Fünfter Band.
J. G. Cotta’ſcher Verlag.
1859.
[][[I]][[II]]
Fünfter Band.
J. G. Cotta’ſcher Verlag.
1859.
[[III]]
1802. 1803.
J. G. Cotta’ſcher Verlag.
1859.
[[IV]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung in Stuttgart und Augsburg.
[[V]]
Vorwort des Herausgebers.
Der gegenwärtige Band iſt unter den bisher erſchienenen der
erſte, welcher eine größere noch unbekannte Arbeit Schellings aus
der älteren Zeit veröffentlicht, die Philoſophie der Kunſt. Ich be-
gleite ſie mit einigen Bemerkungen. Zuerſt mit der, daß die Philo-
ſophie der Kunſt zu den andern in dieſen Band aufgenommenen
Schriften Schellings theilweiſe im Verhältniß der früheren Abfaſſung
zu ſtehen und für dieſe als Concept und Material gedient zu haben
ſcheint. So z. B. der achten und neunten Vorleſung in der (erſt
nach dem erſten Vortrag der Philoſophie der Kunſt gedruckten)
Methode des akademiſchen Studiums, welche von der hiſtoriſchen
Conſtruktion des Chriſtenthums und dem Studium der Theologie
handeln, lag offenbar die Philoſophie der Kunſt als Concept zu
Grunde, denn jene können als ein Auszug aus dieſer angeſehen
werden. Die vierzehnte Vorleſung über die Wiſſenſchaft der Kunſt iſt
ſogar ein faſt wörtlicher Abdruck aus der Einleitung in die Philo-
ſophie der Kunſt, vielleicht wurde ſie erſt bei der Herausgabe der
Methode den übrigen Vorleſungen hinzugefügt (vgl. S. 357, Anm.).
Ganz das Gleiche iſt der Fall mit dem Aufſatz über Dante
im Kritiſchen Journal Bd. 2, Stück 3; auch dieſer iſt ein beinahe
wörtlicher Abdruck aus der Philoſophie der Kunſt; die kleinen Ab-
weichungen ſind von der Art, wie ſie die unbedeutende Ueber-
arbeitung eines ſchon Fertigen mit ſich bringt: kleine Ueberflüſſig-
keiten wurden weggeſtrichen, verſchiedene Sätze anders geſtellt, einige
weitere Belegſtellen aus Dante ausgelaſſen.
Aber auch der Inhalt jener beiden Abhandlungen im Kritiſchen
[VI] Journal: Ueber das Weſen der philoſophiſchen Kritik überhaupt
und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zuſtand der Philoſophie
insbeſondere und Ueber das Verhältniß der Naturphiloſophie zur
Philoſophie überhaupt, weist ſehr beſtimmt auf die Philoſophie der
Kunſt zurück. Bekanntlich waren beide Abhandlungen bereits in
Hegels Werke aufgenommen, als Schelling erklärte, die zweite habe
ihn ausſchließlich zum Verfaſſer, die erſte aber, welche zugleich als
Einleitung in das mit Hegel gemeinſchaftlich herausgegebene Kritiſche
Journal der Philoſophie diente, ſey zum Theil von dieſem ge-
ſchrieben. 1 Dieſe Erklärung Schellings hielt einige nicht ab, dennoch
darauf zu beſtehen, auch die Abhandlung über das Verhältniß der
Naturphiloſophie zur Philoſophie überhaupt ſey Hegelſchen Urſprungs.
Die völlige Nichtigkeit der meiſten hiefür vorgebrachten Gründe
iſt ſchon von andern nachgewieſen worden, früher von Erdmann 2
zuletzt von Haym. 3 Durch die Philoſophie der Kunſt aber wird
Schellings Autorſchaft vollends ſo augenſcheinlich, daß ſie auch ohne
deſſen perſönliches Zeugniß nicht mehr bezweifelt werden könnte.
So vergleiche man z. B. mit dem Eingang jener Abhandlung (S.
106) die Philoſophie der Kunſt S. 365 ff., woſelbſt namentlich
auch der jener Abhandlung eigenthümliche Ausdruck ideelle Be-
ſtimmungen (zu unterſcheiden von dem andern von Hegel, wie
von Schelling, gebrauchten Ausdruck ideelle Beſtimmtheit)
vorkommt und ausführlich erklärt wird. Im Weitern bildet die
Philoſophie der Kunſt in dem hieher gehörigen Abſchnitt des allge-
meinen Theils eine fortlaufende Parallele und eine Art Commentar
zu beſagter Abhandlung, weßhalb ich auch die durch dieſen ganzen
Band hindurchlaufenden Citate von einzelnen Parallel-Stellen und
-Ausdrücken für dieſelbe in die Philoſophie der Kunſt hinein nicht
mehr fortgeſetzt habe. Um nur Einiges anzuführen, ſo heißt es
z. B. in der Abhandlung S. 119, Z. 7 v. o.: „Faßt man die
[VII] griechiſche Mythologie bloß von der endlichen Seite auf, ſo erſcheint
dieſe durchaus bloß als ein Schematismus des Endlichen oder der
Natur; nur in der Einheit ꝛc. iſt ſie ſymboliſch.“ Eine Parallele
hiezu, beziehungsweiſe eine Erklärung findet ſich Philoſophie der
Kunſt S. 408, Z. 15 ff. v. u., verglichen mit der kurz vorher
gegebenen Auseinanderſetzung des Unterſchieds von Schematismus
und Symbolik. Ein anderer einzelner und zugleich dunkler Gedanke
in der Abhandlung S. 108, Z. 15 v. o. iſt: „die Poeſie, ſolange
ſie noch nicht Sache der Gattung oder wenigſtens eines ganzen Ge-
ſchlechts ꝛc.“ 1 Dieſer findet ſich ausführlich entwickelt in §. 42
der Philoſophie der Kunſt (S. 414) vgl. mit S. 438, Z. 6 ff. v. o.
und S. 442, Z. 10 v. u. Ein allgemeinerer Gedanke, der, daß
alle Entgegengeſetzten es aufhören zu ſeyn, ſowie jedes für ſich
in ſich abſolut iſt, S. 119, Z. 5 v. u. findet ſeinen wiederholten
Ausdruck und ſeine Anwendung durch die ganze Philoſophie der
Kunſt hindurch und erſcheint als ein dem Schellingſchen Philoſophiren
eingeborener Gedanke; man vergleiche z. B. S. 449, Z. 5 ff. v. o.,
ferner S. 470, Z. 12 ff. v. u., ſowie die ganze Seite 475. Eben
jener Satz aber (S. 119, Z. 5 ff. v. u.) hat ſeinem übrigen Inhalt
nach eine vollſtändige Parallele in S. 448, Z. 13 ff. v. o.
Aber auch über die Abfaſſung der Einleitung ins Kritiſche
Journal (Ueber das Weſen der philoſophiſchen Kritik ꝛc.) gewährt der
handſchriftliche Nachlaß einen ſehr beſtimmten Aufſchluß. Schelling
hatte ſich über ſeinen Antheil an derſelben bloß im Allgemeinen
geäußert: „Viele Stellen, die ich jedoch im Augenblick nicht näher
zu bezeichnen wüßte, ſowie die Hauptgedanken ſind von mir; es
mag wohl keine Stelle ſeyn, die ich nicht wenigſtens revidirt.“
Dieſe Stellen laſſen ſich nun wirklich mit Hülfe des handſchrift-
lichen Nachlaſſes annähernd bezeichnen und die Hauptgedanken ſich
auf Schelling zurückführen. Z. B. der S. 7 ausgeſprochene Ge-
danke der Identität der abſoluten Form mit der Formloſigkeit findet
[VIII] ſich ausführlicher Philoſophie der Kunſt S. 465 und wiederholt
angewendet S. 470, Z. 8 ff. v. o. Ein Paſſus S. 8 handelt
von der Beſonderheit, die ſich für Originalität halte, die Philo-
ſophie der Kunſt S. 456 aber (cf. S. 447, Z. 14 v. o.) gibt an,
worin der Unterſchied der Originalität von der Beſonderheit beſtehe.
Ziemlich im Anfang der Abhandlung (S. 4) heißt es: „daß die
Philoſophie nur Eine iſt, und nur Eine ſeyn kann, beruht darauf,
daß die Vernunft nur Eine, und ſowenig es verſchiedene Vernunften
geben kann, ebenſowenig kann ſich zwiſchen die Vernunft und ihr
Selbſterkennen eine Wand ſtellen u. ſ. w.“ Nun liegt das Frag-
ment einer Vorleſung aus dem Jahr 1803 vor mir, welche von
der Idee der univerſellen Philoſophie handelt. Hier ſagt Schelling
in einer auch ſonſt der Aufbewahrung nicht unwerthen Stelle:
Daß dieſe Idee der univerſellen Philoſophie ſich in den ſpäteren
Zeiten wiſſenſchaftlich mehr oder weniger verlor, dieß erhellt freilich deut-
lich aus den letzten Regungen im Gebiete dieſer Wiſſenſchaft. Kant hat
in die einzelnen Sphären der Philoſophie — in die theoretiſche, wie in
die praktiſche — den erſten Keim einer künftigen die ganze Wiſſenſchaft
betreffenden Revolution geworfen, aber er ſelbſt iſt nicht bis zu dem Central-
punkt vorgedrungen. Er ſtatuirt ſo viele verſchiedene Vernunften, als er
verſchiedene Kritiken geſchrieben hat, und wie in einem bekannten Epigramm
einige Kunſtrichter, die von verſchiedenen Geſchmäcken redeten, gefragt
wurden: wo dieſer Geſchmäcke Geſchmack ſey, ſo könnte man wohl Kant
fragen: Wo iſt dieſer Vernunften Vernunft? — Fichte hat es ausdrücklich
als ſeine Abſicht erklärt, der theoretiſchen und praktiſchen Vernunft ein
gemeinſchaftliches wiſſenſchaftliches Princip zu geben, allein der eigentliche
Indifferenzpunkt beider liegt bei ihm zuletzt nicht im Wiſſen, ſondern im
Glauben, und der Gegenſatz beider Seiten der Philoſophie wird dadurch
aufgehoben, daß die eine der anderen untergeordnet und aufgeopfert iſt.
Sollten nun nicht dieſe beiden Stellen aus Einer Feder gefloſſen
ſeyn? und ſollte nicht ſchon die jenen Worten der Abhandlung voran-
gehende Zuſammenſtellung der philoſophiſchen Kritik mit der Kunſt-
kritik eher auf Schelling als auf Hegel hinweiſen? — Ein Gedanke,
der in der Methode des akademiſchen Studiums (S. 273), in der
Abhandlung über das Verhältniß der Naturphiloſophie zur Philoſophie
überhaupt (S. 116) und in der über das Weſen der Kritik S. 15
[IX] gleichmäßig ſich findet, iſt: daß in Carteſius der Dualismus in
der neueren Cultur zuerſt in wiſſenſchaftlicher Form ſich ausge-
ſprochen habe. Dieſer alſo, ſowie vielleicht auch der Tadel über
Leibniz’ Theodicee (S. 14) als „ein Verfallen in die Unphilo-
ſophie“, wie es Schelling in einer im nächſten Band zu ver-
öffentlichenden Darſtellung der Leibniziſchen Philoſophie aus jener
Zeit geradezu nennt, wird wohl Letzterem zuzuſchreiben ſeyn.
Citationen der Einleitung ins Kritiſche Journal in gelehrten
Zeitſchriften, wie z. B. Leipziger Literaturzeitung 1812, Nro. 90
(Recenſion von Schellings Schrift gegen Jacobi), zeigen, daß man
früher nicht daran zweifelte, dieſelbe enthalte nur Schellingſche Ge-
danken. Doch läge hierin noch kein Beweis, ſo wenig als in Bach-
manns Zeugniß für den Hegelſchen Urſprung der Abhandlung über
die Conſtruktion in der Philoſophie.
Obwohl (um gleich auch die anderen aus dem Kritiſchen Jour-
nal der Philoſophie aufgenommenen Stücke durchzugehen) obwohl
der Aufſatz: Rückert und Weiß oder die Philoſophie, zu der
es keines Denkens bedarf, in Hegels Werke nicht aufgenommen
worden war, ſo wurden doch nachträglich Stimmen laut, welche
ihn für dieſe in Anſpruch nahmen. „Dieſelbe leichte Ironie, mit
welcher Hegel Krug abfertigte, dieſelbe logiſche Beſtimmtheit, derſelbe
Gang der Analyſe walten auch hier.“ Man könnte billigerweiſe
fragen, ob denn Schelling von dieſen Eigenſchaften ſo verlaſſen ge-
weſen; man dürfte ferner nur z. B. auf die ebenfalls im Kritiſchen
Journal erſchienene, aber wohl deßhalb, weil ſie im Notizenblatt ſteht,
wenig oder gar nicht beachtete Villersſche Recenſion hinweiſen, die an
leichter Behandlung und logiſcher Schärfe der Rückertſchen nichts
nachgibt. Allein es bedarf deſſen nicht, denn es iſt ein äußerer, von
allen ſubjektiven Anſichten unabhängiger Grund vorhanden, nach
welchem der Verfaſſer jenes Aufſatzes kein anderer als Schelling iſt.
Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß dieſer das Notizenblatt
im Kritiſchen Journal (S. 164 ff.) geſchrieben hat, aus der Nro. 5
deſſelben aber (S. 181), in der Schellings Feder ganz beſonders
[X] zu erkennen iſt, folgt, daß der Verfaſſer der Rückertſchen Recenſion
und der Schreiber dieſes Notizenblatts, da es einen Nachtrag zur
erſteren enthält, einer und derſelbe iſt. Dieſer Grund iſt ganz
entſcheidend. Uebrigens finden ſich auch noch andere einzelne An-
zeichen ihres Schellingſchen Urſprungs. Z. B. ein ſtehender Aus-
druck im Kritiſchen Journal iſt der: „Durchbruch“, „zum Durch-
bruch verhelfen“ oder „zum Durchbruch kommen“; vgl. S. 7, Z. 11
v. o. in der ſchon als Schellingiſch erkannten Stelle, S. 126,
Z. 14 v. u., S. 187, Z. 12 v. u. Dieſer Ausdruck findet ſich
hier zweimal S. 78 und S. 93. Der prägnante philoſophiſche
Gebrauch des Worts empfängt S. 92, Z. 1 v. u. iſt gleich-
falls ein zu jener Zeit Schelling eigenthümlicher und findet ſich
z. B. S. 212, Z. 18. v. o. (vgl. S. 140, Z. 3 v. o.) in dieſem
und S. 517, Z. 8 v. o., ſowie S. 519, Z. 2 v. u. (Abh.
über die Metalle) im vorhergehenden Band. Schellingiſch wie nur
irgend etwas iſt der Satz S. 94: „jener Nothwendigkeit aber,
welche nicht mit der Freiheit im Kampfe liegt, jener göttlichen,
überſinnlichen, unbewegten, heiligen, die Schickſal heißt, ſich zu
unterwerfen, iſt die Lehre jeder ächten Philoſophie und die ein-
zige Weisheit.“ Ganz ähnlich heißt es in einem Würzburger
Manuſcript:
Dieß beruhigt uns, dieß erhebt uns auf immer über alle leere Sehn-
ſucht, Furcht und Hoffnung, zu wiſſen, daß nicht wir handeln, ſondern
daß eine göttliche Nothwendigkeit in uns handelt, von der wir zum Ziel
getragen werden, und mit der nichts im Widerſtreit ſtehen kann, was
aus abſoluter Freiheit folgt.
Wenn endlich S. 87 Rückert vorgeworfen wird, er nehme
den Idealismus auf den ganz gemeinen Standpunkt herunter, „wo
jeder Taglöhner und Markthelfer auch ſteht“, ſo erinnert dieß an
die Worte eines Briefs an Fichte 1: „Kann ich dafür, wenn man
mir keinen andern Begriff der Natur zuſchreibt, als den jeder Che-
miker und Apotheker auch hat.“ Man ſehe auch das Citat S. 88.
[XI]
Den entſchieden nicht-Hegelſchen Urſprung der auch nicht in
die Werke Hegels aufgenommenen Abhandlung über die Con-
ſtruktion in der Philoſophie hat neuerdings Haym 1 geltend
gemacht, indem er vorzüglich den Satz heraus hebt, in welchem
von der noch zu erwartenden Erfindung der „univerſellen Symbolik“
die Rede iſt (S. 130, Z. 8 ff. v. o.). Zu dieſem Ausſpruch
findet ſich der Commentar in einem Abſchnitt der Philoſophie der
Kunſt (S. 446 ff.), wo Schelling die Frage beantwortet, ob es
wohl möglich ſey, aus der ſpeculativen Phyſik den Stoff einer
neuen Mythologie zu nehmen. Außerdem hat Haym unter anderem
auf das Citat des Syſtems des transſcendentalen Idealismus im
Text und ohne Nennung des Verfaſſers (S. 138) hingewieſen,
(mit welchem das ähnliche Citat in der Methode des akademiſchen
Studiums, S. 290 zu vergleichen wäre). Allein viel entſchei-
dender als dieſes Citat, iſt die Aeußerung über ſeine ſämmtlichen
Schriften, welche S. 148, Z. 8 ff. v. u. ſteht, und wodurch ſich
Schelling geradezu als den Verfaſſer dieſer Abhandlung bekennt. Im
Uebrigen verweiſe ich auf die von mir durchgängig citirten vielen
und auffallenden Parallelſtellen aus allen gleichzeitigen Schriften
Schellings, namentlich die von S. 252 bis 256 angeführten. Der
§. IV der ferneren Darſtellungen, der von der philoſophiſchen Con-
ſtruktion handelt (im vorhergehenden Band S. 391 ff.), würde
aber, beſonders von S. 405 an (Neue Zeitſchrift 1 Bd., Stück
2, S. 24 ff.) für ſich allein vollkommen hinreichend ſeyn Schel-
ling als Verfaſſer der Höyerſchen Recenſion durch ihren Inhalt
zu beglaubigen. Die Schrift Höyers zu recenſiren, mußte Schelling
um ſo angenehmer ſeyn, je mehr er in dem Entwicklungsgang dieſes
ſchwediſchen Philoſophen ein gut Theil ſeines eignen Wegs in einem
lebenden Gegenbild reconſtruirt ſah. Man vergleiche in dieſer
[XII] Hinſicht S. 140, Z. 6 ff. v. u., vgl. mit der vorhin citirten Stelle
S. 148, Z. 8. ff. v. u.
An die letztgenannte Recenſion ſchließt ſich nach Inhalt und
Wichtigkeit die Villersſche (S. 184 ff.) an, für deren Schellingſchen
Urſprung vorhandene Briefe noch beſonders Zeugniß geben, worin
ſich Villers über die Recenſion beſchwert und Schelling ihm ant-
wortet. 1 (Auch von Höyer iſt der Brief da, mit welchem er
die Ueberſendung ſeines Buchs an Schelling begleitet und dieſen
um ſein Urtheil bittet, aber kein weiterer.)
Daß die Anzeige der andern franzöſiſchen Schrift (S. 202)
ebenfalls von Schelling iſt, iſt nicht zu bezweifeln.
Noch bemerke ich, daß die Methode des akademiſchen Studiums
verſchiedene Zuſätze aus dem Handexemplar des Verfaſſers erhalten
hat, z. B. S. 226, 229, 230, 245 u. a. Dagegen wurden
einige kleine Stücke zu ephemeren und unbedeutenden Inhalts im
Kritiſchen Journal übergangen, nämlich aus dem Notizenblatt Bd. 1,
Stück 3, S. 94—98, ferner was S. 163 dieſes Bandes und
S. 206 in den betreffenden Noten erwähnt iſt.
Ich komme nun wieder auf die Philoſophie der Kunſt.
Es wurde ſchon nachgewieſen, daß die Philoſophie der Kunſt
zur Abhandlung über das Verhältniß der Naturphiloſophie zur
Philoſophie überhaupt vielfach einen Commentar bilde. Ebenſo
wurde bereits bemerkt, daß die religionsphiloſophiſche Vorleſung
in der Methode des akademiſchen Studiums als ein Auszug aus
der Philoſophie der Kunſt gelten könne: dieſe enthält den gleichen
Gedankengang mit jener, beide haben wörtliche Uebereinſtimmungen,
wie denn zwei in beiden faſt ganz gleichlautende Stellen, um ſie
nicht zweimal zu drucken, in der Philoſophie der Kunſt weggelaſſen
wurden, da es unbeſchadet des Sinns und Zuſammenhangs ge-
ſchehen konnte; nämlich, was S. 288 ſteht, iſt S. 430, Z. 3—4
v. u., und was S. 289, Z. 3 v. o. bis S. 290, Z. 4 v. o.
[XIII] ſteht, iſt S. 434, Z. 9—10 v. u. ausgefallen. Endlich harmo-
niren beide (die Methode und die Philoſophie der Kunſt) in den
Formeln für den Gegenſatz des Heidenthums und Chriſtenthums.
In beiden nämlich wird das Heidenthum als Darſtellung oder An-
ſchauung des Unendlichen im Endlichen, das Chriſtenthum als
Darſtellung oder Anſchauung des Endlichen im Unendlichen charak-
teriſirt, während in der ſchon beſprochenen Abhandlung über das
Verhältniß der Naturphiloſophie zur Philoſophie überhaupt umge-
kehrt das Heidenthum als Aufnahme oder Einbildung des Endlichen
ins Unendliche, das Chriſtenthum als Einbildung des Unendlichen
ins Endliche beſtimmt wird. Und hierüber iſt zunächſt noch einiges
zu ſagen; denn der Wechſel jener Formeln in der Methode des
akademiſchen Studiums und in der genannten Abhandlung war der
einzige Einwurf gegen die Nichtidentität des Verfaſſers beider, der
einigen Schein hatte, wiewohl man freilich gar nicht bedacht zu
haben ſcheint, daß ja ſchon der Gebrauch der Formel „Ein-
bildung des Endlichen ins Unendliche oder des Unendlichen ins
Endliche“ an ſich — ohne ihre Anwendung auf das Weſen des
Heidenthums und des Chriſtenthums — eine Schelling ganz eigen-
thümliche iſt, und die ſich bei ihm in verſchiedenen gleichgeltenden
Ausdrücken überall wiederholt, wie als Einbildung des Idealen ins
Reale, des Allgemeinen ins Beſondere, der Einheit in die Vielheit,
und umgekehrt. Die Anwendung der Formel erſcheint gegen ſie ſelbſt
nur als etwas Accidentelles. Wollte man daher Hegel jene Ab-
handlung zuſchreiben, ſo müßte man vor allem ſich und andern
begreiflich machen, wie Hegel auf einmal einer Formel ſich bedienen
konnte, die ſo ganz nur Schellingiſch war. Zu behaupten, Hegel
habe eben hier den Schellingſchen Ton nachgeahmt, iſt doch zu
naiv, zumal das weitere Curioſum herauskäme, daß dann Schelling
in der Methode (nur mit Umſtellung der Formeln) ſeinen Nach-
ahmer wieder nachgeahmt hätte. Es iſt unendlich viel leichter zu
denken, daß Schelling in der Anwendung jener Formel auf das
Heidenthum und Chriſtenthum variirte, als anzunehmen, daß Hegel
[XIV] ſich völlig und plötzlich nur für den Zweck jener Abhandlung in
das Gewand einer ihm fremden Diktion gehüllt habe. In der
That laſſen ſich auch jene Formeln in ihrer Anwendung aufs Heiden-
thum und Chriſtenthum leicht verwechſeln, ohne daß dadurch die
anderweitige Hauptbeſtimmung des Charakters der beiden Religionen
ſelbſt verändert oder aufgehoben würde, die ſich vielmehr auch bei
veränderten Formeln gleich bleibt, wie ich mir zu zeigen erlaube.
Für das Weſen des Heidenthums nämlich iſt die ſich gleichbleibende
Hauptbeſtimmung, daß es ſey Unterordnung des Unendlichen unter
die Endlichkeit (Methode, S. 288) — Vergötterung des Endlichen
(Abh., S. 120, Z. 6 v. o.) —, für das Chriſtenthum Unter-
ordnung des Endlichen unter das Unendliche. Setzen wir nun
dieſe Beſtimmung in jene Formeln um, ſo finden wir, daß die
gleiche Formel nur von verſchiedenen Standpunkten aus das einemal
auf das Heidenthum, das anderemal auf das Chriſtenthum paßt.
Wir nehmen z. B. die Formel „Einbildung des Endlichen ins
Unendliche“. Wird nun in dieſer der Nachdruck auf den Ausgangs-
punkt gelegt, nämlich das Endliche, ſo paßt ſie aufs Heidenthum,
und ſo iſt ſie in der Abhandlung genommen, vergl. S. 119. Wird
aber mit derſelben Formel (Einbildung oder Aufnahme des End-
lichen ins Unendliche) bezeichnet, was das herrſchende Princip in
einer Religion iſt, ſo paßt ſie aufs Chriſtenthum, und ſo — nämlich
als Anſchauung des Endlichen im Unendlichen — iſt die Formel
in der Methode angewendet. Ebenſo, nur umgekehrt, verhält es
ſich mit der andern Formel „Einbildung des Unendlichen ins End-
liche“. Sieht man hier darauf, daß das Herrſchende das Endliche
iſt, ſo iſt ſie die Formel fürs Heidenthum (nach der Methode
S. 288, vgl. S. 292, Z. 16 v. o.); ſieht man aber auf den
Ausgangspunkt, welcher das Unendliche iſt, ſo iſt ſie die Formel
fürs Chriſtenthum, wie in der Abhandlung S. 119. — Will man
darüber ſtreiten, welche von beiden die beſſere Formulirung ſey,
ſo iſt es ohne Zweifel beſſer, zu ſagen, das Weſen des Chriſten-
thums ſey Aufnahme des Endlichen ins Unendliche oder Anſchauung
[XV] des Endlichen im Unendlichen, das des Heidenthums umgekehrt
Einbildung des Unendlichen ins Endliche, wie es auch Schelling
in der Methode vorzog, ſofern das, was ein anderes aufnimmt,
das Herrſchende iſt, das Aufgenommene dagegen das Beherrſchte
(nach Philoſophie der Kunſt S. 378, Z. 5 v. o.), im Heiden-
thum aber war das Herrſchende das Endliche, im Chriſtenthum iſt
es das Unendliche; der Weg aber oder das Mittel hierzu (zum Ueber-
gewicht des Unendlichen über das Endliche, des Idealen über das
Reale im Chriſtenthum) iſt „nicht eine Erhebung der Endlichkeit zur
Unendlichkeit, ſondern eine Endlichwerdung des Unendlichen“, wie
die Abhandlung ſagt (S. 117), oder, wie die Methode (S. 292)
ſich ausdrückt, vgl. mit Philoſophie der Kunſt S. 431 ff.: das
wahre Unendliche mußte erſt ins Endliche kommen, um dieſes
an ſich ſelbſt zu opfern, es dadurch zu verſöhnen und — als
Geiſt — zum Unendlichen zurückzuführen: — wir ſehen, die
Methode (und die Philoſophie der Kunſt) ſtimmt auch in dieſer
letzteren Beſtimmung mit der Abhandlung völlig überein ungeachtet
ihrer Abweichung von derſelben bei der Anwendung jener Formel.
Wenn Schelling in der Abhandlung vielmehr das Chriſten-
thum als Einbildung des Unendlichen ins Endliche oder als An-
ſchauung des Unendlichen im Endlichen bezeichnete, ſo iſt meines Er-
achtens der Grund darin zu ſuchen, daß er es dort nicht nach
ſeiner allgemeinen Richtung, ſondern gleich nur nach dem
charakteriſirt, was er als ſein Beſonderſtes und Innerſtes, als
ſeine „Vollendung“ erklärt, zu welcher das Chriſtenthum als Ge-
genſatz nur der Weg ſey (S. 120, Z. 1 v. o.). Das Streben
nach dieſer Vollendung nennt er Myſticismus. Nach dieſer tief
in ihm liegenden Tendenz betrachtet, iſt das Chriſtenthum Schauen
des Unendlichen im Endlichen, während ſeine „allgemeine und un-
mittelbare Richtung“ auf das Unendliche geht. Sein herrſchendes
Princip iſt das Unendliche, aber innerhalb dieſer principiellen Rich-
tung ſelbſt bricht wieder „das ſymboliſche Beſtreben“ (= das Un-
endliche im Endlichen zu ſchauen) durch. Die Philoſophie der Kunſt
[XVI] gibt auch hierüber Aufklärung; man vergleiche insbeſondere S. 447.
Ebendaſelbſt (S. 448) findet ſich dann auch das Nähere über das
Verhältniß der Speculation zu jenem Myſticismus.
Im Weiteren bemerke ich nun von der Philoſophie der Kunſt,
daß deren Anfangsſätze (§§. 1—15), ſo wie ſie hier gedruckt ſind,
wohl erſt den ſpäteren, Würzburger Vorträgen angehören; bei
dem erſten Vortrag in Jena ſcheint ſie der Verfaſſer anders ge-
geben zu haben, wie ich auch aus der äußeren Beſchaffenheit des
Manuſcripts abnehme, ohne Zweifel mehr conform der urſprüng-
lichen Ausdrucksweiſe des Identitätsſyſtems. — Es ſcheint, daß
Schelling niemals im Sinn hatte, die Aeſthetik als Ganzes zu
ediren; er konnte es auch nach der Herausgabe der Methode des
akademiſchen Studiums und dem in das Kritiſche Journal Auf-
genommenen ohne Wiederholung von ſchon Bekanntem nicht mehr
thun. Ueberdieß hatte er in derſelben vielfach nur die von
Schiller, Goethe, den Schlegels vertretene Literatur benutzt, und
konnte gerade z. B. dieſen Männern gegenüber auf das ihm
Eigenthümliche keinen ſo großen Werth legen. Ihm konnte die
Philoſophie der Kunſt nur als ein Verſuch gelten, den er zu-
nächſt für ſich ſelbſt machte, die Ideen und die Methode ſeiner
Philoſophie auf die Wiſſenſchaft der Kunſt anzuwenden, und etwa
durch dieſe Anwendung bei ſeinen Zuhörern ein lebendiges Ver-
ſtändniß und erhöhtes Intereſſe für ein Syſtem zu wecken, durch
das allerdings zum erſtenmal das vielgeſtaltige, für den Laien
ſchwer zu begreifende Weſen der Kunſt in beſtimmte, einfache und
unter ſich harmonirende Conſtruktionen gefaßt war. Hätte nun
auch dieſer letztere Vorzug beſonders bei noch weiterer Ausbildung
ſie ihm als druckwürdig erſcheinen laſſen können, ſo mochte er da-
gegen bald von dieſer oder jener ſeiner eigenſten, zur Zeit der erſten
Abfaſſung der Aeſthetik beſonders gehegten und in dieſer noch mehr
als in den anderen gleichzeitigen Schriften prononcirten Ideen
abgekommen ſeyn, ſo daß es ihm doch nicht möglich war die Philo-
ſophie der Kunſt ohne eine theilweiſe gänzliche Umarbeitung zu
[XVII] veröffentlichen. Und auch über einzelnes Hiſtoriſche, wie z. B. über
den Urſprung der gothiſchen Baukunſt, war er vielleicht nach weni-
gen Jahren anderer Anſicht geworden. Je weniger aber er ſelbſt
an die Publikation ſeiner Aeſthetik dachte, deſto mehr ſcheint ſie
ſich durch nachgeſchriebene Hefte überall hin verbreitet zu haben,
worüber eine Anmerkung in den Jahrbüchern der Medicin als
Wiſſenſchaft Bd. 2, Heft 2, S. 303 ſich ausſpricht.
Ohne das Intereſſe, welches die Philoſophie der Kunſt auch
in ihrem allgemeinen Theil als Commentar und Pendant zu an-
deren Schriften Schellings und als Mittel der Aufhellung einiger
Ungewißheiten in der philoſophiſchen Literatur darbot, würde wohl
auch jetzt das Ganze nicht veröffentlicht worden ſeyn, und ich bin
ſchuldig ausdrücklich zu ſagen, daß der Verfaſſer ſelbſt für wirklich
druckwürdig nur die Abhandlung über die Tragödie erklärt hat,
vom Uebrigen aber höchſtens Einzelnes des Drucks werth erachtete.
Allein, was nun z. B. die beſonderen Kunſtformen betrifft, aus
deren Darſtellung man etwa einzelnes auszuwählen gehabt hätte,
ſo wollte ſich hier kein Maßſtab für die Ausſcheidung finden,
vielmehr ſchien die Harmonie des Ganzen, das Ineinandergreifende,
durch Parallelen ſich gegenſeitig Erklärende der einzelnen Stücke
durchaus nicht zu erlauben dieſes oder jenes auszuſondern. Auch
war nicht etwa ein Theil vor dem andern durch reichere Ausführung
bevorzugt. Doch ſelbſt für die Mittheilung des Grund legenden
allgemeinen Theils ſprach nicht bloß ein kritiſches Intereſſe und
nicht bloß der Vortheil des völligeren Verſtändniſſes auch des be-
ſonderen. Hatte doch Schelling ſelbſt durch eine Aeußerung in
ſeinen nachgelaſſenen Schriften (Einleitung in die Philoſophie der
Mythologie, S. 241) begierig gemacht das Kapitel über die My-
thologie in der Philoſophie der Kunſt kennen zu lernen. Es inter-
eſſirt uns nun zu ſehen, wie er ſchon damals die Mythologie nicht
vom bloßen Zufall ſubjektiver Erfindung herleitete, — die Phantaſie
zwar war die Erfinderin, aber ſie folgte in ihren Dichtungen un-
willkürlich dem Typus der Ideen, inſofern einer Nothwendigkeit,
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. *
[XVIII] ſie bildete in der Mythologie eine zweite Welt mit abſoluter Ob-
jektivität, und nicht das Werk einzelner Individuen als Individuen
war die Mythologie, ſondern das eines ganzen Geſchlechts, ſofern
es ſelbſt Individuum (S. 414). Dieſe Nothwendigkeit muß
freilich ſpäter in der Philoſophie der Mythologie einer ganz ande-
ren Platz machen. Das Geſchlecht, „das einem einzelnen Men-
ſchen gleich,“ wird zum menſchlichen Bewußtſeyn ſelbſt — in
welchem auch allein die Totalität dem Individuum gleich iſt —
und in dieſem erzeugen ſich die Göttervorſtellungen urſprüng-
lich ohne alles Zuthun der Phantaſie mit einer Nothwendigkeit, die
ſich durchaus nicht von Ideen oder von einer idealen Regel her-
ſchreibt, ſondern von einer Kataſtrophe des menſchlichen Bewußt-
ſeyns und einem daraus folgenden unwillkürlichen Proceß, dem
das Bewußtſeyn hingegeben iſt, unter dem es leidet.
Es dürfte ſomit die vollſtändige Veröffentlichung der Philo-
ſophie der Kunſt aus verſchiedenen Gründen gerechtfertigt und etliches
aus dieſem vor mehr als 50 Jahren gehaltenen Vortrag vielleicht
ſelbſt denen nicht unwillkommen ſeyn, welche heutzutage an dieſer
Wiſſenſchaft arbeiten.
Zum Schluſſe noch die Erinnerung, daß der Zeitfolge nach
zum Inhalt dieſes Bandes auch die im Jahr 1802 geſchriebenen
Zuſätze zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philoſophie der
Natur (Band 2 dieſer Ausgabe) gehören, von welchen überdieß
der erſte, der die Ueberſchrift hat „Darſtellung der allgemeinen
Idee der Philoſophie überhaupt und der Naturphiloſophie insbe-
ſondere als nothwendigen und integranten Theils der erſteren“ mit
der viel beſprochenen Abhandlung über das Verhältniß der Natur-
philoſophie zur Philoſophie überhaupt in einiger Verwandtſchaft ſteht.
Eßlingen, im Oktober 1859.
K. F. A. Schelling.
[]
Inhalt.
- Seite
- 1. Abhandlungen, Recenſionen ꝛc. aus dem Kritiſchen Journal der
Philoſophie 1 - a) Ueber das Weſen der philoſophiſchen Kritik überhaupt und
ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zuſtand der Philoſophie
insbeſondere. - b) Ueber das abſolute Identitätsſyſtem und ſein Verhältniß
zu dem neueſten (Reinholdiſchen Dualismus). - c) Rückert und Weiß oder die Philoſophie, zu dem es keines
Denkens und Wiſſens bedarf. - d) Ueber das Verhältniß der Naturphiloſophie zur Philoſophie
überhaupt. - e) Ueber die Conſtruktion in der Philoſophie.
- f) Ueber Dante in philoſophiſcher Beziehung.
- g) Notizenblatt.
- a) Ueber das Weſen der philoſophiſchen Kritik überhaupt und
- 2. Vorleſungen über die Methode des akademiſchen Studiums 207
- 3. Philoſophie der Kunſt (aus dem handſchriftlichen Nachlaß) 353
[][]
Philoſophie der Kunſt.
(Aus dem handſchriftlichen Nachlaß.)
Erſtmals vorgetragen zu Jena im Winter 1802 bis 1803, wiederholt 1804 und
1805 in Würzburg.
SchellingV.
[][]
Inhalt.
- Einleitung. Seite
- Beweggründe zur Bearbeitung der Wiſſenſchaft der Kunſt 355
- Möglichkeit einer Philoſophie der Kunſt 364
- Allgemeinſte Deduktion der Philoſophie der Kunſt 369
- I. Allgemeiner Theil der Philoſophie der Kunſt.
- A) Conſtruktion der Kunſt überhaupt und im Allgemeinen 373
- B) Conſtruktion des Stoffs der Kunſt
- 1) Ableitung der Mythologie als Stoffs der Kunſt 388
- 2) Gegenſatz der antiken und modernen Poeſie in Bezug auf Mythologie 417
Religionsphiloſophiſche Entwicklung.
- C) Conſtruktion des Beſonderen oder der Form der Kunſt (des beſonde-
ren Kunſtwerks) - 1) Theorie des Kunſtwerks überhaupt 458
- Die Gegenſätze von Erhabenheit und Schönheit, von Naiv und
Sentimental, von Styl und Manier.
- Die Gegenſätze von Erhabenheit und Schönheit, von Naiv und
- 2) Uebergang der äſthetiſchen Idee in das concrete Kunſtwerk
- a) Deduktion der bildenden Kunſt 480
- b) Deduktion der redenden Kunſt 482
- Reſultat: Philoſophie der Kunſt = Conſtruktion des Univerſums in
der Form der Kunſt.
- II. Beſonderer Theil der Philoſophie der Kunſt.
- D) Conſtruktion der Kunſtformen in der Entgegenſetzung der realen und
idealen Reihe. - 1) Reale Seite der Kunſtwelt oder die bildende Kunſt.
- a) Conſtruktion der Muſik (Klang, Schall, Gehör) 488
- α) die Formen der Muſik an ſich 491
- β) die Formen der Muſik bezogen auf das Leben der Weltkörper 501
- b) Conſtruktion der Malerei (Licht, Farben, Geſichtsſinn) 506
- α) die Formen der Malerei 517
- β) die Gegenſtände oder die Kunſtſtufen der Malerei 542
- c) Conſtruktion der Plaſtik und ihrer Formen 569
- α) Architektur 572
- β) Basrelief 599
- γ) Skulptur 602
- Symboliſche Bedeutung der menſchlichen Geſtalt 604
- Allgemeine Anmerkungen über die bildende Kunſt überhaupt 628
- Seite
2) Ideale Seite der Kunſtwelt oder die redende Kunſt (Poeſie im
engeren Sinn) - a) Verhältniß der Poeſie zur Kunſt überhaupt 630
- b) Weſen und Form der Poeſie 633
- c) Conſtruktion der einzelnen Dichtarten
- α) die lyriſche Poeſie 639
- β) die epiſche Poeſie
- aa) Conſtruktion des Epos nach ſeinen Hauptbeſtimmungen 646
- bb) der epiſche Stoff 654
- Vergleichung des Virgil mit Homer
- Neuere Nachahmungen des alten Epos
- cc) die Differenziirung des Epos in beſonderen Gattungen
- αα) Elegie und Idylle 658
- ββ) Lehrgedicht und Satyre 662
- Lucretius.
- dd) das romantiſche (moderne) Epos
- αα) Rittergedicht (Arioſto) 669
- ββ) Roman (Cervantes, Goethe) 673
- γγ) epiſche Verſuche mit neueren Stoffen (Voß[,] Goethe) 684
- ee) die göttliche Komödie des Dante (eine epiſche Gattung
für ſich) 686
- γ) die dramatiſche Poeſie.
- aa) Begriff des dramatiſchen Gedichts überhaupt 687
- bb) die Differenziirung des Drama in Tragödie und Komödie
- αα) die Tragödie
- aaa) das Weſen und der wahre Gegenſtand der Tragödie 694
- bbb) die innere Conſtruktion der Tragödie 699
- ccc) die äußere Form der Tragödie 704
- Aeſchylos, Sophokles, Euripides 708
- ββ) von dem Weſen der Komödie 711
- Ariſtophanes 714
- cc) die moderne dramatiſche Poeſie.
- Shakeſpeare 718
- Calderon 726
- Goethes Fauſt 731
- Die moderne Komödie 734
- Zurückſtreben der redenden zur bildenden Kunſt in Muſik,
Geſang, Tanz 735
- D) Conſtruktion der Kunſtformen in der Entgegenſetzung der realen und
Einleitung.
— — — — — — — — — — — — — 1
Ich bitte Sie bei den gegenwärtigen Vorträgen durchaus die
rein wiſſenſchaftliche Abſicht derſelben vor Augen zu haben. Wie
die Wiſſenſchaft überhaupt, ſo iſt Wiſſenſchaft der Kunſt an ſich
intereſſant, auch ohne äußeren Zweck. So viele zum Theil unwichtige
Gegenſtände ziehen die allgemeine Wißbegierde und ſelbſt den wiſſen-
ſchaftlichen Geiſt auf ſich; ſonderbar, wenn es eben die Kunſt nicht ver-
möchte, dieſer eine Gegenſtand, der faſt allein die höchſten Gegenſtände
unſerer Bewunderung in ſich ſchließt.
Der iſt noch ſehr weit zurück, dem die Kunſt nicht als ein ge-
ſchloſſenes, organiſches und ebenſo in allen ſeinen Theilen nothwendiges
Ganzes erſchienen iſt, als es die Natur iſt. Fühlen wir uns unauf-
haltſam gedrungen, das innere Weſen der Natur zu ſchauen, und jenen
fruchtbaren Quell zu ergründen, der ſo viele große Erſcheinungen mit
ewiger Gleichförmigkeit und Geſetzmäßigkeit aus ſich herausſchüttet, wie
viel mehr muß es uns intereſſiren, den Organismus der Kunſt zu
durchdringen, in der aus der abſoluten Freiheit ſich die höchſte Einheit
und Geſetzmäßigkeit herſtellt, die uns die Wunder unſeres eignen
[358] Geiſtes weit unmittelbarer als die Natur erkennen läßt. Intereſſirt es
uns, den Bau, die innere Anlage, die Beziehungen und Verwickelungen
eines Gewächſes oder eines organiſchen Weſens überhaupt ſo weit wie
möglich zu verfolgen, wie viel mehr müßte es uns reizen, dieſelben
Verwickelungen und Beziehungen in den noch viel höher organiſirten
und in ſich ſelbſt verſchlungeneren Gewächſen zu erkennen, die man
Kunſtwerke nennt.
Den meiſten geht es mit der Kunſt, wie es dem Meiſter Jourdain
bei Molière 1 mit der Proſa ging, der ſich wunderte, ſein ganzes
Leben Proſa geſprochen zu haben, ohne es zu wiſſen. Die wenigſten
überlegen, daß ſchon die Sprache, in der ſie ſich ausdrücken, das
vollkommenſte Kunſtwerk iſt. Wie viele haben vor einem Theater geſtanden,
ohne ſich nur einmal die Frage aufzuwerfen, wie viele Bedingungen zu
einer auch nur einigermaßen vollkommenen theatraliſchen Erſcheinung
erfordert werden; wie viele den edlen Eindruck einer ſchönen Architek-
tur empfunden, ohne Verſuchung den Gründen der Harmonie nachzu-
ſpüren, die ſie daraus angeſprochen hat! Wie viele haben ein einzelnes
Gedicht oder ein hohes dramatiſches Werk auf ſich wirken laſſen, und
ſind dadurch bewegt, entzückt, erſchüttert worden, ohne je zu unter-
ſuchen, durch welche Mittel es dem Künſtler gelingt, ihr Gemüth zu
beherrſchen, ihre Seele zu reinigen, ihr Innerſtes aufzuregen — ohne
den Gedanken, dieſen ganz paſſiven und inſofern unedlen Genuß in
den weit höheren der thätigen Beſchauung und der Reconſtruktion des
Kunſtwerks durch den Verſtand zu verwandeln!
Derjenige wird für roh und ungebildet geachtet, der die Kunſt
überall nicht auf ſich einfließen laſſen und ihre Wirkungen erfahren
will. Aber es iſt, wenn nicht in demſelben Grade, doch dem Geiſte
nach ebenſo roh, die bloß ſinnlichen Rührungen, ſinnlichen Affekter, oder
ſinnliches Wohlgefallen, welche Kunſtwerke erwecken, für Wirkungen
der Kunſt als ſolche zu halten.
Für den, der es in der Kunſt nicht zur freien, zugleich leidenden
[359] und thätigen, fortgeriſſenen und überlegten Beſchauung bringt, ſind
alle Wirkungen der Kunſt bloße Naturwirkungen; er ſelbſt verhält ſich
dabei als Naturweſen, und hat die Kunſt als Kunſt wahrhaft nie er-
fahren und erkannt. Was ihn bewegt, ſind vielleicht die einzelnen
Schönheiten, aber in dem wahren Kunſtwerk gibt es keine einzelne
Schönheit, nur das Ganze iſt ſchön. Wer ſich alſo nicht zur Idee
des Ganzen erhebt, iſt gänzlich unfähig ein Werk zu beurtheilen.
Und trotz dieſer Gleichgültigkeit ſehen wir doch die große Menge der
Menſchen, die ſich gebildet nennen, zu nichts geneigter, als in Sachen
der Kunſt ein Urtheil zu haben, die Kenner zu ſpielen, und nicht leicht
wird ein nachtheiliges Urtheil tiefer empfunden als das, daß jemand
keinen Geſchmack habe. Die, welche ihre Schwäche in der Beurtheilung
fühlen, halten, bei der ſehr entſchiedenen Wirkung, die ein Kunſtwerk
auf ſie hat, und der Originalität der Anſicht, die ſie vielleicht davon
haben, unerachtet, doch ihr Urtheil lieber zurück, als daß ſie ſich Blößen
geben. Andere, die weniger beſcheiden ſind, machen ſich durch ihr Ur-
theil lächerlich oder fallen den Verſtändigen damit beſchwerlich. Es ge-
hört alſo ſogar zur allgemein geſellſchaftlichen Bildung — da überhaupt
kein geſellſchaftlicheres Studium als das der Kunſt — über die Kunſt
Wiſſenſchaft zu haben, die Fähigkeit, die Idee oder das Ganze ſo
wie die wechſelſeitigen Beziehungen der Theile aufeinander und auf
das Ganze und hinwiederum die des Ganzen auf die Theile aufzu-
faſſen, in ſich ausgebildet zu haben. Aber dieſes eben iſt nicht möglich
anders als durch Wiſſenſchaft und insbeſondere durch Philoſophie.
Je ſtrenger die Idee der Kunſt und des Kunſtwerks conſtruirt wird,
deſto mehr wird nicht nur der Schlaffheit der Beurtheilung, ſondern
auch jenem leichtfertigen Verſuchen in der Kunſt oder Poeſie geſteuert,
welches gewöhnlich ohne alle Idee derſelben angeſtellt wird.
Wie nöthig gerade eine ſtreng wiſſenſchaftliche Anſicht der Kunſt
zur Ausbildung des intellektuellen Anſchauens der Kunſtwerke ſowie
vorzüglich zur Bildung des Urtheils über dieſelbe ſey, darüber will ich
nur noch Folgendes bemerken.
Man kann ſehr häufig, insbeſondere jetzt, die Erfahrung machen,
[360] wie ſehr ſelbſt Künſtler untereinander in ihren Urtheilen nicht nur
verſchieden, ſondern entgegengeſetzt ſind. Dieſes Phänomen iſt ſehr
leicht zu erklären. In den Zeitaltern der blühenden Kunſt iſt es die
Nothwendigkeit des allgemein herrſchenden Geiſtes, das Glück und gleich-
ſam der Frühling der Zeit, der unter den großen Meiſtern mehr oder
weniger die allgemeine Uebereinſtimmung hervorbringt, ſo daß, wie dieß
auch die Geſchichte der Kunſt zeigt, die großen Werke gedrängt auf-
einander, faſt zu gleicher Zeit, wie von einem gemeinſchaftlichen Hauch
und unter einer gemeinſamen Sonne, entſtehen und reifen. Albrecht
Dürer zugleich mit Raphael, Cervantes und Calderon zugleich mit
Shakespeare. Wenn ein ſolches Zeitalter des Glücks und der reinen
Produktion vorbei iſt, ſo tritt die Reflexion und mit ihr die allgemeine
Entzweiung ein; was dort lebendiger Geiſt war, wird hier Ueberlie-
ferung.
Die Richtung der alten Künſtler war vom Centrum gegen die
Peripherie. Die ſpäteren nehmen die äußerlich abgehobene Form und
ſuchen ſie unmittelbar nachzuahmen; ſie behalten den Schatten ohne den
Körper. Jeder bildet ſich nun ſeine eignen, beſonderen Geſichtspunkte
für die Kunſt, und beurtheilt ſelbſt das Vorhandene darnach. Die
einen, welche das Leere der Form ohne den Inhalt bemerken, predigen
die Rückkehr zur Materialität durch Nachahmung der Natur, die an-
dern, die ſich über jenen leeren und hohlen äußerlichen Abhub der
Form nicht ſchwingen, predigen das Idealiſche, die Nachahmung des
ſchon Gebildeten; keiner aber kehrt zu den wahren Urquellen der Kunſt
zurück, aus denen Form und Stoff ungetrennt ſtrömt. Mehr oder
weniger iſt dieß der gegenwärtige Zuſtand der Kunſt und des Kunſt-
urtheils. So mannichfaltig die Kunſt in ſich ſelbſt iſt, ſo mannichfaltig
und nuancirt ſind die verſchiedenen Geſichtspunkte der Beurtheilung.
Keiner der Streitenden verſteht den andern. Sie beurtheilen, der eine
nach dem Maßſtab der Wahrheit, der andere nach dem der Schönheit,
ohne daß ein einziger wüßte, was Wahrheit oder was Schönheit iſt.
Unter den eigentlich praktiſchen Künſtlern einer ſolchen Zeit iſt alſo mit
wenigen Ausnahmen nichts über das Weſen der Kunſt zu erfahren,
[361] weil es ihnen in der Regel an der Idee der Kunſt und der Schönheit
gebricht. Und eben dieſe, ſelbſt unter denen, welche die Kunſt aus-
üben, herrſchende Uneinigkeit iſt ein dringender Beſtimmungsgrund, die
wahre Idee und die Principien der Kunſt in der Wiſſenſchaft zu
ſuchen.
Noch mehr iſt ein ernſter, aus Ideen geſchöpfter Unterricht über
Kunſt nöthig in dieſem Zeitalter des literariſchen Bauernkriegs, der
gegen alles Hohe, Große, auf Ideen Gegründete, ja gegen die Schön-
heit in der Poeſie und Kunſt ſelbſt geführt wird, wo das Frivole,
Sinnenreizende oder auf niederträchtige Art Edele die Götzen ſind,
welchen die größte Verehrung gezollt wird.
Nur die Philoſophie kann die für die Produktion großentheils ver-
ſiegten Urquellen der Kunſt für die Reflexion wieder öffnen. Nur
durch Philoſophie können wir hoffen, eine wahre Wiſſenſchaft der Kunſt
zu erlangen, nicht als ob die Philoſophie den Sinn geben könnte, den
nur ein Gott geben kann, nicht als ob ſie das Urtheil demjenigen ver-
leihen könnte, dem es die Natur verſagt hat, ſondern daß ſie auf eine
unveränderliche Weiſe in Ideen ausſpricht, was der wahre Kunſt-
ſinn im Concreten anſchaut, und wodurch das ächte Urtheil beſtimmt
wird.
Ich halte nicht für unnöthig die Gründe noch anzugeben, welche
mich insbeſondere beſtimmt haben, ſowohl dieſe Wiſſenſchaft zu
bearbeiten, als dieſe Vorträge darüber zu halten.
Vor allem bitte ich Sie, dieſe Wiſſenſchaft der Kunſt mit nichts
von all dem zu verwechſeln, was man bisher unter dieſem Namen oder
irgend einem andern als Aeſthetik oder Theorie der ſchönen Künſte
und Wiſſenſchaften vorgetragen hat. Noch exiſtirt überall keine wiſſen-
ſchaftliche und philoſophiſche Kunſtlehre; höchſtens exiſtiren Bruchſtücke
einer ſolchen, und auch dieſe ſind noch wenig verſtanden, und können
nicht anders als im Zuſammenhang eines Ganzen verſtanden werden.
Vor Kant war alle Kunſtlehre in Deutſchland ein bloßer Abkömm-
ling der Baumgartenſchen Aeſthetik — denn dieſer Ausdruck wurde
zuerſt von Baumgarten gebraucht. Zur Beurtheilung derſelben reicht
[362] es hin zu erwähnen, daß ſie ſelbſt wieder ein Sprößling der Wolff-
ſchen Philoſophie war. In der Periode unmittelbar vor Kant, wo
ſeichte Popularität und Empirismus in der Philoſophie das Herrſchende
waren, wurden die bekannten Theorien der ſchönen Künſte und
Wiſſenſchaften aufgeſtellt, deren Principien die pſychologiſchen Grundſätze
der Engländer und Franzoſen waren. Man ſuchte das Schöne aus der
empiriſchen Pſychologie zu erklären, und behandelte überhaupt die Wun-
der der Kunſt ohngefähr ebenſo aufklärend und wegerklärend wie zu
derſelben Zeit die Geſpenſtergeſchichten und andern Aberglauben. Bruch-
ſtücke dieſes Empirismus trifft man ſelbſt noch in ſpäteren, zum Theil
nach einer beſſeren Anſicht gedachten Schriften an.
Andere Aeſthetiken ſind gewiſſermaßen Recepte oder Kochbücher, wo
das Recept zur Tragödie ſo lautet: Viel Schrecken, doch nicht allzu-
viel; ſo viel Mitleid als möglich und Thränen ohne Zahl.
Mit Kants Kritik der Urtheilskraft ging es wie mit ſeinen übrigen
Werken. Von den Kantianern war natürlich die äußerſte Geſchmack-
loſigkeit, wie in der Philoſophie Geiſtloſigkeit, zu erwarten. Eine
Menge Menſchen lernten die Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft aus-
wendig und trugen ſie vom Katheder und in Schriften als Aeſthetik vor.
Nach Kant haben einige vorzügliche Köpfe treffliche Anregungen
zur Idee einer wahren philoſophiſchen Wiſſenſchaft der Kunſt und ein-
zelne Beiträge zu einer ſolchen geliefert; noch aber hat keiner ein wiſ-
ſenſchaftliches Ganzes oder auch nur die abſoluten Principien ſelbſt
— allgemein gültig und in ſtrenger Form — aufgeſtellt; auch iſt bei
mehreren derſelben noch nicht die ſtrenge Sonderung des Empirismus
und der Philoſophie geſchehen, die zur wahren Wiſſenſchaftlichkeit erfor-
dert würde.
Das Syſtem der Philoſophie der Kunſt, welches ich vorzutragen
denke, wird ſich alſo von den bisher vorhandenen weſentlich und ſowohl
der Form als dem Gehalt nach unterſcheiden, indem ich ſelbſt in
den Principien weiter zurückgehe, als bisher geſchehen iſt. Dieſelbe
Methode, durch die es mir, wenn ich mich nicht irre, in der
Naturphiloſophie bis zu einem gewiſſen Punkte möglich geworden iſt,
[363] das vielfach verſchlungene Gewebe der Natur zu entwirren und das
Chaos ſeiner Erſcheinungen zu ſondern, dieſelbe Methode wird uns
auch durch die noch labyrinthiſcheren Verwicklungen der Kunſtwelt
hindurchleiten und über die Gegenſtände derſelben ein neues Licht ver-
breiten laſſen.
Weniger kann ich mir ſelbſt Genüge zu leiſten gewiß ſeyn in An-
ſehung der hiſtoriſchen Seite der Kunſt, welche, aus Gründen, die
ich in der Folge angeben werde, ein weſentliches Element aller Con-
ſtruktion iſt. Ich erkenne zu gut, wie ſchwierig es iſt, in dieſem un-
endlichſten aller Gebiete auch nur die allgemeinſten Kenntniſſe über
jeden Theil deſſelben ſich zu erwerben, geſchweige denn es über alle
ſeine Theile bis zur beſtimmteſten und genaueſten Kenntniß zu bringen.
Was ich allein für mich anführen kann, iſt, daß ich das Studium der
alten und neueren Werke der Poeſie eine lange Zeit mit Ernſt betrieben
und es zu meinem angelegentlichen Geſchäft gemacht habe, daß ich einige
Anſchauung von Werken der bildenden Kunſt gehabt habe, daß ich im
Umgang mit ausübenden Künſtlern zum Theil zwar nur ihre eigne
Uneinigkeit und ihr Nichtverſtehen der Sache kennen gelernt, zum Theil
aber auch im Umgang mit ſolchen, die außer der glücklichen Ausübung
der Kunſt auch noch über ſie philoſophiſch gedacht haben, mir einen
Theil derjenigen hiſtoriſchen Anſichten der Kunſt erworben habe, die
ich zu meinem Zwecke nothwendig glaube.
Für diejenigen, die mein Syſtem der Philoſophie kennen, wird
die Philoſophie der Kunſt nur die Wiederholung deſſelben in der höch-
ſten Potenz ſeyn, denjenigen, die es noch nicht kennen, wird die Methode
deſſelben in dieſer Anwendung vielleicht nur noch in die Augen ſpringen-
der und deutlicher ſeyn.
Die Conſtruktion wird ſich nicht bloß auf das Allgemeine, ſondern
auch bis auf diejenigen Individuen erſtrecken, welche für eine ganze
Gattung gelten; ich werde ſie und die Welt ihrer Poeſie conſtruiren.
Ich nenne vorläufig nur Homer, Dante, Shakeſpeare. In der Lehre
von den bildenden Künſten werden die Individualitäten der größten
Meiſter im Allgemeinen charakteriſirt werden; in der Lehre von der
[364] Poeſie und den Dichtarten werde ich ſogar bis zur Charakteriſtik ein-
zelner Werke der vorzüglichſten Dichter, z. B. Shakeſpeares, Cervantes,
Goethes herabſteigen, um ſo die gegenwärtige Anſchauung, die uns bei
jenen fehlt, hier zu erſetzen.
In der allgemeinen Philoſophie freuen wir uns, das ſtrenge Ant-
litz der Wahrheit an und für ſich ſelbſt zu ſehen, in dieſer beſondern
Sphäre der Philoſophie, welche die Philoſophie der Kunſt begrenzt, ge-
langen wir zur Anſchauung der ewigen Schönheit und der Urbilder
alles Schönen.
Die Philoſophie iſt die Grundlage von allem und befaßt alles;
ſie erſtreckt ihre Conſtruktion auf alle Potenzen und Gegenſtände
des Wiſſens; nur durch ſie gelangt man zum Höchſten. Durch die
Kunſtlehre bildet ſich innerhalb der Philoſophie ſelbſt ein engerer Kreis,
in dem wir unmittelbarer das Ewige gleichſam in ſichtbarer Geſtalt
ſchauen, und ſo ſteht dieſe richtig verſtanden mit der Philoſophie ſelbſt
im vollkommenſten Einklang.
Schon in dem bisher Vorgetragenen lag zum Theil die Andeutung
deſſen, was Philoſophie der Kunſt ſey; es iſt aber nöthig, mich jetzt
ausdrücklicher darüber zu erklären. Ich werde die Frage in der größten
Allgemeinheit ſo ſtellen: Wie iſt Philoſophie der Kunſt mög-
lich? (denn Beweis der Möglichkeit in Anſehung der Wiſſenſchaft auch
Wirklichkeit).
Jeder ſieht ein, daß in dem Begriff einer Philoſophie der Kunſt
Entgegengeſetztes verbunden werde. Die Kunſt iſt das Reale, Objek-
tive, die Philoſophie das Ideale, Subjektive. Man könnte alſo die
Aufgabe der Philoſophie der Kunſt zum voraus ſchon ſo beſtimmen: das
Reale, welches in der Kunſt iſt, im Idealen darzuſtellen.
Allein die Frage iſt nun eben, was es heiße: ein Reales im Idea-
len darzuſtellen, und ehe wir dieß wiſſen, ſind wir über den Begriff
der Philoſophie der Kunſt noch nicht im Reinen. Wir haben alſo die
ganze Unterſuchung noch tiefer anzufaſſen. — Da Darſtellung im
Idealen überhaupt = Conſtruiren, auch die Philoſophie der Kunſt
= Conſtruktion der Kunſt ſeyn ſoll, ſo wird dieſe Unterſuchung
[365] nothwendig zugleich in das Weſen der Conſtruktion tiefer eindringen
müſſen.
Der Zuſatz Kunſt in „Philoſophie der Kunſt“ beſchränkt bloß
den allgemeinen Begriff der Philoſophie, aber hebt ihn nicht auf.
Unſere Wiſſenſchaft ſoll Philoſophie ſeyn. Dieß iſt das Weſentliche;
daß ſie eben Philoſophie ſeyn ſoll in Beziehung auf Kunſt, iſt das Zu-
fällige unſeres Begriffs. Nun kann aber weder überhaupt das Acci-
dentelle eines Begriffs das Weſentliche deſſelben verändern, noch kann
Philoſophie insbeſondere als Philoſophie der Kunſt etwas anderes
ſeyn, als ſie an ſich und abſolut betrachtet iſt. Philoſophie iſt ſchlecht-
hin und weſentlich eins; ſie kann nicht getheilt werden; was alſo über-
haupt Philoſophie iſt, iſt es ganz und ungetheilt. Dieſen Begriff von
der Ungetheiltheit der Philoſophie wünſche ich, daß Sie ſich insbeſon-
dere feſt gegenwärtig erhalten, um die ganze Idee unſerer Wiſſenſchaft
zu faſſen. Es iſt bekannt genug, welcher heilloſe Mißbrauch mit dem
Begriff der Philoſophie getrieben wird. Wir haben ſchon eine Philo-
ſophie, ja ſogar eine Wiſſenſchaftslehre der Landwirthſchaft erhalten,
es iſt zu erwarten, daß man auch noch eine Philoſophie des Fuhrwerks
aufſtelle, und daß es am Ende ſo viel Philoſophien gibt, als es über-
haupt Gegenſtände gibt, und man vor lauter Philoſophien die Philo-
ſophie ſelbſt gänzlich verlieren wird. Außer dieſen vielen Philoſophien
hat man aber auch noch einzelne philoſophiſche Wiſſenſchaften oder phi-
loſophiſche Theorien. Auch damit iſt es nichts. Es iſt nur Eine Phi-
loſophie und Eine Wiſſenſchaft der Philoſophie; was man verſchiedene
philoſophiſche Wiſſenſchaften nennt, iſt entweder etwas ganz Schiefes,
oder es ſind nur Darſtellungen des Einen und ungetheilten Ganzen der
Philoſophie in verſchiedenen Potenzen oder unter verſchiedenen ideellen
Beſtimmungen 1.
Ich erkläre dieſen Ausdruck hier, da er das erſtemal wenigſtens
in einem Zuſammenhang vorkommt, in dem es wichtig iſt daß er
[366] verſtanden werde. Er bezieht ſich auf die allgemeine Lehre der Philo-
ſophie von der weſentlichen und innern Identität aller Dinge und alles
deſſen, was wir überhaupt unterſcheiden. Es iſt wahrhaft und an ſich
nur Ein Weſen, Ein abſolut Reales, und dieſes Weſen als abſolutes
iſt untheilbar, ſo daß es nicht durch Theilung oder Trennung in ver-
ſchiedene Weſen übergehen kann; da es untheilbar iſt, ſo iſt Verſchie-
denheit der Dinge überhaupt nur möglich, inſofern es als das Ganze
und Ungetheilte unter verſchiedenen Beſtimmungen geſetzt wird. Dieſe
Beſtimmungen nenne ich Potenzen. Sie verändern ſchlechthin nichts
am Weſen, dieſes bleibt immer und nothwendig daſſelbe, deßwegen
heißen ſie ideelle Beſtimmungen. Z. B. das, was wir in der Geſchichte
oder der Kunſt erkennen, iſt weſentlich daſſelbe mit dem, was auch in
der Natur iſt: jedem nämlich iſt die ganze Abſolutheit eingeboren, aber
dieſe Abſolutheit ſteht in der Natur, der Geſchichte und der Kunſt in
verſchiedenen Potenzen. Könnte man dieſe hinwegnehmen, um das reine
Weſen gleichſam entblößt zu ſehen, ſo wäre in allem wahrhaft Eins.
Die Philoſophie nun tritt in ihrer vollkommenen Erſcheinung
nur in der Totalität aller Potenzen hervor. Denn ſie ſoll ein getreues
Bild des Univerſums ſeyn — dieſes aber = dem Abſoluten, dar-
geſtellt in der Totalität aller ideellen Beſtimmungen. —
Gott und Univerſum ſind eins oder nur verſchiedene Anſichten Eines
und deſſelben. Gott iſt das Univerſum von der Seite der Identität
betrachtet, er iſt Alles, weil er das allein Reale, außer ihm alſo
nichts iſt, das Univerſum iſt Gott von Seiten der Totalität aufge-
faßt. In der abſoluten Idee, die Princip der Philoſophie iſt, iſt aber
auch wieder Identität und Totalität eins. Die vollkommene Erſchei-
nung der Philoſophie, ſage ich, tritt nur in der Totalität aller Po-
tenzen hervor. Im Abſoluten als ſolchen, und demnach auch im Princip
der Philoſophie, iſt eben deßwegen, weil es alle Potenzen begreift, keine
Potenz, und hinwiederum nur, inwiefern in ihm keine Potenz iſt, ſind
in ihm alle enthalten. Ich nenne dieſes Princip eben deßwegen, weil
es keiner beſonderen Potenz gleich iſt, und doch alle begreift, den ab-
ſoluten Identitätspunkt der Philoſophie.
[367]
Dieſer Indifferenzpunkt nun, eben weil er dieß iſt, und weil er
ſchlechthin eins, untrennbar, untheilbar iſt, iſt nothwendig wieder in
jeder beſonderen Einheit (ſo auch Potenz zu nennen), und auch dieß
iſt nicht möglich, ohne daß in jeder dieſer beſonderen Einheiten
wieder alle Einheiten, alſo alle Potenzen wiederkehren. Es iſt alſo
in der Philoſophie überhaupt nichts als Abſolutes, oder wir kennen
in der Philoſophie nichts als Abſolutes — immer nur das ſchlechthin
Eine, und nur dieß ſchlechthin Eine in beſonderen Formen. Philoſo-
phie geht — ich bitte Sie, dieß ſtreng aufzufaſſen — überhaupt nicht
auf das Beſondere als ſolches, ſondern unmittelbar immer nur auf das
Abſolute, und auf das Beſondere nur, ſofern es das ganze Abſolute
in ſich aufnimmt und in ſich darſtellt.
Hieraus iſt nun offenbar, daß es keine beſonderen Philoſophien
und ebenſowenig beſondere und einzelne philoſophiſche Wiſſenſchaften
geben könne. Die Philoſophie hat in allen Gegenſtänden nur Einen
Gegenſtand, und ſie iſt eben deßwegen ſelbſt nur Eine. Innerhalb der
allgemeinen Philoſophie iſt jede einzelne Potenz für ſich abſolut, und
in dieſer Abſolutheit oder dieſer Abſolutheit unbeſchadet doch wieder
ein Glied des Ganzen. Wahrhaftes Glied des Ganzen iſt jede nur,
ſofern ſie der vollkommene Reflex des Ganzen iſt, es ganz in ſich auf-
nimmt. Dieß iſt eben jene Verbindung des Beſonderen und Allge-
meinen, die wir in jedem organiſchen Weſen, ſo wie in jedem poeti-
ſchen Werk, wiederfinden, in welchem z. B. verſchiedene Geſtalten jede
ein dienendes Glied des Ganzen und doch bei der vollkommenen Aus-
bildung des Werks wieder in ſich abſolut iſt.
Wir können nun allerdings die einzelne Potenz herausheben aus
dem Ganzen und für ſich behandeln, aber nur, ſofern wir wirklich das
Abſolute in ihr darſtellen, iſt dieſe Darſtellung ſelbſt Philoſophie.
Wir können alsdann dieſe Darſtellung z. B. Philoſophie der Natur,
Philoſophie der Geſchichte, Philoſophie der Kunſt nennen.
Hiermit iſt nun bewieſen: 1) daß ſich kein Gegenſtand zum Ge-
genſtand der Philoſophie qualificire, als inſofern er ſelbſt im Abſoluten
durch eine ewige und nothwendige Idee gegründet und fähig iſt das
[368] ganze ungetheilte Weſen des Abſoluten in ſich aufzunehmen. Alle ver-
ſchiedenen Gegenſtände als verſchiedene ſind nur Formen ohne Weſen-
heit — Weſenheit hat nur Eines, und durch dieſes Eine, was fähig
iſt, es als das Allgemeine in ſich, ſeine Form, als Beſonderes aufzu-
nehmen. Es gibt alſo z. B. eine Philoſophie der Natur, weil in
das Beſondere der Natur das Abſolute gebildet, weil es demnach eine
abſolute und ewige Idee der Natur gibt. Ebenſo eine Philoſophie der
Geſchichte, eine Philoſophie der Kunſt 1.
Es iſt hiermit 2) die Realität einer Philoſophie der Kunſt be-
wieſen, eben dadurch, daß ihre Möglichkeit bewieſen iſt; es ſind eben
damit auch ihre Grenzen zugleich und ihre Verſchiedenheit namentlich von
der bloßen Theorie der Kunſt gezeigt. Nämlich nur ſofern die Wiſſen-
ſchaft der Natur oder Kunſt in ihr das Abſolute darſtellt, iſt dieſe Wiſſen-
ſchaft wirkliche Philoſophie, Philoſophie der Natur, Philoſophie
der Kunſt. In jedem andern Fall, wo die beſondere Potenz als beſon-
dere behandelt und für ſie als beſondere Geſetze aufgeſtellt werden,
wo es alſo keineswegs um die Philoſophie als Philoſophie, die ſchlechthin
allgemein iſt, ſondern um beſondere Kenntniß des Gegenſtandes, alſo
einen endlichen Zweck, zu thun iſt — in jedem ſolchen Fall kann die
Wiſſenſchaft nicht Philoſophie, ſondern nur Theorie eines beſonderen
Gegenſtandes, wie Theorie der Natur, Theorie der Kunſt, heißen. Dieſe
Theorie könnte allerdings ihre Principien wieder von der Philoſophie
entlehnen, wie z. B. die Theorie der Natur von der Naturphiloſophie,
aber eben deßwegen, weil ſie nur entlehnt, iſt ſie nicht Philoſophie.
Ich conſtruire demnach in der Philoſophie der Kunſt zunächſt nicht
die Kunſt als Kunſt, als dieſes Beſondere, ſondern ich conſtruire
das Univerſum in der Geſtalt der Kunſt, und Philoſophie der
Kunſt iſt Wiſſenſchaft des All in der Form oder Potenz
der Kunſt. Erſt mit dieſem Schritt erheben wir uns in Anſehung
dieſer Wiſſenſchaft auf das Gebiet einer abſoluten Wiſſenſchaft der
Kunſt.
[369]
Allein daß Philoſophie der Kunſt Darſtellung des Univerſums in
der Form der Kunſt iſt, gibt uns doch noch keine vollſtändige Idee
dieſer Wiſſenſchaft, ehe wir die Art der Conſtruktion, die einer Phi-
loſophie der Kunſt nothwendig iſt, genauer beſtimmt haben.
Objekt der Conſtruktion und dadurch der Philoſophie iſt überhaupt
nur, was fähig iſt, als Beſonderes das Unendliche in ſich aufzunehmen.
Die Kunſt, um Objekt der Philoſophie zu ſeyn, muß alſo überhaupt
das Unendliche in ſich als Beſonderem entweder wirklich darſtellen oder
es wenigſtens darſtellen können. Aber nicht nur findet dieſes in An-
ſehung der Kunſt ſtatt, ſondern ſie ſteht auch als Darſtellung des
Unendlichen auf der gleichen Höhe mit der Philoſophie: — wie dieſe
das Abſolute im Urbild, ſo jene das Abſolute im Gegenbild dar-
ſtellend.
Da die Kunſt der Philoſophie ſo genau entſpricht, und ſelbſt nur ihr
vollkommenſter objektiver Reflex iſt, ſo muß ſie auch durchaus alle Po-
tenzen durchlaufen, welche die Philoſophie im Idealen durchläuft, und
dieſes Eine reicht hin, uns über die nothwendige Methode unſerer
Wiſſenſchaft außer Zweifel zu ſetzen.
Die Philoſophie ſtellt nicht die wirklichen Dinge, ſondern ihre Ur-
bilder dar, aber ebenſo die Kunſt, und dieſelben Urbilder, von welchen
nach den Beweiſen der Philoſophie dieſe (die wirklichen Dinge) nur un-
vollkommene Abdrücke ſind, ſind es, die in der Kunſt ſelbſt — als Ur-
bilder — demnach in ihrer Vollkommenheit — objektiv werden, und
in der reflektirten Welt ſelbſt die Intellektualwelt darſtellen. Um
einige Beiſpiele zu geben, ſo iſt die Muſik nichts anderes als der
urbildliche Rhythmus der Natur und des Univerſums ſelbſt, der mit-
telſt dieſer Kunſt in der abgebildeten Welt durchbricht. Die vollkom-
menen Formen, welche die Plaſtik hervorbringt, ſind die objektiv dar-
geſtellten Urbilder der organiſchen Natur ſelbſt. Das Homeriſche Epos
iſt die Identität ſelbſt, wie ſie der Geſchichte im Abſoluten zu Grunde
liegt. Jedes Gemälde öffnet die Intellektualwelt.
Dieß vorausgeſetzt, werden wir in der Philoſophie der Kunſt in
Anſehung der letzteren alle diejenigen Probleme zu löſen haben, die wir
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 24
[370] in der allgemeinen Philoſophie in Anſehung des Univerſums überhaupt
auflöſen. Wir werden
1) auch in der Philoſophie der Kunſt von keinem andern Princip
als dem des Unendlichen ausgehen können; wir werden das Unendliche
als das unbedingte Princip der Kunſt darthun müſſen. Wie für die
Philoſophie das Abſolute das Urbild der Wahrheit — ſo für die Kunſt
das Urbild der Schönheit. Wir werden daher zeigen müſſen, daß
Wahrheit und Schönheit nur zwei verſchiedene Betrachtungsweiſen des
Einen Abſoluten ſind.
2) Die zweite Frage, wie in Anſehung der Philoſophie überhaupt,
ſo auch in Anſehung der Philoſophie der Kunſt, wird ſeyn: wie jenes
an ſich ſchlechthin Eine und Einfache in eine Vielheit und Unterſcheid-
barkeit übergehe, wie alſo aus dem allgemeinen und abſoluten Schönen
beſondere ſchöne Dinge hervorgehen können. Die Philoſophie beant-
wortet dieſe Frage durch die Lehre von den Ideen oder Urbildern. Das
Abſolute iſt ſchlechthin Eines, aber dieſes Eine abſolut angeſchaut in
den beſonderen Formen, ſo daß das Abſolute dadurch nicht aufgehoben
wird, iſt = Idee. Ebenſo die Kunſt. Auch die Kunſt ſchaut das Ur-
ſchöne nur in Ideen als beſonderen Formen an, deren jede aber für ſich
göttlich und abſolut iſt, und anſtatt daß die Philoſophie die Ideen wie
ſie an ſich ſind, anſchaut, ſchaut ſie die Kunſt real an. Die Ideen
alſo, ſofern ſie als real angeſchaut werden, ſind der Stoff und gleich-
ſam die allgemeine und abſolute Materie der Kunſt, aus welcher alle
beſonderen Kunſtwerke als vollendete Gewächſe erſt hervorgehen. Dieſe
realen, lebendigen und exiſtirenden Ideen ſind die Götter; die allgemeine
Symbolik oder die allgemeine Darſtellung der Ideen als realer iſt
demnach in der Mythologie gegeben, und die Auflöſung der zweiten obigen
Aufgabe beſteht in der Conſtruktion der Mythologie. In der That
ſind die Götter jeder Mythologie nichts anderes als die Ideen der
Philoſophie nur objektiv oder real angeſchaut.
Hiermit aber iſt noch immer unbeantwortet, wie ein wirkliches
und einzelnes Kunſtwerk entſtehe. Wie nun das Abſolute — Nichtwirk-
liche — überall in der Identität, ſo iſt das Wirkliche in der Nicht-
[371] identität des Allgemeinen und Beſonderen, in der Disjunktion, ſo
daß entweder im Beſonderen oder Allgemeinen. So entſteht auch
hier ein Gegenſatz, der Gegenſatz von bildender und redender Kunſt.
Die bildende und die redende Kunſt = der realen und idealen Reihe
der Philoſophie. Jener ſteht diejenige Einheit vor, in welcher das
Unendliche ins Endliche aufgenommen wird — die Conſtruktion dieſer
Reihe entſpricht der Naturphiloſophie —, dieſer ſteht die andere
Einheit vor, in welcher das Endliche ins Unendliche gebildet wird,
die Conſtruktion dieſer Reihe entſpricht dem Idealismus in dem
allgemeinen Syſtem der Philoſophie. Die erſte Einheit werde ich
die reale, die andere die ideale nennen, die, welche beide begreift, die
Indifferenz.
Fixiren wir nun jede dieſer Einheiten für ſich, ſo müſſen, weil
jede derſelben für ſich abſolut iſt, in jeder wieder dieſelben Einheiten
wiederkehren, in der realen alſo wiederum die reale, ideale, und die,
worin beide eins ſind. Ebenſo in der idealen.
Jeder dieſer Formen, inſofern ſie entweder in der realen oder
idealen Einheit begriffen ſind, entſpricht eine beſondere Form der Kunſt,
der realen, ſofern in der realen, entſpricht die Muſik, der idealen die
Malerei, der welche innerhalb der realen wieder beide Einheiten in-
eins-gebildet darſtellt, die Plaſtik.
Daſſelbe iſt der Fall in Anſehung der idealen Einheit, welche
wieder die drei Formen der lyriſchen, epiſchen und dramatiſchen Dicht-
kunſt in ſich begreift. Lyrik = Einbildung des Unendlichen ins End-
liche = Beſonderem. Epos = Darſtellung (Subſumtion) des Endlichen
im Unendlichen = Allgemeinem. Drama = Syntheſe des Allgemeinen
und Beſonderen. Nach dieſen Grundformen iſt alſo die geſammte Kunſt
ſowohl in ihrer realen als idealen Erſcheinung zu conſtruiren.
Indem wir die Kunſt in jeder ihrer beſonderen Formen bis aufs
Concrete herab verfolgen, gelangen wir noch zu der Beſtimmung der
Kunſt durch Bedingungen der Zeit. Wie die Kunſt an ſich ewig und
nothwendig iſt, ſo iſt auch in ihrer Zeiterſcheinung keine Zufälligkeit,
ſondern abſolute Nothwendigkeit. Sie iſt auch in dieſer Beziehung noch
[372] der Gegenſtand eines möglichen Wiſſens, und die Elemente dieſer Con-
ſtruktion ſind durch die Gegenſätze gegeben, welche die Kunſt in ihrer
Zeiterſcheinung zeigt. Die Gegenſätze aber, die in Anſehung der Kunſt
durch ihre Zeitabhängigkeit geſetzt ſind, ſind, wie die Zeit ſelbſt, noth-
wendig unweſentliche und bloß formelle Gegenſätze, ganz verſchieden
alſo von den realen im Weſen oder der Idee der Kunſt ſelbſt gegrün-
deten. Dieſer allgemeine und durch alle Zweige der Kunſt hindurch-
gehende formelle Gegenſatz iſt der der antiken und modernen Kunſt.
Es wäre ein weſentlicher Mangel der Conſtruktion, wenn wir die
Rückſicht darauf bei jeder einzelnen Form der Kunſt vernachläſſigen
wollten. Da aber dieſer Gegenſatz als ein bloß formeller angeſehen
wird, ſo die Conſtruktion eben in der Negation oder Aufhebung be-
ſtehend. Wir werden, indem wir dieſen Gegenſatz berückſichtigen, un-
mittelbar zugleich die hiſtoriſche Seite der Kunſt darſtellen, und
können hoffen nur dadurch unſerer Conſtruktion im Ganzen die letzte
Vollendung zu geben.
Nach meiner ganzen Anſicht der Kunſt iſt ſie ſelbſt ein Ausfluß
des Abſoluten. Die Geſchichte der Kunſt wird uns am offenbarſten
ihre unmittelbaren Beziehungen auf die Beſtimmungen des Univerſums
und dadurch auf jene abſolute Identität zeigen, worin ſie vorherbeſtimmt
ſind. Nur in der Geſchichte der Kunſt offenbart ſich die weſentliche
und innere Einheit aller Kunſtwerke, daß alle Dichtungen eines und
deſſelben Genius ſind, der auch in den Gegenſätzen der alten und neuen
Kunſt ſich nur in zwei verſchiedenen Geſtalten zeigt.
[[373]]
I.
Allgemeiner Theil der Philoſophie der Kunſt.
Erſter Abſchnitt.
Conſtruktion der Kunſt überhaupt und im Allgemeinen.
Die Kunſt conſtruiren heißt, ihre Stellung im Univerſum beſtim-
men. Die Beſtimmung dieſer Stelle iſt die einzige Erklärung, die es
von ihr gibt. Wir müſſen demnach auf die erſten Principien der Phi-
loſophie zurückgehen. Jedoch verſteht es ſich, daß wir dieſe Principien
hier nicht in jeder möglichen Richtung verfolgen, ſondern nur in der,
welche uns durch den beſtimmten Gegenſtand vorgezeichnet iſt; ferner,
daß die meiſten Sätze im Anfang als bloße Lehnſätze aus der Philo-
ſophie aufgeſtellt werden, die nicht ſowohl bewieſen, als vielmehr nur
erläutert werden. Dieß vorausgeſetzt ſtelle ich die folgenden Sätze auf.
§. 1. Das Abſolute oder Gott iſt dasjenige, in An-
ſehung deſſen das Seyn oder die Realität unmittelbar,
d. h. kraft des bloßen Geſetzes der Identität aus der
Idee folgt, oder: Gott iſt die unmittelbare Affirmation
von ſich ſelbſt.
Erläuterung. Folgte das Seyn nicht unmittelbar aus der
Idee Gottes, d. h. wäre ſeine Idee nicht ſelbſt die der abſoluten, der
unendlichen Realität, ſo wäre er durch irgend etwas beſtimmt, was
nicht ſeine Idee iſt, d. h. er wäre bedingt durch etwas von ſeinem
[374] Begriff Verſchiedenes, demnach überhaupt abhängig, nicht abſolut. —
In Anſehung keines abhängigen oder bedingten Dings folgt aus dem
Begriff das Seyn, z. B. der einzelne Menſch iſt beſtimmt durch etwas,
das nicht ſeine Idee iſt, woraus hinwiederum folgt, daß keinem Ein-
zelnen wahre Realität, Realität an ſich zukomme. — Die beſondere
Form betreffend, in der wir die Idee Gottes noch außerdem ausge-
ſprochen haben „Gott die unmittelbare Affirmation von ſich ſelbſt“ er-
läutert ſich durch Folgendes. Realſeyn = Affirmirtſeyn. Nun iſt
Gott nur kraft ſeiner Idee, d. h. er ſelbſt iſt die Affirmation von ſich,
und da er ſich nicht auf endliche Art affirmiren kann (da er abſolut
iſt), ſo iſt er unendliche Affirmation von ſich ſelbſt.
§. 2. Gott als die unendliche Affirmation von ſich
ſelbſt begreift ſich ſelbſt als unendlich Affirmirendes, als
unendlich Affirmirtes, und als Indifferenz davon, er
ſelbſt aber iſt keines von dieſen insbeſondere.
Gott begreift durch ſeine Idee ſich ſelbſt als unendlich Affir-
mirendes (denn er iſt die Affirmation von ſich ſelbſt) und als unend-
lich Affirmirtes aus demſelben Grunde. Da es ferner ein und daſſelbe
iſt, das affirmirt und das affirmirend iſt, ſo begreift er ſich auch als
Indifferenz. Aber er iſt ſelbſt keines davon insbeſondere, denn er ſelbſt
iſt nur die unendliche Affirmation, und zwar als unendlich, ſo
daß er jene nur begreift; das Begreifende aber iſt nicht identiſch
mit dem, was es begreift, z. B. Länge = Raum, Breite = Raum,
Tiefe = Raum, aber der Raum ſelbſt eben deßhalb nichts davon ins-
beſondere, ſondern nur die abſolute Identität, die unendliche Affirma-
tion, das Weſen davon. — Auch ſo: Gott iſt nichts überhaupt nur,
ſondern, was er iſt, nur kraft unendlicher Affirmation — alſo Gott
als affirmirend ſich ſelbſt, als affirmirt von ſich ſelbſt, und als Indif-
ferenz, nur wieder durch die unendliche Affirmation von ſich ſelbſt.
Zuſatz. Gott als das Affirmirende von ſich ſelbſt kann auch be-
ſchrieben werden als die unendliche alle Realität in ſich begreifende
Idealität, als das Affirmirte von ſich ſelbſt als die unendliche alle
Idealität in ſich begreifende Realität.
[375]
§. 3. Gott iſt unmittelbar kraft ſeiner Idee abſolu-
tes All. Denn unmittelbar aus der Idee Gottes folgt Unendliches,
und es folgt nothwendig auf unendliche Weiſe, da Gott als unendliche
Affirmation von ſich ſelbſt auch ſich ſelbſt wieder unendlich als Affir-
mirendes, unendlich als Affirmirtes, und unendlich als Indifferenz
beider begreift. Nun iſt unendliche Realität, die aus der Idee Gottes
folgt, 1) ſchon an ſich = All (denn nichts außer ihr), aber auch
2) poſitiv, denn alles, was kraft der Idee Gottes möglich iſt, und
dieß Unendliches, iſt dadurch, daß dieſe ſich ſelbſt affirmirt, auch wirk-
lich — alle Möglichkeiten ſind Wirklichkeiten in Gott. Aber dasjenige,
in dem alles Mögliche wirklich, iſt = All. Alſo folgt unmittelbar
aus der Idee Gottes abſolutes All. — Aber ferner, es folgt kraft des
bloßen Geſetzes der Identität, d. h. Gott ſelbſt in der unendlichen Af-
firmation ſeiner ſelbſt betrachtet iſt = abſolutes All.
§. 4. Gott iſt als abſolute Identität unmittelbar
auch abſolute Totalität, und umgekehrt.
Erläuterung: Gott iſt eine Totalität, die keine Vielheit, ſon-
dern ſchlechthin einfach iſt. Gott iſt eine Einheit, die gleichfalls nicht
im Gegenſatz gegen Vielheit beſtimmbar iſt, d. h. er iſt nicht einzig
im numeriſchen Sinn, er iſt auch nicht bloß der Eine, ſondern er iſt
die abſolute Einheit ſelbſt, nicht alles, ſondern die abſolute Allheit
ſelbſt, und dieß beides unmittelbar als eins.
§. 5. Das Abſolute iſt ſchlechthin ewig.
In der Anſchauung jeder Idee, z. B. der Idee des Cirkels, wird
auch die Ewigkeit angeſchaut. Dieß die poſitive Anſchauung der Ewig-
keit. Der negative Begriff der Ewigkeit iſt: nicht nur unabhängig von
der Zeit ſeyn, ſondern auch ohne alle Beziehung auf Zeit. Wäre alſo
das Abſolute nicht ſchlechthin ewig, ſo hätte es ein Verhältniß zur Zeit.
Anmerkung: Wenn die Ewigkeit des Abſoluten durch ein Da-
ſeyn von unendlicher Zeit her beſtimmt würde, ſo müßten wir
z. B. ſagen können, daß Gott jetzt eine längere Zeit exiſtire, als er
bei dem Urſprung der Welt exiſtirt habe, welches alſo in Gott eine
Zunahme der Exiſtenz vorausſetzte, was unmöglich, da ſeine Exiſtenz
[376] ſein Weſen iſt, dieſes aber weder vermehrt noch vermindert werden
kann. Daß dem Weſen der Dinge keine Dauer zugeſchrieben werden
könne, iſt eine zugeſtandene Sache. Wir können wohl z. B. vom
einzelnen oder concreten Cirkel ſagen, daß er dieſe oder jene Zeit ge-
dauert habe, von dem Weſen oder der Idee des Cirkels wird niemand
ſagen, daß ſie daure, oder daß ſie z. B. jetzt eine längere Zeit exiſtirt
habe als bei dem Anfang der Welt. Nun iſt aber das Abſolute eben
dasjenige, in Anſehung deſſen der Gegenſatz der Idee und des Con-
creten gar nicht ſtattfindet, in Anſehung deſſen das, was in den
Dingen das Concrete oder Beſondere iſt, ſelbſt wieder das Weſen oder
Allgemeine (nicht Negation) iſt, ſo daß Gott kein anderes Seyn als
das ſeiner Idee zukommen kann.
Daſſelbe noch von einer andern Seite. — Wir ſagen, daß ein
Ding dauert, weil ſeine Exiſtenz ſeinem Weſen, ſein Beſonderes ſei-
nem Allgemeinen unangemeſſen iſt. Die Dauer iſt nichts anderes
als ein fortgehendes Setzen ſeines Allgemeinen in ſein Concretes.
Vermöge der Beſchränktheit des letzteren iſt es nicht alles und in der
That auf einmal, was es ſeinem Weſen oder ſeinem Allgemeinen nach
ſeyn könnte. Dieß iſt nun im Abſoluten wieder undenkbar: da das
Beſondere in ihm dem Allgemeinen abſolut gleich, ſo iſt es alles, was
es ſeyn kann, auch wirklich und auf einmal ohne Dazwiſchentreten
der Zeit, es iſt alſo ohne alle Zeit, an ſich ewig.
Die Idee des ſchlechthin Ewigen iſt eine äußerſt wichtige Idee
ſowohl für die Philoſophie überhaupt als für unſere beſondere Con-
ſtruktion. Denn was das Erſte betrifft, ſo folgt unmittelbar (was Sie
auch als Folgeſatz bemerken können), daß das wahre Univerſum
ewig, weil das Abſolute zu ihm kein Zeitverhältniß haben kann. Für
unſere beſondere Conſtruktion iſt dieſe Idee wichtig, weil ſie zeigt, daß
die Zeit das an ſich Ewige überall nicht afficirt, daß alſo das an
ſich Ewige ſelbſt mitten in der Zeit kein Verhältniß zu der Zeit hat.
Andere Ausdrücke deſſelben Satzes:
a) Das Abſolute kann daher auch nichts anderem als der Zeit nach
vorangegangen gedacht werden (bloße Folge aus dem Vorhergehen-
[377] den). — Poſitiv ausgedrückt: Das Abſolute geht allem nur der Idee
nach voran, und alles andere, alles, was nicht das Abſolute iſt, iſt
nur, inwiefern in ihm das Seyn nicht der Idee gleich iſt, d. h. in-
wiefern es ſelbſt nur Privation, nicht wahres Seyn iſt. Der concrete
Cirkel als ſolcher gehört nur zur erſcheinenden Welt. Der Cirkel an
ſich aber geht ihm doch nie der Zeit, ſondern nur der Idee nach voran.
Ebenſo geht das Abſolute allem andern auf keine Weiſe voran als der
Idee nach.
b) Im Abſoluten ſelbſt kann kein Vor oder Nach ſtattfinden,
alſo keine Beſtimmung der anderen weder vorangehen noch nachfolgen.
Denn wäre dieß, ſo müßten wir im Abſoluten eine Affektion oder Lei-
den, ein Beſtimmtwerden ſetzen. Es iſt aber ganz affektionslos, ohne
Entgegenſetzung in ſich ſelbſt.
§. 6. Das Abſolute iſt an ſich weder bewußt noch be-
wußtlos, weder frei noch unfrei oder nothwendig. Nicht
bewußt, denn alles Bewußtſeyn beruht auf der relativen Einheit des
Denkens und Seyns, im Abſoluten iſt aber abſolute Einheit. Nicht
bewußtlos; denn es iſt nur darum nicht bewußt, weil es abſolutes Be-
wußtſeyn iſt. Nicht frei; denn Freiheit beruht auf der relativen Ent-
gegenſetzung und relativen Einheit der Möglichkeit und der Wirklichkeit,
im Abſoluten aber ſind beide abſolut eins. Nicht unfrei oder noth-
wendig; denn es iſt affektionslos; es iſt nichts in ihm oder außer
ihm, das ihn beſtimmen könnte, oder wozu es ſich neigen könnte.
§. 7. Im All iſt begriffen, was in Gott begriffen iſt.
Demnach begreift das All, ebenſo wie Gott, ſich ſelbſt als unendlich
Affirmirendes, als unendlich Affirmirtes und als Einheit beider, ohne
ſelbſt eine dieſer Formen insbeſondere zu ſeyn (eben weil begreifend),
und nicht ſo, daß die Formen geſchieden, ſondern ſo, daß ſie in die
abſoluten Identität aufgelöst ſind.
§. 8. Das unendliche Affirmirtſeyn Gottes im All,
oder die Einbildung ſeiner unendlichen Idealität in die
Realität als ſolche, iſt die ewige Natur.
Dieß iſt eigentlich Lehnſatz. Doch will ich ihn hier beweiſen. Die
[378] Natur verhält ſich zum Univerſum, abſolut betrachtet, wie jedermann
zugeben wird, als reales. Nun iſt aber auch diejenige Einheit, welche
durch Einbildung der unendlichen Idealität in die Realität geſetzt iſt,
das unendliche Affirmirt ſeyn Gottes im All, = reale Einheit. Denn
herrſchend iſt das, was das andere aufnimmt. Alſo ꝛc.
Anmerkung. Unterſchied zwiſchen der Natur, ſofern ſie er-
ſcheint (dieſe iſt bloße Natura naturata — Natur in ihrer Beſonde-
rung und Trennung vom All — als bloßer Widerſchein vom abſoluten
All), und der Natur an ſich, wiefern ſie in das abſolute All auf-
gelöst und Gott in ſeinem unendlichen Affirmirtſeyn iſt.
§. 9. Die ewige Natur begreift in ſich wieder alle
Einheiten, die des Affirmirtſeyns, des Affirmirenden und
der Indifferenz beider. Denn das Univerſum an ſich = Gott.
Wäre nun nicht in jedem die Einheit, die das Univerſum an ſich be-
greift, wäre alſo nicht auch in der Natur wieder die ganze unendliche
Affirmation, d. h. das ganze Weſen Gottes, ſo hätte ſich Gott im All
getheilt, welches unmöglich iſt. Jeder der im All begriffenen Einheiten
iſt alſo wieder der Abdruck des ganzen All.
Zur Erklärung: Auch in der erſcheinenden Natur ſind jene
Folgen der unendlichen Affirmation ins Unendliche nachzuweiſen; nur
ſind ſie hier nicht ineinander, wie im abſoluten All, ſondern geſondert
und außereinander. Z. B. die Einbildung des Idealen ins Reale oder
die Form des Affirmirtſeyns im All drückt ſich durch Materie aus, die
Idealität, welche alle Realität auflöst, das Affirmirende, iſt = Licht,
die Indifferenz = Organismus.
§. 10. Die Natur als ſolche erſcheinend iſt keine voll-
kommene Offenbarung Gottes. Denn ſelbſt der Organismus iſt
nur beſondere Potenz.
§. 11. Vollkommene Offenbarung Gottes iſt nur da,
wo in der abgebildeten Welt ſelbſt die einzelnen Formen
ſich in abſolute Identität auflöſen, welches in der Ver-
nunft geſchieht. Die Vernunft alſo iſt im All ſelbſt das
vollkommene Gegenbild Gottes.
[379]
Erläuterung. Das unendliche Affirmirtſeyn Gottes ſpricht ſich
aus in der Natur, als der realen Welt, die dann ſelbſt wieder im All
für ſich alle Einheit begreift. Ich bemerke hierüber noch Folgendes. —
Wir bezeichnen die Einheiten oder die beſonderen Folgen der Affirma-
tion Gottes, ſofern ſie im realen oder idealen All wiederkehren, durch
Potenzen. Die erſte Potenz der Natur iſt die Materie, ſofern ſie mit
dem Uebergewicht des Affirmirtſeyns oder unter der Form der Einbil-
dung der Idealität in die Realität geſetzt iſt. Die andere Potenz iſt
das Licht als die alle Realität in ſich auflöſende Idealität. Das
Weſen der Natur als Natur kann aber einzig durch die dritte Potenz
dargeſtellt werden, welche das gleicherweiſe Affirmirende des Realen oder der
Materie und des Idealen oder des Lichts iſt, und eben dadurch beide gleich-
ſetzt. Das Weſen der Materie = Seyn, des Lichts = Thätigkeit. In der
dritten Potenz müſſen alſo Thätigkeit und Seyn verbunden und indifferent
ſeyn. Die Materie, nicht an ſich, ſondern der körperlichen Erſcheinung nach
betrachtet, iſt nicht Subſtanz, ſondern bloß Accidens (Form), dem das
Weſen oder das Allgemeine im Licht gegenüberſteht. In der dritten
Potenz integriren ſich beide, es entſteht ein Indifferentes, in dem Weſen
und Form ein und daſſelbe, das Weſen von der Form, die Form
von dem Weſen unzertrennlich iſt. Ein ſolches iſt Organismus, weil
ſein Weſen als Organismus von dem Beſtehen der Form unzertrenn-
lich iſt, weil in ihm ferner das Seyn unmittelbar auch Thätigkeit, das
Affirmirte dem Affirmirenden abſolut gleich iſt. Keine dieſer Formen ins-
beſondere, noch eben deßhalb auch die Natur in den Geſchiedenheiten dieſer
Formen iſt eine vollkommene Offenbarung des Göttlichen. Denn nicht
der beſonderen Folge ſeiner Affirmation iſt Gott gleich, ſondern der
Allheit dieſer Folgen, ſofern ſie reine Poſition, als Allheit zugleich
abſolute Identität iſt. Nur alſo inwiefern die Natur ſich ſelbſt wieder
in Totalität und abſolute Einheit der Formen verklärte — nur inſofern
wäre ſie ein Spiegel der göttlichen. Jenes aber iſt nur in der Ver-
nunft der Fall. Denn die Vernunft iſt ebenſo das Auflöſende aller
beſonderen Formen, wie es das All oder Gott iſt. Die Vernunft
gehört aber eben deßwegen weder der realen noch der idealen Welt
[380] ausſchließlich an, und (was gleichfalls eine Folge davon iſt) weder dieſe
noch jene für ſich kann höher als zur Indifferenz, nicht aber zur
abſoluten Identität gelangen.
Wir verfahren nun in Anſehung des idealen All ebenſo wie in
Anſehung des realen, und ſtellen zuvörderſt den Satz auf:
§. 12. Gott als die unendliche, alle Realität in ſich be-
greifende Idealität, oder Gott als unendlich Affirmiren-
des, iſt, als ſolches, das Weſen des idealen All. Dieß iſt
von ſelbſt deutlich ſchon durch den Gegenſatz.
§. 13. Das ideale All begreift dieſelben Einheiten in
ſich, die auch das reale in ſich begreift: die reale, ideale
und — nicht die abſolute Identität beider (denn dieſe gehört weder
ihr noch der realen beſonders an) — ſondern die Indifferenz bei-
der. Auch hier bezeichnen wir dieſe Einheiten durch Potenzen; nur iſt
zu bemerken, daß, wie in der realen Welt die Potenzen Potenzen des
idealen Faktors ſind, ſo hier des realen vermöge des entgegengeſetzten
Verhältniſſes beider. Die erſte Potenz bezeichnet hier das Uebergewicht
des Idealen; die Realität iſt hier nur in der erſten Potenz des Affir-
mirtſeyns geſetzt. In dieſen Punkt fällt das Wiſſen, welches demnach
mit dem größten Uebergewicht des idealen Faktors oder des Subjektiven
geſetzt iſt. Die dritte Potenz beruht auf einem Uebergewicht des Realen;
der Faktor des Realen iſt nämlich hier zur zweiten Potenz erhoben.
In dieſen Punkt fällt das Handeln als die objektive oder reale Seite,
zu der ſich das Wiſſen als die ſubjektive verhält.
Das Weſen der idealen Welt iſt aber ebenſo wie das Weſen
der realen die Indifferenz. Wiſſen und Handeln indifferenziiren ſich
alſo nothwendig in einem Dritten, welches als das Affirmirende beider
die dritte Potenz iſt. In dieſen Punkt fällt nun die Kunſt, und
ich ſtelle darnach beſtimmt den Satz auf:
§. 14. Die Indifferenz des Idealen und Realen als
Indifferenz ſtellt ſich in der idealen Welt durch die Kunſt
dar. Denn die Kunſt iſt an ſich weder ein bloßes Handeln noch ein
bloßes Wiſſen, ſondern ſie iſt ein ganz von Wiſſenſchaft durchdrungenes
[381] Handeln, oder umgekehrt ein ganz zum Handeln gewordenes Wiſſen,
d. h. ſie iſt Indifferenz beider.
Dieſer Beweis genügt uns für den gegenwärtigen Zweck. Es ver-
ſteht ſich, daß wir auf dieſen Satz zurückkommen. Hier iſt unſere Ab-
ſicht bloß den allgemeinen Typus des Univerſums zu entwerfen, um
nachher die einzelne Potenz herauszuheben aus dem Ganzen und dem
Verhältniß zu dieſem gemäß zu behandeln. Wir fahren daher in un-
ſerer Darſtellung fort.
§. 15. Der vollkommene Ausdruck nicht des Realen noch
des Idealen noch ſelbſt der Indifferenz beider (denn dieſe, wie wir
jetzt ſehen, hat einen gedoppelten Ausdruck), ſondern der abſoluten
Identität als ſolcher oder des Göttlichen, ſofern es das
Auflöſende aller Potenzen iſt, iſt die abſolute Vernunft-
wiſſenſchaft oder die Philoſophie.
Die Philoſophie iſt alſo in der erſcheinenden idealen Welt ebenſo
das Auflöſende aller Beſonderungen, wie es Gott in der urbildlichen
Welt iſt. (Göttliche Wiſſenſchaft.) Weder die Vernunft noch die
Philoſophie gehören der realen oder idealen Welt als ſolcher an, ob-
gleich dann wieder — in dieſer Identität — ſich Vernunft und Philo-
ſophie wie Reales und Ideales verhalten können. Da aber jede für
ſich abſolute Identität iſt, ſo macht dieſes Verhältniß keinen wirklichen
Unterſchied beider. Philoſophie iſt nur die ihrer ſelbſt bewußte oder
ſich ſelbſt bewußt werdende Vernunft, die Vernunft dagegen iſt der
Stoff oder der objektive Typus aller Philoſophie.
Beſtimmen wir das Verhältniß der Philoſophie zu der Kunſt vor-
läufig, ſo iſt es dieſes: die Philoſophie iſt die unmittelbare Darſtellung
des Göttlichen, wie die Kunſt unmittelbar nur Darſtellung der Indif-
ferenz als ſolcher (dieß, daß nur Indifferenz, macht das Gegenbildliche
aus. Abſolute Identität = Urbild). Da indeß der Grad der Perfek-
tion oder Realität eines Dings wächst in dem Verhältniß, als es ſich
der abſoluten Idee, der Fülle der unendlichen Affirmation, annähert,
je mehr es alſo andere Potenzen in ſich begreift, ſo iſt von ſelbſt klar,
daß die Kunſt auch wieder das unmittelbarſte Verhältniß zur Philoſophie
[382] hat, und von ihr nur durch die Beſtimmung der Beſonderheit oder
der Gegenbildlichkeit noch unterſchieden, denn übrigens iſt ſie die höchſte
Potenz der idealen Welt. Nun weiter.
§. 16. Den drei Potenzen der realen und idealen Welt
entſprechen die drei Ideen (die Idee als Göttliches gehört
gleichfalls weder der realen noch der idealen Welt insbeſondere an) —
die Wahrheit, die Güte und die Schönheit: der erſten Potenz
der idealen und realen Welt entſpricht die Wahrheit, der zweiten Potenz
die Güte, der dritten die Schönheit — im Organismus und in
der Kunſt.
Ueber das Verhältniß, das wir dieſen drei Ideen zueinander geben,
ferner über die Art, wie ſich beide in der realen und idealen Welt
differenziiren, uns zu erklären, iſt hier nicht der Ort, dieß geſchieht in
der allgemeinen Philoſophie. Nur über das Verhältniß, das wir der
Schönheit geben, müſſen wir uns erklären.
Die Schönheit, kann man ſagen, iſt überall geſetzt, wo Licht und
Materie, Ideales und Reales ſich berühren. Die Schönheit iſt weder
bloß das Allgemeine oder Ideale (dieß = Wahrheit) noch das bloß
Reale (dieß im Handeln), alſo ſie iſt nur die vollkommene Durchdrin-
gung oder Ineinsbildung beider. Schönheit iſt da geſetzt, wo das
Beſondere (Reale) ſeinem Begriff ſo angemeſſen iſt, daß dieſer ſelbſt,
als Unendliches, eintritt in das Endliche und in concreto angeſchaut
wird. Hierdurch wird das Reale, in dem er (der Begriff) erſcheint,
dem Urbild, der Idee wahrhaft ähnlich und gleich, wo eben dieſes All-
gemeine und Beſondere in abſoluter Identität iſt. Das Rationale
wird als Rationales zugleich ein Erſcheinendes, Sinnliches.
Anmerkung: 1) Wie Gott über den Ideen der Wahrheit, der
Güte und der Schönheit als ihr Gemeinſames ſchwebt, ſo die Philo-
ſophie. Die Philoſophie behandelt weder allein die Wahrheit, noch bloß
die Sittlichkeit, noch bloß die Schönheit, ſondern das Gemeinſame aller,
und leitet ſie aus Einem Urquell her. Wollte man die Frage auf-
werfen, woher es komme, daß Philoſophie, obgleich auch über der
Wahrheit ebenſo wie über der Güte und über der Schönheit ſchwebend,
[383] dennoch den Charakter der Wiſſenſchaft trage, und ihr Höchſtes die
Wahrheit ſey, ſo iſt zu bemerken, daß die Beſtimmung der Philo-
ſophie als Wiſſenſchaft bloß ihre formelle Beſtimmung iſt. Sie iſt
Wiſſenſchaft, aber von der Art, daß in ihr Wahrheit, Güte und
Schönheit, alſo Wiſſenſchaft, Tugend und Kunſt ſelbſt ſich durchdringen;
inſofern iſt ſie alſo auch nicht Wiſſenſchaft, ſondern ein Gemein-
ſames der Wiſſenſchaft, der Tugend und Kunſt. Dieß ihr großer Un-
terſchied von allen andern Wiſſenſchaften. Mathematik z. B. macht
eben keine beſonderen ſittlichen Forderungen. Philoſophie fordert Cha-
rakter, und zwar von beſtimmter ſittlicher Höhe und Energie. Ebenſo iſt
ohne alle Kunſt und Erkenntniß der Schönheit Philoſophie undenkbar.
2) Der Wahrheit entſpricht die Nothwendigkeit, der Güte die
Freiheit. Unſere Erklärung der Schönheit, ſie ſey die Ineinsbildung
des Realen und Idealen, ſofern ſie im Gegenbild dargeſtellt iſt,
ſchließt alſo auch die in ſich: Schönheit iſt Indifferenz der Freiheit
und der Nothwendigkeit, in einem Realen angeſchaut. Wir nennen
z. B. ſchön eine Geſtalt, in deren Entwurf die Natur mit der größten
Freiheit und der erhabenſten Beſonnenheit, jedoch immer in den
Formen, den Grenzen der ſtrengſten Nothwendigkeit und Geſetzmäßig-
keit geſpielt zu haben ſcheint. Schön iſt ein Gedicht, in welchem die
höchſte Freiheit ſich ſelbſt wieder in der Nothwendigkeit faßt. Kunſt
demnach eine abſolute Syntheſe oder Wechſeldurchdringung der Freiheit
und der Nothwendigkeit.
Nun zu den übrigen Verhältniſſen des Kunſtwerks.
§. 17. In der idealen Welt verhält ſich die Philoſo-
phie ebenſo zur Kunſt, wie in der realen die Vernunft
zum Organismus. — Denn wie die Vernunft unmittelbar nur
durch den Organismus objektiv wird, und die ewigen Vernunftideen
als Seelen organiſcher Leiber objektiv werden in der Natur, ſo wird
die Philoſophie unmittelbar durch die Kunſt, und ſo werden auch die
Ideen der Philoſophie durch die Kunſt als Seelen wirklicher Dinge
objektiv. Eben daher verhält ſich dann auch Kunſt in der idealen Welt,
wie ſich Organismus in der realen verhält.
[384]
Hierüber noch folgenden Satz.
§. 18. Das organiſche Werk der Natur ſtellt dieſelbe
Indifferenz noch ungetrennt dar, welche das Kunſtwerk
nach der Trennung, aber wieder als Indifferenz darſtellt.
Das organiſche Produkt begreift in ſich die beiden Einheiten, der
Materie oder der Einbildung der Einheit in die Vielheit, und die ent-
gegengeſetzte des Lichts oder der Auflöſung der Realität in die Idea-
lität; und es begreift beide als eins. Aber das Allgemeine oder die
unendliche Idealität, welche hier dem Beſonderen verknüpft iſt, iſt ſelbſt
noch das dem Endlichen, dem Beſondern Untergeordnete (Allgemeines
= Licht). Daher, weil das Unendliche hier ſelbſt noch der allgemeinen
Beſtimmung der Endlichkeit unterliegt, nicht als Unendliches erſcheint,
auch Nothwendigkeit und Freiheit (das als Unendliches erſcheinende Un-
endliche) gleichſam noch unter einer gemeinſchaftlichen Hülle, noch un-
entfaltet ruhen, wie in einer Knospe, die in ihrem Brechen eine neue
Welt, die der Freiheit, aufſchließen wird. Da nun erſt in der idealen
Welt der Gegenſatz des Allgemeinen und Beſonderen, Idealen und
Realen, ſich als Gegenſatz der Nothwendigkeit und der Freiheit aus-
ſpricht, ſtellt das organiſche Produkt denſelben Gegenſatz noch unauf-
gehoben dar (weil noch unentfaltet), den das Kunſtwerk aufgehoben
darſtellt, (in beiden dieſelbe Identität).
§. 19. Nothwendigkeit und Freiheit verhalten ſich wie
Bewußtloſes und Bewußtes. Kunſt beruht daher auf der
Identität der bewußten und der bewußtloſen Thätigkeit.
Die Vollkommenheit des Kunſtwerks als ſolchen ſteigt in dem Verhält-
niß, in welchem es dieſe Identität in ſich ausgedrückt enthält, oder in
welchem Abſicht und Nothwendigkeit ſich in ihm durchdrungen haben.
Noch einige andere allgemeine Folgerungen:
§. 20. Schönheit und Wahrheit ſind an ſich oder der
Idee nach eins. — Denn die Wahrheit der Idee nach iſt ebenſo
wie die Schönheit Identität des Subjektiven und Objektiven, nur jene
ſubjektiv oder vorbildlich angeſchaut, wie die Schönheit gegenbildlich oder
objektiv.
[385]
Anmerkung. Die Wahrheit, die nicht Schönheit iſt, iſt auch
nicht abſolute Wahrheit, und umgekehrt. — (Der ſehr gemeine Gegenſatz
von Wahrheit und Schönheit in der Kunſt beruht darauf, daß unter
Wahrheit die trügeriſche, nur das Endliche erreichende Wahrheit ver-
ſtanden wird. Aus der Nachahmung dieſer Wahrheit entſtehen jene
Kunſtwerke, an welchen wir nur die Künſtlichkeit bewundern, mit der
das Natürliche an ihr erreicht iſt, ohne es mit dem Göttlichen zu ver-
binden. Dieſe Art der Wahrheit aber iſt noch nicht Schönheit in der
Kunſt, und nur abſolute Schönheit in der Kunſt iſt auch die rechte
und eigentliche Wahrheit.
Aus dem gleichen Grund iſt die Güte, die nicht Schönheit iſt,
auch nicht abſolute Güte, und umgekehrt. Denn auch die Güte in
ihrer Abſolutheit wird zur Schönheit — in jedem Gemüth z. B.,
deſſen Sittlichkeit nicht mehr auf dem Kampfe der Freiheit mit der
Nothwendigkeit beruht, ſondern die abſolute Harmonie und Verſöhnung
ausdrückt.
Zuſatz. Wahrheit und Schönheit, ſo wie Güte und Schönheit,
verhalten ſich daher niemals als Zweck und Mittel; ſie ſind vielmehr
eins, und nur ein harmoniſches Gemüth — Harmonie aber = wahre
Sittlichkeit — iſt auch für Poeſie und für Kunſt wahrhaft empfänglich.
Poeſie und Kunſt laſſen ſich nie eigentlich lehren.
§. 21. Das Univerſum iſt in Gott als abſolutes Kunſt-
werk und in ewiger Schönheit gebildet.
Unter Univerſum iſt nicht das reale oder ideale All, ſondern die
abſolute Identität beider verſtanden. Iſt nun die Indifferenz des
Realen und Idealen im realen oder idealen All Schönheit, und zwar
gegenbildliche Schönheit, ſo iſt die abſolute Identität des realen und
idealen All nothwendig die urbildliche, d. h. abſolute Schönheit ſelbſt,
und inſofern verhält ſich auch das Univerſum, wie es in Gott iſt, als
abſolutes Kunſtwerk, in welchem unendliche Abſicht mit unendlicher
Nothwendigkeit ſich durchdringt.
Anmerkung. Es folgt zugleich von ſelbſt, daß ebenſo vom
Standpunkt der Totalität betrachtet, oder betrachtet, wie ſie an ſich
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 25
[386] ſind, alle Dinge in abſoluter Schönheit gebildet, die Urbilder aller
Dinge, wie ſie abſolut wahr, auch abſolut ſchön ſind, das Verkehrte,
Häßliche daher, ebenſo wie der Irrthum oder das Falſche, in einer
bloßen Privation beſteht und nur zur zeitlichen Betrachtung der Dinge
gehört.
§. 22. Wie Gott als Urbild im Gegenbild zur Schön-
heit wird, ſo werden die Ideen der Vernunft im Gegen-
bild angeſchaut, zur Schönheit; und das Verhältniß der Ver-
nunft zu der Kunſt iſt daher daſſelbe wie das Verhältniß Gottes zu
den Ideen. Durch die Kunſt wird die göttliche Schöpfung objektiv dar-
geſtellt, denn dieſe beruht auf derſelben Einbildung der unendlichen
Idealität ins Reale, auf welcher auch jene beruht. Das treffliche
deutſche Wort Einbildungskraft bedeutet eigentlich die Kraft der In-
einsbildung, auf welcher in der That alle Schöpfung beruht.
Sie iſt die Kraft, wodurch ein Ideales zugleich auch ein Reales, die
Seele Leib iſt, die Kraft der Individuation, welche die eigentlich
ſchöpferiſche iſt.
§. 23. Die unmittelbare Urſache aller Kunſt iſt Gott.
— Denn Gott iſt durch ſeine abſolute Identität der Quell aller In-
einsbildung des Realen und Idealen, worauf alle Kunſt beruht.
Oder: Gott iſt der Quell der Ideen. Nur in Gott ſind urſprünglich
die Ideen. Nun iſt aber die Kunſt Darſtellung der Urbilder, alſo
Gott ſelbſt die unmittelbare Urſache, die letzte Möglichkeit aller Kunſt,
er ſelbſt der Quell aller Schönheit.
§. 24. Die wahre Conſtruktion der Kunſt iſt Darſtel-
lung ihrer Formen als Formen der Dinge, wie ſie an
ſich, oder wie ſie im Abſoluten ſind. — Denn nach Satz 21
iſt das Univerſum in Gott als ewige Schönheit und als abſolutes
Kunſtwerk gebildet; nicht minder ſind alle Dinge, wie ſie an ſich oder
in Gott ſind, ebenſo abſolut ſchön, als ſie abſolut wahr ſind. Demnach
ſind auch die Formen der Kunſt, da ſie die Formen ſchöner Dinge
ſind, Formen der Dinge, wie ſie in Gott, oder wie ſie an ſich ſind,
und da alle Conſtruktion Darſtellung der Dinge im Abſoluten iſt, ſo
[387] iſt die Conſtruktion der Kunſt insbeſondere Darſtellung ihrer For-
men als Formen der Dinge, wie ſie im Abſoluten ſind, und demnach
auch des Univerſums ſelbſt als abſoluten Kunſtwerks, wie es in ewiger
Schönheit in Gott gebildet iſt.
Anmerkung. Mit dieſem Satz iſt die Conſtruktion der allge-
meinen Idee der Kunſt vollendet. Die Kunſt iſt nämlich dargethan als
reale Darſtellung der Formen der Dinge, wie ſie an ſich ſind — der
Formen der Urbilder alſo. — Es iſt uns damit zugleich auch die
Richtung der folgenden Conſtruktion der Kunſt ſowohl ihrem Stoff als
auch ihrer Form nach vorgezeichnet. Iſt nämlich die Kunſt Darſtellung
der Formen der Dinge, wie ſie an ſich ſind, ſo iſt der allgemeine
Stoff der Kunſt in den Urbildern ſelbſt, und unſer nächſter Gegen-
ſtand iſt daher Conſtruktion des allgemeinen Stoffes der Kunſt oder
ihrer ewigen Urbilder, welche Conſtruktion den zweiten Abſchnitt der
Philoſophie der Kunſt ausmacht.
[[388]]
Zweiter Abſchnitt.
Conſtruktion des Stoffs der Kunſt.
In §. 24 iſt bewieſen worden: die Formen der Kunſt müſſen die
Formen der Dinge ſeyn, wie ſie im Abſoluten oder an ſich ſind.
Demnach wird vorausgeſetzt, dieſe beſonderen Formen, wodurch
eben das Schöne in einzelnen realen und wirklichen Dingen dargeſtellt
wird, ſeyen beſondere Formen, die im Abſoluten ſelbſt ſind. Die
Frage iſt, wie dieß möglich ſey. (Es iſt dieß ganz daſſelbe Problem,
welches in der allgemeinen Philoſophie durch Uebergehen des Unendlichen
ins Endliche, der Einheit in die Vielheit ausgedrückt wird).
§. 25. Die beſonderen Formen ſind als ſolche ohne
Weſenheit, bloße Formen, die im Abſoluten nicht anders
ſeyn können, als inwiefern ſie als beſondere wieder das
ganze Weſen des Abſoluten in ſich aufnehmen. Dieß iſt von
ſelbſt klar, da das Weſen des Abſoluten untheilbar iſt. — Hierdurch
allein ſind ſie in Anſehung des Abſoluten, d. h. abſolut möglich, eben
darum auch abſolut wirklich, da im Abſoluten keine Differenz der
Wirklichkeit und der Möglichkeit.
Zuſatz. Dasſelbe iſt auch auf folgende Art einzuſehen. Das
Univerſum (worunter hier immer das Univerſum an ſich, das ewige,
unerzeugte verſtanden wird) — das Univerſum iſt, wie das Abſolute,
ſchlechthin Eines, untheilbar, denn es iſt das Abſolute ſelbſt (§. 3),
es können alſo im wahren Univerſum keine beſonderen Dinge ſeyn,
[389] als inwiefern ſie das ganze ungetheilte Univerſum in ſich aufnehmen,
alſo ſelbſt Univerſa ſind.
Wenn hieraus geſchloſſen würde, daß es demnach ſo viele Univerſa
ſeyen, als Ideen beſonderer Dinge ſind, ſo iſt dieß eben der Schluß,
den wir beabſichtigen. Es gibt entweder überhaupt keine beſonderen
Dinge, oder jedes derſelben iſt für ſich ein Univerſum. In Gott ſelbſt,
weil er die Einheit aller Formen iſt, liegt eben deßwegen das Uni-
verſum in keiner beſonderen Form, weil es in allen, ſo wie es in allen
liegt, weil in keiner beſonderen. Wenn die beſondere Form an ſich
reell ſeyn ſoll, ſo kann ſie es nicht als beſondere, ſondern nur als Form
des Univerſums ſeyn. Z. B. die beſondere Form Menſch iſt im Ab-
ſoluten nicht als beſondere, ſondern das eine und ungetheilte Univerſum
in der Form des Menſchen. Eben deßwegen iſt nichts von dem, was
wir einzelne Dinge nennen, an ſich reell. Sie ſind eben einzelne
dadurch, daß ſie das abſolute Ganze nicht in ſich, ihrer beſonderen
Form, aufnehmen, ſich von ihm getrennt haben, und umgekehrt, in-
wiefern ſie es in ſich haben, ſind ſie nicht mehr einzelne.
§. 26. Im Abſoluten ſind alle beſonderen Dinge nur
dadurch wahrhaft geſchieden und wahrhaft eins, daß jedes
für ſich das Univerſum, jedes das abſolute Ganze iſt. —
Geſchieden: denn kein einzelnes Ding als ſolches iſt wahrhaft geſchieden,
abſolut geſchieden iſt nur das Univerſum, weil keinem andern Dinge
weder gleich noch ungleich, weil nichts außer ihm iſt, dem es entgegengeſetzt
oder verglichen werden könnte. Wahrhaft eins, weil in jedem daſſelbe iſt.
Eben deßwegen iſt hier auch alle Zahl oder Beſtimmung durch
Zahl aufgehoben. Das beſondere Ding in der Abſolutheit wird nicht
durch Zahl beſtimmt; denn wird auf das Beſondere an ihm reflektirt,
ſo iſt es ſelbſt das abſolute Ganze und hat nichts außer ſich; auf das
Allgemeine, ſo iſt es in der abſoluten Einheit mit allen andern Dingen.
Es begreift alſo nur ſelbſt Einheit und Vielheit unter ſich, iſt aber
nicht durch dieſe Begriffe beſtimmbar.
Anmerkung. Dieſe Begriffe ſind von Wichtigkeit a) wegen der
gedoppelten Anſicht, die vom Univerſum überhaupt nothwendig iſt,
[390] α) der Anſicht des Univerſums als Chaos, welches, im Vorbeigehen
geſagt, die Grundanſchauung des Erhabenen iſt, ſofern nämlich in ihm
in abſoluter Identität alles als eins liegt, β) als der höchſten Schön-
heit und Form, weil es eben durch die Abſolutheit der Form, oder
dadurch, daß in jedes Beſondere und jede Form wieder alle Formen,
und demnach die abſolute Form gebildet iſt, Chaos iſt. Wir werden
von dieſen Begriffen in der Folge ſehr beſtimmten Gebrauch machen.
b) Vorzüglich iſt der Begriff der abſoluten Geſchiedenheit des Beſon-
deren für die Kunſt wichtig, da gerade auf dieſer Abſonderung der
Formen ihre größte Wirkung beruht. Aber dieſe Abſonderung iſt eben
nur dadurch, daß jedes für ſich abſolut iſt.
§. 27. Die beſonderen Dinge, ſofern ſie in ihrer Be-
ſonderheit abſolut, ſofern ſie alſo als Beſondere zugleich
Univerſa ſind, heißen Ideen.
Dieſer Satz iſt bloße Erklärung, alſo keines Beweiſes bedürftig,
obwohl es ſich zeigen ließe, daß ſchon der erſte Urheber der Lehre von
den Ideen, wenn er auch dieſe nicht gerade ſo erklärt, doch dasſelbe
darunter verſtanden.
Erläuterung. Jede Idee iſt = Univerſum in der Geſtalt des
Beſonderen. Aber eben deßwegen iſt ſie nicht als dieſes Beſondere real.
Das Reale iſt immer nur das Univerſum. Jede Idee hat zwei Ein-
heiten, die eine, wodurch ſie in ſich ſelbſt und abſolut iſt, die
alſo, wodurch das Abſolute in ihr Beſonderes gebildet iſt, und die,
wodurch ſie als Beſonderes in das Abſolute als ihr Centrum aufge-
nommen wird. Dieſe gedoppelte Einheit jeder Idee iſt eigentlich das
Geheimniß, wodurch das Beſondere im Abſoluten, und gleichwohl
wieder als Beſonderes begriffen werden kann.
§. 28. Dieſelben Ineinsbildungen des Allgemeinen
und Beſonderen, die an ſich ſelbſt betrachtet Ideen, d. h.
Bilder des Göttlichen ſind, ſind real betrachtet Götter.
Denn das Weſen, das An-ſich von ihnen = Gott. Ideen ſind ſie
nur, inwiefern ſie Gott in beſonderer Form. Jede Idee iſt alſo =
Gott, aber ein beſonderer Gott.
[391]
Anmerkung. Dieſer Satz bedarf keiner Erläuterung, um ſo
mehr, da die folgenden Sätze dienen werden, ihn noch weiter ins Licht
zu ſtellen. — Die Idee der Götter iſt nothwendig für die Kunſt. Die
wiſſenſchaftliche Conſtruktion derſelben führt uns eben dahin zurück,
wohin der Inſtinkt die Poeſie in ihrem erſten Beginn ſchon geführt
hat. Was für die Philoſophie Ideen ſind, ſind für die Kunſt Götter,
und umgekehrt.
§. 29. Die abſolute Realität der Götter folgtunmit-
telbar aus ihrer abſoluten Idealität. — Denn ſie ſind ab-
ſolut, im Abſoluten aber iſt Idealität und Realität eins, abſolute
Möglichkeit = abſolute Wirklichkeit. Die höchſte Identität iſt unmit-
telbar die höchſte Objektivität.
Wer ſich noch nicht zu dem Punkte erhoben hat, daß ihm das
abſolut Ideale unmittelbar und eben darum auch das abſolute Reale
iſt, iſt weder des philoſophiſchen noch des poetiſchen Sinns fähig. Die
Frage nach einer Wirklichkeit, wie ſie im gemeinen Bewußtſeyn gemacht
wird, hat in Anſehung deſſen, was abſolut iſt, gar keine Bedeutung,
im Poetiſchen ſo wenig als im Philoſophiſchen. Dieſe Wirklichkeit iſt
keine wahre Wirklichkeit, vielmehr im wahren Sinn Nichtwirklichkeit.
Alle Geſtalten der Kunſt, alſo vornämlich die Götter ſind wirk-
lich, weil ſie möglich ſind. Wer noch fragen kann, wie ſo hoch ge-
bildete Geiſter als die Griechen an die Wirklichkeit der Götter haben
glauben können, wie Sokrates Opfer anbefohlen, der Sokratiker
Xenophon als Heerführer bei dem berühmten Rückzug ſelbſt habe
opfern können u. ſ. w., — wer ſolche Fragen macht, beweist nur, daß
er ſelbſt nicht auf dem Punkt der Bildung angekommen iſt, auf dem
eben das Ideale das Wirkliche und viel wirklicher als das ſogenannte
Wirkliche ſelbſt iſt. In dem Sinn, wie etwa ein gemeiner Verſtand
an die Wirklichkeit der ſinnlichen Dinge glaubt, haben jene Menſchen
die Götter überhaupt nicht genommen und weder für wirklich noch für
nicht wirklich gehalten. In dem höheren Sinne waren ſie den Griechen
reeller als jedes andere Reelle.
§. 30. Reine Begrenzung von der einen und unge-
[392] theilte Abſolutheit von der andern Seite iſt das beſtim-
mende Geſetz aller Göttergeſtalten. — Denn ſie ſind die real
angeſchauten Ideen. Die beſondern Dinge aber ſind in den Ideen
nicht, ohne eben dadurch zugleich wahrhaft oder abſolut geſchieden und
wahrhaft eins, nämlich gleich abſolut zu ſeyn, nach §. 26. Alſo iſt
auch ſtrenge Abſonderung oder Begrenzung von der einen und gleiche
Abſolutheit von der andern Seite das beſtimmende Geſetz der Götterwelt.
Anmerkung. Wir haben vorzüglich auf dieſes Verhältniß zu
achten, wenn wir die große Bedeutung der Göttergeſtalten im Einzelnen
und im Ganzen faſſen wollen. Nur dadurch erſtens, daß ſie ſtreng
begrenzt, daß alſo ſich wechſelſeitig einſchränkende Eigenſchaften in einer
und derſelben Gottheit ſich ausſchließen und abſolut getrennt ſind, und
daß gleichwohl innerhalb dieſer Begrenzung jede Form die ganze Gött-
lichkeit in ſich empfängt, liegt eigentlich das Geheimniß ihres Reizes
und ihrer Fähigkeit für Kunſtdarſtellungen. Dadurch erhält die Kunſt
geſonderte, beſchloſſene Geſtalten, und in jeder doch die Totalität, die
ganze Göttlichkeit. Ich ſehe mich hier in der Nothwendigkeit, um durch
Beiſpiele verſtändlich zu werden, dieſe aus der griechiſchen Götterwelt
zu entlehnen, obgleich wir die vollſtändige Conſtruktion derſelben erſt
durch die ganze Folge erhalten können. Indeß wenn Sie ſehen, daß
alle Züge der griechiſchen Götter auf unſere Deduktion des Geſetzes
aller Göttergeſtalten paſſen, ſo muß zum voraus auch zugegeben werden,
daß die griechiſche Mythologie das höchſte Urbild der poetiſchen Welt
iſt. Alſo um einige Beiſpiele für den Satz zu geben, daß reine Be-
grenzung einerſeits und ungetheilte Abſolutheit andererſeits das Weſen
der Göttergeſtalten; ſo iſt die Minerva das Urbild der Weisheit und
Stärke in Vereinung, aber die weibliche Zärtlichkeit iſt ihr genommen;
beide Eigenſchaften vereinigt würden dieſe Geſtalt zur Gleichgültigkeit,
und demnach mehr oder weniger zur Nullität reduciren. Juno iſt Macht
ohne Weisheit und ſanften Liebreiz, den ſie von der Venus mit ihrem
Gürtel borgt. Wäre dagegen dieſer zugleich die kalte Weisheit der
Minerva verliehen, ſo wären ohne Zweifel ihre Wirkungen nicht ſo
verderblich, als es die des trojaniſchen Kriegs ſind, den ſie veranlaßt,
[393] um die Luſt ihres Lieblings zu befriedigen. Aber dann wäre ſie auch
nicht mehr die Göttin der Liebe, und darum kein Gegenſtand der Phan-
taſie mehr, für die das Allgemeine und Abſolute im Beſonderen — in
der Begrenzung — das Höchſte iſt.
Man kann alſo, von dieſer Seite die Sache angeſehen, mit
Moriz ſagen, daß es eben die gleichſam fehlenden Züge ſind in den
Erſcheinungen der Göttergeſtalten, was ihnen den höchſten Reiz gibt
und ſie wieder untereinander verflicht. Das Geheimniß alles Lebens
iſt Syntheſe des Abſoluten mit der Begrenzung. Es gibt ein gewiſſes
Höchſtes in der Weltanſchauung, das wir zur vollkommenen Befriedi-
gung fordern, es iſt: höchſtes Leben, freieſtes, eigenſtes Daſeyn und
Wirken ohne Beengung oder Begrenzung des Abſoluten. Das Abſolute
an und für ſich bietet keine Mannichfaltigkeit dar, es iſt inſofern für
den Verſtand eine abſolute, bodenloſe Leere. Nur im Beſonderen iſt
Leben. Aber Leben und Mannichfaltigkeit, oder überhaupt Beſonde-
res ohne Beſchränkung des ſchlechthin Einen, iſt urſprünglich und an
ſich nur durch das Princip der göttlichen Imagination, oder, in der
abgeleiteten Welt, nur durch die Phantaſie möglich, die das Abſolute
mit der Begrenzung zuſammenbringt und in das Beſondere die ganze
Göttlichkeit des Allgemeinen bildet. Dadurch wird das Univerſum be-
völkert, nach dieſem Geſetz ſtrömt vom Abſoluten, als dem ſchlechthin
Einen, das Leben aus in die Welt; nach demſelben Geſetz bildet ſich
wieder in dem Reflex der menſchlichen Einbildungskraft das Univerſum
zu einer Welt der Phantaſie aus, deren durchgängiges Geſetz Abſolut-
heit in der Begrenzung iſt.
Wir verlangen für die Vernunft ſowohl als für die Einbildungs-
kraft, daß nichts im Univerſum gedrückt, rein beſchränkt und unterge-
ordnet ſey. Wir fordern für jedes Ding ein beſonderes und freies
Leben. Nur der Verſtand ordnet unter, in der Vernunft und in der
Einbildungskraft iſt alles frei und bewegt ſich in dem gleichen Aether,
ohne ſich zu drängen und zu reiben. Denn jedes für ſich iſt wieder
das Ganze. Der Anblick der reinen Beſchränktheit iſt von dem unter-
geordneten Standpunkt aus bald läſtig, bald ſchmerzlich, bald ſogar
[394] beleidigend, auf jeden Fall widerlich. Für die Vernunft und Phantaſie
wird auch die Begrenzung entweder nur Form des Abſoluten oder, als
Begrenzung aufgefaßt, ein unerſchöpflicher Quell des Scherzes und
des Spiels, denn mit der Begrenzung zu ſcherzen iſt erlaubt, da
ſie dem Weſen nichts entzieht, an ſich bloße Nichtigkeit iſt. So ſpielt
in der griechiſchen Götterwelt der kühnſte Scherz wieder mit den Phan-
taſiebildern ihrer Götter, wie wenn Venus von Diomedes verwundet
iſt, und Minerva ſpottet: „Gewiß hat Venus eine geſchmückte Griechin
überreden wollen, zu den Trojanern mitzugehen, und mit der goldenen
Spange der Griechin die Hand ſich geritzt“, und Zeus lächelnd zu ihr
mit ſanften Worten ſpricht:
Als eine Folge aus dem aufgeſtellten Princip kann ferner ange-
ſehen werden, daß die vollkommenen Götterbildungen erſt erſcheinen
können, nachdem das rein Formloſe, Dunkle, Ungeheure verdrungen
iſt. In dieſe Region des Dunkeln und Formloſen gehört noch alles,
was unmittelbar an die Ewigkeit, den erſten Grund des Daſeyns er-
innert. Es iſt ſchon öfters bemerkt worden, daß erſt die Ideen das
Abſolute aufſchließen; nur in ihnen iſt eine poſitive, zugleich begrenzte
und unbegrenzte Anſchauung des Abſoluten.
Als der gemeinſchaftliche Keim der Götter und der Menſchen iſt
das abſolute Chaos Nacht, Finſterniß. Auch die erſten Geſtalten,
welche die Phantaſie aus ihm geboren werden läßt, ſind noch formlos.
Es muß eine Welt unförmlicher und ungeheurer Geſtalten verſinken,
ehe das milde Reich der ſeligen und bleibenden Götter eintreten kann.
Auch in dieſer Beziehung bleiben die griechiſchen Dichtungen dem Geſetz
aller Phantaſie getreu. Die erſten Geburten aus den Umarmungen
des Uranos und der Gäa ſind noch Ungeheuer, hundertarmige Rieſen,
mächtige Cyclopen und die wilden Titanen, Geburten, vor denen ſich
[395] der Erzeuger ſelbſt entſetzt und ſie wieder in den Tartaros verbirgt.
Das Chaos muß ſeine eignen Geburten wieder verſchlingen. Uranos,
der ſeine Kinder birgt, muß verdrungen werden, es beginnt die Herr-
ſchaft des Kronos. Aber auch Kronos noch verſchlingt ſeine eignen
Kinder. Endlich beginnt das Reich des Zeus, aber auch dieſes nicht
ohne vorhergegangene Zerſtörung. Jupiter muß die Cyclopen und die
hundertarmigen Rieſen befreien, damit ſie ihm gegen Saturn und die
Titanen beiſtehen, und erſt nachdem er dieſe Ungeheuer und die letzten
Geburten der über die Schmach ihrer Kinder zürnenden Gäa, die him-
melſtürmenden Giganten und das Ungeheuer, an dem ſie ihre letzten
Kräfte verſchwendet, den Typhöeus beſiegt hat, klärt ſich der Himmel
auf, Zeus nimmt ruhigen Beſitz vom heitern Olymp, an die Stelle
aller unbeſtimmten und formloſen Gottheiten treten beſtimmte, bezeich-
nete Geſtalten, an die Stelle des alten Okeanos Neptun, des Tartaros
Pluto, an die Stelle des Titanen Helios der ewig jugendliche Apoll.
Selbſt der älteſte aller Götter, Eros, den die älteſte Dichtung zugleich
mit dem Chaos ſeyn ließ, wird als Sohn der Venus und des Mars
wieder geboren und eine begrenzte, bleibende Geſtalt.
§. 31. Die Welt der Götter iſt kein Objekt weder des
bloßen Verſtandes noch der Vernunft, ſondern einzig mit
der Phantaſie aufzufaſſen. — Nicht des Verſtandes, denn dieſer
haftet nur an der Begrenzung, nicht der Vernunft, denn dieſe kann
auch in der Wiſſenſchaft die Syntheſe des Abſoluten und der Be-
grenzung nur ideell (urbildlich) darſtellen; alſo der Phantaſie, welche
dieſelbe gegenbildlich darſtellt. Alſo ꝛc.
Erklärung. Im Verhältniß zur Phantaſie beſtimme ich Ein-
bildungskraft als das, worin die Produktionen der Kunſt empfangen
und ausgebildet werden, Phantaſie, was ſie äußerlich anſchaut, ſie aus
ſich hinauswirft gleichſam, inſofern auch darſtellt. Es iſt daſſelbe Ver-
hältniß zwiſchen Vernunft und intellektueller Anſchauung. In der Ver-
nunft und gleichſam vom Stoff der Vernunft werden die Ideen ge-
bildet, die intellektuelle Anſchauung iſt das innerlich Darſtellende.
Phantaſie alſo iſt die intellektuelle Anſchauung in der Kunſt.
[396]
§. 32. Die Götter ſind an ſich weder ſittlich noch un-
ſittlich, ſondern losgeſprochen von dieſem Verhältniß, ab-
ſolut ſelig.
(Dieß iſt nothwendig feſtzuhalten, um den gehörigen Geſichtspunkt
vorzüglich für Homers Dichtungen zu faſſen. Es iſt bekannt, wie viel
über die Unſittlichkeit ſeiner Götter geſprochen worden iſt; man hat
daraus ſelbſt die Vorzüge der modernen Poeſie beweiſen wollen. Allein
daß dieſer Maßſtab auf dieſe höheren Weſen der Phantaſie nicht an-
gewendet werden könne, erhellt aus Folgendem).
Beweis: Sittlichkeit wie Unſittlichkeit beruht auf Entzweiung,
indem Sittlichkeit nichts anderes iſt als Aufnahme des Endlichen ins
Unendliche im Handeln. Allein da, wo beide bis zur abſoluten In-
differenz eins ſind, fällt nothwendig auch jenes, demnach Sittlichkeit,
und mit dieſer ihr Entgegengeſetztes hinweg. Die Unſittlichkeit ſpricht
ſich an den homeriſchen Göttern eben deßwegen nicht als Unſittlichkeit,
ſondern nur als reine Begrenzung aus. Sie handeln durchaus inner-
halb dieſer Begrenzung, und ſind nur inſofern göttlich, als ſie inner-
halb derſelben handeln; nur ſo iſt das Unendliche mit dem Begrenzten
in ihnen wahrhaft eins. Sie ſind zu betrachten als Weſen einer hö-
heren Natur. Sie handeln innerhalb ihrer Begrenzung ſo frei und
nothwendig zugleich, als jedes Naturweſen innerhalb der ſeinigen;
frei, weil es ihre Natur iſt ſo zu handeln und ſie kein anderes
Geſetz kennen als ihre Natur, nothwendig, aus demſelben Grunde,
weil ihr Handeln ihnen durch ihre Natur vorgeſchrieben iſt. Die home-
riſchen Götter ſind daher in ihrer Unſittlichkeit nur naiv und wahrhaft
weder ſittlich noch unſittlich, ſondern ganz freigeſprochen von dieſem
Gegenſatz.
Wir können denſelben Satz nun auch ſo ausdrücken: die Götter
ſind abſolut ſelig. Kein anderes Beiwort tragen ſie häufiger; ihr
Leben macht den beſtändigen Gegenſatz gegen das menſchliche, welches
voll Mühe, Zwietracht, der Krankheit und dem Alter unterworfen iſt.
Auch bei Sophokles ſagt der alte Oedipus zu Theſeus: 1
[397]
Die Tragödie wie das epiſche Gedicht iſt voll dieſes Gegenſatzes.
Wir können die Nothwendigkeit dieſes Attributs der Götter unmittelbar
aus dem Princip einſehen, aus dem ſie überhaupt begriffen werden,
nämlich: als abſolute Weſen beſondere und als beſondere
abſolute zu ſeyn. — Daß überhaupt Sittlichkeit nichts Höchſtes
ſey, nichts alſo, was Göttern zugeſchrieben werden könnte, erhellt aus
dem Gegenſatz, den ſie an der Glückſeligkeit hat, und in dem eigentlich
alles Endliche befangen iſt. Wie Sittlichkeit Aufnahme des Endlichen
oder Beſonderen ins Unendliche, ſo Seligkeit Aufnahme des Unendlichen
ins Endliche oder Beſondere. In der erſten, wo das Beſondere ins
Allgemeine aufgenommen wird, unterliegt das Beſondere dem Geſetz
als dem Allgemeinen, es verhält ſich wie der Körper, der der Schwere
gehorcht 1. Die Götter, in deren Natur beide Einheiten vereinigt ſind,
leben eben deßwegen kein abhängiges und bedingtes, ſondern ein freies
und unabhängiges Leben, ſie genießen als beſondere gleichwohl die
Seligkeit des Abſoluten, und umgekehrt (Streben nach Seligkeit = Stre-
ben, der Abſolutheit als ein Beſonderes zu genießen), ein Verhältniß,
wovon nur etwa an den Weltkörpern, als den erſten ſinnlichen Bildern
der Götter, ein Beiſpiel, die zugleich als beſondere abſolut — in ſich
ſelbſt —, und hinwiederum in ihrer Abſolutheit beſondere, und dem-
nach zugleich außer dem Centro und im Centro ſind. Inſofern nun
beide Einheiten in ihrer Abſolutheit einander in ſich ſchließen, weil das
Beſondere nicht abſolut ſeyn kann, ohne eben dadurch auch wieder im
Abſoluten zu ſeyn, und inwiefern in dieſem Betracht Seligkeit und
Sittlichkeit wieder ein und daſſelbe ſind, kann man auch ſagen, die
Götter ſeyen eben deßwegen abſolut ſittlich, weil ſie abſolut ſelig ſind.
§. 33. Das Grundgeſetz aller Götterbildungen iſt
[398] das Geſetz der Schönheit. — Denn Schönheit iſt das real ange-
ſchaute Abſolute. Die Götterbildungen ſind das Abſolute ſelbſt im
Beſonderen (oder ſyntheſirt mit der Begrenzung) real angeſchaut. Alſo ꝛc.
Man könnte dagegen einwerfen: eben deßwegen, weil mit Begren-
zung, ſeyen die Götterbildungen nicht abſolut ſchön. Allein ich kehre
es vielmehr um, daß nämlich das Abſolute nur in der Begrenzung,
nämlich im Beſonderen, angeſchaut überhaupt ſchön iſt. Die gänzliche
Hinwegnahme aller Begrenzung iſt entweder gänzliche Negation aller
Form (allein dieß nur, wo die Negation der Form zugleich die abſolute
Form — wie wir in der Folge hören werden — bei der erhabenen
Schönheit) oder durchgängige wechſelſeitige Einſchränkung, d. h. Re-
duktion zur Nullität. Jene Art der Schönheit findet ſich z. B. in der
würdigen und erhabenen Bildung des Jupiter, die gleicher Ausdruck
der Weisheit und Macht ohne Schranken iſt, wie in der Juno, welche
reiner Ausdruck der Macht ohne Verluſt der Schönheit. Dieſe Be-
grenzungen ſind alſo nur das, was wir vorläufig die verſchiedenen
Arten der Schönheit nennen können, da wir dieſe Unterſuchung erſt,
wenn von den Formen der plaſtiſchen Kunſt die Rede ſeyn wird, mit
Erfolg anſtellen können.
Man könnte aber von dem Beiſpiele der griechiſchen Mythologie
ſelbſt Einwürfe hernehmen, Vulcan, die Bildungen des Pan, des Si-
len, der Faunen, der Satyre u. ſ. w. Was die Bildung des Vulcan
betrifft, ſo zeigt uns dieſe die große Identität zwiſchen den Bildungen
der Phantaſie und der organiſch ſchaffenden Natur. Wie die Natur
durch die vorzügliche Ausbildung eines Organs oder Triebs in einer
Gattung von Geſchöpfen ſich genöthigt ſieht, es dagegen in einem an-
dern zu verkürzen, ſo hat hier die Phantaſie das, was ſie den mäch-
tigen Armen des Hephäſtos gab, ſeinen Füßen entziehen müſſen, welche
hinkend ſind. Aber allgemein gilt in Anſehung der häßlichen Bildungen
der griechiſchen Götterwelt, daß dieſe ſämmtlichen Bildungen in ihrer
Art wieder Ideale, nur die umgekehrten Ideale ſind, und daß
ſie dadurch wieder in den Kreis des Schönen aufgenommen werden.
Doch auch dieß iſt bloß eine anticipirte Erklärung. Was den Vulcan
[399] betrifft, ſo wird die Begrenzung, die bei ihm bis zur Häßlichkeit geht,
in der Dichtung wieder Quell des unverſiegbaren Scherzes und im
Kreis der Götter ſelbſt eines unauslöſchlichen Gelächters, wenn er den
Nektarbecher herumreicht.
Vorzüglich zeigt ſich nun das Schöne als Canon aller Götterbil-
dung in der Milderung alles Furchtbaren und Schrecklichen durch das
Schöne. Die Parcen, nach der älteſten Dichtung Töchter der Nacht,
nach einer ſpäteren des Jupiter und der Themis, ſind nicht nur in der
bildenden Kunſt mit hoher Schönheit gebildet, ſondern auch die ganze
Vorſtellung der Phantaſie von ihnen deutet auf dieſe Milderung hin.
Dienerinnen der unerbittlichen Nothwendigkeit führen ſie doch das höchſte
Geſchäft, die Lenkung der menſchlichen Dinge, wie die leichtſte Arbeit
— als einen zarten Faden, der durch ihre Hände läuft, der ſanft und
ohne Mühe zerſchnitten wird.
§. 34. Die Götter bilden nothwendig unter ſich wie-
der eine Totalität, eine Welt (hiermit gehe ich in die innere
Conſtruktion ein). — Denn da in jeder Geſtalt das Abſolute mit Be-
grenzung geſetzt iſt, ſo ſetzt ſie eben dadurch andere voraus, und mittel-
bar oder unmittelbar jede einzelne alle anderen und alle jede einzelne.
Demnach bilden ſie nothwendig unter ſich wieder eine Welt, worin alles
durcheinander wechſelſeitig beſtimmt iſt, ein organiſches Ganzes, eine
Totalität, eine Welt.
§. 35. Einzig, indem die Götter unter ſich eine Welt
bilden, erlangen ſie eine unabhängige Exiſtenz für die
Phantaſie oder eine unabhängige poetiſche Exiſtenz. Dieſer
Satz folgt unmittelbar, denn nur dadurch werden ſie Weſen einer
eignen Welt, die ganz für ſich beſteht und von der insgemein ſogenann-
ten wirklichen völlig getrennt iſt. Jede Berührung mit der gemeinen
Wirklichkeit oder mit Begriffen dieſer Wirklichkeit zerſtört nothwendig
den Zauber dieſer Weſen ſelbſt, denn dieſer beruht eben darauf, daß
es nach §. 29 zu ihrer Wirklichkeit nichts anderes als die Möglichkeit
bedarf, daß ſie alſo in einer abſoluten Welt leben, welche real anzu-
ſchauen nur der Phantaſie möglich iſt.
[400]
Zur Erläuterung der beiden vorhergehenden Sätze
(34 und 35). Nachdem einmal dieſe eigentliche Welt der Phantaſie
erſchaffen iſt, iſt der Einbildung keine weitere Grenze geſetzt, eben deß-
wegen, weil innerhalb derſelben alles Mögliche unmittelbar wirklich iſt.
Dieſe Welt kann, ja muß ſich alſo von Einem Punkt aus ins Unend-
liche bilden; kein mögliches Verhältniß der Götter unter ſich und keine
mögliche Begrenzung in Anſehung des Abſoluten iſt nun ausgeſchloſſen.
— Dadurch, daß alle Geſtalten als für ſich beſtehende Weſen in allen
Verwicklungen und Verhältniſſen betrachtet werden, daß ſich unter ihnen
ſelbſt wieder ein Kreis von Beziehungen und eine eigne Geſchichte bil-
det, erlangen ſie die höchſte Objektivität, wodurch dann dieſe Dichtungen
ſämmtlich in die Mythologie übergehen.
Was insbeſondere die Totalität der Bildungen in der griechiſchen
Mythologie betrifft, ſo läßt ſich zeigen, daß in der That alle Möglich-
keiten, die in dem Ideenreich liegen, wie es von der Philoſophie con-
ſtruirt wird, in der griechiſchen Mythologie vollkommen erſchöpft ſind.
— Die Nacht und das Fatum, das ſelbſt über den Göttern, wie
jene die Mutter der Götter iſt, ſind der dunkle Hintergrund, die ver-
borgene geheimnißvolle Identität, aus der ſie alle hervorgegangen ſind.
Immer ſchweben beide noch über ihnen; aber im lichten Reich der be-
grenzten und erkennbaren Geſtalten iſt Jupiter der abſolute Indifferenz-
punkt, in ihm iſt die abſolute Macht mit der abſoluten Weisheit ge-
paart; denn als ihm, da er zuerſt mit der Metis ſich vermählte, ge-
weiſſagt wurde, daß dieſe von ihm einen Sohn gebären würde, der,
beider Naturen vereinend, alle Götter beherrſchen würde, zog er dieſe
in ſich ſelbſt hinüber und vermählte ſie ganz mit ſich: offenbares Sinn-
bild der abſoluten Indifferenz der Weisheit und Macht im ewigen
Weſen. Nun gebar er unmittelbar aus ſich ſelbſt die Minerva, die
gerüſtet und gewappnet aus ſeinem ewigen Haupte entſprang, das
Sinnbild der abſoluten Form und des Univerſums, als Bildes der
göttlichen Weisheit, das zumal, in ſeiner ganzen Form, ohne Zeit
aus dem ewigen Princip entſpringt. Nur nicht: daß etwa Jupiter
oder Minerva dieß bedeutet oder auch bedeuten ſollen. Dadurch
[401] würde alle poetiſche Unabhängigkeit dieſer Geſtalten vernichtet. Sie
bedeuten es nicht, ſie ſind es ſelbſt. Die Ideen in der Philoſophie
und die Götter in der Kunſt ſind ein und daſſelbe, aber jedes iſt für
ſich das, was es iſt, jedes eine eigne Anſicht deſſelbigen, keines um
des andern willen, oder um das andere zu bedeuten. — In der Bil-
dung des Jupiter ſind alle Beſchränkungen entfernt außer der noth-
wendigen; die Begrenzungen ſind nur da, um das Weſentliche ſchauen
zu laſſen. Die abſolute Macht iſt eben darum, weil ſie dieß iſt, wieder
die höchſte Ruhe: Jupiter winkt mit den Augenbraunen, und der Olymp
erbebt. Er ſäet gleichſam die Blitze nur, wie ſich ein neuerer Dichter
vortrefflich ausdrückt. Minerva trägt in ſich ſelbſt alles, was die Form
Hohes und Mächtiges, Kunſtreiches und Zerſtörendes, Vereinendes
und Entzweiendes in ſich hat. Die Form an und für ſich iſt kalt, da
ihr in dieſer Abſonderung der Stoff fremd iſt, ſie iſt aber zugleich die
höchſte Macht, die keine Schwäche, wie keinen Irrthum kennt; ſie iſt
daher zugleich das Urbild und die ewige Erfinderin aller Kunſt, und
die furchtbare Zerſtörerin der Städte, die verwundende und die hei-
lende. Sie iſt vereinend als die abſolute Form, aber auch die Göttin
des Kriegs in Bezug auf die menſchlichen Geſchlechter. Im hohen
Olymp, in der heiteren Region des Göttlichen iſt kein Streit, denn
das Widerſtreitende iſt hier, geſondert oder vereint, zur gleichen Abſo-
lutheit ausgebildet; nur in der niederen Welt, wo Form ſich gegen
Form, Beſonderes gegen Beſonderes empört, iſt Krieg, die Werkſtätte
der nicht ruhenden Bildung und Zerſtörung, des Wechſels und Wan-
dels; aber alle dieſe Erſcheinungen der Zerſtörung des Kriegs ruhen
doch als Möglichkeiten in dem Schooß der abſoluten Form. Inſofern
kann man ſagen, daß die jungfräuliche Minerva, die ſelbſt aus keiner
Mutter Schooß geboren, die in ſich fruchtbarſte aller Gottheiten ſey.
Faſt alle Werke der Menſchen ſind ihre Bildungen; in ihrer Strenge
(reinen Form) iſt ſie die gleiche Göttin des Philoſophen, des Künſtlers
und des Kriegers, und ihre Hoheit ruht vorzüglich darin, daß, uner-
achtet ſie von allen allein das Entgegengeſetzte vereinet, doch in ihr
keines das andere ſtört, und in ihrem Bild doch alles ſich auf Eines
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 26
[402] reducirt, daß ſie nämlich die unbewegliche, immer gleiche, unveränder-
liche Weisheit iſt. — Juno hat von dem Zeus die reine Macht ohne
die erhabene Weisheit. Daher erſtens ihr Haß gegen alles, was durch
die Form göttlich iſt, und demnach gegen alles Göttliche, was erſt in
dem von Jupiter neu bezwungenen Lauf der Zeiten gebildet wird, wie
gegen den Apollon, die Diana u. ſ. w. Als Jupiter aus ſich ſelbſt
die Minerva gebiert, gebiert ſie (Juno) ohne Antheil Jupiters, ihm
zum Trotz, den Vulcan, den bildenden Künſtler ſinnreicher Arbeiten
ohne die hohe Weisheit der Minerva, den Handhaber des Feuers und
Bildner der Waffen, während ſein eigner Arm nur den Hammer führt.
Sehr bedeutend zeigt ſich dieſe Dichtung und Entgegenſtellung mit der
Minerva in dem Zuſatz, daß der Vulkan nach der Vermählung mit
der Minerva geſtrebt, daß er in dem vergeblichen Ringen mit ihr die
Erde befruchtet, worauf dieſe den Erichthonios mit den Drachenfüßen
gebar. Bekannt iſt, daß die Drachengeſtalt immer das Erdentſproſſene
bezeichnet: ſo iſt Vulcan damit als die bloß irdiſche Form der Kunſt,
die vergeblich ſich der himmliſchen zu vermählen trachtet, bezeichnet,
ebenſo wie auf der andern Seite die ihm vermählte Venus die irdiſche
Schönheit, obwohl ihr hohes Urbild zugleich im Himmel wohnt.
Ohne in dieſe zarten Schöpfungen der Phantaſie einen ihnen frem-
den Vernunftzuſammenhang bringen zu wollen, können wir doch die
ganze Kette, wie ſie von Jupiter an in die Hauptgottheiten ſich fort-
ſetzt, auf folgende Art beſtimmen. Jupiter alſo als der ewige Vater
iſt der abſolute Indifferenzpunkt, der im Olymp iſt, erhaben über
allen Widerſtreit; bei ihm wohnt die Geſtalt der Minerva, die ewige
Weisheit — ſein Gegenbild, das aus ſeinem Haupte entſprungen.
Unter ihm iſt a) in der realen Welt das formende und das form-
loſe Princip (Eiſen und Waſſer), Vulcan und Neptun, welche, damit
die Kette ſich nach beiden Seiten ſchließe, als der dem Jupiter ent-
ſprechende Indifferenzpunkt, ein unterirdiſcher Gott wieder zuſammen-
knüpft, Pluto oder der ſtygiſche Jupiter, Herrſcher im Reich der Nacht
oder der Schwere. Wie dieſer Indifferenzpunkt (entſprechend dem Ju-
piter) in der realen Welt, ſo iſt b) Apollon der der idealen Welt,
[403] das entgegengeſetzteſte Bild des Pluto, der alt vorgeſtellt wird, wie
jener in ewig jugendlicher Schönheit; der eine im öden Reich der
Schatten, der leeren Dinge und des Dunkels, der andere der Gott
des Lichts, der Ideen, der lebendigen Geſtalt, der, indem er in ſeinem
Reiche nur das Lebendige duldet, ſelbſt dem von Alter Verwelkten mit
ſanftem Pfeil den Tod ſchenkt, wie ſeine Geſchoße, die dicht wie Strah-
len ſchießen, ſchaarenweiſe vertilgen, was ihm verhaßt iſt, z. B. die
Griechen, nachdem ſie ſeinen Prieſter beleidigt 1. Alle übrigen Eigen-
ſchaften dieſes Gottes, daß er der heilende, der Erzeuger des heil-
bringenden Aeskulap, der Führer der Muſen, Erleuchter der Zukunft,
wie das allſehende Auge der Welt am Himmel iſt, — alle dieſe Züge
ſtimmen zu der Bedeutung zuſammen, die wir dieſem Götterbild ge-
geben haben. Getrennt erblicken wir die hauptſächlichſten dieſer Züge
wieder in dem Mars, der dem Vulcan auf der ideellen Seite ent-
ſpricht, und der Venus, welche dem formloſen Princip, dem Neptun,
als die höchſte irdiſche Form entſpricht, die ſelbſt nach der alten
Mythologie ſich als die Form zuerſt dem Reich des Formloſen —
dem Ocean — entwand, den unter den neuen Göttern Poſeidon be-
herrſcht.
Die Totalität der griechiſchen Götterwelt wäre übrigens nicht
vollkommen, wenn nur das Nothwendige, wenn nicht auch jede be-
ſondere, ja vielleicht zufällige Anſicht der Dinge in ihr wieder abſolut
wäre. Ganze Maſſen von Erſcheinungen, die vielleicht nur von einem
gewiſſen Geſichtspunkt als Eines erſcheinen, überhaupt alle Arten von
Verhältniſſen werden als das Allgemeine durch ein Individuum zu-
ſammengefaßt, welches ohne Zweifel das auffallendſte Beiſpiel der
Darſtellung des Allgemeinen im Beſonderen iſt. So iſt z. B. die
ganze Maſſe der Erſcheinungen, welche das unterirdiſche Feuer erzeugt,
wieder in das Bild des Vulcans zuſammengefaßt, wie die, mit welchen
[404] das warme innere Leben der Natur unſere Sinne erfüllt, in das Bild
der Veſta. Auch die ungeheuren Erzeugungen der noch nicht gemäßigten,
aber durch Jupiters Macht gebändigten Natur ziehen ſich in den Ti-
tanen zuſammen, deren ſich noch regende Glieder Erſchütterungen der
feſten Erde bewirken. Die Anſicht der Natur als eines unter vielfach
wechſelnden Geſtalten doch immer ſich ſelbſt gleichen Ganzen iſt in der
Geſtalt des Proteus fixirt, der nur denen, die unter jeder Verwand-
lung ihn mit ſtarken Armen feſthielten, zuletzt in der Urgeſtalt erſchien
und ihnen das Wahre entdeckte. Die Göttlichkeit, welche auch die
Natur in dieſer Phantaſiewelt erhält, erlaubt auch Verwandlungen der
Götter in Thiergeſtalten, obgleich die griechiſche Phantaſie niemals,
wie die ägyptiſche, die Götter in lauter Thiergeſtalten verhüllen konnte.
Die Totalität forderte, daß in keiner Umgebung etwas der Phantaſie-
welt Widerſprechendes wäre, deßhalb mußte die Vergötterung der
Naturdinge nothwendig bis ins Einzelnſte fortgeſetzt werden, Bäume,
Felſen, Berge, Flüſſe, auch einzelne Quellen von göttlichen Naturen
bewohnt ſeyn (Genien als Mittelglieder). Die kühnen Spiele der
Natur ſelbſt, indem ſie nicht ſelten ihr eignes Ideal auf den Kopf
ſtellt, wo ſie mit überfließender Kraft gleichſam verſchwenden kann,
erneuern ſich in der üppigen Fülle der Phantaſie, die das Ganze ihrer
Welt zuletzt mit den ſchalkhaften, halb thieriſchen und halb menſchlichen
Bildungen der Satyrn und Faunen ſchloß. Indem hier die menſch-
liche Geſtalt zur thieriſchen herabgezogen wird, die nur den Ausdruck
der ſinnlichen Begier, der Sorgloſigkeit in ihren Zügen erkennen läßt,
entſteht die entgegengeſetzte Wirkung von der, welche durch die Hinauf-
bildung derſelben Geſtalt zum Göttlichen erreicht wurde. Auch hier
fordert die Totalität Befriedigung der Phantaſie durch Gegenſatz. End-
lich erſcheint auch noch das Umgekehrte, Vereinigung ganz thieriſcher
Leiber mit ſinnigem Antlitz, in den Sphinxen.
Zuletzt mußten ſich die Verwicklungen der Götter auch noch bis
in die menſchlichen Verhältniſſe herein erſtrecken. Nicht nur beſonders
geheiligte Plätze, damit auf dieſe Weiſe die ganze Natur geweiht und
in eine höhere Welt gehoben würde, ſondern auch Theilnahme der
[405] Götter an den menſchlichen Handlungen wie im trojaniſchen Krieg.
Sogar Thiere werden in die Geſchichte der Götter verflochten, wie in
der Geſchichte von den zwölf Arbeiten des Hercules.
§. 36. Das Verhältniß der Abhängigkeit unter Göt-
tern kann nicht anders denn als Verhältniß der Zeugung
vorgeſtellt werden (Theogonie). — Denn Zeugung iſt die einzige
Art der Abhängigkeit, bei welcher das Abhängige gleichwohl in ſich
abſolut bleibt. Nun wird aber zur Idee der Götter erfordert, daß
ſie als beſondere abſolut ſeyen. Alſo ꝛc.
Erläuterung. Die Zeugungen der Götter auseinander ſind
wieder ein Sinnbild der Art, wie die Ideen ineinander ſind und
auseinander hervorgehen. Die abſolute Idee oder Gott begreift z. B.
alle Ideen in ſich, und ſofern dieſe als in ihm begriffene doch zugleich
wieder als für ſich abſolut gedacht werden, ſind ſie aus ihm gezeugt,
daher Jupiter Vater der Götter und Menſchen, und ſelbſt ſchon ge-
borene Weſen werden durch ihn wieder gezeugt, da mit ihm der Lauf
der Welt erſt anhebt, und alles in ihm ſeyn muß, um in der Welt
zu ſeyn.
§. 37. Erklärung. Das Ganze der Götterdichtungen,
indem ſie zur vollkommenen Objektivität oder unabhängigen poetiſchen
Exiſtenz gelangen, iſt die Mythologie. (Bloße Erklärung, alſo
keines Beweiſes bedürftig).
§. 38. Mythologie iſt die nothwendige Bedingung
und der erſte Stoff aller Kunſt.
Alles Bisherige der Beweis. Der nervus probandi liegt in der
Idee der Kunſt als Darſtellung des abſolut, des an ſich Schönen
durch beſondere ſchöne Dinge; alſo Darſtellung des Abſoluten in Be-
grenzung ohne Aufhebung des Abſoluten. Dieſer Widerſpruch iſt nur
in den Ideen der Götter gelöst, die ſelbſt wieder keine unabhängige,
wahrhaft objektive Exiſtenz haben können als in der vollkommenen
Ausbildung zu einer eignen Welt und zu einem Ganzen der Dichtung,
welches Mythologie heißt.
Zur weiteren Erläuterung. — Die Mythologie iſt nichts
[406] anderes als das Univerſum im höheren Gewand, in ſeiner abſoluten
Geſtalt, das wahre Univerſum an ſich, Bild des Lebens und des wun-
dervollen Chaos in der göttlichen Imagination, ſelbſt ſchon Poeſie und
doch für ſich wieder Stoff und Element der Poeſie. Sie (die Mytho-
logie) iſt die Welt und gleichſam der Boden, worin allein die Gewächſe
der Kunſt aufblühen und beſtehen können. Nur innerhalb einer ſolchen
Welt ſind bleibende und beſtimmte Geſtalten möglich, durch die allein
ewige Begriffe ausgedrückt werden können. Die Schöpfungen der Kunſt
müſſen dieſelbe, ja noch eine höhere Realität haben als die der Natur,
die Götterformen, die ſo nothwendig und ewig fortdauern, als das
Geſchlecht der Menſchen oder das der Pflanzen, zugleich Individuen
und Gattungen und unſterblich wie dieſe 1.
Inwiefern Poeſie das Bildende des Stoffes, wie Kunſt im engeren
Sinn der Form iſt, ſo iſt die Mythologie die abſolute Poeſie, gleich-
ſam die Poeſie in Maſſe. Sie iſt die ewige Materie, aus der alle
Formen ſo wundervoll, mannichfaltig hervorgehen.
§. 39. Darſtellung des Abſoluten mit abſoluter In-
differenz des Allgemeinen und Beſonderen im Beſonderen
iſt nur ſymboliſch möglich.
Erläuterung. Darſtellung des Abſoluten mit abſoluter In-
differenz des Allgemeinen und Beſonderen im Allgemeinen =
Philoſophie — Idee —. Darſtellung des Abſoluten mit abſoluter
Indifferenz des Allgemeinen und Beſonderen im Beſonderen =
Kunſt. Der allgemeine Stoff dieſer Darſtellung = Mythologie. In
dieſer alſo iſt ſchon die zweite Syntheſe, die der Indifferenz des All-
gemeinen und Beſonderen mit dem Beſonderen gemacht. Der auf-
geſtellte Satz iſt demnach Princip der Conſtruktion der Mythologie
überhaupt.
Um den Beweis dieſes Satzes führen zu können, iſt es nöthig,
daß wir eine Erklärung des Symboliſchen geben; und da dieſe
[407] Darſtellungsart wieder die Syntheſis zweier entgegengeſetzter iſt, der
ſchematiſchen und der allegoriſchen, ſo werde ich alſo bei dieſer Gele-
genheit erklären, was Schematismus und was Allegorie iſt.
Erläuterungsſätze.
Diejenige Darſtellung, in welcher das Allgemeine das Beſondere
bedeutet, oder in welcher das Beſondere durch das Allgemeine ange-
ſchaut wird, iſt Schematismus.
Diejenige Darſtellung aber, in welcher das Beſondere das All-
gemeine bedeutet, oder in welcher das Allgemeine durch das Beſondere
angeſchaut wird, iſt allegoriſch.
Die Syntheſis dieſer beiden, wo weder das Allgemeine das Be-
ſondere, noch das Beſondere das Allgemeine bedeutet, ſondern wo beide
abſolut eins ſind, iſt das Symboliſche.
Dieſe drei verſchiedenen Darſtellungsarten haben das Gemein-
ſchaftliche, daß ſie nur durch Einbildungskraft möglich und Formen
derſelben ſind, nur daß die dritte ausſchließlich die abſolute Form iſt.
Wir haben jedes dieſer drei auch noch vom Bild zu unterſcheiden.
Das Bild iſt immer concret, rein beſonder, und von allen Seiten ſo
beſtimmt, daß zur völligen Identität mit dem Gegenſtand nur der be-
ſtimmte Theil des Raumes fehlt, worin letzterer ſich befindet. Das
Herrſchende im Schema dagegen iſt das Allgemeine, obgleich allerdings
das Allgemeine in ihm als ein Beſonderes angeſchaut wird. Daher
konnte es Kant in der Kritik der reinen Vernunft definiren: als die
ſinnlich angeſchaute Regel der Hervorbringung eines Gegenſtandes. Es
ſteht inſofern allerdings zwiſchen dem Begriff und dem Gegenſtand in
der Mitte, und iſt in dieſer Beziehung Produkt der Einbildungskraft.
Am deutlichſten ſieht man, was Schema ſey, aus dem Beiſpiel des
mechaniſchen Künſtlers, der einen Gegenſtand beſtimmter Form einem
Begriffe gemäß hervorbringen ſoll. Dieſer Begriff ſchematiſirt ſich
ihm, d. h. er wird ihm unmittelbar in der Einbildungskraft in ſeiner
Allgemeinheit zugleich das Beſondere und Anſchauung des Beſonderen.
Das Schema iſt die Regel, welche ſein Hervorbringen leitet, aber er
ſchaut in dieſem Allgemeinen zugleich das Beſondere an. Er wird
[408] dieſer Anſchauung gemäß zuerſt nur den rohen Entwurf des Ganzen
hervorbringen, dann die einzelnen Theile vollſtändig ausbilden, bis
ihm das Schema allmählich zum völlig concreten Bild wird, und noch
mit der vollſtändig eintretenden Beſtimmung des Bildes in ſeiner Ein-
bildungskraft auch das Werk ſelbſt vollendet iſt.
Was Schema und Schematismus ſey, kann alſo jeder nur durch
eigne innere Anſchauung erfahren; da aber unſer Denken des Beſon-
deren eigentlich immer ein Schematiſiren deſſelben iſt, ſo bedarf es
eigentlich bloß der Reflexion auf den beſtändig, ſelbſt in der Sprache
geübten Schematismus, um ſich der Anſchauung davon zu verſichern.
In der Sprache bedienen wir uns auch zur Bezeichnung des Beſon-
deren doch immer nur der allgemeinen Bezeichnungen; inſofern iſt ſelbſt
die Sprache nichts anderes als ein fortgeſetztes Schematiſiren.
Es gibt nun allerdings auch einen Schematismus der Kunſt, allein
nach der Erklärung ſelbſt, die wir davon gegeben haben, iſt offenbar,
daß bloßer Schematismus keine vollkommene Darſtellung des Abſoluten
im Beſonderen heißen könne, obgleich das Schema als Allgemeines
auch wieder ein Beſonderes iſt, aber nur ſo, daß das Allgemeine das
Beſondere bedeutet. Es wäre alſo unmöglich, Mythologie überhaupt,
oder die griechiſche insbeſondere, da ſie wahre Symbolik iſt, bloß als
einen Schematismus der Natur oder des Univerſums zu begreifen, ob-
gleich es allerdings ſcheinen möchte, daß einzelne Elemente derſelben ſo
gedeutet werden können. Man könnte jenes ſchon bemerkte Zuſammen-
faſſen beſonderer, zu einem gewiſſen beſchränkten Kreis gehöriger Er-
ſcheinungen auf ein Individuum als Schematismus begreifen, indem
man nun dieſes Individuum ſelbſt wieder als das Allgemeine jener
Erſcheinungen begriffe. Aber ebenſo gut könnte man umgekehrt ſagen,
daß in ihnen vielmehr das Allgemeine (volle Maſſen von Erſcheinungen)
durch das Beſondere bedeutet werde, welches ebenſo viel Wahrheit
hätte als das Erſte, da in der ſymboliſchen Darſtellung eben beides
vereinigt iſt. Ebenſo, wenn man Mythologie nur überhaupt als eine
bloß höhere Sprache begreifen wollte, da die Sprache allerdings ganz
ſchematiſirend iſt.
[409]
Was nun die Allegorie betrifft, ſo iſt ſie das Umgekehrte des
Schema, alſo wie dieſes auch eine Indifferenz des Allgemeinen und
Beſonderen, aber ſo, daß Beſonderes hier das Allgemeine bedeutet
oder als Allgemeines angeſchaut wird. Am eheſten konnte noch dieſe
Erklärungsart auf die Mythologie mit einigem Schein angewendet
werden, und iſt auch vielfach angewendet worden. Allein es tritt hier
daſſelbe ein, was in Anſehung des Schematismus. In der Allegorie
bedeutet das Beſondere nur das Allgemeine, in der Mythologie iſt
es zugleich ſelbſt das Allgemeine. Aber eben deßwegen iſt auch alles
Symboliſche ſehr leicht zu allegoriſiren, weil die ſymboliſche Bedeutung
die allegoriſche ebenſo in ſich ſchließt, wie in der Ineinsbildung des
Allgemeinen und Beſonderen auch die Einheit des Beſonderen mit dem
Allgemeinen wie die des Allgemeinen mit dem Beſonderen enthalten iſt.
Daß nun allerdings bei Homer, ſo wie in den Darſtellungen der bil-
denden Kunſt, die Mythen nicht allegoriſch, ſondern mit abſoluter poe-
tiſcher Unabhängigkeit, als Realität für ſich gemeint ſeyen, konnte man
ſich nicht verbergen. Daher wurde in neueren Zeiten ein anderes Ex-
pediens ausgedacht. Man ſagte nämlich, urſprünglich ſeyen die Mythen
allegoriſch gemeint, aber Homer habe ſie gleichſam epiſch traveſtirt, rein
poetiſch genommen und daraus dieſe angenehmen Kindermährchen zu-
ſammengeſetzt, die er in der Ilias und Odyſſee erzählte. Dieß iſt be-
kanntlich die Vorſtellung, welche Heyne aufgebracht und ſeine Schule
geltend zu machen geſucht hat. Die innere Geiſtloſigkeit einer ſolchen
Vorſtellung überhebt uns aller Widerlegung derſelben. Es iſt, möchte
man ſagen, die gröbſte Art, das Poetiſche des Homeros zu zerſtören.
Das Gepräge einer ſolchen gemeinen Abſichtlichkeit wird man an keiner
Spur ſeiner Werke erkennen 1.
Der Zauber der homeriſchen Dichtung und der ganzen Mythologie
ruht allerdings mit darauf, daß ſie die allegoriſche Bedeutung auch als
Möglichkeit enthält — man kann auch wirklich durchweg alles alle-
goriſiren. — Darauf beruht die Unendlichkeit des Sinns in der grie-
[410] chiſchen Mythologie. Aber das Allgemeine iſt nur als Möglichkeit
darin. Das An-ſich davon iſt weder allegoriſch noch ſchematiſch, ſon-
dern die abſolute Indifferenz beider — das Symboliſche. Dieſe In-
differenz war hier das Erſte. Homeros hat dieſe Mythen nicht erſt
unabhängig poetiſch und ſymboliſch gemacht, ſie waren dieß gleich im
Anfang; daß man das Allegoriſche in ihnen ſonderte, war ein Einfall
ſpäterer Zeiten, der erſt nach Erlöſchung alles poetiſchen Geiſtes möglich
war. So läßt es ſich auch, wie ich im Folgenden zeigen werde, hin-
länglich evident machen, daß der homeriſche Mythos, und inſofern
Homer ſelbſt, in der griechiſchen Poeſie abſolut das Erſte und der
Anfang iſt. Die allegoriſchen Poeſien und Philoſopheme, wie es Heyne
nennt, ſind durchaus das Werk ſpäterer Zeiten. Die Syntheſis iſt
das Erſte. Dieß iſt das allgemeine Geſetz der griechiſchen Bildung,
welche eben dadurch ihre Abſolutheit beweist. So ſehen wir auch
deutlich, daß die Mythologie ſich ſchließt, ſowie die Allegorie anfängt.
Der Schluß der griechiſchen Mythe iſt die bekannte Allegorie von Amor
und Pſyche.
Die gänzliche Entfernung der griechiſchen Phantaſie vom Allego-
riſchen zeigt ſich vorzüglich darin, daß ſelbſt Perſonificata, die man
am eheſten für allegoriſche Weſen halten könnte, wie z. B. die Eris
(Zwietracht) doch durchaus nicht bloß als Weſen, die etwas bedeuten
ſollen, ſondern als reelle Weſen, die zugleich das ſind, was ſie be-
deuten, behandelt werden. (Gegenſatz der Neueren hierin: Dante alle-
goriſch im höchſten Styl, dann Arioſto, Taſſo. Beiſpiel: Voltaires
Henriade, wo das Allegoriſche ganz ſichtbar und grob).
Der Begriff des Symboliſchen iſt jetzt durch den Gegenſatz hin-
länglich erläutert. Man kann die Stufenfolge der drei Darſtellungs-
arten wieder als eine Stufenfolge von Potenzen anſehen. Inſofern
ſind ſie wieder allgemeine Kategorien. Man kann ſagen: die Natur in
der Körperreihe allegoriſirt bloß, da nur Beſonderes Allgemeines be-
deutet, ohne es ſelbſt zu ſeyn; daher keine Gattungen. Im Licht
im Gegenſatz mit den Körpern iſt ſie ſchematiſirend, im Organiſchen
ſymboliſch, denn hier iſt der unendliche Begriff dem Objekt ſelbſt
[411] verbunden, das Allgemeine iſt ganz das Beſondere und das Be-
ſondere das Allgemeine. Ebenſo das Denken iſt ein bloßes Schema-
tiſiren, alles Handeln dagegen allegoriſch (denn als Beſonderes be-
deutend ein Allgemeines), die Kunſt iſt ſymboliſch. Auch auf die
Wiſſenſchaften iſt dieſer Unterſchied überzutragen. Die Arithmetik iſt
allegoriſirend, denn ſie bedeutet durch das Beſondere das Allgemeine.
Die Geometrie kann man ſchematiſirend nennen, inſofern als ſie durch
das Allgemeine das Beſondere bezeichnet. Endlich die Philoſophie iſt
unter dieſen Wiſſenſchaften die ſymboliſche. (Wir werden zu denſelben
Begriffen bei der Conſtruktion der einzelnen Kunſtformen zurückkehren.
Die Muſik iſt eine allegoriſirende Kunſt, die Malerei ſchematiſirend,
die Plaſtik ſymboliſch. Ebenſo in der Poeſie die Lyrik allegoriſch, die
epiſche Poeſie hat die nothwendige Hinneigung zum Schematiſiren, die
Dramatik iſt ſymboliſch).
Als ein nothwendiger Folgeſatz geht nun aus dieſer ganzen
Unterſuchung hervor: die Mythologie überhaupt und jede Dichtung der-
ſelben insbeſondere iſt weder ſchematiſch noch allegoriſch, ſondern ſym-
boliſch zu begreifen.
Denn die Forderung der abſoluten Kunſtdarſtellung iſt: Darſtel-
lung mit völliger Indifferenz, ſo nämlich, daß das Allgemeine
ganz das Beſondere, das Beſondere zugleich das ganze Allgemeine iſt,
nicht es bedeutet. Dieſe Forderung iſt poetiſch gelöst in der Mytho-
logie. Denn jede Geſtalt in ihr iſt zu nehmen als das, was ſie iſt,
denn eben dadurch wird ſie auch genommen als das, was ſie bedeutet.
Die Bedeutung iſt hier zugleich das Seyn ſelbſt, übergegangen in den
Gegenſtand, mit ihm eins. Sobald wir dieſe Weſen etwas bedeuten
laſſen, ſind ſie ſelbſt nichts mehr. Allein die Realität iſt bei ihnen
mit der Idealität eins (§. 29), d. h. auch ihre Idee, ihr Begriff,
wird zerſtört, wofern ſie nicht als wirklich gedacht werden. Ihr höchſter
Reiz beruht eben darauf, daß ſie, indem ſie bloß ſind ohne alle Be-
ziehung — in ſich ſelbſt abſolut —, doch zugleich immer die Bedeutung
durchſchimmern laſſen. Wir begnügen uns allerdings nicht mit dem
bloßen bedeutungsloſen Seyn, dergleichen z. B. das bloße Bild
[412] gibt, aber ebenſowenig mit der bloßen Bedeutung, ſondern wir wollen,
was Gegenſtand der abſoluten Kunſtdarſtellung ſeyn ſoll, ſo concret,
nur ſich ſelbſt gleich wie das Bild, und doch ſo allgemein und ſinn-
voll wie der Begriff; daher die deutſche Sprache Symbol vortrefflich
als Sinnbild wiedergibt.
Selbſt an den Naturweſen, z. B. der Pflanze iſt die Allegorie
nicht zu verkennen, ſie iſt gleichſam die anticipirte ſittliche Schönheit,
ſie würde aber keinen Reiz für die Phantaſie, keine Befriedigung für
die Anſchauung enthalten, wenn ſie um dieſer Bedeutung willen und nicht
zuerſt um ihrer ſelbſt willen wäre. Eben in dieſem unabſichtlichen, un-
befangenen, nach außen unzweckmäßigen Seyn doch zugleich das Be-
deutende, Sinnvolle zu erkennen, entzückt uns. Es als Abſicht darin
zu erblicken, hebt den Gegenſtand ſelbſt für uns auf, der, da er ſeiner
Natur nach abſolut ſeyn ſoll, um keines Zwecks willen, der außer ihm
liegt, daſeyn darf.
Es iſt ein großes Verdienſt, das ſich unter den Deutſchen und
überhaupt zuerſt Moritz gemacht hat, die Mythologie in dieſer ihrer
poetiſchen Abſolutheit darzuſtellen. Obgleich die letzte Vollendung der
Anſicht bei ihm fehlt, und er nur zeigen kann, daß es mit dieſen Dich-
tungen ſo ſey, nicht aber die Nothwendigkeit und den Grund davon,
ſo waltet doch in ſeiner Darſtellung durchaus der poetiſche Sinn, und
vielleicht ſind die Spuren Goethes darin erkennbar, der dieſe Anſichten
durchaus in ſeinen eignen Werken ausgedrückt und ſie ohne Zweifel
auch in Moritz geweckt hat.
Ein untergeordneter Folgeſatz iſt noch: daß ebenſo unmittelbar
die Mythologie hiſtoriſch zu begreifen.
Ohne Zweifel iſt es die am meiſten proſaiſche Anſicht dieſer Dich-
tungen, nach welcher ein großer Theil der Göttergeſchichte Spuren
großer Natur-Revolutionen in der Urwelt, die Götter ſelbſt uralte
Könige bedeuten u. ſ. w. Hiermit ginge nun ſelbſt die Beziehung der
Mythologie auf Anſchauung des Univerſums und der Natur anders
als in der hiſtoriſchen Beziehung, d. h. es ginge das ſchlechthin Allge-
meingültige derſelben verloren. Nur als Typus — gleichſam als die
[413] urbildliche Welt ſelbſt — hat die Mythologie allgemeine Realität für
alle Zeiten. Die wunderbare Verflechtung, die in dieſem göttlichen
Ganzen ſtattfindet, läßt uns allerdings erwarten, daß auch Züge aus
der Geſchichte darein ſpielen. Aber wer kann in dieſem lebendigen
Ganzen das Einzelne ſondern, ohne den Zuſammenhang des Ganzen
zu zerſtören? Wie dieſe Dichtungen gleichſam als ein zarter Duft die
Natur durch ſich erblicken laſſen, ſo wirken ſie auch als ein Nebel,
durch den wir die entfernte Zeit der Urwelt und einzelne große Geſtal-
ten erkennen, die ſich auf ihrem dunklen Hintergrund bewegen. Alles
andere überzeugt uns, daß das gegenwärtige Menſchengeſchlecht ein
Menſchengeſchlecht aus der zweiten Hand iſt, daß alſo ohne Zweifel,
was in den Dichtungen der Mythologie lebt, einſt wirklich exiſtirt hat,
und ein Göttergeſchlecht dem gegenwärtigen der Menſchen vorangegangen
iſt; aber die mythologiſchen Dichtungen ſelbſt ſind doch von einer ſolchen
Wahrheit völlig unabhängig und ganz allein in ſich ſelbſt zu betrachten.
(Sie werden ſich nun ferner auch nicht wundern, wenn ich von jenen
beliebten hiſtoriſch-pſychologiſchen Erklärungen der Mythologie keinen
Gebrauch gemacht habe, nach welchen der Urſprung der Mythologie in
den Beſtrebungen roher Naturſöhne geſucht wird, alles zu perſonificiren
und zu beleben, ungefähr wie es der amerikaniſche Wilde auch thut,
wenn er die Hand in einen Topf ſiedenden Waſſers ſteckt und glaubt,
daß ein Thier darin ſey, das ihn gebiſſen habe. Von dieſer rohen
Naturſprache wäre die Mythologie, nicht dem Princip, ſondern nur dem
Grad der Ausführung nach verſchieden. Nach andern iſt ſie ein bloßer
Nothbehelf wegen der Armuth der Bezeichnungen oder Unwiſſenheit der
Urſachen, z. B. der Gott des Donners, des Feuers u. ſ. w.).
§. 40. Der Charakter der wahren Mythologie iſt der
der Univerſalität, der Unendlichkeit. — Denn ſie iſt nach
§. 34 möglich in ſich ſelbſt nur, inwiefern ſie bis zur Totalität ausge-
bildet und das urbildliche Univerſum ſelbſt darſtellt. In dieſem aber
ſind nicht nur alle Dinge, ſondern auch alle Verhältniſſe der Dinge
als abſolute Möglichkeiten zumal; daſſelbe muß alſo auch in der My-
thologie der Fall ſeyn: inſofern Univerſalität. Da aber in dem
[414] Univerſum an ſich, in der urbildlichen Welt, wovon die Mythologie die
unmittelbare Darſtellung, Vergangenheit und Zukunft als Eines ſind,
ſo muß daſſelbe auch in der Mythologie der Fall ſeyn. Sie muß
nicht nur das Gegenwärtige oder auch Vergangene darſtellen, ſondern
auch die Zukunft begreifen; ſie muß wie durch prophetiſche Anticipation
auch künftigen Verhältniſſen und den unendlichen Entwickelungen der
Zeit zum voraus angemeſſen oder adäquat, d. h. ſie muß unend-
lich ſeyn.
Dieſe Unendlichkeit muß ſich gegenüber von dem Verſtand dadurch
ausdrücken, daß kein Verſtand fähig iſt ſie ganz zu entwickeln, daß in
ihm ſelbſt eine unendliche Möglichkeit liegt, immer neue Beziehungen
zu bilden.
§. 41. Die Dichtungen der Mythologie können weder
als abſichtlich noch als unabſichtlich gedacht werden. —
Nicht als abſichtlich, denn ſonſt wären ſie um einer Bedeutung willen
erfunden, welches nach §. 39 unmöglich iſt. Nicht unabſichtlich, weil
nicht bedeutungslos. Es iſt damit im Grunde daſſelbe behauptet, was
ſchon in dem Vorhergehenden implicite behauptet wurde, nämlich die
Dichtungen der Mythologie ſind zugleich bedeutend und bedeutungslos
— bedeutend, weil ein Allgemeines im Beſonderen, bedeutungslos, weil
beides wieder mit abſoluter Indifferenz, ſo daß das, worin indifferen-
ziirt, wieder abſolut, um ſeiner ſelbſt willen iſt.
§. 42. Die Mythologie kann weder das Werk des
einzelnen Menſchen noch des Geſchlechts oder der Gat-
tung ſeyn (ſofern dieſe nur eine Zuſammenſetzung der Individuen),
ſondern allein des Geſchlechts, ſofern es ſelbſt Indivi-
duum und einem einzelnen Menſchen gleich iſt. Nicht des
Einzelnen, weil die Mythologie abſolute Objektivität haben, eine zweite
Welt ſeyn ſoll, die nicht die des Einzelnen ſeyn kann. Nicht eines
Geſchlechts oder der Gattung, ſofern ſie nur eine Zuſammenſetzung
der Individuen, denn alsdann wäre ſie ohne harmoniſche Zuſammen-
ſtimmung. Sie fordert alſo zu ihrer Möglichkeit nothwendig ein Ge-
ſchlecht, das Individuum wie Ein Menſch iſt. Die Unbegreiflichkeit,
[415] die dieſe Idee für unſere Zeit haben mag, kann ihrer Wahrheit nichts
nehmen. Sie iſt die höchſte Idee für die ganze Geſchichte überhaupt.
Analogien, ferne Anſpielungen auf ein ſolches Verhältniß enthält ſchon
die Natur in der Art, wie ſich die Kunſttriebe der Thiere äußern, in-
dem bei mehreren Gattungen ein ganzes Geſchlecht zuſammen wirkt,
jedes Individuum als das Ganze, und das Ganze ſelbſt wieder als
Individuum handelt. Ein ſolches Verhältniß kann uns in der Kunſt
um ſo weniger befremden, da wir eben hier — auf der höchſten Stufe
der Produktion — den Gegenſatz der Natur und Freiheit noch
einmal eintreten ſehen, und die griechiſche Mythologie z. B. uns in
der Kunſt ſelbſt die Natur wieder bringt, wie ich noch beſtimmt
beweiſen werde. Aber eben auch nur in der Kunſt kann die Natur
eine ſolche Eintracht des Individuums und der Gattung bewirken (im
Handeln behauptet ſie auch ihr Recht, aber weniger auffallend, mehr
im Ganzen als im Einzelnen, und im Einzelnen nur für Momente).
In der griechiſchen Mythologie hat die Natur ein ſolches Werk eines
auf ein ganzes Geſchlecht ausgedehnten gemeinſchaftlichen Kunſttriebs
aufgeſtellt, und die entgegengeſetzte Bildung der griechiſchen, die moderne,
hat nichts Aehnliches aufzuweiſen, obgleich ſie in der Bildung einer
univerſellen Kirche gleichſam inſtinktmäßig etwas Aehnliches beabſichtigte.
Vollkommen deutlich kann dieſes Verhältniß, durch welches wir
uns die griechiſche Mythologie als entſtanden denken müſſen — dieſe
in ihrer Art einzige Beſitznahme eines ganzen Geſchlechts durch einen
gemeinſchaftlichen Kunſtgeiſt — nur in der Entgegenſtellung gegen den
Urſprung der modernen Poeſie gemacht werden, zu der ich jetzt nicht
fort gehen kann. Ich erinnere an die Wolfſche Hypotheſe vom Homer,
daß er auch in ſeiner urſprünglichen Geſtalt nicht das Werk eines Ein-
zigen, ſondern mehrerer von dem gleichen Geiſt getriebener Menſchen
geweſen. Wolf hat als Kritiker die Sache nur zu empiriſch, zu be-
ſchränkt auf das ſchriftliche Werk, das wir Homer nennen, mit Einem
Wort zu untergeordnet angefaßt, um die Idee der Sache ſelbſt, das
Allgemeine vielleicht ſeiner eignen Vorſtellung deutlich und anſchaulich
machen zu können. Ich laſſe die unbeſchränkte Richtigkeit der Wolfſchen
[416] Anſicht des Homer hier gänzlich dahingeſtellt, aber ich will durch
den aufgeſtellten Satz von der Mythologie daſſelbe, was Wolf vom
Homer, behaupten. Die Mythologie und Homer ſind eins, und Homer
lag in der erſten Dichtung der Mythologie ſchon fertig involvirt, gleich-
ſam potentialiter vorhanden. Da Homer, wenn ich ſo ſagen darf,
geiſtig — im Urbild — ſchon prädeterminirt, und das Gewebe ſeiner
Dichtungen mit dem der Mythologie ſchon gewoben war, ſo iſt be-
greiflich, wie Dichter, aus deren Geſängen Homer zuſammengeſetzt
wäre, unabhängig voneinander jeder in das Ganze eingreifen konnten,
ohne ſeine Harmonie aufzuheben, oder aus der erſten Identität her-
auszugehen. Es war wirklich ein ſchon — wenn gleich nicht empiriſch
— vorhandenes Gedicht, was ſie recitirten. Der Urſprung der My-
thologie und der des Homer fallen alſo zuſammen, daher es begreiflich
iſt, wie der Urſprung beider ſchon den früheſten helleniſchen Hiſtorikern
gleich verborgen iſt, und ſchon Herodotos die Sache einſeitig vorſtellt,
nämlich Homeros habe den Hellenen zuerſt die Göttergeſchichte gemacht.
Die Alten ſelbſt bezeichnen die Mythologie und, da dieſe ihnen
mit dem Homer in eins zuſammenfällt, die homeriſchen Dichtungen
als die gemeinſame Wurzel der Poeſie, der Geſchichte und Philoſophie.
Für die Poeſie iſt ſie der Urſtoff, aus dem alles hervorging, der Ocean,
um ein Bild der Alten zu gebrauchen, aus dem alle Ströme ausfließen,
wie ſie alle in ihn zurückkehren. Erſt allmählich verliert ſich der my-
thiſche Stoff in den hiſtoriſchen; man könnte ſagen, erſt wie die Idee
des Unendlichen hervortritt und die Beziehung auf das Schickſal ent-
ſtehen kann (Herodot). In der Zwiſchenperiode muß, weil das Un-
endliche, noch ganz dem Stoff verbunden, ſelbſt ſtoffartig wirkt, jener
in der Mythologie ausgeſtreute göttliche Same noch lange in wunderba-
ren großen Ereigniſſen wuchern, wie die des heroiſchen Zeitalters ſind.
Die Geſetze gemeiner Erfahrung ſind noch nicht eingetreten, noch immer
concentriren ſich ganze volle Maſſen von Erſcheinungen auf einzelne
große Geſtalten, wie auch in der Ilias geſchieht.
Da die Mythologie nichts anderes als die urbildliche Welt ſelbſt
iſt, die erſte allgemeine Anſchauung des Univerſums, ſo war ſie Grundlage
[417] der Philoſophie, und es iſt leicht zu zeigen, daß ſie die ganze Rich-
tung auch der griechiſchen Philoſophie beſtimmt hat. Das Erſte, was
ſich aus ihr loswand, war die älteſte Naturphiloſophie der Griechen,
die noch rein realiſtiſch war, bis zuerſt Anaxagoras (νοῦς) und voll-
endeter nach ihm Sokrates das idealiſtiſche Element darein brachte.
Aber auch von dem ſittlichen Theil der Philoſophie war ſie die erſte
Quelle. Die erſten Anſichten ſittlicher Verhältniſſe, aber vorzüglich
jenes allen Griechen bis zur höchſten Bildung im Sophokles gemein-
ſchaftliche, allen ihren Werken tief eingeprägte Gefühl des untergeord-
neten Verhältniſſes der Menſchen zu den Göttern, der Sinn für Be-
grenzung und Maß auch im Sittlichen, die Verabſcheuung des Ueber-
muths, der frevelnden Gewaltthätigkeit u. ſ. w., die ſchönſten ſittlichen
Seiten der Sophokleiſchen Werke ſtammen noch von der Mythologie her.
So iſt alſo die griechiſche Mythologie nicht nur für ſich von un-
endlichem Sinn, ſondern, weil ſie auch ihrem Urſprung nach Werk
einer Gattung iſt, die zugleich Individuum iſt, ſelbſt das Werk eines
Gottes, wie in der griechiſchen Anthologie ſelbſt das Sinngedicht auf
Homer enthalten iſt:
Noch eine Reflexion. — Wir haben die Mythologie von den erſten
Kunſtforderungen aus ganz rational conſtruirt, und von ſelbſt ſtellte
ſich als die Auflöſung aller jener Forderungen die griechiſche Mytho-
logie dar. Hier drängt ſich uns das erſte Mal die durchgängige Ra-
tionalität der griechiſchen Kunſt und Poeſie auf, ſo daß man immer
ſicher ſeyn kann, jede ihrer Idee gemäß conſtruirte Kunſtgattung, ja
faſt das Kunſtindividuum in der griechiſchen Bildung anzutreffen. Die
moderne Poeſie und Kunſt dagegen iſt die irrationale, inſofern die ne-
gative Seite der alten Kunſt, womit ich ſie nicht herabſetzen will, da
auch das Negative als ſolches wieder Form werden kann, die das
Vollendete aufnimmt.
Es führt uns dieß auf den Gegenſatz der antiken und moder-
nen Poeſie in Bezug auf Mythologie.
Schelling, ſämmtl. Werke 1. Abth. V. 27
[418]
Wie uns ſchon in der Natur die Wiederkehr deſſelben Gegenſatzes
in verſchiedenen Potenzen in Verwirrung ſetzt, wenn wir das allgemeine
Geſetz derſelben nicht kennen, ſo noch viel mehr in der Geſchichte und
dem, was uns der Freiheit anzugehören ſcheint. Wir würden auch
ohne alle anderen Gründe ſchon bloß durch die Wirklichkeit uns ge-
nöthigt ſehen, anzunehmen, daß auch in der Kunſt ſelbſt — der
höchſten Vereinigung von Natur und Freiheit — wieder dieſer Ge-
genſatz der Natur und Freiheit und der des Unendlichen und End-
lichen zurückkehre, und wir bedürfen einer feſten Norm, eines aus der
Vernunft ſelbſt entworfenen Typus, um die Nothwendigkeit dieſer Wie-
derkehr zu begreifen. Der bloße Weg der Erklärung führt überhaupt
und in nichts zur wahren Erkenntniß. Die Wiſſenſchaft erklärt nicht;
unbekümmert, welche Gegenſtände aus ihrem rein wiſſenſchaftlichen
Handeln hervorgehen mögen, conſtruirt ſie; allein eben bei dieſem
Verfahren wird ſie am Ende mit der vollkommenen und geſchloſſenen
Totalität überraſcht; die Gegenſtände treten unmittelbar, durch die
Conſtruktion ſelbſt, an ihre wahre Stelle, und dieſe Stelle, die ſie in
der Conſtruktion erhalten, iſt zugleich ihre einzig wahre und richtige
Erklärung. Es braucht nun nicht weiter von der gegebenen Erſchei-
nung auf ihre Urſache zurückgeſchloſſen zu werden; ſie iſt dieſe beſtimmte,
weil ſie in dieſe Stelle tritt, und umgekehrt, ſie nimmt dieſe Stelle
ein, weil ſie dieſe beſtimmte iſt. Nur bei ſolchem Verfahren iſt Noth-
wendigkeit.
Die griechiſche Mythologie, um jetzt die nähere Anwendung auf
unſern Gegenſtand zu machen, könnte von allen Seiten betrachtet und
als eine gegebene Erſcheinung nach allen Rückſichten erklärt werden,
ohne Zweifel würde auch die Erklärung zu derſelben Anſicht zurück-
führen, welche uns die Conſtruktion gegeben hat — (denn dieß iſt eben
auch ein Vorzug der Conſtruktion, daß ſie das mit der Vernunft anti-
cipirt, worauf die richtig angeſtellte Erklärung am Ende zurück führt),
aber immer würde bei dieſem Verfahren noch etwas fehlen, die Ein-
ſicht der Nothwendigkeit und des allgemeinen Zuſammenhangs, der für
dieſe Erſcheinung gerade dieſe Stelle und dieſen Grund beſtimmt. Der
[419] Anblick und die genauere Betrachtung der griechiſchen Mythologie muß
jeden, der dafür Sinn hat, überzeugen, daß dieſe Mythologie in der
Sphäre der Kunſt ſelbſt die Natur wiederbringe, aber die Conſtruktion
bezeichnet zum voraus und mit Nothwendigkeit dieſe Stelle im allge-
meinen Zuſammenhang, welche ſie einnimmt.
Das Princip der Conſtruktion iſt, in einem andern und höhern
Sinn, das der alten Phyſik, daß die Natur einen Abſcheu vor
der Leere hat. Wo demnach im Univerſum eine leere Stelle iſt,
füllt ſie die Natur aus. Weniger bildlich ausgedrückt: keine Möglich-
keit iſt im Univerſum unerfüllt, alles Mögliche iſt wirklich. Da das
Univerſum Eins iſt, untheilbar, ſo kann es ſich in nichts ergießen, ohne
ſich ganz darein zu ergießen. Es iſt kein Univerſum der Poeſie, ohne
daß auch in ihm wieder Natur und Freiheit ſich entgegenſtehen.
Wer unſere Behauptung von der griechiſchen Mythologie als einem
Werk der Natur ſo verſtehen wollte, als wäre ſie es auf eine eben ſo
blinde Weiſe, als es die Hervorbringungen des Kunſttriebs der Thiere
ſind, würde ſie freilich ganz roh verſtehen. Aber nicht weniger würde
derjenige von der Wahrheit abirren, der ſie als ein Werk abſolut-
poetiſcher Freiheit denken wollte.
Ich habe die Hauptzüge ſchon angegeben, durch welche die grie-
chiſche Mythologie ſich innerhalb der Kunſtwelt wieder als die orga-
niſche Natur darſtellt. Es iſt ſchon vielmals bemerkt worden, welche
Flucht vor dem Formloſen, dem Unbegrenzbaren in ihr herrſchend iſt.
Wie das Organiſche ins Unendliche zurück nur aus dem Organiſchen
entſtehen kann, ſo auch hier nichts ohne Zeugung, nichts aus dem
Formloſen, dem Unendlichen für ſich, ſondern immer aus dem ſchon
Gebildeten. Der Unendlichkeit unerachtet, welche die griechiſche My-
thologie noch immer hat, zeigt ſie doch nach außen ſich durchaus als
endlich, vollendet, ihrem ganzen Weſen nach als realiſtiſch. Das Un-
endliche zeigt ſich hier auf der höheren Stufe wieder ebenſo wie im
Organismus unmittelbar dem Stoffe verbunden; deßwegen iſt, inner-
halb dieſes Ganzen, alle Bildung eine nothwendige, und betrachtet man
es als Ein organiſches Weſen, ſo hat es nach innen wirklich die
[420] materielle Unendlichkeit, die das organiſche Weſen auszeichnet. Bildung
quillt aus Bildung hervor, ins Unendliche nicht nur theilbar, ſondern
wirklich getheilt. Nirgends tritt das Unendliche als unendlich hervor,
es iſt überall da, aber nur in dem Gegenſtand — dem Stoff verbun-
den —, nirgends in der Reflexion des Dichters z. B. in den homeri-
ſchen Geſängen. Unendliches und Endliches ruhen noch unter einer
gemeinſchaftlichen Hülle. Gegenüber von der Natur iſt jede ihrer Ge-
ſtalten ideal-unendlich, in der Beziehung auf die Kunſt ſelbſt aber durch-
aus real-begrenzt und endlich. Daher die gänzliche Abweſenheit aller
ſittlichen Begriffe in der Mythologie, ſofern ſie die Götter betrifft.
Dieſe ſind organiſche Weſen einer höheren, einer abſoluten, durchaus
idealiſtiſchen Natur. Sie handeln durchaus als ſolche, immer ihrer
Begrenzung gemäß, und darum wieder abſolut. Selbſt die ſittlichſten
Götter, wie Themis, ſind doch ſittlich nicht aus Sittlichkeit, ſondern
bei ihnen gehört auch dieſes wieder zur Begrenzung. Sittlichkeit iſt
wie Krankheit und Tod allein den Sterblichen anheim gefallen, und in
dieſen kann ſie ſich in Beziehung auf die Götter nur als Empörung
gegen dieſe äußern. Prometheus iſt das Urbild der Sittlichkeit, welches
die alte Mythologie aufſtellt. Er iſt das allgemeine Symbol desjenigen
Verhältniſſes, welches die Sittlichkeit in ihr hat. Darum, weil in ihm
die Freiheit ſich als Unabhängigkeit von den Göttern äußert, wird er
an den Felſen geſchmiedet, ewig heimgeſucht von dem von Jupiter ge-
ſandten Geier, der ſeine immer wieder wachſende Leber nagt. So
repräſentirt er das ganze menſchliche Geſchlecht, und duldet in ſeiner
Perſon die Qualen der ganzen Gattung. Hier tritt alſo das Unend-
liche allerdings hervor, aber in ſeinem Hervortreten unmittelbar wieder
gefeſſelt, zurückgehalten und begrenzt. Ebenſo wie in der alten Tra-
gödie, wo die höchſte Sittlichkeit in der Anerkennung der Schranken
und der Begrenzung liegt, die dem menſchlichen Geſchlecht geſetzt iſt 1.
Wenn alle Gegenſätze überhaupt nur auf einem Ueberwiegen des
Einen, niemals auf einem gänzlichen Ausſchließen des Entgegengeſetzten
[421] beruhen, ſo wird daſſelbe nothwendig auch von der griechiſchen Poeſie
gelten. Wenn wir daher behaupten, daß Endlichkeit, Begrenzung das
Grundgeſetz aller griechiſchen Bildung ſey, ſo iſt damit nicht behauptet,
daß in ihr überall kein Regen des Entgegengeſetzten, des Unendlichen
wahrnehmbar ſey. Es läßt ſich vielmehr der Punkt ſehr beſtimmt be-
zeichnen, bei welchem es entſchieden hervortrat. Ohne Zweifel war es
der Zeitpunkt des entſtehenden Republikanismus, mit welchem auch der
Urſprung vorzüglich der lyriſchen Kunſt und der Tragödie als gleich-
zeitig angenommen werden kann 1. Aber eben dieß iſt der auffallendſte
Beweis, daß dieſe entſchiedenere und bis zu einer gewiſſen Aeußerung
durchgedrungene Regung des Unendlichen in der griechiſchen Bildung
durchaus nachhomeriſch iſt. Nicht als ob nicht früher ſchon in Grie-
chenland unmittelbarer aufs Unendliche ſich beziehende Gebräuche und
religiöſe Handlungen geweſen wären, ſie ſchloſſen ſich gleich urſprüng-
lich als Myſterien von dem Allgemeingültigen und der Mythologie ab.
Es ſollte nicht ſchwer fallen, zu beweiſen, daß alle myſtiſchen Elemente
— ſo will ich bis zur näheren Erklärung vorläufig alle ſich unmittelbar
auf das Unendliche beziehenden Begriffe nennen — daß alle ſolche Ele-
mente der helleniſchen Bildung urſprünglich fremd waren, ſowie ſie ſich
ſelbige auch ſpäterhin nur in der Philoſophie aneignen konnte.
Die erſten Regungen der Philoſophie, deren Beginn überall der
Begriff des Unendlichen iſt, zeigten ſich ſelbſt zuerſt in myſtiſchen Ge-
dichten, dergleichen die von Platon und Ariſtoteles erwähnten orphiſchen
Lieder, die Gedichte des Muſäos, die zahlreichen Poeme des Sehers
und Philoſophen Epimenides. Jemehr ſich in der griechiſchen Bildung
das Princip des Unendlichen entwickelte, deſto mehr beſtrebte man ſich,
dieſer myſtiſchen Poeſie ein höheres Anſehen des Alters zu geben und
ihren Urſprung ſelbſt über das Zeitalter Homers hinaus zu rücken.
Allein ſchon Herodotos widerſpricht dem, wenn er ſagt, daß alle Dich-
ter, die für älter ausgegeben werden als Homeros und Heſiodos, jünger
ſeyen. Homer kennt keine Orgien, keinen Enthuſiasmus im Sinne der
Prieſter und der Philoſophen.
[422]
So wenig bedeutend aber dieſe myſtiſchen Elemente für die Ge-
ſchichte der helleniſchen Poeſie waren, ſo merkwürdig ſind ſie doch uns
als die Regungen des entgegengeſetzten Pols in der griechiſchen Bil-
dung, und wenn wir den Gegenſatz, an ſeinem höchſten Punkte ange-
faßt, als Chriſtenthum und Heidenthum bezeichnen, ſo deuten ſie uns
im Heidenthum Elemente des Chriſtenthums an, wie wir dagegen im
Chriſtenthum gleiche Elemente des Heidenthums nachweiſen können.
Sieht man auf das Weſen der griechiſchen Dichtungen, ſo hat
ſich in ihnen Endliches und Unendliches ſo durchdrungen, daß man in
ihnen kein Symboliſiren des einen durch das andere, ſondern nur das
abſolute Gleichſetzen beider wahrnehmen kann. Sieht man aber auf die
Form, ſo iſt jene ganze Ineinsbildung des Unendlichen und End-
lichen wieder im Endlichen oder im Beſonderen dargeſtellt. Da nun,
wo die Einbildungskraft nicht bis zur völligen Wechſeldurchdringung
beider ging, konnten nur die zwei Fälle ſtattfinden, daß entweder
das Unendliche durch das Endliche, oder das Endliche durch das Un-
endliche ſymboliſirt wurde. Das Letzte war der Fall des Orientalen.
Der Grieche zog nicht das einſeitig-Unendliche, ſondern das ſchon mit
dem Endlichen durchdrungene Unendliche, d. h. das ganze Göttliche,
das Göttliche, ſofern es Allheit iſt, herab in die Endlichkeit. Die
griechiſche Poeſie iſt inſofern die abſolute, und hat als Indifferenz-
punkt keinen Gegenſatz außer ſich. Der Orientale war überall nicht
bis zur Durchdringung ſelbſt gekommen; nicht nur alſo, daß in ſeiner
Mythologie Geſtalten von wahrhaft unabhängigem poetiſchem Leben
unmöglich ſind, ſeine ganze Symbolik iſt auch noch einſeitig, nämlich
Symbolik des Endlichen durch das Unendliche; er iſt daher mit ſeiner
Einbildungskraft ganz in der überſinnlichen oder Intellektualwelt, wohin
er auch die Natur verſetzt, ſtatt umgekehrt die Intellektualwelt — als
die, worin Endliches und Unendliches eins ſind — durch die Natur zu
ſymboliſiren und ſo ins Reich des Endlichen zu verſetzen, und inſofern
kann man wirklich ſagen, daß ſeine Poeſie das Umgekehrte der grie-
chiſchen iſt.
Wenn wir unter dem Unendlichen das abſolut Unendliche, demnach
[423] die vollkommene Ineinsbildung des Unendlichen und Endlichen ver-
ſtehen, ſo ging die Richtung der griechiſchen Phantaſie vom Unendlichen
oder Ewigen zum Endlichen, die der orientaliſchen dagegen vom End-
lichen zum Unendlichen, aber ſo, daß in der Idee des Unendlichen die
Entzweiung nicht nothwendig aufgehoben war. Vielleicht iſt dieß am
beſtimmteſten darzuſtellen an der perſiſchen Lehre, ſoweit ſie aus den
Zendbüchern und andern Quellen bekannt iſt. Die perſiſche und indiſche
Mythologie aber ſind unter den idealiſtiſchen Mythologien ohne Zweifel
die berühmteſten. Es wäre ungeſchickt, auf die indiſche Mythologie
daſſelbe anwenden zu wollen, was von der griechiſchen (realiſtiſchen) gilt,
und die Forderung zu machen, ihre Geſtalten unabhängig, an ſich,
rein als das, was ſie ſind, zu betrachten. Von der andern Seite iſt
aber nicht zu leugnen, daß die indiſche Mythologie der poetiſchen Be-
deutung mehr als die perſiſche ſich genähert hat. Wenn dieſe in allen
ihren Bildungen bloßer Schematismus bleibt, ſo erhebt ſich jene wenig-
ſtens zur allegoriſchen, und das Allegoriſche iſt das herrſchende poetiſche
Princip in ihr. Daher die Leichtigkeit oberflächlich poetiſcher Köpfe,
ſie ſich anzueignen. Zum Symboliſchen geht es nicht. Allein da ſie
doch wenigſtens durch Allegorie poetiſch iſt, ſo konnte in der weiteren
Ausbildung der allegoriſchen Seite allerdings wahre Poeſie entſtehen,
ſo daß die indiſche Bildung Werke ächter Dichtkunſt aufzuweiſen hat.
Der Grund oder Stamm iſt unpoetiſch; das aber, was gleichſam un-
abhängig von dieſem ſich für ſich ſelbſt gebildet hat, iſt poetiſch. Die
herrſchende Farbe auch der dramatiſchen Gedichte der Indier, z. B. der
Sakontala und des Sehnſucht- und Wolluſt-athmenden Gedichts der
Gita-Govin, iſt die lyriſch-epiſche. Dieſe Gedichte ſind für ſich nicht
allegoriſch, und wenn etwa die Liebſchaften und die Wandelbarkeit des
Gottes Kriſchna (welche das Sujet des zuletzt angeführten Gedichtes iſt)
urſprünglich allegoriſche Bedeutung hatten, ſo haben ſie ſolche wenig-
ſtens in dieſem Gedicht verloren. Aber obgleich dieſe Werke wenigſtens
als Ganzes nicht allegoriſch ſind, ſo iſt doch die innere Conſtruktion
derſelben ganz im Geiſte der Allegorie. Man kann allerdings nicht
wiſſen, wie weit die Poeſie der Indier ſich zur Kunſt gebildet hätte,
[424] wäre ihnen nicht durch ihre Religion alle bildende Kunſt als Plaſtik
verſagt geweſen. Man wird den Geiſt ihrer Religion, ihrer Gebräuche
und Poeſie am beſten faſſen, wenn man als den Grundtypus derſelben
den Pflanzenorganismus denkt. Die Pflanze iſt für ſich wieder in der
organiſchen Welt das allegoriſche Weſen. Farbe und Duft, dieſe ſtille
Sprache, iſt ihr einziges Organ, wodurch ſie ſich zu erkennen gibt.
Dieſer Pflanzencharakter ſpricht ſich in ihrer ganzen Bildung aus, na-
mentlich z. B. der Architektur (Arabesken); ſie iſt von den plaſtiſchen
Künſten die einzige, in der ſie es zu einem bedeutenden Grad von
Ausbildung gebracht haben. Architektur an ſich iſt noch eine allegoriſche
Kunſt, der das Schema der Pflanze zu Grunde liegt, ganz beſonders
der indiſchen, von der man ſich des Gedankens kaum erwehren kann,
daß ſie der gothiſch genannten ihren Urſprung gegeben habe (worauf
wir ſpäter wieder zurückkommen werden).
Wir mögen ſoweit zurückgehen in der Geſchichte menſchlicher Bil-
dung als wir können, ſo finden wir ſchon zwei getrennte Ströme von
Poeſie, Philoſophie und Religion, und der allgemeine Weltgeiſt offen-
bart ſich auch auf dieſe Weiſe unter den zwei entgegengeſetzten Attri-
buten, des Idealen und Realen.
Die realiſtiſche Mythologie hat ihre Blüthe in der griechiſchen erreicht,
die idealiſtiſche ſich im Lauf der Zeit ganz in das Chriſtenthum ergoſſen.
Niemals konnte der Lauf der alten Geſchichte ſo abbrechen, eine
wirkliche neue Welt beginnen, die mit dem Chriſtenthum wirklich begonnen
hat, ohne einen gleichſam durch das ganze Menſchengeſchlecht greifenden
Abfall.
Die, welche die Dinge nur in der Einzelnheit aufzufaſſen im
Stande ſind, mögen es auch in Anſehung des Chriſtenthums ſo halten.
Für einen höheren Geſichtspunkt war es in ſeinem erſten Entſtehen
ſelbſt eine bloß einzelne Erſcheinung des allgemeinen Geiſtes, der
ſich bald der ganzen Welt bemächtigen ſollte. Nicht das Chriſtenthum
hat den Geiſt der damaligen Jahrhunderte einſeitig erſchaffen; es war
von dieſem allgemeinen Geiſt zuerſt nur eine Aeußerung, war das
Erſte, was dieſen Geiſt ausſprach, und ihn dadurch fixirte.
[425]
Es iſt nothwendig, auf die hiſtoriſchen Anfänge des Chriſtenthums
zurückzugehen, ſelbſt um nachher die Poeſie, die ſich aus ihm zu einem
unabhängigen Ganzen geſtaltet hat, zu begreifen. Um dieſe Art der
Poeſie, die von der antiken nicht bloß gradweiſe, ſondern ganz ver-
ſchieden iſt, nur überhaupt zuerſt in ihrem Gegenſatz zu faſſen, müſſen
wir die früheren Zuſtände, die der ſpäteren Verklärung zur Poeſie
vorangehen, aufzufaſſen ſuchen.
Wir erkennen in der erſten Epoche des Chriſtenthums gleich zwei
ganz verſchiedene Momente. Der erſte, wo es ſich ganz innerhalb der
Mutterreligion — der jüdiſchen — als Glaube einer einzelnen Sekte
hielt; weiter hatte es Chriſtus ſelbſt nicht geführt, obgleich er, ſoviel
man von ſeiner Geſchichte weiß, von einer ſehr hohen Ahndung der
weiteren Verbreitung ſeiner Lehre erfüllt war und gewiſſermaßen ſeyn
mußte. Die jüdiſche Mythologie, welche ſich erſt, nachdem dieſe Nation
durch ihre politiſche Unterjochung mit fremden Völkern in nähere Be-
rührung kam, einigermaßen geläutert hatte — indem ſie alle höheren
Vorſtellungsarten, ſelbſt den philoſophiſchen Monotheismus bloß fremden
Völkern verdankte — war in ihrem Urſprung und an ſich eine ganz
realiſtiſche Mythologie. In dieſen rohen Stoff ſenkte Chriſtus den
Keim einer höheren Sittlichkeit, es ſey nun, daß er dieſen aus ſich
ganz unabhängig geſchöpft habe oder nicht (Hypotheſe eines Verhältniſſes
Chriſti zu den Eſſäern). Wir können nicht beurtheilen, wieweit ſich
die beſondere Wirkung Chriſti erſtreckt hätte ohne die nachherigen Er-
eigniſſe. Was ſeiner Sache den höchſten Schwung gab, war die letzte
Kataſtrophe ſeines Lebens und das vielleicht beiſpielloſe Ereigniß, daß
er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervorging, eine
Thatſache, welche etwa als Allegorie wegerklären und alſo als Faktum
leugnen zu wollen, hiſtoriſch wahnſinnig iſt, da dieſe Eine Begebenheit
die ganze Geſchichte des Chriſtenthums gemacht hat. Alle Wunder,
die man nachher auf dieß Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht ver-
mocht. Von dieſem Augenblick an war Chriſtus der Heros einer neuen
Welt, das Niedrigſte ward zum Höchſten, das Kreuz, das Zeichen der
tiefſten Schmach, ward zum Zeichen der Welteroberung.
[426]
In den erſten ſchriftlichen Denkmälern der Geſchichte des Chriſten-
thums rührt ſich ſchon der Gegenſatz des realiſtiſchen und idealiſtiſchen
Princips im Chriſtenthum. Der Verfaſſer des Evangeliums Johannis
iſt von den Ideen einer höheren Erkenntniß begeiſtert und nimmt dieſe
zur Einleitung in ſeine einfache und ſtille Erzählung von dem Leben
Chriſti; die andern erzählen im jüdiſchen Geiſt und umgeben ſeine Ge-
ſchichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Weiſſagungen im A. T.
erfunden waren. Sie ſind a priori überzeugt, daß dieſe Geſchichten
ſich ſo ereignet haben müſſen, da ſie im A. T. vom Meſſias prophezeit
ſind, deßwegen ſetzen ſie hinzu: „auf daß erfüllet würde, was geſchrieben
ſteht“, und in Beziehung auf ſie kann man ſagen: Chriſtus ſey eine
hiſtoriſche Perſon, deren Biographie ſchon vor ihrer Geburt verzeichnet
geweſen.
Es iſt wichtig gleich mit dieſen erſten Regungen der Gegenſätze
im Chriſtenthum zu bemerken, wie das realiſtiſche Princip durchaus
das Uebergewicht behauptet und auch in der Folge erhält, welches noth-
wendig war, wenn das Chriſtenthum ſich nicht ebenſo wie alle andern
urſprünglich orientaliſchen Religionen in Philoſophie auflöſen ſollte.
Schon zu der Zeit als die erſten Berichte vom Leben Jeſu abgefaßt
wurden, bildete ſich im Chriſtenthum ſelbſt ein engerer Kreis geiſtige-
rer Erkenntniß, Gnoſis genannt. Es beweist ein richtiges Gefühl,
ein ſicheres Bewußtſeyn deſſen, was ſie wollen mußten, in den erſten
Verbreitern des Chriſtenthums, daß ſie ſich wie einmüthig dem Ein-
dringen philoſophiſcher Syſteme widerſetzten. Sie entfernten mit offen-
barer Ueberlegung alles, was nicht univerſalhiſtoriſch, nicht Sache aller
Menſchen werden konnte. Wie ſich das Chriſtenthum urſprünglich aus
dem Haufen der Elenden und Verachteten ſeine Anhänger geholt,
und gleichſam in ſeinem Urſprung ſchon die demokratiſche Richtung
hatte, ſo ſuchte es auch dieſe Popularität fortwährend zu erhalten.
Der erſte große Schritt zur künftigen Bildung des Chriſtenthums
war der Eifer des Apoſtels Paulus, der jene Lehre zuerſt unter die
Heiden trug. Nur in dem fremden Boden konnte es ſich geſtalten.
Es war nothwendig, daß die orientaliſchen Ideen in den occidentaliſchen
[427] Boden verpflanzt wurden. Allerdings war dieſer Boden für ſich un-
fruchtbar, das ideale Princip mußte vom Orient kommen, aber auch
dieſes war für ſich wie in den orientaliſchen Religionen reines Licht,
reiner Aether, geſtalt- und ſogar farblos. Nur in der Verbindung
mit dem Entgegengeſetzteſten konnte es Leben entzünden. Wo ganz
verſchiedenartige Elemente ſich berühren, da erſt bildet ſich der chaotiſche
Stoff, der der Anfang alles Lebens iſt. Nimmermehr aber hätte ſich
der chriſtliche Stoff zur Mythologie gebildet, wäre das Chriſtenthum
nicht univerſalhiſtoriſch geworden. Denn ein univerſeller Stoff iſt die
erſte Bedingung aller Mythologie.
Der Stoff der griechiſchen Mythologie war die Natur, die allge-
meine Anſchauung des Univerſums als Natur, der Stoff der chriſtlichen
die allgemeine Anſchauung des Univerſums als Geſchichte, als einer
Welt der Vorſehung. Dieß iſt der eigentliche Wendepunkt der antiken
und modernen Religion und Poeſie. Die moderne Welt beginnt, in-
dem ſich der Menſch von der Natur losreißt, aber da er noch keine
andere Heimath kennt, ſo fühlt er ſich verlaſſen. Wo ein ſolches
Gefühl ſich über ein ganzes Geſchlecht ausbreitet, wendet es ſich frei-
willig oder durch inneren Trieb gezwungen der ideellen Welt zu, um
ſich dort einheimiſch zu machen. Ein ſolches Gefühl war über die Welt
verbreitet, als das Chriſtenthum entſtand. Griechenlands Schönheit
war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf ſich gehäuft
hatte, erlag unter ſeiner eignen Größe; die vollſte Befriedigung durch
alles Objektive führte von ſelbſt den Ueberdruß und die Hinneigung
zum Ideellen herbei. Ehe noch das Chriſtenthum ſeine Macht nach
Rom erſtreckt hatte, ſchon unter den erſten Kaiſern, war dieſe ſittenloſe
Stadt mit orientaliſchem Aberglauben erfüllt, Sterndeuter und Magier
ſelbſt die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der Götter hatten
ihr Anſehen verloren, noch eh’ ſie gänzlich verſtummten. Das allge-
meine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht
weiter fortſchreiten konnte, lag gleich einer ſchwülen Luft, die eine
große Bewegung der Natur voraus verkündet, auf der ganzen damali-
gen Welt, und eine allgemeine Ahndung ſchien alle Gedanken nach dem
[428] Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kommen würde, wovon
ſelbſt in den Nachrichten des Tacitus und Sueton Spuren liegen.
In der Weltherrſchaft Roms, kann man ſagen, hat der Weltgeiſt
zuerſt die Geſchichte als Univerſum angeſchaut; von ihr als dem Mit-
telpunkt aus bildeten und verketteten ſich alle Beſtimmungen der Völker,
und, gleichſam nur ſeine Abſicht einer neuen Welt aufs deutlichſte
auszuſprechen, führte der Weltgeiſt — wie ein großer Sturmwind oft
ganze Schaaren von geflügelten Thieren über ein Land führt, oder
große Gewäſſer ungeheure Maſſen gegen Eine Stelle gewälzt haben,
ſo führte der Weltgeiſt noch unbekannte, entlegene Völker her auf den
Schauplatz der Weltherrſchaft, um mit den Trümmern des dahinſtür-
zenden Roms den Stoff aller Klimate und aller Völker zu vermiſchen.
Wer nicht an den Zuſammenhang der Natur und der Geſchichte glaubt,
der müßte es, wenn er dieſen Punkt auffaßte. In demſelben Augen-
blick, wo der Weltgeiſt ein großes, nie geſehenes Schauſpiel vorbereitet,
auf eine neue Welt ſinnt und zürnend auf die ſtolze Größe Roms,
welches die Herrlichkeit der ganzen Welt, indem es ſie in ſich verſam-
melte, zugleich in ſich begrub, die damalige Welt zum Gericht reif ſieht,
führt eine Beſtimmung der Natur, eine Nothwendigkeit, die ſo beſtimmt
iſt, als die, welche die großen Perioden der Erde und die Bewegung
ihrer Pole lenkt, Maſſen fremder Horden von allen Seiten gegen dieſen
Mittelpunkt heran, und eine Naturnothwendigkeit führt das aus, was
der Geiſt der Geſchichte in ſeinen Planen entworfen hat.
Ich will hier alſo nur meinen Unglauben an das Unzureichende
aller hiſtoriſchen Erklärungen der Völkerwanderung bekennen und ge-
ſtehen, daß ich ihren Grund weit beſtimmter in einem allgemeinen,
auch die Natur beſtimmenden Geſetz, als einem bloß hiſtoriſchen Grund,
ſuchen möchte, einem Naturgeſetz, welches rohe, barbariſche Nationen
blinder leitet. Was in der Natur, dem Geſetz der Endlichkeit gemäß,
ſtiller, beſchränkter geſchieht, ſpricht ſich in der Geſchichte in größeren
Perioden und lauter aus, und was die periodiſche Declination der
Magnetnadel phyſiſch, war hiſtoriſch betrachtet die Völkerwanderung.
Von dieſem Zeitpunkt, dem der höchſten Macht und der Zertrümmerung
[429] des römiſchen Reichs, beginnt eigentlich zuerſt, was wir Univerſal-
hiſtorie nennen können. Jenſeits deſſelben iſt, wie in dem Theil des
Univerſums, der die reale Seite deſſelben darſtellt, das Beſondere
herrſchend; ein beſonderes Volk, wie das der Griechen, wohnend in
engen Grenzen und auf wenigen Eilanden, iſt dort die Gattung, hier
dagegen wird das Allgemeine herrſchend und das Beſondere zerfällt
darin.
Die ganze alte Geſchichte kann als die tragiſche Periode der Ge-
ſchichte betrachtet werden. Auch das Schickſal iſt Vorſehung, aber im
Realen angeſchaut, ſo wie die Vorſehung das Schickſal iſt, aber im
Idealen angeſchaut. Die ewige Nothwendigkeit offenbart ſich in der
Zeit der Identität mit ihr als Natur. So in den Griechen. Mit
dem Abfall von ihr offenbart ſie ſich als Schickſal in herben und ge-
waltigen Schlägen. Um ſich dem Schickſal zu entziehen, iſt nur Ein
Mittel, ſich in die Arme der Vorſehung zu werfen. Dieß war das
Gefühl der Welt in jener Periode der tiefſten Umwandlung, als das
Schickſal an allem Schönen und Herrlichen des Alterthums ſeine letzte
Tücke übte. Da verloren die alten Götter ihre Kraft, die Orakel
ſchwiegen, die Feſte verſtummten und ein bodenloſer Abgrund voll wilder
Vermiſchung aller Elemente der geweſenen Welt ſchien ſich vor dem
menſchlichen Geſchlecht zu öffnen. Ueber dieſem finſtern Abgrund er-
ſchien als das einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts
der Kräfte das Kreuz, gleichſam der Regenbogen einer zweiten Sünd-
fluth, wie es ein ſpaniſcher Dichter nennt, — zu einer Zeit, wo keine
Wahl übrig blieb, an dieſes Zeichen zu glauben. Wie nun aus dieſem
trüben Stoff ſich endlich die zweite Welt der Poeſie losgewunden, wie
er ſich zu einem mythiſchen Stoff gebildet hat, davon werde ich die
Hauptzüge wenigſtens angeben. (Wenn ich die ganze Totalität des
mythiſchen Stoffs, der im Chriſtenthum liegt, dargeſtellt haben werde,
werde ich das Reſultat des Ganzen wieder zu wenigen Hauptſätzen
vereinigt darlegen können).
Um die Mythologie des Chriſtenthums in ihrem Princip zu faſſen,
gehen wir auf den Punkt ihrer Entgegenſetzung mit der griechiſchen
[430] zurück. In dieſer wird das Univerſum angeſchaut als Natur, in
jener aber als moraliſche Welt. Der Charakter der Natur iſt unge-
trennte Einheit des Unendlichen mit dem Endlichen: das Endliche iſt
herrſchend, aber in ihm als der gemeinſchaftlichen Hülle liegt der Keim
des Abſoluten, der ganzen Einheit des Unendlichen und Endlichen.
Der Charakter der moraliſchen Welt — die Freiheit — iſt urſprüng-
lich Entgegenſetzung des Endlichen und Unendlichen mit der abſoluten
Forderung der Aufhebung des Gegenſatzes. Aber ſelbſt dieſe, da ſie
auf einem Einbilden des Endlichen ins Unendliche beruht, ſteht wieder
unter der Beſtimmung der Unendlichkeit, ſo daß der Gegenſatz zwar
immer im Einzelnen, aber doch nie im Ganzen aufgehoben ſeyn kann.
Wenn alſo die in der griechiſchen Mythologie erfüllte Forderung
Darſtellung des Unendlichen als ſolchen im Endlichen, demnach Sym-
bolik des Unendlichen war, ſo liegt dem Chriſtenthum die entgegengeſetzte
zu Grunde, das Endliche ins Unendliche aufzunehmen, d. h. es zur
Allegorie des Unendlichen zu machen. Im erſten Fall gilt das Endliche
etwas für ſich, denn es nimmt das Unendliche in ſich ſelbſt auf, im
andern Fall iſt das Endliche für ſich ſelbſt nichts, ſondern nur, ſofern
es das Unendliche bedeutet. Unterordnung des Endlichen unter das
Unendliche iſt alſo Charakter einer ſolchen Religion.
Im Heidenthum iſt das Endliche als in ſich ſelbſt unendlich ſo weit
geltend gegen das Unendliche, daß in ihm ſogar Aufſtand gegen das
Göttliche möglich, und dieſer ſogar Princip der Erhabenheit iſt. Im
Chriſtenthum iſt unbedingte Hingabe an das Unermeßliche, und dieß
einziges Princip der Schönheit. — Aus dieſer Entgegenſetzung laſſen
ſich alle anderen möglichen Gegenſätze des Heidenthums und Chriſten-
thums vollkommen begreifen; z. B. in jenem die heroiſchen, in dieſem
die milden und ſanften Tugenden herrſchend, dort ſtrenge Tapferkeit,
hier Liebe oder wenigſtens Tapferkeit durch Liebe gemäßigt und gemil-
dert, wie in den Zeiten der Chevalerie.
Man könnte glauben, daß in der Idee des Chriſtenthums, die
eine Mehrheit von Perſonen in der Gottheit behauptet, eine Spur von
Polytheismus ſey; daß aber die Dreieinigkeit als ſolche nicht als
[431] Symbol einer Idee betrachtet werden kann, erhellt daraus, daß die
drei Einheiten in der göttlichen Natur ſelbſt ganz ideal gedacht werden,
und ſelbſt Ideen, aber nicht Symbole von Ideen ſind, daß dieſe Idee
von ganz philoſophiſchem Gehalt iſt. Das Ewige iſt der Vater aller
Dinge, der nie aus ſeiner Ewigkeit herausgeht, aber ſich von Ewigkeit
in zwei mit ihm gleich ewige Formen gebiert, das Endliche, welches
der an ſich abſolute, in der Erſcheinung aber leidende und menſchwer-
dende Sohn Gottes iſt, dann der ewige Geiſt, das Unendliche, in dem
alle Dinge eins ſind. Ueber dem der alles auflöſende Gott.
Man kann ſagen, daß, wenn dieſe Ideen an und für ſich fähig
wären, poetiſche Realität zu haben, ſie ſolche durch ihre Behandlung
im Chriſtenthum erlangt hätten. Sie wurden gleich anfänglich völlig
unabhängig von ihrer ſpeculativen Bedeutung, ganz hiſtoriſch, buchſtäb-
lich genommen. Aber es war der erſten Anlage nach unmöglich, daß
ſie ſich ſymboliſch geſtalten konnten. Dante, der im letzten Geſang
ſeines Paradieſes zur Anſchauung Gottes gelangt, ſieht in der Tiefe
der klaren Subſtanz der Gottheit drei Lichtkreiſe von drei Farben und
Einem Umfang; einer ſchien nur von dem andern wie Regenbogen von
Regenbogen reflektirt, und der dritte war der Brennpunkt, der nach allen
Seiten gleich ausathmete. Aber er ſelbſt verglich ſeinen Zuſtand mit
dem des Geometers, der ſich ganz auf die Meſſung des Kreiſes heftet,
und das Princip nicht findet, deſſen er bedarf.
Nur die Idee des Sohns iſt im Chriſtenthum zur Geſtalt ge-
worden; aber auch dieß nur durch Verluſt ihres höchſten Sinns. Wenn
in dem Chriſtenthum der Sohn Gottes eine wahrhaft ſymboliſche Be-
deutung haben ſollte, ſo hatte er dieſe als Symbol der ewigen Menſch-
werdung Gottes im Endlichen. Alſo dieß ſollte er bedeuten und zu-
gleich eine einzelne Perſon ſeyn; aber im Chriſtenthum iſt er bloß
dieſes, ſeine Beziehung iſt nur hiſtoriſch, keine Beziehung auf Natur.
Chriſtus war gleichſam der Gipfel der Menſchwerdung Gottes, und
demnach der Menſch gewordene Gott ſelbſt. Aber wie verſchieden zeigt
ſich dieſe Menſchwerdung Gottes im Chriſtenthum von der Verend-
lichung des Göttlichen im Heidenthum. Es iſt im Chriſtenthum nicht
[432] um das Endliche zu thun; Chriſtus kommt in die Menſchheit in ihrer
Niedrigkeit und zieht Knechtsgeſtalt an, um zu leiden und das End-
liche in ſeinem Beiſpiel zu vernichten. Hier iſt keine Vergötterung der
Menſchheit, wie in der griechiſchen Mythologie; es iſt eine Menſchwer-
dung Gottes in der Abſicht, das von Gott abgefallene Endliche durch
die Vernichtung in ſeiner Perſon mit Gott zu verſöhnen. Nicht das
Endliche wird hier abſolut und Symbol des Unendlichen; der Menſch-
gewordene Gott iſt keine bleibende, ewige Geſtalt, ſondern nur eine von
Ewigkeit zwar beſchloſſene, in der Zeit aber vergängliche Erſcheinung.
In Chriſtus wird viel mehr das Endliche durch das Unendliche als dieſes
durch jenes ſymboliſirt. Chriſtus geht in die überſinnliche Welt zurück,
und verheißt ſtatt ſeiner den Geiſt — nicht das ins Endliche kommende,
im Endlichen bleibende Princip, ſondern das ideale Princip, welches
vielmehr das Endliche ins Unendliche und zum Unendlichen führen ſoll.
Es iſt, als ob Chriſtus als das in die Endlichkeit gekommene und ſie
in ſeiner menſchlichen Geſtalt Gott opfernde Unendliche den Schluß der
alten Zeit machte; er iſt bloß da, um die Grenze zu machen — der
letzte Gott. Nach ihm kommt der Geiſt, das ideelle Princip, die
herrſchende Seele der neuen Welt. Inwiefern die alten Götter gleich-
falls das Unendliche im Endlichen, aber mit vollkommener Realität, waren,
mußte das wahre Unendliche — der wahre Gott — endlich werden,
um an ſich die Vernichtung des Endlichen zu zeigen. Inſofern war
Chriſtus zugleich der Gipfel und das Ende der alten Götterwelt. Dieß
beweist, daß die Erſcheinung Chriſti, weit entfernt der Anfang eines
neuen Polytheismus zu ſeyn, vielmehr die Götterwelt abſolut ſchloß.
Es iſt nicht leicht zu ſagen, inwiefern eigentlich Chriſtus eine poe-
tiſche Perſon iſt. Nicht rein als Gott; denn er iſt in ſeiner Menſch-
heit nicht Gott, wie es die griechiſchen Götter unbeſchadet ihrer End-
lichkeit ſind, ſondern wahrer Menſch, ſelbſt den Leiden der Menſchheit
untergeordnet. Nicht als Menſch, denn er iſt doch auch nicht von allen
Seiten zum Menſchen begrenzt. Die Syntheſis dieſer Widerſprüche
liegt nur in der Idee eines freiwillig leidenden Gottes. Aber
eben dadurch iſt er die antipodiſche Entgegenſetzung mit den alten
[433] Göttern. Dieſe leiden nicht, ſondern ſind ſelig in ihrer Endlichkeit. Auch
Prometheus, ſelbſt ein Gott, leidet nicht, da ſein Leiden zugleich Thä-
tigkeit und Empörung iſt. Das reine Leiden kann nie Gegenſtand der
Kunſt ſeyn. Selbſt als Menſch genommen kann Chriſtus doch nie
anders als duldend genommen werden, weil die Menſchheit bei ihm
übernommene Laſt, nicht Natur iſt, wie den griechiſchen Göttern, und
ſeine menſchliche Natur durch ihre Theilnahme an der göttlichen ſelbſt
für die Leiden der Welt fühlbarer wird, und auffallend genug iſt, daß
die ächte Malerei Chriſtum am liebſten und häufigſten als Kind abge-
bildet hat, gleichſam als ob, wie jemand ſehr richtig bemerkt hat, das
Problem dieſer wunderbaren — nicht Indifferenz, ſondern — Miſchung
der göttlichen und menſchlichen Natur nur in der Unbeſtimmtheit des
Kindes vollkommen lösbar wäre.
Den gleichen Charakter des Leidens und der Demuth trägt auch
das Bild der Mutter Gottes. Auch dieſes hat, wenn vielleicht nicht
in den Ideen der Kirche, doch durch eine innere Nothwendigkeit eine
ſymboliſche Bedeutung. Es iſt Symbol der allgemeinen Natur oder
des mütterlichen Princips aller Dinge, welches ewig jungfräulich blüht.
Allein in der Mythologie des Chriſtenthums hat auch dieſes Bild keine
Beziehung auf Materie (daher keine ſymboliſche Bedeutung), und nur
die moraliſche Beziehung iſt geblieben. Maria bezeichnet als Urbild den
Charakter der Weiblichkeit, den das ganze Chriſtenthum hat. Das
Vorherrſchende des Antiken iſt das Erhabene, Männliche, des Moder-
nen das Schöne, demnach das Weibliche.
Es iſt ganz dem gemäß, was überhaupt als Princip des Chriſten-
thums anzuſehen iſt: daß es keine vollendeten Symbole, ſondern
nur ſymboliſche Handlungen hat. Der ganze Geiſt des Chriſten-
thums iſt der des Handelns. Das Unendliche iſt nicht mehr im End-
lichen, das Endliche kann nur ins Unendliche übergehen; nur in dieſem
können beide eins werden. Die Einheit des Endlichen und Unendlichen
iſt alſo im Chriſtenthum Handlung. Die erſte ſymboliſche Handlung
Chriſti iſt die Taufe, wo der Himmel ſich ihm verband, der Geiſt in
ſichtbarer Geſtalt herabkam, die andere ſein Tod, wo er den Geiſt
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 28
[434] dem Vater wieder befahl, zurückgab, und an ſich das Endliche vernich-
tend, Opfer für die Welt wird. Dieſe ſymboliſchen Handlungen werden
im Chriſtenthum fortgeſetzt durch das Nachtmahl und die Taufe.
Das Nachtmahl hat wieder zwei Seiten, von denen es betrachtet werden
kann, die ideelle, inwiefern es das Subjekt iſt, das ſich den Gott
ſchafft, und in das jene geheimnißvolle Einigung des Unendlichen und
Endlichen fällt, und die ſymboliſche. Inwiefern die Handlung, wodurch
das Endliche hier zugleich das Unendliche wird, als Andacht in das
empfangende Subjekt ſelbſt fällt, inſofern iſt ſie nicht ſymboliſch, ſon-
dern myſtiſch; inwiefern ſie aber eine äußere Handlung iſt, iſt ſie
ſymboliſch. (Wir werden auf dieſen ſehr wichtigen Unterſchied des
Myſtiſchen und Symboliſchen in der Folge zurückkommen).
Inwiefern nun die Kirche ſich als den ſichtbaren Leib Gottes
betrachtete, wovon alle einzelnen die Glieder wären, conſtituirte ſie ſich
ſelbſt durch Handlung. Das öffentliche Leben der Kirche konnte alſo
allein ſymboliſch, ihr Cultus ein lebendiges Kunſtwerk, gleichſam ein
geiſtliches Drama ſeyn, woran jedes Glied theilhatte. Die populäre
Richtung des Chriſtenthums, das Princip der Kirche, alles wie ein
Ocean in ſich aufzunehmen, auch die Elenden und Verachteten nicht
von ſich auszuſchließen, das Streben mit Einem Wort, katholiſch,
univerſell zu ſeyn, mußte ſie bald beſtimmen, eine äußerliche Totalität,
gleichſam einen Leib ſich zu geben; und ſo war die Kirche ſelbſt in der
Ganzheit ihrer Erſcheinung ſymboliſch und das Symbol der Verfaſſung
des Himmelreichs ſelbſt.
Das Chriſtenthum als die in Handlung ausgeſprochene Ideenwelt
war ein ſichtbares Reich, und bildete ſich nothwendig zur Hierarchie,
deren Urbild in der Ideenwelt lag. In den Menſchen fiel hier die
Forderung, Symbol der Ideenwelt zu ſeyn, nicht mehr in die Natur,
in das Handeln, nicht mehr in das Seyn. Die Hierarchie war das
einzige Inſtitut ſeiner Art von einer Größe des Gedankens, die ins-
gemein viel zu einſeitig gefaßt wird. Ewig merkwürdig wird es bleiben,
daß eben mit dem Untergang des römiſchen Reichs, welches den
größten Theil der bekannten Welt zur Totalität vereinigt hatte, das
[435] Chriſtenthum mit ſchnellen Schritten zur Univerſalherrſchaft fortging. Nicht
nur daß es in einem Zeitalter des Unglücks und eines zerfallenden
Reichs, deſſen Macht bloß zeitlich war, und das nichts enthielt, wozu
der Menſch in einem ſolchen Zuſtand hätte flüchten können, wo der
Muth und gleichſam das Herz zum Objekt verloren war: nicht nur,
ſage ich, daß es in einem ſolchen Zeitalter in einer Religion, welche
Verleugnung lehrte und ſogar zum Glück machte, ein allgemeines Aſyl
öffnete, es that noch mehr, es verband, ſobald es ſich zur Hierarchie
entwickelte, alle Theile der kultivirten Welt und ging von ſeinem Be-
ginn wie eine Univerſalrepublik, aber auf geiſtliche Eroberungen aus.
(Proſelytenmacherei, Bekehrung der Heiden, Verjagen der Saracenen
und Türken aus Europa, Miſſionen in ſpäteren Zeiten).
Bei dem großen, univerſellen Sinn der Kirche konnte ihr nichts
fremd bleiben, nichts, was in der Welt geweſen, ſchloß ſie von ſich
aus: ſie konnte alles mit ſich vereinigen. Vorzüglich von der Seite des
Cultus, als der einzigen, von welcher ſie ſymboliſch ſeyn konnte, ver-
ſtattete ſie auch dem Heidenthum wieder den Eingang. Der katholiſche
Cultus vereinigte die religiöſen Gebräuche der älteſten Völker mit denen
der ſpäteſten, nur daß für die meiſten in der Folgezeit der Schlüſſel
verloren gegangen iſt. Die erſten Erfinder jener ſymboliſchen Gebräuche,
die großen Köpfe, welche den erſten Gedanken und Entwurf zu dieſem
Ganzen machten und in ihm, als in einem lebendigen Kunſtwerk,
fortlebten, ſind gewiß nicht ſo einfältig geweſen, um von unſern blöd-
ſinnigen Aufklärern überſehen zu werden, die, wenn man ſie alle ver-
einte und hundert Jahre machen ließe — doch nichts als Sandhaufen
zuſammenbrächten.
Der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt, iſt, einzuſehen, wie
dem allgemeinen Charakter der Subjektivität und Idealität des Chriſten-
thums gemäß das Symboliſche hier durchaus in das Handeln (in Hand-
lungen) fallen müſſe. Wie die Grundanſchauung des Chriſtenthums
die hiſtoriſche iſt, ſo iſt es nothwendig, daß das Chriſtenthum eine
mythologiſche Geſchichte der Welt enthalten müſſe. Die Menſchwerdung
Chriſti iſt ſelbſt nur im Zuſammenhang mit einer allgemeinen Vorſtellung
[436] der Menſchengeſchichte denkbar. Es gibt im Chriſtenthum keine
wahre Kosmogonie. Was im A. T. davon vorkommt, ſind ſehr
unvollkommene Verſuche. Handlung, Geſchichte iſt überall nur, wo
Vielheit iſt. Inſofern alſo Handlung in der göttlichen Welt iſt, inſo-
fern muß auch in ihr Vielheit ſeyn. Sie kann aber dem Geiſt des
Chriſtenthums nach nicht als polytheiſtiſch gedacht werden, alſo nur
durch die Hülfe von Mittelweſen, welche in dem unmittelbaren An-
ſchauen der Gottheit und die erſten Geſchöpfe, die erſten Hervorbrin-
gungen der göttlichen Subſtanz ſind. Solche Weſen ſind im Chriſten-
thum die Engel.
Man könnte vielleicht verſucht werden, die Engel als den Erſatz
des Polytheismus im Chriſtenthum zu betrachten, um ſo mehr, da ſie
ihrem eigenthümlichen Urſprung im Orient nach ebenſo beſtimmt Per-
ſonificationen der Ideen ſind als die Götter der griechiſchen Mytho-
logie. Auch iſt bekannt, welchen ſtarken Gebrauch die neuern chriſtlichen
Dichter, Milton, Klopſtock u. a. von dieſen Mittelweſen machen zu
müſſen glaubten, faſt ſo arg als Wieland von den Grazien. Allein
der Unterſchied iſt nur der, daß die griechiſchen Götter die wirklich
real-angeſchauten Ideen ſind, da bei den Engeln ſogar noch ihre Leib-
lichkeit zweifelhaft iſt, und ſie alſo ſelbſt wieder unſinnliche Weſen ſind.
Wollte man die Engel als Perſonificationen von Wirkungen Gottes
auf die Sinnenwelt denken, ſo wären ſie als ſolche in ihrer Unbeſtimmt-
heit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und alſo zur Poeſie un-
brauchbar 1. Die Engel und ihre Verfaſſung haben gleichſam ſelbſt
erſt einen Leib in der Kirche bekommen, deren Hierarchie ein unmittel-
bares Abbild des himmliſchen Reichs ſeyn ſollte. Deßwegen iſt nur die
Kirche im Chriſtenthum ſymboliſch. Die Engel ſind keine Naturweſen;
es fehlt alſo durchgängig an der Begrenzung; ſelbſt die oberſten der-
ſelben fließen faſt ineinander, und die ganze Maſſe iſt, wie die Hei-
ligenſcheine mancher großer italieniſcher Maler, die in der Nähe
genau betrachtet aus lauter kleinen Engelköpfen beſtehen, faſt brei-
artig. Es iſt, als ob man dieſes Zerfließen im Chriſtenthum durch
[437] die einförmigſte Thätigkeitsäußerung, die man ihnen geben konnte,
nämlich das ewige Singen und Muſiciren derſelben Art, habe aus-
drücken wollen.
Die Geſchichte der Engel für ſich hat alſo nichts Mythologiſches,
außer inwiefern ſie die der Empörung und der Verſtoßung des Luci-
fer in ſich begreift, welcher ſchon eine entſchiedenere Individualität
und eine realiſtiſchere Natur iſt. Dieſe bildet eine wirklich mytholo-
giſche Anſicht der Geſchichte der Welt, obgleich freilich etwas in unge-
heurem und orientaliſchem Styl.
Das Reich der Engel auf der einen und des Teufels auf der
andern Seite zeigt die reine Geſchiedenheit des guten und böſen Prin-
cips, welches in allen concreten Dingen gemiſcht iſt. Der Abfall Lu-
cifers, welcher zugleich die Welt mit verderbte und den Tod in ſie
brachte, iſt alſo eine mythologiſche Erklärung der concreten Welt, der
Miſchung des unendlichen und endlichen Princips in den ſinnlichen Din-
gen, da nämlich den Orientalen das Endliche überhaupt vom Argen
und in keinem Verhältniß, auch dem der Idee nicht, vom Guten iſt.
Dieſe Mythologie erſtreckt ſich bis an das Weltende, wo nämlich die
Scheidung des Guten und Böſen aufs neue vorgehen, und jedes der
beiden in ſeine reine Qualität geſtellt werden wird, womit nothwendig
Untergang des Concreten, und das Feuer als Symbol des ausgegliche-
nen Streits im Concreten die Welt verzehren wird. Bis dahin theilt
das böſe Princip gar ſehr mit Gott die Herrſchaft über die Erde,
obgleich die Menſchwerdung Chriſti den erſten Anſatz zu einem ihm ent-
gegengeſetzten Reich auf der Erde machte. (Vollſtändiger wird von dieſer
orientaliſchen Maske erſt bei der modernen Komödie die Rede ſeyn
können, da nämlich Lucifer in der ſpäteren Zeit allgemein die Rolle
der luſtigen Perſon im Univerſum hat, als einer, der beſtändig neue
Plane entwirft, die ihm in der Regel immer wieder vereitelt werden,
der aber ſo gierig auf Seelen iſt, daß er ſich ſogar zu den niederträch-
tigſten Dienſten hergibt, und doch nachher oft, wegen der beſtändigen
Bereitſchaft der Gnadenmittel und der Kirche, wenn er ſeiner Sache
am gewiſſeſten zu ſeyn glaubt, mit langer Naſe abziehen muß. Wir
[438] Deutſche ſind ihm ganz beſonders viel Obligation ſchuldig, da wir ihm
unſere mythologiſche Hauptperſon, den Doktor Fauſt, verdanken. An-
dere theilen wir mit anderen Nationen, dieſen haben wir ganz für uns
allein, da er recht aus der Mitte des deutſchen Charakters und ſeiner
Grundphyſiognomie wie geſchnitten iſt).
Unter einem Volk, in deſſen Poeſie die Begrenzung, das Endliche,
herrſchend iſt, iſt die Mythologie und die Religion Sache der Gattung.
Das Individuum kann ſich zur Gattung conſtituiren und wahrhaft mit
ihr eins ſeyn, wo dagegen das Unendliche, das Allgemeine herrſchend
iſt, kann das Individuum nie zugleich zur Gattung werden, es iſt
Negation der Gattung. Hier kann alſo die Religion nur durch den
Einfluß einzelner von überlegener Weisheit ſich verbreiten, die nur
perſönlich vom Allgemeinen und Unendlichen erfüllt, demnach Propheten,
Seher, gottbegeiſterte Menſchen ſind. Die Religion nimmt hier noth-
wendig den Charakter einer geoffenbarten Religion an, und iſt
darum ſchon in ihrem Fundament hiſtoriſch. Die griechiſche Religion,
als poetiſche, durch die Gattung lebende Religion, bedurfte keiner hiſto-
riſchen Grundlage, ſo wenig als es die immer offene Natur bedarf.
Die Erſcheinungen und Geſtalten der Götter waren hier ewig; dort,
im Chriſtenthum, war das Göttliche nur flüchtige Erſcheinung und
mußte in dieſer feſtgehalten werden. In Griechenland hatte die Reli-
gion keine eigne, von der des Staats unabhängige Geſchichte; im
Chriſtenthum gibt es eine Geſchichte der Religion und der Kirche.
Von dem Begriff der Offenbarung iſt der des Wunders unzer-
trennlich. Wie der griechiſche Sinn nach allen Seiten hin reine, ſchöne
Begrenzung forderte, um die ganze Welt für ſich zu einer Welt der
Phantaſie zu erheben, ſo der orientaliſche nach allen Seiten hin das
Unbegrenzte, das Uebernatürliche, und er fordert auch dieſes in einer
gewiſſen Totalität, um von keiner Seite aus ſeinen überſinnlichen
Träumen geweckt zu werden. Der Begriff des Wunders iſt in der
griechiſchen Mythologie unmöglich, denn die Götter ſind da ſelbſt nicht
außer- und übernatürlich, es ſind da nicht zwei Welten, eine ſinnliche
und überſinnliche, ſondern Eine Welt. Das Chriſtenthum, welches
[439] nur in der abſoluten Entzweiung möglich iſt, iſt in ſeinem Urſprung
ſchon auf Wunder gegründet. Wunder iſt eine vom empiriſchen Stand-
punkt aus angeſehene Abſolutheit, die in die Endlichkeit fällt, ohne
deßwegen ein Verhältniß zu der Zeit zu haben.
Das Wunderbare in der hiſtoriſchen Beziehung iſt nun der
einzige mythologiſche Stoff des Chriſtenthums. Es verbreitet ſich von
der Geſchichte Chriſti und der Apoſtel aus herab durch die Legende,
die Märtyrer- und Heiligengeſchichte bis zum romantiſchen Wunder-
baren, welches ſich durch die Berührung des Chriſtenthums mit der
Tapferkeit entzündete.
Es iſt uns unmöglich, dieſen hiſtoriſch-mythologiſchen Stoff zu
verfolgen. Es iſt nur im Allgemeinen zu bemerken, daß dieſe Mytho-
logie des Chriſtenthums urſprünglich durchaus auf der Anſchauung des
Univerſums als eines Reichs Gottes beruht. Die Geſchichten der Hei-
ligen ſind zugleich eine Geſchichte des Himmels ſelbſt, und ſogar die
Geſchichten der Könige ſind verflochten in dieſe allgemeine Geſchichte des
Reiches Gottes. Einzig nach dieſer Seite hat ſich das Chriſtenthum
zur Mythologie ausgebildet. So ſprach es ſich zuerſt in dem Gedicht
des Dante aus, welches das Univerſum unter den drei Grundan-
ſchauungen des Infernums, des Purgatoriums und des Paradieſes
darſtellt. Der Stoff aller ſeiner Dichtungen aber in dieſen drei Po-
tenzen iſt doch immer hiſtoriſch. In Frankreich und Spanien bildete
ſich der hiſtoriſch-chriſtliche Stoff vorzüglich zu der Mythologie des
Ritterthums aus. Der poetiſche Gipfel davon iſt Arioſto, deſſen
Gedicht das einzige epiſche wäre, wenn überhaupt in der modernen
Poeſie bis jetzt ein Epos ſeyn könnte.
In ſpäteren Zeiten, nachdem der Geſchmack am Ritterthum ver-
drängt war, haben die Spanier vorzüglich die Heiligenlegenden zu dra-
matiſchen Vorſtellungen genutzt. Den Gipfel dieſer Poeſie bezeichnet
der Spanier Calderon della Barca, von dem vielleicht noch nicht
einmal alles geſagt iſt, wenn man ihn dem Shakeſpeare gleich ſetzt.
Die poetiſche Ausbildung der chriſtlichen Mythologie in den Wer-
ken der bildenden Kunſt, vorzüglich der Malerei, in den lyriſchen,
[440] romantiſch-epiſchen und dramatiſchen Werken der neueren Welt können
wir erſt in der Folge vollſtändiger darſtellen.
Aber eben auch dieſes iſt Gegenſtand der modernen Welt, daß
alles Endliche in ihr vergänglich iſt, und das Abſolute in unendlicher
Ferne liegt. Alles iſt hier dem Geſetz des Unendlichen untergeordnet.
Nach dieſem Geſetz hat ſich auch zwiſchen die Kunſtwelt im Katholicis-
mus und die gegenwärtige Zeit wieder eine neue Maſſe geworfen.
Der Proteſtantismus entſtand und war hiſtoriſch nothwendig. Preis
den Heroen, welche zu jener Zeit, für einige Theile der Welt wenig-
ſtens, die Freiheit des Denkens und der Erfindung auf ewig befeſtigten!
Das Princip, das ſie weckten, war in der That neu beſeelend, und
konnte, verbunden mit dem Geiſt des klaſſiſchen Alterthums, unendliche
Wirkungen hervorbringen, da es in der That ſeiner Natur nach un-
endlich war, keine Schranke erkennend, wenn nicht durch das Unglück
der Zeit aufs neue gehemmt. Aber die nur zu bald eintretende Folge
der Reformation war, daß an die Stelle der alten Autorität eine neue,
proſaiſche, buchſtäbliche trat. Die erſten Reformatoren ſelbſt wurden
noch von den Wirkungen der Freiheit, die ſie gepredigt hatten, über-
raſcht. Dieſe Sklaverei des Buchſtabens konnte noch weniger dauern;
aber der Proteſtantismus konnte nie dazu gelangen, ſich eine äußerliche
und wahrhaft objektive und endliche Geſtalt zu geben. Nicht nur, daß er
ſelbſt wieder in Sekten zerfiel, ſondern, was in ihm nur Zurücknahme
der ewigen Rechte des menſchlichen Geiſtes war, wurde zu einem
gänzlich zerſtörenden Princip für die Religion und mittelbar für die
Poeſie. Es entſtand jene Erhebung des gemeinen Menſchenverſtandes,
des Werkzeugs bloß weltlicher Angelegenheiten, zum Urtheil über geiſtliche
Angelegenheiten. Höchſter Repräſentant dieſes Menſchenverſtandes —
Voltaire. Eine trübere und unluſtigere Freidenkerei entwickelte ſich in
England. Die deutſchen Theologen machten die Syntheſis. Ohne
es mit dem Chriſtenthum oder der Aufklärung verderben zu wollen,
ſtifteten ſie zwiſchen beiden ein Wechſelbündniß, wo die Aufklärung ver-
ſprach die Religion zu erhalten, wenn ſie ſich auch nützlich machen
wollte.
[441]
Man braucht nur zu erinnern, daß die Freidenkereien und Auf-
klärungen nicht die geringſten poetiſchen Hervorbringungen aufweiſen
können, um zu ſehen, daß ſie ſämmtlich in ihrem Grund nichts als
die Proſa des neueren Zeitalters ſind, angewendet auf die Religion.
Mit dem gänzlichen Mangel an Symbolik und wahrer Mythologie —
was jene betrifft, im Chriſtenthum überhaupt, was dieſe, wenigſtens
im Proteſtantismus — traten gleichwohl ſpätere Dichter wieder auf den
Kampfplatz, um in ihrer Meinung ſogar mit den epiſchen Dich-
tungen des Alterthums zu wetteifern. Vorzüglich Milton und Klop-
ſtock. Das Gedicht des erſten kann ſchon darum kein rein chriſtliches
Gedicht heißen, da ſein Stoff im A. T. liegt, und dem Ganzen die
Einſchränkung auf das Moderne, Chriſtliche fehlt, während dieſer die
Tendenz hat im Chriſtenthum erhaben zu ſeyn und mit einer wider-
natürlichen Spannung die innere Hohlheit zur Unbegrenztheit auf-
bläht. Miltons Geſtalten ſind zum Theil wenigſtens wirkliche Ge-
ſtalten mit Umriß und Beſtimmtheit, ſo daß man z. B. ſeinen Satan,
den er als einen Giganten oder Titanen behandelt, von einem Gemälde
abgenommen glauben könnte, während bei Klopſtock alles weſen- und
geſtaltlos, ohne Gediegenheit wie ohne Form, ſchwebt. Milton war
lange in Italien geweſen, wo er die Kunſtwerke geſehen, auch den Plan
zu ſeinem Gedicht gefaßt und ſeine Gelehrſamkeit ſich gebildet hat.
Klopſtock war ohne alle Natur- und ächte Kunſtanſchauung (es verſteht
ſich, daß ſeine Sprachverdienſte nicht geſchmälert werden ſollen). Wie
wenig Klopſtock bei dem Plan, ein chriſtlich-epiſches Gedicht zu machen,
ſelbſt gewußt habe, was er wollte, erhellt daraus, daß er uns nachher
auch die nordiſch-barbariſche Mythologie der alten Deutſchen und Scan-
dinavier empfehlen wollte. Sein hauptſächlichſtes Beſtreben iſt ein
Ringen mit dem Unendlichen, nicht daß es ihm endlich werden ſoll,
ſondern daß es ihm, gegen ſeinen Willen und mit beſtändigem Sträuben
dagegen von ſeiner Seite, endlich wird, wo es dann auf ſolche Wider-
ſprüche hinausläuft, wie in dem bekannten Anfang einer ſeiner Oden:
[442]
Daß die moderne Welt kein wahres Epos hat, und, weil mit
einem ſolchen erſt Mythologie ſich fixirt, auch keine geſchloſſene My-
thologie, brauche ich nicht weiter zu beweiſen. Es muß indeß hier
noch Erwähnung von dem neueren Verſuche geſchehen, die Mythologie
auf den Kreis der katholiſchen zurückzuführen. Alles, was ſich über die
Nothwendigkeit eines beſtimmten mythologiſchen Kreiſes für die Poeſie
ſagen läßt, glaube ich im Vorhergehenden geſagt zu haben. Ebenſo
möchte ſich aus dem Vorhergehenden von ſelbſt beurtheilen laſſen, welcher
Fond von Poeſie innerhalb der Beſchränkung, die der bisherigen mo-
dernen Welt überhaupt geſetzt iſt, im Katholicismus angetroffen werden
könne. Es gehört aber weſentlich zum Chriſtenthum, auf die Offen-
barungen des Weltgeiſtes zu achten, und nicht zu vergeſſen, daß es zu
ſeinem Plane gehörte, auch dieſe Welt, welche die moderne Mytho-
logie ſich gebildet hatte, zu einer Vergangenheit zu machen. Es gehört
mit zum Chriſtenthum, in der Geſchichte nichts partial aufzufaſſen.
Der Katholicismus iſt ein nothwendiges Element aller modernen Poeſie
und Mythologie, aber er iſt ſie nicht ganz und in den Abſichten des
Weltgeiſtes ohne Zweifel nur ein Theil davon. Wenn man bedenkt,
welcher ungeheure hiſtoriſche Stoff in dem Untergang des römiſchen
Reichs und des griechiſchen Kaiſerthums und überhaupt der ganzen
modernen Geſchichte iſt, welche Mannichfaltigkeit der Sitten und Bil-
dungen zugleich — unter einzelnen Nationen und der Menſchheit im
Ganzen — und nacheinander in verſchiedenen Jahrhunderten ge-
weſen iſt, wenn man bedenkt, daß die moderne Poeſie nicht mehr die
Poeſie für ein beſonderes Volk iſt, das ſich zur Gattung ausgebildet
hat, ſondern Poeſie für das ganze Geſchlecht, und, ſo zu ſagen, aus
dem Stoff der ganzen Geſchichte dieſes Geſchlechts mit allen ihren ver-
ſchiedenen Farben und Tönen gebildet ſeyn muß, wenn man alle dieſe
Umſtände zuſammennimmt, wird man nicht zweifeln, daß auch die My-
thologie des Chriſtenthums in den Gedanken des Weltgeiſtes immer
nur ein Theil des größeren Ganzen ſey, das er ohne Zweifel vorbe-
reitet. Daß ſie nicht univerſell, daß noch eine Seite davon die be-
ſchränkte war, um welcher willen der durchgängig auf Zerſchlagung
[443] aller rein endlichen Formen ausgehende Geiſt der neuen Welt das
Ganze in ſich zerfallen ließ, dieß erhellt ſchon daraus, daß dieß ge-
ſchehen iſt. Es erhellt daraus, daß das Chriſtenthum erſt in das
größere Ganze, von dem es ein Theil ſeyn wird, wieder als allgemein-
gültiger poetiſcher Stoff wird eintreten können; und aller Gebrauch,
der von ihm in der Poeſie gemacht wird, ſollte ſchon in dem Sinne
dieſes größeren Ganzen, welches man wohl ahnden, aber nicht aus-
ſprechen kann, gemacht werden. Am wenigſten aber könnte dieſer Ge-
brauch poetiſch ſeyn, wo ſich dieſe Religion der Poeſie ſelbſt nur als
Subjektivität oder Individualität ausſpricht. Nur wo ſie wahrhaft ins
Objekt übergeht, kann ſie poetiſch heißen. Denn das Innerſte des
Chriſtenthums iſt die Myſtik, welche ſelbſt nur ein inneres Licht, eine
innere Anſchauung iſt. Nur ins Subjekt fällt hier die Einheit des
Unendlichen und Endlichen. Aber von dieſem inneren Myſticismus kann
ſelbſt wieder eine ſittliche Perſon das objektive Symbol ſeyn, und er kann
ſo zur poetiſchen Anſchauung gebracht werden, nicht aber wenn man
ihn ſelbſt nur wieder ſich ſubjektiv ausſprechen läßt. Der Myſticismus iſt
verwandt mit der reinſten und ſchönſten Sittlichkeit, ſowie es umgekehrt
ſelbſt in der Sünde einen Myſticismus geben kann. Wo er ſich wahr-
haft in Handlung äußert und an einer objektiven Perſon abbildet, kann
die moderne Tragödie z. B. ganz die hohe und ſymboliſche Sittlichkeit
der ſophokleiſchen Stücke erreichen, wie denn Calderon in dieſer Rück-
ſicht mit keinem andern als mit Sophokles verglichen werden kann.
Nur der Katholicismus lebte in einer mythologiſchen Welt. Daher
die Heiterkeit der poetiſchen Werke, die in dem Katholicismus ſelbſt
entſprungen ſind, die Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung dieſes
— ihnen natürlichen — Stoffes, faſt wie die Griechen ihre Mytho-
logie behandelt haben. Außer dem Katholicismus kann faſt nur Unter-
ordnung unter den Stoff, gezwungene Bewegung ohne Heiterkeit und
bloße Subjektivität des Gebrauchs erwartet werden. Ueberhaupt wenn
eine Mythologie zum Gebrauch herabgeſunken, z. B. der Gebrauch
der alten Mythologie in den Modernen, ſo iſt dieſer, eben weil bloß
Gebrauch, bloße Formalität; ſie muß nicht auf den Leib paſſen, wie
[444] ein Kleid, ſondern der Leib ſelbſt ſeyn. Selbſt die vollendete Dichtung
im Sinn der rein-myſtiſchen Poeſie würde eine Abſonderung im Dichter,
ſowie in denen, für welche er dichtet, vorausſetzen, ſie wäre nie rein,
nie aus dem Ganzen der Welt und des Gemüths gegoſſen.
Die Grundforderung an alle Poeſie iſt — nicht univerſelle Wir-
kung, aber doch Univerſalität nach innen und außen. Partialitäten
können hier am wenigſten geltend ſeyn. Zu jeder Zeit ſind nur einige
geweſen, in welchen ſich ihre ganze Zeit und das Univerſum, ſofern
es in dieſer angeſchaut wird, concentrirt hat, dieſe ſind berufene Dich-
ter. Nicht die Zeit, ſofern ſie ſelbſt eine Partialität, ſondern ſofern
Univerſum, Offenbarung Einer ganzen Seite des Weltgeiſtes. Wer
den ganzen Stoff ſeiner Zeit, ſofern ſie als Gegenwart auch die Ver-
gangenheit wieder begreift, poetiſch unterjochen und verdauen könnte,
wäre der epiſche Dichter ſeiner Zeit. Univerſalität, die nothwendige
Forderung an alle Poeſie, iſt in der neueren Zeit nur dem möglich,
der ſich aus ſeiner Begrenzung ſelbſt eine Mythologie, einen abge-
ſchloſſenen Kreis der Poeſie ſchaffen kann.
Man kann die moderne Welt allgemein die Welt der Individuen,
die antike die Welt der Gattungen nennen. In dieſer iſt das Allge-
meine das Beſondere, die Gattung das Individuum; darum iſt ſie,
obgleich in ihr das Beſondere herrſchend iſt, doch die Welt der Gat-
tungen. In jener bedeutet das Beſondere nur das Allgemeine, und
eben darum iſt, weil in ihr das Allgemeine herrſcht, die moderne
Welt die der Individuen, des Zerfallens. Dort iſt alles ewig, dauernd,
unvergänglich, die Zahl hat gleichſam keine Gewalt, da der allgemeine
Begriff der Gattung und des Individuums in eins fällt, hier — in
der modernen Welt — iſt Wechſel und Wandel das herrſchende Geſetz.
Alles Endliche vergeht hier, da es nicht an ſich ſelbſt iſt, ſondern nur,
um das Unendliche zu bedeuten.
Der allgemeine Weltgeiſt, der auch an der Natur und dem
Weltſyſtem die Unendlichkeit der Geſchichte nur gleichſam concret
aufgeſtellt hat, hat denſelben Gegenſatz, den der alten und der neuen
Zeit, im Planetenſyſtem und der Kometenwelt aufgeſtellt. Die Alten
[445] ſind die Planeten der Kunſtwelt, eingeſchränkt auf wenige Indivi-
duen, die zugleich Gattungen ſind und in der freieſten Bewegung
doch am wenigſten ſich von der Identität entfernen. Auch die Planeten-
bilder unter ſich haben ihre beſtimmten Gattungen. Die tiefſten ſind
die rhythmiſchen, die entfernteren, wo ſich die Maſſe als Totalität bildet,
alles concentriſch, wie die Blätter der Blüthe, in Ringen und Monden
ſich um den Mittelpunkt ſtellt, ſind die dramatiſchen. Den Kometen
gehört der grenzenloſe Raum. Wenn ſie erſcheinen, ſo kommen ſie
unmittelbar aus dem unendlichen Raum, und ſo ſehr ſie der Sonne
ſich nähern, ebenſo weit verlieren ſie ſich wieder von ihr. Sie ſind
gleichſam bloß allgemeine Weſen, weil ſie keine Subſtanz in ſich haben;
ſie ſind nur Luft und Licht, jene aber, die plaſtiſchen, ſymboliſchen Ge-
ſtalten — durchaus herrſchende Individuen, keine Beſchränkung durch
Zahl.
Wir können, dieß vorausgeſetzt, behaupten, daß bis zu dem in
noch unbeſtimmbarer Ferne liegenden Punkt, wo der Weltgeiſt das
große Gedicht, auf das er ſinnt, ſelbſt vollendet haben, und das Nach-
einander der modernen Welt ſich in ein Zumal verwandelt haben
wird, jeder große Dichter berufen ſey, von dieſer noch im Werden be-
griffenen (mythologiſchen) Welt, von der ihm ſeine Zeit nur einen
Theil offenbaren kann, — von dieſer Welt, ſage ich, dieſen ihm offen-
baren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff derſelben
ſich ſeine Mythologie zu ſchaffen. So, um dieß an dem Beiſpiel des
größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, ſchuf ſich
Dante aus der Barbarei und der noch barbariſcheren Gelehrſamkeit
ſeiner Zeit, aus den Gräueln der Geſchichte, die er ſelbſt erlebt hatte,
wie aus dem Stoff der beſtehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie
und mit dieſer ſein göttliches Gedicht. Die hiſtoriſchen Perſonen, welche
Dante aufgenommen hat, werden in aller Zeit für mythologiſche gelten,
wie Ugolino. Könnte das Andenken der hierarchiſchen Verfaſſung je
zu Grunde gehen, man würde es aus dem Bild, das ſein Gedicht
davon entwirft, wieder herſtellen. — Auch Shakeſpeare hat ſich
ſeinen eignen mythologiſchen Kreis geſchaffen, nicht allein aus dem
[446] hiſtoriſchen Stoff ſeiner Nationalgeſchichte, ſondern auch aus den Sitten
ſeiner Zeit und ſeines Volkes. Es iſt in Shakeſpeare, der großen
Mannichfaltigkeit ſeiner Werke unerachtet, dennoch Eine Welt; überall
ſchaut man ihn als einen und denſelben an, und iſt man bis auf die
Grundanſchauung von ihm durchgedrungen, ſo findet man ſich in jedem
ſeiner Werke gleich wieder auf dem ihm eignen Boden (Falſtaff. Lear.
Macbeth). — Cervantes hat aus dem Stoff ſeiner Zeit die Geſchichte
des Donquixote gebildet, der bis auf dieſen Augenblick, ebenſo wie
Sancho Panſa, das Anſehn einer mythologiſchen Perſon hat. Es ſind
hier ewige Mythen. — Soweit man Goethes Fauſt aus dem
Fragment, das davon vorhanden iſt, beurtheilen kann, ſo iſt dieſes
Gedicht nichts anderes als die innerſte, reinſte Eſſenz unſeres Zeit-
alters: Stoff und Form geſchaffen aus dem, was die ganze Zeit in
ſich ſchloß, und ſelbſt dem, womit ſie ſchwanger war oder noch iſt.
Daher iſt es ein wahrhaft mythologiſches Gedicht zu nennen.
Man hat mehrmals in neuerer Zeit den Gedanken gehört, daß
es wohl möglich wäre, aus der Phyſik — natürlich, ſofern ſie ſpe-
culative Phyſik iſt — den Stoff einer neuen Mythologie zu nehmen.
Hierüber iſt Folgendes zu bemerken.
Erſtens, nach dem, was ich ſo eben bewieſen habe, iſt das Grund-
geſetz der modernen Poeſie Originalität (in der alten Kunſt war
dieß keineswegs in dem Sinn der Fall). Jedes wahrhaft ſchöpferiſche
Individuum hat ſich ſelbſt ſeine Mythologie zu ſchaffen, und es kann
dieß, aus welchem Stoff es nur immer will, geſchehen, alſo vor-
nehmlich auch aus dem einer höheren Phyſik. Allein dieſe Mythologie
wird doch durchaus erſchaffen, nicht etwa bloß nach Anleitung ge-
wiſſer Ideen der Philoſophie entworfen werden dürfen; denn in dieſem
Fall möchte es unmöglich ſeyn, ihr ein unabhängiges poetiſches Leben
zu geben.
Käme es nur überhaupt darauf an, Ideen der Philoſophie oder
höheren Phyſik durch mythologiſche Geſtalten zu ſymboliſiren, ſo finden
ſich dieſe ſämmtlich ſchon in der griechiſchen Mythologie, ſo daß ich
mich anheiſchig machen will, die ganze Naturphiloſophie in Symbolen
[447] der Mythologie darzuſtellen. Aber dieß wäre doch wieder nur Ge-
brauch (wie bei Darwin). Die Forderung einer Mythologie iſt ja
aber gerade, nicht daß ihre Symbole bloß Ideen bedeuten, ſondern
daß ſie für ſich ſelbſt bedeutend, unabhängige Weſen ſeyen. Vorläufig
alſo hätte man ſich nur nach der Welt umzuſehen, in der ſich dieſe
Weſen unabhängig bewegen könnten. Wäre uns dieſe durch die Ge-
ſchichte gegeben, ſo würden ſich jene ohne Zweifel von ſelbſt finden.
Man gebe uns nur erſt das trojaniſche Schlachtfeld, worauf die Götter
und die Göttinnen ſelbſt mit an dem Kampf theilnehmen können.
Alſo: ehe die Geſchichte uns die Mythologie als allgemeingültige
Form wiedergibt, wird es immer dabei bleiben, daß das Individuum
ſelbſt ſich ſeinen poetiſchen Kreis ſchaffen muß; und da das allgemeine
Element des Modernen die Originalität iſt, wird das Geſetz gelten,
daß gerade je origineller, deſto univerſeller; wobei man von der Ori-
ginalität nur die Particularität unterſcheiden muß. Jeder originell
behandelte Stoff iſt eben dadurch auch univerſell poetiſch. Wer
den Stoff der höheren Phyſik auf dieſe originelle Weiſe zu
brauchen weiß, dem wird er wahrhaft- und univerſell-poetiſch werden
können.
Aber eine andere Beziehung, welche Naturphiloſophie auf die mo-
derne Bildung hat, kommt hier in Betracht. Die dem Chriſtenthum
eigenthümliche Richtung iſt vom Endlichen zum Unendlichen. Es iſt
gezeigt worden, wie dieſe Richtung alle ſymboliſche Anſchauung aufhebt
und das Endliche nur als das Allegoriſche des Unendlichen begreift.
Die in dieſer allgemeinen Richtung wieder durchbrechende Tendenz, das
Unendliche im Endlichen zu ſchauen, war ein ſymboliſches Beſtreben,
das aber wegen des Mangels an Objektivität, weil die Einheit in das
Subjekt zurückfiel, ſich nur als Myſticismus äußern konnte. Die
Myſtiker im Chriſtenthum ſind von jeher innerhalb deſſelben als Ver-
irrte, wenn nicht gar als Abtrünnige, betrachtet worden. Die Kirche
verſtattete den Myſticismus nur im Handeln (Handlungen), weil er hier
zugleich objektiv, univerſell war, ſtatt daß jener ſubjektive Myſticismus
eine Beſonderheit von dem Ganzen, eine wirkliche Häreſis war. Natur-
[448] philoſophie iſt gleichfalls Anſchauung des Unendlichen im Endlichen,
aber auf eine allgemeingültige und wiſſenſchaftlich objektive Art. Alle
ſpeculative Philoſophie hat nothwendig dieſelbe der Richtung des Chriſten-
thums entgegengeſetzte Richtung, ſofern man nämlich das Chriſtenthum
in dieſer ſeiner empiriſch-hiſtoriſchen Geſtalt nimmt, in welcher es ſich
als Gegenſatz darſtellt, und nicht in dieſer Entgegenſetzung es ſelbſt
als Uebergang betrachtet. Das Chriſtenthum iſt aber ſchon jetzt
durch den Lauf der Zeit und durch die Wirkungen des Weltgeiſtes,
der ſein entferntes Vorhaben nur erſt ahnden, aber doch auch nicht
verkennen läßt, bloß als Uebergang und bloß als Element und gleich-
ſam die eine Seite der neuen Welt dargeſtellt, in der ſich die Succeſ-
ſionen der modernen Zeit endlich als Totalität darſtellen werden. Wer
den allgemeinen Typus kennt, nach dem alles geordnet iſt und geſchieht,
wird nicht zweifeln, daß dieſer integrante Theil der modernen Bildung
die andere Einheit iſt, welche das Chriſtenthum als Gegenſatz von ſich
ausſchloß, und daß dieſe Einheit, welche ein Schauen des Unendlichen
im Endlichen iſt, in das Ganze derſelben aufgenommen werden müſſe.
Folgendes, obgleich freilich untergeordnet ihrer beſonderen Einheit, wird
dienen, meine Meinung deutlich zu machen.
Die realiſtiſche Mythologie der Griechen ſchloß die hiſtoriſche Be-
ziehung nicht aus, vielmehr wurde ſie erſt in der hiſtoriſchen Beziehung
— als Epos — wahrhaft zur Mythologie. Ihre Götter waren dem
Urſprung nach Naturweſen; dieſe Naturgötter mußten von ihrem
Urſprung ſich losreißen und hiſtoriſche Weſen werden, um wahrhaft
unabhängige, poetiſche zu werden. Hier erſt werden ſie Götter, vorher
ſind ſie Götzen. Das Herrſchende der griechiſchen Mythologie blieb
deßwegen doch immer das realiſtiſche oder endliche Princip. Das Ent-
gegengeſetzte wird in der modernen Bildung der Fall ſeyn. Sie ſchaut
das Univerſum nur an als Geſchichte, als moraliſches Reich; inſo-
fern ſtellt ſie ſich als Gegenſatz dar. Der Polytheismus, der in ihr
möglich iſt, iſt nur durch Begrenzungen in der Zeit, durch hiſtoriſche
Begrenzungen möglich, ihre Götter ſind Geſchichtsgötter. Dieſe
werden nicht wahrhaft Götter, lebendig, unabhängig, poetiſch werden
[449] können, ehe ſie von der Natur Beſitz ergriffen haben, ehe ſie Natur-
götter ſind. Man muß der chriſtlichen Bildung nicht die realiſtiſche
Mythologie der Griechen aufdringen wollen, man muß vielmehr um-
gekehrt ihre idealiſtiſchen Gottheiten in die Natur pflanzen, wie die
Griechen ihre realiſtiſchen in die Geſchichten. Dieß ſcheint mir die
letzte Beſtimmung aller modernen Poeſie zu ſeyn, ſo daß auch dieſer
Gegenſatz, wie jeder andere, nur in der Nichtabſolutheit beſteht, jedes
der Entgegengeſetzten aber in ſeiner Abſolutheit auch mit dem andern
in Harmonie tritt, und ich verhehle meine Ueberzeugung nicht, daß in
der Naturphiloſophie, wie ſie ſich aus dem idealiſtiſchen Princip ge-
bildet hat, die erſte ferne Anlage jener künftigen Symbolik und der-
jenigen Mythologie gemacht iſt, welche nicht ein Einzelner, ſondern die
ganze Zeit geſchaffen haben wird.
Nicht wir wollen der idealiſtiſchen Bildung ihre Götter durch die
Phyſik geben. Wir erwarten vielmehr ihre Götter, für die wir,
vielleicht noch ehe ſie in jener ganz unabhängig von dieſer ſich gebildet
haben, die Symbole ſchon in Bereitſchaft haben.
Dieß war der Sinn meiner Meinung, inwiefern ich behauptete,
daß in der höheren ſpeculativen Phyſik die Möglichkeit einer künftigen
Mythologie und Symbolik zu ſuchen ſey.
Uebrigens muß dieſe Beſtimmung allein der Fügung der Zeit
überlaſſen werden; denn noch ſcheint der Punkt der Geſchichte, wo ſich
ihr Nacheinander in ein Zumal verwandeln wird, unbeſtimmbar weit
entfernt, und was jetzt möglich iſt, nur das ſchon früher Angegebene
ſeyn zu können, nämlich daß jede überwiegende Kraft ſich aus jedem
Stoff, alſo auch aus dem der Natur, ihren mythologiſchen Kreis bil-
den kann, welches doch wiederum nicht ohne eine Syntheſe der Geſchichte
mit der Natur möglich ſeyn wird. Das Letzte der reine Homeros.
Da die antike Mythologie ſich überall auf die Natur bezieht und
eine Symbolik der Natur iſt, ſo muß es uns intereſſiren zu ſehen,
wie in der modernen Mythologie bei ihrem vollkommenen Gegenſatz
mit der antiken die Beziehung auf die Natur ſich ausdrücken werde.
Im Allgemeinen läßt ſich dieß ſchon aus dem Bisherigen beſtimmen.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 29
[450] — Abſolutes Uebergewicht des Idealen über das Reale, des Geiſtigen
über das Leibliche war Princip des Chriſtenthums. Daher das un-
mittelbare Eingreifen des Ueberſinnlichen in das Sinnliche im Wunder.
Dieſelbe Oberherrſchaft des Geiſtes über die Natur iſt ausgedrückt in
der Magie, ſoferne ſie Beſchwörung, Bezauberung in ſich begriff.
Die magiſche Anſicht der Dinge oder das Begreifen der Naturwirkungen
als magiſcher war nur eine unvollſtändige Ahndung des höheren und
abſoluten Vereins aller Dinge, in welchem keins in dem andern etwas
unmittelbar, ſondern nur durch präſtabilirte Harmonie, mittelſt der
abſoluten Identität aller Dinge, ſetzt oder bewirkt. Magiſch heißt eben
deßwegen auch jede Wirkung, welche Dinge auf einander bloß durch
ihren Begriff, alſo nicht auf natürliche Art ausüben, z. B. daß Be-
wegungen oder gewiſſe Zeichen rein als ſolche einem Menſchen verderb-
lich werden können. In dem Glauben an Magie drückte ſich ferner
die Ahndung vom Daſeyn verſchiedener Naturordnungen, des Mecha-
nismus, Chemismus, Organismus aus. Es iſt bekannt, wie die erſte
Bekanntſchaft mit chemiſchen Erſcheinungen auf die Geiſter der neueren
Welt gewirkt hat. Ueberhaupt gab das Zurücktreten der Natur als
Myſterium der neueren Welt eine allgemeine Richtung auf Geheimniſſe
der Natur. Die geheimnißvolle Sprache der Geſtirne, die ſich in ihren
verſchiedenen Bewegungen und Conjunktionen ausdrückt, bekam unmit-
telbar hiſtoriſche Beziehung; ihr Lauf, ihr Wechſel, ihre Verbindungen
deuteten auf Schickſale der Welt im Ganzen und mittelbar des Einzelnen.
Auch hier lag eine richtige Ahndung zu Grunde, daß in der Erde, da
ſie Univerſum für ſich iſt, die Elemente aller Geſtirne ſeyn müſſen,
und daß die verſchiedenen Stellungen und Entfernungen der Geſtirne
von der Erde beſonders auf den zarteren Bildungen der Erde, wie die
menſchliche, ſchon bei der erſten Formation einen nothwendigen Einfluß
haben. — Es wird in der Naturphiloſophie bewieſen, daß den ver-
ſchiedenen Ordnungen von Metallen, dem Gold oder Silber u. ſ. w.
gleiche Ordnungen am Himmel entſprechen, ſowie wir an der Con-
ſtruktion des Erdkörpers für ſich nach ſeinen vier Seiten wirklich ein
vollkommenes Bild des ganzen Sonnenſyſtems haben. Das Beſeeltſeyn
[451] der Geſtirne, und daß ſie von inwohnenden Seelen in ihren Bahnen
geführt werden, war eine Meinung, die ſich noch von Plato und
Ariſtoteles her erhalten hatte. Die Erde wurde bis zu Copernicus als
Mittelpunkt des Univerſums angeſchaut; darauf ruhte auch jene ariſto-
teliſche Aſtronomie, die dem Gedicht des Dante durchweg zu Grunde
liegt. Es läßt ſich leicht denken, welche Folge für das Chriſtenthum,
d. h. für das katholiſche Syſtem, die Copernicaniſche Theorie haben
mußte, und es war gewiß nicht allein wegen des Spruchs bei Joſua,
daß die römiſche Kirche dieſer reinen Lehre ſich ſo mächtig widerſetzte.
— Geheimnißvolle Kräfte der Steine und Pflanzen waren im Orient
allgemein angenommen. Der Glaube daran kam ebenſo wie die Arznei-
kunſt mit den Arabern nach Europa. Ebenſo der Gebrauch der Talis-
mane und Amulete, womit man ſich im Orient ſeit den älteſten Zeiten
gegen giftige Schlangen und böſe Geiſter verwahrt. Viele der mytho-
logiſchen Anſichten der Thierwelt waren den Neueren nicht eigenthümlich.
Ich werde nun, was ich von der modernen Mythologie bisher vor-
getragen, in einige Sätze zuſammenfaſſen, um dadurch die Ueberſicht zu
erleichtern. Zuerſt haben wir des Zuſammenhangs wegen auf einen
früheren Satz §. 28 zurückzuſehen, welcher das Princip für dieſe ganze
Unterſuchung enthält. Er ſetzte nämlich im Allgemeinen feſt, daß die
Ideen real und als Götter, die Ideenwelt demnach als eine Welt der
Götter angeſchaut werden könne. Dieſe Welt iſt der Stoff aller Poeſie.
Wo er ſich bildet, iſt die höchſte Indifferenz des Abſoluten mit dem
Beſonderen in der realen Welt producirt. Hieran ſchließt ſich nun der
folgende Satz an:
§. 43. Im Stoff der Kunſt iſt kein Gegenſatz denkbar
als ein formeller. Dem Weſen nach iſt nämlich jener immer und
ewig eins, immer und nothwendig abſolute Identität des Allgemeinen
und des Beſonderen. Wenn alſo überhaupt ein Gegenſatz in Anſehung
des Stoffes ſtattfindet, ſo iſt er bloß formell, und als ſolcher muß er
auch objektiv ſich ausdrücken als bloßer Gegenſatz in der Zeit.
§. 44. Der Gegenſatz wird ſich darin äußern, daß die
Einheit des Abſoluten und Endlichen (Beſonderen) in dem
[452] Stoff der Kunſt von der einen Seite als Werk der Natur,
von der andern als Werk der Freiheit erſcheint.
Denn da in dem Stoff an und für ſich immer und nothwendig
Einheit des Unendlichen und Endlichen geſetzt iſt, dieſe aber nur auf
die gedoppelte Art möglich iſt, daß das Univerſum im Endlichen oder
das Endliche im Univerſum dargeſtellt werde, jenes aber die Einheit iſt,
die der Natur zu Grunde liegt, ſo wie dieſes die, welche der ideellen Welt
oder der Welt der Freiheit, ſo wird auch die Einheit, inwiefern ſie als
producirend erſcheint und nach entgegengeſetzten Seiten ſich trennt, nach
der einen nur als Werk der Natur, nach der andern als das der Frei-
heit erſcheinen können.
Anmerkung. Daß nun dieſer Gegenſatz eben in der griechiſchen
oder antiken und der modernen Poeſie dargeſtellt iſt, davon iſt nur der
empiriſche Beweis aus dem Faktum möglich, der auch in dem Vorher-
gehenden geführt worden iſt.
§. 45. Die Einheit wird in dem erſten Fall (der Noth-
wendigkeit) als Einheit des Univerſums mit dem Endlichen,
in dem andern (der Freiheit) als Einheit des Endlichen mit
dem Unendlichen erſcheinen.
Dieſer Satz iſt, wie aus dem Beweis des vorhergehenden erhellt,
nur ein anderer Ausdruck des vorhergehenden. Doch iſt noch folgender
beſonderer Beweis davon zu führen: die Entgegengeſetzten verhalten ſich
(nach §. 44) wie Natur und Freiheit; nun iſt der Charakter der Natur
(nach §. 18) ungetrennte, noch vor der Trennung beſtehende
Einheit des Unendlichen und Endlichen. Das Endliche iſt in ihr herr-
ſchend, aber in ihr liegt der Keim des Abſoluten. Wo die Einheit ge-
trennt iſt, da iſt das Endliche als Endliches geſetzt, alſo iſt nur die
Richtung vom Endlichen zum Unendlichen, alſo die Einheit des End-
lichen mit dem Unendlichen möglich.
§. 45. Im erſten Fall iſt das Endliche als Symbol,
im andern als Allegorie des Unendlichen geſetzt. — Folgt
aus den Erklärungen, die beim §. 39 gegeben worden ſind.
Anmerkung. Auch ſo auszudrücken: Im erſten Fall iſt das
[453] Endliche zugleich das Unendliche ſelbſt, nicht bloß es bedeutend, eben darum
etwas für ſich, auch unabhängig von ſeiner Bedeutung. Im andern
Falle iſt es für ſich ſelbſt nichts, nur in der Beziehung aufs Unendliche.
Folgeſatz. Der Charakter der Kunſt im erſten Fall iſt im Ganzen
ſymboliſch, im andern im Ganzen allegoriſch. (Daß dieß in der
modernen Kunſt der Fall ſey, iſt in der Folge im Einzelnen zu be-
weiſen. Indeſſen faſſen wir hier natürlich den reinen Gegenſatz auf,
alſo das Moderne, nicht wie es in ſeiner Abſolutheit ſeyn kann, ſon-
dern wie es ſich in ſeiner Nicht-Abſolutheit darſtellt, und demnach bisher
dargeſtellt hat, da uns alles überzeugt, daß die bisherige Erſcheinung
der modernen Poeſie noch nicht der vollendete Gegenſatz iſt, in welchem
eben deßwegen die beiden Entgegengeſetzten auch wieder eins würden).
§. 47. In der Mythologie der erſten Art wird das
Univerſum angeſchaut als Natur, in der andern als Welt
der Vorſehung oder als Geſchichte. — Nothwendige Folge, da
die Einheit, welche der andern zu Grunde liegt, = Handeln, Vorſehung
im Gegenſatz gegen Schickſal: Schickſal = Differenz (Uebergang),
Abfall von der Identität der Natur, Vorſehung = Reconſtruktion.
Zuſatz. Die Entgegenſetzung des Endlichen mit dem Univerſum
muß ſich in der erſten als Empörung, in der andern als unbedingte
Hingabe an das Univerſum darſtellen. Jenes kann als Erhabenheit
(Grundcharakter des Antiken), dieſes als Schönheit im engern Sinn
charakteriſirt werden.
§. 48. In der poetiſchen Welt der erſten Art wird die
Gattung ſich zum Individuum oder Beſondern ausbil-
den, in der andern das Individuum für ſich das Allge-
meine auszudrücken ſtreben. — Nothwendige Folge. Denn dort
iſt das Allgemeine im Beſonderen als ſolche, hier das Beſondere im
Allgemeinen als bedeutend das Allgemeine.
§. 49. Die Mythologie der erſten Art wird ſich zu einer
geſchloſſenen Götterwelt bilden, für die andere wird das
Ganze, worin ihre Ideen objektiv werden, ſelbſt wieder
ein unendliches Ganzes ſeyn. — Nothwendige Folge. Denn
[454] dort iſt Begrenzung, Endlichkeit herrſchend, hier Unendlichkeit. — Auch:
dort Seyn, hier Werden. Die Geſtalten der erſten Welt bleibend,
ewig, die Naturweſen einer höheren Ordnung, hier vorübergehende Er-
ſcheinungen.
§. 50. Dort wird Polytheismus durch Naturbegren-
zung (von dem hergenommen, was in den Raum fällt), hier nur
durch Begrenzung in der Zeit möglich ſeyn.
Folgt von ſelbſt. Alle Anſchauung Gottes nur in der Geſchichte.
Anmerkung. Inwiefern das Unendliche hier in das Endliche
kommt, ſo wird es nur ſeyn, um dieſes an ſich (ſelbſt) und durch ſein
Beiſpiel zu vernichten, und ſo die Grenze der zwei Welten zu machen.
Daher nothwendig die Idee der ſpäteren Welt: Menſchwerdung und
Tod Gottes.
§. 51. In der erſten Art der Mythologie iſt die Natur
das Offenbare, die ideelle Welt iſt das Geheime, in der
andern wird die ideelle Welt offenbar, und die Natur tritt
ins Myſterium zurück. — Folgt von ſelbſt.
§. 52. Dort iſt die Religion auf die Mythologie, hier
vielmehr die Mythologie auf die Religion gegründet. —
Denn Religion: Poeſie wieder = ſubjektiv: objektiv. Das Endliche
wird im Unendlichen angeſchaut durch Religion, wodurch mir erſt
auch das Endliche zum Reflex des Unendlichen wird, das Unendliche im
Endlichen dagegen ſymboliſch, und inſofern mythologiſch.
Erläuterung. Die griechiſche Mythologie war nicht als ſolche
Religion; ſie iſt an ſich nur als Poeſie zu begreifen; Religion wurde
ſie erſt in dem Verhältniß, welches ſich der Menſch nun ſelbſt zu
den Göttern (dem Unendlichen) gab in religiöſen Handlungen u. ſ. w.
Im Chriſtenthum iſt dieſes Verhältniß das erſte, und jede mögliche
Symbolik des Unendlichen, alle Mythologie alſo auch, davon abhängig
gemacht.
Zuſatz 1. Die Religion ſelbſt mußte dort mehr als Naturreli-
gion, hier konnte ſie nur als geoffenbarte erſcheinen. — Folgt aus
§. 47 und 48.
[455]
Zuſatz 2. Unmittelbar aus einer ſolchen Religion konnte Mytho-
logie entſpringen, weil jene auf Tradition gegründet war.
Zuſatz 3. Die Ideen dieſer Religion an und für ſich ſelbſt konn-
ten nicht mythologiſch ſeyn. Denn ſie ſind durchaus unſinnlich. Beweis
an der Dreieinigkeit, den Engeln u. ſ. w.
Zuſatz 4. Nur in der Hiſtorie konnte eine ſolche Religion my-
thologiſcher Stoff werden. Denn nur darin erlangen ſie (die Ideen)
eine Unabhängigkeit von ihrer Bedeutung.
§. 53. Wie dort die Ideen vorzugsweiſe nur in dem
Seyn, ſo konnten ſie hier nur in dem Handeln objektiv
werden. — Denn jede Idee iſt = Einheit des Unendlichen und End-
lichen, dieſe hier aber nur durch Handlung, wie dort durch das Ent-
gegengeſetzte, alſo durch Seyn.
§. 54. Die Grundanſchauung aller Symbolik der letz-
ten Art war nothwendig die Kirche. Denn in der Mythologie
der andern Art wird das Univerſum oder Gott angeſchaut in der Ge-
ſchichte (vergl. §. 47). Nun iſt aber der Typus oder die Form der
Geſchichte Getrenntheit im Einzelnen und Einheit im Ganzen (etwas,
das hier als in der Philoſophie zu Beweiſendes vorausgeſetzt wird),
alſo konnte in jener Art der Symbolik Gott überhaupt nur objektiv
werden als das vereinende Princip der Einheit im Ganzen und der
Getrenntheit im Einzelnen. Dieß aber konnte nur in der Kirche
geſchehen (wo auch unmittelbare Anſchauung Gottes), denn in der
objektiven Welt war keine andere Syntheſe dieſer Art (z. B. in der
Staatsverfaſſung, in der Geſchichte ſelbſt könnte dieſe Syntheſe wieder
nur im Ganzen objektiv werden, d.h. in der unendlichen Zeit, aber
nicht gegenwärtig).
Zuſatz. Die Kirche iſt als ein Kunſtwerk zu betrachten.
§. 55. Die äußere Handlung, in welcher die Einheit
des Unendlichen und Endlichen ausgedrückt wird, iſt ſym-
boliſch. — Denn ſie iſt Darſtellung der Einheit des Unendlichen und
Endlichen im Endlichen oder Beſonderen.
§. 56. Dieſelbe Handlung, inſofern ſie bloß innerlich
[456] iſt, iſt myſtiſch. — Dieß der Begriff, den wir von myſtiſch feſtſetzen,
und der alſo als Erklärung keines Beweiſes bedarf.
Zuſatz 1. Myſticismus alſo = ſubjektiver Symbolik.
Zuſatz 2. Myſticismus an und für ſich ſelbſt iſt unpoetiſch —
denn er iſt der entgegengeſetzte Pol der Poeſie, welche die Einheit des
Unendlichen und Endlichen im Endlichen. — Es verſteht ſich, daß
von Myſticismus an und für ſich die Rede iſt, nicht, inwiefern er ſelbſt
wieder objektiv werden kann, z. B. in ſittlicher Geſinnung u. ſ. w.
§. 57. Das Geſetz der erſten Art der Kunſt iſt Unwan-
delbarkeit in ſich ſelbſt, das der andern Fortſchritt im
Wechſel. — Folgt ſchon aus der Entgegenſetzung beider als Natur
und Freiheit.
§. 58. Dort iſt das Exemplariſche oder die Urbildlich-
keit, hier die Originalität herrſchend. — Denn dort erſcheint
das Allgemeine als Beſonderes, die Gattung als Individuum, hier
dagegen ſoll das Individuum als Gattung, das Beſondere als Allge-
meines erſcheinen. — Dort iſt der Ausgangspunkt identiſch (ὅμηρος),
Einer, nämlich das Allgemeine ſelbſt, hier aber iſt der Ausgangspunkt
immer und nothwendig ein verſchiedener, weil er im Beſonderen liegt.
Der Unterſchied der Originalität von der Beſonderheit
beſteht darin, daß jene vom Beſonderen ſich zum Allgemeinen, Univer-
ſellen bildet 1.
§. 59. Die andere Art der Kunſt iſt nur als Ueber-
gang oder als in der Nichtabſolutheit im Gegenſatz mit
der erſten. — Denn die vollkommene Einbildung des Endlichen ins
Unendliche wird auch die des Univerſums ins Endliche wieder mit ſich
führen.
Zuſatz. In dieſem Uebergang, wo die Originalität das Herrſchende
iſt, iſt es nothwendig, daß das Individuum ſich ſelbſt aus der Beſon-
derheit den univerſellen Stoff ſchaffe.
§. 60. Die Forderung der Abſolutheit in Anſehung
[457] der letzten Art der Mythologie wäre die der Verwandlung
des Nacheinander ihrer göttlichen Erſcheinung in ein Zumal
(erklärt ſich aus §. 50).
Zuſatz. Dieß iſt nur durch Integration mittelſt der entgegen-
geſetzten Einheit möglich. In der Natur iſt zumal, was in der
Geſchichte nacheinander. — Abſolute Identität der Natur und der
Geſchichte.
§. 61. Wie in der Mythologie der erſten Art die
Naturgötter ſich zu Geſchichtsgöttern bildeten, ſo müſſen
in der andern Art die Götter aus der Geſchichte in die
Natur, und alſo aus Geſchichtsgöttern zu Naturgöttern
ſich bilden. Denn nur dann Abſolutheit nach §. 60.
Zuſatz. Inſofern dieſe erſte wechſelſeitige Durchdringung der
beiden Einheiten — der Natur mit der Geſchichte und der Geſchichte
mit der Natur — in dem Epos geſchieht, inſofern wird das Epos,
der Homeros (nach dem wörtlichen Sinn der Einigende, die Identität),
welcher dort das Erſte iſt, hier das Letzte ſeyn und die ganze Beſtim-
mung der neuen Kunſt erfüllen.
[[458]]
Dritter Abſchnitt.
Conſtruktion des Beſonderen oder der Form der Kunſt.
Mit der vollendeten Conſtruktion des Stoffs der Kunſt, welcher
in der Mythologie liegt, tritt für uns ein neuer Gegenſatz ein. Wir
begannen von der Conſtruktion der Kunſt als realer Darſtellung des
Abſoluten. Dieſe konnte nicht real ſeyn, ohne jenes durch einzelne end-
liche Dinge darzuſtellen. Wir machten die Syntheſis des Abſoluten mit
der Begrenzung; es entſtand uns daraus die Ideenwelt der Kunſt,
aber auch dieſe iſt in Bezug auf die Darſtellung ſelbſt wieder nur
Stoff oder Allgemeines, dem die Form oder das Beſondere ent-
gegenſteht.
Wie geht jener allgemeine Stoff über in die beſondere Form und
wird Materie des beſonderen Kunſtwerks?
Es läßt ſich aus dem zu Anfang aufgeſtellten Princip zum voraus
einſehen, daß es auch hier darauf ankommen wird, die beiden Ent-
gegengeſetzten abſolut zu ſyntheſiren, Stoff und Form durch eine neue
Syntheſe in Indifferenz darzuſtellen. Hierauf beziehen ſich die folgen-
den Sätze, mit denen wir zur Conſtruktion des Kunſtwerks als ſolches
fortgehen.
§. 62. Das unmittelbar Hervorbringende des Kunſt-
werks oder des einzelnen wirklichen Dings, durch welches
in der idealen Welt das Abſolute real-objektiv wird, iſt
[459] der ewige Begriff oder die Idee des Menſchen in Gott,
der mit der Seele ſelbſt eins und mit ihr verbunden iſt.
Beweis. Dieſer iſt aus §. 23 zu führen, nach welchem die for-
male oder abſolute Urſache aller Kunſt Gott iſt. Nun producirt aber
Gott unmittelbar und aus ſich ſelbſt nur die Ideen der Dinge, wirk-
liche und beſondere Dinge aber nur mittelbar in der reflektirten Welt.
Inwiefern alſo das Princip der göttlichen Ineinsbildung, d. h.
Gott ſelbſt, durch beſondere Dinge objektiv wird, inſofern iſt nicht
Gott unmittelbar und an ſich ſelbſt betrachtet, ſondern nur Gott als das
Weſen eines Beſonderen und in der Beziehung auf ein Beſonderes das,
was die beſonderen Dinge producirt. Nun bezieht ſich aber Gott auf
das Beſondere nur durch das, worin es mit ſeinem Allgemeinen eins
iſt, d. h. durch ſeine Idee oder ſeinen ewigen Begriff. Dieſe Idee
aber iſt in dem vorliegenden Fall die des Abſoluten ſelbſt. Dieſe aber
bekommt die unmittelbare Beziehung auf ein Beſonderes oder wird
objektiv producirt nur in dem Organismus und der Vernunft, beide
als eins gedacht (denn nur jener iſt das reale, dieſe das ideale Abbild
des Abſoluten in der realen oder geſchaffenen Welt, nach den §§. 17 und
18). Die Indifferenz des Organismus und der Vernunft aber oder
das Eine, in welchem auf gleiche Weiſe real und ideal das Abſolute
objektiv wird, iſt der Menſch. Es iſt alſo Gott, inwiefern er ſich durch
eine Idee oder einen ewigen Begriff auf den Menſchen bezieht, d. h.
es iſt der ewige Begriff des Menſchen ſelbſt, der in Gott iſt, wodurch
das Kunſtwerk hervorgebracht wird. Die Idee des Menſchen iſt aber
nichts anderes als das Weſen oder das An-ſich des Menſchen ſelbſt,
welches in der Seele und dem Leib objektiv wird, und demnach der Seele
unmittelbar vereinigt iſt.
Erläuterung. Alle Dinge ſind in Gott nur durch ihre Idee,
und dieſe Idee wird objektiv da, wo auch im Reflex die Einheit des
Unendlichen im Endlichen in der Form producirt wird. Da nun dieß
im Menſchen der Fall iſt, indem hier das Endliche, der Leib, wie die
Seele die ganze Einheit iſt, ſo wird hier die Idee als Idee objektiv,
und da es ihr Weſen iſt zu produciren, überhaupt produktiv.
[460]
§. 63. Dieſer ewige Begriff des Menſchen in Gott
als der unmittelbaren Urſache ſeiner Produktionen iſt
das, was man Genie, gleichſam den Genius, das inwohnende
Göttliche des Menſchen, nennt. Es iſt ſo zu ſagen ein Stück aus
der Abſolutheit Gottes. Jeder Künſtler kann daher auch nur ſo viel
produciren, als mit dem ewigen Begriff ſeines eignen Weſens in Gott
verbunden iſt. Je mehr nun in dieſem für ſich ſchon das Univerſum
angeſchaut wird, je organiſcher er iſt, je mehr er die Endlichkeit der
Unendlichkeit verknüpft, deſto produktiver.
Erläuterungen. 1) Gott producirt aus ſich nichts, als worin
wieder ſein ganzes Weſen ausgedrückt iſt, nichts alſo, das nicht wieder
producirte, wieder Univerſum wäre. So verhält es ſich in dem An-
ſich. Daß nun aber das Produciren Gottes, d. h. die Idee als
Idee, auch in der erſcheinenden Welt hervortrete, dieß hängt von
Bedingungen ab, die in dieſer liegen, und die uns inſofern als zu-
fällig erſcheinen, obgleich, von einem höheren Geſichtspunkt aus be-
trachtet, auch die Erſcheinung des Genies immer wieder eine noth-
wendige iſt.
2) Das Produciren Gottes iſt ein ewiger, d. h. überhaupt kein
Verhältniß zur Zeit habender Akt der Selbſtaffirmation, worin eine
reale und ideale Seite. In jener gebiert er ſeine Unendlichkeit in die
Endlichkeit und iſt Natur, in dieſer nimmt er die Endlichkeit wieder
zurück in ſeine Unendlichkeit. Aber eben dieß wird auch in der Idee des
Genies gedacht, daß es nämlich von der einen Seite ebenſo als natür-
liches wie von der andern als ideelles Princip gedacht wird. Es iſt
demnach die ganze abſolute Idee, angeſchaut in der Erſcheinung oder
Beziehung auf Beſonderes. Es iſt ein und daſſelbe Verhältniß, durch
welches in dem urſprünglichen Erkenntnißakt die Welt an ſich, und
durch welches in dem Akt des Genies die Kunſtwelt, als dieſelbe Welt
an ſich nur in der Erſcheinung producirt wird. (Das Genie unter-
ſcheidet ſich von allem, was bloß Talent, dadurch, daß dieſes eine bloß
empiriſche Nothwendigkeit, die ſelbſt wieder Zufälligkeit, hat, jenes abſolute
Nothwendigkeit. Jedes wahre Kunſtwerk iſt ein abſolut nothwendiges;
[461] ein ſolches, das gleicherweiſe ſeyn und nicht ſeyn konnte, verdient dieſen
Namen nicht 1).
§. 64. Erklärung. Die reale Seite des Genies oder
diejenige Einheit, welche Einbildung des Unendlichen ins
Endliche iſt, kann im engern Sinn die Poeſie, die ideale
Seite oder diejenige Einheit, welche Einbildung des End-
lichen ins Unendliche iſt, kann die Kunſt in der Kunſt
heißen.
Erläuterung. Unter Poeſie im engern Sinne wird, wenn wir
uns auch bloß an die Sprachbedeutung halten, das unmittelbare Her-
vorbringen oder Schaffen eines Realen verſtanden, die Invention
an und für ſich ſelbſt. Alles unmittelbare Hervorbringen oder Schaffen
iſt aber immer und nothwendig Darſtellung eines Unendlichen, eines
Begriffs in einem Endlichen oder Realen. Die Idee der Kunſt beziehen
wir alle mehr auf die entgegengeſetzte Einheit, die der Einbildung des
Beſonderen ins Allgemeine. In der Invention expandirt oder ergießt
ſich das Genie in das Beſondere; in der Form nimmt es das Beſon-
dere zurück in das Unendliche. — Nur in der vollendeten Einbildung
des Unendlichen in das Endliche wird dieſes etwas für ſich Beſtehendes,
ein Weſen an ſich ſelbſt, das nicht bloß ein anderes bedeutet. So
gibt das Abſolute den Ideen der Dinge, die in ihm ſind, ein unab-
hängiges Leben, indem es ſie in die Endlichkeit auf ewige Weiſe ein-
bildet; dadurch bekommen ſie ein Leben in ſich ſelbſt, und nur ſofern
in ſich abſolut, ſind ſie im Abſoluten. Poeſie und Kunſt alſo ſind wie
die zwei Einheiten: Poeſie das, wodurch ein Ding Leben und Realität
in ſich ſelbſt hat, Kunſt das, wodurch es in dem Hervorbringenden iſt.
§. 65. Erklärung. Die erſte der beiden Einheiten,
die, welche Einbildung des Unendlichen ins Endliche,
drückt ſich an dem Kunſtwerk vorzugsweiſe als Erhaben-
heit, die andere, welche Einbildung des Endlichen ins
Unendliche, als Schönheit aus.
[462]
Wir können dieß nicht anders beweiſen, als indem wir zeigen, daß
das, was nach allgemeiner Uebereinſtimmung zum Erhabenen und
Schönen gefordert wird, nichts anderes ſey, als was durch unſere Er-
klärung ausgedrückt iſt. — Die Meinung iſt eigentlich dieſe: wo die
Aufnahme des Unendlichen ins Endliche als ſolche, das Unendliche alſo
im Endlichen unterſchieden wird, urtheilen wir, daß der Gegenſtand,
worin dieß der Fall iſt, erhaben ſey. Alle Erhabenheit iſt entweder
Natur oder Geſinnung (wir werden durch die weitere Betrachtung fin-
den, daß das Weſen, die Subſtanz des Erhabenen, immer eine und
dieſelbe iſt, und daß nur die Form wechſelt). Das Erhabene der
Natur findet wieder auf doppelte Weiſe ſtatt: „da, wo uns ein ſinn-
licher Gegenſtand dargeboten wird, der für unſere Faſſungskraft zu
hoch und in der Beziehung auf ſelbige unermeßlich iſt, oder da,
wo unſerer Kraft, ſofern wir lebendige Weſen ſind, ſich eine
Macht der Natur entgegenſtellt, gegen welche jene in nichts ver-
ſchwindet“. — Beiſpiele des erſten Falls ſind z. B. ungeheure Ge-
birgs- und Felſenmaſſen, deren Gipfel das Auge nicht erreicht, der
weite, nur vom Himmel umwölbte Ocean, das Weltgebäude in ſeiner
Unermeßlichkeit, für welche jeder mögliche Maßſtab des Menſchen
unzureichend befunden wird. Die gemeine Betrachtung dieſes Un-
ermeßlichen der Natur iſt, es als das Unendliche ſelbſt anzuſehen;
mit dieſer Anſicht iſt durchaus kein Gefühl der Erhabenheit, viel-
mehr der Niederſchlagung verbunden. In der Größe als ſolcher iſt
gar nichts Unendliches, bloß in ihr als Widerſchein wahrer Unend-
lichkeit. Die Anſchauung des Erhabenen tritt dann ein, wenn die
ſinnliche Anſchauung für die Größe des ſinnlichen Gegenſtandes un-
angemeſſen gefunden wird, und nun das wahre Unendliche hervertritt,
für welches jenes bloß ſinnliche Unendliche zum Symbol wird. Das
Erhabene iſt inſofern eine Unterjochung des Endlichen, welches Unend-
lichkeit lügt, durch das wahre Unendliche. Es kann keine vollkom-
menere Anſchauung des Unendlichen geben, als wo das Symbol, in
welchem es angeſchaut wird, in ſeiner Endlichkeit die Unendlich-
keit heuchelt. „Den bloß ſinnlichen Beſchauer kann (um mich hier
[463] Schillers Worte 1 zu bedienen) die Unermeßlichkeit der Natur nur
an die Schranken ſeiner Faſſungskraft, ebenſo wie die furchtbare
und mit unmeßbaren Kräften verderbende Natur einzig an ſeine
Ohnmacht erinnern. In der bloß ſinnlichen Anſchauung würde er
ſich nun entweder mit Kleinmuth oder Entſetzen von dieſem großen
Bild der Natur abwenden. Aber nicht ſo bald erhebt er ſich zur ab-
ſoluten Contemplation, kaum ſteigt ihm das Unendliche einer höheren
Anſchauung herab in die Fluth dieſer Erſcheinungen und verbindet ſich
mit dem Ungeheuren der ſinnlichen Anſchauung als ſeiner bloßen Hülle,
ſo fangen die wilden Naturmaſſen um ihn her an eine ganz andere
Anſchauung für ihn zu werden, indem ihm das relativ Große außer
ihm nur der Spiegel iſt, worin er das abſolut Große, das Unend-
liche an und für ſich ſelbſt erblickt. Abſichtlich bietet er nun das Ver-
mögen, das an ſich Unendliche anzuſchauen, auf, um das ſinnlich-
Unendliche ihm als bloße Form zu unterwerfen, und in dieſem Unter-
liegen des ſinnlich-Großen die Ueberlegenheit ſeiner Ideen über das
Höchſte, was die Natur aufbieten oder darſtellen kann, deſto unmittel-
barer zu empfinden.
Dieſe Anſchauung des Erhabenen iſt ihrer Verwandtſchaft mit dem
Ideellen und Sittlichen unerachtet eine äſthetiſche Anſchauung, um hier
einmal dieſes Wort zu gebrauchen. Das Unendliche iſt das Herrſchende,
aber es herrſcht doch nur, inwiefern es in dem ſinnlich-Unendlichen,
das inſofern wieder ein Endliches iſt, angeſchaut wird.
Dieſes Anſchauen des wahrhaft Unendlichen in dem Unendlichen
der Natur iſt die Poeſie, welche der Menſch allgemein üben kann;
denn es iſt der Anſchauende ſelbſt, dem das relativ Große der Natur
zum Erhabenen wird, indem er es zum Symbol des abſolut Großen
macht.
Die moraliſche und intellektuelle Schlaffheit, die Weichlichkeit
wie die Feigheit der Geſinnung wendet ſich von dieſen großen Anblicken
ab, welche ihr ein furchtbares Bild ihrer eignen Nichtigkeit und
[464] Verächtlichkeit vorhalten. Das Erhabene der Natur wie das der Tra-
gödie und der Kunſt überhaupt reiniget die Seele, indem es ſie von
dem bloßen Leiden befreit.
Wie der tapfere Mann in dem Moment, wo alle Kräfte der
Natur und des Verhängniſſes auf ihn zugleich feindlich eindringen, in
dem Moment ſelbſt des höchſten Leidens zur höchſten Befreiung und zu
einer überirdiſchen Luſt übergeht, die alle Schranken des Leidens abge-
legt hat, ſo geht dem, der das Antlitz der furchtbaren und zerſtörenden
Natur erträgt, das höchſte Aufgebot ihrer verderbenden Kräfte ſelbſt,
die abſolute Anſchauung auf, welche der Sonne gleicht, die aus den
Gewitterwolken bricht.
Schwerlich möchte es in einem Zeitalter der Kleinlichkeit der
Geſinnungen und Verkrüppelung des Sinns ein allgemeineres Mittel
geben, ſich ſelbſt davor zu bewahren und immer davon zu reinigen, als
dieſen Verkehr mit der großen Natur, ſchwerlich auch eine reichere Quelle
großer Gedanken und des heldenmüthigen Entſchluſſes als die immer
erneuerte Luſt in der Anſchauung des ſinnlich-Furchtbaren und -Großen.
Wir haben in dem Bisherigen das Erhabene der beiden Arten
betrachtet, jenes, in welchem die Natur durch ihre Größe für das
Faſſungsvermögen, und jenes, in welchem ſie durch ihre Macht für
unſere phyſiſche Kraft abſolut groß und unendlich, in Beziehung auf
das wahrhaft Unendliche aber ſelbſt wieder nur relativ groß, relativ
unendlich iſt. Wir haben nun noch genauer als bisher die Form der
Anſchauung des Erhabenen zu beſtimmen.
Die Form iſt, wie immer, ſo auch hier das Endliche, nur iſt die
Beſtimmung hinzugefügt worden, daß es hier als relativ unendlich, und
in der Beziehung auf ſinnliche Anſchauung als abſolut groß erſcheinen
müſſe. Es iſt aber eben dadurch von dem Endlichen die Form negirt,
und wir begreifen hierdurch, wie es eben das Formloſe iſt, welches für
uns am unmittelbarſten erhaben, d. h. Symbol des Unendlichen als
ſolchen wird.
Die Form, welche als Form unterſchieden wird, ſetzt das Endliche
eben dadurch als ein Beſonderes, das Endliche, welches das Unendliche
[465] aufnehmen ſoll, muß aber dieſem als Symbol adäquat ſeyn, welches
nun auf doppelte Weiſe geſchehen kann, entweder wenn es abſolut form-
los oder abſolut geformt iſt, denn beides iſt ſelbſt wieder eins und
daſſelbe. Die abſolute Formloſigkeit iſt eben die höchſte, die abſolute
Form, wo ſich das Unendliche in ein Endliches faßt, ohne von ſeinen
Schranken berührt zu werden. Eben darum aber hat auch die wirk-
lich abſolute Form, in der alles Beſchränkende aufgehoben iſt, wie in
den Götterbildungen des Jupiter, der Juno u. ſ. w. für uns wieder
dieſelbe Wirkung wie die abſolute Formloſigkeit.
Die Natur iſt allerdings nicht nur in ihrer unſerer Faſſungskraft
unerreichbaren Größe oder in ihrer unſerer phyſiſchen Gewalt unbeſieg-
baren Macht erhaben, ſie iſt es auch allgemein in dem Chaos oder, wie
Schiller ſich auch ausdrückt 1, in der Verwirrung ihrer Erſcheinungen
überhaupt.
Das Chaos iſt die Grundanſchauung des Erhabenen, denn wir
faſſen ſelbſt die Maſſe, die für die ſinnliche Anſchauung zu groß, wie
die Summe blinder Kräfte, die für unſere phyſiſche Macht zu gewaltig
iſt, in der Anſchauung nur als Chaos auf, und nur inſofern wird es
uns zum Symbol des Unendlichen.
Die Grundanſchauung des Chaos ſelbſt liegt in der Anſchauung
des Abſoluten. Das innere Weſen des Abſoluten, worin alles als
eins und eins als alles liegt, iſt das urſprüngliche Chaos ſelbſt;
aber eben auch hier begegnen wir jener Identität der abſoluten Form
mit der Formloſigkeit; denn jenes Chaos im Abſoluten iſt nicht bloße
Negation der Form, ſondern Formloſigkeit in der höchſten und abſo-
luten Form, ſowie umgekehrt höchſte und abſolute Form in der Form-
loſigkeit: abſolute Form, weil in jede Form alle und in alle jede
gebildet iſt, Formloſigkeit, weil eben in dieſer Einheit aller Formen
keine als beſondere unterſchieden wird 2.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 30
[466]
Durch die Anſchauung des Chaos, möchte ich ſagen, geht der Ver-
ſtand zu aller Erkenntniß des Abſoluten, es ſey in der Kunſt oder in
der Wiſſenſchaft, über. Das gemeine Wiſſen, wenn es, nach vergeb-
lichem Beſtreben das Chaos von Erſcheinungen in der Natur und der
Geſchichte mit dem Verſtand auszuſchöpfen, zu dem Entſchluß übergeht,
„das Unbegreifliche ſelbſt, wie Schiller ſagt 1, zum Standpunkt
der Beurtheilung“, d. h. zum Princip zu machen, ſcheint hier mit
dem erſten Schritt zur Philoſophie oder wenigſtens zur äſthetiſchen
Anſchauung der Welt. Erſt in dieſer Ungebundenheit, die dem gemeinen
Verſtand als Geſetzloſigkeit erſcheint, erſt in dieſer Selbſtändigkeit und
Freiheit von Bedingungen, in welcher ſich ſelbſt jede Naturerſcheinung
für ihn hält, da er niemals eine vollkommen aus der andern begreifen
kann und nothgedrungen jeder ihre Abſolutheit zugeſtehen muß — erſt
in dieſer Unabhängigkeit jeder einzelnen Erſcheinung, die dem nur auf
Bedingungen gebenden Verſtand ein Ende macht, kann er die Welt als
das wahre Sinnbild der Vernunft, in der alles unbedingt, und des
Abſoluten, in dem alles frei und ungezwungen iſt, erkennen.
Von dieſer Seite ſtellt ſich nun auch die Erhabenheit der Geſin-
nung dar, vorzüglich inwiefern derjenige, in welchem ſie ſich zeigt,
zugleich als Symbol der ganzen Geſchichte dienen kann. Die ſelbige
Welt, welche noch als Natur ſich in Schranken von Geſetzen hält, die
nur weit genug gezogen ſind, um innerhalb derſelben noch einen Schein
der Geſetzloſigkeit zu behalten, ſcheint als Geſchichte alle Geſetzmäßigkeit
abgelegt zu haben. Das Reale rächt ſich hier, und kehrt mit ſeiner
ganzen ſtrengen Nothwendigkeit zurück, um hier vielmehr alle Geſetze,
welche das Freie ſich ſelbſt gibt, zu zerſtören und ſich ihm gegenüber frei
zu zeigen. Die Geſetze und Abſichten der Menſchen ſind hier kein Geſetz
für die Natur, ſie „tritt, um mich wieder einer Stelle von Schiller 2 zu
bedienen, die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher
Achtloſigkeit in den Staub, und reißt das Wichtige wie das Geringe,
das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit ſich fort. Die
[467] vollkommenſten Werke und ihre eignen mühſamſten Erwerbungen ver-
dirbt und verſchwendet ſie in dem Augenblick, und bildet dagegen an
einem Werke der Thorheit Jahrhunderte lang fort. Dieſer Abfall der
Natur im Großen von der Regel des Verſtandes iſt es, (ſetzt Schiller
hinzu) was die abſolute Unmöglichkeit unmittelbar ſichtbar macht, die
Natur ſelbſt wieder durch Naturgeſetze zu erklären, die bloß in ihr,
aber nicht von ihr gelten. Die einfache Betrachtung hievon führt das
Gemüth ſchon unwiderſtehlich hinaus über die Welt der Erſcheinungen
in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte“. Der Held der
Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schickſals zuſammengehäuft
auf ſich dennoch ruhig erträgt, repräſentirt eben deßwegen jenes An-
ſich, jenes Unbedingte und Abſolute ſelbſt wieder in ſeiner Perſon;
ſicher ſeines Plans, den keine Zeit ausführt, aber auch keine vernichtet,
blickt er auf den Strom des Weltlaufs ruhig herab. Das Unglück,
welches die tragiſche Perſon ſinnlich niederwirft und vernichtet, iſt
ein ebenſo nothwendiges Element der ſittlich-erhabenen als der Streit
der Naturkräfte und die Uebermacht der Natur über die bloß ſinnliche
Faſſungskraft für das phyſiſch-Erhabene. Nur im Unglück wird die
Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im
Kampf mit dem erſten, worin er weder phyſiſch ſiegt, noch moraliſch
unterliegt, iſt nur Symbol des Unendlichen, deſſen, was über alles
Leiden iſt. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip
offenbar werden, in dem kein Leiden iſt, wie alles überall nur in
ſeinem Entgegengeſetzten objektiv wird. Das wahre tragiſch Erhabene
ruht eben deßwegen auf den zwei Bedingungen, daß die moraliſche Perſon
den Naturkräften unterliegt und zugleich durch die Geſinnung ſiegt; es
iſt weſentlich, daß der Held nur durch das ſiege, was nicht Naturwirkung
oder Glück ſeyn kann, alſo nur durch die Geſinnung, wie bei Sophokles
immer, nicht daß etwas Anderes, Fremdartiges, wie oft ſchon bei Euripi-
des, das Herbe ſeines Schickſals vermeintlich wieder lindere. Die falſche
Schonung, welche dem ſchlaffen Geſchmack huldigt, der den ernſten An-
blick der Nothwendigkeit nicht erträgt, iſt ſelbſt nicht nur an ſich verächt-
lich, ſondern verfehlt auch die eigentliche Kunſtwirkung, die ſie beabſichtigt.
[468]
Es iſt jetzt hinlänglich erläutert, inwiefern das Erhabene Einbil-
dung des Unendlichen im Endlichen, nur daß das Endliche immer ſelbſt
als ein relativ Unendliches erſcheine (denn nur in dieſem Fall wird
das wahrhaft Unendliche als ſolches unterſchieden) als relativ
Unendliches, es ſey nun für die Auffaſſung, oder für die phyſiſche Macht,
oder für das Gemüth, wie in der Tragödie, wo es durch das Unend-
liche der moraliſchen Geſinnung beſiegt wird.
Ich will hier nur noch in Bezug auf das Erhabene Eine Bemer-
kung machen, die aus unſerer bisherigen Darſtellung folgt, nämlich,
daß nur in der Kunſt das Objekt ſelbſt erhaben iſt, da es die Natur
nicht an ſich iſt, weil hier die Geſinnung oder das Princip, durch
welches das Endliche zum Symbol des Unendlichen herabgeſetzt wird,
doch nur in das Subjekt fällt.
Im Erhabenen, ſagten wir, werde das ſinnlich Unendliche durch
das wahre Unendliche bezwungen. Im Schönen darf das Endliche
ſich wieder zeigen, indem es im Schönen nicht anders als ſelbſt ſchon
eingebildet dem Unendlichen erſcheint. Dort (im Erhabenen) zeigt ſich
das Endliche noch gleichſam in der Empörung gegen das Unendliche,
obgleich es in dieſem Verhältniß ſelbſt zum Symbol von ihm wird.
Hier (im Schönen) iſt es ihm urſprünglich verſöhnt. Daß dieß das
Verhältniß des Schönen zum Erhabenen ſeyn müſſe, inwiefern beide
einander entgegengeſetzt werden, geht übrigens durch den Gegenſatz aus
dem hervor, was von dem Erhabenen bewieſen worden iſt. Allein eben
daraus das Folgende.
§. 66. Das Erhabene in ſeiner Abſolutheit begreift
das Schöne, wie das Schöne in ſeiner Abſolutheit das
Erhabene begreift.
Dieß iſt allgemein ſchon daraus einzuſehen, daß das Verhält-
niß beider wie das der beiden Einheiten iſt, von denen aber jede gleich-
falls in ihrer Abſolutheit ſelbſt die andere begreift. Das Erhabene,
inwiefern es nicht ſchön, wird aus dieſem Grunde auch nicht erhaben,
ſondern nur ungeheuer oder abenteuerlich ſeyn. Ebenſo muß die abſolute
Schönheit mehr oder weniger immer zugleich auch die furchtbare
[469] Schönheit ſeyn. Da übrigens Schönheit immer und nothwendig Begren-
zung fordert, ſo wird die Begrenzungsloſigkeit ſelbſt zur Form wie
in der Bildung des Jupiter, wo keine als die nothwendige Begrenzung
iſt, nur damit überhaupt ein Bild ſey, denn übrigens iſt alle
andere Begrenzung aufgehoben, z. B. weder jung noch alt. Ebenſo iſt
Juno nur ſo viel begrenzt, als nöthig iſt weibliche Geſtalt zu ſeyn.
Je geringer die Begrenzung, innerhalb welcher ein Bild als Schönheit
iſt, deſto mehr neigt es gegen das Erhabene hin, ohne doch aufzuhören
Schönheit zu ſeyn. Apollos Schönheit hat mehr Begrenzung als Jupiters
— er iſt jugendlich-ſchön. Bei ihm iſt die Begrenzung nicht bloß
wie bei Jupiter ſo weit, daß nur überhaupt das Unendliche im End-
lichen erſcheint, das Endliche gilt auch ſchon für ſich wieder als einge-
bildet dem Unendlichen. Näher liegt das Beiſpiel der männlichen und
weiblichen Schönheit; dort zeigt auch die Natur nur das Nothwendige
von Begrenzung, hier iſt ſie freigebig mit derſelben.
Hieraus folgt, daß zwiſchen Erhabenheit und Schönheit kein quali-
tativer und weſentlicher, ſondern nur ein quantitativer Gegenſatz. Das
Mehr oder Weniger von Schönheit oder von Erhabenheit gehört (dient)
ſelbſt wieder zur Begrenzung: Juno = erhabene Schönheit, Minerva
= ſchöne Erhabenheit. Je mehr aber die Begrenzung das Unendliche
verſöhnt, deſto reiner ſchön.
Indeß weil eben wegen der Indifferenz des Erhabenen und
Schönen die Beſtimmung auch wieder relativ wird, ſo daß daſſelbe,
was in einer Beziehung als Erhabenheit begriffen wird, z. B. das
Bild der Juno, in einer andern Beziehung wieder als Schönheit im
Gegenſatz gegen Erhabenheit erſcheinen kann (wie Juno im Vergleich
mit Jupiter), ſo erhellt, daß überhaupt und in keiner Sphäre etwas
ſchön genannt werden kann, das in anderer Beziehung nicht auch erhaben
wäre, daß aber eben deßwegen in jedem, das nur überhaupt für ſich
abſolut iſt, beides unauflöslich voneinander durchdrungen erſcheine,
wie z. B. Juno, nicht verglichen, ſondern für ſich betrachtet, oder um
aus einer andern Sphäre Beiſpiele zu nehmen, Sophokles im Vergleich
mit Aeſchylos als ſchön, für ſich aber und abſolut betrachtet, als
[470] eine ganz unauflösliche Vereinigung des Schönen und Erhabenen
erſcheine.
Wollte man ſich in Anſehung des Erhabenen etwa auf die bloße
Vorſtellung der Unbegrenztheit und Formloſigkeit berufen, welche damit
in der Regel verbunden wird, ſo iſt dieſe, wie bereits gezeigt, aller-
dings eine nothwendige Bedingung des Erhabenen, aber nicht ſo, daß
ſie nicht ſelbſt wieder innerhalb ſtreng begrenzter Formen möglich wäre,
ſondern ſo vielmehr, daß eben die höchſte Form (wo die Form in der
Form nicht mehr erkannt wird) zur Formloſigkeit, wie in andern Fällen
die Formloſigkeit ſelbſt zur Form wird. Jenes, wie geſagt, in der
Bildung des Jupiter und in dem Kopf der ſogenannten Juno Ludoviſi,
wo das Erhabene ſo mit dem Schönen durchdrungen iſt, daß es nicht
geſchieden werden kann. Winkelmann nimmt eine hohe Grazie an, und
die Alten ſelbſt haben die furchtbaren Grazien des Aeſchylos geprieſen.
Im Kunſtwerk ſelbſt als Objektivem verhalten ſich Erhabenheit und
Schönheit wie im Subjektiven Poeſie und Kunſt. Aber auch in der
Poeſie für ſich, ſowie der Kunſt für ſich, iſt wieder derſelbe Gegenſatz mög-
lich, dort als naiv und ſentimental, hier als Styl und Manier. Daher:
§. 67. Derſelbe Gegenſatz der beiden Einheiten drückt
ſich in der Poeſie für ſich betrachtet durch den Gegenſatz
des Naiven und Sentimentalen aus.
Allgemeine Anmerkung. In Anſehung aller dieſer Gegen-
ſätze muß man beſtändig im Auge behalten, daß ſie in der Abſolutheit
aufhören es zu ſeyn. Nun iſt aber der Fall eben der, daß die erſte
Einheit, die, in welcher das Unendliche ins Endliche eingebildet iſt, immer
und nothwendig als die vollendete erſcheint, daß hier der Ausgangs-
punkt und der der Vollendung in eins zuſammenfallen, daß dagegen für
das andere Glied des Gegenſatzes ſehr wohl der abſolute Ausdruck
fehlen kann, eben deßwegen, weil es nur in der Nicht-Abſolutheit als
Entgegengeſetztes erſcheint. Dieß iſt der Fall z. B. mit dem Sentimen-
talen und Naiven. Das Poetiſche und Genialiſche iſt immer und noth-
wendig naiv; das Sentimentale iſt alſo das Entgegengeſetzte nur in
ſeiner Unvollkommenheit. Wir ſtatuiren alſo nicht ſowohl Naives und
[471] Sentimentales in der Poeſie, ſondern wir ſtatuiren allgemein zwei
Richtungen in der Poeſie, die, wo das Allgemeine als ins Beſon-
dere gebildet erſcheint, und die, wo das Beſondere ins Allgemeine
gebildet. In der Abſolutheit müßten beide eins, d. h., nachdem naiv der
einzige Ausdruck iſt, den wir für die Abſolutheit haben, beide müßten
naiv ſeyn. Sentimental iſt alſo nur der Ausdruck der andern Richtung
in ihrer Mangelhaftigkeit, inſofern alſo das Verhältniß von Naiv zu
Sentimental keineswegs wie das im vorigen Satze von Erhabenheit
zu Schönheit, wo jede für ſich ein Abſolutes bezeichnet.
Es iſt bekannt, daß Schiller dieſen Gegenſatz zuerſt in einem Auf-
ſatz über naive und ſentimentaliſche Dichtung geltend gemacht hat, der
außer dieſem ſehr reich iſt an fruchtbaren Ideen. Ich entlehne hier
folgende Sätze aus demſelben, welche am beſten dazu dienen, jenen
Gegenſatz deutlich zu machen.
„Naiv iſt zu erklären als Natur oder Erſcheinung der Natur, ſo-
fern ſie die Kunſt beſchämt“. (Dieſe Erklärung befaßt die Bedeutung
des Worts in Verhältniſſen des Umgangs und die höhere, welche ihm
hier in Beziehung auf Kunſt gegeben wird. Schon daß der Grundcha-
rakter des Naiven der iſt, daß es Natur ſeyn muß, beweist, daß es
dem erſten der beiden Gegenſätze urſprünglich entſpreche.)
„Das Naive iſt Natur, das Sentimentale ſucht die Natur“.
„Das naive Gemüth empfindet natürlich, das ſentimentale em-
pfindet das Natürliche“.
Am auffallendſten iſt dieſer Gegenſatz wieder in der Vergleichung
des Antiken und Modernen, wie dieß Schiller ebenfalls ſehr ſchön
nachweist. Die Anſchauung des Erhabenen in der Natur z. B. iſt bei
dem Griechen durchaus nicht die empfindſame, welche die bloße Rührung
davon empfindet, ohne bis zur freien, kalten Betrachtung zu gehen. Da-
gegen iſt das rein bloß ſubjektive Intereſſe an der Natur ohne alle Ob-
jektivität der Anſchauung oder des Denkens Grundzug im Charakter der
Modernen, und ſie ſelbſt ſind in dem Verhältniß entfernt von der Natur,
in welchem ſie die Natur empfinden, nicht anſchauen oder darſtellen.
Man kann den ganzen Unterſchied des naiven und ſentimentalen
[472] Dichters darin zuſammenfaſſen, daß bei jenem nur das Objekt waltet,
bei dieſem das Subjekt als Subjekt hervortritt, daß jener über ſein
Objekt bewußtlos ſcheint, dieſer es mit ſeinem Bewußtſeyn beſtändig
begleitet und dieſes Bewußtſeyn zu erkennen gibt. Jener iſt kalt und
fühllos bei ſeinem Objekt, wie die Natur, dieſer gibt uns ſein Gefühl
mit zu genießen. Jener zeigt keine Vertraulichkeit gegen uns, nur das
Objekt iſt uns verwandt, er ſelbſt entflieht uns; dieſer macht, indem
er das Objekt darſtellt, zugleich auch ſich ſelbſt zum Reflex deſſelben.
Ebenſo wie in der Poeſie ſelbſt miſcht ſich dieſer Gegenſatz auch in
die Beurtheilung ein; es gehört ebenſo zum modernen Charakter, daß
ihn in der Regel die Fühlloſigkeit des Dichters kalt läßt (das Objekt
muß ſchon durch die Reflexion hindurchgegangen ſeyn, um auf ihn zu
wirken), ja daß ihn das, was eben die höchſte Kraft aller Poeſie iſt,
nur das Objekt walten zu laſſen, an dem Dichter empört.
Es erhellt ſchon aus Schillers Abhandlung, daß der Grund-
charakter der Modernen im Gegenſatz gegen die Alten als der ſentimen-
tale ausgedrückt werden kann. Daß dieſe Behauptung aber wenigſtens
Beſchränkung leide, zeigt ſchon die einzige Ausnahme des Shakeſpeare,
welche auch Schiller macht. Es möchte ſich eben auch in dieſer Be-
ziehung mit Shakeſpeare verhalten wie in der Beziehung auf den
früheren Gegenſatz der bewußten und bewußtloſen Seite. Die voll-
kommene Indifferenz des Naiven und Sentimentalen ſelbſt wieder (denn
ich habe ſchon bemerkt, daß naiv ja eben auch wieder naiv nur für den
ſentimentalen Beſchauer) hat vielleicht überhaupt kein Neuerer erreicht,
alſo auch Shakeſpeare nicht. Der Grund, der Ausgangspunkt iſt hier
immer die Entgegenſetzung des Subjekts und Objekts, d. h. das Sentimen-
tale, nur im Objekt wieder zur Naivheit reducirt. Ganz unterſcheidbar
liegen in Arioſto die Elemente des Sentimentalen und Naiven beieinander;
man könnte von ihm ſagen: er iſt auf naive Weiſe ſentimental, anſtatt
daß Shakeſpeare innerhalb des Sentimentalen ganz und gar naiv iſt.
Für die äußere Erſcheinung des Naiven iſt noch zu bemerken, daß
es ſich immer durch Simplicität und Leichtigkeit der Behandlung eben-
ſo ſehr als durch ſtrenge Nothwendigkeit auszeichnen wird. Wie das
[473] Schöne in dem Maße erhaben iſt, in welchem zu ſeiner Darſtellung
nur das Nothwendige erfordert wird, ſo gibt es kein größeres Zeichen
des Genies, als daß es mit wenigen ſtrengen und nothwendigen Zügen
das Objekt zur vollkommenen Anſchauung bringt (Dante). Für das
Genie gibt es keine Wahl, weil es nur das Nothwendige kennt und
nur dieſes will. Ganz anders iſt der ſentimentale Dichter daran,
welcher reflektirt, und nur rührt und ſelbſt gerührt wird, inwiefern er
reflektirt. Der Charakter des naiven Genies iſt vollſtändige — Nach-
ahmung nicht ſowohl, wie Schiller ſich ausdrückt 1, als vielmehr Er-
reichung der Wirklichkeit; ſein Objekt iſt unabhängig von ihm, an
ſich ſelbſt. Der ſentimentale Dichter ſtrebt nach einem Unendlichen,
das, weil es in dieſer Richtung nicht zu erreichen iſt, auch nie zur
Anſchauung kommt.
§. 68. Die Poeſie in ihrer Abſolutheit iſt an ſich
weder naiv noch ſentimental. Nicht naiv, denn dieß iſt eine
Beſtimmung, die ſelbſt nur durch den Gegenſatz gemacht wird (das
Abſolute erſcheint nur dem Sentimentalen naiv), das Sentimentale
aber iſt an und für ſich ſelbſt eine Nicht-Abſolutheit. Demnach ꝛc.
Anmerkung. Der ganze Gegenſatz iſt alſo ſelbſt ein ſubjektiver,
ein bloßer Erſcheinungsgegenſatz. Dieß läßt ſich ſelbſt ſogar als That-
ſache nachweiſen. Von Sophokles z. B. wird niemand verſucht werden
zu ſagen, daß er ſentimental ſey, aber gerade eben auch nicht, daß er
naiv ſey. Er iſt mit Einem Wort der ſchlechthin abſolute ohne alle
weitere Beſtimmung. Schiller hat ſeine Beiſpiele in Anſehung des
Antiken vorzüglich aus dem Epos entlehnt. Nur möchte man ſagen,
daß es mit zur Begrenzung, zur beſondern Art des Epos gehöre,
daß es naiv erſcheine, wie z. B. das Homeriſche in den meiſten Zügen
ſeiner Helden. Wollte man das Sentimentale für etwas gelten laſſen,
ſo könnte man es, in wiefern es überhaupt etwas wäre, dem Lyriſchen
gleichſetzen. Das dramatiſche Werk aber kann eben deßwegen weder naiv
noch ſentimental erſcheinen, und eben daß Shakeſpeare z. B. naiv erſcheinen
kann, würde ihn in dieſer Rückſicht wieder als Modernen charakteriſiren.
[474]
§. 69. Der Gegenſatz der beiden Einheiten in der
Kunſt für ſich betrachtet kann ſich nur als Styl und Ma-
nier ausdrücken.
Anmerkung. Dieſelbe Bemerkung, die ich ſchon bei dem vor-
hergehenden Gegenſatz gemacht habe, findet hier noch weit mehr ſtatt.
Von den beiden Entgegengeſetzten iſt Styl das Abſolute, Manier das
Nicht-Abſolute, inſoweit Verwerfliche. Die Sprache hat nur Einen
Ausdruck für die Abſolutheit in beiden Richtungen. Die Abſolutheit
in der Kunſt beſteht immer darin, daß das Allgemeine der Kunſt
und das Beſondere, welches ſie im Künſtler als Individuum an-
nimmt, abſolut eins, dieſes Beſondere das ganze Allgemeine ſey, und
umgekehrt. Nun läßt ſich wohl denken, daß dieſe Indifferenz ſich auch
vom Beſonderen aus erlangen laſſe, oder daß der Künſtler die Beſonder-
heit ſeiner Form, ſofern ſie die ſeinige iſt, in die Allgemeinheit des
Abſoluten bilden könne, ebenſo wie umgekehrt gedacht werden kann,
daß die allgemeine Form in dem Künſtler ſich bis zur Indifferenz
mit der beſonderen, die er als Individuum haben muß, in-eins-
bilde. Im erſten Betracht könnte man alsdann Styl die abſolute
Manier nennen, ſo wie im entgegengeſetzten Fall (wo jenes nicht er-
reicht) Manier der nicht-abſolute, der verfehlte, nicht-erlangte Styl
heißen müßte.
Allgemein iſt anzumerken, daß dieſer Gegenſatz noch von dem
erſten herfließt, den wir in dieſer Unterſuchung gemacht haben, nämlich
da ſich die Kunſt nur im Individuum manifeſtiren kann, jene aber
immer abſolut iſt, ſo kommt es vorzüglich wieder auf die Syntheſe des
Abſoluten mit dem Beſonderen an.
Die bloß empiriſchen Theoretiker befinden ſich in nicht geringer
Verlegenheit, wenn ſie den Unterſchied von Styl und Manier erklären
ſollen, und es zeigt ſich hier vielleicht am deutlichſten das allgemeine
Verhältniß oder die allgemeine Bewandtniß, die es mit den Gegen-
ſätzen in der Kunſt überhaupt hat. Der eine iſt immer der abſolute,
der andere erſcheint als Gegenſatz nur, ſofern er nicht iſt, und nur,
ſofern er gleichſam auf halbem Wege zur Vollendung aufgenommen
[475] wird. Nämlich die Beſonderheit kann unbeſchadet der Beſonderheit
abſolut, ſowie das Abſolute unbeſchadet der Abſolutheit beſonder ſeyn.
Die beſondere Form ſoll ſelbſt wieder die abſolute ſeyn, nur
dann iſt ſie in der Indifferenz mit dem Weſen, und läßt dieſes frei.
Styl alſo ſchließt nicht die Beſonderheit von ſich aus, ſondern
iſt vielmehr die Indifferenz der allgemeinen und abſoluten Kunſtform
mit der beſondern Form des Künſtlers, und iſt Styl ſo nothwendig,
als daß die Kunſt nur im Individuum ſich äußern kann. Styl würde
nur immer und nothwendig die wahre Form, inſofern alſo wieder das
Abſolute, Manier nur das Relative ſeyn. Es iſt aber durch die an-
genommene Indifferenz eben nicht beſtimmt, daß ſie durch Einbildung
des Allgemeinen ins Beſondere oder umgekehrt durch Hineinbildung der
beſonderen Form in die allgemeine geſetzt ſey. Es ſtellt ſich hier, wie
geſagt, nur wieder das ſchon Bemerkte ein, daß die Einbildung des
Abſoluten in das Beſondere immer als das Vollendete, und alſo in
dem gegenwärtigen Fall allein als Styl erſcheint. Die entgegengeſetzte
Einheit kann als entgegengeſetzte eben nur in der Nicht-Abſolutheit
erſcheinen: iſt ſie abſolut, ſo heißt alsdann auch ſie Styl, iſt ſie nicht
abſolut, ſo iſt ſie Manier.
Man wird gewiß nicht leugnen können, daß auch in der andern
Richtung, nämlich die von der Beſonderheit ausgeht, Styl erreichbar
ſey, obgleich immer noch die Spur dieſer formalen Differenz übrig
bleiben, und der in dieſer Richtung erreichte Styl die abſolute Ma-
nier heißen kann. Styl wird in dieſem Sinn eine abſolute (zur
Abſolutheit erhobene) Beſonderheit, wie in der erſten Bedeutung
eine beſondere (zur Beſonderheit gebildete) Abſolutheit bedeuten. Im
Ganzen muß überhaupt der Styl der Modernen von der erſten Art
ſeyn, da (nach §. 58) hier die Beſonderheit immer der Ausgangspunkt
iſt, ſowie dagegen nur die Alten den Styl der erſten Gattung haben.
Dieß kann behauptet werden, ohne den Modernen zu nahe zu treten,
da ihnen der Styl überhaupt zugeſtanden wird. Daß in der letzten
Vollendung der modernen Kunſt auch dieſer Gegenſatz verſchwinden
müſſe, iſt ohnehin offenbar.
[476]
Auch die Natur, kann man ſagen, hat eine Manier in dieſem
Sinn oder einen gedoppelten Styl. Sie hat Manier in allem, was
auf die Hineinbildung des Beſonderen ins Allgemeine geht, z. B. in
der Färbung der Körper, vorzüglich in der organiſchen Welt, wo ſie
in der männlichen Geſtalt offenbar Styl hat, dagegen ſie in der weib-
lichen Schönheit, wo ſo viele Beſonderheiten mit in die Bildung auf-
genommen werden mußten, in gewiſſem Sinn manierirt iſt. Aber eben
dieß iſt Beweis, daß auch in dieſer Richtung Schönheit, demnach Styl
möglich iſt. Es hat daher jemand ſehr geiſtreich geſagt, daß, wenn
z. B. Schakeſpeare Manier hätte, unſer Herrgott auch Manier haben
müßte. Man kann es von den Modernen nicht hinwegnehmen, daß
ſie nur in der Richtung vom Beſonderen zum Allgemeinen Styl
haben.
Aber ebenſowenig kann man den Neueren abſprechen, daß ſie in
dieſer Richtung Styl erreicht haben und zu erreichen fähig ſind, ſo
ſehr, daß ſelbſt innerhalb der modernen Kunſt wieder die zwei Richtun-
gen erkennbar ſind. So iſt derjenige der Modernen, der in der bilden-
den Kunſt Styl vor allen hat, ohne Zweifel Michel Angelo: ſein Ent-
gegengeſetzteſter unter den großen Meiſtern iſt ohne Zweifel Correggio;
es wäre gewiß falſch, dieſem Künſtler unbedingt Manier zuzuſchreiben,
obgleich es ebenſo unmöglich iſt, ihm einen andern als den Styl der
zweiten Gattung zuzuſchreiben; er iſt vielleicht das anſchaulichſte Bei-
ſpiel davon, daß auch in der Richtung vom Beſonderen zum Allge-
meinen Styl möglich iſt.
Allgemein können wir nun die Manier im verwerflichen Sinne,
demnach die Manierirtheit, erklären als ein Geltendmachen der be-
ſonderen Form ſtatt der allgemeinen. Da dem Künſtler überhaupt nur
die Form zu Gebot ſteht, ſo daß er allein durch dieſe das Weſen er-
reicht, dem Weſen aber nur die abſolute Form adäquat iſt, ſo löst
ſich mit der Manier in dieſem Sinne unmittelbar auch das Weſen der
Kunſt ſelbſt auf. Am meiſten zeigt ſich Manierirtheit in einem Be-
ſtreben nach oberflächlicher, nur ungeübte Augen blendender Eleganz
und ſchwächlicher Schönheit, in dem Geleckten, Verwaſchenen mancher
[477] Werke, deren einziges oder Hauptverdienſt wenigſtens das Saubere iſt.
Es gibt aber auch eine rohe und derbe Manier, wo mit Abſicht das
Uebertriebene, Forcirte geſucht wird. Immer iſt Manier eine Be-
ſchränkung und zeigt ſich in der Unfähigkeit, gewiſſe Beſonderheiten der
Form, es ſey nun im Ganzen der Figuren (denn am beſten werden
die Beiſpiele doch von der bildenden Kunſt hergenommen) oder in ein-
zelnen Theilen zu überwinden. So gibt es Maler, die nur kurze und
ſtämmige, andere, die nur lang und ſchmal auslaufende, hagere Fi-
guren machen können; andere, die entweder nur dicke oder dünne
Beine machen oder dieſelbe Form der Köpfe halsſtarrig immer wieder
bringen.
Das Manierirte zeigt ſich dann noch weiter in dem Verhältniß,
das den Figuren zu einander gegeben wird, vorzüglich in dem Eigenſinn
der Stellungen, aber ſelbſt in der erſten Invention und der unbieg-
ſamen Gewohnheit, alle Sujets von einer gewiſſen Seite, z. B. der
empfindſamen, der geiſtreichen, oder gar witzigen aufzufaſſen. Das
bloß Geiſtreiche, ebenſo wie der Witz, gehört einzig zur ſentimentalen
Richtung, da die Kunſt im großen Styl, ſelbſt bei Ariſtophanes, eigent-
lich nie witzig, ſondern immer nur groß iſt.
Es muß endlich noch bemerkt werden, daß die Beſonderheit, welche
in dem Styl zur Allgemeinheit hinzukommt, außer der des einzelnen
Individuum, auch die der Zeit ſeyn kann. In dieſem Sinn ſpricht
man von dem verſchiedenen Styl verſchiedener Zeitalter.
Der Styl, welchen ſich der individuelle Künſtler bildet, iſt für ihn,
was ein Denkſyſtem für den Philoſophen im Wiſſen, oder für den
Menſchen im Handeln iſt. Winckelmann nennt ihn daher mit Recht ein
Syſtem der Kunſt und ſagt, daß der ältere Styl auf ein Syſtem ge-
baut geweſen.
Von den Schwierigkeiten in bedeutenden Fällen Styl und Manier
und den Uebergang des Einen zu unterſcheiden, wäre viel zu ſagen.
Allein dieß iſt nicht unſeres Amts und geht die allgemeine Wiſſenſchaft
der Kunſt nichts an.
[478]
Allgemeine Anmerkung über die bis jetzt von §. 64—69
abgehandelten Gegenſätze.
Dieſe Gegenſätze gehören alle zu einer und derſelben Familie und
gehen ſämmtlich aus dem erſten Verhältniß der Kunſt als abſoluter
Form zu der beſondern Form hervor, die durch die Individuen geſetzt
iſt, durch welche ſie ſich äußert. Sie mußten daher gerade hier her-
vortreten.
Gleich der erſte — für die Reflexion zu machende — Gegenſatz
der Poeſie und der Kunſt zeigt uns jene als abſolute, dieſe als beſon-
dere Form; das was in dem Genie an ſich abſolut-eins iſt, zerlegt
ſich in dieſe beiden Erſcheinungsweiſen, die übrigens in ihrer Abſolut-
heit wieder eins und daſſelbe ſind. Ebenſo was in dem Schönen an
und für ſich ſchlechthin eins iſt, zerlegt ſich in dem beſonderen Objekt,
dem einzelnen Kunſtwerk, in die zwei Erſcheinungsweiſen des Erhabenen
und Schönen, die übrigens auch wieder nur in ihrer Nicht-Abſolutheit
verſchieden ſind, ſo daß, wie in dem vollendeten Künſtler Poeſie und
Kunſt, ebenſo in den höchſten Werken ſich Erhabenheit und Schönheit
unauflösbar durchdringen. Als Erhabenheit erſcheint überall die abſo-
lute und allgemeine Form der Kunſt, in welcher das Beſondere nur
iſt, um die ganze Unendlichkeit in ſich aufzunehmen. Als Schönheit
insbeſondere erſcheint die beſondere Form als verſöhnt der abſoluten
und ganz in ſie aufgenommen, ganz mit ihr eins.
Dieſen Gegenſätzen ſind die folgenden nicht gleich zu ſetzen, die
nur entweder in der Poeſie für ſich oder in der Kunſt für ſich ſtatt-
finden, und die im erſten Fall, wo ſie als Naives und Sentimen-
tales erſcheinen, ſelbſt bloß ſubjektiv ſind (indem es ſchon eine Sub-
jektivität iſt, das Abſolute nur als naiv zu begreifen, das Sentimentale
aber als ſolches abſolut verwerflich iſt) — ſowie denn in dem anderen
Fall wiederum nur das Eine von beiden das Abſolute bezeichnet, ob-
gleich allerdings die Verſchiedenheit der Richtung beſteht, in welcher das
Abſolute, der Styl, erreichbar iſt.
Innerhalb dieſer bloß ſubjektiven und formellen Entgegenſetzung
[479] verhält ſich aber das Naive und der Styl allerdings als abſolute, wie
das Sentimentale und die Manier immer als beſondere Form. Man
kann dieſe Gegenſätze wieder auf einander beziehen und z. B. bemerken,
daß Manier nie naiv ſeyn kann, ſowie daß das Sentimentale immer
und nothwendig manierirt iſt. Man kann ferner ſagen, daß Manier
immer bloße Kunſt ohne Poeſie, d. h. nicht-abſolute Kunſt ſey, daß
mit der Manier ſich keine Erhabenheit, eben deßwegen aber auch nicht
Schönheit im abſoluten Sinne vertrage. Ferner, daß das Sentimen-
tale immer mehr als Kunſt denn als Poeſie erſcheinen könne, und
eben dadurch ſelbſt der Abſolutheit entbehre.
Aber wir ſind durch das Bisherige noch immer nicht bis zur Con-
ſtruktion des beſonderen Kunſtwerks vorgedrungen. Das Abſolute bezieht
ſich (nach den Beweiſen des §. 62) auf das hervorbringende Indivi-
duum durch den ewigen Begriff, der von ihm im Abſoluten iſt. Dieſer
ewige Begriff, das An-ſich der Seele, zerlegt ſich in der Erſchei-
nung in Poeſie und Kunſt und die übrigen Gegenſätze, oder vielmehr
er iſt der abſolute Identitätspunkt dieſer Gegenſätze, die es nur für
die Reflexion ſind.
Es war nicht um dieſe Gegenſätze als ſolche zu thun, ſondern um
die Erkenntniß des Genies. Das, wovon alle dieſe Gegenſätze nur
entweder die einſeitigen Erſcheinungsweiſen oder Beſtimmungen ſind, iſt
das abſolute Princip der Kunſt, das dem Künſtler eingebildete Göttliche
oder An-ſich. In dem Kunſtwerk an und für ſich ſollen dieſe Ent-
gegenſetzungen nie als ſolche hervortreten, in dieſem ſoll immer nur das
Abſolute objektiv werden.
Die bisherige Unterſuchung war alſo bloß beſchäftigt, das Genie
als die abſolute Indifferenz aller möglichen Gegenſätze zwiſchen dem
Allgemeinen und Beſondern, die ſich in der Beziehung der Idee
oder des ewigen Begriffs auf ein Individuum hervorthun
können, darzuſtellen. Das Genie iſt eben ſelbſt ſchon das, worin das
Allgemeine der Idee und das Beſondere des Individuums wieder gleich-
geſetzt wird. Aber dieſes Princip der Kunſt, damit es dem gleiche,
deſſen unmittelbarer Ausfluß es iſt — dem Ewigen — muß wie dieſes
[480] den Ideen, die in ihm ſind, dadurch eine von ihrem Princip unabhän-
gige Exiſtenz vergönnen, daß es ſie als die Begriffe einzelner wirklicher
Dinge exiſtiren läßt, ſie in Leiber geſtaltet. Hievon iſt der Beweis
§§. 62 und 63 gegeben. Die Möglichkeit dieſer objektiven Bildung iſt
es nun, was wir darzuthun haben. Erſt damit wird ſich uns das
ganze Kunſtſyſtem vollends entfalten.
Wir haben uns hier zu erinnern, daß die Philoſophie der Kunſt
die allgemeine Philoſophie ſelbſt iſt, nur dargeſtellt in der Potenz der
Kunſt. Wir werden alſo die Art, wie die Kunſt ihren Ideen die Ob-
jektivität gibt, vollkommen nach der Weiſe begreifen, wie die Ideen ein-
zelner wirklicher Dinge in der Erſcheinung objektiv werden, oder: die
gegenwärtige Aufgabe, den Uebergang der äſthetiſchen Idee in das con-
krete Kunſtwerk zu begreifen, iſt dieſelbe, wie die allgemeine der
Philoſophie überhaupt von der Erſcheinung der Ideen durch beſondere
Dinge. Natürlich können wir hier nur gewiſſe Sätze als durch die
allgemeine Philoſophie gegeben annehmen, ohne ſie zu beweiſen, und
wir ſchicken in dieſer Hinſicht folgenden Lehnſatz voran.
§. 70. (Lehnſatz.) Das Abſolute wird in der Erſchei-
nung durch die drei Einheiten objektiv, ſofern dieſe nicht
in ihrer Abſolutheit, ſondern in ihrer relativen Differenz
als Potenzen aufgenommen und dadurch zum Symbol der
Idee werden. Dieſer Satz, da er nur Lehnſatz aus der allgemeinen
Philoſophie iſt, bedarf hier nur der Erläuterung.
Stoff und Form iſt im Abſoluten eins, es hat keinen Stoff des
Producirens als ſich ſelbſt in der Allheit ſeiner Formen. Erſcheinen
aber kann es nicht, als wenn jede dieſer Einheiten als beſondere
Einheit zum Symbol von ihm wird. In der Abſolutheit ſind dieſe
Einheiten nicht von einander unterſchieden; hier iſt bloß Stoff, reine
Unendlichkeit und Idee. Sie können als die Urideen objektiv werden
nur, inwiefern jede ſich ſelbſt als beſondere Einheit wieder zum
Leib, zum Gegenbild nimmt. Unmittelbar dadurch iſt für die Erſchei-
nung die Differenziirung deſſen geſetzt, was im Abſoluten eins iſt. So
iſt die erſte der beiden Einheiten in ihrer Abſolutheit Idee; inwiefern
[481] ſie ſich ſelbſt als Potenz — als beſondere Einheit — zum Symbol nimmt,
iſt ſie Materie. Alles Erſcheinende überhaupt iſt ein Gemiſchtes aus
dem Weſen und aus der Potenz (oder der Beſonderheit); das Weſen
aller Beſonderheit iſt im Abſoluten, dieſes Weſen aber erſcheint durch
das Beſondere.
Dieß vorausgeſetzt folgt nothwendig, daß das Abſolute als Princip
der Kunſt in der Sphäre der Erſcheinung oder Differenz nur dadurch
objektiv wird, daß ihm entweder die reale oder die ideale Einheit
zum Symbol wird, alſo überhaupt dadurch, daß es in getrennten Er-
ſcheinungen offenbar wird, und dort ſich durch Erſcheinen einer relativ-
realen, hier durch Erſcheinen einer relativ-idealen Welt ſymboliſirt.
§. 71. (Lehnſatz.) Die Idee, inwiefern ſie die reale
Einheit als beſondere Einheit zum Symbol hat, iſt Materie.
Der Beweis dieſes Satzes wird in der allgemeinen Philoſophie
geführt. Die erſcheinende Materie iſt die Idee, aber von der Seite
der bloßen Einbildung des Unendlichen in das Endliche, und ſo daß
dieſe Einbildung ſelbſt nur relativ, nicht abſolut iſt. Die erſcheinende
Materie iſt nicht das An-ſich, ſie iſt nur Form, Symbol, aber ſie
iſt — nur als Form, als relative Differenz — wieder daſſelbe mit
dem, wovon ſie das Symbol iſt, und welches die Idee als abſolute
Einbildung des Unendlichen in das Endliche ſelbſt iſt.
§. 72. Der Kunſt alſo, inwiefern ſie die Form der
Einbildung des Unendlichen ins Endliche als beſondere
Form wieder aufnimmt, wird die Materie zum Leib oder
zum Symbol. — Folgt unmittelbar.
Zuſatz 1. Die Kunſt iſt in dieſer Beziehung = allgemein-bil-
dender oder plaſtiſcher Kunſt. — Gewöhnlich wird bildende Kunſt in der
engeren Bedeutung gebraucht, nämlich von der bildenden Kunſt, wo ſie
ſich ſelbſt durch körperliche Gegenſtände ausdrückt. Allein es iſt mit
der Beſtimmung als bildender Kunſt nicht ausgeſchloſſen, daß nicht
innerhalb dieſer allgemeinen Einheit alle Potenzen wiederkehren, die in
der Materie begriffen ſind, und eben auf dieſem Wiederkehren beruht
der Unterſchied der einzelnen bildenden Künſte.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 31
[482]
Zuſatz 2. Die bildende Kunſt iſt die reale Seite der
Kunſtwelt.
§. 73. Die ideale Einheit als Auflöſung des Beſon-
dern ins Allgemeine, des Concreten in Begriff, wird ob-
jektiv in Rede oder Sprache. — Auch der Beweis dieſes Satzes
gehört in die allgemeine Philoſophie.
Die Sprache iſt, nur wieder real angeſchaut, dieſelbe Auflöſung
des Concreten in das Allgemeine, des Seyns in das Wiſſen, welche
das Denken ideal iſt. Die Sprache von der einen Seite betrachtet
iſt unmittelbarer Ausdruck eines Idealen — des Wiſſens, Denkens,
Empfindens, Wollens u. ſ. w. — in einem Realen, inſofern ſelbſt
ein Kunſtwerk. Allein ſie iſt von der anderen Seite ebenſo beſtimmt
ein Naturwerk, indem ſie als die Eine nothwendige Form der Kunſt
nicht urſprünglich durch Kunſt erfunden oder entſtanden gedacht werden
kann. Sie iſt alſo ein natürliches Kunſtwerk, wie es mehr oder we-
niger alles iſt, was die Natur hervorbringt.
Wir werden den überzeugendſten Beweis unſeres Satzes nur in
einem allgemeineren Zuſammenhang, vorzüglich aber durch die Entgegen-
ſtellung der Sprache und der anderen Form der Kunſt, der Materie,
führen können.
Folgende Verhältniſſe ſind es, aus denen die Bedeutung der Sprache
am beſtimmteſten eingeſehen werden kann.
Das Abſolute iſt ſeiner Natur nach ein ewiges Produciren, dieſes
Produciren iſt ſein Weſen. Sein Produciren iſt ein abſolutes Affirmi-
ren oder Erkennen, deſſen zwei Seiten die beiden angegebenen Ein-
heiten ſind.
Wo der abſolute Erkenntnißakt nur dadurch objektiv wird, daß
die eine Seite deſſelben als beſondere Einheit zur Form wird, da er-
ſcheint er nothwendig verwandelt in ein anderes, nämlich in ein Seyn.
Die abſolute Einbildung des Unendlichen ins Endliche, welche die reale
Seite deſſelben iſt, iſt an ſich kein Seyn, ſie iſt in ihrer Abſolutheit
wieder die ganze Idee, die ganze unendliche Selbſtaffirmation; nur in
ihrer Relativität, alſo als beſondere Einheit aufgenommen,
[483] erſcheint ſie nicht mehr als Idee, als Selbſtaffirmation, ſondern als
Affirmirtes, als Materie; die reelle Seite als beſondere wird hier
zum Symbol der abſoluten Idee, die erſt durch dieſe Hülle hindurch
als ſolche erkannt wird.
Da wo der Idee die ideale Einheit ſelbſt, als beſondere, zur Form
wird — in der idealen Welt — wird ſie nicht in ein anderes verſtellt,
ſie bleibt ideal, aber ſo, daß ſie die andere Seite dagegen zurückläßt,
und demnach nicht als abſolut Ideales erſcheint, ſondern als bloß rela-
tiv Ideales, das das Reale außer ſich — ſich entgegenſtehend — hat.
Als rein-Ideales wird ſie aber nicht objektiv, ſie fällt in das Subjek-
tive zurück, und iſt ſelbſt das Subjektive; ſie ſtrebt alſo nothwendig
unmittelbar wieder nach einer Hülle, einem Leib, durch den ſie ihrer
Idealität unbeſchadet objektiv werde; ſie integrirt ſich wieder durch ein
Reales. In dieſer Integration entſteht das entſprechendſte Symbol der
abſoluten oder unendlichen Affirmation Gottes, weil dieſe hier ſich
durch ein Reales darſtellt, ohne daß ſie aufhörte ideal zu ſeyn (welches
eben die höchſte Forderung iſt), und dieſes Symbol iſt die Sprache,
wie ſich leicht einſehen läßt.
Aus dieſem Grunde hat nicht nur in den meiſten Sprachen Sprache
und Vernunft (welche eben das abſolute Erkennen, das Erkennende der
Ideen iſt) ein und denſelben Ausdruck, ſondern auch in den meiſten
philoſophiſchen und religiöſen Syſtemen, vorzüglich des Orients, iſt der
ewige und abſolute Akt der Selbſtaffirmation in Gott — der Akt
ſeines ewigen Schaffens — als das ſprechende Wort Gottes, der
Logos, der zugleich Gott ſelbſt iſt, bezeichnet worden.
Das Wort oder Sprechen Gottes betrachtete man als den Ausfluß
der göttlichen Wiſſenſchaft, als die gebärende, in ſich unterſchiedene und
doch zuſammenſtimmende Harmonie des göttlichen Producirens.
Wir werden nach dieſer hohen Bedeutung der Sprache, da ſie
nämlich der nicht bloß relative, ſondern der mit ſeinem Entgegengeſetzten
wieder integrirte, in ſo fern wieder abſolute Erkenntnißakt iſt, auch die
bildende Kunſt der redenden nicht abſolut entgegenſetzen, wie die meiſten
thun (weßhalb ſie z. B. die Muſik nicht recht unter die bildenden Künſte
[484] rechnen, ſondern ihr noch eine beſondere Stelle anweiſen). Auf keine
andere Weiſe, als wie ſich in der Sprache das Wiſſen noch jetzt ſym-
boliſch faſſet, hat ſich das göttliche Wiſſen in der Welt ſymboliſch ge-
faßt, ſo daß auch das Ganze der realen Welt (nämlich inwiefern ſie
ſelbſt wieder Einheit des Realen und Idealen iſt) auch wieder ein
urſprüngliches Sprechen iſt. Aber die reale Welt iſt nicht mehr das
lebendige Wort, das Sprechen Gottes ſelbſt, ſondern nur das geſpro-
chene — geronnene — Wort.
So iſt die bildende Kunſt nur das geſtorbene Wort, aber doch auch
Wort, doch auch Sprechen, und je vollkommener es ſtirbt — bis herauf
zu dem auf den Lippen der Niobe verſteinerten Laut, deſto höher iſt
die bildende Kunſt in ihrer Art, während dagegen auf der tieferen Stufe,
in der Muſik, das in den Tod eingegangene Lebendige — das ins
Endliche geſprochene Wort — noch als Klang vernehmbar wird.
Auch in der bildenden Kunſt alſo iſt der abſolute Erkenntnißakt, die
Idee, nur gleich von der realen Seite aufgefaßt, anſtatt daß ſie in der
Rede oder redenden Kunſt urſprünglich als ideal aufgefaßt iſt, und ſelbſt
in der durchſichtigen Hülle, die ſie annimmt, nicht aufhört es zu ſeyn.
Die Sprache als die ſich lebendig ausſprechende unendliche Affir-
mation iſt das höchſte Symbol des Chaos, das in dem abſoluten Er-
kennen auf ewige Weiſe liegt. In der Sprache liegt alles als eins,
von welcher Seite man ſie auffaſſe. Von der Seite des Tons oder der
Stimme liegen in ihr alle Töne, alle Klänge ihrer qualitativen Ver-
ſchiedenheit nach. Jene Verſchiedenheiten ſind alle vermiſcht in der
menſchlichen Sprache; daher ſie keinem Klang oder Ton insbeſondere
ähnlich iſt, weil alle in ihr liegen. Noch mehr ausgedrückt iſt die ab-
ſolute Identität in der Sprache, inwiefern ſie von der Seite ihrer
Bezeichnungen betrachtet wird. Sinnliches und Unſinnliches iſt hier eins,
das Handgreiflichſte wird zum Zeichen für das Geiſtigſte. Alles wird
Bild von allem und die Sprache ſelbſt eben dadurch Symbol der Iden-
tität aller Dinge. In der innern Conſtruktion der Sprache ſelbſt iſt
alles Einzelne beſtimmt durch das Ganze; es iſt nicht Eine Form oder
einzelne Rede möglich, die nicht das Ganze forderte.
[485]
Die Sprache, abſolut betrachtet oder an ſich, iſt nur Eine, wie
die Vernunft nur Eine iſt, aber aus dieſer Einheit gehen ebenſo, wie
aus der abſoluten Identität die verſchiedenen Dinge, die verſchiedenen
Sprachen hervor, deren jede für ſich ein Univerſum, von den andern
abſolut geſondert, und die doch alle weſentlich eins, nicht bloß dem
inneren Ausdruck der Vernunft nach, ſondern auch was die Elemente
betrifft, die bei jeder Sprache, wenige Nüancen ausgenommen, gleich
ſind. Nämlich dieſer äußere Leib ſelbſt iſt in ſich wieder Seele und
Leib. Die Vocale ſind gleichſam der unmittelbare Aushauch des Geiſtes,
die formirende Form (das Affirmative); die Conſonanten ſind der Leib
der Sprache oder die geformte Form (das Affirmirte).
Je mehr daher in einer Sprache Vocale ſind, — jedoch ſo, daß
die Begrenzung durch die Conſonanten nicht bis zu einem gewiſſen Grad
verſchwinde —, deſto beſeelter, und umgekehrt, je überhäufter mit
Conſonanten, deſto ſeelenloſer.
Ich will hier noch kurz die verſchiedentlich gemachte Frage berüh-
ren, warum ſich das Vernunftweſen eben für die Rede oder Stimme
als unmittelbaren Leib der inneren Seele entſchieden habe, da es auch
andere äußere Zeichen, z. B. Geberden, dazu hätte brauchen können,
wie nicht nur die Taubſtummen ſich verſtändlich machen, ſondern auch
gewiſſermaßen alle wilden und uncultivirten Nationen, die mit dem ganzen
Leib ſprechen. Schon die Frage ſelbſt betrachtet die Sprache als Willkür
und als Erfindung der Willkür. Einige haben als Grund angegeben,
dieſe äußeren Zeichen hätten ſolche ſeyn müſſen, die der, welcher ſie
brauchte, zugleich ſelbſt beurtheilen konnte, alſo natürlich ein auf Laut
und Stimme ſich beziehendes Zeichenſyſtem, damit der Sprecher ſich
zugleich ſelbſt hörte, welches bekanntlich für manche Sprecher in der
That ein großes Vergnügen iſt. — So zufällig iſt die Sprache nicht; es
liegt eine höhere Nothwendigkeit darin, daß Laut und Stimme das
Organ ſeyn müſſen, die inneren Gedanken und Bewegungen der Seele
auszudrücken. Man könnte jene Erklärer fragen, warum denn auch
der Vogel Geſang und das Thier eine Stimme hat.
Die Frage nach dem erſten Urſprung der Sprache hat bekanntlich
[486] Philoſophen und Hiſtoriker, beſonders neuerer Zeit, ſehr ſtark beſchäf-
tigt. Sie hielten es für möglich, die Sprache aus der pſychologiſch-
iſolirten menſchlichen Natur zu begreifen, da ſie nur aus dem ganzen
Univerſum begreiflich iſt. Die abſolute Idee der Sprache muß man
alſo nicht bei ihnen ſuchen. Jene ganze Frage nach dem Urſprung der
Sprache, ſo wie ſie bis jetzt behandelt worden, iſt eine bloß empiriſche,
mit der alſo der Philoſoph nichts zu thun hätte; nur den Urſprung
der Sprache in der Idee intereſſirt ihn zu wiſſen, und in dieſem Sinn
entſpringt die Sprache noch immer ebenſo wie das Univerſum auf unbe-
dingte Weiſe durch die ewige Wirkung des abſoluten Erkenntnißakts, der
aber in der vernünftigen Natur die Möglichkeit findet, ſich ſelbſt aus-
zuſprechen. 1
Den Typus der Vernunft und Reflexion im Bau und in den
inneren Verhältniſſen der Sprache darzulegen gehört in eine andere
Sphäre der Wiſſenſchaft als diejenige, mit der wir uns hier beſchäftigen,
und in welcher die Sprache ſelbſt wieder nur als Medium eintritt.
§. 74. Die Kunſt, inwiefern ſie die ideale Einheit als
Potenz wieder auf- und zur Form nimmt, iſt redende Kunſt.
— Folgt unmittelbar.
Zuſatz. Die redende Kunſt iſt die ideale Seite der Kunſtwelt.
Allgemeiner Zuſatz (zu dieſer Conſtruktion des Gegenſatzes der
redenden und bildenden Kunſt).
Da nach §. 24 die Formen der Kunſt Formen der Dinge ſind,
wie ſie in Gott ſind, ſo iſt die reale Seite des Univerſums ſelbſt die
plaſtiſche, die ideale die poetiſche oder redende, und alle beſonderen For-
men, welche in dieſen Grundformen wiederkehren, werden wiederum nur
die Art der beſondern Dinge ausdrücken, im Abſoluten zu ſeyn.
§. 75. In jeder der beiden Urformen der Kunſt kehren
nothwendig alle Einheiten, die reale (ꝛc.), die ideale (ꝛc.),
[487]und die, worin beide gleich ſind, zurück. — Denn jede der
beiden Urformen iſt an ſich abſolut, jede die ganze Idee.
Zuſatz. Wenn wir die erſte Einheit oder Potenz die der Reflexion,
die andere die der Subſumtion, die dritte die der Vernunft nennen, ſo iſt
alſo das Syſtem der Kunſt beſtimmt durch Reflexion, Subſumtion
und Vernunft.
Alle Potenzen der Natur und ideellen Welt kehren hier — nur in
der höchſten — wieder, und es wird ganz klar, wie Philoſophie der
Kunſt Conſtruktion des Univerſums in der Form der Kunſt ſey.
In der jetzt folgenden Conſtruktion hatte ich zwei Möglichkeiten
vor mir: entweder die parallelen Potenzen der reellen und ideellen Kunſt-
welt unmittelbar einander entgegenzuſtellen, z. B. die Lyrik zugleich mit
der Muſik abzuhandeln, oder jede der beiden Seiten und die Potenzen
einer jeden geſondert zu betrachten. Ich habe die letztere vorgezogen,
weil ich ſie für den Vortrag deutlicher glaube und die Beziehung der
idealen Kunſtformen auf die realen doch beſtändig nachgewieſen werden
müßten. Ich werde alſo vorerſt in der bildenden Kunſt die drei Grund-
formen derſelben, Muſik, Malerei und Plaſtik, nebſt allen Uebergängen
der einen in die andere conſtruiren. Jede dieſer Formen wird in ihrem
Zuſammenhang und an ihrer Stelle conſtruirt. Ich ſchicke daher keine
allgemeine Eintheilung der Künſte voran, wie man ſonſt in Lehrbüchern
zu thun pflegt. Nur hiſtoriſch erwähne ich, daß bis jetzt allgemein
Muſik von bildender Kunſt getrennt worden. — Kant hat dreierlei
Arten: redende, bildende und die Kunſt des Spiels der Empfindungen
Sehr vag. Hierher Plaſtik, Malerei: dorthin Beredtſamkeit und Dicht-
kunſt. Unter die dritte die Muſik, was eine ganz ſubjektive Erklä-
rung derſelben iſt, faſt wie die Sulzers, der ſagt, der Zweck der Muſik
ſey, Empfindung zu erwecken, was noch auf viel andere Dinge paßt,
wie auf Concerte von Gerüchen oder Geſchmäcken.
[[488]]
II.
Beſonderer Cheil der Philoſophie der Kunſt.
Vierter Abſchnitt.
Conſtruktion der Kunſtformen in der Entgegenſetzung
der realen und idealen Reihe.
In dem zunächſt vorhergehenden Satz iſt bewieſen, daß ſich jede
der beiden Urformen in ſich aufs neue und zwar in alle Formen dif-
ferenziirt. Anders ausgedrückt: jede der beiden Urformen nimmt alle
andern Formen oder Einheiten als Potenz auf und macht ſie zu ihrem
Symbol oder Beſondern. Dieß wird alſo nun hier vorausgeſetzt.
§. 76. Die Indifferenz der Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche rein als Indifferenz aufgenommen
iſt Klang. Oder: In der Einbildung des Unendlichen ins Endliche
kann die Indifferenz, als Indifferenz, nur als Klang hervortreten.
Dieſes aber erhellt auf folgende Art. — Die Einpflanzung des
Unendlichen ins Endliche als ſolche drückt ſich an der Materie (dieß
die gemeinſchaftliche Einheit) durch die erſte Dimenſion oder das aus,
wodurch ſie (als Differenz) ſich ſelbſt gleich (Indifferenz) iſt. Nun iſt
aber die erſte Dimenſion in der Materie nicht rein als ſolche, ſondern
mit der zweiten zugleich, demnach ſyntheſirt durch die dritte ge-
ſetzt. In dem Seyn der Materie kann ſich alſo die Einbildung des
Unendlichen ins Endliche nicht rein als ſolche darſtellen. Dieß
[489] iſt die negative Seite des Beweiſes. — Daß es nun aber der
Klang ſey, wodurch ſich die Indifferenz in der Einpflanzung des
Unendlichen ins Endliche rein als ſolche ausſpreche, erhellt auf fol-
gende Art.
1) Der Akt der Einpflanzung ſelbſt iſt an dem Körper als Mag-
netismus ausgedrückt (Beweis in der Naturphiloſophie), aber der Mag-
netismus iſt ebenſo wieder, wie die erſte Dimenſion, mit dem Körper
verbunden, alſo nicht jene Einbildung ſelbſt, nicht rein als ſolche, ſon-
dern Differenz. Rein als ſolche und als Indifferenz iſt er ſie nur,
inwiefern er von dem Körper abgeſondert, als Form für ſich iſt, als
abſolute Form. Dieſe iſt nur im Klang, denn dieſer iſt einerſeits
lebendig — für ſich —, andererſeits eine bloße Dimenſion in der Zeit,
nicht aber im Raume.
2) Nur anführen will ich, daß die Sonorität der Körper im
nächſten Verhältniß ſteht mit ihrer Cohärenz. Durch Erfahrung iſt
bewieſen, daß ihre Leitungsfähigkeit für Schall ſich nach ihrer Cohärenz
richtet. Allein aller Schall überhaupt iſt Leitung, kein Körper ſchallt,
als inwiefern er den Schall zugleich leitet. In der Cohärenz oder dem
Magnetismus an und für ſich war aber das ideelle Princip ganz über-
gegangen ins Körperliche. Die Forderung aber war, daß die Einbil-
dung der Einheit in die Vielheit rein als ſolche, als Form für ſich
erſcheine. Dieß aber geſchieht nur im Klang, denn dieſer = Magne-
tismus, aber von der Körperlichkeit abgeſondert, gleichſam das An-ſich
des Magnetismus ſelbſt, die Subſtanz.
Anmerkung 1. Ich brauche den Unterſchied des Klangs
von Schall und Laut nicht weitläufig auseinanderzuſetzen. Schall iſt
das Generiſche. Laut iſt Schall, der nur unterbrochen; Klang iſt
Schall, der als Stetigkeit, als ein ununterbrochenes Fließen des Schalls
aufgefaßt wird. Der höhere Unterſchied beider iſt aber, daß der bloße
Schall oder Laut die Einheit in der Vielheit nicht deutlich erkennen
läßt, was dagegen der Klang thut, welcher demnach Schall verbunden
mit Totalität iſt. Wir hören nämlich in dem Klang nicht bloß den
einfachen Ton, ſondern eingehüllt gleichſam oder eingeboren in dieſen
[490] eine Menge von Tönen, und zwar ſo, daß die conſonirenden über-
wiegen, anſtatt daß dort die diſſonirenden. Das geübte Ohr unter-
ſcheidet ſie ſogar und hört außer dem Uniſonus oder Grundton auch
noch deſſen Oktave, die Oktave der Quinte u. ſ. w. Die Vielheit,
welche in der Cohärenz als ſolcher mit der Einheit verbunden iſt, wird
alſo in dem Klang eine lebendige Vielheit, eine ſich ſelbſt affirmirende
Vielheit.
2. Da die Sonorität der Körper durch die Cohärenz geſetzt iſt,
ſo iſt auch das Schallen ſelbſt nichts anderes als die Wiederherſtellung
oder die Affirmation, d. h. die Identität in der Cohärenz, wodurch
ſich der Körper — aus der Identität geſetzt — zur Ruhe und zum
Seyn in ſich ſelbſt reconſtruirt.
Der Klang ſelbſt iſt nichts anderes als die Anſchauung der Seele
des Körpers ſelbſt oder des ihm unmittelbar verbundenen Begriffs in
der unmittelbaren Beziehung auf dieſes Endliche. Die Bedingung des
Klangs iſt Differenziirung des Begriffs und des Seyns, der Seele
und des Leibs in dem Körper, der Akt der Indifferenziirung ſelbſt iſt
es, in welchem das Ideale in der Wiedereinbildung ins Reale als
Klang vernehmbar wird.
Bedingung des Schalls iſt daher, daß der Körper aus der In-
differenz geſetzt werde, welches durch Berührung eines anderen geſchieht.
3. Wir müſſen unmittelbar mit dieſer Anſicht des Klanges die
des Gehörs verbinden. — Die Wurzel des Gehörſinns liegt ſchon in
der anorgiſchen Natur, im Magnetismus. Das Gehörorgan ſelbſt iſt
nur der zur organiſchen Vollkommenheit entwickelte Magnetismus. Die
Natur integrirt allgemein in der organiſchen Natur die anorgiſche durch
ihre entgegengeſetzte Einheit. Dieſe (die anorgiſche) iſt bloß Unendliches
im Endlichen. Dieß iſt z. B. der Klang oder Schall. Integrirt mit
dem Entgegengeſetzten wird er = Gehör. Auch das Gehörorgan beſteht
äußerlich aus ſtarren und ſonoren Körpern, nur daß mit dieſer Ein-
heit die entgegengeſetzte der Wiederaufnahme der Differenz im Schall
in die Indifferenz verbunden iſt. Der todt genannte Körper hat von
dem Hören die eine Einheit, es fehlt ihm nur die andere.
[491]
§. 77. Die Kunſtform, in welcher die reale Einheit
rein als ſolche zur Potenz, zum Symbol wird, iſt Muſik.
— Folgt unmittelbar aus den beiden vorhergehenden Sätzen.
Anmerkung. Die Natur der Muſik läßt ſich noch von ver-
ſchiedenen Seiten her beſtimmen, die angegebene Conſtruktion aber iſt
die aus den früheren Grundſätzen fließende; die verſchiedenen anderen
Beſtimmungen der Muſik ergeben ſich daraus als unmittelbare Folgen.
Folgeſatz 1. Die Muſik iſt als Kunſt urſprünglich der erſten
Dimenſion untergeordnet (hat nur Eine Dimenſion.)
Folgeſatz 2. Die nothwendige Form der Muſik iſt die Succeſ-
ſion. — Denn Zeit iſt allgemeine Form der Einbildung des Unendlichen
ins Endliche, ſofern als Form, abſtrahirt von dem Realen, angeſchaut.
Das Princip der Zeit im Subjekt iſt das Selbſtbewußtſeyn, welches
eben die Einbildung der Einheit des Bewußtſeyns in die Vielheit im
Idealen iſt. Hieraus iſt die nahe Verwandtſchaft des Gehörſinns über-
haupt und der Muſik und der Rede insbeſondere mit dem Selbſtbe-
wußtſeyn begriffen. — Es läßt ſich hieraus auch vorläufig, bis wir
die noch höhere Bedeutung davon aufgezeigt haben, die arithmetiſche
Seite der Muſik begreifen. Die Muſik iſt ein reales Selbſtzählen der
Seele — ſchon Pythagoras hat die Seele einer Zahl verglichen —
aber eben deßwegen wieder ein bewußtloſes, ſich ſelbſt wieder vergeſ-
ſendes Zählen. Daher das Leibniziſche: Musica est raptus numerare
se nescientis animae. (Die übrigen Beſtimmungen des Charakters der
Muſik können erſt im Verhältniß zu den andern Künſten entwickelt
werden.)
§. 78. Die Muſik als Form, in welcher die reale Ein-
heit ſich ſelbſt zum Symbol wird, begreift nothwendig
wieder alle Einheiten in ſich. — Denn die reale Einheit nimmt
ſich ſelbſt (in der Kunſt) als Potenz auf, nur um ſich, durch
ſich ſelbſt, als Form wieder abſolut darzuſtellen. Nun begreift
aber jede Einheit in ihrer Abſolutheit wieder alle anderen, alſo be-
greift auch die Muſik ꝛc.
§. 79. Die in der Muſik ſelbſt wieder als beſondere
[492] Einheit begriffene Einbildung der Einheit in die Vielheit
oder reale Einheit iſt der Rhythmus.
Denn, um mich jetzt zum Behuf des Beweiſes nur des allgemein-
ſten Begriffs von Rhythmus zu bedienen, ſo iſt er in dieſem Sinn
nichts anderes als eine periodiſche Eintheilung des Gleichartigen, wo-
durch das Einförmige deſſelben mit Mannichfaltigkeit, die Einheit alſo
mit Vielheit verbunden wird. Z. B. die Empfindung, welche ein Ton-
ſtück im Ganzen erregt, iſt eine durchaus homogene, einartige; ſie iſt
z. B. fröhlich oder traurig, allein dieſe Empfindung, die für ſich durch-
aus homogen geweſen wäre, bekommt durch die rhythmiſchen Einthei-
lungen Abwechslung und Mannichfaltigkeit. Der Rhythmus gehört zu
den bewundernswürdigſten Geheimniſſen der Natur und der Kunſt, und
keine Erfindung ſcheint den Menſchen unmittelbarer durch die Natur
ſelbſt inſpirirt zu ſeyn.
Die Alten haben durchaus dem Rhythmus die größte äſthetiſche
Kraft zugeſchrieben; auch wird ſchwerlich jemand leugnen, daß alles,
was man in Muſik oder Tanz (ꝛc.) wahrhaft ſchön nennen kann, eigent-
lich von dem Rhythmus herrühre. Wir müſſen aber, um den Rhythmus
rein zu faſſen, vorerſt alles abſondern, was die Muſik etwa außerdem
Reizendes und Erregendes hat. Die Töne z. B. haben auch an ſich
eine Bedeutung, ſie können für ſich fröhlich, zärtlich, traurig oder
ſchmerzhaft ſeyn. Hievon wird bei der Betrachtung des Rhythmus ganz
abſtrahirt, ſeine Schönheit iſt nicht ſtoffartig und bedarf der bloß na-
türlichen Rührungen, die etwa in Tönen an und für ſich liegen, nicht,
um abſolut wohlzugefallen und eine dafür empfängliche Seele zu
entzücken. Um dieß recht deutlich zu ſehen, denke man ſich anfänglich
die Elemente des Rhythmus als an ſich ganz gleichgültige, wie z. B.
die einzelnen Töne einer Saite für ſich, oder wie der Schlag einer
Trommel iſt. Wodurch kann eine Folge ſolcher Schläge bedeutend,
aufregend, wohlgefällig werden? — Schläge oder Töne, die ſich ohne
die geringſte Ordnung ſuccedirten, ſind von keiner Wirkung auf uns.
Sobald aber ſelbſt in die ihrer Natur oder dem Stoff nach bedeutungs-
loſeſten, nicht einmal an ſich angenehmen Töne eine Regelmäßigkeit
[493] kommt, daß ſie immer in gleicher Zeit wiederkehren und eine Periode
zuſammen bilden, ſo iſt hier ſchon etwas von Rhythmus, obgleich nur
ein ſehr entfernter Anfang — wir werden unwiderſtehlich zur Aufmerk-
ſamkeit fortgezogen. In alles, was an ſich eine reine Identität
der Beſchäftigung iſt, ſucht der Menſch daher, von Natur getrieben,
Vielheit oder Mannichfaltigkeit durch Rhythmus zu legen. Wir halten
es in allem an ſich Bedeutungsloſen, z. B. im Zählen, nicht lange
bei der Gleichförmigkeit aus, wir machen Perioden. Die meiſten mecha-
niſchen Arbeiter erleichtern ſich ihre Arbeiten damit; die innere Luſt
des doch nicht bewußten, ſondern bewußtloſen Zählens läßt ſie die
Arbeit vergeſſen; der einzelne fällt mit einer Art von Luſt an ſeiner
Stelle ein, weil es ihn ſelbſt ſchmerzen würde, den Rhythmus unter-
brochen zu ſehen.
Wir haben bis jetzt nur die unvollkommenſte Art des Rhythmus
bezeichnet, wo die ganze Einheit in der Mannichfaltigkeit nur auf der
Gleichheit der Zwiſchenzeiten in der Succeſſion beruht. Bild davon:
gleich große, gleich entfernte Punkte. Unterſter Grad des Rhythmus.
Eine höhere Art der Einheit in der Mannichfaltigkeit iſt zunächſt
dadurch erreichbar, daß die einzelnen Töne oder Schläge nicht gleich
ſtark, ſondern abwechſelnd nach einer gewiſſen Regel, ſtarke und ſchwache
angegeben werden. Hiermit tritt als nothwendiges Element in den
Rhythmus der Takt ein, der auch überall geſucht wird, wo ein Iden-
tiſches verſchieden, mannichfaltig werden ſoll, und der nun wieder einer
Menge von Veränderungen fähig iſt, wodurch in die Einförmigkeit der
Aufeinanderfolge eine noch größere Abwechslung kommt.
Allgemein nun angeſehen iſt Rhythmus überhaupt Verwandlung
der an ſich bedeutungsloſen Succeſſion in eine bedeutende. Die Suc-
ceſſion rein als ſolche hat den Charakter der Zufälligkeit. Verwandlung
des Zufälligen der Succeſſion in Nothwendigkeit = Rhythmus, wodurch
das Ganze nicht mehr der Zeit unterworfen iſt, ſondern ſie in ſich
ſelbſt hat. Artikulation der Muſik iſt Bildung in eine Reihe von
Gliedern, ſo daß mehrere Töne zuſammen wieder ein Glied ausmachen,
welches nicht zufällig oder willkürlich von andern unterſchieden iſt.
[494]
Dieſer noch immer bloß einfache Rhythmus, der darin beſteht,
daß die Folge der Töne in gleich lange Glieder eingetheilt wird, wo-
von jedes durch etwas Empfindbares unterſchieden von dem andern,
hat dennoch ſchon ſehr vielerlei Arten, z. B. er kann gerad oder un-
gerad ſeyn u. ſ. w. Aber mehrere Takte zuſammen können wieder zu
Gliedern vereinigt werden, welches eine höhere Potenz des Rhythmus
— zuſammengeſetzter Rhythmus iſt (in der Poeſie das Diſtichon). End-
lich können auch aus dieſen ſchon zuſammengeſetzten Gliedern wieder
größere (Perioden) gemacht werden (in der Poeſie die Strophe) u. ſ. f.
bis zu dem Punkt, wo dieſe ganze Ordnung und Zuſammenſetzung für
den inneren Sinn noch überſehbar bleibt. — Die ganze Vollkommenheit
des Rhythmus können wir indeß erſt durch die folgenden Sätze einſehen
lernen.
Zuſatz. Der Rhythmus iſt die Muſik in der Muſik.
— Denn die Beſonderheit der Muſik iſt eben darauf gegründet, daß
ſie Einbildung der Einheit in die Vielheit iſt. Da nun nach §. 79
der Rhythmus nichts anderes iſt als dieſe Einbildung ſelbſt in der
Muſik, ſo iſt er die Muſik in der Muſik, und alſo der Natur dieſer
Kunſt gemäß das Herrſchende in ihr.
Nur das Feſthalten dieſes Satzes wird uns in den Stand ſetzen,
beſonders den Gegenſatz der antiken und modernen Muſik wiſſenſchaftlich
zu begreifen.
§. 80. Der Rhythmus in ſeiner Vollkommenheit be-
greift nothwendig die andere Einheit in ſich, welche in
dieſer Unterordnung Modulation (in der allgemeinſten Be-
deutung) iſt. — Der erſte Theil des Satzes begreift ſich von ſelbſt
und iſt ganz allgemein einzuſehen. In Anſehung des zweiten bedarf
es bloß der Erklärung deſſen, was Modulation heißt.
Die erſte Bedingung des Rhythmus iſt eine Einheit in der Man-
nichfaltigkeit. Dieſe Mannichfaltigkeit iſt nun aber nicht bloß in der
Verſchiedenheit der Glieder überhaupt, ſofern ſie willkürlich oder un-
weſentlich, d. h. bloß überhaupt in der Zeit ſtattfindet, ſondern ſofern
ſie zugleich auf etwas Reelles, Weſentliches, Qualitatives gegründet
[495] iſt. Dieſes liegt einzig in der muſikaliſchen Beſtimmbarkeit der Töne.
In dieſer Beziehung iſt nun Modulation die Kunſt, die Identität des
Tons, welcher in dem Ganzen eines muſikaliſchen Werks der herrſchende
iſt, in der qualitativen Differenz ebenſo zu erhalten, wie durch
den Rhythmus dieſelbe Identität in der quantitativen Differenz beob-
achtet wird.
Ich muß mich in dieſer Allgemeinheit ausdrücken, weil Modulation
in der Kunſtſprache ſo verſchiedene Bedeutungen hat, und damit nicht
etwas von der Bedeutung ſich einmiſche, die ſie nur in der modernen
Muſik hat. Jene künſtliche Art, durch die ſogenannten Ausweichungen
und Schlüſſe Geſang und Harmonie durch mehrere Töne hindurchzu-
führen, zuletzt aber wieder auf den erſten Hauptton zu kommen, gehört
ſchon ganz der modernen Kunſt an.
Da es unmöglich iſt, daß ich in alle dieſe techniſchen Erörterungen
eingehe, welche nur in einer Theorie der Muſik und nicht in einer
allgemeinen Conſtruktion gegeben werden können, ſo bemerken Sie nur
im Allgemeinen, daß ſich die beiden Einheiten, die durch Rhythmus
und Modulation bezeichnet werden können, jene als die quantitative,
dieſe als die qualitative zu denken iſt, daß aber jene in ihrer Abſolut-
heit die andere ſchon begreifen müſſe, ſo daß die Unabhängigkeit der
anderen Einheit von der erſten jene ſelbſt in ihrer Abſolutheit aufhebt,
und die bloß auf Harmonie gegründete Muſik zum Produkt gibt, was
durch die Folge ſogleich verſtändlicher werden ſoll: — Rhythmus in dieſer
Bedeutung, d. h. ſofern er die andere Einheit ſchon begreift,
iſt alſo die ganze Muſik. — Wir werden hierdurch ſchon auf die Idee
einer Differenz geleitet, die dadurch entſteht, daß in dem einen Fall
die ganze Muſik der erſten Einheit, dem Rhythmus, in dem andern
der zweiten oder der Modulation untergeordnet wird, wodurch zwei in
ihrer Art zwar gleich abſolute, aber verſchiedene Gattungen der Muſik
entſpringen.
§. 81. Die dritte Einheit, in welcher die beiden erſten
gleich geſetzt ſind, iſt die Melodie. — Da dieſer Satz eigentlich
nur Erklärung iſt, und niemand in Zweifel ziehen wird, daß Vereinigung
[496] von Rhythmus und Modulation Melodie ſey, ſo bedarf er keines Be-
weiſes. — Wir wollen, um das Verhältniß der drei Einheiten inner-
halb der Muſik anſchaulich zu machen, ſie vielmehr nach verſchiedenen
Maßſtäben noch weiter zu beſtimmen ſuchen.
Man kann alſo ſagen: der Rhythmus = erſter Dimenſion, Mo-
dulation = zweiter, Melodie = dritter. Durch den erſten iſt die
Muſik für die Reflexion und das Selbſtbewußtſeyn, durch die zweite
für die Empfindung und das Urtheil, durch die dritte für Anſchauung
und Einbildungskraft beſtimmt. Wir können auch zum voraus ahnden,
daß wenn die drei Grundformen oder Kategorien der Kunſt Muſik,
Malerei und Plaſtik ſind, der Rhythmus das Muſikaliſche in der Muſik,
die Modulation das Maleriſche (welches ja nicht mit dem Malenden
verwechſelt werden darf, welches nur ein ganz verdorbener und geſun-
kener Geſchmack, wie der heutige z. B., der ſich an dem Blöcken der
Schafe in Haydns Schöpfungsmuſik ergötzt, in der Muſik gut finden
kann), die Melodie das Plaſtiſche. Es erhellt nun aber aus dem,
was in dem vorhergehenden Satz bewieſen worden iſt, von ſelbſt, daß
Rhythmus in der angegebenen Bedeutung (nämlich als die entgegen-
geſetzte Einheit begreifend) und Melodie ſelbſt wieder eins und daſſel-
bige ſind.
Zuſatz. Rhythmus in der Abſolutheit gedacht iſt
die ganze Muſik, oder umgekehrt: die ganze Muſik iſt ꝛc. — Denn
dieſer begreift alsdann die andere Einheit unmittelbar in ſich und iſt
durch ſich ſelbſt Melodie, d. h. das Ganze.
Rhythmus iſt überhaupt die herrſchende Potenz in der Muſik.
Inwiefern nun das Ganze der Muſik, demnach Rhythmus, Modula-
tion und Melodie, gemeinſchaftlich wieder dem Rhythmus untergeordnet,
inſofern iſt rhythmiſche Muſik. Eine ſolche war die Muſik der Alten.
Es muß jedem auffallen, wie genau in dieſer Conſtruktion alle Ver-
hältniſſe eintreffen, und daß auch hier wieder der Rhythmus als Ein-
bildung des Unendlichen ins Endliche ſich auf die Seite des Antiken
ſtellt, indeß die entgegengeſetzte Einheit, wie wir finden werden, auch
hier das Herrſchende des Modernen iſt.
[497]
Von der Muſik der Alten haben wir allerdings nicht die anſchau-
liche Vorſtellung. Man ſehe Rouſſeau in ſeinem Dictionnaire de
Musique (noch immer das gedachteſte Werk über dieſe Kunſt), wo man
findet, wie wenig wir daran denken können, eine antike Muſik auch
nur einigermaßen durch Aufführung anſchaulich zu machen. Da die
Griechen in allen Künſten groß waren, ſo waren ſie es gewiß auch in
der Muſik. So wenig wir indeß davon wiſſen, ſo doch ſo viel, daß
auch hier das realiſtiſche, plaſtiſche, heroiſche Princip das herrſchende,
und dieß einzig dadurch, daß dem Rhythmus alles untergeordnet war.
Das Herrſchende der neueren Muſik iſt die Harmonie, welche eben das
Entgegengeſetzte der rhythmiſchen Melodie der Alten iſt, wie ich dieß
noch beſtimmter zeigen werde.
Die einzige, obgleich höchſt verſtellte Spur der alten Muſik iſt noch
in dem Choral übrig. Zwar hatte, wie Rouſſeau ſagt, zu der Zeit,
als die Chriſten anfingen in eignen Kirchen Hymnen und Pſalmen zu
ſingen, die Muſik ſchon faſt allen ihren Nachdruck verloren. Die
Chriſten nahmen ſie, wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten ſie noch
ihrer größten Kraft, des Zeitmaßes und des Rhythmus, aber doch blieb
der Choral in den alten Zeiten immer einſtimmig, und dieß iſt es
eigentlich, was Canto Firmo heißt. In ſpäteren Zeiten wurde er
immer vierſtimmig geſetzt, und die verwickelten Künſte der Harmonie
haben ſich auch in den Kirchengeſang ausgebreitet. Die Chriſten nahmen
die Muſik erſt von der gebundenen Rede ab, und ſetzten ſie auf die
Proſa der heiligen Bücher oder eine völlig barbariſche Poeſie. So ent-
ſtand der Geſang, der jetzt ohne Takt und mit immer einerlei Schritten
fortgeſchleppt wird, und verlor mit dem rhythmiſchen Gang alle Energie.
Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verſe, weil
das Zeitmaß der Sylben und die Füße beibehalten wurden. Aber aller
dieſer Mängel unerachtet findet auch Rouſſeau in dem Choral, den die
Prieſter in der römiſchen Kirche in ſeinem urſprünglichen Charakter er-
halten haben, höchſt ſchätzbare Ueberbleibſel des alten Geſanges und
ſeiner verſchiedenen Tonarten, ſoweit es möglich war ſie ohne Takt
und Rhythmus zu erhalten.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 32
[498]
§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der
drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die
Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter
die andere entgegen. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der
Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner-
kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls
Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz,
aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale
Einheit — ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von
einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein-
ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang
ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im
Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit
(Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn
er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein
wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein-
heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier
Coexiſtenz.
Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter-
ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo-
nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus-
ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das Ganze iſt, untergeordnet der zweiten
Dimenſion.
Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo-
retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange-
ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har-
monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch
eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere
und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt
ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in
der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen
Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente
[499] differente Tonverhältniſſe dennoch wieder zur Einheit im Ganzen ge-
bracht ſeyen, ſowie dieſelbe in Anſehung des ganzen Tonſtücks wiederum
die Reſumtion aller möglichen beſonderen Einheiten und aller — nicht
dem Rhythmus, ſondern der Modulation nach verſchiedenen — Ver-
wicklungen der Töne in die abſoluten Einheit des Ganzen bedeutet.
Aus dieſem allgemeinen Begriff geht ſchon zur Genüge hervor, daß
ſich Harmonie zu Rhythmus und inſofern auch zu Melodie, da
Melodie nichts anderes als der integrirte Rhythmus iſt, daß ſich,
ſage ich, Harmonie zu Melodie wieder wie die ideale Einheit zur
realen oder wie die Einbildung der Vielheit in die Einheit zu der
entgegengeſetzten der Einheit in die Vielheit verhalte, welches eben zu
beweiſen war.
Nur iſt dabei im Auge zu behalten, daß Harmonie, inwiefern ſie
der Melodie entgegengeſetzt, wieder für ſich das Ganze iſt, alſo die
Eine der beiden Einheiten bloß, inwiefern allein auf die Form reflek-
tirt wird, nicht aber inwiefern auf das Weſen, denn inſofern iſt ſie
wieder die Identität an ſich, alſo die Identität der drei Einheiten,
aber ausgedrückt in der idealen. Nur inſofern können Harmonie und
Melodie einander wirklich entgegengeſetzt werden.
Wird nun etwa nach dem Vorzug der Harmonie oder Melodie in
dieſem Sinne gefragt, ſo ſehen wir uns wieder in demſelben Falle, wie
wenn nach dem Vorzug der antiken oder modernen Kunſt überhaupt
gefragt wird. Sehen wir auf das Weſen, ſo iſt freilich jedes von
beiden die ganze ungetheilte Muſik, ſehen wir aber auf die Form, ſo
wird unſer Urtheil eben dahin ausfallen müſſen, wohin das Urtheil über
antike und moderne Kunſt überhaupt. Der Gegenſatz beider iſt, daß
überhaupt jene nur das Reelle, das Weſentliche, das Nothwendige,
dieſe auch das Ideelle, Unweſentliche und Zufällige in der Identität
mit dem Weſentlichen und Nothwendigen darſtellt. Angewendet auf
den vorliegenden Fall, ſo ſtellt ſich die rhythmiſche Muſik überhaupt
als eine Expanſion des Unendlichen im Endlichen dar, wo alſo dieſes
(das Endliche) etwas für ſich ſelbſt gilt, anſtatt daß in der harmoniſchen
die Endlichkeit oder Differenz nur als eine Allegorie des Unendlichen
[500] oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung
der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu
ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern
die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal
aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die
rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird
mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo-
niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth-
wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der
Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht,
das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre-
ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo-
niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein,
wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung,
ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie
er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der
Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte.
Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu
haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus
und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in
Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare.
Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig-
keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen
iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es
iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu-
gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom-
mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche
z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie
der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch-
tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem
Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder
ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek-
tirt wird.
[501]
Die Verſchiedenheit der Urtheile über den Vorzug der Harmonie
und Melodie ſind ſo wenig zu vereinigen, als die über antike und mo-
derne Kunſt überhaupt. Rouſſeau nennt jene eine gothiſche, barbariſche
Erfindung; dagegen gibt es Enthuſiaſten der Harmonie, die erſt von
der Erfindung des Contrapunkts an wahre Muſik datiren. Dieß wird
freilich allein dadurch hinlänglich widerlegt, daß die Alten eine Muſik
von ſo großer Kraft ohne alle Kenntniß oder wenigſtens Gebrauch der
Harmonie hatten. Die meiſten ſind der Meinung, daß der vielſtimmige
Geſang gar erſt im zwölften Jahrhundert erfunden.
§. 83. Die Formen der Muſik ſind Formen der ewigen
Dinge, inwiefern ſie von der realen Seite betrachtet werden.
— Denn die reale Seite der ewigen Dinge iſt die, von welcher das
Unendliche ihrem Endlichen eingeboren iſt. Aber dieſe ſelbe Einbildung
des Unendlichen in das Endliche iſt auch die Form der Muſik, und da
die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der Dinge an ſich ſind,
ſo ſind die Formen der Muſik nothwendig Formen der Dinge an ſich
oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet.
Da dieß nun allgemein bewieſen iſt, ſo gilt es auch von den be-
ſonderen Formen der Muſik, von Rhythmus und Harmonie, nämlich
daß ſie Formen der ewigen Dinge ausdrücken, ſofern dieſe ganz von
der Seite ihrer Beſonderheit betrachtet werden. Inwiefern dann ferner
die ewigen Dinge oder die Ideen von der realen Seite in den Welt-
körpern offenbar werden, ſo ſind die Formen der Muſik als Formen
der real betrachteten Ideen auch Formen des Seyns und des Lebens der
Weltkörper als ſolcher, demnach die Muſik nichts anderes als der vernom-
mene Rhythmus und die Harmonie des ſichtbaren Univerſums ſelbſt.
Verſchiedene Anmerkungen.
1) Allgemein geht die Philoſophie, wie die Kunſt, nicht auf die
Dinge ſelbſt, ſondern nur auf ihre Formen oder ewigen Weſenheiten.
Das Ding ſelbſt iſt aber eben nichts anderes als dieſe Art oder Form
zu ſeyn, und durch die Formen beſitzt man die Dinge. Die Kunſt be-
ſtrebt ſich z. B. in ihren plaſtiſchen Werken nicht, mit den ähnlichen
Hervorbringungen der Natur, was das Reelle betrifft, zu wetteifern.
[502] Sie ſucht die bloße Form, das Ideale, von welchem aber das Ding
ſelbſt doch wieder nur die andere Anſicht iſt. Dieß angewendet auf den
vorliegenden Fall, ſo bringt die Muſik die Form der Bewegungen der
Weltkörper, die reine, von dem Gegenſtand oder Stoff befreite Form
in dem Rhythmus und der Harmonie als ſolche zur Anſchauung. Die
Muſik iſt inſofern diejenige Kunſt, die am meiſten das Körperliche ab-
ſtreift, indem ſie die reine Bewegung ſelbſt als ſolche, von dem Ge-
genſtand abgezogen, vorſtellt und von unſichtbaren, faſt geiſtigen Flügeln
getragen wird.
2) Bekanntlich war der erſte Urheber dieſer Anſicht der himmliſchen
Bewegungen als Rhythmus und Muſik Pythagoras, aber ebenſo be-
kannt iſt, wie wenig ſeine Ideen verſtanden worden ſind, und man
kann ſehr leicht ſchließen, wie verdorben ſie auch zu uns gekommen ſind.
Man hat des Pythagoras Lehre von der Muſik der Sphären gewöhn-
lich ganz grob verſtanden, nämlich in dem Sinn, daß ſo große Körper
in ihren ſchnellen Bewegungen einen Schall verurſachen müſſen,
der, weil ſie mit verſchiedener, jedoch abgemeſſener Geſchwindigkeit
und in immer ausgedehnteren Kreiſen rotiren, eine zuſammenklin-
gende, nach muſikaliſchen Tonverhältniſſen geordnete Harmonie erzeuge,
ſo daß das Sonnenſyſtem einer ſiebenfach beſaiteten Leyer gleiche. In
dieſer Vorſtellung war die ganze Sache empiriſch genommen. Pythago-
ras ſagt nicht, daß dieſe Bewegungen eine Muſik verurſachen, ſon-
dern, daß ſie es ſelbſt ſeyen. Dieſe inwohnende Bewegung bedurfte
keines äußeren Mediums, wodurch ſie Muſik wurde, ſie war es in ſich
ſelbſt. Als man nachher den Raum zwiſchen den Himmelskörpern leer
machte, oder höchſtens ein ſehr zartes und feines Medium darin zugeben
wollte, gegen welches keine Reibung ſtattfand, und das auch den erreg-
ten Schall nicht aufnehmen oder in ſich fortpflanzen konnte, ſo glaubte
man damit dieſe Vorſtellung abgethan zu haben, die man noch gar nicht
erreicht hatte. Wie man es gewöhnlich darſtellt, hat Pythagoras geſagt,
man könne jene Muſik wegen ihrer zu großen Gewalt, und weil ſie
beſtändig ſey, nicht vernehmen, ungefähr ſo, wie Menſchen, die in
einer Mühle wohnen. Wahrſcheinlich iſt dieß gerad’ umgekehrt zu
[503] verſtehen, nämlich daß allerdings die Menſchen in einer Mühle leben, daß
ſie aber vor dieſem Sinnengeräuſch die Accorde jener himmliſchen Muſik
nicht vernehmen können, wie ſich denn dieß auch wirklich an ſolchem
Verſtehen gezeigt hat. Sokrates bei Platon ſagt: Derjenige iſt der
Muſiker, der von den ſinnlich vernommenen Harmonien fortſchreitend
zu den unſinnlichen, intelligibeln und ihren Proportionen. — Noch
ein größeres Problem bleibt der Philoſophie zu löſen übrig, das Geſetz
der Anzahl und der Diſtanzen der Planeten. Erſt mit dieſem wird
auch daran gedacht werden können, Einſicht in das innere Syſtem der
Töne zu erhalten, welches bis jetzt noch ein gänzlich verſchloſſener Ge-
genſtand iſt. Wie wenig unſer jetziges Tonſyſtem auf Einſicht und
Wiſſenſchaft gegründet ſey, erhellt daraus, daß manche Intervalle und
Fortſchreitungsarten in der alten Muſik üblich waren, die nach unſerer
Eintheilung unausführbar oder gar uns unverſtändlich ſind.
3) Wir können jetzt erſt die höchſte Bedeutung von Rhythmus,
Harmonie und Melodie feſtſetzen. Sie ſind die erſten und reinſten
Formen der Bewegung im Univerſum und, real angeſchaut, die Art
der materiellen Dinge den Ideen gleich zu ſeyn. Auf den Flügeln
der Harmonie und des Rhythmus ſchweben die Weltkörper; was man
Centripetal- und Centrifugalkraft genannt hat, iſt nichts anderes als
— dieſes Rhythmus, jenes Harmonie. Von denſelben Flügeln erhoben
ſchwebt die Muſik im Raum, um aus dem durchſichtigen Leib des Lauts
und Tons ein hörbares Univerſum zu weben.
Auch im Sonnenſyſtem drückt ſich das ganze Syſtem der Muſik
aus. Kepler ſchon ſchreibt die Durart den Apheliis, die Mollart den
Periheliis zu. Die unterſcheidenden Eigenſchaften, welche in der Muſik
dem Baß, dem Tenor, dem Alt und Diskant zugeſchrieben werden,
theilt er verſchiedenen Planeten zu.
Aber noch mehr iſt der Gegenſatz der Melodie und Harmonie,
wie er in der Kunſt nacheinander erſchien, in dem Sonnenſyſtem aus-
gedrückt.
In der Planetenwelt iſt der Rhythmus das Herrſchende, ihre
Bewegungen ſind reine Melodie; in der Kometenwelt iſt die
[504] Harmonie herrſchend. Wie die ganze moderne Welt allgemein der Centri-
petalkraft gegen das Univerſum, der Sehnſucht nach dem Centrum
unterliegt, ſo auch die Kometen, deren Bewegungen daher eine bloße
harmoniſche Verwirrung ohne allen Rhythmus ausdrücken, und wie
dagegen das Leben und Wirken der Alten gleich ihrer Kunſt expanſiv,
centrifugal, d. h. in ſich ſelbſt abſolut und rhythmiſch war, ſo iſt auch
in den Bewegungen der Planeten vergleichungsweiſe die Centrifugalkraft
— die Expanſion des Unendlichen im Endlichen — herrſchend.
4) Hiernach beſtimmt ſich nun auch die Stelle, welche die Muſik
in dem allgemeinen Syſtem der Künſte einnimmt. — Wie ſich der all-
gemeine Weltbau ganz unabhängig verhält von den andern Potenzen
der Natur, und je nachdem er von einer Seite betrachtet wird, das
Höchſte und Allgemeinſte iſt, worin ſich unmittelbar in die reinſte Ver-
nunft auflöst, was im Concreten ſich noch verwirrt, von der andern
Seite aber auch die tiefſte Potenz iſt: ſo auch die Muſik, welche, von
der einen Seite betrachtet, die allgemeinſte unter den realen Künſten
und der Auflöſung in Rede und Vernunft am nächſten iſt, obgleich von
der andern nur die erſte Potenz derſelben.
Die Weltkörper in der Natur ſind die erſten Einheiten, die aus
der ewigen Materie hervorgehen; auch ſchließen ſie alles in ſich, obgleich
ſie ſich in ſich ſelbſt erſt contrahiren und in mehr beſondere und engere
Sphären zurückziehen müſſen, um die höchſten Organiſationen in ſich
darzuſtellen, in welchen die Einheit der Natur zur vollkommenen Selbſt-
anſchauung gelangt. In ihren allgemeinen Bewegungen drückt ſich alſo
der in ihnen liegende Typus der Vernunft nur für die erſte Potenz aus,
und ebenſo nimmt die Muſik, welche von der einen Seite die verſchloſ-
ſenſte aller Künſte iſt, die die Geſtalten noch im Chaos und ununter-
ſcheidbar begreift, und die nur die reine Form dieſer Bewegungen, ab-
geſondert vom Körperlichen, ausdrückt, den abſoluten Typus nur als
Rhythmus, Harmonie und Melodie, d. h. für die erſte Potenz, auf,
obgleich ſie nun innerhalb dieſer Sphäre die grenzenloſeſte aller Künſte iſt.
Hiermit iſt die Conſtruktion der Muſik vollendet, da alle Conſtruk-
tion der Kunſt nur darauf ausgehen kann, ihre Formen als Formen
[505] der Dinge an ſich darzuſtellen, welches in Anſehung der Muſik geleiſtet
worden iſt.
Ehe ich weiter gehe, erinnere ich folgendes Allgemeine.
Unſere gegenwärtige Aufgabe iſt Conſtruktion der beſonderen
Kunſtformen. Da Stoff und Form im Abſoluten und alſo auch im
Princip der Kunſt eins iſt, ſo kann nur daſſelbe, was in dem Stoff
oder Weſen iſt, auch wieder zur Form werden; die Unterſcheidung von
Stoff und Form aber kann nur darauf beruhen, daß, was in dem
Stoff als abſolute Identität geſetzt iſt, in der Form als relative geſetzt
werde.
Nun iſt ſchon in dem Abſoluten an und für ſich das Allgemeine
und Beſondere eins, dadurch, daß in ihm die beſonderen Einheiten oder
Formen der Einheit als abſolut geſetzt ſind. Aber eben deßwegen, weil
ſie in ihm ſelbſt abſolut, in Anſehung einer jeden alſo die Form auch
das Weſen, das Weſen die Form iſt, — eben deßwegen, ſage ich, ſind
ſie in ihm ununterſcheidbar und ununterſchieden, und jene Einheiten oder
ewigen Ideen können als ſolche nur dadurch wahrhaft objektiv werden,
daß ſie in ihrer Beſonderheit, als beſondere Formen, ſich ſelbſt
zum Symbol werden. Das, was durch ſie erſcheint, iſt nur die
abſolute Einheit, die Idee an und für ſich; die Form iſt nur der Leib,
mit dem ſie ſich bekleidet, und in dem ſie objektiv wird.
Die erſte Einheit in dem abſoluten Weſen iſt nun allgemein die,
wodurch es ſeine Subjektivität und ewige Einheit in die Objektivität
oder Vielheit gebiert, und dieſe Einheit in ihrer Abſolutheit oder als
die eine Seite des abſoluten Producirens aufgefaßt, iſt die ewige Ma-
terie oder ewige Natur ſelbſt. Ohne dieſe würde das Abſolute eine in
ſich verſchloſſene Subjektivität ſeyn und bleiben ohne Erkennbarkeit und
Unterſcheidbarkeit. Nur durch die Subjekt-Objektivirung gibt es ſich
ſelbſt in der Objektivität zu erkennen, und führt ſich ſelbſt als Erkann-
tes aus der Objektivität in ſein Selbſterkennen zurück. Dieſe Zurück-
bildung der Objektivität in ſich ſelbſt iſt die andere Einheit, die in ihm
von der erſten ungetrennt iſt. Denn wie wir die vollendete Einbildung
der Subjektivität in die Objektivität im Organismus unmittelbar in die
[506] Vernunft als das abſolut Ideale umſchlagen ſehen, ſo verklärt ſich im
Abſoluten, wo die Einbildung immer abſolut iſt, das Reale jener Sub-
jekt-Objektivirung unmittelbar wieder in den Aether der abſoluten Idea-
lität, ſo daß das abſolut Reale jederzeit auch das abſolut Ideale und
beides weſentlich ein und daſſelbige iſt. Das Abſolute nun, inwiefern
es in der Erſcheinungswelt durch die erſte der beiden Einheiten ſich aus-
prägt, iſt das Weſen der Materie; und alle Kunſt, ſofern ſie dieſelbe
Einheit zur Form nimmt, iſt plaſtiſche oder bildende Kunſt. Innerhalb
derſelben ſind ebenſo wieder wie innerhalb der Materie alle Einheiten
begriffen, und drücken ſich durch die beſonderen Kunſtformen aus. Die
erſte, welche die Einbildung der Einheit in die Vielheit ſich zur Form
nimmt, um in ihr das Univerſum darzuſtellen, iſt, wie zuletzt bewieſen
wurde, die Muſik. Wir gehen jetzt zur andern Einheit fort, und haben
die ihr entſprechende Kunſtform zu conſtruiren. Wir bedürfen auch hiezu
wieder mehrerer Lehnſätze aus der allgemeinen Philoſophie, die ich daher
vorausſchicke.
§. 84. Lehnſatz. Der unendliche Begriff aller end-
lichen Dinge, ſofern er in der realen Einheit begriffen iſt,
iſt das Licht. — Da der Beweis in die allgemeine Philoſophie gehört,
ſo gebe ich hier nur die Hauptmomente an.
Vorläufig iſt zu bemerken: a) Licht = Begriff, ideale Einheit,
b) aber ideale Einheit innerhalb der realen. Der Beweis wird am
kürzeſten durch die Entgegenſetzung mit der andern Einheit geführt. In
dieſer wird die Identität der ewigen Materie überhaupt in die Differenz,
und demnach in unterſchiedene und beſondere Dinge gebildet. Hier iſt
die Differenz oder Beſonderheit das Herrſchende, die Identität kann
nur als Einheit in der Vielheit aufgefaßt werden. In der entgegen-
geſetzten Einheit iſt die Identität, das Weſen, das Allgemeine das
Herrſchende. Die Realität löst ſich hier wieder in die Idealität auf.
Aber dieſe Idealität muß doch im Ganzen wieder der Realität und der
Differenz untergeordnet ſeyn, weil es die ideale Einheit innerhalb der
realen iſt. Sie muß alſo, da die allgemeine Form des Realen in der
Differenz der Raum iſt, als ein Ideales des Raums oder im Raum
[507] erſcheinen, ſie muß demnach den Raum beſchreiben, ohne ihn zu erfüllen,
und als die ideale Einheit der Materie überall alle Attribute, die die
Materie real an ſich trägt, auf ideale Weiſe an ſich tragen. Aber alle
dieſe Beſtimmungen treffen nur in Anſehung des Lichts zuſammen, und
es iſt demnach das Licht die in der realen Einheit begriffene unendliche
Idee aller Differenz, welches eben zu beweiſen war.
Das Verhältniß des Lichts zur Materie läßt ſich noch auf andere
Weiſe ſo deutlich machen.
Die Idee nach ihren zwei Seiten wiederholt ſich im Einzelnen, wie
im Ganzen. Auch in der realen Seite, wo ſie ihre Subjektivität in
eine Objektivität bildet, iſt ſie Idee, obgleich ſie in der Erſcheinung
nicht als ſolche, ſondern als Seyn erſcheint. Die Idee läßt in dem
Realen der Erſcheinung nur die eine Seite zurück, in dem Idealen der
Erſcheinung zeigt ſie ſich als Ideales; aber eben deßwegen nur in der
Entgegenſetzung gegen das Reale, alſo als relativ-Ideales. Das
An-ſich iſt eben das, worin die beiden Seiten eins ſind. Dieß ange-
wendet auf den vorliegenden Fall, ſo iſt die Körperreihe eben die eine
Seite der Idee in ihrer Objektivität, die reale. Die andere Seite, wo
die Idee als ein Ideales erſcheint, fällt in das Licht, aber es erſcheint
als Ideales eben nur, indem es die andere Seite oder die reale zurück-
läßt, und wir ſehen alſo hier zum voraus, daß das Höhere auch in der
Natur dasjenige ſeyn wird, worin Materie und Licht ſelbſt wieder
eins ſind.
Das Licht iſt das in die Natur ſcheinende Ideale, der erſte Durch-
bruch des Idealismus. Die Idee ſelbſt iſt das Licht, aber abſo-
lutes Licht. In dem erſcheinenden Licht erſcheint ſie als Ideales, als
Licht; aber nur als relatives Licht, relativ-Ideales. Sie legt die
Hülle ab, mit der ſie ſich in der Materie bekleidet; aber, um eben
als Ideales zu erſcheinen, muß ſie im Gegenſatz gegen das Reale
erſcheinen.
Ich kann unmöglich dieſe Anſicht des Lichts hier durch alle Punkte
verfolgen, und muß deßhalb auf die allgemeine Philoſophie verweiſen.
Nur über das Verhältniß des Lichts zum Klang und über den Geſichtsſinn
[508] als die nothwendige Bedingung der Exiſtenz des Lichts für die Kunſt
muß ich mich hier erklären.
a) Das Verhältniß des Lichts zum Klang betreffend, ſo
iſt bekannt, wie vielfache Vergleichungen darüber gemacht worden ſind,
obſchon die wahre Identität und Verſchiedenheit beider bisher meines
Wiſſens noch nicht auseinandergeſetzt iſt. — In der Materie, ſagten
wir, bildet das Weſen, die Identität, ſich in die Form; in dem Licht
dagegen iſt die Form oder Beſonderheit wieder zum Weſen verklärt.
Hieraus muß ſich auch das Verhältniß des Lichts und des Klanges ein-
ſehen laſſen. Der Klang iſt, wie wir wiſſen, nicht abſolut geſetzt, nur
geſetzt unter Bedingung einer dem Körper mitgetheilten Bewegung, wo-
durch er aus der Indifferenz mit ſich ſelbſt geſetzt wird. Der Klang
ſelbſt iſt nichts anderes als die Indifferenz von Seele und Leib, aber
dieſe Indifferenz nur, ſoweit ſie in der erſten Dimenſion liegt. Wo dem
Ding der unendliche Begriff abſolut verbunden iſt, wie dem Weltkörper,
der auch als endlich unendlich, da entſteht jene innere Muſik der Be-
wegungen der Geſtirne; wo bloß relativ, entſteht der Klang, welcher
nichts anderes als der Akt der Wiedereinbildung des Idealen ins Reale,
alſo die Erſcheinung der Indifferenz iſt, nachdem beides aus der Indif-
ferenz geriſſen.
Das Ideale iſt nicht an ſich Klang, ebenſo wie der Begriff eines
Dings nicht an ſich Seele iſt. Der Begriff des Menſchen wird Seele
eben nur in der Beziehung auf den Leib, wie der Leib nur Leib iſt in
Beziehung auf die Seele. So iſt das, was wir Klang des Körpers
nennen, eben ſchon das in Beziehung auf den Körper geſetzte Ideale.
Wenn alſo das, was im Klang ſich offenbart, nur der Begriff des
Dings iſt, ſo werden wir dagegen das Licht der Idee der Dinge gleich-
ſetzen, oder dem, worin das Endliche dem Unendlichen wahrhaft ver-
knüpft iſt. Der Klang iſt alſo das inwohnende oder endliche Licht der
körperlichen Dinge, das Licht iſt die unendliche Seele aller körperlichen
Dinge.
Allein das abſolute Licht, das Licht als wahrhaft abſolute Auf-
löſung der Differenz in die Identität, würde ſelbſt gar nicht als
[509] Erſcheinung in die Sphäre der Objektivität fallen. Nur als relativ-Ideales
und demnach in ſeiner Entgegenſetzung zugleich und relativer Einheit
mit dem Körper kann es als Licht erſcheinen.
Es fragt ſich, wie eine Einheit zwiſchen dem Licht und dem Körper
denkbar ſey. Nach unſern Grundſätzen können wir keine unmittelbare
Wirkung beider aufeinander zugeben. So wenig wir annehmen können,
daß die Seele unmittelbare Urſache einer Wirkung in dem Leib oder
umgekehrt der Leib in der Seele werden könne, ebenſowenig können
wir das Licht unmittelbar auf die Körper, oder hinwiederum dieſe un-
mittelbar auf das Licht wirken laſſen. Licht und Körper können alſo
überhaupt nur durch präſtabilirte Harmonie eins ſeyn, und nur durch
das, worin ſie eins ſind, nicht aber durch ein einſeitiges Cauſalver-
hältniß aufeinander wirken. Es iſt die Schwere, welche hier in der
höheren Potenz wieder eintritt, die abſolute Identität, welche, es ſey
nun in Reflexion oder Refraktion, Licht und Körper vereint. Der all-
gemeine Ausdruck nun des mit dem Körper ſyntheſirten Lichts iſt ge-
trübtes Licht oder Farbe. Daher wäre als Zuſatz zu §. 84 zu be-
merken:
Das Licht kann als Licht nur in der Entgegenſetzung
mit dem Nicht-Licht, und demnach nur als Farbe erſcheinen.
Der Körper iſt überhaupt Nicht-Licht, ſowie das Licht dagegen
Nicht-Körper iſt. So gewiß nun im empiriſchen Licht das abſolute Licht
nur als relativ-Ideales erſcheint, ſo gewiß kann es überhaupt nur in der
Entgegenſetzung gegen das Reale erſcheinen. Licht mit Nicht-Licht ver-
bunden iſt nun allgemein getrübtes Licht, d. h. Farbe.
Die Lehre vom Urſprung der Farben iſt keineswegs für die Theorie
der Kunſt unwichtig, obgleich es eine bekannte Sache iſt, daß kein
neuerer Künſtler, der über ſeine Kunſt nachgedacht, von der Newton-
ſchen Farbentheorie je eine Anwendung machte. Aber ſchon dieß könnte
hinreichen zu beweiſen, wie gänzlich ungegründet in der Natur ſie iſt,
denn Natur und Kunſt ſind eins. Der Inſtinkt der Künſtler lehrte
ſie den allgemeinen Gegenſatz der Farben, den ſie als Gegenſatz von
Kälte und Wärme ausdrückten, ganz unabhängig von den Newtonſchen
[510] Vorſtellungen erkennen. Goethes neue Anſichten dieſer Lehre ſind eben-
ſoſehr auf die Natur- als auf die Kunſtwirkungen der Farben gegründet;
man ſieht in ihnen die innigſte Harmonie zwiſchen Natur und Kunſt,
anſtatt daß in den Newtonſchen ſchlechthin kein Mittel lag, die Theorie
mit der Praxis des Künſtlers zu verbinden.
Das Princip, welches der wahren Anſicht der Farbe zu Grunde
gelegt werden muß, iſt die abſolute Identität und Einfachheit
des Lichts. Newtons Theorie widerlegt ſich für den, der überhaupt
ſich über den Geſichtspunkt des einſeitigen Cauſalverhältniſſes erhoben
hat, ſchon allein dadurch, daß er bei dem Phänomen der Farbenproduk-
tion in der Brechung durch transparente Körper dieſe als gänzlich
müßig annahm und aus dem Spiel ließ. Dadurch war er nun ge-
nöthigt, alle Mannichfaltigkeit der Farbe in das Licht ſelbſt, und zwar
als eine vorhandene, mechaniſch vereinigte und mechaniſch trennbare zu
legen. Bekanntlich iſt nach Newton das Licht aus ſieben Strahlen von
verſchiedener Brechbarkeit zuſammengeſetzt, ſo daß jeder einfache Strahl
ein Büſchel von ſieben farbigen Strahlen iſt. Dieſe Vorſtellung iſt
durch die höhere Anſicht der Natur des Lichts ſelbſt genug widerlegt,
daß wir kein Wort zur Widerlegung hinzuzufügen haben.
Um das Farben-Phänomen ganz zu begreifen, müſſen wir zuvor
von dem Verhältniß der durchſichtigen und undurchſichtigen
Körper zum Licht einige Begriffe haben.
Der Körper trübt ſich in dem Verhältniß für das Licht, in welchem
er ſich von der Allheit der übrigen Körper abſondert und als ein ſelb-
ſtändiger heraustritt. Denn das Licht iſt die Identität aller Körper;
in dem Verhältniß alſo, in welchem er ſich von der Totalität abſondert,
ſondert er ſich auch von dem Licht, denn er hat mehr oder weniger die
Identität in ſich ſelbſt als Beſonderes aufgenommen. Dieß gilt ſo weit,
daß die undurchſichtigſten Körper, die Metalle, eben auch diejenigen
ſind, die am meiſten jenes innere Licht, den Klang, ſich eingeboren
haben. Die relative Gleichheit mit ſich ſelbſt iſt das, wodurch
der Körper aus der Gleichheit mit allen andern tritt. Dieſe relative
Gleichheit aber (= Cohäſion, Magnetismus) beruht auf einer relativen
[511] Indifferenz ſeines Beſonderen mit ſeinem Allgemeinen oder Begriff. Die
Trübung für das Licht wird alſo nur da aufhören, wo dieſe relative
Gleichheit ſo weit aufgehoben iſt, daß entweder das rein-Allgemeine oder
das rein-Beſondere überwiegend iſt — alſo an den Enden der Cohä-
ſionsreihe —, oder da, wo beide zur abſoluten Indifferenz reducirt ſind,
wie im Waſſer, deſſen Allgemeines das ganze Beſondere, das Beſondere
das ganze Allgemeine iſt, oder da, wo auch der Streit der abſoluten
Cohäſion (wodurch der Körper in ſich ſelbſt) und der relativen (wodurch
er dem Licht angehört) vollkommen ausgeglichen iſt, und der Körper
ganz Erde und ganz Sonne iſt. — Die weiteren Erläuterungen dieſer
Sätze gehören, wie von ſelbſt offenbar iſt, in eine andere Sphäre der
Unterſuchung.
Ein ſolcher Körper nun, der in der vollkommenen Identität mit
dem Licht iſt (und ein ſolcher wäre ein abſolut-durchſichtiger Körper),
wäre dem Licht überall nicht mehr entgegengeſetzt. Nur inſofern der Körper
noch immer ein Beſonderes bleibt oder dem Licht relativ — zum Theil —
entgegengeſetzt iſt, ſyntheſirt die abſolute Identität, die hier als Schwer-
kraft der höheren Potenz eintritt, das Licht mit ihm (daß nämlich nicht
der Körper das Licht breche, folgt aus der Newtonſchen Erfahrung,
daß die Brechung nicht unmittelbar, ſondern in einiger Entfernung von
der Oberfläche des Körpers geſchieht, wozu Newton eine actio in
distans annimmt, die ich — im Newtonſchen Sinne — nicht nur
hier, ſondern überall verwerfe). Dieſe Syntheſe des Lichts und des
Körpers iſt beim durchſichtigen und undurchſichtigen Körper gleicherweiſe
der Fall, nur daß dieſer das Licht reflektirt, der durchſichtige Körper
aber nimmt es in ſich ſelbſt auf und durchdringt ſich mit ihm. Da es
aber keine vollkommene Durchſichtigkeit gibt, ſondern in denjenigen durch-
ſichtigen Körpern, welche das Licht am meiſten brechen, auch noch das
größte Uebergewicht der Beſonderheit iſt, ſo wird das Licht oder die
Identität im Licht ſelbſt mit der Beſonderheit oder Differenz ſyntheſirt
und demnach getrübt. (Alle unſere durchſichtigen Körper ſind trübende
Mittel). Es iſt abermals weder das Licht für ſich noch der Körper
für ſich, ſondern es iſt das, worin beide eins ſind, was die Farbe
[512] producirt. Das Licht wird daher in dieſem Proceß auf keine Weiſe
weder zerlegt noch geſpalten, nicht chemiſch oder mechaniſch decomponirt,
ſondern es ſelbſt bleibt als der eine Faktor des Proceſſes in ſeiner ab-
ſoluten Einfachheit; alle Differenz iſt durch das Nicht-Licht oder den
Körper geſetzt. Farbe iſt = Licht + Nicht-Licht, Poſitives + Ne-
gatives.
Das Wichtigſte für die Anſicht der Kunſtwirkungen der Farben iſt
nun das Begreifen der Totalität der Farben. Das, wodurch eine
Totalität allein möglich iſt, iſt eine Vielheit in der Einheit, demnach
ein Gegenſatz, der ſich in allen Farbenerſcheinungen zeigen muß. Wir
brauchen, um dieſen Gegenſatz darzuſtellen, nicht unmittelbar zum pris-
matiſchen Bild zu gehen, welches bereits ein verwickeltes und zuſammen-
geſetztes Phänomen iſt. Kein Wunder, daß Newton zu keinem andern
Reſultat kam, da er gerade dieſes Phänomen als das erſte nahm, und
daß es nicht weniger als der Anſchauung eines Goethe bedurfte, um
den wahren Faden dieſer Erſcheinung wieder zu finden, den Newton
in dem Knäuel ſo künſtlich verſteckt hatte, den er ſeine Theorie nannte.
Noch jetzt iſt die prismatiſche Erſcheinung den Phyſikern die Grund-
erſcheinung; auch die Künſtler werfen ſich einzig auf ſie, obgleich ſie
eine Menge Fälle unerklärt läßt, die in ihrer Kunſt wiederkommen. Wir
finden den Gegenſatz der Farben ſchon in viel einfacheren Fällen. Es
gehören hieher die Phänomene der gefärbten Gläſer oder farbigen
Flüſſigkeiten, welche Newton aus einer Verſchiedenheit des reflektirten
und reſtringirten Lichts zu erklären ſuchte. Wenn z. B. ein blaugefärbtes
Glas gegen eine dunkle Fläche gehalten wird, und das Auge ſich zwi-
ſchen dem Licht und dem Körper befindet, ſo geht jene Farbe bis zum
tiefſten Blau hinab; derſelbe Körper aber ſo gehalten, daß er zwiſchen
dem Auge und dem Licht ſich befindet, gibt das ſchönſte Gelb- oder
auch wohl Hochroth. Hier entſteht alſo die rothe Farbe unmittelbar
durch ein Weniger des Getrübtwerdens, anſtatt daß in dem erſten Fall
die dunklere Farbe durch ein bloßes Mehr des Getrübtwerdens entſteht.
Die beiden Farbenpole ſchließen ſich hier noch aus, ſie erſcheinen nicht
ſimultan, aber nacheinander. Durch eine Verbindung verſchiedener
[513] Linſen, durch die man das Licht gehen läßt, und wovon die erſte das
Licht noch vollkommen weiß durchſcheinen läßt, kann man in einem
dunklen Zimmer das erſt weiße Licht endlich bis zum rothen Licht
trüben; durch eine weitere Fortſetzung würde man es bis ins Blaue
treiben. Nach dieſem Geſetze färbt ſich der Himmel für uns blau, die
Sonne dagegen im Aufgehen roth. Dieſe Phänomene, in welchen
durch das bloße Mehr oder Weniger der Trübung Farbe entſteht, ſind
die einfachen, von denen man auszugehen hat. Von viel accidentelleren
Bedingungen ſind alle Arten prismatiſcher Erſcheinungen abhängig. Sie
beruhen, kann man allgemein ſagen, darauf, daß ein Doppelbild geſehen
wird. Wir ſehen Licht und Nicht-Licht zugleich (es findet eine ſubjek-
tive Syntheſe von Licht und Nicht-Licht im Auge ſtatt). Durch die
Wirkung der Refraktion wird daher das betrachtete Bild verrückt, aber es
erleidet keine Veränderung, wenn es über einen andern relativ dunklen
oder erleuchteten Raum geführt wird, ſo daß das verrückte Bild zu-
gleich mit einem andern geſehen wird. Je nachdem nun dieſer Raum
relativ gegen den andern hell oder dunkel iſt, erſcheint das Bild an
den Rändern verſchiedentlich gefärbt; iſt es nämlich der hellere Raum
auf dunklem Grund, der durch die Refraktion verrückt wird, ſo daß —
bei abwärts gekehrtem Brechungswinkel — der dunkle Raum von oben ins
Helle, von unten der helle ins Dunkle geführt wird, ſo erſcheinen an
jener Stelle die warmen, an dieſer die kalten Farben.
Die Sonne in den Newtonſchen Verſuchen mit dem in einem
dunklen Zimmer auf das Prisma fallenden Licht ſtellt in der That dabei
nichts anderes als einen hellen Fleck auf dunklem Grund dar; ſie wirkt
in der ganz allgemeinen Qualität eines Bilds von eminenter Helligkeit
auf einem durchaus dunklen Grund, dem Weltraum. Die prismatiſche
Erſcheinung, ſofern ſie mit dem Sonnenlicht hervorgebracht wird, iſt
alſo von den möglichen prismatiſchen Erſcheinungen nur der Eine
Fall, der nämlich, wo auf einem dunklen Grunde ein heller Raum
geſehen wird.
Wichtiger iſt es für uns, die ganze ſecundäre Stelle dieſer Er-
ſcheinungen einzuſehen.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 33
[514]
Die Farben bilden unter ſich ein Syſtem ebenſo wie die Töne.
Sie ſind daher an ſich weit urſprünglicher als ſie im prismatiſchen Bild
erſcheinen, deſſen Bedingungen zufällig und abgeleitet ſind. Daß unter
dieſen Bedingungen keine andern als eben dieſe Farben erſcheinen, iſt
nothwendig, weil es die einzigen ſind, die überhaupt möglich ſind. Die
Totalität oder das Syſtem der Farben hat alſo in ſich betrachtet aller-
dings eine Art der Nothwendigkeit; es iſt nicht zufällig, aber es muß
nur nicht gerade von den prismatiſchen Erſcheinungen abſtrahirt werden,
noch müſſen dieſe für das urſprüngliche Phänomen gehalten werden, in
denen ſich die Farben erzeugen.
Der Gegenſatz, welcher ſich im prismatiſchen Bild zwiſchen den
kalten und warmen Farben zeigt, die ſich polariſch einander entgegen-
ſtellen, iſt allerdings ein nothwendiger Gegenſatz und zur Totalität,
welche die Farben als geſchloſſenes Syſtem in ſich bilden, nothwendig.
Allein dieſer Gegenſatz iſt eben deßwegen auch urſprünglicher als das
abgeleitete und zuſammengeſetzte Phänomen des Farbenſpectrums. Die
Polarität der Farben iſt nicht als eine fertig vorhandene, ſondern als
eine producirte zu denken, die ſich überall entwirft, ſowie nur Licht
und Nicht-Licht in Conflikt geſetzt werden. Das Farben-Phänomen
iſt die aufbrechende Lichtknospe; die Identität, die in dem Lichte iſt,
wird mit der Differenz, die durch das Nicht-Licht in ſie geſetzt iſt,
verbunden zur Totalität. In einer viel höheren Beziehung erſcheint
die Nothwendigkeit dieſer Polarität und der inneren Totalität der Far-
ben in den Forderungen, die der Geſichtsſinn macht, und die für
die Kunſt ebenſo wichtig als für die Naturforſchung intereſſant ſind.
Jetzt alſo zu dem Verhältniß des Geſichtsſinns.
Die beiden Seiten, die wir in der Körperreihe und dem Licht ab-
geſondert herausgeworfen ſehen — reale und ideale —, ſind im Orga-
nismus beiſammen und eins. Das relativ-Ideale im Licht iſt hier
durch das Reale integrirt. Das Weſen des Organismus iſt: Licht
mit Schwere verbunden. Der Organismus iſt ganz Form und
ganz Stoff, ganz Thätigkeit und ganz Seyn. Daſſelbige Licht, welches
in der allgemeinen Natur die anſchauende Thätigkeit des Univerſums
[515] iſt, iſt im Organismus dem Stoffe vermählt; es iſt nicht mehr bloß
rein ideelle Thätigkeit, wie in der allgemeinen Natur, ſondern ideelle
Thätigkeit, die, mit dem Stoffe verbunden, das Attribut eines Exiſti-
renden iſt. Ein und daſſelbe iſt zugleich die reelle und ideelle. Jedes
von außen Einwirkende macht an den Organismus die Forderung einer
beſtimmten Dimenſion, ſo auch das Licht. Und wenn Senſibilität
überhaupt = dritter, das Sehen aber wieder die Blüthe der Senſi-
bilität iſt, ſo iſt die Forderung des Lichts an den Organismus Produkt
der dritten organiſchen Dimenſion, vollkommene Indifferenz des Lichts
und der Materie. Aber was iſt denn Sehen auch anders?
Das ideelle Princip für ſich wäre reines Denken, das reelle reines
Seyn. Allein das von außen ſollicitirte Indifferenzvermögen des Or-
ganismus ſetzt Denken und Seyn immer wieder gleich. Denken ſyn-
theſirt mit Seyn aber iſt anſchauen. Das Anſchauende iſt die Iden-
tität ſelbſt, welche hier in der reflektirten Welt wieder die Indifferenz
des Idealen und Realen darſtellt. Es iſt das Weſen, die Subſtanz
des Organismus — aber eben deßwegen zugleich das abſolut-, nicht
das bloß relativ-Ideale (wie im Licht) — das Producirende, Anſchauende.
Es iſt das fühlende, hörende, ſehende Princip auch im Thier. Es iſt
das abſolute Licht. Die allgemeine Bedingung der Anſchauung
dieſes Lichts iſt die Indifferenz des A2 und A = B. Nach der verſchie-
denen Art, wie, oder den Bedingungen, unter welchen beide gleichge-
ſetzt werden, iſt es z. B. hörendes, ſehendes oder fühlendes Princip.
Jedes Sinnesorgan drückt für ſich eine ſolche Indifferenz des Ideellen
und Reellen, des Lichts und der Schwere aus; in jeder ſolchen In-
differenz wird das Weſen, das An-ſich des Organismus produktiv,
anſchauend. Auch phyſiſch genommen ſchaut das organiſche Weſen nicht
den Gegenſtand außer ſich an, es ſchaut nur die in ihm geſetzte In-
differenz des Ideellen und Reellen an. Dieſe tritt ihm an die Stelle
des Gegenſtandes. Kraft der präſtabilirten Harmonie zwiſchen der all-
gemeinen und der organiſchen Natur iſt in den Anſchauungen der letz-
teren daſſelbe Syſtem, welches in den entſprechenden Formen der Außen-
welt iſt. Die Harmonie des Dreiklangs iſt etwas Objektives und doch
[516] zugleich durch den Gehörſinn Gefordertes. Daſſelbe iſt der Fall mit
dem Geſichtsſinn, deſſen Forderungen das tiefſte Studium des Künſtlers
ſeyn müſſen, der auf dieſes zarteſte aller Organe wirken will. Das
Auge fordert in allem, was ihm als wohlgefällig dargeboten werden
ſoll, die Harmonie der Farben nach derſelben Nothwendigkeit und den-
ſelben Geſetzen, nach welchen ſie in der äußeren Erſcheinung producirt
wird. Die höchſte Luſt des Auges iſt, indem es aus der ermüdenden
Identität geſetzt wird, in der höchſten Differenz doch wieder durch die
Totalität in ein vollkommenes Gleichgewicht geſetzt zu werden. Deß-
wegen fordert das Auge im Allgemeinen in jedem Gemälde Totalität
der Farben, und es bedarf nur geringes Studium und Aufmerkſamkeit,
um zu finden, welch ein vollkommenes Gefühl dieſer Forderung die
größten Meiſter geleitet hat. Sehr häufig findet man dieſe Forderung
in großen Compoſitionen nicht bloß inſofern befriedigt, als die Totalität
der Farben zu denſelben nothwendig war; nicht ſelten findet man
die Forderung einer Farbe, für welche in dem Hauptgegenſtand kein
Grund lag, durch einen Nebengegenſtand befriedigt, z. B. die Forderung
des Gelb oder irgend einer andern Farbe durch Früchte, Blumen u. ſ. w.,
die in dem Gemälde angebracht ſind.
Aber auch da, wo das Auge von der Forderung der vollkommenen
Totalität abſteht, macht es doch immer die Forderung der entſprechenden
Farben geltend. Dieß iſt vorzüglich deutlich in der Erſcheinung der
ſogenannten phyſiologiſchen Farben. Das Auge z. B., welches durch den
Reiz des Rothen ermüdet iſt, producirt, nachdem dieſer Reiz entfernt iſt,
von freien Stücken die grüne Farbe, oder beſtimmter von Blau und Gelb
als Farben das, was denſelben am unmittelbarſten entgegengeſetzt
iſt, die Indifferenz. In dem Farbenbild ſchließen ſich Grün und
Purpur aus. Eben weil beide ſich ausſchließen, fordert ſie das Auge.
Ermüdet durch das Grün fordert das Auge Purpur oder die entſprechende
Totalität von Violett und Roth. Durch Purpur das vollkommenſte Grün.
So auch in der Kunſt. Die Verbindung von Purpur und Grün z. B. in
Gewändern bringt die höchſte Pracht hervor. — Ich ſtelle nun einen
weiteren Satz auf, dem ich nur noch folgendes Allgemeine voranſchicke.
[517]
Unmittelbar aus der Idee des Lichts folgt, daß es als die be-
ſondere Einheit nur unter der Bedingung eines Gegenſatzes erſcheinen
könne. Es iſt die im Realen durchbrechende ideale Einheit. Soll es
als dieſe erſcheinen, ſo muß es als Zurückbildung der Differenz in
die Identität erſcheinen, aber nicht als abſolute (denn in der Abſo-
lutheit wird die Einheit nicht als die beſondere unterſchieden), demnach
bloß in relativer Identität. — Nun iſt aber das Beſondere oder die
Differenz für ſich nichts als die Negation des Allgemeinen oder der
Identität. Nur inwiefern ſich das Allgemeine, die Identität ſelbſt in
das Beſondere verwandelt, iſt es reell (deßwegen die Einformung der
Einheit in die Vielheit die reale Einheit iſt). Wenn alſo in der
idealen Einheit oder in der Zurückbildung des Beſonderen ins Abſolute
das Beſondere noch als ſolches unterſchieden werden ſoll, kann es nur
als Negation unterſchieden werden. Demnach wird ſich das Allge-
meine und Beſondere in der Erſcheinung der idealen Einheit nur als
Realität und Privation, alſo, weil das Allgemeine Licht iſt, nur als
Licht und Nicht-Licht verhalten können, oder die Beſonderheit wird in
dem Allgemeinen nur als Privation oder Begrenzung der Realität dar-
geſtellt werden können.
§. 85. Die Kunſtform, welche die ideale Einheit in
ihrer Unterſcheidbarkeit zum Symbol nimmt, iſt die Ma-
lerei. — Folgt unmittelbar aus den vorhergehenden Sätzen. Denn
die ideale Einheit in ihrer Relativität erſcheint innerhalb der Natur
durch den Gegenſatz des Lichts und Nicht-Lichts. Aber eben deſſelben
bedient ſich die Malerei zum Mittel ihrer Darſtellung.
Anmerkung. Die ferneren Beſtimmungen der Malerei folgen
von ſelbſt aus dem erſten Begriff.
§. 86. Die nothwendige Form der Malerei iſt die auf-
gehobene Succeſſion. — Dieſer Satz fließt unmittelbar aus dem
ſchon in §. 77 bewieſenen Begriff der Zeit. Die Einbildung der Ein-
heit in die Vielheit iſt Zeit. Da nun Malerei vielmehr auf der ent-
gegengeſetzten Einheit, der Einbildung der Vielheit in die Einheit beruht,
ſo iſt die nothwendige Form derſelben die aufgehobene Succeſſion.
[518]
Die Malerei, welche die Zeit aufhebt, bedarf doch des Raumes,
und zwar ſo, daß ſie genöthigt iſt den Raum zu dem Gegenſtand
hinzuzufügen. Der Maler kann keine Blume, keine Geſtalt, überhaupt
nichts darſtellen, ohne im Gemälde ſelbſt zugleich den Raum darzu-
ſtellen, in welchem ſich der Gegenſtand befindet. Die Produkte der
Malerei können alſo noch nicht als Univerſa den Raum in ſich ſelbſt
und keinen außer ſich haben. Wir werden in der Folge noch hierauf
zurückkommen und zeigen, wie die Malerei ſich dadurch am meiſten
der höchſten Kunſtform annähert, daß ſie den Raum als ein Noth-
wendiges behandelt und ihn mit den Gegenſtänden ihrer Darſtellung
gleichſam verwachſen darſtellt. In dem vollkommenen Gemälde muß
auch der Raum für ſich, ganz unabhängig von dem inneren oder qua-
litativen Verhältniß des Gemäldes, eine Bedeutung haben.
Es gibt noch eine andere Art ſich dieſes Verhältniß deutlich zu
machen. Nach dem Bisherigen ſind die beiden Künſte der Muſik und
Malerei den beiden Wiſſenſchaften der Arithmetik und Geometrie zu ver-
gleichen. Die geometriſche Figur bedarf des Raumes außer ihr,
weil ſie auf das Reale Verzicht thut, nur das Ideale im Raum
darſtellt. Der Körper, welcher eine reale Ausdehnung hat, hat ſeinen
Raum in ſich ſelbſt, und iſt unabhängig von einem Raum außer ihm
zu begreifen. Die Malerei, die vom Realen nur das Ideale darſtellt,
keine wirklich körperlichen Geſtalten, ſondern nur die Schemata dieſer
Geſtalten, bedarf nothwendig des Raumes außer ihr, wie die geome-
triſche Figur nur durch Begrenzung eines gegebenen Raumes möglich iſt.
Folgeſatz 1. Die Malerei iſt als Kunſt urſprünglich der Fläche
untergeordnet. Sie ſtellt nur Flächen dar, und kann nur innerhalb
dieſer Begrenzung den Schein des Körperlichen hervorbringen.
Folgeſatz 2. Die Malerei iſt die erſte Kunſtform, welche
Geſtalten darſtellt. — Die Malerei ſtellt überhaupt das Beſondere
im Allgemeinen oder in der Identität dar. Nun kann ſich aber das
Beſondere vom Allgemeinen überhaupt nur durch Begrenzung oder Ne-
gation unterſcheiden. Aber eben Begrenzung der Identität iſt, was
wir Umriß, Geſtalt nennen (Muſik geſtaltlos).
[519]
Folgeſatz 3. Die Malerei hat außer den Gegenſtänden noch
den Raum als ſolchen darzuſtellen.
Folgeſatz 4. Wie die Muſik im Ganzen der Reflexion, iſt die
Malerei der Subſumtion untergeordnet. Es wird in der Philoſophie
bewieſen, daß das, was an dem Körper Umriß und Geſtalt beſtimmt,
eben dasjenige iſt, wodurch er der Subſumtion eignet. Bloß durch
ſeine Begrenzung hebt er ſich als Beſonderes ab, und iſt als ſolches
der Aufnahme unter das Allgemeine fähig. Man hat ſchon längſt be-
merkt, daß die Malerei vorzugsweiſe eine Kunſt des Geſchmacks und
des Urtheils ſey. Nothwendig: weil ſie am meiſten von der Realität
ſich entfernt und ganz ideal iſt. Das Reale iſt nur Gegenſtand der
Reflexion oder der Anſchauung. Das Reale aber im Idealen zu
ſchauen, iſt Gegenſtand des Urtheils.
Folgeſatz 5. Die Malerei iſt im Ganzen eine qualitative Kunſt,
wie die Muſik im Ganzen eine quantitative. Denn jene beruht auf
den rein qualitativen Gegenſätzen der Realität und Negation.
§. 87. In der Malerei wiederholen ſich alle Formen
der Einheit, die reale, ideale und die Indifferenz beider.
— Folgt aus dem allgemeinen Princip, daß jede beſondere Kunſtform
wieder die ganze Kunſt.
Zuſatz. Die beſonderen Formen der Einheit, ſofern ſie in der
Malerei zurückkehren, ſind: Zeichnung, Helldunkel und Colorit.
— Dieſe drei Formen ſind alſo gleichſam die allgemeinen Kategorien
der Malerei. Ich werde die Bedeutung jeder dieſer beſonderen Formen
für ſich und ihre Vereinigung und Zuſammenwirkung zum Ganzen an-
geben. — Ich erinnere auch hier, daß ich nicht in der techniſchen Be-
ziehung davon handle, ſondern die abſolute Bedeutung einer jeden an-
geben werde.
Die Zeichnung iſt innerhalb der Malerei als der idealen Kunſt
die reale Form, die erſte Einfaſſung der Identität in die Beſonderheit.
Dieſe Beſonderheit als Differenz wieder in die Identität zu verſchmel-
zen und als Differenz aufzuheben, iſt die eigentliche Kunſt des Hell-
dunkels, welche demnach die Malerei in der Malerei iſt. Allein da
[520] alle Kunſtformen als ſolche nur beſondere ſind, und ihr Beſtreben ſeyn
muß, in der beſonderen Form abſolute Kunſt zu ſeyn, ſo iſt leicht ein-
zuſehen, daß die Malerei, wenn ſie auch als beſondere Form alle For-
derungen erfüllte, ohne denen der allgemeinen Kunſt zu genügen, durch-
aus mangelhaft ſeyn würde. Die bildende Kunſt überhaupt iſt im
Ganzen der realen Einheit untergeordnet; die reale Form iſt alſo die
erſte Forderung an bildende Kunſt, wie z. B. der Rhythmus an die
Muſik. Die Zeichnung iſt der Rhythmus der Malerei. Die Wider-
ſprüche der Kunſtkenner oder Kunſtrichter über die größere Wichtigkeit
der Zeichnung oder des Kolorits beruhen auf einem nicht geringeren
Mißverſtand, als etwa in Anſehung der Muſik, ob Rhythmus oder
Melodie wichtiger. Man ſagt: es gibt Gemälde, die, obgleich der
Zeichnung nach nur mittelmäßig, dennoch wegen ihrer Vortrefflichkeit
von Seiten des Colorits unter die Meiſterwerke geſetzt werden. Es
kann nicht zweifelhaft ſeyn, wenn es wirklich ſolche Gemälde gibt, wor-
auf ſich ein ſolches Kennerurtheil gründe. Ganz gewiß nicht auf die
eigentliche Bewunderung der Kunſt, ſondern auf den angenehmen ſinn-
lichen Effekt, den ein gut colorirtes Gemälde auch ohne allen Werth
der Zeichnung machen kann. Die Richtung der Kunſt geht aber überall
nicht auf das Sinnliche, ſondern auf eine über alle Sinnlichkeit
erhabene Schönheit. Der Ausdruck des abſoluten Erkennens an
den Dingen iſt die Form; bloß durch dieſe erheben ſie ſich in das
Reich des Lichts. Die Form iſt demnach das Erſte an den Dingen,
wodurch ſie auch der Kunſt eignen. Die Farbe iſt nur das, wodurch
auch das Stoffartige der Dinge zur Form wird; ſie iſt nur die höhere
Potenz der Form. Alle Form aber hängt von der Zeichnung ab. Nur
durch die Zeichnung alſo iſt die Malerei überhaupt Kunſt, ſo wie ſie
nur durch die Farbe Malerei iſt. Die Malerei als ſolche nimmt die
rein-ideale Seite der Dinge auf, aber ihr Hauptzweck iſt keineswegs
jene grobe Täuſchung, die man gewöhnlich dafür angibt, uns den ge-
malten Gegenſtand für einen wirklich vorhandenen anſehen zu machen.
Dieſe Täuſchung in ihrer Vollkommenheit wäre ohne die hinzukommende
Wahrheit der Farben und das daraus entſpringende Leben nicht zu
[521] erreichen, und wenn wir ſie forderten, würden wir eher beträchtliche
Fehler der Zeichnung als des Colorits überſehen. Allein die Kunſt
überhaupt und auch die Malerei iſt ſo weit entfernt auf Täuſchung
auszugehen, daß ſie vielmehr gerade in ihren höchſten Wirkungen den
Schein der Wirklichkeit, in dem dabei angenommenen Sinn des Worts,
vernichten muß. Jeden, der die idealiſchen Bildungen der griechiſchen
Künſtler betrachtet, muß ihre Gegenwart unmittelbar mit dem Eindruck
der Nicht-Wirklichkeit überfallen, er muß erkennen, daß hier etwas
dargeſtellt ſey, das über alle Wirklichkeit erhaben, obgleich in dieſer
Erhabenheit durch die Kunſt wirklich gemacht iſt. Wer zum Kunſt-
genuß der Täuſchung bedarf und ſich, um zu genießen, den Gedanken
entfernen muß, daß er ein Kunſtwerk vor ſich habe, iſt zuverläſſig
überhaupt nicht deſſen fähig, und höchſtens mag er ſich an den derbſten
Produktionen der niederländiſchen Malerei ergötzen, durch welche freilich
weder eine höhere Befriedigung gewährt noch eine höhere Forderung
aufgeregt wird, als die auch in den Sinnen gefunden werden kann.
Es iſt eine von franzöſiſchen Kunſtrichtern aufgebrachte Trivialität, zu
ſagen, daß Raphael z. B. in der Zeichnung überlegen, dagegen im
Colorit nur mittelmäßig, Correggio dagegen in dem Verhältniß, in
welchem er in dem Colorit überlegen, in der Zeichnung untergeordnet
ſey. Dieſer Satz iſt geradezu falſch. Raphael hat in vielen ſeiner
Werke ſo vortrefflich als Correggio colorirt, Correggio in bei weitem den
meiſten ſo vortrefflich wie Raphael gezeichnet. Gerade bei Correggio, den
einige Kunſtrichter in Anſehung der Zeichnung unterordnen, zeigt ſich, wie
tief und verborgen dieſe Seite der Kunſt iſt, da jener Künſtler durch die
Magie des Helldunkels und Colorits ſie dem gemeinen Auge wieder zu ent-
ziehen wußte. Ohne die tiefere Grundlage ſeiner vortrefflichen Zeichnung
würde auch die größte Schönheit der Farben den Kenner nicht entzücken.
Ich gebe die Hauptforderungen, die an die Zeichnung gemacht
werden müſſen, kurz an.
Die erſte Forderung iſt die Beobachtung der Perſpektive. —
Erklärung des Begriffs der Perſpektive. — Gegenſatz der Linienper-
ſpektive und der Luftperſpektive.
[522]
Es iſt vorzüglich wichtig, daß ich mich über die Grenzen erkläre,
innerhalb welchen die Beobachtung der Perſpektive nothwendig iſt,
und außerhalb deren ſie eine freie Kunſt oder ſelbſt Zweck wird.
Wie überall finden wir auch hier wieder einen Gegenſatz der an-
tiken und modernen Kunſt, daß nämlich jene durchaus auf das Noth-
wendige, Strenge, Weſentliche ging, dieſe das Zufällige ausbildete
und ihm eine unabhängige Exiſtenz gab. Es iſt viel über die Frage
geſtritten worden, ob die Alten die Linienperſpektive gekannt haben oder
nicht. Wir würden uns ohne Zweifel ganz gleich irren, wenn wir den
Alten die Kenntniß und Beobachtung der Perſpektive ſoweit abſprechen
wollten, als ſie zur Richtigkeit gehört, und wenn wir auf der an-
dern Seite annehmen wollten, daß ſie die Perſpektive, wie die Neueren,
zur Täuſchung benutzt haben. Den Alten die Perſpektive abſprechen,
auch inſoweit ſie zur allgemeinen Richtigkeit ohne Illuſion gehört,
hieße, ihnen in der Malerei die größten Unſchicklichkeiten zutrauen, oder
behaupten, daß ſie Ungeheuer von Geſtalten gemacht haben. Z. B.
wenn wir einen Menſchen mit ausgeſtreckten Armen von der Seite,
aber in der Nähe ſehen, ſo daß Eine Hand vom Auge entfernter iſt
als die andere, ſo iſt es perſpektiviſch nothwendig, daß die entferntere
kleiner ins Auge falle. Weil wir aber einmal wiſſen, daß in der
Natur eine Hand ſo groß iſt wie die andere, ſo finden wir auch in
der Anſchauung beide gleich groß. Wollte nun der Maler dieſem zu-
folge, ohne auf die perſpektiviſche Verkürzung Rückſicht zu nehmen,
beide Hände wirklich gleich groß machen, ſo würde er eben dadurch
eine Unrichtigkeit begehen, denn ein geübtes Auge wird nun erſt die
näher liegende Hand kleiner als die entferntere ſehen. Solche Mon-
ſtruoſitäten, die aus der Vernachläſſigung der Perſpektive im Noth-
wendigen entſtänden, den Alten Schuld zu geben, wäre eine vollkom-
mene Abſurdität. Dagegen aber vermochten die Alten niemals die
Illuſion zum Zweck zu machen, und deßwegen etwas, das bloß als
Mittel der Richtigkeit Werth hat, als eine ſelbſtändige Kunſt auszu-
bilden, wie es die Neueren mit der Perſpektive gemacht haben.
Die Perſpektive dient dazu, alles Harte, Einförmige zu vermeiden,
[523] indem der, welcher ſie innehat, mit leichter Mühe z. B. ein Quadrat
als Trapezium, einen Cirkel als Ellipſe erſcheinen laſſen kann. Ueber-
haupt hilft ſie, von den Gegenſtänden gerade die ſchönſten Theile und
die größten Maſſen zu zeigen, das Mindergefällige oder das Kleinliche
zu verbergen. Dieſer freie Gebrauch muß übrigens nie ſoweit ausge-
dehnt werden, daß durch die Perſpektive allein das Angenehme geſucht,
und die Strenge der Nothwendigkeit, das, worin ſich die tiefſte Kunſt
der Zeichnung äußern müßte, umgangen wird.
Da die Zeichnung und Malerei zunächſt auf Darſtellung der For-
men geht, und die Bedingung des Schönen, obgleich allerdings nicht
die Vollendung des Schönen ſelbſt, die Wohlgefälligkeit iſt, ſo muß
dieſe in der Zeichnung ſo weit geſucht werden, als ſie den höheren For-
derungen der Wahrheit und Richtigkeit keinen Eintrag thut. Der vor-
züglich, ja der faſt einzig würdige Gegenſtand der bildenden Kunſt iſt
die menſchliche Geſtalt. Wie der Organismus innerlich und ſeinem
Weſen nach die ſich aus ſich ſelbſt erzeugende und in ſich zurückkehrende
Succeſſion iſt, ſo drückt er dieſe Form auch äußerlich aus durch die
Herrſchaft der elliptiſchen, paraboliſchen und anderer Formen, welche
am meiſten die Differenz in der Identität ausdrücken. In der Zeich-
nung wird gefordert, daß die einförmigen, ſich immer wiederholenden
Formen ſelbſt bei geringeren Gegenſtänden vermieden werden, als ob
der Künſtler auch hier das Symbol der organiſchen Geſtalt vor ſich
haben müßte. Sich ſelbſt beſtändig wiederholende Formen ſind die
viereckigten, weil ſie aus vier Linien beſtehen, von welchen immer zwei
und zwei einander parallel ſind, aber nicht minder die vollkommen
runden, weil ſie von allen Seiten betrachtet immer die nämlichen
ſind. Das Oval und die Ellipſen drücken in der Identität noch Diffe-
renz und Mannichfaltigkeit aus. Unter den regelmäßigen Figuren iſt
aus gleichem Grunde das Dreieck noch die am wenigſten mißfällige,
weil die Winkel der Anzahl nach ungleich ſind, und die Linien keine
Parallele bilden. Eine Forderung der Zeichnung iſt alſo, ſoviel möglich
jede Wiederholung von Formen, jede Parallele, Winkel von gleichen
Graden, vorzüglich aber rechte Winkel zu vermeiden, weil in dieſen
[524] gar keine Mannichfaltigkeit möglich iſt. Gerade Linien müſſen ſo viel
möglich in wellenförmige verwandelt werden, und zwar ſo, daß im
Ganzen der Geſtalt ein möglichſt vollkommenes und verhältnißmäßiges
Gleichgewicht des Concaven und Convexen, des Ein- und Ausbiegens
beobachtet werde. Bloß mit dieſem einfachen Mittel reicht man aus,
den Gliedmaßen größere oder geringere Leichtigkeit zu geben, da das
Uebergewicht des Ausgebogenen Schwere, des Eingebogenen Leichtigkeit
andeutet.
Dieſe Grundſätze, welche ſich alle auf die ſymboliſche Bedeutung
der Formen ſelbſt ſtützen, ſind aber keineswegs ſo zu verſtehen, wie
es von den ſogenannten eleganten Malern geſchieht, die durch das Be-
ſtreben, ſo viel möglich das Eckige, Winklichte zu vermeiden, in den
Fehler der Nullität und der gänzlichen Flachheit fallen. So iſt es
zwar gegründet, daß man bei Figuren, deren Beſtimmung iſt reizend
zu erſcheinen, die Verkürzungen meiden muß, weil hier die Muskeln
vielfach unterbrochen werden, indem die erhabenen Formen die einge-
bogenen verbergen. In dieſem Fall bildet ſich durch eine Art Abſchnitt
nothwendig ein Winkel. Ueberall alſo, wo der Charakter hart, der
Ausdruck ſtark ſeyn ſoll, müſſen dieſe Formen nicht geſcheut werden,
indem ſonſt die Sklaverei gegen das Angenehme den wahrhaft großen
Styl verdrängt, der auf eine viel höhere Wahrheit geht als diejenige,
die durch Sinnen ſchmeichelt. Alle Regeln, welche die Theoretiker über
die Formen geben, haben bloß Werth, ſofern dieſe Formen in der
abſoluten Beziehung, nämlich in ihrer ſymboliſchen Qualität, gedacht
werden. Es iſt nicht zu leugnen, daß die gerade Linie auch für das
Auge das Symbol der Härte, der Starrheit der Ausdehnung iſt, die
krumme der Biegſamkeit, die elliptiſche, horizontal geſtellt, der Zart-
heit und Flüchtigkeit, die Wellenlinie des Lebens u. ſ. w.
Ich komme zu der Hauptforderung, welche an die Zeichnung ge-
macht werden muß, die Wahrheit, welche hier freilich nicht viel
ſagen wollte, wenn man darunter nur die Wahrheit verſtünde, inwie-
fern ſie durch getreue Nachahmung der Natur erreicht werden kann.
Der Künſtler, welcher ſie im wahren Sinn erreichen will, muß ſie
[525] noch viel tiefer ſuchen, als ſie die Natur ſelbſt angedeutet hat, und
als die bloße Oberfläche der Geſtalten zeigt. Er ſoll das Innere der
natur enthüllen, und alſo vorzüglich in Anſehung des würdigſten Ge-
genſtandes, der menſchlichen Geſtalt, nicht bloß mit der gewöhnlichen
Erſcheinung ſich begnügen, ſondern die tiefer verborgene Wahrheit an
die Oberfläche bringen. Er muß daher in den tiefſten Zuſammenhang,
das Spiel und die Schwingungen der Sehnen und Muskeln eindringen,
und die menſchliche Geſtalt überhaupt nicht zeigen, wie ſie erſcheint,
ſondern wie ſie in dem Entwurf und der Idee der Natur iſt, welche
keine wirkliche Geſtalt vollkommen ausdrückt. Zu der Wahrheit der
Geſtalt gehört auch die Beobachtung des Verhältniſſes der einzelnen
Theile oder die Proportion, welche der Künſtler wiederum nicht nach
den zufälligen Erſcheinungen der Wahrheit in der Wirklichkeit, ſondern
frei und dem Urbild ſeiner Anſchauung gemäß hervorzubringen hat.
Wir bemerken in der Natur überall Conſequenz in Bildung der Theile,
z. B. mit ſolchem Geſicht auch ſolche Füße und Hände übereinſtim-
mend. Da die menſchliche Geſtalt zuſammengeſetzt iſt, und die ſymbo-
liſche Bedeutung, die das Ganze derſelben hat, auf die einzelnen Theile
vertheilt iſt, ſo beſteht die Hauptſache der Proportion darin, das ge-
hörige Gleichgewicht der Theile ſo zu beobachten, daß jeder im Be-
ſonderen die [Bedeutung] des Ganzen ſoweit ausdrückt, als ihm zu-
kommt. Hierbei kann der berühmte Torſo des Herkules zum Beiſpiel
dienen. „Ich ſehe,“ ſagt Winkelmann 1, „in den mächtigen Umriſſen
dieſes Leibes die unüberwundene Kraft des Beſiegers der gewaltigen
Rieſen, die ſich gegen die Götter empörten, und von ihm in den
phlegräiſchen Feldern erlegt wurden, und zu gleicher Zeit ſtellen mir
die ſanften Züge dieſer Umriſſe, die das Gebäude des Leibes leicht und
gelenkſam machen, die geſchwinden Wendungen deſſelben in dem Kampfe
mit dem Achelous vor, der mit allen vielförmigen Verwandlungen
ſeinen Händen nicht entgehen konnte. In jedem Theile des Kör-
pers offenbaret ſich, wie in einem Gemälde, der ganze Held
[526] in einer beſonderen That, und man ſiehet, ſo wie die richtigen
Abſichten in dem vernünftigen Baue eines Pallaſtes, hier den Gebrauch,
zu welchem, und zu welcher That ein jeder Theil gedient hat.“ Win-
kelmann ſpricht in dieſer Stelle das höchſte Geheimniß der zeichnenden
Künſte aus. Es iſt das: erſtens das Ganze der Darſtellung ſym-
boliſch, alſo nicht als den Gegenſtand eines Moments empiriſch, ſon-
dern in der Ganzheit ſeines Daſeyns zu faſſen, und ſo die einzelnen
Theile des Leibs wieder als Repräſentanten der einzelnen Momente
dieſes Daſeyns zu gebrauchen. Wie das Leben eines Menſchen in der
Idee eines iſt und alle ſeine Thaten und Handlungen zumal ange-
ſchaut werden, ſo ſoll das Gemälde, welches den Gegenſtand, indem
es ihn aus der Zeit heraus nimmt, in ſeiner Abſolutheit darzuſtellen
hat, das Unendliche ſeines Begriffs und ſeiner Bedeutung ganz durch
die Endlichkeit erſchöpfen, und im Theil das Ganze, wie alle Theile
wieder in der Einheit des Ganzen darſtellen.
Die letzte und höchſte Forderung an die Zeichnung iſt endlich, daß
ſie nur das Schöne, das Nothwendige, das Weſentliche auffaſſe, das
Zufällige und Ueberflüſſige aber vermeide. Die größte Kraft alſo wird
ſie in der menſchlichen Figur in die weſentlichen Theile legen; ſie wird
die Knochen ſich mehr zeigen laſſen als die kleinen Falten des Fleiſches,
die Sehnen der Muskeln mehr als das Fleiſch, die wirkenden Mus-
keln mehr als diejenigen, welche in Ruhe ſind. Außer denjenigen
Dingen, welche die Schönheit unmittelbar vernichten, wie das an ſich
Widrige, gibt es Dinge, die, ohne an ſich häßlich zu ſeyn, die Schön-
heit verderben, und das Vorzüglichſte unter dieſen iſt Darſtellung des
Ueberflüſſigen, namentlich in dem, was ganz accidentell, z. B. der Um-
gebung, die mit einer Handlung zugleich vorgeſtellt werden ſoll. Z. B.
in einem hiſtoriſchen Gemälde darf die Architektur u. ſ. w. nicht ſo fleißig
als die Hauptfiguren ausgeführt ſeyn, indem es nothwendig iſt, daß
die Betrachtung von dem Weſentlichen dadurch abgelenkt wird. In
näherer Beziehung mit dem Gegenſtand ſteht die Bekleidung, die durch-
aus nur in der Identität mit dem Weſentlichen iſt, nämlich der Ge-
ſtalt, die ſie bald zu verhüllen, bald durchſcheinen zu laſſen, bald zu
[527] heben, beſtimmt iſt; wenn aber die Kleidung etwa zum Zweck gemacht
wird, ſo kann man in denſelben Fall kommen, wie jener Maler, der
von dem Apelles, den er um ſein Urtheil wegen eines Gemäldes der
Helena, das er verfertigt, gefragt hatte, zur Antwort bekam: Weil
du ſie nicht ſchön zu machen wußteſt, haſt du ſie wenigſtens reich
machen wollen. Noch näher an das Weſentliche ſich anſchließend, aber
inſofern nur noch ſtörender für Darſtellung deſſelben, iſt die Beobach-
tung der Kleinigkeiten der Geſtalt, der Haut, der Haare u. ſ. w. Von
dieſer Art ſind vorzüglich die Arbeiten einiger niederländiſcher Meiſter.
Sie ſind wie für den Geruch gearbeitet, denn man muß, um das-
jenige, wodurch ſie gefallen wollen, zu erkennen, ſie dem Geſichte ſo
nahe bringen als Blumen. Ihre Sorgfalt ging auf ſtrenge Nach-
ahmung des Allerkleinſten, ſie ſcheuten ſich das geringſte Häärchen an-
ders zu legen, als man es fand, um dem ſchärfſten Auge, ja wenn
es möglich geweſen wäre, ſelbſt den Vergrößerungsgläſern das Unmerk-
lichſte in der Natur, alle Poren der Haut, alle Nuancen der Bart-
haare vorzulegen. Eine ſolche Kunſtfertigkeit könnte etwa zu Inſekten-
malerei zuträglich und dem Phyſiker oder Naturbeſchreiber erwünſcht ſeyn.
In dem Verhältniß, wie in der Zeichnung von dem Zufälligen
abgeſehen und nur das Weſentliche dargeſtellt wird, nähert ſie ſich dem
Idealiſchen; denn die Idee iſt die Nothwendigkeit und Abſolutheit eines
Dings. Man kann allgemein ſagen, daß mit der Entfernung deſſen,
was nicht zum Weſen gehört, von ſelbſt die Schönheit hervortrete, da
die Schönheit das ſchlechthin Erſte, die Subſtanz und das Weſen der
Dinge iſt, deſſen Erſcheinung nur durch die empiriſchen Bedingungen
geſtört iſt. Die bildende Kunſt hat aber überall den Gegenſtand nicht
in ſeiner empiriſchen, ſondern in ſeiner abſoluten Wahrheit, befreit von
den Bedingungen der Zeit, in ſeinem An-ſich darzuſtellen.
Gewöhnlich wird zu der Zeichnung auch noch der Ausdruck und
die Compoſition gerechnet. Ausdruck iſt überhaupt Darſtellung des
Inneren durch das Aeußere. Allein man ſieht deutlich, daß dieſe zwei
Seiten hat, die der Invention und die der Ausführung; bloß die letzte
gehört der Zeichnung an. Wenn die Frage iſt, welche Art des
[528] Ausdrucks in den Gegenſtand gelegt werden ſoll, ſo kann dieß nur in der
höheren Unterſuchung über das Poetiſche der Malerei beantwortet wer-
den — eine Unterſuchung, die hier noch nicht angeſtellt werden kann,
da bloß von den techniſchen Bedingungen der Kunſt (ſoweit dieſe von
abſoluter Bedeutung) die Rede iſt.
Was die Compoſition betrifft, ſo verſteht man darunter ent-
weder die poetiſche Zuſammenſetzung des Gemäldes, von der hier auch
nicht die Rede ſeyn kann, oder die techniſche. In dieſem Fall wird
das Hauptbeſtreben der Zeichnung ſeyn müſſen, dem Raum in dem
Gemälde an und für ſich eine Bedeutung zu geben, und
ihn zur Wohlgefälligkeit, Anmuth und Schönheit des Ganzen zu ge-
brauchen. In dieſer Beziehung würden die zwei Hauptbeſtandtheile
der Kunſt eines Gemäldes die Symmetrie und die Gruppirung ſeyn.
Symmetrie bezieht ſich vorzüglich auf die zwei Hälften eines Ge-
mäldes. Die Identität iſt das Herrſchende der Malerei. Es hebt die
Identität auf, wenn z. B. die eine Seite des Gemäldes mit Figuren
angefüllt, die andere dagegen verhältnißmäßig leer gelaſſen iſt; es iſt
ein geſtörtes Gleichgewicht der Symmetrie. Dieſe Art von Gleichge-
wicht ohne wirklichen Gegenſatz iſt eine bleibende Norm aller Hervor-
bringungen der Natur. Aller Gegenſatz iſt im Individuum vertilgt;
es findet keine wahre Polarität mehr ſtatt, aber Gleichgewicht, z. B.
in der Doppelheit der vorzüglichſten Gliedmaßen. Wo aber zwei Seiten
ſind, iſt auch eine Mitte, und die Mitte des Gemäldes iſt der Punkt
derſelben, in welchen nothwendig das Weſentliche deſſelben fällt. Es
iſt aber ſchon bemerkt worden, daß die bildende Kunſt, vorzüglich in-
wiefern ſie das Lebendige darſtellt, ebenſo wie die Natur, in den orga-
niſchen Hervorbringungen das geometriſch Regelmäßige meidet. Dieß
tritt erſt ein, wo ſie über die Grenzen des Organiſchen hinaus iſt.
Aus dieſem Grunde iſt die Regel keineswegs, daß die Hauptfigur in
die wahre Mitte des Gemäldes — den Durchſchnittspunkt der beiden
Diagonalen — falle, ſondern vielmehr, daß ſie etwas weniges nach
der einen oder andern Seite falle. Die Symmetrie iſt eben deßwegen
auch nicht in der vollkommenen geometriſchen Gleichheit der beiden
[529] Hälften, ſondern mehr in einem relativen und inneren Gleichgewicht
beider zu ſuchen.
Die Gruppirung iſt ſchon eine höhere Syntheſe. Die Vereini-
gung der Theile zu einem organiſchen Leib iſt nur uneigentlich Grup-
pirung, eigentlich aber iſt Gruppirung nur Zuſammenſeyn von Theilen,
deren jeder für ſich unabhängig, ein ſelbſtändiges Ganzes und doch
zugleich Glied des höheren Ganzen. Dieß iſt das höchſte Verhältniß
der Dinge, von ſeiner Beobachtung im Gemälde alſo ein großer Theil
ſeiner Vortrefflichkeit abhängig. Das Anordnen der Figuren in ein-
zelne Gruppen bringt die Klarheit, Einfalt in der Auffaſſung hervor.
Es ſetzt das Auge vorläufig in Ruhe, indem es nicht gezwungen iſt
die Figuren erſt zuſammenzuſetzen, und in der Syntheſis derſelben
nicht erſt eine Wahl zu üben hat. Da die beſte Form der Gruppi-
rung die Triplicität iſt, ſo wird die größte Mannichfaltigkeit der Fi-
guren durch ſie auf drei Einheiten zurückgebracht, ſo daß in der erſten
Betrachtung die Gruppe als einzelne Figur angeſehen werden kann,
und ſo das Ganze auch in der Betrachtung den Theilen vorhergeht,
wie es ihnen in der Hervorbringung vorangehen muß. Noch wichtiger
iſt die Gruppirung in der Rückſicht, daß ſie in Anſehung des Einzelnen
ſeine Selbſtändigkeit und ſeine Abhängigkeit vom Ganzen und den
Rang, den es darin hat, zugleich ausdrückt. Der Künſtler ſpricht da-
durch ſeine Abſicht vollſtändig aus, indem er nicht zweifelhaft läßt,
welche Wichtigkeit er dem einzelnen Theil gegeben habe.
Endlich iſt die letzte, aber auch am ſchwerſten zu erreichende Ab-
ſicht der Gruppirung die Syntheſe des Gegenſtandes mit dem Raum.
Da die Mannichfaltigkeit in der Gruppirung vorzüglich nur durch die
verſchiedene Größe der Gegenſtände, die ſie entweder durch ihre natür-
liche Geſtalt oder ihre Stellung haben, möglich iſt, ſo iſt die pyrami-
daliſche Form diejenige, welche alle Vortheile am vorzüglichſten ver-
einigt. Obgleich ſie in der Antike mehr oder weniger angedeutet iſt,
ſo iſt doch ihr vorzüglichſter Erfinder Correggio, der ſie auch in der
Art gebraucht, daß einzelne Gruppen, jede für ſich betrachtet, und das
Ganze wieder dieſer Form gleicht.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 34
[530]
Die Bedeutung der Zahlen iſt auch in der Zuſammenſetzung der
Gruppen unverkennbar. Obgleich man die Freiheit hat, ſie aus gera-
den und ungeraden Zahlen zuſammenzuſetzen, ſo ſind doch die doppelt
geraden, z. B. 4, 8, 12 ꝛc., davon ausgeſchloſſen, und nur die aus un-
geraden zuſammengeſetzten, z. B. 6, 10, 14 ꝛc., erträglich, obgleich die
ungeraden immer die vorzüglicheren ſind.
Sonſt wird noch als Regel der Gruppirung aufgeſtellt, daß die
Gruppe die verhältnißmäßige Tiefe habe, daß alſo die Figuren nicht
nach einer Reihe geſtellt ſeyen, oder wenigſtens nicht die äußerſten
Theile, wie die Köpfe, einander in geraden, horizontalen, ſenkrechten
oder ſchiefen Linien begegnen. Allein dieſe Regel hat ihre vornehmſte
Beziehung auf die Spiele und Zufälligkeiten des Helldunkels, um nämlich
dieſe deſto leichter hervorbringen zu können. In der Zeichnung an und
für ſich, welche die reale Form der Kunſt iſt und nicht auf Illuſion
geht, iſt dieſe Regel ſehr untergeordnet (Beiſpiele der Alten, Raphaels).
Zur Anſchauung jeder dieſer beſondern Formen will ich nun das-
jenige Individuum herausnehmen, welches am ausgezeichnetſten darin.
Wenn man von Zeichnung rein als ſolcher ſprechen will, ſo muß
man Michel Angelo nennen. Er bewies ſeine tiefe Kenntniß ſchon
in einem der frühſten Werke, einem Carton, den man nur noch durch
Benvenuto kennt (Beſchreibung eines Ueberfalls nackter Krieger im
Arno). Michel Angelos Styl iſt groß, ja ſchrecklich durch ſeine Wahr-
heit. Der Tiefſinn eines reichen und durchaus unabhängigen Geiſtes,
die ſtolze Zuverſicht auf ſich ſelbſt, der verſchloſſene Ernſt der Ge-
müthsart, Hang zur Einſamkeit ſind in ſeinen Werken abgedrückt;
ebenſo bezeugen ſie ſein tiefes Studium der Anatomie, dem er zwölf
Jahre lang oblag, und das er immer wieder bis ins hohe Alter vor-
nahm, wodurch er in den verborgenſten Mechanismus des menſchlichen
Körpers eindrang. Seine Geſtalten ſind nicht zarte, weichliche, ſon-
dern kräftige, ſtarke und trotzige Geſtalten (wie bei Dante). Beiſpiel:
ſein jüngſtes Gericht.
So viel alſo von der Zeichnung als der realen Form innerhalb
der Malerei als der idealen Kunſt.
[531]
Die ganz ideale Form der Malerei iſt das Helldunkel. Da-
mit ergreift die Kunſt den ganzen Schein des Körperlichen, und ſtellt
ihn, abgehoben von dem Stoffe, als Schein und für ſich dar.
Das Helldunkel macht den Körper als Körper erſcheinen, weil
Licht und Schatten uns von der Dichtigkeit belehrt. Das natürlichſte
Beiſpiel iſt die Kugel; um aber Kunſtwirkungen hervorzubringen, muß
ſie in Flächen verwandelt werden, damit die Theile der Schatten-
und Lichtſeite ſich mehr in ſich ſelbſt abſondern. Am vollkommenſten
wird es durch den Cubus vorgeſtellt, von deſſen drei geſehenen Seiten
die eine das Licht, die andere die Mitteltinte und die dritte den
Schatten abgeſondert und nebeneinander, alſo flächenhaft, vorſtellt.
Schon aus dieſem einfachſten Beiſpiel erhellt, daß das Helldunkel nicht
allein in ſchwarz und weiß beſteht, ſondern daß die Wirkung deſſelben
auch durch hellere und dunklere Farben erreichbar iſt. Allein auch dieß
iſt noch nicht zureichend einen vollſtändigen Begriff davon zu geben,
da es eben der Gebrauch dieſer Farben iſt, der das Helldunkel macht.
Ich will nur einiges vom natürlichen Helldunkel auführen,
d. h. von dem, was ſchon die bloße Anſchauung der natürlichen Körper
vom Helldunkel lehrt.
Vom Unterſchied der Fläche und Tiefe urtheilt unſer Auge
ſchon einfach dadurch, daß von einer Oberfläche die erhabenen Theile
das Licht auf ganz andere Art, nämlich unter einem anderen Winkel,
zurückzuwerfen ſcheinen als die flachen und tiefen Theile. Wenn alſo
das Auge ſchnell von einem großen auf einen kleinen Winkel oder um-
gekehrt fortgeleitet wird, ſo wird der Gegenſtand als unterbrochen oder
abgeſchnitten, und jene unmerkbare Gradation von Licht und Schatten,
welche das Helldunkel macht, würde zerſtört erſcheinen. Es iſt die
Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß es in der Natur faſt keinen
vollkommenen Winkel gibt, und die meiſten Winkel kleine krumme Linien
ſind, die ſich in zwei ſich ausbreitende Linien verlieren. Es iſt die
Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß der Contur der Körper
ſelten mit einer wirklich lichten, ſondern mit einer Mittelfarbe erſcheint,
denn wäre der Contur in hohem Grade erleuchtet, ſo würde damit die
[532] Hellung des Gegenſtandes ſelbſt vernichtet. Ein allgemeines Geſetz
auch des natürlichen Helldunkels iſt, daß helle und dunkle Farben nicht
unberührt und ohne Wirkung aufeinander nebeneinander ſtehen, daß
eins das andere wirklich erhöht und mäßiget — vergrößert ſogar
(expandirt und contrahirt). Die am meiſten magiſche Wirkung des
Helldunkels entſteht durch die Reflexe, indem der Schatten, welcher im
Reflex eines hellen Körpers liegt, weder ganz Schatten noch wahrhaft
erleuchtet iſt, und hinwiederum ein durch ſeine Localfarbe heller Körper
durch den Schatten, den ein anderer auf ihn wirft, wiederum ganz
verſchieden afficirt wird; z. B. er ſey weiß oder gelb, nun fällt ein
Schatten auf ihn, aber jetzt iſt er weder das eine noch das andere.
Einer der vornehmſten Theile des Helldunkels iſt die Luftper-
ſpektive. Sie unterſcheidet ſich von der Linienperſpektive dadurch, daß
dieſe bloß lehrt, wie ein Bild ſich aus einem angenommenen Stand-
punkt darſtellt, jene aber den Grad der Lichter in Proportion der Ent-
fernung. Je entfernter ein Körper iſt, deſto mehr verliert ſeine Farbe
an Lebhaftigkeit; die kleineren Abſtufungen der Tinten und Schatten
in ihm ſelbſt verlieren ſich, ſo daß er nicht nur einfärbig, ſondern,
weil alle ſichtbare Erhabenheit auf dem Helldunkel beruht, flach wird
(alles Relief verliert ſich); in der letzten Entfernung aber verliert ſich
ſeine natürliche Farbe ganz, und alle noch ſo verſchiedenfarbigen Gegen-
ſtände nehmen die allgemeine Luftfarbe an. Die Verminderung des
Helldunkels mit der Entfernung geſchieht nach beſtimmten Geſetzen.
Wenn z. B. unter mehreren perſpektiviſch geſtellten Figuren von der
erſten zur zweiten ein Grad des Unterſchieds iſt, ſo wird dieſer ſchon
von der zweiten zur dritten geringer ſeyn, wie die Verminderung der
Größe auch in der Linienperſpektive in immer geringerem Verhältniß
geſchieht mit der größeren Entfernung. Ein Gegenſtand, der mir nahe
iſt, iſt in der Stärke des Helldunkels allerdings ſehr verſchieden von
einem, der etwa eine oder mehrere Stunden weit entfernt iſt. Wenn
ich aber einen dritten Gegenſtand, der noch eine oder mehrere Stunden
entfernter iſt als der zweite, mit dieſem vergleiche, ſo wird der Un-
terſchied in Anſehung dieſer beiden faſt unmerklich ſeyn, ſo daß alſo
[533] die Abnahme des Helldunkels mit der Entfernung nicht gleichen
Schritt hält.
Ich glaube, daß dieß hinreichend iſt, ſich einen Begriff des Hell-
dunkels, deſſen ſucceſſive Verminderung durch die Entfernung die Luft-
perſpektive lehrt, zu machen. Alle dieſe Gegenſtände aber müſſen das
tiefſte Studium des Künſtlers ſeyn. Die Anſchauung muß in dieſen
Dingen die Hauptſache thun, und ohne ſelbige reicht auch die deut-
lichſte Beſchreibung nicht hin, einen angemeſſenen Begriff dieſer Sache
zu geben. — Ich habe nun erſt von der Bedeutung des Helldunkels
in der Kunſt zu reden.
Das Helldunkel iſt der eigentlich magiſche Theil der Malerei, indem
es den Schein aufs höchſte treibt. Durch das Helldunkel laſſen ſich nicht
nur erhabene, frei voneinander abſtehende Figuren, zwiſchen denen das
Auge ſich ohne Widerſtand hin- und herbewegt, ſondern auch alle mög-
lichen Effekte des Lichts hervorbringen. Durch die Künſte des Hell-
dunkels iſt es ſogar möglich geworden, die Bilder ganz ſelbſtändig zu
machen, nämlich die Quelle des Lichts in ſie ſelbſt zu verſetzen, wie in
jenem berühmten Gemälde des Correggio, wo ein unſterbliches Licht, von
dem Kinde ausgehend, die dunkle Nacht myſtiſch und geheimnißvoll
erleuchtet. Bis zu dieſer Höhe der Kunſt reicht keine Regel, ſondern
nur eine für die zarteſte Empfindung des Lichts und der Farben ge-
ſchaffene Seele, eine Seele, die gleichſam ſelbſt Licht iſt, in deren
inneren Anſchauungen alles Widerſtrebende, Widrige, Harte der Formen
ſich verſchmilzt. Die Dinge, als beſondere, können im Gegenſatz der
abſoluten Idealität nur als Negationen erſcheinen. Der Zauber der
Malerei beſteht aber darin, die Negation als Realität, Dunkel als
hell, und dagegen die Realität in der Negation, das Helle als dunkel
erſcheinen und durch die Unendlichkeit der Abſtufungen das eine ſo in
das andere übergehen zu laſſen, daß ſie in der Wirkung unterſcheidbar
bleiben, ohne in ſich ſelbſt unterſchieden zu ſeyn.
Der Stoff des Malers, gleichſam der Leib, an dem er die flüch-
tigſte Seele des Lichtes faſſet, iſt das Dunkel, und ſelbſt das Mecha-
niſche der Kunſt treibt ihn dazu, da die Schwärzen, deren er ſich
[534] bedienen kann, den Wirkungen der Finſterniß weit näher kommen als
das Weiß denen des Lichts. Schon Leonardo da Vinci, der Vorläufer
des himmliſchen Genies Correggio ſagt: Maler, wenn du den Glanz
des Ruhmes begehrſt, fürchte die Dunkelheit der Schatten nicht.
Jene Identität, zu welcher Licht und Dunkel verſchmolzen werden
ſollen, daß ſie Ein Leib und Eine Seele ſind, fordert von ſelbſt ſchon,
daß ſie zu großen Maſſen vereinigt, wie aus Einem Guß ſeyen.
Dieſe identiſche und nur in ſich ſelbſt ſich abſtufende Maſſe verleiht
dem Ganzen den Ausdruck tiefer Ruhe, und ſetzt das Auge, wie den
inneren Sinn, welchen weder das Licht allein noch das Dunkel allein
befriedigt, in jenen Zuſtand der aus der Differenz hergeſtellten In-
differenz, welcher die eigentlichſte und wahrſte Wirkung aller Kunſt
ſeyn muß.
Soll für die Anſchauung der höchſte Gipfel in Erreichung der
Kunſt des Helldunkels bezeichnet werden, ſo iſt dieß nur durch Cor-
reggio möglich. Ich habe ſchon des faden Vorurtheiles erwähnt,
welches dieſen Künſtler in der Zeichnung herunterſetzt. Wenn man
dieß von den Gegenſtänden ſeiner Zeichnung verſteht, ſo iſt es richtig,
daß er nicht die einfachen Formen der Alten gewählt hat: in ihm iſt
das eigentlich romantiſche Princip der Malerei ausgeſprochen, in ihm
herrſcht für ſeine Kunſt durchaus das Ideale, da in der Kunſt der
Alten, in der Plaſtik, und ſicher ebenſo in der Malerei, das Reale
herrſchend war. Iſt die Rede davon, daß er nicht wie Michel Angelo
in die Tiefen der Zeichnung gedrungen, das Innere des Organismus
wie dieſer entwickelt dargeſtellt, und im Nackten ebenſo kühn geweſen
als Michel Angelo, ſo iſt auch dieß gegründet. Aber in keinem ſeiner
Originalwerke iſt etwas, das der wahren Zeichnung widerſpräche. Dieß
iſt ſelbſt das Urtheil von Mengs, obgleich er Correggio übrigens als
Gegenſatz betrachtete, und ſelbſt den Eklektiker in der Kunſt machte.
An und für ſich ſchon iſt das Helldunkel von der Zeichnung un-
zertrennlich, denn Zeichnung ohne Licht und Schatten kann niemals die
wahre Geſtalt eines Dings ausdrücken. Dabei mag es nun immer
unentſchieden bleiben, ob das tiefe Studium des Helldunkels den
[535] Correggio auch die Vollkommenheit der Formen gelehrt habe, die in ſeinen
Werken bewundert wird, ob dieſes ihn gelehrt habe, daß das Ge-
bäude der menſchlichen Geſtalt weder in rein geraden Linien noch in
Abwechslungen von krummen und geraden Linien, ſondern in ab-
wechſelnden Krümmungen beſtehe, oder ob er umgekehrt durch Zeich-
nung, tiefe Kenntniß und genaue Nachahmung der Wahrheit in die
Geheimniſſe des Helldunkels eingedrungen ſey. Genug, er vereinigte
dieſe beiden Formen der Kunſt ebenſo in ſeinen Werken, wie ſie in der
Natur ſelbſt verbunden ſind.
Aber Correggio hat das Höchſte im Helldunkel nicht nur von
Seiten der Formen und der Körperlichkeiten überhaupt, ſondern auch
in dem allgemeineren Theile erreicht, der in der Vertheilung der Lichter
und Schatten beſteht. Kraft der ihm einzig eignen Verſchmelzung und
Abſtufung iſt, wie das Licht jeder einzelnen Figur, ſo das Licht des
ganzen Bildes bei ihm Ein Licht. Ebenſo die Schatten. Wie uns die
Natur niemals verſchiedene Gegenſtände mit einem und demſelben Nach-
druck von Seiten des Lichts zeigt, und die verſchiedenen Lagen und
Wendungen der Körper verſchiedenes Licht hervorbringen, ſo hat Cor-
reggio im Inneren ſeiner Bilder und in der größten Identität des
Ganzen doch die größtmögliche Mannichfaltigkeit der Beleuchtung an-
gebracht und niemals dieſelbe Stärke, es ſey im Licht oder Schatten,
wiederholt. In dem ſchon oben bemerkten Fall, wo ein Körper durch
ſeinen Schatten das Licht eines andern verändert, iſt es nicht gleich-
gültig, welche beſondere Farbe der ſchattende Körper hat: auch dieß
findet ſich mit der größten Ueberlegung in den Werken des Correggio
beobachtet. Außer dieſen Theilen des Helldunkels übte er vorzüglich
die Kenntniß ſeiner Verminderung ſo wie der der Farben durch die
Entfernung, d. h. die Luftperſpektive, und er kann auch hiervon als
der erſte Schöpfer in der Kunſt ſelbſt betrachtet werden, obgleich der
tiefſinnige Leonardo da Vinci die erſten Gründe der Theorie vor ihm
enthüllt hatte, und die vollkommene Ausbildung der Luftperſpektive erſt
dadurch möglich war, daß ſie unabhängig von den übrigen Theilen,
vorzüglich der Zeichnung, in der Landſchaftsmalerei behandelt wurde,
[536] in welcher Beziehung man ſagen kann, daß Tizian den erſten Grund
derſelben gelegt habe. — Wir haben noch von der Nothwendigkeit des
Helldunkels als der Einen Form der Malerei und den Grenzen dieſer
Nothwendigkeit zu reden.
Daß das Helldunkel die einzig mögliche Art ſey, ſelbſt ohne Far-
bengebung, in der Zeichnung, den Schein des Körperlichen zu erreichen,
lehrt jeden die unmittelbare Anſchauung. Dieß verhindert aber nicht,
daß dieſe Form mehr oder weniger unabhängig behandelt, und die
Wahrheit mehr dem Schein oder der Schein der Wahrheit unterge-
ordnet werden könne. Die Meinung iſt dieſe: die Malerei iſt die
Kunſt, in der Schein und Wahrheit eins, der Schein Wahrheit und
die Wahrheit Schein ſeyn muß. Aber man kann den Schein entweder
nur wollen, ſoweit er vermöge der Natur dieſer Kunſt zur Wahrheit
erforderlich iſt, oder man kann ihn um ſeiner ſelbſt willen lieben. Nie-
mals zwar wird es in der Malerei einen Schein geben können, der
nicht zugleich Wahrheit wäre; was nicht Wahrheit iſt, iſt hier auch
nicht Schein; aber es kann entweder die Wahrheit als Bedingung des
Scheins oder der Schein als Bedingung der Wahrheit dargeſtellt und
eins dem andern untergeordnet werden. Dieß wird zwei ganz ver-
ſchiedene Arten des Styls geben. Correggio, den wir eben als Meiſter
des Helldunkels aufgeſtellt haben, hat den der erſten Art. In ſeiner
Kunſt iſt durchgängig die tiefſte Wahrheit, aber der Schein iſt als das
Erſte behandelt, oder der Schein gilt weiter, als zur Wahrheit an und
für ſich erforderlich iſt.
Wir können uns auch hier wieder nicht beſſer als durch das
Verhältniß des Antiken und Modernen erläutern. Jenes geht auf
das Nothwendige, und nimmt das Ideale nur ſoweit auf, als es zu
dieſem erforderlich iſt, dieſes macht das Ideale ſelbſt zu einem Selb-
ſtändigen und Nothwendigen; es geht damit nicht über die Grenze der
Kunſt, aber es geht in eine andere Sphäre derſelben. Es exiſtirt keine
abſolute Forderung in der Kunſt, daß Täuſchung ſey, welche ein-
tritt, ſowie der Schein weiter aufgenommen wird als zu der Wahrheit
an und für ſich ſelbſt, wenn er alſo bis zur empiriſchen,
[537] ſinnlichen Wahrheit aufgenommen wird. Es gibt keinen kategoriſchen Im-
perativ der Illuſion. Aber es exiſtirt auch keiner dagegen. Schon dieß,
daß die Kunſt in der Hervorbringung der Täuſchung oder des Scheins
bis zur empiriſchen Wahrheit frei iſt, beweist, daß ſie hierin über die
Grenze der ſtrengen Geſetzmäßigkeit ſchreitet — in das Reich der Frei-
heit, der Individualität, wo das Individuum ſich ſelbſt Geſetz wird.
Dieß iſt allgemein die Sphäre des Modernen, und deßwegen Correggio
als der erſte in dieſer zu ſetzen. Der Styl in dieſer Sphäre iſt der
Styl der Grazie, der Anmuth, für welche keine kategoriſche Forderung
exiſtirt, obgleich ſie nie überflüſſig iſt. Ebenſo iſt er beſchränkt auf
gewiſſe Sujets, daher nur an Correggio ſchön. Der Styl der andern
Art iſt der hohe, ſtrenge Styl, weil es für dieſen eine abſolute For-
derung gibt, und der Schein ihm nur Bedingung der Wahrheit iſt.
Hieraus erhellt, daß eine ſehr hohe, ja in ihrer Sphäre abſolute
Art der Kunſt in der Malerei ohne den Gebrauch des Helldunkels iſt
(außer inwiefern es zur Wahrheit, nicht aber zur Täuſchung erforderlich).
Von dieſer Art war ohne Zweifel der erſte Styl der alten Malerei im
Vergleich mit dem des Parrhaſius und Apelles, welcher vorzugsweiſe der
Maler der Grazie hieß. Von dieſer Art iſt in der neueren Zeit der
Styl nicht nur des Michel Angelo, ſondern auch des Raphael, deſſen
ſtreng angegebene Formen vielen gegen die Weichheit der Umriſſe und
die rundlich ſanften Formen des Correggio hart und ſteif geſchienen
haben, wie etwa, nach Winkelmanns Vergleichung, der Pindariſche
Rhythmus oder die Strenge des Lucretius gegen die Horaziſche Lieb-
lichkeit und die Weichheit des Tibullus rauh oder vernachläſſigt klingen
mag. Dieſes ſage ich nicht zum Nachtheil des Correggio; er iſt der
erſte und einzige in ſeiner Sphäre (ja dieſer göttliche Menſch iſt
eigentlich der Maler aller Maler), wie Michel Angelo in der ſeinigen,
der Zeichnung, obgleich das höchſte und wahrhaft abſolute Weſen der
Kunſt nur in dem Raphael erſchienen. — Es iſt nothwendig und ge-
gründet in viel allgemeineren Anſichten, daß jede der beſonderen For-
men wieder in ſich abſolut, ſich für ſich zu einer Welt ausbilden könne,
wie dieß auch hiſtoriſch nach dem, was wir noch ferner finden werden,
[538] der Fall. Nur kann keine in der Beſonderheit ſich zur Abſolutheit
ausbilden, ohne die andern zu begreifen, obgleich in einer Unterordnung
im Ganzen. Es iſt, wie wir in der Muſik geſehen haben, daß dieſe
ganze Kunſt ſich in die Harmonie wirft, die an ſich nur Eine Form
der Muſik iſt, obgleich ſie in der Ausartung von dem Rhythmus ſich
ſogar unabhängig gemacht hat. Aber in der Malerei tritt noch der
beſondere Fall ein, daß in ihr, als an ſich idealer Kunſt, nothwendi-
gerweiſe das Ideale zur Herrſchaft ſtreben muß. Sieht man daher
auf die Malerei in der Malerei, ſo iſt dieſe das Helldunkel, und in-
ſofern, wenn auf dieſelbe als beſondere Kunſt geſehen wird, iſt, wie
geſagt, Correggio der eigentliche Maler κατ̕ ἐξοχήν.
Wir haben uns ſchon oben dahin erklärt, daß die empiriſche
Wahrheit die letzte Forderung in der Kunſt ſey, da dieſe ihrem erſten
Beruf nach eine über die Sinne erhabene Wahrheit darzuſtellen hat.
Wenn alſo das Helldunkel an ſich eine nothwendige Form iſt, ohne
welche Malerei als Kunſt überhaupt nicht gedacht werden kann, ſo kann
dagegen die Luftperſpektive, inwiefern ſie auf eine empiriſche Wahrheit
geht, nicht zu dem Weſentlichen der Kunſt gerechnet werden; und an-
ders als in der vollkommenſten Unterordnung, wie von Correggio,
gebraucht iſt ſie Mißbrauch. Die Abdämmerung der Farben in der
Ferne beruht auf dem empiriſchen und demnach zufälligen Umſtand, daß
ein durchſichtiges, trübendes Medium zwiſchen uns und den Gegen-
ſtänden liegt (die Linienperſpektive, welche nicht auf die Farben ſich be-
zieht, iſt in allgemeinen Geſetzen des Raumes gegründet, und bezieht
ſich auf Größe, Figur, demnach allgemeine Beſtimmungen der Körper);
es iſt allerdings richtig, daß ein Bild, in welchem die Luftperſpektive
beobachtet iſt, uns weniger als ein anderes, worin nicht, daran erinnern
wird, daß es ein Werk der Kunſt iſt, was wir anſchauen; aber
wenn man dieſes Princip allgemein machen wollte, ſo würde überhaupt
keine Kunſt ſeyn, und da es nicht allgemein ſeyn kann, ſo kann
Illuſion, d. h. Identification der Wahrheit mit dem Schein bis zur
ſinnlichen Wahrheit, überhaupt nicht Zweck der Kunſt ſeyn. Auch haben
die Alten nach allem, was wir von ihnen wiſſen, die Luftperſpektive
[539] nicht beobachtet. Ebenſowenig die Maler aus dem vierzehnten und
fünfzehnten Jahrhundert, z. B. Pietro Perugino, Raphaels Lehrer,
(Gemälde in Dresden). Auch in Raphaels Gemälden iſt die Luftper-
ſpektive nur mäßig beobachtet.
Das Helldunkel bezieht ſich auf die Flächenwirkungen des allge-
meinen Lichts, die den Schein des Körperlichen hervorbringen. Das
Licht iſt in dem Helldunkel noch immer das bloß Beleuchtende des
Körpers, und macht bloß die Wirkung des Körpers, ohne er ſelbſt
wahrhaft zu ſeyn. Die dritte Form iſt alſo, wie immer, ſo auch
hier diejenige, welche die dritte Dimenſion beſtimmt, oder das Licht
verkörpert, Licht und Körper alſo als wahrhaft eins darſtellt. Dieſe
Form iſt das Colorit. Das Colorit bezieht ſich nicht auf das all-
gemeine, hellere oder dunklere, Licht des Ganzen; ſeine Grundlage
ſind die Localfarben der Gegenſtände, obgleich, wie ſchon bei dem
Helldunkel bemerkt wurde, dieſe auch wieder auf das allgemeine Licht
zurückwirken und auf die Erſcheinungen des Helldunkels einen beſtim-
menden Einfluß haben.
Wir werden die Stufen, in welchen das Licht ſich dem Körper
vermählt, in der Folge noch genauer beſtimmen müſſen. Hier will ich
eben deßhalb bloß das Allgemeine davon angeben.
An den unorganiſchen Körpern, den Mineralien, finden ſich
großentheils noch die urſprünglichſten, einfachſten und reinſten Farben.
Das allgemeinſte Färbungsmittel der Natur ſcheinen die Metalle zu ſeyn;
da aber, wo der Charakter der Metallität am vollkommenſten verſchwin-
det, geht ſie zur völligen Durchſichtigkeit über. Eigenthümliches Colorit
und lebendige Farbengebung erſcheint erſt an den Blüthen und manchen
Früchten der Pflanzen, dann an den Federn der Vögel, welche
ſelbſt ein pflanzenartiges Gewächs ſind, in den farbigen Bedeckungen
der Thiere u. ſ. w. So einfach die Kunſt des Colorits bei einfär-
bigen Körpern ſcheint, ſo ſchwierig iſt doch die Hervorbringung deſſelben
mit allen möglichen Beſtimmungen der Individualität, indem außer der
Farbe auch noch die Affektionen z. B. der Mattheit und des Glanzes
ausgedrückt ſeyn wollen.
[540]
Die höchſte Vermählung des Lichtes mit dem Stoffe, ſo daß das
Weſen ganz Stoff und ganz Licht wird, geſchieht in der Produktion
des Fleiſches. Das Fleiſch iſt das wahre Chaos aller Farben und
eben deßhalb keiner beſonderen ähnlich, ſondern die unauflöslichſte und
ſchönſte Miſchung aller. Aber auch dieſe ganz einzige Art der Farbe
iſt noch überdies nicht unbeweglich, wie die andern Arten der Farbe,
ſondern lebendig und beweglich. Die inneren Regungen des Zorns, der
Scham, der Sehnſucht u. ſ. w. bewegen gleichſam jenes Farbenmeer,
und laſſen es in bald ſanfteren, bald ſtärkeren Wellen ſchlagen 1.
Dieſes alſo iſt die höchſte Aufgabe des Colorits.
(Ich erinnere hier Folgendes. Jede Kunſtform entſpricht ſelbſt einer
Dimenſion, und in jeder Kunſtform iſt dasjenige das Weſen, die Sub-
ſtanz, was ihrer Dimenſion am meiſten entſpricht. So fanden wir,
daß in der Muſik Rhythmus die eigentliche Subſtanz dieſer Kunſt iſt,
weil ſie ſelbſt der erſten Dimenſion untergeordnet iſt. So wird es in
der Malerei das Helldunkel ſeyn, und Colorit iſt zwar die dritte
Dimenſion, inwiefern darin Licht und Körper nicht bloß ſcheinbar,
ſondern wahrhaft eins ſind, Helldunkel aber iſt gleichwohl die Subſtanz
der Malerei als ſolcher, weil dieſe ſelbſt nur auf der zweiten Dimenſion
beruht).
Wer die Gemälde des Tizian geſehen hat, deſſen, der in dieſer
Beziehung als der Erſte zu nennen iſt, hat von ſelbſt die Einſicht und
das Gefühl, daß eine vollkommenere Identification des Lichts und des
Stoffes nicht denkbar ſey, als er erreicht hat.
Eine größere Ausbreitung hat die Kunſt des Colorits in größeren
Compoſitionen, wo ſeine höchſte Vollendung im Ganzen das iſt,
was man Harmonie der Farben nennen kann. Die Forderung iſt hier:
nicht nur daß dem Einzelnen in Anſehung der Farbe ſein Recht wider-
fahre, ſondern daß auch das Ganze wieder einen harmoniſchen Eindruck
mache und die Seele in der höchſten Luſt, zwiſchen geſtörtem und
wiederhergeſtelltem Gleichgewicht, in Bewegung zugleich und Ruhe,
gleichſam ſchwebend erhalte.
[541]
Schon hieraus iſt einzuſehen, daß weder die bloße Art der Beleuch-
tung, noch die gleichförmige Dämpfung der Farben durch die Luft im Ge-
mälde die Harmonie hervorbringe. Die Harmonie und harmoniſche Wir-
kung beruht keineswegs auf dem Grad, wie manche ſich einbilden,
ſondern auf der Art und Qualität der Farben. Durch dieſe ſind
ſie fähig, eine weit höhere Art der Uebereinſtimmung hervorzubringen,
als durch das Gleichgewicht, welches bloß auf Graden beruhte. Nur
in der Qualität ſind die höchſten Gegenſätze, aber eben deßwegen auch
die höchſte Art der Identität möglich. Die Gründe der Harmonie
müſſen alſo in dem urſprünglichen Syſtem der Farben ſelbſt und den
Forderungen des Auges geſucht werden, von denen ſchon früher die
Rede war.
Das Licht iſt der poſitive Pol der Schönheit und ein Ausfluß der
ewigen Schönheit in der Natur. Aber es wird offenbar und erſcheint
nur im Kampf gegen die Nacht, welche, als der ewige Grund alles
Daſeyns, ſelbſt nicht iſt, obgleich ſie durch ihre beſtändige Gegenwirkung
ſich als Macht beweist. Die Dinge, ſofern ſie der Nacht oder Schwere
eignen, haben ein dreifaches Verhältniß zum Licht. Das erſte, daß
ſie ſich rein als Negationen von dem Licht abſchneiden und als ſolche
ſich in ihm darſtellen. Dieſes iſt der allgemeine Umriß. Das andere,
daß aus der Wirkung und Gegenwirkung von Licht und Schatten ſelbſt
der höhere Schein der Körperlichkeit producirt werde. Das Auge
ſieht eigentlich nicht die Körper, ſondern nur ihren ideellen Entwurf
im Licht, und ſo beruht ſchon die natürliche Erſcheinung des Körpers
durch das Licht auf dem Helldunkel. Das dritte Verhältniß iſt das
der abſoluten Indifferenziirung der Materie und des Lichts, wo aber
deßwegen in dem Stoff ſich die höchſte Schönheit entzündet, und
das Unſterbliche ſich ganz in das Sterbliche faßt. Dieſen drei Verhält-
niſſen entſprechen die drei nothwendigen Formen der Kunſt, welche die
Dinge nur im Licht und durch das Licht darſtellt, die Zeichnung, welche
nur die Negation, den Umriß bezeichnet, wodurch das Ding ſich als
Beſonderes abhebt, das Helldunkel, welches den Körper als ſolchen
dennoch im Lichte und demnach in der Identität zeigt, und endlich das
[542] Colorit, welches in ſeiner höchſten Vollendung die Materie nicht nur
oberflächlich, ſondern ganz bis ins Innerſte, in Licht, und das Licht
in Materie verwandelt.
Schon dieſe Verhältniſſe der Form deuten auch die höheren Ver-
hältniſſe der Gegenſtände an, welche die maleriſche Darſtellung wählen
kann.
Die Malerei iſt die erſte Kunſt, welche Geſtalten und demnach
auch wahre Gegenſtände hat. Die Muſik in ihrer höchſten Bedeutung
drückt nur das Werden der Dinge, die ewige Einbildung der Einheit
in die Vielheit aus. Die Malerei ſtellt ſchon gewordene Dinge dar.
Eben deßhalb muß bei ihr vorzüglich von den Gegenſtänden die
Rede ſeyn, denn der Gegenſtand bezeichnet hier auch zugleich die Stufe
der Kunſt ſelbſt.
Alle Stufen laſſen ſich nach dem verſchiedenen Verhältniß des
Lichts zu den körperlichen Dingen beſtimmen. Es gibt drei entgegen-
geſetzte Kategorien oder Beſtimmungen des Lichts in Bezug auf die
Dinge. Es iſt äußerlich, unbeweglich, unorganiſch, oder es iſt inner-
lich, beweglich, organiſch. Zwiſchen dieſen beiden Extremen liegen alle
möglichen Verhältniſſe des Lichts.
Die tiefſte Stufe iſt die, wo ganz unorganiſche Gegenſtände ohne
inneres Leben, ohne bewegliche Farbe dargeſtellt werden. Es kann
hier das maleriſche Princip ſich höchſtens in der Anordnung offenbaren,
kraft welcher die Dinge, ohne eben in der Unordnung zu ſeyn, doch
in einer angenehmen zufälligen Nachläſſigkeit ſich befinden, welche Ge-
legenheit gibt, ſie in Verkürzungen, wechſelſeitig durch einander bedeckt,
durch Schatten und gegenſeitige Reflexe nuancirt darzuſtellen. Man
nennt ſolche Darſtellungen Still-Leben, und ſo untergeordnet ſie
ſind, weiß ich doch nicht, ob man ſie nicht als eine Art ſymboliſcher
Gemälde betrachten ſoll, da ſie auf etwas Höheres hindeuten, indem
ſie die Spuren eines Handelns und Daſeyns ausdrücken, welches nicht
mit dargeſtellt iſt. Wenigſtens kann der einzige Reiz und das Poetiſche
dieſer Art von Bildern bloß darin beſtehen, daß ſie uns den Geiſt des-
jenigen ahnden läßt, der dieſe Anordnung gemacht hat.
[543]
Eine Art von poetiſchem Still-Leben iſt in einer Scene von
Goethes Fauſt ausgedrückt, wo dieſer auf Margarethens Zimmer iſt
und den Geiſt der Ordnung, der Zufriedenheit und die Fülle in
der Armuth darin ſchildert.
Die zweite Stufe der Darſtellung wäre die von ſolchen Gegen-
ſtänden, wo die Farbe äußerlich und zwar organiſch, aber doch unbe-
weglich iſt. Dieß die Blumen- und Fruchtmalerei. Es iſt nicht
zu leugnen, daß Blumen und Früchte in ihrer Friſchheit lebendig ſind,
und daß mit ihnen eine concrete Malerei möglich iſt. Allein von der
andern Seite kann dieſe Art der Darſtellung doch wieder nur im alle-
goriſchen oder ſymboliſchen Gebrauch einen Kunſtwerth haben. Die
Farben ſind an ſich ſymboliſch, ein natürlicher Inſtinkt hat ſie zu
Symbolen der Hoffnung, der Sehnſucht, der Liebe u. ſ. w. erhoben.
Inwiefern Blumen dieſe Farben in natürlicher Einfachheit darſtellen,
ſind ſie an ſich ſchon eines Charakters fähig, und in der Anordnung
derſelben kann ein einfältiges Gemüth ſein ruhiges Inneres ausdrücken.
Inwiefern es möglich wäre, in die Anordnung von Blumen ſo viel
Bedeutendes zu legen, daß wirklich ein innerer Zuſtand darin erkennbar
wäre, wäre dieſe Art von Bildern zur Allegorie geeignet.
Die dritte Stufe wäre Darſtellung der Farbe, ſofern ſie beweg-
lich, organiſch, aber doch bloß äußerlich iſt. Dieß iſt der Fall mit
der Thiermalerei. Beweglich, theils inwiefern überhaupt lebendige
Geſchöpfe ein Vermögen der Selbſtbewegung und der Veränderung in
ſich haben, theils inwiefern die unbedeckten Theile der Thiere, z. B.
das Auge, wirklich ein bewegliches lebendiges Feuer haben. Allein dabei
bleibt die Farbe doch immer noch eine äußerliche, weil an den Thieren
das Fleiſch als ſolches nicht erſcheint, und die Darſtellung alſo ſich auf
die Abbildung ihrer farbigen Bedeckungen, ihrer Bewegungen, und bei
den gewaltigeren Naturen unter den Thieren auf Abbildung des Fun-
kelns ihrer Augen und des darin ausgedrückten Zuſtandes ſich beſchrän-
ken muß.
Die thieriſche Natur überhaupt und einzelne thieriſche Leiber ſind
an ſich von ſymboliſcher Bedeutung, die Natur ſelbſt wird in ihnen
[544] ſymboliſch. Thierſtücke können alſo nur entweder durch das Heraus-
heben der ſymboliſchen Bedeutung der Geſtalten durch kräftige Dar-
ſtellung oder nur durch eine höhere Beziehung einigen Kunſtwerth
haben. Einige holländiſche Maler ſind bis zu Darſtellung von Hühner-
höfen heruntergegangen. Wenn eine ſolche Schilderei noch einigermaßen
tolerirt wird, ſo iſt es, weil auch ein Hühnerhof auf das Innere eines
Hauſes, die Armuth oder den Reichthum des Beſitzers kann ſchließen
laſſen. Höhere Beziehung und Bedeutung erhalten Thierſtücke, wo
Thiere wirklich in Handlung und im Kampf entweder untereinander
oder mit Menſchen dargeſtellt werden. Die tiefſte Note des hiſtoriſchen
Gemäldes bezeichnen die Jagdſtücke.
Die folgende Kunſtſtufe iſt die, wo das Licht äußerlich unorganiſch,
aber beweglich, und inſofern lebendig iſt. Dieſe die Landſchafts-
malerei. In dieſer Gattung wird außer dem Gegenſtand, dem
Körper, das Licht ſelbſt als ſolches zum Gegenſtand. Dieſe Gattung
bedarf nicht nur des Raums zu ihrem Gemälde, ſondern ſie geht
ausdrücklich ſogar auf Darſtellung des Raums als ſolchen aus. Die
Gegenſtände der zuvor genannten Gattungen ſind, ſo untergeordnet ſie
in anderer Rückſicht ſeyn mögen, doch an und für ſich ſelbſt bedeutend;
von ihnen iſt eine wahrhaft objektive Darſtellung möglich. In der
Landſchaftsmalerei iſt überall nur ſubjektive Darſtellung möglich, denn
die Landſchaft hat nur im Auge des Betrachters Realität. Die Land-
ſchaftsmalerei geht nothwendig auf die empiriſche Wahrheit, und das
Höchſte, was ſie vermag, iſt, dieſe ſelbſt wieder als eine Hülle zu
gebrauchen, durch die ſie eine höhere Art der Wahrheit durchſcheinen
läßt. Aber eben nur die Hülle wird dargeſtellt, der wahre Gegenſtand,
die Idee, bleibt geſtaltlos, und es iſt von dem Betrachter abhängig
gemacht, ſie aus dem duftigen und formloſen Weſen herauszufinden.
Es iſt nicht zu leugnen, daß Verhältniſſe des allgemeinen Lichts zu
einem ausgebreiteten Ganzen von Gegenſtänden, je nachdem es offen-
barer oder verhüllter, ſtärker und unterſchiedener, oder ſchwächer und
gleichſam ſchwimmender über der Natur liegt, gewiſſe Zuſtände der
Seele hervorrufen, auf eine indirekte Weiſe Ideen, oder vielmehr nur
[545] Geiſter von Ideen wecken, und nicht ſelten vor unſern Augen den
Schleier hinwegheben, der uns die unſichtbare Welt bedeckt. Allein
alle Anſchauung dieſer Art fällt ins Subjekt zurück. Wir ſehen, daß
je dürftiger die Poeſie einer Nation, ſie deſto mehr ſich zu dieſem
formloſen Weſen hinneigt. Welche Gelegenheit in Homer, Landſchaften
zu ſchildern und doch keine Spur davon! Dagegen ſind die Geſänge
des Oſſian voll von Schildereien der Nebelwelt und der formloſen
Natur, die ihn umgab. Die Schönheit einer Landſchaft hängt von ſo
vielen Zufälligkeiten ab, daß es ſchwer, ja unmöglich iſt, ihr in der
Kunſt diejenige Nothwendigkeit zu geben, welche z. B. jede organiſche
Geſtalt in ſich trägt. Es ſind nicht innere, ſondern äußere und ge-
waltſame Urſachen, welche die Form, den Abhang der Berge und die
Schweifungen der Thäler beſtimmen. Geſetzt ein Künſtler beſitze ſo
tiefe Kenntniß der Erde, daß er in der Landſchaft ſelbſt, die er vor
uns ausgebreitet darſtellt, uns zugleich die Gründe und Geſetze ihrer
Bildung, den Lauf des Fluſſes, der die Berge und Thäler formirt,
oder die Gewalt des unterirdiſchen Feuers darzuſtellen weiß, welches
zugleich die Zerſtörung und die Ströme der Ueppigkeit über eine Ge-
gend ausgießt, geſetzt, er wiſſe dieß alles darzuſtellen, ſo bleibt doch
ſelbſt der Moment des Lichts, den er wählt, der Grad der Erleuchtung
oder Dämpfung, der auf dem Ganzen liegt, eine Zufälligkeit, und da
es eigentlich dieſe iſt, die er darſtellt und zum Gegenſtand macht (da
ſie in den andern Gattungen ausdrücklich nur als Accidens des Gegen-
ſtandes erſcheint), da er alſo überhaupt das, was bloß zum Schein
gehört, als unabhängig behandelt und ſelbſtändig darſtellt, ſo iſt er
dadurch einer nicht zu überwindenden Zufälligkeit unterworfen, und er
kehrt in der Malerei ſelbſt gewiſſermaßen zu der tieferen Stufe, der
formloſen Kunſt, zurück.
Die Zeichnung iſt in der Landſchaftsmalerei als ſolcher eigentlich
gar nicht anzutreffen; alles beruht in ihr auf den Künſten der Luft-
perſpektive, alſo auf der ganz empiriſchen Art des Helldunkels.
Die Landſchaftsmalerei iſt daher als eine durchaus empiriſche
Kunſtart zu betrachten. Die Einheit, welche in einem Werk derſelben
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 35
[546] liegen kann, fällt ſelbſt wieder in das Subjekt zurück; es iſt die Einheit
einer Stimmung, welche die Gewalt des Lichts und ſeines wundervollen
Kampfes mit dem Schatten und der Nacht in der allgemeinen Natur
in uns hervorbringt. — Das Gefühl der objektiven Bedeutungsloſigkeit
der Landſchaft hat den Maler vermocht, ihr eine objektivere Bedeutung
durch Belebung mit Menſchen zu geben. Es verſteht ſich, daß dieß
immer das Untergeordnete iſt, ſo wie in den höheren Formen der Kunſt
der wahre Künſtler es verſchmähen wird, ſeinem Bilde noch durch die
Zuthat einer Landſchaft Reize geben zu wollen, da der vollkommen
genügende Gegenſtand für ihn die menſchliche Geſtalt in ihrer hohen
Bedeutung und unendlichen Bedeutſamkeit iſt. In dem angenommenen
Fall, wo die Landſchaftsmalerei ihre Schildereien mit Menſchen belebt,
muß doch eine Nothwendigkeit in ihr Verhältniß zu denſelben gebracht
werden. Schon der Anblick einer Landſchaft, beſonders aber die Farbe
des Himmels, belehrt vom Clima, da die nördliche Welt gegen die
Heiterkeit des ſüdlichen Himmels wie in dumpfer Nacht brütet, und
läßt das geübte Auge auf die Formen von Menſchen ſchließen, die ſie
bewohnen. Die Menſchen in der Landſchaft müſſen daher entweder
als gleichſam auf der Stelle gewachſen, als Autochthonen geſchildert
werden, oder ſie müſſen auch durch die im Verhältniß zu der Landſchaft
fremde Art ihres Weſens, Ausſehens, ja ſelbſt der Bekleidung, als
Fremde, als Wanderer dargeſtellt werden. Auf dieſe Weiſe laſſen ſich
in der Landſchaft noch in einem andern Sinn Nähe und Ferne verbinden
und die eigenthümlichen Gefühle, die auf den Vorſtellungen derſelben
beruhen, hervorrufen.
Die letzte und höchſte Stufe der Farbenerſcheinung iſt die, wo ſie
als innerlich, organiſch, lebendig und beweglich erſcheint. Da dieß nur
in der menſchlichen Geſtalt vollkommen der Fall iſt, ſo iſt dieſe
der letzte und vollkommenſte Gegenſtand der maleriſchen Darſtellung;
mit derſelben betritt die Kunſt ein Gebiet, in dem eigentlich erſt ihre
abſoluten Erzeugniſſe beginnen, und ihre wahre Welt ſich entfaltet.
Die unterſte Stufe iſt auch hier die bloße Nachahmung der Natur,
und wo dieſe bezweckt wird und die vollkommene Uebereinſtimmung des
[547] Bildes mit dem Gegenſtand beabſichtigt iſt, entſteht das Portrait.
Ueber den Kunſtwerth oder -unwerth des Portraits hat man ſich von
Zeit zu Zeit geſtritten; es ſcheint aber, daß man ſich nur über den
Begriff deſſelben zu verſtehen habe, um auch über jenen einig zu ſeyn.
Portrait, ſagt man, iſt ſklaviſche Nachahmung der Natur, und allerdings,
wenn man nicht die Kunſt überhaupt in bloße Nachahmung ſetzen und
die mikroſkopiſchen Maler, die keinen Porus der Haut übergehen, für
die größten erklären will, kann es nach dieſem Begriff von Portrait
kein Zweifel ſeyn, daß daſſelbe einen ſehr untergeordneten Rang ein-
nehme. Verſteht man aber unter Portrait eine ſolche Schilderung, die,
indem ſie die Natur nachahmt, zugleich die Dolmetſcherin ihrer Bedeu-
tung wird, das Innere der Geſtalt herauskehrt und ſichtbar macht,
ſo wird man den bedeutenden Kunſtwerth eines Portraits allerdings
anerkennen müſſen. Das Portraitiren als Kunſt würde dann freilich
vorzugsweiſe auf ſolche Gegenſtände eingeſchränkt werden müſſen, denen
wirklich eine ſymboliſche Bedeutung abzuſehen iſt, und bei denen man
ſehen kann, daß die Natur einen vernünftigen Entwurf und gleichſam
den Zweck, eine Idee auszudrücken, befolgt habe. Die wahre Kunſt
des Portraits würde darin beſtehen, die auf die einzelnen Bewegungen
und Momente des Lebens zerſtreute Idee des Menſchen in Einen
Moment zuſammen zu faſſen, und auf dieſe Weiſe zu machen, daß das
Portrait, indem es von der einen Seite durch Kunſt veredelt iſt, von
der andern dem Menſchen, d. h. der Idee des Menſchen, ähnlicher
ſey, als er ſich ſelbſt in den einzelnen Momenten. Plinius 1 erzählt
von dem Euphranor, daß er ein Bild des Paris gemalt (welches freilich
kein Portrait war) von der Art, daß man in ihm zugleich den Richter
der drei Göttinnen, den Entführer der Helena und denjenigen, der den
Achill erlegte, erblicken konnte. Dieſe Darſtellung des ganzen Menſchen
in den einzelnen Erſcheinungen wäre die höchſte, obgleich, wie man wohl
ſieht, ſchwierigſte Aufgabe des Portraits. — In Anſehung der Frage,
ob die Perſon in Ruhe oder in Handlung dargeſtellt werden ſolle, iſt
[548] es offenbar, daß, da jede mögliche Handlung die Allſeitigkeit eines
Bildes aufhebt und den Menſchen im Moment fixirt, in der Regel
die größtmögliche Ruhe vorzuziehen ſey. Die einzige erlaubte Ausnahme
findet da ſtatt, wo die Handlung ſo mit dem Weſen des Menſchen
eins iſt, daß ſie wiederum zur Charakteriſtik von ihm gehört. Z. B.
einen Tonkünſtler in der Handlung ſeiner Kunſt vorzuſtellen, würde
darum vorzüglicher ſeyn, als einen Dichter etwa mit der Feder in der
Hand, weil das muſikaliſche Talent iſolirender und mit dem Weſen
deſſen, der es beſitzt, am meiſten verwebt iſt. Sonſt iſt die Forderung,
welche das Portrait nothwendig zu erfüllen hat, die höchſte Wahrheit;
nur daß ſie nicht im Kleinen und bloß Empiriſchen geſucht werde.
Von dieſer Art ſind denn die Bilder der alten, vorzüglich unſerer
deutſchen Maler, Holbeins z. B., deſſen eines, in Dresden zu ſehen-
des Bild, welches einen Bürgermeiſter zu Baſel mit ſeiner Familie
vorſtellt, indem er die heil. Jungfrau anbetet, gewiß niemand ohne Be-
wegung ſehen wird — nicht nur (um dieß im Vorbeigehen zu bemerken)
weil er in dieſem, wie in andern ähnlichen Bildern, den ächten alten
deutſchen Styl, der dem italieniſchen bei weitem näher iſt als dem
niederländiſchen und den Keim eines Höheren in ſich trägt, der ohne
die beſonderen unglücklichen Verhängniſſe Deutſchlands auch ſicher ſich
entfaltet haben würde, erkennen kann, ſondern auch, weil dieſes Bild
eine ſittliche Bedeutung hat, und ſo wie alle von demſelben Styl, die
gute alte Zeit, die ſtrenge Zucht, den Ernſt und die Frömmigkeit
derſelben dem Betrachtenden zurückruft.
Ich bemerke noch, daß die vorzüglichſten hiſtoriſchen Maler Leo-
nardo da Vinci, Correggio, Raphael, ſämmtlich Portraits gemalt
haben, ja es iſt bekannt, daß Raphael in manchen ſeiner unabhängigen
Compoſitionen wirkliche Portraits angebracht hat.
Wir gehen endlich zu der letzten Kunſtſtufe der Malerei über.
Das höchſte Beſtreben des Geiſtes iſt, Ideen hervorzubringen,
die über das Materielle und Endliche erhaben ſind. „Die Idee der
Schönheit, ſagt Winkelmann, iſt wie ein aus der Materie durchs
Feuer gezogener Geiſt, welcher ſich ſuchet ein Geſchöpf zu zeugen nach
[549] dem Ebenbilde der in dem Verſtande der Gottheit entworfenen erſten
vernünftigen Creatur.“
Wir haben zu beſtimmen, welche Mittel in der Malerei liegen,
dieſem Streben Genüge zu thun und die Ideen darzuſtellen.
Da die bildende Kunſt überhaupt Darſtellung des Allgemeinen
durch das Beſondere iſt, ſo ſind ihr auch nur zwei Möglichkeiten ge-
geben, durch welche ſie die Ideen erreichen und in wirklicher und ſicht-
barer Geſtalt darſtellen kann. Entweder daß ſie das Allgemeine durch
das Beſondere bedeuten läßt, oder daß dieſes, indem es jenes bedeutet,
zugleich es ſelbſt iſt. Die erſte Art der Darſtellung iſt die allego-
riſche, die andere die ſymboliſche (nach den Erklärungen, die da-
von ſchon früher gegeben wurden).
Ich werde hier noch einiges von der Allegorie überhaupt nach-
tragen und dann insbeſondere von der Allegorie in der Malerei reden.
Die Allegorie kann überhaupt einer allgemeinen Sprache ver-
glichen werden, die nicht, wie die beſonderen Sprachen, auf willkür-
lichen, ſondern auf natürlichen und objektiv gültigen Zeichen beruht. Sie
iſt Bedeutung der Ideen durch wirkliche, concrete Bilder, und demnach
die Sprache der Kunſt und der bildenden insbeſondere, welche, da ſie
nach dem Ausdruck eines Alten eine ſtumme Dichtkunſt iſt, ihre Ge-
danken perſönlich gleichſam, durch Geſtalten, vorſtellen laſſen muß. Der
ſtrenge Begriff der Allegorie aber, den wir auch hier vorausſetzen, iſt,
daß das, was dargeſtellt wird, etwas anderes als ſich ſelbſt bedeute,
etwas anzeige, das verſchieden von ihm iſt.
Die Allegorie iſt, wie von der Sprache, ebenſo auch von der
Hieroglyphe verſchieden. Denn auch dieſe iſt nicht nur überhaupt will-
kürlich und nicht nothwendig an den weſentlichen Zuſammenhang deſſen,
was bedeutet werden ſoll, und deſſen, wodurch, gebunden, ſondern ſie
iſt auch noch überdieß mehr eine Sache des Bedürfniſſes als der
höheren Abſicht, die auf Schönheit an und für ſich gerichtet iſt; da-
her es für die Hieroglyphe genug iſt, wenn ſie die Sache nur über-
haupt, gleichviel ob auf eine ſchöne oder widrige Weiſe, andeutet. Von
der Allegorie dagegen wird gefordert, daß jedes Zeichen oder Bild nicht
[550] bloß auf allegoriſche Weiſe mit dem Gegenſtand verknüpft ſey, ſondern
daß es mit Freiheit und Abſicht auf das Schöne entworfen und aus-
geführt ſey. Die Natur iſt ſelbſt allegoriſch in allen denjenigen Weſen,
denen ſie den unendlichen Begriff von ihnen ſelbſt nicht als Lebensprincip
und Princip der Selbſtändigkeit einverleibt hat. So iſt die Blume,
deren Farbe die innere Natur oder die Intention der Natur, oder,
was daſſelbe iſt, die Idee nur andeutet, wahrhaft allegoriſch. Sonſt
hat ſich auch darin der Inſtinkt zur Allegorie gezeigt, daß der Grund
aller Sprachen, vorzüglich aber der älteſten Völker, ein allegoriſcher
iſt. Wie wären, um nur etwas ganz Allgemeines anzuführen, die
Menſchen je darauf gefallen, die Dinge in der Sprache nach dem Ge-
ſchlechte zu ſondern (eine Sonderung, die durch alle nicht vorzüglich
unpoetiſchen Sprachen geht), ohne allegoriſche und gleichſam perſönliche
Vorbilder dieſer Dinge zu haben?
Daß nun aber Malerei insbeſondere allegoriſch iſt, davon liegt
der Grund in ihrer Natur ſelbſt, da ſie nämlich noch nicht die wahr-
haft ſymboliſche Kunſt iſt, und wenn ſie nicht zu dieſer, wie in der
höchſten Kunſtgattung, ſich erhebt, das Allgemeine nur durch das Be-
ſondere bedeuten kann. In Anſehung der Allegorie in der Malerei
ſind aber zwei Fälle wohl zu unterſcheiden. Sie wird entweder bloß
als Zugabe eines im Uebrigen hiſtoriſchen Gemäldes gebraucht, oder
die ganze Erfindung und Compoſition iſt ſelbſt allegoriſch. Das Erſte
iſt immer fehlerhaft, wenn nicht die allegoriſchen Weſen, welche einge-
miſcht werden, ſelbſt eine hiſtoriſche Bedeutung in dem Gemälde
haben können. Wenn z. B. auf einer ſogenannten Ruhe auf der Flucht
nach Aegypten, wo die heilige Jungfrau mit dem Kind unter einem
Baume, auf das Kind herabſehend und es zugleich fächelnd, ruht, auf
den Zweigen Engel vorgeſtellt ſind, ſo ſind dieſe hier wirklich als hiſto-
riſche Gegenſtände anzuſehen. Oder wenn auf einem Gemälde des
Albani, das den Raub der Helena vorſtellt, Venus die Helena aus
dem Hauſe des Menelaus an der Hand führt, und im Hintergrund
Liebesgötter dargeſtellt ſind, die ſich dieſes Vorfalls freuen, ſo treten
auch dieſe hier als hiſtoriſche Weſen ein. Wenn dagegen auf einem
[551] Bilde, das den Tod eines modernen Königs vorſtellt, auf deſſen Sterbe-
bette vielleicht ſogar die Reichsinſignien liegen, an einer Seite deſſelben
der Genius mit der geſenkten Fackel ſtünde, ſo wäre dieß ein ganz
platter Gebrauch der Allegorie, weil der Genius auf keine Weiſe in
das Gemälde hiſtoriſch aufgenommen werden kann. Oder wenn Pouſſin
in einem Gemälde, das die Ausſetzung Moſis in Aegypten vorſtellt,
den Nil als Flußgott darſtellt, der ſein Haupt in den Schilf verbirgt,
ſo iſt das Letztere eine ſehr ſchöne Allegorie, ſofern dadurch angedeutet
wird, daß die Quellen des Nils unbekannt ſeyen; wenn aber ferner
der kleine Moſes dieſem Flußgott in die Arme gelegt wird, ſo hebt
dieſe Allegorie den Sinn des Gemäldes ſelbſt auf, indem niemand da-
bei ſich eine Gefahr vorſtellen wird, da das Kind vielmehr der Für-
ſorge eines ſinnigen Gottes als der blinden Gewalt eines vernunftloſen
Elements überantwortet wird.
Es gibt alſo meines Erachtens keine partielle Allegorie im Ge-
mälde, weil dieß eine Diſſonanz in das Gemälde bringt; und wo ein
Weſen, das in anderer Rückſicht als ein allegoriſches gedacht werden
muß, in einem hiſtoriſchen Gemälde vorkommt, ſo muß es darin ſelbſt
die hiſtoriſche Bedeutung annehmen, ſo daß das Ganze den Charakter
einer mythologiſchen Darſtellung hat.
Deſto weiter iſt das Feld der Allegorie in dem Gemälde, ſofern
ſie unbeſchränkter Weiſe gebraucht wird. Die Allegorie hat hier keine
Grenzen als die allgemeinen der Kunſt ſelbſt, daß nämlich der
Ueberfluß vermieden, und die Idee ſo einfältig wie möglich dargeſtellt
werde. „Die Einfalt,“ ſagt Winkelmann 1, „iſt in Allegorien wie
Gold ohne Zuſatz und der Beweis der Güte derſelben, weil ſie alsdann
mit wenigem viel erklären; wo das Gegentheil geſchiehet, iſt es mehren-
theils ein Zeichen undeutlicher und unreifer Begriffe.“ Mit der Ein-
falt zugleich entſteht die Deutlichkeit, die freilich relativ iſt, und in der
man nicht die allzu große Popularität verlangen muß, wie man etwa
ein paar weiße Rüben finden könnte, die Guido Reni einer übrigens
[552] ſehr ſchönen büßenden Magdalena mitgegeben hat, um ihre ſtrenge
Lebensart anzudeuten. Denn wie hat der Künſtler überhaupt nöthig,
uns daran zu erinnern, daß die büßende Magdalena irdiſche Nahrung
genieße? Die höchſte Regel iſt aber, wie in aller Kunſt, ſo auch hier,
die Schönheit, und daß das rein Gräßliche, Abſcheuliche und Widrige
vermieden werde. Die wüthende Nothwendigkeit, wie ſie Horatius nennt,
die Wuth des Krieges bei Virgilius oder die Teufeleien des Milton wür-
den in der Malerei nur mit ſchlechtem Erfolg ausgeführt werden können.
So iſt in der St. Peterskirche zu Rom ein allegoriſches Gemälde, das
die Ketzerei zu den Füßen der Heiligen in der häßlichſten Geſtalt vor-
ſtellt, als ob ſie in einer ſchönen weiblichen Figur vorgeſtellt in dieſer
Unterwerfung und Beugung nicht eine viel beſſere Wirkung machte.
Die Allegorie in Gemälden kann nun übrigens entweder phyſiſch
ſeyn und ſich auf Naturgegenſtände beziehen, oder moraliſch, oder
hiſtoriſch. — Als ein allegoriſches Bild der Natur muß man das Bild
der Diana mit den vielen Brüſten betrachten, dagegen in der bekannten
Vergötterung des Homer die Natur ganz einfach unter dem Bild eines
kleinen Kindes vorgeſtellt iſt. — Die Nacht wird mit einem fliegenden
Gewand voll Sterne gebildet, der Sommer im Laufen und mit zwei
brennenden gerade in die Höhe gehaltenen Fackeln in den Händen. Der
Nil und deſſen Ueberſchwemmung bis zu 16 Fuß, welches nach der
alten Meinung die größte Fruchtbarkeit bedeutet, wurde in ebenſoviel
Kindern abgebildet, die auf der koloſſalen Figur des Fluſſes ſaßen.
Ich bemerke, daß die vornehmſten Allegorien der bildenden Kunſt,
nachdem das Schickſal der Zeit uns die Schätze der alten Malerei ent-
riſſen hat, durch die kleineren Denkmäler der Skulptur in geſchnittenen
Steinen auf uns gekommen ſind. Die Plaſtik legt nicht mit einem-
mal die Schranken der Malerei ab, ſie behält noch in mehreren Gat-
tungen den Raum als nothwendige Zugabe, und kann daher, wie die
Malerei, in den meiſten Hervorbringungen auch nur bedeutend, aber
noch nicht wahrhaft ſymboliſch ſeyn.
Von den moraliſchen Allegorien iſt zu bemerken, daß ſie bei den
Alten nicht unſern Begriffen angemeſſen ſeyn können, da von dieſen
[553] nur die heroiſchen Tugenden oder jene, welche die Würdigkeit des Men-
ſchen erheben, geſchätzt, andere aber von ihnen nicht gelehrt noch ge-
ſucht wurden. An die Stelle der Geduld und Unterwerfung tritt bei
den Alten die Tapferkeit und die männliche, großmüthige Tugend,
welche kleine Abſichten und das Leben ſelbſt verachtet. Von der chriſt-
lichen Demuth war bei den Alten ohnedieß kein Begriff anzutreffen.
Alle dieſe paſſiven Tugenden, wohin auch die Reue, z. B. der Magda-
lena, gehört, ſind nur in den chriſtlichen Bildern zu ſuchen. Dagegen
konnten auch bei den Alten die Werke der Kunſt nicht dem Laſter ge-
weiht ſeyn, und nur mit großer Einſchränkung waren allegoriſche Vor-
ſtellungen davon möglich. Das berühmteſte Beiſpiel davon iſt ein Ge-
mälde der Verleumdung von Apelles, deſſen Beſchreibung Lucian 1
hinterlaſſen hat. Apelles malte die Verleumdung, da er von einem
ſeiner Kunſtgenoſſen bei Ptolemäos Philoſtratos als Mitſchuldiger einer
Verrätherei fälſchlich angegeben worden war. Auf ſeinem Gemälde ſaß
zur Rechten eine männliche Figur mit langen Ohren und reichte der
Verleumdung die Hand; um dieſe herum ſtand die Unwiſſenheit und
der Verdacht. Von der andern Seite trat eine andere Geſtalt der
Verleumdung herbei, welche eine ſchöne Figur, aber erbost, aufgebracht
war, in der rechten Hand eine brennende Fackel haltend, mit der linken
einen Jüngling bei den Haaren herbeiziehend, welcher die Hände zum
Himmel erhob und die Götter zu Zeugen anflehte. Vor der Verleum-
dung her trat ein großer und wie von langer Krankheit ausgezehrter
Mann, welcher den Neid vorſtellte. Die Begleiterinnen der Verleum-
dung ſelbſt waren zwei Weiber, welche ſie putzten und ihr zuredeten,
nämlich die Falſchheit und die Hinterliſt. Hinterher ging eine andere
Figur in ſchwarzer und zerriſſener Kleidung, welche die Scham an-
deutete, indem ſie beſchämt und weinend nach der Wahrheit ſich umſah.
Andere moraliſche Eigenſchaften wurden durch entferntere Be-
ziehungen angedeutet, wie z. B. die Verſchwiegenheit durch die Roſe,
weil dieſe die Blume der Liebe iſt, welche Verſchwiegenheit liebt, oder,
[554] wie ein alter Epigrammatiſt ſagt, weil die Liebe dem Harpokrates, dem
Gott des Stillſchweigens, die Roſe gab, damit die Ausſchweifungen
der Venus möchten verſchwiegen bleiben. Daher bei den Alten eine
Roſe bei Fröhlichkeiten über die Tiſche aufgehängt wurde zum Zeichen,
daß, was geſprochen würde, als unter Freunden geheim bleiben ſollte.
Unter die moraliſchen Allegorien rechne ich alle, welche allge-
mein menſchliche Verhältniſſe andeuteten. So wurde das Schickſal vor-
geſtellt durch die Lacheſis, welche die Spindel drehend auf einer komi-
ſchen Larve ſitzt und vor ſich die tragiſche ſtehen hat, um die vermiſchten
Spiele auf der Schaubühne des Lebens anzudeuten. Ein frühzeitiger
Tod wurde durch das Bild der Aurora vorgeſtellt, die ein Kind in
den Armen fortträgt.
Vermittelſt der Allegorie, wie des Sinnbildlichen, kann ſich die
Malerei bis in die Region des Ueberſinnlichen erheben. Die Belebung
des Körpers durch Einflößung der Seele iſt ohne Zweifel einer
von den abgeſondertſten Begriffen, der aber doch allegoriſch-dichteriſch
verſinnlicht iſt. Prometheus bildet einen Menſchen von Thon, und
Minerva hält einen Schmetterling auf den Kopf deſſelben als Bild der
Seele, welches zugleich alle die verſchiedenartigen Vorſtellungen zu-
ſammenfaßt, welche die Metamorphoſe dieſes Geſchöpfes erwecken kann.
Die hiſtoriſche Allegorie iſt vorzüglich von neueren Künſtlern
gebraucht, z. B. franzöſiſchen (Rubens), zur Verherrlichung von Thaten
ihrer Könige, z. B. das Wiederaufleben einer Stadt durch Begünſti-
gung eines Fürſten auf alten Münzen vorgeſtellt durch eine weib-
liche Figur, die durch eine männliche von der Erde aufgehoben wird.
Vom höchſten Styl war das Bild des Ariſtides, welcher das athe-
niſche Volk nach ſeinem ganzen Charakter zugleich als leichtſinnig und
ernſt, tapfer und feig, klug und unweiſe darſtellte, obgleich man ge-
ſtehen muß, daß wir uns von dieſem keinen deutlichen Begriff machen
können.
Nun iſt noch vom ſymboliſchen Gemälde zu reden. Da aber
hievon bei der Plaſtik geſprochen wird, ſo beſchränke ich mich hier auf
das Allgemeinſte. Symboliſch iſt ein Bild, deſſen Gegenſtand die Idee
[555] nicht nur bedeutet, ſondern ſie ſelbſt iſt. Sie ſehen von ſelbſt, daß
auf dieſe Weiſe das ſymboliſche Gemälde ganz mit dem ſogenannten
hiſtoriſchen zuſammenfällt und für dieſes ſelbſt die höhere Potenz be-
zeichnet. Hier ſind nun wieder Verſchiedenheiten nach den Gegenſtänden.
Dieſe nämlich können entweder etwas allgemein Menſchliches
ſeyn, was ſich im Leben ſtets wiederholt und erneuert, oder ſie können
ſich auf ganz geiſtige und intellektuelle Ideen beziehen. Von letzterer
Gattung iſt der Parnaß und die Schule von Athen des Raphael,
welche die ganze Philoſophie ſinnbildlich darſtellt. — Die vollkommenſte
ſymboliſche Darſtellung aber iſt durch bleibende und unabhängige poetiſche
Geſtalten einer beſtimmten Mythologie gegeben. So bedeutet die
heil. Magdalena nicht nur die Reue, ſondern iſt die lebendige Reue
ſelbſt. So iſt das Bild der heil. Cäcilia, der Schutzheiligen der Muſik,
nicht ein allegoriſches, ſondern ein ſymboliſches Bild, da es eine von
der Bedeutung unabhängige Exiſtenz hat, ohne die Bedeutung zu ver-
lieren. So das Bild Chriſti, weil es die ganz einzige Identität der
göttlichen und menſchlichen Natur anſchaulich darſtellt. Ebenſo iſt das
Bild der Madonna mit dem Kinde ein ſymboliſches Bild. Das ſym-
boliſche Bild ſetzt eine Idee als vorausgehend voraus, die ſymboliſch
wird dadurch, daß ſie hiſtoriſch-objektiv, auf unabhängige Weiſe an-
ſchaulich wird. Wie nun die Idee dadurch, daß ſie hiſtoriſche Be-
deutung erhält, ſymboliſch wird, ſo kann umgekehrt das Hiſtoriſche
nur dadurch, daß es mit der Idee verbunden und Ausdruck der Idee
wird, ein ſymboliſches Bild werden, und ſo kommen wir damit auf
den eigentlichen und höchſten Begriff des hiſtoriſchen Gemäldes,
unter dem man insgemein alles zu begreifen pflegt, was wir bisher
als allegoriſch und ſymboliſch bezeichnet haben. Nach unſrer Erklärung
iſt das Hiſtoriſche ſelbſt nur eine Art des Symboliſchen.
Die Hiſtorie iſt ohne Zweifel der vornehmſte Gegenſtand der Ma-
lerei, da hier das Unterſcheidende von Göttern und Menſchen, den wür-
digſten Gegenſtänden der maleriſchen Darſtellung, zugleich im Handeln
erkannt wird. Allein die bloße Darſtellung einer Handlung an und für
ſich würde die Malerei nie zu dem Range erheben, den in der Poeſie
[556] die Tragödie oder das Heldengedicht hat. Jede mögliche Geſchichte iſt
an und für ſich ein einzelnes Factum, welches demnach zur Kunſtdar-
ſtellung nur dadurch erhoben wird, daß es zugleich bedeutend und wo
möglich Ausdruck von Ideen, allgemein bedeutend, wird. Ariſtoteles
ſagt, Homer habe lieber das Unmögliche, welches wahrſcheinlich iſt,
als das bloß Mögliche darſtellen wollen; man fordert mit Recht das-
ſelbe von dem Gemälde, daß es ſich nämlich über das gemeinhin
Mögliche erhebe und eine höhere und abſolute Möglichkeit zum Maß-
ſtab der Darſtellung nehme.
Das hiſtoriſche Gemälde, ſagten wir, könne Darſtellung von Ideen,
alſo ſymboliſch ſeyn theils in dem Ausdruck, welcher den einzelnen Ge-
ſtalten gegeben wird, theils in der Art des Geſchehens der Begebenheit,
welche vorgeſtellt wird. Was das Erſte betrifft, ſo gewährt nichts Be-
friedigung, was bloß die Sinne rührt und nicht in das Innere des
Geiſtes dringt. Die bloße Schönheit der Umriſſe vollendet das Be-
deutende nicht ohne tieferen Hintergrund, der nicht gleich beim erſten
Blicke erforſcht wird. Eine ernſthafte Schönheit läßt niemals völlig
ſatt und zufrieden gehen, weil man immer noch Schöneres und Tieferes
an ihr entdecken zu können glaubt. Von dieſer Art ſind die Schön-
heiten des Raphael und der alten Meiſter, „nicht ſpielend und lieb-
reizend, wie Winkelmann ſagt, aber wohlgebildet und erfüllet mit einer
wahrhaften und urſprünglichen Schönheit“. Durch Reizungen dieſer Art
iſt Cleopatra durch alle Zeiten berühmt geworden, und ſelbſt in die
Köpfe des Antonius haben die Alten dieſen würdigen Ernſt gelegt.
Es gibt alſo eine Würde und Höhe des Ausdrucks, die noch über
die Schönheit des Umriſſes hinzukommt, oder dieſen erſt wirklich bedeu-
tend macht. Eine Veredlung der gemeinen Natur fordert man auch
von dem Portraitmaler, und er kann dieſe erreichen, ohne der Aehn-
lichkeit zu ſchaden, d. h. ohne daß er aufhört Nachahmer zu ſeyn.
Das, was immer und nothwendig erfunden iſt, iſt die Idee, und dieſe,
wenn von ihr in dem Bilde ein Ausdruck iſt, kann ſogar dem Portrait
durch höheren Reiz das Symboliſche geben.
Was die Art des Darſtellens der Begebenheiten ſelbſt betrifft,
[557] ſo iſt die höchſte Norm, wie überall, ſo auch hier, daß die Kunſt
uns die Formen einer höheren Welt und die Dinge, wie ſie in dieſer
geſchehen, darzuſtellen hat. Das Reich der Ideen iſt das Reich der
adäquaten und klaren Vorſtellungen, wie das Reich der Erſcheinung das
der unangemeſſenen, dunklen und verworrenen. In dem Reich der Er-
ſcheinung trennt ſich Form und Stoff, Thätigkeit und Seyn. Im Reich
des Abſoluten iſt beides eins, die höchſte Ruhe iſt die höchſte Thätigkeit,
und umgekehrt. Alle dieſe Charaktere müſſen übergehen in das, was
Abdruck des Abſoluten ſeyn will. Wir würden ſie ſchwerlich anders
bezeichnen, als wie ſie längſt Winkelmann bezeichnet hat, der Vater
aller Wiſſenſchaft von der Kunſt, deſſen Anſichten noch jetzt die höchſten
ſind und es immer bleiben werden. Das Adäquate und Vollkommene
der Vorſtellungen drückt ſich in dem Gegenſtand durch dasjenige aus,
was Winkelmann die edle Einfalt nennt, ſowie jene ruhige Macht,
die, um als Macht zu erſcheinen, nicht nöthig hat, aus dem Gleich-
gewicht ihres Daſeyns zu weichen, das iſt, was Winkelmann als die
ſtille Größe bezeichnet hat. Auch hier wieder ſtehen uns nun die
Griechen als Urbilder da. Wie die Tiefe des Meers jederzeit ruhig
bleibt, das Oberſte mag noch ſo raſch und bewegt ſeyn, ſo zeigt der
Ausdruck der griechiſchen Figuren bei allen Leidenſchaften eine ruhige
und geſetzte Seele. In dem Ausdruck der Schmerzen und der körper-
lichen Erſtarrung ſelbſt ſehen wir die Seele ſiegen und als ein göttliches
Licht von unverderblicher Heiterkeit über der Geſtalt aufgehen. Eine
ſolche Seele iſt in dem Geſichte des Laokoon und in dem ganzen Leibe
ausgedrückt (denn nur von der Plaſtik ſind die paſſenden Beiſpiele des
höchſten ſymboliſchen Styls herzunehmen). „Der Schmerz“, ſagt Win-
kelmann in ſeiner herrlichen Beſchreibung dieſes Werks 1, „der Schmerz,
welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und
den man ganz allein, ohne das Geſicht und andere Theile zu betrachten,
an dem ſchmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe ſelbſt zu empfinden
glaubet, dieſer Schmerz äußert ſich dennoch mit keiner Wuth in dem
[558] Geſichte und in der ganzen Stellung. Er erhebet kein ſchreckliches Ge-
ſchrei, wie Virgil ſeinen Laokoon beſchreibt; die Oeffnung des Mun-
des läßt dieß nicht zu, es iſt nur ein ängſtliches und beklemmtes
Seufzen. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele ſind
durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Größe ausgetheilet und
gleichſam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles
Philoktetes; ſein Elend gehet uns bis an die Seele, aber wir wünſchten,
wie dieſer große Mann das Elend ertragen zu können.“ Dieſe Beſchrei-
bung reicht hin einzuſehen, daß dieſer Ausdruck der Seele nichts mehr
iſt, das aus der Erfahrung genommen, daß es eine über die Natur ſich
erhebende Idee iſt, die der Künſtler in ſich ſelbſt haben mußte, um ſie
dem Marmor einzuprägen. Ein gleiches Bild iſt das der Niobe mit
ihren Töchtern. Dieſe, auf welche Diana die tödtlichen Pfeile richtet,
ſind in der unbeſchreiblichen Angſt mit übertäubter Empfindung geſchil-
dert, wo die Erſtarrung ſelbſt die Ruhe und jene hohe Gleichgültigkeit
zurückbringt, die ſich mit der Schönheit am meiſten verträgt und keine
Züge der Geſtalt und der Bildung ändert.
Wir können nach dieſen Betrachtungen alle Erforderniſſe des Ge-
mäldes im ſymboliſchen Styl wieder auf das einzige zurückbringen, daß
alles der Schönheit untergeordnet ſey, denn dieſe iſt immer ſymboliſch.
Der bildende Künſtler iſt in Anſehung ſeiner Gegenſtände ganz an die
Geſtalt gewieſen, da er dieſe allein ausdrücken kann. Der Dichter,
welcher nicht Geſtalten für die Anſchauung aufſtellt, beleidigt die
Schönheit nicht nothwendig, wenn er auch in der Leidenſchaft zum
Heftigeren geht, der bildende Künſtler aber, nur an die Anſchauung
gewieſen, iſt in dem Fall, die Schönheit nothwendig zu beleidigen,
wenn er ſich nicht auf einen gewiſſen Grad des Ausdrucks der Leiden-
ſchaften einſchränkt: allerdings der plaſtiſche Künſtler noch mehr als der
malende, theils weil dieſem viele Mittel der Milderung durch Licht und
Schatten zu Gebot ſtehen, die jenem nicht, theils weil von der andern
Seite alles Plaſtiſche eine größere Gewalt der Wirklichkeit war. Die
Einſchränkung jener ſtrengen Forderungen, welche an die Plaſtik gemacht
werden müſſen, in Bezug auf Malerei ergeben ſich übrigens auch ſchon
[559] daraus, daß ſie, auch bloß allegoriſch, nicht aufhört Kunſt zu ſeyn,
und daß ſie, einmal mit dem Schein ſich vermengend, auch mit dem
Empiriſchen kecker als die Skulptur ſich verbinden kann, — freieres
Spiel hat.
In allen heftigeren Bewegungen der Seele entſtellen ſich die Züge
wie die Haltung des Körpers und alle Formen der Schönheit. Die
Stille iſt der der Schönheit eigenthümliche Zuſtand, wie die Ruhe dem
ungeſtörten Meere. Nur in der Ruhe kann die menſchliche Geſtalt
überhaupt und das Geſicht der Spiegel der Idee ſeyn. Auch hierin
deutet die Schönheit auf Einheit und Indifferenz als ihr wahres
Weſen hin.
Das Gegentheil dieſes ruhigen und großen Styls nannten die
Alten Parenthyrſos, welcher einen gemeinen Styl erzeugt, dem nichts
als das Ungewöhnliche in Stellungen und Handlungen, ein freches
Feuer, die heftigen, flüchtigen und ſchreienden Gegenſätze, genügen.
Dieſes Verwirrende der Darſtellung hervorzubringen, ſind die meiſten
artiſtiſchen Regeln der neueren Theoretiker über die Compoſition und
das, was ſie den Contraſtoff nennen, erfunden. Dafür iſt in den
Werken dieſes Styls alles in Bewegung, man befindet ſich, wie Win-
kelmann ſagt, unter den Gegenſtänden derſelben, wie in einer Geſell-
ſchaft, worin alle zugleich reden wollen.
Die Ruhe in der Größe und jenes höhere Symboliſche des hiſto-
riſchen Gemäldes, das es als Ausdruck der Ideen erhält, hat vor allen
andern neueren Meiſtern Raphael erreicht. Nur demjenigen, der
den Sinn dafür in ſich gebildet hat, wird in der Ruhe und Stille der
Hauptfiguren ſeines Gemäldes, welche andern leblos ſcheinen mögen,
die höchſte Schönheit aufgehen. Von dieſer Art iſt ſein Bild des Attila,
auf welchem der Moment dargeſtellt iſt, wie der römiſche Biſchof dieſen
Eroberer zum Rückzug bewegt. Alles, was in dieſem Bilde von
erhabener Natur iſt, der Pabſt und ſeine Begleiter, wie die beiden vom
Himmel her ſchwebenden Apoſtel, Petrus und Paulus, iſt in jenem
Sinn der Ruhe gedacht. Der Pabſt erſcheint in der ſtillen Sicherheit
eines ehrwürdigen Mannes, der einen Aufruhr durch ſeine bloße
[560] Gegenwart ſtillt. Die Apoſtel erſcheinen ohne gewaltſame Bewegung
drohend und erſchreckend. Im Attila iſt Schrecken wahrzunehmen, und
jener Ruhe und Stille der würdigeren Stelle ſteht die Unruhe und
Bewegung auf der andern Seite entgegen, wo zum Abmarſch geblaſen
wird, und alles voll Verwirrung und Beſtürzung ſich zum Rückzug
wendet. Ueberhaupt iſt Raphael von Seiten der Höhe der Erfindung
der einzig größte, und wenn wir im Vorhergehenden in Anſehung jeder
der beſonderen Kunſtformen einen als den überwiegenden auszeichneten,
in der Zeichnung den Michel Angelo, im Helldunkel Correggio, im
Colorit Tizian, ſo müſſen wir von Raphael behaupten, daß er alle
dieſe Formen im Gleichgewicht beſeſſen, und demnach der wahrhaft
göttliche Prieſter der neueren Kunſt iſt. Den Michel Angelo trieb die
Macht ſeines Geiſtes in der Zeichnung unwiderſtehlich und faſt aus-
ſchließlich zum Gewaltſamen, Starken und Schrecklichen; nur in ſolchen
Gegenſtänden konnte die wahre Tiefe ſeiner Kunſt ſichtbar werden.
Den Correggio beſchränkte ſeine große Kunſt im Helldunkel im Zarten,
Sanften und Gefälligen wieder in Anſehung der Gegenſtände; er
bedurfte derjenigen, welche vorzugsweiſe die Ausübung des erſten begün-
ſtigen, und welche die Weichheit der Umriſſe, das Schmeichelnde der
Formen verſtatten. Endlich war Tizian, als der höchſte Meiſter im
Colorit, damit am meiſten auf die Wahrheit und die Nachahmung ein-
geſchränkt. In der Seele des Raphael ruhten alle dieſe Formen im
gleichen Gewicht, Maß und Ziel, und da er keiner beſonderen ver-
bunden war, blieb ſein Geiſt für die höhere Invention frei, ſowie für
die wahre Erkenntniß des Charakters der Alten, die er, der einzige
unter den Neueren, bis zu einem gewiſſen Punkte erreicht hat. Seine
Fruchtbarkeit führt ihn doch nie über die Grenze des Nothwendigen,
und in aller Milde ſeines Gemüths bleibt doch die Strenge ſeines
Geiſtes beſtehen. Er verſchmäht das Ueberflüſſige, wirkt mit dem Ein-
fachſten das Größte, und haucht damit ſeinen Werken ein ſolches objek-
tives Leben ein, daß ſie ganz in ſich ſelbſt beſtehend, ſich aus ſich ſelbſt
entwickelnd und mit Nothwendigkeit erzeugend erſcheinen. Daher, obgleich
er ſich über das gemeinhin Mögliche erhebt, doch die Wahrſcheinlichkeit
[561] ſeiner Werke; daher in ihrer Uebernatürlichkeit doch wieder die höchſte,
in Unſchuld übergehende Natürlichkeit, jenes letzte Kennzeichen der Kunſt.
Bisher war von der Kunſt des hiſtoriſchen Gemäldes rein als
ſolcher die Rede. Es iſt nöthig, daß wir noch von den Gegenſtänden
des hiſtoriſchen Gemäldes handeln. — Vorzüglich kommt dabei eine
Frage in Betracht, welche nicht nur die Liebhaber, ſondern ſelbſt Kenner
intereſſirt hat: durch welche in der Kunſt ſelbſt liegende Mittel es
möglich ſey, einen Gegenſtand maleriſch ſo darzuſtellen, daß er als
dieſer erkannt werde. Man ſetzt nämlich bei dieſer Frage voraus, daß
die Hauptſache im hiſtoriſchen Gemälde die wirkliche, empiriſche Er-
kennbarkeit des Gegenſtandes ſey: allein dieß kann wenigſtens nicht auf
irgend eine Weiſe zum Geſetz gemacht werden, weil, ſobald es allge-
mein gedacht wird, die Forderung ſelbſt ungereimt iſt. Wer z. B. in
dem oben angeführten Gemälde des Raphael den römiſchen Biſchof
nicht nur ſo weit als nöthig iſt dieſen allgemeinen Charakter zu wiſſen,
ſondern auch perſönlich als den, der ſo oder ſo geheißen hat, bezeichnet
wiſſen wollte, der müßte die Sitte der alten Maler, ihren Figuren
Zettel aus dem Munde herausgehen zu laſſen, worauf ihre Bedeutung
geſchrieben ſtand, für die zweckmäßigſte erklären. Die Forderung, ein
Gemälde bis zur empiriſchen Wirklichkeit zu begreifen, muß alſo immer
eingeſchränkt bleiben, und das Symboliſche des hiſtoriſchen Gemäldes
erhebt ſchon von ſelbſt über dieſen Geſichtspunkt. Wir würden von
der hohen Schönheit der Gruppe des Laokoon nichts verlieren, wenn
wir auch nicht durch Plinius und Virgilius von dem Namen des
Leidenden unterrichtet wären. Die Grundforderung iſt nur, daß der
Gegenſtand an und für ſich ſelbſt vollkommen und klar erkennbar ſey.
Iſt das Gemälde ſeinem eigentlichen Gegenſtande nach ſymboliſch, ſo
gehört es ſchon von ſelbſt zu einem gewiſſen mythologiſchen Kreis, deſſen
Kenntniß auf eine allgemeingültige Weiſe vorausgeſetzt wird. Iſt es
der erſten Intention nach hiſtoriſch, ſo ſtehen eben der maleriſchen
Darſtellung Mittel genug zu Gebot Zeitalter und Nation zu bezeichnen.
Nicht eben allein durch das, was man Beobachtung des Koſtüms in
der Kleidung nennt, das bei antiken Gegenſtänden freilich darum nicht
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 36
[562] verletzt werden darf, weil es mit zu der Schönheit gehört. Allein auch
in einem Gemälde, das neuere Gegenſtände vorſtellt, müſſen ſich
unabhängig von Kleidung, z. B. bei nackten Figuren oder bei einem
nicht eben die Zeit charakteriſirenden Koſtüm Mittel genug finden
laſſen die Zeit zu bezeichnen. In der Schlacht des Conſtantin von
Raphael würde ohne alle andern Merkmale das Zeichen des Kreuzes
hinreichen zu belehren, daß eine Begebenheit aus der Geſchichte des
Chriſtenthums vorgeſtellt werde. Von denjenigen Gegenſtänden, die
nicht durch wahrhaft künſtleriſche Mittel bezeichnet werden können, kann
man zum voraus mit Gewißheit ſagen, daß ſie der künſtleriſchen Dar-
ſtellung überhaupt nicht werth ſeyen. Wenn z. B. Künſtler eines
neueren Staates angewieſen ſind, vorzüglich edle Handlungen aus der
vaterländiſchen Geſchichte darzuſtellen, ſo iſt die geforderte Nationalität
(= Nicht-Univerſalität) ebenſo ſonderbar als die Forderung, die Sittlich-
keit der Handlungen zu malen — und dann mögen die Soldaten auch
immerhin noch in preußiſchen Uniformen gemalt werden. Wir müſſen
uns hier deſſen erinnern, was in der Unterſuchung über Mythologie
bemerkt wurde, daß, da uns eine univerſelle Mythologie fehlt, jeder
Künſtler ſich aus dem vorliegenden Stoff der Zeit eine ſpecielle Mytho-
logie ſchaffen kann. Daß er von der Geſchichte nichts aufnehme, was
nicht in demjenigen Kreis der Hiſtorie liegt, den man als allgemein-
gültig annehmen kann, iſt etwas, worauf er noch aus viel höheren
Gründen als der bloßen Beſorgniß unverſtanden zu bleiben einge-
ſchränkt iſt.
Außer den allgemeineren Bedingungen der Verſtändlichkeit des
hiſtoriſchen Gemäldes kann aber noch die beſondere hinzu kommen, daß
eine Begebenheit durch eine vorhergehende bedingt iſt, die zu ihrem
Verſtändniß nothwendig erfordert wird. Fürs erſte kann man auch in
dieſer Rückſicht zweifeln, ob eine Begebenheit, die der künſtleriſchen
Darſtellung werth iſt, nicht von ſich ſelbſt ſo prägnant ſey, daß man
in der Gegenwart wenigſtens die nächſte Vergangenheit erblickt, wie
z. B. in der Gruppe des Laokoon niemand darüber zweifelhaft ſeyn
kann. Wer ſich hiezu unfähig fühlt, dem wäre wieder ein Mittel älterer
[563] Maler zu empfehlen, welche frühere Momente der Geſchichte im Hin-
tergrund darſtellen und den Helden derſelben auf einem und demſelben
Bilde mehrmals vorkommen laſſen. Ein anderer Fall noch wäre, wenn
eine darzuſtellende Begebenheit auf mehrere weiter entfernte Begeben-
heiten nothwendig zurückwieſe, und ſie zu ihrem Verſtändniß forderte.
Ich glaube auch hieran zweifeln zu müſſen, obgleich, wenn dieſe For-
derung wirklich exiſtiren könnte, man allerdings ſich auf den Vorſchlag
zurückziehen müßte der in den Propyläen geſchieht, nämlich den eines
Cyklus hiſtoriſcher Darſtellungen, einer Reihe von Bildern, die ver-
ſchiedene Momente einer zuſammenhängenden Geſchichte fixiren. Man
muß dieß freilich nicht, wie einige gethan haben, zu ſtreng nehmen und
die wirkliche abſolute Stetigkeit fordern, wozu eine unendliche Reihe
von Bildern nicht hinreichen würde.
Das Princip, aus welchem dieſe ganze Unterſuchung über Ver-
ſtändlichkeit hiſtoriſcher Gemälde zu entſcheiden iſt, iſt ohne allen
Zweifel dieſes: die hiſtoriſche Kenntniß der Begebenheit, welche dar-
geſtellt wird, nach allen ihren gegenwärtigen und vergangenen Be-
dingungen trägt zum Genuſſe des Kunſtwerks bei, allein dieſe Art des
Genuſſes ſelbſt liegt außer dem Kreis der Beabſichtigung des Künſtlers.
Sein Werk muß den Reiz nicht erſt von dieſem fremdartigen Intereſſe
entlehnen. Viele Bildungen auf alten Kunſtwerken ſind unverſtändlich
geweſen, man hat ſie nachher durch gelehrten Fleiß entziffert; viele ſind
es noch und ſie verlieren dadurch nichts an der wahrhaft künſtleriſchen
Schönheit.
Es iſt gleich unrichtig, zu fordern, daß im Gemälde ſelbſt alle
Anleitung zum empiriſch-hiſtoriſchen Verſtändniſſe deſſelben gegeben ſey,
und der Maler für uns gleichſam ein Lehrer der Geſchichte werde, und
hinwiederum das Gemälde zwar davon freizuſprechen, dagegen von dem
Beſchauer die gelehrte Kenntniß zu fordern. Das letztere iſt darum
fehlerhaft, a) weil man nicht weiß, wo man mit dieſer Gelehrſamkeit an-
fangen, und wo man enden ſoll, b) weil man die empiriſch hiſtoriſche Ver-
ſtändlichkeit dabei als etwas Weſentliches gelten läßt, und ihre Bedingung
doch in etwas Zufälliges, nämlich die Kenntniß des Betrachters legt.
[564]
Das Gemälde hat nur die innern Forderungen zu erfüllen, wahr,
ſchön, ausdrucksvoll und allgemein bedeutend zu ſeyn, ſo daß es des
zufälligen Reizes, ſelbſt von der Kenntniß der beſonderen empiriſchen
Begebenheit, die es vorſtellt, allenfalls entbehren kann. Ebenſo fehler-
haft von Seiten der Kunſt iſt es der Gelehrſamkeit als der Ungelehr-
ſamkeit zu ſchmeicheln. Wer ſich getrieben fühlt, der Kunſt recht zu
genießen und auch dieſen höheren Antheil ſeines Gemüths an einer
bekannten Begebenheit nicht aufzugeben, mag ſelbſt ſehen, wie er ſich
in den Stand ſetzt dieſe ſtumme Dichtkunſt, die immer und nothwendig
entweder allegoriſch oder ſymboliſch bleibt, auch von ihrer hiſtoriſchen
Seite zu verſtehen. Sein Gemüth wird dadurch mehr bewegt werden,
die künſtleriſche Anſchauung aber nichts gewinnen, was ſie nicht auch
ohne jene Kenntniß hätte erlangen können.
Wir haben die Malerei bis zu ihrer äußerſten Höhe der hiſtoriſch-
ſymboliſchen Darſtellung begleitet. Wie aber alles Menſchliche, ſobald
in Einer Richtung der Gipfel erreicht, ſich ſogleich auch von der an-
deren Seite wieder herunter neigt, ſo iſt auch die Malerei dieſem
Schickſal nicht entgangen. Kurze Zeit nach Erreichung der höchſten
Kunſt und auf dem Schauplatz ſelbſt der herrlichſten Denkmäler der-
ſelben bildete ſich die fremdartigſte Ausartung des Geſchmacks in der
Gattung, welche das hiſtoriſche Gemälde zum Niedrigen und Gemeinen
herunterzieht, der Bambocciade. Den Urſprung gab ihr der Nieder-
länder Peter Laar, genannt il Bamboccio, der im Anfang des ſieben-
zehnten Jahrhunderts nach Rom kam und ſich durch ſeine Poſſen, die
ein glänzendes Colorit und ein frecher Pinſelſtrich auszeichnete, ſo großen
Beifall erwarb, daß dieſe bald allgemeiner Geſchmack und von den
Großen eben ſo ſehr begünſtigt wurde, als zuvor die ächte Kunſt be-
günſtigt worden war. Man muß geſtehen, daß die erſten Bamboc-
cianten es an kunſtvoller Behandlung nicht fehlen ließen, und ihr Ge-
genſatz zu den ernſthaft-gemeinen niederländiſchen Gemälden war, daß
jene ſich ſelbſt nur als Parodien der großen Kunſt betrachteten. Die
nothwendige Forderung an den, der mit ſeiner Kunſt ſcherzen will, iſt,
daß er die Meiſterſchaft in hohem Grade beſitze. Die Verirrung iſt
[565] freilich noch immer nicht ſo groß als in der jetzigen Zeit, wo Bamboc-
ciaden in der Poeſie und andern Künſten ohne Kraft, Wahrheit und
Meiſterſchaft die allgemeinſte Wirkung machen. Die Geſchichten dieſer
Geiſtesepidemien erläutern ſich wechſelſeitig, obgleich freilich, was unſre
Zeit in dem niedrigen Fach aufzuweiſen hat, gegen die ähnlichen Pro-
dukte jener früheren Zeit ſoweit abſticht als dieſe ganze Zeit gegen
jene frühere in Anſehung der Kunſt überhaupt. Jene waren im Nie-
drigen wenigſtens meiſterhaft, dieſe ſind ſelbſt im Allerniedrigſten nicht
einmal zu einem Grad der Meiſterhaft gelangt. — Verwerflichkeit
Hogarths.
Auf dieſe Weiſe hätten wir den ganzen Kreis der maleriſchen
Darſtellung, wie er ſich von der erſten bloßen Nachahmung todter
Gegenſtände zum Gipfel erhebt und von da nach der andern Seite
wieder zum Gemeinen herabſenkt, durchlaufen.
Ich gebe nun kurz die Sätze die Malerei betreffend an. Der letzte
(Zuſatz zu §. 87) war: „Die beſonderen Formen der Einheit, ſofern
ſie in der Malerei zurückkehren, ſind Zeichnung, Helldunkel und Colorit.“
Es bedurfte zur Erläuterung dieſes Satzes nichts als des allgemeinen
Begriffs der drei Einheiten ſelbſt. Die Zeichnung iſt hinlänglich da-
durch charakteriſirt, daß ſie als die reale, das Helldunkel dadurch, daß
ſie als die ganz ideale Form der Malerei bezeichnet wurde. Alle Be-
ſtimmungen einer jeden dieſer Formen ſowie ihr Verhältniß zueinander
ſind unmittelbar daraus einzuſehen. Das Colorit insbeſondere betref-
fend, ſo iſt es dasjenige, was den Schein und die Wahrheit, das
Ideale und Reale ganz indifferenziirt und eins macht. Ich füge daher
nur noch die Sätze bei, welche die Gegenſtände der Malerei betreffen.
§. 88. Die Malerei hat ihre Gegenſtände als Formen
der Dinge darzuſtellen, wie ſie in der idealen Einheit
vorgebildet ſind. — Die Muſik hat die realen Formen darzuſtellen,
die Malerei die Dinge, wie ſie in der rein idealen Einheit als ſolcher.
Denn ſie ergreift nur das rein-Ideale der Dinge, und ſondert es von
dem Realen ganz ab.
Zuſatz 1. Die Malerei geht alſo vorzüglich auf Darſtellung von
[566] Ideen von der idealen Seite. — Jede Idee hat, wie das Abſolute, zwei
Seiten, eine reale und eine ideale, oder: ſie iſt ganz gleich real und
ideal, aber im Realen als ein Anderes, als ein Seyn, nicht als Idee.
Die Malerei alſo, indem ſie die Gegenſtände vorzugsweiſe von der
idealen Seite darſtellt, geht nothwendig auf Darſtellung der Ideen als
ſolcher.
Zuſatz 2. Inwiefern die Malerei alle Gegenſtände überhaupt
nicht unmittelbar und an ſich ſelbſt, ſondern nur durch ihr Allgemeines,
Ideales bedeutet, iſt ſie allgemein ſchematiſirend. Auf ſich ſelbſt be-
zogen oder in ſich ſelbſt iſt ſie aber nothwendig wieder allegoriſch und
ſymboliſch.
Anmerkung. Das Schematiſirende iſt allgemeines Princip der
modernen Religion. Daher die Malerei in der neueren Welt vor-
herrſchend. (Warum nicht Plaſtik?) Die Mutter Gottes von Michel-
angelo = Juno.
§. 89. Die Malerei iſt bloß allegoriſch in denjenigen
Gegenſtänden, die nicht um ihrer ſelbſt willen dargeſtellt
werden. — Denn was nicht um ſeiner ſelbſt willen, bloß um eines
andern willen, iſt es bedeutend.
Anmerkung. Hieher gehören die untergeordneten Gattungen des
Still-Lebens, der Blumen- und Frucht-, ſowie im Ganzen auch der
Thierſtücke. Alle dieſe Gattungen ſind entweder überhaupt keine
Kunſtgattungen oder von allegoriſcher Bedeutung. Was Thierſtücke ins-
beſondere betrifft, ſo iſt die Natur in der Produktion der Thiere ſelbſt
gewiſſermaßen allegoriſch, ſie deutet ein Höheres, die menſchliche Ge-
ſtalt an, es ſind unvollkommene Verſuche, die höchſte Totalität zu pro-
duciren. Selbſt der Charakter, den ſie in das Thier wirklich gelegt
hat, ſpricht ſich in ihm nicht vollkommen aus, ſondern iſt bloß ange-
deutet und wird errathen. Aber auch der bekannte Charakter des Thiers
iſt nur eine einſeitige Erſcheinung des Totalcharakters der Erde, und
inwiefern dieſer im Menſchen am vollkommenſten ausgedrückt iſt, des
Menſchen.
§. 90. Die Malerei iſt bloß ſchematiſirend in der
[567] Landſchaft. — Denn es wird in dieſer nicht das wahrhaft Geſtaltete,
Begrenzte und durch dieſes das Unbegrenzte dargeſtellt, vielmehr wird
umgekehrt das Begrenzte hier durch das Unbegrenzte und Formloſe an-
gedeutet; das Geformte wird durch die Form ſymboliſirt, welche formlos.
Demnach ſchematiſirend.
§. 91. Die Malerei innerhalb ihrer Grenzen erhebt
ſich zum Symboliſchen, ſofern der dargeſtellte Gegen-
ſtand die Idee nicht bloß bedeutet, ſondern es ſelbſt iſt.
§. 92. Die unterſte Gattung des Symboliſchen iſt,
wo ſie ſich mit dem Symboliſchen begnügt, das der natür-
liche Gegenſtand an und für ſich ſelbſt hat, d. h. wo ſie
bloß nachahmt.
Zuſatz. Da kein natürlicher Gegenſtand außer der menſchlichen
Geſtalt wahrhaft ſymboliſche Bedeutung hat, ſo iſt dieſes der Fall des
Portraits.
§. 93. Die höhere Stufe des Symboliſchen iſt, wo
das Symboliſche der Natur wieder zur Bedingung eines
noch höheren Symboliſchen gemacht wird. Iſt von ſelbſt klar.
§. 94. Wird das Symboliſche der Natur nur zur Alle-
gorie der höheren Idee gemacht, ſo entſteht die Allegorie
der höheren Art.
Bemerken Sie hiebei, daß die erſte Stufe des Symboliſchen hier-
durch inſofern doch überſchritten iſt als jenes ſchon wieder zur Bedingung
oder Form und nicht zum Gegenſtand der Darſtellung gemacht wird.
Ein allegoriſches Gemälde in dieſem Sinn iſt im niedereren Sinne
ſymboliſch, inwiefern es nämlich die menſchliche Geſtalt in ihrer Schön-
heit zur Bedingung der Allegorie macht, der höheren Intention nach
aber allegoriſch.
§. 95. Schlechthin ſymboliſch iſt die Malerei, wenn
ſie abſolute Ideen im Beſondern ſo ausdrückt, daß jene
und dieſes abſolut Eines ſind.
§. 96. Erklärung. Die Malerei als ſchlechthin ſym-
boliſch kann allgemein hiſtoriſch heißen inſofern, als das
[568] Symboliſche, indem es ein anderes bedeutet, zugleich es
ſelbſt iſt, und alſo eine von der Idee unabhängige, hiſto-
riſche Exiſtenz an ſich hat.
§. 97. Das hiſtoriſche Gemälde iſt ſymboliſch-hiſto-
riſch, wo die Idee das Erſte iſt, und das Symbol erfunden
iſt, um ſie darzuſtellen.
Beiſpiele: Das jüngſte Gericht von Michel Angelo, die Schule
von Athen und der Parnaß von Raphael.
§. 98. Das Gemälde iſt hiſtoriſch-ſymboliſch, wo das
Symbol oder die Geſchichte das Erſte iſt, und dieſe zum
Ausdruck der Idee gemacht wird. — Dieß iſt das hiſtoriſche
Gemälde in der gewöhnlichen Bedeutung.
§. 99. Das Symboliſche in dem Gemälde findet in
dem Verhältniß ſtatt, in welchem der Ausdruck des Abſo-
luten erreicht iſt.
§. 100. Die erſte Forderung an das ſymboliſche Ge-
mälde iſt daher Adäquatheit der Ideen, Aufhebung des
Verworrenen im Concreten — was Winkelmann die hohe Ein-
falt genannt hat.
(Bemerken Sie, daß dieß nur vom ſymboliſchen Gemälde im höch-
ſten Styl, nicht aber von der Malerei überhaupt und ſchlechthin be-
trachtet geſagt iſt).
§. 101. Aus dieſer Forderung folgt von ſelbſt, daß
Seyn und Thätigkeit in dem Gegenſtand eins ſeyen. — Denn
wenn durch die Thätigkeit im Gegenſtand das Seyn, durch die Form
das Weſen verworren wird, wird die Adäquatheit der Vorſtellung aufge-
hoben. Alſo gemäßigte Thätigkeit, die das Seyn und Gleichgewicht des
Weſens nicht aufhebt. — Winkelmanns ruhige Größe.
§. 102. Da die Schönheit das an und für ſich und ab-
ſolut Symboliſche iſt, ſo iſt Schönheit das höchſte Geſetz
der maleriſchen Darſtellung.
§. 103. Die Malerei kann das Niedrige darſtellen
nur, inwiefern es als das Entgegengeſetzte der Idee doch
[569] wieder Reflex derſelben und alſo das umgekehrt Symbo-
liſche iſt. — Dieſer Satz hat eine allgemeine Gültigkeit für die Dar-
ſtellung der ſchönen Kunſt überhaupt. Sie kann ſich in die Sphäre
des Niedrigen nur begeben, inwiefern ſie auch in dieſer wieder das
Ideal erreicht und es völlig umkehrt. Dieſe Umkehrung iſt überhaupt
das Weſen des Komiſchen. In dieſem Sinn haben auch die Alten
komiſche und niedrige Darſtellungen. Es iſt damit, wie mit der allge-
meinen Anſicht der Welt, welcher gemäß man ſagen kann, daß die
Weisheit Gottes am meiſten in der Thorheit der Menſchen objektiv
werde. So kann die höchſte Weisheit und innere Schönheit des Künſt-
lers ſich in der Thorheit oder Häßlichkeit desjenigen ſpiegeln, was er
darſtellt, und nur in dieſem Sinn kann das Häßliche Gegenſtand der
Kunſt werden, indem es durch dieſen Reflex gleichſam aufhört es
zu ſeyn.
Ich gehe nun zu der dritten Form der bildenden Kunſt über und
verfahre in Conſtruktion derſelben ebenſo wie in Conſtruktion der vor-
hergehenden.
§. 104. Lehnſatz. Die vollkommene Ineinsbildung
oder Indifferenz der beiden Einheiten, im Realen aus-
gedrückt, iſt die Materie ſelbſt, dem Weſen nach be-
trachtet. — Nach §. 71 iſt die Materie, als Potenz betrachtet, die
reale Einheit. Inwiefern ſie aber alle Einheiten wieder in ſich begreift,
d. h. dem Weſen nach betrachtet, iſt ſie = Indifferenz = dritter Einheit.
Zuſatz. Um den Zuſammenhang mit dem Vorhergehenden einzu-
ſehen, bemerke ich Folgendes: Die Conſtruktion der Materie beruht auf
drei Potenzen, aber dieſe ſind allgemeine Kategorien, ſo daß, wie die
Materie im Einzelnen, auch die Natur im Ganzen wieder auf denſel-
bigen beruht. Durch die erſte Potenz iſt die Materie anorgiſch, dem
Schema der geraden Linie untergeordnet, durch die zweite organiſch,
durch die dritte Ausdruck der Vernunft. Dieſelben Potenzen kehren
aber in Anſehung des Ganzen der Materie ſelbſt wieder zurück. Die
Materie iſt im Ganzen wieder anorgiſch, und organiſch, und nur in
der dritten Potenz, im menſchlichen Organismus, Ausdruck der Vernunft.
[570] Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, ſo iſt die Muſik die an-
orgiſche Kunſt, die Malerei organiſch, denn ſie drückt in der höchſten
Stufe die Identität der Materie und des Lichts aus. Erſt in der
dritten Kunſtform wird ſie abſoluter Ausdruck der Vernunft.
Wir behaupten nun: „die vollkommne Indifferenz der beiden Ein-
heiten, im Realen ausgedrückt, ſey die Materie dem Weſen nach be-
trachtet.“ Das Weſen der Materie nämlich iſt die Vernunft, deren
unmittelbarer Ausdruck im Stoff der Organismus iſt, ſowie der Or-
ganismus als das Weſen der anorgiſchen Materie ſich wieder in dieſer
ſymboliſirt. Die erſte Potenz iſt das bloße Anorgiſche, Geradlinige,
die Cohäſion. Der Kunſt der erſten Potenz alſo, die bloß die erſte
Potenz zum Mittel der Darſtellung nimmt, wird die Cohäſion im
Klang zum Leib. Die zweite Potenz beruht auf dem Gleichſeyn des
Lichts und des Körpers durch verſchiedene Stufen: organiſch. Endlich
die dritte Potenz iſt das Weſen, das An-ſich der erſten und der
zweiten Potenz; denn da die verſchiedenen Potenzen ſich bloß dadurch
von einander unterſcheiden, daß in der erſten das Ganze, aber unter-
geordnet der Endlichkeit, ebenſo in der zweiten das Ganze, aber unter-
geordnet der Unendlichkeit oder Identität erſcheint, ſo iſt in allen Po-
tenzen das Weſen oder An-ſich daſſelbe.
§. 105. Die Kunſtform, welcher die Indifferenz der
beiden Einheiten oder das Weſen der Materie zum Leib
wird, iſt Plaſtik in der allgemeinſten Bedeutung des
Worts. — Denn die Plaſtik ſtellt ihre Ideen durch reale körperliche
Gegenſtände dar, anſtatt daß die Muſik von der Materie bloß das
Anorgiſche (die Form, das Accidens), die Malerei das rein Organiſche
als ſolches, das Weſen, das rein Ideale des Gegenſtandes darſtellt.
Die Plaſtik ſtellt in der realen Form zugleich das Weſen und das
Ideale der Dinge, demnach überhaupt die höchſte Indifferenz des We-
ſens und der Form dar.
Folgeſatz 1. Die Plaſtik iſt als Kunſt urſprünglich der dritten
Dimenſion untergeordnet.
Folgeſatz 2. Wie die Muſik im Ganzen die Kunſt der Reflexion
[571] oder des Selbſtbewußtſeyns, die Malerei der Subſumtion oder der
Empfindung iſt, ſo iſt die Plaſtik vorzugsweiſe Ausdruck der Vernunft
oder Anſchauung.
Folgeſatz 3. Ueber das Verhältniß der drei Grundformen der
Kunſt kann ich mich auch ſo ausdrücken. Die Muſik ſtellt das Weſen
in der Form dar, inſofern alſo nimmt ſie die reine Form, das Accidens
der Dinge als Subſtanz auf und bildet durch daſſelbe. Die Malerei da-
gegen ſtellt die Form in dem Weſen dar und bildet, inwiefern das
Ideale auch das Weſen iſt, die Dinge in dem Weſen vor. Jene daher
iſt quantitativ, dieſe qualitativ. Die Plaſtik dagegen ſtellt Subſtanz und
Accidens, Urſache und Wirkung, Möglichkeit und Wirklichkeit als Eines
dar. Sie drückt alſo die Formen der Relation aus (Quantität und
Qualität als eins).
Folgeſatz 4. Die Plaſtik iſt ihrem Weſen nach ſymboliſch. —
Dieß folgt unmittelbar daraus, daß ſie weder allein die Form darſtellt
(in welchem Fall ſchematiſch), noch allein das Weſen oder Ideale (in
welchem Fall allegoriſch), ſondern beides in der Indifferenz, ſo daß weder
das Reale das Ideale noch das Ideale das Reale bedeutet, ſondern
beide abſolut eins ſind.
§. 106. Die Plaſtik für ſich allein faßt alle andern
Kunſtformen als beſondere in ſich, oder: ſie iſt in ſich
ſelbſt wieder und in abgeſonderten Formen Muſik, Ma-
lerei und Plaſtik.
Dieß folgt daraus, daß die Plaſtik das An-ſich der übrigen dar-
ſtellt, dasjenige, aus dem die andern als beſondere Formen hervor-
gehen. Auch die Muſik und die Malerei, jede derſelben, faßt wieder
alle Einheiten in ſich. In der Muſik z. B. iſt der Rhythmus die
Muſik, die Harmonie die Malerei, die Melodie der plaſtiſche Antheil,
aber die Muſik faßt dieſe Formen nicht als abgeſonderte Kunſtformen,
ſondern als Einheiten von ihr ſelbſt in ſich. Ebenſo die Malerei. Die
Meinung iſt aber, daß in der Plaſtik als der Totalität aller bildenden
Kunſtformen dieſe wieder abgeſondert von einander enthalten ſeyen.
Erläuterung. Die Muſik, ſagten wir, nimmt die Einbildung
[572] der Einheit in die Vielheit rein als ſolche zur Form. Aber eben dieſe
iſt ja auch wieder eine Potenz der Materie, dem Weſen nach betrachtet;
ſie kann alſo auch ſelbſt wieder körperlich ausgedrückt werden. Die
Muſik ſtellt dieſe Einheit nicht durch Körper dar, ſondern nur als
Akt und inſofern ideal. Aber ſowie dieſe ſelbige Einheit in der Ma-
terie auch real, nämlich in der Körperreihe dargeſtellt iſt, ſo kann und
muß ſie auch in der Plaſtik wiederum, nur nicht bloß durch die Form,
ſondern zugleich weſentlich, alſo weil Weſen und Form zuſammenge-
nommen Körper iſt, körperlich ausgedrückt werden. Daſſelbe läßt
ſich von der Malerei zeigen. Auch dieſe nimmt die ideale Einheit
nur als Potenz und inſofern als Form auf. Aber dieſelbige muß auch
real, demnach körperlich und durch die Plaſtik ausgedrückt werden können.
Ich bemerke zum voraus, daß die drei Kunſtformen Muſik, Ma-
lerei und Plaſtik, ſofern ſie in der Plaſtik als abgeſonderte Formen
wiederkehren, die Architektur, das Basrelief und die Plaſtik
ſind, die letzte im engeren Sinn, ſofern ſie nämlich runde Figuren
und von allen Seiten darſtellt. Ich werde nun auch die Conſtruktion
der drei Formen nach der angegebenen Ordnung vortragen.
§. 107. Die anorgiſche Kunſtform oder die Muſik
in der Plaſtik iſt die Architektur. — Der Beweis beruht auf
mehreren Mittelgliedern, welche folgende ſind:
Daß die Architektur überhaupt eine Art der Plaſtik ſey, erhellt
von ſelbſt, da ſie ihre Gegenſtände durch körperliche Dinge darſtellt.
Daß ſie aber die Muſik in der Plaſtik ſey, iſt auf folgende Art einzu-
ſehen. Es muß überhaupt eine ſolche Kunſtform in der Plaſtik vor-
kommen, durch welche ſie zum Anorgiſchen zurückſtrebt. Da ſie aber
ihrem innerſten Weſen nach organiſch iſt, ſo wird dieſes Zurückſtreben
nach keinem andern Grund oder Geſetz geſchehen können, als nach
welchem auch der Organismus in der Natur wieder zur Produktion des
Anorgiſchen zurückgeht. Nun geht aber der Organismus (ein Satz,
der in der Naturphiloſophie bewieſen und hier nur als Lehnſatz aufge-
nommen wird) zu dem Anorgiſchen nur in den Produktionen des
Kunſttriebs der Thiere zurück. Die anorgiſche Form wird alſo innerhalb
[573] der Plaſtik nur nach dem Geſetz und Grund der Kunſttriebe ſtattfinden
können.
Wir haben jetzt alſo dieſes zu beſtimmen.
In der Naturphiloſophie iſt bewieſen, daß der ſogenannte Kunſt-
trieb der Thiere nichts anderes als eine beſtimmte Richtung oder Mo-
dification des allgemeinen Bildungstriebs iſt; und der vornehmſte Be-
weis, den ich hier anführen kann, iſt, daß der Kunſttrieb in den
meiſten Gattungen als Aequivalent des Zeugungstriebs auftritt. So
ſind es die geſchlechtsloſen Bienen, die nach außen die anorgiſchen
Maſſen ihrer Zellen produciren. In andern Gattungen begleiten die
Erſcheinungen des Kunſttriebs die der Metamorphoſe oder der Geſchlechts-
entwicklung, ſo daß mit dem entwickelten Geſchlecht auch der Kunſttrieb
verſchwindet. In andern Gattungen gehen die Aeußerungen des Kunſt-
triebs der Zeit der Begattung voran. — Schon die bisherige Betrach-
tung führt uns darauf, eine gewiſſe Identität zwiſchen den Produkten
und dem Producirenden in allen Fällen des Kunſttriebs zu erkennen.
Die Biene producirt aus ſich ſelbſt den Stoff ihres Gebäudes, die
Spinne und der Seidenwurm ziehen die Fäden ihres Geſpinnſtes aus
ſich ſelbſt. Ja wenn wir noch tiefer heruntergehen, ſo verliert ſich der
Kunſttrieb ganz in anorgiſche Abſätze nach außen, die mit dem Pro-
ducirenden oder dem Thiere in Cohäſion bleiben. Von dieſer Art ſind
die Produkte der Polypen, die die Korallen bewohnen, die Schalen der
Mollusken und Auſtern, ja ſelbſt die ſteinartigen und harten Be-
deckungen mancher Inſekten, wie des Krebſes, dem deßhalb der Kunſt-
trieb verſagt iſt, der ſich bei ihm ganz in die Produktion jener Be-
deckungen verliert. Die Identität zwiſchen Producirendem und Produ-
cirtem findet hier in dem Maße ſtatt, daß wir, wie Steffens gezeigt
hat, dieſe Produktionen als das nach außen gekehrte Knochengerüſte
der unteren Thiergattungen betrachten können. Erſt auf den höheren
Stufen der Organiſation gelingt es der Natur dieſe anorgiſche Maſſe
nach innen zurückzudrängen und den Geſetzen des Organismus zu unter-
werfen. Sowie dieß einigermaßen erreicht iſt, z. B. in den Vögeln,
wo übrigens das Knochenſyſtem noch ſehr unvollkommen ausgeführt iſt,
[574] erſcheint die anorgiſche Maſſe nicht mehr in unmittelbarer Identität
mit dem Producirenden, aber ſie tritt doch nicht gänzlich aus der Co-
härenz mit ihm. Der Kunſttrieb äußert ſich freier in dem Neſterbauen
der Vögel, es findet hier eine ſcheinbare Wahl ſtatt, und das Produkt
empfängt den Abdruck eines höheren, inneren Lebens.
Noch weiter geht dieſe ſcheinbare Freiheit in Bildung eines von
dem organiſchen Weſen unabhängigen, obgleich zu ihm gehörigen Pro-
dukts in dem Bau des Bibers.
Faſſen wir alle Verhältniſſe zuſammen, ſo ergibt ſich von ſelbſt
das Geſetz, daß das Organiſche das Anorgiſche überall nur in der
Identität oder in der Beziehung auf ſich ſelbſt producirt, und wenn
wir die Anwendung auf den höheren Fall, die Produktion des An-
orgiſchen durch menſchliche Kunſt, machen, daß das Anorgiſche,
weil es an und für ſich keine ſymboliſche Bedeutung haben
kann, ſie in der Produktion durch menſchliche Kunſt, durch
die Beziehung auf den Menſchen und die Identität mit
ihm erhalten muß, und daß alſo, da dieſe Beziehung und mög-
liche Identität, bei der Vollendung der menſchlichen Natur in ſich,
nicht eine unmittelbare, körperliche, ſondern nur eine mittelbare, durch
den Begriff vermittelte Beziehung ſeyn kann, daß — aus dieſen Grün-
den — die Plaſtik, inwiefern ſie im Anorgiſchen producirt, etwas
Aeußeres in der Beziehung auf den Menſchen und ſein Bedürfniß
ſtehendes, und doch ſowohl von ihm Unabhängiges als an ſich Schö-
nes produciren muß, und weil dieß nur in der Architektur der Fall
ſeyn kann, ſo folgt, daß ſie demnach Architektur ſeyn muß.
Verſchiedene Anmerkungen.
1) Daß Architektur = Muſik, folgt vorerſt nur aus dem gemein-
ſamen Begriff des Anorgiſchen. Denn die Muſik iſt allgemein die
anorgiſche Kunſtform.
2) Eine Frage, welche uns die angegebene Conſtruktion der Archi-
tektur von ſelbſt aufdringt, iſt: inwiefern eine Kunſt, die dem Bedürf-
niß untergeordnet einem Zweck außer ihr dient, unter die ſchönen
Künſte gezählt werden könne. Schöne Kunſt iſt in ſich abſolut, alſo
[575] ohne äußeren Zweck, nicht Sache des Bedürfniſſes. Aus dieſem Grunde
haben wirklich mehrere die Architektur ausgeſchloſſen. Folgendes iſt die
Auflöſung dieſes ſcheinbaren Widerſpruchs. Daß die Kunſt als ſchöne
Kunſt keinem Zwecke untergeordnet ſeyn könne, iſt ein Axiom der rich-
tigen Anſicht, und inwiefern ſie wirklich untergeordnet, inſofern iſt ſie
auch wirklich nicht ſchöne Kunſt. Die Architektur z. B., ſofern ſie
bloß das Bedürfniß und die Nützlichkeit bezweckte, wäre nicht ſchöne
Kunſt. Allein für die Architektur als ſchöne Kunſt iſt die Nützlichkeit
und die Beziehung auf das Bedürfniß ſelbſt nur Bedingung, nicht
Princip. Jede Art der Kunſt iſt an eine beſtimmte Form der Erſchei-
nung gebunden, die mehr oder weniger unabhängig von ihr exiſtirt,
und nur, daß ſie in dieſe Form den Abdruck und das Bild der Schön-
heit legt, erhebt ſie zur ſchönen Kunſt. So iſt in Anſehung der Archi-
tektur eben die Zweckmäßigkeit die Form der Erſcheinung, nicht
aber das Weſen, und in dem Verhältniß, in welchem ſie Form und
Weſen eins macht, in welchem ſie dieſe Form, die an ſich auf Nütz-
lichkeit geht, zugleich zur Form der Schönheit macht, in dem Verhält-
niß erhebt ſie ſich zur ſchönen Kunſt. Alle Schönheit iſt überhaupt
Indifferenz des Weſens und der Form — Darſtellung des Abſoluten in
einem Beſondern —. Das Beſondere, die Form iſt nun eben die
Beziehung auf Bedürfniß. Allein wenn nun die Kunſt in dieſe Form
den Ausdruck des abſoluten Weſens legt, ſo wird nur auf dieſe In-
differenz der Form und des Weſens ſelbſt, keineswegs auf die Form
für ſich geſehen, und das beſondere Verhältniß oder die beſondere
Beziehung dieſer Form auf Nutzen und Bedürfniß fällt gänzlich hin-
weg, da ſie überhaupt nur in der Identität mit dem Weſen ange-
ſchaut wird. Architektur als ſchöne Kunſt iſt alſo ganz wieder außer
der Beziehung auf das Bedürfniß, welche bloß die Form iſt (wie und
in welcher Beziehung, dieß iſt noch genauer in der Folge auseinander
zu ſetzen); die Form aber wird hier gar nicht mehr an ſich, ſondern
nur in der Indifferenz mit dem Weſen betrachtet.
Noch andere zur Aufklärung dieſes Punktes dienende Bemer-
kungen.
[576]
a) Schöne Kunſt wird durch äußere Bedingungen und Beſchrän-
kungen nie aufgehoben oder unmöglich gemacht, z. B. bei Alfresco-Ge-
mälden, wo ein beſtimmter Raum nicht nur von beſtimmter Größe
ſondern auch Form vorgeſchrieben iſt.
b) Es gibt Gattungen der Architektur, wo das Bedürfniß, die
Nützlichkeit ganz hinwegfällt, und ihre Werke ſelbſt ſchon Ausdruck vom
Bedürfniß unabhängiger und abſoluter Ideen ſind, ja, wo ſie ſogar
ſymboliſch wird, in Tempelräumen (Tempel der Veſta nach dem Bild
der himmliſchen Umwölbung).
c) Das, was an der Architektur ſich eigentlich auf Bedürfniß be-
zieht, iſt das Innere, an dieſes aber wird die Forderung der Schön-
heit auch bei weitem zufälliger gemacht, als an das Aeußere.
Folgeſatz. Die Architektur bildet nothwendig nach arithmetiſchen
oder, weil ſie die Muſik im Raume iſt, nach geometriſchen Verhält-
niſſen. — Der Beweis iſt in Folgendem enthalten.
1. Es iſt früher bewieſen worden, daß Natur, Wiſſenſchaft und
Kunſt in ihren verſchiedenen Stufen die Folge vom Schematiſchen zum
Allegoriſchen und von da zum Symboliſchen beobachtet. Der ur-
ſprünglichſte Schematismus iſt die Zahl, wo das Geformte, Beſondere
durch die Form oder das Allgemeine ſelbſt ſymboliſirt wird. Was alſo
in dem Gebiet des Schematismus liegt, iſt der arithmetiſchen Beſtim-
mung unterworfen in der Natur und Kunſt, die Architektur, als die
Muſik der Plaſtik, folgt alſo nothwendig arithmetiſchen Verhältniſſen,
da ſie aber die Muſik im Raume, gleichſam die erſtarrte Muſik iſt,
ſo ſind dieſe Verhältniſſe zugleich geometriſche Verhältniſſe.
2. In den tieferen Sphären der Kunſt wie der Natur herrſchen
arithmetiſche und geometriſche Verhältniſſe. Auch die Malerei iſt in
der Linienperſpektive noch ganz dieſen unterworfen. Auf den höheren
Stufen der Natur, ſowie der Kunſt, wo ſie wahrhaft ſymboliſch wird,
wirft ſie jene Schranken einer bloß endlichen Geſetzmäßigkeit ab; es
tritt die höhere ein, die für den Verſtand irrational iſt, und nur
von der Vernunft gefaßt und begriffen wird: in der Wiſſenſchaft z. B. der
höheren Verhältniſſe, welche nur die Philoſophie, die ſymboliſche unter
[577] den drei Grundwiſſenſchaften, begreift: in der Natur die Schönheit der
Geſtalt, welche nur die Einbildungskraft faßt. Es liegt hier der Natur
nicht mehr an dem Ausdruck einer bloß endlichen Geſetzmäßigkeit, ſie
wird Bild der abſoluten Identität, das Chaos im Abſoluten; das
geometriſch Regelmäßige verſchwindet und das Geſetzmäßige einer höheren
Ordnung tritt ein. Ebenſo in der Kunſt in der eigentlichen Plaſtik,
welche von geometriſchen Verhältniſſen am meiſten unabhängig, ganz frei
nur die der Schönheit an und für ſich ſelbſt darſtellt, und in Betrach-
tung zieht. Da nun aber die Architektur nichts anderes iſt als ein
Zurückgehen der Plaſtik zum Anorgiſchen, ſo muß auch in ihr die
geometriſche Regelmäßigkeit noch ihr Recht behaupten, die erſt auf den
höheren Stufen abgeworfen wird.
Das zuletzt Bewieſene führt uns übrigens noch nicht weiter als
eben zur Einſicht der Abhängigkeit der Architektur von der geometriſchen
Regelmäßigkeit. Wir begreifen ſie dadurch nur von ihrer Naturſeite
und noch nicht als unabhängige und ſelbſtändige Kunſt.
Als freie und ſchöne Kunſt kann Architektur nur erſcheinen, inwie-
fern ſie Ausdruck von Ideen, Bild des Univerſums und des Abſoluten
wird. Aber reales Bild des Abſoluten und demnach unmittelbarer
Ausdruck der Ideen iſt nach §. 62 überall nur die organiſche Geſtalt
in ihrer Vollkommenheit. — Die Muſik, welcher die Architektur unter
den Formen der Plaſtik entſpricht, iſt zwar davon freigeſprochen, Ge-
ſtalten darzuſtellen, weil ſie das Univerſum in den Formen der erſten
und reinſten Bewegung, abgeſondert von dem Stoffe darſtellt. Die
Architektur iſt aber eine Form der Plaſtik, und wenn ſie Muſik iſt,
ſo iſt ſie concrete Muſik. Sie kann das Univerſum nicht bloß durch
die Form, ſie muß es in Weſen und Form zugleich darſtellen.
Die organiſche Geſtalt hat ein unmittelbares Verhältniß zur Ver-
nunft, denn ſie iſt ihre nächſte Erſcheinung und ſelbſt nur die real-
angeſchaute Vernunft. Zum Anorgiſchen hat die Vernunft nur ein
mittelbares Verhältniß, nämlich durch den Organismus, der ihr unmit-
telbarer Leib iſt. Die erſte Beziehung auch der Architektur auf die
Vernunft bleibt alſo immer nur eine mittelbare, und da ſie nur
Schelling, ſämmtl. Werke 1. Abth. V. 37
[578] durch den Begriff des Organismus vermittelt ſeyn kann, eine überhaupt
durch Begriff vermittelte Beziehung. Soll ſie aber eine abſolute
Kunſt ſeyn, ſo muß ſie an ſich ſelbſt und ohne Vermittlung in der
Identität mit der Vernunft ſeyn. Dieß kann nicht dadurch geſchehen,
daß in dem Stoff nur überhaupt ein Zweckbegriff ausgedrückt wird.
Denn auch bei dem vollkommenſten Ausdruck geht der Zweckbegriff doch,
wie er nicht aus dem Objekt kommt, auch nicht in das Objekt über.
Er iſt nicht der unmittelbare Begriff des Objekts ſelbſt, ſondern eines
Anderen, das außer ihm liegt. Im Organismus dagegen geht der
Begriff ganz über in das Objekt, ſo daß Subjektives und Objektives, Un-
endliches und Endliches in ihm wahrhaft eins ſind, und er dadurch in ſich
ſelbſt und an ſich ſelbſt Bild der Vernunft wird. Wenn die Architektur
unmittelbar durch Ausdruck eines Zweckbegriffs ſchöne Kunſt werden
könnte, ſo ſieht man nicht ein, warum dieß nicht auch andern Künſten
freiſtünde, warum es nicht wie es Baukünſtler gibt auch z. B. Kleider-
künſtler geben ſollte. Es muß alſo eine innigere, ſcheinbar aus dem
Objekt ſelbſt kommende Identität, eine wahre Verſchmelzung mit dem
Begriff ſeyn, was die Architektur zur ſchönen Kunſt macht. Bei dem
bloß mechaniſchen Kunſtwerk iſt dieſer Zuſammenhang immer nur ſub-
jektiv. (Hiermit iſt die letzte Antwort auf jene erſte Frage gegeben.)
Ohne Zweifel war es das Gefühl dieſes Verhältniſſes, was der
herrſchenden Meinung über Architektur den Urſprung gab. Nämlich,
ſolang Architektur dem bloßen Bedürfniß fröhnt und nur nützlich iſt,
iſt ſie auch nur dieſes und kann nicht zugleich ſchön ſeyn. Dieß wird
ſie nur, wenn ſie davon unabhängig wird, und weil ſie dieß doch nicht
abſolut ſeyn kann, indem ſie durch ihre letzte Beziehung immer wieder
an das Bedürfniß grenzt, ſo wird ſie ſchön nur, indem ſie zugleich von
ſich ſelbſt unabhängig, gleichſam die Potenz und die freie Nach-
ahmung von ſich ſelbſt wird. Alsdann, indem ſie mit dem Schein
zugleich die Realität und den Nutzen erreicht, ohne ſie doch als Nutzen
und als Realität zu beabſichtigen, wird ſie freie und unabhängige Kunſt,
und indem ſie das ſchon mit dem Zweckbegriff verbundene Objekt, alſo
den Zweckbegriff ſelbſt mit dem Objekt zugleich zum Gegenſtand macht,
[579] iſt dieſes für ſie als höhere Kunſt eine objektive Identität des Sub-
jektiven und Objektiven, des Begriffs und des Dings, und demnach
etwas, das an ſich Realität hat.
Obgleich die gewöhnliche Vorſtellung von der Architektur als Kunſt
als einer beſtändigen Nachahmung, der Baukunſt als Kunſt des Be-
dürfniſſes nicht eben auf dieſe Weiſe abgeleitet zu werden pflegt, ſo
muß doch dieß Raiſonnement ihr zu Grunde gelegt werden, wenn ſie
überhaupt begründet ſeyn ſoll.
Ich werde dieſe Anſicht in der Folge mehr im Detail angeben;
vorjetzt genügt es, ſie im Allgemeinen zu kennen. Um es kurz zu
ſagen, ſo ſind alle ſcheinbar-freien Formen der Architektur, von denen
niemand leugnet, daß ihnen eine Schönheit an ſich zukomme, nach
dieſer Anſicht Nachahmungen der Formen der roheren Baukunſt und
insbeſondere der Baukunſt mit Holz als der einfachſten, und die am
wenigſten Bearbeitung erfordert, z. B. die Säulen der ſchönen Bau-
kunſt Baumſtämmen nachgebildet, die auf die Erde geſtellt wurden, um
das Dach der erſten Wohnungen zu tragen. Beim erſten Entſtehen
war dieſe Form Sache des Bedürfniſſes; nachher, da ſie durch freie
Kunſt und Bearbeitung nachgeahmt wurde, erhob ſie ſich zu einer
Kunſtform. Die Triglyphen der doriſchen Säulen-Ordnung, ſagt man,
waren urſprünglich die hervorſehenden Köpfe der Querbalken, nachher
wurde der Schein davon ohne die Realität beibehalten, wodurch alſo
dieſe Form gleichfalls zu einer freien Kunſtform wurde.
Dieß mag indeſſen hinreichend ſeyn, dieſe Anſicht im Allgemeinen
zu kennen.
Was an dieſer Meinung wahr iſt, fällt auf den erſten Blick ins
Auge, nämlich daß die Architektur als ſchöne Kunſt von ſich ſelbſt als
Kunſt des Bedürfniſſes die Potenz ſeyn, oder ſich ſelbſt als ſolche zur
Form, zum Leib nehmen muß, um eine unabhängige Kunſt zu ſeyn.
Dieß iſt auch von uns bereits behauptet worden. Allein eben wie die
Form, deren die Baukunſt als Handwerk bedurfte, unmittelbar durch
die freie Nachahmung oder Parodie — durch dieſen Uebergang vom
Realen zum Idealen ſelbſt eine an ſich ſchöne Form werden könne:
[580] die Beantwortung dieſer Frage liegt weit tiefer, und ſicher wird man
nicht behaupten wollen, daß jede nothdürftige Form einzig dadurch, daß
ſie, ohne Noth, nachgeahmt wird, zu einer ſchönen Form werden könne.
Auch iſt es ganz unmöglich, alle Formen der ſchönen Architektur aus
dieſer bloßen Nachahmung abzuleiten. Hiezu bedarf es alſo eines höhe-
ren Princips, welches wir jetzt abzuleiten haben. Ich ſchicke zu dieſem
Behuf folgende Sätze voraus.
§. 108. Die Architektur, um ſchöne Kunſt zu ſeyn, muß
die Zweckmäßigkeit, die in ihr iſt, als eine objektive Zweck-
mäßigkeit, d. h. als objektive Identität des Begriffs und
des Dings, des Subjektiven und Objektiven, darſtellen.
Beweis. Denn nach §. 19 iſt Kunſt überhaupt nur objektive
oder reale Darſtellung der Identität des Allgemeinen und Beſondern,
des Subjektiven und Objektiven, ſo alſo, daß dieſe im Gegenſtand ſelbſt
als eins erſcheinen.
§. 109. Lehnſatz. Objektive Zweckmäßigkeit oder objek-
tive Identität des Subjektiven und Objektiven iſt urſprünglich,
d. h. unabhängig von der Kunſt, nur im Organismus. Folgt
aus dem, was ebenfalls früher (§. 17) bewieſen worden.
§. 110. Die Architektur als ſchöne Kunſt hat den Orga-
nismus als das Weſen des Anorgiſchen, und demnach die
organiſchen Formen als präformirt im Anorgiſchen dar-
zuſtellen. — Dieß iſt nun jenes höhere Princip, nach welchem die
Formen der Architektur beurtheilt werden müſſen. Der erſte Theil des
Satzes iſt ſo zu beweiſen: die Architektur iſt die anorgiſche Form der
Plaſtik nach §. 107. Nun iſt aber die Plaſtik nach §. 105, Folgeſatz 2
Ausdruck der Vernunft als des Weſens der Materie. Das unmittel-
bare reale Bild der Vernunft iſt aber, wie ſchon §. 18 bewieſen wurde,
in dem Organismus ausgedrückt. Das Anorgiſche kann alſo kein
unmittelbares und abſolutes Verhältniß zur Vernunft, d. h. ein ſolches
Verhältniß haben, welches nicht auf Vermittlung durch Zweckbegriff,
ſondern auf der unmittelbaren Identität mit der Vernunft ſelbſt beruht,
außer inwiefern, ebenſo wie die Vernunft als das Weſen, das
[581]An-ſich des Organismus unmittelbar in dieſem, ebenſo der Organismus
wieder als das Weſen oder die Wurzel des Anorgiſchen in dieſem
dargeſtellt wird. Alſo kann auch die Architektur nicht Plaſtik, d. h.
unmittelbarer Ausdruck der Vernunft als der abſoluten Indifferenz des
Subjektiven und Objektiven ſeyn, ohne den Organismus als das Weſen,
das An-ſich des Anorgiſchen darzuſtellen.
Der zweite Theil des Satzes folgt nun aus dem Beweiſe des
erſten von ſelbſt. Denn da die Architektur die Grenzen des Anorgi-
ſchen nicht überſteigen ſoll, da ſie die anorgiſche Kunſtform iſt, ſo
kann ſie den Organismus als das Weſen des Anorgiſchen nur da-
durch darſtellen, daß ſie jenen als begriffen in dieſem, demnach die
organiſchen Formen als präformirt im Anorgiſchen darſtellt.
Die weitere Erklärung, auf welche Weiſe ſie dieſe Forderung er-
fülle, wird durch die Folge von ſelbſt gegeben werden.
Zuſatz. Daſſelbe kann auch ſo ausgedrückt werden: die Archi-
tektur als ſchöne Kunſt hat das Anorgiſche als Allegorie
des Organiſchen darzuſtellen. — Denn ſie ſoll jenes als das
Weſen von dieſem, aber doch im Anorgiſchen, d. h. ſo darſtellen, daß
dieſes nicht ſelbſt organiſch iſt, ſondern das Organiſche bloß bedeutet.
Aber eben dieß iſt die Natur der Allegorie.
§. 111. Die Architektur, um ſchöne Kunſt zu ſeyn,
muß von ſich ſelbſt als Kunſt des Bedürfniſſes die Potenz
oder Nachahmung ſeyn.
Beweis. Denn ihrem letzten Grund nach bleibt ſie der Be-
ziehung auf Zweck untergeordnet, indem das Anorgiſche als ſolches zur
Vernunft nur ein mittelbares Verhältniß, alſo nie ſymboliſche Be-
deutung haben kann. Um alſo einerſeits der Nothwendigkeit zu ge-
horchen, andrerſeits ſich über ſie zu erheben, und die ſubjektive Zweck-
mäßigkeit zu einer objektiven zu machen, muß ſie ſich ſelbſt Objekt
werden, ſich ſelbſt nachahmen.
Anmerkung. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe Nachahmung
nur ſo weit geht, als dadurch wirklich eine Zweckmäßigkeit im Ob-
jekte ſelbſt geſetzt wird.
[582]
Der Beweis iſt noch auf andere Art ſo zu führen. Die Archi-
tektur (nach §. 110) hat den Organismus als die Idee und das Weſen
des Anorgiſchen auszudrücken. Dieß heißt dem Zuſatz zufolge ſo-
viel: Sie hat das Organiſche durch das Anorgiſche anzudeuten,
dieſes zur Allegorie von ihm, nicht zum Organiſchen ſelbſt zu machen.
Sie fordert alſo von der einen Seite zwar eine objektive Identität
des Begriffs und des Dings, von der anderen aber auch keine abſo-
lute, dergleichen im organiſchen Weſen ſelbſt iſt (denn ſonſt wäre ſie
Sculptur). Indem ſie nur ſich ſelbſt als mechaniſche Kunſt nachahmt,
werden die Formen der letzteren Formen der Architektur als Kunſt
der Nothwendigkeit werden: denn jene ſind gleichſam Naturobjekte, die
unabhängig von der Kunſt als ſolcher ſchon da ſind, und da ſie nach
einem Zweck entworfen ſind, drücken ſie eine objektive Identität des
Begriffs und des Dings aus, die inſofern (durch die Objektivität) der
Identität des organiſchen Naturprodukts gleicht, von der anderen Seite
aber — da jene Identität doch urſprünglich keine abſolute (ſondern
eine bloß durch mechaniſche Kunſt hervorgebrachte) war — nur eine
Andeutung, Allegorie des Organiſchen iſt.
Indem alſo die Architektur ſich ſelbſt als mechaniſche Kunſt nach-
ahmt, erfüllt ſie, indem ſie die Forderungen der Nothwendigkeit be-
friedigt, zugleich die der Kunſt. Sie iſt unabhängig vom Bedürfniß
und doch zugleich Befriedigung des Bedürfnißes und erreicht alſo die
vollkommene Syntheſe ihrer Form oder ihres Beſonderen (welches darin
beſteht, daß ſie eine urſprünglich zweckmäßige Kunſt iſt) und des
Allgemeinen oder Abſoluten der Kunſt, welches in einer objektiven
Identität des Subjektiven und Objektiven beſteht; ſie erfüllt alſo die
Forderung, die wir gleich anfangs (§. 107, Anm. 2) an ſie gemacht
haben.
Folgeſatz. Alle diejenigen Formen der Architektur ſind an ſich
ſchön, in welchen eine Allegorie des Organiſchen durch das Anorgiſche
ausgedrückt iſt, es ſey nun, daß dieſe durch Nachahmung der Formen
dieſer Kunſt als Kunſt der Nothwendigkeit oder durch freie Produktion
entſtehen.
[583]
Dieſer Satz kann nun als allgemeines Princip der Conſtruktion
und Beurtheilung aller architektoniſchen Formen gelten. Indem er von
der einen Seite das Princip, daß die Architektur eine Parodie der
mechaniſchen Baukunſt ſey, auf die Bedingung beſchränkt, daß die For-
men derſelben durch dieſe Objektivirung allegoriſch für das Organiſche
werden, läßt er dieſe Kunſt in anderer Rückſicht frei über dieſe Nach-
ahmung hinausgehen, wofern ſie nur die allgemeine Forderung, das
Organiſche als präformirt im Anorgiſchen darzuſtellen, erfüllt.
Es kann hiebei noch allgemein bemerkt werden, daß die Kunſt das
Anorgiſche auch in andern Beziehungen nur in jenem Verhältniß
zum Organiſchen nachahmen kann. Nicht der geringſte Theil der pla-
ſtiſchen Kunſt iſt die Kunſt der Draperie und Belleidung, welche
als die vollkommenſte und ſchönſte Architektonik betrachtet werden kann.
Aber die Kleidung um ihrer ſelbſt willen plaſtiſch auszudrücken, würde
keine Aufgabe der Kunſt ſeyn. Nur als Allegorie des Organiſchen,
als andeutend die höheren Formen des organiſchen Leibs, iſt ſie einer
der ſchönſten Theile der Kunſt.
§. 112. Die Architektur hat vorzugsweiſe den Pflan-
zenorganismus zum Vorbild. — Denn ſie iſt nach dem Zuſatz
zu §. 110 eine Allegorie des Organiſchen, ſofern dieſes objektive Iden-
tität des Allgemeinen und Beſondern iſt. Der Organismus κατ̕ ἐξοχήν
aber iſt nur der thieriſche, und in dieſem wieder der menſchliche Or-
ganismus, zu welchem ſich der der Pflanze nur als Allegorie verhält.
Demnach iſt Architektur vorzugsweiſe nach dem Vorbild des Pflanzen-
organismus gebildet.
Anmerkung. Die Pflanze als Allegorie des Thieriſchen iſt vor-
züglich daraus zu begreifen, daß in ihr die Beſonderheit herrſchend,
das Allgemeine alſo durch die Beſonderheit vorgebildet wird. (Größte
Aehnlichkeit des menſchlichen und Pflanzenorganismus.)
Erläuterung. Die nahe Verwandtſchaft der Architektur mit der
Pflanzenwelt können wir von der tiefſten Stufe ſelbſt der roheſten
Kunſt an verfolgen, wo ſie die gleichſam bloß inſtinktmäßige Hinneigung
zu dieſem Vorbild zeigt. Die ſogenannte gothiſche Baukunſt zeigt
[584] uns dieſen Inſtinkt noch ganz roh, indem in ihr ſogar die Pflanzenwelt
unverändert durch die Kunſt zum Vorbild wird. Es bedarf bloß des
Anblicks der ächten Werke gothiſcher Baukunſt, um in allen Formen
derſelben die unveränderten Formen der Pflanze zu erkennen. Was
das Hauptauszeichnende derſelben betrifft, die zum Verhältniß des Um-
fangs und der Höhe ſchmale Baſis, ſo haben wir uns ein gothiſches
Gebäude, z. B. einen Thurm, wie das Münſter zu Straßburg u. a.
als einen ungeheuren Baum vorzuſtellen, der von einem verhältniß-
mäßig ſchmalen Stamm aus ſich in eine unermeßliche Krone verbreitet,
die ihre Aeſte und Zweige nach allen Seiten in die Lüfte ſtreckt. Die
Menge kleinerer, auf dem Hauptſtamm angebrachter Gebäude, die
Nebenthürmchen u. ſ. w., durch welche das Gebäude von allen Seiten
nach der Breite ſich ausdehnt, ſind nur Darſtellungen dieſer Aeſte und
Zweige, eines gleichſam ſelbſt zu einer Stadt gewordenen Baumes,
ſowie das überall angebrachte und gehäufte Laubwerk unmittelbarer auf
dieſes Urbild hindeutet. Die Nebengebäude, welche näher an der Erde
den ächt-gothiſchen Werken zugegeben werden, wie die Nebenkapellen an
den Kirchen, deuten die Wurzel an, welche dieſer große Baum unten
um ſich verbreitet. Alle Eigenheiten der gothiſchen Baukunſt drücken
dieſe Beziehung aus, z. B. die ſogenannten Kreuzgänge in Klöſtern,
welche eine Reihe von Bäumen vorſtellen, deren Zweige oben gegen
einander geneigt und in einander verwachſen ſind, und auf dieſe Weiſe
ein Gewölbe bilden.
Ich bemerke nur zur Geſchichte der gothiſchen Baukunſt, daß es
ein offenbarer Irrthum iſt, die Gothen als die Urheber des nach ihnen
genannten Geſchmacks und als diejenigen zu bezeichnen, die dieſe Form
der Architektur nach Italien gebracht. Die Gothen, als ein ganz krie-
geriſches Volk, brachten weder Architekten noch andere Künſtler mit ſich
nach Italien, und als ſie ſich dort niederließen, bedienten ſie ſich der
einheimiſchen Künſtler. Nur war unter dieſen ſelbſt der Geſchmack
ſchon im Verfall, und die Gothen ſtrebten ſogar dieß zu verhindern,
indem ihre Fürſten das Kunſttalent offenbar aufmunterten und die
Kunſtausübung begünſtigten. Die jetzt gewöhnliche Meinung iſt, daß
[585] die Saracenen dieſe Baukunſt mit nach dem Abendland und zwar zuerſt
nach Spanien gebracht, von wo aus ſie ſich über Europa verbreitet.
Man beruft ſich unter anderem darauf, daß dieſe Baukunſt die eines
ſehr heißen Himmelſtrichs ſeyn mußte, in welchem man Schatten und
Kühle zu ſuchen hatte. Allein man könnte dieſen Grund auch um-
kehren und die gothiſche Baukunſt für viel einheimiſcher halten. Wenn
Tacitus von den alten Germanen ſagt, daß ſie keine Tempel gehabt,
ſondern im Freien unter Bäumen die Götter verehrt, und wenn Deutſch-
land in den älteſten Zeiten ganz mit Wäldern bedeckt war, ſo läßt ſich
denken, daß auch beim erſten Anfang der Civiliſation in der Bauart,
vorzüglich der Tempel, die Deutſchen das alte Vorbild ihrer Wälder
nachgeahmt haben, daß auf dieſe Weiſe die gothiſche Baukunſt in Deutſch-
land urſprünglich heimiſch war, und von da aus ſich vorzüglich nach
Holland und England verpflanzte, wo z. B. das Schloß in Windſor
in dieſem Styl gebaut iſt, und wo ſich die reinſten Werke deſſelben
finden, indem anderwärts, z. B. in Italien, er nur gemiſcht mit dem
neueren italieniſchen exiſtirte. Dieß ſind verſchiedene Möglichkeiten, über
welche nur aus hiſtoriſchen Gründen entſchieden werden kann. Ein
ſolcher ſcheint mir aber wirklich vorhanden zu ſeyn, da die Urſprünge
der gothiſchen Baukunſt noch weiter zurückreichen. Es iſt nämlich eine
verwundernswerthe und in die Augen ſpringende Aehnlichkeit, welche
die indiſche Bauart mit der gothiſchen zeigt. Sicher kann dieſe Bemer-
kung niemand entgehen, der etwa die Zeichnungen indiſcher Landſchaften
und Gebäude von Hodges geſehen hat. Die Architektur der Tempel
und Pagoden iſt ganz gothiſcher Art; ſelbſt gemeinen Gebäuden fehlen
die gothiſchen Pfeiler und die ſpitzigen Thürmchen nicht. Das Laubwerk
als architektoniſche Verzierung iſt ohnehin orientaliſchen Urſprungs.
Der ausſchweifende Geſchmack der Orientalen, der überall das Be-
grenzte meidet und auf das Unbegrenzte geht, blickt unverkennbar durch
die gothiſche Baukunſt hindurch, und dieſe wird im Koloſſalen noch von
der indiſchen Architektur übertroffen, welche Gebäude, die einzeln dem
Umfang einer großen Stadt gleichen, ebenſo wie die rieſenhafteſte
Vegetation der Erde aufzuweiſen hat. Wie dieſer urſprünglich indiſche
[586] Geſchmack ſich nachher über Europa verbreitet habe, die Beantwortung
dieſer Frage muß ich dem Hiſtoriker überlaſſen.
Auf eine andere Weiſe hat ſich der koloſſale Geſchmack in der
Baukunſt in Aegypten ausgedrückt. Die ewig unveränderliche Geſtalt
des Himmels, die gleichförmigen Bewegungen der Natur trieben dieſes
Volk ſelbſt gegen das Feſte, das Unveränderliche hin, ein Sinn, der
ſich in ihren Pyramiden verewigt hat, ſowie nach allem, was wir
wiſſen, eben dieſer aufs Unwandelbare gerichtete Sinn die Aegypter
verhindert hat, jemals anders als mit Stein zu bauen. Daher die
cubiſche Form aller ihrer Werke; die leichtere und rundere Form, deren
Vorbild die Architektur von Bäumen und den zur erſten Bauart mit
Holz gebrauchten Baumſtämmen entlehnt hat, konnte bei ihnen nicht
entſtehen.
Wir gehen zu der höheren Nachbildung der Pflanzenform in der
edleren Architektur fort.
Die gothiſche Baukunſt iſt ganz naturaliſtiſch, roh, bloße unmittel-
bare Nachahmung der Natur, in der nichts an abſichtliche und freie
Kunſt erinnert. Die erſte noch rohe doriſche Säule, welche einen be-
hauenen Stamm vorſtellt, erhebt mich ſchon auf das Gebiet der Kunſt,
indem ſie mir die mechaniſche Bearbeitung durch freie Kunſt nachge-
ahmt, dieſe alſo als über das Bedürfniß und die Nothwendigkeit er-
haben, auf das Schöne und Bedeutende an ſich gerichtet zeigt. Der
angegebene Urſprung der doriſchen Säule und die Umkehrung des Ge-
ſchmacks, der die rohe Natur nachahmt, drückt ſich in ihrer Form aus.
Der gothiſche Geſchmack muß, weil er den Baum ungeformt darſtellt,
die Baſis verengen und den obern Theil ausdehnen. Die doriſche
Säule iſt, wie der behauene Stamm, nach unten breiter und verjüngt
ſich nach oben. Die Pflanze iſt hier ſchon zur Allegorie des Thierreichs
gemacht, eben weil der rohe Erguß der Natur in ihr aufgehoben und
damit angedeutet iſt, daß ſie nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern um
ein anderes zu bedeuten da ſey. Die Kunſt ſpricht hier die Natur voll-
kommener aus und verbeſſert ſie gleichſam. Sie nimmt das Ueber-
fließende und das bloß zur Individualität Gehörige hinweg, und läßt
[587] nur das Bedeutende beſtehen. Der Baum wird theils für ſich ſelbſt
und in ſich ſelbſt zur Allegorie des höheren Organiſchen, da er, wie
dieſes, nach oben und unten, durch Haupt und Fuß geſchloſſen wird,
theils wird er es in der Beziehung auf das Ganze, wo er die Säule eines
organiſchen Ganzen bedeutet, wodurch dieſes ſich über die Erde in die
höhere Region des Aethers erhebt. Wie in der Natur die Pflanze nur
das Vorſpiel und inſofern gleichſam der Boden der höheren Entwick-
lung im Thierreich iſt, ſo zeigt ſie ſich auch hier; die Säule iſt das
Stützende, gleichſam die Stufe, die zu dem höheren Gebilde hinauf-
leitet, das vollkommener ſchon die Formen der thieriſchen Organiſation
verkündet; nur auf ihrem Gipfel, da wo ſie die höhere Bildung berührt,
und in dieſe gleichſam übergeht, darf ſie ihre eigne Ueppigkeit zeigen
und, wie in der korinthiſchen Säule, in Blättern ranken, die ſelbſt
wieder, das erhabenere Gebilde tragend, durch ihre Leichtigkeit und
Zartheit die höhere Natur des letzteren andeuten, und uns gleichſam
vergeſſen laſſen, daß es den Geſetzen der Schwere unterworfen iſt.
Es kommt nun darauf an, die Allegorie des höheren Organi-
ſchen in den einzelnen Formen der Architektur noch beſtimmter nach-
zuweiſen.
§. 113. Die Allegorie des höheren Organiſchen findet
ſich theils in der Symmetrie des Ganzen, theils in der
Vollendung des Einzelnen und des Ganzen nach oben und
unten, wodurch es eine in ſich beſchloſſene Welt wird. —
Es iſt ſchon bei der Malerei bemerkt worden, daß die Natur, wo ſie
die höchſte Indifferenz und Totalität erreicht, im Organiſchen und vor-
züglich im Thierleib, eine doppelte Polarität annimmt, Oſt- und
Weſtpolarität, (von oben nach unten findet Differenz ſtatt, reelle
Polarität, nach der Seite bloß ideelle). Sie producirt daher die edel-
ſten Organe, d. h. diejenigen, in welchen ſie am meiſten jene letzte
Indifferenz erreicht hat, doppelt, und macht das organiſche Gebilde in
zwei ſymmetriſche Hälften zerfallen, die dem Entwurf der Natur nach
ſich mehr oder weniger gleich ſind. Dieſe Symmetrie, welche mehr
oder weniger in dem architektoniſchen Theil der Malerei gefordert wird,
[588] wird nur noch beſtimmter in der Architektur ſelbſt gefordert, und zwar
wird ſie zur vollkommenſten Coincidenz mit dem Bau des menſch-
lichen Leibs ſo gefordert, daß die Linie, welche die beiden ſymmetri-
ſchen Hälften ſcheidet, nicht horizontal, ſondern perpendikular, von oben
nach unten, gehe. Dieſe Symmetrie wird an allen Werken der Bau-
kunſt, die Anſpruch machen, ſchön zu ſeyn, ſo entſchieden gefordert,
als ſie nur an der menſchlichen Geſtalt gefordert wird, und der Verſtoß
dagegen ſo wenig vertragen als ein ſchiefes Geſicht oder ein ſolches,
das aus zwei gar nicht zu einander gehörigen Hälften zuſammenge-
ſetzt ſcheint.
Die zweite das organiſche Verhältniß andeutende Form iſt die
Vollendung des Ganzen und Einzelnen nach oben und unten.
Die Natur ſchließt keine ihrer Bildungen anders als durch eine
ganz entſchiedene Aufhebung der Succeſſion oder reinen Länge, die ſich
durch eine concentriſche Stellung andeutet. Die Pflanze würde ins Un-
endliche nach der Länge fortſproſſen, Knoten auf Knoten treiben — und
wirklich kann jede Pflanze durch übermäßigen Zufluß roher Säfte in
dieſem Sproſſungszuſtand fortwährend erhalten werden — wenn die
Natur nicht einen Punkt erreichte, wo ſie das, was ſie zuvor ſucceſſiv
producirt, zumal producirt. So macht ſie es bei dem Produciren der
Blüthe in der Pflanze, ſie bildet damit einen Kopf, ein bedeutendes
Ende. Und auch im Thierreich folgt ſie dieſem Geſetz, ſie ſchließt das
Thier nach oben durch den Kopf, das Gehirn, und auch dieſes Ende
entſteht ihr nur dadurch, daß ſie das, was ſie zuvor (in den Nerven-
knoten) ſucceſſiv producirte, zumal producirt und ihm eine concentriſche
Stellung gibt. Daſſelbe iſt mehr oder weniger in den Formen der
Architektur nachzuweiſen.
Bereits iſt erinnert worden, daß die Säule, die vorzüglich nach
dem Schema der Pflanze gebildet iſt, in der Architektur ausdrücklich
auf die Pflanze ſelbſt als die bloße Vorbedeutung, die Stütze des
höheren Organiſchen hindeutet. Aber wie die Natur, wie die höhere
Wiſſenſchaft und Kunſt ſelbſt überall auch das, was Theil iſt, wieder
zum Ganzen und als Glied in dieſem wieder für ſich abſolut zu machen
[589] ſtrebt, ſo auch die Architektur. Auch die Säule alſo wird in ſich auf
eine bedeutende Weiſe geſchloſſen. Nach unten erhält ſie einen Fuß,
das architektoniſche Gebild wird dadurch ganz aus der Cohärenz mit der
Erde geriſſen, es ſteht frei auf ihr wie das Thier, denn wäre die
Säule nach unten nicht auf bedeutende Weiſe geſchloſſen, ſo könnte ſie,
als in die Erde verſenkt oder ihre Wurzeln darein ſenkend erſcheinen,
das Ganze würde zur Pflanzennatur zurückſinken. Nach oben wird die
Säule durch den Kopf auf verſchiedene Weiſe geſchloſſen, durch das
einfache Capitäl der doriſchen Ordnung, durch die Schneckenwindungen
der joniſchen, wo gleichſam als auf der Grenze das höhere Vorſpiel
des Thieriſchen beginnt, und in der concentriſchen Blätterſtellung der
korinthiſchen.
Daſſelbe findet ſich nun wieder im Ganzen, welches nach unten
durch die Säulen als die Füße geſchloſſen wird. Der mittlere Theil
des Gebäudes bedeutet den mittleren Theil des Leibes, wo äußerlich
die größte Symmetrie herrſchen muß, und wo, wie im thieriſchen Leib,
erſt das wahrhaft Innere, welches wieder ſelbſtändige Ganze für ſich
bildet, beginnt (und ſchon bemerkt, daß nach innen auch hier unbe-
ſchadet der Schönheit mehr auf das Bedürfniß als auf die Symmetrie
geſehen werden kann). Je näher dem Gipfel, deſto bedeutender werden
alle Formen. Das Fronton bedeutet ſchon dem Namen nach die Stirne
des Gebäudes. Dieß iſt der Ort der vorzüglichſten Verzierungen durch
Basreliefs, wo die Stirn gleichſam als Sitz der Gedanken äußerlich
angedeutet wird. Nach innen ſchließt ſich das Ganze durch das Gebälk,
welches ſeiner inneren Conſtruktion nach eine concentriſche Stellung hat
und ein ſich ſelbſt tragendes und haltendes Ganzes iſt. Das Dach,
wo es ſtattfindet, kann als die äußerliche, organiſch indifferente Bedeckung
betrachtet werden. Der vollkommenſte und bedeutendſte Beſchluß des
Ganzen aber iſt ein vollkommen gewölbtes Dach, d. h. die Kuppel. Hier
iſt die concentriſche Stellung am vollkommenſten, und indem hier ſich
die einzelnen Theile wechſelſeitig tragen und unterſtützen, entſteht die
vollkommenſte Totalität, ein Bild des allgemeinen, alles tragenden Or-
ganismus und der himmliſchen Umwölbung.
[590]
§. 114. Die Architektur hat, als die Muſik der Pla-
ſtik, wie jene einen rhythmiſchen, harmoniſchen und me-
lodiſchen Theil. — Folgt von ſelbſt aus §. 107.
§. 115. Der architektoniſche Rhythmus drückt ſich in
der periodiſchen Eintheilung des Gleichartigen, alſo vor-
nämlich in folgenden Theilen aus: Abnahme und Verjüngung der
Säulen nach oben und unten, Größe der Säulenweite, in der doriſchen
Ordnung insbeſondere durch Verbindung der Glieder in Geſimſe, Zahl
der Triglyphen in einer Säulenweite u. ſ. w.
Erläuterung. Die Verjüngung der Säule geſchieht in der
doriſchen Ordnung nach oben in gerader Linie, an der joniſchen, der
korinthiſchen iſt die Linie, nach der ſie abnehmen, eine Curve. Was
die Säulenweiten betrifft, ſo war nach Vitruvius 1 bei den Alten fünferlei
gebräuchlich, wovon weder die zu geringe, noch die zu große die
ſchönſte iſt, ſondern die mittlere, denn jene gibt dem Ganzen ein
zu dickes, dieſe ein zu mageres Anſehen. Das Rhythmiſche hierin
einzuſehen, müſſen wir die Erklärung zurückrufen, daß es in einer
periodiſchen Eintheilung des Gleichartigen beſteht. In der Muſik
ſind die Weiten Zeitentfernungen, in der Architektur Raumweiten.
Die Zahl der Triglyphen iſt abhängig von der Säulenweite, indem
die beiden äußerſten in einem Intercolumnium immer genau über
eine Säule zu ſtehen kommen müſſen. Die Glieder des Geſimſes ſind
die verſchiedenen größeren und kleineren Theile, woraus dieſe zuſam-
mengeſetzt werden. Die Hauptforderung iſt, daß ſie rhythmiſch geord-
net ſeyen, d. h. daß die Menge und Verſchiedenheit der Glieder weder
das Auge verwirren, noch daß auf der anderen Seite in Anſehung der
Form und Größe derſelben zu große Einförmigkeit herrſche. Zwei Glie-
der derſelben Art und Größe dürfen daher nicht unmittelbar unter oder über
einander liegen, und das Ganze muß ſich gewiſſermaßen wieder grup-
piren, wie in der Muſik auch aus ſchon zuſammengeſetzten rhythmiſchen
Gliedern wieder größere gebildet werden.
[591]
Zuſatz. Allgemein kann in Anſehung des rhythmiſchen Theils
behauptet werden, daß, was das Schöne, auch zugleich das Nützliche
und Nothwendige iſt. — Denn das Schöne in der Architektur beruht eben
auf der Syntheſis des Allgemeinen mit dem Beſondern dieſer Kunſt,
welches ihre Beziehung auf Zweck oder Nutzen iſt. So iſt z. B. die
Regel der Verjüngung der Säule nach oben durchaus auch die Regel
der Sicherheit und Feſtigkeit.
§. 117. Die drei Säulenordnungen haben unter ſich
wieder ein Verhältniß wie Rhythmus, Harmonie und Me-
lodie, oder ſie ſind theils vorzugsweiſe nach rhythmiſchen theils vor-
zugsweiſe nach harmoniſchen theils endlich nach melodiſchen Grundſätzen
gebildet. — (Die nothwendige und weſentliche Beſonderheit bewährt ſich
in Erklärung der einzelnen Formen.)
Zuſatz. Die doriſche Säulenordnung iſt vorzugsweiſe die rhyth-
miſche. Der Rhythmus iſt in der Muſik die reale Form, das Weſent-
liche, das Nothwendige der Muſik. So die doriſche Ordnung, welche
am meiſten Nothwendigkeit, am wenigſten Zufälliges hat. Sie iſt
unter den drei Ordnungen die ſtrenge, realiſtiſche, männliche und ohne
Ausbildung nach der Breite. Bei ihr läßt ſich daher auch der reali-
ſtiſche Urſprung aus der Nachahmung der Baukunſt als Kunſt der
Nothwendigkeit noch am meiſten nachweiſen. Die gewöhnliche Erklärung
oder Conſtruktion der doriſchen Ordnung in ihren einzelnen Formen
iſt folgende aus dem bekannten Princip geführte. In der erſten Zeit
der noch einfachen Baukunſt begnügten ſich die Menſchen mit einem
bloßen Dach, das ihnen Schutz gegen Sonne, Regen und Kälte gab.
Die einfachſte Weiſe, dazu zu gelangen, war ohne Zweifel, daß ſie in
die Erde vier oder mehrere Pfähle ſteckten, auf welche dann von vorn
und hinten erſtens ein Querbalken gelegt wurde, um die in gleicher
Linie ſtehenden Balken zu verbinden, und zugleich die Unterlagen für
die Hauptbalken zu geben. Der Querbalken bildete den Architrav.
Auf dieſen Querbalken wurden nun erſt die Hauptbalken, die das Ge-
bäude von vorn nach hinten verbinden, gelegt, und zwar in einiger
Entfernung, um ſie nachher mit Brettern zu überlegen. Die Hervor-
[592] ragungen oder Köpfe dieſer Hauptbalken mußten nun natürlich oberhalb
des Querbalkens ſichtbar ſeyn, die man erſt gerade abſägte, nachher
des Schmuckes halber Bretter von der nachherigen Form der Trigly-
phen davor nagelte. Die Triglyphen ſind alſo noch jetzt eine ideale
Vorſtellung der Köpfe vor den Hauptbalken. Die Zwiſchenräume zwi-
ſchen dieſen Balken blieben anfänglich in der roheren Baukunſt leer,
nachher wurden ſie, um dieſen Uebelſtand für das Auge aufzuheben,
gleichfalls mit Brettern bedeckt, welche dann in der Nachahmung der
ſchönen Architektur die Veranlaſſung der Metopen geworden, wo-
durch der gar zu große Raum zwiſchen den Querbalken und den ober-
ſten hervortretenden Brettern (deren Vorſprung, um den Regen abzu-
halten, das Karnies bildete) zu einer identiſchen Fläche wurde, die
dann den Zophorus oder Fries bildete. — Im Allgemeinen habe
ich ſchon früher geſagt, was von dieſer Erklärungsart zu halten ſey.
Es iſt allerdings eine Nothwendigkeit darin, daß die Architektur, um
ſchöne Kunſt zu werden, ſich ideal macht, und dadurch das Bedürfniß
abſtreift. Aber es liegt keine Nothwendigkeit darin, daß die Kunſt,
wenn ſie ſich über das Bedürfniß erhebt, die roheren Formen beibe-
halte, wenn dieſe nicht an ſich ſchön ſind. So iſt freilich offenbar die
doriſche Säule der behauene Baumſtamm; ſie verjüngt ſich deßhalb
nach oben, aber ſie würde keine Form der ſchönen Architektur und in
ihr beibehalten ſeyn, wenn ſie nicht an ſich ſelbſt auf die Weiſe bedeu-
tend wäre, wie es bereits gezeigt wurde, daß ſie nämlich einen Baum
vorſtellt, der ſeine beſondere Natur abgelegt hat und Vorbedeutung
von etwas Höherem wird. So iſt es gewiß, daß man die älteſten
Säulen dieſer Ordnung ohne Kapitäl und Baſe findet; ſie ſtellen alſo
noch die Bauart dar, wo man die behauenen Baumſtämme unmittelbar
unter das Dach und auf den flachen Erdboden ſtützte. Der Säulen-
fuß und die Plinthe nach unten und das Kapitäl nach oben, kann
man ſagen, ſtellen nichts anderes vor als, jene das eine oder
die mehreren Bretter, die man unterlegte, damit die Stämme durch
die oben aufliegende Laſt nicht ſich ſenkten oder von der Feuchtigkeit
litten, dieſes die oben über einander gelegten Bretter, damit der Stamm
[593] der zu tragenden Laſt eine größere Fläche darbiete. Allein das Kapitäl
wie der Säulenfuß ſind doch in der ſchönen Architektur aus einem viel
höheren Grund als dem der Nachahmung beibehalten, nämlich um die
Säule nach Art eines organiſchen Weſens nach oben und unten zu
vollenden. Vorzüglich nun tritt dieß in Anſehung der Triglyphen ein;
denn wie dieſe beſtimmte Form aus den Balkenköpfen entſtehen konnte,
iſt nicht einmal einzuſehen, und man muß dabei doch eine Art von Er-
findung zulaſſen, indem man ſie zunächſt von den Brettern ableitet,
welche — in der ſpäterhin durch die Triglyphen nachgeahmten Form
— vor dieſe hervorragenden Köpfe geſetzt worden 1. Die Triglyphen
haben alſo eine mehr oder weniger unabhängige und ſelbſtändige Be-
deutung.
Meine Vorſtellung darüber iſt dieſe.
Wenn die Architektur überhaupt die erſtarrte Muſik iſt, ein Ge-
danke, der ſelbſt den Dichtungen der Griechen nicht fremd war, wie
ſchon aus dem bekannten Mythus von der Leyer des Amphion, der
durch die Töne derſelben die Steine bewegt habe ſich zuſammenzu-
fügen und die Mauern der Stadt Thebe zu bilden — wenn alſo über-
haupt die Architektur eine concrete Muſik iſt, und auch die Alten ſie
ſo betrachteten, ſo iſt es ganz insbeſondere die am meiſten rhythmiſche,
die doriſche oder altgriechiſche Architektur (denn doriſch hieß überhaupt
alles Altgriechiſche), und auch die Alten mußten ſie vorzüglich unter
dieſem Geſichtspunkt betrachten. Unmöglich konnte ihnen alſo auch das
Allgemeine ferne liegen, dieſen rhythmiſchen Charakter ſinnbildlich durch
eine Form auszudrücken, die ſich der einer Leyer vorzüglich nähert, und
eine ſolche Form ſind die ſogenannten Triglyphen. Ich will nicht
behaupten, daß ſie eine Anſpielung auf die Leyer des Amphion ſeyn
ſollen, auf jeden Fall ſind ſie eine ſolche auf die alte griechiſche Leyer,
das Tetrachord, deſſen Erfindung einige dem Apollon, andere dem
Mercur zuſchreiben. Das älteſte Muſikſyſtem der Griechen enthielt
nicht mehr als vier Töne in einer einzigen Oktave, den Grundton
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 38
[594] nämlich, den tonus major, die Quinte und die Oktave. Daß wirklich
ein ſolches Tonſyſtem in den Triglyphen ausgedrückt ſey, läßt ſich
nicht deutlich machen, ohne die Anſchauung zu Hülfe zu nehmen, da-
her ich es der eignen Anſicht überlaſſen muß, ſich davon zu überzeugen.
Ich kann zur Beſtätigung dieſer Vermuthung noch die ſogenannten
Tropfen der Triglyphen zu Hülfe nehmen. Die gewöhnliche Vorſtel-
lung iſt, in die hervorragenden Balkenköpfe ſeyen anfänglich darum
ſenkrecht heruntergehende Schlitze gemacht worden, damit das Waſſer
deſto leichter abliefe, und man beruft ſich deßhalb auf die unten
hängenden Tropfen. Allein die Anzahl derſelben ſteht mit der Anzahl
der Rinnen, als welche nämlich die Schlitze betrachtet werden müßten,
in keinem Verhältniß. Da in dem Syſtem von vier Tönen nur ſechs
verſchiedene Verbindungen von Tönen oder Conſonanzen möglich ſind,
ſo würde die Sechszahl hier eben für das Zuſammenfließen der vier
Töne in ſechs Conſonanzen bedeutend ſeyn.
Die genaue Zuſammenſtimmung der Verhältniſſe der doriſchen
Ordnung mit muſikaliſchen Verhältniſſen iſt auch noch auf andere Weiſe
offenbar. Vitruvius gibt das Verhältniß der Breite zu der Höhe der
Triglyphen wie 1 : 1½ oder 2 : 3 an, welches das Verhältniß einer der
ſchönſten Conſonanzen, der Quinte, iſt, anſtatt daß das andere von
ihm für bei weitem weniger ſchön angegebene Verhältniß von 3 : 4 der
Quarte in der Muſik entſpricht, die jener an Annehmlichkeit bei weitem
nachſteht. Ob man mit ſolchen Vorſtellungen zu viel Abſichtlichkeit und
Sinn in die architektoniſchen Formen der Griechen legt, mögen die-
jenigen beurtheilen, die die Klarheit und das in allen ihren Werken
herrſchende Bewußtſeyn ſonſt zu erkennen fähig ſind.
§. 117. Der harmoniſche Theil der Architektur bezieht
ſich vornehmlich auf die Proportionen oder Verhältniſſe
und iſt die ideale Form dieſer Kunſt. —
Proportionen finden in der Architektur vorzüglich wegen der An-
ſpielung auf den menſchlichen Körper ſtatt, deſſen Schönheit eben dar-
auf beruht. Die Architektur, welche in der Beobachtung des Rhythmus
noch die hohe, ſtrenge Form behält und auf Wahrheit geht, nähert
[595] ſich alſo durch Beobachtung des harmoniſchen Theils der organiſchen
Schönheit, und da ſie in Anſehung dieſer nur allegoriſch ſeyn kann,
ſo iſt die Harmonie eigentlich der ideale Theil dieſer Kunſt. (Ueber
die Harmonie in der Architektur iſt vorzüglich Vitruvius zu leſen.)
Die Architektur ſchließt ſich auch dadurch ganz an die Muſik an, ſo
daß ein ſchönes Gebäude in der That nichts anderes als eine mit dem
Aug empfundene Muſik, ein nicht in der Zeit-, ſondern in der Raum-
folge aufgefaßtes (ſimultanes) Concert von Harmonien und harmoniſchen
Verbindungen iſt.
Zuſatz 1. Die Harmonie iſt der herrſchende Theil der Archi-
tektur. — Denn ſie iſt ihrer Natur nach ideal und allegoriſch, und
nähert ſich als Muſik im Raum wieder der Malerei als der idealen
Kunſtform, und in dieſer derjenigen Gattung, welche vorzugsweiſe auf
Harmonie (nicht auf Zeichnung) geht, — der Landſchaft. Die Har-
monie als die ideale Form iſt alſo in ihr, die ſelbſt ihrer Natur nach
ideal iſt, nothwendig die herrſchende.
Zuſatz 2. Die joniſche Säulenordnung iſt die vorzugsweiſe
harmoniſche. — Der Beweis liegt in der Schönheit aller Proportionen.
Sie bildet den wahren Indifferenzpunkt zwiſchen der noch ſtrengen Art
der doriſchen Ordnung und der überfließenden Ueppigkeit der korin-
thiſchen. Vitruvius 1 berichtet, daß die joniſchen Griechen, als ſie den
Tempel der Diana zu Epheſus bauen wollten, die Verhältniſſe der alt-
griechiſchen oder doriſchen Ordnung, deren ſie ſich bisher bedient hatten,
nicht zierlich und ſchön genug fanden, da dieſe mehr nach den Verhältniſſen
der männlichen Geſtalt eingerichtet geweſen, indem die Säule mit Kapitäl
(ohne Fuß) um ſechsmal höher als die Dicke an dem unterſten Ende
des Stammes war. Sie gaben alſo ihrer Säulenordnung ein ſchöneres
Verhältniß, indem ſie dieſelbe (mit dem Fuß) achtmal höher machten,
als der Stamm dick war, welches dann die Proportionen der weib-
lichen Geſtalt gab. Aus dieſem Grunde haben ſie auch die Vo-
luten nach Aehnlichkeit des weiblichen Haarputzes an den Schläfen
[596] erfunden, ſowie ferner die Kannelirungen die Falten weiblicher Kleider
vorſtellen.
Daß die Proportionen der doriſchen und joniſchen Ordnung,
jene wirklich mehr denen des gedrungenen männlichen Körpers, dieſe
mehr denen des weiblichen Körpers nahe kommen, iſt offenbar (da auch
wirklich männliche Schönheit rhythmiſch, weibliche harmoniſch), obgleich
dieſe Analogie von Vitruvius zu weit ausgedehnt worden iſt. So haben
die Schneckenwindungen des joniſchen Knaufs nach meinem Bedünken
eine allgemeinere Nothwendigkeit in ſich als die der Nachahmung eines
zufälligen Kopfſchmucks, welches ohne Zweifel eine bloße Vermuthung
des Vitruvius iſt. Offenbar drücken dieſe Windungen die Präformation
des Organiſchen im Anorgiſchen aus; ſie ſind wie die Verſteinerungen
der Erde Anſpielungen auf das Organiſche, und wie dieſe in dem
Verhältniß als ſie der thieriſchen Form analoger werden, mehr auf
den jüngeren Gebirgen und näher der Oberfläche erſt gefunden werden,
ſo bildet auch die anorgiſche Maſſe der Säule erſt auf der Grenze,
die ſie mit dem höheren Gebilde macht, ſich in Formen, die Vorbe-
deutungen des Lebendigen ſind.
Die doriſche Säule verjüngt ſich, wie ſchon bemerkt, nach oben in
einer geraden Linie — hier die Länge, die Starrheit, der Rhythmus
herrſchend —, die joniſche nach einer Curve, welche die harmoniſche
Form auch in der Malerei iſt. Sie iſt alſo ſelbſt im rhythmiſchen
Theil mehr harmoniſch.
Von den unendlich ſchönen Proportionen dieſer Ordnung, die in
ihrer Art wieder ſo vollkommen ſind, als die der andern in der ihri-
gen — daß man es einem deutſchen Baumeiſter nicht übel nehmen
kann, der es ſogar für unmöglich hielt, daß ſie menſchliche Erfindungen
ſeyen, und ſie daher unmittelbar von Gott eingegeben glaubte — von
dieſen Proportionen der joniſchen Ordnung will ich nur die ihres Säu-
lenfußes oder der ſogenannten Attica anführen, welche durch die Höhe
ihrer Glieder, wie ſie Vitruvius angibt, die vollkommenſte Harmonie,
nämlich den harmoniſchen Dreiklang ausdrückt.
§. 118. Der melodiſche Theil der Architektur entſteht
[597] aus der Verbindung des R [...]ythmiſchen mit dem Harmoni-
ſchen. — Folgt ſchon aus dem Begriff der Melodie im §. 81. An-
ſchaulich aber kann es an der dritten Säulenordnung, der korinthiſchen,
nachgewieſen werden.
Zuſatz. Die korinthiſche Säulenordnung iſt vorzugsweiſe die
melodiſche. — Vitruvius, deſſen Bericht vom Urſprung der joniſchen
Ordnung ſchon angeführt worden (es ſey der Uebergang von den Pro-
portionen der männlichen Geſtalt zu denen der weiblichen geweſen), ſagt,
daß man in der korinthiſchen von den Proportionen des weiblichen
Körpers zu dem des jungfräulichen fortgegangen ſey, und wenn dieſer
Gedanke auch nicht eben der letzte Begriff iſt, den man von dem Ur-
ſprung dieſer Säulenordnung geben kann, ſo dient er doch vollkommen
unſere Gedanken zu erläutern. Die korinthiſche Ordnung vereinigt mit
der harmoniſchen Weichheit der joniſchen wieder die rhythmiſchen For-
men der doriſchen, wie der jungfräuliche Leib mit der allgemeinen
Weichheit weiblicher Formen die größere Herbheit und Strenge der
jugendlichen Formen vereint. Schon die größere Schlankheit der korin-
thiſchen Säulen macht in ihnen den Rhythmus bemerklicher. Die
Erzählung des Vitruvius von dem Urſprung ihrer Erfindung iſt bekannt.
Ein junges Mädchen, das eben verheirathet werden ſollte, ſtarb, und
ihre Amme ſetzte auf ihren Grabhügel in einem Korb einige kleine
Gefäſſe, die dieſes Mädchen im Leben geliebt hatte, und damit dieſe
durch die Witterung nicht ſo bald verdorben würden, wenn jener offen
ſtände, legte ſie einen Ziegel auf den Korb. Da nun dieſer zufälliger
Weiſe auf die Wurzel einer Acanthuspflanze geſetzt war, ſo geſchah es,
daß im Frühling, da die Blätter und Ranken hervorſproßten, dieſe an
dem auf der Mitte der Wurzel ſtehenden Korb rings emporwuchſen,
und die Ranken, welche dem Ziegel begegneten, genöthigt wurden, ſich
an ihrer Extremität umzubeugen und Voluten zu bilden. Der Archi-
tekt Kallimachos ging vorbei und ſah den Korb, wie er von den Blät-
tern umgeben, und da ihm dieſe Form ausnehmend gefiel, ahmte er
ſie in den Säulen nach, die er nachher den Korinthern machte. Das
Auszeichnende der korinthiſchen Säule iſt nämlich bekanntlich ein hohes
[598] Kapitäl mit drei übereinanderſtehenden Reihen von Akanthusblättern
und verſchiedenen zwiſchen denſelben ſich hervordringenden Stengeln,
die ſich oben an dem Deckel in Schneckenformen falten. Obgleich es
nicht unmöglich iſt, daß ein Anblick wie der von Vitruvius erzählte
einem aufmerkſamen Künſtler die erſte Veranlaſſung einer ſolchen Er-
findung gegeben, und auf jeden Fall die erzählte Geſchichte, wenn nicht
wahr, doch angenehm erfunden iſt, ſo müſſen wir doch dieſem Blätter-
ſchmuck in der Idee eine allgemeinere Nothwendigkeit geben. Es iſt
die der Anſpielung auf die Formen organiſcher Natur.
Die größere Strenge, welche die korinthiſche Ordnung in dem
rhythmiſchen Theil hat, erlaubt es ihr von der andern Seite mehr die
natürliche Schönheit zu ſuchen, wie der natürliche Putz (Blumen ꝛc.)
am meiſten der ſchönen jungfräulichen Geſtalt, dagegen dem reiferen
weiblichen Alter mehr der conventionelle Schmuck ziemt. Die größte
Vereinigung des Entgegengeſetzten in der korinthiſchen Ordnung, des
Geraden mit dem Runden, des Glatten mit dem Gebogenen, des
Einfältigen mit dem Gezierten gibt ihr eben jene melodiſche Fülle,
durch welche ſie ſich vor den andern auszeichnet.
Es ſollte nun noch von den beſonderen Zierathen der Archi-
tektur die Rede ſeyn, von den Werken der höheren Plaſtik, die als
Basreliefs z. B. den Fronton, oder als Statuen die Eingänge oder
einzelne Gipfel des Gebäudes zieren. Allein da bereits im Vorher-
gehenden angedeutet iſt, inwieweit in der Architektur höhere organiſche
Formen anticipirt werden können, ſo iſt die Hauptſache darüber geſagt.
Die Architektur braucht auch die geringeren Formen von ihr ſelbſt zur
Zierath, z. B. Schilde, womit, ſowie mit Stierköpfen, die Metopen
ausgefüllt wurden. Wahrſcheinlich geſchah dieß aus Nachahmung von
wirklich aufgehangenen Schilden, wie die am Tempel des Apollon zu
Delphos aus der marathoniſchen Beute.
Von den geringeren Formen der Architektur, ſofern ſie ſich in
Vaſen, Bechern, Candelabern u. ſ. w. ausdrückt, noch etwas zu erwäh-
nen, wäre gleichfalls überflüſſig. Ich gehe daher zu der zweiten Form
der Plaſtik fort.
[599]
§. 119. Die Malerei in der Plaſtik iſt das Basrelief.
— Denn das Basrelief ſtellt ſeine Gegenſtände einerſeits zwar auf
körperliche Weiſe, andererſeits doch nach dem Schein vor, und bedarf
wie die Malerei des Grundes oder der Zugabe des Raums.
Die Beſchränkung, welche der Malerei eben dadurch geſetzt iſt,
daß ſie außer den Gegenſtänden auch den Raum darzuſtellen hat, in
welchem dieſe erſcheinen, iſt hier noch nicht überwunden, oder, wenn
man will, die Plaſtik kehrt in dieſe Schranke freiwillig zurück. Sowohl
dadurch als durch die Darſtellung des Scheins iſt das Basrelief als
die Malerei in der Plaſtik anzuſehen.
Anmerkung. Etwas von der Unterſcheidung des Haut- und
Basrelief iſt zu erwähnen. Beide ſind dadurch unterſchieden, daß
bei jenem, dem erhabeneren Relief, die Figuren ſtark und über die Hälfte
ihrer Dicke aus dem Grund hervorſtehen, in dieſem aber nicht einmal
mit der Hälfte ihrer Dicke ſich von dem Grund abheben. Da dieſe
beiden Arten ſich nicht weſentlich von einander unterſcheiden, ſo kann
das eigentliche Basrelief oder die flach erhabene Arbeit als das, was
die beſondere Eigenſchaft der Gattung am ausgezeichnetſten darſtellt,
als Repräſentant derſelben, genommen werden.
§. 120. Das Basrelief iſt ſelbſt innerhalb der Plaſtik
als eine ganz ideale Kunſtform zu betrachten. — Folgt
ſchon daraus, daß = Malerei. Wir werden ſeine Natur vollkommen
erſchöpft haben, wenn wir dieſen idealen Charakter nach ſeinen einzel-
nen Beſtimmungen darlegen.
Man kann ſchon zum voraus vermuthen, daß das Basrelief in
ſeiner Art noch idealer ſeyn müſſe als ſelbſt die Malerei, da es von
der höheren Kunſtform, der Plaſtik, zur tieferen zurückſtrebt. Es hat
zwar allerdings darin, daß es uns nur die Hälfte der Figuren, nicht,
wie die Plaſtik, die ganzen, rund gearbeiteten darſtellt, ſowie in der
flachen Erhöhung einen Grund für ſich in der Natur. Wenn wir nicht
um eine Figur rund herumgehen, ſehen wir nur die uns zugekehrte
Hälfte, ſelbſt wenn die Figur freiſteht, wenigſtens vor dem gleichför-
migen Hintergrund der Luft. Daß die Figuren nicht erhabener, ſondern
[600] nur mit flacher Erhöhung gearbeitet werden, hat, kann man ſagen,
ſeinen Grund darin, daß wirklich geſehene Körper in der Entfernung
ſich nicht mit ihrer ganzen Rundirung abheben, indem dieß von dem
Helldunkel abhängig iſt, das durch die Luft ſich abſchwächt.
In gleichem Verhältniß aber auch den Umriß unbeſtimmt zu
machen, würde theils ganz gegen den Charakter der Plaſtik ſeyn, die
ſich auf Luftperſpektive einließe, theils bei der Homogeneität des Hinter-
grunds die Figur ganz zerfließen machen.
Bis hierher alſo hat das Basrelief den Grund in der Natur. In
allem Uebrigen aber iſt es eine in den meiſten Regeln conventionelle
Kunſt, die ſich von dem Betrachter ausdrücklich etwas vorgeben läßt
(wie man ſich im Spiel etwas vorgeben läßt), um durch falſche Mittel
dem geforderten Effekt gleichzukommen. Es iſt ein wechſelſeitiges Ver-
ſtehen des Künſtlers und Kenners.
Von denjenigen, die an die Malerei die Forderung der Illuſion
machen, und ſie in dem Grad vollkommen glauben, in welchem ſie uns
den empiriſchen Schein für Wahrheit geltend macht — uns täuſcht —,
ſollte man nach dieſem Princip einmal eine künſtleriſche Entwicklung
des Basreliefs fordern. — Einiges von dem Conventionellen.
a) Es iſt ſo viel möglich im Profil darzuſtellen; die Verkürzungen
ſind ſo viel als möglich zu umgehen, weil dieſe mit unauflöslichen
Schwierigkeiten begleitet ſind, welche hier auszuführen zu weitläuftig
wäre; daher die Basreliefs der Alten meiſtens ſolche Gegenſtände dar-
ſtellen, die ihrer Natur nach die Stellung im Profil erlauben, wie
Züge von Kriegern, Prieſtern, Opferthieren, die in Einer Richtung
geſchehen.
b) Da bei complicirteren Gegenſtänden es unmöglich iſt, Stel-
lungen zu vermeiden, wobei Glieder heraus oder hineinwärts gehen
und Gruppirungen nothwendig werden, ſo nimmt ſich das Basrelief
die Freiheit ſolche Gegenſtände getheilt vorzuſtellen, das Ganze alſo
durch das Einzelne bloß anzudeuten. An der Pallas in Dresden,
einem der herrlichſten Monumente der uralten, herben, ſtrengen Kunſt-
form, iſt in einem längs des Gewandes gehenden Streifen in zwölf
[601] verſchiedenen Feldern ganz im Kleinen die Bezwingung der Centauren
durch die Minerva vorgeſtellt. Das Basrelief macht alſo auch in dieſer
Eigenſchaft einen beſtändigen Anſpruch an die Beſonnenheit des Beſchauers
und den höheren Kunſtſinn, der keine grobe Täuſchung verlangt.
c) Es iſt ſchon in dem früher Geſagten angedeutet worden, daß
das Basrelief keine Rückſicht auf Linienperſpektive nimmt. Es geht
nie auf Täuſchung aus auch nur wie die Malerei. Es zeigt ſich auch
darin als ganz freie, ideale Kunſt, daß es von dem Beſchauer fordert
die einzelne Figur ſich gegenüber zu denken und von ihrer Mitte aus
zu beurtheilen. Sollen Figuren wirklich in verſchiedener Entfernung
vorgeſtellt werden, ſo wird nur der Plan etwas erhöht und die Figuren
um ſehr weniges verkleinert und flacher gehalten, welches die durch die
Entfernung verminderte Schattirung ausdrückt.
d) Der Grund, welchen das Basrelief mit der Malerei gemein
hat, erfordert in ihm weit weniger Sorgfalt der Ausführung als in
dieſer. Gewöhnlich iſt er nur angedeutet, nie perſpektiviſch ausgeführt.
§. 121. Das Basrelief hat eine nothwendige Tendenz
ſich mit andern Kunſtformen und vorzüglich der Architek-
tur zu verbinden. — Denn da es die ganz ideale Form iſt, ſtrebt
es ſich nothwendig mit der realen Form zu integriren, welche die
Architektur iſt, ſowie dieſe ſelbſt hinwiederum das Beſtreben hat ſich
ſo viel möglich ideal zu machen.
Anmerkung. Nicht nur die größeren und koloſſalen Werke der
Baukunſt verſchönert das Basrelief, ſondern auch die geringeren, die
Sarkophagen, Urnen, Becher u. ſ. w. Das älteſte Beiſpiel iſt der
Schild des Achilles bei Homer. Die Architektur integrirt ſich viel
unmittelbarer mit dem Basrelief als mit der Malerei, welches eine
viel ſtärkere μετάβασις εἰς ἄλλο γένος iſt. Das Basrelief iſt der
Architektur darum mehr verwandt, weil es zu ſeiner Natur gehört
einen gleichförmigen Hintergrund zu haben, welchen die Malerei nur
freiwillig annimmt, um ſich mit der Architektur zu verbinden.
Zuſatz. Eine Art des Basrelief ſind auch die Münzen und
die geſchnittenen Steine, theils die tiefgeſchnittenen theils die
[602] Kameen. In Anſehung dieſer genügt es, die allgemeine Kategorie
anzugeben, unter die ſie gehören. Jetzt zur Plaſtik κατ̕ ἐξοχήν
oder zur Sculptur.
§. 122. Die Plaſtik κατ̕ ἐξοχήν iſt die Sculptur,
ſofern ſie ihre Ideen durch organiſche und von allen
Seiten unabhängige, alſo abſolute Gegenſtände darſtellt.
— Denn durch das erſte unterſcheidet ſie ſich von der Architektur,
durch das andere von dem Basrelief, welches ſeine Gegenſtände im
Zuſammenhang mit irgend einem Grunde darſtellt.
Zuſatz 1. Das plaſtiſche Werk als ſolches iſt ein Bild des Uni-
verſums, welches ſeinen Raum in ſich ſelbſt und keinen außer ſich hat.
Zuſatz 2. In der Plaſtik fällt alle Beſchränkung auf einen
gewiſſen Geſichtspunkt hinweg, und das plaſtiſche Werk erhebt ſich dadurch
zu einer Selbſtändigkeit, die dem maleriſchen Werke fehlt.
§. 123. Die Plaſtik, als der unmittelbare Ausdruck
der Vernunft, drückt ihre Ideen vorzugsweiſe durch die
menſchliche Geſtalt aus.
Beweis. Nach §. 105 iſt die Plaſtik diejenige Kunſtform, wel-
cher das Weſen der Materie zum Leib wird. Nun iſt aber das Weſen
der Materie Vernunft, und als ihr unmittelbarſtes reales Abbild der
vollkommenſte Organismus, und weil dieſer nur in der menſchlichen
Geſtalt exiſtirt, menſchliche Geſtalt.
Anmerkung. Wollte erſtens die Plaſtik ſich durch anorgiſche
Formen ausdrücken, ſo würde ſie dieſe entweder genau nachahmen,
oder ſie würde ſie ſelbſt als bloße Allegorie des Organiſchen behandeln.
Im erſten Fall wäre kein Grund der Nachahmung, denn in der an-
orgiſchen Natur ſind keine wahre Individuen, die Nachahmung würde
alſo nichts von dem Nachgeahmten Unterſchiedenes hervorbringen und
ſich nur die unnütze Mühe geben, das, was ſie ohne Kunſt durch die
Natur ebenſo vollkommen beſitzt, durch Kunſt in einem zweiten Abdruck
zu beſitzen. Im andern Fall fiele ſie mit der Architektur zuſammen.
Wollte die Plaſtik zweitens zwar organiſche Weſen, aber z. B. Pflan-
zen darſtellen, ſo ſänke ſie dadurch wieder unter die Architektur zurück.
[603] Denn da auch die Pflanze keinen ausgezeichneten individuellen, ſondern
nur einen Gattungscharakter hat, ſo wäre hier ſo wenig als in An-
ſehung des Anorgiſchen ein Grund der reellen Nachahmung (ein anderes
iſt die ideelle in der Malerei, die mit Licht und Schatten die Farben
wiedergibt); wollte ſie aber die Pflanze als Allegorie des höheren Thie-
riſchen darſtellen, ſo fiele ſie wieder mit der Architektur zuſammen.
Wenn endlich die Plaſtik die höheren Thiergattungen nachahmt, ſo iſt
auch hier ihr Vermögen ſehr durch den Gegenſtand beſchränkt. Denn
auch im Thierreich hat jedes Thier nur den Charakter ſeiner Gattung,
aber keinen individuellen. Wenn daher die Plaſtik Thiergeſtalten
bildet, ſo iſt es nur in folgenden Rückſichten:
a) als die allgemeinſte kann die angeſehen werden, daß obgleich
das Thier keinen individuellen Charakter hat, doch die Gattung ſelbſt
hier das Individuum iſt. Alle verſchiedenen Charaktere der Thiere,
welche immer ganzen Gattungen gemein ſind, ſind Negationen oder
Beſchränkungen des abſoluten Charakters der Erde; ſie erſcheinen als
beſondere eben deßwegen, weil ſie nicht die Totalität ausdrücken, welche
nur im Menſchen erſcheint. Jede Gattung iſt alſo hier Individuum,
ſowie dagegen im Menſchengeſchlecht jedes Individuum mehr oder
weniger Gattung iſt, oder wenigſtens ſeyn muß, wenn es Gegenſtand
einer Kunſtdarſtellung ſeyn ſoll. Der Löwe z. B. iſt nur großmüthig,
d. h. die ganze Gattung hat den Charakter eines Individuums, der
Fuchs iſt nur liſtig und feig, der Tiger grauſam. Wie alſo das Indi-
viduum der Menſchengattung dargeſtellt wird, weil es als Individuum
zugleich Gattung iſt, ſo kann die Sculptur von dem Thier zwar immer
nur die Gattung, aber dieſe doch deßwegen darſtellen, weil ſie an ſich
eigentlich ein Individuum iſt. Dieſes Vcrhältniß der Thiercharaktere
iſt z. B. der Grund ihres Gebrauchs in der Fabel, in welcher auch
das Thier nie als Individuum, ſondern nur als Gattung auftritt.
Die Fabel erzählt nicht: ein Fuchs, ſondern der Fuchs, nicht ein Löwe,
ſondern der Löwe.
b) Eine andere Rückſicht, in der die Sculptur Thiergeſtalten bilden
kann, iſt die Beziehung der Thiere auf den Menſchen; in dieſer
[604] Rückſicht erſcheinen die Thiere in der Sculptur in der Verbindung mit
andern Werken derſelben, z. B. der Architektur, wie die ehemaligen
Löwen auf dem St. Markusplatz zu Venedig oder andere Thiergeſtalten,
die vor die Eingänge der Paläſte oder Kirchen gleichſam als Hüter
geſetzt werden, wohin auch die noch ſymboliſcheren oder bedeutenderen
Geſtalten der Sphinxe gehören. Ebenſo die Pferde einer Quadrige
als architektoniſcher Zierath auf dem Gipfel eines Gebäudes, eines
Tempels, eines Portals u. ſ. w.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Plaſtik Thiergeſtalten bilden
kann, ſobald dieſe mit zur Darſtellung des eigentlichen Gegenſtandes
gehören, wie z. B. in Basreliefs, die Opferfeſte vorſtellen, oder die
Schlangen in der Gruppe des Laokoon.
c) Bisweilen bildet die Plaſtik Thiere als Attribute oder Neben-
bezeichnungen, ſo den Adler zu den Füßen des Jupiter, der oft auch
auf den Gipfel ſeiner Tempel geſetzt wurde, den Tiger in dem Zuge
des Bakchos, die Pferde am Sonnenwagen u. ſ. w.
Symboliſche Bedeutung der menſchlichen Geſtalt.
Erſtens: Die aufrechte Stellung bei gänzlicher Losgeriſſenheit
von der Erde. — Im organiſchen Naturreich kommt die aufgerich-
tete Stellung nur der Pflanze zu, aber ſie iſt in der Cohäſion
mit der Erde. In dem Thierreich, welches den Uebergang von der
Pflanze zum Menſchen macht, tritt ſehr bedeutend die horizontale Stel-
lung ein (es iſt eine allmähliche Umkehrung der Pflanze). Mit der
horizontalen Stellung iſt die Abhängigkeit von der Erde angedeutet.
Der Theil des Leibs, welcher die Werkzeuge der Nahrung in ſich
ſchließt, bildet ein förmliches Gewicht, wodurch der ganze Leib nieder-
gezogen wird. Die Bedeutung der aufrechten Geſtalt iſt alſo wirklich
die, welche ſchon in Ovids Metamorphoſen 1 bezeichnet iſt:
Zweitens: Symmetriſcher Bau — und zwar ſo, daß die Linie,
welche die zwei Hälften ſcheidet, auch perpendikular gegen die Erde
[605] gerichtet iſt. Sie iſt Ausdruck der vernichteten Oſt- und Weſtpolarität;
und je ſelbſtändiger ein Organ producirt wird, deſto gewiſſer iſt jener
Gegenſatz ohne wirkliche Entgegenſetzung erreicht. Es gibt eine Sphäre
der Metamorphoſe, wo das Auge z. B. (als Lichtorgan der höchſte
Ausdruck der Oſt-Weſt-Indifferenz) nur einfach oder noch zerſtreut
und zahlreich ohne beſtimmte Symmetrie producirt iſt, ſowie es eben-
falls merkwürdig iſt, daß in denjenigen Organen, welche die unmittel-
bare Beziehung auf den allgemeinen Oſt-Weſtpolarismus haben, z. B.
Reſpirationsorgane und Herz, Leber und Milz, jener Gegenſatz in
eine wirkliche Entgegenſetzung ausſchlägt.
Drittens: Entſchiedne Unterordnung der beiden Syſteme, des
der Nahrung und Reproduktion und des der freien Bewegung, unter
das oberſte, deſſen Sitz der Kopf iſt. Dieſe verſchiedenen Syſteme haben
an ſich eine ſymboliſche Bedeutung, erlangen ſie aber erſt vollkommen
in einer Unterordnung, wie die der menſchlichen Geſtalt. Dieſe ver-
hält ſich zu den Thiergeſtalten wieder wie das Urbild, von der jene
bloß die auf verſchiedene Weiſe verſchobenen Abbilder zeigen. — Die
Bedeutung der einzelnen Syſteme iſt dieſe: Der Menſch iſt, wie alle
organiſchen Weſen inſofern ein Mittelweſen, als er urſprünglich zwi-
ſchen Flüſſigem und Feſtem geſtellt iſt. Die andern Gattungen leben nur
auf dem Grund des Luftmeers, der Menſch erhebt ſich am freieſten
in ihm. Wie nun die Natur des Menſchen an und für ſich ſelbſt eine
Verbindung des Himmels mit der Erde ausdrückt, ſo iſt dieſe, zugleich
mit dem Uebergang von dem einen zum andern, auch durch ſeine Ge-
ſtalt ausgedrückt. Das Haupt bedeutet den Himmel und fürnehmlich
die Sonne. Wie jener die Erde durch ſeine Einflüſſe regiert, ſo das
Haupt den ganzen Leib durch die ſeinigen, und was die Sonne im
Planetenſyſtem iſt, iſt das Haupt unter den übrigen Gliedern. Die
Bruſt und die dazu gehörigen Organe bezeichnen den Uebergang vom
Himmel zur Erde, und bedeuten inſofern die Luft. Das Athmen, in
welchem die Bruſt wechſelsweiſe ſteigt und ſinkt, zeigt das erſte Wechſel-
verhältniß zwiſchen Himmel und Erde an. In dem Herz löst ſich
zuerſt die Starrheit des bloß auf Selbſtheit gerichteten Triebs in relative
[606] Cohäſion auf, daher das Herz der erſte Sitz der Leidenſchaft, der
Zuneigung und Begierde, der Heerd der Lebensflamme. Damit aber
dieſes Feuer, welches durch die Berührung der Entgegengeſetzten ſich
entzündet, gekühlt werde, wie der Platoniſche Timäos 1 ſagt, ſind die
Lungen oder die Werkzeuge des Athmens zugegeben. Die Höhlung
des Leibes bedeutet die Umwölbung, welche der Himmel über der Erde
bildet, ſowie der eigentliche Unterleib die im Inneren der Erde wirk-
ſame Reproduktionskraft, wodurch ſie beſtändig ihren eignen Stoff ver-
zehrt und zu höheren Entwicklungen vorbereitet, die erſt näher der
Oberfläche und dem Anblick der Sonne ſich hervorthun.
Die drei Syſteme ſind die Grundlage und das Weſentliche des
menſchlichen Leibs. Außer dieſem aber waren ihm noch Hülfsorgane
nothwendig, worunter ich die Füße und Hände verſtehe. Die Füße
drücken die gänzliche Losgeriſſenheit von der Erde aus, und da ſie die
Nähe und Ferne verbinden, bezeichnen ſie den Menſchen als das ſicht-
bare Bild der Gottheit, der nichts nahe und nichts ferne iſt. Homer
beſchreibt das Schreiten der Juno ſo ſchnell als den Gedanken eines
Menſchen, der viele entlegene Länder, die er bereist hat, in einem
Augenblick durchfährt und ſagt: hier bin ich geweſen und dort war ich.
Die Schnelligkeit der Atalante wird ſo beſchrieben, daß ſie im Lauf
keine Spur im Sand zurücklaſſe, über den ihr Fuß geſchritten. (Vati-
kaniſcher Apoll.) Die Arme und Hände bedeuten den Kunſttrieb des
Univerſums und die Allmacht der Natur, die alles umwandelt und ge-
ſtaltet. — Wir werden ſpäterhin finden, daß es eben dieſe Bedeutung
der einzelnen Theile des menſchlichen Leibs iſt, nach welcher ſie auch
in der Plaſtik gebildet werden.
Viertens: Die menſchliche Geſtalt auch in ihrer Ruhe deutet
auf ein geſchloſſenes und vollkommen abgewogenes Syſtem von Be-
wegungen. Man ſieht auch in ihrer Ruhe, daß wenn ſie ſich bewegen
wird, dieß mit dem vollkommenſten Gleichgewicht des Ganzen geſchehen
wird. Auch darin wird die ſymboliſche Bedeutung der menſchlichen
[607] Geſtalt als eines Bilds des Univerſums offenbar. Wie das Univerſum
nach außen nur die vollkommene Harmonie, das Gleichgewicht ſeiner
Geſtalt und den Rhythmus ſeiner Bewegungen erkennen läßt, und da-
gegen die geheimen Triebfedern des Lebens verborgen, die Werkſtätte
der Zubereitung und Hervorbringung nach innen gebracht ſind, ſo auch
in dem menſchlichen Leib. — Das Muskelſyſtem läßt den Leib äußer-
lich nur als ein geſchloſſenes Syſtem von Bewegungen erkennen, es iſt
dadurch Symbol des allgemeinen Weltbaus. Die Werkzeuge der Aſſi-
milation aber wie die Triebfedern der Bewegung in dieſem Syſtem
ſind verborgen; ja in den Göttergeſtalten iſt ſogar alle Spur von Adern
und Nerven aufgehoben. Dieſe Beziehung iſt der Grund von der
Wichtigkeit des Muskelſyſtems in der Malerei, und vorzüglich in der
Plaſtik. Man mag nun das Muskelſyſtem mit dem Syſtem der allge-
meinen Bewegung der Weltkörper, oder, wie Winkelmann einmal thut,
mit einer Landſchaft, oder etwa mit der Ruhe und Bewegung zugleich,
die die ſtille Fläche des Meeres beſtändig zeigt, vergleichen, ſo bleibt
immer dieſelbe Beziehung. In den Betrachtungen einer ſchönen Land-
ſchaft erkennen wir auch nur die Wirkungen, ohne die inneren Urſachen
und die fortwährend thätigen Triebfedern der Bildung zu erkennen; wir
ergötzen uns an dem äußerlich dargelegten Gleichgewicht der inneren
Kräfte. Ebenſo im Muskularſyſtem. Winkelmann in der Beſchrei-
bung des ſchönen Torſo vom Herkules 1 ſagt: „Ich ſehe hier den vor-
nehmſten Bau der Gebeine dieſes Leibes, den Urſprung der Muskeln
und den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieſes alles zeigt ſich
wie eine von der Höhe der Berge entdeckete Landſchaft, über welche die
Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegoſſen.
So wie die luſtigen Höhen derſelben ſich mit einem ſanften Abhang in
geſenkte Thäler verlieren, die hier ſich ſchmälern und dort erweitern:
ſo mannichfaltig, prächtig und ſchön erheben ſich hier ſchwellende Hügel
von Muskeln, um welche ſich oft unmerkliche Tiefen gleich dem Strome
des Mäander krümmen, die weniger dem Geſichte als dem Gefühl
[608] offenbar werden.“ Anderswo vergleicht er das Muskelſpiel derſelben
Geſtalt mit einer eben anfangenden Bewegung des Meers, von der
man den Grund noch nicht erkennt. „Sowie in einer anhebenden Be-
wegung des Meers, ſagt er, die zuvor ſtille Fläche in einer nebeligen
Unruhe mit ſpielenden Wellen anwächst, wo eine von der andern ver-
ſchlungen und aus derſelben wieder hervorgewälzt wird, ebenſo ſanft
aufgeſchwellet und ſchwebend gezogen fließt hier ein Muskel in den
andern, und ein dritter, der ſich zwiſchen jenen erhebt, und ihre Be-
wegung zu verſtärken ſcheint, verliert ſich in jenen, und unſer Blick wird
gleichſam mit verſchlungen.“ Um es mit Einem Wort zu ſagen: die
menſchliche Geſtalt iſt dadurch vorzüglich ein verkleinertes Bild der Erde
und des Univerſums, daß das Leben als Produkt der inneren Trieb-
federn ſich auf der Oberfläche concentrirt und als reine Schönheit ſich
über ſie verbreitet. Hier iſt nichts mehr, was an das Bedürfniß und
die Nothwendigkeit erinnerte, es iſt die freieſte Frucht der inneren und
verborgenen Nothwendigkeit, ein unabhängiges Spiel, das nicht mehr
an ſeinen Grund erinnert, ſondern an und für ſich ſelbſt gefällt. Hierzu
gehört nun nothwendig auch, daß die menſchliche Geſtalt der fremd-
artigen Bedeckungen entbehre, die den Thieren zugegeben ſind, daß ſie
auch auf der Oberfläche nur Organ ſey, unmittelbare Empfänglichkeit
mit unmittelbarem Rückwirkungsvermögen. Von manchen Philoſophen
iſt die urſprüngliche Nacktheit des Menſchen als ein Mangel, eine Zu-
rückſetzung der Natur beklagt worden. Mit welchem Rechte, ſieht man
aus dem Bisherigen.
Zu der äußeren Erſcheinung des Lebens gehören auch die Sinnes-
organe und unter dieſen vorzüglich das Auge, durch welches gleichſam
das innerſte Licht der Natur hindurchſieht, und das am Haupt wieder
als dem Sitz der edelſten Organe nebſt der Stirne der ausgezeichnetſte
Punkt iſt.
Die menſchliche Geſtalt iſt ſchon an ſich ſelbſt ein Bild des Uni-
verſums, und ohne noch den Ausdruck in Anſchlag zu bringen, der in
ſie gelegt werden kann, dadurch, daß ſie in Handlung geſetzt wird,
daß die inneren Bewegungen des Gemüths in ihr gleichſam äußerlich
[609] widerhallen. Durch ihre erſte Anlage iſt ſie zu einem vollkommen leiten-
den Medium der Aeußerungen der Seele gemacht, und da die Kunſt
überhaupt, die Plaſtik aber insbeſondere Ideen, die über die Materie
erhaben ſind, dennoch durch äußere Erſcheinung darzuſtellen hat, ſo iſt
überhaupt kein Gegenſtand der bildenden Kunſt angemeſſener, als die
menſchliche Geſtalt, der unmittelbare Abdruck der Seele und der Vernunft.
§. 124. Die plaſtiſche Kunſt iſt vorzüglich nach drei
Kategorien erkennbar. Die erſte iſt die Wahrheit oder
das rein Nothwendige, welches im Einzelnen auf Dar-
ſtellung der Formen geht. Die zweite iſt die Anmuth,
welche auf Maß und Verhältniß beruht. Die dritte, als
die Syntheſis der beiden erſten, iſt die vollendete Schöu-
heit ſelbſt.
Anmerkung. Das Nothwendige oder die Schönheit der For-
men kann überhaupt als die reale Form, demnach als das rein Rhyty-
miſche oder die Zeichnung in der Plaſtik gedacht werden. — Die An-
muth oder Schönheit der Verhältniſſe iſt das Ideale; es entſpricht dem
Helldunkel der Malerei (obſchon es ganz von ihm verſchieden iſt) und
der Harmonie in der Muſik. Die vollendete Schönheit oder die
Schönheit der Formen und der Verhältniſſe zugleich iſt in der Plaſtik
wieder das rein Plaſtiſche.
Die Erläuterung, die ich von dieſen Sätzen gebe, wird faſt
ganz hiſtoriſch ſeyn müſſen. Es ſind nämlich die angegebenen Kate-
gorien dieſelben, welche die Bildung der Kunſt wirklich durchlaufen hat
(bei den Griechen). Der allerälteſte Styl war, wie Winkelmann ſagt,
in der Zeichnung nachdrücklich aber hart, mächtig aber ohne Grazie,
und ſo, daß der ſtarke Ausdruck die Schönheit verminderte. Schon nach
dieſer Beſchreibung, noch mehr aber durch den Anblick ſolcher Werke,
z. B. geſchnittener Steine dieſer Zeit, iſt offenbar, daß in ihnen das
rein Nothwendige, die Strenge und Wahrheit das Herrſchende war.
Die Strenge, Beſtimmtheit muß in allem Kunſtbeſtreben der Anmuth
vorangehen. Wir ſehen, daß dieß der Fall in der Malerei geweſen iſt,
und daß die Meiſter, die das Zeitalter des Raphael gegründet haben,
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 39
[610] ihre Werke mit der größten Strenge und bis ins Kleine gehender Ge-
duld ausgeführt haben. So mußte auch jener noch herbe Styl der
Plaſtik vorangehen, ehe die ſüßen Früchte der Kunſt reifen konnten.
Es war der Weg, den auch Michel Angelo in der Plaſtik betreten
hatte, der aber nicht verfolgt wurde. Der Anfang einer Kunſt mit
leichten, ſchwebenden, kaum angedeuteten Zügen deutet auf einen ober-
flächlichen Kunſttrieb. Nur durch männliche, obgleich harte und ſtark
begrenzte Züge kann die Zeichnung zur Wahrheit und Schönheit der
Form gelangen — (Aeſchylos). — Wohl eingerichtete Staaten fangen
mit ſtrengen Geſetzen an und werden dadurch groß. Jener älteſte Styl
der griechiſchen Kunſt gründete ſich auf ein wirkliches Syſtem von
Regeln, und war eben deßwegen, wie alles, was nach Regeln geſchieht,
noch hart und unbeweglich. Der erſte Schritt, ſich zur Kunſt und
über die Natur zu erheben, iſt, daß man nicht mehr nöthig hat unmit-
telbar an dieſe, durch Nachahmung, zu recurriren, und daß man ſtatt
des einzelnen und empiriſchen Vorbilds gleichſam den Typus der Geſetz-
mäßigkeit vor ſich hat, der der Natur ſelbſt bei der Hervorbringung zu
Grunde liegt. Ein ſolches Syſtem von Regeln iſt gleichſam das geiſtige
Urbild, das nur mit dem reinen Verſtande gefaßt wird. Weil es
aber doch nur ein gemachtes Syſtem iſt, ſo entfernt ſich die Kunſt
dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produk-
tionen gibt. Aus dieſem allerälteſten und herben Styl entſprang nun
zuerſt der große Styl, der nach der Darſtellung Winkelmanns zwar
die Unbiegſamkeit des erſten ablegte, die Härte und jähen Abſprünge
der Formen in flüſſige Umriſſe verwandelte, die gewaltſamen Stel-
lungen und Handlungen reifer und ruhiger machte, der aber doch da-
durch der große genannt zu werden verdient, daß das Nothwendige
und Wahre in ihm das Herrſchende blieb. Nur jenes angenommene
und inſofern ideale Syſtem der früheren Hervorbringungen war abge-
worfen, indeß blieb ihm im Vergleich der Weichheit und Anmuth der
ſpäteren Werke noch das Gerade, das Rhythmiſche eigen, ſo daß ſelbſt
von den Alten dieſer Styl noch der eckigte genannt wird. In dieſem
Styl ſind die Werke des Phidias und Polyklet. Noch wurde der
[611] Richtigkeit und der Wahrheit der Formen ein gewiſſer Grad der Schönheit
aufgeopfert; die Majeſtät und Großheit der Formen muß eben deß-
wegen gegen die wellenförmigen Umriſſe des anmuthigen Styls als Härte
erſcheinen, wie auch in der Malerei ſelbſt Raphael gegen Correggio oder
Guido Reni hart erſcheinen kann. Von dieſem hohen Styl iſt nach
Winkelmann vorzüglich die Gruppe der Niobe ein Denkmal, und zwar
nicht ſowohl wegen eines Scheins von Härte als wegen des gleichſam
unerſchaffenen Begriffs der Schönheit und der hohen Einfalt, die darin
herrſchend iſt. Ich führe Winkelmanns Worte an zum Beweis, in
welchem Grade dieſer gelehrteſte aller Kenner das Höhere in der Kunſt
erkannt hat. „Dieſe Schönheit, ſagt er 1, iſt wie eine nicht durch
Hülfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verſtande
und in einer glücklichen Einbildung, wenn ſie ſich, anſchauend, nahe
bis zur göttlichen Schönheit erheben könnte, erzeuget würde, in einer
ſo großen Einheit der Form und des Umriſſes, daß ſie nicht mit Mühe
gebildet, ſondern wie ein Gedanke erwecket und mit einem Hauche
geblaſen zu ſeyn ſcheinet.“
Das rein Nothwendige oder Rhythmiſche der Plaſtik bezieht ſich
auf die Schönheit der Formen und der Geſtalt; der harmoniſche Theil
bezieht ſich auf Maß und Verhältniß. Mit der Berückſichtigung der-
ſelben in der Kunſt tritt der anmuthige oder ſinnlich-ſchöne Styl ein,
der, wo er zugleich die rhythmiſche Schönheit begreift, ſich unmittelbar
zur vollendeten Schönheit erhebt. Ich folge auch hier ganz den Angaben
von Winkelmann, da ich es für ganz unmöglich halte, in den Theilen
der Kunſt, von welchen er gehandelt hat, höhere Principien erreichen
zu wollen. Das Ausgezeichnetſte dieſes Styls in Vergleich mit dem
hohen Styl iſt die Anmuth oder Grazie, das ſinnlich-Schöne. Hierzu
wurde erfordert, daß in der Zeichnung alles Eckige vermieden wurde,
was zuvor noch in den Werken des Polyklet und der größten Meiſter
herrſchend war. „Die Meiſter des hohen Styls, ſagt Winkelmann 2,
hatten die Schönheit allein in einer vollkommenen Uebereinſtimmung
[612] der Theile und in einem erhabenen Ausdrucke und mehr das wahrhafti
Schöne — worunter er das geiſtig-Schöne verſteht — als das Lieb-
liche — oder das ſinnlich-Schöne — geſucht.“
Die höchſte Schönheit iſt aber, wie das Abſolute, immer ſich
ſelbſt gleich und ſchlechthin eins. Alle in der Anſchauung derſelben ent-
worfenen Vorſtellungen mußten ſich alſo mehr oder weniger dieſem
Einen nähern und dadurch auch unter ſich gleich und einförmig wer-
den, wie man auch an den Köpfen der Niobe und ihrer Töchter bemerkt,
die gleichſam bloß quantitativ, nämlich nach dem Alter und Grad, nicht
aber nach der Art der Schönheit verſchieden erſcheinen. Ueberhaupt
konnte, wo nur das Große, Mächtige, nicht das Reizende, ſondern
das an ſich Hohe, das innere Gleichgewicht der Seele, die Entfernung
von Empörungen des Gefühls und Leidenſchaftlichkeit geſucht wurde,
jene ſinnliche Art der Schönheit, die wir Anmuth nennen, weder geſucht
noch angebracht werden. Dieß iſt aber nicht ſo zu verſtehen, als ob
die Werke der älteren Künſtler der Grazie beraubt wären. Nur von
dem älteſten, herbſten Styl ließe ſich dieß einigermaßen ſagen, aber
wir müſſen auch in Anſehung der Grazie wieder einen Unterſchied der
geiſtigeren und der ſinnlicheren zulaſſen. Die erſten Nachfolger der
großen Künſtler des hohen Styls kannten nur die erſte und erreichten
ſie bloß dadurch, daß ſie die hohen Schönheiten an den Statuen ihrer
Meiſter, die, wie Winkelmann ſagt, wie von der Natur abſtrahirte
Ideen und nach einem Lehrgebäude gebildete Formen waren, mäßigten,
und dadurch wieder eine größere Mannichfaltigkeit erhielten.
Denn der Begriff jedes Dings iſt nur einer, und was nicht nach
der Natur, deren Charakter Differenz, ſondern nach dem Begriff gemacht
iſt, iſt nothwendig ebenſo eins als der Begriff.
Von den zwei Arten der Grazie ſagt Winkelmann 1, es ſey mit
dieſen wie mit der Venus, welche auch eine gedoppelte Natur habe.
Die eine ſey, wie die himmliſche Venus, von höherer Geburt und von
der Harmonie gebildet und beſtändig und unveränderlich wie die ewigen
[613] Geſetze von dieſer. Die zweite ſey, wie die von der Diana geborene
Venus, mehr der Materie unterworfen, eine Tochter der Zeit und nur
eine Begleiterin der erſten. Dieſe laſſe ſich herunter von ihrer Hoheit,
ohne ſich zu erniedrigen, und mache mit Mildigkeit denjenigen ſich
bekannt, die auf ſie aufmerkſam ſind. Jene andere aber ſey ſich ſelbſt
genugſam und biete ſich nicht an, ſondern wolle geſucht ſeyn, und ſey
zu erhaben, um ſich ſehr ſinnlich zu machen. Dieſe höhere und geiſtigere
Grazie nun iſt es, die in den Werken der höheren und älteren Künſtler,
im olympiſchen Jupiter des Phidias, in der Gruppe der Niobe u. a.
Der zweite Styl der Kunſt geſellte nun zu dem erſten oder zur
geiſtigen Anmuth die ſinnliche, welche in der Mythologie durch den
Gürtel der Venus bedeutet wird. Zuerſt in der Malerei (durch Parr-
haſius), wie begreiflich, da dieſe Kunſt ſich unmittelbarer zu ihr hinneigt.
Der Erſte, der ſie in Marmor und Erz ausdrückte, war Praxiteles,
der ebenſo wie Apelles, der Maler der Grazie, in Jonien, dem Vater-
land des Homer in der Poeſie und der harmoniſchen Säulenordnung
in der Architektur, geboren war.
Es erhellt ſchon aus der bisherigen Darſtellung, daß die eigent-
lichen Meiſter des ſchönen Styls unmittelbar von der hohen, rhyth-
miſchen Schönheit zu der vollendeten, welche die Wahrheit der Formen
mit der Anmuth der Verhältniſſe verbindet, fortgingen, und daß die
der hohen Schönheit beraubte, bloß ſinnliche Anmuth ſich erſt einfand,
nachdem die Kunſt, welche durch jene zwei Stufen zu ihrem Culmina-
tionspunkt gelangt war, wieder nach der entgegengeſetzten Richtung zu
ſinken begann. Wenigſtens, wenn es Werke der ächten Kunſt gibt,
welche der ſinnlichen Grazie vornehmlich geweiht ſcheinen, ſo iſt der
Grund davon mehr in dem Gegenſtand als in der Kunſt zu ſuchen.
So war, wenn der Jupiter des Phidias ein Werk des hohen Styls
iſt, die Venus des Praxiteles allerdings ein durch die ſinnliche Anmuth
ausgezeichnetes Werk. Ein vollkommenes Beiſpiel der Verbindung der
hohen und geiſtigen Schönheit, in welcher keine Leidenſchaft, ſondern
nur Größe der Seele erſcheint, mit der ſinnlichen Anmuth iſt die
Gruppe des Laokoon. Winkelmann hat in Anſehung derſelben
[614] vorzüglich auf die in ihr herrſchende Mäßigung des Ausdrucks aufmerkſam
gemacht. Goethe in einem Aufſatz der Propyläen hat gezeigt, daß ſie
ebenſo ausgezeichnet iſt von Seiten einer gewiſſen ſinnlichen Anmuth,
die ſie im Einzelnen und im Ganzen hat.
Wir haben die zwei Kategorien der Plaſtik, das Reale oder Roth-
wendige und das Ideale oder die Anmuth bisher bloß in ihrer Allge-
meinheit betrachtet. Wir haben nun zu zeigen, wodurch ſich jede der-
ſelben im Einzelnen ausdrücke.
Das Reale oder Nothwendige beruht, wie ſchon in dem Satz
ſelbſt angezeigt iſt, auf der Wahrheit und Richtigkeit der Formen.
Unter dieſer Wahrheit wird hier keineswegs jene empiriſche, ſondern
jene höhere verſtanden, die auf abſtrakten, von der Natur und der
Beſonderheit abgeſonderten, mit dem reinen Verſtand aufgefaßten
Begriffen beruht (dieß als Anmerkung zu erinnern) wie die Wahr-
heit in den Werken des älteſten Styls. Die Wahrheit in dem höchſten
Sinne iſt das Weſen der Dinge ſelbſt, das aber in der Natur in die
Form gebildet und durch die Beſonderheit mehr oder weniger verworren
und unerkennbar gemacht iſt. Deßwegen kann dieſe höhere Art der
Wahrheit nicht unmittelbar aus Nachahmung der Natur entſpringen,
ſondern nur aus einem Syſtem von Begriffen, das anfangs einen här-
teren und eckigen Styl bildet, bis auch dieſes Syſtem von Regeln
ſelbſt wieder zur Natur wird und die Anmuth eintritt, denn das Zeichen
der Anmuth iſt die Leichtigkeit; alles aber, was durch Natur geſchieht,
ſagt ein Alter, geſchieht mit Leichtigkeit. Jene höchſte Art der Wahr-
heit iſt, wie ſchon §. 20 bewieſen, an ſich mit der Schönheit eins,
und ſo konnten die Meiſter des hohen Styls, indem ſie bloß nach
dieſer Art der Wahrheit trachteten, dennoch eben deßwegen und unmit-
telbar die geiſtige Schönheit erreichen. Sie ahmten nicht das Indivi-
duelle nach, in welchem jederzeit mehr oder weniger Formen ſich finden,
die ſich vollkommener finden laſſen, ſondern einen allgemeinen Begriff,
welchem angemeſſen kein einzelner oder beſonderer Gegenſtand exiſti-
ren konnte. Wie die Wiſſenſchaft das Perſönliche — Neigung und In-
tereſſe — abſtreifen muß, um die Wahrheit an und für ſich ſelbſt zu
[615] erreichen, ſo haben auch dieſe ſie erreicht, indem ſie alles die perſön-
liche Neigung Anſprechende aus ihren Bildern entfernten.
Um nun ins Einzelne zu gehen, ſo beruhte jene abſtrakte Wahr-
heit in Bildung der einzelnen Formen des menſchlichen Leibs vorzüglich
darauf, das Uebergewicht des Geiſtes auch körperlich auszudrücken,
alſo denjenigen Organen, welche auf geiſtigere Verhältniſſe deuten, das
Uebergewicht über die andern zu geben, die mehr eine ſinnliche Be-
ſtimmung haben. Hierauf gründet ſich das ſogenannte griechiſche Profil,
welches nichts anderes als ein Uebergewicht der edleren Theile des
Kopfes über die minder edlen andeutet. Hierauf gründet ſich die dem
hohen Styl eigenthümliche Auszeichnung der Augen, die dadurch erreicht
wurde, daß ſie allezeit tiefer gebildet wurden, als ſie insgemein in der
Natur erſcheinen. Dieß geſchah wirklich nach einem ganz abſtrakten
Begriff, um an dieſem Theile mehr Licht und Schatten hervorzubringen,
und dadurch das Auge, welches insbeſondere an ſehr großen Figuren
unerkennbarer wurde, als lebhafter und wirkſamer auszuzeichnen. Auch
in Anſehung des Auges ging man in den früheren Zeiten nicht auf
eine Nachahmung, ſondern nur auf eine ſymboliſche Bezeichnung der
Natur (wie das eben Angeführte beweist), und daraus folgte auch, daß
der Augenſtern z. B. erſt in ſpäteren Zeiten der Kunſt beſonders ange-
deutet wurde. Sonſt, wie geſagt, beſtand die Schönheit der Formen
im Einzelnen vorzüglich auf der Mäßigung aller der Theile, welche
näheren Bezug auf die Nahrung und überhaupt auf das Thieriſche oder
die Wolluſt hatten, z. B. des Ueberfluſſes der weiblichen Brüſte, welche
die Griechinnen ſelbſt in der Natur zu mäßigen durch künſtliche Mittel
ſich beſtrebten. Dagegen wurde die männliche Bruſt vorzüglich prächtig
gewölbt, und zwar in einem gewiſſen umgekehrten Verhältniß zu der
Erhabenheit des Haupts und der Stirne. Die Köpfe des Neptunus,
dem die Bruſt geweiht war, finden ſich auf allen geſchnittenen Steinen
bis unter die Bruſt ausgeführt, viel ſeltener die der andern Gottheiten.
Der Unterleib erſchien ohne eigentlichen Bauch an den edleren Gotthei-
ten, der nur dem Silen und den Faunen zugetheilt wurde. Außer der
allgemeinen Mäßigung beſonderer Theile ſtrebten die griechiſchen Künſtler
[616] auch jene aus männlichem und weiblichen Weſen gemiſchte Naturen,
welche die aſiatiſche Weichlichkeit durch Verſchneidung zarter Knaben
hervorbrachte, in der Kunſt nachzuahmen, und ſo gewiſſermaßen einen
Zuſtand der Nichttrennung und der Identität der Geſchlechter zu reprä-
ſentiren, welcher Zuſtand, in einer Art des Gleichgewichts erreicht,
welches nicht bloße Nullität, ſondern wirkliche Verſchmelzung der beiden
widerſtreitenden Charaktere iſt, mit zu dem Höchſten gehört, was die
Kunſt vermag.
Was den zweiten Theil der plaſtiſchen Kunſt, nämlich Maß und
Verhältniſſe der Theile betrifft, ſo iſt dieſer einer der ſchwerſten,
und worüber noch am wenigſten durch Theorie ausgemacht iſt. Offen-
bar zwar iſt, daß die griechiſchen Künſtler für das Verhältniß im
Ganzen und Einzelnen ihre beſtimmten Regeln gehabt; nur aus einem
ſolchen Lehrgebäude über die Proportionen läßt ſich die Ueberein-
ſtimmung in den Werken der Alten begreifen, die faſt alle wie aus
Einer Schule zu ſeyn ſcheinen. (Die alten Theoriſten ſind uns verloren
gegangen.) Neuere haben zwar empiriſche Abſtraktionen von den Werken
der Alten hierüber gemacht, aber allgemeine Gründe oder eine Her-
leitung dieſer Verhältniſſe aus ſolchen Gründen wird noch gänzlich ver-
mißt, und Winkelmann ſelbſt hat über dieſen Gegenſtand in ſeine Ge-
ſchichte der Kunſt eine Anleitung von Mengs eingerückt, welche nach
dem Zeugniß ſelbſt von Künſtlern höchſt unverſtändlich iſt. Was alſo
die Ausübung der Kunſt betrifft, ſo kann man bis jetzt, da in der
neueren Welt nie wieder eine wahre Kunſtſchule und ein Syſtem der
Kunſt, wie unter den Alten, ſich gebildet hat, den Lehrling der
Kunſt bloß an die empiriſche Beobachtung der in den ſchönſten Werken
des Alterthums angenommenen Verhältniſſe verweiſen. Die Theorie
aber hat hier eine Lücke, welche auszufüllen noch viel höhere Unter-
ſuchungen erfordert werden, die ſich nicht bloß auf dieſen beſonderen
Gegenſtand, die Proportionen der menſchlichen Geſtalt, ſondern auf
ein allgemeines Geſetz aller Proportionen der Natur erſtrecken müßten.
Die letzte, vollendete Schönheit entſpringt aus der Verbindung der
beiden erſten Arten, aus der Schönheit der Formen und der Schönheit
[617] der Verhältniſſe. Der höchſte Repräſentant dieſer Schönheit unter den
uns übrig gebliebenen Werken des Alterthums iſt die Statue des
Apollon, von der Winkelmann ſagt, ſie ſey das höchſte Ideal der
Kunſt unter allen. „Der Künſtler, ſagt er 1, hat dieſes Werk ganz
auf das Ideal gebaut, und er hat nur ebenſoviel von der Materie dazu
genommen als nöthig war, um ſeine Abſicht auszuführen und ſichtbar
zu machen. Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs, und ſein
Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling,
wie in dem glücklichen Elyſien, bekleidet die reizende Männlichkeit voll-
kommener Jahre mit gefälliger Jugend und ſpielt auf dem ſtolzen
Gebäude ſeiner Glieder.“
In allen Werken dieſer Art überhaupt zeigt ſich die Hoheit und
Größe durch Anmuth gemäßigt aber nicht erniedrigt, und um-
gekehrt: die Anmuth iſt, beſeelt von jener höheren und geiſtigen Schön-
heit, zugleich erhaben und ſtreng.
§. 125. Die plaſtiſche Kunſt iſt die vollendete Einbil-
dung des Unendlichen ins Endliche. Denn jede Einheit, z. B.
die der Einbildung des Unendlichen ins Endliche, in ihrer Vollendung
ſchließt die andere in ſich. Nun iſt aber die Plaſtik unter den realen
Kunſtformen diejenige, welche die reale Einheit, die der Form, und
die ideale, die des Weſens, allein vollkommen gleichſetzt (nach §. 105).
Demnach iſt ſie auch die vollendete Einbildung des Unendlichen ins
Endliche.
Anmerkung. (Muſik iſt die Einbildung der Einheit in die Viel-
heit als ſolche als Form, daher real; Malerei die Einbildung der
Form in das Weſen als ſolches, daher rein ideal.)
Zuſatz 1. Der plaſtiſchen Kunſt eignet vorzugsweiſe Erhaben-
heit. — Nach dem Begriff der Erhabenheit §. 65. Denn dieſe iſt
wirklich das im relativen Univerſum angeſchaute wahre Univerſum. Nun
aber kann die Einbildung des Unendlichen ins Endliche in der Plaſtik
wirklich nicht vollendet ſeyn, ohne daß das Endliche ſelbſt als ſolches
[618] zugleich relativ unendlich ſey. In der Plaſtik wird alſo vorzugsweiſe
das relativ oder ſinnlich Unendliche Symbol des an ſich und abſolut
Unendlichen.
Die menſchliche Geſtalt, welche der vornehmſte Gegenſtand der
Plaſtik iſt, muß, um wirklicher, ſichtbarer Ausdruck der Vernunft zu
ſeyn, ſchon durch das rein Endliche an ihr unendlich und ein Univer-
ſum ſeyn, wie dieß auch im Vorhergehenden bewieſen worden.
Anmerkung. Die vorzüglichſte Wirkung der Kunſt und vor-
zugsweiſe der plaſtiſchen iſt: daß das abſolut Große, das an ſich
Unendliche in die Endlichkeit gefaßt, und wie mit Einem Blicke
gemeſſen wird. Dieß iſt es, wodurch ſich die Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche für den Sinn ausdrückt. Das an ſich und abſolut
Große in die Endlichkeit gefaßt, wird dadurch nicht eingeſchränkt
und verliert nichts von ſeiner Größe, daß es dem Geiſt in der ganzen
Begreiflichkeit eines Endlichen erſcheint, vielmehr wird eben durch dieſe
Faßlichkeit uns ſeine ganze Größe offenbar. Großentheils kommt hier-
auf zurück, was Winkelmann die hohe Einfalt in der Kunſt nennt.
Man könnte ſagen, dieſe Einfalt in der Größe, mit der ſich uns ein
hohes Kunſtwerk darſtellt, ſey der äußere Ausdruck jener inneren Ein-
bildung des Unendlichen ins Endliche, die das Weſen des Kunſtwerks
ausmacht. Alles Große erſcheint mit Einfalt ausgeführt, ſowie dagegen
alles Unterbrochene, und was getheilt betrachtet werden muß, uns auch
den Eindruck der Kleinheit und bei gänzlicher Ueberladung der Klein-
lichkeit gibt.
Zuſatz 2. Der erſte Satz iſt auch ſo auszudrücken: die plaſtiſche
Kunſt ſtellt die höchſte Berührung des Lebens mit dem Tode dar. —
Denn das Unendliche iſt das Princip alles Lebens und von ſich ſelbſt
lebendig; das Endliche aber oder die Form iſt todt. Da nun beide in
den plaſtiſchen Werken zur größten Einheit übergehen, ſo begegnen ſich
hier Leben und Tod gleichſam auf dem Gipfel ihrer Vereinung. Das
Univerſum, wie der Menſch, iſt aus Unſterblichem und Sterblichem,
Leben und Tod gemiſcht. Aber in der ewigen Idee iſt das dort ſterb-
lich Erſcheinende zur abſoluten Identität mit dem Unſterblichen gebracht
[619] und nur Form des an ſich Unendlichen. Als ſolche ſtellt es ſich in den
plaſtiſchen Werken dar, wie Winkelmann in der vorhin angeführten
Stelle ſagt, der Bildner des Apollon habe nur ſo viel Materie zu
dieſem Werke genommen, als nöthig geweſen, ſeine geiſtige Abſicht
auszudrücken. Die Materie und der Begriff ſind hier wahrhaft eins;
jene iſt nur der in Objektivität verwandelte Begriff, alſo er ſelbſt, nur
von einer andern Seite angeſehen.
§. 126. In der Plaſtik hört die geometriſche Regel-
mäßigkeit auf herrſchend zu ſeyn. — Denn hier iſt nicht eine
endliche, mit dem bloßen Verſtande, ſondern eine unendliche, nur mit
der Vernunft zu faſſende Geſetzmäßigkeit, die zugleich die Freiheit iſt.
In Bezug auf endliche Geſetzmäßigkeit iſt alle Plaſtik transſcendent.
Die Malerei iſt ihr (der geometriſchen Regelmäßigkeit) noch unter-
worfen dadurch, daß ſie eine endliche, beſchränkte Wahrheit darſtellt.
Die Malerei hat einzig darum die Linienperſpektive zu beobachten, weil
ſie auf einen endlichen Geſichtspunkt beſchränkt iſt. Die Plaſtik geht
auf eine allſeitige, demnach unendliche Wahrheit. So wenig die For-
men des menſchlichen Leibs an und für ſich ſelbſt durch jene endliche
Geſetzmäßigkeit beſtimmbar ſind, ſo wenig die des plaſtiſchen Kunſtwerks.
Wenn man die Formen eines ſchönen Körpers auf Linien ausdrücken
will, ſo ſind es ſolche, die ihren Mittelpunkt beſtändig verändern, und
fortgeführt niemals eine regelmäßige Figur wie den Cirkel beſchreiben.
Es iſt dadurch eine größere Mannichfaltigkeit zugleich und Einheit geſetzt.
Größere Mannichfaltigkeit, denn der Cirkel z. B. iſt immer ſich ſelbſt
gleich. Größere Einheit, denn man ſetze, daß das Gebäude des Leibes
aus Formen beſtehe, die dem Cirkel gleichen, ſo würde eine die andere
ausſchließen, keine aus der andern mit Stetigkeit herfließen, dagegen
in einem ſchönen organiſchen Leib jede Form als der unmittelbare Aus-
fluß der andern erſcheint, eben deßwegen, weil keine insbeſondere eine
beſchränkte iſt.
§. 127. Die Plaſtik kann vorzugsweiſe koloſſal bil-
den. — Dieß iſt nämlich der Fall in Vergleichung mit der Malerei
und dem Basrelief. Grund: weil ganz unabhängig von einem Raume
[620] bildend, den die Malerei und das Basrelief noch mit dem Gegenſtande
zugleich darzuſtellen hat. Wollte die Malerei koloſſal bilden, ſo würde
ſie den Raum, den ſie dem Gegenſtande gibt, entweder gleichfalls mit
vergrößern, oder nicht. Im erſten Fall bliebe das Verhältniß unver-
ändert, im andern würde, weil die Relation doch nicht aufgehoben iſt,
nur das Unförmliche entſtehen, keineswegs aber das Große. Da alle
Schätzung von Größe auf Relationen zu einem gegebenen empiriſchen
Raum beruht, ſo kann die Kunſt das Koloſſale, ohne in das Unförm-
liche zu gerathen, nur inſofern bilden, als ſie von den Beſchränkungen
des vom Gegenſtand verſchiedenen Raums innerhalb ihrer Darſtellungen
ſelbſt befreit iſt.
Anmerkung. Denn der außer dem Gegenſtand zufälligerweiſe
befindliche große oder kleine Raum hat auf die Schätzung ſeiner Größe
keinen Einfluß. — Neuere haben gegen den koloſſalen Jupiter des Phi-
dias eingewendet, daß wenn er ſich (da er ſitzend vorgeſtellt war) von
ſeinem Thron erhoben, er das Tempeldach hätte einſtoßen müſſen, und
haben dieß als eine Unſchicklichkeit angeſehen. Ganz unkünſtleriſch geur-
theilt. Jedes plaſtiſche Werk iſt eine Welt für ſich, das ſeinen Raum
wie das Univerſum in ſich ſelbſt hat, und auch nur aus ſich ſelbſt
geſchätzt und beurtheilt werden muß; der äußere Raum iſt ihm zufällig
und kann zu ſeiner Schätzung nichts beitragen.
§. 128. Die Plaſtik ſtellt ihre Gegenſtände als die
Formen der Dinge dar, wie ſie in der abſoluten Jueins-
bildung des Realen und Idealen begriffen ſind.
Von der Muſik wurde (§. 83) bewieſen, daß ihre Formen Formen
der Dinge ſind, wie ſie in der realen Einheit exiſtiren, von der Ma-
lerei, wie ſie in der idealen Einheit vorgebildet ſind (§. 88). Da nun
(nach §. 105) die Plaſtik die Kunſtform iſt, in welcher die abſolute
Jueinsbildung der beiden Einheiten objektiv wird, ſo ſtellt ſie auch ihre
Gegenſtände als Formen der Dinge dar, wie ſie in der abſoluten In-
einsbildung des Realen und Idealen begriffen ſind.
Erläuterung. Von der Malerei wurde im Zuſatz 1. zu §. 88
bewieſen, ſie gehe vorzugsweiſe auf Darſtellungen der Ideen als ſolcher.
[621] Jede Idee nämlich, als das vollkommene Ebenbild des Abſoluten, hat
wie dieſes ſelbſt zwei Seiten, eine reale und ideale. Von jener Seite
angeſchaut erſcheinen die Ideen als Dinge, nur von der idealen erſchei-
nen ſie als Ideen, obgleich das, worin die beiden Seiten eins ſind,
ſelbſt wieder die Idee iſt. Die Malerei ſtellt alſo die Ideen vorzugs-
weiſe als Ideen, d. h. von der idealen Seite dar, die Plaſtik aber
ſo, daß ſie zugleich ganz Idee und ganz Ding ſind. Die Malerei gibt
ihre Gegenſtände keineswegs für real, ſondern will ſie ausdrücklich als
ideal angeſehen wiſſen. Die Plaſtik, indem ſie ihre Gegenſtände als
Ideen darſtellt, gibt ſie doch zugleich als Dinge, und umgekehrt; ſie
ſtellt alſo wirklich das abſolut Ideale auch zugleich als das
abſolut Reale dar, und dieß iſt ohne Zweifel der höchſte Gipfel
der bildenden Kunſt, wodurch ſie in die Quelle aller Kunſt und aller
Ideen, aller Wahrheit und Schönheit, nämlich in die Gottheit zurückkehrt.
§. 129. Die Plaſtik kann ſich ſelbſt in ihren höchſten
Forderungen einzig durch Darſtellung der Götter genügen.
— Denn ſie ſtellt vorzugsweiſe die abſoluten Ideen dar, die als ideal
zugleich real. Aber die Ideen, real angeſchaut, ſind Götter (§. 28),
die Plaſtik bedarf alſo vorzüglich der göttlichen Naturen ꝛc.
Erläuterung. Dieſe Behauptung iſt nicht empiriſch gemeint
nämlich ſo, daß die plaſtiſche Kunſt niemals ihre wahre Höhe erreicht
hätte, ohne Götter darzuſtellen. Es iſt allerdings gewiß, daß die Noth-
wendigkeit, in der ſich die griechiſchen Künſtler befanden, Bilder von
Göttern zu entwerfen, ſie nöthigte unmittelbarer ſich über die Materie
zu erheben, in das Reich des Abſtrakten und Körperloſen zu dringen,
und das Ueberirdiſche und von der bedürftigen und abhängigen Natur
Abgeſonderte zu ſuchen. Allein die Meinung iſt eigentlich dieſe, daß
die Plaſtik an und für ſich ſelbſt, und wenn ſie nur ſich ſelbſt und
ihren beſonderen Forderungen genügen will, Götter darſtellen muß.
Denn ihre beſondere Aufgabe iſt eben, das abſolut Ideale zugleich als
das Reale, und demnach eine Indifferenz darzuſtellen, die an und für
ſich ſelbſt nur in göttlichen Naturen ſeyn kann.
Man kann alſo ſagen, daß jedes höhere Werk der Plaſtik an und
[622] für ſich ſelbſt eine Gottheit ſey, geſetzt, daß auch noch kein Name für
ſie exiſtire, und daß die Plaſtik, wenn ſie nur ſich ſelbſt überlaſſen
alle Möglichkeiten, die in jener höchſten und abſoluten Indifferenz
beſchloſſen liegen, als Wirklichkeiten darſtellte, dadurch von ſich ſelbſt
den ganzen Kreis göttlicher Bildungen erfüllen und die Götter erfinden
müßte, wenn ſie nicht wären. Von der anderen Seite betrachtet, muß
man ſagen, daß, da das Weſen des griechiſchen Polytheismus (nach
dem, was §. 30 ff. bewieſen wurde) in der reinen Begrenzung von der
einen und der ungetheilten Abſolutheit von der andern Seite beſtand,
da ferner dieſe Götterwelt in ſich wieder eine Totalität, ein beſchloſſenes
Syſtem bildete, eben dadurch auch die Möglichkeit für die plaſtiſche
Kunſt begründet war ſich frühzeitig zu begrenzen, ihre Gegenſtände in
ſtreng abgeſonderte Formen zu faſſen, und ein ebenſo in ſich beſchloſſe-
nes Syſtem der Götterbildungen zu entwerfen, als es ſchon zuvor in
der Mythologie vorhanden war. Die plaſtiſche Kunſt der Griechen
bildet eben deßwegen für ſich wieder eine Welt, der, wie ſie nach innen
vollendet iſt, ebenſo auch nach außen nichts gebricht, worin alle Mög-
lichkeiten erfüllt, alle Formen geſondert und ſtrenge beſtimmt ſind. Das
Anſehen des Jupiter, des Neptunus und aller männlichen Gottheiten
war ein für immer beſtimmtes, ebenſo das der weiblichen Gottheiten.
(Vollkommene Aehnlichkeit der Köpfe auf allen Münzen.) Dadurch
wurde die Kunſt gleichſam canoniſch und exemplariſch; es gab keine
Wahl mehr in ihr, das Nothwendige herrſchte.
§. 130. Die Werke der plaſtiſchen Kunſt werden vor-
zugsweiſe die Charaktere der Ideen in ihrer Abſolutheit
an ſich tragen. — Unmittelbare Folge aus dem Vorhergehenden.
Erläuterung. Das Weſen der Ideen iſt, daß in ihnen
Möglichkeit und Wirklichkeit jederzeit oder vielmehr ohne Zeit eins ſind,
daß ſie alles, was ſie ſeyn können, in der That und zumal ſind.
Dadurch entſteht die höchſte Befriedigung, und — weil in dieſem Zu-
ſtand kein Mangel, kein Gebrechen denkbar, alſo nichts vorhanden iſt,
wodurch ſie aus ihrer Ruhe weichen könnten — das höchſte Gleich-
gewicht und die tiefſte Ruhe in der höchſten Thätigkeit.
[623]
Dieſer Charakter, wie er hier angegeben iſt, iſt der Charakter der
plaſtiſchen Götterbildungen, jeder nämlich in ihrer Art. Jede iſt voll-
endet, jede ruht in der höchſten Befriedigung, ohne deßwegen unthätig
zu ſcheinen. Nur die Thätigkeit, welche das Gleichgewicht der Seele
aufhebt, der Ernſt und die Arbeit, welche die Stirne der Sterblichen
furcht, ebenſo wie die Luſt und die Begier, welche ſie aus ſich ſelbſt
herauszieht, ſind von ihrem Angeſicht verſchwunden. In dieſer erhabe-
nen Gleichgültigkeit kann keine Möglichkeit der Wirklichkeit vorangehen;
deßwegen iſt „mit der Neigung zugleich auch alle Spur des Willens, der
nicht zugleich That und Befriedigung wäre, aus ihnen ausgelöſcht“ 1. Sie
erſcheinen als Weſen, die ſchlechthin um ihrer ſelbſt willen und ganz
in ſich ſelbſt ſind. Sie erſcheinen unbeſchränkt von außen, denn ſie
ſind gleichſam nicht im Raum, ſondern tragen ihn ſelbſt in ſich als
eine geſchloſſene Schöpfung. Jeder fremden Berührung entrückt, erſcheint
auch, was in ihnen wirklich Begrenzung iſt, als ihre Vollkommenheit
und Abſolutheit. Eben durch dieſe ſind ſie in ſich ſelbſt.
§. 131. Das höchſte Geſetz aller plaſtiſchen Bildungen
iſt Indifferenz, abſolutes Gleichgewicht der Möglichkeit
und Wirklichkeit. — Unmittelbare Folge aus dem Vorhergehenden.
Dieſes Geſetz iſt allgemein, denn das höhere plaſtiſche Werk iſt ſchon
für ſich ein Gott, auch wenn es einen Sterblichen darſtellen ſollte.
Auch der Menſch, wenn er leidet, ſoll leiden, wie ein Gott leiden
würde, wenn er deſſen fähig wäre. Schon aus dem Begriff der Götter
folgt, daß ſie alles Leidens entbunden erſcheinen, und nur Prometheus,
das Urbild aller tragiſchen Kunſt, leidet als Gott. In den Götter-
geſtalten kann alſo an und für ſich ſelbſt kein Ausdruck angetroffen
werden, der das innere Gleichgewicht der Seele aufgehoben zeigte.
In der Conſtruktion der Malerei wurde (§. 87) behauptet, daß
auch in ihren Darſtellungen der Ausdruck gemäßigt werden müſſe.
Allein in der Malerei iſt dieß nicht ſo unmittelbar der Fall als in der
Plaſtik. Die Malerei muß ihn mäßigen, damit er der Schönheit nicht
[624] nachtheilig werde, worunter hier die ideale Schönheit, die Grazie
verſtanden wird, deren die Malerei, als die ideale Form, vorzüglich
ſich beſtrebt. Allein in der Plaſtik iſt der gemäßigte Ausdruck und das
Anſehen, welches einen innerlich abgewogenen Zuſtand der Seele erkennen
läßt, an ſich nothwendig, wegen des Berufs, ein Bild der göttlichen
Natur und der in ihr wohnenden Indifferenz zu ſeyn. Dieſes iſt das
Erſte, die Schönheit iſt die nothwendige und unmittelbare Wirkung
oder Erſcheinung davon. — So haben Schönheit und Wahrheit in ihrer
Abſolutheit einen gemeinſchaftlichen Grund — die Indifferenz.
Ich führe nur einige Beiſpiele dieſes ruhigen, über Leidenſchaft
und Gewaltſamkeit erhabenen Ausdrucks in griechiſchen Werken, ſowohl
die Götter als, die ſterbliche Naturen vorſtellen, an.
Das höchſte Urbild der Ruhe und der Indifferenz iſt der Vater
der Götter; daher wird dieſer in ewiger Heiterkeit, gleichſam unge-
rührt von Empfindungen vorgeſtellt. Eine größere Thätigkeit darf dem
Apollon zugeſchrieben werden; da er der ideale unter den Göttern
iſt. Dieſe größere Thätigkeit wird ausgedrückt durch die Erhabenheit
ſeines Ganges, den kühnen Schwung ſeines Leibes, auf dem die ewige
Schönheit ſpielt. Uebrigens iſt auch in ihm die höchſte Schönheit in
der tiefſten Ruhe gebildet. „Keine Adern, noch Sehnen, ſagt Winkel-
mann 1, erhitzen und erregen dieſen Körper, ſondern ein himmliſcher
Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom ergoſſen, hat gleichſam die ganze
Umſchreibung dieſer Figur erfüllt.“ — Er iſt vorgeſtellt, wie er den
Python, gegen den er erſt ſeinen Bogen gebraucht, verfolgt, wie ſein
mächtiger Schritt ihn erreicht und erlegt hat. Aber er iſt nicht auf
ſeiner Gegenſtand geheftet. „Von der Höhe ſeiner Genügſamkeit
gehet ſein erhabner Blick, wie ins Unendliche, weit über ſeinen Sieg
hinaus. Verachtung ſitzt auf ſeinen Lippen, und der Unmuth, welchen
er in ſich zieht, bläht ſich in den Nüſtern ſeiner Naſe und ſteigt bis
in die ſtolze Stirne hinauf. Aber der Friede, welcher in einer gött-
lichen Stille auf ihr ſchwebet, bleibt ungeſtört u. ſ. w.“
[625]
Von den vornehmſten Beiſpielen des gemäßigten Ausdrucks in
Darſtellung menſchlichen Handelns und Leidens, dem Laokoon und der
Niobe, iſt ſchon bei der Malerei die Rede geweſen. Aber über die
Niobe will ich noch bemerken, daß ſie ſchon dem Gegenſtand nach
zu den höchſten Werken gehört. Die Plaſtik ſtellt ſich in ihr gleichſam
ſelbſt dar, und ſie iſt das Urbild der Plaſtik, vielleicht eben ſo, wie
Prometheus das der Tragödie. Alles Leben beruht auf der Verbindung
eines an ſich Unendlichen mit einem Endlichen, und das Leben als
ſolches erſcheint nur in der Entgegenſetzung dieſer beiden. Wo ihre
höchſte oder abſolute Einheit iſt, iſt, relativ betrachtet, der Tod, aber
eben deßwegen wieder das höchſte Leben. Da es nun überhaupt Werk
der plaſtiſchen Kunſt iſt, jene höchſte Einheit darzuſtellen, ſo erſcheint
das abſolute Leben, von dem ſie die Abbilder zeigt, an und für ſich
ſchon, und verglichen mit der Erſcheinung, als Tod. Aber in der
Niobe hat die Kunſt dieſes Geheimniß ſelbſt ausgeſprochen, dadurch, daß
ſie die höchſte Schönheit in dem Tode darſtellt, und die nur der göttlichen
Natur eigne, der ſterblichen aber unerreichbare Ruhe — dieſe im
Tod gewinnen läßt, gleichſam um anzudeuten, daß der Uebergang zum
höchſten Leben der Schönheit in der Beziehung auf das Sterbliche als Tod
erſcheinen müſſe. Die Kunſt iſt alſo hier auf gedoppelte Weiſe ſym-
boliſch; ſie wird nämlich wieder zur Auslegerin von ihr ſelbſt, ſo daß,
was alle Kunſt wolle, hier in der Niobe ausgeſprochen vor Augen liegt.
Anmerkung, das Verhältniß zur Malerei betreffend.
— Die Malerei iſt rein ideale Kunſtform. Das Weſen des Idealen
= Thätigkeit. Daher iſt in der Malerei mehr Thätigkeit und mehr
Ausdruck der Leidenſchaft erlaubt. Nur findet die Eine Beſchränkung
ſtatt, daß die ſinnliche Schönheit, Anmuth und Grazie nicht aufge-
hoben werde. Jene letzte Schönheit, die Erhabenheit iſt, und die
urſprünglich als totale Indifferenz von Unendlichem und Endlichen nur
in Gott wohnt, iſt nur der Plaſtik möglich darzuſtellen.
Noch einige Beſtimmungen der plaſtiſchen Kunſt.
Zu erwarten iſt, wegen der unendlichen Wiederholung von allem
in allem, daß auch in der Plaſtik κατ̕ ἐξοχήν wieder die anderen
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 40
[626] plaſtiſchen Formen, obgleich in ſehr eingeſchränkter Gültigkeit, zurück-
kehren. — Hierauf beziehen ſich die folgenden Sätze.
§. 132. Der architektoniſche Theil der Plaſtik, ſoweit
er in ihr auf eine untergeordnete Art ſtattfindet, iſt die
Draperie oder Bekleidung.
Architektoniſch iſt die Draperie, weil ſie mehr oder weniger nur eine
Allegorie oder Andeutung (Echo) der Formen der organiſchen Geſtalt iſt.
Dieſe Andeutung beruht fürnehmlich auf dem Gegenſatz der Falten und
des Flachen, Faltenloſen. Ein erhobenes Glied, von dem ein freies
Gewand auf beiden Seiten herabfällt, iſt in der Natur nie ohne Falten,
und dieſe fallen dahin, wo eine Hohlung iſt. — An Werken des alten
Styls gehen die Falten meiſt gerade. In dem ſchönſten und vollen-
detſten Style der Kunſt gingen ſie mehr in gezogenen Bogen, und der
Mannichfaltigkeit halber wurden ſie gebrochen, aber ſo, daß ſie wie
Zweige von einem gemeinſchaftlichen Stamm und mit einem ſehr ſanften
Schwung ausgingen. In der That kann es keine herrlichere und ſchö-
nere Architektonik geben als die der vollendetſten Draperie in den
griechiſchen Werken. Die Kunſt, das Nackte darzuſtellen, potenzirt ſich
hier gleichſam ſelbſt, indem ſie die organiſche Form auch durch ein
fremdartiges Medium hindurch erkennen läßt; und je weniger unmit-
telbar, je mehr mittelbar ſie hier darſtellt, deſto ſchöner wird dieſer
Theil der Kunſt. Indeß bleibt die Draperie doch immer dem Nackten
untergeordnet, welches die wahre und erſte Liebe der Kunſt iſt. Die
Kunſt verſchmäht die Verhüllung, inſofern ſie bloß Mittel und nicht
etwa ſelbſt wieder zur Allegorie der Schönheit gemacht wird, da ſie
durchaus für den höchſten Sinn gebildet iſt, und den niedrigen, auch
wo ſie unverhüllt iſt, verſchmäht. Wie kein Volk einen höheren Sinn
für Schönheit hatte, als die Griechen, ſo war auch keines, welches von
jener falſchen und unkeuſchen Scham, die ſich Decenz nennt, entfernter.
Die Draperie in Kunſtwerken konnte darum keinen außer der Kunſt
liegenden Zweck haben, und ſelbſt nur um der Schönheit willen, nicht
in ſogenannter ſittlicher Abſicht, ausgebildet werden; daher auch die
griechiſche Kleidung einzig ſchön genannt werden kann.
[627]
§. 133. Der maleriſche Theil der Plaſtik, inwiefern
er in ihr ſtattfinden könnte, müßte ſich auf die Gruppi-
rung oder Zuſammenſetzung mehrerer Geſtalten zu einer gemein-
ſchaftlichen Handlung beziehen. — Denn da es bei einer beträchtlichen
Compoſition nicht zu vermeiden wäre, daß einzelne Figuren durch andere
verdeckt und für Betrachtung des Ganzen ein gewiſſer, beſtimmter
Geſichtspunkt nothwendig würde, ſo würde die Plaſtik ſich dadurch eine
der Malerei ähnliche Beſchränkung geben. Allein man ſieht ſchon aus
der Sache ſelbſt, wie nothwendig die Plaſtik ſich in Rückſicht der Com-
poſition auf wenig Geſtalten zu beſchränken hat, und ſie kann dieß
um ſo eher, da ſie die einzige bildende Kunſt iſt, welcher die Geſtalt
an und für ſich genügt, und die nichts außer ihr bedarf. Die Malerei
hat wenigſtens den Grund darzuſtellen, und begnügt ſich ſchon darum
weniger mit Einer Geſtalt, weil ſie dem Raum Bedeutung geben
muß. Eben deßwegen aber, weil die Malerei ihren Gegenſtänden
den Grund zugibt, hat ſie zugleich das Verbindungsmittel für ſie,
anſtatt daß die Plaſtik, wo jede Geſtalt für ſich und von allen
Seiten beſchloſſen iſt, wenn ſie zu viele Geſtalten durch ein äußeres
Medium, z. B. den Boden, auf den ſie geſtellt werden, verbinden
wollte, dadurch dem Außerweſentlichen eine zu große Bedeutung geben
würde.
Man kann alſo behaupten, daß eben in der Abſolutheit der Plaſtik
der Grund liegt, warum ſie ſich nicht auf zuſammengeſetztere Compo-
ſitionen ausdehnt, indem in Einem oder in Wenigem ihre ganze Größe
beſchloſſen liegt, die nicht auf der Ausdehnung im Raum, ſondern
allein auf der inneren Vollendung und Beſchloſſenheit des Gegenſtandes
beruht, demnach eine Größe iſt, die nicht empiriſch, ſondern der Idee
nach geſchätzt wird. Wie die Natur zur Vollendung jedes einzelnen
ihrer organiſchen Werke dadurch gelangt, daß ſie Länge und Breite
aufhebt, und alles concentriſch aufſtellt, ſo ſchließt auch die bildende
Kunſt in der Plaſtik als ihrer Blüthe ſich dadurch, daß ſie alles gegen
den Mittelpunkt zuſammenzieht und ſcheinbar ſich beſchränkend ſich
zur Totalität erweitert.
[628]
Ich ſchließe die Conſtruktion der Plaſtik mit einigen
Allgemeinen Anmerkungen über die bildende Kunſt
überhaupt.
Wir haben gleich anfänglich die bildende Kunſt überhaupt conſtruirt
als die reale Seite der Kunſtwelt, deren zu Grunde liegende Einheit
alſo die Einbildung der Identität in die Differenz iſt. Dieſe iſt voll-
endet ohne Zweifel da, wo das Allgemeine das ganze Beſondere, das
Beſondere das ganze Allgemeine iſt. Dieß iſt vorzugsweiſe nur in der
Plaſtik der Fall. Wir ſind alſo ſicher, die Conſtruktion der bildenden
Kunſt vollendet, d. h. in ihren Anfangspunkt zurückgeführt zu haben.
Der allgemeine Umkreis, in welchen ihre Formen fallen, iſt der der
realen Einheit, die, in ihrem An-ſich dargeſtellt, ſelbſt wieder eine
Indifferenz iſt. Durch Differenzürung gehen aus ihr die reale und
die ideale Form hervor, jene als Muſik, dieſe als Malerei. Sie ſelbſt
drückt ſich als Indifferenz erſt vollkommen in der Plaſtik aus.
Man könnte der von uns ſtatuirten Aufeinanderfolge der drei
Grundkünſte folgende andere entgegenſetzen. Zugegeben, könnte man
ſagen, und vorausgeſetzt, daß die bildende Kunſt der realen Einheit
entſpricht und in ihren Formen gemäß den Formen der letzteren conſtruirt
werden muß, ſo wird die Plaſtik in dem Syſtem der Kunſt nothwendig
der Materie in der Natur entſprechen und die erſte Potenz der bildenden
Künſte bezeichnen. Das An-ſich der Kunſt kleidet ſich hier, wie das
An-ſich der Natur ganz in Materie und Körper. Durch die zweite
Potenz wird die Materie ideal, in der Natur durch das Licht, in der
Kunſt durch die Malerei. Endlich in der dritten wird die reale und
ideale eins; das dem Realen oder der Materie Verbundene oder Einge-
bildete wird zum Klang oder Laut, in der Kunſt zur Muſik und zum Ge-
ſang. Hier wird alſo der abſolute Erkenntnißakt mehr oder weniger von
den Feſſeln der Materie befreit, und ſie ſelbſt bloß als Accidens ſetzend,
objektiv und als Akt der Einbildung der ewigen Subjektivität in die
Objektivität erkennbar. — Hier iſt alſo die umgekehrte Ordnung der von
uns angenommenen. Dieſe andere Ordnung ſchiene ſich noch dadurch zu
[629] empfehlen, daß ſie den Uebergang von der bildenden Kunſt zur redenden
unmittelbarer und ſtetiger machen läßt. Die Materie löst ſich allmählich
ins Ideale auf: — in der Malerei ſchon ins relativ-Ideale, in dem Licht;
in der Muſik, und dann noch mehr in Rede und Poeſie in das wahrhaft
Ideale, in die vollkommenſte Erſcheinung des abſoluten Erkenntnißaktes.
Der Mißverſtand, auf welchem dieſe Ordnung beruhen würde,
wäre der der Potenzen in der Philoſophie. Die Meinung iſt nicht,
daß die Potenzen wahre reale Gegenſätze bilden, ſondern daß ſie
allgemeine Formen ſind, die in allen Gegenſtänden auf gleiche
Weiſe zurückkehren. Z. B. die Potenz des Organiſchen iſt keineswegs
bloß das organiſche Weſen ſelbſt, ſondern ſie iſt ebenſo nothwendig
und beſtimmt auch in der Materie ſelbſt, nur hier untergeordnet dem
Anorgiſchen. Die Materie iſt anorgiſch, organiſch und vernünftig zu-
gleich, und dadurch ein Bild des allgemeinen Univerſums. Die Plaſtik,
als die dritte Potenz der bildenden Kunſt, ſtellt nun eben das, was in
der Materie Ausdruck der Vernunft iſt, als entwickelt dar, und ſie
geht hierin ſogar durch verſchiedene Stufen, indem ſie, als Architektur
z. B. die Materie oder das Anorgiſche nur bis zur Allegorie des Orga-
niſchen und mittelbar der Vernunft entwickelt. Die Plaſtik alſo, wenn
ſie auch dadurch, daß ſie die Materie zum Leib nimmt, unter die erſte
Potenz fällt, wäre doch in dieſer, nämlich unter dem gemeinſchaftlichen
Exponenten des erſten, wieder die dritte Potenz, indem ſie die Ver-
nunft als das Weſen der Materie darſtellt. Auf dieſe Weiſe würde
ſich alſo, wie die Natur in Bezug auf das Univerſum im Ganzen
wieder die erſte Potenz darſtellt, ſo die bildende Kunſt in Bezug auf
das Univerſum der Kunſt im Ganzen als die erſte Potenz verhalten.
Was aber über die Ordnung der drei Grundformen der bildenden
Kunſt entſcheidet, iſt Folgendes.
Alle bildende Kunſt iſt Einbildung des Unendlichen ins Endliche,
des Idealen ins Reale. Da ſie alſo überhaupt auf die Umwandlung
des Idealen in das Reale geht, ſo muß die vollkommenſte Erſcheinung
des Idealen als eines Realen, die abſolute Verwandlung des erſten in
das andere, den Gipfel aller bildenden Kunſt bezeichnen.
[630]
Es erhellt von ſelbſt, daß die Kunſt in dem Verhältniß, als ſie
real iſt, alſo in dem Verhältniß, in welchem ſie das Unendliche dem End-
lichen einbildet, auch als real erſcheine, dagegen daß ſie im umgekehrten
Verhältniß jener Umwandlung noch mehr oder weniger als ideal er-
ſcheine. So erſcheint in der Muſik die Einbildung des Idealen ins
Reale noch als Akt, als ein Geſchehen, nicht als ein Seyn, und als
bloß relative Identität. In der Malerei hat ſich das Ideale bereits
zu Umriß und Geſtalt zuſammengezogen, aber noch ohne als Reales
zu erſcheinen; ſie ſtellt bloß Vorbilder des Realen dar. Endlich in der
Plaſtik iſt das Unendliche ganz in das Endliche, das Leben in den Tod,
der Geiſt in Materie verwandelt, aber eben deßwegen, und nur weil
es ganz und abſolut real iſt, iſt das plaſtiſche Werk auch wieder
abſolut ideal. — Die von uns aufgeſtellte Ordnung iſt alſo die in der
Sache ſelbſt gegründete, und wir werden ein gleiches Verhältniß auch
wieder auf der idealen Seite in der Poeſie antreffen, in welcher
gleichfalls die höchſte Potenz auf jener Umwandlung eines Idealen
in ein gänzliches Seyn, in eine als wirklich dargeſtellte Realität
beruht, im Gegenſatz gegen welche die Lyrik z. B. weit mehr ideal
erſcheint.
Hiermit wäre alſo der Kreis der bildenden Künſte durchlaufen.
Wir werden uns daher jetzt zu der idealen Seite der Kunſtwelt
wenden, welche die Poeſie im engeren Sinn iſt, Poeſie nämlich, ſofern
ſie durch Rede und Sprache ſich ausdrückt.
Ich erinnere hier an folgende Hauptſätze.
1. Das Univerſum iſt nach den Beweiſen, welche gleich anfangs
(§. 8) geführt wurden, nach zwei Seiten gegliedert, welche den beiden
Einheiten im Abſoluten entſprechen. In der einen, für ſich betrachtet,
erſcheint das Abſolute bloß als Grund von Exiſtenz, denn es iſt die,
worin es ſeine ewige Einheit in die Differenz geſtaltet. In der andern
erſcheint das Abſolute als Weſen, als Abſolutes, denn wie dort (in
der erſten Einheit) das Weſen in die Form gebildet wird, ſo hier da-
gegen die Form in das Weſen. Dort iſt alſo die Form das Herr-
ſchende, hier das Weſen.
[631]
2. Die beiden Seiten des abſolut-Idealen ſind weſentlich eins;
denn, was in der einen real, iſt in der andern nur ideal ausgedrückt
und umgekehrt; beide ſind alſo, getrennt betrachtet, nur die verſchie-
denen Erſcheinungsweiſen von Einem und demſelbigen.
Die Natur in der Getrenntheit von der anderen Einheit (in der
die Form in das Weſen gebildet wird) erſcheint mehr als geſchaffene,
die ideale als ſchaffende; in dem einen iſt aber eben deßwegen und
nothwendig das, was in dem anderen. Die Natur iſt nach §. 74
(Allg. Zuſ.) die plaſtiſche Seite, ihr Bild iſt die Niobe der plaſtiſchen
Kunſt, die mit ihren Kindern erſtarrt, die ideale Welt die Poeſie des
Univerſums. Dort verhüllt ſich das göttliche Princip in ein anderes,
ein Seyn, hier erſcheint es als das, was es iſt, als Leben und Han-
deln. Allein dieſer Unterſchied iſt wieder ein bloßer Formunterſchied,
wie anfänglich in Anſehung der bildenden und redenden Kunſt bewieſen
worden. Die Natur iſt an ſich betrachtet wieder das Urſprünglichſte,
das erſte Gedicht der göttlichen Imagination. Die Alten und nach
ihnen die Neuern nannten die reale Welt natura rerum, die
Geburt der Dinge. In ihr werden die ewigen Dinge, nämlich die
Ideen zuerſt wirklich, und inwiefern ſie die aufgeſchloſſene Ideenwelt iſt,
enthält ſie die wahren Urbilder der Poeſie. Aller Unterſchied zwiſchen
bildender und redender Kunſt kann daher nur in Folgendem beruhen.
Alle Kunſt iſt unmittelbares Nachbild der abſoluten Produktion
oder der abſoluten Selbſtaffirmation; die bildende nur läßt ſie nicht
als ein Ideales erſcheinen, ſondern durch ein anderes, und dem-
nach als ein Reales. Die Poeſie dagegen, indem ſie dem Weſen nach
daſſelbe iſt, was die bildende Kunſt iſt, läßt jenen abſoluten Erkenntniß-
akt unmittelbar als Erkenntnißakt erſcheinen, und iſt inſofern die höhere
Potenz der bildenden Kunſt, als ſie in dem Gegenbild ſelbſt noch die Natur
und den Charakter des Idealen, des Weſens, des Allgemeinen beibe-
hält. Das, wodurch die bildende Kunſt ihre Ideen ausdrückt, iſt ein
an ſich Concretes; das, wodurch die redende, ein an ſich Allgemei-
nes, nämlich die Sprache. Deßwegen hat die Poeſie vorzugsweiſe den
Namen der Poeſie, d. h. der Erſchaffung behalten, weil ihre Werke
[632] nicht als ein Seyn, ſondern als Produciren erſcheinen. Daher kommt
es, daß die Poeſie wieder als das Weſen aller Kunſt kann angeſehen
werden, ungefähr ſo wie die Seele als das Weſen des Leibes. Allein
in der Beziehung, inwiefern nämlich Poeſie das Erſchaffende der
Ideen, und dadurch das Princip aller Kunſt iſt, war von ihr ſchon
in der Conſtruktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns ge-
nommenen Methode kann alſo hier — im Gegenſatz mit der bildenden
Kunſt — von Poeſie nur die Rede ſeyn, inwiefern ſie ſelbſt beſondere
Kunſtform, und alſo von der Poeſie, die von dem An-ſich aller Kunſt
die Erſcheinung iſt. Allein ſelbſt innerhalb dieſer Beſchränkung iſt die
Poeſie ein gänzlich unbegrenzter Gegenſtand und unterſcheidet auch da-
durch ſich von der bildenden Kunſt. Z. B. um nur eines anzuführen: ein
Gegenſatz von Antikem und Modernem hat in der Plaſtik gar nicht
ſtatt, dagegen in allen Gattungen der Poeſie. Die Poeſie der Alten
iſt ebenſo rational begrenzt, ſich ſelbſt gleich, als ihre Kunſt. Dagegen
die der Neueren nach allen Seiten hin und in allen Theilen ſo man-
nichfaltig unbegrenzt und zum Theil irrational als es ihre Kunſt über-
haupt iſt. Auch dieſer Charakter der Unbegrenztheit beruht darauf,
daß die Poeſie die ideale Seite der Kunſt, wie die Plaſtik die reale
iſt. Denn das Ideale = das Unendliche.
Man könnte den Gegenſatz des Antiken und Modernen in der eben
erwähnten Beziehung ſo ausdrücken: die Alten ſind redend in der Plaſtik,
und dagegen plaſtiſch in der Poeſie. Die Rede iſt der ſtillſte und un-
mittelbarſte Ausdruck der Vernunft. Jede andere Handlung hat mehr
körperlichen Antheil. Die Neueren legen in ihren Bildern den Ansdruck
in ein gewaltſames, körperliches Handeln. Die Bilder der Alten ſind,
indem ſie den Ausdruck der Ruhe tragen, eben dadurch redend, wahr-
haft poetiſch. Dagegen ſind aber die Alten ſelbſt in der Poeſie plaſtiſch,
und drücken auf dieſe Weiſe die Verwandtſchaft und innere Identität
der redenden und bildenden Kunſt weit vollkommner als die Neueren aus.
Die innere Unbegrenztheit der Poeſie bringt nun auch einen Unter-
ſchied für die wiſſenſchaftliche Behandlung derſelben mit ſich. Wie
nämlich die Natur rational iſt, und nach einem allgemeinen Typus
[633] dargeſtellt werden kann, die Geſchichte aber irrational, unerſchöpflich, ihr
verborgenes Geſetz nur in Manifeſtationen ausſprechend, ebenſo verhält
es ſich mit der bildenden und der redenden Kunſt. Wie in der Natur
Nothwendigkeit als das Allgemeine das Beſondere beherrſcht, in der
idealen Welt dagegen das Beſondere entfeſſelt, frei zu dem Unendlichen
ſtrebt, ſo in bildender und redender Kunſt. Daher uns in Betrachtung
der Poeſie erſtens unmöglich iſt, das Allgemeine ſo durch Conſtruktion
fort ins Beſondere zu führen, wie in der bildenden Kunſt. Denn die
Beſonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine,
was hier ausgeſprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen
und in ganzen Maſſen ausgeſprochen werden. Dagegen je weniger das
Allgemeine das Beſondere hier gebietend beſtimmt, deſto mehr verlangt
zweitens das Einzelne in ſeiner Abſolutheit dargeſtellt zu werden. Daher
wird die Darſtellung hier mehr zur Charakteriſtik auch von Individuen
herabſteigen.
Uebrigens werde ich mich nicht ſo ſehr bei dem Einzelnen, als nur
bei den Hauptſachen verweilen, und kann aus dieſem Grunde auch nicht
mehr einzelne Sätze, ſondern nur Anſichten im Ganzen darſtellen.
Ich werde nun zuerſt die Frage beantworten: wodurch wird die
Rede zur Poeſie? Es wird in dieſer Frage a) von dem An-ſich
der Poeſie, ſoweit es nicht ſchon im Vorhergehenden beſtimmt iſt, b) von
den Formen die Rede ſeyn müſſen, wodurch ſich die Poeſie als ſolche
von der Rede abſondert, alſo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß
u. ſ. w. Hierauf werden wir die beſonderen in der Grundeinheit der
Poeſie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht-
kunſt, deren vornehmſte die lyriſche, epiſche und dramatiſche ſind, im
Allgemeinen zu conſtruiren haben, und dann jede dieſer Gattungen ins-
beſondere behandeln müſſen.
Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der ſchönen Künſte nachſieht,
findet man ſie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine
ſogenannte Definition von der Dichtkunſt zu geben, und in denjenigen,
welche ſie geben, iſt nicht einmal die Form der Poeſie, geſchweige das
Weſen derſelben ausgedrückt. Das Erſte aber zur Erkenntniß der Poeſie
[634] iſt ohne Zweifel, ihr Weſen zu erkennen, denn die Form folgt erſt
aus dieſem, weil nämlich nur eine ſolche Form dieſem, dem Weſen,
angemeſſen ſeyn kann.
Das An-ſich der Poeſie iſt nun das aller Kunſt: es iſt Darſtel-
lung des Abſoluten oder des Univerſum in einem Beſonderen. Wenn
von manchen beſondern Dichtarten eine Einwendung dagegen hergenom-
men werden könnte, ſo würde dieſe nur beweiſen, daß dieſe ſogenannten
Dichtarten ſelbſt keine poetiſche Realität haben. Sowie nichts Kunſtwerk
überhaupt iſt, das nicht mittelbar oder unmittelbar Reflex des Unend-
lichen iſt, ſo kann insbeſondere nichts Gedicht oder poetiſch ſeyn, was
nicht irgend etwas Abſolutes, d. h. eben das Abſolute in der Beziehung
auf irgend eine Beſonderheit darſtellt. Welcher Art übrigens dieſe
Beſonderheit ſey, iſt dadurch nicht beſtimmt. Der poetiſche Sinn be-
ſteht eben darin, zu der Wirklichkeit, der Realität, außer der Möglichkeit
nichts zu bedürfen. Was poetiſch möglich iſt, iſt eben deßwegen ſchlecht-
hin wirklich, wie in der Philoſophie, was ideal — real. Das Princip
der Unpoeſie wie das der Unphiloſophie iſt der Empirismus oder die
Unmöglichkeit, etwas anderes als wahr und real zu erkennen, als was
in der Erfahrung liegt.
Ueber die großen Gegenſtände der Poeſie, die Ideenwelt, die für
die Kunſt die Welt der Götter iſt, das Univerſum, die Natur, war
ſchon in der Lehre von der Mythologie die Rede. Mit der Nothwen-
digkeit der Mythologie für alle Kunſt, die dort bewieſen iſt, iſt dieſe
Nothwendigkeit vorzüglich für die Poeſie dargethan. Inwiefern auch die
neueren Zeiten eine Mythologie haben, und wie aus dem vorliegenden
Stoff dieſe ſich immer vermehren oder neu erſchaffen laſſe, wurde dort
gleichfalls gezeigt. Die Anwendung dieſer allgemeinen Grundſätze kann
aber nur bei Gelegenheit der einzelnen Dichtarten gemacht werden.
Die allgemeine Form der Poeſie iſt nun überhaupt die, daß ſie
die Ideen in Rede und Sprache darſtellt. Den Grund und die Bedeu-
tung der Sprache betreffend, erinnere ich an §. 73, woſelbſt bewieſen,
daß ſie das entſprechendſte Symbol des abſoluten Erkenntnißakts. Denn
er erſcheint in der Sprache von der einen Seite als ideal, nicht real, wie
[635] im Seyn, und integrirt ſich doch von der andern durch ein Reales, ohne
daß er aufhörte ideal zu ſeyn. Insbeſondere das Verhältniß der Sprache
zum Klang überhaupt betreffend, erinnere ich Folgendes. Klang = reine
Einbildung des Unendlichen ins Endliche, als ſolche aufgefaßt. In der
Sprache iſt dieſe Einbildung vollendet, und es beginnt ſchon das Reich
der entgegengeſetzten Einheit. Die Sprache iſt daher gleichſam der po-
tenzirteſte, aus der Einbildung des Unendlichen ins Endliche entſprungene
Stoff. Die Materie iſt das ins Endliche eingegangene Wort Gottes.
Dieſes Wort, welches ſich im Klang noch durch lauter Differenzen (in der
Verſchiedenheit der Töne) zu erkennen gibt und anorgiſch iſt, alſo den
entſprechenden Leib noch nicht gefunden hat, findet ihn in der Sprache.
Wie in dem Fleiſch des menſchlichen Leibs ſich alle Differenzen der
Farben aufheben, und die höchſte Indifferenz aller entſteht, ſo iſt die
Rede der zur Indifferenz reducirte Stoff aller Töne und Klänge. — Es
iſt nothwendig, wie auch in dem Verlauf der allgemeinen Philoſophie
klar wird, daß die höchſte Verkörperung und Bindung der Intelligenz
zugleich der Moment ihrer Befreiung iſt. In dem menſchlichen Orga-
nismus iſt der höchſte Contraktionspunkt des Univerſum und der in
ihm wohnenden Intelligenz. Aber eben im Menſchen auch bricht ſie
zur Freiheit durch. Deßwegen erſcheint auch hier wieder Klang, Ton
als Ausdruck des Unendlichen im Endlichen, aber als Ausdruck der
vollendeten Einbildung — in der Sprache, die ſich zum bloßen Klang
ebenſo verhält, wie ſich der dem Licht vermählte Stoff eines organiſchen
Leibs zur allgemeinen Materie verhält.
Die Sprache für ſich ſelbſt nun iſt das Chaos, aus dem die Poeſie
die Leiber ihrer Ideen bilden ſoll. Das poetiſche Kunſtwerk ſoll aber,
wie jedes andere, ein Abſolutes im Beſondern, ein Univerſum, ein
Weltkörper ſeyn. Dieß iſt nicht anders möglich als durch Abſonderung
der Rede, worin das Kunſtwerk ſich ausdrückt, von der Totalität der
Sprache. Aber dieſe Abſonderung einerſeits und die Abſolutheit anderer-
ſeits iſt nicht möglich, ohne daß die Rede ihre eigne unabhängige Bewegung
und eben deßwegen ihre Zeit in ſich ſelbſt habe, wie der Weltkörper; dadurch
ſchließt ſie ſich von allem andern ab, indem ſie einer inneren Geſetz-
[636] mäßigkeit folgt. Die Rede bewegt ſich frei und ſelbſtändig nach außen be-
trachtet, und iſt nur in ſich wieder geordnet und der Geſetzmäßigkeit unter-
worfen. Demjenigen nun, wodurch der Weltkörper in ſich ſelbſt iſt, und
die Zeit in ſich ſelbſt hat, entſpricht in der Kunſt, ſowohl ſofern ſie Muſik
als redende Kunſt iſt, der Rhythmus. Da Muſik ſowohl als Rede eine
Bewegung in der Zeit haben, ſo würden ihre Werke nicht in ſich be-
ſchloſſene Ganze ſeyn, wenn ſie der Zeit unterworfen wären, und ſie
nicht vielmehr ſich unterwürfen und in ſich ſelbſt hätten. Dieſe Be-
herrſchung und Unterwerfung der Zeit = Rhythmus.
Rhythmus überhaupt iſt Einbildung der Identität in die Differenz;
er ſchließt alſo Wechſel in ſich, aber einen ſelbſtthätig geordneten, der
Identität deſſen, worin er ſtattfindet, untergeordneten. (Wegen des
allgemeinen Begriffs von Rhythmus iſt ſich zu beziehen auf das bei der
Muſik davon Geſagte.)
Ich nehme hier vorläufig Rhythmus in der allgemeinſten Bedeu-
tung, inwiefern er nämlich überhaupt eine innere Geſetzmäßigkeit der
Folge der Tonbewegungen iſt. Aber in dieſer weiteſten Bedeutung ſchließt
er nun ſelbſt wieder zwei Formen in ſich, die eine, welche Rhythmus
im engeren Sinn heißen kann, und die als Einbildung der Einheit in
die Vielheit der Kategorie der Quantität entſpricht, die andere, welche
als die entgegengeſetzte der erſten der Kategorie der Qualität entſprechen
muß. Wir ſehen leicht, daß Rhythmus im engeren Sinn Beſtimmung
der Folge der Tonbewegungen nach Geſetzen der Quantität
iſt, ſowie nun dagegen die der Qualität entſprechende Form auf fol-
gende Art näher zu beſtimmen iſt. Da es in den Tönen außer der
Dauer oder Quantität keinen Unterſchied als den der Höhe und Tiefe
geben kann, die Differenzen der Töne aber nach dem, was zuvor von
der Rede bewieſen wurde, in ihr aufgehoben und vertilgt ſind — (denn
in dem Geſang, der wieder Muſik iſt, wird die in der Sprache
erreichte Identität wieder zerlegt, die Rede kehrt zu den Elementartönen
zurück), da alſo in der Rede als ſolcher keine Höhe und Tiefe des
Tons an ſich ſtattfindet, und die Einheiten der Sprache nicht Töne,
ſo wenig wie die Einheiten eines organiſchen Leibs Farben ſeyn können,
[637] — da alſo die Einheiten der Sprache ſchon organiſche Glieder, Sylben
ſind, und ſich die qualitative Beſtimmung nicht auf Höhe und Tiefe der
Töne beziehen kann, ſo bleibt nichts übrig, worin ſie beſtehen könnte,
als die Auszeichnung einer Sylbe durch eine Hebung der Stimme, wo-
durch eine Anzahl anderer Sylben mit ihr verbunden und dieſe Einheit
dem Gehör fühlbar gemacht wird, und dagegen — Fallenlaſſen der
anderen Sylben durch ein Sinken der Stimme. Dieß iſt aber, was
Accent heißt 1.
Ich gehe nun zu den einzelnen Dichtarten fort, indem ich
folgendes Allgemeine vorausſchicke.
Gedicht überhaupt iſt ein Ganzes, das ſeine Zeit und Schwung-
kraft in ſich ſelbſt hat, und dadurch von dem Ganzen der Sprache ab-
geſondert, vollkommen in ſich ſelbſt beſchloſſen iſt.
Eine unmittelbare Folge dieſes in-ſich-ſelbſt-Seyns der Rede
durch Rhythmus und Sylbenmaß iſt, daß die Sprache auch in anderer
Rückſicht eigenthümlich und von der gemeinen verſchieden ſeyn muß.
Durch den Rhythmus erklärt die Rede, daß ſie ihren Zweck abſolut in
ſich ſelbſt hat; es wäre widerſinnig, wenn ſie in dieſer Erhebung ſich
nach den gewöhnlichen Verſtandeszwecken der Sprache bequemen, und
alle dazu dienenden Formen derſelben nachahmen ſollte. Sie ſtrebt
vielmehr ſo viel möglich auch in ihren Theilen abſolut zu ſeyn. (Keine
logiſche Unterordnung, Wegfallen der Verbindungspartikeln.) Ohnehin iſt
alle Poeſie in ihrem Urſprung für das Hören gedichtet, ſie ſey nun
lyriſch oder epiſch oder dramatiſch. Die Begeiſterung erſcheint hier am
unmittelbarſten als Inſpiration, die den davon Ergriffenen nicht an
äußere Zwecke denken läßt. Nur hörend auf die Stimme des Gottes
[638] bewegt er ſich gleichſam außerhalb der gemeinen Geſetzmäßigkeit, ver-
wegen und doch ſicher und leicht. Es iſt nur ein Vorurtheil, daß die
Poeſie in keiner andern Sprache zu reden habe, als welche auch in
der Proſa gebräuchlich iſt (Gottſched, Wieland).
Die Proſa überhaupt, um dieſe Erklärung hier einzuſchalten, iſt
die von dem Verſtand in Beſitz genommene und nach ſeinen Zwecken
geformte Sprache. In der Poeſie iſt alles Begrenzung, ſtrenge Abſon-
derung der Formen. Die Proſa iſt inſofern wieder die Indifferenz
und ihr vorzüglichſter Fehler der, daraus heraustreten zu wollen, woher
die Aftergeburt der poetiſchen Proſa entſteht. Die Poeſie unterſcheidet
ſich von ihr nicht allein durch Rhythmus, ſondern auch durch theils
einfältigere theils ſchönere Sprache. Es iſt damit nicht ein wildes,
in der leeren Ueberſpanntheit der Sprache ſich ausdrückendes Feuer
gemeint, welches die Alten Parenthyrſos genannt haben. Zwar es gibt
Kunſtrichter, die ſogar von dem wilden Feuer des Homer reden.
Die Einfalt iſt auch in der Poeſie wie in der bildenden Kunſt
das Höchſte, und Dionys von Halikarnaß, der trefflichſte Kunſtrichter
unter den Alten, zeigt ausdrücklich an einer Stelle der Odyſſee, die,
wie er ſagt, in den gemeinſten Ausdrücken abgefaßt iſt, der ſich etwa
ein Bauer oder Handwerker bedienen würde, das Verdienſt der poeti-
ſchen Syntheſis.
Verſchieden in dieſem Betracht von der epiſchen Diktion iſt aller-
dings die lyriſche und die dramatiſche, ſofern ſie einem großen Theile nach
lyriſch iſt. Aber auch hier drückt ſich die Begeiſterung mehr durch die
kühnen Abſprünge von der logiſchen oder mechaniſchen Gedankenfolge,
als durch Schwulſt der Worte aus. Die Sprache wird zu einem höheren
Organ, es ſind ihr kürzere Wendungen, ungewöhnlichere Worte, eigen-
thümliche Biegungen der Worte erlaubt, aber alles in den Grenzen der
wahren Begeiſterung.
Man pflegt in den poetiſchen Kunſtlehren ſonſt auch von Meta-
phern, Tropen und den übrigen Zierathen der Rede zu ſprechen,
dergleichen die Epitheta ſind, die Vergleichungen und die Gleichniſſe.
Was die Metaphern betrifft, ſo gehören ſie mehr der Rhetorik an.
[639] Die Rhetorik kann den Zweck haben, durch Bilder zu reden, um ſich
anſchaulich zu machen, oder um zu täuſchen und Leidenſchaft zu erwecken.
Die Poeſie hat nie einen Zweck außer ſich, obgleich ſie diejenige Em-
pfindung, die in ihr ſelbſt iſt, auch außer ſich hervorbringt. Plato
vergleicht die Wirkungen der Dichtkunſt mit denen eines Magnets ꝛc.
In der Poeſie alſo iſt alles, was zum Schmuck der Rede gehört,
dem höchſten und oberſten Princip der Schönheit untergeordnet, es läßt
ſich eben deßwegen über Gebrauch der Bilder, Tropen ꝛc. kein allge-
meines Geſetz als eben das dieſer Unterordnung aufſtellen.
Conſtruktion der einzelnen Dichtarten.
Das Weſen aller Kunſt als Darſtellung des Abſoluten im Beſon-
deren iſt reine Begrenzung von der einen und ungetheilte Abſolutheit
von der andern Seite. Schon in der Naturpoeſie müſſen die Elemente
ſich ſcheiden, und die vollendet eintretende Kunſt iſt erſt mit der ſtrengen
Scheidung geſetzt. Am ſtrengſten begrenzt in allen Formen iſt auch hier
wieder die antike Poeſie, ineinanderfließender, miſchender die moderne:
daher durch dieſe eine Menge Mittelgattungen entſtanden ſind.
Wenn wir in der Abhandlung der verſchiedenen Dichtungen der
natürlichen oder hiſtoriſchen Ordnung folgen wollten, ſo würden wir
von dem Epos als der Identität ausgehen und von da zur lyriſchen
und dramatiſchen Poeſie fortgehen müſſen. Allein da wir uns hier
ganz nach der wiſſenſchaftlichen Ordnung zu richten haben, und da nach
der bereits vorgezeichneten Stufenfolge der Potenzen die der Beſonder-
heit oder Differenz die erſte, die der Identität die zweite, und das,
worin Einheit und Differenz, Allgemeines und Beſonderes ſelbſt eins
ſind, die dritte iſt, ſo werden wir auch hier dieſer Stufenfolge getreu
bleiben und machen demnach den Anfang mit der lyriſchen Kunſt.
Daß die lyriſche Poeſie unter den drei Dichtarten der realen
Form entſpricht, erhellt ſchon daraus, daß ihre Bezeichnung auf die
Analogie mit der Muſik hinweist. Allein noch beſtimmter iſt dieß auf
folgende Weiſe darzuthun.
In derjenigen Form, welche der Einbildung des Unendlichen in
[640] das Endliche entſpricht, muß eben deßwegen das Endliche, die Differenz,
die Beſonderheit das Herrſchende ſeyn. Aber eben dieß iſt der Fall in
der lyriſchen Poeſie. Sie geht unmittelbarer als irgend eine andere
Dichtart von dem Subjekt und demnach von der Beſonderheit aus, es
ſey nun, daß ſie den Zuſtand eines Subjekts z. B. des Dichters aus-
drücke, oder von einer Subjektivität die Veranlaſſung einer objektiven
Darſtellung nehme. Sie kann eben deßwegen und in dieſer Beziehung
wieder die ſubjektive Dichtart heißen, Subjektivität nämlich im Sinn
der Beſonderheit genommen.
In jeder andern Art des Gedichts iſt ſeiner inneren Identität
unerachtet doch ein Wechſel der Zuſtände möglich, in der lyriſchen
herrſcht, wie in jedem Muſikſtück, nur Ein Ton, Eine Grundempfin-
dung, und wie in der Muſik eben wegen der Herrſchaft der Beſonder-
heit alle Töne, welche ſich mit dem herrſchenden verbinden, auch
wieder nur Differenzen ſeyn können, ſo ſpricht ſich auch in der
Lyrik jede Regung wieder als Differenz aus. Die lyriſche Poeſie iſt
am meiſten dem Rhythmus untergeordnet, ganz abhängig, ja fortge-
riſſen von ihm. Sie meidet die gleichförmigen Rhythmen, während das
Epos ſich auch in dieſer Rückſicht in der höchſten Identität bewegt.
Das lyriſche Gedicht iſt überhaupt Darſtellung des Unendlichen
oder Allgemeinen im Beſondern. So geht jede pindariſche Ode von
einem beſonderen Gegenſtand und einer beſonderen Begebenheit aus,
ſchweift aber von dieſer ins Allgemeine ab, z. B. in den ſpäteren
mythologiſchen Kreis, und indem ſie aus dieſem wieder zum Beſondern
zurückkehrt, bringt ſie eine Art der Identität beider, eine wirkliche Dar-
ſtellung des Allgemeinen im Beſondern hervor.
Da die lyriſche Poeſie die ſubjektivſte Dichtart, ſo iſt nothwendig
auch die Freiheit in ihr das Herrſchende. Keine Dichtart iſt weniger
einem Zwang unterworfen. Die kühnſten Abſprünge von der gewohnten
Gedankenfolge ſind ihr erlaubt, indem alles nur darauf ankommt, daß ein
Zuſammenhang im Gemüth des Dichters oder Hörers ſey, nicht objektiv
oder außer ihm. In dem Epos waltet vollkommenſte Stetigkeit, im
lyriſchen Gedicht iſt dieſe aufgehoben, wie in der Muſik, wo lauter
[641] Differenzen, und zwiſchen dem einen Ton und dem folgenden eine wahre
Stetigkeit unmöglich iſt, dagegen in Farben alle Differenzen wieder in
Eine Maſſe, wie aus Einem Guß, zuſammenfließen.
Das An-ſich aller lyriſchen Poeſie iſt Darſtellung des Unend-
lichen im Endlichen, aber da ſie nur in der Succeſſion ſich bewegt, ſo
entſteht dadurch gleichſam als inneres Lebens- und Bewegungsprincip
der Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen. In dem Epos iſt
Unendliches und Endliches abſolut eins, deßwegen in dieſem keine An-
regung des Unendlichen, nicht als ob es nicht da wäre, ſondern weil
es in einer gemeinſchaftlichen Einheit mit dem Endlichen ruht. Im
lyriſchen Gedicht iſt der Gegenſatz erklärt. Daher die vorzüglichſten
Gegenſtände des lyriſchen Gedichts moraliſch, kriegeriſch, leidenſchaft-
lich überhaupt.
Leidenſchaft überhaupt iſt der Charakter des Endlichen oder der
Beſonderheit im Gegenſatz mit der Allgemeinheit. Am reinſten und
urſprünglichſten ſtellt uns dieſen Charakter der lyriſchen Kunſt, ſowohl
ihrem Urſprung, als ihrer Beſchaffenheit nach, wieder die antike
Poeſie dar. Die Entſtehung und erſte Entfaltung der lyriſchen Poeſie
in Griechenland iſt gleichzeitig mit dem Aufblühen der Freiheit und Ent-
ſtehen des Republikanismus. Zuerſt verband ſich die Poeſie mit den
Geſetzen und diente zur Ueberlieferung derſelben. Bald wurde ſie als
lyriſche Kunſt für Ruhm, Freiheit und ſchöne Geſelligkeit begeiſtert.
Sie wurde die Seele des öffentlichen Lebens, die Verherrlicherin der
Feſte. Die zuvor ganz nach außen gerichtete, in einer objektiven Iden-
tität, dem Epos, verlorene Kraft wandte ſich nach innen, fing an ſich
zu beſchränken; mit dieſem erwachenden Bewußtſeyn und der eintreten-
den Differenziirung entſtanden die erſten lyriſchen Töne, die ſich bald
zu der höchſten Mannichfaltigkeit entwickelten. Das Rhythmiſche der
griechiſchen Staaten, die ganz auf ſich ſelbſt und ihr Daſeyn und
Wirken gerichtete Beſonnenheit der Griechen entzündete die edleren Lei-
denſchaften, die der lyriſchen Muſe würdig waren. Zu gleicher Zeit
mit der Lyrik belebte die Muſik die Feſte und das öffentliche Leben.
Im Homer ſind ſogar noch Opfer und Gottesdienſte ohne Muſik. Zu
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 41
[642] der Identität des homeriſchen Epos gehört auch das heroiſche Princip,
das Princip des Königthums und der Herrſchaft.
Die lyriſche Poeſie begann mit Kallinos und Archelaos nach ſchon
gänzlich vollendeter Ausbildung des Epos; und in Vergleichung mit dem
Epos iſt daher die lyriſche Kunſt bis zu ihrer letzten Vollendung im
Pindaros ganz republikaniſche Poeſie 1.
Faſt alle lyriſchen Geſänge der Alten, von deren Exiſtenz wir ent-
weder nur durch hiſtoriſche Ueberlieferung wiſſen, oder die uns in
Bruchſtücken, oder ſelbſt ganz übrig geblieben ſind, beziehen ſich auf das
öffentliche und allgemeine Leben, und die ſelbſt mehr aufs Einzelne ſich
beziehenden lyriſchen Gedichte der Alten drücken Geſelligkeit aus, wie
ſie nur in einem freien und großen Staate ſeyn und werden konnte.
Alles deutet darauf, daß die im Epos noch geſchloſſene Knoſpe gebro-
chen iſt und die freiere Bildung des Lebens ſich entfaltet.
Auch in der Beſonderheit der lyriſchen Dichtkunſt alſo ſind die
Griechen objektiv, real, expanſiv.
Die erſten lyriſchen Rhythmen waren, wie bemerkt, diejenigen, in
welchen die Geſetze freier Staaten geſungen wurden; noch bei Solon.
Die Kriegslieder des Tyrtaios „ſpornte“ eine ganz objektive Leidenſchaft.
Alkaios war das Haupt der Verſchworenen gegen die Tyrannen, nicht
nur mit dem Schwert, ſondern auch mit Geſängen ſie bekämpfend.
Von mehreren lyriſchen Dichtern dieſer Zeit wird erzählt, daß ſie auf
Rath der Götter herbeigerufen worden, bürgerliche Uneinigkeiten beizu-
legen. Andere waren geehrt an Höfen der Herrſcher und Tyrannen
der damaligen Zeit. Arion z. B. von Periander. Die Zeit der Un-
ſchuld war auch dadurch vorbei, daß die Sänger nicht mehr genügſam
waren wie die homeriſchen; daß ſie Lohn, Gewinn, Anſehen für das
Talent forderten. Pindaros, deſſen Leyer bei den öffentlichen Wett-
ſpielen ertönte, war auch in dieſer — objektiven — Beziehung der
griechiſchen Lyrik die Blüthe. Er anticipirte in ſich die Bildung des
Perikleiſchen Zeitalters; der rohere Republikanismus iſt ſchon zur
[643] Herrſchaft der Gebildeten zurückgeführt; er vereinigt mit dem Feuer des
lyriſchen Dichters die Würde eines pythagoreiſchen Philoſophen, wie
auch die Sage bekannt iſt, daß er die Lehre des Pythagoras geliebt habe.
(Das Plaſtiſche, gleichſam Dramatiſche der pindariſchen Oden.)
Dieſe Objektivität der griechiſchen Lyrik iſt es aber doch wieder nur
innerhalb des allgemeinen Charakters der Gattung, welcher der der
Innerlichkeit, der beſonderen und gegenwärtigen Wirklichkeit iſt. Das
Epos erzählt die Vergangenheit. Das lyriſche Gedicht beſingt die Gegen-
wart, und geht bis zur Verewigung der einzelnſten und vergänglichſten
Blüthe derſelben herunter, des Genuſſes, der Schönheit, der Liebe zu
einzelnen Jünglingen, wie in dem Gedicht des Alkman und der Sappho,
und auch hier wieder bis zur Einzelheit ſchöner Augen, Haare, ein-
zelner Glieder, wie in den Gedichten des Anakreon.
Dionys von Halikarnaß beſtimmt als das Ausgezeichnetſte des
Epos, daß der Dichter nicht erſcheine. Die lyriſche Kunſt dagegen iſt
die eigentliche Sphäre der Selbſtbeſchauung und des Selbſtbewußtſeyns,
wie die Muſik, wo keine Geſtalt, ſondern nur ein Gemüth, kein Ge-
genſtand, ſondern nur eine Stimmung ſich ausdrückt.
Der Charakter der Differenz, der Scheidung und Sonderung,
welcher in der Lyrik an und für ſich ſelbſt liegt, drückt ſich in der ly-
riſchen Kunſt der Griechen nicht minder beſtimmt als alle andern aus.
Vollkommene Ausbildung aller rhythmiſchen Gattungen, ſo daß dem
Drama nichts übrig blieb. Scharfe Abſonderung aller Arten, ſowohl
was die äußeren Verſchiedenheiten des Rhythmus, als die innere Di-
verſität des Stoffs, der Sprache u. ſ. w. betrifft, ſcharfe Abſonderung
endlich in den verſchiedenen Stylen der lyriſchen Kunſt, dem joniſchen,
doriſchen u. d. a.
Wir finden auch in Anſehung der lyriſchen Kunſt wieder den allgemei-
nen Gegenſatz des Antiken und Modernen auf gleiche Weiſe zurückkehren.
Wie die höchſte Blüthe der lyriſchen Kunſt der Griechen in das
Entſtehen der Republik, der höchſten Blüthe des öffentlichen Lebens
fällt, ſo der erſte Beginn der modernen Lyrik im 14. Jahrhundert in
die Zeit der öffentlichen Unruhen und der allgemein geſchehenden
[644] Auflöſung des republikaniſchen Verbands und der Staaten in Italien.
Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verſchwand, mußte es
ſich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen
großgeſinnten Fürſten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erſt
ſpäter ein, und kamen dem romantiſchen Epos zu gut, welches ſich in
Arioſto ausbildete. Dante und Petrarca, die erſten Urheber der lyri-
ſchen Poeſie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der geſellſchaftlichen Auf-
löſung, und ihre Geſänge, wenn ſie ſich auf dieſe äußern Gegenſtände
beziehen, ſprechen laut das Unglück dieſer Zeit aus.
Die Dichtkunſt der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugen-
den, die der Krieg und das gemeinſame öffentliche Leben erzeugt und
nährt. Von allen Verhältniſſen der Empfindung war daher die Freund-
ſchaft der Männer das Herrſchende und die Weiberliebe ein durchaus
Untergeordnetes. Die moderne Lyrik war in ihrem Urſprung der Liebe
mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff der Neueren
damit verbunden ſind. Die erſte Begeiſterung des Dante war die
Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geſchichte dieſer
Liebe in Sonetten, Canzonen und proſaiſchen, mit Gedichten untermiſch-
ten Werken, vorzüglich der Vita nuova verewigt. Die größeren Schick-
ſale ſeines ſpäteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück
und das Verbrechen der Zeit, ſpornten ſeinen göttlichen Geiſt erſt zur
Hervorbringung ſeines höheren Werks, der Divina Comedia, obgleich
der Grund und Anfang dieſes Gedichts wieder Beatrice iſt.
Das ganze Leben des Petrarca war jener geiſtigen Liebe ge-
weiht, die ſich in der Anbetung genügt. Dieſer harmoniſchen, von der
Blüthe der Bildung und der edelſten Tugenden ſeiner Zeit erfüllten
Seele bedurfte es, um in ihr die italieniſche Poeſie zu dem höchſten
Grad lyriſcher Schönheit, Reinheit und Vortrefflichkeit auszubilden.
Man würde ſich ſehr irren, in Petrarca einen in Liebe zerfließenden
und zerſchmelzenden Dichter zu ſuchen, da ſeine Formen eben ſo ſtreng,
präcis, beſtimmt ſind als die des Dante in ihrer Art.
Auch Boccaccio geſellt ſich zu dieſem Verein; denn auch die
Muſe ſeiner Poeſie iſt die Liebe.
[645]
Der Geiſt der modernen Zeit, der im Allgemeinen ſchon früher
dargeſtellt worden iſt, bringt die Beſchränkung der modernen Lyrik in
Anſehung der Gegenſtände mit ſich. Bild und Begleitung eines
öffentlichen und allgemeinen Lebens — eines Lebens in einem organi-
ſchen Ganzen — konnte die Lyrik in den modernen Staaten nicht mehr
werden. Es blieben für ſie keine andern Gegenſtände als entweder
die ganz ſubjektiven, einzelne momentane Empfindungen, worein ſich
die lyriſche Poeſie auch in den ſchönſten Ergüſſen der ſpätern Welt ver-
loren hat, und aus denen nur ſehr mittelbar ein ganzes Leben her-
vorleuchtet, oder dauernde auf Gegenſtände ſich beziehende Gefühle,
wie in den Gedichten des Petrarca, wo das Ganze wieder eine Art
von romantiſcher oder dramatiſcher Einheit wird.
Die Sonetten des Petrarca ſind nicht nur im Einzelnen, ſondern
im Ganzen wieder Kunſtwerke. (Das Sonett einer bloß architektoniſchen
Schönheit fähig.)
Unverkennbar iſt aber, daß Wiſſenſchaft, Kunſt, Poeſie von dem
geiſtlichen Stande ausgegangen, woraus das Unheroiſche, ſowie daß die
Liebesgeſchichten mehr auf Weiber als auf unverheirathete Mädchen
ſich beziehen.
Sonſt theilt ſich die lyriſche Poeſie in Gedichte moraliſchen, didak-
tiſchen, politiſchen Inhalts, immer mit Uebergewicht der Reflexion, der
Subjectivität, da ihr die Objektivität im Leben fehlt. Die einzige Art
lyriſcher Gedichte, welche auf ein öffentliches Leben ſich beziehen, ſind
die religiöſen, da nur in der Kirche noch öffentliches Leben war. —
Wir kommen nun zum Epos.
Das lyriſche Gedicht bezeichnet überhaupt die erſte Potenz der
idealen Reihe, alſo die der Reflexion, des Wiſſens, des Bewußt-
ſeyns. Es ſteht eben deßwegen ganz unter Herrſchaft der Reflexion.
Die zweite Potenz der idealen Welt überhaupt iſt die des Han-
delns, des an ſich Objektiven, wie das Wiſſen des Subjektiven.
Gleichwie aber die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der
Dinge an ſich ſind, ſo muß diejenige Dichtart, welche der idealen Ein-
heit entſpricht, nicht überhaupt nur das erſcheinende Handeln, ſondern
[646] das Handeln abſolut betrachtet, und wie es in ſeinem An-ſich iſt,
darſtellen.
Handeln, abſolut oder objektiv betrachtet, iſt Geſchichte. Die Auf-
gabe der zweiten Art iſt alſo: ein Bild der Geſchichte zu ſeyn,
wie ſie an ſich oder im Abſoluten iſt.
Daß dieſe Dichtart das Epos iſt, wird ſich am beſtimmteſten
daraus ergeben, daß alle aus dem angegebenen Charakter abzuleitenden
Beſtimmungen ſich in dem Epos vereinigen und zuſammentreffen.
1) Nicht daß überhaupt nur Handlung, Geſchichte dargeſtellt wird,
ſondern daß ſie in der Identität der Abſolutheit erſcheint, iſt
das Auszeichnende des Epos. Das Handeln objektiv angeſehen oder
als Geſchichte iſt in dem An-ſich als reine Identität, ohne Gegenſatz
des Unendlichen und Endlichen. Denn in dem An-ſich, von dem alles
Handeln die bloße Erſcheinung iſt, iſt das Endliche im Unendlichen,
und alſo außer Differenz mit ihm. Das Letztere iſt nur möglich, wo das
Endliche etwas für ſich, real iſt, alſo inwiefern das Unendliche im End-
lichen repräſentirt iſt. Der Gegenſatz der Beſonderheit und Allgemeinheit
drückt ſich in Bezug auf das Handeln als der der Freiheit und der Noth-
wendigkeit aus. Auch dieſe alſo ſind in dem An-ſich des Handelns eins.
Iſt alſo im Epos kein Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen, ſo kann
auch kein Streit zwiſchen Freiheit und Nothwendigkeit in ihm dargeſtellt
ſeyn. Beide erſcheinen eingewickelt in einer gemeinſchaftlichen Einheit.
Der Streit der Freiheit und Nothwendigkeit wird nur durch das
Schickſal entſchieden, und ruft es gleichſam hervor. Alle Entgegenſetzung
von Nothwendigkeit und Freiheit liegt nur in der Beſonderheit, in der
Differenz. Durch das Differenzverhältniß der Beſonderheit erhält die
Identität zu ihr das Verhältniß des Grunds, und erſcheint demnach als
Schickſal. In dem An-ſich des Handelns, als der abſoluten Identität,
iſt kein Schickſal.
Die erſte Beſtimmung des Epos alſo iſt ſo zu faſſen: es ſtellt
die Handlung in der Identität der Freiheit und Nothwen-
digkeit dar, ohne Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen,
ohne Streit und eben deßwegen ohne Schickſal.
[647]
Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt
mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus
keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln
der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen
Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der
Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe
verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das
Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und
außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten
fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen
Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern
Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß er-
ſcheint eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit
dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das
Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt
bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, 1
wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und
vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:
Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon
lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:
In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen
Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit
gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und
[648]
Noch viel weniger iſt den Helden der Ilias irgend ein Gefühl oder
Widerſtreit gegen das Schickſal verliehen, und das Epos ſtellt ſich auf
dieſe Weiſe höchſt bedeutend zwiſchen die zwei andern Gattungen, das
lyriſche Gedicht, wo der bloße Streit des Unendlichen und Endlichen,
die Diſſonanz der Freiheit und Nothwendigkeit ohne vollſtändige und
andere als ſubjektive Auflöſung herrſcht, und die Tragödie, wo der
Streit und das Schickſal zugleich dargeſtellt iſt. Die Identität, die in
dem Epos noch verhüllt und als milde Gewalt herrſchte, entladet ſich
da, wo ihr der Streit gegenüber ſteht, in herben und gewaltigen
Schlägen. Die Tragödie kann inſofern allerdings als Syntheſe des
Lyriſchen und Epiſchen betrachtet werden, da die Identität des Letzteren
in ihr durch den Gegenſatz ſelbſt ſich in das Schickſal verwandelt. Das
Epos, verglichen mit der Tragödie, iſt alſo ohne Streit gegen das
Unendliche, aber auch ſchickſallos.
2) Das Handeln iſt in ſeinem An-ſich zeitlos, denn alle Zeit
iſt nur Differenz der Möglichkeit und Wirklichkeit, und alles erſcheinende
Handeln iſt nur Zerlegung jener Identität, in der alles zumal iſt.
Das Epos muß ein Bild dieſer Zeitloſigkeit ſeyn. Wie iſt dies mög-
lich? — Die Poeſie iſt als Rede ſelbſt an die Zeit gebunden, alle
poetiſche Darſtellung nothwendig ſucceſſiv. Hier ſcheint alſo ein unauf-
löslicher Widerſpruch zu ſeyn. Er hebt ſich auf folgende Art. Die
Poeſie ſelbſt als ſolche muß wie außer der Zeit, von der Zeit unberührt
ſeyn, ſie muß daher alle Zeit, alles Succeſſive rein in den Gegenſtand
legen und dadurch ſich ſelbſt ruhig erhalten und unbewegt von dem
Strom der Aufeinanderfolge über ihm ſchweben. So iſt in dem An-
ſich alles Handelns, an deſſen Stelle die Poeſie tritt, keine Zeit, nur
in den Gegenſtänden als ſolchen iſt ſie, und jede Idee, indem ſie aus
dem An-ſich als Gegenſtand hervortritt, tritt in die Zeit ein. Das
Epos ſelbſt alſo muß das Ruhige und dagegen der Gegenſtand das
Bewegte ſeyn. — Man denke ſich einmal die Umkehrung, nämlich daß
[649] das Epos Darſtellung des Ruhenden durch Bewegung ſey, ſo daß die
Bewegung in die Poeſie und die Ruhe in den Gegenſtand fiele, ſo
würde dieß ſogleich den epiſchen Charakter aufheben, es entſtünde da-
durch die beſchreibende Dichtart, das ſogenannte poetiſche Gemälde, und
fremder kann dem Epos nichts ſeyn als dieſes. Es iſt ein widerſtre-
bender Anblick, den beſchreibenden Dichter ſich anſtrengen und bewegen
zu ſehen, während der Gegenſtand immer unbeweglich bleibt. Weßhalb
ſelbſt da, wo das Epos das Ruhende beſchreibt, das Ruhende ſelbſt in
Bewegung und Fortſchreitung verwandelt werden muß. Beiſpiel: Schild
des Achilles, obwohl auch nach andern Gründen dieſes Stück der Ilias
zu den ſpäteſten gehört.
Wenn wir nun jedoch auf den allgemeinen Typus reflektiren, der
den Formen der Kunſt zu Grunde liegt, ſo finden wir, daß das Epos
in der Poeſie dem Gemälde in der bildenden Kunſt entſpreche. Wie
dieſes, ſo iſt auch jenes Darſtellung des Beſondern im Allgemeinen,
des Endlichen im Unendlichen. Wie in dieſem Licht und Nichtlicht in
Eine identiſche Maſſe zuſammen fließt, ſo in jenem auch Beſonderheit
und Allgemeinheit. Wie in dieſem die Fläche herrſchend iſt, ſo breitet
ſich auch das Epos nach allen Seiten wie ein Ocean aus, der Länder
und Völker verbindet. Wie iſt nun dieſes Verhältniß zu begreifen?
Der Gegenſtand des Gemäldes, könnte man einwenden, iſt ruhig, in
dem des Epos dagegen ein ſtetiger Fortſchritt. Allein in dieſem Ein-
wurf wird das, was die bloße Grenze der Malerei iſt, zu ihrem
Weſen gemacht. Objektiv angeſehen iſt das, was wir den Gegenſtand
im Gemälde nennen können, nicht ohne Fortſchreitung; es iſt nur
ein — ſubjektiv — fixirter Moment, aber wir ſehen beſonders bei
affektvollen Gegenſtänden, aber überhaupt im hiſtoriſchen Gemälde, daß
der nächſte Moment alle Verhältniſſe ändert, aber dieſer nächſte Moment
iſt nicht dargeſtellt, alle Figuren des Gemäldes bleiben in ihrer Stel-
lung; es iſt ein empiriſch zur Ewigkeit gemachter Moment. Man kann
aber wegen dieſer in gegenwärtigem Betracht bloß zufälligen Begrenzung
nicht ſagen, der Gegenſtand ruhe; vielmehr ſchreitet er fort, nur iſt
uns der nächſte Moment entzogen. Es iſt daſſelbe Verhältniß wie
[650] im Epos. Im Epos fällt die Fortſchreitung ganz in den Gegen-
ſtand, der ewig bewegt iſt, die Ruhe aber in die Form der Dar-
ſtellung, wie im Gemälde, wo das ſtets Fortſchreitende nur durch
die Darſtellung fixirt iſt. Das Verweilen, welches bei dem Gemälde
in den Gegenſtand zu fallen ſcheint, fällt hier ins Subjekt zurück, und
dieß iſt der Grund einer ſogleich noch weiter zu erklärenden Eigenthüm-
lichkeit des Epos, daß ihm auch der Augenblick werth iſt, daß es nicht
forteilt, eben deßwegen, weil das Subjekt ruht, gleichſam unangerührt
von der Zeit, außer ihr.
Wir werden uns alſo über die Art wie das Epos ein Bild der
Zeitloſigkeit des Handelns in ſeinem An-ſich iſt, ſo ausdrücken können:
das, was ſelbſt in keiner Zeit iſt, faßt alle Zeit in ſich, und umge-
kehrt, iſt aber deßwegen indifferent gegen die Zeit. Dieſe Indiffe-
renz gegen die Zeit iſt der Grundcharakter des Epos. Es
iſt gleich der abſoluten Einheit, innerhalb der alles iſt, wird und wech-
ſelt, die aber ſelbſt keinem Wechſel unterworfen iſt. Die Kette der
Urſachen und Wirkungen reicht ins Unendliche zurück, aber das, was
dieſe Reihe der Succeſſion ſelbſt wieder in ſich ſchließt, liegt nicht mit
in der Reihe, ſondern iſt außer aller Zeit.
Die weiteren Beſtimmungen ergeben ſich nun von ſelbſt und ſind
gewiſſermaßen die bloße Folge der eben angegebenen. Nämlich
3) da die Abſolutheit nicht auf der Extenſion, ſondern auf der
Idee beruht, und daher in dem An-ſich alles gleich abſolut und das
Ganze nicht abſoluter iſt als der Theil, ſo muß auch dieſe Beſtimmung
auf das Epos übergehen. Es iſt alſo der Anfang wie das Ende in
dem Epos gleich abſolut, und inwiefern überhaupt das Nichtbedingte
ſich in der Erſcheinung als Zufälligkeit darſtellt, erſcheint beides als
zufällig. Die Zufälligkeit des Anfangs und des Endes iſt alſo in
dem Epos der Ausdruck ſeiner Unendlichkeit und Abſolutheit. Mit
Recht iſt derjenige Sänger, der den trojaniſchen Krieg von dem Ei der
Leda anfangen wollte, dadurch zum Sprichwort geworden. Es iſt
gegen die Natur und Idee des Epos, daß es rückwärts oder vorwärts
bedingt erſcheine. In der Succeſſion der Dinge, wie ſie im Abſoluten
[651] vorgebildet iſt, iſt alles abſoluter Anfang, aber eben deßwegen iſt hier
auch kein Anfang. Das Epos, indem es abſolut beginnt, conſtituirt
ſich eben dadurch ſelbſt zu einem gleichſam aus dem Abſoluten ſelbſt
herausgehörten Stück, das, in ſich abſolut, doch wieder nur Bruchſtück
eines abſoluten und unüberſehbaren Ganzen iſt, wie der Ocean, weil
er nur durch den Himmel begrenzt wird, unmittelbar an die Unendlichkeit
hinausweist. Die Ilias beginnt abſolut, mit dem Vorſatz den Groll
des Achilleus zu ſingen, und ſie iſt ebenſo abſolut geſchloſſen, da kein
Grund iſt, mit dem Tod des Hektor zu enden (denn bekanntlich ſind
die beiden letzten Geſänge ſpätere Zuthaten, und auch wenn man dieſe
mit zu dem unter dem Namen der Ilias nun vorliegenden Ganzen
rechnet, ſo iſt auch in ihnen kein eigentlicher Grund des Schließens).
Ebenſo abſolut beginnt nun die Odyſſee wieder. — Wenn man dieſe als
Zufälligkeit erſcheinende Abſolutheit, die tief im Weſen des Epos ge-
gründet iſt, auffaßt, ſo reicht dieſe allein hin, die neuere Wolfſche
Anſicht des Homer nicht ſo fremd und unfaßlich zu finden, als ſie von
den meiſten gefunden wird. Sie haben ſich aus den gewöhnlichen
Theorien gewiſſe Grundſätze über die Künſtlichkeit des Epos genommen,
und können damit die Zufälligkeit nicht reimen, womit, nach ihrer
Art ſich die Wolfſche Hypotheſe zu deuten, der Homer zuſammenge-
kommen. Freilich iſt dieſe grobe Zufälligkeit aufgehoben, ſobald man
ſich der Idee bemächtigt, wie ein ganzes Geſchlecht einem Individuum
gleich ſeyn kann (wovon ſchon früher in der Lehre von der Mythologie
geredet war); aber auch diejenige Zufälligkeit, die in dem Entſtehen der
Homeriſchen Geſänge wirklich gewaltet hat, trifft eben hier mit dem
Nothwendigen und der Kunſt zuſammen, da das Epos ſeiner Natur
nach ſich mit einem Schein der Zufälligkeit darſtellen muß. Dieß wird
weiter beſtätigt durch folgende Beſtimmungen.
4) Die Indifferenz gegen die Zeit muß nothwendig auch eine
Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit zur Folge haben, ſo daß in
der Zeit, welche das Epos begreift, alles Raum hat, das Größte
wie das Kleinſte, das Unbedeutendſte wie das Bedeutendſte. Es ent-
ſteht dadurch auf eine viel vollkommenere Weiſe als in der gemeinen
[652] Erſcheinung das Bild der Identität aller Dinge im Abſoluten, die
Stetigkeit. Alles was zu derſelben gehört, die unbedeutend ſchei-
nenden Handlungen des Eſſens, Trinkens, des Aufſtehens, zu Bett-
gehens, des Anlegens der Kleider und des Schmucks — alles wird mit
der verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, wie alles andere beſchrieben.
Alles iſt gleich wichtig oder unwichtig, gleich groß und klein. Dadurch
vorzüglich erhebt ſich die Poeſie im Epos und der Dichter ſelbſt gleich-
ſam zu der Theilnahme an der göttlichen Natur, vor der das Große
und das Kleine gleich iſt, und die mit ruhigem Auge, wie ein Dichter
ſagt, ein Königreich und einen Ameiſenhaufen zerſtören ſieht. Denn
5) in dem An-ſich des Handelns ſind alle Dinge und alle Be-
gebenheiten in gleichem Gewicht; keine wird von der andern verdrungen,
weil keine größer iſt als die andere. Alles iſt hier abſolut, als ob
ihm nichts vorangegangen wäre, und ihm auch nichts folgen ſollte.
Daſſelbe alſo auch im Epos. Der Dichter muß mit ungetheilter Seele,
ohne Andenken des Vergangenen und ohne Vorausſicht der Zukunft bei
der Gegenwart weilen, und er ſelbſt nicht forteilen, da er auch in der
Bewegung ruht, ſondern nur dem Gegenſtand ſeine Bewegung laſſen.
Endlich faßt ſich alles darin zuſammen, daß die Poeſie oder der
Dichter über allem wie ein höheres, von nichts angerührtes Weſen
ſchwebe. Nur innerhalb des Umkreiſes, den ſein Gedicht beſchreibt,
ſtößt und drängt eins das andere, Begebenheit Begebenheit, Leiden-
ſchaft Leidenſchaft; er ſelbſt tritt nie in dieſen Umkreis herein, und wird
dadurch zum Gott und zum vollkommenſten Bild der göttlichen Natur.
Ihn drängt nichts, er läßt alles ruhig geſchehen, er greift dem Lauf
der Begebenheiten nicht vor, denn er iſt ſelbſt nicht davon ergriffen;
er ſchaut ruhig auf alles herab, denn ihn ergreift nichts von dem, was
geſchieht. Er ſelbſt empfindet nie etwas von dem Gegenſtand, und
dieſer kann daher das Höchſte und das Niedrigſte, das Außerordent-
lichſte und das Gemeinſte, tragiſch und komiſch ſeyn, ohne daß er
ſelbſt, der Dichter, je hoch oder niedrig, tragiſch oder komiſch würde.
Alle Leidenſchaft fällt in den Gegenſtand ſelbſt; Achilles weint und
wehklagt ſchmerzlich um den verlorenen Freund, Patroklos; der Dichter
[653] ſelbſt erſcheint weder gerührt noch ungerührt, denn er erſcheint über-
haupt nicht. In der weiten Umwölbung des Ganzen hat neben den
herrlichen Geſtalten der Helden auch Therſites, ſowie neben den großen
Geſtalten der Unterwelt in der Odyſſee auf der Oberwelt auch der
göttliche Sauhirt und der Hund des Odyſſeus ſeinen Platz.
Dieſem geiſtigen, in dem ewigen Gleichgewicht der Seele ſchwe-
benden Rhythmus muß nun auch ein gleicher hörbarer Rhythmus ent-
ſprechen. Ariſtoteles nennt den Hexameter das beſtändigſte und
gewichtigſte aller Sylbenmaße. Der Hexameter hat ebenſowenig einen
fortreißenden, leidenſchaftlichen, als einen verweilenden und zurückhal-
tenden Rhythmus; er drückt auch in dieſem Gleichgewicht des Verwei-
lens und des Fortſchreitens die Indifferenz aus, die dem ganzen Epos
zu Grunde liegt. Da nun noch überdieß der Hexameter in ſeiner
Identität wieder große Mannichfaltigkeit zuläßt, ſo iſt er dadurch am
meiſten geeignet ſich dem Gegenſtand anzuſchließen, ohne ihm Gewalt
anzuthun, und inſofern das objektivſte aller Versmaaße.
Dieß ſind die vorzüglichſten und auszeichnendſten Beſtimmungen
des epiſchen Gedichts, von denen Sie eine mehr kritiſche und hiſtoriſche
Ausführung in der Recenſion von Göthes Hermann und Dorothea
von A. W. Schlegel finden können.
Nun noch von einigen beſonderen Formen des Epos, dergleichen
die Reden, die Gleichniſſe und die Epiſoden ſind.
Der Dialog neigt ſich ſeiner Natur nach und ſich ſelbſt über-
laſſen zum Lyriſchen hin, weil er mehr vom Selbſtbewußtſeyn aus und
an das Selbſtbewußtſeyn geht. Die Rede würde alſo den Charakter
des Epos ſelbſt verändern, wenn nicht vielmehr umgekehrt ihr Charakter
nach dem des Epos modificirt wäre. Dieſe Modification muß ſich nun
durch den Gegenſatz gegen den eigenthümlichen Charakter der Rede
beſtimmen. Dieſer iſt Beſchränkung auf die Abſicht der Rede und
darum Forteilen zum Ziel, wo etwas erreicht; Heftigkeit und Kürze,
wo Leidenſchaft ausgedrückt werden ſoll. Dieß alles iſt im Epos
gemäßigt und dem Hauptcharakter untergeordnet. Selbſt in der leiden-
ſchaftlichſten Rede iſt noch die epiſche Fülle und Umſtändlichkeit, der
[654] Gebrauch der Beiwörter, wodurch die Sprache eine gewiſſe Sattheit
erhält, wie in dem einfach erzählenden Gang. — Ebenſo verhält es ſich
mit dem Gleichniß. Im lyriſchen Gedicht, auch in der Tragödie
wirkt es oft nur dem Blitz ähnlich, der plötzlich einen dunklen Zuſtand
erleuchtet und von der Nacht wieder verſchlungen wird. Im Epos hat
es Leben in ſich ſelbſt, und iſt ſelbſt wieder ein kleines Epos. — Was
endlich die Epiſode betrifft, ſo iſt auch dieſe zunächſt ein Abdruck der
Gleichgültigkeit des Sängers gegen ſeine Gegenſtände, auch die haupt-
ſächlichſten, der Abweſenheit der Furcht, auch die größte Verwicklung
nicht mehr zu überſehen, oder über dem Nebengegenſtand den Haupt-
gegenſtand aus dem Geſicht zu verlieren. Die Epiſode iſt alſo ein noth-
wendiger Theil des Epos, um es zu einem vollkommenen Bild des
Lebens zu machen.
In den gewöhnlichen Theorien wird auch noch das Wunderbare
als ein nothwendiger Hebel der Epopee angeführt. Allein dieß kann
nur von der modernen Gattung gelten und hat von dem Epos über-
haupt ausgeſagt eine ganz verkehrte Anſicht des alten Epos zum
Grunde. Der nordiſchen Barbarei haben die Götter Homers und ihre
Wirkungen nur als Wunder erſcheinen können, wie ja auch die Kunſt-
richter dieſer Art es für abſichtliches rhetoriſches und poetiſches Pathos
halten, wenn Homer, anſtatt zu erzählen: es blitzte, ſagt: Zeus habe
Blitze geſendet.
Den Griechen und dem alten Epos insbeſondere iſt das Wunder-
bare gänzlich fremd, denn ihre Götter ſind innerhalb der Natur.
Was den eigentlichen epiſchen Stoff betrifft, ſo liegt ſchon in
dem, was über die Beſtimmung des Epos, ein Bild des Abſoluten
ſelbſt zu ſeyn, geſagt worden iſt, daß es einen wahrhaft univer-
ſellen Stoff fordert, und inwiefern dieſer nur durch Mythologie exi-
ſtiren kann, daß ohne Mythologie das Epos undenkbar iſt. Ja
die Identität beider iſt ſo groß, daß die Mythologie nicht eher die
wahre Objektivität als in dem Epos ſelbſt erlangt. Da das Epos die
objektivſte und allgemeinſte Dichtart iſt, ſo fällt ſie mit dem Stoff aller
Poeſie am meiſten in eins. Wie nun die Mythologie nur Eine iſt, ſo
[655] kann bei dieſer Untrennbarkeit des Stoffs und der Form in einer geſetz-
mäßigen Bildung wie die der griechiſchen Poeſie auch das Epos nur
Eines ſeyn und kann höchſtens darin dem allgemeinen Geſetz der Er-
ſcheinung folgen, daß es ſich in ſeiner Identität durch zwei verſchiedene
Einheiten ausdrückt. Die Ilias und Odyſſee ſind nur die zwei Seiten
eines und deſſelbigen Gedichts. Die Verſchiedenheit der Urheber kommt
hier nicht in Betracht; ſie ſind durch ihre Natur eins und darum auch
durch den gemeinſchaftlichen Namen Homeros vereinigt, der ſelbſt alle-
goriſch und bedeutend iſt. Einige haben den Gegenſatz der Ilias und
Odyſſee als den der aufgehenden und untergehenden Sonne dargeſtellt.
Ich möchte die Ilias das centrifugale, die Odyſſee das centripetale Ge-
dicht nennen.
Was die neueren im Sinn des alten Epos unternommenen Ge-
dichte betrifft, ſo will ich den Uebergang zu dieſen durch eine kurze
Vergleichung des Virgil mit Homer machen.
Man kann Virgil faſt nach allen angegebenen Beſtimmungen dem
Homer entgegenſetzen. Die erſte gleich, die Schickſalloſigkeit des Epos
betreffend, ſo hat ſich Virgil vielmehr beſtrebt in die Handlung Schick-
ſal durch eine Art tragiſcher Verwicklung zu bringen. Die Beſtimmung
des Epos, die Bewegung ganz allein in den Gegenſtand zu legen, iſt
ebenſowenig erfüllt, da er nicht ſelten zur Theilnahme an ſeinem Gegen-
ſtand herabſinkt. Die erhabene Zufälligkeit des Epos, deſſen Anfang
und Ende ebenſo, wie die dunkle Zeit der Urwelt und die Zukunft
unbeſtimmt iſt, iſt durch die Aeneis gänzlich aufgehoben. Sie hat einen
beſtimmten Zweck, die Gründung des römiſchen Reichs von Troja ab-
zuleiten, und dadurch dem Auguſtus zu ſchmeicheln. Dieſer Zweck iſt
gleich anfangs beſtimmt verkündet, und wie die Abſicht erreicht iſt,
ſchließt auch das Gedicht. Der Dichter überläßt hier nicht den Gegen-
ſtand ſeiner eignen Bewegung, ſondern er macht etwas aus ihm. Die
Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit fehlt gänzlich, der Dichter
meidet ſogar die Stetigkeit und hat gleichſam beſtändig den Zuſtand
ſeines gebildeten Cirkels vor Augen, den er durch die Einfalt der Er-
zählung nicht beleidigen will. Sein Ausdruck iſt daher auch künſtlich,
[656] rhetoriſch verflochten, prächtig. In ſeinen Reden iſt er durchaus lyriſch
oder redneriſch und in der Epiſode der Liebesgeſchichte der Dido faſt
modern. — Das Anſehen des Virgil in den Schulen und bei moder-
nen Kunſtrichtern hat lange Zeit nicht nur die Theorie des Epos ver-
fälſcht (die gewöhnlichen Theorien ſind ganz nach dem Virgil gemodelt,
einer von den vielen Beweiſen, daß die Menſchen lieber aus der zweiten
Hand das Verſchlechterte, als aus der erſten das Treffliche wollen),
dieſes Anſehen Virgils hat auch auf die ſpäteren Verſuche epiſcher Poeſie
nachtheiligen Einfluß gehabt. In der That verräth Milton eine Bild-
ſamkeit des Geiſtes, die kaum zweifeln läßt, daß wenn er das unver-
ſtellte Vorbild des Epos vor Augen hatte, er ſich ihm beträchtlich mehr
genähert hätte, als es geſchehen iſt; wenn nicht etwa die tiefere Kennt-
niß ihn noch weiter bis zu der Einſicht geführt hätte, daß eine Sprache,
in der die alten Sylbenmaße nicht Platz greifen können, überhaupt
nicht mit den Alten im Epos wetteifern kann. Milton theilt übrigens
die meiſten Fehler des Virgil, z. B. den Mangel derjenigen Abſicht-
loſigkeit, die zum Epos gehört, obwohl er in Anſehung der Sprache
z. B. ſich verhältnißmäßig der Einfalt des Epos mehr als Virgil nähert.
Zu den Fehlern, die er mit Virgil gemein hat, kommen die eigenthüm-
lichen hinzu, deren Grund in den Begriffen und dem Charakter der
Zeit, ſowie in der Natur des Gegenſtandes liegen.
Nach allem, was zuvor gezeigt wurde, bedarf es keines Beweiſes,
daß der Stoff, welchen Klopſtock gewählt hat, beſonders in der Art,
wie er von ihm genommen iſt, kein epiſcher Stoff ſey. Klopſtock wollte
ihn erhaben nehmen, und die Vorſtellungen nicht der myſtiſchen, ſondern
der unmyſtiſchen und unpoetiſchen, noch mit einiger Aufklärung verſetzten
Dogmatik durch ſeine Anſtrengungen zur Erhabenheit hinauftreiben.
Aber wenn erſtens überhaupt das Leben und der Tod Chriſti epiſch
behandelt werden könnte, ſo müßte es rein menſchlich genommen und
mit der größten Einfalt — faſt idylliſch — behandelt werden. Oder
müßte das Gedicht ganz im modernen Geiſte und von den Ideen des chriſt-
lichen Myſticismus und Mythologie erfüllt ſeyn. Dann wäre es wenig-
ſtens als abſolute Entgegenſetzung gegen das antike Epos in ſeiner Art
[657] wieder abſolut. Klopſtock gehört aber zu denjenigen Dichtern, in welchen
Religion als lebendige Anſchauung des Univerſums und Intuition der
Ideen am wenigſten wohnt. Das Herrſchende in ihm iſt der Verſtandes-
begriff. In dieſem Verſtandesſinn nimmt er die Unendlichkeit Gottes,
die Hoheit Chriſti, und anſtatt die Unendlichkeit und Hoheit in den
Gegenſtand zu legen, fällt ſie vielmehr ſtets in den Dichter zurück, ſo
daß beſtändig nur er ſelbſt und ſeine Bewegung erſcheint, der Gegen-
ſtand ſelbſt aber unbeweglich bleibt und weder Geſtalt noch Fortſchritt
gewinnt. Das Widerſinnigſte iſt, daß der Schluß Gottes, ſeinen Sohn
zur Erlöſung der Menſchen dahin zu geben, von Ewigkeit genommen
iſt, daß Chriſtus, der ſelbſt Gott iſt, ihn weiß, und daß alſo über das
Ende bei dem Helden des Gedichts gar kein Zweifel ſeyn kann, wo-
durch die ganze Handlung des Gedichts ſchleppend und die etwaige Ma-
ſchinerie, durch welche das Ende herbeigeführt wird, als völlig nutzlos
erſcheint. Man kann ſich übrigens von dem Anblick dieſes Gedichts
nicht ohne Bedauern abwenden, daß eine ſo große Kraft ſo fruchtlos
verſchwendet worden iſt.
Es war nur der Zweck, von denjenigen epiſchen Gedichten der
Neueren zu ſprechen, welche Anſprüche machen mehr oder weniger im
Sinn des alten Epos gedichtet zu ſeyn. Ueber Goethes Hermann und
Dorothea, das einzige epiſche Gedicht im wahren Sinn der Alten, werde
ich noch beſonders reden, und auch von der eigentlichen modernen Epopee
kann hier noch nicht die Rede ſeyn.
Wir haben noch einige der beſondern epiſchen Formen zu betrach-
ten. Man könnte zwar vorläufig fragen, wie das epiſche Gedicht als
die höchſte Identität einiger Differenz fähig ſeyn könne. Es verſteht
ſich nun wohl von ſelbſt, daß der Raum, in welchen das epiſche Ge-
dicht ausweichen kann, ſehr beſchränkt ſeyn muß; es verſteht ſich aber
noch unmittelbarer, daß es durch jene Ausweichung von dem Punkt,
in den es einzig fallen kann, auch nothwendig den Charakter ablegt, der
nur an jenen Punkt gebunden iſt.
Es liegen nun zunächſt nur zwei Möglichkeiten im epiſchen Gedicht,
welche in ihrer Differenziirung zwei beſondere Gattungen bilden. Das
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth 42
[658] Epos iſt die objektivſte Gattung, wenn wir unter Objektivem das ab-
ſolut-Objektive verſtehen. Es iſt ſchlechthin objektiv, weil es die höchſte
Identität der Subjektivität und Objektivität iſt. Aus dieſer Identität
alſo kann die Poeſie heraustreten bloß dadurch, daß ſie entweder rela-
tiv-objektiver oder relativ-ſubjektiver wird. Im Epos verhält ſich ſo-
wohl das Subjekt (der Dichter) als der Gegenſtand objektiv. Dieſe
Identität kann nun nach zwei Seiten aufgehoben werden, a) ſo, daß
die Subjektivität oder die Beſonderheit ins Objekt, die Objektivität oder
Allgemeingültigkeit in den Darſtellenden, b) daß die Objektivität, die
Allgemeinheit in den Gegenſtand, die Subjektivität in den Darſtellen-
den gelegt iſt. Dieſe zwei Pole ſind in der Poeſie wirklich dargeſtellt,
aber ſie ſelbſt differenziiren ſich in ſich wieder nach der ſubjektiven und
objektiven Seite. Die Sphäre der relativ-objektiven epiſchen Poeſie (wo
es nämlich die Darſtellung iſt) iſt durch die Elegie und die Idylle,
die ſich unter ſich wieder, jene als das Subjektive, dieſe als das
Objektive verhalten; die Sphäre der relativ-ſubjektiveren Poeſie (wo
es nämlich die Darſtellung iſt) iſt durch das Lehrgedicht und die
Satyre, wovon jenes das Subjektive, dieſe das Objektive iſt, be-
ſchrieben.
Man könnte verſucht ſeyn, gegen dieſe Eintheilung anzuführen, daß
es nicht einzuſehen, wie die Elegie, die insgemein für eine ſubjektiv-lyriſche
Ergießung angeſehen wird, objektiver ſeyn könne als das Lehrgedicht,
welches man dagegen für das relativ-objektivſte zu halten tentirt ſeyn
könnte. Es iſt alſo zu erinnern, daß hierbei keineswegs der gewöhn-
liche Begriff der Elegie zugegeben wird, der ihr allerdings die Objek-
tivität, aber auch das Epiſche rauben und ſie zu einem bloß lyriſchen
Gedicht machen würde. Was aber das Lehrgedicht betrifft, ſo geht
die Poeſie in ihm zu dem Wiſſen als der erſten Potenz zurück,
welches als Wiſſen immer ſubjektiv bleibt. Die beſtimmteren Gründe
dieſer Eintheilung ſind folgende. Vergleichen wir Elegie und Idylle
einerſeits und Lehrgedicht und Satyre von der andern Seite, ſo finden
wir die erſten beiden darin übereinſtimmend unter ſich und darin ver-
ſchieden von den andern beiden, daß jene ohne Zweck und Abſicht ſind
[659] und nur um ihrer ſelbſt willen zu ſeyn ſcheinen, dieſe aber immer
einen beſtimmten Zweck haben, und ſchon dadurch ſind die beiden letzten
Gattungen in die Sphäre der Subjektivität gewieſen. Vergleichen wir
ferner Elegie und Idylle unter ſich, ſo ſind ſich beide dadurch gleich,
daß ſie auf einen univerſellen und objektiven Stoff Verzicht thun, daß
jene den Zuſtand oder die Begebenheit eines Individuums, aber objek-
tiv behandelt, dieſe den Zuſtand und das Leben einer Gattung darſtellt,
die überhaupt iſolirt iſt und eine beſondere Welt bildet, nicht nur in
ſogenannten Hirtengedichten, ſondern auch in anderen Arten, z. B. in
häuslichen Idyllen, ja in denen nur z. B. eine Liebe, welche die Lie-
benden ganz auf ſich beſchränkt und die Welt außer ſich vergeſſen macht,
dargeſtellt wird, wie in Voßens Luiſe. Verſchieden ſind aber beide
eben dadurch wieder, daß die Elegie mehr zu dem Lyriſchen, die Idylle
dagegen nothwendigerweiſe mehr zu dem Dramatiſchen ſich hinneigt.
Man kann nun Elegie und Idylle gemeinſchaftlich wieder dem
Lehrgedicht und der Satyre ſo entgegenſetzen, daß in jenen der Stoff
oder Gegenſtand beſchränkt, und inſofern, wenn man will, ſubjektiv,
dagegen der Ort der Darſtellung allgemein und objektiv iſt, während
in dieſen der Stoff oder Gegenſtand allgemein, dafür aber die Dar-
ſtellung oder das Princip, von dem ſie ausgehen, ſubjektiv iſt.
Lehrgedicht und Satyre können ſich daher auch, weil ſie ſich von
der einen Seite in Anſehung des Stoffs gleich ſind, eben deßwegen
von der andern Seite als ſubjektiv und objektiv auch nur durch den
Stoff entgegengeſetzt ſeyn. Der des Lehrgedichts iſt der ſubjektive,
weil er im Wiſſen liegt, der der Satyre iſt der objektive, weil ſie ſich
auf das Handeln bezieht, welches objektiver iſt als das Wiſſen. Das
Princip der Darſtellung iſt aber in beiden ſubjektiv. Dort liegt es im
Geiſt, hier mehr im Gemüth und der ſittlichen Stimmung.
Kurze Betrachtung dieſer Gattungen im Einzelnen.
Ich will keine Definitionen geben. Jede Art der Kunſt iſt nur
durch ihre Stelle beſtimmt, dieſe iſt ihre Erklärung. Uebrigens aber
mag ſie dieſer Stelle entſprechen, auf welche Weiſe ſie will. Jeder
[660] Dichtart liegt eine Idee zu Grunde. Wird nun ihr Begriff nach der
einzelnen Erſcheinung beſtimmt, ſo iſt er, weil dieſe der Idee niemals
ganz angemeſſen ſeyn kann, nothwendig in der Gefahr über kurz oder
lang zu eng befunden und alſo verworfen zu werden oder gar gebraucht
zu werden, um ein in ihre Schranken nicht ſich fügendes, auch vor-
treffliches Kunſtwerk zu verwerfen. Die Idee jeder Dichtart aber iſt
durch die Möglichkeit beſtimmt, die durch ſie erfüllt iſt.
Der Begriff, den die Neueren von der Elegie faſt allgemein
gehabt haben, iſt, daß ſie Klaggedichte ſeyen, ihr herrſchender Geiſt
empfindſame Trauer. Es iſt nicht zu leugnen, daß auch die Klage und
die Trauer ſich in dieſer Dichtart ausgeſprochen hat, und daß die
Elegie vorzüglich zu Klaggeſängen über Verſtorbene beſtimmt war. Dieß
aber iſt nur Eine Erſcheinungsweiſe, übrigens aber von unendlicher
Mannichfaltigkeit und Bildſamkeit und ſo, daß dieſe Eine Gattung,
obwohl allerdings nur bruchſtücklich, das ganze Leben zu umfaſſen fähig
iſt. Die Elegie iſt, als Art des epiſchen Gedichts, ihrer Natur nach
geſchichtlich; auch als Klaggeſang verleugnet ſie ihren Charakter
nicht, ja ſie iſt, könnte man ſagen, der Trauer fähig eben nur, weil
ſie des Blicks in die Vergangenheit fähig iſt, wie das Epos. Uebrigens
weilt ſie ebenſo beſtimmt in der Gegenwart, und beſingt die befriedigte
Sehnſucht nicht minder als den Stachel der unbefriedigten. Ihre Grenze
in der Darſtellung iſt ihr nicht durch den individuellen und einzelnen Zu-
ſtand geſteckt, ſondern ſie ſchweift von da wirklich in den epiſchen Kreis
aus. Die Elegie iſt durch ihre Natur ſchon eine der unbegrenzbarſten
Gattungen, daher ſich außer dem allgemeinen Charakter, der durch ihr
Verhältniß zum Epos und zur Idylle beſtimmt iſt, nur eben dieſe un-
endliche Bildſamkeit als ihr eigenthümlichſtes und natürlichſtes Weſen
bezeichnen läßt. Die unmittelbarſte Bekanntſchaft mit dem Geiſt der
Elegie gewinnt man durch die Muſter der Alten. Einige der ſchönſten
Bruchſtücke des Phanokles, des Hermeſianax ſind im Athenäum über-
ſetzt. Die Elegie hat aber auch in der römiſchen Sprache in Tibull,
Catull und Properz wieder aufleben können, und zu unſeren Zeiten
hat Goethe durch ſeine römiſchen Elegien die ächte Gattung wiederher-
[661] geſtellt. An Goethes Elegien ließe ſich am unmittelbarſten zeigen, daß
in Anſehung der Elegie die Subjektivität in das Objekt, dagegen die
Objektivität in die Darſtellung und das darſtellende Princip fällt. Dieſe
Elegien beſingen den höchſten Reiz des Lebens und der Luſt, aber auf
eine wahrhaft epiſche Weiſe mit Verbreitung über den großen Gegen-
ſtand ſeiner Umgebung.
Die Idylle iſt gegenüber von der Elegie die objektivere Gattung,
und alſo überhaupt die objektivſte unter den vier dem epiſchen Ge-
dicht untergeordneten Gattungen. Da in ihr der Gegenſtand (ſubjektiv)
beſchränkter als im Epos, und die allgemein gültige Ruhe alſo bloß in die
Darſtellung gelegt wird, ſo nähert ſie ſich dadurch ſchon mehr dem
Gemälde, und dieß iſt auch ihre urſprüngliche Bedeutung, da Idylle
ein kleinſtes Bild, ein Gemälde bezeichnet. Da ſie ferner das Ueber-
gewicht in das Objektive der Darſtellung legen muß, ſo wird ſie da-
durch am meiſten Idylle ſeyn, daß der Gegenſtand ſich mit roherer
Beſonderheit abhebt, weniger alſo gebildet iſt als der des Epos. Die
Idylle nimmt daher ihre Gegenſtände nicht nur überhaupt aus einer
beſchränkten Welt, ſondern macht ſie auch in dieſer noch ſcharf indivi-
duell, ja ſogar local nach Sitten, Sprache, Charakter, etwa wie die
menſchlichen Geſtalten in einer Landſchaft ſeyn müſſen, derb, von nichts
entfernter als von Idealität. Nichts iſt daher der Natur der Idylle
widerſprechender, als den Perſonen Empfindſamkeit, eine Art unſchul-
diger Sittlichkeit mitzutheilen. Wenn die Derbheit der theokritiſchen
Idylle verlaſſen werden kann, ſo iſt es nur, wenn dafür der ganze
Charakter romantiſch wird, wie in den vorzüglichſten Schäferpoeſien der
Italiener und Spanier. Wenn aber, wie in Geßner, neben dem
Aechten und Antiken zugleich das romantiſche Princip fehlt, ſo kann
man die Bewunderung, die ſeine Idyllen beſonders im Ausland gefun-
den haben, nur als eine der unzähligen Aeußerungen der Unpoeſie
begreifen. In Geßners Idyllen, wie in ſehr vielen der Franzoſen, iſt,
ganz gegen den Geiſt der Idylle, eine Art von flacher, ſittlich-empfind-
ſamer Allgemeingültigkeit in den Gegenſtand gelegt und die Gattung
völlig verkehrt worden. Der ächte Geiſt der Idylle iſt in einer ſpäteren
[662] Zeit auch in Deutſchland wieder aufgelebt durch Voßens Luiſe, ob-
gleich er die Ungünſtigkeit des Locals nicht überwinden konnte, und was
den Reiz, die Friſchheit der Farben, die Lebendigkeit natürlicher Aeuße-
rungen betrifft, zu dem theokritiſchen Geiſt faſt ganz das Verhältniß
des nördlichen Deutſchlands zu der Schönheit der ſiciliſchen Fluren
beobachtet. Die Italiener und Spanier haben auch in der Idylle das
romantiſche Princip geltend gemacht, aber innerhalb der Begrenzung
der Gattung, aber da ich nur den Pastor fido des Guarini kenne, ſo
kann ich auch nur dieſen als Beiſpiel anführen. Das Weſen der Ro-
mantik iſt, daß es durch Gegenſätze zum Ziel kommt und nicht ſowohl
die Identität als Totalität darſtellt. So auch in der Gattung der
Idylle. Das Derbe, rein und ſtreng Geſonderte iſt im Pastor fido
in einige Charaktere gelegt und der Gegenſatz dazu in anderen gegeben.
Auf dieſe Weiſe hat das Ganze das Antike überſchritten und doch die
Gattung behauptet. Uebrigens hat die Idylle im Pastor fido eine wirk-
liche dramatiſche Höhe erreicht, und doch ließe ſich zeigen, daß die
Schickſalloſigkeit der Idylle, die von der einen Seite darin aufgehoben,
doch von der anderen wieder hergeſtellt iſt. — Befreundung der Idylle
mit allen Formen. Vorzügliche Hinneigung zum Dramatiſchen, wei
die Darſtellung noch objektiver. Schäferromane (Galatea des Cer-
vantes).
Unter denjenigen epiſchen Formen, welche durch ein Uebergewicht
der Subjektivität in der Darſtellung aus der Indifferenz der Gat-
tung heraustreten, iſt das Lehrgedicht ſelbſt wieder die ſubjektivere
Form. Wir haben vor allem ohne Zweifel die Möglichkeit eines
Lehrgedichts zu unterſuchen, worunter hier, wie ſich verſteht, die poe-
tiſche Möglichkeit gemeint iſt. Man kann erſtens gegen die Gattung
im Allgemeinen, alſo auch gegen die Satyre anführen, daß ſie noth-
wendig einen Zweck hat, das Lehrgedicht zu lehren, die Satyre zu
ſtrafen, und daß ſie, weil alle ſchöne Kunſt nach außen ohne Zweck iſt,
beide nicht als Formen derſelben gedacht werden können. Allein es iſt
mit dieſem an ſich wichtigen Grundſatz nicht geſagt, daß die Kunſt
nicht einen von ihr unabhängig vorhandenen Zweck oder ein wirkliches
[663] Bedürfniß ſich zur Form nehmen kann, wie ja auch die Architektur
thut; es wird nur gefordert, daß ſie ſich in ſich ſelbſt wieder davon
unabhängig zu machen wiſſe und die äußeren Zwecke bloß Form für
ſie ſeyen. Daß nun die Abſicht, wiſſenſchaftliche Lehren vorzutragen,
für die Poeſie nicht zur Form werden könne, dagegen exiſtirt wenigſtens
von Seiten der Poeſie kein denkbarer Grund, und die Forderung an
das Lehrgedicht wäre nur die, in dem Werk ſelbſt die Abſicht wieder
aufzuheben, ſo daß es um ſeiner ſelbſt willen zu ſeyn ſcheinen könne.
Dieß wird nun aber nie der Fall ſeyn können, als wenn die Form des
Wiſſens im Lehrgedicht für ſich fähig iſt ein Reflex des All zu ſeyn.
Da es eine Forderung iſt, die an das Wiſſen, unabhängig von der
Poeſie, ſchon für ſich ſelbſt betrachtet gemacht wird, ein Bild des All
zu ſeyn, ſo liegt ſchon im Wiſſen für ſich die Möglichkeit, als Form
der Poeſie einzutreten. Wir haben demnach bloß die Art des Wiſſens
zu beſtimmen, von welchem dieß allein und vorzüglich gilt.
Die Lehre, welche im didaktiſchen Gedicht vorgetragen wird, kann
entweder ſittlicher oder theoretiſcher und ſpeculativer Natur ſeyn. Von
der erſten Art iſt die gnomiſche Poeſie der Alten, z. B. die des Theognis.
Hier wird das menſchliche Leben als das Objektive zum Reflex des
Subjektiven, nämlich der Weisheit und des praktiſchen Wiſſens gemacht.
Wo ſich die moraliſche Lehre auf Naturgegenſtände bezieht, wie in
dem heſiodiſchen Werk, in Gedichten über den Landbau u. ſ. w. geht
das Bild der Natur als das eigentlich Objektive durch das Ganze hin-
durch und iſt das Reflektirende des Subjektiven. Das Entgegengeſetzte
geſchieht in dem eigentlich theoretiſchen Lehrgedicht. Hier wird das
Wiſſen zum Reflex von einem Objektiven gemacht. Da nun in der
höchſten Forderung dieſes Objektive nur das Univerſum ſelbſt ſeyn
kann, ſo muß die Art des Wiſſens, welches zum Reflex dient, gleich-
falls von univerſeller Natur ſeyn. Es iſt bekannt, wie viele Lehrge-
dichte über ganz einzelne und beſondere Gegenſtände des Wiſſens ver-
faßt worden ſind, über die Medicin z. B. oder einzelne Krankheiten,
über Botanik, über die Kometen u. ſ. w. Die Beſchränktheit des Ge-
genſtandes an und für ſich ſelbſt iſt hier nicht zu tadeln, wenn nur
[664] dieſer ſelbſt allgemein und in der Beziehung aufs Univerſum gefaßt
wird. In der Ermanglung der wahrhaft poetiſchen Anſicht des Gegen-
ſtandes ſelbſt hat man alsdann auf verſchiedene Weiſe ihn poetiſch zu
ſchmücken geſucht. Man hat die Vorſtellungsarten und Bilder der
Mythologie zu Hülfe gerufen. Man hat der Trockenheit des Gegen-
ſtandes durch geſchichtliche Epiſoden aufzuhelfen geſucht, und was der-
gleichen mehr iſt. Mit dem allem kann nie ein wahrhaftes Lehr-
gedicht, nämlich ein poetiſches Werk dieſer Art entſtehen. Das
Erſte iſt, daß das Darzuſtellende an und für ſich ſelbſt ſchon
poetiſch ſey. Da nun das Darzuſtellende immer ein Wiſſen iſt, ſo
muß dieſes Wiſſen an und für ſich ſelbſt und als Wiſſen ſchon zugleich
poetiſch ſeyn. Dieß iſt aber nur einem abſoluten Wiſſen, d. h. einem
Wiſſen aus Ideen, möglich. Es gibt daher kein wahres Lehrgedicht,
als in welchem unmittelbar oder mittelbar das All ſelbſt, wie es im
Wiſſen reflektirt wird, der Gegenſtand iſt. Da das Univerſum der
Form und dem Weſen nach nur Eines iſt, ſo kann auch in der Idee
nur Ein abſolutes Lehrgedicht ſeyn, von dem alle einzelnen bloße Bruch-
ſtücke ſind, nämlich das Gedicht von der Natur der Dinge. Ver-
ſuche dieſes ſpeculativen Epos — eines abſoluten Lehrgedichts — ſind
in Griechenland gemacht worden; ob ſie ihr Ziel erreicht haben, können
wir nur im Allgemeinen wiſſen, da uns die Zeit von ihnen nichts als
Bruchſtücke gelaſſen hat. Parmenides und Xenophanes, beide trugen
ihre Philoſophie in einem Gedicht von der Natur der Dinge vor, wie
ſchon früher die Pythagoreer und Thales ihre Lehren poetiſch überlie-
ferten. Von dem Gedicht des Parmenides iſt uns faſt keine Nachricht
geblieben, als daß es in ſehr unvollkommenen und holperigen Verſen
verfaßt geweſen. Mehr wiſſen wir von dem Gedicht des Empedokles,
welcher die Phyſik des Anaxagoras mit dem Ernſt der pythagoreiſchen
Weisheit verband. Wir können die Grenzen, inwieweit dieſes Gedicht
die Idee des Univerſums erreichte, ungefähr eben daraus beſtimmen,
daß es die Phyſik des Anaxagoras war, die ihm zu Grunde lag. Ich
muß die Bekanntſchaft derſelben hier vorausſetzen. Aber wenn es von
der wiſſenſchaftlichen Seite das ſpeculative Urbild nicht erreichte, ſo
[665] müſſen wir ihm dagegen nach dem einſtimmigen Zeugniß der Alten,
namentlich des Ariſtoteles, die größte rhythmiſche Energie und eine
wahrhaft homeriſche Kraft zuſchreiben. Das Glück hat auch gewollt,
daß uns das Gedicht des Lucretius eine Spur des darin herrſchenden
Geiſtes erhalten hat. Lucretius, der in der ſchlechten Schreibart
des Epikurus und ſeiner Anhänger kein Vorbild haben konnte, hat ohne
Zweifel die rhythmiſche Form ſowohl als die poetiſche Kraft und Weiſe
der Darſtellung von dem Empedokles entlehnt, und iſt ihm in der Form
ebenſo wie dem Epikurus in der Materie des Gedichts gefolgt. Das
Gedicht des Lucretius nähert ſich in ſeiner Art mehr als irgend ein
römiſches, z. B. das Virgiliſche, den wahrhaft alten Vorbildern, und ſelbſt
die Kraft des ächt epiſchen Rhythmus ſtellt uns allein Lucretius dar,
da von Ennius nur Bruchſtücke geblieben ſind. Lucretius’ Hexameter
machen den größten Contraſt gegen die gefeilten und geleckten Verſe
des Virgil. Das Weſen ſeines Werks trägt durchaus das Gepräge
eines großen Gemüths, und nur dem wahrhaft poetiſchen Geiſte war
es möglich in die Darſtellung der Epikuriſchen Lehre ſolche Andacht
und die Begeiſterung eines wahren Prieſters der Natur zu legen. Es
iſt nothwendig, daß, da der darzuſtellende Gegenſtand an und für ſich
ſelbſt unpoetiſch iſt, alle Poeſie in das Subjekt zurückfallen muß, und
aus demſelben Grunde können wir auch das Gedicht des Lucretius nur
als einen Verſuch des abſoluten Lehrgedichts anſehen, welches auch ſchon
durch den Gegenſtand ſelbſt poetiſch ſeyn muß. Aber diejenigen Stellen,
in welchen ſich wirklich ſeine perſönliche Begeiſterung ausſpricht, der
Eingang zum erſten Buch, welcher eine Anrufung der Benus iſt, ſowie
alle diejenigen Stellen, in welchen er den Epikurus preist als den,
welcher die Natur der Dinge eröffnet und zuerſt den Wahn und Aber-
glauben der Religion geſtürzt habe, tragen durchaus die höchſte Majeſtät
und das Gepräge einer männlichen Kunſt an ſich. Wie die Alten von
Empedokles ſagen, daß er in ſeinem Gedicht mit wahrer Wuth über
die Schranken der menſchlichen Erkenntniß geredet, ſo geht das Feuer
des Lucretius gegen Religion und falſche Sittlichkeit nicht ſelten in
wahre begeiſterte Wuth über. Die gänzliche Vernichtung alles Geiſtigen
[666] nach außen, die Auflöſung der Natur in ein Spiel der Atomen und des
Leeren, die er mit wahrhaft epiſcher Gleichgültigkeit übt, erſetzt ſich
durch die ſittliche Größe der Seele, die ihn ſelbſt wieder über die
Natur erhebt. Die Nichtigkeit der Natur ſelbſt läßt zugleich ſeinen
Geiſt ſich über alle Sehnſucht in das Reich des Verſtandes erſchwingen.
Wahrer und vortrefflicher kann über das Fruchtloſe der Sehnſucht, die
Unerſättlichkeit der Begier, die Leerheit aller Furcht ſowie aller Hoff-
nung im Leben nicht geredet werden, als von ihm geſchieht, und wie
die Lehre des Epikurus ſelbſt nicht von der ſpeculativen, ſondern von
der moraliſchen Seite groß iſt, ſo erſcheint auch Lucretius, wenn ſeine
Begeiſterung als Prieſter der Natur nur ſubjektiv ſeyn kann, dagegen
als Lehrer der praktiſchen Weisheit objektiv und als ein Weſen höherer
Ordnung, das den gemeinen Lauf der Dinge, die Leidenſchaft und die
Verwirrung des Lebens nur wie von einem höheren Standort aus be-
trachtet, an dem es ſelbſt nicht davon erreicht wird. Man kann ſich
der Bemerkung des Gegenſatzes nicht enthalten, den in dieſer Be-
ziehung andere Arten der Philoſophie gegen die Epikuriſche machen,
indem ſie kleinliche Geſinnungen mit Vertilgung der großmüthigen und
männlichen Tugenden im Sittlichen zum Größten machen, und dagegen
im Speculativen einen höheren Flug vorgeben. Man braucht dieſe Ver-
gleichung nicht weit herzuholen und nur gleich die Kantſche Philoſophie
zu nehmen.
Von den Lehrgedichten der Neueren zu reden, glaube ich mich
freiſprechen zu dürfen. Denn da wir billig zweifeln, ob irgend ein
Gedicht der Alten in dieſer Gattung das wahre Urbild erreicht habe,
ſo können wir es vor den Neueren ohne Zweifel kategoriſch behaupten,
daß ſie überhaupt kein ächt poetiſches Werk dieſer Art aufzuweiſen haben.
Dasjenige Lehrgedicht alſo, wo nicht bloß die Formen und die Hülfs-
mittel der Darſtellung, ſondern das Darzuſtellende ſelbſt poetiſch iſt,
iſt noch zu erwarten. Folgendes läßt ſich über die Idee eines ſolchen
beſtimmen.
Das Lehrgedicht κατ̕ ἐξοχήν kann nur ein Gedicht vom Uni-
verſum oder der Natur der Dinge ſeyn. Es ſoll den Reflex des
[667] Univerſums im Wiſſen darſtellen. Das vollkommene Bild des Univerſum
muß alſo in der Wiſſenſchaft erreicht ſeyn. Die Wiſſenſchaft iſt be-
rufen, es zu ſeyn. Es iſt gewiß, daß die Wiſſenſchaft, welche dieſe
Identität mit dem Univerſum erreicht hätte, nicht nur von Seiten des
Stoffs, ſondern auch durch die Form mit der des Univerſum überein-
ſtimmte, und inwiefern das Univerſum ſelbſt das Urbild aller Poeſie,
ja die Poeſie des Abſoluten ſelbſt iſt, ſo würde die Wiſſenſchaft in jener
Identität mit dem Univerſum ſowohl dem Stoff, als der Form nach
ſchon an und für ſich Poeſie ſeyn und in Poeſie ſich auflöſen. Der
Urſprung des abſoluten Lehrgedichts oder des ſpeculativen Epos fällt alſo
mit der Vollendung der Wiſſenſchaft in eins zuſammen, und wie die
Wiſſenſchaft erſt von der Poeſie ausging, ſo iſt es auch ihre ſchönſte
und letzte Beſtimmung, in dieſen Ocean zurückzufließen. Ja nach dem,
was ſchon früher von der einzigen Möglichkeit des wahren Epos und
der Mythologie für die neuere Zeit gezeigt wurde, daß nämlich die
Götter der neueren Welt, welche Geſchichtsgötter ſind, von der Natur
Beſitz ergreifen müſſen, um als Götter zu erſcheinen — in dieſer
Hinſicht, ſage ich, möchte das erſte wahre Gedicht von der Natur der
Dinge mit dem wahren Epos gleichzeitig ſeyn.
In der ſubjektiven Sphäre der dem epiſchen Gedicht untergeord-
neten Gattungen iſt die Satyre die objektivere Form, da ihr Gegen-
ſtand das Reale, Objektive und vorzugsweiſe wenigſtens das Handeln
iſt. Ich begnüge mich mit Bemerkung der epiſchen Natur der Satyre.
Da ſie nicht erzählend iſt, wie das Epos, alſo nicht wie dieſes Perſonen
auf epiſche Weiſe redend einführen kann, und doch vorzüglich Charaktere
und Handlungen darzuſtellen hat, ſo nähert ſie ſich eben dadurch noth-
wendig dem Dramatiſchen, und ſie muß der inneren Darſtellung nach,
um ihrer Aufgabe Genüge zu thun, nothwendig ein dramatiſches Leben
haben. Es verſteht ſich, daß unter den Begriff der Satyre im ſtrengen
Sinn nichts gehören kann, was abſolut und an ſich ſelbſt dramatiſch
iſt. Es wäre ebenſo thöricht oder noch thörichter, die Komödien des
Ariſtophanes zur Gattung der Satyre herunterzuſetzen, als wie man
ſonſt pflegte den Don Quixote des Cervantes zu einer Satyre zu machen.
[668]
Die Satyre übrigens hat eine doppelte Gattung, die ernſte und
die komiſche. Beide Gattungen fordern die Würde eines ſittlichen Cha-
rakters, wie er ſich in dem edlen Zorn des Juvenal und des Perſius
ausſpricht, und die Ueberlegenheit eines durchdringenden Geiſtes, der
Verhältniſſe und Begebenheiten in der Beziehung aufs Allgemeine zu
ſehen weiß, da eben auf der Contraſtirung des Allgemeinen und Be-
ſonderen die vorzüglichſte Wirkung der Satyre beruht. Daß in Deutſch-
land diejenigen, die ſelbſt die Karrikaturen oder die Geſchöpfe des Zeit-
alters ſind, je und je in ſich den Kitzel empfinden, mit einer groben
Feder ſatyriſche Gemälde des Zeitalters aufs Papier zu kritzeln, iſt nicht
mehr zu verwundern, als daß überhaupt z. B. Menſchen, die weder die
Welt, noch irgend einen Gegenſtand derſelben erkannt haben, ſich zur
Poeſie und den edelſten Gattungen derſelben fähig glauben.
Für die komiſche Satyre hatten die Griechen eigne Repräſentanten
in den beſonderen Gattungen halb thieriſcher, halb menſchlicher Weſen,
von welchen, wie das Wahrſcheinlichſte iſt, die Satyre den Namen hat.
Es iſt bekannt, daß Aeſchylos auch Satyrſpiele geſchrieben hat, wie
ſpäterhin Euripides. Das Geſetz der komiſchen Satyre iſt in dieſem
Urſprung gleichſam ausgeſprochen. Wenn die ernſte Satyre das Laſter,
beſonders das freche, mit Macht gepaarte züchtigt, ſo muß die komiſche
dagegen ihren Gegenſtänden ſoviel möglich Schuld und Verdienſt nehmen,
ſie ganz willenlos, ſoviel möglich thieriſch und ganz und gar ſinnlich
zu machen ſuchen, wie die Satyrn und Faunen. Die Rohheit, die
mit Bosheit und Niederträchtigkeit verbunden iſt, erweckt nur Ekel
und widrige Empfindung, ſie kann daher nie Gegenſtand poetiſcher
Laune ſeyn. Dieß wird ſie nur durch gänzliche Beraubung des Menſch-
lichen und völlige Umkehrung, in der ſie rein komiſch erſcheint, ohne
ein Gefühl zu beleidigen, und auf der andern Seite den Gegenſtand
am tiefſten herabſetzt.
Hiemit haben wir den Kreis der rationalen epiſchen Formen durch-
laufen. Wir haben nun noch von dem modernen oder romanti-
ſchen Epos zu reden, und auch dieſes in ſeine beſondern Ausbildungen
zu verfolgen.
[669]
Da der Gegenſatz des Antiken und Romantiſchen, ſo viel es möglich
war, ſchon früher im Allgemeinen dargeſtellt wurde, und da die
modernen Formen immer mehr oder weniger Irrationales behalten, ſo
glaube ich in Anſehung des romantiſchen Epos am beſten zu verfahren,
wenn ich es meiſt hiſtoriſch betrachte, und dabei die Gegenſätze ſo-
wohl als die Uebereinſtimmungen, die es mit dem alten Epos hat,
heraushebe.
Ich knüpfe meine Betrachtung meinem Vorſatz gemäß, die Poeſie
auch in den merkwürdigſten Individuen zu charakteriſiren, gleich an den
Arioſto an, da zuvörderſt kein Zweifel iſt, daß er das ächteſte moderne
Epos gedichtet hat. Seine Vorgänger, Bojardo vorzüglich u. a. ſind
nicht zu rechnen, weil ſie, wenn ſie auch auf dem rechten Wege waren,
doch nicht das Vortreffliche darin erreichten, langweilig und überladen
geblieben ſind. Taſſos befreites Jeruſalem nach Arioſt iſt durchaus
mehr die Erſcheinung einer ſchönen nach Reinheit ſtrebenden Seele als
eine objektive Dichtung, und nur das ganz Beſchränkte darin, das
Keuſche, das Katholiſche, iſt das Gute. Die Henriade zu nennen,
würde kaum etwa ein Franzos begehren. Die Portugieſen haben ein
Gedicht, die Luiſiade von Camoens, das ich nicht kenne.
Arioſto hat eine ſehr bekannte mythologiſche Welt, in der er ſich
bewegt. Der Hof Karls des Großen iſt der Olymp des Jupiter der
Ritterzeit. Die Sagen von den zwölf Paladinen ſind und waren nach
allen Seiten verbreitet und gehörten allen gebildeteren Nationen, den
Spaniern, Italienern, Franzoſen, Deutſchen, Engländern gemein-
ſchaftlich an. Das Wunderbare hatte ſich vom Chriſtenthum aus ver-
breitet und in der Berührung mit der Tapferkeit der ſpäteren Zeit ſich
zu einer romantiſchen Welt entzündet. Auf dieſem glücklicheren Boden
nun konnte der Dichter nach Willkür ſchalten, neu erfinden, ſchmücken.
Alle Mittel ſtanden ihm zu Gebot, er hatte Tapferkeit, Liebe, Zau-
berei, er hatte zu dem allem noch den Gegenſatz des Morgen- und
Abendlandes und der verſchiedenen Religionen.
Wie das Individuum oder Subjekt durchgehends mehr in der
modernen Welt hervortritt, mußte es auch im Epos geſchehen, ſo daß
[670] es die abſolute Objektivität des alten Epos verlor, und mit dieſer
Gattung nur als ihre vollkommene Negation vergleichbar iſt, und auch
Arioſto hat ſeinen Stoff nach ſich modificirt, indem er ihm ein gutes
Theil Reflexion und Muthwillen beigemiſcht hat. Da ein Hauptcha-
rakter des Romantiſchen überhaupt in der Vermiſchung des Ernſtes und
des Scherzes liegt, ſo müſſen wir ihm jenes zugeben, da von der an-
deren Seite ſeine Schalkhaftigkeit, ſo zu ſagen, wieder nur an die Stelle
der Gleichgültigkeit, der Untheilnahme des Dichters im Epos tritt. Er
hat ſich dadurch zum Herrn ſeines Gegenſtandes gemacht. Darin
ſchließt ſich ſein Gedicht dem Begriff des alten Epos am beſtimmteſten
an, daß es keinen beſtimmten Anfang wie kein beſtimmtes Ende hat,
daß es ein herausgeſchnittenes Stück aus ſeiner Welt iſt, das man ſich
ebenſo gut früher aufgenommen, wie weiter fortgeführt denken kann.
(Tadel unverſtändiger Kunſtrichter hierüber im Vergleich der künſtlichen
Compoſition des Taſſo. Hier iſt freilich alles regelmäßiger zugeſchnitten,
daß man nie zu verirren in Gefahr iſt. Arioſtos Gedicht gleicht einem
Irrgarten, worin man mit Luſt, ohne Furcht, ſich verliert.) Ein an-
derer Beziehungspunkt iſt: daß der Held nicht allein darin herausge-
hoben iſt und oft ganz vom Schauplatz entfernt ſteht, oder vielmehr,
daß es überhaupt eine Mehrzahl von Helden gibt. Die Geſchichte Eines
Helden durch alle Kataſtrophen hindurchgeführt, wie Wielands Oberon
z. B., iſt, wenn wir dieſer Gattung nur einige Reinheit bewahren
wollen, bloß eine romantiſche, oft ſentimentale Biographie in Verſen,
alſo weder ein wahres Epos, noch ein wahrhafter Roman (der in
Proſa geſchrieben ſeyn müßte).
Der Begriff des Wunderbaren iſt, wie ich ſchon bemerkt habe,
eine neue Zuthat des Epos, denn wenn auch Ariſtoteles ſchon vom
ϑαυμαςόν des homeriſchen Epos ſpricht, hat es doch bei ihm eine
ganz andere Bedeutung als das moderne Wunderbare, nämlich über-
haupt nur das Außerordentliche (mehr davon beim Drama). Homer
hat kein Wunderbares, ſondern lauter Natürliches, weil auch ſeine
Götter natürlich ſind. Im Wunderbaren zeigt ſich Poeſie und Proſa
im Kampf; das Wunderbare iſt es nur gegenüber von der Proſa und
[671] in einer getheilten Welt. Im Homer iſt, wenn man will, alles,
aber eben deßwegen nichts wunderbar. Allein Arioſto hat wirklich vor-
trefflich verſtanden, ſein Wunderbares vermittelſt ſeiner Leichtigkeit, ſeiner
Ironie und des oft ganz ungeſchmückten Vortrags in ein Natürliches
zu verwandeln. Er wird auch am ſchwerſten da zu erreichen ſeyn, wo
er ganz trocken erzählt. Im Uebergang aber von ſolchen Partieen zu
andern, über die er alle Anmuth und allen Schmuck ſeiner reichen
Phantaſie ergoſſen, malen ſich die Contraſte und Miſchungen des Stoffs,
welche im romantiſchen Gedicht nothwendig ſind — man kann im eigent-
lichſten Sinn ſagen, ſie malen ſich, weil alles lebendige Farbe bei
ihm iſt, bewegliches, raſches Gemälde, an dem die Umriſſe zuweilen
verſchwinden, zuweilen nachdrücklich hervortreten, und das immer mehr
als ein buntes Aggregat von Theilen eines Ganzen erſcheint, als daß
ſich, auch innerhalb ſeiner partiellen Sphäre genommen, eine gediegene
Stetigkeit darin ausdrückte. Auch hat Arioſto ſtreng genommen nur
einen nationalen und leicht gemeinten Verſuch gemacht, wenn man ihn
mit der höheren Idee eines, wenn gleich modernen, Epos zuſammen-
hält, das, nicht mehr wie das Homeriſche durch ein Zeitalter, ein
Volk gedichtet, ſondern nothwendig durch einen Einzelnen, ſtets einen
andern Charakter haben wird und das Antike und die Objektivität auf
andere Art zu Stande bringen muß. Allein der Reiz eines hellen
Verſtandes und der unerſchöpflichen Fülle von Luſt und Laune löſcht
das Partikulare des Gedichtes wieder aus. Es iſt nichts Gehäuftes in
Arioſto, die edlen Züge ſind ſchön vertheilt und halten wie Säulen
das luftige Gebäude. Angelika iſt die ſchöne Helena, der Zwiſt der
Paladine um ſie der trojaniſche Krieg; Orlando tritt ebenſo ſelten auf
den Schauplatz wie Achilles; es fehlt auch an einem Paris nicht, der
ohne groß Verdienſt und Würdigkeit die Schöne davon trägt, die be-
kannte Meda nämlich. — Natürlich iſt dieſe Parallele nicht allzu ernſtlich
gemeint. Die ſchönſte Geſtalt des Dichters, durchaus romantiſch und
zart gedacht, iſt Bradamante, die Waffen anlegt und auf Abenteuer
ausgeht für den Geliebten; die Tapferkeit iſt in ihr das Wunderbare
und die Liebe das Natürliche und alſo auch das Liebenswerthe das
[672] Ueberwiegende; auch iſt ſie Chriſtin, dahingegen in einer anderen weib-
lichen Geſtalt aus dem Morgenlande die Tapferkeit mehr männlich als
ſiegend gezeichnet iſt. Auch Orlando und Rinaldo machen einen ſtarken
Gegenſatz des Gebildeten und Ungebildeten. In dem Meer von Epi-
ſoden (um auch davon zu reden) und Zufällen tauchen die mannich-
fachen Geſtalten unter und kommen wieder, ſtets kenntlich und von ein-
ander geſondert. Die Epiſoden ſind hier die Novellen, die der Dichter
eingeflochten wie Cervantes in ſeinen Roman; ſie ſind ſowohl ſehr
rührenden und pathetiſchen, als muthwilligen Inhalts, wobei der Dichter
immer davon geht, als ob nichts geſchehen wäre: miſcht er Betrach-
tung ein, ſo geſchieht es nie verweilend, ſondern daß es gleich wieder
vorwärts geht, und ein neuer Horizont ſich ihm wölbt.
Die Gleichmäßigkeit und Identität des Geiſtes dieſer Dichtart iſt
auch äußerlich ausgedrückt durch das am meiſten identiſche Sylbenmaß
der Neueren, die Stanze. Es verlaſſen, wie Wieland, heißt die Form
des romantiſchen Epos ſelbſt verlaſſen.
Die durch die Charakteriſtik von Arioſto ſchon angegebenen Cha-
raktere des romantiſchen Epos oder des Rittergedichts ſind hin-
reichend, ſeine Verſchiedenheit und Entgegenſetzung mit dem antiken
Epos zu zeigen. Wir können das Weſen deſſelben ſo ausſprechen: es
iſt durch den Stoff epiſch, d. h. der Stoff iſt mehr oder weniger uni-
verſell, durch die Form aber iſt es ſubjektiv, indem die Individualität
des Dichters dabei weit mehr in Anſchlag kommt, nicht nur darin, daß er
die Begebenheit, welche er erzählt, beſtändig mit der Reflexion begleitet,
ſondern auch in der Anordnung des Ganzen, die nicht aus dem Gegen-
ſtand ſelbſt ſich entwickelt, und weil ſie die Sache des Dichters iſt, über-
haupt keine andere Schönheit als die Schönheit der Willkür bewundern
läßt. An und für ſich ſchon gleicht der romantiſch-epiſche Stoff einem wild
verwachſenen Wald voll eigenthümlicher Geſtalten, einem Labyrinth, in
dem es keinen andern Leitfaden gibt als den Muthwillen und die Laune
des Dichters. Wir können ſchon hieraus begreifen, daß das romantiſche
Epos weder die höchſte, noch die einzige Art iſt, in welcher dieſe Gat-
tung (das Epos nämlich) in der modernen Welt überhaupt exiſtiren kann.
[673]
Das romantiſche Epos hat in der Gattung, zu der es gehört,
ſelbſt wieder einen Gegenſatz. Wenn es nämlich überhaupt zwar dem
Stoff nach univerſell, der Form nach aber individuell iſt, ſo läßt ſich
zum voraus eine andere entſprechende Gattung erwarten, in welcher
an einem partiellen oder beſchränkteren Stoff ſich die allgemein gültigere
und gleichſam indifferentere Darſtellung verſucht. Dieſe Gattung iſt der
Roman, und wir haben mit dieſer Stelle, die wir ihm geben, zu-
gleich auch ſeine Natur beſtimmt.
Man kann allerdings auch den Stoff des romantiſchen Epos nur
relativ-univerſell nennen, weil er nämlich immer den Anſpruch an das
Subjekt macht, ſich überhaupt auf einen phantaſtiſchen Boden zu ver-
ſetzen, welches das alte Epos nicht thut. Aber eben deßwegen auch,
weil der Stoff vom Subjekt etwas fordert — Glauben, Luſt, phan-
taſtiſche Stimmung — ſo muß der Dichter von der ſeinigen etwas
hinzuthun, und ſo dem Stoff, was er in der einen Rückſicht an Uni-
verſalität voraus haben kann, von der andern Seite wieder durch die
Darſtellung nehmen. Um ſich dieſer Nothwendigkeit zu überheben, und
der objektiven Darſtellung ſich mehr zu nähern, bleibt demnach nichts
übrig als auf die Univerſalität des Stoffs Verzicht zu thun und ſie
in der Form zu ſuchen.
Die ganze Mythologie des Rittergedichts gründet ſich auf das Wun-
derbare, d. h. auf eine getheilte Welt. Dieſe Getheiltheit geht noth-
wendig in die Darſtellung über, da der Dichter, um das Wunderbare
als ſolches erſcheinen zu laſſen, ſelbſt für ſich in derjenigen Welt ſeyn
muß, wo das Wunderbare als Wunderbares erſcheint. Will alſo
der Dichter mit ſeinem Stoff wahrhaft identiſch werden und ſich ihm
ſelbſt ungetheilt hingeben, ſo iſt kein Mittel dazu, als daß das Indi-
viduum, wie überhaupt in der modernen Welt, ſo auch hier ins Mittel
trete und den Ertrag Eines Lebens und Geiſtes in Erfindungen
niederlege, die, je höher ſie ſtehen, deſto mehr die Gewalt einer
Mythologie gewinnen. So entſteht der Roman, und ich trage kein
Bedenken, ihn in dieſer Rückſicht über das Rittergedicht zu ſetzen, obgleich
freilich von dem, was unter dieſen Namen geht, das Wenigſte nur
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 43
[674] jene Objektivität der Form erreicht hat, bei welcher es näher noch als
das Rittergedicht dem eigentlichen Epos ſteht.
Schon durch die ausdrückliche Beſchränkung, daß der Roman bloß
durch die Form der Darſtellung objektiv, allgemein gültig ſey, iſt
angedeutet, innerhalb welcher Grenzen allein er dem Epos ſich nähern
könne. Das Epos iſt eine ihrer Natur nach unbeſchränkte Handlung:
ſie fängt eigentlich nicht an und könnte ins Endloſe gehen. Der Roman
iſt, wie geſagt, durch den Gegenſtand beſchränkt, er nähert ſich dadurch
mehr dem Drama, welches eine beſchränkte und in ſich abgeſchloſſene
Handlung iſt. In dieſer Beziehung könnte man den Roman auch als
eine Miſchung des Epos und des Drama beſchreiben, ſo nämlich, daß
er die Eigenſchaften beider Gattungen theilte. Das Ganze der neueren
Kunſt zeigt ſich auch darin mehr der Malerei und dem Reich der Farben
gleich, da hingegen das plaſtiſche Zeitalter oder das Reich der Geſtalten
alles ſtreng von einander ſonderte.
Die moderne Kunſt hat für die objektive Form der Darſtellung
kein ſo gleichmäßiges, zwiſchen Entgegengeſetztem ſchwebendes Sylbenmaß,
als der Hexameter der antiken Kunſt iſt; alle ihre Sylbenmaße indi-
vidualiſiren gleich ſtärker und beſchränken auf einen gewiſſen Ton, Farbe,
Stimmung u. ſ. w. Die gleichmäßigſte neuere Versart iſt die Stanze,
aber ſie hat nicht ſo das Anſehen unmittelbarer Inſpiration und Ab-
hängigkeit von dem Fortſchreiten des Gegenſtandes als der Hexameter,
ſchon darum, weil ſie ein ungleichförmiges Versmaß iſt, und ſich in
Strophen abſondert, und demnach auch überhaupt künſtlicher und mehr
als Werk des Dichters wie als Form des Gegenſtandes erſcheint.
Dem Roman alſo, der in beſchränkterem Stoff die Objektivität des
Epos in der Form erreichen will, bleibt nichts als die Proſa, welche
die höchſte Indifferenz iſt, aber die Proſa in ihrer größten Vollkommen-
heit, wo ſie von einem leiſen Rhythmus und einem geordneten Perioden-
bau begleitet iſt, der dem Ohr zwar nicht ſo gebietet wie das rhyth-
miſche Sylbenmaß, aber doch von der andern Seite auch keine Spur
der Gezwungenheit hat, und deßwegen die ſorgfältigſte Ausbildung
erfordert. Wer dieſen Rhythmus der Proſa im Don Quixote und
[675] Wilhelm Meiſter nicht empfindet, der kann ihn freilich auch nicht ge-
lehrt werden. Wie die epiſche Diktion, darf dieſe Proſa oder viel-
mehr dieſer Styl des Romans verweilen, ſich verbreiten und das
Geringſte nicht unberührt laſſen an ſeiner Stelle, aber auch nicht ſich
in Schmuck verlieren, beſonders nicht in bloßen Wortſchmuck, weil
ſonſt der unerträglichſte Mißſtand, die ſogenannte poetiſche Proſa, un-
mittelbar angrenzt.
Da der Roman nicht dramatiſch ſeyn kann und doch von der
andern Seite in der Form der Darſtellung die Objektivität des Epos
zu ſuchen hat, ſo iſt die ſchönſte und angemeſſenſte Form des Romans
nothwendig die erzählende. Ein Roman in Briefen beſteht aus lauter
lyriſchen Theilen, die ſich — im Ganzen — in dramatiſche verwan-
deln, und ſomit fällt der epiſche Charakter hinweg.
Da in der Form der Darſtellung der Roman dem Epos ſo viel
möglich gleich ſeyn ſoll und doch ein beſchränkter Gegenſtand eigentlich
den Stoff ausmacht, ſo muß der Dichter die epiſche Allgemeingültigkeit
durch eine relativ noch größere Gleichgültigkeit gegen den Hauptgegen-
ſtand oder den Helden erſetzen, als diejenige iſt, welche der epiſche
Dichter übt. Er darf ſich daher nicht zu ſtreng an den Helden binden,
und noch viel weniger alles im Buch ihm gleichſam unterwerfen. Da
das Beſchränkte nur gewählt iſt, um in der Form der Darſtellung das
Abſolute zu zeigen, ſo iſt der Held gleichſam ſchon von Natur mehr
ſymboliſch als perſönlich und muß auch ſo im Roman genommen wer-
den, ſo daß ſich alles leicht ihm anknüpft, daß er der collective Name
ſey, das Band um die volle Garbe.
Die Gleichgültigkeit darf ſo weit gehen, daß ſie ſogar in Ironie
gegen den Helden übergehen kann, da Ironie die einzige Form iſt, in
der das, was vom Subjekt ausgeht oder ausgehen muß, ſich am Be-
ſtimmteſten wieder von ihm ablöst und objektiv wird. Die Unvoll-
kommenheit kann alſo dem Helden in dieſer Hinſicht gar nichts ſchaden;
die prätendirte Vollkommenheit hingegen wird den Roman vernichten.
Hierher gehört auch, was Goethe im Wilhelm Meiſter über die retar-
dirende Kraft des Helden mit beſonderer Ironie dieſem ſelbſt in Mund
[676] legt. Da nämlich der Roman von der einen Seite die nothwendige
Hinneigung zum Dramatiſchen hat, und doch von der andern Seite
verweilend wie das Epos ſeyn ſoll, ſo muß es dieſe den raſchen
Lauf der Handlung mäßigende Kraft in das Objekt, nämlich in den
Helden ſelbſt legen. Wenn Goethe in derſelbigen Stelle des Wilhelm
Meiſter ſagt: Im Roman ſollen vorzüglich Geſinnungen und Be-
gebenheiten, im Drama Charaktere und Thaten vorgeſtellt
werden, ſo hat dieß dieſelbe Beziehung. Geſinnungen können auch
wohl nur für eine gewiſſe Zeit und Lage ſtattfinden, ſie ſind wandel-
barer als der Charakter; der Charakter drängt unmittelbarer zur Hand-
lung und zum Ende, als Geſinnungen thun, und die That iſt ent-
ſcheidender als Begebenheiten ſind, wie ſie aus dem entſchiedenen und
ſtarken Charakter kommt und im Guten und Böſen eine gewiſſe Voll-
kommenheit deſſelben fordert. Allein dieß iſt freilich nicht von einer
gänzlichen Negation der Thatkraft im Helden zu verſtehen, und die
vollkommenſte Vereinigung wird immer die bleiben, welche im Don
Quixote getroffen iſt, daß die aus dem Charakter kommende That durch
die Begegnung und die Umſtände für den Helden zur Begeben-
heit wird.
Der Roman ſoll ein Spiegel der Welt, des Zeitalters wenigſtens,
ſeyn, und ſo zur partiellen Mythologie werden. Er ſoll zur heiteren,
ruhigen Betrachtung einladen und die Theilnahme allenthalben gleich
feſt halten; jeder ſeiner Theile, alle Worte ſollten gleich golden ſeyn,
wie in ein innerliches höheres Sylbenmaß gefaßt, da ihm das äußer-
liche mangelt. Deßwegen kann er auch nur die Frucht eines ganz
reifen Geiſtes ſeyn, wie die alte Tradition den Homeros immer als
Greis ſchildert. Er iſt gleichſam die letzte Läuterung des Geiſtes, wo-
durch er in ſich ſelbſt zurückkehrt und ſein Leben und ſeine Bildung
wieder in Blüthe verwandelt; er iſt die Frucht, jedoch mit Blüthen
gekrönt.
Alles im Menſchen anregend ſoll der Roman auch die Leidenſchaft
in Bewegung ſetzen; das höchſte Tragiſche iſt ihm erlaubt wie das
Komiſche, nur daß der Dichter ſelbſt von beidem unberührt bleibe.
[677]
Es iſt ſchon früher in Anſehung des Epos bemerkt worden, daß
in ihm der Zufall verſtattet iſt; noch mehr darf der Roman mit allen
Mitteln ſchalten, die Ueberraſchung, Verflechtung und Zufall an die
Hand geben: nur darf freilich der Zufall nicht allein ſchalten, ſonſt
tritt wieder ein grillenhaftes, einſeitiges Princip an die Stelle des
ächten Bildes vom Leben. Auf der anderen Seite iſt, wenn der Ro-
man vom Epos das Zufällige der Begebenheiten entlehnen darf, das
Princip des Schickſals, welches in ihn durch ſeine Hinneigung zum
Drama kommt, ebenfalls zu einſeitig und dabei zu herbe für die um-
faſſendere und gefälligere Natur des Romans. Inwiefern Charakter
auch eine Nothwendigkeit iſt, die dem Menſchen zum Schickſal werden
kann, müſſen im Roman Charakter und Zufall einander in die Hände
arbeiten, und in dieſer Stellung beider gegeneinander offenbart ſich vor-
züglich die Weisheit und Erfindung des Dichters.
Der Roman, da er ſeiner näheren Verwandtſchaft mit dem Drama
gemäß mehr auf Gegenſätzen beruht als das Epos, muß dieſe vor-
züglich zur Ironie und zur pittoresken Darſtellung gebrauchen, wie das
Tableau im Don Quixote, wo dieſer und Cardenio im Walde gegen-
einander über ſitzend beide vernünftig aneinander theilnehmen, bis
der Wahnſinn des einen den des anderen in Aufruhr ſetzt. Ueber-
haupt alſo darf der Roman nach dem Pittoresken ſtreben, denn ſo
kann man allgemein nennen, was eine Art von dramatiſcher, nur
flüchtigerer, Erſcheinung iſt. Es verſteht ſich, daß es ſtets einen
Gehalt, einen Bezug auf das Gemüth, auf Sitten, Völker, Begeben-
heiten habe. Was kann in dem angegebenen Sinn pittoresker ſeyn,
als im Don Quixote Marcellas Erſcheinung auf der Spitze des
Felſens, an deſſen Fuß der Schäfer begraben wird, den die Liebe
für ſie getödtet hat?
Wo der Boden der Dichtung es nicht begünſtigt, muß der Dichter
es erſchaffen, wie Goethe im Wilhelm Meiſter; Mignon, der Harfner,
das Haus des Onkels ſind einzig ſein Werk. Alles, was die Sitten
Romantiſches darbieten, muß herausgewendet und das Abenteuerliche
nicht verſchmäht werden, ſobald es auch wieder zur Symbolik dienen
[678] kann. Die gemeine Wirklichkeit ſoll ſich nur darſtellen, um der
Ironie und irgend einem Gegenſatze dienſtbar zu ſeyn.
Die Stellung der Begebenheiten iſt ein anderes Geheimniß der
Kunſt. Sie müſſen weiſe vertheilt ſeyn, und wenn auch gegen das
Ende der Strom breiter wird, und die ganze Herrlichkeit der Concep-
tion ſich entfaltet, ſo ſollen ſich doch die Begebenheiten nirgend drücken,
drängen und jagen. Die ſogenannten Epiſoden müſſen entweder dem
Ganzen weſentlich angehören, organiſch mit ihm gebildet ſeyn (Spe-
rata), nicht bloß angeflickt, um dieſes und jenes herbeizuführen, oder
ſie müſſen ganz unabhängig als Novellen eingeſchaltet ſeyn, wogegen
ſich nichts einwenden läßt.
Die Novelle, um dieß im Vorbeigehen zu bemerken, da wir
uns auf alle dieſe Untergattungen nicht insbeſondere einlaſſen können,
iſt der Roman nach der lyriſchen Seite gebildet, gleichſam, was die
Elegie in Bezug auf das Epos iſt, eine Geſchichte zur ſymboliſchen
Darſtellung eines ſubjektiven Zuſtandes oder einer beſonderen Wahr-
heit, eines eigenthümlichen Gefühls.)
Um einen leichten Kern — einen Mittelpunkt, der nichts ver-
ſchlinge und alles gewaltſam in ſeine Strudel ziehe — muß überhaupt
im Roman alles fortſchreitend geordnet ſeyn.
Es leuchtet aus dieſen wenigen Zügen ein, was der Roman nicht
ſeyn darf, im höchſten Sinn genommen: keine Muſterkarte von Tugen-
den und Laſtern, kein pſychologiſches Präparat eines einzelnen menſch-
lichen Gemüths, das wie in einem Kabinet aufbewahrt würde. Es
ſoll uns an der Schwelle keine zerſtörende Leidenſchaft empfangen und
durch alle ihre Stationen mit ſich fortreißen, die den Leſer zuletzt
betäubt am Ende eines Wegs zurückläßt, den er um alles nicht noch
einmal machen möchte. Auch ſoll der Roman ein Spiegel des allge-
meinen Laufs menſchlicher Dinge und des Lebens, alſo nicht bloß ein
partielles Sittengemälde ſeyn, wo wir nie über den engen Horizont
ſocialer Verhältniſſe auch etwa der größeſten Stadt oder eines Volks
von beſchränkten Sitten hinausgeführt werden, der endloſen ſchlechteren
Stufen noch tiefer herabgehender Verhältniſſe nicht zu gedenken.
[679]
Daraus folgt natürlich, daß faſt die geſammte Unzahl deſſen, was
man Roman nennt, — wie Fallſtaff ſeine Miliz Futter für Pulver
nennt, — Futter für den Hunger der Menſchen iſt, für den Hunger
nach materieller Täuſchung und für den unerſättlichen Schlund der
Geiſtesleere und derjenigen Zeit, die vertrieben ſeyn will.
Es wird nicht zu viel ſeyn zu behaupten, daß es bis jetzt nur
zwei Romane gibt, nämlich den Don Quixote des Cervantes und den
Wilhelm Meiſter von Goethe, jener der herrlichſten, dieſer der gedie-
genſten Nation angehörig. Don Quixote iſt nicht nach den früheſten
deutſchen Ueberſetzungen zu beurtheilen, wo die Poeſie vernichtet, der
organiſche Bau aufgehoben iſt. Man braucht ſich des Don Quixote
nur zu erinnern, um einzuſehen, was der Begriff von einer durch das
Genie eines Einzelnen erſchaffenen Mythologie ſagen will. Don Quixote
und Sancho Panſa ſind mythologiſche Perſonen über den ganzen gebil-
deten Erdkreis, ſowie die Geſchichte von den Windmühlen u. ſ. w.
wahre Mythen ſind, mythologiſche Sagen. Was in der beſchränkten
Conception eines untergeordneten Geiſtes nur als Satyre einer beſtimm-
ten Thorheit gemeint geſchienen hätte, das hat der Dichter durch die
allerglücklichſte der Erfindungen in das univerſellſte, ſinnvollſte und pit-
toreskeſte Bild des Lebens verwandelt. Daß dieſe Eine Erfindung durch
das Ganze hinläuft, und dann nur aufs reichſte variirt erſcheint, nir-
gend alſo eine Zuſammenſtückelung ſichtbar wird, gibt ihm einen beſon-
ders großen Charakter. Indeß iſt doch in dem Ganzen ein offenbarer
und ſehr entſchiedener Gegenſatz, und die beiden Hälften könnte man
weder ganz unſchicklich noch ganz unwahr die Ilias und die Odyſſee
des Romans nennen. Das Thema im Ganzen iſt das Reale im Kampf
mit dem Idealen. In der erſten Hälfte des Werks wird das Ideale
nur natürlich-realiſtiſch behandelt, d. h. das Ideale des Helden ſtößt
ſich nur an der gewöhnlichen Welt und den gewöhnlichen Bewegungen
derſelben, im andern Theil wird es myſtificirt, d. h. die Welt, mit
der es in Conflikt kommt, iſt ſelbſt eine ideale, nicht die gewöhnliche,
wie in der Odyſſee die Inſel der Kalypſo gleichſam eine fingirtere Welt
iſt als die, in welcher die Ilias ſich bewegt, und wie hier die Kirke
[680] erſcheint, ſo im Don Quixote die Herzogin, die, ausgenommen die
Schönheit, alles mit ihr gemein hat. Die Myſtifikation geht aller-
dings bis zum Schmerzenden, ja bis zum Plumpen, und ſo daß das
Ideale in der Perſon des Helden, weil es da verrückt geworden war,
ermattend unterliegt; dagegen zeigt es ſich im Ganzen der Compoſition
durchaus triumphirend, und auch in dieſem Theil ſchon durch die aus-
geſuchte Gemeinheit des Entgegengeſetzten.
Der Roman des Cervantes ruht alſo auf einem ſehr unvollkom-
menen, ja verrückten Helden, der aber zugleich ſo edler Natur iſt, und
ſo oft als der Eine Punkt nicht berührt wird, ſo viel überlegenen Ver-
ſtand zeigt, daß ihn keine Schmach, die ihm widerfährt, eigentlich her-
abwürdiget. An dieſe Miſchung (in Don Quixote) ließ ſich eben das
wunderbarſte und reichſte Gewebe knüpfen, das im erſten Moment ſo
anziehend wie im letzten ſtets den gleichen Genuß gewährt und die
Seele zur heiterſten Beſonnenheit ſtimmt. Für den Geiſt iſt die noth-
wendige Begleitung des Helden, Sancho Panſa, gleichſam ein unauf-
hörlicher Feſttag; eine unverſiegbare Quelle der Ironie iſt geöffnet und
ergießt ſich in kühnen Spielen. Der Boden, auf dem das Ganze
geſchieht, verſammelte in jener Zeit alle romantiſchen Principien, die
es noch in Europa gab, verbunden mit der Pracht des geſelligen Lebens.
Hierin war der Spanier tauſendfältig vor dem deutſchen Dichter begün-
ſtigt. Er hatte die Hirten, die auf freiem Felde lebten, einen ritter-
lichen Adel, das Volk der Mauren, die nahe Küſte von Afrika, den
Hintergrund der Begebenheiten der Zeit und der Feldzüge gegen die
Seeräuber, endlich eine Nation, unter welcher die Poeſie popular iſt —
ſelbſt maleriſche Trachten, für den gewöhnlichen Gebrauch die Maul-
thiertreiber und den Baccalaureus von Salar. Dennoch läßt der Dichter
meiſt aus Ereigniſſen, die nicht national ſondern ganz allgemein ſind,
wie die Begegnung der Galeerenſclaven, eines Marionettenſpielers,
eines Löwen im Käfig ſeine ergötzlichen Ereigniſſe entſtehen. Der Wirth,
den Don Quixote für einen Caſtellan anſieht, und die ſchöne Mari-
torne ſind allenthalben zu Haus. Die Liebe dagegen erſcheint immer in
der eigenthümlichen romantiſchen Umgebung, die er in ſeiner Zeit
[681] vorfand, und der ganze Roman ſpielt unter freiem Himmel in der
warmen Luft ſeines Klima und in erhöhter ſüdlicher Farbe.
Die Alten haben den Homer als den glücklichſten Erfinder geprie-
ſen, die Neueren billig Cervantes.
Was hier Eine göttliche Erfindung ausrichten und aus Einem Guß
ſchaffen konnte, das hat der Deutſche unter völlig ungünſtigen, zerſtück-
ten Umſtänden durch eine große Denkkraft und Tiefe des Verſtandes
hervorbringen und erfinden müſſen. Die Anlage erſcheint unkräftiger,
die Mittel dürftiger, allein die Gewalt der Conception, die das Ganze
hält, iſt wahrhaft unermeßlich.
Auch im Wilhelm Meiſter zeigt ſich der faſt bei keiner um-
faſſenden Darſtellung zu umgehende Kampf des Idealen mit dem Realen,
der unſere aus der Identität herausgetretene Welt bezeichnet. Nur iſt
es nicht ſo wie im Don Quixote ein und derſelbe ſich beſtändig in ver-
ſchiedenen Formen erneuernde, ſondern ein vielfach gebrochener und
mehr zerſtreuter Streit; daher auch der Widerſtreit im Ganzen gelin-
der, die Ironie leiſer, ſowie unter dem Einfluß des Zeitalters alles
praktiſch endigen muß. Der Held verſpricht viel und vieles, er ſcheint
auf einen Künſtler angelegt, aber die falſche Einbildung wird ihm
genommen, da er die vier Bände hindurch beſtändig nicht als Meiſter,
wie er heißt, als Schüler erſcheint oder behandelt wird; er bleibt als
eine liebenswürdige geſellige Natur zurück, die ſich leicht anſchließt und
immer anzieht; inſofern iſt er ein glückliches Band des Ganzen und
macht einen anlockenden Vorgrund. Der Hintergrund öffnet ſich gegen
das Ende und zeigt eine unendliche Perſpektive aller Weisheit des Lebens
hinter einer Art von Gaukelſpiel; denn nichts anderes iſt die geheime
Geſellſchaft, die ſich in dem Augenblick auflöst, wo ſie ſichtbar wird,
und nur das Geheimniß der Lehrjahre ausſpricht: — der nämlich iſt
Meiſter, der ſeine Beſtimmung erkannt hat. Dieſe Idee iſt mit ſolcher
Fülle, mit einem Reichthum unabhängigen Lebens bekleidet, daß ſie ſich
nie als herrſchender Begriff oder als Verſtandeszweck der Dichtung ent-
ſchleiert. Was ſich in den Sitten nur irgend romantiſch behandeln ließ,
iſt benutzt worden, herumziehende Schauſpieler, das Theater überhaupt,
[682] welches allenfalls die aus der ſocialen Welt verbannte Unregelmäßig-
keit noch aufnimmt, ein Kriegsheer von einem Fürſten angeführt,
ja Seiltänzer und eine Räuberbande. Wo Sitte und Zufall, der nach
jener modificirt werden mußte, nicht mehr ausreichten, da iſt das Ro-
mantiſche in den Charakter gelegt worden, von der freien anmuthigen
Philine an bis zu dem edelſten Styl hinauf zu Mignon, durch welche
der Dichter ſich in einer Schöpfung offenbart, an der die tiefſte Innig-
keit des Gemüths und die Stärke der Imagination gleichen Antheil
haben. Auf dieſem wundervollen Weſen und der Geſchichte ihrer Familie
— in der tragiſchen Novelle der Sperata — ruht die Herrlichkeit des
Erfinders; die Lebensweisheit wird gleichſam arm dagegen, und den-
noch hat er in ſeiner künſtleriſchen Weisheit nicht mehr Gewicht
darauf gelegt wie auf jeden andern Theil des Buchs. Auch ſie nur
haben, könnte man ſagen, ihre Beſtimmung erfüllt und ihrem Genius
gedient.
Was in dem Roman durch Schuld der Zeit und des Bodens
der Farbengebung des Ganzen abgeht, muß in die einzelnen Ge-
ſtalten gelegt werden; dieß iſt das vorzüglichſte Geheimniß in der Com-
poſition des Wilhelm Meiſter; dieſe Macht hat der Dichter ſo weit
geübt, daß er auch den gemeinſten Perſonen, z. B. der alten Barbara
in dem einzelnen Moment eine wunderbare Erhöhung geliehen hat, in
der ſie wahrhaft tragiſche Worte ausſprechen, bei denen der Held der
Geſchichte gleichſam ſelbſt zu vergehen ſcheint.
Was Cervantes nur einmal zu erfinden hatte, mußte der deutſche
Dichter vielfach erfinden und bei jedem Schritte auf ſo ungünſtigem
Boden ſich neue Bahn brechen, und da die Ungünſtigkeit der Umgebung
ſeinen Erfindungen nicht die Gefälligkeit zuläßt, die denen des Cervan-
tes eigen iſt, geht er deſto tiefer mit der Intention und erſetzt den
äußern Mangel durch die innere Kraft der Erfindung. Dabei iſt die
Organiſation aufs Kunſtreichſte gebildet, und im erſten Keim das Blatt
wie die Blüthe mit entworfen, und der kleinſte Umſtand im voraus
nicht vernachläſſigt, um dann überraſchend wiederzukehren.
Außer dem Roman in der vollkommenſten Geſtalt, inwiefern er
[683] bei einer gewiſſen Beſchränktheit des Stoffes durch die Form die Allge-
meingültigkeit des Epos annimmt, muß man nun allerdings noch über-
haupt romantiſche Bücher gelten laſſen. Ich verweiſe dahin —
nicht die Novellen und Mährchen, die für ſich beſtehen als wahre My-
then (in den unſterblichen Novellen des Boccaccio) aus wirklichem oder
phantaſtiſchem Gebiet, und die ebenfalls ſich im äußern Element rhyth-
miſcher Proſa bewegen, ſondern anderes gemiſchtes Vortreffliches,
wie den Perſiles des Cervantes, die Fiammetta des Boccaccio, allen-
falls auch den Werther, der übrigens ganz in die Jugend und den ſich
mißverſtehenden Verſuch der in Goethe wiedergeborenen Poeſie zurück-
geſchoben werden muß, ein lyriſch-leidenſchaftliches Poem von großer
materieller Kraft, obwohl die Scene ganz innerlich und nur im Ge-
müth liegt.
Was die geprieſenen engliſchen Romane betrifft, ſo halte ich
den Tom Jones für ein mit derben Farben aufgetragenes nicht Welt-
ſondern Sittengemälde, wo auch der moraliſche Gegenſatz zwiſchen einem
ganz niedrigen Heuchler und einem geſunden, aufrichtigen jungen Men-
ſchen etwas grob durchgeführt iſt mit mimiſchem Talent, aber ohne
alle romantiſchen und zarten Beſtandtheile. Richardſon iſt in der Pamela
und dem Grandiſon wenig mehr als ein moraliſcher Schriftſteller; in
der Clariſſa zeigt er eine wahrhaft objektive Darſtellungsgabe, nur in
Pedanterie und Weitläufigkeit eingewickelt. Nicht romantiſch, aber ob-
jektiv und ungefähr in der Art der Idylle allgemein gültig iſt der Land-
prediger von Wakefield.
(Erwähnung der Romanze und Ballade, deren Charakter nicht
ſcharf geſondert iſt, doch daß man jene als die ſubjektivere, dieſe als die
objektivere Form anſehen kann.)
Wir haben den Kreis der epiſchen Formen, wiefern ſie im Geiſt
der modernen und romantiſchen Poeſie möglich ſind, durchlaufen. Es iſt
noch die Frage übrig nach der Möglichkeit der antik-epiſchen Form für die
Dichter der neueren Zeit. Früher ſchon war von den mißlungenen
Verſuchen dieſer Art die Rede. Das erſte, wornach ſich der Dichter
umzuſehen hätte, wäre allerdings der Stoff, welcher ſeiner Natur nach
[684] der antik-epiſchen Behandlung fähig wäre. Entweder könnte er nun
ſelbſt einen antiken Stoff wählen, der ſich dem epiſchen Ganzen der
Griechen anſchlöße, oder wenigſtens in den Kreis der epiſchen Mythologie
gehörte. Oder er müßte einen Stoff der neueren Zeit auswählen.
Aus der Geſchichte ihn zu wählen würde darum unmöglich ſeyn, weil
1) was auch von der Geſchichte epiſch abgeſondert wird, immer nur
zufällig abgeſondert ſcheinen wird, 2) weil die Motive, die Sitten,
Gebräuche, die mit zu der Geſchichte gehören, nothwendig modern ſeyn
müßten, wie wenn ein Dichter die Geſchichte der Kreuzzüge antik-epiſch
behandeln wollte.
Am eheſten vielleicht wäre der epiſche Stoff von der Grenze der
antiken und modernen Zeit zu nehmen, weil durch den Gegenſatz des Hei-
denthums ſelbſt das Chriſtenthum eine höhere Farbe gewänne und ſogar
das Anſehen annehmen könnte, welches in der Odyſſee das Fabelhafte
der Sitten der Völker z. B. und das Wunderbare mancher Länder
oder Inſeln hat. Mit Einem Wort das Chriſtenthum wäre in dieſer
Entgegenſetzung einer wahrhaft objektiven Behandlung am fähigſten.
Man würde ein ſolches Epos nicht als ein bloßes Studium nach der
Antike betrachten können, es wäre einer einheimiſchen und eigenthüm-
lichen Kraft und Farbe fähig. Aber abgeſehen von dieſem Einen Mo-
ment der Zeit, welcher ſelbſt der Wendepunkt der alten und neuen iſt,
möchte ſich in der ganzen ſpäteren Geſchichte kein allgemein gültiges
Ereigniß und eine der epiſchen Darſtellung fähige Begebenheit finden.
Sie müßte nämlich, wie der trojaniſche Krieg, außerdem daß ſie allge-
mein, zugleich national und volksmäßig ſeyn, da der epiſche Dichter
vor allen andern der populärſte zu ſeyn ſtreben muß, und die Popula-
rität nur in lebendiger Wahrheit und in der Beglaubigung durch Sitte
und Ueberlieferung gefunden werden kann. Die Handlung müßte zu-
gleich jener Ausführlichkeit in der Behandlung des Details der Erzäh-
lung, welche zum epiſchen Styl gehört, fähig ſeyn. Aber ſchwerlich
möchte irgend ein dieſe Bedingungen erfüllender Stoff in der neueren
Welt aufzufinden ſeyn, am wenigſten der der letzten Forderung ent-
ſpräche, da in den Kriegen z. B. die Perſönlichkeit gleichſam aufgehoben
[685] iſt und nur die Maſſe wirkt. Die epiſchen Verſuche mit neueren
Stoffen wären alſo an und für ſich ſchon auf den Boden mehr der
Odyſſee als der Ilias gewieſen, aber auch auf jenem würden ſich
alterthümliche Sitten, eine Welt, wie ſie zur epiſchen Entwicklung, Klar-
heit und Einfalt erforderlich iſt, nur in beſchränkteren Sphären finden
laſſen (wie in Voßens Luiſe). Aber hiedurch würde das epiſche Gedicht
mehr die Natur der Idylle annehmen, wenn nicht etwa der Dichter die
Möglichkeit fände, in dieſe Beſchränktheit wieder die Allgemeinheit einer
großen Begebenheit zu ziehen. Dieß iſt in Goethes Hermann und
Dorothea auf ſolche Weiſe geſchehen, daß man dieſem Gedicht ſeiner
Beſchränktheit durch den Stoff unerachtet den epiſchen Charakter im ge-
wiſſen Grade zugeſtehen muß; dagegen die Luiſe von Voß durch den
den Dichter ſelbſt als Idylle, als Gemälde, nämlich mehr als Dar-
ſtellung des Ruhigen denn als Darſtellung des Fortſchreitenden charak-
teriſirt worden iſt. Durch das Goetheſche Gedicht iſt alſo ein Problem
der neueren Poeſie gelöst und der Weg zu ferneren Verſuchen dieſer
Art und Weiſe geöffnet. Es wäre nicht undenkbar, daß aus der Ein-
zelnheit ſolcher Verſuche, wenn ſie ſich gleich urſprünglich an einen be-
ſtimmt gebildeten Kern anſchlößen, in der Folge ſogar durch eine Syn-
theſe oder Ausdehnung, wie die mit den homeriſchen Geſängen geübte,
ein gemeinſchaftliches Ganzes entſtehen könnte. Aber noch immer würde
auch eine Totalität ſolcher kleineren epiſchen Ganzen nie die wahre Idee
des Epos erreichen, das der modernen Welt ſo nothwendig fehlt, als
die innere Identität der Bildung und die Identität des Zuſtandes, von
dem ſie ausgegangen iſt. — Wir müſſen daher dieſe Betrachtungen über
das Epos mit demſelben Reſultat ſchließen, mit dem wir die über
Mythologie geſchloſſen haben, nämlich daß der Homeros, der in der
antiken Kunſt der Erſte war, in der modernen Kunſt der Letzte ſeyn
und die äußerſte Beſtimmung derſelben vollenden wird.
Dieſes Reſultat kann partielle Verſuche den Homeros für eine be-
ſtimmte Zeit zu antipiciren, nicht niederſchlagen, nur iſt die Bedingung,
unter welcher ächte Verſuche dieſer Art allein möglich werden, daß man
die Grundeigenſchaft des Epos, Univerſalität, d. h. Verwandlung alles
[686] deſſen, was in der Zeit zerſtreut, aber doch entſchieden vorhanden iſt,
in eine gemeinſchaftliche Identität nicht aus den Augen ſetze. Für die
Bildung der neueren Welt iſt aber die Wiſſenſchaft, die Religion, ja
ſelbſt die Kunſt von nicht minder allgemeiner Beziehung und Bedeutung
als die Geſchichte, und in der unauflöslichen Miſchung dieſer Elemente
würde eben das wahre Epos für die moderne Zeit beſtehen müſſen.
Eines dieſer Elemente kommt dem andern zur Hülfe; was für ſich der
epiſchen Behandlung nicht fähig wäre, wird es durch das andere, und
etwas ganz und durchaus Eigenthümliches wenigſtens müßte die
Frucht dieſer wechſelſeitigen Durchdringung ſeyn, ehe das ganz und
durchaus Allgemeingültige entſtehen kann.
Ein Verſuch dieſer Art hat die Geſchichte der neueren Poeſie
begonnen, es iſt die göttliche Komödie des Dante, die ſo unbe-
griffen und unverſtanden daſteht, weil ſie in der Folge der Zeit einzeln
geblieben iſt, und von der Identität aus, welche dieſes Gedicht be-
zeichnete, die Poeſie ſowohl als allgemeine Bildung ſich nach ſo vielen
Seiten zerſtreut hat, daß es nur noch durch das Symboliſche der Form
allgemein gültig, durch die Ausſchließung aber ſo vieler Seiten neuerer
Bildung ſelbſt wieder einſeitig geworden iſt.
Die göttliche Komödie des Dante iſt ſo ganz abgeſchloſſen in ſich,
daß die von den andern Gattungen abſtrahirte Theorie für ſie durchaus
unzureichend iſt. Sie fordert ihre eigne Theorie, ſie iſt ein Weſen
einer eignen Gattung, eine Welt für ſich. Sie bezeichnet eine Stufe,
wohin ſich nach Maßgabe der übrigen Verhältniſſe die ſpätere Poeſie
nicht wieder erſchwungen hat. Ich verhehle meine Ueberzeugung nicht,
daß dieſes Gedicht, ſo viel partiell Wahres darüber geſagt worden iſt,
doch allgemein und in ſeiner wahrhaft ſymboliſchen Bedeutung noch
nicht erkannt iſt, daß es noch keine Theorie, keine Conſtruktion dieſes
Gedichtes gibt. Schon darum iſt es einer ganz beſondern Betrachtung
würdig. Es kann mit nichts anderem zuſammengeſtellt, unter keine der
andern Gattungen ſubſumirt werden; es iſt nicht Epos, es iſt nicht
Lehrgedicht, es iſt nicht Roman im eigentlichen Sinn, es iſt ſelbſt nicht
Komödie oder Drama, wie es Dante ſelbſt benennt hat; es iſt die
[687] unauflöslichſte Miſchung, die vollkommenſte Durchdringung von allem;
es iſt nicht als dieſes einzelne (denn inſofern eignet auch dieſes
Gedicht der Zeit), aber es iſt als Gattung allgemeinſter Repräſentant
der modernen Poeſie, nicht ein einzelnes Gedicht, ſondern das Gedicht
aller Gedichte, die Poeſie der modernen Poeſie ſelbſt.
Dieß iſt der Grund, warum ich die göttliche Komödie des Dante
zum Gegenſtand einer beſondern Betrachtung mache, ſie unter keine
Gattung ſubſumire, ſondern hiemit als Gattung für ſich ſelbſt con-
ſtituire. 1
Von dem epiſchen Gedicht, welches wir bisher ſowohl an ſich ſelbſt
als in den Gattungen, die es durch Miſchung mit andern Formen
bildet, betrachtet haben — von dem epiſchen Gedicht als der Identität
ging die Poeſie aus, gleichſam als von einem Stande der Unſchuld,
wo alles noch beiſammen und eins iſt, was ſpäter nur zerſtreut exiſtirt,
oder nur aus der Zerſtreuung wieder zur Einheit kommt. Dieſe Iden-
tität entzündete ſich im Fortgang der Bildung im lyriſchen Gedicht zum
Widerſtreit, und erſt die reifſte Frucht der ſpäteren Bildung war es,
wodurch, auf einer höheren Stufe, die Einheit ſelbſt mit dem Wider-
ſtreit ſich verſöhnte, und beide wieder in einer vollkommneren Bildung
eins wurden. Dieſe höhere Identität iſt das Drama, welches, die
Naturen beider entgegengeſetzten Gattungen in ſich begreifend, die höchſte
Erſcheinung des An-ſich und des Weſens aller Kunſt iſt.
So geſetzmäßig iſt der Gang aller natürlichen Bildung, daß, was
die letzte Syntheſe der Idee nach, die Vereinigung aller Gegenſätze
zur Totalität iſt, auch die letzte Erſcheinung der Zeit nach iſt.
Daß der allgemeine Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen für
die Kunſt in der höchſten Potenz ſich als Gegenſatz der Nothwendigkeit
[688] und der Freiheit ausdrücke, iſt im Allgemeinen ſchon beim lyriſchen
und epiſchen Gedicht bewieſen worden. Aber die Poeſie hat überhaupt
und in ihren höchſten Formen insbeſondere dieſen Gegenſatz ohne Zweifel
in der höchſten Potenz, alſo als Gegenſatz von Nothwendigkeit und
Freiheit darzuſtellen.
Im lyriſchen Gedicht iſt, wie geſagt, dieſer Widerſtreit, aber ſo
daß er als Streit und als Aufhebung des Streits nur im Subjekt iſt
und ins Subjekt zurückfällt; daher im Ganzen das lyriſche Gedicht
wieder vorzugsweiſe den Charakter der Freiheit an ſich hat.
Im epiſchen Gedicht iſt überhaupt kein Widerſtreit; hier herrſcht
die Nothwendigkeit als die Identität, nur daß ſie, wie ſchon bemerkt,
eben weil kein Streit iſt, auch nicht als Nothwendigkeit, inwiefern dieſe
Schickſal iſt, ſondern in der Identität mit der Freiheit, ſogar zum
Theil als Zufall, erſcheinen kann. Das epiſche Gedicht geht durchaus
mehr auf den Erfolg als auf die That. Im Erfolg kommt die
Nothwendigkeit oder das Glück der Freiheit zu Hülfe, und führt aus
was die Freiheit nicht ausführen kann. Hier alſo iſt die Nothwendigkeit
mit der Freiheit einſtimmig ohne alle Differenz. Deßwegen kann der
Held im Epos nicht unglücklich enden, ohne die Natur dieſer Dichtart
aufzuheben. Achill, wenn die Hauptperſon der Ilias, kann nicht über-
wunden werden, ſowie Hektor, weil er überwunden werden kann, nicht
der Held der Ilias ſeyn kann. Aeneas iſt nur als Eroberer von La-
tium und Gründer von Rom Held einer Epopee.
Wenn wir behaupten, daß im Epos die Identität oder die Noth-
wendigkeit das Herrſchende ſey, ſo könnte man einwenden, daß ſie ihre
Kraft weit mehr beweiſen würde, wenn ſie das, was die Freiheit nicht
wollte, ausführte, als wenn ſie umgekehrt mit der Freiheit eins iſt und
ausführt, was dieſe beginnt. Allein 1) kann die Nothwendigkeit im Epos
nicht mit der Freiheit im Bunde erſcheinen, ohne von der andern Seite
gegen ſie zu wirken. Achill iſt nicht Sieger, ohne daß Hektor unter-
liegt. 2) Wenn die Nothwendigkeit auf die angegebene Weiſe im Streit
gegen die Freiheit erſchiene, daß ſie dasjenige wollte, dem dieſe wider-
ſtrebt, ſo würde der Held der Nothwendigkeit entweder unterliegen,
[689] oder ſich über ſie erheben. Im erſten Fall aber würde der Haupt-
held unterliegen, im andern würde vielmehr die Freiheit ihre Ueber-
macht über die Nothwendigkeit beweiſen, welches aber nicht der Fall
ſeyn ſoll.
Wir können alſo als ausgemacht Folgendes annehmen. Im lyri-
ſchen Gedicht iſt ein Widerſtreit, aber ſelbſt bloß ein ſubjektiver; es
kommt überhaupt nicht zum objektiven Conflikt mit der Nothwendigkeit.
Im epiſchen Gedicht herrſcht nur die Nothwendigkeit, die inſofern
mit dem Subjekt eins ſeyn muß als, ohne dieß, einer von den beiden
Fällen eintreten müßte; und ſo alſo auch muß Unglück, inwiefern es
auf der einen Seite ſtattfindet, durch ein verhältnißmäßiges Glück auf
der andern erſetzt werden.
Wenn wir nun dieſen Grundſätzen zufolge ganz allgemein, und
ohne noch irgend eine beſondere Form vor Augen zu haben, fragen,
von welcher Art dasjenige Gedicht ſeyn müßte, welches als die Tota-
lität die Syntheſe der beiden entgegengeſetzten Formen wäre, ſo ergibt
ſich gleich unmittelbar als erſte Beſtimmung folgende: es muß in dem
Gedicht dieſer Art ein wirklicher und demnach objektiver Widerſtreit
beider, der Freiheit und der Nothwendigkeit, da ſeyn, und zwar ſo daß
beide als ſolche erſcheinen.
Es kann alſo in einem Gedicht, wie das angenommne, weder ein
bloß ſubjektiver Streit noch auch eine reine Nothwendigkeit — die
inſofern mit dem Subjekt befreundet iſt, und bloß darum aufhört
Nothwendigkeit zu ſeyn — ſondern nur eine mit der Freiheit wirk-
lich im Kampf begriffene Nothwendigkeit, und dennoch ſo, daß ein
Gleichgewicht beider, dargeſtellt werden. Es fragt ſich nur, wie dieß
möglich ſey.
Kein wahrhafter Streit iſt, wo nicht die Möglichkeit obzuſiegen
auf beiden Seiten iſt. Aber dieſe ſcheint in dem angenommenen Fall
von beiden Seiten undenkbar: denn keines von beiden iſt wahrhaft über-
windlich; die Nothwendigkeit nicht, denn, würde ſie überwunden, ſo
wäre ſie nicht Nothwendigkeit; die Freiheit nicht, denn ſie iſt eben deß-
wegen Freiheit, weil ſie nicht überwunden werden kann. Aber ſelbſt
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 44
[690] wenn es dem Begriff nach möglich wäre, daß dieſe oder jene unterläge,
ſo wäre es nicht poetiſch möglich; denn es wäre nicht ohne abſolute
Disharmonie möglich.
Daß die Freiheit von der Nothwendigkeit überwunden würde, iſt
ein durchaus widriger Gedanke, aber ebenſowenig können wir wollen,
daß die Nothwendigkeit von der Freiheit überwunden werde, weil uns
dieß den Anblick der höchſten Geſetzloſigkeit gibt. Es bleibt alſo in
dieſem Widerſpruch ſchon von ſelbſt nichts übrig als daß beide, Noth-
wendigkeit und Freiheit, aus dieſem Streit zugleich als ſiegend und als
beſiegt, und demnach in jeder Rückſicht gleich hervorgehen. Aber eben
dieß iſt ohne Zweifel die höchſte Erſcheinung der Kunſt, daß die Freiheit
ſich zur Gleichheit mit der Nothwendigkeit erhebe, und der Freiheit da-
gegen, ohne daß dieſe etwas dadurch verliere, die Nothwendigkeit gleich
erſcheine; denn nur in dieſem Verhältniß wird jene wahre und abſolute
Indifferenz, die im Abſoluten iſt, und die nicht auf einem Zugleich-
ſondern auf einem Gleichſeyn beruht, objektiv. Denn Freiheit und
Nothwendigkeit können, ſowenig als Endliches und Unendliches, anders
als in der gleichen Abſolutheit eins werden.
Die höchſte Erſcheinung der Kunſt iſt alſo, da Freiheit und
Nothwendigkeit die höchſten Ausdrücke des Gegenſatzes ſind, der
der Kunſt überhaupt zu Grunde liegt, — diejenige, worin die Noth-
wendigkeit ſiegt, ohne daß die Freiheit unterliegt, und hinwiederum die
Freiheit obſiegt, ohne daß die Nothwendigkeit beſiegt wird.
Es fragt ſich nun, wie auch dieſes möglich ſey.
Nothwendigkeit und Freiheit müſſen, als allgemeine Begriffe, in
der Kunſt nothwendig ſymboliſch erſcheinen, und da nur die menſchliche
Natur, indem ſie von der einen Seite der Nothwendigkeit unterworfen
iſt, von der anderen der Freiheit fähig iſt, ſo müſſen beide an und
durch die menſchliche Natur ſymboliſirt werden, die ſelbſt wieder durch
Individuen dargeſtellt werden muß, die als Naturen, in welchen Frei-
heit und Nothwendigkeit in Verbindung ſind, Perſonen heißen. Aber
eben auch nur in der menſchlichen Natur finden ſich die Bedingungen
der Möglichkeit, daß die Nothwendigkeit ſiege, ohne daß die Freiheit
[691] unterliege, und umgekehrt die Freiheit überwinde, ohne daß der Gang
der Nothwendigkeit unterbrochen werde. Denn dieſelbe Perſon, welche
durch die Nothwendigkeit unterliegt, kann ſich durch die Geſinnung
wieder über ſie erheben, ſo daß beide, beſiegt und ſiegend zugleich, in
ihrer höchſten Indifferenz erſcheinen.
Im Allgemeinen alſo iſt die menſchliche Natur das einzige Mittel
der Darſtellung jenes Verhältniſſes. Es fragt ſich aber, in welchen
Verhältniſſen die menſchliche Natur ſelbſt fähig ſey jene Macht der
Freiheit zu zeigen, die, unabhängig von der Nothwendigkeit, zugleich,
indem dieſe triumphirt, ſiegreich ihr Haupt erhebt.
Ueber alles Günſtige, dem Subjekt Angemeſſene wird die Freiheit
mit der Nothwendigkeit einig ſeyn. Im Glück kann alſo die Freiheit
weder im wahren Widerſtreit noch in der wahren Gleichheit mit der
Nothwendigkeit erſcheinen. Nur dann wird ſie auf dieſe Weiſe offenbar,
wenn die Nothwendigkeit das Ueble verhängt, und die Freiheit, ſich
über dieſen Sieg erhebend, freiwillig das Uebel übernimmt, ſofern
es nothwendig iſt, ſich alſo als Freiheit dennoch der Nothwendigkeit
gleichſtellt.
Jene höchſte Erſcheinung der menſchlichen Natur durch die Kunſt
wird alſo nie möglich ſeyn, als wo die Tapferkeit und Größe der Ge-
ſinnung über das Unglück ſiegt, und aus dem Kampf, welcher das
Subjekt zu vernichten droht, die Freiheit als abſolute Freiheit, für die
es keinen Widerſtreit gibt, hervorgeht.
Aber ferner: welcher Art und Form wird die Darſtellung dieſer
Erhebung der Freiheit zur vollkommenen Gleichheit mit der Nothwen-
digkeit ſeyn müſſen? — Im epiſchen Gedicht wird die reine Noth-
wendigkeit, die deßwegen ſelbſt nicht als Nothwendigkeit erſcheint,
weil Nothwendigkeit nur ein durch Gegenſatz beſtimmbarer Begriff iſt
— es wird die reine Identität als ſolche dargeſtellt. Die Nothwen-
digkeit aber iſt ſich ſelbſt gleich und beſtändig, ſo daß auch der Ge-
danke der Nothwendigkeit in dem Sinn, in welchem ſie im epiſchen
Gedicht herrſchend iſt, als einer ewig gleichmäßig fließenden Iden-
tität, keine Bewegung der Seele verurſacht, ſondern ſie ganz ruhig
[692] läßt. Nur da bewegt ſie die Seele, wo wirklich Widerſtreit gegen ſie
iſt. Aber in der Art von Darſtellung, die wir vorausſetzen, ſoll ja
der Widerſtreit erſcheinen, nur nicht ſubjektiv — denn ſonſt wäre das
Gedicht lyriſch — ſondern objektiv; aber auch nicht objektiv wie im
epiſchen Gedicht, ſo daß das Gemüth dabei ruhig und unbewegt bleibt.
Es iſt alſo nur Eine mögliche Darſtellung, bei welcher das Darzuſtellende
ebenſo objektiv als im epiſchen Gedicht, und doch das Subjekt ebenſo
bewegt iſt als im lyriſchen Gedicht: es iſt nämlich die, wo die Hand-
lung nicht in der Erzählung, ſondern ſelbſt und wirklich vorgeſtellt
wird (das Subjektive objektiv dargeſtellt wird). Die vorausgeſetzte
Gattung, welche die letzte Syntheſe aller Poeſie ſeyn ſollte, iſt alſo
das Drama.
Um noch bei dieſem Gegenſatz des Drama als einer wirklich vor-
geſtellten Handlung mit dem Epos zu verweilen, ſo iſt wenn im Epos
die reine Identität oder Nothwendigkeit herrſchen ſoll, ein Erzähler
nothwendig, der durch den Gleichmuth ſeiner Erzählung ſelbſt von der
allzugroßen Theilnahme an den handelnden Perſonen beſtändig zurück-
rufe, und ihre Aufmerkſamkeit auf den reinen Erfolg ſpanne. Die-
ſelbe Begebenheit, welche, epiſch dargeſtellt, nur das objektive Intereſſe
am Erfolg läßt, würde, dramatiſch repräſentirt, unmittelbar das an
den Perſonen damit vermiſchen, und dadurch die reine Objektivität der
Anſchauung aufheben. Der Erzähler, da er den handelnden Perſonen
fremd iſt, geht den Zuhörern in der gemäßigten Betrachtung nicht nur
voran und ſtimmt ſie durch die Erzählung ſelbſt dazu, ſondern er tritt
auch gleichſam an die Stelle der Nothwendigkeit, und da dieſe ihr Ziel
nicht ſelbſt ausſprechen kann, leitet er die Zuhörer darauf hin. Im
dramatiſchen Gedicht dagegen, weil es die Natur der beiden entgegen-
geſetzten Gattungen vereinigen ſoll, muß außer dem Antheil an der
Begebenheit auch noch die Theilnahme an den Perſonen hinzukommen;
nur durch dieſe Verbindung der Begebenheiten mit der Theilnahme
an Perſonen wird ſie Handlung und That. Thaten aber, um das
Gemüth zu bewegen, müſſen angeſchaut werden, ebenſo, wie Begeben-
heiten, um das Gemüth ruhiger zu laſſen, erzählt ſeyn müſſen. Thaten
[693] gehen zum Theil aus inneren Zuſtänden der Ueberlegung, der Leiden-
ſchaften u. ſ. w. hervor, die, weil ſie an ſich ſubjektiv ſind, nicht anders
objektiv dargeſtellt werden können, als inwiefern das Subjekt, in dem
ſie vorgehen, ſelbſt vor Augen geſtellt wird. Begebenheiten laſſen die
inneren Zuſtände weniger erſcheinen und berühren ſie weniger, in-
dem ſie den Gegenſtand ſowohl als den Zuſchauer mehr nach außen
reißen.
Wir haben, wie von ſelbſt klar iſt, das Drama gleich unmittelbar
als Tragödie abgeleitet; inſofern alſo die andere Form der Komödie,
wie es ſcheint, ausgeſchloſſen. Das erſte war nothwendig. Denn das
Drama überhaupt kann nur aus einem wahren und wirklichen Streit
der Freiheit und Nothwendigkeit, der Differenz und Indifferenz hervor-
gehen: es iſt damit freilich nicht geſagt, auf welcher Seite die
Freiheit, und auf welcher die Nothwendigkeit liegt; aber die urſprüngliche
und abſolute Erſcheinung dieſes Streits iſt doch die, wo die Nothwen-
digkeit das Objektive, die Freiheit das Subjektive iſt; und dieß das
Verhältniß der Tragödie. Dieſe iſt alſo das Erſte und die Komödie
das andere, denn ſie entſpringt durch eine bloße Umkehrung der
Tragödie.
Ich werde daher jetzt ferner auf gleiche Weiſe fortfahren, die
Tragödie dem Weſen und der Form nach zu conſtruiren. Das Meiſte,
was von der Form der Tragödie gilt, gilt auch von der der Komödie,
und was ſich daran durch die Umkehrung des Weſentlichen mit ver-
ändert, wird ſich nachher ſehr beſtimmt angeben laſſen.
Von der Tragödie.
Das Weſentliche der Tragödie iſt alſo ein wirklicher Streit
der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher
Streit ſich nicht damit endet, daß der eine oder der andere unterliegt,
ſondern daß beide ſiegend und beſiegt zugleich in der vollkommenen
Indifferenz erſcheinen. Wir haben noch genauer als bisher zu be-
ſtimmen, auf welche Weiſe dieß der Fall ſeyn könne.
[694]
Nur da, wo die Nothwendigkeit das Uebele verhängt, bemerkten
wir, könne ſie mit der Freiheit wahrhaft im Streit erſcheinen.
Aber eben von welcher Art dieſes Uebel ſeyn müſſe, um der Tra-
gödie angemeſſen zu ſeyn, iſt die Frage. Bloß äußeres Unglück kann
nicht dasjenige ſeyn, welches den wahrhaft tragiſchen Widerſtreit hervor-
bringt. Denn daß die Perſon über äußeres Unglück ſich erhebe, fordern
wir ſchon von ſelbſt, und ſie wird uns nur verächtlich, wenn ſie es
nicht vermag. Der Held, der wie Ulyß auf der Heimkehr eine Kette
von Unglücksfällen und vielfältiges Ungemach bekämpft, erweckt unſre
Bewunderung, und wir folgen ihm mit Luſt, aber er hat für uns kein
tragiſches Intereſſe, weil das Widerſtrebende durch eine gleiche Kraft,
nämlich durch phyſiſche Stärke oder durch Verſtand und Klugheit be-
zwungen werden kann. Aber ſelbſt Unglück, wogegen keine menſchliche
Hülfe möglich iſt, z. B. unheilbare Krankheit, Verluſt der Güter und
dergl., hat, ſofern es bloß phyſiſch iſt, kein tragiſches Intereſſe; denn
es iſt eine nur noch untergeordnete und nicht die Schranken des Noth-
wendigen ſelbſt überſchreitende Wirkung der Freiheit, ſolche Uebel, die
nicht zu ändern ſind, mit Geduld zu ertragen.
Ariſtoteles in der Poetik 1 ſtellt folgende Fälle des Glückwechſels
auf: 1) daß ein gerechter Mann aus dem Zuſtand des Glücks in Un-
glück verfalle; er ſagt ſehr richtig, daß dieß weder ſchrecklich noch be-
mitleidenswürdig, ſondern nur abſcheulich und darum zum tragiſchen
Stoff untauglich ſey; 2) daß ein Ungerechter aus widrigem Glück in
günſtiges übergehe. Dieß ſey am wenigſten tragiſch; 3) daß ein in
hohem Grade Ungerechter oder Laſterhafter aus glücklichem Zuſtand in
unglücklichen verſetzt werde. Dieſe Zuſammenſetzung könne zwar die
Menſchenliebe berühren, aber weder Mitleid noch Schrecken hervor-
bringen. Es bliebe alſo nur ein mittlerer Fall übrig, nämlich daß ein
Solcher Gegenſtand der Tragödie ſey, welcher weder durch Tugend
und Gerechtigkeit vorzüglich ausgezeichnet, noch auch durch Laſter und
Verbrechen ins Unglück falle, ſondern durch einen Irrthum, und daß
[695] derjenige, dem dieß begegnet, von ſolchen ſey, die zuvor im großen
Glück und Anſehen geſtanden, wie Oedipus, Thyeſtes u. a. Ariſtoteles
ſetzt hinzu, daß aus dieſem Grunde, da vor Zeiten die Dichter alle mög-
lichen Fabeln auf die Bühne gebracht haben, jetzt — zu ſeiner Zeit —
die beſten Tragödien ſich auf wenige Familien beſchränken, wie auf den
Oedipus, Oreſtes, Thyeſtes, Telephos und diejenigen, denen überhaupt
begegnet wäre Großes zu leiden oder zu verüben.
Ariſtoteles hat, wie die Poeſie überhaupt, ſo insbeſondere auch
die Tragödie mehr von der Verſtandes- als von der Vernunft-Seite
angeſehen. Von der erſten betrachtet hat er den einzig höchſten Fall
der Tragödie vollkommen bezeichnet. Derſelbe Fall aber hat in allen
den Beiſpielen, welche er ſelbſt anführt, noch eine höhere Anſicht. Es
iſt die, daß die tragiſche Perſon nothwendig eines Verbrechens
ſchuldig ſey (und je höher die Schuld iſt, wie die des Oedipus, deſto
tragiſcher oder verwickelter). Dieß iſt das höchſte denkbare Unglück,
ohne wahre Schuld durch Verhängniß ſchuldig zu werden.
Es iſt alſo nothwendig, daß die Schuld ſelbſt wieder Noth-
wendigkeit, und nicht ſowohl, wie Ariſtoteles ſagt, durch einen Irr-
thum, als durch den Willen des Schickſals und ein unvermeidliches
Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen ſey. Von dieſer
Art iſt die Schuld des Oedipus. Ein Orakel weiſſagt dem Lajos,
es ſey im Schickſal ihm vorherbeſtimmt, von der Hand ſeines und der
Jokaſte Sohns erſchlagen zu werden. Der kaum geborene Sohn wird
nach drei Tagen an den Füßen gebunden in einem unwegſamen Ge-
birg ausgeſetzt. Ein Schäfer auf dem Gebirge findet das Kind oder
erhält es aus den Händen eines Sclaven von Lajos Hauſe. Jener
bringt das Kind in das Haus des Polybos, des angeſehenſten Bürgers
von Korinth, wo es wegen der angeſchwollenen Füße den Namen Oedipus
erhält. Oedipus als er ins Jünglichsalter tritt, wird durch die Frechheit
eines anderen, der ihn beim Trunk einen Baſtard nennt, aus dem
vermeinten elterlichen Hauſe fortgetrieben, und in Delphoi das Orakel
wegen ſeiner Abkunft fragend erhält er darauf keine Antwort, wohl
aber die Verkündung, er werde ſeiner Mutter beiwohnen, ein verhaßtes
[696] und den Menſchen unerträgliches Geſchlecht zeugen, und den eignen
Vater erſchlagen. Dieß gehört ſagt er, um ſein Schickſal zu meiden,
Korinth auf ewig Lebewohl, und beſchließt bis dahin zu fliehen, wo er
jene geweiſſagten Verbrechen niemals begehen könnte. Auf der Flucht
begegnet er ſelbſt Lajos ohne zu wiſſen, daß es Lajos und der König
von Thebe iſt, und erſchlägt ihn im Streit. Auf dem Weg nach
Thebe befreit er die Gegend von dem Ungeheuer der Sphinx und kommt
in die Stadt, wo beſchloſſen war, daß wer ſie erlegen würde, König
ſeyn und Jokaſte zur Gemahlin haben ſollte. So vollendet ſich
das Schickſal des Oedipus, ihm ſelbſt unbewußt; er heirathet ſeine
Mutter und zeugt das unglückliche Geſchlecht ſeiner Söhne und Töchter
mit ihr.
Ein ähnliches, obwohl nicht ganz gleiches Schickſal iſt das
der Phädra, welche durch den, von der Paſiphaë her, entbrannten
Haß der Venus gegen ihr Geſchlecht zur Liebe des Hippolytus ent-
flammt wird.
Wir ſehen alſo, daß der Streit von Freiheit und Nothwendigkeit
wahrhaft nur da iſt, wo dieſe den Willen ſelbſt untergräbt, und die
Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft wird.
Man hat, anſtatt einzuſehen, daß dieſes Verhältniß das einzig
wahrhaft tragiſche iſt, mit dem kein anderes verglichen werden kann,
wo das Unglück nicht im Willen und in der Freiheit ſelbſt liegt, vielmehr
gefragt, wie die Griechen dieſe ſchrecklichen Widerſprüche ihrer Tragö-
dien haben ertragen können. Ein Sterblicher, vom Verhängniß zur
Schuld und zum Verbrechen beſtimmt, ſelbſt wie Oedipus gegen das
Verhängniß kämpfend, die Schuld fliehend, und doch fürchterlich be-
ſtraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schickſals war. Sind,
frug man, dieſe Widerſprüche nicht rein zerreißend, und wo liegt der
Grund der Schönheit, welche die Griechen in ihren Tragödien nichts
deſto weniger erreicht haben? — Die Antwort auf dieſe Frage iſt folgende.
Daß ein wahrhafter Streit von Freiheit und Nothwendigkeit nur in
dem angegebenen Fall ſtattfinden kann, wo der Schuldige durch das
Schickſal zum Verbrecher gemacht iſt, iſt bewieſen. Daß aber der
[697] Schuldige, der doch nur der Uebermacht des Schickſals unterlag, dennoch
beſtraft wurde, war nöthig, um den Triumph der Freiheit zu zeigen,
war Anerkennung der Freiheit, Ehre, die ihr gebührte. Der Held
mußte gegen das Verhängniß kämpfen, ſonſt war überhaupt kein Streit,
keine Aeußerung der Freiheit; er mußte in dem, was der Nothwendigkeit
unterworfen iſt, unterliegen, aber um die Nothwendigkeit nicht über-
winden zu laſſen, ohne ſie zugleich wieder zu überwinden, mußte der
Held auch für dieſe — durch das Schickſal verhängte — Schuld frei-
willig büßen. Es iſt der größte Gedanke und der höchſte Sieg der
Freiheit, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu
tragen, um ſo im Verluſt ſeiner Freiheit ſelbſt eben dieſe Freiheit
zu beweiſen, und noch mit einer Erklärung des freien Willens unter-
zugehen.
Dieß, wie es hier ausgeſprochen iſt, und wie ich es ſchon in den
Briefen über Dogmatismus und Kriticismus gezeigt habe, 1 iſt der
innerſte Geiſt der griechiſchen Tragödie. Dieß iſt der Grund der Ver-
ſöhnung und der Harmonie, die in ihnen liegt, daß ſie uns nicht zer-
riſſen, ſondern geheilt, und wie Ariſtoteles ſagt, gereinigt zurücklaſſen.
Die Freiheit als bloße Beſonderheit kann nicht beſtehen: dieß iſt
möglich nur, inwiefern ſie ſich ſelbſt zur Allgemeinheit erhebt, und alſo
über die Folge der Schuld mit der Nothwendigkeit in Bund tritt, und
da ſie das Unvermeidliche nicht vermeiden kann, die Wirkung davon
ſelbſt über ſich verhängt.
Ich ſage: dieß iſt auch das einzig wahrhaft Tragiſche in der
Tragödie. Nicht der unglückliche Ausgang allein. Denn wie kann man
überhaupt den Ausgang unglücklich nennen, z. B. wenn der Held frei-
willig das Leben hingibt, das er nicht mehr mit Würde führen kann,
oder wenn er andere Folgen ſeiner unverſchuldeten Schuld auf ſich
ſelbſt herbeizieht, wie Oedipus bei Sophokles thut, der nicht ruht, bis
er das ganze ſchreckliche Gewebe ſelbſt entwickelt und das ganze furcht-
bare Verhängniß ſelbſt an den Tag gebracht hat?
[698]
Wie kann man den unglücklich nennen, der ſo weit vollendet iſt,
der Glück und Unglück gleicherweiſe ablegt und in demjenigen Zuſtand
der Seele iſt, wo es für ihn keines von beiden mehr iſt?
Unglück iſt nur, ſo lange der Wille der Nothwendigkeit noch
nicht entſchieden und offenbar iſt. Sobald der Held ſelbſt im Klaren
iſt, und ſein Geſchick offen vor ihm daliegt, gibt es für ihn keinen
Zweifel mehr, oder wenigſtens darf es für ihn keinen mehr geben, und
eben im Moment des höchſten Leidens geht er zur höchſten Befreiung
und die höchſte Leidensloſigkeit über. Von dem Augenblick an erſcheint
die nicht zu überwältigende Macht des Schickſals, die abſolut-groß
ſchien, nur noch relativ-groß; denn ſie wird von dem Willen über-
wunden, und zum Symbol des abſolut Großen, nämlich der erhabenen
Geſinnung.
Die tragiſche Wirkung beruht daher keineswegs allein oder zunächſt
auf dem, was man den unglücklichen Ausgang zu nennen pflegt. Die
Tragödie kann auch mit vollkommener Verſöhnung nicht nur mit dem Schick-
ſal, ſondern ſelbſt mit dem Leben enden, wie Oreſt in den Eumeniden des
Aeſchylos verſöhnt wird. Auch Oreſt war durch das Schickſal und den
Willen eines Gottes, nämlich Apollos, zum Verbrecher beſtimmt. Aber
dieſe Schuldloſigkeit nimmt die Strafe nicht hinweg; er entflieht aus dem
väterlichen Hauſe und erblickt gleich unmittelbar die Eumeniden, die ihn
ſelbſt bis in den geheiligten Tempel des Apollon verfolgen, wo ſie, die
ſchlafen, der Schatten der Klytämneſtra erweckt. Die Schuld kann nur
durch wirkliche Sühnung von ihm genommen werden, und auch der
Areopag, an welchen Apoll ihn verweist, und vor dem er ſelbſt ihm
beiſteht, muß gleiche Stimmen in die beiden Urnen legen, damit die
Gleichheit der Nothwendigkeit und der Freiheit vor der ſittlichen Stim-
mung bewahrt werde. Nur der weiße Stein, den Pallas der Los-
ſprechungsurne zuwirft, befreit ihn, aber auch dieſes nicht, ohne daß
zugleich die Göttinnen des Schickſals und der Nothwendigkeit, die
rächenden Erinnyen, verſöhnt und von nun an unter dem Volk der
Athene als göttliche Mächte verehrt werden und in ihrer Stadt ſelbſt
und gegenüber von der Burg, auf der ſie thront, einen Tempel haben.
[699]
Ein ſolches Gleichgewicht des Rechts und der Menſchlichkeit, der
Nothwendigkeit und der Freiheit ſuchten die Griechen in ihren Tragödien,
ohne welches ſie ihren ſittlichen Sinn nicht befriedigen konnten, ſowie
ſich in dieſem Gleichgewicht ſelbſt die höchſte Sittlichkeit ausgedrückt hat.
Eben dieſes Gleichgewicht iſt die Hauptſache der Tragödie. Daß das
überlegte und freie Verbrechen geſtraft wird, iſt nicht tragiſch. Daß
ein Schuldloſer durch Schickung unvermeidlich fortan ſchuldig werde,
iſt, wie geſagt, an ſich das höchſte denkbare Unglück. Aber daß
dieſer ſchuldloſe Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß iſt
das Erhabene in der Tragödie, dadurch erſt verklärt ſich die Freiheit
zur höchſten Identität mit der Nothwendigkeit.
Nachdem wir das Weſen und den wahren Gegenſtand der Tragödie
durch das Bisherige beſtimmt haben, ſo iſt es nöthig, zunächſt von der
inneren Conſtruktion der Tragödie, und alsdann von der äußeren
Form derſelben zu handeln.
Da dasjenige, was in der Tragödie der Freiheit entgegengeſetzt
wird, die Nothwendigkeit iſt, ſo erhellt von ſelbſt, daß in der Tragödie
durchaus dem Zufall nichts zugegeben werden darf. Denn ſelbſt die
Freiheit, ſofern ſie die Verwicklung durch ihre Handlungen hervorbringt,
erſcheint doch in dieſer Beziehung als durch Schickſal getrieben. Es
könnte zufällig ſcheinen, daß Oedipus dem Lajos an einer beſtimmten
Stelle begegnet, allein wir ſehen aus dem Verlauf, daß dieſe Begeben-
heit zur Erfüllung des Schickſals nothwendig war. Inwiefern aber ihre
Nothwendigkeit nur durch die Entwicklung kann eingeſehen werden, in-
ſofern iſt ſie eigentlich auch nicht Theil der Tragödie und wird in die
Vergangenheit verlegt. Uebrigens aber erſcheint, im Oedipus z. B.,
alles, was zur Vollführung des in dem erſten Orakel Verkündeten
gehört, eben durch dieſe Vorherverkündigung nothwendig und im
Licht einer höheren Nothwendigkeit. Was aber die Handlungen der
Freiheit betrifft, ſofern dieſe erſt auf die geſchehenen Schläge des Schick-
ſals folgen, ſo ſind auch dieſe nicht zufällig, eben deßwegen weil ſie
aus abſoluter Freiheit geſchehen, und die abſolute Freiheit ſelbſt abſolute
Nothwendigkeit iſt.
[700]
Da ſelbſt alle empiriſche Nothwendigkeit nur empiriſch Nothwen-
digkeit, an ſich betrachtet aber Zufälligkeit iſt, ſo kann die ächte Tra-
gödie auch nicht auf empiriſche Nothwendigkeit gegründet ſeyn. Alles,
was empiriſch nothwendig iſt, iſt, weil ein anderes iſt, wodurch es möglich
iſt, aber dieſes andere ſelbſt iſt ja nicht an ſich nothwendig, ſondern
wieder durch ein anderes. Die empiriſche Nothwendigkeit würde aber
die Zufälligkeit nicht aufheben. Diejenige Nothwendigkeit, die in der
Tragödie erſcheint, kann demnach einzig abſoluter Art und eine ſolche
ſeyn, die empiriſch vielmehr unbegreiflich als begreiflich iſt. Inwiefern
ſelbſt, um die Verſtandesſeite nicht zu vernachläſſigen, eine empiriſche
Nothwendigkeit in der Aufeinanderfolge der Begebenheiten eingeführt
wird, muß dieſe doch ſelbſt nicht wieder empiriſch, ſondern nur abſolut
begriffen werden können. Die empiriſche Nothwendigkeit muß als Werk-
zeug der höheren und abſoluten erſcheinen; ſie muß nur dienen für die
Erſcheinung herbeizuführen, was in dieſer ſchon geſchehen iſt.
Hierher gehört nun auch das ſogenannte Motiviren, welches ein
Neceſſitiren oder Begründung der Handlung im Subjekt iſt, und welches
vornehmlich durch äußere Mittel geſchieht.
Die Grenze dieſes Motivirens iſt ſchon durch das Vorhergehende
beſtimmt. Soll es etwa auf das Herſtellen einer recht empiriſch-be-
greiflichen Nothwendigkeit gehen, ſo iſt es ganz verwerflich, beſonders
wenn ſich der Dichter dadurch zu der groben Faſſungskraft der Zuſchauer
herablaſſen will. Die Kunſt des Motivirens würde dann darin beſtehen,
dem Helden nur einen Charakter von recht großer Weite zu geben, aus
dem nichts auf abſolute Weiſe hervorgehen kann, in dem alſo alle
möglichen Motive ihr Spiel treiben können. Dieß iſt der gerade Weg,
den Helden ſchwach und als das Spiel äußerer Beſtimmungsgründe er-
ſcheinen zu laſſen. Ein ſolcher iſt nicht tragiſch. Der tragiſche Held
muß, in welcher Beziehung es ſey, eine Abſolutheit des Charakters haben,
ſo daß ihm das Aeußere nur Stoff iſt, und es in keinem Fall zweifel-
haft ſeyn kann, wie er handelt. Ja in Ermanglung des anderen Schick-
ſals müßte ihm der Charakter dazu werden. Von welcher Art auch der
äußere Stoff ſey, die Handlung muß immer aus ihm ſelbſt kommen.
[701]
Aber überhaupt muß gleich die erſte Conſtruktion der Tragödie,
der erſte Wurf ſo ſeyn, daß die Handlung auch in dieſer Rückſicht als
Eine und als ſtetig erſcheine, daß ſie nicht durch ganz verſchiedenartige
Motive mühſam fortgetrieben wird. Stoff und Feuer müſſen gleich ſo
combinirt ſeyn, daß das Ganze von ſelbſt fort brennt. Gleich das Erſte
der Tragödie ſey eine Syntheſis, eine Verwicklung, die nur ſo gelöst
werden kann, wie ſie gelöst wird, und für die ganze Folge keine Wahl
läßt. Welche Mittelglieder auch der Dichter ins Spiel ſetzen möge,
um die Handlung zu ihrem Ende zu leiten, ſo müſſen dieſe zuletzt ſelbſt
wieder aus dem über dem Ganzen ruhenden Verhängniß hervorgehen
und Werkzeuge von ihm ſcheinen. Widrigenfalls wird der Geiſt be-
ſtändig aus der höheren Ordnung der Dinge in die tiefere verſetzt, und
umgekehrt.
Die Begrenzung eines dramatiſchen Werks in Beziehung auf das,
was in ihm ſittlich-möglich iſt, wird durch das ausgedrückt, was man
die Sitten der Tragödie nennt. Was man urſprünglich darunter
verſtand, iſt ohne Zweifel die Stufe der ſittlichen Bildung, auf welche
die Perſonen eines Drama geſetzt, und wodurch gewiſſe Arten von
Handlungen von ihnen ausgeſchloſſen, dagegen die, welche geſchehen,
nothwendig gemacht ſind. Die erſte Forderung iſt nun ohne Zweifel
die, welche auch Ariſtoteles macht, daß ſie edler Art ſeyen, worunter
er nach dem, was früherhin als ſeine Behauptung über den einzig
höchſten tragiſchen Fall angeführt worden, nicht eben abſolut ſchuldloſe,
ſondern überhaupt edle und große Sitten fordert. Daß ein wirklicher,
aber durch Charakter großer Verbrecher vorgeſtellt wird, wäre bloß in
dem anderen tragiſchen Fall möglich, wo ein äußerſt ungerechter Menſch
aus dem Glück in Unglück geſtürzt würde. Unter denjenigen Tragödien
der Alten, die uns geblieben ſind, kenne ich keinen Fall dieſer Art, und
das Verbrechen, wenn es in der wahrhaft ſittlichen Tragödie vorgeſtellt
iſt, erſcheint immer ſelbſt durch Schickſal verhängt. Es iſt aber aus
dem Einen Grund, daß den Neueren das Schickſal fehlt, oder von
ihnen wenigſtens nicht auf die Weiſe der Alten in Bewegung geſetzt
werden kann, es iſt, ſage ich, ſchon daraus einzuſehen, warum die
[702] Neueren öfter zu dieſem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzu-
ſtellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die
Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen
Charakters zu legen, wie Shakeſpeare ſehr oft gethan hat. Da die
griechiſche Tragödie ſo ganz ſittlich und auf die höchſte Sittlich-
keit eigentlich gegründet iſt, ſo kann in ihr auch über die eigentlich
ſittliche Stimmung, wenigſtens in der letzten Inſtanz, keine Frage
mehr ſeyn.
Die Totalität der Darſtellung fordert, daß auch in den Sitten
der Tragödie Abſtufungen ſtattfinden, und beſonders Sophokles ver-
ſtand mit den wenigſten Perſonen nicht nur überhaupt die größte Wir-
kung, ſondern in dieſer Begrenzung auch eine geſchloſſene Totalität
der Sitten hervorzubringen.
In dem Gebrauch deſſen, was Ariſtoteles das ϑαυμαστόν,
das Außerordentliche nennt, unterſcheidet das Drama ſich ſehr weſentlich
von dem epiſchen Gedicht. Das epiſche Gedicht ſtellt einen glücklichen
Zuſtand dar, eine ungetheilte Welt, wo Götter und Menſchen eins
ſind. Hier iſt, wie wir ſchon ſagten, die Dazwiſchenkunft der Götter
nicht wunderbar, weil ſie zu dieſer Welt ſelbſt gehören. Das Drama
ruht ſchon mehr oder weniger auf einer getheilten Welt, indem es
Nothwendigkeit und Freiheit ſich entgegenſetzt. Hier würde die Erſchei-
nung der Götter, wofern ſie auf dieſelbe Weiſe wie im Epos ſtattfände,
den Charakter des Wunderbaren annehmen. Da nämlich im Drama
kein Zufall, und alles entweder äußerlich oder innerlich nothwendig
ſeyn ſoll, ſo könnten die Götter nur wegen einer Nothwendigkeit, die
in ihnen ſelbſt läge, alſo nur inſofern ſie ſelbſt mithandelnde oder wenig-
ſtens in die Handlung urſprünglich verwickelte Perſonen ſind, in ihr
erſcheinen, keineswegs aber um den handelnden Perſonen, vornehmlich
aber der Hauptperſon entweder zu Hülfe zu kommen, oder feindlich zu
begegnen (wie in der Ilias). Denn der Held der Tragödie ſoll und
muß den Kampf für ſich allein ausfechten; nur durch die ſittliche Größe
ſeiner Seele ſoll er ihn beſtehen, und die äußere Heilung und Hülfe,
welche Götter ihm gewähren können, genügt nicht einmal ſeinem
[703] Zuſtande. Sein Verhältniß kann ſich nur innerlich löſen, und wenn die
Götter, wie in den Eumeniden des Aeſchylos das verſöhnende Princip
ſind, ſo müſſen ſie ſelbſt zu den Bedingungen herabſteigen, unter welchen
der Menſch iſt; auch ſie können nicht verſöhnen oder erretten, als in-
wiefern ſie das Gleichgewicht der Freiheit und Nothwendigkeit herſtellen
und ſich mit den Gottheiten des Rechts und des Schickſals in Unter-
handlungen ſetzen. In dieſem Fall aber iſt in ihrer Erſcheinung nichts
Wunderbares, und die Errettung und Hülfe, die ſie ſchaffen, leiſten
ſie nicht als Götter, ſondern dadurch, daß ſie zu dem Loos der Menſchen
herabſteigen und ſich ſelbſt dem Recht und der Nothwendigkeit fügen.
Wenn aber Götter in der Tragödie feindlich wirken, ſo ſind ſie ſelbſt
das Schickſal; auch thun ſie es nicht in Perſon, ſondern auch ihre
feindliche Wirkung äußert ſich durch eine innere Nothwendigkeit im Han-
delnden, wie bei der Phädra.
Die Götter alſo in der Tragödie zu Hülfe zu rufen, um die
Handlung nur äußerlich zu enden, wahrhaft aber und innerlich zu unter-
brechen oder ungeſchloſſen zu laſſen, wäre für das ganze Weſen der
Tragödie zerſtörend. Dasjenige Uebel, was Götter als ſolche durch
ihre bloße Dazwiſchenkunft heilen können, iſt an ſich ſelbſt kein wahrhaft
tragiſches Uebel. Umgekehrt; wo ein ſolches vorhanden iſt, vermögen
ſie nichts, und wenn ſie dennoch herbeigerufen werden, ſo iſt dieß, was
man den Deus ex machina nennt, und was allgemein als everſiv für
das Weſen der Tragödie erkannt iſt.
Denn — um mit dieſer Beſtimmung die Unterſuchung über die
innere Conſtruktion der Tragödie zu vollenden — ſo muß die Handlung
nicht bloß äußerlich, ſondern innerlich, im Gemüth ſelbſt, geſchloſſen
werden, wie es eine innerliche Empörung iſt, welche das Tragiſche
eigentlich hervorbringt. Nur von dieſer inneren Verſöhnung aus geht
jene Harmonie, die wir zur Vollendung fordern. Schlechten Poeten ge-
nügt es die mühſam fortgeführte Handlung nur äußerlich zu ſchließen.
Ebenſowenig als dieß geſchehen darf, darf die Verſöhnung durch etwas
Fremdartiges, Außerordentliches, außer dem Gemüth und der Handlung
Liegendes geſchehen, als ob die Herbheit des wahren Schickſals durch
[704] irgend etwas anderes als die Größe und freiwillige Uebernahme und
Erhebung des Gemüths gemildert werden könnte. (Hauptmotiv der Ver-
ſöhnung die Religion, wie im Oedipus auf Kolonos. Höchſte Ver-
klärung wie ihn der Gott ruft: Horch, horch, Oedipus, warum zauderſt
du, und er dann den Augen der Sterblichen verſchwindet.)
Ich gehe nun zur äußeren Form der Tragödie fort.
Daß alſo die Tragödie nicht eine Erzählung, ſondern die wirklich-
objektive Handlung ſelbſt ſeyn müſſe, ergibt ſich aus dem erſten Begriff.
Aber aus dieſem folgt auch mit ſtrenger Nothwendigkeit die übrige Ge-
ſetzmäßigkeit der äußeren Form. Die Handlung, wenn ſie erzählt
wird, geht durch das Denken hindurch, welches ſeiner Natur nach das
freiſte iſt, und worin auch Entferntes ſich unmittelbar berührt. Die
Handlung, die objektiv-wirklich vorgeſtellt wird, wird angeſchaut, und
muß ſich alſo auch den Geſetzen der Anſchauung fügen. Dieſe aber
verlangt nothwendig die Stetigkeit. Stetigkeit der Handlung iſt demnach
die nothwendige Eigenſchaft jedes rationalen Dramas. Mit Veränderung
derſelben muß zugleich eine Veränderung in der ganzen übrigen Confor-
mation deſſelben eintreten: daher es freilich thöricht iſt, ſich an dieſes
Geſetz der alten Tragödie zu binden, wenn man ihr in keinem anderen
Zug auch nur von ferne nahe kommen kann, wie die Franzoſen in ihren
Stücken, die ſie abusive Tragödien nennen, die Stetigkeit der Zeit zu
beobachten. Aber die franzöſiſche Bühne beobachtet ſie nicht einmal,
außer inwiefern ſie ganz bloß beſchränkend iſt, dadurch, daß der Dichter
zwiſchen den Aufzügen Zeit verfließen läßt. Die Stetigkeit der Hand-
lung in dieſem Fall aufheben, während man ſie in anderer Rückſicht
beobachten will, heißt nur Dürftigkeit und das Unvermögen verrathen,
eine große Handlung concentriſch, gleichſam um einen und denſelben
Punkt geſchehen zu laſſen.
Die Stetigkeit der Zeit iſt eigentlich von den drei Einheiten, die
Ariſtoteles gibt, die herrſchende. Denn, was die ſogenannte Einheit
des Orts betrifft, ſo braucht dieſe bloß inſofern ſtattzufinden, als ſie
für die Stetigkeit der Zeit nothwendig iſt, und unter den wenigen uns
übrig gebliebenen Tragödien der Alten exiſtirt doch — und zwar in
[705] Sophokles ſelbſt (im Ajax nämlich) — das Beiſpiel einer nothwendigen
Veränderung des Orts.
Die äußere Stetigkeit der Handlung, welche zur vollkommenſten
Erſcheinung der Tragödie gehört, was auch moderne Kunſtrichter aus
übelverſtandenem Eifer gegen die übelverſtandene Einheit der Zeit in den
franzöſiſchen Stücken und gegen ihre übrige Bornirtheit dawider vorge-
bracht haben mögen, iſt nur die äußere Erſcheinung der inneren Stetigkeit
und Einheit der Handlung ſelbſt. Dieſe kann nun ſchon ihrer Natur
nach nicht ſtattfinden, als inwiefern die Zufälligkeiten einer wirklich, em-
piriſch geſchehenen Handlung und ihre Begleitung aufgehoben werden.
Nur durch Darſtellung des Weſentlichen, gleichſam des reinen Rhythmus
der Handlung, ohne alle Breitheit der Umſtände und des zugleich mit
der Haupthandlung Vorgehenden, wird die wahrhaft plaſtiſche Vollendung
im Drama erreicht.
Die herrlichſte und durchaus von der erhabenſten Kunſt einge-
gebene Erfindung iſt in dieſer Beziehung der Chor der griechiſchen
Tragödie. Ich nenne ihn eine hohe Erfindung, weil er den groben
Sinnen nicht ſchmeichelt, von dem gemeinen Verlangen nach Täuſchung
gänzlich hinweg- und den Zuſchauer unmittelbar auf das höhere Gebiet
der wahren Kunſt und der ſymboliſchen Darſtellung erhebt. Der Chor
der griechiſchen Tragödie ſchließt zwar mehrfache Wirkungen ein, die
vornehmſte aber iſt, daß er die Zufälligkeiten der Begleitung aufhebt,
da natürlicher Weiſe keine Handlung vorgehen kann, die nicht außer
den mithandelnden Perſonen auch noch andere hätte, die ſich in Bezug
auf die Haupthandlung unthätig verhalten. Dieſe bloß zuſchauen oder
bloße Nebendienſte verrichten zu laſſen, würde die Handlung, die
gleichſam in jedem Punkt wie eine volle Blüthe, fruchtbar und ſchwanger
ſeyn ſoll, leer laſſen. Sollte nun dieſer Uebelſtand realiſtiſch aufge-
hoben werden, ſo mußte auch in dieſe Nebenperſonen ein Gewicht ge-
legt und dem Ganzen dadurch die Breitheit gegeben werden, welche die
Tragödie der Neueren hat. Die Alten nehmen dieſes Verhältniß idea-
liſtiſcher, ſymboliſch. Sie verwandelten die Begleitung in den Chor,
und gaben dieſem in ihren Tragödien eine wahre, d. h. poetiſche
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 45
[706] Nothwendigkeit. Er erhielt die Beſtimmung, auch noch das, was in dem
Zuſchauer vorging, die Bewegung des Gemüths, die Theilnahme, die
Reflexion, ihm vorweg zu nehmen, ihn auch in dieſer Rückſicht nicht frei
zu laſſen, und dadurch ganz durch die Kunſt zu feſſeln. Der Chor iſt
einem großen Theile nach die objektivirte und repräſentirte Reflexion,
die die Handlung begleitet. Wie nun die freie Contemplation auch des
Furchtbaren und Schmerzvollen an und für ſich ſchon über die erſte
Heftigkeit der Furcht und des Schmerzens erhebt, ſo war der Chor
gleichſam ein ſtetiges Beſänftigungs- und Verſöhnungsmittel der Tra-
gödie, wodurch der Zuſchauer zur ruhigeren Betrachtung geleitet und
von der Empfindung des Schmerzens gleichſam dadurch erleichtert wurde,
daß ſie in ein Objekt gelegt und in dieſem ſchon gemäßigt vorgeſtellt
wurde. — Daß dieſe Vollendung der Tragödie, in welcher ſie nichts
außer ſich zurückläßt und gleichſam auch die Reflexion, die ſie erweckt,
wie die Bewegung und Theilnahme ſelbſt in ihren Kreis zieht, die vor-
nehmſte Abſicht des Chors geweſen, ergibt ſich aus ſeiner Verfaſſung.
1) Der Chor beſtand nicht aus Einer, ſondern aus mehreren
Perſonen. Beſtand er aus Einer, ſo mußte er entweder mit den Zu-
ſchauern reden — aber eben dieſe ſollten hier ja aus dem Spiel gelaſſen
werden, um ihre eigne Theilnahme gleichſam objektivirt zu ſehen,
oder mit ſich ſelbſt, aber dieß konnte er wieder nicht, ohne zu bewegt zu
erſcheinen, welches gegen ſeine Bedeutung war. Er mußte alſo aus
mehreren Perſonen beſtehen, die aber nur Eine vorſtellten, wodurch die
ganz ſymboliſche Bildung des Chors vollends offenbar wird. Der
Chor war
2) nicht in der Handlung als ſolcher begriffen. Denn wenn er
ſelbſt der Haupthandelnde war, ſo konnte er nicht ſeine Beſtimmung
erfüllen, zu bewirken, daß die Gemüther der Zuhörer ſich ſammeln.
Die Ausnahme, welche in den Eumeniden des Aeſchylos ſtattzufinden
ſcheint, wo dieſe ſelbſt den Chor bilden, iſt nur ſcheinbar, und gewiſſer-
maßen gehört dieſer Zug mit zu der hohen und unerreichten ſittlichen
Stimmung, in der dieſe ganze Tragödie gedichtet iſt, da der Chor in
gewiſſem Sinn die objektivirte Reflexion der Zuſchauer ſelbſt und mit
[707]ihnen einverſtanden iſt, Aeſchylos alſo hier die Zuſchauer als auf der
Seite des Rechts und der Gerechtigkeit ſtehend annahm. Sonſt iſt der
Chor mehr oder weniger indifferent. Die handelnden Perſonen ſprechen,
als ob ſie ganz allein wären und keine Zeugen hätten. Auch darin
zeigt ſich die ganz ſymboliſche Bedeutung des Chors. Er iſt, wie der
Zuſchauer, der Vertraute beider Parteien und verräth keine an die
andere. Wenn er aber Theil nimmt, ſo iſt es, weil er unparteiiſch
iſt, immer die Seite des Rechts und der Billigkeit, auf die er tritt.
Er räth zum Frieden, ſucht zu beſänftigen, beklagt das Unrecht und
unterſtützt den Unterdrückten, oder gibt ſeine Theilnahme an dem Un-
glück durch ſanfte Rührung zu erkennen. (Aus dieſer Indifferenz und
Unparteilichkeit des Chors ſieht man das Mißlungene der Nachahmung
deſſelben in Schillers Braut von Meſſina.)
Da der Chor eine ſymboliſche Perſon iſt, ſo kann auf ihn auch
alles andere zur Handlung Nothwendige, aber nicht in ihr ſelbſt Be-
griffene übergetragen werden. Er überhebt alſo den Dichter einer
Menge anderer zufälliger Beſchwerlichkeiten. Die neueren Dichter er-
ſticken die Handlung gleichſam unter der Laſt der Mittel, die ſie brauchen,
ſie in Bewegung zu ſetzen. Zum wenigſten bedürfen ſie doch für die
Hauptperſon eines Vertrauten, eines Rathgebers. Auch dieß iſt durch
den Chor aufgehoben, der, da er das Nothwendige und Unvermeidliche
ebenſo wie das Vermeidliche ſieht, im erforderlichen Fall durch Rath,
Vermahnung, Antrieb wirkſam iſt.
Endlich auch die große Laſt neuerer Dichter, das Theater nie leer
zu laſſen, iſt durch den Chor hinweggenommen.
Gehen wir nun, nachdem wir die Tragödie ganz von innen heraus
conſtruirt haben, bis zur letzten Erſcheinung fort, ſo iſt ſie unter den
drei Formen der Poeſie die einzige, die den Gegenſtand von allen Seiten,
demnach ganz abſolut zeigt, da das Epos den Zuhörer ebenſo wie die
Malerei doch für jeden einzelnen Fall auf einen gewiſſen Geſichtspunkt
beſchränkt, und ihn von dem Gegenſtand jedesmal nur ſo viel ſehen läßt,
als dem Erzähler gefällig iſt. Das Drama iſt endlich unter dieſen drei
Formen die einzig wahrhaft ſymboliſche, eben dadurch, daß ſie ihre
[708] Gegenſtände nicht bloß bedeutet, ſondern ſelbſt vor Augen ſtellt. Es
entſpricht alſo der plaſtiſchen Kunſt unter den redenden Künſten, und
ſchließt als die letzte Totalität ebenſo dieſe Seite der Kunſtwelt, wie
die Plaſtik die andere geſchloſſen hat.
Ueber Aeſchylos, Sophokles, Euripides.
Wenn man auf dieſe Weiſe das Weſen und die innere und äußere
Form der Tragödie aus ganz allgemeinen Gründen conſtruirt hat, und
ſich nun zu der Betrachtung der ächten Werke der griechiſchen Tragödie
wendet, und ſie durchaus dem, was ſich darüber ganz allgemein ein-
ſehen läßt, angemeſſen findet, ſo begreift man erſt vollſtändig die Reinheit
und Rationalität der griechiſchen Kunſt. Auch das Epos der Griechen
trägt dieſes Gepräge, aber es läßt ſich in ihm, weil ſein rationaler
Charakter ſelbſt mehr Zufälligkeit zuläßt, nicht ſo ſtreng und bis ins
Detail nachweiſen, wie an der griechiſchen Tragödie, die man faſt wie
eine geometriſche oder arithmetiſche Aufgabe anſehen kann, die völlig
rein und ohne Bruch aufgeht. Zum Weſen des Epos gehört es, daß
kein beſtimmter Anfang noch Ende. Das Gegentheil bei der Tragödie.
In ihr wird eben ein ſolches reines Aufgehen, ein abſolutes Geſchloſſen-
ſeyn gefordert, ohne daß irgend etwas noch unbefriedigt zurückbliebe.
Wenn die drei griechiſchen Tragiker unter einander verglichen wer-
den, ſo findet ſich zwar, daß Euripides von den beiden erſten in mehr
als einer Beziehung abgeſondert werden muß. Das Weſen der ächten
Aeſchyleiſchen und Sophokleiſchen Tragödie iſt durchaus auf jene höhere
Sittlichkeit gegründet, welche der Geiſt und das Leben ihrer Zeit und
ihrer Stadt war. Das Tragiſche ruht in ihren Werken nie auf dem
bloß äußeren Unglück; die Nothwendigkeit erſcheint vielmehr mit dem
Willen ſelbſt in unmittelbarem Streit und bekämpft ihn auf ſeinem
eignen Boden. Der Prometheus des Aeſchylos leidet nicht bloß durch
den äußeren Schmerz, ſondern viel tiefer durch das innere Gefühl
des Unrechts und der Unterdrückung, und ſein Leiden äußert ſich nicht
als Unterwerfung, da es nicht das Schickſal iſt, ſondern die Tyrannei
des neuen Herrſchers der Götter, die ihm dieß Leiden bereitet, es
[709] äußert ſich als Trotz, als Empörung, und eben dadurch ſiegt hier die
Freiheit über die Nothwendigkeit, daß ihn im Gefühl ſeines perſön-
lichen Leidens doch nur die allgemeine Empörung gegen die uner-
trägliche Herrſchaft des Jupiter bewegt. Prometheus iſt das Urbild des
größten Menſchencharakters, und dadurch auch das wahre Urbild der
Tragödie. Die ſittliche Reinheit und Erhabenheit in den Eumeniden
des Aeſchylos wurde ſchon vorhin hervorgehoben. Aber in allen ſeinen
Stücken ließe ſich jenes Grundgeſetz der Tragödie, daß das Verbrechen
und die Schuld mittel- oder unmittelbares Werk der Nothwendigkeit ſey,
nachweiſen. Die hohe Sittlichkeit, die abſolute Reinheit der Sophokleiſchen
Werke iſt die Bewunderung aller Zeitalter geweſen; ſie ſpricht ſich ganz
in den Worten des Chors bei Oedipus 1 aus: „O möge mir das Loos
gelingen, fromme Heiligkeit zu bewahren in Worten und allen Werken,
wofür vorgeſetzt ſind die erhaben geſtellten Geſetze, aus dem himmliſchen
Aether geboren, deren einziger Vater Olympos, und die nicht die ſterbliche
Natur der Menſchen geboren hat, noch die Vergeſſenheit je begraben
wird. Ein großer Gott vielmehr iſt in ihnen, der vor Alter nicht welkt.“
Was beiden, dem Sophokles und Aeſchylos gemein iſt, iſt ferner,
daß die Handlung nie bloß äußerlich, ſondern innerlich und äußerlich
zugleich geſchloſſen iſt. Ihre Wirkung auf die Seele iſt, ſie von Leiden-
ſchaften zu reinigen, anſtatt ſie zu erregen, und vielmehr ſie in ſich zu
vollenden und ganz zu machen, als nach außen zu reißen und zu theilen.
Viel anders iſt es hiemit in den Euripideiſchen Tragödien. Die hohe
ſittliche Stimmung iſt vorbei; andre Motive treten an die Stelle. Es iſt
ihm nicht mehr ſo ſehr um die erhabene Rührung, welche Sophokles be-
wirkt, als um materielle und mehr mit Leiden vergeſellſchaftete Rührung
zu thun. Er hat daher, wo er dieſen Zweck verfolgt, nicht ſelten die
rührendſten Bilder und Vorſtellungen, die aber, weil es im Kern der
Sache an der ſittlichen und poetiſchen Reinheit fehlt, doch über das
Ganze nicht beſtechen können. Zu ſeinen Zwecken, die ſehr oft oder faſt
immer außer den Grenzen der hohen und ächten Kunſt liegen, reichten
[710] die alten Stoffe nicht mehr zu; er mußte alſo die Mythen auf eine
oft frevelhafte Weiſe verändern, und aus dieſem Grunde auch die Pro-
logen in den Schauſpielen einführen, welche ein anderer Beweis der in
ihnen geſunkenen tragiſchen Kunſt ſind, was auch Leſſing zur Empfeh-
lung derſelben ſagen mag. Endlich iſt er nie ſo ſehr darum bekümmert,
die Handlung im Gemüth als ſie vielmehr nur äußerlich zu ſchließen,
und man begreift eben daraus, ſowie aus den ſtärkeren Mitteln mate-
riellen Reizes, die er anwandte, was Ariſtoteles ſagt, daß er auf die
Zuſchauer die größte Wirkung gemacht habe. In dem Beſtreben, dem
groben Sinne zu ſchmeicheln, und dieſen gleichſam zu beruhigen, ſinkt
er nicht ſelten zu den gemeinſten Motiven herab, die etwa ein moderner
Dichter und zwar von den ſchlechteſten brauchen könnte, z. B. daß er
die Electra zuletzt den — Pylades heirathen läßt.
Im Allgemeinen kann man alſo behaupten, daß Euripides vor-
züglich nur groß iſt in der Darſtellung der Leidenſchaft, nicht aber
weder in der harten aber ruhigen Schönheit, welche Aeſchylos, noch in
der mit Güte gepaarten und zur Göttlichkeit geläuterten Schönheit,
welche Sophokles eigenthümlich iſt. Vergleichen wir nämlich die beiden
größten tragiſchen Dichter untereinander, ſo gehn die Werke des Aeſchylos
den plaſtiſchen Werken des hohen und ſtrengen Styls der Kunſt, wie
die des Sophokles den plaſtiſchen Werken des ſchönen Styls, der vor
Polykleitos und Phidias anfing, parallel. Nicht als ob nicht im Aeſchylos
durchaus die ſittliche Erhabenheit durchſchiene, wenn ſie auch nicht in
allen Perſonen ſeiner Werke ſo einheimiſch wohnt, als in denen des
Sophokles; nicht als ob nicht dieſe Stimmung in der Darſtellung auch
da erkennbar wäre, wo er nur große Verbrechen und ſchreckliche Cha-
raktere darſtellt, wie den heimtückiſchen Mord des Agamemnon und den
Charakter der Klytämneſtra, ſondern weil dieſer Keim der Sittlichkeit
hier noch in eine härtere Hülle verſchloſſen und herb und unzugänglicher
iſt, ſtatt daß bei Sophokles die ſittliche Güte mit der Schönheit zu-
ſammenfließt, und dadurch das höchſte Bild der Göttlichkeit entſteht.
Wenn ferner Aeſchylos in ſtrenger Begrenzung und Abgeſchloſſenheit
jedes ſeiner Werke und in dieſem wieder ſeine Geſtalten hinſtellt, ſo hat
[711] dagegen Sophokles die Kunſt und Schönheit über die Theile ſeiner Werke
gleichmäßig verbreitet, und jedem außer der Abſolutheit in ſich auch
noch die Harmonie mit den andern gegeben. Wie aber in der plaſtiſchen
Kunſt die nach dem hohen und ſtrengen Styl hervorgehende harmo-
niſche Schönheit eine Blüthe war, die gleichſam nur auf Einem Punkte
erreicht werden konnte, und dann wieder welken, oder nach dem ent-
gegengeſetzten Ende der bloß ſinnlichen Schönheit ſich fortbilden mußte,
ſo iſt daſſelbe auch in der dramatiſchen Kunſt geſchehen, in der Sophokles
der wahre Gipfel iſt, auf den gleich Euripides folgt, welcher weniger
Prieſter der ungeborenen und ewigen, als Diener der zeitlichen und
vergänglichen Schönheit iſt.
Von dem Weſen der Komödie.
Es wurde gleich anfangs bemerkt, daß durch den allgemeinen Be-
griff nicht beſtimmt iſt, auf welcher Seite die Freiheit, und auf welcher
die Nothwendigkeit ſey, daß aber das urſprüngliche Verhältniß von
Freiheit und Nothwendigkeit dasjenige iſt, in welchem die Nothwendigkeit
als das Objekt, die Freiheit als das Subjekt erſcheint. Dieſes Ver-
hältniß aber iſt das der Tragödie, und darum auch ſie die erſte und
gleichſam poſitive Erſcheinung des Drama. Durch die Umkehrung des
Verhältniſſes muß alſo diejenige Form entſpringen, worin die Noth-
wendigkeit oder Identität vielmehr das Subjekt, die Freiheit oder
Differenz das Objekt iſt, und dieß iſt das Verhältniß der Komödie,
wie aus folgenden Betrachtungen ſich ergeben wird.
Jede Umkehrung eines nothwendigen und entſchiedenen Verhältniſſes
ſetzt einen in die Augen fallenden Widerſpruch, eine Ungereimtheit in
dem Subjekt dieſer Umkehrung. Gewiſſe Arten der Ungereimtheit ſind
nun unerträglicher Art, theils inwiefern ſie theoretiſch pervers und
verderblich ſind, theils inwiefern ſie praktiſch nachtheilig ſind und ernſt-
liche Folgen haben. Allein in dem angenommenen Fall der Umkehrung
wird 1) eine objektive, demnach nicht eigentlich theoretiſche Unge-
reimtheit geſetzt, 2) iſt das Verhältniß in derſelben ſo, daß das Ob-
jektive nicht die Nothwendigkeit, ſondern die Differenz iſt oder die Freiheit.
[712] Die Nothwendigkeit erſcheint aber bloß, inwiefern ſie das Objektive iſt,
als Schickſal, und nur inſofern iſt ſie furchtbar. Da alſo mit der
angenommenen Umkehrung des Verhältniſſes zugleich alle Furcht vor
der Nothwendigkeit als Schickſal aufgehoben, und angenommen iſt, daß
in dieſem Verhältniß der Handlung überhaupt kein wahres Schickſal
möglich ſey, ſo iſt ein reines Wohlgefallen an der Ungereimtheit an
und für ſich ſelbſt möglich, und dieſes Wohlgefallen iſt es, was man
überhaupt das Komiſche nennen kann, und was ſich äußerlich durch
einen freien Wechſel des Anſpannens und Nachlaſſens ausdrückt. Wir
ſpannen uns an, die Ungereimtheit, die unſerer Faſſungskraft wider-
ſpricht, recht ins Auge zu faſſen, bemerken aber in dieſer Anſpannung
unmittelbar die vollkommene Widerſinnigkeit und Unmöglichkeit der Sache,
ſo daß dieſe Spannung augenblicklich in eine Erſchlaffung übergeht,
welcher Uebergang ſich äußerlich durch das Lachen ausdrückt.
Wenn wir nun die Umkehrung jedes möglichen Verhältniſſes, das
auf Gegenſatz beruht, überhaupt ein komiſches Verhältniß nennen können,
ſo iſt ohne Zweifel das höchſte Komiſche und gleichſam die Blüthe des-
ſelben da, wo die Gegenſätze in der höchſten Potenz, demnach als Noth-
wendigkeit und Freiheit umgekehrt werden, und da ein Streit dieſer
beiden an und für ſich objektive Handlung iſt, ſo iſt auch das Ver-
hältniß einer ſolchen Umkehrung durch ſich ſelbſt dramatiſch.
Es wird nicht geleugnet, daß jede mögliche Umkehrung des Ur-
ſprünglichen die komiſche Wirkung hat. Wenn der Feige in die Lage
geſetzt wird tapfer ſeyn zu müſſen, der Geizige verſchwenderiſch, oder
wenn in einem unſerer Familienſtücke etwa die Frau im Hauſe die
Rolle des Mannes, der Mann die Rolle der Frau ſpielt, ſo iſt dieß
eine Art des Komiſchen.
Wir können dieſe allgemeine Möglichkeit nicht in alle ihre Ver-
zweigungen verfolgen, aus denen die Unzahl von Situationen entſpringt,
auf denen unſer neueres Luſtſpiel gegründet iſt. Wir haben nur den
Gipfel dieſer Erſcheinung zu beſtimmen. Dieſer alſo iſt da, wo ein
allgemeiner Gegenſatz der Freiheit und der Nothwendigkeit iſt, aber
ſo, daß dieſe in das Subjekt, jene ins Objekt fällt.
[713]
Es verſteht ſich, daß, weil die Nothwendigkeit ihrer Natur nach objek-
tiv iſt, die Nothwendigkeit im Subjekt nur eine prätendirte, angenommene
ſeyn kann und eine affektirte Abſolutheit iſt, die nun durch die Noth-
wendigkeit in der Geſtalt der äußeren Differenz zu Schanden gemacht
wird. So wie die Freiheit und Beſonderheit auf der einen Seite die
Nothwendigkeit und Allgemeinheit lügt, ſo nimmt auf der anderen
Seite die Nothwendigkeit den Schein der Freiheit an und vernichtet
unter dem angenommenen Aeußeren der Geſetzloſigkeit, im Grunde aber
nach einer nothwendigen Ordnung die prätendirte Geſetzmäßigkeit. Es
iſt nothwendig, daß wo ſich die Beſonderheit zur Nothwendigkeit das
Verhältniß der Objektivität gibt, ſie zu nichte werde; es iſt alſo inſo-
fern in der Komödie das höchſte Schickſal und ſie ſelbſt wieder die
höchſte Tragödie; aber das Schickſal erſcheint eben deßwegen, weil es
ſelbſt eine der ſeinigen entgegengeſetzte Natur annimmt, in einer erhei-
ternden Geſtalt, nur als die Ironie, nicht aber als das Verhängniß
der Nothwendigkeit.
Da jede mögliche Affektation und Prätention auf Abſolutheit ein
unnatürlicher Zuſtand iſt, ſo iſt es für die Komödie, da ſie als Drama
ganz nur an die Anſchauung geht, die vorzüglichſte Aufgabe, nicht nur
dieſe Prätention zur Anſchauung zu bringen, ſondern auch, weil die
Anſchauung vorzüglich nur das Nothwendige faßt, ihr eine Art von
Nothwendigkeit zu geben. Die ſubjektive Abſolutheit, ſie ſey nun wahr
und in der Harmonie mit der Nothwendigkeit, oder bloß angenommen
und alſo im Widerſpruch mit ihr, drückt ſich als Charakter aus. Der
Charakter iſt aber wie in der Tragödie ebenſo auch in der Komödie
ein Poſtulat, eben weil er das Abſolute iſt; er ſelbſt iſt nicht weiter
zu motiviren. Nun iſt es aber nothwendig, daß gerade in den höch-
ſten Potenzen der Ungereimtheit und der Widerſinnigkeit die Anſchau-
lichkeit ſich gleichſam verliert, wenn ſie nicht auf andere Weiſe darein
gebracht wird. (Anders im Roman — weil epiſch.) Dieß iſt nun
bloß möglich, wenn die Perſon durch einen von ihr unabhängigen
Grund, eine äußere Nothwendigkeit ſchon beſtimmt iſt, einen gewiſſen
Charakter anzunehmen und ihn öffentlich vor ſich zu tragen. Zur
[714] höchſten Erſcheinung der Komödie bedarf es alſo nothwendig öffent-
licher Charaktere, und damit das Maximum der Anſchaulichkeit erreicht
werde, ſo müſſen es wirkliche Perſonen von öffentlichem Charakter
ſeyn, die in der Komödie vorgeſtellt werden. In dieſem Fall allein
iſt dem Dichter ſo viel vorausgegeben, daß er nun ferner alles wagen
und den gegebenen Perſonen alle möglichen Erhöhungen der Züge ins
Komiſche leihen kann, weil er die beſtändige Beglaubigung an dem un-
abhängig von ſeiner Dichtung exiſtirenden Charakter der Perſon zur
Begleitung hat. Das öffentliche Leben im Staat wird dem Dichter
hier zur Mythologie. Innerhalb dieſer Grenze braucht er ſich nichts
zu verſagen, und je kecker er ſein dichteriſches Recht gebraucht, deſto
mehr erhebt er ſich wieder über die Begrenzung, da die Perſon in ſeiner
Behandlung gleichſam den perſönlichen Charakter wieder ablegt und
allgemein-bedeutend oder ſymboliſch wird.
Die einzige höchſte Art der Komödie iſt alſo die alte griechiſche
oder die Ariſtophaniſche, ſofern ſie ſich auf öffentliche Charaktere wirk-
licher Perſonen gründet und dieſe gleichſam zur Form nimmt, worein
ſie ihre Erfindung ergießt.
Wie die griechiſche Tragödie in ihrer Vollkommenheit die höchſte
Sittlichkeit verkündet und ausſpricht, ſo die alte griechiſche Komödie
die höchſte denkbare Freiheit im Staat, welche ſelbſt die höchſte Sitt-
lichkeit und mit dieſer innig eins iſt. Wenn uns auch von den drama-
tiſchen Werken der Griechen nichts geblieben wäre außer den Komödien
des Ariſtophanes, ſo würden wir doch aus dieſen allein auf einen
Grad der Bildung und einen Zuſtand der ſittlichen Begriffe ſchließen
müſſen, der der modernen Welt nicht nur fremd, ſondern ſogar un-
faßlich iſt. Ariſtophanes iſt mit Sophokles dem Geiſte nach wahrhaft
eins und er ſelbſt; nur in der andern Geſtalt, worin er allein noch
exiſtiren konnte, als das vollkommene Zeitalter Athens vorbei und die
Blüthe der Sittlichkeit in Zügelloſigkeit und üppige Schwelgerei über-
gegangen war. Beide ſind wie zwei gleiche Seelen in verſchiedenen
Leibern, und die ſittliche und poetiſche Rohheit, die den Ariſtophanes
nicht begreift, vermag ja auch den Sophokles nicht zu faſſen.
[715]
Die gemeine Vorſtellung von den Ariſtophaniſchen Komödien iſt,
ſie entweder für Farcen und Poſſenſpiele oder für unmoraliſche Stücke
zu halten, theils weil er wirkliche Perſonen aufs Theater gebracht,
theils wegen der übrigen Freiheiten, die er ſich genommen. Was das
Erſte betrifft, ſo iſt bekannt genug, daß Ariſtophanes demagogiſche
Oberhäupter des Volks, den Sokrates ſelbſt auf die Bühne gebracht,
und die Frage iſt nur, auf welche Art dieß geſchehen ſey. — Wenn
Ariſtophanes den Kleon als einen unwürdigen Anführer des Volks,
einen Dieb und Verſchwender der öffentlichen Gelder auf das Theater
bringt, ſo übt er hier das Recht des vollkommenſten Freiſtaates aus,
in welchem jedem Bürger das Recht freiſtand über öffentliche und all-
gemeine Angelegenheiten ſeine Meinung zu ſagen. Daher Kleon auch
[k]eine andere Maßregel gegen ihn brauchen konnte, als daß er ihm das
Bürgerrecht ſtreitig machte. Allein dieſes Recht, das Ariſtophanes als
Bürger hatte, iſt für ihn doch nur das Mittel zu der künſtleriſchen
Wirkung, und wenn ſeine Komödie als eine bloße Anklageakte gegen
Kleon begriffen wird, ſo wäre ja eben darin nichts Unſittliches, ſie
wäre nur unpoetiſch. — Nicht anders verhält es ſich mit den Wolken,
worin Sokrates vorgeſtellt iſt. Sokrates hatte als Philoſoph einen
öffentlichen Charakter; aber daß derjenige Sokrates, welchen Ariſto-
phanes darſtellt, der wirkliche Sokrates ſey, konnte keinem Athener
einfallen, und Sokrates ſelbſt konnte, ohne alle Rückſicht auf ſeinen
perſönlichen Charakter, der ihn etwa über die Satyre erheben konnte,
ſelbſt ſehr wohl Zuſchauer bei der Aufführung der Wolken ſeyn. Wenn
etwa einmal unſere lieben deutſchen Nachahmer auf den Einfall kämen,
den Ariſtophanes nachzuahmen, ſo würden daraus freilich nichts wie
Pasquillen entſtehen. Ariſtophanes ſtellt nicht die einzelne Perſon dar,
ſondern die ins Allgemeine erhöhte, alſo von ſich ſelbſt ganz verſchie-
dene Perſon. Sokrates iſt für Ariſtophanes ein Name, und er rächt
ſich an dieſem Namen, ohne Zweifel weil Sokrates als Freund des
Euripides bekannt war, den Ariſtophanes billiger Weiſe verfolgte. An
der Perſon des Sokrates hat er ſich auf keine Weiſe gerächt. Es iſt
ein ſymboliſcher Sokrates, den er darſtellt. Eben durch das, was man
[716] dem Ariſtophanes vorwirſt, den Sokrates ſo entſtellt und ihm Züge
und Handlungen geliehen zu haben, die zu ſeinem Charakter gar nicht
paſſen, iſt ſein Gedicht poetiſch, anſtatt daß es im entgegengeſetzten
Fall nur gemein, grob oder Pasquill geweſen wäre.
Um ſeinen Erfindungen Glauben, Anſchaulichkeit, Eingang zu ver-
ſchaffen, bedurfte Ariſtophanes eines berühmten Namens, auf den er
alle die Lächerlichkeiten häufen konnte. Daß er eben den Namen des
Sokrates wählte, davon war außer der Popularität, die dieſer Name
hatte, ohne Zweifel der vorhin angegebene Grund der vorzüglichſte.
Die Komödien des Ariſtophanes würden, ohne allgemeine Gründe,
hinreichend ſeyn zu beweiſen, daß die Komödie in ihrer wahren Er-
ſcheinung durchaus nur die Frucht der höchſten Bildung ſey, ſowie daß
ſie nur in einem freien Staat exiſtiren kann. Unmittelbar nach der
Erſcheinung der erſten Ariſtophaniſchen Dramen, die noch zu der alten
Komödie gehören, entſtand in Athen die Herrſchaft der dreißig Tyrannen,
welche durch ein Geſetz den komiſchen Dichtern unterſagte, die Namen
wirklicher Perſonen auf die Bühne zu bringen. Von dieſem Verbot an
hörte daher, wenigſtens für eine Zeitlang, der Gebrauch der Komödien-
dichter auf ihre Perſonen nach wirklichen Menſchen von öffentlichem
Charakter zu benennen. (Kecke Allegorien.) Sobald Athen wieder frei
war, ſtellte ſich zwar der Gebrauch wieder her, ſo daß ſelbſt in den
neuen Komödien Namen wirklicher Perſonen vorkommen, aber auch die
Dichter der ſogenannten mittleren Komödie, wenn ſie nicht wirkliche
Namen gebrauchten, ſtellten doch unter erdichteten Namen wahre Per-
ſonen und wahre Begebenheiten dar.
Die Komödie iſt ihrer Natur nach an das öffentliche Leben ge-
wieſen. Es gibt für ſie keine Mythologie und keinen fixirten Kreis
ihrer Darſtellungen, wie es für die Tragödie eine tragiſche Periode
gibt. Die Komödie muß ſich alſo ihre Mythologie ſelbſt aus dem Zeit-
alter und dem öffentlichen Zuſtand ſchaffen, wozu denn freilich ein ſolcher
politiſcher Zuſtand erfordert wird, der den Stoff nicht nur darbietet,
ſondern auch den Gebrauch verſtattet. Sobald daher die alte Komödie
die vorerwähnte Einſchränkung erhielt, waren die Komödiendichter
[717] genöthigt, wirklich zu den alten Mythen zurückzugehen; weil ſie aber dieſe
weder epiſch noch tragiſch behandeln konnten, mußten ſie mit ihnen die
Umkehrung vornehmen und ſie durch Parodien behandeln, in welchen das,
was in jenen als ehrwürdig oder rührend war dargeſtellt worden, in
das Niedrige und Lächerliche gezogen wurde. Die Komödie lebt alſo
eigentlich von der Freiheit und der Beweglichkeit des öffentlichen Lebens.
In Griechenland hat ſie ſich ſo lang wie möglich geſträubt aus dem
öffentlichen und politiſchen Leben in das häusliche herabzuſteigen, womit
ſie auch ihre mythologiſche Kraft verlor. Dieß geſchah in den ſoge-
nannten neueren Komödien, da nach den gewöhnlichen Berichten zur
Zeit Alexanders, wo die demokratiſche Verfaſſung ganz dahin war,
durch ein neues Geſetz auch noch unterſagt wurde, ſelbſt bloß den In-
halt aus öffentlichen Begebenheiten zu nehmen, und dieſe, unter welcher
Hülle es ſey, auf das Theater zu bringen.
Daß noch einige Ausnahmen exiſtirten, iſt ſchon oben bemerkt
worden, und die Hinneigung zur Parodie des öffentlichen Lebens und
die Gewohnheit, alles, was in der Komödie vorgeſtellt wurde, darauf
zu beziehen, ſcheint ſo unüberwindlich geweſen zu ſeyn, daß Menander,
das Haupt der neueren Komödie, obwohl er ſich ſelbſt vor Beziehungen
auf das öffentliche Leben in Acht nahm, doch, um auch dem Argwohn
zu entgehen, anfing, die Masken in wahre Carricatur zu verwandeln.
Wir kennen zwar die Produkte der neueren Komödie nur bruchſtücklich,
und aus dem, was uns durch die Ueberſetzungen und Nachahmungen
des Plautus und Terenz geblieben iſt. Allein es iſt an ſich nothwendig
und auch hiſtoriſch zu beweiſen, daß mit der ſpäteren Komödie zuerſt
die Intriguenſtücke mit gänzlich erdichteten Charakteren und Verwick-
lungen entſtanden, und die Komödie, die zuerſt im Aether der öffent-
lichen Freiheit gelebt hatte, ſich in die Sphäre der häuslichen Sitten
und Begegniſſe herabſenkte.
Von der Komödie der Römer erwähne ich nichts, da ſie niemals
die Oeffentlichkeit der griechiſchen gehabt und in ihrer gebildeten Zeit
vorzüglich nur von den Bruchſtücken der neueren und mittleren Komödie
der Griechen gelebt hat. Ich bemerke noch: die Form der alten
[718] Komödie war der der Tragödie analog, nur daß mit der letzten Stufe
der neueren auch der Chor verſchwand.
Von der modernen dramatiſchen Poeſie.
Ich gehe nun zur Darſtellung der Tragödie und Komödie der
Modernen fort. Um in dieſem weiten Meer nicht ganz unterzugehen,
werde ich ſuchen, die Aufmerkſamkeit auf die wenigen großen Haupt-
punkte der Differenz des modernen Drama vom antiken, ſeiner
Coincidenz mit ihm und ſeiner Eigenthümlichkeiten zu bemerken, und
werde auch allen dieſen Beziehungen wieder gleich die beſtimmte An-
ſchauung deſſen zu Grunde legen, was wir in der modernen Tragödie
und Komödie als die höchſten Erſcheinungen anerkennen müſſen. Ich
werde mich daher in Anſehung der hauptſächlichſten Punkte vorzüglich
auf Shakeſpeare berufen.
Das Erſte, womit wir dieſe Betrachtung anfangen müſſen, iſt,
daß die Miſchung des Entgegengeſetzten, alſo vorzüglich des
Tragiſchen und Komiſchen ſelbſt, als Princip dem modernen Drama
zu Grunde liegt. Die Bedeutung dieſer Miſchung zu faſſen, wird
folgende Reflexion dienen. — Das Tragiſche und Komiſche könnte ent-
weder im Zuſtand der Vollkommenheit, nicht aufgehobenen Indifferenz
dargeſtellt ſeyn, dann aber müßte die Poeſie weder als tragiſch noch
als komiſch erſcheinen; es wäre eine ganz andere Gattung, es wäre
die epiſche Poeſie. In der epiſchen Poeſie ſind die beiden Elemente,
die ſich in dem Drama ſtreitend entzweien, — nicht vereinigt, ſondern
überhaupt noch nicht getrennt. Die Miſchung beider Elemente auf ſolche
Art, daß ſie überhaupt nicht getrennt erſchienen, kann alſo nicht die
Eigenthümlichkeit der modernen Tragödie ſeyn. Es iſt vielmehr eine
Miſchung, worin beide beſtimmt unterſchieden werden, und ſo daß der
Dichter in beiden ſich gleich als Meiſter zeigt, wie Shakeſpeare, der
die dramatiſche Stärke nach beiden Polen hin concentrirt, und der
erſchütternde Shakeſpeare iſt im Fallſtaff und im Macbeth.
Indeß können wir doch dieſe Miſchung entgegengeſetzter Elemente
als ein Zurückſtreben des modernen Drama zum Epos, ohne deßwegen
[719] Epos zu werden, betrachten; ſowie dieſelbe Poeſie dagegen im Epos
durch den Roman zum Dramatiſchen ſtrebt, und alſo von beiden
Seiten die reine Begrenzung der höheren Kunſt aufhebt.
Es iſt zu dieſer Miſchung nothwendig, daß dem Dichter das
Tragiſche und Komiſche nicht nur maſſenweiſe, ſondern auch in ſeinen
Nüancen zu Gebot ſtehe, wie dem Shakeſpeare, der im Komiſchen zart,
abenteuerlich und witzig zugleich, wie im Hamlet, und derbe (wie in
den Fallſtaffſchen Stücken) iſt, ohne jemals niedrig zu werden; ſowie er
dagegen im Tragiſchen zerreißend (wie im Lear), ſtrafend (wie im Mac-
beth), ſchmelzend, rührend und beruhigend, wie in Romeo und Julie
und mehreren gemiſchten Stücken iſt.
Sehen wir nun auf den Stoff der modernen Tragödie, ſo mußte
auch dieſer, in der vollkommenen Erſcheinung wenigſtens, eine mytho-
logiſche Würde haben; es waren alſo nur drei Quellen möglich, aus
denen er geſchöpft werden konnte. Die einzelnen Mythen, welche, wie
die der griechiſchen Tragödie, ſich nicht zu epiſchen Ganzen vereinigt
hatten, außer dem großen Kreis des univerſellen Epos zurückblieben:
dieſe drückten ſich in der modernen Welt durch die Novellen aus.
Die Hiſtorie, die fabelhaft oder poetiſch, konnte die andere Quelle ſeyn.
Die Dritte der religiöſe Mythus, die Legenden, die Heiligengeſchichte.
Shakeſpeare hat aus den beiden erſten geſchöpft, da die dritte Quelle
keinen ſeiner Zeit und ſeiner Nation angemeſſenen Stoff darbot. Aus
der dritten ſchöpften vorzüglich die Spanier und unter dieſen wieder
Calderon. Shakeſpeare fand alſo ſeine Stoffe vor. In dieſem Sinne
war er nicht Erfinder; allein indem er ſie gebrauchte, anordnete und
beſeelte, zeigte er ſich in ſeiner Sphäre den Alten ähnlich und als
der weiſeſte Künſtler. Man hat bemerkt, und es iſt ausgemacht, daß
Shakeſpeare ſich auf das Genaueſte an den gegebenen Stoff, vorzüglich
der Novellen band, daß er jeden, auch den kleinſten Umſtand aufnahm
und nicht unbenutzt ließ (ein Verfahren, das vielleicht oft über das
unergründlich Scheinende einer manchen ſeiner Anlagen Aufſchluß geben
könnte), und daß er den vorhandenen Stoff ſo wenig wie möglich ver-
änderte.
[720]
Auch hierin iſt er den Alten ähnlich, unähnlich nur dem Euripi-
des, der als der ſchon frivolere Dichter die Mythen willkürlich entſtellt.
Die nächſte Unterſuchung iſt, inwiefern das Weſen der alten
Tragödie in der modernen ſtattfinde, oder nicht. Iſt in der modernen
Tragödie ein wahres Schickſal, und zwar jenes höhere, welches die
Freiheit in ihr ſelbſt ergreift?
Ariſtoteles drückt, wie bemerkt, den höchſten tragiſchen Fall ſo
aus, daß ein gerechter Menſch durch Irrthum Verbrechen begehe;
es muß dazu geſetzt werden, daß dieſer Irrthum von der Nothwendig-
keit oder von Göttern, womöglich ſelbſt gegen die Freiheit, verhängt
ſey. Dieſer letztere Fall ſcheint nun nach den Begriffen der chriſtlichen
Religion überhaupt ein unmöglicher. Diejenigen Mächte, die den
Willen untergraben, und nicht nur das Ueble, ſondern das Böſe ver-
hängen, ſind ſelbſt böſe, ſind hölliſche Mächte.
Wenigſtens wenn ein durch göttliche Schickung veranlaßter Irrthum
Urſache von Unheil und Verbrechen ſeyn könnte, ſo müßte in derſelbigen Re-
ligion, nach welcher dieß möglich iſt, auch die Möglichkeit einer entſprechen-
den Verſöhnung liegen. Dieſe iſt nun allerdings im Katholicismus gegeben,
der, ſeiner Natur nach eine Miſchung des Heiligen und Profanen, die Sün-
den ſtatuirt, um an ihrer Verſöhnung die Kraft der Gnadenmittel zu be-
weiſen. Hiermit war im Katholicismus die Möglichkeit des zwar von dem
der Alten verſchiedenen, aber doch wahrhaft tragiſchen Schickſals gegeben.
Shakeſpeare war Proteſtant und für ihn ſtand dieſe Möglichkeit nicht
offen. Wenn es alſo in ihm ein Fatum gibt, ſo kann es nur von ge-
doppelter Art ſeyn. Entweder daß das Unheil durch die Lockung böſer
und hölliſcher Mächte heibeigeführt wird, aber nach den chriſtlichen
Begriffen können dieſe nicht unüberwindlich ſeyn, und es ſoll und
kann ihnen Widerſtand geleiſtet werden. Die Nothwendigkeit ihrer
Wirkung, ſofern ſie ſtatt hat, fällt alſo doch zuletzt in den Charakter
oder das Subjekt zurück. So iſt es auch bei Shakeſpeare. An die
Stelle des alten Schickſals tritt bei ihm der Charakter, aber er legt in
dieſen ein ſo mächtiges Fatum, daß er nicht mehr für Freiheit gerechnet
werden kann, ſondern als unüberwindliche Nothwendigkeit daſteht.
[721]
Den Macbeth lockt ein hölliſches Gaukelſpiel zum Mord, aber es
liegt keine objektive Nothwendigkeit der That darin. Banquo läßt ſich
durch die Stimme der Hexen nicht bethören, wohl aber Macbeth. Es
iſt alſo der Charakter, der entſcheidet.
Die kindiſche Thorheit eines alten Mannes zeigt ſich in Lear wie
ein delphiſches, verwirrendes Orakel, und die ſanfte Desdemona mußte
der düſteren Farbe, die mit Eiferſucht gepaart iſt, unterliegen.
Shakeſpeare hat aus dem gleichen Grunde, weil er die Nothwen-
digkeit des Verbrechens in den Charakter legen mußte, den von
Ariſtoteles nicht angenommenen Fall des Verbrechers, der aus Glück
in Unglück ſtürzt, mit einer furchtbaren Gültigkeit behandeln müſſen.
Statt des eigentlichen Schickſals hat er die Nemeſis, dieſe aber in
allen Geſtalten, wo Gräuel von Gräueln überwältigt werden, eine
blutige Welle die andere treibt, und der Fluch der Verfluchten ſtets in
Erfüllung geht, wie vorzüglich in der engliſchen Geſchichte im Kampf
der rothen und weißen Roſe. Er muß ſich dann als Barbar zeigen,
weil er die höchſte Barbarei darzuſtellen unternimmt, gleichſam das
rohe Schlachten der Familien untereinander, wo alle Kunſt ein Ende
zu haben ſcheint und eine rohe Naturkraft eintritt, wie es im Lear
heißt: „Wenn die Tiger des Waldes oder die Ungeheuer der See
aus der Dumpfheit herausträten, ſo würden ſie auf ſolche Weiſe
wirken.“ Doch ſind hier Züge zu finden, wo er unter die Furien,
die nur nicht perſönlich auftreten, die Anmuth der Kunſt geſendet hat.
So iſt Margarethens Liebesklage über dem Haupt des unrechtmäßigen
und ſtrafbaren Geliebten und ihr Abſchied von ihm.
Shakeſpeare endet die Reihe mit Richard III., den er mit unge-
heurer Energie ſein Ziel verfolgen und erreichen läßt, bis er vom
Gipfel deſſelben in die Enge der Verzweiflung getrieben wird und im
Getümmel der Schlacht, die ihm verloren geht, rettungslos ausruft:
Ein Pferd, ein Pferd, ganz England für ein Pferd.
Im Macbeth dringt die Rache Schritt vor Schritt und ſo, daß
er durch hölliſche Täuſchungen verführt ſie immer noch entfernt glaubt,
auf den edleren Verbrecher ein, den die Ehrſucht mißleitete.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 46
[722]
Eine ſanftere, ja die mildeſte Nemeſis iſt im Julius Cäſar. Brutus
geht nicht ſowohl zu Grunde durch ſtrafende Mächte als durch die
eigne Milde des ſchönſten und zarteſten Gemüths, das ihn nach der
That falſche Maßregeln ergreifen ließ. Er hatte der Tugend das Opfer
ſeiner That gebracht, das er ihr bringen zu müſſen glaubte, und bringt
ebenſo ihr ſich ſelbſt dar.
Der Unterſchied dieſer Nemeſis von dem wahren Schickſal iſt
indeß ſehr bedeutend. Sie kommt aus der wirklichen Welt und liegt
in der Wirklichkeit; es iſt die Nemeſis, die auch in der Geſchichte
waltet, und Shakeſpeare hat ſie, wie ſeinen ganzen Stoff, auch in
dieſer aufgefunden. Es iſt Freiheit mit Freiheit ſtreitend, was
ſie herbeiführt; es iſt Succeſſion, und die Rache iſt nicht mit dem
Verbrechen unmittelbar eins.
Im Cyclus der griechiſchen Darſtellungen herrſchte ebenfalls eine
Nemeſis, aber hier begrenzte und beſtrafte ſich Nothwendigkeit unmittel-
bar durch Nothwendigkeit, und jede Lage für ſich herausgenommen war
eine beſchloſſene Handlung.
Alle tragiſchen Mythen der Griechen gehörten ſchon von Anbeginn
an mehr der Kunſt an, und ein beſtändiger Verkehr der Götter und
Menſchen wie des Schickſals war in ihnen einheimiſch, alſo auch der
Begriff eines unwiderſtehlichen Einfluſſes. Vielleicht ſpielt ſelbſt der Zu-
fall in dem unergründlichſten der Shakeſpeareſchen Stücke (Hamlet) eine
Rolle, aber Shakeſpeare hat ihn ſelbſt mit ſeinen Folgen erkannt, und
er iſt daher wieder Abſicht bei ihm und wird zum höchſten Verſtande.
Wenn wir nach dieſem mit Einem Wort ausdrücken wollen, was
Shakeſpeare in Bezug auf die Hoheit der alten Tragödie iſt, ſo werden
wir ihn den größten Erfinder im Charakteriſtiſchen nennen müſſen.
Er kann nicht jene hohe, im Schickſal ſich bewährende, gleichſam geläu-
terte und verklärte Schönheit, die mit der ſittlichen Güte in Eins fließt,
— und auch diejenige Schönheit, die er darſtellt, nicht ſo darſtellen,
daß ſie im Ganzen erſchiene, und das Ganze jedes Werks ihr Bild
trüge. Er kennt die höchſte Schönheit nur als einzelnen Charakter.
Er hat ihr nicht alles unterordnen können, weil er als Moderner, als
[723] der das Ewige nicht in der Begrenzung, ſondern im Unbegrenzten auf-
faßt, zu ausgedehnt iſt in der Univerſalität. Die Alten hatten eine
concentrirte Univerſalität, die Allheit nicht in der Vielheit, ſondern in
der Einheit.
Es iſt nichts im Menſchen, das Shakeſpeare nicht berührte,
aber er berührt dieß einzeln, da die Griechen es in der Totalität
berühren. Die Elemente der menſchlichen Natur von den höchſten bis
zu den niedrigeren liegen zerſtreut in ihm: er kennt alles, jede Lei-
denſchaft, jedes Gemüth, die Jugend und das Alter, den König und
den Hirten. Aus der Reihe ſeiner Werke würde man die verloren
gegangene Erde wieder ſchaffen können. Allein jene alte Lyra lockte
aus vier Tönen die ganze Welt: das neue Inſtrument iſt tauſendſaitig,
es zerſpaltet die Harmonie des Univerſums, um ſie zu erſchaffen, und
darum iſt es ſtets weniger beſänftigend für die Seele. Die ſtrenge,
alles lindernde Schönheit kann nur mit Einfachheit beſtehen.
Der Natur des romantiſchen Princips gemäß ſtellt die moderne
Komödie die Handlung als Handlung nicht rein, iſolirt und in der
plaſtiſchen Beſchränkung des alten Drama dar, ſondern ſie gibt zugleich
ihre ganze Begleitung. Allein Shakeſpeare hat dafür ſeiner Tragödie
die gedrungenſte Fülle und Prägnanz in allen Theilen, auch nach der
Richtung der Breite, gegeben, doch ohne willkührlichen Ueberfluß, ſon-
dern ſo, daß er als der Reichthum der Natur ſelbſt erſcheint, mit
künſtleriſcher Nothwendigkeit aufgefaßt. Die Intention des Ganzen
bleibt klar und geht dann wieder in eine unerſchöpfliche Tiefe, in die
alle Anſichten ſich verſenken können.
Es folgt von ſelbſt, daß Shakeſpeare bei dieſer Art der Univer-
ſalität keine beſchränkte Welt hat, auch — inwiefern die idealiſche Welt
ſelbſt eine begrenzte, geſchloſſene Welt iſt — keine idealiſche Welt, da-
gegen aber auch nicht die direkt entgegengeſetzte Welt der idealiſchen,
wodurch der elende Geſchmack der Franzoſen die idealiſche Welt erſetzt,
— die conventionelle.
Shakeſpeare ſtellt alſo nie weder eine idealiſche noch eine conven-
tionelle, ſondern ſtets die wirkliche Welt dar. Das Idealiſche beruht
[724] bei ihm auf dem Bau ſeiner Stücke. Mit Leichtigkeit übrigens verſetzt
er ſich in jede Nationalität und Zeit, wie wenn es die ſeinige wäre,
d. h. er zeichnet ſie im Ganzen, unbekümmert um die weniger bedeu-
tenden Züge.
Was Menſchen beginnen, wie und wo ſie es thun können, dieß alles
hat Shakeſpeare gewußt: er iſt daher allenthalben zu Haus; nichts iſt ihm
fremd oder wunderbar. Er beobachtet ein weit höheres Koſtum als das
der Sitten und Zeiten. Der Styl ſeiner Stücke iſt nach dem Gegen-
ſtand gebildet und verſchieden von einander (nur nicht etwa nach Chro-
nologie) bis auf Härte, Weichheit, Regelmäßigkeit, Ungebundenheit der
Verſe, die Kürze und Abgebrochenheit oder die Länge der Perioden.
Denn, um nun das Uebrige, die äußere Conformation der mo-
dernen Tragödie betreffend, zu erwähnen, und um uns nicht bei den
nothwendigen Veränderungen derſelben, die aus den vorher ſchon bemerk-
ten Unterſchieden nothwendig hervorgehen, wie die Verlaſſung der drei
Einheiten, die Abtheilung des Ganzen in Aufzüge u. ſ. w. — um uns
dabei nicht aufzuhalten, ſo iſt die Miſchung der Proſa und der gebun-
denen Rede im modernen Drama nur wieder äußerer Ausdruck ihrer
innerlich epiſch- und dramatiſch-gemiſchten Natur, und um von den
ſogenannten bürgerlichen oder anderen inferieuren Trauerſpielen nicht
zu reden, wo die Perſonen billigerweiſe ſich in Proſa ausdrücken, war
der abwechſelnde Gebrauch der letzteren ſelbſt, eben wegen des Aus-
tretens der dramatiſchen Fülle in ſecundäre Perſonen nothwendig.
Uebrigens hat auch in dieſer Miſchung und in Beobachtung des Rechten
in Anſehung der Sprache nicht nur im Einzelnen, ſondern auch in
Anſehung des Ganzen eines Werks Shakeſpeare ſich als überlegenden
Künſtler gezeigt. So iſt im Hamlet der Periodenbau verwirrt, abge-
brochen, trüb wie der Held. In den hiſtoriſchen Stücken aus der älteren
und neueren engliſchen und aus der römiſchen Geſchichte herrſcht ein in
Bildung und Reinheit ſehr abweichender Ton. In den römiſchen Stücken
findet ſich faſt kein Reim, in den engliſchen dagegen zumal aus der
älteren Geſchichte finden ſich ſehr viele und äußerſt pittoreske.
Was man übrigens dem Shakeſpeare für Fehler, Verkehrtheiten
[725] und ſogar Rohheit anrechnet, ſind meiſtentheils keine, und werden nur
von einem beengten und unkräftigen Geſchmack dafür gehalten. Von
niemand iſt er indeß mehr verkannt in ſeiner wahren Größe als von
ſeinen eigenen Landsleuten und den engliſchen Commentatoren und
Bewunderern. Sie halten ſich immer an einzelne Darſtellungen der
Leidenſchaft, eines Charakters, an die Pſychologie, an Scenen, an
Worte, ohne Sinn für das Ganze und die Kunſt. Wenn man, ſagt
Tieck ſehr treffend, in die engliſchen Commentatoren einen Blick wirft,
ſo iſt es, als wenn man in einer ſchönen Gegend reiſend vor einer
Schenke vorbeifährt, wovor ſich beſoffene Bauern zanken.
Daß Shakeſpeare bloß durch eine glückliche Begeiſterung und in
unbewußter Herrlichkeit gedichtet habe, iſt ein ſehr gemeiner Irrthum
und die Sage einer gänzlich verbildeten Zeit geweſen, die in England
mit Pope begann. Die Deutſchen mißkannten ihn natürlich oft, nicht
nur wenn ſie ihn etwa nur aus einer formloſen Ueberſetzung kannten,
ſondern weil der Glaube an Kunſt überhaupt untergegangen war.
Shakeſpeares Jugendgedichte, die Sonette, Adonis, Lucretia zeu-
gen von einer höchſt liebenswerthen Natur und einem ſehr innigen,
ſubjektiven Gefühl, keinem bewußtloſen Genie-Sturm oder Drang.
Späterhin lebte Shakeſpeare ganz mit der Welt, ſo viel ihm ſeine
Sphäre zuließ, bis er anfing ſein Daſeyn in einer unbeſchränkten Welt
zu offenbaren und in einer Reihe von Kunſtwerken niederzulegen, die
wahrhaft die ganze Unendlichkeit der Kunſt und der Natur darſtellen.
Shakeſpeare iſt ſo umfaſſend in ſeinem Genius, daß man ihn
leicht wie den Homer für einen collektiven Namen halten könnte, und,
wie ſogar ſchon geſchehen, ſeine Werke verſchiedenen Verfaſſern zuſchrei-
ben. (Hier das Individuum collektiv, wie bei den Alten das Werk.)
Wir würden Shakeſpeares Kunſt doch immer nur mit einer Art
von Troſtloſigkeit anſchauen können, wenn wir ihn unbedingt als den
Gipfel der romantiſchen Kunſt im Drama betrachten müßten, da man
ihm doch immer vorerſt die Barbarei zugeben muß, um ihn innerhalb
derſelben groß, ja göttlich zu finden. Shakeſpeare läßt ſich in ſeiner
Unbeſchränkung mit keinem der alten Tragiker vergleichen, wir müſſen
[726] aber auf einen Sophokles der differenziirten Welt hoffen dürfen; in der
gleichſam ſündlichen Kunſt auf eine Verſöhnung. Von einer bisher
weniger bekannten Seite her ſcheint wenigſtens die Möglichkeit der voll-
ſtändigen Erfüllung dieſer Erwartung angedeutet.
Spanien hat den Geiſt hervorgebracht, der, wenn er auch dem
Stoff und Gegenſtand nach ſelbſt ſchon wieder eine Vergangenheit für
uns geworden iſt, doch der Form und der Kunſt nach ewig iſt und
als ſchon erreicht und vorhanden zeigt, was die Theorie etwa nur als
eine Aufgabe für die zukünftige Kunſt weiſſagen zu können ſchien. Ich
rede von Calderon, und ich rede ſo von ihm im Grunde nach der
Einen Tragödie, die ich kenne, wie ſich aus Einem Werk des Sopho-
kles ſein ganzer Geiſt ahnden ließe. Sie ſteht in dem ſpaniſchen Theater,
überſetzt von A. W. Schlegel, der zu ſeinem großen Verdienſt, zuerſt
eine ächte Ueberſetzung des Shakeſpeare gegeben zu haben, auch noch
dieſes hinzugefügt hat, den Calderon in deutſcher Sprache erſcheinen zu
laſſen. Was ich alſo über Calderon ſagen kann, bezieht ſich auch bloß
auf dieſes Werk. Es wäre zu dreiſt, daraus ein Urtheil über die
ganze Kunſt dieſes großen Geiſtes zu formiren. Was aber in dieſem
Einen klar vorliegt, iſt Folgendes.
Man könnte auf den erſten Blick geneigt ſeyn, den Calderon den
ſüdlichen, vielleicht katholiſchen Shakeſpeare zu nennen, allein es iſt
mehr als das, was beide Dichter unterſcheidet. Das Erſte und gleich-
ſam der Grund des ganzen Gebäudes ſeiner Kunſt iſt freilich, was ihm
die katholiſche Religion gegeben hat, zu deren Anſchauungen des Univer-
ſums und der göttlichen Ordnung der Dinge es weſentlich gehört, daß
die Sünde ſey und der Sünder, damit an ihnen Gott durch Vermitt-
lung der Kirche ſeine Gnade beweiſe. Damit iſt eine allgemeine
Nothwendigkeit der Sünde eingeführt, und in dem vorliegenden Stück
des Calderon entwickelt ſich das ganze Schickſal ans einer Art göttlicher
Schickung. Euſebio, der Held der Tragödie, iſt der unbewußte und
unerkannte Sohn eines Curtio, deſſen Tochter Julia von derſelben
Mutter zugleich mit ihm unter einem wunderthätigen Kreuz im Walde
geboren iſt, nachdem der Vater aus ungerechtem Verdacht die Mutter
[727] an derſelben Stelle zu ermorden geſucht hatte. Die Mutter wird durch
ein Wunder des Kreuzes aus dem Wald in ihr Haus entrückt, wo ſie
Curtio, in der Meinung zurückkommend, daß ſie ermordet ſey, lebendig
nebſt der holden Tochter, Julia, findet. Der Knabe Euſebio war bei
dem Kreuz zurückgeblieben und fiel einem wackern Mann in die Hände,
der ihn erzog; die Mutter erinnert ſich nur dunkel, zwei Kinder geboren
zu haben. Dieß iſt der Grund der Geſchichte, der aber in der Tragödie
ſelbſt nur hiſtoriſch vorkommt, die erſte Syntheſe, mit der alles gegeben iſt.
Euſebio, der Vater und Schweſter nicht erkennt (denn die Mutter
iſt ſeitdem geſtorben) liebt Julia; hieraus entwickelt ſich das ganze
Schickſal beider. Dieſes Schickſal und die folgenden Unthaten beider
ſind an die göttliche Fügung zurückgewieſen, die gewollt hat, daß
Euſebio nach der Geburt bei dem Kreuze zurückbliebe. Zugleich iſt
das der chriſtlichen Religion zwar nicht ausſchließlich eigenthümliche,
aber beſtimmt auch in ihr geltende Schickſal eingeführt, daß ſich die
Schuld der Väter an den Kindern rächt bis ins dritte und vierte Glied
(denn auch das Geſchlecht des Oedipus verfolgt der Fluch des Vaters,
wie das der Pelopiden die Gräuel der Ahnherrn), auch hierdurch iſt
die Schuld, als ſubjektive, von dem Helden hinweggenommen, und an
die Nothwendigkeit gewieſen.
Die erſte Folge der Liebe zu Julia iſt, daß Liſardo, ein älterer
Bruder, von Euſebio deßhalb Genugthuung fordert, daß er, der ohne
Namen und Eltern, gewagt ein Liebesverhältniß mit Julia anzuknü-
pfen. Liſardo fällt; dieß iſt der Beginn der Tragödie, deren erſte Ent-
wicklung durch mehrere Zwiſchenfälle die iſt, daß Julia ſich in das
Kloſter begibt, Euſebio aber, der durch Verbrechen ohn’ Ende ſein
unendliches Leiden rächen will, Anführer einer Räuberbande wird.
Mitten in dieſem Verderben ſendet ihm der Himmel den künftigen
Retter ſeiner Seele, den Biſchof Alberto von Trident, dem er das
Leben rettet, und der ihm dafür verheißt in Todesnoth ihm nahe zu
ſeyn und ſeine Beichte zu hören.
Euſebio und Julia ſtehen beide unter der beſonderen Obhut des
wunderthätigen Kreuzes, mit deſſen Bild beide von Natur auf der Bruſt
[728] gezeichnet ſind. Euſebio kennt die Wirkung dieſes Mals und der An-
dacht zu dem Kreuz, das ihn aus den wildeſten Gefahren ſchon errettet
hat. Auch jetzt wird jenes Zeichen ſchickſalbeſtimmend für beide. Euſebio
dringt bei Nacht in Julias Kloſter durch die Kreuzgänge bis in ihre
Zelle: aber wir ſehen ihn, wieder von ihr geſchreckt, durch eine Furcht,
die Julia nicht begreift, über die Kloſtermauer zurückeilen, wo ihn
ſeine Kameraden erwarten. Es iſt das Mal des Kreuzes, welches er
auf ihrer Bruſt, wie es auf der ſeinigen iſt, entdeckt, welches beide
trennt, und Julia von der letzten Schuld der Blutſchande und des
Brechens der Gelübde errettet. Aber daſſelbe Zeichen treibt Julia in
ein weiteres Schickſal. Da in dem Schrecken, mit dem Euſebio forteilt,
die Leiter ſtehen bleibt, folgt ihm Julia in der Verwirrung empörter
Leidenſchaft und ſteigt herab. In einiger Entfernung erwacht ihre
Beſinnung, ſie will zurück, aber indeß haben Euſebios Gefährten die
Leiter hinweggenommen; ſie iſt nun in der Nonnenkleidung in die weite
Welt geſtoßen, und auch die zarte Julia geht nun Euſebios Weg,
indem ſie ihr Leiden und ihre Verzweiflung durch gehäuften Mord und
Unthaten rächt, bis ſie nach einer Reihe ſolcher Thaten endlich zu Euſebio
durchdringt. Curtio zieht indeß gegen die Räuber aus; in einem allge-
meinen, hin und her ſchwankenden Kampf, bei welchem Julia in Män-
nertracht ihren Geliebten vertheidigt, wird dieſer endlich tödtlich ver-
wundet. Schon wie todt ruft er nach dem Biſchof Alberto, der wie
durch göttliche Schickung des Weges kommt und ihn Beichte hört, wor-
auf er ruhig ſtirbt. Auch dieß geht auf dem einſamen Fleck im Walde
vor bei dem Krucifix, welches ſeine Geburt beſchirmte, ſein Schickſal
entſchied und jetzt auch ſein Ende ſelig macht. Curtio, Zeuge des Vor-
gehenden, erkennt die Stelle, erkennt Euſebio als ſeinen Sohn und
Julia in der Verkleidung; welche ihm bekennt, daß ihre kurze Laufbahn
ſeit der Entweichung aus dem Kloſter mit Mord und Gräuelthaten
bezeichnet war. Den Sohn preist der Vater ſelig, ſie aber verdammt
er und will ſie vertilgen, als ſie das Kreuz umſchlingt, und ihre
Schuld im Kloſter zu büßen verſprechend, es um Hülfe fleht, worauf
das Kreuz ſich erhebt und ſie mit ſich in die Höhe nimmt.
[729]
Dieß iſt der kurze Inhalt dieſer Tragödie, in welcher, wie offen-
bar iſt, das meiſte durch höhere Schickung geſchieht und durch ein
chriſtliches Schickſal verhängt iſt, nach welchem Sünder ſeyn müſſen,
damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde. Dieß
entſcheidet über das Weſentliche dieſer Tragödie, die weder hölliſcher
Mächte zur Verführung, noch der bloß äußeren Nemeſis zur Strafe bedarf.
Wenn wir daher in Shakeſpeare eigentlich nur den unendlichen
Verſtand, der dadurch, daß er unendlich iſt, als Vernunft erſcheint,
bewundern, ſo müſſen wir in Calderon die Vernunft erkennen. Es
ſind nicht rein wirkliche Verhältniſſe, in die ein unergründlicher Ver-
ſtand den Widerſchein einer abſoluten Welt legt, es ſind abſolute Ver-
hältniſſe, es iſt die abſolute Welt ſelbſt.
Calderon, obgleich die Züge ſeiner Charaktere groß und mit un-
gemeiner Schärfe und Sicherheit angegeben ſind, bedarf doch des
Charakteriſtiſchen weniger, weil er ein wahreres Schickſal hat.
Aber ebenſo ſehr müſſen wir Calderon in Rückſicht auf die innere
Form der Kompoſition erheben. Stellen wir das angeführte Werk
unter den höchſten Maßſtab, den, daß die Abſicht des Künſtlers in das
Werk ſelbſt übergegangen, mit ihm völlig eins und eben durch dieſe
abſolute Erkennbarkeit wieder unerkennbar ſey, ſo iſt er in dieſer Be-
ziehung nur mit Sophokles zu vergleichen.
Im Shakeſpeare beruht die Objektivirung und Unerkennbarkeit der
Abſicht als ſolcher nur auf der Unergründlichkeit, Calderon iſt ganz durch-
ſichtig, man ſieht bis auf den Grund ſeiner Abſicht, ja er ſpricht ſie
nicht ſelten ſelbſt aus, wie Sophokles oft thut, und doch iſt ſie mit dem
Objekt ſo verſchmolzen, daß ſie nicht mehr als Abſicht erſcheint, wie
in einem Kryſtall das vollkommenſte Gewebe, aber unerkennbar, dar-
geſtellt iſt. Dieſe höchſte und abſolute Beſonnenheit, dieſe letzte In-
differenz von Abſicht und Nothwendigkeit iſt unter den Neueren nur in
Calderon auf ſolche Weiſe erreicht. Es gehört zu dieſer Durchſichtigkeit
ſchon, daß das Ueberflüſſige der Begleitung in ihm nicht ſo mit ver-
arbeitet ſeyn kann wie in Shakeſpeare. Die ganze Form iſt con-
centrirter, und obwohl auch hier die komiſchen Partien neben den
[730] tragiſchen beſtehen, ſo haben ſie von der einen Seite doch nicht das große
Gewicht wie bei Shakeſpeare, und ſind von der anderen mit den tra-
giſchen mehr wie aus Einem Guß unauflöslich verſchmolzen.
Man würde ſich ſehr irren, wenn man in dem Werk des Calderon
eine fromme und heilige Darſtellung erwartete, wie die meiſten aus
Unkunde ſolche Werke ſich denken: es iſt keine Genoveva, wo der Ka-
tholicismus abſichtlich fromm und im höchſten Grad trübe genommen
iſt, es iſt vielmehr eine durchaus poetiſche und unauslöſchliche Heiter-
keit darin; es iſt alles, im höchſten Styl, profan darin, ausgenommen
die Kunſt ſelbſt, welche wahrhaft heilig erſcheint.
Die Conſtruktion des Ganzen iſt rationeller, in einem Maß wie
man es der modernen Poeſie wahrſcheinlich nicht zugetraut hätte, wenn
man ihren Charakter allein von Shakeſpeare abſtrahirte. Die zerſtreuten
Principien der romantiſchen Gattung hat Calderon in eine ſtrengere
Einheit gefaßt, die ſich der wahren Schönheit nähert. Er hat, ohne
die alten Regeln zu beobachten, die Handlung zuſammengedrängt; ſein
Drama iſt dramatiſcher und daher ſchon reiner. Innerhalb dieſer Form
iſt er immer reine Geſtaltung neben der höchſten Farbe, ſo daß im
Großen und im Kleinen bis auf die Wahl des Sylbenmaßes Form
und Stoff aufs innigſte ſich durchdringen. Die Motivirung iſt nicht
vernachläſſigt, aber ſie drängt ſich nicht vor, ſie iſt ganz integrirender
Theil der Organiſation des Ganzen, von dem ſich nichts hinwegnehmen,
und dem ſich nichts zuſetzen läßt. Sie iſt im Ganzen immer auf
Schickung gegründet, obgleich ſie im Einzelnen a) als Zufall ſich
zeigen kann, wie wenn Julia die Leiter nicht mehr findet, b) als ſitt-
lich, da der angeregte Aufruhr ihrer Bruſt ſie zu Verbrechen treibt,
aber auch ganz abſolut in der Erſcheinung und Wiedererſcheinung des
Prieſters.
Endlich, was Calderon durch die höhere Welt voraus hat, auf
die ſeine Poeſie ſich gründet, iſt, daß die Verſöhnung zugleich mit der
Sünde, und mit der Differenz unmittelbar auch die Nothwendigkeit
bereitet iſt. Er behandelt die Wunder ſeiner Religion wie eine un-
umſtößliche Mythologie, den Glauben daran als die unbeſiegbare
[731] Göttlichkeit der Geſinnung. Durch dieſe werden Euſebio und Julia ge-
rettet, und die Verſöhnung, welche er den Vater über den erſten mit
wahrhaft antiker Simplicität in den Worten ausſprechen läßt:
dieſe Verſöhnung beſänftigt, wie das Ende des Oedipus oder das letzte
Loos der Antigone.
Im Uebergang von der Tragödie der Neueren zur Komödie iſt es
ohne Zweifel am ſchicklichſten, des größten Gedichts der Deutſchen,
des Fauſt von Goethe, zu erwähnen. Es iſt aber ſchwer, das Urtheil
über den Geiſt des Ganzen aus dem, was wir davon beſitzen, über-
zeugend genug zu begründen. So möchte der gewöhnlichen Anſicht da-
von die Behauptung ſehr auffallend ſeyn, daß dieſes Gedicht ſeiner
Intention nach bei weitem mehr ariſtophaniſch als tragiſch iſt.
Ich begnüge mich daher, den allgemeinſten Geſichtspunkt für dieſes
Gedicht, ſoweit ich ihn einzuſehen glaube, anzugeben.
Es gibt nicht nur ein Schickſal für das Handeln; auch dem
Wiſſen des Individuums als Individuum ſteht das An-ſich des Uni-
verſums und der Natur als eine unüberwindliche Nothwendigkeit vor.
Des Unendlichen als Unendlichen kann nicht das Subjekt als Subjekt
genießen, welches doch ein nothwendiger Hang deſſelben iſt. Hier
alſo ein ewiger Widerſpruch. Dieß iſt gleichſam eine idealere Potenz
des Schickſals, welches hier mit dem Subjekt nicht minder, wie im
Handeln, im Gegenſatz iſt und im Kampfe liegt. Die aufgehobene
Harmonie kann ſich hier nach zwei Seiten ausdrücken, und der Streit
einen gedoppelten Ausweg ſuchen. Der Ausgangspunkt iſt der unbe-
friedigte Durſt, das Innere der Dinge zu ſchauen und als Subjekt zu
genießen, und die erſte Richtung die, die unerſättliche Begier außer
[732] dem Ziel und Maß der Vernunft durch Schwärmerei zu ſtillen, wie
es in der Stelle des Fauſt ausgeſprochen iſt:
Der andere Ausweg des unbefriedigten Strebens des Geiſtes iſt der,
ſich in die Welt zu ſtürzen, der Erde Weh, der Erde Glück zu
tragen. Auch in dieſer Richtung iſt der Ausgang entſchieden; auch hier
nämlich iſt es ewig unmöglich, als Endliches des Unendlichen theilhaftig
zu werden; welches in den Worten ausgeſprochen iſt:
In Goethes Fauſt ſind dieſe beiden Richtungen dargeſtellt oder vielmehr
unmittelbar vereinigt, ſo daß aus der einen zugleich die andere entſpringt.
Des Dramatiſchen wegen mußte das Uebergewicht auf die andere
Richtung, die Begegnung eines ſolchen Geiſtes mit der Welt, gelegt
werden. Soweit wir das Gedicht überſehen, erkennen wir deutlich,
daß Fauſt in dieſer Richtung durch das höchſte Tragiſche gehen ſoll.
Aber die heitere Anlage des Ganzen ſchon im erſten Wurf, die
Wahrheit des mißleiteten Beſtrebens, die Aechtheit des Verlangens
nach dem höchſten Leben läßt ſchon erwarten, daß der Widerſtreit
ſich in einer höheren Inſtanz löſen werde, und Fauſt in höhere
Sphären erhoben vollendet werde.
In dieſem Betracht hat dieſes Gedicht, ſo fremd dieß ſcheinen
möge, eine wahrhaft Danteſche Bedeutung, obgleich es weit mehr
[733] Komödie und mehr in poetiſchem Sinn göttlich iſt, als das Werk
des Dante.
Das wilde Leben, in welches ſich Fauſt ſtürzt, wird für ihn nach
einer nothwendigen Folge zur Hölle. Die erſte Reinigung von Qualen
des Wiſſens und der falſchen Imagination wird nach der heiteren Ab-
ſicht des Ganzen in einer Einweihung in die Principien der Teufelei,
als der eigentlichen Grundlage der beſonnenen Anſicht der Welt, beſtehen
müſſen, wie die Vollendung darin, daß er durch Erhebung über ſich
ſelbſt und das Unweſentliche das Weſentliche ſchaut und genießen lernt.
Schon dieſes Wenige, was ſich über die Natur des Gedichts zum
Theil mehr ahnden als wiſſen läßt, zeigt, daß es ein ganz und in jeder
Beziehung originelles, nur ſich ſelbſt vergleichbares, in ſich ſelbſt ruhen-
des Werk ſey. Die Art des Schickſals iſt einzig und wäre eine neue
Erfindung zu nennen, wenn ſie nicht gewiſſermaßen in deutſcher Art
gegeben, und daher auch durch die mythologiſche Perſon des Fauſt
urſprünglich repräſentirt wäre.
Durch dieſen eigenthümlichen Widerſtreit, der im Wiſſen beginnt,
hat das Gedicht ſeine wiſſenſchaftliche Seite bekommen, ſo daß, wenn
irgend ein Poem philoſophiſch heißen kann, dieſes Prädikat Goethes
Fauſt allein zugelegt werden muß. Der herrliche Geiſt, der mit der
Kraft des außerordentlichen Dichters den Tiefſinn des Philoſophen ver-
eint, hat in dieſem Gedicht einen ewig friſchen Quell der Wiſſenſchaft
geöffnet, der allein hinreichend war, die Wiſſenſchaft in dieſer Zeit zu
verjüngen, die Friſchheit eines neuen Lebens über ſie zu verbreiten.
Wer in das wahre Heiligthum der Natur dringen will, nähere ſich
dieſen Tönen aus einer höheren Welt und ſauge in früher Jugend
die Kraft in ſich, die wie in dichten Lichtſtrahlen von dieſem Gedicht
ausgeht und das Innerſte der Welt bewegt.
Goethes Fauſt könnte man eine moderne Komödie im höchſten Styl
nennen, aus dem ganzen Stoff der Zeit gebildet. Wie die Tragödie
in dem Aether der öffentlichen Sittlichkeit, ſo lebt die Komödie in der
[734] Luft öffentlicher Freiheit. Mit der neuen Welt verſchwand das öffent-
liche Leben; der Staat wurde durch die Kirche, wie überhaupt das
Reale durch das Ideale verdrungen. Nur in dieſer war noch ein allge-
meines Leben; nur aus ihr, ihren Gebräuchen, Feierlichkeiten, öffent-
lichen Handlungen, wie aus ihrer Mythologie konnte die Komödie ſich
entwickeln. Die erſten Komödien waren daher Vorſtellungen der bib-
liſchen Geſchichte, worin der Teufel gewöhnlich die luſtige Perſon ſpielte,
die in Spanien, wahrſcheinlich ihrem erſten Vaterlande, und wo ſie
ſich bis in das vergangene Jahrhundert erhielten, Autos sacramen-
tales genannt wurden. Auf dieſe Art der Komödie gründete ſich die
Muſe des Calderon, der in der Komödie ſo groß als in der Tragödie
iſt, und faſt einzig in dieſem Stoff gelebt hat. Eine zweite Gattung
bildete ſich aus dem erſten, die Komödien der Heiligen, es ſind wenige,
die nicht auf die Bühne gebracht worden wären. Auch in dieſer Gat-
tung iſt Calderon Meiſter. — Den erſten Uebergang von dieſer idealen
Welt in die gemeine und wirkliche machten in Spanien die Schäfer-
ſpiele, und Shakeſpeare, kann man ſagen, dem Geburt und Zeitalter
jenen höheren Boden verſagte, erſchuf ſich für das Luſtſpiel eine ganz
eigne, romantiſche Welt, gewiſſermaßen auch eine Schäferwelt, aber
von viel höherer Farbe, Kraft und Fülle. Auch hier mußte das Indi-
viduum ins Mittel treten, und die Welt, die ihm nicht gegeben war,
ſich erſchaffen. Was kann eigener und vom Conventionellen entfernter
ſeyn, als die Welt in Wie es euch gefällt, in Was ihr wollt
u. ſ. w. In Einem Werk, der Komödie der Irrungen, hat Shakeſpeare
einen alten Stoff, aber noch potenzirt und mit Vervielfachung der
Verwirrung behandelt. Auch Calderon hat, wo er den Stoff ſeiner
Komödie ganz auf Erfindung gründet, wie Shakeſpeare zugleich eine
romantiſche Welt als Boden angenommen, nur daß er vor Shakeſpeare
die Nation und die Wirklichkeit voraus hatte, da in Spanien im Zeit-
alter des Calderon noch eine Art von öffentlichem Leben — wenigſtens
im Romantiſchen — war, und ſeine Helden, ſo romantiſch ihr Aus-
ſehen ſcheinen mag, doch zugleich die Sitten der Zeit und das Leben
der damaligen Welt zum Hintergrund hatten.
[735]
Wie die Franzoſen in der Tragödie zuerſt an die Stelle der idealiſchen
Welt, zu der ſie ſich nicht erheben können, die umgekehrte idealiſche Welt
— die conventionelle — geſetzt haben, ſo auch in der Komödie, und
ihre Einwirkung hat eigentlich die wahre abſolute Komödie, diejenige,
welche ſich auf etwas Oeffentliches gründet, völlig verdrungen. Nicht
als ob die Spanier nicht auch neben den Charakter- auch die Intriguen-
ſtücke gekannt hätten, von denen ſie vielmehr die eigentlichen Erfinder ſind,
aber dieſe gründen ſich auf ein romantiſches Leben. Die der Franzoſen
auf das gemein-ſociale oder häusliche, wie ſie auch die Erfinder der
weinerlichen Komödie ſind. Deutſchland hat außer den erſten noch
wahren und derben Regungen einer gleichfalls aus der Religion her-
vorgehenden Komödie, wovon mehrere Stücke des Hans Sachs die
Belege ſind, in welchen die Religion ohne Spott, doch paradoxirt und
bibliſche Mythen komiſch behandelt ſind, — nach dieſen erſten Regungen,
und nachdem hier der Proteſtantismus der Oeffentlichkeit des religiöſen
Lebens Eintrag gethan hat, faſt nur von fremdem Raube gelebt, und
die einzige eigenthümliche Erfindung der Deutſchen in Maſſe bleibt es,
in Familiengedichten den tiefſten Ton der Philiſterei und Häuslichkeit
angegeben, ſowie in den gewöhnlichen Komödien die Infamie der herr-
ſchenden ſittlichen Begriffe und niederträchtiger Edelmüthigkeit mit großer
Natürlichkeit niedergelegt zu haben, und es bleibt für dieſe Schmach
des deutſchen Theaters kein Troſt, als etwa daß andere Nationen nach
dieſem deutſchen Wegwurf mit Begier gehaſcht haben.
Nachdem im Drama nach ſeinen zwei Formen die höchſte Totalität
erreicht iſt, ſo kann die redende Kunſt nur wieder zur bildenden zurück-
ſtreben, aber ſelbſt nicht weiter ſich bilden.
Im Geſang geht die Poeſie zur Muſik zurück, zur Malerei im
Tanz, theils ſofern er Ballet, theils ſofern er Pantomime iſt, zur eigent-
lichen Plaſtik in der Schauſpielkunſt, die eine lebendige Plaſtik iſt.
Da dieſe Künſte, wie geſagt, durch ein Zurückſtreben aus der
redenden zur bildenden Kunſt entſtehen, ſo bilden ſie eine eigne Sphäre
[736] ſecundärer Künſte, die ich in dem Kreis unſerer Conſtruktion darum
nur erwähnen zu müſſen glaube, da ihre Geſetze als zuſammengeſetzter
Künſte aus den Geſetzen derer, aus welchen ſie zuſammengeſetzt ſind,
herfließen, und was an ihnen nicht auf dieſe Weiſe eingeſehen werden
kann, nur auf empiriſch-techniſchen Regeln beruht, die von ſelbſt aus
unſerer Conſtruktion ausgeſchloſſen ſind.
Ich bemerke nur noch, daß die vollkommenſte Zuſammenſetzung
aller Künſte, die Vereinigung von Poeſie und Muſik durch Geſang, von
Poeſie und Malerei durch Tanz, ſelbſt wieder ſyntheſirt die componirteſte
Theatererſcheinung iſt, dergleichen das Drama des Alterthums war,
wovon uns nur eine Karrikatur, die Oper, geblieben iſt, die in höhe-
rem und edlerem Styl von Seiten der Poeſie ſowohl als der übrigen
concurrirenden Künſte uns am eheſten zur Aufführung des alten mit
Muſik und Geſang verbundenen Dramas zurückführen könnte.
Muſik, Geſang, Tanz, wie alle Arten des Drama leben ſelbſt
nur im öffentlichen Leben und verbünden ſich in dieſem. Wo dieſes
verſchwindet, kann ſtatt des realen und äußerlichen Dramas, an dem,
in allen ſeinen Formen, das ganze Volk, als politiſche oder ſittliche
Totalität, Theil nimmt, ein innerliches, ideales Drama allein noch
das Volk vereinigen. Dieſes ideale Drama iſt der Gottesdienſt, die
einzige Art wahrhaft öffentlicher Handlung, die der neueren Zeit,
und auch dieſer ſpäterhin nur ſehr geſchmälert und beengt geblieben iſt.
[[737]]
Appendix A Zu verbeſſern:
- S. 380, Z. 5. v. u. ſtatt darnach zu leſen: demnach
- S. 448, Z. 16 v. u. gehören die Worte: obgleich — Einheit zum vorhergehenden
Satz. - S. 452, Z. 4 v. u iſt ſtatt §. 45 zu ſetzen §. 46.
- S 669, Z. 19 v. o. ſtatt Luiſiade zu leſen: Luſiade.
SchellingV.
[[738]][[739]][[740]][[741]][[742]][[743]]
(Bd. 3, S. 629).
Rückert und Weiß ſagt Haym S. 502, Anm. 3, die Hegelſche Autorſchaft des-
ſelben ſey mindeſtens zweifelhaft, aber es iſt ein Widerſpruch, wenn er denſelben
dennoch zur Charakteriſtik Hegels anwendet, wie dieß z. B. S. 185 geſchieht.
S. 374.
und würdiger Gegenſtand nicht nur überhaupt des Philoſophen, ſondern auch
vorzüglich des neueren Philoſophen ſey“, iſt hier weggefallen, da er mit der
Vorleſung über die Kunſt in der Methode des akademiſchen Studiums (oben
S. 344 ff.) faſt gleichlautend iſt. Es iſt alſo die genannte Vorleſung zugleich
als der Anfang der Einleitung in die Philoſophie der Kunſt anzuſehen. D. H.
über das Verhältniß der Naturphiloſophie zur Philoſophie überhaupt, oben
S. 106 ff. D. H.
handlung, oben S. 107. D. H.
fällt, ſo iſt die eigentliche Welt der bloß ſcheinbaren Realität, die Schattenwelt,
dafür im Reich der Todten, welches ſich zu der Sinnenwelt wieder ebenſo wie
dieſe nach den Lehren der Philoſophie zur Intellektualwelt verhält.
Mythologie, S. 241 ff. und Philoſophie der Offenbarung (2 Abth., Bd. 3)
S. 429. D. H.
Mythologie. D. H.
Einleitung in die Philoſophie der Mythologie, 23 Vorleſung. D. H.
haupt u. ſ. w. Krit. Journal I, 1, S. XI. (oben S. 8). D. H.
(2. Abth., 1. Bd.) S. 242. D. H.
Einleitung zum Kritiſchen Journal (Ueber das Weſen der philoſ. Kritik über-
haupt u. ſ. w.) S. IX. (oben S. 7). D. H.
wie der Lehrer des Inſtinkts das Sittliche iſt, ſo der Sprache. Beide Be-
hauptungen, daß durch Erfindung der Menſchen, durch Freiheit, und daß durch
göttlichen Unterricht, ſind falſch.
1847, Bd. 12, S. 62).
Versbau, die Anwendung des rhythmiſchen Sylbenmaßes auf die neueren Spra-
chen, ferner über die neuen Sylbenmaße (den Reim ꝛc.) wurden als nichts
Eigenthümliches enthaltend (und theilweiſe nur in Andeutungen beſtehend) hier
übergangen, um ſo mehr, als der Verfaſſer im Verlauf derſelben ſelbſt erklärt
ſich in ſeinen Angaben meiſt nach bekannten Schriftſtellern (A. W. Schlegel,
Moriz) gerichtet zu haben. D. H.
Komödie“ iſt unter den Abhandlungen des Kritiſchen Journals abgedruckt
(oben S. 152 ff.). D. H.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Philosophie der Kunst. Philosophie der Kunst. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn6t.0