ich mir weisge¬
macht, ich haͤtte den guten Leuten den ganzen Ter¬
min nur einſtudieren laſſen als Gaſtrolle und waͤre
alſo wirklich ihr Theaterdichter und Regiſſeur. So
trag' ich im Grunde meinen ſtummen Kopf munter
als ein komiſches Portaktiv-Taſchentheater der Deut¬
ſchen durch deren edelſte Behauſungen (z. B. der
Heſperus. l. Th. B[18] Univerſitaͤt der Regierung) und erhoͤhe ganz im
Stillen — hinter der herabgelaſſenen Gardine der
Geſichtshaut — Komiſches der Natur zu Komi¬
ſchem der Kunſt. — —
Ich komme zuruͤk. Die Kaplaͤnin erzaͤhlte —
alle wuſtens laͤngſt, aber dieſes Wiederholen iſt eben
der Reiz des haͤuslichen Dialogs: wenn wir einen
ſuͤßen Gedanken ohne Ennui oft ſelber haben koͤnnen,
warum ſollen wir ihn nicht auch andern oft ſagen
koͤnnen? wie ſanft, wie weich, wie zaͤrtlich wie weib¬
lich ihr zweiter Sohn ſey: denn er nannte ſie im¬
mer ſeine Mutter. Ein Hofapotheker mit einem
Binſenſtein Herz — Zeuſel ſchreibt er ſich — ſah
dieſes Zerfließen der waͤrmſten Seele ſogar einmal
fuͤr eine Thraͤnenfiſtel an, weil er glaubte, keine
andere Augen koͤnnten weinen als kranke. . . . Lieber
Leſer, iſt dir jetzt nicht wie dem Biographen, der
nun den Eintrit dieſes guten Viktors in die Kapla¬
nei und Biographie kaum erwarten kann? Wirſt
du ihm nicht die freundſchaftliche Hand reichen
und ſagen: »willkommen, Unbekannter! — Sieh dein
»weiches Herz oͤfnet unſeres ſchon unter der
»Schwelle! O du Menſch mit Augen voll Thraͤnen,
»glaubſt denn du auch wie wir, daß in einem Leben,
»deſſen Ufer vollhaͤngen von Erſchroknen, die ſich an
»Zweige, von Verzweifelten, die ſich an Blaͤt¬
»ter halten, daß in einem ſolchen Leben wo uns
[19] »nicht blos Thorheiten ſondern auch Schmerzen um¬
»zingeln, daß da der Menſch ein naſſes Auge be¬
wahren muͤſſe fuͤr rothe, ein beklommenes Herz fuͤr
ein blutendes und eine leiſe Hand, die den ſchweren
dicken Leidenskelch dem Armen, der ihn leeren muß,
trauernd haͤlt und langſam nachhebt? — Und wenn
du ſo biſt: ſo rede und lache wie du willſt: denn die
»Menſchen ſoll keiner belachen als einer, der ſie
»recht herzlich liebt.«
Nachmittags ſchikte der Obriſtkammerherr Le
Baut — ein aromatiſches Blaͤtterſkelet — den Laͤu¬
fer Seebaß zum Kaplan und lies ihn erſuchen —
denn das Schlos lag der Kaplanei nahe gegenuͤber —
den Bok nur ſo lange wegzuſtellen, bis ſich der
Wind drehte, weil ſeine Tochter kaͤme. »Trauter
»H. Seebaß, (antwortete geruͤhrt der Ratten-Kon¬
»troverſiſt) meinen unterthaͤnigen Empfehl wieder
»und Sie ſehen mein Elend. Morgen erfreuen mich
»der Lord und ſein Sohn und ſein Okuliſt mit ihrer
»Gegenwart und der Staar wird hier geſtochen.
»Nun ſtinkt gegenwaͤrtig das ganze Haus und die
»Ratzen ſetzen ihren Nachttanz noch gelaſſen im Ge¬
»ruche fort: ich betheure Ihnen, H. Seebaß, wir
»koͤnnen Teufelsdrek nehmen und damit die Kaplanei
»bis zum Dachſtuhl ausfuͤttern, nicht einen Schwanz
»treiben wir dadurch fort; es gefaͤllt ihnen vielmehr.
»Ich meines Ortes ſehe, daß ſie morgen unter
B 2[20] »der Operation an dem Staarſtecher und an dem
»Patienten hinaufſpringen. — So ergieng es uns
»allen, melden Sie im Schloſſe, aber heute wollt'
»ich noch vortrefliches Roſenholzoͤl verſuchen.«
Er holte alſo einen großen Hopfenſak und zerrte
ihn unters Dach hinauf, um da im eigentlichen
Sinne die Ratten bei der Naſe herumzufuͤhren in
den Hopfenſak hinein. Bekanntlich ſind Ratten ſo
arg erſeſſen auf Roſenholzoͤl als Menſchen auf Sal¬
bungsoͤl, das, ſobald nur ſechs Tropfen auf den
Scheitel fallen, auf der Stelle einen Koͤnig oder Bi¬
ſchof daraus macht, welches ich daraus ſehe, weil
im erſten Fall ein goldner Reif um die Haare an¬
ſchieſt und im zweiten ſie gar ausgehen. Der Wehr¬
ſtand, der Kaplan, uͤberſpruͤzte den Sak mit einigem
Oel und legte ihn mit ſeiner Muͤndung aufgeſpert
und aufgeſpannt fuͤr die Feinde hin — er ſelber ſtand
darhinter und hielt ſich hinter einem eben ſo einge¬
oͤlten Ofenſchirm verſtekt. Seine Abſicht war, her¬
vorzufahren, wenn die Beſtien im Sak ſaͤßen und
die ganze Kongregation dann wie Bienen im Schwarm¬
ſak wegzutragen. Die wenigen Kammerjaͤger die
mich leſen, muͤſſen dieſe Fangart haͤufig gebraucht
haben. —
Aber ſie werden nicht daruͤber hingepurzelt ſeyn
wie der Kaplan, dem ſich der wohlriechende Ofen¬
ſchirm zwiſchen die Schenkel ſtuͤlpte und der ſtill lag,
[21] waͤhrend der Feind lief. In einer ſolchen Lage labt
den Menſchen der Pralltriller eines Fluches. Nach¬
dem alſo der Kaplan einige ſolcher Triller und Mor¬
danten geſchlagen, ſich zur Familie hinabbegeben und
ihr im Vorbeigehen geſagt hatte, »wenn es im ge¬
maͤſſigten Erdſtrich einen gaͤbe, der von den Win¬
»deln an ein Trauerpferd zu ritte, der anſaͤſſig waͤre
»in Hatto's zweiten Maͤuſethurm und in einem Ras¬
»pelhauſe aus Amſterdam und in der Vorhoͤlle,
»wenns ſo einen Diſziplinanten gaͤbe, von dem ihn
»nur wunderte, wie er noch am Leben waͤre: ſo
»waͤr' Ers allein und weiter kein Teufel« — nach¬
dem er das heraus hatte: ſo ließ er die Ratten
ruhig und — wurd' es ſelber recht ſehr.
Zu Nachts fiel nichts Denkwuͤrdiges vor als daß
er — aufwachte und herumhorchte, ob nichts ge¬
ſchwaͤnztes rumore, weil er willens war, ſich ſatt zu
aͤrgern. Da gar nichts von den Beſtien zu verneh¬
men war, nicht einmal ein Seitenpas: ſo ſetzte er
ſich auf den Fußboden heraus und preſte das Spio¬
nenohr an dieſen. Sein Gluͤk wollte, daß gerade
jetzt die Bewegungen des Feindes mit Balleten und
Galopaden in ſein Gehoͤr einplumpten. Er brach
auf, armirte ſich mit einer Kindertrommel und
wekte ſeine Frau mit dem Liſpeln auf: »Schatz,
»ſchlaf wieder ein und erſchrik im Schlaf nicht:
»ich trommel' ein wenig gegen die Ratten; denn
[22] »von der Zwickauer Sammlung nuͤtzlicher Bemerkun¬
»gen fuͤr Stadt und Landwirthſchaft 1785 wird
»mirs angerathen.«
Sein erſter Donnerſchlag gab ſeinen Erbfeinden
die Ruhe, die er ſeinen Blutsfreunden nahm. . . .
Da ich aber alle Menſchen jetzt in Stand geſetzt,
ſich den Kaplan im Hemd und mit dem Hakbret der
Soldateſka vorzuſtellen: ſo gehen wir lieber ans
Bette ſeines Sohnes Flamin und geben acht, was
dieſer darin macht. . . ,
Nichts; aber außer demſelben macht er einen
Ritt jetzt ſo ſpaͤt und noch dazu ohne Sattel und
Weſte. Er, deſſen Bruſt eine Aeols Hoͤle voll ge¬
druͤkter Stuͤrme war — jeder geſcheute Pronota¬
rius in Wezlar, wuͤrde ſeinen Fiſchkopf oder Reb¬
huhnfluͤgel reiner abſchaͤlen oder ſein Samt-Knie rei¬
ner abbuͤrſten als er — dieſer wuſte unmoͤglich laͤn¬
ger auf einem Kopfkuͤſſen zu verbleiben, dem heute
eine Trommel ſo nahe kam und morgen ein Freund.
Einen andern freilich (wenigſtens den Leſer und
mich) wuͤrde die transparente Nacht, womit ſich der
April beſchloß, die weite Stille, auf welche die
Trommelſtoͤcke ſchlugen, die Sehnſucht nach dem Ge¬
liebten, mit welchem der Morgen wieder das oͤde
Herz und das zerſtuͤkte Leben ergaͤnzte, alles dieſes
wuͤrde uns beide mit ſanften Bebungen und Traͤu¬
men und Thraͤnen erfuͤllet haben — den Kaplans¬
[23] ſohn aber warfs auf den Gaul hinauf und in die
Nacht hinaus: ſeine geiſtigen Erd-Erſchuͤtterungen
legten ſich nur unter einem koͤrperlichen Galop.
Er ſprengte uͤber den Huͤgel, auf dem er
Morgen ſich mit ſeinem Horion wieder verknuͤpfen
wollte, zehnmal hinauf und hinab. Er fluchte und
donnerte auf alle ſeine Leidenſchaften — freilich mit
Leidenſchaft — die bisher die Beinſaͤge an ihre ver¬
bundnen Freundſchaftshaͤnde applicirt hatten: »o
»wenn ich dich nur wieder habe, Sebaſtian, (ſagt'
»er und riß den Gaul herum,) ſo will ich ſo ſanft
»ſeyn, ſo ſanft wie du, und dich niemals verkennen,
»oder das Donnerwetter ſoll mich hier auf dem
»Platze. . . .« Beſchaͤmt uͤber den eiligen Wider¬
ſpruch, ritt er blos im Pas nach Hauſe.
Seine Sehnſucht nach ſeinem wiederkehrenden
Freunde druͤckt' er im Stalle dadurch aus, daß er
die Scheitelhaare hinaufſtuͤlpte, den Zopf wie die
fuͤnfte Violinſaite anzog und den Schluͤſſel des Fut¬
terkaſtens abdrehte. . . .
Nur ein Menſch, der nach einem Freunde ge¬
rade ſo wie nach einer Freundin ſchmachtet, ver¬
dienet beide. Aber es giebt Menſchen, die aus der
Erde gehen, ohne je daruͤber betruͤbt oder beſorgt
geweſen zu ſeyn, daß ſie niemand darin geliebt hat¬
te. Derjenige, der nach dem Kommerzientrak¬
tat der Kaufleute, nach dem geſellſchaftlichen
[24] Vertrag der Weltleute, ſogar nach dem Graͤnz-
und Tauſchvertrag der Liebe nichts hoͤheres
kennt, ein ſolcher — ich wollt' aber, er haͤtte mich
gar nicht vom Verleger verſchrieben — deſſen fahles
Herz nichts weiß von der Bruͤderunitaͤt befreun¬
deter Menſchen, vom Anaſtomoſieren ihrer edlern
Gefaͤſſe und von ihrer Eidgenoſſenſchaft in Streit
und Schmerz — — ich ſeh' aber nicht, weswegen
ich von dieſem Tropfen ſo lange rede, da er nicht
einmal in Flamins Sehnen ſich hineinzufuͤhlen weiß,
der ein liebendes, achtendes Auge begehrte, weil
ſeine Fehler und ſeine Tugenden in gleichem Maße
abſtießen: bei andern Menſchen machen wenigſtens
entweder die Flecken die Stralen gut, oder die Stra¬
len die Flecken. — —
Blos in fuͤrſtlichen Pferdeſtaͤllen iſt das Getoͤſe
fruͤher und lauter als das in der Kaplanei am erſten
Wonnemonat war. Ich frage die erſte beſte Leſerinn,
ob es je mehr zu bohnen und zu ſieden giebt, wenn
es nicht an einem Morgen iſt, wo ein Lord mit dem
Staar erwartet wird und ſein Sohn dazu und ein
Okuliſt. Die maͤnnlichen Raſttage fallen allezeit in
die weiblichen Raſpeltage: Vater und Sohn giengen
gelaſſen dem Doktor und dem Okuliſten entgegen.
Der erſte Mai fieng ſich wie der Menſch und
ſeine Univerſalhiſtorie mit einem Nebel an. Der
Fruͤhling, der Raphael unſers Erdkugel-Sektors,
[25] ſtand ſchon drauſſen und uͤberdekte alle Gemaͤcher un¬
ſers Vatikans mit ſeinen Gemaͤlden. Ich hab' einen
Nebel lieb, ſobald er wie ein Schleier vom Ange¬
ſicht eines ſchoͤnen Tages abgleitet und ſobald ihn
groͤßere als die vier Fakultaͤten machen. Wenn
er (der am 1. Mai war ſo) wie ein Zugnez Gipfel
und Baͤche uͤberflicht — wenn die herabgedruͤkten
Wolken auf unſern Auen und durch naſſe Stauden
kriechen — wenn er auf der einen Weltgegend den
Himmel mit einem Pech-Brodem beſudelt und den
Wald mit einer unreinen ſchweren Nebelbank be¬
ſtreift, indeß er auf den andern, abgewiſcht vom
naſſen Saphyr des Himmels, in Tropfen verkleinert
die Blumen erleuchtet; und wenn dieſer blaue Glanz
und jene ſchmuzige Nacht nahe an einander voruͤber¬
ziehen und die Plaͤtze tauſchen: wem iſt alsdann
nicht als ſaͤh er Laͤnder und Voͤlker vor ſich liegen,
auf denen giftige und ſtinkende Nebel in Gruppen
herumziehen, die bald kommen, bald gehen? — Und
wenn ferner dieſe weiße Nacht mein ſchwermuͤthiges
Auge mit dahin fliegenden Dunſtſtroͤmen, mit irren¬
den zitternden Duftſtaͤubgen umzingelt: ſo erblick' ich
truͤbe in dem Dunſt das Menſchenleben abgefaͤrbt,
mit ſeinen zwei großen Wolken an unſerm Auf- und
Untergange, mit ſeinem ſcheinbar lichten Raume um
uns, mit ſeiner blauen Muͤndung uͤber uns. . . .
[26]
Der Doktor kann auch ſo gedacht haben, aber
nicht Vater und Sohn, die ihm entgegen gehen.
Flamin wird ſtaͤrker von der entfernten, als nahen
Natur, mehr von der großen als kleinen geruͤhrt, ſo
wie er mehr fuͤr den Staat als die Wohnſtube Ge¬
fuͤhl hat und ſein innerer Menſch windet ſich am
liebſten an Pyramiden empor, an Gewittern, an Al¬
pen. Der Kaplan genießet bei der ganzen Sache
nichts als — Maibutter, und aus ſeinem Munde
geht bei ſo vielem moraliſchen Apparat nichts als —
Speichel, beides weil er befaͤhrt, der Dampf freſſ
ihn an und zerbeiſſe ſeinen Schlund und Magen.
Als ſie vom Huͤgel des naͤchtlichen Galops in
ein mit Nebeldampf verſchuͤttetes Thal einſchritten:
zogen ihnen daraus drei Garniſonregimenter im Du¬
blirſchritt entgegen. Jedes Regiment war vier
Mann ſtark und eben ſo hoch — ohne Pulver und
Schuhe — aber verſehen mit fein durchbrochnen
Schenkel-Manſchetten, naͤmlich mit poroͤſen Hoſen
und uͤberfluͤſſigen Offizieren, weil keine Gemeine da¬
bei waren. Da ich jetzt in meiner Beſchreibung gar
dazu ſetze, daß beide Staͤbe, ſowol der Regiments,
als der Generalſtab uͤber 600 Kanonen in der Taſche
hatten und uͤberhaupt einen ganzen Artillerie-Train
und daß die Prima Plana ganz neue im Kriege un¬
gewoͤhnliche gelbe Kugeln, die eher aufkeimten als
das von Wilden geſaͤete Schiespulver, mit der Zunge
[27] in die Flinten ſtekte: ſo wuͤrd' ich (ich befuͤrchte
das) die Leſer, zumal die Leſerinnen — um ſo mehr,
da ichs noch nicht errathen laſſe, warens Soldaten-
Eltern oder Soldatenjungen — ein wenig zu aͤngſt¬
lich machen, wenn ich gar eintunken und vollends
den verdruͤslichen Umſtand, daß die Truppen auf den
benebelten Hofkaplan Feuer zu geben anfiengen, hin¬
zu erzaͤhlen wollte, ohne ſpornſtreichs ſchon vorher
mit der Nachricht vorzuſprengen, daß hinter der
Armee eine Mannsſtimme rief: Halt!
Herausfuhr aus dem letzten Treffen der General¬
feldmarſchal, der gerade noch einmal ſo lang war
als ſein Stuͤklieutenant — mit rundem Hut, mit
fliegenden Armen und Haaren ſtuͤrzt' er ſich wuͤthend
auf Flamin zu und erpakte ihn, um ihn umzubrigen
— aus Haß weniger als aus Liebe — Sebaſtian
wars — die zwei Freunde lagen zitternd in einan¬
der, Geſicht in Geſicht gehuͤllt, Bruſt von Bruſt zu¬
ruͤkgedruͤkt, mit Seelen ohne Freuden-Worte, aber
nicht ohne Freudenthraͤnen — die erſte Umarmung
endigte ſich mit einer zweiten — die erſten Laute
waren ihre zwei Namen. . . .
Der Kaplan privatiſirte neben der Armee und
ſtand verdruͤslich auf ſeinem Iſolirſchemel mit ſei¬
nem leeren Hals um den nichts fiel.« Den Augen¬
»blick — ſagt' er komm' ich wieder, ich kann recht
»gut an der Haſelſtaude ein wenig p. . ., bevor
[28] ich meines Orts ans Umhalſen komme.« Aber
Horion eilte aus des Sohnes Armen zaͤrtlich in des
Vaters ſeine, verweilte lange darin, und machte al¬
les wieder gut.
Mit befriedigter Liebe, mit tanzendem Herzen,
mit ſchwelgenden Augen, unter dem aufgebluͤhten
Himmel und uͤber den Schmuk der Erde — denn
der Fruͤhling hatte ſeine Schmukkaͤſtgen aufgeſchloſſen
und bluͤhende Juwelen in alle Thaͤler und auf alle
Huͤgel [und] bis weit an die Berge geworfen —
wandelten beide ſelig dahin und die brittiſche Hand
preſte die deutſche. Sebaſtian konnte nichts ſagen
zu Flamin, aber er ſprach mit dem Vater und jeder
gleichguͤltige Laut machte den mit Blut und Liebe
uͤberhaͤuften Buſen freier.
Die drei Regimenter hatte jeder aus dem Kopfe
verloren; aber ſie waren ſelber dem Generalfeldmar¬
ſchal gehorſam nachmarſchiert. Sebaſtian, zu men¬
ſchenfreundlich, um jemand zu vergeſſen, drehte ſich
gegen das Quarree von kleinen Sanskuͤlottes herum,
die nicht aus Paris ſondern aus Flachſenfingen wa¬
ren und als bettelnde Soldatenkinder ihn begleitet
hatten: »Meine Kinder, (ſagt' er und ſahe nichts an
»als ſein ſtehendes Heer) heute iſt fuͤr euren Gene¬
»ralliſſimus und euch der merkwuͤrdige Tag, wo er
»drei Dinge thut — Ich dank' euch erſtlich ab, aber
»meine Reduktion ſoll euch ſo wenig wie eine fuͤrſt¬
[29] »liche hindern, zu betteln — zweitens bezahl' ich euch
»den ruͤkſtaͤndigen Gold von drei Jahren, naͤmlich
»jedem Offizier das Traktement von zwei Siebzeh¬
»nern, weil man jetzt die Gage erhoͤhet hat —
»drittens lauft morgen wieder her, ich laſſe den
»ſaͤmtlichen Regimentern Hoſen anmeſſen.«
Er kehrte ſich gegen den Kaplan und ſagte,
»man ſollte lieber Sachen verſchenken als Geld,
denn die Dankbarkeit fuͤr dieſes wird zugleich mit
dieſem ausgegeben, aber in einem Paar verehrten
Hoſen haͤlt der Dank ſo lang wie ſein Ueberzug
ſelber.«
Das Schlimme dabei wird nur ſeyn, daß der
Flachſenſingiſche Fuͤrſt und ſein Kriegskollegium ſich
zuletzt in die Hoſen mengen, da beide unmoͤglich ver¬
ſtatten koͤnnen, daß regulirte Truppen mehr auf
als in dem Leibe haben, naͤmlich etwas. In unſern
Tagen ſollt' es endlich dem duͤmſten Montirungs- und
Proviantkommiſſar einleuchten — aber in der That
giebt es kluge — 1) daß unter zwei Soldaten der
Hungrige ſtets dem Gatten vorzuziehen ſey, weil
ſchon von ganzen Voͤlkern bekannt iſt, daß ſie deſto
tapferer ſind, je weniger ſie haben — 2) daß ſo wie
in Blozheim *)unter zwei gleich tugendhaften Juͤng¬
[30] lingen der aͤrmere gekroͤnt wird, eben ſo der arme
Unterthan billig dem reichen trotz aller gleichen Ta¬
pferkeit dennoch vorgezogen und allein enrollirt wer¬
de, weil der arme Teufel beſſer mit Hunger und
Froſt bekannt iſt — daß 3) jetzt, da auf allen
Stufen des Throns wie auf Waͤllen Kanonen ſtehen
(wie die Sonne ihren Glanz von tauſend ſpeienden
Vulkanen empfaͤngt) und da in einem guten Staate
das maͤnnliche Stammholz zu Ladſtoͤcken abge¬
trieben wird, das Volk mit Nutzen in zweierlei
Hausarme zerfalle, in beſchuͤtzte und in ſchuͤtzende —
Und 4) ſoll der Teufel den holen, der murrt. —
Als meine drei geliebten Menſchen endlich vor
der Kaplanei ankamen: war die ganze kaſſirte
Geusd'armerie ihnen heimlich nachgeruͤkt und wollte
die Hoſen. Aber noch etwas Groͤßeres war ihnen
aus Flachſenfingen nachgefahren — der blinde Lord.
Kaum hatte den jungen Gaſt die Brittin nicht hoͤf¬
lich, ſondern freudig hereingelaͤchelt, kaum hatte
Agathe zum erſtenmal ernſthaft ſich hinter die Mut¬
ter und die alte Appel ſich hinter die Kochtoͤpfe ver¬
ſtekt: ſo that der aufraͤumende Eyman einen langen
Sprung vom Fenſter hinweg, an welches vier Eng¬
laͤnder — keine Auslaͤnder, ſondern Pferde — heran¬
trabten. Jetzt fiel erſt allen die Frage ein, wo der
Okuliſt waͤre; Und Sebaſtian hatte kaum die Zeit
darauf zu antworten, es komme keiner nach, er ſelber
[31] operire ſeinen Vater. In den engen Zwiſchenraum,
den ſich der Vater von der Wagen- zur Stubenthuͤre
durchfuͤhren ließ, muſte der Sohn die Luͤge draͤngen,
oder vielmehr die Bitte um die Luͤge, die die Fami¬
lie ſeiner Herrlichkeit anhaͤngen ſollte, »der Sohn
waͤre noch nicht da, ſondern blos der Okuliſt, dem
der letztere Schlagfluß die Sprache genommen.«
Ich und der Leſer ſtehen unter einem ſolchen Ge¬
draͤnge von Leuten, daß ich ihm noch nicht einmal
ſo viel ſagen koͤnnen, daß der D. Kuhlpepper dem
Lord das linke Auge mit der plumpen Staarnadel
ſo gut wie ausgeſtochen; — um alſo das rechte des
geliebten Vaters zu retten, hatte Sebaſtian ſich auf
die Kur jener Verarmten gelegt, die ſchon mit den
Augen im Orkus wandeln und nur noch mit vier
Sinnen außerhalb des Grabes ſtehen. —
Als der Sohn die theuere mit einer ſo langen
Nacht bedekte Geſtalt, fuͤr die es kein Kind und
keine Sonne mehr gab, erblikte: ſo ſchob er ſeine
Hand, deren Puls von Mitleid, Freude und Hof¬
nung zitterte, der Eymanniſchen unter und reichte
ſie eilend hin und druͤkte die vaͤterliche unter dem
fremden Namen. Aber er muſte zur Hausthuͤre
wieder hinaus, damit ſeine bebende Rettungshand
auszitterte und er hielt drauſſen das vor Hofnung
pochende Herz mit dem Gedanken an, daß es nicht
gerathen werde — er ſah laͤchelnd an dem zwoͤlf¬
[32] ſpaͤnnigen Kadettenkorps auf und ab, damit die Ruͤh¬
rung und die Sehnſucht aus der bewegten Bruſt
entwichen. Drinnen hatt' unterdeß die Kaplaͤnin
aus dem Blinden einen noch Blindern gemacht und
ihm vorgelogen quantum ſatis; ſobald eine Luͤge,
pia fraus, dolum bonum, poetiſche und juriſtiſche
fictio auszufertigen iſt: ſo ſtellen ſich die Weiber
von ſelber als expedirende Sekretaire und Hofbuch¬
druckerinnen hinzu und helfen dem ehrlichen Mann.
»Ich wuͤnſchte ſehr — ſagte der Vater beim Ein¬
»tritt des Sohnes — die Operation gienge jetzt vor
»ſich eh' mein Sohn da waͤre.« Die Staarzange
wurde vorgeholt, das Zimmer verſchattet und das
kranke Auge befeſtigt. Der blinde Englaͤnder — ein
Menſch, der ſeinen Kopf wie ein heiteres Schneege¬
buͤrge kuͤhl uͤber eine Feuerzone hob — hielt der
kindlichen Hand ein ſchweigendes Angeſicht ohne
Zuckung vor; er blieb vor dem Schickſal gefaſt und
ſtumm, das jetzt entſcheiden wollte, ob ſeine oͤde
Nacht langen ſollte bis ans Grab oder nur bis an
dieſe Minute. . . .
Das Schickſal ſagte: es werde licht und es ward.
Das unſichtbare Schickſal nahm eines Sohnes aͤngſt¬
liche Hand und ſchloß damit ein Auge auf, das ei¬
ner ſchoͤnern Nacht als dieſer ungeſtirnten wuͤr¬
dig war: Viktor druͤkte die reife Staarlinſe — dieſe
auf die Schoͤpfung geworfene Dampfkugel und Wol¬
ke[33] ke — in den Boden des Augapfels hinab; und ſo,
da ein Atem ſechs Linien tief verſenkt war, hatte
ein Menſch die Unermeslichkeit wieder und ein Va¬
ter den Sohn. Gebruͤkter Menſch! der du zugleich
ein Sohn und ein Knecht des Staubes biſt, wie
klein iſt der Gedanke, die Minute, der Bluts- oder
Thraͤnentropfe, der dein weites Gehirn, dein weites
Herz uͤberſchwilt! Und wenn ein Paar Blutkuͤgelgen
bald deine Montgolfier's Kugeln bald deine Belidors
Drukkugeln werden, ach wie wenig Erde iſt es, was
dich hebt und druͤkt! —
»Du Viktor? — Du haſt mich geheilt, mein
»Sohn?« (ſagte der Errettete und faſſete die noch
mit dem Apparat bewafnete Hand) »— leg' weg und
»bind mich wieder zu; ich freue mich, daß ich dich
zuerſt geſehen.« Er band das geoͤfnete Auge unter
den ſtillen freudigen Thraͤnen des ſeinigen wieder zu;
aber als der Verband dem Stoiker alles verdekte,
die Erroͤthung und die Ergieſſung: ſo wars dem
gluͤcklichen Sohne unmoͤglich, ſich laͤnger zu halten
— er uͤberließ ſich ſeinem Herzen und klammerte
ſich mit ſeinen Thraͤnen und Armen an das verhuͤllte
Angeſicht, dem er hellere Tage wiedergegeben hatte,
und als die Fluth der Liebe, ſeinen zitternden Bu¬
ſen uͤberzog: ſo fuͤhlt' er doch davon die ſchnellern
Schlaͤge des vaͤterlichen und die feſtere Umarmung
Heſperus. I. Th. C[34] deſſen, der ihm dankte — und dann war das beſte
Kind das gluͤklichſte Kind. . . .
Zwoͤlf Kanonen gingen drauſſen los aus eben
ſo vielen Stubenſchluͤſſeln — — Sie erſchießen dieſe
Hiſtorie. — —
Denn jetzt iſt ſie warlich aus — nicht ein Wort,
nicht eine Sylbe weiß ich mehr — ich habe uͤber¬
haupt in meinem Leben gar keinen Horion und kein
St. Luͤne geſehen oder gehoͤrt oder getraͤumt oder
nur romantiſch erſonnen — der Teufel und ich
wiſſen wie es iſt und ich meines Orts habe ohnehin
jetzt beſſere Dinge zu machen und zu eroͤfnen, naͤmlich:
Die Ouvertuͤre und die geheime Inſtruktion.
Ein andrer haͤtte dumm gehandelt und gleich mit
dem Anfang angefangen; ich aber dachte, ich koͤnnte
allemal noch ſagen wo ich hauſe — im Grunde am
Aequator; denn ich wohne auf der Inſel St. Jo¬
hannis, die bekanntlich in den oſtindiſchen Ge¬
waͤſſern liegt, die ganz vom Fuͤrſtenthum Scheerau
umgeben ſind. Es kann naͤmlich guten Haͤuſern, die
ihre ordentliche litterariſche Strazza (den Meßkata¬
log) und ihr ordentliches Kapitalbuch (die Litteratur¬
zeitung) halten, nichts weniger unbekannt ſeyn als
mein neueſtes Landesprodukt, die unſichtbare
Loge; ein Werk, zu deſſen Leſung mein Landesherr
ſeine Landeskinder und ſelber die Schriftſaſſen (es
waͤre nicht ausdruͤcklich gegen die Rezeſſe) noch mehr
[35] noͤthigen ſollte als zum Beſuche der Landeſuniverſi¬
taͤt. In dieſe Loge hab' ich nun den außerordentli¬
chen Teich geſetzt, welcher unter dem Namen oſtindi¬
ſcher Ozean bekannter iſt und in den wir Scheerauer
die wenigen Molucken und andre Inſeln hineingefahren
und gepflaſtert haben, auf denen unſer Aktivhandel
ruht. Waͤhrend das die unſichtbare Loge in eine ſicht¬
bare umgedruckt wurde, haben wir wieder eine In¬
ſel verfertigt — das iſt die Inſel St. Johannis,
auf der ich jetzt hauſe und ſpreche.
Der folgende Abſatz duͤrfte intereſſant werden,
weil man darin dem Leſer aufdekt, warum ich auf
dieſes Buch den tollen Titel ſetzte Hundspoſttage.
Es war vorgeſtern am 29. April, daß ich Abends
auf und abgieng auf meiner Inſel — der Abend
hatte ſich ſchon im Schatten und Nebel eingeſpon¬
nen — ich konnte kaum auf die Teidor-Inſel
hinuͤberſehen, auf dieſes Grabmal ſchoͤner unterge¬
ſunkner Fruͤhlinge und ich huͤpfte mit dem Auge
blos auf den nahen Laub- und Bluͤtenknoſpen her¬
um, dieſen Fluͤgelkleidern des wachſenden Fruͤhlings
— die Ebene und Kuͤſte um mich ſah wie eine An¬
ziehſtube der Blumengoͤttin aus und ihr Putzwerk lag
zerſtreuet und verſchloſſen in Thaͤlern und Stau¬
den herum — der Mond lag noch hinter der
Erde, aber ſeine Stralen-Fontaine ſpruͤzte ſchon am
ganzen Rande des Himmels hinauf — der blaue
C 2[36] Himmel war endlich mit Silberflittern durchwirkt,
aber die Erde noch ſchwarz von der Nacht grundiert
— ich ſah blos in den Himmel: . . als etwas
plaͤtſcherte auf der Erde. . . .
Ein Spitzhund thats, der in den indiſchen Ozean
geſprungen war und nun losdrang auf St. Johan¬
nis. Er kroch an meine Kuͤſte hinauf und regnete
wedelnd neben mir. Mit einem blutfremden Hunde
iſt eine Konverſation noch ſauerer anzuſpinnen als
mit einem Englaͤnder, weil man den Karakter und
Namen des Viehes nicht kennt. Der Spitz hatte
etwas mit mir vor und ſchien ein Envoyé zu ſeyn.
Endlich machte der Mond ſeine Stralen-Schleuſſen
auf und ſetzte mich und den Hund unter Licht.
» Sr. Wohlgebohren
»des Herrn Berg-Hauptmann *) Jean Paul
auf
Frei
St. Johannis.
Dieſe Adreſſe an mich hieng vom Halſe der Be¬
ſtie herunter und war an eine Kuͤrbisflaſche, die ans
Halsband gebunden war, angepicht. Der Hund wil¬
[37] ligte ein, daß ich ihm ſein Felleiſen abſtreifte wie
den Alpenhunden ihren Portativ-Konvikttiſch. Ich
zog aus dem Kuͤrbis, der in Marketenderzelten oft
mit Spiritus gefuͤllet worden, etwas heraus, was
mich noch beſſer berauſchte — einen Buͤndel Briefe.
Gelehrte, Verliebte, Muͤſſige und Maͤdgen ſind un¬
baͤndig auf Briefe erpicht; Geſchaͤftsleute gar nicht.
Das ganze Volumen — Name und Hand waren
mir fremd — drehte ſich um den Inhalt, ich waͤre
ein beruͤhmter Mann und haͤtte mit Kaiſern und
Koͤnigen Verkehr *) und Berghauptmaͤnner meines
Schlages gaͤb' es wohl wenig u. ſ. w. Aber genug!
Denn ich muͤſte nicht eine Unze Beſcheidenheit mehr
in mir tragen, wenn ich mit der Unverſchaͤmtheit,
die einige wirklich haben, ſo fort exzerpiren und es
aus den Briefen extrahiren wollte, daß ich der ſchee¬
rauiſche Gibbon und Moͤſer waͤre (zwar im biogra¬
phiſchen Fache nur, aber welche Schmeichelei!) —
daß jeder, der ein Leben beſaͤße, und es von mir
biographiſch abgeſchattet ſehen wollte, damit fort¬
machen ſollte, ehe ich von irgend einem koͤniglichen
[38] Hauſe zum Hiſtoriographen weggepreſſet wuͤrde und
gar nicht mehr zu haben waͤre — daß es mir gleich¬
wohl wie andern Berghauptleuten ergehen koͤnnte,
vor denen das zerſtreuete Publikum oft nicht eher
den Hut abgenommen als bis ſie ſchon in eine an¬
dere Gaſſe d. h. Welt hinein geweſen u. ſ. w. Wer
beſorgt letzteres mehr als ich ſelber? Aber auch dieſe
Beſorgnis bringt einen beſcheidnen Mann nicht da¬
zu, daß er hinabkriecht und den Soufleur ſeiner Pa¬
negyriſten macht; wie ich doch gethan haben wuͤrde,
wenn ich fort extrahiret haͤtte. Meinem Gefuͤhle
ſind ſogar die Autores verhaſt, die mit dem End¬
triller: »Beſcheidenheit verbiete ihnen mehr zu ſa¬
»gen« unverſchaͤmt erſt dann nachkommen, wenn ſie
alles ſchon geſagt haben, was jene verbieten kann.
Jetzt wagt ſich bei Korreſpondent mit ſeiner Ab¬
ſicht hervor, mich zum Biographen einer anonymi¬
ſchen Familiengeſchichte zu machen. Er bittet, er
intriguiret, trotzt. »Er koͤnne — (ſchreibt er
»weitlaͤuftiger, aber ich abbrevire alles und trag'
»uͤberhaupt dieſen epiſtolariſchen Extrakt mit auſſer¬
»ordentlich wenig Verſtand vor; denn ich werde ſeit
»einer halben Stunde von einer verdammten Rat¬
»ten Beſtie ungemein aͤrgerlich gekratzt und genagt)
»— mir alles gerichtlich duͤrfe mir
»aber keine andere Namen der Perſonagen in dieſer
»Hiſtorie melden als verfaͤlſchte, weil mir nicht ganz
[39] »zu trauen ſey — er klaͤre mir ſchon alles mit der
»Zeit auf — denn an dieſer Geſchichte und deren
»Epigeneſis arbeite das Schickſal ſelber noch und er
»haͤndige mir hier nur die Schnauze davon ein und
»werde mir ein Glied nach dem andern ſo wie es
»von der Drechſelbank der Zeit abfalle, richtig uͤber¬
»machen bis wir den Schwanz haͤtten — daher
»werde der epiſtolariſche Spitz regelmaͤßig weg- und
»anſchwimmen wie eine poste aux anes, aber nach¬
»ſchiffen duͤrf' ich dem Brieftraͤger nicht — und ſo
»ſchließet der Korreſpondent, der ſich Knef unter¬
»zeichnet) werde mir der Hund wie ein Pegaſus ſo
»viel Nahrungsſaft zutragen, daß ich ſtatt des duͤn¬
»nen Vergißmeinnichtes eines Almanachs einen dicken
»Kohlſtrunk von Folianten in die Hoͤhe zoͤge.«
Wie gluͤcklich er ſeine Abſicht erreicht habe, weiß
der Leſer, der ja eben aus dem erſten Kapitel dieſer
Geſchichte herkoͤmmt, das der Spitz von Eymans
Ratten bis zur Kanonade auf einmal in der Flaſche
hatte.
Ich ſchrieb H. Knef nur ſo viel im Kuͤrbis zu¬
ruͤck: »Etwas Tolles ſchlag' ich nie ab. — Ihre
»Schmeicheleien wuͤrden mich ſtolz machen, wenn
»ichs nicht ſchon waͤre; daher ſchaden Schmeichler
»wenig. — Ich finde die beſte Welt blos im Mikro¬
»koſmus anſaͤßig und mein Arkadien langt nicht uͤber
»die vier Gehirnkammern hinaus: die Gegenwart
[40] »iſt fuͤr nichts als den Magen des Menſchen ge¬
»macht; die Vergangenheit beſteht aus der Ge¬
»ſchichte, die wieder eine zuſammengeſchobene von
»Ermordeten bewohnte Gegenwart, und blos ein
»Deklinatorium unſrer ewigen horizontalen
»Abweichungen vom kalten Pole der Wahrheit, ein
»Inklinatorium unſrer ſenkrechten von der
»Sonne der Tugend iſt — Es bleibt alſo dem Men¬
»ſchen der in ſich gluͤcklicher als außer ſich ſeyn
»will, nichts uͤbrig als die Zukunft oder Phanta¬
»ſie, d. h. der Roman. Da nun eine Biographie
»von geſchikten Haͤnden leicht zu einem Roman zu
»veredeln iſt, wie wir bei Voltaires Karl und Pe¬
»ter und an den Selbſtbiographien ſehen: ſo uͤber¬
»nehm' ich das biographiſche Werk, unter der Be¬
»dingung, daß darin die Wahrheit nur meine Ge¬
»ſellſchaftsdame, aber nicht meine Fuͤhrerin ſey.«
»In Viſitenzimmern macht man ſich durch allge¬
»meine Satiren verhaſt, weil ſie jeder auf ſich ziehen
»kann: perſoͤnliche aber rechnet man zu den Pflichten
»der Mediſance und verzeiht ſie, weil man hoft, der
»Satiriker falle mehr die Perſon als das Laſter an. In
»Buͤchern aber iſt es gerade umgekehrt, und es iſt mir
»falls einige oder mehrere Spitzbuben in unſrer Bio¬
»graphie wie ich hoffe Rollen haben, das Inkognito
»derſelben ganz lieb. Ein Satiriker iſt hierin nicht
[41] »ſo ungluͤklich wie ein Arzt. Ein lebhafter Patho¬
»log kann wenig Krankheiten beſchreiben, die nicht
»ein lebhafter Leſer zu haben meine; dem Hypochon¬
»driſten inokuliert er durch ſeine hiſtoriſchen Patien¬
»ten ihre Wehen ſo gut, als wenn er ihn ins Bette
»zu ihnen legte; und ich bin feſt verſichert, daß we¬
»nige Leute von Stande lebhafte Schilderungen der
»veneriſchen Seuche leſen koͤnnen, ohne ſich ein¬
»zubilden, ſie haͤtten ſie, ſo ſchwach ſind ihre Ner¬
»ven und ſo ſtark ihre Phantaſien. Hingegen ein
»Satiriker kann ſich Hofnung machen, daß ſelten ein
»Leſer ſeine Gemaͤlde moraliſcher Krankheiten, ſeine
»anatomiſchen Tafeln von geiſtigen Misgeburten auf
»ſich anwenden werde; er kann froh und frei De¬
»ſpotismus, Schwaͤche, Stolz und Narrheit ohne die
»geringſte Sorge malen, daß einer dergleichen zu haben
»ſich einbilde; ja ich kann das ganze Publikum oder
»alle Deutſche einer aͤſthetiſchen Lethargie, einer po¬
»litiſchen Atonie, eines kammeraliſtiſchen Phlegma
»gegen alles was nicht in den Magen oder Beutel
»geht, beſchuldigen; aber ich traue jedem, der mich
»lieſet zu, daß er wenigſtens ſich nicht darunter
»rechne und wenn dieſer Brief gedruckt wuͤrde,
»wollt' ich mich auf eines jeden inneres Zeugniß
»berufen. — Der einzige Akteur, deſſen wahren Na¬
»men ich in dieſem hiſtoriſchen Schauſpiel haben
[42] »muß, zumal da er nur der Soufleur iſt, iſt der —
»Hund.«
Jean Paul.
Ich habe noch keine Antwort und auch noch kein
zweites Kapitel: jetzt koͤmmt es ganz auf den Spitz¬
hund an, ob der der gelehrten Welt die Fortſetzung
dieſer Hiſtorie ſchenken will oder nicht.
— Iſts aber moͤglich, daß ein biographiſcher
Berghauptmann blos einer verdammten Ratte we¬
gen, die noch dazu in keinem Journal arbeitet ſon¬
dern in meinem Hauſe, jetzt vom Publikum weglau¬
fen und alle Zimmer durchdonnern muß, um das
Aas in Angſt zu jagen? . . .
. . . Spizius Hofman heißet der Hund: der
war die Ratte und kratzte an der Thuͤre mit dem
zweiten Kapitel im Kuͤrbis. Ein ganzes volles Pro¬
viantſchif, das die gelehrte Welt ausnaſchen darf,
hab' ich vom Halſe Hofmanns abgehoben: und es
thun ſich fuͤr den Leſer, der das Geſcheute ſo gern
lieſet wie das Dumme, heute — denn nunmehr iſts
gewiß, daß ich fortſchreibe — freudige Proſpekte auf,
die ich aus einem gewiſſen Gefuͤhle der Beſcheiden¬
heit nicht abzeichne. . . Der Leſer ſitzt jetzt in ſei¬
nem Kanapee, die ſchoͤnſten Leſe-Horen tanzen um
ihn und verſtecken ihm ſeine Repetieruhr — die Gra¬
zien halten ihm mein Buch und reichen ihm die
Heftlein — die Muſen wenden ihm die Blaͤtter um
[43] oder leſen gar alles vor — er laͤſſet ſich von nichts
ſtoͤren ſondern der Schweizer oder die Kinder muͤſſen
ſagen, Papa iſt aus — da das Leben an einem Fuß
einen Kothurn und am andern einen Sockus traͤgt:
ſo iſts ihm lieb, daß eine Lebensbeſchreibung auch in
Einem Athem lacht und weint — und da die Bel¬
letriſten immer mit dem Moraliſchen ihrer Schriften,
das nuͤtzt, etwas Unmoraliſches, das vergiftet, aber
reitzt, zu verbinden wiſſen, gleich den Apothekern,
die zugleich Arzneien und Aquavit verzapfen:
ſo vergiebt er mir gern fuͤr das Unmoraliſche, das
vorſticht, das Religioͤſe, das ich etwa habe und um¬
gekehrt — und da dieſe Biographie in Muſik geſetzt
wird, weil Ramler ſie vorher in Hexameter ſetzt
(welches ſie auch mehr bedarf als der harmoniſche
Gesner;) ſo kann er, wenn er ſie geleſen hat, auf¬
ſtehen und ſie auch ſpielen oder ſingen. . . . Auch
ich bin faſt eben ſo gluͤcklich als laͤſ' ich das Werk
— der indiſche Ozean ſchlaͤgt die Pfauenraͤder ſeiner
beleuchteten Wellenkreiſe vor meiner Inſel — mit
allem ſteh' ich auf dem beſten Fuße, mit dem Leſer,
mit dem Rezenſenten und mit dem Hund — alles
iſt ſchon zu den Hundspoſttagen da, ein Dinten¬
rezept von einem Alchemiker, der Gaͤnſehirt mit
Spuhlen war ſchon geſtern da, der Buchbinder mit
bunten Schreibbuͤchern erſt heute — die Natur kno¬
ſpet, mein Leib bluͤht, mein Geiſt traͤgt — und ſo
[44] haͤng' ich uͤber den Loch- und Treibkaſten (d. h. die
Inſel) meine Bluͤten, durchſchieße den Kaſten mit
meinen Wurzelfaſern, kann es (ich Hamadryade) aus
meinem Laubwerk heraus nicht wahrnehmen, wie viel
Moos die Jahre in meine Rinde, wie viel Holzkaͤfer
die Zukunft in das Mark meines Herzens und wie
viel Baumheber der Tod unter meine Wurzel ſetzen
wird, nehme alles nicht wahr, ſondern ſchwinge froh
— du guͤtiges Schickſal! — die Zweige in dem
Winde, lege die Blaͤtter ſaugend an die mit Licht
und Thau gefuͤllte Natur, und errege, vom allgemei¬
nen Lebensodem durchblaͤttert, ſo viel artikulirtes
Geraͤuſch als noͤthig iſt, daß irgend ein truͤbes Men¬
ſchenherz, unter der Aufmerkſamkeit auf dieſe Blaͤt¬
ter, ſeine Stiche, ſein Pochen, ſein Stocken vergeſſe
in kurzen ſanften Traͤumen — — warum iſt ein
Menſch ſo gluͤcklich?
Darum: weil er oft ein Litteratus iſt. So oft
das Schickſal unter ſeinem Schleier das Lebensſtroͤm¬
gen eines Litteratus, das uͤber einige Auditorien und
Repoſitorien-Fachbretter rinnt, aus dem großen
Weltatlas in eine Spezialkarte hineinpunktirt: ſo
kann es ſo denken und ſagen: »wolfeiler und ſonder¬
»barer kann man doch kein Weſen gluͤcklich machen
»als wenn man es zu einem litterariſchen macht:
»ſein Freudenbecher iſt eine Dintenflaſche — ſein
»Trommetenfeſt und Faſching iſt (wenn es rezenſirt)
[45] »die Oſtermeſſe — ſein ganzer paphiſcher Hain geht
»in ein Buͤcherfutteral hinein — und in was andern
»beſtehen denn ſeine blauen Mondtage als in (ge¬
»ſchriebnen oder geleſenen) Hundspoſttagen?« Und
ſo fuͤhrt mich das Schickſal ſelber in den. . .
2. Hundspoſttag.
Antediluvianiſche Geſchichte — Viktors Lebens-Marſchroute.
Beim Thor des erſten Kapitels fragen die Leſer die
Einpaſſirenden, »wie Sie heiſſen? — Ihren Karak¬
»rakter? — Ihre Geſchaͤfte?« —
Der Hund antwortet fuͤr alle. Der Lord traͤgt
den Flachſenſingiſchen Regenten wie einen Habicht
auf ſeiner beſchuhten Fauſt, aber dieſer transzendente
Falkenirer thuts nicht, um den Fuͤrſten auf Tauben
und Haſen zu werfen, ſondern um ihn wach und
zahm zu machen, welches nicht blos bei Falken ſy¬
nonym iſt. Der Lord regierte den Regenten weder
an eignen noch fremden Laſtern ſondern an eignen
Tugenden. Erſtlich begehrte er nichts vom H. Ja¬
nuar (d. h. Herrn Januar, nicht heiligen Januar,
ſondern der Fuͤrſt hies ſo,) nicht einmal Maͤßigkeit
und Keuſchheit. Zweitens hob er keine Vettern in
den Sattel, ſondern ſchlimme daraus. Drittens
[46] machten ſeine Feſtigkeit und ſeine Feinheit einander
wechſelſeitig gut; uͤber Veraͤnderliche herrſcht am
beſten der Unveraͤnderliche. Viertens war er nicht
der Guͤnſtling, ſondern der Geſellſchafter, blieb im¬
merfort ein Britte und ein Lord und des Landes
wohlthaͤtiger Bienenvater, indeß Januar der
Weiſel und im Weiſelgefaͤngniß war. Fuͤnf¬
tens gehoͤrte er unter die wenigen Menſchen, denen
man gleich ſeyn muß, um ihnen ungehorſam zu
ſeyn; und einem, der das gewoͤhnliche Taſchenſpie¬
lerkunſtſtuͤck machte, ihm ein Schloß unverſehends an
den Mund zu werfen, flogs an den Kopf zuruͤck.
Sechſtens und ſiebentens hatt' er — was auch nicht
zu verachten iſt — eine Niece und Kaͤſe.
Das muß weitlaͤuftiger gefaſſet werden. Was
den Kaͤſe anlangt, ſo wiſſen wirs alle, daß er in
Eheſter einen Pachter hatte, der einen Kaͤſe lieferte
dergleichen es weiter in Europa keinen giebt und
daß oft Fuͤrſten ein außerordentlicher Kaͤſe lieber iſt
als eine außerordentliche Dankadreſſe des Land¬
ſchaftsſyndikus. Was die Niece anlangt, ſo zwingt
mich dieſe zu einer Ausſchweifung.
Blos durch die ihrige. Der Fuͤrſt logirte naͤm¬
lich in London ſamt ſeinem Hofſtaat in des Lords
Hauſe und ſchenkte der Niece ſeine Freundſchaft.
Man kann von ihm ſagen, daß er wie Titus oder
ein oͤſtlicher Weltumſegler zwar zuweilen einen Tag
[47] verlor, aber ſelten eine Nacht, ohne Menſchen
gluͤcklich zu machen. Er muß die jetzige Entvoͤl¬
kerung Frankreichs vorausgeſehen haben: denn er
ſetzte ſich ihr ſchon damals dagegen und hinterließ in
drei galliſchen Seeſtaͤdten eben ſo viel Soͤhne und
auf den ſogenannten ſieben Inſeln nur Einen.
Gleichwol liebte er ſie ſo ſehr als waͤrens lauter
Dauphins, Prinzen von Kalabrien, von Aſturien,
von Braſilien, von Wallis: er war ſinnlich und ein
wenig ſchwach, aber im aͤußerſten Grade (außer wo
er fuͤrchtete) menſchenfreundlich. Er lies dieſe
Kinder erziehen und wollte ſie niemals nach Flach¬
ſenfingen rufen. Dieſe Liebe wuchs noch mehr durch
ein hitziges Fieber in London: der Beichtvater und
das Fieber heitzten ihm ſo ſehr ein, daß er in der
Todesnoth einen Schwur that, bei keinem Maͤdgen
mehr die gegenwaͤrtige Entvoͤlkerung Galliens zu
uͤberlegen. Dieſelbe Schwaͤche, die ſeinen Aber- und
Kinderglauben naͤhrte, diente auch ſeiner Sinnlich¬
keit: als er wieder auf war, wuſt' er nicht was er
machen ſollte. Aber ein geſchickter Exjeſuit aus Ire¬
land wuſt' es: denn er bewies ihm: »ſein Geluͤbde
»muͤſſ' er, zumal vor der Diſpenſation, gewiſſenhaft
»erfuͤllen, ausgenommen den ſuͤndlichen und unmoͤg¬
»lichen Punkt, der darin waͤre: naͤmlich den, den er
»ohne Einwilligung ſeiner Gemahlin weder gelo¬
»ben duͤrfte noch koͤnnte.« Mit andern Wor
[48] ten, der Jeſuit gab ihm zu verſtehen, er habe im
Fieber nur dem unverheiratheten Geſchlechte,
abgeſchworen, ſein Zoͤlibat erſtrecke ſich lediglich auf
Nonnen und es bliebe ihm alſo, da ihm das Ge¬
luͤbde und die Moral den einfachen Ehebruch verbie¬
te, nichts uͤbrig als der doppelte. Januar enthielt
ſich auch gaͤnzlich alles einfachen. Ich uͤberlaſſe es
dem Leſer, die Verbindung zu unterſuchen, in wel¬
cher ſeine groͤßere Liebe gegen ſeine vier Gros¬
oder Kleinfuͤrſten in Gallien mit ſeinem Geluͤbde
ſtand: er uͤbertrug es dem Lord Horion, der ihn
durch Frankreich begleitet hatte und da geblieben
war, ſie ihm noch London mitzubringen, es moͤchte
koſten was es wollte. Der Lord brachte nichts mit
als die Nachricht, daß der Infant auf den ſieben
Inſeln verloren, und die drei andern verſtorben waͤ¬
ren; aber der Lord fand etwas in London, naͤmlich
den fuͤnften Infanten. Die Mutter deſſelben (die
Niece des Lords) hatte ſich mit dem Obriſt-Kam¬
merherrn von Le Baut vermaͤhlt; der ſeine Vermaͤh¬
lung um einen Quatember zuruͤckdatirte, anſtatt ſie
ſpaͤter anzuſagen. Ich habe nie den Zuſammenhang
dieſes Anachroniſmus mit dem fuͤrſtlichen Geluͤbde
einzuſehen vermocht. Uebrigens ſo gefaͤhrlich Januar
den Eheherren ſeines Hofes war und ſo unſchaͤd¬
lich den Vaͤtern: ſo war doch das tugendhafte Ver¬
trauen, das jene in die weibliche mit ihnen kopu¬
lier¬[49] lirte Tugend ſetzten, ſo groß, daß ſie dieſe Tugend
kuͤhn ſeinen Waffen entgegenfuͤhrten. Ja ſie ſetz¬
ten ſich ſogar uͤber den Verdacht hinweg, daß ſie es
thaͤten, damit ſie, wenn er ſeine Krone auf den
Putztiſch ihrer Gemahlinnen ablegte, mit der Krone
wie mit einem Joujou ſpielen und mit ihrem Glanz
Leuten ins Fenſter blenden koͤnnten: denn ein Hof¬
mann will ſeine Gattin lieber bewaͤhren als be¬
wahren.
Kurz der fuͤnfte Infant war der Sohn der Niece
und der Adoptiv- oder Stiefſohn des Baut. Die¬
ſer Obriſtkammerherr war ein feuriger Freund des
Fuͤrſten, da er fuͤr ihn (wie Cicero verlangt) beging
was er nie fuͤr ſich begangen haͤtte — etwas wie¬
der die Ehre. Es iſt fuͤr einen Hofmann, deſſen
Ehre auf ſeinem Poſten der ſchlimmſten Witterung
bloß ſteht, ein rechtes Gluͤck, daß dieſe Ehre, ſo em¬
pfindlich ſie auch bei kleinen Beleidigungen iſt, doch
große leicht ertraͤgt und, wenn nicht mit Worten
doch mit Handlungen ohne Schaden anzutaſten iſt;
ſo ungefaͤhr verhaͤlt ſichs mit Raſenden deren Haut
die leiſeſte Betaſtung verſpuͤrt, auf denen aber gleich¬
wol keine Blaſenpflaſter ziehen. Der Fuͤrſt wurde
durch einen dreifachen Baſt an Le Baut geknuͤpft,
durch Dankbarkeit, durch Sohn und durch Frau.
Horion that den Baſt aus einander. Er entbloͤßte
vor ſeiner Niece das kammerherrliche Herz und deckte
Heſperus. I. Th. D[50] ihr den Giftſack darin und einen dramatiſch durchge¬
fuͤhrten Plan auf, den ſie bisher fuͤr Nachſicht
angeſehen hatte. Alles Edle entbrannte in ihr vor
Scham und Zorn. Es war ihr ohnehin unmoͤglich,
alle ihre ſenkrecht laufenden Wurzeln aus dem Lande
der Freiheit zu ziehen und nach Deutſchland mitzu¬
gehen. Aber nicht zufrieden, von Le Baut, der dem
Fuͤrſten nach Flachſenfingen nachreiſete, durch Meere
geſchieden zu ſeyn, trennte ſie ſich auch durch einen
Scheidebrief ganz vom ſchmuzigen Guͤnſtling ab.
Sie muſte dem Le Baut ihr zweites Kind, ſeine
wahre Tochter laſſen; aber das erſte, den Infanten,
befeſtigte ſie an ihrer muͤtterlichen Bruſt. Le Baut
litt es gern und dachte, das Baugeruͤſt gehoͤrt ohne¬
hin nach der Baurede in den Ofen des Hauſes.
Als er unter dem deutſchen Thronhimmel ankam:
war ſeine Sonne (Januar) in der Sommer-Son¬
nenwende, die von abnehmender Waͤrme almaͤhlig
zu kalten Stuͤrmen uͤbergieng. Januars Liebe konnte
nur ſteigen und fallen, aber nicht ſtehen und das
groͤßte Verbrechen war bei ihm — Abweſenheit. Da
Le Baut jetzt ohne Frau und Kind mit dem Lord
verglichen wurde, der als der Treſorier und Siegel¬
bewahrer zweier in London gelaſſenen Schaͤtze unter
Januars Thron-Plafond erſchien: ſo wurde das
Kaſſationsdekret, das anfangs in ſympathetiſcher
Dinte auf Jenners Geſicht geſchrieben war, dem
[51] Kammerherrn immer leſerlicher — er las es woͤchent¬
lich etlichemal durch, um recht zu leſen — ſeine Em¬
pfehlungen waren jetzt Uriasbriefe — er konnte kei¬
nem Schooshunde eine Stelle mehr verſchaffen‚ naͤm¬
lich einen Schoos — als er nun gar durch den Lord
die Charge eines Obriſt-Kammerherrn bekam, hielt
er es fuͤr hohe Zeit, gegen ſein Gonagra das Bad
auf ſeinem Rittergut St. Luͤne Jahr aus Jahr ein
zu brauchen und zog ab, nachdem er vorher dem
ganzen Hof verſprechen muͤſſen, bald geneſen zuruͤck¬
zukommen.
Die einzige Stelle, die er am Hofe noch vergab
war die Pfarre in St. Luͤne, als Patronatsherr. Er
fand damit den Ratzen-Kontradiktor Eymann ab,
der ihm in London die muͤndliche Vokation zur Hof¬
kaplanei abgebettelt hatte und der ſie nicht kriegen
konnte. Daher nennen ihn die Hundspoſttage
immer Hofkaplan‚ ob er gleich in der That nur ein
Landpaſtor iſt.
Den Augenblick iſt dieſe antediluvianiſche Ge¬
ſchichte aus.
Eymann war alſo in London und machte ſeiner
jetzigen Frau, auf dem Landgute des Lords ein Praͤ¬
ſent mit dem Hals- und Bruſtgehenk ſeines hekti¬
ſchen Herzens-Globus. Die Lady liebte in der Hof¬
kaplanin ihre Mitſchweſter und ließ den Sohn der¬
ſelben Flamin, aus Patriotismus fuͤr Mutter und
D 2[52] Kind — weil ſie ihr Vaterland verloren — bis ins
neunte Jahr neben dem ihrigen und neben dem
Sohne des verwittibten Lords erziehen. Die drei
Kinder vereinigten mit der groͤßten Unaͤhnlichkeit des
Karakters Aehnlichkeit der Zuͤge der Jahre und des
Werths. Dieſelbe paͤdagogiſche Hand — Dahore
hieß der Lehrer — richtete und begoß die drei edlen
Blumen. Sie hatten ſogar denſelben Namen ge¬
mein, wie die Otaheiten aus Liebe ihre Namen tau¬
ſchen. Im neunten Jahre wurden ſie nach Deutſch¬
land eingeſchift und mit Solo-Namen verſehen; aber
Jenners Sohn bekam die Blattern, wurde blind und
muſte zur Mutter zuruͤck. Flamin und Viktor wur¬
den in Flachſenfingen erzogen, dieſer zum Arzte, je¬
ner zum Juriſten. — —
— Es ſind in der Kuͤrbisflache des Spizius Hof¬
manns einige Unwahrſcheinlichkeiten; aber der Hund
muß fuͤr das ſtehen, was er liefert. Jetzt geht die
Hiſtorie wieder gerade aus.
Der Lord entfernte ſich, unter dem Kanonenloͤſen
der loͤcherigten Garniſon; mit Viktor in ein anderes
Zimmer und ſein erſtes Wort war: »binde mich ein
»wenig auf und laſſe deine Hand in meiner, damit
»ich deine Aufmerkſamkeit beobachten kann: denn
»ich habe dir viel zu ſagen.« Guter Mann! wir
merkens alle, daß du zaͤrtlicher biſt als du ſcheinen
willſt und wir lobens alle: nicht Kaͤlte ſondern
[53]Abkuͤhlung iſt die groͤßere Weisheit; und unſer
innere Menſch ſoll, wie ein heiſſer Metallguß in ſei¬
ner Form, nur langſam erkalten, damit er ſich zu
einer glattern Geſtalt abruͤnde; eben darum hat ihn
die Natur — wie man bei Metallen die Form er¬
waͤrmt — in einen heiſſen Koͤrper gegoſſen.
Er fuhr fort: »ich habe, mein Theurer, in mei¬
»ner Blindheit nur leere Briefe an dich diktiren
»koͤnnen: ich wollte erſt fuͤr deine Ankunft meine
»Geheimniſſe aufſparen. Eine kleine Pulververſchwoͤ¬
»rung beobachtet mich. Dieſe hat erfahren, daß der
»Sohn des Fuͤrſten nicht in London iſt; ſie vermu¬
»thet ſogar, daß die Blattern abſichtlich damals in¬
»okuliert wurden — und der Fuͤrſt ſpricht taͤglich
»vom Augenblick wo ich ihm ſeinen Sohn wieder¬
»bringe: er weiß vielleicht jene Vermuthungen. Ich
»muſte meine Abreiſe nach London auf meine Hei¬
»lung verſchieben. Jetzt reiſ' ich in kurzem ab nach
»England, wo der Sohn nicht iſt, und hole ſeine
»Mutter; ihn bringe ich anders woher und mit
»eben ſo guten Augen als du mir gegeben haſt.«
Dann, fuhr Viktor heraus, wird der beſte Mann
nicht geſtuͤrzt, aber wohl ſeine Feinde.
»Nein, ich bin vorher geſtuͤrzt, um mich wie
»du auszudruͤcken. — Aber du haſt mich unterbro¬
»chen. Ich habe nie den Muth gehabt, andre Leute
[54] »zu unterbrechen als Thoren. — Denn meine Ab¬
»weſenheit will man eben.«
Ich als inſtallirter Hiſtoriograph, frage nichts
nach allem und unterbreche wen ich will. Einer,
den man unterbricht, kann zwar ſpaſſen, aber nicht
mehr beweiſen. Der auf den Plato gepeltzte Sokra¬
tes, der keinen Sophiſten ausreden ließ, war eben
darum ſelber einer. In England, wo man noch Sy¬
ſteme unter den Weinglaͤſern duldet, kann ſich ein
Mann ſo ſehr ausbreiten wie ein Royalbogen; in
Frankreich, wo ſich die Brille der Weisheit in Poin¬
ten zerſplittert, muß einer ſo kurz ſeyn wie ein Vi¬
ſitenblat. Hundertmal ſchweigt der Weiſe vor Gek¬
ken, weil er drei und zwanzig Bogen braucht, um
ſeine Meinung zu ſagen — Gecken brauchen nur
Zeilen, ihre Meinungen ſind herauffahrende Inſeln
und haͤngen mit nichts zuſammen als mit der Eitel¬
keit. . . . Noch merk' ich an, daß zwiſchen dem
Lord und ſeinem Sohne eine hoͤfliche feine Behut¬
ſamkeit obwaltete, die in einem ſo nahen Verhaͤlt¬
niſſe nur aus ihrem Stande, aus ihrer Denkungsart
und ihrer haͤufigen Abtrennung zu beurtheilen iſt. —
»Aber meine Gegenwart iſt vielleicht noch ſchlim¬
»mer. Die Prinzeſſinn.« — —
(Die Braut des Fuͤrſten, da ſeine erſte Gemah¬
lin bald und kinderlos ſtarb, wie Spitz ſagt.)
»Die Prinzeſſinn bringt einen Strom von Zer¬
»ſtreuungen mit, worin er keine Stimme als die,
»die zum Vergnuͤgen lokt, mehr hoͤren wird. Ein
»unterbrochner Einfluß iſt ein verlorner. Auch bin
»ich bis zu einem gewiſſen Punkte dieſes Spieles ſo
»muͤde, daß ich den neuen Verbindungen, in die
»mich dieſe neue Erſcheinung zoͤge, gern entfliehe.
»Sollte ſie ihn nicht lieben, wie man ſagt, ſo koͤnnte
»ſie ihn um ſo leichter beherrſchen; und dann waͤre
»meine Abweiſenheit wieder nicht gut. — Mich bei
Seite! aber was nimmſt du vor, ſo lang' ich weg
bin?«
Nach einer Viertelspauſe antwortet er ſelber.
»Du wirſt ſein Leibarzt, Viktor!« Viktors Hand
zuckte in der vaͤterlichen. »Du biſt ihm ſchon ver¬
»ſprochen und er ſehnet ſich nach dir, blos weil ich
»dich oft genannt habe. Er kann es nicht erwarten
»zu erfahren wie jemand ausſieht, deſſen Vater er
»ſo gut kennt. Als Leibarzt kannſt du ihn mit dei¬
»ner Kunſt und mit deiner Laune ſo lange fremden
»Feſſeln entziehen, bis ich wiederkomme: dann leg'
»ich ihm noch ſanftere an und gehe auf immer zu¬
»ruͤck. Meine Verbindung hatte bisher blos die
»Abſicht, fremde abzuwenden, beſonders eine gewiſſe
»— (Mit voller Bruſt und andrer Stimme) Mein
»Geliebter! Es iſt auf der Erde ſchwer, Tugend,
»Freiheit und Gluͤck zu erwerben, aber es iſt noch
[56] »ſchwerer, ſie auszubreiten: der Weiſe bekommt alles
»von ſich, der Thor alles von andern. Der Freie
»muß den Sklaven erloͤſen, der Weiſe fuͤr den Tho¬
»ren denken, der Gluͤckliche fuͤr den Ungluͤcklichen
»arbeiten.«
Er ſtand auf und ſetzte Viktors Ja voraus.
Dieſer muſte ihm alſo unter dem Gehen ſeinen Red¬
nerfluß zutroͤpfeln. Er fing mit gehaͤuftem Athem
an: »Ich verabſcheue aufs heftigſte den Samielwind
»der Hofluft. . . .
Bei mir hats der Lord zu verantworten, daß
der Sohn hier die conjunctio concéssiva »Zwar«
auslaͤſſet: wer ſich die Erwartung des Gehorſams
merken laͤſſet, erhaͤlt ihn wenigſtens unter einer ſtol¬
zern Façon. —
»Die uͤber lauter liegende Menſchen ſtreicht und
»den zu Pulver macht, der aufrecht bleibt — Ich
»wollt' ich waͤr' in einem Vorzimmer an einem
»Courtage, ich wollte zu allen in Gedanken ſagen:
»wie haſſ' ich euch und euer tolles Oximel von
»Luſt- und Plag-Partien — die verdammten Ex¬
»pektanten- und Ruderbaͤnke euerer Spieltiſche —
»die vollen Schlachtſchuͤſſeln hingerichteter Pro¬
»vinzen, ich meine euere Spiel und Speiſeteller —
»Über ich weiß ſchon, ich druͤcke mich nie mit
»Staͤrke aus uͤber die knechtiſchen lauernden Hofau¬
»ſtern, die nichts zu bewegen und aufzuſchließen
[57] »wiſſen — das Herz ohnehin nicht — als ihr Ge¬
»haͤuſe, um etwas hineinzunehmen. . . .
Ich habe dich noch nicht unterbrochen; ſagte
der Lord und ſtand ein wenig.
»Inzwiſchen fuhr der Sohn fort, wat' ich mit
»groͤßter Luſt zur Auſterbank hinab . . O mein theu¬
»rer Vater, wie koͤnnt' ich nicht gehen? Warum
»ließ ich nicht bisher ihr krankes Auge aufgebunden,
»damit Sie auf meinem Geſichte keine einzige Ein¬
»wendung gegen Ihre Wuͤnſche erblickten? — Ach um
»jeden Thron ſtehen tauſend naſſe Augen, die von
»verſtuͤmmelten Menſchen ohne Haͤnde hinaufgerich¬
»tet werden: droben ſitzt das eiſerne Schickſal in
»Geſtalt eines Fuͤrſten und ſtreckt keine Hand aus
» — warum ſoll kein weicher Menſch hinaufgehen
»und dem Schickſal die ſtarre Hand fuͤhren und mit
»Einer unten tauſend Augen trocknen?« — Horion
»laͤchelte als wollt' er ſagen: Juͤngling!
»Aber nur um einige prozeſſualiſche Weitlaͤuftig¬
»keiten und Friſten bitt' ich Sie, damit ich Zeit
»bekomme — ſtoiſcher und naͤrriſcher zu werden.
»Naͤrriſcher mein' ich, vergnuͤgter. Ich moͤchte un¬
»ter den guten Leuten um uns und neben meinem
»Flamin und jetzt im Fruͤhling des Kalenders und
»in dem meiner Jahre und eh' das Lebensſchif im
»Alter einfriert, nur noch zwei Monate lachen und
»zu Fuß gehen. Stoiſch muß ich ohnehin werden.
[58] »Wahrhaftig wenn ich nicht Epiktets Volumen als
»einen Schlangenſtein an mich und meine Wunden
»legte‚ damit der Stein den moraliſchen Gift her¬
»ausſaugt‚ ſondern wenn ich mit einer Bruſt voll
»materia peccans aus dem Hauſe ginge: was wuͤrde
»denn der Hof von mir denken? . . . Ach ich meine
»es doch ernſthaft: der arme innere Menſch — von
»dem Wechſelfieber der Leidenſchaften ausgetrocknet
»— vom Herzklopfen der Freude ermattet — vom
»Wundfieber der Leiden gluͤhend — braucht wie ein
»andrer Kranker Einſamkeit und Stille und Ruhe‚
»damit er geneſe.« Wenn er das Wort Ruhe
nannte‚ war ſein Inneres bis zur Aufloͤſung be¬
wegt; ſo ſehr hatten ſchon die Leidenſchaften ſein
Blut umgewuͤhlt und ſein Herz gebogen.
Jetzt gingen beide in ſchweigender Einigkeit wie¬
der zu Eymann. »Ich habe eine Bitte fuͤr meinen
»Flamin.« Welche, ſagte der Lord. »Ich weiß ſie
»noch nicht‚ aber er ſchrieb mir‚ er werde ſie mir
»bald ſagen.« — »Meine an ihn iſt‚ ſagte der
Lord, daß er wenn er employirt werden will‚ mehr
die Pandekten als die Taktik und ſtatt des Rapiers
die Feder liebe.« — Der Sohn wurde zu hoͤflich
vom Vater behandelt als daß er zur Bitte um ſeine
Geheimniſſe — beſonders um das‚ wo Jenners
Sohn ſey — den Muth beſeſſen haͤtte. Ich be¬
handle den Leſer eben ſo ſein und ich hoffe‚ er hat
[59] eben ſo wenig den Muth: denn wenn ſich jemand
verſteckt erklaͤrt, ſo iſt nichts unhoͤflicher als eine
neue — Frage.
3. Hundspoſttag.
Freuden-Saͤetag — Wartthurm — Herzens-Verbruͤderung.
Der Lord war der weggenommene Damm, der bis¬
her vor der Fluth der Erzaͤhlungen, Fragen und Freu¬
den geſtanden hatte. Die erſte Unterſuchung die das
Pfarramt vernahm, war, obs noch der alte Baſtian
ſey. — Und der wars mit Haut und Haar, ſogar
das eine Lockenhaar hatt' er noch wie ſonſt kuͤrzer
als das andere. Wenn der Fleiſcherknecht heim¬
koͤmmt aus Ungarn, ſo wundert er ſich, daß ſeine
Sipſchaft die alte iſt — dieſe wundert ſich, daß er
es nicht mehr iſt. Hier freute man ſich uͤber die
doppelte Unveraͤnderlichkeit. Auf jedem Geſicht lag
der Heiligenſchein der Freude, aber auf jedem mit
andern Stralen. Die Entzuͤckung ſieht auf einem
ſanften Geſicht, wie Viktors ſeinem, wie die Tugend
aus. — Die alte Appel, die in ihrem Leben nichts
durchblaͤttert hatte als den Pſalter Davids und den
Pſalter im Ochſenmagen, legte vor den Kupferpfannen
ihr Vergnuͤgen dadurch an den Tag, daß ſie unge¬
[60] mein zuſchuͤrte. Die Stubenmenagerie von einem alten
Mops und Kater, die einander nicht mehr haßten —
wie ſich im alten Menſchen die gute und boͤſe Seele
ausſoͤhnen — und die Volerie unter dem Ofen, die
einen ſchwarzgebalzten Gimpel ſtark war, nahmen
Antheil genug an der allgemeinen Unruhe und praͤ¬
ſentirten ſich und ließen gern — das thaͤte kein Am¬
baſſadeur — das Recht der erſten Viſite fahren.
Agathe druͤckte ihre Freude blos mit ihren Lippen
aus, indem ſie damit ſchwieg und ſie an ihres Bru¬
ders ſeine druͤckte. Am Hofkaplan will mans ruͤh¬
men, daß er den invaliden Mops, der an den Hin¬
terfuͤßen das Podagra und an den Vorderfuͤßen das
Chiragra hatte, ruhig in ſeinem Wohn- und Schlaf¬
korb wieder unter den Ofen ſchob, die Saͤulenord¬
nung der Seſſel ohne Keiffen herſtellte und den klei¬
nen Baſtian unter der freudigen Sprachenverwirrung
wiegte, damit er ſie nicht vermehrte, wenn er erwach¬
te. Aber im erhaben geſchliffnen Herzen der Lands¬
maͤnnin, der Kaplaͤnin gingen die Freudenſtralen der
Familie in Einem Brennpunkt zuſammen und ver¬
breiteten in ihrer ganzen Bruſt die Lebenswaͤrme der
Liebe — Viktor laͤchelte ſie ſo ſehr in ſein Geſicht
hinein, daß ſie ſich mit nichts zu retten wuſte als
mit ſeiner kuͤnftigen Stube, die ſie ihm zu oͤfnen
und zu zeigen befahl. Agathe flog mit dem Schluͤſ¬
ſel Gelaͤute voran und dem Gaſte zogen nicht mehr
[61] Leute hinterdrein als im Hauſe waren und wollten
ſaͤmtlich ſehen, was er dazu ſagte.
Er uͤbergab ſich der ganzen freundſchaftlichen Ma¬
nipulation, nicht mit der eiteln Superioritaͤt eines
ausgebildeten Fremdlings, ſondern mit einer ver¬
gnuͤgten, folgſamen faſt kindlichen Verwirrung — er
ſchor ſich nichts darum, daß er wie ein Kind aus¬
ſah, ſo ſanft, ſo froh und ſo ohne Pretenſionen. In
ſolchen Stunden iſts ſchwer, zu ſitzen — oder eine
Hiſtorie anzuhoͤren — oder eine zu erzaͤhlen. . . . .
Jedes fing eine an; aber der Kaplan ſprang dazwi¬
ſchen: »wir haben ganz andere Dinge zu ſagen.«
Aber es kamen keine ganz andere Dinge. — Jedes
wollte den Fremdling unter vier Ohren genießen,
aber die ſechs reſtirenden Ohren waren nicht wegzu¬
bringen. — Meine Beſchreibung ſeiner Verwirrung
iſt ſelber verwirrt; aber es geht mir allemal ſo: z.
B. wenn ich Eiligkeit ſchildere: ſo thu' ichs unbe¬
wuſt ſelber mit der groͤſten. — Wars einem ſolchen
Herzen wie ſeinem, das in den Federn der Liebe
wiegend hing, noch noͤthig, daß es ſah in jedem
zerſaͤgten Fenſterſtock, in jedem glatten Pflaſterſtein¬
chen, in jeder vom Regen gebohrten vertieften Ar¬
beit im Hausthuͤrſtein ſeine Knabenjahre muſiviſch
abgebildet, und daß er genoß in denſelben Gegenſtaͤn¬
den Alter und Neuheit? dieſe Knabenjahre, die ihm
aus einem Schatten erſchienen, wohnend auf St. Luͤ¬
[62] nens Fluren, zwiſchen frohen Sonntagen in lauter
Blumen und bei geliebten Geſichtern, dieſe Kna¬
benjahre hatten einen dunkeln Spiegel in Haͤnden,
in dem die daͤmmernde Perſpektive ſeiner Kinder¬
jahre zuruͤcklief — und in dieſer magiſchen entfern¬
ten Nacht ſtand ſchimmernd Dahore, ſein unver¬
geßlicher Lehrer in London, der ihn ſo geliebt, ſo
geſchont, ſo veredelt hatte. »Ach, dacht' er, du unbe¬
»lohntes, fuͤr die Erde zu warmes Herz, wo ſchlaͤgſt
»du jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit
»deinen vereinigen, und zu dir ſagen: Lehrer, Ge¬
»liebter, o der Menſch ſieht es oft ſpaͤt ein, wie
»ſehr er geliebt wurde, wie vergeßlich und undank¬
»bar er war und wie groß das verkannte Herz.« . .
Was ſeine ſtille Freude am meiſten ernaͤhrte, war
der Gedanke, daß er ſie verdiene durch ſeinen kind¬
lichen Gehorſam gegen ſeinen Vater und durch ſei¬
nen Entſchluß zu kuͤnftigen Herkules-Arbeiten am
Hofe — denn ihm fiel in jede große Freude der
Skrupel wie ein bitterer Magentropfen hinein, ob
er ſie verdiene; ein Skrupel, der regierenden Haͤu¬
ſern, Woiwoden, Patriarchen und Hochmeiſtern in
der Kindheit geſchickt benommen wird. Der beſſere
Menſch findet die Freude erſt nach einer guten That
am ſuͤßeſten, das Oſterfeſt nach einer Paſſionswoche.
Die Leſerinnen werden jetzt hoͤren wollen, was
auf Mittag gekocht war; aber die Dokumente die¬
[63] ſes Poſttags, die mir halb auf der Achſe halb zu
Waſſer einlaufen, beſagen, erſtlich daß niemand Ap¬
petit hatte — die Freude nimmt ihn mehr als der
Gram — ausgenommen die drei Regimenter, die
wie Veteranen, in den Feind einhieben, naͤmlich in
den Tafel-Abhub; zweitens daß das Diner noch
magerer war als der Gaſt ſelber. Man will aber
ſaͤmtliche Leſegeſellſchaften hiemit auf das unbeweg¬
liche Feſt des 4ten Maies invitiren, wo erſt Viktors
Ankunft und ſeines Pathgens Kirchgang anſtaͤndig
gefeiert wird.
Die Pfarrerin zog den umzingelten Geliebten
Nachmittags aus dem muſikaliſchen Zirkel ſo vieler
Toͤne und kaperte ihn ihrem Manne, deſſen Direktri¬
ce und Lady Maire ſie war, vor den Augen weg
und fuͤhrte ihn in ſein Zimmer, um da vor ihm al¬
lein ſich zu betruͤben, ſich zu erfreuen und ſich aus¬
zureden wie eine Mutter: lang eingeſchloſſene Seuf¬
zer und veraltete Thraͤnen drangen jetzt aus dem
geoͤfneten Mutterherzen in das fremde weiche uͤber,
das ja der beſte Freund ihres Sohnes war. Sie
klagte bei ihm uͤber Flamins Aufbrauſen, das Vik¬
tor ſonſt immer geſtillet; »uͤber ſeine Liebe zum Sol¬
»datenweſen, da er doch ein Gelehrter ſey« — und
endlich uͤber ſeine Geſellſchaft. »Er treibe ſich
»naͤmlich mit einem Hofjunker Matthieu — Sohn
»des Miniſters von Schleunes — herum, einem
[64] »wuͤſten, uͤberall beliebten, uͤberall verſchlimmerten,
»pfiffigen, kuͤhnen, ſpoͤttiſchen Menſchen, der, wenn
»es ſein Dienſt erlaube, entweder druͤben bei den
»kammerherrlichen oder hier bei ihrem Sohne liege;
»der Himmel wiſſe uͤberhaupt, was er im Schilde fuͤhre
»bei ſeinen Viſiten in einem buͤrgerlichen Hauſe.«
Sie freuete ſich, daß Viktor ſeinen alten Freund von
den Fangeiſen und Fangzaͤhnen dieſes Libertins weg¬
fuͤhren wuͤrde. Viktor druͤckte ihr geruͤhrt die Hand
und ſagte: »ich moͤchte ſein Herz kaum mit dem
»beſten Bundsgenoſſen theilen — nicht einmal ver¬
»lieben duͤrft' er ſich, wenns auf mich ankaͤme —
»bloß mich und eine Perſon muͤſt' er lieben, die
»ihn gar nicht richtig ſchildert . . . Sie ꝛc. Er
ſetzte noch viel Mistrauen in die Projektion von den
Sonnenflecken Matthieus, weil die Weiber ſelten ex¬
zentriſche Menſchen faſſen und weil zwar Maͤdgen
oft wilde Maͤnner lieben, aber die (durch die Ehe
aufgeklaͤrten) Frauen allemal ſanfte.
Er brachte das Herz verehelichter Weiber leicht¬
lich in ſein Zuggarn durch eine gewiſſe wohlwollende
Galanterie gegen ſie, die ein Deutſcher nur fuͤr le¬
dige aufhebt. Alte Damen und alte Tabackspfeifen
aber bekleben leicht an maͤnnlichen Lippen. Die
juͤngern Tauben lockte er durch ſein komiſches
Salz an ſich wie man Turteltauben durch phyſi¬
ſches faͤngt: ein Bonmot iſt ihnen ein dictum pro.
bans,[65]bans, ein Paſquino ein magister sententiarum und
die kritiſche ſkandaloͤſe Chronik iſt ihnen Kants Kri¬
tik der reinen Vernunft die verbeſſerte Auflage.
Abends als das Waldwaſſer des erſten Jubels
verlaufen war, waren endlich drei geſcheute Worte
moͤglich; auch keifte der Pfarrer jetzt weniger:
denn die Freude hatte ihn Vormittags biſſig ge¬
macht. Der Zorn und Koͤrper werden mit einander
geſtaͤrkt, daher durch die Freude — daher hat man
im Januar und Februar, wo die Hunde die laͤngere
Wuth bekommen, die kurze des Zorns — daher
brummen Rekonvaleſzenten ſtaͤrker um ſich, ſo wie
Leute unter ſtarken Geiſtes-Anſpannungen, z. B.
Hundspoſtſchreiber — daher iſt man in den Ermat¬
tungen nach Migraine oder nach dem Rauſche ſanf¬
ter als ein Lamm.
Gegen Abend trug ſich ſchon etwas von Bedeu¬
tung zu. Appollonia fegte ihre Blutsverwandſchaft
und ihren Gaſt mit Kehrwiſchen noch fruͤher hinaus
als Spinnen und Staub — Es ſollte am 4ten Mai
die heutige Ankunft des jetzigen Exulanten recht an¬
ſtaͤndig gefeiert werden. — Ueber der Pfarrwieſe
ſtand (man ſetzte nur uͤber den Bach) ein Huͤgel und
darauf ein alter Wartthurm, in dem nichts war als
eine Holztreppe, wie oben darauf nichts als ein
bretterner Deckel ſtatt des italieniſchen Dachs; bei¬
des hatte der Kammerherr machen laſſen, damit die
Heſperus. I. Th. E[66] Leute — (er nicht: denn die Gefuͤhlloſigkeit der
Magnaten arbeitet fuͤr das Gefuͤhl der Minoriten)
— ſich droben ein wenig umſchauen koͤnnten. Man
ſah da die Saͤulenordnung des Schoͤpfers, die
Schweizerberge ſtehen und den Rhein mit ſeinen
Schiffen ziehen. Am Thurm waren zwei von der
Natur ablaktirte und in einander gewundne Linden¬
baͤume hinaufgeſtiegen, um oben mit ihrem Geſtraͤu¬
che, das man zu einer gruͤnen Niſche ausgehoͤlet und
mit einer Grasbank unterbauet hatte, zuweilen einen
geruͤhrten Inſulaner zu faͤcheln. Das liebende Per¬
ſonale erſtieg die Zinne und brachte in der laͤndli¬
chen Bruſt eine Ruhe mit, die darin uͤber das ganze
Herz mit dem Himmel auseinander wallete, der dieſe
Guten mit ſeinen verhuͤllten Sonnen umzog. Noch
eine Wolke gluͤhte ſich ab, aber ſie zerſtoß ehe ſie
ausbrannte.
Jetzt konnten die Supplementbaͤnde der allge¬
meinen Welthiſtorie von — St. Luͤne bequem nach¬
geliefert werden. Eymann konnte ſeine Foliobaͤnde
gravaminum uͤber die Konſiſtorialraͤthe und Ratten
einreichen. Auf einmal wurde unten Agathe wie
ihre H. Namensblaſe angerufen vom Blasbalgtreter
loci, der Dorfs-Lehnlakei [und] Pfarrkutſcher war.
Wenn einige Autores ſagen, der Kutſcher war blind
und der Gaul taub: ſo kehren ſie die Sache gerade
um. Der Kerl war taub. Er hatte in ſeinem mou¬
[67] choir de Venus — das Schnupftuch iſt beim Poͤ¬
bel die Brieftaſche und das Couvert, weil ihm ein
Brief ſo wichtig und ſelten iſt wie einem Rezenſen¬
ten ein guter — heute eine Briefſchaft an Agathen
ausgekundſchaftet und ausgewickelt, die er geſtern
mit Viktors ſeiner haͤtte abgeben ſollen. Aber Kut¬
ſcher halten den Herrn nur fuͤr die Nebenſonne und
Nebenpartie des Pferds und die Frau gar nur fuͤr
ein paraſitiſches Gewaͤchs des Stalls; daher bedeu¬
tet »Gleich!« bei ihnen ein oder ein Paar Tage,
und »Morgen Vormittags« bedeutet auf dem Re¬
genſpurger Anſagzettel des Votierſtofs ein oder ein
Paar Jahre. — Agathe eilte lieber hinunter; hielt
den Brief gegen die lichtere Abendgegend und dechif¬
rirte etwas, was ſie mit funkelnden Augen in Ga¬
lop die Treppe hinauftrug, »Sie koͤmmt Morgen!«
rief ſie auf Flamin zu: denn ſie ſchien in jedem ih¬
rer Freunde beinahe nur den Geſellſchafter und den
Freund ihrer andern Freunde zu lieben. Klotilde,
(Le Bauts Tochter von der erſten Frau, der Niece
des Lords) ging naͤmlich aus dem Fraͤulenſtift in
Maienthal, wo ſie erzogen worden, zum Vater
zuruͤck.
»Nehmen Sie ſich in Acht, ſagte die Kaplaͤnin,
»ſie iſt ſehr ſchoͤn.« — »Dann, ſagt' er, geh' ich
»vielmehr darauf aus, mich nicht in Acht zu neh¬
»men.« — »Ueberhaupt, (fuhr ſie fort,) ſammelt ſich
E 2[68] »jetzt alles Schoͤne um Sie (er wollte ſie hier durch ei¬
»nen ſchmeichelnden Blick verwirren und abſtrafen, aber
»vergeblich) — die italieniſche Prinzeſſin kommt zu
»Johanni auch, und dieſe ſoll ſo reizend ſeyn als
«wenn ſie gar keine Prinzeſſin waͤre, ſondern nur
»eine Italienerin.« Eine gewiſſe Ironie uͤber ihr
eignes Geſchlecht war der einzige Fehler der Kaplaͤ¬
nin, fuͤr die es wie fuͤr mehrere Muͤtter beinahe
keine Stiefſoͤhne und beinahe nichts als Stieftoͤchter
gab. Er replizirte, er hoffe, daß noch wenige Prin¬
zeſſinnen, ſelbſt in Amerika, kopulirt worden, in die
er ſich nicht vollſtaͤndig verſchoſſen haͤtte — und
das blos aus Mitleid mit ſo einem armen zarten
Thiergen oder Wappenthiere, das unter die Siegel¬
preſſe und dann auf die Vertraͤge gedruckt werde,
welche die einzigen Kinder dieſer Ehen waͤren —
»die jungen Landesmuͤtter ſtehen warlich wie Bie¬
»nenmuͤtter in ihrem Drathkarzer feil und paſſen
»ab, in welchen Korb ſie der Landes- oder Bienen¬
»vater noch heuer verhandle.«
Eine Frau kanns von einem Mann, den ſie hoch¬
achtet, gar nicht begreifen, daß er ſich verliebt, wenns
nicht in ſie iſt, und ſie kanns kaum erwarten, bis ſie
ſeine Inamorata zu Geſichte bekoͤmmt — eben ſo er¬
picht iſt ſie auf dieſes Mannes Manier in ſeiner
Liebe, ob ſie naͤmlich aus der niederlaͤndiſchen,
oder franzoͤſiſchen oder italiniſchen Schule her
[69] fey. Die Kaplaͤnin fragte ihren vertraulichen Gaſt
auch daruͤber. »Mein Harem, fieng er an, langt
»von dieſer Warte bis zum Kap und um die ganze
»Erdkugel herum — Salomo iſt nur ein gelber
»Strohwitwer gegen mich — ich habe ſogar feine
»Weiber darin und von der Eva an mit ihrem So¬
»doms Borsdorfer Apfel bis zur neueſten Eva mit
»einem Reichsapfel und bis zur Marquiſe mit einem
»bloßen Fruchtſtuͤck ſind ſie alle in meiner Haft
»und Bruſt.« Eine Frau entſchuldigt die Achtung
fuͤr ihr Geſchlecht damit, daß ſie mit drin iſt: die
Weiber ſelber haben nicht einmal einen Begrif
von den Eigenheiten ihres Geſchlechts. »Was ſagt
»aber die Favoritſultanin dazu? fragte die Großin¬
quiſitorin.
»Die?« — ſtockt' er weniger verlegen als in die
Fuͤlle aufbluͤhender Traͤume verſunken. »Freilich
»die — (fuhr er fort:) ich ſetze inzwiſchen meinen
»Kopf zum Pfande, jeder Juͤngling hat zwei Perio¬
»den oder nur Minuten. In der erſten ſetzt er ſel¬
»ber ſeinen Kopf zum Pfande, er wolle lieber ſein
»Herz in ſeinem Thorax oder Oberleib verſchim¬
»meln laſſen und ſeinen poples oder die Kniekehle
»erlahmen, als daß er beide fuͤr eine andre Frau
»bewegte als fuͤr die allerbeſte, fuͤr einen wahren
»Engel, fuͤr eine ausgemachte Quinterne — er
»dringt durchaus auf den hoͤchſten Gewinnſt aus dem
[70] »Ehelotto, in der erſten Periode naͤmlich — denn
»die zweite koͤmmt auch und hinterbringt ihm nur
»ſo viel, die weibliche Quinterne wuͤrde natuͤrlich
»eine maͤnnliche fodern und falls er die waͤre.« . .
»Ein dummer Auszug, eine Ambe bin ich, ſag'
»ich und laſſe die Periode gar nicht ausreden; aber
»ich werde doch fortpaſſen auf die Quinterne ..
»Was kaͤme dabei heraus, daß man ein Menſch waͤ¬
»re, wenn man kein Narr waͤre — zoͤg' ich nun die
»gedachte Quinterne, welches ich nun wohl ohne
»uͤbermaͤſſige Hofnung vorausſetzen darf, ſo wuͤrd'
»ich nicht gleichguͤltig dabei ſeyn, ſondern ſeelig —
»O du lieber Himmel! ſtehendes Fußes muͤßt' ich
»friſirt und ſilhouettirt werden — ich machte Verſe
»und Pas und beide mit ihren herkoͤmmlichen pedi¬
»bus — ich buͤckte mich oͤfter als ein andaͤchtiger
»Moͤnch, um Verbeugungen und (wo abzugraſen
»waͤre) um Bouquets zu machen — Leib, Seele und
»Geiſt ſetzte ich an mir aus ſo vielen Fingerſpitzen
»und Fuͤhlfaͤden zuſammen, daß ich es ſchon ſpuͤrte
»(die Quinterne ſpuͤrte es gar noch eher) wenn un¬
»ſre zwei Schatten zuſammenſtießen — ein ſchmales
»betaſtetes Endgen Band waͤre eine gute Ableitungs¬
[»]kette des elektriſchen Aethers, der in Blitzen aus
»mir ſchoͤſſe, da ſie negativ geladen waͤre und ich
»poſitiv — vollends gar ihr Haar beruͤhren, das
»koͤnnte keine geringere Entzuͤndung geben, als wenn
[71] »eine Welt in das aufgebundne eines Bartkometen
»geriethe. . . .
»Und doch was iſt denn das alles, wenn ich
»Verſtand habe und bedenke, was ſie verdient, dieſe
»Gute, dieſe Treue, dieſe Unverdiente — Was waͤ¬
»ren nicht vollends dumme Verſe, Seufzer, Schuhe
»(die Stiefel thaͤt' ich weg,) ein oder ein Paar
»druͤckende Haͤnde, ein aufopferndes Herz fuͤr ein
»kleines Gratial und don gratuit, wenn damit ein
»Geſchoͤpf abgefunden werden ſollte, das wie ich im¬
»mer mehr ſehe vom ſchoͤnſten Engel, der den Men¬
»ſchen durch das Leben fuͤhrt, alles beſitzt, etwa die
»Unſichtbarkeit ausgenommen — das alle Tugenden
»hat und alle in Schoͤnheiten verkleidet — das
»ſchimmert und erquickt wie dieſer Fruͤhlingsabend
»und doch wie er, ſeine Blumen und Sterne ver¬
»birgt, ausgenommen den der Liebe — in deſſen all¬
»maͤchtige und doch leiſe Harmonika des Herzens ich
»ſo gern hoͤren, in deſſen Augen ich ſo außerordent¬
»lich gern die Tropfen der weichern Seele und den
»Blick der hoͤhern ſehen moͤchte, neben dem ich ſo
»gern ſtehen bleiben moͤchte unter der ganzen fliehen¬
»den opera buffa und seria des Lebens, ſo gern
»ſag' ich, damit der arme Sebaſtian doch, wenn
»am heiligen Abend des Lebens ſein Schatten im¬
»mer laͤnger wuͤrde und die Gegend um ihn ſelber
»zu einem weiten Schatten zerfloͤße, und er auch,
[72] »damit ich doch beide Schattenhaͤnde — (die eine
»hielt gerade Flamin) beſchauen und ausrufen koͤnn¬
»te: — — (ſtockend)
»Der alte Balgtreter koͤmmt auch mit was in
»einer!«
Da er weder ſeine Ruͤhrung mehr hinter Scherz,
noch die Merkmale derſelben in ſeinen Augen hinter
einige tief haͤngende Lindenblaͤtter verdecken konnte:
ſo wars in der Seekunde, wo ſeine Stimme unter
ihr erliegen wollte, ein rechtes Gluͤck, daß er uͤber
»die Warte hinausſchauete und den Kutſcher wieder
heranſchreiten ſah. Dieſer rief unten: »von Seeba¬
»ßen haͤtt' ers gekriegt, aber den Augenblick erſt.«
Agathe lief leidenſchaftlich hinab und unten, nach
Leſung eines Blaͤtgen, uͤber die — Wieſen hinuͤber.
Der Balgtreter ſtieg, gleich einem Barometer vor
dauerhaftem Wetter, langſam hinauf und brachte
ſich und den zuruͤckgelangten Zettel, trotz alles obern
Winkens, mit ſeinen Hebelsarmen keine Minute fruͤ¬
her auf den Thurm. Im Zettel ſtand mit Klotil¬
dens Hand: komm' in deine Laube, Geliebte!«
Alle Augen liefen jetzt der Laͤuferin nach und
flatterten mit ihr durch das Helldunkel des Abends
in den Pfarrgarten, um deſſen Laube man doch nie¬
mand ſah. Kaum hatte Agathe die Oefnung der
letztern ins Auge bekommen, als ihr Eilen Fliegen
wurde — und als ſie beinahe an ihr war, flog eine
[73] weiße Geſtalt mit ausgebreiteten Armen heraus und
in ihre hinein, aber die Laube verhuͤllte das Ende
der Umarmung und lange ſtanden alle wartende Au¬
gen vergeblich auf der Klauſe der Liebe.
Die Kaplaͤnin, die ſonſt allen Maͤdgen nur Stan¬
deserniedrigungen, nicht Standeserhoͤhungen gewaͤhr¬
te, ertheilte jetzt Klotilden alle ſieben Weihen und
lobte ſie ſo ſehr — vielleicht auch da ſie eine Lands¬
maͤnnin von ihr, muͤtterlicher Seite war, — daß
Viktor die Lobrednerin und die Gelobte haͤtte zu¬
gleich umarmen moͤgen. — Der Kaplan, der in den
Sphaͤrengeſang der Nacht immer mehr mit dem
Schnarrwerk ſeines Huſtens einfiel, machte ſich mit
dieſer enthuſiaſtiſchen Freundin Sebaſtians fort und
ließ die zwei Freunde noch da.
Flamin hatte dieſen ganzen Tag eine ſchweigende
ruͤhrende Sanftmuth gezeigt, die ſelten in ſein Inne¬
res kam und die zu ſagen ſchien: ich habe etwas
auf dem Herzen. Als die Warte oͤder war: ſo ver¬
heimlichte Viktor, der jetzt von liebenden Traͤumen
voll und weich geworden, ſeine in Thraͤnen ſtehende
Augen nicht mehr, er ſchlug ſie frei auf vor dem aͤl¬
teſten Liebling ſeiner Tage und zeigte ihm jenes ofne
Auge, welches ſagt: blicke immer durch bis zum
Herzen hinunter, es iſt nichts darin als lauter Lie¬
be. . . . Stumm gingen die Wirbel der Liebe um
beide und zogen ſie naͤher — ſie oͤfneten die Arme
[74] fuͤr einander und ſanken ohne Laut zuſammen und
zwiſchen den verbruͤderten Seelen lagen bloß zwei
ſterbende Koͤrper — hoch vom Strome der Liebe und
Wonne uͤberdeckt, druͤcken ſich auf eine Minute die
trunknen Augen zu; und als ſie wieder aufgingen,
ſtand die Nacht erhaben mit ihren in ewige Tiefen
verſunknen Sonnen vor ihnen, die Milchſtraße ging
als der Ring der Ewigkeit um die Unermeßlichkeit,
die ſcharfe Sichel des Erdenmonds ruͤckte ſchneidend
in die kurzen Tage und Freuden der Menſchen. —
Aber in dem was unter den Sonnen ſtand, was
der Ring umzog, was die Sichel angrif, war etwas
hoͤher, feſter und heller als dieſe — es war die
unvergaͤngliche Freundſchaft in den vergaͤnglichen
Huͤllen.
Flamin, anſtatt durch dieſen erſchoͤpfenden Aus¬
druck unſrer ſprachloſen Liebe befriedigt zu ſeyn,
wurde jetzt ein bebendes fliegendes Feuer: »Viktor!
»in dieſer Nacht gieb mir deine Freundſchaft auf
»ewig und ſchwoͤre mir, daß du mich nie in meiner
»Liebe zu dir ſtoͤren willſt!« — O du Guter! ich
hab' dir ja laͤngſt mein Herz gegeben, aber ich will
heute wieder ſchwoͤren. — »Und ſchwoͤre mir, daß
»du mich niemals in Ungluͤck und Verzweiflung ſtuͤr¬
»zen willſt'« — Flamin! das thut mir zu weh. —
»O ich fleh dich an, ſchwoͤre es und hebe deine
»Hand auf und verſprich mir, daß wenn du mich
[75] »doch hineingeſtuͤrzt, daß du mich doch nicht verlaͤſ¬
»ſeſt und nicht haſſeſt. ... (Viktor preſte ihn kon¬
»vulſtviſch an ſich) Sondern wir gehen hieher‚ wenn
»wir uns nicht mehr ausſoͤhnen koͤnnen — o es thut
»mir auch wehe‚ Viktor! — hieher und umfaſſen
»uns und ſtuͤrzen uns hinab und ſterben« — Ja!
ſagte Viktor erſchoͤpft leiſe; o Gott! iſt denn etwas
vorgegangen? »Ich will dir alles ſagen: nun le¬
»ben und ſterben wir mit einander« — O Flamin!
ich liebe dich heute unausſprechlich! — Nun laſſ'
ich dich in mein ganzes Herz ſehen, Viktor, und of¬
fenbare dir alles. « — —
Aber eh' ers konnte, muſt' er vorher ſich durch
Verſtummen ermannen und ſie ſchwiegen lange, in
den innern und den aͤußern Himmel vertieft.
Endlich konnt' er anfangen und ihm erzaͤhlen,
daß jene Klotilde, uͤber die er heute geſcherzt, ſich
mit unausloͤſchlicher Schrift in ſein Inneres geſchrie¬
ben — daß er ſie weder vergeſſen noch bekommen
koͤnne — daß er mit ihr zwar kein Wort uͤber ſeine
Liebe nach ihrem eignen Verbote ſprechen duͤrfe, als
bis ihr Bruder wieder da und dabei ſey, daß ſie
aber, nach ihrem Betragen und nach Matthieus
Verſicherungen vielleicht einige fuͤr ihn habe — daß
ihr Stand die ewige Scheidemauer zwiſchen beiden
bleibe, ſo lang er den juriſtiſchen Weg anſtatt
des militairiſchen zu ſeinem Steigen ginge —
[76] und daß er auf dem letztern, wenn der Lord ihm
ſeine Hand dazu biete, ſchneller zu Klotilden auf
aͤhnliche Stufen kommen wuͤrde — und daß die
Bitte, von der er in ſeinen Briefen an Viktor ge¬
ſprochen, eben die ſey, alles dem Lord wieder zu er¬
zaͤhlen und ſeinen Beiſtand zu begehren. — Im
Grunde konnte nur ſein wilder Arm den Degen beſ¬
ſer als die Gerechtigkeitswage halten. Eine fuͤrch¬
terliche Anlage zur Eiferſucht, die ſchon von kuͤnſti¬
gen Moͤglichkeiten Zuckungen bekoͤmmt, war die
Haupturſache. Viktor freuete ſich, daß er ſeinen
Gefuͤhlen die beſte Sprache geben konnte, naͤmlich
Handlung, und ſagte ihm alles mit Entzuͤcken uͤber
ſein Zutrauen und uͤber das Auſſenbleiben befuͤrchte¬
ter Neuigkeiten zu. — So gingen ſie, von neuem an
einander befeſtigt, zur Ruhe, und das Zwillingsge¬
ſtirn — dieſer fortbrennende verſchlungne Name der
Freundſchaft — ſchimmerte in Weſten ſympathetiſch
aus der irdiſchen Ewigkeit heruͤber und das Herz
des Loͤwen war zu ſeiner Rechten angezuͤndet. . .
Auf dieſe Erde ſind Menſchen gelegt und an
den Fußboden befeſtigt, die ſich nie aufrichten zum
Anblick einer Freundſchaft, welche um zwei Seelen
nicht erdigte, metallene und ſchmutzige Bande legt,
ſondern die geiſtigen, die ſelber dieſe Welt mit einer
andern und den Menſchen mit Gott verweben. Sol¬
che zum Schmutz Erniedrigte ſind es, die gleich den
[77] Reiſenden, den Tempel, der um die Alpenſpitze haͤngt,
von unten fuͤr ſchwebend und bodenlos anſehen, weil
ſie nicht in der Hoͤhe auf dem großen Raume des
Tempels ſelber ſtehen, weil ſie nicht wiſſen, daß wir
in der Freundſchaft etwas Hoͤheres als unſer Ich,
das nicht die Quelle und der Gegenſtand der
Liebe zugleich ſeyn kann, achten und lieben, etwas
Hoͤheres, naͤmlich die Verkoͤrperung und den Wieder¬
ſchein der Tugend, die wir an uns nur billigen,
aber an andern erſt lieben.
Ach koͤnnen denn hoͤhere Weſen die Schwaͤchen
von Schatten-Gruppen ſtrenge berechnen, die einan¬
der feſtzuhalten ſuchen, von Nordwinden aus einan¬
der gedraͤngt — die von einander die edle unſichtbare
Geſtalt an ſich druͤcken wollen, woruͤber dick und
plump die Erdenlarve haͤngt — und die einander in
Graͤber nachfallen, worein die Beweinten ihre Wei¬
nenden ziehen?
[78]
4. Hundspoſttag.
Schattenriß-Schneider — Klotildens hiſtoriſche Figur — einige
Hofleute und ein erhabner Menſch. —
Eigentlich wollte Klotilde — erfuhr Sebaſtian am
Morgen — bis Johannis im Stifte bleiben: aber
da ihre beſte Freundin Giulia voraus fortgegangen
war, nicht zu den Eltern, ſondern unter die Erde,
ſo mußte ſie das verwundete Auge durch eine ſchnel¬
lere Abreiſe wegziehen von dem Grabeshuͤgel, der
wie ein Ruin, uͤber dem verlornen Herzen ruhte.
Nie wurde eine große Schoͤnheit von einer klei¬
nen unbefangner gelobt als von Agathen Klotilde.
Sonſt ſchaͤtzen Maͤdgen an Maͤdgen nur das Herz;
die zerſtiebenden Reize eines fremden Geſichts haben
ſo wenig Werth in ihren Augen, daß ſie ihrer kaum
erwaͤhnen moͤgen. Juͤnglingen wirft man richtig vor,
daß ſie gern ſchoͤne Juͤnglinge zu ihren Freunden
ausleſen; bei Maͤdgen hingegen wollen ihre Lobred¬
ner viel daraus machen, daß ſie die weibliche Schoͤn¬
heit als einen zu lockern und niedrigen Moͤrtel und
Leim der Freundſchaft gaͤnzlich verſchmaͤhen und daß
daher einer ſchoͤnen Frau das Herz der allerhaͤslich¬
[79] ſten theurer ſey als das Geſicht der Schoͤnſten auf
den fuͤnf Erdguͤrteln und Erdſcherpen. Agathe war
anders: ſie lief ſchon am Morgen ins Schloß, um
die Freundin anzukleiden.
Meinen Viktor ſtachen zwanzig Spornraͤder, um
ihr zu folgen — die Kleiderordnung — die Ver¬
wandſchaft — die Begierde, die jeder Menſch hat,
die Huldin und Infantin ſeines Freundes zu ſehen
— die Begierde, die nicht jeder hat aber er, jemand
zum erſtenmale (lieber als zum achtenmale) zu ſprechen
— am meiſten der geſtrige Abend. Flamins Feuer
hatte Viktors Bruſt geſtern ganz voll Zunder ge¬
brannt, durch den lauter Funken liefen — er haͤtt'
ihm alles gleichguͤltig vorſtellen ſollen, weil der
Kampf gegen die Liebe ſich vom Kampfe fuͤr ſie
in nichts unterſcheidet als in der Rangordnung.
Aber der Leſer glaube ja nicht, jetzt werde (wie in
einem entmanten und entmannenden Roman) in der
Biographie der Teufel losgehen und der Held ins
Schloß marſchiren und da vor Klotilden hinfallen
und flehen: »ſey die Heldin« und ſich mit ihr her¬
umzanken aus Liebe und mit dem vorigen Paſto Fido
aus Haß, und werde wirklich nichts anders machen
als den aͤſthetiſchen egoiſtiſchen ſentimentaliſchen —
Schuft. Wenn ich letzteres wuͤnſchte, ſo koͤnnt' ich
mich nur damit entſchuldigen, daß ich dann etwan zu
einigen biographiſchen Mordthaten und Duellen kaͤ¬
[80] me; ich hoffe aber, ich werde ſchon Nachtheil
der Moral und ehrlich es zu einem und dem andern
Mord- und Todſchlag in dieſen Blaͤttern bringen —
wenigſtens hintenaus, wo jeder aͤſthetiſcher Schnitter
ſeine Leute ausholzet und jeden in die Oubliette des
Dintenfaſſes wirft.
Viktor hatte zu viel Jahre und Bekanntſchaften,
um ſo ohne Reſpekt Tage und Doppel Uſo — auf
dem Platze — noch vor dem Abendeſſen — cito ci¬
tissime — was haſt du was kannſt du — verliebt
zu werden. Sein Sehnerve zerfaſerte ſich taͤglich
in feinere zaͤrtere Spitzen und beruͤhrte alle Punkte
einer neuen Geſtalt, aber die wunden Fuͤhlfaͤden
kruͤmmten ſich leichter zuruͤck: in jedem Monat
machte ein ungeſehenes Geſicht, wie neue Muſik ei¬
nen ſtaͤrkern und kuͤrzern Eindruck. Er konnte
ſich nur in die Liebe hinein — reden, nicht hinein¬
ſchauen; blos Worte, von Tugend und Empfindung
befluͤgelt, ſind die Bienen, die den Samenſtaub der
Liebe in ſolchen Faͤllen von einer Seele in die andre
tragen. Eine ſolche beſſere Liebe aber wird vom
kleinſten unmoraliſchen Zuſatz vernichtet; wie koͤnnte
ſie ſich zuſammenſetzen und laͤutern in einem beſudel¬
ten Herzen, das der Hochverrath gegen einen Freund
erfuͤllte?
Viktor wollte ſchon um halb zehn Uhr ins Schloß,
aber die Kammerherrin hatte die Augenbraunen und
den[81] den Seidenpudel noch nicht ausgekaͤmmt. — Seebaß
brachte ein Billet an Flamin:
»Ich ſehe Sie, mein Theuerſter, heute nicht.
»Mich binden drei Grazien an; und die dritte ha¬
»ben Sie ſelber geſchickt. Sagen Sie Ihrem brit¬
»tiſchen Freunde, er ſoll mich lieben, da ich Sie
»liebe. Ohne Sympathie kann wohl die Chirurgie
»beſtehen, aber nicht die Freundſchaft.
Ihr
Matthieu.
Ein naͤrriſches Billet! Als Viktor hoͤrte, daß
Agathe die dritte Grazie ſey: ſo war ihm ein gro¬
ßes Loch in den Vorhang des Theaters geſchnitten,
auf dem Matthieu Flamins Freund und Agathens —
erſten Liebhaber machte. Nichts iſt fataler als ein
Neſt worin lauter Bruͤder oder lauter Schweſtern
ſitzen: gemiſcht zu einer bunten Reihe muß das Neſt
ſeyn, Bruͤder und Schweſtern naͤmlich ſchichtweiſe
gepackt, ſo daß ein ehrlicher pastor fido kommen und
nach dem Bruder fragen kann, wenn er blos nach
der Schweſter aus iſt; und ſo muß auch die Liebha¬
berin eines Bruders durchaus und noch noͤthiger eine
Schweſter haben, deren Freundin ſie iſt und die der
Henkel und Praͤſentierteller am Bruder wird. Unſre
tuͤrkiſche Dezenz verlangte alſo, daß Matthieu mit
ſeinem Operngucker nach Flamin zielte, um Agathen
zu ſehen; und daß Klotilde dieſe beſuchte, da Fla¬
Heſperus. I. Th. F[82] min als Roturier und als Mann von Ehre durchaus
ſeine buͤrgerlichen Viſiten dem kammerherrlichen Hauſe
nicht aufdrang. Klotilde kam oft; und war dadurch
in einem mir bis jetzt unaufgeloͤſeten Widerſpruch
mit ihrem weiblich erhabnen Karakter.
Flamin tauchte Matthieu's Bild in einen ganz
andern Faͤrbekeſſel als der Mutter ihren: ein luͤder¬
liches Genie war er und nichts ſchlimmers. Er
machte alles in der Welt nach und ihn konnte man
nicht nachmachen — er konnte alle Akteurs der
Flachſenfinger Truppe nachagiren und traveſtiren, und
die Logen auch — er verſtand alle Wiſſenſchaften
und parlirte alle Sprachen der Europaͤer, ja ſogar
der Nachtigal und des Hahns, ſo taͤuſchend, daß Pe¬
trarka *) und Petrus davon gelaufen waͤren — er
konnte uͤberall thun was er wollte und jede Hofda¬
me entſchuldigte ſich mit der andern — denn es ge¬
hoͤrte einmal zum Ton in Flachſenfingen, ſeine Treue
einmal auf die Probe geſetzt zu haben. — Man
ſagt, die Liebe gegen ihn wurde wie ein Strumpf,
bei der Wade zu ſtricken angefangen, es iſt aber
grundfalſch — es iſt daher bei ſo einer ununterbro¬
chenen Maͤßigkeit in Hofluſtbarkeiten kein Wunder,
daß er ſtaͤrker und geſuͤnder war als der ganze
[83] ausgebrannte abgedampfte Hof — nur kauſtiſch war
er zu ſehr und zu philoſophiſch und faſt zu ſchel¬
miſch.
Ich, Viktor und der Leſer haben noch immer
nur eine unbeſtimmte verwiſchte Kreidenzeichnung
von Matthieu im Kopf. Meinem Helden gefiel er
ein wenig, wie jeder exzentriſche Menſch einem excen¬
triſchen: es war ſein Fehler, daß er den Genies
zu leicht die ihrigen, ſogar moraliſche verzieh. —
Mit verdoppelter Neugierde trat er ſeinen Weg ins
Schloß oder vielmehr in deſſen großen Garten an,
der die Facade als Bogenſehne in ſeinen Halbzirkel
von gruͤnen Schoͤnheiten hineinnimmt. Er lief im
Hafen eines Laubenganges ein und freuete ſich, wie
der poroͤſe Schatten der Lauben, um deren Eiſen-
Gerippe ſich weiche Zweige wie ſanftes Haar um
Haarnadeln wickelten, blendend uͤber ſeinen Koͤrper
glitt. Mit ſeiner Laube ſtrich eine andre parallel. Er
ging verſaͤeten ſchwarzen Papierſchnitzeln als Weg¬
weiſern nach. Das Gefluͤſter des Morgenwindes warf
von einem Zweige ein Blaͤtgen feines Papier herab,
das er nahm, um es zu leſen. Er war noch uͤber
der erſten Zeile: »der Menſch hat dritthalbe Minu¬
ten, eine um einmal zu laͤcheln . . .« als er an ei¬
nen wagrechten Zopf anſtieß, der eine ſchwarze Her¬
kules-Keule war, verglichen mit meiner oder des Le¬
ſers geflochtener Haar-Badine. Den Zopf ſtuͤlpte
[84] ein niedergekrempter Kopf empor, der in einem hor¬
chenden Viſiren aus einer Lauben Niſche eine weibli¬
che Silhouette ausſchnitt, deren Original im Ne¬
benlaubengang mit Agathen ſprach. Auf Viktors
Geraͤuſche kehrte die Perſon, der man das Profil
durch die Niſche entwendete, ſich verwundert herum
und erblickte den Inhaber des Zyklopen-Zopfes
mit der Silhouettenſcheere und den Helden der
Hundspoſttage. Der Inhaber druͤckte ohne weiter ein
Wort zu ſagen ſeine artiſtiſche Hand durch das Geſtraͤuch
und langte ihr ihren Schattenriß oder Schattenſchnitt
hinaus. Agathe nahm ihn laͤchelnd; aber die Unge¬
nannte ſchien einen Ernſt, der ſich auf weiblichen
Geſichtern in nichts von der Verachtung unterſchei¬
det als in der Zweideutigkeit, gegen den Form und
Geſichterſchneider anzunehmen, weil er den Verdacht
des Horchens durch ſeine Scheere zu ſehr erweckte.
Viktor konnte von der Ungenannten noch nichts als
die Laͤnge wahrnehmen, die obgleich ein wenig vor¬
gebogen gehalten doch uͤber das Gewoͤhnliche ging.
Der Geſichterſchneider drehte ſich mit zwei blinzen¬
den ſchwarzen Augen gegen Viktor herum, empfing
ihn recht artig, wuſte deſſen Namen, ſagte ſeinen
eignen — — Matthieu — und hatte beim achten
Schritt ſchon vier gute Einfaͤlle gehabt. Der fuͤnfte
war, daß er meinen Helden ungebeten dem Paar in
der Kollaterallaube vorſtellte.
[85]
Das Laubſprachgitter hoͤrte auf: eine weibliche
Geſtalt trat hervor, und Viktor war daruͤber ſo be¬
troffen, daß er, der wenig von Verlegenheiten
wuſte oder durch ſie nur geiſtreicher wurde, ſeine
Anzugspredigt ohne das Exordium anfing. Und das
war — Klotilde.
Als ſie drei Worte ſagte: hoͤrte er ſo ſehr auf
die Melodie, nicht auf den Text, daß er nichts da¬
von verſtand. . .
— Hier liegt auf dem ſchneeweißen Grund von
Schweizerpapier eben ihre Silhouette, die Matthieu
damals geſchnitten, neben mir und ich ſehe ſie an,
um mich zu begeiſtern, erſtlich weil die Silhouette die
groͤſte Aehnlichkeit mit dem ſchoͤnſten andern weiblichen
Engel hat, der noch aus einem unbekannten Him¬
mel in dieſe Erde hereingeflogen, ich meine mit dem
Fraͤulein von * * *, jetziger Hofdame in Scheerau;
zweitens weil mein Korreſpondent verlangt, ich ſollte
Klotilden recht ſchoͤn ſchildern, weil man ſonſt eine
Menge Dinge in dieſer Hiſtorie nicht begriffe. Er
traut aber meiner Phantaſie nicht, weil ich ſie noch
nicht geſehen; und ſchickt mir die folgende Feder¬
zeichnung eines jungen Mahlers, die wenigſtens nicht
— kalt iſt: denn Mahler ſchreiben im aͤſthetiſchen
und im kallygraphiſchen Sinn ſelten gut. Blos
um Klotilden zu ſehen und zu zeichnen, lag der
Mahler faſt alle Morgen aus einem Berge von
[86] Maienthal, wo er die herrliche Landſchaft um das
Stift auf ſeine Blaͤtter trug und den Kopf, der aus
dem achten Fenſter herausſah, in ſein Herz. Der
Mahler ſchreibt oder vielmehr kolorirt ſo.
»Wenn mein Ich ein einziger Gedanke iſt und
brennt und wenn ich, von Flammen umweht, die
»Hand in Farben tauche, um mich darin abzukuͤhlen
»— wenn dann die hohe Schoͤnheit, *) die ewig in
»mir ſtralet, ihr Spiegelbild herunter in die Far¬
»benflaͤche wirft und den klaren Strom entflammt,
»wenn dann ein dem Himmel entſunknes Pallasbild
»auf dem Strome ruht, eine Lilienhuͤlle, die die
»weggelegte Fluͤgeldecke eines aufgeflognen Engels
»iſt — eine Geſtalt, deren unbefleckte Seele kein
»Leib, ſondern der Schnee umwallet, der um den
»Thron Gottes liegt und aus dem die Engel ihre
»fluͤchtigen Reiſekoͤrper bauen, **) und wenn die zar¬
»teſte Bekleidung zu grob und hart und ein hoͤlzer¬
»ner Rahmen um dieſen geiſtigen Hauch auf dem
»Antlitz iſt, um dieſen zitternden Blumenſammt von
»Fleiſch, um dieſe Haut aus weißen Roſen von ro¬
»then durchglimmt — wenn dieſer Wiederſchein mei¬
»ner erhoͤhten Seele auf die Farbenflaͤche faͤllt: ſo
[87] »wendet ſich jeder um und denkt: Klotilde ſteht am
»Ufer da und ſchlummert. . . . Und hier iſt meine
»Kunſt aus: denn ach wenn ſie erwacht und wenn
»erſt die Seele dieſe Reize wie Schwingen bewegt
»— wenn die verſchloſſene Lippenknoſpe zum Laͤcheln
»aufbricht und der Buſen einen halben Seufzer ein¬
»einathmet und bloͤde nicht ausathmet — wenn die
»Seufzer in Geſaͤnge verhuͤllet aus dieſen Lippen, die
»wie zwei Seelen einander uͤberſchweben, aber nicht
»betaſten, wie Bienen aus Roſen ziehen — wenn
»das Auge zwiſchen Glanz und Thraͤnen ſich be¬
»wegt — wenn dann endlich die Goͤttin der himm¬
»liſchen Liebe zu ihrer Tochter tritt und elektriſch
»ihr ſtilles Herz beruͤhrt und ſagt: liebe auch! und
»nun alle Reize erbeben und aufbluͤhen, zoͤgern und
»ſchmachten, hoffen und zagen, und ſich das traͤu¬
»mende Herz tiefer in ſeine Bluͤten verſchließet und
»zitternd ſich vor dem Gluͤcklichen hinter eine Thraͤ¬
»ne verſteckt, der es erraͤth und verdient. . . Dann
»verſtummt die Gluͤckliche, der Gluͤckliche und der
»Mahler. — —
Dem Viktor kam es vor als wenn auf einmal
ſein Blut herausgedrungen waͤre und mit warmen
Beruͤhrungen außen auf der Haut ſeine Zirkel be¬
ſchriebe. Endlich brachte Klotildens kaltes Auge,
das nicht der trunkne Stolz auf Reize ſondern der
nuͤchterne zuruͤcktretende und nur dem weiblichen
[88] Geſchlecht eigne auf Unſchuld regierte, — und ihre
Naſe, die zu viel Beſonnenheit verrieth, ſeinen neuen
Adam wieder auf die Beine, auf den ſich ſchon der
alte geſetzt hatte. Er prieß ſich gluͤcklich, daß er
Flamins Freund ſey und mithin auf ihre Aufmerk¬
ſamkeit und ihren Umgang einige Rechte habe. —
Gleichwohl war ihm noch immer als wenn alles was
ſie thaͤte, zum erſtemmale in der Welt geſchaͤhe und
er gab auf ſie Acht wie auf einen operirten Blind¬
gebohrnen oder auf einen Omai oder einen Li-Bu:
er dachte immer »wie ſollt' ihr wohl das Sitzen
»laſſen — oder das Praͤſentiren eines Fruchttellers
»— oder das Eſſen einer Kirſche — oder das Nie¬
»derſehen in ein Briefgen.« Ich bin noch ein aͤr¬
gerer Narr neben der beſagten Hofdame.
Endlich kam in den Garten Le Baut nach der er¬
ſten Toilette und ſeine Frau nach der zweiten. Der
Kammerherr — ein kurzes, biegſames, geſchnuͤrtes
Ding, das vor dem Teufel in der Hoͤlle den Hut
abziehen wird, wenns hineintritt — empfing den
Sohn ſeines Erbfeindes ungemein verbindlich und
doch mit Wuͤrde, zu der ihm aber nicht ſein Herz
ſondern ſein Stand die Kraͤfte gab: Viktor hegte,
eben weil er ſich ihn beleidigt dachte, zuvorkommen¬
des Wohlwollen fuͤr ihn. Obgleich Le Bauts Zunge
faſt wie ſeine Zaͤhne falſch und eingeſetzt waren, und
mithin die aus Zahn- und Zungenbuchſtaben kompo¬
[89] nirten Woͤrter auch: ſo gefiel er doch mit ſeinen we¬
der plumpen noch unhoͤflichen Schmeicheleien — wozu
auch ſeine Stellungen und Abſichten gehoͤren — un¬
ſerem aufrichtigen Viktor, der ſeine Schmeichler,
als Schwache, nicht haſſen konnte. Die Kammer¬
herrin — die ſchon in den Jahren war, die eine
Kokette zu verhelen ſucht, ob ſie gleich die vorher¬
gehenden noch eher zu verbergen haͤtte — nahm un¬
ſern gutmeinenden Helden mit der aufrichtigſten
Stimme auf, die noch aus einem falſchen Judasbu¬
ſen gekommen, und mit dem raffinirteſten Geſicht,
auf dem nie die Taͤuſchungen der Liebe (wie es
ſchien) Platz zu einer Mine hatten finden koͤnnen.
Die neue Geſellſchaft nahm auf einmal Viktors
Verlegenheit weg. Er bemerkte zwar bald die be¬
ſondern Fecht- und Tanzpoſitionen des Bundes ge¬
gen einander: Klotilde ſchien gegen alle zuruͤckhaltend
und gleichguͤltig, außer gegen ihren Vater nicht —
die Stiefmutter war ſein gegen den Kammerherrn,
hochmuͤthig gegen die Stieftochter, verbindlich gegen
Vikor und leicht, und gehorchend-koket gegen Mat¬
thieu — dieſer war gegen das Ehepaar abwechſelnd
ſchmeichleriſch und perſiflirend, gegen Klotilde eis¬
kalt und gegen meinen Helden ſo hoͤflich wie Le
Baut gegen alle. Gleichwohl war Viktor froher und
freier als alle, nicht blos weil er im Freien war —
da ein Zimmer allemal wie ein Stockhaus auf ihm
[90] lag und ein Seſſel wie ein Fußblock — ſondern weil
er unter feinen Leuten war, die (trotz der ſpitzigſten
Verhaͤltniſſe) dem Dialog ſechs Schmetterlingsfluͤgel
geben, damit er — als Gegenſpiel der klebenden
Raupe, die ſich in jedem Dorn aufſpieſſet — ohne
Getoͤſe und in kleinen Boͤgen uͤber Stacheln fliege
und nur auf Bluͤthen falle. Er war der groͤſte Freund
feiner Leute und feiner Wendungen; daher gieng er
ſo gern in die Geſellſchaft eines Fontenella, Crebillon
Marivaux, des ganzen weiblichen Geſchlechtes und
beſonders des anſtaͤndig koketten Theils deſſelben.
Man werde nicht irre! Ach an ſeinem Flamin, an
ſeinem Dahore, an groſſen uͤber die feinen, feigen,
leeren Mikro-Kosmologen der groſſen Welt erhabnen
Menſchen hieng gluͤhend ſeine ganze Seele; aber eben
darum ſuchte er zur groͤſſern Vollkommenheit die klei¬
nern als Gebraͤme und Dedikationskupfer mit ſo vie¬
lem Eifer auf.
Vier Perſonen hatten jetzt auf einmal vier Seh¬
roͤhre auf ſeine Seele gerichtet; er nahm gar nichts
in die Hand, weil er zu gutmuͤthig und zu freudig
war, um der Mouchard eines Herzens zu ſein; und
erſt nach Verlauf einiger Tage beobachtete er an ei¬
nem Geſellſchafter das zuruͤckgebliebne Bild in ſeinem
Kopf. Er verbarg ſich nicht — und wurde doch
falſch geſehen: gute Menſchen koͤnnen ſich leichter in
ſchlimme hineindenken als dieſe in jene — er errieth
[9[91]] beſſer als er errathen wurde. Blos Klotilde verdient
eine Schutzrede, daß ſie meinen Helden bis nach
dem Eſſen — unter welchem Le Baut, der groͤſte
Erzaͤhler und Novelliſt dieſes erzaͤhlenden Saͤkuls,
ſeine Rolle durchfuͤhrte — fuͤr zu boshaft und ſaty¬
riſch hielt. Sie muſte aber faſt: — eine Frau erraͤth
leicht die menſchliche, aber ſchwer die goͤttliche (oder
teufliſche) Natur eines Mannes, ſchwer ſeinen gei¬
ſtigen Kubikinhalt und leicht ſeine Abſichten, leich¬
ter ſein inneres Kolorit als ſeine Zeichnung — Mat¬
thieu gab Anlaß zu ihrem Irthum, aber auch (wie
ich ſogleich berichten werde) zur Zuruͤcknahme deſſel¬
ben. Dieſer Evangeliſt, der ein viel groͤſſerer Sa¬
tyrikus war als ſein Namensvetter im R. T., ſtell¬
te faſt ganz Flachſenfingen auf ſeine Privat-Pillory,
den Fuͤrſten, den Hof bis zu Zeufeln nieder — nur
den Miniſter (ſeinen Vater) und ſeine vielen Schwe¬
ſtern muſt' er leider auslaſſen, desgleichen die Per¬
ſonen, mit denen er gerade ſprach. Was man Ver¬
laͤumdung an ihm nannte, war im Grunde uͤbertrieb¬
ne Hernhuterey. Denn da der heilige Makarius
befiehlt, daß man ſich aus Demuth zwanzig Unzen
Boͤſes beilegen muͤſſe, wenn man deſſen fuͤnf habe —
das Gute aber umgekehrt — ſo ſuchen redliche Ku¬
rialſeelen, weil ſie ſehen, daß keiner dieſe beſcheidne
Sprache fuͤhren will, in jedes Namen ſie zu reden;
und ſchreiben dem, deſſen Demuth ſie repraͤſentiren
[92] wollen, allezeit funfzehn Unzen mehr Boͤſes und we¬
niger Gutes zu als er wirklich hat. Hingegen bey
gegenwaͤrtigen Perſonen haben ſie dieſe ſtellvertreten¬
de [Genugthuung] nicht noͤthig. Daher iſt das Leben
ſolcher Kurial-Edeln ganz dramatiſch: denn da nach
Ariſtoteles die Komoͤdie die Menſchen ſchlechter,
und die Tragoͤdie ſie beſſer mahlt als ſie ſind, ſo
laſſen gedachte Edle in jener nur Abweſende,
in dieſer nur Gegenwaͤrtige agiren. — Ich weis
nicht, ob dieſe Vollkommenheit hinreicht, einen
wirklichen Fehler des Evangeliſten gutzumachen,
welches der war, daß er wie an Luperkalien zu oft
nach dem weiblichen Geſchlecht Hiebe fuͤhrte. So
ſagte er heute z. B.: Maͤdgen und Himbeere haͤtten
ſchon Maden eh' ſie nur reif waͤren — die weibli¬
che Tugend waͤre das gluͤhende Eiſen, das eine Frau
(wie auch ſonſt bey den Ordalien) vom Taufſtein
(Tauftag) bis zum Altar (Kopulazionstag) zu tra¬
gen haͤtte, um unſchuldig zu ſeyn u. ſ. w.
Nichts fiel Klotilden — und ſo hab' ichs alle¬
mal bey den beſten ihres Geſchlechts gefunden —
empfindlicher als Satyre auf ihr ganzes Geſchlecht;
aber Viktor erſtaunte uͤber ihr dem Geſchlecht und
der Welt Erfahrenheit gleich ſehr eigne Kunſt es zu
verbergen, daß ſie — tolerire und verachte.
Des Evangeliſten Beyſpiel machte, daß auch Vik¬
tor anfing zu phosphoreszieren auf allen Punkten
[93] ſeiner Seele — der Funke des Witzes umlief den
ganzen Kreis ſeiner Ideen, die einander wie Gra¬
zien bey der Hand faßten und ſein elektriſches Glo¬
ckenſpiel uͤbertraf des Junkers Entladungen darum,
weil dieſe Blitze waren und nach Schwefel ſtanken.
Klotilde, die ſehr beobachtete, mißtraute den Lippen
und dem Herzen Sebaſtians.
Der Hofjunker hielt ihn fuͤr ſeines Gleichen und
fuͤr verliebt in Klotilde; und das aus dem Grunde,
»weil der luſtigere oder ernſtere Ton, worein ein
»Mann in einer Geſellſchaft verfalle, ein Zeichen
»ſei, daß ein weiblicher Zitteraal darin in ſeinen
»Buſen eingeſchlagen.» Ich muß es geſtehen, Vik¬
tors uͤberwallende Seele ließ ihn nie jenen Ausdruck
der Achtung fuͤr Weiber treffen, der ſich nicht in
unzeitige Zaͤrtlichkeit verirt und den er oft gebildeten
Weltleuten beneidete: ſeine Achtung ſah leider alle¬
mal wie eine Liebeserklaͤrung aus. — Die Kammer¬
herrin hielt ihn fuͤr ſo falſch wie ihren Zizisbeo:
Leute wie ſie begreifen kein anderes Wohlwollen als
hoͤfliches oder intriguirendes.
Man behielt meinen Helden den ganzen Tag und
den halben Abend druͤben.
Den ganzen Tag war er nicht im Stande — ob
gleich die unſichtbaren Augen ſeines innern Menſchen
voll Thraͤnen ſtanden uͤber Klotildens edle Geſtalt,
uͤber ihre verborgne Trauer um die kalte hinabge¬
[94] ſenkte Freundin, uͤber ihre ruͤhrende Stimme, wenn
ſie blos mit Agathen ſprach — gleichwohl war er
nicht im Stande, nur ein ernſthaftes Wort zu ſagen:
gegen Fremde zwang ihn ſeine Natur allemal im
Anfange zu ſatyriſiren und zu haſeliren. Aber
abends, da man im feierlichen Garten war, da ſein
gewoͤhnlicher Schauer vor der Leerheit des Lebens
durch die Luſtigkeit heftiger wurde — das wurde je¬
ner dadurch allezeit; hingegen durch ernſthafte, trau¬
rige, leidenſchaftliche Geſpraͤche nahm er ab — und
da Klotilde ihm bloß eine ſehr kalte, gleichſam von
ſeinem Vater auf ihm aſſignirte Hoͤflichkeit gewaͤhrte
und den Unterſchied zwiſchen ihm und dem Matthieu,
der keine zweite Welt und keinen dafuͤr organiſirten
innern Menſchen annahm, nicht in ſeiner ganzen
Groͤße errieth: ſo wurd' ihm beklommen ums ſeh¬
nende Herz, zu viele Thraͤnen ſchienen ſeine ganze
Bruſt anzufuͤllen und durchzudruͤcken, und ſo oft er
in den groſſen tiefen Himmel aufblickte, ſagte etwas
in ſeiner Seele: ſcheer' dich gar nichts um den fei¬
nen Cercle und rede heraus!»
Aber es gab fuͤr ihn nur Eine Seele, an der jene
Erhoͤhungstritte wie an Pedalharpfen geſchaffen waͤ¬
ren, die jedem Gedanken einen hoͤhern Sphaͤrenton
ertheilen, dem Leben einen heiligen Werth und dem
Herzen ein Echo aus Eden: dieſe Seele war nicht
ſein ſonſt ſo geliebter Flamin, ſondern ſein Lehrer
[95]Dahore in England, ach den er ſchon lange aus
ſeinen Augen, aber nie aus ſeinen Traͤumen verloh¬
ren. Der Schatte dieſes groſſen Menſchen ſtand
gleichſam an die Nacht geworfen, flatternd und auf¬
gerichtet vor ihm und ſagte: »Ach Lieber, ich ſehe
»Dein inneres Weinen, Dein frommes Sehnen,
»Dein oͤdes Herz und Deine ausgebreiteten beben¬
»den Arme; aber alles iſt umſonſt: Du findeſt mich
»nicht und ich Dich nicht.» Er ſchauete an die
Sterne, deren erhebende Kenntniß ſein Lehrer ſchon
damals in ſeine junge Seele angeleget hatte: er ſag¬
te zu Klotilden: die Topographie des Himmels ſoll¬
te ein Stuͤck unſerer Religion ſeyn; eine Frau ſollte
den Katechismus und den Fontenelle auswendig ler¬
nen.» Er beſchrieb hier die aſtronomiſchen Stunden
ſeines Dahore und dieſen ſelber. —
Aus Klotildens Angeſicht brach eine große Verklaͤ¬
rung, und ſie zeichnete mit Worten und Mienen ih¬
ren eignen aſtronomiſchen Lehrer im Stifte ab —
daß er eben ſo edel ſey und eben ſo ſtill — daß ſei¬
ne Geſtalt ſo gut beſſer mache wie ſeine Lehre —
daß er ſich Emanuel nenne und keinen Geſchlechts¬
namen fuͤhre, weil er ſage: »am verfliegenden Men¬
»ſchen an ſeinem ſo eilig verſinkenden Stammbaum
»ſey zwiſchen dem Geſchlechtsnamen und Taufnamen
»der Unterſchied ſo klein.» — Daß leider ſeine ver¬
edelte Seele in einem zerknickten Koͤrper lebe, der
[96] ſchon tief ins Grab einhaͤnge — daß er nach der
Verſicherung ihrer Äebtiſſin der ſanfteſte und groͤſte
Menſch ſey, der noch aus Oſtindien (ſeinem Vater¬
lande) gekommen, wiewohl man uͤber einige Son¬
derbarkeiten ſeiner Lebensart in Maienthal wegzuſe¬
hen habe. — —
Matthieu, deſſen Witz die Schoͤnheitslillie, den
Giftzahn, den Sprung und die Kaͤlte den Schlangen
abborgte, ſagte leiſe und unbefangen: »es iſt gut
fuͤr ſeinen ſiechen Koͤrper, daß er hier nicht Aſtro¬
nom und Nachtwaͤchter zugleich wurde: er ſuchte
vor einigen Jahren darum an, um einen Tubus und
ein Horn.» — — Klotilde wurde zum erſtenmale
von einer zuͤrnenden Roͤthe uͤberflogen wie der Mor¬
gen vor dem Regen: »wenn Sie ihn (ſagte ſie
»ſchnell) bloß aus meiner Schilderung kennen, ſo koͤn¬
»nen Sie dieſe Sonderbarkeit unmoͤglich unter den
»ſeinigen ſuchen.» Aber der Kammerherr trat dem
Junker bey und ſagte, Emanuel ſey wirklich vor
fuͤnf Jahren mit dieſem Geſuche abgewieſen worden.
Klotilde ſah den einzigen, deſſen Aufmerkſamkeit
nicht ironiſch war, unſern Viktor, den der Wieder¬
ſchein ihrer Verklaͤrung ſchmuͤckte, wie um Huͤlfe
an und fragte mehr hoffend als behauptend: »ſollte
man ſo etwas einem ſolchen Kopfe zutrauen?» —
»Meinem Kopf eher — (verſetzte er, um auszuwei¬
chen: denn er, der dem jetzigen Pabſte widerſprochen
haͤtte,[97] haͤtte; konnte oft unmoͤglich ſchoͤnen Lippen wider¬
ſprechen, zumal einer wie dieſer mit ſo vieler Hoff¬
nung auf ſein Nein vorgelegten Frage) — ſo oft ich
»Nachts durch Doͤrfer gehe: ſo hoͤr' ich den leibli¬
»chen Nachtwaͤchter lieber als den geiſtlichen. In
»der horchenden ſtillen Nacht, unter dem ausgebrei¬
»teten Sternenhimmel liegt im homiletiſchen Eulen¬
»geſang des Nachtwaͤchters etwas ſo Erhabnes, daß
»ich mir hundertmal ein Horn wuͤnſchte und ſechs
»Verſe» — —
Der Kammerherr und ſein Aſſocié hieltens fuͤr
verfehlte Perſiflage: letzterer ſetzte die ſeinige —
vielleicht um Klotilden, zum Vortheil ſeiner mit Un¬
terzieh-Buſen Unterzieh-Steis armirten Herzens-
Zaarin, zu mißfallen — unverſchaͤmt fort und fuͤhrte
an: das beſte Mittel, den nahmhaften Namenloſen
traurig zu machen, ſey ein ſehr luſtiges, eine Ko¬
moͤdie — freylich ruͤhrte ihn noch ſtaͤrker ein Poſ¬
ſenſpiel, wie er ſelber an ihm in Goͤthe's morali¬
ſchen Puppenſpiel oder Jahrmarkt geſehen.
Da flog dem betroffenen Viktor ein neues Ge¬
ſicht und eine neue Stellung an: denn er war gera¬
de wie Emanuel. Ein Jahrmarkt mit ſeinen hinab
und hinauflaufenden Menſchen-Baͤchen — mit dem
Vor- und Zuruͤckſpringen der Geſtalten wie an einer
Bilderuhr — mit der fortſummenden Luft, in der
Violinengeſchrei und Menſchengezaͤnk und Viehge¬
Heſperus. I. Th G[98] bloͤk zu einem einzigen betaͤubenden Brauſen zuſam¬
menflieſſen — und mit den Buden-Ammeublements,
die ein muſiviſches Bild des kleinen aus Beduͤrfniſ¬
ſen zuſammengeflickten Lebens reichen — — ein
Jahrmarkt machte durch alle dieſe Erinnerungen an
die große froſtige Neujahrsmeſſe des Lebens
Viktors edeln Buſen ſchwer und voll; er verſank
ſuͤß-betaͤubt in das Getoͤſe, und die Menſchen-Rei¬
hen um ihn ſchloſſen mit einem Dockengelaͤnder von
Leibern ſeine Seele in ihre ſtilleren Phantaſien ein.
Das war die Urſache, warum ihn Goͤthe's hogar¬
thiſches Schwanzſtuͤck eines Jahrmarkts (ſo wie
Shakeſpear) immer melancholiſch zuruͤckließ; ſo wie
er uͤberhaupt gerade im Niedrigkomiſchen das hohe
Ernſthafte am liebſten fand — Weiber ſind nur zum
umgekehrten Funde faͤhig — und ein komiſches Buch
ohne jeden edlern Zug und Wink (z. B. Blumauers
Aeneis) konnt' er ſo wenig wie La Mettrie's eckel¬
haft-lachendes Geſicht ertragen oder die Geſichter
auf den Titelkupfern des Vademekums. — —
Er vergaß ſich und die Nachbarſchaft wie ein
wahrer Juͤngling, breitete die Arme halb aus und
ſagte mit einem Auge, in dem man die ſehnend an
einem Bilde Emanuels arbeitende Seele ſah: »nun
kenn' ich Dich, Du Namenloſer, Du biſt »der
hohe Menſch der ſo ſelten iſt. — — — Ich
»verſichere Sie, Hr. v. Schleunes, an Hrn. Ema¬
[99] »nuel iſt 'was! . . . Nein, unter dieſem Leben im
»Flug, ſollte doch das Ding, das ſo prestissimo
»hinſchießt aus einem Regenſchauer in den andern
»und von Gewoͤlke zu Gewoͤlke, doch nicht in Ei¬
»nem fort den Schnabel aufſperren zum Gelaͤchter . . .
»Ich las heute 'wo, »der Menſch hat nur drithalbe
»Minuten, und nur eine Laͤcheln.»» . . Er war
ganz in ſeine Gefuͤhle verirrt: ſonſt haͤtt' er mehr
zuruͤck behalten, beſonders die letzte Zeile aus dem
im Garten gefundnen Blaͤttgen. Klotilde wurde uͤber
irgend etwas betroffen. Er haͤtte jetzt gern das
Blaͤttgen hinausgeleſen. Sie erzaͤhlte ihm nun die¬
jenigen Sonderbarkeiten von ihrem Lehrer, in die
ſie ſich beſſer zu finden wuſte: daß er ein Pythago¬
raͤer ſey — nur in weiſſen Kleidern gehe — mit
Floͤten ſich einſchlaͤfern und wecken laſſe — keine
Huͤlſenfruͤchte und Thiere eſſe — und oft die halbe
Nacht unter den Sternen gehe.
Er ruhte, in ſtummes Entzuͤcken uͤber den Leh¬
rer verlohren, mit enthuſiaſtiſchen Augen auf den
freundſchaftlichen Lippen der Schuͤlerin, die der Ge¬
ſchmack an einem erhabnen Sonderling adelte. Sie
fand hier den erſten Mann, den ſie in einen unge¬
heuchelten Enthuſiasmus fuͤr ihren pythagoraͤiſchen
Liebling ſetzte und alle ihre Schoͤnheiten wendeten
ſich bluͤhender nach Emanuels Bild wie Blumen
nach der Sonne. Zwey ſchoͤne Seelen entdecken
G 2[100] ihre Verwandſchaft am erſten in der gleichen Liebe
die ſie an eine dritte bindet. Das volle idealiſiren¬
de Herz verſchweigt und verhuͤllt ſich gern in einem
Putzzimmer, das lauter ungleichartige hegt; aber
wenn es darinn ſein zweites antrift, ſo muß es dar¬
uͤber ſein Verſtummen und Verhuͤllen und das Putz¬
zimmer vergeſſen.
Viktors Barometer ſeiner morgendlichen Luſtig¬
keit war um zehn Grade gefallen. In ſeiner daͤm¬
mernden Seele ragte nichts hervor als der Zettel,
den er leſen wollte und auch ſchon las drauſſen auf
der Gaſſe; und vorher ſchied er.
Das Blatt war aus Klotildens fliegenden Stamm¬
buch geflattert und von — Emanuel geſchrieben.
»Der Menſch hat hier drithalbe Minuten, eine
»zu laͤcheln — eine, zu ſeufzen — und eine halbe
»zu lieben; denn mitten in dieſer Minute ſtirbt er.
»Aber das Grab iſt nicht tief, es iſt der leuch¬
»tende Fußtritt eines Engels, der uns ſucht. Wenn
»die unbekannte Hand den letzten Pfeil an das
»Haupt des Menſchen ſendet: ſo buͤckt er vorher
»das Haupt und der Pfeil hebt bloß die Dornen¬
»krone von ſeinen Wunden ab. *)
[101]
»Und mit dieſer Hoffnung zieh' aus Maienthal,
»edle Seele: aber weder Welttheile noch Graͤber,
»noch die zweite Welt koͤnnen zwei Menſchen zer¬
»trennen oder verbinden; ſondern nur Gedanken
»ſcheiden und gatten die Seelen. —
«O dein Leben haͤnge voll Bluͤten! Aus dei¬
»nem erſten Paradies muͤſſe ein zweites wie aus ei¬
»ner Roſe eine zweite, ſprieſſen! Die Erbe muͤſſe
»dir ſchimmern als ſtaͤndeſt du uͤber ihr und ſaͤ¬
»heſt ihrem Zug im Himmel nach! — Und wie Mo¬
»ſes ſtarb, weil ihn Gott kuͤßte: ſo ſey dein Leben
»ein langer Kuß des Ewigen! Und dein Tod ſey
»meiner. . . . Emanuel.
»O du guter, guter Geiſt! (rief Viktor) ich kann
»dich nun nicht mehr vergeſſen — du mußt, du
»wirſt mein ſchwaches Herz annehmen!» Von ſei¬
nen innern Saiten waren jetzt die Dunſttropfen die
ihren Klang aufhielten, abgefallen. Sein Kopf wur¬
de eine helle Eſplanade, auf der nichts ſtand als
Emanuels glaͤnzende Natur. Er kam mit einem
leuchtenden Moſis Angeſicht ſpaͤt in dem Pfarrhaus
an; und in dieſer Glut ſtellte er vor ſeinen Zu¬
ſchauern das Bild von Klotilden auf, dem er von ei¬
nem Engel alles auſſer dem Flugwerk gab. Flamin
[102] konnte, wenn er kalt und Menſchenkenner war, dieſe
Preismedaillen, die jener auf ſie ſchlug und worauf
er ihr ſchoͤnes Angeſicht und ſein Wappen ſetzte, fuͤr
eben ſo viele Muͤnzen de confiance und Pfaͤnder neh¬
men, daß er der Eiferſucht nichts zu beſtrafen geben
werde; ich zweifle aber an Flamin. Er war zu brau¬
ſend und zu ehrgeitzig, um die Wahrheit zu ſehen
ſo wie — anzuhoͤren: denn ſein offenherziger Freund
mußte manchen zaͤrtlichen Tadel unterdruͤcken,
der ihn zu ſehr gekraͤnkt haͤtte, weil er zuviel Ehr¬
geitz und Feuer und zu wenig Selbſtvertrauen hatte.
Daher heftete ſich ein Schmeichler wie Matthieu mit
ſeinen Epheu-Haͤckgen deſto feſter in die Riſſe dieſes
Felſen ein Da er ein wenig barſch den namenloſen
Emanuel einen Schwaͤrmer nannte: ſo ſagte Viktor
nichts mehr davon. Flamin konnte — weil er ent¬
weder ein Juriſt oder ein hitziger Kopf, oder beides
war — nichts ſo wenig ausſtehen als Poeten, Phi¬
loſophen, Hofleute und Enthuſiaſten — einen ausge¬
nommen, der alles das auf einmel war, ſeinen Se¬
baſtian.
[103]
5. Hundspoſttag.
Der dritte Mai — Die Nachtigal — Der auf der Muſik ſitzen
de Abbate.
Ich muß uͤberhaupt voraus bemerken, daß ich ſehr
dumm waͤre, wenn ich die Menge von Unwahrſchein¬
lichkeiten in dieſer Hiſtorie nicht merkte; aber ich
merke ſie ſaͤmmtlich gut; ja ich habe ſolche — z. B.
die in Klotildens Betragen, oder die des medizini¬
ſchen Doktorats des Helden — noch eher als der
Leſer ſelber wahrgenommen, weil ich alles eher —
geleſen habe. Ich ſchob es daher nicht laͤnger auf,
ſondern gieng mit der heutigen Hofmanns-Poſt mei¬
nen Korreſpondenten an, mir das naͤchſtemal durch
den Hund in ſeiner Portraitsbuͤchſe zu ſchreiben,
woran wir alle waͤren. — Ich ſchriebs ihm gerade
zu, er wuͤſte den Henker davon, von den Leſern und
ihrer Tyranney, aber ich — ich muͤßt ihm ſagen
(ſagt' ich) ſie waͤren Leute von Verſtand, denen ein
Biograph und Roman-Bauherr nicht mit Illuſionen
kommen duͤrfte, ſondern die ſagten, wie der Areopag,
»das nackte hiſtoriſche Faktum her, ohne alle wei¬
»tere poetiſche Einkleidung.» — Und es naͤhme mich
uͤberhaupt wunder (fuhr ich fort), daß er noch nicht
[104] wuͤſte, daß ſie ſoviel, theils Verſtand, theils vier¬
blaͤtterigen Klee *)in ſich haͤtten, daß ſie die groͤ߬
ten Verfaſſer — z. B. die eines Taſſo, eines Da¬
mokles — wenn dieſe fein ſeyn und ſie durch aͤſthe¬
tiſche Gauckeleyen entweder wie Schroͤpfer in Furcht
oder wie Bettler in Mitleiden ſetzen wollten, daß
ſie dieſe kaltbluͤtig ſich abarbeiten ließen und ſagten:
»wir laſſen uns nicht fangen.» — Gleichwohl waͤren
die Rezenſenten noch toller und geſcheuter und viel¬
leicht die beſten jetzigen Skotometer, zumal da
ſie ſo elende Photometer waͤren. — Und endlich
ſagt' ich meinem hiſtoriſchen Adjutanten gerade her¬
aus, er haͤtte keinen Schaden davon; aber ich,
daß man mich in mehrere Sprachen uͤberſetzte und
darinn fuͤr jede Unwahrſcheinlichkeit des Textes in
das Geiſſelgewoͤlbe einer Note hinunterzoͤge und da
ſehr ſtriche, indeß ich nicht den Mund aufthun duͤrf¬
te, wenn der verthierende Spitzbube, der meinen
Kuͤrbisflaſchenkeller wie ein Faß Wein aus einem
Land ins andre fuͤhre, den Wein unter Weges wie
alle Fuhrleute mit Waſſer auſſen begoͤſſe und innen
nachfuͤllte. — Er ſollte mir nur wenigſtens, bat
ich, Antwort geben, damit ich ſie den Le¬
[105] fern zeigen koͤnnte als einen Beweiß, daß ich ge¬
ſchrieben. — —
Im naͤchſten Hundspoſttag moͤchten alſo in jedem
Falle große Dinge zu erwarten ſeyn. —
Noch dazu faͤllt der vierte Mai hinein mit ſei¬
nen wie es ſcheint wichtigen zwei Dankfeſten fuͤr die
Ankunft der zwei Sebaſtiane‚ des kleinen in der
Welt, des großen im Baddorfe. Sogar Klotilde iſt
morgen dabei; und Viktor iſt recht begierig (ich ſel¬
ber,) ſie in der Sonne der Liebe zu ſehen neben
Flamin: denn druͤben ſchienen alle ihre Schoͤnheiten
ein vom Stral der Liebe noch nicht getrofnes und
gereiftes Herz zu umbluͤhen, wie Blumenblaͤtter die
weißen Herzblaͤtter vor der Sonne uͤberbauen.
— Matthieu kam heute zum Abſchied, weil er mor¬
gen in die Stadt zuruͤckfuhr. Er gefiel unſerm Hel¬
den immer weniger; und eine Pagengeſchichte, die
er von ſich erzaͤhlte, erneuerte Viktors Entſchluß,
die Bitte der Pfarrerin um die Verſcheuchung eines
ſolchen Menſchen fruͤhe zu erfuͤllen.
Matthieu hatte als Page den Dienſt bei der
Oberhofmeiſterin, ich glaube den großen und den
kleinen. Gleichwohl muſt' er einmal einen Abbats
und Gewiſſensrath in ein Kabinet derſelben beſtellen,
das der Betſtuhl und die heilige Staͤtte in einem
Grade ſeyn ſollte, den freilich ihr dummer eiferſuͤch¬
tiger Mann nicht begrif. Nun war im Nebenzim¬
[106] mer ein muſikaliſcher Armſeſſel, den man im Grunde
mit nichts ſpielte als mit dem Steis: ſobald man
ſich hineinſetzte, fieng er ſeine Ouvertuͤre an
und ich ſaß einmal beim Fuͤrſten Eſterhaz in ſo ei¬
nem. Unſer Maz — ſo nennt ihn das ganze buͤrger¬
liche Flachſenfingen; einige Kanzleiverwandte heißen
ihn auch den Evangeliſten — beſtellte den Abbate
um zwei Stunden zu bald; ſetzte aber, damit der
Mann mit der tonſurirten Peruͤcke nicht vom Paſſen
ermattete, vorher den muſizirenden Seſſel hinein, als
Ruhebank und Ankerplatz fuͤr matte Expektanten.
Gegen drei Uhr Nachts, als die Geſellſchaft fort
war, ausgenommen den Oberhofmeiſter, ſenkte der
ſtehens-ſatte Gewiſſensrath ſeinen Rumpf endlich in
den mit Favoritarien ausgepolſterten Sorgeſtuhl und
weckte mit ſeinen Hoſen die ganze Trauermuſik und
deren Mordanten darin auf, ohne die geringſte Moͤg¬
lichkeit, das Kabinet-Staͤudgen dieſes Weckers zu
ſtillen. Der Ehegemahl ging endlich wie ein Hering,
den Finalkadenzen nach und zog den mitten im Kon¬
trapunkt und in Praltrillern ſeshaften Gewiſſens¬
mann aus ſeinem Orgelſtuhl und verſalzte ihm den
Wachtelruf, glaub' ich, durch kommandirte Pruͤgel.
Die Oberhofmeiſterin errieth leicht den Meiſter von
Stuhl, Mazen; aber ſo ſehr gewoͤhnlich iſt Verzei¬
hung am Hofe — nicht blos vergangne Beleidi¬
gungen werden da von guten Weiberſeelen vergeben,
[107] ſondern auch zukuͤnftige, — daß die Hofmeiſte¬
rin ſich doch nicht eher an Mazen raͤchte — ob er
gleich noch drittehalb Wochen ihr diente — als
eben nach drittehalb Wochen. . .
Viktor zuͤrnte uͤber Flamins Gelaͤchter; er liebte
Laune, aber keine Neckerei. Sein verſuͤſtes Blut
fieng, durch dieſe Eſſigmutter allmaͤhlig zu ver¬
ſaͤuern an gegen dieſen Maz, deſſen kalte ironiſche
Galanterie gegen die ehrliche Agathe ihn ſchon em¬
poͤrte, deren phlegmatiſcher gleichſam verheiratheter
Puls uͤbrigens in Mazens Ab- und Anweſenheit die¬
ſelben Schlaͤge that. Noch mehr Sodbrennen und
Saͤure ſammelte ſich in Viktors Herzen, weil er —
der alles tolerirte, Eitle, Stolze, Atheiſten, Schwaͤr¬
mer — gleichwohl keine Menſchen dulden konnte,
die die Tugend fuͤr eine Art von feiner Proviant¬
baͤckerei anſehen, die Wolluſt fuͤr erlaubt, den Geiſt
fuͤr einen Almoſenſammler des Leibes, das Herz fuͤr
eine Blutſpritze und unſere Seele fuͤr einen neuen
Holztrieb des Koͤrpers. Dieſes that Matthieu, der
noch dazu Neigung zum Philoſophiren hatte und der
den Freund Viktors, welcher ohnehin gegen die ganze
Dichter- und Geiſterwelt ſo kalt war wie ein Staats¬
mann, mit ſeinem philoſophiſchen Krebsgifte zu infi¬
ziren drohte.
Abends ſuchte er ein wenig naͤher an Flamins
Gehoͤr in die zweite Trompete der Fama gegen den
[108] entfernten Pſeudo-Evangeliſten zu ſtoßen. Im Gar¬
ten ſties er darein. Er nahm die Hand, deren die
Matthaͤiſche nicht wuͤrdig war, in ſeine beſſere und
fing mit der herzlichſten feinſten Schonung, die man
ſogar der wahren Freundſchaft fuͤr einen unaͤchten
Freund gewaͤhren muß, ſeinen Bilderſturm an. Denn
indem er die Kammerherrin tadelte, daß ſie auf
Agathen Blicke von ihrem Wipfel herunter wuͤrfe,
die nichts reiners waͤren als was hie Affen vom ih¬
rigen auf die Leute ſchickten; indem er den Hofjun¬
ker tadelte, daß er wie viele Edelleute erſt unter
Edelleuten den kezeriſchen Geruch eines Roturiers
am meiſten (vielleicht durch Huͤlfe des Kontraſtes)
verſpuͤrte, und daß ſeine Worte und Minen im
Schloſſe wie Eisſpitzen ans gute warme Herz Aga¬
thens anfloͤgen: ſo war der Tadel dieſes Maifroſtes
gegen die Schweſter nur ein Vorwand, in den er die
Anmerkung einhuͤllte, daß der Hofjunker Flamins
Freund nicht ſeyn wuͤrde, wenn er nicht Agathens
Liebhaber waͤre. —
Flamins Schweigen (das Zeichen ſeiner Entruͤ
ſtung) gab dem Strom ſeiner Beredſamkeit einen
neuen ſchnellern Abhang; noch dazu rief eine im Le
Bauts Garten phantaſirende Nachtigal alle Echo der
Liebe aus ſeiner Seele wach. Daher ergrif er frey¬
lich Flamins beyde Haͤnde in jener Ueberwallung, die
immer ſeine Schritte zum Ziele in Spruͤnge umſetzte
und dadurch das ganze Ziel uͤberrennte — Viele
[109] Plane verungluͤcken, weil das Herz dem Kopfe nach¬
arbeitet und weil man beim Ende der Ausfuͤhrung we¬
niger Behutſamkeit aufwendet als beym Anfange der
ſelben. Er ſah ſeinen geliebten an, die Floͤtenkehle
der Nachtigal ſetzte den Text ſeiner Liebe in Muſik
und unbeſchreiblich geruͤhrt ſagte er: »Du Beſter!
»dein Herz iſt zu gut, um nicht von denen uͤberli¬
»ſtet zu werden, die dich nicht erreichen. O wenn
»einmal die Schneide des Hoftons blutig uͤber die
»Adern deiner Bruſt wegzoͤge — (Flamins Mine ſah
»wie die Frage aus: biſt du denn nicht auch ſaty¬
riſch?) o wenn der, der keine Tugend und Uneigen¬
»nuͤtzigkeit glaubt, auch einmal keine mehr bewieſe;
»wenn er dich ſehr betroͤge, wenn die vom Hof ge¬
»haͤrtete Hand einmal Blut und Thraͤnen wie ein
»Zitronenquetſcher aus deinem Herzen druͤckte: dann
»verzweifle nur nicht, nur nicht an der Freundſchaft
» — denn deine Mutter und ich lieben dich doch
»anders. O zu der Zeit, wo du ſagen muͤſſeſt:
»warum hab' ich nicht meinem Freunde gehorcht,
»der mich ſo warnte, und meiner Mutter, die mich
»ſo liebte — da darfſt du zu mir kommen, zu dem,
»der ſich niemals aͤndert und der deinen Irrthum
»hoͤher ſchaͤtzet als eigennuͤtzige Behutſamkeit; dann
»fuͤhr' ich dich weinend zu deiner Mutter und ſage
zu ihr: nimm ihn ganz, nur du biſt werth, ihn zu
»lieben.« — Flamin ſagte gar nichts darauf. —
[110] »Biſt du traurig, mein Flamin?« — »Verdruͤs¬
»lich!« — »Ich bin traurig: die Klagen der Nach¬
tigal toͤnen mich wie kuͤnftige an.« — »Gefaͤllt
»dir dieſe Nachtigal, Viktor?« — »Unbeſchreiblich,
wie eine Freundin meines Innerſten.« — So irret
man, »Matthieu ſingt.« — Denn der Evange¬
liſt unterſchied ſich von einer Nachtigal in nichts
als der Statur. — Und dann ging Flamin empfind¬
lich und doch mit einem Haͤndedruck davon.
[111]
6. Hundspoſttag.
Der dreifache Betrug der Liebe — verlorne Bibel und Puder¬
quaſte — Kirchgang — neue Konkordaten mit dem Leſer.
Knefs Antwort iſt elend: »Aus dem vom 6ten die¬
»ſes von Ew. Wohlgebohren erlaſſenen erſehe, daß
»das Publikum Geſchmack hat und einige Feinheit
» — welches mich gar nicht wundert, da ſolches
»gleich den Goldplatten, die erſt zwiſchen einem Buch
»von Pergament und dann zwiſchen zwei von Rinds¬
»blaͤttern duͤnn und fein geſchlagen werden, eben ſo
»von einem Buch ins andre gethan und drinnen
»durch den Druck der Preß-Bengel ſo fein gemacht
»wird wie Kavalierpapier. Wenns Publikum noch
»ein Paar Jahre ſo fortlieſet: ſo kanns zuletzt ge¬
»ſcheuter werden als Deutſchland ſelbſt. Anlangend
»die Unwahrſcheinlichkeiten in unſerem Werke: ſo
»waͤren dergleichen freilich mehrere zu wuͤnſchen,
»weil ohne dieſe eine Biographie und ein Roman
»ſchlecht gefallen, da ihnen der Reiz fehlet, womit
»uns Schneiders Hoſpital- und Narrenſchiff voll
»Originalromane ſo ſehr anzieht — welcher Schnei¬
»der als Abſonderungsdruͤſe widerlicher Werke mit
»Recht die Leber der gelehrten Republik genannt
[112] »werden mag und ſein Laden der Gallengang. Aber
»in Ruͤckſicht der Unwahrſcheinlichkeiten beſorge ſel¬
»ber nur gar zu ſehr, daß auch die wenigen, wor¬
»auf wir fuſſen, am Ende verſchwinden. Der ich
u. ſ. w.
Der Scheker, merkt man leicht, will nur mich
und den Leſer gern mit Haſenſchwaͤnzen behaͤngen.
Fuͤr mich aber iſts doch ein herrliches Dokument,
daß ich das Meinige gethan und an den Schelm ge¬
ſchrieben habe. —
Gewiſſe Menſchen ſind, wenn ſie Abends ſehr
warm und freundſchaftlich waren, am Morgen ſehr
finſter [und] kalt — wie des Maupertius Halbſonnen,
die nur auf der einen Haͤlfte brennen und die ver¬
ſchwinden, wenn ſie die erdigte vorkehren — und
waren ſie kalt, ſo werden ſie warm. Flamin vergas
am Morgen entweder den warmen Abend oder die
Nachtkaͤlte. Heute iſt das Kirchgangsfeſt! — Dro¬
ben bei Sebaſtian ruͤckt' er wie ein Deutſcher Po¬
lizei-Puritaner und Puriſt, mit Speyteufeln
nnd Musketenfeuer aus gegen den Kirchgang — ge¬
gen Kindtaufsſchmaͤuſe — gegen das Holzfaͤllen zu
Weihnachten und Pfingſten — gegen Feiertage und
gegen allen Spas der Menſchen.
Viktor wurde von unſerm Jahrhundert [durch]
nichts ſo erzuͤrnt als durch deſſen ſtolze Kreuzpredig¬
ten[113] ten und Gradualdisputationen gegen unmodiſche
Thorheiten, indeß es mit modiſchen Laſtern in Sub¬
ſidientraktaten ſteht. Er holte mit einem weiten
Athem aus und bewies daß das Gluͤck eines Staa¬
tes wie eines Menſchen nicht im Reichthum, ſon¬
dern im Gebrauche des Reichthums, nicht in ſeinem
merkantiliſchen ſondern moraliſchen Werthe beſtehe
— daß die Ausſcheurung des antiken Sauerteigs und
unſre meiſten Inſtitutionen und Novellen und Edikte
nur die fuͤrſtlichen Gefaͤlle, nicht die Moralitaͤt zu
erhoͤhen ſuchten und daß man begehre, die Laſter und
die Unterthanen braͤchten wie die alten Juden, ihre
Opfer nur in einer Stadt, naͤmlich in der Reſidenz¬
ſtadt — daß die Menſchheit von jeher ſich nur die
Naͤgel an den nakten Haͤnden, nicht an den ver¬
huͤllten Fuͤßen, die oft daruͤber ſelber herunter ka¬
men, beſchnitten habe — daß Aufwands- und Pracht¬
geſetze den Fuͤrſten noch noͤthiger waͤren wenigſtens
den hoͤchſten Staͤnden als den tiefſten — daß Rom
ſeinen vielen Feiertagen viel von ſeiner Vaterlands¬
liebe verdanke. . . . Flamin hatte fuͤr die Curſiv-
und Perlenſchrift der haͤuslichen Freude, fuͤr Infu¬
ſions-Blumen des Vergnuͤgens keine Augen: dafuͤr
hielt ſeine Seele mit einem Brutus gleichen Schritt,
wenn er groß ans Bild des Pompejus trat und mit
einem Seufzer uͤber das Fatum die Parzenſcheere in
das groͤſte Herz der Erde trieb, das ſeinen Werth
Heſperus. I. Th. H[114] mit ſeinem Recht verwechſelte. Viktor hatte ein
geraͤumiges Herz fuͤr die unaͤhnlichſten Gefuͤhle.
Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß
heute der Kirchgang iſt: ich will ihn der Nachwelt
abzeichnen, aber nicht mit jener Kuͤrze womit ein
Zeitungsſkribent den Leichenzug eines Koͤnigs auf drei
Bogen bringt, ſondern ein wenig umſtaͤndlicher. Zu
den pomphaften Initialbuchſtaben dieſes Tages hatte
das Pfarrhaus ganz andre Gruͤnde in petto als man
meines Wiſſens unſerem Zeitalter noch zu entdecken
beliebte: betruͤgen wollten drei Intereſſenten einan¬
der, allemal zwei einen.
Betruͤgen wollte erſtlich die Pfarrfrau den Hel¬
den, der nicht wuſte, daß heute der Geburtstag ſei¬
nes Vaters war und daß dieſer — freimuͤthig von
ihr eingeladen — heute auf fuͤnf Minuten komme.
Sie ließ am Morgen ihre zwei Toͤchter Garn ſieden,
damit ſie dem Viktor — nichts beichteten, wenig¬
ſtens keine Wahrheit: denn es iſt ein bekannter
Aberglaube, daß das Garn am weißeſten geſotten
werde, wenn man dabei recht luͤgt. Daher ſollte
man auch, wenn die Weiber luͤgen, behutſamer ſeyn
und fragen, ob ſie mit ihren poetiſchen Illuſionen
etwas anders weißbrennen wollen als ihr Garn.
Ihr geliebter Viktor ſollte — das war ihr Plan —
ihrem Mann, deſſen Geburtsfeſt heute auch einfiel,
den gewoͤhnlichen Gluͤckswunſch bringen und ihn
[115] nachher halbiren und dem Lord hinlangen muͤſſen,
der mit ſeinem Geburtstag ausſtieg.
Betruͤgen wollte zweitens Sebaſtian und ſie den
alten Kaplan, der vergeſſen, daß er geboren worden
— welches ihm ſchon bei ſeinem erſten Geburtstage
begegnet war. Die Menſchen behalten einen frem¬
den Lebenslauf beſſer als den eignen: wahrhaftig
wir achten eine Geſchichte, die einmal die unſrige
war und die die Huͤlſe der verflognen Stunden iſt,
viel zu wenig und doch werden die Zeittropfen, durch
die wir ſchwimmen, erſt in der Ferne der Erinne¬
rung zum Regenbogen des Genuſſes. Die Maͤnner
wiſſen wenn alle Kaiſer geboren und alle Philoſo¬
phen geſtorben ſind — die Weiber wiſſen aus der
Chronologie bloß das, wenn ihre Maͤnner, die ihre
Regenten und klaſſiſchen Autores ſind, beides tha¬
ten. Viktor, deſſen feines Gefuͤhl von zu großen
Aufmerkſamkeiten fuͤr ihn verſehret wurde, war froh,
daß Eymanns Schultern die Haͤlfte der heutigen
Ehre tragen mußten.
Betruͤgen wollte drittens der Pfarrherr ſo gut
als einer und zwar jeden. Da dieſer Feſttag — wie
die drei hohen Feſte der Kloͤſter — zugleich Raſirtag
war, an welchem die geſcheuteſten Koͤpfe die duͤmm¬
ſten Geſichter machen: ſo ſchnitt der Barbier mit
der Raſir-Lanzette in des Seelenſorgers Haut wie
in eine Birkenrinde ſein Andenken; aber dieſes we¬
H 2[116] nige Blut, das ausquoll, fuͤhrte dem Pfarrer einen
kluͤgern Gedanken zu als das was der Bader drin
ließ, welches doch den Nervenſaft abſonderte, der
nach den ſeichteſten Denkern die Gelenkſchmiere un¬
ſrer geiſtigen Bewegungen, die Goldſolution unſrer
reichhaltigſten Ideen und der Geiſt unſers Geiſtes
iſt. Dieſer kluͤgere Gedanke, den ich ſo lobe, war
der, ſich auf dem linken Arm zur Ader zu laſſen —
es dem ganzen Hauſe zu verhalten — Abends dem
Lord Gluͤck zu wuͤnſchen und jedem — und am Ende
den Aermel auszuziehen und die Wunde zu zeigen
wie ein Roͤmer und zu ſagen: gratulirt doch! — Er
ſetzte es durch und der Scheerer mußte ſtaunend et¬
was anders zerhacken als das Kinn. Der Bleſſirte
gab ihm das Geleite bis an die Hofthuͤre, nicht aus
Hoͤflichkeit, ſondern damit ers nicht der ganzen Haus¬
genoſſenſchaft vortruͤge ſondern den Vorfall uͤber¬
haupt bei ſich behielte, ausgenommen in Haͤuſern,
wo ein Bart und ein Ohr war. Denn ein Ge¬
ſchichtſchreiber ſey immerhin der Monatszeiger
der Zeit — und folglich ſey der Zeitungsſetzer der
Stundenzeiger derſelben — mithin ein Weib ihr
Sekundenzeiger: ſo iſt doch der Bartputzer bei¬
des, das Weib und der Sekundenzeiger.
Als Flamin und Viktor hinuntergingen ins
Wohn- Putz- Sommer- Winterzimmer, ſtach unter
lauter frohen Geſichtern ein verdruͤßliches vor, das
[117] dem wie beſeſſen herumſetzenden Pfarrer gehoͤrte: er
konnte zweierlei unmoͤglich ausſpuͤren, ſeine Bibel
und ſeine Puderquaſte. Drei Minuten vorher hatt'
er gejammert: »Komm' ich denn in meinem elenden
»Leben nicht ſo weit, daß ichs, ſobald ich meine
»Hand einmal in den Gluͤckstopf gebracht, wo ich
»etwas damit herauskrebſen konnte, daß ichs ſo¬
»gleich errathen kann, daß der boͤſe Feind ſicher vor¬
»her allen ſeinen Unrath im Topf deponirt hat? Den
»heb' ich ſtatt der Krebſe heraus und weiter nichts.
— Es waͤr' heute huͤbſch geworden, ſah der Teufel
»— wir haͤtten bis Abends um vier Uhr keine Luſt
»gehabt, ſondern Hundsarbeit — dann waͤrs losge¬
»gangen, das Eſſen im Gartenhaus, das Gratuliren
»und Salutiren und wahrer Spas. . . . Euch iſt er
»auch noch beſcheert; mir aber ſchenkt, wenn der
»Puͤſter und die Bibel nicht erſcheinen, blos etwas
»Ruß und Aſche (die etwa vom Souper nachbleiben)
»damit ich damit dem Fuchs (Pferd) das Gebiß ab¬
»buͤrſte — und Abends kann ich neben dem Garten¬
»hauſe den Rettich ausjaͤten.«
Hier muſte er mit der niedergelaſſenen Flagge
ſeines Kopfes, mit der Trottelmuͤtze den eintretenden
Britten ſalutiren — als aus der Muͤtze ein Haar-
Buͤſchel ausfiel, der zwar nicht die geſuchte Bibel
aber der gegebene Puͤſter war. Es muß naͤmlich die
Leſe- und Denk-Welt, der man oft wichtiger
[118] Thatſachen nicht hinterbringt, am wenigſten um
dieſe kommen, daß der Hofkaplan — ſo wie Men¬
ſchen aus Menſchen geriſſen werden, um die uͤbrigen
zu uͤbertreffen und zu beherrſchen — gerade ſo die
Haare, die ſein Kamm auszupfte, in einen Peltz-
Faszikel oder Haar Verein zuſammenwickelte, um
damit die uͤbrigen, die noch ſtanden, einzupudern,
welches nun wohl vom erhabenſten Geiſt und Penta¬
meter nicht anders zu benamſen iſt als ein Haarpuͤ¬
ſter. Gleichwohl wurde Eymanns Geſicht laͤnger als
die Muͤtze: er ließ dieſe Spritze des Farbenpulvers
des Kopfes kalt da liegen und ſagte: »mach' ich
»nicht die Bibel ausfuͤndig: ſo ſeh' ich nicht ab,
»wie mich dieſer Schopf allein herausziehen will.«
Wie vor Luther, wurde jetzt die Kanſteiniſche
Bibel mit ihren ſchwarzen Kaͤfer-Fluͤgeldecken ge¬
ſucht. Wenn etwas dieſen harten Schlag noch her¬
ber machen konnte, ſo wars gewiß das, daß Eymanns
Ueberſchlag — gleich ſeiner Vernunft — zwiſchen
den verlornen kanoniſchen Blaͤttern wie zwiſchen einer
Serviettenpreſſe lag: denn die Geiſtlichen — beſon¬
ders der Pabſt — machen das Bibelwerk gern zur
Glanzpreſſe und zum Schmuckkaͤfigen ihres aͤußern
Menſchen. Ob er gleich noch acht Bibeln, ſogar die
einfaͤltige Seileriſche Bibel-Chreſtomathie im Hauſe
hatte und in der Wochenkirche heute gar keine
brauchte: ſo war es doch beſſer und menſchlicher —
[119] d. h. naͤrriſcher — daß er den Kopf ſeines Sakriſtei-
Pedells, des Schulmeiſters aus dem Fenſter pfif und
den Gottesdienſt — wie eine Aufklaͤrung — durch
ein viertelſtuͤndiges Interim verſchob, als daß er ſtatt
der Stunde des Lautens nichts geringers aͤnderte als
Bibel und Ueberſchlag.
Lieber Himmel! wie man gleich Exegeten und
Kennikottiſten ſuchte und laͤchelte! — »Dieſes For¬
»ſchen nach der Bibel, ſagte Sebaſtian, gereicht ei¬
»nem Geiſtlichen zur Ehre, zumal da er die bibli¬
»ſchen Wahrheiten nur beim Tageslicht, nicht bei
»Scheiterhauſen-Fackeln ſucht.«
Die Moͤnche haben wie die Anzuͤnder der oͤffent¬
lichen Laternen eine Leiter und viel Oel, aber mit
dem Oel loͤſchen ſie die Lampen aus und den ei¬
gnen Durſt, und mit der Leiter reichen ſie die, die
wieder anzuͤnden, dem — Galgen.
Als der Kaplan vor dem ruhigen Kopf des ſechs¬
woͤchentlichen Kindes vorbeiging, den ſchon die heu¬
tige Treſſenhaube preſte: ſo ging er aus Aerger uͤber
deſſen Gleichguͤltigkeit wieder zuruͤck, hob ſeinen bor¬
dirten Kopf empor mit der rechten Hand, und fuhr
in den Schacht des Wiegenſtrohes ein mit der lin¬
ken und wollte da die Bibel — die gewoͤhnlich das
Kopfkuͤſſen und die Amulet-Unterlage der Kinder
(beſonders der Dauphins) iſt — ausgraben, in¬
dem er ſagte: »der miſerable kleine Buͤndel laͤge bei
[120] »unſerem Elend nur kalt da, mir nichts dir nichts,
»wenn ich ihn nicht ausſtoͤhrte.« — Und hier fiel
etwas, nicht wie ein Schuß ſondern wie ein Buch,
wiewohl mans durch meinen Kiel bis ins dreißigſte
Jahrhundert hoͤren kann. Eymann ſprang denkend
ins zweite Stockwerk und fand zu ſeinen Fuͤßen eine
erſchmiſſene — Maus unter einer geſuchten Bibel.
Den proteſtantiſchen Reichskreiſen koͤnnen die Stu¬
denten- oder Doktor Luthers Maͤuſefallen niemals
unbekannt geweſen ſeyn, zu denen man nichts braucht
als Ein Buch und die fuͤr Maͤuſe ſind was ſymboli¬
ſche Buͤcher fuͤr Kandidaten. Sebaſtian zog die
Leiche beim Schwanze unter der bibliſchen Quetſch¬
form und Seileriſchen Bibelanſtalt hervor, ſchwenkte
den Kadaver gegen das Licht und hielt dieſen Lei¬
chenſermon ex tempore: »armer Schismatiker! dich
»erſchlug das alte und neue Teſtament, aber du und
»die Teſtamente ſind außer Schuld! — Sei nur
»froh, daß die Bibel dich nicht gar zu Aſche ſengte
»wie einen portugieſiſchen Iſraeliten; aber du fieleſt
»in aufgeklaͤrte Zeiten, wo ſie nichts nimmt als
»Pfarrdienſte. Es iſt aͤchter Witz, wenn ich frage:
»da ſonſt die Bibel die Feuersbruͤnſte, worein man
»ſie warf, ausloͤſchte: warum den Autodaſees
»nicht?« —
Ich lauere hier laͤngſt der Welt auf, um ſie zur
Unterſuchung zu noͤthigen, warum ein Maus-Sterbe¬
[121] fall ſie mehr intereſſirt als eine erſchoſſene Armee
in der Univerſalhiſtorie, ein verlorner fremder Haar¬
puͤſter mehr als Chriſtinens verlegte Krone. .. Da¬
her koͤmmt dieſes Intereſſe, woher es bei denen
koͤmmt, denen die Sache wirklich begegnet: weil ich
ſie weitlaͤuftig erzaͤhle, d. h. weil die Leſer gleich den
dabei intereſſirten Helden muͤhſam einen Augenblick
der kindiſchen Hiſtorie um den andern uͤberleben.
Viele kleine Schlaͤge durchloͤchern den feſteſten Men¬
ſchen ſo ſicher als Ein großer und es iſt einerlei, ob
ſie das Schickſal oder ein Autor thut. So iſt alſo
der hieſige Menſch ſo nahe an den Zeiger der Zeit
geſtellt, daß er ihn ruͤcken ſehen kann; darum wird
uns eine Kleinigkeit, wenn ſie viele Augenblicke
einnimmt, ſo groß und das kurze Leben, das wie
unſre gemalte Seele im orbis pictus, aus Punkten
beſteht, aus ſchwarzen und goldnen, ſo lang. Und
darum ſteht uͤberal, wie auf dieſem Blatte, unſer
Ernſt ſo nahe an unſerem Lachen!
Flamin ausgenommen, ruͤckten ſie alle in die
Kirche, Path und Pathgen: es war eine ſogenannte
Wochen-Betſtunde, die in jedem vernuͤnftigen Her¬
zogthum und Marggrafthum wird beibehalten wer¬
den, wo man noch darauf ſieht, daß der Pfarrer
woͤchentlich ein Paarmal erfriere und daß er, ſo wie
Novizen zur Uebung der Obedienz verdorrte Stecken
begießen muͤſſen, den Saamen des goͤttlichen Wortes
[122] in leere Kirchenſtuͤhle werfe, wie Melanchton in leere
Toͤpfe. In den deutſchen Laͤndern — meines und
wenige ausgenommen — gehoͤren zwei Saͤkula dazu,
um eine vollſtaͤndige Narrheit abzuſchaffen — eines,
um ſie einzuſehen — noch eines um ſie abzuſchaffen.
Die Einſichten eines Konſiſtoriums werden alle¬
mal Ein Jahrhundert fruͤher vernuͤnftig als die
Zirkularia (Reſkripte) deſſelben.
Im Eymanniſchen Gitterſtuhle, deſſen Thuͤre mit
der Sakriſtei ihrer faſt einen rechten Winkel machte,
fand Sebaſtian alle Blumen, wenigſtens die Blaͤtter¬
ſkelete derſelben wieder, die um ſeine ſchoͤnen Kin¬
dertage gebluͤhet hatten — metaphoriſche und bota¬
niſche, — und die botaniſchen, die beſchmutzt unter
dem Fußſchemel des Korſtuhls ſich verkrochen, ſchlu¬
gen zu transzendenten Blumen der Erinnerung wie¬
der aus. Er dachte an ſeine kindiſchen Leiden darin
— worunter die Laͤnge der Predigt — und an ſeine
kindiſchen Freuden, unter welchen die Laͤnge des Praͤ¬
ludiums und Eymanns Knien auf der Mitte der Kanzel¬
treppe, gehoͤrte. Er ſchob das hoͤlzerne Gitterfenſter zu¬
ruͤck und fand in deſſen hoͤlzernen Gleiſe ſeinen Namens¬
zug V. S. H. von eignen Haͤnden eingeſaͤgt. Vom Kinde
zum Juͤngling iſt ſo weit! Und der Menſch verwundert
ſich uͤber die Ferne. »Ach damals — ſagte Horion
»und wir wollens mit ihm ſagen — war dir noch
[123] »alles unendlich und nichts klein als dein Herz —
»ach in jener warmen erquickenden Zeit, wo der
»Vater uns noch Gott der Vater und die Mutter
»die Mutter Gottes iſt, druͤckte ſich noch die von
»Geiſtern, Graͤbern und Stuͤrmen beklemmte Bruſt
»getroͤſtet an eine menſchliche — alle vier Welttheile
»waren in dieſe Kirche eingepfarret, alle Stroͤme
»hießen Rhein und alle Reichsſtaͤnde Jenner —
»ach dieſen ſchoͤnen ſtillen Tag faſte ein goldner Ho¬
»rizont der unendlichen Hofnung ein und ein Ring
»aus Morgenroth. — Jetzt iſt der Tag dahin und
»der Horizont hinab und bloß das Gerippe noch da,
»der Gitterſtuhl.«
Ach wenn wir ſchon jetzt in den Mittagsſtunden
des Lebens ſo denken und ſeufzen: wie wird uns
nicht am Abend, wo der Menſch ſeine Blumenblaͤt¬
ter zuſammenlegt und unkenntlich wird wie andre
Blumen, am Abend, wo wir unten am Horizont in
Weſten ſtehen und ausloͤſchen, wird uns da nicht,
wenn wir uns umwenden und den kurzen mit ertre¬
tenen Hofnungen bedeckten Weg uͤberſchauen, wird
dann uns der Garten der Kindheit, der in Oſten,
tief an unſerem Aufgange, und noch unter einem al¬
ten blaſſen Rothe liegt, nicht noch holder anblicken,
noch magiſcher anſchimmern, aber auch noch weicher
machen? — Und darauf legt ſich der Menſch nicht
[124] weit vom Grabe nieder auf die Erde und hoft hie¬
nieden nicht mehr.
Fuͤr Eymann muſt' es ruͤhrend ſeyn, daß er da
er Jahrelang fremde Kindbetterinnen in der Kirche
einſegnete, einmal einer naͤheren ſeine Wuͤnſche ge¬
ben konnte. Viktor kroch in alle Knabenſonntage und
ihre Taͤuſchungen dadurch zuruͤck, daß er heute —
wie im zehnten Jahr — unter dem Singen der gan¬
zen Gemeinde in die Sakriſtei zum Pfarrer ging und
ihn fragte um die Pagina des Lieds. Es labte ihn
als Kind, daß es vier gehende Weſen im Tempel
gab, den Pfarrer, den Schulmeiſter, und den Ren¬
teimeiſter des Gotteskaſtens und ihn: giebt es etwas
erhabeners, dacht' er, als einen Klingelbeutelvater
mit einer langen wagrechten Balancierſtange allein
einherwandelnd, durch lauter befeſtigte Statuen?
Nach der Kirche fing ſich das Feſt an mit blo¬
ßen Vorarbeiten dazu, wie ein Friedenstraktat mit
den Traktaten uͤber den neutralen Ort, uͤber den
Rang u. ſ. w. Die Welt muß nur nicht denken,
daß eher als um fuͤnf Uhr Nachmittags etwas an¬
gehe oder daß jemand fruͤher aus der proſaiſchen
Wochen Einkleidung in die poetiſche feſtliche wiſchen
oder ſich ruhig neben einen Nachbar niederlaſſen
koͤnne — ſondern, nach der Prozeßordnung der Luſt,
muß jetzt alles hinauf, hinabrennen — Appollonien,
dieſer Majorin domus, gehorchen — die Bohnen¬
[125] ſtangen und Saamen-Duͤten aus dem Gartenhauſe
tragen — entpupte Papillons daraus faͤcheln und
aufgewachte Brummfliegen — das vorgeſchoſſene Ge¬
zweig von den Fenſtern zuruͤckbinden — die Orange¬
rie, die aus hundert Bluͤten eines Pomeranzenbaums
beſtand, aus dem Muſeum in die Garten-Chauſſee
herunterheben, desgleichen ein invalides Klavier, deſ¬
ſen Sangboden nicht ſo oft als ſein Saitenbezug ge¬
ſprungen war. . . . Der ernſthafte Flamin wurde
vom laͤrmenden Sebaſtian zu dieſen Haupt- und
Staatsaktionen mit gezwungen und zwiſchen ihnen
muſte in dieſer Vorjagd der Freude das gequaͤlte
Eymanniſche Geſicht arbeiten, an das Viktor die
noͤthigſten Ermahnungen hielt: »Herr Gevatter, wir
»koͤnnen nicht ernſthaft und fleißig genug ſeyn — es
»kann von dieſem Feſte noch an Orten geſprochen
»werden, wo es Einfluß hat — aber ein Mittelweg
»zwiſchen Fuͤrſtenpracht und Belgiſcher Knauſerei
»wird denk' ich, das vortheilhafteſte Licht auf uns
»werfen.« — Es ging alles gut — ſogar das Ge¬
woͤlk zerwarf ſich — Klotilde wollte kommen — der
Primas des Feſtes, dem zu Ehren der Kirchgang
war, der kleine Sechswoͤchner, memorirte laut an
ſeiner Rolle, die er nach fuͤnf Uhr zu [machen] hatte
und die wie bei mehrern Helden von Feſtins in
nichts beſtehen ſollte als in Schlafen. — —
[126]
Das Memoriren beſtand darin‚ daß er in einem
fort wachte und ſchrie nach dem Buſen‚ in dem der
Schoͤpfer ihm das erſte Manna in der Lebenswuͤſte
bereit gelegt. Aber nicht eher als um fuͤnf Uhr ſtillte
die Mutter ihn mit dem muͤtterlichen Schlaftrunk
und ließ den kleinen Sprecher Kehl- und Augendek¬
kel mit einander ſchließen. Anfangs haͤtt' ichs bei¬
nahe — aus Achtung gegen die Pfarrerin — unter¬
druͤckt‚ daß ſie ſaͤugte und ſo‚ gleichſam wie ein
Wallfiſch noch unter die Saͤugethiere gehoͤrig‚
aus ihrem Buſen ein andres Kind ernaͤhrte als den
Amor; aber ich ſchmeichelte mir nachher‚ eine Perſon‚
die weder eine Theater- noch Kronprinzeſſin iſt‚
werde nicht ſo ſtrenge als andre beurtheilt werden‚
wenn ſie Kinder hat oder Milch. . . .
Eh ich ſage‚ daß Klotilde kam‚ will ich ſie da
ſie acht Quartiere hat — wiewol mancher Magnat
der ſechzehn adliche Quartiere hat‚ doch noch ein
ſiebzehntes architektoniſches ſucht‚ wo er ſchlaͤft —
ein wenig entſchuldigen‚ daß ſie in ein buͤrgerliches
ging: es koͤmmt ihr aber in der That nichts zu ſtat¬
ten als daß ſie auf dem Lande war‚ wo oft das aͤl¬
teſte Blut keinen beſſern Umgang habhaft wird als
buͤrgerlichen‚ wenns nicht etwan Vieh iſt‚ das
auch einige nicht unkluge Kavaliere wirklich vor¬
ziehen. . . .
[127]
Es ſchlaͤgt fuͤnf Uhr — die Schoͤnſte tritt herein
— der Mond haͤngt wie ein weißes Bluͤtenblatt aus
dem Zenith auf ſie herab — das freudige ſchuldloſe
Blut in St. Luͤne ſteigt wie die Fluth unter ihm
auf — alles iſt umgekleidet. . . .
Aber das ſechſte Kapitel iſt aus. . . .
— Und da der Spitz mit dem ſiebenten noch
nicht da iſt: ſo koͤnnen ich und der Leſer ein ver¬
nuͤnftiges Wort mit einander reden. Ich geſtehe,
er ſchaͤtzt mich und mein Thun lange, er ſieht ein,
alles iſt im ſchoͤnſten biographiſchen Gange, der
Hund, meine Wenigkeit und die Helden dieſer
Hundstage. — Ich hab' auch nie abgelaͤugnet, daß
er immer mehr in den Heiligenſchein und in die
Boſiſche Beatifikation dieſes Foͤtus werde hineingezo¬
gen werden; da ich ſo ſehr dran wichſe, reibe und
bohne, mehr als an einem Menſchenſtiefel oder mi¬
litairiſchen Roßhuf in Berlin — Ja ich habe noch
keine Taſſe voll Kaffeeſatz gebraucht und es mir dar¬
aus wahrſagen laſſen (denn ich erſeh' es ſchon aus
der menſchlichen Natur und aus dem Kaffee, den ich
trinke,) daß das noch das Geringſte ſey und daß die
eigentliche Leſe Manie den guten Schelm erſt dann
befallen werde, wenn in dieſem Werke, woran wie
an der Baſſeliſſe zwei Arbeiter auf Einem Stuhle
ſeßhaft weben, die hiſtoriſchen Figuren dieſer Baſſe¬
liſſe ſamt ihrer Gruppirung ganz von der Wirbel¬
[128] nacht bis zum Fußballen hervorſteigen werden — —
Jetzt iſt ja kaum noch ein Aermel, eine Naſe, ein
Auge fertig gewuͤrkt. . .
Aber wenn zwanzig bis dreißig Ellen am Opus
werden abgewoben ſeyn: dann koͤnnen ich und mein
Aſſeſſor das erwarten was ich hier ſchildern will:
des Teufels voͤllig wird der Leſer ſeyn mit Eilen —
einen Hundspoſttag hinauszubringen, laͤſſet er ſechs
Schuͤſſeln kalt werden und das Deſſert warm —
doch was will das ſagen: ein leibhafter roͤmiſcher
Koͤnig reite durch die Straße und Kanonenkugeln
fahren hinterdrein, er hoͤrts nicht — ſeine Ehehaͤlfte
gebe in ſeinem Leſekabinet einem ehelichen Ueberbein
das beſte Souper, er ſiehts nicht — das Ueberbein
ſelber halte ihm Teufelsdreck unter die Naſe, es gebe
ihm ſcherzend mit einem Waldhammer leichte Hiebe,
er ſpuͤrts nicht ... ſo außer ſich iſt er uͤber mich,
ordentlich nicht recht bei Sinnen. — —
Das iſt nun das Ungluͤck, deſſen Gewißheit ich
mir vergeblich zu verbergen ſuche. Iſts einmal da
und bring' ich ihn ungluͤcklicher weiſe in jene hiſto¬
riſche Exaltation, wo er nichts mehr hoͤrt nnd ſieht
als meine mit ihm in Rapport geſetzte Perſonen,
weder ſeinen Vater noch Vetter: ſo kann ich ver¬
ſichert ſeyn, daß er einen Berghauptmann noch we¬
niger hoͤrt — denn Geſchichte will er und von mir
weis er gar nichts mehr — ja ich will ſetzen, ich
brenn¬[129] brennte die bunteſten Feuerwerke des Witzes ab, ja
es hingen aus meinem Maul philoſophiſche Schlu߬
ketten, wie aus eines Taſchenſpielers ſeinem Baͤn¬
der, in Zaſpeln heraus: haͤlf's mir was? —
Dennoch muͤſſen Baͤnder heraushaͤngen und Feuer¬
werke abbrennen; es ſoll aber ſo werden: Wie von
jedem Jahre ſo viele Stunden reſtiren, daß aus den
Reſtanten von vier Jahren ein Schalltag zu machen
iſt — und wie mir ſelber nach vier Hundspoſttagen
allzeit ſo viel Nachſchriften, ſo viel Witz und Scharf¬
ſinn ganz unnuͤtz als Ladenhuͤter liegen bleiben, daß
daraus recht gut ein eigner Schalltag zu formiren
waͤre: So ſoll er auch formirt werden, ſo oft vier
Hunds-Dynaſtien voruͤber ſind; nur das braucht es
noch, daß ich vorher mit dem Leſer folgenden Graͤnz-
und Hausvertrag abſchließe und ratifizire, alſo und
dergeſtallt:
I. Daß von Seiten des Leſers dem Berghaupt¬
mann auf St. Johannis fuͤr ihn und ſeine Erben
zugeſtanden und bewilligt werde, von nun an nach
jedem vierten Hundspoſttage einen witzigen und ge¬
lehrten Schalltag, in dem keine Hiſtorie iſt, zu ver¬
fertigen und drucken zu laſſen.
II. Daß von Seiten des Berghauptmanns dem
Leſer bewilligt wird, jeden Schalltag zu uͤberſchla¬
gen und nur die Geſchichtstage zu leſen — wofuͤr
beide Potenzen entſagen allen beneficiis juris — re¬
Heſperus. I. Th. J[130]stitutioni in integrum — exceptioni laesionis enor¬
mis et enormissimae — dispensationi — absolutio¬
ni etc. Auf dem Kongreß zu St. Johannis den
4ten Mai 1793.
So lautet das aͤchte Inſtrument des ſo bekann¬
ten Hunds-Vertrags zwiſchen dem Berghauptmann
und Leſer und dieſe Renuntiationsakte kann und muß
in zukuͤnftigen Mißhelligkeiten beider Maͤchte von
einem Mediateur oder Auſtraͤgalgericht einzig zum
Grunde gelegt werden.
[131]
7. Hundspoſttag.
Der große [Pfarr-Park] — Orangerie — Flamins Standes-
Erhöhung — Feſt-Nachmittag der häuslichen Liebe —
Feuerregen — Brief an Emanuel.
Den Lord ausgenommen, ſitzt ſchon alles im Pfarr¬
garten und paſſet auf mich; aber den Garten kennt
noch kein Henker. Er iſt eine Chreſtomathie von
allen Gaͤrten, und doch nicht groͤßer als die Kirche.
Viele Gaͤrten ſind wie er zugleich Kuͤchen- Blumen-
Baumgaͤrten: aber er iſt noch ein Thiergarten —
wie er denn die ganze Fauna von St. Luͤne enthaͤlt,
— und noch ein botaniſcher — mit der vollſtaͤndi¬
gen Flora des Dorfs iſt er bewachſen, — und ein
Bienen- und [Hummelngarten] — ſo oft ſie gerade
hineinfliegen. Indeſſen ſollte man doch ſolche klei¬
nere Vorzuͤge gar nicht nahmhaft machen, wenn ein
Garten wie er einmal den hat, daß er der groͤßte
engliſche iſt, durch den je ein Menſch ſchritt. Er
verbirgt nicht nur ſein Ende — wie jeder Park
gleich jeder Kaſſe thun muß — ſondern auch ſeinen
Anfang und ſcheint bloß die Terraſſe zu ſeyn, von
der man in das hineinſehen kann, was man nicht
uͤberſehen aber wohl wie Cook umfahren kann. Im
I 2[132] engliſchen Pfarrgarten ſind nicht einzelne Ruinen,
ſondern ganze zerſchlagene Staͤdte und die groͤßten
Fuͤrſten haben ſich um die Wette beeifert, ihn mit
romantiſchen Wuͤſten und Schlachtfeldern und Gal¬
gen zu verſorgen, an die noch dazu (das treibt die
Illuſion hoͤher) wahre Spitzbuben gebunden ſind als
Fruchtgehaͤnge. — Die Gebaͤude und Geſtraͤuche ver¬
ſchiedener Welttheile ſind darin nicht in eine wider¬
ſinnige Nachbarſchaft zuſammengetrieben, ſondern
durch ordentliche Meere oder Waſſerpartien net aus¬
einander geſtoßen, welches bei deſſen Groͤße leicht ge¬
weſen, da er uͤber neun Millionen Quadratmeilen
haͤlt — und mit welchem Geſchmack uͤberhaupt dieſe
Maſſen an einander gelagert ſind, moͤgen die Leſer
daraus ermeſſen, daß alle Lords und alle Rezenſen¬
ten der Litteraturzeitung und die Leſer ſelber in den
Garten gezogen ſind und oft ſechzig Jahre darin
bleiben. —
Der Pfarrer denkt, mit ihm auch als hollaͤndi¬
ſchen Garten einige Ehre einzulegen, beſonders durch
eine Peruͤcke aus Waſſer, die nicht an einem Peruͤk¬
kenſtock ſondern an einer Fontainen-Ajuſtage haͤngt
und die ſo lockigt ſpringt, daß ſchon mehrere Stadt¬
pfarrer wuͤnſchten, ſie koͤnnten ſie aufſetzen. Die
Beete ſind keine Rektangula ſondern geſchweifte la¬
teiniſche Lettern in Doppel-Fraktur, als Anfangs¬
buchſtaben ſeiner Familie. Eymann hat ſein E mit
[133] Rettich ausgeſaͤet, das A ſeiner Appollonia mit Ka¬
puzinerſallat, Flamins F mit Kohlrabi, Klotildens
K mit Tulpen. Wer nicht zu ſaͤen war, hatte alle¬
mal noch einen Platz und almanac royal auf den
Kuͤrbiſſen und Stettineraͤpfeln leer, die der Pfarrer
mit einem durchbrochnen Papier umflocht, in das
der Name geſchnitten war, der nach Abſchaͤlung
des Einbands allein roth oder gruͤn auf der bleichen
Frucht erſchien. Schmetterlings-Glaskaͤſten wendeten
die Nachtkaͤlte von fruͤhzeitigen Roſen aus Seide ab
und von Fruͤhgurken aus Wachs. Gurken, die aus
wahren Gurken beſtanden, legte er unter allen Paſto¬
ren am fruͤheſten ein, um in die Angſt zu gerathen,
ſie koͤnnten erfrieren: denn dieſe Angſt muſt' er ha¬
ben, um ſich zu freuen, wenn eine Glasbouteille in
ſeinem Hauſe zerbrochen wurde: er konnte dann den
komiſchen Eis- oder Glasberg, der in den Weinen
leider jaͤhrlich mit unſerem Durſte ſteigt, in den
Garten tragen und mit dieſer Miſtglocke die Herz¬
blaͤtter uͤberbauen. — Um wichtigere Beete fuͤhrte
er einen bunten muſiviſchen Scherbenrand: ſeine Fa¬
milie war ſeine Raͤndelmaſchine, ich meine, ſie mußte
ihm die wenigen Porzellaintaſſen zerbrechen, die er
brauchte, um mit dieſem bunten Streuzucker und
kouleurten Gebraͤm anſehnlichere Partien zu heben,
wie ein Fuͤrſt ſich mit den bunten, durch die Knopf¬
loͤcher ſeiner Antichambre gezognen, Ordensbaͤnder
[134] einfaſſet und beringet. Da er die Taſſen nicht ganz
um die Beete ſetzen konnte, ſondern erſt durch ſeine
Scheidekuͤnſtler zerlegt: ſo muß ein Rezenſent, der
bei ihm iſſet, meinen Wink benutzen, um ſichs zu
erklaͤren, wenn ein ſolcher Hektikus nicht vor Zorn
außer ſich iſt, ſobald koſtbares Geſchirr zerbrochen
wird; denn bloß bei elendem iſt er ſeiner nicht maͤch¬
tig. Jede Ehefrau ſollte ein ſolches Beet als Arndts
Paradiesgaͤrtlein, als Konſole und Schaͤdelſtaͤtte fuͤr
Porzellain von geaͤnderter Facon abſtechen, zum
Beſten ihrer Seele, um bei Sinnen zu bleiben wenn
eine Taſſe faͤllt — »Schatz, wuͤrd' ich ſagen, halte
»dieſes Ungluͤck wie eine Chriſtin aus, es nuͤtzt dir
entweder in der Ewigkeit oder hier im — Garten.«
Nahe an einem Hauſe nehmen ſich die hollaͤndi¬
ſchen Gartenſchnoͤrkel mit ihrer haͤuslichen Winzig¬
keit beſſer aus als die erſchuͤtternde Natur mit ih¬
rer ewigen Majeſtaͤt. Eymanns geſchnitzter Pfarr¬
garten war im Grunde bloß eine fortgeſetzte Wohn¬
ſtube ohne Dach und Fach.
Viktor konnte die Minute kaum erwarten, Fla¬
min und Klotilde einander gegen uͤber zu ſehen. O
wie ſchoͤn ſteht, dacht er, ihrem und ſeinem ſtolzen
Geſicht der Mondſchein der Zaͤrtlichkeit! Aber Klo¬
tilde vermied, um Flamin zu ſeyn. Viktor hielt
reichliche Toleranz fuͤr ihre Liebe vorraͤthig. Denn
er hatte nicht nur ſo viel Einſicht in die Flucht un¬
[135] frer Freuden, daß er kaum uͤber die tollſten zankte:
ſondern er konnte auch dem Handwerksgruß und der
Methodologie zweier Liebenden mit Vergnuͤgen bei¬
wohnen. »Es iſt ſehr toll, ſagt' er in Goͤttingen —
»jeder gute Menſch thut ſeine Arme ſympathetiſch
»auf, wenn er Freunde, oder Geſchwiſter oder El¬
»tern in den ihrigen ſieht; wenn aber ein Paar ver¬
»verliebte Schelme vor uns am Seile der Liebe her¬
»umtanzen, und waͤrs auf dem Theater ſo will kein
»Henker Antheil nehmen — ſie muͤßten denn in ei¬
»nem Romane tanzen. Warum aber? — ſicher
»nicht aus Eigennutz, ſonſt bliebe das hoͤlzerne Herz
»im Menſchenklotz auch bei fremder Freundſchaft,
»bei kindlicher Liebe feſt genagelt — ſondern weil
»die verliebte Liebe eigennuͤtzig iſt, ſind wirs auch
»und weil ſie im Roman es nicht iſt, ſind wirs
»auch nicht. Ich meines Orts denke weiter und
»mache mir von jedem verliebten Geſpann, das mir
»begegnet, weiß, es waͤre gedruckt und eingebunden
»und ich haͤtte es vom Buͤcherverleiher fuͤr ſchlech¬
»tes Leſegeld. Es gehoͤrt zur hoͤhern Uneigennuͤtzig¬
»keit, ſogar mit dem Eigennutz zu ſympathiſiren. —
»Und vollends mit euch armen Weibern! Wuͤſtet
»ihr oder ich denn in euren vernaͤhten, verkochten,
»verwaſchnen Leben, daß ihr eine Seele haͤttet,
»wenn ihr euch nicht damit verliebtet? Ach in eu¬
»ren langen Thraͤnenjahren bringt ihr euer Haupt
[136] »nie empor als am ſonnenhellen kurzen Tage der
»Liebe und nach ihm verſinkt euer beraubtes Herz
»wieder in die kuͤhle Tiefe: ſo liegen die Waſſer¬
»pflanzen das ganze Jahr erſaͤuft im Waſſer, bloß
»zur Zeit ihrer Bluͤte und Liebe ſitzen ihre heraufge¬
»ſtiegenen Blaͤtter auf dem Waſſer und ſonnen ſich
»herrlich und — fallen dann wieder hinunter.«
Flamin bewies, daß gerade Leute vom groͤßten
Muth den kleinſten gegen Schoͤnheit zeigen — er
that ihr nicht Einen Schritt entgegen. Viktors ehr¬
erbietige Entfernung von ihr waͤre durch die, in der
ſein Freund ſich von ihr hielt, auch groͤßer gewor¬
den, haͤtt' er ihr nicht etwas zu geben gehabt — nicht
ſein Herz, ſondern Emanuels Zettel. Er konnte
ihn nicht ſtehlen, da er ihr neulich ſchon die erſte
Zeile vorgeſagt; zweitens mußt' er ihn unter vier
Augen — nicht z. B. durch Agathen — zuſtellen,
weil er ihre bis an die aͤußerſte Graͤnze getriebne
Diskretion kannte. Klotilde gehoͤrte unter die —
dem Biographen und dem Helden beſchwerlichen —
Perſonen, die gern alles kleine verbergen, z. B. was
ſie eſſen, wohin ſie morgen gehen, die auf den
Freund toll werden, wenn er ausplaudert, ſie hatten
voriges Jahr am Thomastage leichte Kopfſchmerzen.
Bei Klotilde kams nicht von Furcht, ſondern von
der dunkeln Ahndung, daß der, der gleichguͤltige
Myſterien ausſchwatze, endlich wichtige ſage. Er
[137] fuͤhlte trotz ihrem Stolze gegen ſie einen maͤchtigen
Zug zur Aufrichtigkeit. Er fuͤhlte ſie allein dem
Pomeranzenbaume zu und gab ihr dort — indem er
ihr durch ſeine offenherzige Leichtigkeit die beſchwer¬
liche Verbindlichkeit fuͤr ein Geheimniß erſparte —
das Blatt zuruͤck. Sie erſtaunte, ſagte aber ſo¬
gleich: ihr Erſtaunen gehe blos ihre eigne Nachlaͤſ¬
ſigkeit an — d. h. ſie glaubte ihm, hatt' aber ir¬
gend einen Verdacht gegen ihre Schloßgenoſſen und
gegen die Art, wie es in die Laube kam. Sie
machte ſich die Orangerie zu Nutze und draͤngte ihr
beſeeltes Angeſicht in die Pomeranzenbluͤten. Viktor
konnte unmoͤglich ſo dumm allein dort ſtehen — er,
noch ein wenig betroffen uͤber das Erſtaunen und am
Ende uͤber einen faſt zu großen Stolz, wurde auch
luͤſtern nach dem Pomeranzenweihrauch und hielt ihr
darin ſein Geſicht entgegen. Er haͤtte aber wiſſen
ſollen, daß einer, der an etwas riecht, nicht auf das
etwas blicke, ſondern gerade aus. Er war alſo kaum
mit ſeinen Geruchsnerven in den Bluͤten: ſo ſchlug
er ſeine Augen auf und Klotildens große ſtanden
ihm offen entgegen; ſie waren gerade in der wirk¬
ſamſten und hoͤchſten Elevation von 45°, man mag
nun Augen oder Bogenſchuͤſſe meinen. Er drehte
ſeine Augaͤpfel gewaltſam auf die Blaͤtter nieder, ſie
trat noch kluͤger von der betaͤubenden Orangerie
zuruͤck.
[138]
Gleichwohl war ſie nicht verlegen; er hielt es
fuͤr Unrecht gegen Flamin, ihre Geſinnungen gegen
ihn ſelber zu beobachten; aber ſo viel merkte er
doch, daß das Obſervatorium, auf dem man die
Phaſen ihres Herzens beobachten wollte, hoͤher ſeyn
muͤſſe als gegen andre Weiber noͤthig iſt. Die Ge¬
wohnheit bewundert zu werden, hatte ſie gegen die
Vorſpieglung des Eindrucks ihrer Reize, mit der ſich
die Maͤnner ſo oft die Aufmerkſamkeit der weibli¬
chen Eitelkeit erwerben, feſt gemacht. Sie war wie
geſagt nicht verlegen: ſondern erzaͤhlte ihrem Zuhoͤ¬
rer noch etwas von Emanuels Karakter, was ſie
neulich vor ſo unheilige Ohren aus Achtung fuͤr ih¬
ren Lehrer nicht bringen wollte — daß er naͤmlich
gewiß glaube, er werde zu Johannis uͤbers Jahr zu
Mitternacht ſterben. Viktor konnte leicht errathen,
daß ſie es ſelber glaube; aber das errieth er nicht,
daß dieſe Stolze aus bloßer Weichheit des Herzens
ihren Termin, zu Johanni aus Maienthal zu ziehen,
beſchleuniget habe, um nicht dem geliebten Menſchen
an dem Namenstage des kuͤnftigen Sterbetages zu
begegnen. Nach ihrer Erzaͤhlung hatte dieſer Ema¬
nuel eine fuͤrchterlich erhabne Stellung unter den
Menſchen: er war allein, an ſeiner Bruſt waren
große Freunde geweſen — aber alles war ihm unter
die Erde gegangen — darum wollt' er auch ſich
darunter verhuͤllen. Die Jahre geben den ſtuͤrmi¬
[139] ſchen uͤberkraͤftigen Menſchen eine ſchoͤnere Harmo¬
nie des Herzens, aber den verfeinerten kalten Men¬
ſchen nehmen ſie mehr als ſie geben: jene Genies
gleichen den engliſchen Gaͤrten, die das Alter immer
gruͤner, voller, belaubter macht; hingegen der Welt¬
mann wird wie ein franzoͤſiſcher durch die Jahre mit
ausgedorrten und entſtellten Aeſten uͤberdeckt.
Viktor wurde aͤngſtlicher; jedes Wort, das er
ihr abgewann, hielt er fuͤr Tempelraub an ſeinem
Freund, da ohnehin der letztere nicht ſo gut als er
die Kunſt verſtand, mit einer Frau in ein Geſpraͤch
zu kommen. Er hatte nicht den Muth zu glaͤnzen,
weil er dadurch um ihren Beifall mit ſeinem Freun¬
de zu wetteifern beſorgte. Sein Flamin kam ihm
heute laͤnger, ſchoͤner, beſſer vor; und er ſich kuͤrzer
und duͤnner. Er wuͤnſchte tauſendmal, ſein Vater
waͤre ſchon da, damit er ihm Flamins Bitte, ihm
Klotildens Beſitz leichter zu machen, mit dem groͤ߬
ten Feuer uͤbergeben koͤnnte.
Endlich kam er, und Viktor athmete wieder voll.
Der gute Menſch ſucht oft durch aufopfernde Tha¬
ten ſein Gewiſſen wieder mit ſeinen Gedanken
auszuſoͤhnen. Mit herzklopfendem Enthuſiasmus war¬
tete er auf die Minute der Einſamkeit. Ein Garten
iſolirt und verbindet Leute auf die leichteſte Weiſe
und nur darin ſollte man Geheimniſſe vertheilen.
Endlich konnte er in einer Laube, die ſich an vier
[140] Kaſtanienbaͤumen mit Bluͤten-Geaͤder uͤber den Men¬
ſchen zuſammenniſtete, mit geruͤhrtem Zittern ſeinen
Vater umfaſſen und fuͤr ſeinen Freund ſprechen und
gluͤhen mit Zunge und Herz. Des Lords Ueberra¬
ſchung war groͤßer als deſſen Ruͤhrung. »Hier
»(ſagt' er) iſt deine Bitte auf eine andere Art laͤngſt
»erfuͤllt; ich wollte dir aber das Vergnuͤgen der
»Bothſchaft aufheben« — und damit gab er ihm
ein allerhoͤchſtes Handbillet, worin der Fuͤrſt den
praktizirenden Advokaten Flamin zum Regierungsrath
beruft.
Ein allerhoͤchſtes Handbillet iſt das Tetragramma¬
ton und Gnadenmittel, das die uͤbernatuͤrlichen Wir¬
kungen und Staats-Wunder thut; und der durch¬
lauchtige Schreib-Daumen iſt gleichſam ein zauberi¬
ſcher Diebsdaumen, der die verſchiedenen Raͤder der
Staats-Repetieruhr, das Heberad, das Zifferblatts¬
rad, oft bloß den Zeiger voraus oder zuruͤckſtoͤßet,
je nachdem er eine Stunde fruͤher oder ſpaͤter be¬
gehrt. Daher ſteigen Miniſter oft hinauf und ſchnei¬
den ſich einen ſolchen Diebsdaumen fuͤr ihre Ta¬
ſchen ab.
Sebaſtian wird von der Freude wie von Haba¬
kuks Engel beim Schopfe erfaſt und durch den Gar¬
ten gefuͤhrt und mit ſeiner Novelle an den erſten
beſten getrieben — an den Kaplan, welcher mit ei¬
nem naͤrriſchen Geſicht beſchwor, es waͤren nur Fin¬
[141] ten von Viktor; aber der verhaltene Jubel ſprengte
ihm faſt die zugebundene Ader auf. Viktor hatte
keine Zeit, zu widerlegen; ſondern eilte mit einer
ſolchen Bothſchaft an das rechte Herz, in das ſie
gehoͤrte — ans muͤtterliche. Die Mutter konnte
ihren Mund zu nichts als einem ſeeligen Laͤcheln oͤf¬
nen, in das die Augen ihre Freudentropfen goſſen.
In der Natur iſt keine Freude ſo erhaben ruͤhrend
als die Freude einer Mutter uͤber das Gluͤck eines
Kindes. Aber der Sohn, in deſſen heutiger Seele
dieſer Sonnenblick des Schickſals noͤthig war, wurde
in der [Ueberraſchung] nicht ſogleich gefunden.
Der Lord ſprach unterdeſſen mit Klotilden wie
mit ſeiner Tochter und gab ihr einen Brief von ih¬
rer Mutter und die Nachricht ſeiner nahen Abreiſe.
Sein von Achtung geleitetes und von Feinheit ver
ſchoͤnertes maͤnnliches Wohlwollen veredelte ihre Auf
merkſamkeit auf ſeine Minen, und als ſie aus dem
warmen leiſen Geſpraͤch mit glaͤnzenden Augen ging,
war ihre hohe Geſtalt, die ſich ſonſt ein wenig buͤckte,
von einer Begeiſterung zum erhabnen Wuchſe auf¬
gerichtet, und ſie ſtand unendlich ſchoͤn in dem Tem¬
pel der Natur wie eine Prieſterin dieſes Tempels.
— Der Lord entfernte ſich von ihr. — Sie
fand Flamin am Tulpen-K und die Goͤttin des
Gluͤcks erſchien ihm in der holdeſten paraſtatiſchen
Geſtalt, um ihm ihr Geſchenk zu liefern. Freilich
[142] ſetzte ihn hier die Zeitung und die Zeitungstraͤgerin
in gleiches Entzuͤcken.
Die Freude hatte den ganzen Bienen-Garten in
einem Schwarmſack zum Chaos zuſammengeruͤttelt.
Die ſchaͤumende Weingaͤhrung mußte ſich erſt zum
hellen ſtillen Entzuͤcken abarbeiten. Der Lord ging
der mit ſo vielen Ripienſtimmen beſetzten Dankbar¬
keit aus dem Wege und an ſeinen Wagen, als ihn
die Mutter mit ihrer ſtummen Herzensfuͤlle erreich¬
te; aber ſie konnte nichts aus der froh beſchwerten
Bruſt auf die Lippen heben als die demuͤthigen Wor¬
te: »heute ſey ſein Geburtstag und ſein Sohn wiſſ'
»es nicht und habe auch mit einer Entzuͤckung
»uͤberraſcht werden ſollen.« Er wollte ihr mit ei¬
nem dankbaren Laͤcheln entfliehen; allein Sebaſtian
kam mit dem gefundnen Freund an die Garten¬
ſchwelle und der eilende Lord verſpaͤtete ſich noch
durch eine ſchnelle Umarmung ſeines Sohnes. Erſt
als er weg war: faßte die Mutter, die ihre Liebe
zu entladen ſuchte, Viktors Hand zaͤrtlich an, und
vergas die Abrede und fragte: »o Theuerſter, war¬
»um haben Sie ihm denn nicht Gluͤck gewuͤnſcht zu
»ſeinem Geburtstage? denn ich konnte ja nicht.«
Jetzt verſtand und fuͤhlte er erſt die ſchnelle Umar¬
mung des Vaters und breitete die Arme nach ihm
aus und wollte ſie erwiedern.
[143]
Daruͤber traf auch der alte Pfarrer aus dem
Garten ein und ſagte wie naͤrriſch: ich wollt' er
»waͤre Regierungsrath;« aber die Frau ſagte, ohne
darauf zu antworten, mit uͤberfließender Stimme und
Liebe zu ihm: »So einen Geburtstag haſt du noch
»nicht erlebt wie heute, Peter!« Agathe ſah ſie
fragend und zurechtweiſend an. »Fahr' nur damit
»heraus — ſagte ſie und umfing die zwei Kinder
»und zog beide in die vaͤterliche Umarmung hinein
» — und wuͤnſcht eurem guten Vater lange Tage und
»noch drei gluͤckliche Kinder.« —
Der Vater konnte nichts ſagen und ſtreckte die Hand
nach der Mutter entgegen, um die Gruppe des lieben¬
den Edens zu ruͤnden. Viktors ſympathetiſches Blut
haͤufte ſich in ſein Herz, um es in Liebe aufzuloͤſen
und er dachte das ſtille Gebet: reiſſe dieſe ver¬
»ſchlungnen Arme, du Allguͤtiger, nie durch ein Un¬
gluͤck aus einander! — Aber Flamin zog ſich bald
aus der Verkettung und ſagte zu Viktor mit dem
dankbarſten Haͤndedruck: »du weiſt nicht wie Unrecht
»ich dir immer thue.« Der Kaplan dachte, er
werde allen ſeine Ruͤhrung verſtecken, wenn er ſage:
»ich wollt' ich haͤtt' euch nicht betrogen. — Ich
»habe zur Ader gelaſſen, es iſt aber dumm — haͤtt'
»ichs nur gewußt! — haͤtt' ichs nur nicht! — War¬
»lich, da ſehts ſelber!« — Und als dieſe Maske
nicht hinreichte, ſeine ganze geruͤhrte Seele zu be¬
[144] decken: rief er der armen vergeſſenen Apollonia, die
an der Hausthuͤr den erwachten Baſtian ſchwenkte,
uͤberlaut zu, herzukommen. Aber dieſe Arme, deren
entfernte freudige Theilnahme an der allgemeinen
Annaͤherung unſern Viktor im Innerſten ruͤhrte, zoͤ¬
gerte noch bis die Mutter kam und ſie ſchadlos hielt
durch alles, was den Muͤttern nie vergolten wird.
Aber erſt als die Pfarrerin ihr Kind in ihren Ar¬
men und an ihren Lippen hatte, fuͤhlte ſie, daß die
gefangnen Flammen ihrer Gefuͤhle ihre Oefnung fan¬
den und ihr Herz ſeine Erleichterung. — —
Ach! daß der Menſch gerade zu der Zeit die
ſchoͤnſte Liebe empfaͤngt, wo er ſie noch nicht ver¬
ſteht — ach daß er erſt ſpaͤt im Lebensjahre, wenn
er ſeufzend einer fremden Eltern- und Kinderliebe
zuſieht, hoffend ſo zu ſich ſagt: »ach meine haben mich
gewiß auch ſo geliebt« — ach daß alsdann der Bu¬
ſen, zu dem du mit dem Danke fuͤr ein halbes Le¬
ben, fuͤr tauſend verkannte Sorgen, fuͤr eine unaus¬
ſprechliche nie wiederkehrende Liebe eilen willſt, ſchon
zerdruͤckt liegt unter einem alten Grabe und das
warme Herz verloren hat, das dich ſo lange ge¬
liebt! . . .
In der haͤuslichen Gluͤckſeligkeit ſind die wind¬
ſtillen, zwiſchen vier engen Waͤnden vorgetriebnen
bequemen Freuden nur der zufaͤlligſte Beſtandtheil
und nur das Adjuvans: ihre Baſis ſind die lodern¬
den[145] den Naphtaquellen der Liebe, die aus den verwand¬
ten Herzen in einander ſpringen. —
Die unwillkuͤrliche Ueberraſchung hatte die will¬
kuͤhrlichen vereitelt. Aber die Freudenfluth hatte
alle Perſonen zuſammengeſtroͤmt; und ſie blieben noch
in der vertraulichen Naͤhe, als jene wieder verlaufen
war. Man ſetzte ſich zum Souper im Gartenhaus:
ſelten ſind Kollationen ſo wie dieſe durch zwei auſ¬
ſerordentliche Vorzuͤge gewuͤrzt, durch Mangel an
Eſſen und Mangel an Platz. Nichts reizt den Ap¬
petit ſo ſehr als die Beſorgniß, er finde nicht ſatt.
Es war von Sebaſtian ausgeſonnen, daß fuͤr jeden
Gaſt nur das Leibgericht beſorgt wurde — fuͤr den
Pfarrer farcirte Krebſe und Erdaͤpfelkaͤſe — fuͤr
Flamin Schinken — fuͤr den Helden das Gemuͤſe
vom guten Heinrich (Menopodium) — Jeder wollte
jetzt das Leibgericht des andern und jeder ſubhaſtirte
ſeines. Sogar die Damen, die ſonſt wie die Fiſche
eſſen und nicht eſſen, biſſen an. Das zweite berau¬
ſchende Ingrediens, das ſie in ihren Freudenbecher
geworfen hatten, war der Tiſch und die Gartenſtu¬
be, wovon jener die Koſt, dieſe die Koſtgaͤnger nicht
faſte. Sebaſtian hatte ſich ſamt Agathen an ein Fi¬
lialtiſchgen, daß man auſſen ans Fenſter des Speiſe¬
ſaales geſtoßen, begeben, blos um drauſſen mehr
hineinzulaͤrmen und zu klagen als zu eſſen. Dieſer
Muthwille war im Grunde die verdeckte Beſcheiden¬
Heſperus. I. Th. K[146] heit, welche befuͤrchtete, drinnen auf Koſten der an¬
dern Gaͤſte, des Lords wegen, fetirt zu werden.
Sein eignes Alleinſeyn — vielleicht in einem ſchmerz¬
lichen Sinn — mahlte ihm die bloͤde Appel vor, die
als Heerd-Veſtalin erſt von zuruͤckgehenden Speiſen
den Ruͤckzoll aß, blos um zu verſuchen, wie es an¬
dern geſchmeckt. Er konnte den Gedanken dieſer
Abtrennung nicht laͤnger erdulden, ſondern nahm
Wein und das Beſte vom Deſert und trug es ihr
in ihr Kuͤchen-Winterquartier hinein. Da er dabei
auf ſeinem Geſicht ſtatt ſeiner Munterkeit gegen
Maͤdgen, von der ſie eine zu demuͤthige Auslegung
haͤtte machen koͤnnen, den groͤßten hoͤflichen Ernſt aus¬
geſpannt hatte: ſo war er ſo gluͤcklich, einer von der
Natur ſelber zuſammengedruͤckten Seele — die hier
in keinem andern Blumentopf ihre Wurzeln herum¬
treibt als in einem Kochtopf und deren Konzertſaal
in der Kuͤche und deren Sphaͤrenmuſik im Braten¬
wender iſt — einen goldnen Abend gegeben zu ha¬
ben und ein geluͤftetes Herz und eine frohe lange
Erinnerung. Kein Boshafter werfe einer ſolchen
guten Schneckenſeele ſeine Fauſt in den Weg und
lache dazu, wie ſie ſich hinuͤberquaͤlt — und der
Aufgerichtete buͤcke ſich gern und hebe ſie ſanft uͤber
ihre Steingen weg. . . .
Klotilden anlangend, ſo gings vor dem Eſſen
recht gut; aber nachher recht ſchlecht. Ich rede von
[147] Sebaſtian, der nach der beim Lord eingelegten Sup¬
plik froher und leichter war und mit Klotilden wahr¬
haftig ſo freimuͤthig ſprach als waͤre ſie eine —
Braut. Denn er hatt' es ſchon im Hannoͤveriſchen
geſagt: »es gebe kein langweiligeres und heiligeres
»Ding als eine Braut; beſonders eines Freundes
»ſeine; lieber woll' er an die muͤrben Pandekten
»in Florenz oder an einen Wiener H. Leib
»im Glas-Etui ſtreifen und anpicken als an
»ſie.« — Ueberhaupt wars ſchwer, ſich in Klo¬
tilde zu verlieben: ich weis, der Leſer haͤtt' es
nicht gethan, ſondern ſich kalt wieder fortgemacht.
»Ihre griechiſche Naſe, unter der faſt maͤnnlich brei¬
»ten Stirne, haͤtt' er geſagt, — dieſe Simultan¬
»Naſe aller Madonnen und dieſes ſeltne Graͤnzwild¬
»pret auf deutſchen Geſichtern — ihre flillen aber
»hellen Augen, die außer ſich nichts ſuchen, dieſer brit¬
»tiſche Ernſt, dieſe harmoniſche denkende Seele erhe¬
»ben ſie uͤber die Rechte der Liebe — Wenn dieſe ma¬
»jeſtaͤtiſche Geſtalt auch lieben wollte: wer haͤtte den
»Muth, ihr ſeine darauf zu bieten und wer waͤre ſo
»eigennuͤtzig, um das Geſchenk eines ganzen Him¬
»mels einzuſtecken, oder ſo ſtolz, um ſein Herz als
»Dampfkugel in ihres zu ſchießen und damit dieſe
»ſtille ſinnende Heiterkeit zu benebeln?« — Der Le¬
ſer lieſet ſich ſelber gern. —
K 2[148]
Aber nach dem Eſſen gings anders. Unter Vik¬
tors Gehirnhaͤuten hatte irgend ein Poltergeiſt im
innern Schriftkaſten alle Lettern ſeiner Ideen ſo un¬
tereinander geworfen, daß er bisher luſtig, aber un¬
zufrieden war — er hatte verſucht, Agathens Haare
auf- und abzulocken, ihre Doppelſchleifen in unglei¬
che und eben darum wieder in gleiche Haͤlften zu
zerren — aͤber es hatt' ihm nicht wie ſonſt gefallen
— die heutigen Zwiſchenſpiele der haͤuslichen Liebe
hatten ſeine ganze ſcherzende Seele aus den Fu¬
gen gezogen und es war ihm als wenn er entfernt
von der heutigen Freude, wenigſtens auf einige Mi¬
nuten, froher ſeyn wuͤrde in irgend einer ſtillen Ecke
und beſonders ſehnt' er ſich die Sonne untergehen
zu ſehen. — —
Dazu kam noch mehr: der Anblick von Klotil¬
dens waͤrmerer Liebe gegen Agathe — der Anblick
ſeines Freundes, der durch ſeine ſchweigende Zaͤrt¬
lichkeit, durch ſeine mildere Stimme, durch eine an
heftigen Menſchen ſo unwiderſtehliche Ergebenheit
jedem Herzen befahl: liebe mich — und endlich der
Anblick der Nacht. . .
Er war ſchon laͤugſt traurig als er noch luſtig
ſchien. Jetzt brachte die Mutter den kleinen Held
des heutigen Vormittags in den lauen Abendhimmel
heraus. Sie ſtanden alle außerhalb der Garten-
Stiftshuͤtte, im erſten Tempel des andaͤchtigen Men¬
[149] ſchen. In die Wolken floß das Abend-Blut der
verſinkenden Sonne wie ins Meer das Blut ſeiner
in der Tiefe ſterbenden Rieſen. Das lockere Gewoͤlk
langte nicht zu, den Himmel zu decken; es ſchwamm
um den Mond herum und ließ ſein bleiches Silber
aus den Schlacken blicken.
Das rothe Gewoͤlk ſchminkte den Saͤugling. Je¬
der faſſete leiſe ſeine weichen Haͤnde, die ſchon aus
der Kiſſen-Knoſpe und Wickelbaͤnder-Verpuppung
brachen. Klotilde — anſtatt an den Kleinen koͤrper¬
perliche kokette Liebkoſungen zu verſchwenden, wie
manche Maͤdgen vor oder fuͤr Mannsperſonen thun
— goß einen-fortſtroͤmenden Blick voll herzlicher
Liebe auf den neuen Menſchen nieder, band ſeine
ſchneidenden Hemd-Aermel auf, verbauete ihm den
angeſchielten Mond und ſagte ſpielend: »laͤchle her
»und liebe mich, Sebaſtian!« Sie konnte unmoͤg¬
lich metaphoriſche Rikoſchet-Schuͤſſe in dieſe Zeile
laden; auch wußte der große uneingewickelte Seba¬
ſtian recht gut, daß ſie keinen Doppelſinn vorausge¬
ſehen; ja er kannte die Regel, daß man aus der
Aengſtlichkeit, womit einige gewiſſe Gedanken aus
ihrem Sprechen bannen, die Gegenwart derſelben in
ihrem Kopfe errathe. — Gleichwohl hatt' er doch
nicht den Muth, zu laͤcheln wie die andern oder das
von ihr beruͤhrte Haͤndgen in ſeines zu nehmen.
Sie kehrte ſich zu ihm und ſagte: »aber wie lernt
[150] »das Kind unſere Sprache, wenn es nicht
»ſchon eine kann?«
. . Ich hab' es blos aus Liebe zu den Weltwei¬
ſen mit Schwabacher geſchrieben.
»Alſo muß, antwortete er, die Pantomimiſche
»Sprache gerade ſo viel bezeichnen wie die Ohren¬
»ſprache. — So oft ich einen Taubſtummen zum
»Abendmal gehen ſehe, denk' ich daran, daß aller
»Unterricht nichts in den Menſchen bringe, ſondern
»nur das Dageweſene bezeichne und ordne — Die
»Kindesſeele iſt ihr Zeichenmeiſter, der Sprach¬
»lehrer der Koloriſt derſelben.« — »Wie, fuhr ſie
»fort, wenn dieſer ſchoͤne Abend einmal wieder vor
»die Erinnerung dieſes Kleinen kaͤme? Warum ſieht
«das ſechſte Jahr ſchoͤner in der Erinnerung aus als
»das zwoͤlfte, und das dritte noch ſchoͤner? —
Eine ſchoͤne Frau unterbricht man nicht ſo leicht wie
einen Exdekan: ſie durfte alſo darauf kommen:
»Herr Emanuel ſagte einmal, man ſollte den Kin¬
»dern in jedem Jahre ihre vergangnen erzaͤhlen, da¬
»mit ſie einmal durch alle Jahre durchblicken koͤnn¬
»ten bis ins zweite neblichte hinein.« Mir iſt als
hoͤrt' ich die Hofdame leibhaftig ſprechen, unter be¬
ren duͤnnen Blonden mehr Philoſophie blieb als un¬
ter manchem Doktor Filzhut, wie Queckſilber im
Flor beklebt und durch Leder rinnt. — Viktor ant¬
wortete mit der gewoͤhnlichen Theilnahme ſeines gu¬
[151] ten Herzens: »Emanuel ſteht nahe am Menſchen und
»kennt ihn — ach den umgaukelten Menſchen fuͤh¬
»ren zwei Proſpektmalerinnen durch das ganze
»Theater, die Erinerung und die Hofnung —
»in der Gegenwart iſt er aͤngſtlich, das Vergnuͤgen
»wird ihm nur in tauſend lilliputiſche Augenblicke
»eingeſchenkt wie dem Gulliver, wie ſoll das berau¬
»ſchen oder ſaͤttigen! — Wenn wir uns einen ver¬
»gnuͤgten Tag vorſtellen: ſo draͤngen wir ihn in ei¬
»nen einzigen freudigen Gedanken; kommen wir
»hinan: ſo wird dieſer Gedanke unter den ganzen
»Tag veduͤnnt.« —
»Daran denk ich, verſetzte ſie, ſo oft ich durch
»Wieſen gehe: in der Ferne ſtehen Blumen an
»Blumen — aber in der Naͤhe ſind ſie alle durch
»Gras auseinander geruͤckt. — Aber am Ende wird
»doch auch die Erinnerung blos in der Gegen¬
»wart genoſſen.« . . . Viktor dachte blos uͤber die
Blumen nach und ſagte vertieft »und zu Nachts
»ſehen die Blumen ſelber wie Gras aus« — als es
ploͤtzlich zu tropfen anfing.
Sie traten alle feierlich in das Gartenhaus, auf
deſſen Dache der Regen aufſchlug, indeß in die
ofnen Fenſter der auf- und zugedeckte Mond wie
ein Gletſcher ſeine Schneeblitze hineinwarf — der
laue Bluͤten-Athem der ganzen leuchtenden Land¬
ſchaft hauchte jeden menſchlichen Seufzer, jeden
[152] ſchweren Buſen heilend an. — In dieſer engen
Naͤhe, durch die mit dem Monde alternirende Nacht
abgeſchieden von der Natur mußte man zur Nach¬
barſchaft, zum alten Klaviere fluͤchten. Klotildens
Stimme konnte das Floͤtenakkompagnement des aͤuſ¬
ſern Regen-Geliſpels ſeyn. Die Pfarrerin bat ſie
darum und zwar um ihre Lieblingsarie aus Benda's
Romeo: »vielleicht verlohrne Ruh' vielleicht find'
»ich dich im Grabe wieder« ꝛc. ein Lied, deſſen Toͤ¬
ne wie feine aufloͤſende Duͤfte in das Herz durch
tauſend Poren dringen, und darin beben und immer
ſtaͤrker beben bis ſie es endlich zerzittern und nichts
von ihm in der harmoniſchen Vernichtung uͤbrig
laſſen als Thraͤnen.
Klotilde willigte ohne zoͤgernde Eitelkeit in das
Singen ein. Aber fuͤr Sebaſtian, in dem alle Toͤne
an nackte zitternde Fuͤhlfaͤden ſchlugen und der ſich
ſchon mit den Geſaͤngen der Hirten auf dem Felde
traurig machen konnte, war dieſes an einem ſolchen
Abend fuͤr ſein Herz zu viel: waͤhrend der muſikali¬
ſchen Aufmerkſamkeit der andern mußt' er zur Thuͤr
hinausgehen. . . .
Aber hier unter dem großen Nachthimmel koͤn¬
nen unter hoͤhere Tropfen ungeſehen feine fallen —
Welche Nacht! — Hier ſchlaͤgt ein Glanz uͤber ihn
zuſammen, der Nacht und Himmel und Erde an ein¬
ander reiht, die magiſche Natur draͤngt ſich mit
[153] Stroͤmen ein ins Herz und macht es gewaltſam groͤ¬
ßer — Oben fuͤllet Luna die wehenden Wolken-
Flocken mit fluͤſſigem Silber an und die getraͤnkte
Silberwelle zittert herab und Glanzperlen rinnen
uͤber glattes Laub und ſtocken in Bluͤten und das
himmliſche Gefilde perlt und glimmt — — Durch
dieſes Eden, woruͤber ein doppeltes Schneegeſtoͤber
von Funken und von Tropfen zwiſchen einem Staub¬
regen von Bluͤtenduͤften ſpielte und wirbelte und in
welchem Klotildens Toͤne wie verirrte Engel ſinkend
und ſteigend umherflogen, durch dieſes Zauber-Ge¬
wimmel wankte Viktor geblendet — uͤberſtroͤmt —
zitternd und weinend hin und ſank muͤde in die
Laube nieder, wo er heute am Herzen ſeines Vaters
geweſen war. Er hob das angelehnte Haupt in den
Regen auf und aus den weiten ofnen Augen fielen
fremde Tropfen nicht allein. Er gluͤhte durch ſein
ganzes Ich und Nachtwolken ſollten es kuͤhlen.
Seine Fingerſpitzen hingen leiſe in einander gefalltet
nieder. Klotildens Toͤne tropften bald wie geſchmol¬
zene Silberpunkte auf ſeinen Buſen, bald floſſen ſie
wie verirrte Echo's aus fernen Hainen in dieſen ſtil¬
len Garten herein. Er nannte nichts — er dachte
nichts — er ſprach ſich nicht los, er klagte ſich nicht
an — er ſah es wie im Traum, wenn bald eine
dicke Nacht uͤber den Garten rannte, bald ein Licht¬
meer ihr nachſchoß. — —
[154]
Aber ihm war als wollte ſeine Bruſt aufſpringen,
als waͤr' er ſeelig, wenn er jetzt geliebte Menſchen
umſchlingen und an ihnen im ſeeligen Wahnſinn ſei¬
nen Buſen und ſein Herz zerquetſchen koͤnnte —
Ihm war als waͤr' er uͤberſeelig, wenn er jetzt vor
irgend einem Weſen, vor einem bloßen Gedanken¬
ſchatten hingießen koͤnnte all' ſein Blut, ſein Leben,
ſein Weſen. — Ihm war als muͤßt' er in Klotildens
Toͤne ſchreien und die Arme um Felſen druͤcken, um
nur das peinliche Sehnen zu betaͤuben. — —
Er hoͤrte die Blaͤtter tropfen und hielt es noch
fuͤr Regen. Aber die Himmels-Katarakten hatten
ſich verſprungen und blos Lunens Lichtfall uͤber¬
ſprengte noch die Gegend. Der Himmel war tief
blau. Agathe hatt' ihn unter dem Regen geſucht
und jetzt erſt gefunden. Er wachte auf, ging folg¬
ſam und ſchweigend mit ihr hinaus und begegnete
lauter ausgeheiterten Himmels-Geſichtern — da
zukten alle ſeine Nerven und er mußte ſich mit ei¬
ner ſtummen Verbeugung ſchmerzhaft-freundlich ent¬
fernen. Jeder hatte andere Gedanken daruͤber.
Aber die Pfarrerin ſagte der Geſellſchaft, er hoͤre
die Muſik gern von Fernen, nur mache ſie ihn alle¬
mal zu melancholiſch.
Ach in ſeinem Zimmer umfing ein gluͤcklicher
troͤſtender Gedanke ſeine Seele. Klotildens Grabes¬
lied und alles befeſtigte die Geſtalt des erhabnen
[155] Emanuels vor ſein Auge — dieſe ſchien zu ſagen:
»in einem Jahre bin ich ſchon unter der Erde,
»komme [nur][zu] mir, Armer, ich will dich ſo lange
»lieben bis ich ſterbe!« Ohne ein Licht zu begehren,
ſchrieb er mit ſtroͤmenden Augen, denen ohnehin kei¬
nes geholfen haͤtte, dieſes Blatt an Emanuel:
Emanuel!
Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! —
Warum kann der Menſch auf dem ſchmalen Son¬
nenſtaͤubgen Erde, auf dem er warm wird, und
waͤhrend den ſchnellen Augenblicken, die er am Pulſe
abzaͤhlt zwiſchen dem Blitze des Lebens und dem
Schlage des Todes, noch einen Unterſchied machen
unter Bekannten und Unbekannten? Warum fallen
die kleinen Weſen, die einerlei Wunden haben und
von denen die Zeit das naͤmliche Maas zum Sarge
nimmt, nicht einander ohne Zoͤgern mit dem Seuf¬
zer in die Arme: »ach wohl ſind wir einander aͤhn¬
lich und bekannt?« — Warum muͤſſen erſt die
Fleiſchſtatuen, worein unſre Geiſter eingekettet ſind,
zuſammenruͤcken und einander betaſten, damit die
darin vermummten Weſen ſich einander denken und
ſich lieben? — Und doch iſts ſo menſchlich und
wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als
Fleiſchſtatuen — als das geliebte Angeſicht unſern
Augen — als die theuere Stimme unſern Ohren und
[156] die warme Bruſt der unſrigen? . . . Ach Emanuel!
ſey fuͤr mich kein Todter! Nimm mich an! Gieb
mir dein Herz! Ich will es lieben! — Ich bin nicht
ſehr gluͤcklich, mein Emanuel! da mein großer Lehrer
Dahore — dieſer glaͤnzende Schwan des Himmels,
der vom zerknickten Fluͤgelgelenk ans Leben befeſtigt,
ſehnend zu andern Schwaͤnen aufſah, wenn ſie nach
den waͤrmern Zonen des zweiten Lebens zogen —
aufhoͤrte an mich zu ſchreiben: ſo that ers mit den
Worten: »ſuche mein Ebenbild: deine Bruſt wird
»ſo lange bluten, bis du mit einer andern die Nar¬
»ben bedeckſt und die Erde wird dich immer ſtaͤrker
»ſchuͤtteln, wenn du allein ſteheſt — und nur um
»den Einſamen ſchleichen Geſpenſter.« — — Ema¬
nuel, biſt du nicht ruhig und ſanft und nachſichtig?
— Sehnet ſich deine Seele nicht, alle Menſchen zu
lieben, und iſt ihr nicht ein einziges Herz zu enge, in
das ſie mit ihrer Liebe wie eine Biene in eine ein¬
geſchlafene Tulpe geſchloſſen iſt? — Haſt du nicht
ſatt das Repetierwerk unſeres Freuden- und Trauer¬
gelaͤutes, die Familienaͤhnlichkeit aller Abende und
Aeren? — Schaueſt du nicht von dieſer dahin ge¬
riſſenen Erde hinaus auf deinen langen Weg uͤber
dir, damit dich nicht ekle und nicht ſchwindle, wie
man eben deswegen aus dem Wagen auf die Stra¬
ße ſieht? — Glaubſt du nicht an Menſchen, um die
die Bergluft einer hoͤhern Stellung geht, die
[157] oben auf ihrem Berge mitten in einem ſtillen Him¬
mel ſtehen und herunterſchauen in die Donner und
Regenbogen an der Erde? — Glaubſt du nicht an
Gott und ſuchſt ſeine Gedanken auf in den Linea¬
menten der Natur und ſeine ewige Liebe in deinem
Herzen? — — — Wenn du das alles biſt und
thuſt: ſo biſt du mein; denn du biſt beſſer als ich
und meine Seele will ſich heben an einen hoͤhern
Freund. Baum des hoͤhern Lebens, ich umfaſſe dich,
ich umſtricke dich mit tauſend Kraͤften und Zweigen,
damit ich aufſteige aus dem zertretenen Koth um
mich — Ach von einem großen Menſchen koͤnnte
ich geheilt, geſtillet, erquickt, erhoben werden — ich
Armer, nur an Wuͤnſchen reich — zerruͤttet vom
Kriege zwiſchen meinen Traͤumen und meinen Sin¬
nen — wund hin und her geſchlagen zwiſchen Syſte¬
men, Thraͤnen und Narrheiten — anekelnd die Erde,
die ich mir nicht erſetzen kann, lachend uͤber die wei¬
nerliche Komoͤdie blos aus Jammer, und der wider¬
ſprechendſte, betruͤbteſte und luſtigſte Schatten unter
den Schatten in der weiten Nacht. . . . Ach ſchoͤne,
gute Seele, liebe mich!«
Horion.
Den Kopf auf die Hand geſtuͤtzt, ließ er ſo lange
ſeine Thraͤnen, ohne zu denken und ohne zu ſehen,
rinnen bis die Natur ein Ende machte. Dann trat
[158] er aus Klavier und ſang unter deſſen Akkompagne¬
ment die heftigſten Stellen ſeines Briefes ab: was
ihn ſtark bewegte, trieb ihn allezeit zum Singen an,
beſonders der Affekt der Sehnſucht. Was kann es
uns verſchlagen, daß es Proſe war?
Bei der letzten Zeile ſeines epiſtolariſchen Ge¬
ſangs ging langſam die Thuͤre auf: »du biſts?«
ſagte eine Stimme. »Ach komm herein, Flamin!«
antwortete er. »Ich wollte nur ſehen, ob du zu¬
»ruͤckwaͤreſt« ſagte Flamin und ging. —
— Ich denke, es iſt noͤthig, daß ich wenigſtens
folgendes dazwiſchen werfe: — daß naͤmlich Viktor
zu viel Phantaſie, Laune und Beſonnenheit beſaß,
um nicht, wenn dieſe drei Saiten zugleich erſchuͤt¬
tert wurden, lauter Diſſonanzen anzugeben, die bei
mehr harmoniſchen Intervallen dieſer Kraͤfte *)weg¬
geblieben waͤren — daß er daher mehr Neigung
zu Schwaͤrmereien und zu Schwaͤrmern hatte als
Anſatz dazu — daß ſeine negativ elektriſche Philo¬
ſophie mit ſeinem poſitiv elektriſchen Enthuſiasmus
immer um das Gleichgewicht zu kaͤmpfen hatte und
[159] daß aus dem Aufbrauſen beider Spiritus nichts
wurde als Humor — daß er alle Freuden-Nelken
auf dem naͤmlichen Beete haben wollte, obgleich eine
die Farbe der andern verfaͤlſchte (z. B. Feinheit und
Enthuſiasmus, Erhebung uͤber die Welt und Ton
der Welt) — daß daraus außer der Laune und hoͤch¬
ſten Toleranz, auch ein unbewegliches ſchweres
Gefuͤhl der Nichtigkeit unſerer voruͤberſtreichenden
und mit ſolcher Kontrarietaͤt der Farben ent¬
worfnen innern Zuſtaͤnde werden mußte — und daß
er, den der Schlimme fuͤr doppelſeitig und der Gut¬
wuͤthige fuͤr veraͤnderlich haͤlt, nichts zum Schmuͤk¬
ken und Ruͤnden ſeines in ſo viel Holz verſteckten
neuen Adams oder Palladiums beduͤrfe als die Senſe
der Zeit — Zeit alſo.
[160]
8. Hundspoſttag.
Gewiſſens-Examinatorium und Dehortatorium — Die tranſ¬
zendenten Flitterwochen eines Gelehrten — Das Natura¬
lienkabinet — Antwort von Emanuel — emballirtes Kinn
— Ankunft des Fuͤrſten — erſter Schalttag.
Ich wollte, die Hiſtorie waͤre aus, damit ich ſie
koͤnnte drucken laſſen: denn ich habe ſchon zu viele
Praͤnumeranten darauf unter dem gemeinen Volk.
Ein Schriftſteller nimmt in unſern Tagen Voraus¬
bezahlung auf ſein Buch vom ſchlechteſten Kerl an
— der Schneider thut ſeinen Vorſchuß in Kleidern,
der Friſeur in Puder, der Hauswirth in Studier¬
ſtuben. —
Jeden Morgen hunzte ſich Viktor unter der Bet¬
decke aus wegen des Adends: das Bette iſt ein gu¬
ter Beichtſtuhl und die Audienza des Gewiſſens. Er
wuͤnſchte, die geſtrige Garten-Unitaͤt hielt ihn
fuͤr einen wahren Narren anſtatt fuͤr einen — Lieb¬
haber. »Ach wenn gar Flamin ſelber ſich mit Mi߬
»trauen kraͤnkte und wenn unſre Herzen, die ſo lange
»geſchieden waren, ſchon jetzt wieder es wuͤrden!«
Hier wurde die Bettlade aus einem Beichtſtuhl ein
feuriger Ofen. Aber ein Engel legte ſich zu ihm
hin¬[161] hinein und ließ die Lohe weg: »was hab' ich denn
»aber gethan? Hab' ich nicht fuͤr ihn mit tauſend
»Freuden geſprochen, gehandelt, geſchwiegen? Kein
»Blick, kein Wort iſt mir vorzuwerfen — was denn
»noch ſonſt?«
Der Engel des Lichts oder Feuers mußte jetzt
entſetzlich gegen die vorwedelnde Flamme blaſen.
»Sonſt noch? — Gedanken vielleicht, die aber wie
»Feldmaͤuſe der Seele unter die Fuͤße ſpringen und
»ſich wie Ottern anlegen. — Aber duͤrfen mir denn
»die Kantianer anſinnen, daß ich das kleine Bild
»der ſchoͤnſten und beſten Geſtalt, die ich in dreier
»Herren Landen bisher vergeblich citirte, einen ſol¬
»chen Raphaels-Kopf, eine ſolche Paradieſes-Antike
»zum Fenſter hinauswerfe aus der Villa mei¬
»nes Kopfes wie Aepfelſchalen und Pflaumenker¬
»ne? Mich wuͤrd' es von den Kantianern wun¬
»dern. — Und wenns drinnen ſtehen bleiben ſoll,
»ſoll ich denn ein Vieh ſeyn, ihr Katecheten, und
»es kalt anglotzen? — Ich mag nicht! Ja Ich will
»mir ſelber trauen und von dem ſchoͤnſten Herzen
»ſogar die Freundſchaft fodern und ihm doch die
»Liebe laſſen!« — Lieber Leſer, unter dieſem gan¬
zen ſummariſchen Prozeß vor der Geſetzkommiſſion
des Gewiſſens hab' ich uͤber dreißigmal zu mir ge¬
ſagt: »ihr beide, du und der Leſer, ſeid um kein
»Haar ehrlicher gegen das Gewiſſen!«
Er zog ſich langſam am Bettzopf aus dem
Bette, das er ſonſt mit einem Sprunge verließ:
es ſtockte ein Ideenrad in ihm. Er las ſeinen
geſtrigen Brief und fand ihn zu ſtuͤrmiſch: »Das
»iſt eben, ſagte er, unſre Nichtigkeit, daß alles was
»der Menſch fuͤr ewig haͤlt, in Einer Nacht er¬
»friert: uͤber unſer Geſicht laufen die heftigſten
»Zuͤge nicht ſchneller und ſpurloſer als uͤber unſer
»Herz — Warum bin ich denn jetzt nicht was ich
»geſtern war und vielleicht morgen ſeyn werde —
»Was gewinnt der Menſch durch dieſes Auf- und
»Unterkochen? Und auf was kann er in ſich denn
»bauen?«
Unterdeſſen hatte ſich das Feuerrad der Erden¬
zeit, die Sonne, gießend heraufgedreht und brannte
am Ufer der Erde — Er riß das Fenſter auf und
wollte die unbedeckte Bruſt im friſchen Morgenwinde
baden und das heiße Auge im rothen Meer Auro¬
rens; aber etwas in ihm draͤngte ſich wie ein Nach¬
geſchmack zwiſchen den Genuß des Morgenlandes.
Ein guter Menſch iſt unter den Gewiſſensbiſſen kuͤnf¬
tiger Handlungen durchaus zum Genuſſe verdorben.
Es ſtieg in ihm eine uͤbermannende Ruͤhrung
langſam auf — die geſtrige Nacht trug wieder ihren
leuchtenden Regen, ſein brauſendes Herz und Ema¬
nuels Schatten voruͤber — er lief immer ſtaͤrker und
zwar diagonal im Zimmer — ſtrickte den Schlaf¬
[163] rock knapper an — ſchuͤttelte etwas aus dem Auge
— that einen bleirechten Sprung — ſchnellte ein
»Nein!« hervor und ſagte mit einem unausſprech¬
lich heitern Laͤcheln: »Nein! ich will meinen Flamin
»nicht betruͤgen! Ich will ſie weder ſuchen noch
»meiden und ihre Freundſchaft nicht eher begehren
»als zur Zeit ſeines hoͤchſten Gluͤcks. Wie dich
»da *)ſo will ich die himmliſche Glanzbuͤſte anblik¬
»ken und nicht begehren, daß ſie Waͤrme aunehme
»und das kalte Gypsauge auf mich wende. Aber
»du, mein Freund, ſey gluͤcklich und ganz ſeelig und
»merke nicht einmal meinen Kampf!«
Jetzt empfand er den Kirchenſchmuck des Mor¬
gens und die Morgenluft floß wie ein kuͤhles Hals¬
gehenk auf ſeinem heißen Buſen umher und legte
ſpielend Haar und Buſenſtreif zuruͤck. Er fuͤhlte,
jetzt ſey er werth, an Emanuel geſchrieben, und an
den Himmel geſchauet zu haben. . . .
Flamin trat ein mit einiger Kaͤlte, die vom er¬
blickten Brief noch ein wenig ſtieg. Viktor war
nicht kalt zu machen; blos als man unten ihn mit
keinem Wort an ſeine geſtrigen Dithyramben erin¬
nerte: that er aus Beſorgniß errathen zu ſeyn, einen
zornigen verſteckten Schwur, wenn ſie kaͤme, nicht
L 2[164] zu kommen — welches auch zu machen war, denn
ſie kam nicht. Sie hatte in Maienthal noch Ge¬
paͤck abzuholen, Freundſchaften zu begießen und noch
einmal in den Zauberkreis ihres erhabnen Mentors
zu treten; und war alſo dahin abgegangen.
Die naͤchſten Wochen tanzten jetzt wie eben ſo
viel Horen in Anglaiſen und Cotillons vor ihm vor¬
bei. Seine Vormittage hingen voll Fruͤchte, ſeine
Nachmittage voll Blumen: denn am Morgen wohnte
ſeine Seele mit ihren Anſtrengungen in ſeinem Ko¬
pfe, gegen Abend in ſeinem Herzen. Abends liebt
man Karten — Gedichte — Aufrichtigkeit — Wei¬
ber — Muſik recht ſehr, Morgens recht wenig:
in der Geiſterſtunde iſt dieſe Liebe am allerſtaͤrkſten.
Zwei Sorgen ausgenommen — die erſte war,
wenn ſein Emanuel ihm ſchreiben wuͤrde, damit er
ihn vielleicht noch beſuchen koͤnnte, eh' er an die
Deichſel des Hofs- und Staatswagens geſchirret
waͤre; die zweite war, letzteres zu bald zu werden —
hatt' er jetzt faſt nichts zu thun als gluͤcklich zu
ſeyn oder gluͤcklich zu machen; denn in dieſe Wochen
fielen gerade ſeine ſtillen oder Sabbathswochen
ein. ...
Ich weis nicht, ob ſie der Leſer ſchon kennt: ſie
ſtehen nicht im verbeſſerten Kalender; aber ſie fal¬
len regelmaͤßig (bei einigen Menſchen) entweder
[165] gleich nach der Fruͤhlings- Tag- und Nachtgleiche
oder in den Nachſommer.
Bei Viktor war das erſtere, gerade mitten im
Fruͤhling. Ich brauch' es nicht auszumitteln ob der
Koͤrper, das Wetter oder wer dieſen Gottesfrie¬
den in unſerer Bruſt einlaͤute: ſondern ſchreiben
ſoll ichs, wie ſie ausſehen, die Sabbathswochen.
So: in einer ſtillen oder Sabbathswoche (manche,
z. B. ich, werden gar nur mit Sabbathstagen oder
Stunden abgefertigt) ſchlummert man erſtlich leicht
wie auf gewiegten Wolken — man erwacht wie ein
heiterer Tag — man hatte ſich Abends vorher ge¬
wiß vorgenommen und es deswegen in Ehiffern an
die Thuͤre geſchrieben, ſich zu beſſern und das Jaͤte¬
meſſer alle Tage wenigſtens an ein Unkraut-Beet
anzuſetzen — beim Erwachen will mans noch und
ſetzet es wirklich durch — Die Galle, dieſer auf¬
brauſende Spiritus, der ſonſt, wenn er ſtatt in den
Zwoͤlffingerdarm in das Herz oder Herzblut gegoſſen
wird, mit Wolken aufſiedet und ziſcht, wird in we¬
nig Sekunden eingeſogen oder niedergeſchlagen und
der erhoͤhte Geiſt fuͤhlt ruhig das koͤrperliche
Aufwallen ohne ſeines — In dieſer Windſtille un¬
ſerer Lungenfluͤgel ſpricht man nur ſanfte, leiſe Wor¬
te, man faſſet liebend die Hand eines jeden, mit
dem man ſpricht und man denkt mit zerfließendem
Herzen: ach ich goͤnnte euchs allen wohl, wenn ihr
[166] ihr noch gluͤcklicher waͤret als ich — Am reinen ge¬
ſunden ſtillen Herzen ſchließen ſich wie an den ho¬
meriſchen Goͤttern leichte Wunden ſogleich zu —
»Nein« (ſagſt du immerfort in der Sabbathswoche)
»ich muß mich noch einige Tage ſo ruhig erhalten.«
— Du verlangſt zum Stoff der Freude faſt nichts
als Exiſtenz, ja der Sonnenſtich einer Entzuͤckung
wurde dieſen kuͤhlen magiſchen transparenten Mor¬
gen-Nebel in ein Gewitter verdichten — Du ſiehſt
immerfort hinauf ins Blaue als moͤchteſt du denken
und weinen, und herum auf der Erde als wollteſt
du ſagen: »wo ich heute waͤre da waͤre ich gluͤck¬
»lich« und das Herz voll ſchlafender Stuͤrme traͤgſt du
wie die Mutter das entſchlummerte Kind, ſcheu und
behutſam uͤber die weichen Blumen der Freude —
— Aber die Stuͤrme fahren doch auf und greifen
nach dem Herzen! . . .
Ach was muͤſſen wir nicht alle ſchon verlohren
haben, wenn uns die Gemaͤlde ſeliger Tage nichts
abgewinnen als Seufzer? O Ruhe, Ruhe, du Abend
der Seele, du ſtiller Heſperus des muͤden Herzens,
der allezeit neben der Sonne der Tugend bleibt —
wenn unſer Inneres ſchon vor deinem ſanften Na¬
men in Thraͤnen zerrinnt: ach iſt das nicht ein Zei¬
chen, daß wir dich ſuchen aber nicht haben? —
Viktor verdankte die Sieſte ſeines Herzens den
Wiſſenſchaften, beſonders der Dichtkunſt und
[167] der Philoſophie, die beide ſich wie Kometen
und Planeten um dieſelbe Sonne (der Wahr¬
heit) bewegen und ſich nur in der Figur ihres
Umlaufs unterſcheiden, da Kometen und Dichter
blos die groͤßere Ellypſe haben. Seine Erzie¬
hung und Anlage hatte ihn an die dephlogiſtiſche
Luft der Studierſtube gewoͤhnt, die noch das einzige
Dormitorium unſerer Leidenſchaften und das einzige
Profeß-Haus und der Gluͤckshaven der Menſchen
iſt, die dem breiten Strudel der Sinne und Sitten
entgehen wollen. Die Wiſſenſchaften ſind mehr als
die Tugend ihr eigner Lohn und jene machen der
Gluͤckſeligkeit theilhaftig, dieſe nur wuͤrdig; und die
Preismedaillen, Penſionen und poſitiven Belohnun¬
gen und der Inventionsdank, die viele Gelehrte fuͤr
ihr Studiren haben wollen, gehoͤren hoͤchſtens den
litterariſchen dienenden Bruͤdern, die ſich dabei ab¬
martern, aber nicht den Meiſtern vom Stuhle, die
ſich dabei entzuͤcken. Ein Gelehrter hat keine lange
Weile — ein Thron-Inſaß laͤſſet ſich gegen dieſe
Nervenſchwindſucht hundert Feſtins verſchreiben, Ge¬
ſellſchaftskavaliere, ganze Laͤnder und Menſchenblut.
Du lieber Himmel! ein Leſer, der in Viktors
Sabbathswochen eine Leiter genommen haͤtte und an
ſein Fenſter geſtiegen waͤre: haͤtte der etwas anders
darin erblickt als ein jubilirendes Ding, das auf den
wiſſenſchaftlichen Feldern wie unter ſeeligen Inſeln
[168] umherglitt? — Ein Ding, das entzuͤckt nicht wußte,
ſollt' es denken, dichten oder leſen beſonders wen?
aus dem ganzen vor ihm ſtehenden hohen Adel der
Buͤcher. — In dieſer Brautkammer des Geiſtes (das
ſind unſre Muſen), in dieſem Konzertſaal der ſchoͤn¬
ſten aus allen Zeiten und Plaͤtzen verſammelten
Stimmen hinderten ihn die aͤſthetiſchen und philoſo¬
phiſchen Luſtbarkeiten faſt an ihrer Wahl; das Leſen
riß ihn ins Schreiben, das Schreiben ins Leſen, die
Abſtraktion in die Empfindung, dieſe in jene —
Ich koͤnnte in dieſer Schilderung vergnuͤgter fort¬
fahren, wenn ichs vorher haͤtte geſchrieben gehabt,
wie er ſtudirte: daß er nie ſchrieb ohne ſich uͤber
die naͤmliche Sache voll geleſen zu haben und umge¬
kehrt daß er nie las ohne ſich vorher daruͤber hun¬
grig gedacht zu haben. Man ſollte, ſagte er, ohne
einen heftigen aͤußern d. h. innern Anlaß und Drang
nicht blos keine Verſe machen, ſondern auch keine
philoſophiſchen Paragraphen, und keiner ſollte ſich
hinſetzen und ſagen: »jetzt um drei Uhr am Bartho¬
»lomaͤustag will ich doch druͤber her ſeyn und fol¬
»genden Satz geſchickt pruͤfen.« — Ich kann jetzt
fortfahren.
Wenn er nun in dieſem geiſtigen Laboratorium,
das weniger der Scheide- als Vereinigungskunſt
diente, vom Turmalin, der Aſcheſtaͤubgen zieht bis
zur Sonne, die Erden zieht, bis zur unbekannten
[169] Sonne, an die Sonnenſyſteme anfliegen, aufſtieg —
oder wenn ihm die anatomiſchen Tabellen der per¬
ſpektiviſche Aufriß einer goͤttlichen Bauart waren
und das anatomiſche Meſſer zum Tubus ſeiner Lieb¬
lingswahrheit wurde: daß es, um einen Gott zu
glauben, nicht mehr beduͤrfe als zweier Menſchen,
wovon noch dazu einer tod ſeyn koͤnnte, damit ihn
der lebende ſtudire und durchblaͤttere *) — oder wenn
ihn die Dichtkunſt als eine zweite Natur, als eine
zweite Muſik ſanft emporwehte auf ihrem unſichtba¬
ren Aether und er [unentſchloſſen] waͤhlte zwiſchen der
Feder und der Taſte, wenn er in der Hoͤhe reden
wollte — — Kurz wenn in ſeinem Himmelsglobus,
der auf einem Menſchen-Halswirbel ſteht, der Ideen-
Nebel am Morgen allmaͤhlig zu hellen und dunkeln
Partien zerfiel, ſich unter einer ungeſehenen Sonne
immer mehr mit Aether fuͤllte, wenn eine Wolke
der Funkenzieher der andern wurde, wenn endlich
das leuchtende Gewoͤlk zuſammenruͤckte: dann wurde
[170] Vormittags um 11 Uhr (wie oft drauſſen) der innere
Himmel aus allen Blitzen Eine Sonne, aus: al¬
len Tropfen wurde Ein Guß und der ganze Himmel
der obern Kraͤfte kam zur Erde der untern nieder
und . . . einige blaue Stellen der zweiten Welt wa¬
ren fluͤchtig offen.
— Unſere innern Zuſtaͤnde koͤnnen wir nicht phi¬
loſophiſcher und klarer nachzeichnen als durch Meta¬
phern d. h. durch die Farben verwandter Zuſtaͤnde.
Die engen Injurianten der Metaphern, die uns ſtatt
des Pinſels lieber die Reiskohle gaͤben, ſchreiben der
Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeich¬
nung zu; ſie ſolltens aber blos ihrer Unbekanntſchaft
mit dem Urbild ſchuld geben. Warlich der Unſinn
ſpielt Verſteckens leichter in den geraͤumigen abge¬
zognen Termin der Philoſophen — da die Worte
wie die ſineſiſchen Schatten, mit ihrem Umfange zu¬
gleich die Unſichtbarkeit und Leerheit ihres Inhalts
vermehren — als in den engen gruͤnen Huͤlſen der
Dichter. Von der Stoa und dem Portikus des
Denkens muß man eine Ausſicht haben in die epiku¬
reiſchen Gaͤrten des Dichtens.
— In drei Minuten bin ich wieder bei der Hi¬
ſtorie. — Er muͤßte, ſagte Viktor, Berg-Garten-
und Sumpfwieſen haben, weil er drei verſchiedne
naͤrriſche Seelen beſaͤße, die er auf verſchiedne Laͤn¬
dereien zur Weide treiben muͤßte. Er meinte damit
[171] nicht wie die Scholaſtiker die vegetative, ſenſitive
und intellektuelle Seele — noch wie die Fanatiker
die drei Theile des Menſchen: ſondern etwas recht
aͤhnliches, ſeine humoriſtiſche empfindſame
und philoſophiſche Seele. Wer ihm eine davon
wegnaͤhme, ſagt' er, der koͤnnt' ihm immer auch die
reſtirenden gar ausziehen. Ja zuweilen, wenn gerade
die humoriſtiſche auf der alternirenden Querbank
oben an ſaß, trieb er den Leichtſinn ſo weit, daß er
den Wunſch aͤußerte, in Abrahaͤ Schoos machte
man Spas und er koͤnnte ſich auf die zwoͤlf Stuͤhle
mit ſeinen drei Seelen zugleich niederlaſſen. — —
Seine Nachmittage uͤbergab er bald einer ſtroͤ¬
menden Laune, die ihre rechten Zuhoͤrer nicht ein¬
mal fand — bald den Pfarrleuten — bald der gan¬
zen St. Luͤner Schuljugend, deren Magen er (zur
Aergerniß eines jeden guten Paͤdagogen) mehr als
ihre Koͤpfe verproviantirte, weil er glaubte, in den
kurzen Jahren, wo das Geiferfleckgen ſich ausbreitet
bis zu einer Serviette, nehme das Vergnuͤgen ſeinen
Weg uͤber die Kinderſerviette und habe keinen Ein¬
gang als den Mund. Er ging nie ohne eine ganze
Operationskaſſe voll kleines Geld in der Weſte aus:
»ich vertheil' es ohne allen Verſtand, ſagt' er;
»aber wenn aus dieſem herumgeſaͤeten metalliſchen
»Saamen ganze Freudenabende fuͤr arme Teufel auf¬
»gehen; und wenn ſie die unſchuldigen gerade ſo
[172] »ſelten haben: warum will man nicht fuͤr die ge¬
»ſchonte Tugend und fuͤr die Freude zugleich etwas
»thun?«
Er ſagte, er habe Moral gehoͤrt und verlange
fuͤr ſeine auſſergerichtlichen Schenkungen und milden
Stiftungen nichts als — Verzeihung. — Sein Fla¬
min, der ihn fuͤr eine ſorgloſe Saͤemaſchine auf Fel¬
ſen erklaͤrte, verbrachte ſeine kleinen Ferien bis zu
dem Seſſionstiſch, in gluͤhenden Hofnungen an die¬
ſem Tiſche zu nuͤtzen, und in Vorbereitungen, um es
zu koͤnnen: oft wenn der hoͤhere Patriotismus mit
Heiligenſchein und Moſis Glanz aus dem Angeſicht
des geliebten Flamius vorbrach, ſo ſtanden Thraͤnen
der freudigen Freundſchaft in Viktors Augen und
im Augenblick einer lyriſchen Menſchenliebe ſchwo¬
ren ſie ſich an ihrer Bruſt fuͤr die Zukunft gegen¬
ſeitige Unterſtuͤtzung im Gutesthun und gemeinſchaft¬
liche Aufopferungen fuͤr die Menſchen zu. — Ihr
Unterſchied war blos wechſelſeitige Uebertreibung —
Flamin war gegen Laſter zu intolerant, Viktor zu
tolerant — jener verwarf als Regierungsrath wie
Anabaptiſten alle Feſte und wie die erſten Chriſten
alle Blumen (in jedem Sinn) — dieſer liebte gleich
den Griechen beides zu ſehr — jener haͤtte der Ehre
Menſchenopfer gebracht — dieſer kannte keinen Eh¬
renraͤuber als das eigne Herz, er ſprang uͤber den
papiernen Halbadel unſers jaͤmmerlichen Viſiten¬
[173] Pointd'honneurs hinweg und war, ſpottend uͤber den
Spott, nur dem hohen Adel der Tugend unter¬
than. — —
Viktor ſog ſich mit Laubfroſchfuͤßen an jedes
Blumenblatt der Freude an, an Kinder, an Thiere,
an Dorf-Luperkalien, an Stunden; — am liebſten
aber hatt' er den Sonnabend. Hier that er Streif¬
zuͤge durch die freudige Unruhe des Dorfes, vor
Knechten vorbei, die ihre Senſen nicht magnetiſch
ſondern ſchaͤrfer haͤmmerten und vor der Ladenthuͤre
des Schulmeiſters, an der ſein Auge als Portier oft
eine halbe Stunde ſtand. Denn er konnte den St.
Luͤniſchen Handelsflor recht gut im kleinen Gro߬
avanturhandel des Schulmeiſters bemerken, der keine
geringere Boͤrſe der Kaufleute kannte als die in ſei¬
ner Hoſentaſche. Aus dieſem oſtindiſchen Hauſe ſah
er ſpaͤt die wohlfeilen Freuden des Sonntags holen
— der Groſſierer (der Schulmeiſter wird gemeint)
machte, von den Negerſklaven unterſtuͤtzt, den Sonn¬
tagsmorgen von St. Luͤne mit ſeinem Syrup ſuͤß
und mit ſeinem Kaffee heiß: und ſowohl durch den
Tabaksbau in Deutſchland wurde dieſer Handelsherr
in Stand geſetzt, mit Spiralwuͤrſten von Lauſewen¬
zel die Koͤpfe der Pfeifen, als durch den Seidenbau,
der Toͤchter ihre mit Sabaaths-Wimpeln zu verſorgen
aus ſeinem Auerbachiſchen Hofe. — Unſern Helden
kannte alles. Aus jeder Hundshuͤtte wedelte ihm
[174] ein Hund entgegen, dem er Brod hineingeworfen;
aus jedem Fenſter ſchrien ihm Kinder nach, die er
geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vor¬
uͤberlief, hielten ſich fuͤr gluͤcklich, wenn ſie eine
Muͤtze aufhatten — ſie konnten ſie vor dem Herrn
abnehmen. Denn ſein erſtes Studium in St. Luͤne
war die Geſchichte in St. Luͤne, die aus den muͤnd¬
lichen Konduitenliſten der hiſtoriſchen Perſonen ſel¬
ber und aus der Reichspoſtreiterin‚ aus der Pfarre¬
rin geſchoͤpft werden mußte. Letztere hielt als Plu¬
tarchin allemal zwei Karaktere wie Tuͤcher zuſam¬
men; und ihr Mann las ihm nach beſtem Wiſſen
und Gewiſſen uͤber die Kirchen- und Reformations¬
geſchichte ſeines Beichtſprengels. Viktor legte ſich
auf dieſe mikrokosmiſche Univerſalhiſtorie aus zwei
Abſichten‚ erſtlich um ſie — welches Brodſtudenten
auch bei der groͤßern vorhaben — rein wieder zu
vergeſſen; zweitens‚ um im Dorfe ſo zu Hauſe zu
ſeyn wie der Bettelvogt oder die Hebamme‚ woraus
er den Vortheil zu ziehen hoffte‚ daß er betruͤbt
wurde‚ wenn ein St. Luͤner verſtarb‚ und froͤhlich‚
wenn er vorher heirathete.
— Jetzt ſchreitet die Geſchichte wieder von ei¬
nem Tage auf den andern fort‚ gleichſam auf den
Steingen im Strome der Zeit. —
So ſchoͤn war alſo der Fruͤhling vor ihm voruͤ¬
bergegangen mit Sabbathswochen‚ mit den Pfingſt¬
[175] tagen, mit weißen Bluͤten, die dem Lenze allmaͤhlig
wie Schmetterlingsfluͤgel ausfielen; — Viktor hatte
den Beſuch Le Bauts verſchoben, weil er dachte:
»ich muß ohnehin bald genug vom weichen Schooße
»der Natur herunter und auf das Hof-Drathgeſtell
»hinauf und auf den Objektentraͤger (Thron)
»des Kurial-Mikroſkops;« — er hatte ſich zwar
taͤglich zugeredet, bald noch vor Klotildens Ankunft
hinzugehen, um auf ſeine Abſichten keinen Verdacht
zu laden, aber immer vergeblich — — als ploͤtzlich
(denn Tags vorher war der 13te Jul.) der 14te er¬
ſchien und mit ihm Klotildens Gepaͤck ohne ſie.
Nun paſſirte er (wie die offiziellen Hundsberichte
enthalten) wirklich am 15ten den Bach von St.
Luͤne und ging uͤber die Alpen der kammerherrlichen
Treppen und ſchlug auf Le Bauts Kanapee ſein Zaͤ¬
fars Lager. Er wußte, das heute niemand da war,
nicht einmal Matz.
»Der Himmel erhalt' uns (ſagt' er) die Hoͤflich¬
keit geſund: es waͤre ohne ſie nicht nur unter kei¬
»nen Spitzbuben auszuhalten, ſondern ſie giebt auch
»Minutenſteuer von Freuden, indeß die Wohlthaͤtig¬
»keit nur Quartalſteuer und Kammerzieler und Cha¬
»ritativſubſidien zahlt.« Herr und Frau Le Baut
waren ſo hoͤflich als nie (ich ſchwoͤre darauf ſie hat¬
ten etwas von Viktors Hof Doktorhut und Doktor¬
krone ausgewittert): nur wuſten ſie nicht, was fuͤr
[176] ein Mundſtuͤck auf ein ſo naͤrriſch gewundnes Inſtru¬
ment wie Viktor aufzuſchrauben ſey. Wie alle Stu¬
dierſtuben-Schaalthiere ſprach er lieber von Sachen
als Perſonen; Flamin aber umgekehrt. Fuͤr das
Ehepaar gabs in keiner Meſſiade etwas erhabeners
als daß jetzt am Johannistage die italieniſche Prin¬
zeſſin kommen wuͤrde: davon konnte kein Sterblicher
genug reden, zumal auf dem Dorfe. Ich weiß nicht,
worin es Viktor verſah, daß er die meiſten Weiber
auf die Meinung brachte, er liebe ſie. Genug die
Kammerherrin, die in ihren Jahren nicht mehr Lie¬
be ſondern den Schein der Liebe foderte, dachte:
»vielleicht!« Man verkenne ſie nicht: ſie brachte
zwar allemal die erſte Stunde mit einem Manne
auf dem Obſervatorium zu; aber die zweite nur
dann im Jagdſchirm, wenn die erſte gluͤcklich ge¬
weſen und ſie war kalt genug, um nicht mehr zu
hoffen als zu ſehen: ſie verſpottete ſogar jeden, der
bei ihr noch einer weiblichen Eitelkeit, Eroberungen
zu leicht vorauszuſetzen, anders ſchmeicheln wollte
als oͤffentlich. Genug ſie beurtheilte heute un¬
ſern Viktor zu guͤnſtig — in ihrem Sinn, — oder
zu unguͤnſtig — in unſerem; — wie uͤberhaupt die
bloßen Hofleute nur bloße Hofleute errathen. — —
Von Klotilde ſprach man kein Wort, nicht einmal
von der Zeit ihrer Zuruͤckkehr.
Ueber¬[177]
Ueberhaupt hatte die Le Baut einen ungeheuren
Stolz in ſich gegen ihre Stiftochter zu beſtreiten,
von dem mir mein Korreſpondent haͤtte melden ſol¬
len, worauf er ſich ſteifte, ob auf Verhaͤltniſſe oder
Verdienſte: denn beides war reichlich da, indem die
Kammerherrin von des jetzigen Fuͤrſten ſeeligem Herrn
Vater die H — geweſen. — Ich und ein geſcheuter
Mann haben's hin und her uͤberlegt, ob ſie dem Zaͤ¬
ſar in der Liebe oder im Ehrgeitz gleiche. Der ge¬
ſcheute Mann ſagt: »in der Liebe« weil eine Frau
die Liebe nie vergeſſe, wenn ein Fuͤrſt ihr Mentor
darin geweſen. Des ſeel. Herrn Vaters Herz hatte
beſonders zwei Schoͤnheiten an ihr angebetet, die
vor Zeiten von den Schotten *)ſo gern gefreſſen
wurden, naͤmlich den Buſen und den Steis. Die
Großen haben ihre eignen grossieretés, die den Klei¬
nen nicht traͤumen. Ich wuͤrd' es nicht drucken laſ¬
ſen, aber es war am ganzen Hofe bekannt und alſo
auch vielen meiner Leſer. Da fuͤhrte der Teufel die
Zeit her, die ihre Senſe haͤmmerte und alles wegam¬
putirte, was von beiden Reizen Ueberhang in ihr
Gebiet geweſen. Nun haͤlt bei Weibern an Hoͤfen
— es ſey in einem Schulhof, Packhof oder Viehhof,
die Eitelkeit, ſobald der alte Saturn (d. i. die Zeit)
Heſperus. l. Th. M[178] dieſe mit ſeinem Sichelwagen und mit dem kleinen
Geſchuͤtz aus ſeiner Sanduhr anfaͤllt, einen der ge¬
ſcheuteſten Ruͤckzuͤge, die ich kenne — die Eitelkeit
laͤſſet ſich aus einem Werke oder Gliede nach dem
andern treiben — endlich aber wirft ſie ſich aus den
weichen Theilen in die feſten wie in feſte Plaͤtze,
z. B. in Fingernaͤgel, Stirne, Fuͤße u. ſ. w. nnd da
zieht ſie der Teufel ſelber nicht heraus. Die Kam¬
merherrin mußte ſich einen ſolchen feſten Theil erſt
machen, naͤmlich eine gorge de Paris und einen Cul
de Paris: dieſe vier Graͤnzhuͤgel ihres Reichs
mußten taͤglich gegen die Graͤnzverruͤckung der Jahre
aus Achtung fuͤr das Eigenthum hergeſtellt und er¬
hoͤhet werden. Daraus ſchließet nun der geſcheute
Mann, daß ihre Seele ihrem Koͤrper immer Kaper¬
briefe ſchreibe.
Ich bin gerade der Gegenfuͤsler vom geſcheuten
Mann und verfechte, daß der Amor nur ihr frere
servant, nicht ihr Logemeiſter — ihr Adjutant, nicht
ihr Gereraliſſimus ſey; — und das darum: weil ſie
noch immer an der Wiederherſtellung ihres erſten
ſalomoniſchen Tempels, wo ſie ſonſt am Hofe als
Goͤttin neben dem Gott angebetet wurde, ihre eigne
oder Le Bauts Hand anlegt, — weil ſie in dieſen
nichts heirathete als den Kammerherrnſchluͤſſel und
ſeine Aſſembleen und ſeine Hofnungen des kuͤnftigen
Einfluſſes — weil ſie an Klotilden nicht das Ge
[179] ſicht, ſondern das Gehirn anfeindet — weil ihre
Liebe jetzt ohne Eiferſucht iſt. Naͤmlich ſie ſtand
mit dem Evangeliſten Matthieu in einem gewiſſen
Liebesverſtaͤndniß, das ſich (nach unſerm buͤrgerlichen
Gefuͤhl) vom Haſſe in nichts unterſcheidet als in der
— Dauer. Liebes Perſiflagen waren ihre Liebeser¬
klaͤrungen — ihre Blicke waren Epigrammen — ſeine
Schaͤferſtunden ſalzte er mit komiſchen Erzaͤhlungen
von ſeinen Schaͤferſtunden an andern Orten — und
zur Zeit, wo ein heiliger Mann ſeinen Pſalm ab¬
zubeten pflegt *), waren beide ironiſch. Eine ſolche
erotiſche Verbindung iſt nichts als die Unterab¬
theilung irgend einer politiſchen . . . Aber zuruͤck
zur Geſchichte!
Der Kammerherr wollte ſeinem Gaſte jetzt etwas
zeigen, was einen Doktor und Gelehrten mehr inte¬
reſſirte. Zu dem Zimmer, worin das etwas war,
kam man durch der Kammerherrin und durch Klotil¬
dens Zimmer. Da man in jener ihrem einen Raſt¬
tag hielt: ſo ſtanden Viktors Augen traͤumend auf
Klotildens Silhouette feſt, die Matthieu neulich aus
dem Nichts geſchnitten und die die Kammerherrin
hier aus Schmeichelei gegen den Schattenreiſſer un¬
ter Glas aufgehangen hatte. Sonderbarer d. h. zu¬
M 2[180] faͤlliger Weiſe zerſprang jetzt das Glas uͤber dem
ſchoͤnen Angeſicht, und Viktor und der Vater fuhren
zuſammen. Denn letzterer war wie die meiſten Gro¬
ßen aus Mangel an Zeit aberglaͤubig und unglaͤubig
zugleich; und bekanntlich haͤlt der Aberglaube das
Zerſpringen eines Portraitglaſes fuͤr einen Vorboten
des Todes des Originals. Der Vater warf ſich
jetzt aͤngſtlich die Erlaubniß vor, die er Klotilden
gegeben, ſo lange in Maienthal zu bleiben, da ſie doch
da ihre Geſundheit in unnuͤtzen jugendlichen Schwaͤr¬
mereien verderbe. Er meinte ihre Trauer um ihre
begrabene Giulia; denn ſie war (erzaͤhlte er) bloß
vor Schmerz uͤber dieſe ohne alles Gepaͤck am 1ten
Mai hieher geeilet; und ſogar die Kleider der ge¬
liebten Freundin hatte ſie heute mit unter den ihri¬
gen geſchickt. Er brach heiter ab; denn Matthieu
kam, der Bruder dieſer Giulia; er wollte ſich nur
praͤſentiren und beurlauben, weil er wie mehrere
von der Stief-Bruͤdergemeine des Hofs der Prin¬
zeſſin entgegen reiſete.
Viktor wurde ſtiller und truͤber; ſeine enge Bruſt
quoll ihm auf einmal voll unſichtbarer Thraͤnen, de¬
ren Quelle er an ſeinem Herzen nicht finden konnte.
Und als man noch dazu durch Klodildens ſtilles leeres
Zimmer ging, wo Ordnung und Einfachheit an die
ſchoͤne Seele der Beſitzerin zu ſtark erinnerten: ſo
fiel ſein ploͤtzliches geruͤhrtes Verſtummen auch an¬
[181] dern auf. Er riß daher die Augen eiligſt weg von
einigen Blumendeſſeins ihrer Hand, von ihrem wei¬
ßen Schreibzeug und von der ſchoͤnen Landſchaft der
Oeltapete und trat haſtig auf das zu, was Le Baut
aufſperrte — es war kein edles Herz, was dieſer
mit ſeinem obwohl wie eine Kanone gebohrten Kam¬
merherrnſchluͤſſel ſperren konnte, (die Titularkammer¬
herrn in Wien heften nur einen hermetiſch-verſiegel¬
ten an) ſondern ſein Cabinet d'histoire naturelle oͤf¬
nete er. Das Kabinett hatte ſeltene Exemplare, ſo¬
gar amerikaniſche Federhoſen und viele Doubletten,
die noch nicht lange zweimal verſchenkt waren: in¬
zwiſchen zieh' ich und der Leſer dieſem todten Ge¬
ruͤmpel darin den Affen vor, der lebte und der das
Kabinet allein zierte und — beſas. Camper ſollte
von dieſem lebendigen Exemplar den Kammerherrn¬
knopf wegſchneiden und ſolches ſeziren, um nur
zu ſehen, wie nahe der Affe an den Menſchen
graͤnze.
Ein Großer hat allemal irgend einen wiſſen¬
ſchaftlichen Zweig, nach dem er nichts fragt und
auf den er ſich alſo vorzuͤglich legt. Fuͤr Le Bauts
wiſſens-hungrige Seele war's gleich viel, ob ſie in
ein Siegel- oder Gemmen- oder Piſtolenkabinet ein¬
geſtellet werde. Waͤr' ich ein Großer: ſo wuͤrd' ich
mit dem groͤßten Eifer Knoͤpfe — oder Accouche¬
ments — oder Buͤcher — oder Nuͤrnberger Waare
[182] — oder Kriege — oder recht gute Anſtalten machen
blos aus verdammter langer — — Weile, dieſer
Eſſigmutter aller Laſter und Tugenden, die unter
Hermelinen und Ordensſternen vorgucken. Nichts
iſt ein groͤßerer Beweis der allgemein wachſenden
Verfeinerung als die allgemein wachſende Langeweile
— Sogar die Damen machen ſich hundertmal aus
bloßer platter Langeweile — Kurzweile: und der ge¬
ſcheuteſte Menſch ſagt ſeine meiſten Betiſen und der
beſte ſeine meiſten Verlaͤumdungen blos einem Zirkel,
der ihn hinlaͤnglich zu ennuiren weiß.
Der Hofjunker war der Muſterſchreiber des Ka¬
binets, um vielleicht herumzugehen. Viktor that
ihm Unrecht durch die mediziniſche Vermuthung, er
affektire einen gewiſſen ſchwankenden weichen
Gang vornehmer Debauché's: denn er hatt' ihn
wirklich, und das darum, weil er aus ganz andern
als Viktors transzendenten Gruͤnden ungern — ſaß.
Aber weiter! Wenn nicht die Kammerherrin den
Vorhang vor Viktors Seele aus einander ſchlagen
und darin die Geſinnungen, gegen ſich und Klotilde
durch den Schrecken, den ich erzaͤhlen will, erfor¬
ſchen wollte: wenns alſo das nicht war: ſo kann es
nichts als ein ſehr boͤſer Geiſt geweſen ſeyn, der die¬
ſer Kammerherrin die Hand fuͤhrte zu einer Silber¬
ſtufe. Hinter der Stufe lag eine vielleicht von ab¬
[183] gebroͤckelten Arſenik [verreckte] Maus. Eine Leſerin,
die in aͤhnlichen Gefahren als Dulderin litt, ſtellet
ſichs vor, wie der Kammerherrin war, als ſie mit
dem Harten etwas Weiches umgrif und hervorbrachte
und dann erſah was es war. Eine wahre Ohn¬
macht war unvermeidlich. Ich geſteh' es, ich wuͤrde
ſelber ihre Ohnmacht blos fuͤr eine verſtellte halten,
waͤre der Anlaß geringer und z. B. der Angrif nicht
auf ihre Sinne ſondern nur auf ihre Ehre geweſen;
aber etwas anders iſt eine Maus. — Ueberhaupt
mußte ſie vor ſo boßhaften Zuſchauern, wie ihr
Mann und ihr Zizisbeo iſt, dieſen fuͤnften Akts-
Mord laͤngſt von ihrem Theater wie vom galliſchen
verbannt haben; ja ich glaube, ſie haͤtte ſich vor ei¬
nem ſiegenden Feind ihrer Tugend durch nichts (eine
wahre Ohnmacht ausgenommen) ſo laͤcherlich machen
koͤnnen als durch eine ſcheinbare. Der Schrecken
uͤber den postiche-Tod beraubte den Evangeliſten
des Gebrauchs ſeiner Vernunft und ließ ihm nur
den Gebrauch ſeiner Bosheit und ſeiner Haͤnde, mit
denen er ſogleich das Surrogat und Sparwerk ihres
Buſens, kurz die ganze optiſche Bruſt zerriß, um
der wahren, in deren Brette er einen Stein hatte,
naͤmlich ihr Herz, Luft genug zu machen. Aber
Viktor draͤngte ihn weg und ſpritzte ſie, mit zaͤrte¬
rer Achtung fuͤr ihre Reize und fuͤr ihr Leben, durch
wenige Eistropfen wieder empor. Gleichwohl vergab
[184] ſie dem Junker alles was ſie errieth und dankte
dem Hofmedikus fuͤr alles, worin ſie irrte. ...
— — Laſſet mich einen Augenblick wegſehen von
dieſem miſantropiſchen Geſpinſte und die ſchoͤnere
Welt um mich mit Erquickung anſchauen auf meiner
Inſel, wo kein Feind iſt — das plaͤtſchernde Spiel
der Fiſche und Kinder am Ufer — die ſpielende
Mutter, die ihnen Blumen und huͤtende Blicke zu¬
wirft — die großen Ahornbaͤume, die ſanft mit tau¬
ſend Blaͤttern und Muͤcken fluͤſternd dem unter den
Wellen gaukelnden Baumſchlag entgegen ſchwanken
— und wie die warme Erde und der warme Him¬
mel in ſchlafender Liebe an einander ruhen und ein
Jahrhundert ums andre gebaͤren. ...
Er ging bange vor dem Ende ſeiner laͤndlichen
Tage, nach Haus. — Der Sonnabend (der 16te Ju¬
nius) eilte ſanft voruͤber und ſchuͤttelte ein ganzes
Blumenhaupt von befluͤgelten Samen zu neuen Freu¬
denblumen unter dem Eilen aus einander.
Die Sterne glitten leiſe uͤber ſeine Nacht —
Ein freundlicher blauer Sonntagsmorgen legte ſich
ſchwebend uͤber das geputzte Doͤrfchen und hielt ſei¬
nen Athem an, daß er nicht einmal eine reife Lin¬
denbluͤthe oder Dotterblumen-Spreu ausriß — Vik¬
tor konnte das Fortepianiſſimo aus dem Schloſſe
uͤber das ausruhende Dorf heruͤbertoͤnen hoͤren und
mußte mit der Engbruͤſtigkeit des gluͤcklichen Seh¬
[185] nens, ſeufzen: »ach wenn muß ich aufhoͤren, uͤber
dieſem glaͤnzenden ſtillen Meere, uͤber dieſem ſchoͤnen
Ankerplatz des Lebens aufzuſchwimmen?« — — Als
das Schickſal antwortete: heute! denn gerade heute,
am Sonntage kam aus der Reſidenzſtadt Flachſenſin¬
gen ein leichter Narr (im Grunde zwei) in einer
eben ſo leichten Berline an und packte ein Brief¬
gen vom Lord an ihn ans.
»Den 21ten Junius (Donnerſtags) trift die ita¬
»lieniſche Prinzeſſin in Kuſſeviz ein. Den Mitwoch
»reiſ' ich ab und praͤſentire dich in St. Luͤne dem
»Fuͤrſten, der mich bis dahin begleitet. Doch bitt'
»ich dich, am Sonnabend darauf dich in die In¬
»ſel der[Vereinigung]*) zu begeben, weil ich
»das Wenige, was ich dir in St. Luͤne aus Man¬
»gel an Gelegenheit nicht ſagen kann, auf die Inſel
»verſpare. Du wirſt mich dort treffen. Der Ueber¬
»bringer dieſes iſt unſer H. Hofapotheker Zeuſel,
»in deſſen Haus du dein kuͤnftiges Logis als Hof¬
»medikus haben wirſt.« Lebe wohl.
H.
»Zeuſel?« (fragt der Leſer und denkt nach) »ich
»kenne die Zeuſel nicht« — Und ich eben ſo we¬
nig; aber er ſage mir, iſts nicht deſperat und zum
[186] Umfallen, daß der Korreſpondent dieſes Werks durch
alle Vorſtellungen, die ich ihm durch den Hund
thue, gleichwohl nicht ſo weit zu bringen iſt, daß
er's in dieſer Hiſtorie nur ſo ordentlich einrichtete
wie es ja in jedem elenden Roman und ſogar im —
Zuchthaus iſt, wo jeder neue Zuͤchtling den alten
gleich in der erſten Stunde ſeine ſaͤmtlichen Fata
bis zu den Eintritts-Inizialpruͤgeln, von denen der
Hiſtoriker eben koͤmmt, ſchoͤn vorerzaͤhlt? Beim Him¬
mel! die Leute ſetzen und ſpringen ja in mein Opus
wie in eine Paſſagierſtube hinein und kein Teufel
und Leſer weiß, wer ihre Hund' und Katzen ſind.
»Ich wollt' — — «ſagte Viktor und machte
ſechs Dehnungszeichen darauf als Apoſtrophen von
eben ſo vielen weggelaſſenen Fluͤchen. Denn er ſollte
jetzt aus der Idylle des Landlebens in die traveſtirte
Aeneis des Stadtlebens uͤberziehen: und kein Steig
iſt doch elender gepflaſtert als der von der Studier¬
ſtube in die Kurial-Laboratorien und chambres ar¬
dentes, von der Ruhe zum Gewuͤhl. Zu dem hatt'
ihm Emanuel noch nicht geſchrieben. Klotilde, der
Heſperus jener zwei ſchoͤnen Abende, war gleich
dem Heſperus am Himmel nicht zu ſehen uͤber St.
Luͤne. Wie geſagt, miſerabel war ihm. Nun war
noch dazu dieſer Zeuſel, ſein kuͤnftiger Miethsherr,
der Hofapotheker, ſo zu ſagen ein Narr, eben ſo
leicht wie ſeine Berline oder wie der Hoffourier,
[187] mit dem er kam, aber 53 Jahre aͤlter als der Wa¬
gen, naͤmlich 54 Jahr alt, um im Ganzen ein menſch¬
liches Diminutiv und Eſſigaͤaͤlgen an Leib und See¬
le, uͤberall ſpitz geſchaffen an Kinn, Naſe, Witz
Kopf, Lippen und Achſel. Dieſer Eſſigaal — der
Aal verfocht, er kenne eine gewiſſe Feinheit, die
nie die Sache eines Rotourier waͤre und er
laͤugne nicht, daß ſich ſeine Urahnen nicht Zeuſels
ſondern von Swoboda's geſchrieben — reiſete mit
dem Hoffourier, der in Kuſſeviz das Quartiermeiſter¬
thum fuͤr die fuͤrſtliche Braut verſah, dahin ab, um
ſo lange da zu ſeyn als er da unnoͤthig ſey. Zeuſel
wollte durchaus aus den Flachſenſingiſchen Hof mit
etwas anderem Einfluß haben als mit ſeiner Kly¬
ſtier-Waſſerkunſt und durch anders auf den Hofſtaat
wirken als durch Senesblaͤtter; daher kaufte er alle
geheime Nachrichten, (er beſſerte ſie ſogleich in oͤf¬
fentliche um) uͤber neue Lufterſcheinungen der Hof¬
luft theuer auf, und dann, wenn einige Leute von
den Thronſtaffeln herabpurzelten, laͤchelte er fein ge¬
nug und bemerkte, er hoffe, dieſe haͤtten ihn fuͤr ih¬
ren Freund genommen und ſein Bein nicht geſehen,
das er ihnen aus ſeiner Apotheke heraus heimlich
untergeſchlagen. Er war trotz einiger Herzensguͤte
ein Luͤgner von Haus aus, nicht weil er boshaft
ſondern weil er fein ſeyn wollte; und uͤberwand ſei¬
nen geſunden Verſtand, um witzig zu mouſſiren. —
[188]
Gegen Viktor als kuͤnftigen Hofmann und Goͤn¬
ner, wußt' er doch nicht den aufrechten Hof-An¬
ſtand anzunehmen: der ſich und andere zugleich ehret;
aber gegen die Pfarrleute beobachtete er die ordent¬
liche Hof-Verachtung hinlaͤnglich und zeigte ihnen
genugſam, wie wenig er, ohne Abſichten auf den
Sohn des Lords, nur uͤber ihre Gartenmauer oder
Fenſterbruͤſtung geſchauet haͤtte, geſchweige gekommen
waͤre. Viktor haßte an ſeinem Naͤchſten nie etwas
anders als den Haß der andern Naͤchſten; und ſeine
Achtung aller Staͤnde, ſeine Verachtung aller Stan¬
des-Narren, ſein Groll gegen Zeremonien und ſeine
humoriſtiſche Zuneigung zu den kleinen Buͤhnen des
Lebens machten den groͤßten Kontraſt mit den phar¬
mazevtiſchen Infuſionsthiergen, und mit deſſen Ekel
vor Menſchen und mit deſſen Buͤcken vor Großen.
Viktor gab ſeinem Hausherrn dreißig Gruͤße an
den Italiener Toſtato in Kuſſeviz mit, der mit
ihm von Goͤttingen aus 1½ Tag gereiſet und ge¬
lacht und getanzt hatte. — Der wegfahrende Apo¬
theker ließ in Viktor einen verdruͤslichen ſauern Bo¬
denſatz zuruͤck; ſogar uͤber den Blasbalgtreter, der
jeden Sonntag den Kaffee hinauftrug, konnt' er
nicht wie ſonſt lachen. Ich will ſagen, warum er
ſonſt lachte.
Der Kutſcher war dann raſirt und zwar aus der
erſten Hand, von ſeiner eignen. Nun hatte das
[189] Kinn dieſes traͤgen Bock-Inſaßen mehr Maulwurfs¬
huͤgel — ſo nenn' ich zierlich die Warzen — vorge¬
ſtoßen als noͤthig ſind zum Raſiren und Maͤhen.
Inzwiſchen hobelte der alte Mann an den Sonntags-
Morgen — denn da ziehen die gemeinen Leute zu¬
gleich den alten Adam und das alte Hemd aus und
laſſen Suͤnden und Bart blos die Werkeltage wach¬
ſen — mit ſeinem Meſſer kuͤhn zwiſchen dem War¬
zen-Schagrin auf und nieder und ſchnitt ab. Nun
wuͤrde der Kerl erbaͤrmlich mit ſeinem ſkarifizirten
Geſichtsvorgrund ausgeſehen haben — ſo daß man
haͤtte Blut weinen muͤſſen uͤber dasjenige, ſo uͤber
das Kinn dieſes ſteinernen Flusgottes in rothe Ra¬
dien ging — wenn der Proſektor wie ein Roͤmer
ſeine Wunden aus Dummheit vorgezeigt haͤtte; aber
er zeigte nichts: er zauſete, verſtaͤndiger, Tabaks¬
ſchwamm in kleine Kappen aus und ſetzte die Muͤtzen
den Wunden und bleſſirten Warzen auf und praͤſen¬
tirte ſich ſo.
»Ein Spener, ein Kato der juͤngere, ſagte Vik¬
»tor komm' einmal in meine Stube und lache nicht,
»wenn ein Kalkant nachkoͤmmt mit Kaffeetaſſen und
»mit ſechzehn ſkalpirten Warzen und mit einem in
»Schwamm brochirten Kinn, das ausſieht wie ein
»Gartenfelſen mit ſchoͤn vertheiltem Moos bewach¬
»ſen — ein Spener lache nicht, ſage ich, wenn er
»kann.«
Er konnt' es heute ſelber. Muͤde des Tags ging
er hinaus in den friedlichen Abend und legte ſich
mit dem Ruͤcken uͤber die Gipfel eines ſteilen Berg's
heruͤber; und als die Sonne in ein Goldgewoͤlke
aufgeloͤſet uͤber den quellenden Blumenfirniß zitternd
zerfloß und an dem Graͤſermeere der Berge herunter
ſchwamm — und als er naͤher am warmen ſchlagen¬
den Herz der Natur war, auf die weiche Erde wie
ein ruhender Todter hingeſenkt, die Wolken mit
Seufzern in ſich herunterziehend, von weit herkom¬
menden Winden uͤberfloſſen, von Bienen und Lerchen
eingewiegt: ſo kam die Erinnerung, dieſer Nach¬
ſommer der Menſchenfreude, in ſeine Seele und
eine Thraͤne in ſein Auge und Sehnſucht in die
Bruſt, und er wuͤnſchte, daß ihn Emanuel nicht ver¬
ſchmaͤhen moͤge — Ploͤtzlich naͤherten ſich kleine Trit¬
te ſeinen liegenden Ohren: er fuhr auf, erſchrak und
erſchreckte. Ein ſchwerer Reiſewagen taumelte matt
herauf: hinten in dem Lakaienriemen hatten ſtatt der
Bedienten drei bleiche Infanteriſten die Haͤnde, die
zuſammen nur ein einziges Bein hatten, das von
Fleiſch war indem ſie auf fuͤnf hoͤlzernen Stelzfuͤßen
oder Schuſters Abzeichen fuſten, die ſie nebſt noch
etwas laͤngerem von Holz, naͤmlich drei gut gearbri¬
teten Bettelſtaͤben, dem Feinde abgenommen hatten
— ein Kutſcher ging neben dem Wagen und eine
[191] Kammerfrau, und nahe am aufgeſchloſſenen Viktor
ſtand — — Klotilde.
Sie kam aus Maienthal. Ihm verfinſterte dieſe
ploͤtzliche Ueberſtrahlung alle in ſeiner Seele aufge¬
hangene Geſetztafeln und er konnte die Tafeln nicht
gleich leſen. Sie ſchauete ihn mit ſanften Strahlen
an wie ſonſt und die Sonne lieh einige dazu. Mit
einem Laͤcheln als erriethe ſie ſeine erſten Fragen,
gab ſie ihm einen — Brief von Emanuel. Ein zu¬
ſammenfahrendes Ach! war ſeine Antwort; und eh
er ſich in zwei Entzuͤckungen ſchicken konnte: war
der Wagen oben und ſie darin und alles davon.
Er zoͤgerte zitternd, in den ſtillen blauen Para¬
dieſesfluß der ſchoͤnſten Seele, die ſich je ergoß, ver¬
ſunken zu ſchauen. Endlich blickte er die Zuͤge ei¬
ner geliebten Menſchenhand, die er noch nicht be¬
ruͤhrt hatte, an und las:
Horion!
»Aus einen Berg ſteigt der Menſch wie das
Kind auf einen Stuhl, um naͤher am Angeſicht der
unendlichen Mutter zu ſtehen und ſie zu erlangen
mit ſeiner kleinen Umarmung. Um meine Hoͤhe liegt
die Erde unter dem weichen Nebel mit allen ihren
Blumenaugen ſchlafend — aber der Himmel richtet
ſich ſchon mit der Sonne unter dem Augenliede
auf — unter dem erblaßten Arkturus glimmen Ne¬
[192] bel an und aus Farben ringen ſich Farben los —
der Erdball waͤlzt ſich groß und trunken voll
Bluͤten und Thiere in den gluͤhenden Schoos des
Morgens. — —
Sobald die Sonne koͤmmt, ſo ſchau' ich in ſie
hinein und mein Herz hebt ſich empor und ſchwoͤrt
dir, daß es dich liebt, Horion! . . . Durchgluͤhe,
Aurora: das Menſchenherz wie dein Gewoͤlk, erhelle
das Menſchenauge wie deinen Thau und zieh in die
dunkle Bruſt wie in deinen Himmel eine Sonne
herauf! ...
Ich habe dir jetzt geſchworen — ich gebe dir
meine ganze Seele und mein kleines Leben, und die
Sonne iſt das Siegel auf dem Bunde zwiſchen mir
und dir.
Ich kenne dich, Geliebter; aber weiſt du, weſſen
Hand du in deine genommen? Sieh dieſe Hand hat
in Aſien acht edle Augen zugeſchloſſen — mich uͤber¬
lebte kein Freund — in Europa verhuͤll' ich mich —
meine truͤbe Geſchichte liegt neben der Aſche meiner
Eltern im Gangesſtrom und am 24ten Junius des
kuͤnftigen Jahres geh' ich aus der Welt ... O Ewi¬
ger, ich gehe — am laͤngſten Tage zieht der gluͤckli¬
che Geiſt gefluͤgelt aus dieſem Sonnentempel und die
gruͤne Erde geht auseinander und ſchlaͤgt uͤber meine
fallende Puppe mit ihren Blumen zuſammen und
deckt das vergangne Herz mit Roſen zu. . . .
Wehe[193]
Wehe groͤßere Wellen auf mich zu, Morgenluft!
Ziehe mich in deine weiten Fluten, die uͤber unſern
Auen und Waͤldern ſtehen und fuͤhre mich im Bluͤ¬
tengewoͤlk' uͤber funkelnde Gaͤrten und uͤber glimmen¬
de Stroͤme und laß mich, zwiſchen fliegenden Bluͤ¬
ten und Schmetterlingen taumelnd, in der Sonne
mit ausgebreiteten Armen zerfließend, leiſe uͤber der
Erde ſchwebend ſterben und die Bluthuͤlle falle zer¬
ronnen zu einer rothen Morgenflocke, gleich dem
Ichor des Schmetterlings *), der ſich befreiet, in
die Blumen herab und den blauhellen Geiſt ſaͤuge
ein heißer Sonnenſtral aus dem Roſenkelch des Her¬
zens in die zweite Welt hinauf. — — Ach ihr Ge¬
liebten, ihr Abgeſchiednen, ſeid ihrs, zieht ihr denn
jetzt als dunkle Wellen **)im bebenden Blau des
Himmels dahin, wogen in jener Tiefe voll uͤberhuͤll¬
ter Welten, jetzt eure Aetherhuͤllen um die verdeck¬
ten Sonnen? Ach kommt wieder, woget wieder, in
einem Jahr rinn' ich aufgeloͤſt in euer Herz!
— Und du, mein Freund, ſuche mich bald! Dich
kann auf der Erde keiner ſo lieben wie ein Menſch,
Heſperus. I. Th. N[194] der bald ſterben muß. Du gutes Herz, das mir die¬
ſes milde Leben noch zum Abſchied in die Haͤnde
druͤckt, unausſprechlich will ich dich lieben und waͤr¬
men — in dieſem Jahr, wo ich noch nicht weggeho¬
ben werde, will ich blos bei dir bleiben und wenn
der Tod koͤmmt und mein Herz fodert, findet er es
blos an deiner Bruſt.
Ich kenne meinen Freund, ſein Leben und ſeine
Zukunft. In deinen kommenden Jahren ſtehen
dunkle Marterkammern offen und wenn ich ſterbe
und du bei mir biſt, werd' ich ſeufzen: warum kann
ich ihn nicht mitnehmen, eh' er ſeine Thraͤnen ver¬
gieſſet.
Ach Horion! im Menſchen ſteht ein ſchwarzes
Todtenmeer, aus dem ſich erſt, wenn es zittert, die
gluͤckliche Inſel der zweiten Welt mit ihren Nebeln
vorhebt! Aber meine Lippen werden ſchon unter dem
Erdenkloß liegen in der kalten Stunde, wo du kei¬
nen Gott mehr ſehen wirſt, wo auf ſeinem Thron
der Tod liegt und um ſich maͤht und bis ans Nichts
ſeine Froſtſchatten und ſeine Senſen-Blitze wirft —
O Geliebter, mein Huͤgel wird dann ſchon ſtehen,
wenn deine innere Mitternacht anbricht; mit Jam¬
mer wirſt du auf ihn ſteigen und ergrimmt in die
[195] ſanften Sternenkraͤnze blicken und rufen: *)»wo iſt
»der, deſſen Herz unter mir entzweigeht? Wo iſt
»die Ewigkeit, die Maske der Zeit? Wo iſt der
»Unendliche? Das verhuͤllte Ich greift nach ſich ſelber
»umher und ſtoͤßet an ſeine kalte Geſtalt. ...
»Schimmere mich nicht an, weites Sternengefild,
»du biſt nur das aus Farbenerben zuſammenge¬
»worfene Gemaͤlde an einem unendlichen Gottes¬
»ackerthore, das vor der Wuͤſte des unter dem
»Raume begrabnen Lebens ſteht. . . . Hoͤhnet mich
»nicht aus, Geſtalten auf hoͤhern Sternen, denn zer¬
»rinn' ich, zerrinnt ihr auch. Ein, Ein Ding, das
»der Menſch nicht nennen kann, gluͤht ewig im un¬
»ermeßlichen Rauche und ein Zentrum ohne Maas
»verkalkt eine Peripherie ohne Maas — doch bin
»ich noch: der Veſuv des Todes dampft noch uͤber
»mich hinuͤber und ſeine Aſche huͤllt mich zu —
»ſeine fliegenden Felſen durchbohren Sonnen, ſeine
»Lavaguͤſſe bewegen zerlaſſene Welten und in ſeinem
»Krater liegt die Vorwelt ausgeſtreckt und lauter
»Graͤber treibt er auf. . . . . O Hofnung, wo
»bleibſt du? . . .
Walle trunken um mich, beſeelter Goldſtaub, mit
deinen duͤnnen Fluͤgeln, ich zerdruͤcke dein kurzes
N 2[196] Blumenleben nicht — ſchwelle herauf, taumelnder
Zephyr und ſpuͤle mich in deine Bluͤtenkelche hinab
— ach du unermeßlicher Stralenguß, falle aus der
Sonne uͤber die enge Erde und fuͤhr' auf deinen
Glanzfluten das ſchwere Herz vor den unendlichen
Thron, damit das ewige Herz die kleinen an Aſche
graͤnzenden nehme und heile und waͤrme!
Iſt denn ein armer Sohn dieſer Erde ſo ungluͤck¬
lich, das er verzagen kann mitten im Glanze des
Morgens, ſo nahe an Gott auf den heißen Stufen
ſeines Throns?
Fliehe mich nicht, mein Theurer, weil immer
ein Schatten mich umzingelt, der ſich taͤglich ver¬
dunkelt bis er endlich als eine kleine Nacht mich
einbauet. Ich ſehe den Himmel und dich durch den
Schatten: in der Mitternacht laͤchle ich und im
Nachtwind geht mein Athem voll und warm. Denn,
o Menſch, meine Seele hat ſich aufgerichtet gegen
die Sterne: der Menſch iſt ein Engbruͤſtiger, der
erſtickt, wenn er liegt und ſeinen Buſen nicht auf¬
hebt. — Aber darfſt du die Erde, dieſen Vorhim¬
mel verachten, den der Ewige gewuͤrdigt, unter dem
lichten Heer ſeiner Welten mitzugehen? das Große,
das Goͤttliche, das du in deiner Seele haſt und in
der fremden liebſt, ſuch' auf keinem Sonnenkrater,
auf keinem Planetenboden — die ganze zweite Welt,
das ganze Elyſium, Gott ſelbſt erſcheinen dir an kei¬
[197] nem andern Ort als mitten in dir. Sey ſo groß,
die Erde zu verſchmaͤhen, werde groͤßer, um ſie zu
achten. Dem Mund, der an ſie gebuͤckt iſt, ſcheint
ſie eine fette Blumenebene — dem Menſchen in der
Erdnaͤhe ein dunkler Weltkoͤrper — dem Men¬
ſchen in der Erdferne ein ſchimmernder Mond.
Dann erſt fließet das Heilige, das von unbekannten
Hoͤhen in den Menſchen geſenkt iſt, aus deiner See¬
le, vermiſcht ſich mit dem irrdiſchen Leben und er¬
quickt alles was dich umgiebt: ſo muß das Waßer
aus dem Himmel und ſeinem Gewoͤlk erſt unter die
Erde rinnen, und aus ihr wieder aufquellen eh' es
zum friſchen hellen Trank gelaͤutert iſt. — Die ganze
Erde bebt jetzt vor Wonne, daß alles ertoͤnt und
ſingt und ruft, wie Glocken unter dem Erdbeben von
ſelber erklingen. — Und die Seele des Menſchen
wird immer groͤßer gemacht vom nahen Unſicht¬
baren — —
Ich liebe dich ſehr! —
Emanuel.
Horion las durch ſchwimmende Augen: »ach,
»wuͤnſcht' er, waͤr' ich ſchon heute mit meinem un¬
»ordentlichen Herzen bei dir, du Verklaͤrter!« und
jetzt fiel ihm erſt die Naͤhe des Johannistages ein
und er nahm ſich vor, ihn da zu ſehen. Die Sonne
war ſchon verſchwunden, die Abendroͤthe ſank wie
[198] eine reife Aepfelbluͤte hinab, er fuͤhlte nicht die heiſ¬
ſen Tropfen auf ſeinem Angeſicht und den Eisthau
der Daͤmmerung an ſeinen Haͤnden, und irrte mit
einer von Traͤumen erleuchteten Bruſt, mit einem
beruhigten, mit der Erde ausgeſoͤhnten Herzen zu¬
ruͤck. — —
— Beilaͤufig! iſts noͤthig, daß ich eine Schutz¬
ſchrift ausarbeite fuͤr Emanuel als Styliſten und
als Styliten (im hoͤhern Sinne)? Und wenn ſie
noͤthig iſt, brauch' ich darinn etwas anders beyzu¬
bringen als dieſes — daß ſeine Seele noch das Echo
ſeiner indiſchen Palmen und des Gangesſtromes iſt
— daß der Gang der beſſern entfeſſelten Menſchen,
ſo wie im Traume, immer ein Flug iſt — daß er
ſein Leben nicht wie Europaͤer mit fremden Thier¬
blut duͤnge oder in geſtorbnem Fleiſch auswaͤrme und,
daß dieſes Faſten im Eſſen, ſo wie das Ueberla¬
den im Trinken, die Fluͤgel der Phantaſie leichter
und breiter mache — daß wenige Ideen in ihm,
da er ihnen allen geiſtigen Nahrungsſaft einſeitig
zuleitet, (welches nicht nur Wahnſinnige, ſondern
auch auſſerordentliche Menſchen von ordentlichen
abtrennt) ein unverhaͤltnißmaͤßiges Gewicht bekom¬
men muͤſſen, weil die Fruͤchte eines Baums deſto
dicker und ſuͤſſer werden, wenn man die andern ab¬
gebrochen — und dergleichen mehr. — Denn aufrich¬
tig zu ſprechen, die Leſer die eine Schutzſchrift be¬
[199] gehren, beduͤrfen ſelber eine und Emanuel iſt etwas
beſſeres werth als eine — Defenſion. —
Jetzt ſprang dem Helden der Troſt wie eine
Quelle auf, daß er am Donnerstag ſeine Seelen¬
wanderung durch die Natur, ſeine Reiſe, anhebe:
»beim Henker! ſagt' er aufhuͤpfend, was hat ein
»Chriſt da noͤthig, daß er Nothmuͤnzen ſchlaͤgt und
»Trauermaͤntel umthut, wenn er am Donnerstage
»nach Kuſſeviz zur Uebergabe der italieniſchen
»Prinzeſſin reiſen kan — und am Sonnabend nach der
»Inſel der Bereinigung und noch am naͤmlichen Tage,
»welches Ein Tag vor Johannis iſt, nach Maienthal
»zu ſeinem Theuern, zu ſeinem Engel?» —
O Himmel, ich wollt', er und ich waͤren ſchon
uͤber die Reiſe her — wahrhaftig ſie kann, wenn
mich nicht alle Hoffnungen beluͤgen, vielleicht ganz
ertraͤglich werden. — —
— Unter der Wochenbetſtunde des Mitwochs,
rollten zwey Waͤgen vor: aus dem vollen traten der
Lord und der Fuͤrſt, aus dem leeren nichts. Die
alte Appel hatte ſich praͤchtig angekleidet und in die
Speiſekammer eingeſperrt. Der Kaplan war gluͤckli¬
cher, er dozirte im Tempel. Man macht ſelten
ein geſcheutes Geſicht, wenn man praͤſentirt wird —
oder ein dummes, wenn man praͤſentirt. Der Lord
fuͤhrte dem Fuͤrſten ſeinen Sohn als ein Unterpfand
ſeiner kuͤnftigen Treue in die Haͤnde und ans Herz,
[200] aber mit einer Wuͤrde, die eben ſoviel Ehrfurcht
erwarb als ſie erwies. Mein guter Held betrug ſich
wie ein — Narr: er hatte weit mehr Witz als un¬
ſre Achtung gegen Hoͤhere oder die ihrige gegen uns
verſtattet; ein Talent, das auſſer dem Hof-Lehn¬
dienſte ſich aͤuſſert, kan als eine Felonie betrachtet
werden.
Sein Witz war blos eine verſteckte Verlegenheit,
worin ihn zwey Geſichter und eine dritte Urſache
ſetzten. Erſtlich das fuͤrſtliche. ...
— Wenn ſich die Leſewelt beſchwert, daß ſo al¬
maͤhlig wie ſie ſehe, ein neuer Name und Akteur
nach dem andern in dieſen Venusſtern hereinſchleiche
und ihn ſovoll mache, bis aus dem hiſtoriſchen
Bilderſaal ein ordentlicher Vokabelnſaal werde, in
dem ſie mit einem Adreskalender in der Hand her¬
umwandeln muͤſſe: ſo hat ſie wahrhaftig recht Recht
und ich habe mich ſelber ſchon am meiſten daruͤber
beſchwert: denn mir ſitzt am Ende doch die groͤſte
Teufeley auf dem Hals, und jeder neue Tropf iſt
ein neues herausgezogenes Orgelregiſter, das ich mit
ſpielen muß und das mir das Niederdruͤcken der Ta¬
ſten ſauerer macht; — aber der Korreſpondent ſchickt
mir im Kuͤrbis alle dieſe Einquartirung zu und der
Haſelant ſchreibt gar, ich ſollt' es nur der Welt ſa¬
gen, es kaͤme noch mehr Volk. —
[201]
Das fuͤrſtliche Geſicht ſetzte ihn in Verlegenheit,
nicht weil es imponirte, ſondern weil es dieſes blei¬
ben ließ. Es war ein Wochentags-Kurrentgeſicht,
das auf Muͤnzen, aber nicht auf Preismedaillen ge¬
hoͤrte — mit Arabesken-Zuͤgen, die weder Gutes
noch Boͤſes bedeuten — von wenigem Hof-Matgold
uͤberflogen — eingeoͤlet mit einem ſanften Oel, das
die ſtaͤrkſten Wellen erdruͤcken konnte — eine Art
ſuͤſſer Wein, mehr den Weibern als Maͤnnern trink¬
bar. Von den feinſten Wendungen, die Viktor zu
erwiedern geſonnen war, ſtand nichts zu hoͤren und
zu ſehen; aber von paſſenden leichten deſto mehr.
Viktor wurde durch den Kampf und Wechſel zwi¬
ſchen Hoͤflichkeit und Wahrheit verlegen. Die Vi¬
ſitenverlegenheit entſteht nicht aus' der Ungewißheit
und Unwegſamkeit des Steigs, ſondern auf den
Kreutzwegen und zwiſchen den zwey Heubuͤndeln
des ſcholaſtiſchen Eſels. Viktor, deſſen Hoͤflich¬
keit immer aus Menſchenliebe entſprang, muſte
die heutige aus Eigennutz entſpringen laſſen; und
dieſes wollt' ihm nicht ein. Auſſer dem Vater-Ge¬
ſicht, vor dem bey den meiſten Kindern das ganze
Raͤderwerk eines freien Betragens knarrt und ſtockt,
macht' ihn drittens das verlegen und witzig, daß er et¬
was haben wollte: ich kanns einem jeden — einen
Hofmann ausgenommen, deſſen Leben wie das eines
Chriſten ein beſtaͤndiges Gebet um etwas iſt —
[202] anſehen, wenn er zur Thuͤr hereinkommt, ob er als
Almoſenſammler und Werkheiliger oder als
bloſſer Freudenklubiſt einſpreche.
Noch ehe die Leute aus der Kirche gingen, faſ¬
ſete er ſchon herzliche Liebe zum Fuͤrſten — die Ur¬
ſache war, er wollt' ihn lieben und wenn der
Teufel da ſtaͤnde. Er ſagte oft, gebt mir zwei Ta¬
ge oder Eine Nacht, ſo will ich mich verlieben in
wen ihr vorſchlagt. Er fand mit Vergnuͤgen auf
Jenners Geſicht keinen Sekunden, keinen Monats¬
zeiger der Schaͤferſtunden, mit denen ein guter
Zaͤſar ſonſt gern die langweiligen Ehejahre frem¬
der Eheweiber wie mit Flitterwochen zu durch¬
ſchieſſen ſucht: ſondern in ſeinem Geſichte war
nichts als Enthaltſamkeit aufgeſchlagen, und Viktor
pflichtete lieber dem Geſichte als dem Rufe bey. Er
ſchieſſet fehl: denn auf das maͤnnliche Geſicht —
ob es gleich wie gewiſſe Gemaͤlde aus Lettern, eben
ſo aus lauter Buchſtaben der Phyſiognomik gemacht
iſt — hat doch die Natur die Matres lectionis und
Malzeichen der Wolluſt ſehr klein geſchrieben, auf
das weibliche aber groͤſſer; welches ein wahres Gluͤck
fuͤr das erſte und ſtaͤrkere und — unkeuſchere Ge¬
ſchlecht iſt. — Ueberhaupt iſt Ehebrechen nichts als
eine gelindere Art von Regieren und Kriegen.
Gleichwohl ſtellen rechtſchaffene Regenten die Wei¬
ber, ſobald ſie ſolche erobert haben, ſtets dem vori¬
[203] gen Eheherrn mit Vergnuͤgen wieder zu. Es iſt
vielleicht dieſelbe Groͤſſe, womit die Roͤmer den
groͤſten Koͤnigen ihre Reiche wegnahmen, um ſie
nachher damit wieder zu beſchenken.
Da Fuͤrſten nicht wie die Juriſten boͤſe Chriſten,
ſondern gar keine ſind: ſo nahm Jenner unſern Vik¬
tor durch verſchiedene Funken von Religion und
durch einigen Haß gegen die Enzyklopaͤdiſten ein;
wiewohl die Religion zwar ihr Gutes aber auch ihr
ſchlimmes hat, weil nur ein gekroͤnter Atheiſt, aber
kein Theiſt das unſchaͤtzbare privilegium de non ap¬
pellando beſitzt.
Das Geſpraͤch war gleichguͤltig und leer wie alle
in ſolchen Lagen. Ueberhaupt verdienen die Men¬
ſchen fuͤr ihre Geſpraͤche ſtumm zu ſeyn; ihre Ge¬
danken ſind allezeit beſſer als ihre Dialogen, und
es iſt Schade, daß man an gute Koͤpfe keinen Ba¬
rometrographen oder kein Setzklavier appliciren kann,
das auſſen alles nachſchreibe was innen gedacht wuͤr¬
de. Ich wollte wetten, jeder groſſe Kopf geht mit
einer ganzen Bibliothek ungedruckter Gedanken in
die Erde und blos einige wenige Repoſitorien voll
laͤſſet er in den Druck auslaufen.
Viktor ſtellte an ihn das gewoͤhnliche medicini¬
ſche Interrogatorium, nicht blos als Leibarzt, ſon¬
dern auch als Menſch, um ihn zu lieben. Obgleich
Leute aus der groſſen und groͤſten Welt wie der Un¬
[204] ter-Menſch, der Urangutang, im 25ten Jahre aus¬
gelebt und ausgeſtorben haben — vielleicht ſind des¬
wegen die Koͤnige in manchen Laͤndern ſchon im 14
Jahre muͤndig — ſo hatte doch Jenner ſein Leben
nicht ſo weit zuruͤckdatirt und war wirklich aͤlter als
mancher Juͤngling. — Am meiſten bemaͤchtigte ſich
der Fuͤrſt des guten warmen Herzens Sebaſtians
durch das ſchlichte Betragen ohne Praͤtenſionen,
das weder der Eitelkeit noch dem Stolze diente und
deſſen Aufrichtigkeit ſich durch nichts von der ge¬
woͤhnlichen unterſchied als durch Feinheit: Viktor
hatte ſchon Vaſallen neben dem Munde ihres Lehn¬
herrns ſo ſtehen ſehen, daß der letztere ausſah wie
ein Haifiſch, der queer einen Menſchen im Rachen
traͤgt; aber Jenner glich einem Petermaͤnchen *)- das
darin einen huͤbſchen Stater verweiſt.
Dem Hofkaplan wars, da er kam, in ſeinem Er¬
ſtaunen uͤber einen gekroͤnten Gaſt unmoͤglich, Lippe
oder Fuß zu ruͤhren: er verblieb unbeweglich in der
weiten Waſſerhoſe des Prieſterrocks, der um ihn wie
um Marzipan ein Regalbogen geſchlagen war. Das
einzige was er ſich erlaubte und erfrechte, war, —
nicht, die Bibel, den Mauskloben, wegzulegen ſon¬
[205] dern — die Augen heimlich in der Stube herumzu¬
treiben, um zu obſerviren, ob ſie gehoͤrig geheftet,
foliirt und uͤberſchrieben ſey von den Stuben-Regi¬
ſtratorinnen.
Der Fuͤrſt reiſete endlich mit dem Lord weiter,
der ſeinen Abſchied vom Sohne und ſeine Abſchieds¬
predigten bis auf den einſamen Tag auf der Inſel
der Vereinigung verſparen muſte. Der Sohn be¬
kam zur Nachbarſchaft des Fuͤrſten Luſt, wenn er
deſſen Betragen gegen ſeinen Vater uͤberdachte: er
hatte die doppelde Freude des Kindes und des Men¬
ſchen, da ſein Vater das eigne Gluͤck in das Gluͤck
des armen Landes verwandelte, und blos, um Gu¬
tes zu thun, in dem Thronfelſen ſich Fußſtapfen
austrat, wie man in Italien die Fußtritte der En¬
gel, die erſchienen und begluͤckten, in den Felſen
zeigt. Andre Guͤſtlinge gleichen dem Henker, der
ſich im Sande Fußſtapfen aushoͤlt, um feſter zu ſte¬
hen, wenn er — koͤpft.
In der ausgeleerten Stube erwachte unter Ey¬
manns Gliedern, — er ſtand noch im Prieſterrocks-
Schilderhaus — der Zeigefinger zuerſt, der ſich aus¬
ſtreckte und dem Familienzirkel das Bette wies: »es
»waͤr' uns dienlicher, wenn man uns mit dieſem
»Lumpen ſtrangulirt haͤtte als ſo.» Er meinte ſei¬
ne eigne beſchmutzte Halsbinde, die er ſelber ins
Ehebette — die Kunſtkammer und der Packhof ſei¬
[206] ner Waͤſche — geworfen hatte. Wenn man ihm ei¬
nen Einfall widerſprach: ſo bewies er ihn ſo lange
bis er ihn ſelber glaubte, raͤumte man ihn ein: ſo
ſann er ſich einige Skrupel aus und nahm eine an¬
dre Meynung an: »durch die Vorhaͤnge muß ſeine
»Durchlaucht den Fetzen geſehen haben.» Er berei¬
ſete alle Stellen, wo Jenner geſtanden hatte und vi¬
ſirte nach der Lumpenbinde und [unterſuchte] ihre Pa¬
rallaxe. »Ans Blenden der Fenſter muͤſſen wir
»uns halten, wenn wir ruhig bleiben wollen» be¬
ſchlos er und —
ich
Poſtſkript: Ich werde allemal noch einem 8ten
Kapitel — weil ich gerade 2 Hundstage in Einer
Woche fertig bringe — bemerken, daß ich wieder
einen Monat lang gearbeitet habe. Ich berichte,
daß morgen der Junius angeht.
[207]
Erſter Schalttag.
Muͤſſen Traktaten gehalten werden, oder iſt es genug, daß
man ſie macht? —
Das letztere. — Heute exerzirt der Berghauptmann
zum erſtenmal auf des Leſers Grund und Boden
das Recht (Servitus projiciendi cloaci), das er nach
dem Vertrag vom 4ten Mai wirklich beſitzt. Die Haupt¬
frage iſt jetzt, ob ein Hunds-Vertrag zwiſchen zwey
ſo groſſen Maͤchten — indem der Leſer alle Welt¬
theile hat und ich wieder den Leſer — nach dem
Schlieſſen noch zu halten ſey.
Friedrich, der Antimachiavelliſt, antwortet uns
und ſtuͤtzt ſich auf den Machiavell: allerdings muß
jeder von uns ſein Wort ſo lange halten, als er —
Nutzen davon hat. Dieſes iſt ſo wahr, daß ſogar
ſolche Traktaten nicht gebrochen wuͤrden, wenn ſie
gar nicht — geſchloſſen waͤren; und die Schweizer,
die noch 1715. einen mit Frankreich beſchworen,
haͤtten eben ſo gut in allen Kantons die Finger auf¬
heben und beeidigen koͤnnen, daß ſie alle Tage or¬
dentlich — ihr Waſſer laſſen wollten.
[208]
So bald aber der Nutzen von Vertraͤgen aufhoͤrt:
ſo iſt ein Regent befugt, deren zweyerlei zu bre¬
chen — die mit andern Regenten, die mit ſeinen
eignen Landes-Stiefkindern.
Als ich noch im Kabinet arbeitete (ſchon um 6
Uhr mit dem Flederwiſch, die Seſſionstiſche abzu¬
ſtaͤuben, nicht mit der Feder,) hatt' ich ein geſcheu¬
tes fliegendes Blat unter der letztern, worin ich die
Traktaten-Ouvertuͤre: au nom de la Sainte Trinité
tis fuͤr die Chiffre ausgeben wollte, die die Geſand¬
ten uͤber ihre Berichte zum Zeichen ſetzen, daß man
das Gegentheil zu verſtehen habe — es wurd' aber
nichts aus dem fliegenden Blatt als ein — Manu¬
ſcript. In dieſem war ich ſo dumm und wollte den
Fuͤrſten erſt rathen, von Noth-Luͤgen und Noth-
Wahrheiten der Traktaten muͤſten ſie in jeder Brei¬
te und Stunde dekliniren und inkliniren; ich
wollte die Staatskanzleien in einen Winkel zu mir
heranpfeifen und ihnen in die Ohren ſagen: ich
wuͤrd' es, und haͤtt' ich nur neun Regimenter in
Gold und Hunger, nicht thun und mir nicht mit
dem Wachs und Siegellak der Vertraͤge Haͤnde und
Fuͤſſe zuſammenpichen und mit der Dinte die Fluͤ¬
gel verkleben laſſen; das wollt' ich in die Staats¬
praxis erſt einfuͤhren — aber die Staatskanzleyen
lachten mich von weitem in meinem naͤrriſchen
Winkel[209] Winkel aus und ſagten: der Pfeifer muß doch den¬
ken, wir machens anders.
In den Werken des H. Herkommen — des
beſten deutſchen Publiziſten, der aber keine acta sanc¬
torum ſchreibt — wird es erwieſen, daß ein Lan¬
desfuͤrſt die Vertraͤge, Privilegien und Konzeſſionen
zwiſchen ſeinem Vorfahrer und den Unterthanen gar
nicht zu beobachten brauche; — daraus folgt, daß
er noch weit weniger ſeine eignen Vertraͤge mit
ihnen zu halten vonnoͤthen habe, da ihm die Nutz¬
nieſung dieſer Vertraͤge, die in nichts als im Hal¬
ten oder Brechen beſteht, offenklar als Eigenthuͤmer
gebuͤhre. H. Herkommen ſagt das naͤmliche auf
allen Blaͤttern und ſchwoͤrt gar dazu. — Ja kann es
einen Dekan oder einen Rektor Magnifikus geben,
der ſo entſetzlich dumm iſt, das ihm — da doch
nach einer allgemeinen Fikzion ein Koͤnig nicht ſtirbt
und mithin Vor- und Nachfahrer zu Einem Mann
ineinanderverwachſen — nicht der Schluß daraus
beyzubringen iſt, daß der Nachfahrer ſeine eigne
Vertraͤge fuͤr die ſeines Antezeſſors halten und mit¬
hin, da beyde nur Ein Mann ſind, eben ſo gut bre¬
chen koͤnne wie geerbte.
Wer philoſophiſch daruͤber reden wollte: der
koͤnnte darthun, daß uͤberhaupt gar kein Menſch
ſein Wort zu halten brauche, nicht blos Fuͤrſten.
Nach der Phyſiologie ruͤckt der alte Koͤrper eines
Heſperus, l. Th. O[210] Koͤnigs (eines Leſers, eines Berghauptmanns) in
drei Jahren einem neuen zu; — Hume treibts
mit der Seele noch weiter, weil er ſie fuͤr einen
dahinrinnenden (nicht gefrornen) Fluß von Erſchei¬
nungen haͤlt. So ſehr alſo der Koͤnig (Leſer, Au¬
tor) im Augenblick des Verſprechens an deſſen Hal¬
tung gefeſſelt iſt: ſo unmoͤglich kan er noch daran
gebunden ſeyn im naͤchſten Augenblick darauf, wo
er ſchon ſein eigner Nachfahrer und Erbe geworden,
ſo daß in der That von uns zweyen am 4ten Mai
kontrahirenden Weſen am heutigen Mai nichts mehr
da iſt als unſre bloſſen Poſthumi und Sukzeſſores.
Da nun gluͤcklicher weiſe niemals in einem und den¬
ſelben Augenblick zugleich Verſprechen und Halten
hineingeht: ſo kann die angenehme Folge fuͤr uns
alle daraus flieſſen, daß uͤberhaupt gar keiner ſein
Wort zu halten verbunden ſey, er mag Kuppel oder
Saͤgeſpahn eines Thrones ſein. Auch die Hofleute
(die Thron-Eckenbeſchlaͤge) ſetzen ſich dem nicht dar¬
wider.
Das Publikum wird gebeten, die Vorrede fuͤr
den zweiten Schalttag zu halten, damit Symmetrie
da iſt.
[211]
9. Hundspoſttag.
Himmels Morgen, Himmels Nachmittag — Haus ohne
Mauer, Berte ohne Haus —
Ach der arme Bergmann, der Minirer im Stein¬
ſalz und der Inſel-Neger haben in ihrem Kalender
keinen ſolchen Tag als hier beſchrieben oder repetirt
wird! Sebaſtian ſtand Donnerstags ſchon um 3 Uhr
auf dem Flugbret ſeines Bienenſtocks, um in Gros¬
kuſſeviz in Einem Tage anzulanden und um weg¬
zuſeyn eh' man auf war. Ein Leſer der einen Atlas
unten auf dem Fußboden hat, kan unmoͤglich dieſen
Marktflecken, wo die Uebergabe der Fuͤrſtenbraut
vorgeht, mit einem Namensvetter von Dorf verwir¬
ren, den die Stadt Roſtock zu ihrem Immobiliar¬
vermoͤgen geſchlagen. Das ganze Haus hatt' ihn
leider ſo lieb, daß es ſchon eine halbe Stunde fruͤ¬
her aus den Morgenfedern, woraus die groͤſten Fluͤ¬
gel der Traͤume gemacht werden, heraus war. Un¬
ter dem Getoͤſe der Wagenketten, Hunde und Haͤh¬
ne trennte er ſein ſanftes Herz von lauter liebenden
Augen und indem ihn das Klopfen des erſtern und
O 2[212] das Erweichen der andern verdroß, wurde alles noch
aͤrger: denn der aͤuſſere Laͤrm ſtillt die Seele.
Drauſſen ſchwammen alle Graspartien und Son¬
nenfelder im Tropfbad des Thaus und im kalten
Luftbad des Morgenwinds. Er wurde darinn wie
heiſſes Eiſen gehaͤrtet: ein Morgenland voll unuͤber¬
ſehlicher Hofnungen umzog ihn, er kleidete ſich aus,
warf ſich brennend ins tropfende Gras, wuſch ſich
(aber nicht aus aͤſthetiſchen Karnazions-Endzwecken
der Maͤdgen) das feſte Geſicht mit fluͤſſigem Junius¬
ſchnee und trat, mit ſtraffern Fiebern beſpannt, aus
dem Tropfbad in den Anzug — blos Haar und
Bruſt ſteckt' er in kein Gefaͤngniß.
Er waͤre gewiß eher abgegangen; aber er wollte
dem Monde ausweichen, den er ſo wenig mit der
Sonne zu gatten vermochte als die Kinder von bei¬
den, Nachtgedanken mit Morgengedanken. Denn
wenn die Morgenwolken um den Menſchen thauen,
wenn die liebenden Voͤgel ſchreiend durch den Glanz¬
nebel ſchieſſen, wenn die Sonne aus der Wolkenglut
verſchwillt: ſo druͤckt der erfriſchte Menſch ſeinen
Fuß tiefer in ſeine Erde ein und waͤchſet mit neuem
Lebens-Epheu feſter an ſeinen Planeten an.
Langſam watete er durch eine niedrige Haſelſtau¬
den-Allee und ſtreifte ungern ihre erkaͤlteten Kaͤfer
ab: er hielt an ſich und ſtand endlich, um ſich zu
verſpaͤten, weil er beſorgte, ins nahe Waͤldgen zu
[213] kommen, wenn gerade die Sonne ihr Theater betrat.
Er hoͤrte ſchon den muſikaliſchen Wirwar im Waͤld¬
gen — Roſenwolken waren als Blumen in die Son¬
nenbahn gebreitet — die Warte, dieſer Hochaltar,
worauf ſein erſter ſchoͤner Abend brannte, entflamm¬
te ſich — die ſingende Welt der Luft hing jauch¬
zend in den Morgenfarben und im Himmelsblau —
Funken von Wolken huͤpften vom Goldbarren am
Horizont empor — endlich wehten die Flammen der
Sonne uͤber die Erde herein.
Wahrlich wenn ich an jedem Abende den Son¬
nenaufgang mahlte und an jedem Morgen ihn ſaͤhe:
ich wuͤrde doch wie Kinder rufen: noch einmal, noch
einmal!
Mit betaͤubten Sehnerven und mit vorausſchwim¬
menden Farbenflocken gieng er langſam in den Wald
wie in einen dunkeln Dohm und ſein Herz wurde
gros bis zur Andacht. . .
— Ich will nicht vorausſetzen, daß mein Leſer
ein ſo proſaiſches Gefuͤhl fuͤr den Morgen habe,
um dieſes poetiſche unvertraͤglich mit Viktors Karak¬
ter zu finden — ja ich darf ſeiner Menſchenkenntniß
zutrauen, daß ſie wenig Muͤhe habe, zwiſchen ſolchen
diſſonen Toͤnen in Viktor, wie Humor und Empfind¬
ſamkeit ſind, den Leitton auszufinden: ich will mich
alſo unbeſorgt dem frohen Anſchauen ſeiner weichen Seele
und dem Vertrauen auf fremden Einklang uͤberlaſſen —
[214]
Der Venusſtern und ein Wald bluͤhen am ſchoͤn¬
ſten am Morgen und Abend: auf beide treffen dann
die meiſten Strahlen der Sonne. Daher war unſe¬
rem Viktor im Walde als gieng' er durch die
Pforte eines neuen Lebens, da er an dieſem
feurigen Morgen mit der Sonne, die neben ihm
von Zweigen zu Zweigen flog, durch das brauſende
Gehoͤlz, hinweg unter vollſtimmigen Aeſten, die ſo
viele bewegte Spiel-Walzen waren, uͤber das im
gruͤnen Sonnenfeuer ſtehende Moos und unter dem
ins himmliſche Blau getauchte Tannengruͤn hindurch
wankte. — Und an dieſem Morgen erneuerte ſich in
ſeinem Herzen die ſchmerzhafte Aehnlichkeit von vier
Dingen, — von dem Leben, einem Tage, einem
Jahre, einer Reiſe, die einander gleichen im fri¬
ſchen Jubel-Anfang — im ſchwuͤlen Mittelſtuͤck —
im muͤden ſatten Ende. — —
Drauſſen im Anfluge, im Hintergrund des Waͤld¬
gens rollte vor ihm die Natur ihr meilenlanges Al¬
tarblatt auch mit den Huͤgel Ketten deſſelben, mit
ſeinen blendenden Landhaͤuſern, die ſich mit Gaͤrten
wie mit Fruchtſchnuͤren putzten, mit den Miniatur¬
farben der Bluͤmgen, die ſich an der ſilbernen Schoͤn¬
heitslinie der Baͤche bewegten. Und eine Wolke
trunkner, ſpielender, ſchwirrender Miniaturweſen
aus Seidenſtaub zog und hieng uͤber das wallende
Gemaͤlde her. — Welchen Weg ſollte Viktor im La¬
byrinth der Schoͤnheit nehmen? — Alle 64 Radien
[215] des Kompaſſes ſtreckten ſich als wegweiſende Arme
aus und er hatte ſoviel Verſtand, daß er ſich keine
Stunde vorſetzte, um anzukommen — er wich daher
uͤberall rechts und links aus — er ſtieg in jedes
Thal, das ſich hinter einem Huͤgel verſteckte — er
beſuchte die durchbrochnen Schattenpartien jeder
Baumkolonnade — er legte ſich zu den Fuͤſſen jeder
ſchoͤnern Blume nieder und erquickte ſich mit plato¬
niſcher Liebe an ihrem Geiſte, ohne ihren Koͤrper
abzuknicken — er war der Reiſegefaͤhrte jedes gepu¬
derten Schmetterlings und ſah ſeinem Einwuͤhlen in
ſeine Blume zu, und der Grasmuͤcke folgte er durch
alle Gebuͤſche in ihre Brutzelle und Kinderſtube nach
— er lies ſich feſt machen durch den Kreis, den ei¬
ne Biene um ihn zog und lies ſie ruhig in den
Schacht ſeines Bouquets einſchlagen — er exerzirte
in jedem Dorfe, das ihm der bunte Grund vorhielt,
die Durchgangsgerechtigkeit und begegnete am lieb¬
ſten den Kindern, deren Tage noch ſo ſpielten wie
ſeine Stunden — —
Aber Menſchen mied er. . . . .
Und doch ſprang aus ſeinem Herzen eine hohe Quelle
der Liebe, die bis zum entfernteſten Bruder drang;
und doch war er ſo ſehr ohne Egoismus — ſo ohne
jene ſentimentaliſche Intoleranz, die den Grad
und die Quelle mit der herrnhutiſchen gemein
hat — — Der Grund war der: der erſte Tag einer
[216] Reiſe war ganz anders als der zweite, dritte, acht¬
zigſte. Denn am zweiten, dritten, achtzigſten war
er proſaiſch, humoriſtiſch, ſtiptiſch, d. h. er hing
ſich wie gehaͤckelter Same an jedes Menſchenherz
und ſchlug die Wurzeln ſeines Gluͤcks in jedem frem¬
den Schickſal ein. Aber am erſten Tage kamen ver¬
huͤllte Geiſter aus alten Stunden in ſeine Seele,
welche verſchwanden, wenn ein Dritter ſprach — ei¬
ne ſanfte Trunkenheit, die ihm der Dunſtkreis der
Natur wie der eines Weinlagers mittheilte, legte
ſich wie eine magiſche Einſamkeit um ſeine Seele. .
Warum will ich aber den erſten Tag ſchildern eh'
ich ihn ſchildere.
In den erſten Stunden war er heute — an der
Ouvertuͤre der Reiſe — friſch, froh, gluͤcklich, aber
nicht ſeelig; er trank noch, allein er war nicht trun¬
ken. Aber wenn er ſo einige Stunden mit ſchoͤpfen¬
dem Auge und ſaugendem Herzen gewandelt war
durch Perlenſchnuͤre bethaueter Gewebe, durch ſum¬
ſende Thaͤler, uͤber ſingende Huͤgel, und wenn der
blaulichte Himmel ſich friedlich an die dampfenden
Hoͤhen und an die dunkeln wie Gaͤrtenwaͤnde uͤber¬
einander ſteigender Waͤlder ſchlos; wenn die Natur
alle Roͤhren des Lebensſtromes oͤfnete und wenn alle
ihre Springbrunnen aufſtiegen und brennend inein¬
ander ſpielten von der Sonne uͤbermahlt: dann wur¬
de Viktor, der mit einem ſteigenden Herzen durch
[217] dieſe fliegende Stroͤme ging, von ihnen gehoben
und erweicht; dann ſchwamm ſein Herz bebend wie
das Sonnenbild, im unendlichen Ozean, wie der
ſchlagende Punkt des Raͤderthiers im flatternden
Waſſerkuͤgelgen dieſer Kaskaden ſchwamm — —
Dann loͤſete ſich in eine dunkle Unermeßlichkeit
auf die Blume, die Aue, der Wald; und die Far¬
benkoͤrner der Natur zergingen in eine einzige weite
Flut, und uͤber der daͤmmernden Flut ſtand der Un¬
endliche als Sonne, und in ihr das Menſchenherz
als zuruͤckgeſpiegelte Sonne — —
Alles ward Eins — alle Herzen ein groͤſtes —
ein einziges Leben ſchlug — die gruͤnenden Bilder —
die wachſenden Statuen — der Staubklumpe des
Erdglobus und die unendliche blaue Woͤlbung wur¬
den das anblickende Angeſicht Einer unermeßlichen
Seele — —
Er mochte immerhin die Augen zuſchlieſſen: in
ſeiner dunkeln Bruſt ruhte noch dieſe bluͤhende Un¬
endlichkeit — —
Ach wenn er ſich in die Wolken haͤtte hinauf¬
ſtuͤrzen koͤnnen, um auf ihnen durch den wehenden
Himmel, uͤber die unuͤberſehliche Erde zu ziehen! —
Ach wenn er mit dem Bluͤtendufte haͤtte uͤber die
Blumen hinuͤberinnen, mit dem Winde uͤber die Gip¬
fel, durch die Waͤlder haͤtte ſtroͤmen koͤnnen! —
O jetzt waͤr' er einem groſſen Menſchen lieber ans
[218] Herz gefallen und trunken und weinend in ſeinen
Buſen verſunken, um zu ſtammeln: »wie gluͤcklich iſt
»der Menſch!«
Er mußte weinen ohne zu wiſſen woruͤber — er
ſang Worte ohne Sinn, aber ihr Ton ging in ſein
Herz — er lief, er ſtand — er tauchte das gluͤhende
Angeſicht in die Wolke der Bluͤtenſtauden und wollte
ſich verlieren in die ſumſende Welt zwiſchen den
Blaͤttern — er druͤckte das zerritzte Angeſicht ins
hohe kuͤhlende Gras und hieng ſich im Taumel an
die Bruſt der unſterblichen Mutter des Fruͤhlings.
Wer ihn von weitem ſah, hielt ihn fuͤr wahnſin¬
nig: vielleicht jetzt mancher noch, der es nie ſelber
erfahren hat, daß durch die ausgehellte ſelige Bruſt,
wie durch den heiterſten Himmel, Sturmwinde zie¬
hen koͤnnen, die in beiden in Regen zerfließen.
In dieſer Tageszeit ſeines Wiedergeburts-Tages
gab ſein Genius ſeinem Herzen die Feuertaufe einer
Liebe, die alle Menſchen und alle Weſen in ihre
Flammen faßte. Es giebt gewiſſe koͤſtliche Wonne-
Minuten — ach warum nicht Jahre? — wo eine
unausſprechliche Liebe gegen alle menſchliche Ge¬
ſchoͤpfe durch dein ganzes Weſen fließet und deine
Arme ſanft fuͤr jeden Bruder aufthut. Das wenig¬
ſte war, daß Viktor, deſſen Herz in der Sonnenſeite
der Liebe war, jedem der ihm neben einem Berge
aufſties, gegen die ſteile Seite auswich — daß er
[219] vor keinem, der angelte, voruͤberging, um keinen
verſcheuchenden Schatten ins Waſſer zu werfen —
daß er langſam durch Schafe ging und vor dem
Kinde, das ihn ſcheuete, einen Umweg nahm —
Nichts ging uͤber die ſanfte Stimme, womit er je¬
dem Pilgrim mehr als dieſen gluͤcklichen Morgen
wuͤnſchte; nichts uͤber den vorausgeruͤhrten Blick,
womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren
Schwielen und Narben und Schnittwunden einen
Blutſchwamm oder ſchmerzenlindernden Tropfen noͤ¬
thig hatten, auskundſchaften wollte. »Ach ich weis
»es ſo gut als ein Famulus bei einem Profeſſor der
»Moral (ſagt' er zu ſich,) daß es keine Tugend,
»ſondern nur eine Wolluſt iſt, die Dornenkrone von
»einer zerritzten Stirne, den Stachelguͤrtel von wun¬
»den Nerven wegzunehmen — aber da auf ſo vielen
»Wegen zerſplitterte Menſchen liegen, warum ſtreckt
»auf meinem keiner ſeine Hand aus, damit ich et¬
»was hineinlegen koͤnnte fuͤr dieſen unverdienten
»Himmel in Bruſt.«
Er wollte ſeine Freude einem fremden Herzen
zum Koſten entgegen tragen wie die Biene ihren
Mund voll Honig in die Lippen einer andern uͤber¬
giebt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon
eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angeſtrickt
war: das andere war vornen als ſchiebender Fuhr¬
mann nachgeſpannt. Der Karren war mit ſechs
[220] loͤcherigten Saͤcken voll Tannenzapfen befrachtet; die
das arme Geſpann zu einem hektiſchen Feuer zuſam¬
menfuhr. Beide vertauſchten haͤufig ihre Chargen,
um es auszudauern; und der Fuhrmann wollte im¬
merfort ſogleich wieder der Gaul werden. »Ihr gu¬
»ten Kinder! kann denn nicht euer Vater ſchieben?«
— »Der Baum hat ihm die zwei Beine entzwei ge¬
»ſchlagen.« — »So koͤnnte doch Euer großer Bru¬
«der in den Wald?« — »Er muß dort brachen«
— Viktor ſtand am Brachacker neben einem Wams
mit eben ſo viel Farben als Loͤchern und neben ei¬
nem ſchmutzigen Brodſack, welches ſaͤmtlich dem Bru¬
der angehoͤrte, der in der Ferne mit einem halben
Poſtzug magerer Kuͤhe auf dem Theater dieſer Szene
ackerte. — — Eine volle Hand, die ſich in den
Schoos des Elends ausleerte, machte Viktors ſchwe¬
re Seele leichter wie das volle Auge, das ſich jener
nach ergoß: ſein Gewiſſen, nicht ſein Eigennutz, war
ſein Opponent gegen die Groͤße ſeiner Gabe — er
gab ſie doch, aber in kleinen Muͤnzſorten — die
Kinder verließen ihre Kaufmannsguͤter und das eine
lief uͤber das Feld hinuͤber zum Pfluge und das an¬
dre ins Doͤrfgen hinab zur Mutter. — Der Ackers¬
mann zog in der Ferne den Hut ab — wollte laut
danken, konnte ſich aber nur ſchneuzen — ackerte
ohne Hut heran — aber erſt als er dem Juͤngling
[221] den Dank nachrief, war dieſer ſchon aus dem Ge¬
hoͤr-Kreiſe hinausgefluͤchtet. . . .
— Wuͤnſche lieber Leſer, nicht dieſen und den
kommenden Zwiſchenakt des Menſchengrams aus den
großen Auftritten der gluͤcklichen Natur heraus und
dein Herz verdiene wie Viktor durch Geben das
Nehmen! —
Er kam in ſeiner gutherzigen Eile bald einem
fieberkranken Schmiedegeſellen nach, deſſen Reiſekof¬
fer oder Mantelſack ein angefuͤlltes Schnupftuch war:
am Stecken trug er noch ein entfaͤrbtes elendes
Stiefelpaar, das er ſchonen mußte, weil das andre,
das er an andern Stecken, naͤmlich an den Beinen
hatte, noch elender und weniger ohne Farbe als ohne
den Boden dazu war. Als er den Fabrikanten ſcho¬
nend gegruͤßet und beſchenkt hatte: ſo ſah er ihm ins
bleiche erſtorbene Geſicht und er konnte ihm einiges
Schmerzengeld nicht verſagen. . . . Ach das
ganze Schmerzengeld fuͤr dieſes Leben wird in einem
hoͤheren gezahlt! . . . Als er ihn hoͤflich ausgefragt
und ſich um ſeine hungrige Wanderſchaft, um ſeine
Zuchthaus-Koſt, um ſein Fluͤchten von Laͤndern in
Laͤnder und um ſeinen duͤnnen Zehrpfennig, den ihm
die Meiſterin abſchlug, wenn der Meiſter aus war,
erkundigt hatte: ſo ſchaͤmte er ſich vor dem [Allguͤti¬
gen] ſeines Blumenfeldes von Entzuͤckungen, das er
nicht mehr verdiene »wie der arme Teufel da« und
[222] er dotirte noch einmal nach — Und als er wieder
ihn erwartete und ſein funfzigjaͤhriges Alter ohne
Ausſicht erfuhr und als ihn die Beklemmung uͤber¬
waͤltigte, die ihm allzeit alte aber unentwickelte
Menſchen machten, graue Geſellen, alte Schreiber,
alte Proviſores, alte Famuli: ſo war er ja entſchul¬
digt, daß er wieder zuruͤcklief und dem erſtaunten
Alten ſtumm die neuen Zeichen ſeiner uͤberfließenden
begluͤckenden Seele gab — — Und als er in der
neuen Entfernung ſein in Liebe zergangnes, gleichſam
nur um ſeine Seele ſchwimmendes Herz immer mehr
nach Wohlthun duͤrſten, und als er einen unbegreif¬
lichen Hang zu neuem Geben und das Sehnen fuͤhl¬
te, irgend einem Menſchen heute alles, alles hinzu¬
legen: ſo merkt' er, daß er jetzt zu weich ſey und
zu ſeelig und zu trunken und zu ſchwach.
Sobald man im Dorfe die gewiſſen Nachrichten
von dieſem Tranſitozoll der Wohlthaͤtigkeit in Haͤn¬
den hatte: ſo legten ſich Nachmittags ungefaͤhr
15 Kinder in verſchiednen Diſtanzen an den Weg,
beſetzten die engen Paͤſſe und ſtellten Schildwachen
und enfans perdus aus, um Zoll-Defraudationen
abzukehren. . . .
Ein Menſch, der aus drei geraden Stunden ſie¬
ben krumme konſtruirte wie Viktor, hat oft Hunger
aber ſicher groͤßern als er; — er nahm blos das
Leibniziſche Monaden-Diner aus der Taſche, Zwie¬
[223] back und Wein, und ſpeiſete damit den an den Geiſt
gehangnen ziehenden Magen ab, um die helle mit
Himmelsblau und Himmelsroth ausgewoͤlbte See
ſeines Innern durch keine hineingeworfne Fleiſchſtuͤcke
dunkel und ſchmutzig zu machen. Ueberhaupt haßte
er Freſſer als Menſchen von zu grobem Eigennutz
ſo wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen
den Geiſt wie Schneeklumpen eine Huͤtte einquet¬
ſchen. Die Seele, ſagt er, nimmt von den Inlagen
des Koͤrpers, wie der Wein vom Obſt, das neben
ihm im Keller iſt, den Geruch an, und im mephiti¬
ſchen Dampfe, in dem die Seelen der Flachſenfinger
uͤber den ihre Kartoffeln und Biere ſiedenden Brau¬
keſſeln ihre Magen zappeln, muͤſſen wohl die armen
Voͤgelgen beſoffen und erſtickt in dieſes todte Meer
herunterfallen.
Er brach ſeinen Zwieback nicht in einem Hauſe,
ſondern im Knochengebaͤude, d. h. im Sparrwerk ei¬
nes Hauſes, das erſt aus den Haͤnden und Beilen
der Zimmerleute vor das Dorf gekommen war. In¬
dem er durch alle Diviſionen und Subdiviſionen die¬
ſes architektoniſchen Skelets und auf einmal durch
Stube, Kuͤche, Stall und Boden ſah: ſo dachte er:
»wieder ein Schauſpielhaus fuͤr eine arme kleine
»Menſchentruppe, die hier ihre Benefizkomoͤdie, ihre
»Gay's Bettleroper abſpielet, ohne daß eine Stim¬
»me aus der großen Loge ſchreiet: bis! Ach bis
[224] »dieſe Balken der Winterrauch zu Ebenholz geraͤu¬
»chert hat: wird manche Augenhoͤhle roth gequaͤlet
»werden; mancher Nordweſtwind des Lebens wird
»durchs Fenſter an zagende Herzen fahren und in
»dieſe Winkel, die erſt dunkel vermauret werden,
»wird mancher Ruͤcken mit Quetſchwunden vom
»Gewehrtragen des buͤrgerlichen Lebens treten, um
»den Schweiß abzutrocknen oder das Blut.«
Er ſah an die Stelle des Ofens und des Tiſches:
»aber die Freude wird euch Inſaßen auch ein Paar
»Nelkenbaͤume vors Fenſter ſetzen und mit dem
»Brautwagen der drei H. Feſte und der Kirmes und
»der Kindtaufe vor eurer Hausthuͤre, die erſt einge¬
»ſetzt wird, vorfahren und abladen. — Aber ſonder¬
»bar! daß ich mir hier im gegitterten alles das
»lieber denke als in den ausgemauerten Haͤu¬
»ſern des Dorfes dort ſehe.«
Unter dieſer Tiſch- und Baurede, wobei kein
Trinkglas zerſchlagen wurde, ſtrich die weiße Bruſt
der Schwalbe tief uͤber den Fuhrweg und ihr Schna¬
bel lud den geloͤſchten Kalk zu ihrem Dachſtuͤbgen
auf. Die Weſpe hobelte ſich aus dem Sparrwerk
Papierſpaͤhne zu ihrem Zwiebel-Globus. Die Spin¬
ne hatte ihr Spinnhaus ſchon ins große hineinge¬
knuͤpft. Alle Weſen zimmerten und mauerten ſich
im[225] im unendlichen Meere ihre kleinen Inſeln; aber der
wuͤhlende Menſch wendet ſich nicht um und ſieht
nicht‚ daß ihm alles aͤhnlich iſt.
Sebaſtian verließ ſein hoͤlzernes Hotel, ſein Ge¬
rippe von einem Frankfurthiſchen rothen Hauſe,
trunkner und gluͤcklicher als er aus einem ausgemau¬
erten haͤtte gehen koͤnnen. In gewiſſen Menſchen
breitet ſich eine dunkle Wehmuth, ein deſto groͤßerer
Seelen-Schatten aus, wenn die Schatten außer ih¬
nen am kleinſten ſind, ich meine um 1 Uhr Nach¬
mittags im Sommer. Wenn Nachmittags unter
der bruͤtenden Sonne Wieſen ſtaͤrker duftend und
welkend Waͤlder ſanfter brauſend und ruhend daſte¬
hen und die Voͤgel darin als ſtumme Figuranten
ſitzen; dann umfaßte im Eden, wouͤber ſchwuͤl das
Bluͤtengewoͤlke auflag, eine ſehnſuͤchtige [Beklommen¬
heit] ſein Herz — dann wurd' er von ſeinen
Phantaſien unter den ewigblauen Himmel des Mor¬
genlandes und unter die Weinpalmen Hindoſtans
hin verweht — dann ruhte er in jenen ſtillen Laͤn¬
dern aus, wo er ohne ſtechende Beduͤrfniſſe und ohne
ſengende Leidenſchaften auseinanderfloß in die traͤu¬
mende Ruhe des Braminen und wo die Seele ſich
in ihrer Erhebung feſthaͤlt und nicht mehr zittert
mit der zitternden Erde, gleich den Fixſternen, deren
Schimmer nicht zittert auf Bergen angeſchauet —
dann war er zu gluͤcklich fuͤr einen deutſchen Koloni¬
Heſperus. I. Th. P[226] ſten, zu dichteriſch fuͤr einen Europaͤer, zu ſchwelgend
fuͤr einen Nordpol-Nachbar. ... An jedem Som¬
mermorgen beſorgt' er, daß er am Sommernachmit¬
tage zu weichlich phantaſiren werde.
Das Faſten — der Wein — — der Himmel
— die Erde hatten heute ſeine Herzenskammern
ſo freigebig mit dem Schlaftrunk der Wonne
vollgegoſſen daß ſie, wenn nachgeſchuͤttet wurde,
uͤberfließen mußten durch die Augen. Jene goſſen
nach; und hinter ſeinen verdunkelten Augen, in ſei¬
nem uͤberſchatteten mit dem Gruͤn der Natur ausge¬
ſchlagnen Innern, das gleichſam abendrothe Vorhaͤn¬
ge dunkel machten, brach eine Farben-Nacht an,
in der alle kleine Geſtalten ſeiner Kindheit neblicht
aufſtiegen — das erſte Spielzeug des Lebens wurde
ausgelegt — ſeine erſten Wonnemonate ſpielten wie
kleine Engel auf einer Abendwolke und ſie konnten
nicht in ihren Fluͤgelkleidern um die große Wolke
fliegen und die Sonne verſengte ſie nicht. — —
Ach was er laͤngſt vergeſſen, laͤngſt verloren —
laͤngſt geliebt hatte — Lieder ohne Sinn und Toͤne
ohne Worte — namenloſe Geſpielen — beerdigte
Waͤrterinnen — verſtorbene Bedienten — dieſe alle
wurden lebendig, aber vor ihnen voraus ging am groͤ¬
ßeſten ſein erſter, ſein theureſter Lehrer Dahore in
England und ſagte zur zerſchmolzenen Seele: »wir
waren ſonſt beiſammen.« — O, dieſer ewig geliebte
[227] Geiſt, der ſchon damals in meinem Viktor die Fluͤ¬
gel ſah, die ſich nach der andern Welt aufrichten,
der ſchon damals mehr der Freund als der Lehrmei¬
ſter ſeines ſo weichen, ſo wogenden, ſo liebevollen,
ſo ahndungsvollen Herzens war, dieſer unvergeßliche
Geiſt wollte nicht weichen, ſeine Geſtalt ſchlug den
Leichenſchleier zuruͤck, fing an zu glaͤnzen und an zu
reden: »Horion, mein Horion, warſt du nicht an
»meiner Hand, warſt du nicht an meinem Herzen?
»Ach aber es iſt lange, daß wir uns geliebt haben
»und meine Stimme iſt dir nicht mehr kenntlich,
»kaum noch mein Angeſicht — ach die Zeiten der
»Liebe rollen nicht zuruͤck, ſondern ewig weiter hin¬
»ab.« Er lehnte ſich an einen Baum und trocknete
unaufhoͤrlich das Auge, das den Weg nicht mehr
fand und ſeine Blicke ruhten feſt an den Waͤldern,
die nach St. Luͤne gehen, und an den neblichten
Bergen, die ſich vor Maienthal und vor ſeinem zwei¬
ten Lehrer ſtellen. . . .
— Kuſſevitz ſprang vor.
Aber zu bald: ſeine bewegte Seele wollte noch
nicht unter fremde Menſchen. Es war ihm lieb,
daß er an eine umgeſtuͤrzte Rinne ſtieß, aus der
Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der ſie zu
Nachts behuͤtet, und an die Huͤtte auf zwei Raͤdern,
worin ihr Waͤrter ſchlaͤft. Er hatte eine eigne Neu¬
gierde und Vorliebe fuͤr kleine Kopien der Haͤuſer
P 2[228] er trat in oder an jede Koͤhlerhuͤtte, in jede Jaͤger-
und Vogelhuͤtte, um ſich mit ſeiner eignen Ein¬
ſchraͤnkung und mit den Parodien unſers kleinen Le¬
bens und mit dem Erdgeſchoß der Armuth zu betruͤ¬
ben und zu erfreuen. Er ging vor nichts Kleinem
vorbei, woruͤber der Welt- und Geſchaͤftsmann ver¬
ſchmaͤhend ſchreitet; ſo wie er wieder vor keinem
Pomp des buͤrgerlichen Lebens ſtehen blieb. Er
machte alſo ein Thuͤrgen am Fahr-Bette des Schaͤ¬
fers auf: es ſah drinnen ſo armſelig aus und das
Stroh, das Eider-Dunen und Seidenſaͤcke erſetzte,
war ſo niedrig und zerknuͤlt, daß er ſich unbeſchreib¬
lich hineinſehnte: er brauchte jetzt eine Taͤucherglocke,
die ihm aus dem treibenden, druͤckenden erhabnen
Meere um ihn abſonderte. Ich wollt', man koͤnnt'
es den europaͤiſchen Kabinetten, dem Reichstag und
dem Prinzipalkommiſſarius verbergen, daß er ſich
wirklich hineinlegte. Hier aber ging die Anſpan¬
nung ſeiner Sinnen, in die die Bett'-Pforte nur ei¬
nen kleinen Ausſchnitt vom Himmelblau einließ,
bald in die Erſchaffung des Schlummers zuruͤck und
uͤber das heiße Auge ſank das Augenlied.
[229]
10. Hundspoſttag.
Zeidler — Oszilliren Zeuſels — Ankunft der Prinzeſſin.
Seit einem Poſttage ſchlaͤft der Held. Die deut¬
ſchen Rezenſoren ſollten mir den Gefallen thun,
ihn anfzuſchreien. — —
Aber Schelme ſind ſie, dieſe Nachrichter und
Maſkopeibruͤder der Zenſoren: ſie wecken weder Leſer
noch Fuͤrſten, nur homeriſche Schaͤfer auf. Die
Sonne ſteht ſchon tief und guckt gerade wagrecht in
ſein D. Grahams-Bette und er gluͤht noch vor
ihr. . . .
— Das Schafvieh mußt' es thun durch Bloͤcken
und Glocken. Als in ſeine aufgehenden Ohren die
Thurmglocke aus Groß-Kuſſeviz, unter dem Akkom¬
pagnement der Schafglocken, mit einem in Muſik
geſetzten Abendgebet eindrang — als in ſeine auf¬
gehenden Augen der rothe Schattenriß der ver¬
gangnen Sonne, die ſeine heutigen Paradieſe beſchie¬
nen hatte, und das Abendroth einfiel, deſſen Gold¬
blaͤtgen der Abendwind den Wolken anhauchte —
als die wie ſein Blumenſtrauß bethauete Luft ſeine
Bruſt erfriſchte: ſo war der heutige ſchwuͤle Nach¬
[230] mittag um eine ganze Woche zuruͤckgerollet; Viktor
war in eine neue ſeelige Inſel herabgefallen: neuge¬
boren und froh kroch er ruͤckwaͤrts aus ſeiner fahren¬
den Habe. »O ich tolles Ich! ſagt' er — ich freue
»mich aber nicht außerordentlich daruͤber, daß ein
»halbes Loth Schlafkoͤrner eine ganze gluͤhende
»Welt im Menſchen wegbaitzen kann, ganz weg — und
»daß das Umlegen des Koͤrpers der Erdfall ſei¬
»nes Paradieſes und ſeiner Hoͤlle wird.«
Auf der Landſtraße ſprangen zwei Saͤnftentraͤger
in kurzem Gallop zwiſchen den Trageſtangen ihres
ledernen Wuͤrfels dahin. Er ſetzte ihnen nach —
ihre Laſt, dacht' er, muß ihnen noch viel leichter
ſeyn als ein ganzes Land, und deſſen Zepter, die
beide gleichwohl ein Regent wie ein Gauckler den
Degen, tanzend zu tragen verſteht auf der Naſe, auf
den Zaͤhnen, auf allem. Sie trugen aber das
ſchwerſte Ding in der Welt, worunter oft Staͤdte
und Thronen und Welttheile einbrachen.
»Womit ſetzt ihr ſo herum?« fragt er. — »Mit
»unſerem allergnaͤdigſten Herrn! — Januar wars —
es iſt aber den aͤſthetiſchen Kunſtgriffen, womit ein
Autor die Erwartung ſeiner Leſer ſo außerordentlich
anſpannt‚ ganz gemaͤß, daß ich's nicht eher eroͤfne,
was von Jenner in der ſpringenden Saͤnfte ſaß, als
in dem folgenden Wort.
[231]
Sein Poetrait wars. Sein Bruſtſtuͤck reiſete
allemal vor der Braut voraus, um bei Zeiten in
ihrem Schlafzimmer anzukommen und ſich an die
Wand an einen Nagel zu begeben. Auf der ganzen
empfindſamen Reiſe hatte der Kubikinhalt der
Braut in lauter Zimmern geſchlafen, an denen der
Flaͤcheninhalt des Braͤutigams wie eine Kreutz¬
ſpinne die ganze Nacht herunterhing. . .
Da ich mir durch den Barrieren-Traktat, den ich
mit dem Vetter Leſer abgeſchloſſen, das Recht auf
keine Weiſe abgeſchnitten haben will, außer den
Schalttagen auch noch Extrablaͤtter — Extrablaͤttgen
— und Pſeudo-Extrablaͤtter zu machen, indem ich
mirs vielmehr durch gewiſſe geheime Separatartikel,
die ich blos im Kopfe gemacht wie der Pabſt gewiſſe
Kardinaͤle, erſt ertheilt habe: ſo will ich das Recht,
das mir mein von mir gemachter Neben-Rezeß an¬
beut, auf der Stelle exerziren.
Extrablaͤttgen uͤber obige Bruſtſtuͤcke.
Ich behaupte, — ſagt' ich auf dem Billard in
Scheerau als ich gerade nicht ſtieß — daß Herzoge,
Marg- und andre Grafen und viele vom hohen
Adel dumm waͤren, wenn ſie in unſern Tagen —
oder gar in den kuͤnftigen — wo die Scheitelhaare
ſich fortmachen eh die Barthaare ankommen — wo
manchem Geſicht zur Brille nichts fehlt als der
[232]Sattel dazu — wo beſonders der Mann von
Stande froh iſt, ſtatt eines Abguſſes doch ein
Abriß von einem Menſchen zu ſeyn — nicht weiſe
waͤren ſie, rekapitulirt' ich, wenn ſie kein beſſeres
Beilager hielten als ein wahres, kein gemahltes,
naͤmlich; wenn ihre Bruſtbilder auf nichts beſſers
— an keine Bruſt naͤmlich — gedruͤckt wuͤrden als
auf zinnerne Deckel von Bierkruͤgen, ſo daß ſie auf
keine andre Art berauſchten als auf die letztere;
und wenn ſie, da ſie uͤberall durch Bevollmaͤchtigte
agiren auf Reichsbaͤnken, in Seſſionsſtuͤhlen, in
Brautbetten (bei der Vermaͤhlung durch Geſandte)
daͤchten, es gaͤbe in der Sache einen treuern und
unſchuldigern Prinzipalkommiſſarius als eine Elle
Leinwand, worauf ſie ſelber hingefaͤrbt ſind. .. Da
wir gerade in Menge ſpielten und ich gerade Koͤnig
war und im Enthuſiasmus ſo fortfuhr: »was Teu¬
»fel! wir Koͤnige wiſſen die in der Tugend und in
»der Ehe bildenden Kuͤnſte geſcheut genug
»durch die zeichnenden zu erſetzen; und nicht
»bloß im Billard ſteht ein Koͤnig ganz muͤſſig da
»mit ſeinem Zepter-Quee!« ſo ſollte und konnte
der Enthuſiasmus wenig frappiren.
Ende des Extrablaͤttgens uͤber obige
Bruſtſtuͤcke.
Beim Grafen von O — ſo hieß im ſiebenjaͤhri¬
[233] gen Kriege auch ein beruͤhmter Offizier und bei
Shakeſpear die Erde: und das ganze Gebet einer al¬
ten Frau; und nach Bruͤce liebten die Hebraͤer die¬
ſen Vokalis vorzuͤglich: das iſt aber im Grunde hier
unnuͤtze Gelehrſamkeit — logirten die Prinieſſin und
der kouleurte Eheherr. Viktor wollte ſich mit ſei¬
nem heutigen Anzug und ſeinem heutigen Herzen
nicht in den Taumel der Welt miſchen — und waͤre
doch gern bei allem geweſen.
Aus Kuſſeviz draͤngte ſich ein rothes weißes klei¬
nes Haͤusgen hervor, ſo roth wie ein Eichhornbauer
und ſo froͤlich wie ein Gartenhaus. Er trat hinan
und an deſſen wiederſcheinende Fenſter — aber wie¬
der davon zuruͤck: er wollte ein altes Menſchenpaar,
fuͤr das die Glocke die Orgel geweſen, gar hinausbe¬
ten laſſen. Als er mit ſeinem vom Wiederſchein
der heutigen Verklaͤrung erhoͤhten Geſichte hinein¬
trat: wandte ein alter Mann einen Silberkopf, der
wie ein lichter Mond uͤber den Abend ſeines Lebens
ſtand, mit laͤchelnden Runzeln gegen den Gaſt —
Nur ein Heuchler — der Agioteur der Tugend —
iſt nach dem Beten nicht ſanfter und gefaͤlliger.
Die alte Frau legte zuerſt die Mine der Andacht ab.
Viktor begehrte mit ſeiner ſiegenden Unbefangenheit
— ein Nachtquartier. Es ihm bewilligen — das
konnten nur ſo zufriedne Leute wie dieſe; es verlan¬
gen — das konnte nur einer der ſo wie er die Wir¬
[234] the floh, weil ihre mit jedem Gaſt ankommende und
abgehende eigenſuͤchtige kalte Theilnahme und Liebe
ſeiner warmen Seele zu ſehr zuwider war. Zwei¬
tens zog ihn die Reinlichkeit an, die ſogar der
Schmutzfink in fremden Stuben liebt und die dar¬
in ein Beweis der Zufriedenheit und der — Kin¬
derloſigkeit iſt. Drittens wollt' er im Inkognito
und aus dem Gaſſen-Gewuͤhle heute mit ſeiner von
der Natur geweihten Seele bleiben.
Er wurde bald einheimiſch: noch eh' das Eſſen
abgewaſchen und abgeblattet und fertig war, hatt'
ers heraus oder vielmehr hinein, daß der ſanfte
Greis — Lind mit Namen — ein Zeidler ſey.
Letzteres glaub' ich: denn ſonſt waͤr' er nicht ſo
ſanft wie denn in den meiſten Faͤllen die thieriſche
Geſellſchaft weniger verdirbt als menſchliche; daher
Plato die Langiſchen Kolloquia mit den Thieren
als das Beſte aus Saturns goldner Regierung an¬
giebt. Es iſt nicht einerlei, ob man ein Hunds-
ein Loͤwen- oder ein Bienenwaͤrter iſt: denn unſer
Thiergarten im Unterleib — nach der platoniſchen
Allegorie — bellt und bloͤkt dem Uniſono des aͤuſ¬
ſern nach. — Als Viktor vollends mit dem Alten
um das Haus und um die Bienenkoͤrbe ging: ſo
kam er wieder ins Tafelzimmer mit dem Geſichte
eines Menſchen, der in der Kuſſevitzer Kirche ſchon
einen Stuhl und im Kirchenbuch eine Blattſeite be¬
[235] hauptete: wußt' er nicht ſchon, daß der Bienenvater
drei Pfarrer und fuͤnf Amtmaͤnner in Kuſſeviz zu
Grabe begleitet — daß er die erſte Hochzeit mit ſei¬
ner Mutter (ſo hieß er die Frau) im Alter gemacht,
in das ſonſt die Silberhochzeit faͤllt — daß ſein
Kopf noch das Gedaͤchtniß und die Haare habe —
daß er unter den Sargdeckel ſchwarze Augenbraunen
zu bringen gedenke — daß er, Lind, ganz und gar
nicht, wie etwa der alte Gobel und ſelber der
Vogt Stenz in der Kirche der Augen wegen die
Poſition neben dem Kirchenfenſter zu nehmen brau¬
che, ſondern ſeinen Vers uͤberall leſen koͤnne und
daß er jaͤhrlich nach Maienthal in die Kirche ein¬
mal gehe und ein Kopfſtuͤck in den kanoniſchen Bil¬
lardſack ſtoße, weil der Kirchhof da alle ſeine Ver¬
wandten vaͤterlicher Seits bedecke?
Ach dieſe Zufriedenheit mit den Abendwolken
des Lebens erquickt den hypochondriſchen Zuhoͤrer
und Zuſchauer, deſſen melancholiſcher Saitenbezug
ſo leicht in eines alten Menſchen Gegenwart gleich
einem Todesanzeigen zu zittern anfaͤngt; und ein
feuriger Greis ſcheint uns ein unſterbliches, gegen
die Todesſenſe [verhaͤrtetes] Weſen und ein in die
zweite Welt wegweiſender Arm! — Viktor beſonders
ſah, mit ſchweren Gedanken, in einem alten Men¬
ſchen eine organiſirte Vergangenheit, gebuͤckte verkoͤr¬
perte Jahre, den Gipsabdruck ſeiner eignen Mumie
[236] vor ſich ſtehen. Jeder kindiſche, vergeßliche, ver¬
ſteinerte Alte erinnerte ihn an die Eiſenhammermei¬
ſter, die in ihrem Alter wie die Menſchenſeele ein
krebsgaͤngiges Avancement erdulden und wegen ihrer
gewoͤhnlichen Erblindung wieder Aufgieſſer — dann
Vorſchmidte — dann Huͤttenjungen werden. Der
gute Newton, Linnee, Swift wurden wieder Huͤt¬
tenjungen der Gelehrſamkeit. Aber ſo ſonderbar¬
furchtſam iſt der Menſch, daß er, der die Seele
bey der groͤſten vortheilhaften Abhaͤngigkeit von
den Organen doch noch fuͤr einen Selbſtlauter
anſieht, — und mit Recht —, gleichwohl bey einer
nachtheiligen beſorgt, ſie ſey blos der Mitlau¬
ter des Koͤrpers, — und mit Unrecht — — —
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort ei¬
nem Paſſagier die beſte Naturaliſazionsakte giebt —
und da Viktor nirgends faͤhig war, ein Fremder zu
ſeyn: ſo gieng er — ein wenig hinaus. In man¬
chen Naͤchten wird es nicht Nacht. Er ſah drauſ¬
ſen — nicht weit von den Gartenſtaketen des Se¬
niors, nicht des adelichen ſondern des geiſtlichen —
ein ſehr ſchoͤnes Maͤdgen ſitzen, in ein lateiniſches
Pfingſtprogramm vertieft und daraus mit gefalteten
Haͤnden betend. Einer vereinigten Schoͤn- und Toll¬
heit widerſtand er nie: er gruͤſte ſie und wollte ſie
ihr lateiniſches Gebetbuch nicht aufrollen und einſte¬
[237] cken laſſen. Die gute Seele hatte, da ſie ihr Ge¬
betbuch und Paternoſter verlohren, aus dem Pfingſt¬
programm de Chalifis litterarum studiosis ihre An¬
dacht mit Leichtigkeit verrichtet, da ſie weder La¬
teiniſch noch Leſen konnte und das Haͤndefalten fuͤr
die Maueriſche Manual-Pantomime anſah, die man
hoͤhern Orts ſchon verſtehen wuͤrde. Sie wickelte
einen ſechſten amputirten Finger aus einem Papier
heraus und ſagte, den haͤtte das Marienkloſter zu
Flachſenfingen, an deſſen Mutter Gottes ihr Vater
ihn zur Dankbarkeit habe henken wollen, nicht ange¬
nommen, weil er nicht von Silber waͤre. — Da Buͤffon
den Fingern des Menſchen die Deutlichkeit ſeiner
Begriffe zuſchreibt — ſo daß ſich die Gedanken zu¬
gleich mit der Hand zergliedern —: ſo muß einer,
der eine Sexte von Finger hat, um ⅙ deutlicher
denken; und blos ſo einer koͤnnte mit einem ſolchen
Supranumerar-Schreibfinger mehr in den Wiſ¬
ſenſchaften thun als wir mit der ganzen Hand. —
Sie erzaͤhlte, daß ihr Vater ſie erſt in zwey
Jahren heyrathen werde, und daß ſein Sohn ihre
Schweſter bekommen koͤnnte, wenn dieſe nicht erſt
ſechs Jahre alt waͤre — und daß ſie beyde wie an
Kindesſtatt beim Sechsfinger angenommen worden —
und daß er ſeine Bijouteriebude, womit er aus ei¬
nem graͤflichen Schloſſe ins andre wanderte, gerade
in dem des Grafen von O. habe nebſt Tiſch und
[238] Wohnung — und daß er ein Italiener ſey mit Na¬
men — — Toſtato. Ach! den kannte ja Viktor
ſo gut. Ohne weitere Frage — er gieng ohnehin
mit jedem Maͤdgen und mit jedem Spitzhunde ein
Paar Sabbatherwege und ſagte, zwiſchen einem
neuen und einem ſchoͤnen Geſichte wuͤrd' er gar kei¬
nen Unterſchied machen, wenn er auch muͤſte —
marſchirte er mit ihr gerade hin zum Vater beim
Grafen. Er enthuͤlſete immer mehr an ſeiner klei¬
nen Geſellſchaftsdame: ſie war nicht nur auſſeror¬
dentlich ſchoͤn, ſondern auch eben ſo — dumm.
Jetzt aber entlief ſie ihm: der Flachſenfingiſche
Hofſtaat kam gefahren und ſie muſte das Ausſteigen
der Damen ſehen. Er hielt ſich nahe an den
Schwanz des ganzen Corps, der noch auf der Straße
aufſtreifte, indes der halbe Rumpf ſchon im Schloſſe
ſteckte. Der nachfahrende Schwanz war etwas kurz
und duͤnn, der Hofapotheker Zeuſel, der aus Eitel¬
keit mit ſeinen 54 Jahren und Jugendkleidern und
mit ſeiner ſtoßenden Kutſche bey der Sache war.
Das kleinſte Maͤnchen von der Welt war im groͤſten
Wagen von der Welt ſo wenig fuͤr ein ens zu neh¬
men, daß ich ſeinen Wagen fuͤr einen leeren Zere¬
monienwagen anrechne, in dem ihn der Kutſcher wie
einen duͤrren Kern in einer Wallnuß ſchuͤttelte.
[239]
Ich wills weitlaͤuftig beſchreiben, wie ihn der
Kutſcher worfelte und ſiebte, und mich dafuͤr in un¬
wichtigern Dingen kuͤrzer faſſen.
Wenn ichs freylich dem Kutſcher zuſchreibe und
ſage, daß er dem Kutſchkaſten durch Steine und
Schnelle jenen harten Pulsſchlag zu geben wuſte,
daß Zeuſel mehr auf der Luft aufſaß als auf dem
Kutſchkiſſen: ſo wird Kaͤſtner in Goͤttingen gegen
mich ſchreiben und darthun, daß der Apotheker ſel¬
ber durch die Reakzion, die er dem Kiſſen durch
ſeinen Hintern that, an dem Abſtoſſen des gleich¬
namigen Poles ſchuld war; allein hier iſt uns hof¬
fentlich weniger um die Wahrheit als um den Apo¬
theker zu thun. Viktor als Hofdoktor nahm von
Weitem Antheil am Hofapotheker und lachte ihn
aus; ja er haͤtte ihn gern gebeten, ihn einſetzen zu
laſſen, damit ers deutlicher ſehen koͤnnte, wie der
gewandte Vetturin den Zeuſelſchen Ball geſchickt in
die Luͤfte ſchlug. Aber den weichen Nerven Viktors
wurden komiſche Szenen durch das phyſiſche Leiden,
das ſie in der Wirklichkeit bey ſich fuͤhren, zu hart
und grell — und er begnuͤgte ſich damit, daß er
dem ſpringenden Kaſten hinten nach gieng und ſich
es blos dachte, wie drinnen das Ding ſtieg gleich
einem Barometer, um das heitere Wetter des be¬
ſoffnen Kutſchers anzudeuten — er mahlte ſichs blos
aus (daher ichs nicht brauche), wie das gute Hof¬
[240] maͤnnchen bey einem Klimax, wozu es der Kerl trieb,
indem er jede Erhebung mit einer groͤſſern endigte,
die linke Hand ſtatt in die Weſtentaſche, in den
Kutſchenriemen ſtecken und in der rechten eine Priſe
Schnupftabak ſeit einer Stunde waͤrmen und druͤcken
muß und ſie aus Mangel an Solſtizium nicht eher
in die oͤde Naſe heben kann als bis der Spitzbube
von Kutſcher ſchreiet: brrrr!
Fort! ſagte die Dumme zu Viktor und zog ihn
zum Vater. Der Italiener machte ſeine Windmuͤh¬
len-Geſtus und legte ſich an Viktors Ohr an und
ſagte leiſe hinein: dio vi salvi; und dieſer dankte ihm
noch leiſer ins italieniſche gran merce. Darauf
that Toſtato drey oder vier ungemein leiſe Fluͤche
in Viktors Gehoͤr. Er hatte nicht den Verſtand
verlohren, ſondern nur die Stimme, und durch
nichts als einen Katarrh. Er fluchte und kondolirte
daruͤber, daß er gerade morgen ſo Stockfiſch-ſtumm
ſeyn muͤſſe, wo ſo viel zu ſchneiden waͤre. Viktor
gratulirte ihm aufrichtig dazu und bat ihn, er moͤch¬
te ihn bis auf Morgen nicht nur zum Doktor an¬
nehmen, ſondern auch zum Aſſocie und Sprecher:
er wolle morgen in der Bude fuͤr ihn reden, um
beſſer und inkognito allem zuzuſehen. »Wenn ihr
»mir heute, ſagte Toſtato, noch eine luſtige Hiſto¬
»rie erzaͤhlt.» Da er nun die von Zeuſel herbrach¬
te mit einer italieniſchen Syſtole und Diaſtole der
[241] Haͤnde; und da Toſtato daruͤber naͤrriſch wurde vor
Spas — der Italiener und Franzoſe lachen mit dem
ganzen Koͤrper, der Britte nur im Gehirne —: ſo
wars kein Wunder, daß er mit ihm in Handels-
Kompagnie trat. Das Phyſikat fieng er damit an,
daß er dem Pazienten dem Strumpf auszog und da¬
mit den kakophoniſchen Hals umringelte, weil ein
warmer Strumpf mit gleichem mediziniſchen Vor¬
theil am Fuß und am Hals getragen wird — mit
einem Strumpfband iſts anders.
Jetzt kam ihm die Schoͤnheit und Dummheit der
Programmen-Beterin noch groͤſſer vor; er haͤtte ſie
gern gekuͤßt; es war aber nicht zu machen: der Bi¬
joutier ſetzte uͤberall ſeinen witzigen Evakuazionen nach
und hielt die zwey Ohren unter.
Er ſagte bey dieſer Gelegenheit, als er an die
deutſche Kaͤlte gegen Witz und ſchoͤne Kuͤnſte dachte,
das grundfalſche Bonmot: der Britte, der Gallier
und der Italiener ſind Menſchen — die Deutſchen
ſind Buͤrger — dieſe verdienen das Leben —
jene genieſſen es; und die Hollaͤnder ſind eine
wolfeilere Ausgabe der Deutſchen auf bloſſem Druck¬
papier ohne Kupfer.
Er wollte wieder zum Zeidler Lind zuruͤck: als
ſo ſpaͤt in der Nacht — ſo, daß der Hoffourier die
Erſcheinung dieſes Haarkometen um eine ganze
Stunde zu bald in ſeinen aſtronomiſchen Tabellen
Heſperus. I. Th. Q.[242] angeſetzt hatte — die Prinzeſſin ſammt ihrem Be¬
gleitungs-Dunſtkreiß anfuhr. Da er ſo lange von
ihr geſprochen hatte: ſo brauchte er, um ſie zu lie¬
ben, nichts als noch das Rollen ihres Wagens und
das Seidengeraͤuſch ihres Ganges zu hoͤren. »Eine
»fuͤrſtliche Braut ſagt' er, iſt viel eher auszuſtehen
»als eine andre: man zeige mir zwiſchen einer Kron¬
»Prinzeſſin einer Kron-Braut und einer Kron Ehe¬
»frau einen andern Unterſchied als der Staatskalen¬
»der angiebt. »Wer noch bedenkt, daß er ihre per¬
ſoͤnliche Abneigung gegen den Fuͤrſten kannte, der
bey der erſten Vermaͤhlung ſie ihrer Schweſter nach¬
geſetzt hatte — und wer jetzt lieſet, daß ihm To¬
ſtato ſagte, mit einem Schnupftuch in der Hand
ſey ſie ausgeſtiegen: der iſt ſchon ſo geſcheut, daß
er ſich uͤber die Rede nicht erzuͤrnt: ich wollte,
»dieſe Kronthiere, die einem ſo ſchoͤnen Kinde ſo
»ſchoͤne weiche Haͤnde wegſchnappen duͤrfen, wie
»Schweine den Kindern die zarten abfreſſen — —
»ich wollte . . . Aber meine Waaren ſind doch
»morgen nahe genug an ihr, daß das Schnupftuch
»zu ſehen iſt, Herr Aſſocie?» — —
Beim Bienenvater, zu dem er heimkehrte, war
eine ruhigere Welt und ſein Haus ſtand im Gruͤnen
ſtumm wie ein Kloſter des Schlafes und eine heilige
Staͤtte der Traͤume. Viktor ſchob auf dem Dachbo¬
den ſein Bettgen vor eine Muͤndung des einſtroͤmen¬
[243] den Mondes, und ſo uͤberbauet mit verſtummten
Schwalben- und Weſpenneſtern ſah er die Ruhe in
Lunens Geſtalt auf ſein eignes niederſchweben —
aber ſie laͤchelte ihn ſo maͤchtig an bis er ſich in
unſchuldige Traͤume aufloͤſete. Guter Menſch! du
verdienſt das Blumenparterre von Freuden- Blu¬
menſtuͤcken der Traͤume und ein friſches Kopf-
und Bruſtbouquet im Wachen — du haſt noch kei¬
nen Menſchen gequaͤlt, noch keinen geſtuͤrzt, keine
weibliche Ehre bekriegt, deine eigne nie verkauft;
und biſt blos ein wenig zu leichtſinnig, zu weich, zu
luſtig, zu menſchlich!
Q 2[244]
11. Hundspoſttag.
Uebergabe der Prinzeſſin — Kuß-Kaperei — montre à regula¬
teur — Simultan-Liebe. —
Voltaire, der kein gutes Luſtſpiel ſchreiben konnte,
waͤre nicht im Stande, den eilften Hundspoſttag zu
machen. —
Bey dem eilften Hundstag bemerk' ich freylich,
daß die Natur Gewaͤchſe mit allen Anzahlen von
Staubfaͤden geſchaffen, nur keine mit eilf; und auch
Menſchen mit eilf Fingern ſelten.
Inzwiſchen iſt das Leben gleich den Krebſen, am
ſchmackhafteſten in den Monaten ohne R.
Darwider ſagen einige, die Feder eines Autors
gehe wie eine Uhr, deſto ſchneller, je laͤnger ſie geht;
ich aber wend es um und ſage, aus Polygraphen
werden vielmehr Tachygraphen.
Und doch will man Menſchen, die das fuͤnfte
Rad am Wagen ſind, nicht leiden; aber jedem Ruͤſt¬
wagen iſt ein fuͤnftes hinten aufgeſchnallet und im
Ungluͤck iſt ein ſolches Rad ein wahres Gluͤcksrad.
Reinhold las Kants Kritik fuͤnf mal durch eh' er
ihn verſtand — ich erbiethe mich, ihm verſtaͤndlicher
[245] zu ſein und verlange nur halb ſo oft geleſen zu
werden.
Frey herauszureden, ſo heg' ich einige Verach¬
tung gegen einen Kopf voll Spring-Ideen, die
mit ihren Springfuͤſſen von einer Gehirnkammer in
die andre ſetzen: denn ich finde keinen Unterſchied
zwiſchen ihnen und den Springwuͤrmern im Ge¬
daͤrme, die Goͤze vor einem Licht drei Zolle hoch
ſpringen ſah.
Allerdings haͤngt der folgende Gedanke nicht recht
mit der vorigen Schluß- und Blumenkette zuſam¬
men: daß ich beſorge, Nachahmer zu finden, um ſo
mehr da ich hier ſelber einer von gewiſſen witzigen
Autoren bin. In Deutſchland kann kein groſſer
Autor eine neue Fackel anbrennen und ſie ſo lange
in die Welt hinaushalten bis er muͤde iſt und das
Stuͤmpgen wegwirft, ohne daß die kleinen daruͤber
herfallen und mit dem Endgen Licht noch halbe Jah¬
re herumlaufen und herumleuchten. So liefen mir
(und andern) in Regenſpurg tauſendmal die Buben
nach und hatten Ueberbleibſel von Wachsfackeln, die
das Geſandten-Perſonale weggeworfen hatte,
in Haͤnden und wollten mich bis zu meinem Haus¬
wirth leuchten fuͤr wenige Kreutzer. . . . Stultis
sat!
— Viktor eilte am Morgen ins Schloß. Er
bekam eine merkantiliſche Redoutenkleidung und die
[246] Bude. Um zehn Uhr fiel die »Uebergabe» der Prin¬
zeſſin vor. Die drei Zimmer, worin ſie vergehen
ſollte, lagen mit ihren Fluͤgelthuͤren ſeinem Kauf¬
laden entgegen. Er hatte die Prinzeſſin noch nie
geſehen — auſſer die ganze Nacht in jedem Traum
— und konnt' alles kaum erwarten. . .
Und der Leſer auch: ſchneutzt er nicht jetzt Licht
und Naſe — fuͤllt Pfeife und Glas — aͤndert die
Poſizion, wenn er auf einem ſogenannten Leſe-Eſel
reitet — druͤckt das Buch glatt auseinander und
ſagt mit ungemeinem Vergnuͤgen: »auf die Be¬
»ſchreibung ſpitz' ich mich gewiſſermaſſen?» — Ich
wahrlich nicht: mir iſt als ſollt' ich arquebouſirt
werden. Wahrhaftig ein Infanteriſt, der mitten
im Winter Sturm laͤuft gegen eine feindliche Mauer
vom dickſten Papier in einer Oper, hat ſeinen Him¬
mel auf der Erde, mit einem Berghauptmann mei¬
nes Gelichters verglichen.
Denn einer, der Kaffee trinkt und eine Beſchrei¬
bung von irgend einem Schulaktus des Hofs ma¬
chen will — z. B. von einem Courtag — von ei¬
ner Vermaͤhlung (im Grunde, von den Vorerinne¬
rungen dazu) — von einer Uebergabe — ein ſolcher
Trinker macht ſich anheiſchig, Auftritte, deren
Wuͤrde ſo aͤuſſerſt fein und fluͤchtig iſt, daß der ge¬
ringſte falſche Nebenzug und Halbſchatten ſie voͤllig
laͤcherlich macht — daher auch Zuſchauer wegen ſol¬
[247] cher dazu gedachter Nebenſtriche uͤber ſie in natura
lachen — er macht ſich anheiſchig, ſag' ich; ſolche
ans Komiſche graͤnzende Aufzuͤge ſo wieder zu geben,
daß der Leſer die Wuͤrde merkt und ſo wenig da¬
bey lachen kann als agirte er ſelber mit. Es iſt
wahr, ich darf ein wenig auf mich bauen oder viel¬
mehr darauf bauen, daß ich ſelber an Hoͤfen gewe¬
ſen und den angeblichen Klaviermeiſter gemacht,
(ob dieſer eine Maske hoͤherer Chargen war oder
nicht, laſſ' ich hier unentſchieden); man ſollte alſo
von einem Vorzug, der mir faſt vor der ganzen
ſchreibenden Hanſe zu Theil geworden und dem ich
wirklich mein (von einigen) in der Hof Scientia
media entdecktes Uebergewicht uͤber die ſchriftſtelle¬
riſche ſo niedrige Schiffsmannſchaft gern verdanke,
davon ſollte man ſich faſt auſſerordentliche Dinge
verſprechen. — Es hinkt aber total; und ich war
nicht einmal im Stande, meinem Eleven Guſtav
den Kroͤnungs-Prozeß in Frankfurt ſo ernſthaft dar¬
zuſtellen, daß dieſer aufhoͤrte, zu — lachen. So
wuſte auch Yorik niemals ſo zu ſchelten, daß ſeine
Leute davon liefen, ſondern ſie muſten lachen.
Mein Ungluͤck waͤrs geweſen, wenn ich die Ue¬
bergabe der Prinzeſſin — anfangs dacht' ich freilich
es waͤre dann mehr Wuͤrde darinn — unter dem
Bilde einer mit einem Thuͤrſpahn beſiegelten Haus-
Uebergabe an Glaͤubiger abgeſchildert haͤtte, oder
[248] wie eine Uebergabe eines Feudums durch investitura
perzonam — oder per annulum — oder per ba¬
culum saecularem*). — — Ich bin aber zum
Gluͤck darauf gekommen, die Uebergabe unter der
poetiſchen Einkleidung einer hiſtoriſchen Benefizko¬
moͤdie mit derjenigen Wuͤrde abzumalen, die Theater
geben. Ich habe dazu ſoviel und mehr Einheit des
Orts — drei Zimmer — der Zeit — den Vormit¬
tag — und das Intereſſe — den ganzen Spaß —
in Haͤnden als ich brauche. Und wenn ein Autor
noch dazu — das thu' ich — vorher die betruͤbte¬
ſten ernſten Werke durchlieſet, Youngs Nachtgedan¬
ken — die akatholiſchen gravamina der Lutheraner
— den dritten Band von Siegwart — ſeine eignen
Liebesepiſteln; ferner wenn er ſich's doch nicht ge¬
trauet, ſondern gar vorher Home's und Beat¬
tie's trefliche Beobachtungen uͤber die Quellen des
Komiſchen vor ſich legt und durchgeht, um ſogleich
zu wiſſen, welchen komiſchen Quellen er auszuwei¬
chen habe: ſo kann ein ſolcher Autor ſchon ohne
Beſorgniß der Prahlerey ſeinen Leſern die Hoffnung
machen und erfuͤllen, daß er, des Komiſchen ſich ſo
[249] komiſch erwehrend, vielleicht nicht ohne alle Zuͤge
des Erhabnen liefern und malen werde folgende
hiſtoriſche Benefizkomoͤdie von der Ue¬
bergabe der Prinzeſſin, in 5 Akten.
(Das halbe Wort Benefiz bedeutet blos den Nut¬
zen, den ich ſelber davon habe.)
Erſter Akt. Unter drei Zimmern iſt das mitt¬
lere der Schauplatz, wo man agirt, der Handelsplatz,
wo man auslegt, der Korrelationsſaal (regenſpurgiſch
zu reden,) wo alles Wichtige zeitigt und reift —
hingegen in dem erſten Nachbar-Zimmer ſteckt der
italieniſche, im zweiten der Flachſenfingiſche Hofſtaat
und jeder erwartet ruhig den Anfang einer Rolle,
fuͤr die ihn die Natur geſchaffen. Dieſe zwei Zim¬
mer halt' ich nur fuͤr die Sakriſteien und Niſchen
des groͤßten.
Das Medianzimmer, d. h. ſein Vorhang, der
aus zwei Fluͤgelthuͤren gemacht iſt, geht endlich auf
und zeigt dem Associè Sebaſtian, der aus ſeinem
Laden neben der katarrhaliſchen Firma hereinguckt,
viel. Es tritt auf an der Thuͤre der Kuliſſe No. I.
ein rothſamtner Stuhl; an der Thuͤre der Kuliſſe
No. II. wieder einer, ein Bruder und Anverwandter
von jenem; es ſind dieſe Duplikate die Seſſel, worin
ſich die Prinzeſſin ſetzt im Verfolge der Handlung,
nicht weil die Muͤdigkeit ſondern weil ihr Stand es
ausdruͤcklich begehrt. Mitten im Agiren iſt ſchon
[250] ein langer befranzter Tiſch begriffen, der das Me¬
dianzimmer, das ſelber ein Abtheilungszeichen der
zwei Kuliſſen iſt, abtheilt in zwei Haͤlften. Man
ſollte nicht erwarten, daß dieſer Sektionstiſch ſich
ſeines Orts wieder von etwas werde halbiren laſſen,
was ein Dummer kaum ſieht. Aber ein Menſch
trete in Viktors Laden: ſo wird er ſeiner Seiden¬
ſchnur anſichtig, die unter dem Spiegeltiſch anfan¬
gend, uͤber den Achatboden und unter dem Partage-
Tiſch wegſtreichend, aufhoͤrt vorn an der Thuͤr¬
ſchwelle, Und ſo theilt ein bloßer Seidenſtrang leicht
den Abtheilungstiſch und dadurch das Abtheilungs¬
zimmer und am Ende die Abtheilungsſchauſpielerge¬
ſellſchaft in zwei der gleichſten Haͤlften — laſſet uns
daraus lernen, daß am Hofe alles trenchirt wird und
ſelber der Proſektor wird zu ſeiner Zeithingeſtreckt auf
den Anatomirtiſch. Von dieſer ſeidenen Schnur,
womit der Großherr ſeine Guͤnſtlinge von oben di¬
vidirt aber in Bruͤche, kann und ſoll im erſten Akt
nicht mehr die Rede ſeyn, weil er — aus iſt. . .
Es wurde mir ungemein leicht, dieſen Akt ernſt¬
haft abzufaſſen: denn da nach Platner das Laͤcher¬
liche nur am Menſchen haftet, ſo war das Erhabe¬
ne, das in meinem Aufzuge die Stelle des Komi¬
ſchen annimmt, in einem Akte leicht zu haben, wo
gar nichts Lebendiges agirte, nicht einmal Vieh.
Zweiter Akt. Das Theater wird jetzt leben¬
[251] diger und auf daſſelbe hinaus tritt jetzt die Prinzeſ¬
ſin an der Hand des italieniſchen Miniſters aus der
Kuliſſe No. l.; beide wirken anfangs gleich dert Na¬
tur, ſtill auf dieſem Paradeplatz, der ſchon auf dem
Papier zwei Seiten lang iſt . . .
Nur einen Blick vom Theater in die Frontloge!
Viktor agiret fuͤr ſich, indem er unter den Lorgnet¬
ten, die er zu verkaufen hat, ſich die hohleſte aus¬
klaubt und damit die Heldin meiner hiſtoriſchen Be¬
nefizkommoͤdie ergreift. . . Er ſah Beicht- und
Betſchemel, auf dem ſie heute ſchon gekniet hatte:
»ich wollt' (ſagt' er zu Toſtato) ich waͤre heute der
»Pater geweſen, ich haͤtt' ihr ihre Suͤnden verge¬
»ben, aber nicht ihre Tugenden.« Sie hatte zwar
jenes regulirte Staaten- und Madonnengeſicht, das
eben ſo oft hohle als volle Weiberkoͤpfe zudeckt;
ihre Hofdebitrolle verbarg zwar jede Welle und je¬
den Schimmer des Geiſtes und Geſichts unter der
Eiskruſte der Dezenz: aber ein ſanftes Kindesauge,
das uns auf ihre Stimme begierig macht, eine Ge¬
duld, die ſich lieber ihres Geſchlechtes als ihres
Standes erinnert, eine muͤde Seele, die ſich nach
doppelter Ruhe, vielleicht nach den muͤtterlichen Ge¬
filden ſehnte, ſogar ein unmerklicher Rand um die
Augen, der von Augenſchmerzen oder vielleicht noch
tiefer gezeichnet war, alle dieſe Reize, die zu Fun¬
ken wurden, welche in den getrockneten Zunder des
[252] lorgnirenden Associé geſchlagen wurden, machten die¬
ſen in ſeiner Loge ordentlich — Teufelstoll uͤber das
Schickſal ſolcher Reize. Und warum ſollt' es auch
einem den Kopf nicht warm machen — zumal wenn
ſchon das Herz warm iſt, — daß dieſe unſchuldigen
Opfer gleich den Herrnhuterinnen zwiſchen ihrer
Wiege und ihrem Brautbette Alpen und Meere ge¬
ſtellet ſehen und daß die Kabinetter ſie wie Seiden¬
wurmſamen, in Depeſchen-Duͤten verſenden? . . . .
Wir kehren wieder zu unſerem zweiten Akte, in dem
man noch weiter nichts vornimmt als daß man —
ankoͤmmt.
Die Kuliſſen No. 1. und 2. ſtecken noch voll
Acteurs und Aktricen, die nun herausmuͤſſen. An
dieſem Tage iſt es wo zwei Hoͤfe wie zwei Armeen
einander in zwei Stuben gegen uͤber halten und ſich
gelaſſen auf die Minute ruͤſten, wo ſie ausruͤcken
und einander im Geſichte ſtehen, bis es endlich wirk¬
lich zu dem koͤmmt, wozu es nach ſolchen Zuruͤſtun¬
gen und in ſolcher Naͤhe ganz natuͤrlich kommen
muß, zum — Fortgehen. Der Kubikinhalt von No.
1. quillet der Fuͤrſtin nach, er beſteht aus Italienern
— in der naͤmlichen Minute richtet auch der Hof¬
ſtaat aus der Kuliſſe No. 2. ſeine Marſchroute ins
Hauptquartier herein, er beſteht aus Flachſenfingern.
Jetzt ſtehen zwei Laͤnder — eigentlich nur der aus
ihnen abgezogene und abgedampfte Geiſt — ſich ein¬
[253] ander ganz nahe und es koͤmmt jetzt alles darauf an,
daß der Seidenſtrang, den ich im erſten Akt uͤber
die Stube geſpannt, anfange zu wirken: denn die
Graͤnzverruͤckung und Voͤlkermiſchung zweier ſo naher
Laͤnder, Deutſch- und Welſchlands waͤre in Einem
Zimmer faſt ſo unvermeidlich wie in einer paͤbſtli¬
chen Gehirnkammer, haͤtten wir den Strang
nicht — aber den haben wir und dieſer thut zwei
zuſammengerinnende Voͤlkerſchaften ſo gut auseinan¬
der, daß es nur Jammer und Schade iſt — die
Ehrlichkeit hat den groͤßten — daß die deutſchen
Kabinetter keinen ſolchen Sperrſtrick zwiſchen ſich
und die italieniſchen hingezogen haben; und kams
denn nicht auf ſie an, wo ſie den Strick anlegen
wollten, am Fußboden, oder an welſchen Haͤnden,
oder an welſchen Haͤlſen? —
Wenn die engliſche allgemeine Weltgeſchichte und
ihr deutſcher Auszug einmal die Zeit ſo nahe einge¬
holet haben, daß ſie das Jahr dieſer Uebergabe vor¬
nehmen und erzaͤhlen und unter andern das bemerken
koͤnnen, daß die Prinzeſſin nach dem Eintritt ſich
ſetzte in den Sammtſeſſel: ſo ſollte die Weltge¬
ſchichte den Autor zitiren, aus dem ſie ſchoͤpft —
mich. . . . Das war der zweite Akt und er war
ſehr gut und nicht ſo wol komiſch als erhaben.
Dritter Akt. Darin wird blos geſprochen.
Ein Hof iſt das Parloir oder Sprachzimmer des
[254] Landes, die Miniſter und Geſandten ſind Hoͤrbruͤ¬
der*). Der Flachſenfingiſche Sekretair las ent¬
fernt ein Inſtrument oder den Kaufbrief ihrer Ver¬
maͤhlung vor. Darauf wurden Reden geliſpelt —
vom italieniſchen Miniſter zwei — vom Flachſenfin¬
giſchen (Schleunes) auch zwei — von der Braut
keine, welches eine kuͤrzere Art, Nichts zu ſagen,
war als der Miniſter ihre. — —
Da warlich jetzt dieſer erhabne Akt aus waͤre,
wenn ich nichts ſagte: ſo wird mir doch nach vie¬
len Wochen einmal erlaubt ſeyn, ihm ein Extra-
Blaͤttgen zu erbetteln und anzuhenken und darin
etwas zu ſagen.
Erbetteltes Extrablaͤttgen uͤber die groͤ¬
ßere Freiheit in Deſpotien.
Nicht nur in Gymnaſien und Republiken, ſon¬
dern auch (wie man auf der vorigen Seite ſieht)
in Monarchien werden Reden genug gehalten —
ans Volk nicht, aber doch an deſſen curatores absen¬
tis. Eben ſo iſt in Monarchien Freiheit genug,
obgleich in Deſpotien deren noch mehr ſeyn mag
als in jenen und in Republiken. Ein wahrer deſpo¬
[255] tiſcher Staat hat wie ein erfrorues Faß Wein, nicht
ſeinen (Freiheits) Geiſt verloren, ſondern ihn nur
aus dem waͤſſerigen Umkreis in einen Feuerpunkt
gedraͤngt: in einem ſolchen gluͤcklichen Staate iſt die
Freiheit blos unter die wenigern, die dazu reif
ſind, unter den Sultan und ſeine Baſſen vertheilt
und dieſe Goͤttin (die noch oͤfter als der Vogel Phoͤ¬
nix abgebildet wird) haͤlt ſich fuͤr die Menge der
Anbeter deſto beſſer durch den Werth und Eifer
derſelben ſchadlos, da ihre wenigen Epopten — die
Baſſen — ihren Einfluß in einem Maaß genießen,
deſſen ein ganzes Volk nie habhaft wird. Die
Freiheit wird gleich den Erbſchaftsmaſſen durch die
Menge der Erbnehmer kleiner; und ich bin uͤber¬
zeugt, der waͤre am meiſten frei, der allein frei
waͤre. Eine Demokratie und ein Oelgemaͤlde ſind
nur auf eine Leinwand ohne Knoten (Ungleichheit¬
ten) aufzutragen, aber eine Deſpotie iſt erhobene
Arbeit — oder noch ſonderbarer: die deſpotiſche
Freiheit wohnt wie Kanarienvoͤgel nur in hohen
Vogelbauern, die republikaniſche wie Emmerlinge
nur in langen. —
Ein Deſpot iſt die praktiſche Vernunft eines
ganzen Landes; die Unterthanen ſind eben ſo viele
dagegen kaͤmpfende Triebe, die uͤberwunden werden
muͤſſen. Ihm gehoͤrt daher die geſetzgebende Gewalt
allein (die ausuͤbende ſeinen Guͤnſtlingen:) — ſchon
[256] bloße geſcheute Maͤnner (wie Solon, Lykurg) hatten
die geſetzgebende Gewalt allein und waren die Ma¬
gnetnadel, die das Staatsſchiff fuͤhrte; ein De¬
ſpot beſteht als Thronfolger von jenen, faſt aus lau¬
ter Geſetzen aus fremden und eignen zugleich und iſt
der Magnetberg, der das Staatsſchiff zu ſich be¬
wegt. — »Sein eigner Sklave ſeyn iſt die haͤrteſte
»Sklaverei« ſagt ein Alter, wenigſtens ein Lateiner;
der Deſpot fodert aber von andern nur die leichtere
und nimmt auf ſich die ſchwerere. — Ein anderer
ſagt: parere ſcire par imperio gloria est; Ruhm
und Ehre erbeutet alſo ein Negerſklave ſo viel wie
ein Negerkoͤnig. — Servi pro nullis habentur; da¬
her fuͤhlen auch politiſche Nullitaͤten den Druck der
Hofluft ſo wenig wie wir den der andern Luft; de¬
ſpotiſche Realitaͤten aber verdienen ſchon darum ihre
Freiheit, weil ſie den Werth derſelben ſo ſehr zu
fuͤhlen und zu ſchaͤtzen wiſſen. Ich habe von jeher
geglaubt, daß in Republiken weit weniger Freiheit
ſey als in einem deſpotiſchen Staat, angeſehen jene
weit weniger andern Voͤlkern die ihrige zu nehmen
und uͤberhaupt Eroberungskriege zu fuͤhren ſuchen
als dieſer: die Begierde aber, Sklaven zu machen,
hing eben nach allen Autoren gerade freien Staaten
am meiſten an, z. B. Spartern, Roͤmern, Britten.
— Ein Republikaner im edlern Sinn, z. B. der
Kaiſer in Perſien, deſſen Freiheitsmuͤtze ein Turban
und[257] und deſſen Freiheitsbaum ein Thron iſt, ſicht hinter
ſeiner militaͤriſchen Propaganda und hinter ſeinen
Ohnehoſen mit einer Waͤrme fuͤr die Freiheit, wie
ſie die alten Autores in den Gymnaſien fodern und
ſchildern. Ja wir ſind nie berechtigt, ſolchen Thron-
Republikanern Brutus-Seelengroͤße fruͤher abzuſpre¬
chen als man ſie auf die Probe geſetzt; und wenn
in der Geſchichte das Gute mehr aufgezeichnet wuͤrde
als das Schlimme, ſo muͤßte man ſchon jetzt unter
ſo vielen Schachs-Chans-Rajahs-Kaliphen manchen
Harmodion-Ariſtogiton — Brutus ꝛc. aufzuweiſen
haben, der im Stande war, ſeine Freiheit (Skla¬
ven kaͤmpfen fuͤr Fremde) ſogar mit dem Tode ſonſt
guter Menſchen und Freunde zu bezahlen. —
Ende des erbettelten Extrablaͤttgens uͤber
die groͤßere Freiheit in Deſpotien.
Das Extrablaͤttgen und der dritte Akt ſind aus,
aber dieſer war ernſthafter und kuͤrzer als jenes.
Vierter Akt. Indem ich den Vorhang herab
und wieder hinauf warf: ſetzte ich die Welt aus
dem kuͤrzeſten Akt in den laͤngſten. Zur Prinzeſſin
— die jetzt, wie die deutſche Reichsgeſchichte mel¬
det, ſitzt — trat ihre Landsmandſchaft *), die weder
Heſperus. I, Th. R[258] ſehr ehrlich noch ſehr dumm ausſah, die Oberhof¬
meiſterin, der Hof-Beichtvater, der Hof-Aeſkulap,
Damen und Bedienten und alles. Dieſer Hofſtaat
nimmt nicht Abſchied — der iſt ſchon in Geheim
genommen — ſondern rekapitulirt ihn blos durch
eine ſtille Verbeugung. Der naͤchſte Schritt aller
Welſchen war aus dem Mittelzimmer nach —
Italien.
Die Italiener gingen vor Baſtians Waarenlager
vorbei und wiſchten aus ihrem Geſicht, deſſen feſte
Theile en haut-relief waren — die deutſchen waren
en bas relief, einen edlern Schimmer weg als jener
iſt, den Hoͤfe geben — Viktor ſah unter ſo vielen
akzentuirten Augenknochen die Zeichen ſeiner eignen
Wehmuth vervielfaͤltigt, die ihn fuͤr das willige
fremde Herz beklemmte, das allein zuruͤckblieb unter
dem froſtigen Thron- und Wolkenhimmel der Deut¬
ſchen, von allen geliebten Sitten und Szenen wegge¬
riſſen, mikroſkopiſchen Augen vorgefuͤhrt, deren Fo¬
kus in weiche Gefuͤhle ſengt und an eine Bruſt von
Eis gebunden. . . .
Als er alles dieſes dachte und die Landsleute
ſah, wie ſie einpackten, weil ſie kein Wort mehr
mit der Fuͤrſtin ſprechen durften — und als er wie¬
der die ſtumme gelenkte Geſtalt drinnen anſah, die
keine anderen Perlen zeigen durfte als orientali¬
ſche (obgleich der Traum und der Beſitz der letztern
[259] okzidentaliſche bedeutet, Thraͤnen mein' ich): ſo
wuͤnſcht' er »ach du Gute, koͤnnt' ich nur einen
»dreifachen Schleier ſo lange uͤber dein Auge ziehen
»bis es eine Thraͤne vergoſſen haͤtte! — duͤrft' ich
»dir nur die ſubhaſtirte Hand kuͤſſen wie deine Hof¬
»damen jetzt thun, um mit den meinigen die Naͤhe
»eines geruͤhrten Herzens auf die verkaufte Hand
»zu ſchreiben.« . .
Seid weich und erweitet nicht Fuͤrſtenhaß zu
Fuͤrſtinnen-Haß! Soll uns ein gebeugtes weib¬
liches Haupt nicht ruͤhren, weil es ſich auf einen
Tiſch von Magahony ſtuͤtzt und große Thraͤnen
nicht, weil ſie in Seide fallen? »Es iſt zu hart —
»ſagte Viktor im Hannoͤveriſchen — daß Dichter
»und magistri legentes, wenn ſie neben einem Luft¬
»ſchloß vorbeigehen, mit einer neidiſchen Schaden¬
»freude die Bemerkung machen, darin werde viel¬
»leicht eben ſo viel Thraͤnenbrod gebacken, wie in
»Fiſcherhuͤtten. O wohl groͤßeres und haͤrteres!
»Aber iſt das Auge, aus dem im Dachsbau eines
»Schotten nichts Thraͤnen preſſet als der Stuben¬
»rauch, eines groͤßern Mitleids werth als jenes
»zarte, das gleich dem eines Albinos ſchon von
»Freudenſtralen ſchmerzt und das der gequaͤlte Geiſt
»mit geiſtigen Zaͤhren erfuͤllt? Ach unten in den
»Thaͤlern wird nur der Haut, aber oben auf den
»Hoͤhen der Kultur das Herz durchſtochen; und die
R 2[260] »Zeigerſtange der Dorfuhr ruͤckt blos um Stunden
»des Hungers und des Schweißes, aber der mit
»Brillanten beſetzte Sekundenzeiger fliegt um oͤde,
»durchweinte, verzagende, blutige Minuten.« —
Aber zum Gluͤck wird uns die Paſſionshiſtorie je¬
ner weiblichen Opfer nie vorgeleſen, deren Herzen
zum Schlagſchatz und wie andre Juwelen zu den
Throninſignien geworfen werden die als beſeelte Blu
men, geſteckt an ein mit Hermelin umgebnes Todten¬
herz, ungenoſſen zerfallen auf dem Paradebett, von
niemand betrauert als von einer entfernten wei¬
chen Seele, die im Staatskalender nicht ſteht. . .
Dieſer Akt beſteht faſt aus lauter Gaͤngen: uͤber¬
haupt gleicht dieſe Komoͤdie dem Leben eines Kin¬
des — im erſten Akt war Ammeublement fuͤr
die kuͤnftige Exiſtenz — im zweiten Ankommen —
im dritten Reden — im vierten lernt man Gehen
u. ſ. w.
Als Deutſchland an Welſchland, und dieſes an
jenes Reden genug gehalten hatte: ſo nahm Deutſch¬
land, oder vielmehr Flachſenfingen oder eigentlich
ein Stuͤck davon, der Miniſter Schleunes die Fuͤrſtin
bei der Hand und fuͤhrte ſie aus der heiſſen Zone
in die kalte — ich meine nicht aus dem Brautbette
ins Ehebette, ſondern — aus dem italieniſchen Ter¬
ritorium der Stube ins Flachſenfingiſche uͤber den
ſeidnen Rubikon hinweg. Der Flachſenfingiſche
[261] Hofſtaat ſteht als rechter Fluͤgel druͤben und iſt gar
noch nicht zur Aktion gekommen. Sobald ſie die
ſeidne Linie paſſirt war: ſo wars gut, wenn das
erſte, was ſie in ihrem neuen Lande that, etwas
Merkwuͤrdiges war; und in der That that ſie vor
den Augen ihres neuen Hofs 4½ Schritte und —
ſetzte ſich in den Flachſenfingiſchen Seſſel, den ich
ſchon im erſten Akt vakant dazu hingeſtellt. Jetzt
kam endlich der rechte Fluͤgel zur Aktion, zum Hand-
und Rockfuß. Jeder im rechten Fluͤgel — der linke
gar nicht — fuͤhlte die Wuͤrde deſſen was er jetzt
anhob und dieſes Gefuͤhl, das ſich mit perſoͤnlichem
Stolz verſchmolz, kam — da nach Platner der Stolz
mit dem Erhabnen verwandt iſt — meiner Benefiz¬
farze recht zu Paſſe, in der ich nicht erhaben genug
ausfallen kann. Groß und ſtill, in ſeidne Fiſchreiſen
eingeſchifft, in einen Roben-Golph verſenkt, ſegeln
die Hofdamen mit ihren Lippen an die ſtille Hand,
die mit Ehe-Handſchellen an eine fremde geſchloſſen
wird. Weniger erhaben, aber erhaben wird auch
das adamitiſche Perſonale herangetrieben, worunter
ich leider den Apotheker Zeuſel mit ſehe.
Wir kennen unter ihnen niemand als den Mini¬
ſter, ſeinen Sohn Maz, der unſern Helden gar nicht
bemerkt, den Leibarzt der Prinzeſſin Kuhlpepper, der
vom Fette und Doktorhut in eine maſſive Loths¬
[262] Salzſaͤule verwandelt, ſich wie eine Schildkroͤte vor
die Regentin und Pazientin ſchiebt. —
Kein Menſch weiß wie mich Zeuſel aͤngſtigt.
Gegen alle Rangordnung praͤſentir' ich lieber vor
ihm die feiſten in ſchelmiſche Dummheit verquollenen
Livreebedienten, deren Roͤcke weniger aus Faͤden als
aus Borten beſtehen und die ſich als gelbe Baͤnder-
Praͤparate vor muͤden an ſchoͤnere Geſtalten gewoͤhn¬
ten Augen buͤcken. Viktor fand durch ſeine britti¬
ſche Brille die italieniſchen glaſirten Kurialgeſichter
wenigſtens maleriſch-ſchoͤn, hingegen die deutſchen
Parade-Larven ſo abgegriffen und doch ſo geſteift,
ſo matt und doch ſo geſpannt, die Blicke ſo ver¬
raucht und doch ſo geſchwefelt! ... — Ich halte
Zeuſeln noch durch einige Oſterlaͤmmer oder agnus
dei von Pagengeſichtern auf, ſo weich und ſo weiß
wie Maden; eine Amme moͤchte ſie mit ihrer Milch¬
pumpe von Mund an Buſen legen.
Laͤnger war Zeuſel nicht mehr zu halten, er iſt
hereingebrochen und hat die Fuͤrſtin beim Fluͤgel —
der ganze Spas dieſer Komoͤdie, ich meine der Ernſt,
iſt uns nunmehr verdorben. Dieſer graue Narr hat
ſich in ſeinen alten Tagen — ſeine Naͤchte ſind noch
aͤlter — in einen ganzen hiſtoriſchen Kupferſtich ge¬
knoͤpft, das will ſagen in ein mit der ganzen Zoolo¬
gie illuminirtes Gillet, worin er ſamt ſeinen vier
bunten Ringen ordentlich ausſieht wie ein gruͤner
[263] Puͤrſchwagen, an dem die Thierſtuͤcke der ganzen
Jagd angemalet und vier Ringe zum Anketten der
Sauen, in natura ſind. Ich muß es jetzt ſehen und
leiden, — da er alles in der Vergangenheit thut —
daß er nun, beſoffen von Eitelkeit und kaum vermoͤ¬
gend Uhrketten von Roben zu unterſcheiden, hinlaͤuft
und ſich etwas Zeug herausfaͤngt zum Kuſſe. Es
war leicht vorauszuſehen, daß mir der Menſch mein
ganzes Altarblatt verhunzen wuͤrde mit ſeiner hiſtori¬
ſchen Figur; und ich haͤtte den Haſen gar unter¬
druͤckt und mit dem Rahmen des Gemaͤldes uͤber¬
deckt, wenn er nicht mit ſeinen Loͤffeln und Laͤufen
zu weit herausſtaͤnde und klafte; auch iſt er vom
Korreſpondenten ausdruͤcklich unter den Benefiz–Li¬
guiſten mit aufgefuͤhrt und ſignirt — — Es lohnt
kaum der Muͤhe zu ſchreiben
Fuͤnfter Akt; da jetzt alles verſalzen iſt und
ſaͤmtliche Leſewelt lacht. Im fuͤnften Akt, den ich
ohne alle Luſt mache, wurd' auch weiter nichts ge¬
than — anſtatt daß Tragoͤdienſteller und Chriſten
die Bekehrung und alles Wichtige in den letzten
Akt verlegen, wie nach Bako ein Hofmann ſeine
Suppliken ins Poſtſkript verſchob — als daß die
Prinzeſſin ihre neuen Hofdamen das erſte Subtrak¬
tionsexempel ihres Erzamtes machen ließ, das naͤm¬
lich, ſie auszukleiden. ... Und da mit dem Ausklei¬
den ſich die fuͤnften Akte der Trauerſpiele — der
[264] Tod thuts — und der Luſtſpiele — die Liebe thuts
— beſchließen: ſo mag ſich auch dieſes Benefizding,
das wie unſer Leben zwiſchen Luſt- und Trauerſpiel
oszillirt, matt mit Entkleidung enden.
Ende der Benefizakte.
— Ich war geſtern zu aufgebracht. Der Apothe¬
ker iſt zwar der Hund und die Katze in meinem Ge¬
maͤlde, die einander unter dem Tiſche des Abend¬
mals beiſſen; aber im Ganzen iſt die Farze ſchon er¬
haben. Man bedenke nur, daß alles in einer monar¬
chiſchen Regierungsform abgethan wird — daß dieſe
nach Beatie dem Komiſchen mehr als die republika¬
niſche aufhilft — daß nach Addiſon und Sulzer ge¬
rade die ſpashafteſten Menſchen (z. B. Cicero) am
ernſthafteſten ſind und daß folglich das Naͤmliche
auch von dem Zeug, das ſie machen gelten muͤſſe:
ſo ſieht man ſchon aus dem Komiſchen, das meine
Akte haben, daß ſie ernſthaft ſind. — —
Mein Held hielt im Laden eine heftige P. Mer¬
ziſche Kontroverspredigt gegen etwas, wofuͤr die
Reichsſtaͤdter und Reichsdoͤrfer predigen — dagegen:
»daß die Menſchen ohne alles weiße und graue Ge¬
»hirn und ohne Geſchmack und Geſchmackswaͤrzgen in
»dem Grade handeln koͤnnen, daß ſie ſich nicht ſchaͤ¬
»men, die Paar Jahre, wo ſie der Schmerz noch
»nicht auf ſeinem Puͤrſchzettel und der Tod noch
[265] »nicht auf ſeinem Nachtzettel hat, ſuͤndlich und
»hundsmaͤßig zu verzetteln, nicht etwa mit gar
»Nichtsthun, oder mit den halben Takt-Pauſen der
»Kanzleiferien oder den ganzen Takt-Pauſen der
»Komizialferien, oder mit den Narrheiten der Freude
» — was waͤre ruͤhmlicher? — ſondern mit den
»Narrheiten der Quaal, mit zwoͤlf herkuliſchen
»Nichts-Arbeiten, in den Raſpelhaͤuſern der Vor¬
»zimmer, auf der tratto di corda des geſpannten
»Zeremoniels. . . . Mein lieber Hofmarſchall, meine
»ſchoͤnſte Oberhofmeiſterin, ich billige alles; aber das
»Leben iſt ſo kurz, daß es nicht die Muͤhe lohnt,
»ſich einen langen Zopf darin zu machen — Koͤnn¬
»ten wir nicht das Haar aufbinden und uͤber alle
»Vorſaͤaͤle, d. h. Vorhoͤllen, uͤber alle Vorfechter
»und Vortaͤnzer hinwegſetzen gleich mitten in die
»Maiblumen unſrer Tage hinein und in ihre Blu¬
»menkelche. . . . Ich will mich nicht abſtrakt und
»ſcholaſtiſch ausdruͤcken: ſonſt muͤßt' ich ſagen: wie
»Hunde, werden Zeremonien durchs Alter toll; wie
»Tanzhandſchuhe, taugt jede nur einmal und muß dann
»weggeworfen werden; aber der Menſch iſt ſo ein
»verdammt zeremonielles Thier, daß man ſchwoͤren
»ſollte, er kenne keinen groͤßern und laͤngern Tag
»als den Regenſpurger Reichstag.«
So lang er aß, war Toſtato nicht da ſondern im
Laden. Nun hatt' er ſchon am vorigen Abend einen
[264] Operationsplan zum Kuſſe der ſchoͤnen Dunſin nicht
aus dem Kopfe bringen koͤnnen: »eine viehdumme
»Huldin kuͤſſ' ich Einmal, ſagt' er, dann hab' ich
»Ruh' auf Lebenslang.« Aber zum Ungluͤck mußte
um die Dunſin die ſogenannte Kleinſte (Schweſter)
deren Verſtand und Naſe zu groß waren, als Senk¬
feder der Angel ſchwimmen und die Feder wuͤrde
ſich, haͤtt' er nur eine Lippe an den Koͤder geſetzt,
ſich ſogleich gereget haben. Er war aber doch pfif¬
fig: er nahm die Kleinſte auf die Schenkel und ſchau¬
kelte ſie wie Zeuſels Kutſcher und ſagte der Klu¬
gen ſuͤße Namen uͤber den Kopf hinuͤber, die er
alle mit den Augen der Dummen dedizirte (am
Hofe wird er mit umgekehrtem Scheine dediziren)
Er druͤckte der Kleinſten zweimal zum Spaße die
Spionenaugen zu, bloß um es im Ernſt zum dritten¬
male zu thun, wo er die Dunſin an ſich zog und
ſie mit der rechten Hand in eine Stellung brachte,
daß er ihr — zumal da ſie es litt, weil Maͤdgen der
Liſt ungern abſchlagen, oft aus bloßer Freude, ſie zu
errathen — unter den Hofdienſten gegen die Blinde
den ſchleunigen Kuß hinreichen konnte, fuͤr den er
ſchon ſo viele avant propos und Marſchrouten ver¬
fertigt hatte. Jetzt war er ſatt und heil; haͤtt' er
noch zwei Abende dem Kuß nachſtellen muͤſſen: er
haͤtte ſich vollſtaͤndig verliebt.
[265]
Er ſaß wieder in ſeinem Maſtkorb, als die Fuͤr¬
ſtin aß. Es geſchah bei ofnen Thuͤren. Sie ſchuͤrte
ſein Liebes-Kaminfeuer mit dem goldnen Loͤffel an,
ſo oft ſie ihn an ihre kleinen Lippen druͤckte — ſie
ſtoͤhrte das Feuer wieder auseinander mit den zwei
Zahnſtochern (ſuͤßen und ſauern) ſo oft ſie zu ihnen
griff. Toſtato et Kompagnie ſetzten heute die theuer¬
ſten Waaren ab: kein Menſch kannte die et Kom¬
pagnie; bloß Zeuſel ſah dem Viktor ſchaͤrfer ins Ge¬
ſicht und dachte: »ich ſollt' dich geſehn haben.«
Gegen 2⅔ Uhr Nachmittags ereignete ſich das Gluͤck,
daß die Prinzeſſin ſelber an die Bude trat, um ita¬
italieniſche Blumen fuͤr ein kleines Maͤdgen, das ihr
wohlgefallen, auszuſuchen. Bekanntlich nimmt man
ſich in jeder Maske Maskenfreiheit und auf jeder
Reiſe Meßfreiheit: Viktor der, in Verkleidungen und
auf Reiſen faſt all zu kuͤhn war, probirte es, in der
Mutterſprache der Prinzeſſin und zwar mit Witz zu
ſprechen. »Der Teufel, dacht' er, kann mich doch
»deswegen nicht holen.« Er merkte daher mit dem
»zarteſten Wohlwollen gegen dieſes ſchoͤne Kind in
Molochs Armen nur ſo viel uͤber die ſeidnen Blu¬
men an: »die Blumen der Freude wurden auch lei¬
»der meiſtens aus Sammt, Eiſendrath und mit dem
»Formeiſen gemacht.« Es war nur ein Wunder,
daß er hoͤflich genug war, um den Umſtand wegzu¬
laſſen, daß gerade der italieniſche Adel die italieni¬
[266] ſche Flora fabrizire. Sie ſah aber auf ſeine Waare
und ſchwieg; und kaufte ſtatt der Blumen eine mon¬
tre a regulateur*), die ſie nachzubringen erſuchte.
Er uͤberbrachte ihr die Uhr eigenhaͤndig; aber
leider eben ſo eigenhaͤndig — der Leſer erſchrickt;
aber anfangs erſchrack er ſelber und dachte doch den
Einfall ſo oft bis er ihn genehmigte — hatt' er
vorher uͤber den Imperator der Uhr ein zartes
Streifgen Papier gepicht, worauf er eigenhaͤndig mit
Perlenſchrift geſchrieben: Rome cacha le nom de
son dieu et elle eut tort; moi je cache celui de
ma dèesse et j'ai raison. **)
»Ich kenne die Leute ſchon, dacht' er, ſie ma¬
»chen und ziehen in ihrem Leben keine Uhr auf!«
Ei, Sebaſtian, was wird mein Leſer denken oder
deine Leſerin?
Sie reiſete noch Abends in ihr erheirathetes
Land, das kuͤnftige Hackbret ihres Szepters. Dem
Viktor war beinahe als haͤtt' er ihr ein andres Herz
als das horologiſche mit dem Zettel mitgegeben und
[267] freuete ſich auf den Flachſenfinger Hof. Vor ihr
lief ihr nachgedruckter Braͤutigam oder ſeine Saͤnf¬
te, aus der er ausſtieg an die Wand des Schlaf¬
zimmers: da er ihr Gott war, ſo kann ich ihn oder
ſein Bild mit den Bildern der alten Goͤtter verglei¬
chen, die auf einem eignen vis a vis — thensa ge¬
nannt — herumgefahren oder in einer Portraitbuͤch¬
ſe — ναος genannt — oder in einem Bauer —
ϰαδισϰον genannt — herumgetragen wurden.
Darauf ging Viktor mit ſeinem Handelskonſul
hinter den Kuliſſen des Benefiztheaters herum. Er
ſchnuͤrte die ſeidne Demarkazions- und Zirkum¬
vallazionslinie ab — zog ſie in die Hoͤhe wie ein
ekles Haar — befuͤhlte ſie — hielt ſie erſt weit vom
Auge — dann nahe an dieſes — zerrte ſie ausein¬
ander, eh' er ſagte: »die Kraft ſtecke wo ſie will —
»es mag nun eine ſeidne Schnur politiſche Koͤr¬
»per ſo gut wie anelektriſche iſoliren — oder es
»mag mit Fuͤrſten wie mit Huͤhnern ſeyn, die kei¬
»nen Schritt weiter ſetzen, wenn man Kreide nimmt
»und damit von ihrem Schnabel herab eine gerade
»Linie auf den Boden hinfuͤhrt — ſoviel ſeht ihr
»doch, Aſſocie, wenn ein Alexander die Graͤnzſteine
»der Laͤnder verruͤcken wollte, ſo waͤre ein ſolcher
»Strang dagegen das Beſte ins Euge gezogne Na¬
»turrecht und eine dergleichen Barriereallianz.» Er
[268] ging in ihr Schlafzimmer zum ausgeleerten h. Gra¬
be, d. h. Bette der auferſtandnen Braut, in wel¬
ches der an der Wand vor Anker liegende Sponſus
von ſeinem Nagel ſehen konnte. Ganze Diviſionen
von Einfaͤllen marſchirten ſtumm durch ſeinen Kopf,
den er damit an ein ſeidnes Kopfkiſſen — ſo gros
wie ein Hund- oder ein Seitenkiſſen eines Wagens
— mit der Wange andruͤckte. So anliegend und
knieend perorirte ers halb in die Federn (nicht in
die Feder) hinein: »ich wollt' auf dem andern Kiſ¬
»ſen laͤg' auch ein Geſicht und ſaͤh' in meines —
»du lieber Himmel! zwei Menſchengeſichter einander
»gegenuͤber — ſich einander in die Augen ziehend —
»einander die Seufzer belauſchend — voneinander
»die weichen durchſichtigen Worte wegathmend —
»das ſtaͤnden ich und ihr gar nicht aus, Aſſocie:»
— Er ſprang auf, patſchte ſein Haſenlager leiſe
wieder platt und ſagte: »bette dich weich um das
»ſchwere Haupt, das auf dich ſinkt; erdruͤcke ſeine
»Traͤume nicht; verrathe ſeine Thraͤnen nicht!» —
Waͤre ſogar der Graf von O. mit ſeiner feinen iro¬
niſchen Mine dazu gekommen: er haͤtte nichts dar¬
nach gefragt. Es iſt ein Ungluͤck fuͤr uns Deutſche,
daß wir allein — indes dem Englaͤnder ſogar vom
Weltmann ſeine Haſen- Bocks- und Luftſpruͤnge fuͤr
zierliche Ruͤck- Vor- und Hauptpas angerechnet wer¬
[269] den — gar nicht ernſthaft und geſetzt genug einher¬
ſchreiten koͤnnen.
Er lief abends wieder im Hafen ſeines Zeidlers
ein und ſein ſchwankendes Herz warf auf die ſtille
bluͤhende Natur um ihn die Anker aus. Der alte
Mann hatte unterdes alle ſeine alten Papiere, Tauf-
Trauſcheine, Manualakten vom Nuͤrnberger Zeidler¬
gericht ꝛc. zuſammengefahren und ſagte: leſ' Er! —
Er wollt' es ſelber wieder hoͤren. Er zeigte auch
ſeinen »Dreifaltigkeitsring» aus Nuͤrnberg vor, auf
welchem ſtand;
Der Bienenvater machte weiter kein Geheimniß
daraus, daß er vorher, als er dieſen Ring ſich noch
nicht in Nuͤrnberg an einem Gerichtstage angeſchaft
hatte, die Dreifaltigkeit nicht glauben koͤnnen: »jetzt
»aber muͤſt' einer ein Vieh ſeyn, wenn ers nicht be¬
»griffe.» — Am Morgen vor der Abreiſe war Vik¬
tor in der doppelten Verlegenheit, er wollte gern
ein Geſchenk haben — zweitens eines machen. Was
er haben wollte, war eine plumpe Stundenuhr —
bey einer Ausſpielung fuͤr ein Loos a 20 kr., ge¬
wonnen —; dieſes Werk, deſſen dicke Zeigerſtange
den Lebensfaden des Greiſes auf dem ſchmutzigen
[272] Zifferblatte in lauter bunten frohen Bienen-Stun¬
den weggemeſſen hatte, ſollte eine Lorenzo-Doſe fuͤr
ihn ſeyn, ein Amulet, ein Ignazius-Blech gegen
Sauliſche Stunden. »Ein Profeſſioniſt, ſagt' er,
»braucht wahrlich nur wenig Sonne, um zufrieden
»und marm durchs Leben zu gehen; aber wir mit
»unſrer Phantaſie ſind oft in der Sonnenſeite ſo
»ſchlimm daran als in der Wetterſeite — der Menſch
»ſteht feſter auf Dreck als auf Aether und Morgen¬
»roth.» Er wollte dem gluͤcklichen Lebens Vetera¬
nen als Kaufſchilling fuͤr die Stundenuhr und als
Preismedaille fuͤr das Quartier, ſeine Sekundenuhr
aufdringen. Lind hatte das Herz nicht, wurd' aber
roth. Endlich ſtellte ihm Viktor vor, die Sekun¬
denuhr ſey ein guter Supplementband zum Dreifal¬
tigkeitsring, ein Theſesbild dieſes Glaubensartikels,
denn die dreifaltigen Zeiger machten doch nur
Eine Stunde — Lind tauſchte.
Viktor konnte weder der Spoͤtter noch der Bunk¬
liſche Reformator einer ſolchen irrenden Seele ſeyn
und ſeine ſympathetiſche Laune iſt nichts als ein
ſkeptiſcher Seufzer uͤber das menſchliche Gehirn,
das 70 Normaljahre hat, und uͤber das Leben,
das ein Glaubens-Interim iſt, und uͤber die theolo¬
giſchen Doktorringe, die ſolche Dreifaltigkeitsringe
ſind, und uͤber die Konzilien- und Examinazionszim¬
[273] mer, die Sekunden-Uhren ſtatt plumper Stunden-
Uhren haben.
— Endlich geht er aus Kuſſeviz um 6 Uhr Mor¬
gens. Eine ſehr ſchoͤne Tochter des Grafen von O.
kam erſt um 7 Uhr zuruͤck: das iſt unſer aller Gluͤck,
er ſaͤſſe ſonſt noch da.
Der Hundspoſttag iſt aus. Ich weis nicht, ſoll
ich ein Extrablatt machen oder nicht. Der Schalt¬
tag iſt an der Thuͤre; ich wills alſo bleiben laſſen
und nur ein Pſeudo-Extrablatt herſetzen, welches
ſich bekanntlich von einem kanoniſchen ganz dadurch
unterſcheidet, daß ichs im apokryphiſchen durch keine
Ueberſchrift merken laſſen, ſondern nur unter der
Hand von der Geſchichte wegkomme zu lauter Allo¬
triis.
Ich nehme meinen hiſtoriſchen Faden wieder auf
und befrage den Leſer, was haͤlt er von Sebaſtians
Weiber-Liebhaberei? Und wie erklaͤrt er ſich ſie?
— Wahrhaftphiloſophiſch verſetzt er: »aus Klotil¬
»den: ſie hat ihn durch ihr Magnetiſiren mit der
»ganzen Weiber-Welt in geſetzt; ſie hat
»an dieſen Bienenſchwarm geklopft, nun iſt kein
»Ruhen mehr — Ein Mann kann 26 Jahre kalt in
»ſeinem Buͤcherſtaube ſitzen: hat er aber den Aether
»der Liebe einmal geathmet; ſo iſt das foramen
»ovale auf immer zu und er muß heraus, wie ich
»in den kuͤnftigen Hundspoſttagen ſicherlich ſehe.»
Heſperus. I. Th. S[274] Einen naͤrriſchen philoſophiſchen Styl hat ſich der
Leſer angewoͤhnt; aber es iſt wahr: daher ein Maͤd¬
gen nie ſo begierig fuͤr ihr Theater den zweiten Lieb¬
haber wirbt als nach dem Hintritt des erſten und
nach den Schwuͤren, ihr Werbepatent wegzuwerfen.
Wie konnt' aber der Leſer auf noch wichtigere
Urſachen *) nicht fallen, 1) auf die Tutti-Liebe
und 2) auf Viktors Muttermaͤler?
1) Die Tutti- oder Simultanliebe iſt zu wenig
bekannt. Es iſt noch keine Deſinizion davon da
als meine: in unſern Tagen ſind naͤmlich die Leſe¬
kabineter, die Tanzſaͤle, die Konzertſaͤle, die Wein¬
berge, die Koffee- und Theetiſche, dieſe ſind die
Treibhaͤuſer unſers Herzens und die Raffinerien un¬
ſerer Nerven, jenes wird zu gros, dieſe zu fein —
wenn nun in dieſen eheluſtigen und ehrloſen Zeiten
ein Juͤngling, der noch auf ſeine Meſſiasinn wie ein
Jude paſſet und der noch ohne den Gegenſtand des
erotiſchen con brio des Herzens iſt, von ungefaͤhr
mit einer Tanz-Moitiſtin ꝛc. mit einer Klubiſtin
oder Aſſociee, oder Amtsſchweſter, oder Litis-Kon¬
ſortinn hundert Seiten in Salis oder Goͤthe lie¬
ſet — oder mit ihr uͤber den Klee- oder Seidenbau
[275] oder uͤber Kants Prolegomena drei bis vier Briefe
wechſelt — oder ihr fuͤnfmal den Puder mit dem
Pudermeſſer von der Stirne kehrt — oder neben
und mit ihr betaͤubende Saͤbelbohnen anbindet —
oder gar in der Geiſterſtunde (die eben ſo oft zur
Schaͤferſtunde wird) uͤber das erſte Prinzip in der
Moral diskurirt: ſo iſt ſo viel gewiß, daß der be¬
ſagte Juͤngling (wenn anders Feinheit, Gefuͤhl
und Beſonnenheit einander die Wage in ihm
halten) ein wenig toll thun und fuͤr die beſagte Moi¬
tiſtin) wenn ſie anders nicht mit Hoͤkern des Kopfes
oder Herzens an ſeine Fuͤhlfaͤden ſtoͤſſet) etwas em¬
pfinden muß, das zu warm iſt fuͤr die Freundſchaft,
zu unreif fuͤr die Liebe das an jene graͤnzt, weil
es mehrere Gegenſtaͤnde einſchließt, und an dieſe,
weil es an dieſer ſtirbt. Und das iſt eben nichts
anders als meine Tutti-Liebe. Beyſpiele ſind ver¬
haſt: ſonſt zoͤg' ich meines an. Dieſe Univerſalliebe
iſt ein ungegliederter Fauſthandſchuh, in den, weil
keine Verſchlaͤge die vier Finger trennen, jede Hand
leichtlich hineinfaͤhrt — in die Parzialliebe oder in
den Fingerhandſchuh draͤngt ſich nur eine einzige
Hand. Da ich zuerſt dieſe Sache und Inſel entdeckt
habe: ſo kann ich ihr den Namen ſchenken, womit
ſie andre nennen und rufen muͤſſen. Man ſoll ſie
kuͤnftighin die Simultanliebe benamſen, ob ich
ſie gleich auch wenn ich wollte die Praͤludierliebe —
S 2[276] die Maskopei-Zaͤrtlichkeit — die General-Waͤrme
— die Einkindſchafts-Treue nennen laſſen koͤnnte.
Den Theologen und ihrer Kannengieſſerei
von den Endabſichten zu gefallen, werf' ich noch
dieſen feſten Grundſatz her: ich moͤchte denn ſehen,
der's ohne die Simultanliebe in unſern Zeiten, wo
die einſpaͤnnige Liebe durch die Foderungen eines
groͤſſeren metalliſchen und moraliſchen Einge¬
brachten ſeltner wird, drei Jahre aushielte.
2) Die zweite Urſache von Viktors Weiber-Lieb¬
haberei war ſein Mutermahl d. h. eine Aehnlichkeit
mit ſeiner und jeder Mutter. Er behauptete ohne¬
hin, ſeine Ideen haͤtten gerade den Schritt d. h.
den Sprung der weiblichen und er haͤtte uͤberhaupt
recht viel von einer Frau: wenigſtens gleichen die
Weiber ihm darin, daß ihre Liebe durch Sprechen
und Umgang entſteht. Ihre Liebe hat ſicher oͤfter
mit Haß und Kaͤlte angefangen als aufgehoͤrt. Aus
einem aufgedrungenen verhaſten Braͤutigam wird ge¬
woͤhnlich ein geliebter Ehemann. »Ich will — ſag¬
»te er im Hannoͤveriſchen — wenn nicht in ihr
»Herz, doch in ihre Herzohren. Sollte denn die
»Natur in die weibliche Bruſt zwei ſo weite Herz¬
»kammern — man kann ſich darinn umkehren —
»und zwei ſo nette Herzalkove — den Herzbeutel
»hab' ich gar nicht beruͤhrt — blos darum hinein¬
»gebauet haben, daß Eine Mannsſeele dieſe vier
[277] »Zimmer mutterſeelenallein miethe, wie Eine
»weibliche die vier Gehirnkammern des Kopf-Gy¬
»naͤzeums bewohnt? Ganz unmoͤglich! und ſie thuns
»auch nicht: ſondern — aber wer uͤbermaͤſſigen Witz
»ſcheuet, gehe mir jetzt aus den Fuͤſſen — in die
»zwei Fluͤgel dieſer Rotunda und in die Seitenge¬
»baͤude wird hineinlogirt was hineingeht d. h. mehr
»als herausgeht — wie in einem Zoll- oder Tauben¬
»hauſe gehts aus und ein — man kann nicht zaͤh¬
»len, wenn man zuſieht — es iſt ein ſchoͤner Tem¬
»pel, der Durchgangsgerechtigkeit hat —
»Solche kehren ſich an die wenigen gar nicht, die
»ſich einſchraͤnken und die Frontloge des Herzens
»nur Einem Liebhaber und die 2 Seitenlogen tau¬
»ſend Freunden geben.»
Gleichwol konnt' es Jean Paul — es mochte im¬
merhin Platz genug uͤbrig ſeyn — nie ſo weit trei¬
ben, daß er nur in die zwei Koloniekoͤrbe, naͤmlich
in die Herzohren hineingekommen waͤre, welches doch
das Allerwenigſte iſt. Weil ſein eines Bein zu ab¬
brevirt und weil ſein Geſicht wieder zu prolongirt
iſt: ſo quartiren ſie den guten Schelm blos am kaͤl,
teſten Orte ganz oben unter den Kopf-Manſarden
ein nicht weit von den Haarnadeln — und da ſitzt
er noch jetzt und ſcherzet (ſchreibend) ſein eilftes
Kapitel hinaus. . . .
[278]
12. Hundspoſttag.
Polar-Phantaſien — Die ſonderbare Inſel der Vereinigung —
Noch ein Stuͤck aus der antediluvianiſchen Geſchichte — Der
Stettinerapfel als Geſchlechtswappen —
Wir leben jetzt im finſtern Mittelalter dieſer Bio¬
graphie und leſen dem aufgeklaͤrten achtzehnten Saͤ¬
kulum oder Hundstag entgegen. Allein ſchon im
zwoͤlften fliegen, wie in der Nacht vor einem ſchoͤnen
Tag, groſſe Funken. Mich frappirt dieſer Hunds¬
tag noch immer. »Spizius, ſagt' ich, friß mir weg
was du willſt und klaͤre nur die Welt auf.»
Sebaſtian eilte am Sonnabend mit luſtiger Seele
unter einem uͤberwoͤlkten Himmel auf die Inſel
der Vereinigung zu. Er konnte da anlaugen,
wenn er ſich nicht aufhielt, ehe das Gewoͤlk einge¬
ſogen war. Unter einem blauen Himmel fuͤhrte
er, wie Schikaneder, die Trauerſpiele, unter
einem aſchgrauen, aber die Luſtſpiele und Ope¬
ra Buffa ſeines Innern auf. Wenns regnete, lacht'
er gar. Rouſſeau bauete in ſeinem Kopfe ein ſen¬
timentaliſches Theater, weil er weder aus der
[279] Kuliſſe noch in eine Loge des wirklichen Lebens ge¬
hen wollte — Viktor aber ſalarirte zwiſchen ſeinen
Beinwaͤnden des Kopfes ein komiſches Theater
der Deutſchen, blos um die wirklichen Menſchen
nicht auszulachen: ſeine Laune war ſo idealiſch wie
die Tugend und Empfindſamkeit andrer Leute. In
dieſer Laune hielt er (wie ein Bauchredner) lauter
innerliche Reden an alle Potentaten — er ſtellte ſich
auf die Ritterbank mit Kirchenviſitationsreden —
auf die Staͤdtebank mit Leichenreden — auf dem paͤbſt¬
lichen Stuhl hielt er an die Jungfer Europa und
kirchliche Braut Strohkranzreden — die Potenta¬
ten muſten ihm alle wieder antworten — man kann
denken wie, da er gleich einem Miniſter, ihnen
aus ſeinem Kopf-Soufleurloch, alles in den Mund
legte — und dann gieng er doch fort und lachte je¬
den aus.
Mandeville ſagt in ſeinen Reiſen, am Nordpol
gefriere im Winterhalbjahr jedes Wort, aber im
Sommerhalbjahre thau' es wieder auf und werde
gehoͤrt. Dieſe Nachricht malte ſich Viktor auf dem
Wege nach der Inſel aus: wir wollen unſere Ohren
an ſeinen Kopf legen und dem innern Geſumſe zu¬
horchen.
»Ich und Mandeville ſind gar nicht verbunden
»es zu erklaͤren, warum am Nordpol die Worte ſo
gut wie Speichel unter dem Fallen zu Eis werden
[280] »gleich dem Queckſilber allda; aber verbunden ſind
»wir, aus dem Fakto zu folgern. Wenn ein lachen¬
»der Erbe da ſeinem Teſtirer lange Jahre wuͤnſcht:
»ſo hoͤrt der gute Mann den Wunſch nicht eher als
»im naͤchſten Fruͤhjahr, das ihn ſchon kann todtge¬
»ſchlagen haben. — Die beſten Weihnachtspredigten
»erbauen nicht eher gute Seelen als im Heumo¬
»nat. — Vergeblich ſtattet der Polarhof ſeine Neu¬
»jahrswuͤnſche vor Serenissimo ab; er hoͤrt ſie nicht
»als bis es warm wird, nnd dann iſt ſchon die
»Haͤlfte fehlgeſchlagen. Man ſollte aber einen Zir¬
»kulierofen als Sprachrohr in die Antichambre
»ſetzen: damit man in der Waͤrme die Hof-Lin¬
»guiſten hoͤren koͤnnte. — Ein Bruder Redner waͤre
»dort ohne einen Ofenheizer ein geſchlagner Mann.
»— Der Pointeur thut zwar am Thomastag ſeine
»Fluͤche; aber am Johannistag, wo er ſchon wieder
»gewonnen, fahren ſie erſt herum, und aus den
»Winterkonzerten koͤnnte man Sommerkonzerte ma¬
»chen ohne alle Inſtrumente: man ſetzte ſich nur in
»den Saal. — Woher kommts anders, daß die
»Polar-Kriege oft halbe Jahre vor dem Manifeſt
»gefuͤhret werden als daher, daß das ſchon im Win¬
»ter diktirte Manifeſt erſt bey gutem Wetter laut
»wird? — Und ſo kann man von den Winterkam¬
»pagnen der Polar-Armeen nicht eher etwas hoͤren
»als unter den Sommerfeldzuͤgen. — Ich meines
[281] »Orts moͤchte blos auf den Winter nach den Pol
»reiſen, blos um da den Leuten, beſonders dem
»Hofſtaat wahre Injurien ins Geſicht zu ſagen;
»wenn er ſie endlich vernaͤhme: ſaͤſſe der Injuriant
»ſchon wieder in Flachſenfingen. — Die Winter¬
»luſtbarkeiten ſind gar nicht ſchuld, wenn die noͤrd¬
»liche Regierung eine Menge der wichtigſten Dinge
»nicht reſolvirt und referirt: ſondern erſt unter den
»Kanikularferien iſt das Votiren zu hoͤren; und da
»koͤnnen auch die Beſcheide der Kammer auf Gna¬
»den- und Holzſachen zur Sprache kommen- —
»Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol — indes
»die Sonne im Steinbock waͤre und mein Herz im
»Krebs — niederfiele vor der ſchoͤnſten Frau und
»ihr in der laͤngſten Nacht hindurch die heiſſeſten
»Liebeserklaͤrungen thaͤte, die aber in einer Drittels¬
»Terzie Eis anſetzten und ihr gefroren d. h. gar
»nicht zu Ohren kaͤmen: was wuͤrd' ich im Sommer
»machen, wo ich ſchon kalt waͤre und ſie ſchon haͤt¬
»te, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tuͤch¬
»tig mit ihr zu zanken verhofte, nun mitten unter
»dem Keifen meine Steinbocks-Liebeserklaͤrungen
»aufzuthauen und zu reden anfingen? Ich wuͤrde
»gelaſſen nichts machen als die Regel: man ſei zaͤrt¬
»lich am Pol, aber erſt im Widder oder Krebs. —
»Und wenn vollends die Uebergabe einer Prinzeſſin
»am Pol vorginge und zwar an dem Punkt, wo
[282] »die Erde ſich nicht bewegt, der ſich am beſten fuͤr
»die zwiefache Unthaͤtigkeit einer Prinzeſſin und ei¬
»ner Dame ſchickt, und wenn gar die Uebergabe in
»einem Saale waͤre, wo jeder, beſonders Zeuſel
»in den Winterlekzionen ſie gelaͤſtert haͤtte; wenn
»dann die Luft im Saal zu laͤſtern anfinge und Zeuſel
»in der Noth fort wollte: ſo wuͤrd' ich ihn
»freundlich packen und fragen: »wohin mein
»Freund?» — —
»Nach Groskuſſeviz, ich helfe fangen» antwor¬
tete ihm der — reelle Buͤttel aus St. Luͤne, der
hinter einem Gemaͤuer mit der einen Hand ein Buch
auf- und mit der andern eine Taſche zugeknoͤpft hat¬
te. Viktor fuͤhlte ein frohes Beklemmen uͤber eine
Antike aus St. Luͤne. Er fragte ihn um alles mit
einem Eifer, als waͤr' er ſeit einer Ewigkeit a parte
ante weg. Der zuknoͤpfende Leſer wurde ein Autor
und faßte vor dem Herrn die Jahrbuͤcher d. h.
Stundenbuͤcher deſſen ab, was ſeitdem im Dorfe
vorgefallen war. In zwanzig Fragen wickelte Viktor
die nach Klotilden ein; und erfuhr, daß ſie bisher
alle Tage beim Pfarrer geweſen war. Das verdroß
ihn: »als ob ich nicht ſoviel Seelenſtaͤrke haͤtte, der
»Liebe eines Freundes zuzuſehen — und auch ſonſt
»als ob.» Ueberhaupt dacht' er, in einer ſolchen
Ferne ſey es ihm mehr erlaubt, an ſie zu denken.
Der leſende Haͤſcher war ein Leſer unter meinem
[283] Regiment: das Buch, das er auf ſeinen Diebs-
Heckjagden herumtrug, war die unſichtbare Lo¬
ge. *) Viktor lies ſich den erſten Theil vorſtrecken:
der Buͤttel ſtand im zweiten gerade an der Pyrami¬
de beim erſten Kuß. — Jener that immer ſchnellere
Schritte im Leſen und im Gehen und hatte Buch
und Weg miteinander zu Ende — —
Die Inſel ſtand vor ihm! —
— — Hier auf dieſem Eiland, mein Leſer, ma¬
che Augen und Ohren auf! . . . . Nicht als ob
merkwuͤrdige Dinge erſchienen — denn dieſe wuͤrden
ſich ſchon durch halbofne Ohren und Augenſterne
draͤngen — ſondern eben weil lauter alltaͤgliche kommen.
Der Lord ſtand einſam am Ufer der See, die
um die Inſel floß — und erwartete und empfing
ihn mit einem Ernſt, der ſeine Freundlichkeit uͤber¬
huͤllte, und mit einer Ruͤhrung, die noch mit ſeiner
gewoͤhnlichen Kaͤlte rang. Er wollte jetzt zur Inſel
hinuͤber und Viktor ſah doch kein Mittel des Ue¬
bergangs. Es war kein Boot da. Auch waͤre kei¬
nes fortzubringen geweſen, weil eiſerne Spitzen un¬
ter dem Waſſer in ſolcher Menge und Richtung ſtan¬
den, daß keines gehen konnte. Die Schildwache,
die bisher am Ufer die Inſel gegen die zerſtoͤhrende
Neugier des Poͤbels deckte, war heute entfernt.
[284] Der Vater ging mit dem Sohne langſam um das
Ufer und ruͤckte nach und nach 27 Steine, die in
gleichen Entfernungen auseinander lagen, aus ihrem
Lager heraus. Die Inſel war vor der Blindheit
des Lords gebauet worden und den Zuſchauern noch
unverwehrt; aber in derſelben hatt' er ihr Inneres
durch unbekannte naͤchtliche Arbeiter vollenden und
verſtrecken laſſen. Unter der Ronde um die Inſel
ſah Viktor ihr Stab- und Fruchtgelaͤnder von hohen
Baumſtaͤmmen, die ihre Schatten und ihre Stim¬
men in die Inſel hineinzurichten ſchienen und deren
Laubwerk die bebenden Wellen mit ihren zertheilten
Sonnen und Sternen beſprengten — die Tannen
umarmten Bohnenbaͤume und um Tannenzapfen gau¬
ckelten Purpur-Bluͤtenlocken, die Silberpappel buͤckte
ſich unter der thronenden Eiche, feurige Buͤſche von
arabiſchen Bohnen loderten tiefer aus Laub-Vorhaͤn¬
gen, ablaktirte Baͤume auf doppelten Staͤmmen ver¬
gitterten dem Auge die Eingaͤnge und neben einer
Fichte, die alle Gipfel beherrſchte, war eine hoͤhere
vom Sturm halb uͤber das Waſſer hereingedruͤckt,
die ſich uͤber ihrem Grabe wiegte — weiße Saͤulen
hoben in der Mitte der Inſel einen griechiſchen Tem¬
pel unbeweglich uͤber alle wankende Gipfel hinaus —
Zuweilen ſchien ein verirrter Ton durch das gruͤne
Allerheiligſte zu laufen — ein hohes ſchwarzes an
die Tannenſpitzen reichendes Thor ſah mit einer wei¬
[285] ßen Sonnenſcheibe bemalt nach Oſten und ſchien zum
Menſchen zu ſagen: gehe durch mich, hier hat nicht
nur der Schoͤpfer, auch dein Bruder gearbeitet! —
Dieſem Thore gegenuͤber lag der 27te Stein.
Viktors Vater verruͤckte ihn, nahm einen Magnet
heraus, bog ſich nieder [und] hielt deſſen ſuͤdlichen
Pol in die Luͤcke. Ploͤtzlich fingen Maſchinen an zu
knarren und die Wellen an zu wirbeln — und aus
dem Waſſer ſtieg eine Bruͤcke von Eiſen auf. Vik¬
tors Seele war von Traͤumen und Erwartungen
uͤberfuͤllt. Er ſetzte ſchauernd hinter ſeinem Vater
den Fuß in die magiſche Inſel. Hier beruͤhrte ſein
Vater einen duͤnnen Stein mit dem noͤrdlichen Ende
des Magnets und die Eiſenbruͤcke fiel wieder hinun¬
ter. Ehe ſie an das erhoͤhte Thor hintraten: drehte
ſich von innen ein Schluͤſſel um und ſperrte auf und
die Thuͤre klafte. Der Lord ſchwieg. Auf ſeinem Ge¬
ſicht war eine hoͤhere Sonnenſeele aufgegangen —
man kannte ihn nicht mehr — er ſchien in den Ge¬
nius dieſes zauberiſchen Eilandes verwandelt zu
ſeyn.
Welche Szene! ſobald das Thor geoͤfnet war,
lief durch alle Zweige ein harmoniſches Hinuͤber und
Heruͤbertoͤnen — Luͤfte flogen durch das Thor herein
und ſogen die Laute in ſich und ſchwammen bebend
damit weiter und ruhten nur auf gebognen Bluͤten
aus — Jeder Schritt machte einen großen duͤſtern
[286] Schauplatz weiter — Im Schauplatz lagen umher
Marmorſtuͤcke, auf welche die Schmiedekohle Ra¬
phaels Geſtalten geriſſen hatte, eingeſunkne Sphinxe,
Landkartenſteine, worauf die dunkle Natur kleine
Ruinen und ertretetene Staͤdte geaͤzet hatte, — und
tiefe Oefnungen in der Erde die weniger Graͤber als
Formen zu Glocken waren, die darin gegoſſen wer¬
den — dreißig giftvolle Eibenbaͤume ſtanden von
Roſen umflochten, gleichſam als waͤren ſie Zeichen
der dreißig [wuͤthend-leidenſchaftlichen] Jahre des
Menſchen — drei und zwanzig Trauerbirken waren
zu einem niedrigen Gebuͤſch zuſammengebogen und in
einander gedruͤckt — in das Gebuͤſch liefen alle
Steige der Inſel — hinter dem Gebuͤſch verfinſter¬
ten neunfache Floͤre in verſchlungen Wallungen den
Blick nach dem hohen Tempel — durch die Floͤre
ſtiegen fuͤnf Gewitterableiter in den Himmel auf und
ein Regenbogen aus zweien in einander gekruͤmmten
Waſſerſtrahlen zweier Fontainen ſchwebte flimmernd
am Gezweige und immer woͤlbten ſich die zwei Stra¬
len herauf und immer zerſplitterten ſie einander oben
in der Beruͤhrung — —
Als Horion ſeinen Sohn, deſſen Herz von lauter
unſichtbaren Haͤnden gefaſſet, erſchreckt, gedruͤckt,
entzuͤndet, erkaͤltet wurde, in das niedrige Birken-
Gebuͤſch hineinzog: ſo began die lallende Todtenzunge
eines Orgel-Tremulanten durch die oͤde Stille den
[287] Seufzer des Menſchen anzureden und der wankende
Ton wand ſich zu tief in ein weiches Herz. — Da
ſtanden beide an einem vom Gebuͤſche dunkel uͤber¬
bauten Grabe — auf dem Grabe lag ein ſchwarzer
Marmor, auf dem ein uͤberſchleiertes blutloſes wei¬
ßes Herz und die bleichen Worte ſtanden: es ruht.
— Es war darunter das Aſchenherz von der Gelieb¬
ten des Lords, die im 23ten Jahre der Ruhe in die
Arme fiel — Nie ſchauderte Viktor ſo: nie ſah er
auf einem Geſicht eine ſolche chaotiſche wechſelnde
Welt von fliehenden, kommenden, kaͤmpfenden, ver¬
gehenden Empfindungen; nie ſtarrte ein ſolches Eis
der Stirne und Augen uͤber krampfhaften Lippen —
und ein Vater ſah ſo aus und ein Sohn empfand
es nach.
»Ich bin ungluͤcklich« ſagte langſam ſein Vater:
eine beiſſende bittere Thraͤne brannte am Augapfel;
er ſtockte ein wenig und ſtellte die fuͤnf ofnen Fin¬
ger auf ſein Herz als wollt' ers ergreifen und her¬
ausziehen und blickte auf das ſteinerne blaſſe als
wollt' er ſagen: warum ruht meines nicht auch?
— Der gute ſterbende Viktor, zermalmet von lieben¬
dem Jammer, zerrinnend in Mitleid wollte an den
theuern verheerten Buſen fallen und wollte mehr
als den Seufzer ſagen: »o Gott, mein guter Va¬
»ter!« aber der Lord hielt ihn ſanft von ſich ab
und die Gallenzaͤhre wurde unvergoſſen vom Auge
[288] zerquetſcht. Der Lord fing wieder an, aber kaͤlter:
»glaube nicht, daß ich beſonders geruͤhrt bin —
»glaube nicht, daß ich eine Freude begehre, oder ei¬
»nen Schmerz verwuͤnſche — ich lebe nun ohne
»Hofnung und ſterbe nun ohne Hofnung.« —
Seine Stimme kam ſchneidend uͤber Eisfelder
her, ſein Blick war ſcharf durch Froſt.
Er fuhr fort: »Wenn ich ſieben Menſchen
»vielleicht gluͤcklich gemacht habe: ſo muß auf mei¬
»nen ſchwarzen Marmor geſchrieben werden: es
»ruht. . . . Warum wunderſt du dich ſo? Biſt du
»jetzt ſchon ruhig?« — Er ſah ſtarr auf das weiße
Herz, und ſtarrer gerade aus, als wenn eine Geſtalt
ſich aufhoͤbe aus dem Grabe — das frierende Auge
legte und drehte ſich auf eine aufdringende Thraͤne
— ſchnell zog er einen Flor von einem Spiegel zu¬
ruͤck und ſagte: »Blicke hinein, aber umarme mich
»darauf!« . . . Viktor ſtarrte in den Spiegel und
ſah ſchaudernd ein ewig geliebtes Angeſicht darin er¬
ſcheinen — das Angeſicht ſeines Lehrers Dahore
— er bebte wohl zuſammen, aber er ſah ſich doch
nicht um und umfaßte den Vater, der ohne Hof
nung war.
»Du zitterſt viel zu ſtark (ſagte der Lord) aber
»frage mich nicht, mein Theurer, warum alles ſo
»iſt: in gewiſſen Jahren thut man die alte Bruſt
»nicht mehr [auf]; ſo voll ſie auch ſey.«
Ach du dauerſt mich! denn die Wunden, die
aufgedeckt werden koͤnnen, ſind nicht tief; der
Schmerz, den ein menſchenfreundliches Auge finden,
eine weiche Hand lindern kann, iſt nur klein —
Aber der Gram, den der Freund nicht ſehen darf,
weil er ihn nicht nehmen kann, dieſer Gram, der
zuweilen ins begluͤckte Auge in Geſtalt eines ploͤtzli¬
chen Tropfens aufſteigt, den das weggewandte Ange¬
ſicht vertilgt, haͤngt uͤberdeckt ſchwerer und ſchwerer
am Herzen und zieht es endlich loß und faͤllt mit
ihm unter die heilende Erde hinab: ſo werden die
Eiſenkugeln an den uͤber dem Meer Geſtorbnen an¬
geknuͤpft und ſie ſinken mit ihm ſchneller in ſein
großes Grad. — —
Er fuhr fort: »ich werde dir etwas ſagen; aber
»ſchwoͤre hier auf dieſer theuern Aſche, zu ſchweigen.
»Es betrift deinen Flamin und dieſem mußt du es
»verhehlen.« Das fiel dem von einer Welle auf
die andre geſtuͤrzten Viktor auf. Er erinnerte ſich,
daß ihm Flamin das Verſprechen auf der Warte ab¬
gedrungen, daß ſie mit einander, wenn ſie ſich zu
ſehr beleidigt haͤtten, ſterben wollten. Er ſtand mit
dem Schwur an — endlich ſagt' er »aber kurz vor
»meinem Tode darf ichs ihm ſagen?« — Kannſt du
ihn wiſſen ſagte ſein Vater. — »Aber im Fall?«
— Dann! ſagte jener kalt. —
Heſperus. I. Th. T[290]
Viktor ſchwur; und zitterte vor dem kuͤnftigen
Inhalt des Eides.
Auch mußt' er verſprechen, vor der Wiederkehr
des Lords dieſe dunkle Inſel nicht zu beſuchen.
Sie traten aus dem Laub-Mauſoleum und ließen
ſich auf eine umgeſtuͤrzte Stalaktite nieder. Zuwei¬
len fiel unter dem Reden ein fremder Harmonika-Ton
von Blatt zu Blatt und in einer weiten Ferne ſchie¬
nen die vier Paradieſes-Fluͤße unter einem mit-beben¬
den Zephyr hinweg zu hallen.
Der Vater begann: »Flamin iſt Klotildens
»Bruder und des Fuͤrſten Sohn.« — —
Nur ein ſolcher Gedanken-Blitz konnte noch in
Viktors geblendete Seele dringen: eine neue Welt
ging in ihm jetzt in die Hoͤhe und riß ihn aus der
nahen großen weg. —
»Auch (fuhr Horion fort) leben Januars drei
andern Kinder in Frankreich noch, bloß das vierte
auf den ſieben Inſeln iſt unſichtbar.« Viktor begriff
nichts; er erklaͤrte ihm aber alles ſo:
Die drei galliſchen Kinder ließ er verborgen zu
einem hoͤhern Stand erziehen, um ſie ihrem Vater
einmal als Aſſiſtenten ſeiner gemißbrauchten Regierung
wieder zu geben. Daher hatt' er Flamin zum Regie¬
rungsrath werden laſſen. Sobald er einmal die Kin¬
der-Kolonie beiſammen hat: uͤberraſcht er den Vater
mit ihrer Erſcheinung. Ich habe ſchon oben erzaͤhlt,
[291] daß Flamfn mit Viktor und dem jetzt unſichtbaren
Kaplans Sohn ins Schiff ging und daß letzterer die
Blattern und Blindheit bekam; aber er ging —
nicht zuruͤck, wie ich doch oben im zweiten Poſttage
berichtete, ſondern — mit fort. Nur verhehlet
der Lord ihn jetzt, damit niemand aus den drei Kin¬
dern den Fuͤrſtenſohn ausfinde, er bringt ihn aber
in einem Jahre in Geſellſchaft der uͤbrigen zum Vor¬
ſchein. Der Lord hat nicht nur leichte Beweiſe,
um den Fuͤrſten von ſeiner Verwandſchaft mit vier
oder fuͤnf Menſchen zu uͤberfuͤhren — bei Flamin
das Zeugniß der mitkommenden Mutter, bei den
uͤbrigen ihre Aehnlichkeit mit ihren Portraits, die
er noch hat — ſondern auch einen recht ſonderbaren
Beweiß: naͤmlich einen Stettiner Apfel; und dieſes
Apfels wegen muß er ein Jahr ausbleiben.
Viktor hatte es ſchon von der Pfarrern ſelber
gehoͤrt, daß alle Soͤhne des Flachſenfingiſchen Fuͤr¬
ſten ein gewiſſes Mutter- oder Vatermahl auf dem
linken Schulterblatte haͤtten, das wie Nichts ausſaͤhe
außer im Herbſte wenn die Stettiner reiften: da
wuͤrd' es auch roth und glich einem.
Dem Leſer muͤſſen aus den Jahrbuͤchern der ge¬
lehrten Sozietaͤten ganze Duzend Kirſchen vorgekom¬
men ſeyn, die auf Kinder ſkiziret waren und die ſich
mit denen an den Baͤumen zu roͤthen anfingen.
Wenn ich meinem Bad-Motiſten glauben duͤrfte, ſo
T 2[292] haͤtt' ich ſelber ein ſolches Stettiner Fruchtſtuͤck auf
der Schulter haͤngen — ich habe mir aber vorgeſetzt,
da ichs bisher alle Herbſte vergeſſen, in dem kuͤnftigen
ſobald die Stettiner zeitigen, einen Spiegel zu neh¬
men und mich von hinten zu beſehen.
Dieſe Stettiner Fruchtſchnur ſchiebt aber die
Ruͤckkehr des Lords und die Uebergabe der natuͤrli¬
chen Kinder bis auf die Herbſtzeit ihrer Roͤthe auf.
Viktor wuͤnſchte ſtatt des Junius den Oktober her
— der Schulter wegen.
Ich mache mir kein Bedenken, hier eine ſatiri¬
ſche Note meines Korreſpondenten zu uͤbergeben.
»Stellen Sie ſich (ſchreibt er) bei dieſer Nachricht
»als thaͤten Sie es auf mein Geheiß und erzaͤhlen
»Sie des Lords Expoſition und Offenbarung, wenn
»Sie ſie einmal erzaͤhlet haben, Ihrem Leſer ganz
»ruhig zum zweitenmal; damit er ſie nicht nicht ver¬
»gißt oder verwirrt. Leſer kann man nicht genug
»betruͤgen und ein geſcheuter Autor wird ſie gern
»an ſeinem Arm in Mardereiſen, Wolfsgruben und
»Prellgarne geleiten.« Ich bekenn' es, zu ſolchen
Pfiffen hatt' ich von jeher ſchlechten Anſatz — und
bringt es uͤberhaupt nicht mir und dem Leſer mehr
Ehre, wenn ers gleich aufs erſtemal behaͤlt, daß
Flamin Jenners natuͤrlicher und Le Bauts angebli¬
cher Sohn iſt — daß des Pfarrers ſeiner blind und
nicht da iſt — daß noch drei oder vier andre
[293] Jenners Kinder aus den galliſchen Seeſtaͤdten nach
kommen — —, mehr Ehre ſag' ich als wenn ichs
jetzt ihm zum zweitenmale (im Grunde wars zum
drittenmale) vorkaͤuen muͤßte, daß Flamin Jenners
natuͤrlicher und Le Bauts angeblicher Sohn iſt, daß
des Pfarrers ſeiner blind nnd nicht da iſt, und daß
noch drei oder vier andre Jenners Kinder aus den
galliſchen Seeſtaͤdten nachkommen? Ich frage.
Der Lord hatte ſeinem Sohn den Eid des
Schweigens gegen Flamin darum abgefodert, weil
dieſer aus Rechtſchaffenheit alle Geheimniſſe bewahr¬
te, aber aus Zornhitze alle verrieth — weil er in
dieſer ſeine Geburt geltend machen wuͤrde, bloß um
ſich mit einem Opponenten herumzuſchießen — weil
er noch morgen deswegen aus einem Vorfechter mit
dem Themis-Schwerte ein Nachfechter mit dem
Kriegsdegen werden koͤnnte — und weil ſich uͤber¬
haupt ein Geheimniß gleich der Liebe noch beſſer un¬
ter zwei Theilnehmern befindet als unter dreien.
Auch glaubte der Lord, aus einem Menſchen, dem
man Geld gaͤbe, damit er etwas wuͤrde, wuͤrde mehr
als aus einem, der etwas waͤre, weil er Geld haͤtte,
und der die Muͤnzen fuͤr ſeine Erbſchaftswappen und
nicht fuͤr ausgeſetzte Preismedailien kuͤnftiger Aufloͤ¬
ſungen anſaͤhe.
Der Lord berichtete weiter, er wuͤrde vielleicht
eher die uͤbrigen Infanten zuruͤckgefuͤhret haben, waͤr'
[294] er nicht blind geweſen — er wuͤrde jetzt vielleicht
ſpaͤter es thun, waͤre nicht wieder ſeine Blindheit
und — Matthieu ſchuld.
Der Lord mußte ſich naͤmlich in ſeinen blinden
Jahren die Briefe, die er aus London von ſeiner
Niece uͤber die drei Infanten erhielt, von einem
Freunde vorleſen laſſen, dem er trauen konnte. Er
konnt' aber keinem trauen. Aber eine Freundin fand
er aus, die ſeines Zutrauens wuͤrdig war und die
— Klotilde hieß. Er, der ſeine Geheimniſſe nicht
wie ein Juͤngling verſchleuderte, durft' es doch wa¬
gen, Klotilden in den Beſitz ſeiner wichtigſten zu
ſetzen, indem er ſie zur Buchhalterin und Vorleſerin
der Briefe ſeiner Niece d. h. ihrer Mutter machte.
Ueberhaupt hielt er die weibliche Verſchwiegenheit
fuͤr groͤßer als unſre — naͤmlich in wichtigen Din¬
gen und vor der Ehe. Das folgende iſt nur ſeine
Vermuthung: einmal wird Klotilde von der Vorle¬
ſung weggerufen — ſie koͤmmt wieder und uͤberlieſet
ſtill den muͤtterlichen Brief noch einmal, ſagt, ſie
komme ſogleich wieder und geht — als ſie wieder
kommt, behauptet ſie, nur einmal weggeweſen zu
ſeyn — kurz er vermuthet: dieſer Matthieu, in deſ¬
ſen Kehle alle moͤgliche Dialekte ſtecken, habe das
zweitemal Klotilden nachgeſpielt und unter ihrem
Kreditiv den Brief geleſen, der zum Gluͤck nur von
Flamin und deſſen Schulter-Deviſe ſprach. Da die¬
[295] ſes im letzten Winter geſchah, als Flamin ſeine aka¬
demiſche Laufbahn zu Ende gelaufen war: ſo konnte
Matthieu, zwar die Oktoberprobe des Mahls noch
nicht vornehmen; aber er klebe ſich doch (ſchien es
dem Lord) mit ſeinen Laubfroſchfuͤßen an dieſe gute
Seele an und unter dem Deckmantel der Liebe ge¬
gen Agathe und gegen den Freund haͤng' er ſeine
Faͤden aus, laſſe ſie vom Winde zwiſchen dem Fuͤr¬
ſtenſchloſſe und Pfarrhauſe aufſpannen, ſpinne immer
einen uͤber den andern bis endlich der Vater, Schleu¬
nes, das rechte Netz zum Umwickeln des Fanges zu¬
ſammengezwirnt haͤtte. . . . Ich geſteh' es, durch
dieſe Vermuthung geht mir ein Licht uͤber tauſend
Dinge auf. —
Viktor erſtaunte aͤrger als wir und ſchlug dem
Lord vor, ob er nicht ohne Schaden ſeines Eides
Klotilden ſeinen Eintritt in dieſe Myſterien offenba¬
ren koͤnnte, da er zwei Gruͤnde dazu haͤtte; erſtlich
wuͤrde ihrer Delikateſſe die Verlegenheit uͤber den
Schein erſpart, den ihre bruͤderliche Liebe ſonſt nach
ihrer Meinung in ſeinen Augen haben muͤßte *)—
zweitens behielte man ein Geheimniß beſſer, wenn
nur noch Einer daran ſchweigen haͤlfe wie von Mi¬
das Barbier und dem Schilfrohr bekannt ſey — der
[296] dritte Grund war, er hatte mehrere Gruͤnde. Na¬
tuͤrlicher Weiſe ſchlug es ihm der Lord nicht ab.
Uebrigens fuͤhrte er ſeinen Viktor mit keinem pe¬
dantiſchen Marſchreglement auf die Eis- und Stech¬
bahn des Hofes. Er rieth ihm bloß niemand zu ab¬
ſichtlich zu ſuchen und zu meiden — beſonders das
Schleunesſche Haus — blos ſeinen Freund Flamin,
den Matthieu lenke, abzuzaͤumen und ihn anſtatt am
Zaume, lieber an der freundſchaftlichen Hand zu
fuͤhren — bloß den Rang eines Doktors zu begeh¬
ren und mehr nicht. Er ſagte, Regeln vor Erfah¬
rungen waͤren Geometrie vor dem Staarſtechen.
Sogar nach der Ernte der Erfahrungen waͤre Gra¬
çians homme de cour und Rochefoukaults Maxi¬
men nicht ſo gut als die mémoires und Geſchichte
der Hoͤfe, d. h. die Erfahrungen andrer. Endlich
berief er ſich auf ſein eignes Beiſpiel und ſagte, es
waͤren erſt wenige Jahre daß er folgende Regeln
ſeines Vaters begriffe:
Der groͤßte Haß iſt wie die groͤßte Tugend und
die ſchlimmſten Hunde, ſtill — die Weiber haben
mehr Wallungen und weniger Ueberwallun¬
gen als wir — Man haſſet am andern nichts ſo
ſehr als einen neuen Fehler, den er erſt nach Jah¬
ren zeigt — Die meiſten Narrheiten veruͤbt man un¬
ter Leuten, nach denen man nichts fragt — Es iſt
die gewoͤhnlichſte und ſchaͤdlichſte Taͤuſchung, daß
[297] man ſich allzeit fuͤr den einzigen haͤlt, der gewiſſe
Dinge bemerkt — Die Weiber und ſanfte Leute
ſind nur zaghaft in eignen Gefahren und herzhaft in
fremden, wenn ſie retten ſollen — Traue keinem
(und waͤr' es ein Heiliger) der in der geringſten
Kleinigkeit ſeine Ehre im Stiche laͤſſet; und einer
ſolchen Frau noch weniger — Die erſte Gefaͤlligkeit
gewaͤhrt dir jeder gern, die zweite ungern, die dritte
gar nicht — Die meiſten verwechſeln ihre Eitelkeit
mit ihrer Ehrliebe und geben Wunden der einen fuͤr
Wunden der andern aus und umgekehrt — Was
wir aus Menſchenliebe vorhaben, wuͤrden wir alle¬
mal erreichen, wenn wir keinen Eigennutz einmiſch¬
ten — Die Waͤrme eines Mannes wird von nichts
leichter verkannt als von der Waͤrme eines Juͤng¬
lings. — —
Dieſe letzte vielleicht relative Bemerkung ſagte
er ſchon am Ufer der Inſel in der Stellung des
Abſchieds. Aber ob er ihn gleich mit jener hoͤfli¬
chen Feinheit nahm, die in ſeinem Stande ſogar ei¬
nem Vater und Sohn die Haͤnde und Arme fuͤhrt:
ſo druͤckte doch Viktor den kindlichen von lauter
Seufzern und Gefuͤhlen ſchwangern Buſen an den
vaͤterlichen mit einer Heftigkeit als wollt' er ſein
einſames Herz zu den Thraͤnen entzweipreſſen, die er
zeigen mußte — und als die Bruͤcke, die ihre Tage
auseinander ſpaltete, aufgeſtiegen war, ging er allein
[298] taub und wankend daruͤber — und als ſie im Waſſer
wieder eingeſunken war und der Vater in die Inſel
verſchwunden, druͤckte ihn das Mitleiden auf das
Ufer nieder — und als er ſich ausgeweint hatte,
verließ er langſam die ſtille Gegend der Raͤthſel und
der Schmerzen und den dunkeln Trauergarten einer
todten Mutter und eines duͤſtern Vaters und ſagte
unaufhoͤrlich: ach guter Vater, hoffe wenigſtens! —
[299]
Dritter Schalttag.
Wetterbeoachtungen uͤber den Menſchen.
Da ich im vorigen Kapitel die dicta probantia des
Lords niederſchrieb: ſo ſah' ich, daß mir ſelber eigne
einfielen, die fuͤr Schalttage zu brauchen waͤren. Ich
habe niemals Eine Bemerkung allein gemacht, ſon¬
dern allemal zwanzig, dreißig hinter einander — und
gerade dieſe erſte iſt ein Beweis davon.
Wenn jemand beſcheiden bleibt, nicht beim Lobe
ſondern beim Tadel, denn iſt ers.
Der Dialog des Volks und noch mehr die Briefe
der Maͤdgen haben einen eignen Wohlklang durch ei¬
nen ſteten Wechſel mit langen und kurzen Silben
(Trochaͤen.)
Zwei Dinge vergiſſet ein Maͤdgen am leichteſten,
erſtlich wie ſie ausſieht — daher die Spiegel erfun¬
den wurden — und zweitens worin ſich das von
daß unterſcheidet. Ich beſorg' aber, daß ſie den Un¬
[300] terſchied, bloß um meinen Satz umzuſtoßen, von
heute an behalten werden. Und dann geht mir einer
von den zwei Probierſteinen verlohren, woran ich
bisher gelehrte Frauenzimmer ſtrich — der zweite,
den ich behalte, iſt ihr linker Daumennagel, den das
Federmeſſer voll Narben geſchnitten.
Einer, der viele Wohlthaten empfangen, hoͤrt
auf ſie zu zaͤhlen und faͤngt an, ſie zu waͤgen —
als waͤrens Vota.
Die Verſetzung in gute Karaktere thut einem
Dichter und Schauſpieler, der ſeinen behaͤlt, mehr
Schaden als die Verſetzung in ſchlimme. Ein Geiſt¬
licher, der noch dazu nur die erſtere Verſetzung frei
hat, iſt der moraliſchen Atonie mehr ausgeſetzt
als der Vers- und Rollenmacher, der eine heilige
Rolle wieder durch eine unheilige gut zu machen
vermag.
Die Leidenſchaft macht die beſten Beobachtungen
und die elendeſten Schluͤſſe. Sie iſt ein Fernrohr,
deſſen Feld deſto heller iſt, je enger es iſt.
Die Menſchen fodern von einem neuen Fuͤrſten
— Biſchof — Haushofmeiſter — Kinderſtube Hof¬
meiſter — Bettelvogt — Engraiſſeur — Stadtmuſi¬
[301] kus und Stadtſyndikus nur in der erſten Woche
ganz beſondere Vorzuͤge, die dem Antezeſſor fehlten:
— denn in der zweiten haben ſie vergeſſen, was ſie
gefodert und was ſie verfehlet haben.
Solche Sentenzen gefallen und bleiben den Wei¬
bern am meiſten.
Daher will ich zur Belohnung mehr als eine
uͤber ſie ſelber verfertigen. Sie halten andere nur
fuͤr juͤnger, nicht fuͤr ſchoͤner als ſich.
Sie ſind noch zehnmal liſtiger und falſcher gegen
einander als gegen uns; wir aber ſind gegen uns
faſt noch redlicher als gegen ſie.
Sie ſehen nur darauf, daß man ſich bei ihnen
entſchuldige, nicht wie.
Sie vergeben dem amoroso mehrere Flecken als
wir der inamorata. Daher die Romanſchreiber die
Helden ihres Kiels ſaufen, toben, duelliren und lu¬
kubriren laſſen ohne den geringſten Nachtheil der
Helden — Die Heldin hingegen muß zu Hauſe ne¬
ben der Mutter ſitzen und ein Engelein ſeyn.
Ueberhaupt ſind ſie ſo weich, ſo mild, ſo theil¬
[302] nehmend, ſo fein, ſo liebevoll und liebeſehnſuͤchtig,
daß es mir gar nicht in den Kopf will, warum ſie —
einander ſelbſt nicht recht leiden koͤnnen, — wenns
nicht etwa darum iſt, weil ſie gegen einander zu
hoͤflich ſind, um ſich foͤrmlich auszuſoͤhnen oder foͤrm¬
lich zu entzweien. Ihr Lieben! ihr liebt zuweilen
einen Menſchen, weil er einen Freund hat und einer
iſt — o, wie gut wuͤrde euch erſt eine Freundin
kleiden.
Man lernt Verſchwiegenheit am meiſten unter
Menſchen, die keine haben — und Plauderhaftigkeit
unter Verſchwiegenen.
Wenn Selbſtkenntniß der Weg zur Tugend iſt:
ſo iſt Tugend noch mehr der Weg zur Selbſtkennt¬
niß. Eine gebeſſerte gereinigte Seele wird von der
kleinſten moraliſchen Giftart wie gewiſſe Edelſteine
von jeder andern truͤbe und jetzt nach der Beſſerung
merkt ſie erſt, wie viele Unreinigkeiten ſich noch in
allen Winkeln aufhalten.
Ich will mit einigen Regeln der Beſſerung ſchlie¬
ßen: Stelle keinem, ſobald deine Bruſt den Seiten¬
ſtich des Zorns befuͤrchten muß, beredt ſeine Fehler
vor: denn indem du ihn von ſeiner Straͤflichkeit
uͤberreden willſt, ſo uͤberredeſt du dich ſelber davon
[203] und wirſt alſo erboſt. — Mahle dir an jedem Mor¬
gen die ungefaͤhren Lagen und Leidenſchaften vor,
worin du am Tage kommen kannſt: du betraͤgſt
dich dann beſſer, denn man iſt ſelten in einer wie¬
derholten Situation zum zweitenmal ſchlecht. —
Zuͤrnet dein Freund mit dir: ſo verſchaff' ihm eine
Gelegenheit, dir einen großen Gefallen zu erweiſen;
daruͤber muß ſein Herz zerfließen und er wird dich
wieder lieben — Keine Entſchluͤſſe ſind groß als die,
die man mehr als einmal auszufuͤhren hat. Daher
iſt Unterlaſſen ſchwerer als Unternehmen:
denn jenes muß laͤnger fortgeſetzet werden und die¬
ſes iſt noch mit dem Gefuͤhle einer doppelten Kraft¬
aͤußerung verknuͤpft, einer pſychologiſchen und einer
moraliſchen — Verzage nur nicht, wenn du einmal
fehleſt; und deine ganze Reue ſey eine ſchoͤnere
That — Mache dich (durch Stoizismus oder womit
du kannſt) nur ruhig, dann haſt du wenig Muͤhe,
dich auch tugendhaft zu machen — Fange deine
Herzens-Kultur nicht mit dem Anbau der edeln
Triebe, ſondern mit dem Ausſchneiden der ſchlechten
an. Iſt einmal das Unkraut verwelkt oder ausgezo¬
gen: dann richtet ſich der edlere Blumenflor von
ſelber kraͤftig in die Hoͤhe — Das tugendhafte Herz
wird wie der Koͤrper mehr durch Arbeit als durch
gute Nahrung geſund und ſtark. Daher kann ich
aufhoͤren.
[304]
13. Hundspoſttag.
Ueber des Lords Karakter — ein Abend aus Eden — Maien¬
thal — der Berg und Emanuel.
Ueber den Lord muß ich drei Worte ſagen, naͤmlich
drei Meinungen.
Die erſte iſt ganz unwahrſcheinlich: er haͤlt nach
ihr wie alle Welt- und Geſchaͤftsmaͤnner das Men¬
ſchengeſchlecht fuͤr einen Apparat zu Verſuchen, fuͤr
Jagdzeug, fuͤr Kriegsgeraͤthe, fuͤr Strickzeug — dieſe
Menſchen ſehen den Himmel nur fuͤr die Klaviatur
der Erde, und die Seele fuͤr die Ordonanz des Koͤr¬
pers an — ſie fuͤhren Kriege, nicht um die Kraͤnze
der Eichen ſondern um ihren Boden und ihre Eicheln
zu erbeuten — ſie ziehen den Gluͤcklichen dem Ver¬
dienſtvollen vor und den Erfolg der Abſicht — ſie
brechen Eide und Herzen, um dem Staate zu die¬
nen — ſie achten Dichtkunſt, Philoſophie und Reli¬
gion, aber als Mittel; ſie achten Reichthum, ſtatiſti¬
ſchen Landesflor und Geſundheit, aber als Zwecke —
ſie ehren in der reinen Matheſis und in reiner
Weibertugend nur beider Verwandlung in unreine
fuͤr Fabriken und Armeen, in der erhabnen Aſtrono¬
mie[305] mie nur die Verwandlung der Sonnen in Schritt¬
zaͤhler und Wegweiſer fuͤr Pfefferfloten und im erha¬
benſten magister legens nur den ankoͤdernden Bier¬
kranz fuͤr arme Univerſitaͤten. — —
Die zweite Meinung iſt wenigſtens der erſten
entgegen und beſſer: dem Lord iſt wie andern großen
Menſchen die Laufbahn das Ziel und die Schritte
die Kraͤnze — Gluͤck unterſcheidet ſich bei ihm von
Ungluͤck nicht im Werthe ſondern in der Art,
ihm ſind ſie zwei konvergirende Rennbahnen zum
Ewigkeits-Ringe der innern Erhebung — alle Zu¬
faͤlle dieſes Lebens ſind ihm bloße Multiplikationsex¬
empel in unbenannten Zahlen, die er durchmacht,
aber nicht als Kontoriſt ſondern als Indifferenzialiſt
und Algebraiſt, welchem die Produkte und die Mul¬
tiplikanden gleich lieb ſind und dem es einerlei iſt,
mit Buchſtaben oder Zentnern zu rechnen.
Wahrhaftig der Menſch hat ſich faſt eben ſo viel
vorzuwerfen, wenn er mißvergnuͤgt als wenn er la¬
ſterhaft iſt; und da es auf ſeinen Gedankenozean an¬
koͤmmt, ob er aus ihm die unterſte Hoͤlle oder den
dritten Himmel als Inſel heben will: ſo verdient er
alles, was er erſchafft. ...
Gleichwohl iſt die dritte Meinung die wahre und
zugleich die meinige: der Lord, ſo ſehr er ein in¬
deklinabler Menſch zu ſeyn ſcheint, der nach nichts
geht ſondern ein Verbum in mi iſt, hat doch folgen¬
Heſperus. l. Th. U[306] des Paradigma: — (und ſo liegt umgekehrt im ge,
woͤhnlichſten Menſchen der kurze Abriß zum ſonder¬
barſten) — er iſt einer der ungluͤcklichen Großen,
die zuviel Genie, zuviel Reichthum und zu wenig
Ruhe und Kenntniſſe haben, um gluͤcklich zu bleiben
— ſie hetzen Freude ſtatt der Tugend und verfehlen
beide und ſchreien zuletzt uͤber jeden bittern Tropfen,
der ihnen in einem Zuckerhut eingegeben wird —
gleich der Silberflaͤche ſind ſie gerade in der Zer¬
ſchmelzung durch Freuden-Feuer am geneigteſien ſich
mit einer dunkeln Haut zu uͤberziehen — ihr Ehr¬
geiz, der ſonſt durch Plane die Leerheit des vorneh¬
men Lebens bedeckt, iſt nicht ſtark genug gegen ihr
Herz, das in dieſer Leerheit verwelkt — ſie thun
Gutes aus Stolz, aber ohne Liebe dazu, ſie ſpielen
mit dem ausgekernten Leben wie mit einer Locke
und halten es nicht einmal der Muͤhe werth, es ab¬
zukuͤrzen — aber doch halten ſie es der Muͤhe werth,
wenn ihnen, indeß ſie in dieſem Nachtfroſt der Seele
da ſtehen außen laͤchelnd und kalt, innen uͤbergluͤht,
ohne Hofnung, ohne Furcht, ohne Glauben, reſigni¬
rend, ſpielend und zugeſchloſſen, wenn ihnen ein To¬
desfall, ein großer Schmerz ins ungluͤckliche Herz
greift — — Ach armer Lord! kann denn deines
nicht eher als unter der Decke des ſchwarzen Mar¬
mors ruhen?
[307]
Ach armer Lord! wiederholte unaufhoͤrlich ſein
Sohn, der jetzt nach Maienthal mit einer gepreſten
Seele ging. Außen um ihn war der Himmel ſtill;
ein großes Gewoͤlk uͤberdeckte ihn ganz, aber es ſtand
ringsum auf einen blauen Saum am Horizont. Hin¬
gegen in Viktors Bruſt zogen Luftſtroͤme gegen ein¬
ander und wirbelten ſich zu einer Landhoſe zuſam¬
men, die Baͤche auftrinkt und Baͤume aufzieht —
Sein Vater hing bleich in dieſem Sturm — Vik¬
kors kuͤnftigen Tage murden hin und her geſchleu¬
dert — Sein kuͤnftiges Leben draͤngte ſich in ein en¬
ges uͤberflortes Bild zuſammen und machte ihn eben
ſo aͤngſtlich daruͤber, daß er es leben muͤßte als wie
er es muͤßte.
Am weheſten that ihm gerade die finnliche Klei¬
nigkeit, daß ſein Vater noch allein und verhuͤllt in
der Inſel geblieben war. — Einmal fiel ihn die
Vermuthung an, ob nicht das meißte nur dramati¬
ſche Maſchinerie geweſen ſey, die ſein Vater (der in
der Jugend ein Tragoͤdiendichter geweſen) gebraucht
habe, um ſeinem Geluͤbde der Verſchwiegenheit mehr
Feſtigkeit zn geben — aber ſogleich ekelte ihn ſei¬
nes eignes Herzens. Warum ſind die reinſten Seelen
mit einer Menge ekelhafter, giftiger Gedanken ge¬
quaͤlt, die wie Spinnen an den glaͤnzenden Waͤnden
hinaufkriechen und die ſie nur die Muͤhe todtzudruͤk¬
U 2[308] ken haben? Ach unſre Kriege unterſcheiden ſich
nicht ganz von unſern Niederlagen!
Es iſt ſonderbar, daß er den perſpektiviſchen
Gedanken an Klotildens Blutsverwandſchaft mit
Flamin am wenigſten verfolgte. —
Wenn der Menſch von der Vernunft keine balſa¬
miſchen Mittel erlangen kann: ſo fleht er die Hof¬
nung und die Taͤuſchung darum an; und beide zer¬
theilen dann gern den Schmerz. So wie heute
nach und nach am Himmel durch lichte Fugen das
Blaue durchriß, und wie das Nebelmeer zu haͤngen¬
den Seen einlief: ſo gingen auch in Viktors Seele
die dunkeln Gedanken auseinander — Und als die
geſchwollnen Wolkenklumpen im weiten Blau zu
Flocken eingingen, bis endlich das blaue Meer alle
Nebelbaͤnke verſchlang und nichts auf ſeiner unendli¬
chen Flaͤche trug als die herunterlodernde Sonne: ſo
reinigte ſich auch Viktors Seele von Duͤnſten und
das Sonnenbild Emanuels; den er heute erreichen
ſollte, ſchien ſanft und warm und wolkenlos in alle
ſeine Wunden. .. Die Geſtalt ſeines geliebten Da¬
hore — die Geſtalt ſeines geliebten Vaters — die
Geſtalt ſeiner verhuͤllten Mutter und alle geliebten
Bilder ruhten wie Monde in einer wehmuͤthigen
Gruppe uͤber ihn und dieſe Wehmuth und der hei¬
lige Schwur, tugendhaft zu bleiben und allen Wuͤn¬
ſchen ſeines Vaters zu gehorchen, wehten ſeiner ent¬
[309] zuͤndeten Bruſt einigen Troſt uͤber das vaͤterliche
Schickſal zu.
Er konnte heute noch die Sonne hinter Maien¬
thals Kirchthurm untergehen ſehen.
Der weite ausgeheiterte Himmel machte ihn wei¬
cher — der Gedanke, heute an das Herz eines gro¬
ßen Menſchen zu fallen, deſſen Seele uͤber dieſem
blauen Dunſtkreis wohnte, machte ihn groͤßer —
die Hofnung, von dieſem hohen Menſchen uͤber das
ganze Leben getroͤſtet zu werden, machte ihn
ſtiller. —
Er eilte und ſein Eilen zog den wehmuͤthigſten
Lautenzug ſeiner Seele. Denn er ging nicht uͤber
die Sommergefilde, ſondern die Sommergefilde wan¬
delten vor ihm voruͤber — eine Landſchaft nach der
andern, Theater mit Waͤldern, Theater mit Saaten
flogen vorbei — neue Huͤgel ſtiegen mit andern Lich¬
tern auf und hoben ihre Waͤlder empor, und andre
ſanken mit den ihrigen unter — lange Schatten-
Steppen liefen zuruͤck vor heranfließendem gelben
Sonnenlicht, bald ſtand er tief in Blumenſeen, bald
auf leeren Huͤgel-Ufern — der Strom rauſchte nahe
an ſein Ohr, und ploͤtzlich blinkten ſeine Kruͤmmun¬
gen entfernt uͤber Mohnfelder heruͤber — weiße
Straßen und gruͤne Pfade begegneten und entflohen
ihm und zogen um die weite Erde — volle Doͤrfer
ruͤckten mit glimmenden Fenſtern vorbei und Gaͤrten
[310] mit entkleideten Kindern — Die geſenkte Sonne
wurde bald erhoben bald vertieft, bald auf Gipfel
der Waͤlder, bald auf Gipfel der Berge gezogen —
Dieſes Voruͤberfliehen der Szenen verdunkelte
ſein benetztes Auge und erhellte die innere Welt:
aber das Stehenbleiben eines unaufhoͤrlichen Tones,
dieſes uͤber ihm bleibende Lerchenchor, deſſen ſtrei¬
tende Rufe in ſeiner Seele zu Einem zerfloſſen, die¬
ſes entfernte Getoͤne aus Waͤldern und Buͤſchen und
Luͤften, dieſe Harmonika der Natur machte, daß er
zu ſich ſagte: »warum halt' ich in dieſer Einſam¬
keit jeden Tropfen der fallen will? Nein, ich bin
ohnehin heute zu weich, und ich will mich erſchoͤpfen
eh' ich den großen Menſchen ſehe.«
Endlich ſtieg er erſchuͤttert den breiten Berg hin¬
auf, der ſich vor das zu deſſen Fuͤßen gruͤnende
Maienthal mit ſeinen zerſtreueten Baumſaͤulen
und grauen Quadern ſtellt. . . . Da klang die vom
Ewigen geſtimmte Erde mit tauſend Saiten; da be¬
wegte dieſelbe Harmonie den in Gold und Nacht
zerſtuͤckten Strom und den ſumſenden Blumenkelch
und die bewohnte Luft und den durchwehten Buſch;
da ſtanden der geroͤthete Oſten und der geroͤthete
Weſten wie die zwei roſataftnen Fluͤgelthuͤren eines
Fluͤgels aufgeſpannt und ein hebendes Meer quoll
aus dem geoͤfneten Himmel und aus der geoͤfneten
Erde. . .
[311]
Ach er ergoß ſich in Freuden- und Trauerthraͤ¬
nen mit einander und die Zukunft und die Vergan¬
genheit bewegten zugleich ſein Herz. — Die Sonne
fiel immer ſchneller den Himmel herab, und er be¬
ſtieg ſchneller den Berg, um ihr laͤnger nachzuſehen
— Und hier ſah er in das Doͤrfgen Maienthal hin¬
ab, das zwiſchen feuchten Schatten glimmte. . . .
Zu ſeinen Fuͤßen und an dieſem Berge lagerte
ſich wie ein bekraͤnzter Rieſe, wie eine verſetzte
Fruͤhlings-Inſel ein engliſcher Park. Dieſer Berg
gegen Suͤden und einer gegen Norden waren zu ei¬
ner Wiege zuſammen geruͤckt, in der das ſtille Doͤrf¬
gen ruhte und uͤber welche die Morgen- und die
Abendſonne ihr goldnes Geſpinſt deckte. In fuͤnf
brillantirten Teichen ſchwankten fuͤnf dunklere Abend¬
himmel und jede aufhuͤpfende Welle mahlte ſich im
daruͤberſchwebenden Sonnenfeuer zum Rubin. Zwei
Baͤche wateten in veraͤnderlichen Entfernungen, von
Roſen und Weiden verdunkelt, uͤber den langen Wie¬
ſengrund und ein waͤſſerndes Feuerrad trieb wie ein
gehendes Herz das vom Abend geroͤthete Waſſer
durch alle gruͤnende Blumengefaͤße. Ueberall nickten
Blumen, dieſe Schmetterlinge unter den Gewaͤchſen
— auf jedem bemoſten Bachſtein, aus jedem muͤrben
Stocke, um jedes Fenſter wiegte ſich eine Blume
in ihrem Duft und ſpaniſche Wicken uͤberzogen mit
blauen und rothen Adern einen Garten ohne Zaun.
[312] Ein durchſichtiges Waͤldgen von goldgruͤnen Birken
ſtieg in hohem Gras druͤben den noͤrdlichen Berg
hinan, auf deſſen Kuppel fuͤnf hohe Tannen, als
Ruinen einer geſtuͤrzten Waldung horſteten. — —
Emanuels kleines Haus ſtand am Ende des Dor¬
fes in einem Geſtrick von Jelaͤngerjelieber und in
der Umarmung eines Lindenbaums, der es durch¬
wuchs. . . Sein Herz quoll auf: »ſey geſegnet, ſtil¬
»ler Hafen! den eine große Seele heiligt, die hier
»gen Himmel ſieht und wartet, um ins Meer der
»Ewigkeit zu gehen!« — Ploͤtzlich warfen die Fen¬
ſter der Abtei, wo ſich Klotilde erzogen hatte, die
Flammen des Abendroths auf ihn — und die Sonne
ging ſanft wie ein Pen nach Amerika — und die
duͤnne Nacht legte ſich uͤber die Natur heruͤber —
und die gruͤne Klauſe Emanuels huͤllte ſich ein. . .
Da kniete er einſam auf dem Gebirge, auf dieſer
Thronſtufe nieder und ſah in den gluͤhende Weſten
und uͤber die ganze ſtille Erde und in den Himmel
und machte ſeinen Geiſt groß, um an Gott zu den¬
ken. . . .
Als er kniete: war alles ſo groß und ſo ſanft —
Welten und Sonnen zogen von Morgen herauf und
das ſchillernde Wuͤrmgen draͤngte ſich in ſeinen ſtau¬
bigten Blumenkelch hinab — der Abendwind ſchlug
ſeinen unermeßlichen Fluͤgel und die kleine nackte
Lerche ruhte warm unter der Bruſt der zerfließenden
[313] Mutter — ein Menſch ſtand auf dem Gebirge und
ein Gold-Kaͤfergen auf dem Staubfaden ... und
der Ewige liebte ſeine ganze Welt. — —
Sein Geiſt war jetzt gemacht, einen großen Men¬
ſchen zu faſſen und er ſehnte ſich nach der Stimme
eines Bruders. —
Er wankte ohne Steig ins Dorf hinab, umzogen
von den großen Kreiſen des Kibizvogels und von
den kleinen des Maikaͤfers. Am Fuße des Berges
war der Zwittertag dunkler — am Sternenhimmel
hob ſich der Vorhang auf — der Dampf des Abends
der heiß aufgezogen war, fiel kalt wie Menſchen, in
die Erde zuruͤck: noch eine laute Lerche drehte ſich
als das letzte Echo des Tages uͤber dem Berge.
Endlich hoͤrt' er Emanuels Linde. — Er haͤtte
ihn lieber unter dem großen Himmel als unter der
engen Stubendecke umarmt. Hinter dem Fenſter
ſah er einen außerordentlich ſchoͤnen Juͤngling ſtehen,
der auf der Floͤte blies. Dieſer zog aus ihren Him¬
melspforten ein fliehendes ſchwebendes Elyſium; Vik¬
tor hoͤrte ihn lange an, um ſein ſchlagendes Herz zu
ſtillen; endlich ging er mit thraͤnenvollen Augen um
das Haus und wollte ſprachlos und blind an den
Juͤngling und an Emanuel fallen. Als er vor dem
Fenſter vorbeiging, erwiederte der Juͤngling den
Gruß nicht — als er die Hausthuͤre eroͤfnete, fing
ein ſanftes Glockenſpiel zu toͤnen an. Sogleich kam
[314] der Juͤngling heraus und fragte ihn freundlich, wer
da ſey: denn er war blind. Viktor trat in ein Al¬
lerheiligſtes, da er in die mit Linden ausgelaubte
Stube ging, die den geſluͤgelten Menſchen umgab,
der jetzt außer derſelben unter der großen Nacht
Gottes war. Gegen Mitternacht ſollte Emanuel zu¬
ruͤckkommen. Das Zimmer war offen und rein —
einige Blaͤtter von genoſſenen Fruͤchten lagen auf
dem Tiſch — um alle Fenſter gluͤhten Blumen —
ein Tubus lehnte an der Wand — Reſte einer
orientaliſchen Kleiderkammer verkuͤndigten den In¬
dier. — —
Die Stimme des ſchoͤnen Juͤnglings hatte etwas
unausſprechlich ruͤhrendes fuͤr ihn, weil ſie ihm be¬
kannt vorkam, ſie zog tief in ſein Herz hinein wie
die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit
heraufklingt. Er durfte frei mit dem ſteten Blick
der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten
Angeſicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll
Melodien kuͤſſen und zoͤgerte noch — aber da er wie¬
der aus dem Hauſe ging, um Emanuel zu ſuchen
und da das Glockenſpiel wieder anfing — denn es
toͤnte, wenn die Thuͤr auflief, um dem Blinden alles
anzumelden — ſo konnt' er ſich nicht mehr halten
unter dem lieblichen Getoͤne, ſondern beruͤhrte den
Mund des Blinden, da er am ofnen Fenſter lehnte,
mit einem weichen Kuſſe wie mit einem Hauch.
[315] »Ach Engel! biſt du denn wieder vom Himmel her¬
unter?« ſagte der Blinde, ſonderbar irrend.
Wie war drauſſen alles ſo gut! die Abendglocke
des Dorfes rief uͤber die entſchlummerten Fluren
und eine entfernte Seele neigte ſich vielleicht nach
ihren verwehten gebrochenen Toͤnen heruͤber. Der
Abendwind rauſchte mit Gipfeln voll gruͤner Fruͤchte
darein. Der Abendſtern — der Mond unſerer Daͤm¬
merung — ruhte freundlich auf dem Wege der
Sonne und des Mondes und ſchickte ſeinen Troſt
zwiſchen die Abweſenheit von beiden. — — »Wo
»wirſt du jetzt ſeyn, mein Emanuel? Ruheſt du viel¬
»leicht vor dem Abendroth — oder ſchaueſt du in
»das Sternenmeer — biſt du in der Entzuͤckung,
»die wir ein Gebet nennen — oder . . . «
Jetzt blitzte in ihm auf einmal der Gedunke, ſein
Emanuel ſey, da heute Nachts der Johannistag an¬
fing, vielleicht am Genuſſe des Abends verſchieden. .
Er ſuchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem
Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den
Bergen auf, als koͤnnt' er ihn da ſehen, und zu den
Sternen, als duͤrft' er ihn da ſuchen. — Er umging
das Dorf, deſſen Ringmauer eine Fruchtſchnur von
Kirſchbaͤumen war, die mit einer herabgeworfnen
Milchſtraße von laͤngſt gefallnen Bluͤten den gruͤnen
Umkreis verſilberten; und eilte uͤber die Ruinen der
Haͤuſer, die die Kinder am Tage erbauet hatten, ge¬
[316] gen die ausglimmenden Fenſter der Abtei zu, die
ſich am ſuͤdlichen Berge, wovon er hereingeſtiegen
war, in die Hoͤhe richtete. Denn der Blinde hatte
ihm geſagt, daß dieſer Berg Emanuels Sternwarte
ſey und daß er jede Nacht dahinkomme. Die gruͤne
Treppe, die mit Terraſſen und Moosbaͤnken abſetzte
und an der ein Treppengelaͤnder von Buſchwerk hin¬
aufwuchs, fuͤhrte ihn einem Berge zu, der ſich erha¬
ben im Aether mit Einer hohen Trauerbirke ſchloß.
Mit jedem Raſenplatz hoben ſich wie aus einem
Bade neue Glieder der dunkeln Natur heraus — er
zog gleichſam von einem Planeten in den andern
— uͤber das aufſteigende verhuͤllte Gefilde ſtroͤmte
der Nachtwind und zog einſam von Wald zu Wald
und ſpielte kraͤuſelnd am Gefieder des ſchlafenden
Vogels und des ſchwirrenden Nachtſchmetterlings —
Viktor ſah hinuͤber zur Abendroͤthe, die die Nacht
wie eine Vorſteckroſe vor den Buſen, an dem die
Sonnen liegen, vorgenommen hatte — Das Meer
der Ewigkeit ſtand in Geſtalt der Nacht auf dem
Silberſand der Welten und Sonnen und aus dem
Meeresgrund blinkten die Sandkoͤrner tief herauf —
Um die Trauerbirke nahm ein unbekanntes melo¬
diſches Toͤnen zu, das er ſchon heute auf der Inſel
gehoͤrt: endlich ſtand er oben unter der Birke und
das Toͤnen wie das einer Harmonika, das erſt uͤber
Paradieſe und durch Blumenhecken gefloſſen iſt, war
[317] laut um ihn; aber er ſah nichts weiter als einen
hohen Grasaltar (die Geburtsſtaͤtte von Emanuels
Brief) und eine tiefe Grasbank. Aus welcher un¬
ſichtbaren Hand, dacht er ſchauernd gehen dieſe Toͤ¬
ne, die von Engeln abzugleiten ſcheinen, wenn ſie
uͤber die zweite Welt fliegen, von vereinigten See¬
len, wenn eine zu große Wonne ſich zum Seufzer
ausathmet und der Seufzer ſich in verwehtes Getoͤne
zerlegt. Es iſt ihm zu vergeben, daß er an einem
ſolchen Tage, der ſeine Seele in immer groͤßere Er¬
ſchuͤtterungen ſetzte, und in einer ſolchen Nacht, in
dieſem Schauder, unter dieſem melodiſchen Trauer¬
baum, an dieſem Allerheiligſten des unſichtbaren
Emanuels, daß er endlich glaubt, dieſer ſey an die¬
ſem Abend aus dem Leben geflohen und ſeine Seele
voll Liebe fliege noch in dieſen Echos um ihn und
ſehne ſich nach der erſten und letzten Umarmung. Er
verlohr ſich immer mehr in die Toͤne und in die
Stille rings um ſie — ſeine Seele wurde ihm
zu einem Traum und die ganze Nachtlandſchaft
wurde zum Nebel aus Schlaf, in dem dieſer lichte
Traum ſtand — die Quelle des unendlichen Lrbens,
die der Ewige ausgießet, flog weit von der Erde
im unermeßlichen Bogen mit den ſtaͤubenden Silber¬
funken der Sonnen uͤber die Unendlichkeit, ſie bog
ſich glimmend um die ganze Nacht und der Wieder¬
ſchein des Unendlichen bedeckte die dunkle Ewigkeit.
[318]
O Ewiger, wenn wir deinen Sternenhimmel nicht
ſaͤhen, wie viel wuͤßte denn unſer in den Erdenkoth
untergeſunknes Herz von dir und von der Unſterb¬
lichkeit? — —
Ploͤtzlich wurde in Oſten die Nacht lichter, weil
der zerfloſſene Schimmer des Mondes an den Alpen¬
gebirgen, die ihn bedeckten, heraufſchlug — und auf
einmal wurden die unbekannten Toͤne lauter und die
Blaͤtter und der Nachtwind: da erwachte Viktor
wie aus einem Traume und Leben und druͤckte die
harmoniſchen zerrinnenden Luͤfte an die ſchmachtende
Bruſt und rief unter den vorquellenden Thraͤnen, die
das ganze Gefilde wie eine Regenwolke einhuͤllten,
außer ſich laut aus: »Ach Emanuel, komme! — ach
»ich duͤrſte nach dir — toͤne nicht mehr, du Seliger,
»nimm dein abgelegtes Menſchenangeſicht und er¬
»ſcheine mir und toͤdte mich durch einen Schauder
»und behalte mich in deinen Armen!« . . .
Siehe! als die dunkle Thraͤnentropfen noch
auf dem Auge lag und der Mond noch hinter
den Alpen verzog: da ſtieg den Berg herauf eine
weiße Geſtalt mit zugeſchloſſenen Augen — laͤchelnd
— verklaͤrt — ſelig — gegen den Sirius ge¬
wandt — —
»Emanuel, erſcheinſt du mir?« rief bebend Ho¬
rion und riß ſeine Thraͤnen herab. Die Geſtalt
ſchlug ihre Augen auf. Sie breitete ihre Arme aus.
[319] Viktor ſah nicht und hoͤrte nicht, er gluͤhte und zit¬
terte. Die Geſtalt flog ihm entgegen und er gab
ſich hin: »nimm mich!« Sie beruͤhrten einander —
ſie umſchlangen einander — der Nachtwind riß durch
ſie — das fremde Getoͤne klang naͤher — ein Stern
zerſchoß — der Mond ſtog uͤber den Alpen. . . .
Und als er mit ſeinem Edenlicht die Wangen der
unbekannten Geſtalt begoß: erkannte Viktor ſeinen
alten Lehrer — Dahore. Und Dahore ſagte: »o ge¬
»liebter Sohn, ich bin der Emanuel, den du ſuchſt.«
Da wurde die Umarmung enger — Horion wollte
den Dank fuͤr eine ganze Kindheit in einen Kuß zu¬
ſammenpreſſen und lag aufgeloͤſt in den Armen des
Lehrers und in den Armen der liebenden Wonne.
Umſchlinget euch feſt, ihr Ungluͤcklichen! druͤcket
euere gefuͤllten Herzen bis zum Thraͤnen Erpreſſen
an einander, vergeſſet Himmel und Erde und ver¬
laͤngert die erhabne Umarmung — ach ſobald ſie zer¬
fallen iſt, ſo hat dieſes ſchlaffe Leben nichts mehr,
womit es euch verknuͤpfen kann, nichts mehr als den
Anfang des — zweiten! . . .
Emanuel trat endlich aus der Stellung der Liebe
heraus und ſchauete abgebogen wie eine Sonne groß
und offen in Horions Angeſicht und begegnete mit
Entzuͤckung dem veredelten Geiſte und Angeſicht ſei¬
nes bluͤhenden Lieblings. Horion ſank vor dem
Blick der Liebe mit aufgehobenem Angeſicht unwill¬
[320] kuͤhrlich auf die Knie und ſagte: o mein Lehrer,
mein Vater — o du Engel, liebſt du mich denn
noch ſo ſehr? — Aber er weinte zu ſehr und ſeine
Worte waren unverſtaͤndlich und erſtarben im Her¬
zen. . . .
Ohne zu antworten legte Emanuel die Hand auf
das Haupt des knieenden Schuͤlers und wendete
ſein verklaͤrtes Auge gegen den ſchimmernden Him¬
mel und ſagte mit feierlicher Stimme: »dieſes
Haupt, du Ewiger, weiht ſich heute dir in dieſer
großen Nacht — Nur deine zweite Welt fuͤlle die¬
ſes Haupt und dieſes Herz aus — und die kleine
dunkle Erde befriedig' es nie — O mein Horion!
hier auf dieſem Berge, auf dem ich uͤber ein Jahr
aus der Erde ziehe, beſchwoͤr' ich dich, bei der gro¬
ßen zweiten Welt uͤber uns, bei allen großen Gedan¬
ken, womit dir jetzt der Ewige in dir erſcheint, be¬
ſchwoͤr' ich dich, daß du gut bleibſt, auch wenn ich
lang' geſtorben bin.
Emanuel knieete zu ihm nieder, hielt den Er¬
ſchoͤpften und neigte ſich an ſein erblaſſendes Ange¬
ſicht und ſagte leiſer und betend: »mein Geliebter!
» — Geliebter wenn wir todt ſind, in
»der zweiten Welt ſcheid' uns Gott nie, nie mich
»und dich!« — Er weinte nicht, aber konnte doch
nicht[321] nicht mehr ſprechen: ihre zwei Herzen ruhten ver¬
knuͤpft an einander und die Nacht umhuͤllte ſchwei¬
gend ihre ſtumme Liebe und ihre großen Gedan¬
ken. . . . .
14. Hundspoſttag.
Das philoſophiſche Arkadien — Klotildens Brief — Viktors
confessions.
Ich habe nur vorher zwei Dinge zu erklaͤren, das
unbekannte Getoͤne und das Verſchließen der Augen.
Jenes floß von einer auf die Trauerbirke gelegten
Aeols-Harfe aus: ſo oft Emanuel zu Nachts hie¬
herkam, miſchte er in die fluͤſternden Blaͤtter dieſe
abgehauchten Toͤne wie Bluͤten ein, um ſich zu er¬
heben, wenn er allein die erhabne Nacht anſah.
Die Augen that er oft vor der Sonne und dem
Monde zu, wenn ſein innerer wie ein Cherub gefluͤ¬
gelter Menſch gerade die Erlaubniß hatte, ſich in
weiche Phantaſien einzuſenken: in die fließenden
bunten Licht-Wogen, die durch die Augenlieder
drangen, tauchte er ſich dann wie in einen Zephyr
mit ſuͤßem [Verſchwimmen] unter und in dieſem Licht¬
bad ſog der hoͤhere Lichtmagnet in ihm Himmelslicht
Heſperus. I. Th. X[322] aus Erdenlicht. Da es nur wenige Seelen giebt,
die wiſſen, wie weit die Harmonie der aͤuſſern Na¬
tur mit unſerer reicht und wie ſehr das ganze All
nur Eine Aeolsharfe iſt, mit laͤngern und kuͤrzern
Saiten, mit langſamern und ſchnellern Bebungen
vor einem goͤttlichen Hauche ruhend: ſo fodere ich
nicht, daß jeder meinem Emanuel vergebe. —
Nach der uͤber ein halbes Leben erhabenen Szene
kamen beide beim blinden Juͤngling an, und ſeine
Floͤte hob das Herz aus dem ſchlagenden Fieberblut
ſanft in den beruhigten Aether des Himmels im
Traume hinuͤber.
Da ich ſo gerne um dieſen Emanuel bin: ſo
goͤnne mir der Leſer die Freude, alle Stunden aus¬
einander zu blaͤttern, die wir in ſeinem Hauſe ver¬
bringen duͤrfen und recht Schritt vor Schritt zu
gehen.
Der Morgen deckte dem Eleven dieſes Emanuels
wie Kindern erſt auf, was die Nacht ſeinem Herzen
fuͤr ein Chriſtgeſchenk beſcheeret hatte. Welche Ge¬
ſtalt trat im Morgenglanz vor ihn, da das ſtille,
kindliche, beruhigte Geſicht des Lehrers, uͤber das
einmal Stuͤrme gezogen waren, wie auf dem ſanften
weißen Monde Vulkane gelodert haben, ihn auf eine
Weiſe anlaͤchelte, daß ſein Inneres in ſtummer
Wonne zerfloß. Beſonders im Profil ſchien dieſe
hohe Geſtalt am Ufer der Erde zu ſtehen und hinun¬
[323] terzuſchauen in die zweite Halbkugel des Himmels,
die uns der Stein auf dem Grabe und der fette
Trift-Boden dieſes Lebens verdeckt. Sein Ange¬
ſicht verklaͤrte ſich, wenn er es zum Himmel aufhob
— wenn er Gott nannte oder die Ewigkeit — wenn
er vom laͤngſten Tage ſprach; in ſeinem Licht er¬
blaßte das Glanzgold der Gegenwart zum Mattgold
der Vergangenheit und ſein Geiſt ruhte ſchwebend
auf dem Koͤrper, wie in Arabesken Genien aus Blu¬
men keimen. So leicht ſtimmte ſich Viktor nie aus
dem Traum in den neuen Tag als an dieſem Mor¬
gen durch Emanuels Stimme, die ſo zu ſagen die
Sphaͤrenmuſik zum blauen Himmel ſeiner Augen
war, aus dem wie aus dem aͤgyptiſchen nie ein
Tropfen fiel, ich meine, die entweder aus phyſiſchem
Unvermoͤgen oder Seelenſtille niemals weinten.
Das reine Morgenzimmer machte gleichſam die
Seele rein und ſtill. Er war der groͤßte koͤrperliche
Puriſt, er wuſch ſeinen Koͤrper eben ſo oft als ſeine
Kleider und der Schmuz der mediziniſchen Sprache
wurde bis ſogar auf Woͤrter wie z. B. Zahnſtocher
ꝛc. von ſeiner unbefleckten Zunge gemieden. Eben
ſo blieb ſein Herz ſogar von den Bildern gewiſſer
Suͤnden unbeſudelt; und dieſe unwiſſende Unſchuld
ſo wie eine Unbekanntſchaft mit unſern liſtigen Sit¬
ten machte ihn in drei verſchiedenen Augen entweder
X 2[324] zum Kinde — oder zum Maͤdgen — oder zum
Engel. —
Das Fruͤhſtuͤck von Waſſer und Fruͤchten —
die uͤberhaupt ſeinen ganzen Kuͤchenzettel beſetzten —
ruͤckte unſerem Viktor den Wein und Kaffeeſatz vor,
womit er die Blumen ſeines Geiſtes wie irrdiſche,
duͤngen mußte. Blumenſcherben waren Dahores Ta¬
batieren und gluͤhten unter dem Lindengruͤn, das,
von zwei zahmen und doch freien Grasmuͤcken durch¬
huͤpft, das lebendige wachſende Deckenſtuͤck des Zim¬
mers war. Auch ſeine Seele ſchien wie ein Bra¬
min, von poetiſchen Blumen zu leben und ſeine
Sprache war oft, wie ſeine Sitten, indiſch, d. h.
poetiſch. So war uͤberall, wie bei mehrern Men¬
ſchen-Magnaten eine auffallende praͤſtabilirte Har¬
monie zwiſchen der aͤußern Natur und ſeinem Her¬
zen — er fand im Koͤrperlichen leicht die Phyſio¬
gnomie des Geiſtigen und umgekehrt — er ſagte, die
Materie iſt als Gedanke eben ſo edel und geiſtig als
irgend ein anderer Gedanke und wir ſtellen uns in
ihr doch nur die goͤttlichen Vorſtellungen von ihr
vor — z. B. unter dem Fruͤhſtuͤck vertiefte er ſich
in den glimmenden Thautropfen in einer Levkoje
und ſpielte durch das Wiegen des Auges das Far¬
benklavier derſelben durch. »Es muß, ſagte er, ir¬
»gend eine Harmonie zwiſchen dieſem Waſſerſtaͤub¬
»gen und meinem Geiſte zuſammenklingen, wie zwi¬
[325] »ſchen der Tugend und mir, weil beide mich ſonſt
»nicht entzuͤcken koͤnnten. Und iſt denn dieſer Ein¬
»klang den der Menſch mit der ganzen Schoͤpfung
»(nur in verſchiedenen Oktaven,) macht nur ein
»Spiel des Ewigen oder der Nachhall einer naͤhern,
»groͤßern Harmonie?« Eben ſo blickte er oft eine
glimmende Kohle ſo lange an, bis ſie ihm zu einer
Flammen-Aue ſich ausgebreitet hatte, die er von
ſanften Phantaſien beleuchtet auf und niederwan¬
delte. . . .
Erdulde, Leſer, dieſe blumigte Seele; wir wollen
alle beide denken, daß die Menſchen leichter Eine
Religion als Eine Philoſophie haben koͤnnen, und
daß jedes Syſtem ſeine eigne Textur des Herzens
vorausſetze, und daß das Herz die Knoſpe des Ko¬
pfes ſey.
Ein einziger Umſtand ſchmerzte unſern begluͤckten
Viktor an dieſem Morgen, daß er den ſchoͤnen Blin¬
den nicht umfaſſen und fragen durfte: »haben wir
»nicht ſchon beiſammengelebt und iſt dir meine
»Stimme nicht ſo bekannt wie mir deine?« denn er
hielt ihn (wie ich auch) aus mehreren Gruͤnden fuͤr
den zuruͤckgebliebnen Sohn des Pfarrer Eymanns.
Da aber Dahore daruͤber ſchwieg — in deſſen hellen
lichten Himmel man ſonſt bis zum kleinſten Nebel¬
ſtern hinabſchauen konnte: — ſo fuͤrchtete er, vor
dieſen frommen Ohren ſeinem Eide zu nahe zu re¬
[326] den, wenn er auch nur ſeine fragenden Vermuthun¬
gen uͤber den Blinden entdeckte. Dieſer Julius
ſchien nur zwei Wurzelaͤſte ſeines Weſens zu ha¬
ben, deren einer in die Floͤte und der andre in ſei¬
nen Lehrer ging. Auf ſeinem weißen Angeſicht,
worauf die Trunkenheit des muſikaliſchen Genies
und die Abgezogenheit des traͤumenden Blinden ſich
mit einer faſt weiblichen Schoͤnheit verband, ſtand
der Wiederſchein ſeines Lehrers und die Fibern deſ¬
ſelben hatten ſich wie Lautenſaiten nur in harmoni¬
ſchen Bewegungen geregt. Der arme Blinde, der
ſeinen Dahore fuͤr ſeinen Vater anſah, wurde wie
eine Flaumfeder bloß von ſeinem kleinſten Hauch
gelenkt.
Emanuel fuͤhrte am Morgen als Cicerone der Na¬
tur ſeinen Gaſt durch die Ruinen und Antiken der
Erde: denn jeder Baum iſt eine ewige Antike. Wie
verſchieden iſt ein Spaziergang mit einem großen
Menſchen und einer mit einer Kokette! Die Erde
kam ihm heilig vor, erſt aus den Haͤnden des Schoͤ¬
pfers entfallen — ihm war als ging er in einem
uͤber uns haͤngenden uͤberbluͤmten Planeten. Ema¬
nuel zeigte ihm Gott und die Liebe uͤberall abge¬
ſpiegelt, aber uͤberall veraͤndert, im Lichte, in den
Farben, in der Tonleiter der lebendigen Weſen, in
der Bluͤte und in der Menſchenſchoͤnheit, in den
Freuden der Thiere, in den Gedanken der Menſchen;
[327] in den Zirkeln der Welten — denn entweder iſt
alles oder nichts ſein Schattenbild — ſo mahlt die
Sonne ihr Bild auf alle Weſen, groß in Weltmeere,
bunt in Thautropfen, klein auf die Menſchen-Netz¬
haut als Nebenſonne in die Wolke, roth auf den
Apfel, ſilbern auf den Strom, bunt in den fallenden
Regen und ſchimmernd uͤber den ganzen Mond und
uͤber ihre Welten:
Viktor fuͤhlte heute zum erſtenmale die Vergroͤ¬
ßerung und Palingeneſie ſeines Ichs vor einem Gei¬
ſte, der ihm aͤhnlich aber uͤberlegen, gleich ei¬
nem ſphaͤriſchen Hohlſpiegel alle Zuͤge ſeines edlern
Theils koloſſaliſch zuruͤckwarf. Der ganze poͤbelhafte
Theil ſeiner Natur verkroch ſich, als der hoͤhere ſich,
von Dahore ins Große gemahlt, uͤber die liegenden
Triebe aufrichtete. Ein Menſch, den die Sonnen¬
naͤhe eines großen Menſchen nicht in Flammen und
außer ſich ſetzet, iſt nichts werth. Er wollte kaum
ſprechen, um nur immer ihn zu hoͤren, ob er gleich
vorhatte, recht viele Tage da zu bleiben. Er war
wie vor einem hoͤhern Weſen und vor einer Gelieb¬
ten, vor denen man weder ſeinen Kopf noch ſeine
Zunge praͤſentiren will, mit Verzicht auf ſein Ich
in lautere Wahrheit und Liebe verſunken. Von den
kleinen Verhaͤltniſſen des Orts und des buͤrgerlichen
Lebens war aller Firniß ſo rein abgeſprungen und ſie
ſtanden ihm alle ſo vermooſet da, daß er nicht ein¬
[328] mal die Namen von Goͤttingen, von Flachſenfingen,
oder leere Lebensdata oder fremde Perſonalien nen¬
nen wollte. Viktor hatte uͤberhaupt eine kleine Ver¬
achtung fuͤr die Menſchen, denen die Nachricht an
den Buchbinder lieber iſt als das Buch und die
Biographie eines Autors lieber als ſein Syſtem,
fuͤr die die Erde keine Entzifferungskanzlei des
Buchs der Natur, ſondern ein Sprachzimmer, ein
Zeitungskomptoir elender Perſonalien iſt, die ſie we¬
der benutzen noch behalten noch beurtheilen ſondern
nur erzaͤhlen wollen; und es ekelten ihn die deut¬
ſchen Geſellſchaften, in denen man ſo wenig philoſo¬
phirt. — O wie ſelig war er, einmal einen ganzen
Tag mit einem andern philoſophiren und was noch
ſchoͤner iſt, zugleich poetiſiren zu duͤrfen!
Seine Zweifel uͤber das Groͤßte, was unſern
Kopf erdruͤcken und unſer Herz erheben kann, wur¬
den heute zu Fragen — die Fragen zu Hofnungen
— die Hofnungen zu Ahndungen — Es giebt Wahr¬
heiten, von denen man hoft, große Menſchen wer¬
den ſtaͤrker von ihnen uͤberzeugt ſeyn als man es ſel¬
ber ſeyn kann; und man will daher durch ihre Ue¬
berzeugung die ſeinige ergaͤnzen. Dahore hielt die
zwei großen Wahrheiten (Gott und Unſterblichkeit,)
die wie zwei Saͤulen das Univerſum tragen, feſt an
ſeinem Herzen; aber er fragte wie die ſeltnern Men¬
ſchen, denen die Wahrheit nicht das Schaugericht
[329] der Eitelkeit, ja nicht bloß das Deſſert des Kopfes
iſt ſondern ein h. Abend- und Liebesmal voll
Lebensgeiſt fuͤr ihr muͤdes Herz, er fragte wenig
darnach, wenn er keine Proſelyten machen konnte.
Viktor fuͤhlte, daß er den dialektiſchen Artillerietrain
und die elektriſchen Piſtolen und Batterien der Di¬
ſputatorien beſſer zu handhaben verſtehe als Ema¬
nuel; aber wuͤrde ſeine eigne Zunge verabſcheut
haben, wenn ſie ihre Leichtigkeit gegen dieſe ſchoͤne
Seele gerichtet haͤtte. Er ſchwieg aus zwei Gruͤn¬
den. »Verſuch' es, ſagt' er, von einer großen dein
»ganzes Weſen umfaſſenden leuchtenden Wahrheit
»auf den fliegenden Sekundenweiſer, worauf man in
»einer Entrevuͤe ſteht, mit den wenigen trocknen
»Tuſchen, womit menſchliche Ideen zu koloriren ſind
»und mit der unbehuͤlflichen Menſchenzunge, womit du
»dieſe Farbenkoͤrner ausbreiten muſt, verſuch' es von
»deiner Wahrheit ein Schmelzbild, einen illuminir¬
»ten Holzſchnitt zu geben — wahrhaftig eine Pro¬
»jektion, ein zerriſſenes Steinbild wird alles ſeyn.«
Der lichte Himmel gewiſſer einfacher tieffuͤhlender
Menſchen huͤllet wie der phyſiſche, alle ihre Son¬
nen, die waͤrmſte ausgenommen, mit dem Schein ei¬
nes oͤden Blaues zu; aber der unreine Himmel an¬
derer voll Witz und Logik iſt mit Nebenſonnen,
Boͤgen, Nordſcheinen, Wolken und Koth geputzt.
[330]
Der zweite beſſere Grund, warum er die Oppo¬
nenten-Ehre verſchmaͤhte, war ſein Herz, das mehr
in ſich ſchloß als der Kopf beleuchten konnte. Ge¬
wiſſe Wahrheiten koͤnnen nicht, wie die Gemaͤlde
ſammt den Mauern in Italien, aus einem Kopfe in
den andern transportirt werden — das Licht, das
dir der andre geben kann, zeigt, aber zimmert
nicht das Ameublement deines Innern und das, was
das Licht bei einigen wirklich erſchoͤpft, iſt Lufter¬
ſcheinung, optiſcher Betrug, aber kein Koͤrper *)—
Daher kommt es nicht auf das Zeigen und Erſehen
einer Wahrheit d. h. eines Gegenſtandes an, ſon¬
dern auf die Wirkungen, die er durch dein ganzes
Inneres macht. Warum giebt es denn Menſchen,
die uns wie Sokrates den Theages heiligen, bloß
wenn wir bei ihnen ſind? — Wie vermoͤgen es
große Schriftſteller, daß ihr unſichtbarer Geiſt ihrer
Werke uns ergreift und feſthaͤlt, ohne daß wir die
Worte und Stellen angeben koͤnnen, womit ſie es
thun wie ein vollbelaubter Wald immer brauſet,
ohne ſich mit einzelnen Aeſten zu bewegen? — War¬
[331] um uͤberwaͤltigte Emanuel — mehr als durch breite
Theſesbilder, rationes decidendi und sententiae
magistrales — ſeinen geliebten Horion bloß durch
die Verklaͤrung in ſeinem Angeſicht, durch den leiſen
Echoton ſeiner Stimme, durch den Glanz in ſeinem
Blick und durch die Andacht in ſeiner Bruſt, wenn
er alte (aber neu gefuͤhlte) Wahrheiten ſagte, wenn
er feierlich ſagte:
Der Menſch geht wie die Erde von Weſten
nach Oſten, aber es kommt ihm vor, er gehe mit
ihr von Oſten nach Weſten, vom Leben ins Grab.
Das Hoͤchſte und Edelſte im Menſchen verbirgt
ſich und iſt ohne Nutzen fuͤr die thaͤtige Welt (wie
die hoͤchſten Berge keine Gewaͤchſe tragen) und
aus der Kette ſchoͤner Gedanken koͤnnen ſich nur
einige Glieder als Thaten abloͤſen. *)— —
Unſere zweckloſe Thaͤtigkeit, unſere Griffe nach
Luft muͤſſen hoͤhern Weſen vorkommen wie das
Fangen der Sterbenden nach dem Deckbette. — —
[332]
Der Geiſt erwacht und wird erwachen, wenn das
Sinnenlicht ausloͤſcht, wie Schlafende erwachen,
wenn das Nachtlicht ausloͤſcht. — — Warum blie¬
ben dieſe Gedanken als Schauder in der Seele?
— Weil Horion etwas Hoͤheres fuͤhlte als die Spra¬
che, die nur fuͤr die Kurrent Empfindungen erfunden
iſt, wiedergeben kann — weil er ſchon in ſeiner
Kindheit die Syſteme haßte, die alles Unerklaͤrliche
verſteckten und weil der Menſchengeiſt ſich im Er¬
klaͤrlichen und Endlichen ſo erdruͤckt empfindet als
ers in einem Bergwerk oder durch den Gedanken
iſt, daß ſich oben irgendwo der [Himmelsraum] zu¬
ſpinde. — —
Wie haͤtt' er den Muth oder Anlaß haben koͤn¬
nen, an einem ſolchen Tage Emanuel um ſeinen
Sterbetag zu befragen oder um Klotilden? — Vik¬
tor hatte jene Viſiten-Phantaſie, die ſich leicht in
die Stelle der unaͤhnlichſten Menſchen, des Weibes
und des Philoſophen verſetzt. Abends ging Dahore
ins Stift, um Aſtronomie, ſeine geliebteſte Wiſſen¬
ſchaft, zu lehren. Unter der aſtronomiſchen Lektion
wurde Julius ofnes Geſicht ein ofner Himmel; er
ſagte ſeinem Viktor alles wie einem zweiten Vater.
Hier erzaͤhlte er ihm treuherzig, daß im vorigen
Jahr immer ein Engel zu ihm gekommen, der ſeine
Hand ergriffen, ihm Blumen gegeben, ihn freundlich
[333] angeredet, und endlich von ihm in den Himmel ge¬
wichen, ihm aber einen Brief da gelaſſen habe, den
er nach einem Jahre zu Pfingſten ſich von Klotilden
duͤrfe leſen laſſen. Viktor laͤchelte froh; aber er
entdeckte ihm nicht, daß er den Engel fuͤr ein ſcheues
liebendes Maͤdgen aus dem Fraͤuleinſtift anſehe. —
»Aber geſtern, ſagte Viktor war bloß ich der Engel,
der dich ſo kuͤſte!« — und wiederholte es. — Ju¬
lius wußte geliebten Perſonen nichts ſchoͤneres zu
geben als das Bild ſeines Vaters — die Schilde¬
rung von der erhabenen Liebe deſſelben, die keinen
Menſchen vergaß, weil ſie nicht auf die Vorzuͤge,
ſondern auf die Beduͤrfniſſe der Menſchen gebauet
war — ferner von ſeiner Nachſicht, ſeiner Uneigen¬
nuͤtzigkeit, da ihm eine lange Tugend den Kampf
gegen ſein Herz erſparte und er nun nichts that als
was er wuͤnſchte und da ihm die tief herabhaͤngende
zweite Welt eine eigne Unabhaͤngigkeit von Beduͤrf¬
niſſen predigte. 500,000 Fixſterne erſter Groͤße leuch¬
ten nach Lambert kaum dem naͤhern Vollmond gleich;
und ſo uͤberglaͤnzt die Gegenwart immer unſer Inne¬
res; aber ſteige naͤher zum Fixſtern der zweiten Welt
auf, ſo wird er eine Sonne, die den Mond der Zeit
und der Gegenwart in einen ſchmalen Nebel verwan¬
delt. — Dieſen Emanuel hatten alle Maienthaler
lieb (ſogar der Pfarrer, obwohl jener ein Akatholik,
Alutheraner und Akalviniſt war;) und er war gern
[334] von etwas abhaͤngig, von fremder Liebe *). Unter
dieſer Schilderung ſehnte Viktor ſich wieder ſo be¬
wegt nach ihm als waͤren ſie ein Jahr auseinander
geweſen; daher legt' er ſich im Abendrothe unter
Birkenblaͤtter, dem Stifte gegenuͤber, um ihn ſo¬
gleich mit heißen Armen in Verhaſt zu nehmen.
Und als Viktor ſeine Seele hob an hohen weißen
Saͤulen des vom Lord entworfenen Parks, an dem
erhabenen Bildwerk, das einen großen Gedanken
ſchrieb, der wie ein Gewitter ausſah; und als er
gerade eine herabgefallne Biene, deren Flugwerk ihr
Honig verpichte, auf das Bienenbrett getragen hat¬
te: ſo wandelte freundlich Dahore daher. Dieſer
verfiel ſelber — denn Viktor hatte das verſteckte
Herantreiben einer Materie fuͤr Suͤnde genommen
— auf Klotilde und ſagte, das waͤre ihre Lieblings¬
ſtelle und die Ruhebank ihrer ſtillen Seele geweſen.
Der Ort war nicht erhaben, aber was noch mehr
iſt, dem Erhabnen gegenuͤber — (ſogar die phyſiſche
Großheit, z. B. ein Berg hat die Ferne als ein
[335] Fußgeſtell noͤthig) — er lag am tiefſten im Thal,
von Emanuels Blumenketten umfaſſet — die er oft
unverzaͤunt anlegte, weil alle Maienthaler ſeine klei¬
nen Freuden ſchonten, — von großen Kleefeldern an¬
geweht, vom Monde, der im Fruͤhling erſt vom
Berg herab dieſe Tiefe anſtralte, mit einem ſchwer¬
muͤthigen Gemiſch von Birkenſchatten, lichten Stel¬
len und Waſſerglanz uͤberdeckt und endlich mit einer
Grasbank ausmeublirt, die ich nicht erwaͤhnte, waͤ¬
re ſie nicht an beiden Enden mit großen niederwan¬
kenden Blumen beſteckt, die zaͤrtlich keiner erdruͤckte,
der ſich zwiſchen ihnen niederließ. Wie wurde Vik¬
tor betroffen — oder entzuͤckt, als Emanuel nach
dieſer Klotilde fragte! Wie Thau Juwelen, wie
Freudenthraͤnen fielen alle Worte des Lehrers in
ſeine lechzende Seele weil es Lobſpruͤche uͤber Klotil¬
dens weiche Seele waren, die ihre Thraͤnen nur in
fremde leitet und vor trocknen Herzen verdeckt,
uͤber ihre feine Ehrliebe, die der maͤnnliche Tadel
zu Kaͤlte und der weibliche zu Stolz verdreht,
und uͤber eine liebende Waͤrme, die man in ihrem
wie eine Knoſpe [feſt] geſchloſſenen Herzen nicht ge¬
ſucht haͤtte, das jetzt die lebloſe Natur mit der be¬
lebten vermengt, um an jener dieſe lieben zu lernen.
Es ruͤhrte Viktor bis zu Thraͤnen, da Emanuel ihm
ſeine aus dieſem Eden entruͤckte Elevin ſo warm an¬
lobte — und als er ihn noch dazu unbefangen bat,
[336] der Freund ſeiner Freundin zu werden und jetzt,
weil er ſterbe und weil ſie nicht mehr komme — ſie
war bloß das letzteremal da geweſen, um zu Pfing¬
ſten, unperſiflirt von ihren Eltern, oͤffentlich mit den
Stiftfraͤulein das Abendmahl zu empfangen — jetzt
ſeine Stelle zu beſetzen bei dieſem gegen die Sterne
gehobnen Auge, bei dieſem fuͤr die Ewigkeit beweg¬
ten Herzen: ſo haͤtt' er vor Ruͤhrung und vor Liebe
dem Freund und der Freundin zu Fuͤßen ſinken moͤ¬
gen: — — In einem ſolchen Munde giebt das Lob
des Gegenſtandes allzeit der Liebe einen auſſerordent¬
lichen Wachsthum, weil dieſe immer Vorwand ſucht
und dann auf einmal zeitigt, wenn ſie ihn gefunden.
Wenn dir, mein Freund, das Herz fuͤr ein frem¬
des nicht ſchnell und heftig genug ſchlaͤgt — ob es
gleich meines Erachtens ſchon fieberhaft pulſirt, naͤm¬
lich 111 mal in einer Minute — ſo gehe, um dein
kaltes Fieber in ein warmes umzuſetzen, dein viertaͤ¬
giges in ein taͤgliches, nur zu andern beſonders ge¬
achteten Leuten hin und laſſe die ſie vorloben, die
Gute, oder nur oft vornennen: todtkrank und mit
deinen 140 Pulsſchlaͤgen verſehen gehſt du weg und
haſt das verlangte Fieber am Hals.
Der unſchuldige Emanuel, der Viktors Waͤrme
nicht errieth, glaubte, er muͤſſe noch mehr thun, um
ihm die ſiebenfache Weihe zum Prieſter der Freund¬
ſchaft fuͤr Klotilden zu geben und gab ihm einen —
Brief[337] Brief von ihr. Du konnteſt es thun, Oſtindier, da
du hier ein im limbus infantum zum Engel geword¬
nes Kind biſt, da du keine Geheimniſſe haſt, ausge¬
nommen das Geheimniß der drei Kinder (daher
dich der Lord nicht zum Lektor ſeiner Briefe machte)
und da du gar nicht ahndeſt, die Weggabe des
fremden Briefes ſey nicht Recht. Aber dein Schuͤ¬
ler haͤtte ihn nicht leſen ſollen.
Der las ihn aber. Er kann ſich mit nichts dek¬
ken als mit meinem Leſer, der hier dieſen naͤmli¬
chen fremden Brief, den deſſen Stellerin nie fuͤr
ihn geſchrieben, doch auf ſeinem Seſſel genau durch¬
ſieht. Ich meines Orts leſe nichts ſondern ſchreibe
nur das ab, was mir der Hund gebracht. — Es iſt
ſchoͤn, daß dieſer Brief gerade in der regnenden,
melodiſchen Nacht des Gartenfeſtes gemacht war,
wo er ſeinen erſten an Emanuel geſchrieben hatte.
St. Lune den 4 Mai 179 * *
Sie verlangen es vielleicht nicht, verehrungs¬
wuͤrdiger Lehrer, daß ich mich entſchuldige, da ich
kaum aus Maienthal bin und ſchon mit einem
Briefe wieder komme. Ich wollte gar ſchon unter
Weges ſchreiben, denn am zweiten Tage und end¬
lich geſtern. Dieſes Maienthal wird mir noch viele
Thaͤler verderben; jede Muſik wird mir wie ein Alp¬
horn klingen, das mich traurig macht und in mein
Heſperus. I. Th. I.[338] Herz die Erinnerung an das Alpenleben unter der
Trauerbirke bringt.
In dieſer Stimmung wuͤrd' ich es meinem Her¬
zen nicht verweigern koͤnnen, ſich zu oͤfnen und ſich
vor dem Ihrigen in den waͤrmſten Dank fuͤr die
ſchoͤnſten [und] lehrreichſten Tage meines Lebens zu
ergießen: wenn ich nicht den Entſchluß haͤtte, in ei¬
nigen Tagen wieder in Maienthal zu ſeyn; nach
meiner zweiten Zuruͤckkehr ſoll mein Herz ſeinen
Willen haben.
In unſerm Hauſe fand ich nichts veraͤndert *) —
auch in unſers Nachbars ſeinem nichts; und ich
fand in allen Seelen die Liebe wieder, womit wir
auseinander geſchieden waren, nur iſt meine Agathe
zwar luſtig aber doch es minder als ſonſt. Die
einzige Veraͤnderung in H. Eymanns Hauſe iſt ein
Gaſt, den jeder anders nennt: Viktor — Horion —
Sebaſtian — junger Lord — Doktor. Dieſen letz¬
ten Namen verdient er in vollem Maaße durch
ſeine erſte Handlung und erſte Freude in St. Luͤne,
die die Heilung des blinden Lords Horions war.
[339] Welch ein Gluͤck fuͤr den Geretteten und fuͤr den
Retter! — O ſo oft ich daran denke, daß das
maͤnnliche Geſchlecht mit dem Stoffe zu den groͤßten
goͤttlichen Wohlthaten begluͤckt iſt, daß es wie ein
Gott Augen, Leben, Recht, Wiſſenſchaften austhei¬
len kann, indeß mein Geſchlecht ſein Herz, das ſich
nach Wohlthun ſehnt, auf kleinere Verdienſte, auf
eine Thraͤne, die es abtrocknet, auf eine eigne, die
es verbirgt, auf eine geheime Geduld mit Gluͤcklichen
und Ungluͤcklichen einſchraͤnken muß: ſo wuͤnſch' ich,
moͤchte doch dieſes Geſchlecht, das die hoͤchſten
Wohlthaten in Haͤnden hat, uns die groͤßte vergoͤn¬
nen, es — nachzuahmen und Guͤter in die Haͤnde
zu bekommen, die uns begluͤckten, wenn wir ſie ver¬
theilten! — Jetzt kann ein Weib mit nichts in ihrer
Seele groß ſeyn als nur mit Wuͤnſchen.
Ich komme gerade vom freien Himmel herein
aus einem kleinen Gartenfeſte bei meiner Agathe;
und mir iſt ordentlich jedes ſchoͤne tiefblaue Stuͤck
vom Himmel nicht reckt, wenn es nicht uͤber Ihrer
Trauerbirke ſteht, wo Ihr Auge alle ſeine Schaͤtze
und Sonnen aufzaͤhlt und meinem Herzen alle Winke
der unendlichen Macht und Liebe zeigt. Ich dachte
heute im Garten mit einer faſt zu traurigen Sehn¬
ſucht an Ihr Maienthal: H. Sebaſtian erinnerte
mich noch oͤfter daran, weil er einen Lehrer gehabt
Y 2[340] zu haben ſcheint‚ der dem meinigen aͤhnlich war. *)
Er ſprach heute ſehr gut und ſchien aus zwei Haͤlf¬
ten zuſammengeſetzt zu ſeyn, aus einer brittiſchen
und einer franzoͤſiſchen. Einige ſeiner ſchoͤnen An¬
merkungen ſind mir nicht entfallen — z. B. »die
»Leiden ſind wie die Gewitterwolken, in der Ferne
»ſehen ſie ſchwarz aus‚ uͤber uns kaum grau. —
»Wie traurige Traͤume eine angenehme Zukunft be
»deuten: ſo werd' es mit dem Traume des Lebens
»ſeyn, wenn er aus ſey. — Alle unſere ſtarken Ge¬
»fuͤhle regieren wie die Geſpenſter nur bis auf eine
»gewiſſe Stunde und wenn ein Menſch immer zu ſich
»ſagte: dieſe Leidenſchaft, dieſer Schmerz‚ dieſe
»Entzuͤckung iſt in drei Tagen gewiß aus deiner
»Seele heraus: ſo wuͤrd' er immer ruhiger und ſtil¬
»ler werden.« Ich berichte Ihnen alles dieſes ſo
ausfuͤhrlich, um mich gleichſam ſelber zu beſtrafen
fuͤr ein voreiliges Urtheil, das ich vor einigen Ta¬
gen (wiewol in mir) uͤber ſeinen Hang zur Satire
faͤllte. Die Satire ſcheint auch bloß fuͤr das ſtaͤr¬
kere Geſchlecht zu ſeyn: ich habe in dem meinigen
noch keine gefunden, die Swifts oder Cervantes oder
Triſtrams Werke recht goutirt haͤtte. — —
[341]
Zwei Tage ſpaͤter. Ich und mein Brief ſind
noch hier; aber heute reiſet er auf vier Tage vor
mir voraus. Ich denke ordentlich, dieſes letztemal
werde mir jede Blume in Maienthal und jedes
Wort, das mir mein beſter Lehrer ſagt, noch groͤßere
und ſanftere Freude machen als je, weil ich gerade
aus dem Geraͤuſche der Viſiten und mit einem ſo
melancholiſchen Herzen hinkomme. Am Morgen
nach jener ſchoͤnen Nacht des Kirchgangfeſtes ſas ich
allein in einer Laube neben dem großen Teiche und
machte mich durch alles trauriger, was ich ſah und
dachte — denn dieſen ganzen Morgen ſtand wegen
einem Traume meine erblichene Freundin *)in mei¬
ner Seele — ihr Grab lag durchſichtig auf ihr und
ich blickte hinein und ſah dieſe Himmels-Lillie blaß
und ſtill darinnen liegen — ich dachte wohl an un¬
ſere Verpflanzung fuͤr die zweite Welt, da der Gaͤrt¬
ner Blumen zugleich mit ihren Toͤpfen in die Erde
grub, aber ich konnte doch meine Thraͤnen nicht
mehr ſtillen — Vergeblich ſah ich den heitern Fruͤh¬
ling an, der jeden Tag neue Farben, neue Muͤcken,
neue Blumen aus der Erde zieht — ich wurde nur
betruͤbter, da er alles verguͤngt, aber den Menſchen
nicht — Und als ich H. von Schleunes von wei¬
[342] tem mit einem Froſchſchnepper auf den Teich zuge¬
hen ſah, mußt' ich mich, weil er von Ferne im
Vorbeigehen meine Augen ſehen konnte, ſchlafend
ſtellen, um ſie nicht zu verrathen. — — Aber vor
meinem theuerſten Lehrer wuͤrd' ich ſie geoͤfnet ha¬
ben, wie jetzt, weil er mir meine Schwaͤchen
vergiebt. ꝛc.
Clotilde v. L. B.
Viktor hatte den linken Arm womit er den Brief
hielt, zu nahe ans Herz gelegt; und ſein Arm und
Brief fingen mit dem pochenden Herzen zu zittern
an und er konnte ihn kaum vor Ruͤhrung leſen und
faſſen. »Ein ſolcher Lehrer! — eine ſolche Schuͤle¬
rin!« weiter konnten ſeine Blicke nichts ſagen.
Es war in ihm ein Streit, ob er ſeinem Freund
die Liebe fuͤr Klotilden ſagen ſollte. Fuͤr das Ge¬
ſtaͤndniß war Emanuels Bitte, mit ihr umzugehen
— ſein gleichſam aus Fixſternen alle Kleinigkeiten
der Erde beſchauendes Auge — Viktors dankbare
Begierde, ein Geheimniß mit dem andern zu ver¬
gelten — und am meiſten, o! dieſe Liebe zu ſeinem
Lehrer, dieſe Liebe ſeines Lehrers zu ihm. . . .
— Und dieſe ſiegte auch, ſo viel auch ſonſt da¬
gegen war. Denn wenn Viktors ganze edle Natur
im Feuer der Freundſchaft gluͤhte: ſo ſtieg ſein Herz
[343] immer hoͤher und brannte, ſich zu oͤfnen — er
kaͤmpfte noch mit ihm und es ſchwieg noch — es
liebte unendlich — es hob ſich wie von einer unſicht¬
baren Macht empor — es brach endlich entzwei —
die Bruſt ging wie vor Gott auseinander und nun
Geliebter! ſchau' hinein, aber verzeih' ihm alles.
Er kriegte noch in ſich, als der hinter ihrem
Ruͤcken heraufgehobene Mond ihre zwei Schatten-
Knieſtuͤcke vor ihnen voraustrieb — Er wurde durch
Emanuels ziehenden Schatten an eine Stelle in ſei¬
nem Briefe *) erinnert und an ſein ſieches Leben
und fruͤhes Verſchwinden . . . Dieſes zerſpaltete ſein
Inneres, er wendete ſanft ſeinen Emanuel gegen
den herunteſtroͤmenden Mond um und ſagte und
zeigte ihm alles — aber nicht bloß ſeine Liebe ſon¬
dern ſeine ganze Geſchichte — ſeine ganze Seele —
alle ſeine Fehler — alle ſeine Thorheiten — alles,
er war ſo beredt in dieſer Minute wie ein Engel
und eben ſo groß — ſein Herz wallete zerſchmolzen
in Liebe und je mehr er ſagte, je mehr wollte er zu
ſagen haben.
Auf dieſer Erde ſchlaͤgt keine erhabnere und ſeeligere
Stunde als die, wo ein Menſch ſich aufrichtet erho¬
ben von der Tugend, erweicht von der Liebe, und
[344] alle Gefahren verſchmaͤht und einem Freunde zeigt,
wie ſein Herz iſt. Dieſes Leben, dieſes Zergehen,
dieſes Erheben iſt koͤſtlicher als der Kitzel der Eitelkeit,
ſich in unnuͤtze Feinheiten zu verſtecken. Aber die
vollendete Aufrichtigkeit ſteht nur der Tugend an:
der Menſch, in dem Argwohn und Finſterniß iſt,
leg' immer ſeinem Buſen Nachtſchrauben und Nacht¬
riegel an, der Boͤſe verſchon' uns mit ſeiner Lei¬
chenoͤfnung und wer keine Himmelsthuͤr' an ſich zu
oͤfnen hat, laſſe das Hoͤllenthor zu. . .
Emanuel hatte die goͤttliche oder muͤtterliche
Freude, die ein Freund uͤber die Tugend und Ver¬
edlung des Freundes empfindet und vergaß uͤber der
Freude die verſchiedenen Anlaſſe derſelben. — —
Ungern trenn' ich mich auf eine Nacht von die¬
ſem tugendhaften Paar — Moͤge ich noch viele
Tage von Maienthal zu mahlen bekommen und
Viktor noch viele da verleben! — —
[345]
15. Hundspoſttag.
Der Abſchied. —
Ach heute geht er ſchon! Die bisherigen Ruͤhrun¬
gen und Geſpraͤche hatten die zarte Huͤlle, die Ema¬
nuels ſchoͤnen Geiſt wie eine Tulpe die Biene ver¬
ſchließet, zu ſehr erſchuͤttert: blaß und wankend ſtand
er auf; und der Blinde war am gluͤcklichſten, der
weder dieſe Blaͤſſe noch das weiße Tuch erblickte,
das er zu Nachts ſtatt vollzuweinen vollgeblutet
hatte. Er ſelber hatte noch das bleiche Abendroth
der geſtrigen Freude auf dem Angeſicht; aber eben
dieſe Gleichguͤltigkeit gegen ſeine ausloͤſchenden Tage,
dieſes ſchwaͤchere ſanftere Sprechen machte, daß
Viktor die Augen von ihm wegwenden mußte, ſo
oft ſie lange an ihm geweſen waren. Emanuel ſah
ruhig wie eine ewige Sonne, auf den Herbſt ſeines
Koͤrpers herab; ja je mehr Sand aus ſeiner Lebens-
Sanduhr herausgefallen war, deſto heller ſah er
durch das leere Glas hindurch. Gleichwohl war
ihm die Erde ein geliebter Ort, eine ſchoͤne Wieſe
zu unſern erſten Kinderſpielen und er hing dieſer
Mutter unſers erſten Lebens noch mit der Liebe an,
[346] womit die Braut den Abend voll kindlicher Erinne¬
rungen an der Bruſt der geliebten Mutter zubringt,
eh' ſie am Morgen dem Braͤutigam entgegen zieht.
Viktor warf ſich jeden vergoſſenen Blutstropfen
vor und entſchloß ſich, heute zu gehen, weil dieſe
Pſyche mit ihren großen Fluͤgeln ſich in ihrem Ge¬
webe nicht mehr ohne Riſſe bewegen konnte. In
Emanuels Augen glaͤnzte eine unausſprechliche Liebe
fuͤr ſeinen geruͤhrten Schuͤler. Emanuel kam auf
ſeinen Todestag, um jenen zu troͤſten und ſtellte ihm
vor, daß er erſt in einem Jahre von hinnen gehen
koͤnne: er bauete ſeine ſchwaͤrmeriſche Weiſſagung
auf zwei Gruͤnde, daß erſtlich ſeine meiſten maͤnnli¬
chen Verwandten am naͤmlichen Tage und im naͤm¬
lichen Stufenjahre geſtorben waͤren, zweitens daß
ſchon mehrere Schwindſuͤchtige in ihrer zerſtoͤrten
Bruſt wie in einem Zauberſpiegel ihren letzten Tag
geleſen haͤtten. Viktor beſtritt ihn; er zeigte, die
Erklaͤrung des letztern Phaͤnomens, als koͤnne der
Hektiker aus dem regelmaͤßigen ſtufenweiſen dimi¬
nuendo oder Fallen der Lebenskraft leicht die letzte
Stufe oder den Gefrierpunkt vorausfuͤhlen, ſey
falſch, weil Gefuͤhle der Zukunft in der Gegenwart
Widerſpruͤche (in adjecto) waͤren und weil wir mit¬
ten im Leben ſo wenig den Eintritt des Todes als
im Wachen den Eintritt des Schlafes (trotz gleicher
Stufenfolge) voraus empfinden koͤnnten. Viktor
[347] ſtellte ihm alles dieſes vor; aber er glaubte es ſelber
nicht recht: ihn uͤbermannte der hohe Menſch, der
ſeinen Eintritt in den Todesſchatten ſo zuverlaͤßig wie
einen Eintritt des Mondes in den Erdſchatten anſag
te. — Wir wollen dem Emanuel vergeben und uns
deswegen nicht fuͤr weiſer halten, weil er ſchmaͤrme¬
riſcher iſt. — Am meiſten wurde er durch Emanuels
Wahn getroͤſtet, daß ihm vor ſeinem Tode erſt ſein
verſtorbner Vater erſcheinen werde.
Viktor zoͤgerte und wollte nicht zoͤgern, hinderte
als Arzt das Sprechen des Emanuels, um ſich die
Entſchuldigung eines unſchaͤdlichen Aufſchubs zu
machen und wurde eben, weil er ſelber wenig zu
reden ſuchte, immer betruͤbter. — Ach wie kannſt du
ſchon heute von ihm eilen, von dieſem Engel, der
vielleicht uͤber dem naͤchſten Grabe verſchwindet? —
Es muß dir hart fallen, da es ſchon ſo ſchwer iſt,
vom Maienthal voll Bluͤten, vom Blinden voll ſanf¬
ter Toͤne wegzugehen — ſchmerzlich iſt hier der
letzte Haͤndedruck, Viktor, und ſchoͤn jede Verzoͤ¬
gerung!
Er beſchloß, zu Nachts zu ſcheiden, weil eine
Trennung am Morgen zu lange wehe thut, und die
Stelle des Herzens, wo ſich das geliebte abgeriſſen,
den ganzen Tag fortblutet. Emanuel haͤtte Abends
ſich wieder ins Stift entfernen ſollen wie geſtern:
Viktor haͤtte ſeine gefuͤllten Augenhoͤlen, mit denen
[348] er immer hinausgehen mußte, um den Schmerz hin¬
wegzunehmen, vor dem Blinden, den er um die trau¬
rigſte Melodie von der Welt gebeten haben wuͤrde,
ſatt ſtroͤmen laſſen koͤnnen.
Als er Abends das letztemal aß und die Abend¬
glocke anfing: wurde ſeinem Herzen als waͤre von
demſelben die Bruſt weggehoben und Eisſpitzen wuͤr¬
den darauf geweht. Er umſchlang voll Liebe den
Juͤngling, den er nicht als den Geſpielen ſeiner
Kindheit erkennen durfte und der mit ſeinen Toͤnen
mehr Entzuͤckungen gegeben hatte als er in ſeiner
Nacht zuruͤckbekam; und ließ Thraͤnen ihren Lauf,
von denen Emanuel nicht die doppelte Quelle er¬
rieth. Dieſen bat er noch mit einer uͤber den Sinn
hinuͤbereilenden Stimme, ihn ein wenig zu begleiten,
bis Maienthal verſchwunden waͤre.
In der dunkeln ſtillen Gegend drauſſen blieben
alle Schmerzen in der Bruſt neben ihren Seufzern.
»Wenn der Mond in dieſes Bluͤtenthal hereinſchim¬
mert, dacht' er, hab' ich es aus lange verlaſſen.«
Bloß die Altarlichter, die Sterne, brannten im gro¬
ßen Tempel. Er wollte ſich von ſeinem Lehrer auf
dem Berge trennen, wo er ſich mit ihm vereinigt
hatte; aber er ging durch Umwege — Emanuel
folgte ihm gern wohin er ihn fuͤhrte — hinauf, um
das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu
uͤberwaͤltigen.
[349]
Aber ſie kamen an unter der Trauerbirke, und
ſein Auge und ſeine Stimme hatte noch der Schmerz.
»Ach (dacht' er) wie groß war hier die erſte Nacht
und wie ſchmerzhaft iſt dieſe!« Sie ruhten auf der
Erde neben einander an der Grasbank einſam,
ſchweigend, trauernd vor dem dunkel ſchimmernden
Univerſum. Viktor konnte den belaſteten Athemzug
der zerſtoͤrten Bruſt vernehmen und das kuͤnftige
Grab auf dieſem Berge ſchien ſich neben ihm aufzu¬
wuͤhlen. O wenn es bitter iſt, neben dem Bette zu
ſtehen, in dem ein geliebtes erloͤſchendes Angeſicht
mit den Farben des Todes liegt: ſo iſt es noch viel
bitterer, mitten in den Szenen der Geſundheit hin¬
ter der aufgerichteten theuern Geſtalt den arbeiten¬
den Tod zu hoͤren und ſo oft zu denken, als die Ge¬
ſtalt froͤlich iſt: »ach ſey noch froͤlicher, in Kurzem
»hat er dich umgenagt und du biſt vergangen mit
»deinen Freuden und mit meinen!« — Ach, es
giebt ja keinen Freund, und keine Freundin, bei de¬
nen wir das nicht denken muͤßten! —
Er wußte nicht, warum Dahore ſo lange ſtill
war — Er ſah nicht voraus daß der Mond den
Berg fruͤher beſtralen werde als die Tiefe. Der
Mond, dieſer Leichtthurm am Ufer der zweiten-
Welt umzog jetzt den Menſchen mit bleichen Gefil¬
den, die aus Traͤumen genommen waren, mit blaß
ſchimmernden Auen aus einer uͤberirrdiſchen Per¬
[350] ſpektive und die Alpen und Waͤlder loͤſete er in un¬
bewegliche Nebel auf — uͤber der halben Erdkugel
ſtand tief der Lethefluß des Schlafes, unter der
gruͤnen Rinde ſtand das Todtenmeer, und zwei lie¬
bende Menſchen lebten zwiſchen dem weiten Schlafe
und Tod. . . Jetzt dachte Viktor zwar noch gluͤhen¬
der, hier neben dieſe Birke unter dieſen kalten Bo¬
den wird ſeine zerfallne Bruſt auf ewig verborgen
und ſie blutet nicht mehr, aber ſie ſchlaͤgt auch nicht
mehr — er dachte zwar an truͤbe Aehnlichkeiten,
als die unbeweglichen Sterne auf- und abzu¬
ſteigen ſchienen, bloß weil die ſpielende Erde ſich
um ſie wendet und ſie zeigt und deckt — er ſah
zwar melancholiſch von den Irrlichtern weg, die
uͤber Thaͤler rennend, allein an der ernſten Nacht
hinanhuͤpften und an Graͤbern und die um einen
einſamen Pulverthurm gaukelnde Kreiſe beſchrie¬
ben. — —
Aber doch ſchwieg er und dachte: »wir haben
uns ja noch.«
Aber dann wurd' es ſeinem blutigen Herzen zu
viel, als die Floͤtenklagen des Blinden aus dem ein¬
ſamen Hauſe in die Nacht auszogen und uͤber den
Berg und uͤber das kuͤnftige Grab hinuͤbergingen —
Dann wurden den Seufzern Stimmen und der Zu¬
kunft Todtenglocken gegeben und es that ihm zu
wehe, als er unter dem Floͤtengetoͤne es dachte, dieſer
[351] einzige, dieſer unerſetzliche Menſch, der in ſeinem gro¬
ßen Herzen doch ſo viel Liebe fuͤr dich bewahret, geht
dahin und erſcheint nie wieder. — Ach, da noch dazu
gerade jetzt Emanuel, der ſtill, in den Himmel verſenkt
und wie ein Hingeſchiedener neben ihm gelegen, ſeine
Lage wegen des ſchmerzlichen und gedruͤckten Athem¬
holens wechſelte, aber mit einem heitern von den
Bruſtſtichen nicht getrofnen Angeſicht: ſo fuhr eine
kalte Hand in Viktors geſchwollnes Herz und wen¬
dete ſich darin um und ſein Blut gerann an ihr an
und er ſagte, ohne ihn anſehen zu koͤnnen, ſchwach,
bittend, gebrochen: »ſtirb nicht nach einem Jahr,
»mein theurer Emanuel — — wuͤnſch' es nicht!«
Der Genius der Nacht ſtand bisher unſichtbar
vor Emanuel und goß hohe Entzuͤckungen in ſeine
Bruſt, aber keine Leidenſchaften und er ſagte: »wir
»ſind nicht allein — meine Seele fuͤhlt das Vorbei¬
«gehen ihrer Verwandten und richtet ſich auf —
»unter der Erde iſt Schlaf, uͤber der Erde iſt
»Traum, aber zwiſchen dem Schlaf und Traum ſeh'
»ich Lichtaugen wandeln wie Sterne — Ein kuͤhles
»Wehen koͤmmt vom Meer der Ewigkeit uͤber die
»gluͤhende Erde — Mein Herz ſteigt auf und will
» abbrechen vom Leben — Es iſt alles ſo groß um
»mich, wie wenn Gott durch die Nacht ginge —
»Geiſter! faſſet meinen Geiſt, er windet ſich nach
»euch und zieht ihn hinuͤber. . . .«
Horion wandte ſich um und ſah ſtehend ins
ſchoͤne, freudig, unbethraͤnte Angeſicht: »Du willſt
»ſterben?«
Emanuels Entzuͤckung ſtieg uͤber das Leben: »der
dunkle Streif in der zweiten Welt iſt nur eine Blu¬
men-Aue *)— es leuchten uns Sonnen voraus, es
ziehen uns fliegende Himmel mit Fruͤhlingsluͤſten
entgegen — bloß mit leeren Graͤbern fliegt die Erde
um die Sonne: denn ihre Todten ſtehen entfernt
auf hellern Sonnen.« —
»Emanuel?« — fragte laut weinend und mit
der Stimme des innigſten Sehnens Horion und die
Floͤtentoͤne ſanken jammernd unter in die weite
Nacht — »Emanuel?«
Emanue! ſah ihn, zuruͤckkommend, an und ſagte
erhaben ruhig: »Ja, mein Geliebter! — Ich kann
»mich nicht mehr an die Erde gewoͤhnen: der Waſ¬
»ſertropfen des Lebens iſt flach und ſeicht geworden,
»ich kann mich nicht mehr darin bewegen und mein
»Herz ſehnt ſich unter die großen Menſchen, die
»dieſen Tropfen verlaſſen haben. — — O Geliebter,
»hoͤre doch — (und hier druͤckte er das Herz ſeines
»Viktors ein) — dieſen ſchweren Athem gehen —
»ſehe[353] »ſiehe doch dieſen zerbrochnen Koͤrper, dieſe dichte
»Huͤlle meinen Geiſt umwickeln und ſeinen Gang er¬
»ſchweren. —
»Siehe, hier klebt mein und dein Geiſt angefro¬
»ren an die Eisſcholle und dort decket die Nacht
»alle hinter einander ruhende Himmel auf, dort im
»blauen glimmenden Abgrunde wohnt alles Große,
»was ſich auf der Erde entkleidet hat, alles Wahre,
»das wir ahnden, alles Gute, das wir lieben — —
ſieh wie alles ſo ſtill iſt druͤben in der Unend¬
»lichkeit — wie leiſe ziehen die Welten, wie ſtill
»ſchimmern die Sonnen — der große Ewige ruhet
»wie eine Quelle, mit ſeiner uͤberfließenden unendli¬
»chen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und be¬
»ruhigt alles; und um Gott ſteht kein Grab.«
Hier ſtand Emanuel, wie von einer unendlichen
Seeligkeit gehoben, auf und ſah liebend zum Arktu¬
rus empor, der noch unter dem Gipfel des Himmels
hing, und ſagte gegen die blinkende weite Tiefe ge¬
richtet:»ach wie unausſprechlich ſehn' ich mich hin¬
»uͤber zu euch — ach zerfalle, altes Herz und ver¬
»ſchließ' mich nicht ſo lange!« — »So ſtirb
»denn, große Seele (ſagte Horion) und ziehe hin¬
»uͤber; aber brich mein kleines Herz durch deinen
»Tod und behalte den Armen bei dir, der dich nicht
»verlaſſen und nicht entbehren kann.«
Die Floͤte hatte aufgehoͤrt, die zwei Menſchen
waren an einander geſunken, um ihren Abſchied zu
endigen. »Theurer, Geliebter, Unvergeßlicher (ſagt
»Emanuel) du bewegſt mich zu ſehr — aber wenn
»ich nach einem Jahre auf dieſem Berge verſcheide,
»ſo ſollſt du bei mir ſtehen nnd ſehen wie dem
»Menſchen die Banden abgenommen werden. Deine
»Thraͤnen werden meine letzten Erden-Schmerzen
»ſeyn; aber ich werde ſagen, was ich jetzt ſage:
»wir ſcheiden uns in der Nacht, aber wir finden
»uns wieder am Tage.« Hier ging er.
Viktor hatte ſich leiſe von den kindlichen Lippen
losgewunden — er jagte nicht auf ſeinem Nacht-
Steige — langſam ging er vor lauter Schlaf vorbei
— unter ſanft fallenden Thraͤnen ging ſein Auge
mit den ſchweigenden Sternen auf und unter —
und um 4 Uhr Morgens kam er mit einer himmli¬
ſchen Seele in St. Luͤne an und trat in den Gar¬
ten voll alter Szenen und legte in der bekannten
Laube das gluͤhende Haupt und das bekaͤmpfte Herz
in den Thau des Morgens zu einer kuͤhlenden Ruhe
nieder. . . .
O ruhe, ruhe! — Ach den ewig erſchuͤtterten
Buſen des Menſchen ſtillet nur ein Schlaf, entwe¬
der der irrdiſche oder der andre. . . .
[355]
16. Hundspoſttag.
Kartoffeln-Formſchneider — Moratorien in St Luͤne —
Wachs-Boſſierungen — Schach nach der regula falsi — die
Diſtel der Hofnung — Begleitung nach Flachſenfingen.
Man ſollte wie der alte Fritz gern in Kleidern
ſchlafen, ſobald man weiß, daß man wie Viktor und
ich, im Hemde von den Vampyren der mitternaͤcht¬
lichen Melancholie umzingelt und angefallen wird:
ſie bleiben aus, wenn man ſitzt und alles an hat; be¬
ſonders konſerviren uns Stiefel und Hut das Ge¬
fuͤhl des Tages am meiſten. — —
Eine warme Hand hob Viktors bethautes Haupt
vom Schlaftiſch' auf und richtete es der ganzen da¬
herſchlagenden Fluth des Morgens entgegen. Seine
Augen gingen (wie allemal) unbeſchreiblich mild und
ohne Nachtwolken vor Agathen auf und uͤberſtrahlten
ſie. Aber ſie fuͤhrte ihn mit ſeinen Strahlen eilig
aus dem belaubten Dormitorium hinweg; denn er
ſollte ſich einen Friſierkamm und einen Morgenſegen
ſuchen und zweitens ſollte das Tiſchbett zu einem
Theebrett fuͤr Klotilden werden, die die warmen
Getraͤnke gern an kalten Orten nahm.
Z 2[356]
— Und ſo ſteht er drauſſen zwiſchen Pfarrhaus
und Schloß mitten im Morgen — alles ſchien ihm
erſt waͤhrend ſeiner Reiſe gemauert und angeſtrichen
zu ſeyn — denn alles, was darin wohnte, ſchien
ſich veraͤndert zu haben nnd machte ihn wehmuͤthig.
»Die Eltern drinnen (ſagt' er zu ſich) haben keinen
»Sohn — mein Freund hat keine Geliebte und ich
»... kein ruhiges Herz.« Da er nun endlich in
die Wohnung trat und wieder die Tangente des lie¬
benden Familienzirkels wurde; da er mit theilneh¬
menden und doch belehrten Augen die zaͤrtlichen
Taͤuſchungen der Eltern, die grundloſen Hofnungen
ſeines Freundes und die aufſteigenden gewitterhaften
Tage anſchauen mußte: ſo ſtand ſein Auge in Einer
unverruͤckten Thraͤne uͤber die Zukunft und ſie wurde
nicht kleiner, da ſeine Adoptiv-Mutter ſie durch
ſympathetiſches Anblicken rechtfertigen wollte. — —
Zum Theil aber wehte auch dieſer Flor uͤber ſeine
Seele bloß aus der vorigen Nacht heruͤber, deren
daͤmmernde Szenen nur durch einen kleinen Zwiſchen¬
raum aus Schlaf, von ihm geſchieden waren: denn
eine in Empfindungen verwachte Nacht endigt ſich
allzeit mit einem ſchwermuͤthigen Vormittag.
Der Kaplan machte gerade Butter-Vignetten;
ich meine, er ſaͤgte mit keiner andern Aezwiege als
mit einem Federmeſſer und in keine andre Kupfer¬
platten als in Kartoffeln, Buchdruckerſtoͤcke und
[357] Schließquadraͤtgen ein, die auf die Juliusbutter des
Schmuckes wegen zu drucken waren. Man haͤtte
denken ſollen, Viktor haͤtte ſich dadurch viel gehol¬
fen, daß er Witz hatte und anmerkte, die alten
Drucke waͤren zwar langer Buͤcher daruͤber und
langer allgemeiner deutſchen litterariſchen Rezen¬
ſionen der Buͤcher ganz wuͤrdig, aber keines
menſchlichen Gedankens, und waͤren zehnmal unge¬
niesbarer als dieſe neueſten Butter-Inkunabeln —
denn wenn es etwas elenderes geben koͤnnte als die
Weltgeſchichte (d. h. die Regentengeſchichte) deren
Inhalt aus Kriegen wie das Theaterjournal ande¬
rer Marionetten aus Pruͤgeleien beſtaͤnde, ſo waͤrs
bloß die Gelehrten- und Buchdruckerhiſtorie — auch
das haͤtt' ihm zu ſtatten kommen ſollen, daß er hin¬
terdrein philoſophiſch war und verlangte, man ſollte
den Menſchen weder ein lachendes noch vernuͤnftiges
Thier nennen ſondern ein putzendes; zu welcher
Anmerkung die Kaplaͤnin nichts ſetzte als die An¬
wendung davon auf ihre Toͤchter.
Aber in Menſchen ſeiner Art haben Kummer,
Satire und Philoſophie neben einander Platz. Er
erzaͤhlte dem Kartoffeln-Medailleur und der Kaplaͤ¬
nin, die alle Weiber auf der Erde zu ihren Toͤchtern
zaͤhlte und gegen ſie aͤhnliche Strafpredigten hielt,
ſeine Reiſe mit ſo vielen Satiren und Eliſionen und
Raſuren als fuͤr beide Partheien noͤthig waren; aber
[358] als er die Wuͤnſche der Familie hoͤrte, daß der
Lord gluͤcklich mit dem geliebten Fuͤrſtenkinde zuruͤck¬
kommen moͤge und die Nachricht, daß der Regie¬
rungsrath ſchon alles eingepackt habe, um mit ſei¬
nem Freunde jede Stunde die er wolle, in die Stadt
zu ziehen: ſo hatte Viktor nichts zu thun als —
ſeine abſondernden Thraͤnenwege in ſeiner Augen¬
hoͤle hinauszutragen. . . .
— Aber in den Garten! das war unuͤberlegt.
Flamin ging nach und ſie langten miteinander im
Laub Kloſet vor den Theetrinkerinnen an. Nie¬
mals verſchatteten die Zweige deſſelben ein ver¬
legneres Geſicht, weichere Augen, vollere Blicke und
lebhaftere oder ſchoͤnere Traͤume als Viktor darun¬
ter mitbrachte Er dachte ſich jetzt Klotilde als ein
ganz neues Weſen und dachte alſo — da er nicht
wußte, ob ſie ihn liebe — recht dumm; der
Menſch achtet allezeit, wenn er den Berg uͤberſtiegen
hat, den kommenden Huͤgel fuͤr nichts: Flamin war
ſein Berg geweſen und Klotilde ſein Huͤgel. — In
allen Viſiten Untiefen, wo man ſchon halb im Si¬
tzen oder Sinken iſt, giebts keine herrlichere Schifs¬
pumpe als eine Hiſtorie, die man zu erzaͤhlen hat.
Man gebe mir Verlegenheit und den groͤßten Cercle
und nur Ein Ungluͤck, naͤmlich die Anekdote davon,
die noch keiner weiß als ich, ſo will ich mich ſchon
retten. Viktor brachte alſo ſeinen Schwimmguͤrtel
[359] heraus, naͤmlich ſein Schifsjournal, aus dem er fuͤr
die Laube einen pragmatiſchen Extrakt auszog —
ich geſteh' es, der Bayreuther Zeitungsſchreiber haͤtte
mehr verfaͤlſchen, aber ſchwerlich mehr weglaſſen
koͤnnen.
Er that ſich glaub' ich wieder Schaden bei Klo¬
tilden (wie Vorſchub bei der Kaplaͤnin) dadurch,
daß er, (da viele Maͤdgen nur den Spott, aber nicht
den Spoͤtter lieben,) — (allein er peccirte wider
Klotildens Brief bloß aus Wohlwollen fuͤr die Zu¬
hoͤrer und aus zu ſtarkem Haß des Hofes) — daß
er die Benefizkomoͤdie der Prinzeſſin nicht von der
erhabnen Seite darſtellte wie ich, ſondern von der
luſtichen: ſie laͤchelte und Agathe lachte.
Da der Name Emanuel von ihm genannt
wurde und ſein Haus und ſein Berg: ſo bereitete
die Freundſchaft und die Vergangenheit auf dem
ſchoͤnſten Auge, woruͤber noch ein Augenbraunenbo¬
gen, aus einer Schoͤnheitslinie gezogen floß, einen
ſanften Schimmer aus, der jeden Augenblick zur
Freudenthraͤne werden wollte; aber er mußte zu
einer andern werden, als Viktor der Frage um ſeine
Geſundheit, die Klotilde hoffend an ihn als Kunſt¬
verſtaͤndigen that, die Antwort der leiſ' umſchriebe¬
nen Geſchichte ſeines naͤchtlichen Blutens geben
mußte. Er konnte den Schmerz des Mitleidens
nicht verhehlen und Klotilde konnt' ihn nicht be¬
[360] zwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetſch¬
wunden wird euer Herz noch von eurem großen
Freund empfangen.
Wohin anders konnte ſie jetzt ihr liebendes und
trauerndes Auge als gegen ihren guten Bruder wen¬
den, gegen den ihr Betragen durch den doppelten
Zwang, den ihr ihre Verſchwiegenheit und ſeine
Auslegungen anlegten, bisher ſo unbeſchreiblich mild
geworden war? — Da nun Viktor jetzt das alles
mit ſo ganz andern Augen ſah; da er ſeinem armen
Freund, der mit ſeinem gegenwaͤrtigen Gluͤck viel¬
leicht die giftige Nahrung ſeiner kuͤnftigen Eifer¬
ſucht vergroͤßerte, offen und fixirend in das feſte An¬
geſicht ſchauete, das einſt ſchwere Tage zerreiſſen
konnten; da ihn uͤberhaupt kuͤnftige oder ver¬
gangne Leiden des andern mehr angriffen als ge¬
genwaͤrtige, weil ihn die Phantaſie mehr in der
Gewalt hatte als die Sinne: ſo konnt' er einen Au¬
genblick die Herrſchaft uͤber ſeine Augen nicht be¬
haupten, ſondern ſie legten ihren Blick von mitleidi¬
gen Thraͤnen umgeben zaͤrtlich auf ſeinen Freund.
Klotilde wurde uͤber den Ruheplatz ſeines Blickes
verlegen — er auch, weil der Menſch ſich der hef¬
tigſten Zeichen des Haſſes weniger ſchaͤmt als der
kleinſten der Liebe — Klotilde verſtand die kokette
Doppelkunſt nicht, in Verlegenheit zu ſetzen oder
daraus zu ziehen — und die gute Agathe verwech¬
[361] felte immer das letztere mit dem erſten . . . »frag
«ihn, was ihm fehlt, Bruder!« ſagte ſie zu Fla¬
min. . . .
Dieſer lenkte ihn mit demſelben Gutmeinen hin¬
ter die naͤchſten Stachelbeerſtauden hinaus und fragte
ihn nach ſeiner feſten Art, die immer Behauptung
fuͤr Frage hielt: »Dir iſt was paſſirt!« — »Komm
nur!« ſagte Viktor und zerrte ihn hinter hoͤhere
ſpaniſche Waͤnde aus Laub.
»Nichts iſt mir — hob er endlich mit gefuͤllten
»Augenhoͤlen und laͤchelnden Zuͤgen an — weiter
»paſſirt als daß ich ein Narr geworden ſeit etwan
»26 Jahren — (ſo alt war er) — Ich weiß, du biſt
»leider ein Juriſt und vielleicht ein ſchlechterer Oku¬
»liſt als ich ſelbſt und haſt wohl wenig in H. Ja¬
»nin*)geleſen: nicht?«
Nicht bloß vom Nein wurde Flamins Kopf ge¬
ſchuͤttelt.
»Ganz natuͤrlich: aber koͤnnteſt du es aus
»dem oder aus der Ueberſetzung von Selle recht
»ſchoͤn haben, daß nicht bloß die Thraͤnendruͤſe un¬
»ſre Tropfen ſezerniere, ſondern auch der glaͤſerne
»Koͤrper, die Meibomiſchen Druͤſen, die Thraͤnen¬
»karunkel und — unſer gequaͤltes Herz, ſetz' ich da¬
[362] »zu — — Gleichwohl muͤſſen dieſer Waſſerkuͤgelgen,
»die fuͤr die Schmerzen der armen, armen Menſchen
»gemacht ſind, ſich in 24 Stunden nicht mehr als
»(wenns recht zugeht) 4 Unzen abſeihen. — — Aber,
»du Lieber, es geht eben nicht recht zu, beſonders
»bei mir und es aͤrgert mich heute, nicht daß du in
»den H. Janin nicht geguckt, ſondern daß du
»meine fatale, verdammte, dumme Weiſe nicht
»merkſt« ... Welche denn?« — »Ja wohl, wel¬
»che; aber die heutige daß mir die Augen uͤberlaufen
»— du darfſt es kuͤhn bloß einem zu matten Thraͤ¬
»nenheber beimeſſen, worunter Petit alle einſau¬
»gende Thraͤnenwege befaßt — wenn mir z. B. ei¬
»ner Unrecht thut, oder wenn ich nur etwas ſtark
»begehre, oder mir eine nahe Freude oder nur uͤber¬
»haupt eine ſtarke Empfindung denke oder das
»menſchliche Leben oder das bloße Weinen ſel¬
»ber.« — —
Sein gutes Auge ſtand voll Waſſer, da ers ſagte
und rechtfertigte alles.
»Lieber Flamin, ich wollte, ich waͤre eine Dame
»geworden oder ein Herrnhuter oder ein Komoͤdiant
» — wahrlich wenn ich den Zuſchauern weißmachen
»wollte, ich waͤre daruͤber (naͤmlich uͤber dem Wei¬
»nen,) ſo waͤr' es noch dazu wahr.« —
Und hier legt er ſich ſanft und froh mit Thraͤ¬
nen, die entſchuldigt floſſen, um die geliebte Bruſt.
[363] . . . Aber zum Adſtringens und zur Vipernkur ſei¬
ner Maͤnnlichkeit hatt' er nichts als ein »Hm!«
und einen Zuck des ganzen Koͤrpers vonnoͤthen: dar¬
auf kehrten die Juͤnglinge als Maͤnner in die Laube
zuruͤck.
Es war nichts mehr darin: die Maͤdgen waren
in die Wieſen geſchlichen, wo nichts zu meiden war
als hohes Gras und bethauter Schatten. Die leere
Laube war der beſte einſaugende Thraͤnenheber ſeiner
Augen; ja ich ſchließe aus Berichten des Korreſpon¬
denz, Spitzes, daß es ihn verdroß. Da Schwe¬
ſter ſpaͤt allein wiederkam: ſo verdroß es den an¬
dern auch. Ueberhaupt ſollte ſich der Held — wel¬
ches fuͤr mich und ihn ein Ungluͤck waͤre — mit der
Zeit gar in Klotilden verlieben: ſo wird uns beiden
— ihm im Agiren, mir im Kopiren — die Heldin
warm genug machen, eben weil ſie es ſelber nicht
ſeyn will; weil ſie weder uͤberfluͤßige Waͤrme noch
uͤberfluͤßige Kaͤlte ſondern allzeit die wechſelnde Tem¬
peratur hat, die ſich mit dem Entrevuͤen-Stof, aber
nicht mit dem Redner aͤndert; weil ſie einem zaͤrtli¬
chen Nebenmenſchen alle Luſt nimmt, ſie zu loben,
da ſie keinen Sackzehend davon entrichtet, oder ſie
wenigſtens zu beleidigen, da ſie keine Ablaßbriefe
austheilt und weil man wirklich in der Angſt zuletzt
annimmt, man koͤnne keine andere Suͤnden gegen ſie
begehen als ſolche gegen den heiligen Geiſt. Jean
[364] Paul, der in ſolchen Lagen war, und oft Jahre
lang auf Einem Platz vor ſolchen Bergfeſtungen
mit ſeinen Sturmleitern und Labarum und Trompe¬
tern ſtand und ſtatt der Beſatzung ſelber ehrenvoll
abzog, Jean Paul ſag' ich kann ſich eine Vorſtel¬
lung machen, was hier in Sachen Sebaſtians contra
Klotilden fuͤr Aktenpapier, Zeit und Druckſchwaͤrze
wird (von ihm und mir) verthan werden, bis mirs
nur zur Kriegsbefeſtigung treiben. Es wird ei¬
nem Mann uͤberhaupt bei einer vernuͤnftigen
Frau nie recht wohl, ſondern bei einer bloß feinen,
phantaſirenden, heiſſen, launenhaften iſt er erſt zu
Hauſe. Durch ſo eine wie Klotilde kann der beſte
Menſch vor bloßer Angſt und Achtung froſtig, dumm
und entzuͤckt werden; und meiſtens ſchlaͤgt obendrein
noch das Ungluͤck dazu, daß der arme matte Sche¬
ker, von dem ſich ein ſolcher ſublunariſcher Engel
wie der apokalyptiſche vom Juͤnger Johannes, durch¬
aus nicht will anbeten laſſen, ſelten noch die Kraͤfte
auftreibt, um zum Engel zu ſagen — wie etwan zu
einem entgegengeſetzten Engel, der das Anbeten ha¬
ben will: — hebe dich weg von mir! Paul hebt ſich
allemal ſelber weg. — —
Viktor that das nicht: er wollte jetzt gar nicht
aus dem Hauſe, d. h. aus dem Dorfe. Die Som¬
mertage ſchienen ihm jetzt in St. Luͤne wie in einem
Arkadien zu ruhen wehend, duftend, ſeelig; und er
[365] ſollte aus dieſer ſanft irrenden Gondel hinausgewor¬
fen werden ins Sklavenſchif des Hofs — aus der
prieſterlichen Laiterie in die fuͤrſtliche Arſenikhuͤtte,
aus dem Philantropiſtenwaͤldgen der haͤuslichen Liebe
auf das Eisfeld des Kurialhaſſes. Das war ihm in
der Laube ſo hart! — und in Toſtatos Bude ſo
lieb! — Wenn die Wuͤnſche und die Lagen des
Menſchen ſich mit einander umkehren: ſo klagt er
doch wieder die Lagen, nicht die Wuͤnſche an. »Er
wolle ſich ſelber, ſagt' er, auslachen, aber er habe
doch hundert Gruͤnde, in St. Luͤne zu zoͤgern von
einem Tage zum andern — es eckle ihn ſo ſehr ſeine
Abſicht an, einem Menſchen (dem Fuͤrſten) aus an¬
dern Motiven zu gefallen als aus Liebe — es ſey
noch unwahrſcheinlicher daß er ſelber gefalle, als daß
es ihm gefalle — er wolle lieber ſeinen eignen Lau¬
nen als gekroͤnten ſchmeicheln und er wiſſe gewiß, im
erſten Monat ſag' er dem Miniſter von Schleunes
Satiren ins Geſicht und im zweiten dem Fuͤrſten —
und uͤberhaupt werd' er jetzt mitten im Sommer ei¬
nen vollſtaͤndigen Hof-Filou ſchlecht zu machen wiſ¬
ſen, im Winter eher u. ſ. w.«
Außer dieſen hundert Gruͤnden hatt' er noch
ſchwaͤchere, die er gar nicht erwaͤhnte, wie etwan
ſolche: er wollte gern um Klotilden ſeyn, weil er
ihr nothwendig, gleichſam um ſein Betragen zu
rechtfertigen — aber welches denn, mein Trauter,
[366] das vergangne oder kuͤnftige? — ſeine Wiſſenſchaft
um ihre Blutsverwandſchaft mit ſeinem Freund eroͤf¬
nen mußte. Zu dieſer Eroͤfnung fehlte, was in Pa¬
ris das Theuerſte iſt, der Platz; das Exordium auch.
Klotilde war nirgends allein zu treffen. Kenner ſa¬
gen, jedes Geheimniß, daß man einer Schoͤnen ſagt,
ſey ein Heftpflaſter, das mit ihr zuſammenleime und
das oft ein zweites Geheimniß gebaͤre: ſollte Viktor
etwan darum Klotilden ſeine Kenntniſſe von ihrer
Geſchwiſterſchaft ſo begierig zu zeigen getrachtet
haben? —
Er blieb einen Tag um den andern, da ohnehin
die Vermaͤhlungs-Butterwoche erſt voruͤber gehen
mußte. — Er hatte ſchon Vermaͤhlungsmuͤnzen in
der Taſche. Aber er ſah Klotilde immer nur in Se¬
kunden; und eine halbe Sekunde braucht man nach
Bonnet zu einer klaren Idee, nach Hooke gar
eine ganze: eh' er alſo eine ganze Vorſtellung von
dieſer ſtillen Goͤttin zuſammengebracht hatte, war ſie
ſchon fortgelaufen.
Endlich wurden ernſthaftere Anſtalten gemacht —
nicht zur Abreiſe ſondern zum Vorſatz derſelben ...
Die ſchoͤnſten Minuten in einer Viſite ſind die, die
ihr Ende wieder verſchieben; die allerſchoͤnſten, wenn
man ſchon den Stock oder den Faͤcher in der Hand
hat und doch nicht geht. Solche Minuten umgaben
unſern erotiſchen Fabius jetzt: ſanftere Augen ſagten
[367] ihm: »eile nicht,« waͤrmere Haͤnde zogen ihn zuruͤck
und die muͤtterliche Thraͤne fragte ihn »willſt du
»mir meinen Flamin ſchon morgen rauben?«
»Ganz und gar nicht!« antwortet' er und blieb
ſitzen. Steckte nicht ſeinetwegen die Kaplaͤnin ihr
Zungen-Richtſchwert in die Scheide, weil er nichts
ſo haßte als aktive und paſſive Verlaͤumdungen eines
Geſchlechts, das ungluͤcklicher als das maͤnnliche von
zwei Geſchlechtern zugleich gemißhandelt wird? —
Denn er nahm oft Maͤdgen bei der Hand und ſag¬
te: »Die weiblichen Fehler, beſonders Mediſance,
»Launen und Empfindelei, ſind Aſtloͤcher, die am
»gruͤnen Holz bis in die Flitterwochen als ſchoͤne
»marmorirte Kreiſe gefallen; die aber am duͤr¬
»ren, am ehelichen Hausrath wenn der Zapfen aus¬
»gedorret, als fatale Loͤcher aufklaffen.« — Agathe
ſchraubte jetzt ihr Naͤhkuͤſſen an ſeinen Schreibtiſch
und kuͤßte ihn, er mochte zu luſtig oder zu muͤrriſch
ausſehen. Selbſt der Kaplan ſuchte ihm wenn nicht
die letzten Tage, die er bei ihm vertraͤumte, ſuͤß
zu machen, doch die letzten Naͤchte, wozu nichts
noͤthig war als eine Trommel und ein Fuß. Die
feurigſten naͤchtlichen Hexentaͤnze und Angloiſen der
Maͤuſe unterſagte der Kaplan mit ſeinem Fuß, da¬
mit ſie den Gaſt nicht aufweckten: er that naͤmlich
damit ans untere Bettbret von Zeit zu Zeit einen
maͤßigen Kanonen-Stoß, der um ſo mehr ins Hoͤr¬
[368] rohr der Taͤnzer einknallte, da er ſchon die Ohren
der Menſchen erſchreckte. Gegen den Eulerſchen
Roͤſſelſprung der Ratten zog er bloß mit einem
Schlaͤgel zu Felde, womit er, wie ein juͤngſter Tag
in ihre Luſt- und Jagdpartien einbrechend, bloß ein
oder zweimal auf eine ans Betttuch geſtellte Trom¬
mel puſte.
Mathieu war unſichtbar und feierte, da Hoͤf¬
linge den Fuͤrſten alles nachaͤffen, die Hochzeittage
des ſeinigen wenigſtens in kleinen Hochzeitſtunden
nach. Das Pulver, das aus Kanonen und aus
Stuvers Papilloten fuhr, das Vivat, das aus Kan¬
zeln gebetet und aus Schenken geſchrien wurde, und
die Schulden, die man dabei machte, waren denk'
ich ſo anſehnlich, daß der groͤßte Fuͤrſt ſich nicht
ſchaͤmen durfte, damit ſeine Vermaͤhlung und —
Langeweile anzuzeigen. — Die Kaͤlte hat ewig ein
Sprachrohr und die Empfindung ein Hoͤrrohr.
Die Ankunft einer ungeliebten fuͤrſtlichen Leiche oder
dergleichen Braut hoͤrt man an den Polarzirkeln;
hingegen wenn wir Niedere unſre Graͤber oder unſre
Arme mit Geliebten fuͤllen: ſo fallen bloß einige un¬
gehoͤrte Thraͤnen, troſtloſe oder ſeelige.
Flamin lechzete nach dem Seſſionstiſch, deſſen
Kanikularferien zu Ende gingen, und begriff das Zoͤ¬
gern nicht. ... Endlich wurd' einmal im ganzen
Ernſte der Abſchiedstermin feſtgeſetzt, auf den 10.
Auguſt;[369] Auguſt; und ich bin gewiß, Viktor waͤre am 14ten
nicht mehr in St. Luͤne geweſen, wenn nicht der
Henker am 8ten einen Tyroler hingefuͤhrt haͤtte.
Es iſt der naͤmliche, der vorgeſtern in Scheerau
mit einer waͤchſernen Dienerſchaft, die er halb aus
boſſirten Reichsſtaͤnden halb aus Dito-Gelehrten zu¬
ſammengeſetzt hatte, ſeinen Einzug hielt und mit
den Wachshaͤnden dieſer Zwillingsbruͤder des Men¬
ſchen uns die Gelder aus dem Beutel nahm. Es
iſt dumm, daß mir der Spitz den heutigen Hunds¬
tag nicht vorgeſtern gebracht: ich haͤtte den Kerl,
der in St. Luͤne Viktor und den Kaplan boſſirte,
ſelber ausgefragt, wie Viktor heiſſe und Eymann
und St. Luͤne ſelbſt. Am Ende reif ich aus edler
und biographiſcher Neugierde dieſem Menſchen-Ar¬
chitekten, der uns mit ſchauerlichen Wiederſcheinen
unſers kleinen Weſens umringt, noch nach. —
Viktor mußte alſo wieder verharren: denn er
ließ ſich und den Kaplan in Wachs nachbacken, um
erſtlich dieſem, der alle Abguͤſſe, Puppen und Ma¬
rionetten kindiſch liebte, und zweitens um der Fa¬
milie, die gern in ſein erledigtes Zimmer den waͤch¬
ſernen Poſtiche-Viktor einquartiren wollte, einen
groͤßern Gefallen zu thun als ſich ſelbſt. Denn ihn
ſchauerte vor dieſen fleiſchfarbnen Schatten ſeines
Ichs. Schon in der Kindheit ſtreiften unter allen
Geſpenſtergeſchichten die von Leuten, die ſich ſelber
Heſperus. l. Th. A a[370] geſehen, mit der kaͤlteſten Hand uͤber ſein heiſſes
Herz. Oft beſah er abends vor dem Bettegehen
ſeinen bebenden Koͤrper ſo lange, daß er ihn von
ſich abtrennte und als eine fremde Geſtalt ſo allein
neben ſeinem Ich ſtehen und geſtikuliren ſah: dann
legte er ſich zitternd mit dieſer fremden Geſtalt in
die Gruft des Schlafes hinein und die verdunkelte
Seele fuͤhlte ſich wie eine Hamadryade von der
biegſamen Fleiſch-Rinde uͤberwachſen. Daher em¬
pfand er die Verſchiedenheit und den langen Zwi¬
ſchenraum zwiſchen ſeinem Ich und deſſen Kruſte
tief wenn er lange einen fremden Koͤrper, und noch
tiefer, wenn er ſeinen eignen anblickte.
Er ſaß dem Pouſſirſtuhl und den Pouſſirgriffeln ge¬
genuͤber, aber ſeine Augen heftete er wieder in ein
Buch, um die Koͤrpergeſtalt, in der er ſich ſelber
herumtrug, nicht entfernt und verdoppelt zu ſehen.
Die Urſache, warum er aber doch die weggeſtellte
Verdoppelung ſeines Geſichts im Spiegel aushielt,
kann nur die ſeyn, weil er entweder den Figuranten
im Spiegel bloß fuͤr ein Portrait ohne Kubikinhalt
oder fuͤr das einzige Original anſah, mit dem wir
andre Doubletten unſers Weſens zuſammenhalten. .
. .Ueber dieſe Punkte kann ich ſelber nie ohne ein
inneres Leben reden. . . .
Dem Wachsabdruck Viktors wurde nach ſeiner
Majorennitaͤt eine toga virilis, ein Suͤrtout, den
[371] das Original abgelegt, geſchenkt und umgethan, des¬
gleichen das Logis, woraus daſſelbe zog. Der Ka¬
plan wollte dieſe wolfeile Ausgabe von Horion ſo
ans Fenſter lagern, wenn die beſſere fort waͤre, daß
die ganze Schul-Jugend, die vom Kantor Sitten
und mores lernte, die Huͤte abriſſe, wenn ſie aus
dem Schulhauſe heimtobte. —
Endlich! — Denn Maz kam. Seine ausgekelter¬
ten Wangen und ſein ganzer Koͤrper, der unter den
Zitronendruͤckern der Nachtfeſtins geweſen war, be¬
wieſen, daß er nicht log, da er ſagte, der fuͤrſtliche
Braͤutigam ſehe noch achtmal elender aus und liege
darnieder am Podagra. Er ſetzte in ſeiner bittern
Manier, die Viktor ſo haßte, hinzu, die bleichen
Großen haben uͤberhaupt kein Blut, das wenige aus¬
genommen, was ſie den Unterthanen abſchroͤpfen oder
was ihnen an den Haͤnden klebt, wie die Inſekten
kein rothes Blut bei ſich fuͤhren als das andern
Thieren abgeſogne. Dieſes erinnerte Viktor an ſeine
mediziniſchen Pflichten gegen den Fuͤrſten. Entwe¬
der Mazens verwuͤſtete Geſtalt — denn unmoraliſches
Lukubriren macht Zuͤge und Farbe widerlicher als
das laͤngſte Krankenlager — oder die Erinnerung an
des Lords Warnungen oder beides machte ihn unſe¬
rem Hofmedikus eben ſo verhaßt als dieſer jenem
durch das Hofphyſikat geworden war: dieſes ver¬
hehlte Gift Matthaͤi offenbarte ſich nicht durch
Aa 2[372] kleinere, ſondern durch groͤßere aber ironiſchere
Hoͤflichkeit. Aber er und Flamin waren vertrauli¬
cher als je.
Vormittags unter dem Raſiren, ohne ſich noch
einmal zu uͤberwaſchen ſprang Viktor auf und packte
ſogleich den Stiefelknecht ein und riß die Hangrie¬
men der Kleider entzwei und vozirte Meßhelfer und
Adjutanten, die ſeinen Lebens-Ballaſt — ausſchifften
(wegen ſeiner elenden Packerei) und dann einſchifften.
Denn er uͤberließ ſeine Meublen und die ganze Ku¬
ratel des Geruͤmpels unſers kleinlichen Lebensappa¬
rats fremden Haͤnden, und zwar das mit einer ſol¬
chen Verachtung dieſes Geruͤmpels und mit einer
ſolchen ſorgloſen Verſchwendung, — ich werde meinen
Helden nie verlaͤumden: aber es iſt durch Spizium
erwieſen, daß er nie das Kurrentgeld eines verſilber¬
ten Geldſtuͤcks kollazionirte und nie einem Juden,
Roͤmer und Hernhuter etwas im Handel abbrach —
ſo ſehr ſag' ich, daß die ganze weibliche Hanſee in
St. Luͤne ſchrie: ei der Narr! und daß die Kaplaͤnin
ſich immer an ſeine Stelle auf den Handelsplatz ein¬
ſchob. Er war aber nicht zu beſſern, weil er die Le¬
bensreiſe und alſo den Reiſebuͤndel mit ſo philoſo¬
phiſchen Augen verkleinerte und weil er vor nichts
ſo erroͤthete als vor jedem Scheine des Eigennutzes;
er lief allen Anſtalten, Vorreitern und Probekomoͤ¬
dien davon, wenn ſie ſeinetwegen auftraten — er
[373] ſchaͤmte ſich jeder Freude, die nicht wenigſtens in
zwei Biſſen, in einen fuͤr einen Moitiſten zu theilen
war — er ſagte, die Stirne eines Hoſpodars muͤßte
die Haͤrte ſeiner Krone angenommen haben, weils
ſonſt ein ſolcher Menſch unmoͤglich ertruͤge, was oft
bloß ſeinetwegen gemacht wuͤrde von einem ganzen
Lande, die Muſik — die Ehrenbogen — die Karmi¬
na — das Freudengeſchrei in Proſa und die entſetz¬
lichen Kanonaden. — —
Er hatte jetzt in St. Luͤne nichts mehr abzuthun,
als eine bloße platte — Hoͤflichkeit: denn ſo viel
darf ich wohl ohne Eitelkeit behaupten, daß ein
Held, den ich zu meinem erkieſe, ſchon hoffentlich ſo
viel Lebensart habe, daß er hingeht zum Kammer¬
herrn Le Baut und ſagt: à revoir! — An ſolche
Staatsviſiten muß er ſich ohnehin jetzt gewoͤhnen.
Maz ſaß auch druͤben, dieſer mit ſtruppichten ab¬
gezauſeten haͤngenden Fluͤgeln hingeworfene Amor der
Kammerherrin — dieſe badinirte uͤber die eitleln
Blicke mit ihm, die den intermittirenden Puls ſeiner
Liebe bekannten — Le Baut ſpielte Schach mit
Mazen — Klotilden ſaß an ihrem Arbeitstiſchgen
voll ſeidner Blumen mitten unter dieſen edeln Dril¬
lingen. . . . Ihr armen Toͤchter! was fuͤr Leute
muͤſſet ihr nicht oft bewillkommen und aushoͤren! —
[374] Doch fuͤr Klotiide war dieſer Hausfreund nichts
als eine ausgepolſterte Mumie und ſie wußte nicht,
kam er oder ging er.
Sebaſtian wurde als Adoptivſohn des Gluͤcks,
als Erbe des vaͤterlichen Favoriten-Poſtens, heute
von der Kammerherrſchaft ungemein verbindlich em¬
pfangen: wahrhaftig wenn der Hofmann Ungluͤckliche
flieht, weil ihm das Mitleiden zu heftig zuſetzt, ſo
draͤngt er ſich gern um Gluͤckliche, weil er Mitfreude
genießen will. Der Kammerherr, der ſich noch vor
dem verbeugte, der in ſeinem Sturze vom Thron
mitten in der Luft hing, buͤckte ſich natuͤrlicherweiſe
vor dem noch tiefer nieder, der in der entgegenge¬
ſetzten Motion begriffen war.
Viktor ſtellte ſich zu den Weibern, aber mit ei¬
nem aufs Schachbret irrenden Auge, um, wenn er
verlegen waͤre, ſogleich einen Vorwand der veraͤnder¬
ten Aufmerkſamkeit oder des Wegtretens bei der
Hand zu haben. Es war geſcheut: denn jedes Wort,
das er und die Weiber ſprachen, war ein Schachzug;
er mußte gegen die Le Baut — was wußte die, daß
einer Mutter nichts ſchoͤner ſtehe als eine vollkom¬
mene Tochter — d. h. gegen die Stiefmutter ſeine
Kaͤlte und gegen die Stieftochter ſeine Waͤrme
verdecken. Der Leſer frage nicht, was konnte denn
die alte Stiefmutter fuͤr Waͤrme begehren? denn in
den hoͤhern Staͤnden werden die Preteuſionen durch
[375] Blutsverwandſchaft und Alter nicht geaͤndert; bloß
in niedern werden ſie es; daher befuͤrcht' ich alle¬
mal, das was ich der Tochter vortrage ennuire die
Mutter und ich fange mit Recht, wenn dieſe koͤmmt,
einen beſſern Diskurs an. — — Viktor vorbarg
ſeine Kaͤlte leicht aus jener Menſchenliebe, die bei
ihm ſo oft in zu gutherzige Schmeichelei unmorali¬
ſcher Hofnungen ausartete; und wenn eine haben
wollte, er ſollte ſich in ſie verlieben; ſo ſagte er:
»ich kann doch warlich zum guten Laͤmgen nicht ſa¬
»gen: ich mag nicht.« — Die Waͤrme gegen Klo¬
tilde verbarg er — ſchlecht, nicht weil ſie zu ſtark,
ſondern gerade weil ſie es noch nicht genug war.
Es iſt natuͤrlich: ein Juͤngling von Erziehung kann
wenn er will, ſeine erwiederte Liebe ohne Prokla¬
mation verhuͤllen und verſchweigen, aber eine uner¬
wiederte, eine, die er ſelber bloß erſt Achtung
nennt, laͤſſet er aus ſich ohne Huͤllen lodern. — Ue¬
brigens bitt' ich die Welt, ſich hinzuſetzen und zu
bedenken, daß mein Held nicht den Teufel im Leibe
oder ſechzehn Jahre habe, ſondern daß er unmoͤglich
eine Liebe fuͤr eine Perſon empfinden koͤnne, die uͤber
ihre Geſinnungen wie uͤber ihre Reize eine Moſis-
Decke haͤngt. Liebe beginnt und ſteigt durchaus nur
an der Gegenliebe und mit ihrem wechſelſeitigen Er¬
rathen. Achtung hat er bloß, aber recht viele, aber
eine recht wachſende und aͤngſtliche, kurz ſeine Ach¬
[376] tung iſt jener kalte huͤpfende Punkt im Dotter des
Herzens, dem die kleinſte fremde Waͤrme oft nach
Jahren — die Metapher iſt aus einem Ei geſchlagen
— wachſendes Leben und Amors Fluͤgel zutheilt.
Er unterſuchte jetzt am Arbeitstiſch Klotildens
Waͤrme mit dem Pyrometer; aber ich kann weiter
nicht auſſer mir vor Freude ſeyn, daß er die Waͤrme
an der ins Kleinſte abgetheilten Skala wenigſtens
um \frac{I}{III} Linie geſtiegen fand. Denn er ſchießet wohl
fehl: ich will lieber auf den Stirnmeſſer Lava¬
ters bauen als auf den Herz- und Waͤrmemeſ¬
ſer eines Liebe ſuchenden Menſchen, der ſeine Aus¬
legungen mit ſeinen Obſervationen vermengt und Zu¬
faͤlle mit Abſichten. Sein Feuermeſſer kann auch
Recht haben: denn gegen gute Menſchen iſt man im
Beiſeyn der ſchlimmen (man bedenke nur Mazen)
waͤrmer als ſonſt.
Man verdenk' es Herrn Le Baut und Frau Le
Baut nicht, daß ſie meinem Helden zum Gluͤcke gra¬
tulirten, an einen ſolchen Hof, zu einem ſolchen Fuͤr¬
ſten — es iſt der groͤßte in Deutſchland, ſagte er —
zu einer ſolchen Fuͤrſtin — ſie iſt die beſte in
Deutſchland, ſagte ſie — abzureiſen. Maz laͤchelte
zwiſchen Ja und Nein. Der Alte ſetzte das Schach
fort, die Alte das Lob. Viktor ſah mit Verach¬
tung, wie wenig zwei ſolchen Seelen, die die Thron¬
ſtufen fuͤr eine Weſenleiter und den Thron-Eisberg
[377] fuͤr einen Olymp und ein Empyraͤum hielten und die
nirgends als an dieſer Hoͤhe ihr Gluͤck zu machen
wußten, beſſere Begriffe vom Gluͤck und ſchlechtere
von der Hoͤhe beizubringen waͤren. Gleichwohl
mußt' er vor Klotilden, die auf ihrem Geſichte mehr
als ein Nein gegen die Lobrede hatte, offenbaren,
daß er eben ſo edel verneine wie ſie. Er knaͤtete
alſo Lob und Tadel nach einer horaziſchen Mi¬
ſchung untereinander, um weder ſatiriſche noch
ſchmeichleriſche Anſpielungen auf zwei kaſſirte Hof¬
leute zu machen: »mir gefaͤllts nicht, daß es da nur
»Vergnuͤgungen, und keine Arbeiten giebt — lauter
»Konfektkoͤrbgen und keinen einzigen Arbeitsbeutel,
»geſchweige einen Arbeitstiſch wie dieſen da.« —
»Glauben Sie, fragte Klotilde mit auffallender In¬
nigkeit, daß alle Feſtins einen einzigen Hofdienſt be¬
zahlen?« — »Nein, ſagt' er, denn fuͤr die Feſtins
»ſelber ſollte man bezahlet werden — ich behaupte,
»es giebt dort lauter Arbeit und kein Vergnuͤgen —
»alle ihre Luſtbarkeiten ſind nur die Illumination,
»die Zwiſchenmuſik und die Dekorationen, die dem
»Schauſpieler, der an ſeine Rolle denkt, weniger ge¬
»fallen als dem Zuſchauer.« — »Es iſt allemal gut,
da geweſen zu ſeyn« ſagte die Alte: »Gewiß (ſagte
»er): denn es iſt gut, nicht immer dazubleiben:« —
»Aber es giebt Perſonen (ſagte Klotilde,) die dort
»ihr Gluͤck nicht machen koͤnnen, bloß weil ſie nicht
[378] »gern dort ſind.« Das war ſehr fein und ſchonend;
aber bloß fuͤr Viktors Herz verſtaͤndlich: »einem
»ſchoͤnen Schwaͤrmer (ſagt' er und fragte wie alle¬
»mal nach dem ſcheinbaren Widerſpruch zwiſchen
Viktors Leben und zwiſchen Viktors Meinun¬
»gen nichts) einem feurigen Dichter wuͤrd' ich ra¬
»then, zu Hauſe zu bleiben — ihr Flug ſtatt der
»Pas, waͤre im Hofleben was ein Hexameter in
»der Proſe iſt, den die Kunſtrichter nicht leiden
»koͤnnen — und zur Seele mit dem weichſten ge¬
»fuͤhlvollſten Herzen wuͤrd' ich ſagen: entfliehe da¬
»mit, das Herz wird dort als Ueberbein genommen
»wie der ſechsfingerigten Familie in Anjou der
»ſechſte Finger.« . . . . Die Alte ſchuͤttelte den
Kopf ſchnell links »Und doch, fuhr er fort, wuͤrd'
»ich ſie alle drei auf einen Monat an den Hof zie¬
»hen und ſie ungluͤcklich machen, um ſie weiſe zu
»machen.« Die Kammerherrſchaft konnte ſich in
Viktor nicht ſo gut wie mein Leſer ſchicken, der
zu meinem groͤßten Vergnuͤgen Laune und das Ta¬
lent, alle Seiten einer Sache zu beſchauen, ſo ge¬
ſchickt von Schmeichelei und Skeptizismus unter¬
ſcheidet. Klotilde hatte langſam den Kopf zum letz¬
ten Satze geſchuͤttelt. Ueberhaupt disputirten heute
alle fuͤr und wider ihn in jenem theilnehmenden
Tone, den Weiber und Verwandte allemal gegen ei¬
nen Fremden annehmen, wenn ſie eine Stunde vor¬
[379] her den naͤmlichen Prozeß aber zu praktiſcher Anwen¬
dung, mit den ihrigen gefuͤhret hatten.
Viktor, der ſchon lange beſorgte, verlegen zu
werden, ging endlich dahin, wohin er bisher ſo oft
geſchauet hatte — zum Schach, das man mit der
groͤßten Begierde, zu — verlieren ſpielte. Der
Kammerherr, — wir wiſſen alle, wie er war, er ſchrieb
nichts als Rekommandationsſchreiben fuͤr die ganze
Welt und der Abendmahlskelch waͤre mehr fuͤr ſei¬
nen Geſchmack geweſen, haͤtt' er daraus auf eines
wichtigen Mannes Geſundheit toaſten koͤnnen —
Dieſer befoͤrderte ſo gut er konnte, mit den duͤrren
Schachſtatuͤen bloß das fremde Wohl auf Koſten des
eignen: gern verlor er, falls nur Maz gewann. Noch
dazu glich er jenen verſchaͤmten Seelen, die ihre
Wohlthaten gern verborgen geben und er konnt' es
nicht uͤber ſich erhalten, es ſeinem Schach-Opponen¬
ten zu ſagen, daß er ihm den Sieg zuſchanze; er
hatte faſt groͤßere Muͤhe, ſich zu verbergen wie ein
Hofmann als ſich ſelber zu beſiegen wie ein
Chriſt. Eine ſolche Liebe haͤtte, wie es ſcheint,
waͤrmer vergolten werden ſollen als durch offenbare
Boßheit; aber Maz hatte das Naͤmliche vor und
wich dem Siege, den jener ihm nachtrug, wie ein
wahrer Spitzbube aus. Le Baut erſann ſich vergeb¬
lich die beſten Zuͤge, womit man ſich ſelber matt
macht — Maz ſetzte noch beſſere entgegen und drohte
[380] jede Minute, auch zu ermatten. Uns alle dauert
der auf dem Schachterrain herumgeſetzte Kammer¬
herr, der wie eine Kokette beſorgt, nicht beſiegt zu
werden. Es war fuͤr ein weiches Auge, das doch
dem Schwachen lieber als dem Filou vergiebt, nicht
mehr auszuhalten: Viktor trat unter tauſend Ent¬
ſchuldigungen gegen den Schwachen und mit Boßheit
gegen den Boßhaften in die Heckjagd ein und noͤ¬
thigte den Hofjunker, ſeinen Rath und ſeine Chari¬
tativſubſidien anzunehmen und zu diktirten Kriegs¬
operationen von ſolchem Werth zu greifen, daß der
Mann mit dem Amt der kammerherrlichen Schluͤſſel
endlich trotz ſeinen Befuͤrchtungen und trotz den
ſchlimmſten Adſpekten — verlor. Alle Anweſende
erriethen alle Anweſende, wie Fuͤrſten einander in
ihren oͤffentlichen — Komoͤdienzetteln.
Er hatte endlich die Abſchiedsaudienz, aber ge¬
ringen Troſt: die Geſtalt, unter der alle ſeine
Schoͤnheitsideale nur als Schildhalter und Karnati¬
den ſtanden, war noch kaͤlter als bei dem Empfan¬
ge und immer bloß das Echo der elterlichen Hoͤflich¬
keit. Das einzige, was ihn noch aufrecht erhielt
und beruhigte, war eine — Diſtel, naͤmlich eine op¬
tiſche auf den muſiviſchen Fußboden geſaͤete. Er
nahm naͤmlich wahr, daß Klotilde dieſem Blumen¬
ſtuͤck, das ſie doch kennen mußte, unter dem Abſchiede
mit dem Fuße auswich als waͤr' es das Original.
[381] Abends macht' er ſeine Syllogismen, wie ſie auf
Univerſitaͤten gelehret werden — dieſer Vexirdiſtel
impfte er alle Roſen ſeines Schickſals ein — »zer¬
»ſtreut war ſie doch und weswegen? frag' ich, «
ſagt' er ins Kopfkiſſen hinein — Denn errathen ha¬
»ben ſie mich druͤben ohnehin noch nicht-behauptete
er, indem er ſich aufs zweite Kopfkiſſen legte — »o
»du holdes Auge, das auf die Diſtel ſank, geh' in
»meinem Schlafe wieder auf und ſey der Mond mei¬
»ner Traͤume« ſagte er, da er ſchon halb in beiden
war. — Er glaubte bloß aus Beſcheidenheit, er
werde nicht errathen, weil er ſich nicht fuͤr merk¬
wuͤrdig genug anſah, um bemerkt zu werden. —
Der 20. Auguſt 179 * * war der große Tag, wo
er abmarſchirte nach Flachſenfingen: Flamin war
ſchon um vier Uhr Abends fortgetrabt, um keinen
Abſchied zu nehmen, welches er haßte. Aber mein
Viktor nahm gern Abſchied und zitterte gern im
letzten Verſtummen der Trennung: »o ihr armen
»egoiſtiſchen Menſchen! (ſagt' er) dieſes Polarleben
»iſt ohnehin ſo kahl und kalt, wir ſtehen ohnehin
«Wochen und Jahre neben einander ohne mit dem
»Herzen etwas beſſeres zu bewegen als unſer Blut
»— bloß ein Paar gluͤhende Augenblicke ziſchen und
»erloͤſchen auf dem Eisfeld des Lebens — warum
»meidet ihr doch alles, was euch aus der Alltaͤg¬
»lichkeit zieht und was euch erinnert, wie man
[382] »liebt — — Nein! und wenn ich zu Grunde ginge
»und wenn ich mich nachher nicht mehr troͤſten
»koͤnnte: ſo druͤckte ich mich mit dem unbedeckten
»Herzen und mit dem Bluten aller Wunden und
»zerrinnend und erliegend an den geliebten Men¬
»ſchen, der mich verlaſſen muͤßte und ſagte doch: es
»thut mir woh!« — Kalte egoiſtiſche und bequeme
Perſonen vermeiden das Abſchiednehmen ſo wie un¬
poetiſche von zu heftigen Empfindungen; weibliche
hingegen, die ſich alle Schmerzen durch Sprechen,
und poetiſche, die ſich alle durch Phantaſiren mil¬
dern, ſuchen es.
Um ſechs Uhr Abends — denn es war nur ein
Sprung nach Flachſenfingen — als das Vieh wie¬
derkam, ging er fort: eskortirt von der ganzen Fa¬
milie. An ſeinen gluͤcklichern Arm — meiner muß
ſich bloß zum Beſten der Wiſſenſchaften bewegen —
war die Brittin und an den linken Agathe angeoͤhrt;
an die Schweſter hatte ſich der arme Hauspudel ge¬
ſchnallet (Appollonia,) welcher gleichwohl dachte, er
beruͤhre und genieße trotz dem ſchweſterlichen Ein¬
ſchiebſel und Zwiſchengeiſt den Doktor. So fahren
die Funken der Liebe, wie die elektriſche und magne¬
tiſche Materie, durch das Medium von zwanzig da¬
zwiſchen geſtellten Leibern hindurch. Ein Philoſoph,
der ſich hinſetzt und erwaͤgt, daß unſre Finger im
Grunde der geliebten Seele nicht um einen Daumen
[383] naͤher kommen, es mag zwiſchen ihnen und ihr bloß
die Gehirnkugel oder gar die Erdkugel liegen, wird
allezeit ſagen: »ganz natuͤrlich!« Daraus erklaͤrts
dieſer ſitzende Philoſoph, warum die Maͤdgen die
maͤnnlichen Verwandten ihres Geliebten halb mit
lieben — warum der Rohrſtuhl Shakſpears, die Klei¬
derkommode Friedrichs II. die Stutzperuͤcke Rouſ¬
ſeaus unſer ſehnendes Herz befriedigen. — —
Aber niemand wollte, den Weiſel dieſes Vor¬
ſchwarms ausgenommen, wieder zuruͤck. »Nur noch
»bis an die ſechs Baͤume« ſagte Agathe. Als man
an dieſe Graͤnzpfaͤhle und Lochbaͤume der heutigen
Freude kam: waren deren ſieben und man behauptete
allgemein, ſie waͤren nicht gemeint und es ginge wei¬
ter. Der Begleitete wird gewoͤhnlich immer aͤngſtli¬
cher und der Begleiter immer froher, je laͤnger es
waͤhrt. »Doch bis zu jenem Ackersmann!« ſagte
die ſcharf ſehende Brittin. Aber endlich merkte un¬
ſer Held, daß dieſe Herkules-Saͤule ihrer Reiſe ſel¬
ber gehe und daß der Ackersmann nur ein Wanders¬
mann ſey. »Das Beſte iſt — ſagt' er, und kehrte
»ſich um — ich kehre mich um und reiſe erſt Mor¬
»gen.« Der Kaplan ſagte: »bis ans alte Schloß
»(d. h. es war noch Eine Mauer davon da) geh'
»ich ohnehin gewoͤhnlich Abends!« — Allein uͤber
dieſe Graͤnzfeſtung des ſchoͤnſten Abends ruͤckte die
plaudernde Marſchſaͤule betruͤgeriſch hinaus und die
[384] Augen wurden uͤber die Ohren vergeſſen. Da ſonach
bei dieſen Graͤnzſtreitigkeiten ein Hauptartikel nach
dem andern durch Separatartikel gebrochen wurde:
ſo war wahrhaftig weiter nichts zu machen — als
folgender Verſuch: »Hieher wollt' ich Sie nur ha¬
»ben (ſagte Viktor) — jetzt muͤſſen Sie mit mir
»weiter gehen und heute beim Apotheker uͤbernach¬
»ten« »In der That, ſagte die Kaplaͤnin kalt,
»bis zu Sonnenuntergang wird doch mitgegangen:
»wir ſollen doch nicht dieſer ſchoͤnen Sonne den
»Ruͤcken wenden. «Allerdings hatte der Abend lau¬
»ter Freudenfeuer angezuͤndet auf der Sonne — auf
den Wolken — auf der Erde — auf dem Waſſer.
Auf dem Huͤgel ſah man ſchon die Thurmſpitzen
der Stadt: die Sonne, das erwaͤhlte Drehkreuz der
Begleitung, goß aus ihrer Vertiefung uͤber die
Schatten-Beete der Thaͤler ihre goldfuͤhrende Pur¬
purfluͤſſe. Oben als ſie verging, nahm Viktor die
zwei Eheleute in den Arm und ſagte: gute, gute
Nacht — und dann nahm er die Schweſtern in den
Arm und ſagte: »o ihr Guten, lebt wohl« und dann
ſah er alle mit ihren verborgnen Seufzern und Tro¬
pfen ruͤckwaͤrts gehen — und dann rief er »war¬
»lich ich komme bald wieder, es iſt ja nur ein
»Sprung daher« — und dann ſchrie er nach
»ich bin des Teufels, wenn wir getrennt ſind«
und dann zog ihnen ſein ſchweres Auge durch alle
Zwei¬[385] Zweige und Tiefen nach und erſt als die liebende
Union ins letzte Thal wie in ein Grab geſunken war:
huͤllte er ſich die Augen zu und dachte an die un¬
aufhoͤrlichen Trennungen des Menſchen. . . .
Endlich oͤftete er ſein Auge gegen die ausge¬
breitete uͤberwoͤlkte Stadt und dachte: »zwiſchen
»dieſer erhobnen Arbeit, in die ſich die Men¬
»ſchen mit ihrem kleinen Leben niſten ſperren ſich
»auch deine kleinen Tage ein — dieſes iſt die ver¬
»huͤllte Geburtsſtaͤte deiner kuͤnftigen Thraͤnen, dei¬
»ner kuͤnftigen Entzuͤckungen — ach mit welchem
»Auge werd' ich nach Jahren wieder uͤber dieſe Ne¬
»bel-Gehaͤuſe ſchauen — und .. ein Narr bin ich:
»ſind denn 2300 Haͤuſer nur meinetwegen?«
Poſtſript: dieſen ſechzehnten Poſttag hat der
Berghauptman ordentlich am Ende des Ju¬
nius abgeschloſſen.
Heſperus. l. Th. B b[386]
Vierter Schalttag.
und
Vorrede zum zweiten Heftlein.
Ich will Schalttag und Vorrede zuſammen ſchweiſ¬
ſen. Es muß daher — wenns nicht Spielerei mit
der Vorrede ſein ſoll — hier doch einigermaßen der
zweite Theil beruͤhrt werden. Es verdient von
Kunſtrichtern bemerkt zu werden, daß ein Autor,
der anfangs acht weiße Papierſeiten zu ſeinem Ge¬
biete vor ſich hat — ſo wie nach Strabo das Terri¬
torium Roms acht Stunden groß war — nach und
nach ſo weit fortruͤckt und das durchſtreifte Papier
mit ſo viel griechiſchen Koloniſten — denn das ſind
unſere deutſchen Lettern — bevoͤlkert, bis er oft ein
ganzes Alphabet durchzogen und angebauet hat. Das
ſetzt ihn in Stand, den zweiten Theil anzufangen.
Mein zweiter iſt, wie ich gewiß weiß, viel beſſer als
der erſte, wiewohl er doch zehnmal ſchlechter iſt als
der dritte. Ich werde hinlaͤnglich belohnt ſeyn,
wenn mein Werk der Anlaß iſt, daß eine Rezenſion
mehr in der Welt gemacht wird; und ich wuͤßte
[387] nichts, — wenns nicht eben dieſer Gedanke waͤre,
daß Buͤcher geſchrieben werden muͤſſen, damit die
gelehrten Anzeigen derſelben fortdauern koͤnnen —
was einen Autor zur unſaͤglichen Muͤhe antreiben
koͤnnte, den ganzen Tag am Dintenfaß zu ſtehen und
ganze Pfunde Konzepthadern in Berlinerblau zu
faͤrben. . . Und dieſer kuͤhle ernſte hocus pocus von
Vorrede — ein Ausdruck, den Tillotſon fuͤr eine
Abbreviatur von der katholiſchen Formel: hoc est
corpus ableitet — ſey fuͤr gute Rezenſenten auf
Univerſitaͤten genug.
Ich wende mich wieder zu dem, was ich eigent¬
lich damit haben wollte. Ich bin naͤmlich geſonnen,
die Extrablaͤttgen und Nebenſchoͤslinge, womit die
Schalttage vollzumachen ſind, in alphabetiſcher Ord¬
nung — weil Unordnung mein Tod iſt — nicht nur
anzukuͤndigen ſondern auch hier ſchon anzufangen und
fortzuſetzen bis zum Buchſtaben I.
Schalt- und Extra-Nebenſchoͤslinge al¬
phabetiſch geordnet.
A.
Alter der Weiber. Lombardus (L. 4. sent.
dist. 4.) und der h. Auguſtin (I. 22. de civit. c.
15.) erweiſen, daß wir alle in dem Alter von den
Todten auferſtehen, worin Chriſtus auferſtand, naͤm¬
lich im 32ten Jahre und dritten Monat. Mithin
B b 2[388] wird, da im ganzen Himmel kein Vierziger zu haben
iſt, ein Kind ſo alt ſeyn wie Neſtor naͤmlich
32 Jahre und drei Monate. Wer das weis: ſchaͤtzet
die ſchoͤne Beſcheidenheit der Weiber hoch, die ſich
nach dem 30ten Jahre wie Reliquien fuͤr aͤlter aus¬
geben als ſie ſind: es waͤre genug, wenn ſich eine
Vierzigerin, Achtundvierzigerin ſo alt machte wie
guter Rheinwein oder hoͤchſtens wie Methuſalem;
aber ſie glaubt beſcheidener zu ſeyn, wenn ſie ſich,
ſo ſehr ihr Geſicht auch widerſpricht, ſchon das hohe
Alter zuſchreibt, das ſie erſt, wenn ihr Geſicht einige
tauſend Jahre in der Erde gelegen iſt, haben kann,
naͤmlich — 32 Jahre und drei Monate. Ein Dum¬
mer ſieht ein, daß ſie nur das Auferſtehungs- und
kein Erdenalter meine, weil ſie von dieſem Immobi¬
liar Jahr nicht wegruͤckt, welches in der Ewigkeit,
wo kein Menſch eine Stunde aͤlter werden kann, et¬
was Alltaͤgliches iſt. Dieſe Einheit der Zeit brin¬
gen ſie in das Intriguenſtuͤck ihres Lebens dar¬
um ſchon im 30ten Jahr hinein, weil nach dieſem in
Paris keine Frau mehr oͤffentlich tanzen und (nach
Helvetius) kein Genie mehr meiſterhaft ſchreiben
kann. Auf das letzte rechnet man vielleicht in Je¬
ruſalem, wo jeder erſt nach dem 30ten Jahr ein
Lehramt bekam.
B.
Baſedowiſche Schulen. Baſedow ſchlaͤgt in
[389] ſeiner Philalethie vor, 30 unerzogene Kinder in ei¬
nen Garten einzuzaͤunen, ſie ihrer eignen Entwicke¬
lung zu uͤberlaſſen und ihnen nur ſtumme Diener,
die nicht einmal Menſchen-Kleidung haͤtten, zuzuge¬
ben und es dann zu Protokoll zu bringen, was dabei
herauskaͤme. Die Philoſophen ſehen vor lauter
Moͤglichkeit die Wirklichkeit nicht: ſonſt haͤtte Baſe¬
dow bemerken muͤſſen, daß unſere Landſchulen und
Dorfpaͤdagogen ſolche Gaͤrten ſind, in denen die Phi¬
loſophie den Verſuch machen will, was aus Men¬
ſchen, wenn ſie durchaus alle Bildung entbehren, am
Ende werde. Ich geſteh' aber, daß alle dieſe Ver¬
ſuche noch ſo lange unſicher und unvollkommen blei¬
ben als die Schulmeiſter ſich nicht enthalten koͤnnen,
dieſen Seminariſten irgend einen Unterricht — und
waͤr' er der kleinſte — zu ertheilen; und beſſer wuͤrde
gefahren mit ganz ſtummen Schulleuten wie es taub¬
ſtumme Eleven giebt.
C. ſiehe K.
D.
Dichter. Der Dichter wird, ob er gleich Lei¬
denſchaften mahlt, doch dieſe am beſten in dem Al¬
ter treffen, wo ſie kleiner ſind, ſo wie Brennſpiegel
gerade in den Sommern, wo die Sonne am wenig¬
ſten brannte, am ſtaͤrkſten wirkten und in den heiſſen
am wenigſten. Die Blumen der Poeſie gleichen an¬
[390] dern Blumen, die (nach Ingenhouß) im gedaͤmpften
benebelten Sonnenlicht am beſten wachſen.
E.
Empfindſamkeit. Sie giebt oft dem innern
Menſchen wie der Schlagfluß dem aͤußern, zugleich
groͤßere Empfindlichkeit und Laͤhmung.
F. ſiehe Ph.
G.
Goͤttin. Wie die Roͤmer ihre Monarchen lie¬
ber fuͤr Goͤtter als fuͤr Herren erkannten, ſo wollen
die Maͤnner die Direktrice ihres Herzens lieber ihre
Goͤttin als ihre Herrin nennen, weil es leichter
iſt, anzubeten als zu gehorchen.
H.
H. Ich ſah oft Leute, die zu leben hatten und
zu leben wußten — welches nicht zweierlei iſt —
erſtlich um die beſten und vornehmſten Weiber gau¬
keln und aus dem Honigkelch ihres Herzens ſaugen,
und zweitens ſah ich ſie an demſelben Tage die Fluͤ¬
gel zuſammenſchlagen und auf eine jaͤmmerliche Tro¬
pfin niederſchießen, damit die Tropfin ihre Erben —
erbe. Nie aber hab' ich dieſe Schmetterlinge mit
etwas anderem verglichen als mit Schmetterlingen,
die den ganzen Tag Blumen beſuchen und benaſchen
und doch ihre Eier auf einen ſchmutzigen Kohlſtrunk
laichen.
H.
Holbeins-Bein. Ich will lieber das H noch
einmal nehmen als das J, weil unter der Rubrik
des J's die Invaliden kaͤmen, von denen ich be¬
haupten wollen: daß ihnen, da Leute, denen man
Glieder abgenommen, vollbluͤtig werden, deſto weni¬
ger Brod gereichet werden duͤrfe, je mehr ihnen
Glieder weggeſchoſſen oder weggeſchnitten worden
und daß man dieſes die Phyſiologie und Diaͤtik der
Kriegskaſſe nenne. — Aber mich haben die halben
armen Teufel zu ſehr gedauert.
Die Beine Holbeins machen groͤßern Spas als
amputirte. Der Mahler ſtrich naͤmlich in Baſel
nichts an als Baſel ſelber; und der naͤmliche Um¬
ſtand, der ſein Genie in dieſe architektoniſche Faͤrberei
hineinzwang, noͤthigte es auch, daß es oft darin Raſt¬
ſtunden hielt — er ſoff naͤmlich entſetzlich. Ein
Bauherr, deſſen Namen in der Geſchichte fehlt, trat
oft in die Hausthuͤre und zankte zum Geruͤſte hin¬
auf, wenn die Beine des Hausfaͤrbers, anſtatt da¬
von herunterzuhaͤngen — denn mehr war vom Mah¬
ler nicht zu ſehen — in der naͤchſten Weinkneipe
ſtanden und wankten. Schritt nachher Holbein da¬
mit uͤber die Gaſſe daher: ſo kam ihm Hader entge¬
gen und ſtieg mit ihm aufs Geruͤſte hinauf. Dieſes
brachte den Mahler, der ſeine Studien (im Trin¬
ken) liebte, auf und er nahm ſich vor, den Entre¬
[392] prenneur zu aͤndern. Da er naͤmlich das ganze Un¬
gluͤck ſeinen Beinen verdankte, deren Fruchtgehaͤnge
der Bauherr unter dem Geruͤſte ſehen wollte: ſo
entſchloß er ſich, eine zweite Auflage von ſeinen
Beinen zu machen und ſie an das Haus haͤngend zu
mahlen, damit der Baudirektor, wenn er unter der
Hausthuͤre hinauf ſchauete, auf den Gedanken kaͤme,
die zwei Beine und ihre Stiefeln mahlten droben
fleißig fort. — Und auf dieſen Gedanken kam der
Bauherr auch; aber da er endlich ſah, daß das
Vexirfußwerk den ganzen Tag an Einer Stelle hinge
und ſich nicht fortſchoͤbe: ſo wollt' er nachſehen, was
denn der Meiſter ſo lange an Einer Partie beſſere
und retuſchire — und verfuͤgte ſich ſelber hinauf.
Droben im Vakuum erſah er leicht, daß der Mahler
da aufhoͤre, wo Knieſtuͤcke anfangen, beim Knie, und
daß der mangelnde Rumpf wieder ſaufe in einem
Alibi.
Ich verdenk' es dem Bauherrn nicht, daß er auf
dem Geruͤſte keine Moral aus dem Fußwerk zog: er
war zu erboſt.
Ich wollte noch eine Geſchichte von den Fuͤrſten-
Portraits anſtoßen, die hinter den Praͤſidenten in
den Seſſionszimmern ſtatt der Originale votiren —
aber ich ſtoͤre den Zuſammenhang; auch iſt hier das.
Ende des erſten Heftleins.
Im obern Elſas, wo alle drei Jahre blos der beſte Juͤng¬
ling Kranz und Schaumuͤnze und die Verwaltung der Au
empfaͤngt.
ich habe daher Urſache zu haben geglaubt, bei meinen Obern
um einen Sporn anzuhalten, der mich antriebe, daß ich in
einer ſo wichtigen Wiſſenſchaft etwas thaͤte — und ſo ein
Sporn iſt eine Berghauptmannsſtelle allemal.
Außer den zwei Kaiſern Gilluk und Athnach und den vier
Koͤnigen Spolta, Sakeph Katon ꝛc. bin ich weiter mit kei¬
nen umgegangen; und das nur als Primaner, weil wir
Juriſten mit Teufels Gewalt hebraͤiſch lernen muſten; wor¬
in eben die gedachten ſechs Potentaten als Accente der
Woͤrter vorkommen. Vielleicht meint aber der Briefſtel¬
ler die großen, ſcharfen, gekroͤnten Accente der Voͤlker.
Petrarka mied (wie deutſche Rezenſenten) die Nachtigallen
und ſuchte die Froͤſche.
7 glauben.
Vielleicht eine [Anſpielung] auf das fuͤr die Phantaſie lieb¬
liche Maͤhrgen, daß in Neapel ein Kruzifix, da da in
Alpyons 1439 belagert wurde, den Kopf vor einer Kanone
Dieſe Klee macht, zufaͤllig gefunden, daß man nicht mehr
zu taͤuſchen iſt. Bisher fanden ihn nur — Fuͤrſten und
Philoſophen.
Gerade der Beſitz ungleichartiger Kraͤfte in glei¬
chem Grade macht inkonſequent und widerſprechend;
Menſchen mit Einer dominirenden Kraft handeln gleicher
nur nach ihr. In Republiken iſt mehr Mißhelligkeit als in
Deſpotien; am Aequator iſt ein gleicherer Barometerſtand
als in gemaͤſſigten Zonen.
Die Buͤſte des Vatikaniſchen Appollo, an der er keine an¬
dre Geſtalt bilden lernen wollte als ſeine eigne.
Ein Sonnenſyſtem iſt nur ein punktirtes Profil des Welt¬
genius, aber ein Menſchenauge iſt ſein Miniaturbild. Die
Mechanik der Weltkörper koͤnnen die mathematiſchen
Rechnungsreviſoren berechnen; aber die Dioptrik des
unter lauter trüben Feuchtigkeiten helle gewordnen Auges
überſteigt unſre algebraiſchen Rechnungskammern‚ die daher
von den nachgeäften Augen, (von den Gläſern,) den Diffu¬
ſionsraum und das enge Feld nicht wegzurechnen ver¬
mögen.
Hieronym. cont. Jov. L. 2.
Vayle's dictionnair art. Frençois d'Assise not, C.
Sowohl der Hund als ich wiſſen davon was das fuͤr eine
Inſel iſt, weiter nichts.
Den Schmetterlingen entfallen in Ihrer letzten Verwand¬
lung rothe Tropfen, die man ſonſt Blutregen hieß.
Wenn man lange ins Himmelsblaue ſchauet: ſo faͤngt
es an zu wallen und dieſe Luftwogen haͤlt man in der Kind¬
heit fuͤr ſpielende Engel.
Dieſer Monolog iſt ein Stuͤck aus einer fruͤhern ſchwarzen
Stunde, die jedes Herz von Empfindung einmal ergreift.
So heiſſet der Fiſch, in deſſen Maule Petrus die Steuer
Chriſti gefunden
illum baculum quo se sustentabat in symbolum traditionis zu.
du Fresne Closs, Aus duͤ Fresne Gloſſario iſt meines Wiſ¬
ſens noch kein guter und brauchbarer Auszug fuͤr Frauen¬
zimmer gemacht worden.
So wie es Hörſchweſtern (les Touriéres oder Soeurs
ècoutes) giebt, die mit den Nonnen ins Sprachzimmer
gehen, um auf ihr Reden Acht zu geben.
Der Flachſenfingiſche Hofſtaat küßte zwar die Hand eher;
aber man wird ſchon ſehen, warum ichs umkehre.
Bekanntlich eine Damenuhr, wie ein Herz geſtaltet, auf
dem Ruͤcken mit Sonnenweiſer und Magnetnadel verſehen.
Letztere zeigt den Damen, die die Kaͤlte haſſen, im Grunde
auch Suͤden und der Sonnenweiſer taugt zum Mond¬
weiſer.
Rom verbarg den Namen ſeines Gottes, aber es hatte
Unrecht; ich verberge meiner Goͤttin ihren, aber ich habe
Recht.
Eine vierte Urſache waͤre, daß ihm jetzt jede Liebe gegen ei¬
ne andre als gegen Klotilde ein Verdienſt um ſeinen
Freund zu ſeyn ſchien.
Die unſichtbare Loge eine Biographie in 2 Theilen. 8.
Berlin in Karl Maßdorffs Buchhandlung.
Daher ſie auch, ſo lange Viktor im Pfarrhauſe war, der
Geſellſchaft Flamins auswich.
Aufklaͤrung in einem leeren Herzen iſt bloß Gedaͤcht¬
nißwerk, ſie ſtrenge uͤbrigens den Scharfſinn noch ſo ſehr
an; die meiſten Menſchen unſerer Tage gleichen den neuen
Haͤuſern in Potsdam, in die (nach Reichard) Friedrich ll.
zu Nachts Lichter ſetzen ließ, damit jeder und ſelber Rei¬
chard denken ſollte, ſie ſeyn — bewohnt.
Die meiſten Menſchen haben eine gleiche Zahl guter Ge¬
danken und Thaten; aber es iſt noch nicht beſtimmt
wie lange der Tugendhafte die guten Gedanken, die weniger
als gute Handlungen der aͤuſſern Welt beduͤrfen, durch
gleichguͤltige unterbrechen darf.
Denn der edelſte Menſch haͤngt eben am meiſten von lie¬
benden Seelen ab, oder doch von ſeinen Idealen derſelben,
mit denen er aber nur in ſo fern ausreicht als er ſie fuͤr
Pfaͤnder kuͤnftiger Originale anſieht. Ich nehme den Stoi¬
ker (dieſen epikureiſchen Gott) und den Myſtiker nicht aus,
beide lieben in dem Schoͤpfer nur den Inbegrif ſeiner Ge¬
ſchoͤpfe; wir jenen in dieſen.
Der Leſer dieſes Briefes wird leicht vorausſetzen, daß Klo¬
tilde, da ſie nicht weiß, in weſſen Haͤnde er fallen werde
— iſt er doch gar in unſern — uͤber ihre Verhaͤltniſſe und
Geheimniſſe (z[.] B. wegen Flamin, Viktor ꝛc.) in einer
Dunkelheit hinuͤbereilen muͤſſe, die fuͤr ihren rechtmaͤßigen
Leſer hell genug war.
Der Leſer erinnere ſich, daß ſie ſo viel von dieſer Biogra¬
phie innen habe wie er, wenn nicht mehr.
Sie meint die Giulia, von deren Leichnam ſie der Schmerz
weggetrieben hatte.
„Fliehe mich nicht weil mich immer ein großer Schatten
umgiebt, der ſich vergrößert bis er mich einbauet.“
Wie die Flecken im Monde Blumen- und Pflanzenfelder
ſind.
Ein bekannter guter Schriftſteller uͤber die Augen.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn89.0