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Das Buch der Zeit.
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Druck von J. Schabelitz in Zürich.

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Das
Buch der Zeit.

Lieder eines Modernen.

Zürich: 1886.Verlags-Magazin
(J. Schabelitz).
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Vivos voco!

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Johannes Scherr
der Verfaſſer.

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Wiſſen Sie, gnädige Frau, was ſchrecklich iſt? Daß die Möpſe ausgeſtorben
ſind? Nein. Daß kein Menſch je wieder ein Buch wie Immermanns „Oberhof“
wird ſchreiben können? Nein. Daß es keine Originale mehr giebt, — daß man bei
Regenwetter naß werden kann? Nein. Das Alles iſt philoſophiſch zu ertragen und
viel tauſend Dutzend Dinge dazu, — nein, ſchrecklich iſt es, daß man eigentlich in
Deutſchland nur ein glücklicher Menſch ſein kann, wenn man ein Philiſter iſt.

Hermann Heiberg.
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Widmungs-Brief.

Proſit! Alter vom Zürichberg,

Nimm's mir nicht krumm und verzeihe,

Wenn ich, ein winziger lyriſcher Zwerg,

Dir dieſes Liederbuch weihe!
'S iſt nur ein ſpätnachhinkender Dank

Eines gealterten Jungen,

Der als Pennäler einſt unter der Bank

Deine Dämonen verſchlungen!
Unterm Diarium ganz heimlich der „Scherr“!

Ach, und auf dem Katheder

Gerbte ein alter, vertrockneter Herr

Altlateiniſches Leder!
[VIII]
Ehrlichen, eiſernen Haß der Dreſſur,

Flammen, die nimmer erkalten —

Damals war's, daß ich's heilig mir ſchwur,

Gelt, und ich hab es gehalten!
Ergo, Alter vom Zürichberg,

Schreib mir „All right!“ und verzeihe,

Daß ich, ein winziger lyriſcher Zwerg,

Dir dieſes Liederbuch weihe!

Berlin, Frühjahr 1885.


A. H.

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Inhaltsverzeichniß.

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Druckfehler.


  • Lies
  • S. 11, Z. 14: Und lenkt das Schickſal der Geſchlechter,
  • 〃 29, 〃 14: Grün übers Dach ihr junges Laubpanier
  • 〃 43, 〃 2: Und ſchritten flüſternd durch die Buchengänge!
  • 〃 57, 〃 5: Kein Lied, das die rothe Rache preiſt,
  • 〃 61, 〃 18: Ein farblos Nichts, das bunt lackirt,
  • 〃 73, 〃 10 u. ſ. w.: Honnisoit, qui mal y pense!
  • 〃 88, 〃 3: Ji hewt doch geſehn dem Klabautermann?
  • 〃 104, 〃 5: Vom Thurm nur läuteten die Glocken
  • 〃 111, 〃 10: Eine Handvoll Erde
  • 〃 120, 〃 5: Die junge Sonne
  • 〃 120, 〃 8: Dem wogenden Fluthmeer
  • 〃 120, 〃 12: Flackernden Lichtern
  • 〃 133, 〃 21: O ſtillverſchwiegne Kemenate,
  • 〃 146, 〃 4: Heil dir und mir, Germania!
  • 〃158, 〃 3: Ein Prachtjuwel blieb unſre Erde doch
  • 〃 263, 〃 21: Die die kalte Berechnung
  • 〃 335, 〃 4: Der ewig frißt und nie verdaut!
  • 〃 412, 〃 13: Das iſt die Zuflucht der Verklärten,
[XII]

Inhaltsverzeichniß.



  • Seite
  • Widmungsbrief VII
  • Zum Eingang 5
  • Ein Bild 19
  • Ein Andres 23
  • Frühling 1. 2.  27
  • Samſtagsidyll 39
  • Literariſche Liebenswürdigkeiten.
    • 1. Ballade  49
    • 2. Stoßſeufzer!  52
    • 3. Anathema sit!  54
    • 4. Einem Glaceedemokraten  56
    • 5. Pro Domo 58
    • 6. F. v. B  60
    • 7. So iſt's!  63
    • 8. Die deutſchen Denker an die deutſchen Dichter  66
  • Den Franzoſenfreſſern 73
  • Noch Eins! 79
  • Seite
  • Arme Lieder.
    • 1. Meine Nachbarſchaft  85
    • 2. „Een Boot is noch buten!“  88
    • 3. „So Einer war auch Er!“  90
    • 4. „Ein Herz, das zerſprungen!“  92
    • 5. Nachtſtück  94
    • 6. „Weder Glück noch Stern!“  96
  • Emanuel Geibel 1. 2.  101
  • Ein Heroldsruf! 123
  • Weltgeſchichte 149
  • Von Ewigkeit zu Ewigkeit 155
  • Ecce homo!  163
  • Tagebuchblätter 1–31  183
  • ΓΝΩΘΙ ΣΑϒΤΟΝ! 261
  • Berliner Schnitzel.
    Initiale  307
    • Programm  308
    • Leider!  308
    • Philologenpoeſie  309
    • Stubenpoeſie  309
    • Chorus der Lyriker  310
    • Donner und Doria!  311
    • An unſre Modedichter  312
    • Traurig aber wahr  312
    • Suum cuique!  313
    • Recept  313
    • Stoßgebet!  314
    • Offener Brief  315
    • An Neunundneunzig von Hundert!  316
    • Als Wegzehrung  317
    • Bibelbiereifrig!  318
    • Seite
    • An meine Freunde  319
    • An die Conventionellen  320
    • En passant 321
    • An die Autoritätsklauber  322
    • An gewiſſe Quidams  323
    • Die achte Todſünde  324
    • Pro Domo 325
    • Dito  326
    • Selbſtporträt  327
    • Verſchiedenen Collegen  328
    • Dreierlei!  329
    • !  330
    • Einem Kritiker  331
    • Collega Collegae 331
    • Kritikſucht  332
    • An meine Kritiker  332
    • Einem „Freunde“  333
    • Einem Pſeudonym  333
    • Unſer Wortſchatz  334
    • Einem Fortſchrittsleugner  335
    • Sanſara  336
    • Abfertigung  336
    • Trotzalledem!  337
    • Stimmt!  337
    • Einem „Tondichter“  338
    • Richard Wagner als „Dichter“  339
    • An Gottfried Keller  340
    • An die Wölfflinge  341
    • An Albert Träger  342
    • An Max Kretzer  342
    • An Joſeph Victor von Scheffel  343
    • Felix Dahn  344
    • Einem Gartenlaubendichter  345
    • An Rudolf Baumbach  346
    • An Adolf Friedrich Graf von Schack  347
    • An Friedrich Rückert  348
    • Unſere Zeit  349
    • Ein „garſtig“ Lied!  350
    • Einſtweilen!  351
    • An den's gerichtet iſt!  352
    • Amerika  353
    • In memoriam!  354
    • Lehrfreiheit!  355
    • An gewiſſe „Naturforſcher“  356
    • Freilich!  356
    • Schauderhaft!  357
    • Einem Pietiſten  357
    • Schließlich!  358
    • Einem Orthodoxen  359
    • Variatio delectat 359
    • Schwarz in Schwarz  360
    • Al Fresco 361
    • „Καϑ’ ὅλην τὴν γὴν!“  362
    • W[ie's g]emacht wird!  363
    • Hm[!] 364
    • Geiſterduo  364
    • Ruſſiſch  365
    • Pfui Deibel!  365
    • „Pyramidal!“  366
    • Für kleine Kinder  367
    • Ein dunkles Blatt  368
    • Frühlingszauber  369
    • Lied  370
    • Ausgepfiffen!  371
    • Strophen  372
    • Nicht wahr?  373
    • Seite
    • Kuſch dich!  373
    • Weltzeitungs-Inſerat  374
    • „Ἔσσεται ἧμαϱ!“  374
    • Reimſpiel  375
    • An die Opportuniſten  375
    • Der Dichter  376
    • Videant consules ...!  377
    • Das Volk an die Fürſten  378
    • An die „Obern Zehntauſend“  379
    • Chanſon  380
    • Noch ein Stoßſeufzer!  381
    • „Sanft ruhe ſeine Aſche!“  382
    • Tres faciunt Collegium 383
    • Fragezeichen  384
    • Auf alle Fälle  385
    • Frommer Wunſch  386
    • Zum Deſſert  387
    • Die Kritik als Epilog  387
  • Phantaſus 1–13  391
  • Zum Ausgang 423
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Fürwahr, ſie irrten, die geſagt, die deutſche Poeſie ſei todt;
Nein, wenn ein Abend wirklich naht, ſo dämmert bald das Morgenroth.
Schon ſeh ich fern am Horizont des neuen Tages goldnen Schein,
O laßt in ſeiner Frühe mich der erſten Lerchen eine ſein!

Emanuel Geibel.
1
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Zum Eingang.

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Die Zeit iſt die Madonna der Poeten,
Die Mater dolorosa, die gebären
Den Heiland ſoll; drum halt die Zeit in Ehren,
Du kannſt nichts Höheres denn ſie vertreten.

Georg Herwegh.
[5]
Zum Eingang.
Noch ſproßt der Bart mir nicht ums Kinn,

Auch weiß ich, hört mich, ihr Teutonen,

Daß unter allen Epigonen

Juſt ich der allerletzte bin!
Doch laßt's mich trotzdem euch geſtehn:

Ihr jammert mich, ihr armen Dichter,

Ihr Groſchen- und ihr Dreierlichter,

Von denen zwölf aufs Dutzend gehn.
Ihr ſtöhnt verzweifelt: Der Bien muß!

Und ampelt krampfhaft an der Leiter,

Doch ach, ihr kommt und kommt nicht weiter,

Wie weiland Fauſti Famulus!
[6]
Seht, das iſt eure Quinteſſenz,

Ihr fliederſüßen Lenzrhapſoden:

Ihr macht mit Hymnen und mit Oden

Den Nachtigallen Concurrenz!
Ihr glaubt verblendet, Poeſie

Sei Lenznacht nur und Blüthenſchimmer,

Ihr glaubt's verblendet und ſingt immer

Ein und dieſelbe Melodie!
Ihr dichtet jeden dritten Tag

Ein hohes Lied auf eure Liebe,

Reimt ſelbſtverſtändlich darauf „Triebe“

Und gebt's dann ſchleunigſt in Verlag.
Zwar, ſeid ihr noch kein „großes Thier“,

Müßt ihr auf alle Fälle „zahlen“,

Doch dann wird's auch mit Initialen

Gedruckt auf fein Velinpapier.
Und wird's dann gratis noch verſandt

An ſo und ſo viel Kritikaſter,

Dann lobt man euern ſchlechten Knaſter

Und ſchimpft den Kieſelſtein Demant.
[7]
Und wenn ihr fleißig ſchmiert und ſalbt,

Sorgt auch die Clique für Verbreitung,

— Denn wozu hat man ſonſt die Zeitung? —

Herr X hat wieder mal gekalbt!
Ein Liederbuch iſt's dieſes Mal

In rothem Maroquin gebunden

Und überdies ſehr warm empfunden

Und wunderbar original!
Und kauft man ſich dann das Idol,

Dann ſind's die alten tauben Nüſſe,

Die längſt genoſſenen Genüſſe,

Der aufgewärmte Sauerkohl:
Von Wein und Wandern, Stern und Mond,

Vom „Rauſchebächlein“, vom „Blauveilchen“,

Von „Küßmichmal“ und „Warteinweilchen“,

Von „Liebe, die auf Wolken thront“!
Und will der Dichter hoch hinaus,

Dann ſtreicht er die Rubrik: „Erotiſch!“

Und hängt die Tafel: „Patriotiſch!“

Als Firmenzeichen vor ſein Haus.
[8]
Doch Blech bleibt Blech, und ob es auch

Der Jude oft als Gold verſchachert ...

Der Ruhm, den ihr zuſammenprachert,

Iſt eitel Moder, Dunſt und Rauch!
Denn kräht auch dreiſt zu eurem Wiſch

Die heutige Kritik ihr Amen,

Und legt man ihn auch jungen Damen

Alljährlich auf den Weihnachtstiſch:
Und labt ſich auch aus euerm Quell

Der Leutnant und der Ladenſchwengel,

Und nippt aus ihm auch jeder Engel,

Die Gräfin und die Nähmamſell:
Laßt über euch und euer Wort

Ein einzig Menſchenalter rollen,

Und was ihr ſingt iſt längſt verſchollen,

Und was ihr pflanzt iſt längſt verdorrt!
Das aber macht, ihr habt noch nie

Das Sphinxbild eurer Zeit entſchleiert,

Drum gähnt in allem, was ihr leiert,

Derſelbe horror vacui.
[9]
Ich aber mag nicht, laß wie ihr,

Das Pfund, das Gott mir gab, verwalten,

Ich will hoch über mir entfalten

Der Neuzeit junges Lenzpanier.
Ich lache, wollt ihr blöden Blicks

Verjährten Tand modern ſtaffiren

Und himmelbläulich phantaſiren

Vom Waldgnom und vom Waſſernix.
Ich lache, zählt ihr eins, zwei, drei

Die Kugeln, die ihr nie verſchoſſen,

Die Thränen, die ihr nie vergoſſen,

Ein jeder Zoll ein Papagei.
Ich lache, doch mein Zorn hält Wacht,

Denn der St. Veitstanz wird zur Mode;

Ich weiß, ihr tanzt nur aus Methode,

Weil ein Narr viele Narren macht.
Doch tollt nur euern tollen Schwank,

Nur zu, je toller, deſto beſſer:

Ich biet euch Kampf, Kampf bis aufs Meſſer,

Und gehe meinen eignen Gang!
[10]
Den Gang, den lichtumſtrahlt die Kunſt

Sieghaft zu wandeln mir geboten;

Und Herz an Herz mit ihren Todten,

Veracht ich euch und eure Gunſt!
Denn mir ſchlägt nicht das Wort den Takt

Zum Reigen ſelbſtiſcher Gedanken,

Ein Löwe, hat es ſeine Pranken

Tief in mein Herzfleiſch eingehackt.
Nur, daß es mich nicht jäh zerfleiſcht,

Such ich's mit Liedern zu beſchwören,

Doch nicht beim Rauſchen alter Föhren,

Die Nachts ein ſchwarzer Aar umkreiſcht.
Auch nicht ins Grab der Lorelei

Verirrt ſich mehr mein ſchwankes Steuer;

Die Zeit verliebter Abenteuer,

Für mich iſt ſie ſchon längſt vorbei.
Nein, mitten nur im Volksgewühl,

Beim Ausblick auf die großen Städte,

Beim Klang der Telegraphendrähte

Ergießt ins Wort ſich mein Gefühl.
[11]
Dann glaubt mein Ohr, es hört den Tritt

Von vorwärts rückenden Kolonnen,

Und eine Schlacht ſeh ich gewonnen,

Wie ſie kein Feldherr noch erſtritt.
Doch gilt ſie keiner Dynaſtie,

Auch kämpft ſie nicht mit Schwert und Keule —

Galvanis Draht und Voltas Säule

Lenkt funkenſprühend das Genie.
Und um ſich ſammelt es ein Heer

Von himmelſtürmenden Ideen,

Gedanken blitzen und verwehen

Unzählig, wie der Sand am Meer.
Doch mehr als einer wird zur That

Und lenkt die Zukunft der Geſchlechter,

Und als des Ideals Verfechter

Streut er der Zukunft goldne Saat.
Und auf flammt dann ein neues Licht,

Ein neuer Welttag für die Erde,

Denn auch die Menſchheit hat ihr „Werde!“

Und ſinnlos iſt kein Traumgeſicht.
[12]
Der ewge Friede baut ſein Zelt

Und ob die Zeit ſie auch verdamme,

Der Freiheit goldne Oriflamme

Weht leuchtend über alle Welt.
Und wenn dann Lied auf Lied ſich ringt

In immer höhere Regionen

Und alle Völker, alle Zonen

Ein einzig großer Bund umſchlingt:
Dann iſt's mir oft, als ob die Zeit,

Verläſtert viel und viel bewundert,

Als ob das kommende Jahrhundert

Zu ſeinem Täufer mich geweiht.
Als müßt ich ſtoßen in die Bruſt,

Ein Winkelried, mir eure Speere:

Hie Wahrheit, Freiheit und hie Ehre! —

O Kampf der Liebe, Kampf der Luſt!! —
Drum dir, die ſchmerzvoll mich gebar,

Dir, junge Zeit aus Blut und Eiſen,

Leg ich mein Herz und ſeine Weiſen

Nun ſtumm auf deinen Hochaltar!
[13]
Schauſt du doch auch in's Morgenroth

Und träumſt von unentdeckten Welten;

Wirſt du die Liebe mir vergelten,

Die tief für dich mein Herz durchloht?
Doch ob auch Dampf und Kohlendunſt

Die Züge dieſer Schrift verwaſchen;

Kein flüchtig Glück will ich erhaſchen,

Ich liebe dich, nicht deine Gunſt!
Mir ſchwillt die Bruſt, mir ſchlägt das Herz

Und mir ins Auge ſchießt der Tropfen,

Hör ich dein Hämmern und dein Klopfen

Auf Stahl und Eiſen, Stein und Erz.
Denn ſüß klingt mir die Melodie

Aus dieſen zukunftsſchwangern Tönen;

Die Hämmer ſenken ſich und dröhnen:

Schau her, auch dies iſt Poeſie!
Sie kehrt nicht nur auf ihrem Gang

In Wälder ein und Wirthshausſtuben,

Sie ſteigt auch in die Kohlengruben

Und ſetzt ſich auf die Hobelbank.
[14]
Auch harft ſie nicht als Abendwind

Nur in zerbröckelten Ruinen,

Sie treibt auch ſingend die Maſchinen

Und pocht und hämmert, näht und ſpinnt.
Sie ſchaukelt ſich als ſchwanker Kahn

Im blauen ſchilfumkränzten Weiher,

Sie ſchlingt den Dampf ums Haupt als Schleier

Und ſauſt dahin als Eiſenbahn.
Von nie geahnter Kraft geſchwellt,

Verwarf ſie ihre alten Krücken,

Sie mauert Tunnel, zimmert Brücken

Und pfeift als Dampfſchiff um die Welt.
Ja, Wunder thut ſie ſonder Zahl,

Sie lindert jegliches Verhängniß,

Sie ſetzt den Fuß ſelbſt ins Gefängniß

Und ſpeiſt die Armuth im Spital.
Wohl war's der Himmel, der ſie ſchuf,

Doch heimiſch ward ſie längſt auf Erden;

Drauf immer heimiſcher zu werden,

Iſt ihr ureigenſter Beruf!
[15]
So klingt das Lied, das hohe Lied,

Das dumpfauf mir die Hämmer dröhnen;

Euch aber, euch, die es verhöhnen,

Euch fordr' ich kühn in Reih und Glied!
Rückt an; mit offenem Viſir

Und harter Fauſt will ich euch weiſen:

Ich und mein Lied, wir ſind von Eiſen —

Ihr oder ich, ich oder ihr!
Denn nicht ſoll einſt in ſpäter Zeit

Mit ſelbſtgefälligem Behagen

Ein ſpäter Enkel von uns ſagen,

Was roth wie Blut zum Himmel ſchreit:
„Poeten ohne Poeſie,

Und keiner rief das Wörtchen: „Rette!“

Sie blökten allſammt um die Wette,

Wie eine Heerde Hammelvieh!“
Nein, nein und nein und aber nein!

Ein Schuft ſein will ich, wenn's ſo endet!

Das Blatt hat endlich ſich gewendet!

Dies Buch ſoll deß ein Zeichen ſein!
[16]
Soll ſagen, was ihr nie gewollt:

Der Singſang hat ſich ausgetutet —

Auch durch das junge Lied noch fluthet

Das alte Nibelungengold!
Drum ihr, ihr Männer, die ihr's ſeid,

Zertrümmert euere Trugidole

Und gebt ſie weiter, die Parole:

Glückauf, glückauf, du junge Zeit!“
[]

Ein Bild.

2[]

Zwei Racen giebt's; die eine wird mit Sporen, ...

[19]
Ein Bild.
Aus Sandſtein iſt das gelbliche Portal,

Die rothen Säulen aus Granit gehauen,

Und ſeitwärts in ein weißes Piedeſtal

Vergräbt ein Löwe ſeine Marmorklauen.

Doch ſchwarz verhängt ſind alle Fenſter heut

Und Lichter brennen nur im Erdgeſchoſſe,

Der Straßendamm iſt hoch mit Stroh beſtreut

Und lautlos drüberhin rollt die Karoſſe.
Das Treppenhaus vertheidigt der Portier

Und ſchüttelt grimmig ſeine graue Mähne,

Und naht gar Einer aus der Haute volee,

Dann fletſcht er cerberusgleich ſeine Zähne.

Im Prunkſaal trauern hinter Flor und Tafft

Die bunten Inderſtoffe aus Lahore,

Auch ſchleicht die goldbetreßte Dienerſchaft

Nur auf Spitzzehen durch die Corridore.
[20]
Der hochgeborne Hausherr, Excellenz,

Schwankt wie ein Rohr umher auf bleicher Düne,

Die erſte Redekraft des Parlaments

Fehlt heute abermals auf der Tribüne.

Zwar trat man geſtern erſt in den Etat,

Doch hat ſein Fehlen diesmal gute Gründe:

Schon viermal war der greiſe Hausarzt da

Und meinte, daß es ſehr bedenklich ſtünde.
Nach Eis und Himbeer wird gar oft geſchellt,

Doch mäuschenſtill iſt es im Krankenzimmer,

Und ſeine düſtre Teppichpracht erhellt

Nur einer Ampel röthliches Geflimmer.

Weit offen ſteht die Thür zum Veſtibul

Und wie im Traum nur plätſchert die Fontäne,

Die Luft umher iſt wie gewitterſchwül,

Denn ach, die „gnä'ge Fraa“ hat heut — Migräne!
[]

Ein Andres.

[]... Mit Sätteln wird die andere geboren!
(Karl Köſting.)
[23]
Ein Andres.
Fünf wurmzernagte Stiegen geht's hinauf

Ins letzte Stockwerk einer Miethskaſerne;

Hier hält der Nordwind ſich am liebſten auf

Und durch das Dachwerk ſchaun des Himmels Sterne.

Was ſie erſpähn, o, es iſt grad genug,

Um mit dem Elend brüderlich zu weinen:

Ein Stückchen Schwarzbrod und ein Waſſerkrug,

Ein Werktiſch und ein Schemel mit drei Beinen.
Das Fenſter iſt vernagelt durch ein Brett

Und doch durchpfeift der Wind es hin und wieder

Und dort auf jenem ſtrohgeſtopften Bett

Liegt fieberkrank ein junges Weib darnieder.

Drei kleine Kinder ſtehn um ſie herum,

Die ſtieren Blicks an ihren Zügen hangen,

Vor vielem Weinen ward ihr Mündlein ſtumm

Und keine Thräne mehr netzt ihre Wangen.
[24]
Ein Stümpfchen Talglicht giebt nur trüben Schein,

Doch horch, es klopft, was mag das nur bedeuten?

Es klopft und durch die Thür tritt nun herein

Ein junger Herr, geführt von Nachbarsleuten.

Der Armenhilfsarzt iſt's aus dem Revier,

Den ſie geholt aus Mitleid mit der Kranken,

Indeß ihr Mann bei Branntwein oder Bier

Sich ſelbſt betäubt und ſeine Wuthgedanken.
Der junge Doctor aber nimmt das Licht

Und tritt mit ihm ans Bett des armen Weibes,

Doch gelb wie Wachs und ſpitz iſt ihr Geſicht

Und kalt und ſtarr die Glieder ihres Leibes.

Da ſchluchzt ſein Herz, indeß das Licht verkohlt,

Von nie gekannter Wehmuth überſchlichen:

Weint, Kinder, weint! ich bin zu ſpät geholt,

Denn eure Mutter iſt bereits — verblichen!
[]

Frühling.

[]

Empfangt mich, heilige Schatten, ihr Wohnungen ſüßer Entzückung,
Ihr hohen Gewölbe voll Laub und Dunkel ſchlafender Lüſte,
Die ihr oft einſamen Dichtern der Zukunft Vorhang zerriſſen,
Oft ihnen des heitern Olymps azurne Thore geöffnet.
— — — — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
Geſtreckt im Schatten will ich in goldne Saiten die Freude,
Die in euch wohnet, beſingen! — Reizt und begeiſtert die Sinnen!
Daß meine Töne die Gegend wie Zephyrs Lispeln erfüllen,
Der jetzt durchs Veilchenthal fleucht, und wie die rieſelnden Bäche!

Ewald Chr. v. Kleiſt.
[27]

Frühling.


1.

Wohl haben ſie dich alle ſchon beſungen

Und ſingen dich noch immer an, o Lenz,

Doch da dein Zauber nun auch mich bezwungen,

Meld ich mich auch zur großen Concurrenz.

Doch fürcht ich faſt, ich bin dir zu proſaiſch,

Aus meinen Verſen ſprüht kein Fünkchen Geiſt;

Und denk ich gar an deinen Dichter Kleiſt,

Klingt meine Sprache mir faſt wie Havaïſch.
Kein Veilchenduft verſetzt mich in Extaſe

Denn ach, ich bin ein Epigone nur;

Nie trank ich Wein aus einem Waſſerglaſe

Und nüchtern bin ich bis zur Unnatur.

Der Tonfall meiner lyriſchen Collegen

Iſt mir ein unverſtandner Dialect,

Denn meinen Reim hat die Kultur beleckt

Und meine Muſe wallt auf andern Wegen.
[28]
Ins Waldverſteck verirrt ſie ſich nur ſelten,

Die blaue Blume iſt ihr längſt verblüht;

Doch zieht die Ahnung neugeborner Welten

Ihr ſüßer als ein Märchen durchs Gemüth.

Zur Armuth tritt ſie hin und zählt die Groſchen,

Ihr rothes Banner pflanzt ſie in den Streit,

An ihr Herz ſchlägt das große Herz der Zeit

Und aller Weltſchmerz ſcheint ihr abgedroſchen.
Doch heute ſingt ſie, was ihr längſt verboten,

Mir ſcheint, dein Lächeln hat ſie mir behext,

Und unter deine altbekannten Noten

Schreibt ſie begeiſtert einen neuen Text.

Die Flur ergrünt und bläulich blüht der Flieder,

Ich aber leire meine Lenzmuſik

Und lachend ſchon vernehm ich die Kritik:

Das denkt und ſingt ja wie ein Seifenſieder!
[29]

2.

Schon blökt ins Feld die erſte Hammelheerde,

Der Hof hielt ſeine letzte Soiree,

Und grasgrün überdeckt die alte Erde

Coquett ihr weißes Winternegligee.

Der Wald rauſcht wieder ſeine Lenzgeſchichten

Und mir im Schädel raſſelt kreuz und quer

Ein ganzer Rattenkönig von Gedichten,

Ein Reim- und Rythmenungethüm umher.
Wie Gold in meine ärmliche Manſarde

Durchs offne Fenſter fällt der Sonnenſchein

Und graubefrackt lärmt eine Spatzengarde:

Ich ſchnitt es gern in alle Rinden ein!

Die Luft weht lau und eine Linde ſpreitet

Grün über ihr junges Laubpanier

Und vor mir auf dem Tiſch liegt ausgebreitet

Fein ſäuberlich ein Bogen Schreibpapier.
[30]
O lang iſt's her, daß mir's im Hirne blitzte!

Im Winterſchnee erfror die Phantaſie;

Erſt heute war's, daß ich den Bleiſtift ſpitzte,

Erſt heut in dieſer Frühlingsſcenerie.

Weh, mein Talent verſickert ſchon im Sande,

Des eitlen Nichtsthuns bin ich endlich ſatt;

Drum da ich ihn noch nie ſah auf dem Lande,

Beſing ich nun den Frühling in der Stadt.
Denn nicht am Waldrand bin ich aufgewachſen

Und kein Naturkind gab mir das Geleit,

Ich ſeh die Welt ſich drehn um ihre Achſen

Als Kind der Großſtadt und der neuen Zeit.

Tagaus, tagein umrollt vom Qualm der Eſſen,

War's oft mein Herz, das lautauf ſchlug und ſchrie,

Und dennoch, dennoch hab ich nie vergeſſen

Das goldne Wort: Auch dies iſt Poeſie!
O wie ſo anders, als die Herren ſingen,

Stellt ſich der Lenz hier in der Großſtadt ein,

Er weiß ſich auch noch anders zu verdingen,

Als nur als Vogelſang und Vollmondſchein.

Er heult als Südwind um die morſchen Dächer

Und wimmert wie ein kranker Komödiant,

Bis licht die Sonne ihren goldnen Fächer

Durch Wolken lächelnd auseinanderſpannt.
[31]
Und Frühling! Frühling! ſchallt's aus allen Kehlen,

Der Bettler hört's und weint des Nachts am Quai;

Ein ſüßer Schauer rinnt durch alle Seelen

Und durch die Straßen der geſchmolzne Schnee.

Die Damen tragen wieder lange Schleppen,

Zum Schneider eilt nun, wer ſich's „leiſten“ kann,

Die Kinder ſpielen lärmend auf den Treppen

Und auf den Höfen — ſingt der Leiermann.
Schon legt der Bäcker ſich auf Oſterkringel

Und ſeine Fenſter putzt der Photograph,

Der blaue Milchmann mit der gelben Klingel

Stört uns tagtäglich nun den Morgenſchlaf.

Mit Kupfern illuſtrirt die Frauenzeitung

Die neuſten Frühjahrsmoden aus Paris,

Ihr Feuilleton bringt zur Geſchmacksverbreitung

Den neuſten Schundroman von Dumas fils.
Es tritt der Strohhut und der Sonnenknicker

Nun wieder in ſein angeſtammtes Recht

Und coquettirend mit dem Naſenzwicker

Durchſtreift den Park der Promenadenhecht.

Das iſt ſo recht die Schmachtzeit für Blondinen

Und ach, ſo mancher wird das Herzlein ſchwer,

Ein Duft von Veilchen und von Apfelſinen

Schwingt wie ein Traum ſich übers Häuſermeer.
[32]
Am Arm das Körbchen mit den weißen Glöckchen,

Das blonde Haar zerweht vom Frühlingswind,

Lehnt bleich und zitternd im verſchoſſnen Röckchen

Am Prunkpalaſt das Proletarierkind.

Geſchminkte Dämchen und gezierte Stutzer,

Doch niemand, der ihm ſchenkt ein freundlich Wort;

Und naht ſich Abends der Laternenputzer,

Dann ſchleicht es weinend ſich ins Dunkel fort.
Verfolgt vom blutgen Schwarm der Manichäer,

Umirrt nun Bruder Studio wie gehetzt,

Bis er ſich endlich rettet zum Hebräer

Und ſeinen Winterpaletot verſetzt.

Der Hypochonder ſinnt auf Frühjahrskuren

Und wettert auf die Stickluft der Salons,

Der Italiano formt ſich Gypsfiguren

Und zieht vors Thor mit ſeinen Luftballons.
Nun geht die Welt kopfüber und kopfunter,

Auf Sommerwohnung zieht ſchon der Rentier,

Die Anſchlagsſäulen werden immer bunter

Und nächtlich wimmert oft das Portemonnaie.

Der Schornſteinfeger klettert auf die Leiter

Und grinst uns an als Vogelperſpecteur,

Vor Klingeln kommt die Pferdebahn nicht weiter

Und Alles brüllt: He, ſchneller, Conducteur!
[33]
Das Militär wirft ſich in Drillichhoſen

Und übt ſich ſchwitzend im Paradeſchritt,

Als ging's kopfüber gegen die Franzoſen,

Und krampfhaft ſchleppt es die Torniſter mit.

Und blitzt der Exercirplatz dann exotiſch

Wie ein gemaltes Farbenmoſaik,

Dann wird die Schuſterjugend patriotiſch

Und lautauf ſpielt die Regimentsmuſik.
Schon dampft der Kaffee hie und da im Garten,

Der Schooßhund bellt, es kreiſcht der Papagei,

Papa ſtudirt die kolorirten Karten

Von Zoppot, Häringsdorf und Norderney.

In den geſchloſſenen Theatern trauern

Die weichen Polſterſitze des Parquetts

Und rothe Zettel predgen an den Mauern

Die goldne Aera der Retourbilletts.
An eine Spritztour denkt manch armer Schlucker,

Doch dreht ſie leider ſich ums Wörtchen „wenn“;

Am gelben Gurt den ſchwarzen Operngucker,

Stelzt durchs Muſeum nun der Engliſhman.

Die Provinzialen aber ſchneiden Fratzen,

Dank ihrer anerzognen Prüderie,

Und unbemerkt nur ſchleichen ſie wie Katzen

Um unſre liebe Frau von Medici.
3[34]
Doch drauß vorm Stadtthor rauſcht es in den Bäumen,

Dort tummelt ſich die faſhionable Welt,

Und junge Dichter wandeln dort und träumen

Von ewgem Ruhm, Unſterblichkeit — und Geld.

Rings um die wiederweißen Marmormäler

Spielt laut ein Kinderſchwarm nun Blindekuh

Und heimlich gibt der Backfiſch dem Pennäler

Am Goldfiſchteich das erſte Rendezvous.
Und macht die Nacht dann ihre ſtille Runde

Und blitzt es licht durchs dunkle Firmament,

Dann iſt's dieſelbe Lenznacht, die zur Stunde

Sich lagert um den Buſen von Sorrent!

Dann iſt's derſelbe Mond, der rings das Pflaſter

Sacht überdeckt mit ſeinem goldnen Vließ,

Den vor Jahrtauſenden ſchon Zoroaſter

Als ewgen Herold aller Lenze pries!
O Frühling! Frühling, dem die Welt entlodert,

Du führſt im Schild ein Röslein ohne Dorn;

Daß uns das Herz nicht ganz vermorſcht und modert,

Stößt du noch immer in dein Wunderhorn.

Noch immer läßt du deine Nachtigallen

Ins Frühroth ſchlagen, wie zur Zeit Homers,

Und hebſt empor die Engel, die gefallen,

Die kranken Söhne Fauſts und Ahasvers.
[35]
Ob du vor Zeiten einſt als junge Sonne

Glorreich emporſtiegſt über Salamis,

Indeß Diogenes in ſeiner Tonne

Sich philoſophiſch in die Nägel biß;

Und ob dir heute noch im fernſten Norden

Ein Opfer bringt der fromme Eskimo,

Wie weiland an des Südmeers blauen Borden

Der alte Mythenkönig Pharao:
Du biſt und bleibſt der einzig wahre Heiland,

Dein ſchöner Wahlſpruch jauchzt: „Empor! Empor!“

Was ſoll uns noch ein waldumrauſchtes Eiland?

Du wandelſt um den Stadtwall auch durchs Thor!

Du biſt nicht ſcheu wie deine Waldgeſpenſter,

Du ſetzſt auch in die Großſtadt deinen Fuß

Und wehſt tagtäglich durch das offne Fenſter

Mir in das Stübchen deinen Morgengruß.
Und jetzt, wo ſchon der Abend ſeine Lichter

Rothgolden über alle Dächer ſtrahlt,

Krönſt du mich lächelnd nun zu deinem Dichter

Und haſt mir rythmiſch das Papier bemalt.

Ich aber gebe dieſes Blatt den Winden,

Die Fangball ſpielen um den Kirchthurmknauf,

Und wenn's noch heut die Straßenkehrer finden,

Was kümmert's mich? Flieg auf, mein Lied, flieg auf!
[36]
Doch fällſt du einem ſchönen Kind zu Füßen,

Das dich erröthend in den Buſen ſteckt,

Dann ſprich zu ihm: „Der Frühling läßt dich grüßen!“

Bis ſie mit Küſſen das Papier bedeckt.

Doch haſcht ein Graukopf dich auf deinen Bahnen,

So ein vergilbter Langohr-Recenſent,

Dann ſprich zu ihm: „Reſpect vor meinen Ahnen!

Mein Urtext ſteht im Sanskrit und im Zend!“
[]

Samſtagsidyll.

[]

„Laßt uns auch ſo ein Schauſpiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menſchenleben!
Ein jeder lebt's, nicht vielen iſt's bekannt.“

Goethe.
[39]
Samſtagsidyll.
Es war ein Tag wie's ihrer viele giebt,

Wenn falb der Sommer in den Herbſt zerſtiebt;

Verſtummt ſchon ſchien der Vögel buntes Völkchen

Und grau am Himmel ſtanden kleine Wölkchen.

Nur ab und zu ſchwamm's fernher durch die Luft

Noch weich wie ein verirrter Roſenduft

Und wie ein Lenzlockruf, nur herbſtlich ſtiller,

Klang hie und da ein ſpäter Vogeltriller.

Auf lauen Windes Flügeln kam's und ſchwand

Und reichte wiederkehrend ſich die Hand,

Wie wenn zwei Herzen durch ein letztes Grüßen

Sich noch des Scheidens bittres Weh verſüßen
Doch alſo war's nur draußen fern im Hag,

Durch die Fabrikſtadt ſchlich der Werkeltag.

Das ſchwarzberußte Schurzfell um die Lenden,

War er bemüht die Woche zu beenden;

Er ließ das Eiſen wie ein Licht erglühn

Und mehr als hundert Eſſen Funken ſprühn

Und, unbekümmert um den eignen Jammer,

Schwang er den centnerſchweren Schmiedehammer
[40]
Hier war's ein Eiſenwagen, dort ein Schiff,

Der Schornſtein rauchte und der Dampfhahn pfiff,

Die Räder rollten ewig um die Kreiſe

Und alles drehte ſich im alten Gleiſe.
Nur du und ich, wir beide waren frei

Und wußten nichts von Werktagsſclaverei;

Wir jauchzten auf, die Noth in uns begrabend,

Und machten ſchon Nachmittags Feierabend.

Denn hatte jeder nicht mit Luſt und Kraft

Die Woche über pflichtgetreu geſchafft?

Die Nähmaſchine hatteſt du getrieben

Und ich gedacht, gedichtet und geſchrieben.

Doch nun war ich des „trocknen Tones ſatt“

Und ſchrieb energiſch: „Punkt!“ aufs letzte Blatt

Und ſtieg dann flink, mir ſelber zur Belohnung,

In deine zierliche Manſardenwohnung.

Ich klopfte an — ein neckiſches: Herein!

Und durch das Fenſter brach der Sonnenſchein;

Ein Lichtmeer war's, drin Welle ſchwamm auf Welle,

Ich aber ſtand geblendet auf der Schwelle.
O immer, trat ich in dein trautes Heim,

Schrieb's mir ins Herz ſich wie ein neuer Reim;

Doch war's mit ſeinen farbigen Gardinen

So hell und freundlich mir noch nie erſchienen.
Zum Schmaus gedeckt war ſchon dein kleiner Tiſch,

Grau hinterm Spiegel ſtak ein Flederwiſch
[41]
Doch unbekümmert um die neuſte Mode

Stand dicht dabei die ältliche Kommode

Und unter einem Kreuz von Elfenbein

Das Bild von deinem todten Mütterlein.

Wie tief im Traum ſah lächelnd es hernieder

Auf ein zerleſnes Buch: „das Buch der Lieder“!

Vom Blumenbrett, das ſich ums Fenſter bog,

Um alles das ein ſüßes Duften flog.

Und dort ja hingen auch die beiden Schilder,

Verzeih! ich meine deine Landſchaftsbilder!

Denn du haſt recht: die reine Phantaſie

Und farbenſchillernd wie ein Kolibri!

Rechts hing der Watzmann, links der Gamsgarkogel

Und zwiſchen beiden ein Kanarienvogel.

Du ſelber aber, häubchenüberdeckt,

Ein weißes Schürzchen vor die Bruſt geſteckt,

Du ſchobſt nun grad mit hausfraulicher Miene

Den Spiritus in deine Kochmaſchine.

Ein kurzer Aufblick dann, ein leiſer Schrei,

Und eins und eins, wie immer, waren zwei!
Drauf, wie ich mich ſchon oft ließ unterjochen,

Sollt ich auch heute mit dir Kaffe kochen.

Ich lärmte; doch was half mir mein Proteſt?

Ein kußerſticktes Lachen war der Reſt!

Und als ein vielgewandter junger Dichter

Hielt ich galant dir nun den Kaffetrichter.
[42]
Natürlich ging das „noch einmal ſo gut“,

— Sieh hier das Lied: „Was man aus Liebe thut!“

Wir ſchmeckten, wechſelnd prüfend, mit den Zungen

Und endlich war der große Wurf gelungen.

Zwar war das Tiſchzeug nur von grobem Zwilch,

Doch fehlte weder Zucker drauf noch Milch

Und dampfend füllten nun die braunen Maſſen

Die goldumränderten Geburtstagstaſſen.

Des Tränkleins Wirkung aber kommt und geht,

Bis ſich das Zünglein wie ein Mühlrad dreht:

Was Stift und Tinte, Häkelzeug und Maſchen!

Wir waren heut zwei rechte Plaudertaſchen!

Du ſchwärmteſt von dem neuſten Ausverkauf,

Ich aber ſchlug ein kleines Büchlein auf

Und las dir Lieder vor von Lingg und Keller

Und überſah auch nicht den Kuchenteller.
So ſaßen wir, zwei große Kinder, da,

Bis roth der Abend durch die Scheiben ſah

Und tappten dann hinab die dunklen Stiegen,

Um noch ein Stündlein vor das Thor zu fliegen.
Dort, wo das Waſſer ſich am Stadtwall bricht,

Lag bunt der Park im letzten Abendlicht

Und ließ die Wipfel ſich in Purpur tränken

Und Kinder ſpielten auf den Raſenbänken.

Vom nahen Thorthurm kam das Spätgeläut,

Mir ſchien's, es klang noch nie ſo ſchön wie heut;
[43]
Wir lugten lauſchend durch die Laubverhänge

Und ſchritten flüſtern durch die Buchengänge!

Zu Füßen knirſchte uns der gelbe Kies

Und alles ſchien uns wie im Paradies;

Doch als die Glocken dann gemach verklangen,

Kam leiſen Schritts die Dämmrung angegangen.
Da hieltſt du ſtill und hauchteſt mir ins Ohr:

„O, weißt du noch, dort drüben vor dem Thor?“

Ob ich es weiß! Wie Lenz will's mich umwehen;

Dort war's ja, wo wir uns zuerſt geſehen!

Und hier, wo waldverſteckt das Waſſer rauſcht,

Hier haben wir den erſten Kuß getauſcht!

O Maitag, Sonnenſchein und Blüthenregnen,

Noch heut muß ich euch tauſendfältig ſegnen!

Es war doch eine ſchöne, ſchöne Zeit,

Und denk ich dran, ſo wird das Herz mir weit!

Man fühlt's, auch ohne daß man's gleich bedichtet:

Der liebe Gott hat's doch gut eingerichtet!

Doch ſtill! Was braucht's ſchon der Erinnerung?

Wir ſind ja beide noch ſo jung, ſo jung!

Es lacht das Glück aus deinem rothen Munde;

„Uns winkt ja noch ſo manche goldne Stunde!“
„Gewiß!“ fielſt du hier lächelnd ein, „und wie?

Zum Beiſpiel morgen eine Landpartie!

Erinnerſt du dich noch, wie du vor Wochen

Mir einen Ausflug ins Gebirg verſprochen?
[44]
Mein Onkel dort, der Wirth zum weißen Schwan,

Wohnt ja ganz nahe an der Eiſenbahn!

Ich weiß, er freut ſich, wenn wir ihn beſuchen,

Und Tantchen gar backt einen Extrakuchen!

Und dann — o Gott — die wunderſchöne Luft,

Wald, Wieſe, Sonnenſchein und Kräuterduft,

Und über ſich nichts, nichts als Himmelsbläue —

Nein, nein! du weißt nicht, wie ich mich ſchon freue!“

Da ſprach ich: „Topp, du kleiner Niegenug!

Wir fahren morgen mit dem erſten Zug.

Als Muſikant mach ich eins gern mal Pauſe ...

Doch es wird kühl hier, komm, wir gehn nach Hauſe!“
Und wieder thorwärts wandten wir uns um

Und wurden ſtill und wußten nicht warum.

Im Fluß das Waſſer rann nur noch von ferne

Und durch das Laubdach blitzten ſchon die Sterne.

Ein feuchter Nachtwind durch die Wipfel ſtrich,

Du aber ſchmiegteſt feſter dich an mich,

Und wie das Schlußwort einer ſchönen Dichtung

That ſich nun wieder vor uns auf die Lichtung.
Dort hub die Stadt ſich ſchwarz und ungewiß

Vom Horizont ab wie ein Schattenriß,

Nur hie und da warf fernher aus dem Dunkel

Ein Fenſter noch ſein rothes Lichtgefunkel.

Es war ſo ſchön, ſo wunderſchön zu ſehn,

Und ſchweigend blieben wir noch einmal ſtehn,
[45]
Denn nun trat auch der Mond aus ſeinen Hallen

Und ließ ſein Silber auf die Dächer fallen

Und drüben von der Vorſtadt her erklang

Noch windverweht ein frommer Nachtgeſang.
Du ſahſt mich an und wußteſt nichts zu ſagen,

Doch fühlt ich dein Herz warm an mein Herz ſchlagen

Und ſprach zu dir und war bewegt wie nie:

„Nun weißt auch du, mein Herz, was Poeſie!

Sie ſpeiſt die Armen und ſie ſtärkt die Schwachen,

Sie kann die Erde uns zum Himmel machen,

Sie koſt im Zephyr und ſie harft im Föhn:

Nicht wahr, mein Herz, das Leben iſt doch ſchön?“
[][]

Literariſche
Liebenswürdigkeiten.

[]

Judenjungen, deren Bildung im Schweinefleiſcheſſen beſteht, ſpreitzen ſich auf den
kritiſchen Richterſtühlen, und erheben nicht nur Armſeeligkeitskrämer zu den Sternen,
ſondern injuriiren ſogar ehrenwerthe Männer mit ihren Lobſprüchen, — Reimſchmiede,
die ſo dumm ſind, daß jedesmal, wenn ein Blatt von ihnen ins Publikum kommt
die Eſel im Preiſe aufſchlagen, heißen ausgezeichnete Dichter, — Schauſpieler, die ſo
langweilig ſind, daß natürlich alles vor Freuden klatſcht, wenn ſie endlich einmal
abgehn, heißen denkende Künſtler, — Vetteln, deren Stimmen ſo ſcharf ſind, daß
man ein Stück Brod damit abſchneiden könnte, titulirt man ächt dramatiſche
Sängerinnen! — Die Muſe der Tragödie iſt zur Gaſſenhure geworden, denn jeder
deutſche Schlingel nothzüchtigt ſie und zeugt mit ihr fünfbeinige Mondkälber, welche
ſo abſcheulich ſind, daß ich den Hund bedaure, der ſie anpißt! Die Wörter: „genial,
ſinnig, gemüthlich, trefflich“ werden ſo ungeheuer gemißbraucht, daß ich ſchon die Zeit
ſehe, wo man, um einen entſprungenen, über jeden Begriff erbärmlichen Zuchthaus¬
kandidaten vor dem ganzen Lande auf das unauslöſchlichſte zu infamiren, an den
Galgen ſchlägt: N. N. iſt ſinnig, gemüthlich, trefflich und genial! — O ſtände doch
endlich ein gewaltiger Genius auf, der, mit göttlicher Stärke von Haupt zu Fuß ge¬
panzert, ſich des deutſchen Parnaſſes annähme und das Geſindel in die Sümpfe
zurücktriebe, aus welchen es hervorgekrochen iſt!

Chriſtian Dietrich Grabbe.
[49]

1.
Ballade.

Kennt ihr das Lied, das alte Lied

Vom heilgen Hain zu Singapur?

Dort ſitzt ein alter Eremit

Und kaut an ſeiner Nabelſchnur.
Er kaut tagaus, er kaut tagein

Und nährt ſich kärglich nur und knapp,

Denn ach, er iſt ein großes Schwein

Und nie fault ihm ſein Luder ab.
Rings um ihn wie das liebe Vieh

Wälzt ſich zerknirſcht ganz Singapur

Und „Gott erhalte“ ſingen ſie

„Noch lange ſeine Nabelſchnur!“
4[50]
Denn alſo geht im Volk die Mähr

Und alſo lehrt auch dies Gedicht:

Wenn jene Nabelſchnur nicht wär,

Dann wär auch manches Andre nicht.
Dann hätte beiſpielsweiſe Lingg

Nie völkerwandernd ſich verrannt

Und Wagners Nibelungenring

Läg noch vergnügt im Pfefferland.
Uns hätte nie Profeſſor Dahn

Urdeutſch dozirt von A bis Z

Und kein aegyptiſcher Roman

Verzierte unſer Bücherbrett.
Wolffs Heijerleispoeterei,

Kein Baumbach wär ihr nachgetatſcht,

Und Mirzas Reimklangklingelei

Summa cum laude ausgeklatſcht.
Dann ſchlüge endlich unſrer Zeit

Das Herz ans Herz der Poeſie,

Das Rütli ſchwüre ſeinen Eid

Und unſer Tell wär das Genie.
[51]
So aber ſo — frei, fromm und friſch

Kaut weiter jener Nimmerſatt;

Sein eigner Schmeerbauch iſt ſein Tiſch,

Sein — wiſch ein Bananenblatt.
Und um ihn wie das liebe Vieh

Wälzt ſich zerknirſcht ganz Singapur

Und „Gott erhalte“ ſingen ſie

„Noch lange ſeine Nabelſchnur!“
[52]

2.
Stoßſeufzer!

Heut mißt man die Bücher mit Ellen —

Ein wahrer Papier-Ocean!

Tagtäglich drei neue Novellen,

Tagtäglich ein neuer Roman!
In ſüßlicher Selbſtpanegyrik

Entwäſſert in jedes Journal

Die unvermeidliche Lyrik

Ihre Thränenkübelmoral.
Die Welt iſt nimmer die alte,

Sie ſtinkt wie ein Limburger Käs

Und bringt in jeder Spalte

Sechs Tohuwabohueſſays.
[53]
Der Zeitgeiſt diktirt ſeinem Kater

Eine gallige Selbſtparodie

Und krank liegt das deutſche Theater

An chroniſcher Selbſtmordmanie.
Die Kunſt war einſt unwiderſtehlich,

Wie die Lurlei hoch über dem Rhein,

Doch heute denkt jeder: „O ſelig,

Ein Wiederkäuer zu ſein!“
Dort liegen Herrn Hartmanns Schriften,

Weiß Teufel, der Kerl hat Recht —

Ich möchte die Welt vergiften

Mit meinem Stiefelknecht!
[54]

3.
Anathema sit!

Viele Wörter ſind auf is

Masculini generis,

Viele ſtehn im Daniel Sanders,

Viele ſtehn auch noch wo anders,

Doch verhaßt vor allen ſind

Dieſe mir, mein liebes Kind:

Weihrauchfäſſer und Crucifixe,

Tinte, Schwefel und Stiefelwichſe,

Engliſche Peers und ruſſiſche Knuten,

Türkiſche Paſchahs und deutſche Rekruten,

Throne, Kaſernen und Schweinekofen,

Parvenüs und Naturphiloſophen,

Enten, Seeſchlangen, Juden und Zwiebeln,

Alte Jungfern und enge Stiebeln,

Weiße Handſchuh und ſchwarze Fräcke,

Krinolinen und Chapeau cläque,

Hämorrhoiden, Milben und Maden,

Gardeleutnants und Wachtparaden,

Filsläuſe, Flöhe, Motten und Wanzen,

Hofräthe, Kammerherren und Schranzen,
[55]
Ballerinen und Syphiliten,

Schwiegermütter und Jeſuiten,

Unterröcke, Corſetts und Matratzen,

Vipern, Kokotten und Kammerkatzen,

Toaſte, Kloaken und Vitriole,

Panzerfregatten und Staatsmonopole,

Kriegervereine und Schwadroneure,

Luccagagen und Operntenöre,

Wagnerianer und Patrioten,

Schneider, Kaſtraten und Idioten,

Falſche Zöpfe und echte Biere,

Nähmaſchinen und Klimperklaviere,

Schnupfstabackdoſen und Mädchen für Alles

Und — last not least — ein unſterblicher Dalles!

Sympathiſch zwar und angenehm

Iſt meiner Treu mir keins von dem,

Doch bei vernünftiger Beſchauung

Stört mir auch keines die Verdauung.

So leb ich luſtig comme il faut

Wie jener Mops im Paletot.

Nur Eins macht ſtets mich tapfer weichen

Und läßt mich kreideweiß erbleichen ....

O Gott, mir wird das Herz ſo ſchwer:

Nachbarin, euer Fläſchchen her!

Das Wort bleibt mir im Halſe ſtecken,

So oft ich auch daran gedacht —

Das iſt der ſchrecklichſte der Schrecken:

Ein Schöngeiſt, der in Verſenmacht“!
[56]

4.
Einem Glaceedemokraten.

Komm, Freund, daß ich die Hand dir faſſe,

Du biſt wie ich ein jeune garçon

Und führſt das Elend aus der Gaſſe

Durch deine Lieder in den Salon.

Du hüllſt ſie in Gold und Purpur ein,

Nun wird die Armuth unſterblich ſein.
Ich weiß, du liebſt es hoch zu Roſſe

Zu ſchütteln den Speer deiner Poeſie,

Drum duftet ſie auch nie nach der Goſſe

Und ſtinkt beträchtlich nach Patſchuli.

Famos! ſchon wird vor Bewundrung ſtumm

Das höhere Töchterpublikum.
[57]
Vergnüglich hockſt du hinterm Ofen,

Des Fortſchritts Ziel haſt du entdeckt

Und ſo zu ſagen mit deinen Strophen

Den weißen Mohren ſchwarz geleckt —

Kein Lied, das die rothe Rache preißt,

Kein Aufſchrei, der uns das Herz zerreißt!
Ich würde dir gern ein Krönchen kleiſtern,

Du weißt, ich bin kein Nihiliſt;

Doch kann ich mich nicht recht begeiſtern,

Dieweil es mir mitunter iſt:

Als lachte durch jedes Hungergedicht

Dein wohlgenährtes Proſtmahlzeitsgeſicht!
[58]

5.
Pro Domo.

Tagtäglich wispert die Kritik:

„O wirf ihn fort den Hungerknochen!

Es hat die leidge Politik

Schon Manchem hier den Hals gebrochen.
Auch meine Galle ſchwimmt in Groll,

Doch wozu ihn verſificiren?

Die Welt iſt heute proſatoll

Und wird ihn ſchwerlich honoriren.
Such lieber hohe Protegees,

Dein Sozialismus iſt uns ſchnuppe,

Denn ſchließlich wärmſt du nur, geſteh's,

Die achtundvierzger Bettelſupe.
[59]
Drum ſtill, du Sturm im Waſſerglas,

Und reime fortab nur auf „Triebe“ —

Du ſäſt wie Lucifer nur Haß,

Das Herz der Kunſt heißt aber Liebe!“
Ich hör's und fluche: Sapprement!

Zwar lieblich locken die Moneten,

Doch fehlt mir leider das Talent

Zum ſchwarzweißrothen Hofpoeten.
Ich pfeif auf euern Fahneneid,

Ich pfeif auf eure feigen Poſſen!

Ins ſchwarze Schuldbuch unſrer Zeit

Sind meine Verſe rothe Gloſſen!
Drum bitte, mir drei Schritt vom Leib

Mit euern Tombackpoeſieen

Und ziſcht nicht wie ein feiles Weib:

Tritt ein in unſre Koterieen!
Thät ich's, ich wär ein Halb-Poet,

So aber ruf ich durch die Gaſſen:

Die Welt, die ſich um Liebe dreht,

Weiß auch das Hungertuch zu haſſen!
[60]

6.
F. v. B.

Ein Quentchen Herz, ein Quentchen Hirn,

Die ſchlanke Naſe kühn gekurvt

Und die gedankenhohle Stirn

Gedankenvoll „gefaltenwurft“:

So ſeh ich ihn, verblichnen Airs,

Den alten goldbebrillten Knaben —

O, F. v. B., das Beſte wär's,

Du ließeſt endlich Dich begraben!
Begnadge Feder und Papier

Und ziehe endlich die Moral,

Du ſiehſt, ich mein es gut mit Dir

Und bin wie immer radikal.

Was haſt Du um die Zeit der Noth

Auch heut in dieſer Welt zu ſuchen?

Wir Dichter ſchrein nur noch nach Brot

Und nicht wie Du nach Kaffeekuchen!
[61]
Kein Menſch iſt mehr zuleikatoll,

Dein Bülbülſchwindel iſt verkracht,

Und ein entſetzlich tiefer Groll

Iſt jählings mit uns aufgewacht.

Drum gecke weiter, alter Geck,

Und ſchwärme vom Medſchidſcheorden,

Wir — ſchreiten über Dich hinweg,

Denn anders iſt die Welt geworden!
Sie ſchwelgt nicht mehr „an Baches Strand“

Und ſucht verzückt das Blümlein „Blau“,

Sie hat ſich endlich ſelbſt erkannt

Und plant den großen Zukunftsbau.

Zum Factum macht ſie die Idee

Und lacht der Schwärmer hinterm Ofen —

Was ſollen ihr nun, F. v. B.,

Was ſollen ihr nun Deine Strophen?
Ein Muſterſtück für Versdreſſur,

Ein farblos Nichts, das bunt lakirt,

Vergleichbar einer Kinderuhr,

Die „fingerdick mit Gold beſchmiert“ —

So ungefähr als Mann von Fach

Würd ich den Miſchmaſch kritiſiren;

Doch nein, auch das iſt noch zu ſchwach,

Dein Witz iſt ledern zum Crepiren!
[62]
Drum noch einmal: Streu Sand aufs Blatt

Und ſchreibe endlich „Punktum“ drauf!

Wir ſind den alten Krimskrams ſatt

Und athmen täglich freier auf.

Wir wünſchen Dir, weil Du ergraut,

Auch ſchließlich noch ein langes Leben;

Nur darfſt Du nie, was Du verdaut,

In Verſen wieder von Dir geben!!!
Denn traurig iſt's mit anzuſchaun,

Wenn ein zerbrochner Hampelmann

Noch immer thun will wie ein Faun

Und doch nicht kann, o Gott, nicht kann!

Dann zuckt's mir durch das Herz: Er weint!

Geſpenſtiſch däucht mir ſeine Glatze,

Und wenn die Sonne drüber ſcheint,

Verklärt ſie golden — eine Fratze!
[63]

7.
So iſt's!

Auf dieſem ſchönſten der Planeten

Erheben furchtbar ihr Geſchrei

Die theegepäppelten Poeten

Der Höhern-Töchtercleriſei:
„Schon wieder Einer, der revoltert,

Schon wieder Einer, der nur ſchreit:

Der Menſchheit Herz habt ihr gefoltert,

Ich bin der Geiſt der neuen Zeit!
Was will der Lump? Was? Räſonniren?

Der Kerl, ſcheint's, hat den großen Floh!

So jung noch und ſchon kritiſiren!

O tempora! ſagt Cicero.
[64]
Hm! Jedenfalls ſitzt er im Dalles,

Doch, Teufel ja, wie dem auch ſei!

Wir dulden alles, alles, alles,

Nur nicht Tendenzenreiterei!
Die Poeſie iſt keine Pfütze,

Sie brennt nicht wie ein Lampendocht,

Und nichts gilt uns ein Kopf voll Grütze,

Wenn ſie das Herz nicht weich gekocht!“ —
So hört doch auf mit euerm Schelten

Und ſchlagt mir nicht die Fenſter ein!

Gewiß, ihr Herrn, ich laß es gelten:

Der Menſch lebt nicht von Brot allein!
Die Lerchen jubeln noch und klettern

An ihren Liedern in die Luft

Und dunkle Hochgewitter wettern

Noch nächtlich über Wald und Kluft.
Noch immer blüht im Lenz der Flieder,

Im Sommer duftet der Jasmin,

Die Nachtigall ſingt ihre Lieder

Und jeder Ton iſt ein Blutrubin.
[65]
Und macht der Herbſt dann ſeine Runde,

Umkreist das Adlerweib den Horſt,

Dann wandert um die Mittagsſtunde

Die Sonne golden durch den Forſt.
Dann lieg ich träumeriſch im Graſe

Und freu mich, daß die Erde rund,

Und oft verſetzt mich in Extaſe

Ein heißer, rother Frauenmund.
Und doch — o heilige Hippokrene! —

Wenn ihr das Ding ſo ſüß bereimt,

In Goldſchnitt „gb.“ Notabene

Und roth mit Callico beleimt:
Fällt mir der Nürenberger Trichter

Und Geibels ſchöner Wahrſpruch ein:

„Man kann ein guter lyriſcher Dichter

Und doch ein dummer Teufel ſein!“
5[66]

8.
Die deutſchen Denker
an
Die deutſchen Dichter.

Wohl reiht ihr Reim an Reime

Und fügt zum Wort das Wort,

Doch eurer Saaten Keime

Uns dünken ſie verdorrt —

Verdorrt, noch eh die Sichel

Der Zeit ſie jäh durchkracht

Und ſo dem deutſchen Michel

Die Arbeit leichter macht.
Denn ach, euch ging verloren

Der Dinge Gang und Grund,

Ihr hört mit tauben Ohren

Und ſprecht mit ſtummem Mund.

Doch wehe eurer Scheitel

Am Tage des Gerichts,

Denn was ihr ſingt iſt eitel,

Und was ihr ſagt iſt nichts!
[67]
Und doch, ging je vor Zeiten

Der Sänger mit dem Sieg,

Dann gilt es heut zu ſtreiten

In einem heilgen Krieg.

Denn nicht um Hof und Heerde

Schlägt unſer Herz und ſchwillt:

Heut iſt's die ganze Erde,

Der unſer Sterben gilt!
Seit Urbeginn ſchon gährte

Es tief im Schooß der Zeit

Und jede Stunde nährte

Den grauſen Widerſtreit,

Doch heute erſt entrauchte

Die Lohe ihrem Schacht

Und blutig überhauchte

Sie das Gewölk der Nacht.
Und weh, das Glück zerſchellte,

Was ganz war, brach entzwei,

Und durch die Lande gellte

Ein einzig lauter Schrei.

Mit Mehlthau übernetzte

Das Feld ſich weit und breit

Und es begann der letzte,

Der Bürgerkrieg der Zeit.
[68]
Nun rast er durch die Auen

Und ſpielt ſein wildes Spiel

Und uns durchrinnt ein Grauen,

Bedenken wir ſein Ziel.

Die Tafel der Geſetze

Zerbarſt wie ſprödes Glas,

Die Tugend ward zur Metze,

Die Liebe ward zum Haß.
Die Wahrheit liegt im Staube,

Die Hoffnung ſitzt und weint,

Geſtorben iſt der Glaube

Und ach, das Herz verſteint!

Des Wahnſinns Schlangen ziſchen

Und Alp thürmt ſich auf Alp

Und wüſt erſchallt dazwiſchen

Der Tanz ums goldne Kalb.
Doch nahn ſchon Gottes Boten

Und ihre Stimme ſpricht:

„Lebendig ſind die Todten

Und nahe das Gericht!“

Der Erdball wankt und zittert,

Des Himmels Wolken drohn

Und durch die Lande wittert

Der Hauch des Todes ſchon.
[69]
Ihr aber, die zu Wächtern

Des Heiligthums beſtellt,

Ihr habt euch den Verächtern

Des Himmels zugeſellt;

Denn wenn der Donner rollte,

Verſchloßt ihr euer Ohr,

Und wenn die Brandung grollte,

Wer war's der ſie beſchwor?
Ihr ſtammelt wie die Kinder,

Daß niemand euch verſteht,

Und jeder Reimverbinder

Iſt heute ein: Poet!

Sich ſelbſt ſingt er im Liede

Und macht es ſich bequem,

Als wäre der ewige Friede

Schon mehr als — ein Problem!
Doch nun genug der Schande,

Auf, auf! und greift zur Wehr

Und wandert durch die Lande

Und rudert über's Meer!

Streift ab die blumigen Ketten

Und folgt uns in den Krieg,

Denn noch ſind ſie zu retten

Die Ehre und der Sieg!
[70]
Und dräut auch manche Wolke

Euch ſchwarz am Horizont,

O haltet treu zum Volke

Ihr habt's noch nie gekonnt!

Nach ihm ſtreckt ſeine Krallen

Siebenfach die Noth;

Der ſchrecklichſte von allen

Iſt doch der Kampf ums Brot!
Zerknechtet und zerknetet,

Es kennt ſich ſelber nicht;

Drum ſingt und wacht und betet:

„Mehr Licht, o Gott, mehr Licht!“

Und kehrt der Friede wieder

Dereinſt nach Kampf und Streit,

Dann ſingt: „Das Lied der Lieder,

Das iſt das Lied der Zeit!“
[]

Den Franzoſenfreſſern.

[]

O Land der blauäugigen Menſchen,
. . . . . . . . . . . . .
Der Rhein bot dir Gold,
Bernſtein das baltiſche Meer!
Muſik iſt dein Odem,
Deine Seele
Harmonie und Weihrauch;
Sie läßt in mächtigen Hymnen
Den Schrei des Adlers
Mit dem Geſange
Der Lerche wechſeln!
. . . . . . . . . . . . .
Keine Nation iſt gerechter als du!
Zur Zeit, als die ganze Erde
Noch ein Ort des Schreckens war,
Warſt du unter den ſtarken Völkern
Das gerechte Volk!
. . . . . . . . . . . . .
So lange, wie die Eiche
Dem Epheu ihre Arme bietet,
Warſt du die Kämpferin
Für das alte
Recht der Beſiegten!

Viktor Hugo.
[73]
Den Franzoſenfreſſern.
Ich bin ein deutſcher Patriot

Und ſchwarz-weiß-roth ſind meine Verſe,

Denn treu dem Volk bis in den Tod

Schwör ich auf Werther, Fauſt und Lerſe.

Manch goldbeſchlagnes Auerhorn

Hab ich aufs Deutſchthum ſchon getrunken

Und bin als Kerl von Schrot und Korn

Noch niemals untern Tiſch geſunken.

Doch trotzdem ruf ich: Vive la France!

Hony soit, qui mal y pense!
O, nicht ſtets für ſich ſelbſt geſchwärmt!

Aus tauſend Schriften läßt ſich's leſen:

Die Gluth, die mir das Herz durchwärmt,

Sie loht auch jenſeits der Vogeſen.

Das Volk der Rouſſeaus und St. Pierres,

Man mag's begeifern, mag's beneiden:

Mir iſt's ſo lieb, wie das Homers,

Und kein Phantaſt ſoll's mir verleiden!

Drum ruf ich lautauf: Vive la France!

Hony soit, qui mal y pense!
[74]
O wer, als einſt wie nie zuvor

Die Welt ein Haupt voll Blut und Wunden,

Sang ihr das „Lied im höhern Chor“,

Daran wir heute noch geſunden?

Rouget de L'Isle war's, der Franzos,

Die Seine rauſcht's und die Garonne,

Und aus der Knechtſchaft dunklem Schooß

Rang ſich die Freiheit in die Sonne.

Drum juble, Seele: Vive la France!

Hony soit, qui mal pense!
Wohl weiß ich's, kraß war jene Zeit

Und ward von Tag zu Tag noch kraſſer,

Doch jede große Wahrheit ſchreit

Nach Blut und nicht nach Zuckerwaſſer!

Wem ſie ihr Herz geoffenbart,

Der ſchrickt zuſammen und bewundert's;

O, jener Schwur im Ballhaus ward

Zur erſten Großthat des Jahrhunderts!

Drum juble Seele: Vive la France!

Hony soit, qui mal y pense!
Wohl ſteht noch heut, Gewehr bei Fuß,

Ein Cerberus an jeder Grenze,

Doch ſchon umweht's mich wie ein Gruß

Aus ferner Zukunft fernem Lenze.

Dann ſchlägt kein Tambour mehr Allarm,

Dann ſteht die Welt voll goldner Halme

Und Frankreich ringt dann Arm in Arm

Mit Deutſchland um dieſelbe Palme.

Drum juble, juble: Vive la France!

Hony soit, qui mal y pense!
[75]
Doch ihr ... verhöhnt mich immer nur,

Ihr biedern Knopflochpatrioten;

Ich weiß, ihr ſchwärmt nur für Dreſſur,

Für Kalbsfilet und Schweinepoten.

Ihr ſammelt Lumpen, ſammelt Geld

Und träumt von längſt verſchollnen Tagen:

Was kümmert's euch, wenn durch die Welt

Der Zukunft Nachtigallen ſchlagen?

Ich aber rufe: Vive la France!

Hony soit, qui mal y pense!
[][]

Noch Eins!

[]

Mit dem Volke ſoll der Dichter gehen,
Alſo leſ' ich meinen Schiller heut!

Ferdinand Freiligrath.
[79]

Noch Eins!


Beim Leibe des Brots und beim Blute des Weins!

Merkt auf, ihr Herren im Frack!

Ihr hohen Herrn! denn ich pfeif euch noch Eins,

Noch Eins auf dem Dudelſack!

Und ob ihr auch flucht und mich niederſchreit,

Mir Alles einerlei!

Die Porzellan- und Reifrockzeit

Iſt Gottſeidank vorbei!
Vor dem Drei-Stern, den unſere Zeit gebar,

Verſchließt St. Peter die Thür:

Garibaldi heißt er und Bolivar

Und Touſſaint L'Ouvertüre.

Es wandelt der neue Jeſus Chriſt

Still durch die Völker ſchon:

O glaubt mir, unſer Jahrhundert iſt

Das Jahrhundert der Revolution!
[80]
Schaut hin, ſchon hat's an den Nagel gehängt

Purpur und Hermelin

Und ſitzt am Studirtiſch tief verſenkt

In die heilige Schrift des Darwin.

Ja die bibliſche Spottgeburt aus Lehm

Beſann ſich auf ihre Kraft

Und die Wahrheit entſchleiert ihr Weltſyſtem

Vor der Köngin der Wiſſenſchaft!
Ihr aber thut, als wäre die Welt

Noch die Welt, die ſie ehmals war;

Ihr bucht eure Titel und zählt euer Geld

Und faſelt von Thron und Altar!

Ihr faſelt im Wachen, ihr faſelt im Traum

Und im Frühling genirt euch der Wind

Und keiner merkt, wie im Freiheitsbaum

Schon die Knospen geſprungen ſind!
Ihr ſpreizt euch und bläht euch und nörgelt und mault

Trotz Hunger und Dynamit

Und ſeid doch an Körper und Geiſt verfault,

Verfault bis ins hundertſte Glied!

Ihr haßt das Licht wie die Peſtilenz,

Und der Schuftigſte brüllt: Ich riskir's!

Und ſchneuzt ſich und ſchwört auf die Intelligenz

Der hinterpommerſchen Peers!
[81]
Doch ein braver Fluch iſt auch ein Gebet

Und die Marſeillaiſe ein Lied,

Drum wenn das noch lange ſo weitergeht,

Dann weiß ich, was geſchieht!

Dann ruft das Volk: Vermaledeit!

He Pulver her und Blei!

Die Porzellan- und Reifrockzeit

Iſt Gottſeidank vorbei!
6
[][]

Arme Lieder.

[]
O daß er käme, jener Fürſt der Liebe,

Der von dem Haupt die goldne Krone legt

Und, daß kein Herz verarmt und dürftig bliebe,

Den goldnen Reif zu frommen Münzen prägt,

Der ſeinen Purpurmantel voll Erbarmen

Zu Windeln theilte für die Brut der Armen!

– – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – –
Ein ſchöner Traum! Er wird ſich nicht erfüllen,

Doch blickt er ſchön aus rothem Dämmerlicht.

Es taugt, die Noth der Erde zu verhüllen,

Die Blumenpracht von hundert Lenzen nicht,

Allein ſo lang noch ird'ſche Lenze dauern,

Wird der Poet mit dem Enterbten trauern.

Alfred Meißner.


[85]

1.
Meine Nachbarſchaft.

Mein Fenſter ſchaut auf einen düſtern Hof,

Auf ſchmutzge Dächer und auf rußge Mauern,

Doch wer wie ich ein Stückchen Philoſoph,

Läßt darum ſich noch lange nicht bedauern.

Ein wenig Luft, ein wenig Sonnenlicht

Dringt ſchließlich auch durch ſeine trüben Scheiben,

Zu hungern und zu frieren brauch ich nicht

Und all mein Thun iſt nur ein wenig Schreiben.
Ein wenig Schreiben, wenn ich ſtundenlang

Mich einlas in die Wunderwelt der Alten,

Bis endlich, endlich es auch mir gelang,

Was ich gefühlt, zum Wohllaut zu geſtalten.

Dann fließt es um mich wie ein Heilgenſchein

Und mir im Herzen bauen ſich Altäre;

So könnt' ich glücklich und zufrieden ſein,

Wenn ach, nur meine Nachbarſchaft nicht wäre!
[86]
Kein Schwärmer iſt es, der die Flöte liebt

Und auf ihr nur „des Sommers letzte Roſe“,

Kein Tanzgenie, das ewig Stunden gibt,

Auch kein klavierverrückter Virtuoſe:

Ein armer Schuſter nur, der nächtens flickt,

Wenn längſt aufs Dach herab die Sterne ſcheinen,

Indeß ſein Weib daneben ſitzt und ſtrickt

Und ſeine Kinderchen vor Hunger weinen!
O Gott, wie oft nicht ſchon hat dieſer Laut

Mich mitten aus dem tiefſten Schlaf gerüttelt!

Und wenn ich halbwach dann mich umgeſchaut,

Hat wild es wie ein Fieber mich geſchüttelt.

Des Mädchens Schluchzen und des Knaben Schrei

Und ganz zuletzt des Säuglings leiſes Wimmern —

Mir war's, als hörte ich dann nebenbei

Drei kleine, kleine ſchwarze Bettlein zimmern.
Mir war's, als rollte dumpf dann vor das Haus

Der nur zu wohlbekannte Armenwagen

Und jene Bettlein trugen ſie hinaus

Und luden ſie in ſeinen düſtern Schragen.

Der Kutſcher aber nahm noch einen Schluck

Und peitſchte fluchend ſeine magren Schinder

Und übers Pflaſter dann ging's Ruck auf Ruck,

Doch ach, noch immer wimmerten die Kinder!
[87]
Und immer, immer noch klang's mir im Ohr,

Wenn ſchon der Morgen durch das Fenſter blickte,

Und mir ums Auge hing ein Thränenflor,

Wenn ich dann ſtumm mein Tagewerk beſchickte.

Was half mir nun mein „Stückchen Philoſoph“?

In Trümmer fiel, was ich ſo luftig baute!

Doch that's das Haus nicht, nicht der düſtre Hof,

Nein, nur die abgebrochnen Kindeslaute! —
Die Armuth bettelt um ein Stückchen Brot,

Doch herzlos läßt der Reichthum ſie verhungern;

Millionen tritt die Goldgier in den Koth,

Und Einen einzigen nur läßt ſie lungern.

In ſeidne Betten wühlt ſie ihn hinein,

Wenn er beim Sect ſich endlich ausgeplappert,

Indeß beim flackernden Laternenſchein

Das bleiche Elend mit den Zähnen klappert.
O Gott, warum dies alles, o warum?

Wie Centnerlaſt drückt mich die Frage nieder!

In meinen Reimen geht ſie heimlich um

Und ächzt und ſtöhnt durch meine armen Lieder.

Was bleibt mir noch auf dieſem Erdenball?

Denn auch die Kunſt, längſt ſtieg ſie vom Kothurne!

Einſt ſchlug mein Herz wie eine Nachtigall,

Doch ach, nun gleicht es einer Thränenurne!
[88]

2.
„Een Boot is noch buten!“

Ahoi! Klaas Nielsen und Peter Jehann!

Kiekt nach, ob wi noch nich to Mus ſind!

Ji hewt doch geſehn den Klabautermann?

Gott Lob, dat wi wedder to Hus ſind!“

Die Fiſcher riefen's und ſtießen ans Land

Und zogen die Kiele bis hoch auf den Strand,

Denn dumpf an rollten die Fluthen;

Han Jochen aber rechnete nach

Und ſchüttelte finſter ſein Haupt und ſprach:

„Een Boot is noch buten!“
Und ernſter keuchte die braune Schaar

Dem Dorf zu über die Dünen,

Schon grüßten von fern mit zerwehtem Haar

Die Frau'n an den Gräbern der Hünen.

Und „Korl!“ hieß es und „Leiw Marie!“

„'T is doch man ſchön, dat ji wedder hie!“

Dumpf an rollten die Fluthen —

„Un Hinrich, min Hinrich? Wo is denn dee?!“

Und Jochen wies in die brüllende See:

„Een Boot is noch buten!“
[89]
Am Ufer dräute der Möwenſtein,

Drauf ſtand ein verrufnes Gemäuer,

Dort ſchleppten ſie Werg und Strandholz hinein

Und goſſen Oel in das Feuer.

Das leuchtete weit in die Nacht hinaus

Und ſollte rufen: O komm nach Haus!

Dumpf an rollen die Fluthen —

Hier ſteht Dein Weib in Nacht und Wind

Und jammert laut auf und küßt Dein Kind:

„Een Boot is noch buten!“
Doch die Nacht verrann und die See ward ſtill

Und die Sonne ſchien in die Flammen,

Da ſchluchzte die Aermſte: „As Gott will!“

Und bewußtlos brach ſie zuſammen!

Sie trugen ſie heim auf ſchmalem Brett,

Dort liegt ſie nun fiebernd im Krankenbett

Und draußen plätſchern die Fluthen;

Dort ſpielt ihr Kind, ihr „lütting Jehann“,

Und lallt wie träumend dann und wann:

„Een Boot is noch buten!“ —
[90]

3.
„So Einer war auch Er!“

Liegt ein Dörflein mitten im Walde,

Ueberdeckt vom Sonnenſchein,

Und vor dem letzten Haus an der Halde

Sitzt ein ſteinalt Mütterlein.

Sie läßt den Faden gleiten

Und Spinnrad Spinnrad ſein

Und denkt an die alten Zeiten

Und nickt und ſchlummert ein.
Heimlich ſchleicht ſich die Mittagsſtille

Durch das flimmernde, grüne Revier.

Alles ſchläft; ſelbſt Droſſel und Grille

Und vorm Pflug der müde Stier.

Da plötzlich kommt es gezogen

Blitzend den Wald entlang

Und vor ihm hergeflogen

Wie Trommel und Pfeifenklang.
[91]
Und in das Lied vom alten Blücher

Jauchzen die Dörfler: „Sie ſind da!“

Und die Mädels ſchwenken die Tücher

Und die Jungens rufen: „Hurrah!“

Gott ſchütze die goldnen Saaten,

Dazu die weite Welt;

Des Kaiſers junge Soldaten

Ziehn wieder ins grüne Feld!
Sieh, ſchon ſchwenken ſie um die Halde,

Wo das letzte der Häuschen lacht!

Schon verſchwinden die erſten im Walde

Und das Mütterchen iſt erwacht.

Verſunken in tiefes Sinnen,

Wird ihr das Herz ſo ſchwer

Und ihre Thränen rinnen:

So Einer war auch Er!“
[92]

4.
„Ein Herz, das zerſprungen!“

Den Menſchen fernab

In Sammt und in Trauer

Liegt einſam ein Grab,

Ein Grab an der Mauer.
Kein Marmorſtein deckt

Den ſinkenden Hügel,

Doch drüberhin reckt

Ein Baum ſeine Flügel.
Ein Chriſtuskreuz ſieht

Aus blühendem Flieder

Und manchmal auch kniet

Ein Weib davor nieder.
[93]
Und geſtern, als ſacht

Ich vorübergegangen,

Da gab ich drauf Acht,

Was die Vögel dort ſangen.
Ich lauſchte und ſieh,

Da war es die alte,

Die Schmerzmelodie,

Die noch niemals verhallte:
Ein Baum, der verblüht,

Ein Ton, der verklungen,

Ein Stern, der verglüht,

Ein Herz, das zerſprungen!
[94]

5.
Nachtſtück.

Längſt fiel von den Bäumen

Das letzte Blatt,

In Schlaf und Träumen

Liegt nun die Stadt;

Die Fenſter verdunkeln

Sich Haus an Haus

Und drüberhin funkeln

Die Sterne ſich aus;

Kalt weht es vom Strom her,

Der Eisgang kracht,

Und drüben vom Dom her

Dröhnt's Mitternacht.

Ich aber ſchleppe mich zitternd nach Haus —

Der Nordwind bläst die Laternen aus!
[95]
Was half's, daß ich klagend

Die Gaſſen durchlief

Und mitleidverzagend

„Hier Roſen!“ ausrief?

„Hier Roſen, o Roſen!

Wer kauft einen Strauß?“

Doch die Herren Studioſen

Lachten mich aus!

Und keiner, keiner ....

Daß Gott erbarm!

O unſereiner

Iſt gar zu arm!

Mir wanken die Kniee, mein Herzblut gerinnt —

O Gott, mein Kind, mein armes Kind!
In ſtockdunkler Kammer,

Verhungert, verthiert!

Schon packt mich der Jammer:

„Ach Muttchen, mich friert!

Ach bitte, bitte

Ein Stückchen Brot!“

Mir iſt es, als litte

Ich gleich den Tod!

Mir iſt es, als müßte

Ich ſchreien: „Fluch!“ —

O daß ich dich küßte

Durchs Leichentuch!

Dann wär es vorbei und ſie ſcharrten dich ein

Und ich trüg es allein, o Gott, allein ....!
[96]

6.
„Weder Glück noch Stern!“

Er war ein Narr! ſprach mitleidslos die Welt,

Ein Träumer! milderte die Nachbarſchaft

Und nur ſein Herzfreund ſprach: Er war ein Dichter!
Vor ſeinem Krankenlager aber ſaß

Die bleiche Schweſter der Barmherzigkeit

Und blickte ſinnend auf ein Blatt Papier,

Das geſtern erſt der flinke Telegraph,

Mit ſeinen krauſen Zeichen überdeckt,

Und nur mit Mühe konnte ſie entziffern:

„Ihr erſtes Stück! Ein Senſationserfolg!

Berühmt mit einem Schlag! Wir gratuliren!“

Er aber, dem dies kleine Blatt Papier

Die heißerſehnte Botſchaft künden ſollte:

Glück auf, nun haſt du nicht umſonſt gelebt —

Er ſchlief und ſah es nicht, denn er war todt.
[97]
Der dunkle Winterabend warf ſein Licht

Kalt durch die zugefrornen Fenſterſcheiben

Und ſpielte zitternd um ein Frauenbild,

Das auf die bleiche Stirn des todten Dulders

Unſäglich ſchön und mitleidsvoll herabſah.

Darunter aber wand ein welker Kranz

Sich grün um ein vergilbtes Atlasband;

Drauf ſtand, voreinſt von Freundeshand geſchrieben,

Das Sprüchlein: Lorbeerbaum und Bettelſtab!
7
[][]

Emanuel Geibel.

[]

Und eine Krone iſt gefallen von dem Haupte eines Königs!
Und ein Schwert iſt gebrochen in der Hand eines Feldherrn!
Und ein Hoherprieſter iſt geſtorben!

Ludwig Börne.
[101]

Emanuel Geibel.


1.

Dir ward das Köstlichſte verliehen

In dieſer Tage Sturm und Drang:

Ein Sinn für ewge Harmonieen

Und eine Seele voll Geſang.

Dem Jüngling lauſcht, es lauſcht dem Greiſe

Das deutſche Volk allüberall,

Und lieblich klingt die ſüße Weiſe:

Dein Herz iſt ſeine Nachtigall!
Denn wer verſtand wie du das Weſen

Der deutſchen Sehnſucht und ihr Leid?

Zu ihrem Herold auserleſen,

Warſt du das Echo deiner Zeit!

In dämmerſchwülen Tagen ſangſt du

Dein: Wache auf! dem deutſchen Reich

Und nach dem Sieg von Sedan ſchlangſt du

Das Oelblatt in den Lorbeerzweig.
[102]
Doch nicht die Zeit nur und ihr Wüthen

Hat dir das Harfenſpiel bewegt,

Die duftigſten der Liederblüthen

Dein eignes Herz hat ſie gehegt.

Doch was es immer auch erfahren,

Stets blieb dir heilig deine Kunſt,

Und eingedenk des Ewig-Wahren,

Verſchmähteſt du des Pöbels Gunſt!
Dem Herrn befahlſt du deine Wege

Und übteſt fromm dein frommes Amt,

Dem Lenz gleich, der das Dorngehege

Mit rothen Roſen überflammt.

Denn alles, was mit ſeiner Schöne

Das Herz erquickt in Wald und Flur,

Du gabſt ihm Worte, gabſt ihm Töne,

Ein Hoherprieſter der Natur!
Und jetzt in einer Zeit der Gährung,

Der ſchon das Blut zu Eis gerinnt,

Weil ſie in eitler Selbſtverklärung

Den Thurmbau Babels neu beginnt:

Wer ſchickt ſie aus, die Friedenstaube,

Wer bricht das Brot und trinkt den Wein?

Du biſt es, du, du und dein Glaube,

Dein Glaube an ein Gottesſein!
[103]
Wohl tanzt noch immer die Verblendung

Wie ehmals um das goldne Kalb,

Doch naht die Zeit ſchon der Vollendung

Und weichen wird von uns der Alp.

Denn nicht umſonſt haſt du gerungen,

Wie du gekämpft, haſt du geſiegt:

Von Sphärenharmonie umklungen,

Ein Aar, der in die Sonne fliegt.
Schon ſteht die Kunſt nicht mehr am Pranger,

Schon winkt aufs Neu ihr Bahn auf Bahn,

Und unſre Zeit ſieht zukunftsſchwanger

Das kommende Jahrhundert nahn.

Drin werden tauſend Blüthen blinken

In neuer Glorie neuem Schein,

Und mag die Frucht auch andern winken,

Die Saat, die goldne Saat iſt dein!“
O alte Zeit, o altes Lieben,

Euch ſchleift kein Stahl, kein Diamant!

Was ſo vor Jahren ich geſchrieben,

Heut nahm ich's wiederum zur Hand.

Und wieder ſprang mit jedem Schlage

Mein Herzblut an zu ſchnellerm Lauf,

Und eingedenk verſchollner Tage,

Schlug ich die Juniuslieder auf.
[104]
Ferndraußen ſchwebte durch die Lüfte

Der erſte Sonntag im April,

Durchs Zimmer flog's wie Veilchendüfte

Und heimlich war's und kirchenſtill.

Vom Thurm nur läuteten die Gocken

Den Winter in ſein Wittwerbett,

Und frühverwehte Blüthenflocken

Warf mir der Lenz aufs Fenſterbrett.
Ich aber ſaß und las ſie wieder —

O Gott, mir war das Herz ſo ſchwer!

Ich las die alten goldnen Lieder:

Das Heimweh und die Nacht am Meer.

Im Mondſchein ſchritt ich weltvergeſſen

Hinunter und hinauf den Strand,

Und ſacht umrauſchten die Cypreſſen

Das Inſelmeer von Griechenland.
Des Südens Sterne ſah ich ſcheinen,

Doch fühlt ich nicht des Südens Luſt,

Der Liebe langverhaltnes Weinen

Rang ſchluchzend ſich aus meiner Bruſt.

Als müßt' es wonnig ſich verbluten,

Vor Sehnſucht ward das Herz mir weit,

Und durch mein Sinnen ließ ich fluthen

Das Heimweh nach der Ewigkeit.
[105]
Und wieder dacht ich dann begeiſtert

Des Sängers, der dies Lied einſt ſang,

Der eine Welt mit ihm bemeiſtert

Und Zeit und Raum mit ihm bezwang.

Saß er jetzt auch in ſich verſunken,

Ein Liederbuch auf ſeinen Knien,

Und lauſchte lenz- und wohllautstrunken

Dem Glockenſpiel von St. Marien?
Er, der Brundhilde, die Walkyre,

Aus Island rief an unſern Rhein ...

Da horch, ein Klopfen an der Thüre

Und laut erſchallte mein Herein!

Und eilvoll trat zu mir ins Zimmer

Mein Freund, der mir die Rechte bot;

Schon ſeines Auges feuchter Schimmer

Sprach, eh's ſein Mund ſprach: Er iſt todt!
Er ſtarb, noch eh die Morgenröthe,

Eh ſich die Nacht ins Auge ſahn;

Mit Uhland, Schiller und mit Goethe

Wallt nun auch Geibel ſeine Bahn.

Die Stirn vom Lorbeer ſanft umfächelt,

Mit ſeinem Herrn iſt er vereint;

Sein bleiches Antlitz liegt und lächelt,

Die ewge Liebe aber weint. —
[106]
O wehmuthweiche Trauerkunde,

Wie ſchlugſt du ſchmerzlich an mein Ohr;

Mir war's, als ob ich jäh zur Stunde

Ein Stück von meinem Selbſt verlor!

Der Tod, der bleiche Allvernichter,

Blies mir ins Herz die Melodie:

O, nun iſt todt der letzte Dichter

Und mit ihm auch die Poeſie!
Kein armes Wörtchen konnt ich ſtammeln,

Ein Schauer war's, der mich beſchlich,

Erſt mählig wußt ich mich zu ſammeln,

Der Bann, der mich umfangen, wich.

Der Muſe Flügel hört ich ſchlagen

Und all mein Weſen war entſtammt:

Halt ein, rief ich, mein Freund, mit Klagen,

Nun feiern wir ſein Todtenamt!
Und ſacht hieß ich ihn niederſitzen,

Ich aber wandte mich geſchwind,

Der blanken Lederbände Blitzen

Zog magiſch mich ans Bücherſpind.

Durchs Fenſter fielen Sonnenſtäubchen

Und bauten einen goldnen Steig

Und draußen wiegte ſich ein Täubchen

Auf windbewegtem Fliederzweig.
[107]
Ich aber las ſchnell längs den Brettern

Die bunten Titel Band für Band,

Bis endlich mit vergilbten Lettern

Ich ein verſtaubtes Büchlein fand.

Gepreßt lag eine Schlehdornblüthe

Drin als ein Pfand verjährter Luſt;

Ich ſchlug es auf, mein Antlitz glühte,

Und klangvoll brach's aus meiner Bruſt:
„Es iſt ein hoher Baum gefallen,

Ein Baum im deutſchen Dichterwald,

Ein Sänger ſchied, getreu vor allen,

Von denen deutſches Lied erſchallt.

Wie ſtand mit ſeinem keuſchen Pſalter

Im jüngern Schwarm er ſtolz und ſchlicht;

Ein Meiſter und ein Held wie Walther

Und rein ſein Schild, wie ſein Gedicht!“
Ein gluthgeborſtner Feuerofen,

In lohen Flammen ſtand mein Herz;

Rollt doch ein Klang durch dieſe Strophen,

Ein Klang wie von korinthiſch Erz!

Und weiter, immer weiter las ich

Des todten Dichters eignes Lied;

Daß er's einſt Uhland ſang, vergaß ich

Und wußte Eins nur noch: Er ſchied!
[108]
„Er ſchied, es bleibt ſein Mund geſchloſſen

Im Wort ſo karg, im Lied ſo klar:

Der Mund, draus nie ein Wort gefloſſen,

Das ſeines Volks nicht würdig war.

Er ſchied: doch waltet ſein Gedächtniß

Unſterblich fruchtend um uns her,

Das iſt an uns ſein groß Vermächtniß:

So treu und deutſch zu ſein, wie er!“
Ich ſchwieg, der Lenz hielt draußen Feier

Und unſre Herzen ſchlugen drein,

Und leuchtend über Wald und Weiher

Sein Goldnetz wob der Sonnenſchein.

Verwehte Frühlingsdüfte kamen

Von fernher über Fluß und Ried

Und wie ein feierliches Amen

Klang hoch im Blau ein Lerchenlied.
[109]

2.

Und wieder hieb,

Taub für den Wahnwunſch,

Den tauſendfältigen

Ihres Geſchlechts,

Unbarmherzig

Mit eherner Schneide

Die Zeit in ihr Kerbholz:

Wieder ein Tag!

Und wieder nun wandelt,

Fröhlich wie immer,

Singend der Abend

Durch das Goldthor des Weſtens

Den hängenden Gärten

Der ſinkenden Sonne zu

Und leis verhauchen,

Vor Wehmuth zitternd,

Ihr tönendes Leben

Ins Spätroth die Glocken,

Die Trauerglocken

Zu Lübeck, der Stadt.
Und immer ſtiller

Wird es und ſtiller —

Und immer dunkler!
[110]
Längſt iſt zerſtoben

In alle vier Winde

Des todten Dichters

Letztes Geleit.

Nur hie und da noch

Am Brunn auf dem Marktplatz,

Oder im Winkel

Der dämmrigen Gaſſe,

Mit verſchränkten Armen

Gelehnt an die Hausthür,

Erzählt vertraulich

Der Nachbar dem Nachbarn,

Aus braunem Meerſchaum

Bläuliche Wölkchen

Ins Zwielicht blaſend:

Wie auch er,

Schon am frühen Morgen,

Den wuchtigen Hammer

Bei Seite gelegt

Und ſtaubüberdeckt

Den blauen Werkeltagskittel

Vertauſcht mit dem ſchwarzen,

Wohlgebürſteten Sonntagsrock.

Wie er, begleitet

Von ſeinem Vetter,

Dem Fabrikanten,

Drauf gravitätiſch

In modiſchem Aufputz
[111]
Dem Zuge gefolgt ſei;

Und wie auch er dann

Von ſeinem Gönner,

Dem Herrn Senator,

Die Gunſt ſich erwirkt

Und dem großen Todten,

Dem Ehrenbürger

Der freien Vaterſtadt,

Feuchten Blicks

Eine handvoll Erde

Ins Grab geworfen.
Und immer dunkler

Wird es und dunkler —

Und immer ſtiller!
Das bleiche Antlitz

Von Schleiern umhangen,

Von Haus zu Haus

Wandelt die Nacht.

In Erkern und Giebeln

Blitzt es von Lichtern auf

Und leuchtende Streifen

Fallen wie Gold

Durch die Scheiben der Fenſter

Weit auf die Gaſſe.
[112]
Kaum, daß ein Wandrer,

Der nachtverſpätet

Den Heimweg ſucht,

Sie quer durchſchneidet.

Aber droben im traulichen Zimmer

Am warmen Kamin,

Umringt von den Kindern,

Sitzt die Hausfrau;

Und auf den Schooß

Hebt ſie ihr jüngſtes

Blondes Töchterchen,

Die kleine Ada.

Und hochaufhorchend

Vernehmen die Mäuschen,

Daß der alte Mann

Mit dem weißen Schneebart,

Den ſie erſt geſtern noch,

Umduftet von bunten

Zaubriſchen Blumen,

In einem ſchmalen,

Glasüberdeckten,

Schwarzen Kaſten

Bleich und reglos

Liegen geſehn,

Ein König geweſen,

Deſſen Reich

So ſchrecklich groß war,

Daß drin die Sonne
[113]
Nie untergegangen.

Und wie die Mutter

Den kauernden Kindern

Dann weiter erzählt,

Daß der todte König

Auch noch ein Zaubrer war,

Der die Sprache der Vögel verſtand

Und das Duften der Blumen,

Das Wehen der Winde,

Das Funkeln der Sterne,

Das Rauſchen der Wälder,

Ja, ſelbſt den Herzſchlag der Menſchen,

In wunderſelige,

Geheimnißſüße

Zauberlieder zu bannen gewußt:

Da nickt auch der Vater,

Der ſeitab im Lehnſtuhl

Ueber die Zeitung gebückt

Mit halbem Ohr

Der Erzählerin lauſcht,

Und ſtill überdenkt er

Das Leben des Dichters,

Des todten Dichters

Und ſiehe auch ihm,

Dem Skeptiker, däucht's nun

Faſt wie ein Märchen!
8[114]
Und weiter draußen,

Immer weiter,

Von Haus zu Haus,

Wandelt die Nacht.

Immer ſtiller

Wird's auf den Gaſſen,

Immer dunkler

Werden die Fenſter

Und ein Licht liſcht nach dem andern aus.
Wo aber einſam,

Die ſchlafloſen Züge

Vom Goldlicht der Lampe

Sanft überhaucht,

Noch ein Menſchenkind wacht,

Da wühlt es ſich nicht mehr

In düſtre Probleme,

Da fragt es ſich nicht mehr

Um Sein oder Nichtſein,

Wie weiland Hamlet

Oder Fauſt:

Ein kleines Büchlein

Mit blankem Goldſchnitt

Hält es entzückt

In ſeiner Hand,

Und golden träufelt
[115]
Aus jedem Liede,

Das luſtberauſcht

Sein bebendes Lippenpaar

Klangvoll ausſtrömt,

Bezaubernder Wohllaut

Ihm in's Ohr.
Er aber, er,

Der einſt vor Jahren,

Vor langen Jahren,

Mit ſeinem warmen,

Rothen Herzblut

Die Blätter beſchrieben,

Daß nach Jahrhunderten noch

Der ſpätgeborene Enkel —

Zieht er ſie prüfend

Aus ſeinem Erbſchrein

Wieder ans Licht —

Von ihrer Räthſelkraft

Magiſch durchzuckt wird

Und die Blätter,

Die unſcheinbaren Blätter,

Nicht hergeben will,

Nicht um Gold und Geſteine:

Er ſchlummert die Nacht nun,

Die erſte Nacht auf dem Friedhof!
[116]
Silbern ſtiehlt ſich der Mond

Durch das grüne Gezweig

Und ſpiegelt ſich wieder

In den tauſend blanken Blättern,

Die trauernd der Lorbeer

Seinem Liebling

Aufs Grab geſtreut;

Und weinend breitet

Die ewige Liebe

Ihre ſchirmenden Fittige

Drüber aus.
Noch hat der Lenz

Aus ſeinem Füllhorn

Die ſchönſten Blumen,

Die lieblichſten Düfte

Nicht über die Erde geſtreut,

Denn noch weilt die Nachtigall

„Fern im Süd“

Und klang- und duftlos nur

Grünt der Flieder.

Aber die Liebe,

Die allurewige,

Glaubend und hoffend

Hebt ſie ihr Antlitz,

Ihr thränenumflortes,

Hoch empor
[117]
Zu den ewigen Sternen;

Und mitleidsvoll

Leiht der Allgütige

Ihrer Klage ſein Ohr.

Mit dunklen Schleiern

Die Gräber um ſie

Rings überdeckend,

Zeigt er der Lächelnden

Ein farbenſchillerndes

Bild der Zukunft.

Da wird es licht um ſie,

Ihr von den Augen

Fällt es wie Schuppen

Und durch ihr Sinnen

Zuckt's wie ein Traumgeſicht:
Hochauf recken

Die Thürme von Lübeck,

Die ſieben Thürme,

Die vielbeſungnen,

Sich blitzend ins Morgenroth

Und aus den Gärten,

Den vollerblühten,

Am Ufer der Trave,

Schluchzt nun die Nachtigall

Ihr erſtes Lied!

Aber durchs Stadtthor
[118]
Auf ſtaubiger Straße

Am ſchwarzen Gitter

Des Friedhofs vorbei

Ziehen zwei Burſche,

Zwei junge Burſche

Mit Ränzel und Knotenſtock,

In die weitweite Welt,

Und jubelnd ringt ſich

Aus ihren Kehlen,

Aus ihren Herzen

Das alte Lied:

Der Mai iſt gekommen!
Der Mai iſt gekommen!

Nicht ſie allein nur

Sind's, die es ſingen:

Ein ganzes Volk,

Eine ganze Welt ſingt's!

Und auch er ſelber,

Der Schwan von Lübeck,

Freudig nun ſtimmt er

Mit in ſein Lied ein;

Iſt doch auch ihm nur

Nach irdiſchem Winterleid

Himmliſche Lenzluſt

Herrlich erblüht.

Auf ſchönerem Stern
[119]
Der dunklen Schatten

Der dunklen Erde

Eingedenk,

Webt eine Glorie

Ihm um das Haupt nun

Das kleine Wörtchen:

Unſterblichkeit!
Alſo ſinnend

Und in das Göttliche

Tief ſich verſenkend,

Vergißt die Liebe,

Die ewige Liebe,

Rund um ſich her

Tod und Verweſung

Und durch das Herz ihr

Zittert das Echo,

Das wundertröſtliche:

„Hoffe du nur!“
Aber die Stunden,

Die lachenden Dirnen,

Goldſohlig wandeln ſie

Ueber das Grab.

Und wie allmälig

Korn auf Korn
[120]
Durch die Sanduhr rinnt,

Blitzt es röthlich

Am Horizont auf.

Flammend entſteigt

Die jüngere Sonne,

Die Morgenſonne

Des erſten Oſtertags,

Dem wogenden Fluthenmeer

Der blauen Oſtſee

Und lächelnd grüßt ſie,

Mit tauſend goldnen

Flunkernden Lichtern

Es blitzend umſpielend,

Zum erſten Mal —

Das Grab ihres Dichters.
[]

Ein Heroldsruf!*)

[]

Was Du ererbt von Deinen Vätern haſt,
Erwirb es, um es zu beſitzen!

Goethe.
[123]

Ein Heroldsruf!


Ich ſtand als Kaiſers Ehrenhold

Voreinſt in Friedrich Rothbarts Sold

Und ſchaute noch die Herrlichkeit

Der goldnen Hohenſtaufenzeit.

Herr Du mein Gott! das war ein Leben,

Wenn hoch ihr Schlachtpanier gerauſcht

Und wir den kargen Kranz der Reben

Um einen Lorbeer eingetauſcht!

Da ſchien die ganze weite Welt

Nur aufs Germanenthum geſtellt,

Und deutſche That und deutſches Wort

Gebot im Süd und galt im Nord;

Geſühnt war Tribur und Kanoſſa,

Denn unſer Held hieß Barbaroſſa!

O, wie doch dieſes Namens Hauch

Noch immer mir das Herz erfreut,

Als ob ein blühender Roſenſtrauch

Mir alle ſeine Düfte ſtreut!
[124]
Wir dienten ihm im Heeresbann

So an die hunderttauſend Mann,

Doch hätte Jeder wohl ſein Leben

Mit Freuden für ihn hingegeben!

Ich bin ſo manches liebe Mal

Ins Welſchland vor ihm hergeritten,

Wenn über uns ins Alpenthal

Vom Felsgrat die Lawinen glitten.

Der Pfad war eng, von rechts und links

Umziſchten uns die welſchen Speere,

Doch mitten durch die Feinde gings

Zu ſeiner und zu unſrer Ehre.

Dann ſprengte er wohl ſiegbewußt

Dicht neben mir auf ſeinem Rappen,

Ich aber jauchzte auf vor Luſt

Und hoch hielt ich das Kaiſerwappen.

So kämpften wir uns wacker durch

Und ſtürmten manche Felſenburg,

Bis endlich wir in welſchen Landen

Die köſtlichſte Belohnung fanden.
Wohl ſind ſie ſchön, Germaniens Gauen

Und ſagenraunend rauſcht der Rhein

Und lieblich iſt's, in ihn zu ſchauen

Beim Sonnen- wie beim Mondenſchein;

Denn rückgeſpiegelt ſiehſt Du blinken

In ihm der Burgen ſchlanken Bau
[125]
Und tauſend goldne Sterne ſinken

Des Nachts in ſeinen Wellenthau:

Doch wem des Südlands Wunderdüfte

Nur einmal Haupt umſpielt und Bruſt,

Dem dünken rauh die deutſchen Lüfte

Und ſehnend lockt ihn ſeine Luſt,

Dahin zu ziehn auf ſchnellen Füßen,

Wo hoch der Alpen Firne glühn,

Und wandernd mit Geſang zu grüßen

Das Land, wo die Orangen blühn.

Italiens ſonnige Gefilde

Sind ihm der Sel'gen ſel'ges Land,

Darüber ſich in ſanfter Milde

Ein ewig blauer Himmel ſpannt.

Vergeſſen mit dem deutſchen Harme

Hat er das Lied der Lorelei

Und wirft ſich jauchzend in die Arme

Der ſonnbeglänzten Lombardei!
So iſt es Jedem noch ergangen,

Der einſt mit Kaiſer Rothbart ſtritt;

Auch ich hab mich nach Südlands Prangen

Geſehnt, wenn ich ins Nordland ritt.

Doch wenn dann nach den ſieben Hügeln

Sich wieder unſer Troß gewandt,

Dann war's, als ſchwebten wir auf Flügeln,

So ſchnell durchflogen wir das Land.
[126]
Venetiens ſchimmernde Paläſte

Verſchwammen kaum im Morgenduft,

Da grüßte ſchon die deutſchen Gäſte

Der Thurm Bolognas durch die Luft.

Doch weiter ging's; und immer milder

Umfloß uns Luft und Licht und Lenz,

Bis wir das ſchönſte aller Bilder

Erſchaut, das göttliche Florenz.

Doch ach, ſo ſchnell wie es erſchienen,

So ſchnell war es auch ſchon verſunken,

Und weiter zogen ſchönheitstrunken

Wir längs des Hangs der Apenninen.

Durch alter Tempel Säulenreſte

Ging lachend unſer Siegeslauf

Und mehr als eine welſche Veſte

Nahm uns in ihre Mauern auf.

Im Pinien- und Olivenhain,

In manches Kloſters ſtiller Zelle,

Siener- und Orvietowein,

Wir probten ihn an ſeiner Quelle.

Durch Ufergrün und Blüthenſchnee

Ging's rund um den Bolſenerſee

Und weiter mit Triumphgeſang

Dem gelben Tiberſtrom entlang,

Bis endlich auf den ſieben Hügeln

Die Stadt der Städte ſich erhob,

Und jauchzend, mit verhängten Zügeln,

Ging's thalwärts, daß es Funken ſtob!
[127]
O Wonne, wenn nach langem Ritt

Durch Säulenſturz und Tempelbogen

Als Sieger wir in Schritt und Tritt

Durch Roms bekränzte Gaſſen zogen!

Quartier nahm Jeder, wo er wollte,

Der Becher klang, der Würfel rollte,

Und ans Geſims hing ſein Gewaffen

Beim Fürſten der und der beim Pfaffen.

Dann ging erſt unſer Leben an,

Trotz Weh und Ach, trotz Papſt und Bann.

Juchhei, das war ein flottes Schreiten,

Den langen Flammberg an der Seiten,

Die Straßen auf, die Straßen ab;

Und oft, den Schmuckſten zu belohnen,

Fiel hoch von marmornen Balkonen

Ein rother Roſenſtrauß herab.

Und überall, wohin wir ſchauten,

Noch nie von uns erblickte Bauten;

Das war ein Blinken, Glitzern, Gleißen:

Statüen, Obelisken, Hermen,

Theater, Circuſſe und Thermen

Und wie die Wunder alle heißen!
Ja, es iſt ſchön das ewge Rom

Mit ſeinen Kirchen, Tempeln, Brücken;

Ein farbenſchillerndes Phantom

Wird es dir Herz und Sinn berücken.
[128]
Doch ſchöner noch dünkt mich Byzanz,

Die goldne Stadt am goldnen Horn;

Ein nie erſchöpfter Wunderborn,

Strahlt ſie in märchenhaftem Glanz.

Denn dort, auch dorthin kamen wir

Auf unſern vielverſchlungnen Wegen

Und trugen kühn das Kreuzpanier

Dem Sultan Saladin entgegen.
Das war ein Kampf! Oft gell und ſchrill,

Mit Durſt und Hunger, Peſt und Seuchen,

Und oft auch wieder todtenſtill,

Man hörte nur die Pferde keuchen.

Wir aber wankten wie im Traum,

Die Zunge klebte uns am Gaum,

Der Sand ſtieg ſchier bis übers Knie

Und ſeufzend klang's: Hilf, Sanct Marie!

Nur Einer, Einer für uns wachte.

Er ſprach uns Muth und Hoffnung ein,

Bis wieder uns das Kriegsglück lachte

Im Palmenthal beim Cyperwein.

Der Rothbart war's, der greiſe Held,

Dem ſilbern ſchon die Locke wallte,

Der ſtets als Erſter trat vors Zelt,

So oft das All il Allah hallte.

Und wenn das Sarazenenheer

Dann rund um unſer Lager ſauste,
[129]
Dann war es wieder er, nur er,

Vor dem's den wilden Heiden grauste.

Er war ein Schild uns, war der Stern,

Der ins gelobte Land uns wies,

Und den das Heer als ſeinen Herrn,

Als ſeinen Hort und Hirten pries.

Und wär zum Glück der gelben Horden

Er uns nicht jäh entriſſen worden,

Es hätte binnen wenig Wochen,

Anſtatt vom Wüſtenhauch umweht,

Des Kaiſers Pater ſein Gebet

Am heilgen Grabe ſelbſt geſprochen.

Doch als des Salephs falſche Wogen

Ins feuchte Nixengrab ihn zogen,

Da war es aus mit unſerm Hoffen,

Und jäh vom Todespfeil getroffen

Zerfiel ſein ſchwarzes Flügelpaar

Germaniens nie bezwungner Aar.
Schwer war der Schlag und groß das Leid

Und an brach eine trübe Zeit,

Die Sonne ſtach, die Wunde rann

Und hingerafft ward Mann um Mann.

Und wem die Sarazenenklinge,

Wem Durſt und Hunger gnädig waren,

Den ſchlug die ſchlimmſte der Gefahren,

Den fing die Peſt in ihrer Schlinge.
9[130]
Da war's denn wohl kein großes Wunder,

Wenn Jeder, der noch aufwärts blickte,

Den ganzen Sarazenenplunder

Ergrimmt zu allen Teufeln ſchickte!

Zu weit war uns der Weg, zu krumm,

Und ach, noch fern lag Chriſti Grab;

Da kehrte mehr als Einer um —

Auch ich nahm mir das Kreuzlein ab!
Auf einer griechiſchen Triere,

Vorbei der Inſel der Cythere,

Fuhr ich meerüber nach Korinth;

Ein Leben, voll von Aventiuren,

Ein Wanderleben, wollt ich führen,

Unſtät und frei, frei wie der Wind.

In Korfu, wo San Markos Fahnen

Von Thürmen wehten und Altanen,

Trat ich ins Heer der Republik;

Ich kämpfte auf Venedigs Meeren

Und purpurn ſchwammen die Galeeren

Beim Klang der mauriſchen Muſik.

Auf dunkelblauem Meerespfade,

Entlang die ſchimmernden Geſtade,

Ging pfeilſchnell unſer Siegeslauf;

Auf Capri pflückten wir uns Myrthen

Und lauerten im Schutz der Syrten

Den lybiſchen Korſaren auf.
[131]
Beim Sterngeflimmer der Plejaden

Durchruderten wir die Cycladen

Und Gold, nur Gold war unſre Fracht;

Und wieder von der Inſel Paros

Ging's ſüdwärts, wo der Leuchtthurm Pharos

Die Ptolemäerſtadt bewacht.

Das Wunderland der Pyramiden,

Die Zauberwelt der Abbaſſiden,

Selbſt ſie, ſie ſchloſſen ſich uns auf:

So, ewig wechſelnd, manches Jährchen

Schwamm ich, mir ſelbſt ein buntes Märchen,

Das Mittelmeer hinab, hinauf!

Doch ob auch noch ſo blau die Wogen,

Nach Deutſchland fühlt ich mich gezogen,

Nach Deutſchland kehrt ich auch zurück;

Ich fuhr den Rhein hinab bei Bingen

Und tief im Herzen fühlt ich's klingen:

Nur in der Heimat wohnt das Glück!

Und weſtwärts dann im Morgengrauen

Zog ich durch Frankens goldne Auen,

Vorbei an Dörfern, Weilern, Seen;

Und oft ſang ich auf grüner Haide,

Wie Walther von der Vogelweide:

Der Lande hab ich viel geſehn!

Doch was gilt Frankreich mir, was Spanien,

Was Gräcien gegen dich, Germanien,

O du mein liebes Vaterland!

Auf Jahre warſt du mir verloren,
[132]
Doch heut fühl ich mich neu geboren:

Heil mir, daß ich dich wiederfand!
So, über Thäler, über Hügel,

Ward mir gemach die Ferne nah,

Und meine Sehnſucht lieh mir Flügel,

Bis endlich ich die Wartburg ſah.

Ich ſah ſie hoch vom Berg mir winken,

Den ſteilen Pfad klomm ich hinauf,

Und mir im Auge fühlt ich's blinken,

Und mir im Herzen klang's: Glückauf!

Ja, alles war noch wie vor Zeiten,

Die Brücke dort und dort der Thurm,

Drin ich beim Loh'n von eichnen Scheiten

So oft verträumt den Winterſturm.

Umkrächzt von Dohlen und von Raben,

Hat er, vom nahen Wald umrauſcht,

Des alten Burgwarts jungen Knaben

Gar oft bei ſeinem Spiel belauſcht.

In dieſes Gras bin ich geſunken,

Von dieſem Baum ſang ich mein Lied,

Aus jenem Born hab ich getrunken,

Vor jenem Kreuz hab ich gekniet.

Ich hab mir unter dieſer Rüſter

Die erſten Sporen umgeſchnallt

Und dort ſteht auch noch grau und düſter

Die alte Steinwand aus Baſalt!
[133]
Ach, jene weinumrankte Mauer

War oftmals meiner Sehnſucht Ziel,

Wenn Nachts ein dunkler Regenſchauer

Lautplätſchernd auf die Dächer fiel!

Blauſchwärzlich um die blanke Rüſtung

Den Reitermantel, den ich trug,

Lehnt ich mich träumend an die Brüſtung

Und fühlte, wie das Herz mir ſchlug.

Denn über mir ſchwang ſich ein Gaden

Phantaſtiſch in die Wetternacht

Und golden hinterm Fenſterladen

War noch ein Lichtlein angefacht.

Dort ſaß ſie fleißig hinterm Rocken

Und ſpann und ſang und ſang und ſpann,

Indeß das Seidenweich der Locken

Ihr golden um die Schläfen rann.

Ich hörte, wie die Spindel ſurrend

Sich rythmiſch um ſich ſelber ſchwang

Und, felldurchwärmt, ſchlich leiſe ſchnurrend

Ihr Kätzlein um die Ofenbank.

O ſtillverſchwiegne Kemmenate,

Noch heute ſchwellt ſich mir die Bruſt,

Noch heute pocht's in ihr: „Renate!“ —

Ob ſie's gewußt? Ob ſie's gewußt?

Ich weiß, ich hab dich nie vergeſſen,

Und oft hab ich an dich gedacht,

Wenn ich am Lagerſaum geſeſſen

In Syriens blauer Sommernacht;
[134]
Wenn ich mich wild im Tanz geſchwungen

Auf Maltas braunem Felſenriff

Und übers Enterbrett geſprungen

Aufjauchzend ins Piratenſchiff!

Du biſt als Traum zu mir gekommen

Ums Morgen- und ums Abendroth —

Und ſchluchzend hab ich einſt vernommen,

Daß du ſchon lange, lange todt!

Daß ſich im Schatten jener Linde

Um dich ein ſchwarzes Kreuz erhub,

Aus jenem Holz, in deſſen Rinde

Ich einſt vielleicht „Renate!“ grub! .....
O Gott, wie lang, wie bitterlange,

Hab ich die Heimat nicht geſehn!

Doch ſtill, mein Herz, nun ſei nicht bange,

Nun ſollſt du wieder auferſtehn!

Zwar hegt dich keines Sängers Buſen,

Doch hold ſind ja auch mir die Muſen,

Und Landgraf Hermann iſt bekannt

Als edler Fürſt im ganzen Land!

Und ein trat ich durchs Bogenthor,

Ich traf ihn grad bei ſeiner Linde

Und trug umringt vom Burggeſinde,

Beſcheiden meine Bitte vor.

Und ſiehe da, er war mir hold

Und nahm mich auf in ſeinen Sold!
[135]
Und nun ging mir ein Leben an

In holder Frauen holdem Bann,

In edler Sänger edlem Kreis,

Daß ich es kaum zu ſchildern weiß.

Von Falknern und von Bogenſpannern,

Von Kranzgewinden und von Bannern

War das ein farbenprächtig Wogen,

Und allenthalben kam gezogen

Durch Winterſchnee und Sommerſtaub,

Durch Herbſtblattfall und Frühlingslaub

Ein Heer von ritterlichen Sängern,

Von Fahrenden und Herzensfängern.

Von Harfenklang und Speerwurf klang's

Im Burgpallas tagaus, tagein

Und edle Herzen werbend drang's

Bis weit ins deutſche Land hinein;

Denn nichts ſtand höher in der Gunſt

Des Burgherrn als die Sangeskunſt.

Und wahrlich, nicht vergebens hielt,

Vom Hauch der Poeſie umſpielt,

Der Landgraf Hermann für und für

Den Sängern offen Thor und Thür.

Denn prächtig war die Tafelrunde

In ſeinem goldnen Prunkgemach

Und wohl der Edelſte im Bunde

War Wolferam von Eſchinbach;

Auch Walther von der Vogelweide,

„Wer deß vergäß, der thät mir leide,“
[136]
Herr Hartmann von der güldnen Aue,

Der Waidmann Biterolf, der Schlaue,

Und auch der Schreck der alten Weiber,

„Heinrich, der tugendhafte Schreiber!“

Und wenn Turnier und Sangesfehden

Den edlen Herrn Ergötzung ſchufen,

Dann war's mein Amt, mit Heroldsreden

Im Prunkſaal und im grünen Gras

Des Tages Sieger auszurufen,

Und hei! wie gerne that ich das!

Denn klingen Wort und That wie Erz,

Dann freut's ein braves Reiterherz.

Nur einmal ſchlug es Weh und Ach,

Als Wolferam von Eſchinbach

Nach wildverzweiflungsvollem Ringen

Den armen Heinz von Oſterdingen

Durch ſeiner Lieder Kraft bezwungen

Und ſchmählich in den Staub gerungen.

Noch heute lebt im Volk die Sage

Von jenem alten Sängerkrieg

Und preiſen wird man Wolframs Sieg

Bis an das Ende aller Tage!

Denn als ſchon grinſend Meiſter Hans

Sein Richtſchwert prüfte mit dem Finger,

Nahm Wolfram ſeinen goldnen Kranz

Und reichte ihn — dem Oſterdinger!

Hei, wie da Männerherzen klopften

Und blaue Frauenaugen tropften,
[137]
Als nun verſöhnlich die Genoſſen

Sich ſtumm in ihre Arme ſchloſſen!

Dann aber bogen ſie ihr Knie,

Der Fürſt ſtieg von des Thrones Stufen

Und lieber hab ich wohl noch nie,

Was meines Amtes, ausgerufen!

Die ganze Wartburg ſchwamm in Jubel,

Der Becher nur, kein Schwert erklang,

Zum Reigentanz ward bald der Trubel,

Das Leid zur Luſt, die Luſt Geſang.
So ſchwanden wechſelnd mir die Tage,

Ein Jahr ums andre ſacht verrann,

Und ſchon blies mich des Alters Plage,

Des Alters ſchleichend Siechthum an.

Nun ward Erinnrung mein Genoſſe,

Erinnrung ſang mir Tag und Nacht

Von jener Zeit, da ich zu Roſſe

Dem Kaiſer vorritt in die Schlacht.

Doch todt der Held! Nur ſein Gedächtniß

Klang noch im Volke rings umher,

Doch ſeine Krone, ſein Vermächtniß,

Mit jedem Tag zerfiel ſie mehr.

Geſchändet war die deutſche Ehre

Durch Fürſtenmord und Pfaffentrug

Und nicht wie ſonſt von Meer zu Meere

Hielt Deutſchlands Aar mehr ſeinen Flug.
[138]
Doch ſank das Reich auch ins Verderben,

Noch einmal, eh ich ging zu ſterben,

Wollt ich mir ſeine ſieben Gauen

Im Glanz der Frühlingspracht beſchauen.
Drum wieder, als der Schnee geſchmolzen,

Gab ich mein Amt dem Burgherrn ab

Und ritt mit Armbruſt, Schwert und Bolzen

Getroſt durchs Thor ins Thal hinab.

Durch Wäldergrün um Dorf und Weiler

Ritt ich fürbaß beim Blätterſäuſeln

Und oft ſah ich den Rauch der Meiler

Still träumend in die Luft ſich kräuſeln.

Durch mancher Burg zerfallne Häuſer

Ging's weiter dann ins Land hinein

Und einſt kam ich im Abendſchein

Auch an den alten Berg Kyffhäuſer.

Der Herr war müd, ſein Rößlein auch,

Ich band es los und ließ es graſen

Und lagerte mich in den Raſen

Tief unter einem Hollerſtrauch.
Dem Schickſal Deutſchlands ſann ich nach,

Dem Schickſal meines Vaterlands,

Bis mir vom Abendſonnenglanz

Das Salz durch beide Wimpern brach.
[139]
Des Reiches Herrlichkeit verhandelt!

Und wann, wann wird ſie auferſtehn?

O Zeit, wie haſt du dich verwandelt!

O Herz, nun darfſt du ſterben gehn!

Wie Kaiſer Rothbart möcht ich nun

Tief, tief im Schooß der Erde ruhn!
Und wie ich alſo ſaß und ſann,

Da that ſich auf des Berges Thor

Und ſchimmernd trat ein Rittersmann

In goldner Rüſtung draus hervor.

Er war von königlicher Art,

Wie Silber wallten ſeine Locken,

Doch roth wie Feuer war ſein Bart —

Und nieder kniet ich froh erſchrocken;

Ein Zauber war's, der mich nun bannte,

Denn Rothbart war's, den ich erkannte.
„Hab Dank,“ ſo hub er an zu ſprechen,

„Für deine Treue, Ehrenhold;

Ich weiß, es will das Herz dir brechen,

Weil es mit ſeinem Volke grollt.

Doch ſei getroſt; denn meine Krone,

Nicht ſpurlos ſoll ſie untergehn;

Einſt wird auf neuerſtandnem Throne

Ein neuer Herrſcher auferſtehn,“
[140]
Ein neuer Kaiſer, der gewaltig

Des Reiches goldnes Scepter ſchwingt,

Indeß der Purpurmantel faltig

Die eherne Geſtalt umſchlingt.

Dann wird das deutſche Banner prächtig

Gen Himmel wehn im Morgenſchein

Und wieder dann Alldeutſchland mächtig

Ein einig Volk von Brüdern ſein!

Indeſſen bis auf deutſchem Herde

Die Aſchenglut aufs neu erglommen,

Will tief ich hier im Schooß der Erde

Der Zeiten harren, die da kommen.

Gewappnet und im Kreis der Ritter

Will helfen ich das Reich erſtreiten,

Und eines Sängers goldne Zither

Soll meine That im Lied begleiten.

Doch dich, den treuſten meiner Knappen,

Dich nehm ich wiederum in Sold;

Da, hier mein Schild und hier mein Wappen,

Nimm's hin und ſei mein Ehrenhold;

Nimm's hin und halt im Bergesſchacht

Für unſer Volk die heilge Wacht!“
Er ſchwieg und bot mir ſeine Hand

Und freudebebend ſchlug ich ein

Und dann — noch einen Blick ins Land

Und dann — ging's in den Berg hinein!
[141]
Ein goldig grüner Schimmer blinkte

Auf uns herab aus dem Geſtein

Und tief im Hintergrunde winkte

Uns fernher rother Ampeln Schein.

Dann that, umrauſcht vom Tropfenfalle,

Sich prächtig eine weite Halle

Vor den erſtaunten Augen auf;

Und horch, ein Sänger ſchlug die Zither

Und um ihn drängten ſich die Ritter,

Am Gurt das Schwert, die Hand am Knauf.

Die Panzer ſchmückten Eichenreiſer

Und nieder ſetzte ſich der Kaiſer

An ſeinen Tiſch von Marmelſtein,

Die Häupter ſah man rings ſich neigen,

Und plötzlich dann ein großes Schweigen

Und wach blieb nur der Schlaf allein.

Da ſtand ich mit gelähmten Händen,

Das Waſſer tropfte von den Wänden

Und dunkel brach die Nacht herein,

Und über uns auf grüner Erde

Schlug wild die Zeit auf ihre Pferde,

Die rollenden Jahrzehnte, ein.

Die „kaiſerloſe“ Zeit vertollte

Und auf Neapels Marktplatz rollte

Das blonde Haupt des Konradin;

Die Hanſa baute ihre Flotten,

Die Frau Scholaſtik fing ſich Motten

Und Straßburgs Münſter ſchuf Erwin.
[142]
Dann aus des Mittelalters Wettern

Schoß ſeine Blitze, ſeine Lettern,

Der brave Hans von Guttenberg

Und Dr. Martin griff zum Beſen

Und prügelte mit ſeinen Theſen

Den Papſt durch, Romas Rieſenzwerg.

Drauf Kaiſer Max, „der letzte Ritter“,

Und weiter jenes Hochgewitter,

Der wilde dreißigjährge Krieg;

Zuerſt ein wüſtes Hälſebrechen,

Dann Pudern und Franzöſiſchſprechen

Und endlich wieder mal ein Sieg!

Der alte Fritz nahm ſeine Krücke

Und ſchlug die Reichsarmee in Stücke

Und ſtraffer zog ſich jedes Glied;

Die Schlacht von Roßbach war geſchlagen,

Ein neuer Morgen ſchien zu tagen

Und Goethe ſang ſein erſtes Lied!

Wir aber, tief im Schooß der Erde,

Lauſchten vergeblich auf das: „Werde!“

Denn knöchern ſchlich um uns der Tod,

Und leis nur klirrten die Schwerterſpitzen:

Wann wirſt du endlich uns umblitzen,

O Morgenroth! o Morgenroth!
Doch ſprecht, was ſoll ich euch in Bildern

Hier unſre Leidensnacht noch ſchildern,
[143]
Ihr kennt die alten Sagen ja;

Ihr wißt, wie je nach hundert Jahren

Der Kaiſer aus dem Schlaf gefahren

Und ich die Raben fliegen ſah;

Bis endlich ich mit Horngeſchmetter

Nach ſechs Jahrhunderten den Retter,

Den Retter Deutſchlands, froh begrüßt,

Indeß den Erbfeind zu bekriegen,

Sein Heer von Siegen flog zu Siegen,

Bis Frankreich ſeine Schuld gebüßt!
Und wieder nun von Fels zu Meer

Reicht Deutſchlands Wacht, reicht Deutſchlands Wehr,

Und leuchtender als je vordem

Erglänzt des Kaiſers Diadem.

Und fragt ein Sänger noch im Liede:

„Wo wohnt auf Erden wohl der Friede?“

Dann heißt's: Er wohnt auf Deutſchlands Flur:

Gelöst hat Rothbart ſeinen Schwur!

Ach, heimgekehrt zu ſeinen Ahnen

Schläft er den ewgen Schlummer nun,

Indeß die Völker der Germanen

Im Schatten ihrer Lorbeern ruhn.
Nur ich darf nicht mein Theil ergreifen,

Da mich die Ewigkeit verſtößt,
[144]
Und durch die Lande muß ich ſchweifen

Und ſuchen den, der mich erlöst.

Denn wohl erſtand uns jener Ritter,

Der kühn des Reiches Banner ſchwingt,

Doch fehlt der Sänger mit der Zither,

Der würdig ſeine Thaten ſingt!

Und eh'r nicht, eh'r nicht darf ich ſterben,

Nicht eh'r bricht dieſer Leib in Scherben,

Eh ich ins Aug ihm nicht geſehn;

Erſt, wenn ſein hohes Lied erklungen,

Dann, dann erſt hab ich ausgerungen,

Dann, dann erſt kann ich ſterben gehn!
Drum hört mich ihr, ihr deutſchen Sänger,

Ihr Sänger ſüßer Harmonien,

O ſprecht, ſprecht, ſoll ich denn noch länger

Ruhlos das deutſche Land durchziehn?

Jetzt, wo des deutſchen Volks Geſchichte

Zum welterſchütternden Gedichte

Schon ſelbſt ſich aneinanderreiht,

Will Keiner, Keiner denn es wagen,

Sein goldnes Harfenſpiel zu ſchlagen

Zum ewgen Ruhme ſeiner Zeit?

O denkt zurück, woher wir kamen,

Denkt an die Teutoburger Schlacht,

Und zählt die Thaten, zählt die Namen —

Sie ſind geſtorben, ruft: Erwacht!
[145]
Ja, denkt zurück an all die Hohen

Und laßt den Tand, der blinkt und gleißt:

Nicht nur die griechiſchen Heroen

Sind werth, daß ſie der Dichter preist!

Nicht mehr exotiſche Gedichte

Erſinne heute das Genie,

Denn unſre herrliche Geſchichte

Iſt auch ein gut Stück Poeſie!

O, iſt denn deutſch zu ſein ſo ſchwer?

Und lebt nur einmal ein Homer?
Schaut her! die ich in Händen wiege,

Die kranzverzierte Harfe hier,

Wer iſt ſo kühn und nimmt ſie mir

Und ſingt von unſerm heilgen Kriege?

O ſchaut nur, wie der Sonne Gold

Ihr glitzernd durch die Saiten rollt!

Sie ſchlug mit kunſtgeübtem Finger

Herr Heinrich einſt, der Ofterdinger,

Der ſchneidig uns wie Schwertesſchwang

Das Lied der Nibelungen ſang.

Glück auf! Wer will ſein Epigone,

Nein, wer ſein Herr, ſein Meiſter ſein?

Da, hier die Harfe, hier die Krone,

Und meine Hand hier ... wer ſchlägt ein?

Schon grollt's von fernen Klanggewittern,

Schon durch die Saiten fühl ich's zittern
10[146]
Und mein Erlöſungstag iſt nah!

O haltet eure Herzen offen

Und laßt mich nicht vergeblich hoffen —

Heil mir und dir, Germania!
[]

Weltgeſchichte.

[]

Sicherlich die bedeutſamſte Errungenſchaft jener neuen Anſchauung der Dinge,
die auch das Leben und ſeine Entwickelung unter der Herrſchaft der allgemeinen
Naturgeſetze betrachtet, bildet die Reklamation des Menſchen als unzertrennlichen
Beſtandtheil der Natur und als Gegenſtand der Forſchung in ſeinen Beziehungen
zu derſelben. Wie einſt die Erde durch Copernikus aus dem geträumten Mittel¬
punkte der Welt hinausgeſchleudert wurde, ſo fand ſich nunmehr der Menſch ſelbſt,
der bisher außerhalb und über der Natur zu ſtehen ſchien, mitten in
dieſelbe hineingezogen, als ein Glied der großen Kette der Weſen anerkannt, und da¬
mit ſeiner Ausnahmsſtellung mit einem Schlage enthoben. Aber wir dürfen behaup¬
ten, daß ihm mit dieſer endlichen Anerkennung ſeiner Erdenbürgerſchaft auch nicht
ein Titelchen ſeiner Würden, nicht der kleinſte Strahl ſeines Glorienſcheins geraubt
worden iſt. Im Gegentheil, erſt jetzt, nachdem er erkennen konnte, aus wie tiefen
Anfängen ſich ſein Geſchlecht emporringen mußte, wird er ſeine Würde mit dem
vollen Bewußtſein, wirklich das oberſte Glied und die Krone der Schöpfung
darzuſtellen, tragen.

Carus Sterne.
[149]

Weltgeſchichte.


Heimlich durchwandert die Nacht den Tann,

Duftend im Vollmond ſchwanken die Gräſer;

Alles ſchläft! Nur ein ſteinalter Mann

Putzt ſich geſchäftig die Brillengläſer.

Nimmt ſich ein Prieſchen und ſagt: Hätſchi!

Ich bin der achte der ſieben Weiſen!

Ach, und er merkt es nicht einmal, wie

Ueber ihm leuchtend die Sterne kreiſen!
Sehnſüchtig harft durch die Zweige der Wind,

Blüthen erſchließen ſich, Knospen ſchwellen;

Alles ſtill! Nur der Nachtthau rinnt

Und von den Bergen her rauſchen die Quellen.

Raune nur traumhaft, du dunkle Natur,

Raune das Räthſel der Elemente,

Hat doch der alte Graukopf nur

Sinn für Bücher und Pergamente!
[150]
Wenn er nur ſchnüffeln und büffeln kann,

Mag dreiſt dies Sonnenſyſtem erkalten;

Ihm iſt's ſchon recht, denn was geht es ihn an,

Daß ſich die Welten wie Blumen entfalten?

Feſtgeleimt an den Stuhl das Geſäß,

Fängt er ſich Grillen und mäſtet ſich Motten,

Hüſtelt und ſchreibt gelehrte Eſſays

Ueber Aſſyrer und Hottentotten.
Tintenfäſſer bilden Spalier,

Goldſtreuſand und Radiermeſſer blinken,

Ganze Ballen von Schreibpapier

Liegen bekritzelt ihm ſchon zur Linken.

Säuberlich hat er drin aufnotirt

Jede Schlacht und jedes Gemetzel,

Neben Napoleon figurirt

Kaiſer Tiber und der Hunnenchan Etzel.
Ekelerregend mit jedem Band

Schwillt das Gemengſel von Blut, Fleiſch und Knochen;

Leute wie Sokrates, Shakesſpeare und Kant

Werden nur ſo nebenbei beſprochen.

Weltharmonie und Sphärenmuſik

Können ihm vollends geſtohlen bleiben;

Intereſſanter iſt ſchon die Rubrik,

Wie ſich die Kaiſer von China entleiben!
[151]
Alſo ſitzt er und ſchmiert und ſchmiert

Todte Zahlen und trockne Berichte,

Bis er dann endlich „Schluß“ drunter kliert

Und auf das Titelblatt: „Weltgeſchichte“.

Weltgeſchichte! O blutiger Hohn!

Uralter Hymnus auf die Bornirtheit!

Wann, o wann kommt des Menſchen Sohn,

Der dich erlöst aus deiner Verthiertheit?
Immer noch brütet die alte Nacht

Grauenvoll über den Völkern der Erde,

Aber ſchon ſeh ich rothlodernd entfacht

Flammen des Geiſtes auf ewigem Herde.

Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit

Jubelt die neugeborene Trias!

Freu dich, mein Herz, denn die goldene Zeit

Dämmert und predigen wird der Meſſias:
Lebt in Frieden und baut euer Zelt,

Viel ach, müßt ihr noch lehren und lernen;

Ein Herz ſchlägt durch die ganze Welt,

Ein Geiſt fluthet von Sternen zu Sternen.

Ruft drum als Looſung von Land zu Land:

Eins ſei die Menſchheit von Zone zu Zone!

Erſt wenn ſie ſtaunend ſich ſelbſt erkannt,

Dann erſt iſt ſie der Schöpfung Krone!
[][]

Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

[]

Nimm hin mich, Leben, ich bin dein! Wie hoch die Fluth auch gehe,
Ich zage nicht vor deinen Mühn und nicht vor deinem Wehe;
Du führſt die Menſchheit an ihr Ziel durch alle Wandelungen,
Und dem nur winkt der Siegespreis, der tapfer mitgerungen;
Doch eine Stunde jedes Tags dem drängenden Gewühle,
Das raſtlos um uns tobt und braust, wie eine Rieſenmühle,
Ja, eine will ich ihm entfliehn, daß ich in ſtiller Weihe
Der großen Hymne der Natur das Ohr voll Andacht leihe!

Adolf Friedrich Graf von Schack.
[155]

Von Ewigkeit zu Ewigkeit.


Der Schöpfung nie begriffne Herrlichkeit

Entfacht noch ſtündlich den Prometheusfunken

Und doch iſt ihre goldne Blüthezeit

Schon längſt ins Grab der Ewigkeit geſunken.

Denn jene Welt der Sagenpoeſie

Iſt nicht nur Traum, iſt Wirklichkeit geweſen,

Und wem das Schickſal Seherkraft verlieh,

Kann das noch heute aus den Sternen leſen.
Wer zählt die Sproſſen, die zertrümmert ſind

Aus jener gotterbauten Himmelsleiter?

Die Sonne glüht und kühlend weht der Wind

Und unaufhaltſam rollt das Rad ſich weiter.

Die leuchtend kreiſen durch das dunkle All,

Erhaben groß iſt noch die Zahl der Welten;

Und kommt allnächtlich eine auch zum Fall,

Was kann dem Meere wohl ein Tropfen gelten?
[156]
Doch wem ſich das Geheimniß der Natur

Nicht unterm Sternenzelt mag offenbaren,

Der wandle mit mir durch die Erdenflur,

So wie ſie war vor hunderttauſend Jahren.

Noch ſtritt kein Jaſon um das goldne Vließ,

Die Menſchheit knechtete kein Triumphator,

Doch endlos dehnte ſich ein Paradies

Vom Nordpol bis hinunter zum Aequator.
Wo heute ſich durch eisumſtarrten Belt

Die Walfiſchfahrer ihre Straße bahnen,

Erhub ſich ehmals eine Inſelwelt,

Beblüht von üppig wuchernden Bananen.

Und lächelnd kränzte ſich die Meeresfee

Mit bunten Perlenmuſcheln und Korallen,

Wo längſt verweht vom Wüſtenkörnerſchnee

Die Iſistempel in ſich ſelbſt zerfallen.
Nicht trübte ſchon den funkelnden Azur

Der Rieſenſchlote ſchmutzigfeuchter Brodem,

Denn unentweiht noch träumte die Natur

Und jeder Windhauch war ein Gottesodem.

Kein Erdgeborner fühlte ſich entbrannt

Nach fremden Wundern einer fremden Zone

Und brach mit ſeiner frevlen Menſchenhand

Sich Stein auf Stein aus Gottes Schöpfungskrone.
[157]
Doch jede Zeit ſingt ſich ihr eignes Lied

Und jenes Lied iſt lange ſchon verklungen;

Die Melodie, die heut die Welt durchzieht,

Verhöhnt die alten Ueberlieferungen.

Die Menſchheit hat ſich zum Titanenkampf

Mit ihrer Mutter, der Natur, gerüſtet

Und denkt nur noch mit Eiſen, Blut und Dampf,

Weil ſie's dem Schöpfer gleich zu thun gelüſtet.
Erloſchen iſt der kindlichfromme Zug

Aus ihres Angeſichts verſteinten Mienen,

Und unbekümmert um den alten Fluch,

Zwingt ſie die Elemente ihr zu dienen.

Im Bergſchooß gräbt nach Schätzen ſie umher

Und macht den Feuergeiſt ſich zum Vertrauten,

Die Weltumſegler ſchickt ſie übers Meer

Und in die Luft die kühnen Aeronauten.
Ja, bis gen Himmel, den der Herr ſich ſchuf,

Auf daß er würdig ſeine Schöpfung kröne,

Erhebt ſich ſchon der ſchickſalsſchwangre Ruf

Der ſtaubentſproſſenen Gigantenſöhne.

Denn hier auf dieſem engen Erdenkreis

Iſt kaum ein Fels noch für ſie zu verſchieben,

Der Steppenſand nur und das Gletſchereis

Iſt unentweiht vor ihrer Wuth geblieben.
[158]
Doch drückt ſie auch das auferlegte Joch

Und ſeufzt ſie auch um Tage, die verwehten,

Ein Prachtjuwel iſt unſre Erde doch

Im Kronendiademe der Planeten!

Denn unbekümmert um die Weltenuhr

Läßt ſie die tauſendfältgen Kräfte ſprühen

Und nach dem heilgen Rathſchluß der Natur

Die Quellen ſpringen und die Blumen blühen.
Wie herrlich ſteigt der erſte Frühlingstag

Doch immer noch vom Himmel zu ihr nieder!

Und ſchreitet erſt der Sommer durch den Haag,

Dann fühlt ſie ihre ganze Jugend wieder.

Und ſtehſt du dann, umwallt von all dem Duft,

Dann lacht die Flur und ihre Ströme blitzen

Und fernher ſchimmern durch die blaue Luft

Die ewig eisgezackten Gletſcherſpitzen.
Da horch! Ein leiſer Hauch im Blätterdach,

Und durch die Wipfel geht ein ſeltſam Rauſchen;

Wie Stimmen flüſtert's durch das Laubgemach

Und andachtsvoll mußt du den Tönen lauſchen.

Das iſt der Wind, der ruhlos durch die Welt

Dahinrollt auf den nie erſchauten Gleiſen,

Der nun im Bergwald ſeinen Einzug hält

Und dir erzählt von ſeinen weiten Reiſen.
[159]
Erſt iſt, vergleichbar einem wilden Schwan,

Er majeſtätiſch durch die Luft gezogen

Und ſtieg dann nieder in den Ocean

Und ſpielte mit den grüngewellten Wogen.

Doch bald verlockte ihn der nahe Strand

Und hinter ſich ließ er das Meergebrauſe

Und ging mit Rieſenſchritten übers Land

Und hielt dann Raſt in einer Felſenklauſe.
Da lag denn nun tief unter ihm die Welt

Idylliſch da im Sommerſonnengolde

Und athmete gen Himmel, duftgeſchwellt,

Wie eine farbenprächtge Blüthendolde.

Und Meereswellenſchaum und Gottesluft,

Dazu die paradieſiſchen Gefilde,

Verwoben lieblich ſich im Sonnenduft

Zu einem nie geſchauten Wunderbilde.
Dir aber ſchwillt das Herz vor hoher Luſt

Bei ſolcher windgetragnen Himmelskunde,

Und das Gefühl der übervollen Bruſt

Geſtaltet ſich zum Wort in deinem Munde.

Du preiſt Natur und ihre Herrlichkeit,

Die Gott in ſeinen eignen Werken loben,

Und lächelſt über den Pygmäenſtreit,

Den wider ihn die Sterblichen erhoben.
[160]
Die eitle Selbſtſucht menſchlicher Kultur

Vermag nur eben das, was ihr von Nöthen,

Sie weiß die Herrlichkeit der Gottnatur

Zu untergraben wohl, doch nie zu tödten.

Und iſt auch ihre goldne Blüthezeit

Schon längſt ins Grab der Ewigkeit geſunken,

Der Schöpfung nie begriffne Herrlichkeit

Entfacht noch ſtündlich den Prometheusfunken!
[]

Ecce homo!

11[]

An das klopfende
Herz ihres Volkes
Legen die Dichter
Ihr lauſchendes Ohr
Und hören ſie rauſchen
Von Ferne
Die Taufbronnen des neuen Heils,
Die Jordansſtröme
Der neuen Zeit
Nicht an die Weiſen
Und Schriftgelehrten,
An die Männer
Von Weihwaſſer und Weihrauch,
Wendet um Rath ſich
Die neue Menſchheit;
Es lehrt als Prieſter
Der neuen Zeit
Der Sohn des Volkes
Im ſchlichten Gewande.

Alfred Meißner.
[163]

Ecce homo!


Ich ſeh ihn Tag für Tag,

Als wäre nichts geſchehn,

Still mit dem Glockenſchlag

An ſeine Arbeit gehn;

Das Halstuch roth wie Blut,

Von Locken wirr umflogen,

Den Kalabreſerhut

Tief in die Stirn gezogen.
Ein jeder Zoll Genie,

Ein Volksmann, ein Poet,

Scheint er mir öfters, wie

Ein bibliſcher Prophet.

Das ganze Viertel kennt

Und ehrt in ihm den Führer,

Der oft im Parlament

Auftrat, ein wilder Schürer.
[164]
Weh, jeder Tyrannei,

Wenn er bis Mitternacht

Am Pult der Druckerei

Geſchrieben und gedacht!

Wem ſeine Blitze ſprühn,

Vergißt das Athemholen,

Denn ſeine Worte glühn

Im Hirn wie rothe Kohlen.
Ein rechter Proletar!

Ein wahres Zorngedicht!

Wer ſeine Mutter war?

Er weiß es ſelber nicht!

Vielleicht ein Kind der Luſt,

Das, weil die Noth es taufte,

Das Herz aus ſeiner Bruſt

Um ſchnödes Gold verkaufte.
Vielleicht auch nur, ja nur,

Ein Weib in Goldbrokat,

Das trotz Moraldreſſur

In eine Pfütze trat.

Vielleicht liegt ſie ſchon todt

In einer eklen Goſſe,

Vielleicht beſpritzt mit Koth

Ihn ihre Staatskaroſſe.
[165]
Ein armes Findelkind,

Im erſten Morgengrau,

Umweht vom Winterwind,

Fand ihn die Zeitungsfrau.

Er that's ihr lächelnd an,

Der roſige Rebeller,

Und auf nahm ihn ihr Mann

In ſeinen Schuſterkeller.
Hier wuchs er in die Welt,

Ein Burſch mit blondem Haar,

Sein einzig Tummelfeld

Das Großſtadt-Trottoir.

Wohl ſchwoll der Stiefelkram,

Doch auch das Taufregiſter,

Und nach und nach bekam

Er ſieben Milchgeſchwiſter.
Und knapper ward das Brot,

Der Junge mußte „ran“!

Und bleich im Dienſt der Noth

Hub nun ſein Elend an.

Er ſtand im Setzerſaal,

Die Hand am Letternkaſten,

Und half das Volksjournal

Des Nachts zuſammenhaſten.
[166]
Die Uhr vom Thurm her klang

Wie tief in eine Gruft,

Ein fetter Oelgeſtank

Schwamm ranzig durch die Luft.

Man hörte wie im Traum

Die Winkelhaken klirren

Und im Maſchinenraum

Die Lederriemen ſchwirren.
Um ging von Hand zu Hand

Ein Bräu aus Schnaps und Bier,

Als Etiquett drauf ſtand:

Geſundheits-Elixir!

In ſchmutzgen Zoten ſprach

Frech das Maſchinenmädel,

Das Gaslicht aber ſtach

Ihm grell auf ſeinen Schädel.
Er aber: Griff auf Griff

That er mit düſterm Blick,

Durchs offne Fenſter pfiff

Der Wind ihm ins Genick.

Er ſtrich um ihn herum

Und blies ihm in die Ohren:

„So recht! So recht! Warum

Biſt du nicht „hoch“ geboren?
[167]
Warum beim Stümpfchen Talg

Hat dich das Glück geheckt

Und nicht als Wechſelbalg

In Eiderdun geſteckt?

Dann ſtündeſt du nicht hier,

Behängt mit ſchmutzgen Lappen,

Dann wärſt du auch kein Thier

Und pochteſt auf dein Wappen.
Du wärſt auch nicht wie nun

An Leib und Seele krank,

Du brauchteſt nichts zu thun

Und ſagteſt: Gottſeidank!

Auch hätteſt du dann Geld,

Wie Rothſchild ganze Frachten,

Und könnteſt dieſe Welt

Noch mehr als jetzt verachten!“
So ſtand er düſter da

Und rang mit ſeinem Groll

Und ſein College ſah,

Wie ihm die Ader ſchwoll.

Zu tief ſaß es, zu tief,

Er grollte, ſann und dachte,

Bis ſie, die in ihm ſchlief,

Die Urkraft, jäh erwachte.
[168]
Und heiß ins Hirn empor

Kam ihm das Blut geſpritzt,

Wie wenn ein Meteor

Nachts durch den Himmel blitzt.

Denn plötzlich rieſengroß

Sah er ein Schreckbild thronen —

Es war ſein eigen Loos,

Das Loos von Millionen!
Da, deutlich, ſchwarz auf weiß,

Stand's da und ſah ihn an,

Daß ihm das Blut wie Eis

Kalt durch die Adern rann.

Es war nur ein Fragment,

Ein abgeriſſner Fetzen,

Ein neuſtes Teſtament,

Und er, er ſollt es ſetzen!
„Ein armer Bettler kroch

Vor ſeines Bruders Haus

Und bat, o reich mir doch

Ein Stückchen Brot heraus!

Vor meinen Augen flirrt's,

Ich habe nichts zu eſſen,

Der liebe Herrgott wird's

Dir ſicher nicht vergeſſen!
[169]
Sein Bruder aber ſchrie

Und ſtrich ſein Doppelkinn:

Was willſt du, tolles Vieh?

Scheer dich wo anders hin!

Das ſauft nur immer Wein

Und ekelt ſich vor Waſſer —

Da hier, friß dieſen Stein ...

Doch, ſag ‚Schöndank!‘ du Praſſer!
Da ſchrie der Aermſte auf,

Zu teufliſch war der Hohn,

Und eine Stunde drauf

Lag er im Waſſer ſchon.

Derweil nach dem Diner

Hielt lammfromm vor dem Städtchen

Sein Bruder, Herr P. P.,

Sein Mittagspromenädchen!“
O, nun zum erſten Mal

Verſtand er Wort für Wort,

Fürs Volk war das Journal

Und dies war ja ein Mord!

Es war ein Mord und mehr,

Es war die alte Fabel,

Wie einſt — o lang iſt's her —

Der Kain ſchlug den Abel!
[170]
Mit Augen, thränenroth,

Verſchlang er, was er las,

Bis knöchern ihm der Tod

Im weichen Herzen ſaß.

Den Otternkranz im Haar,

Umtanzten ihn die Furien,

So ſinnverwirrend war

Kein Zerrbild aus Lemurien!
Und tage- wochenlang

Lief er umher wie wild,

In ſeine Träume ſchlang

Sich jenes wüſte Bild.

Er ſah es rieſengroß

In jedem Winkel thronen,

War's doch ſein eigen Loos,

Das Loos von Millionen!
In Stoppeln ſtand ſein Bart,

Sein Herz war wie verdorrt,

Er — lachte nur und ward

Ein Anderer hinfort!

Sein Weichmuth biß ins Gras,

Ihn kniff's wie eine Zange

Und hochauf ſchwoll ſein Haß

Wie eine Tigerſchlange.
[171]
Da winkte wie ein Ziel

Ihm fern ein goldner Schein

Und mehr als einmal fiel

Ihm der Meſſias ein.

Er grübelte und ſah:

Noch wird das Volk geknutet,

Das Herz von Golgatha

Hat ſich umſonſt verblutet!
Nun ſprach das Ideal

Ihm tief zu Herz und Hirn,

Sein blutig Kainsmal

Stand roth auf ſeiner Stirn.

Er floh das Volksgewühl

Und ſchlief nur wenig Stunden

Und ließ dann ſein Gefühl

Sich zu Gedanken runden:
„Ein Fluch auf dieſe Zeit!

Was grad wuchs, biegt ſie krumm!

Mein Herzblut aber ſchreit:

Warum, o Gott, warum?

Wozu denn Herr und Knecht?

Was arm, was reich auf Erden?

Für das zertretne Recht

Will ich der Anwalt werden!
[172]
Drum her, o her zu mir,

Die ihr beladen ſeid!

Mein Reich iſt ja von hier!

Mein Reich iſt dieſe Zeit!

Ihr, die hier wild in ſich

Den Schrei der Wuth erſticken,

Kommt alle her, denn ich,

Ja ich will euch erquicken!
Ich will ins Morgenroth

Der nahen Zukunft ſehn

Und euer Schrei nach Brot

Wird in Erfüllung gehn.

Der Knechtſchaft Dorngeſträuch,

Mein Schwert ſoll es zerkrachen,

Ich will aus Sklaven euch

Zu freien Menſchen machen!
Ihr aber, die ihr faul

Auf euerm Geldſack ſitzt,

Indeß das Volk, der Gaul,

Vor euerm Karren ſchwitzt:

Laßt euern Wanſt gedeihn,

Laßt eure Hunde bellen,

Ich werde „Feuer!“ ſchrein,

Bis euch die Ohren gellen!
[173]
Ich ſtoße von dem Thron

Das Wörtchen „mein und dein“,

Das brave Volk wird ſchon

Auf ſeinem Poſten ſein.

Drum tanzt nur! Der Vulkan

Wird bald in Feuer kreißen,

Dann wird es Zahn um Zahn

Und Aug um Auge heißen!“
Was er nur halb durchdacht,

Er rief es wildverſtört,

Und manche ſtille Nacht

Hat ſeinen Fluch gehört.

Die Furcht vor Gold und Rang

Verſchwur er hoch und theuer,

Ein wilder Wiſſensdrang

Rann ihm durchs Hirn wie Feuer.
Wohl ſtand er hart in Frohn,

Ein armer Proletar,

Doch blieb ſein halber Lohn

Beim Bücher-Antiquar.

An jedem Wahltag ſtrich

Er ruhlos um die Thüren

Und haſchte Zettel ſich,

Flugblätter und Broſchüren.
[174]
O, wenn er las und ſchrieb,

Schlug ihm das Herz ſo warm,

Und unverſtanden blieb

Ihm ſein Collegenſchwarm.

Wenn der in Saus und Braus

Sich Sonntags amüſirte,

Dann ſaß er ſtill zu Haus

Am Werktiſch und ſtudirte.
Die Schuſterkugel warf

Aufs Buch ihr Licht herab

Und ſeitlich hub ſich ſcharf

Sein ſchwarzer Schatten ab.

Man ſah ihn, wenn er kroch,

Bis an die Decke ſchwanken,

Doch höher reichten noch

Des Schwärmers Traumgedanken.
Er träumte, ſeine Saat

Ging auf im Zeitverlauf

Und ſchon ſchloß ein Mandat

Ihm auch den Reichstag auf.

Sein Wort flog wie ein Ball,

Er ſtand auf der Tribüne,

Halb Rouſſeau, halb Laſſalle,

Und ſprach von Schuld und Sühne.
[175]
Er ſprach, und wenn er ſchwieg,

Klang's linksher wie Hurrah,

Denn hüben war's ein Sieg

Und drüben ein Eclat.

Und flog's dann durch das Land,

Wo heiße Stirnen tropften,

Dann gab man ſich die Hand

Und tauſend Herzen klopften.
Und wieder ſchlugs ihm dann

Vertrauter ans Gehör,

Er war ein ſchlichter Mann,

Ein Zeitungsredakteur.

Er ſaß am Pult und ſchrieb,

Es waren große Züge

Und jeder Satz ein Hieb,

Ein Hieb ins Herz der Lüge.
Er ſchrieb, und lag das Blatt

Dann auf dem Tiſch der Noth,

Dann war die Armuth ſatt

Und ſchrie nicht mehr nach Brot.

Ein Balſam war ſein Wort,

Es ſtand ein Held auf Wache

Und war ein rechter Hort

Für jede gute Sache.
[176]
Die Hände vorm Geſicht,

So ſaß er träumend da,

Bis bleich das Morgenlicht

Durchs Kellerfenſter ſah.

Dann, müd und überwacht,

Ging's in die neue Woche —

O, er war Tag und Nacht

Ein Pegaſus im Joche!
So rollte abgrundwärts

Von dannen Jahr um Jahr

Und heller ward ſein Herz

Und dunkler ward ſein Haar.

Wie Chopins Melodien,

Es war nicht zu verkennen,

In ſeinen Augen ſchien

Ein blauer Stern zu brennen.
Er ſtand nicht mehr beſtaubt

Am Werktiſch um Gewinnſt,

Das Glück wob ihm ums Haupt

Sein lichtes Goldgeſpinnſt.

Erſchallen ließ er frank,

Ein Herold, ſeine Rufe

Und jubelte und ſchwang

Von Stufe ſich zu Stufe.
[177]
Er flehte: Herz, ſei hart

Und rühr's nicht an, das Gold!

Bis er es endlich ward,

Was er ſo heiß gewollt.

O, nur ein Mann, ein Wort,

Ein Volksſoldat auf Wache,

Ein echter, rechter Hort

Für jede gute Sache!
Sein Bild hängt nun bekränzt

Die Noth an ihre Wand,

Auf ſeinem Haupt erglänzt

Des Freimuths Krondemant.

Sein Wort klirrt wie von Erz

Und nennſt du ſeinen Namen,

Dann ſchlägt dem Volk das Herz

Und heimlich ſpricht es: Amen!
An ſeinen Werken ſchweißt

Das ringende Geſchlecht,

Sein Wahlſpruch aber heißt:

Die Freiheit und das Recht!

So kämpft als Paladin

Der Schuſtersſohn von weiland

Und alles ſchaut auf ihn,

Wie auf den neuen Heiland.
12[178]
Doch ſtößt ein Volkstribun

Allorts auf einen Stein,

Kein Wunder drum, wenn nun

Auch viele „Kreuzigt!“ ſchrein.

Dies Wort war ja von je

Ein gute Wehr und Waffen —

So lehrt's das Abc

Der Junker und der Pfaffen!
Das Volk, hat's ein Idol,

Dann will's zum Brot auch Salz;

Die Herren wiſſen wohl,

Es geht an ihren Hals!

Drum zetern ſie: Er iſt

Ein Teufelsflammenſchürer,

Ein wilder Antichriſt,

Ein ſchlauer Volksverführer!
Er aber lacht ſie aus,

Er weiß, der Sieg iſt ſein;

Und treiben ſie's zu kraus,

Dann donnert er darein:

„Ja, tanzt nur! Der Vulkan

Wird bald in Feuer kreißen,

Dann wird es Zahn um Zahn

Und Aug um Auge heißen!“
[179]
So klingt — bald Moll, bald Dur —

Sein großes Tongedicht;

Ob er ein Schwärmer nur?

Je nun, ich glaub es nicht!

Ein rechter Demokrat

Grollt auch im Feſtungsgraben,

Zu einem Mann der That

Scheint er das Zeug zu haben.
Einſtweilen ſtürzt ſein Zorn

Ihn noch nicht in den Streit;

Er freut ſich, wie das Korn,

Das er geſät, gedeiht.

Schon kann er's hoch und dicht

Mit beiden Händen greifen,

Doch noch iſt's Auſttag nicht,

Er läßt es reifen, reifen ....
Ich ſeh ihn Tag für Tag,

Als wäre nichts geſchehn,

Still mit dem Glockenſchlag

An ſeine Arbeit gehn;

Das Halstuch roth wie Blut,

Von Locken wirr umflogen,

Den Kalabreſerhut

Tief in die Stirn gezogen.
[][]

Tagebuchblätter.

[]

Urewig iſt des großen Welterhalters Güte,
Urewig wechſelt Herbſtblattfall und Frühlingsblüthe,
Urewig rollt der Klangſtrom lyriſcher Gedichte,
Denn jedes Herz hat ſeine eigne Weltgeſchichte.

A. H.
[183]

1.

Vom Thurme klangen die Oſterglocken

Ueber des Kirchhofs trauernde Gruft,

Und gleich verwehten Blüthenflocken

Verſchwamm ihr Klang in der Morgenluft.

Mich aber riefen ſie in die Weite

Und ließen mich nicht im dumpfen Haus,

Und unter der Oſterlieder Geleite

Zog ich die Straßen zum Thore hinaus.
Weit hinter mir im Morgendämmer

Sich das Gemäuer der Stadt verlor,

Und ſelbſt das Pochen der Eiſenhämmer

Traf nur gedämpft noch an mein Ohr.

Doch dehnte ſich immer weiter und weiter

Vor meinen Blicken der ſonnige Gau,

Und jauchzend auf tönender Himmelsleiter

Schwang ſich die Lerche ins Aetherblau.
[184]
Da ſtand ich denn nun am Waldesrande

Mit meinen Gedanken ſo ganz allein

Und ſah tief unter mir die Lande

Liegen im flimmernden Sonnenſchein.

Und als dann den letzten Zweifel zu rauben,

Ein Schäfer noch blies auf ſeiner Schalmei,

Da wollte ich es ſelbſt nicht glauben,

Daß Tod die Löſung des Räthſels ſei.
Da ſchien mir alles verweht und vergangen,

Was ich betrauerte winterlang;

Und alle Saiten des Herzens klangen

Zuſammen im Auferſtehungsgeſang.

O, ſolche Seelenklänge dringen

Weit höher noch in die Himmel empor,

Als je auf ſeinen Flatterſchwingen

Ein Vogel ſich in der Luft verlor!
Ja, Feſt der Oſtern, nun warſt du gezogen

Auch endlich in dieſe verödete Bruſt;

Und dies Herz, das ſo oft ſchon das Leben betrogen,

Erzitterte wieder von ſüßer Luſt

Und ſchlägt nun der hohen Feier entgegen,

Die über die Erde zu gießen verheißt

Den herrlichſten aller himmliſchen Segen,

Den welterlöſenden, heiligen Geiſt.
[185]
Der heilige Geiſt iſt die ewige Liebe,

Die Gott in die Herzen der Menſchen geſenkt,

Und die mit jedem Oſtertriebe

Von neuem ſich zum Lichte drängt.

Sie ſchwebt herab vom Himmelsſaale

Zu Jedem, der an ſie noch glaubt —

O neige, neige die goldene Schaale

Auch hier auf dieſes Beterhaupt!
[186]

2.

Die ſüßen Klänge der Liebe

Ringeln wie Opferduft

Sich aus dem Erdengetriebe

Empor in die Gottesluft

Und tragen auf ihren Schwingen,

Dem Alltagsleben entflohn,

Die Seele mit Singen und Klingen

Bis hinauf zu des Vaters Thron.

Und wenn dann die Zeit erfüllet,

Flattert ſie erdenwärts,

Und was ihr der Himmel enthüllet,

Flüſtert ſie dir in das Herz.
Und dieſes ſtimmt dann wieder

Die Saiten zum höheren Chor,

Und jubelnd ſteigen die Lieder

Von neuem zum Himmel empor.
[187]
Und ſo in ſtetem Kreiſen,

Tönend durch Raum und Zeit,

Verhallen nie die Weiſen,

Die einmal der Himmel geweiht.

Sie ſchweben und flattern voll Wonne

Den leuchtenden Wolken zu —

Mein Himmel und meine Sonne

Biſt immer und ewig du!
[188]

3.

O, wie ſo oft hab ich geſeſſen

Auf mooſ'ger Bank am Buchenhag

Und ſann beglückt und ſelbſtvergeſſen

Dem Räthſel deines Weſens nach!

Dann ſang am waldverſchwiegnen Orte

Ihr hohes Lied die Maienfee,

Und jedes ihrer ſüßen Worte

Fiel mir ins Herz wie Blüthenſchnee;

Und jedes ihrer ſüßen Worte

Klang mir wie Deutung deines Seins

Und golden that ſich auf die Pforte

Und ich und du, wir waren Eins!
Und doch; wenn du dann kamſt und lächelnd

Die Anmuth dir zur Seite ging,

Und ſüßer als der Maiwind fächelnd

Dein weicher Odem mich umfing:
[189]
Dann war dahin, was kaum geweſen

Und was nur dunkel mir geſchwant,

In deinen Augen konnt ich's leſen,

Von Wundern, die ich nie geahnt;

In deinen Augen konnt ich's leſen,

Was ich gewann, was ich verlor,

Und ſüßerſchreckt ſchien mir dein Weſen

Nur räthſelhafter als zuvor!
[190]

4.

Nun iſt es ſo ſtill hier im dämmernden Hain,

Nur der Nachtwind ſpielt in den Bäumen,

Und heimlich vermahnt mich der Mondenſchein:

Nun iſt es Zeit zum Träumen.

Ja, träumen will ich, das Haupt in der Hand,

Von dir, die den Frieden mir brachte;

Es ging ja noch nimmer ein Stündlein ins Land,

Darin ich nicht deiner gedachte.

Du Leid meines Leides, du Luſt meiner Luſt,

Schlägſt du doch als Herz mir hier tief in der Bruſt!
Dein Augenſpiel grüßt mich im Funkeln des Thaus,

Der rings auf die Gräſer gefallen,

Und dein Athem weht drüben ums Gartenhaus,

Das die Düfte der Maien umwallen.

Und was nun im Flieder die Nachtigall ſingt,

Sind ach, meine eignen Gedanken,

Die blüthenumflüſtert und ſilberumblinkt

Um meine Liebe ſich ranken.

Ach, was ich nur jemals gefühlt und gedacht,

Nun klingt es hinaus in das Schweigen der Nacht!
[191]
Nur Eins hat ſich nie und nimmer gewußt

In ſchmelzende Töne zu kleiden,

Und das iſt die allerhöchſte Luſt

Und das allertiefſte Leiden.

Doch wo ein Herz ein Herz verſteht,

Da öffnen ſich golden die Pforten

Und flüſternd vor Andacht, wie ein Gebet,

Erklingt's in den heiligen Worten:

Dich liebt ich immer, dich lieb ich noch heut

Und werde dich lieben in Ewigkeit!
[192]

5.

Die Dächer da drunten röthet

Der Abendſtrahl,

Und droben im Flieder flötet

Die Nachtigall.

O, wie die Klänge mir ſchlagen

So ſüß ans Ohr,

Als wollten auch ſie beklagen,

Was ich verlor!
Das iſt das Lied der Lieder,

Das dort erklingt

Und mit ſilbernem Klanggefieder

Ins Herz mir dringt:

„Nun haſt auch Du empfunden

Der Liebe Leid

Und kannſt nun nie geſunden

Zu keiner Zeit!
[193]
Denn eine Sonne nur grüßet

Vom Himmelszelt,

Nur eine Liebe verſüßet

Das Weh der Welt.

O daß am Himmel die Sonne

Nicht ewig ſteht,

Und daß der Liebe Wonne

So bald verweht!“ .....
Durch dämmernde Abendhülle

Tönt ſo der Sang,

Und eine Liederfülle

Iſt jeder Klang.

Schon ſenkte ſich zitternden Fluges

Aufs Thal die Nacht,

Da iſt dem Tage des Truges

Ein End gemacht.
Doch ob auch die Sterne nun blinken

Am Himmelsdom,

Und ihre Lichter mir winken

Aus jedem Strom,

Und ob auch der Mond mir ins Zimmer

Gießt all den Schein:

Das wiegt doch nie und nimmer

Das Herz mir ein! —
13[194]
Du aber, o Traum, o umfächle

Das ſüße Kind,

Daß es im Schlafe noch lächle

So wunderlind!

O ſchwebe im Glorienſchimmer

Von Gottes Thron

Und laß es vergeſſen auf immer

Den Liederſohn! — —
[195]

6.

Erſt jetzt, da du dich von mir wendeſt,

Fühl ich, wie tief ich dich geliebt,

Und daß, wenn du ſie mir nicht ſpendeſt,

Es keine Luſt mehr für mich giebt.

Was ſoll mir noch des Maien Blüthe,

Da ich ſo krank bin im Gemüthe,

Und was des Sommers Duft und Pracht?

Ich mag nicht mehr den Schmelz der Auen,

Ich will hinfort nur Eins noch ſchauen:

Das wüſte Nebelgrau der Nacht!
Mich lockte auf dem hohen Firne

Der Lebenskrone goldner Glanz,

Du aber preßteſt in die Stirne

Mir ach, nur einen Dornenkranz!

Verflucht durch dieſes Kainszeichen,

Werd ich nun durch das Leben ſchleichen,

Das keine Freuden für mich hat;

Denn immer muß ich dein gedenken,

Und nimmer will ſich auf mich ſenken

Die Taube mit dem Friedensblatt!
[196]
Und kommt denn keiner, mir zu ſagen,

Wie ich vergeſſen mag die Zeit,

Da dir mein armes Herz geſchlagen

So himmelhoch, ſo weltenweit?

Und ſoll ſie denn auf ewig rinnen,

Die Wunde tief im Buſen drinnen,

Die einſt dein ſtolzer Sinn mir ſchlug?

O Herz, mein Herz, hör auf zu gluthen!

Hör auf zu zucken, auf zu bluten!

Es iſt genug! Es iſt genug!
[197]

7.

Er that mir leid, der arme Mann,

Wie er ſo traurig ſaß und ſann.

Es ſchaute ihn der Abend nur

Und die erſterbende Natur.

Von Zeit zu Zeit fuhr aus dem Strauch

Ihm übers Haar Novemberhauch,

Und Blatt im Baum und Rohr im Ried

Sang ihm ins Ohr ihr Schlummerlied.

Er aber lauſchte ſtatt auf ſie

Und ihre ſüße Melodie

Nur in ſein eigen Herz hinein

Und war ganz mutterſeelallein.

Da trat zu ihm die dunkle Nacht

Und ſprach es aus, was er gedacht.

Das klang ſo ahnungsvoll bewegt,

Wie wenn im Lenz die Droſſel ſchlägt:
[198]
„Horchſt du noch immer, Menſchenkind,

Wie deine Wunde blutend rinnt?

Und willſt du nie nach Todeswehn

Zu neuem Leben auferſtehn?

Sieh, dunkel ſchweigt um dich die Flur,

Und mit dem Tod ringt die Natur.

Doch eh der Thau zum Zweiten fällt,

Erglänzte abermals die Welt;

Und ſchon nach wenig Monden hebt

Ihr Haupt die Erde neubelebt.

Darum beſcheide du dich ſtill

Und harre deß, was kommen will.

Denn deines Lebens goldne Zeit

Ruht noch im Schooß der Ewigkeit.

Und naht ſich einſtmals ihre Stund,

Und küßt dich leiſe auf den Mund,

O, dann kehrt auch ins Herz zurück

Dir deiner Liebe todtes Glück!“ —

So ſprach die Nacht und ſchwieg darauf

Und ſchaute zu den Sternen auf.

Er aber ſah ſie traurig an,

Denn ach, er glaubte nicht daran.

Er glaubte nur in ſeiner Noth

An ſeines Seelenlebens Tod.

Da winkte ſie mit weißer Hand

Ihm einen Gruß noch und verſchwand.

Nun war es wieder ſtill um ihn;

Die weißen Nebel ſah ich ziehn,

Und droben aus dem Wolkenflor

Trat wunderbar der Mond hervor.
[199]
Er ſandte golden Strahl auf Strahl

Herab auf Berg und Wald und Thal

Und löste ſanft in ſeinem Lauf

Des Fremdlings Weh in Wehmuth auf.

Doch wie ich ihn nun weinen ſah,

Da ging mir's in der Seele nah!

Ich wäre gern mit Rath und That

Dem weltverlornen Mann genaht

Und hätte gern mit ihm getheilt

Und ihm das kranke Herz geheilt.

Doch leider Gottes ging's nicht an,

Denn ich war ſelbſt der arme Mann!
[200]

8.

O wie weit, wie weit,

Liegt die goldne Zeit,

Wo mein Herz von tauſend Liedern ſchwoll!

Nun iſt ſtumm mein Mund

Und mein Herz ſo wund

Iſt von Thränen, nur von Thränen voll!
O was gäb ich drum,

Wär ich nicht ſo ſtumm,

Und die Thräne fände ihren Lauf!

Aber Lied wie Schmerz,

Hütet ſtumm das Herz,

Und wer kommt und ſchiebt den Riegel auf?
[201]
Junger Liebe Glück,

Kehrſt du nie zurück?

Ach, das Herz mir noch das Herz zerbricht!

Wie ein Funkelſtern,

O ſo ewig fern,

Glänzt die goldne Zeit im goldnen Licht!
[202]

9.

O daß doch aus dem Klanggewinde

Mir Blatt auf Blatt von dannen ſtiebt

Und ich nicht mehr die Worte finde,

Wie ſie das Herz dem Herzen giebt!

Denn ach, die Luſt ſingt immer leiſer

Und immer lauter ſchreit das Weh,

Und längſt ſind alle Hoffnungsreiſer

Begraben unterm Winterſchnee.
Ich bin ſo ſtumm und ſtill geworden

Und ſing nur manchmal noch im Traum,

Doch in den klagenden Akkorden

Tönt meiner Schmerzen Echo kaum.

Und will mir auch die Bruſt zerſpringen,

Es trägt kein Lied ihr Weh hinaus:

Und ſo muß denn auch dies verklingen

Und iſt doch lange noch nicht aus!
[203]

10.

Schweigt, ihr Gedanken, und tönt, ihr Gefühle,

Die ihr ſo oft ſchon im Erdengewühle

Mir dieſes Herz mit ſich ſelber verſöhnt!

Schwingt euch gen Himmel auf goldnem Gefieder,

Wandelt euch klingend in tröſtende Lieder,

Daß ich vergeſſe, warum ihr ertönt!
O, ſagt es niemand, daß längſt eurem Dichter

Alle die ſonnendurchfunkelten Lichter,

Die euch umflimmern, erloſchen ſind!

Tänzelt und gaukelt wie Falter um Roſen,

Laßt euch von ſchmeichelnden Lüften umkoſen,

Selber ſo flüchtig wie Wetter und Wind!
Braucht doch die Welt nicht ſchon heute zu wiſſen,

Daß ſie erſt geſtern das Herz dir zerriſſen,

Weil es zu rein und zu heilig erglüht!

Opfre dein Herzblut, o laß, laß es fluthen,

Siehe, ſchon ſtrömen die feurigen Gluthen,

Freier und reiner nun wird dein Gemüth!
[204]
Höher und höher in lieblicher Feier

Schwebt deine Seele, es fallen die Schleier,

Und dir erſcheint ein erhaben Geſicht.

Unter dir ſiehſt du der Erde Gebilde,

Ueber dir ſchauſt du des Himmels Gefilde,

Um dich und in dir ein göttliches Licht.
Juble nun, daß du der Erde entronnen,

Wenn du auch noch nicht den Himmel gewonnen,

Schwebſt du doch über der Welt und dem Schein!

Aber zu bald nur erlahmen die Flügel,

Nahe und näher ſchon winken die Hügel,

Klaffend bedroht dich das ſpitze Geſtein!
Ach, und ſchon fällſt du, und wehe, da liegſt du!

Aber was willſt du und warum auch fliegſt du?

Bleibe dahier, denn der Himmel iſt hoch!

Wandle auf Erden und krieche im Staube,

Denn dich bethört nun dein hoffender Glaube,

Wie dich dein Herz und die Liebe betrog! —
[205]

11.

Nur einmal möchte ich noch ſingen

Ein Lied, das dir mein Alles klagt;

Dann mag die Harfe mir zerſpringen,

Dann hat mein Herz genug geſagt.
Doch woher nehme ich die Worte,

Wie finde ich die Melodie?

Die Blume meiner Luſt verdorrte

Und mit ihr ſtarb die Poeſie!
Ich fühl's, eh mir der Tod begegnet,

Hat ſich mein Lied nicht ausgeweint —

Denn was verflucht zugleich und ſegnet,

Kein Wort noch hat's in ſich vereint.
[206]

12.

Mit den Wolken, mit den Winden,

Steur' ich nach dem goldnen Vließ —

Das verlorne Paradies,

O, wann werd ich's wiederfinden?
Tag und Nacht, in Schlaf und Wachen,

Wogt um mich die dunkle Fluth,

Und die Sehnſucht, die nicht ruht,

Ja, die Sehnſucht iſt mein Nachen!
Und ſo gehn denn Mond und Sterne

Immer wieder meerempor;

Doch wie ſie, winkt Edens Thor

Mir ach, immer nur von Ferne.
[207]
Aber laß das Rad nur rollen,

Wie's das ſchon ſeit je gethan,

Denn auch deine irre Bahn

Wird ſich ja vollenden wollen.
Wind und Wellen werden ſchlafen

Und ſein Ziel erreicht dein Boot,

Denn ſein Steuermann heißt Tod

Und der Himmel iſt ſein Hafen!
[208]

13.

Und immer weiter

Dreht ſich die Welt,

Ihr Pfad wird breiter,

Ihr Triebrad ſchnellt;

Die Stunden rollen,

Die Sonne ſcheint,

Ich bin verſchollen

Und niemand weint!

In Kraut und Kreſſen

Auf hohem Stein

Lieg ich vergeſſen

Und ganz allein;

Nur eine Linde

Schwingt über mir

Im Abendwinde

Ihr grün Panier,

Und leis nur zittert

Mir ums Geſicht,

Goldrothumwittert,

Das Abendlicht.
[209]
Die Welt ging unter,

Die Gott erſchuf,

Nur noch mitunter

Ein Vogelruf;

Nur noch zuweilen

Ein irrer Schrei —

Die Wolken eilen

Vorbei, vorbei!
Was wie ein Stern mir

Die Bruſt durchzieht,

Singt nun von fern mir

Sein Alphornlied.

Erinnrung hält mich

In ihrem Bann

Und plötzlich fällt mich

Die Sehnſucht an.
O Luſt von weiland,

Wie liegſt du weit!

O ſelig Eiland

Der Jugendzeit!

Die Blumen blühten,

Die Quelle ſprang,

Die Sterne glühten,

Die Amſel ſang
14[210]
Und mir gab Küſſe

Zu jeder Stund,

Als ob er's müſſe,

Ein Mädchenmund!

Noch ſtockt der Schmerz mir

In ſeinem Lauf —

Wie ging das Herz mir

In Liedern auf!

Doch wer beſchriebe

Die goldne Zeit,

Die erſte Liebe,

Das erſte Leid?

Wie dort die Sonne

Verſinkt in Nacht,

Stirbt Weh und Wonne,

Eh wir's gedacht.

Schon deckt ihr Schleier

Den Fluß, das Ried —

Die alte Leier,

Das alte Lied!
[211]

14.

Ins Meer verſank des Abends letzte Röthe,

Du gabſt mir ſcheidend das Geleit,

Im nahen Wald blies eine Hirtenflöte

Ein altes Lied aus alter Zeit.
Nicht Küſſe waren's, die wir heimlich tauſchten,

— Es war die Zeit des Blätterfalls —

Doch als am Kreuzweg die drei Linden rauſchten,

Fielſt du mir weinend um den Hals!
Und deiner Liebe langverhaltnes Leiden,

Aus deinem Herzen brach's hervor,

Als ahnteſt du's, daß Jedes von uns Beiden

Im Andern auch ſich ſelbſt verlor!
[212]
Und Worte ſprachſt du, die ich nie vergeſſen,

Doch ach, uns gönnte das Geſchick

Nur noch ein letztes Aneinanderpreſſen ...

Es war ein dunkler Augenblick!
Doch nicht entweihen will ich jene Stunde,

Drum ſtill, o ſtill, Erinnerung!

Denn nie ſchließt ſich ein Herz um ſeine Wunde,

Ein echtes Leid bleibt ewig jung.
Noch immer, wenn des Abends letzte Röthe

Ins Meer taucht, wird das Herz mir weit,

Und mich umklingt wie eine Hirtenflöte

Ein altes Lied aus alter Zeit.
[213]

15.

Ja, ich geb's zu, und du haſt Recht, mein Freund:

Der Sommer iſt's, der meine Wange bräunt,

Und meine Lenzſaat ſteht noch ungeſchnitten.

Und doch, der erſte Frühſchmelz iſt dahin,

Mein Herz ward dunkel, düſter ward mein Sinn,

Denn ach, wer viel geliebt, hat viel gelitten!
Ich weiß, du glaubſt und hoffſt noch. Nun es ſei!

In mir ruft's fauſtiſch ſchon: Vorbei! Vorbei!

Nur wenig noch will meinem Herzen taugen:

Ein Blumenduft, ein ferner Glockenklang,

Ein Vogelruf, ein Sonnenuntergang

Und dann und wann ein Blick in Kinderaugen.
[214]

16.

Ich rauchte nicht und trank kein Bier,

Ein junger Menſch von achtzehn Jahren,

Und dieſes Buch der Welt ſchien mir

Wie eines Engels Memoiren.

Schon ſah ich mich im Frührothſchein

Vor lauter Glück die Hände falten,

Doch heut geſteh ich's traurig ein:

Mein Herz hat mir nicht Wort gehalten!
Auch ſchrieb ich manchen Liebesbrief

Und ſchwärmte à la Heinrich Heine,

Doch das war kindiſch und naiv,

Denn ſtatt der Herzen fand ich Steine.

Nun hängt am Galgen mein Humor

Und macht mein warmes Blut erkalten,

Denn traurig klingt es mir im Ohr:

Mein Herz hat mir nicht Wort gehalten!
[215]
Zwar meiner Kunſt erſehnten Kranz,

Schon ſtreift ihn hie und da mein Scheitel,

Doch denk ich ſchon wie Meiſter Hans

Und deklamire: Alles eitel!

Mir kreist das Hirn, mir wankt das Knie,

Ein Andrer mag mein Amt verwalten!

Zu traurig klingt die Melodie:

Mein Herz hat mir nicht Wort gehalten!
[216]

17.

Wohl glüht wie ein rother Karfunkel

Der Wein mir im zinnernen Krug,

Und fern in des Kellers Gedunkel

Da ſtehn noch der Fäſſer genug.
Doch will es mir heute nicht glücken

So fröhlich wie geſtern zu ſein,

Und die zitternden Hände drücken

Sich tief in die Schläfen hinein.
Des Rathswächters Pfeifen und Rufen

Zeigt draußen die Mitternacht an,

Und längſt ſtieg die ſteinernen Stufen

Der letzte der Gäſte hinan.
[217]
Daheim am flackernden Herde

Genießt er nun traulich ſein Glück,

Und ich blieb hier unter der Erde

Ach, nur mit mir ſelber zurück!
Und wie es ſo einſam geworden

Und rings um mich ſtill wie im Grab,

Da klingt es in weichen Akkorden

Bis tief in mein Grübeln herab.
Erſt ſtiehlt es ſich lieb und verlockend

Hinein in das lauſchende Ohr,

Und dann ſchwillt es froh und frohlockend

Zum jubelnden Hochzeitschor.
Und die ſchmeichelnden Weiſen erzählen

Der Luft und dem flackernden Licht,

Wie droben in ſchimmernden Sälen

Mein Glück in Scherben zerbricht.
Ich aber ſitze und ſinne,

Verloren in Gram und in Schmerz,

Und das Lied von der ſterbenden Minne

Durchzuckt mir das blutende Herz.
[218]
Verworrene, wilde Gedanken

Entſteigen dem fiebernden Hirn

Und klammern wie dornige Ranken

Sich feſt um die faltige Stirn:
Nun wiegt ſie wohl droben im Tanze,

Von luftigen Schleiern umwallt,

Geſchmückt mit dem bräutlichen Kranze

Die liebliche ſchlanke Geſtalt.
Doch ein Andrer fühlt jetzt erwarmen

Das Herz, das einſt klopfte für mich,

Und ein Andrer darf ſie umarmen

Und ein Andrer ſie küſſen als ich!
Und lauter kreiſchen die Geigen

Und wilder bäumt ſich mein Leid,

Und toller verſchlingt ſich der Reigen

Von Traum und Wirklichkeit.
Es kniſtern die ſeidenen Schleppen,

Es funkelt der goldne Pokal,

Und mir iſt es, als ſtieg ich die Treppen

Hinauf in den Marmorſaal.
[219]
Dort ruht unter Myrthen und Roſen

Ein Brautpaar auf ſchwellendem Thron,

Doch ſein heimliches Küſſen und Koſen

Mich trifft es wie ſchneidender Hohn.
Gedenk der gebrochenen Eide,

Empört ſich mein ſiedendes Blut —

Nun nehme mich und euch Beide

Der Himmel in ſeine Hut!
Doch eh ich noch über die Schwelle

Den Weg in das Blumenmeer fand,

Hat wieder die blendende Helle

Sich gähnend ins Dunkel gewandt.
Und wieder ſitz ich und ſinne

Hier unten im düſtern Gelaß,

Und das Lied von der ſterbenden Minne

Verkehrt ſich in glühenden Haß.
Und mir iſt es, als müßte nun ſuchen

Mein Herz ſich die ewige Ruh,

Als müßt ich mich ſelber verfluchen

Und dich und den Himmel dazu!
[220]

18.

O du, der nie aus jenem Becher trank,

Den einſt die Sehnſucht ſchmeichelnd dir kredenzt,

Sieh, ich bin elend, und dies Herz iſt krank,

Drin Haß und Liebe aneinander grenzt!
Das aber macht, ich trank von jenem Saft,

Gemiſcht aus Himmelslust und Höllenleid,

Zu viel für dieſe kurze Erdenhaſt

Und ach, zu wenig für die Ewigkeit!
Und doch; wie du auch lachſt zu Spiel und Scherz,

Nicht gäb ich meinen gramverſtörten Sinn

Für deine Luſt und für dein leichtes Herz,

Um das Bewußtſein meines Elends hin!
[221]
Denn Werke des Gedankens und der That,

Wie ſie dein Geiſt noch niemals in ſich trug,

Sollſt du vollbracht ſehn, wenn die Zeit ſich naht,

Durch meiner Seele letzten Athemzug!
[222]

19.

Endlich durchfährt nun mit Sang und Klang

Der Frühling wieder die harrende Welt;

Und wo er ſich zeigt, da ſingt es,

Und wo er nur wandert, da klingt es,

Jauchzend zum Himmelszelt.
Das hören wohl tauſend Blaublümelein,

Die da ſchlummerten unter dem glitzernden Gras,

Und heben die Köpfchen und ſchauen,

Wie grün ſchon die Wieſen und Auen

Und blühen ohn Unterlaß.
Nun hebt ſich ein Ahnen in jeglicher Bruſt

Und ein ſehnendes Hoffen allüberall;

Was draußen zum Lichte ſich windet,

In jeglichem Herzen findet

Es klingenden Widerhall.
[223]
Und wen nur der Frühling zum Feſte ſich lud,

Der mag nun nimmermehr traurig ſein;

Doch mich hat er nicht geladen,

Ich kann ja die Seele nicht baden

In dem goldigen Sonnenſchein!
Ich kann ja nicht ſteigen zu ſchwindelnden Höhn,

Wo das Adlerweib brütet im luftigen Horſt!

Ich kann ja nicht liegen und lauſchen,

Wie die Wälder ſo einſam rauſchen

Und die Amſeln pfeifen im Forſt!
Muß bleiben daheim, ob mit Ungeſtüm

Auch das Herz in die lockende Ferne mich zieht;

Muß hören das Klatſchen der Baſen,

Statt zu ruhen im blumigen Raſen

Und zu lauſchen dem Lerchenlied!
Vor dem ſchwärzlichen, ſtädtiſchen Bogenthor,

Da ſchauert der luſtige Frühling zurück —

Ach, zwiſchen den Giebeln und Mauern

Muß ich nun einſam vertrauern

Meinen Jugendtraum und mein Glück!
[224]
O du Stadt und du kleinliches Krämervolk,

Wie bin ich doch euer ſo überſatt!

Tagtäglich dieſelbe Reiſe,

Tagtäglich dasſelbe Gleiſe,

Tagtäglich dasſelbe Rad!
Und dazu noch dies Weh, o dies innerſte Weh,

Das die Bruſt mir zerreißt und die Sinne zerwühlt!

O ſende nur einen Tropfen

Auf dieſes Herz und ſein Klopfen,

Der die lechzende Seele mir kühlt! — —
Wo das Meer erbrauſt dumpfdonnernden Schlags

Und die weißlichen Möven flattern und ſchrein

Und die dunkelnden Meereswellen

Sich bäumen und fluthend ſchwellen

Zum Leuchtthurm am Klippenſtein:
Da möcht ich wohl ſtehn, ha du wilde Luſt!

Wenn die raſenden Fittige ſchüttelt der Sturm,

Wenn die ſchnellenden Wogen rollen

Und die gellenden Donner grollen

Und das Feuer verliſcht auf dem Thurm!
[225]
Und macht dann des Sturmwinds Orgelmuſik

Dich, du wildaufſchlagendes Herz, nicht geſund:

Dann kommt, o ihr Wogen, ihr kühlen,

Von dem Fels mich hinunter zu ſpülen

In den gähnenden Meeresſchlund!
15[226]

20.

Der Sonne letzter Schein

Umſpielt das ſchwanke Ried,

Der Thürmer bläst ſein Lied

Ins Abendroth hinein.
Von fernher weht ein Duft

Berauſchend mir ums Haar,

Ein weißes Taubenpaar

Durchflattert noch die Luft.
Nun taucht mein Geiſt ins Bad

Und ſtärkt ſich im Gebet,

Ein Engel Gottes geht

Stillſegnend durch die Stadt.
[227]
Für Jeden, der ihn ſieht,

Hat er im Herzen Raum:

Dir gab er einen Traum,

Und mir gab er dies Lied!
[228]

21.

Jüngſt ſah ich den Wind,

Das himmliſche Kind,

Als ich träumend im Walde gelegen,

Und hinter ihm ſchritt

Mit trippelndem Tritt

Sein Bruder, der Sommerregen.
In den Wipfeln da ging's

Nach rechts und nach links,

Als wiegte der Wind ſich im Bettchen,

Und ſein Brüderchen ſang:

Di Binke di Bank,

Und ſchlüpfte von Blättchen zu Blättchen.
[229]
Weiß ſelbſt nicht, wie's kam,

Gar zu wunderſam

Es regnete, tropfte und rauſchte,

Daß ich ſelber ein Kind,

Wie Regen und Wind,

Das Spielen der beiden belauſchte.
Dann wurde es Nacht,

Und eh ich's gedacht,

Waren fort, die das Märchen mir ſchufen.

Ihr Mütterlein

Hatte ſie fein

Hinauf in den Himmel gerufen!
[230]

22.

O du lieber, linder Sommerabend,

Biſt ſo ſüß wie zarte Frauenhuld,

Wenn dein tiefgeheimer Zauber labend

Mich in wunderholde Träume lullt.

Bin ich ſingend über Land gezogen

Wohl den ganzen Tag im Sonnenſchein

Und nun ſchreit ich durch den Thoresbogen

In die altersgraue Stadt hinein.
Von den holzgeſchnitzten Giebelſpitzen

Sich ſchon längſt der letzte Schimmer ſtahl,

Nur die hohen Kirchenkreuze blitzen

Golden noch im ſpäten Abendſtrahl.

Kinder auf den Treppenſteinen hocken,

Spielen Haſchen oder Blindekuh,

Und dazwiſchen läuten fromm die Glocken

Von den Thürmen Feierabendruh.
[231]
Wer ſich abgemüht in Tagesſchwüle,

Ruht im Schooße ſeiner Lieben aus;

Herzerquickend duftet ihm die Kühle,

Wie ein friſchgepflückter Blumenſtrauß.

Rollt kein Wagen mehr, es ſchlägt kein Hammer,

Denn der Werkeltag iſt längſt verrauſcht;

Lämpchen kniſtert ſchon in ſtiller Kammer,

Drin der Neſtling Mutters Märchen lauſcht.
Immer ſtiller wird es auf den Gaſſen,

Immer heimlicher die Dämmrung winkt,

Bis das Giebeldach die ſilberblaſſen,

Mondgewebten Flimmerſtrahlen trinkt.

Wo in marktumpflanzten Lindenbäumen

Funkenwürmchen hin und wieder fliegt,

Wandeln Liebende in ſüßen Träumen,

Hand in Hand und Arm in Arm geſchmiegt.
Mit den alten, halbverwaſchnen Runnen

Und dem ſteingehaunen Reckenbild

Steht am Rathhauseck der Rolandsbrunnen,

Der aus hundert Röhren tönend quillt.

Auf bemooſtem Rande ſitz' ich nieder,

Und ich ſchaue in die Fluthenpracht,

Und ich lauſche auf die Wiegenlieder,

Bis mein Herz zur guten Ruh gebracht.
[232]
Und da hör ich, wie auf leiſen Sohlen

Blonde Engel durch die Gaſſen gehn,

Und ich blinzle ab und zu verſtohlen,

Um die blonden Engel auch zu ſehn.

O du lieber, linder Sommerabend,

Biſt ſo ſüß wie zarte Frauenhuld,

Wenn dein tiefgeheimer Zauber labend

Mich in wunderholde Träume lullt!
[233]

23.

Nun pfeift der Herbſtwind ums Gemäuer,

Und grau in grau verſchwimmt die Luft,

Und um den Herd und um ſein Feuer

Webt Winterduft.
Das iſt die Zeit, wo ſich die Seele

Stilleinſam auf ſich ſelbſt beſinnt

Und wie im Lenz einſt Philomele

Auf Lieder ſinnt.
Willkommen drum zur guten Stunde,

O Muſe, unter meinem Dach;

Iſt auch dies Stübchen hier im Grunde

Kein Prunkgemach!
[234]
Vier Wände nur und was darinnen,

Ein Tiſch, zwei Stühle und ein Schrein;

So ſitzen wir vergnügt und ſinnen

Beim Lampenſchein.
Doch draußen, welch ein grauſes Wetter

Durchrast geſpenſterhaft die Nacht?

Mir däucht, ſo klingt das Horngeſchmetter

Der wilden Jagd!
Der Regen peitſcht in jähem Grimme

Ans Fenſter, daß der Laden wankt,

Und durch die Luft heult eine Stimme

Und ächzt und bangt.
Ein Kreiſchen wie von Wetterhähnen

Umkreist der Kirche nahen Thurm,

Denn ihn bedräut mit giftgen Zähnen

Der Drache Sturm.
Von Menſchen ſcheint die Stadt verlaſſen,

Kein Licht mehr, das nicht längſt verblich,

Und wer hinabblickt auf die Gaſſen,

Bekreuzigt ſich.
[235]
Fürwahr, iſt da nicht unſre Zelle

Ein irdiſch Stücklein Seligkeit,

Und predigt nicht des Lämpchens Helle

Gemüthlichkeit?
Und näher rücken wir zuſammen

Und was ich frage, thuſt du kund;

Dein Auge ſpielt in blauen Flammen,

Es lacht dein Mund.
Aus Oſt und Weſten, Süd und Norden,

Von Steinen, Blumen und Gethier,

Warum und wie ſie ſo geworden,

Erzählſt du mir:
Und was einſt vor ſo manchem Jährchen

Die Welt erlebt in Luſt und Leid,

Und wenn ich bitte, auch ein Märchen

Aus alter Zeit.
Wie Siegfried einſt die Maid Brunhilde

Durch ſeinen Kuß vom Schlaf erweckt,

Und wie ſich hinter dieſem Bilde

Ein Sinn verſteckt.
[236]
Wie jährlich noch die Mutter Erde

Sich einſpinnt in die Winternacht,

Bis ſie im Lenz durch Gottes Werde

Aufs Neu erwacht.
Drum laß den Tod nur draußen dräuen,

Wir zwei ſind gegen ihn gefeit;

Das Leben wird ſich ſchon erneuen

Zu ſeiner Zeit.
Als Lenz wird es uns Veilchen bringen,

Und tändeln wird's als Blüthenfall,

Und Nachts im Flieder wird es ſingen

Als Nachtigall!
[237]

24.

Das alte Jahr hat ſeine Sterbeglocken

Verklingen hören über Raum und Zeit

Und ſchimmernd eingeſargt von weißen Flocken

Verſinkt es in die Ewigkeit.

Doch leuchtend aus dem Schooß der Winternacht

Ringt ſchon das neue ſeine jungen Glieder

Und träumt, die Erde ſei mit ihm erwacht,

Geweckt vom ſüßen Klang der Frühlingslieder.
Doch ſchau, wie fröſtelnd es die weiße Decke

Schon wieder über ſeine Glieder zieht,

Weil es von Eis umglitzert Hag und Hecke

Und ach, kein einzig Veilchen ſieht!

Doch faſſe neue Hoffnung, neues Jahr,

Denn ſo wie dir iſt's jedem noch ergangen

Aus deiner ewigen Geſchwiſterſchaar;

Und doch, der Lenz kam immer noch gegangen!
[238]
Noch herrſcht der Tod; doch wenig Wochen ſpäter

Und hoch im Winde ſchwankt das junge Ried,

Dann ſingt ein Lerchenchor im blauen Aether

Des Frühlings Auferſtehungslied.

Und wonniger, als du dir je erträumt,

Wird die Natur dir noch ihr Herz erſchließen,

Wenn von des Sommers Aehrengold umſäumt,

Des Lebens Quellen rauſchend dich umfließen.
Doch was in dieſer Welt dich auch entzückte,

Vergilt es uns auf deiner Tage Flucht

Und jede Blüthe, die im Lenz dich ſchmückte,

Gieb uns im Herbſt als reife Frucht!

Und ſchlägt dereinſt die Stunde deines Seins,

Dann ſei dein Segen für das Wunſchgedeihen,

Wenn wir ſtatt eines todten Marmorſteins,

Dir ein lebendiges Gedächtniß weihen!
[239]

25.

Die Schöpfung iſt ein ew'ges Werden,

Ein ew'ger Wechſel iſt die Welt;

Der kleinſte Stein lehrt's dich auf Erden,

Er wächst, er dauert und zerſchellt.

Und dennoch willſt du ſie verklagen,

Die Parze, die den Faden ſpinnt,

Und meinſt du könnteſt es nicht tragen,

Wenn dir ein Traum in Nichts zerrinnt?
O ſieh, wie hoch ſich dir zu Häupten

Die Sterne drehn im Sphärentanz;

Wer weiß, ob ſie nicht längſt zerſtäubten,

Und dennoch blendet dich ihr Glanz.

So läßt Erinnrung auch im Buſen

Dich dein verſunknes Eden ſehn

Und durch die goldne Gunſt der Muſen

In Liedern wieder auferſtehn.
[240]

26.

O Herz, du fühlſt dich wie von Gott geweiht,

Und hoch ſchlägſt du empor in deinen Träumen,

Wenn dir die Sehnſucht ihre Flügel leiht

Und mit dir wandelt unter Blüthenbäumen.
Kein Wölkchen ſegelt durch das Blau der Luft,

Die Knospen brechen und die Früchte ſchwellen,

Und fernhin ſchaukelt ſich's wie Roſenduft

Sanft über ſanft bewegten Meereswellen.
Doch dringt auch Erd und Himmel auf dich ein,

Es läßt dich nie an einem Orte raſten;

Denn ach, dich lockt ein ferner Zauberſchein

Und ruhlos mußt du nun die Welt durchhaſten.
[241]
Wie oft nicht glaubteſt du den ſtillen Strand

Der ſelgen Inſeln ſchon erſpäht zu haben,

Doch trateſt du dann zögernd an ihr Land,

So war's nur, drin die Hoffnung zu begraben.
Doch die du ſcheidend ſchon ſo oft beweint,

Stets iſt ſie noch erwacht aus ihrem Tode

Und hat ſich ſchmeichelnd wieder dir vereint

Und trank mit dir und brach von deinem Brode.
Du aber fügteſt dann in Klang und Wort

Von neuem deine ewigen Gefühle

Und ſpähteſt nach dem heißerſehnten Port,

Der dich errettet aus dem Weltgewühle.
Denn wen ſein wilder Strudel erſt erfaßt,

Der iſt für alle Ewigkeit verloren;

Kein Götterbote lädt ihn mehr zu Gaſt

Und beſſer wär's, er wäre nie geboren.
Drum harre aus, wie du bisher gethan,

Und halte feſt an allem, was dir theuer;

Zwar nur gebrechlich iſt dein ſchwanker Kahn,

Doch ſitzt die Liebe ja an ſeinem Steuer.
16[242]

27.

Apage, blonder Satan, laß mich los!

Ich weiß, dies iſt das Haus „Zu den drei Nymphen“,

Doch ſetze dich nicht gleich mir auf den Schooß

Und kokettire nicht mit deinen Strümpfen!
Dein Wort iſt wie ein tönendes Geſchell,

Du wirſt dies junge Herz mir nicht beſchwatzen;

Du biſt ja doch nur eine Biermamſell

Und feil und falſch wie alle dieſe Katzen.
Durch dein Gelächter ziſcht die rothe Luſt,

Die Goldgier grub ſich tief in deine Züge

Und luftgepolſtert thront auf deiner Bruſt

Die gummifabricirte Doppellüge.
[243]
Was dir an Locken baumelt um die Stirn,

Iſt mühſam nur geſtutzt mit Papilloten

Und dein vertracktes kleines Weibsgehirn

Iſt bis zum Platzen vollgepfropft mit Zoten.
Du machſt die Augen zu und ſchnalzſt: Wie ſchön!

Und nippſt beim Nachbargaſt vom Blut der Reben

Und denkſt dabei nur an das Luſtgeſtöhn,

Als du dich geſtern Nacht ihm preisgegeben.
Dein Element iſt recht die Völlerei,

Das Auſternfreſſen und Champagnerſaufen ....

Doch Teufel! ſchlägt die Stutzuhr dort ſchon Zwei?

Da, nimm mein Portemonnaie — und laß mich laufen!
[244]

28.

Mein Herz ſchlägt laut, mein Gewiſſen ſchreit:

Ein blutiger Frevel iſt dieſe Zeit!

Am hölzernen Kreuz verröchelt der Gott,

Kindern und Thoren ein ſeichter Spott;

Verlöſcht iſt am Himmel das letzte Roth,

Ueber die Welt hin ſchreitet der Tod,

Und trunken durch die Gewitternacht klingt

Das ſündige Lied, das die Nachtigall ſingt.
Die Menſchheit weint um ihr Paradies,

Draus ſie ihr eigener Dämon verſtieß,

Und heimlich ziſcht ihr die rothe Wuth

Ihre Parole zu: Gold und Blut!

Gold und Blut, Blut und Gold!

Hei wie das klappert, hei wie das rollt!

Und wüſt dazwiſchen kräht der Hahn:

Volksohnmacht und Cäſarenwahn!
[245]
Und immer dunkler wird die Nacht,

Die Liebe ſchläft ein und der Haß erwacht

Und immer üppiger dehnt ſich die Luſt

Und immer angſtvoller ſchwillt die Bruſt;

Kein Stern, der blau durch die Wolken bricht,

Kein Lied, das ſüß von Erlöſung ſpricht —

Mein Herz ſchlägt laut, mein Gewiſſen ſchreit:

Ein blutiger Frevel iſt dieſe Zeit!
[246]

29.

O, ſieh mich nicht an,

Du blaſſer Dämon!

Wir ſind allein ....

O, hab Erbarmen!
Nur ein einziges Weib

Iſt ſo ſchön, wie du:

Die Teufelin Lilith,

Die Mutter des Kain!
Runzle die Braunen

Und nenne mich „Narr“,

Lache mich aus

Und tritt mich mit Füßen —

Nur, ſieh mich nicht an!
Sieh mich nicht an

Und laß deine weißen,

Runden Brüſte

Nicht ſo ſehnſüchtig wogen!

Denn deine rothen

Lippen ſind

Für meine Seele

Viel zu ſüß!
[247]
Ach! dieſe Hand hier,

Die ſich jetzt zitternd

Mir auf das Herz preßt,

Soll dereinſt ja

Im Männerkampf

Lanzen brechen

Und Speere ſchütteln;

Und über dies Haupt hier,

Das ſich jetzt

Vor dir, du Vampyr,

Du ſchöner Vampyr,

So tief erniedrigt,

Soll einſt meſſianiſch

Das goldne Banner

Der Zukunft wehn!
O, ſieh mich nicht an,

Du blaſſer Dämon!

Wir ſind allein ....

O, hab Erbarmen!
Ich weiß es! Ich weiß!!

Und wenn ich auch einmal nur,

Wolluſtächzend,

In deinem brünſtigen

Schooße geſchwelgt,

Ich müßte ſclaviſch

Auf dein Geheiß
[248]
Thun, was du willſt,

Und ich würde der Wurm ſein,

Den du zertrittſt!

Dann wäre zertrümmert

Auf ewig mir

Die ſchöne Welt

Der Ideale

Und meine Seele

Gehörte dir!

Ich würde der Wahrheit

Ins Antlitz ſpein

Und meine Brüder

Müßten verbluten!!
Drum ſieh mich nicht an,

Du blaſſer Dämon,

Und laß deine weißen,

Runden Brüſte

Nicht ſo ſehnſüchtig wogen,

Denn deine rothen

Lippen ſind

Für meine Seele

Viel zu ſüß!
O goldene Venus,

Große Göttin!

Wir ſind allein ....

O, hab Erbarmen!!
[249]

30.

Wohl jauchz ich, wenn der Tag ſein Werk beſtellt,

Und helf ihm mit, die alte Zeit zerhämmern,

Doch ſoll noch manchmal mich umdämmern

Die alte, goldne Heidenwelt!
Denn ſtets beleidigt meine Phantaſie

Ein Marmorchriſtus mit verrenkten Knochen,

Doch oft hat mir ins Herz geſprochen

Ein Jupiter Otricoli!
O ſchöne Zeit, als am Hymettoshang

Ein heilig Volk ſein heilig Feuer ſchürte,

Als Phidias ſeinen Meißel führte

Und Pindar ſeine Hymnen ſang!
[250]
Ihr Wallfahrtsweltort hieß Olympia

Und nicht von Holz war'n ihre Roſenkränze,

Wenn ſie die prieſterlichen Tänze

Sich ſeelenvoll verſchlingen ſah!
Die Erde, nicht der Himmel, war ihr Traum,

Erſt ſpäter lernte ſie das dumme Knieen;

Sie ſpann nicht graue Theorieen,

Ihr Leben war ein grüner Baum.
Doch das iſt lange, o ſchon lange her,

Die Opferſchalen fielen und zerklirrten,

Und heut tönt nur das Lied der Hirten

Noch nächtlich übers Mittelmeer.
Das Volk des Perikles gab ſich den Reſt,

Doch wächst und blüht der Stammbaum des Eumäus —

Heut iſt die Weltſtadt am Pyräus

Ein elendes Barackenneſt!
Zwar iſt der Himmel noch wie ehmals blau,

Der Urwald harft noch und das Weltmeer pſaltert,

Doch ach, die Menſchheit hat gealtert

Und pinſelt nur noch grau in grau!
[251]
Der Schönheit goldner Springquell iſt verſiegt,

Fürwahr, wir leben in der Zeit des Spottes,

Da ſelbſt die heilge Mutter Gottes

Auf Pflaumenbäume kriecht!
Drum zupft den Dichter nicht an ſeinem Kranz

Und titulirt ihn nicht gleich einen Narren,

Denkt er umqualmt mal von Cigarren

Der Götterwelt Altgriechenlands.
[252]

31.

Wie lang iſt's her? Erſt ſieben Jahre!

Und doch klingt's ſchon: „Es war einmal!“

Der Wiege näher als der Bahre,

Stieg ich tagtäglich ins Pennal.
Ich war ein träumeriſcher Junge,

Las Cicero und Wilhelm Hauff

Und trug das Herz auf meiner Zunge

Und ſpießte Schmetterlinge auf.
Auch lief ich, Katzengold zu ſuchen,

Oft Tage lang im Wald umher

Und ſchwärmte unter hohen Buchen

Von einſtger Nimmerwiederkehr.
[253]
Betäubend dufteten die Kreſſen,

Grüngolden floß das Licht herein;

Es war ein ſeliges Vergeſſen,

Vergeſſen und Vergeſſenſein!
Der Lenzwind ließ die Aeſte knarren,

Vom Dorf herüber klang die Uhr,

Ich lag begraben unter Farren

Und ſtammelte: „Natur! Natur!
In alten Büchern ſteht geſchrieben,

Du biſt ein Weib, ein ſchönes Weib;

Ich bin ein Menſch und muß dich lieben,

Denn dieſe Erde iſt dein Leib!
Weh, jenem bleichen Nazarener!

Er ſtieß dich kalt von deinem Thron!

Ich aber bin ſo gut wie jener

Der Gottheit eingeborner Sohn!
Ich will nicht mönchiſch dich zergeißeln —

Her, deinen Freudenthränenwein!

Ich will dein Bild in Feuer meißeln

Und Vollmenſch wie ein Grieche ſein!
[254]
Doch du, um die in ewgem Schwunge

Die Welt ſich dreht, o Poeſie,

O, lege Gold auf meine Zunge

Und in mein Herz gieß Melodie!
In ewge Lieder laß mich weben,

Wie du das Herz mir ſüß erhellt,

Und wie ſo köſtlich doch das Leben

Und wie ſo wunderſchön die Welt!
Noch gährt's von Blinden und von Tauben

Und mehr als ein Herz ward zum Stein,

Ich aber lehre ſie wieder glauben,

Ich will der neue Johannes ſein!
In deine Wunder will ich wiegen

Die Sehnſucht ihres kranken Seins,

In deine Arme will ich ſie ſchmiegen,

Denn ich, du, ſie ... o, wir alle ſind Eins!“
So lag ich träumend einſt im Walde,

Wenn tiefblau rings der Himmel hing,

Bis draußen hinter grüner Halde

Die Sonne blutroth unterging.
[255]
Dann ſchritt ich heimwärts, und mit Singen

Begrüßt ich meines Vaters Haus

Und ſchaute, wenn die Sterne gingen,

Noch lange in die Nacht hinaus.
Und jetzt? — Die heimatlichen Thäler,

Die ſeine Jugend grün umrauſcht,

Hat längſt der lyriſche Pennäler

Für eine Weltſtadt eingetauſcht.
Er ſieht mit Schauder, wie das Laſter

Sich dort juwelenfunkelnd bläht,

Das Elend aber tritt das Pflaſter

Von Morgens früh bis Abends ſpät!
Er hört, wie nachts in den Fabriken

Der Proletar nach Freiheit ſchreit,

Indeß ein Volk von Domeſtiken

Dem nackten Recht ins Antlitz ſpeit!
Er fühlt, wie wilde, wilde Flammen

Ihm heiß und roth das Hirn durchlohn,

Und beißt die Zähne feſt zuſammen

Und murmelt: Hohn, Hohn, dreimal Hohn!
[256]
Er ſieht, er hört, er fühlt den Jammer

Und wandelt tags von Haus zu Haus

Und grollt dann nachts in ſeiner Kammer

Sein Herz in wilde Lieder aus.
Er hat es längſt, ſchon längſt vergeſſen,

Wie wohl im Lenz die Sonne thut,

Und wie's im Wald, umblüht von Kreſſen,

Sich einſt ſo ſchön, ſo ſchön geruht!
Nur manchmal, manchmal noch durchziehen

Sein Herz, das nach Erlöſung ſchreit,

Die grünen Waldhornmelodieen

Der längſt verrauſchten Kinderzeit.
Dann ſtöhnt er auf, und ſeine Hände

Preßt er verzweifelt vors Geſicht

Und rings die weißgetünchten Wände

Erzittern, wenn er ſchluchzend ſpricht:
„O Poeſie, du Heiligſchöne,

Von Thränen iſt mein Herz durchnäßt,

Weil du den treuſten deiner Söhne

In Nacht und Noth verkümmern läßt.
[257]
Ich war ein Kind und ſprach: „„O, ſchütte

Dein Füllhorn golden in mein Lied

Und laß mich knien in einer Hütte,

Auf die der Stern der Liebe ſieht.
Ja, laß auf einem weißen Zelter

Mich fliegen in den Sonnenſchein,

Laß aus des Lebens Freudenkelter

Mein Herzblut ſprühn als Liederwein!““
Du ſchwebteſt ſegnend durch die Lüfte,

Ich hab dir ſelig nachgeblickt,

Und Lenzgoldlicht und Blüthendüfte

Haſt du mir lächelnd zugenickt.
Und doch, und doch! Du haſt gelogen!

Dein Lächeln war ein ſchönes Gift!

Du haſt mich um mich ſelbſt betrogen!

Dein Herz iſt ſchwarz wie deine Schrift!
Du gabſt mir einen wilden Rappen,

Umſchnürteſt meine Bruſt mit Erz

Und unter Thränen in mein Wappen

Haſt du geſtickt ein blutend Herz!“

[][]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ!

[]

Da ſteh ich nun, ich armer Thor,
Und bin ſo klug, als wie zuvor!

Fauſt.
[261]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ!


Mitternacht war's.

Auf den glitſchrigen Asphalt

Plätſcherte der Novemberregen

Und, windgepeitſcht, flackerte rothgelb

Durch den Nebeldunſt das Licht der Laternen.

Nur hie und da noch humpelte ſchwerfällig

Durch die dunklen Gaſſen der träumenden Weltſtadt

Ein ſchläfriger Droſchkengaul

Und vor der Hausthür, hart unter meinem Fenſter,

Stand, wie immer um dieſe Stunde,

So auch heute, mein Stubennachbar,

Der neugebackene Referendar,

Und deklamirte höchſt gefühlvoll,

Mit ſeinem Stöckchen die Luft durchfuchtelnd

Und das Schlüſſelloch immer vergeblich ſuchend,

Den Monolog der Schillerſchen Jungfrau.

Von drüben über die Straße her

Blitzten die Spiegelſcheiben des Wiener Cafés,
[262]
Und hinter den zierlichen Marmortiſchchen,

Auf die rothen Sammetpolſter

Coquettirend hingegoſſen,

Bot ſich den alten und jungen Roués

Schamlos feil die geſchminkte Sünde,

Theelöffelklappernd!

Ach, und draußen fuhr pflichtgetreu

Ein bärtiger Schutzmann ein kleines Mädchen an,

Das ſeine Händchen, vor Kälte zitternd,

In ſein zerriſſenes Schürzchen gerollt hielt

Und bitterlich weinend

Zündhölzchen ausbot!!
Mitternacht war's.

In Büchern vergraben

Saß ich am Schreibtiſch und ſchrieb.

Zu meiner Linken, dem Herzen am nächſten,

Gähnte lauernd der lahme Papierkorb

Und rechts, neben Byron und Victor Hugo

Dampfte die Waſſerpfeife.

Vom Ofen her, warm und gemüthlich,

Zog durch das Zimmer ein brauner Kaffeeduft

Und an den weißen Kalk der Decke

Malte die Lampe ihr zitterndes Goldlicht.

Alles ſtill — mäuschenſtill!

Nur die Schwarzwälder Wanduhr nickte ihr Tiktak

Und eilig kratzte meine Feder

Ueber das gelbliche Manuſcript.
[263]
Rhythmiſch reihte ſich Vers an Vers an

Und ſchneller rollte mein Blut

Von Strophe zu Strophe,

Ungeſtüm wie ein Katarakt,

Der ſich durch die Gewitternacht

Wild übers Wehr ſtürzt;

Denn um mich webte,

Geſtaltlos und dunkel,

Ein fauſtiſches Etwas

Und blies mir ins Ohr

Wort auf Wort.
Und neue Gedanken, nie gedachte,

Wuchſen gigantiſch aus meinem Gehirn auf.

In nie erforſchte Zeiten und Zonen

Tauchten ſie wahrheitsſuchend hinab,

Wie die farbigen Taucher ins indiſche Meer

Perlenfiſchend;

Mit Erden und Sonnen ſpielten ſie Fangball

Und Völkern und Königen raubten ſie

Hohnlachend die goldenen Kronen,

Die die kalte Berechung

Einer herzverkrüppelten Selbſtſucht

Der armen, blutiggegeißelten Menſchheit,

Der göttlichen Dulderin, ſchlangenklug

Als Fetiſche neben den Brotkorb gehangen,

Jahrhundertelang!
[264]
Und die alſo Entthronten,

Aus ihrer wahnwitzigen Selbſtherrlichkeit

Jählings aufgeſchreckt, bäumten ſich auf

Und aus den Kehlen

Der Wehgefolterten, Qualverzerrten,

Rang ſich, ſchauerlich gurgelnd,

Der wilde Angſtruf:

„Das jüngſte Gericht“,

Millionenfach!
Auf der rauchenden Brandſtatt

Verkohlter, ſündiger Paläſte

Schlang ſich fluchend

Um ſeinen peſtgeſchwollenen Leichnam

Der letzte Bettler den letzten Purpur,

Blutgefärbt;

Und von dem braunen,

Gluthgeborſtenen Stein von Golgatha

Warf ſich vernichtungstoll

Kopfüber hinab

Ins bodenloſe, gähnende Nichts

Das wurmzerfreſſene, hölzerne Kreuz,

Dornenumwunden.

Und niemand kannte den Rabbi von Nazareth!
Der Mond verdunkelte ſich,

Durch den ſchwarzen Abgrund des Raums,

Hin und her wie ein Windlicht,
[265]
Flackerte entſeelt der Polarſtern

Und durch den wehenden Schweif der Kometen

Blitzten farbig die Meteore.

Sündfluth und Weltbrand brachen zugleich herein

Und Nacht und Licht, Ormuzd und Ahriman,

Kämpften noch einmal

Mit alter Kraft den alten Kampf

Um die endliche, ewige Herrſchaft.

Aber die Menſchheit, die ringende Menſchheit,

Athmete auf — zum erſten Mal!

Denn auch ſie, ja auch ſie, rüſtete endlich

Den letzten, großen, den heiligen Krieg,

Den ſie ſchon Jahrtauſende lang

So heiß erſehnt hatte!
Oben, hoch oben,

Auf den lichten, ſagenumwobenen,

Heiligen Bergen,

Das Haupt gen Weſten,

Knieten ihre Führer,

Die Weiſen des Abendlands,

Und rangen qualvoll

In heißen, brünſtigen Gebeten,

Wie weiland Iſrael in der Wüſte,

Oben, hoch oben!

Und unten, tief unten,

Durch die dunklen, wipfelverſchatteten,

Grünen Thäler
[266]
Wälzte ſich ſtromgleich die heilige Phalanx

Der gottentflammten, ölgeſalbten,

Todgeweihten Streiter,

Stumm und erwartungsbleich,

Eine neue Völkerwandrung.

Ihr blutrothes Banner,

Umblitzt von tauſend nackten Schwertern,

Spiegelte die aufgehende Sonne wieder,

Noch einmal küßte ſich

Mutter und Kind, Vater und Sohn

Und feierlich fluthete durch alle Himmel

Ihr heiliger Hymnus:

„Excelsior!“

Herzerſchütternd, ſeelenergreifend,

Unten, tief unten!
Aber droben im ſiebenten Himmel

Thronte noch immer auf ſeinem goldnen,

Bluttriefenden Stuhl

Der gealterte Judengott, kalt wie ein Steinbild,

Und all der Jammer, der unſägliche Jammer,

Der aus dem armen, wehgemarterten

Herzen der Menſchheit, äonenlang

Blut geſaugt wie ein Vampyr:

O, der war ſpurlos an ihm vorübergegangen,

Denn der alte Mann war kindiſch geworden

Und ließ ſich ſelbſtgefällig

Von ſeinen ſogenannten Engeln
[267]
— Kleinen, abgeſchnittenen Kinderköpfchen

Mit Flügeln hinter den Ohren —

Lügengeſchwollene Phraſen drehn,

Bis er, hohl wie ein kleiner, menſchlicher Geck,

Heimlich mit dem Spiegel coquettirte

Und ſich ſchließlich einbildete:

Er wäre wirklich allgütig!

Ach, und er ahnte nicht,

Wie ſein kahlglatziger Generalſtab,

Die allmählig

Aus Erdenprieſtern zu Himmelspfaffen

Avancirten Nachfolger Petri,

Feiſte Silengeſichter,

Hinter ſeinem Rücken

Schadenfroh ſich ins Fäuſtchen lachten

Und wie ungezogene Schulbuben

Ihm Naſen drehten und Männchen machten!

Und ſo war denn nun der einſt ſo allmächtige

Schöpfer des Himmels und der Erde

Ein närriſcher Popanz geworden,

Eine lächerliche, nichtswürdige Karrikatur

Auf den altmexikaniſchen

Vitzliputzli!
O, es war fürchterlich!

Unten auf Erden,

Aufgewühlt bis in die innerſten Tiefen ihrer Seele,
[268]
Die ringende Menſchheit, eine tragiſche Heldin,

Die endlich nach jahrmyriadenlangem,

Wildem Ringen

Von ihrem eigenen, dunklen Sein

Den geheimnißvollen Iſisſchleier heben ſollte;

Und hier oben im Himmel

Ein fühlloſer Selbſtling, dem der Weihrauch

Eines kleinen Häufleins

Alter, verrückter Betſchweſtern

Das Hirn umnebelt hatte!
Aber die Liebe, die ewige Liebe,

Die Allerbarmerin,

Sah es und weinte laut auf

Und an ihr großes, feuriges Sonnenherz

Preßte ſie wild ihre ſchöne, ſüße Tochter,

Das Mitleid,

Und beide traten, hochaufathmend,

Vor den Thron des Alten,

Der ſo alt war, daß er ſich ſelbſt nicht mehr kannte,

Und die Mutter ſprach:
„Soll dich denn nichts

Aus deinem wüſten, häßlichen Halbſchlaf

Aufrütteln, du alter Mann?

Hat dich die einſtige ſiebentägige Schöpfungsarbeit

Denn wirklich ſchon erſchlafft?
[269]
Und willſt du nun ewig

Auf deinem Faulbett thatlos herumlungern?

Geh in dich, Alter, geh in dich und laß dir

Das brünſtige, äonenaltrige,

Nie erſchlaffte Ringen der Menſchheit,

Deines verſtoßenen Stiefkindes,

Nach Licht und Wahrheit

Das Roth der Scham ins Geſicht treiben! —

O, ſchau hinab!

Dort unten auf deiner altgewordenen Erde

Ringt nun die Herrliche

Im letzten Kampfe, im Todeskampfe;

Und glaube mir, Vater, ſie verröchelt

Und Millionen Weltmeere

Voll bitterer, blutiger Thränen

Sind umſonſt geweint,

Wenn du ihr nicht hilfſt! ....

Doch du wirſt ihr helfen!

Denn einmal ſchon

Warſt du taub für mein Flehn

Und ließeſt es zu,

Daß ein thörichtes Volk von Phariſäern

Den bleichen Zimmermann aus Nazareth,

Deinen eigenen Sohn! ans Kreuz nagelte.

Ich aber ſaß, dich heimlich verfluchend,

Nachts auf dem Oelberg;

In meinen Thränen ſpiegelten ſich,

Wehmüthig zitternd,
[270]
Die tauſend Sterne der ſyriſchen Mondnacht

Und die frommen Dichter des Evangeliums

Nannten mich ſpäter: Maria Magdalena!

Nein, Vater, nein!

Du darfſt es nicht wagen,

Du wirſt es nicht wagen,

Mir wieder zu trotzen

Und ſo nicht nur meinen Fluch,

Nein, auch den der Menſchheit,

Einer ganzen Welt,

Dir aufs Haupt zu laſten,

Kalt und gefühllos!

Und ſo wirf ihn denn von dir

Den bunten, lächerlichen Flitterkram,

Mit dem Jahrmarktsnarren und Brotkorbſchurken

Dich ſchlau behängt:

Sei wieder du

Und ſchleudre noch einmal

Aus der herrlichen Fülle deiner Allmacht

Durch deine ſieben mal ſiebenzig Himmel

Dein erſtes, großes,

Heiliges Schöpfungswort!“
So ſprach die Liebe, die ewige Liebe,

Die Allerbarmerin,

Und warf ſich nieder in den Staub des Himmels

Vor die Füße ihres großen Vaters
[271]
Und das Mitleid, ihre ſchöne, ſüße Tochter,

Faltete flehend ihre zarten, weißen Hände

Und ſtammelte ſchluchzend: Erbarmen, Erbarmen!
Da fuhr's wie ein Blitz durch das blutloſe Steinbild

Und die frömmelnd gefaltete Rieſenfauſt,

Die einſt in nebelgrauer Vorzeit

Die Hand des Prometheus gelenkt

Und aus Thon Menſchen geformt,

Ballte ſich wieder und ſchlug

An die immer noch weltenſchwangere Stirn

Und der alte, zornige Jude

Wurde weich wie ein Kind!

Denn er fühlte, wie ſein Herz

Tief in pochender Bruſt,

Wieder wonnig zu ſchlagen anhub

Und eine wilde, verzehrende Sehnſucht

Fiel ihn an,

Eine Sehnſucht nach jener alten, ſchönen Zeit,

Als er ſelber noch jung war

Und die Welt, die träumende Welt,

In das bläuliche Dämmerlicht der Urzeit

Süß hineinduftete,

Zitternd und thaufriſch,

Wie eine jungerblühte, rothe Maienroſe!
Und zornentbrannt

Riß er die weihrauchduftende Schellenkappe,
[272]
Die der hirnvernagelte Aberwitz

Der letzten dunklen Jahrhunderte

Ihm frech übers Ohr geſtülpt,

Aus ſeinen ſilberfluthenden Locken

Und warf ſie nieder und trat ſie mit Füßen!

Die blauen Kinderaugen

Der ängſtlich den Raum durchflatternden Engel

Verglasten und brachen;

Die himmliſche Paraſitengarde

Der Heiligen und Kirchenväter

Flüchtete watſchelnd,

Laut aufheulend und ſich bekreuzigend,

Von Wolke zu Wolke;

Ein Fußtritt ſchleuderte Petrus,

Den feiſt gewordenen Himmelspförtner,

Auf die Erde hinab, ins todte Meer

Und millionenzüngig, wonnetriefend,

Von Stern zu Stern, von Welt zu Welt,

Rollte wieder das alte, uralte,

Heilige Evangelium:

„Gott iſt Gott!“
Er aber legte lächelnd der Liebe,

Der ewigen Liebe,

Segnend die Hand aufs Haupt

Und aus dem wehenden,

Schwarz verkohlten Lügenſchutt

Längſt gewogener, wüſter Jahrhunderte,
[273]
Umflattert von den letzten, phantaſtiſchen Fetzen

Seines eingeſtürzten, chriſtlichen Thronhimmels,

Zuckte ſein Wort, roth wie ein Blitz:

„Es werde Licht!“

Weinend tauſchte tiefunten auf Erden

Beim erſten Aufblitz des ewigen Frühlichts

Die verſöhnte Menſchheit

Herz an Herz

Den erſten heiligen Bruderkuß

Und lächelnd entrang ſich dem dunklen Chaos,

Vor ihrer eigenen, wonnigen Schönheit

Süß erſchreckt, eine neue Welt,

Die Welt der Verheißung!
O, wie das Herz mir ſchlug!
In zorndurchloderten, wilden Rhythmen,

Kraftvoll gegliedert,

Standen ſie da meine feurigen Strophen,

Glorreich und todverachtend,

Wie weiland das Häuflein der dreihundert Sparter

In den Schluchten der Thermopylen.

Und ich las es noch einmal,

Was ich niedergeſchrieben mit meinem Herzblut!

Und wieder dann dacht ich, lautauf grollend,

Wie noch immer

Auf dieſer ruhlos wandernden Erde

Das Elend, unſer älteſtes Hausthier,
18[274]
Augenrollend und zähnefletſchend,

Um Paläſte und Hütten ſchleicht,

Tag und Nacht!

Und wie die Menſchheit, dies arme Findelkind,

Das die Mutter nicht kennt und den Vater verflucht,

Trotz Zerduſcht und Buddha, Chriſtus und Muhamed,

Noch ſo weit vom Ziel,

Noch ſo weit, o ſo weit!
Müſſen nicht immer noch tauſend Fäuſte,

Harte, ſchwielenbedeckte Fäuſte,

Sich vom Munde das Brot abdarben,

Das ſchwarze Brot,

Um einem einzigen dummfaulen Tagedieb

Den gefräßigen Schmeerbauch zu mäſten,

„Standesgemäß“

Mit Krebshirn und Nachtigallzungen?

Zwingt nicht das Gold,

Dieſer herzloſeſte aller Teufel,

Die Schönheit, die arme, rührende Schönheit,

Noch immer in das dumpfe,

Seuchenverpeſtete Luſtbett der Sünde?

Leckt nicht das Volk,

Die gezähmte, ſchweifwedelnde Beſtie,

Noch immer die bluttriefende Hand

Ihres gekrönten Peinigers?

Und muß ſich die Wahrheit, die bleiche Dulderin,
[275]
Nicht immer noch

Aus dem hölzernen Betſtuhl der Kirche

Querhin über den pfennigfeilſchenden Markt

Durch Seitengäßchen und Hinterpförtchen

Nachts in das lampenerhellte Stübchen

Der Dichter und Denker flüchten,

Flüchten vor dem lauernden Schlangenblick

Der kahlgeſchorenen, glattraſirten

Prieſter der Liebe?
Und doch! Und doch!

Durchblättre das große, heilige Buch der Geſchichte,

Und du ſpeiſt dir ſelbſt in dein Lügengeſicht,

Wenn du, Schwächling, die Läſtrung wagſt:

„Alles iſt eitel! Die Welt dreht ſich rückwärts!“

Zwar die Bronceſchwerter der Urzeit

Sind nur die Ahnen ihrer Enkel geweſen,

Der ſchlanken, ſtählernen Klingen der Neuzeit,

Denn Ares, der Kriegsgott,

Schüttelt ſein ſchlangenlockiges Haupt

Heut noch ſo wild wie zur Zeit des Homer:

Doch wo ſperrt noch heut

Der aſſyriſche Moloch der heidniſchen Vorzeit

Seinen feuerſpeienden Rachen

Hungrig nach Menſchenfleiſch auf?

Wer ſchnürt wohl heut noch ein triefäugiges Weib,

Blos weil es triefäugig iſt,

An den mittelalterlichen Brandpfahl?
[276]
Und hat nicht erſt geſtern,

Drüben über dem großen Weltmeer,

Der ſchwarze Mann die Kette zerbrochen,

Die ihm jahrtauſendelang um den Knöchel geklirrt?

Und haben ihm ſeine weißen Brüder

Nicht treulich geholfen?

Iſt es von jenem ausgehöhlten Baumſtamm,

Der einſt vor grauen Jahren

Längs der felſigen Küſte Phöniciens

Ueber das Mittelmeer ſchwamm,

Bis zum Great Eaſtern,

Dem eiſengeſchuppten Rieſendelphin,

Denn nicht mehr als ein Schritt?

Sind die ſonnigen, griechiſchen Märchen

Des Blinden von Chios etwa göttlicher

Als das dunkle, deutſche Myſterium

Von Dr. Fauſt?

Und haben die Weiſen der neuen Zeit,

Keppler und Humboldt, Newton und Darwin,

Der Welt denn nicht tiefer ins Herz geſchaut,

Als der griechiſche Ariſtoteles,

Oder ſein Schüler, der römiſche Plinius?
So ſaß ich und ſann ich.

Wild ſchlug mein Puls,

Meine Wangen glühten

Und heiß wie im Fieber

Pochten und hämmerten meine Schläfen.
[277]
Mein Hirn war der Aetna

Und ſeine Gedanken die Cyclopen!

An den weißen Kalk der Decke

Malte noch immer die grüne Lampe

Kreisrund ihr zitterndes Goldlicht,

Und die alte Schwarzwälder Wanduhr

Nickte ihr Tiktak, wie vordem.

Draußen in der dunklen, ſtillen Straße

Warf der Regen

Seine letzten, ſchweren Tropfen

Plätſchernd aufs Trottoir,

Um die ausgedrehten Laternen

Hatte der Nebel ſich dichter gelagert

Und durch den feinen, weißen Schleier

Glotzte das ſtiller gewordne Café

Mit ſeinen großen Fenſteraugen

Phantaſtiſch herüber,

Ein Rembrandtſches Halbdunkel.

Ich aber achtet' es nicht

Und ſprang auf vom Schreibtiſch

Und durchmaß, verſchränkten Arms,

Mit großen, ſchweren Schritten

Haſtig das Zimmer.

Der blonde Kopf der ſixtiniſchen Göttin

Schaute aus ſeinem wurmſtichigen Rahmen

Verwundert auf mich herab

Und lächelnd ſchüttelte

Auf ſeinem gelblichen Poſtament
[278]
Das Miniaturbild der Venus von Milo

Sein ſchönes, gipsverkittetes Haupt.

Ich aber ſtellte mich feſt

Vor das wackelnde Bücherbrett hin

Und lehnte den Kopf an das weiße Thürgerüſt

Und fühlte, wie mir das Herz bis hoch an den Hals ſchlug,

Und ſprach:
„Nicht bleich und neidvoll

Schau ich Nachgeborner empor

Zu euch, ihr unſterblichen Kinder des Lichts,

Die ihr den Staub der Erbärmlichkeit

Verächtlich von den Füßen geſchüttelt

Und auf Alpengipfel entrückt,

Von Wettern umblitzt

Und umrauſcht von den Flügen der jungen Adler,

Aus euern großen, goldenen Herzen

Jene erhabenen Werke geſchöpft,

Die Millionen und Abermillionen

Lachen und Weinen, Lieben und Hoffen gelehrt;

Jene Werke, die nun — nach Jahrhunderten! —

In Bücher gedruckt und in Leder gebunden

Von jenen weißen, tannenen Brettern

Eure großen, goldgedruckten,

Dreimal heiligen Namen

Mir myſtiſch ins Herz blitzen!
Ob ihr im Dämmergrau der Geſchichte,

Getaucht in die weichen
[279]
Bläulichen Schatten des Himalaya,

An den Ufern des heiligen Ganges,

Vedenentziffernd,

Unter den Palmen Indiens gewandelt;

Ob ihr, die Herzen von Hymnen geſchwellt,

Auf die Nachtigallen von Hellas gelauſcht

Und ſinnend Veilchen gepflückt am Ilyſſos;

Ob ihr, umweht von dem Odem des Weltgeiſts,

Brütend durch euer Hirn gewälzt:

Himmel und Hölle,

Sein oder Nichtſein,

Mahom und Fauſt —

Am italiſchen Arno,

Am engliſchen Avon,

Am deutſchen Ilm;

Stolz ſprech ich's aus: Ich beneid euch nicht!
Rauſcht nicht noch immer das blaue Weltmeer,

Länderumrollend und inſelgebärend,

Seinen alten, heiligen Pſalm?

Träumt nicht noch immer der grüne Urwald,

Föhndurchharft und ſternüberſät,

Von den Wundern des erſten Schöpfungstags?

Und ſchlägt denn das große Herz der Menſchheit

Heute nicht feuriger denn je?

Iſt der gewaltige Tempelbau,

Zu dem einſt der Schüler des Wiswamitra
[280]
Und der Sohn der Jungfrau Maria

Den Grund gelegt,

Denn ſchon vollendet?

Muß ſich die Armuth, die ehrliche Armuth,

Nicht immer noch bücken,

Wenn ihr der Hochmuth, der reiche Hochmuth,

Mit der Peitſche über den Rücken knallt?

Lechzen nicht um mich noch tauſend und abertauſend

Dürſtende Seelen hungernder Völker

Nach Licht und Freiheit?

Und braucht denn die Wahrheit, die ewige Wahrheit,

Nicht immer noch Zeugen,

Zeugen, die geſteinigt bluten

Und brechenden Herzens noch triumphiren können??
Und ſo heb ich denn hier

Vor euch, ihr unſterblichen,

Heiligen Märtyrer,

Hoch meine Hand empor

Und gelobe feierlich:

Die Armen zu tröſten,

Die Schwachen zu ſtärken,

Die Gefangenen zu löſen,

Die Geſchlagenen zu rächen,

Die Wahrheit zu lieben,

Die Lüge zu haſſen

Und meiner Kunſt
[281]
Ein Prieſter zu ſein

Mein Leben lang —

Und alles das:

Aus ganzem Herzen,

Aus ganzer Seele

Und aus ganzem Gemüthe!
Und ob ſich mein Pfad auch durch Wüſten windet

Und unter dornenumkrochnem Geſtein

Giftige Schlangen nach meiner Ferſe züngeln,

Indeß die Verſuchung, die alte, graue Sünderin,

Mir dreifach ins Ohr raunt:

„Thor, der du biſt! Denk nicht an Andre!

Denk an dich ſelber und ſchlage dich ſeitwärts!

Beſſer als Nachts auf freiem Feld,

Steingebettet und windbedeckt,

Ruht es ſich unter dem ſchirmenden Dach

Der ragenden Burg, der hallenden Kirche

Und des ſchimmernden Palaſts!“....,

Mein Weg ſei gradaus!

Kein Gold ſoll mich blenden,

Kein Kreuz mich verdummen,

Kein Schwert mich erſchrecken!

Ja!

Ein will ich ſtehn

Für Licht und Wahrheit,

Recht und Freiheit,
[282]
Opferfreudig und unentwegt

Mit Herz und mit Hand, in Wort und in That!

Und will nur einmal eine Fiber meines Herzens

Untreu werden, untreu ſich ſelbſt:

Dann ſei die Lippe verflucht, die mich küßt,

Das Herz, das mich lieb hat, breche in Stücke,

Und die Hand, die ſchurkiſch den Schwur gebrochen,

Recke dereinſt ſich um Mitternacht

Aus meinem Grab ins Mondlicht empor

Und melde ſo ſtumm dem verſtörten Wandrer:

„Hier ruht der Verfluchte!“
Bebend rollten die dumpfen Worte von meinen Lippen,

Auf meinen Lidern lag es wie Blei

Und ich ſchleppte mich ſchwindelnden Kopfs an den Schreibtiſch

Und warf mich dort

Erſchöpft auf den Stuhl.

Da — plötzlich — legte ſich rieſenſchwer

Auf meine müde, zitternde Schulter

Eine große, knochige Fauſt

Und vor mir ſtand,

Bleich und düſter,

Eine markige, hochgegliederte Mannsgeſtalt

Und ſah mich mit großen, ſchwarzen Augen,

Die abgrundtief unter der hohen, weißen Stirn

Wie feurige Kohlen glühten,

Durchbohrend an.
[283]
Von den faltigen, maleriſchen Gewändern

Längſt verſchollner Jahrhunderte

Phantaſtiſch behangen,

Schien er mir eins jener dunklen,

Räthſelhaften Weſen,

Die, wie das Volk ſich heimlich ins Ohr raunt,

Schon im Urbeginn der Zeiten

Mit ihrem Schöpfer vermeſſen gehadert;

Die beim flackernden Blutlicht menſchlicher Brandfackeln

Die Grabkammern der ägyptiſchen Pyramiden

Zaubriſch mit Hieroglyphen bedeckt,

Und die fluchgepeitſcht,

Ueberdauernd die gewaltigen Geſchicke

Aller Völker und aller Zeiten,

Noch leben und athmen werden,

Wenn der letzte Menſch,

Müde des Seins und des goldenen Lichts,

Schon jahrhundertelang ins Grab geſtiegen

Und die dunkle, todtenſtarre Erde

Ihre wüſte, ausgebrannte Schlacke

Eiskalt durchs Nichts wälzt.

Und ſchaudernd ſah ich,

Wie das wachsbleiche Antlitz des myſtiſchen Fremdlings,

Wechſelnden Mienenſpiels,

Mich grauenvoll anſtarrte,

Bald wie Chriſtus, bald wie Mephiſto

Und bald — o Gott! — wie mein eignes Spiegelbild!

Da gerann mir das Blut in den Adern zu Eis
[284]
Und an die wilder pochende Stirn

Taſtete meine Hand wie im Fieber

Und zitternd frug ich:

„Was willſt du?? Wer biſt du??“
„Was willſt du? Wer biſt du?

Windiges Püpplein!“ lachte der Schreckliche,

„Iſt da das Küchlein kaum aus dem Ei geſchlüpft

Und klatſcht ſchon verwegen

Mit ſeinen ärmlichen,

Schalenumſchlotterten Federchen,

Flügelſtolz, wie der alte,

Braungeſprenkelte Weih,

Der über ihm hoch in blauer Luft

Beutelüſterne Kreiſe zieht!

Wer biſt du!! Was willſt du!!

Thor, der ſo fragt!

Beherbergt dein winziges Menſchengehirnchen

Etwa noch mehr ſolcher ungezogenen,

Täppiſchen Schulbubenwitze?

Schleudre erſt von dir, weit, weit von dir,

Dein florumflattertes, ſchellenumklingeltes,

Kleinliches Selbſt;

Entziffre Nachts unterm Sternenhimmel

Das große Räthſelbuch der Natur;

Begreife mit deinem Zwergverſtand,

Wie die Blume blüht und die Sonne ſcheint;
[285]
Frage dich ſelber, woher und wohin;

Und hat ſich dein Fürwitz,

Dein kleiner, menſchlicher Fürwitz,

Dann noch nicht erſchöpft:

Dann faſſe dir — wenn du es kannſt

Noch einmal ein Herz,

Dann tritt noch einmal hier vor mich hin

Und frage noch einmal:

Was willſt du? Wer biſt du?

Und ich werde dir — wenn du es willſt

Das Urbild der Wahrheit zeigen,

Schleierlos, wie ein nacktes Weib,

Und auch du wirſt dann ſein wie der alte Gott,

Der einſt in ſein herrliches Paradies

— Dem Teufel zu Liebe! —

Eigenhändig einen Apfelbaum pflanzte,

Und wiſſen, was böſe, doch nicht, was gut iſt!!
Doch à propos ich werde pathetiſch!

Und graue Haare und Gelbſchnabelphraſen

Sind immer komiſch!

Verflucht!

Ich glaube, dein Monolog,

Den du dir erſt

— Dort am Thürgerüſt! —

„Nicht bleich und neidvoll“

Vordeklamirteſt,

Iſt Schuld an dem Unſinn, den ich geſchwatzt!
[286]
Doch ſetzen wir uns!

Nicht wahr, du erlaubſt doch?“
Sprach's und ließ ſich, ironiſch lächelnd,

Mir gegenüber in den alten,

Großgeblümten Lehnſtuhl fallen,

Der ſich der hohen Ehre bewußt,

Bedenklich nach vorn bog und: Knickknack! ſagte,

Legte phlegmatiſch ein Bein übers andre,

Nieste, rief: „Proſit!“

Zupfte ſich etwas am Kragen zurecht

Und fuhr dann in ſeiner Rede fort:
„Menſch und Poet,

Sieh mal nach, was die Uhr iſt!

Was, eine goldne?

Meine war ſilbern nur

Und blieb mir leider ſchon treulos ſtehn,

Als Cäſar über den Rubikon ging.

Dreiviertel zwei?

Dann hab ich noch Zeit!

Der nächſte Schnellzug nach Buxtehude

Geht ja bekanntlich erſt 7 Uhr 50!
Doch wenn ich nicht irre, riecht's hier nach Kaffee!

Wie wär's denn, mein Freund,

Wenn du mir, deinem Gaſt,

Einen Löffel voll anböteſt?
[287]
Seit Muhameds Hedſchra

War ich in Mokka nur zwei- oder dreimal

Und — ländlich ſchändlich! —

Seit Sir Francis Drake trink ich nur Schnaps!

Ausnahmen mach ich nur manchmal in China,

Wo ich mich zopfgerecht

Mandarin titulire

Und Thee wie Waſſer ſaufe,

Und — last not least, wie wir Engländer ſagen —

Mein Freundchen, bei dir!

Und warum denn auch nicht?

Variatio delectat!
Für Zucker dank ich!

Milch nur ein wenig!

So, das genügt! —
Variatio delectat!

O du mein Cicero,

Göttlichſter unter den Göttlichen!

Deine Naſe war krumm,

Aber das Gold, das Gold deiner Rede

Blitzte und floß

— Um ein verbrauchtes Bild

Gelegentlich wieder aufzuputzen —

Von deinen Lippen wie Honigſeim!
Wie? Du lächelſt?
[288]
Wurm, der du biſt!

Du kennſt ihn ja nur

Aus der Unter-Sekunda her,

Als du noch weisheitochſend die Bänke drückteſt

Und ſchon nach dem erſten,

Weltberühmten: „Quousque tandem!“

Trotz Eſelsbrücken und Präparation

Schmählich ſtecken bliebſt!

Ich aber habe mit ihm,

Einſt als mein Bart, mein langer Judenbart,

Noch nicht ganz ſo grau war wie heute,

In den hängenden Gärten

Seines Tusculums

Bei einem Henkelkruge

Goldnen Falerners

Brüderſchaft getrunken!

Durch die zitternden Pinien brach ſilbern das Mondlicht,

Fern von den Bergen her, triefend von Wohllaut

Tönte das Lied der römiſchen Hirten

Und aus dem bläulichen Dunkel der Grotten

Leuchteten weiß und verführeriſch

Die nackten Glieder gemietheter Nymphen.

Wir aber ſprachen, falernerſeelig,

Ueber die platoſche Philoſophie

Und ſchimpften weidlich auf Catilina,

Den Carbonari!

Und zwar in den ſchönſten claſſiſchen Formen

Und gebrauchten nie ut mit dem Indicativ.
[289]
Und verſtummten erſt lange nach Mitternacht,

Wohlig eingewiegt von weißen,

Schwellenden Frauenarmen! ....

Ja, Homo Homunculus,

Das waren noch Zeiten!

Zeiten, von denen ſich,

Frei nach Shakeſpeare,

Eure tintentrunkene Schulweisheit

Heut nichts mehr träumen läßt!
Doch Scherz bei Seite!

Nicht um ein Stündlein mit dir zu verplaudern,

Malträtir ich hier deinen Lehnſtuhl!

Dein Schutzgeiſt, ein kleiner, niedlicher Blondkopf,

Hat oft meiner Großmutter,

Der alten Hekate,

An dunklen Winterabenden,

Wenn wir gemüthlich ums Höllenfeuer hockten

Und Sünder wie Bratäpfel ſchmorten,

Lange Geſchichten von dir erzählt:

Wie du ſchon in der Wiege,

Als kleiner Schreihals,

Dich in den ſchwierigſten Rhythmen geübt

Und ſpäter als fünfzehnjähriger Dandy

Krampfhaft höhere Töchter beſungen

Und pralineenaſchend hyperplatoniſch

Für Zuckerwaſſer und Mondſchein geſchwärmt,
19[290]
Bis du nun endlich — mit 20 Jahren! —

Eine Reimfabrik etablirt

Und ſelbſtzufrieden mit goldnen Lettern

Ueber die Thür gemalt:

„Weltverbeſſerungsoffizin!“

Natürlich brüllte die ganze Geſellſchaft

Dann dreimal: „Hurrah!“,

Der „Chor der Verdammten“ erging ſich johlend

In den polizeiwidrigſten Verbalinjurien

Und Beelzebub gar

Biß ſich vor Lachen in ſeinen Schwanz!

Ich aber dachte an Karl Moor

Und ſprach mit Schiller, deinem Collegen:

„Dem Mann kann geholfen werden!“

Denn ſeit man auf Erden hier

Neben die Kirchen,

Kaſernen und Zellengefängniſſe

Auch Irr'nhäuſer,

Sparkaſſen und Volksküchen baut,

Folg ich der Mode und mache in Mitleid!

Und ſo ſitz ich denn nun

Hier in deinem Muſeo

Und predige alſo:
Menſch!

Kind dieſes „aufgeklärten“ Jahrhunderts,

Biſt du denn wirklich naiv genug
[291]
Und glaubſt, wie ein Kindlein,

Die Ritzen des Weltbaus

Mit Versleim verſtopfen zu können?

Gibſt du dich wirklich dem Köhlerwahn hin

Und bildeſt dir ein,

Dein ſchädelgeborener Mikrokosmos

Würde den fadenſcheinigen Groſchenſeelen

Deiner lieben, unſterblichen Mitwürmer

Auch nur einen Pfifferling werth ſein?
Ich aber ſage dir:

Und wenn Camoens, der Portugieſe,

Noch einmal lebte

Und noch einmal ſeine Luſiaden ſänge,

Die Welt ſtieß ihn noch einmal kalt ins Spital

Und noch einmal müßte der „Stern von Lisboa“

Auf faulem Stroh elend verrecken,

Angeſpieen wie ein toller Hund!!
Glaube mir, Freund,

Die Menſchheit,

Dieſe concentrirte Beſtie,

Die mit der Zeit,

Gelehriger noch als ihr äffiſcher Urahn,

Der erſte Pavian,

Scepter und Kronen apportiren gelernt,
[292]
Hat immer nur hündiſch

Ihrem Bändiger die Hand geleckt

Und kothbeſpritzt

Sich behaglich ihrer Verdauung gefreut,

Indeß die großen, herrlichen Dulder

— Ihre Wohlthäter! —

Weltverlaſſen am Kreuz verblutet,

Oder im Kerker elend verſchmachtet!

Denk an Chriſtus, denk an Columbus!
Auch ich war einſt jung,

Auch mir ging der Kopf oft

Schwärmeriſch mit dem Herzen durch;

Und wenn ich dann ſingend und luſtberauſcht

Durch den Frühlingsgarten der Schöpfung gewandelt,

Dann hab ich beſeligt geglaubt wie du

An die goldene Zeit und den ewigen Frieden,

An das verheißene Eldorado!

Doch der Schleier zerriß

Und unter dem Lenzgrün der ſündigen Erde,

Neben die Schuppenthiere der Urwelt

Grauenvoll hingelagert,

Sah ich die höhniſch grinſenden Schädel

Ganzer Geſchlechter,

Die vor mir gelebt und gelitten wie ich,

Würmerdurchkrochen!

Und über die Gräber
[293]
Wälzte ſich wüſt

Durch den lachenden Sonnenſchein

Ein gräßlicher Peſtknäul

Von Noth und Sünde,

Gold und Blut,

Schlangenumziſcht!

Und die liebliche Freundin meiner Seele,

„Die edle Tröſterin, Treiberin Hoffnung,“

Weinte ſterbend

Ihre letzten Thränen!
Und ſo ſtand ich denn nun,

Zweifelnd, verzweifelt,

Auf dieſem wüſten,

Entſetzlichen Trümmerball,

An dem einſt ein Gott

Sieben Tage

Sieben lange, verlorene Tage

Nutzlos herumgemodelt,

Und lauſchte begierig den weiſen Sprüchen

Der alten indiſchen Evangeliſten.

Und ſie raunten mir zu:

„Was lebſt du noch, Thor?

Tauch dich hinab,

Tief hinab

In das ſelige Urnichts!

Millionen Sonnen
[294]
Sind ſchon verblutet

Und aber Millionen noch

Werden verbluten

Und du?

Fliehſt den Tod?

Dies elende Sein

Iſt des Seins ja nicht werth!

Was lebſt du noch, Thor?

Tauch dich hinab,

Tief hinab

In das ſelige Urnichts!“

Ich aber habe, Prometheus zum Trotz,

Gerungen wie Fauſt und gelitten wie Hiob,

Bis ich mich endlich, blutenden Herzens,

In das eherne Schickſal gefügt.

Doch glaube mir, Freund,

Hamlet hat Unrecht:

Der Reſt iſt nicht Schweigen,

Der Reſt iſt Verachtung!
Und ſo wandl' ich denn nun,

Wie mein Bruder, der ewige Jude,

Auf dieſer „beſten aller Welten“

Ruhlos umher, ein lebendiger Leichnam,

Und denke mit Salomo: „Alles iſt eitel!“

Nur manchmal noch, manchmal,

Wenn ſich die Sonne purpurn ins Meer taucht,
[295]
Oder der Frühling hoch auf die Berge ſteigt,

Oder „auf ewig“ im erſten Kuß

Zwei Herzen ſich finden,

Zwei arme thörichte,

Wankelmüthige Menſchenherzen:

Klingt's durch die Weihnachtsglocken der Kindheit

Mir ſüß wie die Stimme meiner Mutter,

Meiner ſchönen, todten Mutter,

Und ich denke zurück an die alte Zeit,

Als ich im Volk noch des Menſchen Sohn hieß!

Damals war ja mein Herz,

Mein armes Herz,

Noch kein todtes Uhrwerk;

Lieblich grünten die Thäler von Hebron,

Mir zu Füßen rauſchte der Jordan

Und blutroth blühte die Roſe von Saron!

Ich liebte, liebte und wurde geliebt

Und freudig trug ich die „frohe Botſchaft“,

Die goldne Legende,

Unter die Fiſcher am See Genezareth.
Doch Teufel! was red ich!

Nickt denn nicht grinſend von meinem Käppi

Die fuchsrothe Hahnenfeder Mephiſtos?

Und bin ich nicht oft mit Marte Schwertlein

Schäkernd im Mondſchein,

Hart an der Stadtmauer,
[296]
Arm in Arm durchs „Wurzgärtlin“ geſtelzt?

Indeß mein Blutsfreund, der junge Magiſter,

Unterm blühenden Roſengebüſch

Seinem blonden, ſchnippiſchen „Grasaffen“

Zärtlich die Cour ſchnitt? —
Menſch!

Stier mich nicht an!

Glaubſt du, ich kram hier im Fieberwahn

Tollhausentſprungene Märchen dir aus?

Seh ich denn aus, wie ein Charlatan?

Sieh mich doch recht an!

Hat dich nicht ſchließlich alles getäuſcht

Und bin ich nicht du?

Und dennoch verkriecht ſich dein furchtſames Ich

Scheu in ſich ſelbſt?

Graut dir vor mir?

Papperlapapp! Ich heiße nicht Heinrich!

Schlag ein neutraleres Thema vor

Und ich rede ſo dumm, wie der ehrlichſte Spitzbub!
Ah voilà — dein Manuſcript!

Mal her das Geſchreibſel!

Was? Verſe?

Schon wieder mal Verſe?

Natürlich für Proſa

Hält ſich der gnädige Herr ja zu ſchade!
[297]
Schlag da der Teufel drein!

Gut, daß mein Schwager, der alte Weltgeiſt,

Dich nicht zum Hausarzt hat!

Hätteſt ihm längſt ſchon mit deinen verfluchten

Lyriſchen Univerſaltinkturen

Homöopathiſch den Magen verdorben!

Kenne die Verſe!

Habe dir oft, wenn du Nachts bei der Lampe

Brütend am Federhalter gekaut,

Ueber die Schulter geguckt.

Zwar Recht muß Recht bleiben,

Die allerfadeſten, die ich geleſen,

Sind's grade nicht —

Eliſe Polko gibt ſchlechtre heraus!

Zum mindeſten ſcheinen ſie

Fein ciſelirt und bunt wie Perlmutter!

Und doch, Ben Akiba hat wieder mal Recht:

Alles ſchon dageweſen!“

Du aber dünkſt dich das Urgenie ſelbſt,

Wirfſt lukulliſch

Mit neuen Reimen und alten Gedanken

Wie mit Aepfelſchalen umher,

„Dichteſt und denkſt“,

Schreibſt dann dein Machwerk

In ein kleines, ſchwindſüchtiges Heftlein

Säuberlich ein

Und nennſt es pomphaft:

Das Buch deiner Zeit! —
[298]
Eins gegen Hundert!

Ich wette, auch du, Freund, denkſt nun bereits

Materiell wie alle Poeten:

„Süß, o ſüß ſchmeckt der erſte Kuß,

Aber noch ſüßer, weit, weit ſüßer

Schmeckt das erſte, heißerſehnte

Goldig klimpernde Honorar!“

Hoffentlich Menſch, „Krone der Schöpfung“,

Hat dir dein Gönner Ben Machol

Noch nichts drauf gepumpt?

Wäre doch ſchad um ſein koſcheres Geld!

Oder haſt du ſchon

— So unter der Hand —

Nach einer Villa dich umgeſehn?

Im Winter Berlin, im Frühjahr Florenz,

Im Herbſt Paris, und im Sommer Oſtende!

Famoſes Leben das!

Pyramidal!! Faſanenhaft!!!

Und Lorbeeren?

Ganze Viehwagen voll!

Nicht wahr, mon cher, ich hab es errathen?

Nicht? Na, denn nicht!

Nur nicht die Miene gekränkter Unſchuld!

Biſt doch kein Mädel, das nur geküßt ſein will

Und ſagt nicht ein altes Volkslied ſchon:

Ein braver Kerl und ein braver Knuff,

Die paſſen halt immer zuſammen?
[299]
Item!

Wie Doctor Martin ſagt,

Schießen wir endlich den Vogel ab!
Menſch!

Zeitgenoſſe von Emile Zola!

Weltverbeſſerer par excellence!

Biſt du denn ganz und gar vernagelt

Und ſiehſt du nicht ein, wie das Publikum,

Das Maſſenpublikum deiner Zeit,

Hundertmal lieber

Wiener Schnitzel als Verſe verdaut?

Wer lieſt denn heut welche?

Junge Mädchen am Einſegnungstage,

Oder, wenn's hoch kommt, verliebte Primaner!

Und — was das Schlimmſte —

Wer macht denn heut welche?

Läßt dich dein ſterblicher Galgenhumor

Nicht ſchmählich im Stich,

Dann muſtre doch einmal

Das elende Phraſendreſchergezücht

Der Kathederpoeten und Sonntagsdichter!

Alles nur Blauſtrümpfe, männliche Blauſtrümpfe!

Ach und kein einziger ehrlicher Kerl,

So ein Kerl, was man Kerl nennt!

Hinc illæ lacrimæ!
[300]
Du aber ſtreichſt dir, tief in Gedanken,

Schon martialiſch den Schnurrbart in spe

Und regierſt die Feder, als wär ſie ein Wurfſpeer,

Und rufſt wie Hutten: „Ich hab's gewagt!“

Laß doch, mein Freundchen; laß doch, wozu denn?

Wozu denn dich opfern, opfern für nichts?

Wozu denn verhungern wie Doktor Tanner?

Macht heut bei Licht beſehn keinen Effekt mehr!

Die goldne Zeit des heilgen Antonius

Iſt gottlob vorüber!

Wärſt du noch Jungfer, ich proponirte dir:

„Geh in ein Kloſter!“

So aber rath ich dir dringend und ernſthaft:

„Werde Profeſſor in Königsberg

Und ſchreibe die Memoiren Odhins —

Selbſtverſtändlich in Stabreimproſa!

Pump dir das Schreibrohr

Des Herrn Mirza von Schaffy

Und ſchlage das Tamtam und predige Weisheit!

Kauf dir ein Landgut und handle mit Poſſen,

Meinethalb auch mit alten Hoſen!

Und wenn dir das Geld fehlt,

Kauf dir den Touſſaint und überſetze

Engliſche Gouvernantenromane!

Thu, was du willſt!

Gieß dir ins Waſſerglas Cognac hinein

Und verkünde befrackt „popolär“ vom Katheder,

Wie der erſte Menſch und der letzte Papu
[301]
Sich ſo verteufelt ähnlich geſehn!

Faſle das Blaue vom Himmel herunter!

Tanz auf dem Seil! Schneide Geſichter!

Werde Schuſter!

Werde Weinreiſender!

Leg dich auf Flohdreſſur

Und fertige Patente,

Fertige Zöpfe und falſche Waden!

Mache Reklame, Guano und Caviar!

Mach, was du Luſt haſt,

Nur keine Verſe!

Dixi, Poetlein!

Dixi! Dixi!“
Alſo ſprach er, der grobe Poltron,

Der „Schwager des Weltgeiſts“,

Der „Enkel der Hekate“,

Und frug noch einmal, ob es ſchon Zeit ſei,

Und drückte mir dann

Au revoir!“ wie er lächelnd meinte,

Die tintenbeklexten Poetenfinger

So echt deutſch und hausknechtſch,

Daß ich lautauf wie ein wunder,

Homeriſcher Held

„Ὦ μοῖ ἐγώ!“ ſchrie und —

Erwachte! .....

Natürlich!!!
[302]
Vor mir,

Auf dem wachsüberzogenen Schreibtiſch,

Lagen die Bücher und Manuſcripte

Wüſt durcheinander,

Das „Goldlicht der Lampe“ war längſt erloſchen

Und ſtatt des „braunen Kaffeedufts“

Zog ſich ſtickig der Brenzelgeruch

Des ſchwarzverkohlten Dochts durch das Zimmer.

Sonſt aber ſtand, lag und hing

Alles noch an ſeinem alten,

Gewohnten Platz.

Hüben die gelbſüchtge Venus von Gyps

Drüben der Raphaeliſche Kupferſtich,

Links der Papierkorb und rechts die Waſſerpfeife!

Nur draußen hatte ſich unterdeß

Das Bild geändert.

Weiß und kalt

Stahl ſich durchs Fenſter das Morgenlicht,

Linkshin hatte das Wiener Café

Schamhaft ſeine Spiegelſcheiben verhängt

Und über den Asphalt wälzte ſich dumpf

Das wieder erwachte Geräuſch der Straße.
War das dieſelbe Welt,

Die Welt von geſtern?

Und ſollten die Bilder,

Die tollen Bilder der letzten Nacht,
[303]
Nur Traumbilder geweſen ſein,

Traumbilder einer erhitzten Phantaſie?
Doch ſtill! es klopfte und lächelnd trat

Mein Stubennachbar zu mir herein,

Der neugebackene Referendar,

Sagte: Morgen!“ und ließ ſich dann,

Leger wie immer,

In meinen alten,

Wackligen Lehnſtuhl fallen,

Drehte ſich zärtlich ſeinen blonden

Wohlgekräuſelten Henri Quatre

Und ſchoß dann los:
„Hoffentlich ſtör ich hier nicht!

Wollte Sie nur im Vorbeigehn fragen,

Haben Sie heute Vormittag Zeit?

Hat da ein ehmal'ger Leibfuchs von mir

Geſtern den Doctor gemacht,

Utriusque“ natürlich!

Fidele Kneipe geweſen, ſaufidel!

Natürlich etwas ſpät nach Hauſe geklettert!

Famoſer Frühſchoppen heut!

Erlanger Bier! Patentes Geſöff!

Sie kommen doch mit? —

Nicht?!
[304]
Ei verflucht!

Na dann ſei'n Sie mal Großkooz

Und bleichrödern mir

So Stück zehn, zwanzig Mark!

Wiſſen doch!

Kurz vor dem Erſten!

Momentane Verlegenheit!

Handſchuh bezahlt!

Na, und ſo weiter!

In circa acht Tagen

Schickt mir der Alte ja wieder Moos!

Bis dahin, Herr Nachbar,

Setzen wir uns

Auf den Probirſtuhl

Und leben einmal

A la commune

In Gütergemeinſchaft!

Natürlich, nur Bismarck zum Aerger!

Famoſer Witz das?

Nicht wahr, Herr College?

Doch à propos, ich ſag da „College“!

Iſt doch geſtattet?

Nicht wahr?

Sie machen doch auch Verſe?“
[]

Berliner Schnitzel.

20[]

Ich bin ein wilder Reiter,
Auch beißt und ſchlägt mein Gaul,
Ich bin ein grober Streiter
Und führ ein grobes Maul.

Gottfried Keller.
[307]

Initiale.

Die deutſche Sprache war einſt in alter Zeit

Ein blondes Vollweib, das durch die Wälder ſtrich;

Doch heut iſt längſt ihr ſchlotternder Buſen

Platt wie ein Plättbrett!
Das gute Frauchen hat zu viel Thee geſchluckt

Und leidet nun an Huſten und Heiſerkeit;

Ich aber frage, wann wird ſie wieder

Saugrob wie Luther?
[308]

Programm.

Kein rückwärts ſchauender Prophet,

Geblendet durch unfaßliche Idole,

Modern ſei der Poet,

Modern vom Scheitel bis zur Sohle!

Leider!

Die deutſche Dichtkunſt ſchrieb notoriſch

Sich ſelber den Uriasbrief,

Seit das Gefühl ihr obligatoriſch

Und der Verſtand nur facultativ.
[309]

Philologenpoeſie.

Wie, wann, warum, wodurch und wie?

Zum Teufel, die ſo ſchreiben!

Die Philologenpoeſie

Kann mir geſtohlen bleiben!

Stubenpoeſie.

Die Simpeldichter hör ich ewig flennen,

Sie tuten alle in dasſelbe Horn

Und nie packt ſie der dreimal heilge Zorn,

Weil ſie das Elend nur aus Büchern kennen.
[310]

Chorus der Lyriker.

O Mainacht, Mond und Mandoline!

Wer ſchwärmte früher für Laſſalle?

Heut gellt der Pfiff der Dampfmaſchine

Ins Hohelied der Nachtigall!
Man ſchimpft uns „ewge Sekundaner“,

Doch falſch iſt ihre Strategie:

Wir ſind die letzten Mohikaner

Der deutſchen Stimmungspoeſie.
Wir klopfen an die leere Tonne

Und rufen: Wein her, rothen Wein!

Auch uns erfreut das Licht der Sonne,

Nur darf es nicht elektriſch ſein.
Laßt uns die Henkelkrüge ſchwingen:

Ju Evoë, Anakreon!

Was geht die Zeit uns an? Wir ſingen

Vom Mammuth und vom Maſtodon!
[311]

Donner und Doria!

Das iſt ſo heute der Herren Manier:

Man ſetzt ſich ans Schreibpult wie an ein Klavier;

Vor ſich drei Bogen gelbes Concept

Und kommt ſich vor wie ein alter Adept.
Dann taucht man ins ſchwarze Gallelement

Sein Selbſtberäucherungsinſtrument,

Träumt ſich nach Memphis, Korinth und Walhall

Und gebiert einen mächtigen Phraſenſchwall.
Daneben ſpuckt man nach Recht und Pflicht

Der neuen Zeit in ihr Proſageſicht;

Und hat man ſich dick mit Gefühlen beſchwert,

Wird drüber der Thränenkübel geleert.
Dann druckt es der Drucker auf fein Velin,

Der Buchbinder bindet's in Maroquin

Und ſchließlich ſchimpft's die Kritik: „Poeſie“ —

Blasphemie!!!
[312]

An unſre Modedichter.

Noch ehe die Zukunft euch richtet,

Verfallt ihr der ewigen Nacht,

Weil ihr zu viel gedichtet

Und weil ihr zu wenig gedacht!

Traurig aber wahr.

Die deutſche Muſe — hört's, ihr Patrioten! —

Warf ihre Flinte lachend längſt ins Korn;

Mit Heinrich Heine riß ſie freche Zoten

Und rülpſt nun Verſe à la Klapperhorn.
[313]

Suum cuique!

Ich weiß, ich bin euch zu polemiſch;

Doch die Dichteritis iſt heut epidemiſch.

Und kann ich ihr nicht das Maul verriegeln,

So will ich ihr doch den Hintern ſtriegeln!

Recept.

Nicht wahr, du biſt ein großes Thier?

So ſprich, was iſt zum Dichten nütze?

Eine Perryfeder, ein Bogen Papier,

Ein Tintenfaß — und ein Schädel voll Grütze!
[314]

Stoßgebet!

Eins iſt Noth, ach Herr, dies Eine

Lehre mich vollbringen hier,

Und mein Schutzpatron, der Heine,

Schärfe meine Klingen mir;

Gürt mein Herz mit Siegfriedsleder,

Gieß ins Hirn mir tauſend Lichter

Und befiehl in meine Feder

Unſre ſogenannten Dichter;

Dichter, deren ganzer Codex

Eſſen, Trinken, Trinken, Eſſen,

Dichter, die ſich in den Podex,

Hämorrhoiden eingeſeſſen!

Grüß Gott, ihr Folianten,

Hurrah in den Tod!

Spielt auf, Muſikanten,

Das Eine thut Noth!
[315]

Offener Brief.

Laßt euch begraben, ihr Philologen,

Bei mir habt ihr den Kürzern gezogen!
Drei winzige Jährchen erſt iſt es her,

Da habt ihr geflucht die Kreuz und Quer:
Der Kerl, der hat zu lange Ohren,

An dem iſt Hopfen und Malz verloren!
Und heute? Donner und Doria!

Grenzt das nicht ſchamlos an einen Eclat?
Zwar, was er weiß, iſt nur autodidaktiſch,

Aber das Factum iſt eben faktiſch:
Er capirte die deutſche Poeſie

Auch ohne die griechiſchen Verba auf mi!
[316]

An Neunundneunzig von Hundert!

Ihr ſchwatzt befrackt hoch vom Katheder

Von alter und von neuer Kunſt,

Von Fleiſchgenuß und Sinnenbrunſt,

Und gerbt nur Leder, altes Leder!
Ihr laßt um jede Attitüde

Ein weißgewaſchnes Hemdchen wehn,

Denn um die Schönheit nackt zu ſehn,

Sind eure Seelen viel zu prüde!
[317]

Als Wegzehrung.

Gott weiß, du biſt ein braver Junge,

Noch neune ſolcher machen zehn,

Dein Herz iſt rein wie deine Zunge

Und ſchwerlich wirſt du untergehn.
Du wogſt noch niemals eine Lanze

Und ſingſt von Liebe nur und Lenz —

So geh denn hin, mein Freund, und tanze

Den Eiertanz der Convenienz!
[318]

Bibelbiereifrig!

Hier Genie und dort Talent!

Jeder Menſch hat ſein Pläſirchen —

So ein armer Recenſent

Iſt das ärmſte aller Thierchen.
Wenn es pfaucht und wenn es ziſcht,

Laß es, laß es ſich nur ſchinden,

Denn dem Ochſen, der da driſcht,

Sollſt du nicht das Maul verbinden!
[319]

An meine Freunde.

Noch immer, ihr Freunde, florirt der Leim,

An dem die Dummen ſich leimen;

Die Dichter reimen und reimen

Und noch immer erſcheint das „Dichterheim“!
Drum ſchaart euch zuſammen nun Mann an Mann

Und wetzt eure Schwerter und ſagt mir an:

Wann werden wir endlich zu Boden treten

Das lyriſche Kruppzeug der Afterpoeten?
[320]

An die Conventionellen.

Ihr habt genug mein armes Hirn gebüttelt,

Ich käu nicht wieder wie das liebe Vieh;

Längſt hab ich von den Schuhen ihn geſchüttelt,

Den grauen Schulſtaub eurer Poeſie!
Ich hab mich umgeſehn in meinem Volke

Und meiner Zeit bis tief ins Herz geſchaut

Und nächtlich iſt aus dunkler Wetterwolke

Ein heilig Feuer in mein Lied gethaut.
Nun ruf ich zu des Himmels goldnen Kronen:

Dreimal verflucht ſei jegliche Dreſſur!

Zum Teufel eure kindiſchen Schablonen!

Ich bin ein Menſch, ich bin ein Stück Natur!
[321]

En passant.

Was ſoll uns heut lyriſches Mondſcheingewimmer?

So ſeid doch endlich ſtill davon!

Ihr ändert's ja doch nicht, die Zeit iſt noch immer

Die alte Hure von Babylon!
Das Eiſen der Kraft hat ſie ſpielend zerbrochen,

Sie ſchnitzt ſich Heroen aus jedem Wicht

Und ſaugt uns das Mark aus unſern Knochen

Mit ihrem weißen Sirenengeſicht.
Die Flammen der Freiheit ſind lange vergluthet,

Die Herzen ſchlagen, die Herzen ſchrein —

Eh der neue Meſſias ſich verblutet,

O heilige Sintfluth, brich herein!
21[322]

An die Autoritätsklauber.

Schon immer hat uns der Magen gebellt,

Auch ohne den modiſchen Materialismus,

So alt wie dieſe alte Welt

Iſt ergo auch Zolas Zolaismus.
Drum poltert nur, poltert: Bezuckerter Miſt!

Er fürchtet nicht eure kritiſchen Beſen,

Iſt doch der erſte „Naturaliſt“

Schon der alte Vater Homer geweſen!
[323]

An gewiſſe Quidams.

Ich weiß, ihr wünſcht mir die Peſt an den Hals,

Ihr geberdet euch täglich entzückter;

Drum flucht nur, er iſt uns nichts weiter, als

Ein verrückt gewordner Verrückter!
Doch verläſtert mich nicht, denn dann ſeid ihr verratzt

Und der Teufel kommt gleich, euch zu holen,

Denn ich habe noch nie eine Jungfer beſchwatzt

Und ſilberne Löffel geſtohlen!
[324]

Die achte Todſünde.

Ein Dichter darf mit ſeinen Sachen

Uns wüthend, darf uns raſend machen,

Wir ſtecken's ſchließlich ruhig ein,

Wer wird denn immer: „Kreuzigt!“ ſchrein?

Nur Eins wird man ihm nie verknuſen,

Und gäb's ſtatt neun ſelbſt neunzig Muſen:

Wenn er in Reimen wäſſrig thränt,

Indeß ſein armer Leſer gähnt!

Drum, wer uns langweilt oder ledert,

Verdient, daß man ihn theert und federt!
[325]

Pro Domo.

Weh, unſer Zeitgeiſt liegt noch in den Windeln:

Die Juden ſchachern und die Pfaffen ſchwindeln!

Den Freund erſchießt man im Duell

Und ſucht die Liebe im Bordell.

Die deutſche Sprache wird gefälſcht,

Gekauder- und ſolongewälſcht

Und wäſſrig thront auf dem Parnaß

Die aurea mediocritas.

Drum ſchimpft nur weidlich: „Pamphletiſt“,

Ich bin nur Stimmungspeſſimiſt!
[326]

Dito.

Ich bin mein eigner Kritikus,

Drum ſpart euch eure klugen Reden,

Sagt doch ein alter Pfiffikus:

Nicht jede Formel paßt auf Jeden.
Mir hätt es ſo, mir ſo behagt,

Schon gut, ſchon gut, ihr lieben Leute;

Ihr wißt ja, was das Sprichwort ſagt,

Der Jäger pfeift, es bellt die Meute!
Doch daß ihr auch der Weisheit Schluß,

Der Wahrheit Wahrheit mögt erfahren,

Sagt jener ſelbe Pfiffikus:

Die Thorheit wächſt oft mit den Jahren!
[327]

Selbſtporträt.

Nur Wenigen bin ich ſympathiſch,

Denn ach, mein Blut rollt demokratiſch

Und meine Flagge wallt und weht:

Ich bin nur ein Tendenzpoet!
Auf Reime bin ich wie verſeſſen

— Drum lob ich plötzlich die Tſcherkeſſen —

Und wüſt durch mein Gehirn ſcherwenzen

Verrückt gewordene Sentenzen.
Mein Blut rollt ſchwarz, mein Herz ſchlägt matt,

Mein Hirn hat noch nicht ausgegoren,

Denn meine gute Mutter hat

Mich hundert Jahr zu früh geboren!
[328]

Verſchiedenen Collegen.

Ihr armen Dichter, die ihr „Philomele“

In jedem Lenz noch rhythmiſch angeſchwärmt,

O, wenn ihr wüßtet, wie ſich meine Seele

Um ihre gottverlaſſnen Schweſtern härmt!
Dreht ihr auch noch ſo ernſthaft eure Phraſe,

Der Teufel ſetzt ſie luſtig in Muſik,

Denn eine ungeheuer lange Naſe

Hat ſeine Großmama, die Frau Kritik.
[329]

Dreierlei!

Ich bin ein Dichter und kein Papagei

Und lieb es drum, in unſre Zeit zu ſchauen,

Und doch mißfällt an ihr mir Dreierlei,

Und dieſes Factum kann ich nicht verdauen:
Die jungen Damen werden nie mehr „blind“,

Die jungen Herrn ſind meiſtens eitle Schöpſe

Und — last not least — die echten Thränen ſind

Noch ſeltner heute als die echten Möpſe!
[330]

!

Verfluchtes Epigonenthum,

Aegypter- und Teutonenthum,

Daß dich der Teufel brate!

Schon längſt ſind wir fascikelſatt,

Grinst doch durch jedes Titelblatt

Das Dante'ſche „Lasciate!“
[331]

Einem Kritiker.

Das größte Maul und das kleinſte Hirn

Wohnen meiſt unter derſelben Stirn.

Collega Collegæ.

Dein Lied iſt ein ſchreiendes Transparent,

Dahinter dein Hirn wie ein Talglicht brennt.
[332]

Kritikſucht.

Wenn die Kritikſucht unſre Kunſt

En masse ſchablonenhaft verhunzt,

Fällt mir der Vers ein, der famoſe:

„Du ſtinkſt, ſprach einſt das Schwein zur Roſe.“

An meine Kritiker.

Noch niemals hab ich mich geduckt,

So oft ihr auch gegen mich aufgemuckt;

Das macht, ihr ſeid total entnervt:

Ihr donnert, eh ihr Blitze werft!
[333]

Einem „Freunde“.

Nur ſelten hab ich mich ereifert,

Wenn du mich hinterrücks begeifert;

Dein Grund iſt jedenfalls ſehr triftig,

Auch kleine Kröten ſind ja giftig!

Einem Pſeudonym.

Zwar deine Reime ſind nur ſelten weibliche,

Doch was ſie meinen iſt das Ewig-Leibliche;

Laß ab, du lockſt uns doch nicht in den Sumpf.

Durch deine Phraſen lugt der blaue Strumpf!
[334]

Unſer Wortſchatz.

Die Philologen, die ſich ſtritten,

Rechneten Wort für Wort zurück

Und ſahn: der Schatz des großen Britten

Umfaßte 15,000 Stück!
Doch heut im neunzehnten Jahrhundert

Die Dinger wie der Wind verwehn:

Ein Droſchkenkutſcher braucht fünfhundert,

Ein lyriſcher Dichter nur circa zehn!
[335]

Einem Fortſchrittsleugner.

Dein Hypotheſenungeheuer

Hat mich noch niemals recht erbaut.

Der Weltgeiſt iſt ein Wiederkäuer,

Der ewig frißt und nie verdaut?

Still, ſtill, mein Lieber; alſo ſpricht

Nur Einer, den der Haber ſticht,

Denn könnt' ich, hoch im Himmel hauſend,

Nur um ein lumpiges Zehnjahrtauſend

Dein Hirn nach rückwärtshin verrenken,

Du würdeſt anders drüber denken!
[336]

Sanſara.

Das Nichts, das nie und nirgendwo,

Suchſt du vergeblich zu beweiſen;

Es iſt und bleibt nun einmal ſo:

Du grübelſt und die Sterne kreiſen!

Abfertigung.

Wohl machſt du mir für mein Talent

Ein ungeheures Compliment,

Doch ſchone, Freundchen, deine Lunge,

Denn wo das Herz ſpricht, ſchweigt die Zunge.
[337]

Trotzalledem!

Die ſieben Farben und die ſieben Töne,

Der Welt Geſtaltung und der Menſchheit Treiben,

Das Ewigwahre und das Ewigſchöne

Wird ewigwahr und ewigſchön verbleiben.

Stimmt!

Das Einmaleins und das Abc

Iſt nichts, als die Weisheit im Negligee.
22[338]

Einem „Tondichter“.

Du biſt, ein Jeder nimmt drauf Gift,

Das Theekind aller alten Vetteln

Und auch, was deine Kunſt betrifft,

Gerecht in allen Modeſätteln.
Uns fascinirt nicht nur dein Name,

Du ſpielſt wahrhaftig mit Talent —

Zumal dein Lieblingsinſtrument,

Das goldne Kalbfell der Reclame!
[339]

Richard Wagner als „Dichter“.

Das urigſte Poetaſtergenie,

Das unſer Jahrhundert geboren;

Schon beim Anhören ſeiner Hotthüpoeſie

Verlängern ſich unſre Ohren!
Der deutſchen Sprache ſpie dreiſt ins Geſicht

Seines Stabreims Eiapopeia —

Ein demokratiſcher Krebs, der Verſe verbricht:

Wigala Wagala Weia!
[340]

An Gottfried Keller.

Die Weisheit lieh dir ihre Huld,

Die Schönheit ſteht in deiner Schuld.

Durch deine Verſe blitzt und rollt

Goethe'ſches Gold!
Ich möchte dich bis in den Himmel heben,

Doch ach, du glaubſt ja nicht an ihn,

Denn nur die Erde trägt dir Reben,

Rothe Roſen und weißen Jasmin.
Du biſt mir auf hundert von Meilen entrückt,

Doch hab ich dir oft ſchon die Hand gedrückt

Und jauchz dir nun zu durch Nebel und Dunſt

Das alte Sprüchlein: „Gott grüß die Kunſt!“
[341]

An die Wölfflinge.

Noch immer währt die Aventiurenplage —

Allwöchentlich ein Buch von zwanzig Bogen!

Wir aber thun ſtets unſre alte Frage:

Habt ihr euch immer noch nicht ausgelogen?
Seht, eure Herzen wickelt ihr in Watte

Und malt drauf zierlich: Vorſicht! Porzellan!

Und iſt auch manches „Vater, Menſch und Gatte“,

Sein Lumpenpack iſt jedenfalls im Thran.
O, werft ins Feuer euer Flickenkleid,

Am nächſten Stein zertrümmert euern Pſalter,

Denn uns „Modernen“ liegt die Bronzezeit

Wahrhaftig näher als das Mittelalter!
[342]

An Albert Träger.

Du überſchwemmſt das ganze Land

Als Mutterliederfabrikant

Und biſt, ſoviel du auch geſchrieben,

Immer ein kleines Kind geblieben.

An Max Kretzer.

Du biſt das wahre Urgenie

Der Hintertreppenpoeſie;

Damit ſie wirkt, verſetzſt du deine Schrift

Mit Brauſepulver und mit Rattengift!
[343]

An Joſeph Victor von Scheffel.

Du ſchwankſt als Urbild hin und her

Eines ſüffelnden Philoſophen,

Im Magen liegen uns centnerſchwer

Deine vorſintfluthlichen Strophen.
Jahrzehntelang lagen ſie uns zur Laſt,

Deine altdeutſch jodelnden Leute,

Doch daß du den Ekkhart geſchrieben haſt,

Das danken wir dir noch heute!
[344]

Felix Dahn.

Lyriſch hat er geaſathort

Schon als ein Jüngling mit lockigen Haaren;

Achtung, in ſeinem Schädel rumort

Ledern die Weisheit von tauſend Jahren!
Aber, verbrach er auch manchen Quark,

Unſer Volk wird ihn ewig lieben,

Hat er doch einſt, die Knochen voll Mark,

Herrlich den „Kampf um Rom“ beſchrieben!
[345]

Einem Gartenlaubendichter.

Ach, lieber Emil, hab Erbarmen,

Puſt aus dein kleines Dreierlicht!

Denn die ſchwarzweißrothen Gelegenheitscarmen

Haben wir endlich dick gekriegt.
Du biſt und bleibſt ein bloßer Reimer,

Kein echter Sohn des Vater Rhein,

Und ſchenkſt deinen Leſern, ſtatt Rüdesheimer,

Nur verſificirten Dreimännerwein.
[346]

An Rudolf Baumbach.

Mondſchein, Zuckerwaſſer und Flieder“

Waren dir ſchon von je zuwider;

„Beſſer blinkender Sonnenſchein,

Rauſchende Tannen und alter Wein!“
Ja, das iſt deine ganze Deviſe,

Du unter Zwergen der einzige Rieſe!

Biſt uns ſo plötzlich hereingeſchneit,

Du und die alte Zigeunerzeit!
Zwar unſre Sphinx wirſt du ſchwerlich errathen,

Aber ein Wort von dir gilt uns Dukaten;

Und deine Weltweisheit lacht uns ins Herz,

Wie ein Shakeſpearſcher Fallſtaffſcherz:
Pfeif auf die Weiſen, pfeif auf die Thoren,

Schlage die Welt dir forſch um die Ohren,

Habe das Herz auf dem rechten Fleck,

Alles andre — iſt ein Dreck!
[347]

An Adolf Friedrich Graf von Schack.

O Gott, wie ledern reſpective blechern

Iſt doch der Quark von all den Versverbrechern,

Die heut mit ſelbſtgefälligem Behagen

Das Tretrad ſchwingen und das Tamtam ſchlagen!
Nur du ſchwingſt nicht das Weihrauchfaß der Mode

Und beugſt vor deinem Publikum das Knie,

Du weihſt dich als begeiſterter Rhapſode

Dem Hohenprieſterdienſt der Poeſie!
Die Zeit iſt eiſern, eiſern ihr Beruf,

O, daß ſie endlich ihres Sohns gedächte,

Des Sohns, der ihr die „Weihgeſänge“ ſchuf,

Sie und des Orients wundervolle „Nächte“!
Seit mir die Muſe lächelnd zugenickt,

Hab ich mit Staunen zu dir aufgeblickt

Und winde dir nun in dein Kranzgeflecht:

„Ich danke dir!“
Das kommende Geſchlecht.
[348]

An Friedrich Rückert.

Du warſt im Leben Unterthan und Chriſt

Und mehr als einmal auch ein Erzphiliſter,

Drum trauern, daß du ſchon geſtorben biſt,

Noch heute alle Unterrichtsminiſter.
Denn lebteſt du noch, dich ernannten ſie,

Ich ſchwör's bei allen abgehaunen Zöpfen,

Zum Mandarin der deutſchen Poeſie,

Zum Mandarin mit dreizehn Knöpfen!
[349]

Unſre Zeit.

Ja, unſre Zeit iſt eine Dirne,

Die ſich als „Miſtreß“ produzirt,

Mit Simpelfranſen vor der Stirne

Und ſchauderhaft decolletirt.
Sie raubt uns alle Illuſionen,

Sie turnt Trapez und paukt Klavier

Und macht aus Fenſterglas Kanonen

Und Kronjuwelen aus Papier!
[350]

Ein „garſtig“ Lied!

Ein garſtig Lied, pfui ein politiſch Lied!“

So ſchrieb einſt der Geheimrath, Herr von Goethe,

Und wenn mein Grips nicht um die Ecke ſieht,

Tanzt auch die Welt noch heut nach dieſer Flöte.
Ich aber denke, heilige Dreſſur!

Und folgre daraus dieſes Eine nur:

Daß Prügel für gewiſſe Kreiſe

Auch heut noch eine Lieblingsſpeiſe!
[351]

Einſtweilen!

Die alte Welt iſt ein altes Haus

Und furchtbar ungemüthlich,

Der Nordwind puſtet die Lichter aus —

Ich wollte, wir lägen mehr ſüdlich!
Ich wollte .... Puh Teufel, wie das zieht!

Der Hagel prallt an die Scheiben!

Drum ſingt nur einſtweilen das tröſtliche Lied:

„Es kann ja nicht immer ſo bleiben!“
[352]

An den's gerichtet iſt!

Du biſt ein Held, wie der König Saul,

Und hätt' ich bei Hofe Credit,

Ich gäbe dir für dein großes Maul

Den Orden Pour le mérite!
Und doch; vergeblich dein Ringen nach Ruhm,

Zum Nebel verbleicht dein Glanz

Vor dem Sigl'ſchen Mauldreckſchleuderthum

Des „Bairiſchen Vaterlands.“
[353]

Amerika.

Oft frag ich lachend mich, weswegen

Mit Lanzen, Schwertern, Spießen, Keulen

Dies todesfrohe Kämpfen gegen

Conceſſionirte Eiterbeulen?
Wie lang noch, und das Dunkel frißt

Europas letzte Gaslaternen,

Denn das Panier der Zukunft iſt

Das Streifenbanner mit den dreizehn Sternen.
23[354]

In memoriam!

Alte Burſchenherrlichkeit,

Weh, man hat dich längſt begraben,

Denn nur noch an Soll und Haben

Denkt die Menſchheit dieſer Zeit!
Ihre Räder wühlen Schaum,

Funken ſprühen ihre Eſſen;

Ach, und längſt hat ſie vergeſſen

Ihrer Jugend goldnen Traum!
Ausgebrannt iſt jede Bruſt,

Die Altäre ſtehn verlaſſen,

Horch, und draußen auf den Gaſſen

Predigt die entmenſchte Luſt!
Um das Haupt des Helicon

Schwirren tauſend irre Fragen

Und den Zeitgeiſt hört man klagen

An den Waſſern von Babylon!
[355]

Lehrfreiheit!

Pſt! Pſt! ſonſt wackeln die Kronen,

Ihr Herrn Profeſſoren, ſeid ſtill!

Schon lauſchen euch vierzig Millionen,

Wahrhaftig, ihr ſchreit zu ſchrill.“
So lispeln ſie heute von „Oben“

Und drohn auch mitunter: Ei! Ei!

Und die fettigen Spießbürger loben

Die brave Polizei.
Sie üben ſich tapfer im Beten

Und bilden der Dummheit Spalier,

Nur wir, eine Handvoll Poeten,

Umjubeln ein ander Panier!
„Die Wiſſenſchaft iſt nicht zünftig,

Sie iſt wie das Licht allgemein!“

Dies Wörtlein ſoll heut und auch künftig

Unſer „Ceterum censeo“ ſein.
[356]

An gewiſſe „Naturforſcher“.

Das Licht wird leuchten, weil es leuchten muß,

Drum knurrt nur immer: Ignorabimus!

Transcendental iſt nichts in der Natur,

Transcendental iſt eure Dummheit nur!

Freilich!

Daß ſich die Gegenſätze ſtets berühren,

Iſt manchmal auch noch heute zu verſpüren,

Denn dieſe Zeit der Culs und der Pomaden

Iſt auch die goldne Zeit der Hiobſiaden.
[357]

Schauderhaft!

Uns lehrt das Chriſtenthum en gros:

„Hier Erdenkloß, dort Himmelspächter!“

Doch unſrer Weisheit A und O

Iſt ein unſterbliches Gelächter!

Einem Pietiſten.

Dein Heil, verſuch es anderwärts,

Wenn frömmelnd dich der Teufel lauſt;

Mein Katechismus iſt mein Herz

Und meine Bibel iſt der Fauſt!
[358]

Schließlich!

Jawohl, das Ding iſt ärgerlich!

Das Volk hat lange, graue Ohren,

Und ſeine Treiber nennen ſich

Rabbiner, Pfarrer und Paſtoren.
Verhaßt iſt mir der Schwindelbau

Der jeſuitelnden Sophiſten,

Und überleg ich's mir genau,

Hab ich Talent zum Atheiſten.
Tagtäglich ſchürt in mir den Spott

Das fade Weihrauchduftgeträufel,

Denn ſchließlich iſt der liebe Gott

Doch nur ein dummer Antiteufel!
[359]

Einem Orthodoxen.

Famos ſteht dir dein bunter Kittel,

Doch was beſchmierſt du ihn mit Dreck?

Die Religion iſt nur ein Mittel

Und du — erniedrigſt ſie zum Zweck!

Variatio delectat.

Himmel, das halte ein Anderer aus!

Die Welt iſt wirklich ein Narrenhaus.

Ewig ſich ſelbſt bleibt ihr uralter Schwindel,

Manchmal nur wechſelt ſie ſchlau ſeine Windel;

Den Teufel verlacht ſie und wirft ſich ins Knie

Vor der Mutter Gottes von Medici!
[360]

Schwarz in Schwarz.

Beim Dulderherzen des Don Quixote!

Jetzt ſtreich ich's dick mit Rothſtift an:

Der bibelgeborne Chriſtengott

Iſt nie und nimmermehr mein Mann!
Die Schöpfung war einſt ſein erſter Witz

Und dieſer Witz war herzlich ſchlecht,

Denn oft ſchon traf es mich wie ein Blitz:

Die Despotie hat leider Recht!
Ein Volk, das heut nicht auf Prügel hört,

Und eine Unſchuld beim Ballett,

Ein ſolches Erz-Phänomen gehört

Ins Naturalienkabinett!
[361]

Al Fresco.

Die Menſchheit flucht in ihr ewiges Licht,

Stündlich dräut ihr das Weltgericht

Und ſie ſchaudert bleich, im Herzen den Tod,

Ins blutig verlodernde Abendroth.
Die Zeit iſt morſch wie ein Todtenbein —

So iſt es geweſen und ſo wird's ſein:
Roth vom Weltbaum taumelt das Laub,

Völker und Kronen zerfallen zu Staub

Und über das chriſtliche JNRJ-Schild

Hintaumelt ein nacktes Venusbild.
[362]

Καϑ' ὅλην τὴν γῆν!“

Beluſtigt euch nur in grandioſen Metaphern

Ueber die Papus und Zulukaffern,

Die liebe Fetiſchdienerei

Legt auch bei uns ihr faules Ei!
Immer noch brennen in unſern Herzen

Blutig die Aſchermittwochskerzen

Und nächtlich durchwittern die ſtille Luft

Orgelhymnen und Weihrauchduft!
[363]

Wie's gemacht wird!

Und als ſich der Pfaff einen Juden briet,

Da ſchrieen die Junker Hurrah

Und ſangen das alte hochherrliche Lied:

Hepphepp Juvivallerala!
Doch das Volk ſtand auf und ſchrie Zeter und Mord!

Hie Hecker und Robert Blum!

Da erfand man ſchleunigſt das Kautſchukwort:

Praktiſches Chriſtenthum!
[364]

Hm!

Da meinen Einige vermeſſen,

Das Leben habe keinen Zweck;

Man ſieht's, ſie haben nie gegeſſen

Faſanenſtiz und Schnepfendreck.

Geiſterduo.

Der Zeitgeiſt brennt wie trocknes Stroh

Und ſingt: „In dulci jubilo!“

Der Weltgeiſt brummt dazu im Baß:

„O vanitatum vanitas!“
[365]

Ruſſiſch.

Sei doch kein Tropf, mein ſüßes Söhnchen!

Steck ein das lumpige Milliönchen!

Du kennſt ja die Moral der Zeit:

„Der Himmel iſt hoch und der Czar iſt weit!“

Pfui Deibel!

Ihr wißt, ich bin kein „von“-Verehrer,

Ich bin des Zeitgeiſts Straßenkehrer;

Doch protzgere Kerle ſah ich noch nie,

Als die Schlotbarone der Plutokratie!
[366]

„Pyramidal!“

Mein Gott, wozu die Grillenplage?

Noch blüht ja unſre haute volée!

Noch heilt der Zeit gewaltge Frage

Ein Titel und ein Portemonnaie.
Noch wachſen täglich unſre Zöpfe,

Der „Glaube“ iſt des Pudels Kern,

Das Militär putzt ſeine Knöpfe

Und das Antike wird modern.
Noch ſcharr'n vor meinem Cap vier Pferde,

Zu Fuß zu gehn iſt ja gemein —

„O wunderſchön iſt Gottes Erde

Und werth, darauf vergnügt zu ſein!“
[367]

Für kleine Kinder.

Der alte Flötenſpieler Pan,

Der lehrte mich das Dichten:

Ein Volk und ein Stückchen Marzipan

Beſtehn aus zweierlei Schichten.
Die eine ſchlürft Auſtern und baut ſich Kohl

Und macht in Vaterlandstreue

Und fühlt ſich kannibaliſch wohl

Wie Goethes fünfhundert Säue.
Die andere ſpielt tagtäglich Va banque

Und kleidet ſich in Lappen

Und führt ihr ganzes Lebenlang

Einen Hungerknochen im Wappen!
[368]

Ein dunkles Blatt.

Liſch aus, du Gluth auf meinem Herd!

In Nacht und Froſt will ich verenden —

Oft ſcheint das Leben mir nicht werth,

Nur einen Vers dran zu verſchwenden.
Ihr aber fragt mich nicht, warum?

Nicht Liebe mehr iſt's, die ich ſuche!

Ich weiß, die Welt dreht ſich rundum,

Auch wenn ich lachend ſie verfluche!
[369]

Frühlingszauber.

Nun muß ſich wieder alles wenden,

Ich fühl's an meines Herzens Schlag,

Und ſchöner wird's an allen Enden

Und lieblicher mit jedem Tag.
Die Liebe ſchnürt ihr rothes Mieder,

Der Armuth ſchmeckt ihr trocknes Brod

Und ſüß klingt's nächtlich aus dem Flieder:

Im Frühling lächelt ſelbſt der Tod!
24[370]

Lied.

Nun ſtimmt ſie wieder mir den Pſalter

Die liedervolle Maienzeit

Und gaukelnd ſchwebt um mich der Falter,

Das Sinnbild der Unſterblichkeit.
Drum lebt mir wohl, ihr Pergamente

Der winterlichen Hirntortur,

Mich lockt ins Reich der Elemente

Die neuerſtandne Lenznatur.
Umſpielt von ſilberbleichem Lichte,

Ein Grabfeld nach verlorner Schlacht,

Ein Todtentanz iſt die Geſchichte,

Ein Todtentanz um Mitternacht.
Es bleibt der Ruhm, wie er auch glänze,

Ein Blendwerk nur, ein eitler Schein;

Mehr gilt als tauſend welke Kränze

Mir dieſes Lebens goldnes Sein!
[371]

Ausgepfiffen!

Das Leben iſt eine Komödie

Und geht oft über den Spaß

Und gleicht dann jener Tragödie,

In der Einer den Andern fraß.
Und wenn wir's auch nicht wollen,

Wir kommen doch alle drin vor

Und ſpielen die nöthigen Rollen

Vom Jean bis zum Heldentenor.
Und wer mit ſeiner Viſage

Am beſten zu gaunern gelernt,

Erhält die nobelſte Gage

Und wird auch mitunter beſternt.
Ich ſtudirte mir manche Falte

Und trat vor das volle Haus,

Doch blieb ich immer der Alte —

Drum pfiff mich das Publikum aus!
[372]

Strophen.

Vita nostra brevis est!

War der Vorzeit weiſe Lehre —

Doch man haßt das Miſerere,

Heut iſt ſie ſchon längſt verweſt!
Rollt die Zeit, rollt auch das Blut,

Heute leben wir wie morgen;

Unſre Teufel heißen Sorgen,

Unſre Götter Geld und Gut!
Jede Blüthe wird umkreist,

Jede Blume wird gebrochen

Und nach Monden ſchon und Wochen

Weiß man, was Blaſirtheit heißt!
Stahl und Eiſen, Blut und Dampf

Rollen, donnern, ſieden, ziſchen

Und ein Wehruf gellt dazwiſchen:

Dieſes Leben iſt ein Kampf!
[373]

Nicht wahr?

Die Völker ſind wie große Kinder

Und ihre Könige ſind's nicht minder,

Lachen und weinen im ſelben Nu,

Spielen mitunter auch Blindekuh

Und ihre Fibel

Benennt ſich Bibel!

Kuſch dich!

Willſt du wohl fort mit deinen Pfötchen

Von meinem lieben Kaviarbrödchen!

Für dich den Schweiß, für mich das Gold!

Der liebe Gott hat's ſo gewollt!

Drum begnüge dich, Kerl, denn ſonſt biſt du ein Flaps,

Mit Kartoffeln und Schnaps!
[]

Weltzeitungs-Inſerat.

Geſucht wird für ſofort ein tüchtger Mäher.

Adreſſen sub Bureau zum großen Pan,

Denn dreigekrönt ſitzt noch ein Phariſäer

Auf ſeinem Sündenſtuhl im Vatikan.“

„Ἔσσεται ἣμαϱ!“

O Glaube, Liebe, Hoffnung, heilge Dreiheit,

Wir dienen dir und du belohnſt uns nie,

Denn auch noch heut iſt unſre deutſche Freiheit

Nur eine ſchwarzrothgoldne Phantaſie!
[375]

Reimſpiel.

Was iſt das beſte Futter, ſprich,

Für hungernde Nationen?

„Halt's Maul, Hallunk, was kümmert's dich?“

Der Reim lacht: Blaue Bohnen!

An die Opportuniſten.

Die ſieben Weiſen waren eure Väter

Und euer Ohm iſt Judas, der Verräther,

Denn wie der Wind weht, macht ihr tapfer Front,

Und euer Bauch iſt euer Horizont.
[376]

Der Dichter.

Was Hermelin und Diademe!

Ich bin ein Dichter und kein Hund!

Ich bin ein freier Mann und nehme

Kein Feigenblatt vor meinen Mund.
Ich ſeh die Welt im Dunkeln tappen,

Ich weiſe golden ihr ein Ziel,

Und erſt am letzten morſchen Wappen

Zerſchmettre ich jubelnd mein Saitenſpiel!
[377]

Videant consules...!

Die Zeit der Juden, Römer und der Kelten

Kam, Gottſeidank, ſchon längſt aus der Balance!

Wie unſre Welt die beſte aller Welten,

Iſt unſre Zeit, die Zeit par excellence.“
Wohl hör ich's, doch mit jedem meiner Lieder

Heb ich den düſtern Kehrreim auf den Thron:

Die Zeiten der Cäſaren kehren wieder

Und ihre Beile ſchärft die Reaction!
[378]

Das Volk an die Fürſten.

Einmal ſchon verhalf ich euch zum Siege,

Denkt, o denkt an die Befreiungskriege!

Und auch heut noch muß ich, wie befohlen,

Die Kaſtanien aus dem Feuer holen.
Einmal auch ſchon hab ich, ſelbſt verſchuldet,

Euren königlichen Dank erduldet:

Erſt mir lächelnd ins Geſicht geheuchelt,

Dann mich hinterrücks ins Knie gemeuchelt!
Glaubt mir, auch die Liebe weiß zu haſſen;

Eure Sonnen werden nicht verblaſſen!

Sink ich heute auch verblutend nieder:

„Bei Philippi ſehen wir uns wieder!“
[379]

An die „Obern Zehntauſend“.

Und wieder rollt nun ſterbend ein Jahrhundert

Dem Abgrund zu, drin uns die Zeit verſchlingt,

Und ihr ſeid immer noch nicht abgeplundert,

Nicht hinter die Couliſſen abgehinkt?
Wollt euch nicht länger freventlich vermeſſen,

Denn euer Lebensnerv iſt abgeſtumpft,

Denn eure Kronen ſind von Roſt zerfreſſen

Und eure Stammbaumwälder ſind verſumpft!
Ein neu Geſchlecht, ſchon wetzt es ſeine Schwerter,

Schon webt die Sonne ihm den Glorienſchein,

Und glaubt: Es wird kein veilchenblauer Werther,

Es wird ein blutiger Meſſias ſein!
[380]

Chanſon.

Noch immer baumelt der alte Zopf

Der alten Welt ins Genick,

Noch immer ſchmort ihr kein Huhn im Topf,

Drum: Vive la République!
Drum: Vive la République, blique, blique,

Das Herz ſchlägt uns im Bauch,

Das Knutenthum haben wir dick, dick, dick,

Und Kartoffel und Häring auch!
[381]

Nochein Stoßſeufzer!

O hieß es endlich doch: „All right!“

Die Welt iſt blaß, blaß wie Louiſe,

Das Grundgeſetz der neuen Zeit

Sei drum das Buch von Adam Rieſe.
Denn wenn die Völker nicht mehr fackeln

Und über ihm die Throne wackeln,

Dann lupft der Weltwitz ſein Viſir

Und donnert: „Zwei mal zwei macht vier!“
[382]

„Sanft ruhe ſeine Aſche!“

Hier ruht der Hofpoet Hans Hänschen,

Gottlob, daß endlich er verreckt!

Er hat ſich nie ein Lorbeerkränzchen,

Doch oft ein Piepmätzchen erleckt.

Das Höchſte war für dieſes Püppchen

Ein „A“llerhöchſtes Bettelſüppchen.

Er ſchwitzte dafür zum Erbarmen

Alljährlich ein Geburtstagscarmen;

Drin hieß er die Quadrate rund —

Zugleich ein Dichter und ein Hund!
[383]

Tres faciunt Collegium.

Weh, ein Moraſt iſt unſre Zeit!

Drin machen ſich ekelerregend breit

Kröte, Baſilisk und Unke;

Und wöchentlich ſchon — juchheideldidum —

Predgen vor ihrem Publikum

Herr Moſt, Herr Stöcker und Herr Majunke!
[384]

Fragezeichen.

Der Peter ſpricht zum Bruder Paul:

„Der Zeitgeiſt iſt ein alter Sünder

Und ſtopfen können ihm ſein Maul

Nur Krupp'ſche Vierundzwanzigpfünder!“
Doch Paul kann Peter nicht beſehn,

Weil er ſein Lebtag nur gelungert

Und meint, als wäre nichts geſchehn:

„Du Peter, haſt du mal gehungert?“
[385]

Auf alle Fälle.

Der große Kanzler Otto ſpricht,

Ob's wahr, je nun, das weiß ich nicht:

„Der vielgeſuchte Stein der Weiſen

Iſt ein Gemiſch aus Blut und Eiſen.“
Zwar Standrecht giebt's und Feſtungswälle,

Doch Eins bleibt wahr auf alle Fälle:

Und ob der Kanzler zehnmal ſpricht,

Ein braver Kerl, der forcht ſich nicht!
25[386]

Frommer Wunſch.

Immer noch halten die uralten Fragen

Nächtlich an unſerm Lager Wacht,

Denn das griechiſche Herz hat vergeblich geſchlagen

Und der griechiſche Geiſt hat umſonſt gedacht.
Die p. p. weltvernagelnden Bretter

Verſperren die Ausſicht uns weit und breit —

O, ſchlüge doch endlich ein heiliges Wetter

In dieſe verfaulte Hallunkenzeit!
[387]

Zum Deſſert.

Nicht jeder, der hinkt,

Hat heut eine Chaiſe;

Nicht alles, was ſtinkt,

Iſt Limburger Käſe.

Die Kritik als Epilog.

Dies ſchrieb ein Antihofpoet,

Halb Kakerlake, halb Prophet.

Er ſang zu wenig mir piano

Und roch verteufelt nach Guano.

Zwar Mancher wird ihm Beifall hageln,

Doch darf's mir nicht das Hirn vernageln,

Denn ſeht, ſein ganzer Singſang hinkte:

Er appellirte an die häßlichen Inſtinkte!
[][]

Phantaſus!

[]
Ihm mit Staunen blickt' ich nach;

Doch, wenn mir die Kraft gebrach,

Um ihm nachzuringen,

Dacht' ich bang: genug! genug!

Brechen müſſen bei dem Flug

Endlich ſeine Schwingen.
Und es kam, wie ich gedacht;

Um ſein frühes Grab bei Nacht

Flattert die Phaläne;

Wo ſo oft er bei mir ſaß,

Blieb ich einſam, und ins Glas

Rieſelt eine Thräne.

Adolf Friedrich Graf von Schack.


[391]

Have anima candida!

Armer Freund!


Nicht hinter jedem Tempelvorhang verbirgt ſich eine
nackte Venus: dein Herz war mehr als groß, dein Herz war
rein!


O, daß jetzt der Todtenwurm um dein leuchtendes Locken¬
haupt ſein widriges Netz ſpinnt!


Du ſtarbſt!


Doch du ſtarbſt im Frühling und über dein friſch¬
geſchaufeltes Grab hin klagte die Nachtigall der Roſe ihre
ewige Sehnſucht .....


Nein, der Frühling iſt kein Kind!


Die frommen Maler, die ihm zärtliche Schmetterlings¬
flügel an die Schultern logen, haben ihn nie auf ſeinem feuer¬
ſchnaubenden Sturmroß nachts durch die Lüfte taumeln geſehn!
Hat er nicht oft ſchon droben im Bergwald trotzige Wetter¬
tannen entwurzelt? Und ſchleudert der Thau, der vom Mantel
ihm tropft, nicht Felsblöcke zu Thal? Felsblöcke, ſo groß wie
Kirchthürme?


Nein, der Frühling iſt kein Kind!


Ein Gigant iſt der Frühling und ſeine Thaten ſind
Legion!


[392]

Aber ſeine größte war's doch, daß er dir das Herz brach!
Denn ich weiß, du biſt ſein Liebling geweſen; ſein Liebling,
wie Siegfried, den Hagen erſchlug!


Doch ich klage nicht!


Was ſollteſt du auch hier auf dieſer närriſchen Kugel?


Das goldne Elend deiner Mitwürmer machte dich me¬
lancholiſch und wenn ein Hammer auf ſeinen Ambos ſauſte,
fuhr's dir durchs Herz wie ein Stich, denn die Zeit des
dritten Teſtaments iſt noch fern.


Armer Freund!


Wäre deine Seele, deine unſterbliche Seele, nicht von
Kryſtall geweſen, ſie wäre nicht zerſprungen. Sie wäre nicht
zerſprungen und du ſelbſt wärſt jetzt glücklich. Glücklich, wie
wir brutalen Kieſelſteinſeelen es eben ſein können.


Doch ich will nicht glücklich ſein! Ich will nicht wie
ein Thier ſein und das Schwein zum Schwager haben! Ich
pfeife auf ihre ſpießbürgerliche Verdauungsmoral!


Mein ſtilles Leben wird fortab ein Kampf ſein. Und
mein Lied ein Racheſchrei. Ein wilder, blutrünſtiger Aufſchrei
um dich und deine todten Hoffnungen, die hingemordeten
Kinder deines Herzens!


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

O, wie dunkel es iſt!


Lang, lang iſt dem Schlafloſen die Nacht und Träume
umgaukeln nur Kinder und Thoren!


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wann, o ihr Brüder, wird uns das Frühroth, das
ewige Frühroth, Erlöſung ins Herz blitzen? Liegen wir
[393] knirſchend und ſtaubbeſät nicht ſchmählich am Boden? Knir¬
ſchend und ſtaubbeſät, wie gefeſſelte Titanen?


Doch verzagen laßt uns nicht inmitten dieſer blöden
Beſtien und falſchen Schlangen! Wenn der Gebetriemen reißt,
thut der Fluch ſeine Pflicht. Löwen weinen nicht, Löwen
brüllen! Und der Weg zur Wahrheit führt durch den Kerker!


Drum ſchaart euch zuſammen, ihr Söhne des Ormuzd,
laßt eure Banner ſich mit Herzblut beſpritzen und taucht ſie
golden ins Licht der Zukunft!


Tod der Lüge!


Mich aber laßt euer Winkelried ſein, denn der Tod iſt
mein Freund und ich habe mehr zu rechten und zu richten,
als ihr!


Seht ihr ſie dort heranſchleichen, die Enkel des Ahri¬
man, die Prieſter des Moloch — vipernzüngig und katzen¬
äugig? Wacht auf, ihr Götter in goldener Hochburg, denn
euer Mord iſt ihre Parole und ihr Feldgeſchrei der Verrath!
Ihre Waffen ſind nicht aſſyriſche Sichelwagen und indiſche
Elephanten. Ihre Waffen ſind vergiftete Pfeile und nur
Wenige beſeelt der Muth des Nahkampfs.


Erſt, wenn ihr Speerwald die Bruſt mir durchbohrt, wird
mir wohl ſein!


Und ſo brech ich denn los: Tod der Lüge!


Den Stahl in der Fauſt und im Herzen — eine Thräne!


Armer Freund!


[394]

1.

Ihr Dach ſtieß faſt bis an die Sterne,

Vom Hof her ſtampfte die Fabrik,

Es war die richtge Miethskaſerne

Mit Flur- und Leiermannsmuſik!

Im Keller niſtete die Ratte,

Parterre gab's Branntwein, Grogk und Bier,

Und bis ins fünfte Stockwerk hatte

Das Vorſtadtelend ſein Quartier.
Dort ſaß er nachts vor ſeinem Lichte

— Duck nieder, nieder, wilder Hohn! —

Und fieberte und ſchrieb Gedichte,

Ein Träumer, ein verlorner Sohn!

Sein Stübchen konnte grade faſſen

Ein Tiſchchen und ein ſchmales Bett;

Er war ſo arm und ſo verlaſſen,

Wie jener Gott aus Nazareth!
[395]
Doch pfiff auch dreiſt die feile Dirne,

Die Welt, ihn aus: „Er iſt verrückt!“

Ihm hatte leuchtend auf die Stirne

Der Genius ſeinen Kuß gedrückt.

Und wenn vom holden Wahnſinn trunken,

Er zitternd Vers an Vers gereiht,

Dann ſchien auf ewig ihm verſunken

Die Welt und ihre Nüchternheit.
In Fetzen hing ihm ſeine Blouſe,

Sein Nachbar lieh ihm trocknes Brod,

Er aber ſtammelte: „O Muſe!“

Und wußte nichts von ſeiner Noth.

Er ſaß nur ſtill vor ſeinem Lichte

Allnächtlich, wenn der Tag entflohn,

Und fieberte und ſchrieb Gedichte,

Ein Träumer, ein verlorner Sohn!
[396]

2.

Durch eine unverdiente Gnade

Die Sinne wunderbar erhellt,

So wandl' ich ſinnend dieſe Pfade:

Mein Reich iſt nicht von dieſer Welt.

Kein Erdenweib, vor dem ich kniete,

Nein, ſchöner iſt mein Herz entbrannt:

Mich liebt die Göttin Aphrodite,

Die Königin von Griechenland!
Die goldne Traumwelt der Hellenen,

In mir ward ſie zur Melodie;

Die ewge Schönheit iſt mein Sehnen,

Mein Flügelroß die Phantaſie.

Kein Sänger drum, vor dem ich kniete,

Mein Lied, es blitzt wie ein Demant:

Mich liebt die Göttin Aphrodite,

Die Königin von Griechenland!
[397]
Seit unvordenklichen Aeonen

War ſie's ſchon, die das Scepter ſchwang,

Und dienſtbar ſind ihr die Nationen

Vom Aufgang bis zum Niedergang.

Kein König drum, vor dem ich kniete,

Denn purpurn wallt auch mein Gewand:

Mich liebt die Göttin Aphrodite,

Die Königin von Griechenland!
Der Inder nennt die Gottheit Brahma,

Doch ach, ſchon anders der Buddhiſt;

Ich bin mein eigner Dalai Lama,

Ich bin mein eigner Jeſus Chriſt!

Kein Tempel drum, in dem ich kniete,

Die ganze Welt iſt mir ein Tand:

Mich liebt die Göttin Aphrodite,

Die Königin von Griechenland!“
[398]

3.

Die Nacht verrinnt, der Morgen dämmert,

Vom Hof her poltert die Fabrik

Und walkt und ſtampft und pocht und hämmert,

Ein hirnzermarterndes Gequik!

Die Nacht verrinnt, der Traumgott ruht nun,

Die Welt geht wieder ihren Lauf,

Zum Himmel ſpritzt der Tag ſein Blut nun,

Die Nacht verrinnt und ſeufzend thut nun

Das Elend ſeine Augen auf!
Die Schläfen zittern mir und zucken,

Denk ich, o Volk, an deine Noth,

Wie du dich winden mußt und ducken,

Dich ducken um ein Stückchen Brod!

Du wälzſt verthiert dich in der Goſſe

Und bauſt dir ſelbſt dein Blutgerüſt,

Indeß in goldener Karoſſe

Vor ſeinem ſandſteingelben Schloſſe

Der Dandy ſeine Dirne küßt!
[399]
Die Ritter von der engen Taille,

Das ſind die ſchlimmſten aus dem Chor,

Sie ſchimpfen hündiſch dich „Kanaille“!

Und haun dich ſchamlos übers Ohr.

Was kümmert ſie's, wenn Millionen

Verreckt ſind hinterm Hungerzaun?

Noch giebt's ja lachende Dublonen,

Kaſernen, Kirchen und Kanonen

Und .... köſtlich mundet ein Kapaun!
O, ſprich, wie lang noch ſoll es dauern,

Das alte Reich der Barbarei!

Noch ſtützen tauſend dunkle Mauern

Die feſte Burg der Tyrannei.

Doch ach, dein Herz ward zur Ruine,

Du lächelſt nur und nickſt dazu!

Denn auch der Menſch wird zur Maſchine,

Wenn er mit hungerbleicher Miene

Das alte Tretrad ſchwingt wie du!
[400]

4.

An ſeiner Kettenkugel ſchleppe,

Wen nie ſein Sclaventhum verdroß,

Doch mich trägt wiehernd durch die Steppe

Arabiens weißgeſtirntes Roß.

Ein grüner Turban ſchmückt das Haupt mir,

Von Seide knittert mein Gewand,

Und jeder Muſelmenſch hier glaubt mir,

Ich wär der Fürſt von Samarkand!
Das Land, das ewig norddurchwehte,

Ich ſprach mich grollend von ihm los,

Ein Perſer bin ich nun und bete

Allah il Allah, Gott iſt groß.

Ein grüner Turban ſchmückt das Haupt mir,

Von Seide knittert mein Gewand,

Und jeder Muſelmenſch hier glaubt mir,

Ich wär der Fürſt von Samarkand!
[401]
Im Schatten einer Tamariske

Winkt gaſtlich mir ein weißes Zelt

Und drin die ſchönſte Odaliske,

Die allerſchönſte von der Welt.

Ein grüner Turban ſchmückt das Haupt mir,

Von Seide knittert mein Gewand,

Und jeder Muſelmenſch hier glaubt mir,

Ich wär der Fürſt von Samarkand!
Beim Nektar der verbotnen Rebe

Fällt mir wohl manch ein Skolion ein,

Doch da ich Lieder eben lebe,

Laß ich ſie ungeſungen ſein.

Ein grüner Turban ſchmückt das Haupt mir,

Von Seide knittert mein Gewand,

Und jeder Muſelmenſch hier glaubt mir,

Ich wär der Fürſt von Samarkand!“
26[402]

5.

Und wieder hat das Rad der Stunde

Sich zwölfmal um ſich ſelbſt gedreht,

Und wieder fühlſt du deine Wunde

Und ächzſt und ſtöhnſt wie Philoktet!

Denn dir, auch dir rollt's durch die Adern

Und durchs Gehirn wie heißes Blei;

Gigantiſch thürmſt du deine Quadern,

Mit Gott im Himmel willſt du hadern

Und deine Seele ringt im Schrei!
Dein Herz ſteht wie die Welt in Blüthe,

Gehüllt in ſilbergrauen Dunſt,

Und mächtig fühlſt du's im Gemüthe:

Du biſt ein Prieſter deiner Kunſt!

Des Lebens goldne Kronen winken,

Die Roſen ſtehen weiß und roth;

Du fühlſt ſie duften, ſiehſt ſie blinken,

Doch ſcheu mußt du vorüberhinken,

Denn ach, dir fehlt dein täglich Brod!
[403]
Beneidenswerth in Forſt und Fluren

Das Schwein um ſeine Eichelmaſt!

Die ärmſte aller Kreaturen

Iſt doch ein dichtender Phantaſt!

Der Bettler dort an ſeiner Krücke,

Er iſt nicht halb ſo arm wie du...

Dir brach dein Himmel wüſt in Stücke,

Er aber träumt von ſeinem Glücke —

O Gott, nur zu, nur immer zu!
Du Licht, das mir ins Hirn gelodert,

Wozu die alte Litanei?

Iſt doch ſo viel hier ſchon vermodert,

O, wärſt auch du, auch du vorbei!

Dann wär der alte, blinde Lärmer

Ein dunkelbraunes Klümpchen Lehm;

Dann wär die Welt um einen Schwärmer,

Um einen Hirnverrückten ärmer

Und rollte weiter, wie vordem!
[404]

6.

Ein Königreich für eine Leier!

Zwar eine Krone trug ich nie,

Doch ihren bunten Majaſchleier

Wand mir ums Haupt die Poeſie.

Die dunkle Nacht, die mich geboren,

Hat ſie als Sternbild ſüß erhellt;

Sie ſprach: Sei du der Thor der Thoren,

Denn dein Herz iſt das Herz der Welt!
Wer träumt ſo ſtraflos unter Palmen,

Wie wir, mein Liebling, ich und du?

Der Urwald rauſcht mir ſeine Pſalmen,

Das Weltmeer ſeine Hymnen zu.

Ich höre nachts, wenn fern im Fernen

Ein Schakal in das Mondlicht bellt,

Und ſpiele Fangball mit den Sternen,

Denn mein Herz iſt das Herz der Welt!
[405]
Als Tod mit Stundenglas und Hippe

Schlich ich um manchen morſchen Thurm,

Der Aar gehört in meine Sippe

Und Bruder nenn ich jeden Wurm!

Selbſt jene Sonne, die ſeit Newton

Sich rhythmiſch um ſich ſelber ſchnellt,

Mit meinem Hirn muß ſie verbluten,

Denn mein Herz iſt das Herz der Welt!
Von Capland, Mexiko bis Medien

— Gefunden iſt der Weisheit Stein! —

Von allen Bergen will ich's predgen,

In alle Herzen will ich's ſchrein!

Und iſt das All auch nur ein Plunder,

Der lachend einſt in nichts zerfällt:

Ich bin das Wunder aller Wunder,

Denn mein Herz iſt das Herz das Welt!“
[406]

7.

Die Nacht liegt in den letzten Zügen,

Der Regen tropft, der Nebel ſpinnt ...

O, daß die Märchen immer lügen,

Die Märchen, die die Jugend ſinnt!

Wie lieblich hat ſich einſt getrunken

Der Hoffnung goldner Feuerwein!

Und jetzt? Erbarmungslos verſunken

In dieſes Elend der Spelunken —

O Sonnenſchein! O Sonnenſchein!
Nur einmal, einmal noch im Traume

Laßt mich hinaus, o Gott, hinaus!

Denn ſüß rauſcht's nachts im Lindenbaume

Vor meines Vaters Förſterhaus.

Der Mond lugt golden um den Giebel,

Der Vater träumt von Mars la Tour,

Lieb Mütterchen ſtudirt die Bibel,

Ihr Neſtling colorirt die Fibel

Und leiſe, leiſe tickt die Uhr!
[407]
O goldne Lenznacht der Jasminen,

O, wär ich niemals dir entrückt!

Das ewge Rädern der Maſchinen

Hat mir das Hirn zerpflückt, zerſtückt!

Einſt ſchlich ich aus dem Haus der Väter

Nachts in die Welt mich wie ein Dieb

Und heut — drei kurze Jährchen ſpäter! —

Wie ein geſchlagner Miſſethäter,

Schluchz ich: Vergieb, o Gott, vergieb!
Wozu dein armes Hirn zerwühlen?

Du grübelſt und die Weltluſt lacht!

Denn von Gedanken, von Gefühlen,

Hat noch kein Menſch ſich ſatt gemacht!

Ja, Recht hat, o du ſüße Mutter,

Dein Spruch, vor dem's mir ſtets gegraust:

Was ſoll uns Shakeſpeare, Kant und Luther?

Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter

Erhabner als der ganze Fauſt!
[408]

8.

O, laßt mir meine Himmelsleiter!

Und fragt mich nicht: Woher — wohin?

Nur weiter, weiter, immer weiter...

Ihr wißt ja doch nicht, wer ich bin!

Ich bin ein Adler und ich fliege,

Die Ewigkeit iſt mein Gewand,

Das Herz der Welt iſt meine Wiege,

Die Menſchheit iſt mein Vaterland!
Noch grub kein leuchtender Gedanke

Sich tief in eines Denkers Stirn,

Der nicht ſchon, ſtolz auf ſeine Schranke,

Gelodert hier durch dies Gehirn!

Ich bin ein Adler und ich fliege,

Die Ewigkeit iſt mein Gewand,

Das Herz der Welt iſt meine Wiege,

Die Menſchheit iſt mein Vaterland!
[409]
Die Länder mein und mein die Meere,

So weit die Sonne ſie beſcheint,

Und ich bin's, dem die Bajadere

Im Tanz noch blutge Thränen weint.

Ich bin ein Adler und ich fliege,

Die Ewigkeit iſt mein Gewand,

Das Herz der Welt iſt meine Wiege,

Die Menſchheit iſt mein Vaterland!
Wohl fraß die Zeit mit ihren Zähnen

Schon manchen goldnen Heilgenſchein,

Ich aber ſchüttle meine Mähnen

Und war und bin und werde ſein.

Ich bin ein Adler und ich fliege,

Die Ewigkeit iſt mein Gewand,

Das Herz der Welt iſt meine Wiege,

Die Menſchheit iſt mein Vaterland!“
[410]

9.

Der Mond blitzt durch die Fenſterſcherben,

Ums dunkle Dachwerk pfeift der Wind

Und Nachbars Lieschen liegt im Sterben

Und ihre Mutter weint ſich blind.

Das Haar gebleicht von tauſend Sorgen,

Im dünnen Kleidchen von Kattun,

Erwartet ſehnlich ſie den Morgen —

Der Apotheker will nicht borgen,

Der Doctor hat „zu viel zu thun“! ...
Der Märznacht goldne Sterne ſcheinen,

Ihr Himmel deckt uns alle zu:

Hör auf, du Mütterchen, mit Weinen,

Dein Kind iſt beſſer dran, als du!

Es braucht nicht nähend mehr zu ſputen

Sich ſpät bis in die Nacht hinein,

Und wenn die Lüfte ſie umfluthen

Und roth die Roſen wieder bluten,

Spielt um ſein Grab der Sonnenſchein!
[411]
Die Noth im löchrigen Gewande

Zertritt die Perle der Moral;

Das Loos der Armuth iſt die Schande,

Das Loos der Schande der Spital!

Ja, jede Großſtadt iſt ein Zwinger,

Der roth von Blut und Thränen dampft;

Drum hütet euch, ihr armen Dinger,

Denn dieſe Welt hat ſchmutzge Finger —

Weh, wem ſie ſie ins Herzfleiſch krampft!
Da horch! ein langgezognes Stöhnen

Und jetzt ein wilder, geller Schrei!

Was thut's? Man muß ſich dran gewöhnen!

Hier hieß es wieder mal: „Vorbei!“

Schon übermorgen karrt der Racker

Das arme Mädel vor die Stadt

Und niemand kennt den Todtenacker,

Darauf beim öden Sterngeflacker

Ein Herz ſein Glück gefunden hat!
[412]

10.

Ich ſchwamm auf purpurner Galeere

Durchs dunkelblaue Griechenmeer,

Da auf der Inſel der Cythere

Traf ich den Juden Ahasver.

Und weiter fuhren die Gefährten,

Er aber ward mein Weggenoß

Und ſprach: „Nun zeig ich dir die Gärten,

Die Gärten des Okeanos!
Die Welt, ich habe ſie durchmeſſen,

Doch farblos ſchien mir Luft und Land;

Nur ein Bild hab ich nie vergeſſen,

Nur eins iſt werth, daß es entſtand:

Das iſt die Zuflucht der Verkärten,

Das iſt des Meergotts grünes Schloß,

Das ſind die wunderbaren Gärten,

Die Gärten des Okeanos!
[413]
Ich weiß, du biſt ein deutſcher Dichter,

Und ewig ruhlos biſt du auch,

Wir ſind zwei ähnliche Geſichter

Und um uns weht der gleiche Hauch.

Doch komm, der Kummer, den wir nährten,

Wankt wie ein thönerner Koloß,

Wenn wir uns tummeln durch die Gärten,

Die Gärten des Okeanos!“
Er ſprach's, wir thaten's und die Jahre

Sie rollten tönend drüber her,

Doch immer iſt mir's noch, ich fahre

Durchs dunkelblaue Griechenmeer.

O, daß die Götter mir gewährten,

Dereinſt, wenn ſich mein Leben ſchloß,

Ein ſelig Ende in den Gärten,

Den Gärten des Okeanos!“
[414]

11.

Nun hat der Morgen ſeine Thore

Phantaſtiſch wieder aufgethan

Und ſeine goldne Tricolore

Weht hoch aus jedem Wolkenkahn.

Nur hier in dieſen dumpfen Mauern

Zum Fluch wird er dem Proletar —

In allen Ecken ſeh ich lauern,

In allen Winkeln ſeh ich kauern

Dämonen, die die Nacht gebar!
Mein letztes Licht iſt längſt erloſchen

Und fahl durchs Fenſter lugt die Noth,

Denn dies hier iſt der letzte Groſchen

Und dies das letzte Stückchen Brod!

Verlacht, verludert und verloren,

Das alte „Weder Glück noch Stern!“

Fürwahr, ich bin der Thor der Thoren!

O Mutter, wär ich nie geboren!

O ſchöne Zeit, wie liegſt du fern!
[415]
Auf wilder, meerverſchlagner Planke,

Ein Schiffer bin ich, der verſinkt;

Mein letzter Stern iſt ein Gedanke,

Der leuchtend mir vom Himmel blinkt.

Ein fernes Eiland ſeh ich ragen,

Doch wirft die Fluth mich ſtets zurück;

O, will's denn immer noch nicht tagen?

Noch gilt's zu wetten und zu wagen,

Denn jenes Eiland wiegt mein Glück!
Schon thut mir, wie wenn Glocken klingen,

Die Zukunft ihre Wunder kund —

Ein Stammeln nur iſt jetzt mein Singen,

Ein Stammeln wie aus Kindermund!

Du Schöpfer aller Harmonieen,

O, gieb mir Luft, o gieb mir Licht!

Im Staube ſieh mich vor dir knieen,

Denn eine Welt von Melodieen

Geht unter, wenn dies Herz zerbricht!
[416]

12.

Schlag zu, mein Herz, die Flocken treiben

Nicht wie im Winter mehr ums Dach!

Der Frühling pocht an meine Scheiben

Und tauſend Wunder werden wach!

Das Licht führt ſeine goldnen Funken

Tagtäglich wieder nun ins Feld

Und mir im Herzen jubelt's trunken:

O Gott, wie ſchön iſt deine Welt!
Wie lieblich nur durchs offne Fenſter

Der Maiwind mir die Schläfen kühlt!

Lebt wohl, ihr grübelnden Geſpenſter,

Die winterlang mein Hirn durchwühlt!

Als wär ich geſtern erſt geneſen,

Das Herz iſt mir ſo ſüß erhellt —

So wohl iſt mir noch nie geweſen:

O Gott, wie ſchön iſt deine Welt!
[417]
Hervor, hervor aus deiner Hülle,

Du liebes Bildchen meiner Fee!

O, dieſer Locken goldne Fülle!

O, dieſes Buſens weißer Schnee!

Und wölbt ſich über deiner Krone

Auch purpurroth ein Throngezelt,

Dein Herz ſchlägt doch dem Liederſohne —

O Gott, wie ſchön iſt deine Welt!
Doch ſtill, mein Herz, was ſoll dein Pochen?

O Tod, du kommſt zur rechten Zeit!

Das Schwert der Trübſal liegt zerbrochen ...

Sei mir gegrüßt, o Ewigkeit!

Beim Frühling hab ich tauſendkehlig

Ein Lerchengrablied mir beſtellt:

So ſterb ich jubelnd, ſterb ich ſelig —

O Gott, wie ſchön war deine Welt!“
27[418]

13.

Und als der Morgen um die Dächer

Sein ſilbergraues Zwielicht ſpann,

Da war der arme, bleiche Schächer

Ein ſtummer und ein ſtiller Mann.

In ſeines Mantels grauen Falten,

So lag er da, kalt und entſtellt —

Fürwahr, er hatte Recht behalten,

Sein Reich war nicht von dieſer Welt!
Ein goldnes Sonnenſtäubchen tippte

Ihm auf die Stirn von ungefähr

Und ſeine lieben Manuſcripte

Verſchloß der Armencommiſſär.

Sein Freund, der Doctor, aber zierte

Brutal ſich durch das Kämmerlein

Und ſchneuzte ſich und conſtatirte

„Verhungert!“ auf dem Todtenſchein.
[419]
Drei Frühlingstage ſpäter karrten

Ihn Armenklepper vor das Thor!

Ich ſah's noch, wie ſie ihn verſcharrten —

Die Sonne lachte, doch mich fror!

Mich fror und meine Hände ſuchten

Umſonſt zu würgen meinen Schmerz

Und meine bleichen Lippen fluchten ...

O Gott, mein Herz! mein armes Herz!
So ſtand ich und vermaledeite

Die Welt bis in ihr Nichts hinab;

Der goldne Frühling aber ſchneite

Ihm lächelnd Roſen übers Grab.

Schon nahten unſichtbaren Zuges

Die großen Geiſter alter Zeit,

Und drüber ſchwebte leiſen Fluges

Der Genius der Unſterblichkeit!
[][]

Zum Ausgang.

[]
O bleicher Tod, o wolle mir nicht nahn,

Eh ich für mein Geſchlecht etwas gethan,

Ich bete auf zu meinem Gott und Herrn:

Für eine ſchöne Sache ſtürb ich gern.
Fürs Recht der Menſchheit und der neuen Zeit,

Wie wär es ſchön, zu fallen in dem Streit;

Bei dem gebrochnen Erz der Tyrannei,

Wie ſtürb es ſich im Felde froh und frei!
O, läg ich dann wie heut in ſelger Pein

Auf einem grünen Bühl im Abendſchein

Und dürfte ſprechen, auf der Bruſt die Hand:

Du kennſt dein Kind, mein ſchönes Vaterland!

Alfred Meißner.
[423]Zum Ausgang.


Ein Stück von meinem Selbſt iſt dieſes Buch

Und roth von meinem Herzblut jedes Lied,

Mit ihm ſtell ich mich kühn in Reih und Glied —

Der Dichtkunſt Segen ward in mir zum Fluch!
Doch ſei's, ich trag's. Nicht wär ich ein Poet,

Wollt ich mich anders geben, als ich bin;

Auch liegt ein Wort, ein altes, mir im Sinn:

Oft hilft ein Fluch uns mehr als ein Gebet!
Und wahrlich, dieſe Zeit gleicht jener nicht,

Die uns das Alterthum als goldne pries,

Denn jeder Lüge lacht ein Paradies

Und jeder Wahrheit droht ein Hochgericht!
[424]
Schon küßt die Welt ein bleiches Abendroth,

Die alte Griechenſonne des Homer

Hat ſich ertränkt ins teifundunkle Meer,

Und ſeine Senſe ſchärft der ſchwarze Tod.
Kein Stern, der farbig durch die Wolken bricht,

Kein Traum, der kühlend um die Schläfen weht,

Kein Lied, das Wunder thut wie ein Gebet,

Kein Herz, das heimlich mit ſich ſelber ſpricht!
Doch tappt ſich hüſtelnd durch die dunkle Nacht

Ein böſes Ding und pocht an deine Thür

Und ziſcht wie eine Viper: „Komm herfür,

Ich bin das Herz, womit die Sünde lacht!
Ich weiß, auch du biſt mir ein Kind der Zeit,

Das mit der Welt und mit ſich ſelber grollt;

Ich aber wate bis ans Knie in Gold

Und höre, wie dein Herz nach Wolluſt ſchreit.
Komm mit, in meinem Luſthaus wohnt das Glück:

Du trittſt hinein, und ſingend drehn um dich

Vielhundert weiße Dirnenleiber ſich

Und ſchlank wirft ſie mein Spiegel dir zurück.
[425]
In dunkler Niſche küßt es ſich ſo ſchön!

Und folgſt du, ſüßer Junge, mir, dann klingt,

Wenn einſt dein Herzſchlag müde wird und hinkt,

Dein Todesröcheln noch wie Luſtgeſtöhn!“
So bläſt es frech dir nachts durchs Schlüſſelloch,

Der Regen rinnt, ums Dachwerk heult der Sturm,

Dir aber war's, als ob ein feiſter Wurm

Dir todtkalt übers warme Herz hin kroch.
Und zornig ſpringſt du auf und ſchlägſt dir Licht

Und prallſt zurück, geekelt und entſetzt,

Denn vor dir ſteht, triefäugig und zerfetzt,

Ein altes Weib und grinſt dir ins Geſicht.
Dann ſchreiſt du auf, denn dumpf haſt du gefühlt,

Wie dir ein Etwas kalt die Kehle preßt:

„Heb dich hinweg von mir, du biſt die Peſt!

Du biſt die Peſt, die ſich in Leichen wühlt!“
Sie aber höhnt: „Pardon, Herr Optimiſt!

Das iſt die Frau von meinem Schwiegerſohn!

Nein, ich bin mehr, ich bin die Corruption!

Die Corruption, die dich lebendig frißt!
[426]
Was hat man doch nicht alles ſchon verdaut!

Recht! Wahrheit! Ehre! Freiheit und ſo fort!

Doch iſt geſetzlich mein Metier, der Mord,

Denn jeder König nennt mich „ſüße Braut“!
Doch biſt du klug, dann geize nach Applaus

Und gieb's nicht weiter, was ich dir entdeckt,

Sonſt wirſt du sans façon ins Loch geſteckt

Und deine liebe Mitwelt lacht dich aus.
Im härenen Gewand ſeh ich dich ſtehn,

Dein Wappen iſt ein weißes Todtenbein —

Du Thor, willſt du denn einzig Büßer ſein,

Indeß die Andern ſich im Taumel drehn?
Zerbrich den Fetiſch, den du ſelbſt geſchnitzt!

Die Welt iſt eine große Illuſion,

Drum küſſe lachend dich auf ihren Thron,

Auf dem das Glück, die goldne Metze, ſitzt!
Das bunte Traumbild deiner Phantaſie,

Ich will ihm Fleiſch und Blut und Leben leihn,

Nur ſtammle einmal: Mutter, ich bin dein!

Und wirf dich betend vor mir auf dein Knie!“
[427]
So wälzt von deiner Bruſt ſie Stein um Stein,

Sie ſchnitzt ſich Pfeile und ſie weiß, ſie trifft,

Und immer tiefer tropft ſie dir ihr Gift

Durchs offne Ohr ins offne Herz hinein.
Du aber ſtehſt und brüteſt vor dich hin

Und fühlſt, wie dir das Blut zu Eis gefriert,

Und ehe noch der Hahn kräht, triumphirt

Die dreimal ziſchelnde Verſucherin.
Vergeſſen haſt du nun den alten Schwur,

Den deine Jugend einſt zum Himmel that,

Durch deine Adern wühlt der Selbſtverrath

Und dir im Herzen thront die Unnatur.
Todt iſt es, todt! Dein Bauch iſt dein Idol

Und dein Gewiſſen wie dein Goldgelb rund,

Du liegſt im Staub und wedelſt wie ein Hund

Und Lüge, Lüge lacht dein Weltſymbol.
Du ſtreichſt dein Kinn und zupfſt an deinem Bart

Und ſiehſt im Spiegel lächelnd dein Geſicht

Und räusperſt dich und merkſt es ſelber nicht,

Daß jeder Zoll an dir zum Schurken ward.
[428]
Du biſt ein Schuft, den nicht ſein Handwerk reut,

Ein Schuft, der's gut meint mit der „böſen“ Welt,

Ein Schuft, der ſich für furchtbar ehrlich hält,

Und ſo wie du, ſind's Millionen heut!! ....
Ihr lebt ja alle, alle nur vom Schein

Und heult und winſelt: Recht hat nur die Macht!

Und Euch ſoll dieſes Buch ein Anker ſein,

Ein Hoffnungsanker, der den Sturm verlacht??
Ich Thor! daß ich, gerührt vom Schrei der Noth,

Mein warmes Herzblut in mein Lied verſpritzt!

Daß ich nicht donnerte, daß ich geblitzt!

Daß ich euch Kampf bot, Kampf bis in den Tod!
Nun wird dies Buch, verläſtert und verkannt,

Von Herz zu Herz um Liebe betteln gehn,

Vor vielen Thüren wird es trauernd ſtehn,

Nur hie und da drückt's eine Freundeshand.
Und doch, was faſl' ich da? Ihr habt ja Recht!

Es iſt zu wenig à la mode-koſt,

Es iſt kein nachgemachter Talmimoſt,

Und ſeine Thränen ſind mitunter echt!
[429]
Ich weiß, daß heut Begeiſtrung ſchnell verdampft,

Vielleicht iſt's ſchon mit dieſem Ding vorbei,

Iſt's doch kein alter Mythologenbrei,

Scenifizirt und in Muſik geſtampft!
Und doch: wenn dieſe Blätter auch verwehn,

Die Frühlingsthatkraft, die ſie werden ließ,

Die Gottidee, die ſie erſtarken hieß,

Sie kann und darf und wird nicht untergehn!
Schon wirft ſie leuchtend durch den Zeitengraus

Fern in die Zukunft ihren Feuerſchein —

Ihr will ich jubelnd mich zum Prieſter weihn,

Ihr gieß ich trunken dieſes Opfer aus!
[]
. . . . . . . . . . . . . . .
O, laß ſie träumen noch eine Nacht!

Dann wetzen wir aus die Scharte,

Dann werden Fidibuſſe gemacht

Aus der europäiſchen Karte.

. . . . . . . . . . . . . . .
Die Glocken ſchweigen, die Pfaffen ſchrein

In ihren zertrümmerten Hallen;

Den Heiligen wird der goldne Schein

Vom zitternden Haupte fallen.

. . . . . . . . . . . . . . .
Das Alles, das Alles wird geſchehn

In kommenden Frühlingstagen —

Herrgott, laß die Welt nicht untergehn,

Eh die Nachtigallen ſchlagen!

Georg Herwegh.

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Notes
*)
Daß der excluſiv nationale Standpunkt, welchen dieſes Gedicht vertritt, nur
ein Durchgangsſtadium auf dem Wege ſeiner Entwickelung war, braucht der Verfaſſer
nach dem Vorhergegangenen wohl nicht erſt zu betonen? Im Uebrigen muß er den¬
jenigen Kritikern, die Anmerkungen zu Gedichten nicht leiden mögen, beiſtimmen.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Holz, Arno. Das Buch der Zeit. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn86.0