Dramaturgie.
In Commiſſion bey J. H. Cramer, in Bremen.
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und funfzigſtes Stück.
Den ein und vierzigſten Abend (Freytags,
den 10ten Julius,) wurden Cenie und
der Mann nach der Uhr, wiederholt. (*)
„Cenie, ſagt Chevrier gerade heraus, (**)
führet den Namen der Frau von Graffigni, iſt
aber ein Werk des Abts von Voiſenon. Es
war Anfangs in Verſen; weil aber die Frau
von Graffigni, der es erſt in ihrem vier und
funfzigſten Jahre einfiel, die Schriftſtellerinn
zu ſpielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht
hatte, ſo ward Cenie in Proſa gebracht. Mais
l’Auteur, fügt er hinzu, y a laiſſé 81 vers
qui y exiſtent dans leur entier.„ Das iſt,
ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zer-
ſtreu-
A
[2] ſtreuten Zeilen zu verſtehen, die den Reim ver-
loren, aber die Sylbenzahl beybehalten haben.
Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hat-
te, daß das Stück in Verſen geweſen: ſo iſt es
ſehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die franzöſi-
ſchen Verſe kommen überhaupt der Proſa ſo
nahe, daß es Mühe koſten ſoll, nur in einem
etwas geſuchteren Stile zu ſchreiben, ohne daß
ſich nicht von ſelbſt ganze Verſe zuſammen fin-
den, denen nichts wie der Reim mangelt. Und
gerade denjenigen, die gar keine Verſe machen,
können dergleichen Verſe am erſten entwiſchen;
eben weil ſie gar kein Ohr für das Metrum ha-
ben, und es alſo eben ſo wenig zu vermeiden,
als zu beobachten verſtehen.
Was hat Cenie ſonſt für Merkmahle, daß ſie
nicht aus der Feder eines Frauenzimmers könne
gefloſſen ſeyn? „Das Frauenzimmer überhaupt,
ſagt Rouſſeau, (*) liebt keine einzige Kunſt,
verſteht ſich auf keine einzige, und an Genie
fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen
Werken glücklich ſeyn, die nichts als leichten
Witz, nichts als Geſchmack, nichts als Anmuth,
höchſtens Gründlichkeit und Philoſophie ver-
langen. Es kann ſich Wiſſenſchaft, Gelehr-
ſamkeit und alle Talente erwerben, die ſich durch
Mühe und Arbeit erwerben laſſen. Aber jenes
himmliſche Feuer, welches die Seele erhitzet und
ent-
[3] entflammet, jenes um ſich greifende verzehrende
Genie, jene brennende Beredſamkeit, jene er-
habene Schwünge, die ihr Entzückendes dem
Innerſten unſeres Herzens mittheilen, werden
den Schriften des Frauenzimmers allezeit feh-
len.„
Alſo fehlen ſie wohl auch der Cenie? Oder,
wenn ſie ihr nicht fehlen, ſo muß Cenie nothwen-
dig das Werk eines Mannes ſeyn? Rouſſeau
ſelbſt würde ſo nicht ſchlieſſen. Er ſagt viel-
mehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt ab-
ſprechen zu müſſen glaube, wolle er darum kei-
ner Frau insbeſondere ſtreitig machen. (Ce
n’eſt pas à une femme, mais aux femmes
que je refuſe les talens des hommes(*).)
Und dieſes ſagt er eben auf Veranlaſſung der
Cenie; eben da, wo er die Graffigni als die
Verfaſſerinn derſelben anführt. Dabey merke
man wohl, daß Graffigni ſeine Freundinn nicht
war, daß ſie übels von ihm geſprochen hatte,
daß er ſich an eben der Stelle über ſie beklagt.
Dem ohngeachtet erklärt er ſie lieber für eine
Ausnahme ſeines Satzes, als daß er im gering-
ſten auf das Vorgeben des Chevrier anſpielen
ſollte, welches er zu thun, ohne Zweifel, Frey-
müthigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht
von dem Gegentheile überzeugt geweſen wäre.
A 2Che-
[4]
Chevrier hat mehr ſolche verkleinerliche ge-
heime Nachrichten. Eben dieſer Abt, wie Che-
vrier wiſſen will, hat für die Favart gearbeitet.
Er hat die komiſche Oper, Annette und Lubin,
gemacht; und nicht Sie, die Aktrice, von der
er ſagt, daß ſie kaum leſen könne. Sein Be-
weis iſt ein Gaſſenhauer, der in Paris darüber
herumgegangen; und es iſt allerdings wahr,
daß die Gaſſenhauer in der franzöſiſchen Ge-
ſchichte überhaupt unter die glaubwürdigſten
Dokumente gehören.
Warum ein Geiſtlicher ein ſehr verliebtes
Singſpiel unter fremdem Namen in die Welt
ſchicke, ließe ſich endlich noch begreifen. Aber
warum er ſich zu einer Cenie nicht bekennen wol-
le, der ich nicht viele Predigten vorziehen möchte,
iſt ſchwerlich abzuſehen. Dieſer Abt hat ja ſonſt
mehr als ein Stück aufführen und drucken laſ-
ſen, von welchen ihn jedermann als den Verfaſ-
ſer kennet, und die der Cenie bey weiten nicht
gleich kommen. Wenn er einer Frau von vier
und funfzig Jahren eine Galanterie machen woll-
te, iſt es wahrſcheinlich, daß er es gerade mit
ſeinem beſten Werke würde gethan haben? —
Den zwey und vierzigſten Abend (Montags,
den 13ten Julius,) ward die Frauenſchule von
Moliere aufgeführt.
Moliere hatte bereits ſeine Männerſchule ge-
macht, als er im Jahre 1662 dieſe Frauenſchule
darauf
[5] darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht
kennet, würde ſich ſehr irren, wenn er glaubte,
daß hier den Frauen, wie dort den Männern,
ihre Schuldigkeit geprediget würde. Es ſind
beides witzige Poſſenſpiele, in welchen ein Paar
junge Mädchen, wovon das eine in aller Strenge
erzogen und das andere in aller Einfalt aufge-
wachſen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und
die beide die Männerſchule heiſſen müßten, wenn
Moliere weiter nichts darinn hätte lehren wol-
len, als daß das dümmſte Mädchen noch immer
Verſtand genug habe zu betrügen, und daß
Zwang und Aufſicht weit weniger fruchte und
nutze, als Nachſicht und Freyheit. Wirklich
iſt für das weibliche Geſchlecht in der Frauen-
ſchule nicht viel zu lernen; es wäre denn, daß
Moliere mit dieſem Titel auf die Eheſtandsregeln,
in der zweyten Scene des dritten Akts, geſehen
hätte, mit welchen aber die Pflichten der Wei-
ber eher lächerlich gemacht werden.
„Die zwey glücklichſten Stoffe zur Tragödie
und Komödie, ſagt Trublet, (*) ſind der Cid
und die Frauenſchule. Aber beide ſind vom
Corneille und Moliere bearbeitet worden, als
dieſe Dichter ihre völlige Stärke noch nicht hat-
ten. Dieſe Anmerkung, fügt er hinzu, habe
ich von dem Hrn. von Fontenelle.„
A 3Wenn
[6]
Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle
gefragt hätte, wie er dieſes meine. Oder Falls
es ihm ſo ſchon verſtändlich genug war, wenn
er es doch auch ſeinen Leſern mit ein Paar Wor-
ten hätte verſtändlich machen wollen. Ich we-
nigſtens bekenne, daß ich gar nicht abſehe, wo
Fontenelle mit dieſem Räthſel hingewollt. Ich
glaube, er hat ſich verſprochen; oder Trublet
hat ſich verhört.
Wenn indeß, nach der Meinung dieſer Män-
ner, der Stoff der Frauenſchule ſo beſonders
glücklich iſt, und Moliere in der Ausführung
deſſelben nur zu kurz gefallen: ſo hätte ſich dieſer
auf das ganze Stück eben nicht viel einzubilden
gehabt. Denn der Stoff iſt nicht von ihm;
ſondern Theils aus einer Spaniſchen Erzehlung,
die man bey dem Scarron, unter dem Titel, die
vergebliche Vorſicht, findet, Theils aus den
ſpaßhaften Nächten des Straparolle genommen,
wo ein Liebhaber einem ſeiner Freunde alle Tage
vertrauet, wie weit er mit ſeiner Geliebten ge-
kommen, ohne zu wiſſen, daß dieſer Freund ſein
Nebenbuhler iſt.
„Die Frauenſchule, ſagt der Herr von Vol-
taire, war ein Stück von einer ganz neuen Gat-
tung, worinn zwar alles nur Erzehlung, aber
doch ſo künſtliche Erzehlung iſt, daß alles Hand-
lung zu ſeyn ſcheinet.„
Wenn
[7]
Wenn das Neue hierinn beſtand, ſo iſt es
ſehr gut, daß man die neue Gattung eingehen
laſſen. Mehr oder weniger künſtlich, Erzeh-
lung bleibt immer Erzehlung, und wir wollen
auf dem Theater wirkliche Handlungen ſehen. —
Aber iſt es denn auch wahr, daß alles darinn
erzehlt wird? daß alles nur Handlung zu ſeyn
ſcheint? Voltaire hätte dieſen alten Einwurf
nicht wieder aufwärmen ſollen; oder, anſtatt
ihn in ein anſcheinendes Lob zu verkehren, hätte
er wenigſtens die Antwort beyfügen ſollen, die
Moliere ſelbſt darauf ertheilte, und die ſehr paſ-
ſend iſt. Die Erzehlungen nehmlich ſind in die-
ſem Stücke, vermöge der innern Verfaſſung
deſſelben, wirkliche Handlung; ſie haben alles,
was zu einer komiſchen Handlung erforderlich
iſt; und es iſt bloße Wortklauberey, ihnen die-
ſen Namen hier ſtreitig zu machen. (*) Denn
es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,
welche erzehlt werden, als auf den Eindruck,
welchen dieſe Vorfälle auf den betrognen Alten
machen, wenn er ſie erfährt. Das Lächerliche
dieſes Alten wollte Moliere vornehmlich ſchil-
dern; ihn müſſen wir alſo vornehmlich ſehen,
wie er ſich bey dem Unfalle, der ihm drohet, ge-
behr-
[8] behrdet; und dieſes hätten wir ſo gut nicht geſe-
hen, wenn der Dichter das, was er erzehlen
läßt, vor unſern Augen hätte vorgehen laſſen,
und das, was er vorgehen läßt, dafür hätte er-
zehlen laſſen. Der Verdruß, den Arnolph
empfindet; der Zwang, den er ſich anthut, die-
ſen Verdruß zu verbergen; der höhniſche Ton,
den er annimmt, wenn er den weitern Progreſſe
des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet;
das Erſtaunen, die ſtille Wuth, in der wir ihn
ſehen, wenn er vernimmt, daß Horaz dem ohn-
geachtet ſein Ziel glücklich verfolgt: das ſind
Handlungen, und weit komiſchere Handlungen,
als alles, was außer der Scene vorgeht. Selbſt
in der Erzehlung der Agneſe, von ihrer mit dem
Horaz gemachten Bekanntſchaft, iſt mehr Hand-
lung, als wir finden würden, wenn wir dieſe
Bekanntſchaft auf der Bühne wirklich machen
ſähen.
Alſo, anſtatt von der Frauenſchule zu ſagen,
daß alles darinn Handlung ſcheine, obgleich
alles nur Erzehlung ſey, glaubte ich mit meh-
rerm Rechte ſagen zu können, daß alles Hand-
lung darinn ſey, obgleich alles nur Erzehlung
zu ſeyn ſcheine.
Ham-
[[9]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und funfzigſtes Stück.
Den drey und vierzigſten Abend (Dienſtags,
den 14ten Julius,) ward die Mütter-
ſchule des La Chauſſee, und den vier und
vierzigſten Abend (als den 15ten,) der Graf von
Eſſex wiederholt. (*)
Da die Engländer von je her ſo gern dome-
ſtica facta auf ihre Bühne gebracht haben, ſo
kann man leicht vermuthen, daß es ihnen auch
an Trauerſpielen über dieſen Gegenſtand nicht
fehlen wird. Das älteſte iſt das von Joh.
Banks, unter dem Titel, der unglückliche Lieb-
ling, oder Graf von Eſſex. Es kam 1682
aufs Theater, und erhielt allgemeinen Beyfall.
Damals aber hatten die Franzoſen ſchon drey
Eſſexe; des Calprenede von 1638; des Boyer
von 1678, und des jüngern Corneille, von eben
die-
B
[10] dieſem Jahre. Wollten indeß die Engländer,
daß ihnen die Franzoſen auch hierinn nicht möch-
ten zuvorgekommen ſeyn, ſo würden ſie ſich viel-
leicht auf Daniels Philotas beziehen können;
ein Trauerſpiel von 1611, in welchem man die
Geſchichte und den Charakter des Grafen, unter
fremden Namen, zu finden glaubte. (*)
Banks ſcheinet keinen von ſeinen franzöſiſchen
Vorgängern gekannt zu haben. Er iſt aber ei-
ner Novelle gefolgt, die den Titel, Geheime
Geſchichte der Königinn Eliſabeth und des Gra-
fen von Eſſex, führet, (**) wo er den ganzen
Stoff ſich ſo in die Hände gearbeitet fand, daß
er ihn blos zu dialogiren, ihm blos die äußere
dramatiſche Form zu ertheilen brauchte. Hier
iſt der ganze Plan, wie er von dem Verfaſſer
der unten angeführten Schrift, zum Theil, ausge-
zogen worden. Vielleicht, daß es meinen Leſern
nicht unangenehm iſt, ihn gegen das Stück des
Corneille halten zu können.
„Um unſer Mitleid gegen den unglücklichen
Grafen deſto lebhafter zu machen, und die hef-
tige Zuneigung zu entſchuldigen, welche die Kö-
niginn für ihn äußert, werden ihm alle die erha-
benſten Eigenſchaften eines Helden beygelegt;
und
[11] und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Cha-
rakter weiter nichts, als daß er ſeine Leidenſchaf-
ten nicht beſſer in ſeiner Gewalt hat. Burleigh,
der erſte Miniſter der Königinn, der auf ihre
Ehre ſehr eiferſüchtig iſt, und den Grafen wegen
der Gunſtbezeigungen beneidet, mit welchen ſie
ihn überhäuft, bemüht ſich unabläßig, ihn ver-
dächtig zu machen. Hierinn ſteht ihm Sir
Walter Raleigh, welcher nicht minder des Gra-
fen Feind iſt, treulich bey; und beide werden
von der boshaften Gräfinn von Nottingham
noch mehr verhetzt, die den Grafen ſonſt geliebt
hatte, nun aber, weil ſie keine Gegenliebe von
ihm erhalten können, was ſie nicht beſitzen kann,
zu verderben ſucht. Die ungeſtüme Gemüths-
art des Grafen macht ihnen nur allzugutes
Spiel, und ſie erreichen ihre Abſicht auf fol-
gende Weiſe.
Die Königinn hatte den Grafen, als ihren
Generaliſſimus, mit einer ſehr anſehnlichen Ar-
mee gegen den Tyrone geſchickt, welcher in Irr-
land einen gefährlichen Aufſtand erregt hatte.
Nach einigen nicht viel bedeutenden Schar-
mützeln ſahe ſich der Graf genöthiget, mit dem
Feinde in Unterhandlung zu treten, weil ſeine
Truppen durch Strabazen und Krankheiten ſehr
abgemattet waren, Tyrone aber mit ſeinen Leu-
ten ſehr vortheilhaft poſtiret ſtand. Da dieſe
Unterhandlung zwiſchen den Anführern münd-
B 2lich
[12] lich betrieben ward, und kein Menſch dabey zu-
gegen ſeyn durfte: ſo wurde ſie der Königinn
als ihrer Ehre höchſt nachtheilig, und als ein
gar nicht zweydeutiger Beweis vorgeſtellet, daß
Eſſex mit den Rebellen in einem heimlichen Ver-
ſtändniſſe ſtehen müſſe. Burleigh und Raleigh,
mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten
ſie daher um Erlaubniß an, ihn des Hochver-
raths anklagen zu dürfen, welches ſie aber ſo
wenig zu verſtatten geneigt iſt, daß ſie ſich viel-
mehr über ein dergleichen Unternehmen ſehr
aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vori-
gen Dienſte, welche der Graf der Nation er-
wieſen, und erklärt, daß ſie die Undankbarkeit
und den boshaften Neid ſeiner Ankläger verab-
ſcheue. Der Graf von Southampton, ein auf-
richtiger Freund des Eſſex, nimmt ſich zugleich
ſeiner auf das lebhafteſte an; er erhebt die Ge-
rechtigkeit der Königinn, einen ſolchen Mann
nicht unterdrücken zu laſſen; und ſeine Feinde
müſſen vor dieſesmal ſchweigen. (Erſter Akt.)
Indeß iſt die Königinn mit der Aufführung
des Grafen nichts weniger, als zufrieden, ſon-
dern läßt ihm befehlen, ſeine Fehler wieder gut
zu machen, und Irrland nicht eher zu verlaſſen,
als bis er die Rebellen völlig zu Paaren getrie-
ben, und alles wieder beruhiget habe. Doch
Eſſex, dem die Beſchuldigungen nicht unbekannt
geblieben, mit welchen ihn ſeine Feinde bey ihr
an-
[13] anzuſchwärzen ſuchen, iſt viel zu ungeduldig,
ſich zu rechtfertigen, und kömmt, nachdem er
den Tyrone zu Niederlegung der Waffen ver-
mocht, des ausdrücklichen Verbots der Königinn
ungeachtet, nach England über. Dieſer unbe-
dachtſame Schritt macht ſeinen Feinden eben ſo
viel Vergnügen, als ſeinen Freunden Unruhe;
beſonders zittert die Gräfinn von Rutland, mit
welcher er insgeheim verheyrathet iſt, vor den Fol-
gen. Am meiſten aber betrübt ſich die Königinn,
da ſie ſieht, daß ihr durch dieſes raſche Betra-
gen aller Vorwand benommen iſt, ihn zu ver-
treten, wenn ſie nicht eine Zärtlichkeit verrathen
will, die ſie gern vor der ganzen Welt verbergen
möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu wel-
cher ihr natürlicher Stolz kömmt, und die heim-
liche Liebe, die ſie zu ihm trägt, erregen in ihrer
Bruſt den grauſamſten Kampf. Sie ſtreitet
lange mit ſich ſelbſt, ob ſie den verwegnen Mann
nach dem Tower ſchicken, oder den geliebten
Verbrecher vor ſich laſſen und ihm erlauben ſoll,
ſich gegen ſie ſelbſt zu rechtfertigen. Endlich
entſchließt ſie ſich zu dem letztern, doch nicht ohne
alle Einſchränkung; ſie will ihn ſehen, aber ſie
will ihn auf eine Art empfangen, daß er die
Hoffnung wohl verlieren ſoll, für ſeine Verge-
hungen ſo bald Vergebung zu erhalten. Bur-
leigh, Raleigh und Nottingham ſind bey dieſer
Zuſammenkunft gegenwärtig. Die Königinn
B 3iſt
[14] iſt auf die letztere gelehnet, und ſcheinet tief im
Geſpräche zu ſeyn, ohne den Grafen nur ein
einzigesmal anzuſehen. Nachdem ſie ihn eine
Weile vor ſich knien laſſen, verläßt ſie auf ein-
mal das Zimmer, und gebiethet allen, die es
redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen, und den
Verräther allein zu laſſen. Niemand darf es
wagen, ihr ungehorſam zu ſeyn; ſelbſt Sout-
hampton gehet mit ihr ab, kömmt aber bald, mit
der troſtloſen Rutland, wieder, ihren Freund
bey ſeinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf
ſchicket die Königinn den Burleigh und Raleigh
zu dem Grafen, ihm den Kommandoſtab abzu-
nehmen; er weigert ſich aber, ihn in andere,
als in der Königinn eigene Hände, zurück zu
liefern, und beiden Miniſtern wird, ſowohl von
ihm, als von dem Southampton, ſehr verächt-
lich begegnet. (Zweyter Akt.)
Die Königinn, der dieſes ſein Betragen ſo-
gleich hinterbracht wird, iſt äußerſt gereitzt,
aber doch in ihren Gedanken noch immer unei-
nig. Sie kann weder die Verunglimpfungen,
deren ſich die Nottingham gegen ihn erkühnt,
noch die Lobſprüche vertragen, die ihm die un-
bedachtſame Rutland aus der Fülle ihres Her-
zens ertheilet; ja, dieſe ſind ihr noch mehr zu-
wider als jene, weil ſie daraus entdeckt, daß
die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt ſie, dem
ohngeachtet, daß er vor ſie gebracht werden
ſoll.
[15] ſoll. Er kömmt, und verſucht es, ſeine Auf-
führung zu vertheidigen. Doch die Gründe,
die er desfalls beybringt, ſcheinen ihr viel zu
ſchwach, als daß ſie ihren Verſtand von ſeiner
Unſchuld überzeugen ſollten. Sie verzeihet ihm,
um der geheimen Neigung, die ſie für ihn hägt,
ein Genüge zu thun; aber zugleich entſetzt ſie ihn
aller ſeiner Ehrenſtellen, in Betrachtung deſſen,
was ſie ſich ſelbſt, als Königinn, ſchuldig zu
ſeyn glaubt. Und nun iſt der Graf nicht län-
ger vermögend, ſich zu mäßigen; ſeine Unge-
ſtümheit bricht los; er wirft den Stab zu ih-
ren Füßen, und bedient ſich verſchiedner Aus-
drücke, die zu ſehr wie Vorwürfe klingen, als
daß ſie den Zorn der Königinn nicht aufs höchſte
treiben ſollten. Auch antwortet ſie ihm darauf,
wie es Zornigen ſehr natürlich iſt; ohne ſich um
Anſtand und Würde, ohne ſich um die Folgen
zu bekümmern: nehmlich, anſtatt der Antwort,
giebt ſie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift
nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke,
daß es ſeine Königinn, daß es nicht ſein König
iſt, der ihn geſchlagen, mit einem Worte, daß
es eine Frau iſt, von der er die Ohrfeige hat,
hält ihn zurück, ſich thätlich an ihr zu vergehen.
Southampton beſchwört ihn, ſich zu faſſen;
aber er wiederholt ſeine ihr und dem Staate
geleiſteten Dienſte nochmals, und wirft dem
Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigen
Neid,
[16] Neid, ſo wie der Königinn ihre Ungerechtigkeit
vor. Sie verläßt ihn in der äußerſten Wuth;
und niemand als Southampton bleibt bey ihm,
der Freundſchaft genug hat, ſich itzt eben am
wenigſten von ihm trennen zu laſſen. (Dritter
Akt.)
Der Graf geräth über ſein Unglück in Ver-
zweiflung; er läuft wie unſinnig in der Stadt
herum, ſchreyet über das ihm angethane Un-
recht, und ſchmähet auf die Regierung. Alles
das wird der Königinn, mit vielen Uebertrei-
bungen, wiedergeſagt, und ſie giebt Befehl,
ſich der beiden Grafen zu verſichern. Es wird
Mannſchaft gegen ſie ausgeſchickt, ſie werden
gefangen genommen, und in den Tower in Ver-
haft geſetzt, bis daß ihnen der Proceß kann ge-
macht werden. Doch indeß hat ſich der Zorn
der Königinn gelegt, und günſtigern Gedan-
ken für den Eſſex wiederum Raum gemacht.
Sie will ihn alſo, ehe er zum Verhöre geht, allem,
was man ihr darwider ſagt, ungeachtet, nochmals
ſehen; und da ſie beſorgt, ſeine Verbrechen möchten zu
ſtrafbar befunden werden, ſo giebt ſie ihm, um ſein Le-
ben wenigſtens in Sicherheit zu ſetzen, einen Ring, mit
dem Verſprechen, ihm gegen dieſen Ring, ſobald er
ihn ihr zuſchicke, alles, was er verlangen würde, zu
gewähren. Faſt aber bereuet ſie es wieder, daß ſie ſo
gütig gegen ihn geweſen, als ſie gleich darauf erfährt,
daß er mit der Rutland vermählt iſt; und es von der
Rutland ſelbſt erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten
kömmt. (Vierter Akt.)
Ham-
[[17]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fünf und funfzigſtes Stück.
Was die Königinn gefürchtet hatte, ge-
ſchieht; Eſſex wird nach den Geſetzen
ſchuldig befunden und verurtheilet, den
Kopf zu verlieren; ſein Freund Southampton
desgleichen. Nun weiß zwar Eliſabeth, daß
ſie, als Königinn, den Verbrecher begnadigen
kann; aber ſie glaubt auch, daß eine ſolche frey-
willige Begnadigung auf ihrer Seite eine
Schwäche verrathen würde, die keiner Königinn
gezieme; und alſo will ſie ſo lange warten, bis
er ihr den Ring ſenden, und ſelbſt um ſein Leben
bitten wird. Voller Ungeduld indeß, daß es
je eher je lieber geſchehen möge, ſchickt ſie die
Nottingham zu ihm, und läßt ihn erinnern, an
ſeine Rettung zu denken. Nottingham ſtellt
ſich, das zärtlichſte Mitleid für ihn zu fühlen;
und er vertrauet ihr das koſtbare Unterpfand ſei-
nes Lebens, mit der demüthigſten Bitte an die
CKö-
[18] Königinn, es ihm zu ſchenken. Nun hat Not-
tingham alles, was ſie wünſchet; nun ſteht es
bey ihr, ſich wegen ihrer verachteten Liebe an
dem Grafen zu rächen. Anſtatt alſo das auszu-
richten, was er ihr aufgetragen, verleumdet ſie
ihn auf das boshafteſte, und mahlt ihn ſo ſtolz,
ſo trotzig, ſo feſt entſchloſſen ab, nicht um
Gnade zu bitten, ſondern es auf das Aeußerſte
ankommen zu laſſen, daß die Königinn dem
Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter
Verſicherung aber, voller Wuth und Verzweif-
lung den Befehl ertheilet, das Urtheil ohne
Anſtand an ihm zu vollziehen. Dabey giebt
ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen
von Southampton zu begnadigen, nicht weil
ihr das Unglück deſſelben wirklich nahe geht,
ſondern weil ſie ſich einbildet, daß Eſſex die Bit-
terkeit ſeiner Strafe um ſo vielmehr empfinden
werde, wenn er ſieht, daß die Gnade, die man
ihm verweigert, ſeinem mitſchuldigen Freunde
nicht entſtehe. In eben dieſer Abſicht räth ſie
der Königinn auch, ſeiner Gemahlinn, der
Gräfinn von Rutland, zu erlauben, ihn noch
vor ſeiner Hinrichtung zu ſehen. Die Königinn
williget in beides, aber zum Unglücke für die
grauſame Rathgeberinn; denn der Graf giebt
ſeiner Gemahlinn einen Brief an die Königinn,
die ſich eben in den Tower befindet, und ihn
kurz darauf, als man den Grafen abgeführet,
er-
[19] erhält. Aus dieſem Briefe erſieht ſie, daß der
Graf der Nottingham den Ring gegeben, und
ſie durch dieſe Verrätherinn um ſein Leben bitten
laſſen. Sogleich ſchickt ſie, und läßt die Voll-
ſtreckung des Urtheils unterſagen; doch Bur-
leigh und Raleigh, dem ſie aufgetragen war,
hatten ſo ſehr damit geeilet, daß die Bothſchaft
zu ſpät kömmt. Der Graf iſt bereits todt. Die
Königinn geräth vor Schmerz außer ſich, ver-
bannt die abſcheuliche Nottingham auf ewig aus
ihren Augen, und giebt allen, die ſich als Feinde
des Grafen erwieſen hatten, ihren bitterſten Un-
willen zu erkennen.„
Aus dieſem Plane iſt genugſam abzunehmen,
daß der Eſſex des Banks ein Stück von weit
mehr Natur, Wahrheit und Uebereinſtimmung
iſt, als ſich in dem Eſſex des Corneille findet.
Banks hat ſich ziemlich genau an die Geſchichte
gehalten, nur daß er verſchiedne Begebenheiten
näher zuſammen gerückt, und ihnen einen un-
mittelbarern Einfluß auf das endliche Schickſal
ſeines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit
der Ohrſeige iſt eben ſo wenig erdichtet, als der
mit dem Ringe; beide finden ſich, wie ich ſchon
angemerkt, in der Hiſtorie, nur jener weit frü-
her und bey einer ganz andern Gelegenheit; ſo
wie es auch von dieſem zu vermuthen. Denn
es iſt begreiflicher, daß die Königinn dem Gra-
fen den Ring zu einer Zeit gegeben, da ſie mit
C 2ihm
[20] ihm vollkommen zufrieden war, als daß ſie ihm
dieſes Unterpfand ihrer Gnade itzt erſt ſollte ge-
ſchenkt haben, da er ſich ihrer eben am meiſten
verluſtig gemacht hatte, und der Fall, ſich deſ-
ſen zu gebrauchen, ſchon wirklich da war. Die-
ſer Ring ſollte ſie erinnern, wie theuer ihr der
Graf damals geweſen, als er ihn von ihr erhal-
ten; und dieſe Erinnerung ſollte ihm alsdann
alle das Verdienſt wiedergeben, welches er un-
glücklicher Weiſe in ihren Augen etwa könnte
verloren haben. Aber was braucht es dieſes
Zeichens, dieſer Erinnerung von heute bis auf
morgen? Glaubt ſie ihrer günſtigen Geſinnun-
gen auch auf ſo wenige Stunden nicht mächtig
zu ſeyn, daß ſie ſich mit Fleiß auf eine ſolche
Art feſſeln will? Wenn ſie ihm in Ernſte ver-
geben hat, wenn ihr wirklich an ſeinem Leben
gelegen iſt: wozu das ganze Spiegelgefechte?
Warum konnte ſie es bey den mündlichen Ver-
ſicherungen nicht bewenden laſſen? Gab ſie den
Ring, blos um den Grafen zu beruhigen; ſo
verbindet er ſie, ihm ihr Wort zu halten, er
mag wieder in ihre Hände kommen, oder nicht.
Gab ſie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung
deſſelben von der fortdauernden Reue und Unter-
werfung des Grafen verſichert zu ſeyn: wie kann
ſie in einer ſo wichtigen Sache ſeiner tödlichſten
Feindinn glauben? Und hatte ſich die Notting-
ham nicht kurz zuvor gegen ſie ſelbſt als eine
ſolche bewieſen?
So
[21]
So wie Banks alſo den Ring gebraucht hat,
thut er nicht die beſte Wirkung. Mich dünkt,
er würde eine weit beſſere thun, wenn ihn die
Königinn ganz vergeſſen hätte, und er ihr plötz-
lich, aber auch zu ſpät, eingehändiget würde,
indem ſie eben von der Unſchuld, oder wenig-
ſtens geringern Schuld des Grafen, noch aus
andern Gründen überzeugt würde. Die Schen-
kung des Ringes hätte vor der Handlung des
Stücks lange müſſen vorhergegangen ſeyn, und
blos der Graf hätte darauf rechnen müſſen, aber
aus Edelmuth nicht eher Gebrauch davon machen
wollen, als bis er geſehen, daß man auf ſeine
Rechtfertigung nicht achte, daß die Königinn
zu ſehr wider ihn eingenommen ſey, als daß er
ſie zu überzeugen hoffen könne, daß er ſie alſo zu
bewegen ſuchen müſſe. Und indem ſie ſo bewegt
würde, müßte die Ueberzeugung dazu kommen;
die Erkennung ſeiner Unſchuld und die Erinne-
rung ihres Verſprechens, ihn auch dann, wenn
er ſchuldig ſeyn ſollte, für unſchuldig gelten zu
laſſen, müßten ſie auf einmal überraſchen, aber
nicht eher überraſchen, als bis es nicht mehr in ih-
rem Vermögen ſtehet, gerecht u. erkeñtlich zu ſeyn.
Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in
ſein Stück eingeflochten. — Aber eine Ohrfeige
in einem Trauerſpiele! Wie engliſch, wie unan-
ſtändig! — Ehe meine feinern Leſer zu ſehr dar-
über ſpotten, bitte ich ſie, ſich der Ohrfeige im
C 3Cid
[22] Cid zu erinnern. Die Anmerkung, die der Hr.
von Voltaire darüber gemacht hat, iſt in vieler-
ley Betrachtung merkwürdig. „Heut zu Tage,
ſagt er, „dürfte man es nicht wagen, einem
„Helden eine Ohrfeige geben zu laſſen. Die
„Schauſpieler ſelbſt wiſſen nicht, wie ſie ſich da-
„bey anſtellen ſollen; ſie thun nur, als ob ſie
„eine gäben. Nicht einmal in der Komödie iſt
„ſo etwas mehr erlaubt; und dieſes iſt das ein-
„zige Exempel, welches man auf der tragiſchen
„Bühne davon hat. Es iſt glaublich, daß man
„unter andern mit deswegen den Cid eine Tra-
„gikomödie betitelte; und damals waren faſt
„alle Stücke des Scuderi und des Boisrobert
„Tragikomödien. Man war in Frankreich lange
„der Meinung geweſen, daß ſich das ununter-
„brochne Tragiſche, ohne alle Vermiſchung mit
„gemeinen Zügen, gar nicht aushalten laſſe.
„Das Wort Tragikomödie ſelbſt, iſt ſehr alt;
„Plautus braucht es, ſeinen Amphitruo damit
„zu bezeichnen, weil das Abentheuer des Soſias
„zwar komiſch, Amphitruo ſelbſt aber in allem
„Ernſte betrübt iſt.„ — Was der Herr von
Voltaire nicht alles ſchreibt! Wie gern er im-
mer ein wenig Gelehrſamkeit zeigen will, und
wie ſehr er meiſtentheils damit verunglückt!
Es iſt nicht wahr, daß die Ohrfeige im Cid
die einzige auf der tragiſchen Bühne iſt. Vol-
taire hat den Eſſex des Banks entweder nicht
ge-
[23] gekannt, oder vorausgeſetzt, daß die tragiſche
Bühne ſeiner Nation allein dieſen Namen ver-
diene. Unwiſſenheit verräth beides; und nur
das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwiſſen-
heit. Was er von dem Namen der Tragiko-
mödie hinzufügt, iſt eben ſo unrichtig. Tragi-
komödie hieß die Vorſtellung einer wichtigen
Handlung unter vornehmen Perſonen, die einen
vergnügten Ausgang hat; das iſt der Cid, und
die Ohrfeige kam dabey gar nicht in Betrach-
tung; denn dieſer Ohrfeige ungeachtet, nannte
Corneille hernach ſein Stück eine Tragödie, ſo-
bald er das Vorurtheil abgelegt hatte, daß eine
Tragödie nothwendig eine unglückliche Kata-
ſtrophe haben müſſe. Plautus braucht zwar
das Wort Tragicocomœdia: aber er braucht
es blos im Scherze; und gar nicht, um eine be-
ſondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch
hat es ihm in dieſem Verſtande kein Menſch ab-
geborgt, bis es in dem ſechszehnten Jahrhun-
derte den Spaniſchen und Italieniſchen Dichtern
einfiel, gewiſſe von ihren dramatiſchen Mißge-
burten ſo zu nennen. (*) Wenn aber auch Plau-
tus
[24] tus ſeinen Amphitruo im Ernſte ſo genannt hätte,
ſo wäre es doch nicht aus der Urſache geſchehen, die
ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Antheil, den
Soſias an der Handlung nimmt, komiſch, und der,
den Amphitruo daran nimmt, tragiſch iſt: nicht darum
hätte Plautus ſein Stück lieber eine Tragikomödie
nennen wollen. Denn ſein Stück iſt ganz komiſch, und
wir beluſtigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo
eben ſo ſehr, als an des Soſias ſeiner. Sondern dar-
um, weil dieſe komiſche Handlung größtentheils unter
höhern Perſonen vorgehet, als man in der Komödie zu
ſehen gewohnt iſt. Plautus ſelbſt erklärt ſich dar-
über deutlich genug:
‘Faciam ut commixta ſit Tragico-comœdia:
Nam me perpetuo facere ut ſit Comœdia
Reges quo veniant \& di, non par arbitror.
Quid igitur? quoniam hic ſervus quoque partes
habet,
Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-co-
mœdiam.’ ()
Ham-
[[25]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und funfzigſtes Stück.
Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kom-
men. — Einmal iſt es doch nun ſo, daß
eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre
von ſeines Gleichen oder von einem Höhern be-
kömmt, für eine ſo ſchimpfliche Beleidigung ge-
halten wird, daß alle Genugthuung, die ihm
die Geſetze dafür verſchaffen können, vergebens
iſt. Sie will nicht von einem dritten beſtraft,
ſie will von dem Beleidigten ſelbſt gerächet, und
auf eine eben ſo eigenmächtige Art gerächet ſeyn,
als ſie erwieſen worden. Ob es die wahre oder
die falſche Ehre iſt, die dieſes gebiethet, davon
iſt hier die Rede nicht. Wie geſagt, es iſt nun
einmal ſo.
Und wenn es nun einmal in der Welt ſo iſt:
warum ſoll es nicht auch auf dem Theater ſo
ſeyn? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange ſind:
warum nicht auch hier?
D„Die
[26]
„Die Schauſpieler, ſagt der Herr von Vol-
taire, wiſſen nicht, wie ſie ſich dabey anſtellen
ſollen.„ Sie wüßten es wohl; aber man will
eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden
Namen haben. Der Schlag ſetzt ſie in Feuer;
die Perſon erhält ihn, aber ſie fühlen ihn; das
Gefühl hebt die Verſtellung auf; ſie gerathen
aus ihrer Faſſung; Scham und Verwirrung
äußert ſich wider Willen auf ihrem Geſichte;
ſie ſollten zornig ausſehen, und ſie ſehen albern
aus; und jeder Schauſpieler, deſſen eigene Em-
pfindungen mit ſeiner Rolle in Colliſion kommen,
macht uns zu lachen.
Es iſt dieſes nicht der einzige Fall, in wel-
chem man die Abſchaffung der Maſ ken betauern
möchte. Der Schauſpieler kann ohnſtreitig
unter der Maſke mehr Contenance halten; ſeine
Perſon findet weniger Gelegenheit auszubre-
chen; und wenn ſie ja ausbricht, ſo werden wir
dieſen Ausbruch weniger gewahr.
Doch der Schauſpieler verhalte ſich bey der
Ohrfeige, wie er will: der dramatiſche Dichter
arbeitet zwar für den Schauſpieler, aber er muß
ſich darum nicht alles verſagen, was dieſem we-
niger thulich und bequem iſt. Kein Schauſpie-
ler kann roth werden, wenn er will: aber gleich-
wohl darf es ihm der Dichter vorſchreiben;
gleichwohl darf er den einen ſagen laſſen, daß
er es den andern werden ſieht. Der Schau-
ſpieler
[27] ſpieler will ſich nicht ins Geſichte ſchlagen laſſen;
er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt
ihn; es ſchmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in
ſeiner Kunſt ſo weit noch nicht gebracht hat, daß
ihn ſo etwas nicht verwirret; wenn er ſeine
Kunſt ſo ſehr nicht liebet, daß er ſich, ihr zum
Beſten, eine kleine Kränkung will gefallen laſ-
ſen: ſo ſuche er über die Stelle ſo gut wegzu-
kommen, als er kann; er weiche dem Schlage
aus; er halte die Hand vor; nur verlange er
nicht, daß ſich der Dichter ſeinetwegen mehr
Bedenklichkeiten machen ſoll, als er ſich der
Perſon wegen macht, die er ihn vorſtellen läßt.
Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Eſſex
eine Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre
Repräſentanten dawider einzuwenden haben?
Aber der Zuſchauer will vielleicht keine Ohr-
feige geben ſehen? Oder höchſtens nur einem
Bedienten, den ſie nicht beſonders ſchimpft, für
den ſie eine ſeinem Stande angemeſſene Züchti-
gung iſt? Einem Helden hingegen, einem Hel-
den eine Ohrfeige! wie klein, wie unanſtän-
dig! — Und wenn ſie das nun eben ſeyn ſoll?
Wenn eben dieſe Unanſtändigkeit die Quelle der
gewaltſamſten Entſchließungen, der blutigſten
Rache werden ſoll, und wird? Wenn jede ge-
ringere Beleidigung dieſe ſchreckliche Wirkun-
gen nicht hätte haben können? Was in ſeinen
Folgen ſo tragiſch werden kann, was unter ge-
D 2wiſſen
[28] wiſſen Perſonen nothwendig ſo tragiſch werden
muß, ſoll dennoch aus der Tragödie ausgeſchloſ-
ſen ſeyn, weil es auch in der Komödie, weil es
auch in dem Poſſenfpiele Platz findet? Worüber
wir einmal lachen, ſollen wir ein andermal nicht
erſchrecken können?
Wenn ich die Ohrfeigen aus einer Gattung
des Drama verbannt wiſſen möchte, ſo wäre es
aus der Komödie. Denn was für Folgen kann
ſie da haben? Traurige? die ſind über ihrer
Sphäre. Lächerliche? die ſind unter ihr, und
gehören dem Poſſenſpiele. Gar keine? ſo ver-
lohnte es nicht der Mühe, ſie geben zu laſſen.
Wer ſie giebt, wird nichts als pöbelhafte Hitze,
und wer ſie bekömmt, nichts als knechtiſche
Kleinmuth verrathen. Sie verbleibt alſo den
beiden Extremis, der Tragödie und dem Poſſen-
ſpiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein
haben, über die wir entweder ſpotten oder zit-
tern wollen.
Und ich frage jeden, der den Cid vorſtellen
ſehen, oder ihn mit einiger Aufmerkſamkeit auch
nur geleſen, ob ihn nicht ein Schauder überlau-
fen, wenn der großſprecheriſche Gormas den
alten würdigen Diego zu ſchlagen ſich erdreiſtet?
Ob er nicht das empfindlichſte Mitleid für dieſen,
und den bitterſten Unwillen gegen jenen empfun-
den? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen
und traurigen Folgen, die dieſe ſchimfliche Be-
geg-
[29] gegnung nach ſich ziehen müſſe, in die Gedanken
geſchoſſen, und ihn mit Erwartung und Furcht
erfüllet? Gleichwohl ſoll ein Vorfall, der alle
dieſe Wirkung auf ihn hat, nicht tragiſch ſeyn?
Wenn jemals bey dieſer Ohrfeige gelacht wor-
den, ſo war es ſicherlich von einem auf der Gal-
lerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war,
und eben itzt eine von ſeinem Nachbar verdient
hätte. Wen aber die ungeſchickte Art, mit der
ſich der Schauſpieler etwa dabey betrug, wi-
der Willen zu lächeln machte, der biß ſich ge-
ſchwind in die Lippe, und eilte, ſich wieder in
die Täuſchung zu verſetzen, aus der faſt jede ge-
waltſamere Handlung den Zuſchauer mehr oder
weniger zu bringen pflegt.
Auch frage ich, welche andere Beleidigung
wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten könnte?
Für jede andere würde es in der Macht des Kö-
nigs ſtehen, dem Beleidigten Genugthuung zu
ſchaffen; für jede andere würde ſich der Sohn
weigern dürfen, ſeinem Vater den Vater ſeiner
Geliebten aufzuopfern. Für dieſe einzige läßt
das Pundonor weder Entſchuldigung noch Ab-
bitte gelten; und alle gütliche Wege, die ſelbſt
der Monarch dabey einleiten will, ſind frucht-
los. Corneille ließ nach dieſer Denkungsart
den Gormas, wenn ihn der König andeuten
läßt, den Diego zufrieden zu ſtellen, ſehr wohl
antworten:
D 3Ces
[30]
Ces ſatisfactions n’appaiſſent point uneame:Qui les reçoit n’a rien, qui les fait ſediffame.Et de tous ces accords l’effet le pluscommun,C’eſt de deshonorer deux hommes aulieu d’un.
Damals war in Frankreich das Edict wider die
Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen
Maximen ſchnurſtracks zuwider liefen. Cor-
neille erhielt alſo zwar Befehl, die ganzen Zeilen
wegzulaſſen; und ſie wurden aus dem Munde
der Schauſpieler verbannt. Aber jeder Zu-
ſchauer ergänzte ſie aus dem Gedächtniſſe, und
aus ſeiner Empfindung.
In dem Eſſex wird die Ohrfeige dadurch noch
kritiſcher, daß ſie eine Perſon giebt, welche die
Geſetze der Ehre nicht verbinden. Sie iſt Frau
und Königinn: was kann der Beleidigte mit
ihr anfangen? Ueber die handfertige wehrhafte
Frau würde er ſpotten; denn eine Frau kann
weder ſchimpfen, noch ſchlagen. Aber dieſe Frau
iſt zugleich der Souverain, deſſen Beſchimpfun-
gen unauslöſchlich ſind, da ſie von ſeiner Würde
eine Art von Geſetzmäßigkeit erhalten. Was
kann alſo natürlicher ſcheinen, als daß Eſſex ſich
wider dieſe Würde ſelbſt auflehnet, und gegen
die Höhe tobet, die den Beleidiger ſeiner Rache
ent-
[31] entzieht? Ich wüßte wenigſtens nicht, was
ſeine letzten Vergehungen ſonſt wahrſcheinlich
hätten machen können. Die bloße Ungnade,
die bloße Entſetzung ſeiner Ehrenſtellen konnte
und durfte ihn ſo weit nicht treiben. Aber durch
eine ſo knechtiſche Behandlung außer ſich ge-
bracht, ſehen wir ihn alles, was ihm die Ver-
zweiflung eingiebt, zwar nicht mit Billigung,
doch mit Entſchuldigung unternehmen. Die
Königinn ſelbſt muß ihn aus dieſem Geſichts-
punkte ihrer Verzeihung würdig erkennen;
und wir haben ſo ungleich mehr Mitleid mit
ihm, als er uns in der Geſchichte zu verdienen
ſcheinet, wo das, was er hier in der erſten Hitze
der gekränkten Ehre thut, aus Eigennutz und
andern niedrigen Abſichten geſchieht.
Der Streit, ſagt die Geſchichte, bey welchem
Eſſex die Ohrfeige erhielt, war über die Wahl
eines Königs von Irrland. Als er ſahe, daß
die Königinn auf ihrer Meinung beharrte,
wandte er ihr mit einer ſehr verächtlichen Ge-
behrde den Rücken. In dem Augenblicke fühlte
er ihre Hand, und ſeine fuhr nach dem Degen.
Er ſchwur, daß er dieſeu Schimpf weder leiden
könne noch wolle; daß er ihn ſelbſt von ihrem
Vater Heinrich nicht würde erduldet haben:
und ſo begab er ſich vom Hofe. Der Brief,
den er an den Kanzler Egerton über dieſen Vor-
fall ſchrieb, iſt mit dem würdigſten Stolze abge-
faßt,
[32] faßt, und er ſchien feſt entſchloſſen, ſich der Kö-
niginn nie wieder zu nähern. Gleichwohl fin-
den wir ihn bald darauf wieder in ihrer völligen
Gnade, und in der völligen Wirkſamkeit eines
ehrgeitzigen Lieblings. Dieſe Verſöhnlichkeit,
wenn ſie ernſtlich war, macht uns eine ſehr
ſchlechte Idee von ihm; und keine viel beſſere,
wenn ſie Verſtellung war. In dieſem Falle
war er wirklich ein Verräther, der ſich alles ge-
fallen ließ, bis er den rechten Zeitpunkt gekom-
men zu ſeyn glaubte. Ein elender Weinpacht,
den ihm die Königinn nahm, brachte ihn am
Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der
Zorn über dieſe Verſchmälerung ſeiner Einkünf-
te, verblendete ihn ſo, daß er ohne alle Ueber-
legung losbrach. So finden wir ihn in der
Geſchichte, und verachten ihn. Aber nicht ſo
bey dem Banks, der ſeinen Aufſtand zu der un-
mittelbaren Folge der Ohrfeige macht, und ihm
weiter keine treuloſen Abſichten gegen ſeine Kö-
niginn beylegt. Sein Fehler iſt der Fehler einer
edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben
wird, und der blos durch die Bosheit ſeiner
Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm ge-
ſchenkt war.
Ham-
[[33]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und funfzigſtes Stück.
Banks hat die nehmlichen Worte beybehal-
ten, die Eſſex über die Ohrfeige ausſtieß.
Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch
alle Heinriche in der Welt, mit ſammt Alexan-
dern, beyfügen läßt. (*) Sein Eſſex iſt über-
haupt zu viel Prahler; und es fehlet wenig, daß
er nicht ein eben ſo großer Gaſconier iſt, als der
Eſſex
E
[34] Eſſex des Gaſconiers Calprenede. Dabey er-
trägt er ſein Unglück viel zu kleinmüthig, und
iſt bald gegen die Königinn eben ſo kriechend,
als er vorher vermeſſen gegen ſie war. Banks
hat ihn zu ſehr nach dem Leben geſchildert. Ein
Charakter, der ſich ſo leicht vergißt, iſt kein
Charakter, und eben daher der dramatiſchen
Nachahmung unwürdig. In der Geſchichte
kann man dergleichen Widerſprüche mit ſich
ſelbſt, für Verſtellung halten, weil wir in der
Geſchichte doch ſelten das Innerſte des Herzens
kennen lernen: aber in dem Drama werden wir
mit dem Helden allzuvertraut, als daß wir nicht
gleich wiſſen ſollten, ob ſeine Geſinnungen wirk-
lich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zu-
getrauet hätten, übereinſtimmen, oder nicht.
Ja, ſie mögen es, oder ſie mögen es nicht: der
tragiſche Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht
recht nutzen. Ohne Verſtellung fällt der Cha-
rakter weg; bey der Verſtellung die Würde deſ-
ſelben.
Mit der Eliſabeth hat er in dieſen Fehler nicht
fallen können. Dieſe Frau bleibt ſich in der
Geſchichte immer ſo vollkommen gleich, als es
wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit
ſelbſt, ihre heimliche Liebe zu dem Eſſex, hat
er mit vieler Anſtändigkeit behandelt; ſie iſt
auch bey ihm gewiſſermaßen noch ein Geheim-
niß.
[35] niß. Seine Eliſabeth klagt nicht, wie die Eliſa-
beth des Corneille, über Kälte und Verachtung,
über Gluth und Schickſal; ſie ſpricht von keinem
Gifte, das ſie verzehre; ſie jammert nicht, daß ihr
der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem
ſie ihm doch deutlich genug zu verſtehen gegeben,
daß er um ſie allein ſeufzen ſolle, u. ſ. w. Keine
von dieſen Armſeligkeiten kömmt über ihre Lip-
pen. Sie ſpricht nie, als eine Verliebte; aber
ſie handelt ſo. Man hört es nie, aber man
ſieht es, wie theuer ihr Eſſex ehedem geweſen,
und noch iſt. Einige Funken Eiferſucht verra-
then ſie; ſonſt würde man ſie ſchlechterdings für
nichts, als für ſeine Freundinn halten können.
Mit welcher Kunſt aber Banks ihre Geſin-
nungen gegen den Grafen in Action zu ſetzen
gewußt, das können folgende Scenen des drit-
ten Aufzuges zeigen. — Die Königinn glaubt ſich
allein, und überlegt den unglücklichen Zwang
ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der
wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. In-
dem wird ſie die Nottingham gewahr, die ihr
nachgekommen. —
Du hier, Nottingham?
Ich glaubte, ich ſey allein.
Verzeihe, Königinn, daß
ich ſo kühn bin. Und doch befiehlt mir meine
E 2Pflicht,
[36] Pflicht, noch kühner zu ſeyn. — Dich bekümmert
etwas. Ich muß fragen, — aber erſt auf meinen
Knien Dich um Verzeihung bitten, daß ich es fra-
ge — Was iſts, das Dich bekümmert? Was iſt
es, das dieſe erhabene Seele ſo tief herab beu-
get? — Oder iſt Dir nicht wohl?
Steh auf; ich bitte dich. —
Mir iſt ganz wohl. — Ich danke dir für deine Lie-
be. — Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich, —
meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert,
und ich fürchte, ihm nur zu lange. Es fängt an,
meiner überdrüßig zu werden. — Neue Kronen
ſind wie neue Kränze; die friſcheſten, ſind die lieb-
lichſten. Meine Sonne neiget ſich; ſie hat in ih-
rem Mittage zu ſehr gewärmet; man fühlet ſich zu
heiß; man wünſcht, ſie wäre ſchon untergegan-
gen. — Erzehle mir doch, was ſagt man von der
Ueberkunft des Eſſex?
— Von ſeiner Ueberkunft —
ſagt man — nicht das Beſte. Aber von ihm —
er iſt für einen ſo tapfern Mann bekannt —
Wie? tapfer? da er mir
ſo dienet? — Der Verräther!
Gewiß, es war nicht gut —
Nicht gut! nicht gut? —
Weiter nichts?
Es war eine verwegene, fre-
velhafte That.
Die
[37]
Nicht wahr, Notting-
ham? — Meinen Befehl ſo gering zu ſchätzen!
Er hätte den Tod dafür verdient. — Weit geringere
Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblin-
gen den Kopf gekoſtet. —
Ja wohl. — Und doch ſollte
Eſſex, bey ſo viel größerer Schuld, mit geringerer
Strafe davon kommen? Er ſollte nicht ſterben?
Er ſoll! — Er ſoll ſterben,
und in den empfindlichſten Martern ſoll er ſter-
ben! — Seine Pein ſey, wie ſeine Verrätherey,
die größte von allen! — Und dann will ich ſeinen
Kopf und ſeine Glieder, nicht unter den finſtern
Thoren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf den
höchſten Zinnen will ich ſie aufgeſteckt wiſſen, da-
mit jeder, der vorübergeht, ſie erblicke und aus-
rufe: Siehe da, den ſtolzen undankbaren Eſſex!
Dieſen Eſſex, welcher der Gerechtigkeit ſeiner Kö-
niginn trotzte! — Wohl gethan! Nicht mehr,
als er verdiente! — Was ſagſt du, Notting-
ham? Meineſt du nicht auch? — Du ſchweigſt?
Warum ſchweigſt du? Willſt du ihn noch vertre-
ten?
Weil Du es denn befiehlſt,
Königinn, ſo will ich Dir alles ſagen, was die
Welt von dieſem ſtolzen, undankbaren Manne
ſpricht. —
Thu das! — Laß hören:
was ſagt die Welt von ihm und mir?
E 3Not-
[38]
Von Dir, Königinn? —
Wer iſt es, der von Dir nicht mit Entzücken und
Bewunderung ſpräche? Der Nachruhm eines ver-
ſtorbenen Heiligen iſt nicht lauterer, als Dein Lob,
von dem aller Zungen ertönen. Nur dieſes einzige
wünſchet man, und wünſchet es mit den heiſſeſten
Thränen, die aus der reinſten Liebe gegen Dich ent-
ſpringen, — dieſes einzige, daß Du geruhen möch-
teſt, ihren Beſchwerden gegen dieſen Eſſex abzuhel-
fen, einen ſolchen Verräther nicht länger zu ſchützen,
ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande
vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überlie-
fern —
Wer hat mir vorzuſchreiben?
Dir vorzuſchreiben! — Schrei-
bet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefe-
ſter Unterwerfung anflehet? — Und ſo flehet Dich
alles wider den Mann an, deſſen Gemüthsart ſo
ſchlecht, ſo boshaft iſt, daß er es auch nicht der
Mühe werth achtet, den Heuchler zu ſpielen. —
Wie ſtolz! wie aufgeblaſen! Und wie unartig, pö-
belhaft ſtolz; nicht anders als ein elender Lakey auf
ſeinen bunten verbrämten Rock! — Daß er tapfer
iſt, räumt man ihm ein; aber ſo, wie es der Wolf
oder der Bär iſt, blind zu, ohne Plan und Vor-
ſicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle
Seele über Glück und Unglück erhebt, iſt fern von
ihm. Die geringſte Beleidigung bringt ihn auf;
er tobt und raſet über ein Nichts; alles ſoll ſich vor
ihm
[39] ihm ſchmiegen; überall will er allein glänzen, al-
lein hervorragen. Lucifer ſelbſt, der den erſten
Saamen des Laſters in dem Himmel ausſtreuete,
war nicht ehrgeitziger und herrſchſüchtiger, als er.
Aber, ſo wie dieſer aus dem Himmel ſtürzte — —
Gemach, Nottingham, ge-
mach! — Du eiferſt dich ja ganz aus dem Athen. —
Ich will nichts mehr hören —
Gift
und Blattern auf ihre Zunge! — Gewiß, Not-
tingham, du ſollteſt dich ſchämen, ſo etwas auch
nur nachzuſagen; dergleichen Niederträchtigkei-
ten des boshaften Pöbels zu wiederholen. Und
es iſt nicht einmal wahr, daß der Pöbel das ſagt.
Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünſcht,
daß er es ſagen möchte.
Ich erſtanne, Königinn —
Worüber?
Du gebotheſt mir ſelbſt, zu
reden —
Ja, wenn ich es nicht be-
merkt hätte, wie gewünſcht dir dieſes Geboth kam!
wie vorbereitet du darauf wareſt! Auf einmal glühte
dein Geſicht, flammte dein Auge; das volle Herz
freute ſich, überzufließen, und jedes Wort, jede
Gebehrde hatte ſeinen längſt abgezielten Pfeil,
deren jeder mich mit trift.
Verzeihe, Königinn, wenn
ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet
habe. Ich maß ihn nach Deinem ab.
Die
[40]
Rach meinem? — Ich bin
ſeine Königinn. Mir ſteht es frey, dem Dinge,
das ich geſchaffen habe, mitzuſpielen, wie ich will. —
Auch hat er ſich der gräßlichſten Verbrechen gegen
meine Perſon ſchuldig gemacht. Mich hat er belei-
diget; aber nicht dich. — Womit könnte dich der
arme Mann beleidiget haben? Du haſt keine Ge-
ſetze, die er übertreten, keine Unterthanen, die
er bedrücken, keine Krone, nach der er ſtreben
könnte. Was findeſt du denn alſo für ein grauſa-
mes Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken
will, lieber noch auf den Kopf zu ſchlagen, als
ihm die Hand zu reichen?
Ich bin zu tadeln —
Genug davon! — Seine
Königinn, die Welt, das Schickſal ſelbſt erklärt
ſich wider dieſen Mann, und doch ſcheinet er dir
kein Mitleid, keine Entſchuldigung zu verdienen? —
Ich bekenne es, Königinn, —
Geh, es ſey dir verge-
ben! — Rufe mir gleich die Rutland her. —
Ham-
[[41]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und funfzigſtes Stück.
Nottingham geht, und bald darauf erſchei-
net Rutland. Man erinnere ſich, daß
Rutland, ohne Wiſſen der Königinn,
mit dem Eſſex vermählt iſt.
Kömmſt du, liebe Rutland?
Ich habe nach dir geſchickt. — Wie iſts? Ich finde
dich, ſeit einiger Zeit, ſo traurig. Woher dieſe
trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sey
munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern
Mann ſuchen.
Großmüthige Frau! — Ich ver-
diene es nicht, daß meine Königinn ſo gnädig auf
mich herabſiehet.
Wie kannſt du ſo reden? —
Ich liebe dich; ja wohl liebe ich dich. — Du ſollſt
es daraus ſchon ſehen! — Eben habe ich mit der
Nottingham, der widerwärtigen! — einen Streit
gehabt; und zwar — über Mylord Eſſex.
FRut-
[42]
Ha!
Sie hat mich recht ſehr ge-
ärgert. Ich konnte ſie nicht länger vor Augen
ſehen.
Wie fahre ich bey die-
ſem theuern Namen zuſammen! Mein Geſicht wird
mich verrathen. Ich fühl es; ich werde blaß —
und wieder roth. —
Was ich dir ſage, macht
dich erröthen? —
Dein ſo überraſchendes, gütiges
Vertrauen, Königinn, —
Ich weiß, daß du mein
Ve[r]trauen verdieneſt. — Komm, Rutland, ich
will dir alles ſagen. Du ſollſt mir rathen. —
Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirſt du es auch
gehört haben, wie ſehr das Volk wider den armen,
unglücklichen Mann ſchreyet; was für Verbrechen
es ihm zur Laſt leget. Aber das Schlimmſte weißt
du vielleicht noch nicht? Er iſt heute aus Irrland
angekommen; wider meinen ausdrücklichen Be-
fehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der
größten Verwirrung gelaſſen.
Darf ich Dir, Königinn, wohl
ſagen, was ich denke? — Das Geſchrey des Vol-
kes, iſt nicht immer die Stimme der Wahrheit.
Sein Haß iſt öfters ſo ungegründet —
Du ſprichſt die wahren Ge-
danken meiner Seele. — Aber, liebe Rutland, er
iſt
[43] iſt dem ohngeachtet zu tadeln. — Komm her, meine
Liebe; laß mich an deinen Buſen mich lehnen. —
O gewiß, man legt mir es zu nahe! Nein, ſo will
ich mich nicht unter ihr Joch bringen laſſen. Sie
vergeſſen, daß ich ihre Königinn bin. — Ah, Lie-
be; ſo ein Freund hat mir längſt gefehlt, gegen
den ich ſo meinen Kummer ausſchütten kann! —
Siehe meine Thränen, Königinn —
Dich ſo leiden zu ſehen, die ich ſo bewundere! —
O, daß mein guter Engel Gedanken in meine
Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte,
den Sturm in Deiner Bruſt zu beſchwören, und
Balſam in Deine Wunden zu gießen!
O, ſo wäreſt du mein gu-
ter Engel! mitleidige, beſte Rutland! — Sage,
iſt es nicht Schade, daß ſo ein braver Mann ein
Verräther ſeyn ſoll? daß ſo ein Held, der wie ein
Gott verehret ward, ſich ſo erniedrigen kann, mich
um einen kleinen Thron bringen zu wollen?
Das hätte er gewollt? das könnte
er wollen? Nein, Königinn, gewiß nicht, gewiß
nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir ſprechen hören!
mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunde-
rung, mit welchem Entzücken habe ich ihn von Dir
ſprechen hören!
Haſt du ihn wirklich von
mir ſprechen hören?
Und immer als einen Begeiſterten,
aus dem nicht kalte Ueberlegung, aus dem ein in-
F 2neres
[44] neres Gefühl ſpricht, deſſen er nicht mächtig iſt.
Sie iſt, ſagte er, die Göttinn ihres Geſchlechts,
ſo weit über alle andere Frauen erhaben, daß das,
was wir in dieſen am meiſten bewundern, Schön-
heit und Reitz, in ihr nur die Schatten ſind, ein
größeres Licht dagegen abzuſetzen. Jede weibliche
Vollkommenheit verliert ſich in ihr, wie der ſchwache
Schimmer eines Sternes in dem alles überſtrömen-
den Glanze des Sonnenlichts. Nichts überſteigt
ihre Güte; die Huld ſelbſt beherrſchet, in ihrer
Perſon, dieſe glückliche Inſel; ihre Geſetze ſind aus
dem ewigen Geſetzbuche des Himmels gezogen, und
werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet. —
O, unterbrach er ſich dann mit einem Seufzer,
der ſein ganzes getreues Herz ausdrückte, o, daß
ſie nicht unſterblich ſeyn kann! Ich wünſche ihn
nicht zu erleben, den ſchrecklichen Augenblick, wenn
die Gottheit dieſen Abglanz von ſich zurückruft, und
mit eins ſich Nacht und Verwirrung über Britan-
nien verbreiten.
Sagte er das, Rutland?
Das, und weit mehr. Immer
ſo neu, als wahr in Deinem Lobe, deſſen unver-
ſiegene Quelle von den lauterſten Geſinnungen
gegen Dich überſtrömte —
O, Rutland, wie gern
glaube ich dem Zeugniſſe, das du ihm giebſt!
Und kannſt ihn noch für einen Ver-
räther halten?
Die
[45]
Nein; — aber doch hat er
die Geſetze übertreten. — Ich muß mich ſchämen,
ihn länger zu ſchützen. — Ich darf es nicht einmal
wagen, ihn zu ſehen.
Ihn nicht zu ſehen, Königinn?
nicht zu ſehen? — Bey dem Mitleid, das ſeinen
Thron in Deiner Seele aufgeſchlagen, beſchwöre
ich Dich, — Du mußt ihn ſehen! Schämen? weſ-
ſen? daß Du mit einem Unglücklichen Erbarmen
haſt? — Gott hat Erbarmen: und Erbarmen ſollte
Könige ſchimpfen? — Nein, Königinn; ſey auch
hier Dir ſelbſt gleich. Ja, Du wirſt es; Du
wirſt ihn ſehen, wenigſtens einmal ſehen —
Ihn, der meinen ausdrück-
lichen Befehl ſo geringſchätzen können? Ihn, der
ſich ſo eigenmächtig vor meine Augen drengen darf?
Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben be-
fahl?
Rechne ihm dieſes zu keinem Ver-
brechen! Gieb die Schuld der Gefahr, in der er
ſich ſahe. Er hörte, was hier vorgieng; wie ſehr
man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu
machen ſuche. Er kam alſo, zwar ohne Erlaub-
niß, aber in der beſten Abſtcht; in der Abſicht, ſich
zu rechtfertigen, und Dich nicht hintergehen zu
laſſen.
Gut; ſo will ich ihn denn
ſehen, und will ihn gleich ſehen. — O, meine Rut-
land, wie ſehr wünſche ich es, ihn noch immer
F 3eben
[46] eben ſo rechtſchaffen zu finden, als tapfer ich ihn
kenne!
O, nähre dieſe günſtige Gedan-
ke! Deine königliche Seele kann keine gerechtere
hägen. — Rechtſchaffen! So wirſt Du ihn gewiß
finden. Ich wollte für ihn ſchwören; bey aller
Deiner Herrlichkeit für ihn ſchwören, daß er es
nie aufgehöret zu ſeyn. Seine Seele iſt reiner als
die Sonne, die Flecken hat, und irrdiſche Dünſte
an ſich ziehet, und Geſchmeiß ausbrütet. — Du
ſagſt, er iſt tapfer; und wer ſagt es nicht? Aber
ein tapferer Mann iſt keiner Niederträchtigkeit fä-
hig. Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget;
wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der
vergebens die Schätze ſeiner Indien wider Dich
verſchwendete. Sein Name floh vor Deinen Flot-
ten und Völkern vorher, und ehe dieſe noch eintra-
fen, hatte öfters ſchon ſein Name geſiegt.
Wie beredt ſie
iſt! — Ha! dieſes Feuer, dieſe Innigkeit, — das
bloße Mitleid gehet ſo weit nicht. — Ich will es
gleich hören! —
Und dann, Rutland,
ſeine Geſtalt —
Recht, Königinn; ſeine Geſtalt. —
Nie hat eine Geſtalt den innern Vollkommenheiten
mehr entſprochen! — Bekenn es, Du, die Du
ſelbſt ſo ſchön biſt, daß man nie einen ſchönern
Mann geſehen! So würdig, ſo edel, ſo kühn und
gebietheriſch die Bildung! Jedes Glied, in welcher
Har-
[47] Harmonie mit dem andern! Und doch das Ganze
von einem ſo ſauften lieblichen Umriſſe! Das wahre
Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu
bilden! Das ſeltene Muſter der Kunſt, die aus
hundert Gegenſtänden zuſammen ſuchen muß, was
ſie hier bey einander findet!
Ich dacht es! —
Das iſt nicht länger auszuhalten. —
Wie
iſt dir, Rutland? Du geräthſt außer dir. Ein
Wort, ein Bild überjagt das andere. Was ſpielt
ſo den Meiſter über dich? Iſt es blos deine Kö-
niginn, iſt es Eſſex ſelbſt, was dieſe wahre, oder
dieſe erzwungene Leidenſchaft wirket? —
Sie ſchweigt; — ganz gewiß, ſie liebt ihn. — Was
habe ich gethan? Welchen neuen Sturm habe ich
in meinem Buſen erregt? u. ſ. w.
Hier erſcheinen Burleigh und die Notting-
ham wieder, der Königinn zu ſagen, daß Eſſex
ihren Befehl erwarte. Er ſoll vor ſie kommen.
„Rutland, ſagt die Königinn, „wir ſprechen
„einander ſchon weiter; geh nur. — Notting-
„ham, tritt du näher.„ Dieſer Zug der Ei-
ferſucht iſt vortrefflich. Eſſex kömmt; und nun
erfolgt die Scene mit der Ohrfeige. Ich wüßte
nicht, wie ſie verſtändiger und glücklicher vor-
bereitet ſeyn könnte. Eſſex anfangs, ſcheinet
ſich völlig unterwerfen zu wollen; aber, da ſie
ihm befiehlt, ſich zu rechtfertigen, wird er nach
und
[48] und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt.
Gleichwohl hätte alles das die Königinn ſo weit
nicht aufbringen können, wenn ihr Herz nicht
ſchon durch Eiferſucht erbittert geweſen wäre.
Es iſt eigentlich die eiferſüchtige Liebhaberinn,
welche ſchlägt, und die ſich nur der Hand der
Königinn bedienet. Eiferſucht überhaupt ſchlägt
gern. —
Ich, meines Theils, möchte dieſe Scenen
lieber auch nur gedacht, als den ganzen Eſſex
des Corneille gemacht haben. Sie ſind ſo cha-
rakteriſtiſch, ſo voller Leben und Wahrheit, daß
das Beſte des Franzoſen eine ſehr armſelige Fi-
gur dagegen macht.
Ham-
[[49]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und funfzigſtes Stück.
Nur den Stil des Banks muß man aus mei-
ner Ueberſetzung nicht beurtheilen. Von
ſeinem Ausdrucke habe ich gänzlich abge-
hen müſſen. Er iſt zugleich ſo gemein und ſo
koſtbar, ſo kriechend und ſo hochtrabend, und
das nicht von Perſon zu Perſon, ſondern ganz
durchaus, daß er zum Muſter dieſer Art von
Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwi-
ſchen beide Klippen, ſo gut als möglich, durchzu-
ſchleichen geſucht; dabey aber doch an der einen
lieber, als an der andern, ſcheitern wollen.
Ich habe mich mehr vor dem Schwülſtigen
gehütet, als vor dem Platten. Die mehreſten
hätten vielleicht gerade das Gegentheil gethan;
denn ſchwülſtig und tragiſch, halten viele ſo ziem-
lich für einerley. Nicht nur viele, der Leſer:
auch viele, der Dichter ſelbſt. Ihre Helden
ſollten wie andere Menſchen ſprechen? Was
Gwären
[50] wären das für Helden? Ampullæ \& ſesqui-
pedalia verba, Sentenzen und Blaſen und
ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren
Ton der Tragödie.
„Wir haben es an nichts fehlen laſſen, ſagt
Diderot, (*) (man merke, daß er vornehmlich
von ſeinen Landsleuten ſpricht,) „das Drama
„aus dem Grunde zu verderben. Wir haben
„von den Alten die volle prächtige Verſification
„beybehalten, die ſich doch nur für Sprachen
„von ſehr abgemeſſenen Quantitäten, und ſehr
„merklichen Accenten, nur für weitläufige Büh-
„nen, nur für eine in Noten geſetzte und mit
„Inſtrumenten begleitete Deklamation ſo wohl
„ſchickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung
„und dem Geſpräche, und die Wahrheit ihrer
„Gemählde haben wir fahren laſſen.„
Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen
können, warum wir uns den Ausdruck der alten
Tragödien nicht durchgängig zum Muſter neh-
men dürfen. Alle Perſonen ſprechen und unter-
halten ſich da auf einem freyen, öffentlichen
Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge
Volks. Sie müſſen alſo faſt immer mit Zurück-
haltung, und Rückſicht auf ihre Würde, ſprechen;
ſie können ſich ihrer Gedanken und Empfindun-
gen nicht in den erſten den beſten Worten entla-
den;
[51] den; ſie müſſen ſie abmeſſen und wählen. Aber
wir Neuern, die wir den Chor abgeſchaft, die
wir unſere Perſonen größtentheils zwiſchen ih-
ren vier Wänden laſſen: was können wir für
Urſache haben, ſie dem ohngeachtet immer eine
ſo geziemende, ſo ausgeſuchte, ſo rhetoriſche
Sprache führen zu laſſen? Sie hört niemand,
als dem ſie es erlauben wollen, ſie zu hören;
mit ihnen ſpricht niemand als Leute, welche in
die Handlung wirklich mit verwickelt, die alſo
ſelbſt im Affekte ſind, und weder Luſt noch Muße
haben, Ausdrücke zu controlliren. Das war
nur von dem Chore zu beſorgen, der, ſo genau
er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch
niemals mit handelte, und ſtets die handelnden
Perſonen mehr richtete, als an ihrem Schickſale
wirklichen Antheil nahm. Umſonſt beruft man
ſich desfalls auf den höhern Rang der Perſonen.
Vornehme Leute haben ſich beſſer ausdrücken ge-
lernt, als der gemeine Mann: aber ſie affecti-
ren nicht unaufhörlich, ſich beſſer auszudrücken,
als er. Am wenigſten in Leidenſchaften; deren
jeder ſeine eigene Beredſamkeit hat, mit der al-
lein die Natur begeiſtert, die in keiner Schule
gelernt wird, und auf die ſich der Unerzogenſte
ſo gut verſtehet, als der Polirteſte.
Bey einer geſuchten, koſtbaren, ſchwülſtigen
Sprache kann niemals Empfindung ſeyn. Sie
zeigt von keiner Empfindung, und kann keine
G 2her-
[52] hervorbringen. Aber wohl verträgt ſie ſich mit
den ſimpelſten, gemeinſten, platteſten Worten
und Redensarten.
Wie ich Banks Eliſabeth ſprechen laſſe, weiß
ich wohl, hat noch keine Königinn auf dem
franzöſiſchen Theater geſprochen. Den niedri-
gen vertraulichen Ton, in dem ſie ſich mit ihren
Frauen unterhält, würde man in Paris kaum
einer guten adlichen Landfrau angemeſſen finden.
„Iſt dir nicht wohl? — Mir iſt ganz wohl.
„Steh auf, ich bitte dich. — Nur unruhig;
„ein wenig unruhig bin ich. — Erzehle mir
„doch. — Nicht wahr, Nottingham? Thu
„das! Laß hören! — Gemach, gemach! — Du
„eiferſt dich aus dem Athem. — Gift und Blat-
„tern auf ihre Zunge! — Mir ſteht es frey,
„dem Dinge, das ich geſchaffen habe, mitzu-
„ſpielen, wie ich will. — Auf den Kopf ſchla-
„gen. — Wie iſts? Sey munter, liebe Rut-
„land; ich will dir einen wackern Mann ſu-
„chen. — Wie kannſt du ſo reden? — Du ſollſt
„es ſchon ſehen. — Sie hat mich recht ſehr geär-
„gert. Ich konnte ſie nicht länger vor Augen
„ſehen. — Komm her, meine Liebe; laß mich
„an deinen Buſen mich lehnen. — Ich dacht
„es! — Das iſt nicht länger auszuhalten.„ —
Ja wohl iſt es nicht auszuhalten! würden die
feinen Kunſtrichter ſagen —
Wer-
[53]
Werden vielleicht auch manche von meinen
Leſern ſagen. — Denn leider giebt es Deutſche,
die noch weit franzöſiſcher ſind, als die Franzo-
ſen. Ihnen zu gefallen, habe ich dieſe Brocken
auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art
zu kritiſiren. Alle die kleinen Nachläßigkeiten,
die ihr zärtliches Ohr ſo unendlich beleidigen,
die dem Dichter ſo ſchwer zu finden waren, die
er mit ſo vieler Ueberlegung dahin und dorthin
ſtreuete, um den Dialog geſchmeidig zu machen,
und den Reden einen wahrern Anſchein der au-
genblicklichen Eingebung zu ertheilen, reihen ſie
ſehr witzig zuſammen auf einen Faden, und wol-
len ſich krank darüber lachen. Endlich folgt ein
mitleidiges Achſelzucken: „man hört wohl, daß
der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß
er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine
verſtand das beſſer; aber Racine lebte auch bey
Hofe.„
Dem ohngeachtet würde mich das nicht irre
machen. Deſto ſchlimmer für die Königinnen,
wenn ſie wirklich nicht ſo ſprechen, nicht ſo ſpre-
chen dürfen. Ich habe es lange ſchon geglaubt,
daß der Hof der Ort eben nicht iſt, wo ein Dich-
ter die Natur ſtudiren kann. Aber wenn Pomp
und Etiquette aus Menſchen Maſchinen macht,
ſo iſt es das Werk des Dichters, aus dieſen
Maſchinen wieder Menſchen zu machen. Die
wahren Königinnen mögen ſo geſucht und affek-
G 3tirt
[54] tirt ſprechen, als ſie wollen: ſeine Königinnen
müſſen natürlich ſprechen. Er höre der Hekuba
des Euripides nur fleißig zu; und tröſte ſich im-
mer, wenn er ſchon ſonſt keine Königinnen ge-
ſprochen hat.
Nichts iſt züchtiger und anſtändiger als die
ſimple Natur. Grobheit und Wuſt iſt eben ſo
weit von ihr entfernt, als Schwulſt und Bom-
baſt von dem Erhabnen. Das nehmliche Ge-
fühl, welches die Grenzſcheidung dort wahr-
nimt, wird ſie auch hier bemerken. Der
ſchwülſtigſte Dichter iſt daher unfehlbar auch
der pöbelhafteſte. Beide Fehler ſind unzer-
trennlich; und keine Gattung giebt mehrere Ge-
legenheit in beide zu verfallen, als die Tragödie.
Gleichwohl ſcheinet die Engländer vornehm-
lich nur der eine, in ihrem Banks beleidiget zu
haben. Sie tadelten weniger ſeinen Schwulſt,
als die pöbelhafte Sprache, die er ſo edle und
in der Geſchichte ihres Landes ſo glänzende Per-
ſonen führen laſſe; und wünſchten lange, daß
ſein Stück von einem Manne, der den tragiſchen
Ausdruck mehr in ſeiner Gewalt habe, möchte
umgearbeitet werden. (*) Dieſes geſchah end-
lich
[55] lich auch. Faſt zu gleicher Zeit machten ſich
Jones und Brook darüber. Heinrich Jones,
von Geburt ein Irrländer, war ſeiner Pro-
feßion nach ein Maurer, und vertauſchte, wie
der alte Ben Johnſon, ſeine Kelle mit der Fe-
der. Nachdem er ſchon einen Band Gedichte
auf Subſcription drucken laſſen, die ihn als ei-
nen Mann von großem Genie bekannt machten,
brachte er ſeinen Eſſex 1753 aufs Theater. Als
dieſer zu London geſpielt ward, hatte man bereits
den von Heinrich Brook in Dublin geſpielt.
Aber Brook ließ ſeinen erſt einige Jahre her-
nach drucken; und ſo kann es wohl ſeyn, daß er,
wie man ihm Schuld giebt, eben ſowohl den
Eſſex des Jones, als den vom Banks, genutzt
hat. Auch muß noch ein Eſſex von einem James
Ralph vorhanden ſeyn. Ich geſtehe, daß ich
keinen geleſen habe, und alle drey nur aus den
gelehrten Tagebüchern kenne. Von dem Eſſex
des Brook, ſagt ein franzöſiſcher Kunſtrichter,
daß
(*)
[56] daß er das Feuer und das Pathetiſche des Banks
mit der ſchönen Poeſie des Jones zu verbinden
gewußt habe. Was er über die Rolle der Rut-
land, und über derſelben Verzweiflung bey der
Hinrichtung ihres Gemahls, hinzufügt, (*) iſt
merkwürdig; man lernt auch daraus das Pari-
ſer Parterr auf einer Seite kennen, die ihm
wenig Ehre macht.
Aber einen ſpaniſchen Eſſex habe ich geleſen,
der viel zu ſonderbar iſt, als daß ich nicht im
Vorbeygehen etwas davon ſagen ſollte. —
Ham-
[[57]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechzigſtes Stück.
Er iſt von einem Ungenannten, und führet
den Titel: Für ſeine Gebietherinn ſter-
ben. (*) Ich finde ihn in einer Samm-
lung von Komödien, die Joſeph Padrino zu
Sevilien gedruckt hat, und in der er das vier
und ſiebzigſte Stück iſt. Wenn er verfertiget
worden, weiß ich nicht; ich ſehe auch nichts,
woraus es ſich ungefehr abnehmen ließe. Das iſt
klar, daß ſein Verfaſſer weder die franzöſiſchen und
engliſchen Dichter, welche die nehmliche Geſchich-
te bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ih-
nen gebraucht worden. Er iſt ganz original.
Doch ich will dem Urtheile meiner Leſer nicht
vorgreifen.
Eſſex
H
[58]
Eſſex kömmt von ſeiner Expedition wider die
Spanier zurück, und will der Königinn in Lon-
don Bericht davon abſtatten. Wie er anlangt,
hört er, daß ſie ſich zwey Meilen von der Stadt
auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, Na-
mens Blanca, befinde. Dieſe Blanca iſt die
Geliebte des Grafen, und auf dieſem Landgute
hat er, noch bey Lebszeiten ihres Vaters, viele
heimliche Zuſammenkünfte mit ihr gehabt. So-
gleich begiebt er ſich dahin, und bedient ſich des
Schlüſſels, den er noch von der Gartenthüre
bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen.
Es iſt natürlich, daß er ſich ſeiner Geliebten
eher zeigen will, als der Königinn. Als er
durch den Garten nach ihren Zimmern ſchleichet,
wird er, an dem ſchattichten Ufer eines durch den-
ſelben geleiteten Armes der Temſe, ein Frauen-
zimmer gewahr, (es iſt ein ſchwüler Sommer-
abend,) das mit den bloßen Füßen in dem Waſ-
ſer ſitzt, und ſich abkühlet. Er bleibt voller
Verwunderung über ihre Schönheit ſtehen, ob
ſie ſchon das Geſicht mit einer halben Maſke
bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Dieſe
Schönheit, wie billig, wird weitläuftig beſchrie-
ben, und beſonders werden über die allerliebſten
weiſſen Füße in dem klaren Waſſer, ſehr ſpitzfin-
dige Dinge geſagt. Nicht genug, daß der ent-
zückte Graf zwey kryſtallene Säulen in einem
fließenden Kryſtalle ſtehen ſieht; er weiß vor Er-
ſtau-
[59] ſtaunen nicht, ob das Waſſer der Kryſtall ihrer
Füße iſt, welcher in Fluß gerathen, oder ob
ihre Füße der Kryſtall des Waſſers ſind, der
ſich in dieſe Form condenſirt hat. (*) Noch
verwirrter macht ihn die halbe ſchwarze Maſke
auf dem weiſſen Geſichte: er kann nicht begrei-
fen, in welcher Abſicht die Natur ein ſo göttli-
H 2ches
[60] ches Monſtrum gebildet, und auf ſeinem Ge-
ſichte ſo ſchwarzen Baſalt mit ſo glänzendem
Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Be-
wunderung, oder mehr zur Verſpottung? (*))
Kaum hat ſich das Frauenzimmer wieder ange-
kleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb Ty-
ranninn! ein Schuß auf ſie geſchieht, und gleich
darauf zwey maſkirte Männer mit bloßem De-
gen auf ſie los gehen, weil der Schuß ſie nicht
getroffen zu haben ſcheinet. Eſſex beſinnt ſich
nicht lange, ihr zu Hülfe zu eilen. Er greift
die Mörder an, und ſie entfliehen. Er will ih-
nen nach; aber die Dame ruft ihn zurück, und
bittet ihn, ſein Leben nicht in Gefahr zu ſetzen.
Sie ſieht, daß er verwundet iſt, knüpft ihre
Schärpe los, und giebt ſie ihm, ſich die Wunde
damit zu verbinden. Zugleich, ſagt ſie, ſoll
dieſe Schärpe dienen, mich Euch zu ſeiner Zeit
zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfer-
nen, ehe über den Schuß mehr Lermen entſteht;
ich möchte nicht gern, daß die Königinn den Zu-
fall erführe, und ich beſchwöre Euch daher um
Eure
[61] Eure Verſchwiegenheit. Sie geht, und Eſſex
bleibt voller Erſtaunen über dieſe ſonderbare
Begebenheit, über die er mit ſeinem Bedienten,
Namens Coſme, allerley Betrachtungen anſtellt.
Dieſer Coſme iſt die luſtige Perſon des Stücks;
er war vor dem Garten geblieben, als ſein Herr
hereingegangen, und hatte den Schuß zwar ge-
hört, aber ihm doch nicht zu Hülfe kommen dür-
fen. Die Furcht hielt an der Thüre Schild-
wache, und verſperrte ihm den Eingang. Furcht-
ſam iſt Coſme für viere; (*) und das ſind die
ſpaniſchen Narren gemeiniglich alle. Eſſex be-
kennt, daß er ſich unfehlbar in die ſchöne Unbe-
kannte verliebt haben würde, wenn Blanca
nicht ſchon ſo völlig Beſitz von ſeinem Herzen
genommen hätte, daß ſie durchaus keiner andern
Leidenſchaft darinn Raum laſſe. Aber, ſagt er,
wer mag ſie wohl geweſen ſeyn? Was dünkt
dich, Coſme? — Wer wirds geweſen ſeyn, ant-
wortet Coſme, als des Gärtners Frau, die ſich
H 3die
[62] die Beine gewaſchen? — (*) Aus dieſem Zuge,
kann man leicht auf das Uebrige ſchließen. Sie
gehen endlich beide wieder fort; es iſt zu ſpät ge-
worden; das Haus könnte über den Schuß in
Bewegung gerathen ſeyn; Eſſex getraut ſich da-
her nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen,
und verſchiebt ſeinen Beſuch auf ein andermal.
Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit
Flora, der Blanca Kammermädchen. (Die Scene
iſt noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der
Blanca; die vorigen Auftritten waren in dem
Garten. Es iſt des folgenden Tages.) Der
König von Frankreich hatte der Eliſabeth eine
Verbindung mit ſeinem jüngſten Bruder vorge-
ſchlagen. Dieſes iſt der Herzog von Alanzon.
Er iſt, unter dem Vorwande einer Geſandt-
ſchaft, nach England gekommen, um dieſe Ver-
bindung zu Stande zu bringen. Es läßt ſich
alles, ſowohl von Seiten des Parlaments als
der Königinn, ſehr wohl dazu an: aber indeß
erblickt er die Blanca, und verliebt ſich in ſie.
Itzt kömmt er, und bittet Floren, ihm in ſeiner
Liebe behülflich zu ſeyn. Flora verbirgt ihn
nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch oh-
ne ihm das geringſte von der Vertraulichkeit, in
welcher der Graf mit ihr ſtehet, zu entdecken.
Sie
[63] Sie ſagt blos, Blanca ſuche ſich zu verheyra-
then, und da ſie hierauf ſich mit einem Manne,
deſſen Stand ſo weit über den ihrigen erhaben
ſey, doch keine Rechnung machen könne, ſo
durfte ſie ſchwerlich ſeiner Liebe Gehör geben. —
(Man erwartet, daß der Herzog auf dieſen Ein-
wurf die Lauterkeit ſeiner Abſichten betheuern
werde: aber davon kein Wort! Die Spanier
ſind in dieſem Punkte lange ſo ſtrenge und deli-
kat nicht, als die Franzoſen.) Er hat einen
Brief an die Blanca geſchrieben, den Flora
übergeben ſoll. Er wünſcht, es ſelbſt mit an-
zuſehen, was dieſer Brief für Eindruck auf ſie
machen werde. Er ſchenkt Floren eine güldne
Kette, und Flora verſteckt ihn in eine anſtoßende
Gallerie, indem Blanca mit Coſme hereintritt,
welcher ihr die Ankunft ſeines Herrn meldet.
Eſſex kömmt. Nach den zärtlichſten Bewill-
kommungen der Blanca, nach den theuerſten
Verſicherungen des Grafen, wie ſehr er ihrer
Liebe ſich würdig zu zeigen wünſche, müſſen ſich
Flora und Coſme entfernen, und Blanca bleibt
mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit
welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit
er ſich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem
ſie ihm drey Jahre widerſtanden, habe ſie end-
lich ſich ihm ergeben, und ihn, unter Verſiche-
rung ſie zu heyrathen, zum Eigenthümer ihrer
Ehre
[64] Ehre gemacht. (Te hice dueño de mi ho-
nor: der Ausdruck ſagt im Spaniſchen ein
wenig viel.) Nur die Feindſchaft, welche un-
ter ihren beyderſeitigen Familien obgewaltet,
habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollzie-
hen. Eſſex iſt nichts in Abrede, und fügt hin-
zu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und Bru-
ders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider
die Spanier dazwiſchen gekommen ſey. Nun
aber habe er dieſe glücklich vollendet; nun wolle
er unverzüglich die Königinn um Erlaubniß zu
ihrer Vermählung antreten. — Und ſo kann ich
dir denn, ſagt Blanca, als meinem Geliebten,
als meinem Bräutigam, als meinem Freunde,
alle meine Geheimniſſe ſicher anvertrauen. (*) —
Ham-
[[65]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und ſechzigſtes Stück.
Hierauf beginnt ſie eine lange Erzehlung von
dem Schickſale der Maria von Schott-
land. Wir erfahren, (denn Eſſex ſelbſt
muß alles das, ohne Zweifel, längſt wiſſen,)
daß ihr Vater und Bruder dieſer unglücklichen
Königinn ſehr zugethan geweſen; daß ſie ſich ge-
weigert, an der Unterdrückung der Unſchuld
Theil zu nehmen; daß Eliſabeth ſie daher gefan-
gen ſetzen, und in dem Gefängniſſe heimlich hin-
richten laſſen. Kein Wunder, daß Blanca die
Eliſabeth haßt; daß ſie feſt entſchloſſen iſt, ſich
an ihr zu rächen. Zwar hat Eliſabeth nachher
ſie unter ihre Hofdamen aufgenommen, und ſie
ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber
Blanca iſt unverſöhnlich. Umſonſt wählte die
Königinn, nur kürzlich, vor allen andern das
Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige
Tage daſelbſt ruhig zu genieſſen. — Dieſen Vor-
Jzug
[66] zug ſelbſt, wollte Blanca ihr zum Verderben ge-
reichen laſſen. Sie hatte an ihren Oheim ge-
ſchrieben, welcher, aus Furcht, es möchte ihm
wie ſeinem Bruder, ihrem Vater, ergehen,
nach Schottland geflohen war, wo er ſich im
Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekom-
men; und kurz, dieſer Oheim war es geweſen,
welcher die Königinn in dem Garten ermorden
wollen. Nun weiß Eſſex, und wir mit ihm,
wer die Perſon iſt, der er das Leben gerettet hat.
Aber Blanca weiß nicht, daß es Eſſex iſt, wel-
cher ihren Anſchlag vereiteln müſſen. Sie rech-
net vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren ſie
Eſſex verſichert, und wagt es, ihn nicht blos
zum Mitſchuldigen machen zu wollen, ſondern
ihm völlig die glücklichere Vollziehung ihrer
Rache zu übertragen. Er ſoll ſogleich an ihren
Oheim, der wieder nach Schottland geflohen iſt,
ſchreiben, und gemeinſchaftliche Sache mit ihm
machen. Die Tyranninn müſſe ſterben; ihr
Name ſey allgemein verhaßt; ihr Tod ſey eine
Wohlthat für das Vaterland, und niemand ver-
diene es mehr als Eſſex, dem Vaterlande dieſe
Wohlthat zu verſchaffen.
Eſſex iſt über dieſen Antrag äußerſt betroffen.
Blanca, ſeine theure Blanca, kann ihm eine
ſolche Verrätherey zumuthen? Wie ſehr ſchämt
er ſich, in dieſem Augenblicke, ſeiner Liebe!
Aber was ſoll er thun? Soll er ihr, wie es bil-
lig
[67] lig wäre, ſeinen Unwillen zu erkennen geben?
Wird ſie darum weniger bey ihren ſchändlichen
Geſinnungen bleiben? Soll er der Königinn die
Sache hinterbringen? Das iſt unmöglich:
Blanca, ſeine ihm noch immer theure Blanca,
läuft Gefahr. Soll er ſie, durch Bitten und
Vorſtellungen, von ihrem Entſchluſſe abzubrin-
gen ſuchen? Er müßte nicht wiſſen, was für ein
rachſüchtiges Geſchöpf eine beleidigte Frau iſt;
wie wenig es ſich durch Flehen erweichen, und
durch Gefahr abſchrecken läßt. Wie leicht
könnte ſie ſeine Abrathung, ſein Zorn, zur
Verzweiflung bringen, daß ſie ſich einem an-
dern entdeckte, der ſo gewiſſenhaft nicht wäre,
und ihr zu Liebe alles unternähme? (*) — Die-
J 2ſes
[68] ſes in der Geſchwindigkeit überlegt, faßt er den
Vorſatz, ſich zu verſtellen, um den Roberto, ſo
heißt der Oheim der Blanca, mit allen ſeinen
Anhängern, in die Falle zu locken.
Blanca wird ungeduldig, daß ihr Eſſex nicht
ſogleich antwortet. „Graf, ſagt ſie, wenn Du
erſt lange mit Dir zu Rathe gehſt, ſo liebſt Du
mich nicht. Auch nur zweifeln, iſt Verbrechen.
Undankbarer! — (*) Sey ruhig, Blanca! er-
wiedert Eſſex: ich bin entſchloſſen. — Und wo-
zu? — Gleich will ich Dir es ſchriftlich geben.„
Eſſex ſetzt ſich nieder, an ihren Oheim zu
ſchreiben, und indem tritt der Herzog aus der
Gal-
(*)
[69] Gallerie näher. Er iſt neugierig zu ſehen, wer
ſich mit der Blanca ſo lange unterhält; und er-
ſtaunt, den Grafen von Eſſex zu erblicken.
Aber noch mehr erſtaunt er über das, was er
gleich darauf zu hören bekömmt. Eſſex hat an
den Roberto geſchrieben, und ſagt der Blanca
den Inhalt ſeines Schreibens, das er ſofort
durch den Coſme abſchicken will. Roberto ſoll
mit allen ſeinen Freunden einzeln nach London
kommen; Eſſex will ihn mit ſeinen Leuten unter-
ſtützen; Eſſex hat die Gunſt des Volks; nichts
wird leichter ſeyn, als ſich der Königinn zu be-
mächtigen; ſie iſt ſchon ſo gut, als todt. — Erſt
müßt ich ſterben! ruft auf einmal der Herzog,
und kömmt auf ſie los. Blanca und der Graf
erſtaunen über dieſe plötzliche Erſcheinung; und
das Erſtaunen des letztern iſt nicht ohne Eifer-
ſucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bey
ſich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfer-
tiget die Blanca, und verſichert, daß ſie von
ſeiner Anweſenheit nichts gewußt; er habe die
Gallerie offen gefunden, und ſey von ſelbſt her-
eingegangen, die Gemählde darinn zu betrach-
ten. (*)
J 3Der
[70]
Bey dem Leben meines Bru-
ders, bey dem mir noch koſtbarern Leben der Kö-
niginn, bey — Aber genug, daß Ich es ſage:
Blanca iſt unſchuldig. Und nur ihr, Mylord,
haben Sie dieſe Erklärung zu danken. Auf Sie,
iſt im geringſten nicht dabey geſehen. Denn mit
Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich —
Prinz, Sie kennen mich ohne
Zweifel nicht recht? —
Freylich habe ich Sie nicht
recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich
hielt
(*)
[71] hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich
finde, Sie ſind ein Verräther.
Wer darf das ſagen?
Ich! — Nicht ein Wort
mehr! Ich will kein Wort mehr hören, Graf!
Meine Abſicht mag auch geweſen
ſeyn —
Denn kurz: ich bin überzeugt,
daß ein Verräther kein Herz hat. Ich treffe Sie
als einen Verräther: ich muß Sie für einen Mann
ohne Herz halten. Aber um ſo weniger darf ich
mich dieſes Vortheils über Sie bedienen. Meine
Ehre
(*)
[72] Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen ver-
luſtig ſind. Wären Sie ſo unbeſcholten, als ich
Sie ſonſt geglaubt, ſo würde ich Sie zu züchtigen
wiſſen.
Ich bin der Graf von Eſſex. So
hat mir noch niemand begegnen dürfen, als der
Bruder des Königs von Frankreich.
Wenn ich auch der nicht wäre,
der ich bin; wenn nur Sie der wären, der Sie
nicht ſind, ein Mann von Ehre: ſo ſollten Sie
wohl empfinden, mit wem Sie zu thun hätten. —
Sie, der Graf von Eſſex? Wenn Sie dieſer beru-
fene Krieger ſind: wie können Sie ſo viele große
Thaten durch eine ſo unwürdige That vernichten
wollen? —
Ham-
[[73]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und ſechzigſtes Stück.
Der Herzog fährt hierauf fort, ihm ſein Un-
recht, in einem etwas gelindern Tone,
vorzuhalten. Er ermahnt ihn, ſich ei-
nes beſſern zu beſinnen; er will es vergeſſen, was
er gehört habe; er iſt verſichert, daß Blanca mit
dem Grafen nicht einſtimme, und daß ſie ſelbſt ihm
eben das würde geſagt haben, wenn er, der Her-
zog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er ſchließt
endlich: „Noch einmal, Graf; gehen Sie in ſich!
„Stehen Sie von einem ſo ſchändlichen Vorha-
„ben ab! Werden Sie wieder Sie ſelbſt! Wol-
„len Sie aber meinem Rathe nicht folgen: ſo
„erinnern Sie ſich, daß Sie einen Kopf haben,
„und London einen Henker!„ (*) — Hiermit
ent-
K
[74] entfernt ſich der Herzog. Eſſex iſt in der äußer-
ſten Verwirrung; es ſchmerzt ihn, ſich für einen
Verräther gehalten zu wiſſen; gleichwohl darf
er es itzt nicht wagen, ſich gegen den Herzog zu
rechtfertigen; er muß ſich gedulden, bis es der
Ausgang lehre, daß er da ſeiner Königinn am
getreueſten geweſen ſey, als er es am wenigſten
zu ſeyn geſchienen. (*) So ſpricht er mit ſich
ſelbſt: zur Blanca aber ſagt er, daß er den
Brief ſogleich an ihren Oheim ſenden wolle, und
geht ab. Blanca desgleichen; nachdem ſie ih-
ren Unſtern verwünſcht, ſich aber noch damit
getröſtet, daß es kein Schlimmerer als der Her-
zog ſey, welcher von dem Anſchlage des Grafen
wiſſe.
Die Königinn erſcheinet mit ihrem Kanzler,
dem ſie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten
begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle
Zugänge wohl beſetze; und morgen will ſie nach
London zurückkehren. Der Kanzler iſt der Mei-
nung, die Mäuchelmörder aufſuchen zu laſſen,
und
(*)
[75] und durch ein öffentliches Edict demjenigen, der
ſie anzeigen werde, eine anſehnliche Belohnung
zu verheiſſen, ſollte er auch ſelbſt ein Mitſchul-
diger ſeyn. „Denn da es ihrer zwey waren,
ſagt er, „die den Anfall thaten, ſo kann leicht
„einer davon ein eben ſo treuloſer Freund ſeyn,
„als er ein treuloſer Unterthan iſt.„ (*) — Aber
die Königinn mißbilliget dieſen Rath; ſie hält
es für beſſer, den ganzen Vorfall zu unter-
drücken, und es gar nicht bekannt werden zu
laſſen, daß es Menſchen gegeben, die ſich einer
ſolchen That erkühnen dürfen. „Man muß,
ſagt ſie, „die Welt glauben machen, daß die
„Könige ſo wohl bewacht werden, daß es der
„Verrätherey unmöglich iſt, an ſie zu kommen.
„Auſſerordentliche Verbrechen werden beſſer ver-
„ſchwiegen, als beſtraft. Denn das Beyſpiel
„der Strafe iſt von dem Beyſpiele der Sünde
„unzertrennlich; und dieſes kann oft eben ſo ſehr
„anreitzen, als jenes abſchrecken.„ (**)
K 2In-
[76]
Indem wird Eſſex gemeldet, und vorgelaſſen.
Der Bericht, den er von dem glücklichen Er-
folge ſeiner Expedition abſtattet, iſt kurz. Die
Königinn ſagt ihm, auf eine ſehr verbindliche
Weiſe: „Da ich Euch wieder erblicke, weiß ich
von dem Ausgange des Krieges ſchon ge-
nug.„ (*) Sie will von keinen nähern Um-
ſtänden hören, bevor ſie ſeine Dienſte nicht be-
lohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen
ſogleich das Patent als Admiral von England
auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königinn
und Eſſex ſind allein; das Geſpräch wird ver-
traulicher; Eſſex hat die Schärpe um; die Kö-
niginn bemerkt ſie, und Eſſex würde es aus die-
ſer bloßen Bemerkung ſchlieſſen, daß er ſie von
ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca
nicht ſchon geſchloſſen hätte. Die Königinn hat
den Grafen ſchon längſt heimlich geliebt; und
nun iſt ſie ihm ſogar das Leben ſchuldig. (**)
Es
(**)
[77] Es koſtet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu ver-
bergen. Sie thut verſchiedne Fragen, ihn aus-
zulocken und zu hören, ob ſein Herz ſchon einge-
nommen, und ob er es vermuthe, wem er das
Leben in den Garten gerettet. Das letzte giebt
er ihr durch ſeine Antworten gewiſſermaaßen zu
verſtehen, und zugleich, daß er für eben dieſe
Perſon mehr empfinde, als er derſelben zu ent-
decken ſich erkühnen dürfe. Die Königinn iſt
auf dem Punkte, ſich ihm zu erkennen zu gebene
doch ſiegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Eben
ſo ſehr hat der Graf mit ſeinem Stolze zu käm-
pfen: er kann ſich des Gedankens nicht entweh-
ren, daß ihn die Königinn liebe, ob er ſchon die
Vermeſſenheit dieſes Gedankens erkennet. (Daß
dieſe Scene größtentheils aus Reden beſtehen
müſſe, die jedes ſeitab führet, iſt leicht zu erach-
ten.) Sie heißt ihn gehen, und heißt ihn wie-
der ſo lange warten, bis der Kanzler ihm das
Patent bringe. Er bringt es; ſie überreicht es
ihm; er bedankt ſich, und das Seitab fängt mit
neuem Feuer an.
Thörichte Liebe! —
Eitler Wahnſinn! —
Wie blind! —
Wie verwegen! —
So tief willſt du, daß ich
mich herabſetze? —
K 3Eſſex.
[78]
So hoch willſt du, daß ich mich ver-
ſteige?
Bedenke, daß ich Königinn
bin!
Bedenke, daß ich Unterthan bin!
Du ſtürzeſt mich bis in den
Abgrund, —
Du erhebeſt mich bis zur Sonne, —
Ohne auf meine Hoheit zu
achten.
Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen.
Aber, weil du meines
Herzens dich bemeiſtert: —
Aber, weil Du meiner Seele Dich
bemächtiget: —
So ſtirb da, und komm
nie auf die Zunge!
So ſtirb da, und komm nie über die
Lippen! (*)
(Iſt
[79]
(Iſt das nicht eine ſonderbare Art von Unter-
haltung? Sie reden mit einander; und reden
auch nicht mit einander. Der eine hört, was
der andere nicht ſagt, und antwortet auf das,
was er nicht gehört hat. Sie nehmen einander
die Worte nicht aus dem Munde, ſondern aus
der Seele. Man ſage jedoch nicht, daß man
ein Spanier ſeyn muß, um an ſolchen unnatür-
lichen Künſteleyen Geſchmack zu finden. Noch
vor einige dreyßig Jahren fanden wir Deutſche
eben ſo viel Geſchmack daran; denn unſere
Staats- und Helden-Actionen wimmelten da-
von, die in allem nach den ſpaniſchen Muſtern
zugeſchnitten waren.)
Nachdem die Königinn den Eſſex beurlaubet
und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten,
gehen beide auf verſchiedene Seiten ab, und
machen dem erſten Aufzuge ein Ende. — Die
Stücke der Spanier, wie bekannt, haben deren
nur drey, welche ſie Jornadas, Tagewerke,
nennen. Ihre allerälteſten Stücke hatten viere:
ſie krochen, ſagt Lope de Vega, auf allen vie-
ren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich
noch Kinder von Komödien. Virves war der
erſte,
(*)
[80] erſte, welcher die vier Aufzüge auf drey brachte;
und Lope folgte ihm darinn, ob er ſchon die er-
ſten Stücke ſeiner Jugend, oder vielmehr ſeiner
Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte.
Wir lernen dieſes aus einer Stelle in des letztern
Neuen Kunſt, Komödien zu machen; (*) mit
der ich aber eine Stelle des Cervantes in Wider-
ſpruch finde, (**) wo ſich dieſer den Ruhm an-
maßt, die ſpaniſche Komödie von fünf Akten,
aus welchen ſie ſonſt beſtanden, auf drey ge-
bracht zu haben. Der ſpaniſche Litterator mag
dieſen Widerſpruch entſcheiden; ich will mich
dabey nicht aufhalten.
Ham-
[[81]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und ſechzigſtes Stück.
Die Königinn iſt von dem Landgute zurück-
gekommen; und Eſſex gleichfalls. So-
bald er in London angelangt, eilt er nach
Hofe, um ſich keinen Augenblick vermiſſen zu
laſſen. Er eröfnet mit ſeinem Coſme den zwey-
ten Akt, der in dem Königlichen Schloſſe ſpielt.
Coſme hat, auf Befehl des Grafen, ſich mit
Piſtolen verſehen müſſen; der Graf hat heim-
liche Feinde; er beſorgt, wenn er des Nachts
ſpät vom Schloſſe gehe, überfallen zu werden.
Er heißt den Coſme, die Piſtolen nur indeß in
das Zimmer der Blanca zu tragen, und ſie von
Floren aufheben zu laſſen. Zugleich bindet er
die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will.
Blanca iſt eiferſüchtig; die Schärpe könnte ihr
Gedanken machen; ſie könnte ſie haben wollen;
und er würde ſie ihr abſchlagen müſſen. Indem
er ſie dem Coſme zur Verwahrung übergiebt,
Lkömmt
[82] kömmt Blanca dazu. Coſme will ſie geſchwind
verſtecken: aber es kann ſo geſchwind nicht ge-
ſchehen, daß es Blanca nicht merken ſollte.
Blanca nimt den Grafen mit ſich zur Königinn;
und Eſſex ermahnt im Abgehen den Coſme,
wegen der Schärpe reinen Mund zu halten, und
ſie niemanden zu zeigen.
Coſme hat, unter ſeinen andern guten Eigen-
ſchaften, auch dieſe, daß er ein Erzplauderer
iſt. Er kann kein Geheimniß eine Stunde be-
wahren; er fürchtet ein Geſchwär im Leibe da-
von zu bekommen; und das Verboth des Grafen
hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er ſich die-
ſer Gefahr bereits ſechs und dreyßig Stunden
ausgeſetzt habe. (*) Er giebt Floren die Pi-
ſtolen, und hat den Mund ſchon auf, ihr auch
die ganze Geſchichte, von der maſkirten Dame
und der Schärpe, zu erzehlen. Doch eben be-
ſinnt er ſich, daß es wohl eine würdigere Perſon
ſeyn müſſe, der er ſein Geheimniß zuerſt mit-
theile. Es würde nicht laſſen, wenn ſich
Flora rühmen könnte, ihn deſſen deflorirt zu
haben.
[83] haben. (*) (Ich muß von allerley Art des ſpa-
niſchen Witzes eine kleine Probe einzuflechten
ſuchen.)
Coſme darf auf dieſe würdigere Perſon nicht
lange warten. Blanca wird von ihrer Neu-
gierde viel zu ſehr gequält, daß ſie ſich nicht,
ſobald als möglich, von dem Grafen losmachen
ſollen, um zu erfahren, was Coſme vorhin ſo
haſtig vor ihr zu verbergen geſucht. Sie kömmt
alſo ſogleich zurück, und nachdem ſie ihn zuerſt
gefragt, warum er nicht ſchon nach Schottland
abgegangen, wohin ihn der Graf ſchicken wol-
len, und er ihr geantwortet, daß er mit anbre-
chendem Tage abreiſen werde: verlangt ſie zu
wiſſen, was er da verſteckt halte? Sie dringt
in ihn: doch Coſme läßt nicht lange in ſich drin-
gen. Er ſagt ihr alles, was er von der Schärpe
weiß; und Blanca nimt ſie ihm ab. Die Art,
mit der er ſich ſeines Geheimniſſes entlediget,
iſt äußerſt eckel. Sein Magen will es nicht
länger bey ſich behalten; es ſtößt ihm auf; es
kneipt ihn; er ſteckt den Finger in den Hals; er
giebt es von ſich; und um einen beſſern Geſchmack
wieder in den Mund zu bekommen, läuft er ge-
L 2ſchwind
[84] ſchwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu
kauen. (*) Blanca kann aus ſeinem verwirr-
ten Geſchwätze zwar nicht recht klug werden:
ſie verſteht aber doch ſo viel daraus, daß die
Schärpe das Geſchenk einer Dame iſt, in die
Eſſex verliebt werden könnte, wenn er es nicht
ſchon ſey. „Denn er iſt doch nur ein Mann;
ſagt ſie. „Und wehe der, die ihre Ehre einem
„Manne anvertrauet hat! Der beſte, iſt noch
„ſo ſchlimm!„ (**) — Um ſeiner Untreue alſo
zuvorzukommen, will ſie ihn je eher je lieber
heyrathen.
Die Königinn tritt herein, und iſt äußerſt
niedergeſchlagen. Blanca fragt, ob ſie die
übri-
[85] übrigen Hof damen rufen ſoll: aber die Königinn
will lieber allein ſeyn; nur Jrene ſoll kommen,
und vor dem Zimmer ſingen. Blanca geht auf
der einen Seite nach Jrenen ab, und von der
andern kömmt der Graf.
Eſſex liebt die Blanca: aber er iſt ehrgeitzig
genug, auch der Liebhaber der Königinn ſeyn
zu wollen. Er wirft ſich dieſen Ehrgeitz ſelbſt
vor; er beſtraft ſich deswegen; ſein Herz gehört
der Blanca; eigennützige Abſichten müſſen es
ihr nicht entziehen wollen; unechte Convenienz
muß keinen echten Affekt beſiegen. (*) Er will
ſich alſo lieber wieder entfernen, als er die Kö-
niginn gewahr wird: und die Königinn, als ſie
ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen.
Aber ſie bleiben beide. Jndem fängt Jrene vor
dem Zimmer an zu ſingen. Sie ſingt eine Re-
dondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, deſſen
Sinn dieſer iſt: „Sollten meine verliebten Kla-
L 3„gen
[86] „gen zu deiner Kenntniß gelangen: o ſo laß das
„Mitleid, welches ſie verdienen, den Unwillen
„überwältigen, den du darüber empfindeſt, daß
„ich es bin, der ſie führet.„ Der Königinn
gefällt das Lied; und Eſſex findet es bequem,
ihr durch daſſelbe, auf eine verſteckte Weiſe,
ſeine Liebe zu erklären. Er ſagt, er habe es
gloſſiret, (*) und bittet um Erlaubniß, ihr ſeine
Gloſſe
[87] Gloſſe vorſagen zu dürfen. Jn dieſer Gloſſe
beſchreibt er ſich als den zärtlichſten Liebhaber,
dem es aber die Ehrfurcht verbiethe, ſich dem
geliebten Gegenſtande zu entdecken. Die Kö-
niginn
(*)
[88] niginn lobt ſeine Poeſie: aber ſie mißbilliget
ſeine Art zu lieben. „Eine Liebe, ſagt ſie unter
andern, die man verſchweigt, kann nicht groß
ſeyn; denn Liebe wächſt nur durch Gegenliebe,
und der Gegenliebe macht man ſich durch das
Schweigen muthwillig verluſtig.„
Ham-
[[89]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und ſechzigſtes Stück.
Der Graf verſetzt, daß die vollkommenſte
Liebe die ſey, welche keine Belohnung
erwarte; und Gegenliebe ſey Belohnung.
Sein Stillſchweigen ſelbſt mache ſein Glück:
denn ſo lange er ſeine Liebe verſchweige, ſey ſie
noch unverworfen, könne er ſich noch von der
ſüßen Vorſtellung täuſchen laſſen, daß ſie viel-
leicht dürfe genehmiget werden. Der Unglück-
liche ſey glücklich, ſo lange er noch nicht wiſſe,
wie unglücklich er ſey. (*) Die Königinn wider-
legt
[90] legt dieſe Sophiſtereyen als eine Perſon, der
ſelbſt daran gelegen iſt, daß Eſſex nicht länger
darnach handle: und Eſſex, durch dieſe Wider-
legung erdreiſtet, iſt im Begriff, das Bekennt-
niß zu wagen, von welchem die Königinn be-
hauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weiſe
wagen müſſe; als Blanca hereintritt, den Her-
zog anzumelden. Dieſe Erſcheinung der Blanca
bewirkt einen von den ſonderbarſten Theater-
ſtreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um,
die ſie dem Coſme abgenommen, welches zwar
die Königinn, aber nicht Eſſex gewahr wird. (*)
Eſſex.
[91]
So ſey es gewagt! — Friſch! Sie er-
muntert mich ſelbſt. Warum will ich an der Krauk-
heit ſterben, wenn ich an dem Hülfsmittel ſterben
kann? Was fürchte ich noch? — Königinn, wann
denn alſo, —
Der Herzog, Jhro Majeſtät, —
Blanca könnte nicht ungelegener kom-
men.
Wartet in dem Vorzimmer, —
Ah! Himmel!
M 2Blan-
[92]
Auf Erlaubniß, —
Was erblicke ich?
Hereintreten zu dürfen.
Sag ihm — Was ſeh
ich! — Sag ihm, er ſoll warten. — Jch komme
von Sinnen! — Geh, ſag ihm das.
Jch gehorche.
Bleib! Komm her! nä-
her! —
Was befehlen Jhro Majeſtät? —
O, ganz gewiß! — Sage
ihm — Es iſt kein Zweifel mehr! — Geh, unter-
halte ihn einen Augenblick, — Weh mir! — Bis
ich ſelbſt zu ihm herauskomme. Geh, laß mich!
Was iſt das? — Jch gehe.
Blanca iſt weg. Jch kann nun wie:
der fortfahren, —
Die
[93]
Ha, Eiferſucht!
Mich zu erklären. — Was ich wage,
wage ich auf ihre eigene Ueberredung.
Mein Geſchenk in fremden
Händen! Bey Gott! — Aber ich muß mich ſchä-
men, daß eine Leidenſchaf[t] ſo viel über mich
vermag!
Wenn denn alſo, — wie Jhre Ma-
jeſtät geſagt, — und wie ich einräumen muß, —
das Glück, welches man durch Furcht erkauft, —
ſehr theuer zu ſtehen kömmt; — wenn man viel
edler ſtirbt: — ſo will auch ich, —
Warum ſagen Sie das,
Graf?
Weil ich hoffe, daß, wann ich —
Warum fürchte ich mich noch? — wann ich Jhro
Majeſtät meine Leidenſchaft bekennte, — daß einige
Liebe —
Was ſagen Sie da, Graf?
An mich richtet ſich das? Wie? Thor! Unſinni-
M 3ger!
(*)
[94] ger! Kennen Sie mich auch? Wiſſen Sie, wer
ich bin? Und wer Sie ſind? Jch muß glauben,
daß Sie den Verſtand verlohren. —
Und ſo fahren Jhro Majeſtät fort, den armen
Grafen auszufenſtern, daß es eine Art hat!
Sie fragt ihn, ob er nicht wiſſe, wie weit der
Himmel über alle menſchliche Erfrechungen er-
haben ſey? Ob er nicht wiſſe, daß der Sturm-
wind, der in den Olymp dringen wolle, auf hal-
bem Wege zurückbrauſen müſſe? Ob er nicht
wiſſe, daß die Dünſte, welche ſich zur Sonne
erhieben, von ihren Stralen zerſtreuet wür-
den? — Wer vom Himmel gefallen zu ſeyn
glaubt, iſt Eſſex. Er zieht ſich beſchämt zurück,
und bittet um Verzeihung. Die Königinn be-
fiehlt ihm, ihr Angeſicht zu meiden, nie ihren
Pallaſt wieder zu betreten, und ſich glücklich zu
ſchätzen, daß ſie ihm den Kopf laſſe, in welchem
ſich ſo eitle Gedanken erzeugen können. (*) Er
entfernt ſich; und die Königinn geht gleichfalls
ab, nicht ohne uns merken zu laſſen, wie we-
nig ihr Herz mit ihren Reden übereinſtimme.
Blanca
[95]
Blanca und der Herzog kommen an ihrer
Statt, die Bühne zu füllen. Blanca hat dem
Herzoge es frey geſtanden, auf welchem Fuße
ſie mit dem Grafen ſtehe; daß er nothwendig
ihr Gemahl werden müſſe, oder ihre Ehre ſey
verlohren. Der Herzog faßt den Entſchluß,
den er wohl faſſen muß; er will ſich ſeiner Liebe
entſchlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten,
verſpricht er ſogar, ſich bey der Königinn ihrer
anzunehmen, wenn ſie ihr die Verbindlichkeit,
die der Graf gegen ſie habe, entdecken wolle.
Die Königinn kömmt bald, in tiefen Gedan-
ken, wieder zurück. Sie iſt mit ſich ſelbſt im
Streit, ob der Graf auch wohl ſo ſchuldig ſey,
als er ſcheine. Vielleicht, daß es eine andere
Schärpe war, die der ihrigen nur ſo ähnlich
iſt. — Der Herzog tritt ſie an. Er ſagt, er
komme, ſie um eine Gnade zu bitten, um welche
ſie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde
ſich näher darüber erklären; er wolle ſie zuſam-
men allein laſſen: und ſo läßt er ſie.
Die Königinn wird neugierig, und Blanca
verwirrt. Endlich entſchließt ſich Blanca, zu
reden. Sie will nicht länger von dem verän-
derlichen Willen eines Mannes abhangen; ſie
will es ſeiner Rechtſchaffenheit nicht länger an-
heim ſtellen, was ſie durch Gewalt erhalten
kann.
[96] kann. Sie flehet die Eliſabeth um Mitleid an:
die Eliſabeth, die Frau; nicht die Königinn.
Denn da ſie eine Schwachheit ihres Geſchlechts
bekennen müſſe: ſo ſuche ſie in ihr nicht die Kö-
niginn, ſondern nur die Frau. (*)
Ham-
[[97]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fünf und ſechzigſtes Stück.
Du? mir eine Schwachheit? fragt die Kö-
niginn.
Schmeicheleyen, Seufzer,
Liebkoſungen, und beſonders Thränen, ſind ver-
mögend, auch die reinſte Tugend zu untergraben.
Wie theuer kömmt mir dieſe Erfahrung zu ſtehen!
Der Graf —
Der Graf? Was für ein
Graf? —
Von Eſſex.
Was höre ich?
Seine verführeriſche Zärtlichkeit —
Der Graf von Eſſex?
Er ſelbſt, Königinn. —
Jch bin des
Todes! — Nun? weiter!
Jch zittere. — Nein, ich darf es
nicht wagen —
NDie
[98]
Die Königinn macht ihr Muth, und lockt ihr
nach und nach mehr ab, als Blanca zu ſagen
brauchte; weit mehr, als ſie ſelbſt zu hören
wünſcht. Sie höret, wo und wie der Graf
glücklich geweſen; (*) und als ſie endlich auch
höret, daß er ihr die Ehe verſprochen, und daß
Blanca auf die Erfüllung dieſes Verſprechens
dringe: ſo bricht der ſo lange zurückgehaltene
Sturm auf einmal aus. Sie verhönet das
leichtgläubige Mädchen auf das empfindlichſte,
und verbiethet ihr ſchlechterdings, an den Grafen
weiter zu denken. Blanca erräth ohne Mühe,
daß dieſer Eifer der Königinn, Eiferſucht ſeyn
müſſe: und giebt es ihr zu verſtehen.
Die Königinn. Eiferſucht? — Nein; blos
deine Aufführung entrüſtet mich. — Und geſetzt, —
ja geſetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich, —
Jch ihn liebte, und eine andere wäre ſo vermeſſen,
ſo thöricht, ihn neben mir zu lieben, — was ſage
ich, zu lieben? — ihn nur anzuſehen, — was ſage
ich, anzuſehen? — ſich nur eine Gedanke von ihm
in den Sinn kommen zu laſſen: das ſollte dieſer an-
dern
[99] dern nicht das Leben koſten? — Du ſieheſt, wie
ſehr mich eine blos vorausgeſetzte, erdichtete Eifer-
ſucht aufbringt: urtheile daraus, was ich bey ei-
ner wahren thun würde. Jtzt ſtelle ich mich nur eifer-
ſüchtig: hüte dich, mich es wirklich zu machen! (*)
N 2Mit
[100]
Mit dieſer Drohung geht die Königinn ab,
und läßt die Blanca in der äußerſten Verzweif-
lung. Dieſes fehlte noch zu den Beleidigungen,
über die ſich Blanca bereits zu beklagen hatte.
Die Königinn hat ihr Vater und Bruder und
Vermögen genommen: und nun will ſie ihr auch
den Grafen nehmen. Die Rache war ſchon be-
ſchloſſen: aber warum ſoll Blanca noch erſt war-
ten, bis ſie ein anderer für ſie vollzieht? Sie
will ſie ſelbſt bewerkſtelligen, und noch dieſen
Abend. Als Kammerfrau der Königinn, muß
ſie ſie auskleiden helfen; da iſt ſie mit ihr allein;
und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen. —
Sie ſieht die Königinn mit dem Kanzler wieder-
kommen, und geht, ſich zu ihrem Vorhaben ge-
faßt zu machen.
Der Kanzler hält verſchiedne Briefſchaften,
die ihm die Königinn nur auf einen Tiſch zu le-
gen befiehlt; ſie will ſie vor Schlafengehen noch
durchſehen. Der Kanzler erhebt die auſſeror-
dentliche Wachſamkeit, mit der ſie ihren Reichs-
geſchäften obliege; die Königinn erkennt es für
ihre Pflicht, und beurlaubet den Kanzler. Nun
iſt ſie allein, und ſetzt ſich zu den Papieren. Sie
will ſich ihres verliebten Kummers entſchlagen,
und anſtändigern Sorgen überlaſſen. Aber das
erſte Papier, was ſie in die Hände nimt, iſt die
Bittſchrift eines Grafen Felix. Eines Grafen!
„Muß es denn eben, ſagt ſie, von einem Gra-
fen
[101] fen ſeyn, was mir zuerſt vorkömmt!„ Die-
ſer Zug iſt vortrefflich. Auf einmal iſt ſie wie-
der mit ihrer ganzen Seele bey demjenigen Gra-
fen, an den ſie itzt nicht denken wollte. Seine
Liebe zur Blanca iſt ein Stachel in ihrem Her-
zen, der ihr das Leben zur Laſt macht. Bis ſie
der Tod von dieſer Marter befreye, will ſie bey
dem Bruder des Todes Linderung ſuchen: und
ſo fällt ſie in Schlaf.
Jndem tritt Blanca herein, und hat eine von
den Piſtolen des Grafen, die ſie in ihrem Zim-
mer gefunden. (Der Dichter hatte ſie, zu An-
fange dieſes Akts, nicht vergebens dahin tragen
laſſen.) Sie findet die Königinn allein und ent-
ſchlafen: was für einen bequemern Augenblick
könnte ſie ſich wünſchen? Aber eben hat der
Graf die Blanca geſucht, und ſie in ihrem Zim-
mer nicht getroffen. Ohne Zweifel erräth man,
was nun geſchieht. Er kömmt alſo, ſie hier zu
ſuchen; und kömmt eben noch zurecht, der
Blanca in den mörderiſchen Arm zu fallen, und
ihr die Piſtole, die ſie auf die Königinn ſchon
geſpannt hat, zu entreiſſen. Jndem er aber
mit ihr ringt, geht der Schuß los: die Königinn
erwacht, und alles kömmt aus dem Schloſſe
herzugelaufen.
Ha! Was
iſt das?
N 3Der
[102]
Herbey, herbey! Was war
das für ein Knall, in dem Zimmer der Königinn?
Was geſchieht hier?
Grauſa-
mer Zufall!
Was iſt das, Graf?
Was ſoll ich thun?
Blanca, was iſt das?
Mein Tod iſt gewiß!
Jn welcher Verwirrung befinde ich
mich!
Wie? der Graf ein Verrä-
ther?
Wozu ſoll ich mich ent-
ſchlieſſen? Schweige ich: ſo fällt das Verbrechen
auf mich. Sage ich die Wahrheit: ſo werde ich
der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten,
meiner Blanca, meiner theuerſten Blanca.
Sind Sie der Verräther,
Graf? Biſt du es, Blanca? Wer von euch war
mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich
hörte im Schlafe euch beide rufen: Verrätherinn!
Verräther! Und doch kann nur eines von euch die-
ſen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein
Leben ſuchte, ſo bin ich es dem andern ſchuldig.
Wem bin ich es ſchuldig, Graf? Wer ſuchte es,
Blanca? Jhr ſchweigt? — Wohl, ſchweigt nur!
Jch will in dieſer Ungewißheit bleiben; ich will den
Unſchuldigen nicht wiſſen, um den Schuldigen nicht
zu
[103] zu kennen. Vielleicht dürfte es mich eben ſo ſehr
ſchmerzen, meinen Beſchützer zu erfahren, als mei-
nen Feind. Jch will der Blanca gern ihre Verrä-
therey vergeben, ich will ſie ihr verdanken: wenn
dafür der Graf nur unſchuldig war. (*)
Aber der Kanzler ſagt: wenn es die Königinn
ſchon hierbey wolle bewenden laſſen, ſo dürfe er
es doch nicht; das Verbrechen ſey zu groß; ſein
Amt erfodere, es zu ergründen; beſonders da
aller Anſchein ſich wider den Grafen erkläre.
Der Kanzler hat Recht;
man muß es unterſuchen. — Graf, —
Königinn! —
Die
[104]
Bekennen Sie die Wahr-
heit. —
Aber wie ſehr fürchtet meine
Liebe, ſie zu hören! — War es Blanca?
Jch Unglücklicher!
War es Blanca, die mei-
nen Tod wollte?
Nein, Königinn; Blanca war es nicht.
Sie waren es alſo?
Schreckliches Schickſal! — Jch weiß
nicht.
Sie wiſſen es nicht? — Und
wie kömmt dieſes mörderiſche Werkzeug in ihre
Hand? —
Der Graf ſchweigt, und die Königinn be-
fiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blan-
ca, bis ſich die Sache mehr aufhellet, ſoll in
ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden
abgeführt, und der zweyte Aufzug ſchließt.
Ham-
[[105]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und ſechzigſtes Stück.
Der dritte Aufzug fängt ſich mit einer langen
Monologe der Königinn an, die allen
Scharfſinn der Liebe aufbiethet, den
Grafen unſchuldig zu finden. Die Vielleicht
werden nicht geſparet, um ihn weder als ihren
Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca
denken zu dürfen. Beſonders geht ſie mit den
Vorausſetzungen wider die Blanca ein wenig
ſehr weit; ſie denkt über dieſen Punkt über-
haupt lange ſo zärtlich und ſittſam nicht, als wir
es wohl wünſchen möchten, und als ſie auf un-
ſern Theatern denken müßte. (*)
Es
[106]
Es kommen der Herzog, und der Kanzler: je-
ner, ihr ſeine Freude über die glückliche Erhal-
tung ihres Lebens zu bezeigen; dieſer, ihr einen
neuen Beweis, der ſich wider den Eſſex äußert,
vorzulegen. Auf der Piſtole, die man ihm
aus der Hand genommen, ſteht ſein Name; ſie
gehört ihm; und wem ſie gehört, der hat ſie un-
ſtreitig auch brauchen wollen.
Doch nichts ſcheinet den Eſſex unwiderſprech-
licher zu verdammen, als was nun erfolgt.
Coſme hat, bey anbrechendem Tage, mit dem
bewußten Briefe nach Schottland abgehen wol-
len, und iſt angehalten worden. Seine Reiſe
ſieht einer Flucht ſehr ähnlich, und eine ſolche
Flucht läßt vermuthen, daß er an dem Verbre-
chen ſeines Herrn Antheil könne gehabt haben.
Er wird alſo vor den Kanzler gebracht, und die
Königinn beſiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu
verhören. Den Ton, in welchem ſich Coſme
rechtfertiget, kann man leicht errathen. Er
weiß von nichts; und als er ſagen ſoll, wo er
hin-
(*)
[107] hingewollt, läßt er ſich um die Wahrheit nicht
lange nöthigen. Er zeigt den Brief, den ihm
ſein Graf, an einen andern Grafen nach Schott-
land zu überbringen befohlen: und man weiß,
was dieſer Brief enthält. Er wird geleſen, und
Coſme erſtaunt nicht wenig, als er hört, wohin
es damit abgeſehen geweſen. Aber noch mehr
erſtaunt er über den Schluß deſſelben, worinn
der Ueberbringer ein Vertrauter heißt, durch
den Roberto ſeine Antwort ſicher beſtellen könne.
„Was höre ich? ruft Coſme. Jch ein Ver-
„trauter? Bey dieſem und jenem! ich bin kein
„Vertrauter; ich bin niemals einer geweſen,
„und will auch in meinem Leben keiner ſeyn. —
„Habe ich wohl das Anſehen zu einem Vertrau-
„ten? Jch möchte doch wiſſen, was mein Herr
„an mir gefunden hätte, um mich dafür zu neh-
„men. Jch, ein Vertrauter, ich, dem das
„geringſte Geheimniß zur Laſt wird? Jch weiß,
„zum Exempel, daß Blanca und mein Herr
„einander lieben, und daß ſie heimlich mit ein-
„ander verheyrathet ſind: es hat mir ſchon lan-
„ge das Herz abdrücken wollen; und nun will
„ich es nur ſagen, damit ſie hübſch ſehen, meine
„Herren, was für ein Vertrauter ich bin.
„Schade, daß es nicht etwas viel wichtigeres
„iſt: ich würde es eben ſo wohl ſagen.„ (*)
O 2Dieſe
[108] Dieſe Nachricht ſchmerzt die Königinn nicht we-
niger, als die Ueberzeugung, zu der ſie durch
den unglücklichen Brief von der Verrätherey
des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun
auch ſein Stillſchweigen brechen zu müſſen, und
der Königinn nicht länger zu verbergen, was er
in dem Zimmer der Blanca zufälliger Weiſe an-
gehört habe. Der Kanzler dringt auf die Be-
ſtrafung des Verräthers, und ſobald die Kö-
niginn wieder allein iſt, reitzen ſie ſowohl belei-
digte Majeſtät, als gekränkte Liebe, des Gra-
fen Tod zu beſchließen.
Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm, in
das Gefängniß. Der Kanzler kömmt und eröfnet
dem Grafen, daß ihn das Parlament für ſchul-
dig erkannt, und zum Tode verurtheilet habe,
wel-
(*)
[109] welches Urtheil morgen des Tages vollzogen wer-
den ſolle. Der Graf betheuert ſeine Unſchuld.
Jhre Unſchuld, Mylord,
wollte ich gern glauben: aber ſo viele Beweiſe wi-
der Sie! — Haben Sie den Brief an den Roberto
nicht geſchrieben? Jſt es nicht Jhr eigenhändiger
Name?
Allerdings iſt er es.
Hat der Herzog von Alanzon
Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdrück-
lich den Tod der Königinn beſchließen hören?
Was er gehört hat, hat er freylich ge-
hört.
Sahe die Königinn, als ſie
erwachte, nicht die Piſtole in Jhrer Hand? Gehört
die Piſtole, auf der Jhr Name geſtochen, nicht
Jhnen?
Jch kann es nicht leugnen.
So ſind Sie ja ſchuldig.
Das leugne ich.
Nun, wie kamen Sie denn
dazu, daß Sie den Brief an den Roberto ſchrie-
ben?
Jch weiß nicht.
Wie kam es denn, daß der
Herzog den verrätheriſchen Vorſatz aus Jhrem
eignen Munde vernehmen mußte?
Weil es der Himmel ſo wollte.
O 3Der
[110]
Wie kam es denn, daß ſich
das mörderiſche Werkzeug in Jhren Händen fand?
Weil ich viel Unglück habe.
Wenn alles das Unglück, und
nicht Schuld iſt: wahrlich, Freund, ſo ſpielet
Jhnen Jhr Schickſal einen harten Streich. Sie
werden ihn mit Jhrem Kopfe bezahlen müſſen.
Schlimm genug. (*)
„Wiſſen Jhro Gnaden nicht, fragt Coſme,
der dabey iſt, „ob ſie mich etwa mit hängen
„wer-
[111] „werden?„ Der Kanzler antwortet Nein, weil
ihn ſein Herr hinlänglich gerechtfertiget habe;
und der Graf erſucht den Kanzler, zu verſtatten,
daß er die Blanca noch vor ſeinem Tode ſprechen
dürfe. Der Kanzler betauert, daß er, als
Richter, ihm dieſe Bitte verſagen müſſe; weil
beſchloſſen worden, ſeine Hinrichtung ſo heim-
lich, als möglich, geſchehen zu laſſen, aus
Furcht vor den Mitverſchwornen, die er viel-
leicht ſowohl unter den Großen, als unter dem
Pöbel
(*)
[112] Pöbel in Menge haben möchte. Er ermahnt
ihn, ſich zum Tode zu bereiten, und geht ab.
Der Graf wünſchte blos deswegen die Blanca
noch einmal zu ſprechen, um ſie zu ermahnen,
von ihrem Vorhaben abzuſtehen. Da er es
nicht mündlich thun dürfen, ſo will er es ſchrift-
lich thun. Ehre und Liebe verbinden ihn, ſein
Leben für ſie hinzugeben; bey dieſem Opfer, das
die Verliebten alle auf der Zunge führen, das
aber nur bey ihm zur Wirklichkeit gelangt, will
er ſie beſchwören, es nicht fruchtlos bleiben zu
laſſen. Es iſt Nacht; er ſetzt ſich nieder zu
ſchreiben, und befiehlt Coſmen, den Brief, den
er ihm hernach geben werde, ſogleich nach ſeinem
Tode der Blanca einzuhändigen. Coſme geht
ab, um indeß erſt auszuſchlafen.
Ham-
[[113]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und ſechzigſtes Stück.
Run folgt eine Scene, die man wohl ſchwer-
lich erwartet hätte. Alles iſt ruhig und
ſtille, als auf einmal eben die Dame,
welcher Eſſex in dem erſten Akte das Leben ret-
tete, in eben dem Anzuge, die halbe Maſke auf
dem Geſichte, mit einem Lichte in der Hand,
zu dem Grafen in das Gefängniß hereintritt.
Es iſt die Königinn. „Der Graf, ſagt ſie vor
ſich im Hereintreten, „hat mir das Leben erhal-
„ten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der
„Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das
„ſchreyet um Rache. Durch ſeine Verurthei-
„lung iſt der Gerechtigkeit ein Genüge geſche-
„hen: nun geſchehe es auch der Dankbarkeit
„und Liebe!„ (*) Jndem ſie näher kömmt,
wird
[114] wird ſie gewahr, daß der Graf ſchreibt. „Ohne
„Zweifel, ſagt ſie, „an ſeine Blanca! Was
„ſchadet das? Jch komme aus Liebe, aus der
„feurigſten, uneigennützigſten Liebe: itzt ſchweige
„die Eiferſucht! — Graf!„ — Der Graf hört
ſich rufen, ſieht hinter ſich, und ſpringt voller Er-
ſtaunen auf. „Was ſeh ich!„ — „Keinen
„Traum, fährt die Königinn fort, „ſondern
„die Wahrheit. Eilen Sie, ſich davon zu
„überzeugen, und laſſen Sie uns koſtbare Au-
„genblicke nicht mit Zweifeln verlieren. — Sie
„erinnern ſich doch meiner? Jch bin die, der
„Sie das Leben gerettet. Jch höre, daß Sie
„morgen ſterben ſollen; und ich komme, Jhnen
„meine Schuld abzutragen, Jhnen Leben für
„Leben zu geben. Jch habe den Schlüſſel des
„Gefängniſſes zu bekommen gewußt. Fragen
„Sie mich nicht, wie? Hier iſt er; nehmen
„Sie; er wird Jhnen die Pforte in den Park
„eröfnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten
„Sie ein Leben, das mir ſo theuer iſt.„ —
Theuer? Jhnen, Madame?
Die
[115]
Würde ich ſonſt ſo viel ge-
wagt haben, als ich wage?
Wie ſinnreich iſt das Schickſal, das
mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch
mein Glück ſelbſt unglücklich zu machen. Jch
ſcheine glücklich, weil die mich zu befreyen kömmt,
die meinen Tod will: aber ich bin um ſo viel un-
glücklicher, weil die meinen Tod will, die meine
Freyheit mir anbiethet. — (*)
Die Königinn verſtehet hieraus genugſam,
daß ſie Eſſex kennet. Er verweigert ſich der
Gnade, die ſie ihm angetragen, gänzlich; aber
er bittet, ſie mit einer andern zu vertauſchen.
Und mit welcher?
Mit der, Madame, von der ich weiß,
daß ſie in Jhrem Vermögen ſteht, — mit der Gna-
de, mir das Angeſicht meiner Königinn ſehen zu
laſſen. Es iſt die einzige, um die ich es nicht zu
klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für
Sie gethan habe. Bey dem Leben, das ich Jhnen ge-
P 2ret-
[116] rettet, beſchwöre ich Sie, Madame, mir dieſe
Gnade zu erzeigen.
Was ſoll ich thun?
Vielleicht, wenn er mich ſieht, daß er ſich recht-
fertiget! Das wünſche ich ja nur.
Verzögern Sie mein Glück nicht,
Madame.
Wenn Sie es denn durch-
aus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erſt
dieſen Schlüſſel; von ihm hängt Jhr Leben ab.
Was ich itzt für Sie thun darf, könnte ich hernach
vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie
geſichert wiſſen. (*)
Jch erkenne
dieſe Vorſicht mit Dank. — Und nun, Madame, —
ich brenne, mein Schickſal auf dem Angeſichte der
Königinn, oder dem Jhrigen zu leſen.
Die
[117]
Graf, ob beide gleich eines
ſind, ſo gehört doch nur das, welches Sie noch
ſehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun
erblicken,
iſt der Kö-
niginn. Jenes, mit welchem ich Sie erſt ſprach, iſt
nicht mehr.
Nun ſterbe ich zufrieden! Zwar iſt es
das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden
Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und
auch mir müßte dieſe Wohlthat des Geſetzes zu
Statten kommen. Doch ich will weniger hierzu,
als zu mir ſelbſt, meine Zuflucht nehmen. Jch will
es wagen, meine Königinn an die Dienſte zu erin-
nern, die ich ihr und dem Staate geleiſtet — (*)
An dieſe habe ich mich
ſchon ſelbſt erinnert. Aber Jhr Verbrechen, Graf,
iſt größer als Jhre Dienſte.
P 3Eſſex.
[118]
Und ich habe mir nichts von der Huld
meiner Königinn zu verſprechen?
Nichts.
Wenn die Königinn ſo ſtreng iſt, ſo
rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet.
Dieſe wird doch wohl gütiger mit mir verfahren?
Dieſe hat ſchon mehr ge-
than, als ſie ſollte: ſie hat Jhnen den Weg geöfnet,
der Gerechtigkeit zu entfliehen.
Und mehr habe ich um Sie nicht ver-
dient, um Sie, die mir Jhr Leben ſchuldig iſt?
Sie haben ſchon gehört,
daß ich dieſe Dame nicht bin. Aber geſetzt ich wäre
es: gebe ich Jhnen nicht eben ſo viel wieder, als
ich von Jhnen empfangen habe?
Wo das? Dadurch doch wohl nicht,
daß Sie mir den Schlüſſel gegeben?
Dadurch allerdings.
Der Weg, den mir dieſer Schlüſſel
eröfnen kann, iſt weniger der Weg zum Leben,
als zur Schande. Was meine Freyheit bewirken
ſoll, muß nicht meiner Furchtſamkeit zu dienen ſchei-
nen. Und doch glaubt die Königinn, mich mit die-
ſem Schlüſſel, für die Reiche, die ich ihr erfochten,
für das Blut, das ich um ſie vergoſſen, für das
Leben, das ich ihr erhalten, mich mit dieſem elen-
den
[119] den Schlüſſel für alles das abzulohnen? (*) Jch
will mein Leben einem anſtändigern Mittel zu
danken haben, oder ſterben.
ſter geht)
Wo gehen Sie hin?
Nichtswürdiges Werkzeug meines Le-
bens, und meiner Entehrung! Wenn bey dir alle
meine Hoffnung beruhet, ſo empfange die Fluth,
in ihrem tiefſten Abgrunde, alle meine Hoffnung!
das Gitter in den Kanal)
Durch die Flucht, wäre mein
Leben viel zu theuer erkauft. (**)
Die
[120]
Was haben Sie gethan,
Graf? — Sie haben ſehr übel gethan.
Wann ich ſterbe: ſo darf ich wenigſtens
laut ſagen, daß ich eine undankbare Königinn hin-
terlaſſe. — Will ſie aber dieſen Vorwurf nicht: ſo
denke ſie auf ein anderes Mittel, mich zu retten.
Dieſes unanſtändigere habe ich ihr genommen. Jch
berufe mich nochmals auf meine Dienſte: es ſteht
bey ihr ſie zu belohnen, oder mit dem Andenken
derſelben ihren Undank zu verewigen.
Jch muß das letztere Ge-
fahr laufen. — Denn wahrlich, mehr konnte ich,
ohne Nachtheil meiner Würde, für Sie nicht thun.
So muß ich dann ſterben?
Ohnfehlbar. Die Frau
wollte Sie retten; die Königinn muß dem Rechte
ſeinen Lauf laſſen. Morgen müſſen Sie ſterben;
und es iſt ſchon morgen. Sie haben mein ganzes
Mitleid; die Wehmuth bricht mir das Herz; aber
es iſt nun einmal das Schickſal der Könige, daß ſie
viel weniger nach ihren Empfindungen handeln kön-
nen, als andere. — Graf, ich empfehle Sie der
Vorſicht! —
Ham-
[[121]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und ſechzigſtes Stück.
Noch einiger Wortwechſel zum Abſchiede,
noch einige Ausrufungen in der Stille:
und beide, der Graf und die Königinn,
gehen ab; jedes von einer beſondern Seite.
Jm Herausgehen, muß man ſich einbilden, hat
Eſſex Coſmen den Brief gegeben, den er an die
Blanca geſchrieben. Denn den Augenblick dar-
auf kömmt dieſer damit herein, und ſagt, daß
man ſeinen Herrn zum Tode führe; ſobald es
damit vorbey ſey, wolle er den Brief, ſo wie er
es verſprochen, übergeben. Jndem er ihn aber
anſieht, erwacht ſeine Neugierde. „Was mag
„dieſer Brief wohl enthalten? Eine Ehever-
„ſchreibung? die käme ein wenig zu ſpät. Die
„Abſchrift von ſeinem Urtheile? die wird er doch
„nicht der ſchicken, die es zur Wittwe macht.
„Sein Teſtament? auch wohl nicht. Nun was
„denn?„ Er wird immer begieriger; zugleich
Qfällt
[122] fällt ihm ein, wie es ihm ſchon einmal faſt das
Leben gekoſtet hätte, daß er nicht gewußt, was
in dem Briefe ſeines Herrn ſtünde. „Wäre ich
„nicht, ſagt er, bey einem Haare zum Ver-
„trauten darüber geworden? Hohl der Geyer
„die Vertrautſchaft! Nein, das muß mir nicht
„wieder begegnen!„ Kurz, Coſme beſchließt,
den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Na-
türlich, daß ihn der Jnhalt äußerſt betroffen
macht; er glaubt, ein Papier, das ſo wichtige
und gefährliche Dinge enthalte, nicht geſchwind
genug los werden zu können; er zittert über den
bloßen Gedanken, daß man es in ſeinen Händen
finden könne, ehe er es freywillig abgeliefert;
und eilet, es geraden Weges der Königinn zu
bringen.
Eben kömmt die Königinn mit dem Kanzler
heraus. Coſme will ſie den Kanzler nur erſt
abfertigen laſſen; und tritt bey Seite. Die
Königinn ertheilt dem Kanzler den letzten Be-
fehl zur Hinrichtung des Grafen; ſie ſoll ſogleich,
und ganz in der Stille vollzogen werden; das
Volk ſoll nichts davon erfahren, bis der ge-
köpfte Leichnam ihm mit ſtummer Zunge Treue
und Gehorſam zurufe. (*) Den Kopf ſoll der
Kanzler in den Saal bringen, und, nebſt dem
bluti-
[123] blutigen Beile, unter einen Teppich legen laſſen;
hierauf die Großen des Reichs verſammeln, um
ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen,
zugleich ſie an dieſem Beyſpiele ihrer Pflicht zu
erinnern, und ihnen einzuſchärfen, daß ihre
Königinn eben ſo ſtrenge zu ſeyn wiſſe, als ſie
gnädig ſeyn zu können wünſche: und das alles,
wie ſie der Dichter ſagen läßt, nach Gebrauch
und Sitte des Landes. (*)
Der Kanzler geht mit dieſen Befehlen ab,
und Coſme tritt die Königinn an. „Dieſen
„Brief, ſagt er, „hat mir mein Herr gegeben,
Q 2„ihn
[124] „ihn nach ſeinem Tode der Blanca einzuhändi-
„gen. Jch habe ihn aufgemacht, ich weiß ſelbſt
„nicht warum; und da ich Dinge darinn finde,
„die Jhro Majeſtät wiſſen müſſen, und die dem
„Grafen vielleicht noch zu Statten kommen
„können: ſo bringe ich ihn Jhro Majeſtät, und
„nicht der Blanca.„ Die Königinn nimt den
Brief, und lieſet: „Blanca, ich nahe mich
„meinem letzten Augenblicke; man will mir
„nicht vergönnen, mit dir zu ſprechen: em-
„pfange alſo meine Ermahnung ſchriftlich. Aber
„vors erſte lerne mich kennen; ich bin nie der
„Verräther geweſen, der ich dir vielleicht ge-
„ſchienen; ich verſprach, dir in der bewußten
„Sache behülflich zu ſeyn, blos um der Kö-
„niginn deſto nachdrücklicher zu dienen, und
„den Roberto, nebſt ſeinen Anhängern, nach
„London zu locken. Urtheile, wie groß meine
„Liebe iſt, da ich dem ohngeachtet eher ſelbſt
„ſterben, als dein Leben in Gefahr ſetzen will.
„Und nun die Ermahnung: ſtehe von dem Vor-
„haben ab, zu welchem dich Roberto anreitzet;
„du haſt mich nun nicht mehr; und es möchte
„ſich nicht alle Tage einer finden, der dich ſo
„ſehr liebte, daß er den Tod des Verräthers für
„dich ſterben wollte.„ (*) —
Menſch!
[125]
Menſch! ruft die beſtürzte Königinn, was
haſt du mir da gebracht? Nun? ſagt Coſme,
bin ich noch ein Vertrauter? — „Eile, fliehe,
deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler,
einzuhalten! — Holla, Wache! bringt ihn
augenblicklich vor mich, — den Grafen, —
geſchwind!„ — Und eben wird er gebracht:
ſein Leichnam nehmlich. So groß die Freude
war, welche die Königinn auf einmal über-
ſtrömte, ihren Grafen unſchuldig zu wiſſen: ſo
Q 3groß
(*)
[126] groß ſind nunmehr Schmerz und Wuth, ihn
hingerichtet zu ſehen. Sie verflucht die Eilfer-
tigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen:
und Blanca mag zittern! —
So ſchließt ſich dieſes Stück, bey welchem
ich meine Leſer vielleicht zu lange aufgehalten
habe. Villeicht auch nicht. Wir ſind mit den
dramatiſchen Werken der Spanier ſo wenig be-
kannt; ich wüßte kein einziges, welches man
uns überſetzt, oder auch nur Auszugsweiſe
mitgetheilet hätte. Denn die Virgina des Au-
guſtino de Montiano y Luyando iſt zwar ſpa-
niſch geſchrieben; aber kein ſpaniſches Stück:
ein bloßer Verſuch in der correcten Manier der
Franzoſen, regelmäßig aber froſtig. Jch be-
kenne ſehr gern, daß ich bey weiten ſo vortheil-
haft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehe-
dem muß gedacht haben. (*) Wenn das zweyte
Stück des nehmlichen Verfaſſers nicht beſſer
gerathen iſt; wenn die neueren Dichter der
Nation, welche eben dieſen Weg betreten wol-
len, ihn nicht glücklicher betreten haben: ſo
mögen ſie mir es nicht übel nehmen, wenn ich
noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Cal-
deron greife, als nach ihnen.
Die
[127]
Die echten ſpaniſchen Stücke ſind vollkom-
men nach der Art dieſes Eſſex. Jn allen einer-
ley Fehler, und einerley Schönheiten: mehr
oder weniger; das verſteht ſich. Die Fehler
ſpringen in die Augen: aber nach den Schön-
heiten dürfte man mich fragen. — Eine ganz
eigne Fabel; eine ſehr ſinnreiche Verwicklung;
ſehr viele, und ſonderbare, und immer neue
Theaterſtreiche; die ausgeſparteſten Situatio-
nen; meiſtens ſehr wohl angelegte und bis ans
Ende erhaltene Charaktere; nicht ſelten viel
Würde und Stärke im Ausdrucke. —
Das ſind allerdings Schönheiten: ich ſage
nicht, daß es die höchſten ſind; ich leugne nicht,
daß ſie zum Theil ſehr leicht bis in das Roma-
nenhafte, Abentheuerliche, Unnatürliche, kön-
nen getrieben werden, daß ſie bey den Spaniern
von dieſer Uebertreibung ſelten frey ſind. Aber
man nehme den meiſten franzöſiſchen Stücken
ihre mechaniſche Regelmäßigkeit: und ſage mir,
ob ihnen andere, als Schönheiten ſolcher Art,
übrig bleiben? Was haben ſie ſonſt noch viel
Gutes, als Verwicklung, und Theaterſtreiche
und Situationen?
Anſtändigkeit: wird man ſagen. — Nun
ja; Anſtändigkeit. Alle ihre Verwicklungen
ſind anſtändiger, und einförmiger; alle ihre
Theater-
[128] Theaterſtreiche anſtändiger, und abgedroſchner;
alle ihre Situationen anſtändiger, und ge-
zwungner. Das kömmt von der Anſtändigkeit!
Aber Coſme, dieſer ſpaniſche Hanswurſt;
dieſe ungeheure Verbindung der pöbelhafteſten
Poſſen mit dem feyerlichſten Ernſte; dieſe Ver-
miſchung des Komiſchen und Tragiſchen, durch
die das ſpaniſche Theater ſo berüchtiget iſt? Jch
bin weit entfernt, dieſe zu vertheidigen. Wenn
ſie zwar blos mit der Anſtändigkeit ſtritte, —
man verſteht ſchon, welche Anſtändigkeit ich
meine; — wenn ſie weiter keinen Fehler hätte,
als daß ſie die Ehrfurcht beleidigte, welche die
Großen verlangen, daß ſie der Lebensart, der
Etiquette, dem Ceremoniel, und allen den
Gauckeleyen zuwiderlief, durch die man den
größern Theil der Menſchen bereden will, daß
es einen kleinern gäbe, der von weit beſſerm
Stoffe ſey, als er: ſo würde mir die unſinnigſte
Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aber-
witz auf Ernſt, von Schwarz auf Weiß, will-
kommner ſeyn, als die kalte Einförmigkeit,
durch die mich der gute Ton, die feine Welt,
die Hofmanier, und wie dergleichen Armſelig-
keiten mehr heiſſen, unfehlbar einſchläfert.
Doch es kommen ganz andere Dinge hier in
Betrachtung.
Ham-
[[129]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und ſechzigſtes Stück.
Lope de Vega, ob er ſchon als der Schöpfer
des ſpaniſchen Theaters betrachtet wird,
war es indeß nicht, der jenen Zwitterton
einführte. Das Volk war bereits ſo daran ge-
wöhnt, daß er ihn wider Willen mit anſtimmen
mußte. Jn ſeinem Lehrgedichte, über die
Kunſt, neue Komödien zu machen, deſſen ich
oben ſchon gedacht, jammert er genug darüber.
Da er ſahe, daß es nicht möglich ſey, nach den
Regeln und Muſtern der Alten für ſeine Zeitge-
noſſen mit Beyfall zu arbeiten: ſo ſuchte er der
Regelloſigkeit wenigſtens Grenzen zu ſetzen;
das war die Abſicht dieſes Gedichts. Er dach-
te, ſo wild und barbariſch auch der Geſchmack
der Nation ſey, ſo müſſe er doch ſeine Grund-
ſätze haben; und es ſey beſſer, auch nur nach
dieſen mit einer beſtändigen Gleichförmigkeit zu
handeln, als nach gar keinen. Stücke, welche
Rdie
[130] die klaſſiſchen Regeln nicht beobachten, können
doch noch immer Regeln beobachten, und müſ-
ſen dergleichen beobachten, wenn ſie gefallen
wollen. Dieſe alſo, aus dem bloßen Natio-
nalgeſchmacke hergenommen, wollte er feſtſetzen;
und ſo ward die Verbindung des Ernſthaften
und Lächerlichen die erſte.
„Auch Könige, ſagt er, könnet ihr in euern
„Komödien auftreten laſſen. Jch höre zwar,
„daß unſer weiſer Monarch (Philipp der zwey-
„te) dieſes nicht gebilliget; es ſey nun, weil er
„einſahe, daß es wider die Regeln laufe, oder
„weil er es der Würde eines Königes zuwider
„glaubte, ſo mit unter den Pöbel gemengt zu
„werden. Jch gebe auch gern zu, daß dieſes
„wieder zur älteſten Komödie zurückkehren heißt,
„die ſelbſt Götter einführte; wie unter andern
„in dem Amphitruo des Plautus zu ſehen: und
„ich weiß gar wohl, daß Plutarch, wenn er von
„Menandern redet, die älteſte Komödie nicht
„ſehr lobt. Es fällt mir alſo freylich ſchwer,
„unſere Mode zu billigen. Aber da wir uns
„nun einmal in Spanien ſo weit von der Kunſt
„entfernen: ſo müſſen die Gelehrten ſchon auch
„hierüber ſchweigen. Es iſt wahr, das Ko-
„miſche mit dem Tragiſchen vermiſchet, Seneca
„mit dem Terenz zuſammengeſchmolzen, giebt
„kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus
„der
[131] „der Paſiphae war. Doch dieſe Abwechſelung
„gefällt nun einmal; man will nun einmal keine
„andere Stücke ſehen, als die halb ernſthaft
„und halb luſtig ſind; die Natur ſelbſt lehrt uns
„dieſe Mannigfaltigkeit, von der ſie einen Theil
„ihrer Schönheit entlehnet.„ (*)
R 2Die
[132]
Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe
Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die
Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge-
meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und
Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum
Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es
wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich
vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner
Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen,
daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn
nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah-
mung der Natur iſt.
„Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten
Scribenten, „an Shakeſpear, — demjenigen un-
„ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen,
„vom Könige bis zum Bettler, und von Julius
„Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt,
„und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui-
„tion durch und durch geſehen hat, — daß ſeine
„Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler-
„haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne-
„nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches
„darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander
„geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die
„uns durch die rührende Sprache der Natur,
„Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen
„Augenblicken darauf uns durch irgend einen
„ſeltſamen Einfall oder barokiſchen Ausdruck
„ihrer
[133] „ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht,
„doch dergeſtalt abkühlt, daß es ihm hernach
„ſehr ſchwer wird, uns wieder in die Faſſung zu
„ſetzen, worinn er uns haben möchte. — Man
„tadelt das, und denkt nicht daran, daß ſeine
„Stücke eben darinn natürliche Abbildungen
„des menſchlichen Lebens ſind.„
„Das Leben der meiſten Menſchen, und (wenn
„wir es ſagen dürfen) der Lebenslauf der großen
„Staatskörper ſelbſt, in ſo fern wir ſie als eben
„ſo viel moraliſche Weſen betrachten, gleicht den
„Haupt- und Staats-Actionen im alten gothi-
„ſchen Geſchmacke in ſo vielen Punkten, daß
„man beynahe auf die Gedanken kommen möchte,
„die Erfinder dieſer letztern wären klüger geweſen,
„als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern
„ſie nicht gar die heimliche Abſicht gehabt, das
„menſchliche Leben lächerlich zu machen, wenig-
„ſtens die Natur eben ſo getreu nachahmen wol-
„len, als die Griechen ſich angelegen ſeyn lieſſen,
„ſie zu verſchönern. Um itzt nichts von der zu-
„fälligen Aehnlichkeit zu ſagen, daß in dieſen
„Stücken, ſo wie im Leben, die wichtigſten
„Rollen ſehr oft gerade durch die ſchlechteſten
„Acteurs geſpielt werden, — was kann ähnlicher
„ſeyn, als es beide Arten der Haupt- und Staats-
„Actionen einander in der Anlage, in der Ab-
„theilung und Diſpoſition der Scenen, im Kno-
R 3„ten
[134] „ten und in der Entwicklung zu ſeyn pflegen.
„Wie ſelten fragen die Urheber der einen und
„der andern ſich ſelbſt, warum ſie dieſes oder
„jenes gerade ſo und nicht anders gemacht ha-
„ben? Wie oft überraſchen ſie uns durch Bege-
„benheiten, zu denen wir nicht im mindeſten
„vorbereitet waren? Wie oft ſehen wir Perſo-
„nen kommen und wieder abtreten, ohne daß ſich
„begreifen läßt, warum ſie kamen, oder warum
„ſie wieder verſchwinden? Wie viel wird in bei-
„den dem Zufall überlaſſen? Wie oft ſehen wir
„die größeſten Wirkungen durch die armſeligſten
„Urſachen hervorgebracht? Wie oft das Ernſt-
„hafte und Wichtige mit einer leichtſinnigen Art,
„und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gra-
„vität behandelt? Und wenn in beiden endlich
„alles ſo kläglich verworren und durch einander
„geſchlungen iſt, daß man an der Möglichkeit der
„Entwicklung zu verzweifeln anfängt: wie glück-
„lich ſehen wir durch irgend einen unter Blitz
„und Donner aus papiernen Wolken herabſprin-
„genden Gott, oder durch einen friſchen Degen-
„hieb, den Knoten auf einmal zwar nicht aufge-
„löſet, aber doch aufgeſchnitten, welches in ſo
„fern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder
„die andere Art das Stück ein Ende hat, und
„die Zuſchauer klatſchen oder ziſchen können, wie
„ſie wollen oder — dürfen. Uebrigens weiß man,
„was für eine wichtige Perſon in den komiſchen
„Tra-
[135] „Tragödien, wovon wir reden, der edle Hans-
„wurſt vorſtellt, der ſich, vermuthlich zum ewi-
„gen Denkmal des Geſchmacks unſerer Vorel-
„tern, auf dem Theater der Hauptſtadt des
„deutſchen Reiches erhalten zu wollen ſcheinet.
„Wollte Gott, daß er ſeine Perſon allein auf
„dem Theater vorſtellte! Aber wie viel große
„Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat
„man nicht in allen Zeiten mit Hanswurſt, —
„oder, welches noch ein wenig ärger iſt, durch
„Hanswurſt, — aufführen geſehen? Wie oft ha-
„ben die größeſten Männer, dazu gebohren, die
„ſchützenden Genii eines Throns, die Wohlthä-
„ter ganzer Völker und Zeitalter zu ſeyn, alle
„ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen klei-
„nen ſchnakiſchen Streich von Hanswurſt, oder
„ſolchen Leuten vereitelt ſehen müſſen, welche,
„ohne eben ſein Wamms und ſeine gelben Hoſen
„zu tragen, doch gewiß ſeinen ganzen Charakter
„an ſich trugen? Wie oft entſteht in beiden Ar-
„ten der Tragi-Komödien die Verwicklung ſelbſt
„lediglich daher, daß Hanswurſt durch irgend
„ein dummes und ſchelmiſches Stückchen von
„ſeiner Arbeit den geſcheidten Leuten, eh ſie ſichs
„verſehen können, ihr Spiel verderbt?„ —
Wenn in dieſer Vergleichung des großen und
kleinen, des urſprünglichen und nachgebildeten,
heroiſchen Poſſenſpiels — (die ich mit Vergnü-
gen
[136] gen aus einem Werke abgeſchrieben, welches
unſtreitig unter die vortrefflichſten unſers Jahr-
hunderts gehört, aber für das deutſche Publi-
cum noch viel zu früh geſchrieben zu ſeyn ſcheinet.
Jn Frankreich und England würde es das äuſ-
ſerſte Aufſehen gemacht haben; der Name ſeines
Verfaſſers würde auf aller Zungen ſeyn. Aber
bey uns? Wir haben es, und damit gut. Unſe-
re Großen lernen vors erſte an den *** kauen;
und freylich iſt der Saft aus einem franzöſiſchen
Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr
Gebiß ſchärfer und ihr Magen ſtärker geworden,
wenn ſie indeß Deutſch gelernt haben, ſo kommen
ſie auch wohl einmal über den — Agathon. (*)
Dieſes iſt das Werk von welchem ich rede, von
welchem ich es lieber nicht an dem ſchicklichſten
Orte, lieber hier als gar nicht, ſagen will, wie
ſehr ich es bewundere: da ich mit der äußerſten
Befremdung wahrnehme, welches tiefe Still-
ſchweigen unſere Kunſtrichter darüber beobachten,
oder in welchem kalten und gleichgültigen Tone
ſie davon ſprechen. Es iſt der erſte und einzige
Roman für den denkenden Kopf, von klaſſiſchem
Geſchmacke. Roman? Wir wollen ihm dieſen
Titel nur geben, vielleicht, daß es einige Leſer
mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es
darüber verlieren möchte, an denen iſt ohnedem
nichts gelegen.)
Ham-
[[137]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Siebzigſtes Stück.
Wenn in dieſer Vergleichung, ſage ich, die
ſatyriſche Laune nicht zu ſehr vorſtäche:
ſo würde man ſie für die beſte Schutz-
ſchrift des komiſch tragiſchen, oder tragiſch ko-
miſchen Drama, (Miſchſpiel habe ich es einmal
auf irgend einem Titel genannt gefunden) für
die gefliſſendlichſte Ausführung des Gedankens
beym Lope halten dürfen. Aber zugleich würde
ſie auch die Widerlegung deſſelben ſeyn. Denn
ſie würde zeigen, daß eben das Beyſpiel der
Natur, welches die Verbindung des feyerlichen
Ernſtes mit der poſſenhaften Luſtigkeit rechtfer-
tigen ſoll, eben ſo gut jedes dramatiſche Unge-
heuer, das weder Plan, noch Verbindung,
noch Menſchenverſtand hat, rechtfertigen kön-
ne. Die Nachahmung der Natur müßte folg-
lich entweder gar kein Grundſatz der Kunſt ſeyn;
oder, wenn ſie es doch bliebe, würde durch ihn
Sſelbſt
[138] ſelbſt die Kunſt, Kunſt zu ſeyn aufhören; we-
nigſtens keine höhere Kunſt ſeyn, als etwa die
Kunſt, die bunten Adern des Marmors in Gyps
nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag gerathen,
wie er will, der ſeltſamſte kann ſo ſeltſam nicht
ſeyn, daß er nicht natürlich ſcheinen könnte;
blos und allein der ſcheinet es nicht, bey wel-
chem ſich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaaß
und Verhältniß, zu viel von dem zeiget, was
in jeder andern Kunſt die Kunſt ausmacht; der
künſtlichſte in dieſem Verſtande iſt hier der
ſchlechteſte, und der wildeſte der beſte.
Als Kriticus dürfte unſer Verfaſſer ganz an-
ders ſprechen. Was er hier ſo ſinnreich auf-
ſtützen zu wollen ſcheinet, würde er ohne Zwei-
fel als eine Mißgeburth des barbariſchen Ge-
ſchmacks verdammen, wenigſtens als die erſten
Verſuche der unter ungeſchlachteten Völkern
wieder auflebenden Kunſt vorſtellen, an deren
Form irgend ein Zuſammenfluß gewiſſer äußer-
lichen Urſachen, oder das Ohngefehr, den mei-
ſten, Vernunft und Ueberlegung aber den we-
nigſten, auch wohl ganz und gar keinen Antheil
hatte. Er würde ſchwerlich ſagen, daß die
erſten Erfinder des Miſchſpiels (da das Wort
einmal da iſt, warum ſoll ich es nicht brauchen?)
„die Natur eben ſo getreu nachahmen wollen,
„als die Griechen ſich angelegen ſeyn laſſen, ſie
„zu verſchönern.„
Die
[139]
Die Worte getreu und verſchönert, von der
Nachahmung und der Natur, als dem Gegen-
ſtande der Nachahmung, gebraucht, ſind vielen
Mißdeutungen unterworfen. Es giebt Leute,
die von keiner Natur wiſſen wollen, welche man
zu getreu nachahmen könne; ſelbſt was uns in
der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen
Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es
giebt andere, welche die Verſchönerung der Na-
tur für eine Grille halten; eine Natur, die
ſchöner ſeyn wolle, als die Natur, ſey eben
darum nicht Natur. Beide erklären ſich für
Verehrer der einzigen Natur, ſo wie ſie iſt:
jene finden in ihr nichts zu vermeiden; dieſe
nichts hinzuzuſetzen. Jenen alſo müßte noth-
wendig das gothiſche Miſchſpiel gefallen; ſo wie
dieſe Mühe haben würden, an den Meiſter-
ſtücken der Alten Geſchmack zu finden.
Wann dieſes nun aber nicht erfolgte? Wann
jene, ſo große Bewunderer ſie auch von der ge-
meinſten und alttäglichſten Natur ſind, ſich den-
noch wider die Vermiſchung des Poſſenhaften
und Jntereſſanten erklärten? Wann dieſe, ſo
ungeheuer ſie auch alles finden, was beſſer und
ſchöner ſeyn will, als die Natur, dennoch das
ganze griechiſche Theater, ohne den geringſten
Anſtoß von dieſer Seite, durchwandelten? Wie
wollten wir dieſen Widerſpruch erklären?
S 2Wir
[140]
Wir würden nothwendig zurückkommen, und
das, was wir von beiden Gattungen erſt be-
hauptet, widerrufen müſſen. Aber wie müßten
wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierig-
keiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer
ſolchen Haupt- und Staats-Action, über deren
Güte wir ſtreiten, mit dem menſchlichen Leben,
mit dem gemeinen Laufe der Welt, iſt doch ſo
richtig!
Jch will einige Gedanken herwerfen, die,
wenn ſie nicht gründlich genug ſind, doch gründ-
lichere veranlaſſen können. — Der Hauptge-
danke iſt dieſer: es iſt wahr, und auch nicht
wahr, daß die komiſche Tragödie, gothiſcher
Erfindung, die Natur getreu nachahmet; ſie
ahmet ſie nur in einer Helfte getreu nach, und
vernachläßiget die andere Helfte gänzlich; ſie
ahmet die Natur der Erſcheinungen nach, ohne
im geringſten auf die Natur unſerer Empfin-
dungen und Seelenkräfte dabey zu achten.
Jn der Natur iſt alles mit allem verbunden;
alles durchkreutzt ſich, alles wechſelt mit allem,
alles verändert ſich eines in das andere. Aber
nach dieſer unendlichen Mannichfaltigkeit iſt ſie
nur ein Schauſpiel für einen unendlichen Geiſt.
Um endliche Geiſter an dem Genuſſe deſſelben
Antheil nehmen zu laſſen, mußten dieſe das
Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben,
die ſie nicht hat; das Vermögen abzuſondern,
und
[141] und ihre Aufmerkſamkeit nach Gutdünken len-
ken zu können.
Dieſes Vermögen üben wir in allen Augen-
blicken des Lebens; ohne daſſelbe würde es für
uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu
verſchiedenen Empfindungen nichts empfinden;
wir würden ein beſtändiger Raub des gegenwär-
tigen Eindruckes ſeyn; wir würden träumen,
ohne zu wiſſen, was wir träumten.
Die Beſtimmung der Kunſt iſt, uns in
dem Reiche des Schönen dieſer Abſonderung
zu überheben, uns die Fixirung unſerer Auf-
merkſamkeit zu erleichtern. Alles, was wir
in der Natur von einem Gegenſtande, oder
einer Verbindung verſchiedener Gegenſtände,
es ſey der Zeit oder dem Raume nach, in
unſern Gedanken abſondern, oder abſondern
zu können wünſchen, ſondert ſie wirklich ab,
und gewährt uns dieſen Gegenſtand, oder dieſe
Verbindung verſchiedener Gegenſtände, ſo lau-
ter und bündig, als es nur immer die Empfin-
dung, die ſie erregen ſollen, verſtattet.
Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und
rührenden Begebenheit ſind, und eine andere
von nichtigem Belange läuft queer ein: ſo ſu-
chen wir der Zerſtreuung, die dieſe uns drohet,
möglichſt auszuweichen. Wir abſtrahiren von
ihr; und es muß uns nothwendig eckeln, in der
S 3Kunſt
[142] Kunſt das wieder zu finden, was wir aus der
Natur wegwünſchten.
Nur wenn eben dieſelbe Begebenheit in ihrem
Fortgange alle Schattirungen des Jntereſſe an-
nimt, und eine nicht blos auf die andere folgt,
ſondern ſo nothwendig aus der andern ent-
ſpringt; wenn der Ernſt das Lachen, die
Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, ſo
unmittelbar erzeugt, daß uns die Abſtraction
des einen oder des andern unmöglich fällt: nur
alsdenn verlangen wir ſie auch in der Kunſt
nicht, und die Kunſt weiß aus dieſer Unmög-
lichkeit ſelbſt Vortheil zu ziehen. —
Aber genug hiervon: man ſieht ſchon, wo ich
hinaus will. —
Den fünf und vierzigſten Abend (Freytags,
den 12ten Julius,) wurden die Brüder des Hrn.
Romanus, und das Orakel vom Saint-Foix ge-
ſpielt.
Das erſtere Stück kann für ein deutſches Ori-
ginal gelten, ob es ſchon, größten Theils, aus
den Brüdern des Terenz genommen iſt. Man
hat geſagt, daß auch Moliere aus dieſer Quelle
geſchöpft habe; und zwar ſeine Männerſchule.
Der Herr von Voltaire macht ſeine Anmerkun-
gen über dieſes Vorgeben: und ich führe Anmer-
kungen von dem Herrn von Voltaire ſo gern an!
Aus ſeinen geringſten iſt noch immer etwas zu
ler-
[143] lernen: wenn ſchon nicht allezeit das, was er
darinn ſagt: wenigſtens das, was er hätte ſagen
ſollen. Primus ſapientiæ gradus eſt, falſa
intelligere; (wo dieſes Sprüchelchen ſteht, will
mir nicht gleich beyfallen) und ich wüßte keinen
Schriftſteller in der Welt, an dem man es ſo
gut verſuchen könnte, ob man auf dieſer erſten
Stuffe der Weisheit ſtehe, als an dem Herrn von
Voltaire: aber daher auch keinen, der uns die
zweyte zu erſteigen, weniger behülflich ſeyn könn-
te; ſecundus, vera cognoſcere. Ein kri-
tiſcher Schriftſteller, dünkt mich, richtet ſeine
Methode auch am beſten nach dieſem Sprüchel-
chen ein. Er ſuche ſich nur erſten jemanden, mit
dem er ſtreiten kann: ſo kömmt er nach und nach
in die Materie, und das übrige findet ſich.
Hierzu habe ich mir in dieſem Werke, ich be-
kenne es aufrichtig, nun einmal die franzöſi-
ſchen Scribenten vornehmlich erwählet, und
unter dieſen beſonders den Hrn. von Voltaire.
Alſo auch itzt, nach einer kleinen Verbeu-
gung, nur darauf zu! Wem dieſe Methode
aber etwann mehr muthwillig als gründlich
ſcheinen wollte: der ſoll wiſſen, daß ſelbſt der
gründliche Ariſtoteles ſich ihrer faſt immer be-
dient hat. Solet Ariſtoteles, ſagt einer von
ſeinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt,
quærere pugnam in ſuis libris. Atque
hoc facit non temere, \& caſu, ſed certa
ra-
[144]ratione atque conſilio: nam labefactatis
aliorum opinionibus, u. ſ. w. O des Pedan-
ten! würde der Herr von Voltaire rufen. —
Jch bin es blos aus Mißtrauen in mich ſelbſt.
„Die Brüder des Terenz, ſagt der Herr von
Voltaire, „können höchſtens die Jdee zu der
„Männerſchule gegeben haben. Jn den Brü-
„dern ſind zwey Alte von verſchiedner Gemüths-
„art, die ihre Söhne ganz verſchieden erziehen;
„eben ſo ſind in der Männerſchule zwey Vor-
„münder, ein ſehr ſtrenger und ein ſehr nachſe-
„hender: das iſt die ganze Aehnlichkeit. Jn
„den Brüdern iſt faſt ganz und gar keine Jntri-
„gue: die Jntrigue in der Männerſchule hinge-
„gen iſt fein, und unterhaltend und komiſch.
„Eine von den Frauenzimmern des Terenz, wel-
„che eigentlich die intereſſanteſte Rolle ſpielen
„müßte, erſcheinet blos auf dem Theater, um nie-
„der zu kom̃en. Die Jſabelle des Moliere iſt faſt
„immer auf der Scene, und zeigt ſich immer witzig
„und reitzend, und verbindet ſogar die Streiche,
„die ſie ihrem Vormunde ſpielt, noch mit Anſtand.
„Die Entwicklung in den Brüdern iſt ganz unwahr-
„ſcheinlich; es iſt wider die Natur, daß ein Alter, der
„ſechzig Jahre ärgerlich und ſtreng u. geitzig geweſen,
„auf einmal luſtig und höflich und freygebig werden
„ſollte. Die Entwicklung in der Männerſchule aber,
„iſt die beſte von allen Entwicklungen des Moliere;
„wahrſcheinlich, natürlich, aus der Jntrigue ſelbſt
„hergenommen, und was ohnſtreitig nicht das ſchlech-
„teſte daran iſt, äußerſt komiſch.„
Ham-
[[145]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und ſiebzigſtes Stück.
Es ſcheinet nicht, daß der Herr von Voltaire,
ſeit dem er aus der Klaſſe bey den Jeſui-
ten gekommen, den Terenz viel wieder
geleſen habe. Er ſpricht ganz ſo davon, als von
einem alten Traume; es ſchwebt ihm nur noch ſo
was davon im Gedächtniſſe; und das ſchreibt
er auf gut Glück ſo hin, unbekümmert, ob es
gehauen oder geſtochen iſt. Jch will ihm nicht
aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks
ſagt, „daß ſie blos auf dem Theater erſcheine,
um nieder zu kommen.„ Sie erſcheinet gar nicht
auf dem Theater; ſie kömmt nicht auf dem Thea-
ter nieder; man vernimt blos ihre Stimme aus
dem Hauſe; und warum ſie eigentlich die in-
tereſſanteſte Rolle ſpielen müßte, das läßt ſich
auch gar nicht abſehen. Den Griechen und
Römern war nicht alles intereſſant, was es den
Franzoſen iſt. Ein gutes Mädchen, das mit
Tihrem
[146] ihrem Liebhaber zu tief in das Waſſer gegangen,
und Gefahr läuft, von ihm verlaſſen zu wer-
den, war zu einer Hauptrolle ehedem ſehr unge-
ſchickt. —
Der eigentliche und grobe Fehler, den der
Herr von Voltaire macht, betrift die Entwick-
lung und den Charakter des Demea. Demea
iſt der mürriſche ſtrenge Vater, und dieſer ſoll
ſeinen Charakter auf einmal völlig verändern.
Das iſt, mit Erlaubniß des Herrn von Vol-
taire, nicht wahr. Demea behauptet ſeinen
Charakter bis ans Ende. Donatus ſagt: Ser-
vatur autem per totam fabulam mitis
Micio, ſævus Demea, Leno avarus u. ſ. w.
Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr
von Voltaire ſagen. Nach Belieben; wenn
wir Deutſche nur glauben dürfen, daß Dona-
tus den Terenz fleißiger geleſen und beſſer ver-
ſtanden, als Voltaire. Doch es iſt ja von kei-
nem verlohrnen Stücke die Rede; es iſt noch
da; man leſe ſelbſt.
Nachdem Micio den Demea durch die triftig-
ſten Vorſtellungen zu beſänftigen geſucht, bittet
er ihn, wenigſtens auf heute ſich ſeines Aeger-
niſſes zu entſchlagen, wenigſtens heute luſtig zu
ſeyn. Endlich bringt er ihn auch ſo weit; heute
will Demea alles gut ſeyn laſſen; aber morgen,
bey früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit
ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder hal-
ten,
[147] ten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo
er es heute gelaſſen hat; die Sängerinn, die
dieſem der Vetter gekauft, will er zwar mitneh-
men, denn es iſt doch immer eine Sklavinn mehr,
und eine, die ihm nichts koſtet; aber zu ſingen
wird ſie nicht viel bekommen, ſie ſoll kochen und
backen. Jn der darauf folgenden vierten Scene
des fünften Akts, wo Demea allein iſt, ſcheint
es zwar, wenn man ſeine Worte nur ſo obenhin
nimt, als ob er völlig von ſeiner alten Den-
kungsart abgehen, und nach den Grundſätzen
des Micio zu handeln anfangen wolle. (*) Doch
die Folge zeigt es, daß man alles das nur von
dem heutigen Zwange, den er ſich anthun ſoll,
verſtehen muß. Denn auch dieſen Zwang weiß
er hernach ſo zu nutzen, daß er zu der förmlich-
ſten hämiſchſten Verſpottung ſeines gefälligen
Bruders ausſchlägt. Er ſtellt ſich luſtig, um
die andern wahre Ausſchweifungen und Tollhei-
ten begehen zu laſſen; er macht in dem verbind-
lichſten Tone die bitterſten Vorwürfe; er wird
nicht freygebig, ſondern er ſpielt den Verſchwen-
der; und wohl zu merken, weder von dem Sei-
nigen, noch in einer andern Abſicht, als um al-
les, was er Verſchwenden nennt, lächerlich zu
machen. Dieſes erhellet unwiderſprechlich aus
T 2dem,
[148] dem, was er dem Micio antwortet, der ſich
durch den Anſchein betriegen läßt, und ihn
wirklich verändert glaubt. (*)Hic oſtendit
Terentius, ſagt Donatus, magis Demeam
ſimulaſſe mutatos mores, quam mutaviſſe.
Jch will aber nicht hoffen, daß der Herr von
Voltaire meinet, ſelbſt dieſe Verſtellung laufe
wider den Charakter des Demea, der vorher
nichts als geſchmählt und gepoltert habe: denn
eine ſolche Verſtellung erfodere mehr Gelaſſen-
heit und Kälte, als man dem Demea zutrauen
dürfe. Auch hierinn iſt Terenz ohne Tadel, und
er hat alles ſo vortrefflich motiviret, bey jedem
Schritte Natur und Wahrheit ſo genau beobach-
tet, bey dem geringſten Uebergange ſo feine
Schat-
[149] Schattirungen in Acht genommen, daß man
nicht aufhören kann, ihn zu bewundern.
Nur iſt öfters, um hinter alle Feinheiten des
Terenz zu kommen, die Gabe ſehr nöthig, ſich
das Spiel des Akteurs dabey zu denken; denn
dieſes ſchrieben die alten Dichter nicht bey.
Die Deklamation hatte ihren eignen Künſtler,
und in dem Uebrigen konnten ſie ſich ohne Zwei-
fel auf die Einſicht der Spieler verlaſſen, die
aus ihrem Geſchäfte ein ſehr ernſtliches Stu-
dium machten. Nicht ſelten befanden ſich unter
dieſen die Dichter ſelbſt; ſie ſagten, wie ſie es
haben wollten; und da ſie ihre Stücke über-
haupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis
ſie geſpielt waren, als bis man ſie geſehen und
gehört hatte: ſo konnten ſie es um ſo mehr über-
hoben ſeyn, den geſchriebenen Dialog durch
Einſchiebſel zu unterbrechen, in welchen ſich der
beſchreibende Dichter gewiſſermaaßen mit unter
die handelnden Perſonen zu miſchen ſcheinet.
Wenn man ſich aber einbildet, daß die alten
Dichter, um ſich dieſe Einſchiebſel zu erſparen,
in den Reden ſelbſt, jede Bewegung, jede Ge-
behrde, jede Mine, jede beſondere Abänderung
der Stimme, die dabey zu beobachten, mit an-
zudeuten geſucht: ſo irret man ſich. Jn dem
Terenz allein kommen unzählige Stellen vor, in
welchen von einer ſolchen Andeutung ſich nicht
die geringſte Spur zeiget, und wo gleichwohl
T 3der
[150] der wahre Verſtand nur durch die Errathung
der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in
vielen ſcheinen die Worte gerade das Gegentheil
von dem zu ſagen, was der Schauſpieler durch
jene ausdrücken muß.
Selbſt in der Scene, in welcher die vermeinte
Sinnesänderung des Demea vorgeht, finden
ſich dergleichen Stellen, die ich anführen will,
weil auf ihnen gewiſſermaaßen die Mißdeutung
beruhet, die ich beſtreite. — Demea weiß nun-
mehr alles, er hat es mit ſeinen eignen Augen
geſehen, daß es ſein ehrbarer frommer Sohn iſt,
für den die Sängerinn entführet worden, und
ſtürzt mit dem unbändigſten Geſchrey heraus.
Er klagt es dem Himmel und der Erde und
dem Meere; und eben bekömmt er den Micio
zu Geſicht.
Ha! da iſt er, der mir ſie beide ver-
dirbt — meine Söhne, mir ſie beide zu Grunde
richtet! —
O ſo mäßige dich, und komm wieder
zu dir!
Gut, ich mäßige mich, ich bin bey
mir, es ſoll mir kein hartes Wort entfahren. Laß
uns blos bey der Sache bleiben. Sind wir nicht
eins geworden, wareſt du es nicht ſelbſt, der es
zuerſt auf die Bahn brachte, daß ſich ein jeder
nur
[151] nur um den ſeinen bekümmern ſollte? Antwor-
te. (*) u. ſ. w.
Wer ſich hier nur an die Worte hält, und kein
ſo richtiger Beobachter iſt, als es der Dichter
war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu
geſchwind austobe, viel zu geſchwind dieſen ge-
laſſenern Ton anſtimme. Nach einiger Ueber-
legung wird ihm zwar vielleicht beyfallen, daß
jeder Affekt, wenn er aufs äußerſte gekommen,
nothwendig wieder ſinken müſſe; daß Demea,
auf den Verweiß ſeines Bruders, ſich des un-
geſtümen Jachzorns nicht anders als ſchämen
könne: das alles iſt auch ganz gut, aber es iſt
doch noch nicht das rechte. Dieſes laſſe er ſich
alſo vom Donatus lehren, der hier zwey vor-
treffliche Anmerkungen hat. Videtur, ſagt
er, paulo citius deſtomachatus, quam res
etiam incertæ poſcebant. Sed \& hoc mo-
rale: nam juſte irati, omiſſa ſævitia ad
ra-
[152]ratiocinationes ſæpe feſtinant. Wenn der
Zornige ganz offenbar Recht zu haben glaubt,
wenn er ſich einbildet, daß ſich gegen ſeine Be-
ſchwerden durchaus nichts einwenden laſſe: ſo
wird er ſich bey dem Schelten gerade am wenig-
ſten aufhalten, ſondern zu den Beweiſen eilen,
um ſeinen Gegner durch eine ſo ſonnenklare
Ueberzeugung zu demüthigen. Doch da er über
die Wallungen ſeines kochenden Geblüts nicht
ſo unmittelbar gebiethen kann, da der Zorn, der
überführen will, doch noch immer Zorn bleibt:
ſo macht Donatus die zweyte Anmerkung; non
quod dicatur, ſed quo geſtu dicatur, ſpecta:
\& videbis neque adhuc repreſſiſſe iracun-
diam, neque ad ſe rediiſe Demeam. De-
mea ſagt zwar, ich mäßige mich, ich bin wieder
bey mir: aber Geſicht und Gebehrde und Stim-
me verrathen genugſam, daß er ſich noch nicht
gemäßiget hat, daß er noch nicht wieder bey ſich
iſt. Er beſtürmt den Micio mit einer Frage
über die andere, und Micio hat alle ſeine Kälte
und gute Laune nöthig, um nur zum Worte zu
kommen.
Ham-
[[153]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und ſiebzigſtes Stück.
Als er endlich dazu kömmt, wird Demea
zwar eingetrieben, aber im geringſten
nicht überzeugt. Aller Vorwand, über
die Lebensart ſeiner Kinder, unwillig zu ſeyn,
iſt ihm benommen: und doch fängt er wieder
von vorne an, zu nerrgeln. Micio muß auch
nur abbrechen, und ſich begnügen, daß ihm die
mürriſche Laune, die er nicht ändern kann, we-
nigſtens auf heute Frieden laſſen will. Die
Wendungen, die ihn Terenz dabey nehmen läßt,
ſind meiſterhaft. (*)
Nun gieb nur Acht, Micio, wie
wir mit dieſen ſchönen Grundſätzen, mit dieſer
deiner lieben Nachſicht, am Ende fahren werden.
Micio.
[154]
Schweig doch! Beſſer, als du glau-
beſt. — Und nun genug davon! Heute ſchenke dich
mir. Komm, kläre dich auf.
Mags doch nur heute ſeyn! Was
ich muß, das muß ich. — Aber morgen, ſobald es
Tag wird, geh ich wieder aufs Dorf, und der
Burſche geht mit. —
Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte
ich. Sey nur heute luſtig!
Auch das Menſch von einer Sän-
gerinn muß mit heraus.
Vortrefflich! So wird ſich der Sohn
gewiß nicht weg wünſchen. Nur halte ſie auch
gut.
De-
[155]
Da laß mich vor ſorgen! Sie ſoll,
in der Mühle und vor dem Ofenloche, Mehlſtaubs
und Kohlſtaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu
ſoll ſie mir am heiſſen Mittage ſtoppeln gehn, bis
ſie ſo trocken, ſo ſchwarz geworden, als ein Löſch-
brand.
Das gefällt mir! Nun biſt du auf
dem rechten Wege! — Und alsdenn, wenn ich wie
du wäre, müßte mir der Sohn bey ihr ſchlafen, er
möchte wollen oder nicht.
Lachſt du mich aus? — Bey ſo einer
Gemüthsart, freylich, kannſt du wohl glücklich
ſeyn. Jch fühl es, leider —
Du fängſt doch wieder an?
Nu, nu; ich höre ja auch ſchon
wieder auf.
U 2Bey
[156]
Bey dem „Lachſt du mich aus?„ des Demea,
merkt Donatus an: Hoc verbum vultu
Demeæ ſic profertur, ut ſubriſiſſe videa-
tur invitus. Sed rurſus ego ſentio,
amare ſevereque dicit. Unvergleichlich!
Demea, deſſen voller Ernſt es war, daß er die
Sängerinn, nicht als Sängerinn, ſondern als
eine gemeine Sklavinn halten und nutzen wollte,
muß über den Einfall des Micio lachen. Micio
ſelbſt braucht nicht zu lachen: je ernſthafter er
ſich ſtellt, deſto beſſer. Demea kann darum
doch ſagen: Lachſt du mich aus? und muß ſich
zwingen wollen, ſein eignes Lachen zu verbeiſſen.
Er verbeißt es auch bald, denn das „Jch fühl
es leider„ ſagt er wieder in einem ärgerlichen
und bittern Tone. Aber ſo ungern, ſo kurz das
Lachen auch iſt: ſo große Wirkung hat es gleich-
wohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat
man wirklich vors erſte gewonnen, wenn man
ihn nur zu lachen machen kann. Je ſeltner ihm
dieſe wohlthätige Erſchütterung iſt, deſto län-
ger hält ſie innerlich an; nachdem er längſt alle
Spur derſelben auf ſeinem Geſichte vertilgt,
dauert ſie noch fort, ohne daß er es ſelbſt weiß,
und hat auf ſein nächſtfolgendes Betragen einen
gewiſſen Einfluß. —
Aber wer hätte wohl bey einem Grammatiker
ſo feine Kenntniſſe geſucht? Die alten Gram-
matiker waren nicht das, was wir itzt bey dem
Na-
[157] Namen denken. Es waren Leute von vieler
Einſicht; das ganze weite Feld der Kritik war
ihr Gebiethe. Was von ihren Auslegungen
klaſſiſcher Schriften auf uns gekommen, ver-
dient daher nicht blos wegen der Sprache ſtu-
diert zu werden. Nur muß man die neuern
Jnterpolationen zu unterſcheiden wiſſen. Daß
aber dieſer Donatus (Aelius) ſo vorzüglich reich
an Bemerkungen iſt, die unſern Geſchmack bil-
den können, daß er die verſteckteſten Schönhei-
ten ſeines Autors mehr als irgend ein anderer
zu enthüllen weiß: das kömmt vielleicht weni-
ger von ſeinen größern Gaben, als von der Be-
ſchaffenheit ſeines Autors ſelbſt. Das römiſche
Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht
gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wur-
den noch geſpielt, und ohne Zweifel noch mit vie-
len von den Ueberlieferungen geſpielt, die ſich aus
den beſſern Zeiten des römiſchen Geſchmacks her-
ſchrieben: er durfte alſo nur anmerken, was er
ſahe und hörte; er brauchte alſo nur Aufmerk-
ſamkeit und Treue, um ſich das Verdienſt zu
machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu
verdanken hat, die er ſelbſt ſchwerlich dürfte
ausgegrübelt haben. Jch wüßte daher auch kein
Werk, aus welchem ein angehender Schauſpie-
ler mehr lernen könnte, als dieſen Commentar
des Donatus über den Terenz: und bis das La-
tein unter unſern Schauſpielern üblicher wird,
U 3wünſchte
[158] wünſchte ich ſehr, daß man ihnen eine gute
Ueberſetzung davon in die Hände geben wollte.
Es verſteht ſich, daß der Dichter dabey ſeyn,
und aus dem Commentar alles wegbleiben müß-
te, was die bloße Worterklärung betrift. Die
Dacier hat in dieſer Abſicht den Donatus nur
ſchlecht genutzt, und ihre Ueberſetzung des Textes
iſt wäßrig und ſteif. Eine neuere deutſche,
die wir haben, hat das Verdienſt der Richtig-
keit ſo ſo, aber das Verdienſt der komiſchen
Sprache fehlt ihr gänzlich; (*) und Donatus
iſt
[159] iſt auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Da-
cier zu brauchen für gut befunden. Es wäre
alſo keine gethane Arbeit, was ich vorſchlage:
aber wer ſoll ſie thun? Die nichts beſſers thun
könnten, können auch dieſes nicht: und die et-
was beſſers thun könnten, werden ſich bedan-
ken.
Doch
[160]
Doch endlich vom Terenz auf unſern Nach-
ahmer zu kommen — Es iſt doch ſonderbar,
daß auch Herr Romanus den falſchen Gedanken
des Voltaire gehabt zu haben ſcheinet. Auch
er hat geglaubt, daß am Ende mit dem Cha-
rakter des Demea eine gänzliche Veränderung
vorgehe; wenigſtens läßt er ſie mit dem Cha-
rakter ſeines Lyſimons vorgehen. „Je Kinder,
läßt er ihn rufen, „ſchweigt doch! Jhr über-
„häuft mich ja mit Liebkoſungen. Sohn, Bru-
„der, Vetter, Diener, alles ſchmeichelt mir,
„blos weil ich einmal ein bißchen freundlich aus-
„ſehe. Bin ichs denn, oder bin ichs nicht?
„Jch werde wieder recht jung, Bruder! Es
„iſt doch hübſch, wenn man geliebt wird. Jch
„will auch gewiß ſo bleiben. Jch wüßte nicht,
„wenn ich ſo eine vergnügte Stunde gehabt
„hätte.„ Und Frontin ſagt: „Nun unſer Al-
„ter ſtirbt gewiß bald. (*) Die Veränderung iſt
„gar zu plötzlich.„ Ja wohl; aber das Sprüch-
wort, und der gemeine Glaube, von den un-
vermutheten Veränderungen, die einen nahen
Tod vorbedeuten, ſoll doch wohl nicht im Ernſte
hier etwas rechtfertigen?
Ham-
[[161]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und ſiebzigſtes Stück.
Die Schlußrede des Demea bey dem Te-
renz, geht aus einem ganz andern Tone.
„Wenn euch nur das gefällt: nun ſo
macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts
mehr bekümmern!„ Er iſt es ganz und gar nicht,
der ſich nach der Weiſe der andern, ſondern die an-
dern ſind es, die ſich nach ſeiner Weiſe künftig zu
bequemen verſprechen. — Aber wie kömmt es,
dürfte man fragen, daß die letzten Scenen mit dem
Lyſimon in unſern deutſchen Brüdern, bey der
Vorſtellung gleichwohl immer ſo wohl aufgenom-
men werden? Der beſtändige Rückfall des Lyſimon
in ſeinen alten Charakter macht ſie komiſch: aber
bey dieſem hätte es auch bleiben müſſen. — Jch
verſpare das Weitere, bis zu einer zweyten Vor-
ſtellung des Stücks.
Das Orakel vom Saint-Foix, welches dieſen
Abend den Beſchluß machte, iſt allgemein be-
kannt, und allgemein beliebt.
XDen
[162]
Den ſechs und vierzigſten Abend (Montags,
den 20ſten Julius,) ward Miß Sara, (*) und
den ſieben und vierzigſten, Tages darauf, Na-
nine (**) wiederholt. Auf die Nanine folgte,
der unvermuthete Ausgang, vom Marivaux, in
einem Akte.
Oder, wie es wörtlicher und beſſer heiſſen
würde: die unvermuthete Entwicklung. Denn
es iſt einer von denen Titel, die nicht ſowohl
den Jnhalt anzeigen, als vielmehr gleich An-
fangs gewiſſen Einwendungen vorbauen ſollen,
die der Dichter gegen ſeinen Stoff, oder deſſen
Behandlung, vorher ſieht. Ein Vater will ſeine
Tochter an einen jungen Menſchen verheyra-
then, den ſie nie geſehen hat. Sie iſt mit ei-
nem andern ſchon halb richtig, aber dieſes auch
ſchon ſeit ſo langer Zeit, daß es faſt gar nicht
mehr richtig iſt. Unterdeſſen möchte ſie ihn
doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten,
und ſpielt ſogar, auf ſein Angeben, die Rolle
einer Wahnwitzigen, um den neuen Freyer ab-
zuſchrecken. Dieſer kömmt; aber zum Glücke
iſt es ein ſo ſchöner liebenswürdiger Mann, daß
ſie gar bald ihre Verſtellung vergißt, und in
aller Geſchwindigkeit mit ihm einig wird. Man
gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle
Leſer
[163] Leſer und Zuſchauer werden ausrufen: das iſt
auch ſehr unerwartet! Einen Knoten, den man
in zehn Scenen ſo mühſam geſchürzt hat, in
einer einzigen nicht zu löſen, ſondern mit eins
zu zerhauen! Nun aber iſt dieſer Fehler in
dem Titel ſelbſt angekündiget, und durch dieſe
Ankündigung gewiſſermaaßen gerechtfertiget.
Denn, wenn es nun wirklich einmal ſo einen
Fall gegeben hat: warum ſoll er nicht auch vor-
geſtellt werden können? Er ſahe ja in der Wirk-
lichkeit einer Komödie ſo ähnlich: und ſollte er
denn eben deswegen um ſo unſchicklicher zur Ko-
mödie ſeyn? — Nach der Strenge, allerdings:
denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen
Leben wahre Komödien nennet, findet man in
der Komödie wahren Begebenheiten nicht ſehr
gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.
Aber Ausgang und Entwicklung, laufen
beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völ-
lig. Der Ausgang iſt, daß Jungfer Argante
den Eraſt und nicht den Dorante heyrathet, und
dieſer iſt hinlänglich vorbereitet. Denn ihre
Liebe gegen Doranten iſt ſo lau, ſo wetterläu-
niſch; ſie liebt ihn, weil ſie ſeit vier Jahren nie-
manden geſehen hat, als ihn; manchmal liebt
ſie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal
gar nicht, ſo wie es kömmt; hat ſie ihn lange
nicht geſehen, ſo kömmt er ihr liebenswürdig
genug vor; ſieht ſie ihn alle Tage, ſo macht er
X 2ihr
[164] ihr Langeweile; beſonders ſtoßen ihr dann und
wann Geſichter auf, gegen welche ſie Doran-
tens Geſicht ſo kahl, ſo unſchmackhaft, ſo eckel
findet! Was brauchte es alſo weiter, um ſie
ganz von ihm abzubringen, als daß Eraſt, den
ihn ihr Vater beſtimmte, ein ſolches Geſicht iſt?
Daß ſie dieſen alſo nimt, iſt ſo wenig unerwar-
tet, daß es vielmehr ſehr unerwartet ſeyn wür-
de, wenn ſie bey jenem bliebe. Entwicklung
hingegen iſt ein mehr relatives Wort; und eine
unerwartete Entwicklung involviret eine Ver-
wicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der
Dichter auf einmal abſpringt, ohne ſich um die
Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen
Theil ſeiner Perſonen läßt. Und ſo iſt es hier:
Peter wird es mit Doranten ſchon ausmachen;
der Dichter empfiehlt ſich ihm.
Den acht und vierzigſten Abend (Mittewochs,
den 22ſten Julius,) ward das Trauerſpiel des
Herrn Weiß, Richard der Dritte, aufgeführt:
zum Beſchluſſe, Herzog Michel.
Dieſes Stück iſt ohnſtreitig eines von unſern
beträchtlichſten Originalen; reich an großen
Schönheiten, die genugſam zeigen, daß die
Fehler, mit welchen ſie verwebt ſind, zu ver-
meiden, im geringſten nicht über die Kräfte des
Dichters geweſen wäre, wenn er ſich dieſe Kräfte
nur ſelbſt hätte zutrauen wollen.
Schon
[165]
Schon Shakeſpear hatte das Leben und den
Tod des dritten Richards auf die Bühne ge-
bracht: aber Herr Weiß erinnerte ſich deſſen
nicht eher, als bis ſein Werk bereits fertig war.
„Sollte ich alſo, ſagt er, bey der Vergleichung
„ſchon viel verlieren: ſo wird man doch wenig-
„ſtens finden, daß ich kein Plagium begangen
„habe; — aber vielleicht wäre es ein Verdienſt
„geweſen, an dem Shakeſpear ein Plagium zu
„begehen.„
Vorausgeſetzt, daß man eines an ihm bege-
hen kann. Aber was man von dem Homer
geſagt hat, es laſſe ſich dem Herkules eher ſeine
Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt
ſich vollkommen auch vom Shakeſpear ſagen.
Auf die geringſte von ſeinen Schönheiten iſt ein
Stämpel gedruckt, welcher gleich der ganzen
Welt zuruft: ich bin Shakeſpears! Und wehe
der fremden Schönheit, die das Herz hat, ſich
neben ihr zu ſtellen!
Shakeſpear will ſtudiert, nicht geplündert
ſeyn. Haben wir Genie, ſo muß uns Shake-
ſpear das ſeyn, was dem Landſchaftsmahler die
Camera obſcura iſt: er ſehe fleißig hinein, um
zu lernen, wie ſich die Natur in allen Fällen auf
Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts
daraus.
Jch wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke
des Shakeſpears keine einzige Scene, ſogar keine
X 3ein-
[166] einzige Tirade, die Herr Weiß ſo hätte brauchen
können, wie ſie dort iſt. Alle, auch die kleinſten
Theile beym Shakeſpear, ſind nach den großen
Maaßen des hiſtoriſchen Schauſpiels zugeſchnit-
ten, und dieſes verhält ſich zu der Tragödie
franzöſiſchen Geſchmacks, ungefehr wie ein weit-
läuftiges Freſcogemählde gegen ein Migniatur-
bildchen für einen Ring. Was kann man zu
dieſem aus jenem nehmen, als etwa ein Geſicht,
eine einzelne Figur, höchſtens eine kleine Grup-
pe, die man ſodann als ein eigenes Ganze aus-
führen muß? Eben ſo würden aus einzeln Ge-
danken beym Shakeſpear ganze Scenen, und
aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müſ-
ſen. Denn wenn man den Ermel aus dem
Kleide eines Rieſen für einen Zwerg recht nutzen
will, ſo muß man ihm nicht wieder einen Ermel,
ſondern einen ganzen Rock daraus machen.
Thut man aber auch dieſes, ſo kann man we-
gen der Beſchuldigung des Plagiums ganz ruhig
ſeyn. Die meiſten werden in dem Faden die
Flocke nicht erkennen, woraus er geſponnen iſt.
Die wenigen, welche die Kunſt verſtehen, ver-
rathen den Meiſter nicht, und wiſſen, daß ein
Goldkorn ſo künſtlich kann getrieben ſeyn, daß
der Werth der Form den Werth der Materie bey
weitem überſteiget.
Jch für mein Theil betauere es alſo wirklich,
daß unſerm Dichter Shakeſpears Richard ſo
ſpät
[167] ſpät beygefallen. Er hätte ihn können gekannt ha-
ben, und doch eben ſo original geblieben ſeyn, als er
itzt iſt: er hätte ihn können genutzt haben, ohne
daß eine einzige übergetragene Gedanke davon
gezeugt hätte.
Wäre mir indeß eben das begegnet, ſo würde
ich Shakeſpears Werk wenigſtens nachher als
einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke
alle die Flecken abzuwiſchen, die mein Auge un-
mittelbar darinn zu erkennen, nicht vermögend
geweſen wäre. — Aber woher weiß ich, daß
Herr Weiß dieſes nicht gethan? Und warum
ſollte er es nicht gethan haben?
Kann es nicht eben ſo wohl ſeyn, daß er das,
was ich für dergleichen Flecken halte, für keine
hält? Und iſt es nicht ſehr wahrſcheinlich, daß
er mehr Recht hat, als ich? Jch bin überzeugt,
daß das Auge des Künſtlers größtentheils viel
ſcharfſichtiger iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner
Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die
ihm dieſe machen, wird er ſich von neunzehn er-
innern, ſie während der Arbeit ſich ſelbſt ge-
macht, und ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet
zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie
auch von andern machen zu hören: denn er hat
es gern, daß man über ſein Werk urtheilet;
ſchaal oder gründlich, links oder rechts, gutar-
tig oder hämiſch, alles gilt ihm gleich; und auch
das
[168] das ſchaalſte, linkſte, hämiſchſte Urtheil, iſt ihm
lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird
er auf die eine oder die Art in ſeinen Nutzen zu
verwenden wiſſen: aber was fängt er mit dieſer
an? Verachten möchte er die guten ehrlichen
Leute nicht gern, die ihn für ſo etwas auſſeror-
dentliches halten: und doch muß er die Achſeln
über ſie zucken. Er iſt nicht eitel, aber er iſt
gemeiniglich ſtolz; und aus Stolz möchte er
zehnmal lieber einen unverdienten Tadel, als
ein unverdientes Lob, auf ſich ſitzen laſſen. —
Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit
vorbereiten will. — Wenigſtens nicht bey dem
Verfaſſer, — höchſtens nur bey einem oder dem
andern Mitſprecher. Jch weiß nicht, wo ich es
jüngſt gedruckt leſen mußte, daß ich die Amalia
meines Freundes auf Unkoſten ſeiner übrigen
Luſtſpiele gelobt hätte. (*) — Auf Unkoſten?
aber doch wenigſtens der frühern? Jch gönne
es Jhnen, mein Herr, daß man niemals Jhre
ältern Werke ſo möge tadeln können. Der Him-
mel bewahre Sie vor dem tückiſchen Lobe: daß
ihr letztes immer ihr beſtes iſt! —
Ham-
[[169]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und ſiebzigſtes Stück.
Zur Sache. — Es iſt vornehmlich der Cha-
rakter des Richards, worüber ich mir die
Erklärung des Dichters wünſchte.
Ariſtoteles würde ihn ſchlechterdings verwor-
fen haben; zwar mit dem Anſehen des Ariſtote-
les wollte ich bald fertig werden, wenn ich es
nur auch mit ſeinen Gründen zu werden wüßte.
Die Tragödie, nimt er an, ſoll Mitleid und
Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß
der Held derſelben weder ein ganz tugendhafter
Mann, noch ein völliger Böſewicht ſeyn müſſe.
Denn weder mit des einen noch mit des andern
Unglücke, laſſe ſich jener Zweck erreichen.
Räume ich dieſes ein: ſo iſt Richard der
Dritte eine Tragödie, die ihres Zweckes ver-
fehlt. Räume ich es nicht ein: ſo weiß ich gar
nicht mehr, was eine Tragödie iſt.
YDenn
[170]
Denn Richard der Dritte, ſo wie ihn Herr
Weiß geſchildert hat, iſt unſtreitig das größte,
abſcheulichſte Ungeheuer, das jemals die Bühne
getragen. Jch ſage, die Bühne: daß es die
Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich.
Was für Mitleid kann der Untergang dieſes
Ungeheuers erwecken? Doch, das ſoll er auch
nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt;
und es ſind ganz andere Perſonen in ſeinem
Werke, die er zu Gegenſtänden unſers Mit-
leids gemacht hat.
Aber Schrecken? — Sollte dieſer Böſewicht,
der die Kluft, die ſich zwiſchen ihm und dem
Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet,
mit den Leichen derer, die ihm das Liebſte in der
Welt hätten ſeyn müſſen; ſollte dieſer blut-
dürſtige, ſeines Blutdurſtes ſich rühmende, über
ſeine Verbrechen ſich kitzelnde Teufel, nicht
Schrecken in vollem Maaße erwecken?
Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter
Schrecken das Erſtaunen über unbegreifliche
Miſſethaten, das Entſetzen über Bosheiten, die
unſern Begriff überſteigen, wenn darunter der
Schauder zu verſtehen iſt, der uns bey Er-
blickung vorſetzlicher Greuel, die mit Luſt be-
gangen werden, überfällt. Von dieſem Schrecken
hat mich Richard der Dritte mein gutes Theil
empfinden laſſen.
Aber
[171]
Aber dieſes Schrecken iſt ſo wenig eine von
den Abſichten des Trauerſpiels, daß es vielmehr
die alten Dichter auf alle Weiſe zu mindern
ſuchten, wenn ihre Perſonen irgend ein großes
Verbrechen begehen mußten. Sie ſchoben öf-
ters lieber die Schuld auf das Schickſal, mach-
ten das Verbrechen lieber zu einem Verhäng-
niſſe einer rächenden Gottheit, verwandelten
lieber den freyen Menſchen in eine Maſchine:
ehe ſie uns bey der gräßlichen Jdee wollten ver-
weilen laſſen, daß der Menſch von Natur einer
ſolchen Verderbniß fähig ſey.
Bey den Franzoſen führt Crebillon den Bey-
namen des Schrecklichen. Jch fürchte ſehr,
mehr von dieſem Schrecken, welches in der Tra-
gödie nicht ſeyn ſollte, als von dem echten, das
der Philoſoph zu dem Weſen der Tragödie rech-
net.
Und dieſes — hätte man gar nicht Schrecken
nennen ſollen. Das Wort, welches Ariſtote-
les braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht,
ſagt er, ſoll die Tragödie erregen; nicht, Mit-
leid und Schrecken. Es iſt wahr, das Schrecken
iſt eine Gattung der Furcht; es iſt eine plötzli-
che, überraſchende Furcht. Aber eben dieſes
Plötzliche, dieſes Ueberraſchende, welches die
Jdee deſſelben einſchließt, zeiget deutlich, daß
die, von welchen ſich hier die Einführung des
Wortes Schrecken, anſtatt des Wortes Furcht,
Y 2her-
[172] herſchreibet, nicht eingeſehen haben, was für
eine Furcht Ariſtoteles meine. — Jch möchte
dieſes Weges ſobald nicht wieder kommen: man
erlaube mir alſo einen kleinen Ausſchweif.
„Das Mitleid, ſagt Ariſtoteles, verlangt
„einen, der unverdient leidet: und die Furcht
„einen unſers gleichen. Der Böſewicht iſt we-
„der dieſes, noch jenes: folglich kann auch ſein
„Unglück, weder das erſte noch das andere er-
„regen.„ (*)
Dieſe Furcht, ſage ich, nennen die neuern
Ausleger und Ueberſetzer Schrecken, und es ge-
lingt ihnen, mit Hülfe dieſes Worttauſches, dem
Philoſophen die ſeltſamſten Händel von der Welt
zu machen.
„Man hat ſich, ſagt einer aus der Menge, (**)
„über die Erklärung des Schreckens nicht verei-
„nigen können; und in der That enthält ſie in
„jeder Betrachtung ein Glied zu viel, welches
„ſie an ihrer Allgemeinheit hindert, und ſie allzu-
„ſehr einſchränkt. Wenn Ariſtoteles durch den
„Zuſatz „unſers gleichen,„ nur blos die Aehn-
„lichkeit der Menſchheit verſtanden hat, weil
„nehmlich der Zuſchauer und die handelnde Per-
„ſon beide Menſchen ſind, geſetzt auch, daß ſich
„unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ih-
„rem
[173] „rem Range ein unendlicher Abſtand befände:
„ſo war dieſer Zuſatz überflüßig; denn er ver-
„ſtand ſich von ſelbſt. Wenn er aber die Mei-
„nung hatte, daß nur tugendhafte Perſonen,
„oder ſolche, die einen vergeblichen Fehler an
„ſich hätten, Schrecken erregen könnten: ſo
„hatte er Unrecht; denn die Vernunft und die
„Erfahrung iſt ihm ſodann entgegen. Das
„Schrecken entſpringt ohnſtreitig aus einem Ge-
„fühl der Menſchlichkeit: denn jeder Menſch iſt
„ihm unterworfen, und jeder Menſch erſchüt-
„tert ſich, vermöge dieſes Gefühls, bey dem
„widrigen Zufalle eines andern Menſchen. Es
„iſt wohl möglich, daß irgend jemand einfallen
„könnte, dieſes von ſich zu leugnen: allein die-
„ſes würde allemal eine Verleugnung ſeiner na-
„türlichen Empfindungen, und alſo eine bloße
„Prahlerey aus verderbten Grundſätzen, und
„kein Einwurf ſeyn. — Wenn nun auch einer
„laſterhaften Perſon, auf die wir eben unſere
„Aufmerkſamkeit wenden, unvermuthet ein wi-
„driger Zufall zuſtößt, ſo verlieren wir den La-
„ſterhaften aus dem Geſichte, und ſehen blos
„den Menſchen. Der Anblick des menſchlichen
„Elendes überhaupt, macht uns traurig, und
„die plötzliche traurige Empfindung, die wir ſo-
„dann haben, iſt das Schrecken.„
Ganz recht: aber nur nicht an der rechten
Stelle! Denn was ſagt das wider den Ariſtote-
Y 3les?
[174] les? Nichts. Ariſtoteles denkt an dieſes
Schrecken nicht, wenn er von der Furcht re-
det, in die uns nur das Unglück unſers gleichen
ſetzen könne. Dieſes Schrecken, welches uns
bey der plötzlichen Erblickung eines Leidens be-
fällt, das einem andern bevorſtehet, iſt ein mit-
leidiges Schrecken, und alſo ſchon unter dem
Mitleide begriffen. Ariſtoteles würde nicht ſa-
gen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der
Furcht weiter nichts als eine bloße Modification
des Mitleids verſtünde.
„Das Mitleid, ſagt der Verfaſſer der Briefe
über die Empfindungen, (*) „iſt eine vermiſchte
„Empfindung, die aus der Liebe zu einem Ge-
„genſtande, und aus der Unluſt über deſſen Un-
„glück zuſammengeſetzt iſt. Die Bewegungen,
„durch welche ſich das Mitleid zu erkennen giebt,
„ſind von den einfachen Symptomen der Liebe,
„ſowohl als der Unluſt, unterſchieden, denn
„das Mitleid iſt eine Erſcheinung. Aber wie
„vielerley kann dieſe Erſcheinung werden! Man
„ändre nur in dem betauerten Unglück die ein-
„zige Beſtimmung der Zeit: ſo wird ſich das
„Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu
„erkennen geben. Mit der Elektra, die über
„die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir
„ein mitleidiges Trauern, denn ſie hält das Un-
„glück
[175] „glück für geſchehen, und bejammert ihren ge-
„habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen
„des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei-
„den, aber von einer etwas andern Natur;
„denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus-
„zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt
„ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich
„entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz-
„lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als
„ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär-
„ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona
„ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello
„ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden
„wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit-
„leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei-
„diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver-
„ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen
„iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da
„jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden
„iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen:
„ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge-
„liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach-
„drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten
„alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei-
„ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar-
„ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar
„den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden
„entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie
„gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich-
„ter
[176] „ter die tragiſchen Leidenſchaften in Schrecken
„und Mitleiden eintheilet. Schrecken und Mit-
„leiden! Jſt denn das theatraliſche Schrecken
„kein Mitleiden? Für wen erſchrickt der Zu-
„ſchauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn
„den Dolch ziehet? Gewiß nicht für ſich, ſon-
„dern für den Aegiſth, deſſen Erhaltung man ſo
„ſehr wünſchet, und für die betrogne Königinn,
„die ihn für den Mörder ihres Sohnes anſiehet.
„Wollen wir aber uur die Unluſt über das ge-
„genwärtige Uebel eines andern, Mitleiden nen-
„nen: ſo müſſen wir nicht nur das Schrecken,
„ſondern alle übrige Leidenſchaften, die uns von
„einem andern mitgetheilet werden, von dem
„eigentlichen Mitleiden unterſcheiden.„ —
Ham-
[[177]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fünf und ſiebzigſtes Stück.
Dieſe Gedanken ſind ſo richtig, ſo klar, ſo
einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder
hätte ſie haben können und haben müſſen.
Gleichwohl will ich die ſcharfſinnigen Bemer-
kungen des neuen Philoſophen dem alten nicht
unterſchieben; ich kenne jenes Verdienſte um die
Lehre von den vermiſchten Empfindungen zu
wohl; die wahre Theorie derſelben haben wir
nur ihm zu danken. Aber was er ſo vortrefflich
auseinandergeſetzt hat, das kann doch Ariſtote-
les im Ganzen ungefehr empfunden haben: we-
nigſtens iſt es unleugbar, daß Ariſtoteles ent-
weder muß geglaubt haben, die Tragödie könne
und ſolle nichts als das eigentliche Mitleid,
nichts als die Unluſt über das gegenwärtige
Uebel eines andern, erwecken, welches ihm
ſchwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leiden-
ſchaften überhaupt, die uns von einem andern
Zmit-
[178] mitgetheilet werden, unter dem Worte Mitleid
begriffen.
Denn er, Ariſtoteles, iſt es gewiß nicht,
der die mit Recht getadelte Eintheilung der tra-
giſchen Leidenſchaften in Mitleid und Schrecken
gemacht hat. Man hat ihn falſch verſtanden,
falſch überſetzt. Er ſpricht von Mitleid und
Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und
ſeine Furcht iſt durchaus nicht die Furcht,
welche uns das bevorſtehende Uebel eines an-
dern, für dieſen andern, erweckt, ſondern es
iſt die Furcht, welche aus unſerer Aehnlich-
keit mit der leidenden Perſon für uns ſelbſt ent-
ſpringt; es iſt die Furcht, daß die Unglücks-
fälle, die wir über dieſe verhänget ſehen,
uns ſelbſt treffen können; es iſt die Furcht,
daß wir der bemitleidete Gegenſtand ſelbſt wer-
den können. Mit einem Worte: dieſe Furcht
iſt das auf uns ſelbſt bezogene Mitleid.
Ariſtoteles will überall aus ſich ſelbſt erklärt
werden. Wer uns einen neuen Commentar
über ſeine Dichtkunſt liefern will, welcher den
Dacierſchen weit hinter ſich läßt, dem rathe ich,
vor allen Dingen die Werke des Philoſophen
vom Anfange bis zum Ende zu leſen. Er wird
Aufſchlüſſe für die Dichtkunſt finden, wo er ſich
deren am wenigſten vermuthet; beſonders muß
er die Bücher der Rhetorik und Moral ſtudie-
ren. Man ſollte zwar denken, dieſe Aufſchlüſſe
müß-
[179] müßten die Scholaſtiker, welche die Schriften
des Ariſtoteles an den Fingern wußten, längſt
gefunden haben. Doch die Dichtkunſt war ge-
rade diejenige von ſeinen Schriften, um die ſie
ſich am wenigſten bekümmerten. Dabey fehl-
ten ihnen andere Kenntniſſe, ohne welche jene
Aufſchlüſſe wenigſtens nicht fruchtbar werden
konnten: ſie kannten das Theater und die Mei-
ſterſtücke deſſelben nicht.
Die authentiſche Erklärung dieſer Furcht,
welche Ariſtoteles dem tragiſchen Mitleid bey-
füget, findet ſich in dem fünften und achten Ka-
pitel des zweyten Buchs ſeiner Rhetorik. Es
war gar nicht ſchwer, ſich dieſer Kapitel zu er-
innern; gleichwohl hat ſich vielleicht keiner ſei-
ner Ausleger ihrer erinnert, wenigſtens hat
keiner den Gebrauch davon gemacht, der ſich
davon machen läßt. Denn auch die, welche
ohne ſie einſahen, daß dieſe Furcht nicht das
mitleidige Schrecken ſey, hätten noch ein wich-
tiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ur-
ſache nehmlich, warum der Stagirit dem Mit-
leid hier die Furcht, und warum nur die Furcht,
warum keine andere Leidenſchaft, und warum
nicht mehrere Leidenſchaften, beygeſellet habe.
Von dieſer Urſache wiſſen ſie nichts, und ich
möchte wohl hören, was ſie aus ihrem Kopfe
antworten würden, wenn man ſie fragte: war-
um z. E. die Tragödie nicht eben ſo wohl Mit-
Z 2leid
[180] leid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht,
erregen könne und dürfe?
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den
ſich Ariſtoteles von dem Mitleiden gemacht hat.
Er glaubte nehmlich, daß das Uebel, welches
der Gegenſtand unſers Mitleidens werden ſolle,
nothwendig von der Beſchaffenheit ſeyn müſſe,
daß wir es auch für uns ſelbſt, oder für eines
von den Unſrigen, zu befürchten hätten. Wo
dieſe Furcht nicht ſey, könne auch kein Mitlei-
den Statt finden. Denn weder der, den das
Unglück ſo tief herabgedrückt habe, daß er wei-
ter nichts für ſich zu fürchten ſähe, noch der,
welcher ſich ſo vollkommen glücklich glaube, daß
er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück
zuſtoſſen könne, weder der Verzweifelnde noch
der Uebermüthige, pflege mit andern Mitleid
zu haben. Er erkläret daher auch das Fürch-
terliche und das Mitleidswürdige, eines durch
das andere. Alles das, ſagt er, iſt uns fürch-
terlich, was, wenn es einem andern begegnet
wäre, oder begegnen ſollte, unſer Mitleid er-
wecken würde: (*) und alles das finden wir
mit-
[181] mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn
es uns ſelbſt bevorſtünde. Nicht genug alſo,
daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden
haben ſollen, ſein Unglück nicht verdiene, ob
er es ſich ſchon durch irgend eine Schwachheit
zugezogen: ſeine gequälte Unſchuld, oder viel-
mehr ſeine zu hart heimgeſuchte Schuld, ſey für
uns verlohren, ſey nicht vermögend, unſer Mit-
leid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit
ſähen, daß uns ſein Leiden auch treffen könne.
Dieſe Möglichkeit aber finde ſich alsdenn, und
könne zu einer großen Wahrſcheinlichkeit er-
wachſen, wenn ihn der Dichter nicht ſchlimmer
mache, als wir gemeiniglich zu ſeyn pflegen,
wenn er ihn vollkommen ſo denken und handeln
laſſe, als wir in ſeinen Umſtänden würden ge-
dacht und gehandelt haben, oder wenigſtens
glauben, daß wir hätten denken und handeln
müſſen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem
Schrot und Korne ſchildere. Aus dieſer Gleich-
heit entſtehe die Furcht, daß unſer Schickſal
gar leicht dem ſeinigen eben ſo ähnlich werden
könne, als wir ihm zu ſeyn uns ſelbſt fühlen:
und dieſe Furcht ſey es, welche das Mitleid
gleichſam zur Reife bringe.
Z 3So
[182]
So dachte Ariſtoteles von dem Mitleiden,
und nur hieraus wird die wahre Urſache begreif-
lich, warum er in der Erklärung der Tragödie,
nächſt dem Mitleiden, nur die einzige Furcht
nannte. Nicht als ob dieſe Furcht hier eine be-
ſondere, von dem Mitleiden unabhängige Leiden-
ſchaft ſey, welche bald mit bald ohne dem Mit-
leid, ſo wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr,
erreget werden könne; welches die Mißdeutung
des Corneille war: ſondern weil, nach ſeiner
Erklärung des Mitleids, dieſes die Furcht noth-
wendig einſchließt; weil nichts unſer Mitleid
erregt, als was zugleich unſere Furcht erwecken
kann.
Corneille hatte ſeine Stücke ſchon alle ge-
ſchrieben, als er ſich hinſetzte, über die Dicht-
kunſt des Ariſtoteles zu commentiren. (*) Er
hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet:
und nach dieſer Erfahrung würde er uns unſtrei-
tig vortreffliche Dinge über den alten dramati-
ſchen Codex haben ſagen können, wenn er ihn
nur
[183] nur auch während der Zeit ſeiner Arbeit fleißi-
ger zu Rathe gezogen hätte. Allein dieſes ſchei-
net er, höchſtens nur in Abſicht auf die mechani-
ſchen Regeln der Kunſt, gethan zu haben. Jn
den weſentlichern ließ er ſich um ihn unbeküm-
mert, und als er am Ende fand, daß er wider
ihn verſtoßen, gleichwohl nicht wider ihn ver-
ſtoßen haben wollte: ſo ſuchte er ſich durch Aus-
legungen zu helfen, und ließ ſeinen vorgeblichen
Lehrmeiſter Dinge ſagen, an die er offenbar nie
gedacht hatte.
Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne ge-
bracht, und ſie als die vollkommenſten untadel-
hafteſten Perſonen geſchildert; er hatte die ab-
ſcheulichſten Ungeheuer in dem Pruſias, in dem
Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von
beiden Gattungen behauptet Ariſtoteles, daß ſie
zur Tragödie unſchicklich wären, weil beide
weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten.
Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt
er es an, damit bey dieſem Widerſpruche weder
ſein Anſehen, noch das Anſehen des Ariſtoteles
leiden möge? „O, ſagt er, mit den Ariſtoteles
„können wir uns hier leicht vergleichen. (*)
„Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht
„behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich,
„ſowohl Furcht als Mitleid, nöthig wären, um
„die
[184] „die Reinigung der Leidenſchaften zu bewirken,
„die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie
„macht: ſondern nach ſeiner Meinung ſey auch
„eines zureichend. — Wir können dieſe Erklä-
„rung, fährt er fort, aus ihm ſelbſt bekräfti-
„gen, wenn wir die Gründe recht erwägen,
„welche er von der Ausſchlieſſung derjenigen
„Begebenheiten, die er in den Trauerſpielen
„mißbilliget, giebt. Er ſagt niemals: dieſes
„oder jenes ſchickt ſich in die Tragödie nicht,
„weil es blos Mitleiden und keine Furcht er-
„weckt; oder dieſes iſt daſelbſt unerträglich,
„weil es blos die Furcht erweckt, ohne das Mit-
„leid zu erregen. Nein; ſondern er verwirft
„ſie deswegen, weil ſie, wie er ſagt, weder
„Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und giebt
„uns dadurch zu erkennen, daß ſie ihm deswe-
„gen nicht gefallen, weil ihnen ſowohl das eine
„als das andere fehlet, und daß er ihnen ſeinen
„Beyfall nicht verſagen würde, wenn ſie nur
„eines von beiden wirkten.„
Ham-
[[185]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und ſiebzigſtes Stück.
Aber das iſt grundfalſch! — Jch kann mich
nicht genug wundern, wie Dacier, der
doch ſonſt auf die Verdrehungen ziemlich
aufmerkſam war, welche Corneille von dem
Texte des Ariſtoteles zu ſeinem Beſten zu ma-
chen ſuchte, dieſe größte von allen überſehen
können. Zwar, wie konnte er ſie nicht überſe-
hen, da es ihm nie einkam, des Philoſophen
Erklärung vom Mitleid zu Rathe zu ziehen? —
Wie geſagt, es iſt grundfalſch, was ſich Cor-
neille einbildet. Ariſtoteles kann das nicht ge-
meint haben, oder man müßte glauben, daß er
ſeine eigene Erklärungen vergeſſen können, man
müßte glauben, daß er ſich auf die handgreif-
lichſte Weiſe widerſprechen können. Wenn,
nach ſeiner Lehre, kein Uebel eines andern unſer
Mitleid erreget, was wir nicht für uns ſelbſt
fürchten: ſo konnte er mit keiner Handlung in
A ader
[186] der Tragödie zufrieden ſeyn, welche nur Mitleid
und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache
ſelbſt für unmöglich; dergleichen Handlungen
exiſtirten ihm nicht; ſondern ſobald ſie unſer
Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er,
müßten ſie auch Furcht für uns erwecken; oder
vielmehr, nur durch dieſe Furcht erweckten ſie
Mitleid. Noch weniger konnte er ſich die
Handlung einer Tragödie vorſtellen, welche
Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich
unſer Mitleid zu erwecken: denn er war über-
zeugt, daß alles, was uns Furcht für uns ſelbſt
errege, auch unſer Mitleid erwecken müſſe, ſo-
bald wir andere damit bedrohet, oder betroffen
erblickten; und das iſt eben der Fall der Tra-
gödie, wo wir alle das Uebel, welches wir
fürchten, nicht uns, ſondern anderen begegnen
ſehen.
Es iſt wahr, wenn Ariſtoteles von den
Handlungen ſpricht, die ſich in die Tragödie
nicht ſchicken, ſo bedient er ſich mehrmalen des
Ausdrucks von ihnen, daß ſie weder Mitleid
noch Furcht erwecken. Aber deſto ſchlimmer,
wenn ſich Corneille durch dieſes weder noch
verführen laſſen. Dieſe disjunctive Partikeln
involviren nicht immer, was er ſie involviren
läßt. Denn wenn wir zwey oder mehrere
Dinge von einer Sache durch ſie verneinen, ſo
kömmt es darauf an, ob ſich dieſe Dinge eben
ſo
[187] ſo wohl in der Natur von einander trennen laſ-
ſen, als wir ſie in der Abſtraction und durch den
ſymboliſchen Ausdruck trennen können, wenu
die Sache dem ohngeachtet noch beſtehen ſoll,
ob ihr ſchon das eine oder das andere von dieſen
Dingen fehlt. Wenn wir z. E. von einem
Frauenzimmer ſagen, ſie ſey weder ſchön noch
witzig: ſo wollen wir allerdings ſagen, wir
würden zufrieden ſeyn, wenn ſie auch nur eines
von beiden wäre; denn Witz und Schönheit laſ-
ſen ſich nicht blos in Gedanken trennen, ſondern
ſie ſind wirklich getrennet. Aber wenn wir ſagen,
dieſer Menſch glaubt weder Himmel noch Höl-
le: wollen wir damit auch ſagen, daß wir zu-
frieden ſeyn würden, wenn er nur eines von
beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und
keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Him-
mel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine
glaubt, muß nothwendig auch das andere glau-
ben; Himmel und Hölle, Strafe und Beloh-
nung ſind relativ; wenn das eine iſt, iſt auch
das andere. Oder, um mein Exempel aus einer
verwandten Kunſt zu nehmen; wenn wir ſagen,
dieſes Gemählde taugt nichts, denn es hat
weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir da-
mit ſagen, daß ein gutes Gemählde ſich mit
einem von beiden begnügen könne? — Das iſt
ſo klar!
A a 2Allein,
[188]
Allein, wie, wenn die Erklärung, welche
Ariſtoteles von dem Mitleiden giebt, falſch
wäre? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und
Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir
für uns ſelbſt auf keine Weiſe zu beſorgen
haben?
Es iſt wahr: es braucht unſerer Furcht nicht,
um Unluſt über das phyſikaliſche Uebel eines
Gegenſtandes zu empfinden, den wir lieben.
Dieſe Unluſt entſtehet blos aus der Vorſtellung
der Unvollkommenheit, ſo wie unſere Liebe aus
der Vorſtellung der Vollkommenheiten deſſel-
ben; und aus dem Zuſammenfluſſe dieſer Luſt
und Unluſt entſpringet die vermiſchte Empfin-
dung, welche wir Mitleid nennen.
Jedoch auch ſo nach glaube ich nicht, die
Sache des Ariſtoteles nothwendig aufgeben zu
müſſen.
Denn wenn wir auch ſchon, ohne Furcht für
uns ſelbſt, Mitleid für andere empfinden kön-
nen: ſo iſt es doch unſtreitig, daß unſer Mit-
leid, wenn jene Furcht dazu kömmt, weit leb-
hafter und ſtärker und anzüglicher wird, als es
ohne ſie ſeyn kann. Und was hindert uns, an-
zunehmen, daß die vermiſchte Empfindung über
das phyſikaliſche Uebel eines geliebten Gegen-
ſtandes, nur allein durch die dazu kommende
Furcht für uns, zu dem Grade erwächſt, in wel-
chem ſie Affekt genannt zu werden verdienet?
Ariſto-
[189]
Ariſtoteles hat es wirklich angenommen. Er
betrachtet das Mitleid nicht nach ſeinen primi-
tiven Regungen, er betrachtet es blos als Affekt.
Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem
Funke den Namen der Flamme. Mitleidige
Regungen, ohne Furcht für uns ſelbſt, nennt
er Philanthropie: und nur den ſtärkern Regun-
gen dieſer Art, welche mit Furcht für uns ſelbſt
verknüpft ſind, giebt er den Namen des Mit-
leids. Alſo behauptet er zwar, daß das Un-
glück eines Böſewichts weder unſer Mitleid
noch unſere Furcht errege: aber er ſpricht ihm
darum nicht alle Rührung ab. Auch der Bö-
ſewicht iſt noch Menſch, iſt noch ein Weſen,
das bey allen ſeinen moraliſchen Unvollkommen-
heiten, Vollkommenheiten genug behält, um
ſein Verderben, ſeine Zernichtung lieber nicht
zu wollen, um bey dieſer etwas mitleidähnli-
ches, die Elemente des Mitleids gleichſam, zu
empfinden. Aber, wie ſchon geſagt, dieſe mit-
leidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid,
ſondern Philanthropie. „Man muß, ſagt er,
„keinen Böſewicht aus unglücklichen in glück-
„liche Umſtände gelangen laſſen; denn das iſt
„das untragiſchſte, was nur ſeyn kann; es hat
„nichts von allem, was es haben ſollte; es er-
„weckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch
„Furcht. Auch muß es kein völliger Böſewicht
„ſeyn, der aus glücklichen Umſtänden in un-
A a 3„glück-
[190] „glückliche verfällt; denn eine dergleichen Be-
„gebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder
„Mitleid noch Furcht erwecken.„ Jch kenne
nichts kahleres und abgeſchmackteres, als die ge-
wöhnlichen Ueberſetzungen dieſes Wortes Phi-
lanthropie. Sie geben nehmlich das Adjectivum
davon im Lateiniſchen durch hominibus gra-
tum; im Franzöſiſchen durch ce que peut
faire quelque plaiſir; und im Deutſchen
durch „was Vergnügen machen kann.„ Der
einzige Goulſton, ſo viel ich finde, ſcheinet den
Sinn des Philoſophen nicht verfehlt zu haben;
indem er das φιλανϑϱωπον durch quod huma-
nitatis ſenſu tangat überſetzt. Denn aller-
dings iſt unter dieſer Philanthropie, auf welche
das Unglück auch eines Böſewichts Anſpruch
macht, nicht die Freude über ſeine verdiente
Beſtrafung, ſondern das ſympathetiſche Gefühl
der Menſchlichkeit zu verſtehen, welches, Trotz
der Vorſtellung, daß ſein Leiden nichts als Ver-
dienſt ſey, dennoch in dem Augenblicke des Lei-
dens, in uns ſich für ihn reget. Herr Curtius
will zwar dieſe mitleidige Regungen für einen
unglücklichen Böſewicht, nur auf eine gewiſſe
Gattung der ihn treffenden Uebel einſchränken.
„Solche Zufälle des Laſterhaften, ſagt er, die
„weder Schrecken noch Mitleid in uns wirken,
„müſſen Folgen ſeines Laſters ſeyn: denn treffen
„ſie ihm zufällig, oder wohl gar unſchuldig, ſo
„behält
[191] „behält er in dem Herzen der Zuſchauer die Vor-
„rechte der Menſchlichkeit, als welche auch ei-
„nem unſchuldig leidenden Gottloſen ihr Mit-
„leid nicht verſagt.„ Aber er ſcheinet dieſes
nicht genug überlegt zu haben. Denn auch
dann noch, wenn das Unglück, welches den
Böſewicht befällt, eine unmittelbare Folge ſei-
nes Verbrechens iſt, können wir uns nicht ent-
wehren, bey dem Anblicke dieſes Unglücks mit
ihm zu leiden.
„Seht jene Menge, ſagt der Verfaſſer der
Briefe über die Empfindungen, „die ſich um
„einen Verurtheilten in dichte Haufen drenget.
„Sie haben alle Greuel vernommen, die der
„Laſterhafte begangen; ſie haben ſeinen Wan-
„del, und vielleicht ihn ſelbſt verabſcheuet. Jtzt
„ſchleppt man ihn entſtellt und ohnmächtig auf
„das entſetzliche Schaugerüſte. Man arbeitet
„ſich durch das Gewühl, man ſtellt ſich auf die
„Zähen, man klettert die Dächer hinan, um
„die Züge des Todes ſein Geſicht entſtellen zu
„ſehen. Sein Urtheil iſt geſprochen; ſein Hen-
„ker naht ſich ihm; ein Augenblick wird ſein
„Schickſal entſcheiden. Wie ſehnlich wünſchen
„itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde!
„Jhm? dem Gegenſtande ihres Abſcheues, den
„ſie einen Augenblick vorher ſelbſt zum Tode
„verurtheilet haben würden? Wodurch wird
„itzt ein Strahl der Menſchenliebe wiederum
„bey
[192] „bey ihnen rege? Jſt es nicht die Annäherung
„der Strafe, der Anblick der entſetzlichſten phy-
„ſikaliſchen Uebel, die uns ſogar mit einem Ruch-
„loſen gleichſam ausſöhnen, und ihm unſere Liebe
„erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich
„mitleidig mit ſeinem Schickſale ſeyn.„
Und eben dieſe Liebe, ſage ich, die wir gegen
unſern Nebenmenſchen unter keinerley Umſtän-
den ganz verlieren können, die unter der Aſche,
mit welcher ſie andere ſtärkere Empfindungen
überdecken, unverlöſchlich fortglimmet, und
gleichſam nur einen günſtigen Windſtoß von
Unglück und Schmerz und Verderben erwartet,
um in die Flamme des Mitleids auszubrechen;
eben dieſe Liebe iſt es, welche Ariſtoteles unter
dem Namen der Philanthropie verſtehet. Wir
haben Recht, wenn wir ſie mit unter dem Na-
men des Mitleids begreifen. Aber Ariſtoteles
hatte auch nicht Unrecht, wenn er ihr einen ei-
genen Namen gab, um ſie, wie geſagt, von
dem höchſten Grade der mitleidigen Empfindun-
gen, in welchem ſie, durch die Dazukunſt einer
wahrſcheinlichen Furcht für uns ſelbſt, Affekt
werden, zu unterſcheiden.
Ham-
[[193]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und ſiebzigſtes Stück.
Einem Einwurfe iſt hier noch vorzukommen.
Wenn Ariſtoteles dieſen Begriff von dem
Affekte des Mitleids hatte, daß er noth-
wendig mit der Furcht für uns ſelbſt verknüpft
ſeyn müſſe: was war es nöthig, der Furcht
noch insbeſondere zu erwähnen? Das Wort
Mitleid ſchloß ſie ſchon in ſich, und es wäre
genug geweſen, wenn er blos geſagt hätte: die
Tragödie ſoll durch Erregung des Mitleids die
Reinigung unſerer Leidenſchaft bewirken. Denn
der Zuſatz der Furcht ſagt nichts mehr, und
macht das, was er ſagen ſoll, noch dazu ſchwan-
kend und ungewiß.
Jch antworte: wenn Ariſtoteles uns blos
hätte lehren wollen, welche Leidenſchaften die
Tragödie erregen könne und ſolle, ſo würde er
ſich den Zuſatz der Furcht allerdings haben er-
ſparen können, und ohne Zweifel ſich wirklich
B ber-
[194] erſparet haben; denn nie war ein Philoſoph ein
größerer Wortſparer, als er. Aber er wollte
uns zugleich lehren, welche Leidenſchaften, durch
die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget
werden ſollten; und in dieſer Abſicht mußte er
der Furcht insbeſondere gedenken. Denn ob-
ſchon, nach ihm, der Affekt des Mitleids,
weder in noch außer dem Theater, ohne Furcht
für uns ſelbſt ſeyn kann; ob ſie ſchon ein noth-
wendiges Jngredienz des Mitleids iſt: ſo gilt
dieſes doch nicht auch umgekehrt, und das Mit-
leid für andere iſt kein Jngredienz der Furcht für
uns ſelbſt. Sobald die Tragödie aus iſt, höret
unſer Mitleid auf, und nichts bleibt von allen
den empfundenen Regungen in uns zurück, als
die wahrſcheinliche Furcht, die uns das bemit-
leidete Uebel für uns ſelbſt ſchöpfen laſſen. Dieſe
nehmen wir mit; und ſo wie ſie, als Jngredienz
des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, ſo
hilft ſie nun auch, als eine vor ſich fortdauernde
Leidenſchaft, ſich ſelbſt reinigen. Folglich, um
anzuzeigen, daß ſie dieſes thun könne und wirk-
lich thue, fand es Ariſtoteles für nöthig, ihrer
insbeſondere zu gedenken.
Es iſt unſtreitig, daß Ariſtoteles überhaupt
keine ſtrenge logiſche Definition von der Tra-
gödie geben wollen. Denn ohne ſich auf die
blos weſentlichen Eigenſchaften derſelben einzu-
ſchränten, hat er verſchiedene zufällige hinein-
gezo-
[195] gezogen, weil ſie der damalige Gebrauch noth-
wendig gemacht hatte. Dieſe indeß abgerech-
net, und die übrigen Merkmahle in einander
reduciret, bleibt eine vollkommen genaue Er-
klärung übrig: die nehmlich, daß die Tragödie,
mit einem Worte, ein Gedicht iſt, welches
Mitleid erreget. Jhrem Geſchlechte nach, iſt
ſie die Nachahmung einer Handlung; ſo wie die
Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber
nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung. Aus dieſen beiden Begriffen laſſen
ſich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und
ſogar ihre dramatiſche Form iſt daraus zu be-
ſtimmen.
An dem letztern dürfte man vielleicht zwei-
feln. Wenigſtens wüßte ich keinen Kunſtrichter
zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es
zu verſuchen. Sie nehmen alle die dramatiſche
Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an,
das nun ſo iſt, weil es einmal ſo iſt, und das
man ſo läßt, weil man es gut findet. Der ein-
zige Ariſtoteles hat die Urſache ergründet, aber
ſie bey ſeiner Erklärung mehr vorausgeſetzt, als
deutlich angegeben. „Die Tragödie, ſagt er,
„iſt die Nachahmung einer Handlung, — die
„nicht vermittelſt der Erzehlung, ſondern ver-
„mittelſt des Mitleids und der Furcht, die Rei-
„nigung dieſer und dergleichen Leidenſchaften be-
„wirket.„ So drückt er ſich von Wort zu Wort
B b 2aus.
[196] aus. Wem ſollte hier nicht der ſonderbare Ge-
genſatz, „nicht vermittelſt der Erzehlung, ſon-
dern vermittelſt des Mitleids und der Furcht,„
befremden? Mitleid und Furcht ſind die Mittel,
welche die Tragödie braucht, um ihre Abſicht zu
erreichen: und die Erzehlung kann ſich nur auf
die Art und Weiſe beziehen, ſich dieſer Mittel
zu bedienen, oder nicht zu bedienen. Scheinet
hier alſo Ariſtoteles nicht einen Sprung zu ma-
chen? Scheinet hier nicht offenbar der eigent-
liche Gegenſatz der Erzehlung, welches die dra-
matiſche Form iſt, zu fehlen? Was thun aber
die Ueberſetzer bey dieſer Lücke? Der eine um-
geht ſie ganz behutſam: und der andere füllt ſie,
aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts
darinn, als eine vernachläßigte Wortfügung, an
die ſie ſich nicht halten zu dürfen glauben, wenn
ſie nur den Sinn des Philoſophen liefern. Da-
cier überſetzt: d’une action — qui, ſans le
ſecours de la narration, par le moyen de
la compaſſion \& de la terreur u. ſ. w.; und
Curtius: „einer Handlung, welche nicht durch
„die Erzehlung des Dichters, ſondern (durch
„Vorſtellung der Handlung ſelbſt) uns, ver-
„mittelſt des Schreckens und Mitleids, von den
„Fehlern der vorgeſtellten Leidenſchaften reini-
„get.„ O, ſehr recht! Beide ſagen, was
Ariſtoteles ſagen will, nur daß ſie es nicht ſo
ſagen, wie er es ſagt. Gleichwohl iſt auch an
die-
[197] dieſem Wie gelegen; denn es iſt wirklich keine
blos vernachläßigte Wortfügung. Kurz, die
Sache iſt dieſe: Ariſtoteles bemerkte, daß das
Mitleid nothwendig ein vorhandenes Uebel er-
fodere; daß wir längſt vergangene oder fern in
der Zukunft bevorſtehende Uebel entweder gar
nicht, oder doch bey weitem nicht ſo ſtark bemit-
leiden können, als ein anweſendes; daß es folg-
lich nothwendig ſey, die Handlung, durch welche
wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergan-
gen, das iſt, nicht in der erzehlenden Form,
ſondern als gegenwärtig, das iſt, in der dra-
matiſchen Form, nachzuahmen. Und nur die-
ſes, daß unſer Mitleid durch die Erzehlung
wenig oder gar nicht, ſondern faſt einzig und
allein durch die gegenwärtige Anſchauung erre-
get wird, nur dieſes berechtigte ihn, in der Er-
klärung anſtatt der Form der Sache, die Sache
gleich ſelbſt zu ſetzen, weil dieſe Sache nur dieſer
einzigen Form fähig iſt. Hätte er es für möglich
gehalten, daß unſer Mitleid auch durch die Er-
zehlung erreget werden könne: ſo würde es al-
lerdings ein ſehr fehlerhafter Sprung geweſen
ſeyn, wenn er geſagt hätte, „nicht durch die
„Erzehlung, ſondern durch Mitleid und Furcht.„
Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und
Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige
dramatiſche Form zu erregen ſey: ſo konnte er
ſich dieſen Sprung, der Kürze wegen, erlau-
B b 3ben.
[198] ben. — Jch verweiſe desfalls auf das nehmliche
neunte Kapitel des zweyten Buchs ſeiner Rhe-
torik. (*)
Was endlich den moraliſchen Endzweck anbe-
langt, welchen Ariſtoteles der Tragödie giebt,
und den er mit in die Erklärung derſelben brin-
gen zu müſſen glaubte: ſo iſt bekannt, wie ſehr,
beſonders in den neuern Zeiten, darüber ge-
ſtritten worden. Jch getraue mich aber zu er-
weiſen, daß alle, die ſich dawider erklärt, den
Ariſtoteles nicht verſtanden haben. Sie haben
ihm alle ihre eigene Gedanken untergeſchoben,
ehe ſie gewiß wußten, welches ſeine wären. Sie
beſtreiten Grillen, die ſie ſelbſt gefangen, und
bilden ſich ein, wie unwiderſprechlich ſie den
Philoſophen widerlegen, indem ſie ihr eigenes
Hirngeſpinſte zu Schanden machen. Jch kann
mich in die nähere Erörterung dieſer Sache hier
nicht einlaſſen. Damit ich jedoch nicht ganz
ohne Beweis zu ſprechen ſcheine, will ich zwey
Anmerkungen machen.
1. Sie laſſen den Ariſtoteles ſagen, „die Tra-
„gödie ſolle uns, vermittelſt des Schreckens und
„Mit-
[199] „Mitleids, von den Fehlern der vorgeſtellten
„Leidenſchaften reinigen.„ Der vorgeſtellten?
Alſo, wenn der Held durch Neugierde, oder
Ehrgeitz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich
wird: ſo iſt es unſere Neugierde, unſer Ehr-
geitz, unſere Liebe, unſer Zorn, welchen die
Tragödie reinigen ſoll? Das iſt dem Ariſtoteles
nie in den Sinn gekommen. Und ſo haben die
Herren gut ſtreiten; ihre Einbildung verwan-
delt Windmühlen in Rieſen; ſie jagen, in der
gewiſſen Hoffnung des Sieges, darauf los, und
kehren ſich an keinen Sancho, der weiter nichts
als geſunden Menſchenverſtand hat, und ihnen
auf ſeinem bedächtlichern Pferde hinten nach
ruft, ſich nicht zu übereilen, und doch nur erſt
die Augen recht aufzuſperren. Των τοιουτουν πα-
ϑηματων, ſagt Ariſtoteles: und das heißt nicht,
der vorgeſtellten Leidenſchaften; das hätten ſie
überſetzen müſſen durch, dieſer und dergleichen,
oder, der erweckten Leidenſchaften. Das τοιου-
των bezieht ſich lediglich auf das vorhergehende
Mitleid und Furcht; die Tragödie ſoll unſer
Mitleid und unſere Furcht erregen, blos um
dieſe und dergleichen Leidenſchaften, nicht aber
alle Leidenſchaften ohne Unterſchied zu reinigen.
Er ſagt aber τοιουτων und nicht τουτων; er ſagt,
dieſer und dergleichen, und nicht blos, dieſer:
um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid, nicht
blos das eigentlich ſogenannte Mitleid, ſondern
über-
[200] überhaupt alle philanthropiſche Empfindungen,
ſo wie unter der Furcht nicht blos die Unluſt
über ein uns bevorſtehendes Uebel, ſondern auch
jede damit verwandte Unluſt, auch die Unluſt
über ein gegenwärtiges, auch die Unluſt über
ein vergangenes Uebel, Betrübniß und Gram,
verſtehe. Jn dieſem ganzen Umfange ſoll das
Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie er-
weckt, unſer Mitleid und unſere Furcht reini-
gen; aber auch nur dieſe reinigen, und keine
andere Leidenſchaften. Zwar können ſich in der
Tragödie auch zur Reinigung der andern Leiden-
ſchaften, nützliche Lehren und Beyſpiele finden;
doch ſind dieſe nicht ihre Abſicht; dieſe hat ſie
mit der Epopee und Komödie gemein, in ſo fern
ſie ein Gedicht, die Nachahmung einer Hand-
lung überhaupt iſt, nicht aber in ſo fern ſie Tra-
gödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen
Handlung insbeſondere iſt. Beſſern ſollen uns
alle Gattungen der Poeſie: es iſt kläglich, wenn
man dieſes erſt beweiſen muß; noch kläglicher
iſt es, wenn es Dichter giebt, die ſelbſt daran
zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht
alles beſſern; wenigſtens nicht jedes ſo vollkom-
men, wie das andere; was aber jede am voll-
kommenſten beſſern kann, worinn es ihr keine
andere Gattung gleich zu thun vermag, das
allein iſt ihre eigentliche Beſtimmung.
Ham-
[[201]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und ſiebzigſtes Stück.
2. Da die Gegner des Ariſtoteles nicht in
Acht nahmen, was für Leidenſchaften
er eigentlich, durch das Mitleid und
die Furcht der Tragödie, in uns gereiniget ha-
ben wollte: ſo war es natürlich, daß ſie ſich auch
mit der Reinigung ſelbſt irren mußten. Ari-
ſtoteles verſpricht am Ende ſeiner Politik, wo
er von der Reinigung der Leidenſchaften durch
die Muſik redet, von dieſer Reinigung in ſeiner
Dichtkunſt weitläuftiger zu handeln. „Weil
„man aber, ſagt Corneille, „ganz und gar
„nichts von dieſer Materie darinn findet, ſo iſt
„der größte Theil ſeiner Ausleger auf die Ge-
„danken gerathen, daß ſie nicht ganz auf uns
„gekommen ſey.„ Gar nichts? Jch meines
Theils glaube, auch ſchon in dem, was uns
von ſeiner Dichtkunſt noch übrig, es mag viel
oder wenig ſeyn, alles zu finden, was er einem,
C cder
[202] der mit ſeiner Philoſophie ſonſt nicht ganz unbe-
kannt iſt, über dieſe Sache zu ſagen für nöthig
halten konnte. Corneille ſelbſt bemerkte eine
Stelle, die uns, nach ſeiner Meinung, Licht
genug geben könne, die Art und Weiſe zu ent-
decken, auf welche die Reinigung der Leiden-
ſchaften in der Tragödie geſchehe: nehmlich die,
wo Ariſtoteles ſagt, „das Mitleid verlange ei-
nen, der unverdient leide, und die Furcht einen
unſers gleichen.„ Dieſe Stelle iſt auch wirk-
lich ſehr wichtig, nur daß Corneille einen fal-
ſchen Gebrauch davon machte, und nicht wohl
anders als machen konnte, weil er einmal die
Reinigung der Leidenſchaften überhaupt im
Kopfe hatte. „Das Mitleid mit dem Un-
„glücke, ſagt er, von welchem wir unſers glei-
„chen befallen ſehen, erweckt in uns die Furcht,
„daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne;
„dieſe Furcht erweckt die Begierde, ihm auszu-
„weichen; und dieſe Begierde ein Beſtreben,
„die Leidenſchaft, durch welche die Perſon, die
„wir betauern, ſich ihr Unglück vor unſern Au-
„gen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu beſ-
„ſern, ja gar auszurotten; indem einem jeden
„die Vernunft ſagt, daß man die Urſache ab-
„ſchneiden müſſe, wenn man die Wirkung ver-
„meiden wolle.„ Aber dieſes Raiſonnement,
welche die Furcht blos zum Werkzeuge macht,
durch welches das Mitleid die Reinigung der
Lei-
[203] Leidenſchaften bewirkt, iſt falſch, und kann un-
möglich die Meinung des Ariſtoteles ſeyn; weil
ſo nach die Tragödie gerade alle Leidenſchaften
reinigen könnte, nur nicht die zwey, die Ari-
ſtoteles ausdrücklich durch ſie gereiniget wiſſen
will. Sie könnte unſern Zorn, unſere Neu-
gierde, unſern Neid, unſern Ehrgeitz, unſern
Haß und unſere Liebe reinigen, ſo wie es die
eine oder die andere Leidenſchaft iſt, durch die
ſich die bemitleidete Perſon ihr Unglück zugezo-
gen. Nur unſer Mitleid und unſere Furcht
müßte ſie ungereiniget laſſen. Denn Mitleid
und Furcht ſind die Leidenſchaften, die in der
Tragödie wir, nicht aber die handelnden Per-
ſonen empfinden; ſind die Leidenſchaften, durch
welche die handelnden Perſonen uns rühren,
nicht aber die, durch welche ſie ſich ſelbſt ihre
Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben,
in welchem ſie beides ſind: das weiß ich wohl.
Aber noch kenne ich kein ſolches Stück: ein
Stück nehmlich, in welchem ſich die bemitlei-
dete Perſon durch ein übelverſtandenes Mitleid,
oder durch eine übelverſtandene Furcht ins Un-
glück ſtürze. Gleichwohl würde dieſes Stück
das einzige ſeyn, in welchem, ſo wie es Cor-
neille verſteht, das geſchehe, was Ariſtoteles
will, daß es in allen Tragödien geſchehen ſoll:
und auch in dieſem einzigen würde es nicht
auf die Art geſchehen, auf die es dieſer ver-
C c 2langt.
[204] langt. Dieſes einzige Stück würde gleichſam
der Punkt ſeyn, in welchem zwey gegen einander
ſich neigende gerade Linien zuſammentreffen, um
ſich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begeg-
nen. — So gar ſehr konnte Dacier den Sinn
des Ariſtoteles nicht verfehlen. Er war ver-
bunden, auf die Worte ſeines Autors aufmerk-
ſamer zu ſeyn, und dieſe beſagen es zu poſitiv,
daß unſer Mitleid und unſere Furcht, durch das
Mitleid und die Furcht der Tragödie, gereiniget
werden ſollen. Weil er aber ohne Zweifel
glaubte, daß der Nutzen der Tragödie ſehr ge-
ring ſeyn würde, wenn er blos hierauf einge-
ſchränkt wäre: ſo ließ er ſich verleiten, nach der
Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige
Reinigung auch aller übrigen Leidenſchaften
beyzulegen. Wie nun Corneille dieſe für ſein
Theil leugnete, und in Beyſpielen zeigte, daß
ſie mehr ein ſchöner Gedanke, als eine Sache
ſey, die gewöhnlicher Weiſe zur Wirklichkeit
gelange: ſo mußte er ſich mit ihm in dieſe Bey-
ſpiele ſelbſt einlaſſen, wo er ſich denn ſo in der
Enge fand, daß er die gewaltſamſten Drehun-
gen und Wendungen machen mußte, um ſeinen
Ariſtoteles mit ſich durch zu bringen. Jch ſage,
ſeinen Ariſtoteles: denn der rechte iſt weit ent-
fernt, ſolcher Drehungen und Wendungen zu
bedürfen. Dieſer, um es abermals und aber-
mals zu ſagen, hat an keine andere Leidenſchaf-
ten
[205] ten gedacht, welche das Mitleid und die Furcht
der Tragödie reinigen ſolle, als an unſer Mit-
leid und unſere Furcht ſelbſt; und es iſt ihm ſehr
gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der
übrigen Leidenſchaft viel oder wenig beyträgt.
An jene Reinigung hätte ſich Dacier allein hal-
ten ſollen: aber freylich hätte er ſodann auch
einen vollſtändigern Begriff damit verbinden
müſſen. „Wie die Tragödie, ſagt er, Mit-
„leid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht
„zu reinigen, das iſt nicht ſchwer zu erklären.
„Sie erregt ſie, indem ſie uns das Unglück vor
„Augen ſtellet, in das unſers gleichen durch
„nicht vorſetzliche Fehler gefallen ſind; und ſie
„reiniget ſie, indem ſie uns mit dieſem nehm-
„lichen Unglücke bekannt macht, und uns da-
„durch lehret, es weder allzuſehr zu fürchten,
„noch allzuſehr davon gerührt zu werden, wann
„es uns wirklich ſelbſt treffen ſollte. — Sie be-
„reitet die Menſchen, die allerwidrigſten Zu-
„fälle muthig zu ertragen, und macht die Aller-
„elendenſten geneigt, ſich für glücklich zu hal-
„ten, indem ſie ihre Unglücksfällen mit weit
„größern vergleichen, die ihnen die Tragödie
„vorſtellet. Denn in welchen Umſtänden kann
„ſich wohl ein Menſch finden, der bey Erblickung
„eines Oedips, eines Philoktets, eines Oreſts,
„nicht erkennen müßte, daß alle Uebel, die er
„zu erdulden, gegen die, welche dieſe Männer
C c 3„er-
[206] „erdulden müſſen, gar nicht in Vergleichung
„kommen?„ Nun das iſt wahr; dieſe Erklä-
rung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens
gemacht haben. Er fand ſie faſt mit den nehm-
lichen Worten bey einem Stoiker, der immer
ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm
indeß einzuwenden, daß das Gefühl unſers ei-
genen Elendes nicht viel Mitleid neben ſich dul-
det; daß folglich bey dem Elenden, deſſen Mit-
leid nicht zu erregen iſt, die Reinigung oder Lin-
derung ſeiner Betrübniß durch das Mitleid nicht
erfolgen kann: will ich ihm alles, ſo wie er es
ſagt, gelten laſſen. Nur fragen muß ich: wie
viel er nun damit geſagt? Ob er im geringſten
mehr damit geſagt, als, daß das Mitleid un-
ſere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre
doch nur kaum der vierte Theil der Foderung
des Ariſtoteles. Denn wenn Ariſtoteles be-
hauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht
errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen:
wer ſieht nicht, daß dieſes weit mehr ſagt, als
Dacier zu erklären für gut befunden? Denn,
nach den verſchiedenen Combinationen der hier
vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den
Sinn des Ariſtoteles ganz erſchöpfen will, ſtück-
weiſe zeigen, 1. wie das tragiſche Mitleid unſer
Mitleid, 2. wie die tragiſche Furcht unſere
Furcht, 3. wie das tragiſche Mitleid unſere
Furcht, und 4. wie die tragiſche Furcht unſer
Mit-
[207] Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.
Dacier aber hat ſich nur an den dritten Punkt
gehalten, und auch dieſen nur ſehr ſchlecht, und
auch dieſen nur zur Helfte erläutert. Denn wer
ſich um einen richtigen und vollſtändigen Begriff
von der Ariſtoteliſchen Reinigung der Leiden-
ſchaften bemüht hat, wird finden, daß jeder
von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in
ſich ſchlieſſet. Da nehmlich, es kurz zu ſagen,
dieſe Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenſchaften in tu-
gendhafte Fertigkeiten, bey jeder Tugend aber,
nach unſerm Philoſophen, ſich diſſeits und jen-
ſeits ein Extremum findet, zwiſchen welchem ſie
inne ſtehet: ſo muß die Tragödie, wenn ſie un-
ſer Mitleid in Tugend verwandeln ſoll, uns von
beiden Extremis des Mitleids zu reinigen ver-
mögend ſeyn; welches auch von der Furcht zu
verſtehen. Das tragiſche Mitleid muß nicht
allein, in Anſehung des Mitleids, die Seele
desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid
fühlet, ſondern auch desjenigen, welcher zu
wenig empfindet. Die tragiſche Furcht muß
nicht allein, in Anſehung der Furcht, die Seele
desjenigen reinigen, welcher ſich ganz und gar
keines Unglücks befürchtet, ſondern auch desje-
nigen, den ein jedes Unglück, auch das entfern-
teſte, auch das unwahrſcheinlichſte, in Angſt
ſetzet. Gleichfalls muß das tragiſche Mitleid,
in
[208] in Anſehung der Furcht, dem was zu viel, und
dem was zu wenig, ſteuern: ſo wie hinwiederum
die tragiſche Furcht, in Anſehung des Mitleids.
Dacier aber, wie geſagt, hat nur gezeigt, wie
das tragiſche Mitleid unſere allzu große Furcht
mäßige: und noch nicht einmal, wie es den
gänzlichen Mangel derſelben abh[ie]lfe, oder ſie in
dem, welcher allzu wenig von ihr empfindet, zu
einem heilſamern Grade erhöhe; geſchweige,
daß er auch das Uebrige ſollte gezeigt haben.
Die nach ihm gekommen, haben, was er unter-
laſſen, auch im geringſten nicht ergänzet; aber
wohl ſonſt, um nach ihrer Meinung, den Nutzen
der Tragödie völlig außer Streit zu ſetzen, Dinge
dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber
keinesweges der Tragödie, als Tragödie, ins-
beſondere zukommen; z. E. daß ſie die Triebe
der Menſchlichkeit nähern und ſtärken; daß ſie
Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laſter wir-
ken ſolle u. ſ. w. (*) Lieber! welches Gedicht
ſollte das nicht? Soll es aber ein jedes: ſo kann
es nicht das unterſcheidende Kennzeichen der
Tragödie ſeyn; ſo kann es nicht das ſeyn, was
wir ſuchten.
Ham-
[[209]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und ſiebzigſtes Stück.
Und nun wieder auf unſern Richard zu kom-
men. — Richard alſo erweckt eben ſo we-
nig Schrecken, als Mitleid: weder Schre-
cken in dem gemißbrauchten Verſtande, für die
plötzliche Ueberraſchung des Mitleids; noch in
dem eigentlichen Verſtande des Ariſtoteles, für
heilſame Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück
treffen könne. Denn wenn er dieſe erregte,
würde er auch Mitleid erregen; ſo gewiß er hin-
wiederum Furcht erregen würde, wenn wir ihn
unſers Mitleids nur im geringſten würdig fän-
den. Aber er iſt ſo ein abſcheulicher Kerl, ſo
ein eingefleiſchter Teufel, in dem wir ſo völlig
keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns ſelbſt fin-
den, daß ich glaube, wir könnten ihn vor un-
ſern Augen den Martern der Hölle übergeben
ſehen, ohne das geringſte für ihn zu empfinden,
ohne im geringſten zu fürchten, daß, wenn ſolche
D dStrafe
[210] Strafe nur auf ſolche Verbrechen folge, ſie auch
unſrer erwarte. Und was iſt endlich das Un-
glück, die Strafe, die ihn trift? Nach ſo vie-
len Miſſethaten, die wir mit anſehen müſſen,
hören wir, daß er mit dem Degen in der Fauſt
geſtorben. Als der Königinn dieſes erzehlt
wird, läßt ſie der Dichter ſagen:
Dieß iſt etwas! —
Jch habe mich nie enthalten können, bey mir
nachzuſprechen: nein, das iſt gar nichts! Wie
mancher gute König iſt ſo geblieben, indem er
ſeine Krone wider einen mächtigen Rebellen be-
haupten wollen? Richard ſtirbt doch, als ein
Mann, auf dem Bette der Ehre. Und ſo ein
Tod ſollte mich für den Unwillen ſchadlos hal-
ten, den ich das ganze Stück durch, über den
Triumph ſeiner Bosheiten empfunden? (Jch
glaube, die griechiſche Sprache iſt die einzige,
welche ein eigenes Wort hat, dieſen Unwillen
über das Glück eines Böſewichts, auszudrücken:
νεμεσις, νεμεσαν. (*)) Sein Tod ſelbſt, wel-
cher wenigſtens meine Gerechtigkeitsliebe befrie-
digen ſollte, unterhält noch meine Nemeſis.
Du biſt wohlfeil weggekommen! denke ich: aber
gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit giebt,
als die poetiſche!
Man wird vielleicht ſagen: nun wohl! wir
wollen den Richard aufgeben; das Stück heißt
zwar
[211] zwar nach ihm; aber er iſt darum nicht der Held
deſſelben, nicht die Perſon, durch welche die
Abſicht der Tragödie erreicht wird; er hat nur
das Mittel ſeyn ſollen, unſer Mitleid für andere
zu erregen. Die Königinn, Eliſabeth, die
Prinzen, erregen dieſe nicht Mitleid? —
Um allem Wortſtreite auszuweichen: ja.
Aber was iſt es für eine fremde, herbe Empfin-
dung, die ſich in mein Mitleid für dieſe Perſo-
nen miſcht? die da macht, daß ich mir dieſes
Mitleid erſparen zu können wünſchte? Das
wünſche ich mir bey dem tragiſchen Mitleid doch
ſonſt nicht; ich verweile gern dabey; und danke
dem Dichter für eine ſo ſüße Quaal.
Ariſtoteles hat es wohl geſagt, und das
wird es ganz gewiß ſeyn! Er ſpricht von einem
μιαϱον, von einen Gräßlichen, das ſich bey dem
Unglücke ganz guter, ganz unſchuldiger Perſo-
nen finde. Und ſind nicht die Königinn, Eli-
ſabeth, die Prinzen, vollkommen ſolche Perſo-
nen? Was haben ſie gethan? wodurch haben
ſie es ſich zugezogen, daß ſie in den Klauen die-
ſer Beſtie ſind? Jſt es ihre Schuld, daß ſie ein
näheres Recht auf den Thron haben, als er?
Beſonders die kleinen wimmernden Schlacht-
opfer, die noch kaum rechts und links unter-
ſcheiden können! Wer wird leugnen, daß ſie
unſern ganzen Jammer verdienen? Aber iſt die-
ſer Jammer, der mich mit Schaudern an die
D d 2Schick-
[212] Schickſale der Menſchen denken läßt, dem Mur-
ren wider die Vorſehung ſich zugeſellet, und
Verzweiflung von weiten nachſchleicht, iſt die-
ſer Jammer — ich will nicht fragen, Mit-
leid? — Er heiſſe, wie er wolle — Aber iſt er
das, was eine nachahmende Kunſt erwecken
ſollte?
Man ſage nicht: erweckt ihn doch die Ge-
ſchichte; gründet er ſich doch auf etwas, das
wirklich geſchehen iſt. — Das wirklich geſchehen
iſt? es ſey: ſo wird es ſeinen guten Grund
in dem ewigen unendlichen Zuſammenhange aller
Dinge haben. Jn dieſem iſt Weisheit und
Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die
der Dichter herausnimt, blindes Geſchick und
Grauſamkeit ſcheinet. Aus dieſen wenigen
Gliedern ſollte er ein Ganzes machen, das völlig
ſich rundet, wo eines aus dem andern ſich völlig
erkläret, wo keine Schwierigkeit aufſtößt, deren-
wegen wir die Befriedigung nicht in ſeinem
Plane finden, ſondern ſie außer ihm, in dem
allgemeinen Plane der Dinge, ſuchen müſſen;
das Ganze dieſes ſterblichen Schöpfers ſollte ein
Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schö-
pfers ſeyn; ſollte uns an den Gedanken gewöhnen,
wie ſich in ihm alles zum Beſten auflöſe, werde
es auch in jenem geſchehen: und er vergißt,
dieſe ſeine edelſte Beſtimmung ſo ſehr, daß er
die unbegreiflichen Wege der Vorſicht mit in ſei-
nem
[213] nem kleinen Zirkel flicht, und gefliſſendlich un-
ſern Schauder darüber erregt? — O verſchonet
uns damit, ihr, die ihr unſer Herz in eurer Ge-
walt habt! Wozu dieſe traurige Empfindung?
Uns Unterwerfung zu lehren? Dieſe kann uns
nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die
Lehre der Vernunft in uns bekleiben ſoll, wenn
wir, bey unſerer Unterwerfung, noch Vertrauen
und fröhlichen Muth behalten ſollen: ſo iſt es
höchſt nöthig, daß wir an die verwirrenden
Beyſpiele ſolcher unverdienten ſchrecklichen Ver-
hängniſſe ſo wenig, als möglich, erinnert wer-
den. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg,
wenn es ſeyn könnte, aus allen Büchern mit
ihnen! —
Wenn nun aber der Perſonen des Richards
keine einzige, die erforderlichen Eigenſchaften
hat, die ſie haben müßten, Falls er wirklich
das ſeyn ſollte, was er heißt: wodurch iſt er
gleichwohl ein ſo intereſſantes Stück geworden,
wofür ihn unſer Publikum hält? Wenn er nicht
Mitleid und Furcht erregt: was iſt denn ſeine
Wirkung? Wirkung muß er doch haben, und
hat ſie. Und wenn er Wirkung hat: iſt es
nicht gleichviel, ob er dieſe, oder ob er jene hat?
Wenn er die Zuſchauer beſchäftiget, wenn er
ſie vergnügt: was will man denn mehr? Müſ-
ſen ſie denn, nothwendig nur nach den Regeln des
Ariſtoteles, beſchäftiget und vergnügt werden?
D d 3Das
[214]
Das klingt ſo unrecht nicht: aber es iſt dar-
auf zu antworten. Ueberhaupt: wenn Richard
ſchon keine Tragödie wäre, ſo bleibt er doch
ein dramatiſches Gedicht; wenn ihm ſchon die
Schönheiten der Tragödie mangelten, ſo könnte
er doch ſonſt Schönheiten haben. Poeſie des
Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kühne Geſin-
nungen; einen feurigen hinreiſſenden Dialog;
glückliche Veranlaſſungen für den Akteur, den
ganzen Umfang ſeiner Stimme mit den mannich-
faltigſten Abwechſelungen zu durchlaufen, ſeine
ganze Stärke in der Pantomime zu zeigen u. ſ. w.
Von dieſen Schönheiten hat Richard viele,
und hat auch noch andere, die den eigentlichen
Schönheiten der Tragödie näher kommen.
Richard iſt ein abſcheulicher Böſewicht: aber
auch die Beſchäftigung unſers Abſcheues iſt nicht
ganz ohne Vergnügen; beſonders in der Nach-
ahmung.
Auch das Ungeheuere in den Verbrechen par-
ticipiret von den Empfindungen, welche Größe
und Kühnheit in uns erwecken.
Alles, was Richard thut, iſt Greuel; aber
alle dieſe Greuel geſchehen in Abſicht auf etwas;
Richard hat einen Plan; und überall, wo wir
einen Plan wahrnehmen, wird unſere Neugierde
rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgeführt
wird werden, und wie er es wird werden; wir
lieben das Zweckmäßige ſo ſehr, daß es uns,
auch
[215] auch unabhängig von der Moralität des Zweckes,
Vergnügen gewähret.
Wir wollten, daß Richard ſeinen Zweck er-
reichte: und wir wollten, daß er ihn auch nicht
erreichte. Das Erreichen erſpart uns das Miß-
vergnügen, über ganz vergebens angewandte
Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, ſo iſt ſo
viel Blut völlig umſonſt vergoſſen worden; da
es einmal vergoſſen iſt, möchten wir es nicht
gern, auch noch blos vor langer Weile, vergoſ-
ſen finden. Hinwiederum wäre dieſes Errei-
chen das Frohlocken der Bosheit; nichts hören
wir ungerner; die Abſicht intereßirte uns, als
zu erreichende Abſicht; wenn ſie aber nun er-
reicht wäre, würden wir nichts als das Abſcheu-
liche derſelben erblicken, würden wir wünſchen,
daß ſie nicht erreicht wäre; dieſen Wunſch ſehen
wir voraus, und uns ſchaudert vor der Errei-
chung.
Die guten Perſonen des Stücks lieben wir;
eine ſo zärtliche feurige Mutter, Geſchwiſter,
die ſo ganz eines in dem andern leben; dieſe Ge-
genſtände gefallen immer, erregen immer die
ſüßeſten ſympathetiſchen Empfindungen, wir
mögen ſie finden, wo wir wollen. Sie ganz
ohne Schuld leiden zu ſehen, iſt zwar herbe, iſt
zwar für unſere Ruhe, zu unſerer Beſſerung,
kein ſehr erſprießliches Gefühl: aber es iſt doch
immer Gefühl.
Und
[216]
Und ſo nach beſchäftiget uns das Stück durch-
aus, und vergnügt durch dieſe Beſchäftigung
unſerer Seelenkräfte. Das iſt wahr; nur die
Folge iſt nicht wahr, die man daraus zu ziehen
meinet: nehmlich, daß wir alſo damit zufrieden
ſeyn können.
Ein Dichter kann viel gethan, und doch noch
nichts damit verthan haben. Nicht genug, daß
ſein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß
auch die haben, die ihm, vermöge der Gattung,
zukommen; es muß dieſe vornehmlich haben,
und alle andere können den Mangel derſelben
auf keine Weiſe erſetzen; beſonders wenn die
Gattung von der Wichtigkeit und Schwierig-
keit, und Koſtbarkeit iſt, daß alle Mühe und
aller Aufwand vergebens wäre, wenn ſie weiter
nichts als ſolche Wirkungen hervorbringen woll-
te, die durch eine leichtere und weniger Anſtal-
ten erfordernde Gattung eben ſowohl zu erhalten
wären. Ein Bund Stroh aufzuheben, muß
man keine Maſchinen in Bewegung ſetzen; was
ich mit dem Fuße umſtoſſen kann, muß ich nicht
mit einer Mine ſprengen wollen; ich muß keinen
Scheiterhaufen anzünden, um eine Mücke zu
verbrennen.
Ham-
[[217]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Achtzigſtes Stück.
Wozu die ſauere Arbeit der dramatiſchen
Form? wozu ein Theater erbauet,
Männer und Weiber verkleidet, Ge-
dächtniſſe gemartert, die ganze Stadt auf einen
Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke,
und mit der Aufführung deſſelben, weiter
nichts hervorbringen will, als einige von den
Regungen, die eine gute Erzehlung, von jedem
zu Hauſe in ſeinem Winkel geleſen, ungefehr
auch hervorbringen würde.
Die dramatiſche Form iſt die einzige, in wel-
cher ſich Mitleid und Furcht erregen läßt; we-
nigſtens können in keiner andern Form dieſe Lei-
denſchaften auf einen ſo hohen Grad erreget wer-
den: und gleichwohl will man lieber alle andere
darinn erregen, als dieſe; gleichwohl will man
ſie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem,
wozu ſie ſo vorzüglich geſchickt iſt.
E eDas
[218]
Das Publikum nimt vorlieb. — Das iſt gut,
und auch nicht gut. Denn man ſehnt ſich nicht
ſehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb
nehmen muß.
Es iſt bekannt, wie erpicht das griechiſche
und römiſche Volk auf die Schauſpiele waren;
beſonders jenes, auf das tragiſche. Wie gleich-
gültig, wie kalt iſt dagegen unſer Volk für das
Theater! Woher dieſe Verſchiedenheit, wenn
ſie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ih-
rer Bühne ſich mit ſo ſtarken, ſo außerordentli-
chen Empfindungen begeiſtert fühlten, daß ſie
den Augenblick nicht erwarten konnten, ſie aber-
mals und abermals zu haben: dahingegen wir
uns vor unſerer Bühne ſo ſchwacher Eindrücke
bewußt ſind, daß wir es ſelten der Zeit und des
Geldes werth halten, ſie uns zu verſchaffen?
Wir gehen, faſt alle, faſt immer, aus Neugier-
de, aus Mode, aus Langerweile, aus Geſell-
ſchaft, aus Begierde zu begaffen und begaft zu
werden, ins Theater: und nur wenige, und
dieſe wenige nur ſparſam, aus anderer Abſicht.
Jch ſage, wir, unſer Volk, unſere Bühne:
ich meine aber nicht blos, uns Deutſche. Wir
Deutſche bekennen es treuherzig genug, daß wir
noch kein Theater haben. Was viele von un-
ſern Kunſtrichtern, die in dieſes Bekenntniß
mit einſtimmen, und große Verehrer des fran-
zöſiſchen Theaters ſind, dabey denken: das kann
ich
[219] ich ſo eigentlich nicht wiſſen. Aber ich weiß
wohl, was ich dabey denke. Jch denke nehm-
lich dabey: daß nicht allein wir Deutſche; ſon-
dern, daß auch die, welche ſich ſeit hundert
Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das
beſte Theater von ganz Europa zu haben prah-
len, — daß auch die Franzoſen noch kein Theater
haben.
Kein Tragiſches gewiß nicht! Denn auch die
Eindrücke, welche die franzöſiſche Tragödie
macht, ſind ſo flach, ſo kalt! — Man höre ei-
nen Franzoſen ſelbſt, davon ſprechen.
„Bey den hervorſtechenden Schönheiten un-
„ſers Theaters, ſagt der Herr von Voltaire,
„fand ſich ein verborgner Fehler, den man nicht
„bemerkt hatte, weil das Publikum von ſelbſt
„keine höhere Jdeen haben konnte, als ihm die
„großen Meiſter durch ihre Muſter beybrachten.
„Der einzige Saint-Evremont hat dieſen Feh-
„ler aufgemutzt; er ſagt nehmlich, daß unſere
„Stücke nicht Eindruck genug machten, daß
„das, was Mitleid erwecken ſolle, aufs höchſte
„Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle
„der Erſchütterung, und Erſtaunen die Stelle
„des Schreckens vertrete; kurz, daß unſere
„Empfindungen nicht tief genug gingen. Es
„iſt nicht zu leugnen: Saint-Evremont hat mit
„dem Finger gerade auf die heimliche Wunde
„des franzöſiſchen Theaters getroffen. Man
E e 2„ſage
[220] „ſage immerhin, daß Saint-Evremont der Ver-
„faſſer der elenden Komödie Sir Politik Would-
„be, und noch einer andern eben ſo elenden, die
„Opern genannt, iſt; daß ſeine kleinen geſell-
„ſchaftlichen Gedichte das kahlſte und gemeinſte
„ſind, was wir in dieſer Gattung haben; daß
„er nichts als ein Phraſesdrechsler war: man
„kann keinen Funken Genie haben, und gleich-
„wohl viel Witz und Geſchmack beſitzen. Sein
„Geſchmack aber war unſtreitig ſehr fein, da er
„die Urſache, warum die meiſten von unſern
„Stücken ſo matt und kalt ſind, ſo genau traf.
„Es hat uns immer an einem Grade von Wär-
„me gefehlt: das andere hatten wir alles.„
Das iſt: wir hatten alles, nur nicht das,
was wir haben ſollten; unſere Tragödien waren
vortrefflich, nur daß es keine Tragödien waren.
Und woher kam es, daß ſie das nicht waren?
„Dieſe Kälte aber, fährt er fort, dieſe ein-
„förmige Mattigkeit, entſprang zum Theil von
„dem kleinen Geiſte der Galanterie, der damals
„unter unſern Hofleuten und Damen ſo herrſchte,
„und die Tragödie in eine Folge von verliebten
„Geſprächen verwandelte, nach dem Geſchmacke
„des Cyrus und der Clelie. Was für Stücke
„ſich hiervon noch etwa ausnahmen, die beſtan-
„den aus langen politiſchen Raiſonnements, der-
„gleichen den Sertorius ſo verdorben, den Otho
„ſo kalt, und den Surena und Attila ſo elend
„ge-
[221] „gemacht haben. Noch fand ſich aber auch eine
„andere Urſache, die das hohe Pathetiſche von
„unſerer Scene zurückhielt, und die Handlung
„wirklich tragiſch zu machen verhinderte: und
„dieſe war, das enge ſchlechte Theater mit ſei-
„nen armſeligen Verzierungen. — Was ließ
„ſich auf einem Paar Dutzend Brettern, die
„noch dazu mit Zuſchauern angefüllt waren,
„machen? Mit welchem Pomp, mit welchen
„Zurüſtungen konnte man da die Augen der Zu-
„ſchauer beſtechen, feſſeln, täuſchen? Welche
„große tragiſche Action ließ ſich da aufführen?
„Welche Freyheit konnte die Einbildungskraft
„des Dichters da haben? Die Stücke mußten
„aus langen Erzehlungen beſtehen, und ſo wur-
„den ſie mehr Geſpräche als Spiele. Jeder
„Akteur wollte in einer langen Monologe glän-
„zen, und ein Stück, das dergleichen nicht
„hatte, ward verworfen. — Bey dieſer Form
„fiel alle theatraliſche Handlung weg; fielen
„alle die großen Ausdrücke der Leidenſchaften,
„alle die kräftigen Gemählde der menſchlichen
„Unglücksfälle, alle die ſchrecklichen bis in das
„Jnnerſte der Seele dringende Züge weg; man
„rührte das Herz nur kaum, anſtatt es zu zer-
„reiſſen.„
Mit der erſten Urſache hat es ſeine gute Rich-
tigkeit. Galanterie und Politik läßt immer
kalt; und noch iſt es keinem Dichter in der Welt
E e 3ge-
[222] gelungen, die Erregung des Mitleids und der
Furcht damit zu verbinden. Jene laſſen uns
nichts als den Fat, oder den Schulmeiſter hören:
und dieſe fodern, daß wir nichts als den Men-
ſchen hören ſollen.
Aber die zweyte Urſache? — Sollte es mög-
lich ſeyn, daß der Mangel eines geräumlichen
Theaters und guter Verzierungen, einen ſolchen
Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt
hätte? Jſt es wahr, daß jede tragiſche Hand-
lung Pomp und Zurüſtungen erfodert? Oder
ſollte der Dichter nicht vielmehr ſein Stück ſo
einrichten, daß es auch ohne dieſe Dinge ſeine
völlige Wirkung hervorbrächte?
Nach dem Ariſtoteles, ſollte er es allerdings.
„Furcht und Mitleid, ſagt der Philoſoph, läßt
„ſich zwar durchs Geſicht erregen; es kann aber
„auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten
„ſelbſt entſpringen, welches letztere vorzüglicher,
„und die Weiſe des beſſern Dichters iſt. Denn
„die Fabel muß ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie,
„auch ungeſehen, den, der den Verlauf ihrer
„Begebenheiten blos anhört, zu Mitleid und
„Furcht über dieſe Begebenheiten bringet; ſo
„wie die Fabel des Oedips, die man nur anhö-
„ren darf, um dazu gebracht zu werden. Dieſe
„Abſicht aber durch das Geſicht erreichen wol-
„len, erfodert weniger Kunſt, und iſt deren
„Sache, welche die Vorſtellung des Stücks
„übernommen.„
Wie
[223]
Wie entbehrlich überhaupt die theatraliſchen
Verzierungen ſind, davon will man mit den
Stücken des Shakeſpears eine ſonderbare Er-
fahrung gehabt haben. Welche Stücke brauch-
ten, wegen ihrer beſtändigen Unterbrechung
und Veränderung des Orts, des Beyſtandes
der Scenen und der ganzen Kunſt des Decora-
teurs wohl mehr, als eben dieſe? Gleichwohl
war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen ſie
geſpielt wurden, aus nichts beſtanden, als aus
einem Vorhange von ſchlechtem groben Zeuge,
der, wenn er aufgezogen war, die bloßen blan-
ken, höchſtens mit Matten oder Tapeten behan-
genen, Wände zeigte; da war nichts als die Ein-
bildung, was dem Verſtändniſſe des Zuſchauers
und der Ausführung des Spielers zu Hülfe
kommen konnte: und dem ohngeachtet, ſagt
man, waren damals die Stücke des Shake-
ſpears ohne alle Scenen verſtändlicher, als ſie
es hernach mit denſelben geweſen ſind. (*)
Wenn
[224]
Wenn ſich alſo der Dichter um die Verzierung
gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzie-
rung, auch wo ſie nöthig ſcheinet, ohne beſon-
dern Nachtheil ſeines Stücks wegbleiben kann:
warum ſollte es an dem engen, ſchlechten Thea-
ter gelegen haben, daß uns die franzöſiſchen
Dichter keine rührendere Stücke geliefert?
Nicht doch: es lag an ihnen ſelbſt.
Und das beweiſet die Erfahrung. Denn nun
haben ja die Franzoſen eine ſchönere, geräumli-
chere Bühne; keine Zuſchauer werden mehr dar-
auf geduldet; die Couliſſen ſind leer; der Deco-
rateur hat freyes Feld; er mahlt und bauet dem
Poeten alles, was dieſer von ihm verlangt: aber
wo ſind ſie denn die wärmern Stücke, die ſie ſeit-
dem erhalten haben? Schmeichelt ſich der Herr
von Voltaire, daß ſeine Semiramis ein ſolches
Stück iſt? Da iſt Pomp und Verzierung ge-
nug; ein Geſpenſt oben darein: und doch kenne
ich nichts kälteres, als ſeine Semiramis.
Ham-
[[225]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und achtzigſtes Stück.
Will ich denn nun aber damit ſagen, daß
kein Franzoſe fähig ſey, ein wirklich
rührendes tragiſches Werk zu machen?
daß der volatile Geiſt der Nation einer ſolchen
Arbeit nicht gewachſen ſey? — Jch würde mich
ſchämen, wenn mir das nur eingekommen wäre.
Deutſchland hat ſich noch durch keinen Bouhours
lächerlich gemacht. Und ich, für mein Theil,
hätte nun gleich die wenigſte Anlage dazu.
Denn ich bin ſehr überzeugt, daß kein Volk
in der Welt irgend eine Gabe des Geiſtes vor-
züglich vor andern Völkern erhalten habe.
Man ſagt zwar: der tiefſinnige Engländer,
der witzige Franzoſe. Aber wer hat denn die
Theilung gemacht? Die Natur gewiß nicht,
die alles unter alle gleich vertheilet. Es giebt
eben ſo viel witzige Engländer, als witzige Fran-
zoſen; und eben ſo viel tiefſinnige Franzoſen,
F fals
[226] als tiefſinnige Engländer: der Braß von dem
Volke aber iſt keines von beiden. —
Was will ich denn? Jch will blos ſagen,
was die Franzoſen gar wohl haben könnten, daß
ſie das noch nicht haben: die wahre Tragödie.
Und warum noch nicht haben? — Dazu hätte
ſich der Herr von Voltaire ſelbſt beſſer kennen
müſſen, wenn er es hätte treffen wollen.
Jch meine: ſie haben es noch nicht; weil ſie
es ſchon lange gehabt zu haben glauben. Und
in dieſem Glauben werden ſie nun freylich durch
etwas beſtärkt, das ſie vorzüglich vor allen Völ-
kern haben; aber es iſt keine Gabe der Natur:
durch ihre Eitelkeit.
Es geht mit den Nationen, wie mit einzeln
Menſchen. — Gottſched (man wird leicht be-
greifen, wie ich eben hier auf dieſen falle,) galt
in ſeiner Jugend für einen Dichter, weil man
damals den Versmacher von dem Dichter noch
nicht zu unterſcheiden wußte. Philoſophie und
Critik ſetzten nach und nach dieſen Unterſchied
ins Helle: und wenn Gottſched mit dem Jahr-
hunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn ſich
ſeine Einſichten und ſein Geſchmack nur zugleich
mit den Einſichten und dem Geſchmacke ſeines
Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen:
ſo hätte er vielleicht wirklich aus dem Versma-
cher ein Dichter werden können. Aber da er
ſich ſchon ſo oft den größten Dichter hatte nen-
nen
[227] nen hören, da ihn ſeine Eitelkeit überredet hat-
te, daß er es ſey: ſo unterblieb jenes. Er
konnte unmöglich erlangen, was er ſchon zu be-
ſitzen glaubte: und je älter er ward, deſto hart-
näckiger und unverſchämter ward er, ſich in die-
ſem träumeriſchen Beſitze zu behaupten.
Gerade ſo, dünkt mich, iſt es den Franzoſen
ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein
wenig aus der Barbarey: ſo glaubten ſie es der
Vollkommenheit ſchon ganz nahe. Racine ſchien
ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und
hierauf war gar nicht mehr die Frage, (die es
zwar auch nie geweſen,) ob der tragiſche Dichter
nicht noch pathetiſcher, noch rührender ſeyn kön-
ne, als Corneille und Racine, ſondern dieſes
ward für unmöglich angenommen, und alle
Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte
ſich darauf einſchränken, dem einen oder dem
andern ſo ähnlich zu werden als möglich. Hun-
dert Jahre haben ſie ſich ſelbſt, und zum Theil
ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme
einer, und ſage ihnen das, und höre, was ſie
antworten!
Von beiden aber iſt es Corneille, welcher den
meiſten Schaden geſtiftet, und auf ihre tragi-
ſchen Dichter den verderblichſten Einfluß ge-
habt hat. Denn Racine hat nur durch ſeine
Muſter verführt: Corneille aber, durch ſeine
Muſter und Lehren zugleich.
F f 2Dieſe
[228]
Dieſe letztern beſonders, von der ganzen Na-
tion (bis auf einen oder zwey Pedanten, einen
Hedelin, einen Dacier, die aber oft ſelbſt nicht
wußten, was ſie wollten,) als Orakelſprüche
angenommen, von allen nachherigen Dichtern
befolgt: haben, — ich getraue mich, es Stück
vor Stück zu beweiſen, — nichts anders, als
das kahlſte, wäßrigſte, untragiſchſte Zeug her-
vorbringen können.
Die Regeln des Ariſtoteles, ſind alle auf die
höchſte Wirkung der Tragödie calculirt. Was
macht aber Corneille damit? Er trägt ſie falſch
und ſchielend genug vor; und weil er ſie doch
noch viel zu ſtrenge findet: ſo ſucht er, bey einer
nach der andern, quelque moderation, quel-
que favorable interpretation; entkräftet
und verſtümmelt, deutelt und vereitelt eine
jede, — und warum? pour n’etre pas obli-
gés de condamner beaucoup de poemes
que nous avons vû réuſſir ſur nos thea-
tres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu dür-
fen, die auf unſern Bühnen Beyfall gefunden.
Eine ſchöne Urſache!
Jch will die Hauptpunkte geſchwind berüh-
ren. Einige davon habe ich ſchon berührt; ich
muß ſie aber, des Zuſammenhanges wegen,
wiederum mitnehmen.
1. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit-
leid und Furcht erregen. — Corneille ſagt: o ja,
aber
[229] aber wie es kömmt; beides zugleich iſt eben nicht
immer nöthig; wir ſind auch mit einem zufrie-
den; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein an-
dermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb
ich, ich der große Corneille, ſonſt mit meinem
Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kin-
der erwecken Mitleid; und ſehr großes Mitleid:
aber Furcht wohl ſchwerlich. Und wiederum:
wo blieb ich ſonſt mit meiner Cleopatra, mit
meinem Pruſias, mit meinem Phocas? Wer
kann Mitleid mit dieſen Nichtswürdigen haben?
Aber Furcht erregen ſie doch. — So glaubte
Corneille: und die Franzoſen glaubten es ihm
nach.
2. Ariſtoteles ſagt: die Tragödie ſoll Mit-
leid und Furcht erregen; beides, verſteht ſich,
durch eine und eben dieſelbe Perſon. — Cor-
neille ſagt: wenn es ſich ſo trift, recht gut.
Aber abſolut nothwendig iſt es eben nicht; und
man kann ſich gar wohl auch verſchiedener Per-
ſonen bedienen, dieſe zwey Empfindungen her-
vorzubringen: ſo wie Jch in meiner Rodogune
gethan habe. — Das hat Corneille gethan:
und die Franzoſen thun es ihm nach.
3. Ariſtoteles ſagt: durch das Mitleid und
die Furcht, welche die Tragödie erweckt, ſoll
unſer Mitleid und unſere Furcht, und was die-
ſen anhängig, gereiniget werden. — Corneille
weiß davon gar nichts, und bildet ſich ein, Ari-
F f 3ſto-
[230] ſtoteles habe ſagen wollen: die Tragödie erwecke
unſer Mitleid, um unſere Furcht zu erwecken,
um durch dieſe Furcht die Leidenſchaften in uns
zu reinigen, durch die ſich der bemitleidete Ge-
genſtand ſein Unglück zugezogen. Jch will von
dem Werthe dieſer Abſicht nicht ſprechen: ge-
nug, daß es nicht die ariſtoteliſche iſt; und daß,
da Corneille ſeinen Tragödien eine ganz andere
Abſicht gab, auch nothwendig ſeine Tragödien
ſelbſt ganz andere Werke werden mußten, als
die waren, von welchen Ariſtoteles ſeine Abſicht
abſtrahiret hatte; es mußten Tragödien werden,
welches keine wahre Tragödien waren. Und
daß ſind nicht allein ſeine, ſondern alle franzöſi-
ſche Tragödien geworden; weil ihre Verfaſſer
alle, nicht die Abſicht des Ariſtoteles, ſondern
die Abſicht des Corneille, ſich vorſetzten. Jch
habe ſchon geſagt, daß Dacier beide Abſichten
wollte verbunden wiſſen: aber auch durch dieſe
bloße Verbindung, wird die erſtere geſchwächt,
und die Tragödie muß unter ihrer höchſten Wir-
kung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich ge-
zeigt, von der erſtern nur einen ſehr unvollſtän-
digen Begriff, und es war kein Wunder, wenn
er ſich daher einbildete, daß die franzöſiſchen
Tragödien ſeiner Zeit, noch eher die erſte, als
die zweyte Abſicht erreichten. „Unſere Tra-
„gödie, ſagt er, iſt, zu Folge jener, noch ſo
„ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu er-
„wecken
[231] „wecken und zu reinigen. Aber dieſe gelingt
„ihr nur ſehr ſelten, die doch gleichwohl die
„wichtigere iſt, und ſie reiniget die übrigen Lei-
„denſchaften nur ſehr wenig, oder, da ſie ge-
„meiniglich nichts als Liebesintriguen enthält,
„wenn ſie ja eine davon reinigte, ſo würde es
„einzig und allein die Liebe ſeyn, woraus denn
„klar erhellet, daß ihr Nutzen nur ſehr klein
„iſt.„ (*) Gerade umgekehrt! Es giebt noch
eher franzöſiſche Tragödien, welche der zwey-
ten, als welche der erſten Abſicht ein Genüge
leiſten. Jch kenne verſchiedene franzöſiſche
Stücke, welche die unglücklichen Folgen ir-
gend einer Leidenſchaft recht wohl ins Licht
ſetzen; aus denen man viele gute Lehren, dieſe
Leidenſchaft betreffend, ziehen kann: aber ich
kenne keines, welches mein Mitleid in dem Gra-
de erregte, in welchem die Tragödie es erregen
ſollte, in welchem ich, aus verſchiedenen grie-
chi-
[232] chiſchen und engliſchen Stücken gewiß weiß, daß
ſie es erregen kann. Verſchiedene franzöſiſche
Tragödien ſind ſehr feine, ſehr unterrichtende
Werke, die ich alles Lobes werth halte: nur,
daß es keine Tragödien ſind. Die Verfaſſer
derſelben konnten nicht anders, als ſehr gute
Köpfe ſeyn; ſie verdienen, zum Theil, unter
den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß
ſie keine tragiſche Dichter ſind; nur daß ihr
Corneille und Racine, ihr Crebillon und Vol-
taire von dem wenig oder gar nichts haben,
was den Sophokles zum Sophokles, den Eu-
ripides zum Euripides, den Shakeſpear zum
Shakeſpear macht. Dieſe ſind ſelten mit den
weſentlichen Foderungen des Ariſtoteles im Wi-
derſpruch: aber jene deſto öfterer. Denn nur
weiter —
Ham-
[[233]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und achtzigſtes Stück.
4. Ariſtoteles ſagt: man muß keinen ganz
guten Mann, ohne alle ſein Verſchul-
den, in der Tragödie unglücklich wer-
den laſſen; denn ſo was ſey gräßlich. — Ganz
recht, ſagt Corneille; „ein ſolcher Ausgang er-
„weckt mehr Unwillen und Haß gegen den, wel-
„cher das Leiden verurſacht, als Mitleid für
„den, welchen es trift. Jene Empfindung alſo,
„welche nicht die eigentliche Wirkung der Tra-
„gödie ſeyn ſoll, würde, wenn ſie nicht ſehr fein
„behandelt wäre, dieſe erſticken, die doch eigent-
„lich hervorgebracht werden ſollte. Der Zu-
„ſchauer würde mißvergnügt weggehen, weil
„ſich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden ver-
„miſcht, welches ihm gefallen hätte, wenn er
„es allein mit wegnehmen können. Aber —
kömmt Corneille hinten nach; denn mit einem Aber
muß er nachkommen, — „aber, wenn dieſe Ur-
G g„ſache
[234] „ſache wegfällt, wenn es der Dichter ſo einge-
„richtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet,
„mehr Mitleid für ſich, als Widerwillen gegen
„den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn? —
„O alsdenn, ſagt Corneille, halte ich dafür,
„darf man ſich gar kein Bedenken machen, auch
„den tugendhafteſten Mann auf dem Theater im
„Unglücke zu zeigen.„ (*) — Jch begreife nicht,
wie man gegen einen Philoſophen ſo in den Tag
hineinſchwatzen kann; wie man ſich das Anſe-
hen geben kann, ihn zu verſtehen, indem man
ihn Dinge ſagen läßt, an die er nie gedacht hat.
Das gänzlich unverſchuldete Unglück eines
rechtſchaffenen Mannes, ſagt Ariſtoteles, iſt
kein Stoff für das Trauerſpiel; denn es iſt
gräßlich. Aus dieſem Denn, aus dieſer Ur-
ſache, macht Corneille ein Jnſofern, eine bloße
Bedingung, unter welcher es tragiſch zu ſeyn
aufhört. Ariſtoteles ſagt: es iſt durchaus
gräßlich, und eben daher untragiſch. Cor-
neille aber ſagt: es iſt untragiſch, inſofern es
gräßlich iſt. Dieſes Gräßliche findet Ariſtote-
les in dieſer Art des Unglückes ſelbſt: Corneille
aber ſetzt es in den Unwillen, den es gegen den
Urheber deſſelben verurſacht. Er ſieht nicht,
oder will nicht ſehen, daß jenes Gräßliche ganz
etwas
[235] etwas anders iſt, als dieſer Unwille; daß wenn
auch dieſer ganz wegfällt, jenes doch noch in ſei-
nem vollen Maaße vorhanden ſeyn kann: ge-
nug, daß vors erſte mit dieſem Quid pro quo
verſchiedene von ſeinen Stücken gerechtfertiget
ſcheinen, die er ſo wenig wider die Regeln des
Ariſtoteles will gemacht haben, daß er vielmehr
vermeſſen genug iſt, ſich einzubilden, es habe
dem Ariſtoteles blos an dergleichen Stücken ge-
fehlt, um ſeine Lehre darnach näher einzuſchrän-
ken, und verſchiedene Manieren daraus zu ab-
ſtrahiren, wie dem ohngeachtet das Unglück des
ganz rechtſchaffenen Mannes ein tragiſcher Ge-
genſtand werden könne. En voici, ſagt er,
deux ou trois manières, que peut-ètre
Ariſtote n’a ſû prevoir, parce qu’on n’en
voyoit pas d’exemples ſur les théatres de
ſon tems. Und von wem ſind dieſe Exempel?
Von wem anders, als von ihm ſelbſt? Und
welches ſind jene zwey oder drey Manieren?
Wir wollen geſchwind ſehen. — „Die erſte,
ſagt er, „iſt, wenn ein ſehr Tugendhafter durch
„einen ſehr Laſterhaften verfolgt wird, der Ge-
„fahr aber entkömmt, und ſo, daß der Laſter-
„hafte ſich ſelbſt darinn verſtricket, wie es in
„der Rodogune und im Heraklius geſchiehet,
„wo es ganz unerträglich würde geweſen ſeyn,
„wenn in dem erſten Stücke Antiochus und Ro-
„dogune, und in dem andern Heraklius, Pul-
G g 2„cheria
[236] „cheria und Martian umgekommen wären, Cleo-
„patra und Phokas aber triumphiret hätten.
„Das Unglück der erſtern erweckt ein Mitleid,
„welches durch den Abſchen, den wir wider ihre
„Verfolger haben, nicht erſtickt wird, weil
„man beſtändig hoft, daß ſich irgend ein glück-
„licher Zufall eräugnen werde, der ſie nicht un-
„terliegen laſſe.„ Das mag Corneille ſonſt
jemanden weiß machen, daß Ariſtoteles dieſe
Manier nicht gekannt habe! Er hat ſie ſo wohl
gekannt, daß er ſie, wo nicht gänzlich verwor-
fen, wenigſtens mit ausdrücklichen Worten für
angemeſſener der Komödie als Tragödie erklärt
hat. Wie war es möglich, daß Corneille die-
ſes vergeſſen hatte? Aber ſo geht es allen, die
im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahr-
heit machen. Jm Grunde gehört dieſe Manier
auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle.
Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht un-
glücklich, ſondern befindet ſich nur auf dem
Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitlei-
dige Beſorgniſſe für ihn erregen kann, ohne
gräßlich zu ſeyn. — Nun, die zweyte Manier!
„Auch kann es ſich zutragen, ſagt Corneille,
„daß ein ſehr tugendhafter Mann verfolgt
„wird, und auf Befehl eines andern umkömmt,
„der nicht laſterhaft genug iſt, unſern Unwillen
„allzuſehr zu verdienen, indem er in der Ver-
„folgung, die er wider den Tugendhaften betrei-
„bet,
[237] „bet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget.
„Wenn Felix ſeinem Eidam Polyeukt umkom-
„men läßt, ſo iſt es nicht aus wüthendem Eifer
„gegen die Chriſten, der ihn uns verabſcheu-
„ungswürdig machen würde, ſondern blos aus
„kriechender Furchtſamkeit, die ſich nicht ge-
„trauet, ihn in Gegenwart des Severus zu
„retten, vor deſſen Haſſe und Rache er in Sor-
„gen ſtehet. Man faſſet alſo wohl einigen Un-
„willen gegen ihn, und mißbilliget ſein Ver-
„fahren; doch überwiegt dieſer Unwille nicht
„das Mitleid, welches wir für den Polyeukt
„empfinden, und verhindert auch nicht, daß
„ihn ſeine wunderbare Bekehrung, zum Schluſſe
„des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zu-
„hörern ausſöhnen ſollte.„ Tragiſche Stümper,
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten, und
ſelbſt in Athen gegeben. Warum ſollte es alſo
dem Ariſtoteles an einem Stücke, von ähnli-
cher Einrichtung, gefehlt haben, um daraus
eben ſo erleuchtet zu werden, als Corneille?
Poſſen! Die furchtſamen, ſchwanken, unent-
ſchloſſenen Charaktere, wie Felix, ſind in der-
gleichen Stücken ein Fehler mehr, und machen
ſie noch oben darein ihrer Seits kalt und eckel,
ohne ſie auf der andern Seite im geringſten we-
niger gräßlich zu machen. Denn, wie geſagt,
das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder
Abſcheu, den ſie erwecken: ſondern in dem Un-
G g 3glücke
[238] glücke ſelbſt, das jene unverſchuldet trift; daß
ſie einmal ſo unverſchuldet trift als das andere,
ihre Verfolger mögen böſe oder ſchwach ſeyn,
mögen mit oder ohne Vorſatz ihnen ſo hart fal-
len. Der Gedanke iſt an und für ſich ſelbſt
gräßlich, daß es Menſchen geben kann, die
ohne alle ihr Verſchulden unglücklich ſind. Die
Heiden hätten dieſen gräßlichen Gedanken ſo
weit von ſich zu entfernen geſucht, als möglich:
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns
an Schauſpielen vergnügen, die ihn beſtätigen?
wir? die Religion und Vernunft überzeuget
haben ſollte, daß er eben ſo unrichtig als got-
tesläſterlich iſt? — Das nehmliche würde ſicher-
lich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn
ſie Corneille nicht ſelbſt näher anzugeben, ver-
geſſen hätte.
5. Auch gegen das, was Ariſtoteles von der
Unſchicklichkeit eines ganz Laſterhaften zum tra-
giſchen Helden ſagt, als deſſen Unglück weder
Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Cor-
neille ſeine Läuterungen bey. Mitleid zwar,
geſteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob ſich ſchon keiner von den
Zuſchauern der Laſter deſſelben fähig glaube,
und folglich auch deſſelben ganzes Unglück nicht
zu befürchten habe: ſo könne doch ein jeder ir-
gend eine jenen Laſtern ähnliche Unvollkommen-
heit bey ſich hegen, und durch die Furcht vor
den
[239] den zwar proportionirten, aber doch noch immer
unglücklichen Folgen derſelben, gegen ſie auf
ſeiner Hut zu ſeyn lernen. Doch dieſes gründet
ſich auf den falſchen Begriff, welchen Corneille
von der Furcht und von der Reinigung der in
der Tragödie zu erweckenden Leidenſchaften hat-
te, und widerſpricht ſich ſelbſt. Denn ich habe
ſchon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids
von der Erregung der Furcht unzertrennlich iſt,
und daß der Böſewicht, wenn es möglich wäre,
daß er unſere Furcht erregen könne, auch noth-
wendig unſer Mitleid erregen müßte. Da er
aber dieſes, wie Corneille ſelbſt zugeſteht, nicht
kann, ſo kann er auch jenes nicht, und bleibt
gänzlich ungeſchickt, die Abſicht der Tragödie
erreichen zu helfen. Ja Ariſtoteles hält ihn
hierzu noch für ungeſchickter, als den ganz tu-
gendhaften Mann; denn er will ausdrücklich,
Falls man den Held aus der mittlern Gattung
nicht haben könne, daß man ihn eher beſſer als
ſchlimmer wählen ſolle. Die Urſache iſt klar:
ein Menſch kann ſehr ſehr gut ſeyn, und doch noch
mehr als eine Schwachheit haben, mehr als
einen Fehler begehen, wodurch er ſich in ein un-
abſehliches Unglück ſtürzet, das uns mit Mit-
leid und Wehmuth erfüllet, ohne im geringſten
gräßlich zu ſeyn, weil es die natürliche Folge
ſeines Fehlers iſt. — Was Du Bos (*) von
dem
[240] dem Gebrauche der laſterhaften Perſonen in der
Tragödie ſagt, iſt das nicht, was Corneille
will. Du Bos will ſie nur zu den Nebenrol-
len erlauben; blos zu Werkzeugen, die Haupt-
perſonen weniger ſchuldig zu machen; blos zur
Abſtechung. Corneille aber will das vornehm-
ſte Jntereſſe auf ſie beruhen laſſen, ſo wie in der
Rodogune: und das iſt es eigentlich, was mit
der Abſicht der Tragödie ſtreitet, und nicht
jenes. Du Bos merket dabey auch ſehr richtig
an, daß das Unglück dieſer ſubalternen Böſe-
wichter keinen Eindruck auf uns mache. Kaum,
ſagt er, daß man den Tod des Narciß im Bri-
tannicus bemerkt. Aber alſo ſollte ſich der
Dichter, auch ſchon deswegen, ihrer ſo viel als
möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die
Abſicht der Tragödie nicht unmittelbar beför-
dert, wenn ſie bloße Hülfsmittel ſind, durch
die ſie der Dichter deſto beſſer mit andern Per-
ſonen zu erreichen ſucht: ſo iſt es unſtreitig, daß
das Stück noch beſſer ſeyn würde, wenn es die
nehmliche Wirkung ohne ſie hätte. Je ſimpler
eine Maſchine iſt, je weniger Federn und Räder
und Gewichte ſie hat, deſto vollkommener iſt ſie.
Ham-
[[241]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und achtzigſtes Stück.
6. Und endlich, die Mißdeutung der erſten
und weſentlichſten Eigenſchaft, welche
Ariſtoteles für die Sitten der tragiſchen
Perſonen fodert! Sie ſollen gut ſeyn, die Sit-
ten. — Gut? ſagt Corneille. „Wenn gut hier
ſo viel als tugendhaft heiſſen ſoll: ſo wird es
mit den meiſten alten und neuen Tragödien übel
ausſehen, in welchen ſchlechte und laſterhafte,
wenigſtens mit einer Schwachheit, die nächſt
der Tugend ſo recht nicht beſtehen kann, behaf-
tete Perſonen genug vorkommen.„ Beſonders
iſt ihm für ſeine Cleopatra in der Rodogune
bange. Die Güte, welche Ariſtoteles fodert,
will er alſo durchaus für keine moraliſche Güte
gelten laſſen; es muß eine andere Art von Güte
ſeyn, die ſich mit dem moraliſch Böſen eben ſo
wohl verträgt, als mit dem moraliſch Guten.
Gleichwohl meinet Ariſtoteles ſchlechterdings
H heine
[242] eine moraliſche Güte: nur daß ihm tugendhaf-
te Perſonen, und Perſonen, welche in gewiſſen
Umſtänden tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei-
nerley ſind. Kurz, Corneille verbindet eine
ganz falſche Jdee mit dem Worte Sitten, und
was die Proäreſis iſt, durch welche allein, nach
unſerm Weltweiſen, freye Handlungen zu guten
oder böſen Sitten werden, hat er gar nicht ver-
ſtanden. Jch kann mich itzt nicht in einen weit-
läuftigen Beweis einlaſſen; er läßt ſich nur
durch den Zuſammenhang, durch die ſyllogiſti-
ſche Folge aller Jdeen des griechiſchen Kunſt-
richters, einleuchtend genug führen. Jch ver-
ſpare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da
es bey dieſer ohnedem nur darauf ankömmt, zu
zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg
Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges,
ergriffen. Dieſer Ausweg lief dahin: daß Ari-
ſtoteles unter der Güte der Sitten den glänzen-
den und erhabnen Charakter irgend einer tugend-
haften oder ſtrafbaren Neigung verſtehe, ſo wie
ſie der eingeführten Perſon entweder eigenthüm-
lich zukomme, oder ihr ſchicklich beygeleget
werden könne: le caractere brillant \& éle-
vé d’une habitude vertueuſe ou crimi-
nelle, ſelon qu’elle eſt propre \& conve-
nable à la perſonne qu’on introduit.
„Clcopatra in der Rodogune, ſagt er, iſt äuſ-
„ſerſt böſe; da iſt kein Meuchelmord, vor dem
„ſie
[243] „ſie ſich ſcheue, wenn er ſie nur auf dem Throne
„zu erhalten vermag, den ſie allem in der Welt
„vorzieht; ſo heftig iſt ihre Herrſchſucht. Aber
„alle ihre Verbrechen ſind mit einer gewiſſen
„Größe der Seele verbunden, die ſo etwas Er-
„habenes hat, daß man, indem man ihre Hand-
„lungen verdammet, doch die Quelle, woraus
„ſie entſpringen, bewundern muß. Eben die-
„ſes getraue ich mir von dem Lügner zu ſagen.
„Das Lügen iſt unſtreitig eine laſterhafte Ange-
„wohnheit; allein Dorant bringt ſeine Lügen
„mit einer ſolchen Gegenwart des Geiſtes, mit
„ſo vieler Lebhaftigkeit vor, daß dieſe Unvoll-
„kommenheit ihm ordentlich wohl läßt, und die
„Zuſchauer geſtehen müſſen, daß die Gabe ſo
„zu lügen ein Laſter ſey, deſſen kein Dummkopf
„fähig iſt. — Wahrlich, einen verderblichern
Einfall hätte Corneille nicht haben können!
Befolget ihn in der Ausführung, und es iſt um
alle Wahrheit, um alle Täuſchung, um allen
ſittlichen Nutzen der Tragödie gethan! Denn
die Tugend, die immer beſcheiden und einfältig
iſt, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel
und romantiſch: das Laſter aber, mit einem
Firniß überzogen, der uns überall blendet, wir
mögen es aus einem Geſichtspunkte nehmen,
aus welchem wir wollen. Thorheit, bloß durch
die unglücklichen Folgen von dem Laſter abſchre-
cken wollen, indem man die innere Häßlichkeit
H h 2deſſel-
[244] deſſelben verbirgt! Die Folgen ſind zufällig; und
die Erfahrung lehrt, daß ſie eben ſo oft glück-
lich als unglücklich fallen. Dieſes bezieht ſich
auf die Reinigung der Leidenſchaften, wie ſie
Corneille ſich dachte. Wie ich mir ſie vorſtelle,
wie ſie Ariſtoteles gelehrt hat, iſt ſie vollends
nicht mit jenem trügeriſchen Glanze zu verbin-
den. Die falſche Folie, die ſo dem Laſter un-
tergelegt wird, macht daß ich Vollkommenheiten
erkenne, wo keine ſind; macht, daß ich Mitt-
leiden habe, wo ich keines haben ſollte. — Zwar
hat ſchon Dacier dieſer Erklärung widerſpro-
chen, aber aus untriftigern Gründen; und
es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem
Pater Le Boſſu dafür annimmt, nicht eben ſo
nachtheilig iſt, wenigſtens den poetiſchen Voll-
kommenheiten des Stücks eben ſo nachtheilig
werden kann. Er meinet nehmlich, „die Sit-
„ten ſollen gut ſeyn,„ heiſſe nichts mehr als,
ſie ſollen gut ausgedrückt ſeyn, qu’elles ſoient
bien marquées. Das iſt allerdings eine Re-
gel, die, richtig verſtanden, an ihrer Stelle,
aller Aufmerkſamkeit des dramatiſchen Dichters
würdig iſt. Aber wenn es die franzöſiſchen
Muſter nur nicht bewieſen, daß man „gut aus-
drücken„ für ſtark ausdrücken genommen
hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man
hat Druck auf Druck geſetzt, bis aus charakte-
riſirten Perſonen, perſonifirte Charaktere; aus
laſter-
[245] laſterhaften oder tugendhaften Menſchen, hage-
re Gerippe von Laſtern und Tugenden gewor-
den ſind. —
Hier will ich dieſe Materie abbrechen. Wer
ihr gewachſen iſt, mag die Anwendung auf un-
ſern Richard, ſelbſt machen.
Vom Herzog Michel, welcher auf den Ri-
chard folgte, brauche ich wohl nichts zu ſagen.
Auf welchem Theater wird er nicht geſpielt, und
wer hat ihn nicht geſehen oder geleſen? Krüger
hat indeß das wenigſte Verdienſt darum; denn
er iſt ganz aus einer Erzehlung in den Bremi-
ſchen Beyträgen genommen. Die vielen guten
ſatyriſchen Züge, die er enthält, gehören jenem
Dichter, ſo wie der ganze Verfolg der Fabel.
Krügern gehört nichts, als die dramatiſche
Form. Doch hat wirklich unſere Bühne an
Krügern viel verloren. Er hatte Talent zum
niedrig Komiſchen, wie ſeine Candidaten be-
weiſen. Wo er aber rührend und edel ſeyn will,
iſt er froſtig und affectirt. Hr. Löwen hat ſeine
Schriften geſammelt, unter welchen man jedoch
die Geiſtlichen auf dem Lande vermißt.
Dieſes war der erſte dramatiſche Verſuch, wel-
chen Krüger wagte, als er noch auf dem Grauen
Kloſter in Berlin ſtudierte.
Den neun und vierzigſten Abend, (Donner-
ſtags, den 23ſten Julius) ward das Luſtſpiel
H h 3des
[246] des Hrn. von Voltaire, die Frau die Recht hat,
geſpielt, und zum Beſchluße des L’Affichard
Jſt er von Familie? (*) wiederholt.
Die Frau, die Recht hat, iſt eines von den
Stücken, welche der Hr. von Voltaire für ſein
Haustheater gemacht hat. Dafür war es nun
auch gut genug. Es iſt ſchon 1758 zu Carouge
geſpielt worden: aber noch nicht zu Paris; ſo
viel ich weiß. Nicht als ob ſie da, ſeit der Zeit,
keine ſchlechtern Stücke geſpielt hätten: denn
dafür haben die Marins und Le Brets wohl
geſorgt. Sondern weil — ich weiß ſelbſt nicht.
Denn ich wenigſtens möchte doch noch lieber ein
großen Mann in ſeinem Schlafrocke und ſeiner
Nachtmütze, als einen Stümper in ſeinem Fey-
erkleide ſehen.
Charaktere und Jntereſſe hat das Stück nicht;
aber verſchiedne Situationen, die komiſch ge-
nug ſind. Zwar iſt auch das Komiſche aus dem
allergemeinſten Fache, da es ſich auf nichts als
aufs Jncognito, auf Verkennungen und Miß-
verſtändniſſe gründet. Doch die Lacher ſind
nicht eckel; am wenigſten würden es unſre deut-
ſchen Lacher ſeyn, wenn ihnen das reinde der
Sitten und die elende Ueberſetzung das mot
pour rire nur nicht meiſtens ſo unverſtänd-
lich machte.
Den
[247]
Den funfzigſten Abend (Freytags den 24ten
Julius) ward Greſſets Sidney wiederhohlt.
Den Beſchluß machte, der ſehende Blinde.
Dieſes kleine Stück iſt vom Le Grand, und
auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn-
trigue und alles, einem alten Stücke des de Broſ-
ſe abgeborgt. Ein Officier, ſchon etwas bey
Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in
die er verliebt iſt, als er Ordre bekömmt, ſich
zur Armee zu verfügen. Er verläßt ſein Ver-
ſprochene, mit den wechſelſeitigen Verſicherungen
der aufrichtigſten Zärtlichkeit. Kaum aber iſt
er weg, ſo nimmt die Wittwe die Aufwartun-
gen des Sohnes von dieſem Officiere an. Die
Tochter deſſelben macht ſich gleichergeſtalt die
Abweſenheit ihres Vaters zu Nutze, und
nimmt einen jungen Menſchen, den ſie liebt,
im Hauſe auf. Dieſe doppelte Jntrigue wird
dem Vater gemeldet, der, um ſich ſelbſt davon
zu überzeugen, ihnen ſchreiben läßt, daß er ſein
Geſicht verlohren habe. Die Liſt gelingt; er
kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines
Bedienten, der um den Betrug weiß, ſieht er
alles, was in ſeinem Hauſe vorgeht. Die Ent-
wicklung läßt ſich errathen; da der Officier an
der Unbeſtändigkeit der Wittwe nicht länger
zweifeln kann, ſo erlaubt er ſeinem Sohne, ſie
zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm-
liche Erlaubniß, ſich mit ihrem Geliebten zu ver-
bin-
[248] binden. Die Scenen zwiſchen der Wittwe und
dem Sohn des Officiers, in Gegenwart des
letzten, haben viel Komiſches; die Wittwe ver-
ſichert, daß ihr der Zufall des Officiers ſehr na-
he gehe, daß ſie ihn aber darum nicht weniger
liebe; und zugleich giebt ſie ſeinem Sohn, ih-
rem Liebhaber, einen Wink mit den Augen,
oder bezeigt ihm ſonſt ihre Zärtlichkeit durch Ge-
behrden. Das iſt der Jnhalt des alten Stücks
vom de Broſſe, (*) und iſt auch der Jnhalt
von dem neuen Stücke des Le Grand. Nur
daß in dieſem die Jntrigue mit der Tochter weg-
geblieben iſt, um jene fünf Akte deſto leichter in
Einen zu bringen. Aus dem Vater iſt ein Onkel
geworden, und was ſonſt dergleichen klei-
ne Veränderungen mehr ſind. Es mag end-
lich entſtanden ſeyn wie es will; gnug, es ge-
fällt ſehr. Die Ueberſetzung iſt in Verſen, und
vielleicht eine von den beſten die wir haben; ſie
iſt wenigſtens ſehr flieſſend, und hat viele drolli-
ge Zeilen.
Ham-
[[249]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und achtzigſtes Stück.
Den ein und funfzigſten Abend (Montags,
den 27ſten Julius,) ward der Hausvater
des Hrn. Diderot aufgeführt.
Da dieſes vortreffliche Stück, welches den
Franzoſen nur ſo ſo gefällt, — wenigſtens hat
es mit Müh und Noth kaum ein oder zweymal
auf dem Pariſer Theater erſcheinen dürfen, —
ſich, allem Anſehen nach, lange, ſehr lange,
und warum nicht immer? auf unſern Bühnen
erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug
wird können geſpielt werden: ſo hoffe ich, Raum
und Gelegenheit genug zu haben, alles auszu-
kramen, was ich ſowohl über das Stück ſelbſt,
als über das ganze dramatiſche Syſtem des
Verfaſſers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe.
Jch hohle recht weit aus. — Nicht erſt mit
dem natürlichen Sohne, in den beygefügten Un-
terredungen, welche zuſammen im Jahre 1757
J iheraus-
[250] herauskamen, hat Diderot ſein Mißvergnügen
mit dem Theater ſeiner Nation geäußert. Be-
reits verſchiedne Jahre vorher ließ er es ſich
merken, daß er die hohen Begriffe gar nicht da-
von habe, mit welchen ſich ſeine Landsleute täu-
ſchen, und Europa ſich von ihnen täuſchen laſ-
ſen. Aber er that es in einem Buche, in wel-
chem man freylich dergleichen Dinge nicht ſucht;
in einem Buche, in welchem der perſifflirende
Ton ſo herrſchet, daß den meiſten Leſern auch
das, was guter geſunder Verſtand darinn iſt,
nichts als Poſſe und Höhnerey zu ſeyn ſcheinet.
Ohne Zweifel hatte Diderot ſeine Urſachen,
warum er mit ſeiner Herzensmeinung lieber erſt
in einem ſolchen Buche hervorkommen wollte:
ein kluger Mann ſagt öfters erſt mit Lachen, was
er hernach im Ernſte wiederholen will.
Dieſes Buch heißt Les Bijoux indiſcrets,
und Diderot will es itzt durchaus nicht geſchrie-
ben haben. Daran thut Diderot auch ſehr
wohl; aber doch hat er es geſchrieben, und muß
es geſchrieben haben, wenn er nicht ein Plagia-
rius ſeyn will. Auch iſt es gewiß, daß nur ein
ſolcher junger Mann dieſes Buch ſchreiben
konnte, der ſich einmal ſchämen würde, es ge-
ſchrieben zu haben.
Es iſt eben ſo gut, wenn die wenigſten von
meinen Leſern dieſes Buch kennen. Jch will
mich auch wohl hüten, es ihnen weiter bekannt
zu
[251] zu machen, als es hier in meinen Kram die-
net. —
Ein Kayſer — was weiß ich, wo und wel-
cher? — hatte mit einem gewiſſen magiſchen
Ringe gewiſſe Kleinode ſo viel häßliches Zeug
ſchwatzen laſſen, daß ſeine Favoritinn durchaus
nichts mehr davon hören wollte. Sie hätte lie-
ber gar mit ihrem ganzen Geſchlechte darüber
brechen mögen; wenigſten nahm ſie ſich auf die
erſten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig
auf des Sultans Majeſtät und ein Paar witzige
Köpfe einzuſchränken. Dieſe waren, Selim
und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Ric-
carie, ein Mitglied der Kayſerlichen Akademie,
ein Mann, der das Alterthum ſtudiret hatte und
ein großer Verehrer deſſelben war, doch ohne Pe-
dant zu ſeyn. Mit dieſen unterhält ſich die Fa-
voritinn einsmals, und das Geſpräch fällt auf
den elenden Ton der akademiſchen Reden, über
den ſich niemand mehr ereifert als der Sultan
ſelbſt, weil es ihn verdrießt, ſich nur immer
auf Unkoſten ſeines Vaters und ſeiner Vorfah-
ren darinn loben zu hören, und er wohl voraus-
ſieht, daß die Akademie eben ſo auch ſeinen
Ruhm einmal dem Ruhme ſeiner Nachfolger
aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war
dem Sultan in allem beygefallen: und ſo ſpinnt
ſich die Unterredung über das Theater an, die
ich meinen Leſern hier ganz mittheile.
J i 2„Jch
[252]
„Jch glaube, Sie irren ſich, mein Herr:
„antwortete Ricaric dem Selim. Die Akade-
„mie iſt noch itzt das Heiligthum des guten Ge-
„ſchmacks, und ihre ſchönſten Tage haben we-
„der Weltweiſe noch Dichter auf zu weiſen, de-
„nen wir nicht andere aus unſerer Zeit entgegen
„ſetzen könnten. Unſer Theater ward für das
„erſte Theater in ganz Afrika gehalten, und
„wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk
„iſt nicht der Tamerlan des Tuxigraphe! Es
„verbindet das Pathetiſche des Euriſope mit dem
„Erhabnen des Azophe. Es iſt das klare Al-
„terthum!„
„Jch habe, ſagte die Favoritinn, die erſte
„Vorſtellung des Tamerlans geſehen, und
„gleichfalls den Faden des Stücks ſehr richtig
„geführet, den Dialog ſehr zierlich, und das
„Anſtändige ſehr wohl beobachtet gefunden.„
„Welcher Unterſchied, Madam, unterbrach
„ſie Ricaric, zwiſchen einem Verfaſſer wie
„Tuxigraphe, der ſich durch Leſung der Alten
„genähret, und dem größten Theile unſrer
„Neuern!„
„Aber dieſe Neuern, ſagte Selim, die Sie
„hier ſo wacker über die Klinge ſpringen laſſen,
„ſind doch bey weitem ſo verächtlich nicht, als
„Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein
„Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine
„Charaktere, keine Schilderungen, keine Tira-
„den
[253] „den bey ihnen? Was bekümmere ich mich um
„Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht?
„Es ſind wahrlich nicht die Bemerkungen des
„weiſen Almudir und des gelehrten Abdaldok,
„noch die Dichtkunſt des ſcharfſinnigen Facar-
„din, die ich alle nicht geleſen habe, welche es
„machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem,
„des Muhardar, des Albaboukre, und ſo vieler
„andren Saracenen bewundrer! Giebt es denn
„auch eine andere Regel, als die Nachahmung
„der Natur? Und haben wir nicht eben die
„Augen, mit welchen dieſe ſie ſtudierten?„
„Die Natur, antwortete Ricaric, zeiget ſich
„uns alle Augenblicke in verſchiednen Geſtalten.
„Alle ſind wahr, aber nicht alle ſind gleich ſchön.
„Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müſſen
„wir aus den Werken lernen, von welchen Sie
„eben nicht viel zu halten ſcheinen. Es ſind die
„geſammelten Erfahrungen, welche ihre Ver-
„faſſer und deren Vorgänger gemacht haben.
„Man mag ein noch ſo vortrefflicher Kopf ſeyn,
„ſo erlangt man doch nur ſeine Einſichten eine
„nach der andern; und ein einzelner Menſch
„ſchmeichelt ſich vergebens, in dem kurzen Rau-
„me ſeines Lebens, alles ſelbſt zu bemerken,
„was in ſo vielen Jahrhunderten vor ihm ent-
„deckt worden. Sonſt lieſſe ſich behaupten, daß
„eine Wiſſenſchaft ihren Urſprung, ihren Fort-
„gang, und ihre Vollkommenheit einem einzigen
J i 3„Geiſte
[254] „Geiſte zu verdanken haben könne; welches doch
„wider alle Erfahrung iſt.„
„Hieraus, mein Herr, antwortete ihm Se-
„lim, folget weiter nichts, als daß die Neuern,
„welche ſich alle die Schätze zu Nutze machen
„können, die bis auf ihre Zeit geſammelt worden,
„reicher ſeyn müſſen, als die Alten: oder, wenn
„ihnen dieſe Vergleichung nicht gefällt, daß ſie
„auf den Schultern dieſer Koloſſen, auf die ſie ge-
„ſtiegen, nothwendig müſſen weiter ſehen kön-
„nen, als dieſe ſelbſt. Was iſt auch, in der
„That, ihre Naturlehre, ihre Aſtronomie, ihre
„Schiffskunſt, ihre Mechanik, ihre Rechenleh-
„re, in Vergleichung mit unſern? Warum
„ſollten wir ihnen alſo in der Beredſamkeit und
„Poeſie nicht eben ſo wohl überlegen ſeyn?„
„Selim, verſetzte die Sultane, der Unter-
„ſchied iſt groß, und Ricaric kann Jhnen die Ur-
„ſachen davon ein andermal erklären. Er mag
„Jhnen ſagen, warum unſere Tragödien ſchlech-
„ter ſind, als der Alten ihre: aber daß ſie es
„ſind, kann ich leicht ſelbſt auf mich nehmen,
„Jhnen zu beweiſen. Jch will Jhnen nicht
„Schuld geben, fuhr ſie fort, daß Sie die Al-
„ten nicht geleſen haben. Sie haben ſich um
„zu viele ſchöne Kenntniſſe beworben, als daß
„Jhnen das Theater der Alten unbekannt ſeyn
„ſollte. Nun ſetzen Sie gewiſſe Jdeen, die ſich
„auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf
„ihre
[255] „ihre Religion beziehen, und die Jhnen nur
„deswegen anſtößig ſind, weil ſich die Umſtände
„geändert haben, bey Seite, und ſagen Sie
„mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlge-
„wählt und intereſſant iſt? ob ſich die Hand-
„lung nicht gleichſam von ſelbſt einleitet? ob
„der ſimple Dialog dem Natürlichen nicht ſehr
„nahe kömmt? ob die Entwicklungen im gering-
„ſten gezwungen ſind? ob ſich das Jntereſſe
„wohl theilt, und die Handlung mit Epiſoden
„überladen iſt? Verſetzen Sie ſich in Gedanken
„in die Jnſel Alindala; unterſuchen Sie alles,
„was da vorgieng, hören Sie alles, was von
„dem Augenblicke an, als der junge Jbrahim
„und der verſchlagne Forfanti ans Land ſtiegen,
„da geſagt ward; nähern Sie ſich der Höhle
„des unglücklichen Polipſile; verlieren Sie kein
„Wort von ſeinen Klagen, und ſagen Sie mir,
„ob das geringſte vorkömmt, was Sie in der
„Täuſchung ſtören könnte? Nennen Sie mir
„ein einziges neueres Stück, welches die nehm-
„liche Prüfung aushalten, welches auf den
„nehmlichen Grad der Vollkommenheit An-
„ſpruch machen kann: und Sie ſollen gewonnen
„haben.„
„Beym Brama! rief der Sultan und gähn-
„te; Madame hat uns da eine vortreffliche aka-
„demiſche Vorleſung gehalten!„
„Jch
[256]
„Jch verſtehe die Regeln nicht, fuhr die Fa-
„voritinn fort, und noch weniger die gelehrten
„Worte, in welchen man ſie abgefaßt hat. Aber
„ich weiß, daß nur das Wahre gefällt und
„rühret. Jch weiß auch, daß die Vollkom-
„menheit eines Schauſpiels in der ſo genauen
„Nachahmung einer Handlung beſtehet, daß
„der ohne Unterbrechung betrogne Zuſchauer
„bey der Handlung ſelbſt gegenwärtig zu ſeyn
„glaubt. Findet ſich aber in den Tragödien,
„die Sie uns ſo rühmen, nur das geringſte,
„was dieſem ähnlich ſähe?„
Ham-
[[257]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fünf und achtzigſtes Stück.
„Wollen Sie den Verlauf darinn loben? Er
„iſt meiſtens ſo vielfach und verwickelt,
„daß es ein Wunder ſeyn würde, wenn
„wirklich ſo viel Dinge in ſo kurzer Zeit geſchehen
„wären. Der Untergang oder die Erhaltung ei-
„nes Reichs, die Heyrath einer Prinzeßinn, der
„Fall eines Prinzen, alles das geſchieht ſo ge-
„ſchwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt
„es auf eine Verſchwörung an? im erſten Akte
„wird ſie entworfen; im zweyten iſt ſie beyſam̃en;
„im dritten werden alle Maaßregeln genommen,
„alle Hinderniſſe gehoben, und die Verſchwornen
„halten ſich fertig; mit nächſtem wird es einen
„Aufſtand ſetzen, wird es zum Treffen kommen,
„wohl gar zu einer förmlichen Schlacht. Und
„das alles nennen Sie gut geführt, intereſſant,
„warm, wahrſcheinlich? Jhnen kann ich nun
„ſo etwas am wenigſten vergeben, der Sie wiſ-
K k„ſen,
[258] „ſen, wie viel es oft koſtet, die allerelendeſte
„Jntrigue zu Stande zu bringen, und wie viel
„Zeit bey der kleinſten politiſchen Angelegenheit
„auf Einleitungen, auf Beſprechungen und
„Berathſchlagungen geht.„
„Es iſt wahr, Madame, antwortete Selim,
„unſere Stücke ſind ein wenig überladen; aber
„das iſt ein nothwendiges Uebel; ohne Hülfe
„der Epiſoden würden wir uns vor Froſt nicht
„zu laſſen wiſſen.„
„Das iſt: um der Nachahmung einer Hand-
„lung Feuer und Geiſt zu geben, muß man die
„Handlung weder ſo vorſtellen, wie ſie iſt, noch
„ſo, wie ſie ſeyn ſollte. Kann etwas lächerli-
„cheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es
„wäre denn etwa dieſes, daß man die Geigen
„ein lebhaftes Stück, eine muntere Sonate ſpie-
„len läßt, während daß die Zuhörer um den
„Prinzen bekümmert ſeyn ſollen, der auf dem
„Punkte iſt, ſeine Geliebte, ſeinen Thron und
„ſein Leben zu verlieren.„
„Madame, ſagte Mongogul, Sie haben
„vollkommen Recht; traurige Arien müßte man
„indeß ſpielen, und ich will Jhnen gleich einige
„beſtellen gehen. Hiermit ſtand er auf, und
„gieng heraus, und Selim, Riccaric und die
„Favoritinn ſetzten die Unterredung unter ſich
„fort.„
„We-
[259]
„Wenigſtens, Madame, erwiederte Selim,
„werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Epi-
„ſoden uns aus der Täuſchung heraus bringen,
„der Dialog uns wieder herein ſetzt. Jch
„wüßte nicht, wer das beſſer verſtünde, als un-
„ſere tragiſche Dichter.„
„Nun ſo verſteht es durchaus niemand, ant-
„wortete Mirzoza. Das Geſuchte, das Witzi-
„ge, das Spielende, das darinn herrſcht, iſt
„tauſend und tauſend Meilen von der Natur
„entfernt. Umſonſt ſucht ſich der Verfaſſer zu
„verſtecken; er entgeht meinen Augen nicht, und
„ich erblicke ihn unauf hörlich hinter ſeinen
„Perſonen. Cinna, Sertorius, Maximus,
„Aemilia, ſind alle Augenblicke das Sprachrohr
„des Corneille. So ſpricht man bey unſern al-
„ten Saracenen nicht mit einander. Herr Ri-
„caric kann Jhnen, wenn Sie wollen, einige
„Stellen daraus überſetzen; und ſie werden die
„bloße Natur hören, die ſich durch den Mund
„derſelben ausdrückt. Jch möchte gar zu gern
„zu den Neuern ſagen: „Meine Herren, an-
„ſtatt daß ihr euern Perſonen bey aller Gelegen-
„heit Witz gebt, ſo ſucht ſie doch lieber in Um-
„ſtände zu ſetzen, die ihnen welchen geben.„
„Nach dem zu urtheilen, was Madame von
„dem Verlaufe und dem Dialoge unſerer dra-
„matiſchen Stücke geſagt hat, ſcheint es wohl
K k 2„nicht,
[260] „nicht, ſagte Selim, daß Sie den Entwicklun-
„gen wird Gnade wiederfahren laſſen.„
„Nein, gewiß nicht, verſetzte die Favoritinn:
„es giebt hundert ſchlechte für eine gute. Die
„eine iſt nicht vorbereitet; die andere eräugnet
„ſich durch ein Wunder. Weis der Verfaſſer
„nicht, was er mit einer Perſon, die er von
„Scene zu Scene ganze fünf Akte durchge-
„ſchleppt hat, anfangen ſoll: geſchwind fertiget
„er ſie mit einem guten Dolchſtoße ab; die ganze
„Welt fängt an zu weinen, und ich, ich lache,
„als ob ich toll wäre. Hernach, hat man wohl
„jemals ſo geſprochen, wie wir declamiren?
„Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders
„zu gehen, als ſonſt ein Menſch, der gut geht?
„Geſticuliren ſie wohl jemals, wie Beſeſſene
„und Raſende? Und wenn Prinzeßinnen ſpre-
„chen, ſprechen ſie wohl in ſo einem heulenden
„Tone? Man nimmt durchgängig an, daß wir
„die Tragödie zu einem hohen Grade der Voll-
„kommenheit gebracht haben: und ich, meines
„Theils, halte es faſt für erwieſen, daß von
„allen Gattungen der Litteratur, auf die ſich
„die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten ge-
„legt haben, gerade dieſe die unvollkommenſte
„geblieben iſt.„
„Eben hier war die Favoritinn mit ihrem
„Ausfalle gegen unſere theatraliſche Werke, als
„Mongogul wieder herein kam. Madame,
„ſagte
[261] „ſagte er, Sie werden mir einen Gefallen er-
„weiſen, wenn Sie fortfahren. Sie ſehen, ich
„verſtehe mich darauf, eine Dichtkunſt abzu-
„kürzen, wenn ich ſie zu lang finde.„
„Laſſen Sie uns, fuhr die Favoritinn fort,
„einmal annehmen, es käme einer ganz friſch
„aus Angote, der in ſeinem Leben von keinem
„Schauſpiele etwas gehört hätte; dem es aber
„weder an Verſtande noch an Welt fehle; der
„ungefehr wiſſe, was an einem Hofe vorgehe;
„der mit den Anſchlägen der Höflinge, mit der
„Eiferſucht der Miniſter, mit den Hetzereyen
„der Weiber nicht ganz unbekannt wäre, und
„zu dem ich im Vertrauen ſagte: „Mein
„Freund, es äußern ſich in dem Seraglio
„ſchreckliche Bewegungen. Der Fürſt, der
„mit ſeinem Sohne mißvergnügt iſt, weil er
„ihn im Verdacht hat, daß er die Manimon-
„bande liebt, iſt ein Mann, den ich für fähig
„halte, an beiden die grauſamſte Rache zu üben.
„Dieſe Sache muß, allem Anſehen nach, ſehr
„traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, ſo
„will ich machen, daß Sie von allem, was vor-
„geht, Zeuge ſeyn können.„ Er nimmt mein
„Anerbieten an, und ich führe ihn in eine mit
„Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das
„Theater ſieht, welches er für den Pallaſt des
„Sultans hält. Glauben Sie wohl, daß
„Trotz alles Ernſtes, in dem ich mich zu erhal-
K k 3„ten
[262] „ten bemühte, die Täuſchung dieſes Fremden
„einen Augenblick dauern könnte? Müſſen Sie
„nicht vielmehr geſtehen, daß er, bey dem ſtei-
„fen Gange der Akteurs, bey ihrer wunderli-
„chen Tracht, bey ihren ausſchweifenden Ge-
„behrden, bey dem ſeltſamen Nachdrucke ihrer
„gereimten, abgemeſſenen Sprache, bey tau-
„ſend andern Ungereimtheiten, die ihm auf-
„fallen würden, gleich in der erſten Scene mir
„ins Geſicht lachen und gerade heraus ſagen
„würde, daß ich ihn entweder zum beſten haben
„wollte, oder daß der Fürſt mit ſammt ſeinem
„Hofe nicht wohl bey Sinnen ſeyn müßten.„
„Jch bekenne, ſagte Selim, daß mich dieſer
„angenommene Fall verlegen macht; aber könnte
„man Jhnen nicht zu bedenken geben, daß wir
„in das Schauſpiel gehen, mit der Ueberzeu-
„gung, der Nachahmung einer Handlung, nicht
„aber der Handlung ſelbſt, beyzuwohnen.„
„Und ſollte denn dieſe Ueberzeugung verweh-
„ren, erwiderte Mirzoza, die Handlung auf
„die allernatürlichſte Art vorzuſtellen?„ —
Hier kömmt das Geſpräch nach und nach auf
andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir
wenden uns alſo wieder, zu ſehen, was wir ge-
leſen haben. Den klaren lautern Diderot!
Aber alle dieſe Wahrheiten waren damals in
den Wind geſagt. Sie erregten eher keine Em-
pfindung in dem franzöſiſchen Publico, als bis
ſie
[263] ſie mit allem didaktiſchen Ernſte wiederhohlt,
und mit Proben begleitet wurden, in welchen
ſich der Verfaſſer von einigen der gerügten
Mängel zu entfernen, und den Weg der Natur
und Täuſchung beſſer einzuſchlagen, bemüht hatte.
Nun weckte der Neid die Critik. Nun war es
klar, warum Diderot das Theater ſeiner Nation
auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht ſahe,
auf dem wir es durchaus glauben ſollen; warum
er ſo viel Fehler in den geprieſenen Meiſter-
ſtücken deſſelben fand: blos und allein, um ſeinen
Stücken Platz zu ſchaffen. Er mußte die Me-
thode ſeiner Vorgänger verſchrien haben, weil
er empfand, daß in Befolgung der nehmlichen
Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wür-
de. Er mußte ein elender Charlatan ſeyn, der
allen fremden Theriak verachtet, damit kein
Menſch andern als ſeinen kaufe. Und ſo fielen
die Paliſſots über ſeine Stücke her.
Allerdings hatte er ihnen auch, in ſeinem na-
türlichen Sohne, manche Blöße gegeben.
Dieſer erſte Verſuch iſt bey weiten das nicht,
was der Hausvater iſt. Zu viel Einförmigkeit
in den Charakteren, das Romantiſche in dieſen
Charakteren ſelbſt, ein ſteifer koſtbarer Dialog,
ein pedantiſches Geklingle von neumodiſch phi-
loſophiſchen Sentenzen: alles das machte den
Tadlern leichtes Spiel. Beſonders zog die
feyerliche Thereſia (oder Conſtantia, wie ſie in
dem
[264] dem Originale heißt,) die ſo philoſophiſch ſelbſt
auf die Freyerey geht, die mit einem Manne,
der ſie nicht mag, ſo weiſe von tugendhaften
Kindern ſpricht, die ſie mit ihm zu erzielen ge-
denkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann
man nicht leugnen, daß die Einkleidung, welche
Diderot den beygefügten Unterredungen gab, daß
der Ton, den er darinn annahm, ein wenig eitel
und pompös war; daß verſchiedene Anmerkun-
gen als ganz neue Entdeckungen darinn vorge-
tragen wurden, die doch nicht neu und dem Ver-
faſſer nicht eigen waren; daß andere Anmerkun-
gen die Gründlichkeit nicht hatten, die ſie in
dem blendenden Vortrage zu haben ſchienen.
Ham-
[[265]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und achtzigſtes Stück.
Z. E. Diderot behauptete, (*) daß es in
der menſchlichen Natur aufs höchſte nur
ein Dutzend wirklich komiſche Charaktere
gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß
die kleinen Verſchiedenheiten unter den menſch-
lichen Charakteren nicht ſo glücklich bearbeitet
werden könnten, als die reinen unvermiſchten
Charaktere. Er ſchlug daher vor, nicht mehr
die Charaktere, ſondern die Stände auf die
Bühne zu bringen; und wollte die Bearbeitung
dieſer, zu dem beſondern Geſchäfte der ernſthaf-
ten Komödie machen. „Bisher, ſagt er, iſt
„in der Komödie der Charakter das Hauptwerk
„geweſen; und der Stand war nur etwas Zu-
„fälliges: nun aber muß der Stand das Haupt-
„werk,
L l
[266] „werk, und der Charakter das Zufällige wer-
„den. Aus dem Charakter zog man die ganze
„Jntrigue: man ſuchte durchgängig die Um-
„ſtände, in welchen er ſich am beſten äußert,
„und verband dieſe Umſtände unter einander.
„Künftig muß der Stand, müſſen die Pflichten,
„die Vortheile, die Unbequemlichkeiten deſſel-
„ben zur Grundlage des Werks dienen. Dieſe
„Quelle ſcheint mir weit ergiebiger, von weit
„größerm Umfange, von weit größerm Nutzen,
„als die Quelle der Charaktere. War der Cha-
„rakter nur ein wenig übertrieben, ſo konnte
„der Zuſchauer zu ſich ſelbſt ſagen: das bin ich
„nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen,
„daß der Stand, den man ſpielt, ſein Stand
„iſt; ſeine Pflichten kann er unmöglich verken-
„nen. Er muß das, was er hört, nothwendig
„auf ſich anwenden.„
Was Paliſſot hierwider erinnert, (*) iſt
nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die
Natur ſo arm an urſprünglichen Charakteren
ſey, daß ſie die komiſchen Dichter bereits ſollten
erſchöpft haben. Moliere ſahe noch genug neue
Charaktere vor ſich, und glaubte kaum den al-
lerkleinſten Theil von denen behandelt zu ha-
ben, die er behandeln könne. Die Stelle, in
welcher er verſchiedne derſelben in der Geſchwin-
digkeit
[267] digkeit entwirft, iſt ſo merkwürdig als lehrreich,
indem ſie vermuthen läßt, daß der Miſanthrop
ſchwerlich ſein Non plus ultra in dem hohen
Komiſchen dürfte geblieben ſeyn, wann er län-
ger gelebt hätte. (*) Paliſſot ſelbſt iſt nicht un-
L l 2glück-
[268] glücklich, einige neue Charaktere von ſeiner eig-
nen Bemerkung beyzufügen: den dummen
Mäcen, mit ſeinen kriechenden Clienten; den
Mann, en ſeiner unrechten Stelle; den Arg-
liſtigen, deſſen ausgekünſtelte Anſchläge immer
gegen die Einfalt eines treuherzigen Bieder-
manns ſcheitern; den Scheinphiloſophen; den
Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den
Heuchler mit geſellſchaftlichen Tugenden, da
der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode
ſey. — Das ſind wahrlich nicht gemeine Aus-
ſichten, die ſich einem Auge, das gut in die
Ferne trägt, bis ins Unendliche erweitern. Da
iſt noch Erndte genug für die wenigen Schnitter,
die ſich daran wagen dürfen!
Und wenn auch, ſagt Paliſſot, der komiſchen
Charaktere wirklich ſo wenige, und dieſe weni-
gen wirklich alle ſchon bearbeitet wären: wür-
den
(*)
[269] den die Stände denn dieſer Verlegenheit abhel-
fen? Man wähle einmal einen; z. E. den
Stand des Richters. Werde ich ihm denn,
dem Richter, nicht einen Charakter geben müſ-
ſen? Wird er nicht traurig oder luſtig, ernſt-
haft oder leichtſinnig, leutſelig oder ſtürmiſch
ſeyn müſſen? Wird es nicht blos dieſer Cha-
rakter ſeyn, der ihn aus der Klaſſe metaphyſi-
ſcher Abſtrakte heraushebt, und eine wirkliche
Perſon aus ihm macht? Wird nicht folglich die
Grundlage der Jntrigue und die Moral des
Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen?
Wird nicht folglich wiederum der Stand nur
das Zufällige ſeyn?
Zwar könnte Diderot hierauf antworten:
Freylich muß die Perſon, welche ich mit dem
Stande bekleide, auch ihren individuellen mo-
raliſchen Charakter haben; aber ich will, daß
es ein ſolcher ſeyn ſoll, der mit den Pflichten
und Verhältniſſen des Standes nicht ſtreitet,
ſondern aufs beſte harmoniret. Alſo, wenn dieſe
Perſon ein Richter iſt, ſo ſteht es mir nicht frey,
ob ich ihn ernſthaft oder leichtſinnig, leutſelig
oder ſtürmiſch machen will: er muß nothwendig
ernſthaft und leutſelig ſeyn, und jedesmal es in
dem Grade ſeyn, den das vorhabende Geſchäfte
erfodert.
Dieſes, ſage ich, könnte Diderot antwor-
ten: aber zugleich hätte er ſich einer andern
L l 3Klippe
[270] Klippe genähert; nehmlich der Klippe der voll-
kommnen Charaktere. Die Perſonen ſeiner
Stände würden nie etwas anders thun, als
was ſie nach Pflicht und Gewiſſen thun müßten;
ſie würden handeln, völlig wie es im Buche
ſteht. Erwarten wir das in der Komödie?
Können dergleichen Vorſtellungen anziehend
genug werden? Wird der Nutzen, den wir da-
von hoffen dürfen, groß genug ſeyn, daß es ſich
der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür
feſt zu ſetzen, und für dieſe eine eigene Dicht-
kunſt zu ſchreiben?
Die Klippe der vollkommenen Charaktere
ſcheinet mir Diderot überhaupt nicht genug er-
kundiget zu haben. Jn ſeinen Stücken ſteuert
er ziemlich gerade darauf los: und in ſeinen kri-
tiſchen Seekarten findet ſich durchaus keine
Warnung davor. Vielmehr finden ſich Dinge
darinn, die den Lauf nach ihr hin zu lenken ra-
then. Man erinnere ſich nur, was er, bey
Gelegenheit des Contraſts unter den Charakte-
ren, von den Brüdern des Terenz ſagt. (*)
„Die zwey contraſtirten Väter darinn ſind mit
„ſo gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem
„feinſten Kunſtrichter Trotz bieten kann, die
„Hauptperſon zu nennen; ob es Micio oder ob
„es Demea ſeyn ſoll? Fällt er ſein Urtheil vor
„dem
[271] „dem letzten Auftritte, ſo dürfte er leicht mit
„Erſtaunen wahrnehmen, daß der, den er gan-
„zer fünf Aufzüge hindurch, für einen verſtändi-
„gen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr
„iſt, und daß der, den er für einen Narren ge-
„halten hat, wohl gar der verſtändige Mann
„ſeyn könnte. Man ſollte zu Anfange des fünf-
„ten Aufzuges dieſes Drama faſt ſagen, der
„Verfaſſer ſey durch den beſchwerlichen Con-
„traſt gezwungen worden, ſeinen Zweck fahren
„zu laſſen, und das ganze Jntereſſe des Stücks
„umzukehren. Was iſt aber daraus geworden?
„Dieſes, daß man gar nicht mehr weiß, für
„wen man ſich intereſſiren ſoll. Vom Anfange
„her iſt man für den Micio gegen den Demea
„geweſen, und am Ende iſt man für keinen von
„beiden. Beynahe ſollte man einen dritten Va-
„ter verlangen, der das Mittel zwiſchen dieſen
„zwey Perſonen hielte, und zeigte, worinn ſie
„beide fehlten.„
Nicht ich! Jch verbitte mir ihn ſehr, dieſen
dritten Vater; es ſey in dem nehmlichen Stücke,
oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht
zu wiſſen, wie ein Vater ſeyn ſoll? Auf dem
rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlan-
gen nur, dann und wann vor den Abwegen zu
beiden Seiten gewarnet zu werden.
Diderot hat Recht: es iſt beſſer, wenn die Cha-
raktere blos verſchieden, als wenn ſie contraſtirt
ſind.
[272] ſind. Contraſtirte Charaktere ſind minder natür-
lich und vermehren den romantiſchen Anſtrich, an
dem es den dramatiſchen Begebenheiten ſo ſchon
ſelten fehlt. Für eine Geſellſchaft, im gemeinen Le-
ben, wo ſich der Contraſt der Charaktere ſo ab-
ſtechend zeigt, als ihn der komiſche Dichter ver-
langt, werden ſich immer tauſend finden, wo ſie wei-
ter nichts als verſchieden ſind. Sehr richtig! Aber
iſt ein Charakter, der ſich immer genau in dem gra-
den Gleiße hält, das ihm Vernunft und Tugend
vorſchreiben, nicht eine noch ſeltenere Erſcheinung?
Von zwanzig Geſellſchaften im gemeinen Leben,
werden eher zehn ſeyn, in welchen man Väter fin-
det, die bey Erziehung ihrer Kinder völlig entgegen
geſetzte Wege einſchlagen, als eine, die den wahren
Vater aufweiſen könnte. Und dieſer wahre Vater
iſt noch dazu immer der nehmliche, iſt nur ein einzi-
ger, da der Abweichungen von ihm unendlich ſind.
Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins
Spiel bringen, nicht allein jedes vor ſich unnatürli-
cher, ſondern auch unter einander einförmiger ſeyn,
als es die ſeyn können, welche Väter von verſchiednen
Grundſätzen einführen. Auch iſt es gewiß, daß die
Charaktere, welche in ruhigen Geſellſchaften blos ver-
ſchieden ſcheinen, ſich von ſelbſt contraſtiren, ſobald ein
ſtreitendes Jntereſſe ſie in Bewegung ſetzt. Ja es iſt
natürlich, daß ſie ſich ſodann beeifern, noch weiter von
einander entfernt zu ſcheinen, als ſie wirklich ſind. Der
Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm
zu lau ſich zu betragen ſcheinet: und der Laue wird kalt
wie Eis, um jenem ſo viel Uebereilungen begehen zu
laſſen, als ihm nur im̃er nützlich ſeyn köñen.
Ham-
[[273]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und achtzig und acht
und achtzigſtes Stück.
Und ſo ſind andere Anmerkungen des Paliſſot
mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch
nicht ganz falſch. Er ſieht den Ring, in
den er mit ſeiner Lanze ſtoßen will, ſcharf genug;
aber in der Hitze des Anſprengens, verrückt die
Lanze, und er ſtößt den Ring gerade vorbey.
So ſagt er über den natürlichen Sohn
unter andern: „Welch ein ſeltſamer Titel! der
„natürliche Sohn! Warum heißt das Stück
„ſo? Welchen Einfluß hat die Geburt des
„Dorval? Was für einen Vorfall veranlaßt
„ſie? Zu welcher Situation giebt ſie Gelegen-
„heit? Welche Lücke füllt ſie auch nur? Was
„kann alſo die Abſicht des Verfaſſers dabey ge-
„weſen ſeyn? Ein Paar Betrachtungen über
„das Vorurtheil gegen die uneheliche Geburt
M m„auf-
[274] „aufzuwärmen? Welcher vernünftige Menſch
„weiß denn nicht von ſelbſt, wie ungerecht ein
„ſolches Vorurtheil iſt?„
Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieſer
Umſtand war allerdings zur Verwickelung mei-
ner Fabel nöthig; ohne ihm würde es weit un-
wahrſcheinlicher geweſen ſeyn, daß Dorval ſeine
Schweſter nicht kennet, und ſeine Schweſter
von keinem Bruder weiß; es ſtand mir frey,
den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den
Titel von noch einem geringern Umſtande ent-
lehnen können. — Wenn Diderot dieſes ant-
wortete, ſag ich, wäre Paliſſot nicht ungefehr
widerlegt?
Gleichwohl iſt der Charakter des natürlichen
Sohnes einem ganz andern Einwurfe blos ge-
ſtellet, mit welchem Paliſſot dem Dichter weit
ſchärfer hätte zuſetzen können. Dieſem nehmlich:
daß der Umſtand der unehelichen Geburt, und
der daraus erfolgten Verlaſſenheit und Abſon-
derung, in welcher ſich Dorval von allen Men-
ſchen ſo viele Jahre hindurch ſahe, ein viel zu
eigenthümlicher und beſonderer Umſtand iſt,
gleichwohl auf die Bildung ſeines Charakters
viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieſer
diejenige Allgemeinheit haben könne, welche
nach der eignen Lehre des Diderot ein komiſcher
Charakter nothwendig haben muß. — Die Ge-
legenheit reitzt mich zu einer Ausſchweifung über
dieſe
[275] dieſe Lehre: und welchem Reitze von der Art
brauchte ich in einer ſolchen Schrift zu wider-
ſtehen?
„Die komiſche Gattung, ſagt Diderot, (*)
„hat Arten, und die tragiſche hat Jndividua.
„Jch will mich erklären. Der Held einer Tra-
„gödie iſt der und der Menſch: es iſt Regulus,
„oder Brutus, oder Cato, und ſonſt kein an-
„derer. Die vornehmſte Perſon einer Komödie
„hingegen muß eine große Anzahl von Menſchen
„vorſtellen. Gäbe man ihr von ohngefehr eine
„ſo eigene Phyſiognomie, daß ihr nur ein einziges
„Jndividuum ähnlich wäre, ſo würde die Ko-
„mödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten. —
„Terenz ſcheinet mir einmal in dieſen Fehler ge-
„fallen zu ſeyn. Sein Heavtontimorume-
„nos iſt ein Vater, der ſich über den gewaltſa-
„men Entſchluß grämet, zu welchem er ſeinen
„Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat,
„und der ſich deswegen nun ſelbſt beſtraft, in-
„dem er ſich in Kleidung und Speiſe kümmerlich
„hält, allen Umgang fliehet, ſein Geſinde ab-
„ſchaft, und das Feid mit eigenen Händen bauet.
„Man kann gar wohl ſagen, daß es ſo einen
„Vater nicht giebt. Die größte Stadt würde
„kaum in einem ganzen Jahrhunderte Ein Bey-
„ſpiel einer ſo ſeltſamen Betrübniß aufzuweiſen
„haben.„
M m 2Zu-
[276]
Zuerſt von der Jnſtanz des Heavtontimoru-
menos. Wenn dieſer Charakter wirklich zu ta-
deln iſt: ſo trift der Tadel nicht ſowohl den Te-
renz, als den Menander. Menander war der
Schöpfer deſſelben, der ihn, allem Anſehen
nach, in ſeinem Stücke noch eine weit ausführ-
lichere Rolle ſpielen laſſen, als er in der Copie
des Terenz ſpielet, in der ſich ſeine Sphäre,
wegen der verdoppelten Jntrigue, wohl ſehr
einziehen müſſen. (*) Aber daß er von Me-
nan-
[277] nandern herrührt, dieſes allein ſchon hätte, mich
wenigſtens, abgeſchreckt, den Terenz desfalls
M m 3zu
(*)
[278] zu verdammen. Das ὠ Μενανδρε ϰαι βιε,
ποτερος ἀῤ ὑμων ποτερον ἐμιμησατο; iſt
zwar
(*)
[279] zwar froſtiger, als witzig geſagt: doch würde
man es wohl überhaupt von einem Dichter ge-
ſagt
(*)
[280] ſagt haben, der Charaktere zu ſchildern im
Stande wäre, wovon ſich in der größten Stadt
kaum
(*)
[281] kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges
Beyſpiel zeiget? Zwar in hundert und mehr
Stücken könnte ihm auch wohl Ein ſolcher Cha-
rakter
(*)
[282] rakter entfallen ſeyn. Der fruchtbarſte Kopf
ſchreibt ſich leer; und wenn die Einbildungs-
kraft ſich keiner wirklichen Gegenſtände der Nach-
ahmung mehr erinnern kann, ſo componirt ſie
deren ſelbſt, welches denn freylich meiſtens Car-
rikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt
haben, daß ſchon Horaz, der einen ſo beſonders
zärtlichen Geſchmack hatte, den Fehler, wovon
die Rede iſt, eingeſehen, und im Vorbeygehen,
aber faſt unmerklich, getadelt habe.
Die Stelle ſoll die in der zweyten Satyre des
erſten Buchs ſeyn, wo Horaz zeigen will, „daß
„die Narren aus einer Uebertreibung in die an-
„dere entgegengeſetzte zu fallen pflegen. Fufi-
„dius, ſagt er, fürchtet für einen Verſchwender
„gehalten zu werden. Wißt ihr, was er thut?
„Er leihet monatlich für fünf Procent, und
„macht ſich im voraus bezahlt. Je nöthiger der
„andere das Geld braucht, deſto mehr fodert er.
„Er weiß die Namen aller jungen Leute, die
„von gutem Hauſe ſind, und itzt in die Welt
„treten, dabey aber über harte Väter zu klagen
„haben. Vielleicht aber glaubt ihr, daß die-
„ſer Menſch wieder einen Aufwand mache, der
„ſeinen Einkünften entſpricht? Weit gefehlt!
„Er iſt ſein grauſamſter Feind, und der Vater
„in der Komödie, der ſich wegen der Entwei-
„chung ſeines Sohnes beſtraft, kann ſich nicht
„ſchlechter quälen: non ſe pejus cruciave-
„rit.
[283]„rit.„ — Dieſes ſchlechter, dieſes pejus,
will Diderot, ſoll hier einen doppelten Sinn
haben; einmal ſoll es auf den Fuſidius, und
einmal auf den Terenz gehen; dergleichen bey-
läufige Hiebe, meinet er, wären dem Charakter
des Horaz auch vollkommen gemäß.
Das letzte kann ſeyn, ohne ſich auf die vor-
habende Stelle anwenden zu laſſen. Denn hier,
dünkt mich, würde die beyläufige Anſpielung
dem Hauptverſtande nachtheilig werden. Fuſi-
dius iſt kein ſo großer Narr, wenn es mehr ſol-
che Narren giebt. Wenn ſich der Vater des
Terenz eben ſo abgeſchmackt peinigte, wenn er
eben ſo wenig Urſache hätte, ſich zu peinigen,
als Fufidius, ſo theilt er das Lächerliche mit
ihm, und Fufidius iſt weniger ſeltſam und ab-
geſchmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius ohne
alle Urſache eben ſo hart und grauſam gegen ſich
ſelbſt iſt, als der Vater des Terenz mit Urſache
iſt, wenn jener aus ſchmutzigem Geitze thut, was
dieſer aus Reu und Betrübniß that: nur als-
denn wird uns jener unendlich lächerlicher und
verächtlicher, als mitleidswürdig wir dieſen
finden.
Und allerdings iſt jede große Betrübniß von
der Art, wie die Betrübniß dieſes Vaters: die
ſich nicht ſelbſt vergißt, die peiniget ſich ſelbſt.
Es iſt wider alle Erfahrung, daß kaum alle
hundert Jahre ſich ein Beyſpiel einer ſolchen Be-
N n 2trüb-
[284] trübniß finde: vielmehr handelt jede ungefehr
eben ſo; nur mehr oder weniger, mit dieſer oder
jener Veränderung. Cicero hatte auf die Na-
tur der Betrübniß genauer gemerkt; er ſahe da-
her in dem Betragen des Heavtontimorumenos
nichts mehr, als was alle Betrübte, nicht blos
von dem Affekte hingeriſſen, thun, ſondern auch
bey kälterm Geblüte fortſetzen zu müſſen glau-
ben. (*)Hæc omnia recta, vera, de-
bita putantes, faciunt in dolore: maxi-
meque declaratur, hoc quaſi officii ju-
dicio fieri, quod ſi qui forte, cum ſe in
luctu eſſe vellent, aliquid fecerunt huma-
nius, aut ſi hilarius locuti eſſent, revo-
cant ſe rurſus ad mœſtitiam, peccati-
que ſe inſimulant, quod dolere inter-
miſerint: pueros vero matres \& magiſtri
caſtigare etiam ſolent, nec verbis ſolum,
ſed etiam verberibus, ſi quid in dome-
ſtico luctu hilarius ab iis factum eſt, aut
dictum: plorare cogunt. — Quid ille Te-
rentianus ipſe ſe puniens? u. ſ. w.
Menedemus aber, ſo heißt der Selbſtpeini-
ger bey dem Terenz, hält ſich nicht allein ſo hart
aus Betrübniß; ſondern, warum er ſich auch
jeden geringen Aufwand verweigert, iſt die Ur-
ſache und Abſicht vornehmlich dieſes: um deſto
mehr für den abweſenden Sohn zu ſparen, und
dem
[285] dem einmal ein deſto gemächlicheres Leben zu
verſichern, den er itzt gezwungen, ein ſo unge-
mächliches zu ergreifen. Was iſt hierinn, was
nicht hundert Väter thun würden? Meint aber
Diderot, daß das Eigene und Seltſame darinn
beſtehe, daß Menedemus ſelbſt hackt, ſelbſt
gräbt, ſelbſt ackert: ſo hat er wohl in der Eil
mehr an unſere neuere, als an die alten Sitten
gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit, würde
das freylich nicht ſo leicht thun: denn die wenig-
ſten würden es zu thun verſtehen. Aber die
wohlhabenſten, vornehmſten Römer und Grie-
chen waren mit allen ländlichen Arbeiten be-
kannter, und ſchämten ſich nicht, ſelbſt Hand
anzulegen.
Doch alles ſey, vollkommen wie es Diderot
ſagt! Der Charakter des Selbſtpeinigers ſey
wegen des allzu Eigenthümlichen, wegen dieſer
ihm faſt nur allein zukommenden Falte, zu ei-
nem komiſchen Charakter ſo ungeſchickt, als er
nur will. Wäre Diderot nicht in eben den
Fehler gefallen? Denn was kann eigenthümli-
cher ſeyn, als der Charakter ſeines Dorval?
Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben,
die ihm nur allein zukömmt, als der Charakter
dieſes natürlichen Sohnes? „Gleich nach mei-
„ner Geburt, läßt er ihn von ſich ſelbſt ſagen,
„ward ich an einen Ort verſchleidert, der die
„Grenze zwiſchen Einöde und Geſellſchaft heiſ-
N n 3„ſen
[286] „ſen kann; und als ich die Augen aufthat, mich
„nach den Banden umzuſehen, die mich mit den
„Menſchen verknüpften, konnte ich kaum einige
„Trümmern davon erblicken. Dreyßig Jahre
„lang irrte ich unter ihnen einſam, unbekannt
„und verabſäumet umher, ohne die Zärtlichkeit
„irgend eines Menſchen empfunden, noch irgend
„einen Menſchen angetroffen zu haben, der die
„meinige geſucht hätte.„ Daß ein natürliches
Kind ſich vergebens nach ſeinen Aeltern, verge-
bens nach Perſonen umſehen kann, mit welchen
es die nähern Bande des Bluts verknüpfen:
das iſt ſehr begreiflich; das kann unter zehnen
neunen begegnen. Aber daß es ganze dreyßig
Jahre in der Welt herum irren könne, ohne die
Zärtlichkeit irgend eines Menſchen empfunden
zu haben, ohne irgend einen Menſchen angetrof-
fen zu haben, der die ſeinige geſucht hätte: das,
ſollte ich faſt ſagen, iſt ſchlechterdings unmög-
lich. Oder, wenn es möglich wäre, welche
Menge ganz beſonderer Umſtände müßten von
beiden Seiten, von Seiten der Welt und von
Seiten dieſes ſo lange inſulirten Weſens, zu-
ſammen gekommen ſeyn, dieſe traurige Mög-
lichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf
Jahrhunderte werden verfließen, ehe ſie wieder
einmal wirklich wird. Wolle der Himmel
nicht, daß ich mir je das menſchliche Geſchlecht
anders vorſtelle! Lieber wünſchte ich ſonſt, ein
Bär
[287] Bär gebohren zu ſeyn, als ein Menſch. Nein,
kein Menſch kann unter Menſchen ſo lange ver-
laſſen ſeyn! Man ſchleidere ihn hin, wohin
man will: wenn er noch unter Menſchen fällt,
ſo fällt er unter Weſen, die, ehe er ſich umge-
ſehen, wo er iſt, auf allen Seiten bereit ſtehen,
ſich an ihn anzuketten. Sind es nicht vorneh-
me, ſo ſind es geringe! Sind es nicht glück-
liche, ſo ſind es unglückliche Menſchen! Men-
ſchen ſind es doch immer. So wie ein Tropfen
nur die Fläche des Waſſers berühren darf, um
von ihm aufgenommen zu werden und ganz in
ihm zu verfließen: das Waſſer heiſſe, wie es
will, Lache oder Quelle, Strom oder See,
Belt oder Ocean.
Gleichwohl ſoll dieſe dreyßigiährige Einſam-
keit unter den Menſchen, den Charakter des
Dorval gebildet haben. Welcher Charakter
kann ihn nun ähnlich ſehen? Wer kann ſich in
ihm erkennen? nur zum kleinſten Theil in ihm
erkennen?
Eine Ausflucht, finde ich doch, hat ſich Di-
derot auszuſparen geſucht. Er ſagt in dem
Verfolge der angezogenen Stelle: „Jn der
„ernſthaften Gattung werden die Charaktere
„oft eben ſo allgemein ſeyn, als in der komi-
„ſchen Gattung; ſie werden aber allezeit weni-
„ger individuell ſeyn, als in der Tragiſchen.„
Er würde ſonach antworten: Der Charakter
des
[288] des Dorval iſt kein komiſcher Charakter; er iſt
ein Charakter, wie ihn das ernſthafte Schau-
ſoiel erfodert; wie dieſes den Raum zwiſchen
Komödie und Tragödie füllen ſoll, ſo müſſen
auch die Charaktere deſſelben das Mittel zwi-
ſchen den komiſchen und tragiſchen Charakteren
halten; ſie brauchen nicht ſo allgemein zu ſeyn
als jene, wenn ſie nur nicht ſo völlig individuell
ſind, als dieſe; und ſolcher Art dürfte doch
wohl der Charakter des Dorval ſeyn.
Alſo wären wir glücklich wieder an dem Punk-
te, von welchem wir ausgiengen. Wir wollten
unterſuchen, ob es wahr ſey, daß die Tragödie
Jndividua, die Komödie aber Arten habe: das
iſt, ob es wahr ſey, daß die Perſonen der Ko-
mödie eine große Anzahl von Menſchen faſſen
und zugleich vorſtellen müßten; da hingegen der
Held der Tragödie nur der und der Menſch, nur
Regulus, oder Brutus, oder Cato ſey, und ſeyn
ſolle. Jſt es wahr, ſo hat auch das, was Diderot
von den Perſonen der mittlern Gattung ſagt, die
er die ernſthafte Komödie nennt, keine Schwierig-
keit, und der Charakter ſeines Dorval wäre ſo
tadelhaft nicht. Jſt es aber nicht wahr, ſo fällt
auch dieſes von ſelbſt weg, und dem Charakter
des natürlichen Sohnes kann aus einer ſo unge-
gründeten Eintheilung keine Rechtfertigung zu-
fließen.
Ham-
[[289]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und achtzigſtes Stück.
Zuerſt muß ich anmerken, daß Diderot ſeine
Aſſertion ohne allen Beweis gelaſſen hat.
Er muß ſie für eine Wahrheit angeſehen
haben, die kein Menſch in Zweifel ziehen werde,
noch könne; die man nur denken dürfe, um
ihren Grund zugleich mit zu denken. Und ſollte
er den wohl gar in den wahren Namen der tra-
giſchen Perſonen gefunden haben? Weil dieſe
Achilles, und Alexander, und Cato, und Au-
guſtus heiſſen, und Achilles, Alexander, Cato,
Auguſtus, wirkliche einzelne Perſonen geweſen
ſind: ſollte er wohl daraus geſchloſſen haben,
daß ſonach alles, was der Dichter in der Tra-
gödie ſie ſprechen und handeln läßt, auch nur
dieſen einzeln ſo genannten Perſonen, und kei-
nem in der Welt zugleich mit, müſſe zukommen
können? Faſt ſcheint es ſo.
O oAber
[290]
Aber dieſen Jrrthum hatte Ariſtoteles ſchon
vor zwey tauſend Jahren widerlegt, und auf
die ihr entgegen ſtehende Wahrheit den weſent-
lichen Unterſchied zwiſchen der Geſchichte und
Poeſie, ſo wie den größern Nutzen der letztern
vor der erſtern, gegründet. Auch hat er es
auf eine ſo einleuchtende Art gethan, daß ich
nur ſeine Worte anführen darf, um keine ge-
ringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer
ſo offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher
Meinung mit ihm ſeyn könne.
„Aus dieſen alſo, ſagt Ariſtoteles, (*) nach-
dem er die weſentlichen Eigenſchaften der poeti-
ſchen Fabel feſtgeſetzt, „aus dieſen alſo erhellet klar,
„daß des Dichters Werk nicht iſt, zu erzählen, was
„geſchehen, ſondern zu erzählen, von welcher Be-
„ſchaffenheit das Geſchehene, und was nach der
„Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit dabey
„möglich geweſen. Denn Geſchichtſchreiber und
„Dichter unterſcheiden ſich nicht durch die ge-
„bundene oder ungebundene Rede: indem man
„die Bücher des Herodotus in gebundene Rede
„bringen kann, und ſie darum doch nichts we-
„niger in gebundener Rede eine Geſchichte ſeyn
„werden, als ſie es in ungebundener waren. Son-
„dern darinn unterſcheiden ſie ſich, daß jener erzäh-
„let, was geſchehen; dieſer aber, von welcher Be-
„ſchaffenheit das Geſchehene geweſen. Daher iſt
„denn
[291] „denn auch die Poeſie philoſophiſcher und nütz-
„licher als die Geſchichte. Denn die Poeſie
„geht mehr auf das Allgemeine, und die Ge-
„ſchichte auf das Beſondere. Das Allgemeine
„aber iſt, wie ſo oder ſo ein Mann nach der
„Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendigkeit ſpre-
„chen und handeln würde; als worauf die
„Dichtkunſt bey Ertheilung der Namen ſieht.
„Das Beſondere hingegen iſt, was Aleibiades
„gethan, oder gelitten hat. Bey der Komödie
„nun hat ſich dieſes ſchon ganz offenbar gezeigt;
„denn wenn die Fabel nach der Wahrſcheinlich-
„keit abgefaßt iſt, legt man die etwanigen Na-
„men ſonach bey, und macht es nicht wie die Jam-
„biſchen Dichter, die bey dem Einzeln bleiben.
„Bey der Tragödie aber hält man ſich an die
„ſchon vorhandenen Namen; aus Urſache, weil
„das Mögliche glaubwürdig iſt, und wir nicht
„möglich glauben, was nie geſchehen, da hin-
„gegen was geſchehen, offenbar möglich ſeyn
„muß, weil es nicht geſchehen wäre, wenn es
„nicht möglich wäre. Und doch ſind auch in
„den Tragödien, in einigen nur ein oder zwey
„bekannte Namen, und die übrigen ſind erdich-
„tet; in einigen auch gar keiner, ſo wie in der
„Blume des Agathon. Denn in dieſem
„Stücke ſind Handlungen und Namen gleich
„erdichtet, und doch gefällt es darum nichts
„weniger.„
O o 2Jn
[292]
Jn dieſer Stelle, die ich nach meiner eigenen
Ueberſetzung anführe, mit welcher ich ſo genau
bey den Worten geblieben bin, als möglich,
ſind verſchiedene Dinge, welche von den Aus-
legern, die ich noch zu Rathe ziehen können,
entweder gar nicht oder falſch verſtanden worden.
Was davon hier zur Sache gehört, muß ich
mitnehmen.
Das iſt unwiderſprechlich, daß Ariſtoteles
ſchlechterdings keinen Unterſchied zwiſchen den
Perſonen der Tragödie und Komödie, in Anſe-
hung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen
ſowohl als die andern, und ſelbſt die Perſonen
der Epopee nicht ausgeſchloſſen, alle Perſonen
der poetiſchen Nachahmung ohne Unterſchied,
ſollen ſprechen und handeln, nicht wie es ihnen
einzig und allein zukommen könnte, ſondern ſo
wie ein jeder von ihrer Beſchaffenheit in den
nehmlichen Umſtänden ſprechen oder handeln
würde und müßte. Jn dieſem ϰαϑολου, in die-
ſer Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum
die Poeſie philoſophiſcher und folglich lehrreicher
iſt, als die Geſchichte; und wenn es wahr iſt,
daß derjenige komiſche Dichter, welcher ſeinen
Perſonen ſo eigene Phyſiognomien geben wollte,
daß ihnen nur ein einziges Jndividuum in der
Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot
ſagt, wiederum in ihre Kindheit zurückſetzen und
in Satyre verkehren würde: ſo iſt es auch eben
ſo
[293] ſo wahr, daß derjenige tragiſche Dichter, wel-
cher nur den und den Menſchen, nur den Cä-
ſar, nur den Cato, nach allen den Eigenthüm-
lichkeiten, die wir von ihnen wiſſen, vorſtellen
wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle dieſe
Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des Cä-
ſar und Cato zuſammen gehangen, der ihnen
mit mehrern kann gemein ſeyn, daß, ſage ich,
dieſer die Tragödie entkräften und zur Geſchichte
erniedrigen würde.
Aber Ariſtoteles ſagt auch, daß die Poeſie
auf dieſes Allgemeine der Perſonen mit den Na-
men, die ſie ihnen ertheile, ziele, (ου῾ ϛοχαζεται
ἡ ποιησις ὀνοματα επιτιϑεμενη;) welches ſich
beſonders bey der Komödie deutlich gezeigt habe.
Und dieſes iſt es, was die Ausleger dem Ariſto-
teles nach zu ſagen ſich begnügt, im geringſten
aber nicht erläutert haben. Wohl aber haben
verſchiedene ſich ſo darüber ausgedrückt, daß
man klar ſieht, ſie müſſen entweder nichts, oder
etwas ganz falſches dabey gedacht haben. Die
Frage iſt: wie ſieht die Poeſie, wenn ſie ihren
Perſonen Namen ertheilt, auf das Allgemeine
dieſer Perſonen? und wie iſt dieſe ihre Rückſicht
auf das Allgemeine der Perſon, beſonders bey
der Komödie, ſchon längſt ſichtbar geweſen?
Die Worte: ἐϛι δε ϰαϑολου μεν, τῳ ποιῳ
τα ποἰ ἀττα συμβαινει λεγειν, ἠ πραττειν
ϰατα το εἰϰος, ἠ το ἀναγϰαιον, ου῾ ϛοχαζε-
O o 3ται
[294] ται ἠ ποιησις ὀοοματα ἐπιτιϑεμενη, überſetzt
Dacier; une choſe generale, c’eſt ce que
tout homme d’un tel ou d’un tel caractere,
a dû dire, ou faire vraiſemblablement ou
neceſſairement, ce qui eſt le but de la
Pœſie lors même, qu’elle impoſe les noms
à ſes perſonnages. Vollkommen ſo überſetzt
ſie auch Herr Curtius: „Das Allgemeine iſt,
„was einer, vermöge eines gewiſſen Charakters,
„nach der Wahrſcheinlichkeit oder Nothwendig-
„keit redet oder thut. Dieſes Allgemeine iſt der
„Endzweck der Dichtkunſt, auch wenn ſie den
„Perſonen beſondere Namen beylegt.„ Auch
in ihrer Anmerkung über dieſe Worte, ſtehen
beide für einen Mann; der eine ſagt vollkommen
eben das, was der andere ſagt. Sie erklären
beide, was das Allgemeine iſt; ſie ſagen beide,
daß dieſes Allgemeine die Abſicht der Poeſie ſey:
aber wie die Poeſie bey Ertheilung der Namen
auf dieſes Allgemeine ſieht, davon ſagt keiner
ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzoſe durch
ſein lors même, ſo wie der Deutſche durch
ſein auch wenn, offenbar, daß ſie nichts da-
von zu ſagen gewußt, ja daß ſie gar nicht ein-
mal verſtanden, was Ariſtoteles ſagen wollen.
Denn dieſes lors même, dieſes auch wenn,
heißt bey ihnen nichts mehr als ob ſchon;
und ſie laſſen den Ariſtoteles ſonach blos ſagen,
daß ungeachtet die Poeſie ihren Perſonen
Namen
[295] Namen von einzeln Perſonen beylege, ſie dem
ohngeachtet nicht auf das Einzelne dieſer Per-
ſonen, ſondern auf das Allgemeine derſelben
gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der
Note anführen will, (*) zeigen dieſes deutlich.
Nun
[296] Nun iſt es wahr, daß dieſes eigentlich keinen
falſchen Sinn macht; aber es erſchöpft doch
auch den Sinn des Ariſtoteles hier nicht. Nicht
genug, daß die Poeſie, ungeachtet der von ein-
zeln Perſonen genommenen Namen, auf das
Allgemeine gehen kann: Ariſtoteles ſagt, daß
ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das Allgemeine
ziele, ου᾽ ϛοχαζεται. Jch ſollte doch wohl mei-
nen, daß beides nicht einerley wäre. Jſt es
aber nicht einerley: ſo geräth man nothwendig
auf die Frage; wie zielt ſie darauf? Und auf
dieſe Frage antworten die Ausleger nichts.
Ham-
[[297]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neunzigſtes Stück.
Wie ſie darauf ziele, ſagt Ariſtoteles, die-
ſes habe ſich ſchon längſt an der Komödie
deutlich gezeigt: Επι μεν ου᾽ν της ϰω-
μῳδιας ἠδη τουτο δηλον γεγονεν [...] συϛησαντες
γαρ τον μυϑον δια των ἐιϰοτων, ου῾ω τα
τυχοντα ὀνοματα ἐπιτιϑεασι, ϰαι ου᾽χ ὡσπερ
οἱ ἰαμβοποιοι περι των καϑ᾽ ἐκαϛον ποιουσιν.
Jch muß auch hiervon die Ueberſetzungen des
Dacier und Curtius anführen. Dacier ſagt:
C’eſt ce qui eſt déja rendu ſenſible dans la
Comedie, car les Poetes comiques, après
avoir dreſſé leur ſujet ſur la vraiſemblance
impoſent après cela à leurs perſonnages
tels noms qu’il leur plait, \& n’imitent pas
le Poetes ſatyriques, qui ne s’attachent
qu’aux choſes particulieres. Und Curtius:
„Jn dem Luſtſpiele iſt dieſes ſchon lange ſichtbar
„geweſen. Denn wenn die Komödienſchreiber
P p„den
[298] „den Plan der Fabel nach der Wahrſcheinlichkeit
„entworfen haben, legen ſie den Perſonen will-
„kührliche Namen bey, und ſetzen ſich nicht,
„wie die jambiſchen Dichter, einen beſondern
„Vorwurf zum Ziele.„ Was findet man in
dieſen Ueberſetzungen von dem, was Ariſtoteles
hier vornehmlich ſagen will? Beide laſſen ihn
weiter nichts ſagen, als daß die komiſchen Dich-
ter es nicht machten wie die Jambiſchen, (das iſt,
ſatyriſchen Dichter,) und ſich an das Einzelne
hielten, ſondern auf das Allgemeine mit ihren
Perſonen giengen, denen ſie willkührliche
Namen, tels noms qu’il leur plait, beyleg-
ten. Geſetzt nun auch, daß τα τυχοντα ὀνο-
ματα dergleichen Namen bedeuten könnten:
wo haben denn beide Ueberſetzer das ου῾τω gelaſ-
ſen? Schien ihnen denn dieſes ου῾τω gar nichts
zu ſagen? Und doch ſagt es hier alles: denn
dieſem ου῾τω zu Folge, legten die komiſchen Dich-
ter ihren Perſonen nicht allein willkührliche Na-
men bey, ſondern ſie legten ihnen dieſe willkühr-
liche Namen ſo, ου᾽τω, bey. Und wie ſo?
So, daß ſie mit dieſen Namen ſelbſt auf das
Allgemeine zielten: ου᾽ ϛοχαζεται ἠ ποιησις
ὁνοματα ἐπιτιϑεμενη. Und wie geſchah das?
Davon finde man mir ein Wort in den Anmer-
kungen des Dacier und Curtius!
Ohne weitere Umſchweife: es geſchah ſo, wie
ich nun ſagen will. Die Komödie gab ihren
Per-
[299] Perſonen Namen, welche, vermöge ihrer gram-
matiſchen Ableitung und Zuſammenſetzung, oder
auch ſonſtigen Bedeutung, die Beſchaffenheit
dieſer Perſonen ausdrückten: mit einem Worte,
ſie gab ihnen redende Namen; Namen, die man
nur hören durfte, um ſogleich zu wiſſen, von
welcher Art die ſeyn würden, die ſie führen.
Jch will eine Stelle des Donatus hierüber an-
ziehen. Nomina perſonarum, ſagt er bey
Gelegenheit der erſten Zeile in dem erſten Auf-
zuge der Brüder, in comœdiis duntaxat,
habere debent rationem \& etymologiam.
Etenim abſurdum eſt, comicum aperte
argumentum confingere: vel nomen per-
ſonæ incongruum dare vel officium quod
ſit a nomine diverſum.(*)Hinc ſervus
P p 2fidelis
[300]fidelis Parmeno infidelis vel Syrus
vel Geta: miles Thraſo vel Polemon:
juvenis Pamphilus: matrona Myr-
rhina, \& puer ab adore Storax: vel a
ludo \& a geſticulatione Circus: \& item
ſimilia. In quibus ſummum Poetæ vi-
tium eſt, ſi quid e contrario repugnans
contrarium diverſumque protulerit, niſi
per ἀντιϕρασιν nomen impoſuerit jocula-
riter, ut Miſarygrides in Plauto di-
citer trapezita. Wer ſich durch noch mehr
Beyſpiele hiervon überzeugen will, der darf nur
die Namen bey dem Plautus und Terenz unter-
ſuchen. Da ihre Stücke alle aus dem Griechi-
ſchen genommen ſind: ſo ſind auch die Namen
ihrer Perſonen griechiſchen Urſprungs, und ha-
ben, der Etymologie nach, immer eine Bezie-
hung auf den Stand, auf die Denkungsart,
oder auf ſonſt etwas, was dieſe Perſonen mit
meh-
(*)
[301] mehrern gemein haben können; wenn wir ſchon
ſolche Etymologie nicht immer klar und ſicher
angeben können.
Jch will mich bey einer ſo bekannten Sache
nicht verweilen: aber wundern muß ich mich,
wie die Ausleger des Ariſtoteles ſich ihrer gleich-
wohl da nicht erinnern können, wo Ariſtoteles
ſo unwiderſprechlich auf ſie verweiſet. Denn
was kann nunmehr wahrer, was kann klärer
ſeyn, als was der Philoſoph von der Rückſicht
ſagt, welche die Poeſie bey Ertheilung der Na-
men auf das Allgemeine nimmt? Was kann
unleugbarer ſeyn, als daß ἐπι μεν της ϰωμῳ-
διας ἠδη τουτο δηλον γεγονεν, daß ſich dieſe
Rückſicht bey der Komödie beſonders längſt of-
fenbar gezeigt habe? Von ihrem erſten Urſprun-
ge an, das iſt, ſobald ſich die Jambiſchen Dich-
ter von dem Beſondern zu dem Allgemeinen er-
hoben, ſobald aus der beleidigenden Satyre die
unterrichtende Komödie entſtand: ſuchte man
jenes Allgemeine durch die Namen ſelbſt anzu-
deuten. Der großſprecheriſche feige Soldat
hieß nicht wie dieſer oder jener Anführer aus
dieſem oder jenem Stamme: er hieß Pyrgopo-
linices, Hauptmann Mauerbrecher. Der
elende Schmaruzer, der dieſem um das Maul
gieng, hieß nicht, wie ein gewiſſer armer
Schlucker in der Stadt: er hieß Artotrogus,
Brockenſchröter. Der Jüngling, welcher
P p 3durch
[302] durch ſeinen Aufwand, beſonders auf Pferde,
den Vater in Schulden ſetzte, hieß nicht, wie der
Sohn dieſes oder jenes edeln Bürgers: er hieß
Phidippides, Junker Spaarroß.
Man könnte einwenden, daß dergleichen be-
deutende Namen wohl nur eine Erfindung der
neuern Griechiſchen Komödie ſeyn dürften, deren
Dichtern es ernſtlich verbothen war, ſich wah-
rer Namen zu bedienen; daß aber Ariſtoteles
dieſe neuere Komödie nicht gekannt habe, und
folglich bey ſeinen Regeln keine Rückſicht auf
ſie nehmen können. Das Letztere behauptet
Hurd; (*) aber es iſt eben ſo falſch, als falſch
es
[303] es iſt, daß die ältere Griechiſche Komödie ſich
nur wahrer Namen bedient habe. Selbſt in
den-
(*)
[304] denjenigen Stücken, deren vornehmſte, einzige
Abſicht es war, eine gewiſſe bekannte Perſon
lächerlich und verhaßt zu machen, waren, außer
dem wahren Namen dieſer Perſon, die übrigen
faſt alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren
Stand und Charakter erdichtet.
Ham-
[[305]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Ein und neunzigſtes Stück.
Ja die wahren Namen ſelbſt, kann man ſa-
gen, giengen nicht ſelten mehr auf das
Allgemeine, als auf das Einzelne. Un-
ter dem Namen Sokrates wollte Ariſtophanes
nicht den einzeln Sokrates, ſondern alle Sophi-
ſten, die ſich mit Erziehung junger Leute be-
mengten, lächerlich und verdächtig machen.
Der gefährliche Sophiſt überhaupt war ſein
Gegenſtand, und er nannte dieſen nur Sokra-
tes, weil Sokrates als ein ſolcher verſchrieen
war. Daher eine Menge Züge, die auf den
Sokrates gar nicht paßten; ſo daß Sokrates in
dem Theater getroſt aufſtehen, und ſich der
Vergleichung Preis geben konnte! Aber wie
ſehr verkennt man das Weſen der Komödie,
wenn man dieſe nicht treffende Züge für nichts
als muthwillige Verleumdungen erklärt, und
ſie durchaus dafür nicht erkennen will, was ſie
Q qdoch
[306] doch ſind, für Erweiterungen des einzeln Cha-
rakters, für Erhebungen des Perſönlichen zum
Allgemeinen!
Hier ließe ſich von dem Gebrauche der wah-
ren Namen in der Griechiſchen Komödie über-
haupt verſchiednes ſagen, was von den Gelehr-
ten ſo genau noch nicht aus einander geſetzt wor-
den, als es wohl verdiente. Es ließe ſich an-
merken, daß dieſer Gebrauch keinesweges in
der ältern Griechiſchen Komödie allgemein ge-
weſen, (*) daß ſich nur der und jener Dichter
gelegentlich deſſelben erkühnet, (**) daß er
folg-
[307] folglich nicht als ein unterſcheidendes Merkmal
dieſer Epoche der Komödie zu betrachten. (*)
Q q 2Es
(**)
[308] Es ließe ſich zeigen, daß als er endlich durch
ausdrückliche Geſetze unterſagt war, doch noch
im-
(*)
[309] immer gewiſſe Perſonen von dem Schutze dieſer
Geſetze entweder namentlich ausgeſchloſſen wa-
ren, oder doch ſtillſchweigend für ausgeſchloſſen
gehalten wurden. Jn den Stücken des Me-
nanders ſelbſt, wurden noch Leute genug bey ih-
ren wahren Namen genannt und lächerlich ge-
macht. (*) Doch ich muß mich nicht aus einer
Ausſchweifung in die andere verlieren.
Q q 3Jch
[310]
Jch will nur noch die Anwendung auf die
wahren Namen der Tragödie machen. So wie
der Ariſtophaniſche Sokrates nicht den einzeln
Mann dieſes Namens vorſtellte, noch vorſtellen
ſollte; ſo wie dieſes perſonifirte Jdeal einer ei-
teln und gefährlichen Schulweisheit nur darum
den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates
als ein ſolcher Täuſcher und Verführer zum
Theil bekannt war, zum Theil noch bekannter
werden ſollte; ſo wie blos der Begriff von
Stand und Charakter, den man mit dem Na-
men Sokrates verband und noch näher verbin-
den ſollte, den Dichter in der Wahl des Na-
mens beſtimmte: ſo iſt auch blos der Begriff
des Charakters, den wir mit den Namen Re-
gulus,
(*)
[311] gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt
ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter
ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um
uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män-
ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt-
niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit
ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män-
nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen
können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß
wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen
Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber
doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter
wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe;
er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-
licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene
wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß
ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu-
verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her-
gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er-
fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie-
hen, aber den Perſonen noch immer die wahren
Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten
Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind,
bey dieſen Namen einen Charakter zu denken,
wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey-
tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche
Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles,
was
[312] was einmal geſchehen, glaubwürdiger iſt, als
was nicht geſchehen. Die erſte dieſer Urſachen
fließt aus der Verbindung der Ariſtoteliſchen
Begriffe überhaupt; ſie liegt zum Grunde, und
Ariſtoteles hatte nicht nöthig, ſich umſtändlicher
bey ihr zu verweilen; wohl aber bey der zwey-
ten, als einer von anderwärts noch dazu kom-
menden Urſache. Doch dieſe liegt itzt außer
meinem Wege, und die Ausleger insgeſamt ha-
ben ſie weniger mißverſtanden als jene.
Nun alſo auf die Behauptung des Diderot
zurück zu kommen. Wenn ich die Lehre des
Ariſtoteles richtig erklärt zu haben, glauben
darf: ſo darf ich auch glauben, durch meine Er-
klärung bewieſen zu haben, daß die Sache ſelbſt
unmöglich anders ſeyn kann, als ſie Ariſtoteles
lehret. Die Charaktere der Tragödie müſſen
eben ſo allgemein ſeyn, als die Charaktere der
Komödie. Der Unterſchied, den Diderot be-
hauptet, iſt falſch: oder Diderot muß unter
der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas
anders verſtehen, als Ariſtoteles darunter ver-
ſtand.
Ham-
[[313]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Zwey und neunzigſtes Stück.
Und warum könnte das Letztere nicht ſeyn?
Finde ich doch noch einen andern, nicht
minder trefflichen Kunſtrichter, der ſich
faſt eben ſo ausdrückt als Diderot, faſt eben
ſo gerade zu dem Ariſtoteles zu widerſprechen
ſcheint, und gleichwohl im Grunde ſo wenig
widerſpricht, daß ich ihn vielmehr unter allen
Kunſtrichtern für denjenigen erkennen muß, der
noch das meiſte Licht über dieſe Materie ver-
breitet hat.
Es iſt dieſes der engliſche Commentator der
Horaziſchen Dichtkunſt, Hurd: ein Schrift-
ſteller aus derjenigen Klaſſe, die durch Ueber-
ſetzungen bey uns immer am ſpäteſten bekannt
werden. Jch möchte ihn aber hier nicht gern
anpreiſen, um dieſe ſeine Bekanntmachung zu
beſchleunigen. Wenn der Deutſche, der ihr
R rge-
[314] gewachſen wäre, ſich noch nicht gefunden hat:
ſo dürften vielleicht auch der Leſer unter uns noch
nicht viele ſeyn, denen daran gelegen wäre. Der
fleißige Mann, voll guten Willens, übereile ſich
alſo lieber damit nicht, und ſehe, was ich von
einem noch unüberſetzten gutem Buche hier ſage,
ja für keinen Wink an, den ich ſeiner allezeit
fertigen Feder geben wollen.
Hurd hat ſeinem Commentar eine Abhand-
lung, über die verſchiednen Gebiete
des Drama, beygefügt. Denn er glaubte
bemerkt zu haben, daß bisher nur die allgemei-
nen Geſetze dieſer Dichtungsart in Erwägung
gezogen worden, ohne die Grenzen der verſchied-
nen Gattungen derſelben feſtzuſetzen. Gleich-
wohl müſſe auch dieſes geſchehen, um von dem
eigenen Verdienſte einer jeden Gattung insbe-
ſondere ein billiges Urtheil zu fällen. Nach-
dem er alſo die Abſicht des Drama überhaupt,
und der drey Gattungen deſſelben, die er vor
ſich findet, der Tragödie, der Komödie und des
Poſſenſpiels, insbeſondere feſtgeſetzt: ſo folgert
er, aus jener allgemeinen und aus dieſen beſon-
dern Abſichten, ſowohl diejenigen Eigenſchaften,
welche ſie unter ſich gemein haben, als diejeni-
gen, in welchen ſie von einander unterſchieden
ſeyn müſſen.
Unter
[315]
Unter die letztern rechnet er, in Anſehung der
Komödie und Tragödie, auch dieſe, daß der
Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen
eine erdichtete Begebenheit zuträglicher ſey.
Hierauf fährt er fort: The ſame genius in
the two dramas is obſervable, in their
draught of characters. Comedy makes
all its characters general; Tragedy,
particular. The Avare of Moliere
is not ſo properly the picture of a co-
vetous man, as of covetousneß it-
ſelf. Racine’s Nero on the other hand,
is not a picture of cruelty, but of a
cruel man. D. i. „Jn dem nehmlichen
„Geiſte ſchildern die zwey Gattungen des
„Drama auch ihre Charaktere. Die Ko-
„mödie macht alle ihre Charaktere general;
„die Tragödie partikular. Der Geitzige des
„Moliere iſt nicht ſo eigentlich das Gemählde
„eines geitzigen Mannes, als des Geitzes
„ſelbſt. Racinens Nero hingegen iſt nicht das
„Gemählde der Grauſamkeit, ſondern nur
„eines grauſamen Mannes.„
Hurd ſcheinet ſo zu ſchließen: wenn die Tra-
gödie eine wahre Begebenheit erfodert, ſo müſ-
ſen auch ihre Charaktere wahr, das iſt, ſo be-
ſchaffen ſeyn, wie ſie wirklich in den Jndividuis
exiſtiren; wenn hingegen die Komödie ſich mit
R r 2er-
[316] erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn
ihr wahrſcheinliche Begebenheiten, in welchen
ſich die Charaktere nach allen ihrem Umfange zei-
gen können, lieber ſind, als wahre, die ihnen
einen ſo weiten Spielraum nicht erlauben, ſo
dürfen und müſſen auch ihre Charaktere ſelbſt
allgemeiner ſeyn, als ſie in der Natur exiſtiren;
angeſehen dem Allgemeinen ſelbſt, in unſerer Ein-
bildungskraft eine Art von Exiſtenz zukömmt,
die ſich gegen die wirkliche Exiſtenz des Einzeln
eben wie das Wahrſcheinliche zu dem Wahren
verhält.
Jch will itzt nicht unterſuchen, ob dieſe Art
zu ſchließen nicht ein bloßer Zirkel iſt: ich will
die Schlußfolge blos annehmen, ſo wie ſie da
liegt, und wie ſie der Lehre des Ariſtoteles
ſchnurſtracks zu widerſprechen ſcheint. Doch,
wie geſagt, ſie ſcheint es blos, welches aus der
weitern Erklärung des Hurd erhellet.
„Es wird aber, fährt er fort, hier dienlich
„ſeyn, einer doppelten Verſtoßung vorzu-
„bauen, welche der eben angeführte Grundſatz
„zu begünſtigen ſcheinen könnte.
„Die erſte betrift die Tragödie, von der ich
„geſagt habe, daß ſie partikuläre Charaktere
„zeige. Jch meine, ihre Charaktere ſind par-
„tiku-
[317] „tikulärer, als die Charaktere der Komödie.
„Das iſt: die Abſicht der Tragödie verlangt
„es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter
„von den charakteriſtiſchen Umſtänden, durch
„welche ſich die Sitten ſchildern, ſo viele zuſam-
„men zieht, als die Komödie. Denn in jener
„wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt,
„als ſo viel der Verlauf der Handlung unum-
„gänglich erfodert. Jn dieſer hingegen werden
„alle Züge, durch die er ſich zu unterſcheiden
„pflegt, mit Fleiß aufgeſucht und angebracht.
„Es iſt faſt, wie mit dem Portraitmahlen.
„Wenn ein großer Meiſter ein einzelnes Ge-
„ſicht abmahlen ſoll, ſo giebt er ihm alle die Li-
„neamente, die er in ihm findet, und macht es
„Geſichtern von der nehmlichen Art nur ſo weit
„ähnlich, als es ohne Verletzung des allerge-
„ringſten eigenthümlichen Zuges geſchehen kann.
„Soll eben derſelbe Künſtler hingegen einen
„Kopf überhaupt mahlen, ſo wird er alle die
„gewöhnlichen Mienen und Züge zuſammen an-
„zubringen ſuchen, von denen er in der geſamm-
„ten Gattung bemerkt hat, daß ſie die Jdee am
„kräftigſten ausdrücken, die er ſich itzt in Ge-
„danken gemacht hat, und in ſeinem Gemählde
„darſtellen will.
„Eben ſo unterſcheiden ſich die Schildereyen
„der beiden Gattungen des Drama: woraus
R r 3„denn
[318] „denn erhellet, daß, wenn ich den tragiſchen
„Charakter partikular nenne, ich blos ſa-
„gen will, daß er die Art, zu welcher er gehö-
„ret, weniger vorſtellig macht, als der komi-
„ſche; nicht aber, daß das, was man von dem
„Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag
„nun ſo wenig ſeyn, als es will, nicht nach
„dem Allgemeinen entworfen ſeyn ſollte,
„als wovon ich das Gegentheil anderwärts be-
„hauptet und umſtändlich erläutert habe. (*)
„Was zweytens die Komödie anbelangt,
„ſo habe ich geſagt, daß ſie generale Cha-
„raktere geben müſſe, und habe zum Beyſpiele
„den Geitzigen des Moliere angeführt, der
„mehr der Jdee des Geitzes, als eines wirk-
„lichen geitzigen Mannes entſpricht. Doch
„auch hier muß man meine Worte nicht in aller
„ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich
„in
[319] „in dieſem Beyſpiele ſelbſt fehlerhaft; ob es
„ſchon ſonſt, mit der erforderlichen Erklärung,
„nicht ganz unſchicklich ſeyn wird, meine Mei-
„nung begreiflich zu machen.
„Da die komiſche Bühne die Abſicht hat,
„Charaktere zu ſchildern, ſo meine ich kann dieſe
„Abſicht am vollkommenſten erreicht werden,
„wenn ſie dieſe Charaktere ſo allgemein macht,
„als möglich. Denn indem auf dieſe Weiſe die
„in dem Stücke aufgeführte Perſon gleichſam
„der Repreſentant aller Charaktere dieſer Art
„wird, ſo kann unſere Luſt an der Wahrheit
„der Verſtellung ſo viel Nahrung darinn fin-
„den, als nur möglich. Es muß aber ſodann
„dieſe Allgemeinheit ſich nicht bis auf unſern
„Begriff von den möglichen Wirkungen des
„Charakters, im Abſtracto betrachtet, erſtrecken,
„ſondern nur bis auf die wirkliche Aeußerung
„ſeiner Kräfte, ſo wie ſie von der Erfahrung
„gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben
„Statt finden können. Hierinn haben Moliere,
„und vor ihm Plautus, gefehlt; ſtatt der Ab-
„bildung eines geitzigen Mannes, haben
„ſie uns eine grillenhafte widrige Schilderung
„der Leidenſchaft des Geitzes gegeben.
„Jch nenne es eine grillenhafte Schilde-
„rung, weil ſie kein Urbild in der Natur hat.
„Jch nenne es eine widrige Schilderung;
„denn
[320] „denn da es die Schilderung einer einfachen
„unvermiſchten Leidenſchaft iſt, ſo feh-
„len ihr alle die Lichter und Schatten, deren
„richtige Verbindung allein ihr Kraft und Le-
„ben ertheilen könnte. Dieſe Lichter und Schat-
„ten ſind die Vermiſchung verſchiedener Leiden-
„ſchaften, welche mit der vornehmſten oder
„herrſchenden Leidenſchaft zuſammen den
„menſchlichen Charakter ausmachen; und dieſe
„Vermiſchung muß ſich in jedem dramatiſchen
„Gemählde von Sitten finden, weil es zuge-
„ſtanden iſt, daß das Drama vornehmlich das
„wirkliche Leben abbilden ſoll. Doch aber muß
„die Zeichnung der herrſchenden Leidenſchaft
„ſo allgemein entworfen ſeyn, als es ihr Streit
„mit den andern in der Natur nur immer zulaſ-
„ſen will, damit der vorzuſtellende Charakter
„ſich deſto kräftiger ausdrücke.
Ham-
[[321]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Drey und neunzigſtes Stück.
„Alles dieſes läßt ſich abermals aus der
„Mahlerey ſehr wohl erläutern. Jn
„charakteriſtiſchen Porträten, wie
„wir diejenigen nennen können, welche eine Ab-
„bildung der Sitten geben ſollen, wird der
„Artiſt, wenn er ein Mann von wirklicher Fäh-
„igkeit iſt, nicht auf die Möglichkeit einer ab-
„ſtrakten Jdee losarbeiten. Alles was er ſich
„vornimmt zu zeigen, wird dieſes ſeyn, daß ir-
„gend eine Eigenſchaft die herrſchende iſt;
„dieſe drückt er ſtark, und durch ſolche Zeichen
„aus, als ſich in den Wirkungen der herrſchen-
„den Leidenſchaft am ſichtbarſten äußern. Und
„wenn er dieſes gethan hat, ſo dürfen wir, nach
„der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man
„will, als ein Compliment gegen ſeine Kunſt,
„gar wohl von einem ſolchen Portraite ſagen,
„daß es uns nicht ſowohl den Menſchen, als
S s„die
[322] „die Leidenſchaft zeige; gerade ſo, wie die Alten
„von der berühmten Bildſäule des Apollodorus
„vom Silanion angemerkt haben, daß ſie nicht
„ſowohl den zornigen Apollodorus, als die Lei-
„denſchaft des Zornes vorſtelle. (*) Dieſes aber
„muß blos ſo verſtanden werden, daß er die
„hauptſächlichen Züge der vorgebildeten Lei-
„denſchaft gut ausgedrückt habe. Denn im
„Uebrigen behandelt er ſeinen Vorwurf eben ſo,
„wie er jeden andern behandeln würde: das iſt,
„er vergißt die mitverbundenen Eigen-
„ſchaften nicht, und nimmt das allgemeine
„Ebenmaaß und Verhältniß, welches man an
„einer menſchlichen Figur erwartet, in Acht.
„Und das heißt denn die Natur ſchildern, wel-
„che uns kein Beyſpiel von einem Menſchen
„giebt, der ganz und gar in eine einzige Leiden-
„ſchaft verwandelt wäre. Keine Metamorpho-
„ſis könnte ſeltſamer und unglaublicher ſeyn.
„Gleichwohl ſind Portraite, in dieſem tadelhaf-
„ten Geſchmacke verfertiget, die Bewunderung
„gemeiner Gaffer, die, wenn ſie in einer Samm-
„lung das Gemählde, z. E. eines Geitzigen,
„(denn ein gewöhnlicheres giebt es wohl in dieſer
„Gattung nicht,) erblicken, und nach dieſer
„Jdee jede Muſkel, jeden Zug angeſtrenget,
„verzerret und überladen finden, ſicherlich nicht
„er-
[323] „ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung
„darüber zu äußern. — Nach dieſem Begriffe
„der Vortrefflichkeit würde Le Bruns Buch
„von den Leidenſchaften, eine Folge der
„beſten und richtigſten moraliſchen Portraite
„enthalten: und die Charaktere des Theo-
„phraſts müßten, in Abſicht auf das Drama,
„den Charaktern des Terenz weit vorzuziehen
„ſeyn.
„Ueber das erſtere dieſer Urtheile, würde jeder
„Virtuoſe in den bildenden Künſten unſtreitig
„lachen. Das letztere aber, fürchte ich, dürf-
„ten wohl nicht alle ſo ſeltſam finden; wenig-
„ſtens, nach der Praxis verſchiedener unſerer
„beſten komiſchen Schriftſteller und nach dem
„Beyfalle zu urtheilen, welchen dergleichen
„Stücke gemeiniglich gefunden haben. Es
„lieſſen ſich leicht faſt aus allen charakteriſtiſchen
„Komödien Beyſpiele anführen. Wer aber
„die Ungereimtheit, dramatiſche Sitten nach
„abſtrakten Jdeen auszuführen, in ihrem völli-
„gen Lichte ſehen will, der darf nur B. Johnſons
„Jedermann aus ſeinem Humor(*)
S s 2„vor
[324] „vor ſich nehmen; welches ein charakteriſtiſches
„Stück ſeyn ſoll, in der That aber nichts als
„eine
(*)
[325] „eine unnatürliche, und wie es die Mahler nen-
„nen würden, harte Schilderung einer Gruppe
S s 3„von
(*)
[326] „von für ſich beſtehenden Leidenſchaf-
„ten iſt, wovon man das Urbild in dem wirk-
„lichen Leben nirgends findet. Dennoch hat
„dieſe Komödie immer ihre Bewunderer gehabt;
„und beſonders muß Randolph von ihrer
„Einrichtung ſehr bezaubert geweſen ſeyn, weil
„er ſie in ſeinem Spiegel der Muſe aus-
„drücklich nachgeahmet zu haben ſcheint.
„Auch
[327]
„Auch hierinn, müſſen wir anmerken, iſt
„Shakeſpear, ſo wie in allen andern noch we-
„ſentlichern Schönheiten des Drama, ein voll-
„kommenes Muſter. Wer ſeine Komödien in
„dieſer Abſicht aufmerkſam durchleſen will, wird
„finden, daß ſeine auch noch ſo kräftig
„gezeichneten Charaktere, den größten
„Theil ihrer Rollen durch, ſich vollkommen
„wie alle andere ausdrücken, und ihre weſent-
„lichen
(*)
[328] „lichen und herrſchenden Eigenſchaften nur ge-
„legentlich, ſo wie die Umſtände eine ungezwun-
„gene Aeußerung veranlaſſen, an den Tag legen.
„Dieſe beſondere Vortrefflichkeit ſeiner Komö-
„dien entſtand daher, daß er die Natur getreu-
„lich copirte, und ſein reges und feuriges Genie
„auf alles aufmerkſam war, was ihm in dem
„Verlaufe der Scenen dienliches aufſtoſſen
„konnte: da hingegen Nachahmung und
„geringere Fähigkeiten kleine Scriben-
„ten verleiten, ſich um die Fertigkeit zu beei-
„fern, dieſen einen Zweck keinen Augenblick
„aus dem Geſichte zu laſſen, und mit der ängſt-
„lichſten Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in
„beſtändigem Spiele und ununterbrochner Thä-
„tigkeit zu erhalten. Man könnte über dieſe
„ungeſchickte Anſtrengung ihres Witzes ſagen,
„daß ſie mit den Perſonen ihres Stücks
„nicht anders umgehen, als gewiſſe ſpaßhafte
„Leute mit ihren Bekannten, denen ſie mit
„ihren Höflichkeiten ſo zuſetzen, daß ſie ihren
„Antheil an der allgemeinen Unterhaltung gar
„nicht nehmen können, ſondern nur immer, zum
„Vergnügen der Geſellſchaft, Sprünge und
„Männerchen machen müſſen.„
Ham-
[[329]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Vier und neunzigſtes Stück.
Und ſo viel von der Allgemeinheit der komi-
ſchen Charaktere, und den Grenzen dieſer
Allgemeinheit, nach der Jdee des Hurd! —
Doch es wird nöthig ſeyn, noch erſt die zweyte
Stelle beyzubringen, wo er erklärt zu haben
verſichert, in wie weit auch den tragiſchen Cha-
rakteren, ob ſie ſchon nur partikular wären,
dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir
den Schluß überhaupt machen können, ob und
wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Ari-
ſtoteles übereinſtimmen.
„Wahrheit, ſagt er, heißt in der Poeſie
„ein ſolcher Ausdruck, als der allgemeinen Na-
„tur der Dinge gemäß iſt; Falſchheit hin-
„gegen ein ſolcher, als ſich zwar zu dem vorha-
„benden beſondern Falle ſchicket, aber nicht mit
„jener allgemeinen Natur übereinſtimmet.
„Dieſe Wahrheit des Ausdrucks in der drama-
T t„tiſchen
[330] „tiſchen Poeſie zu erreichen, empfiehlet Ho-
„raz (*) zwey Dinge: einmal, die Socra-
„tiſche Philoſophie fleißig zu ſtudieren; zwey-
„tens, ſich um eine genaue Kenntniß des
„menſchlichen Lebens zu bewerben. Jenes,
„weil es der eigenthümliche Vorzug dieſer
„Schule iſt, ad veritatem vitæ propius
„accedere;(**) dieſes, um unſerer Nachah-
„mung eine deſto allgemeinere Aehnlichkeit er-
„theilen zu können. Sich hiervon zu überzeu-
„gen, darf man nur erwägen, daß man ſich in
„Werken der Nachahmung an die Wahrheit
„zu genau halten kann; und dieſes auf doppelte
„Weiſe. Denn entweder kann der Künſtler,
„wenn er die Natur nachbilden will, ſich zu
„ängſtlich befleißigen, alle und jede Beſon-
„derheiten ſeines Gegenſtandes anzudeuten,
„und ſo die allgemeine Jdee der Gattung
„auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn
„er ſich dieſe allgemeine Jdee zu ertheilen be-
„müht, ſie aus zu vielen Fällen des wirkli-
„chen Lebens, nach ſeinem weiteſten Umfange,
„zuſammen ſetzen; da er ſie vielmehr von dem
„lautern Begriffe, der ſich blos in der Vorſtel-
„lung der Seele findet, hernehmen ſollte. Die-
„ſes letztere iſt der allgemeine Tadel, womit die
„Schule der Niederländiſchen Mahler zu
„be-
[331] „belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirk-
„lichen Natur, und nicht, wie die Jtalieniſche,
„von dem geiſtigen Jdeale der Schönheit ent-
„lehnet. (*) Jenes aber entſpricht einem an-
„dern Fehler, den man gleichfalls den Nieder-
„ländiſchen Meiſtern vorwirft, und der dieſer
„iſt, daß ſie lieber die beſondere, ſeltſame und
„groteſke, als die allgemeine und reitzende Na-
„tur, ſich zum Vorbilde wählen.
„Wir ſehen alſo, daß der Dichter, indem er
„ſich von der eigenen und beſondern Wahrheit
„entfernet, deſto getreuer die allgemeine Wahr-
„heit nachahmet. Und hieraus ergiebt ſich die
„Antwort auf jenen ſpitzfindigen Einwurf, den
„Plato gegen die Poeſie ausgegrübelt hatte, und
„nicht ohne Selbſtzufriedenheit vorzutragen
„ſchien. Nehmlich, daß die poetiſche Nach-
„ahmung uns die Wahrheit nur ſehr von wei-
„tem zeigen könne. Denn, der poetiſche
„Ausdruck, ſagt der Philoſoph, iſt das
„Abbild von des Dichters eigenen Be-
„griffen; die Begriffe des Dichters
T t 2„ſind
[332]„ſind das Abbild der Dinge; und die
„Dinge das Abbild des Urbildes, wel-
„ches in dem göttlichen Verſtande exi-
„ſtiret. Folglich iſt der Ausdruck des
„Dichters nur das Bild von dem Bil-
„de eines Bildes, und liefert uns ur-
„ſprüngliche Wahrheit nur gleichſam
„aus der dritten Hand. (*) Aber alle
„dieſe Vernünfteley fällt weg, ſobald man die
„nur gedachte Regel des Dichters gehörig faſſet,
„und fleißig in Ausübung bringet. Denn in-
„dem der Dichter von den Weſen alles abſon-
„dert, was allein das Jndividuum angehet und
„unterſcheidet, überſpringet ſein Begriff gleich-
„ſam alle die zwiſchen inne liegenden beſondern
„Gegenſtände, und erhebt ſich, ſo viel möglich,
„zu dem göttlichen Urbilde, um ſo das unmit-
„telbare Nachbild der Wahrheit zu werden.
„Hieraus lernt man denn auch einſehen, was
„und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches
„der große Kunſtrichter der Dichtkunſt ertheilet,
„ſagen wolle; daß ſie, gegen die Ge-
„ſchichte genommen, das ernſtere und
„philoſophiſchere Studium ſey: ϕιλο-
„σοϕωτερον ϰαι σπουδαιοτερον ποιησις ἱϛοριας
„ἐϛιν. Die Urſache, welche gleich darauf folgt,
„iſt nun gleichfalls ſehr begreiflich: ἡ μεν γαρ
„ποιησις μαλλον τα ϰαϑολου, ἡ δ᾽ ἱϛορια
„τα
[333] „τα ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον λεγει. (*) Ferner wird
„hieraus ein weſentlicher Unterſchied deutlich,
„der ſich, wie man ſagt, zwiſchen den zwey
„großen Nebenbuhlern der Griechiſchen Bühne
„ſoll befunden haben. Wenn man dem So-
„phokles vorwarf, daß es ſeinen Charakteren an
„Wahrheit fehle, ſo pflegte er ſich damit zu
„verantworten, daß er die Menſchen ſo
„ſchildere, wie ſie ſeyn ſollten, Euri-
„pides aber ſo, wie ſie wären. Σοφο-
„ϰλης ἐϕη, ἀυτος μεν ὁιους δει ποιειν, Ευρι-
„πιδης δε οἱοι ἐισι. (**) Der Sinn hiervon
„iſt dieſer: Sophokles hatte, durch ſeinen aus-
„gebreitetern Umgang mit Menſchen, die ein-
„geſchränkte enge Vorſtellung, welche aus der
„Betrachtung einzelner Charaktere entſteht,
„in einen vollſtändigen Begriff des Geſchlechts
„erweitert; der philoſophiſche Euripides hinge-
„gen, der ſeine meiſte Zeit in der Akademie zu-
„gebracht hatte, und von da aus das Leben über-
„ſehen wollte, hielt ſeinen Blick zu ſehr auf
„das Einzelne, auf wirklich exiſtirende Perſo-
„nen geheftet, verſenkte das Geſchlecht in das
„Jndividuum, und mahlte folglich, den vor-
„habenden Gegenſtänden nach, ſeine Charaktere
„zwar natürlich und wahr, aber auch dann
„und wann ohne die höhere allgemeine Aehn-
T t 3„lich-
[334] „lichkeit, die zur Vollendung der poetiſchen
„Wahrheit erfodert wird. (*)
„Ein
[335]
„Ein Einwurf ſtößt gleichwohl hier auf, den
„wir nicht unangezeigt laſſen müſſen. Man
„könnte ſagen, „daß philoſophiſche Speculatio-
„nen die Begriffe eines Menſchen eher abſtrakt
„und allgemein machen, als ſie auf das
„Jndividuelle einſchränken müßten. Das
„letztere ſey ein Mangel, welcher aus der kleinen
„Anzahl von Gegenſtänden entſpringe, die den
„Menſchen zu betrachten vorkommen; und die-
„ſem Mangel ſey nicht allein dadurch abzuhelfen,
„daß man ſich mit mehrern Jndividuis bekannt
„mache, als worinn die Kenntniß der Welt be-
„ſtehe; ſondern auch dadurch, daß man über
„die allgemeine Natur der Menſchen nach-
„denke, ſo wie ſie in guten moraliſchen Büchern
„gelehrt werde. Denn die Verfaſſer ſolcher
„Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von
„der menſchlichen Natur nicht anders als aus
„einer ausgebreiteten Erfahrung (es ſey nun ih-
„rer eignen, oder fremden) haben können, ohne
„welche ihre Bücher ſonſt von keinem Werthe
„ſeyn würden.„ Die Antwort hierauf, dünkt
„mich, iſt dieſe. Durch Erwägung der
„allgemeinen Natur des Menſchen ler-
„net der Philoſoph, wie die Handlung beſchaf-
„fen ſeyn muß, die aus dem Uebergewichte ge-
„wiſſer Neigungen und Eigenſchaften entſprin-
„get: das iſt, er lernet das Betragen überhaupt,
„welches der beygelegte Charakter erfodert.
„Aber
[336] „Aber deutlich und zuverläßig zu wiſſen, wie
„weit und in welchem Grade von Stärke ſich
„dieſer oder jener Charakter, bey beſondern Ge-
„legenheiten, wahrſcheinlicher Weiſe äußern
„würde, das iſt einzig und allein eine Frucht
„von unſerer Kenntniß der Welt. Daß Bey-
„ſpiele von dem Mangel dieſer Kenntniß, bey
„einem Dichter, wie Euripides war, ſehr häu-
„fig ſollten geweſen ſeyn, läßt ſich nicht wohl
„annehmen: auch werden, wo ſich dergleichen
„in ſeinen übrig gebliebenen Stücken etwa fin-
„den ſollten, ſie ſchwerlich ſo offenbar ſeyn, daß
„ſie auch einem gemeinen Leſer in die Augen
„fallen müßten. Es können nur Feinheiten
„ſeyn, die allein der wahre Kunſtrichter zu un-
„terſcheiden vermögend iſt; und auch dieſem
„kann, in einer ſolchen Entfernung von Zeit,
„aus Unwiſſenheit der griechiſchen Sitten, wohl
„etwas als ein Fehler vorkommen, was im
„Grunde eine Schönheit iſt. Es würde alſo
„ein ſehr gefährliches Unternehmen ſeyn, die
„Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, wel-
„che Ariſtoteles dieſem Tadel unterworfen zu
„ſeyn, geglaubt hatte. Aber gleichwohl will
„ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich
„ſie auch ſchon nicht nach aller Gerechtigkeit kri-
„tiſiren ſollte, wenigſten meine Meinung zu er-
„läutern, dienen kann.
Ham-
[[337]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Fünf und neunzigſtes Stück.
„Die Geſchichte ſeiner Elektra iſt ganz be-
„kannt. Der Dichter hatte, in dem
„Charakter dieſer Prinzeßinn, ein tu-
„gendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfüll-
„tes Frauenzimmer zu ſchildern, welches durch
„die Härte, mit der man ſich gegen ſie ſelbſt be-
„trug, erbittert war, und durch noch weit ſtär-
„kere Bewegungsgründe angetrieben ward, den
„Tod eines Vaters zu rächen. Eine ſolche hef-
„tige Gemüthsverfaſſung, kann der Philoſoph
„in ſeinem Winkel wohl ſchlieſſen, muß immer
„ſehr bereit ſeyn, ſich zu äußern. Elektra,
„kann er wohl einſehen, muß, bey der gering-
„ſten ſchicklichen Gelegenheit, ihren Groll an
„den Tag legen, und die Ausführung ihres
„Vorhabens beſchleunigen zu können wünſchen.
„Aber zu welcher Höhe dieſer Groll ſteigen
„darf? d. i. wie ſtark Elektra ihre Rachſucht
U u„aus-
[338] „ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit
„dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir-
„kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt
„iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr-
„ſcheinlich? Dieſes auszumachen, wird die
„abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So
„gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem
„wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns
„zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua
„bemerkt haben, welche den Poeten, der den
„Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das
„Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen
„ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel-
„leicht Exempel an die Hand geben, wo eine
„tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter
„getrieben worden, als es der Dichter hier vor-
„geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei-
„gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch
„ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch
„Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich;
„einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten
„Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung
„über dergleichen Charaktere unter dergleichen
„Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli-
„cher Weiſe vermag. So verſchieden dieſe
„Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo
„verſchieden wird denn auch die Art der Vor-
„ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie
„der vorhabende Charakter von dem Euripides
„wirklich behandelt worden.
„Jn
[339]
„Jn der ſchönen Scene, welche zwiſchen der
„Elektra und dem Oreſtes vorfällt, von dem ſie
„aber noch nicht weis, daß er ihr Bruder iſt,
„kömmt die Unterredung ganz natürlich auf die
„Unglücksfälle der Elektra, und auf den Ur-
„heber derſelben, die Klytämneſtra, ſo wie auch
„auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von
„ihren Drangſaalen durch den Oreſtes befreyet
„zu werden. Das Geſpräch, wie es hierauf
„weiter gehet, iſt dieſes:
Und Oreſtes? Geſetzt, er käme
„nach Argos zurück —
Wozu dieſe Frage, da er, allem
„Anſehen nach, niemals zurückkommen wird?
Aber geſetzt, er käme! Wie müßte
„er es anfangen, um den Tod ſeines Vaters zu
„rächen?
Sich eben deß erkühnen, weſſen
„die Feinde ſich gegen ſeinen Vater erkühnten.
Wollteſt du es wohl mit ihm wa-
„gen, deine Mutter umzubringen?
Sie mit dem nehmlichen Eiſen
„umbringen, mit welchem ſie meinen Vater mor-
„dete!
Und darf ich das, als deinen feſten
„Eutſchluß, deinem Bruder vermelden?
Jch will meine Mutter umbrin-
„gen, oder nicht leben!
U u 2„Das
[340]
„Das Griechiſche iſt noch ſtärker:
„Θανοιμι, μητϱος αἱμ᾽ ἐπισϕαξασ᾽ ἐμης.
- „Jch will gern des Todes ſeyn, ſo-
„bald ich meine Mutter umge-
„bracht habe!
„Nun kann man nicht behaupten, daß dieſe
„letzte Rede ſchlechterdings unnatürlich ſey.
„Ohne Zweifel haben ſich Beyſpiele genug er-
„äugnet, wo unter ähnlichen Umſtänden die
„Rache ſich eben ſo heftig ausgedrückt hat.
„Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte
„dieſes Ausdrucks nicht anders als ein wenig
„beleidigen. Zum mindeſten hielt Sophokles
„nicht für gut, ihn ſo weit zu treiben. Bey
„ihm ſagt Elektra unter gleichen Umſtänden nur
„das: Jetzt ſey dir die Ausführung
„überlaſſen! Wäre ich aber allein ge-
„blieben, ſo glaube mir nur: beides
„hätte mir gewiß nicht mißlingen ſol-
„len; entweder mit Ehren mich zu be-
„freyen, oder mit Ehren zu ſterben!
„Ob nun dieſe Vorſtellung des Sophokles
„der Wahrheit, in ſo fern ſie aus einer aus-
„gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt-
„niß der menſchlichen Natur überhaupt, geſam-
„melt worden, nicht weit gemäßer iſt, als die
„Vorſtellung des Euripides, will ich denen zu
„beurtheilen überlaſſen, die es zu beurtheilen
„fähig
[341] „fähig ſind. Jſt ſie es, ſo kann die Urſache
„keine andere ſeyn, als die ich angenommen:
„daß nehmlich Sophokles ſeine Cha-
„raktere ſo geſchildert, als er, unzäh-
„ligen von ihm beobachteten Beyſpie-
„len der nehmlichen Gattung zu Fol-
„ge, glaubte, daß ſie ſeyn ſollten; Eu-
„ripides aber ſo, als er in der enge-
„ren Sphäre ſeiner Beobachtungen
„erkannt hatte, daß ſie wirklich wä-
„ren. —
Vortrefflich! Auch unangeſehen der Abſicht,
in welcher ich dieſe langen Stellen des Hurd
angeführet habe, enthalten ſie unſtreitig ſo viel
feine Bemerkungen, daß es mir der Leſer wohl
erlaſſen wird, mich wegen Einſchaltung derſelben
zu entſchuldigen. Jch beſorge nur, daß er
meine Abſicht ſelbſt darüber aus den Augen ver-
loren. Sie war aber dieſe: zu zeigen, daß
auch Hurd, ſo wie Diderot, der Tragödie
beſondere, und nur der Komödie allgemeine
Charaktere zutheile, und dem ohngeachtet dem
Ariſtoteles nicht widerſprechen wolle, welcher
das Allgemeine von allen poetiſchen Charakteren,
und folglich auch von den tragiſchen verlanget.
Hurd erklärt ſich nehmlich ſo: der tragiſche
Charakter müſſe zwar partikular oder weniger
allgemein ſeyn, als der komiſche, d. i. er müſſe
die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorſtel-
U u 3lig
[342] lig machen; gleichwohl aber müſſe das Wenige,
was man von ihm zu zeigen für gut finde, nach
dem Allgemeinen entworfen ſeyn, welches Ari-
ſtoteles fordere. (*)
Und nun wäre die Frage, ob Diderot ſich
auch ſo verſtanden wiſſen wolle? — Warum
nicht, wenn ihm daran gelegen wäre, ſich nir-
gends in Widerſpruch mit dem Ariſtoteles finden
zu laſſen? Mir wenigſtens, dem daran gelegen
iſt, daß zwey denkende Köpfe von der nehmli-
chen Sache nicht Ja und Nein ſagen, könnte es
erlaubt ſeyn, ihm dieſe Auslegung unterzuſchie-
ben, ihm dieſe Ausflucht zu leihen.
Aber lieber von dieſer Ausflucht ſelbſt, ein
Wort! — Mich dünkt, es iſt eine Ausflucht,
und iſt auch keine. Denn das Wort Allge-
mein wird offenbar darinn in einer doppelten
und ganz verſchiedenen Bedeutung genommen.
Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von
dem tragiſchen Charakter verneinen, iſt nicht
die nehmliche, in welcher es Hurd von ihm be-
jaet. Freylich beruhet eben hierauf die Aus-
flucht: aber wie, wenn die eine die andere
ſchlechterdings ausſchlöſſe?
Jn
[343]
Jn der erſten Bedeutung heißt ein allge-
meiner Charakter ein ſolcher, in welchen man
das, was man an mehrern oder allen Jndivi-
duis bemerkt hat, zuſammen nimmt; es heißt
mit einem Worte, ein überladener Cha-
rakter; es iſt mehr die perſonifirte Jdee eines
Charakters, als eine charakteriſirte Perſon.
Jn der andern Bedeutung aber heißt ein all-
gemeiner Charakter ein ſolcher, in welchem
man von dem, was an mehrern oder allen Jn-
dividuis bemerkt worden, einen gewiſſen Durch-
ſchnitt, eine mittlere Proportion angenommen;
es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher
Charakter, nicht zwar in ſo fern der Charakter
ſelbſt, ſondern nur in ſo fern der Grad, das
Maaß deſſelben gewöhnlich iſt.
Hurd hat vollkommen Recht, das ϰαϑολου
des Ariſtoteles von der Allgemeinheit in der
zweyten Bedeutung zu erklären. Aber wenn
denn nun Ariſtoteles dieſe Allgemeinheit eben
ſowohl von den komiſchen als tragiſchen Cha-
rakteren erfodert: wie iſt es möglich, daß der
nehmliche Charakter zugleich auch jene Allge-
meinheit haben kann? Wie iſt es möglich, daß
er zugleich überladen und gewöhnlich ſeyn
kann? Und geſetzt auch, er wäre ſo überladen
noch lange nicht, als es die Charaktere in dem
getadelten Stücke des Johnſon ſind; geſetzt, er
ließe ſich noch gar wohl in einem Jndividuo ge-
denken,
[344] denken, und man habe Beyſpiele, daß er ſich
wirklich in mehrern Menſchen eben ſo ſtark, eben
ſo ununterbrochen geäußert habe: würde er dem
ohngeachtet nicht auch noch viel ungewöhn-
licher ſeyn, als jene Allgemeinheit des Ariſto-
teles zu ſeyn erlaubet?
Das iſt die Schwierigkeit! — Jch erinnere
hier meine Leſer, daß dieſe Blätter nichts weni-
ger als ein dramatiſches Syſtem enthalten ſol-
len. Jch bin alſo nicht verpflichtet, alle die
Schwierigkeiten aufzulöſen, die ich mache.
Meine Gedanken mögen immer ſich weniger zu
verbinden, ja wohl gar ſich zu widerſprechen
ſcheinen: wenn es denn nur Gedanken ſind, bey
welchen ſie Stoff finden, ſelbſt zu denken. Hier
will ich nichts als Fermenta cognitionis aus-
ſtreuen.
Ham-
[[345]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sechs und neunzigſtes Stück.
Den zwey und funfzigſten Abend (Dienſtags,
den 28ſten Julius,) wurden des Herrn
Romanus Brüder wiederhohlt.
Oder ſollte ich nicht vielmehr ſagen: die Brü-
der des Herrn Romanus? Nach einer Anmer-
kung nehmlich, welche Donatus bey Gelegen-
heit der Brüder des Terenz macht: Hanc di-
cunt fabulam ſecundo loco actam, etiam
tum rudi nomine poetæ; itaque ſic pro-
nunciatam, Adelphoi Terenti, non Te-
renti Adelphoi, quod adhuc magis de
fabulæ nomine poeta, quam de poetæ no-
mine fabula commendabatur. Herr Ro-
manus hat ſeine Komödien zwar ohne ſeinen
Namen herausgegeben: aber doch iſt ſein Name
durch ſie bekannt geworden. Noch itzt ſind die-
jenigen Stücke, die ſich auf unſerer Bühne von
ihm erhalten haben, eine Empfehlung ſeines
X xNa-
[346] Namens, der in Provinzen Deutſchlandes ge-
nannt wird, wo er ohne ſie wohl nie wäre
gehöret worden. Aber welches widrige Schick-
ſal hat auch dieſen Mann abgehalten, mit ſeinen
Arbeiten für das Theater ſo lange fortzufahren,
bis die Stücke aufgehört hätten, ſeinen Namen
zu empfehlen, und ſein Name dafür die Stücke
empfohlen hätte?
Das meiſte, was wir Deutſche noch in der
ſchönen Litteratur haben, ſind Verſuche junger
Leute. Ja das Vorurtheil iſt bey uns faſt all-
gemein, daß es nur jungen Leuten zukomme, in
dieſem Felde zu arbeiten. Männer, ſagt man,
haben ernſthaftere Studia, oder wichtigere Ge-
ſchäfte, zu welchen ſie die Kirche oder der Staat
auffodert. Verſe und Komödien heiſſen Spiel-
werke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen,
mit welchen man ſich höchſtens bis in ſein fünf
und zwanzigſtes Jahr beſchäftigen darf. So-
bald wir uns dem männlichen Alter nähern,
ſollen wir fein alle unſere Kräfte einem nützli-
chen Amte widmen; und läßt uns dieſes Amt
einige Zeit, etwas zu ſchreiben, ſo ſoll man ja
nichts anders ſchreiben, als was mit der Gra-
vität und dem bürgerlichen Range deſſelben be-
ſtehen kann; ein hübſches Compendium aus
den höhern Facultäten, eine gute Chronike von
der lieben Vaterſtadt, eine erbauliche Predigt
und dergleichen.
Daher
[347]
Daher kömmt es denn auch, daß unſere
ſchöne Litteratur, ich will nicht blos ſagen gegen
die ſchöne Litteratur der Alten, ſondern ſogar
faſt gegen aller neuern polirten Völker ihre, ein
ſo jugendliches, ja kindiſches Anſehen hat, und
noch lange, lange haben wird. An Blut und
Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich
nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und
Knochen mangeln ihr noch ſehr. Sie hat noch
ſo wenig Werke, die ein Mann, der im Denken
geübt iſt, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu
ſeiner Erhohlung und Stärkung, einmal außer
dem einförmigen eckeln Zirkel ſeiner alltäglichen
Beſchäftigungen denken will! Welche Nahrung
kann ſo ein Mann wohl, z. E. in unſern höchſt
trivialen Komödien finden? Wortſpiele, Sprich-
wörter, Späßchen, wie man ſie alle Tage auf
den Gaſſen hört: ſolches Zeug macht zwar das
Parterr zu lachen, das ſich vergnügt ſo gut es
kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch
erſchüttern will, wer zugleich mit ſeinem Ver-
ſtande lachen will, der iſt einmal da geweſen und
kömmt nicht wieder.
Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein
junger Menſch, der erſt ſelbſt in die Welt tritt,
kann unmöglich die Welt kennen und ſie ſchil-
dern. Das größte komiſche Genie zeigt ſich in
ſeinen jugendlichen Werken hohl und leer; ſelbſt
von den erſten Stücken des Menanders ſagt
X x 2Plu-
[348] Plutarch, (*) daß ſie mit ſeinen ſpätern und
letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewe-
ſen. Aus dieſen aber, ſetzt er hinzu, könne
man ſchlieſſen, was er noch würde geleiſtet ha-
ben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie
jung meint man wohl, daß Menander ſtarb?
Wie viel Komödien meint man wohl, daß er
erſt geſchrieben hatte? Nicht weniger als hun-
dert und fünfe; und nicht jünger als zwey und
funfzig.
Keiner von allen unſern verſtorbenen komi-
ſchen Dichtern, von denen es ſich noch der Mühe
verlohnte zu reden, iſt ſo alt geworden; keiner
von den itztlebenden iſt es noch zur Zeit; keiner
von beiden hat das vierte Theil ſo viel Stücke
gemacht. Und die Critik ſollte von ihnen nicht
eben das zu ſagen haben, was ſie von dem Me-
nander zu ſagen fand? — Sie wage es aber nur,
und ſpreche!
Und nicht die Verfaſſer allein ſind es, die ſie
mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel
ſey Dank, itzt ein Geſchlecht ſelbſt von Critikern,
deren beſte Critik darinn beſteht, — alle Critik
verdächtig zu machen. „Genie! Genie! ſchreien
ſie. Das Genie ſetzt ſich über alle Regeln hin-
weg! Was das Genie macht, iſt Regel!„
So ſchmeicheln ſie dem Genie: ich glaube, da-
mit
[349] mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch
ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken
davon in ſich ſpüren, wenn ſie in einem und eben
demſelben Athem hinzuſetzen: „die Regeln un-
terdrücken das Genie!„ — Als ob ſich Genie
durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe!
Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt
geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder
Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein
gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller
Regeln in ſich. Es begreift und behält und be-
folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in
Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor-
ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig-
keit verringern können? Vernünftelt darüber
mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur,
in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen-
blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet;
und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne-
rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf
ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir-
ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen
Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück-
lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande
iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik
das Genie unterdrücken können: heißt mit an-
dern Worten behaupten, daß Beyſpiele und
Uebung eben dieſes vermögen; heißt, das Genie
nicht allein auf ſich ſelbſt, heißt es ſogar, le-
X x 3dig-
[350] diglich auf ſeinen erſten Verſuch einſchrän-
ken.
Eben ſo wenig wiſſen dieſe weiſe Herren, was
ſie wollen, wenn ſie über die nachtheiligen Ein-
drücke, welche die Critik auf das genieſſende
Publikum mache, ſo luſtig wimmern! Sie
möchten uns lieber bereden, daß kein Menſch
einen Schmetterling mehr bunt und ſchön findet,
ſeitdem das böſe Vergrößerungsglas erkennen
laſſen, daß die Farben deſſelben nur Staub ſind.
„Unſer Theater, ſagen ſie, iſt noch in einem
„viel zu zarten Alter, als daß es den monarchi-
„ſchen Scepter der Critik ertragen könne. — Es
„iſt faſt nöthiger die Mittel zu zeigen, wie das
„Jdeal erreicht werden kann, als darzuthun,
„wie weit wir noch von dieſem Jdeale entfernt
„ſind. — Die Bühne muß durch Beyſpiele,
„nicht durch Regeln reformiret werden. — Re-
„ſoniren iſt leichter, als ſelbſt erfinden.„
Heißt das, Gedanken in Worte kleiden: oder
heißt es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten
ſuchen, und keine erhaſchen? — Und wer ſind
ſie denn, die ſo viel von Beyſpielen, und vom
ſelbſt Erfinden reden? Was für Beyſpiele ha-
ben ſie denn gegeben? Was haben ſie denn ſelbſt
erfunden? — Schlaue Köpfe! Wenn ihnen
Beyſpiele zu beurtheilen vorkommen, ſo wün-
ſchen ſie lieber Regeln; und wenn ſie Regeln be-
urtheilen ſollen, ſo möchten ſie lieber Beyſpiele
haben.
[351] haben. Anſtatt von einer Critik zu beweiſen,
daß ſie falſch iſt, beweiſen ſie, daß ſie zu ſtrenge
iſt; und glauben verthan zu haben! Anſtatt
ein Raiſonnement zu widerlegen, merken ſie an,
daß Erfinden ſchwerer iſt, als Raiſonniren;
und glauben widerlegt zu haben!
Wer richtig raiſonnirt, erfindet auch: und
wer erfinden will, muß raiſonniren können.
Nur die glauben, daß ſich das eine von dem
andern trennen laſſe, die zu keinem von beiden
aufgelegt ſind.
Doch was halte ich mich mit dieſen Schwätzern
auf? Jch will meinen Gang gehen, und mich
unbekümmert laſſen, was die Grillen am Wege
ſchwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege,
um ſie zu zertreten, iſt ſchon zu viel. Jhr Som-
mer iſt ſo leicht abgewartet!
Alſo, ohne weitere Einleitung, zu den An-
merkungen, die ich bey Gelegenheit der erſten
Vorſtellung der Brüder des Hrn. Romanus, (*)
annoch über dieſes Stück verſprach! — Die
vornehmſten derſelben werden die Veränderun-
gen betreffen, die er in der Fabel des Terenz
machen zu müſſen geglaubet, um ſie unſern Sit-
ten näher zu bringen.
Was ſoll man überhaupt von der Nothwen-
digkeit dieſer Veränderungen ſagen? Wenn wir
ſo wenig Anſtoß finden, römiſche oder griechiſche
Sitten
[352] Sitten in der Tragödie geſchildert zu ſehen:
warum nicht auch in der Komödie? Woher die
Regel, wenn es anders eine Regel iſt, die Scene
der erſtern in ein entferntes Land, unter ein
fremdes Volk; die Scene der andern aber, in
unſere Heimath zu legen? Woher die Verbind-
lichkeit, die wir dem Dichter aufbürden, in
jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem
er ſeine Handlung vorgehen läßt, ſo genau als
möglich zu ſchildern; da wir in dieſer nur unſere
eigene Sitten von ihm geſchildert zu ſehen ver-
langen? „Dieſes, ſagt Pope an einem Orte,
„ſcheinet dem erſten Anſehen nach bloßer Eigen-
„ſinn, bloße Grille zu ſeyn: es hat aber doch
„ſeinen guten Grund in der Natur. Das Haupt-
„ſächlichſte, was wir in der Komödie ſuchen, iſt
„ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von
„deſſen Treue wir aber nicht ſo leicht verſichert
„ſeyn können, wenn wir es in fremde Moden
„und Gebräuche verkleidet finden. Jn der Tra-
„gödie hingegen iſt es die Handlung, was unſere
„Aufmerkſamkeit am meiſten an ſich ziehet. Ei-
„nen einheimiſchen Vorfall aber für die Bühne
„bequem zu machen, dazu muß man ſich mit der
„Handlung größere Freyheiten nehmen, als eine
„zu bekannte Geſchichte verſtattet„
Ham-
[[353]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Sieben und neunzigſtes Stück.
Dieſe Auflöſung, genau betrachtet, dürfte
wohl nicht in allen Stücken befriedigend
ſeyn. Denn zugegeben, daß fremde
Sitten der Abſicht der Komödie nicht ſo gut
entſprechen, als einheimiſche: ſo bleibt noch
immer die Frage, ob die einheimiſchen Sitten
nicht auch zur Abſicht der Tragödie ein beſſeres
Verhältniß haben, als fremde? Dieſe Frage
iſt wenigſtens durch die Schwierigkeit, einen
einheimiſchen Vorfall ohne allzumerkliche und
anſtößige Veränderungen für die Bühne be-
quem zu machen, nicht beantwortet. Freylich
erfodern einheimiſche Sitten auch einheimiſche
Vorfälle: wenn denn aber nur mit jenen die
Tragödie am leichteſten und gewiſſeſten ihren
Zweck erreichte, ſo müßte es ja doch wohl beſſer
ſeyn, ſich über alle Schwierigkeiten, welche ſich
bey Behandlung dieſer finden, wegzuſetzen, als
Y yin
[354] in Abſicht des Weſentlichſten zu kurz zu fallen,
welches ohnſtreitig der Zweck iſt. Auch werden
nicht alle einheimiſche Vorfälle ſo merklicher und
anſtößiger Veränderungen bedürfen; und die
deren bedürfen, iſt man ja nicht verbunden zu
bearbeiten. Ariſtoteles hat ſchon angemerkt,
daß es gar wohl Begebenheiten geben kann und
giebt, die ſich vollkommen ſo eräugnet haben,
als ſie der Dichter braucht. Da dergleichen
aber nur ſelten ſind, ſo hat er auch ſchon ent-
ſchieden, daß ſich der Dichter um den wenigern
Theil ſeiner Zuſchauer, der von den wahren
Umſtänden vielleicht unterrichtet iſt, lieber nicht
bekümmern, als ſeiner Pflicht minder Genüge
leiſten müſſe.
Der Vortheil, den die einheimiſchen Sitten
in der Komödie haben, beruhet auf der innigen
Bekanntſchaft, in der wir mit ihnen ſtehen.
Der Dichter braucht ſie uns nicht erſt bekannt
zu machen; er iſt aller hierzu nöthigen Beſchrei-
bungen und Winke überhoben; er kann ſeine
Perſonen ſogleich nach ihren Sitten handeln laſ-
ſen, ohne uns dieſe Sitten ſelbſt erſt langweilig
zu ſchildern. Einheimiſche Sitten alſo erleich-
tern ihm die Arbeit, und befördern bey dem Zu-
ſchauer die Jlluſion.
Warum ſollte nun der tragiſche Dichter ſich
dieſes wichtigen doppelten Vortheils begeben?
Auch er hat Urſache, ſich die Arbeit ſo viel als
möglich
[355] möglich zu erleichtern, ſeine Kräfte nicht an
Nebenzwecke zu verſchwenden, ſondern ſie ganz
für den Hauptzweck zu ſparen. Auch ihm
kömmt auf die Jlluſion des Zuſchauers alles
an. — Man wird vielleicht hierauf antworten,
daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe;
daß ſie ihrer ganz und gar entübriget ſeyn könne.
Aber ſonach braucht ſie auch keine fremde Sit-
ten; und von dem Wenigen, was ſie von Sitten
haben und zeigen will, wird es doch immer beſ-
ſer ſeyn, wenn es von einheimiſchen Sitten her-
genommen iſt, als von fremden.
Die Griechen wenigſtens haben nie andere
als ihre eigene Sitten, nicht blos in der Ko-
mödie, ſondern auch in der Tragödie, zum
Grunde gelegt. Ja ſie haben fremden Völ-
kern, aus deren Geſchichte ſie den Stoff ihrer
Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre
eigenen griechiſchen Sitten leihen, als die Wir-
kungen der Bühne durch unverſtändliche barba-
riſche Sitten entkräften wollen. Auf das Co-
ſtume, welches unſern tragiſchen Dichtern ſo
ängſtlich empfohlen wird, hielten ſie wenig oder
nichts. Der Beweis hiervon können vornehm-
lich die Perſerinnen des Aeſchylus ſeyn; und
die Urſache, warum ſie ſich ſo wenig an das
Coſtume binden zu dürfen glaubten, iſt aus der
Abſicht der Tragödie leicht zu folgern.
Y y 2Doch
[356]
Doch ich gerathe zu weit in denjenigen Theil
des Problems, der mich itzt gerade am wenig-
ſten angeht. Zwar indem ich behaupte, daß
einheimiſche Sitten auch in der Tragödie zuträg-
licher ſeyn würden, als fremde: ſo ſetze ich ſchon
als unſtreitig voraus, daß ſie es wenigſtens in
der Komödie ſind. Und ſind ſie das, glaube
ich wenigſtens, daß ſie es ſind: ſo kann ich auch
die Veränderungen, welche Herr Romanus in
Abſicht derſelben, mit dem Stücke des Terenz
gemacht hat, überhaupt nicht anders als bil-
ligen.
Er hatte Recht, eine Fabel, in welche ſo be-
ſondere Griechiſche und Römiſche Sitten ſo
innig verwebet ſind, umzuſchaffen. Das Bey-
ſpiel erhält ſeine Kraft nur von ſeiner innern
Wahrſcheinlichkeit, die jeder Menſch nach dem
beurtheilet, was ihm ſelbſt am gewöhnlichſten iſt.
Alle Anwendung fällt weg, wo wir uns erſt
mit Mühe in fremde Umſtände verſetzen müſſen.
Aber es iſt auch keine leichte Sache mit einer
ſolchen Umſchaffung. Je vollkommner die Fa-
bel iſt, deſto weniger läßt ſich der geringſte
Theil verändern, ohne das Ganze zu zerrütten.
Und ſchlimm! wenn man ſich ſodann nur mit
Flicken begnügt, ohne im eigentlichen Verſtande
umzuſchaffen.
Das Stück heißt die Brüder, und dieſes
bey dem Terenz aus einem doppelten Grunde.
Denn
[357] Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und
Demea, ſondern auch die beiden jungen Leute,
Aeſchinus und Kteſipho, ſind Brüder. Demea
iſt dieſer beider Vater; Micio hat den einen,
den Aeſchinus, nur an Sohnes Statt angenom-
men. Nun begreif ich nicht, warum unſerm
Verfaſſer dieſe Adoption mißfallen. Jch weis
nicht anders, als daß die Adoption auch unter
uns, auch noch itzt gebräuchlich, und vollkom-
men auf den nehmlichen Fuß gebräuchlich iſt,
wie ſie es bey den Römern war. Dem ohnge-
achtet iſt er davon abgegangen: bey ihm ſind
nur die zwey Alten Brüder, und jeder hat einen
leiblichen Sohn, den er nach ſeiner Art erziehet.
Aber, deſto beſſer! wird man vielleicht ſagen.
So ſind denn auch die zwey Alte wirkliche Vä-
ter; und das Stück iſt wirklich eine Schule der
Väter, d. i. ſolcher, denen die Natur die vä-
terliche Pflicht aufgelegt, nicht ſolcher, die ſie
freywillig zwar übernommen, die ſich ihrer aber
ſchwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer
eignen Gemächlichkeit beſtehen kann.
‘Pater eſſe diſce ab illis, qui vere
ſciunt!’ ()
Sehr wohl! Nur Schade, daß durch Auflö-
ſung dieſes einzigen Knoten, welcher bey dem
Terenz den Aeſchinus und Kteſipho unter ſich,
und beide mit dem Demea, ihrem Vater, ver-
Y y 3bindet,
[358] bindet, die ganze Maſchine aus einander fällt,
und aus Einem allgemeinen Jntereſſe zwey ganz
verſchiedene entſtehen, die blos die Convenienz
des Dichters, und keinesweges ihre eigene Na-
tur zuſammen hält!
Denn iſt Aeſchinus nicht blos der angenom-
mene, ſondern der leibliche Sohn des Micio,
was hat Demea ſich viel um ihn zu bekümmern?
Der Sohn eines Bruders geht mich ſo nahe
nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde,
daß jemand meinen eigenen Sohn verziehet,
geſchähe es auch in der beſten Abſicht von der
Welt, ſo habe ich Recht, dieſem gutherzigen
Verführer mit aller der Heftigkeit zu begegnen,
mit welcher, beym Terenz, Demea dem Micio
begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn iſt,
wenn es der eigene Sohn des Verziehers iſt,
was kann ich mehr, was darf ich mehr, als daß
ich dieſem Verzieher warne, und wenn er mein
Bruder iſt, ihn öfters und ernſtlich warne?
Unſer Verfaſſer ſetzt den Demea aus dem Ver-
hältniſſe, in welchem er bey dem Terenz ſtehet,
aber er läßt ihm die nehmliche Ungeſtümheit,
zu welcher ihn doch nur jenes Verhältniß berech-
tigen konnte. Ja bey ihm ſchimpfet und tobet
Demea noch weit ärger, als bey dem Terenz.
Er will aus der Haut fahren, „daß er an ſeines
„Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben
„muß.„ Wenn ihm nun aber dieſer antwor-
tete:
[359] tete: „Du biſt nicht klug, mein lieber Bruder,
„wenn du glaubeſt, du könnteſt an meinem
„Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn
„mein Sohn ein Bube iſt und bleibt, ſo wird,
„wie das Unglück, alſo auch der Schimpf nur
„meine ſeyn. Du magſt es mit deinem Eifer
„wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er be-
„leidiget mich. Falls du mich nur immer ſo
„ärgern willſt, ſo komm mir lieber nicht über
„die Schwelle! u. ſ. w.„ Wenn Micio, ſage
ich, dieſes antwortete: nicht wahr, ſo wäre die
Komödie auf einmal aus? Oder könnte Micio
etwa nicht ſo antworten? Ja müßte er wohl ei-
gentlich nicht ſo antworten?
Wie viel ſchicklicher eifert Demea beym Te-
renz. Dieſer Aeſchinus, den er ein ſo lüder-
liches Leben zu führen glaubt, iſt noch immer
ſein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kin-
des Statt angenommen. Und dennoch beſtehet
der römiſche Micio weit mehr auf ſeinem Rechte
als der deutſche. Du haſt mir, ſagt er, deinen
Sohn einmal überlaſſen; bekümmere dich um
den, der dir noch übrig iſt;
‘— — nam ambos curare;
propemodum
Repoſcere illum eſt, quem dedi-
ſti — —’ ()
Dieſe
[360]
Dieſe verſteckte Drohung, ihm ſeinen Sohn
zurück zu geben, iſt es auch, die ihn zum
Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht
verlangen, daß ſie alle väterliche Empfindungen
bey ihm unterdrücken ſoll. Es muß den Micio
zwar verdrießen, daß Demea auch in der Folge
nicht auf hört, ihm immer die nehmlichen Vor-
würfe zu machen: aber er kann es dem Vater
doch auch nicht verdenken, wenn er ſeinen Sohn
nicht gänzlich will verderben laſſen. Kurz, der
Demea des Terenz iſt ein Mann, der für das
Wohl deſſen beſorgt iſt, für den ihm die Natur
zu ſorgen aufgab; er thut es zwar auf die un-
rechte Weiſe, aber die Weiſe macht den Grund
nicht ſchlimmer. Der Demea unſers Verfaſ-
ſers hingegen iſt ein beſchwerlicher Zänker, der
ſich aus Verwandtſchaft zu allen Grobheiten be-
rechtiget glaubt, die Micio auf keine Weiſe an
dem bloßen Bruder dulden müßte.
Ham-
[[361]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und neunzigſtes Stück.
Eben ſo ſchielend und falſch wird, durch Auf-
hebung der doppelten Brüderſchaft, auch
das Verhältniß der beiden jungen Leute.
Jch verdenke es dem deutſchen Aeſchinus, daß
er (*) „vielmals an den Thorheiten des Kteſipho
„Antheil nehmen zu müſſen geglaubt, um ihn,
„als ſeinen Vetter, der Gefahr und öffentlichen
„Schande zu entreiſſen.„ Was Vetter? Und
ſchickt es ſich wohl für den leiblichen Vater, ihm
darauf zu antworten: „ich billige deine hierbey
„bezeigte Sorgfalt und Vorſicht; ich verwehre
„dir es auch inskünftige nicht?„ Was ver-
wehrt der Vater dem Sohne nicht? An den
Thorheiten eines ungezogenen Vetters Antheil
zu nehmen? Wahrlich, das ſollte er ihm ver-
wehren. „Suche deinen Vetter, müßte er ihm
höch-
Z z
[362] höchſtens ſagen, ſo viel möglich von Thorheiten
abzuhalten: wenn du aber findeſt, daß er durch-
aus darauf beſteht, ſo entziehe dich ihm; denn
dein guter Name muß dir werther ſeyn, als
ſeiner.„
Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir,
hierinn weiter zu gehen. Nur an leiblichen
Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von
dem andern rühmet:
‘— — Illius opera nunc vivo!
Feſtivum caput,
Qui omnia ſibi poſt putarit eſſe præ
meo commmodo:
Maledicta, famam, meum amorem \&
peccatum in ſe tranſtulit.’ ()
Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der
Klugheit keine Grenzen geſetzt wiſſen. Zwar
iſt es wahr, daß unſer Verfaſſer ſeinem Aeſchi-
nus die Thorheit überhaupt zu erſparen gewußt
hat, die der Aeſchinus des Terenz für ſeinen
Bruder begehet. Eine gewaltſame Entführung
hat er [in] eine kleine Schlägerey verwandelt, an
welcher ſein wohlgezogner Jüngling weiter kei-
nen Theil hat, als daß er ſie gern verhindern
wollen. Aber gleichwohl läßt er dieſen wohl-
gezognen Jüngling, für einen ungezognen Vetter
noch viel zu viel zu thun. Denn müßte es jener
wohl auf irgend eine Weiſe geſtatten, daß dieſer
ein
[363] ein Kreatürchen, wie Citaliſe iſt, zu ihm in das
Haus brächte? in das Haus ſeines Vaters?
unter die Augen ſeiner tugendhaften Geliebten?
Es iſt nicht der verführeriſche Damis, dieſe
Peſt für junge Leute, (*) deſſenwegen der deut-
ſche Aeſchinus ſeinem lüderlichen Vetter die Nie-
derlage bey ſich erlaubt: es iſt die bloße Conve-
nienz des Dichters.
Wie vortrefflich hängt alles das bey dem Te-
renz zuſammen! Wie richtig und nothwendig
iſt da auch die geringſte Kleinigkeit motiviret!
Aeſchinus nimmt einem Sklavenhändler ein
Mädchen mit Gewalt aus dem Hauſe, in das
ſich ſein Bruder verliebt hat. Aber er thut das,
weniger um der Neigung ſeines Bruders zu
willfahren, als um einem größern Uebel vorzu-
bauen. Der Sklavenhändler will mit dieſem
Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen
Markt: und der Bruder will dem Mädchen
nach; will lieber ſein Vaterland verlaſſen, als
den Gegenſtand ſeiner Liebe aus den Augen ver-
lieren. (**) Noch erfährt Aeſchinus zu rechter
Z z 2Zeit
[364] Zeit dieſen Entſchluß. Was ſoll er thun? Er
bemächtiget ſich in der Geſchwindigkeit des Mäd-
chens, und bringt ſie in das Haus ſeines Oheims,
um dieſem gütigen Manne den ganzen Handel zu
entdecken. Denn das Mädchen iſt zwar ent-
führt, aber ſie muß ihrem Eigenthümer doch
bezahlt werden. Micio bezahlt ſie auch ohne
Anſtand, und freuet ſich nicht ſowohl über die
That der jungen Leute, als über die brüderliche
Liebe, welche er zum Grunde ſiehet, und über
das Vertrauen, welches ſie auf ihn dabey ſetzen
wollen. Das größte iſt geſchehen; warum ſollte
er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen
einen vollkommen vergnügten Tag zu machen?
‘— — — Argentum adnu-
meravit illico:
Dedit prætera in ſumptum dimidium
minæ.’ ()
Hat er dem Kteſipho das Mädchen gekauft,
warum ſoll er ihm nicht verſtatten, ſich in ſei-
nem Hauſe mit ihr zu vergnügen? Da iſt nach
den alten Sitten nichts, was im geringſten der
Tugend und Ehrbarkeit widerſpräche.
Aber
[365]
Aber nicht ſo in unſern Brüdern! Das Haus
des gütigen Vaters wird auf das ungeziemendſte
gemißbraucht. Anfangs ohne ſein Wiſſen, und
endlich gar mit ſeiner Genehmigung. Citaliſe
iſt eine weit unanſtändigere Perſon, als ſelbſt
jene Pſaltria; und unſer Kteſipho will ſie gar
heyrathen. Wenn das der Terenziſche Kteſipho
mit ſeiner Pſaltria vorgehabt hätte, ſo würde
ſich der Terenziſche Micio ſicherlich ganz anders
dabey genommen haben. Er würde Citaliſen
die Thüre gewieſen, und mit dem Vater die
kräftigſten Mittel verabredet haben, einen ſich ſo
ſträflichen emancipirenden Burſchen im Zaume
zu halten.
Ueberhaupt iſt der deutſche Kteſipho von An-
fange viel zu verderbt geſchildert, und auch
hierinn iſt unſer Verfaſſer von ſeinem Muſter
abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer
Grauſen, wo er ſich mit ſeinem Vetter über ſei-
nen Vater unterhält. (*)
Aber wie reimt ſich das mit der
Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater
ſchuldig biſt?
Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er
wohl nicht von mir verlangen.
Er ſollte ſie nicht verlangen?
Z z 3Lycaſt.
[366]
Nein, gewiß nicht. Jch habe meinen
Vater gar nicht lieb. Jch müßte es lügen, wenn
ich es ſagen wollte.
Unmenſchlicher Sohn! Du bedenkſt
nicht, was du ſagſt. Denjenigen nicht lieben, der
dir das Leben gegeben hat! So ſprichſt du itzt, da
du ihn noch leben ſiehſt. Aber verliere ihn einmal;
hernach will ich dich fragen.
Hm! Jch weis nun eben nicht, was
da geſchehen würde. Auf allen Fall würde ich
wohl auch ſogar unrecht nicht thun. Denn ich
glaube, er würde es auch nicht beſſer machen.
Er ſpricht ja faſt täglich zu mir: „Wenn ich dich
nur los wäre! wenn [du] nur weg wäreſt!„ Heißt
das Liebe? Kanſt du verlangen, daß ich ihn wie-
der lieben ſoll?
Auch die ſtrengſte Zucht müßte ein Kind zu
ſo unnatürlichen Geſinnungen nicht verleiten.
Das Herz, das ihrer, aus irgend einer Urſache,
fähig iſt, verdienet nicht anders als ſklaviſch
gehalten zu werden. Wenn wir uns des aus-
ſchweifenden Sohnes gegen den ſtrengen Vater
annehmen ſollen: ſo müſſen jenes Ausſchwei-
fungen kein grundböſes Herz verrathen; es müſ-
ſen nichts als Ausſchweifungen des Tempera-
ments, jugendliche Unbedachtſamkeiten, Thor-
heiten des Kitzels und Muthwillens ſeyn. Nach
dieſem Grundſatze haben Menander und Terenz
ihren
[367] ihren Kteſipho geſchildert. So ſtreng ihn ſein
Vater hält, ſo entfährt ihm doch nie das geringſte
böſe Wort gegen denſelben. Das einzige, was
man ſo nennen könnte, macht er auf die vortreff-
lichſte Weiſe wieder gut. Er möchte ſeiner Liebe
gern wenigſtens ein Paar Tage, ruhig genieſ-
ſen; er freuet ſich, daß der Vater wieder hinaus
auf das Land, an ſeine Arbeit iſt; und wünſcht,
daß er ſich damit ſo abmatten, — ſo abmatten
möge, daß er ganze drey Tage nicht aus dem
Bette könne. Ein raſcher Wunſch! aber man
ſehe, mit welchem Zuſatze:
‘— — — utinam quidem
Quod cum ſalute ejus fiat, ita ſe de-
fatigarit velim,
Ut triduo hoc perpetuo prorſum e lecto
nequeat ſurgere.’ ()
Quod cum ſalute ejus fiat! Nur
müßte es ihm weiter nicht ſchaden! — So
recht! ſo recht, liebenswürdiger Jüngling!
Jmmer geh, wohin dich Freude und Liebe ru-
fen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu!
Das Böſe, das du begehſt, wird nicht ſehr
böſe ſeyn! Du haſt einen ſtrengern Aufſeher in
dir, als ſelbſt dein Vater iſt! — Und ſo ſind
mehrere Züge in der Scene, aus der dieſe Stelle
genommen iſt. Der deutſche Kteſipho iſt ein
abgefeumter Bube, dem Lügen und Betrug ſehr
ge-
[368] geläuffig ſind: der römiſche hingegen iſt in der
äußerſten Verwirrung um einen kleinen Vor-
wand, durch den er ſeine Abweſenheit bey ſei-
nem Vater rechtfertigen könnte.
‘Rogabit me: ubi fuerim? quem ego
hodie toto non vidi die.
Quid dicam? Sy. Nil ne in mentem
venit? Ct. Nunquam quicquam.
Sy. Tanto nequior.
Cliens, amicus, hoſpes, nemo eſt vo-
bis? Ct. Sunt, quid poſtea?
Sy. Hiſce opera ut data ſit. Ct. Quæ
non data ſit? Non poteſt fieri.’ ()
Dieſes naife, aufrichtige: quæ non data ſit!
Der gute Jüngling ſucht einen Vorwand; und
der ſchalkiſche Knecht ſchlägt ihm eine Lüge vor.
Eine Lüge! Nein, das geht nicht: non poteſt
fieri!
Ham-
[[369]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Neun und neunzigſtes Stück.
Sonach hatte Terenz auch nicht nöthig, uns
ſeinen Kteſipho am Ende des Stücks be-
ſchämt, und durch die Beſchämung auf
dem Wege der Beſſerung, zu zeigen. Wohl aber
mußte dieſes unſer Verfaſſer thun. Nur fürchte
ich, daß der Zuſchauer die kriechende Reue,
und die furchtſame Unterwerfung eines ſo leicht-
ſinnigen Buben nicht für ſehr aufrichtig halten
kann. Eben ſo wenig, als die Gemüthsände-
rung ſeines Vaters. Beider Umkehrung iſt ſo
wenig in ihrem Charakter gegründet, daß man
das Bedürfniß des Dichters, ſein Stück ſchlieſ-
ſen zu müſſen, und die Verlegenheit, es auf
eine beſſere Art zu ſchließen, ein wenig zu ſehr
darinn empfindet. — Jch weis überhaupt nicht,
woher ſo viele komiſche Dichter die Regel genom-
men haben, daß der Böſe nothwendig am Ende
des Stücks entweder beſtraft werden, oder ſich
A a abeſſern
[370] beſſern müſſe. Jn der Tragödie möchte dieſe
Regel noch eher gelten; ſie kann uns da mit dem
Schickſale verſöhnen, und Murren in Mitleid
kehren. Aber in der Komödie, denke ich, hilft
ſie nicht allein nichts, ſondern ſie verdirbt viel-
mehr vieles. Wenigſtens macht ſie immer den
Ausgang ſchielend, und kalt, und einförmig.
Wenn die verſchiednen Charaktere, welche ich
in eine Handlung verbinde, nur dieſe Handlung
zu Ende bringen, warum ſollen ſie nicht bleiben,
wie ſie waren? Aber freylich muß die Handlung
ſodann in etwas mehr, als in einer bloßen Colli-
ſion der Charaktere, beſtehen. Dieſe kann aller-
dings nicht anders, als durch Nachgebung und
Veränderung des einen Theiles dieſer Charak-
tere, geendet werden; und ein Stück, das wenig
oder nichts mehr hat als ſie, nähert ſich nicht ſo-
wohl ſeinem Ziele, ſondern ſchläft vielmehr nach
und nach ein. Wenn hingegen jene Colliſion,
die Handlung mag ſich ihrem Ende nähern, ſo
viel als ſie will, dennoch gleich ſtark fortdauert:
ſo begreift man leicht, daß das Ende eben ſo leb-
haft und unterhaltend ſeyn kann, als die Mitte
nur immer war. Und das iſt gerade der Unter-
ſchied, der ſich zwiſchen dem letzten Akte des Te-
renz, und dem letzten unſers Verfaſſers befin-
det. Sobald wir in dieſem hören, daß der
ſtrenge Vater hinter die Wahrheit gekommen:
ſo können wir uns das Uebrige alles an den Fin-
gern
[371] gern abzehlen; denn es iſt der fünfte Akt. Er
wird Anfangs poltern und toben; bald darauf
wird er ſich beſänftigen laſſen, wird ſein Unrecht
erkennen und ſo werden wollen, daß er nie wie-
der zu einer ſolchen Komödie den Stoff geben
kann: desgleichen wird der ungerathene Sohn
kommen, wird abbitten, wird ſich zu beſſern
verſprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine
Seele werden. Den hingegen will ich ſehen,
der in dem fünften Akte des Terenz die Wen-
dungen des Dichters errathen kann! Die Jn-
trigue iſt längſt zu Ende, aber das fortwährende
Spiel der Charaktere läßt es uns kaum bemer-
ken, daß ſie zu Ende iſt. Keiner verändert ſich;
ſondern jeder ſchleift nur dem andern eben ſo viel
ab, als nöthig iſt, ihn gegen den Nachtheil des
Exceſſes zu verwahren. Der freygebige Micio
wird durch das Manöuvre des geitzigen Demea
dahin gebracht, daß er ſelbſt das Uebermaaß in
ſeinem Bezeigen erkennet, und fragt:
‘Quod proluvium? quæ iſtæc ſubita eſt
largitas?’ ()
So wie umgekehrt der ſtrenge Demea durch das
Manöuvre des nachſichtsvollen Micio endlich
erkennet, daß es nicht genug iſt, nur immer zu
tadeln und zu beſtrafen, ſondern es auch gut ſey,
obſecundare in loco. —
A a a 2Noch
[372]
Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erin-
nern, in welcher unſer Verfaſſer ſich, gleichfalls
zu ſeinem eigenem Nachtheile, von ſeinem Muſter
entfernt hat.
Terenz ſagt es ſelbſt, daß er in die Brüder
des Menanders eine Epiſode aus einem Stücke
des Diphilus übergetragen, und ſo ſeine
Brüder zuſammen geſetzt habe. Dieſe Epi-
ſode iſt die gewaltſame Entführung der Pſal-
tria durch den Aeſchinus: und das Stück des
Diphilus hieß, die mit einander Ster-
benden.
‘Synapothneſcontes Diphili comœdia
eſt —
In Græca adoleſcens eſt, qui lenoni
eripit
Meretricem in prima fabula — —
— — eum hic locum ſumpſit
ſibi
In Adelphos — — —’ ()
Nach dieſen beiden Umſtänden zu urtheilen,
mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgefüh-
ret haben, die feſt entſchloſſen waren, lieber mit
einander zu ſterben, als ſich trennen zu laſſen:
und wer weis was geſchehen wäre, wenn ſich
gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geſchla-
gen, und das Mädchen für den Liebhaber mit
Gewalt entführt hätte? Den Entſchluß, mit
einan-
[373] einander zu ſterben, hat Terenz in den bloßen
Entſchluß des Liebhabers, dem Mädchen nach-
zufliehen und Vater und Vaterland um ſie zu
verlaſſen, gemildert. Donatus ſagt dieſes aus-
drücklich: Menander mori illum voluiſſe
fingit, Terentius fugere. Aber ſollte es in
dieſer Note des Donatus nicht Diphilus anſtatt
Menander heiſſen? Ganz gewiß; wie Peter
Nannius dieſes ſchon angemerkt hat. (*)
Denn der Dichter, wie wir geſehen, ſagt es ja
ſelbſt, daß er dieſe ganze Epiſode von der Ent-
führung nicht aus dem Menander, ſondern aus
dem Diphilus entlehnet habe; und das Stück
des Diphilus hatte von dem Sterben ſogar ſei-
nen Titel.
A a a 3Jndeß
[374]
Jndeß muß freylich, anſtatt dieſer von dem
Diphilus entlehnten Entführung, in dem Stücke
des Menanders eine andere Jntrigue geweſen
ſeyn, an der Aeſchinus gleicher Weiſe für den
Kteſipho Antheil nahm, und wodurch er ſich bey
ſeiner Geliebte in eben den Verdacht brachte,
der am Ende ihre Verbindung ſo glücklich be-
ſchleunigte. Worinn dieſe eigentlich beſtanden,
dürfte ſchwer zu errathen ſeyn. Sie mag aber
beſtanden haben, worinn ſie will: ſo wird ſie
doch gewiß eben ſo wohl gleich vor dem Stücke
vorhergegangen ſeyn, als die vom Terenz dafür
gebrauchte Entführung. Denn auch ſie muß
es geweſen ſeyn, wovon man noch überall ſprach,
als Demea in die Stadt kam; auch ſie muß die
Gelegenheit und der Stoff geweſen ſeyn, wor-
über Demea gleich Anfangs mit ſeinem Bruder
den Streit beginnet, in welchem ſich beider Ge-
müthsarten ſo vortrefflich entwickeln.
‘— — Nam illa, quæ antehac facta
ſunt
Omitto: modo quid deſignavit? —
Fores effregit, atque in ædes irruit
Alienas — — — —
— — clamant omnes, indigniſſime
Factum eſſe. Hoc advenienti quot
mihi, Micio
Dixere? in ore eſt omni populo —’ ()
Nun
[375]
Nun habe ich ſchon geſagt, daß unſer Verfaſſer
dieſe gewaltſame Entführung in eine kleine
Schlägerey verwandelt hat. Er mag auch ſeine
guten Urſachen dazu gehabt haben; wenn er nur
dieſe Schlägerey ſelbſt, nicht ſo ſpät hätte ge-
ſchehen laſſen. Auch ſie ſollte und müßte das
ſeyn, was den ſtrengen Vater auf bringt. So
aber iſt er ſchon aufgebracht, ehe ſie geſchieht,
und man weis gar nicht worüber? Er tritt auf
und zankt, ohne den geringſten Anlaß. Er
ſagt zwar: „Alle Leute reden von der ſchlechten
„Aufführung deines Sohnes; ich darf nur ein-
„mal den Fuß in die Stadt ſetzen, ſo höre ich
„mein blaues Wunder.„ Aber was denn die
Leute eben itzt reden; worinn das blaue Wun-
der beſtanden, das er eben itzt gehört, und
worüber er ausdrücklich mit ſeinem Bruder zu
zanken kömmt, das hören wir nicht, und können
es auch aus dem Stücke nicht errathen. Kurz,
unſer Verfaſſer hätte den Umſtand, der dem
Demea in Harniſch bringt, zwar verändern
können, aber er hätte ihn nicht verſetzen müſſen!
Wenigſtens, wenn er ihn verſetzen wollen, hätte
er den Demea im erſten Akte ſeine Unzufrieden-
heit mit der Erziehungsart ſeines Bruders nur
nach und nach müſſen äußern, nicht aber auf
einmal damit herausplatzen laſſen. —
Möchten wenigſtens nur diejenigen Stücke
des Menanders auf uns gekommen ſeyn, welche
Terenz
[376] Terenz genutzet hat! Jch kann mir nichts Unter-
richtenders denken, als eine Vergleichung dieſer
griechiſchen Originale mit den lateiniſchen Ko-
pieen ſeyn würde.
Denn gewiß iſt es, daß Terenz kein bloßer
ſklaviſcher Ueberſetzer geweſen. Auch da, wo
er den Faden des Menandriſchen Stückes völlig
beybehalten, hat er ſich noch manchen kleinen
Zuſatz, manche Verſtärkung oder Schwächung
eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns
deren verſchiedne Donatus in ſeinen Scholien
angezeigt. Nur Schade, daß ſich Donatus
immer ſo kurz, und öfters ſo dunkel darüber
ausdrückt, (weil zu ſeiner Zeit die Stücke des
Menanders noch ſelbſt in jedermanns Händen
waren,) daß es ſchwer wird, über den Werth
oder Unwerth ſolcher Terenziſchen Künſteleyen
etwas Zuverläßiges zu ſagen. Jn den Brü-
dern findet ſich hiervon ein ſehr merkwürdiges
Exempel.
Ham-
[[377]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Hundertſtes Stück.
Demea, wie ſchon angemerkt, will im fünf-
ten Akte dem Micio eine Lection nach ſei-
ner Art geben. Er ſtellt ſich luſtig, um
die andern wahre Ausſchweifungen und Toll-
heiten begehen zu laſſen; er ſpielt den Freygebi-
gen, aber nicht aus ſeinem, ſondern aus des
Bruders Beutel; er möchte dieſen lieber auf
einmal ruiniren, um nur das boshafte Vergnü-
gen zu haben, ihm am Ende ſagen zu können:
„Nun ſieh, was du von deiner Gutherzigkeit
haſt!„ So lange der ehrliche Micio nur von
ſeinen Vermögen dabey zuſetzt, laſſen wir uns
den hämiſchen Spaß ziemlich gefallen. Aber
nun kömmt es dem Verräther gar ein, den guten
Hageſtolze mit einem alten verlebten Mütter-
chen zu verkuppeln. Der bloße Einfall macht
uns Anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich
ſehen, daß es Ernſt damit wird, daß ſich Micio
B b bwirk-
[378] wirklich die Schlinge über den Kopf werfen
läßt, der er mit einer einzigen ernſthaften Wen-
dung hätte ausweichen können: wahrlich, ſo
wiſſen wir kaum mehr, auf wen wir ungehalt-
ner ſeyn ſollen; ob auf den Demea, oder auf
den Micio. (*)
Ja wohl iſt das mein Wille! Wir
müſſen von nun an mit dieſen guten Leuten nur eine
Familie machen; wir müſſen ihnen auf alle Weiſe
auf helfen, uns auf alle Art mit ihnen verbin-
den. —
Das bitte ich, mein Vater.
Jch bin gar nicht dagegen.
Es ſchickt ſich auch nicht anders für
uns. — Denn erſt iſt ſie ſeiner Frauen Mutter —
Nun dann?
Auf die nichts zu ſagen; brav, ehr-
bar —
Micio.
[379]
So höre ich.
Bey Jahren iſt ſie auch.
Ja wohl.
Kinder kann ſie ſchon lange nicht
mehr haben. Dazu iſt niemand, der ſich um ſie
bekümmerte; ſie iſt ganz verlaſſen.
Was will der damit?
Die mußt du billig heyrathen, Bru-
der. Und du,
mußt ja machen,
daß er es thut.
Jch? ſie heyrathen?
Du!
Jch?
Du! wie geſagt, du!
Du biſt nicht klug.
Nun zeige, was du
kannſt! Er muß!
B b b 2Aeſchi-
[380]
Mein Vater —
Wie? — Und du, Geck, kannſt ihm
noch folgen?
Du ſtreibeſt dich umſonſt: es kann
nun einmal nicht anders ſeyn.
Du ſchwärmſt.
Laß dich erbitten, mein Vater.
Raſeſt du? Geh!
O, ſo mach dem Sohne doch die
Freude!
Biſt du wohl bey Verſtande? Jch,
in meinem fünf und ſechzigſten Jahre noch heyra-
then? Und ein altes verlebtes Weib heyrathen?
Das könnet ihr mir zumuthen?
Thu es immer; ich habe es ihnen
verſprochen.
Micio.
[381]
Verſprochen gar? — Bürſchchen,
verſprich für dich, was du verſprechen willſt!
Friſch! Wenn es nun etwas wichti-
geres wäre, warum er dich bäte?
Als ob etwas wichtigers ſeyn könnte,
wie das?
So willfahre ihm doch nur!
Sey uns nicht zuwider!
Fort, verſprich!
Wie lange ſoll das währen?
Bis du dich erbitten laſſen.
Aber das heißt Gewalt brauchen.
Thu ein Uebriges, guter Micio.
Nun dann; — ob ich es zwar ſehr
unrecht, ſehr abgeſchmackt finde; ob es ſich ſchon
weder mit der Vernunft, noch mit meiner Lebens-
B b b 3art
(*)
[382] art reimet: — weil ihr doch ſo ſehr darauf be-
ſteht; es ſey!
„Nein, ſagt die Critik; das iſt zu viel! Der
Dichter iſt hier mit Recht zu tadeln. Das ein-
zige, was man noch zu ſeiner Rechtfertigung
ſagen könnte, wäre dieſes, daß er die nachthei-
ligen Folgen einer übermäßigen Gutherzigkeit
habe zeigen wollen. Doch Micio hat ſich bis
dahin ſo liebenswürdig bewieſen, er hat ſo viel
Verſtand, ſo viele Kenntniß der Welt gezeigt,
daß dieſe ſeine letzte Ausſchweifung wider alle
Wahrſcheinlichkeit iſt, und den feinern Zu-
ſchauer nothwendig beleidigen muß. Wie ge-
ſagt alſo: der Dichter iſt hier zu tadeln, auf
alle Weiſe zu tadeln!„
Aber welcher Dichter? Terenz? oder Me-
nander? oder beide? — Der neue engliſche
Ueberſetzer des Terenz, Colmann, will den
größern Theil des Tadels auf den Menander
zurückſchieben; und glaubt aus einer Anmer-
kung des Donatus beweiſen zu können, daß Te-
renz die Ungereimtheit ſeines Originals in dieſer
Stelle wenigſtens ſehr gemildert habe. Dona-
tus ſagt nehmlich: Apud Menandrum ſenex
de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius
ἑυρητικως.
„Es
[383]
„Es iſt ſehr ſonderbar, erklärt ſich Col-
mann, „daß dieſe Anmerkung des Donatus
„ſo gänzlich von allen Kunſtrichtern überſehen
„worden, da ſie, bey unſerm Verluſte des Me-
„nanders, doch um ſo viel mehr Aufmerkſam-
„keit verdienet. Unſtreitig iſt es, daß Terenz
„in dem letzten Akte dem Plane des Menanders
„gefolgt iſt: ob er nun aber ſchon die Unge-
„reimtheit, den Micio mit der alten Mutter
„zu verheyrathen, angenommen, ſo lernen wir
„doch vom Donatus, daß dieſer Umſtand ihm
„ſelber anſtößig geweſen, und er ſein Original
„dahin verbeſſert, daß er den Micio alle den
„Widerwillen gegen eine ſolche Verbindung
„äußern laſſen, den er in dem Stücke des Me-
„nanders, wie es ſcheinet, nicht geäußert
„hatte.„
Es iſt nicht unmöglich, daß ein Römiſcher
Dichter nicht einmal etwas beſſer könne gemacht
haben, als ein Griechiſcher. Aber der bloßen
Möglichkeit wegen, möchte ich es gern in keinem
Falle glauben.
Colmann meinet alſo, die Worte des Dona-
tus: Apud Menandrum ſenex de nuptiis
non gravatur, hießen ſo viel, als: beym
Menander ſtreibet ſich der Alte gegen
die Heyrath nicht. Aber wie, wenn ſie
das
[384] das nicht hießen? Wenn ſie vielmehr zu über-
ſetzen wäre: beym Menander fällt man
dem Alten mit der Heyrath nicht be-
ſchwerlich?Nuptias gravari würde zwar
allerdings jenes heiſſen: aber auch de nuptiis
gravari? Jn jener Redensart wird gravari
gleichſam als ein Deponens gebraucht: in dieſer
aber iſt es ja wohl das eigentliche Paſſivum,
und kann alſo meine Auslegung nicht allein lei-
den, ſondern vielleicht wohl gar keine andere
leiden, als ſie.
Wäre aber dieſes: wie ſtünde es dann um
den Terenz? Er hätte ſein Original ſo wenig
verbeſſert, daß er es vielmehr verſchlimmert
hätte; er hätte die Ungereimtheit mit der Ver-
heyrathung des Micio, durch die Weigerung
deſſelben, nicht gemildert, ſondern ſie ſelber er-
funden. Terentius ἑυρητικως! Aber nur,
daß es mit den Erfindungen der Nachahmer
nicht weit her iſt!
Ham-
[[385]]
Hamburgiſche
Dramaturgie.
Hundert und erſtes, zweytes, drittes
und viertes Stück.
Hundert und erſtes bis viertes? — Jch hatte
mir vorgenommen, den Jahrgang dieſer
Blätter nur aus hundert Stücken beſte-
hen zu laſſen. Zwey und funfzig Wochen, und
die Woche zwey Stück, geben zwar allerdings
hundert und viere. Aber warum ſollte, unter
allen Tagewerkern, dem einzigen wöchentlichen
Schriftſteller kein Feyertag zu Statten kom-
men? Und in dem ganzen Jahre nur viere: iſt
ja ſo wenig!
Doch Dodsley und Compagnie haben dem
Publico, in meinem Namen, ausdrücklich hun-
dert und vier Stück verſprochen. Jch werde
die guten Leute ſchon nicht zu Lügnern machen
müſſen.
C c cDie
[386]
Die Frage iſt nur: wie fange ich es am beſten
an? — Der Zeug iſt ſchon verſchnitten: ich
werde einflicken oder recken müſſen. — Aber das
klingt ſo ſtümpermäßig. Mir fällt ein, — was
mir gleich hätte einfallen ſollen: die Gewohnheit
der Schauſpieler, auf ihre Hauptvorſtellung
ein kleines Nachſpiel folgen zu laſſen. Das
Nachſpiel kann handeln, wovon es will, und
braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der
geringſten Verbindung zu ſtehen. — So ein
Nachſpiel dann, mag die Blätter nun füllen,
die ich mir ganz erſparen wollte.
Erſt ein Wort von mir ſelbſt! Denn warum
ſollte nicht auch ein Nachſpiel einen Prolog ha-
ben dürfen, der ſich mit einem Poeta, cum
primum animum ad ſcribendum appulit,
anfinge?
Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute
hier den Einfall bekamen, einen Verſuch zu ma-
chen, ob nicht für das deutſche Theater ſich et-
was mehr thun laſſe, als unter der Verwaltung
eines ſogenannten Principals geſchehen könne:
ſo weiß ich nicht, wie man auf mich dabey fiel,
und ſich träumen ließ, daß ich bey dieſem Unter-
nehmen wohl nützlich ſeyn könnte? — Jch ſtand
eben am Markte und war müßig; niemand
wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich
niemand zu brauchen wußte; bis gerade auf
dieſe Freunde! — Noch ſind mir in meinem
Leben
[387] Leben alle Beſchäftigungen ſehr gleichgültig ge-
weſen: ich habe mich nie zu einer gedrungen,
oder nur erboten; aber auch die geringfügigſte
nicht von der Hand gewieſen, zu der ich mich
aus einer Art von Prädilection erleſen zu ſeyn,
glauben konnte.
Ob ich zur Aufnahme des hieſigen Theaters
concurriren wolle? darauf war alſo leicht ge-
antwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur
die: ob ich es könne? und wie ich es am beſten
könne?
Jch bin weder Schauſpieler, noch Dichter.
Man erweiſet mir zwar manchmal die Ehre,
mich für den letztern zu erkennen. Aber nur,
weil man mich verkennt. Aus einigen drama-
tiſchen Verſuchen, die ich gewagt habe, ſollte
man nicht ſo freygebig folgern. Nicht jeder,
der den Pinſel in die Hand nimt, und Farben
verquiſtet, iſt ein Mahler. Die älteſten von
jenen Verſuchen ſind in den Jahren hingeſchrie-
ben, in welchen man Luſt und Leichtigkeit ſo
gern für Genie hält. Was in den neuerern er-
trägliches iſt, davon bin ich mir ſehr bewußt,
daß ich es einzig und allein der Critik zu verdan-
ken habe. Jch fühle die lebendige Quelle nicht
in mir, die durch eigene Kraft ſich empor arbei-
tet, durch eigene Kraft in ſo reichen, ſo friſchen,
ſo reinen Strahlen aufſchießt: ich muß alles
durch Druckwerk und Röhren aus mir herauf
C c c 2preſ-
[388] preſſen. Jch würde ſo arm, ſo kalt, ſo kurz-
ſichtig ſeyn, wenn ich nicht einigermaaßen ge-
lernt hätte, fremde Schätze beſcheiden zu bor-
gen, an fremdem Feuer mich zu wärmen, und
durch die Gläſer der Kunſt mein Auge zu ſtär-
ken. Jch bin daher immer beſchämt oder ver-
drüßlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der
Critik etwas las oder hörte. Sie ſoll das Genie
erſticken: und ich ſchmeichelte mir, etwas von
ihr zu erhalten, was dem Genie ſehr nahe
kömmt. Jch bin ein Lahmer, den eine Schmäh-
ſchriſt auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freylich; wie die Krücke den Lahmen
wohl hilft, ſich von einem Orte zum andern zu
bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen
kann: ſo auch die Critik. Wenn ich mit ihrer
Hülfe etwas zu Stande bringe, welches beſſer
iſt, als es einer von meinen Talenten ohne Cri-
tik machen würde: ſo koſtet es mich ſo viel Zeit,
ich muß von andern Geſchäften ſo frey, von un-
willkührlichen Zerſtreuungen ſo ununterbrochen
ſeyn, ich muß meine ganze Beleſenheit ſo gegen-
wärtig haben, ich muß bey jedem Schritte alle
Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und
Leidenſchaften gemacht, ſo ruhig durchlaufen
können; daß zu einem Arbeiter, der ein Thea-
ter mit Neuigkeiten unterhalten ſoll, niemand
in der Welt ungeſchickter ſeyn kann, als ich.
Was
[389]
Was Goldoni für das italieniſche Theater
that, der es in einem Jahre mit dreyzehn neuen
Stücken bereicherte, das muß ich für das deut-
ſche zu thun, folglich bleiben laſſen. Ja, das
würde ich bleiben laſſen, wenn ich es auch könn-
te. Jch bin mißtrauiſcher gegen alle erſte Ge-
danken, als De la Caſa und der alte Shandy
nur immer geweſen ſind. Denn wenn ich ſie
auch ſchon nicht für Eingebungen des böſen
Feindes, weder des eigentlichen noch des alle-
goriſchen, halte: (*) ſo denke ich doch immer, daß
die erſten Gedanken die erſten ſind, und daß das
C c c 3Beſte
[390] Beſte auch nicht einmal in allen Suppen oben-
auf zu ſchwimmen pflegt. Meine erſte Gedan-
ken ſind gewiß kein Haar beſſer, als Jedermanns
erſte Gedanken: und mit Jedermanns Gedan-
ken bleibt man am klügſten zu Hauſe.
— Endlich fiel man darauf, ſelbſt das, was
mich zu einem ſo langſamen, oder, wie es mei-
nen rüſtigern Freunden ſcheinet, ſo faulen Ar-
beiter macht, ſelbſt das, an mir nutzen zu wol-
len: die Critik. Und ſo entſprang die Jdee zu
dieſem Blatte.
Sie gefiel mir, dieſe Jdee. Sie erinnerte
mich an die Didaskalien der Griechen, d. i. an
die kurzen Nachrichten, dergleichen ſelbſt Ari-
ſtoteles von den Stücken der griechiſchen Bühne
zu ſchreiben der Mühe werth gehalten. Sie
erinnerte mich, vor langer Zeit einmal über den
grundgelehrten Caſaubonus bey mir gelacht zu
haben, der ſich, aus wahrer Hochachtung für
das Solide in den Wiſſenſchaften, einbildete,
daß es dem Ariſtoteles vornehmlich um die Be-
richtigung der Chronologie bey ſeinen Didaska-
lien zu thun geweſen. (*) — Wahrhaftig, es
wäre
[391] wäre auch eine ewige Schande für den Ariſtote-
les, wenn er ſich mehr um den poetiſchen Werth
der Stücke, mehr um ihren Einfluß auf die
Sitten, mehr um die Bildung des Geſchmacks,
darinn bekümmert hätte, als um die Olympia-
de, als um das Jahr der Olympiade, als um
die Namen der Archonten, unter welchen ſie zu-
erſt aufgeführet worden!
Jch war ſchon Willens, das Blatt ſelbſt
Hamburgiſche Didaskalien zu nennen. Aber
der Titel klang mir allzufremd, und nun iſt es
mir ſehr lieb, daß ich ihm dieſen vorgezogen
habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen
oder nicht bringen wollte, das ſtand bey mir:
wenigſtens hatte mir Lione Allacci desfalls
nichts vorzuſchreiben. Aber wie eine Didaska-
lie ausſehen müſſe, glauben die Gelehrten zu
wiſſen, wenn es auch nur aus den noch vorhan-
denen Didaskalien des Terenz wäre, die eben
dieſer Caſaubonus breviter \& eleganter
ſcriptas nennt. Jch hatte weder Luſt, meine
Didaskalien ſo kurz, noch ſo elegant zu ſchrei-
ben: und unſere itztlebende Caſauboni würden
C c c 4die
(*)
[392] die Köpfe trefflich geſchüttelt haben, wenn ſie
gefunden hätten, wie ſelten ich irgend eines
chronologiſchen Umſtandes gedenke, der künftig
einmal, wenn Millionen anderer Bücher ver-
loren gegangen wären, auf irgend ein hiſtori-
ſches Factum einiges Licht werfen könnte. Jn
welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder
Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder
zu Verſailles, ob in Gegenwart der Prinzen
vom Geblüte, oder nicht der Prinzen vom Ge-
blüte, dieſes oder jenes franzöſiſche Meiſterſtück
zuerſt aufgeführet worden: das würden ſie bey
mir geſucht, und zu ihrem großen Erſtaunen
nicht gefunden haben.
Was ſonſt dieſe Blätter werden ſollten, dar-
über habe ich mich in der Ankündigung erkläret:
was ſie wirklich geworden, das werden meine
Leſer wiſſen. Nicht völlig das, wozu ich ſie zu
machen verſprach: etwas anderes; aber doch,
denk ich, nichts ſchlechteres.
„Sie ſollten jeden Schritt begleiten, den die
„Kunſt, ſowohl des Dichters, als des Schau-
„ſpielers hier thun würde.„
Die letztere Hälfte bin ich ſehr bald über-
drüßig geworden. Wir haben Schauſpieler,
aber keine Schauſpielkunſt. Wenn es vor Al-
ters eine ſolche Kunſt gegeben hat: ſo haben wir
ſie nicht mehr; ſie iſt verloren; ſie muß ganz
von neuem wieder erfunden werden. Allge-
mei-
[393] meines Geſchwätze darüber, hat man in ver-
ſchiedenen Sprachen genug: aber ſpecielle, von
jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Prä-
ciſion abgefaßte Regeln, nach welchen der Ta-
del oder das Lob des Akteurs in einem beſondern
Falle zu beſtimmen ſey, deren wüßte ich kaum
zwey oder drey. Daher kömmt es, daß alles
Raiſonnement über dieſe Materie immer ſo
ſchwankend und vieldeutig ſcheinet, daß es eben
kein Wunder iſt, wenn der Schauſpieler, der
nichts als eine glückliche Routine hat, ſich auf
alle Weiſe dadurch beleidiget findet. Gelobt
wird er ſich nie genug, getadelt aber allezeit
viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht
einmal wiſſen, ob man ihn tadeln oder loben
wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung
ſchon längſt gemacht, daß die Empfindlichkeit
der Künſtler, in Anſehung der Critik, in eben
dem Verhältniſſe ſteigt, in welchem die Gewiß-
heit und Deutlichkeit und Menge der Grundſätze
ihrer Künſte abnimt. — So viel zu meiner, und
ſelbſt zu deren Entſchuldigung, ohne die ich mich
nicht zu entſchuldigen hätte.
Aber die erſtere Hälfte meines Verſprechens?
Bey dieſer iſt freylich das Hier zur Zeit noch
nicht ſehr in Betrachtung gekommen, — und
wie hätte es auch können? Die Schranken ſind
noch kaum geöffnet, und man wollte die Wett-
läufer lieber ſchon bey dem Ziele ſehen; bey ei-
nem
[394] nem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer
weiter und weiter hinausgeſteckt wird? Wenn
das Publikum fragt; was iſt denn nun geſche-
hen? und mit einem höhniſchen Nichts ſich ſelbſt
antwortet: ſo frage ich wiederum; und was hat
denn das Publikum gethan, damit etwas ge-
ſchehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas
ſchlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es
das Werk nicht allein nicht befördert: es hat
ihm nicht einmal ſeinen natürlichen Lauf gelaſ-
ſen. — Ueber den gutherzigen Einfall, den
Deutſchen ein Nationaltheater zu verſchaffen,
da wir Deutſche noch keine Nation ſind! Jch
rede nicht von der politiſchen Verfaſſung, ſon-
dern blos von dem ſittlichen Charakter. Faſt
ſollte man ſagen, dieſer ſey: keinen eigenen ha-
ben zu wollen. Wir ſind noch immer die ge-
ſchwornen Nachahmer alles Ausländiſchen, be-
ſonders noch immer die unterthänigen Bewun-
derer der nie genug bewunderten Franzoſen; al-
les was uns von jenſeit dem Rheine kömmt, iſt
ſchön, reitzend, allerliebſt, göttlich; lieber ver-
leugnen wir Geſicht und Gehör, als daß wir es
anders finden ſollten; lieber wollen wir Plump-
heit für Ungezwungenheit, Frechheit für Gra-
zie, Grimaſſe für Ausdruck, ein Geklingle von
Reimen für Poeſie, Geheule für Muſik, uns
einreden laſſen, als im geringſten an der Supe-
riorität zweifeln, welche dieſes liebenswürdige
Volk,
[395] Volk, dieſes erſte Volk in der Welt, wie es
ſich ſelbſt ſehr beſcheiden zu nennen pflegt, in
allem, was gut und ſchön und erhaben und an-
ſtändig iſt, von dem gerechten Schickſale zu ſei-
nem Antheile erhalten hat. —
Doch dieſer Locus communis iſt ſo abgedro-
ſchen, und die nähere Anwendung deſſelben
könnte leicht ſo bitter werden, daß ich lieber da-
von abbreche.
Jch war alſo genöthiget, anſtatt der Schrit-
te, welche die Kunſt des dramatiſchen Dichters
hier wirklich könnte gethan haben, mich bey de-
nen zu verweilen, die ſie vorläufig thun müßte,
um ſodann mit eins ihre Bahn mit deſto ſchnel-
lern und größern zu durchlaufen. Es waren
die Schritte, welche ein Jrrender zurückgehen
muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelan-
gen, und ſein Ziel gerade in das Auge zu be-
kommen.
Seines Fleißes darf ſich jedermann rühmen:
ich glaube, die dramatiſche Dichtkunſt ſtudiert
zu haben; ſie mehr ſtudiert zu haben, als zwan-
zig, die ſie ausüben. Auch habe ich ſie ſo weit
ausgeübet, als es nöthig iſt, um mitſprechen zu
dürfen: denn ich weiß wohl, ſo wie der Mahler
ſich von niemanden gern tadeln läßt, der den
Pinſel ganz und gar nicht zu führen weiß, ſo
auch der Dichter. Jch habe es wenigſtens ver-
ſucht, was er bewerkſtelligen muß, und kann
von
[396] von dem, was ich ſelbſt nicht zu machen vermag,
doch urtheilen, ob es ſich machen läßt. Jch
verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo
ſo mancher ſich eine anmaßt, der, wenn er nicht
dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt
hätte, ſtummer ſeyn würde, als ein Fiſch.
Aber man kann ſtudieren, und ſich tief in den
Jrrthum hinein ſtudieren. Was mich alſo ver-
ſichert, daß mir dergleichen nicht begegnet ſey,
daß ich das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt
nicht verkenne, iſt dieſes, daß ich es vollkom-
men ſo erkenne, wie es Ariſtoteles aus den un-
zähligen Meiſterſtücken der griechiſchen Bühne
abſtrahiret hat. Jch habe von dem Entſtehen,
von der Grundlage der Dichtkunſt dieſes Philo-
ſophen, meine eigene Gedanken, die ich hier
ohne Weitläuftigkeit nicht äußern könnte. Jn-
deß ſteh ich nicht an, zu bekennen, (und ſollte
ich in dieſen erleuchteten Zeiten auch darüber
ausgelacht werden!) daß ich ſie für ein eben ſo
unfehlbares Werk halte, als die Elemente des
Euklides nur immer ſind. Jhre Grundſätze
ſind eben ſo wahr und gewiß, nur freylich nicht
ſo faßlich, und daher mehr der Chicane ausge-
ſetzt, als alles, was dieſe enthalten. Beſon-
ders getraue ich mir von der Tragödie, als über
die uns die Zeit ſo ziemlich alles daraus gönnen
wollen, unwiderſprechlich zu beweiſen, daß ſie
ſich von der Richtſchnur des Ariſtoteles keinen
Schritt
[397] Schritt entfernen kann, ohne ſich eben ſo weit
von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.
Nach dieſer Ueberzeugung nahm ich mir vor,
einige der berühmteſten Muſter der franzöſiſchen
Bühne ausführlich zu beurtheilen. Denn dieſe
Bühne ſoll ganz nach den Regeln des Ariſtote-
les gebildet ſeyn; und beſonders hat man uns
Deutſche bereden wollen, daß ſie nur durch dieſe
Regeln die Stuffe der Vollkommenheit erreicht
habe, auf welcher ſie die Bühnen aller neuern
Völker ſo weit unter ſich erblicke. Wir haben
das auch lange ſo feſt geglaubt, daß bey unſern
Dichtern, den Franzoſen nachahmen, eben ſo
viel geweſen iſt, als nach den Regeln der Alten
arbeiten.
Jndeß konnte das Vorurtheil nicht ewig
gegen unſer Gefühl beſtehen. Dieſes ward,
glücklicher Weiſe, durch einige Engliſche Stücke
aus ſeinem Schlummer erwecket, und wir mach-
ten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie
noch einer ganz andern Wirkung fähig ſey, als
ihr Corneille und Racine zu ertheilen vermocht.
Aber geblendet von dieſem plötzlichen Strahle
der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand
eines andern Abgrundes zurück. Den engli-
ſchen Stücken fehlten zu augenſcheinlich gewiſſe
Regeln, mit welchen uns die Franzöſiſchen ſo
bekannt gemacht hatten. Was ſchloß man
D d ddar-
[398] daraus? Dieſes: daß ſich auch ohne dieſe Re-
geln der Zweck der Tragödie erreichen laſſe; ja
daß dieſe Regeln wohl gar Schuld ſeyn könnten,
wenn man ihn weniger erreiche.
Und das hätte noch hingehen mögen! — Aber
mit dieſen Regeln fing man an, alle Re-
geln zu vermengen, und es überhaupt für Pe-
danterey zu erklären, dem Genie vorzuſchreiben,
was es thun, und was es nicht thun müſſe.
Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Er-
fahrungen der vergangnen Zeit muthwillig zu
verſcherzen; und von den Dichtern lieber zu ver-
langen, daß jeder die Kunſt aufs neue für ſich
erfinden ſolle.
Jch wäre eitel genug, mir einiges Verdienſt
um unſer Theater beyzumeſſen, wenn ich glau-
ben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu ha-
ben, dieſe Gährung des Geſchmacks zu hem-
men. Darauf los gearbeitet zu haben, darf
ich mir wenigſtens ſchmeicheln, indem ich mir
nicht angelegner ſeyn laſſen, als den Wahn von
der Regelmäßigkeit der franzöſiſchen Bühne zu
beſtreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln
des alten Drama mehr verkannt, als die Fran-
zoſen. Einige beyläuffige Bemerkungen, die
ſie über die ſchicklichſte äußere Einrichtung des
Drama bey dem Ariſtoteles fanden, haben ſie
für
[399] für das Weſentliche angenommen, und das
Weſentliche, durch allerley Einſchränkungen und
Deutungen, dafür ſo entkräftet, daß nothwen-
dig nichts anders als Werke daraus entſtehen
konnten, die weit unter der höchſten Wirkung
blieben, auf welche der Philoſoph ſeine Regeln
calculirt hatte.
Jch wage es, hier eine Aeußerung zu thun,
mag man ſie doch nehmen, wofür man will! —
Man nenne mir das Stück des großen Corneille,
welches ich nicht beſſer machen wollte. Was
gilt die Wette? —
Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man
dieſe Aeußerung für Prahlerey nehmen könne.
Man merke alſo wohl, was ich hinzu ſetze: Jch
werde es zuverläßig beſſer machen, — und doch
lange kein Corneille ſeyn, — und doch lange
noch kein Meiſterſtück gemacht haben. Jch
werde es zuverläßig beſſer machen; — und mir
doch wenig darauf einbilden dürfen. Jch wer-
de nichts gethan haben, als was jeder thun
kann, — der ſo feſt an den Ariſtoteles glaubet,
wie ich.
Eine Tonne, für unſere kritiſche Wallfiſche!
Jch freue mich im voraus, wie trefflich ſie da-
mit ſpielen werden. Sie iſt einzig und allein
D d d 2für
[400] für ſie ausgeworfen; beſonders für den kleinen
Wallfiſch in dem Salzwaſſer zu Halle! —
Und mit dieſem Uebergange, — ſinnreicher
muß er nicht ſeyn, — mag denn der Ton des
ernſthaftern Prologs in den Ton des Nachſpiels
verſchmelzen, wozu ich dieſe letztern Blätter be-
ſtimmte. Wer hätte mich auch ſonſt erinnern
können, daß es Zeit ſey, dieſes Nachſpiel an-
fangen zu laſſen, als eben der Hr. Stl., wel-
cher in der deutſchen Bibliothek des Hrn. Ge-
heimerath Klotz, den Jnhalt deſſelben bereits
angekündiget hat? — (*)
Aber was bekömmt denn der ſchnackiſche
Mann in dem bunten Jäckchen, daß er ſo
dienſtfärtig mit ſeiner Trommel iſt? Jch erin-
nere mich nicht, daß ich ihm etwas dafür ver-
ſprochen hätte. Er mag wohl blos zu ſeinem
Vergnügen trommeln; und der Himmel weis,
wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf
den Gaſſen, die ihn mit einem bewundernden
Ah! nachfolgt, aus der erſten Hand von ihm zu
erfahren bekömmt. Er muß einen Wahrſager-
geiſt haben, Trotz der Magd in der Apoſtelge-
ſchichte. Denn wer hätte es ihm ſonſt ſagen
können, daß der Verfaſſer der Dramaturgie
auch mit der Verleger derſelben iſt? Wer hätte
ihm
[401] ihm ſonſt die geheimen Urſachen entdecken kön-
nen, warum ich der einen Schauſpielerinn eine
ſonore Stimme beygelegt, und das Probe-
ſtück einer andern ſo erhoben habe? Jch war
freylich damals in beide verliebt: aber ich hätte
doch nimmermehr geglaubt, daß es eine leben-
dige Seele errathen ſollte. Die Damen können
es ihm auch unmöglich ſelbſt geſagt haben: folg-
lich hat es mit dem Wahrſagergeiſte ſeine Rich-
tigkeit. Ja, weh uns armen Schriftſtellern,
wenn unſere hochgebiethende Herren, die Jur-
naliſten und Zeitungsſchreiber, mit ſolchen Käl-
bern pflügen wollen! Wenn ſie zu ihren Beur-
theilungen, außer ihrer gewöhnlichen Gelehr-
ſamkeit und Scharfſinnigkeit, ſich auch noch ſol-
cher Stückchen aus der geheimſten Magie bedie-
nen wollen: wer kann wider ſie beſtehen?
„Jch würde, ſchreibt dieſer Hr. Stl. aus
Eingebung ſeines Kobolts, „auch den zweyten
„Band der Dramaturgie anzeigen können, wenn
„nicht die Abhandlung wider die Buchhändler
„dem Verfaſſer zu viel Arbeit machte, als daß
„er das Werk bald beſchließen könnte.„
Man muß auch einen Kobolt nicht zum Lüg-
ner machen wollen, wenn er es gerade einmal
nicht iſt. Es iſt nicht ganz ohne, was das böſe
Ding dem guten Stl. hier eingeblaſen. Jch
D d d 3hatte
[402] hatte allerdings ſo etwas vor. Jch wollte mei-
nen Leſern erzehlen, warum dieſes Werk ſo oft
unterbrochen worden; warum in zwey Jahren
erſt, und noch mit Mühe, ſo viel davon fertig
geworden, als auf ein Jahr verſprochen war.
Jch wollte mich über den Nachdruck beſchweren,
durch den man den geradeſten Weg eingeſchla-
gen, es in ſeiner Geburth zu erſticken. Jch
wollte über die nachtheiligen Folgen des Nach-
drucks überhaupt, einige Betrachtungen anſtel-
len. Jch wollte das einzige Mittel vorſchlagen,
ihm zu ſteuern. — Aber, das wäre ja ſonach
keine Abhandlung wider die Buchhändler ge-
worden? Sondern vielmehr, für ſie: wenig-
ſtens, der rechtſchaffenen Männer unter ihnen;
und es giebt deren. Trauen Sie, mein Herr
Stl., ihrem Kobolte alſo nicht immer ſo ganz!
Sie ſehen es: was ſolch Geſchmeiß des böſen
Feindes von der Zukunft noch etwa weis, das
weis es nur halb. —
Doch nun genug dem Narren nach ſeiner
Narrheit geantwortet, damit er ſich nicht weiſe
dünke. Denn eben dieſer Mund ſagt: ant-
worte dem Narren nicht nach ſeiner Narrheit,
damit du ihm nicht gleich werdeſt! Das iſt:
antworte ihm nicht ſo nach ſeiner Narrheit, daß
die Sache ſelbſt darüber vergeſſen wird; als
wodurch du ihm gleich werden würdeſt. Und
ſo
[403] ſo wende ich mich wieder an meinen ernſthaften
Leſer, den ich dieſer Poſſen wegen ernſtlich um
Vergebung bitte.
Es iſt die lautere Wahrheit, daß der Nach-
druck, durch den man dieſe Blätter gemeinnützi-
ger machen wollen, die einzige Urſache iſt,
warum ſich ihre Ausgabe bisher ſo verzögert
hat, und warum ſie nun gänzlich liegen bleiben.
Ehe ich ein Wort mehr hierüber ſage, erlaube
man mir, den Verdacht des Eigennutzes von
mir abzulehnen. Das Theater ſelbſt hat die
Unkoſten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus
dem Verkaufe wenigſtens einen anſehnlichen
Theil derſelben wieder zu erhalten. Jch ver-
liere nichts dabey, daß dieſe Hoffnung fehl
ſchlägt. Auch bin ich gar nicht ungehalten
darüber, daß ich den zur Fortſetzung geſammel-
ten Stoff nicht weiter an den Mann bringen
kann. Jch ziehe meine Hand von dieſem Pfluge
eben ſo gern wieder ab, als ich ſie anlegte.
Klotz und Conſorten wünſchen ohnedem, daß
ich ſie nie angelegt hätte; und es wird ſich leicht
einer unter ihnen finden, der das Tageregiſter
einer mißlungenen Unternehmung bis zu Ende
führet, und mir zeiget, was für einen perio-
diſchen Nutzen ich einem ſolchen periodi-
ſchen Blatte hätte ertheilen können und
ſollen.
D d d 4Denn
[404]
Denn ich will und kann es nicht bergen, daß
dieſe letzten Bogen faſt ein Jahr ſpäter niederge-
ſchrieben worden, als ihr Datum beſagt. Der
ſüße Traum, ein Nationaltheater hier in Ham-
burg zu gründen, iſt ſchon wieder verſchwun-
den: und ſo viel ich dieſen Ort nun habe kennen
lernen, dürfte er auch wohl gerade der ſeyn,
wo ein ſolcher Traum am ſpäteſten in Erfüllung
gehen wird.
Aber auch das kann mir ſehr gleichgültig
ſeyn! — Jch möchte überhaupt nicht gern das
Anſehen haben, als ob ich es für ein großes Un-
glück hielte, daß Bemühungen vereitelt worden,
an welchen ich Antheil genommen. Sie können
von keiner beſondern Wichtigkeit ſeyn, eben
weil ich Antheil daran genommen. Doch wie,
wenn Bemühungen von weiterm Belange durch
die nehmlichen Undienſte ſcheitern könnten,
durch welche meine geſcheitert ſind? Die Welt
verliert nichts, daß ich, anſtatt fünf und ſechs
Bände Dramaturgie, nur zwey an das Licht
bringen kann. Aber ſie könnte verlieren, wenn
einmal ein nützlicheres Werk eines beſſern
Schriftſtellers eben ſo ins Stecken geriethe; und
es wohl gar Leute gäbe, die einen ausdrücklichen
Plan darnach machten, daß auch das nützlichſte,
unter ähnlichen Umſtänden unternommene Werk
verunglücken ſollte und müßte.
Jn
[405]
Jn dieſem Betracht ſtehe ich nicht an, und
halte es für meine Schuldigkeit, dem Publico ein
ſonderbares Complot zu denunciren. Eben
dieſe Dodsley und Compagnie, welche ſich die
Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, laſſen
ſeit einiger Zeit einen Auſſatz, gedruckt und
geſchrieben, bey den Buchhändlern umlaufen,
welcher von Wort zu Wort ſo lautet:
Nachricht an die Herren Buch-
händler.
Wir haben uns mit Beyhülfe verſchiedener
Herren Buchhändler entſchloſſen, künftig
denenjenigen, welche ſich ohne die erforder-
lichen Eigenſchaften in die Buchhandlung
miſchen werden, (wie es, zum Exempel, die
neuaufgerichtete in Hamburg und anderer
Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das
Selbſt-Verlegen zu verwehren, und ihnen
ohne Anſehen nachzudrucken; auch ihre ge-
ſetzten Preiſſe alle Zeit um die Hälfte zu ver-
ringern. Die dieſen Vorhaben bereits bey-
getretene Herren Buchhändler, welche wohl
eingeſehen, daß eine ſolche unbefugte Stö-
rung für alle Buchhändler zum größ[t]en
Nachtheil gereichen müſſe, haben ſich ent-
ſchloſſen, zu Unterſtützung dieſes Vorhabens,
eine Caſſe aufzurichten, und eine anſehnliche
D d d 5Summe
[406]Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte,
ihre Namen vorerſt noch nicht zu nennen, da-
bey aber verſprochen, ſelbige ferner zu unter-
ſtützen. Von den übrigen gutgeſinnten Her-
ren Buchhändlern erwarten wir demnach zur
Vermehrung der Caſſe, desgleichen, und er-
ſuchen, auch unſern Verlag beſtens zu re-
commandiren. Was den Druck und die
Schönheit des Pappiers betrifft, ſo werden
wir der Erſten nichts nachgeben; übrigens
aber uns bemühen, auf die unzählige Menge
der Schleichhändler genau Acht zu geben,
damit nicht jeder in der Buchhandlung zu
höcken und zu ſtören anfange. So viel ver-
ſichern wir, ſo wohl als die noch zutretende
Herren Mitcollegen, daß wir keinem recht-
mäßigen Buchhändler ein Blatt nachdrucken
werden; aber dagegen werden wir ſehr auf-
merkſam ſeyn, ſo bald jemanden von unſerer
Geſellſchaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht
allein dem Nachdrucker hinwieder allen Scha-
den zuzufügen, ſondern auch nicht weniger
denenjenigen Buchhändlern, welche ihren
Nachdruck zu verkaufen ſich unterfangen.
Wir erſuchen demnach alle und jede Herren
Buchhändler dienſtfreundlichſt, von alle Ar-
ten des Nachdrucks in einer Zeit von einem
Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen
Buchhändler-Geſellſchaft gedruckt angezeigt
haben
[407]haben werden, ſich los zu machen, oder zu
erwarten, ihren beſten Verlag für die Hälfte
des Preiſes oder noch weit geringer verkau-
fen zu ſehen. Denenjenigen Herren Buch-
händlern von unſre Geſellſchaft aber, wel-
chen etwas nachgedruckt werden ſollte, wer-
den wir nach Proportion und Ertrag der Caſſe
eine anſehnliche Vergütung wiederfahren zu
laſſen nicht ermangeln. Und ſo hoffen wir,
daß ſich auch die übrigen Unordnungen bey
der Buchhandlung mit Beyhülfe gutgeſinnter
Herren Buchhändler in kurzer Zeit legen
werden.
Wenn die Umſtände erlauben, ſo kommen
wir alle Oſter-Meſſen ſelbſt nach Leipzig, wo
nicht, ſo werden wir doch desfalls Commiſ-
ſion geben. Wir empfehlen uns deren guten
Geſinnungen und verbleiben Deren getreuen
Mitcollegen,
J. Dodsley und Compagnie.
Wenn dieſer Aufſatz nichts enthielte, als die
Einladung zu einer genauern Verbindung der
Buchhändler, um dem eingeriſſenen Nachdrucke
unter ſich zu ſteuern, ſo würde ſchwerlich ein
Gelehrter ihm ſeinen Beyfall verſagen. Aber
wie hat es vernünftigen und rechtſchaffenen Leu-
ten
[408] ten einkommen können, dieſem Plane eine ſo
ſtraf bare Ausdehnung zu geben? Um ein Paar
armen Hausdieben das Handwerk zu legen,
wollen ſie ſelbſt Straßenräuber werden? „Sie
wollen dem nachdrucken, der ihnen
nachdruckt.„ Das möchte ſeyn; wenn es
ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, ſich
auf dieſe Art ſelbſt zu rächen. Aber ſie wollen
zugleich das Selbſt-Verlegen verwehren.
Wer ſind die, die das verwehren wollen? Ha-
ben ſie wohl das Herz, ſich unter ihren wahren
Namen zu dieſem Frevel zu bekennen? Jſt ir-
gendwo das Selbſt-Verlegen jemals verbothen
geweſen? Und wie kann es verbothen ſeyn?
Welch Geſetz kann dem Gelehrten das Recht
ſchmälern, aus ſeinem eigenthümlichen Werke
alle den Nutzen zu ziehen, den er möglicher
Weiſe daraus ziehen kann? „Aber ſie mi-
ſchen ſich ohne die erforderlichen Ei-
genſchaften in die Buchhandlung. Was
ſind das für erforderliche Eigenſchaften? Das
man fünf Jahre bey einem Manne Pakete zu-
binden gelernt, der auch nichts weiter kann, als
Pakete zubinden? Und wer darf ſich in die
Buchhandlung nicht miſchen? Seit wenn iſt
der Buchhandel eine Jnnung? Welches ſind
ſeine ausſchlieſſenden Privilegien? Wer hat ſie
ihm ertheilt?
Wenn
[409]
Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nach-
druck der Dramaturgie vollenden, ſo bitte ich
ſie, mein Werk wenigſtens nicht zu verſtüm-
meln, ſondern auch das getreulich nachdrucken
zu laſſen, was ſie hier gegen ſich finden. Daß
ſie ihre Vertheidigung beyfügen — wenn an-
ders eine Vertheidigung für ſie möglich iſt —
werde ich ihnen nicht verdenken. Sie mögen
ſie auch in einem Tone abfaſſen, oder von einem
Gelehrten, der klein genug ſeyn kann, ihnen ſeine
Feder dazu zu leihen, abfaſſen laſſen, in wel-
chem ſie wollen: ſelbſt in dem ſo intereſſanten
der Klotziſchen Schule, reich an allerley
Hiſtörchen und Aneldötchen und Pasquillchen,
ohne ein Wort von der Sache. Nur erkläre
ich im voraus die geringſte Jnſinuation, daß es
gekränkter Eigennutz ſey, der mich ſo warm ge-
gen ſie ſprechen laſſen, für eine Lüge. Jch habe
nie etwas auf meine Koſten drucken laſſen, und
werde es ſchwerlich in meinem Leben thun. Jch
kenne, wie ſchon geſagt, mehr als einen recht-
ſchaffenen Mann unter den Buchhändlern, deſ-
ſen Vermittelung ich ein ſolches Geſchäft gern
überlaſſe. Aber keiner von ihnen muß mir es
auch verübeln, daß ich meine Verachtung und
meinen Haß gegen Leute bezeige, in deren Ver-
gleich alle Buſchklepper und Weglaurer wahr-
lich nicht die ſchlimmern Menſchen ſind. Denn
jeder von dieſen macht ſeinen coup de main
für
[410] für ſich: Dodsley und Compagnie aber wollen
Bandenweiſe rauben.
Das Beſte iſt, daß ihre Einladung wohl
von den wenigſten dürfte angenommen wer-
den. Sonſt wäre es Zeit, daß die Gelehrten
mit Ernſt darauf dächten, das bekannte Leib-
nitziſche Projekt auszuführen.
Appendix A
Gedruckt mit Clermondtiſchen Schriften.
Mit allergnädigſten Churſächſiſchen Privilegio.
und 172.
ſon des Dorante: Les recits euxmêmes y
ſont des actions ſuivant la conſtitution
du ſujet.
p. 147.
p. 99.
gentlich zuerſt gebraucht hat; aber das weiß
ich gewiß, daß es Garnier nicht iſt. Hedelin
ſagte: Je ne ſçai ſi Garnier fut le premier
qui ſ’en ſervit, mais il a fait porter ce titre
à ſa Bradamante, ce que depuis pluſieurs
ont imité. (Prat. du Th. liv. II. ch. 10.)
Und
franzöſiſchen Theaters auch nur ſollen bewen-
den laſſen. Aber ſie machen die leichte Ver-
muthung des Hedelins zur Gewißheit, und
gratuliren ihrem Landsmanne zu einer ſo ſchö-
nen Erfindung. Voici la premiére Tragi-
Comedie, ou pour mieux dire le premier
poeme du Theatre qui a porté ce titre —
Garnier ne connoiſſoit pas aſſez les fineſſes
de l’art qu’il profeſſoit; tenons-lui cepen-
dent compte d’avoir le premier, \& ſans le
ſecours des Anciens, ni de ſes contempo-
rains, fait entrevoir une idée, qui n’a pas
été inutile à beaucoup d’Auteurs du der-
nier ſiecle. Garniers Bradamante iſt von 1682,
und ich kenne eine Menge weit frühere ſpaniſche
und italieniſche Stücke, die dieſen Titel führen.
— — — — By all
The Subtilty, and Woman in your Sex,
I ſwear, that had you been a Man you
durſt not,
Nay, your bold Father Harry durſt not
this
Have done — Why ſay I him? Not all
the Harrys,
Nor Alexander’s ſelf, were he alive,
Shou’d boaſt of ſuch a deed on Eſſex done
Without revenge. — — —’ ()
Sohne. S. d. Ueberſ. 247.
— The Diction is every where very bad,
and in ſome Places ſo low, that it even
becomes unnatural. — And I think, there’ ()
can-
Encouragement this Age affords to Merit,
than that no Gentleman poſſeſt of a true
Genius and Spirit of Poetry, thinks it
worth his Attention to adorn ſo celebra-
ted a Part of Hiſtory with that Dignity
of Expreſſion befitting Tragedy in general,
but more particularly, where the Cha-
racters are perhaps the greateſt the World
ever produced.’ ()
tomber en demence la Comteſſe de Rut-
land au moment que cet illuſtre epoux eſt
conduit à l’echafaud; ce moment ou cette
Comteſſe eſt un objet bien digne de pitié,
a produit une tres grande ſenſation, \& a
été trouvé admirable à Londres: en France
il eut paru ridicule, il auroit été ſifflé \&
l’on auroit envoyé la Comteſſe avec l’Au-
teur aux Petites-Maiſons.’ ()
de un Ingenio de eſta Corte.’ ()
Metiò dentro del rio, y como al vellas
Vi un cryſtal en el rio deſatado,
Y vi cryſtal en ellas condenſado,
No ſupe ſi las aguas que ſe vian
Eran ſus pies, que liquidos corrian,
O ſi ſus dos columnas ſe formaban
De las aguas, que alli ſe congelaban.’ ()
Dieſe Aehnlichkeit treibt der Dichter noch
weiter, wenn er beſchreiben will, wie die Da-
me, das Waſſer zu koſten, es mit ihrer hohlen
Hand geſchöpft, und nach dem Munde geführt
habe. Dieſe Hand, ſagt er, war dem klaren
Waſſer ſo ähnlich, daß der Fluß ſelbſt für
Schrecken zuſammen fuhr, weil er befürchtete,
ſie möchte einen Theil ihrer eignen Hand mit-
trinken.
‘Quiſo prabar a caſo
El agua, y fueron cryſtalino vaſo
Sus manos, acercò las a los labios,
Y entonces el arrayo llorò agravios,
Y como tanto, en fin, ſe parecia
A ſus manos aquello que bebia,
Temi con ſobreſalto (y no fue en vano)
Que ſe bebiera parte de la mano.’ ()
A una parte nevado
Y en otra negro el roſtro,
Juzguè, mirando tan divino monſtruo,
Que la naturaleza cuidadoſa
Deſigual uniendo tan hermoſa,
Quiſo hacer por aſſombro, o por ultrage,
De azabache y marfil un maridage.’ ()
Y dentro el Conde? Que aguardo,
Que no voi à ſocorrerlé?
Que aguardo? Lindo recado:
Aguardo à que quiera el miedo
Dexarme entrar: — —
— — — — —
Coſme, que ha tenido un miedo
Que puede valer por quatro.’ ()
Que ſe lavaba las piernas.’ ()
Revelarte intentos mios,
Como a galan, como a dueño
Como a eſpoſo, y como a amigo.’ ()
Que de amarla eſtoi corrido.
Blanca, que es mi dulce dueño,
Blanca, à quien quiero, y eſtimo,
Me propone tal traicion!
Que harè, porque ſi ofendido,
Reſpondiendo, como es juſto,
Contra ſu traicion me irrito,
No por eſſo ha de evitar
Su reſuelto deſatino.
Pues darle cuenta a la Reina
Es impoſſible, pues quiſo
Mi ſuerte, que tenga parte
Blanca en aqueſte delito.
Pues ſi procuro con ruegos’ ()
Di-
Allà dentro de ti miſmo
Lo que has de hacer, no me quieres,
Ya el dudarlo fue delito.
Vive Dios, que eres ingrato!’ ()
Que es una muger reſuelta
Animal tan vengativo,
Que no ſe dobla à los rieſgos:
Antes con afecto impio,
En el miſmo rendimiento
Suelen aguſar los filos;
Y quizà deſeſperada
De mi enojo, o mi deſvìo,
Se declarara con otro
Menos leal, menos fino,
Que quizà por ella intente,
Lo que yo hacer no he querido.’ ()
Y por la que mas eſtimo,
De la Reina mi ſeñora,
Y por — pero yo lo digo’ ()
Que
De la verdad del decirlo,
Que no tiene Blanca parte
De eſtar yo aqui — —
— — — —
Y eſtad mui agradecido
A Blanca, de que yo os dè,
No ſatisfacion, aviſo
De eſta verdad, porque a vos,
Hombres como yo — Cond. Imagino
Que no me conoceis bien.
Duq. No os havia conocido
Haſta aqui; mas ya os conozco,
Pues ya tan otro os he viſto
Que os reconozco traidor.
Cond. Quien dixere — Duq. Yo lo digo,
No pronuncieis algo, Conde,
Que ya no puedo ſufriros.
Cond. Qualquier coſa que yo intente —’ ()
Duq.
Que hacer la traicion cobardes;
Y aſſi quando os he cogido
En un lance que me dà
De que ſois cobarde indicios,
Non he de aprovecharme de eſto,
Y aſfi os perdona mi brio
Eſte rato que teneis
El valor deſminuido;
Que a eſtar todo vos entero,
Supiera daros caſtigo.
Cond. Yo ſoi el Conde de Sex
Y nadie ſe me ha atrevido
Sino el hermano del Rey
De Francia. Duq. Yo tengo brio
Para que ſin ſer quien ſoi,’ ()
Pueda
Caſtigar, non digo yo
Solo a vos, mos a vos miſmo,
Siendo leal, que es lo mas
Con que queda encarecido.
Y pues ſois tan gran Soldado,
No echeis a perder, os pido,
Tantas heroicas hazañas
Con un hecho tan indigno —’ ()
Un intento tan indigno,
Correſponded à quien ſois,’ ()
Y
Haſta que el ſuceſſo miſmo
Mueſtre como fueron falſos
De mi traicion los indicios,
Y que ſoi mas leal, quando
Mos traidor he parecido.’ ()
Mirad que ay Verdugo en Londres,
Y en vos cabeza, harto os digo.’ ()
Podrà ſer, que alguno de ellos
Entregue al otro que es llano,
Que ſerà traidor amigo
Quien fue desleal vaſſallo.’ ()
Dar a entender, que los Reyes
Eſtan en ſi tan guardados
Que aunque la traicion los buſque,’ ()
Nunca
Sè el ſuceſſo de la guerra.’ ()
Una inclinacion tan fuerte,
Sin que te aya ayudado
Del deberle yo la vida?’ ()
Y aſſi el ſecreto averigue
Enormes delitos, quando
Mas que el caſtigo, eſcarmientos
Dè de exemplares el pecado.’ ()
Rein.Loco Amor — Cond. Necio impoſ-
ſible —Rein.Què ciego — Cond. Què temerario —
Rein.Me abates a tal baxeza —
Cond.Me quieres ſubir tan alto —
Rein.Advierte, que ſoi la Reina —
Cond.Advierte que ſoi vaſallo —
Rein.Pues me humillas a el abyſmo —
Cond.Pues me acercas a los rayos —
Rein.Sin reparar mi grandeza —
Cond.
Cond.Sin mirar mi humilde eſtado —
Rein.Ya que te miro acà dentro —
Cond.Ya que en mi te vas entrando —
Rein.Muere entre el pecho, y la voz.
Cond.Muere entre el alma, y los labios.
hinter des Lope Rimas befindet.
‘El Capitan Virves inſigne ingenio,
Puſo en tres actos la Comedia, que antes
Andava en quatro, como pies de niño,
Que eran entonces niñas las Comedias,
Y yo las eſcrivi de onze, y doze años,
De à quatro actos, y de à quatro pliegos,
Porque cada acto un pliego contenia.’ ()
me atrevi a reducir las Comedias a tres
Jornadas, de cinco que tenian.
De decirlo, y lo callaba,
Y como me lo entrego,
Ya por decirlo rebiento,
Que tengo tal propriedad,
Que en un hora, ô la mitad,
Se me hace poſtema un cuento.’ ()
Sera perſona mas grave —
No es bien que Flora ſe alabe
Que el cuento me desflorò.’ ()
La purga. — —
O que regueldos tan ſecos
Me vienen! terrible aprieto. —
Mi eſtomago no lo lleva;
Proteſto que es gran trabajo,
Meto los dedos. — —
Y pues la purga he trocado,
Y el ſecreto he vomitado
Deſde el principio haſta el fin,
Y ſin dexar coſa alguna,
Tal aſco me diò al decillo,
Voi à probar de un membrillo,
O a mordar de una azeituna. —’ ()
Que a un hombre fiò ſu honor,
Siendo tan malo el mejor.’ ()
No ſubas tanto, buſquemos
Mas proporcionada esfera
A tan limitado vuelo.
Blanca me quiere, y a Blanca
Adoro yo ya en mi dueño;
Pues como de amor tan noble
Por una ambicion me alexo?
No conveniencia baſtarda
Venza un legitimo afecto.’ ()
welche ſie Gloſſas nennen. Sie nehmen eine
oder mehrere Zeilen gleichſam zum Texte, und
erklären oder umſchreiben dieſen Text ſo, daß
ſie die Zeilen ſelbſt in dieſe Erklärung oder Um-
ſchreibung wiederum einflechten. Den Text
heiſſen ſie Mote oder Letra, und die Ausle-
gung insbeſondere Gloſſa, welches denn aber
auch der Name des Gedichts überhaupt iſt.
Hier läßt der Dichter den Eſſex das Lied der
Jrene zum Mote machen; das aus vier Zeilen
beſteht, deren jede er in einer beſondern
Stanze umſchreibt, die ſich mit der umſchrie-
benen Zeile ſchließt. Das Ganze ſieht ſo aus:
Mote.
Si acaſo mis deſvarios
Llegaren a tus umbrales,
La laſtima de ſer males
Quite el horror de ſer mios.
Glossa.
Aunque el dolor me provoca
De mis quexas, y no puedo,
Que
Que entre el reſpeto, y el miedo
Se me mueren en la boca;
Y aſſi non llegan tan mios
Mis males a tus orejas.
Porque no han de ſer oidos
Si acaſo digo mis quexas,
Si aca ſo mis deſvarios.
El ſer tan mal explicados
Sea ſu mayor indicio,
Que trocando en mis cuidados
El ſilencco, y vos ſu oficio,
Quedaran mas ponderados:
Deſde oy por eſtas ſeñales
Sean di ti conocidos,
Que ſin duda ſon mis males
Si algunos mas repetidos
Llegaren a tus umbrales.
Mas ay Dios! que mis cuidados
De tu crueldad conocidos,
Aunque mas acreditados,
Seran menos adquiridos,
Que con los otros mezclados:
Porque no ſabiendo a quales
Mas tu ingratitud ſe deba
Viendolos todos iguales
Fuerza es que en commun te mueva
La laſtima de ſer males.’ ()
En
Tu hermoſo deſden le cauſa;
Tuyo, y mio es mi tormento;
Tuyo, porque eres la cauſa;
Y mio, porque yo ſiento:
Sepan, Laura, tus deſvios
Que mis males ſon tan tuyos,
Y en mis cuerdos deſvarios
Eſtos que tienen de tuyos
Quite el horror de ſer mios.’ ()
Es müſſen aber eben nicht alle Gloſſen ſo ſym-
metriſch ſeyn, als dieſe. Man hat alle Frey-
heit, die Stanzen, die man mit den Zeilen
des Mote ſchließt, ſo ungleich zu machen als
man will. Man braucht auch nicht alle Zei-
len einzuflechten; man kann ſich auf eine ein-
zige einſchränken, und dieſe mehr als einmal
wiederholen. Uebrigens gehören dieſe Gloſſen
unter die ältern Gattungen der ſpaniſchen Poe-
ſie, die nach dem Boſcan und Garcilaſſo ziem-
lich aus der Mode gekommen.
— El mas verdadero amor
Es el que en ſi miſmo quieto
Deſcanſa, ſin atender
A mas paga, o mas intento:
La correſpondencia es paga,
Y tener por blanco el precio
Es querer por grangeria. —
— — — —
MDen-
Puedo morir de remedio,
Digo pues, ea, oſſadia,
Ella me alento, que temo? —
Que ſera bien que a tu Alteza —’ ()
(Sale
Mi amor, y aſſi mi dicha eſta ſegura,
Preſumiendo tal voz (dulce locura!)
Que es admitido del mayor ſugeto.
Dexandome engañar de eſte concepto,
Dura mi bien, porque mi engaño dura;
Necio ſera la lengua, ſi aventura
Un bien que eſta ſeguro en el ſecreto. —
Que es feliz quien no ſiendo venturoſo
Nunca llega a ſaber, que es deſdichado.’ ()
(Sale Blanca con la vanda pueſta.)Bl. Señora, el duque — Con.A mal tiempo
Viene Blanca. Bl. Eſta aguardando
En la antecamara — Rein. Ay, cielo!Bl. Para entrar — Rein.Que es lo que miro!
Bl. Licencia. Rein.Decid; — que veo! —
Decid que eſpere; — eſtoi loca! —
Decid, andad. Bl. Ya obedezco.Rein.Venid aca, volved. Bl. Que manda
Vueſtra Alteza? Rein. El daño es cierto. —
Decidle — no ay que dudar —
Entretenedle un momento —
Ay de mi! — mientras yo ſalgo —
Y dexadme. Bl. Que es aqueſto?
Ya voi. Con. Ya Blanca ſe fue,
Quiero pues volver — Rein. Ha zelos!Con.A declararme atrevido,
Pues ſi me atrevo, me atrevo
En fè de ſus pretenſiones.
Rein.
Rein.Mi prenda en poder ageno?
Vive dios, pero es verguenza
Que pueda tanto un afecto
En mi. Con. Segun lo que dixo
Vueſtra Alteza aqui, v ſupueſto,
Que cueſta cara la dicha,
Que ſe compra con el miedo,
Quiero morir nobelmente.
Rein.
Rein.Porque lo decis? Con. Que eſpero,
Si a vueſtra Alteza (que dudo!)
Le declaraſſe mi afecto,
Algun amor — Rein. Que decis?
A mi? como, loco, necio,
Conoceiſme? Quien ſoi yo?
Decid, quien ſoi? que ſoſpecho,
Que ſe os huyo la memoria. —
Y agradeced el que os dexo
Cabeza, en que ſe engendraro[n]
Tan livianos penſamientos.’ ()
No a la voluntad mudable
De un hombre eſté yo ſujeta,
Que aunque no ſè que mi olvide,
Es necedad, que yo quiera
Dexar a ſu corteſia
Lo que puede hacer la fuerza.
Gran Iſabela, eſcuchadme,
Y al eſcucharme tu Alteza,
Ponga aun mas que la atencion,
La piedad con los orejas.
Iſabella os he llamado
En eſta ocaſion, no Reina,
Que quando vengo a deciros
Del honor una flaqueza,
Que he hecho como muger,
Porque mejor os parezca,
No Reina, muger os buſco.
Solo muger os quiſiera. —’ ()
Bl. Le llamè una noche obſcura —
Rein. Y vino a verte? Bl. Pluguiera
A dios, que no fuera tanta
Mi diſdicha, v ſu fineza.
Vino mas galan que nunca,
Y vo que dos veces ciega,
Por mi mal, eſtaba entonces
Del amor, y las tinieblas —
Rein.Eſte es zelo, Blanca. Bl. Zelos,
Añadiendoſe una letra.
Rein. Que decis? Bl. Señora, que
Si acaſo poſſible fuera,
A no ſer vos la que dice
Eſſas palabras, dixera,
Que eran zelos. Rein. Que ſon zelos?
No ſon zelos, es ofenſa
Que me eſtais haciendo vos.
Supongamos, que quiſiera
A el Conde en eſta ocaſion:
Pues ſi yo a el Conde quiſiera
Y alguna atrevida, loca
Preſumida, deſcompueſta
Le quiſiera, que es querer?
Que le mirara, o le viera;
Que es verle? No ſè que diga,
No hai coſa que menos ſea —
No la quitara la vida?
La ſangre no la bebiera? —
Los zelos, aunque fingidos,
Me arrebataron la lengua,
Y diſpararon mi enojo —
Mirad que no me deis zelos,
Que ſi ſingidos ſe altera
Tanto mi enojo, ved vos,
Si fuera verdad, qui hiciera —
Eſcarmentad en las burlas,
No me deis zelos de veras.
El juicio eſta indiferente,
Qual me libra, qual me mata.
Conde, Blanca, reſpondedme!
Tu a la Reina? tu a la Reina?
Oid, aunque confuſamente:
Ha, traidora, dixo el Conde;
Blanca dixo: Traidor eres.
Eſtas razones de entrambos
A entrambas coſas convienen:
Uno de los dos me libra,
Otro de los dos me ofende.
Conde, qual me daba vida?
Blanca, qual me daba muerte?
Decidme! — no lo digais,
Que neutral mi valor quiere,
Por no ſaber el traidor,
No ſaber el innocente.’ ()
Mejor
Mejor es quedar confuſa,
En duda mi juicio quede,
Porque quando mire a alguno,
Y de la traicion me acuerde,
A penſar, que es el traidor,
Que es el leal tambien pienſe.
Yo le agradeciera à Blanca,
Que ella lá traidora fueſſe,
Solo à truque de que el Conde
Fuera el, que eſtaba innocente. —
Blanca en lo que me conto
De gozarla el Conde? No,
Que Blanca no lo fingiera:
No pudo haverla gozado,
Sin eſtar enamorado,’ ()
OY
Entonces la haya querido,
No puede haverla olvidado?
No le vieron mis antojos
Entre acogimientos ſabios,
Mui callando con los labios,
Mui bachiller con los ojos,
Quando al decir ſus enojos
Yo ſu deſpecho reñi?’ ()
Dos mil demonios me lleven,’ ()
Si
Si lo he ſido, o ſi lo fuere,
Ni tengo intencion de ſerlo.
— — — Tengo yo
Cara de ſer confidente?
Yo no ſè que ha viſto en mi
Mi amo para tenerme
En eſta opinion; y à fe,
Que me holgara de que fueſſe
Coſa de mas importancia
Un ſecretillo mui leve,
Que rabio ya por decirlo,
Que es que el Conde a Blanca quiere,
Que eſtan caſados los dos
En ſecreto — — —’ ()
Cond.Solo el deſcargo que tengo
Es el eſtar innocente.Senescal.Aunque yo quiera creerlo
No me dexan los indicios,
Y advertid, que ya no es tiempo
De dilacion, que mañana
Haveis de morir. Con. Yo muero
Innocente. Sen. Pues decid
No eſcribiſteis a Roberto
Eſte carta? Aqueſta firma
No es la vueſtra? Con. No lo niego.Sen.El gran duque de Alanzon
No os oyò en el apoſento
De Blanca trazar la muerte
De la Reina? Con. Aqueſſo es cierto.Sen.Quando desbertò la Reina
No os hallò, Conde, a vos meſmo
Con la piſtola en la mano?
Y
Y la piſtola que vemos
Vueſtro nombre alli gravado
No es vueſtro? Con. Os lo concedo.
Sen. Luego vos eſtais culpado.
Con. Eſſo ſolamente niego.
Sen. Pues como eſcribiſteis, Conde,
La carta al traidor Roberto?
Con. No lo ſè. Sen. Pues como el Duque
Que eſcucho vueſtros intentos,
Os convence en la traicion?
Con. Porque aſſi lo quiſo el cielo.
Sen. Como hallando en vueſtra mano
Os culpa el vil inſtrumento?
Con. Porque tengo poca dicha. —
Sen. Pues ſabed, que ſi es deſdicha
Y no culpa, en tanto aprieto
Os pone vueſtra fortuna,
Conde amigo, que ſupueſto
Que no dais otro deſcargo,
En fe de indicios tan ciertos,
Mañana vueſtra cabeza
Ha de pagar —
Y aſſi obligada me veo;’ ()
PEl
Y aſ[n] ofendida me quexo,
Pues va que con la ſentencia
Eſta parte he ſatisfecho,
Pues cumpli con la juſticia,
Con el amor cumplir quiero. —’ ()
Hallò en la dicha mas nuevo
Modo de hacerme infeliz,
Pues quando dichoſo veo,
Que me libra quien me mata,
Tambien deſdichado advierto,
Que me mata quien me libra.’ ()
Tomad, Conde, aqueſta llave,
Que ſi ha de ſer inſtrumento
De vueſtra vida, quiza
Tan otra, quitando el velo,
Serè, que no pueda entonces
Hacer lo que ahora puedo,
Y como a daros la vida
Me empeñè, por lo que os debo,
Por ſi no puedo deſpues,
De eſta ſuerte me prevengo.’ ()
Aunque ſi par privilegio
En viendo la cara al Rey
Queda perdonado el reo;
Yo de eſte indulto, Señora,
Vida por ley me prometo;
Eſto es en comun, que es
Lo que a todos da el derecho;
Pero ſi en particular
Merecer el perdon quiero,
Oid, vereis, que me ayuda
Major indulto en mis hechos,
Mis hazañas — —’ ()
Abrirà a mi vida, abriendo,
Tambien la abrirà a mi infamia;
Luego eſta, que inſtrumento
De mi libertad, tambien
Lo havrà de ſer de mi miedo.
Eſta, que ſolo me ſirve
De huir, es el deſempeño
De Reinos, que os he ganado,
De ſervicios, que os he hecho,
Y en fin, de eſſa vida, de eſſa,
Que teneis oy por mi esfuerzo?
En eſta ſe cifra tanto? —’ ()
De mi vida, y de mi infamia,
Por eſta rexa cavendo
Del parque, que bate el rio,’ ()
Entre
Si ſois mi eſperanza, hundiros,
Caed al humedo centro,
Donde el Tamaſis ſepulte
Mi eſperanza, y mi remedio.’ ()
Le ſirva de muda lengua.’ ()
Hareis que llamados vengan
Los Grandes y los Milordes,
Y para que alli le vean,
Debaxo de una cortina
Hareis poner la cabeza
Con el ſangriento cuchillo,
Que amenaza junto a ella,
Por ſymbolo de juſticia,
Coſtumbre de Inglaterra:
Y en eſtando todos juntos,
Monſtrandome juſticiera,
Exhortandolos primero
Con amor a la obediencia,
Les moſtrarè luego al Conde,
Para que todos atiendan,
Que en mi ay rigor que los rinda,
Si ay piedad que los atreva.’ ()
Porque hablarte no me dexan,’ ()
He
Y tambien una advertencia;
La advertencia es, que yo nunca
Fui traidor, que la promeſſa
De ayudar en lo que ſabes,
Fue por ſervir a la Reina,
Cogiendo a Roberto en Londres,
Y a los que ſeguirle intentan;
Para aqueſto fue la carta:
Eſto he querido que ſepas,
Porque adviertas el prodigio
De mi amor, que aſſi ſe dexa
Morir, por guardar tu vida.
Eſte ha ſido la advertencia:
(Valgame dios!) el conſejo
Es, que deſiſtas la empreſſa
A que Roberto te incita.
Mira que ſin mi te quedas,
Y no ha de haver cada dia
Quien por mucho que te quiera,
Por conſervarte la vida
Por traidor la ſuya pierda. —’ ()
117.
(Pardonen los preceptos) ſi es de Reyes,
Aunque por eſto entiendo, que el pru-
dente,
Filipo Rey de Eſpaña, y Señor nueſtro,
En viendo un Rey en ellos ſe enfadava,
O fueſſe el ver, que al arte contradize,
O que la autoridad real no deve
Andar fingida entre la humilde plebe,
Eſte es bolver à la Comedia antigua,
Donde vemos, que Plauto puſo Dioſes,
Como en ſu Anfitrion lo mueſtra Jupiter.
Sabe Dios, que me peſa de aprovarlo,
Porque Plutarco hablando de Menandro,
No ſiente bien de la Comedia antigua,
Mas pues del arte vamos tan remotos,
Y en Eſpaña le hazemos mil agravios,
Cierren los Doctos eſta vez los labios.
Lo Tragico, y lo Comico mezclado,
Y Terencio con Seneca, aunque ſea,
Como otro Minotauro de Paſife,
Haran grave una parte, otra ridicula,
Que aqueſta variedad deleyta mucho,
Buen exemplo nos da naturaleza,
Que por tal variedad tiene belleza.’ ()
usque adhuc
Prope jam excurſo ſpatio mitto —’ ()
res mutavit tuos?
Quod prolubium, quæ iſtæc ſubita eſt lar-
gitas? De. Dicam tibi:
Ut id oſtenderem, quod te iſti facilem \&
feſtivum putant,
Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex
æquo \& bono,
Sed ex aſſentando, indulgendo, \& largi-
endo, Micio.
Nunc adeo, ſi ob eam rem vobis mea vita
inviſa eſt, Aeſchine,
Quia non juſta injuſta prorſus omnia, om-
nino abſequor;
Miſſa facio; effundite, emite, facite quod
vobis lubet!’ ()
Communis corruptela noſtrum liberum.
Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad
te redi.
De. Repreſſi, redii, mitto maledicta om-
nia:
Rem ipſam putemus. Dictum hoc inter
nos fuit,
Et ex te adeo eſt ortum, ne te curares
meum,
Neve ego tuum? reſponde. —’ ()
Bonæ tuæ iſtæ nos rationes, Micio,’ ()
UEt
Tace;
Non fiet. Mitte jam iſtæo; da te hodie
mihi:
Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus
fert,
Faciendum eſt: ceterum rus cras cum filio
Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte
cenſeo:
Hodie modo hilarum fac te. De. Et iſtam
pſaltriam
Una illuc mecum hinc abſtraham. Mi.
Pugnaveris.
Eo pacto prorſum illic alligaris filium.
Modo facito, ut illam ſerves. De. Ego
iſtuc videro.’ ()
At-
Coquendo ſit faxo \& molendo; præter hæc
Meridie ipſo faciam ut ſtipulam colligat:
Tam excoctam reddam atque atram, quam
carbo eſt. Mi. Placet.
Nunc mihi videre ſapere. Atque equidem
filium,
Tum etiam ſi nolit, cogam, ut cum illa
una cubet.
De. Derides? fortunatus, qui iſtoc animo
ſies:
Ego ſentio. Mi. Ah, pergiſne? De. Jam
jam deſino.’ ()
mir die Stelle daraus anzuführen, die ich
eben itzt überſetzt habe. Was mir hier aus
der Feder gefloſſen, iſt weit entfernt, ſo zu
ſeyn, wie es ſeyn ſollte: aber man wird doch
ungefehr daraus ſehen können, worinn das
Verdienſt beſteht, das ich dieſer Ueberſetzung
abſprechen muß.
Demea.Aber mein lieber Bruder, daß
uns nur nicht deine ſchönen Gründe, und dein
gleichgültiges Gemüthe ſie ganz und gar ins
Verderben ſtürzen.Micio.Ach, ſchweig doch nur, das wird
nicht geſchehen. Laß das immer ſeyn. Ueber-
laß dich heute einmal mir. Weg mit den
Runzeln von der Stirne.Demea.Ja, ja, die Zeit bringt es ſo
mit ſich, ich muß es wohl thun. Aber mit
anbrechendem Tage gehe ich wieder mit mei-
nem Sohne aufs Land.
Mi-
Micio.Jch werde dich nicht aufhalten,
und wenn du die Nacht wieder gehn willſt;
ſey doch heute nur einmal fröhlich.Demea.Die Sängerinn will ich zugleich
mit herausſchleppen.Micio.Da thuſt du wohl, dadurch wirſt
du machen, daß dein Sohn ohne ſie nicht wird
leben können. Aber ſorge auch, daß du ſie
gut verhältſt.Demea.Dafür werde ich ſchon ſorgen.
Sie ſoll mir kochen, und Rauch, Aſche und
Mehl ſollen ſie ſchon kenntlich machen. Auſ-
ſerdem ſoll ſie mir in der größten Mittagshitze
gehen und Aehren leſen, und dann will ich ſie
ihm ſo verbrannt und ſo ſchwarz, wie eine
Kohle, überliefern.Micio.Das gefällt mir; nun ſeh ich recht
ein, daß du weislich handelſt; aber dann
kannſt du auch deinen Sohn mit Gewalt zwin-
gen, daß er ſie mit zu Bette nimt.Demea.Lachſt du mich etwa aus? Du
biſt glücklich, daß du ein ſolches Gemüth haſt;
aber ich fühle.Micio.Ach! hältſt du noch nicht inne?
Demea.Jch ſchweige ſchon.
ſtirbt ohnmöglich bald. Für viele von
unſern Schauſpielern iſt es nöthig, auch ſol-
che Druckfehler anzumerken.
Seite 162.
Schmids Zuſätzen zu ſeiner Theorie der Poeſie.
S. 45.
ter, S. 35.
Mendelsſohn, zweyter Theil, S. 4.
γιγνομενα, ἠ μελλοντα, ἐλεεινα ἐςιν. Jch weiß
nicht, was dem Aemilius Portus (in ſeiner
Ausgabe der Rhetorik, Spiræ 1598.) einge-
kommen iſt, dieſes zu überſetzen: Denique
ut ſimpliciter loquar, formidabilia ſunt,
quæ-
venerunt, vel ventura ſunt, miſeranda
ſunt. Es muß ſchlechtweg heiſſen, quæcun-
que aliis evenerunt, vel eventura ſunt.
ans de travail pour la ſcène, ſagt er in ſei-
ner Abhandlung über das Drama. Sein er-
ſtes Stück, Melite, war von 1625, und ſein
letztes, Surena, von 1675; welches gerade
die funfzig Jahr ausmacht, ſo daß es gewiß
iſt, daß er, bey den Auslegungen des Ariſto-
teles, auf alle ſeine Stücke ein Auge haben
konnte, und hatte.
te \&c.’ ()
Επει δ᾽ εγγυς φαινομενα τα παϑη, ἐλεεινα ἐισι.
τα δε μυριοςον ἐτος γενομενα, ἠ εσομενα, ου᾽τ᾽ ἐλπι-
ζοντες, ου᾽τε μεμνημενοι, ἠ ὁλως ου᾽κ ἐλεουσιν, ἠ ου᾽χ᾽
ὁμοιως, ἀναγκη τους συναπεργαζομενους σχημασι και
ϕωναις, και ἐσϑητι, και ὁλως τῃ ὑποκρισει, ἐλεεινο-
τερους εἰναι.
ſicht des Trauerſpiels, hinter der Ariſtoteli-
ſchen Dichtkunſt.
Ir. Vol. II. p. 78. 79.) — Some have inſinua-
red, that fine ſcenes proved the ruin of
acting. — In the reign of Charles I. there
was nothing more than a curtain of very
coarſe ſtuff, upon the drawing up of
which, the ſtage appeared either with
bare walls on the ſides, coarſly matted,
or covered with tapeſtry; ſo that for the
place originally repreſented, and all the’ ()
ſuc-
thoſe times freely indulged themſelves,
there was nothing to help the ſpectator’s
underſtanding, or to afſiſt the actor’s per-
formance, but bare imagination. — The
ſpirit and judgement of the actors ſupplied
all deficiencies, and made as ſome would
inſinuate, plays more intelligible without
ſcenes, than they afterwards were with
them.’ ()
Tragedie peut réuſſir aſſez dans la pre-
miere partie, c’eſt a dire, qu’elle peut ex-
citer \& purger la terreur \& la compaſſion.
Mais elle parvient rarement à la derniere,
qui eſt pourtant la plus utile, elle purge
peu les autres paſſions, ou comme elle
roule ordinairement ſur des intrigues d’a-
mour, ſi elle en purgeoit quelqu’une, ce
ſeroit cella-la ſeule, \& par la il eſt aiſé de
voir q’elle ne fait que peu de fruit.’ ()
culté d’expoſer ſur la ſcene des hommes
tres vertueux.’ ()
chen Sohne S. 321. 22. d. Ueberſ.
Lettr. II.
Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (à
Moliere) fournirons toujours aſſez de
matiere, \& nous ne prenons guères le
chemin de nous rendre ſages par tout ce
qu’il fait \& tout ce qu’il dit. Crois-tu
qu’il ait épuiſé dans ſes Comedies tous les
ridicules des hommes, \& ſans ſortir de
la Cour, n’a-t-il pas encore vingt ca-
ractères de gens, ou il n’a pas touché?
N’a-t-il pas, par exemple, ceux qui ſe
font les plus grandes amities du monde,
\& qui, le dos tourné, font galanterie de
ſe dechirer l’un l’autre? N’a-t-il pas ces
adulateurs à outrance, ces flatteurs inſi-
pides qui n’aſſaiſonnent d’aucun ſel les
louanges qu’ils donnent, \& dont toutes
les flatteries ont une douceur fade qui
fait mal au cœur à ceux qui les écou-
tent? N’a-t-il pas ces lâches courtiſans
de la faveur, ces perfides adorateurs de
la fortune, qui vous encenſent dans la
proſperité, \& vous accablent dans la
diſgrace? N’a-t-il pas ceux qui ſont tou-
jours mécontens de la Cour, ces ſuivans
inutiles, ces incommodes aſsidus, ces
gens, dis-je, qui pour ſervices ne pou-’ ()
vent
qui veulent qu’on les recompenſe d’avoir
obſedé le Prince dix ans durant? N’a-t-il
pas ceux qui careſſent egalement tout le
monde, qui promenent leurs civilités à
droite, à gauche, \& courent à tous ceux
qu’ils vovent avec les mêmes embraſ-
ſades, \& les mêmes proteſtations d’ami-
tié? — — Va, va, Marquis, Moliere
aura toujours plus de ſujets qu’il n’en
voudra, \& tout ce qu’il a touché n’eſt
que bagatelle au prix de ce qui reſte.’ ()
S. 358. d. Ueberſ.
‘Duplex quæ ex argumento facta eſt
ſimplici,’ ()
von dem Dichter wirklich ſo geſchrieben, und
nicht anders zu verſtehen iſt, als die Dacier und
nach ihr der neue engliſ. Ueberſetzer des Terenz,
Colman, ſie erklären. Terence only meant
to ſay, that he had doubled the characters;
inſtead of one old man, one young gal-
lant, one miſtreſs, as in Menander, he
had two old men \&c. He therefore adds
very properly: novam eſſe oſtendi,
— which certainly could not have been
implied, had the characters been the ſame
in the Greek poet. Auch ſchon Adrian Bar-
landus, ja ſelbſt die alte Gloſſa interlinea-
lis des Aſceuſius, hatte das duplex nicht an-
ders verſtanden: propter ſenes \& juvenes
ſagt dieſe; und jener ſchreibt, nam in hac
latina ſenes duo, adoleſcentes item duo
ſunt.
nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einſehe,
was von dem Stücke übrig bleibt, wenn man
die Perſonen, durch welche Terenz den Alten,
den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt ha-
ben ſoll, wieder wegnimmt. Mir iſt es un-
begreiflich, wie Menander dieſen Stoff, ohne
den Chremes und ohne den Clitipho, habe
behandeln können; beide ſind ſo genau hinein-
geflochten, daß ich mir weder Verwicklung
noch Auflöſung ohne ſie denken kann. Einer
andern Erklärung, durch welche ſich Julius
Scaliger lächerlich gemacht hat, will ich gar
nicht gedenken. Auch die, welche Eugra-
phius gegeben hat, und die vom Faerne an-
genommen worden, iſt ganz unſchicklich. Jn
dieſer Verlegenheit haben die Kritici bald das
duplex bald das ſimplici in der Zeile zu ver-
ändern geſucht, wozu ſie die Handſchriften
gewiſſermaaßen berechtigten. Einige haben
geleſen:
‘Duplex quæ ex argumento facta eſt du-
plici.’ ()
Andere:
‘Simplex quæ ex argumento facta eſt du-
plici.’ ()
Was bleibt noch übrig, als daß nun auch ei-
ner lieſet:
‘Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim-
plici?’ ()
Und
ſten leſen. Man ſehe die Stelle im Zuſam-
menhange, und überlege meine Gründe.
‘Ex integra Græca integram comœdiam
Hodie ſum acturus Heavtontimorume-
non:
Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim-
plici.’ ()
Es iſt bekannt, was dem Terenz von ſeinen
neidiſchen Mitarbeitern am Theater vorge-
worfen ward:
‘Multas contaminaſſe græcas, dum facit
Paucas latinas —’ ()
Er ſchmelzte nehmlich öfters zwey Stücke in
eines, und machte aus zwey Griechiſchen Ko-
mödien eine einzige Lateiniſche. So ſetzte er
ſeine Andria aus der Andria und Perinthia
des Menanders zuſammen; ſeinen Evnuchus,
aus dem Evnuchus und dem Colax eben die-
ſes Dichters; ſeine Brüder, aus den Brü-
dern des nehmlichen und einem Stücke des
Diphilus. Wegen dieſes Vorwurfs rechtfer-
tiget er ſich nun in dem Prologe des Heav-
tontimorumenos. Die Sache ſelbſt geſteht
er ein; aber er will damit nichts anders ge-
than haben, als was andere gute Dichter vor
ihm gethan hätten.
— Id
non negat
Neque ſe pigere, \& deinde factum iri
autumat.
Habet bonorum exemplum: quo exem-
plo ſibi
Licere id facere, quod illi fecerunt,
putat.’ ()
Jch habe es gethan, ſagt er, und ich denke,
daß ich es noch öfterer thun werde. Das
bezog ſich aber auf vorige Stücke, und
nicht auf das Gegenwärtige, den Heavtonti-
morumenos. Denn dieſer war nicht aus
zwey griechiſchen Stücken, ſondern nur aus
einem einzigen gleiches Namens genommen.
Und das iſt es, glaube ich, was er in der
ſtreitigen Zeile ſagen will, ſo wie ich ſie zu
leſen vorſchlage:
‘Simplex quæ ex argumento facta eſt ſim-
plici.’ ()
So einfach, will Terenz ſagen, als das Stück
des Menanders iſt, eben ſo einfach iſt auch
mein Stück; ich habe durchaus nichts aus
andern Stücken eingeſchaltet; es iſt, ſo lang
es iſt, aus dem griechiſchen Stücke genom-
men, und das griechiſche Stück iſt ganz in
meinem Lateiniſchen; ich gebe alſo
‘Ex integra Græca integram Comœdiam.’ ()
Die
tegra in einer alten Gloſſe gegeben fand, daß
es ſo viel ſeyn ſollte, als a nullo tacta, iſt hier
offenbar falſch, weil ſie ſich nur auf das erſte
integra, aber keinesweges auf das zweyte in-
tegram ſchicken würde. — Und ſo glaube ich,
daß ſich meiner Vermuthung und Auslegung
wohl hören läßt! Nur wird man ſich an die
gleich folgende Zeile ſtoßen:
‘Novam eſſe oſtendi, \& quæ eſſet —’ ()
Man wird ſagen: wenn Terenz bekennet, daß
er das ganze Stück aus einem einzigen Stücke
des Menanders genommen habe; wie kann
er eben durch dieſes Bekenntniß bewieſen zu
haben vorgeben, daß ſein Stück nen ſey, no-
vam eſſe? — Doch dieſe Schwierigkeit kann
ich ſehr leicht heben, und zwar durch eine Er-
klärung eben dieſer Worte, von welcher ich
mich zu behaupten getraue, daß ſie ſchlechter-
dings die einzige wahre iſt, ob ſie gleich nur
mir zugehört, und kein Ausleger, ſo viel ich
weiß, ſie nur von weitem vermuthet hat. Jch
ſage nehmlich; die Worte,
‘Novam eſſe oſtendi, \& quæ eſſet —’ ()
beziehen ſich keinesweges auf das, was Te-
renz den Vorredner in dem Vorigen ſagen
laſſen; ſondern man muß darunter verſtehen,
apud Aediles; novus aber heißt hier nicht,
was aus des Terenz eigenem Kopfe gefloſſen,
ſon-
vorhanden geweſen. Daß mein Stück, will
er ſagen, ein neues Stück ſey, das iſt, ein
ſolches Stück, welches noch nie lateiniſch er-
ſchienen, welches ich ſelbſt aus dem Griechi-
ſchen überſetzt, das habe in den Aedilen, die
mir es abgekauft, bewieſen. Um mir hierinn
ohne Bedenken beyzufallen, darf man ſich nur
an den Streit erinnern, welchen er, wegen
ſeines Evnuchus, vor den Aedilen hatte. Die-
ſen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus
dem Griechiſchen überſetztes Stück verkauft:
aber ſein Widerſacher, Lavinius, wollte den
Aedilen überreden, daß er es nicht aus dem
Griechiſchen, ſondern aus zwey alten Stücken
des Nävius und Plautus genommen habe.
Freylich hatte der Evnuchus mit dieſen Stücken
vieles gemein; aber doch war die Beſchuldi-
gung des Lavinius falſch; denn Terenz hatte
nur aus eben der griechiſchen Quelle geſchöpft,
aus welcher, ihm unwiſſend, ſchon Nävius
und Plautus vor ihm geſchöpft hatten. Al-
ſo, um dergleichen Verleumdungen bey ſeinem
Heavtontimorun enos vorzubauen, was war
natürlicher, als daß er den Aedilen das grie-
chiſche Original vorgezeigt, und ſie wegen des
Jnhalts unterrichtet hatte? Ja, die Aedi-
len konnten das leicht ſelbſt von ihm gefodert
haben. Und darauf geht das
‘Novam eſſe oſtendi, \& quæ eſſet.’ ()
N n
pouvoit lui faire, ſur la definition, qu’il
vient de donner d’une choſe generale; car
les ignorans n’auroit pas manqué de lui
dire, qu’ Homere, par exemple, n’a
point en vuë d’ecrire une action generale
\& univerſelle, mais une action particu-
liere, puisqu’il raconte ce qu’ont fait de
certains hommes, comme Achille, Aga-
memnon, Ulvſſe, \&c. \& que par conſe-
quent, il n’y a aucune difference antre
Homere \& un Hiſtorien, qui auroit ecrit
les actions d’Achille. Le Philoſophe va
au devant de cette objection, en faiſant
voir que les Poetes, c’eſt a dire, les Au-
teurs d’une Tragedie ou d’un Poeme Epi-
que, lors meme, qu’ils impoſent les noms
à leurs perſonnages ne penſent en aucune
maniere à les faire parler veritablement,
ce qu’ils ſeroit obligez de faire, s’ils ecri-
voient les actions particulieres \& verita-
bles d’un certain homme, nommé Achille
ou Edipe, mais qu’ils ſe propoſent de les
faire parler \& agir neceſſairement ou
vraiſemblablement; c’eſt a dire, de leur
faire dire, \& faire tout ce que des hom-
mes de ce meme caractére devoient faire’ ()
\&
\& dire en cet etat, ou par neceſsité, ou au
moins ſelon les regles de la vraiſemblance;
ce qui prouve inconteſtablement que ce
ſont des actions generales \& univerſelles.
Nichts anders ſagt auch Herr Curtius in ſei-
ner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine
und Einzelne noch an Beyſpielen zeigen wol-
len, die aber nicht ſo recht beweiſen, daß er
auf den Grund der Sache gekommen. Denn
ihnen zu Folge würden es nur perſonifirte
Charaktere ſeyn, welche der Dichter reden
und handeln ließe: da es doch charakteriſirte
Perſonen ſeyn ſollen.
ſtanden werden. Nehmlich wenn man ſie
ſo verſtehen wollte, als ob Donatus auch
das für etwas ungereimtes hielte, Comi-
cum aperte argumentum confingere. Und
das iſt doch die Meinung des Donatus gar
nicht. Sondern er will ſagen: es würde
ungereimt ſeyn, wenn der komiſche Dichter,
da er ſeinen Stoff offenbar erfindet, gleich-
wohl den Perſonen unſchickliche Namen, oder
Beſchäftigungen beylegen wollte, die mit
ihren Namen ſtritten. Denn freylich, da
der Stoff ganz von der Erfindung des Dich-
ters iſt, ſo ſtand es ja einzig und allein bey
ihm
beylegen, oder was er mit dieſen Namen
für einen Stand oder für eine Verrichtung
verbinden wollte. Sonach dürfte ſich viel-
leicht Donatus auch ſelbſt ſo zweydeutig
nicht ausgedrückt haben; und mit Verän-
derung einer einzigen Sylbe iſt dieſer Anſtoß
vermieden. Man leſe nehmlich entweder:
Abſurdum eſt, Comicum aperte argu-
mentum confingentem vel nomen per-
ſonæ \&c. Oder auch aperte argumentum
confingere \& nomen perſonæ u. ſ. w.
ſchiedenen Gebiete des Drama: From the
account of Comedy, here given, it may
appear, that the idea of this drama is
much enlarged beyond what it was in
Ariſtotle’s time; who defines it to be,
an imitation of light and trivial actions,
provoking ridicule. His notion was
taken from the ſtate and practice of the
Athenian ſtage; that is from the old or
middle comedy, which anſwer to
this deſcription. The great revolution,
which the introduction of the new co-
medy made in the drama, did not hap-
pen till afterwards. Aber dieſes nimmt
Hurd blos an, damit ſeine Erklärung der
Komödie mit der Ariſtoteliſchen nicht ſo ge-
rade zu zu ſtreiten ſcheine. Ariſtoteles hat
die
und er gedenkt ihrer namentlich in der Mo-
ral an den Nicomachus, wo er von dem an-
ſtändigen und unanſtändigen Scherze han-
delt. (Lib. IV. cap. 14.) Ἰδοι δ ἀν τις και
ἐϰ των ϰωμῳδιων των παλαιων ϰαι των
ϰαινων. Τοις μεν γαρ ἠν γελοιον ἠ
ἀισχρολογια τοις δε μαλλον, η ὐπονια.
Man könnte zwar ſagen, daß unter der
Neuen Komödie hier die Mittlere ver-
ſtanden werde; denn als noch keine Neue
geweſen, habe nothwendig die Mittlere die
Neue heiſſen müſſen. Man könnte hinzu-
ſetzen, daß Ariſtoteles in eben der Olym-
piade geſtorben, in welcher Menander ſein
erſtes Stück aufführen laſſen, und zwar noch
das Jahr vorher. (Euſebius in Chronico
ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat Un-
recht, wenn man den Anfang der Neuen Ko-
mödie von dem Menander rechnet; Menan-
der war der erſte Dichter dieſer Epoche, dem
poetiſchen Werthe nach, aber nicht der Zeit
nach. Philemon, der dazu gehört, ſchrieb
viel früher, und der Uebergang von der
Mittlern zur Neuen Komödie war ſo un-
merklich, daß es dem Ariſtoteles unmöglich
an Muſtern derſelben kann gefehlt haben.
Ariſtophanes ſelbſt hatte ſchon ein ſolches
Muſter gegeben; ſein Kokalos war ſo
beſchaffen, wie ihn Philemon ſich mit weni-
gen
λον, heißt es in dem Leben des Ariſtophanes,
ἐν ᾡ ἐισαγει φϑοϱαν ϰαι ἀναγνωρισ-
μον, ϰαι τἀλλα παντα ἁ ἐζηλοσε Με-
νανδρος. Wie nun alſo Ariſtophanes Mu-
ſter von allen verſchiedenen Abänderungen
der Komödie gegeben, ſo konnte auch Ari-
ſtoteles ſeine Erklärung der Komödie über-
haupt auf ſie alle einrichten. Das that er
denn; und die Komödie hat nachher keine
Erweiterung bekommen, für welche dieſe Er-
klärung zu enge geworden wäre. Hurd
hätte ſie nur recht verſtehen dürfen; und er
würde gar nicht nöthig gehabt haben, um
ſeine an und für ſich richtigen Begriffe von
der Komödie außer allen Streit mit den
Ariſtoteliſchen zu ſetzen, ſeine Zuflucht zu
der vermeintlichen Unerfahrenheit des Ari-
ſtoteles zu nehmen.
der Komödie von dem Margites des Homer,
ου᾽ ψογον, ἀλλα το γελοιον δϱαματο-
ποιησαντος, genommen worden: ſo wird
man, allem Anſehen nach, auch gleich An-
fangs die erdichteten Namen mit eingeführt
haben. Denn Margites war wohl nicht der
wahre Name einer gewiſſen Perſon: indem
Μαϱγειτης, wohl eher von μαϱγης gemacht
worden, als daß μαϱγης von Μαργειτης
ſollte entſtanden ſeyn. Von verſchiednen
Dichtern der alten Komödie finden wir es
auch ausdrücklich angemerkt, daß ſie ſich al-
ler Anzüglichkeiten enthalten, welches bey
wahren Namen nicht möglich geweſen wäre.
Z. E. von dem Pherekrates.
ſo wenig eine weſentliche Eigenſchaft der al-
ten
man geht noch weiter, und will behaupten,
daß mit den wahren Namen auch wahre Be-
gebenheiten verbunden geweſen, an welchen
die Erfindung des Dichters keinen Theil ge-
habt.
ihrer Dichter gar wohl kennet, der ſich ihrer
zuerſt erkühnet. Es war Cratinus, welcher
zuerſt τῳ χαϱιεντι της ϰωμῳδιας το
ὠϕελιμον πϱοσεϑηϰε, τους ϰαϰως πϱατ-
τοντας διαβαλλων, ϰαι ὡσπερ δημοσιᾳ
μαϛιγι τῃ ϰωμῳδια ϰολαζων. Und auch
dieſer wagte ſich nur Anfangs an gemeine
verworfene Leute, von deren Ahndung er
nichts zn befürchten hatte. Ariſtophanes
wollte ſich die Ehre nicht nehmen laſſen, daß
er es ſey, welcher ſich zuerſt an die Großen
des Staats gewagt habe: (Ir. v. 750.)
Ουϰ ἰδιωτας ἀνϑϱωπισϰους ϰωμῳδων,
ου᾽δε γυναιϰας,
Αλλ᾽ Ἡϱαϰλεους ὀϱγην τιν᾽ ἐχων, τοισι
μεγιϛοις ἐπιχειϱει.
Ja er hätte lieber gar dieſe Kühnheit als
ſein eigenes Privilegium betrachten mögen.
Er war höchſt eiferſüchtig, als er ſahe, daß
ihn ſo viele andere Dichter, die er verach-
tete, darinn nachfolgten.
vouloir dire qu’ Epicharmus \& Phormis
inventerent les ſujets de leurs pieces,
puisque l’un \& l’autre ont été des Poëtes
de la vieille Comedie, ou il n’y avoit
rien de feint, \& que ces avantures fein-
tes ne commencerent à etre miſes ſur le
theater, que du tems d’ Alexander le
Grand, c’eſt à dire dans la nouvelle Co-
medie. (Remarque ſur le Chap. V.
de la Poet. d’ Ariſt.) Man ſollte glau-
ben, wer ſo etwas ſagen könne, müßte nie
auch nur einen Blick in den Ariſtophanes
gethan haben. Das Argument, die Fabel
der alten Griechiſchen Komödie war eben ſo-
wohl erdichtet, als es die Argumente und
Fabeln der Neuen nur immer ſeyn konnten.
Kein einziges von den übrig gebliebenen
Stücken des Ariſtophanes ſtellt eine Bege-
benheit vor, die wirklich geſchehen wäre:
und wie kann man ſagen, daß ſie der Dich-
ter deswegen nicht erfunden, weil ſie zum
Theil auf wirkliche Begebenheiten anſpielt?
Wenn Ariſtoteles als ausgemacht annimmt,
ὁτι τον ποιητην μαλλον των μυϑων εἰναι
δει ποιητην, ἠ των μετϱων: würde er
nicht ſchlechterdings die Verfaſſer der alten
Griechiſchen Komödie aus der Klaſſe der
Dichter haben ausſchließen müſſen, wenn
er geglaubt hätte, daß ſie die Argumente
ihrer
Verboth, jemand in der Komödie lächerlich
zu
es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl
mit der poetiſchen Erfindung beſtehen kann,
daß Namen und Umſtände aus der wahren
Geſchichte entlehnt ſind: ſo muß es, ſeiner
Meinung nach, auch in der Komödie beſte-
hen können. Es kann unmöglich ſeinen Be-
griffen gemäß geweſen ſeyn, daß die Komödie
dadurch, daß ſie wahre Namen brauche, und
auf wahre Begeheiten anſpiele, wiederum in
die Jambiſche Schmähſucht zurück falle:
vielmehr muß er geglaubt haben, daß ſich
das ϰαϑολου ποιειν λογους η μυϑους
gar wohl damit vertrage. Er geſteht die-
ſes den älteſten komiſchen Dichtern, dem
Epicharmus, dem Phormis und Krates zu,
und wird es gewiß dem Ariſtophanes nicht
abgeſprochen haben, ob er ſchon wußte, wie
ſehr er nicht allein den Kleon und Hyperbo-
lus, ſondern auch den Perikles und Sokra-
tes namentlich mitgenommen.
wollte, (μητε λογῳ, μητε εἰϰονι, μητε
ϑυμῳ, μητε ἀνευ ϑυμου, μηδαμως μη-
δενα των πολιτων ϰωμῳαδειν) iſt in der
wirklichen Republik niemals darüber gehal-
ten worden. Jch will nicht anführen, daß
in den Stücken des Menander noch ſo man-
cher Cyniſche Philoſoph, noch ſo manche
Buhlerinn mit Namen genennt ward: man
könnte antworten, daß dieſer Abſchaum von
Menſchen nicht zu den Bürgern gehört.
Aber Kteſippus, der Sohn des Chabrias,
war doch gewiß Athenienſiſcher Bürger, ſo
gut wie einer: und man ſehe, was Menan-
der von ihm ſagte. (Menandri Fr. p. 137.
Edit. Cl.)
Reſpicere exemplar vitæ morumque ju-
bebo Doctum imitatorem, \& veras hinc
ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die
Wahrheit, welche Horaz hier verlangt,
einen ſolchen Ausdruck bedeute, als der all-
gemeinen Natur der Dinge gemäß iſt;
Falſchheit hingegen das heiſſe, was zwar
dem vorhabenden beſondern Falle angemeſ-
ſen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur
übereinſtimmend ſey.
diam. Plinius libr. 34. 8.’ ()
die er vom Humor benennt hat: die eine
Every Man in his Humour, und die an-
dere Every Man out of his Humour.
Das
gekommen, und wurde auf die lächerlichſte
Weiſe gemißbraucht. Sowohl dieſen Miß-
brauch, als den eigentlichen Sinn deſſelben,
bemerkt er in folgender Stelle ſelbſt:
‘As when ſome one peculiar quality
Doth ſo poſſeß a Man, that it doth
draw
All his affects, his ſpirits, and his
powers,
In their conſtructions, all to run one
way,
This may be truly ſaid to be a hu-
mour.
But that a rook by wearing a py’d
feather,
The cable hatband, or the three-pil’d
ruff,
A yard of ſhoe-tye, or the Switzer’s
knot
On his French garters, ſhould affect
a humour!
O, it is more than moſt ridiculous.’ ()
Jn der Geſchichte des Humors ſind beide
Stücke des Johnſon alſo ſehr wichtige Do-
kumente, und das letztere noch mehr als
das erſtere. Der Humor, den wir den Eng-
ländern itzt ſo vorzüglich zuſchreiben, war
damals bey ihnen großen Theils Affecta-
tion; und vornehmlich dieſe Affectation lä-
cher-
mor. Die Sache genau zu nehmen, müßte
auch nur der affectirte, und nie der wahre
Humor ein Gegenſtand der Komödie ſeyn.
Denn nur die Begierde, ſich von andern aus-
zuzeichnen, ſich durch etwas Eigenthümliches
merkbar zu machen, iſt eine allgemeine
menſchliche Schwachheit, die, nach Be-
ſchaffenheit der Mittel, welche ſie wählet,
ſehr lächerlich, oder auch ſehr ſtrafbar wer-
den kann. Das aber, wodurch die Natur
ſelbſt, oder eine anhaltende zur Natur ge-
wordene Gewohnheit, einen einzeln Men-
ſchen von allen andern auszeichnet, iſt viel
zu ſpeciell, als daß es ſich mit der allgemei-
nen philoſophiſchen Abſicht des Drama ver-
tragen könnte. Der überhäufte Humor in
vielen Engliſchen Stücken, dürfte ſonach auch
wohl das Eigene, aber nicht das Beſſere
derſelben ſeyn. Gewiß iſt es, daß ſich in
dem Drama der Alten keine Spur von Hu-
mor findet. Die alten dramatiſchen Dichter
wußten das Kunſtſtück, ihre Perſonen auch
ohne Humor zu individualiſiren: ja die al-
ten Dichter überhaupt. Wohl aber zeigen
die alten Geſchichtſchreiber und Redner dann
und wann Humor; wenn nehmlich die hi-
ſtoriſche Wahrheit, oder die Aufklärung ei-
nes gewiſſen Facti, dieſe genaue Schilderung
ϰαϑ᾽ ἑϰαϛον erfodert. Jch habe Exempel
davon fleißig geſammelt, die ich auch blos
darum
te, um gelegentlich einen Fehler wieder gut
zu machen, der ziemlich allgemein geworden
iſt. Wir überſetzen nehmlich itzt, faſt durch-
gängig, Humor durch Laune; und ich glaube
mir bewußt zu ſeyn, daß ich der erſte bin,
der es ſo überſetzt hat. Jch habe ſehr un-
recht daran gethan, und ich wünſchte, daß
man mir nicht gefolgt wäre. Denn ich
glaube es unwiderſprechlich beweiſen zu kön-
nen, daß Humor und Laune ganz verſchie-
dene, ja in gewiſſem Verſtande gerade ent-
gegen geſetzte Dinge ſind. Laune kann zu
Humor werden; aber Humor iſt, außer die-
ſem einzigen Falle, nie Laune. Jch hätte
die Abſtammung unſers deutſchen Worts
und den gewöhnlichen Gebrauch deſſelben,
beſſer unterſuchen und genauer erwägen ſol-
len. Jch ſchloß zu eilig, weil Laune das
Franzöſiſche Humeur ausdrücke, daß es
auch das Engliſche Humour ausdrücken
könnte: aber die Franzoſen ſelbſt können
Humour nicht durch Humeur überſetzen. —
Von
ſon hat das erſte, Jedermann in ſei-
nem Humor, den vom Hurd hier gerüg-
ten Fehler weit weniger. Der Humor, den
die Perſonen deſſelben zeigen, iſt weder ſo
individuell, noch ſo überladen, daß er mit
der gewöhnlichen Natur nicht beſtehen könn-
te; ſie ſind auch alle zu einer gemeinfchaft-
lichen Handlung ſo ziemlich verbunden. Jn
dem zweyten hingegen, Jedermann aus
ſeinem Humor, iſt faſt nicht die geringſte
Fabel; es treten eine Menge der wunderlich-
ſten Narren nach einander auf, man weis
weder wie, noch warum; und ihr Geſpräch
iſt überall durch ein Paar Freunde des Ver-
faſſers unterbrochen, die unter dem Namen
Grex eingeführt ſind, und Betrachtung über
die Charaktere der Perſonen und über die
Kunſt des Dichters, ſie zu behandeln, an-
ſtellen. Das aus ſeinem Humor, out
of his Humour, zeigt an, daß alle die Per-
ſonen in Umſtände gerathen, in welchen ſie
ihres Humors ſatt und überdrüßig werden.
Phidias, cum faceret Jovis formam aut
Minervæ, contemplabatur aliquem e quo
ſimilitudinem duceret: ſed ipſius in men-
te incidebat ſpecies pulchritudi-
nis eximia quædam, quam intuens
in eaque defixus ad illius ſimilitudinem
artem \& manum dirigebat. (Cic. Or. 2.)
der Stelle des Ariſtoteles giebt, weit vor-
zuziehen. Nach den Worten der Ueberſetzung
ſcheinet Dacier zwar eben das zu ſagen, was
Hurd ſagt: que Sophocle faiſoit ſes Heros,
comme ils devoient etre \& qu’ Euripide
les faiſoit comme ils etoient. Aber er ver-
bindet im Grunde einen ganz andern Begriff
damit. Hurd verſtehet unter dem Wie ſie
ſeyn ſollten, die allgemeine abſtrakte
Jdee des Geſchlechts, nach welcher der Dich-
ter ſeine Perſonen mehr, als nach ihren in-
dividuellen Verſchiedenheiten ſchildern müſſe.
Dacier aber denkt ſich dabey eine höhere mo-
raliſche Vollkommenheit, wie ſie der Menſch
zu erreichen fähig ſey, ob er ſie gleich nur
ſelten erreiche; und dieſe, ſagt er, habe So-
phokles ſeinen Perſonen gewöhnlicher Weiſe
beygelegt: Sophocle tachoit de rendre ſes
imitations parfaites, en ſuivant toujours
bien plus ce qu’une belle Nature etoit ca-
pable de faire, que ce qu’elle faiſoit. Al-
lein dieſe höhere moraliſche Vollkommenheit
gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe
nicht; ſie ſtehet dem Jndividuo zu, aber nicht
dem Geſchlechte; und der Dichter, der ſie
ſeinen Perſonen beylegt, ſchildert gerade
umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi-
des als des Sophokles. Die weitere Aus-
führung hiervon verdienet mehr als eine
Note.
cular, I ſuppoſe it only lefs repre-
ſentative of the kind than the comic;
not that the draught of ſo much cha-
racter as it is concerned to repreſent
ſhould not be general.’ ()
p. 1588. Ed. Henr. Stephani.
Ae. Hoc mihi doler, nos pæne ſero ſciſſe:
\& pæne in eum locum
Rediiſſe, ut ſi omnes cuperent, nihil tibi
poſſent auxiliarier.’ ()
Ct.
non pudor, tam ab parvulam
Rem pæne e patria: turpe dictu. Deos
quæſo ut iſtæc prohibeant.’ ()
Sylloge V. Miſcell. cap. 10. Videat
quæſo accuratus lector, num pro Menan-
dro legendum ſit Diphilus. Certe vel
tota Comœdia, vel pars iſtius argumen-
ti, quod hic tractatur, ad verbum e Di-
philo translata eſt. — Ita cum Diphili
comœdia a commoriendo nomen habeat,
\& ibi dicatur adoleſcens mori voluiſſe,
quod Terentius in fugere mutavit: om-
nino adducor, eam imitationem a Diphi-
lo, non a Menandro mutuatam eſſe, \&
ex eo commoriendi cum puella ſtudio
συναποϑνησκοντες nomen fabulæ indi-
ditum eſſe. —
De. Ego vero jubeo, \& in hac re, \& in
aliis omnibus,
Quam maxime unam facere nos hanc
familiam;
Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita
quæſo pater.
Mi. Haud aliter cenſeo. De. Imo hercle
ita nobis decet.
Primum hujus uxoris eſt mater. Mi.
Quid poſtea?’ ()
De.
De. Natu grandior.
Mi. Scio. De. Parere jam diu hæc per
annos non poteſt:
Nec qui eam reſpiciat, quisquam eſt;
ſola eſt. Mi. Quam hic rem
agit?
De. Hanc te æquum eſt ducere; \& te ope-
ram, ut fiat, dare.
Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi.
Me? De. Te inquam. Mi.
Ineptis. De. Si tu ſis homo,’ ()
Hic
Tu autem huic, aſine, auſcul-
tas. De. Nihil agis,
Fieri aliter non poteſt. Mi. Deliras.
Aes. Sine te exorem, mi pater.
Mi. Inſanis, aufer. De. Age, da ve-
niam filio. Mi. Satin’ ſanus es?
Ego novus maritus anno demum quinto
\& ſexageſimo
Fiam; atque anum decrepitam ducam?
Idne eſtis auctores mihi?
Aes. Fac; promiſi ego illis. Mi. Pro-
miſti autem? de te largitor puer.’ ()
De.
De. Age, quid, ſi quid te majus oret?
Mi. Quaſi non hoc ſit maxi-
mum.
De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De.
Fac, promitte. Mi. Non omit-
tis?
Aes. Non; niſi te exorem. Mi. Vis eſt
hæc quidem. De. Age prolixe
Micio.
Mi. Etſi hoc mihi pravum, ineptum ab-
ſurdum, atque alienum a vita
mea
Videtur: ſi vos tantopere iſtuc vultis,
fiat. — — —
ſhop of Benevento, was afflicted with —
which opinion was, — that whenever a
Chriſtian was writing a book (not for
his private amuſement, but) where his
intent and purpoſe was bona fide, to print
and publiſh it to the world, his firſt
thoughts were always the temptations
of the evil one. — My father was hugely
pleaſed with this theory of John de la
Caſa; and (had it not cramped him a
little in his creed) I believe would have
given ten of the beſt acres in the Shandy
eſtate, to have been the broacher of it; —
but as he could not have the honour of
it in the litteral ſenſe of the doctrine, he
took up with the allegory of it. Preju-
dice of education, he would ſay, is the
devil \&c. (Life and Op. of Triſtram Shan-
dy Vol. V. p. 74.)’ ()
(Animadv. in Athenæum Libr. VI. cap. 7.)
Δι [...]α [...]καλια accipitur pro eo ſcripto, quo
explicatur ubi, quando, quomodo \& quo
eventu fabula aliqua fuerit acta. — Quan-
tum critici hac diligentia veteres chrono-
logos adjuverint, ſoli æſtimabunt illi, qui
no-
habuerint, qui ad ineundam fugacis tem-
poris rationem primi animum appule-
runt. Ego non dubito, eo potiſtimum
ſpectaſſe Ariſtotelem, cum Δίδασκαλιας ſuas
componeret —’ ()
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Hamburgische Dramaturgie. Hamburgische Dramaturgie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn85.0