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Heſperus,
oder
45 Hundspoſttage.



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Zweites Heftlein.


Berlin: 1795.
In Karl Matzdorffs Buchhandlung.
[][]

Druckfehler des 2ten Heftleins.


Seite 35 Zeile 7 von oben ſt. aufwallend lies aufwollend.


— 68 — 6 von unten ſt. unpartheiiſche l. unpoetiſche


— 75 — 6 von oben ſt. tadelfaͤhigen l. tafelfaͤhigen.


— 79 — 9 von oben muß deren weg.


— 94 — 6 von unten ſt. vergoffene l. vergeſſene.


— 145 — 4 von oben ſt. Halfter l. Hulfter.


— 223 — 15 — — ſt. Biographie l. Biographin.


— 237— 6 — — ſt. ſeinem Thiere l. ſeinen Thieren.


— — — 17 — — ſt. theologiſche l. teleologiſche.


— 245 — 5 — — ſt. Litrationen l. Librazionen.


— 251 — 9 von unten ſt. Neſt l. Reſt.


— 256 — 4 von oben ſt. v. S! l. »S».


— 260 — 9 von unten ſt. dankt l. denkt.


— 278 — 10 von oben ſt. einzuſchließen l. einzuſchießen.


— — letzte Zeile ſt. verpuzte l. verpuppte.


— 285 — 2 von oben ſt. daß ſelber l. das, ſelber.


— 290 — 8 von unten ſt. Artochthon l. Avtochthon.


— 404 — 8 — — ſt. der l. die.


— 318 — 3 von oben ſt. vorhaͤngen l. verhaͤngen.


— 327 — 8v. unt. ſt. vorausgeſetzten l.vorausgehetzen.


— 350 — 12 — — ſt. das l. daß.


— 364 — 12 von oben fehlt nicht.

[][[1]]

Zweiter Theil.

Heſperus. II Th. A[[2]][[3]]

17. Hundspoſttag.

Die Kur — das Schloß des Fürſten — Viktors Viſiten —
Joachime — Kupferſtich des Hofs — Prügel —


Ich ſagte in Breslau: »ich wollt', ich waͤre der
»Fetspopel!» da ich gerade das Portrait dieſer Per¬
ſon verzehrte. Der Fetspopel iſt eine Naͤrrin, de¬
ren Geſicht den breslauiſchen Pfefferkuchen aufge¬
preſſet iſt. Ich ſage folgendes nicht blos meinetwe¬
gen, um etwan blos mich auf eine ſolche Pfefferku¬
chen-Paſten zu bringen, ſondern auch anderer Ge¬
lehrten wegen, die Deutſchland eben ſo wenig mit
Monumenten ehrt z. B. Leſſing, Leibniz. Da es
einem in den deutſchen Kreiſen ſo ſauer wird, bis
man nur eine ½ Ruthe Steine zum Grabmal eines
Leſſings oder ſonſtigen Großen zuſammenbringt —
das was von Steinen gute Rezenſenten auf einen
Litteratus ſchon bey Lebzeiten werfen wie die Alten
auf Graͤber, iſt noch das Meiſte —: ſo erklaͤrt' ich
mich frey auf dem breslauiſchen Markt, eh' ich noch
A 2[4] »den Fetspopel angebiſſen: entweder hier auf dieſem
»Pfefferkuchen iſt der Tempel des Ruhms und das
»Bette der Ehren fuͤr deutſche Autores, oder es
»giebt gar keinen Ruhm. Wann iſt es Zeit, ſobald
»es nicht jetzt iſt, es von den Deutſchen zu erwar¬
»ten, daß ſie Geſichter ihrer groͤßten Maͤnner
»nehmen und pouſſiren in Eswaaren, weil doch der
»Magen das groͤßte deutſche Glied iſt? Wenn der
»Grieche unter lauter Statuen groſſer Maͤnner
»wohnte und dadurch auch einer wurde: ſo wuͤrde der
»Wiener, wenn er die groͤßten Koͤpfe immer vor Augen
»und auf dem haͤtte, in Enthuſiasmus gera¬
»then und wetteifern, um ſich und ſein Geſicht auch
»auf Pfeffer- und andern Kuchen, Paſteten und
»Krapfen zu ſchwingen. Meuſels gelehrtes Deutſch¬
»land waͤre in Backwerk nachzudrucken — man koͤnn¬
»te groſſe Helden auf Kommisbrod nachboſſeln‚ um
»die gemeine Soldateska in Feuer zu ſetzen und in
»Hunger nach Ruhm — groſſe Dichter wuͤrd' ich
»auf Brautkuchen abreiſſen in eingelegten Bild¬
»werk und Heraldiker von Genie auf Haferbrod —
»von Autoren fuͤr Weiber waͤren ſuͤſſe Projekzionen
»in Zuckerwerk zu entwerfen — Geſchaͤhe das: ſo
»wuͤrden Koͤpfe wie Haman oder Liskov allgemeiner
»von den Deutſchen goutiret in ſolcher Einkleidung;
»und mancher Gelehrte, der kein Brod zu eſſen haͤt¬
»te, wuͤrde eines doch verzieren; und man haͤtte
[5] »auſſer dem papiernen Adel noch einen gebacknen.»
— — Was mich anlangt, der ich mein Geſicht bis¬
her noch nirgends gewahr wurde als im Raſirſpie¬
gel: ſo ſoll man mich damit — denn in Weſtphalen
bin ich am wenigſten bekannt, vielleicht keinem
Hund — auf Pumpernickel mappieren. — —


Jetzt wieder zur Hiſtorie! Ein langer kraushaa¬
riger Menſch ſteht in der Nacht vor dem bunten
Hauſe des Apotheker Zeuſels, guckt zum dritten er¬
leuchteten Stockwerk, in das er zieht, empor und
macht endlich ſtatt der hoͤlzernen Thuͤr die transpa¬
rente der Apotheke auf. O mein guter Sebaſtian!
Segen ſey mit deinem Einzug! Ein guter Engel
gebe dir ſeine Hand, um dich uͤber ſumpfige Wege
und Fußangeln zu heben: und wenn du dir eine
Wunde gefallen, ſo weh' er ſie mit ſeinem Fluͤgel
an und ein guter Menſch decke ſie mit ſeinem Her¬
zen zu! —


In der wie ein Tanzſaal flammenden Apotheke
bat ſich einer der fetteſten Hoflakaien von einem der
magerſten Proviſoren noch einen Manipel und einen
kleinen Pugillum Moxa fuͤr ſeine Durchlaucht aus.
Der magere Mann nahm aber hinter ſeiner Wage
eine halbofne Hand voll Moxa und noch vier Fin¬
gerſpitzen voll — da doch ein kleiner Pugillus nur
drei Fingerſpitzen betraͤgt — und ſchickte alles den
Fuͤſſen des Fuͤrſten zu: »wenn wir das gar verbrannt
[6] »haben — ſagt' er und wies auf die Moxa — ſo
»wird ſeine Durchlaucht ſchon ein Podagra haben
»ſo gut als eines im Lande iſt.»


Die Urſache warum der Proviſor mehr gab als
rezeptiret war, iſt, weil er auch ſeinen Kirchenſtuhl
im Tempel des Nachruhms haben wollte; daher
uͤberdachte er erſtlich ein fremdes Rezept ſo lange
bis ers genehmigte und wog zweitens immer \frac{1}{11}, \frac{1}{17}
Skrupel zuviel oder zu wenig zu, um dem Doktor
die Buͤrgerkrone der Heilung vom Kopf zu nehmen
und auf ſeinen zu ſetzen: »blos mit der Doſis muß
»ich meine Kuren thun» ſagte er. Viktor goͤnnte
ihm den Irſal: »ein Proviſor, ſagte er, der den
»ganzen Fluͤgel der Rekonvaleszenten anfuͤhrt und
»dem Doktor blos die Arrier-Garde der Leichen
»zutheilt, hat fuͤr dieſes abbrevirte Leben ſchon Lor¬
»beerkraͤnze genug unter der Gehirnſchaale.»


Der Hr. v. Swoboda hat Welt genug, um den
Miethmann nicht durch ein aufgenoͤthigtes Em¬
pfangs-Souper zu geniren und ſagte ihm blos den
Zeitungsartikel aus dem muͤndlichen morning chro¬
nicle
, daß der Fuͤrſt das Podagra weniger habe
als ſuche [und] fixire. Auch gab er ihm den italieni¬
ſchen Bedienten, den der Lord fuͤr ihn gemiethet
hatte, und das Zimmer.


[Und] darin ſitzt Baſtian jetzt auf der Fen¬
ſterbruͤſtung allein und denkt — ohne Blick auf
[7][Ammeublement] der [Stube] und der Ausſicht — ernſt¬
haft nach, was er denn eigentlich hier vorhabe mor¬
gen und uͤbermorgen und laͤnger: »morgen zuͤnd' ich
»ſonach los — ſagt' er und drehte die Quaſte der
»Fenſterſchnur — ich und das Podagra ſollen uns
»fixiren beim Fuͤrſten — arg iſts, wenn ein Menſch
»die atthritiſche Materie eines Regenten als Waſ¬
»ſer braucht, um ſeine Muͤhle zu treiben — ein
»Herz-Polype, eine Kopf-Waſſerſucht ſollte
»mich weniger aͤrgern als Hofmann, beides waͤren
»anſtaͤndige Gnadenmittel und Flosfedern zum
»Steigen. — Nein, ich bleibe gerade und feſt, ganz
»aufrecht, ich gebe gleich anfangs nicht nach, damit
»ſie's nicht anders wiſſen. — Nicht einmal ans
»Kantoniren und Ankern im Vorzimmer iſt zu den¬
»ken.» (Auch hatte der Lord dem Selbſtſprecher
ſchon die Diſpenſazionen von der aͤngſtlichen Hoford¬
nung einbedungen). — »Ach ihr ſchoͤnen Fruͤhlings¬
»jahre! ihr ſeid nun uͤber mich weggeflattert und
»mit euch die Ruhe und der Scherz und die Wiſ¬
»ſenſchaften und die Aufrichtigkeit und lauter aͤhnli¬
»che gute Herzen.» — (Er wirbelte die Quaſten¬
ſchnur ploͤtzlich kuͤrzer hinauf.) »Aber du guter Va¬
»ter, du haſt ſolche Jahre nicht einmal gehabt, du
»durchſtreifeſt die Erde und giebſt deine Tage Preis
»fuͤr das Gluͤck der Menſchen. — Nein, dein Sohn
»ſoll dir deine Aufopferungen nicht verderben und
[8] »nicht verbittern — er ſoll ſich hier geſcheut genug auf¬
»fuͤhren — und wenn du dann wieder kommſt und
»hier am Hofe einen gehorſamen, einen beguͤnſtigten
»und doch unverdorbnen Sohn antrifft. . . .»
Als der Sohn gar dachte, daß er, wenn er ſo in
gerader Aszenſion am Hofe kulminirte, gewinnen
koͤnnte das Herz der Kaplanei, das Herz von le Baut,
das Herz der Tochter glaub' ich: ſo hielt er die
Quaſte abgedreht in ſeiner . . . . und legte ſich ſtill
zu Bette.


— Steh auf, mein Held! Die Morgenſonne
macht ſchon deinen Erker roth — ſpringe unter dem
Glockengelaͤute der Wochenpredigt und unter dem
Getoͤſe des heutigen Markttages in deine helle Stu¬
be — dein Vater, von dem du die ganze Nacht ge¬
traͤumt, hat ſie voll muſikaliſchem und maleriſchem
Schiff und Geſchirr geſtellt und du wirſt den ganzen
Morgen an ihn. denken — und doch ſchenkt dir der
Erker noch mehr, einen gruͤnen Streif von Feldern
und Maienthals Anhoͤhen nach Abend — den gan¬
zen Marktplatz — das Privat-Haus des Stadtſe¬
niors gegenuͤber, dem du in alle Stuben, die er an
deinen Flamin vermiethet, ſchauen kannſt. — —


Flamin iſt aber nicht darin: denn er hatte mei¬
nen Helden ſchon angefaßt und mit meinen Worten
angeredet: ſteh' auf! — Eine neue Lage iſt eine
Fruͤhlingskur fuͤr unſer Herz und nimmt das aͤngſtli¬
[9] che Gefuͤhl unſerer Vergaͤnglichkeit aus ihm: —
und unter einem ſolchen heitern Himmel des Lebens
tanzet heute mein Viktor mit Allen: — mit den
Vormittagshoren — mit dem Regierungsrathe —
mit dem Apotheker — durch die Apotheke hindurch
neben dem Pro[v]iſor vorbei, um oben auf dem
Schloſſe mit dem podagriſtiſchen Jenner einige Tou¬
ren zu machen.


— Er iſt kaum eine halbe Stunde bei dem Fuͤr¬
ſten geweſen, ſo ſieht ihn Zeuſel wieder in ſein me¬
diziniſches Waarenlager rennen . . . . »ei, ei!»
denkt der Apotheker.


Aber es war ganz anders: Viktor gelangte durch
einen Monturen-Verhau — denn die Korridore der
Fuͤrſtenſchloͤſſer ſind faſt Zeltgaſſen und die Regenten
laſſen ſich ſo aͤngſtlich umwachen als beſorgten ſie,
die erſten oder die letzten zu ſeyn — ins Kran¬
kenzimmer. Vor einem Pazienten, der in wagrech¬
ter Verfaſſung liegt, behaͤlt man die lothrechte
leichter. Die Großen verwechſeln auch oft die
Wirkung ihrer Zimmer und Meublen mit ihrer eig¬
nen: — wenn ſie der Gelehrte auf einem Rain, in
einem Walde, an einem Krautfelde uͤberfallen koͤnn¬
te: er wuͤſte ſich zu benehmen. Aber Viktor war
ſelber in bordirten und mit goldnen Klauſuren verſe¬
henen Zimmern erzogen. Da er den Freund ſeines
Vaters in Schmerzen und in emballirten Beinen
[10] fand: ſo vertauſchte er ſeine brittiſche Unbefangen¬
heit gegen die mediziniſche und fing, anſtatt ſtolze
fuͤrſtliche Fragen zu erwarten, mediziniſche vorzule¬
gen an. Als die Doktors Karechiſation oder viel¬
mehr das diaͤtetiſche und pharmazevtiſche Beichtſitzen
zu Ende war: ſo legte er die Hand anſtatt auf den
Kopf des Beichtkindes, auf die Bibel daneben und
wollte ſchwoͤren und ließ es — bleiben, weil ihm
etwas beſſers einfiel, und blaͤtterte — das war ihm
eingefallen — das Gichtbruͤchigen-Evangelium in
der Bibel auf und wies auf den Spruch: ſteh' auf,
hebe dein Bette auf, denn aus Podagra iſt hier gar
nicht zu denken.» Er that ihm dar, ſeine ganze
Krankheit ſey Wind, figuͤrlich und eigentlich geſpro¬
chen — in den erſchlaften Gefaͤſſen reſidir' er und
ſchleiche ſich wie die Jeſuiten unter allen Geſtalten
in alle Glieder ein — ſelber ſein Schmerz in der
Wade ſey ſolcher translozirter Menſchen- oder Inte¬
ſtiuen-Aether. D. Kuhlpepper iſt mit ſeinem Ir¬
thum zu entſchuldigen: denn jeder Arzt muß ſich ei¬
ne Univerſalkrankheit ausleſen, wofuͤr er alle andre
anſieht, die er con amore kurirt, in der er wie der
Theolog in Adams Suͤnde, der Philoſoph in ſeinem
Prinzip alle uͤbrige ertappet — es ſtand alſo in dem
freien Willen Kuhlpeppers ſich zu ſeiner Neſtei- oder
Mutterzwiebel-Krankheit das Podagra — bei Maͤn¬
nern, bei Weibern die Gicht — auszuklauben oder
[11] nicht; da ers ausgeklaubt, ſo hat er auch ſuchen
muͤſſen, es bey Sr. Durchlaucht zu fixiren wie Pa¬
ſtel oder Quekſilber. — Jenner hatte — ſelber von
ſeiner Kapelle nie etwas angenehmers gehoͤret als
eine Behauptung, die ihn vom bisherigen Liegen,
Mediziniren und Hungern loshalf. Viktor, uͤber die
leichte Krankheit erfreuet, eilte znm Rezeptiren da¬
von, nachdem er an Troſtes Statt behauptet hatte:
»ein aͤtheriſcher Leib ſei noch mitzunehmen und
»diene der Seele zwar zu keinem Grahams- aber
»doch zu einem Luftbette, das ſich ſelber mache.
»Hingegen die armen Weiberſeelen laͤgen — wenn
»man ihre Koͤrper recht betrachte — auf ſtehenden
»Strohſaͤcken, glatten Huſarenſatteln und ſcharfen
»Wurſtſchlitten, indes tonſurirte oder taͤttowirte
»Geiſter (Moͤnche und Wilde) ſich mit ſo huͤbſchen
»von geſchabtem Fiſchbein gepolſterten Leibern *) zu¬
»deckten.»

— Fort lief er; und ich habe ſchon berichtet,
daß der Apotheker nachher dachte: ei, ei! — In
der Apotheke ſagte er zum Proviſor, an den er wie
Salpeter anflog: »Herr Kollege, wie waͤre es, wenn
»wir bei Sr. Durchlaucht auf nichts kurirten als
[12] »Wind? Sie ſollen mir rathen. Ich meines Or¬
»tes wuͤrde verordnen:


Pulv. Rhei orient.


Sem. Anisi Stellati


— — Foeniculi


Cort. Aurant. immat.


Sal. Tart. aa dr. I.


Fol. Senn. Alexandr. sine Stipit. dr. II.


Sacchar. alb. Unc. Sem. —


»Fallen Sie mir bei: ſo hab' ich weiter nichts zu
»ſagen als: C. C. M. f. p. Subt. D. ad Scatu¬
»lam, S. Blaͤhungspulver, Einen Theloͤffel voll zu
»nehmen bei Gelegenheit.» —


Da ihn der Proviſor ernſthaft anſah: ſo ſah er
denſelbigen noch ernſthafter an; und die Medizin
wurde ohne geaͤnderte Doſis bereitet. Als er fort
war, ſagte der Proviſor zu ſeinen zwei dummen Pa¬
gen: »ihr zwei dummen Epiglottes, er hat doch ſo¬
»viel Verſtand und fragt.


Im Grunde braucht der Biograph den Umſtand
gar nicht zu motiviren — da ihn das Pulver und
der Held motiviren, daß Jenner auf die Beine kam
noch denſelben Tag.


Da Fuͤrſten keinen Druck erfahren als den der
Luft, die — in ihrem Leibe iſt; ſo kannte Jenners
Dank fuͤr die Befreiung von dieſem Druck ſo wenig
[13] Graͤnzen, daß er den ganzen Tag den Doktor —
nicht wegließ. Er muſte mit ihm diniren — ſoupi¬
ren — reiten — ſpielen. Im Schloß wars auszu¬
halten: es war nicht wie Nero's ſeines, eine Stadt
in der Stadt, ein Flachſenfingen in Flachſenfingen,
ſondern blos eine Kaſerne und eine Kuͤche, voll Krie¬
ger und Koͤche. Denn vor jedes Briefgewoͤlbe voll
Schimmel, vor jede Stube, wo acht Demanten la¬
gen, vor jedes Thuͤrſchlos und vor jede Treppe war
eine Bajonette mit dem daran gehefteten Schirm¬
[und] Schutzherrn gepflanzt. Die uͤberkomplete Kuͤ¬
chenmannſchaft wohnte und heizte darinn, weil ſeine
Durchlaucht beſtaͤndig aß. Durch dieſes beſtaͤndige
Eſſen wollt' er ſich das Faſten erleichtern: denn er
ruͤhrte — weil's Kuhlpepper ſo haben wollte — von
drei Ritual-Mahlzeiten blutwenig an und konnte
den Hofleuten, die ſeine Diaͤt erhoben, nicht ganz
widerſprechen. Ein Uhrmacher aus London hatte
ihn in dieſer Maͤßigkeit am meiſten dadurch beyge¬
ſprungen, daß er ihm eine Bedientenglocke nnd ein
Feder-Werk verfertigte, deſſen Zeiger auf einer
groſſen Scheibe unten im Domeſtikenzimmer ſtand:
das Zifferblatt war ſtatt der Stunden und Monats¬
tage mit Viktualien und Weinen geraͤndert. Jenner
durfte nur klingeln und druͤcken: ſo wuſte die Die¬
nerſchaft ſogleich, ob die Zunge und der Viktualien¬
zeiger auf Paſteten oder Burgunder weiſe. Da¬
[14] durch — daß er wie eine Muͤhle klingelte, wenn
ſein innerer Menſch nichts mehr zu mahlen hatte —
ſetzte er ſich am leichteſten in Stand, eine ſtrengere
Diaͤt zu halten als wol Doktores und Moraliſten
fodern koͤnnten und beſchaͤmte mehr als einen Groſ¬
ſen, den man nach der Ausweidung im Tode aufs
Paradebette legen ſollte mit dem hungrigen Magen
unter dem einen Arm, und mit der durſtigen Leber
unter dem andern, wie man auch Kapaunen beide
Eingeweide als [Chapeaubashuͤte] zwiſchen beide Fluͤ¬
gel giebt.


Im Schloſſe war Viktor zu Hauſe wie in der
Kaplanei: denn der eigentliche Hof, der eigentliche
Hof-Wurmſtock und Froſchlaich war blos im Pal¬
laſt des wirklichen Miniſters von Schleunes anſaͤßig,
weil der die Honneurs des Thrones machen muſte,
die Geſandten, die Fremden einlud u. ſ. w. Die
Fuͤrſtin logirte im groſſen alten Schloß, das Paul¬
linum genannt. So verlebte alſo Jenner ſeine Tage
ohne Prunk aber bequem in der wahren Einſamkeit
eines Weiſen und brachte ſie mit Eſſen, Trinken,
Schlafen zu; daher konnte ihn der flachſenfingiſche
Prorektor ohne Schmeichelei mit den groͤßten alten
Roͤmern vergleichen, an denen wir einen aͤhnlichen
Haß des Gepraͤnges bewundern. Jenner hatte im
Grunde keinen Hof, ſondern ging ſelber an den
Hof ſeines wirklichen Miniſters: aber hoͤchſt ungern,
[15] er konnte da nichts lieben, weder die Fuͤrſtin, die
immer da war, noch Schleunes eheloſe Toͤchter, die
noch wider ſein Geluͤbde waren.


Nachts um 12 Uhr haͤtte Zeuſel gern noch dar¬
hinterkommen wollen, wie alles waͤre und brachte
dem Leibmedikus ſeine Niece Marie als Soubrette
und Lakaiin zugefuͤhret. Der Medikus, der keinen
Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬
mal unter vier Augen, ſteckte dem duͤnnen Hecht
die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig
herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬
nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verungluͤckte
Verwandte und Katholikin, die in der kalten hoͤfi¬
ſchen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬
wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬
den der Blicke — ihre aufgeloͤſte und erquetſchte
Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige
ruͤckwaͤrts mit der bloſſen Hand herunterſtreichen
kann — ſie fuͤhlte bei keiner Demuͤthigung einen
Schmerz mehr — ſie ſchien vor andern zu krie¬
chen
, aber ſie lag ja immerfort niedergebreitet
auf den Boden. — — Der ſanfte Viktor, als er
dieſe demuͤthige, ſeitwaͤrtsgekehrte Geſtalt, uͤber die
ſo viele Thraͤnen gegangen waren und dieſes ſonſt
ſchoͤne Geſicht erblickte, auf welches nicht Leiden der
Phantaſie ihre magiſche Tuſche aufgetragen, ſondern
phyſiſche Schmerzen ihre Giftblaſen ausgeſchuͤttet
[16] hatten: ſo that ſeinem Herzen das Schickſal der
Menſchen wehe und mit der ſanfteſten Hoͤflichkeit ge¬
gen Mariens Stand, Geſchlecht und Jammer lehnte
er ihre Dienſte ab. Der Apotheker wuͤrde ſich ſel¬
ber verachtet haben, wenn er dieſe Hoͤflichkeit fuͤr
etwas anders als ſeine Raillerie und Lebensart ge¬
nommen haͤtte. Aber Viktor ſchlug ſie wieder aus;
und die Arme entfernte ſich ſtumm und wie eine
Magd ohne Muth zur Hoͤflichkeit.


Am Morgen brachte ihm die Ausgeſchlagene doch
ſein Fruͤhſtuͤck mit geſenkten Augen und ſchmerzlich
laͤchelnden Lippen: er hatt' es in ſeinem Bette ge¬
hoͤrt, daß der Apotheker und ſeine weiblichen Holz¬
triebe der Marie das lamentable greinerliche Air
vorgehalten und daraus den refus des raillirenden
Herrn oben gefolgert hatten. Ihm blutete die See¬
le; und er nahm Marie endlich an — er machte
ſein Auge und ſeine Stimme ſo ſanft und ſympa¬
thetiſch, daß er beide haͤtte einem weichen Maͤd¬
gen leihen koͤnnen — aber Marie bezog nichts auf
ſich. — —


Jenner konnte kaum abpaſſen, wenn er wieder
kaͤme — —


Den dritten Tag wars wieder ſo — —


So auch die andere Woche — —
— Ich wuͤnſchte aber, meine Leſer waͤren um dieſe
Zeit durchs Flachſenfingiſche Thor ſaͤmmtlich geritten
und[17] und dieſe gelehrte Sozietaͤt und Marſchſaͤule haͤtte
ſich in die Stadt zerſtreuet, um Erkundigungen von
unſerem Helden einzuziehen. Das Leſepiquet, das
ich auf die Kaffeehaͤuſer geſchickt haͤtte, wuͤrde er¬
fahren, daß der neue engliſche Doktor ſchon den al¬
ten geſtuͤrzt — dem Pfarrſohn in St. Luͤne zum Re¬
gierungsrathspoſten verholfen — und daß groſſe Aen¬
derungen in allen Departements bevorſtehen. — —
Das unter die Hof-Kellerei-Schlaͤchterei-Fiſch¬
meiſterei-Kaſtellanei- und Dienerei vertheilte Deta¬
ſchement wuͤrde mir mitbringen, daß der Fuͤrſt dem
Doktor nicht auf die Finger, ſondern auf die Achſel
geklopfet — daß er ihm vorgeſtern das Bilderkabi¬
net eigenhaͤndig gezeigt und das beſte Stuͤck daraus
geſchenkt — daß er in der Komoͤdie mit ihm aus
der Frontloge herausgeſehen — daß er ihm eine
ſteinreiche Tabatiere geſchenkt (die gewoͤhnliche Re¬
genten-Buͤrgerkrone und deren Friedenspfeife, als
wenn wir Groͤnlaͤnder waͤren, die ſich nichts lieber
ſchenken laſſen als Schnupftabak) und daß ſie mit
einander auf Reiſen gehen werden. — Zwei der aller¬
feinſten und ſtiftsfaͤhigſten Leſer, die ich aus dieſen
Kolonnen ausgeſchoſſen und wovon ich den einen
ins Paullinum, den andern zum wirklichen Miniſter
abgefertigt haͤtte, wuͤrden mir wenigſtens die Nou¬
velle rapportiren, daß Fuͤrſt und Doktor miteinan¬
der bei beiden geweſen, und daß beide den Helden
Heſperus. II Th. B[18] fuͤr einen ſonderbaren ſcheuen ſchweigenden Brit¬
ten, der alles dem Vater verdanke, angeſehen
haͤtten — — —


Aber die letztere Nouvelle, die mir die Leſer er¬
zaͤhlet haben, koͤnnen ſie ja unmoͤglich wiſſen und ich
will ihnen ſelber erzaͤhlen.


— Eh' ich das vortrage, klaͤr' ichs nur noch mit
drei Worten auf, warum Viktor ſo hurtig ſtieg.
Es kann Evangeliſten Matthieu unter meinen Leſern
geben, die dieſes ſchnelle Steigen wie das des Ba¬
rometers fuͤr das Zeichen eines fruͤhen Fallens neh¬
men — welche ſagen, Lorbeere und Sallat, den man
in 24 Stunden durch Spiritus auf einem Tuche
zum Reifen noͤthigt, welken eben ſobald wieder ab
— ja die ſogar ſpaſſen und die Regenten-Inteſtinen
mit ihrem Aether fuͤr eine Fiſch-Schwimmblaſe
meines Helden ausgeben, der nur durch ihr Fuͤllen
ſtieg. — — Berghauptmaͤnner lachen ſolche Leſer aus
und halten ihnen vor: daß die Menſchen, beſonders
die Reſidenten auf Thronen einen neuen Medikus
fuͤr ein neues Specificum anſehen — daß ſie einem
neuen am meiſten gehorchen — daß Sebaſtian das
erſtemal ſich gegen jeden am feinſten betrug, hinge¬
gen bei alten Bekannten ohne Noth nichts Witziges
ſagte — daß Jenner jeden liebte, den er zu durch¬
ſchauen vermochte und daß er gluͤcklicherweiſe mei¬
[19] nen Helden blos fuͤr einen bon-vivant erkannte und
um ſeinen Kopf keine Boſiſche Beatifikazion*)bemerkte, die nach Phosphor ſtinkt und ſchmerzliche
Funken auswirft — daß Viktor nicht wie le Baut
ein Scherbengewaͤchs in einer Krone, ſondern
eine daruͤber erhoͤhte im Freien haͤngende Hyazin¬
the iſt — und daß ein anderer Berghauptmann mit
ſeinen Leſern gar nicht ſo viele Umſtaͤnde gemacht
haben wuͤrde als ich. Er haͤtte ihnen blos den Haupt¬
umſtand geſagt, daß der Fuͤrſt an Viktor eine bezau¬
bernde Aehnlichkeit mit ſeinem fuͤnften (auf den 7
Inſeln verlornen) Sohn im Scherzen und Betragen
gefunden und liebgewonnen haͤtte, und daß er dieſe
Bemerkung ſchon in London, obgleich Viktor fuͤnf
Jahre juͤnger als jener war, gemacht habe . . .


Jenner wollte ſelber ſeinen Liebling jedem praͤ¬
ſentiren, alſo auch der Fuͤrſtin. Die Philoſophen
haben es zu erklaͤren, warum Sebaſtian ſich nicht
eher als bis er neben dem fuͤrſtlichen Eheherrn auf
dem Kutſchkiſſen ſas, auf das tolle verliebte Streif¬
gen Papier beſann, das er in Kuſſeviz uͤber den Im¬
perator der montre à regulateur aufgeklebt und der
Fuͤrſtin zum Kaufe dreingegeben hatte. Er fuhr zu¬
B 2[20] ſammen und hielts fuͤr unmoͤglich, daß er ein ſolcher
Narr ſeyn koͤnnen. Aber einem Menſchen iſt ſo etwas
leicht. Seine Phantaſie warf auf jede Gegenwart,
auf jeden Einfall ſoviel Fokus-Lichtern aus tauſend
Spiegeln zuruͤck und zog um die Zukunft, die dar¬
uͤber hinauslag, ſoviel Laub- und Nebelwerk herum,
daß er ordentlich erſchrack, wenn ihm eine naͤrriſche
Handlung einfiel: denn er wuſte, wenn er ſie noch
zehnmal zuruͤckgewieſen und noch dreißigmal uͤberſon¬
nen haͤtte, daß er ſie dann — begehen wuͤrde. —
Da beide vor die Fuͤrſtin traten: ſo war Viktor in
jener angenehmen Verfaſſung, die Informatoren und
jungen Gelehrten nichts neues iſt, die ihnen die
Glieder verknoͤchert und das Herz mazerirt und die
Zunge petrifiziret — nicht die Gewißheit, daß
Agnola (ſo hies die Fuͤrſtin) jenes Uhr-Inſerat
geleſen habe, machte ihn ſo verlegen, ſondern die
Ungewißheit. In der Angſt dachte er gar nicht dar¬
an, daß ſie ja ſeine Handſchrift und den Autor des
Schnitzgens gar nicht kenne; und denkt man auch in
der Angſt daran, ſo geht ſie doch nicht weg.


— Aber alles war zugleich uͤber, unter, wider
ſeine Erwartung. Die Fuͤrſtin hatte das empfindſa¬
me Geſicht mit der Reiſekleidung weggelegt und
ein feſtes feines Gallageſicht dafuͤr aufgetragen. Der
gekroͤnte Ehevogt Jenner wurde von ihr mit ſoviel
warmen Anſtand empfangen als waͤr' er ſein eigner
[21] — Ambaſſadeur vom erſten Range. Denn Jenner,
deſſen Herzens-Elektriſirmaſchine ſich am elektriſi¬
renden Kiſſen einer ſchoͤnen Wange oder eines Fichuͤ
voll Funken lud, hatte eben deswegen gegen Agnola,
mit der er der Politik wegen die Konkordaten der
Ehe abgeſchloſſen, alle Waͤrme ſeines — Monatsna¬
men. Gegen Viktor, den Sohn ihres Erbfeindes,
den Sukzeſſor des Hausdiebes der fuͤrſtlichen Gunſt
hegte ſie, wie leicht zu erachten, wahre — Zaͤrtlich¬
keit. Unſer arme Held — betroffen uͤber Jenners
Kaͤlte, fuͤr die er ſich von der Gemahlin eben keine
ſonderliche Waͤrme gegen ſich ſelber verſprach — be¬
trug ſich ſo ernſthaft wie der aͤltere und juͤngere
Kato zugleich. Er dankte Gott (und ich ſelber)
daß er fortkam.


Aber unter dem ganzen Wege dachte er: »haͤtt'
»ich nur mein Sendſchreiben aus dem Uhr-Couvert
»heraus! Ach ich thaͤte dann alles, arme Agnola,
»dich zu verſoͤhnen mit deinem Schickſal und mit
»deinem Gemahl!» — »Ach St. Luͤne — ſetzte er
»unter dem Vorbeifahren vor dem Stadtſenior hin¬
»zu — du friedlicher Ort voll Blumen und Liebe!
»Die Hazpachtung ſpedirt deinen Baſtian von einem
»Hazhaus ins andre.»


Denn er mußte Hoͤflichkeitshalber doch auch zum
wirklichen Miniſter — und Jenner nahm ihn mit.
Dorthin gieng er mit Luſt, gleichſam wie in ein
[22] Seegefecht oder in ein Kontumazhaus, oder in den
ruſſiſchen Eispallaſt.


Meublen und Perſonen waren in Schleunes Hau¬
ſe vom feinſten Geſchmack. Viktor fand darin von
den Wackelfiguren und Hofleuten an bis zu den Ba¬
ſaltbuͤſten alter Gelehrten und zu den Puppen der
Schleunes'ſchen Toͤchter, vom geglaͤtteten Fußboden
bis zu den geglaͤtteten Geſichtern, vom Puderkabinet
bis zum Leſekabinet — beide kolorirten den Kopf
ſchon im Durchmarſch — kurz uͤberall fand er alles,
was die Prachtgeſetze je — verboten haben. Seine
erſte Verlegenheit bei der Fuͤrſtin gab ihm die Stim¬
mung zu einer zweiten. Es war der alte Vik¬
tor gar nicht mehr. Ich weis voraus, daß ihn die
loͤblichen Schullehrer am Marianum in Scheerau
daruͤber hart anlaſſen werden — zumal der Rektor
— daß er ſo wenig Welt hatte, daß er dort witzig
ohne Munterkeit, gezwungen-frei ohne Gefaͤlligkeit,
zu beweglich mit den Augen, zu unbeweglich mit
andern Gliedern war. Aber man muß dieſen Hof-
und Schulleuten vorſtellen: er konnte nichts dafuͤr.
Der Rektor ſelber wuͤrde ſo gut wie Viktor verlegen
geweſen ſeyn, vor der ſchoͤngeiſteriſchen Miniſterin,
die zwar Meuſel noch nicht, aber doch der Hof in
ſein gelehrtes Deutſchland geſetzt — vor ihren perſi¬
flirenden Toͤchtern, zumal vor der ſchoͤnſten, die
Joachime hies — vor einigen Fremden — vor ſoviel
[23] Leuten, die ihn haßten vom Vater her und die ihn
beobachteten, um ſein Verhaͤltniß mit dem Fuͤrſten
zu erklaͤren und zu rechtfertigen — vor der Fuͤrſtin
ſelber, die der Henker auch da hatte — vor Mat¬
thieu, der hier in ſeinem Element und in ſeiner
Forcerolle und Bravourarie war — und vor dem
Miniſter. — Zumal vor dem letztern: Viktor fand
an dieſem einen Mann voll Wuͤrde, dem die Ge¬
ſchaͤfte die Artigkeit nicht nahmen, noch das Den¬
ken den Witz und den eine kleine Ironie und Kaͤlte
nur noch mehr erhoben, der aber Gefuͤhl, Gelehrte
und die Menſchen zu verachten ſchien. Viktor dach¬
te ſich uͤberhaupt einen Miniſter — z. B. Pitt —
wie einen Schweizer Eisberg, an den oben Wolken
und Thau als Nahrung anfrieren, der die Tiefe
druͤckt und der im Wechſel zwiſchen Schmelzen und
Vereiſen, unten groſſe Fluͤße ausſendet und aus deſ¬
ſen Kluͤften Leichname ſteigen.


Jenner ſelber wurde unter ihnen nicht recht froh:
was halfen ihm die feinſten Gerichte wenn ſie durch
die feinſten Einfaͤlle verbittert wurden? Der Spiel¬
tiſch war daher — zumal bei der feindlichen Lan¬
dung ſeiner Gemahlin — ſein ruhiger Ankerplatz;
und ſein Viktor war dasmal auch froh, neben ihm
zu ankern. Mein Korreſpondent meint, den Stimm¬
hammer zu dieſem uͤberfeinen dreimal geſtrichenen
Ton drehte blos die Miniſterin, die alle Wiſſen¬
[24] ſchaften im Kopfe und zwar auf der Zunge hatte
und deswegen woͤchentlich ein bureau d' esprit hielt.
In dieſer laͤcherlichen Verfaſſung verſpielte Baſtian
ſeinen Abend und verſchluckte ſein Souper: er konnte
gut erzaͤhlen, aber er hatte nichts zu erzaͤhlen — in
den wenigen Contes, die ihm beiwohnten, war alles
anonym; und dem Zirkel um ihn waren gerade die
Namen das erſte — ſeine Laune konnt' er auch nicht
brauchen, weil ſo eine wie die ſeinige den Inhaber
ſelber in ein ſanftes komiſches Licht ſtellet und weil
ſie alſo nur unter guten Freunden, deren Achtung
man nicht verlieren kann, aber nicht unter boͤſen
Freunden, deren Achtung man ertrotzen muß, in ih¬
ren Sokkus und Narrenkragen fahren darf — er
genoß nicht einmal das Gluͤck, innerlich alle auszu¬
lachen, weil er keine Zeit dazu hatte und weil er
die Leute nicht eher laͤcherlich fand als hinter ihrem
Ruͤcken — —


Verdammt uͤbel war er d'ran — »ich komm'
»euch ſobald nicht wieder» dachte er — und als
der Mond durch die zwei langen Glasthuͤren des
Balkons, der auf den Garten hinausſah, mit ſeinem
traͤumeriſchen Licht einging, das drauſſen auf ſtillere
Wohnungen, ſchoͤnere Proſpekte und ruhigere Herzen
fiel: ſo ſchlich er (da ſeine Spiel-Maskopeigeſell¬
ſchaft durch den Fuͤrſten nach dem Eſſen zertrennt
war) auf den Balkon hinaus und die auf der Erde
[25] und am Himmel blinkende Nacht erhob ſeine Bruſt
durch groͤſſere Szenen. Mit welcher Liebe dachte er
da an ſeinen Vater, deſſen philoſophiſche Kaͤlte dem
Jennerſchnee gleich war, der die Saat gegen Froſt
bedeckt, indes die hoͤfiſche dem Maͤrzſchnee aͤhnlicht,
der die Keime zerfriſſet! Wie ſehr warf er ſich jeden
unzufriedenen Gedanken gegen ſeines rechtſchaffenen
Flamins kleinen Mangel an Feinheit vor! O wie
richtete ſich ſein innerer Menſch wie ein gefallener
und begnadigter Engel auf, da er ſich Emanuel an
der Hand Klotildens dachte, der ihn ſeelig frag¬
te: »wo fandeſt du heute ein Ebenbild von meiner
Freundin?» — Jetzt ſehnte er ſich unausſprechlich
in ſein St. Luͤne zuruͤck. . . .


Seine ſteigenden Herzensſchlaͤge hielt auf einmal
Joachime an, die mit einem ins Zimmer gerich¬
teten Gelaͤchter herauskam. Da es ihr ſchwer fiel,
nur eine Stunde zu ſitzen (mich wundert wie ſie ei¬
ne ganze Nacht im Bette blieb) ſo machte ſie ſich
ſo oft ſie konnte vom Stangengebiß des Spieles los.
Dasmal band die Fuͤrſtin ſie ab, die wegen ihrer
kranken Augen dieſe Nachtarbeit der Großen
ausſetzte. Joachime war keine Klotilde, aber ſie
hatte doch zwei Augen wie zwei Roſenſteine geſchlif¬
fen — zwei Lippen wie gemahlt — zwei Haͤnde wie
gegoſſen — und uͤberhaupt alle Glieder-Doubletten
recht huͤbſch . . . . Und damit haͤlt ein Hofmedi¬
[26] kus ſchon Haus; wenn auch die einfachen Exemplare
(Herz, Kopf, Naſe, Stirn) keiner Klotilde zugehoͤ¬
ren: da er nun unter dem groſſen Himmel ſeinen
Muth und auf dem Balkon, der fuͤr ihn allemal ein
Sprachzimmer war, ſeine Zunge wieder bekam —
da Joachimens Ton ihn wieder in ſeinen zuruͤck¬
ſtimmte — da ſie das Schweigen der Britten anta¬
ſtete und er die Ausnahmen vertheidigte — da er
jetzt am Faden der Rede ſich wie eine Spinne hin¬
auf- und hinablaſſen konnte und nicht mehr zu ſtoͤ¬
ren war durch die Fuͤrſtin, die nachgekommen war,
um die entzuͤndeten Augen in der Nacht abzukuͤhlen
— und da man nur dann klagt, Langweile zu em¬
pfinden, wenn man blos ſelber eine macht — und
da ich alles dieſes herſetze: ſo thu' ich (glaub' ich)
einem Rezenſenten genug, der hinter dem Kutſchka¬
ſten des Fuͤrſten ſteht und nachſinnt und wiſſen will
woran er ſich (auſſer den Lakaienriemen) zu halten
habe, wenn Viktor im Wagen darin unter dem
Heimfahren das miniſterialiſche Haus nicht zum Teu¬
fel wuͤnſcht, ſondern zufriedner denkt: meinetwe¬
gen! —


Ein Juͤngling, in deſſen Bruſt die Nachtſtuͤcke
von Maienthal und St. Luͤne haͤngen — oder einer,
der aus einem Baddoͤrfgen anlangt — oder einer,
der vorhat, ſich zu verlieben — oder einer, der in
großen Staͤdten oder in ihren großen Zirkeln ein
[27]muͤ[ſ]ſiger Zuſchauer ſeyn muh, jeder von dieſen iſt
ſchon fuͤr ſich auch ein mißvergnuͤgter darin und
ſtoͤſſet in ſeine kritiſche Pfeife ſo lange gegen die
agirende Truppe bis ſie ihn ſelber — engagirt.
Kommen aber alle dieſe Urſachen gar in einem einzi¬
gen Menſchen zuſammen: ſo weis er gegen ſeine Gal¬
lenblaſe keinen Rath und keinen Gallengang als daß
er feines Papier nimmt und an die Eymanniſchen
in St. Luͤne einen verdammt ſpoͤttiſchen Brief uͤber
das Geſehene ablaͤßt.


Mein Held ließ dieſen an den Pfarrer ab:


»Mein lieber Hr. Adoptiv Vater!


— Ich hatte bisher nicht ſoviel Zeit uͤbrig, um
die Augen aufzuheben und zu ſehen was wir fuͤr ei¬
nen Mond haben. Wahrhaftig einem Hof fehlts zur
Tugend ſchon — an Zeit. Der Fuͤrſt fuͤhrt mich
uͤberall wie einen Flakon bei ſich und zeigt ſeinen
naͤrriſchen Doktor vor. Mich werden ſie bald nicht
ausſtehen koͤnnen, nicht weil ich etwan etwas tauge
— ich bin vielmehr feſt verſichert, ſie ertruͤgen den
tugendhafteſten Mann von der Welt eben ſo gut wie
den ſchlimmſten und das blos weil er ein Anglizis¬
mus, ein homme de Fantaisie, ein Naturſpiel waͤre
— ſondern weil ich nicht genug rede. Geſchaͤftsleute
bekuͤmmern ſich um keinen Dialog und keinen Brief¬
[28] ſtyl; aber bei Hofleuten iſt die Zunge die Pulsader
ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwungfeder
ihrer Seelen; alle ſind geborne Kunſtrichter, die auf
nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache
ſehen. Das macht, ſie haben nichts zu thun; ihre
gute Werke ſind Bonmots, ihre Meßgeſchaͤfte Vi¬
ſitenbillets, ihre Hauswirthſchaft eine Spiel- und
ihre Feldwirthſchaft eine Jagdparthie und der kleine
Dienſt eine Phyſiognomie. Daher muͤſſen ſie frem¬
de Fehler den ganzen Tag in Ohren haben gegen
die ſchlaffe Weile, wie die Aerzte die Kraͤze einim¬
pfen gegen Dummheit; ein Hofſtaat iſt das ordent¬
liche Pennypoſtamt der kleinſten Neuigkeiten, ſogar
von euch Buͤrgerlichen, wenn ihr gerade etwas recht
— Laͤcherliches gethan habt. Zu wuͤnſchen waͤre,
wir haͤtten Feſtins oder Spielparthien, oder Komoͤ¬
dien, oder Aſſembleen, oder Soupees, oder etwas
Gutes zu eſſen, oder irgend eine Luſtbarkeit; aber
daran iſt nicht zu denken — wir haben zwar alle
dieſe Dinge, aber nur die Namen davon: der Kam¬
merpraͤſident wuͤrde die Achſel zucken, wenn wir nur
des Jahrs viermal ſo glaͤnzend froͤhlich ſeyn wollten
als Sie es des Monats viermal ſind. Da unſere
Woche aus 7 Sontagen beſteht: ſo ſind unſere Luſt¬
barkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit-Abſchnitte, auf
die niemand achtet und ein Feſtin iſt nichts als ein
Spielraum der Plane die jeder hat, das Bretterge¬
[29] ruͤſt ſeiner Forcerolle und die gleichguͤltige Jahrszeit
der fortgeſetzten Intrigue gegen Opfer der Liebe oder
des Ehrgeizes. Hier iſt jede Minute eine ſtechende
Moskite und der Diſtelſame des ſchoͤngefaͤrbten Kum¬
mers fliegt weit herum.


Die Weiber ſind gut und Anhaͤnger des Linnaͤus
und ihre Augen ordnen die Maͤnner botaniſch nach
ſeinem ſchoͤnen einfachen Sexualſyſtem: ſie ma¬
chen unter tugendhafter und laſterhafter Liebe einen
groſſen Unterſchied, naͤmlich den des Grades oder
auch der Zeit; und die Beſte ſpricht oft daruͤber
wie die Schlimmſte und die Schlimmſte wie die Be¬
ſte. Indeſſen giebts hier weibliche Tugend und
maͤnliche Treue in ihrer Art — aber einem Pfarrer
iſt davon kein Begriff beizubrigen; und dieſe zwei
Geleen oder Gallerte ſind ſo zart und weich, daß
ich ſie, wenn ich ſie auch von allen Stufen des
Throns hinuntertragen wollte in die Kaplanei, doch
ſo verdorben und anbruͤchig hinabbraͤchte, daß man
ihnen drunten die zwei entgegengeſetzten Namen ge¬
ben wuͤrde, fuͤr die wir doch ſchon unſre beſondern
Gegenſtaͤnde oben haben. Die Buͤrgerlichen wuͤrden
unſere bejahrten Maͤnner in der Liebe laͤcherlich fin¬
den und dieſe euere Toͤchter. — Was mir aber die¬
ſes gluͤckliche Hofleben oft verſalzet, iſt der allge¬
meine Mangel an Verſtellung. Denn hier glaubt
keiner was er hoͤrt, und denkt keiner wie er aus¬
[30] ſieht; alle muͤſſen nach den ordentlichen Spielge¬
ſetzen, gleich den Karten, einerlei obere Seite haben
und aͤuſſere Geſichtsſtille auf inneres Gluͤhen decken,
wie der Blitz nur den Degen, aber nicht die Schei¬
de zerſtoͤrt — Folglich kann, da eine allgemeine Ver¬
ſtellung keine iſt und da jeder dem andern Gift zu¬
traut, keiner taͤuſchen, ſondern nur uͤberliſten;
nur der Verſtand, nicht das Herz wird beruͤckt.
Inzwiſchen iſt die Wahrheit zu ſagen, das keine:
denn jeder hat zwei Masken, die allgemeine und
die perſoͤnliche. Uebrigens werden die Farben,
die auf den wiſſenſchaftlichen, feinen und menſchen¬
liebenden Anſtrich des Aeuſſern verbraucht werden,
nothwendig vom Innern abgekrazet, aber zum Vor¬
theil, da am Innern nicht viel iſt, und das Stu¬
dium des Scheins verringert das Seyn; ſo ſah ich
oft im Walde Haſen liegen, an denen kein Loth
Fleiſch war und kein Tropfen Fett, weil alles von
dem ungeheuern Haarpelz weggeſogen war, der nach
dem Tode fortgewachſen.


Wenn man den Inhalt des Throns und des plat¬
ten Poͤbel-Landes vergleicht, ſo ſcheinet die phyſika¬
liſche und moraliſche Groͤße der Menſchen im unge¬
kehrten Verhaͤltniß mit ihrem Boden zu ſtehen, ſo
wie die Einwohner der Marſchlaͤnder groͤſſer ſind als
der Berglaͤnder. Aber gleichwol tragen jene erhab¬
nen Leute den Staat leicht auf Schmetterlingsfluͤgeln,
[31] uͤberſchauen ſein Raͤderwerk mit dem millionenfachen
Pappillons Auge und beſchirmen mit einer Badine
das Volk vor Loͤwen oder jagen damit Loͤwen aus
dem Volk, wie in Afrika Hirtenkinder mit einer
Peitſche naturhiſtoriſche Loͤwen vom Weidevieh ab¬
ſchrecken. ... Lieber Hr. Hofkaplan! dieſe Satyre
ſchmerzte mich ſchon auf der vorigen Seite; aber
man wird hier boshaft ſo wie eitel ohne zu wiſſen
wenn, jenes weil man zu ſehr auf andere, dieſes,
weil man zu ſehr auf ſich merken muß. Nein! Ihr
Garten, Ihre Stube iſt ſchoͤner, da giebt es keine
ſteinerne Bruſt, an der man die Arme und Adern
der Freundſchaft kreuzigt wie ein Spaliergewaͤchs;
da muß man ſich nicht taͤglich wie ich zweimal raſi¬
ren laſſen und dreimal friſiren; da darf man doch
ſeinen gewixten Stiefel anziehen. Schreiben Sie
Ihrem Adoptivſohne bald — denn ich ſchlage mir
das Feſt Ihres Beſuchs noch ab — Sind viel Kind¬
taufen und Leichen? — Was macht der Fuchs und
der taube Balgtreter? — Hier wird der Moͤrſer
ſtatt Ihrer Trommel unter mir geruͤhrt. — — Le¬
ben Sie wohl.


Und Sie gruͤſſ' ich jetzt erſt, geliebte Mutter!
Meine Hand iſt warm und in meinem Herzen klo¬
pfen ein paar Seelen, weil jetzt Ihr Angeſicht voll
muͤtterlicher Waͤrme alle meine ſatyriſchen Eisſpitzen
beſcheint und in warmes Blut zerſchmelzt, das fuͤr
[32] Sie ſchlagen und fuͤr Sie fließen will. Wie thut
es ſowohl, wieder zu lieben! Ihr zweiter Sohn
(Flamin) iſt geſund, aber zu fleiſſig und gegenwaͤr¬
tig in St. Luͤne. Gruͤſſen Sie meine Schweſtern
und alles, was Sie liebt.


Sebaſtian.


Er hob den Brief auf, um den Regierungsrath,
der ſeine Perſon mit haben wollte, doch mit einer
Fracht abzufertigen.


Indeſſen wurden ſeine und Jenners gemeinſchaft¬
liche Viſiten mit ihren Theaterknoten zu ganz an¬
dern Nervenknoten der Freundſchaft zwiſchen Jenner
und ihm — und zugleich machten ſie den Ruf die¬
ſer Freundſchaft groͤſſer. In St. Luͤne, in Le Bauts
Hauſe wurde dreimal mehr daraus gemacht als dran
war — im Pfarrhauſe neunmal.


Dazu kam eine Kleinigkeit, naͤmlich eine Schlaͤ¬
gerei — eigentlich zwei. Ich habe den Vorfall vom
Spitz, Viktor von Flamin, dieſer von Matthieu,
in deſſen edlem hiſtoriſchen Styl es hier der Nach¬
welt uͤbergeben werden kann. Der Evangeliſt ſchaͤm¬
te ſich keines Buͤrgerlichen, ſobald er ihn zum Nar¬
ren haben konnte. Daher beſuchte er den Hofapo¬
theker ohne Bedenken. Dieſem, der dem D. Kuhl¬
pepper[33] pepper wegen ſeiner ſtolzen Grobheit und wegen der
untern Note *) innig haßte, hatte Maz laͤngſt ver¬
ſprochen, den Doktor zu ſtuͤrzen. Da der letztere
und das Podagra durch Viktor wirklich von Jenners
Fuͤſſen vertrieben waren: ſo ließ der Evangeliſt dem
Apotheker merken, er ſelber wuͤrde ſich ohne ſeine
Winke weit weniger gegen Kuhlpepper intereſſiret
haben als er gethan. Zeuſel — zumal da er den
Succeſſor des Kaſernenmedikus im Logis hatte —
kam nach einigen Tagen mit der gewiſſen Ueberzeu¬
gung aufs Billard, daß er aus ſeiner Apotheke heraus
Kuhlpeppern das unſichtbare Bein untergeſtellet und ihn
von den Thronſtufen herabgeworfen. Dort war zum
Ungluͤck der Kaſernenmedikus und der edle Maz.
Zeuſel kam auf dem Theater mit den Feſtons von
drei Uhrketten an — mit einem Paar Hoſen, auf
deren Knien einige Arabesken gedruckt waren — mit
einer doppelten Weſte, doppelten Cravatte und im
Geſicht mit doppelten Exklamazionszeichen uͤber den
Kaſernenmedikus — ſeine Geldboͤrſe ſaß gerade un¬
ter dem heiligen Bein, weil er wie einige Englaͤn¬
Heſperus. II Th. C[34] der die Hoſentaſche in die Region der Hoſenſchnalle
hatte verſtecken laſſen. Er hatte als Kammermohren
ſeinen hagern langen Proviſor mit; der im Neben-
Trinkzimmer auf den ſehr kurzen Proviſor der zwei¬
ten oder Canaillen-Apotheke ſtieß. Der kurze Pro¬
viſor folgte aus Haß dem langen uͤberall, blos um
ihn zu aͤrgern; aber dieſesmal war er blos vom Lande
zuruͤck mit einigen von Rekonvoleszenten einkaſſirten
Huͤnereyern.


Matthieu nahm ſich — nach einem exegetiſchen
Wink an Zeuſel — die Freiheit, uͤber das fuͤrſtliche
Podagra Kuhlpeppers Meinung zu ſeyn. Kuhlpep¬
per, der ein alter Deutſcher ſeyn wollte — ſolche
alte Deutſche koͤnnen ſich nie im Zorn, und recht
gut aus Eigennutz verſtellen — feuerte ab und ſagte,
der engliſche Doktor ſey ein ganzer Ignorant. Zeu¬
ſel faßte mit einem weiten Laͤcheln wie mit einem
Buchdruckerſtock ſeine hoͤfiſche Verachtung gegen den
groben Mann ein. Der Medikus ſah wie der Ae¬
quator, der Apotheker wie Spizbergen aus. Jetzt
wurde blos uͤber das Podagra turnirt. Der Kampf¬
waͤrtel und Turnirvogt Maz gab zu verſtehen, »Zeu¬
»ſel liebe zwar ſeinen Fuͤrſten und Herrn, aber er
»wuͤnſche doch, daß dieſe Liebe die beſten Mittel
»und die heilſamſten Einfluͤſſe gehabt.» — »In den
»H — (ſagte Kuhlpepper) kann der Einfluß haben.»
— Als ſich der Apotheker deswegen ſtolz und ver¬
[35] aͤchtlich in die Hoͤhe richtete: druͤckte ihn der Dok¬
tor langſam auf den Stuhl und auf ſeinen Geldbeu¬
tel nieder und die auf die Achſel eingeſchlagne Hand
nagelte den kleinen Elegant ſamt der Boͤrſe an den
Seſſel an.


Dieſe Befeſtigung verdroß den Schneidervogel am
meiſten und er verſetzte aufwallend: »noch heute
wuͤrde er, wenn er zu Rathe gezogen wuͤrde, Sr.
Durchlaucht die jetzige beſſere Wahl anrathen.» Der
Kaſernenmedikus mochte vielleicht die Hand zu hur¬
tig von der Achſel abdecken; denn er beſtrich damit
wie mit einer Kanone die Naſe ſeines Gegners, wor¬
auf dieſe ein Blut wie der heil. Januar entließ.
Der Evangeliſt bedauerte es fuͤr ſeine Perſon, »daß
»zwei ſo verſtaͤndige Maͤnner ſich nicht miteinander
»entzweien und ſchlagen konnten ohne perſoͤnlichen
»Haß und ohne Hitze, da ſie gleich kriegenden Fuͤr¬
»ſten ſich ohne beides anfallen koͤnnten — aber das
»Bluten beſtaͤtige Zeuſels Wallung zu ſehr.» —
Swobada rief zum Doktor: »Sie Grobian!» —
Dieſer nahm im Grimme wirklich die Matthaͤiſche
Meynung an, jener blute nur aus Grimm und ver¬
glich ihn mit den Kadavern, die in alten Zeiten bei
Annaͤherung des Moͤrders bluteten, aber blos aus
ganz natuͤrlichen Urſachen. Der Medikus ſuchte alſo
ſeinen wie ein Fuͤrſt oben vergoldeten Stecken auf
und beurlaubte ſich mit der gekroͤnten Stange, in¬
C 2[36] dem er ſie einigemale gleichſam magnetiſch-ſtreichend
uͤber Swobadas Finger fuͤhrte; aber ich wuͤrde den
Stab weder wie einige‚ ein Hoͤrrohr fuͤr Zeuſeln
nennen‚ weil Taube oft einen zum beſſeren Hoͤren an
ihren Leichnam anſtieſſen‚ noch auch einen Thuͤrklo¬
pfer‚ den er der Wahrheit vorſtreckte‚ damit ſie
leichter in den Apotheker einkonnte: ſondern er woll¬
te blos ſeine Finger noͤthigen‚ das Schnupftuch fal¬
len zu laſſen‚ damit er ihm ins Geſicht beim Ab¬
ſchied ſchauen koͤnnte‚ den er in die Tournure klei¬
dete: »Sag' Ers Seinem Doktor‚ er und Er da‚
»Ihr ſeid die zwei groͤſten Stocknarren in der
»Stadt.»


Vor den letzten Worten verhielten ſich beide Pro¬
viſores ruhig genug, nicht mit der Zunge — denn
der lange Proviſor ſang als zweites Chor mit dem¬
ſelben Kriegsliede den kurzen an und war aͤchter An¬
ti Podagriſt — ſondern ſonſt. Wer uͤberlegt‚ daß
der lange meinen Helden wegen ſeiner Hoͤflichkeit
liebte und den kurzen nicht leiden konnte‚ weil Kuhl¬
pepper alles bei dieſem verſchrieb‚ der wuͤrde von
dem Paare nichts geringers erwarten als den Re¬
frain des Billardzimmers; aber der lange Proviſor
war geſetzt und breitete erhebliche Wahrheiten nie
wie Portugal mit Blute aus‚ ſondern er nahm —
ſobald bei Kaſernenmedikus den Hofmedikus einen
Stocknarren genannt hatte — ſtill den Hut des kur¬
[37] zen Proviſors, der in ſolchen des Zerknickens wegen
ſeine Eyer-Gefaͤlle niedergelegt hatte, und ſetzte be¬
ſagte Eyer dem Profeſſionsverwandten ohne Ingrimm
auf; und mit geringem Druck paßte er die Inful,
die ½ Elle zu hoch ſas, ſeinem Freunde — um ſo
mehr, da auch Kaſtor und Pollux Eyerſchaalen auf¬
hatten — recht an und gieng fort, ohne eben viel
Dank fuͤr das aufgeſetzte Hut-Inſerat und den Ge¬
ſichts-Umſchlag haben zu wollen.


Schlaͤgereyen breiten kleine, wie Kriege groſſe
Wahrheiten aus. Der Hofkaplan Eymann ſandte
ein langes Gratulazionsſchreiben an Viktor und hieß
ihn »Jenners Nierenlenker» und bat um ſeinen Be¬
ſuch. Ein »Ranzenadvokat» klopfte bei ihm wie
bei einer hoͤhern Inſtanz an und bat ihn um eine
Sentenz gegen das Regierungskollegium. Der Apo¬
theker haͤlt mit ſeinem Geſuch um ein Lavement
noch zuruͤck.


Viktor ſparte ſich noch den erſten Beſuch in St.
Luͤne auf wie eine reifende Frucht und aͤrgerte da¬
durch den Regierungsrath, der ihn hinbereden woll¬
te. Aber er ſagte: »die Relikten eines Orts ſehnen
»ſich nach dem, der daraus fort iſt, ſo lange unbe¬
»ſchreiblich, bis er die erſte Viſite gemacht, und er
»auch. Nach der erſten paſſen beide Partheyen
[38] »ganz ruhig, ganz kalt die zweite ab.» — Was er
nicht ſagte und dachte, aber fuͤhlte und fuͤrchtete
war: daß ſeine Halbgoͤttin Klotilde, die das Aller¬
heiligſte in ſeiner Bruſt bewohnte, und die ſeiner
Seele durch ihre Unſichtbarkeit theurer, noͤthiger
und eben darum gewiſſer geworden war, ihm
vielleicht bei ihrer Erſcheinung alle Hoffnungen auf
einmal aus ſeinem Herzen ziehe. —


Es war am Abend des empfangnen Eymanniſchen
Briefes, wo er ſo phantaſirte: »wenn Jenner nur
»ſo geſund bliebe — er muß Mozion haben, aber
»eine andere — der Reiter muß gehen, der Fu߬
»gaͤnger fahren. — Wir ſollten miteinander zu Fuß
»durchs Land ziehen verkleidet. — Ach ich koͤnnte
»vielleicht manchem armen Teufel nuͤtzen — wir
»ſchlichen heimwaͤrts durch St. Luͤne — — Nein,
»Nein, Nein» ...


Er erſchrack ſelber vor einem gewiſſen Einfall —
denn er beſorgte, er wuͤrde ihn, da er ihn einmal
gehabt, auch ausfuͤhren, daher ſagte er dreimal Nein
dazu. Der Einfall war der, den Fuͤrſten zu Klotil¬
dens Eltern hinzubereden. — Es half aber nichts:
es fiel ihm bei, daß ſein Vater ein zu ſtrenges Ruͤ¬
gegericht uͤber den Kammerherrn und den Miniſter
gehalten — »was will mir le Baut ſchaden?
[39] »Wenn ich dem armen Narren nur drei Son¬
»nenblicke von Jenner zuwendete! — Das Ge¬
»ſcheuteſte iſt, ich denke heute nicht mehr daruͤber
»nach.»


Der Hund wird uns Antwort bringen; ich mei¬
nes Ortes wette — ein feiner Menſchenkenner auf
meiner Inſel wettet hingegen, der Held macht die¬
ſen Spas — daß er ihn nicht macht.


[40]

18. Hundspoſttag.


Standeserhöhung Klotildens — Inkognito-Reiſe — Supplik
der Obriſtjägermeiſterei — Konſiſtorialbote — Vexirbild der
Flachſenfinger.


Freilich macht' er ihn; aber ich verlier' im Grun¬
de nicht. Denn es war ſo: vom Tage an, wo D.
Kuhlpepper vor der plethoriſchen Naſe Zeuſels mit
ſeiner groben Hand wie mit einem elektriſchen Aus¬
lader vorbeigegangen war, draͤngte ſich der Mann
mit drei Uhren an meinen Helden, der nur eine und
noch dazu des Zeidlers plumpe trug. Zeuſel dankte
uͤberhaupt Gott, wenn ſich nur ein Hoffourier bei
ihm beſof und der Hofdentiſt uͤberfraß. Er kam
immer mit gewiſſen geheimen Nachrichten, die zu
publiziren waren. Er behielt nichts bei ſich und
haͤtte man ihn unter ſeine Apotheke zu haͤngen ge¬
drohet. Er ſagte meinem Helden, daß der Mini¬
ſter um die Stelle der zweiten Hofdame fuͤr ſei¬
ne Joachime bei der Fuͤrſtin werbe, die ſich blos
die weibliche Dienerſchaft ſelber waͤhlen durfte
— daß er aber es nicht geradezu thun duͤrfe, weil
er oder ſein Sohn Matthieu dem Kammerherrn
[41] le Baut verſprochen, die naͤmliche Stelle Klotilden
zu verſchaffen — er bat alſo meinen Helden, der
wie er ſehe Mazens Freund ſey, ihm die Verlegen¬
heit zu erſparen und den Fuͤrſten zu bewegen (wel¬
ches nur ein Wort waͤre) daß der bei der Fuͤrſtin
die Bitte um Joachime einlege — die Fuͤrſtin,
die ohnehin den Miniſter protegire, wuͤrd' es aus
mehr als einem Grunde mit Freuden thun und der
Miniſter koͤnnte dann nichts dafuͤr, wenn der Kam¬
merherr, der Feind des Lords, leer ausginge . . . .


Der Tropf, ſieht man, hatte blos aus den zwei
eingefangnen Nachrichten der zwei Amts-Praͤtenden¬
tinnen den ganzen uͤbrigen Rechtsgang errathen und
ſelber der Umſtand den ihm Maz entdeckte, daß der
Miniſter einen Viertels-Fluͤgel ſeines Pallaſtes fuͤr
eine Freundin ſeiner verſtorbnen Tochter Giulia raͤu¬
me, befeſtigte ihn nur mehr. So ſehr erſetzt Bos¬
heit nicht nur Jahre, ſondern auch Scharfſinn und
Nachrichten.


Mein Held konnte ihm nichts ſagen als, er glau¬
be nichts davon. Aber in drei einſamen Minuten
glaubte er alles — deswegen mußte die liebe Klotil¬
de gerade bei der Erſcheinung der Fuͤrſtin aus dem
Stifte zuruͤck — deswegen wurde der Miniſters Sohn
von le Baut mit ſoviel Rauch- und Dankopfer-Al¬
taͤren umbauet — deswegen brachte die alte (im
ſechzehnten Hundspoſttage) dem Hofleben ſolche
[42] Staͤndgen und ſo laute — uͤberhaupt zwei ſolche ge¬
aͤchtete Hof-Refugies in Babylon ſind des Teufels
lebendig, bis ſie in der alten heiligen Stadt wieder
ſitzen und wenn ſie gerade eine ſchoͤne Tochter ha¬
ben, ſo wird dieſe zur Vorſpan der Fahrt gebraucht
und zur Montgolfiere des Steigens . . .


»O komm nur, Klotilde — rief er gluͤhend —
»Der Hof-Pfuhl wird mir dann ein italieniſcher
»Keller, ein Blumenparterre — biſt nur du beim
»Miniſter, ſo hab' ich Geiſt genug und ſpruͤhe or¬
»dentlich — was wird mein Vater ſagen, wenn er
»uns mit zwei Laufzaͤumen ſtehen ſieht, an einem
»haſt du die Fuͤrſtin, am andern ich den Mann —
». . .» Jetzt fielen ihm Klotildens neuliche Inju¬
rien gegen das Hofleben wie Eiszapfen in ſein ko¬
chendes Blut; aber er dachte, »Weibern gefallen
»doch die Hof-Lager des Glanzes ein wenig mehr
»als ſie ſelber vermuthen und ſagen, weit mehr als
»den Maͤnnern. — Halte denn ers mit aͤhnlicher
»Seelen-Konſtituzion nicht auch aus? — Sie, als
»Stieftochter des Fuͤrſten und als eine ſchoͤne dazu
»habe nur halbes Elend, gegen ihn gehalten —
»und wiſſe ſie denn, ob ſie nicht einmal aus ihrem
»Feld-Etat in die Hofgarniſon zuruͤckgeſetzt werde
»durch einen Zufall.» Unter dem Zufalle verſtand
er eine Heyrath mit — Sebaſtian. Endlich beru¬
higte er ſich mit dem, was ich auch glaube, daß
[43] ſie damals blos ans Hoͤflichkeit einige Kaͤlte gegen
ihre neue Entfernung von ihren Eltern vorgeſpiegelt,
und alſo gegen den neuen Ort; auch haͤtte man
Freude daruͤber fuͤr Waͤrme gegen irgend jemand
am Hofe nehman koͤnnen z. B. gegen ihren — Bru¬
der, dacht' er.


Jetzt kam der geſtrige Einfall, uͤber den ich die
Wette verloren, wieder hervor, in Einer Nacht er¬
ſtaunlich in die Hoͤhe geſchoſſen: wenn er naͤmlich
den Fuͤrſten zur Reiſe und Viſite beim Kammerherrn
uͤberredete und ihn noch unterwegs um ein Vorwort
fuͤr Klotilde bei der Fuͤrſtin anſprach: ſo wars erſt¬
lich dem Stiefvater unmoͤglich, die Bitte fuͤr die
ſchoͤnſte Stieftochter abzuweiſen, und zweitens der
Fuͤrſtin unmoͤglich, bei ihrem Gemahl, der das
Recht der erſten Bitte exerzirte, nicht allen moͤgli¬
chen Vortheil aus der erſten Gelegenheit zu ziehen,
ſich ihn verbindlich zu machen. — —


— — Acht Tage darauf, da es ſchon daͤmmerte
— in den Herbſttagen wirds eher Nacht — ſtand
der Hofkaplan Eyman auf der Warte und guckte
nach der Sonne, nicht ihrentwegen ſondern um des
Abendroths und Wetters willen, weil er morgen
ſaͤen wollte: als er erſchrocken von der Warte hin¬
uͤber ſprang in ſein Haus und die Hiobspoſt aus¬
packte, der Konſiſtorialbote werde gleich da ſeyn
ſamt einem, franzoͤſiſchen Emigranten und fuͤr den
[44] einen ſey noch kein Heller vorraͤthig und fuͤr den
andern kein Bette. . .


Es kam kein Menſch. —


Ich begreif' es leicht: denn der Konſiſtorialbote
lauerte am Pfarrhauſe und marſchirte‚ ſobald er
oben den Hofmedikus Viktor aus Wachs am Fen¬
ſter ſitzen ſah, ſpornſtreichs zum Dorfe hinaus gera¬
de nach Flachſenfingen zu. Der Emigrant war zu
ſeinem Profeſſionsverwandten le Baut hineingegan¬
gen. —


Beide Paſſagiere nennten ſich auch noch — Jen¬
ner und Viktor und kamen heute von ihrer humori¬
ſtiſchen Rennbahn zuruͤck. — —


Vor ſieben Tagen war der Fuͤrſt, der Masken¬
taͤnze und Inkognito-Reiſen und gemeine Sitten lieb¬
te und der des Miniſters geiſtige Masken und In¬
kognito verwuͤnſchte, mit Viktor zu Fuß hinter ei¬
nem Kerl abgereiſet, der zu Pferde mit der Retou¬
denkleidung und mit Retoudenerfriſchungen voraus¬
gebrochen war. Jenner trug einen Degen in der
Hand, der in keiner Scheide ſteckte, ſondern in ei¬
ner Badine; ein Sinnbild der Hof Waffen! Er gab
ſich in den Marktflecken fuͤr den neuen Regierungs¬
rath Flamin Eymann aus. Mein Held, der ſich an¬
fangs zu einem reiſenden Okuliſten gepraͤgt hatte,
muͤnzte ſich im dritten Dorfe zu einem Konſiſtorial¬
boten aus — blos weil beiden der wahre Bote be¬
[45] gegnete. Dieſer Generalkontrolleur des Konſiſto¬
riums mußte dem Okuliſten — es koſtete dem Fuͤr¬
ſten nur eine fuͤrſtliche Reſoluzion und eine Gnade
— ſein Sportularium und ſeine kanoniſche Livree
ſammt dem aufgenaͤhten Blech auf dieſe Woche uͤber¬
laſſen. Die Bleche ſind an Boten und die Silber¬
ſterne an vornehme Roͤcke wie die Bleiſtuͤcke an
Tuchballen befeſtigt, damit man wiſſe, was am
Be[t]te[l] iſt.


Fuͤr Buͤſching waͤre eine ſolche Rekans-Farth
ein Fund — fuͤr mich iſt ſie eine wahre Pein, weil
mein Manuſkript ohnehin ſchon ſo groß iſt, daß
meine Schweſter ſich darauf ſetzet, wenn ſie Klavier
ſpielet, weil der Seſſel ohne die Unterlage der Hunds¬
poſttage nicht hoch genug iſt.


Was ſah Jenner? — was Viktor? —


Der Regierungsrath Jenner ſah unter den Beam¬
ten lauter krumme Ruͤcken — krumme Wege —
krumme Finger — krumme Seelen. — »Aber krum
»iſt ein Bogen und der Bogen iſt ein Sektor vom
»Zirkel, dieſem Sinnbild aller Vollendung» ſagte
der Konſiſtorialbote Viktor. Allein Jenner aͤrgerte
ſich am meiſten daruͤber, daß ihn die Beamten ſo
ſehr verehrten, da er ſich doch nur fuͤr einen Regie¬
rungs Rath ausgab und fuͤr keinen Regenten —
Viktor verſetzte: »der Menſch kennt nur zwei Naͤch¬
»ſte‚ der Naͤchſte zu ſeinem Kopf iſt ſein Herr‚ der
[46] »zu ſeinem Fuſſe ſein Sklave — was uͤber beide
»hinausliegt, iſt ihm Gott oder Vieh.» —


Was ſah Jenner noch mehr? —
Eximirte Spitzbuben ſah er, die amthirten, um die
ſteuerfaͤhigen zu zuͤchtigen — redliche Advokaten
hoͤrt' er, die nicht wie ſeine Hofleute oder die engli¬
ſchen Raͤuber, mit einer tugendhaften Maske ſtahlen,
ſondern ohne die Maske und denen eine gewiſſe Ent¬
fernung von Aufklaͤrung und Philoſophie und Ge¬
ſchmack nach dem Tode gar nicht ſchaͤdlich ſeyn wird,
weil ſie dann in ihrer eignen Defenſion Gott die
Exzepzion ihrer Unwiſſenheit entgegengeſetzen und
ihm einwerfen koͤnnen: »daß andere Geſetze als lan¬
»desherrliche und roͤmiſche ſie nicht verbinden koͤn¬
»nen und Gott waͤre weder Juſtinian, noch Kant
»Tribonian.» — Er ſah am Kopfe ſeiner Juſtizia¬
rien Brodkoͤrbe und am Kopfe ihrer Unterthanen
Maulkoͤrbe haͤngen; er ſah, daß wenn (nach Howard)
zwei Menſchen noͤthig ſind, um Einen Gefangnen
zu ernaͤhren; hier zwanzig Inhaftirte da ſeyn muͤſ¬
ſen, damit Ein Stadtvogt lebe.


Er ſah verdammtes Zeug. Dafuͤr ſah er aber
auch auf der andern Seite in angenehmen Naͤchten
das Vieh in ſchoͤnen Gruppen in den Feldern wei¬
den, ich meine das republikaniſche, naͤmlich Hirſchen
und Sauen. Der Konſiſtorialbote Viktor ſagte ihm,
er habe dieſen romantiſchen Anblick den Jaͤgermei¬
[47] ſtern zu danken, deren weiches Herz den fuͤrſtlichen
Befehl des Wildſchieſſens eben ſo wenig haͤtte voll¬
ziehen koͤnnen wie die aͤgyptiſchen Wehmuͤtter den
die Judenknaben todtzumachen. Ja der Sportulbote
ließ ſich in einer Kneipſchenke gelbe Dinte und
ſchwarzes Papier hingeben und ſetzte da, waͤhrend
der Schieferdecker auf dem Dache trommelte, um
Schiefer zugelangt zu bekommen, und die Gaͤſte an
die Kruͤge ſchlugen, um eingeſchenkt zu kriegen und
der Wirthsbube auf einem Bierheber zum Fenſter
hineintrompetete, unter dieſem babyloniſchen Laͤrm
ſetzte der Sportulnbote eine der beſten Suppliken
auf, die die edle Jaͤgerſchaft noch je an den Fuͤrſten
abgelaſſen hat.


Schlechte Relazion aus der Supplik der
Obriſtjaͤgermeiſterei.

»Da das Wild nicht leſen und ſchreiben koͤnnte:
ſo ſey es die Pflicht der Jaͤgermeiſterei, die es koͤnn¬
te, fuͤr daſſelbe zu ſchreiben und nach Gewiſſen ein¬
zuberichten, daß alles Flachſenfingiſche Wild unter
dem Druck des Bauers ſchmachte, ſowohl Roth- als
Schwarzwildpret. Einem Oberfoͤrſter blute das
Herz, wenn er zu Nachts drauſſen ſtehe und ſehe,
wie das Landvolk aus unglaublicher Mißgunſt gegen
das Hirſchvieh die ganze Nacht in der groͤſten Kaͤlte
[48] neben den Feldern Laͤrm und Feuer machte, pfiffe,
ſaͤnge, ſchoͤſſe, damit das arme Wild nichts fraͤße.
Solchen harten Herzen ſey es nicht gegeben zu be¬
denken, daß wenn man um ihre Kartoffelntiſche (wie
ſie um ihre Kartoffelnfelder) eben ſolche Schuͤtzen
und Pfeifer lagerte, die ihnen jede Kartoffel vom
Munde ſchoͤſſen, daß ſie dann mager werden muͤßten.
Daher ſey das Wild eben ſo hager, weil es ſich erſt
langſam daran gewoͤhne wie Regimentspferde den
Hafer von einer geruͤhrten Trommel zu freſſen. Die
Hirſchen muͤßten oft Meilenweit gehen — wie einer,
der ſein Fruͤhſtuͤck in den Aubergen zu Paris zuſam¬
mentrage —, um in ein Krautfeld, das keine ſolche
Kuͤſtenbewahrer und Oppoſizionsparthey des Wilds
umſtellen, endlich einzulaufen und ſich da recht ſatt
zu freſſen. Und die Hundsjungen ſagten mit Recht,
ſie zertraͤten in Einer Parforcejagd mehr Getraide
als das Wild die ganze Woche abzufreſſen bekaͤme.
— — Dieſes und nichts anders ſeyen die Motive,
die die Obriſtjaͤgermeiſterei bewogen haͤtten, bei Sr.
Durchlaucht mit der unterthaͤnigen Bitte einzu¬
kommen,


Daß Ew. den Landleuten auflegen moͤchten,
zu Nachts in ihren warmen Betten zu bleiben
wie tauſend gute Chriſten thun und das Wild
ſelber am Tage.


Dadurch[49]

Dadurch wuͤrde — getrauete ſich die Obriſtjaͤger¬
meiſterei zu verſprechen — den Landleuten und Hir¬
ſchen zugleich unter die Arme gegriffen — letztere
koͤnnten alsdann ruhig wie Tagvieh die Felder abwei¬
den und wuͤrden doch dem Landmann die Nachleſe,
indem ſie mit der Vorleſe zufrieden waͤren, laſ¬
ſen. — Das Landvolk waͤre von den Krankheiten,
die aus den Nachtwachen kaͤmen, von Erkaͤltungen
und Ermuͤdungen gluͤcklicherweiſe befreiet. Der
groͤßte Vortheil aber waͤre der, daß da bisher Bauern
uͤber die Jagdfrohnen murrten (und nicht ganz Un¬
recht) weil ſie daruͤber die Zeit der Erndte verſaͤum¬
ten, daß alsdann die Hirſche an ihrer Statt die Ernd¬
te zu Nachts uͤbernaͤhmen, wie ſich in der Schweiz die
Juͤnglinge fuͤr die Maͤdgen, die ſie liebten, zu Nachts
dem Getraide-Schneiden unterzoͤgen, damit dieſe,
wenn ſie am Morgen zur Arbeit kommen, keine fin¬
den — und ſo wuͤrden die Jagdfrohnen in den Ernd¬
ten niemand mehr ſtoͤhren als hoͤchſtens das —
Wild ꝛc.»


Was iſt aber vom Konſiſtorialſportulboten zu er¬
erzaͤhlen? — Dieſer kanoniſche Hebungsbediente ſetz¬
te alle Pfarrherren durch ſeinen Spas und alle
Pfarrfrauen durch ſeine Gewandtheit in Erſtaunen
und blos ſein Blech und ſeine Papiere konnten die
Authentizitaͤt dieſes Botenexemplars hinlaͤnglich ver¬
buͤrgen. Er kaſſirte alles ein was der Konſiſtorial¬
Heſperus. II Th. D[50] ſekretair liquidirt hatte und entſchuldigte ſich damit,
daß es weder ihm noch dem Sekretair in dieſem
Falle zukaͤme, gewiſſenhaft zu ſeyn. In ſeiner kur¬
zen Amtsfuͤhrung ſackte er ohne Schaam ein alle
ruͤckſtaͤndige Ehepfaͤnder vom geringſten Werth — wir
im Kollegio, ſagte er, ſind auf einen halben Batzen
erpicht — Gelder, wenn die Ehen geſchieden waren
— Gelder, wenn ſie von den Raͤthen geſchloſſen wa¬
ren, es ſey durch Indulgenzen fuͤr Trauerzeit, fuͤr
Blutsverwandſchaft oder fuͤr elterlichen Konſens —
Gelder, wenn die Gelder erſt einmal (oder zweimal)
bezahlt waren, aber noch nicht zum zweiten (oder
dritten) male, wiewohl das Konſiſtorium dieſen Nach¬
klang und Refrain nur in dem Fall verlangte, wenn
die Leute die Quitung verloren hatten. — Gelder,
die die Pfarrherren blos fuͤr Dekrete zu erlegen hat¬
ten, worin ſie losgeſprochen wurden. — —


Darauf ſchuͤttete er den Sack vor dem Fuͤrſten
aus und plaͤttete die Geldwage auseinander und
fieng an:


Ihro Durchlaucht!


»Das Konſiſtorium iſt des Teufels: es koͤnnte
»uͤber alle Gebote eine lutheriſche Poenitentiaria
»ſeyn und iſts nur uͤber das ſechſte. Was eine ehr¬
»liche Konſiſtorial-Regie — ich naͤmlich — hat zu¬
[51] »ſammenſcharren koͤnnen: liegt da auf dem Tiſch.
»Der Haufe koͤnnte noch einmal ſo breit ſeyn, wenn
»das Konſiſtorium Verſtand haͤtte und ſagte: »»wer
»»kauft? neue friſche Ablaßbriefe fuͤr alles!»» —
»Es hat gezeigt, daß es uͤber einige Verwandsgrade
»Diſpenſazionsbullen ſo gut wie der Pabſt verferti¬
»gen koͤnne: warum will es ſich denn an keine naͤ¬
»hern Grade machen? Es wuͤrde von groſſen ſo gut
»als von kleinen diſpenſiren koͤnnen, wenn es dar¬
[»]uͤber herwollte, eben ſo gut von Bußtags-Faſten
»als von Trauerzeit und Proklamazion dieſer ero¬
»tiſchen Faſtenzeit. Beim Himmel, wenn ein einzi¬
»ziger Menſch wie der Pabſt die geiſtliche Waſchma¬
»ſchine ganzer Welttheile zu ſeyn vermag und die
»Seelen am Jubeljahre Faszikel-weiſe ſaͤubern kann:
»ſo werden doch wir alle im Kollegio zur Waſch¬
»maſchine Eines Landes zu brauchen ſeyn? — Ge¬
»ſchieht das nicht: ſo nehmen wir — denn wir wol¬
»len leben — Suͤndengeld und Sportuln fuͤr das
»Wenige, worin wir zu indulgiren haben; und wenn
»in Sparta die Richter die Goͤttin der Furcht
»anbeteten, ſo verehren bei uns die Partheyen
»dieſes ſchoͤne ens. — Haͤtten wir nur wenigſtens
»von fuͤnf oder ſechs großen Suͤnden loszuſprechen,
»nur z. B. von einem Mord: ſo koͤnnten wir Ehe¬
»ſcheidung und Ehe-Beſchleunigung — dieſe ganz
»entgegengeſetzten Operazionen gelingen uns, ſo wie
D 2[52] »das Karlsbader Waſſer zugleich den Stein im Un¬
»terleib zertheilt und Inſerate im Brunnen verſtei¬
»nert — fuͤr halbes Geld erlaſſen.» . . . . Nach
einer langen Pauſe: »Ihro Durchlaucht, es iſt doch
»nicht zu machen, weil der Henker die weltlichen
»Raͤthe mitten unter den geiſtlichen hat: ein halb
»profaner Seſſionstiſch iſt zu keinem heiligen
»Stuhle umzudrechſeln; es iſt alſo nichts zu wuͤn¬
»ſchen — auſſer der geſegneten Mahlzeit — als
»Vertraͤglichkeit, damit geiſt- und weltliche Raͤthe
»die Parteyen, auf denen ſie ſitzen, ordentlich auf¬
»ſpeiſen koͤnnen, ein paar Knochen ausgenommen,
»die uns Boten und Schreibern zufallen: ſo ſah ich
»oft auf einem todten Pferde zugleich Staaren und
»Raben in bunter Reihe eintraͤchtig wohnen und
»hacken und zehren.» — —


Mein Korreſpondent verſichert mich, durch dieſe
Reden richtete der Hofmedikus mehr bei Jenner
aus als der Hofprediger durch ſeine. Viele Par¬
theyen bekamen ihr Geld, und einige Richter ein
allerungnaͤdigſtes Handbillet.


Eh' ich mit unſerem verkleideten Geſpann vor St.
Luͤne ankomme: iſt noch eines und das andre zu
ſchreiben. An Jenners Seele waren mehrere Knie¬
druͤcker als an einem Fortepiano angebracht, die das
Favoritenknie, indem es ſich zu beugen ſchien, be¬
wegte wie es wollte. Er war allemal das Reſultat
[53] der Gegenwart und der Wiederſchein der Nachbar¬
ſchaft. Las er im Gully: ſo verſaͤumte er eine Wo¬
che lang das geheime Regierungskollegium nicht und
ließ den Kammerpraͤſidenten kommen. Las er im
Friedrich II: ſo wollt' er das Reichskontingent ſtel¬
len und ſelber kommandiren und ging vormittags
auf die Parade. Er ſah mit Vergnuͤgen das Ideal
einer guten Regierung an, es ſey in Druck oder
in einer Rede; und oft verſuchte er die Approxima¬
zion dazu, Reformen, Unterſuchungen und Beloh¬
nungen ganze Wochen lang — Enthaltungen
ausgenommen, die doch das einzige Verdienſt ſind,
das der Fuͤrſt ohne fremde Huͤlfe erwerben kann. —
Unter der ganzen Kreuzfahrt war er ein wahrer An¬
toninus Philoſophus und war in Bereitſchaft, uͤber¬
all zu belohnen und zu beſtrafen und zu reſolviren; —
auch fuͤhlte er, er koͤnnt' es thulich machen, wenn man
nur nicht von ihm noch arbeiten und entbehren
heiſchte: daruͤber ging das andre auch zum Teufel.


Anfangs gefiel ihm die empfindſame Reiſe, —
als ſie voruͤber war, wieder — aber in der Mitte
ſchmeckte ihm alles, was nach dem Vorlauf ausge¬
keltert wurde, immer herber und er wuͤnſchte ſich
ſtatt der Dorfkuͤchenzettel ſein Viktualienzifferblatt.
Auch hatt' er ſich ſo ſehr an Tapferkeit gewoͤhnt,
daß er beim Mangel derſelben — d. h. ſeiner Leib¬
wache — ſo zu ſagen furchtſam wurde; daher wollt'
[54] er einwal im Finſtern einen jungen Weber in der
Schenke aus dem Bette heraus mit ſeiner Badine
erſtechen, weil der Weber Nachts das fuͤrſtliche Bet¬
te verwechſelt hatte mit einem von friedlicherem
Inhalt. Uebrigens ſammelten ſich jetzt alle Stralen
ſeiner Zuneigung im einzigen Menſchen von Stande,
im einzigen Beherzten und Vertrauten, den er hatte,
in Viktor, zum Fokus. Mein Held aber hatte uͤber¬
all zu genießen, — wenigſtens den Gedanken an St.
Luͤne —, uͤberall zu eſſen — wenigſtens auf einem
Obſtbaum — uͤberall zu leſen — und warens nur
Feuerſegen an der Thuͤre, alte Kalender an der
Wand, Ermahnungen zur Wohlthaͤtigkeit uͤber Al¬
moſenbuͤchſen —, uͤberall zu denken — uͤber das
Reiſe-Paar, uͤber die vier Jahrszeiten-Akte der
Natur, die jaͤhrlich wieder gegeben werden, uͤber
die tauſend Akte im Menſchen, die nie wiederkeh¬
ren. . . . .


»St. Luͤne!» ſchrie Jenner, froh, daß er nur
wieder einen Weltmann, le Baut, ſehen ſollte. Auf
die Emigranten-Maske war er ſelber verfallen, um
den Kammerherrn, bei dem er ſich zuletzt fuͤr einen
Fuͤrſten-Erbfeind ausgeben wollte, beſſer auszuholen.
Waͤre in le Bauts Seele ein hoͤherer Adel als der
heraldiſche geweſen — oder haͤtte Viktor nicht ge¬
wiß gewußt, daß der Kammerherr den Fuͤrſten auf
den erſten Blick erkennen wuͤrde — und daß ers
[55] ſchon darum vermoͤgen wuͤrde, weil der wahre ſu¬
ſpendirte Konſiſtorialbote ſchon der Stadt Flachſen¬
fingen wahrſcheinlich die ganze Vermummung werde
ins Ohr geſagt haben: ſo haͤtt' er ihm die noble
Masque
ausgeredet.


Viktor blieb gedachtermaſſen weg, wahrſcheinlich
aus Scham ſeiner Rolle und offenbar aus Sehn¬
ſucht, Klotildens Sonnenangeſicht, das fuͤr ihn ſo
lange nicht aufgegangen war, in einer ſeinem Her¬
zen bequemern Lage anzuſchauen. »Und die Eltern
»werden mich gern wieder ſehen, wenn ſie mir et¬
»was zu verdanken haben.» — Klotildens Hofamt
naͤmlich. Ach wie lag das verhuͤllete Paradieß des
heurigen Fruͤhlings in alten Reſten um ihn! Wie
beneidete er die Schattenkoͤpfe im Schloſſe, die er
um die Lichter gehen ſah, und den alten Pfarrmops,
der ihn zu den Pfarrleuten hineinwedeln wollte und
drinnen auf dem Schauplatz einer ſo holden Vergan¬
genheit weiter agirte! Und als ihn Diſteln am
Schloße an die muſiviſche auf dem Fußboden drin¬
nen erinuerten, ſo war der Neider zu beneiden und
er ging mit den ſchoͤnſten Traͤumen, die je uͤber un¬
ſer dunkles Leben gezeichnet wurden, zum Apotheker
zuruͤck.


Am andern Tage kam Jenner nach, froh uͤber
die Eltern, entzuͤckt uͤber die Tochter, weil jene ſo
fein waren und dieſe ſo ſchoͤn. Es koſtete meinem
[56] Helden nichts als ein Wort, um den Stiefvater zur
Bitte fuͤr die Vokazion der Stieftochter zu bewegen,
die der Held und der Vater ſo gern oͤfter ſehen
wollten — und dem Stiefvater koſtete es auch nur
ein Wort bei der Fuͤrſtin, um ſeine und die fremde
Bitte gewaͤhrt zu finden ... Klotilde wurde Hof¬
dame.


Sogleich daraus drang der Miniſter von Schleu¬
nes im Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben den Viertels-Fluͤ¬
gel ſeines Hauſes Klotildens Eltern auf und war in
der Epiſtel froh, »daß eine hoͤhere Bitte die ſeinige
mit ſo vielem Erfolge wiederholet haͤtte.» —
Ich ſtelle dieſen Edeln allen Weltleuten zum Muſter
auf; wiewohl ſich jetzt alles im moraliſchen Sin¬
ne, wie die Wiener im heraldiſchen, edel
ſchreibt.


Viktor, der mit ſeinen Seelenaugen den ganzen
Tag dem Kammerherrn ins Fenſter guckte, konnte
es kaum erwarten, Klotilde erſtlich in St. Luͤne zu
ſehen und zweitens am Hofe. Er verſchob die Vi¬
ſite von Tag zu Tag — und machte ſie von Nacht
zu Nacht im Traume. Nicht einmal die Viſitenkarte
— ſeinen Brief an den Pfarrer — hatt' er fortge¬
ſchickt: er wollt' ihn nicht nur ſelber bringen, ſondern
auch gar unterſchlagen. Aber dieſen letztern Gedanken
— den Brief zu unterdruͤcken, etwan Klotilde dieſe
[57] boshafte Konduitenliſte der Hoͤfe in die Haͤnde und
daraus Widerwillen gegen die neue Charge bekommen
koͤnnte — ſchleuderte er wie Paulus die Schlange
ſogleich — aus ſeiner Seele hinaus: wehe dem Her¬
zen, das nicht aufrichtig iſt gegen ein aufrichtiges,
nicht groß gegen ein großes, [und] warm gegen ein
warmes, da es ſchon alles dieſes ſeyn muͤßte gegen
eines, das es nicht waͤre!


Uebrigens bedurft' er eines ſolchen Beſuchs und
eines ſolchen Gegenbeſuchs taͤglich ſtaͤrker; denn er
war nicht gluͤcklich: daran war auſſer ihm ſchuld 1)
der Fuͤrſt, 2) Flamin 3) neun tauſend und ſieben
und dreyßig Perſonen. Der Fuͤrſt konnte nicht viel
dafuͤr; er goß das ganze Fuͤllhorn ſeiner Liebe uͤber
den Medikus aus und nahm dieſem alle Freiheit
weg, die er anfangs ſo heilig zu bewahren willens
geweſen. Viktor ſchuͤttelte den Kopf, ſo oft er ſein
Tagebuch oder Schiffsjournal der Lebensfarth (auf
Geheiß ſeines Vaters) weiter ſchrieb und aus ſeiner
Seekarte erſah, daß er ganz andere Meere und Gra¬
de der Laͤnge und Breite paſſirt war als er oder
ſein Vater haben wollte: »inzwiſchen land' ich doch
»richtig» ſagt' er. —


Aber ſein Flamin that ſeiner Seele weher, die
uͤberall zuviel Liebe ſuchte und gab. Er wollte dem
Rathe mit der Nachricht des Avancements Klotil¬
dens eine Freude machen, die ſeiner eignen glich;
[58] aber der empfieng ſie ſo kalt wie ihren Ueberbringer.
Der Aktenſtaub lag dick auf den Orgelpfeifen ſeines
Gemuͤths. — Angekettet an den Seſſions- und
Schreibetiſch, war er jetzt wie angekettete Hunde
wilder als vorher ungefeſſelt. — Die Bemuͤhungen
ſeiner Kollegen, den Staats-Koͤrper zu einem Ana¬
gramma auszurenken, erhielten von ihm den verdien¬
ten Beifall nicht. — Auch ſetzte ſich in ſeiner Seele
der Sauerteig der freundſchaftlichen Eiferſucht an,
der es nicht recht war, daß ſein Viktor ihn ſeltener
und andre oͤfter ſah. — Am meiſten erboßte ihn
Viktors Weigern, als er ihn um Begleitung nach
St. Luͤne erſuchte. . . . Kurz: er war arg.


Die 9037 Mann, die fuͤr meinen Helden 9037
Plagegoͤtter waren, ſind die Herren Flachſenfinger
ſamt und ſonders vermittelſt ihres naͤrriſchen Karak¬
ters, der hier nicht ſkizziret zu werden verdient, ſon¬
dern in einem fluͤchtigen Extrablaͤttgen.

Fluͤchtiges Extrablaͤttgen, worin der naͤr¬
riſche Karakter der Flachſenfinger skizzirt
wird
oder perſpektiviſcher Aufriß der
Stadt Klein-Wien
.

Klein-Wien heiſſen viele mein Flachſenfingen, ſo
wie es Klein-Leipzig, Klein-Paris u. ſ. w. giebt.
Es koͤnnen aber wohl zwei Staͤdte nicht weiter von
einander in Sitten abſtehen als Flachſenfingen, wo
[59] man ſein Leben und ſeine Seele verfriſt und verſaͤuft,
und Wien, wo man vielleicht den entgegengeſetzten
Fehler eines partiſchen Ausmergelns nicht genug
vermeidet. Die Klein-Wiener oͤfnen dem Genuß
der Natur weniger ihr Herz als ihren Magenmund
— Auen ſind die Kuͤchenſtuͤcke ihres Viehes und
Gaͤrten die ihrer Beſitzer — die Milchſtraße feſſelt
und ſaͤttigt ihren Geiſt (ob ſie gleich laͤnger iſt) nicht
halb ſo ſehr wie die Koͤnigsberger Bratwurſt von
1583. es thaͤte, welche fuͤnf hundert und ſechs und
neunzig Ellen lang und viermal ſchwerer war als der
Gelehrte ſelber, der ſie der Nachwelt geſchildert,
Herr Wagenſeil*). — — Sind das die Zuͤge,
auf welche die Fuhrleute den Namen Klein-Wien
fundiren? Ich war oft in Groß-Wien und kenne
die Groskreuze, Kleinkreuze und Kommandeu[r]s des
Temperanzordens, der dort ſo gemein iſt, perſoͤn¬
lich: ich kann alſo allerdings einen guͤltigen Zeugen
abgeben und mir iſt zu glauben, wenn ich — da
man in Klein-Wien auſſerordentlich ſaͤuft — von
Groß-Wien, und ausdruͤcklich von deſſen Kloſter¬
leuten ganz etwas anders verfechte: ſie haben nicht
nur immerfort den groͤßten Durſt — der doch weg
ſeyn muͤßte, wenn man ihn loͤſchte — ſondern ſie
[60] bedienen ſich auch gegen die Beſoffenheit eines
ſchoͤnen Mittels vom Plato. Dieſer Alte giebt uns
den Rath, im Soff in einen Spiegel zu ſchauen,
um durch die zerriſſene Geſtalt, die uns darin an
unſre Entehrung erinnert, auf immer davon abge¬
mahnet zu ſeyn. Daher ſtellen oft ganze Domkapi¬
tel, der Dechant, der Subſenior, die Domizellaren
u. ſ. w. Gefaͤße mit Wein oder Bier vor ſich hin
und heben ſie an die Augen und beſehen in dieſem
metamorphotiſchen Spiegel, der die entſtellten
Zuͤge noch mehr entſtellt (weil er wackelt), ſich ſchon
lange nach des Philoſophen Rath. Ich frage aber, ob
Leute, die beſtaͤndig ſo tief ins Glas gucken, Trin¬
ken lieben koͤnnen? —


Daraus folgt aber nicht, daß ich den Groß-Wie¬
nern die Aehnlichkeit mit den Flachſenfingern auch in
ſolchen Zuͤgen nehme, die ehren. So ſprech' ichs
z. B. jenen ganz und gar nicht ab, daß ſie dieſen
darin gleichen, an keiner Dichtkunſt, keiner Schwaͤr¬
merei und Empfindſamkeit — denn das iſt alles ei¬
nerlei — zu ſiechen. Viktor wuͤrde dieſes Lob in
ſeiner Sprache ſo klingen laſſen: »die Wiener Auto¬
»ren (ſelber die beſten, nur Denis und kaum drei
»[ausgenommen]) geben dem Leſer keine uͤber die gan¬
»ze Gegenwart tragende Fluͤgel durch jenen Seelen¬
»Adel, durch jene Verſchmaͤhung der Erde, durch
»jene Achtung fuͤr alte Tugend und Freiheit und
[61] »hoͤhere Liebe, worin andre deutſche Genies wie in
»heiligen Strahlen glaͤnzen» und er wuͤrde ſich dazu
auf die »Wiener Skizzen», auf »Fauſtin» auf «Blu¬
mauer» und auf den »Wiener Muſenalmanach» be¬
rufen. Dieſen Tadel wuͤrde ſelber ein Wiener nuͤtz¬
lichſt acceptiren und uns fragen, ob wir einen Mu¬
ſenalmanach (wie er) mit einem Zoten-Sediment
aufzuweiſen haben, worauf man ſetzen koͤnnte »mit
Approbazion des Bordels.» — Dieſes Gefuͤhl des
litterariſchen Unterſchiedes noͤthigte ſogar einen Ni¬
kolai, der ſonſt kein beſonderer Amoroſo der Wie¬
ner Autoren iſt, in ſeiner Allg. deutſch. Biblio¬
thek eine beſondere Seitenloge fuͤr dieſe einzubauen,
da er doch Leipziger, Berliner Autoren in Ein Par¬
terre zuſammenwirft. Auf aͤhnliche Art ſah ich in
Baiern, daß an dem Galgen auſſer dem gewoͤhnlichen
Balken fuͤr die drei chriſtlichen Konfeſſionsverwand¬
ten, noch ein beſonderer ſchismatiſcher Queerpfoſten
angebracht war, an dem blos die Judenſchaft gehef¬
tet wurde.


Der Flachſenfinger weiß, daß an Poeten nichts
iſt und ſpringt in Buͤchern, wo Verſebaͤche durch die
Proſe laufen, uͤber die Baͤche hinweg, wie gewiſſe
Leute ſpaͤt in die Kirche gehen, um dem Singen zu
entweichen. Er iſt ein treuer Diener des Staats,
dem bekannt iſt, wozu die poetiſche goldne Ader beim
Reviſions-Kommiſſions-Relazions-Enrollirungswe¬
[62] ſen zu brauchen iſt, zu gar nichts; inzwiſchen will
er doch, wenn er auch einen Klopſtock und Goͤthe
nicht ſchaͤtzen kann, in muͤßigen Stunden einen gu¬
ten Knuͤttelvers und Leberreim nicht verachten. Ei¬
ne ſolche gluͤckliche robuſte Seelen-Konſtituzion,
worin man weniger ſeinen Geiſt erhoͤhen will als ſei¬
nen Pacht, macht es freilich begreiflich, wie es Praͤ¬
ſervative geben kann, vermittelſt deren der Flachſen¬
finger allein (wie Sokrates) in der Peſt der Em¬
pfindſamkeit unangefochten herumwandelte. Der volle
Mond machte bei ihnen volle Krebſe aber keine volle
Herzen und das was ſie darin pflanzten, damit er
den Wachsthum beguͤnſtigte, war nicht Liebe, ſon¬
dern — Kohlruͤben. Der aͤchte Klein-Wiener zielt
nach viel naͤhern Schießſcheiben als nach dieſer dro¬
ben. Geheirathet wird da mit wahrer Luſt, ohne
daß man ſich vorher todtgeſchoſſen oder todtgeſeufzet
— man kennt keine Impedimenta der Liebe als ka¬
noniſche — die weibliche Tugend iſt ein ceinturon,
der ſo lange halten ſoll als der Geſchlechtsname der
Tochter — die Herzen der Toͤchter ſind da wie Cou¬
verts, die ſich, wenn ſie einmal an einen Herrn
adreſſirt waren, leicht umſtuͤlpen laſſen, damit man
darauf die Aufſchrift an einen andern Menſchen ma¬
che — die Maͤdgen lieben da nicht aus Koketterie
ſondern aus Einfalt allen Teufel, ausgenommen
arme Teufel . . .


[63]

Kurz mein Korreſpondent, von dem ich alles
habe, iſt faſt partheyiſch fuͤr Klein-Wien eingenom¬
men und widerſpricht daher heftig dem Verfaſſer des
reiſenden Franzoſen, der irgendwo geſagt haben
ſoll — haͤtt' ich ihn im Hauſe, ſo wuͤſt' ich, wie
eigentlich Klein-Wien heiſſe — daß der Flachſenfin¬
ger nicht einmal zum Raͤuber tauge. Knef aber
ſagt, er wolle hoffen, daß ſie ſchon geſtohlen haben
und ſtuͤtzt ſich auf die, die man gehangen hat.


Ende des fluͤchtigen Extrablaͤttgens, worin der
naͤrriſche Karakter der Flachſenfinger ſkizziret wur¬
de — oder des perſpektiviſchen Aufrißes der Stadt
Klein-Wien.


Aber unter ſolchen Menſchen konnte mein Held
bei aller Toleranz keine frohen Tage finden, er, der
allen Eigennutz, zumal den ſchmauſenden ſo haßte und
der gern in D. Grahams Vorleſungen hoſpitirt haͤt¬
te, worin dieſer lehrte, ohne Eſſen zu leben — er,
der in ſein Herz ſo gern den von der Poeſie gefluͤ¬
gelten Samen
der Wahrheit aufnahm; der einen
Emanuel am Herzen trug und der den Mangel an
Geſchmack ſogar fuͤr ein Zeichen anſah, daß der
moraliſche Menſch noch nicht alle Raupenhaͤute
[64] weggelegt — er, der das ganze Leben und den gan¬
zen Staatskoͤrper fuͤr die Huͤlſe anſah, worin der
Kern des zweiten Lebens reift — — — o! einer,
der ſo denkt, iſt zu einſam unter denen; die anders
denken!


— Es war am ſchoͤnſten Abend, der die Ankunft
des ſchoͤnſten Sonntagsmorgens und des magiſchen
Nachſommers anſagte — er ſah nach der Abendroͤ¬
the, unter der Maienthals Berge lagen und ſein
Herz ſchlug ihm ſchwer — er ſah nach der Morgen¬
roͤthe des Vollmonds, die uͤber St. Luͤne entglimte
und ſeine Sehnſucht nach dorthin wurde unausſprech¬
lich — — er dachte an Klotilde, deren Geburtstag
morgen, den 21 Oktober, einfiel und ganz natuͤrlich
ging er heute — — — bloß zu Bette.


19.[65]

19. Hundspoſttag.

Der Friſeur, der nicht lungen- ſondern ſingſüchtig iſt — Klo¬
tilde in Viktors Traum — Extrazeilen über die Kirchenmuſik
Gartenkonzert von Stamiz — Zank zwiſchen Viktor und
Flamin — Das Herz ohne Troſt — Brief an
Emanuel.


Der Oktober-Sonntag, womit ich dieſen Poſttag
voll mache, war ſchon um 6½ Morgens ein ſo freu¬
diger glaͤnzender Tag in St. Luͤne, daß das ganze
Pfarrhaus an den Hofmedikus dachte. — »Ach er
»ſollte abends ins Konzert kommen!» Der Vir¬
tuoſe Stamiz gab eines in le Bauts Garten. — »O
»lieber ſchon zum Mittageſſen!» — »Und in meine
»Fruͤhpredigt, wenn er nicht in die Kinderlehre
»will.» Eyman hatte dabei ſeine rektifizirte Pe¬
ruͤcke am meiſten im Kopfe, die ihm H. Meuſeler
heute darauf geſetzt hatte. Dieſer geſchickte Peruͤ¬
ckenmacher bereiſete die Dioͤzeſanos, die kein eignes
Haar trugen, oͤfter und mit groͤſſern Verdienſten um
ihre Koͤpfe als der Superintendent ſelber, dieſer Be¬
herrſcher der Glaͤubigen
, zu dem die meiſten
Diakoni ſagten: Ihro Exzellenz. Haͤtt' er ſichs ab¬
gewoͤhnen koͤnnen, daß er zuviel ſang, log und ſoff,
Heſperus. II Th. E[66] der Friſeur: ſo haͤtten die meiſten Geiſtlichen ihre
Toupees — die artiſtiſchen Hahnenkaͤmme — bei
ihm machen laſſen; — ſo aber nicht.


Da der Kaplan gern die Konfituren des Schick¬
ſals — worunter falſche Haare gehoͤren — mit et¬
was verſaͤuerte und hopfte: ſo ſuchte er natuͤrlicher
Weiſe ſich die heutige Peruͤcke, fuͤr deren falſche
Touren er an Zahlungsſtatt aͤchte abgeſchnittene
Haare ſeiner Leute gab, durch Skrupel zu verſalzen,
die er ſich uͤber das lange Wegbleiben Viktors mach¬
te. Er erinnerte: »wir muͤſſen ihn vor den Kopf
»geſtoſſen haben — er ſchreibt nicht einmal — er
»iſt vielleicht mit meinem Sohne zerfallen — etwas
»hats geſetzt — und dann ſieht uns der alte Lord
»auch nicht mehr von der Seite an — unſere Rat¬
»ten trieben ihn in jedem Falle aus.» —


Durch ſolche Elegien ſetzte er anfangs nur ſich
und zuletzt ſelber den Zuhoͤrer in Angſt. Er war
durch nichts zu widerlegen als dadurch, daß man
etwas Neues was ihn aͤngſtigte, hervorſuchte. Die
Wetterſcheide ſeines Gewoͤlkes oder ſein Noth und
Huͤlfsbuͤchlein war dieſesmal ein wahres Buch, des
Zeizer »Teller's Anekdoten fuͤr Prediger», die er
heute durch den Peruͤckenmacher vom kanoniſchen Le¬
ſezirkel empfing. Geiſtliche, zumal die auf dem
Lande betreiben alles mit einer kleinlichen puͤnktli¬
chen Aengſtlichkeit, worin ſie zum Theil ihr regie¬
[67] render Wauwau und Lindwurm von Konſiſtorium
ſchreckt. In dieſer Legeſellſchaft war nun ein Geſetz
im Gang. — Kommentatoren nnd Editoren halten
es —, daß jedes Leſeglied die Fett- und Dintenflecke
und Riße, die es im Leſebuch antraͤfe, vorn imma¬
trikuliren ſollte in einem Flecken-Verzeichniß und
Befundzettel ſamt der Pagina »wo.» Ganz natuͤr¬
lich laͤugnete jeder, der nur halbwege ein ehrlicher
Lutheraner war, die unbefleckte Empfaͤngniß
des Buchs; und die Sommerflecken wurden alſo alle
ordentlich einregiſtrirt, aber keiner beſtraft. Bloß
der gewiſſenhafte Hofkaplan lud als Wuͤſtenbock die
Srrafe fremder Fehler auf, indem er eine ganze
Nacht jedesmal nicht ſchlafen konnte, ſo oft er im
Buche mehrere Klekſe als in der Konduitenliſte fand,
weil er offenbar ſah, er werde zum Adoptivvater
des anonymen Schmutzes gemacht und zum Kaͤufer
des Buchs. — — Tellers Anekdoten fuͤr Schwarz¬
roͤcke waren nun gar voͤllige ſchwarze Waͤſche: war
nicht ein Eſelsohr am andern — Klekſe auf Klekſen
— die Blaͤtter ordentliche Korrekturbogen . . . und
zwar unmetaphoriſch geſprochen? — Eyman hob
an: »Und wenn mirs Geld zum Fenſter herein¬
floͤg'.» . . .


Da flog Viktors Brief zum Fenſter herein und
ſein — Verfaſſer zur Thuͤr.


E 2[68]

Freilich aber wars ſo: Viktor hatte vor ſchoͤnem
Wetter ſchoͤne Traͤume, vor elendem erſchien ihm
der Satan mit ſeiner Sipſchaft. Das ſchoͤne Sonn¬
abends-Wetter und der Gedanke an den Geburtstag
Klotildens und des Nachſommers gaben ihm einen
Morgentraum, der ein Theater fuͤr dieſe war. Eine
Perſon, die er hinter dem Schleier des Traums ge¬
ſehen, ſtand fuͤr ihn den ganzen naͤchſten Tag in ei¬
nem zauberiſchen Wiederſchein. Bei ihm irrten die
Traͤume — dieſe Phalaͤnen des Geiſtes — wie andre
Phalaͤnen uͤber die Nacht und den Schlaf hinaus;
wenigſtens Vormittags liebt' er jede Perſon im Wa¬
chen fort, die er im Traum zu lieben angefangen.
Dieſesmal floß gar umgekehrt die wachende Liebe in
die traͤumende hinein und die wirkliche Klotilde fiel
mit der idealiſchen in Ein ſo leuchtendes Heiligen¬
bild zuſammen, daß einer, der ſeinen Traum weiß,
ſich ins Uebrige leicht findet. Deswegen muß der
Traum den Leſern gegeben werden, den poetiſchen
Leſern beſonders — fuͤr andere moͤchte ich eine Edi¬
zion der Hundspoſttage veranſtalten, wo er her¬
aus waͤre: denn unpartheyiſche, die ſelber keine ha¬
ben, ſollten keine leſen.


Euch aber, euch guten, nie belohnten weiblichen
Seelen, die ihr ein eignes zweites Gewiſſen ne¬
ben dem erſten, fuͤr reine Sitten habt — deren ein¬
zige Tugend in der Naͤhe eine Sammlung von allen
[69] iſt, wie einige Sterne durch Glaͤſer in Millionen
zerfallen — die ihr, ſo veraͤnderlich in allen Ent¬
ſchluͤſſen, ſo unveraͤnderlich im edelſten, aus der Erde
geht mit verkannten Wuͤnſchen, mit vergeſſenem
Werthe, mit Augen voll Thraͤnen und Liebe, mit
Herzen voll Tugend und Gram — euch theuern er¬
zaͤhl' ich gern den kleinen Traum und mein großes
Buch! . . .


»Eine Hand, die Horion nicht ſah, faßte ihn an,
»eine Lippe, die er nicht ſah, redete ihn an: dein
»Herz ſey jetzt heilig und rein, denn der Genius
»der weiblichen Tugend wohnt in dieſem Gefilde.
» — Siehe da ſtand Horion auf einer mit Vergi߬
»meinnicht uͤberzognen Flur, woruͤber der Himmel,
»wie ein blauer Schatten heruͤberſank: denn alle
»Sterne waren aus ihm genommen, bloß der
»Abendſtern ſtand einſam flimmernd oben an der
»Stelle der Sonne. Weiße Eis-Pyramiden, ge¬
»ſtreift mit herunterrinnenden Abendroͤthen, umran¬
»gen wie mit einem Wall aus Gold- und Silberſtu¬
»fen das ganze dunkle Rund — — Darin ging
»Klotilde, erhaben wie eine Verſtorbene, heiter wie
»ein Menſch in der andern Welt, gefuͤhrt bald von
»gefluͤgelten Kindern, bald von einer verſchleierten
»Nonne, bald von einem ernſten Engel, aber ſie
»ging ewig vor Horion voruͤber — ſie laͤchelte ihn
»ſeelig-liebend an unter jedem Voruͤberziehen,
[70] »aber ſie zog voruͤber. — Blumige Erhoͤhungen.
»Graͤbern faſt gleich‚ ſtiegen auf und nieder‚ denn
»jede wurde von einem darunter ſchlummernden Bu¬
»ſen durch Athem geregt; eine weiße Roſe ſtand
»uͤber dem Herzen‚ das darunter verhuͤllet lag‚ zwei
»rothe wuchſen uͤber den Wangen‚ deren Tugend¬
»farbe ſich in die Erde verbarg‚ und oben am himm¬
»liſchen Nacht-Blau wankte der weiſſe und rothe
»Wiederſchein der Huͤgel-Blumen gleitend in einan¬
»der ſo oft unten die Roſen des Herzens und der
»Wangen ſich mit dem Huͤgel bewegten — Verſie¬
»gende Echos‚ aber von ungehoͤrten Stimmen er¬
»regt‚ gaben einander hinter den Bergen Antwort;
»jedes Echo hob die kleinen Schlummerhuͤgel hoͤher
»auf als wenn ſie ein tiefer Seufzer oder ein Bu¬
»ſen voll Wonne erhoͤhte und Klotilde laͤchelte ſeeli¬
»ger‚ von jedem Wiederhalle tiefer in den Blumen¬
»boden verſenkt — In den Toͤnen war zu viel
»Wonne und das aufgeloͤßte Herz des Menſchen
»wollte darin ſterben — Klotilde ſank jetzt in die
»Graͤber bis ans Herz — Nur das ſtille Haupt laͤ¬
»chelte noch uͤber der Aue — die Vergißmeinnicht
»ragten endlich an die untergeſunknen Augen voll
»ſeeliger Thraͤnen und uͤberbluͤhten ſie — Da uͤber¬
»kroch die Holde ploͤtzlich ein Schlummerhuͤgel und
»und unter den Blumen ſtiegen ihre Worte auf:
»Ruhe du auch‚ Horion! — Aber die fernern Laute
[71] »verwandelten ſich unter dem Begraben in dunkle
»Harmonikatoͤne. .... Siehe unter dem Verſtum¬
»men ging ein großer Schatten wie Emanuel heran
»und ſtand vor ihm wie eine kurze Nacht und ver¬
»deckte die unbekannte Minute aus einer hoͤhern
»Welt. — Aber als die Minute und der Schatten
»zerfloſſen waren: da waren alle Huͤgel niedergefal¬
»len — Da uͤberguldete der Blumen-Wiederſchein
»zuſammengefloſſen den wallenden Himmel — Da
»klammerten ſich an die Purpurgipfel der Eisberge
»weiſſe Schmetterlinge, weiſſe Tauben, weiſſe
»Schwaͤne mit ausgeſpannten Fluͤgeln wie mit Ar¬
»men an und hinter den Bergen wurden gleichſam
»von einer uͤbermaͤßigen Entzuͤckung Bluͤtem empor¬
»geworfen und Sterne und Kraͤnze — Da ſtand
»auf dem hoͤchſten in lichtem Glanz und Purpurlohe
»ruhenden Eisberg Klotilde verherrlicht, geheiligt,
»uͤberirrdiſch entzuͤckt und an ihrem Herzen flatterte
»eine Nebelkugel, die aus aufgeloͤßten kleinen Thraͤ¬
»nen beſtand und auf welche Horions blaſſes Bild
»gezeichnet war, und Klotilde breitete die Arme
»auseinander.« — — —


Aber um zu umarmen? oder um ſich aufzuſchwingen
oder um zu beten? ... Ach er erwachte zu bald
und ſtroͤmte in groͤßern Thraͤnen als die neblichten
waren aus und eine unterſinkende Stimme rief un¬
anfhoͤrlich um ihn: Ruhe du auch! —


[72]

O du weibliche Seele‚ die du muͤde und unbe¬
lohnt‚ bekaͤmpft und blutend‚ aber groß und unbe¬
fleckt aus dem rauchenden Schlachtfelde des Lebens
gehſt, du Engel‚ den das maͤnnliche von Stuͤrmen
erzogne‚ von Geſchaͤften beſudelte Herz achten und
lieben‚ aber nicht belohnen und erreichen kann; wie
beugt ſich jetzt meine Seele vor dir‚ wie wuͤnſch' ich
dir jetzt des Himmels ſtillenden Balſam‚ des Ewi¬
gen belohnende Guͤte! Und du‚ Philippine‚ theure‚
theure Seele, trete jetzt weg in eine verborgne Zelle
und lege unter den Thraͤnen‚ die du ſchon ſo oft
vergoſſen haſt‚ deine Hand an dein reines weiches
Herz und ſchwoͤre: »ewig bleibe du Gott und der
»Tugend geweiht‚ wenn auch nicht der Ruhe!« Dir
ſchwoͤr' es; mir nicht‚ denn ich glaub' es ohne
Schwur. — —


Welch' eine Paradenacht voll Sterne und Traͤu¬
me war das! und welch ein Gallatag der Natur kam
auf ſie! In Viktors Kopf ſtand nichts als St. Luͤ¬
ne‚ blau uͤberzogen‚ ſilbern uͤberthauet und mit dem
ſchoͤnſten Engel geſchmuͤckt, der heute naſſe frohe
Augen in den freundlichen Himmel hob und dachte:
»wie biſt du heute gerade an meinem Geburtstage
»ſo ſchoͤn!« — Sogar der Stadtſenior und ſeine
Tochter‚ die beide Hochzeit machten — jener eine
Ancora-Hochzeit mit ſeiner Seniorin‚ dieſe eine
erſte mit dem Waiſenhausprediger — ſchoben ſich in
[73] der Prozeſſion ſeiner freudigen Gedanken als zwei
neue Paare ein.


Er wollte nicht nach St. Luͤne, ſondern er ſagte:
»ich ziehe mich nur an zu einem kleinen Spazier¬
»gange.« —


»Es iſt ganz egal, wo ich heute gehe« ſagt' er
drauſſen und ging alſo auf den St. Luͤner Weg. —
»Umkehren kann ich allemal« ſagt' er auf halbem
Wege. — —


»Noch naͤrriſcher waͤr's wenn ich zugleich Brief¬
»ſteller und Brieftraͤger wuͤrde und mein eignes
»Schreiben inſinuirte« ſagte er und zog ſolches
heraus. —


— — Da er aber das Luͤner Praͤludiumsgelaͤute
zum Kirchengelaͤute vernahm: ſo ſprang er empor
und ſagte: »nunmehr verſalz' ich mir den Weg
»nicht laͤnger durch weitere Skrupel, ſondern ich
»will keck und entſchloſſen hinein marſchiren.«


Und ſo marſchirte er an der Hand Fortunens,
hinter dem Nachlaͤcheln der ganzen Natur, mit Traͤu¬
men im Herzen, mit unſchuldiger Hofnung im juͤn¬
gern Angeſicht in das Eden ſeiner Seele hinein.


Flamin hatt' er nicht mitgebeten, um dem Stadt¬
ſenior den Hochzeitgaſt nicht zu nehmen — und
vielleicht auch, weil er ſeine phantaſirende Aufmerk¬
ſamkeit auf den ſchimmernden Morgen durch keine
juriſtiſche Kollegial-Neuigkeiten wollte ſtoͤren laſſen.
[74] Er ging lieber mit einer Frau als einem Mann ſpa¬
ziren: Maͤnner ſchaͤmen ſich beinahe neben einander
anderer als ſtummer Empfindungen; aber weiblichen
Seelen oͤfnen ſich gern die verſchaͤmten Gefuͤhle;
denn von ihnen wird mit Mutterwaͤrme das nackte
Herz bedeckt, damit es nicht unter dem Enthuͤllen
erkalte. —


Da Viktor unten ums Pfarrhaus ging ſah er
oben ſelber zum Fenſter auf ſich herunter, in ſeiner
zweiten Auflage fuͤr einige gute Freunde; aber der
Wachs-Baſtian mußte ſogleich hinter eine ſpaniſche
Wand getrieben werden, damit er den fleiſchernen
nicht erſchreckte. — Der Empfang des letztern nnd
das Jubelfeſt dabei braucht nicht lebhafter von mir
beſchrieben zu werden als daß ich ſage: der Mops
wurde faſt ertreten, der Gimpel ſprang umſonſt auf
nach ſeinem Dejeneur herum, die Pfarrerin brachte
in ihrer anblickenden Freude auch dem Gaſte keines
und die Kirche ging erſt nach einem Doppel-Uſo von
einer halben Stunde an; daher dieſesmal mehrere
Eingepfarrte als ſonſt beſoffen hinein kamen.


Berauſcht, aber von Freude, kam Viktor auch in das
Pfarrhaus hinein. Es iſt nichts angenehmers als eine
Pfarrfrau zu ſeyn und zum Mann, wenn ſie ihm
den Ueberſchlag umlegt, zu ſagen: »mach' es heute
[75] »laͤnger, das Fleiſch braͤt ſonſt nicht aus.« — Die
haͤuslichen Kleinigkeiten ergoͤtzten meinen Helden eben
ſo ſehr als ihn die hoͤfiſchen erzuͤrnten.


Er ging mit dem Pfarrer. Seine Toleranz ge¬
gen die Fehler des geiſtlichen Standes hatte mit je¬
ner vornehmen ſtifts- und tadelfaͤhigen nichts ge¬
mein, die aus hoͤchſter Verachtung entſteht und die
einen chriſtlichen Prieſter ſo leicht wie einen aͤgypti¬
ſchen ertraͤgt: ſondern ſie kam aus ſeiner Meinung,
daß die Kirchen noch die einzigen Sonntagsſchulen
und ſpartiſchen Schulpforten und Seminarien des
armen Volkes ſind, das ſeinen cours de morale
nicht beim Staate hoͤren kann. Auch liebte er
als Juͤngling die Lieblinge ſeiner Kindheit.


Viele Prediger ſuchen den Quintilian, der
ſchlechte Gruͤnde in Reden voran geſtellet haben
will, und den Cicero, der ſie hintennach will, zu
vereinigen und poſtiren ſie an beiden Orten; aber
Eymann hielt gute Empfindungen fuͤr beſſer als
ſchlechte Gruͤnde und wand um den Bauern nicht
Schluß- ſondern Blumenketten.


Der Friſeur ging anfangs nicht in die Kirche,
weils unter ſeinen Stand war, aber nachher konnt'
er nicht anders: denn wegen des fremden Hofherrns
darin wurde Kirchenmuſik gemacht.


Es iſt der einzige Fehler des Peruͤckenmacher
Meuſeler, daß er zu gern ſingt und ſeine Kehle in
[76] alle Kirchenmuſiken, die in ſeiner Peruͤckendioͤzes ge¬
macht werden, einmengt, zumal am h. Pfingſtfeſt.
Der Luͤner Kantor wollt' es nie leiden; aber wie be¬
ruͤckt er dieſen und labt tauſend Ohren? So bloß:
er friſirte heute hinaus was noch zu friſiren war
(nicht bloß heute, ſondern es ging allemal ſo) und
glitt bloß an der Chortreppe hinan. Hier wachte
und lehnt' er ſo lange bis der Kantor, auf dem mu¬
ſikaliſchen Wurſtſchlitten ſeßhaft, mit dem Finger in
den erſten Akord der Kirchenmuſik einhieb. Dann
fuhr er neben einem Sonnenſtral — aber nicht lang¬
ſamer — ins Chor und mauſete dem jungen Altiſten
ſein Penſum weg und ſangs dem Kirchenſprengel in
die Ohren, aber unter ſo viel Jammer nnd Puffen
als ſaͤng' er ſein Manuſkript den Rezenſenten. Denn
man muß es nun einmal der Welt bekannt machen,
daß der biſſige Klavieriſt dem friſirenden Altiſten
mit einem ſpitzwinklichten Triangel von Ellbogen
wuͤthich entgegenſtochert, um den fremden Singvogel
aus der Volerie des Chors zu ſtoßen. Da aber der
Saͤnger ſeinen rechten Arm zum feſten Notenpulte
ſeines Textes und den andern zur Streitkolbe mach¬
te, wie die an Jeruſalem bauenden Juden die eine
Hand voll Bauzeug, die andere voll Waffen hatten:
ſo konnte der Peruͤckenmacher, unter fortwaͤhrendem
Fechten und Muſiziren, ſchon ſein Moͤglichſtes thun
und einiges durchſetzen waͤhrend des Gottesfriedens
[77] der Muſik. Aber ſobald die Muſik den letzten Athem
gezogen hatte: ſo ſetzte der harmoniſche Strichvogel
und Sturmlaͤufer behend uͤber das Chor hinaus und
ſann unterweges tauſend Ohren und einem einzigen
Ellbogen nach. Der Kantor konnt' ihn nicht riechen
und nicht kriegen.


Wenn er hingegen gluͤcklicherweiſe mit ſeinen
Schachteln durch ein Dorf paſſirte, wo gerade Pfarr-
und Schulherr und paͤdagogiſcher Froſchlaich eine
taube Leiche umquaͤckten und umkraͤchzeten, welches
viele noch kuͤrzer eine Leichenmuſik nennen: ſo konnte
der Virtuoſe, ohne Reakzion der Ellenbogen, mun¬
ter mit zwei Fuͤßen mitten in die Motette hinein¬
ſpringen — das Trauer-Staͤndgen, das die Erben
dem Todten bringen, bearbeiten — dem Leichenkon¬
dukt einige Finalkadenzen gratis zuwerfen und doch
noch im Dorfe dem Juſtitiar eine ganz neue Beutel¬
peruͤcke anbieten. —


Unſerem Helden machte die kanoniſche Muſik
das groͤßte ſatiriſche Vergnuͤgen. Wir aber haͤtten
wenig davon, wenn ich nicht ſo geſcheut waͤre, daß
ich um die Erlaubniß nur zu einer elenden Extra¬
ſylbe — man ſoll ſie kaum ſehen — uͤber die Kir¬
chenmuſik bettelte.


[78]

Elende Extra-Sylbe uͤber die Kir¬
chenmuſik
.

Ich ſehe allemal mit Vergnuͤgen, daß die Leute
in einer Kirchenmuſik ſitzen bleiben, weils ein Be¬
weiß iſt, daß keiner von der Tarantel geſtochen iſt:
denn liefen ſie hinaus, ſo ſaͤhe man, ſie koͤnnten
keine Mißtoͤne aushalten und waͤren alſo gebiſſen.
Ich als profaner Muſikmeiſter ſetze nur fuͤr wenige
Kirchen — naͤmlich fuͤr reparirte oder fuͤr neue den
Einweihungslaͤrm — und verſtehe alſo im Grunde
von der Sache nichts, woruͤber ich mich im Vor¬
beigehen auslaſſen will; aber ſoviel ſey mir doch er¬
laubt zu behaupten, daß die lutheriſchen Kirchen¬
muſiken etwas taugen — auf dem Lande, nicht in
den Reſidenzſtaͤdten, wo vielleicht die wenigſten
Mißtoͤne richtig vorgetragen werden. Wahrlich ein
elender, verſoffner, blauer Kantor, der in Bravoura¬
rien ſich braun ſingt und andre braun ſchlaͤgt, — es
giebt alſo zweierlei Bravour-Arien — iſt im
Stande, mit einigen Profeſſioniſten, die Sonntags
auf der Geige arbeiten, mit einem Trompeter, der
die Mauern Jericho's niederpfeifen koͤnnte ohne In¬
ſtrument, mit einem Schmidt, der ſich mit den
Paucken herumpruͤgelt, mit wenigen krampfhaften
Jungen, die das Singen noch nicht einmal koͤnnen
und die doch einer Saͤngerin gleichen, welche nicht
wie die ſchoͤnen Kuͤnſte allein fuͤr Ohr und Auge
[79] arbeitet, ſondern auch (aber in einem ſchlimmern
Sinn als die Jungen) fuͤr einen dritten Sinn, und
mit dem wenigen Wind, den er aus den Orgel-Lun¬
genfluͤgeln und aus ſeinen eignen holt, ein ſolcher
ſtampfender Mann iſt, ſag ich, im Stande mit ſo auſ¬
ſerordentlich wenigen muſikaliſchen Gerumpel doch
ein viel lauteres Donnern und Kolofoniums-Blitzen
um den Kanzel-Sinai, ich meine eine weit heftigere
und mißtoͤnendere, deren Kirchenmuſik aus ſeinem Chor
herauszumachen als manche viel beſſer unterſtuͤtzte
Theater-Orcheſter und Kapellen, mit deren Wollau¬
ten man ſo oft Tempel entweiht. Daher thut es
nachher einem ſolchen lauten Manne weh, wenn man
ſein Kirchen-Gekratze und Geknarre verkennt und
falſch beurtheilt. Soll ſich denn in alle unſre Pro¬
vinzialkirchen das weiche leiſe Herrnhutiſche Toͤnen
einſchleichen? — Es giebt aber zum Gluͤck noch
Stadtkantors, die dagegen arbeiten und die wiſſen
worin reiner Chor und Mißton ſich vom Kammer¬
ton zu unterſcheiden hat.


Den Leſern nicht, aber Organiſten kann ich zu¬
muthen, daß ſie wiſſen, warum bloße Diſſonanzen
— Konſonanzen ſind nur unter dem Stimmen der
Inſtrumente zu ertragen — aufs Chor gehoͤren.
Diſſonanzen ſind nach Euler und Sulzer Ton-Ver¬
haͤltniße die in großen Zahlen ausgedruͤckt werden;
ſie mißfallen uns alſo, nicht wegen ihres Mißver¬
[80] haͤltniſſes, ſondern wegen unſers Unvermoͤgens, ſie in
der Eile in Gleichung zu bringen. Hoͤhere Geiſter
wuͤrden die nahen Verhaͤltniſſe unſrer Wohllaute zu
leicht und uniſon, hingegen die groͤßern unſerer Mi߬
toͤne reizend und nicht uͤber ihre Faſſung finden.
So lange nun der Gottesdienſt mehr zur Ehre hoͤhe¬
rer Weſen als zum Nutzen der Menſchen gehalten
wird — und ſo weit iſt hoffentlich die Sittenloſig¬
keit noch nicht eingeriſſen, daß man dieſes abſchafte:
— ſo lange muß der Kirchenſtyl darauf dringen,
daß Muſik gemacht werde, die fuͤr hoͤhere Weſen
paſſet, naͤmlich aus Mißtoͤnen und daß man gerade
die, die fuͤr unſre Ohren die abſcheulichſte iſt, als
die zweckmaͤßigſte fuͤr Tempel finden.


Machen wir einmal der Herrnhutiſchen Inſtru¬
mentalmuſik die Kirchenthuͤre auf: ſo ſteckt uns zu¬
letzt auch ihr Singen an und es verliert ſich nach
und nach alles Vokal-Gebloͤck, welches unſre Kir¬
chen ſo luſtig macht und welches fuͤr Kaſtratenohren
ein ſo unangenehmer Hammer des Geſetzes, aber fuͤr
uns ein ſo angenehmer Beweiß iſt, daß wir Schwei¬
nen aͤhnlichen, die der Abt de Baigne auf Befehl
Ludwigs XI. nach der Tonleiter geordnet mit Tan¬
genten ſtach und zum Schreien brachte. So
denk' ich uͤber Kirchen- oder altdeutſchen Schlacht¬
geſang.


Ende[81]

Ende der Extraſylbe uͤber die Kirchen¬
muſik.


Ich haͤtte den Haarkraͤusler nicht ſo lange ſingen
und agiren laſſen, wenn mein Held dieſen ganzen
Sonntag zu etwas anderem zu brauchen waͤre als zu
einem Figuranten; aber den ganzen Tag that er
nichts von Belang als daß er etwan aus Menſchen¬
liebe die alte Appel zwang — indem er ihre Kom¬
moden und Schachteln ſelber auspackte, — von ih¬
rem Koͤrper, der lieber Schinken als ſich anputzte,
die gewoͤhnliche mit typographiſcher Pracht gedruckte
Schabbes-Edition, ſchon um drei Uhr Nachmittags
zu veranſtalten: ſonſt lieferte ſie ſolche erſt nach dem
Abendeſſen. Die Juden glauben, am Sabbath eine
neue Schabbesſeele zu bekommen: in die Maͤdgen
faͤhrt wenigſtens eine, in die Appeln ein Paar.


Aber warum muth' ich meinem Helden zu, heute
mehr Aktion zu zeigen — ihm, der heute — verſun¬
ken in die Traum-Nacht und in den kommenden
Abend — bewegt durch jedes freundliche Auge und
durch alle Rudera und Urnen des weggetraͤumten
Lenzes — ſanft aufgeloͤſet durch den ſtillen lauen
Sommer, der an den Rauchaltaͤren der Berge auf
den mit Milchflor belegten Fluren und unter dem
verſtummenden Trauergefolge von Voͤgeln laͤchelnd
und ſterbend lag und beim Aufſteigen der erſten
Wolke auf dem Laube verſchied — Viktor ſag' ich,
Heſperus. II. Th. F[82] der heute, von lauter weichen Erinnerungen wehmuͤ¬
thig angelaͤchelt, fuͤhlte, daß er bisher zu luſtig ge¬
weſen. Er konnte die guten Seelen um ihn nur mit
liebenden ſchimmernden Augen anblicken, dieſe noch
ſchimmernder wegwenden und nichts ſagen und hin¬
ausgehen. Ueber ſeinem Herzen und uͤber allen ſei¬
nen Noten ſtand tremolando. Niemand wird tiefer
traurig als wer immer laͤchelt: denn hoͤrt einmal die¬
ſes Laͤcheln auf, ſo hat alles uͤber die zergangne
Seele Gewalt und ein ſinnloſer Wiegengeſang, ein
Floͤtenkonzert — deſſen Diß- und Fißklappen und
Anſaͤtze bloß zwei Lippen ſind. — Reiſſet die alten
Thraͤnen loß wie ein geringer Laut die wankende La¬
vine. Es war ihm als wenn ihm der heutige Traum
gar nicht erlaubte, Klotilden anzureden: ſie ſchien
ihm zu heilig und noch immer von gefluͤgelten Kin¬
dern gefuͤhrt und auf Eisthronen geſtellt. Da er
uͤberhaupt fuͤr Le Bauts Geſpraͤche im Reiche der
Moraliſch-Todten heute keine Zunge und Ohren
hatte: ſo wollt' er im großen laubenvollen Garten
dem Stamiziſchen Konzert inkognito zuhoͤren und
ſich hoͤchſtens vom Zufall praͤſentiren laſſen. Sein
zweiter Grund war ſein zum Reſonanzboden der Mu¬
ſik geſchaffnes Herz, das gern die eilenden Toͤne ohne
Stoͤhrung aufſog und das die Wirkungen derſelben
gern den gewoͤhnlichen Weltmenſchen verbarg, die
Goͤthe's, Raphaels und Sachini's Sachen wahrhaftig
[83] eben ſo wenig und aus keinen geringern Gruͤnden
entbehren koͤnnen als Loͤſchenkohls ſeine. Die Em¬
pfindung erhebt zwar uͤber die Schaam, ſie zu zei¬
gen; aber er haßte und floh waͤhrend ſeiner Empfin¬
dungen alle Aufmerkſamkeit auf fremde Aufmerkſam¬
keit, weil der Teufel in die beſten Gefuͤhle Eitelkeit
einſchwaͤrzt man weis oft nicht wie. In der
Nacht, im Schattenwinkel fallen Thraͤnen ſchoͤner
und verduͤnſten ſpaͤter.


Die Pfarrerin beſtaͤrkte ihn in allem: denn ſie
hatte heimlich — in die Stadt geſchickt und den
Sohn invitirt und eine Ueberraſchung im Garten ar¬
tiſtiſch angelegt. —


Das Pfarr-Perſonale hob ſich endlich in den be¬
laubten Konzertſaal und dachte nicht daran, wie
ſehr es von Le Bauts Hauſe verachtet werde, das
nur edle Metalle und edle Geburt, nie edle Thaten
fuͤr Entreebillets gelten ließ und daß die Pfarrleute
als Freunde des Lords und Matthieu hoch, aber als
Schooßhunde beider noch hoͤher geſchaͤtzt haͤtte.


Was haͤtten ſolche zaͤhe Leute nach Stamiz ge¬
fragt, da heute keine Fremde da waren, wenn nicht
Klotildens Geburtsnacht geweſen waͤre, die ſich die¬
ſes Gartenkonzert erbeten hatte. Stamiz und ſein
Orcheſter fuͤllten eine illuminirte Laube — das ade
liche Auditorium ſaß in der naͤchſten hellſten Niſche
und wuͤnſchte, es waͤr' ſchon aus — das buͤrgerliche
F 2[84] ſaß entfernter und der Kaplan flocht aus Furcht vor
dem katarrhaliſchen Thau-Fußboden ein Bein ums
andre uͤber die Schenkel — Klotilde und ihre Aga¬
the ruhten in der dunkelſten Blaͤtterloge. Viktor
ſchlich ſich nicht eher ein als bis ihm die Ouvertuͤre
den Sitz und das Sitzen der Geſellſchaft anſagte; in
der fernſten Laube, im wahren Aphelio nahm dieſer
Barkkomet Platz. Die Ouvertuͤre beſtand aus jenem
muſikaliſchen Gekrizel und Geſchnoͤrkel — aus jener
harmoniſchen Phraſeologie — aus jenem Feuerwerks¬
gepraſſel enharmoniſcher, diſſonierender Paſſagen,
welches ich ſo erhebe, wenn es nirgends iſt als in
der Ouvertuͤre. Dahin paſſet es; es iſt der Staub¬
regen, der das Herz fuͤr die großen Tropfen der ein¬
fachern Toͤne aufweicht. Alle Empfindungen in der
Welt beduͤrfen Exordien; und die Muſik bahnet der
Muſik den Weg — oder die Thraͤnenwege.


Stamiz ſtieg — nach einem dramatiſchen Plan,
den ſich nicht jeder Kapellmeiſter entwirft — allmaͤh¬
lig aus den Ohren in das Herz, wie aus Allegro's
in Adagio's: dieſer große Komponiſt geht in immer
engern Kreiſen um die Bruſt, in der ein Herz iſt,
bis er ſie endlich erreicht und unter Entzuͤckungen
umſchlingt.


Horion zitterte einſam, ohne ſeine Geliebten zu
ſehen, in einer finſtern Laub-Rotunda, in welche ein
einziger verdorrter Zweig das Licht des Mondes und
[85] ſeiner jagenden Wolken einließ. Nichts ruͤhrte ihn
unter einer Muſik allzeit mehr als in die laufenden
Wolken zu ſehen: wenn er dieſe Nebelſtroͤme in ih¬
rer ewigen Flucht um unſer Schatten-Rund beglei¬
tete mit ſeinen Augen und mit den Toͤnen, und
wenn er ihnen mitgab alle ſeine Freuden und ſeine
Wuͤnſche: dann dacht' er wie in allen ſeinen Freu¬
den und Leiden an andre Wolken, an eine andre
Flucht, an andre Schatten als an die uͤber ihm,
dann lechzete und ſchmachtete ſeine ganze Seele;
aber die Saiten ſtillten das Lechzen, wie die kalte
Bleikugel im Mund den Durſt abloͤſcht, und die
Toͤne loͤſeten die druͤckenden Thraͤnen von der vollen
Seele ab.


Theurer Viktor! im Menſchen iſt ein großer
Wunſch, der nie erfuͤllt wurde: er hat keinen Na¬
men, er ſucht ſeinen Gegenſtand, aber alles was du
ihm nenneſt und alle Freuden ſind es nicht; allein er
koͤmmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach
Norden ſiehſt oder nach fernen Gebirgen, oder wenn
Mondlicht auf der Erde iſt oder der Himmel ge¬
ſtirnt, oder wenn du ſehr gluͤcklich biſt. Dieſer große
ungeheure Wunſch hebt unſern Geiſt empor, aber mit
Schmerzen: ach! wir werden hienieden lie¬
gend in die Hoͤhe geworfen gleich Epilepti¬
ſchen
. Aber dieſen Wunſch, dem nichts einen Na¬
men geben kann, nennen unſre Saiten und Toͤne dem
[86] Menſchengeiſte — der ſehnſuͤchtige Geiſt weint dann
ſtaͤrker und kann ſich nicht mehr faſſen und ruft in
jammernden Entzuͤcken zwiſchen die Toͤne hinein: ja
alles was ihr nennt, das fehlet mir. . . .


Der raͤthſelhafte Sterbliche hat auch eine namen¬
loſe ungeheure Furcht, die keinen Gegenſtand hat,
die bei gedachten Geiſtererſcheinungen erwacht
und die man oft fuͤhlt, wenn man von ihr
ſpricht. . . .


Horion uͤbergab ſein zerſtoßenes Herz mit ſtillen
Thraͤnen, die niemand fließen ſah, den hohen Ada¬
gios, die ſich mit warmen Eiderdunen-Fluͤgeln uͤber
alle ſeine Wunden legten. Alles was er liebte, trat
jetzt in ſeine Schatten-Laube, ſein aͤlteſter Freund
und ſein juͤngſter — er hoͤrt die Gewitterſtuͤrmer des
Lebens laͤuten aber die Haͤnde der Freundſchaft ſtre¬
cken ſich einander entgegen und faſſen ſich und noch
im zweiten Leben halten ſie ſich unverweſet. —


Alle Toͤne ſchienen die uͤberirrdiſchen Echo ſeines
Traumes zu ſeyn, welche Weſen antworteten, die
man nicht ſah und nicht hoͤrte. . . .


Er konnte unmoͤglich mehr in dieſer finſtern Ein¬
zaͤunung mit ſeinen brennenden Phantaſien bleiben
und in dieſer zu großen Entfernung vom Pianiſſimo.
Er ging — faſt zu muthig und zu nah' — durch ei¬
nen Laubengang den Toͤnen naͤher zu und druͤckte
das Angeſicht tief durch die Blaͤtter, um endlich,
[87] endlich Klotilde im fernen gruͤnen Schimmer zu er¬
blicken. . . .


Ach er erblickte ſie auch! — Aber zu hold, zu
paradieſiſch! Er ſah nicht das denkende Auge, den
kalten Mund, die ruhige Geſtalt, die ſo viel verbot
und ſo wenig begehrte: ſondern er ſah zum erſten¬
mal ihren Mund von einem ſuͤßen harmoniſchen
Schmerz mit einem unausſprechlich-ruͤhrenden Laͤ¬
cheln umzogen — zum erſtenmal ihr Auge unter ei¬
ner vollen Thraͤne nieder geſunken, wie ein Vergi߬
meinnicht ſich unter einer Regenzaͤhre beugt. O
dieſe Gute verbarg ja ihre ſchoͤnſten Gefuͤhle am
meiſten! Aber die erſte Thraͤne in einem geliebten
Auge iſt zu ſtark, fuͤr ein zu weiches Herz. . . Viktor
kniete uͤberwaͤltigt von Hochachtung und Wonne,
vor der edeln Seele nieder und verlor ſich in die
daͤmmernde weinende Geſtalt und in die weinenden
Toͤne — Und da er endlich ihre Zuͤge erblaſſet ſah,
weil das gruͤne Laub mit einem todtenfarbigen Wie¬
derſchein der Lampen ihre Lippen und Wangen uͤber¬
deckte — und da ſein Traum und die Klotilde wie¬
der erſchien, die darin unter den blumigen Huͤgel
verſunken war — und da ſeine Seele zerran in
Traͤume, in Schmerzen, in Freuden, und in Wuͤn¬
ſche fuͤr die Geſtalt, die ihrem Geburtstage mit an¬
daͤchtigen Thraͤnen heiligte: o war es da zu ſeinem
Zergehen noch noͤthig, daß die Violine ausklang und
[88] daß die zweite Harmonika, die Viole d'Amour, ihre
Sphaͤren-Akorde an das nackte, entzuͤndete, zuckende
Herz abſandte? — Ach er dankte dem Schoͤpfer die¬
ſes melodiſchen Edens, daß er mit den hoͤchſten
Toͤnen ſeiner Harmonika, die das Herz des Men¬
ſchen mit unbekannten Kraͤften in Thraͤnen zerſplit¬
tern wie hohe Toͤne Glaͤſer zerſprengen, endlich ſei¬
nen Buſen, ſeine Seufzer und ſeine Thraͤnen er¬
ſchoͤpfte: unter dieſen Toͤnen, nach dieſen Toͤnen gab
es keine Worte mehr; die volle Seele wurde von
Laub, und Nacht und Thraͤnen zugehuͤllt — das
ſprachloſe Herz ſog ſchwellend die Toͤne in ſich und
hielt die aͤußern fuͤr innere — endlich ſpielten die
Toͤne nur leiſe wie Zephyre um den Wonneſchlaf-
Trunknen und bloß im ſterbenden Innern ſtammelte
noch der uͤberſeelige Wunſch: »ach Klotilde, koͤnnt'
»ich dir heute dieſes ſtumme, gluͤhende Herz hingeben
»— ach koͤnnt' ich an dieſem unvergaͤnglichen Him¬
»melsabend, mit dieſer zitternden Seele ſterbend
»vor deine Fuͤße ſinken und die Worte ſagen: ich
»liebe dich!« — —


Und als er an ihren Geburtstag dachte und an
ihren Brief nach Maienthal, der ihm das große Lob
gegeben, ein Schuͤler Emanuels zu ſeyn, und an
kleine Zeichen ihrer Achtung fuͤr ihn und an die
ſchoͤne Verſchwiſterung ſeines Herzens mit ihrem —
ja da trat die himmliſche Hofnung, dieſes geadelte
[89] Herz zu bekommen, zum erſtenmal unter Muſik nahe
an ihn und die Hofnung ließ die Harmonikatoͤne wie
verrinnende Echos weit uͤber die ganze Zukunft ſei¬
nes Lebens fließen. . . .


»Viktor!« ſagte jemand in langſam gedehnten
Ton. Er ſprang auf und kehrte ſeine veredelte Zuͤge
gegen den — Bruder ſeiner Klotilde und umarmte
ihn gern. Flamin, in den alle Muſik Kriegsfeuer
und freiere Aufrichtigkeit warf, ſah ihn ſtaunend,
fragend und unmerklich ſchuͤttelnd und mit jener
Freundlichkeit an, die wie Hohn ausſah, die aber
allezeit bloßes Schmerzen empfangener Beleidigungen
war. »Warum nahmſt du mich heute nicht mit?«
ſagte freundlich Flamin. Viktor druͤckte ſeine Hand
und ſchwieg.


»Nein! rede!« ſagte jener.« — Laſſ' es heute
mein Flamin, ich ſage dirs noch.«


»Ich will dirs ſelber ſagen (begann jener ſchnel¬
ler und waͤrmer) — Du denkſt vielleicht, »ich werde
»eiferſuͤchtig. Und ſiehe, kennt' ich dich nicht, ſo
»wuͤrd' ichs auch; warlich ein anderer wuͤrd' es,
»wenn er dich hier ſo angetroffen haͤtte und alles
»zuſammen rechnete deine neuliche Entfernung aus
»unſerem Gartenhaus in die Laube — Dein Schrei¬
»ben ohne Licht und dein Singen von Liebe. —


»An Emanuel« ſagte Viktor ſanft —


»Dein Abgeben dieſes Blattes an ſie« —


[90]

»Es war ein anderes aus ihrem Stammbuche«
ſagt' er —


»Noch ſchlimmer, das wußt' ich nicht einmal —
»Dein Zoͤgern in St. Luͤne und tauſend andre Zuͤ¬
»ge, die mir nicht ſogleich einfallen, dein heutiges
»Alleingehen.« —


»O mein Flamin, das geht weit, du ſiehſt mit
»einem andern Auge als dem der Freundſchaft« —


Hier wurde Flamin, der ſich in nichts verſtellen
konnte ohne es ſogleich zu werden und der keine
Beleidigung erzaͤhlen konnte ohne in den alten Zorn
zu gerathen, waͤrmer und ſagte weniger freundlich:
»es ſehens ſchon andre auch, ſogar der Kammerherr
»und die Kammerherrin.«


Dieſes zerriß Viktor das Herz: »Du Theurer,
»alter Jugendfreund, ſo ſollen wir alſo auseinander
»gezogen und geriſſen werden, wir moͤgen noch ſo
»ſehr bluten; es ſoll alſo dieſem Matthieu gelin¬
»gen (denn von dem koͤmmt alles, nicht von dir, du
»Guter,) daß du mich marterſt und daß ich dich mar¬
»tere — Nein, es ſoll ihm nicht gelingen — Du
»ſollſt nicht von mir genommen werden — ſiehe bei
»Gott (und hier ſtand in Viktor das Gefuͤhl ſeiner
»Unſchuld erhaben auf) und wenn du mich Jahre
»lang verkennſt, ſo koͤmmt doch die Zeit, wo du er¬
»ſchrickſt und zu mir ſagſt: ich habe dir Unrecht ge¬
»than! — Aber ich werde dir gern vergeben.«


[91]

Dieſes ruͤhrte den Eiferſuͤchtigen, der heute uͤber¬
haupt (wegen einer ſogleich kommenden Urſache) ge¬
laſſener war. »Sieh (ſagte er,) ich glaube dir alle¬
»mal: ſag' es, thuſt du nie etwas gegen mich?« —
»Nie, nie, mein Lieber!« — »Jetzt verzeih meiner
»Hitze; aber thue dem Matthieu nicht Unrecht: er
»iſts vielmehr, der mich beruhigte. Er ſagte mir
»es zwar, was Klotildens Eltern zu merken geglaubt,
»ja noch mehr — ſieh ich ſage dir alles — ſie haͤt¬
»ten ſogar wegen deiner vorgeblichen Neigung und
»wegen deines jetzigen Einfluſſes, den der Kammer¬
»herr gern zu ſeiner Wiedererhebung benuͤtzen moͤchte,
»von einer moͤglichen Verbindung mit der Tochter
»geſprochen, auch gegen dieſe und ſie ausgeforſcht;
»aber (dir iſts doch gleichguͤltig) meine Geliebte
»blieb mir treu und ſagte Nein.« —


Nun war unſerem Freund das vorher ſo gluͤckliche
Herz gebrochen; dieſes harte Nein war bisher noch
nicht gegen ihn ausgeſprochen worden — mit einer
unausſprechlichen, niederdruͤckenden aber ſtillen Weh¬
muth ſagt' er leiſe zu Flamin: »bleib du mir auch
»treu — denn ich habe ja wenig und quaͤle mich nie
»mehr ſo wie heute.« Er konnte nicht mehr reden;
die erſtickten Thraͤnen ſtuͤrmten fluthend an ſein Herz
hinan und wollten jede Minute durch die Augen
brechen — er mußte jetzt einen ſtillen dunkeln Ort
haben, wo er ſich recht ausweinen konnte und in
[92] ſeinem aufgeriſſenen ſchmerzenden Innern war bloß
der Gedanke noch ſanft und balſamiſch; »jetzt in
»der Nacht kann ich weinen ſo viel ich will und
»niemand ſteht mein zerriſſenes Angeſicht, meine zer¬
»riſſene Seele, mein zerriſſenes Gluͤck.«


Und als er dachte: »ach Emanuel, wenn du mich
»heute ſo ſaͤheſt« — konnt' er ſich kaum mehr
halten.


Er floh mit zuruͤckgeſtemmten Thraͤnen gleichguͤl¬
tig wer es ſehe oder nicht, aus dem Garten, uͤber
den ein melancholiſcher Engel eine große Trauerfahne
fliegen ließ und Leichenmuſik. — Er ſtieß ſich wund
an einer ſteinernen Gartenwalze, womit man die be¬
regneten
Graßſpitzen und Bluͤmgen nieder¬
quetſcht — er weinte noch nicht, aber ach! auf der
Warte da wollt' er ſich ſaͤttigen und traͤnken mit
reichlichem Schmerz — er wiederholte immer »aber
ſie blieb getreu und ſagte Nein, Nein, Nein« — die
Konzerttoͤne wehten ihm nach wie Feuer dem, der es
beſprochen — er watete durch naſſe entſchlummerte
Fluren die ihre Blumen verhuͤllten, und ſchneller
als er ſtrichen auf der Erde die Schattenriſſe des
oben vom Winde verfolgten Gewoͤlkes dahin — er
ſtand an der Warte, hielt jede Zaͤhre noch und
rannte hinauf — er warf ſich auf die Bank, wo er
Klotilden zum erſtenmale im weißen Gewand von
Ferne geſehen — »Ruhe du auch, Horion!« rief ſie
[93] aus ſeinem Traume ihm unter dem Blumenhuͤgel
noch einmal zu und er hoͤrt es wieder. — —


Hier riß er freudig alle ſeine Wunden auf und
ließ ſie frei hin bluten in Thraͤnen — ſie uͤberzogen
mit truͤben Stroͤmen das Angeſicht, das ſanft oft
gelaͤchelt hatte aber immer gutmuͤthig und das an¬
dern keine abgepreſſet ſondern abgetrocknet hatte —
jede Fluth war eine weggehobne Laſt, aber das Herz
wurde darauf wieder ſchwer und vergoß die neue
Fluth — Endlich konnt' er die Toͤne wieder hoͤren,
die meiſten ſanken unter eh' ſie an den Thurm ge¬
floſſen waren, kleine kamen ſterbend an und zergin¬
gen in ſeinem dunkeln Herzen — jeder Ton war
eine fallende Thraͤne und machte ihn leichter und ſprach
ſeinen Kummer aus — der Garten ſchien aus ſanft
ertoͤnenden, gebrochen-uͤberdaͤmmerten, dunkelgruͤnen
Schattenwogen zu beſtehen — er riß, von Erin¬
nerung geſtochen, das Auge davon weg: »was geht
»er mich mehr an« — Aber endlich ſtieg aus die¬
ſem Schatten-Eden und aus der Viole d'Amour das
Lied »Vergiß mein nicht« zu ſeinem muͤden Herzen
auf und gab ihm wieder den ſanftern Schmerz und
die vergangne Liebe: »Nein, ſagt' er, ich vergeſſe
»dein auch nicht, ob du mich gleich nicht geliebt —
»Deine Geſtalt wird mich doch ewig ruͤhren und an
»meine Traͤume erinnern — ach du himmliſche, es
[94] »iſt jetzt das einzige was mich nicht ſchmerzet, wenn
»ich denke: ich vergeſſe dein nicht.«


Alles wurde ſtumm und ausgeloͤſcht: er war
allein neben der Nacht. Endlich ging er nach der
langen Stille herab und nach Flachſenfingen zu,
matt geweint und arm geworden. Und als er unter¬
weges ſchnell zum ſchwarzblauen Himmel, in dem ir¬
rende Wolken um den Mond wie Schlacken umher
geworfen waren, hinaufblickte und ſchnell wieder uͤber
die halb vernichtete Schattengegend, uͤber die Schat¬
tenberge und Schattendoͤrfer: ſo kam ihm alles tod,
leer und eitel vor und es ſchien ihm, als waͤr' in
irgend einer hellern Welt eine Zauberlaterne — und
durch dit Laterne ruͤckten Glaͤſer worauf Erden und
Fruͤhlinge [und] Menſchengruppen gefaͤrbet waͤren —
und die herabgefloſſenen huͤpfenden Schattenbilder
dieſer Glaͤſer nennten wir uns und eine Erde und
ein Leben — und allem Bunten liefe ein gro¬
ßer Schatten hintennach
. — —


Ach, ich rege vielleicht in mancher Bruſt laͤngſt
vergoſſene Beklemmungen wieder auf, aber es thut
uns wohl, daß da die Leiden ſo viel Platz in unſerer
Erinnerung einnehmen, daß dieſes herbe Lagerobſt
milde wird durch Liegen und daß ein geringer Unter¬
ſchied iſt zwiſchen einem vergangnen Schmerz und ei¬
ner jetzigen Luſt. — —


[95]

Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit ei¬
nem bleichen Angeſicht und mit brennenden Augen
im Hauſe des Apothekers an. Er begehrte nichts,
um ſeine gebrochne Stimme nicht zu verrathen. Als
er ſeinen Alltags-Ueberrock im Mondsſchimmer haͤn¬
gen ſah; und als er ſich wie eine fremde Perſon
vorſtellte, der der Rock gehoͤre und der ihn am Mor¬
gen ſo freudig auszog und jetzt ſo troſtlos anlege: ſo
ergrif ein Mitleiden, das er mit ſich ſelber hatte,
wieder mit zu ſtarkem Druck ſein erſchoͤpftes Herz.
Marie kam und er wendete nicht einmal die Zeichen
dieſes Mitleids von ihr weg. Sie ſtand betroffen
— er ſagte ihr mit der ſanfteſten aus Seufzern ge¬
webten Stimme, er brauche nichts — und die gute
Seele ging ohne Muth zum Troͤſten und zu Thraͤnen
langſam hinaus, aber die ganze Nacht vergoß ſie un¬
ſichtbare uͤber die fremden, und uͤber einen Kummer,
der ihr nicht geſagt war.


Warum oͤfnete gerade heute das Schickſal alle
Adern ſeines Herzens? Warum ließ es gerade auf
dieſen Tag die Silberhochzeit des Stadtſeniors und
die erſte Auflage der Hochzeit ſeiner Tochter mit
dem Waiſenhausprediger treffen? Warum, wenn doch
beide Hochzeitfeſte auf dieſen Tag zuſammenfallen
ſollten, mußten ſie bis nach Mitternacht fortwaͤhren,
wo ſie den armen Viktor in alle Brandſtaͤtten ſeiner
Hofnungen ſchauen ließen, wo er in einer lichtervol¬
[96] len Stube aus ſeiner dunkeln die Liebe ſah, die
Haͤnde verknuͤpfte, Lippen zuſammendruͤckte und Au¬
gen und Seelen vermiſchte? — Zu einer andern
Zeit wuͤrd' er uͤber den Waiſenhausprediger und
uͤber zwei Armenkatecheten gelaͤchelt haben; aber
heute konnt' er nur daruͤber ſeufzen und es iſt eine
ſanfte Schoͤnheitslinie an ſeinem innern Menſchen,
daß er den armen Menſchen das vergoͤnnte, was er
entbehrte: »ach ihr ſeid gluͤcklich, ſagte er — o
»liebt ench recht, preſſet die armen klopfenden ver¬
»gaͤnglichen Herzen heiß an einander, eh' ſie der
»Fluͤgel der Zeit zerſchlaͤgt und gluͤhet an einander
»in der kurzen Minute des Lebens und wechſelt eure
»Thraͤnen und Kuͤße, eh die Augen und Lippen im
»Grabe erfrieren — ach ihr ſeid gluͤcklicher als ich,
»der ich das Herz voll Liebe niemand geben kann
[»]als den Wuͤrmern des Grabes und auf deſſen Sarg
»ein Tiſchler die Ueberſchrift, die wie ich mit Erde
»bedeckt wird, faͤrben ſoll: »ach ihr guten Menſchen,
»ihr habt mich nicht geliebt und ich war euch doch
»ſo gut!« —


Jedes gluͤckliche Laͤcheln, jeder floͤtende Violinen¬
zug, jeder Gedanke wurde jetzt ſeinem von Thraͤnen
umgebenen weichen Herzen zur harten ſpitzen Ecke,
ſo wie einer Hand, die ſich in Waſſer untertaucht,
alles hart anzufuͤhlen wird.


Seine[97]

Seine graͤnzenloſe Aufrichtigkeit, ſeine graͤnzenloſe
Erweichung konnt' er mit nichts befriedigen als mit
einem Briefe an ſeinen Emanuel, in den ſeine Seele
ſo ſehr wie ſein Auge uͤberſtroͤmte.


»O theurer Geliebter!


»Sollt' ich denn dirs verbergen, wenn mich
Schmerzen uͤbermannen oder Thorheiten? Sollt' ich
dir nur meine bereueten Fehler zeigen und nie meine
gegenwaͤrtigen? — Nein, trete her, Theurer, an
meine wunde Bruſt, ich oͤfne dir das Herz darin,
es blute und poche unter der Entbloͤßung wie es
will — ach du deckeſt es doch vielleicht mit deiner
vaͤterlichen Liebe wieder zu und ſagſt: ich lieb' es
noch. —


Du, mein Emanuel, ruheſt in deiner hohen Ein¬
ſamkeit, auf dem Ararat der erretteten Seele, auf
dem Thabor der glaͤnzenden; da blickeſt du ſanft ge¬
blendet in die Sonne der Gottheit und ſieheſt ru¬
hig die Wolke des Todes auf die Sonne zuſchwim¬
men — ſie verhuͤllt ſie, du erblindeſt unter der Wol¬
ke, ſie verrinnt, und du ſtehſt wieder vor Gott. —
Du liebſt Menſchen als Kinder, die nicht beleidigen
koͤnnen — du liebſt Erdengenuͤße wie Fruͤchte, die
man zur Kuͤhlung pfluͤckt, aber ohne nach ihnen zu
hungern — die Gewitter und Erdbeben des Lebens
gehen vor dir ungehoͤrt voruͤber, weil du in einem
Hesperus. II. Th. G[98] Lebens-Traum voll Toͤne, voll Geſaͤnge, voll Auen
liegſt und wenn dich der Tod aufweckt, laͤchelſt du
noch uͤber den heitern Traum.


Aber ach, mehr als ein Gewitter donnert hinein
in den Lebenstraum von uns andern und macht ihn
aͤngſtlich. Wenn ein hoͤheres Weſen in den Wirwar
von Ideen treten koͤnnte, der unſern Geiſt umgiebt
und aus dem er ſeinen Athem holen muß, wie wir
in einer aus allen Luftarten zuſammengegoſſenen Luft¬
art athmen — wenn er ſaͤhe, welche Nahrungsmittel
durch unſern innern Menſchen gehen, denen er ſei¬
nen Milchſaft abgewinnen muß, dieſes Gemenge von
komiſchen Opern — Bayle's Diktionaire — Konzer¬
ten von Mozart — Meſſiaden — Kriegsoperationen
— Matthiſons Gedichten — Kants Schriften —
Fleuretten — Monds-Anſchauungen — Laſtern und
Tugenden — Menſchen und Krankheiten aller Art
— — — wenn das Weſen dieſe Lebens-Olla-Potrida
unterſuchte: wuͤrd' es nicht begierig ſeyn, zu wiſſen,
welche widerſinnige Saͤfte dadurch in der armen
Seele zuſammen gerinnen, und wuͤrd' es ſich nicht
wundern, daß noch etwas Feſtes und Gleichfoͤrmiges
im Menſchen bleibt? — Ach wenn dein Freund,
Emanuel! bald in einem feinen Speiſeſaal, bald in
einem Garten, bald in einer Loge, bald vor dem
großen Nachthimmel, bald vor einer Kokette, bald
[99] vor dir iſt: ſo macht ihm dieſer zweideutige Wech¬
ſel der Szenen Schmerzen und vielleicht Flecken . . .


Nein, ich will meinen Emanuel nicht beluͤgen —
— Ach ſind denn die Kleinigkeiten und die Stein¬
gen dieſes Lebens werth, daß wir darum krumme
Gaͤnge waͤhlen, wie die Minirraupe durch die Aeſt¬
gen ihres Blattes ſich zu Kruͤmmungen zwingen laͤſ¬
ſet? — Nein, alles was ich geſagt habe, iſt wahr;
aber ich haͤtt' es nicht geſagt, wenn nicht andre
Schmerzen mich auch auf jene fuͤhrten; und doch
haͤtteſt du es mir, du unſchuldig kindlich erhaben
trauender Lehrer geglaubt. Ach du haͤlſt mich fuͤr
zu gut . . . o es iſt ein weiter ermuͤdender Schritt
von der Bewunderung zur Nachahmung! — Jetzt
aber blick' in mein geoͤfnetes Herz!


Seitdem ich hier im Todtenhaus meiner kindli¬
chen Freuden, in den Beeten, wo meine Kindheits¬
jahre gebluͤhet und abgebluͤhet haben, vielleicht mit
zu vielen Traͤumen der Vergangenheit umher gehe;
— und noch mehr: von dem Tage an, wo du mei¬
nem Herzen den Reiz zum Fieber Schlage auf mein
ganzes Leben gegeben, ſeitdem du mir das Leben
aufgedeckt, worin ſich der Menſch zerblaͤttert, und
den duͤnnen ſpitzigen Augenblick, auf dem er ſo
ſchmerzhaft ſteht, ſeid jener Abſchieds Nacht, w
meine Seele groß und meine Thraͤnen unerſchoͤpflich
waren, rinnt eine ewige Wunde in mir und der
G 2[100] Seufzer einer Sehnſucht, die nichts zu nennen weiß
als Traͤume und Thraͤnen und Liebe, liegt wie eine
ſtockende Ader beklemmend und verzehrend in meiner
Bruſt — — Ach ich lache noch wie ſonſt, ich philo¬
ſophire noch wie ſonſt, aber mein Inneres ſieht nur
der Geliebte, dem ichs jetzt entbloͤße.


O Schickſal, warum ſchlugſt du in den Menſchen
den Funken einer Liebe, die in ſeinem eignen Her¬
zensblut erſticken muß? Ruht nicht in uns allen das
holde Bild einer Geliebten, eines Geliebten, wovor
wir weinen, wornach wir ſuchen, worauf wir hoffen,
ach und ſo vergeblich, ſo vergeblich? — Steht nicht
der Menſch vor der Bruſt eines Menſchen wie die
Turteltaube vor dem Spiegel und girret wie dieſe
ſich heiſer vor einem todten flachen Bilde darin, das
er fuͤr die Schweſter ſeiner klagenden Seele haͤlt
— Warum fraͤgt uns denn jeder ſchoͤne Fruͤhlings¬
abend, jedes ſchmelzende Lied, jede uͤberſtroͤmende
Freude: wo haſt du die geliebte Seele, der du deine
Wonne ſagſt und giebſt? Warum giebt die Muſik
dem beſtuͤrmten Herzen ſtatt der Ruhe nur groͤßere
Wellen, wie das Gelaͤute der Glocken die Ungewitter
anſtatt zu entfernen herunterzieht? Und warum ruft
es drauſſen an einem ſchoͤnen ſtillen hellen Tage,
wenn du uͤber das ganze aufgeſchlagne Gemaͤlde einer
Landſchaft ſieheſt, uͤber die Blumen-Meere, die auf
ihr zittern, uͤber die herabgeworfnen Wolkenſchatten,
[101] die von einem Huͤgel zum andern fliehen, und uͤber
die Berge, die ſich wie Ufer und Mauern um un¬
ſern Blumenzirkel ziehen, warum ruft es da denn
unaufhoͤrlich in dir: »ach hinter den rauchenden
»Bergen, hinter den aufliegenden Wolken da wohnt
»ein ſchoͤneres Land, da wohnt die Seele, die du
»ſuchſt, da liegt der Himmel naͤher an der Erde?«
— Aber ach hinter dem Gebirge und hinter dem
Gewoͤlke ſtoͤhnt auch ein verkanntes Herz und ſchauet
an deinen Horizont heruͤber und denkt: »ach in je¬
»ner Ferne waͤr' ich wohl gluͤcklicher!«


Sind wir denn alle nicht gluͤcklich? — — Be¬
jah' es nicht und ſage nicht zu mir, Emanuel,
daß im Winter dieſes Lebens gerade die wenigen
warmen Sonnenblicke, die ihn unterbrechen, den beſ¬
ſern Menſchen wie Gewaͤchſe zerſprengen und zu
Grunde richten — ſage nicht; daß jedes Jahr etwas
von unſerm Herzen wegſtoße und daß es wie das
Eis immer kleiner werde, je weiter es ſchwimme im
Strome der Zeit — ſage nur nicht, daß die irrende
Pſyche, wenn ſie auch ihr zweites Selbſt in ihrem
Gefaͤngniß hoͤre, doch nie in ſeine Arme kommen
koͤnne — — Aber du haſts ſchon einmal geſagt:


»In zwei Koͤrpern ſtehen wie auf zwei Huͤgeln
getrennt alle liebende Seelen der Erde, eine
Wuͤſte liegt zwiſchen ihnen wie zwiſchen Sonnenſy¬
ſtemen, ſie ſehen einander heruͤberſprechen durch Ste¬
[102] ganographie, ſie hoͤren endlich die Stimmen uͤber die
Huͤgel heruͤber — aber ſie beruͤhren ſich nie und jede
umſchlingt nur ihren Gedanken. — Und doch zer¬
ſtaͤubt dieſe arme Liebe wie ein alter Leichnam,
wenn ſie gezeigt wird; und ihre Flamme zerflattert
wie eine Begraͤbnißlampe, wenn ſie aufgeſchloſſen
wird.«


Sind wir denn alle nicht gluͤcklich? —


Bejah' es nicht! — Ach der Menſch, der ſchon
von der Kindheit an nach einer unbekannten Seele
rief, die mit ſeiner eignen in Einem Herzen auf¬
wuchs — die in alle Traͤume ſeiner Jahre kam und
darin von weitem ſchimmerte und nach dem Erwa¬
chen ſeine Thraͤnen erregte — die im Fruͤhling ihm
Nachtigallen ſchickte, damit er an ſie denke und nach
ihr ſich ſehne — die in jeder weichen Stunde ſeine
Seele beſuchte mit ſo viel Tugend, mit ſo viel Liebe,
daß er ſo gern all' ſein Blut in ſeinem Herzen wie
in einer Opferſchaale der Geliebten hingegeben haͤtte
— die aber ach nirgends erſchien, nur ihr Bild in
jeder ſchoͤnen Geſtalt zuſandte, aber ihr Herz ewig
entruͤckte — — o endlich, o ploͤtzlich, o ſeelig ſchlaͤgt
ihr Herz an ſeinem Herzen und die zwei Seelen um¬
faſſen ſich auf immer — — er kann es nicht mehr
ſagen, aber wir koͤnnens: dieſer iſt doch gluͤcklich und
geliebt. . . .


[103]

Guter Emanuel, du vergiebſt mir den Schmerz
der Furcht, daß ich es wohl nie ſein werde — Nein,
nie! — Ach ich waͤre auch fuͤr dieſe von Graͤbern
zerſtuͤckte Erde vielleicht gar zu gluͤcklich, ich duͤrfte
fuͤr ein ſo junges mit ſo kleinen Verdienſten gerecht¬
fertigtes Leben vielleicht ein zu großes Eden bewoh¬
nen, wenn meine zu weiche Seele, die ſchon unter
drei frohen Minuten einſinkt, die jeden Menſchen
liebt und ſich mit Kinderarmen ans Herz der gan¬
zen Schoͤpfung haͤngt, o die ſchon durch dieſen blo¬
ßen Traum der Liebe zu ſeelig wird und uͤberwaͤltigt
durch dieſe Beſchreibung — — Nein, ſie waͤre zu
ſeelig eine ſolche von Wehmuth und Menſchenliebe
laͤngſt zerſchmolzene Seele, wenn ſie einmal nach ei¬
nem ſo langen toͤdtlichen Sehnen endlich, endlich —
o Emanuel, ich bebe wieder vor Freude und es iſt
doch niemals, niemals moͤglich! — alle ihre Wuͤn¬
ſche, ihren ganzen Himmel, ſo viele Liebe, ſo viele
Thraͤnen in Einer theuern theuern Seele geſammelt
faͤnde, wenn ich vor der großen Natur, und vor
dem Angeſicht der Tugend und vor Gott ſelber, der
mir und ihr die Liebe gab, zur Einzigen, zur From¬
men, zur Geliebten — o Gott, wie iſt ihr Name —
zur Vorausgeliebten, die ich jetzt im Wahnſinn nen¬
nen wollte, unter allen meinen Wonnethraͤnen ſagen
durfte: endlich hat dich mein Herz, du Gute, Gott
giebt uns heute einander und wir bleiben beiſammen
[104] auf die ganze Ewigkeit. Nein ich wuͤrd' es nicht
ſagen ſondern vor Wonne verſtummen und ſterben.


— Siehe! mir war jetzt als ging' eine Geſtalt
uͤber meine Stube und riefe: Viktor! Ich ſah mich
um und erblickte meine leere Stube und die abge¬
legten Sonntagskleider und jetzt erinnerte ich mich
erſt, daß ich ungluͤcklich bin und nicht geliebt.


Du aber, unerſetzlicher Freund, mißkenne mich
nicht; ich ſchwoͤre dir, daß ich dir dieſe Blaͤtter un¬
geaͤndert gebe, wenn ich auch morgen, wo die Wir¬
bel der heutigen Nacht ſtiller fließen, alle Aenderun¬
gen noͤthig faͤnde. Dein thoͤrichter Freund bleibt
doch Dein ewiger Freund.


S. V. H.


[105]

20. Hundspoſttag.

Billet von Emanuel — Flamins Aepfel-Kartons auf den
Schultern — Gang nach St. Lüne.


»Armer Baſtian, — ſagt' ich, da ich das heutige
»Felleiſen aufmachte — eh' ichs auf habe, weiß ich
»ſchon voraus, daß du den ganzen Tag nach einer
»ſolchen Nacht dich eingeſchloſſen, um dein verblute¬
»tes Angeſicht gegen den Trauergarten zuzuwenden
»— daß du heute dieſe brennenden Gifttropfen lie¬
»ber haſt als den Wundbalſam und daß du in den
»Spiegel ſchaueſt, um mit der ſtillen ſchuldloſen Ge¬
»ſtalt, die er dir mit ihren Schmerzens-Schnitten
»zeigt, in neue Thraͤnen zu zerfließen. — O wenn
»der Menſch nichts mehr zu lieben hat, ſo umfaſſet
»er das Grabmal ſeiner Liebe und der Schmerz wird
»ſeine Geliebte. Vergebet einander den kurzen
»Wahnſinn der Klage: denn unter allen Schwaͤchen
»des Menſchen iſt das die unſchuldigſte, wenn er,
»anſtatt gleich dem Zugvogel ſich uͤber den Winter
»zu erheben und in heitere Zonen zu fliegen, gleich
»andern Voͤgeln vor dieſem Winter niederſinkt und
»dumpf in ſeinem kalten Grame erſtarrt.«

[106]

Viktor ſargte ſich ſo zu ſagen an jenem Tage in
ſein Zimmer ein, das er niemand als einer Thuͤr-
und Wandnachbarin der Schmerzen, Marien, oͤfne¬
te, deren Geſtalt ihm ſo ſanft wie eine Abendſonne
that. Jedes andre weibliche Geſicht auf der Straße
gab ihm Stiche; und der Bruder der verlornen Klo¬
tilde, den er am Fenſter ſah und heute gern umarmt
haͤtte, gab der muͤden Erinnerung neue Thraͤnen zu
Farben. . . . Leſer! — die Leſerin iſt von ſelber ge¬
ſcheuter — lache nicht uͤber meinen guten Helden,
der da keiner iſt, wo gerade die Staͤrke der Seele
die Staͤrke des Schmerzens wird: laß mich es wenig¬
ſtens nicht hoͤren. Wem der ſympathetiſche Nerve
des Lebens, die Liebe, unterbunden oder durchſchnitt¬
ten iſt, der darf ſchon einmal ſeufzen und ſagen:
alles kann der Menſch auf der Erde geduldiger ver¬
lieren als Menſchen. — —


Und doch fuͤhrte Abends ein Zufall — naͤmlich
ein Brief — alle ſeine Schmerzen noch einmal durch
ſein muͤdes Herz. Ein kleiner Brief von Emanuel
— aber keine Antwort auf den erſt abgeſandten —
kam an.


»Mein immer Geliebter,


»Ich habe den Tag deines Eintritts in ein neues
Lebens-Gewuͤhl erfahren und ich habe geſagt: mein
Geliebter bleibe gluͤcklich — die Ruhe der Tugend
[107] baue wie mit einer Bruſt ſein Herz gegen den Froſt
und Sturm ſeines neuen Lebens ein — ſeine
Schmerzen und ſeine Entzuͤckungen muͤſſen nicht laut
ſeyn — er trauere ſanft und ſtill wie eine Fuͤrſtin
im ſanften Weiß, er genieße ſanft und ſtill und im
Tempel ſeines Herzens ſpielen die Luſtbarkeiten nur
wie ungehoͤrt irrende Schmetterlinge in einer Kirche
— und die Tugend ſchwebe vor ihm am Himmel
uͤber der Sonne und waͤrme und erhelle und ziehe
allmaͤhlig ſein Herz!


Du willſt, aus liebender Bangigkeit fuͤr mein
entſinkendes Leben, nicht haben, daß ich oft ſchreibe;
ſo wenig glaubſt du, Lieber, meiner Hofnung. O
die ablaufenden Gewichte meiner Maſchine fallen
langſam und ſanft auf das Grab hinauf — dieſes
Erdenleben kleidet ſich in meiner Seele immer ſchoͤ¬
ner an und ſchmuͤckt ſich zum Abſchiede — dieſer
Nebenſommer um mich, der wie eine Nebenſonne
neben dem Auguſtſommer ſteht, und der kuͤnftige
Fruͤhling nehme mich der Natur ſchmeichelnd aus
den Armen. — —


So uͤberlaubt, ſo uͤberbluͤmt der Allguͤtige die
Gottesackermauer des Lebens wie wir die Mauer ei¬
nes engliſchen Gartens, mit bedeckendem Epheu und
Immergruͤn und giebt dem Ende des Gartens den
Schein eines neuen Geſtraͤuchs. —


[108]

So ſteigt ſchon hier im dunkeln Leben der
Geiſt, wie der Barometer ſchon unter dem truͤben
Wetter ſteigt, und wird den Einfluß des lichtern
unter den Wolken innen.


— Ich folge aber deiner Liebe und ſchreibe dir
nicht mehr als Einmal im Winter, wo ich dir die
große Nacht erzaͤhle, in der ich meinem blinden Ju¬
lius zum erſtenmale ſagte, daß ein Ewiger iſt — in
jener Nacht, mein Geliebter, zogen mich die Ent¬
zuͤckung und Andacht zu hoch und das duͤnne Leben
wollte reiſſen. Ich blutete lange. Im Winter, wo
an die Stelle der Erben-Reize die des Himmels
treten, *) verbiete mir das Gemaͤlde des Sommers
nicht.

O mein Sohn! — ich mußte dir ja ſchreiben,
weil meine Freundin Klotilde klaget, daß ſie zum
neuen Jahre aus der gruͤnen Laube der Einſamkeit
auf den ſchmutzigen Marktplatz des Hofes gezogen
werde — ihre Seele iſt dunkel von Trauer und
ſtreckt die Arme nach dem ſtillen Leben aus, das
von ihr genommen wird. Ich weiß nicht, was ein
Hof iſt — Du wirſt es wiſſen und ich beſchwoͤre
dich, erloͤſe meine Freundin und lenke die Hand ab,
die ſie aus St. Luͤne ziehen will. Wenn du es
[109] nicht kannſt: ſo verlaſſe am Hofe die geliebte Seele
nicht — ſey ihr einziger Freund — ziehe die Bie¬
nenſtacheln der Erdenſtunden aus ihrem milden Her¬
zen — Wenn kalte Worte wie Schneeflocken auf
dieſe Blume fallen: ſo ſchmelze ſie der warme Hauch
der Liebe zu Thraͤnen, die du rinnen ſieheſt — Wenn
uͤber ihr Leben ein Gewitter aufſteigt: ſo zeig' ihr
den Engel, der auf der Sonne ſteht und uͤber unſere
Gewitter den Regenbogen der Hofnung zieht — O
dich, den ich ſo liebe, wird meine Freundin auch ſo
lieben und wenn mein Freund ihr ſein ſanftes Herz,
ſein weiches Auge, ſeine Tugend, ſeine von der Na¬
tur, und von dem Ewigen bewohnte Seele aufdeckt:
ſo wird er meine Freundin vor ſich gluͤcklich werden
ſehen und das erhabne Angeſicht das vor ihm in
Thraͤnen und Laͤcheln und Liebe zerfließt, wird immer
in ſeinem Herzen bleiben.


Emanuel.


Siehe, da kam in dieſer gluͤhenden Minute die
erhabne Geſtalt, die er geſtern geſehen, wieder mit
ihrem Mund voll wehmuͤthigen Laͤcheln und mit ih¬
rem Auge voll Thraͤnen; und als die Geſtalt vor
ihm ſchweben blieb und ſchimmerte und laͤchelte: ſo
ſtand vor ihr wie vor einer Verſtorbnen ſeine Seele
[110] auf und alle Wunden fingen wieder unter dem Er¬
heben an zu bluten und er rief: »ſo weiche denn
»nie aus meinem Herzen, du erhabne Geſtalt, und
»ruh' ewig auf ſeinen Wunden!» — Die Troſtlo¬
ſigkeit, die Ermattung und der Schlaf uͤberhuͤlten
ſeine Seele, ſo wie ihren letzten Gedanken, naͤchſtens
nach St. Luͤne wieder zu gehen und ihre Eltern
zu bereden ſie nicht an den Hof zu zwingen . . .


Der lange Schlaf des Todes ſchließt unſre
Narben zu und der kurze des Lebens unſere Wun¬
den
. Der Schlaf iſt die Haͤlfte der Zeit, die uns
heilt. Der erwachte Viktor, deſſen inflammatori¬
ſches Fieber der Liebe geſtern durch die Schlafloſig¬
keit ſo zugenommen hatte, ſah heute, daß ſein
Schmerz ungemaͤßig war, weil ſeine Hoffnung un¬
maͤßig geweſen: — anfangs hatt' er gewuͤnſcht —
dann beobachtet — dann vermuthet — dann geſe¬
hen — dann ausgelegt — dann gehoft — dann dar¬
auf geſchworen. Jeder kleine Umſtand, ſogar ſein
Antheil an Klotildens Ernennung zur Hofdame hat¬
te Pechkraͤnze in ſein Feuer geworfen. »O ich
Thor!» ſagt' er mit den 3 Schwur Fingern an der
Stirne und wie alle kraͤftige Menſchen, war er um
deſto muthiger, je muthloſer er geweſen. Ja er
fuͤhlte ſich auf einmal zu leicht — aber eine zu
ſchnelle Kur kuͤndigt auch bey Seelen den Ruͤckfall
an. Ein neuer Troſt war der geſtrige Entſchluß,
[111] daß er Klotilden einen Dienſt erweiſen — naͤmlich
den Hofdienſt erſparen wollte. Er beſann ſich noch
uͤber ſeinen Entſchluß, ſie wieder zu ſehen — fuͤhl¬
teſt du etwa Viktor, daß alles was die Liebe thut,
um zu ſterben, nur ein Mittel ſey, um wieder zu
auferſtehen und daß alle ihre Epilogen nur Prologen
zum zweiten Akt ſind — als ihn ein einziger Korb
Aepfel auf dem Markt im Entſchluße feſt machte:
denn die Aepfel erinnerten ihn an die optiſchen auf
Flamins Ruͤcken, die allemal im Nachſommer er¬
ſchienen und die er im bisherigen Taumel vergeſſen
hatte. Konnte nicht Matthieu, der bisher an Fla¬
min dieſes Inſiegel ſeiner fuͤrſtlichen Verwandſchaft
nicht unterſuchen konnte, ſich auf einmal von allen
uͤberzeugen, was er aus dem Briefe an den Lord
nur mit diebiſchen Blicken errathen konnte? Und
konnt' er nachher nicht zum Fuͤrſten gehen und da
ſeinen ganz verdammten Spektakel anrichten. So¬
bald aber Viktor ihm den Inhaber des Vexierbildes
nur auf wenige Tage, bis es verblichen war, aus
den Augen entruͤckte: ſo war alles gut.


Viktor ging alſo zu ſeinem von der Natur taͤtto¬
virten Freund, um ihn nach St. Luͤne mitzuneh¬
men. . . .


»Daraus wird nichts« ſagte Flamin, der die
kleinere Delikateſſe hatte, die Bitte um die Beglei¬
tung wegen ſeiner Verwuͤrfe in Le Bauts Garten
[112] nicht zu benuͤtzen, und daruͤber die groͤßere vergaß,
eine ſolche Ruͤckſicht ſeinem Viktor gar nicht zuzu¬
trauen.


Dieſer, in einer leidenſchaftlichen Eilfertigkeit
zwei ſolche Uebel (Klotildens Hofamt und Mat¬
thieu's Okularinſpektion) abzuwenden, grif zum ſon¬
derbaren Mittel, dem Hofjunker die Reiſe-Genoſſen¬
ſchaft anzutragen. Denn ſie ſahen und ſprachen ein¬
ander taͤglich in Vorzimmern — und wahrhaft
freundlich, nur konnte keiner den andern ausſtehen.
— »Mit Freuden! (ſagte der Evangeliſt) in dieſer
Woche hab' ich den Kabinetsdienſt — aber die
naͤchſte kann ich.«


Und gerade in der jetzigen wollt' es Viktor. —
So viel ſchnelle Fehlſchlagungen beſtuͤrzten dieſen ſo,
daß er, deſſen ſorg- und argloſes Herz immer ein
ofner Brief mit fliegendem Siegel war, ſich jetzt ge¬
gen ſeinen guten, theuren Freund Flamin verſtellte
— er wußte keinen Rath weiter als dieſen, da oh¬
nehin deſſen Bruſt unter ſeiner gebuͤckten Kollegial-
Arbeit und unter ſeiner Vollbluͤtigkeit nicht ſowohl
litt als leiden konnte, zur Praͤſervationskur ein bur¬
gundiſches Pechpflaſter, das auf den Ruͤcken (als
Deckmantel der Aepfel-Projektionen) applizirt werde,
aus guten Gruͤnden anzurathen. Er verſtellte ſich ſo
erbaͤrmlich — denn ihm gluͤckten unſchuldige Intri¬
guen gegen Maͤdgen und ſcherzhafte Verſtellungen
aus[113] aus Satire und mißlangen ernſthafte — daß ſogar
Flamin aufhorchte und trocken verſetzte: »er habe
»ſchon ein ſolches Pflaſter ſeit zwei Tagen auf: und
»— Matthieu hab' es ihm gerathen und ſelber
»aufgelegt.«


Da ſaß er. — Sebaſtian hatte weiter nichts zu
thun als in einer ſonderbaren Kaͤlte, die auf dem
St. Luͤner Wege nur durch einige heiße Stiche von
den alten Spaͤtlingen ſeines verbluͤhten Paradieſes
untermiſcht wurde, unbegleitet zum Kammerherrn Le
Baut zu gehen, zu ſagen was zu ſagen war, ins
Pfarrhaus kaum zu gucken und ſtill wieder fortzu¬
wandern ohne eine einzige — Hofnung.


Liebe Fortuna! lieber gekoͤpft als ſkalpirt, lieber
Ein Ungluͤck als zehn Fehlſchlagungen, ich meine, raͤ¬
dere mit deinem Rade den Menſchen lieber von
oben als unten hinauf! —


Viktor wußte zwar noch kein Wort von der
Wendung, womit er zwei ſolchen Hof-Emigranten
wie den Le Bauts, die nichts heiligers kannten als
die Latrie gegen einen Fuͤrſten, die Dulie gegen deſ¬
ſen Miniſter und die Hyperdulie gegen deſſen H.,
Klotildens Standeserhebung verleiden ſollte; aber er
dachte, »ich thue was ich kann.«


Klotildens Eltern nahmen ihn mit ſo viel Ver¬
bindlichkeit auf — d. h. mit ſo viel Chareographie
des Koͤrpers, mit ſo viel Puderzucker auf jeder Mine,
Heſperius. II Th. H[114] mit ſo viel Violenſyrup auf jedem Wort — kurz er
fand den Bericht, den Maz von ihrer gefaͤlligen
Denkungsart fuͤr ihn an Flamiu erſtattet hatte, ſo
gegruͤndet, daß er keine beſſere Gelegenheit haͤtte
ausſuchen koͤnnen als dieſe, um ſie von der Spedi¬
tion und Verpflanzung ihrer Tochter abzumahnen —
haͤtten ſie ihm nicht zu danken angefangen, daß er
ſelber dieſer Spediteur und Pflanzer geweſen war.
Sie hatten alles erfahren oder errathen und dankten
ihm fuͤr ſeine Verwendung, der ſie wahrſcheinlich ei¬
gennuͤtzigere Abſichten liehen als die Tochter that.
Es waͤre laͤcherlich geweſen, in Klotildens Gegenwart
ihre kuͤnftige Gegenwart in Flachſenfingen zu wider¬
rathen und das auszureden, wofuͤr man ihm dankte.
Er ließ es, obwohl gezwungen, gut ſeyn; aber warum
ergiebt ſich der Menſch ſchwerer in die Zukunft als
in die Vergangenheit. — Die Kaͤlte der Tochter
war natuͤrlicherweiſe nicht kleiner (aber aufrichtiger)
als die Waͤrme der Eltern . . . . und gerade die
Kaͤlte erfriſchte ſein gluͤhendes Gehirn. Dieſe kalte
gleichguͤltige Geſtalt war wie ein Schleier uͤber die
erhabne liebende gedeckt, die immer mit ihren thraͤ¬
nenvollen Augen vor ihm ſchwebte und die er nicht
aushielt: ohne Bewußtſeyn einer Schuld, zufrieden
mit ſeinem Gehorſam gegen Emanuels Bitte, zog er
mit ſeinen vom Wohlſtand erdruͤckten Gefuͤhlen ab
kaͤlter gegen die Kaͤlte. — — Er waͤre ein ſchlechter
[115] Liebhaber geweſen, wenn er gewußt haͤtte, was
er haben wollen; denn ſonſt haͤtt' er von Klotilden,
ſogar im Falle ihrer Liebe gegen ihn, keine auſſeror¬
dentliche Waͤrme gegen einen Medikus begehren koͤn¬
nen, den ihr die Eltern aufzwangen (welches einem
Manne noch mehr ſchadet als Haͤßlichkeit) der ſo
unhoͤflich ohne ein Geburrstags-Karmen aus dem
Garten fortjagte, und der ſie in die ſieben vergolde¬
ten Thuͤrme des Hofdienſtes, trotz ihrem Widerwil¬
len, trotz allem Anſchein ihres kuͤnftigen Gefaͤng¬
nißfiebers
hineinſchob. — Aber fuͤr das ofne
Lehn
ſeines Herzens war eben dieſer Aerger ge¬
ſund. . . .


Wenn mein guter Leſer einmal von einer zu
theuern Freundin einen ewigen Abſchied zu nehmen
hat: ſo nehm' er ihn zweimal — Der erſte ver¬
ſteht ſich ohnehin, wo er in der Trunkenheit des
Schmerzes, im Blutſturz des Herzens und der Augen
erliegt und wo das geliebte Bild ſich mit Flammen
in die weiche Seele brennt; aber dann wird er die
Abgeſchiedne nie vergeſſen koͤnnen — Daher muß er
einen zweiten nehmen, der ſchon darum kaͤlter iſt,
weil heftige Empfindungen kein dal segno der Wie¬
derholung leiden, oder muß (wenn er am allerge¬
ſcheuteſten ſeyn will) ſie nach dem tragiſchen Ab¬
ſchied an einem oͤffentlichen Platze, (z. B. bei einer
Kroͤnung) wo ſie kalt ſcheinen muß, zu ſehen ſuchen
H 2[116] ihr froſtiges Geſicht uͤberſchneiet dann ihr heiſſes in
ſeinem Kopfe und mein guter Leſer hat doch wieder
ſo viel Verſtand beiſammen, daß er weiß was er in
den Hundspoſttagen lieſet. ..


— Warlich wenn Jean Paul nicht fleißig
ſchreibt, ſo thuts keiner — es ſchlug ſchon ein Uhr
und er hielts fuͤr ein Viertel auf Zwoͤlfe — meine
Schweſter will ſchon vor dem aufgeſchwaͤnzten rau¬
chenden Hecht, der wie die Schlange der Ewigkeit
an ſeinem Schwanze friſſet, die Haͤnde fallten und
ſagt immerfort: »es wird ja alles kalt« — »das
»ſoll es auch, nach ſo gluͤhenden Kapiteln« (ſag'
ich) wenn du den Leſer und den Autor meinſt —
Der Poſthund ſpringt ſchon, indem ich noch uͤber
dem zwanzigſten Kapitel ſitze, mit dem ein und zwan¬
zigſten in der Stube herum — und doch will ich
verdammt ſeyn wenn ich nicht vor dem Eſſen noch
wie die ſieben Weiſen ſieben goldne Spruͤche ſage:


1. Wenn man beim Stiche der Biene oder des
Schickſals nicht ſtille haͤlt; ſo reiſſet der Stachel ab
und bleibt zuruͤck.


2. Jaͤmmerliche Erde, die drei, vier große oder
kuͤhne Menſchen verbeſſern und erſchuͤttern koͤnnen!
Du biſt ein wahres Theater: auf dem Vorgrund
ſind einige fechtende Akteurs und einige Zelte aus
Leinwand, im Hintergrund wimmelts von gemahlten
Soldaten und Zelten! —


[117]

3. Staaten und Diamanten werden jetzt, wenn
ſie Flecken haben, in kleine zerſchnitten — und da


4. die Menſchen in großen Staaten und die
Bienen in großen Stoͤcken Muth und Waͤrme ein¬
buͤſſen: ſo heftet man jetzt an kleine Laͤnder andre
kleine Laͤnder, wie an Bienenſtoͤcke Kolonieſtoͤcke.


5. Der Menſch haͤlt ſein Leiden fuͤr das der
Menſchheit, wie die Bienen das Tropfen ihres Bie¬
nenſtandes, wenn ſchon die Sonne wieder ſcheint,
fuͤr Regen nehmen und nicht ausfliegen;


6. Aber er begeht taͤglich einen kleinern Irr¬
thum: anfangs haͤlt er fuͤr eine Ewigkeit, (fuͤr
dieſe ariſtoteliſche Zeit-Einheit des Schauſpiels des
Seyns) ſeine gegenwaͤrtige Stunde — dann ſeine
Jugend — dann ſein Leben — dann ſein Jahr¬
hundert
— dann die Dauer des Erdballs
— dann der Sonne ihre — dann der Himmel
ihre — dann (das iſt der kleinſte Irrthum) die
Zeit. ...


7. An den Menſchen ſind vorn und hinten wie
an den Buͤchern zwei leere weiße Buchbinderblaͤtter
— Kindheit und Greiſenalter; und an den Hunds¬
poſttagen auch: ſiehe das Ende dieſes Tages und den
Anfang des naͤchſten.


[118]

Fuͤnfter Schalttag.

Fortſetzung des Regiſters der Extra-Schöslings.


K.

Kaͤlte. In unſerm Zeitalter ſtehen Abnahme
des Stoizismus und Wachsthum des Egoismus
hart neben einander; jener bedeckt ſeine Schaͤtze und
Keime mit Eis, dieſer iſt ſelber Eis. So nehmen
im Phyſiſchen die Berge ab und die Gletſcher
zu. — —

L.

Leihbibliothek fuͤr Rezenſenten und
Maͤdgen
. Ich bin noch immer Willens es ins
Intelligenzblatt der Litteraturzeitung ſetzen zu laſſen,
daß ich den Ehrenſolds-Kaufſchilling, den ich fuͤr
meinen Abendſtern erhebe, nicht zerſchlagen noch
wie Muſaͤus zum Ankauf von Gartenhaͤuſern zerſplit¬
tern, ſondern das ganze Kapital zu einer vollſtaͤndi¬
gen Sammlung aller deutſchen Vorreden und Ti¬
tel
, die von Meſſe zu Meſſe erſcheinen, verwenden
will. Ich kann dabei beſtehen, wenn ich eine Vor¬
[119] rede woͤchentlich fuͤr einen Pfennig Leſegold an Re¬
zenſenten ausgebe. —


Damit mir nicht einmal der Ueberſchuß des be¬
ſagten Schlagsſchatzes als todtes Kapital im Hauſe
liegt: ſo ſollen dafuͤr — wenn ich mich nicht aͤndere
— die ſchwerern deutſchen Meiſterwerke, — z. B.
Friedrich Jakobi's, Klinger's ſeine, Goͤthe's Taſſo
— desgleichen die beſſern ſatiriſchen und philoſophi¬
ſchen vom Buchbinder in einer leichtern Damen¬
ausgabe geliefert werden, die ganz aus ſogenannten
Vexirbaͤnden, wo innen kein Unterziehbuch ſteckt, be¬
ſtehen ſoll. Ich ſpiele damit denk' ich, den Leſerin¬
nen etwas reelles in die Haͤnde, das ſo gut gebun¬
den und eben ſo betittelt iſt wie die Buchhaͤndler-
Ausgabe und in das ſie — weil das harte Steinobſt
ſchon ausgekernt und innen nichts iſt — nicht
nur eben ſo viel ſondern ſechs Loth mehr Seidenfa¬
den und Seidenabſchnitzel legen koͤnnen als in die
gedruckte Edition. — Alwils Briefwechſel — ein
ſchweres zweidotteriges Strauſſenei des Autors, das
ich vom Buchbinder auf dieſe Weiſe habe ausblaſen
laſſen, weil die meiſten Leſerinnen zu kalt ſind, es
auszubruͤten — iſt jetzt ganz leicht. Aber von den
deutſchen Romanen werd' ich niemals eine ſolche
Futteral-Edition von leeren Zeremonienwagen des
Sonnenwagens veranſtalten, weil ich befahre, der
Buchhandel ſchreie uͤber Nachdruck. — Ich waͤre
[120] ein gluͤcklicher Mann, wenn ſich die Mitleſerinnen
meiner Leih-Kapſelbibliothek nur zweimal in einigen
italieniſchen und portugieſiſchen Buͤchereien haͤtten
»herumfuͤhren laſſen: ſie wuͤrden in dieſen, wo oft nur
die Titel der Werke — und noch dazu der duͤmmſten —
an die Wand geſchmieret ſind, erſtaunet ſeyn, welche
ſchlechte Figur ſolche unbrauchbare Bibliotheken ne¬
ben meiner Buͤcherei von ordentlichen Vexirbuͤchern,
die ich aus ſo vielen Faͤchern und mit einigem Ei¬
genſinn waͤhle, machen. — So werden freilich deut¬
ſche Kapſelleſerinnen von euch Portugieſerinnen nim¬
mermehr eingeholet! Vielmehr kommen jene ſogar
den Maͤnnern, den Advokaten und Geſchaͤftsleuten
nach, die aͤhnliche Kapſel-Journaliſtika mithalten und
die Futterale der beſten deutſchen Journale — letz¬
tere werden oft als curiosa ſogar den Kapſeln ange¬
bogen und fuͤttern dieſe aus — mit leſen und wei¬
ter geben. . . . Das iſt mein Projekt, und Schafe
wuͤrden muthmaßen, ich ſpaſte mich bloß herum,
wenn ichs nicht wirklich durchſetzte.

M.

Maͤdgen. Junge Maͤdgen ſind wie junge Trut¬
huͤner, die ſchlecht gedeihen, wenn man ſie oft an¬
greift; und die Muͤtter halten, dieſe weichen aus
Blumenſtaub zuſammengefloſſenen Geſchoͤpfe wie Pa¬
ſtelgemaͤlde
ſo lange unter Fenſterglas — weil
[121] ſich alles vor uns Prinzeſſinnenraͤubern und Obſtdie¬
ben ſcheuet, — bis ſie fixiret ſind. Indeſſen iſt
weder Einſamkeit — welche nur zu einer ungepruͤf¬
ten Unſchuld fuͤhrt, die zwar nicht vor dem Libertin
aber doch vor dem Heuchler faͤllt — die rechte Kron¬
wache um ein weibliches Herz, noch Geſellſchaft,
noch Arbeitſamkeit — ſonſt ſaͤnke kein Landmaͤdgen —
noch gute Lehren — denn dieſe ſind in jedem Mund
und in jeder Leſebibliothek zu haben: — ſondern
dieſe vier erſten und letzten Dinge auf einmal thuns,
die ſich ſaͤmtlich entbehren, vereinigen und erſetzen
laſſen durch eine tugendhafte weiſe Mutter.

N.

Namen der Großen. Da ſie wie Rezenſen¬
ten ihren Namen bei ihren außerehelichen Meßpro¬
dukten, Gelegenheitsſchriften und pieces fugitives
verhehlen, die ſich nicht ſowohl ſelber legitimiren als
legitimirt werden vom Fuͤrſten: ſo ſollte man den¬
ken, ſie wollten ihren natuͤrlichen Kindern den Rang
der Pasquille geben, deren Verfaſſer zweierlei thun
muß: erſtlich ſeinen Namen verſchweigen, zweitens
ſie vervielfaͤltigen. Aber da ſie ihre Kinder der
30ten Ehe am Ende doch adoptiren, wenn ſie und
jene alt geworden: ſo hat man nicht viel daraus zu
machen, daß ſie den Zeiſigen nachahmen, die wie
man ſagt ihrem Neſte und deſſen Inſaßen durch ei¬
[122] nen Stein ſo lange Unſichtbarkeit ertheilen, bis die
Plantage fluͤgge iſt.

O.

Oſtrazismus. Er war bekanntlich bei den
Griechen keine Strafe: nur Leute von großen Ver¬
dienſten errangen ihn und ſobald man dieſe Landes¬
verweiſung an ſchlechte Menſchen verſchwendete, ging
ſie voͤllig ein. Beklagen muß es ein Reichsbuͤrger,
daß wir, da wir eine aͤhnliche oͤffentliche Erziehungs¬
anſtalt, naͤmlich die Landesverweiſung haben, dieſe
oft an die aller elendeſten Schelme verſchleudern und
daher — in der Abſicht, einen Kreis, ein Land zum
Spucknapf und zum Abſonderungsgefaͤß des andern
zu machen — Hallunken aus dem Lande jagen, die
kaum werth ſind, daß ſie darin bleiben. Dadurch
wird der Gebietsraͤumung das Ehrenhafte und Aus¬
zeichnende, was ſie fuͤr den Mann von Verdienſten
haben koͤnnte, ganz benommen und ein ehrlicher
Mann — z. B. Bahrdt — ſchaͤmt ſich beinahe, daß
man ihn mit einer ſolchen Ehre nur belegt. Es
ſollte daher Reichspolizeimaͤßig werden, daß nur Mi¬
niſter, Profeſſoren und Offiziere von entſchiedenem
Werthe gleich wichtigen Akten verſchickt und rele¬
girt wuͤrden. Auf aͤhnliche Maͤnner wuͤrd' ich auch
das Henken einſchraͤnken: bei den Roͤmern wurden
wahrhaftig nur große Koͤpfe und Lichter auf Koſten
[123] eines ganzen Staats an den Weg beerdigt; was
ſoll ich aber von den Deutſchen denken, bei denen
ſelten ein nuͤtzlicher Staatsbuͤrger — ſondern mei¬
ſtens ausgemachte Spitzbuben — auf oͤffentliche Ko¬
ſten, die man die Henkergelder nennt, begraben wird
und vorher am Wege ausgehangen unter dem Gal¬
gen? — Nicht einmal bei Lebzeiten kann ein Mann
— wenn er nicht auſſerordentliche und oft exzen¬
triſche
Verdienſte hat, wiewol exzentriſche Men¬
ſchen in die Wahrheit, wie die Kometen in die
Sonne, als Nahrungsſtof zuruͤckfallen — ſich
darauf allemal Rechnung machen, daß er auf eine
Art, wie die Alten ihre Edeln in Statuen und
Bildern reflektirten und verdoppelten, in effigie un¬
ter einem erhabenen Ort werde gehangen werden. .
. . . Man antworte mir, ich laſſe mit mir reden.

P.

Philoſophie. Einige kritiſche Philoſophen
haben jetzt aus der Algebra eine mathematiſche Me¬
thode entlehnt, ohne die man keine Minute philoſo¬
phiſch — nicht ſowohl denken als — ſchreiben
kann. Der Algebraiſt erhaſchet durch das Verſetzen
bloßer Buchſtaben Wahrheiten, die kein Syllogis¬
mus ausgraben konnte. Das thut der kritiſche Phi¬
loſoph nach, aber mit groͤßerem Vortheil: da er
nicht Buchſtaben ſondern ganze Termen geſchickt
[124] unter einander mengt, ſo ſchaͤumen aus der Allittera¬
tion derſelben Wahrheiten hervor‚ die er ſich kaum
haͤtte traͤumen laſſen. Solchen Philoſophen wird mit
Recht wie den Gothaiſchen Predigern (Goth. Lan¬
desordnung P. III. p. 16.) verboten‚ Allegorien zu
brauchen‚ oder irgend eine Redeblume, die ihnen,
wie den Leithunden andere Blumen, die Faͤhrte ver¬
derben. — Eigentlich aber iſt der Bilderſtyl beſtimm¬
ter als der Termenſtyl, der zuletzt, da alle abſtrakte
Worte Bilder
ſind, ja auch ein Bilderſtyl iſt,
aber einer voll zerfloßener entfaͤrbter Bilder.
Jakobi iſt nicht dunkel durch ſeine Bilder, ſon¬
dern durch die neuen Anſchauungen, die er durch
jene mit uns theilen will.


Ich habe neulich in den Populationstabellen der
gelehrten und lehrenden Republik nachgeſehen und
die jungen Kaͤntgen aufgezaͤhlt, die der alte Kant‚
der ſonſt unverheirathet iſt wie ſein Vetter Newton‚
ſeit zehn Meſſen gezeugt hat. Demetrius Ma¬
gnus‚
der ein Buch von den gleichnamigen Auto¬
ren machen wollte‚ muͤßte ſehr dumm geweſen ſeyn‚
wenn er zu unſern Zeiten haͤtte ſchreiben und doch
zugleich‚ indem er gleichwohl beigebracht haͤtte‚ daß
es 16 Plato‚ 20 Sokrates‚ 28 Pythagoras, 32 Ari¬
ſtoteles gegeben‚ es ganz ſuͤndlich auslaſſen wollen‚
daß es jetzt ſo viele Philoſophen und Philoſophiſten
als jene zuſammenaddirt machen‚ gebe‚ naͤmlich 96‚
[125] die den Namen Kant fuͤhren koͤnnten, wollten ſie
ſonſt. Solche Handwerker — ſo kann ich die Ma¬
giſter nennen, weil man umgekehrt ſonſt die Hand¬
werker Magiſter hieß und den Obermeiſter Erzmagi¬
ſter — ſollte man als die beſte Propaganda in Rech¬
nung bringen, die dicke Buͤcher haben koͤnnen; ſie
ſind am beſten im Stande, es auszubreiten, weil ſie
das Unfaßliche, das Geiſtige davon abzuſcheiden und
das Populaire und Koͤrperliche, d. h. die Woͤrter
fuͤr Leſer, die ſonſt einfaͤltig aber doch nicht ohne
kritiſche Philoſophie ſterben wollen, auszuziehen wiſ¬
ſen. Das elendeſte theologiſche und aͤſthetiſche Ge¬
ſtein erhaͤlt jetzt eine Kantiſche Faſſung aus Worten.
Obgleich durch jedes neue große Syſtem eine gewiſſe
Einſeitigkeit des Blicks in alle Koͤpfe koͤmmt —
zumal da jeder kalte Philoſoph gerade deſto einſei¬
tiger
iſt, je einſichtiger er iſt — ſo verſchlaͤgts
doch nichts: denn große Wahrheits-Evolutionen
gehen nur durch das gemeinſchaftliche Wuͤhlen des
ganzen Denker-Perſonale hervor *). Wer Kant auf
ſeinem Berge unter ſeinen gelehrten Mitarbeitern
hat ſtehen ſehen, errinnert ſich mit Vergnuͤgen einer
aͤhnlichen Geſchichte in Peru, die Buͤffon mittheilt:
als daſelbſt Kondamine und Bouger die Aquator¬
[126] grade der Erde (wie Kant die der intellektuellen
Welt) ausmaſſen, fanden ſich ganze Affen-Rudel als
Kollaboratores dazu ein, ſetzten Brillen auf, blickten
nach den Sternen und herunter nach den Uhren und
brachten eines und das andre zu Papier, wiewohl
ohne Honorar, welches der ihr einziger Unterſchied
von den Vikariats-Kanten iſt.


Jeder Mann von Genie iſt ein Philoſoph, aber
nicht umgekehrt — ein Philoſoph ohne Phantaſie,
ohne Geſchichte und ohne encyklopaͤdiſches Vielwiſ¬
ſen
iſt einſeitiger als ein Politiker — wer irgend
ein Syſtem mehr annahm als erfand, wer nicht
vorher dunkle Ahndungen deſſelben hatte, wer nicht
vorher wenigſtens darnach lechzte, kurz wer nicht
ſeine Seele als einen vollen warmen mit Keimen
ausgefuͤllten Boden, der nur auf ſeinen Sommer
wartete, empfand, der kann wohl ein Lehrer, aber
nicht ein Schuͤler der zum Brodſtudium erniedrigten
Philoſophie ſeyn — und kurz, es iſt einerlei, welchen
Ort man zur philoſophiſchen Sternwarte beſteige,
einen Thron, oder einen Pegaſus, oder eine Alpe,
oder ein Caͤſars-Lager oder eine Leichenbahre und
ſie ſind faſt alle hoͤher als der Katheder im Diſputa¬
torio.

Q. ſiehe K.

R.

Rezenſenten. Ein Redakteur ſollte ſechs
[127] Tiſche haben: am erſten ſaͤßen und aͤſſen die Anzeiger
des Daſeyns eines Buchs — am zweiten die Pauſch-
und Bogen-Anzeiger ſeines Werths — am dritten
die Epitomatoren deſſelben — am vierten die Sprach¬
meiſter und Sprachforſcher, die unter das Publikum
raͤſonnirende Verzeichniſſe fremder Donatſchnitzer aus¬
theilen — am fuͤnften die Opponenten, die ein neues
Buch nicht durch ein neues Buch ſondern durch ein
Blaͤttgen widerlegen — am ſechſten ſtaͤnde die kriti¬
ſche Fuͤrſtenbank, auf die ſich Huber oder Forſter
oder noch einer ſetzen koͤnnten, die ein Buch ſo uͤber¬
ſchauen wie ein Menſchenleben, die die Individua¬
litaͤt
deſſelben auffaſſen und darſtellen, die den
Geiſt des litterariſchen Geſchoͤpfes und des Schoͤpfers
zugleich zeichnen und die die Menſchwerdung
und Verkoͤrperung der goͤttlichen Schoͤnheit, die die
Geſtalt eines Individuums annimmt, trennen von
der Schoͤnheit und dann aufdecken und verzeihen.


Dieſe ſechs kritiſchen Baͤnke, die ſechs verſchie¬
dene Litteraturzeitungen liefern koͤnnten, werden jetzt
uͤbereinander geworfen und geſtalten eine. — So
freimuͤthig ich aber gegen dieſe Zuſammenwerfung
von gelehrten 1) Anzeigen, 2) Rezenſionen, 3) Aus¬
zuͤgen, 4) Sprach- und 5) Sachkritiken und 6) Kunſt¬
urtheilen aufſtehe: ſo gern bin ich bereit, zuzugeſte¬
hen, daß die rezenſirende Fauna und Konfraterni¬
taͤt der fuͤnf Tiſche vielleicht eben ſo viel Unkrauts
[128] Fechſer ausrotte als ſie ſelber heraus treibt aus ei¬
gnen Keimen, und ich berufe mich auf einen Privat¬
brief von mir, der außer dem Verdacht der Schmei¬
chelei iſt und worin ich ſie mit einem Fliegenſchwam¬
me zuſammengeſellte, der, obgleich eine (Dinten)
Infuſion auf ihm Inſekten-Heere gebiert, doch
die Fliegen ausreutet. — Aber da unter den Rezen¬
ſenten auch Autoren ſind wie ich, wie unter den por¬
tugiſiſchen Inquiſitoren Juden — und uͤberhaupt da
ich Schaltjahre lang daruͤber ſprechen wollte: warum
einen Schalttag lang? —

S.

Streiche. »Wer ſeines Herrn Willen weiß
»und thut ihn nicht, ſoll doppelte Streiche leiden.«
— Wer leidet denn die einfachen? der doch nicht,
der den Willen nicht weiß und nicht thut? — alſo
folgt, daß groͤßere Kenntniſſe die moraliſche Schuld
nicht erſchweren, ſondern erſt erzeugen! denn
in ſofern ich eine moraliſche Verbindlichkeit gar
nicht einſehe, iſt mein Verſtoß dagegen ja nicht klei¬
ner, ſondern null. —


Ich will meine eigne Akademie der Wiſſenſchaf¬
ten ſeyn und mir die folgende Preisfrage aufgeben,
die ich ſelber in einer Prisſchrift beantworten will:
»Da nur eine Handlung tugendhaft iſt, die aus
»Liebe zum Guten geſchieht: ſo kann nur eine ſuͤn¬
»dig[129] »dig ſeyn, die aus bloßer Liebe zum Boͤſen geſchieht,
»und die Ruͤckſicht des Eigennutzes muß den Grad
»einer Suͤnde ſo gut wie den Grad einer Tugend
»kleiner machen. Was waͤre aber auf der andern
»Seite noch außer dem Eigennutz in unſerer Natur,
»was uns zum Schlimmen triebe? und wenn Boͤſes
»aus reinem Hang zum Boͤſen geſchaͤhe: ſo gaͤbe es
»ja eine zweite, obwohl entgegengeſetzte Autono¬
»mie des Willens?«

T.

Truͤbſal, Trauer. Jetzt, da ich dieſe be¬
klemmenden Toͤne ſchreibe, die mir vorſagen, daß
die Natur nur Dornenhecken, die Menſchen aber
Dornenkronen machen: vergeht mir die Luſt, mit
ſatyriſchen Dornen um mich zu ſchlagen und ich will
lieber einige aus euern Fuͤßen oder Haͤnden ziehn.


Heſperus. II. Th. J[130]

21. Hundspoſttag.

Viktors Krankenbeſuche — über töchtervolle Häuſer — die zwei
Narren — das Karouſſel —


Folgende Anmerkung koͤmmt nicht aus dem Torni¬
ſter des Hundes, ſondern aus meinem eignen Kopf:
man braucht kein Lobredner unſerer Zeiten zu ſeyn,
um mit Vergnuͤgen zu ſehen, daß jetzt Autoren,
Fuͤrſten, Weiber und alle die unaͤhnlichen falſchen
Larven der Tugend (z. B. Bigotterie, Pietismus,
zeremonielles Betragen) meiſtens abgelegt und dafuͤr
den aͤchten geſchmackvollen Schein der Tugend
gaͤnzlich angenommen haben: dieſe Veredelung unſe¬
rer Karaktermasken, wodurch wir das Aeußere der
Tugend ſchoͤner treffen, iſt mit einer aͤhnlichen des
Theaters gleichzeitig, auf dem man nicht mehr wie
ſonſt mit papiernen Kleidern und unaͤchten Tref¬
fen, ſondern mit aͤchten agirt und tragirt. —


»Sie wurden ſchon geſtern von der Fuͤrſtin ver¬
»langt« ſagte der Fuͤrſt zum Hofmedikus, da er
mit ſeinem ausgeleerten Geſicht kaum eingetreten
war. Die Augenentzuͤndung Agnola's hatte durch
das Herbſtwetter, durch die Nachtfeſte, durch Kuhl¬
peppers tapfere Hand und durch ihre eigne — denn
[131] die rothen Titelbuchſtaben der Schoͤnheit, naͤmlich
geſchminkte Wangen wurden immer neu aufgelegt —
ſehr zugenommen. Eigentlich war Viktor zu ſtolz,
um ſich als einen bloßen Arzt begehren zu laſſen;
ja er war zu ſtolz, um an ſich etwas anders (und
waͤrs Philoſophie, oder Schoͤnheit) ſuchen zu laſſen
als ſeinen Karakter: denn ſein Vater, der noch zaͤr¬
ter war, hatte ihn gelehrt, man muß keinem dienen
der uns nicht achtet oder den man ſelber nicht ach¬
tet, ja man muß von keinem eine Gefaͤlligkeit an¬
nehmen, dem man nur einen aͤußerlichen, aber keinen
innerlichen Dank zu ſagen vermag. Aber dieſes
zarte Ehrgefuͤhl, das nie mit ſeinem Eigennutze wohl
aber mit ſeiner Menſchenliebe in ungleiche Treffen
kam, konnte ihm ſeine Haͤnde nicht binden, womit
er einer ungluͤcklichen Fuͤrſtin — ungluͤcklich, wie
er, durch Darben an Liebe — wenigſtens die
Schmerzen der Augen nehmen konnte: vielleicht auch
juͤngere Schmerzen: denn ſeine Gutmuͤthigkeit gab
ihm lauter Verſoͤhnungen ein, des Fuͤrſten mit Le
Baut, mit der Fuͤrſtin, mit dem Miniſter. Nichts
iſt gefaͤhrlicher, als zwei Menſchen auszuſoͤhnen —
man muͤßte denn der eine ſelber ſeyn; ſie zu ent¬
zweien iſt viel ſicherer und leichter.


Er fand Agnola Nachmittags noch im Schlaf¬
zimmer, weil deſſen gruͤne Tapeten (zwar nicht dem
Teint) aber dem heiſſen Auge ſchmeichelten. Ein
J 2[132] dichter Schleier uͤber dem Geſichte war ihr Tags¬
lichtſchirm. Als ſie, wie eine Sonne, ihren Schleier
aufſchlug: ſo begrif er nicht wie er in Toſtatos
Bude aus dieſem italieniſchen Feuer und aus dieſen
ſchnellen Hofaugen ein verweintes Blondinengeſicht
machen koͤnnen. Ein Theil dieſes Feuers gehoͤrte
der Krankheit an. Ihr erſtes Wort war ein ent¬
ſchloſſener Ungehorſam auf ſein erſtes; indeſſen ſtieß
ſie damit die Herren Pringle und Schmucker
ſo gut vor den Kopf wie ihn: denn das ganze drei¬
einige collegium medicum rieth ihr — Blutigel um
die Augen. Dieſe ekelten ſie. Der Medikus ruͤckte
mit Schroͤpfkoͤpfen am Hinterhaupte heraus; aber
ihre Haare waren ihr lieber als ihre Augen. »Muß
»man denn alles mit Blut erkaufen?« ſagte ſie mit
italieniſcher Lebhaftigkeit. — »Die Reiche und Re¬
»ligionen ſolltens nicht werden, aber doch die Ge¬
ſundheit« ſagt' er mit engliſcher Freimuͤthigkeit. Er
forderte noch einmal ihr Blut — aber ſie gab es
ihm erſt, da er das Opfermeſſer aͤnderte und ihr am
Auge eine Aderlaß vorſchlug. Perſonen von Stande
wiſſen wie Gelehrte oft die gemeinſten Dinge nicht:
ſie dachte, der Doktor werde die Ader oͤfnen. Und
weil ſie es dachte: that ers auch, mit ſeiner durchs
Staarſtechen geuͤbten Hand. . . .


Inzwiſchen iſt — wenn (nach dem Plinius) ein
Kuß aufs Auge einer auf die Seele iſt — eine Ader¬
[133] laß darauf kein Spaß: ſondern man kann, indem
man eine Wunde macht, ſelber eine holen. Der
arme Hofmedikus muß mit ſeinem ſchwimmenden
freundlichen Auge, von dem vor wenigen Tagen die
Thraͤne der Liebe abgetrocknet wurde, kuͤhn in die
in eine Augenhoͤle geſperrte Sonne ſchauen und noch
obendrein ſanft mit dem Finger am warmen Geſicht
anliegen und aus der Quelle der Thraͤnen helles
Blut vorritzen. . . . . Schon eh' man eine ſolche
Operation unternaͤhme, ſollte man eine an ſich voll¬
ziehen laſſen — der Kuͤhlung wegen. Im Grunde
hatte auch ihm das Schickſal dieſe Woche nichts ge¬
geben als Lanzetten-Schnitte in ſeine Aorte. Stel¬
let man ſich noch vor, daß ihm das ganze weibliche
Geſchlecht wie eine magiſche weit zuruͤckgewichne Ge¬
ſtalt vorkam, die einmal in einem Traume nahe an
ihm geſchimmert, als ein erblaſſender Mond am
Tage, den er in einer lichten Nacht angebetet hatte:
ſo hat man ſich ſein ſchoͤnes ſchuldloſes Herz geoͤf¬
net, um darin außer einem großen fortarbeitenden
Schmerzen tauſend ſympathetiſche Wuͤnſche fuͤr die
bedauerte Fuͤrſtin zu erblicken. Trotz ihrer ſonderba¬
ren Miſchung von Stolz, Lebhaftigkeit und Feinheit
glaubte er doch in ihr eine Aenderung zu entdecken,
die er halb aus ſeiner heutigen Befliſſenheit, halb
aus ſeinem ihr bisher ſo guͤnſtigen Einfluß auf den
Fuͤrſten erklaͤren konnte und die ihm einen groͤßern
[134] Muth gegeben haͤtte, wenn er ſich nicht von dem
Zettel uͤber dem Imperator der Kompas-Uhr, mit
beſondern Auslegungen ſeines Muthes haͤtte drohen
laſſen. Bei der vorigen erſten Viſite war ſein
Muth gelaͤhmt, weil er ſich als der Sohn eines Va¬
ters, der ſeinen Einfluß durch die Sorge um Ba¬
ſtarte zu befeſtigen ſchien, geflohen glaubte: denn
ein Menſch voll Liebe iſt neben einem voll Haß
ſtumm und dumm.


Am muthigſten machte ihn heute außer ſeinen
Zaͤnkereien, die unterlagen (uͤber die Blutigel ꝛc.,)
noch die letzte, die ſiegte: man wird muthiger und
gluͤcklicher zugleich, wenn man einer Stolzen wider¬
ſpricht als wenn man ihr ſchmeichelt. Er ſah eine
Maske liegen; da er nun wußte, daß in Italien die
Damen im Bette dieſe, wie die unſrigen die Hand¬
ſchuhe, als Geſichtsſchuhe anlegen: ſo verbot er ihr
die Maske geradezu, als Zunder der Augenentzuͤn¬
dung. Es war keine Schmeichelei da er ihr ſagte,
daß ihr die Maske mehr nehmen als geben koͤnnte,
Kurz er beſtand darauf. —


Er war vielleicht zu tolerant gegen den Zweifel,
den nur eine Frau ertraͤglich und dauerhaft machen
konnte, gegen den Zweifel, wen ſie mit einander
verwechſete, den Hofmedikus oder den Guͤnſtling:
denn er ſagte ihr — obwohl in der Sorge, zu viel
zu ſagen, welches bei Leuten von ſeinem Feuer ein
[135] Zeichen iſt, daß es ſchon geſchehen iſt — am Ende
das, was er am Anfange zuruͤckbehalten hatte, daß
ihn das empressement des Fuͤrſten hergeſchickt; und
hob dieſen aus eigne Koſten empor, um ſo mehr, da
er nichts Auſſerordentliches weiter von ihm anzu¬
bringen hatte als eben daß er ihn — hergeſchickt.


Dann ging er. Bei dem Fuͤrſten ließ er ihr ſo
viel Seelig- und Heiligſprechungen (auf die¬
ſer Erde zwei Kontrarietaͤten!) zukommen als der
Anſtand und ſein Humor (zwei noch groͤßere Kontra¬
rietaͤten) verſtatteten. Sonderbar! ſie hatte trotz ih¬
rem Feuer keine Launen. Er wußte, Jenner erlag
nicht bloß dem Verlaͤumder, ſondern auch dem Lob¬
redner. Man legt den gekroͤnten Schauſpieldirekto¬
ren der Erde Entſchluͤſſe ins Herz und Dekrete in
den Mund; ſie wiſſen was ſie wollen und was ſie
reden, ein Paar Tage ſpaͤter als ihr Thronſoufleur.
Ein Guͤnſtling iſt ein Shakſpear und Dichter, der
hinter den Perſonen, die er agiren und reden laͤſſet;
nicht ſelber vorguckt und vorhuſtet, ſondern der ein
Bauchredner iſt, welcher ſeiner Stimme den Klang
einer fremden giebt.


Da er den andern Tag die Pazientin wieder be¬
ſuchte: waren die Augenhoͤlen abgekuͤhlt, obwohl die
Augen nicht; Agnola war heil in einem Kabinet
voll Heiligenbilder. Mit der Unpaͤßlichkeit der
Augen war eine Quelle des Geſpraͤchs weggenom¬
[136] men; und ihr Stolz vertrat zugleich ſeiner Empfin¬
dung und Laune den Zugang. Ob er es wohl hun¬
dertmal zu ihr in ſeinem Innern ſagte: »quaͤle dich
»nicht, ſtolze Seele, ich bin kein Guͤnſtling, ich will
»dir nichts nehmen, am wenigſten deinen Stolz oder
»fremde Liebe — o ich weis was es iſt, keine zu er¬
»langen:« ſo blieb er doch (nach ſeiner Meinung)
kalt vor ihr und zog mit der aͤrgerlichen Ausſicht
ab, daß ihm ſeine gute Kur die Wiederkehr abſchnei¬
de; denn die andern Kour-Viſiten waren doch
keine freimuͤthigen Krankenviſiten. Vor der fata¬
len Kompas-Uhr erſchrak er taͤglich weniger, außer
wenn er eben froher war.


— Manche Leute wuͤrden eher ohne Haͤuſer als
ohne Bauen leben; Viktor lieber ohne dephlogiſtiſirte
Luft als ohne Luftſchloͤſſer: er mußte immer das
Lotterieloos und die Aktie irgend eines Plans, in
der Zukunft ſtehen haben und eine Frau war mei¬
ſtens die Maskopeiſchweſter in dieſem Großavantur¬
handel. Dasmal war er auf die Verſoͤhnung Jen¬
ners und Agnola's erpicht. Er ſchloß ſo: ſie iſt
auf beiden Seiten leicht — Jenner wird jetzt immer
Agnolas Geſellſchaft ſuchen, obwohl bloß aus Liſt,
um in die kuͤnftige ihrer Hofdame Klotilde mit mehr
Anſtand zu kommen, die er jetzt im Stande der Ehe¬
loſigkeit noch ohne Schaden nach ſeinem Geluͤbde
lieben kann — das wird ihn, da er weder einem
[137] langen Lobe noch [einem] langen Umgang widerſtehen
kann, unvermerkt an Agnola gewoͤhnen — dieſe, die
jetzt verlaſſen, auf der Seite des Miniſter Schleunes
ſteht; wird die vereinigte Achtung Viktors und Jen¬
ners nicht ausſchlagen u. ſ. w. . . . . Ob ihn aber
nur die Schoͤnheit der Handlung, nicht auch die
Schoͤnheit der Fuͤrſtin zu dieſem Mittleramt anmah¬
net, das kann das 21te Kapitel noch nicht wiſſen;
meinetwegen mags indeſſen: ſein verblutet-kal¬
tes
Innere, aus dem noch das Klavier und Klotil¬
dens Name und das Morgen-Erwachen blutloſe
Dolche ziehen, hat ja das Getoͤſe der Welt ſo noͤ¬
thig und jedes Uebertaͤuben der Wunden!


Mit der Abſicht ſolcher Friedenspraͤliminarien
entſchuldigte er ſeinen kuͤnftigen Ungehorſam gegen
ſeinen Vater, der ihm das Schleunesſche Haus zu
ſuchen abgerathen: denn da die Fuͤrſtin immer hin¬
kam, ſo wars der ſchicklichſte neutrale Ort zum Frie¬
denskongreſſe. O! nur ein halbes. . . .


Extrablatt uͤber toͤchtervolle Haͤuſer.

Das Haus von Schleunes war ein ofner
Buchladen, deren Werke (die Toͤchter) man da le¬
ſen, aber nicht nach Hauſe nehmen konnte. Ob¬
gleich die fuͤnf andern Toͤchter in fuͤnf Privatbiblio¬
theken als Weiber ſtanden und eine in der Erde zu
Maienthal die Kindereien des Lebens verſchlief: ſo
[138] waren doch in dieſem Toͤchter-Handelshaus noch
drei Freiexemplare fuͤr gute Freunde feil. Der Mi¬
niſter gab bei den Ziehungen aus der Aemter-Lotte¬
rie gern ſeine Toͤchter zu Praͤmien fuͤr große Ge¬
winnſte und Treffer her. Wem Gott ein Amt
giebt, dem giebt er wenn nicht Verſtand doch eine
Frau. In einem toͤchterreichen Hauſe muͤſſen wie
in der Peterskirche, Beichtſtuͤhle fuͤr alle Natio¬
nen, fuͤr alle Karaktere, fuͤr alle Fehler ſtehen, damit
die Toͤchter als Beichtmuͤtter darin ſitzen und von
allem abſolviren, bloß die Eheloſigkeit ausgenommen.
Ich habe oft als Naturforſcher die weiſen Anſtal¬
ten der Natur zur Verbreitung der Toͤchter und
Kraͤuter bewundert; iſts nicht eine weiſe Einrichtung
ſagt' ich zum naturhiſtoriſchen Goͤze, daß die Natur
gerade denen Maͤdgen, die zu ihrem Leben einen rei¬
chen mineraliſchen Boden brauchen, etwas Anhaͤckeln¬
des giebt, womit ſie ſich an elende Ehe-Finken
ſetzen, die ſie an fette Oerter tragen? So bemerkt
Linnee *), wie Sie wiſſen, daß Samenarten, die
nur in fetter Erde forkommen, Haͤtgen anhaben, um
ſich leichter ans Vieh zu haͤngen, das ſie in den
Stall und Duͤnger traͤgt. Wunderbar ſtreuet die
Natur durch den Wind — Vater und Mutter muͤſ¬
[139] ſen ihn machen — Toͤchter und Fichtenſamen in die
urbaren Forſtplaͤtze hin. Wer bemerkt nicht die
Endabſicht daß manche Tochter darum von der Na¬
tur gewiſſe Reize in benannten Zahlen hat, damit
irgend ein Landſaſſe, ein infulirter Abt, ein Kardi¬
naldiakonus, ein appanagirter Prinz oder ein bloßer
Land-Edelmann herkomme und beſagte Reizende
nehme und als Brautfuͤhrer oder engliſcher Brautva¬
ter ſie ſchon ganz fertig irgend einem ſonſtigen Tro¬
pfen uͤbergebe als eine auf den Kauf gemachte Frau?
Und finden wir bei den Heidelbeeren eine geringere
Vorſorge der Natur? Merket nicht derſelbe Linnee
in derſelben Abhandlung an, daß ſie in einen naͤh¬
renden Saft gehuͤllet ſind, damit ſie den Fuchs an¬
reizen, ſie zu freſſen, worauf der Schelm — ver¬
dauen kann er ſie nicht — ſo gut er weiß ihr Saͤe¬
mann wird? —


O mein Inneres iſt ernſthafter als ihr meint; die
Eltern aͤrgern mich, die Seelenverkaͤufer ſind, die
Toͤchter dauern mich, die Negerſklavinnen werden —
ach iſts dann ein Wunder, wenn die Toͤchter, die
auf dem weſtindiſchen Markte tanzen, lachen, reden,
ſingen mußten, um vom Herrn einer Plantage heim¬
gefuͤhrt zu werden, wenn dieſe ſag' ich eben ſo ſkla¬
viſch behandelt werden als ſie verkauft und einge¬
kauft wurden? Ihr armen Laͤmmer! — Und doch,
ihr ſeid eben ſo arg wie eure Schaf-Muͤtter und
[140] Vaͤter — was ſoll man mit ſeinem Enthuſiasmus
fuͤr euer Geſchlecht machen, wenn man durch deut¬
ſche Staͤdte reiſet, wo jeder Reichſte oder Vornehm¬
ſte, und wenn er ein weitlaͤuftiger Anverwandter
vom Teufel ſelber waͤre, auf dreißig Haͤuſer mit
dem Finger zeigen und ſagen kann: ich weiß nicht
ſoll ich aus dem perlfarbenen oder nußfarbenen, oder
ſtahlgruͤnen Hauſe eine heirathen: offen ſind die
Kauflaͤden alle?« — Wie, ihr Maͤdgen, iſt denn
euer Herz ſo wenig werth, daß ihrs wie alte Klei¬
der, nach jeder Mode, nach jeder Bruſt zuſchneidet
und wirds denn wie eine ſineſiſche Kugel, bald groß
bald wintzig um in eines maͤnnlichen Herzens Kugel¬
form, und Ehering-Futteral einzupaſſen? — »Es
»muß wohl, wenn man nicht ſitzen bleiben will, wie
die heilige NN.« antworten mir die, denen ich nicht
antworte, weil ich mich mit Verachtung wegwende
von ihnen, um der ſogenannten heiligen NN. zu ſa¬
gen: »Verlaſſene, aber Geduldige! Verkannte und
»Verbluͤhte! Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du
»noch auf beſſere hofteſt als die jetzigen und bereue
»den edeln Stolz deines Herzens nie! Es iſt nicht
»allemal Pflicht, zu heirathen, aber es iſt allemal
»Pflicht, ſich nichts zu vergeben, auf Koſten der
»Ehre nie gluͤcklich zu werden und Eheloſigkeit nicht
»durch Ehrloſigkeit zu vermeiden. Unbewunderte,
»einſame Heldin! in deiner letzten Stunde, wo das
[141] »ganze Leben und die vorigen Guͤter und Geruͤſte
»des Lebens in Truͤmmer zerſchlagen voraus hinun¬
»terfallen, in jener Stunde wirſt du uͤber dein aus¬
»geleertes Leben hinſchauen, es werden zwar keine
»Kinder, kein Gatte, keine naſſen Augen darin ſte¬
»hen, aber in der leeren Daͤmmerung wird einſam
»eine große, holde, engliſch-laͤchelnde, ſtrahlende,
»goͤttliche und zu den Goͤttlichen aufſteigende Geſtalt
»ſchweben und dir winken, mit ihr aufzuſteigen —
»o ſteige mit ihr auf, die Geſtalt iſt deine Tu¬
»gend.« —


Ende des Extrablattes.


Einige Tage darauf gab die Fuͤrſtin dem Fuͤrſten
ein Augeen medaillon mit der ſchoͤnen Wendung:
ſie gebe dieſe Votivtafel dem Heiligen (das paßte
um ſo mehr, da der Fuͤrſt Januar hieß) der ihr ſei¬
nen Wunderthaͤter zugeſchickt und der das bekommt
was er heilen laſſen. Jenner ſagte zu Viktor, dem
er das Auge zeigte: »der H. Januar wird mit Ih¬
»nen, mit der h. Ottilia verwechſelt« — die be¬
kanntlich die Patronin ber Augen iſt.


Viktor war froh, daß Matthieu zu ihm kam, um
mit ihm nach St. Luͤne zu gehen; denn dieſer bat
[142] ihn, weil das nicht geſchah, mit zu ſeiner Mutter
zu gehen »weil heute bei der Fuͤrſtin großes Souper
»ſey, bei ſeiner Mutter aber kein Menſch« d. h.
kaum uͤber neun Perſonen. Viktor zog alſo — es that
heute nichts, daß die Augen-Rekonvaleszentin fehlte
— gern in die Schleunesſche Nuͤrnbergiſche Kon¬
vertitenbibliothek
von Toͤchtern hinein hinter
dem zaͤrtlichen Jonathan-Oreſt-Maz, den er uͤber¬
haupt aus Schonung fuͤr ihren allgemeinen Freund
Flamin toleranter behandelte. Die Menſchen aſ¬
ſoziiren ſich wie die Ideen eben ſo oft nach der
Gleichzeitigkeit als Aehnlichkeit; und aus
der Wahl der Bekannten iſt eben ſo wenig etwas
auf den Karakter des Mannes zu ſchließen als auf
einer Frau ihren aus der Wahl des Gatten. Maz
praͤſentirte ihn ſeiner Mutter im Leſekabinet, da ihr
gerade aus einem engliſchen Autor vorgeleſen wurde,
mit den Worten: hier bring' ich Ihnen einen ganz
lebendigen Englaͤnder. Joachime las in einem Kata¬
log — es war kein Buͤcher-ſondern ein Nelkenblaͤt¬
terkatalog — um ſich einige Nelken auszuſuchen,
nicht um ſie zu pflanzen ſondern um ſie nachzuma¬
chen — in Seide. Sie haßte Blumen, die wuchſen.
Ihr Bruder ſagte aus Ironie: »ſie haßte die Ver¬
»aͤnderlichkeit ſogar an einer Blume.« Denn ſie
liebte ſie ſogar an Liebhabern; und unterſchied ſich
ganz vom April, der wie die Weiber in unſerem
[143] Klima weit beſtaͤndiger iſt als man vorgiebt. Im
Kabinet waren noch zwei Narren da, die mir mein
Korreſpondent nicht einmal nennt, weil ſie, glaubt
er, hinlaͤnglich unterſchieden und ſignirt waͤren, wenn
ich den einen den wohlriechenden Narren nennte und
den andern den ſeinen.


Beide Narren umſummten die Schoͤne. Ueber¬
haupt ſo oft ich Narren in großen Parthien ſtudiren
wollte, ſah ich mich ordentlicher Weiſe nach einer
großen Schoͤnheit um; — dieſe umſaßen ſie wie
Weſpen eine Obſtfrau. Und wenn ich ſonſt keine
Urſache haͤtte, — ich habe ſie aber, — um die
ſchoͤnſte Frau zu ehelichen: ſo thaͤt' ichs ſchon darum,
damit ich immer die Bienenkoͤnigin in der holen
Hand ſitzend hielte, der der ganze naͤrriſche Immen¬
ſchwarm nachbrauſte. Ich und meine Frau wuͤrden
dann den Kerln in Liſſabon gleichen, die, in den
Haͤnden mit einem Staͤnglein angeketteter Papagaien,
an den Fuͤßen mit einer Kuppel nachhuͤpfender Af¬
fen
, durch die Gaſſen ziehen und ihr tolles Perſo¬
nale feilbieten.


Der wohlriechende Narr, der heute in der Son¬
nenſeite
Joachimens war, las der Mutter vor —
der feine, der in der Wetterſeite war, ſtand ne¬
ben Joachime und ſchien ſich nichts um ihr Wet¬
terkuͤhlen
zu ſcheeren. Viktor ſtand als Uebergang
von der heiſſen Zone in die kalte da und ſtellte die
[144] gemaͤßigte vor: Joachime ſpielte drei Rollen mit Ei¬
nem Geſicht. Der wohlriechende Narr ſchoß mit
der linken Hand die Drehbaſſe eines ſilbernen Jou¬
jou: dieſes haͤngende Siegel eines Thoren bewegte
er entweder wie der Groͤnlaͤnder einen Block mit
ſeinen Fuͤßen, der Erwaͤrmung wegen — oder er
thats wie der Großſultan immer ein Schnizmeſſer
fuͤhren muß, um nicht immer (erotiſch) zu morden
— oder um, wie der Storch immer einen Stein in
den Krallen haͤlt, allzeit ein Irions-Rad in den
Haͤnden, nie ein Spornrad an den Ferſen, zu haben
— oder der Geſundheit wegen, um den globulus hy¬
stericus
*) durch die Bewegung eines aͤußern zu be¬
ſtreiten — oder als Paternoſterkuͤgelgen — oder weil
er nicht wußte warum.

Jeder war mit ſich zufrieden. Als die Mutter
unſern Englaͤnder gebeten, mit ſeinem Accent ihr vor¬
zuleſen: ſo ſagte der feine Narr: »das Engliſche
»iſt wie gewiſſe Geſinnungen leichter zu verſtehen
als auszuſprechen.« Dieſes feine Schaf hatte naͤm¬
lich uͤberall die Gewohnheit, metaphoriſch zu ſeyn —
wenn ihm ein Maͤdgen ſagte: »ich kann mich heute
»der Kaͤlte nicht erwehren« ſo macht' er die des
Her¬[145] Herzens daraus — man konnte nicht ſagen »es iſt
»truͤbe, warm, die Nadel hat mich geſtochen ꝛc.«
ohne daß er das fuͤr einen Kugelzieher nahm, der
ſein Herz aus dem Piſtolenhalfter der Bruſt vorzog
und vorwies — es war vor ſeinen Ohren unmoͤglich
daß man nicht fein war und aus eurem Gutenmor¬
gen boſſirte er ein Bonmot — haͤtt' er das alte Te¬
ſtament geleſen, er haͤtte ſich uͤber die Tournure
darin nicht ſatt wundern koͤnnen. Dafuͤr ſchraͤnkte
der wohlriechende Narr ſeinen ganzen Witz auf
ein lebhaftes Geſicht ein — er ſchlug dieſen Fracht-
und Aſſekuranzbrief von tauſend Saillien vor euch
auf und hielt ihn vor, aber es kam nichts — ihr
haͤttet auf den Praͤnumerationsſchein von Witz in
ſeinem feurigen Auge, geſchworen, jetzt brenn' er
loß — aber bei Leibe! er handhabte die ſatiriſche
Waffe wie die Grenadiere die Handgranaten, die ſie
nicht mehr werfen ſondern nur abgebildet auf den
Muͤtzen fuͤhren.


Als der Feine ſein erotiſches Bonmot geſagt
hatte: ſah Joachime unſern Helden an und ſagte
mit einer ironiſchen Mine wider den Feinen: j'aime
les
Sagesa lafolie.


Der Stolz des wohlriechenden auf ſeinen heuti¬
gen Vorzug und die ſcheinbare Gleichguͤltigkeit des
feinen Narren gegen ſeine Hintanſetzung bewieſen,
daß alle beide ſelten im heutigen Falle waren; —
Heſperus. II. Th. K[146] und daß Joachime auf eine eigne Weiſe kokettirte.
Sie lachte uns erhabne Mannsperſonen allemal aus,
wenn zwei auf einmal bey ihr waren — eine allein
weniger — ihre Augen uͤberließen es unſerer Eigen¬
liebe, das Feuer darinn der Liebe mehr als dem
Witze zuzuſchreiben — ſie ſchien alles zu herauszu¬
plaudern was ihr einfiel, aber manches ſchien ihr
nicht einzufallen — ſie war voll Widerſpruͤche und
Thorheiten, aber ihre Abſichten und ihre Zunei¬
gung blieben doch jedem zweifelhaft — ſie antwortete
ſchnell, aber ſie fragte noch ſchneller. Heute trat ſie
in Beiſein der drei Herren — zu andern Zeiten im
Beiſein des ganzen bureau d'esprit — vor den Spie¬
gel, zog ihre Schminkdoſe heraus und retuſchirte das
bunte Doſenſtuͤck ihrer Wangen. Man konnte ſich
gar nicht denken, wie ſie ausſaͤhe, wenn ſie verlegen
waͤre oder beſchaͤmt.


Die Tugend mancher Damen iſt ein Donnerhaus,
das der elektriſche Funke der Liebe zerſchlaͤgt und
das man wieder zuſammenſtellt fuͤr neue Experimen¬
te: unſerm an die hoͤchſte weibliche Vollkommenheit
verwoͤhnten Helden kam es vor, als gehoͤre Joachi¬
me unter jene Donnerhaͤuſer. Koketterie wird immer
mit Koketterie beantwortet. Entweder letztere war
es oder zu ſchwache Achtung fuͤr Joachime, daß Vik¬
tor die beiden amorosi in den Augen der inamorata
laͤcherlich machte. Sein Sieg war eben ſo leicht
[147] als groß — er lagerte ſich auf der Stelle des Fein¬
des: mit andern Worten, Joachime gewann ihn lie¬
ber. Denn die Weiber koͤnnen den nicht leiden, der
vor ihren Augen einem andern Geſchlechte unterliegt
als dem ihrigen. Sie lieben alles, was ſie be¬
wundern
; und man wuͤrde von ihrer Vorliebe fuͤr
koͤrperliche Tapferkeit weniger ſatiriſche Auslegungen
gemacht haben: wenn man bedacht haͤtte, daß ſie
dieſe Vorliebe fuͤr alles Ausgezeichnete, fuͤr ausge¬
zeichnete Reiche, Beruͤhmte, Gelehrte empfinden.
Der duͤrre und runzliche Voltaire hatte ſo viel Ruhm
und Witz, daß wenige Pariſer Herzen ſein ſatiriſches
ausgeſchlagen haͤtten. Noch dazu druͤckte mein Held
ſeine Achtung fuͤr das ganze Geſchlecht mit einer
Waͤrme aus, die ſich das Individium zueignete; —
auch brachte ſeine beliebte Simultan- und Tuttilie¬
be, ferner ſein in der Trauer uͤber ein verlornes
Herz ſchwimmendes Auge und endlich ſeine heitere
Menſchenfreundlichkeit ihm eine Aufmerkſamkeit von
Joachimen zu wege, die die ſeinige in dem Grade
erregte, daß er ſich das naͤchſtemal zu inquiriren vor¬
nahm, was dran waͤre. — —


Das naͤchſtemal war bald da. Sobald ihm die
Ankuft der Fuͤrſtin vom Apotheker geweiſſagt war —
denn der war in der kleinen Zukunft des Hofs ſeine
Hexe zu Endor und Kumaͤ und ſeine delphiſche Hoͤle
— ſo ging er hin: denn er fuhr nicht hin. »So
K 2[148] »lang es noch einen Dekroteur und ein Stein-Pfla¬
»ſter giebt, ſagt er, fahr ich nicht. Aber von vor¬
»nehmern Leuten wunderts mich, daß ſie noch zu
»Fuß reiſen von einem Fluͤgel des Pallaſts in den
»andern. Koͤnnte man nicht, ſo wie die Pennypoſt
»fuͤr eine Stadt, eine Equipage fuͤr ſeinen Pallaſt
»einfuͤhren? Koͤnnte nicht jeder Seſſel ein Tragſeſſel
»ſeyn, wenn eine Dame die Alpenreiſe von einem
»Zimmer ins andere weniger ſcheuete? Und verſchie¬
»dene Weltumſeglerinnen wuͤrden es wagen, eine
»Luſtreiſe durch einen großen Garten zu machen in
»einer zugeſperrten Saͤnfte« — Viktor reiſete ge¬
»rade in einem, naͤmlich im Schleuneſchen: es war
noch zu hell und zu ſchoͤn, um ſich wie Naͤhkuͤſſen
an die Spieltiſche zu ſchrauben. Er ſah darin eine
kleine bunte Reihe gehen und Joachimen darunter.
Er ſchlug ſich zu ihnen. Joachime bezeugte eine
maleriſche Freude uͤber die [Wolken-Gruppirung] und
es ſtand ihren ſchoͤnen Augen gut, wenn ſie ſie da¬
hin hob. Da man nichts Geſcheutes zu reden hatte:
ſuchte man etwas [Geſcheutes] zu thun: ſobald man
ans Karuſſel ankam. Man ſetzte ſich darauf und
ließ es drehen. Viele Damen hatten gar den Muth
nicht, dieſe Drehſcheibe zu beſteigen — einige wag¬
ten ſich in die Seſſel — bloß Joachime, die eben
ſo verwegen als furchtſam war, beſchritt das hoͤl¬
zerne Turnierroß und nahm die Lanze in die Hand
[149] um die Ringe mit einer Grazie wegzuſpießen, die
ſchoͤnerer Ringe wuͤrdig war. Aber um ſich nicht
dem Abwerfen der Dreh-Roſinante bloßzugeben,
haͤtte Joachime meinen Helden wie ein Treppen¬
gelaͤnder an ſich ſtellen laſſen, an den ſie ſich in der
Zeit der Noth anhielt. Die Axebewegung wurde
ſchneller und ihre Furcht groͤßer: ſie hielt ſich immer
feſter an und er faßte ſie feſter an, um ihrer An¬
ſtrengung zuvorzukommen. Mein Held, der ſich auf
die Taſchenſpielerkuͤnſte und den Hokus Pokus der
Weiber recht gut verſtand, fand ſich leicht in Joachi¬
mens Wieglebiſche natuͤrliche Magie und »Trunkus
Plempſum Schallalei;« noch dazu war das wechſel¬
ſeitige Andruͤcken ſo ſchnell hin und hergegangen,
daß man nicht wußte, hatt' es einen Erfinder oder
eine Erfinderin. . . .


Da ſie jetzt alle aufs Zimmer ſind und ich allein
im Garten ſtehe neben der Roßmuͤhle: ſo will ich
daruͤber geſchickt reflektiren und anmerken, daß die
Großen, gleich den Weibern, den Franzoſen und den
Griechen, große — Kinder ſind. Alle große Philo¬
ſophen ſind das naͤmliche und leben, wenn ſie ſich
durch Denken faſt umgebracht haben, durch Kinde¬
reien wieder auf, wie z. B. Malebranche that: eben
ſo holen Große zu ihren ernſtern edeln Luſtbarkeiten
durch wahre kindiſche aus; daher die Steckenpferd-
Ritterſchaft, die Schaukel, die Kartenhaͤuſer (in
[150] Hamiltons mémoires) das Bilderausſchneiden, das
Joujou. Mit dieſer Sucht, ſich zu amuͤſiren, ſteckt
ſie zum Theil die Gewohnheit an, ihre Obern zu
amuͤſiren, weil dieſe den alten Goͤttern gleichen, die
man (nach Moriz) nicht durch Bußen ſondern durch
froͤhliche Feſte beſaͤnftigte.


Da er mit den Regiſſeurs des Theaters bekannt
war und zweitens da er kein Liebhaber mehr war —
denn dieſer hat tauſend Augen fuͤr Eine Perſon und
tauſend Augenlieder fuͤr die andern — ſo war er
beim Miniſter nicht verlegen, ſondern gar vergnuͤgt.
Denn er hatte da doch ſeinen Plan durchzuſetzen —
und ein Plan macht ein Leben unterhaltend, man
mag es leſen oder fuͤhren.


Es mißlang ihm heute nicht, ziemlich lange mit
der Fuͤrſtin zu ſprechen und zwar nicht vom Fuͤrſten
— ſie mied es — ſondern von ihrer Augenmaladie.
Das war alles. Er fuͤhlte, es ſey leichter eine uͤber¬
triebene Achtung vorzuſpiegeln als eine wahre auszu¬
druͤcken. Die Beſorgniß, falſch zu ſcheinen, macht,
daß man es ſcheint. Daher ſieht bei einem Arg¬
woͤhniſchen ein Aufrichtiger halb wie ein Falſcher
aus. Indeſſen war bei Agnola, die ihres Tempe¬
raments ungeachtet ſproͤde war — ein eigner zuruͤck¬
geſtimmter Ton herrſchte daher in ihrer Gegenwart
bei Schleunes — jeder Schritt genug, den er nicht
zuruͤck that.


[151]

Aber gegen die lebhafte Joachime that er einen
halben vorwaͤrts. Nicht ſowohl ſie als das Haus
ſchien ihm kokett zu ſeyn; und die Toͤchter darin
fand er — das macht das Haus — den alten Lito¬
nen oder Leuten der Sachſen aͤhnlich, die ⅓ frei wa¬
ren und ⅔ leibeigen und die alſo ein Drittel ihres Guts
verſchulden konnten. Jede hatte noch ein Drittel
ein Neuntel‚ ein Kugelſegment von ihrem Herzen
uͤbrig zur freien Diſpoſition. Ueberhaupt wer noch
kein Kabeljau- oder Stockfiſchangeln geſehen: der
kann es hier lernen aus Metaphern — die drei
Toͤchter halten lange Angelruthen uͤbers Waſſer
(Vater und Mutter plaͤtſchern die Stockfiſche her)
und haben an die Angelhacken geſpieſſet Staatsuni¬
formen oder ihre eigne — Geſichter — Herzen —
ganze Maͤnner (als ankoͤdernde Nebenbuhler) — Her¬
zen‚ die ſchon einmal aus dem Magen eines andern
gefangnen Kabeljaus herausgenommen worden: —
ich ſage‚ daraus kann man ungefaͤhr erſehen‚ womit
man die andern Kabeljaus in der See faͤngt‚ voͤllig
wie die Stockfiſche zu Lande‚ naͤmlich auch (jetzt
leſe man wieder zuruͤck) mit rothen Tuchlappen —
mit Glasperlen — mit Vogelherzen — mit eingeſal¬
zenen Heeringen und blutenden Fiſchen — mit klei¬
nen Kabeljaus ſelber — mit Fiſchen‚ die man halb
verdauet aus gefangnen Stockfiſchen gezogen. — —


[152]

Viktor dachte, »meinetwegen ſey Joachime nur
lebhaft oder kokett, ich paſſire leicht uͤber Marderei¬
ſen hinuͤber, die ich ja mir vor der Naſe ſtellen
ſehe« — paſſire nur, Viktor, das ſichtbare Eiſen
ſoll dich eben in das bedeckte treiben. Man
kann an derſelben Perſon die Koketterie gegen jeden
bemerken und doch ihre gegen ſich uͤberſehen, wie
die Schoͤne dem Schmeichler glaubt, den ſie fuͤr den
ausgemachten Schmeichler aller andern haͤlt. — Er
bemerkte, daß Joachime das neue Deckenſtuͤck dieſen
Abend oͤfters angeſchauet hatte; und wußte nicht
recht, warum es ihr gefalle: endlich ſah er, daß ſie
nur ſich gefalle und daß dieſe Erhebung ihren Augen
ſchoͤner laſſe als das Niederblicken. Er wollt' es
uͤbermuͤthig unterſuchen und ſagte zu ihr: »es iſt
»ſchade, daß es nicht der Mahler des Vatikans ge¬
»macht hat, damit Sie es oͤfter anſaͤhen.« — »O,
»ſagte ſie leichtſinnig, ich wuͤrde niemals mit an¬
»dern hinaufſehen — ich liebe das Bewundern
»nicht.« Spaͤter ſagte ſie: »die Mannsperſonen
»verſtellen ſich wenn ſie wollen beſſer als wir; aber
»ich ſage ihnen eben ſo wenig Wahrheiten als ich
»von ihnen hoͤre.« Sie geſtand geradezu Koketterie
ſey das beſte Mittel gegen Liebe; und mit der Be¬
merkung, »ſeine Freimuͤthigkeit gefall' ihr, aber die
ihrige muͤſſ' ihm auch gefallen« endigte ſie den Be¬
ſuch und den Poſttag.


[153]

22. Hundspoſttag.

Stückgieſſerei der Liebe, z. B. gedruckte Handſchuhe, Zank,
Zwergbouteillen und Schnittwunden — ein Titel aus den
erotiſchen Digeſten — Marie — Courtag — Giulias Sterbe¬
brief. —


Der Leſer wird ſich aͤrgern uͤber dieſen Hundspoſt¬
tag: ich meines Orts habe mich ſchon geaͤrgert.
Der Held verſtrickt ſich zuſehends in das Zuggarn
zwei weiblicher Schleppen und ſogar in die Baͤnde
der fuͤrſtlichen Freundſchaft . . . . es braucht nur,
daß gar Klotilde zum Wirwar ſtoͤßet — — Und ſo
etwas muß ein Berghauptmann, ein Inſulaner den
Leuten auf dem feſten Lande referiren.


Chronologiſch ſolls noch dazu gemacht werden:
ich will dieſen Hundspoſttag, der vom November bis
zum December langt, in Wochen zerlegen. Dadurch
wird die Ordnung groͤßer. Denn ich kenne die
Deutſchen: ſie wollen wie die Metaphyſiker alles
von vorn an wiſſen, recht genau, in Großoktav,
ohne uͤbertriebene Kuͤrze und mit einigen citatis.
Sie verſehen ein Epigramm mit einer Praͤfation
und ein Liebesmadrigal mit einem Realregiſter — ſie
beſtimmen den Zephyr nach einer Windroſe — und
[154] das Herz eines Maͤdgen nach dem Kegelſchnitt —
ſie ſigniren alles wie Kaufleute und beweiſen alles
wie Juriſten — ihre Gehirnhaͤute ſind lebendige
Rechenhaͤute, ihre Beine geheime Meßſtangen und
Schrittzaͤhler — ſie zerſchneiden den Schleier der
neun Muſen und ſetzen auf die Herzen dieſer Maͤd¬
gen Taſterzirkel und in ihre Koͤpfe Viſirſtaͤbe —
die arme Klio (die Muſe der Geſchichte) ſieht gar
aus wie der Konſiſtorialrath Buͤſching, der langſam
und krumm unter einer Landfracht von Meßketten,
von Terzien- und Harriſonſchen Laͤngenuhren und
durchſchoſſenen Schreibkalendern daherwandelt — ſo
daß ich beſonders den armen Buͤſching beweine, ſo
oft ich ihn nur ſchreiten ſehe, da den guten topogra¬
phiſchen Laſt- und Kreuztraͤger ganz Deutſchland —
(von dem ich etwas anders erwartet haͤtte) jeder
Amtmann, jeder dumme Schulttheis (bloß wir Schee¬
rauer ſattelten ihn nicht) gleich einer Pfaͤnderſtatue
von der Kniekehle bis ans Naſenloch (der gute
Mann iſt kaum zu ſehen und mich wunderts nur,
wie er auf den Fuͤßen verbleibt) umhangen, beſteckt
und eingebauet hat mit allen verdammten Teufels-
Wiſchen — mit Dorfinventarien — mit Intelligenz¬
blaͤttern — mit Wappenwerken — mit Flurbuͤchern
und perſpektiviſchen Aufriſſen von Schweinsſtaͤllen.


Sie haben ſogar den Jean Paul — damit ich
nur von mir ſelber ein Beiſpiel des deutſchen Fo¬
[155] liirungs- und Kalkulations-Phlegma erzaͤhle, wie¬
wohl ich eben dadurch eines gebe — geſcheuter ge¬
macht: iſts nicht eine alte Sache, daß er das Blau
der ſchoͤnſten Augen, in die je ein amoroso ge¬
blickt, vermittelſt eines Sauſſuͤrſchen Spanometers *)genauer nach Graden angegeben und die ſchoͤnſten
Tropfen, die aus ihnen waͤhrend der Meſſung fielen
richtig genug mit einem Thaumeſſer ausviſirt hat!
Und hat nicht ſein Verſuch, auf die weiblichen
Seufzer den Stegmanniſchen Luftreinigkeitsmeſſer zu
appliziren, unter uns mehr als zuviel Nachahmer
gefunden? — —


Woche des 22. Poſt-Trinitat. oder vom
3. Nov. bis
11. (exclusive.)

Dieſe Woche verſaß er faſt ganz beim Miniſter:
manche Menſchen kommen, wenn ſie nur viermal in
einem Hauſe waren, dann wie das Quotidianfieber
taͤglich wieder, anfangs wie die Fruͤhlingsſonne jeden
Tag fruͤher, dann wie Herbſtſonne jeden Tag ſpaͤter.
Er ſah wohl, daß er bei dieſer Hof- und Miniſte¬
rialparthie nichts deponiren koͤnne, weder ein Ge¬
heimniß, noch Vermoͤgen, noch ein Herz, weil ſie
ehrlichen Gerichtsſtellen gleichen wuͤrde, die — ſo
wie die Moͤnche ihr Eigenthum ein Depoſitum nen¬
[156] nen und ſagen, nichts gehoͤre ihnen — umgekehrt je¬
des Depoſitum zu einem Eigenthum erheben und ſa¬
gen alles gehoͤre ihnen. Aber er machte ſich nichts
daraus: »ich komme ja nur zum Spaſſe, (dacht' er)
»und mir iſt nichts anzuhaben.« Der Miniſter,
dem er bloß uͤber der Tafel begegnete, hatte gegen
ihn alle die Hoͤflichkeit, die mit einem perſiflirenden
Geſicht und mit einem die Welt in Spionen und in
Diebe eintheilenden Stande zu verbinden iſt; aber
Sebaſtian merkte doch, daß er ihn fuͤr einen Igno¬
ranten in der Medizin und in den ernſthaften Kent¬
niſſen — als waͤren nicht alle Studien ernſthaft —
anſehe und fuͤr einen Eingeweihten bloß im Witz
und ſchoͤnen Wiſſen. Viktor war zu ſtolz, ihm eine
andere als die leere Neumondsſeite zuzukehren und
verbarg alles, was ihn bekehren konnte. Daher
mußte ſich Viktor bei dem duͤmmſten Kanzleiverwand¬
ten der's geſehen haͤtte, dadurch um alle Achtung
bringen, daß er, wenn der Miniſter mit ſeinem Bru¬
der, dem Regierungspraͤſidenten, ein intereſſantes
Geſpraͤch uͤber Auflagen, Buͤndniſſe, uͤber die Kam¬
mer anſpann, entweder nicht aufmerkte oder fortlief
oder die Weiber aufſuchte? — Auch liebte Viktor
am Fuͤrſten nur den Menſchen; der Miniſter nur den
Fuͤrſten. Viktor konnte bei Jenner ſelber uͤber die
Vorzuͤge der Republiken Reden halten und dieſer
haͤtte oft im Enthuſiasmus (wenn die Reichsgerichte
[157] und ſein Magen es verſtattet haͤtten) gern Flachſen¬
fingen zum Freiſtaat erhoben und ſich zum Maire
darin. Aber der Miniſter haßte das toͤdtlich und
liebte allen politiſchen Schismatikern — einem Rouſ¬
ſeau — allen Girondiſten — allen Feuillants —
allen Republikanern — und allen Philoſophen den
Namen Jakobiner auf, wie die Tuͤrken alle Fremde,
Britten, Deutſche, Franzoſen ꝛc. Franken nennen.
Indeß war das eine Urſache, warum Viktor Mazen,
der beſſer dachte, jetzt lieber gewann; und warum er
von dem Vater zu der Tochter floh.


Bei Joachimen gelangen in dieſer Woche ſeine
Gnadenmittel: ſie gab dem feinen und wolriechenden
Narren Dualis wie wir der Tugend nur das Acceſ¬
ſit und meinem Helden wie wir der Neigung, die
Preismedaille. Da er aber bloß eine gewiſſe Em¬
pfindſamkeit am meiſten in der Freundſchaft und
Liebe achtete: ſo haͤtt' er, dacht' er, mit dieſer
Schekerin durch den Mond reiſen koͤnnen, ohne fuͤr
ſie (aber wohl uͤber ſie) zu ſeufzen — aber dieſe lu¬
ſtigen, mein Baſtian, haben den Henker geſehen;
wenn ſie etwas anders werden, dann wird mans
auch mit. Sie ſagte ihm, ſie wolle gefallen wie
ein lutheriſches Heiligengemaͤlde, aber ſie wolle nicht
angebetet ſeyn wie ein katholiſches. Sie nahm
ihn am meiſten durch die ihrem Geſchlecht ei¬
gne Gabe ein, delikate Wendungen zu verſtehen
[158] — die Weiber errathen ſo leicht, weil ſie ſich
immer nur errathen laſſen und ergaͤnzen und ver¬
bergen
jede Haͤlfte mit gleichem Gluͤck; — aber
zu ihren Reizen rechn' ich auch den Zwang vor der
Fuͤrſtin und den vor dem Beſuchs-Apartement. —
Uebrigens war jetzt ſein von Klotilden weggeworfenes
Herz in der Lage der Kinder, die gewettet haben,
Schlaͤge in ihre Hand ohne Thraͤnen aufzunehmen
und die noch fortlaͤcheln wenn dieſe ſchon fließen.


Woche des 23. Poſt-Trinit. oder 46te des
Jahrs 179*


Jetzt iſt er Vormittags auch dort. Es iſt be¬
merkenswerth, daß er ihr am Martinitag die gepu¬
derte Stirn mit dem Pudermeſſer raſirte und daß er
um einige Toiletten-Hofaͤmter bei ihr anhielt: »ich
»kann ihr Schminkdoſentraͤger werden, wie der große
»Mogul Tabakspfeifen- und Beteltraͤger hat —
»oder auch Ihr Cravatier ordinaire — oder Ihr
»Sommier (d. h. Gebetspolſtertraͤger) — ich wuͤrde,
»wenn Sie ſich nicht auf den Polſter knieten, es
»ſelber thun vor Ihnen. — — Ich kannte in Han¬
»nover einen ſchoͤnen Englaͤnder, der ſich das linke
»Knie fuͤttern und polſtern ließ, weil er nicht wußte
»wen er heute anzubeten bekaͤme und wie lange.« —


Es iſt eben ſo wichtig, daß er ſie am Jonastag
ein Paar feine Handſchuhe, worauf ein ſehr einfaͤlti¬
[159] ges Geſicht getuſchet war, anzunehmen zwang — »es
»waͤre ſein eignes: (ſagt' er) ſie ſollte das Ge¬
»ſicht nur zu Nachts im Bette auf oder an der
»Hand haben, damit es ausſaͤhe als kuͤßt' er ihr
»durch die ganze Novembernacht die Hand.« —


Ich fahre in meinem pragmatiſchen Auszuge aus
dieſem Belagerungstagebuch fort und finde am Leo¬
poldstag aufgezeichnet, daß Joachime ſchon Vormit¬
tags ſagte, ſie wuͤrde ihren Papagei, wenn ſie ihm
einen Sprachmeiſter hielte, nichts aus dem ganzen
Dictionaire beibringen laſſen als das Wort perfide!
»Jeder Liebhaber, ſagte ſie, ſollte ſich ein Papgen
»halten, das ihm unaufhoͤrlich zuriefe: perfide!« —
»Die Damen, ſagte mein Held, ſind allein ſchuld:
»ſie wollen zu lange, oft ganze Wochen, ganze Mon¬
»den geliebt werden. Das iſt uͤber unſre Kraͤfte.
»Haben nicht die Jeſuiten ſogar die Liebe zu Gott
»periodiſch gemacht? *) Skotus ſchraͤnkt ſie auf den
»Sonntag ein — andre auf die Feſttage — Coninch
»ſagt, es iſt genug, wenn man ihn alle vier Jahre
»einmal liebt — Henriquez ſezt noch ein Jahr dazu
»— Suarez ſagt gar, wenns nur vor dem Tode iſt
»— — Manchen Damen fielen bisher die Zwiſchen¬
»zeiten anheim; aber die Tags- die Jahrs- die
[160] »Feſtzeiten, die Verlobungs- die Begraͤbnißtage bil¬
»den eben ſo viel verſchiedene Sekten unter den Je¬
»ſuiten der Liebe.» — Joachime machte den Anfang
zu einer zuͤrnenden Mine. Der Hofmedikus hatte
nichts lieber mit Schoͤnen als Zank und ſetzte dazu:
»c'est a force de se faire hair qu'elles se fout ai¬
»mer — c'est aimer que de bouder — ah que je
Vous prie de Vous facher
!« — Seine Laune hatte
ihn uͤber das Ziel getrieben — Joachime hatte Recht
genug, ſeine Bitte um ihren Zorn zu erfuͤllen — er
wollte den Zank fortſetzen, um ihn beizulegen — da
es aber doch Faͤlle giebt, wo die Vergroͤßerung
einer Beleidigung eben ſo wenig Vergebung ver¬
ſchaft als die ſtufenweiſe Zuruͤcknahme derſelben:
ſo that er geſcheut, daß er ging.


Er wunderte ſich, daß er den ganzen Tag an ſie
dachte: das Gefuͤhl, ihr Unrecht gethan zu haben,
ſtellte ihr Geſicht in einer leidenden Mine vor ſeine
erweichte Seele und alle ihre Zuͤge waren auf ein¬
mal veredelt. Tazitus ſagt, man haſſet den andern
wenn man ihn beleidigt hat: aber gute Menſchen
lieben den andern oft bloß deswegen.


Am Tage darauf, am Ottomars Tage — Otto¬
mar
! großer Name, der auf einmal das lange Lei¬
chenkondukt einer großen Vergangenheit im Finſtern
vor mir voruͤberfuͤhrt — ſah er ſie ernſthaft, ihn
weder ſuchend noch fliehend. Die zwei Narren
blie¬[161] blieben in ihren Augen die zwei Narren und gewan¬
nen durch nichts etwas. Da er alſo gewiß bemerk¬
te, daß aus einer fluͤchtigen Bouderie wahre Reue
uͤber ihre bisherige Offenheit geworden war, von der
er einen zu freimuͤthigen Gebrauch und eine zu ei¬
gennuͤtzige Auslegung gemacht zu haben ſchien: ſo
war es jetzt ſeine Pflicht, das, was er bisher aus
Scherz gethan hatte, im Ernſte zu thun, naͤmlich ſie
aufzuſuchen und auszuſoͤhnen.


Aber ſie ſtand immer an der Fuͤrſtin und es war
nichts.


Ich hab' es nicht ſelber geſagt, weil ich wußte,
der Leſer ſeh' es ohne mich, daß der Held glaubt,
Joachime halt' ihn fuͤr den Bilderdiener ihrer Reize
und fuͤr den zu ihr gezognen Satelliten: der Held
nahm ſich daher laͤngſt vor, ihr dieſen Irrthum —
zu laſſen. Einen ſolchen Irrthum zu benehmen, dazu
hat ſelten ein Mann oder ein Weib Staͤrke genug
— Viktor hatt' aber noch mehr Gruͤnde, ihr den
Glauben an ſeine Liebe (d. h. auch ſich den ſeinigen
an ihre) zu goͤnnen: erſtlich er wollte verſtecken, war¬
um er komme — zweitens er wußte, in der großen
Welt und unter den Joachimen wird ein Liebhaber
nur wie der dritte Mann zum Spiel geſucht, man
ſtirbt da nicht von der Liebe, man lebt da nicht ein¬
mal davon — Drittens er hob ſich immer den Noth¬
anker auf, aus Spas Ernſt zu machen: »wenn mir
Heſperus. II Th. L[162] das Meſſer an der Kehle ſitzt, dacht' er, ſo ſetz' ich
mich hin und gewinne ſie von Herzem lieb und da¬
mit gut« — viertens eine Kokette macht einen Ko¬
ketten. . . . Hier fing ich bekanntlich ſchon an, mich
uͤber den 22ten Poſttag zu aͤrgern, wiewol ich ſo gut
wie einer weiß, warum alle Menſchen, ſogar die
aufrichtigſten, ſogar die Maͤnner ſich zu kleinen In¬
triguen gegen Geliebte neigen: nicht bloß naͤmlich,
weil's kleine und erwiderte ſind, ſondern weil man
mit ſeinen Intriguen mehr zu ſchenken als zu ſteh¬
len meint. Bloß die edelſte hoͤchſte Liebe iſt ohne
wahre Spitzbuͤberei.

Wochen des 24. und 25. Poſt-Trinitatis.

Am Sonntage war Ball: »ganz natuͤrlich (ſagte
er) ſieht ſie mich nicht an: im Ballkleide ſind die
»Schoͤnen unverſoͤhnlicher als in der Morgenklei¬
»dung.« Sie ſah ihn kaum, ſo kam ſie ihm, wie
ein bewegter Himmel mit ihren Brillanten-Fix¬
ſternen und ihren Perlen-Planeten, entgegen und bat
ihn in dieſem Glanze um Vergebung ihrer Laune:
»anfangs habe ſie ſich zornig geſtellt, dann ſey ſie
»es geworden, und am andern Tage habe ſie erſt
»geſehen, daß ſie Unrecht gehabt, es zu ſcheinen, und
»Recht, es zu ſeyn.« Dieſe Bitte um Vergebung
machte unſern Medikus demuͤthiger als es noͤthig
war. Sie bat ihn ſcherzhaft, ſie um Vergebung zu
[163] bitten und machte ihn mit ihrem Platzgolde von
Jaͤhzorn bekannt.


Zwei Tage lang wurde der weſtphaͤliſche Friede
gehalten.


Aber Eine Zaͤnkerei mit einem Maͤdgen macht
wie Ein Narr, zehen: und zum Ungluͤck hat man die
Zornige nur lieber (weniſtens mehr als die Gleich¬
guͤltige,) ſo wie das Volk den methodiſtiſchen Pre¬
digern am meiſten zulaͤuft, die es am ſtaͤrkſten ver¬
dammen. Joachime wurde taͤglich zornfaͤhiger —
welches er groͤßerer Liebe zuſchrieb — aber er auch.
Sie konnten den ganzen Beſuch im ſchoͤnſten Reichs-
und Hausfrieden verbracht haben: beim Abſchiede
wurd' alles auf den Kriegsetat geſetzt, die Geſand¬
ten zuruͤckgerufen und die Beurlaubten, wenn mir
dieſe poetiſche Ausdruͤcke erlaubt ſind. Mit dem
zornigen Sediment im Herzen zog er dann ab und
konnte kaum den Augenblick des Wiederſehens —
d. h. ſeiner oder ihrer Rechtfertigung — erwarten.
So brachten ſie ihre Stunde mir dem Schreiben
der Friedensinſtrumente und der Manifeſte zu. Die
ſtreitige Sache war ſo ſonderbar wie der Streit: es
betraf ihre Foderungen der Freundſchaft; jedes be¬
wies, das andre waͤre der Schuldner und fodere zu
viel. Was unſern Medikus am meiſten erboſte, war,
daß ſie dem feinen und dem wohlriechenden Narren,
ihr die Hand zu kuͤßen, erlaubte, ihm aber verbot
L 2[164] und zwar ohne alle Entſcheidungsgruͤnde. »Wenn
»ſie nur loͤge und mir ſagte: darum, oder darum!
»ſo waͤrs doch was« ſagt' er; aber ſie that ihm den
Gefallen nicht. Fuͤr mein Geſchlecht iſt Abſchlagen
ohne Gruͤnde, ſogar ohne errathene, ein Schwefel¬
pfuhl, ein dreifacher Tod; auf Joachime wirkten
Gruͤnde und Kabinetspredigten gleichviel.

Extrablatt daruͤber.

Ich habe hundertmal, mit meinem juriſtiſchen onus
probandi
auf dem Buckel, an die Weiber gedacht,
die im Stande ſind, durch einige Anſtrengung ohne
alle Gruͤnde ſowohl zu handeln als zu glauben. Je¬
der Grund beruft ſich auf einen neuen, dieſer ſchickt
uns wieder zu einem entferntern, der wieder ſeinen
eignen haben muß, bis wir endlich zu einem kommen,
den wir ohne Grund annehmen. Der Gelehrte fehlt
aber darin, daß er gerade die wichtigſten Wahrhei¬
ten — die oberſten Prinzipien der Moral, der Meta¬
phyſik ꝛc. — ohne Gruͤnde glaubt und ſie in der
Angſt — er will ſich dadurch helfen — nothwendige
Wahrheiten benennt. Die Frau hingegen macht klei¬
nere Wahrheiten — z. B. es muß morgen weggefahren,
traktirt, gewaſchen werden ꝛc. — zu nothwendigen
Wahrheiten, die ohne die Aſſekuranz und Reaſſeku¬
ranz der Gruͤnde angenommen werden muͤſſen — und
dies iſt's eben, was ihr einen ſolchen Schein von
[165] Gruͤndlichkeit anſtreicht. — — Ihnen wird es leicht,
ſich vom Philoſophen zu unterſcheiden, der denkt
und dem die Wahrheitsſonne ſo horizontal in die
Augen flammt, daß er daruͤber weder Weg noch Ge¬
gend ſieht. Der Philoſoph muß in den wichtigſten
Handlungen, in den moraliſchen, ſein eigner Geſetzge¬
ber und Geſetzhalter ſeyn, ohne daß ihm ſein Ge¬
wiſſen die Gruͤnde dazu ſagt. Bei einer Frau iſt
jede Neigung ein kleines Gewiſſen und haſſet Hete¬
ronomien
und ſagt weiter keine Gruͤnde, ſo gut
wie das große Gewiſſen. Und durch dieſe Gabe,
mehr aus eigner Machtvollkommenheit als aus Gruͤn¬
den zu handeln, paſſen eben die Weiber recht fuͤr
Maͤnner, weil dieſe lieber ihnen zehn Befehle als
drei Gruͤnde geben.


Ende des Extrablattes daruͤber.


Was eben ſo ſchlimm war, iſt daß Joachime ihm
endlich, um nur ſeine Aktenſtoͤße von Beſchwerden
und Gravamen wegzubringen, die Finger ließ, ohne
nur den geringſten Grund dazu zu ſagen. Er konnte
alſo keinen Titel ſeines Beſitzſtandes aufweiſen und
haͤtte im Nothfall niemand gehabt, der ihn darin
ſchuͤtzen koͤnnen.


Es iſt aber eine gegruͤndete Rechtsregel oder ein
maͤnnliches Brokardikon: daß alles feſter werde, wenn
man darauf bauet und daß uns eine kleine geſtohlne
[166] Gunſt rechtmaͤßig gehoͤre, ſobald wir um eine groͤßere
anhalten. Die Rechtsregel gruͤndet ſich darauf daß
die Maͤdgen uns wie den Juden im Handel, allemal
die Haͤlfte abbrechen, und nur ein Paar Finger
geben, wenn wir die Hand haben wollen. Hat
man aber die Finger: ſo tritt ein neuer Titel aus
den Inſtitutionen ein, der uns die Hand zuerkennt;
die Hand giebt ein Recht auf den Arm und der
Arm auf alles was dran haͤngt als accessorium. So
muͤſſen dieſe Dinge betrieben werden, wenn Recht
Recht bleiben ſoll. Es muß uͤberhaupt von mir oder
von einem andern ehrlichen Mann ein kleines Leſe¬
buch geſchrieben werden, worin man dem weiblichen
Geſchlecht die Modas (Arten) ſolches zu akquiriren,
mit der juriſtiſchen Fackel vortraͤgt und aufhellt.
Viele Modi kommen ſonſt ab. So bin ich z. B.
nach dem buͤrgerlichen Rechte rechtmaͤßiger Beſitzer
einer beweglichen Sache, wenn ich ſie vor dreißig
Jahren geſtohlen habe (im Grunde ſollt' es eher ſeyn
und es ſollte mir nichts ſchaden, daß ich nicht ſo
fruͤh zu ſtehlen angefangen) — eben ſo faͤllt mir durch
eine Verjaͤhrung von 30 Minuten (die Zeit iſt rela¬
tiv) alles von einer Schoͤnen rechtmaͤßig anheim,
was ich ihr Bewegliches (und an ihr iſt alles beweg¬
lich) entwendet und man kann daher nicht fruͤh ge¬
nug zu ſtehlen anfangen, weil ſonſt vor dem Dieb¬
ſtahl die Verjaͤhrung nicht anheben kann.


[167]

Specifikation iſt ein guter Modus. Nur muß
man wie ich ein Prokulianer ſeyn und glauben, daß
eine fremde Sache dem, der ihr eine andre Form er¬
theilt, zugehoͤre, z. B. mir die Hand, die ich durch
den Druck in eine andre Form gebracht.


Der ſeel. Siegwart ſagte: confusio (Vermiſchung
der Thraͤnen) iſt mein Modus. Aber commixtio
(Vermiſchung trockner Sachen, z. B. der Finger,
der Haare) iſt jetzt faſt unſer aller modus acqui¬
rendi
.


Ich wollt' einmal die ganze Sache nach der Lehre
von den Servituten, wo eine Frau tauſend Dinge
zu leiden hat, behandeln, (wiewohl alle dieſe Servi¬
tuten durch die Konſolidation der Ehe gaͤnzlich er¬
loſchen); aber ich weiß die Lehre von den Servitu¬
ten ſelber nicht mehr recht und wollte lieber darin
examiniren als examinirt werden. — —


Ich kehre zum Medikus zuruͤck. Da er alſo
wußte, daß eine gekuͤßte Hand ein Schenkungsbrief
der Wangen iſt — Die Wangen die Opfertafeln der
Lippen — dieſe der Augen — die Augen des Hal¬
ſes: — ſo wollt' er genau nach ſeinem Lehrbuch ver¬
fahren. Aber bei Joachimen, wie bei allen Gegen¬
fuͤßlerinnen der Koketten, bahnte keine Gunſtbe¬
zeugung der andern den Weg
, nicht einmal
die große der kleinen
, — aus einem Vorzim¬
mer kam man ins andre — und was ſagte mein
[168] Hel dazu? Nichts als: »Gottlob! daß einmal eine
»beſſer iſt als ſie ſchien, daß ſie unter dem Schein,
»unſer Spielzeug zu ſeyn, unſre Spielerin iſt und
»daß ſie die Koketterie zum Schleier der Tugend
»macht.«


Er fuͤhlte jetzt, ſo oft ihr Name erwaͤhnt wurde,
eine ſanfte Waͤrme durch ſeinen Buſen wehen.

Vom Ende des Kirchenjahrs (1ten Dezem¬
ber) bis zum Ende des buͤrgerlichen
(31ten December
.)

Flamin, deſſen patriotiſche Flammen in der Seſ¬
ſionsſtube keine Luft antrafen und ihn ſelber zuerſt
erſtickten, wurde taͤglich ſcheuer und wilder. Es war
ihm etwas Neues, daß ganze Kollegien und Kommiſ¬
ſionen das thun mußten, was Einer haͤtte machen
koͤnnen — daß die Glieder des Staats (wie es
doch die Glieder des Koͤrpers auch ſind) am kur¬
zen Arm des Hebels bewegt werden, um mit groͤße¬
rer Kraft weniger zu thun und daß beſonders ein
Kollegium dem Leibe gleiche, der nach Borellus 2900
mal mehr Kraft bei einem Sprunge anwendet als
die Laſt erfordert, die er zu heben hat. Er haßte
alle Große und kam zu keinem; der Hofjunker Maz
nicht einmal bekam ſeine Viſiten. Mein Sebaſtian
machte ſeine bei ihm ſeltener, weil ſeine Muſſe und
ſeine Luſtbarkeiten-Windſtille gerade in Flamins Ar¬
[169] beitsſtunden fielen. Dieſe Entfernung und das ewige
Kantoniren bei Schleunes — das Flamin, aus Un¬
bekanntſchaft mit Joachimens Einfluß, auf alle Faͤlle
Klotildens ihrem zurechnen mußte, zu deren kuͤnfti¬
gen Beſuchen ſich Viktor durch ſeine jetzigen den
Vorwand verſchaffe — zog die verſchlungnen Freund¬
ſchaftshaͤnde von beiden, deren Leben ſonſt eine Sonate
à quatre mains
geweſen, immer weiter auseinander;
die Fehler und den moraliſchen Staub, den ſonſt
Viktor von ſeinem Liebling wegwiſchen konnte, durfte
er kaum wegzublaſen wagen; ſie betrugen ſich zaͤrter
und aufmerkſamer gegen einander. Aber mein Vik¬
tor, an deſſen Herz das Schickſal ſo viele ſaugende
Vampyre legte und der in eine Bruſt den Schmerz
der entbehrten Liebe und den Kummer der fallenden
Freundſchaft einzuſchließen hatte, wurde durch alles
— recht luſtig. O es giebt eine gewiſſe Luſtigkeit
der Verſtockung und des Grams, die die erſchoͤpfte
Seele bezeichnet, ein Laͤcheln wie das an denen Men¬
ſchen die an Wunden des Zwergfells ſterben, oder
das an eingedorrten zuruͤckgeſpannten Mumien-Lip¬
pen! Viktor warf ſich in den Strom der Luſtbarkei¬
ten, um unter demſelben ſeine eigne Seufzer nicht
zu hoͤren. Aber freilich oft wenn er den ganzen Tag
uͤber demolirte Narrheiten komiſches Salz ausgeſaͤet
hatte, das eben ſo oft die Hand des Saͤemanns
wund beiſſet, und er den ganzen Tag ſich an keinem
[170] Auge erquicken koͤnnen, dem er in ſeinem eine Thraͤne
haͤtte zeigen duͤrfen — wenn er ſo muͤde der Gegen¬
wart, ſo gleichguͤltig gegen die Zukunft, ſo wund
von der Vergangenheit neben dem letzten Narren,
neben dem Apotheker, vorbei war und wenn er in
ſeinem Erker in die voll Welten haͤngende Nacht
und in den ſtillenden Mond und an die Morgenwol¬
ken uͤber St. Luͤne blickte: dann ging allezeit das
geſchwollne Herz und der geſchwollne Augapfel ent¬
zwei und die von der Nacht verdeckten Thraͤnen
ſtroͤmten von ſeinem Erker auf die harten Steine
hernieder: »o nur Eine Seele, rief ſein Innerſtes mit
»allen Toͤnen der Wehmuth, nur Eine gieb du ewige
»liebende ſchaffende Natur dieſem armen verſchmach¬
»tenden Herzen, das ſo hart ſcheint und ſo weich
»iſt, ſo froͤhlich ſcheint und ſo truͤbe iſt, ſo kalt
»ſcheint und ſo warm iſt.«


Dann war es gut, daß an einem aͤhnlichen ſol¬
chen Abend kein Kammerherr, kein chevalier d'h[o]n¬
neur im Erker ſtand, als gerade die arme Marie —
auf welche das vorige Leben wie eine erdruͤckende La¬
vine heruͤbergeſtuͤrzt iſt — ſeine Dejeuner-Befehle
begehrte: denn er ſtand, ohne einen Tropfen abzu¬
wiſchen, freundlich auf und ging ihr entgegen und
faßte ihre weiche aber rothgearbeitete Hand, die ſie
aus Furcht nicht wegzog — wiewohl ſie aus Furcht
ihr gegen die Hofnung verſteinertes Geſicht abdrehte
[171] — und ſagte, indem er ſanft ihre Augenbraunen
wagrecht ſtrich, mit ſeiner aus dem geruͤhrteſten
Herzen ſteigenden Stimme: »Du arme Marie, ſag'
»mir was — du haſt wohl auch wenig Freude —
»in deine guten Augen kommt wohl wenig mehr,
»was ſie gerne ſehen wenn's nicht deine Thraͤnen
»ſind — Du Liebe, warum haſt du keinen Muth zu
»mir, warum ſagſt du deinen Gram nicht mir? du
»gutes gemartertes Herz — ich will fuͤr dich ſpre¬
»chen fuͤr dich handeln — ſag mir was dich druͤckt
»und wenn es dir einmal an einem Abend zu ſchwer
»wird und du drunten nicht weinen darfſt: ſo komm
»herauf zu mir .. ſchau mich jetzt frei an .. war¬
»lich ich vergieſſe Thraͤnen mit dir und ich will
»mich Henker um alles ſcheeren.« — Ob ſie es
gleich fuͤr unhoͤflich hielt, vor einem ſo vornehmen
Herrn zu weinen: ſo war ihrs doch unmoͤglich, durch
die gewaltſame Abbeugung des Geſichts alle Thraͤ¬
nen, die ſeine Zunge voll Liebe in Baͤchen aus ihr
preſte, zu entfernen. . . . . Veruͤbelt es ſeiner uͤber¬
wallenden Seele nicht, daß er dann ſeinen heiſſen
Mund an ihre kalten verachteten nnd ohne Wider¬
ſtand bebende Lippen druͤckte und zu ihr ſagte: o!
warum ſind wir armen Menſchen ſo ungluͤcklich. wenn
wir zu weich ſind? — In ſeinem Zimmer ſchien ſie
alles fuͤr Spott zu nehmen — aber die ganze Nacht
durch hoͤrte ſie das Echo des erſten menſchenfreund¬
[172] lichen Menſchen — ſogar als Spott haͤtt' ihr ſo
viel Liebe wohlgethan — dann kryſtalliſirten ſich ihre
vergangnen Blumen noch einmal im Fenſter-Eis ih¬
res jetzigen Winters — dann war ihr als wuͤrde ſie
heute erſt ungluͤcklich — Am Morgen ſchwieg ſie ge¬
gen alle und war bloß dienſteifriger gegen Sebaſtian,
aber nicht muthiger: nur zuweilen fiel ſie drunten
dem Proviſor, wenn er ihn lobte, mit den Worten
aber ohne weitere Erklaͤrung bei: man ſollte ſein ei¬
gnes Herz in kleine Stuͤckgen zerſchneiden und hinge¬
ben fuͤr den englaͤndiſchen Herrn.«


Arme Marie! ſagt mein eignes Inneres dem
Doktor nach; und ſetzet noch dazu: vielleicht lieſt
mich jetzt gerade eine eben ſo Ungluͤckliche, ein eben
ſo Ungluͤcklicher. Und mir iſt als muͤßt' ich ihnen,
da ich die Trauerglocken ihrer vergangnen truͤben
Stunden angezogen, auch ein Wort des Troſtes
ſchreiben. Ich weiß aber fuͤr den, der immer uͤber
neue gaffende Eisſpalten des Lebens ſchreiten muß,
kein Mittel als meines: wirf ſogleich, wenns arg
wird, alle moͤgliche Hofnungen zum Henker und
ziehe dich reſignirend in dein Ich zuruͤck und frage:
wie nun, wenn's Schlimmſte auch gar kaͤme, was
waͤr's denn? Soͤhne deine Phantaſie nie mit dem
naͤchſten Ungluͤck aus, ſondern mit dem groͤßten.
Nichts loͤſet mehr den Muth auf als die warmen
mit kalter Angſt abwechſelnden Hofnungen. — Iſt
[173] dieſes Mittel dir zu heroiſch: ſo ſuche fuͤr deine
Thraͤnen ein Auge das ſie nachahmt und eine Stim¬
me, die dich fraget, warum du ſo biſt. Und denke
nach: der Wiederhall des zweiten Lebens, die Stim¬
me unſerer beſcheidnen, ſchoͤnern, froͤmmern Seele
wird nur in einem vom Kummer verdunkelten Bu¬
ſen laut, wie die Nachtigallen ſchlagen, wenn man
ihren Kaͤfich uͤberhuͤllt.


Oft betruͤbte ſich Sebaſtian daruͤber, daß er hier
ſo wenig ſeine edlern Kraͤfte fuͤr die Menſchheit an¬
ſpannen koͤnne, daß ſeine Traͤume, durch den Fuͤrſten
Uebel zu verhuͤten, Gutes auszurichten, Fiebertraͤume
blieben, weil ſogar die beſten Maͤnner am Ruder des
Staats z. B. Aemter durchaus nur nach Konnexio¬
nen und Empfehlungen beſetzten und fremde und ei¬
gne Aemter nie fuͤr Pflichten, ſondern fuͤr Berg¬
werkskuxen hielten — — er betruͤbte ſich uͤber ſeine
Unnuͤtzlichkeit; aber er troͤſtetete ſich mit ihrer Noth¬
wendigkeit: »in einem Jahr, wenn mein Vater
»koͤmmt, ſag' ich mich loß und richte mich zu et¬
was beſſerem auf« und ſein Gewiſſen ſetzte dazu,
daß ſeine perſoͤnliche Unnuͤtzlichkeit der Tugend ſeines
Vaters diene und daß es beſſer ſey, in einem Rade,
bei der Tuͤchtigkeit zu einem Perpendikel, ein Zahn
zu ſeyn, ohne den das Gehwerk ſtocken wuͤrde, als
der Perpendikel des ungezaͤhnten Rades zu werden.


[174]

In ſolchen Lagen fragte er ſich immer von neuem:
»iſt vielleicht Joachime wie du, beſſer, weicher, we¬
niger koket als ſie ſcheint? und warum willſt du ſie
nach einem aͤußern Schein verdammen, der ja auch der
deinige »iſt.« Ihr Betragen ratifizirte ſelten dieſe
guten Vermuthungen oder es widerlegte ſie gar: gleich¬
wohl fuhr er fort, ſich neuen Widerlegungen auszu¬
ſetzen und Ratifikationen zu begehren. Das Beduͤrf¬
niß zu lieben zwingt zu groͤßern Thorheiten als die
Liebe ſelber: Viktor ließ ſich jede Woche eine Voll¬
kommenheit mehr vom weiblichen Ideal abdingen,
fuͤr das er wie fuͤr den unbekannten Gott ſchon ſeit
Jahren die Altaͤre in ſeinem Kopfe fertig hatte.
Unter dieſem Abdingen waͤre der ganze December
verfloſſen, waͤre nicht der erſte Weihnachtstag ge¬
weſen.


Am erſten Weihnachtstage, wo er hinter jedem
Fenſter lachende Geſichter und Heſperiden-Gaͤrten
ſah, wollt' er auch froͤhlich ſeyn und flog unter den
Kirchenmuſiken in Joachimens Toilettenzimmer, um
da ſich ſelber eine zu machen. Er beſcheere ihr,
ſagte er, einen Flaſchenkeller aus Likoͤren, ein ganzes
Lager von Rataffia, weil er wiſſe, wie Damen traͤn¬
ken. Als er endlich ſeinen Lagerbaum voll Bouteil¬
len aus der — Taſche zog: war's eine elende kleine
Schachtel voll Baumwolle, in der nette Bouteillen
wohlriechender Waſſer, faſt von der Laͤnge der Zaun¬
[175] koͤnigs-Eier, eingebettet ſtanden. Das Niedliche
freuet, wie das Praͤchtige, Maͤdgen allzeit. Joachimen
hielt er eine lange Rede uͤber die Maͤßigkeit ihres Ge¬
ſchlechts, daß ſo wenig aͤße wie Kolibri und ſo we¬
nig traͤnke wie Adler — mit einigen Schaugerichten
und mit einem Flakon woll' er 5000 Mann weibli¬
chen Geſchlechts ſpeiſen — und es ſollte noch uͤbrig
bleiben — die Aerzte bemerkten, daß die, die den
Hunger am laͤngſten ertragen haͤtten, Weiber gewe¬
ſen waͤren — ſogar in mittlern Staͤnden beſtaͤnde die
ganze Bienenflora, wovon dieſe Holden lebten, in
einem kouleurten Bande, das ſie als Scherpe oder
Schleife umlegten ſtatt eines naͤhrenden Umſchlags
und bouillon de poche und woran ſie noch hoͤchſtens
einen Liebhaber anmachten. Joachime zog unter der
Lobrede eine Bouteille heraus, weil ſie ſie fuͤr waͤch¬
ſern hielt. Viktor um ſie zu widerlegen, — oder
auch ſonſt weswegen, — [druͤckte] ihr ſie ſtark in die
Hand und zerdruͤckte ſie gluͤcklich. Ein Berghaupt¬
mann von meiner Denkungsart naͤhme das Zerbre¬
chen einer Bouteille, die man auf keine Eymannſchen
Gurken decken kann, ſchwerlich in ſeine Hundspoſt¬
tage auf — weil er gern Dinge von Belang inſerirt
— wenn nicht die Bouteille ſelber es wuͤrde, dadurch
daß ſie die weichſte [Hand], auf der noch der haͤrte¬
ſte Juwel Schimmer auswarf, blutig ſchnitt. Der
Doktor erſchrak — die Bleſſirte laͤchelte — er kuͤßte
[176] die Wunde und dieſe drei Tropfen fielen gleich Ja¬
ſons Blut oder gleich einem von einem Alchymiſten,
rektifizirten Blute, als drei Funken in ſein entzuͤnd¬
bares und die Blutkohle der Liebe bekam drei an¬
glimmende Punkte — ja es haͤtte wenig gefehlt, ſo
haͤtt' er ihr gehorcht, da ſie ihm ſcherzend befahl
(um ihm eine groͤßere Verlegenheit zu erſparen als
er hatte,) die Pariſer veraltete Mode, an Damen
mit roſenfarbner Dinte zu ſchreiben, aufzuwecken und
hier auf der Stelle drei Zeilen mit ihrem Blut an
ſie abzufertigen. Soviel iſt wenigſtens gewiß, daß
er zu ihr ſagte, er wollte, er waͤre der Teufel. Be¬
kanntlich wurde dem letztern das guarentigiatiſche
Inſtrument oder vielmehr der Partagetraktat uͤber
die Seele mit dem Blute des Eigners als Fauſt-
und Fraispfand zugefertigt — Blut iſt der Saame
der Kirche, ſagt die katholiſche; und hier iſt gar
vom Tempel fuͤr eine Schoͤne die Rede.


Dabei [war's] — und blieb's — als Cour bei der
Fuͤrſtin auf heute angeſagt wurde. Das war ihm
erſtlich fatal — weil der heutige Abend verhunzt
war, — und zweitens lieb — weil Joachime heute
den Hut wegthun mußte, den er und ſie ſo liebten.
Da, wie gewoͤhnlich, den Damen von der Fuͤrſtin
die Roben und Friſuren vorgeſchrieben wurden, worin
ſie den Courtag, d. h. den Brandſonntag ihrer Frei¬
heit, bei ihr begehen mußten: ſo konnte ſie heute
ihren[177] ihren Florhut nicht aufbehalten, den ſie ſo liebte
und Viktor auch, aber an ihr nicht: denn es war
gerade der, den Klotilde getragen, als ſie unter dem
Konzerte ihre naſſe Augen mit dem ſchwarzen Spi¬
tzenflor verhuͤllte, der nachher uͤber ſeine beraubte Au¬
gen immer heruͤberhing.


Ich will den Courtag beſchreiben.


Die hauptſaͤchliche Abſicht, warum der Hof um
ſechs Uhr Abends vorgefahren kam, war die, um
neun Uhr recht aͤrgerlich wieder heimzufahren. Ich
kanns aber zehnmal weitlaͤuftiger vortragen:


Um ſechs Uhr fuhr Viktor mit der uͤbrigen kom¬
mandirten Bruͤder- und Schweſtergemeine ins Paul¬
linum. Er beneidete oder ſegnete vielmehr, den
Zeugmacher, den Stiefelwixer, den Holzhacker, der
Abends ſeinen Krug Bier, ſeine Andacht, ſeine Stol¬
len und ſeine trompetenden Kinder hatte, desgleichen
ihre Weiber, die ſich heute ſchon Morgen genoſſen,
naͤmlich die marmorirte geſprenkelte Kleiderrinde fuͤr
den zweiten Feiertag. Im bunten Dunſt und Thier¬
kreis ſtand die Fuͤrſtin als Sonne, eben ſo ungluͤck¬
lich wie ihre Ungluͤcklichen: nur der Traum, dacht'
er, kann einen Koͤnig gluͤcklich machen oder einen
Armen ungluͤcklich. Als er ſah wie ſie alle nach ei¬
nem ſparſamen Froſchregen von Worten und nach
Erfriſchungen, d. h. Erhitzungen und Ermattungen,
ein Poſtzug um den andern nach dem Hof- und
Heſperus. II. Th. M[178] Adreskalender an die Spieltiſche eingeſchirret wur¬
den — an jedes Brett kam das naͤmliche Bunterie-
Geſpan aller Geſichter — ſo wunderte er ſich zu al¬
lererſt uͤber die allgemeine Geduld; an einem
Schwarzen der Hof Goldluͤſte ſind ſicher, ſchwur er,
wenn man nur bedenkt, was er anzuhoͤren und
auszuſtehen hat, die Ohren und die Haut, wie
an gebratnen Milchferkeln die beſten Stuͤcke. Hier
muß der Loͤwe dem Thiere die Haut zum Domino
abborgen, das ibm ſonſt ſeine abborgte. Hier unter
dieſen von kleinen Seelen gebuͤckten Geſtalten (wie
auch Blaͤtter ſich kruͤmmen, wenn Blattlaͤuſe daran
wohnen) kann kein großer, kein kuͤhner Gedanken ge¬
tragen werden, ſie koͤnnen wie Getraide, das ſich
lagert, nur taube Koͤrner geben.


Vor der Tafel fuhr der Theil des Hofs um
die italieniſche Sonne, der nicht dazu eingeladen
war, nach Hauſe, mißvergnuͤgt uͤber die Langeweile
des Spieles, und noch mißvergnuͤgter, daß gerade ge¬
wiſſe Perſonen der Langeweile der Tafel gewuͤrdigt
waren.


Joachime, an der die zuruͤckhaltende Agnola we¬
nig Vergnuͤgen fand, ging mit ab, aber der Doktor
nicht, und ihr Bruder Maz gleichfalls nicht, der
die Ehre hatte, hinter der Fuͤrſtin Stuhl in der
Marſchſaͤule, die ſie, ihr Kammerherr, ein Page und
ein Hoflakai machten, gerade den Mittelpunkt zu
[179] formiren: er ſtand bekanntlich ſogleich hinter dem
Kammerherrn und war der einzige, der ausſah, wie
ein leſerliches Pasquil auf alles zuſammen. Ueber
die Tafel, woruͤber wenig geſprochen wurde, hoͤch¬
ſtens ſehr leiſe von zwei Nachbarn, ſoll auch hier
nichts geſprochen werden.


Nach dem Eſſen kam der Fuͤrſt und ſtoͤrte das
ſteife Zeremoniel, das er aus Bequemlichkeit haßte
ſo wie es Viktor aus Philoſophie verachtete: »War¬
»lich ein Erzengel — ſagte Viktor oft — der die
»menſchliche in allen Kleinigkeiten beobachtete Tu¬
»gend und Weisheit bemerkte an Seſſionstiſchen, an
»Altaͤren, in Viſitenzimmern, mußte ſeinen Himmel
»und ſeine Fluͤgel verwetten, daß wir einen Heller
»oder doch etwas taugten — in groͤßern Dingen;
»wir wiſſen aber ſaͤmtlich, wo es hinkt; und eben
»dieſer Ekel an der ſteifen altklugen dezenten Mikro¬
»logie und Maſchinerie der Menſchen iſt die Laune
»des Satyrikers. Die moraliſche Verſchlimmerung
»entſpinnt ſich zwar aus Geringfuͤgigkeiten, aber
»nicht die Beſſerung; Satanas kriecht durch Jalou¬
»ſielaͤden und Sphinkter in uns, der gute Engel
»zieht durch Portale ein.« — Agnola belohnte heute
unſeren Helden fuͤr ſeine bisherige es ſo treumeinen¬
de Befliſſenheit mit einer waͤrmern Aufmerkſamkeit,
die in ſeinen Augen durch ihren Schmuck — ſie
trug den der vorigen Fuͤrſtin, ihren eignen und den
M 2[180] muͤtterlichen — und durch ihre ganze Paruͤre noch
ſchoͤner wurde: denn er liebte Putz an Weibern und
haßte ihn an Maͤnnern. Seine Achtung nahm durch
den Schmerz, daß ſie Jenners eigennuͤtzige Abſichten
bei ſeinen Beſuchen (wegen der kuͤnftigen Klotilde)
mit ſchoͤnern vermenge und daß man es ihr doch
nicht ſagen koͤnne, eine geruͤhrte Waͤrme an. Wie
kams, daß ihn dann Agnola an Joachime erinnerte;
daß dieſe der Ableiter der Achtung fuͤr jene wurde:
und daß alle liebende Gefuͤhle, die ihm die Fuͤrſtin
gab, zu Wuͤnſchen geriethen, Joachime moͤchte ſie
verdienen und empfangen?


Mit dieſer Seele voll Sehnſucht fuhr er heute
ohne Umſtaͤnde zu dieſer Joachime zuruͤck, in deren
Hand er bekanntlich eine kleine Wunde gelaſſen. Er
ſagte bei ihr: »er muͤſſe als Moͤrder und Medikus
noch heute nach der Wunde ſehen;« aber wie Son¬
nenſchein fiel ein ſchoͤner neuer Kummer auf Joachi¬
mens Angeſicht waͤrmend in ſeine Seele. Er konnt
es kaum erwarten, mit ihr auf den Balkon hinaus¬
zukommen, um daruͤber zu reden. Drauſſen machte
er in wenig Minuten die Schnittwunde und die De¬
zemberkaͤlte zum Vorwand, die Hand und den
Schnitt in ſeine zu nehmen, um ſie zu waͤrmen:
»Wunden ſchadet Kaͤlte« ſagte er; aber der feine
Narr haͤtte hier das Seinige dabei gedacht. Der
leere Abend, die Erinnerungen an die Weihnachts-
[181] Kinderfreuden, der herunterblickende Sternenhimmel,
der alle dunkeln Wuͤnſche des Menſchen wie Blu¬
men zu Nachts magiſch beleuchtet, und die Stille
uͤberfuͤllten und beklemmten ſeine verlaſſene Seele
und er druͤckte die einzige Hand, die ihm jetzt das
Menſchengeſchlecht reichte. Er fragte ſie geradezu
uͤber ihren Kummer. Joachime antwortete ſanfter
wie ſonſt: »ich wollte Sie daſſelbe fragen; aber bei
mir iſts natuͤrlich.« Denn ſie hatte, erzaͤhlte ſie, bei
ihrer Zuruͤckkehr das Gepaͤcke Klotildens und die
Nachricht der Ankunft und — was eben der Punkt
iſt — die Kleider ihrer Schweſter Giulia, denen
Klotilde bisher eine Stelle unter ihren gegeben, an¬
getroffen. Dieſe Giulia war, bekanntlich an Klotil¬
dens Herzen verſchieden, einen Tag vorher eh' dieſe
aus Maienthal nach St. Luͤne zog.


Ein Chaos durchſchoß ſein Herz; aber aus dem
Chaos ſetzte ſich bloß die umgeſunkne Giulia zuſam¬
men — denn Klotilde wich taͤglich in ein dunkleres
Heiligthum ſeiner Seele zuruͤck; — ihr blaſſes Luna-
Bild liebkoſete mit Stralen einer andern Welt ſei¬
nen wunden Nerven und er ließ ſich gerne glauben,
Joachime habe ihre Geſtalt. In ſeiner dichteriſchen
den Weibern ſo ſelten verſtaͤndlichen Erhebung warf
die Erblaßte den Heiligenſchein, den ihr Klotilde zu¬
ſtralte, wieder auf ihre Schweſter zuruͤck. Joachime
hatte heute wieder [den] Brief geleſen den Giulia an
[182] ſie in der Todesſtunde durch Klotilde ſchreiben laſ¬
ſen; und trug ihn noch bei ſich. Wahrſcheinlich
hatte ein Herz voll vergeblicher Liebe die ſchoͤne
Schwaͤrmerin unter die Erde gezogen. Viktor bat
ſie mit ſchimmernden Augen um den Brief; er ſchlug
ihn auf im Mondenlicht und als er die geliebten
Zuͤge ſeiner verlornen Klotilde erblickte, weinte ſein
ganzes Herz. —


Gute Schwſter,


Leb' auf immer wohl! Laß mich das zuerſt ſagen,
weil ich nicht weiß, welche Minute mir den Mund
verſchließt. Die Gewitter meines Lebens ziehen
heim. Es wird ſchon kuͤhl um meine Seele. Ich
ſage dieſen Abſchied und meinen herzlichſten Wunſch
fuͤr dein Wohlergehen, meiner Freundin Klotilde in
die Feder. Gieb den Einſchluß meinen lieben Eltern
und fuͤge deine Bitte an meine, mich in meinem
ſchoͤnen Maienthal zu laſſen, wenn ich voruͤber bin.
Ich ſehe jetzt durch das Fenſter die Roſenſtaude, die
neben dem Gaͤrtgen des Kuͤſters auf dem Kirchhofe
ſtehet — dort wird mir eine Stelle gegeben, die
wie eine Narbe bezeuget, daß ich da geweſen, und
ein ſchwarzes Kreuz mit den ſechs weißen Buchſta¬
ben Giulia — Mehr nicht. Liebe Schweſter, laſſ'
es ja nicht zu daß ſie meinen Staub in ein Erbbe¬
graͤbniß ſperren — O nein, er ſoll aus Maienthals
[183] Roſen flattern, die ich bisher ſo gern begoſſen —
dieſes Herz, wenn es ſich zerlegt hat in den Bluͤten¬
ſtaub eines neuen ewigen Herzens, ſpiele und ſchwebe
im Strale des Mondes, der mir es in meinem Le¬
ben ſo oft ſchwer und weich gemacht — Faͤhreſt du
einmal, liebe Schweſter, bei Maienthal voruͤber: ſo
blickt bis zur Straße das Kreuz durch die Roſen
hindurch und wenn es dich nicht zu traurig macht,
ſo ſchaue hinuͤber zu mir. —


Mir war jetzt einige Minuten als holte ich in
Aether Athem — in kleinen duͤnnen Zuͤgen — Es
wird bald aus ſeyn. Sag' aber meinen Geſpielin¬
nen, wenn ſie nach mir fragen, ich bin gern gegan¬
gen, ob ich wohl jung war. Recht gern. Unſer
Lehrer ſagt, die Sterbenden ſind fliegendes Gewoͤlk,
die Lebenden ſind ſtehendes, unter welchem jenes
hinzieht, aber Abends iſt beides dahin. Ach ich
dachte, ich wuͤrde mich noch recht lange, von einem
Trauerjahr zum andern, nach dem Sterben ſehnen
muͤſſen, ach ich beſorgte, dieſe erblaßten Wangen,
dieſe hineingeweinten. Augen wuͤrden den Tod nicht
erbitten, er wuͤrde mich veralten laſſen und mir das
verbluͤhte Herz erſt abnehmen, wenn es ſich muͤde
geſchlagen — aber ſiehe, er koͤmmt eher — In we¬
nig Tagen, vielleicht in wenig Stunden wird ein
Engel vor mich treten und laͤcheln und ich werd' es
ſehen, daß es der Tod iſt und auch laͤcheln und
[184] recht freudig ſagen: nimm immer mein ſchlagendes
Herz in deine Hand, du Abgeſandter der Ewigkeit
und ſorge fuͤr meine Seele.


»Biſt du aber nicht jung (wird der Engel ſagen)
haſt du nicht erſt dieſe Erde betreten? Soll ich dich
ſchon zuruͤckfuͤhren, eh' ſie ihren Fruͤhling hat?«


Aber ich werde antworten: ſchau' dieſe unterge¬
gangnen Wangen an und dieſe ermuͤdeten Augen und
druͤcke ſie nur zu — o lege den Leichenſtein *) an
meine Bruſt, damit er alle Wunden ausſauge und
nicht eher abfalle als bis ſie ausgeheilet ſind — ach
ich habe wohl nichts Gutes in der Welt gethan,
aber auch nichts Boͤſes.

Dann ſagt der Engel: »wenn ich dich beruͤhre,
»ſo erſtarreſt du — der Fruͤhling und die Menſchen
»und die ganze Erde verſchwinden und ich allein
»ſtehe neben dir — Iſt denn deine junge Seele ſchon
»ſo muͤde und ſo wund? Welche Leiden ſind denn
»ſchon in deiner Bruſt?«


Beruͤhre mich nur, guter Engel! Jetzt ſagt er:
wenn ich dich beruͤhre, ſo zerſtaͤubſt du und alle
deine Geliebten ſehen nichts mehr von dir —


O beruͤhre mich! . . .


[185]

Der Tod beruͤhrte das blutige Herz und ein
Menſch war voruͤber. . . .


Waͤhrend Viktor das Trauerblatt las, hatte die
Schweſter der Todten einigemale, weil ſie ſich das
dachte was er las, die Augen abgetrocknet; und als
er ſie anſah, ſchimmerten darin die Samenperlen ei¬
ner weichen Seele. O er wuͤnſchte jetzt ſeiner vol¬
len Bruſt den Gyges-Ring der Unſichtbarkeit oder
den Erker ſeines Zimmers, um allen Seufzern und
Gefuͤhlen ungeſehen nachzuhaͤngen. Waͤr' er in ei¬
nem buͤrgerlichen Hauſe geweſen: ſo haͤtte er unver¬
ſpottet jetzt zu den ausgepackten Kleidern und in die
kuͤnftigen Zimmer Klotildens gehen koͤnnen — und
er haͤtte gleichſam die gruͤnen Fluren von Maienthal
wieder erblickt, wenn er die romantiſchen Gewaͤnder,
worin Giulia ſie durchſtreifet hatte, unter den letz¬
ten Kuͤſſen der Schweſter haͤtte verſchließen ſehen —
— Aber in einem ſolchen Hauſe wars eine Unmoͤg¬
lichkeit.


Er verzieh jetzt, da er ſeltener den Genuß der
fremden Empfindſamkeit hatte, ſogar das Uebertrei¬
ben derſelben leicht. Daß ſie den Koͤrper zerruͤtte,
war ihm der elendeſte Einwand, weil ihn ja alles
Edlere, jede Anſtrengung, alles Denken aufreibe: der
Koͤrper und das Leben waͤren ja nur Mittel, aber
kein Zweck. »Giulias Herz in Giulias Koͤrper,
»ſagte er, iſt ein reiner Thautropfe in einem wei¬
[186] »chen Blumenkelch, den alles zerdruͤckt, verſchuͤttet,
»aufſaugt und der noch vor der Mittagsſonne ent¬
»flohen iſt: ſolche fuͤr eine Welt voll Sturm zu bieg¬
»ſame Seelen, die zu viel Nerven und zu wenig
»Muſkeln haben, verdienen ihrer Empfindſamkeit
»wegen das einfreſſende Salz der Satire nicht, das
»ſie wie Schnecken zernagt — die Erde und wir
»koͤnnen ihnen wenig Freuden geben, warum wollen
»wir ihnen die andern nehmen?«


Aber die Trauerzuͤge, die jetzt das Mitleid durch
Joachimens Laͤcheln zog, druͤckten ſich deutlich in
Viktors Herzen ab und das, was ſie hier verbergen
wollte, machte ſie reizender als alles was ſie je zu
zeigen geſucht.


Nichts iſt gefaͤhrlicher — wie er vor einigen
Wochen gethan — als ſich verliebt zu ſtellen: man
wirds gleich darauf. So war der Weichling Ba¬
ron
einige Tage, wenn er einen Helden von Cor¬
neille geſpielet hatte, ſelber einer. So ſtarb Mo¬
liere am eingebildeten Kranken und Karl V am Pro¬
be-Begraͤbniß. So machte die papierne Krone, die
Kromwel in einem Schuldrama aufbekommen hatte,
ihn auf eine haͤrtere begierig. — Die zweite Lehre,
die daraus zu lernen iſt (dieſe ſetzt aber freilich vor¬
aus, Joachime war eine Kokette,) iſt die: daß ein
Held die Koketterie wahrnehmen und doch hineintap¬
pen koͤnne; ein Poet ſitzt wie die Nachtigal, (der
[187] er an Gefieder, Kehle und Einfalt aͤhnlicht) oben
auf dem Baume und ſieht die Falle ſtellen und
huͤpft herunter und — hinein.


Nach einigen Tagen — als in Viktor die Frage
uͤber Joachimens Werth und ſeine Liebe wie eine
Woge auf- und ablief; als er ſchlecht mit Flamin,
gut mit der Fuͤrſtin und beſſer mit dem Fuͤrſten
ſtand, der jeden Tag nachfragte, wenn Klotilde kaͤ¬
me — kam ſie.


[188]

23. Hundspoſttag.

Erſter Beſuch bei Klotilde — die Bläſſe — die Röthe — die
Renn-Wochen.


»Ja, das geſteh' ich — ſagte Viktor, der am an¬
dern Tage nach Klotildens Ankunft in ſeiner Stube
umher lief — in ein Gewitter oder in ein ſtuͤrmen¬
des Meer ſaͤh' ich herzhafter als in das kleine Ge¬
ſicht, in einen heitern Himmel von drei Naſenlaͤn¬
gen.« Aber er half ſich dadurch, daß er einen ab¬
geriſſenen Fortiſſimo-Akord auf dem Klavier an¬
ſchlug; dann konnte er zu ihr. Bloß unterwegs
ſagte er: »nirgends wird ſo viel gezankt als in ei¬
»nem Menſchen — welcher Teufelslaͤrm in dieſem
»fuͤnfſchuhigen Diſputatorio uͤber den geringſten
»Bettel, bis nur aus einer Bill eine Akte wird! —
»Ein tragbarer Nationalkonvent in nuce iſt man,
»ich kann keinen Schritt thun ohne daß erſt die
»rechte und linke Seite daruͤber haranguiren und
»die euragés und die noirs und der Herzog von Or¬
»leans und Marat. Das Abſcheulichſte iſt im inner¬
»lichen Regenſpurger Reichstag des Menſchen, daß
»die Tugend darin mit zwanzig Hintern und einer
[189] »Stimme ſitzt, der Teufel aber mit einem Hintern
»und ſieben Stimmen.« —


Durch dieſe luſtigen Selbſtgeſpraͤche wollt er ſich
ſelber vom Anblick ſeiner verworrenen‚ verſtockten‚
kalt-wunden‚ Joachimen immer zu Klotilden
hinaufhebenden Seele entfernen. Er wurde endlich
bloß durch den tugendhaften Entſchluß wieder rein
ausgeſtimmt‚ jetzt die Liebe zu Joachimen nicht zu
verſtecken — »ſich ihrer nicht zu ſchaͤmen« haͤtt'
er bald gedacht. »Wenn ich mich gegen Joachime
»waͤrmer‚ und gegen die andre kaͤlter ſtelle‚ als
»ich etwan bin: ſo muͤßte der Teufel ſein Spiel
»haben‚ wenn ichs nicht wuͤrde


Der hatt' es eben, und zwar ein wahres Lhom¬
breeſpiel zu vier Perſonen *) mit mort: dieſer
Croupier hatte die einzige Volte geſchlagen‚ daß er
das Geſicht Klotildens mit einer ganz andern Farbeausſpielte als er in Le Vauts Schloſſe gethan. Vik¬
tor fand ſie in Schleunes ſeinem unendlich ſchoͤner
wieder als er ſie verlaſſen hatte — blaͤſſer naͤm¬
lich. Da ſie keine Nervenpazientin war, keine Kaͤlte
mied‚ ſogar in Dezemberabenden allein auf dem
Dorfe ſpazieren ging: ſo waren ſonſt ihre Wangen
mehr dunkle Roſenknoſpen als aufgegangne abge¬
[190] bleichte Roſenblaͤtter. Aber jetzt war die Sonne ein
Mond — ſie hatte in irgend einem Kummer wie
der Saphyr im Feuer nichts verloren als die Farbe,
ſtatt des Blutes ſchien jetzt die ſtillere ſchoͤnere, zaͤr¬
tere Seele ſelber naͤher durch den weißen Florvor¬
hang zu blicken. Alles Blut, das aus ihren Wan¬
gen zuruͤckgewichen war, floß in ſeine uͤber und ſtieg
ihm wie ein Zaubertrank in den Kopf, durch den
folgende Bilder liefen: »wahrſcheinlich machte ſie
»mehr der Zank mit ihren Eltern, weniger der Kum¬
»mer, hieher getrieben zu werden, krank!« —


Wenn man ſich einmal vorgeſetzt hat, ſich kalt
zu ſtellen: ſo wird mans noch mehr, wenn man Ur¬
ſachen findet, es nicht zu werden. Viktor wurde es
noch mehr durch Klotildens Eltern, die mit da wa¬
ren und von deren Fehler ihm auf einmal der Deck¬
mantel weggezogen zu ſeyn ſchien: an Perſonen, die
man einer dritten wegen zu hoch geachtet, raͤcht
man ſich, wenn uns die dritte nicht mehr zwingt,
durch eine groͤßere Devalvation derſelben. Auch
ſagte er zu ſich: »da ſie ihren Bruder Flamin jetzt
»ſelten ſieht: ſo waͤrs einfaͤltig, ſie einer verlegnen
»Minute durch die Erzaͤhlung bloßzuſtellen, daß ich
»alles weiß.« — Armer Viktor! — Gleichwohl
wars ihm unmoͤglich, ſein Herz nur mit ſo viel
elektriſcher Waͤrme vollzuladen — er rieb es mit
Kazenfellen, er ſchlug es mit Fuchsſchwaͤnzen — als
[191] da ſeyn mußte daß ſein Puls wenigſtens voll fuͤr
Joachimen gegangen waͤre geſchweige fieberhaft; aber
eben dieſes beſtimmte ihn, ſich gerade ſo zu be¬
tragen als waͤren Herz und Pulſe voller: »es waͤre
»unedel, (dacht' er) wenn es die gute Joachime ent¬
»gelten muͤßte, daß ich einmal groͤßere Hofnungen
»gefaſſet als die bisherigen« Dieſe Aufopferung
erwaͤrmte ihn mit eigner Achtung; dieſe Achtung
gab ihm den maͤnnlichen Stolz, der mit ſeiner Liebe
und ſeiner Wahl allen vier Welttheilen trotzt; dieſer
Stolz gab ihm wieder Freiheit und Freude — und jetzt
war er im Stande, mit Klotilden zu reden wie ein
geſcheuter Menſch.


Dieſe ganze innere Geſchichte nahm freilich einen
zwoͤlfmal groͤßern Zeitraum ein als Muhameds Reiſe
durch alle Himmel — faſt eine gute Stunde. Ein
Zufall aber warf ſich zwiſchen alle ſeine Ideen. Da
naͤmlich die Miniſterin eine wahre Gelehrte war —
ſie wußte, daß ein Paar Quarzdruſen und einige
Praͤparate und ein ertraͤnkter Foͤtus noch keine Ge¬
lehrte machen, ſondern erſt ein Lehrſaal voll Natura¬
lien und ein Leſekabinet — und da der Kammerherr
Le Baut ein Gelehrter war — denn ſein Kabinet
war eben ſo groß: — ſo wurd' ihm die Sammlung
gezeigt, die er ſelber bereichern helfen. Man ſollte
denken, ſie haͤtten einander ausgelacht und fuͤr Nar¬
ren gehalten; aber ſie hielten ſich wirklich fuͤr Ge¬
[192] lehrte: denn den Großen wachſen die Fruͤchte vom
Baum des Erkenntniſſes ſo ans Fenſter und ins
Maul — ſie haben ſo viele Leichtigkeit Kentniſſe zu
erlangen, (daher die andere, ſie zu zeigen) — ſie ſu¬
chen im Brunnen der Wahrheit ſo ſelten etwas an¬
ders als ihr eignes mit Waſſerfarben gemachtes
Knieſtuͤck und in die Tiefe dieſes Brunnens zu wa¬
ten waͤre fuͤr ſie eine ſolche Erkaͤltung — und doch
gehen ſie auf der andern Seite mit ſo vielerlei Per¬
ſonen von Kentniſſen aus allen Faͤchern um — —
daß ſie von allem etwas uͤber der Tafel erfahren und
durch die Ohren, durch Tradition wie die Schuͤler
der Alten, Polihyſtors werden: wenn ſie nachher
gar das, was ihnen ungehoͤrt geblieben, zu entbeh¬
ren wiſſen, was iſt den zwiſchen ihnen und den aͤrm¬
ſten Gelehrten fuͤr ein Unterſchied als der in dem
Bewußtſeyn?


Im Naturalien- und Buͤcherkabinet lag noch die
ganze Neujahrs-Ladung von ſummenden Kaͤfern mit
goldnen Fluͤgeldecken ohne Fluͤgel — ich meine die
vergoldeten Muſenalmanache. Matthieu, dieſer Nach¬
ahmer der thieriſchen Nachtigallen, war der Erb¬
feind der menſchlichen. Er ſagte — was in eine
Rezenſion beſſer gepaſſet haͤtte — »er ſey ein großer
»Freund von Verſen, aber im Winter — denn
»wenn er ſo durch die Bluͤmgen-Beete eines Alma¬
»nachs ſtreiche, ſo werd' er, wie einer der durch ein
»Boh¬[193] »Bohnenfeld geht, ſchlaͤfrig genug und koͤnne ein¬
»ſchlafen — Und da gerade die Naͤchte laͤnger wuͤr¬
»den und man alſo den einen laͤngern Schlaf beduͤrfe,
»ſo ſey es ſchoͤn daß die Almanache gerade mit
»Winters Anfang erſchienen und daß dieſe Blumen
»mit den Mooſen zu einerlei Jahrszeit bluͤhten —
»und wenn der murmelnde Bach einen nicht mehr
»auf einer Wieſe einſchlaͤfere, ſo koͤnn' er's allemal
»noch in einem Verſe thun.« — —


Unſer Viktor war ſo ſatiriſch wie der Evange¬
liſt; er hatte im Hannoͤveriſchen ſo gut wie dieſer
hier gelacht — z. B. er hatte beklagt, daß die mei¬
ſten Almanachsſaͤnger leider mehr fuͤr den Kenner ar¬
beiteten als fuͤr dumme Leſer und zufrieden waͤren,
wenn ſie nur jenen in den Schlaf braͤchten — daß
ein Menſch, der keine Proſe ſchreiben koͤnnte, probi¬
ren ſollte, ob er zu keinem Volksſaͤnger tauge, wie
nur die Voͤgel, die nicht reden lernen, ſingen
koͤnnen — daß er einen guten Almanach am erſten
und angenehmſten durchhabe, wenn er bloß die Rei¬
me durchlaufe — und daß flache Koͤpfe wie flache
Diamanten, denen keine Facetten zu geben ſind, zu
Herzen wuͤrden und uns ſtatt der Ideen Thraͤnen
gaͤben, in denen nicht einmal ein Infuſionsthiergen
einer Idee ſchwaͤmme. . . .


Aber er ſah noch eine Seite mehr als Maz, die
edle naͤmlich — Es war ſeine Gewohnheit, gerade
Heſperus. II. Th. N[194] dieſe vorzudrehen, wenn ein Anderer bloß die ſchlechte
gewieſen hatte und umgekehrt. Seine Meinung war:
»Die Dichter waͤren nichts als betrunkne Philoſo¬
»phen — wer aus ihnen nicht philoſophiren lerne,
»lern' es aus Syſtematikern eben ſo wenig — die
»Philoſophie mache nur die Silberhochzeit
»zwiſchen Begriffen, die Poeſie die erſte — leere
»Worte geb' es, aber keine leere Empfindungen —
»der Dichter muͤſſe, um uns zu bewegen, bloß alles
»Edle zum Hebel nehmen, was auf der Erde iſt,
»die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott;
»und eben die Zauberſtaͤbe, die magiſche Ringe, die
»Zauberlampen, womit er uns beherrſchte, wirkten
»endlich auch auf ihn zuruͤck.« —


Er legte dieſe Meinung — als Matthieu die ſei¬
nige und Joachime die ihrige vorgetragen, daß ihr
an den Muſenalmanachen wenigſtens zwei oder drei
Blaͤtter gefielen, naͤmlich die Pergamentblaͤtter —
viel kuͤrzer vor; — die Miniſterin war der ſeinigen
(denn ſie war ſelber eine Verſefexin): — der Kam¬
merherr ſagte, »jede Stadt und jeder Fuͤrſt bete ja
»die Dichter in eignen Tempeln an — naͤmlich
»in den Schauſpielhaͤuſern« — Klotilde durfte ſich
jetzt zu den Siegern ſchlagen: »Wenn man im Ja¬
»nuar einen Dichter lieſet, ſo iſts ſo ſchoͤn als
»wenn man im Junius ſpazieren geht. — Ich kann
[195] »weder Philoſophen noch Gelehrte leſen: es bliebe
»mir (ſie wollte ſagen: ihrem Geſchlechte) zu wenig,
»wenn man mir die lieben Dichter naͤhme.« — Sie
wuͤrden hoͤchſtens (ſagte endlich der Miniſter) Ihre
Schuͤler an ihnen finden: »Dichter bekuͤmmern ſich
»wie die Heiligen wenig um die Welt und ihr Wiſ¬
»ſen; ſie koͤnnen den Staat beſingen, aber nicht be¬
»lehren.« — O du grinzende Mumie, dachte Viktor
mit beklemmter Seele, ein Edelſtein den du nicht
»in's Stats Stockhaus mauern kannſt, iſt dir weni¬
ger als ein Sandſtein: wenn du nur jede flammen¬
de, als eine Ergaͤnzung der republikaniſchen Antiken
daſtehende Seele zu einem Unterſkribenten, zu einem
Zollkommiſſar oder Kammerfiskal einſetzen koͤnnteſt,
(wie die Großkairer die edeln Ruinen zu Staͤllen und
Pferdetraͤnken verbauen.) — Der edle Maz fuͤgte
bloß hinzu: »in Rom war ein Maler der mit jedem
»nur ſingend ſprach; und ich kannte einen großen
»Dichter, der nicht einmal im gemeinen Leben Proſa
»konnte; er konnte aber mehreres nicht, und hatte
»wenig Welt, aber viel Welten im Kopfe — er
»wird, wenn er ſich drucken laͤſſet, ſeinen Leſern
»kaum mehrere Illuſionen geben als ihm jeder ſchon
»gemacht hat der wollte« — Viktor ſah aus
Klotildens traurig geſenkten Auge daß ſie ſo gut wie
er merke, daß der Teufel ihren Dahore meine; aber
er ſchwieg: ſeine Seele war traurig und erbittert;
N 2[196] aber er war laͤngſt durch den Hof die zu ertragen
abgehaͤrtet, die er haſſen mußte.


Unter dieſer Diſputation hatte der edle Maz
die ganze Gruppe unvermerkt in ſchwarzem Pa¬
pier nachgeſchnitten. »Ach! ſagte Joachime, das
iſt nicht das erſtemal, daß er Geſellſchaften ſchwarz
abbildet.« — Da aber Viktor Silhouettengruppen
niemals ſehen konnte ohne an uns zerrinnende
Schatten-Menſchen, an dieſes verſiegende Zwerg Le¬
ben, an die auf das Leben gezeichnete Nachtſtuͤcke,
und an die Schattenpartien, die man Voͤlker nennt,
zu denken — und da ihn daran außer ſeiner Trau¬
rigkeit und außer einem Wachs-Skelet, von Mad.
Biheron, das im Naturalienſaale ſtand, noch mehr
die blaſſe Geſtalt Klotildens erinnerte — und da
dieſe, mit den vergleichenden Augen auf dem Ge¬
rippe und dem Schattenbilde, leiſe zu Viktor ſagte:
»mich koͤnnten zu einer andern Zeit ſo viele Aehn¬
»lichkeiten traurig machen« — ſo durchſchnitt ſein
volles Herz der ſcharfe Schmerz uͤber ſeine ewige
Armuth, und uͤber die Gewißheit: »dieſes große
»ſchoͤne Herz bewegt ſich nie fuͤr deines und wenn
»ihr Freund Emanuel geſtorben iſt, bleibſt du immer
»allein:« — und er trat ans Fenſter, drehte es hart
»auf, ſchlang den Nordwind ein, zerdruͤckte mit der
Fauſt die zwei Augaͤpfel und ging mit den — vori¬
gen Zuͤgen wieder zu den Andern.


[197]

Aber fuͤr heute war von ſolchem Erdbeben die
Struktur ſeines Herzens zu weit zerriſſen. Und da
ihn Klotilde in einer iſolirten Sekunde ſagte: daß
die Pfarrerin und Agathe uͤber ſein Auſſenbleiben
zuͤrnten: ſo war er, da ſich bei dieſen Namen die
ganze bewoͤlkte Vergangenheit wie ein Himmel auf¬
that, nicht im Stande, eine Antwort zu geben.


Als er nach Hauſe kam: redete Klotildens Stim¬
me, die er unter allen ihren Reitzen am wenigſten
vergeſſen konnte, unaufhoͤrlich und wie das Echo ei¬
nes Trauergeſangs in ſeiner Seele. .. Leſer, wenn
das, was du liebteſt, lange verſchwunden iſt aus der
Erde oder aus deiner Phantaſie, ſo wird doch in
Trauerſtunden die geliebte Stimme wieder kommen
und alle deine alten Thraͤnen mitbringen und das
troſtloſe Herz, das ſie vergoſſen hat! ... Aber
nicht bloß ihre Stimme, ſondern alles draͤngte ſich
im Finſtern um ſeine Phantaſie, ihr beſcheidenes
Auge, das nicht hofmaͤßig blitzte und ertrotzte und
ſuchte, wie der andern ihre: dieſe behutſame Feinheit,
die ihm jetzt ſeit ſeinem Hofleben weder an ihr noch
an ſeinem Vater mehr zu groß vorkam — dazu ſetze
man noch das Bild Joachimens und ſein Chaos von
Widerſpruͤchen und die Bemerkung, daß ein Menſch,
den die gewiſſeſten Beweiſe, ungeliebt zu ſeyn, beru¬
higt haben, doch bei einem neuen wieder leidet: ſo
[198] kennt man die Bewegungen, die der Schlaf, dieſe
Meerſtille des Lebens, bei ihm ſtillen mußte. —


»Das war der letzte Fieberſchauer« ſagt' er am
andern Morgen und bauete auf ſein jetziges Herz,
deſſen Entzuͤndungen wie die der Vulkane taͤglich ih¬
ren Krater mehr ausbrannten. Er gebot ſich daher
eine woͤchentliche Flucht vor der ſchoͤnſten Seele, in¬
dem er eine ſo lange Krankheit vorſchuͤtzte, bis er ei¬
nen ordentlichen Kallus uͤber ſein Herz gezogen
fuͤhlte. —


Nach einer Woche ſah' er ſie wieder: warlich
der Teufel ſaß wieder am Spieltiſch und ſpielte ge¬
gen ihn eine andere Farbe aus — Roth. Klotilde
ſah nicht blaß, ſondern obwohl wenig, roth aus.
Dieſes Roth machte an ſeinem innern Menſchen ei¬
nen großen Kleks und verfaͤlſchte ſein inneres Kolo¬
rit wie Schwarz jede Malerfarbe. Denn als er ſie
geneſen wiederfand: ſo wars ihm nicht ſowol an¬
genehm
— denn er ſah wie wenige Verdienſte er
mehr um ihre Ruhe habe, wie ſie ihn nicht einmal
in dieſem Waarenlager von Menſchen-Makulatur
aushebe und wie dumm er geweſen, daß er ſich heim¬
lich, ganz heimlich traͤumen laſſen, »ihre vorige
Bleichheit komme gar von ihrer vergeblichen Sehn¬
ſucht [nach] ihm ſeines Orts her« — oder unange¬
nehm
— denn er haͤtte all ſein Herzensblut dahin
gegoſſen, um damit eine einzige Pulsader in ihr wie¬
[199] der in den Gang zu bringen — ich ſage‚ es war
ihm nicht ſowohl angenehm oder unangenehm als
beides‚ als unerwartet‚ als ein Wink‚ des — Teu¬
fels zu werden. Sein Herz und das Bild‚ das zu
lange drinnen war‚ wurden gar entzweigedruͤckt: »Es
ſey!« ſagt' er und zerbiß die krampfhafte Lippe‚ wo¬
mit ers ſagte. — Einige Tage lang mocht' er nicht
einmal Joachime ſehen. »Hat ſie denn ein Auge
»fuͤr die Natur und ein Herz fuͤr die Ewigkeit?«
fragt' er und er wußte wohl die Antwort.


Jetzt ging eine Zeit fuͤr ihn an‚ die gerade das
Gegentheil der Sabbathswochen war — man kann
ſie die Renn-Wochen oder Viſiten-Ta¬
rantel
-Tanzſtunden nennen. Es iſt eine ver¬
dammte Zeit‚ der Menſch weiß nicht wo er ſteht.
Sie fiel bei Viktor gerade in die Wintermonate‚ wo
ohnehin die ſauſenden Butterwochen der Staͤdte und
Hoͤft ſind. Ich will ſie jetzt ordentlich ſchildern.


Viktor ſuchte naͤmlich ſein uneiniges ungluͤckliches
Herz zu uͤberſchreien und zu betaͤuben — nicht mit
den Trommelwirbeln der Luſtbarkeiten; unter dieſen
verblutete es vielmehr‚ ſo wie unter dem Trommeln
die Wunden ſtaͤrker fließen: ſondern — mit Men¬
ſchen: dieſe waren die Tourniquets und die blutſtil¬
lenden Schrauben‚ die er um ſeine Seele legte.
Sein Leib war jetzt wie ein transſubſtanzirter‚ an
[200] allen Orten: er verlief den ganzen Tag, bald mit
bald ohne den Fuͤrſten.


In Flachſenfingen war zuletzt keine Dame mehr
der er nicht die Hand gekuͤſſet hatte — und keine
Toilette mehr, wo er's dabei haͤtte bewenden laſſen.


Er machte in den Rennwochen doppelte Schlei¬
fen — franzoͤſiſche Pas — Tupfdeiſſeins — kleine
Komoͤdien — Satiren — Rezepte fuͤr Kanarienvoͤgel
— Verſe fuͤr Faͤcher — viele Viſiten — und noch
mehr Morgen Billets. ...


Letztere, die er bekam und gab waren franzoͤſiſch
geſchrieben und franzoͤſiſch gebrochen — naͤmlich zu
Papilloten gequetſcht: »es ſind, ſagt' er, die Haar¬
»wickeln weiblicher Gehirnfiebern — die Patronen
voll Amors-Pulver — die Kokons der liebenden
»Schmetterlinge« — er ſprach vom Steigen und
Fallen der weiblichen Papiere und nennte ſie bloß
noch die Aushaͤngebogen des weiblichen Herzens und
die Schmuztitelblaͤtter der koketten Toleranzmandate.
»Ich behaupte das — ſetzt' er hinzu — um mich
»vom Hofjunker Matthieu zu unterſcheiden, der's
»laͤugnet, weil er gar verficht, anfangs dringe man
»den Schoͤnen Briefe auf, dann Dinge von mehr
»Kubikinhalt, z. B. Faͤcher, Juwelen, Haͤnde, dann
»endlich ſich ſelber; ſo wie die Poſten anfangs nur
»Briefe aufnehmen, dann Pakete, endlich Paſſa¬
»giere« —


[201]

Er fand diejenigen Weiber taͤglich amuͤſanter, die
uns Leuten von Verſtand das Herz aus der Bruſt
und das Gehirn aus dem Kopf entwenden und zwar
(wie jener Edelmann anderes Zeug) nicht aus Liebe
zum geſtohlnen Gute, ſondern aus Liebe zum Rau¬
ben
— ſie ſchicken wie der Edelmann den andern
Morgen das Gut dem Eigner redlich wieder zu.
Ihre Feinheiten, — die ſeinigen — ſeine Wendun¬
gen, um ihren auszuweichen — die Aufmerkſamkeit,
die man an ſich wenden muß — die Gelegenheit,
alle Empfindungen unter die feinſten Trennmeſſer zu
bringen, oder unter Sonnen- und Mondmikroſkope —
die Leichtigkeit, den aufrichtigſten Wahrheiten den
ſauern Geſchmack und den angenehmſten den ſuͤßlich¬
ten zu benehmen — — dieſes machte ihm die Nacht¬
tiſche der Weiber, beſonders der koketten zu Lekti¬
ſternien und Goͤttertiſchen: »beim Himmel, ſagte
»der Toiletten-Paniſt und Nacht-Tiſchgaͤnger —
»ein Mann iſt bloß ein Hollaͤnder, hoͤchſtens ein
»Deutſcher, aber eine Frau iſt eine geborne Franzoͤ¬
»ſin oder gar eine Pariſerin — der Mann verbirgt
»ſeine moraliſche wie ſeine phyſiſche Bruſt — Ge¬
»danken und Blumen, die nicht durch die Raufen
»der vier Fakultaͤten durchfallen, Empfindungen, die
»in keinem visum repertum beſchrieben werden koͤn:
»nen, muß man warlich nur einer Frau und keinem
[202] »Manne ſagen, zumal einem Flachſenfingiſchen« ..
oder einem ſcheerauiſchen. —


Um ſich zu entſchuldigen, daß er mit den Koket¬
ten auf den Fuß eines Simultanliebhabers umging,
berief er ſich auf ſeine Abſicht — er wolle ſie bloß
kennen lernen — und auf den vortreflichen Forſter,
der in Antwerpen vor Rubens Maria, die auf dem
Altarblatt gen Himmel faͤhrt, ſo gut wie ein gebor¬
ner Katholik hinkniete, bloß um ſie naͤher zu be¬
ſchauen.


Er hatte noch eine eben gefaͤhrliche Entſchuldi¬
gung: »der Menſch ſollte alles ſeyn, alles lernen,
»alles verſuchen — er ſollte an der Vereinigung
»der beiden Kirchen in ſeiner Seele arbeiten —
»er ſollte, wenn nur auf ein Paar Monate, ein
»Stadtmuſikns, Todtengraͤber, Galgenpater, ein In¬
»genieur, Tragoͤdienſteller, Oberhofmarſchall, ein
»Reichsvikarius, Vicelandrichter, ein Rezenſent, eine
»Frau, kurz alles ſollte der Menſch auf einige Tage
»geweſen ſeyn, damit aus dem Farbenprisma zuletzt
»die weiſſe vollkommne Farbe zuſammenfloͤſſe.« —


Die Grundſaͤtze werden deſto gefaͤhrlicher bei ei¬
nem wie er, der mit den hochgeſpannten Saiten der
allerunaͤhnlichſten Kraͤfte bezogen, leicht den Ton ei¬
nes jeden angab, nicht aus Verſtellung, ſondern
weil ſich ſeine Viſiten Dichtkraft tief in die Seele
des andern verſetzen konnte — daher gewann, ertrug
[203] und ahmte er die unaͤhnlichſten Menſchen nach trotz
ſeiner Aufrichtigkeit. Ich bedaur' ihn aber, daß er
uͤberall ſo viel zu verſchweigen hatte, ſein Errathen des
Fuͤrſten, ſein Herz gegen Klotilde, ſeine Verſoͤh¬
nungsintriguen gegen Agnola, ſeine Wiſſenſchaft aus
Flamins Verhaͤltniſſe u. ſ. w. Ach Verſchweigen
und Verſtellen fließen leicht zuſammen und muͤſſen
nicht Tropfen in den feſteſten Karakter, ſobald er
immer unter der Traufe ſteht, endlich Narben
graben?


Nichts erkaͤltet mehr die edelſten Theile des in¬
nern Menſchen als Umgang mit Perſonen, an denen
man keinen Antheil nehmen kann. Dieſes Gaſt¬
wirthsleben am Hofe, taͤglich Leute zu ſehen, die
nicht einmal Ich ſagen, deren Verhaͤltniſſe man ſo
gleichguͤltig ignorirt wie deren Talente, wenn ſie
nicht ein Beduͤrfniß ſucht — dieſes Haſchen nur
nach dem naͤchſten Augenblick — dieſes Voruͤberren¬
nen der feinſten und geiſtreichſten Fremden und Vi¬
ſitenameiſen, die in drei Tagen vergeſſen ſind —
alles dieſes, was die Pallaͤſte zu ruſſiſchen Eispallaͤ¬
ſten macht, wo ſogar der Ofen voll Naphtapflam¬
men eine Eisſcholle iſt, wozu ich das komiſche
Salz gar nicht zu ſetzen brauche, das ohnehin alles
warme Blut, wie glauberiſches das heiſſe Waſſer
erkaͤltet, alles dieſes machte ſein Herz oͤde, ſeine
Tage kahl und laͤſtig, ſeine Naͤchte beklommen, ſein
[204] Betragen zu kalt gegen Gute, zu tolerant gegen
Schlimme.


Noch dazu ſchwieg ſein Emanuel und ſchloß wie
die Natur, ſeine Blumen in ſich ein. — Wen die
Natur ernaͤhrt und erhebt, der iſt im Winter nicht
ſo gut als im Sommer: die Erde hatte jetzt ihren
Pudermantel von Schnee um und den ganzen Tag
die Nachtkleidung an, die Baͤume hatten ihre Kno¬
ſpen in die Flocken-Papilloten gewickelt und die
Aeſte ſahen wie Haarnadeln aus — Viktors Seele
war wie die Natur; o! der Himmel waͤrme bald in
beiden die Blumen des Fruͤhlings an!


Da die Krankheitsgeſchichte meines Viktors mich
zu ſchmerzhaft an die verſteckten Gifte im menſchli¬
chen Herzen erinnert: ſo ſoll ſie bald zu Ende ſeyn.
Es gefiel ihm, daß er durch das Herumflattern im¬
mer galanter und kaͤlter gegen alle weibliche Perſo¬
nen wurde — das Seil der Liebe ſchneidet weniger
tief in den Buſen ein, wenn es in Faͤden und Flok¬
ken ausgezupft um alle flattert. Er, der wie ſein
Namensvetter der h. Sebaſtian ganz mit (Amors)
Pfeilen voll geſchoſſen ausſah, ließ Pfeile anderer
Art gegen das ganze Geſchlecht, wiewol nie gegen
Individuen fliegen. In dieſem letztern Umſtand war
ſeine Bitterkeit von Mazens ſeiner unterſchieden, der
z. B. von ſeiner eignen Baſe, die ihre Schoͤnheit
durch ſpaͤte Blattern verloren, ſagen konnte: »ihre
[205] »Schoͤnheit hielt ſich recht tapfer gegen die Blat¬
»tern und trug aus tiefem Siege die ruͤhmlichſten
»Narben davon.« —


Wie Teufelsdreck zum haut gout mit gebraucht
wird, ſo wuͤrzet man das feinſte savoir vivre durch
einige kuͤhne Unhoͤflichkeiten. Baſtian war in der
Tarantelzeit durch nichts verlegen zu machen — er
ging und kam wie ein Pariſer ohne Umſtaͤnde — er
ſuchte oft kuͤhne aber vortheilhafte Stellungen ſeines
Koͤrpers — unter dem Schauſpiel that er Reiſen
durch die Logen wie der Fuͤrſt durch die Kuliſſen
— er brachte es (obwohl mit Muͤhe und indem er
ſich immer das Muſter der Hofleute vorhielt) fuͤnf¬
mal dahin, daß er gleichguͤltig zuhoͤrte oder gar weg¬
ſchauete, wenn ihm der andere erzaͤhlte, welches alles
wenn nicht weſentliche doch Nebenſtuͤcke der wahren
Hoͤflichkeit ſind.


Auch will ich zu ſeinem Ruhm nicht unbemerkt
laſſen, daß er ſich die ordentlichen erotiſchen
und ſatiriſchen Freiheiten der gallikaniſchen
Kirche gegen mehrere Weiber auf einmal nahm:
denn vor einer einſamen hatt' er noch die alte Ehr¬
erbietung eines edeln Herzens. Ich will von jenem
doch ein Beiſpiel geben. Einmal war er unter fuͤnf
Verlaͤumderinnen (die Geſellſchaft beſtand aus ſechs
Frauenzimmern und einer Mannsperſon;) die haͤß
lichſte ſchwaͤrzte alle, ſogar gedruckte Maͤdgen an
[206] z. B. die verſtorbene Klariſſe, der vorruͤckte, ſie
habe gegen Lovelace nicht genug gewußt, sauver les
dehors de la vertu
. Man muß es gewaͤrtig ſeyn,
wie die Koͤnigsberger Schule es in ihren Rezenſionen
aufnimmt, daß er ſich vor der Verlaͤumderin auf
ein Knie hinließ und mit einigem Ernſte ſagte: O
Clarisse! Voice Votre Lovelace retranchons quatre
tomes et commencons comme les Faiseurs d'Epo¬
pées par le reste
.


Freilich warf er ſich die Tarantelzeit haͤufig un¬
ter der Tarantelzeit vor; und da der Heidenvorhof
ſeines Herzens ſo voll Weiber wurde, indeß im Al¬
lerheiligſten deſſelben nichts war als ein ſtummes
Dunkel, und da ſein Kopf ein Inſektenkabinet von
Hofkleinigkeiten wurde: ſo ſeufzete er freilich oft in
ſeinem Erker: o! komme bald, guter Vater, damit
»dein ſinkender Sohn aus dieſem ſchmutzigen Maͤrz¬
»nebel in ein helleres Leben ſteige, eh' er ſich ganz
»befleckt hat, daß er nicht einmal dieſen Wunſch
»mehr thut« — und ſo oft er in Joachimens Zim¬
mer die Proſpekte von Maienthal — die Guilia vom
Portraitmaler Klotildens machen laſſen — zu Ge¬
ſichte bekam: ſo zog er mitten im Scherzen das
Auge von ihnen mit einem Seufzer weg — — Aber
geheilt wurd' er nicht als bis das Schickſal ſagte:
jetzt! Der Theaterſchluͤſſel klopfte auf einmal, der
die Menſchen in der Komoͤdienprobe des Lebens —
[207] das Schauſpiel wird erſt im zweiten gegeben —
kommen und agiren heißet; und es trug ſich etwas
zu, was ich ſogleich im folgenden Kapitel berichten
werde, wenn ich in dieſen auserzaͤhlet habe wie Vik¬
tor mit allen Leuten um ſich ſtand.


Mit manchen eigentlich ſchlecht — erſtlich mit
Klotilden. Sie wohnte zwar bei dem Miniſter —
als Hofdame haͤtte ſie ins Paullinum gehoͤrt, allein
der Fuͤrſt hatte es wegen der Leichtigkeit ſie zu ſehen
ſo karten laſſen — aber ſie war immer um die Fuͤr¬
ſtin, mit der ſie bald ein aͤhnlicher Ernſt und eine
aͤhnliche Zuruͤckhaltung verknuͤpfte. Ihre Gleichguͤl¬
tigkeit gegen einen, der mit ihr einen gemeinſchaftli¬
chen Freund und Lehrer hatte, gab dieſem Viktor
eine noch groͤßere, zumal da er wußte, ſie muͤßte
fuͤhlen, daß in dieſer kalten Berg- und Hofluft nur
ein einziger obwohl ſchlechter Nelken-Abſenker ihrer
ſchoͤnen Seele bluͤhe, er naͤmlich. Auch mußte der
Zwang des Wohlſtandes, ſie kalt anzuſchauen, zur
Gewohnheit werden. Am ſchlimmſten war's fuͤr ihn,
daß ſie gleichguͤltig war ohne Empfindlichkeit und
kalt mit [Achtung] fuͤr ihn. Andere waren ganz toll
uͤber das »tugendhafte Phlegma dieſer Pygmalions¬
»Statue.« Der edle Maz nannte ſie oft die hei¬
lige
Jungfrau oder die Demoiſelle Mutter Gottes.
Es konſtirt und erhellet ganz deutlich aus den von
mir aufgeſchlagnen Hunds-Manualakten, daß einige
[208] Herren von Hofe nach verſchiedenen verdorbnen Ver¬
ſuchen ſich die mit ſo vieler Schoͤnheit unvertraͤgliche
Tugend zu erklaͤren, bald aus Temperament bald aus
verhehlter Liebe, bald aus einer koketten Pruͤderie,
die ſich wie das Waſſer bei St. Clermont endlich
zur eignen Bruͤcke uͤber ſich ſelber verſteinert,
daß dieſe liſtigen Herren recht gluͤcklich auf die Ver¬
muthung verfielen, Klotilde nehme dieſe Maske als
eine Kopie des Geſichts der Fuͤrſtin vor ihres, um
in der Gunſt zu bleiben. Daher wurde Klotildens
zuͤchtige Tugend von den meiſten mit wahrer Scho¬
nung beurtheilt, indem man ſie als eine abſichtliche
Nachahmung des aͤhnlichen Fehlers der Fuͤrſtin
ſchon entſchuldigen konnte durch das Beiſpiel aͤhnli¬
cher Nachahmungen — da Hofleute oft die groͤßten
aͤußern Naturfehler, ja die Tugenden eines Regen¬
ten nachaͤften. — So dachte wenigſtens der billigere
Theil des Hofes.


Agnola war unſerem Helden einen immer groͤßern
Dank fuͤr die Viſiten Jenners zu zeigen befliſſen,
ob ſie gleich, denk' ich, die untreue Abſicht des Fuͤr¬
ſten in der Gegenwart Klotildens eben ſo gut ent¬
decken konnte als ſie zuweilen in Viktors Seele bei
der Gegenwart Joachimens blicken mochte. . . . Ue¬
berhaupt haͤtt' ich den Leſer laͤngſt bitten ſollen, auf¬
zupaſſen: ich trage die Sachen mit erlaubter Dumm¬
heit vor, obwohl mit hiſtoriſcher Treue; ſind nun
feine,[209] feine, ſpitzbuͤbiſche, wichtige, intriguante Zuͤge und
Winke darin, ſo iſts ohne mein Wiſſen und ich kann
ſie alſo dem Leſer nicht anweiſen mit einer Zeiger¬
ſtange oder anſagen mit einer Feuertrommel, ſondern
er ſelber — weil er Hofgeſchichten verſteht — muß
wiſſen, was ich mit meinen Winken haben will,
nicht ich.


Mit Joachimen waͤre Viktor recht gut gefahren
— da er ihr alle Fehler, die er bei andern Weibern
und nicht bei ihr antraf, als Tugenden in Rechnung
brachte und da er ſich mit ihrem Ich mehr aſſimi¬
lirte: denn die Fehler der Maͤdgen kommen wie
Schokolade und Taback dem Gaumen anfangs deſto
toller vor, je beſſer ſie ihm nachher ſchmecken — er
waͤre gut gefahren, ohne zwei Eckſteine; aber die
waren da. Der erſte war — denn ich will ſeine
kleine Aergerniß uͤber die kurze Dauer ihrer ſchoͤnen
Weihnachts-Empfindſamkeit nicht rechnen — daß
ſie immer Klotilde tadelte, beſonders ihre »affektirte«
Tugend. Der zweite war, daß Klotilde ſie eben ſo
wenig ſuchte: Viktor konnte niemand lieben, den
Klotilde nicht liebte. — Und jetzt ſind die Rennwo¬
chen und Viſiten-Taranteltanzſtunden Eines Men¬
ſchen zu Ende: aber ach die ganze Nachwelt muß
noch dieſelbe Linie der Narrheit und Jugend paſ¬
ſiren.


Heſperus. II Th. O[210]

24. Hundspoſttag.

Schminke — Krankheit Klotildens — Schauſpiel Iphigenie —
Unterſchied der bürgerlichen und der ſtiftsfähigen Liebe.


Den 24ten Februar fand Viktor Morgens bei Jo¬
achimen — die ſtolze Klotilde. Ich weiß nicht, war
ſie aus Zufall oder Hoͤflichkeit oder deswegen da,
um einer Perſon, die von Viktor mit einigem In¬
tereſſe behandelt wurde, mit der Diogenes-Laterne
ins Geſicht zu leuchten. Aber o Himmel! die Wan¬
gen dieſer Klotilde waren blaß, die Augen wie von
einer ewigen Thraͤne uͤberhaucht, die Stimme ge¬
ruͤhrt gleichſam gebrochen und der bleiche Marmor¬
koͤrper ſchien nur die Statue zu ſeyn, die am Grab¬
mal der Seele ſteht. Viktor vergaß die ganze Ver¬
gangenheit und ſein Innerſtes weinte vor Sehnſucht,
ihr beizuſtehen und aus ihrem Leben alle truͤbe Win¬
terlandſchaften weg zu loͤſchen. »Ich befinde mich
»heute wie gewoͤhnlich« ſagte ſie auf ſeine Frage
und er wußte nichts aus dieſer unerwarteten Erblei¬
chung zu machen — er konnte heute uͤberhaupt nichts
machen, nicht einmal einen Spas oder eine Schmei¬
chelei — ſeine in Mitleid zergangne Seele wollte
[211] keine Form annehmen — verwirrt war er auch.
Klotilde ging bald; — und ihm waͤrs heut fuͤr ganz
Großpohlen (dieſe in der Eisfahrt der Voͤlker- und
Kronenwanderung ſchoͤn ſich abſchleifende Eisſcholle)
nicht moͤglich geweſen, nach ihr noch eine halbe
Stunde zu verbleiben.


Er mußte aber ohnehin fort: der Hofjunker Mat¬
thieu rief ihn zur Fuͤrſtin. Der 24te Februar ſollte,
ſcheint es, zum Beſten des 24ten Hundstages
bloß Ueberraſchungen liefern. Meinem Korreſpon¬
denten entfaͤhrt dabei: »den 25ten Februar war eine
»Mondfinſterniß; und dieſe ſchien Viktor eine Aehn¬
»lichkeit mit Klotildens Verſchmachten zu haben,
»die ſeinem Innern eine lang entbehrte Erweichung
»mittheilte.« Da nun dieſe ganze Geſchichte im
9ten Jahrzehend des 18ten Jahrhunderts vorgeht;
und da es keine Mondfinſterniß von einem 25ten Fe¬
bruar darin giebt als im Jahr 1793, d. h. im heu¬
rigen: ſo koͤmmt ja, da ich im Julius ſchreibe, die
Geſchichte in einem halben Jahre meiner Beſchrei¬
bung hinten nach — welches fuͤr mich ergoͤtzend ge¬
nug iſt. Ich hielt zur Sicherheit alle in dieſem
Buche einfallende Wetter- und Mondsveraͤnderungen
mit denen von 1792 und 1793 zuſammen; und es
paßte alles in einander — der Leſer ſollt' es auch
nachrechnen.


O 2[212]

Beilaͤufig! Es waͤre Boßheit von mir gegen den
edeln Maz, wenn ichs laͤnger unterdruͤckte, daß er
ſeit einiger Zeit gegen meinen Helden viel ſanfter
und inbruͤnſtiger wurde — welches bloß an einem
andern Menſchen, ich meine an einem nachſtellenden
Schelm ein Kains-Zeichen waͤre und etwan ſo viel
bedeutete wie das Wedeln eines Katzenſchwanzes. —


Viktor erſtaunte uͤber die Bitte der Fuͤrſtin, —
Klotilden zu heilen: das heißt, nicht uͤber die Bitte
— denn ſie beehrte ihn jetzt oͤfters damit — ſon¬
dern uͤber die Nachricht, daß Klotilde, auf deren
Wangen er bisher die Aepfelbluͤten der Geſundheit
auf Koſten ſeiner Seele in den Rennwochen ge¬
ſehen, bloß taube Bluͤten getragen hatte, naͤmlich
weniger Schminke, die ihr die Fuͤrſtin wegen der
Symmetrie mit den uͤbrigen rothen Kupferblumen
des Hofes befehlen muͤſſen. Die Fuͤrſtin, die wie
ihr Stand raſch war, erſucht' ihn noch, da er zur
mediziniſchen Oberexaminationskommiſſion ernennet
war, ſein Amt recht bald, ſchon heute im Schau¬
ſpiele zu verwalten, wo er die Pazientin und Exa¬
minandin treffen konnte. . . . . Ich bin ſo begierig
und erweicht zugleich, daß ich uͤber Viktors heutige
Stunden und Schmerzen wegſpringe, um Abends
hinter ihm und ihr in der Loge zu ſtehen.


Das Schauſpiel war ein aus Eldorado geliefer¬
ter funkelnder Solitaire, Goͤthes Iphigenie. Da
[213] er die kranke Klotilde wieder mit dem Abendroth
der Schminke ſah, worin ſie auf fremdes Geheiß ſo¬
gar unter dem Untergehen ſchimmern ſollte — da er
dieſes ſtille zum Altar gleichſam roth bezeichnete
Opfer, das er und andere von ſeinen Fluren, von
ſeinen einſamen Blumen weggetrieben unter die
Opfermeſſer der Kurial-Guillotine, den Untergang
ſeiner Wuͤnſche ſtumm erdulden ſah und da er mit
dem weiblichen Verſtummen das maͤnnliche Toben
verglich — und da Klotilde ihren Schmerz der Iphi¬
genie geliehen zu haben ſchien mit der Bitte:
»nimm mein Herz, nimm meine Stimme und klage
»damit, klage damit uͤber die Entfernung von den
»Jugendgefilden, uͤber die Entfernung vom geliebten
»Bruder« — und da er ſah wie Klotilde die Au¬
gen feſter an die Iphigenie, wenn ſie nach dem ver¬
lornen Bruder ſchmachtete, anzuſchließen ſuchte, um
die Ergießung und die Richtung derſelben (nach ih¬
rem eignen auf dem Parterre nach Flamin,) zu be¬
herrſchen: o dann brauchten ſo große Schmerzen und
ſo viele Zeichen derſelben in ſeinen Augen und Mi¬
nen einen ſolchen Vorwand wie die Allmacht des
Genies iſt, um mit Schmerzen der Taͤuſchung ver¬
wechſelt zu werden.


Nie hat ein Arzt ſeine Klientin mit groͤßerer
Theilnahme und Schonung ausgefragt als er Klotil¬
den im naͤchſten Zwiſchenakte: er entſchuldigte ſeine
[214] Zudringlichkeit mit dem Befehle der Fuͤrſtin. Ich
muß vorher berichten, daß die Kranke, — ob er
gleich bisher ein fallender Petrus war, den manches
Hahngeſchrei mehr zum Weinen als zum Beſſern
brachte — doch die zweite Perſon blieb, die er nie
verlaͤugnete, d. h. die er nie mit ſeinen jetzigen fri¬
volen, launigten, kuͤhnen, fangenden Wendungen an¬
redete. Die erſte Perſon — die er zu hoch achtete,
um mit ſeinem jetzigen Herzen an ſie zu ſchreiben —
war der geliebte Emanuel.


Klotilde antwortete ihm geruͤhrt: »ſie ſey ſo
»wohl wie immer: das einzige, was an ihr krank
»ſey (ſagte ſie laͤchelnd) naͤmlich der Teint, ſey ſchon
»unter den Haͤnden einer Wundaͤrztin, die ſie wider
»ihre Neigung bloß von außen heile.« Dieſe ſcherzhafte
Erwaͤhnung des von der Fuͤrſtin dekretirten Schmin¬
kens hatte die doppelte Abſicht, ihr Schminken zu
entſchuldigen und den Doktor aus ſeinem weichherzi¬
gen Ernſt zu bringen. Aber das erſte war unnoͤthig
— da im Theater ſogar Damen, die nie Roth auf¬
legen, es beim Eintritt in die Loge auftrugen und
beim Ausgang ausſtrichen, um nicht an einen Baum
voll gluͤhender Stettineraͤpfel als die einzigen Quit¬
ten da zu haͤngen und da uͤberhaupt von dem ganzen
weiblichen Hofſtaat die mineraliſchen Wangen als
Hof-Geſichtslivree gefodert wurden. Das zweite
war vergeblich; vielmehr ſchwollen die Wunden ſei¬
[215] nes Herzens durch zweierlei immer hoͤher auf: durch
jenes kalte faſt ſchwaͤrmende Ergeben ins Verbluͤhen
— und durch etwas unausſprechlich Mildes und
Weiches, was oft im weiblichen Geſicht das bre¬
chende Herz, das fallende Leben bezeichnet, wie das
Obſt durch weiches Nachgeben beim Druck ſeine
Reife anſagt.


O ihr guten weiblichen Geſchoͤpfe, macht euch
der Kummer, da euch die Freude ſchon verſchoͤnert,
vielleicht darum noch ſchoͤner und zu ruͤhrend, weil
er euch oͤfter trift oder weil ſich jener in dieſe klei¬
det? Warum muß ich hier die Freude uͤber euer Er¬
dulden und Verſchleiern der Schmerzen ſo fluͤchtig
bekennen, da jetzt vor meiner Phantaſie ſo viele Her¬
zen voll Thraͤnen mit ofnen Angeſichtern voll Laͤ¬
cheln voruͤberziehen und eurem Geſchlechte das Lob
erwerben, daß es ſich dem Kummer ſo gern wie der
Freude oͤfne, wie die Blumen, ob ſie ſich gleich nur
vor der Sonne aufthun, doch auch auseinander ge¬
hen, wenn dieſe der Wolkenhimmel uͤberzieht? —


Viktor, ohne durch ihre Antwort irre zu werden,
fuhr fort: »vielleicht koͤnnen Sie ſich nicht von der
»ſchoͤnen Natur entwoͤhnen und von der Bewegung
»— das Nachtſitzen, das ich ſelber empfinde« — —
Sie ließ ihn nicht ausreden, um ihn daran zu erin¬
nern, daß ſie ja die jetzige Farbe von Hauſe an den
Hof mitgebracht; man ſieht aber in dieſer Erinne¬
[216] rung mehr Schonung als Wahrheit: denn ſie wollte
ihr Hofamt nicht gerade vor dem verklagen, der es
ihr erlangen half. — — Viktor, der ihre Kraͤnklich¬
keit ſo ſicher ſah und doch keine Frage mehr vorzu¬
legen wußte, ſtand ſtumm, verlegen da. Das eigne
Schweigen loͤſet den Zuruͤckhaltenden die Zunge:
Klotilde fing ſelber an: »weil ich nichts weis was
»mir hier ſchadet, als die Schminke: ſo bitt' ich
»meinen Arzt, mir dieſen Diaͤtsfehler zu unterſagen«
— d. h. die Fuͤrſtin zum Widerruf ihres Schmink¬
edikts zu vermoͤgen — »ich mag gern, fuhr ſie fort,
»doch einige Aehnlichkeit mit zwei ſo guten Freun¬
»den, Giulia und Emanuel, bekommen« — d. h.
die blaſſe Farbe, oder auch die Meinung des baldi¬
gen Todes. — Viktor ſtieß ein haſtiges Ja heraus
und wandte das uͤberfließende Auge gegen den auf¬
fliegenden Vorhang.


Nie waren wohl die Szenen des Theaters und
der Logen ſich aͤhnlicher. Iphigenie war Klotilde. —
der wilde Oreſt, ihr Bruder war ihr Bruder Fla¬
min — der ſanfte helle Pylades ſein Freund Viktor.
Und da Flamin unten im Parterre mit ſeinem wol¬
kigen Angeſicht ſtand — (er kam nur, um ſeine
Schweſter bequemer zu ſehen) — ſo war es unſerem
und ſeinem Freunde ſo als wuͤrd' er von ihm ange¬
redet, als Oreſt zu Pylades ſagte:


[217]
— Erinnere mich nicht jener ſchoͤnen Tage,

Da mir dein Haus die freie Staͤtte gab,

Dein edler[ ]Vater klug und liebevoll

Die halb erſtarrte junge Bluͤte pflegte;

Da du ein immer munterer Geſelle,

Gleich einem leichten bunten Schmetterlinge

Um eine dunkle Blume, jeden Tag

Um mich mit neuen Leben gaukelteſt,

Mir deine Luſt in meine Seele ſpielteſt.

Klotilde fuͤhlt' es eben ſo ſchmerzhaft, daß man
auf der Szene ihr Leben ſpiele, und kaͤmpfte gegen
ihre Augen . . . Aber da Iphigenie zu ihrem Bruder
Oreſt ſagte

O hoͤre mich! O ſieh mich an, wie mir

Nach einer langen Zeit das Herz ſich oͤfnet,

Der Seeligkeit, dem Liebſten was die Welt

Noch fuͤr mich tragen kann, das Haupt zu kuͤſſen —

O laß mich, laß mich, denn es quillet heller

Nicht vom Parnaß die ewige Quelle ſprudelnd

Von Fels zu Fels in's goldne Thal hinab,

Wie Freude mir von Herzen wallend fließt

Und wie ein ſeelig Meer mich rings umfaͤngt. —

— und da Klotilde traurig den groͤßern Zwiſchenraum
der Schmerzen und der Tage zwiſchen ſich und ih¬
[218] rem Bruder uͤbermaaß: ſo quollen ihre großen ſo
oft am Himmel haͤngenden Augen voll und ein
ſchnelles Niederbuͤcken verdeckte die ſchweſterliche Thraͤ¬
ne allen ungeruͤhrten Augen. Aber den geruͤhrten,
womit ihr naher Freund ſie nachahmte, wurde ſie
nicht entzogen. . . . Und hier ſagte eine tugendhafte
Stimme in Viktor: »entdeck' ihr, daß du das Ge¬
»heimniß ihrer Verwandwandſchaft weißt — hebe
»von dieſem wundgepreßten Herzen die Laſt des
»Schweigens ab — vielleicht welkt ſie an einem
»Gram, den ein Vertrauter kuͤhlt und nimmt!« —
Ach, dieſer Stimme zu gehorchen, war ja das We¬
nigſte, womit er ſein unendliches Mitleiden befriedi¬
gen konnte! — Er ſagte aͤußerſt leiſe und aus Ruͤh¬
rung faſt unverſtaͤndlich zu ihr: »mein Vater hat es
»mir laͤngſt entdeckt, daß Iphigenie die Gegenwart
»ihres Bruders und meines Freundes weiß« —
Klotilde wandte ſich ſchnell und erroͤthend gegen
ihn — er ließ, zur naͤhern Erklaͤrung, ſeinen Blick
zu Flamin hinabgleiten — erblaſſend ſah ſie weg und
ſagte nichts — aber unter dem ganzen Schauſpiel
ſchien ihr Herz weit mehr zuſammengedruͤckt zu ſeyn
und die Gute mußte jetzt noch mehr Thraͤnen und
Seufzer zerquetſchen als zuvor. Ganz zuletzt gab ſie
mitten in ihrer Betruͤbniß der Dankbarkeit ihre
Rechte und ſagte ihm fuͤr ſeine Theilnahme und ſein
Vertrauen, gleichſam im Sterben laͤchelnd, Dank.


[219]

Zu Hauſe machte er ſeine Gehirnfiebern zu Aria¬
dnes Faͤden, um aus dem Labyrinth der Urſachen ih¬
res Kummers und beſonders des neuen zu kommen,
der ſie bei ſeiner Eroͤfnung zu befallen geſchienen.
Aber er blieb im Labyrinth: freilich erzeugte Gram
die Krankheit; aber wer erzeugte den Gram? — Es
waͤre ſchlimm fuͤr dieſe armen zarten Schmetterlinge
wenn es mehr als Einen toͤdlichen Kummer gaͤbe:
in jeder Gaſſe, in jedem Hauſe findeſt du eine Frau
oder eine Tochter, die in die Kirche oder ins Trau¬
erſpiel gehen [muß], um zu ſeufzen und die ins obere
Stockwerk ſteigen muß, um zu weinen; aber dieſer
aufgehaͤufte Kummer wird laͤchelnd verſchmerzt und
die Jahre nehmen lange neben den Thraͤnen zu.
Hingegen einen giebt's, der ſie abbricht — denke
daran, lieber Viktor, in den freudigen Stunden dei¬
ner Simultanliebe‚ und denket ihr alle daran, die
ihr einem ſolchen weichen Geſchoͤpf das ſchlagende
Herz aus der Bruſt mit warmen liebenden Haͤnden
ziehet, um es in eure neben eurem eignen Herzen
aufzunehmen und ewig zu erwaͤrmen — wenn ihr
dann dieſes heiſſe Herz, wie einen Schmetterlings¬
honigruͤſſel, ausgeriſſen hinwerfet: ſo zuckt es noch
wie dieſer fort, aber es erkaltet dann und ſchlaͤgt
nicht lange mehr. — —


Ungluͤckliche Liebe war alſo der nagende Honig¬
thau auf dieſer Blume, ſchloß Sebaſtian. Natuͤrlich
[220] dacht' er an ſich zuerſt; aber ſchon laͤngſt hatten ihn
alle ſeine feinſten Beobachtungen, ſeine ihm jetzt ge¬
laͤufigern Rikoſchet-Blicke aus dem Augen¬
winkel
uͤberwieſen, daß er die Auszeichnung, die
ſie ihm nicht verſagte, mehr ihrer Unpartheilichkeit
als ihrer Neigung zuzuſchreiben habe. Wer es ſonſt
am Hofe ſey — das herauszubringen ſtellt' er ver¬
geblich einen Elektrizitaͤtszeiger nach dem andern
auf. Auch wußt' er voraus, daß er vergeblich auf¬
ſtellen werde: da Klotilde alles Aushorchen ihres
Innern vereiteln wuͤrde, wenn ſie eine unerwiderte
Neigung haͤtte: die Vernunft war bei ihr das
Wachs, das man auf das eine Ende der magneti¬
ſchen Nadel klebt, um die Inklination des an¬
dern aufzuheben oder zu verbergen.


Gleichwohl nahm er ſich vor, einige Wuͤnſchelru¬
then das naͤchſtemal an ihre Seele zu halten. — Er
ging zur Fuͤrſtin, um da die Verſchwiegene fuͤr eine
vollſtaͤndige Nerven-Pazientin zu erklaͤren. Er lachte
ſelber innerlich uͤber den Ausdruck — und uͤber die
Aerzte — und uͤber ihre Nervenkuren — und ſagte:
wie ſonſt die franzoͤſiſchen Koͤnige bei ihren Sani¬
taͤtsanſtalten gegen die Kroͤpfe ſagen mußten: »der
»Koͤnig beruͤhrt dich aber Gott heilt dich» ſo ſoll¬
ten die Aerzte ſagen: der Stadt- und Landphyſikus
greift dir an den Puls, aber Gott macht die Kur.
— Hier indeſſen gab er ſie aus drei guten Abſichten
[221] fuͤr eine Nervenfabrikantin aus: um fuͤr ſie die Auf¬
hebung der Hof-Leibeigenſchaft, wenigſtens die Exi¬
mirung vom genauen Hofdamen-Amt zu erlangen,
weil in ſeinem Herzen immer der hineingeſtochene
Splitter des Vorwurfs eiterte, »du biſt ſchuld, daß
»ſie hier ſeyn muß« — ferner um ihr die Konzeſ¬
ſion der Land- und Fruͤhlingsluft, falls ſie einmal
darum ſupplizirte, im Voraus auszuwirken — end¬
lich um ſie von der befohlnen Aehnlichkeit mit denen
Damen zu erloͤſen, an deren bleifaͤrbigen Geſichtern
wie an der Blei-Miliz der Kinder ſich das Rothe
taͤglich abfaͤrbt und taͤglich anſetzt. Da ſich aber
Agnola ſelber ſchminkte: ſo mußt' er aus Hoͤflichkeit
es beiden auf einmal verbieten als Arzt. Die Fuͤr¬
ſtin unterſiegelte alle ſeine Suppliken recht guͤtig:
nur uͤber den Schmink-Artikel gab ſie in Ruͤckſicht
ihrer ſelber gar keine Reſolution, und in Ruͤckſicht
Klotildens dieſe: ſie habe nichts dagegen, wenn ſie
bei ihr, ausgenommen an Kourtagen und im Schau¬
ſpiel, ohne Roth erſcheine; und von der Anweſenheit
bei beiden ſey ſie gerne diſpenſirt, bis ſie wieder ge¬
neſen ſey. —


Mein Held konnte kaum den Abſchied erwarten,
um dieſen Reichsabſchied oder Schluß der geliebten
Kranken zu bringen: ihn ſelber nahm dieſe Willfaͤh¬
rigkeit der Fuͤrſtin Wunder, bei der ſonſt Bitten
Suͤnden waren und die nichts verſagte als das was
[222] man erbat. Seine Verlegenheit war die, ihr die
Konzeſſionen der Fuͤrſtin ohne das beleidigende Ge¬
ſtaͤndniß ihrer vorgeſchuͤtzten Kraͤnklichkeit beizubrin¬
gen. — — Aber aus dieſem kleinen Uebel zog ihn
ein großes: als er bei ihr vorkam, ſah ſie noch zehn¬
mal ſiecher aus als vorgeſtern bei der Entdeckung ih¬
rer Verwandſchaft: ihre Bluͤten hingen zugedruͤckt
und kalt bethauet zur Erde nieder.


Gang und Stellung waren unveraͤndert; die aͤuſ¬
ſere Froͤhlichkeit dieſelbe; aber der Blick war oft zu
flatternd, oft zu ſtehend; durch die Lilienwangen flog
oft ein Fieberroth, durch die untere Lippe einmal
ein zerdruͤckter Krampf. . . . Hier hob das Mitleid
den erſchrocknen Freund uͤber die Hoͤflichkeit hinaus
und er ſagte ihr geradezu die Einwilligungen der
Fuͤrſtin. Er rief ſeinem beſchwerten Herzen ſeine
bisherige Hof-Kuͤhnheit zu Huͤlfe und befahl ihr,
den nahen Fruͤhling zu ihrer Apotheke zu machen
und die Blumen zu ihren offiziellen Kraͤutern und
ihre — Phantaſie zu ihrem Arzt. »Sie ſcheinen
»mich (ſagte ſie laͤchelnd) zu den Lerchen zu rechnen,
»die in ihrem Bauer immer gruͤnen Raſen haben
»muͤſſen. Damit aber meine Fuͤrſtin und Sie nicht
»umſonſt guͤtig waren: ſo werd' ich's am Ende
»thun. — Ich geſteh' es Ihnen, ich bin wenigſtens
»eine eingebildete — Geſunde: ich fuͤhle mich
»wohl.« . . . Sie brach es ab, um ihn mit der er¬
[223] habnen Freimuͤthigkeit der Tugend und mit einem in
ſchweſterlicher Liebe ſchwimmenden Auge uͤber ihren
Bruder auszufragen, ob er gluͤcklich und zufrieden
ſey, wie er arbeite, wie er ſich in ſeinen Poſten
ſchicke? Sie ſagte ihm, wie weh ihr bisher dieſe
tief in ihre Seele eingeſperrten Fragen gethan; und
ſie dankte ihm fuͤr das Geſchenk ſeines Vertrauens
mit einer Waͤrme, die er fuͤr einen feinen Tadel ſei¬
nes bisherigen Schweigens hielt. Sie ſtand von je¬
her gern in einem Blumenkranz von Kindern; aber
hier hatte ſie auch noch deswegen dieſe ſanften Ne¬
belſterne um ihren Glanz verſammelt, um es zu ver¬
bergen, daß ſie eine kleine fuͤnfjaͤhrige Enkelin des
Stadtſeniors, bei dem ihr Bruder wohnte, als die
unwillkuͤhrliche Biographie und Zeitungstraͤgerin deſ¬
ſelben an ſich ziehe. Mehr als dreimal war ihm als
muͤßt' er dieſem lilienweißen Engel, den ſeine Wolke
immer hoͤher trug, zu Fuͤßen fallen und mit ausge¬
breiteten Armen ſagen: »Edle, werde meine Freun¬
»din eh' du ſtirbſt — meine alte Liebe gegen dich
»iſt laͤngſt zerquetſcht, denn du biſt zu gut fuͤr mich
»und fuͤr uns alle — aber dein Freund will ich
»ſeyn, mein Herz will ich uͤberwinden fuͤr dich, mei¬
»nen Himmel will ich hingeben fuͤr dich, — ach
»du wirſt ohnehin den Abendthau des Alters nicht
»erleben und die Augen bald zumachen und der Mor¬
»genthau haͤngt noch darin!« Denn er hielt ihre
[224] »Seele fuͤr eine Perle, deren Koͤrper-Muſchel geoͤf¬
net in der aufloͤſenden Sonne liegt, damit ſich die
Perle fruͤher ſcheide. — Beim Abſchiede konnt' er
ihr mit der Freimuͤthigkeit des Freundes, die an die
Stelle der Zuruͤckhaltung des Liebhabers gekommen
war, die Wiederholung ſeiner Beſuche anbieten.
Ueberhaupt behandelte er ſie jetzt waͤrmer und unbe¬
fangner, erſtlich weil er auf ihr erhabnes Herz ſo
ganz Verzicht gethan, daß er ſich uͤber ſeine kuͤhnen
Anſpruͤche darauf jetzt wunderte, zweitens weil ihm
das Gefuͤhl ſeiner uneigennuͤtzigen aufopfernden Recht¬
ſchaffenheit gegen ſie Wundbalſam auf ſeine bisher
rige Gewiſſensbiſſe goß.


An dieſe Kraͤnklichkeit ſchloß ſich ein Abend oder
eine Ereigniß an, woraus der Leſer glaub' ich nicht
geſcheut werden wird. — Viktor ſollte Abends Jo¬
achimen ins Schauſpiel abholen, und ihr Bruder
mußte vorher ihn abholen. Ich hab' es ſchon zwei¬
mal niedergeſchrieben, daß ihm ſeit einigen Wochen
Matthieu nicht mehr ſo zuwider war wie einem Ele¬
phanten eine Maus: der Medikus hatte doch eine
einzige gute Seite, doch einigen moraliſchen Gold¬
glimmer an ihm ausgegraben, naͤmlich die groͤßte
Anhaͤnglichkeit an ſeine Schweſter Joachime, die
allein ſein ganzes ſeinen Eltern zugeſchloſſenes Herz,
ſeine Myſterien und ſeine Dienſte innen hatte —
zweitens liebte er an Mazen, was der Miniſter ver¬
damm¬[225] dammte, den Freiheits-Salzgeiſt — drittens ſind
wir alle ſo, daß, wenn wir unſer Herz fuͤr irgend
ein weibliches aus einer Familie eingeheizet haben,
daß dieſe Einheizer nachher die Ofen Waͤrme auf
die ganze Sip und Magenſchaft ausdehnen, auf
Bruͤder, Neffen, Vaͤter — viertens wurde Maz im¬
mer von ſeiner Schweſter gelobt und entſchuldigt. —
Als Viktor kam zu Joachime: hatte ſie Kopfſchmer¬
zen und Putzjungfern bei ſich — der Putz und der
Schmerz nahm zu — endlich ſchickte ſie die lebendi¬
gen Appreturmaſchinen fort und ſetzte ſich, ſobald ſie
aus dem Schaum der Puder- und Schmuckkaͤſten,
der Schminklappen und mouchoirs de Venus, der pou¬
dres d'odeur und der Lippenpomaden zu einer Ve¬
nus erhaͤrtet war, da ſetzte ſie ſich nieder und ſagte,
ſie bliebe zu Hauſe wegen Kopfſchmerzen. Viktor
blieb mit da; und recht gern. Denn auch Klotilde
mied, eingedenk der letztern Beklemmungen, das
Schauſpiel, und bloß die fuͤnfjaͤhrige Giulia mußte
ihre liebende Seele kuͤhlen. Wer nicht das Sparr-
und Zellenwerk des Menſchenherzens kennt, den frap¬
pirts, daß Viktors Freundſchaft gegen Klotilde ein
ganzes Honiggewirke von Liebe fuͤr Joachime in
ſeine Zellen eintrug; es war ihm lieb, wenn ſie ein¬
ander beſuchten oder umarmten, er ſuchte in den
Segensfingern des Pabſtes nicht ſo viele Heilkraft
als in Klotildens ihren; die Freundſchaft derſelben
Heſperus. II. Th. P[226] ſchien ihm eine Entſchuldigung der ſeinigen zu ſeyn
und Joachime auf das Poſtament des Werths zu he¬
ben, auf das er ſie mit allen Wagenwinden noch
nicht ſtellen koͤnnen. Sogar das Gefuͤhl ſeines ſtei¬
genden Werthes gab ihm neue Rechte zu lieben; und
heute wuͤrde ſogar Klotildens Flor- und Fuͤrſtenhut
ſeine Helmkleinodien auf Joachimens kraͤnklichen, ge¬
duldigern Kopf behauptet haben. In ihre fortgeſetzte
Koketterie gegen das Narrenpaar hatt' er ſich laͤngſt
gefuͤgt, weil er recht gut wußte, wen ſie unter drei
Weiſen aus Morgenland nicht zum Narren habe,
ſondern zum Anbeter. Aber zuruͤck!


Matthieu, der ihr zu Gefallen auch zu Hauſe
blieb, und Viktor und ſie formirten die ganze Bande
dieſes concert spirituel. Joachime lehnte auf dem
Canapee ihren ſanftern ſiechen Kopf an die Wand
zuruͤck und blickte diagonal auf das Fuß-Getaͤfel und
ſah mit den heruͤbergezognen Augenliedern ſchoͤner
aus — der Evangeliſt ging ab und zu — Viktor
ſetzte wie allemal im Zimmer herum — Es war ein
recht huͤbſcher Abend und ich wollt'‚ meiner wuͤrde
heute ſo. — Das Geſpraͤch wendete ſich auf die
Liebe; und Viktor behauptete das Daſeyn einer dop¬
pelten, der buͤrgerlichen und der ſtiftsfaͤhigen oder
franzoͤſiſchen. Er liebte die franzoͤſiſche in Buͤchern
und als Simultanliebe‚ aber er haßte ſie‚ ſobald ſie
die einzige ſeyn ſollte; er definirte ſie heute ſo:
[227] »nimm ein wenig Eis — ein wenig Herz — ein
wenig Witz — ein wenig Papier — ein wenig Zeit
— ein wenig Weihrauch — und gieß' es zuſammen
und thu' es in zwei Perſonen von Stande: ſo haſt
du eine rechte gute franzoͤſiſche fontenelliſche
Liebe« — »Sie vergaßen‚ ſetzte Maz dazu‚ noch
»ein wenig Sinne, wenigſtens ein Fuͤnftel oder
»Sechſtel, das als adjuvans oder constituens*)»zur Arznei kommen muß. — Indeſſen bat ſie doch
»das Verdienſt der Kuͤrze: die Liebe ſollte wie die
»Tragoͤdie, auf Einheit der Zeit, naͤmlich auf den
»Zeitraum Eines Tages eingeſchraͤnket ſeyn, damit
»ſie nicht noch mehrere Aehnlichkeit mit ihr be¬
»koͤmmt. Schildern Sie aber die buͤrgerliche!« —
Viktor: die zieh' ich vor.« — Matthieu: »ich nicht.
»Sie iſt bloß ein laͤngerer Wahnſinn als der Zorn.
»On y pleure on y crie‚ on soupire‚ on y
»ment, on y enrage, on tue, on y meurt
»enfin on se donne à tous les diables, pour avoir
»son ange. — Unſere Geſpraͤche ſind heute einmal
»voll Arabeſken und à la gréque: ich will ein Koch¬
»buchsrezept zu einer guten buͤrgerlichen Liebe ma¬
»chen: Nimm zwei junge große Herzen — waſche
P 2[228] »ſie ſauber ab in Taufwaſſer oder Druckerſchwaͤrze
»von deutſchen Romanen — gieße heiſſes Blut und
»Thraͤnen daruͤber — ſetze ſie ans Feuer und an den
»Vollmond und laſſe ſie aufwallen — ruͤhre ſie
»fleißig um mit einem Dolche — nimm ſie heraus
»und garnire ſie wie Krebſe mit Vergißmeinnicht
»oder andern Feldblumen und trage ſie warm auf:
»ſo haſt du einen ſchmackhaften buͤrgerlichen Her¬
»zenskoch *).» —

Matthieu ſetzte noch hinzu: in der heiſſen buͤrger¬
lichen Liebe ſey mehr Quaal als Spas; in ihr ſey
wie in Dante's Gedicht von der Hoͤlle, letztere am
beſten ausgearbeitet und der Himmel am ſchlechte¬
ſten — Je aͤlter ein Maͤdgen oder ein eingepoͤckelter Hee¬
ring ſey, deſto dunkler ſey an beiden das Auge, das durch
die Liebe ſo werde — Jede Frau aus einem hoͤhern
Zirkel muͤſſe froh ſeyn, daß ſie vom Manne, an den ſie
gekettet ſey, nichts zu behalten brauche als ſein Bild
im Ring, wie Prometheus, da Jupiter einmal geſchwo¬
ren, ihn 30000 Jahre am Kaukaſus geloͤthet zu laſ¬
ſen, waͤhrend derſelbe bloß ein wenig von dieſer
Baſtille an der Hand getragen in einem Fingerring.«
— Dann ging Matthieu eilend hinaus, welches er
allemal nach witzigen Exploſionen that. Viktor
[229] liebte die bitterſte ungerechteſte Satire im fremden
Munde, als Kunſtwerk; er verzieh alles und blieb
heiter.


Joachime ſagte dann ſcherzhaft: »wenn alſo keine
»Manier der Liebe etwas taugt, wie Sie beide be¬
»wieſen haben, ſo bleibt uns nichts uͤbrig als zu
»haſſen.« — Doch nicht (ſagt' er:) Ihr Herr Bru¬
der hat nur kein wahres Wort geſagt. Stellen
Sie ſich vor, ich waͤre der Armenkatechet und ver¬
liebt — In die zweite Tochter des Paſtor primarius
bin ichs — ihre Rolle iſt die einer Hoͤrſchweſter:
denn die buͤrgerlichen Maͤdgen wiſſen nicht zu reden,
wenigſtens mehr in Haß als in der Liebe — Der
Armenkatechet hat wenig bel esprit, aber viel saint
esprit
, viel Ehrlichkeit, viel Treue, zu viel Weich¬
herzigkeit und unendliche Liebe — Der Katechet
kann keine galante Intrigue anſpinnen auf einige
Wochen oder Monate, noch weniger kann er die
zweite Paſtorstochter in die Liebe hineindiſputiren,
wie ein roué — er ſchweigt, um zu hoffen, aber mit
einem Herzen voll ewiger Liebe, voll opfernder Wuͤn¬
ſche begleitet er zagend und ſtill alle Schritte der
Geliebten und — Liebenden — aber ſie erraͤth ihn
nicht und er ſie nicht. Und dann ſtirbt ſie. . .
Aber vorher eh ſie ſtirbt, tritt der bleiche Katechet
troſtlos vor ihr Abſchiedslager und druͤckt die zit¬
ternde Hand, eh' ſie erſchlafft und giebt dem kalten
[230] Auge noch eine Freudenthraͤne, eh' es erſtarret und
dringet noch unter die Schmerzen der kaͤmpfenden
Seele mit dem ſanften Fruͤhlingslaute hinein: ich
liebe dich — Wenn, ers geſagt hat, ſtirbt ſie an der
letzten Freude und er liebt dann auf der Erde wei¬
ter niemand mehr.« . . .


Die Vergangenheit hatte, ſeine Seele uͤberfallen
— Thraͤnen hingen in ſeinen Augen und miſchten
Klotildens Krankenbild in einer ſonderbaren Ver¬
dunklung mit Joachimens ihrem zuſammen — er
ſah und dachte eine Geſtalt, die nicht da war — er
druͤckte die Hand derjenigen, die da war und dachte
nicht daran, daß ſie alles auf ſich beziehen koͤnnte.


Ploͤtzlich trat laͤchelnd Matthieu herein und die
Schweſter laͤchelte nach, um alles zu erklaͤren und
ſagte: der Herr Hofmedikus gab ſich bisher die
Muͤhe, dich zu widerlegen. »Viktor ſchnell erkaltet,
verſetzte zweideutig und bitter: Sie begreifen H. v.
Schleunes, daß es mir am leichteſten wird, Sie in
die Flucht zu ſchlagen, wenn Sie nicht im Felde
ſind.« — Maz fixirte ihn; Viktor ſchlug ſanft
ſein Auge nieder und bereuete die Bitterkeit. Die
Schweſter fuhr gleichguͤltig fort: »ich glaube, mein
Bruder iſt oft im Falle mit der Facon zu wechſeln.«
— Er nahm es heiter lachend auf und dachte wie
Viktor, ſie ziele auf ſeine galanten Avantuͤren und
Luſttreffen mit Weibern aus allen Staͤnden, die auf
[231] dem Landtag ſitzen — Aber da ſie ihn fortgeſchickt
hatte, um bei ihrer Mutter anzufragen, wer heute
Abends zum Cercle komme: ſo ſagte ſie dem Medi¬
kus: »Sie wiſſen nicht was ich meinte. Wir haben
»am Hofe eine kranke Dame, die Ihre leibhafte Pa¬
»ſtorstochter iſt — Und mein Bruder hat nicht ſo
»viel oder nicht ſo wenig Geiſt, um den Armenka¬
»techeten zu machen.« Viktor fuhr zuruͤck brach ab
und ging ab.


Warum? Wie ſo? Weswegen? — Aber merkt
man denn nicht, daß die kranke Dame Klotilde ſeyn
ſoll, die Mazens feinen Annaͤherungen zur Schall-
und Schußweite des Herzens zu entfliehen ſucht?
Ueberhaupt hatte Viktor wohl geſehen, daß der Ev¬
angeliſt gegen Klotilden bisher eine verbindlichere
Rolle ſpiele als er vor ihrem Einzuge in ſein Eſku¬
rial- und Raubſchloß durchmachte; aber Viktor hatte
dieſe Hoͤflichkeit eben dieſem Einquartieren zugeſchrie¬
ben. Jetzt hingegen lag die Karte von Mazens Plan
aufgeſchlagen da: er hatte einer gegen ihn gleichguͤlti¬
gen Perſon darum mit dem Scheine der Ver¬
achtung (die er aber fein mehr auf ihren kuͤnftigen
kleinen Kaſſenbeſtand als auf ihre Reize fallen ließ)
abſichtlich begegnet, um dadurch ihre Aufmerkſam¬
keit — dieſe Thuͤrnachbarin der Liebe — und nach¬
her durch den ſchnellen Wechſel mit Gefaͤlligkeit noch
mehr als dieſe Aufmerkſamkeit zu gewinnen. O!
[232] du kannſt nichts gewinnen, rief in Viktor jeder
Seufzer! Aber doch gab es ihm Schmerzen, daß
dieſe Edle, dieſer Engel mit ſeinen Fluͤgeln einen
ſolchen Widerſacher ſchlagen muͤſſe. — Nun wur¬
den ihm dreißig Dinge zugleich verdaͤchtig, Joachi¬
mens Eroͤfnung und Kaͤlte, Matthieu's Laͤcheln und
— alles.


So weit dieſes Kapitel, dem ich nur noch einige
reife Gedanken anhaͤnge. Man ſieht doch offenbar,
daß der arme Viktor ſeine Seele fuͤr jede weibliche,
wie jener Tyran die Bettgenoſſen fuͤr das Bette,
kleiner verſtuͤmmele. Freilich iſt Achtung die Mut¬
ter der Liebe; aber die Tochter wird oft einige
Jahre aͤlter als die Mutter. Er nimmt eine Hof¬
nung des weiblichen Werths nach der andern zuruͤck.
Am ſpaͤteſten gab er zwar ſeine Foderung oder Er¬
wartung jenes erhabnen indiſchen Gefuͤhls fuͤr die
Ewigkeit auf, das uns, in dieſem magiſchen Rauche
von Leben haͤngenden, Schattenfiguren einen unaus¬
loͤſchlichen Lichtpunkt zum Ich ertheilt und das uns
uͤber mehr als eine Erde hebt; aber da er ſah, daß
die Weiber unter allen Aehnlichkeiten mit Klotilden
dieſe zuletzt erhalten; und da er bedachte, daß das
Weltleben alles Große am Menſchen wegſchleife,
wie das Wetter an Statuen und Leichenſteinen ge¬
rade die erhabnen Theile wegnagt: ſo fehlte
ihm nichts, um Joachimen die ſchon lange mundirte
[233] Liebeserklaͤrung zu thun, nichts als ihrer Seits ein
Ungluͤck — ein naſſes Auge — ein Seelenſturm —
ein Kothurn. Mit deutlichern Worten: er ſagte zu
ſich: »ich wollte, ſie waͤre eine empfindſame Naͤrrin
»und gar nicht auszuhalten: wenn ſie dann einmal
»die Augen recht voll haͤtte und das Herz dazu und
»wenn ich dann vor Ruͤhrung nicht wuͤßte: wo mir der
»Kopf ſtaͤnde: ſo koͤnnt' ich dann anruͤcken und mein
»Herz herausbringen und es ihr hinlangen und ſa¬
»gen: es iſt des armen Baſtians ſeines, behalt' es
»nur.« Mir iſt, als hoͤrt' ich ihn leiſe dazu den¬
»ken:« wem will ichs weiter geben? —


Daß er das erſte wirklich gedacht hat, ſehen wir
daraus, weil ers in ſein Tagebuch hineingeſetzt, aus
dem mein Korreſpondent alles zieht und das er mit
der Aufrichtigkeit der erhabenſten Seele fuͤr ſeinen
Vater machte, um gleichſam ſeine Fehler durch das
Protokolliren derſelben auszuſoͤhnen. Sein italieni¬
ſcher Lakai that faſt nichts als es mundiren. — —
Hing ich nicht vom Hunde und ſeiner Zeitungskap¬
ſel ab: ſo fiel ſeine Liebeserklaͤrung noch heute vor:
ich braͤche Joachimen etwan einen Arm — oder legte
ſie ins Krankenbette — oder blieſe dem Miniſter
das Lebenslicht aus oder richtete irgend ein Ungluͤck
in ihrem Hauſe an — — und fuͤhrte dann meinen
Helden hin zur leidenden Heldin und ſagte: »wenn
»ich fort bin, ſo knie nieder und uͤberreich' ihr dein
[234] »Herz.« — So aber kann der chymiſche Prozeß
ſeiner Verliebung noch ſo lang werden wie ein ju¬
riſtiſcher, und ich bin auf drei Alphabete gefaßt.


Hier aber will ich etwas bekennen, was der Le¬
ſer aus Hochmuth verheimlicht: daß ich und er bei
jeder auftretenden Dame in dieſen Poſttagen einen
Fehlſchuß zum Salutiren gethan — jede hiel¬
ten wir fuͤr die Heldin des Helden — anfangs Aga¬
then — dann Klotilden — dann als er in die Uhr
der Fuͤrſtin ſeine Liebeserklaͤrung ſperrte, ſagte ich:
»ich weiß ſchon den ganzen Handel voraus« —
dann ſagten wir beide: wir hatten doch Recht mit
Klotilden« — dann griff ich aus Noth zu Marien
und ſagte: »ich will mir aber weiter nichts merken
laſſen« endlich wird's eine, wo keiner von uns
daran dachte (wenigſtens ich nicht,) Joachime. —
So kann mir's ſelber ergehen, wenn ich heirathe. . .


Eh' ich zum Schalttage aus dem Poſttag uͤber¬
gehe, ſind noch folgende Minuten zu paſſiren: Klo¬
tilde legte die Poſtiche-Wangen, joues de Paris,
die Schminke ab und ſetzte jetzt ihr einwelkendes
Herz ſeltener dem Druck der Hof-Serviettenpreſſe
aus. Der Fuͤrſt, der ihrentwegen bei ſeiner Gemah¬
lin hoſpitirt hatte, blieb oͤfter aus und ſprach dann
bei Schleunes ein: gleichwohl dachte die Fuͤrſtin
edel genug, um nicht meinen Viktor durch einen zu¬
ruͤckgenommenen Dank die zuruͤckgenommene Gunſt
[235] des Fuͤrſten entgelten zu laſſen. — In Viktor war
ein langer Krieg, ob er Klotildens Bruder die neuen
Beweiſe ihrer Schweſterliebe ſagen ſollte: — end¬
lich, — da Flamins leidendes, verarmtes, von Rela¬
tionen und Schurken und Argwohn zerſtochenes
Herz ihn bewegte, und da er dieſem rechtſchaffenen
Freunde bisher ſo wenig Freude machen konnte —
ſagte er ihm (die Verwandſchaft ausgenommen) faſt
alles.


Poſtſkript: Endes Unterſchriebener ſoll hie¬
mit auf Verlangen atteſtiren, daß Endes Un¬
terſchriebner ſeinen 24ten Poſttag ordentlich
am letzten des Juliusmonats, oder des Meſſi¬
dors zu Ende gebracht hat. Auf der Inſel
St. Johannis 1793.


Jean Paul,
Scheerauiſcher Berghauptmann.


[236]

Sechſter Schalttag.

Ueber die Wüſte und das gelobte Land des Menſchengeſchlechts.


Es giebt Pflanzenmenſchen, Thiermenſchen und Gott¬
menſchen. —


Als wir getraͤumt werden ſollten: wurde ein En¬
gel duͤſter und entſchlief und traͤumte. Es kam
Phantaſus*) und bewegte gebrochne Lufterſchei¬
nungen, Dinge wie Naͤchte, Chaosſtuͤcke, zuſammen¬
geworfne Pflanzen vor ihm und verſchwand damit.


Es kam Phobetor und trieb thieriſche Heerden
die unter dem Gehen graſeten und wuͤrgten, vor
ihm voruͤber und verſchwand damit.


Es kam Morpheus und ſpielte mit ſeeligen
Kindern, mit bekraͤnzten Muͤttern, mit kuͤſſenden Ge¬
ſtalten und mit fliegenden Menſchen vor ihm und
als die Entzuͤckung den Engel weckte, war Morpheus
[237] und das Menſchengeſchlecht und die Weltgeſchichte
verſchwunden. ...


— Jetzt ſchlaͤft und traͤumt der Engel noch —
wir ſind noch in ſeinem Traum — erſt Phobetor
iſt bei ihm und Morpheus wartet noch, daß Pho¬
betor mit ſeinem Thiere verſchwinde. ...


Aber laſſet uns ſtatt zu traͤumen, denken und
hoffen; und jetzt fragen, werden auf Pflanzen¬
menſchen
, auf Thiermenſchen endlich Gott¬
menſchen
kommen? Verraͤth der Gang der Welt-
Uhr ſo viel Zweck wie der Bau derſelben und hat
ſie ein Zifferblatts-Rad und einen Zeiger?


Man kann nicht (wie ein bekannter Philoſoph)
von Endabſichten in der Phyſik ſo fort auf End¬
abſichten in der Geſchichte ſchließen — ſo wenig
als ich, im Einzelnen, aus der theologiſchen Struk¬
tur eines Menſchen eine theologiſche Lebensgeſchichte
deſſelben folgern kann, oder ſo wenig als ich aus
dem weiſen Bau der Thiere einen fortlaufenden
Plan in der Weltgeſchichte derſelben ſchließen darf.
Die Natur iſt eiſern, immer dieſelbe, und die Weis¬
heit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das Men¬
ſchengeſchlecht iſt frei und nimmt wie das Infuſions¬
thier, die vielgeſtalltete Vortizelle, in jedem Augen¬
blick bald regelmaͤßige bald regelloſe Figuren an.
Jede phyſiſche Unordnung iſt nur die Huͤlſe einer
Ordnung, jeder truͤbe Fruͤhling die Huͤlſe eines hei¬
[238] tern Herbſtes; aber ſind denn unſere Laſter die Bluͤ¬
teknoſpen unſerer Tugenden und iſt der Erdfall ei¬
nes fortſinkenden Boͤſewichts denn nichts als eine
verborgne Himmelfarth deſſelben? — Und iſt im Le¬
ben eines Nero ein Zweck? dann koͤnnt' ich eben ſo
gut alles zuruͤckgeben und umkehren und Tugenden
zu Herzblaͤtter verſteckter Laſter machen: wenn man
aber wie mancher den Sprachmißbrauch ſo weit treibt,
daß man moraliſche Hoͤhe und Tiefe, wie die ge¬
ometriſche
, nach dem Standort umkehret, wie
poſitive und negative Groͤßen; wenn alſo alle
Gichtknoten, Fleckfieber und Blei- oder Silberko¬
liken
des Menſchengeſchlechts nichts ſind als eine
andere Art von Wohlbefinden: ſo brauchen wir ja
nicht zu fragen, ob es je geneſen werde — es koͤnnte
ja dann in allen moͤglichen Krankheiten doch nichts
ſeyn als geſund.


Wenn ſich ein Moͤnch des zehnten Jahrhunderts
ſchwermuͤthig eingeſchloſſen und uͤber die Erde, aber
nicht uͤber ihr Ende ſondern uͤber ihre Zukunft nach¬
gedacht haͤtte: waͤre nicht in ſeinen Traͤumen das
dreizehnte Jahrhundert ſchon ein helleres geweſen
und das achtzehnte bloß ein meliorirtes zehntes?


Unſere Wetterprophezeiungen aus der gegen¬
waͤrtigen
Temperatur ſind logiſch richtig und hiſto¬
riſch falſch, weil neue Zufaͤlle, ein Erdbeben, ein
Komet die Stroͤme des ganzen Dunſtkreiſes umwen¬
[239] den. Kann der gedachte Moͤnch richtig kalkuliren,
wenn er ſolche Groͤßen wie Amerika, Schiespulver
und Druckerſchwaͤrze nicht anſetzt? — Eine neue Re¬
ligion — ein neuer Alexander — eine neue Krank¬
heit — ein neuer Franklin kann den Waldſtrom,
deſſen Weg und Inhalt wir auf unſerer Rechenhaut
verjuͤngen wollen, brechen, verſchlucken, dammen,
umlenken. — Noch liegen vier Welttheile voll ange¬
ketteter wilder Voͤlker — ihre Kette wird taͤglich
duͤnner — die Zeit ſchließet ſie loß — welche Ver¬
wuͤſtung wenigſtens Veraͤnderungen muͤſſen dieſe
nicht auf dem kleinen bowling-green unſerer kulti¬
virten Laͤnder anrichten? — Gleichwohl muͤſſen alle
Voͤlker der Erde einmal zuſammen gegoſſen werden
und ſich in gemeinſchaftlicher Gaͤhrung abklaͤren,
wenn einmal dieſer Lebens-Dunſtkreis heiter wer¬
den ſoll.


Koͤnnen wir von einigen mit Eiſenfeile und Schei¬
dewaſſer (Lettern und Druckſchwaͤrze) ſelbſt angeleg¬
ten Miniatur-Erdbeben und Vulkanen auf die Berg-
Exploſionen ſchließen, d. h. von den Revolutionen
der wenigen kultivirten Voͤlker auf die der unkulti¬
virten? Da wir ſetzen duͤrfen, daß das Menſchenge¬
ſchlecht ſo viele Jahrtauſende lebe als der Menſch
Jahre: duͤrfen wir ſchon aus dem ſechſten Jahre dem
Juͤnglings- und Mannsalter die Nativitaͤt ſtellen?
Dazu koͤmmt, daß die Biographie dieſes Kindes-Al¬
[240] ter gerade am magerſten iſt und daß aufgewachte
Voͤlker — faſt alle Welttheile liegen voll Schlafende
— in Einem Jahre mehr hiſtoriſchen Stof und
folglich mehr Hiſtoriker erzeugen als ein einge¬
ſchlaf[n]es Afrika in einem Jahrhundert. Wir wer¬
den alſo aus der allgemeinen Welthiſtorie dann am
beſten prophezeien koͤnnen, wenn die erwachenden Voͤl¬
ker ihre Paar Millionen Supplementbaͤnde gar dazu
gebunden haben werden. — Alle wilde Voͤlker ſchei¬
nen nur unter Einem Praͤgſtock geweſen zu ſeyn;
hingegen die Raͤndelmaſchine der Kultur muͤnzet je¬
des anders aus. Der Nordamerikaner und der alte
Deutſche gleichen ſich ſtaͤrker als Deutſche einander
aus benachbarten Jahrhunderten. Weder die goldne
Bulle noch die magna charta noch den code noir
konnte Ariſtoteles in ſeinen Regierungs- und Gehor¬
chungs-Formen hineinlegen: ſonſt haͤtt' er ſie wei¬
ter gemacht; aber getrauen wir uns denn den kuͤnf¬
tigen Nationalkonvent in der Mungalei oder die
Dekretalbriefe und Extravaganten des aufgeklaͤrten
Dalai Lama oder die Rezeſſe der arabiſchen Reichs-
Ritterſchaft beſſer vorher zu ſehen? da die Natur
kein Volk mit Einem Muͤnzſtempel und Einer Hand
allein auspraͤgt, ſondern mit tauſenden auf einmal,
— daher auf dem deutſchen ein groͤßeres Gedraͤnge
von Abdruͤcken iſt als auf Achilles Schild — wie
wollen wir, die wir nicht einmal die vergangnen,
aber[241] aber einfachern Revolutionen des Erdballs nachrech¬
nen koͤnnen, in die moraliſchen ſeiner Bewohner
ſchauen? — —


Von allem, was aus dieſen Praͤmiſſen folgt,
glaub' ich — das Gegentheil, ausgenommen die
Nothwendigkeit der prophetiſchen Demuth. Der
Skeptizismus, der uns ſtatt hartglaͤubig, unglaͤubig
macht und ſtatt der Augen das Licht reinigen
will, wird zum Unſinn und zur fuͤrchterlichſten philo¬
ſophiſchen Lethargie und Atonie.


Der Menſch haͤlt ſein Jahrhundert oder Jahr¬
dreißig fuͤr die Kulmination des Lichts, fuͤr einen
Feſttag zu dem alle andre Jahrhunderte nur als Wo¬
chentage fuͤhren. Er kennt nur zwei goldne Zeital¬
ter, das am Anfang der Erde, das am Ende derſel¬
ben, worunter er nur ſeines denkt; die Geſchichte
findet er den großen Waͤldern aͤhnlich, in deren
Mitte Schweigen, Nacht und Raubvoͤgel ſind und
deren Rand bloß mit Licht und Geſang erfuͤllet iſt.
— Allerdings dienet mir alles; aber ich diene auch
allem. Da es fuͤr die Natur, die bei ihrer Ewig¬
keit keinen Zeitverluſt, bei ihrer Unerſchoͤpflichkeit
keinen Kraftverluſt kennt, kein anderes Geſetz der
Sparſamkeit giebt als das der Verſchwendung — da
ſie mit Eiern und Saamenkoͤrnern eben ſo gut
der Ernaͤhrung als der Fortpflanzung dient
und mit einer unentwickelten Keim Welt eine halbe
Heſperus. II. Th. Q[242] entwickelte erhaͤlt — da ihr Weg uͤber keine Billard¬
tafel, ſondern uͤber Alpen und Meere geht: ſo muß
unſer kleines Herz ſie mißverſtehen, es mag hoffen
oder fuͤrchten; es muß in der Aufklaͤrung Morgen-
und Abendroͤthe gegenſeitig verwechſeln; es muß im
Vergnuͤgen bald den Nachſommer fuͤr den Fruͤhling,
bald den Nachwinter fuͤr den Herbſt anſehen. Die
moraliſchen Revolutionen machen uns mehr irre
als die phyſiſche, weil jene ihrer Natur nach ei¬
nen groͤßern Spiel- und Zeitraum einnehmen als
dieſe — und doch ſind die finſtern Jahrhunderte
nichts als eine Immerſion in den Schatten des Sa¬
turns
oder eine Sonnenfinſterniß ohne Verweilen.
Ein Menſch, der ſechstauſend Jahre alt waͤre, wuͤrde
zu den ſechs Schoͤpfungstagen der Weltgeſchichte ſa¬
gen: ſie ſind gut.


Man ſollte aber niemals moraliſche und phy¬
ſiſche
Revolutionen und Entwickelungen zu nahe an
einander ſtellen. Die ganze Natur hat keine andere
Bewegungen als vorige, der Zirkel iſt ihre Bahn,
ſie hat keine andern Jahre als platoniſche — aber
der Menſch allein iſt veraͤnderlich und die gerade
Linie oder der Zickzak fuͤhren ihn. Eine Sonne hat
ſo gut wie der Mond ihre Phaſen, ſo gut wie eine
Blume, ihre Bluͤte und Abluͤte, aber auch ihre Pa¬
lingeneſie und Erneuerung. Allein im Menſchenge¬
ſchlecht liegt die Nothwendigkeit einer ewigen Ver¬
[243] aͤnderung; aber hier giebts nur auf- und nieder¬
ſteigende
Zeichen, keine Kulmination; jene ziehen
nicht einander nothwendig an ſich wie in der Phyſik
und haben keine aͤußerſte Stufe. Kein Volk, kein
Zeitalter koͤmmt wieder: in der Phyſik muß alles
wieder kommen. Es iſt nur zufaͤllig, nicht nothwen¬
dig, daß Voͤlker in einem gewiſſen Stufenalter, auf
einer gewiſſen muͤrben Sproſſe wieder herunter¬
ſtuͤrzen — man verwechſelt nur die letzte Stufe,
von welcher eine Nation faͤllt, mit der hoͤchſten;
die Roͤmer, bei denen keine Sproſſe ſondern die ganze
Leiter brach, mußten nicht nothwendig durch eine
Kultur ſinken *), die nicht einmal an unſere reicht.
Voͤlker haben kein Alter, oder oft geht das Greiſen¬
alter vor dem Juͤnglinsalter. Schon beim Indivi¬
duum iſt der Krebsgang des Geiſtes im Alter nur
zufaͤllig; noch weniger hat die Tugend darin eine
Sommer-Sonnenwende. — Die Menſchheit hat alſo
Q 2[244] zu einer ewigen Verbeſſerung Faͤhigkeit: aber auch
Hofnung? —


Das geſtoͤrte Gleichgewicht der eignen Kraͤfte
macht den einzelnen Menſchen elend, die Ungleich¬
heit
der Buͤrger, die Ungleichheit der Voͤlker
macht die Erde elend; ſo wie alle Winde und alle
Blitze aus der Nachbarſchaft der Ebbe und Fluth
des Aethers und der Luft entſtehen. Aber zum
Gluͤck liegts in der Natur der Berge, die Thaͤler zu
fuͤllen.


Nicht die Ungleichheit der Guͤter am meiſten —
denn dem Reichen haͤlt die Stimmen- und Faͤuſte-
Mehrheit der Armen die Wage — ſondern die Un¬
gleichheit der Kultur macht und vertheilt die politi¬
ſchen Druckwerke und Druckpumpen. Die lex agra¬
ria
in Feldern der Wiſſenſchaften geht zuletzt auch
auf die phyſiſchen Felder uͤber. Seitdem der Baum
des Erkentniſſes ſeine Aeſte aus den philoſophiſchen
Schul- und prieſterlichen Kirchenfenſtern heraus
draͤngt in den allgemeinen Garten: ſo werden alle
Voͤlker geſtaͤrkt. — Die ungleiche Ausbildung kettet
Weſtindien an den Fuß Europens, Heloten an Spar¬
ter und der eiſerne Holkopf mit dem Druͤcker auf
der Neger-Zunge ſetzt einen Holkopf anderer Art
voraus.


Bei der fuͤrchterlichen Ungleichheit der Voͤlker in
Macht, Reichthum, Kultur, kann nur ein allgemei¬
[245] nes Stuͤrmen aus allen Kompaß-Ecken ſich mit ei¬
ner dauerhaften Windſtille beſchließen. Ein ewiges
Gleichgewicht von Europa ſetzt ein Gleichgewicht der
vier uͤbrigen Welttheile voraus, welches man auch,
kleine Litrationen abgerechnet, unſerer Kugel verſpre¬
chen kann. Man wird kuͤnftig eben ſo wenig einen
Wilden als eine Inſel entdecken. Ein Volk muß
das andere aus ſeinen Toͤlpeljahren ziehen. Die
gleichere Kultur wird die Kommerzientraktate mit
gleichern Vortheilen abſchließen. Die laͤngſten Re¬
genmonate der Menſchheit — die, in die Voͤlkerver¬
pflanzungen allzeit fielen, ſo wie man Blumen allzeit
an truͤben Tagen verſetzt — haben ausgewittert.
Noch ſteht ein Geſpenſt aus der Mitternacht da,
das weit in die Zeiten des Lichts herein reicht —
Der Krieg. Aber den Wappen-Adlern wachſen
Krallen und Schnabel ſo lange, bis ſie ſich, wie
Eberhauer, kruͤmmen und ſich ſelber unbrauchbar ma¬
chen. Wie man vom Veſuv berechnete, daß er nur
zu 43 Entzuͤndungen noch Stof verſchließe: ſo koͤnnte
man auch die kuͤnftigen Kriege zaͤhlen. Dieſes lange
Gewitter, das ſchon ſeit ſechs Jahrtauſenden uͤber
unſerer Kugel ſteht, ſtuͤrmt fort bis Wolken und
Erde einander mit einem gleichen Maaß von Blitz¬
materie vollgeſchlagen haben.


Alle Voͤlker werden nur in gemeinſchaftli¬
cher
Aufbrauſung hell; und der Niederſchlag iſt
[246] Blut und Todtenknochen. Waͤre die Erde um die
Haͤlfte verengert: ſo waͤre auch die Zeit ihrer mora¬
liſchen — und phyſiſchen — Entwickelung um die
Haͤlfte verkuͤrzt.


Mit den Kriegen ſind die ſtaͤrkſten Hemmketten
der Wiſſenſchaften abgeſchnitten. Sonſt waren Kriegs¬
maſchinen die Saͤemaſchinen neuer Kentniſſe, indeß
ſie alte Ernten niederdruͤckten; ietzt iſts die Preſſe,
die den Samenſtaub weiter und ſanfter wirft. Statt
eines Alexanders brauchte jetzt Griechenland nichts
nach Aſien zu ſchicken als einen — Setzer; der Ero¬
berer inokulirt, der Schriftſteller ſaͤet.


Es iſt eine Eigenheit der Aufklaͤrung, daß ſie,
ob ſie gleich Individuen noch die Taͤuſchung und
Schwaͤche des Laſters moͤglich laͤſſet, doch Voͤlker von
Kompagnie-Laſtern und von National-Taͤuſchungen
— z. B. Strandrecht, Seeraub — erloͤſet. Die
beſten und ſchlimmſten Thaten begehen wir in Ge¬
ſellſchaft, ein Beiſpiel iſt der Krieg. Der Neger¬
handel muß in unſern Tagen, es muͤßte denn der
Unterthanenhandel anfangen, aufhoͤren.


Die hoͤchſten ſteilſten Thronen ſtehen wie die hoͤch¬
ſten Berge in den waͤrmſten Laͤndern. Die politi¬
ſchen Berge werden wie die phyſiſchen taͤglich kuͤrzer
(zumal wenn ſie Feuer ſpeien) und muͤſſen endlich
mit den Thaͤlern in Einer — Ebene liegen.


[247]

Aus allem dieſen folgt:


Es koͤmmt einmal ein goldnes Zeitalter, das je¬
der Weiſe und Tugendhafte ſchon jetzt genießet, und
wo die Menſchen es leichter haben, gut zu leben,
weil ſie es leichter haben, uͤberhaupt zu leben — wo
Individuen, aber nicht Voͤlker ſuͤndigen — wo die
Menſchen nicht mehr Freude (denn dieſen Honig zie¬
hen ſie aus jeder Blume und Blattlaus) ſondern
mehr Tugend haben — wo das Volk am Denken,
und der Denker am Arbeiten *) Antheil nimmt, da¬
mit er ſich die Heloten erſpare — wo man den krie¬
geriſchen und juriſtiſchen Mord verdammt und nur
zuweilen mit dem Pfluge Kanonenkugeln aufackert —
— Wenn dieſe Zeit da iſt: ſo ſtockt beim Ueberge¬
wicht des Guten die Maſchine nicht mehr durch
Frikzionen — Wenn ſie da iſt: ſo liegts nicht noth¬
wendig in der menſchlichen Natur, daß ſie wieder
ausarte und wieder Gewitter aufziehe: denn bisher
lag das Edle bloß im fliehenden Kampfe mit dem
uͤbermaͤchtigen Schlimmen; ſo wie es auch auf der
heiſſen S. Helenen-Insel keine Gewitter giebt. —

Wenn dieſe Feſtzeit koͤmmt: dann ſind unſre Kin¬
des Kinder — nicht mehr. Wir ſtehen am Abend
[248] und ſehen nach unſerem dunkeln Tag die Sonne
durchgluͤhend untergehen und uns den heitern ſtillen
Sabbathstag der Menſchheit hinter der letzten Wolke
verſprechen; aber unſre Nachkommenſchaft geht noch
durch eine Nacht voll Wind und durch einen Nebel
voll Gift bis endlich uͤber eine gluͤcklichere Erde ein
ewiger Morgenwind voll Bluͤtengeiſter, vor der Sonne
ziehend, alle Wolken verdraͤngend, an Menſchen ohne
Seufzer weht. Die Aſtronomie verſpricht der Erde
ein ewiges Fruͤhlingsaͤquinoktium *); und die Ge¬
ſchichte verſpricht ihr ein hoͤheres: vielleicht fallen
beide ewige Fruͤhlinge in einander. —

Wir Niedergeſenkte, da der Menſch unter den
Menſchen verſchwindet, muͤſſen uns vor der Menſch¬
heit erheben — Wenn ich an die Griechen denke:
ſo ſeh' ich, daß unſere Hofnungen ſchneller gehen
als das Schickſal. — Wie man mit Lichtern zu
Nachts uͤber die Alpen von Eis reiſet um nicht vor
den Abgruͤnden und vor dem langen Wege zu er¬
ſchrecken: ſo legt das Schickſal Nacht um uns und
reicht uns nur Fackeln fuͤr den naͤchſten Weg, da¬
mit wir uns nicht betruͤben uͤber die Kluͤfte der Zu¬
kunft und uͤber die Entfernung des Ziels. — Es gab
Jahrhunderte, wo die Menſchheit mit verbundnen
[249] Augen gefuͤhrt wurde — von einem Gefaͤngniß ins
andere; — es gab andre Jahrhunderte, wo Geſpen¬
ſter die ganze Nacht polterten und umſtuͤrzten und
am Morgen war nichts verruͤckt; es kann keine
andern Jahrhunderte geben als ſolche, wo In¬
dividuen ſterben, wenn Voͤlker ſteigen, wo Voͤlker
zerfallen, wenn das Menſchengeſchlecht ſteigt; wo
dieſes ſinkt, ſtuͤrzt, endigt mit der verſtiebenden Ku¬
gel. . . . Was troͤſtet uns? —


Ein verſchleiertes Auge hinter der Zeit, ein un¬
endliches Herz jenſeits der Welt. Es giebt eine hoͤ¬
here Ordnung der Dinge als wir erweiſen koͤnnen —
es giebt eine Vorſehung in der Weltgeſchichte und
in eines jeden Leben, die die Vernunft aus Kuͤhn¬
heit laͤugnet und die das Herz aus Kuͤhnheit glaubt
— es muß eine [Vorſehung] geben, die nach andern
Regeln, als wir bisher zum Grunde legten, dieſe ver¬
wirrte Erde verknuͤpft als Tochterland mit einer hoͤ¬
hern Stadt Gottes — es muß einen Gott, eine Tu¬
gend und eine Ewigkeit geben.


[250]

25. Hundspoſttag.

Verſtellte und wahre Ohnmacht Klotildens — Julius — Ema¬
nuels Brief über Gott —


Gutes, ſchoͤnes Geſchlecht! ſo oft ich ein demante¬
nes Herz uͤber deinem warmen haͤngen ſehe: ſo frag'
ich: traͤgſt du etwan ein abgebildetes darum auf dei¬
ner Bruſt, um dem Amor, dem Schickſal und der
Verlaͤumdung das gleiche Ziel ihrer verſchiedenen
Pfeile zu bezeichnen, wie der arme Soldat, der
kniend umgeſchoſſen wird, durch ein in Papier ge¬
ſchnittenes Herz den Kugeln ſeiner Kameraden die
Stelle des ſchlagenden anweiſt? — — Wenn dieſes
Kapitel geendigt iſt, wird mich der Leſer nicht mehr
fragen warum ichs ſo angefangen habe. . .


Es war ſchon im Maͤrz, wo die hoͤhern Staͤnde
wegen ihres ſitzenden Winterſchlafes mehr voll- als
kaltbluͤtig ſind — wers nicht weiß, denkt, ihr Ueber¬
fluß am Blute ruͤhre mehr vom Ausſaugen des frem¬
den her — wo die Krankheiten ihre Viſittenkarten
in Geſtalt der Rezepte beim ganzen Hof abgeben;
wo die Augen der Fuͤrſtin, das Aether-Embanpoint
[251] des Fuͤrſten, und die chiragriſtiſchen Haͤnde des Hof¬
apothekers die Winterſtuͤrme fortſetzten: da wars
ſchon, ſag ich, als auch Klotilde den Einfluß des
Winters und ihrer verdoppelten Abgeſchiedenheit von
Zerſtreuungen und ihres Umgangs mit ihren Phan¬
taſien jeden Tag heftiger empfand. . . . Wenn ich
aufrichtig ſeyn ſoll: ſo meſſ' ich ihrer Abgeſchieden¬
heit wenig, aber ihrem vom Wohlſtand auferlegten
Umgang mit dem edlen Maz, mit dem Schleunes¬
ſchen, mit andern kaltbluͤtigen Amphibien alles bei:
ein unſchuldiges Herz muß in dem moraliſchen Froſt¬
wetter, wie alabaſterne Gartenſtatuen im phyſiſchen,
wenn jenes und wenn dieſe weiche einſaugende Adern
haben, Riſſe bekommen und brechen.


So ſtands mit ihr an einem wichtigen Tage, wo
er bei ihr die kleine Julia fand. Dieſen geliebten
Namen legte ſie dem Kinde des Seniors bei, um
ihre Trauerſehnſucht nach ihrer todten Giulia durch
einen aͤhnlichen Klang, durch den Neſt eines Echo
zu ernaͤhren. »Dieſer Trauerton (ſagte Viktor bei
»ſich) iſt ja fuͤr ſie das willkommene ferne Rollen
»des Leichenwagens der ſie zu ihrer Jugendfreundin
»holt; und ihre Erwartung eines aͤhnlichen Schick¬
»ſals iſt ja der traurigſte Beweiß eines aͤhnlichen
»Grams.« Wenn noch etwas noͤthig war, ſeine
Freundſchaft von aller Liebe zu reinigen: ſo wars
dieſes ſchnelle Entblaͤttern einer ſo ſchoͤnen Paſſions¬
[252] blume; — gegen Leidende ſchaͤmt man ſich des klein¬
ſten Eigennutzes. — Unter dem Dialoge, von dem
ſich die eiferſuͤchtige Julia durch die Unverſtaͤndlich¬
keit ausgeſchloſſen fand, zupfte ſie an der Bedienten¬
klingel aus Verdruß: denn Maͤdgen machen ſchon
um acht Jahre fruͤher Praͤtenſionen als Knaben. Klo¬
tilde verbot dieſes Gelaͤute durch ein zu ſpaͤtes In¬
terdikt; die Kleine, erfreuet, daß ſie das hereilende
Kammermaͤdgen in Motion geſetzt hatte, ſuchte wie¬
der an der Quaſte zu zupfen. Klotilde ſagte auf
franzoͤſiſch zum Doktor: »Man darf ihr nichts zu
»monarchiſch befehlen; jetzt ruht ſie nicht bis ich
»mein aͤußerſtes Mittel verſuche.« — Julia! ſagte
ſie noch einmal mit einem weiten von Liebe uͤbergoſ¬
ſenen Auge; aber umſonſt. »Nun ſterb' ich!« ſagte
ſie ſchon dahinſterbend und lehnte das ſchoͤne von
einem ſcheidenden Genius bewohnte Haupt an den
Stuhl zuruͤck und ſchloß die tugenhaften feuchten
Augen zu, die nur in einem Himmel wieder auf¬
zugehen verdienten. Indeß Viktor mit ſchmerzenden
Augen vor dieſem heiligen Leichnam ſtand und bei
ſich dachte: »wenn ſie nun nicht mehr erwachte und
»du die ſtarre Hand vergeblich riſſeſt und es ihr
»letztes Wort auf dieſer oͤden Erde geweſen waͤre.«
»Nun ſterbe ich — o Gott, gaͤb' es dann ein ande¬
»res Mittel fuͤr die Troſtloſigkeit ihres Freundes
»als ein Schwert und die letzte Wunde? Und ich
[253] »faßte mit der kalten Hand ihre Hand und ſagte:
»ich gehe mit dir!« — indem er ſo dachte und in¬
dem die Kleine weinend die ſinkende Rechte zog: ſo
wurde ihr Angeſicht wirklich bleicher und die linke
gleitete vom Schoos herab — — hier wurde jenes
Schwert mit der Schaͤrfe uͤber ſein Herz gezogen —
— Aber bald ſchlug ſie wieder die irren Augen auf,
todesſchlaftrunken ſich beſinnend und ſchaͤmend. Sie
beſchoͤnigte die fluͤchtige Ohnmacht durch die Bemer¬
kung: »ich habe es wie jener Schauſpieler mit der
»Urne ſeines Kindes, gemacht, ich dachte mich an
»die Stelle meiner Giulia in ihrer letzten Minute,
»aber ein wenig zu gluͤcklich.« —


Er wollte eben mediziniſche Hirtenbriefe gegen
dieſe zernagende Schwaͤrmerei abfaſſen — ſo ſehr
transponirt eine ungluͤckliche Liebe jedes weibliche
Herz aus dem majore Ton in den minore Ton, ſo¬
gar einer Klotilden ihres, deren Stirn maͤnnlich und
deren Kinn ſich faſt mehr zum Muth als zur Schoͤn¬
heit erhob — als ganz andre Hirtenbriefe kamen.
Die Botenmeiſterin derſelben war Viktors gluͤckli¬
chere
Freundin — Agathe Lache wieder Leben, du
Unbefangne, in zwei Herzen, auf welche der Tod ſeinen
langen fliegenden Schatten geworfen! Sie fiel ver¬
traut in zwei freundſchaftliche Arme; aber gegen ih¬
ren Bruder Doktor, der ſo lange ſtatt des ganzen
Rumpfs nur ſeine Hand d. h. ſeine Briefe nach St.
[254] Luͤne hatte gehen laſſen, war ſie noch ſcheu. Ich
kann aber ſeinen Fehler, aus einem Hauſe, das er
ein Vierteljahr aus Gruͤndea gemieden, nachher
noch ein zweites ohne Gruͤnde wegzubleiben, ich
kann dieſen Fehler nicht ganz verdammen, weil ich
ihn — ſelber habe. — Sie konnte ſich nicht ſatt an
ihm ſehen: ihr bluͤhendes Landgeſicht wies ihm ſtatt
ſeiner jetzigen Karwochen des Grames, eine Roͤthel¬
zeichnung
ſeiner und ihrer dahin geflatterten Freu¬
dentage im Pfarrgarten. Er verhies ihr feierlich,
ihr Oſtergaſt zu ſeyn mit ihrem Bruder und ſtatt
der Koͤpfe und Fenſter einander nichts einzuſchlagen
als Eier: er raſtete nicht bis er der Alte wieder
war, und ſie die Alte. Da ſie die Langduodez Ge¬
ſchichte des Dorfes und Vaters den zwei nur aus
Liebe laͤchelnden Hofleuten gar nicht als eine Epito¬
matorin oder in einer kaſtrirten Ausgabe ablieferte,
ſondern in der Laͤnge ihrer Ruͤckenbaͤnder: ſo fuͤhlten
Klotilde und Viktor, wie wohl ihnen dieſes Nieder¬
ſteigen von den bunten ſpitzen Hofgletſchern in die
weichen Thaͤler der mittlern Staͤnde that und ſie
ſehnteu ſich beide weg von glatten Herzen an war¬
me. Unter den Menſchen und Borsdorferaͤpfeln ſind
nicht die glatten die beſten, ſondern die rauhen mit
einigen Warzen. Dieſes Sehnen nach aufrichtigern
Seelen war es auch wohl, was aus Klotilden die
Behauptung preſte: es gebe nur Mißheirathen zwi¬
[255] ſchen den Seelen, nicht zwiſchen den Staͤnden. Da¬
her kam ihre wachſende Liebe gegen die außer dem
Lohkaſten eines Stammbaums, nur in der Gemein¬
hut gruͤnende Agathe — welche Liebe einmal ich und
der Leſer im erſten Bande aus Scharfſicht fuͤr den
Deckmantel einer andern Liebe gegen Flamin erklaͤrt
haben und die uns beiden den Tadel gegen eine Hel¬
din abgewoͤhnen ſollte, die ihn hintennach immer
widerlegt. —


Auf der dicken Brieftaſche, die Agathe brachte,
war die Handſchrift der Adreſſe von — Emanuel,
welchen Klotilde alles an die Pfarrerin kouvertiren
ließ, um ihrer Stiefmutter das — Zumachen ihrer
Briefe abzunehmen. Die Frau Le Baut hatte dieſe
Einſicht der Akten, dieſe Sokrates Hebammenkunſt
im Miniſterio erlernt, das ein Recht beſitzt Hausſu¬
chung in den Briefen aller Unterthanen zu thun,
weil es ſie entweder fuͤr Peſtkranke oder fuͤr Ge¬
fangne halten kann wenn es will. — Waͤhrend die
Stieftochter im Nebenzimmer das aͤußere Paquet
erbrach, weil ſie aus ſeiner Dicke einen Einſchluß
fuͤr den Doktor prophezeiete; hauchte letzterer aus
Zufall — oder aus Abſicht: denn ſeit einiger Zeit
legte er uͤberall ſeine Entzifferungskanzleien der Wei¬
ber an, im engſten Winkel, in jeder Kleidfalte, in
den Spuren geleſener Buͤcher — haucht' er ſagt' ich
zufaͤlliger Weiſe an die Fenſterſcheiben, auf denen
[256] man ſodann leſen kann, was ein warmer Finger
daran geſchrieben hat. Es traten nach dem unwil¬
kuͤhrlichen Hauche lauter franzoͤſiſche, mit dem Fin¬
gernagel ſkizzirte Anfangs »S heraus. v. S!« —
dacht' er — »das iſt ſonderbar: ich fange mich ſel¬
ber ſo an.«


Seine Hypotheſen brach die mit einem ſeeligent¬
woͤlkten Angeſicht wiederkommende Klotilde ab, die
dem denkenden Medikus einen großen Brief von Da¬
hore reichte. Nach dieſer zweiten Freude folgte
ſtatt der dritten eine Neuigkeit: ſie eroͤfnete ihm
jetzt, »daß endlich Emanuel ſie in Stand geſetzt,
»eine gehorſame, wenn auch nicht glaͤubige Pazientin
»zu ſeyn.« Sie hatte naͤmlich bisher den Vorſatz
ihres Gehorſams und ihrer Fruͤhlingskur ſo lange
verſchwiegen bis ihr Freund in Maienthal ihr ein
Krankenzimmer — gerade Giulias ihres — bei der
Aebtiſſin auf einige Fruͤhlingsmonate ausgewirket
hatte, damit da das Fruͤhlingswehen ihre geſunknen
Schwingen hebe, der Blumenduft das zerſpaltne Herz
ausheile und der große Freund die große Freundin
aufrichte.


Viktor entwich eilend, nicht allein aus Hunger
und Durſt nach dem Inhalte ſeiner Hand, ſondern
weil eine neue Gedankenfluth durch ſeine alten Ideen¬
reihen brach. — »Baſtian! (ſagte Baſtian unterwegs
»zu ſich) ich hielt dich oft fuͤr dumm, aber fuͤr ſo
»dumm[257] »dumm nicht, — Nein, es iſt ſuͤndlich, wenn ein
»Mann, ein Hof Medikus, ein Denker, Monate
»lang daruͤber ſpintiſiret, oft halbe Abende und doch
»die Sache nicht eher herausbringt als wenn er ſie
»hoͤrt, jetzt erſt — Warlich, ſogar das Fenſter S
»paſſet an!« — Ich und der Leſer wollen ihm das
aus den Haͤnden nehmen, womit er ſich hier vor uns
ſteinigt: denn er wirft nach uns beiden eben ſo gut,
weil wir eben ſo gut nichts errathen haben wie er.
Kurz, der verſteckte Gluͤckliche der die ſchoͤne Klo¬
tilde zur Ungluͤcklichen macht und fuͤr den ſie
ihre ſtumme ſcheue Seele ausſeufzet und der fuͤr
ihre meiſten Reize gar keine Augen hat, iſt
der blinde — Julius in Maienthal. Daher will
ſie hin.


Ich wollt' einen Folioband mit den Beweiſen
davon vollbringen: Viktor zaͤhlte ſie ſich an ſeinen
fuͤnf Fingern ab. Beim Daumen ſagt' er: »des Ju¬
»lius wegen, ſucht ſie die kleine Julia, ſo iſts auch
»mit Giulia« — beim Schreibfinger ſagte er: »das
franzoͤſiſche Anfangs J ſieht wie ein S ohne Queer¬
ſtrich aus« — beim Mittelfinger: »die Minerva
»hat ihm ja nicht bloß die Floͤte ſondern auch Mi¬
»nervens ſchoͤnes Geſicht beſcheert, und in dieſes
»blinde Amors Geſicht konnte Klotilde ſich ohne Er¬
»roͤthen vertiefen: ſchon aus Liebe gegen ſeinen
»Freund Emanuel haͤtte ſie ihn geliebt« — Beim
Heſperus. II Th. R[258] Ringfinger: »daher ihre Vertheidigung der Mißhei¬
»rathen, da ſein buͤrgerlicher Ringfinger an ihren
»adelichen kommen ſoll« — Beim Ohrfinger: »beim
»Himmel! das alles beweiſet nicht das Geringſte.«


Denn nun uͤberſtroͤmten ihn erſt die ganzen Be¬
weiſe: im erſten Bande dieſes [Buchs] kam oft ein
unbekannter Engel zu Julius und ſagte »ſey fromm,
»ich ſchweb' um dich, ich beſchirme deine eingehuͤllte
»Seele — ich gehe in den Himmel zuruͤck:« —


Zweitens: dieſer Engel gab einmal Julius ein
Blatt und ſagte, »verbirg es und nach einem Jahr-
»wenn die Birken im Tempel gruͤnen, laß' es dir
»von Klotilden vorleſen; ich entfliehe und du hoͤrſt
»mich nicht eher als uͤber ein Jahr.« — — Alles
das lag ja Klotilden wie angegoſſen an: ſie konnte
dem Blinden nie ihr ſterbendes Herz aufdecken —
ſie ging gerade jetzt (wie lange iſt noch auf Pfing¬
ſten?) nach Maienthal, um das Blatt, das ſie ihm
in der Karaktermaſke eines Engels gereicht, ſelber
vorzuleſen — endlich ging ſie ja gerade damals nach
St. Luͤne ab — — — kurz, aufs Haar quadrirt's.


Wenn der Biograph ein Wort darein ſprechen
duͤrfte: ſo waͤr' es dieſes: der Berghauptmann, der
Biograph glaubt ſeines Orts alles recht gern; aber
Klotilden, die bisher aus jedem Schmutznebel weiß
ſtrahlend herausging und an der man wie an der
Sonne ſo oft Wolken mit Sonnenflecken ver¬
[259] mengte, kann er ſo lange nicht tadeln bis ſie es ſel¬
ber vorher thut.


Viktor riß das Paquet entzwei und zwei Blaͤtt¬
gen fielen aus einem großen Blatte heraus. Das
eine Blaͤttgen und das große Blatt waren von Ema¬
nuel, das zweite vom Lord. Er ſtudirte das letztere
in doppelten Chiffern geſchriebne zuerſt; folgendes:


»Im Herbſt komm' ich wenn die Aepfel reifen.
»— Die Dreieinigkeit (der Lord meint des Fuͤrſten
»drei Soͤhne) iſt gefunden; aber die vierte Perſon
»in der Gottheit (der vierte luſtige Sohn) fehlet.
»— Fliehe aus dem Pallaſte der Kaiſerin aller Reuſ¬
»ſen (— mit dieſer Chiffer hatten beide den Miniſter
»Schleunes zu bezeichnen verabredet —) aber die
»Großfuͤrſtin (Joachime) meide noch mehr: ſie will
»nicht lieben ſondern herrſchen, ſie will kein Herz
»ſondern einen Fuͤrſtenhut. — Denk an die Inſel,
»eh' du fehleſt.«


Viktor erſtaunte anfangs uͤber die zufaͤllige An¬
gemeſſenheit dieſer Verbote; aber da er ſich bedachte,
daß er ſie ihm ſchon auf der Inſel gegeben haben
wuͤrde, wenn ſie ſich nicht auf ſeine neuern Bege¬
benheiten bezogen: ſo erſtaunt' er noch mehr uͤber
die Kanaͤle, durch welche ſeinem Vater die Spionen-
Depeſchen von ſeinen jetzigen Verhaͤltniſſen zugekom¬
men ſeyn moͤgen (— koͤnnte denn nicht mein Korre¬
ſpondent und Spion auch des Vaters ſeiner ſeyn?)
R 2[260] — und am meiſten uͤber die Warnung vor Joachi¬
men. »O! wenn dieſe gegen mich falſch waͤre!«
ſagt' er ſeufzend und mochte das truͤbe Bild und
den Seufzer nicht vollenden. — — Sondern er ver¬
trieb beide durch das kleine Blatt von Emanuel,
das ſo klang:


Mein Sohn,


»Die Morgenroͤthe des Neujahrs ſchien uͤber
den Schnee an mein Angeſicht, da ich das Papier
hinlegte (Emanuels zweiten ſogleich folgenden Brief,)
auf das ich zum letztenmale meine Seele mit allen
ihren uͤber dieſe Kugel hinausreichenden Bildern ab¬
zudruͤcken ſuchte. Aber die Flammen meiner Seele
wehen bis zum Koͤrper und ſengen den muͤrben Le¬
bensfaden ab: ich mußte oft die blutende Bruſt vom
Papier und von der Entzuͤckung wegwenden.


Ich habe, mein Sohn, mit meinem Blut an dich
geſchrieben. — Julius dankt jetzt Gott. — Der
Lenz gluͤht unter dem Schnee und richtet ſich bald
auf aus dem Gruͤnen und bluͤht bis an die Wolken.
— Meine Tochter (Klotilde) fuͤhrt den Fruͤhling an
der Hand und koͤmmt zu mir — — Sie nehme mei¬
nen Sohn in die andre Hand und lege ihn an meine
Bruſt, worin ein zerlaufender Athem iſt und ein
ewiges Herz. . . O wie toͤnen die Abendglocken des
Lebens ſo melodiſch um mich! — Ja wenn du und
[261] deine Klotilde und unſer Julius wenn wir alle die
wir uns lieben, beiſammen ſtehen; wenn ich eure
Stimmen hoͤre: ſo werd' ich gen Himmel blicken
und ſagen: die Abendglocken des Lebens umtoͤnen
mich zu wehmuͤthig, ich werde vor Entzuͤckung noch
fruͤher ſterben als vor dem laͤngſten Tage und eh'
mir mein verewigter Vater erſchienen iſt.


Emanuel.


Lieber Emanuel, das wirſt du leider! Der Freu¬
den-Himmel dringt an deinen Mund und unter We¬
hen, unter Toͤnen, unter Kuͤſſen ſaugt er dir den
flackernden Athem aus: denn der Erdenleib, der nur
graſen nicht pfluͤcken will, verdauet nur nie¬
drige
Freuden und erkaltet unter dem Strahl ei¬
ner hoͤhern Sonne! — —


Mit Ruͤhrung zieh' ich jetzt von Viktors entzwei
gedruͤcktem unkentlichen Angeſicht den Schleier weg,
der ſeine Schmerzen bedeckt. Laß dich anſchauen,
troſtloſer Menſch, der einem Fruͤhling entgegen geht,
wo ſein Herz alles verlieren ſoll, Emanuel durch den
Tod, Klotilde durch Liebe, Flamin durch Eiferſucht,
ſogar Joachime durch Argwohn! Laß dich anſchauen,
Verarmter, ich weiß, warum dein Auge noch trocken
iſt und warum du gebrochen und den Kopf ſchuͤt¬
[262] telnd ſagſt: »Nein, mein theurer Emanuel, ich
komme nicht, denn ich kann ja nicht« — Es aͤzte
ſich in dein Herz am tiefſten, daß gerade dein treuer
Emanuel noch glaubte, du wuͤrdeſt von ſeiner Freun¬
din geliebt. — Der unentwickelte Schmerz iſt ohne
Thraͤne und ohne Zeichen; aber wenn der Menſch
das Herz voll zuſammenfließender Wunden durch
Phantaſie aus dem eignen Buſen zieht und die
Stiche zaͤhlt und dann vergiſſet, daß es ſein
eignes iſt: ſo weint er mitleidig uͤber das was ſo
ſchmerzhaft in ſeinen Haͤnden ſchlaͤgt und dann be¬
ſinnt er ſich und weint noch mehr. — Viktor wollte
gleichſam die ſtarre Seele aus den gefrornen Thraͤ¬
nen waͤrmend loͤſen und ging ans Erkerfenſter und
malte ſich, indeß die verhaltene Abendgluth des
Maͤrzes aus dem Gewoͤlke uͤber den Maienthaliſchen
Bergen brannte, Klotildens Vermaͤhlungstag mit
Julius vor — O er zog, um ſich recht wehe zu thun,
einen Fruͤhlingstag uͤber das Thal, der Genius der
Liebe ſchlug uͤber dem Traualtar den blauen Himmel
auf und trug die Sonne als Brautfackel ohne Wolken¬
dampf durch die reine Unermeßlichkeit. — Da ging
an jenem Tage Emanuel verklaͤrt, Julius blind aber
ſeelig, Klotilde erroͤthend und laͤngſt geneſen und je¬
der war gluͤcklich — Da ſah er nur einen einzigen
Ungluͤcklichen in den Blumen ſtehen, ſich naͤmlich,
da ſah er, wie dieſer Betruͤbte wortkarg vor Schmer¬
[263] zen, froͤhlich aus Tugend, naͤher und vertrauter mit
der Braut aus Kaͤlte, ſo ungekannt, eigentlich ſo
entbehrlich mit herum geht, wie ihm das ſchuldloſe
Paar mit jedem Zeichen der Liebe alles vorrechnet,
was er verloren, oder gar aus Schonung dieſe Zei¬
chen verhehlt, weil es ſeinen Gram erraͤth — gleich
einer Lohe fuhr dieſer Gedanke wider ihn — und
wie er endlich, weil die beladene Vergangenheit alle
ſeine getoͤdteten Hofnungen und ſeine entfaͤrbten
Wuͤnſche vor ihn traͤgt, ſich umwendet, wenn das
geliebte Paar von ihm zum Altar und zum ewigen
Bunde geht, wie er ſich troſtlos umwendet ſag' ich,
nach den ſtillen leeren Fluren, um unendlich viel zu
weinen und wie er dann ſo allein und dunkel in
der ſchoͤnen Gegend bleibt und zu ſich ſagt: »deiner
»nimmt ſich heute kein Menſch an — niemand
»druͤckt deine Hand, und niemand ſagt: Viktor,
»warum weinſt du ſo? — O dieſes Herz iſt ſo voll
»unausſprechlicher Liebe wie eines, aber es zerfaͤllt
»ungeliebt, und ungekannt und niemand ſtoͤrt ſein
»Sterben und ſein Weinen — Doch, doch, o Ju¬
»lius, o Klotilde wuͤnſch' ich euch ewiges Gluͤck
»und lauter zufriedne Tage« ... Dann konnt' er
nicht mehr: er legte die Augen in die Hand und an
den Fenſterrahmen und erlaubte ihnen alles und
dachte nichts mehr: der Schmerz, der wie eine Klap¬
perſchlange mit aufgeriſſenem Rachen ihn und ſein
[264] thraͤnenloſes Entgegentaumeln angeſchauet hatte, druͤck¬
te ihn jetzt ergriffen und hineingeſchlungen ausein¬
ander. . . .


Weiche Herzen, ihr quaͤlet euch auf dieſer felſig¬
ten Erde ſo ſehr wie harte den Andern, — den
Funken, der nur eine Brandwunde macht, ſchwinget
ihr zum Feuerrade um und unter den Bluͤten iſt
euch ein ſpitzes Blatt ein Dorn! . . . Aber warum,
ſag' ich zu mir, zeigſt du deines Freundes ſeines und
oͤfneſt entfernte aͤhnliche Wunden an geheilten Men¬
ſchen? — O antwortet fuͤr mich, ihr, die ihr ihm
gleicht: moͤchtet ihr eine einzige Thraͤne entbehren?
Und da die Leiden der Phantaſie unter die Freuden
der Phantaſie gehoͤren: ſo iſt ja ein naſſes Auge und
ein ſchwerer Athemzug das geringſte, womit wir eine
ſchoͤne Stunde kaufen. . . .


— Der Stolz — die beſte Widerlage gegen
weibliche Thraͤnen — wiſchte ſie meinem Helden ab
und ſagte ihm vor: »Du biſt ſo viel werth wie die,
»die gluͤcklicher ſind; und wenn ungluͤckliche Liebe
»dich bisher ſchlimm machte, ach wie gut koͤnnte
»dich nicht die gluͤcklich machen!« — Es war Stille
in ihm: und außer ihm; die Nacht war am Him¬
mel; — er las Emanuels Brief.


[265]

Mein Horion!


Vor einigen Stunden hat die Zeit ihre Sand¬
uhr umgekehrt und jetzt rieſelt der Staub eines
neuen Jahres nieder. — Der Uranus ſchlaͤgt unſe¬
rer kleinen Erde die Jahrhunderte, die Sonne ſchlaͤgt
die Jahre, der Mond die Monate; und an dieſer
aus Welten zuſammengeſetzten Konzertuhr treten die
Menſchen als Bilder heraus, die freudig rufen und
toͤnen, wenn es ſchlaͤgt.


Auch ich trete froh herans unter das ſchoͤne Neu¬
jahrsmorgenroth das durch alle Wolken glimmt und
den hohen halben Himmel heraufbrennt. In einem
Jahre ſeh' ich aus einer andern Welt in die Sonne:
o wie wallet dieſes letztemal mein Herz unter dem
Erdengewoͤlk von Liebe uͤber gegen den Vater dieſer
ſchoͤnen Erde, gegen ſeine Kinder und meine Ge¬
ſchwiſter, gegen dieſe Blumenwiege, worin wir nur
Einmal erwachen und unter ihrem Wiegen an der
Sonne, nur Einmal entſchlafen!


Ich erlebe keinen Sommertag mehr, darum will
ich den ſchoͤnſten, wo ich mit deinem Julius *) zum
erſtenmale bebend durch Lichtwolken und durch Harmo¬
nien drang und mit ihm vor einem donnernden Throne
niederfiel und zu ihm ſagte: »oben in der unerme߬
[266] »lichen Wolke, die man die Ewigkeit nennt, wohnt
»der der uns geſchaffen hat und liebt« — dieſen
Tag will ich heute in meiner Seele wiederho¬
len; und nie erloͤſche er auch in meinem Julius und
Horion!


Ich habe oft zu meinem Julius geſagt: »ich habe
»dir den groͤßten Gedanken des Menſchen, der ſeine
»Seele zuſammenbeugt und doch wieder aufrichtet
»auf ewig, noch nicht gegeben: aber ich ſage dir
»ihn an dem Tage, wo dein und mein Geiſt am
»reinſten iſt oder wo ich ſterbe:« Daher bat er
mich oft, wenn ſein Engel bei ihm geweſen war
oder wenn die Floͤte und die ſchauernde Nacht oder
der Sturm ihn erhoben hatte: »ſage mir, Emanuel,
den groͤßten Gedanken des Menſchen!« —


Es war an einem holden Juliusabend, wo mein
Geliebter an meinem Buſen auf dem Berge unter
der Trauerbirke lag und weinte und mich fragte:
»Sage mir, warum ich dieſen Abend ſo ſehr weine?
»— Thuſt Du es denn nie, Emanuel? Es fallen
»aber auch warme Tropfen von den Wolken auf
»meine Wangen.« — Ich antwortete: »im Him¬
»mel ziehen kleine warme Nebel herum und ver¬
»ſchuͤtten einige Thautropfen; aber geht nicht der
»Engel in deiner Seele auf und nieder? Denn du
»ſtreckeſt deine Hand aus, um ihn anzuruͤhren.« —
Julius ſagte: »Ja, er ſteht vor meinen Gedanken;
[267] »aber ich wollte nur dich anruͤhren: denn der Engel
»iſt ja aus der Erde gegangen und ich ſehne mich
»recht nach ſeiner Stimme. In mir wallen Traum¬
»geſtalten in einander, aber ſie haben keine ſo hel¬
»len Farben wie im Schlafe — holde laͤchelnde An¬
»geſichter blicken mich an und kommen mit aufge¬
»breiteten Schattenarmen auf mich und winken mei¬
»ner Seele und zerfließen, eh' ich ſie an mein Herz
»andruͤcke — Mein Emanuel, iſt denn dein Ange¬
»ſicht nicht mit unter meinen Schattengeſtalten?«
Hier ſchloß er ſein naſſes Angeſicht gluͤhend an mei¬
nes, das ihm abgeſchattet vorzuſchweben ſchien: eine
Wolke ſprengte das Weihwaſſer des Himmels uͤber
unſre Umarmung und ich ſagte: wir ſind heute ſo
weich bloß durch das was uns umringt und was ich
jetzt ſehe. — Er antwortete: »o ſage mir es, was
»du ſieheſt und hoͤre nicht auf bis die Sonne hin¬
»abgegangen iſt.«


Mein Herz ſchwamm in Liebe und zitterte in
Entzuͤcken, unter meiner Rede: »Geliebter, die Erde
»iſt heute ſo ſchoͤn, das macht ja den Menſchen
»weicher — der Himmel ruht kuͤſſend und liebend
»an der Erde wie ein Vater an der Mutter, und
»ihre Kinder, die Blumen [und] die ſchlagenden Her¬
»zen, fallen in die Umarmung ein und ſchmiegen
»ſich an die Mutter. — Der Zweig hebt leiſe ſeinen
»Saͤnger auf und nieder, die Blume wiegt ihre
[268] »Biene, das Blatt ſeine Muͤcke und ſeinen Honig¬
»tropfen — den ofnen Blumenkelchen haͤngen die
»warmen Thraͤnen, in die ſich Wolken zertheilen,
»gleichſam in den Augen und meine Blumenbeete
»tragen den aufgebauten Regenbogen und ſinken
»nicht — Die Waͤlder liegen ſaugend am Himmel
»und trunken von Wolken ſtehen alle Gipfel in
»ſtiller Wolluſt feſt — Ein Zephyr nicht ſtaͤrker als
»ein warmer Seufzer der Liebe hauchet vor unſern
»Wangen vorbei unter die rauchenden Kornbluͤten
»und treibt Samen-Staubwolken auf, und ein Luͤſt¬
»gen ums andre gaukelt und ſpielt mit den fliegen¬
»den Ernten der Laͤnder, aber es legt ſie uns hin,
»wenn es geſpielt hat — — O Geliebter; wenn alles
»Liebe iſt, alles Harmonie, alles liebend und geliebt,
»alle Fluren Ein berauſchender Bluͤtenkelch, dann
»ſtreckt wohl auch im Menſchen der hohe Geiſt die
»Arme aus und will mit ihnen einen Geiſt um¬
»ſchlingen und dann, wenn er die Arme nur an
»Schatten zuſammenlegt, dann wird er ſehr traurig
»vor unendlicher, vor unausſprechlicher Sehnſucht
»nach Liebe.« —


Emanuel, ich bin auch traurig, ſagte mein
Guter.


»Siehe die Sonne zieht hinab, die Erde huͤllet
»ſich zu — laß mich alles noch ſehen und zu dir
»ſagen . . . . Jetzt fliehet eine weiſſe Taube, wie
[269] »eine große Schneeflocke, blendend uͤber das tiefe
»Blau. . . Jetzt zieht ſie um den Goldfunken des
»Gewitterableiters herum gleichſam um einen im
»Taghimmel aufgehangenen glimmenden Stern —
»o ſie woget und woget und ſinkt und verſchwin¬
»det in den hohen Blumen des Gottesackers. . . .
»Julius, fuͤhlteſt du nichts da ich ſprach? Ach die
»weiſſe Taube war vielleicht dein Engel und darum
»zerfloß heute vor ſeiner Naͤhe dein Herz — Die
»Taube fliegt nicht auf, aber Thau Wolken, wie
»abgeriſſene Stuͤcke aus Sommernaͤchten mit einem
»Silberrand, ziehen uͤber Gottesacker und uͤber¬
»faͤrben die bluͤhenden Graͤber mit Schatten. . . .
»Jetzt ſchwimmt ein ſolcher vom Himmel fallender
»Schatten auf uns her und uͤberſpuͤlt unſern Berg
»— — Rinne, rinne, fluͤchtige Nacht, Bild des Le¬
»bens und verdecke mir die fallende Sonne nicht
»lange! . . . Unſer Woͤlkgen ſteht in Sonnenflam¬
»men. . . o du Holde, ſo ſanft hinter dem Erden¬
»ufer zuruͤckblickende Sonne, du Mutterauge der
»Welt, dein Abendlicht vergießeſt du ja ſo warm
»und langſam wie rinnendes Blut aus dir und er¬
»blaſſeſt ſinkend, aber die Erde, in Fruchtſchnuͤren
»und Blumenguirlanden aufgehangen und an dich
»gelegt, roͤthet ſich neugeſchaffen und vor ſchwellen¬
»der Kraft. . . . Hoͤre, Julius, jetzt toͤnen die Gaͤr¬
»ten — die Luft ſummet — die Voͤgel durchkreuzen
[270] »ſich rufend — der Sturmwind hebt den großen
»Fluͤgel auf und ſchlaͤgt an die Waͤlder: hoͤre, ſie
»geben das Zeichen, daß unſre gute Sonne geſchie¬
»den iſt. . . .


»Ach Julius, Julius (ſagt ich und umfaßte ſeine
»Bruſt) die Erde iſt groß — aber das Herz das
»auf ihr ruht, iſt noch groͤßer als die Erde und groͤ¬
ȧer als die Sonne. . . Denn es allein denkt den
»groͤßten Gedanken


Ploͤtzlich ging es vom Sterbebette der Sonne
kuͤhl wie aus einem Grabe daher. Das hohe Luft¬
meer wankte und ein breiter Strom, in deſſen Bette
Waͤlder niedergebogen lagen, brauſte durch den Him¬
mel die Laufbahn der Sonne zuruͤck. Die Altaͤre
der Natur, die Berge, waren wie bei einer großen
Trauer ſchwarz uͤberhuͤllt. Der Menſch war vom
Nebelgewoͤlbe auf die Erde eingeſperrt und geſchieden
vom Himmel — Am Fuße des Gewoͤlbes leckten
durchſichtige Blitze und der Donner ſchlug dreimal
an das ſchwarze Gewoͤlbe — Aber der Sturm rich¬
tete ſich auf und riß es auseinander — Der Sturm
trieb die fliegenden Truͤmmer des zerbrochenen Ge¬
faͤngnißes durch das Blau und warf die zerſtuͤckten
Dampfmaſſen unter den Himmel hinab — und noch
lange brauſt' er allein uͤber die ofne Erde fort durch
[271] die lichte gereinigte Ebene. . . . Aber uͤber ihm,
hinter dem weggeriſſenen Vorhang glaͤnzte das Al¬
lerheiligſte, die Sternennacht. —


Wie eine Sonne ging der groͤßte Gedanke des
Menſchen am Himmel auf — meine Seele wurde
eingedruͤckt, wenn ich gen Himmel ſah — ſie wurde
aufgehoben, wenn ich auf die Erde ſah —


Denn der Unendliche hat in den Himmel ſeinen
Namen in gluͤhenden Sternen geſaͤet, aber auf die
Erde hat er ſeinen Namen in ſanften Blumen
geſaͤet.


»O Julius, ſagt ich, biſt du heute gut geweſen?«
— Er antwortete: »Ich habe nichts gethan außer
»Weinen.«


»Julius knie nieder und entferne jeden boͤſen
Gedanken — hoͤre meine Stimme beben, fuͤhle meine
Hand zittern — ich knie neben dir.


»Wir knien hier auf dieſer kleinen Erde vor der
Unendlichkeit, vor der unermeßlichen uͤber uns ſchwe¬
benden Welt, vor dem leuchtenden Umkreis des
Raums. Erhebe deinen Geiſt und denke was ich
ſehe. Du hoͤrſt den Sturmwind, der die Wolken
um die Erde treibt — aber du hoͤrſt den Sturm¬
wind nicht, der die Erden um die Sonne treibt,
und den groͤßten nicht, der hinter den Sonnen weht
und ſie um ein verhuͤlltes Univerſum fuͤhrt, das mit
Sonnenflammen im Abgrund liegt. — Trete von
[272] der Erde in den leeren Aether: hier ſchwebe und
ſiehe ſie zu einem fliegenden Gebirge einſchwinden
und mit ſechs andern Sonnenſtaͤubgen um die Sonne
ſpielen — ziehende Berge, denen Huͤgel*) nach¬
flattern, ſtuͤrzen voruͤber vor dir und ſteigen hinauf
und hinab vor dem Sonnenſchein — dann ſchau' um¬
her im runden, blitzenden, hohen, aus kryſtalliſirten
Sonnen erbaueten Gewoͤlbe, durch deſſen Ritzen die
unermeßliche Nacht ſchauet, in der das funkelnde
Gewoͤlbe haͤngt — Du fliegſt Jahrtauſende, aber du
trittſt nicht auf die letzte Sonne und in die große
Nacht hinaus — Du ſchließeſt das Auge zu und
wirfſt dich mit einem Gedanken uͤber den Abgrund
und uͤber die ganze Sichtbarkeit und wenn du es
wieder oͤfneſt, ſo umkreiſen dich, wie Seelen Gedan¬
ken, neue hinauf und hinabſtuͤrmende Stroͤme aus
lichten Wellen von Sonnen, aus dunkeln Tropfen
von Erden, und neue Sonnenreihen ſtehen einander
wieder aus Morgen und Abend entgegen — und das
Feuerrad einer neuen Milchſtraße waͤlzt ſich um im
Strom der Zeit — Ja dich ruͤcke eine unendliche
Hand aus dem ganzen Himmel, du flieheſt zuruͤck
und hefteſt dein Auge auf das erblaſſende eintrock¬
nende
[273] nende Sonnenmeer, endlich ſchwebt die entfernte
Schoͤpfung nur noch als ein bleiches ſtilles Woͤlkgen
tief in der Nacht, du duͤnkſt dich allein und ſchaueſt
dich um und — — eben ſo viele Sonnen und Milch¬
ſtraßen flammen herunter und hinauf und das bleiche
Woͤlkchen haͤngt noch zwiſchen ihnen bleicher und
auſſen um den ganzen blendenden Abgrund ziehen
ſich lauter bleiche ſtille Woͤlkgen. — —


O Julius, o Julius zwiſchen den wandelnden
Feuerbergen, zwiſchen den von einem Abgrund in
den andern geſchleuderten Milchſtraßen da flattert
ein Bluͤtenſtaͤubgen, aus ſechs Jahrtauſenden und
dem Menſchengeſchlecht gemacht — Julius, wer er¬
blickt und wer verſorgt das flatternde Staͤubgen,
das aus allen unſern Herzen beſteht? —


»Ein Stern wurde jetzt herabgeſchlagen. Falle
willig, Stern in die Luft der Erde geheftet, auch
die Sterne uͤber der Erde taumeln wie du in ihre
entlegnen Graͤber herab — das Weltenmeer ohne
Ufer und ohne Grund quillet hier, verſieget dort die
Muͤcke, die Erde, fliegt um das Sonnenlicht und
ſinkt in das Licht und zerbroͤckelt — O Julius, wer er¬
blickt und erhaͤlt das flatternde Staͤubgen auf der Muͤcke,
mitten im gaͤhrenden, gruͤnenden, verwitternden Chaos?
O Julius, wenn jeder Augenblick einen Menſchen
und eine Welt zerlegt — wenn die Zeit uͤber die
Kometen geht und ſie austritt wie Funken und die
Heſperus. II. Th. S[274] verkohlten Sonnen zerreibt — wenn die Milchſtra¬
ßen nur wie zuruͤckfahrende Blitze aus dem großen
Dunkel dringen — wenn eine Weltenreihe um die
andere in den Abgrund hinuntergezogen wird, wenn
das ewige Grab nie voll und der ewige Sternenhim¬
mel nie leer wird: o mein Geliebter, wer erblickt
und erhaͤlt denn uns kleine Menſchen aus Staub?
— Du, Allguͤtiger, erhaͤlſt uns, du, Unendlicher, du,
o Gott, du bildeſt uns, du ſieheſt uns, du liebeſt
uns — O Julius, erhebe deinen Geiſt und faſſe den
groͤßten Gedanken des Menſchen! Da wo die Ewig¬
keit iſt da wo die Unermeßlichkeit iſt, und wo die
Nacht anfaͤngt, da breitet ein unendlicher Geiſt ſeine
Arme aus und legt ſie um das große fallende Wel¬
ten-All und traͤgt es und waͤrmt es. Ich und du
und alle Menſchen und alle Engel und alle Wuͤrm¬
gen ruhen an ſeiner Bruſt und das brauſende ſchla¬
gende Welten- und Sonnenmeer iſt ein einziges
Kind in ſeinem Arm. Er ſiehet durch das Meer
hindurch, worin Korallenbaͤume voll Erden ſchwan¬
ken und ſieht an der kleinſten Koralle das Wuͤrm¬
gen kleben, das ich bin und er giebt dem Wuͤrmgen
den naͤchſten Tropfen und ein ſeeliges Herz und eine
Zukunft und ein Auge bis zu ihm hinauf — ja, o
Gott, bis zu dir hinauf, bis an dein Herz.« —


Unausſprechlich geruͤhrt ſagte weinend Julius:
»Du ſiehſt, o Geiſt der Liebe, alſo auch mich armen
[275] Blinden — o! komm' in meine Seele, wenn ſie
allein iſt und wenn es warm und ſtill auf meine
Wangen regnet und ich dazu weine, und eine un¬
ausſprechliche Liebe fuͤhle: ach du guter großer Geiſt,
dich hab' ich gewiß bisher gemeint und geliebt! —
Emanuel, ſag' mir noch viel, ſage mir ſeine Gedan¬
ken und ſeinen Anfang.«


Gott iſt die Ewigkeit, Gott iſt die Wahrheit,
Gott iſt die Heiligkeit — er hat nichts, er iſt alles
— das ganze Herz faſſet ihn, aber kein Gedanke
und Er denkt nur uns wenn wir ihn denken.
— — Alles Unendliche und Unbegreifliche im Men¬
ſchen iſt ſein Wiederſchein; aber weiter denke dein
Schauder nicht. Die Schoͤpfung haͤngt als Schleier,
der aus Sonnen und Geiſtern gewebt iſt, uͤber
dem Unendlichen und die Ewigkeiten gehen vor dem
Schleier vorbei und ziehen ihn nicht weg von dem
Glanze, den er verhuͤllet.«


Stumm gingen wir Hand in Hand den Berg
hinab, wir vernahmen den Sturmwind nicht vor der
Stimme unſerer Gedanken, und als wir in unſere
Huͤtte traten, ſagte Julius: ich werde den groͤßten
Gedanken des Menſchen immer denken, unter dem
Toͤnen meiner Floͤte, unter dem Brauſen des Sturms
und unter dem Fallen des warmen Regens, und
wenn ich weine und wenn ich dich umarme und
S 2[276] wenn ich im Sterben bin. — Und du, mein ge¬
liebter Horion, thue es auch.


Emanuel.


Der kleine Erden-Kummer, die kleinen Erden¬
gedanken waren jetzt aus Horions Seele geflohen
und er ging, nach einem betenden Blick in den ge¬
oͤfneten Sternenhimmel, an der Hand des Schlafs
in das Reich der Traͤume hinein. — Laſſet uns ihn
nahahmen und heute auf nichts weiter kommen. —


[277]

26. Hundspoſttag.

Drillinge — Zeuſel und ſein Zwillingsbruder — die aufſtei¬
gende Perücke — Entdeckung von Spitzbübereien.


Wenn ich in Koventgarden uͤber das Trauerſpiel
geweint haͤtte: ſo wuͤrd' ich doch im Epiloge bleiben,
den ſie nachher halten, ob ich gleich uͤber ihn lachen
muͤßte. Allein nur aus der Tragoͤdie fuͤhrt ein
Queergaͤschen in die Komoͤdie, aber nicht aus der
Epopee: kurz der Menſch kann nach dem Erwei¬
chen
, aber nicht nach dem Erheben lachen. Ich
darf es daher nie verſtatten, daß ein Vielleſer ſo¬
gleich nach dem 25ten Kapitel dieſes anfange. Wenn
man uͤberhaupt ſelber zuſieht, wie ſie einen leſen —
naͤmlich noch fuͤnfmal elender; aphoriſtiſcher, gedan¬
kenloſer, abgeriſſener als man ſchreibt — (ich rede
bloß von Fleiß: Kentniſſe fallen von ſelber beim Le¬
ſen weg und die Autorfeder kann die Lebensgeiſter
des Leſers, wie der Pumpenſtiefel das Waſſer doch
nur auf eine gewiſſe Hoͤhe ziehen) wie ſie bei den
beſten Stellen zwei Blaͤtter auf einmal umwenden,
bald zwei ungleichartige Kapitel entern laſſen, bald
in vier Wochen erſt ein Kapitel gar hinausleſen, das
[278] in Einer Sitzung haͤtte durchſeyn ſollen — wie ſol¬
che klaſſiſche Leſer oft kurz vor einer Viſite, oder
unter dem Couvertiren mit Papillotten oder unter
dem Auskaͤmmen der Haare, (die gar das erhabenſte
Kapitel einpudern,) letzteres leſen oder ein ruͤhrendes
unter dem Keifen mit der ganzen Stube — wenn
man bedenkt daß unter ſolche Leſer die meiſten
Scheerauer und Flachſenfinger gehoͤren und bloß die
Leſerinnen nicht, die ſich in alle Buͤcher und Maͤn¬
ner einzuſchließen wiſſen und denen einerlei iſt, was
ſie leſen oder heirathen — und wenn man gar die
traurige Betrachtung macht, daß, wenn uͤber dieſe
Leſer nicht einmal der Leſegroſchen, den ſie fuͤrs
Buch bezahlen muͤſſen, ſo viel Gewalt beſitzt, um
ſie zum Genuſſe ruͤhrender und erhabner Blaͤtter zu
vermoͤgen, daß es dieſer lange Periode noch weniger
erzwingen werde: ſo preiſet man das deutſche Pu¬
blikum gluͤcklich, das doch ſolche Werke naͤhren,
an denen wie an Truthuͤhnern das Weiſſe das
Beſte iſt.


Da ein ſolcher Truthahn auch die Wiener Zeit¬
ſchrift
iſt und ich vorige Woche dachte, mein
Hund ſchreibe daran: ſo wirds hieher paſſen, daß
ich meinen Irrſal widerrufe. Es ſchoß mir naͤn.lich
in den Kopf, die Korreſpondenzbeſtie — da ſie Hof¬
mann
heiſſet — ſey etwan gar der in eine Hunds¬
haut verputzte und kouvertirte Profeſſor ſelber. Ich
[279] waͤre gar nicht darauf verfallen, daß ein Profeſſor
der »praktiſchen Eloquenz« in der Form eines
Hundes der Welt Druckſachen apportire, haͤtte
nicht einmal in Paris ein Kerl ſich mit konterban¬
den
Waaren in eine Pudelhaut einnaͤhen laſſen, um
ſo verkappt durchs Thor zu paſſiren. Es macht
mir wenig Ehre, daß — indem ich heute wirklich
den Hund zwickend anfuͤhle und anknaͤte — Der
Profeſſor, den ich hinter dieſer Maſke ſuchte, ſelber
lebendig zur Thuͤr hineintrat recht zu meiner Be¬
ſchaͤmung: er hob ſofort alle Verwechslung und ich
ſetzte mir, gleichſam ihm wieder Gerechtigkeit wie¬
derfahren zu laſſen, vor, das ganze Ding bekannt zu
machen und zu meiner Beſtrafung ſein Mitarbeiter
d. h. ſeine Monatstaube zu werden, die jedes
Monat heckt. . . .


Wir haben unſern Viktor unter lauter truͤben
Hypotheſen ſtehen laſſen: ietzt finden wir ihn wieder
vor einem Begegniß, daß ſie alle beſtaͤtigt.


Wer den Apotheker Zeuſel, um den ſich der
ganze Vorfall dreht, nur von Hoͤrenſagen kennt: weis,
daß er ein Haſenfuß iſt. Beſagter Fuß — ein Haſe
und der Teufel behalten, wenn auch das ganze Fell
abgeſtreift iſt, noch den Fuß — ſah es gern, wenn
ihn ein Herr von Hofe ausſchmauſete und — aus¬
lachte: er konnte nicht beſcheiden verbleiben, ſobald
ihn ein Vornehmer zum Narren hatte. Der edle
[280] Maz benahm ihm daher ſeine Beſcheidenheit oft.
Von Maz vertrug er wie die Flachſenfinger alles,
von Viktor nichts: ich erklaͤr' es nur dadurch, weil
Viktors Satiren allgemein und paſſend und fuͤr das
Veſſern waren. Die Menſchen vergeben lieber Pa¬
ſquil als Satire, lieber Verlaͤumdung als Ermah¬
nung, lieber Spotten uͤber Orthodoxe und Ariſto¬
kraten als Raiſonniren daruͤber. — Demungeach¬
tet, ob Zeuſel gleich von Matthieu dieſesmal wieder
gehaͤnſelt und geprellet wurde, wollt' ers ihm nicht
recht vergeben, ſondern bekam das Chiragra daruͤber.


Es war naͤmlich kurz vor dem erſten April —
manche haben jaͤhrlich 365 erſte Aprile — als der
Junker den Apotheker hineinſchickte. In St. Luͤne
waren ſchon drei Bad- und Trinkgaͤſte angekommen,
drei junge wilde Englaͤnder, die ſich fuͤr Drillinge
ausgaben, aber wahrſcheinlich nur ſukzeſſive, nicht
ſimultane Bruͤder waren. Bloß ihre Seelen ſchie¬
nen Drillinge des Gemein- und Freiheitsgeiſtes zu
ſeyn; ſie waren ſo republikaniſch, daß ſie nicht ein¬
mal an dem Hofe erſchienen und hielten wie jeder
Englaͤnder uns alle (mich und den Leſer und den
Eloquenz Profeſſor) fuͤr Chriſtenſklaven und die Frei¬
gelaſſenen fuͤr Steckenknechte. Die Zauberkraft ei¬
nes aͤhnlichen Herzens trieb bald den Regierungs¬
rath Flamin in ihre karteſtaniſchen Wirbel: ſie wa¬
ren kaum acht Tage da, ſo hatten ſie mit ihm ſchon
[281] einen Klub beim Kaplan gehalten. Er verſprach ih¬
nen auf Oſtern das Geſicht ihres Landsmannes Se¬
baſtian; und den edeln Maz hatt' er gleich anfings
mitgebracht. Mazens Freiheitsbaum war bloß ein
ſatiriſcher Dornſtrauch: ſeine Satiren erſetzten die
Grundſaͤtze. Nur ein einziger Drilling, den ſelber
der Boͤſe mit Hoͤrnern und Bocksfußen, naͤmlich der
Satyr, ritt, konnte den beiſſenden Evangeliſten
und falſchen Freiheits Apoſtel recht leiden: denn
in einem heitern lichten Kopf nimmt jedes fremde
Bonmots einen groͤßern Schimmer an, wie Johannis¬
wuͤrmgen in dephlogiſtiſirter Luſtart heller glimmen.


Als Matthieu den Pfarrkutſcher und den Lohnlakai
der Englaͤnder, den Blasbalgtreter Zeuſel — den
Zwillingsbruder des Apothekers — erblickte: erfand
er etwas, das ich eben erzaͤhlen werde. Der Apo¬
theker mußte ſich bekanntlich ſeines leiblichen Bru¬
ders ſchaͤmen, weil er ein bloßer Balgtreter war und
keinen Wind machte als muſikaliſchen — weil er fer¬
ner ſchlechte innere Ohren und auſſen gar keine hatte.
Jedoch hatt' er ſich wegen der letztern mit einem ge¬
richtlichen Zertifikat gedeckt, das ihm nachruͤhmte,
daß er ſeine Schallmuſcheln auf eine ehrliche Art ver¬
loren, durch eine Aktion mit einem Badgaſt Tuͤrken.
Aber ſein Kopf war ſein Ohr: wenn er einen Stab
an den Redner oder an ſeinen Seſſel hielt, oder
wenn man gerade uͤber ſeinem Kopf haranguirte: ſo
[282] hoͤrte er recht gut. Haller erzaͤhlt aͤhnliche Bei¬
ſpiele, z. B. von einem Tauben, der allemal einen
langen Stock an die Kanzel als Leiter und Steg der
Andacht ſtieß. Seine Taubheit, die ihn eher zu ei¬
nen hoͤchſten Staatsbedienten als zu einem Lehnbe¬
dienten vozirte, wendete ihm gerade den Sieg uͤber
andere Wahlkandidaten zu, weil dem Kato dem aͤl¬
tern — ſo hieß ſich der luſtige Englaͤnder — ſeine
naͤrriſche Stellung gefiel.


Der edle Matthieu, deſſen Herz eine eben ſo
dunkle Farbe hatte wie ſeine Haare und Augen,
hing die Drillinge als Koͤder-Wuͤrmgen an die An¬
gel, um den Apotheker zwiſchen ſeinem und Flamins
Arm nach St. Luͤne zu bringen. Zeuſel ging freu¬
dig mit und ahndete das Ungluͤck nicht, das ihn er¬
wartete, naͤmlich ſeinen Bruder, mit dem ers ſchon
ſeit vielen Jabren gegen etwas Gewiſſes ausgemacht
hatte, daß ſie einander in Geſellſchaften gar nicht
kennen wollten. Der Balgtreter begrif ohnehin aus
Einfalt gar nicht, wie ein ſo vornehmer Mann wie
Zeuſel ſein Bruder ſein koͤnnte und verehrte ihn im
Stillen von Weitem: nur eine Sache vertrug er
nicht trotz ſeiner bloͤdſinnigen Geduld, die, daß ſich
der Apotheker fuͤr den Erſtgebornen ausgab: bin ich
nicht, ſagt' er, um eine Viertelſelle laͤnger und eine
Viertelſtunde aͤlter als er?« Er ſchwur, in der Bi¬
bel ſey es verboten, ſeine Erſtgeburt zu verkaufen —
[283] und war dann wie alle, denen eine dumme Geduld
ausreiſſet, nicht mehr zu baͤndigen.


Der Apotheker bemerkte nach dem erſten Schrek¬
ken mit Vergnuͤgen, daß niemand ſeine Verbruͤde¬
rung kenne; er wollt' es daher auch nachthun und
foderte vom Bedienten ſo kalt wie jeder zu trinken.
Der Balgtreter beſah, indem er den Kopf niederbog,
damit der Bruder oben daruͤber die Befehle gaͤbe,
mit Erſtaunen und wahrer Achtung die ſilbernen
Gatterthore und Beinſchellen auf den Fuͤßen ſeines
Verwandten und deſſen Huͤftgehenk von Stahl Guir¬
landen der Uhren. Zeuſel haͤtte ſich gern — waͤre
dem Junker zu trauen geweſen — gegen die Britten
angeſtellt als betroͤg' er ſich und hielte des Tauben
Buͤcken fuͤr uͤbertriebene Kriecherei gegen Hofleute:
er waͤre dann im Stande geweſen, dazu zu ſetzen,
der Opiſthotonus gegen Niedere ſey derſelbe
Krampf wie der Emproſthotonus *) gegen Hoͤhere —
aber wie geſagt, der Henker traue Hofjunkern!

Die Britten indeſſen nahmen den Narren ſamt
ſeiner Geldboͤrſe am Hintern kaum wahr und wun¬
derten ſich bloß, was er da wollte. Ihre republika¬
niſchen Flammen ſchlugen mit Flamins ſeinen zu¬
[284] ſammen, und zwar ſo, daß der Hofjunker ſie fuͤr
Franzoſen und fuͤr Reiſediener und Zirkularboten
der Propaganda wuͤrde genommen haben, wenn er
nicht geglaubt haͤtte, nur ein Narr koͤnne eine ver¬
ſuchen oder eine glauben. Matthieu hatte Scharf¬
ſinn aber keine Grundſaͤtze — Wahrheiten, aber keine
Wahrhritsliebe — Logik ohne Gefuͤhl — Witz ohne
Zweck. Er war heute nur darauf aus, durch loßge¬
zuͤndete Streifſchuͤſſe den Apotheker immer in der
Angſt zu befeſtigen, irgend eine Ideenaſſotiation
werde ihn den Augenblick auf ſeinen da ſtehenden
Bruder lenken. So legt' er recht gluͤcklich den ar¬
men Haſenfuß auf die Folter des »geſpickten Ha¬
fens,« indem er ironiſch fuͤr den Nepotismus focht.
»Die Paͤbſte, die Miniſter (ſagt' er) geben wichtige
»Poſten nicht dem erſten beſten, ſondern einem Man¬
»ne, den ſie genau gepruͤft haben, weil ſie mit ihm
»faſt auferzogen wurden, naͤmlich einem Blutsfreund.
»Sie denken zu moraliſch, als daß ſie nach ihrer Er¬
»hebung ihre Verwandten nicht mehr kennen ſollten,
»nnd ſie halten den Hof fuͤr keinen Himmel, wo
»man nach ſeiner in die Hoͤlle verdammten Magen¬
»ſchaft nichts fragt. Weil ein Miniſter ſo viel ver¬
»dauen kann wie ein Straus: ſo wundert man ſich,
»daß er nicht auch wie ein Straus ſeine Eier voll
»Anverwandten in den Sand und vor die Sonne
»wirft und ihr Aufkommen nicht dem Zufall anver¬
[285] »trauet. Aber nichts vertraͤgt ſich weniger mit dem
»aͤchten Nepotismus als daß ſelber der Straus bruͤ¬
»tet zu Nachts und in kaͤltern Orten perſoͤnlich,
»und unterlaͤſſet es nur dann, wo die Sonne beſſer
»bruͤtet: ſo ſorgt auch der Mann von Einfluß nur
»in ſolchen Faͤllen fuͤr ſeine Vettern, wenn großer
»Mangel von Verdienſten es erfordert. Ich geſteh'
»es, die Moral kann ſo wenig Nepotismus wie
»Freundſchaften gebieten; aber das Verdienſt iſt
»deſto groͤßer, wenn man ohne alle moraliſche Ver¬
»bindlichkeit mit ſeinem Stammbaum gleichſam die
»halben Thronſtufen uͤberdeckt.« — Dieſer ſatiriſche
Huͤttenrauch und Schwaden nahm die Britten fuͤr
ihn ein, zumal da der Rauch edle Metalle, naͤmlich
die hoͤchſte Unpartheilichkeit bei einem Sohne vor¬
ausſetzte, deſſen Vater Miniſter war.


Da der Apotheker das Souper tranchirte —
Maz hatt' ihn erſucht, le grand escuyer tranchant
zu ſeyn — ſo paßte ſein Freund Matthieu es ab,
bis er einen großen Truthan an der Gabel hatte,
um ihn in der Luft wie Reiger die Fiſche und noch
dazu italieniſch zu zerfaͤllen: dann nahm der Edle
ſeinen Weg uͤber den Partage-Truthahn und uͤber
Pohlen durch die Wahlreihe bis er in den Erbrei¬
chen anlangte, wo er ſtille lag, um da die Bemer¬
kung zu machen, daß ganz natuͤrlicher Weiſe der erſte
große Diktator ſeinen Sohn auf ſeinem Thron nach
[286] ſich werde hinaufgezogen haben: »ſo hab' er ſich oft
»beim Flachſenfingiſchen Vogelſchießen an den Kin¬
»dern ergoͤtzt, die mit den Kronen und Zeptern, die
»die Vaͤter herabgeſchoſſen, herumſprangen und da¬
»mit warfen und [ſpielten].« — Der Taube unter¬
hielt durch ſeinen Viſirſtab und ſeine Zuͤndruthe, die
er an den Tiſch ſtemmte, die freieſte Kommunikation
mit dem ganzen Klub und ſah ſeinem arbeitenden
Bruder, wie er ſaͤgte und hielt. Matthieu, der den
Vorſchneider liebte, aber die Wahrheit noch mehr,
konnte ſeinetwegen die Reflexionen uͤber die gekroͤn¬
ten Erſtgeburten nicht unterſchlagen, ſondern er
merkte frei an, man ſollte wenigſtens unter der re¬
gierenden Familie, wenn auch nicht unter dem Volke
die Wahl haben. »Jetzt denken wir nicht einmal
»wie die Juden, bei denen zwar eine halbthieriſche
»Mißgeburt noch die Rechte eines Erſtgebornen hat,
»aber doch keine ganze thieriſche. *)« — Der Balg¬
treter wurde durch die fallopiſche Muttertrompete
des Stabs mit neuen Ideen des Erſtgebornen ge¬
ſchwaͤngert — ſein Bruder wurde von der Angſt
mehr trenchirt als der indiſche Hahn in der Luft —
Maz fuhr fort: »auch bei den Juden hat bloß die
[287] »thieriſche Ergſteburt, weil ſie nicht mehr opfern
»duͤrfen, das beſte Futter und iſt heilig und unver¬
»letzlich — das uͤbrige Vieh gehoͤrt unter die juͤn¬
»gern Soͤhne
.'« . . .


— Darauf ſagte er ploͤtzlich und laͤchelnd das
Kompliment: »bloß mein Freund hier mit dem
»Truthahn macht die gluͤcklichſte Ausnahme von
»meiner Behauptung und ſein Herr Bruder mit
»dem Stabe da die betruͤbteſte: es ſind aber Zwil¬
»linge und er iſt nur eine Viertelſtunde aͤlter als der
»Taube.« Er wandte unbefangen an den Geſtab¬
ten, der ſein Geſicht ſchon zum Krieg mobil gemacht
hatte: »nicht wahr, eine Viertelſtunde aͤlter?« —
»Ja, ſtraf mich Gott, (ſagt' er,) das bin ich: was
»ſagt mein Bruder?« — Der Apotheker mußte matt
den Dividendus an der Gabel ſenken, ob er gleich
durch die herabgeſchnittenen Quozienten ſchon leich¬
ter war. Der Balgtreter uͤberſchauete fluͤchtig alle
Geſichter und entdeckte uͤberall darauf einen ſchwei¬
genden Unglauben, den der Junker durch ſeine kalte
Verſicherungen noch lesbarer machte. »Der ganze
»Scherz — ſagte Zeuſel leiſe — iſt wohl fuͤr nie¬
»mand intereſſant.« Da der Kalkant die leiſe Ex¬
zeptionshandlung nicht durch ſeinen langen Gehoͤr¬
knochen habhaft werden konnte — er ſah aber dann
nicht ab, wie er ſeinen Prozeß und ſein Erſtgeburts¬
recht behaupten wollte — ſo trat er ſeinen Beweis
[288] an und zog vier lange Fluͤche als eben ſo viel ſyllo¬
giſtiſche Figuren heraus und buͤckte den Kopf unter
ſeinen Bruder, damit der uͤber demſelben ſeine Sal¬
vationsſchrift einreichte. Der Apotheker, der nicht
die Erſtgeburt ſondern nur das wankend machen
wollte, daß er ſein Bruder ſey und der ihn wegen
Titular-Inkonvenienzen nicht gern anreden wollte,
ſagte bittend zu Mazen: »Geben Sie ihm recht,
»denn er weis gar nicht, wovon wir bisher geſpro¬
»chen haben.« — Schnell und abgeriſſen, aber mit
einer unglaͤubigen Mine ſagte daher der Junker zu
ihm: »Er ſoll Recht haben, mein Freund« und
ſetzte unter dem Schein, ihn ablenken zu wollen, da,
zu: »recht friſch und jung ſieht er aus.« — »Bei
»Gott! (verſetzte er aufbrennend) der iſt juͤnger:
»aber er kam hinter mir ſchon zuſammengefahren auf
»die Welt in der Geſtalt eines Tabaksbeutels — er
»iſt aus den Bettelmaͤnnern *) die von mir abfielen,
»zuſammengedreht und gezwirnt.« Der Kalkant
brannte nun alle Kanonen auf dem Wall ſeines Ko¬
pfes ab, erbittert durch die Eſſigminen und Gift¬
blicke und Unhoͤrbarkeit ſeines Blutsfreundes: er
ſpannte daher die Finger aus und wollte den Dau¬
men und Ohrfinger als einen verjuͤngten Maasſtab
uͤber[289] uͤber das Geſicht ſeines Blutsfreundes legen — er
wuͤrde dann, da der Menſch zehn Geſichtslaͤngen hat,
das fremde nnd ſein eignes Geſicht gegen einander
gehalten und dann aus ihrem verſchiedenen Maaße
leicht auf ihre Statur geſchloſſen haben — aber der
Apotheker wackelte und der Kalkant ſetzte den Dau¬
men ganz falſch uͤber dem Kinnbacken ein. Hier hob
den Daumen, der ſich in den weichen Backen ein¬
tunken wollte — etwas Hartes Rundes auf und der
Kalckant trieb durch einen geſchickten Strich, den
der Daumen gegen die Lippen fuͤhrte, eine Wachsku¬
kugel zum Maule heraus, womit der Apotheker ſeine
eingekrempten Backen ausfuͤtterte wie mit einem Pol¬
ſter, um das eingelegte Bildwerk des Geſichts zum
erhobenen aufzuſtuͤlpen. Der herausgleitende Globus
warf wie eine Boſelkugel den Apotheker um, d. h.
ſeine Gelaſſenheit, und er ſagte zum Tauben, der jetzt
gar zu einer Hiſtorie von ſeinem Kahlkopfe uͤber¬
ſchreiten wollte, mit blitzenden Augen nur ſo viel:
»ihr Menſch habt keine Lebensart, und euer aͤlterer
»Bruder muß euch erſt abhobeln.« Da aber der
Kalkant ſchon in der Naturgeſchichte des Kahlkopfes
fortſchritt: ſo eilte er davon mit der Entſchuldigung
der Herr Hofmedikus Horion warte heut' Abends
auf ihn. Der ernſthafteſte unter den Englaͤndern
trat ganz nahe an ihn und ſagte: »empfehlen Sie
»mich dem Doktor und, da er ſo gute Kuren macht,
Heſperus. II. Th. T[290] »ſo ſagen Sie ihm in meinem Namen, Sie waͤren
»ein großer — Narr.


Kaum war er zum Dorfe hinaus: ſo dauerte den
Kalkanten der Emigrant und er wollte in der Hiſto¬
rie des Kahlkopfes aufhoͤren. Der Evangeliſt ſchickte
ihn auch dem erboſten Zwilling nach, um ihn jetzt
in der Nacht einzufangen; und nahm dafuͤr ſelber
den hiſtoriſchen Faden auf. Naͤmlich an einem
Abend, wo der Hof nicht im Schauſpiel war, hielt
der Hofapotheker (der Himmel weiß wie) ſein Nu߬
knackergeſicht aus einer der erſten Logen heraus.
Maz, damals noch Page, poſtirte den Balgtreter ge¬
rade im Zenith ſeiner Peruͤcke, naͤmlich in der Gal¬
lerie gerade uͤber ihm. Der Kalkaut ließ oben an
einem unſichtbaren Roßhaar einen kleinen Hacken
niederſteigen, der wie ein Raubvogel uͤber der her¬
ausſchauenden Peruͤcke hing, die ich fuͤr ein Ideal
von Haaren halte. Denn ſie ſchien aus dem Kopfe,
dem die Locken und die Vergette laͤngſt ausgefallen
waren, als Artochthon und Fechſer herausgewachſen
zu ſeyn und niemand nahm ſie fuͤr adoptirtes Pelz¬
werk. Der Balgtreter ließ den Haken ſo lange uͤber
der Peruͤcke wie einen Perpendikel oſzilliren, bis Ge¬
wißheit da war, daß er in die Vergette eingegriffen
hatte. Sofort bedient' er ſich ſeiner Haͤnde als
Fuhrmannswinden und hob (wie der Froſt andre Ge¬
waͤchſe) die ganze Friſur aus den Wurzeln und zog
[291] langſam die Zopfperuͤcke wie einen ſteigenden Haar¬
ballon in die Hoͤhe. Das Parterre und der erſte
Liebhaber und der Lichtputzer wurden vor Erſtaunen
zu Eißſchollen, da ſie den Schwanzkometen in gera¬
der Adſzenſion zur Galerie aufgehen ſahen. Auf dem
Apotheker, der ſeinen Kopf abgedeckt und kalt ange¬
weht fuͤhlte, richteten ſich die wenigen natuͤrlichen
Haare auch empor vor Schrecken wie die kuͤnſtlichen;
und als er ſich mit dem kahlen Scheitel umdrehte,
um der Kreutzeserhoͤhung ſeines Haarwuchſes nachzu¬
ſehen, ließ ſein Zwillingsbruder (um nicht entdeckt
zu werden) das ganze Haar Meteor, das dem Haar
der Berennice im Himmel nachwollte, gar unter die
Leute herunterfallen vor ſeinem Geſichte vorbei und
ſah gelaſſen herab auf die Kulminazion im Nadir
wie die ganze Gallerie. — —


Waͤhrend unſerer Erzaͤhlung haben die Zwillinge
einander gepruͤgelt. Der Erſtgeburts-Acceſſiſt rief
drauſſen auf dem mit Nacht uͤberdeckten Flachſenfin¬
ger Weg in einem fort: Herr Hofapotheker! Und
da er keine Antwort vernehmen konnte, mußt' er
mit dem Hoͤrrohr an jedes Ding, ob es etwan rede,
ſtochern. Endlich ſtieß ſein Viſitiereiſen an die Erſt¬
geburt und er ging hin, um ſie um Vergebung und
Retour zu erſuchen. Aber der Apotheker war der¬
maßen im Kochen und Sprudelu, daß er, als der
Balgtreter ſeinen Kopf unterhielt, um das Reſpon¬
T2[292] ſum einzuholen, ſeine Hand in eine Kugel anſchießen
und ſie wie einen Glockenhammer auf die Pfeilnaht
des untergehaltnen Hauptes fallen ließ, worauf die
Taͤucherglocke einen ordentlichen Ton angab. Der
Apotheker wuͤrde, wenn man ihn recht verſtanden
und ihm Zeit gelaſſen haͤtte, durch dieſen Zainham¬
mer die Suturen auf dem tauben Haupte um Vieles
vorgehoben haben; aber ſo ſtoͤrte ihn ſein eigner vom
Schlage geruͤhrte Bruder, der ihn am Kopfe —
Kalkant wuͤrde ſeine Finger als Schmucknadeln in
die kuͤnſtlichen Haare getrieben nnd ihn daran ge¬
lenkt haben, waͤre die Peruͤcke am Kopfe feſtgemacht
geweſen — wie ein Geſtraͤuch niederbog, um ſein
Hoͤrrohr als ein zweites Ruͤckgrat ſo behutſam uͤber
das Zwillingserſtes zu biegen, daß niemand kompli¬
zirte Frakturen davon trug als der Hoͤrſtab. —
Darauf ſagte er gute Nacht und empfahl ihm, ſich
links zu halten, um nicht irre zu gehen. . . . .


— Haͤtte ich gewußt, daß dieſe Hiſtorie ſo vie¬
le Blaͤtter uͤberſchatten wuͤrde: ich haͤtte ſie lieber
weggeworfen. Am andern Morgen ſtattete der un¬
verſchaͤmte Matthieu einen Beſuch beim Kreutztraͤger
ab, an deſſen Haͤnden jetzt das vom Zorn reifge¬
waͤrmte Chiragra gluͤhte; er wollte — weil er jeden
Tadel ſeiner Unverſchaͤmtheit mit einer groͤßern be¬
antwortete — die gichtbruͤchigen Haͤnde zu neuen Ka¬
tzenpfoten machen, um friſche Spas-Kaſtanien aus
[293] dem Feuer zu nehmen. Aber der Apotheker, deſſen
Herz nur klein aber doch nicht ſchwarz war, fuͤhlte
ſich zu ſehr gekraͤnkt und als Maz uͤber ſeine Kla¬
gen lachend und ſchweigend von ihm ging, ohne ſich
nur die Muͤhe einer Entſchuldigung zu geben: ſo
ſchwur der Chiragriſt, ihn — da haben wir wieder
den Narren — zu ſtuͤrzen.


Trete wieder auf, mein Viktor, ich ſehne mich
nach ſchoͤnern Seelen als dieſes Gebruͤder Narren
da hat! — Niemand von uns lebt und lieſet ſo in
den Tag hinein, daß er nicht wuͤßte, in welcher bio¬
graphiſchen Zeitperiode wir leben: es iſt naͤmlich 8
Tage vor Oſtern, wo Zeuſel auf dem Krankenbette
und Klotilde auf dem Wege nach St. Luͤne iſt. —
Flamin hinterbrachte unſerem Viktor den Spaß mit
dem kranken Zeuſel. Er mißfiel ihm gaͤnzlich ſo wie
ihn Schriften wie der Antihypochondriakus, das Va¬
demekum oder die Erzaͤhler ſolcher Bonmots — die
fadeſten aller Geſellſchafter — eckelten. Er konnte
nie eine Thierhatze zwiſchen zwei Narren anlegen:
bloß der Entwurf eines ſolchen Schlachtſtuͤcks kitzelte
ſeine Laune, aber nicht die Ausfuͤhrung, ſo wie er
Pruͤgelſzenen gern in Smollet (dem Meiſter darin)
las und dachte, aber niemals ſehen konnte. Sogar
von den Koͤrper-Bonmots und Hand-Pointen am
fremden Leibe dacht' er zu geringſchaͤtzig, die ich doch
den ſtummen Witz (wie ſtumme Suͤnden) nennen
[294] moͤchte und die das wahre attiſche Scheerauiſche
Salz ſind: wahrer Witz, duͤnkt mich, muß ſich wie
das Chriſtenthum nicht in Worten, ſondern in
Werken offenbaren. Er ſah unſere Thorheiten mit
einem vergebenden Auge, mit humoriſtiſchen Phan¬
taſien und mir dem ewigen Gedanken an die allge¬
meine Menſchennarrheit und mit ſchwermuͤthigen
Schluͤßen an. Wenn er das ausnahm, daß Zeufel
ſich jedem Edelmann zum Mieththier vorſtreckte, bis
ihn dieſer zuruͤckpruͤgelte, wie man in Paris Schoo߬
hunde zum Spazierengehen miethen kann: ſo hatt'
er gegen deſſen Eitelkeit, da ſie zumal in andern
Faͤllen gutmuͤthig, freygebig und oft gar witzig war,
wenig einzuwenden. Niemand ertrug Eitelkeit und
Stolz liebreicher als er: »was hat denn der Menſch
»davon, ſagt' er viel zu lebhaft, wenn er kein Narr
»iſt oder wo ſoll er denn aufhoͤren, demuͤthig zu
»ſeyn? Entweder zu gut oder gar nichts muͤſſen wir
»von uns denken.»


Viktor ſtattete alſo bei ſeinem Hausherrn zu¬
gleich einen freundſchaftlichen und einen medizini¬
ſchen Beſuch mit ſeiner theilnehmenden Seele ab.
Dieſe Geſinnung grif herrlich in den Plan des Apo¬
thekers ein, den Doktor anzuwerben, damit er gegen
Mazen diene. »Dazu brauche ich nichts (ſagte Zeu¬
»ſel zu Zeuſel) als daß ich ihn die Intriguen, die
»das Schleunesſche Haus gegen ihn ſpielet, ſehen
[295] »laſſe, denn er iſt ohne mich nicht raffinirt genug
»dazu.» Denn er haͤlt uͤberhaupt den Helden der
Hundspoſttage — der's auch gerne litt — ein wenig
fuͤr dumm, blos weil Viktor gutmuͤthig, humoriſtiſch
und gegen alle Menſchen vertraulich war. In der
That gab dieſem das Leben in der großen Welt,
zwar geiſtige und koͤrperliche Gewadtheit und Frey¬
heit, wenigſtens groͤßere; aber eine gewiſſe aͤußere
Wuͤrde, die er an ſeinem Vater, am Miniſter und
ſogar oft an Matthieu ſah, konnt' er niemals nach¬
kopieren: er war zufrieden, daß er eine hoͤhere Wuͤr¬
de in ſeiner Seele hatte und fand es zu laͤcherlich,
auf der Erde ernſthaft zu ſeyn, und zu klein, ſtolz
auszuſehen. Vielleicht konnten ſich Viktor und
Schleunes darum nicht leiden: ein Menſch von
Talenten und ein Buͤrger von Talenten haſſen ein¬
ander gegenſeitig.


Eh' ich dem Apotheker erlaube, alle Faͤden des
Schleunesſchen Kanker-Geſpinſtes vorzuzeichnen:
will ich nur erklaͤren, warum Zeuſel hieruͤber ſo all¬
wiſſend war und Viktor ſo blind. Dieſer war's, weil
er ſich unter ſeinen Freuden aufs Errathen gleichguͤl¬
tiger oder ſchlimmer Leute gar nicht legte: er
ſchwebte uͤberhaupt wie ein Paradiesvogel immer in
der Himmelsluft, vom Schmutzboden abgetrennt und
flog wie alle Paradiesvoͤgel, der loſen Federn wegen
immer gegen den Wind; daher bekam er, aus
[296] Mangel an Konnexionen, die muͤndlichen Hofzei¬
tungen erſt, wenn alle Heiducken, die Lakaien der
Pagen und die Einheizer ſie ſchon ſchwarz geleſen
hatten; — oft gar nicht. — Der Apotheker iſt im
entgegengeſetzten Fall, weil er zwar die ſchlechten
Augen, aber auch die guten Ohren eines Maulwurfs
hat, und weil in der camera obscura ſeines aͤhnlichern
Herzens ſich leichter die Bilder der verwandten
Kniffe malen; noch dazu ſetzt er zwei lange Hoͤrroͤh¬
re — zwei Toͤchter — an die Kabinete oder viel¬
mehr an ihre Liebhaber an, die daraus kommen und
horcht durch die Roͤhre manches weg, was ich in
meiner Biographie recht herrlich nutzen kann. Es
giebt Menſchen — der war ſo — die nur Nachrich¬
ten, ohne Intereſſe fuͤr den Inhalt erhetzen wollen,
und Perſonalien ohne Realien, die alle große Ge¬
lehrte, aber keine Gelehrſamkeit — alle große Staats¬
maͤnner, aber keine Politik — alle Generale, ohne
Liebe zum Kriege — zu kennen ſuchen perſoͤnlich und
ſchriftlich.


Es kann ſeyn, daß mancher feine Leſer ſchon aus
dem Vorigen von dem, was Zeuſel jetzt entdecken
will, Wind hat. Ich gebe ſeine Zeichnung in fol¬
gender verjuͤngten:


«Der Miniſter habe den Fuͤrſten ſonſt niemals
»in ſein Intereſſe ziehen koͤnnen, ſelten in ſein
»Haus: er habe zwar zuweilen eine Tochter, die
[297] »ihm gefallen konnte, zu vermaͤhlen nicht unterlaſ¬
»ſen; aber entweder das verſchiedene Intereſſe des
»Tochtermanns war allemal dem ſeinigen unguͤnſtig
»oder der Einfluß Sr. Herrlichkeit (des Lords).
»Daher ſey er mehr zu entſchuldigen als zu ver¬
»dammen, daß er die Parthey des Schwaͤchern
»ergriffen, der verlaſſenen Fuͤrſtin, die doch allemal
»etwas ſey und die ihre italieniſchen Kuͤnſte nur
»noch verdecke. Im Ganzen genommen waͤr' es al¬
»ſo nicht unrecht, daß man die Fuͤrſtin, die viel
»Temperament habe, durch Matthieu an Schleu¬
»nes Haus zu knuͤpfen ſuche, worin man ſich nach
»ihrer aͤuſſern Tugend-Grandezza geniere, indeß man
»ſie durch den Hofjunker uͤber die Kaͤlte ihres Ge¬
»mahls beruhige.» . . .


Wenn ſich der Leſer das Schlimmſte vorſtellet:
ſo begreift er Viktors unglaͤubiges Erſtarren und
Verfluchen; er ließ ihn aber erſt ausreden.


»Zum Gluͤck habe der Hofmedikus dem Hauſe
»die Ehre erwieſen, oft hinzukommen: und die
»Schleunesſchen werden ihn wahrſcheinlich auf alle
»Weiſe zum oͤftern Geſchenk ſeiner Beſuche ermun¬
»tert haben, da er zumal dadurch auch den Fuͤrſten
»eingewoͤhne. Er wiſſe hieruͤber allerlei von guter
»Hand.» . . .


Viktor errieth, was Zeuſel aus Hoͤflichkeit ver¬
ſchwieg — den Wink auf Joachime. »Sonderbar
[298] »iſt's doch, er, daß mir mein Vater faſt daſ¬
»ſelbe ſchreibt! — Aber ein huͤbſches Gewirre von
»Abſichten! ich mache bey meinen Abſichten auf die
»Fuͤrſtin den Miniſter zu meinem Deckmantel und er
»mich bei ſeinen auf den Fuͤrſten zu dem ſeinigen.»
— Das haͤtt' er ohne mich wiſſen ſollen, daß boͤſe
Leute gute nie aus Liebe ſuchen, und daß Joachimens
Herz nichts ſey als ein Koͤder in der Hand des Mi¬
niſters; aber dichteriſche Menſchen die immer die
Fuͤgel der Phantaſie auſſpannen, werden wie die
Lerchen wegen ihrer ausgeſpreitzten Fluͤgel, in
Netzen feſtgehalten, die die weiteſten Maſchen
haben, wodurch ſonſt ein glatter Vogelkoͤrper glitte.
Nur noch ein Wort: warum betrug ſich Viktor ge¬
gen die beſten Menſchen, gegen Klotilde, ſeinen Va¬
ter ꝛc. feiner, anſtaͤndiger und ſchoͤner als der beſte
Weltmann; und gegen mittelmaͤßige und ſchlimme
benahm er ſich doch ſo links: warum? — Weil er
alles aus Neigung und Achtung that und nichts aus
Eigennutz und Nachahmung; die Weltleute hingegen
behaupten ein gleiches Betragen, weil ſie es nie
nach fremden Verdienſten, ſondern nach eignen Ab¬
ſichten abformen. Daher gab ihm ſein Vater auf
der Inſel unter den Lebensregeln — die uͤberhaupt
eine feine verſteckte Weiſſagung von ſeinen Fehlern
und Begebenheiten waren — dieſe mit: man begeht
[299] die meiſten Thorheiten unter Leuten, die man nicht
achtet.


»Da nun Klotilde dem Fuͤrſten gefalle: ſo werde
»dieſer Matthieu, der um ſie ſchon vor einigen Jah¬
»ren geworben, ſie zu ſeinen Eroberungen zu ma¬
»chen ſuchen, um durch ſie viel wichtigere zu ma¬
»chen.»


Pfui! rief Viktors ganze Seele, jetzt ſeh' ich
erſt alle Stacheln der Dornenkrone, die auf dein
Herz gedruͤcket wird, du gute Klotilde! »Matthieu
»waͤre laͤngſt mit ſeinen Heyrathsantraͤgen weiter
»herausgegangen, haͤtt' er die gegenwaͤrtigen Aus¬
»ſichten (eines — Ehebruchs) naͤher gehabt. Viel¬
»leicht ſey [auch] Matthieu noch uͤber die Zuruͤckkunft
»ihres Bruders (Flamins, wegen ihrer verkleinerten
»Erbſchaft) in Sorge, ob ihn gleich der Tod ſeiner
»ſeiner Schweſter (der beerbten Giulia) ein wenig
»entſchaͤdige. Daher liebe die Fuͤrſtin Klotilden, da
»deren Heyrath mit Matthieu nur eine Sache des
»Intereſſe ſey. Kaͤm' es aber wirklich zu einer
»Vermaͤhlung, wie wahrſcheinlich ſey, da Matthieu
»ſie ſchon durch Grobheit dem Kammerherrn abnoͤ¬
»thigen wuͤrde.» . . . .


Es iſt ein eigner Zug Mazens, daß er gegen
Schwache grob und oft gegen dieſelbe Perſon rauh
und wieder fein war — »ſo koͤnnte Matthieu und
»Jenner ſich im wechſelſeitigen Vergeben uͤben;
[300] »und das Band der Freundſchaft wuͤrde ſich auf
»einmal um vier Perſonen in verſchiedenen Schleifen
»wickeln. Dieſe vierfache Verkettung riße dann kei¬
»ner mehr auseinander und alles ginge zum Teufel.
»Der einzige Maſchinengott, der die Knuͤpfung die¬
»ſes Knoten noch verhuͤten koͤnnte, ſey der — H.
»Hofmedikus. Ihm verſage H. le Baut vielleicht
»die Tochter nicht, da er ihr zum Hofdamenamt
»verholfen — »»welches damals, da ich mich Ih¬
»»nen nicht deutlich erklaͤren durfte, gerade meine
»»wahre Abſicht war, die Sie eben ſo gut erriethen
»»als ausfuͤhrten.«« — »und da das Schick¬
»ſal des Sohns (Flamins, der nach der allgemeinen
»Meynung noch verſchollen war) ja in den Haͤnden
»Gr. Herrlichkeit ſtehe. Auch zweifle er am Ge¬
»winnen der Fuͤrſtin nicht, da er (der Doktor) bis¬
»her ihre Gunſt beſeſſen und ſie ihn dem D. Kuhl¬
»pepper vorgezogen haͤtte. Durch den Verluſt Klo¬
»tildens und Agnola's waren den Schleunesſchen
»die Fluͤgel beſchnitten.» . . . .


Schurke! haͤtte hier Flamin geflucht; aber Vik¬
tor, der glaubte, dieſen moraliſchen Staubbeſen
verdiene nur ein ganzes Leben, nie Eine Handlung
und der mit der groͤßten Intoleranz der Laſter eine
zu große Toleranz der Laſterhaften verband, dieſer
ſagte, aber mit mehr Hitze als man nun vermuthen
wird: »o du gute Fuͤrſtin! die deutſchen Skor¬
[301] »pionen ſitzen um dein Herz und ſtechen es zur
»Wunde und gießen als Balſam Gift in die Wun¬
»de, damit ſie niemals heile! — Abſcheuliche, ab¬
»ſcheuliche Verlaͤumdung!» Viktor lobte und ver¬
focht gern ſeine Freunde zu lebhaft — und zwar
aus Neigung zum Gegentheil: denn da er bei ſeiner
eignen Ehre die Belobungsbriefe ſeines Gewiſſens
den Schandgemaͤhlden der Welt ruhig und ſtumm ent¬
gegenſetzte, ſo waͤr's ſeine Neigung geweſen, die Eh¬
re ſeiner Freunde ſo kalt zu vertheidigen wie ſeine
eigne, aber es war Gehorſam gegen ſein Gewiſſen,
es (trotz dem Gefuͤhle der Entbehrlichkeit) mit der
groͤßten Waͤrme zu thun.


Das hoͤfiſche und triumphirende Laͤcheln Zeuſels
war eine zweite Verlaͤumdung: der Tropf hielt mei¬
nen Viktor fuͤr ein Zifferblatts- oder Stundenrad bei
der Affaire und ſich fuͤr den Perpendickel. Daher
ſagte Viktor mit einem aus Wehmuth und Stolz
gemiſchten Unwillen: »meine Seele erhebt ſich zu
»weit uͤber eure Hof-Kleinigkeiten, uͤber eure
»Hof-Spitzbuͤbereien, mich eckelt euer Kram un¬
»ausſprechlich. — O du edler großer Geiſt in Mai¬
»enthal! — —«


Er ging mit durchſchnittenem Herzen weg — der
Nachtwaͤchter, der fuͤr ihn allemal ein transzendenter
war, rief ſeines Lehrers Geſtalt vor ſeine weinende
Seele — und Klotilde mit ihren blaſſen Mienen
[302] kam mit und ſagte: »ſiehſt du noch nicht ein, warum
»ich ſo bleiche Wangen habe und ſo ſchnell in das
»fromme Thal Emanuels ziehe?» — und Joachime
tanzte voruͤber und ſagte: ich lache Sie aus, mon
cher
! — und die Fuͤrſtin verhuͤllte ihr unſchuldiges
Geſicht und ſagte aus Stolz: vertheidige mich
nicht! — —


Der Leſer kann ſich leicht denken, daß Viktor
den Namen Klotilde fuͤr zu groß hielt, um ihn nur
in einer ſolchen Nachbarſchaft in den Mund zu neh¬
men — wie die Juden den Namen Jehova nur in
der heiligen Stadt, nicht in den Provinzen auf die
Zunge nahmen. Seine Seele heftete ſich nun an
den Nachflor ſeiner Liebe, an die von Zeuſeln be¬
ſpruͤtzte Agnola. Es war ihm erwuͤnſcht, daß gera¬
de jetzt der Kaufmann Toſtato aus Kuſſeviz ankom¬
men muſte, um ſeine katholiſche Oſterbeichte in der
Stadt abzuthun: er konnte bei ihm doch auf Ver¬
ſchwiegenheit uͤber die Maskopei-Rolle in der Bude
bringen, damit er der gemißhandelten Fuͤrſtin we¬
nigſtens den Schmerz uͤber eine gutgemeinte Belei¬
digung, uͤber die in die Uhr inhaftirte Liebeserklaͤ¬
rung erſparte.


[303]

27. Hundspoſttag.

Augenverband — Bild hinter Bettevorhang — Gefahr für
zwei Tugenden.


Klotilde ging in der Paſſionswoche unter Liebkoſun¬
gen von der Fuͤrſtin entlaſſen, nach St. Luͤne: in
der Oſterwoche traͤgt ſie ihr Herz voll bedeckter Sor¬
gen nach Maienthal zu aͤhnlichern Seelen, wenn ſie
vorher durch die Vorhoͤlle gegangen, naͤmlich durch
einen ſchimmernden Ball, den ihr — oder hoͤfli¬
cher zu reden, der Fuͤrſtin — der Fuͤrſt am drit¬
ten Oſterfeiertage giebt. . . . Iſt dieſe Blu¬
me mit dem Melonenheber des Todes oder Schick¬
ſals aus meinen biographiſchen Beeten ausgeſtochen
und verſetzt: ſo werff' ich die Feder weg und pruͤgle
den Spitz zuruͤck — ich habe mich ſo an ſie gewoͤhnt
wie an eine Verlobte: wo treib' ich am Hofe wie¬
der einen weiblichen Karakter auf, der wie ihrer
heilige und feine Sitten verbindet, Himmel
und Welt, Tugend und Ton, ein Herz ſag' ich,
das wie die unſern Helden aͤngſtigende und auch wie
ein Herz ausſehende moutre à regulateur, auſſen
den Hof-Stundenzeiger, auf dem Ruͤcken einen
[304][Sonnenzeiger] (der Moral) und einen Magnet
(der Liebe) hat? —


Jetzt ſind wir noch die ganzen Oſterfeiertage bei¬
ſammen: denn Sebaſtian muß zum Pfarrer Eymann,
um ihn und die brittiſchen Drillinge und ſeine liebe
Kaplaͤnin und mehr Liebes zu ſehen. Er waͤre gern
ſchon am Oſterheiligenabend dem Regierungsrath da¬
hin gefolgt und dem Biographen waͤr's ſo lieb gewe¬
ſen wie ein Oſterfladen, weil er Staͤdte und Hoͤfe
uͤberſatt iſt — aber der Genius der zaͤrteſten Freund¬
ſchaft winkte ihm, nur wenigſtens bis den erſten
Oſtertag Flamins und Klotildens wegen zuruͤckzublei¬
ben, gleichſam als wollt' er ſagen: »die erſten Freu¬
»denblicke dieſer ſo lange auseinandergedraͤngten Ge¬
»ſchwiſter will doch ungluͤcklicher Sebaſtian
»nicht ſtoͤren? — Wahrlich nein! antwortete ſeine
»Thraͤne.»


Die Stadt war jetzt von ſeinen Geliebten ausge¬
leert — die Paſſionswoche war eine wahre fuͤr ihn
— nicht einmal die Fuͤrſtin, gleichſam der Elektrizi¬
taͤtstraͤgerin ſeiner auf ſein eignes Herz zuruͤckgeweh¬
ten Liebesflamme, war ihm ſeit langen erſchienen —
denn mit dieſer Stimmung konnt' er nicht zu Joa¬
chimen gehen — — — als ihm der Pater der Fuͤr¬
ſtin, die heute bei ihm (am h. Oſterabend) gebeich¬
tet hatte, beſuchte und vor ihm einen Wundzettel
ihrer Augen abfaßte und ihn freundlich ſchalt, daß
der[305] der Hofbeichtvater dem Hofmedikus Suͤnden ſtatt zu
erlaſſen vorzuruͤcken habe. »Ich wollte morgen ver¬
»reiſen« ſagte Viktor — »Gut! ſagte der Pater,
»die Fuͤrſtin verlangt heute Ihre Huͤlfe.»


Auf dem Wege zu ihr ſagt er zu ſich: »hat denn
»Toſtato das Oſterbeichten verſchworen, daß er jetzt
»abends noch nicht da iſt? und wo wird ihn der
»Henker morgen haben?» — Hier! antwortete —
Toſtato hinter ihm. — So einem luſtigen Poͤniten¬
ten hatte noch keine Sakriſtei geſehen. Das Freu¬
den- und Teufels- und Beichtkind ſagte die Urſache
ſeines frohen Tobens: »die Fuͤrſtin hab' ihm als Lands¬
»mann heute das halbe Gewoͤlbe ausgekauft — Eh'
Viktor die ernſthaften Mienen auf ſeinem Geſicht
in Reih und Glied zuſammengeſtellet hatte, mir de¬
nen er ihm die Bitte um Verſchweigung ſeines mer¬
kantiliſchen Vikariats thun wollte, ich meine die
Buden-Adjunktur: ſo erfreuete ihn der ſpringende
Beichtſohn mit der Nachricht, daß die Fuͤrſtin nach
ſeinen und ihren Landsleuten, nach ſeinen Aſſocies
gefragt, und daß er ihr gar nicht verborgen, daß
einer einmal das letztere ohne das erſtere geweſen —
naͤmlich ihr Hofmedikus ſelber. — »Donner!« ſagte
der. . . .


Der arme Narr von Kaufmann meint' es gut
und es war weiter nichts anzuſtellen als die
Unterſuchung, ob nicht Agnolas Fragen Zufall ge¬
Heſperus. II Th. U[306] weſen — ob ſie die Uhr noch habe, oder je auf¬
gemacht, ob kein Wind die Liebeserklaͤrung als
einen verſchwiſterten Wind fortgetrieben — —


Bedenklich bliebs, daß gerade der Pater und der
Kaufmann, gerade die boͤſen Augen und die guten
Nachrichten in Einem Tag zuſammenfielen; in dieſen
30ten Maͤrz, in den Oſterabend. Da dieſer Beſuch
fuͤr meinen Helden ſehr merkwuͤrdig iſt: ſo bitt' ich
jeden, ſich recht bequem zu ſetzen und die vom Buch¬
bindergolde verpichten Blaͤtter dieſer Erzaͤhlung vor¬
her aufzuſpalten und acht zu geben wie ein
Spion. —


Als Viktor im Schloße war: ſtieß ihm der Pa¬
ter auf, der ſagte, er gehe auch mit. Es war ein
Gluͤck: denn ohne dieſen Wegweiſer haͤtt' er ſchwer¬
lich den Pfad durch ein Labyrinth von Zimmern in
das veraͤnderte Krankenkabinet gefunden. Und mit
ihm gieng wie ein Kybiz die Sorge durch alle Ge¬
maͤcher, er werde auf dem Geſichte der Fuͤrſtin ein
Klagl[i]bel gegen das inkarzerirte Billetdoux erblicken;
aber nicht einmal ein Anfangsbuchſtabe oder das
rubrum eines Urthels ſtand auf ihrem Geſichte, als
er vor ſie trat, und ſeine Wetterwolke war ſeitwaͤrts
gegangen. Wenigſtens ſtieß eine, die uͤber der Fuͤr¬
ſtin ſelber hing, ſeine ab: ſie war naͤmlich krank,
aber nicht an Augen blos, und eine zweite Bot¬
ſchaft die ihn holen ſollte, hatt' ihn nur verfehlt.
[307] Sie empfing ihn im Bette — nicht ihrer Krankheit
ſondern ihres Standes wegen: denn fuͤr Damen von
einigem Range iſt das Bette das Hoflager — die
Moosbank — der Hochaltar — die Koͤnigspfalz —
kurz der Fuͤrſtenſtuhl und Seſſel. Wie der Philo¬
ſoph Deskartes, der Abt Galiani und der alte
Schandy, ſo koͤnnen ſie in dieſem Treibhaus am
beſten denken und arbeiten. Ob ſie gleich im Bette
lag, ſo war ſie, wie geſagt, doch nicht geſund, ſon¬
dern von Kopf- und Augenſchmerzen angefallen. Da¬
her hatte ſie von ihrer fortgeſchickten Dienerſchaft
fuͤr heute nichts behalten als eine Kammerfrau, die
ſie ſehr liebte, und die Muͤcke an der Wand, die
ſie irrte und unſern Doktor, der eines von beiden
unterließ. Ich haͤtte eine im offenſtehenden Bilder¬
kabinet ſeßhafte Hofdame gerne mitgezaͤhlet; aber ſie
ſaß ſo ſtumm und unbeweglich drauſſen, daß Viktor
ſchwur, ſie iſt entweder ein Knieſtuͤck oder — eine
Deutſche — oder beides. Es erſparte den verbruͤh¬
ten Augen der Fuͤrſtin eben ſoviel Schmerzen, daß
der gruͤne Lichtſchirm und die gruͤnen Atlastapeten
und die gruͤnen Atlasgardinen im Krankenkabinet ein
wogendes blaues Helldunkel zuſammengoßen, als
es geſunden Augen Vergnuͤgen verſchaffte. Eine ein¬
zige Wachskerze, ſtand auf einem Leuchter, den alle
Jahrszeiten einfaßten, naͤmlich abgebildete — uͤber
welche Sitte der Großen, die Natur immer nur in
U 2[308] Spielmarken, in effegie, und durchs Kopierpapier,
nie in natura ſelber zu genießen, ich hier weder mei¬
ne Meynung noch die Gruͤnde ſagen kan, weil ein
ganzes
Extrablatt
vonnoͤthen waͤre, um nur unter ſo vielen moͤglichen
Gruͤnden, warum ſie uͤberall — auf den Tapeten —
auf den dessur des portesdes trumeauxdes
cheminées
— auf den Vaſen — auf den Leuchtern
— auf den plats de menage — auf den Lichtſcheer-
Unterſaͤtzen — in ihren Gaͤrten — auf jedem Quark
eine Landſchaft, die ſie nie betreten, einen Salva¬
tor Roſa-Felſen, den ſie nie beſteigen, gern ſitzen
ſehen. . . . ich ſage, weil unter ſo vielen Gruͤnden,
warum ſie es thun und der alten Natur dieſes jus
imaginum
einraͤumen, der wahre nur von einem
Extrablaͤtgen auszuklauben waͤre, indem nur das es
weitlaͤuftig entſcheiden koͤnnte, ob es davon komme,
daß ihnen die Natur, wie einem Liebhaber die Ge¬
liebte, bei der ewigen Trennung ihr Portrait ge¬
ſchenkt — oder davon, daß die Kuͤnſtler ihnen, wie
den alten Goͤttern, das gerade am liebſten bringen
und opfern, was ſie haſſen — oder daß ſie dem Kai¬
ſer Konſtantin gleichen, der zur naͤmlichen Zeit das
wahre Kreutz abſchafte, und die Abbildungen deſſel¬
ben vermehrte und heiligte — oder daß ſie aus fei¬
[309] nerem Gefuͤhl das dauerhafte aber muſiviſche Ge¬
maͤlde der Natur, in dem ganze Bergruͤcken die mu¬
ſiviſchen Steingen ſind, den zaͤrtern aber kleinern
Vexirbilder der Kuͤnſtler nachſetzen muͤßten — oder
daß ſie Leuten glichen (wenn's ſolche gaͤbe) die auf
den Theatervorhang ſich die ganze Oper mit allen
Dekorazionen abmalen ließen, um ſich das Aufzie¬
hen des Vorhanges und das Beſchauen der Akte zu
erſparen — — — Und doch, wenn das Extrablaͤtt¬
gen mitten im Entſcheiden waͤre, wuͤrde jeder aus
Hundshunger nach bloßen Faktis, Reißaus nehmen
und auf nichts ausreiten als auf die Fortſetzung der
Faktorum und auf
das Ende des Extrablattes.


Die Fuͤrſtin hatte zwei Verhuͤllungen, wovon er
die eine ſehr liebte und die andre ſehr haßte. Die
geliebte war ein Schleier, der fuͤr ihre wunden Au¬
gen eine Bandage war; ihm aber war einer die Fo¬
lie und Faſſung des weiblichen Geſichts und er
machte ſich anheiſchig, den Satz als Reſpondent und
Praͤſes zugleich zu vertheidigen, daß die Tugend nie
beſſer mit Schoͤnheit belohnet werde als in St. Fe¬
rieux bei Beſancon: denn beim Sittenfeſte bekommt
dort das beſte Maͤdchen einen Schleier zu 6 Li¬
vres. — Die verhaßte Verhuͤllung waren die Hand¬
[310] ſchuhe, gegen die er uͤberall ſeinen Fehdehandſchuh
hinwarf: »eine Frau — ſagt' er im Hannoͤveriſchen
»— wag' es einmal und ziehe gegen mich Le¬
»der, naͤmlich ihre Hand, und verfechte damit oh¬
»ne Huͤlfe der Eſaushaͤnde, die Eſaushaͤnde und ſa¬
»ge, man muß ſie nicht abziehen als im Bette. An¬
»ziehen muͤßte man ſie hoͤchſtens da, koͤnnt' ich re¬
»pliziren; aber ich werde repliziren: zu was dienen
»denn am Ende die ſchoͤnſten Haͤnde, die ich ſehe,
»wenn ſie immer unter den Fluͤgel decken liegen, als
»wenn wir Maͤnner perſiſche Koͤnige waͤren? Und
»iſt es dann zu ſtreng wenn man Perſonen, die ſol¬
»che nachgemachte Haͤnde von Leder oder Seide tra¬
»gen, ins Geſicht ſagt, ſie glichen der medizeiſchen
»Venus, ſogar bis auf die Haͤnde *)? Man ant¬
»worte?« —

Ueberhaupt iſt in dieſem dunkeln gruͤnen Kabinet
faſt alles — Agnola's ſchoͤne roͤmiſche Schultern
ausgenommen — zugehuͤllt: ſogar zwei Heiligenbilder
warens. Denn ein gemaltes Marienbild mit einer wah¬
ren metalliſchen Krone — es ſollte kein Sinnbild
der Regenten mit Vexier-Koͤpfen unter aͤchten Kro¬
nen ſeyn — deckten die Zedern der Bette Feder¬
buͤſche zu; und uͤber einen ſehr huͤbſchen h. Seba¬
ſtian
von Tizian — aus dem Pallaſt Barbarigo in
[311] Venedig kopirt — (der Mann ſah mit ſeinen Pfei¬
len wie ein Stachelſchwein aus und hing doch neben
ihrem Kopfkiſſen) hatte ſie die Bettgardine weiter
vorgezogen, als ſein Namensvetter ohne Pfeile kam,
der mehr anbetete als angebetet wurde. —


Außer einem weiblichen Auge, das hinter einem
Schleier ruht, giebts nichts ſchoͤneres als eines, das
(hier hat der Teufel ſechs End S hinter einander)
ihn gerade wegleget. Dem armen Doktor ſchlug eine
ſolche ſchoͤne Gluth entgegen — da er als Okuliſt
verfahren wollte — daß er ſogleich als Protomedi¬
kus ihres Kopfes verfuhr, um an ihre Hand zu fuͤh¬
len und ſich dadurch zu retten. Denn waͤhrend ſie
den Handſchuh Kallus von ihrer Hand — es waren
aber nur halbe an den Spitzen ohne Handſchuhe oder
halbe Fluͤgeldecken d. h. hemiptera — herunterzupf¬
te: ſo war der Doktor, weil ſie darauf hinſehen
mußte, in der groͤßten Sicherheit von der Welt und
das griechiſche Feuer fuhr ganz neben ihm vorbei.
Daher iſt recht mit Bedacht in die Feuerordnung
der Moral ein ganzer faſt zu langer Artikel hinein¬
geſetzt, der's jungen Maͤdgen verbietet, mit den Au¬
gen frei wie mit bloßem Lichte in der Viſitenſtube
herumzugehen, weil ſo viel brennbares Zeug darin
ſteht — wir ſaͤmtlich — ſondern ſie muͤſſen ſie in
einen Strickſtrumpf oder Naͤhrahmen oder in ein
[312] dickes Buch — z. B. in die Hundspoſttage — ſtek¬
ken wie in eine Laterne.


— Es iſt warlich ein Skandal: ſeit ich und das
Publikum im fuͤrſtlichen Zimmer ſind: folgt eine
Ausſchweifung nach der andern — ich meine Ster¬
niſche. —


Der fuͤrſtliche Puls ging noch ein wenig erhitzter
als deſſen ſeiner, der ihn hier beſchreibt. Sie hatte
kurz vorher eh' er kam, einen warmen Verband aus
zerbratnen Aepfeln von den Augen abgenommen.
Sie begehrte einen Interimsverband, indeß man das
praͤpariren wuͤrde, was der Doktor verordnete. Er
konnte aber jetzt in der Nacht, bei dieſem Wirwar
des Helldunkels in allen vier Kammern ſeines Ge¬
hirns und in den acht kleinern Gehirnen der vierten
Gehirnkammer keinen Augendoktor auftreiben als den
D. v. Roſenſtein, der darin aufſtand und ihm
rieth, er ſollte rathen, Safranpulver, ⅕ Kampfer und
zerſchmolzene Winteraͤpfel auf gezupfte feine Linnen
zu ſtreichen. Die Kammerfrau wurde fortgeſchickt,
die Zubereitung des Rezeptes zu beſorgen oder zu be¬
fehlen, nachdem ſie vorher ein ſchwarzes Taftband
mit der Aepfel-Emulſion um zwei der ſchoͤnſten Au¬
gen vorgebunden hatte, die einer angenehmern Binde
und Blindheit wuͤrdig waren. Ich bin lebhaft, wenn
ich ſchreibe, die Emulſion ſchien aus dem Apfel der
Schoͤnheit — und das ſchwarze Band aus aneinan¬
[313] der geſtoßenen Schminkmuſchen gemacht zu ſeyn.
Der Pater ging auch fort, ſobald er die Hofnung
der baldigen Heilung vom Doktor hatte. Fuͤr den
Medikus wars aber wahrhaftig jetzt kein Spas, ei¬
nem italieniſchen Roſen- und Madonnengeſicht gegen¬
uͤber zu ſitzen — noch dazu ſo nahe, daß er den
Athem fluͤſtern hoͤren kann, nachdem er ihn vorher
wachſen ſehen konnte — einem Geſicht gegen uͤber
zu halten (mein' ich war kein Spas) auf dem Ro¬
ſen den Lilien eingeimpfet ſind wie Abendroͤthe den
lichten Mondwolken und das ein maleriſcher Schat¬
ten, naͤmlich ein ſchwarzes Ordensband, eine prieſter¬
liche Kopfbinde, ein wahrer postillon d'amour ſo
ſchoͤn zertheilt und hebt — ein zugebundnes Geſicht,
das er recht bequem in einem fort anſchauen kann
und das ſich (in einer diagonalen pittoreſken
Attituͤde) auf das Kopfkiſſen und auf die Hand,
ihm zugerichtet, fluͤtzt. . . .


Ich haͤtte einen Klimax machen und bei Baſtians
Seele anfangen ſollen, die heute aus ihrer eignen
Schwermuth, aus ihren Sorgen, aus ihrer durch die
pharmazeytiſche Verlaͤumdung vergroͤßerten Liebe fuͤr
Agnola lauter Schoͤnheitslinien und fluͤßige Tuſchen
machte, um damit in Baſtians Geſicht ein ſo ſchoͤnes
neues hineinzumalen als je eine ſchoͤne Seele eines
auf Leinwand, oder am eignen Kopf oder an einem
fremden erſchaffen hat.


[314]

Agnola machte wohl dieſe Bemerkung eher
als ich.


Es that freilich dem Paare ſchlechten Vorſchub,
daß es unter — nicht vier (denn Agnola war zuge¬
hangen) ſondern unter — zwei Augen war; die zwei
andern Augen im Kabinet — aus denen Viktor nicht
eher klug werden konnte als jetzt da die fuͤrſtlichen
zu waren und er ohne Fragen durch Blicke und An¬
laͤcheln das ſtarre Ding auf dem Seſſel drinnen im
Kabinet unterſuchen konnte — waren wahrhaftig ge¬
mahlt
und der Rumpf dazu, worin ſie ſaßen.


Es frappirte ihn jetzt, daß er wider alle Etikette
allein bei der Fuͤrſtin ſeyn durfte; aber er ſagte ſich,
ſie iſt eine Italienerin — eine Pazientin — eine kleine
ſchoͤne Phantaſtin — (Letzteres war ſogar aus dem
ungewoͤhnlichen Winternegligé und Sizilien-Feuer
erſichtlich.) — Er konnte bisher (und auch heute
vor dem Thorſchluß der Augen) den rechten Ton
gar nicht bei ihr treffen; denn da ſie zu fein war
fuͤr eine Deutſche, zu wenig zaͤrtlich fuͤr eine Eng¬
laͤnderin, zu lebhaft fuͤr eine Spanierin: ſo haͤtt' er
auf ſie freilich geſchrieben p. p. p. (passé par Paris,
welches auf den uͤber Paris gelaufnen Briefen ſteht,)
haͤtt' es, ſag' ich‚ waͤre ſie nicht wieder zu innig¬
leidenſchaftlich geweſen fuͤr eine Pariſerin. Daran
ſties ſichs. — Aber da zwei Menſchen ſich muthiger
und freier unterreden wenn einer oder beide im Fin¬
[315] ſtern ſitzen — und Agnola ſaß da: — ſo war Vik¬
tor doch heute nicht ganz und gar ſo einfaͤltig wie
ein Schaf. Noch dazu machte ihn der Kleinodien¬
ſchrank beherzt, in dem er — ſie konnt' es nicht
ſehen, daß er unhoͤflich herumſah — zu ſeiner Freude
unter 20 Uhren keine montre à regulatuer ausfand.
Sie fragte ihn, ob ſie bis zum 3ten Feiertage ſo
hergeſtellt ſeyn werde, daß ſie zum Vergnuͤgen des
Fuͤrſten auf dem Balle etwas beitragen koͤnne. Er
bejahte es, ob er gleich wußte, ſie truͤge noch mehr
bei, wenn ſie wegbliebe und ob ſie gleich daſſelbe
wußte. — Hier dauerte ſie ihn und er wollt' ihr
alles offenbaren. Er wollte nicht etwan plump ſa¬
gen: »in Großkuſſevitz mußte mich der Teufel reiten,
»daß ich in die die Uhr Ew. Durchlaucht eine Lie¬
besdeklaration eingeſchwaͤrzet: «ſondern er wollte im
ſchoͤnſten Seelenerguſſe aus dem pochenden Buſen nie¬
derfallen und ſagen: »nicht aus Furcht der Strafe,
»ſondern aus Furcht, daß das Geſtaͤndniß meines
»Fehlers einige Aehnlichkeit mit der Wiederholung
»deſſelben habe, hab' ichs bisher verborgen, daß ich
»einmal eine Hochachtung, in der ich nur Ihren
»Hof, und nicht den Gebieter deſſelben nachahmen
»darf, weniger zu ſtark, als zu kuͤhn ausgedruͤckt
»habe; aber die Staͤrke der Gefuͤhle wird leicht mit
»der Rechtmaͤßigkeit derſelben verwechſelt.«

[316]

— Er ſetzte dieſes Niederfallen noch aus, weil
er hinter der Gardine einen goldnen Streif wahr¬
nahm, der der Anfang eines Bilderrahmens zu ſeyn
ſchien. Dieſes Einfaſſungsgewaͤchs mußte doch um
etwas herumlaufen, um ein Bild mein' ich — und
das wollt' er gern wiſſen.


Der verdammte Hofapotheker ſamt ſeiner Ver¬
laͤumdung hatt' es zu verantworten, das er das
wollte: nicht als ob er glaubte, daß Mazens Geſicht
umgoldet hinter dem Bette hinge: ſondern weil ihm
heute allerlei aufgefallen war. Er konnt' es, da ih¬
res Auges Tapetenthuͤr und Sprachgitter ſchwarz
verhangen war, recht leicht machen: er durfte nur
die linke Hand leiſ' auf die Bettkante aufſtemmen
und ſo hineingebogen, und uͤber ihr mit gehaltenem
Athem ſchwebend, mit der rechten uͤber das Bette
(es war ſchmal und er lang) hinuͤbergreifen und die
Gardine ein wenig zupfen — ſo wußt' er, was da¬
hinter hing. Ich ſag' es noch einmal, ohne den
Apotheker waͤr's ihm gar nicht eingefallen. Eine
Verlaͤumdung macht, daß man wenigſtens jede Hand¬
lung um ihren Paß befragt — man thuts bloß, um
die Verlaͤumdung recht augenſcheinlich zu widerlegen
— und da oft die unſchuldigſte keinen Geſundheits¬
paß hat: ſo ſchuͤttelt man den Kopf und ſagt: es iſt
wahre Verlaͤumdung, aber aufpaſſen will ich doch

[317]

Er hatte etlichemal den Verſuch gemacht, hin¬
uͤber zu langen; aber da ſie immer zu ſprechen und
er immer zu antworten hatte, ſo gings nicht, wenn
er nicht ſeine Approximation an ihre Ohren verra¬
then wollte. Die Geſpraͤche betrafen den Ball —
die Gegenwart und Krankheit ihrer Hofdame Klo¬
tilde — die Vikariuſſin derſelben, Joachime, uͤber
deren Vokazion ſich Viktor herzlich kalt ausdruͤckte:
er konnte es bei Agnola niemals uͤber Hof-Nouvel¬
len hinaustreiben; ſie ſchien alles Abſtrakte und Me¬
taphyſiſche zu haſſen oder zu ignoriren und von Em¬
pfindungen mit ihr zu reden — was er ſonſt bei
jeder am liebſten that und wozu ihm auch des Ge¬
mahls ſeine Anlaß und Stof genug gegeben haͤtten
— kam ihm nicht viel beſſer vor, als ſie gar zu
haben.


Als er ſeine kalte Antwort uͤber die Koadjutorie
Joachimens gegeben hatte — eine Kaͤlte, die mit
ſeiner heutigen ſchwaͤrmeriſchen gefuͤhlvollen Waͤrme
fuͤr die Fuͤrſtin einen ſchmeichelhaften Kontraſt mach¬
te: — ſo wollt' er in die halbe Takt-Pauſe darauf,
welche Agnola mit Denken ausfuͤllte; die Aufhebung
des Vorhangs verlegen. Er ſtemmte die Hand auf,
hielt den Athem auf, zog den Vorhang auf — aber
der H. Sebaſtian war dahinter, den ich ſchon oben
beſagt. Der Heilige kam ihm noch ſchlimmer vor
als Maz — nicht weil er dachte, das Portrait ſey
[318] ſein Namensvetter, ſondern weil ihm einfiel, war¬
um
die Weiber in Italien zuweilen Heiligenbilder
vorhaͤngen. Die Urſache kann bekanntlich einen
Kupferſtich zu den zehn Geboten — Goͤſchen und
Penzel ſollten den Katechiſmus mit geſchmackvollern
Verboten-Stichen ediren — abgeben. Auch die Ma¬
ria uͤber dem Bette war mit Federbuͤſchen und allem
verſchleiert. . . . . Zeuſel, Zeuſel! haͤtteſt du nicht
mediſiret, dieſe ganze Biographie liefe (ſo viel ich
vorausſehen kann) wohl anders! —


Er erhielt ſich durch Anſtemmung der Rechten an
die Wand, uͤber der ſchoͤnen Blinden ſchwebend, weil
ihn eine neue kleine Weltkugel bei der Zentripetal¬
kraft anfaßte und ihn aus ſeinem Zuruͤcklaufe brach¬
te. — Denn weil die Kranke auf der rechten Seite
ruhte: ſo war vom aufgerollten Haar eine Welle
nach der andern uͤber das Herz und uͤber den Lilien¬
huͤgel, den Seufzer tragen, hinuͤbergefloſſen und die
zum andern Huͤgel ſinkenden Locken hatten dort nicht
ſo viel uͤberdecken koͤnnen als ſie hier entkleidet hat¬
ten. Den Locken ſank langſam das Spitzengewebe
nach und die Herzblaͤtter und die reifen Bluͤten blaͤt¬
terten ſich ab von der aufdringenden Aepfel Frucht
... Theurer aͤſthetiſcher Held dieſer Poſttage, wirſt
du ein moraliſcher bleiben, jetzt ungeſehen haͤngend
uͤber dieſem wahren globe de compression von Be¬
[...]bor — uͤber dieſer zunehmenden Mondkugel,
[319] wovon man nie die andre Haͤlfte ſieht — neben ei¬
ner Anhoͤhe, die man wie andre Anhoͤhen um keine
Feſtung dulden ſollte — und noch dazu an einem
Hofe, wo man ſonſt alles Erhabne durch die
Kleiderordnung erdruͤckt?


Sobald er aus dem Bette und Paullinum iſt :
will ich mit dem Leſer weitlaͤuftig uͤber den ganzen
Kaſus diſputiren — jetzt muß er erſt erzaͤhlt werden
in Einem fort und mit vielem Feuer.


Er war gleichſam in die Luft geheftet — Aber
endlich wars Zeit, aus dieſer Kulmination aller Ge¬
fuͤhle und der Stellung zu weichen. Noch dazu er¬
hoͤhte ein neuer Umſtand die Gefahr und den Reiz
ſeiner Attituͤde zugleich — Ein langer Seufzer ſchien
ihren ganzen Buſen zu uͤberladen und aufzuheben
und wie ein Zephyr, durch einen Lilienflor zu wogen
— und der uͤberbauende Schneehuͤgel ſchien vom
ſchwellenden Herzen, das unter ihm gluͤhte, und vom
ſchwellenden Seufzer zu zittern — Die Hand der
zugehuͤllten Goͤttin bewegte ſich mechaniſch nach dem
eingekerkerten Auge als wollte ſie eine Thraͤne hin¬
ter dem Bande weg druͤcken. Viktor, in Sorge, ſie
verſchiebe die Binde, zieht die Rechte ab von der
Wand und die Linke vom Bette, um auf den Zaͤhen
ſchwebend, ohne Beſtreifen ſich aus dieſem Zauber¬
himmel herauszubeugen. — —


[320]

Zu ſpaͤt! — Das Band iſt herab von ihren Au¬
gen, — vielleicht war ſein Seufzer zu nahe geweſen
oder ſein Schweigen zu lange. —


Und die enthuͤllten Augen finden uͤber ſich einen
begeiſterten, in Liebe zerronnenen, im Anfange einer
Umarmung ſchwebenden Juͤngling. . . . Erſtarrt hing
er in der verſteinernden Lage — ihre von Schmerzen
entbrannten Augen uͤberquollen ſchnell vom mildern
Lichte der Liebe — ſie ſagte heiß und leiſe: com¬
ment
? — Und gelaͤhmt zur Entſchuldigung, bebend
ſinkend, gluͤhend, ſterbend faͤllt er auf die heiſſen
Lippen nieder und auf den ſchlagenden Buſen —
Die Betaͤubung, die Entzuͤckung, die Liebe, die Ver¬
zweiflung ſchloſſen ſeine Lippen an ihre zum trinken¬
den, druͤckenden, brennenden Kuſſe zuſammen . . . .
als ploͤtzlich ſein auf jeden Laut einer fremden Annaͤ¬
herung lauerndes Ohr den — Nachtwaͤchter zwoͤlf
Uhr ausrufen hoͤrte. — —


Wie ein Weltgericht in Nachtwolken ſchmetterte
des Mannes einfache Ermahnung, an den Tod und
an die zwoͤlfte Geiſterſtunde dieſes Mitternachtle¬
bens zu denken, in ſeine Ohren, vor denen die Blut¬
ſtroͤme des Herzens voruͤberbrauſten — Der Ruf auf
der Gaſſe ſchien von Emanuel zu kommen [und] zu ſa¬
gen: »Horion! Beflecke deine Seele nicht, und falle
»nicht[321] »nicht ab von deinem Emanuel und von deinem Va¬
»ter! Schau' an die Leinwand uͤber ihrem kranken
»Auge als verhuͤllte es der Tod — und ſinke nicht!«


»Ich ſinke nicht!« ſagte ſein ganzes Herz: er
wand ſich mit ehrerbietigem Schonen aus den pulſi¬
renden Armen und fiel, erſtarrend vor der Moͤglich¬
lichkeit einer Nachahmung des elenden Matthieu,
den er ſo verachtet hatte, außerhalb des Bettes an
ihrer hinausgenommenen Hand mit vorſtroͤmenden
Thraͤnen nieder und ſagte:


»Vergeben Sie dem Juͤngling, — ſeinem uͤber¬
»waͤltigten Herzen, — ſeinen geblendeten Augen —
»— ich verdiene alle Strafen, jede iſt mir eine Ver¬
»gebung — aber ich habe niemand vergeſſen als
»mich. — — »Mais c'est moi que j'oublie en Vous
»pardonnant« *) ſagte ſie mit einem zweideutigen
Auge — er ſtand ſchweigend auf und waͤhlte in ei¬
ner Antwort, in der man ihm die Wahl der gelin¬
deſten oder der haͤrteſten Auslegung anzubieten ſchien,
gern die letztere und ſuchte ſich ſelber willig mit die¬
ſer Demuͤthigung heim. Er trat in die ehrerbietigſte
Entfernung zuruͤck, und Agnola in die ſtolzeſte.
Durch einen geheimen Druck an die Wand, der glaub'
ich eine eigene Klingel im Zimmer der Kammerfrau
Heſperus. II. Th. X[322] regirte, gab ſie ihr den Befehl zu eilen — und in
einigen Minuten kam dieſe mit der Augen-Gurt.
Natuͤrlicherweiſe ſpielte man (wie im Leben des Men¬
ſchen) den fuͤnften Akt ſo hinaus als waͤre der dritte
und vierte gar nicht da geweſen. — Dann zog er
hoͤflich ab.


So! — Nun fangen ich und Leſer daruͤber zu
debattiren an und Viktor daruͤber zu denken. Recht
war ſeine Umarmung nicht — ſeine Entdeckungsreiſe
mit der Hand und ſeine Gemaͤldeausſtellung wars
auch nicht — aber klug war ſie: denn er konnte doch
warlich nicht zuruͤckpurzeln und ſagen: »ich dachte,
»Maz hinge hinter dem Bette.« — — Darauf ant¬
worten mir freilich Leute von Erfahrung: »wir ſind
»hier nicht daruͤber mit ihm unzufrieden, daß er
»die Klugheit der Tugend vorzog, ſondern daruͤber
»vielmehr, daß er's nach dem Kuſſe nicht wieder ſo
»machte — Dieſer Kuß iſt ein zu kleiner Fehler,
»als daß ihn Agnola vergeben koͤnnte.« Ich ſehe,
dieſe Leute von Erfahrung ſind Anhaͤnger von der
Sekte, die in meinem Buche die Fuͤrſtin wegen ſo
vieler halben Beweiſe unter diejenigen Weiber rech¬
net, die zu ſtolz und zu hart fuͤr die Liebe des Her¬
zens, die Liebe der Sinne nur fluͤchtig mit der Liebe
zum Herrſchen alterniren laſſen und die es nur thun,
um aus Amors Binde ein Leitſeil, aus ſeinen Pfei¬
len Sporen oder Steigeiſen zu machen. Es ſind
[323] mir auch die halben Beweiſe recht gut bekannt, wo¬
mit ſich dieſe Sekte deckt, — die Bigotterie der
Fuͤrſtin — ihr Beichtabend — ihre bisherige Auf¬
merkſamkeit fuͤr meinen Helden — das Verdecken
der gemalten Marie und das Enthuͤllen der gebilde¬
ten — und alle Umſtaͤnde meiner Erzaͤhlung. Aber
ich kann ſo etwas von einer Freundin Klotildens
(dieſe muͤßte ſich denn gerade deswegen von ihr ge¬
ſchieden oder aus Seelenguͤte dieſe dem maͤnnlichen
Geſchlechte gewoͤhnlichern Eilboten des Tempera¬
ments gar nicht begriffen haben) — unmoͤglich eher
denken als bis mich in der Folge offenbare Spuren
eines mehr erbitterten als gekraͤnkten Weibes
dazu noͤthigen. —


Ich komme von meinem Verſprechen ganz ab, ei¬
niges naͤher zu legen, was gewiß bei Unpartheiiſchen
meinen Held wo nicht rechtfertigt doch entſchuldigt,
daß er nach dem Kuſſe ſo zu ſagen wieder tugend¬
haft wurde. Ich ſtelle keck unter ſeine Milderungs¬
gruͤnde ſeine Unbekanntſchaft mit ſolchen Weibern,
die gleich den Spartern, muthig nicht nach der Zahl
der Feinde ihrer Tugend fragen ſondern nach dem
Orte derſelben: er war wohl bei ihnen und in ih¬
rem Lager, aber ſeine Tugend hinderte ſie, ihm die
ihrige zu zeigen. — Nicht ſo viel wie durch jenes
wird er durch die Einwirkung des Nachtwaͤchters
und durch das Erinnern an den Tod entſchuldigt;
X 2[324] denn das muß ſelber entſchuldigt werden — es iſt
aber auch nur gar zu gewiß, daß gewiſſe Menſchen,
die zu Philoſophen oder zu Dichtern organiſirt ſind,
gerade dann und zwar allemal ſtatt ihres Zuſtandes
allgemeine Ideen beſchauen, wo es andere gar nicht
koͤnnen und nichts ſind als Ichs, naͤmlich in den
groͤßten Gefahren, in den groͤßten Leiden, in den
groͤßten Freuden. —


Ein Billiger ſchiebet alles auf den Apotheker,
der Viktors moraliſcher und mechaniſcher Bettzopf
oder Bettaufhelfer war: denn da der ihm den edlen
Maz in einer aͤhnlichen Lage (aber ohne Bettzopf)
vorgemalet hatte: ſo wurde der Abſcheu, den Viktor
einige Tage vorher gegen des Evangeliſten Betragen
empfunden hatte, in ihm zum paralytiſchen Unver¬
moͤgen, einige Tage darauf im geringſten es zu kopi¬
ren. — O wenn wir doch jede Suͤnde, zu der wir
oder andre uns verſuchen, ein Paar Tage vorher von
einem wahren Schuft haͤtten begehen ſehen, den wir
anſpeien! —


Endlich darf man nur zu Viktor in den Erker,
wo er jetzt ſitzt in einem ſonderbaren Barometer¬
ſtand, hinſehen, wenn man den vorigen beurtheilen
will. Sein jetziger iſt naͤmlich eine Miſchung von
Leerheit, Unzufriedenheit (mit ſich und jedem,) von
groͤßerer Liebe gegen Agnola, von Rechtfertigungen
dieſer Agnola und doch von einem Unvermoͤgen,
[325] ſie ſich als eine nahe Freundin Klotildens zu
denken. —


Mich wird das Wenige, was ich in der Eile zu¬
ſammengetragen, niemals reuen, wenn ich dadurch
einige gluͤckliche Winke gegeben haͤtte, wie gut mein
Held bei ſeinem Betragen nach dem Kuſſe, das
ſtrengen Leuten von Welt auffallen muß, eine unan¬
genehme Vereinigung von moraliſchen Zwangsmitteln
vorſchuͤtzen koͤnne und wenn es mir alſo gegluͤckt
waͤre, ihm die Hochachtung, um die er ſich brachte,
weil er den fuͤr ſeinen Finger zu weiten Fuͤrſtenring
nicht mit dem Bande der Liebe uͤberwickelte, am
Ende des 27ten Kapitels wieder zu gehen. . . .


[326]

28. Hundspoſttag.

Oſterfeſt.


Einen Hundstag, der ſo lang und wichtig iſt und
der das zweite Heftlein beſchließet, wie der 28te,
darf man ſchon in drei Feiertage zerfaͤllen.


Erſter Oſterfeiertag.

Ankunſt im Pfarrhauſe — Klub der Drillinge — Karpfe. —


Am erſten Oſtertage ſchlich Sebaſtian voll Schnee¬
wolken wie der Himmel uͤber ihm, aus dem Todten¬
haus der Tugend, aus den Wirthſchaftsgebaͤuden der
Leidenſchaften, ich meine aus der Reſidenzſtadt —
aber erſt gegen Abend, um heute mit ſeinem von ei¬
nem halbjaͤhrigen Gewitterregen bodenlos gewordnen
Herzen keinem Freunde lange zur Laſt zu ſeyn. Auf
dem Berge, hinter dem Flachſenfingen wie durch ei¬
nen Erdfall einſinkt, kehrt' er ſich um gegen die
dunkle Stadt und ließ vor ſeiner Seele die Erinne¬
rung wie einen Abendnebel voruͤberziehen, wie er vor
[327] drei Vierteljahren im Abendglanze des Sommers und
der Hofnung, ſo froͤhlich uͤber dieſe Haͤuſer geblickt
habe — ich beſchrieb' es auch am Ende eines Heft¬
lein — und er verglich ſeine damaligen Proſpekte
mit ſeiner heutigen Wuͤſte; er ſagte entlich: »ſage
»dir's nur gerade zu, was du haſt und willſt
»du haſt naͤmlich nichts mehr, kein geliebtes und
»liebendes Herz in der ganzen Stadt — aber du
»willſt noch einmal nach St. Luͤne marſchiren und
»ganz verarmt vom blaſſen Engel, den dein ausge¬
»ſtohlnes Herz nicht vergeſſen kann, den zweiten
»Abſchied nehmen, wie du der Sonne nachſteigſt
»und ſie, wenn du ihren Untergang aus einem Thale
»geſehen, noch einmal auf einem Berge ſinken
»ſieheſt.« . . . .


Fuͤnf halbe Sabbatherwege vom Dorfe erblickte
er den Hofkaplan von einem Katechumenen (ſowohl
des Schneiderhandwerks als des Chriſtenthums) ge¬
jagt. Vergeblich ſuchte er und der junge Schneider
den vorausgeſetzten Seelenhirten zu erlaufen. Der
Hirt kantonirte nicht eher als bis der Junge in ſein
Haus war: ein Hundert und Zwanzigpfuͤnder (das
iſt mein phyſiſches Gewicht) bekoͤmmt nicht mehr aͤſt¬
hetiſches, wenn er die unbedeutende Urſache des un¬
bedeutenden Rennens ſo lange bei ſich behaͤlt und es
nicht eher ſagt als jetzt, daß der Kaplan durchaus
niemand hinter ſich gehen hoͤren konnte, weil er be¬
[328] ſorgte, der Menſch erſchmeiſſ' ihn von hinten. Nun
wollte der Lehrburſche in die Fußſtapfen ſeines geiſt¬
lichen Meiſters treten und ihm nachkommen — ie
aͤrger der Meiſter ins Freie ſetzte, um jenen zuruͤck¬
zulaſſen, deſto weiter ſprang der Schuͤler vor ihn zu
ertappen — das war der ganze Bettel, aber ſo jagen
Menſchen, Menſchen.


Viktor lief mit aufgeflognen Armen an feine haͤn¬
genden, die der Eigner in der Angſt nicht erheben
konnte. Aber im Pfarrhauſe legten ſich zwei waͤr¬
mere um ſeinen gedruͤckten Buſen, die ſeiner Lands¬
maͤnnin; und die Pfarrerin truͤbte ſeine und ihre
Auferſtehungs Freude nicht mit einer einzigen Klage
uͤber ſeine bisherige Entfernung — er erwiderte dieſe
freundſchaftliche Feinheit, die dem andern unnuͤtze
Entſchuldigungen erlaͤſſet, mit doppelter Waͤrme und
mit einem voluminoͤſen Klaglibel gegen ſeine eigne
Narrheiten. — Sie fuͤhrte ihn eine Treppe im freu¬
digen Heute mit lauter erleuchteten Stockwerken
durchbrochnen Pfarrhauſe hinauf an ihres theuren
Sohnes Bruſt und vor die Augen der drei verwand¬
ten Soͤhne aus Einem Vaterland, vor die Dril¬
linge. . . .


O ihr vier Menſchen Eines Herzens druͤckt mei¬
nes verlaſſenen Viktors ſeines an eurem warm
und macht den Guten froh, nur auf einen Abend.
. . . Ich bin's warlich ſelber, ſeit dem Paſcha-Aus¬
[329] gange aus dem Flachſenſingiſchen Aegypten: Ich
will daher das 28te Kapitel ſo lang machen wie das
Baddorf ſelber iſt. Meinem Werke wird dadurch
Gewicht ertheilt bei wahren Kunſtrichtern — aber
auch bei Poſtmeiſtern, die von mir, wenn ich's in
die Verlagshandlung abſende, fuͤr's Waͤgen etwas
Erhebliches ziehen. . . Soll aber ein Autor ſo ſchaͤ¬
bigt ſein und ſeine Empfindungen, bloß weil ſie ein
Poſtſekretair mehr nach ſeiner eignen abwiegt als
nach der Poſttaxe des Porto's wegen abkuͤrzen? Und
muntert mich nicht die Kur- die Fuͤrsten- und die
Staͤdte Bank in Regenſpurg zum Gegentheil auf, zu
verlaͤngerten Empfindungen, indem beſagte Baͤnke mir
durch einen Reichsabſchied zwei Drittel Poſtgeld fuͤr
Druckſachen erlaſſen, um die Gelehrſamkeit, hoffen ſie,
in Gang zu bringen und die Empfindſamkeit?


Der edle Evangeliſt war zwar auch mit droben
— er und Joachime hatten die Hofdame hoͤflich
zu den Eltern begleitet — aber hier auf dem Lan¬
de
, wo weniger moraliſches Unkraut ſteht als in
Staͤdten (ſo wie weniger botaniſches in Feldern
als Gaͤrten,) und wo man Freuden ohne maitres
de déplaisirs
genießet, hier wo in Viktor die Liebe
des Vaterlandes die Sehnſucht nach jeder andern
ſtillte, konnte niemand ungluͤcklich ſeyn als der der's
verdiente. Maz verſchwand da wie eine Kroͤte un¬
ter Tulpen. Viktor haͤtte die Britten geliebt, auch
[330] ohne die vaterlaͤndiſche Blutsverwandſchaft — und
haͤtte die Hollaͤuder gelaͤſtert, auch mit derſelben;
daher ſchreibt ſich ſeine unbeſonnene Rede, dieſe Na¬
tionen malten ſich in ihren Tabakspfeifen, indem die
engliſchen aufgerichtete Koͤpfe haͤtten und die
belgiſchen haͤngende.


Alle drei waren von der Oppoſitionsparthei und
verloren ihr kaltes Blut uͤber das eiskalte von Pit.
Der Korreſpondent der Hundstage ſchreibt mir nicht,
warum — ob's war, weil ſie vom Miniſter beleidigt
wurden — oder ob ſie am fuͤrchterlichen Weltgerichte
und der Todtenauferſtehung in Frankreich, wo die
Sonne uͤber Phoͤnix Aſche und Krokodilleneier zu¬
gleich bruͤtet, naͤhern Antheil nahmen — oder wes¬
wegen ſonſt. Er berichtet mir uͤberhaupt nichts
weiter von ihnen als ihre Namen, naͤmlich Kaſpar,
Melchior und Baltaſar *), welches die Namen der
h. drei Koͤnige aus Morgenland waren.


Der, der ſich aus Laune Melchior nannte, ver¬
barg unter einer phlegmatiſchen Eiskruſte eine Aequa¬
torgluth und war ein Hekia, der erſt ſeine Eisberge
[331] ſpaͤlt eh' er Flammen ausſchuͤttet: mit kaltem Auge
und ſchlaffer Stimme und welker Stirne ſprach er
einſilbig, vielſinnig, gepreſt, — er ſah die Wahrheit
nur in einem Brennſpiegel und ſeine Dinte war eine
wegreiſſende Waſſerhoſe. — Der zweite Englaͤnder
war ein Philoſoph und Deutſcher auf einmal. Den
aͤltern Kato, der zugleich den Mohrenkoͤnig vorſtellte,
kennt jeder. Es iſt mir ſo lieb als wenn ich's ſelber
waͤre, daß gerade mein Held durch eine groͤßere hei¬
tere Beſonnenheit der Denkfreiheit von ihnen allen
unterſchieden war — ich meine jenes ſokratiſche helle
Auge, das frei uͤber und durch den Garten der Baͤu¬
me des Erkenntniſſes umherblickt und das waͤhlet
wie ein Menſch, anſtatt daß andre vom Inſtinkt,
irgend einem Satze, irgend einem Apfel dieſer Baͤu¬
men ausſchlieſſend zugetrieben werden wie jedes In¬
ſekt ſeiner Frucht. Die moraliſche Freiheit wirkt
ſo gut auf unſre Meinungen als auf unſre Thaten;
und trotz der Entſcheidungsgruͤnde beim Verſtande
und trotz der Bewegungsgruͤnde beim Willen waͤhlt
doch der Menſch ſowohl ſein Syſtem als ſein Thun.


Daher waͤren die Drillinge beinahe noch vor dem
Abendeſſen kalt gegen Sebaſtian geworden im Lieben,
bloß weil er's war im Urtheilen. Er war heute mit
ihnen zum erſtenmale in einem Falle, worin er mit
Flamin jeden Tag dreimal gerieth: gewiſſe Menſchen
[332] verſchmerzen lieber uneingeſchraͤnkten Widerſpruch
als eingeſchraͤnkten Beifall. Die Sache war die:


Matthieu gab durch ſeine ſatiriſchen Uebertrei¬
bungen, der kleinen Unaͤhnlichkeit zwiſchen Viktor
und ihnen ein immer groͤßeres Relief. Er ſagte,
(nicht um anzuſpielen ſondern um es zu ſcheinen) die
Fuͤrſten, von denen die Unterthanen wie vom ſineſi¬
ſchen Koͤnig, die Witterung des Staats erbaͤten,
haͤlfen ſich wie jener Rektor, der den Kalender ſelber
verfaßte und ſeinen Schuͤlern (hier den Guͤnſtlingen
der Fuͤrſten) zuließ, das Wetter dazu zu machen.
Auch ſagt' er, die Dichter koͤnnten wohl fuͤr die
Freiheit ſingen aber nicht ſprechen, ſondern ſie
machten in furchtſamer Verfaſſung unter der Larve
der Tragoͤdienhelden die Stimme der Helden nach,
ſo wie er einen aͤhnlichen Spas oft an einem gebrat¬
nen Kalbskopfe geſehen, der der ganzen table zu
bruͤllen geſchienen wie ein lebendes Kalb, indeß nichts
als ein lebender Laubfroſch darin geſteckt waͤre,
deſſen Quaͤcken nur daraus erklungen. Aber Eine
noch groͤßere Feigheit waͤr's, ſagte Viktor, nicht
einmal zu ſingen; allein ich weiß, die Menſchen ſind
jetzt weder barbariſch noch kultivirt genug, um
die Dichter zu goutiren und zu befolgen: die Dich¬
ter, die Religion, die Leidenſchaften und die Weiber
ſind vier Dinge, die drei Epochen erleben, wovon
wir erſt in der mittlern ſind, ſie zu verachten, die
[333] vergangne war, ſie zu vergoͤttern, die kuͤnftige iſt, ſie
zu verehren. Die erzuͤrnten Drillinge glaubten be¬
ſonders, die Religion und die Weiber waͤren bloß
fuͤr den Staat. Viktors republikaniſche Geſinnun¬
gen waren ihnen ohnehin ſchon wegen ſeiner ariſto¬
kratiſchen Verhaͤltniſſe zweideutig. Da er nun gar
dazu ſetzte: die Staatenfreiheit habe mit den kleinern
Abgaben, mit groͤßerer Sicherheit des Eigenthums,
mit beſſerem Wohlleben, kurz mit der Steigerung
des ſinnlichen Gluͤcks gar nichts zu ſchaffen, alles das
wohne oft noch reichlicher in Monarchien und das,
wofuͤr man Eigenthum und Leben opfere, muͤſſe doch
etwas hoͤheres ſeyn als Eigenthum und Leben — da
er ferner ſagte: ein jeder Menſch von Kultur und
Tugend lebe in einer repbulikaniſchen Regierungs¬
form trotz den Verhaͤltniſſen ſeines Leibes, ſo wie ja
Gefangne in Demokratien doch die Rechte
der Freiheit genießen — und da er gar nicht ſowohl
fuͤr den Miniſter und das Oberhaus als fuͤr das
engliſche Volk der Waffentraͤger und Kontradik¬
tor
wurde, weil die Grundſaͤtze von den erſten bei¬
den von jeher des letzten ſeine bekriegt und doch
nicht beſtimmt haͤtten: weil die jetzige Klage ſo alt
waͤre wie die (engliſche) Revolution; weil der Grund¬
riß der letztern nur in einer foͤrmlichen Gegenrevolu¬
tion zerſchlitzet werden koͤnnte, weil alle Ungerechtig¬
keiten nach dem Schein der Geſetze begangen wuͤr¬
[334] den, welches beſſer waͤre als eine Gerechtigkeit wi¬
der
den Schein der Geſetze: und weil das
Sprachgitter, daß man jetzt um die engliſche
Preßfreiheit gemacht, nicht ſchlimmer ſey als die
Atheniſchen Verbothe zu philoſophiren, ſondern beſ¬
ſer als die Konzeſſionen der roͤmiſchen Kaiſer, auf
ſie zu paſquilliren. — —


. . . Die Englaͤnder lieben lange Roͤcke und Re¬
den. Da er mit »da« anfing: ſo muß in ſeinem
wie in meinem Perioden »ſo« darauf kommen. ..


So war's keinem Teufel recht und Kato der aͤl¬
tere ſagte, »wenn er dieſe Prinzipien im Oberhauſe
»vortruͤge, ſo entſtaͤnde der groͤßte Laͤrm daruͤber,
»aber aus Beifall und jeder Hoͤrer ſchrie noch: hear
»him!« Viktor ſagte mit der Beſcheidenheit eines
Weltmannes: er ſey ein ſo warmer Republikaner
und Altbritte wie ſie alle, nur heute ſey er zu un¬
faͤhig um »ſich, aus dieſen Grundſaͤtzen zu erweiſen
»daß er ihnen gleiche; — vielleicht im naͤchſten
»Klub!« — »Und der kann (ſagte der Hofkaplan)
»an meinem Geburtstage gehalten werden, in wenig
»Wochen.« — Wenn wirs erleben, ich und Leſer,
ſo wird man uns hoffentlich als Altgevattern mit
dazu invitiren: wir waren das erſtemal (am 6ten
Hundspoſttage) bekanntlich auch dabei.


Mein Held foderte den Menſchen (auch mit aus
Indolenz) zu wenig Achtung ab. Er arbeitete zwar
[335] um dieſen Arbeitslohn; wenn ſie ihm aber nichts
gaben: ſo wußt' er tauſend Entſchuldigungen fuͤr die
Menſchen und zog ſeinen Muͤnzſtempel heraus und
ſchlug ſich ſelber eine Ehrenmedaille, indem er da¬
bei ſchwur: »ich will verdammt ſeyn, wenn ich mich
»nicht das naͤchſtemal ſtolzer auffuͤhre und minder
»nachſichtig und uͤberhaupt ernſthafter, um eine ge¬
»wiſſe Ehrfurcht zu erregen.» Das naͤchſtemal ſoll
noch kommen. Er vergab daher den Drillingen ſo
ſchoͤn, daß ſie endlich den Menſchenfreund mit lei¬
denſchaftlichen Armen auf immer an ihre Seele
ſchloßen.


Nach einer ſolchen Gradualdiſputazion machte er
nichts liebers als etwas recht Tolles, Galantes,
Kindiſches — dasmal war's ein Weg in die Kuͤche.
Catinat ſagte, der nur ſey ein Held, qui jouerait
une partie de quilles au sortie d'une bataille gagnée
ou perdue
— oder der nach einer gewonnenen Di¬
ſputation in die Kuͤche gehen kan. Entweder nichts
oder alles iſt in dieſem Nebel-Leben wichtig, ſagt'
er. In die Kuͤche, die nicht ſo ſchmutzig war wie
ein franzoͤſiſches Schlafzimmer, ſondern ſo rein wie
ein belgiſcher Viehſtall, war ſchon ein anderer Feſt¬
haſe und auſſerordentlicher Envoyé eingelaufen, der
Hofkaplan, der da ſeinem Berufe oblag. Er mußte
zuſehen, ob ſein Karpfen-Vierpfuͤnder — aus dem
Paſtoralteich gebuͤrtig und fuͤr den Adoptivſohn Ba¬
[336] ſtian ausdruͤcklich ausgewintert — nicht ſowohl recht
abgeſchuppet (daruͤber ſetzt' er ſich mit wenig Philo¬
ſophie hinweg) als recht geſchwaͤnzet wurde. Es
konnt' ihm doch wahrhaftig nicht gleichguͤltig ſeyn,
ſondern als Menſch mußt' er den Schmerz zugleich
empfinden und bekaͤmpfen, wenn ein Karpfe von ſo¬
viel Pfunden als ein Sterblicher Gehirn hat, ſo
jaͤmmerlich hinausgeſchlitzet wird, daß das eine
Schwanzquotum nicht kleiner iſt wie ein Haarbeutel
und das andre nicht groͤßer als eine Floßfeder.—
Und doch iſt dieſe ganze Nominalterrizion von gerin¬
gem Belang gegen eine ganz andre Realterrizion (ſo
ſehr verſchwindet erheblicher Kummer vor groͤßerem)
die den Pfarrer mit der Drohung aͤngſtige, daß
man die Gallenblaſe des Vierpfuͤnders zerdruͤcke.
— — Seine haͤtte ſich der andern ſofort nachergoſ¬
ſen —: »Um Gottes willen bedaͤchtiger, Appel!
»verbitter' mir den erſten Oſtertag nicht», ſagt'
er. Galle iſt nach Boͤrhave wahre Seife[;] daher
waͤſchet die ſatiriſche die halbe Leſewelt gleiſſend und
rein [und] die Leber eines ſolchen Menſchen iſt die
Seifenkugel eines Welttheils und ſeiner Kolonien.


Es lief indes herrlich ab. — Aber beim Him¬
mel! die Welt ſollte nach dem Abdruck dieſes Buchs
einmal einſehen, daß ein Karpfen von vier Pfund
— ſo lange gefuͤttert im Fiſchkaſten, ſo geſchickt aus¬
geweidet — mehr wiege auf der Fiſchwage der Zu¬
frieden¬[337]friedenheit als die goldnen Fiſchgraͤten in ro¬
them Felde des Wappens der Grafen von Windiſch¬
graͤtz! —


Konnt' er denn lange in der Kuͤche — dieſem
Wittwenſitz ſeiner alten geſchiednen Jugend — oder
unter ſo vielen Freundinnen Klotildens, die ihm alle
ihr Niederſinken und Weggehen (im doppelten Sin¬
ne) vorklagten, ſtehen, ohne daß der Honigeſ¬
ſig
zuruͤckgewuͤnſchter Freuden uͤber ſeinen Gaumen
lief und die Zuckung des Mitleidens durch ſein
Herz; ob er heute gleich im zweiten Stockwerk die
Diſputazion uͤber die Freiheit als ein wahres zer¬
theilendes Mittel, als ein eau d'arquebusade, we¬
nigſtens als eine Aderlaßbinde uͤber ſeine ofne Adern
uͤbergeſchlagen hatte? Ich fragte, ob er an die
Gute lange nicht denken konnte. — Aber ich wuͤrde
die Antwort gar nicht geben und aus Mitleiden mit
dem unſchuldigen Viktor es vor ſoviel inkruſtirten
Seelen — die in ihrer Ribben-Konchylie die poeti¬
ſchen Freuden der Liebe gut heiſſen und doch die poe¬
tiſchen Leiden derſelben nicht — gar nicht offenba¬
ren, wie oft er jeden Milchzucker des Schickſals mit
dem giftigen Bleizucker der Erinnerung verſetzte,
wenn ich nicht deswegen muͤßte: . . .


— weil die kleine Julia wieder kam aus dem
Schloße und mitbrachte, morgen komme Tante ſchon
(Klotilde). Dieſes verſprach alſo, daß die Miniſters
Heſperus. II. Th. Y[339 [338]] Tochter morgen abfahre. — Man verarge den Pfarr¬
leuten die Zudringlichkeit um Klotilden nicht: denn
am dritten Feiertag geht ſie zum Balle, am Tage
darauf nach Maienthal — ſie hatten ja nur noch
morgen und heute. . . . Die kleine Julia hatte un¬
ſer Flamin, dem ihr Penny Poſtamt wohlgefiel, mit¬
gebracht. — Ich bin moraliſch gewiß, die Kaplaͤnin
ſah meinem Helden ſoviel an als ich von ihm ſchrei¬
be und ſie liebte ihn ſo ſehr, daß wenn ſie ſtatt des
Schickſals haͤtte dekretiren muͤſſen, ſie vor Kummer
geſtorben waͤre, eh' ſie es uͤber ſich gewonnen haͤtte,
den Sohn auf Koſten des Freundes zu begluͤcken. —
So ſehr gewann er durch eine ſchoͤne Vereinigung
von Feinheit, Empfindung und Phantaſie
die ſchoͤnſten und weichſten Herzen, ich meine die
weiblichen.


Dieſe winzige Julia, der Zodialſchein und Nach¬
hall der [untergegangnen] Giulia, ablaktirte in Vik¬
tors Seele Roſen mit Neſſeln; und alle ſeine heu¬
tigen Blumen der Freude hatten ihre Wurzeln in
tiefen Thraͤnen, die ſeine Bruſt verdeckte. Ihn
ruͤhrte ſogar der Kuß von Klotildens Freundin, von
Agathen. Er dachte an das Stamiziſche Konzert
und an ihr Nebeneinander ſeyn und an den Florhut,
der den Schmerz von zwei geliebten Augen verhing.
Er bat Agathen, ſie ſollte von Klotilden dieſen Hut
entlehnen und ihm ein genaues Ebenbild darnach ma¬
[338 [339]] chen, weil ers verſchenken wolle. — »Wenn ſie fort
»iſt (ſagte er zu ſich) — — nein, aber wenn ſie
»tod iſt: dann mein' ich unverhuͤllt und ſage allen
»Menſchen frey heraus, daß ich ſie geliebet habe»
— Du Lieber, uͤber dem Souper — ein Pfarrer
kann eines geben — wird man den Glanz deiner
Augen mehr dem ſich ſelber entladenden Witze zu¬
ſchreiben als dem zuruͤckgepreſten Thraͤnenwaſſer und
ich koͤnnte dich, wenn ich mitaͤffe, vor Ruͤhrung
nicht anſehen, wenn du unter dem Aufhaͤmmern und
»Haͤrten» der rothen Eier dein uͤberquellendes Auge
ſtarr und halbzugedeckt auf einen geſchminkten Eier¬
pol niederzuheften ſuchteſt und ſchweigend deinen
Eier-Giebel dem Pflaſter Fallbock des Pfarrers unter¬
ſtellteſt, um Zeit zum Siege uͤber die Stimme und
Augenhoͤhle zu gewinnen! — Und doch kann ich
nicht ſehen, was du aus dieſer Maske fuͤr erhebli¬
chen Vortheil dann zu ziehen gedenkſt, wenn dir die
alte Appel durch die kleine Iris und Expreſſin Ju¬
lia — ſie ſelber kann ſichs nie unterfangen — ein
geflecktes taͤttowiertes Ei, ein wahres gekochtes alle¬
goriſches Gemaͤlde zuſchickt und wenn du die mit
Scheidewaſſer darauf eingebaizten Blumenſtuͤcke und
deinen Namen, mit Vergißmeinnicht begraſet auf
dem kolorirten Globus durchlieſeſt, ich ſagte was
konnte dir deine vorige Verſtellung helfen, wenn du
jetzt, um den Gedanken »Vergißmeinnicht» nicht
Y 2[340] hinanszudenken, eilig hinausgeheſt und den doppelten
Vorwand nimmſt, du muͤſſeſt Appollonien danken
und wegen der Ermuͤdung ſchon zur Ruhe gehen?
— O danken wirſt du wohl, aber ruhen nicht! . . .

Zweiter Oſterfeiertag.

Leichenrede auf ſich ſelber — zweierlei entgegengeſetzte Schick¬
ſale der Wachsſtatue —


Der niedergefallene Schneehimmel lag auf der Ge¬
gend. Der Schnee machte traurig und erinnerte an
das winterliche Neſtelknuͤpfen der Natur. Es war
der erſte April, wo die Natur ſo zu ſagen die Jahrs¬
zeit ſelber in den April ſchickte. — Viktor hatte ſo¬
viel mores laͤngſt gelernt, daß man, wenn man bei
einem Hofkaplan im Hauſe iſt, auch mit ihm in
ſeine Predigt gehen muͤſſe. Er ſchritt auch in Sa¬
kriſteien aus dem Grunde, warum er in Schaͤfer-
Jagd- und Vogelhuͤtten kroch. Er ſah' es gern,
daß der Kaplan (und er zuletzt ſelber) ſein Erſteigen
der Kanzel — blos weil er eine Menge Zuruͤſtun¬
gen dazu machte — dem Erſteigen eines Walles oh¬
[341] ne Uebertreibung an die Seite ſetzte. Ja er diſpu¬
tirte unter dem Hauptliede mit ihm uͤber die jura
stolae
eines todtgebohrnen Foͤtus und that mit We¬
nigem dar, daß ein Pfarrer von jedem Foͤtus —
und waͤr' er fuͤnf Naͤchte alt — die gehoͤrigen Be¬
graͤbnißgebuͤhren, die filzigen Eltern moͤchten immer¬
hin fuͤr das Ding keinen Leichenſermon beſtellen,
fodern koͤnnte. Der Kaplan machte einen wichtigen
Einwurf; aber Viktor hob ihn durch den wichtigen
Vorſchlag, daß ein Geiſtlicher ſich (weil ſonſt die
beſten Foͤtuſſe unterſchlagen wuͤrden) ſo oft Leichen¬
gebuͤhren von jedem Paare zahlen ließe, als es Tauf¬
gebuͤhren entrichten koͤnnte. Der Kaplan verſetzte:
»es iſt dumm, daß die beſten Paſtoraltheologien uͤber
»dieſen Punkt ſo hurtig weg ſind wie Schnupf¬
»tabak.»


Bei ſoviel Laune meines Helden und bei ſoviel
Luſtigkeit meines Pfarrers — der an jedem h. Abend
keifte und urthelte wie ein Revoluzionstribunal, und
der ſich jeden Feiertag milderte bis er am dritten
ein Engel war — ſollte ſich die Welt etwas anders
verſprechen als was doch koͤmmt: daß naͤmlich Vik¬
tor aus jeder Minute des kommenden Abends, der
Klotilden zum vorletztenmale in ſeine Geſellſchaft
brachte, ein vorragendes Inziſionsmeſſer blinken ſah,
in das er ſeinen wunden Buſen druͤcken muß. Sie
[342] war auf heute gleichſam zu einem Valet-Abendmahl
geladen — die Drillinge ohnehin.


Endlich kam ſie abends am Arme des verkannten
Matthieu. — Wenn Ruska behauptet, daß die Zahl
von 4,443,5556 Teufeln, die nach der Behauptung
des Guliermus Parisiensis um eine ſterbende Aeb¬
teſſin flankiren, viel zu ſchwach angegeben ſey *):
ſo kann man leicht denken, wie viel Teufel um eine
lebende, um eine bluͤhende ſchwadroniren moͤ¬
gen: ich meines Ortes nehme um eine Schoͤne ſoviel
Teufel an als es Mannsperſonen giebt.


Als Klotilde erſchien mit dem ins Abbluͤhen hin¬
einlaͤchelnden Angeſicht, mit der erſchoͤpften Lauten¬
ſtimme, die der Schmerz als eine eigne Fortepiano's
Veraͤnderung durch den Drucker aus uns bringt —
aber iſts nicht mit den Menſchen wie mit den Or¬
geln, deren Menſchenſtimme am ſchoͤnſten mit
dem Tremulanten geht? — als ſie ſo erſchien: ſo
hatte ihr ſchoͤnſter Freund die Wahl, entweder vor
ihr niederzuſinken mit den Worten: »laß mich fruͤ¬
»her ſterben» oder recht ſcherzhaft heute zu ſeyn.
Das letztere waͤhlt' er (ausgenommen gegen ſie),
um ſeine Traͤume zu uͤbertaͤuben. Daher warf er
mit Hiſtorien und geſunden Anmerkungen um ſich —
[343] Daher ſchenkte er in die Reichsoperazionskaſſe gegen
die Empfindſamkeit auch dieſe Satyre mit, daß ſie
die Maͤrz- oder Naßgalle am menſchlichen Acker ſey,
d. h. eine immer naßbleibende Stelle, auf der alles
verfault. — Als das nichts verfieng: trat er mit
ganzen Staaten in Allianz und verſprach ſich, es
wuͤrde helfen, wenn er von ihnen anmerkte, daß die
Gipfel derſelben wie Waldbaͤume ineinander verwach¬
ſen waͤren, daß es nichts wirkte, unten einen durch¬
zuſaͤgen — daß die Gleichheit der Reiche die Gleich¬
heit der Staͤnde erſetzte oder vorbereitete — und daß
das Schiespulver, das bisher das Heftpulver der
Maͤchte war, die waſſerſcheuen Wunde des Men¬
ſchengeſchlechts endlich kauteriſiren und heilen werde.
— Endlich als er offenbar merkte, daß es ihm ge¬
ringen Vorſchub that, da er vermuthete, Europa
werde einmal zum Nordindien werden und der¬
ſelbe Norden, der einmal das Brech- und Bauzeug
der Erde war, werd' es noch einmal ſeyn, aber der
Norden auf der andern Halbkugel: ſo ſchlug er bei
ſeinem chymiſchen Prozeſſe den naſſen Weg ein und
nahm (wie ein Geſandſchaftsſekretair) ſtatt der Po¬
litik — Punſch vor.


Aber nur Sorgen, nicht Wehmuth oder Liebe
laſſen ſich vertrinken. Die in Nervengeiſt aufgeloͤ߬
ten andern Geiſter ziehen ſich mit einem magiſch¬
ſchimmernden Zirkel um jede Idee, um jede Em¬
[344] pfindung, die du darin haſt, wie in Brauhaͤuſern
die Lichter wegen des Dunſtes in einem farbigen
Kreiſe brennen. Das Glas mit ſeinem heißen Ne¬
bel iſt eine Pavinianiſche Maſchine des haͤrteſten
Herzens und mazerirt die ganze Seele: der Trunk
macht jeden zugleich weicher und kuͤhner. Ein wei¬
ches Herz war von jeher neben einer tapfern gehaͤr¬
teten Fauſt. Da es noch fortſchneiete; ſo bot er
Klotilden auf Morgen ſeinen Muſchel-Schlitten und
ſich (da er ohnehin zum Balle geladen war) zum
fahrenden Ritter an — wodurch er den Evangeliſten
noͤthigte, ſich als Schlitten-Vetturin und Gondeli¬
rer der Stief-Mutter anzutragen.


Klotilde entfernte ſich jetzt von der maͤnnlichen
luſtigen Geſellſchaft ins Nebenzimmer, wo ihre Aga¬
the und alles war — es geſchah nicht aus Mißbil¬
ligung der anſtaͤndigen maͤnnlichen Froͤhlichkeit —
noch weniger aus Verlegenheit, da es uͤberhaupt ih¬
rem Geſchlechte leichter iſt und leichter gemacht wird,
ſich unter vierzig Augen unbefangen zu benehmen als
unter vier — noch weniger aus Unvermoͤgen der
Verſtellung ihrer Schweſterliebe gegen Flamin; denn
ihre fliegende Seele hatte laͤngſt die Fluͤgel zuſam¬
menzulegen, die Thraͤnen und Wuͤnſche zu verhuͤllen
gelernt, unter Fremden erwachſen, in ſchwierigen
Verhaͤltniſſen [und] unter uneinigen Eltern erzogen —
[345] ſie thats blos wie die Pfarrerin, weils brittiſche
Sitte iſt, daß ſich die Damen von Maͤnnern und
ihrem Punſch-Weihkeſſel wegbegeben. —


Da ſie aus Viktors Augen war — und da er
aus ihrem jetzigen noch bleichern Ausſehen den
Schluß zog, daß ihr das Thal Emanuels ſchwerlich
die Fruͤhlingsfarben wiedergeben werde; weil die
Ausſicht der Abreiſe nichts geheilet habe, und da
ihn dieſe kleine Abweſenheit gleichſam in ei¬
nem Taſchenſpiegel die Todtenerſcheinung einer ewi¬
gen
vorhielt — und da das ſchwellende Herz doch
endlich den Damm der Verſtellung uͤberwaͤltigt —:
ſo eilte er in den Winter hinaus — deckte die ent¬
zuͤndete Bruſt den kuͤhlenden Flocken auf — und riß
den Spalt weiter, in den das Schickſal ſeine
Schmerzen impfte — und lief durch die weiſſe Nacht
auf den Wartthurm hinauf; — und hier, uͤbergoßen
von der ſtill aus dem Himmel ſteigenden Schneela¬
vine, ſah er in die graue, wuͤhlende, zitternde, fla¬
ckernde Landſchaft hinaus und in die weite von
Schnee durchbrochne Nacht — und alle Thraͤnen
ſeines Herzens fielen und alle Gedanken ſeiner Seele
riefen: »ſo ſieht die Zukunft aus! — So ſchim¬
»mernd ſinken die Freuden des Menſchen vom Him¬
»mel und zerfließen ſchon unter dem Sinken! — So
»rinnt alles dahin! — Ach welche Luftſchloͤßer ſah
»ich von dieſer Hoͤhe um mich glaͤnzen und das
[346] »Ab[en]droth glimmte an ihnen — Ach alle ſind un¬
»ter Schnee verſchuͤttet und unter Nacht!« Er ſah
in den Garten Klotildens hinab, in deſſen finſtern
vom Schnee uͤberflatterten Lauben er das Eden
ſeines Herzens gefunden und wieder verloren hatte.
»Die Toͤne, die uͤber dieſen Garten floſſen, ſind ver¬
»ſiegt, aber nicht die Thraͤnen, die ihnen nachrin¬
»nen« dacht' er. Er ſah in den Garten ihres Bru¬
»ders hinab, wo das Tulpen-C zerblaͤttert und die
»gruͤnenden Namen vergangen und verhuͤllet waren.»


Mit dieſer Seele, die in dieſe Gegend wie in
das Gebeinhaus verweſeter Tage hineingeſchauet hat¬
te, kehrt' er zum freudigen Klubbe zuruͤck. Der
Tauſch der Temperatur hatte ſeine Aehnlichkeit mit
der Punſchunion konſervirt, die unterdeſſen fortge¬
trunken. Alle und er betraten die Graͤnze des Trun¬
kes, wo man in Einem Athem lacht und weint; aber
es freuet mich, daß der Menſch doch wahre Nah¬
rung des Geiſtes und Herzens (wenn gleich aus kei¬
ner Kloſterkuͤche oder Kloſterbibliothek, doch) aus ei¬
nem — Kloſterkeller ziehen kann; — daß er die Ge¬
ſundheit ſeines — Witzes trinkt; — daß ihn ein je¬
der Kelch (nicht bloß auf dem Altar) geiſtlich ſtaͤrkt
und daß er wenn die Schlangen ihre Kronen beim
Saufen abnehmen, ſeine darunter aufſetzt — und
daß die Weinrebe Thraͤnen nicht bloß ſelber oder
aus den Augen eines katholiſchen Marienbildes ver¬
[347] gieſſet, ſondern auch aus denen eines Mannes,
der von ihr getrunken. Der Klub fiel darauf, Par¬
lamentsreden zu haltrn — Der Kaplan ſchlug Ka¬
ſualreden vor — Viktor ſprang aus einen Stuhl
und ſagte, »ich halte den Leichenſermon auf mich
»ſelber — ich habe hier ſchon in meiner Kindheit
»gepredigt.«


Alle tranken noch einmal, ſelber die Leiche und
dieſe periorirte dann ſo:


Geliebteſte und traurigſte Zuhoͤrer
und Mitbruͤder
!


»Ein Menſch, tiefgebeugte Zuhoͤrer, kann in die
»zweite Welt hinabſinken ohne daß ein Trauerpferd
»nachſpringt, ſo wie er in dieſe einlaͤuft, ohne daß ein
»Paradegaul vorantrabt. — Wir unſers Orts haben
»ſaͤmtlich den Leichentrunk voraus eingenommen,
»um alles auszuhalten: denn im Naſſen dehnt ſich
»der Menſch aus und im Trocknen dorret er ein,
»ich meine durch feſte Speiſen, gleich dem Blutigel,
»der auſſer dem Waſſer vier Zolle kuͤrzer ausfaͤllt.
»Und ich hoffe, ich und das tiefgebeugte Trauerkon¬
»dukt haben dem Hochſeligen zu Ehren getoaſtet
»genug.


»Und ſo ſeh' ich ihn denn vor mir« . . .


[348]

— Hier winkte er dem Pfarrer, ſeine Schlaf¬
muͤtze hinzuwerfen, damit etwas Todtes da laͤge, an
das ſich ſein Affekt wenden koͤnnte. —
»vor mir da liegen den unvergeßlichen H. Hofmedi¬
»kus Sebaſtian Viktor von Horion und geſtorben iſt
»er und will hinab unter das Erde Zudeck, in die
»Staͤtte voll langer Ruhe. Was ſehen wir noch
»vor uns ruhen als die Taͤucherglocke, worin die be¬
deckte Seele in dieſes Dunſtleben hereinſank — als
»die trockne Schaale eines Kerns, der in einem
»zweiten Planeten geſaͤet wird — als ſeine Huͤlle,
»als, ſo zu ſagen, die weggeworfne Schlafmuͤtze ſei¬
»nes erwachten Geiſtes.


»Beſehet, weinende Zuhoͤrer, dieſe tranſzendente
»blaſſe Muͤtze — hier liegt ſie, der Kopf iſt heraus,
»der darin ſann — unſer Viktor iſt dahin und
»ſchweigt, der ſo oft ſprach von Mathematik, Kli¬
»nik, Heraldik, Kautelarjurisprudenz, medicina fo¬
»rensis, Sphragiſtik, und ihren Huͤlfswiſſenſchaften —
»Wir haben viel an ihm verloren — wer troͤſtet
»Sie, vortreflicher H. v. Schleunes, uͤber dieſe Ein¬
»buße und ſo die andern Herren auch? — Man
»hat aber in dieſem naͤrriſchen Leben, das wohl
»eine Art von Vor-Tod ſeyn mag, gar nicht ſo viel
»Zeit, um ordentlich zu troͤſten. Nicht bloß Kir¬
»chenſtuͤhle ſind auf Leichenſteine gebauet, ſondern
[349] »auch Fuͤrſtenſtuͤhle — die gar! — und ſelber
»Kanzeln. —


»Sollte wohl deine Seele, hochſeliger Sebaſtian,
»in ihrem mittlern Zuſtande, nach dem Tode etwas
»von ihrem Koͤrper wiſſen, aus dem ſie wie aus ih¬
»rem Hut-Futteral ausgepackt iſt, und von der letz¬
»ten Ehre, die wir hier ihrer Kapſel anthun? Falls
»ſie noch Bewußtſeyn hat und noch ein Auge fuͤr
»dieſe Stube, worin ſie ſo oft war: ſo wird es ſie
»freuen, daß die h. drei Koͤnige, wovon der Mohr
»der Kato der aͤltere iſt, um ihren abgezognen Ma¬
»denſack hernmſtehen und den Sack kaum fahren laſ¬
»ſen wollen; es muß ihr gefallen, daß wir ſaͤmtlich
»klagen: wo iſt Seinesgleichen in der gemeinen
»Chemie — in der Phyſiognomik und Phyſiognomie
»— in den neuern Sprachen — in der Baͤnder¬
»lehre‚ aus der er eine Liebe fuͤr alle Arten von
»Baͤndern ſchoͤpfte? — Wer ſuchte weniger als er
»ſtrengen Zuſammenhang der Gedanken‚ der den
»Deutſchen verleitet, gute durch ſchlechte zu verkit¬
»ten und mehr Moͤrtel als Quader zu brauchen? —
»Nicht einmal der Hof — daher er nicht gern hin
»ging, wenn dort Spas vorfiel — brachte ihn von
»einem gewiſſen ernſthaften geſetzten Weſen ab, das
»er bis zum Laͤcherlichen trieb, auf welches letztere
»er allzeit aus war. — — Beim Himmel! durch
»das Stundenglas des Todes, durch das er wie
[350] »durch ein Taſchenperſpektiv guckte, brach ihm alles
»ſo klein hervor, daß er nicht wußte weswegen er
»ernſthaft ſeyn ſollte — ich will nicht geſund da
»ſtehen, wenn ihm nicht im beſagten Glaſe alle
»Stufen zum Throne ſo winzig vorkamen wie die
»daumenlange Holztreppe des Laubfroſches in ſei¬
»nem Einmachglaſe.«


»Er war ein recht guter Prediger beſonders ein
»Leichenredner, daher ihn auch ein recht guter Pre¬
»diger zu Gevatter bat und das Pathgen ſteht mit
»da und weint ſeines Orts uͤber Leibſchmerzen. ...
»Nur große Hofprediger, die in der Hauptkirche die
»fuͤrſtliche Leichenpredigt halten, koͤnnen ſich deſſen
»ruͤhmen, was ich zu meinem groͤßten Vergnuͤgen
»jetzt hoͤre, daß das Leichengefolge lacht, und das
»iſt mir ein Pfand, das ich troͤſte. ...


»Und doch hat einer, der auf dem Todtenbette
»liegt, mehr Troſt als einer, der nur neben dem
»Bettfuß ſteht. Das Souterrain der Erdrinde be¬
»wohnen lauter ſtille ruhende Menſchen, die vor ein¬
»ander zuſammenruͤcken; aber [auf] dem Souterrain
»ſtehen ihre unruhigen Freunde und wollen hinunter
»in die geliebten Arme aus Staub: denn die Lein¬
»wand auf dem Todten-Auge iſt ja ein Fallhut der
»erkalteten Stirn, der Sarg iſt der Fallſchirm des
»Ungluͤcklichen, und das Leichentuch der letzte Ver¬
»band der weiteſten Wunden — ach warum faͤllt der
[351] »muͤde Menſch lieber in den kurzen als in [den] langen
»ungeſtoͤrten ſichern Schlaf? — So nimm denn, gu¬
»ter Sebaſtian, den Todtenſchein als ein ewiges Frie¬
»densinſtrument aus der Hand der ſanften Natur. . .


»Aber beim Henker! wo haben wir denn den
»Todten? was ſoll die weiſſe Muͤtze da unten? —
»Ich ſehe die Leiche im Spiegel gegenuͤber — ſie
»muß wo ſtehen — ich muß ſie holen.« — —


— Mit einem fuͤrchterlichen Schauer ſeines Ichs
ſprang, er herab — ein erhabner Wahnſinn ging in
den Stufen der Wehmuth, des Laͤchelns, des Erſtar¬
rens ſein Angeſicht auf und ab — Er lief hinter
eine ſpaniſche Wand, die vor ſeine Statue aus
Wachs geſtellet war — und trug den waͤchſernen
Menſchen heraus — und warf ihn hin wie einen
Leichnam — und ein Schleier war uͤber den Leich¬
nam gewickelt — und er ſtieg verzerret auf den
Stuhl, um fortzufahren:»


»Das iſt die Nachtleiche — der verſchlackte, der
»verkohlte Menſch — in ſolche ſtarre Klumpen ſind
»die Ichs geklebt und muͤſſen ſie waͤlzen — Warum
»bebet ihr uͤber mich, Zuhoͤrer, weil ich bebe, daß
»ich dieſes umgeworfene Menſchenbild ſo ſtarr an¬
»blicke? — Ich ſeh' ein Geſpenſt um dieſen Leich¬
»nam ſchweben, das ein Ich iſt. . . . Ich! Ich!
»du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief
»ins Dunkle zuruͤcklaͤuft — Ich! du Spiegel im
[352] »Spiegel — du Schauder im Schauder! — Ziehet
»den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den
»Todten keck anſchauen bis es mich zerſtoͤrt.« . . .


— Jeder ſchauderte nach; aber ein Englaͤnder zog
den Todtenſchleier weg. . . . . Starr, ſprachlos er¬
griffen, erbebend ſah Viktor auf das enthuͤllte Ge¬
ſicht, das auch um ſeine Seele hing; aber endlich
ergoſſen ſich Thraͤnen uͤber ſeine kalten Wangen und
er ſprach leiſer wie wenn ſich ſein Herz aufloͤßte:


»Seht wie der Leichnam laͤchelt! Warum laͤchelſt
du denn ſo, Sebaſtian? Warſt du etwan ſo gluͤcklich
auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzuͤckung
erkaltete? . . . Nein, gluͤcklich warſt du wohl nicht
— die Freude ſelber war oft fuͤr dich ein Samenge¬
haͤuſe des Schmerzes — Und du ſagteſt ſelber recht
oft: ich bin ſchon zufrieden und ich verdiene kaum
meine Hofnungen und Wuͤnſche, geſchweige ihre Er¬
fuͤllung.» —


»Flamin! ſchaue dieſes umgelegte Geſicht hier an
»— es laͤchelt aus Freundſchaft, nicht aus Freude
»— Flamin, dieſe erloſchene Bruſt war uͤber ein
»Herz gewoͤlbt, das dich ohne Graͤnzen liebt und bis
»in den Tod. . . .


»Und das iſt im Ganzen das einzige Ungluͤck des
»armen Seeligen: an und fuͤr ſich und ſeiner origi¬
»nellen Lage und Laune wegen haͤtte der gute Ba¬
»ſtian ſchon gut genug fahren koͤnnen; aber er war
»zu[353] »zu weich zur Freude — zu unbeſonnen — zu heiß
»— faſt zu phantaſtiſch. Er wollte gar lieben (bei
»ſeinen Lebzeiten) und es war nicht zu thun. Die
»Blumengoͤttin der Liebe ging vor ihm vorbei‚ ſie
»verſagte ihm die Verklaͤrung des Menſchen‚ das
»Melodrama des Herzens‚ das goldne Zeitalter der
»Liebe. . . . Kalte Geſtalt‚ richte dich auf und zeige
»den Menſchen die Thraͤnen‚ die aus einem weichen
»Herzen fließen‚ das vor Liebe bricht und keine
»findet! . . .


»Wenn unſer Horion nicht gluͤcklich war: ſo
»mag es ihm freilich gar wohl thun‚ wenn er ſchon
»am Mittage des Lebens ſeine Mittagsruhe halten
»darf‚ wenn er ſterben‚ und losgemacht vom hei߬
»pochenden Herzen‚ geſtillt vom Todesengel‚ ſich ſo
»fruͤhe legen darf unter das lange Leichentuch‚ das
»der Menſchen-Genius uͤber ganze Voͤlker wie der
»Gaͤrtner das Verdeck uͤber den Blumenflor, gegen
»Regen und Sonne zieht — gegen die Gluth unſrer
»Freuden‚ gegen den Guß unſers Wehs . . . Ruhe
»du auch‚ Horion!« . . .


— Seine Wehmuth bei dieſen Worten aus
dem alten Traume war ſo [uͤbermannend]‚ daß er
aus ihr — zur Entſchuldigung oder zur Erholung
— in eine faſt wahnſinnige Laune uͤbertrat.


»Inzwiſchen iſt der ſaͤmmtliche Spas halb gegen
»meinen Geſchmack‚ den ich am Hofe ausbilden
Heſperus. II Th. Z[354] »wollte. Das Leben verlohnet's gar nicht, daß man
»ſeinetwegen den guten Tod auszankt oder beraͤuchert
»und erhebt — Die Furcht zu ſterben ausgenommen
»giebt's nichts jaͤmmerlicheres als die Furcht zu le¬
»ben. — Leute von wahren Talenten ſollten ſich be¬
»trinken, um das Leben aus dem rechten Licht zu
»ſehen und es uns nachher zu melden — Am aller¬
»elendeſten aber (ſo daß das menſchliche Leben
»dagegen noch paſſabel ausfaͤllt) iſt das buͤrgerli¬
»che, auf das ich Jahre lang loßziehen koͤunte, bloß
»weil's nichts hat als lange Troͤge fuͤr den Magen,
»aus denen die Ketten fuͤr die Phantaſie herabhaͤn¬
»gen — weil's den Menſchen zum Kleinſtaͤdter um¬
»ſetzt — weil's unſer fliehendes Daſeyn aus einem
»Fruchtacker zur Saͤemaſchine macht — weil's einen
»fatalen Dunſt ausdampft der ſich dick vor das
»Grab und uͤber den Himmel anſetzt und in dem
»ſich der arme Expeditionsrath von Menſch ſchwiz¬
»zend, kaͤuend, feiſt, beſchmieret, ohne einen warmen
»Sonnenſtrahl fuͤr ſein Herz, ohne ein Streiflicht
»fuͤr ſein Auge herumtreibt bis ihn der Fall-Bock
»des Pflaſterers *) auf den moraſtigen Drehplatz ein¬
»rammt. — Den einzigen Nutzen hat ſo ein armer
»Marmorſtein, aus dem ein Pflaſter ſtatt einer
[355] »Statue gemacht wird, daß er das ganze Men¬
»ſchenleben fuͤr etwas recht Erhebliches anſieht, das
»er nicht genug preiſen koͤnne. — Inzwiſchen koͤnnte
»doch auch uns guten Narren das Aeuſſere nicht ſo
»klein vorkommen, wenn nicht etwas ewiges Großes
»in uns waͤre, womit wir's zuſammenhalten — wenn
»nicht ein Sonnenlicht in uns waͤre, das in dieſes
»Opertheater ſo hineinfaͤllt, wie das Tageslicht zu¬
»weilen, wenn eine Thuͤre aufgeht, in die illumi¬
»nirte Schaubuͤhne — wenn wir nicht wie Menſchen
»in einem Auferſtehungsgemaͤlde, halb in der Erde
»ſteckten halb aber auſſer ihr — und wenn dieſes
»Eis Leben keine Aiguille percée*) waͤre und keine
»Oefnung in ein ewiges Blau hinaus haͤtte. . . .
»Amen!


»Ich hab' aber der leidtragenden Verſammlung
»noch zu melden, daß ich ſie — in den erſten
»April geſchickt: denn der Todte, deſſen Parentation
»ich halte, bin ich wirklich ſelber.« . . .


Aber hier umarmten ihn alle ſeine Freunde, um
ſeinem genialiſchen Wahnſinn Schranken zu ſetzen —
Z 2[356] und um ein ſo heftiges aͤcht-brittiſches Herz an ih¬
res zu druͤcken. Die Umarmung erwaͤrmte alle ſeine
kalten Wunden ſanft und er war geheilt, obwohl
erſchoͤpft; das fremde Leben wuchs in ſeines hinein,
und die Liebe uͤberwand den Tod. Die Englaͤnder,
in deren Augen die Thraͤnen einer doppelten
Trunkenheit waren, konnten ſich kaum abreiſſen vom
humoriſtiſchen Liebling. —


Klotilde, die mit ihren Freundinnen dem Lei¬
chenſermon im Nebenzimmer zuhoͤrte, hielt jene bit¬
tend ab, dieſes aufzumachen. Aber als Viktor
ſagte: »kalte Geſtalt, richte dich auf und zeige den
»Menſchen die Thraͤnen, die aus einem weichen
»Herzen fließen, das vor Liebe bricht» — ſo nahm
ſie eilend von ihnen gute Nacht, weil ſie uͤber eine
ihr ganzes Weſen hebende Ruͤhrung nicht Meiſter
werden konnte. Da man ihm die Zeit ihrer Ent¬
fernung berichtet hatte: ſo wurde er, der jetzt ſchon
ſo muͤde, weich und zaͤrtlich war, es in einem un¬
ausſprechlichen Grade — alle durch die Anſtrengung
erhoͤhten Lichter auf ſeinem Angeſicht ſchienen in
Liebe wie Mondſchimmer in Thautropfen zu zerflieſ¬
ſen — er wartete nicht, bis ſein Zimmer leer wur¬
de, ſondern zeigte das was Klotilde in dem ihrigen
verbergen wollte — er konnte ſogar die unverſchleier¬
te Wachsſtatue mit ſanftem Geiſte anſchauen und
ſagte laͤchelnd, »ich glaube, ich habe mich darum
[357] »ganz in Wachs repetiren laſſen, warum es der
»Katholik mit einzelnen Gliedern thut, um ſie an
»eine Heilige zu haͤngen und dadurch um Geneſung
»zu danken oder zu bitten; oder wie die roͤmiſchen
»Kaiſer, deren Wachsſtatue die Aerzte nach dem
»Tode des Originals beſuchten.»


Er war endlich allein; der Mond, der um 11
Uhr 57 Minuten aufgegangen war, warf ſein noch
vertieftes abnehmendes Licht erſt an die Fenſter von
Klotildens Wohnzimmer; er loͤſchte ſein Nachtlicht
aus und ſetzte ſich, um mit ſeinem noch wogenden
traͤumenden Herzen nicht in die Traͤume des Schla¬
fes zu treten, ans Fenſter, beinahe am gewoͤhnlichen
Standort ſeiner Wachskopie und in aͤhnlicher Stel¬
lung — — als das Schickſal es fuͤgte, daß, da er
heute die Wachsmumie fuͤr ſeine Perſon ausgegeben
hatte; jetzt umgekehrt er fuͤr das Bild angeſehen
werden ſollte — —
— von Klotilden! Sie ſtand in einiger Entfernung
von ihrem Fenſter, an das kein Licht als das vom
Himmel fiel; Viktor war, da das letztere noch nicht
zu ihm hineinkonnte, ganz im Schatten und ihr mit
\frac{5}{4} ſeines Profils zugekehrt. Kaum ſah' er, daß ſie
einen unverwandten faſſenden gleichſam einſchla¬
fenden Blick auf ihn hefte: ſo errieth er, daß
ſie ihn mit dem waͤchſernen Menſchen vermenge;
auch bemerkte er aus dem Augenwinkel, daß etwas
[358] Weiſſes um ſie flattere, d. h. daß ſie ſich die Au¬
gen oft trockne Aber wie waͤr' es ſeinem feinen
Gefuͤ [...]le moͤglich geweſen, ihr durch die geringſte Be¬
weg [...]ng ihren Irthum zu nehmen und ſie fuͤr ihr
unſchuldiges Anblicken verlegen und roth zu machen?
— Ein anderer z. B. der verkannte Maz haͤtte ſich
in einem ſolchen Vorfalle gelaſſen in die Hoͤhe ge¬
richtet und gleichguͤltig zum Fenſter hinausgeſehen;
aber er verknoͤcherte ſich gleichſam in ſeiner Stellung
der Lebloſigkeit. Allein nur die Nacht und Entfer¬
nung konnten ihr ſein Zittern zudecken, da ihre fuͤr
ſeine Leiche fallenden Thraͤnen wie ein heiſſer Strom
ſein zerſtoͤrtes Herz ergriffen und das Wenige, was
der heutige Abend daran noch feſt gelaſſen, erweichten
und aufloͤſten in eine heiſſe Welle der Liebe. Den
Kindern fließen die Thraͤnen ſtaͤrker, wenn man ih¬
nen Mitleid bezeugt; und in dieſer Stunde der Er¬
ſchoͤpfung wurde Viktor weicher, der ſonſt durch
fremdes Mitleid mit ihm haͤrter wurde, und als Klo¬
tilds ſich ans Fenſter ſetzte, um das muͤde Haupt
aufzulehnen: ſo war's ihm als ermahnte ihn etwas,
das jetzt wahrzumachen was er heute zur Statue ge¬
ſagt: kalte Geſtalt, richte dich auf und zeige den
Menſchen die Thraͤnen, die aus einem weichen Her¬
zen ꝛc.


Klotilde zog endlich die Gardinen zu und ver¬
ſchwand. Aber er ſetzte behutſam noch lange die
[359] Rolle ſeines Bildes fort und jetzt, da er ſich weni¬
ger anſtrengte, um eine Statue zu ſpielen, gelang
es ihm beſſer. Alle ſeine Gedanken floßen jetzt wie
Balſam uͤber die Narben und aufgeriſſenen Stellen
ſeines Innern: »wenn du auch nur meine Freundin
»biſt, ſo genuͤget es mir und du kannſt dieſen von
»Sehnſucht empoͤrten Buſen ſtillen. O dieſes volle
»Herz wuͤrde ohnehin auseinandergetrieben, wenn es
»den Gedanken faſſen ſollte, daß du mich liebteſt.»
— Uebrigens fiel ihm heute zum erſtenmal die Un¬
wahrſcheinlichkeit ſeiner neulichen Vermnthung ein,
daß eine ſo zuruͤckhaltende Perſon wie ſie, ſich auf
eine ſo wenig zuruͤckhaltende Art gegen den blinden
Julius ſollte benommen haben, und er fragte ſich:
»iſt's denn zur Erklaͤrung ihrer Abreiſe von Hof,
»nicht genug an Jenners und Matthieus unheiliger
»Liebe und an Emanuels heiliger?» — Damit ſie
am Morgen nicht ihre Verwechslung entdeckte, ſo
gab er ſeinem waͤchſernen Repraͤſentanten und Figu¬
ranten genau ſeine Stelle.


[360]

Dritter Oſterfeiertag.

[...]. Koch's doppelte Mundharmonika — die Schlittenfarth —
der Ball — und . . . . .


Der Leſer wird mit mir wuͤnſchen, daß der dritte
Oſtertag etwas ſchlimmers endige als dieſes zweite
Heftlein.


Der Schlitten ging leidlich, ſoviel vorauszuſehen
war. — — Ich ſeh' aber noch etwas anders vor¬
aus: daß eine ½ Million meiner Leſekunden (fuͤr die
andre ½ ſteh' ich) ſich nicht aus meinem Helden fin¬
den kan. Es iſt daher mein Amt, nur ſoviel ihnen
vorzuſagen: Viktor war nie kleinmuͤthig, ihn eckelte
die menſchliche Unterjochung unter das Gluͤck — der
Tod nahm ihn jeden Tag einmal auf den erhabenen
Arm und ließ ihn von da herunterbemerken, wie
winzig alle Berge und Huͤgel waͤren, auch Graͤber.
— Jedes Ungluͤck machte ihn ſtaͤhlern, der Meduſen¬
kopf des Todtenkopfs machte ihn ſteinern, und er
aͤrgerte ſich nachher uͤber den ſchmelzenden Sonnen¬
blick der freudigen Ruͤhrung. — Seine luſtige Laune,
ſein Ideal weiblicher Vollkommenheit, der Mangel
an Gelegenheit und das Schild Minervens hatten
[361] ihm uͤber die Windmonate des Gefuͤhls hinuͤberge¬
holfen und er hatte bisher keine andre Sonne ange¬
betet als die um 21 Millionen Meilen entlegne —
bis der Himmel oder der Henker die naͤhere herfuͤhr¬
te, gerade im Jahr 1792. — Noch waͤr' es ganz
paſſabel geweſen und das Ungluͤck ſchon auszuhalten,
wenn er geſcheut oder kalt geweſen waͤre, ich will
ſagen, wenn er nicht zu ſich, geſagt haͤtte: »es iſt
»ſchoͤn nie uͤber ſich zu weinen, aber doch uͤber den
»andern; es iſt ſchoͤn jeden Verluſt zu verbeiſſen,
»aber nicht den eines Herzens, und was wird ein
»geſchiedener Freund aus ſeiner Hoͤhe groͤßer finden,
»wenn ich mir Troſtpredigten uͤber ſein Ableben mit
«wahrer Faſſung halte, oder wenn ich dem Gelieb¬
»ten im freiwilligen uͤbermannenden Kummer nach¬
»ſinke?» — Dadurch — und aus Unbekanntſchaft
mit der Uebermacht edler aber unbezaͤhmter Gefuͤhle
— und weil er ſeine bisherige zufaͤllige Apathie mit
einer freiwilligen verwechſelte — und aus einer uͤber¬
ſchwenglichen Menſchenliebe hatte er abſichtlich ſei¬
nem innern Menſchen bisher die Fuͤhlhoͤrner zu groß
wachſen laſſen — und ſo war er durch einen Wir¬
bel aller bisherigen Einfluͤße, der bisherigen Berau¬
bungen, der bisherigen Ruͤhrungen, dieſer Oſtertage,
dieſes ſchoͤnen Jugenddorfes ſo weit verſchlagen, daß
er trotz ſeiner Beſonnenheit, ſeines Hoflebens, ſeiner
Laune einiges von ſeiner alten Unaͤhnlichkeit mit je¬
[362] nen Genies (wenigſtens [auf] Oſtern) einbuͤſſete, die
gleich dem Seekrabben Fuͤhlfaͤden aufrichten, die
kaum ein Mann umklaftert . . . .


Jenes geruͤhrte Anblicken Klotildens, das ihm
geſtern nach der vorigen Hitze kuͤhler Balſam war,
wurd' ihm heute ein ſehr heiſſer: dieſes Auge voll
Thraͤnen ſeinetwegen richtete alle Tage ſeiner Liebe
gegen ſie und ihr ganzes Bild in ſeinem Herzen auf.
Ich bin uͤber eugt, ſogar dem Regierungsrath, der
uͤbrigens durch den geſtrigen Leichenſermon von ſei¬
nem Argwohn ſo wie durch die republikaniſche Zer¬
ſtreuung einiges von ſeiner Liebe hatte verlieren koͤn¬
nen, entwiſchte das Trunkne und Traͤumeriſche ſei¬
ner Augen nicht: das Pfarrhaus ſelber war heute
zum Gluͤck [eine] Boͤrſe oder ein geiſtliches Intilli¬
gen komtoir und Werbhaus: der Kaplan regiſtrirte —
nicht etwan franzoͤſiſche car tel est notre plaisir
ſondern — die Katechumenen ein, die auf Pfingſten
beichten wollten.


Er wollte nicht eher ins Schloß hinuͤbergehen —
ſein verkannter Freund Maz hatt' ihm ſchon um 10
Uhr aus dem Fenſter Morgengruß und Gluͤckwunſch
zum Schneewetter zugerufen — als bis ſein Schlit¬
ten aus der Stadt da war, damit er ſogleich abfuͤh¬
re, weil er druͤben keine laͤcherliche Ruͤhrung zeigen
wollte. Seitdem ihm die große Welt zur Werkel¬
tagswelt geworben war, fiel ihm Verſtellung vor ihr
[363] ſchwerer: man verbirgt ſich vor denen am leichteſten,
die man achtet.


Aber die Drillinge und Franz Koch trieben
ihn fruͤher hinuͤber, ſchon abends um 5½ Uhr. —


Ich fuhr in die Hoͤhe beim Namen Franz Koch
in den Hunds-Papieren. Wenn einer von meinen
Leſern ein Karlsbader Brunnengaſt iſt, oder Sr.
Majeſtaͤt der Koͤnig von Preußen, oder von deſſen
Hof, oder der Kurfuͤrſt von Sachſen, oder der Her¬
zog von Braunſchweig oder eine andre fuͤrſtliche Per¬
ſon: ſo hat er den guten Koch gehoͤret, der ein be¬
ſcheidner abgedankter Soldat iſt und der uͤberall mit
ſeinem Inſtrument herumreiſet und ſpielet. Das
letztere, das er doppelte Mundharmonika nennt,
beſteht aus einem verbeſſerten Paar zugleich geſpiel¬
ter — Maultrommeln oder Brummeiſen, die er im¬
mer nach den Spiel-Stuͤcken umwechſelt. Sein
Brummeiſen-Manipulazion verhaͤlt ſich zur alten wie
Harmonikaglocken zu Bedientenglocken. Es iſt mei¬
ne Schuldigkeit, ſolche von meinen Leſern, deren
Phantaſie Zaunkoͤnigs-Schwingen hat oder die we¬
nigſtens vom Herzen an, Lithopaͤdia (Stein-Foͤtus)
ſind oder die das Ohrentrommelfell zu nichts habe[n]
als zum Trommeln darauf, ſolche Leſer mit der we¬
nigen Oratorie die ich habe dahin zu bringen, daß
ſie den beſagten Franz aus dem Hauſe werfen, wenn
er kommen und vor ihnen ſummen will. Denn es
[364] iſt nichts dran und die elendeſte Bratſche und Stroh¬
fidel ſchreiet meines Beduͤnkens lauter: ja ſein Ge¬
toͤne iſt ſo leiſe‚ daß er im Karlsbade vor nicht mehr
als 12 Kunden aufeinmal aufſpielte‚ weil man nicht
nahe genug an ihm ſitzen kann‚ wie er denn ſogar bei
ſeinen Hauptliedern das Licht wegtragen laͤſſet‚ da¬
mit weder Aug' noch Ohr die Phantaſien ſtoͤre. — Iſt
aber freilich ein Leſer anders — etwan ein Dichter
— oder ein Verliebter — oder ſehr zart — oder
wie Viktor — oder wie ich: ſo horch' er ohne Be¬
denken mit ſtiller zerfließender Seele dem guten
Franz Koch oder — heute wird er gerade zu haben
ſeyn — mir zu.


Der luſtige Englaͤnder hatte Viktor dieſen Har¬
moniſten mit der Karte geſchickt: »Ueberbringer die¬
ſes iſt der Ueberbringer eines Echo‚ das er in der
Taſche fuͤhrt.» — Viktor nahm ihn daher lieber zur
Freundin aller ſchoͤnen Toͤne hinuͤber‚ damit ihre
Abreiſe ſie nicht um dieſe melodiſche Stunde bringe.
Es war ihm wie wenn er durch eine lange Kirche
ginge, da er in Klotildens Loret[t]ohaus eintrat: ihr
einfaches Zimmer war wie Mariens Wohnzimmer‚
vor einem Tempel eingefaſſet Sie hatte ſchon ih¬
re ſchwarze Paruͤre vollendet: die ſchwarze Tracht
iſt eine ſchoͤne Verfinſterung der Sonne‚ worin man
das Auge von ihr gar nicht wegzubringen vermag.
Viktor‚ der bei ſeiner ſineſiſchen Achtung fuͤr
[365] dieſe Farbe heute dieſer ſchwarzen Magie eine wehr¬
loſe Seele, ein entzuͤndetes Auge mitbrachte, wurde
blas und verwirrt uͤber das aufgehellte Angeſicht
Klotildens, uͤber das der Zug eines herabgeregneten
Kummers ſo wie ein Regenbogen uͤber den hellen
blauen Himmel ſchwebte. Es war nicht die Heiter¬
keit der Zerſtreuung — die jedes Maͤdgen durch das
Ankleiden bekoͤmmt — ſondern die Heiterkeit der
frommen Seele voll Geduld und Liebe. Er beſorgte,
in zweierlei Diſteln zu treten, in die gemahlten des
Fußbodens, uͤber die er immer wegſchritt, und in
die ſatiriſchen der feinen Beobachter um ihn, an die
er ſich immer ſtieß. Ihre Stiefmutter war noch
uͤber der Stuckatur und Appretur ihres Madenſacks
und der Evangeliſt war in ihrem Toilette-Zimmer
als Putz-Meßhelfer und Kollaborator. Daher hatte
Klotilde noch Zeit, den Mundharmoniſten zu hoͤren;
und der Kammerherr bot ſich der Tochter und mei¬
nem Helden — denn er war ein Vater von Lebens¬
art gegen ſeine Tochter — zu einem Theil des Au¬
ditoriums an, ob er gleich aus der Muſik ſich we¬
nig machte, Tafel- und Ball Muſik ausgenommen.


Viktor ſah jetzt aus Klotildens Freude uͤber den
mitgebrachten Muſiker erſt wie uniſon ihr harmoni¬
ſches Herz mit den Saiten zittere; uͤberhaupt wurd'
er oft uͤber ſie irre, weil ſie — wie Du, Theuer¬
ſter ** — ſowohl ihr hoͤchſtes Lob durch Schweigen
[366] ſagte als ihren hoͤchſten Tadel. Sie bat ihren Va¬
ter, der die Mundharmonika ſchon in Karlsbad ge¬
hoͤret hatte, ihr und Viktor eine Idee davon zu
geben — er gab ſie: »ſie druͤcke nicht ſowohl das
»fortissimo als das piano-dolce meiſterhaft aus
»und ſey wie die einfache Harmonika dem Adagio
»am angemeſſenſten.» Sie antwortete darauf —
an Viktors Arm, der ſie in ein dazu verfinſtertes
ſtilles Zimmer fuͤhrte — »die Muſik ſey vielleicht
»zu gut fuͤr Trinklieder und fuͤr luſtige Empfindun¬
»gen; da der Schmerz den Menſchen veredle und
»ihn [durch] die kleinen Schnitte, die er ihm gebe,
»ſo regelmaͤßig entfallte, wie man die Knoſpen der
»Nelke, mit einem Meſſer aufritze, damit ſie ohne
»Berſten aufbluͤhen: ſo erſetzt die Muſik als kuͤnſt¬
»licher Schmerz den wahren.» — »Iſt der wahre
ſo ſelten?» ſagte Viktor geruͤhrt im dunkeln von
Einem Wachslicht beſchienenen Zimmer. — Er kam
neben Klotilde, und ihr Vater ſaß ihm gegen¬
uͤber. —


Seelige Stunde! die du einmal mit den Echo¬
lauten dieſer Harmonika durch meine Seele zogeſt —
fliehe noch einmal voruͤber und das Echo jenes Echo's
klinge wieder um dich! —


Aber als der beſcheidne ſtille Virtuos das Geraͤ¬
the der Entzuͤckung kaum in die Lippen geleget hat¬
te: ſo fuͤhlte Viktor, daß er es jetzt, bevor das
[367] Licht hinauskaͤme) nicht ſo machen duͤrfe wie ſonſt,
wo er ſich zu jedem Adagio eigne Szenen vorkolo¬
rirte und jedem Stuͤcke beſondere Schwaͤrmereien
ſeiner Texte unterlegte. Denn es iſt das einzige
Mittel, den Toͤnen ihre Allmacht zu geben, wenn
man ſie zu Ripienſtimmen unſerer Stimmung und ſo
aus Inſtrumental-Vokal-Muſik, aus unartikulirten
Toͤnen artikulirte macht, anſtatt daß die ſchoͤnſte
Reihe Toͤne, die kein beſtimmter Gegenſtand zu Al¬
phabet und Sprache ordnet, abgeleitet vom beſpuͤl¬
ten aber nicht erweichten Herzen. — Als daher die
holdeſten Laute, die je uͤber Menſchenlippen als Mit¬
lauter der Seele floßen, von der bebenden Mund¬
harmonika zu wehen anfingen; als er fuͤhlte, daß
dieſe kleinen Stahlringe gleichſam als Klaviatur und
Faßung und Griffbret ſeines Herzens ihre Erſchuͤt¬
terungen zu ſeinen machen wuͤrden: ſo zwang er ſein
fieberhaftes Herz, an dem ohnehin heute alle Wun¬
den aufgingen, ſich gegen die Toͤne zuſammenzuziehen
und ſich keine Szenen vorzuzeichnen, blos damit er
— — nicht in Thraͤnen ausbraͤche eh' das Licht
weg waͤre.


Immer hoͤher ſtieg das Zuggarn hebender Toͤne
mit ſeinem ergriffenen Herzen empor. — Eine weh¬
muͤthige Erinnerung um die andre ſagte in dieſer
Geiſterſtunde der Vergangenheit zu ihm: »erdruͤcke
[368] mich nicht ſondern gieb mir meine Thraͤne« —
Alle ſeine gefangnen Thraͤnen wurden um ſein Herz
verſammelt und ſein ganzes Innere ſchwamm aus
dem Boden gehoben, ſanft in Thraͤnen — Aber er
faßte ſich: »kannſt du noch nicht entbehren, (ſagt'
»er zu ſich,) nicht einmal ein naſſes Auge? Nein,
»mit einem trocknen nimm dieſes beklommene Echo
»deiner ganzen Bruſt, nimm dieſen Nachhall aus
»Arkadien und alle dieſe weinenden Laute in eine
»zerſtoͤrte Seele auf« — Unter einer ſolchen uͤber¬
huͤllten Zerfließung, die er oft fuͤr Faſſung nahm,
wars allemal in ihm als wenn ihn aus einer fernen
Gegend eine brechende Stimme anredete, deren
Worte den Sylbenfall von Verſen hatte: die bre¬
chende Stimme redete ihn wieder an: »Sind nicht
»dieſe Toͤne aus verklungenen Hofnungen gemacht?
»Rinnen nicht dieſe Laute, Horion, wie Menſchen¬
»tage in einander? O blicke nicht auf dein Herz, in
»das ſtaͤubende Herz malen ſich wie in einen Nebel
»die vorigen ſchimmernden Zeilen hinein« —
Gleichwohl antwortete er noch: »das Leben iſt ja zu
»kurz fuͤr zwei Thraͤnen, fuͤr die des Kummers und
»fuͤr die andre.« . . . . Aber als jetzt die weiſſe
Taube, die Emanuel im Gottesacker niederfallen ſah,
durch ſeine Phantaſie flog — als er dachte, »dieſe
»Taube hat ja ſchon in meinem Traum von Klotil¬
»den geflattert und ſich an die Eisberge geklammert;
»ach[369] ach ſie iſt das Bild des verwelkenden Engels neben
»mir« — und als die Toͤne immer leiſer flatterten
und endlich in dem fluſternden Laube eines Todten¬
kranzes herumliefen — und als die brechende Stim¬
me wieder kam und ſagte: »kennſt du dieſe alten
»Toͤne nicht? — Siehe ſie gingen ſchon in deinem
»Traum vor ihrem Geburtstage und ſenkten dort
»bis an's Herz die kranke Seele neben dir in's Grab
»und ſie ließ dir nichts zuruͤck als ein Auge voll
»Thraͤnen und eine Seele voll Schmerz« — — —
»Nein, mehr ließ ſie mir nicht« ſagte gebrochen
ſein muͤdes Herz und alle ſeine bekaͤmpften Thraͤ¬
nen drangen in Stroͤmen aus den Augen. . . .


Aber das Licht ward eben aus dem Zimmer ge¬
tragen und der erſte Strom fiel ungeſehen in den
Schoos der Nacht.


Die Harmonika fing die Melodie der Todten an:
»Wie ſie ſo ſanft ruhn! ꝛc. — Ach in ſolchen Toͤ¬
nen ſchlagen die zerlaufenden Wellen des Meeres der
Ewigkeit an das Herz der dunklen Menſchen, die am
Ufer ſtehen und ſich hinuͤberſehnen! — Jetzt wirſt du,
Horion, von einem toͤnenden Wehen aus dem Regen¬
dunſt des Lebens hinuͤbergehoben in die lichte Ewig¬
keit! — Hoͤre, welche Toͤne umlaufen die weiten
Gefilde von Eden! Schlagen nicht die Laute, in
Hauche verflogen, an fernen Blumen zuruͤck und um¬
ſchwimmen, vom Echo geſchwollen, den Schwanen¬
Heſperus. II. Th. A a[370] Buſen, der auf ſeinen Fluͤgeln auseinander fließet,
und ziehen ihn von melodiſchen Fluthen in Fluthen
und ſinken mit ihm in die fernen Blumen ein, die
ein Nebel aus Duͤften fuͤllt und im dunkeln Duft
glimmt die Seele wieder an wie Abendroth, eh' ſie
ſeelig untergeht? — — —


Ach Horion, ruht die Erde noch unter uns, die
ihre Todeshuͤgel um das weite Leben traͤgt? Zittern
dieſe Toͤne in einer irrdiſchen Luft? Ach Tonkunſt,
die du die Vergangenheit und die Zukunft mit ihren
fliegenden Flammen ſo nahe an unſre Wunden
bringſt, biſt du das Abendwehen aus dieſem Leben
oder die Morgenluft aus jenem? — O deine Laute
ſind Echo, welche Engel den Freudentoͤnen der zweiten
Welt abnehmen, um in unſer ſtummes Herz, um in
unſre oͤde Nacht das verwehte Fruͤhlingsgetoͤne fern
von uns fliehender Himmel zu ſenken! Und du, ver¬
klingender Harmonikaton! du koͤmmſt ja aus einem
Jauchzen zu uns, das von Himmel in Himmel ver¬
ſchlagen, endlich in dem letzten ſtummen Himmel
ſtirbt, der aus nichts beſteht als aus einer tiefen,
weiten, ewig ſtillen Wonne. ...


»Ewig« ſtille Wonne (wiederholet Horions auf¬
geloͤſte Seele, deren Entzuͤcken ich bisher zu meinem
machte) »ja, dort wird die Gegend liegen, wo ich
»meine Augen aufhebe gegen den Allguͤtigen und
»meine Arme ausbreite gegen ſie, gegen dieſe muͤde
[371] »Seele, gegen dieſes große Herz — Dann fall' ich
»an dein Herz, Klotilde, dann umſchling' ich dich
»auf ewig, und die Fluth der ewig ſtillen Wonne
»huͤllt uns ein — Wehet wieder nach dem Leben,
»Erdentoͤne, zwiſchen meiner und ihrer Bruſt, und
»dann ſchwimme eine kleine Nacht, ein wallender
»Schattenumriß auf euren lichten Welten daher und
»ich werde hinſehen und ſagen: das war mein Leben
»— dann ſag' ich ſanfter und weine ſtaͤrker: ja der
»Menſch iſt ungluͤcklich, aber auf der Erde nur.«


O giebt's einen Menſchen, uͤber welchen bei die¬
ſen letzten Worten die Erinnerung große Regenwol¬
ken zieht, ſo ſag' ich zu ihm: geliebter Bruder, ge¬
liebte Schweſter, ich bin heute ſo geruͤhrt wie du,
ich achte den Schmerz den du verbirgſt — ach du
entſchuldigſt mich und ich dich. . . .


Das Lied ſtand ſtill und toͤnte aus. — Welche
Stille jetzt im Dunkel! Alles Seufzen war in ein
zoͤgerndes Athmen eingekleidet. Nur die Nebelſterne
der Empfindung funkelten hell in der Finſterniß. Kei¬
ner ſah weſſen Auge naß geworden war. Viktor
blickte in die ſtille ſchwarze Luft vor ihm, die vor
wenig Minuten mit haͤngenden Gaͤrten von Toͤnen,
mit zerfließenden Luftſchloͤſſern des menſchlichen Ohrs,
mit verkleinerten Himmeln erfuͤllt geweſen war und
die nun da blieb als nacktes ſchwarzes Feuerwerks-
Geruͤſt. —


A a [...][372]

Aber die Harmonika fuͤllte dieſes Dunkel bald
wieder mit Lufterſcheinungen von Welten an. Ach
warum mußt' es denn gerade die meinen Viktor na¬
gende Melodie des »Vergißmeinnicht« treffen, die
ihm die Verſe vortoͤnte als wenn er ſie Klotilden
vorſagte: »Vergiß mein nicht, da jetzt des Schick¬
»ſals Strenge dich von mir ruft — Vergiß mein
»nicht, wenn lockre kuͤhle Erde dies Herz einſt deckt,
»das zaͤrtlich fuͤr dich ſchlug — Denk das ich's
»ſey, wenn's ſanft in deiner Seele ſpricht: vergiß
»mein nicht«. . . . O wenn noch dazu dieſe Toͤne
ſich in wogende Blumen verſchlingen, aus einer
Vergangenheit in die andre zuruͤck fließen, immer
leiſer rinnen durch die vergangnen hinter dem Men¬
ſchen ruhende Jahre — endlich nur murmeln unter
dem Lebensmorgenroth — nur ungehoͤrt aufwallen
unter der Wiege des Menſchen — und erſtarren in
unſrer kalten Daͤmmerung und verſiegen in der Mit¬
ternacht, wo jeder von uns nicht war: dann hoͤrt
der geruͤhrte Menſch auf, ſeine Seufzer zu verbergen
und ſeine unendlichen Schmerzen.


Der ſtille Engel neben Viktor konnte ſie nicht
mehr verhuͤllen und Viktor hoͤrte Klotildens erſten
Seufzer. —


Ja, dann nahm er ihre Hand als wenn er ſie
ſchwebend erhalten wollte uͤber einem ofnen Grabe.


[373]

Sie ließ ihm ihre Hand und ihre Pulſe ſchlugen
bebend mit ſeinen zuſammen. —


Endlich warf nur noch der letzte Ton des Liedes
ſeine melodiſchen Kreiſe im Aether und floß aus ein¬
ander uͤber eine ganze Vergangenheit — dann huͤll¬
te ihn ein fernes Echo in ein flatterndes Luͤftgen
und wehte ihn durch tiefere Echos hindurch und end¬
lich an das letzte hinuͤber, das rings um den Him¬
mel liegt — dann verſchied der Ton und flog als
eine Seele in einen Seufzer Klotildens. —


Da entfiel ihr die erſte Thraͤne wie ein heiſſes
Herz, auf Viktors Hand.


Ihr Freund war uͤberwaͤltigt — ſie war dahin
geriſſen — er preßte konvulſiviſch die ſanfte Hand
— ſie zog ſie aus ſeiner — und ging langſam aus
dem Zimmer, um dem zu weichen Herzen, uͤber deſ¬
ſen holde Zeichen die Nacht ihren Schleier hing,
wieder zu Huͤlfe zu kommen. . . . .


Das kommende Licht nahm dieſe Traumſzenen
weg. — Matthieu und die Kammerherrin erſchienen
auch. Wir wollen aber in dieſer weichen Stimmung
wo man gerade gegen Schlimme in der haͤrteſten iſt,
nichts ſagen und nichts denken uͤber das neue Paar,
das fuͤr den Kontraſt mit unſerer Erweichung nichts
kann. Viktor ſagte ſich das auch, aber mehr als ein¬
mal; weil ſich die vom Apotheker erlogne Vermaͤh¬
lung Klotildens mit Matthieu ihm mit den grellſten
[374] Farben aufdrang, aͤhnlich jener platoniſchen Verbin¬
dung, wo der reine Geiſt aus ſeinem Aether getrie¬
ben und mit zuſammengekruͤmmten Fluͤgeln in einen
befleckten Leib gemauert wird. — Klotilde kam zu¬
ruͤck — ſie war in Verlegenheit gegen Viktor, bloß
weil er darin war oder neben ihr auf dem Schlitten
noch mehr darin ſeyn mußte — ihren geſchwollenen
Augapfel entfernte ſie vom Licht. — Da Thraͤnen-
Verſetzungen wie Milchverſetzungen druͤcken und zer¬
ſtoͤren: ſo ſuchte die in ſein Inneres zuruͤckgedruͤckte
Wehmuth einen Ausgang durch die Stimme, die
heftig und abgebrochen war, durch die Bewegungen
die ſchnell waren, ſogar durch die Lebhaftigkeit des
Ausdrucks — kurz es war gut, daß ſie fuhren.


Er dachte wieder das Gegentheil als er auf dem
Schlitten hinter ihr ſtand. Die Nacht ſchien ſich
hinter die Wolken gezogen zu haben, deren weites
Gewoͤlbe den Himmel einnahm. Er konnte keine
Materie zum Geſpraͤche auftreiben, er mochte ſinnen
wie er wollte — Er lief Klotildens, Viktors, aller
bekannten Perſonalien durch — Es ſtieß ihm nichts
auf — Der Grund war, ſeine Gedanken, die er dar¬
auf ausſchickte, kehrten ohne ſein Wiſſen jede Mi¬
nute um und hingen ſich wie Bienen an Klotildens
edles Profil oder an ihr weiches Auge oder ſanken
in ihre auf ſeine Hand gefloſſene Thraͤne ein und in
[375] das ganze Aethermeer der heutigen Toͤne. Der
uͤberhuͤllte Himmel gab ihm endlich Emanuels
letztes Schreiben ein, aus dem er Julius Einwei¬
hung in den hoͤchſten Gedanken des Menſchen erzaͤhl¬
te. Klotilde hoͤrte ihm freudig zu und ſagte endlich:
»niemand iſt gluͤcklicher als ein Schuͤler eines ſol¬
»chen Lehrers; aber er muß nie in die Welt treten
»— da wird er es nicht ſeyn. Sein Lehrer hat ihm
»ein zu weiches Herz gegeben, und ein weiches haͤngt
»wie das weiche Obſt ſo tief herab, daß es jeder
»erreichen und verwunden kann: die harten Fruͤchte
»haͤngen hoͤher.« —


Sie kamen jetzt zu den harten Reſidenzfruͤchten.
Ihre Bemerkung war ihre eigne Geſchichte. Aber
die neuen Auftritte — die rauſchenden Wagen und
Kleider — der Laͤrm um nichts und um wenig —
die Saalleuchter wie Fixſternſyſteme — die doppel¬
ten Mund-Disharmonika's — die maͤnnliche Hof-
Fauna — die weibliche Hof-Flora — das ganze
mobil gemachte Luſtlager, dieſes Meß-Getuͤmmel
uͤberſchmetterte jetzt das gedaͤmpfte Echo, das zwi¬
ſchen zwei harmoniſchen Seelen hinuͤber und heruͤber
ging.


Unſer Held wurde von der Fuͤrſtin noch freundli¬
cher angelaſſen als vom Fuͤrſten. Joachime, die
[376] Amtsverweſerin Klotildens, hatte noch auſſer der
kalten zuͤrnenden Freundlichkeit eine Juwelenreiche
montre à regulateur. — An einem oͤffentlichen Orte
koſtet es weniger als in einem Kabinet, den aͤuſſern
Menſchen wie eine Karaktermaske uͤber den innern
zu decken. Viktor, auf den ohnehin jeder Schmerz
die witzige Wirkung des Trunkes machte, verrieth
den erſtern hoͤchſtens durch das Uebermaas ſeiner
Lebhaftigkeit.


Eine Frau verraͤth ſich durch das Gegentheil —
Klotilde durch nichts. Z. B. Er ſagte in der ſon¬
derbaren Uebertaͤubung, die aͤuſſeren Freudentoͤne und
inneren Phantaſien erwecken, wenn ſie wie zwei Stroͤ¬
me mit einander zuſammenkommen, folgende Ideen:
»Waͤr' ich die Goͤttin der Wonne (wenn's eine giebt)
»ſo ließ' ich drei Uhr ſchlagen — um die Wand¬
»leuchter machte ich Farbenprismen oder hinge ſie
»gar in die Kabinette und zoͤge uͤber den Tanzſaal
»durch Weihrauch eine Zauberdaͤmmerung — dann
»muͤßt' ich die Toͤne des Orcheſters, in ſo viele
»Zimmer zuruͤckſtellen, daß davon nichts hereinkaͤme
»als ein weiches Echo — und wenn dann in den
»daͤmmernden von Melodien durchwehten Wirrwar
»nicht die Leute nach einigen ſtillen Bewegungen
»vor Entzuͤcken vergehen wollten: ſo wuͤßt' ich
»nicht« — »Setzen Sie noch dazu (ſagte ſie) damit
[377] »wir auch eins haben, daß wir hier bleiben und
»die Aufloͤſung beobachten.« —


Aber ſeine Faſſung uͤberlebte in jedem Balle
kaum die Menuet. Nach dem erſten Geraͤuſch, we¬
nigſtens um die Geiſterſtunde war allemal ſeine
ganze Seele in eine eigne poetiſche der Augen kaum
maͤchtige Schwermuth zerſetzt. Auſſer den Toͤnen
kann ich noch die Bewegung zum Erlaͤutern dieſer
Erſcheinung brauchen: alle Bewegung iſt erſtlich er¬
haben — nemlich die von großen Maſſen oder viel¬
mehr jede ſchnelle Bewegung giebt dem Gegenſtand
die Groͤße des durcheilten Raums, daher wegen des
Kontraſtes mit dem Zwecke bewegte Gegenſtaͤnde ko¬
miſcher ſind als ruhige — Zweitens das Bewegen
der Menſchen ſtellte ihm ihr Voruͤberflattern, ihr
Fliehen in die Graͤber dar. Er ſtand oft zu Nachts
melancholiſch unten an Haͤuſern, in deren zweiten
Stockwerk man tanzte, und ſah hinauf und das
Voruͤberſchweben freudiger Koͤpfe war ihm der Gau¬
kelſprung der Irrlichter auf dem Kirchhofe.


Heute fuͤhlte er das bei einer zerſchmolzenen
uͤberlaufenden Seele noch eher als ſonſt. Die An¬
glaiſe, worin aus der Kolonne ein Paar nach dem
andern verſchwindet, war ja das Bild unſers ſchattig¬
ten Lebenu, in das wir alle ausziehen mit Trommeln
[378] und von tauſend Spielkameraden eingefaßt und in
dem wir fortruͤcken jedes Jahr verarmend, jede
Stunde einſamer, indeß wir zu Ende laufen von
allen verlaſſen auſſer einen gemietheten Mann,
der uns eingraͤbt hinter das Ziel. — Aber der Tod
breitet gleichſam unſere Arme aus und druͤckt ſie um
unſere geliebten Geſchwiſter: ein Menſch fuͤhlt erſt
am Rande der Gruft, da er ans Reich unbekannter
Weſen ſtoͤßet, wie ſehr er die Bekannten liebe, die
ihn lieben, die leiden wie er, die ſterben wie er.


Das Bild des Todes und der Liebe mußte ja
wohl Viktors Herz zertrennen. Und da ein Weib
uns mit nichts die ganze ſeelige Vergangenheit ruͤh¬
render aufdeckt als wenn ſie ihr Augenlied aufhebt
und uns ihr ſchwimmendes Auge zeigt: ach ſo mußte
er ja wohl wenigſtens unter dem Tanze in ein Auge
blicken, das ihm lauter Himmel zeichnete, die ver¬
ſunken waren — und heute ſollte alles verſinken,
das Auge ſogar.


Da Klotilde durch das Tanzen immer erblaßte:
ſo zog ſeine Seele durch ihre Augen in ihr Inneres
und zaͤhlte drinnen an der ſtillen Seele die Thraͤnen¬
tropfen, die unerſchuͤttert an ihr hingen — die vie¬
len Inokulir-Einſchnitte des Schickſals fuͤr neue
Tugenden — die beſchnittenen Wurzeln dieſer Bal¬
[379] ſamine, die das Schickſal an ihr wie wir an Ge¬
waͤchſen, vor der Verpflanzung in eine andre Erde
verkuͤrzt — und die tauſend Honiggefaͤße ſchoͤner Ge¬
danken. Und da er an alle ihre bedeckten Tugenden
auf einmal dachte, an die Herrſchaft ihrer weibli¬
chen Vernunft uͤber ihre Empfindſamkeit, an ihr
leichtes Einwilligen in den Ball, den ihr jetzt der
Fuͤrſt, ſo wie in die Schminke, die ihr ſonſt die
Fuͤrſtin aufgedrungen, und an ihre Gefaͤlligkeit, ſo
bald ſie nichts aufzuopfern brauchte wie ſich: und
da er ſich vorhielt, daß ſie, nicht aͤhnlich den Hof-
und Stadtweibern, die wie Gewaͤchſe ſich ans Fen¬
ſter
des Gewaͤchshauſes nach dem Lichte ausſprei¬
zen, ſondern aͤhnlich den Fruͤhlingsblumen gern im
Schatten bluͤhe und doch die Liebe zum Landleben
ſo wenig wie ihre Beſcheidenheit zur Schau aus¬
lege: ſo mußt' er das Auge abwenden von der zar¬
ten aufgerichteten Blume, auf die der Tod den Lei¬
chenſtein nieder warf, von der ſchoͤnſten Seele, die
ihren Werth noch nicht im Spiegel einer gleichen
ſah, vom ſterbenden Herzen, das doch nicht gluͤck¬
lich war.


Da ſtieg freilich der Gedanke, vor dem er zu¬
ſammenfuhr; wie ein Sturm empor: »Ich will ihr's
»heute ſagen, wie gut ſie iſt — o ich ſeh' ſie doch
»nicht wieder und ſie ſtirbt ſonſt von ſich unge¬
[380] »kannt! — Ich will ihr zu Fuͤßen ſinken und meine
»unausſprechliche Liebe bekennen. — Sie kann nicht
»zuͤrnen; ich begehre ja nicht ihr heiliges Herz, das
»keiner verdient, ich will ja nur ſagen: meines ver¬
»giſſet dich nie, aber es verlanget deines nicht, es
»will nur ſanfter brechen, wenn es vor dir gezittert
»und geblutet und geweinet und geſprochen hat» ..


Und nahe hinter dieſem Gedanken kam Klotilde
ſelber zu ihm an der Hand ihrer Stiefmutter und
das von der Waͤrme wie Roſen von der Sonne ent¬
faͤrbte Angeſicht, die kraͤnkern muͤden Zuͤge thaten
die ſtille Bitte, in die friſche Luft und nach Haus
zu kommen.


Sie fuhr; die Stiefmutter entfernt hinter ihr.
— Welcher Tauſch der Buͤhnen! — Unter dem Mor¬
genthor des Himmels ſtand der Mond, der den Lei¬
chenſchleier aus Gewoͤlk abgehoben hatte von der
Milchſtraße und von dem ganzen blauen Abgrund.
— Er trug allmaͤhlig einen Grund von Silber auf
und zeichnete mit Schatten und Blitzen ein ruͤcken¬
des Nachtſtuͤck hinein. — Sein Licht ſchien der Froſt
in Koͤrper zu verdichten, in weiße Auen, in tau¬
melnde Stroͤme, in ſchwebende Flocken, es hing
blitzend als weißes Bluͤtenlaub in den Gebuͤſchen,
es glimmte die oͤſtlichen Berge hinauf, die die Son¬
ne in Eißſpiegel gegoßen hatte. — Und alles uͤber
dem Menſchen und um den Menſchen war erhaben¬
[381] ſtill — der Schlaf ſpielte mit dem Tod — jedes
Herz ruhte in ſeiner eignen Nacht. —


Und hier bei dieſem Eintritt gleichſam aus dem
Getuͤmmel der Erde in die ſtille uͤberdaͤmmerte Un¬
terwelt floßen kalte Schauer und nach ihnen gluͤhen¬
de Schauer uͤber Viktors Nerven. — Dies geſchieht
wenn die Seele des Menſchen zu voll iſt und zu
ſehr erſchuͤttert wird und alle Faͤden ihres zitternden
Koͤrpergewebes ſchwanken dann mit ihr. — Sein
Schlitten wurde jetzt eine fliegende Gondel. — Die
entgegenſchlagende Nachtluft wehte alle ſeine Flam¬
men an. — O! der Strom voll Eisſpitzen, wenn er
uͤber ihn gezogen, die kuͤhle Decke von Schnee wenn
ſie auf ihm gelegen waͤre! — Immerfort rief es in ihm:
»du faͤhrſt die Stille, die Geduldige mit ihrem
»ſchwarzen Schleier dem Tode zu — es iſt ihr Lei¬
»chenwagen — die edle Perlenfiſcherin hat dem Him¬
»mel ihr Zeichen gegeben, daß ſie hier unten
»Schmerzen und Tugenden genug geſammelt habe,
»damit er ſie wieder hinaufziehe zu ſich.» — —
Die voruͤberruͤckenden Berge, die vorbeiſtuͤrzenden
Baͤume, die wegrinnenden Felder, dieſe Flucht der
Natur ſchien in einen großen Waſſerfall zuſammen¬
zufließen, der alles mittrieb und den Menſchen zu¬
erſt und nichts ſtehen ließ als die Zeit. — Und als
er in das Thal, wo die Stadt verſchwindet wie vor
[382] einem Jahre ſeine begleitende Freundinnen, hinun¬
terrollte und als der Mond nach dem optiſchen Schei¬
ne hinter den Baͤumen durch den Himmel zu fliegen
anfing: ſo richtete er ſeine Augen gegen die Sterne
auf, und redete zuruͤckgebogen, hinaufſtarrend, zer¬
truͤmmert und ohne Beſinnung den Himmel laut an:
»tiefes blaues Grab uͤber den Menſchen, du verſteckſt
»deine weiten Naͤchte hinter zuſammengeruͤckten Son¬
»nen! Du zieheſt uns und unſre Thraͤnen hinauf
»wie Duͤnſte. — Ach werfe nicht die armen ſich ſo
»kurz ſehenden Menſchen ſo weit auseinander, nicht
»ſo unendlich weit! — Ach warum kann der Menſch
»nicht hinaufblicken zu dir, ohne zu denken:
»wer weiß, welches geliebte Herz ich droben nach
»einem Jahre ſuchen muß!» —


Seine verdunkelten Augen fielen ſchmerzhaft vom
Himmel herab — auf Klotildens ihre, die aufgeho¬
ben ſeinen gegenuͤberſtanden. Sie konnte die Thraͤne,
die vom Auge erſt bis zur Wange gefallen war, we¬
der durch den Schleier entziehen noch fuͤr eine auf
dem Angeſicht zergangene Schneeflocke ausgeben, da
der Schleier die Flocken abſtieß: aber eine ſolche
Thraͤne hatte keinen Schleier noͤthig. Klotilde hat¬
te gedacht, er meine blos Emanuel und darum wur¬
de ſie weich . . . Wie zwei ſcheidende Engel ſchau¬
ten beide ſich mit weinenden Augen an. Aber Klo¬
tilde zog die ihrigen ab und ihr Haupt buͤckte er¬
[383] liegend ſich vorwaͤrts. Gleichwol wandte ſie ſich
wieder um und that mit dem Himmels-Angeſicht
und mit der Himmels-Stimme die ſchoͤne Bitte an
ihn: »Wuͤrdigen Sie dieſer warmen Freundſchaft
auch meinen Bruder; und vergeben Sie der Schwe¬
ſter heute dieſe Bitte, da ich ſie vielleicht lange nicht
erneuern kann.» — Er buͤckte ſich tief und konnte
nicht antworten.


Aber da ihr Wohnort ihnen jetzt entgegenſchim¬
merte und ihr Schloß, von dem der Silberregen des
Mondes niederrann — da die Minute immer groͤßer
und dunkler herankam, worin ihm der Abſchied,
(vielleicht die Maske des Todes,) dieſen ſtillen En¬
gel von der Seite nahm — da ihm jede gleichguͤl¬
tige Abſchiedsformel, die er ſich ausſinnen wollte,
ſein krankes Herz zerſchnitt — da er ſah wie ſie ihr
Haupt auf die Hand und auf den Schleier lehnte,
um unbemerkt die erſten Zeichen ihres Abſchieds
wegzunehmen oder aufzuhalten: ſo ſtuͤrzte die ganze
Wolke, die ſo lange einzelne Tropfen in ſeine Au¬
gen fallen laſſen, zerriſſen auf ihn nieder und uͤber¬
flutete ſein Herz. . . . . Er hielt ploͤtzlich ſtill . . .
Er ſah mit unverſiegenden Augen gegen St. Luͤne.
. . . Klotilde kehrte ſich um und ſah ein entfaͤrb¬
tes Angeſicht, zwei Augen voll Thraͤnen, eine Stirn
voll Schmerzen und einen zitternden Mund und ſag¬
[384] te bloͤde: »Ihre Seele iſt zu gut und zu weich.« —
Ja, dann brach ſein uͤberfuͤlltes Herz entzwei. —
Dann quollen alle mit alten Thraͤnen vollgegoßenen
Tiefen ſeiner Seele auf und hoben aus den Wurzeln
ſein ſchwimmendes Herz und er ſank vor Klotilden
nieder glaͤnzend in himmliſcher Liebe und rinnendem
Schmerz — von der Tugend uͤberflammt — vom
Mondenlicht verklaͤrt — mit der treuen erliegenden
Bruſt, mit den uͤberhullten Augen und die zerrin¬
nende Stimme konnte nur die Worte ſagen: »Engel
»des Himmels! endlich bricht vor dir das Herz, das
»dich unausſprechlich liebt — o ich habe ja lange
»geſchwiegen. — Nein, du edle Geſtalt weicheſt nie
»aus meiner Seele. — O Seele vom Himmel war,
»um haben deine Leiden und deine Guͤte und alles
»was du biſt, mir eine ewige Liebe gegeben und
»keine Hoffnung und einen [ewigen] Schmerz?»
— Von ihm weggebogen lag ihr erſchrockenes Ange¬
ſicht in ihrer rechten Hand und die linke deckte nur
die Augen, aber nicht die Thraͤnen zu. Ein ſterben¬
der Laut flehete ihn an aufzuſtehen. Man hoͤrte den
zweiten Schlitten von Ferne. — »Unvergeßliche! ich
»martere Sie, aber ich bleibe bis Sie mir ein Zei¬
»chen der Vergebung geben.« — Sie reichte ihm
die linke Hand hinaus und ein heiliges Angeſicht
voll Ruͤhrung wurde aufgedeckt — Er preßte die
warme Hand an ſein flammendes Angeſicht, in ſeine
heiſſen[385] heiſſen Thraͤnenguͤſſe — Er fragte zitternd wieder:
»O mein Fehler wird immer groͤßer, werden Sie
»ihn denn ganz verzeihen?« . . .


Da verhuͤllte ſie das erroͤthende Angeſicht in den
verdoppelten Schleier und ſtammelte abgewandt:
»ach dann muß ich ihn theilen, edler Freund meines
»Lehrers.« — —


Seeliger, ſeeliger Menſch! nach dieſem Wort
bietet dir das ganze Erdenleben keinen groͤßern Him¬
mel an! Ruhe nun in ſtillem Entzuͤcken mit dem
uͤberwaͤltigten Angeſicht auf der Engelshand, in die
das edelſte Herz das fuͤr die Tugend wallende Blut
ausgieſſet! Weine alle deine Freudenthraͤnen auf die
gute Hand, die dir ſie gegeben hat! Und dann:
wenn du es vermagſt vor Entzuͤcken oder vor Ehr¬
furcht, dann hebe dein reines glaͤnzendes Auge auf
und zeig' ihr darin den Blick der erhabnen Liebe,
den Blick der ewigen Liebe und der ſtummen, und
der ſeeligen und der unausſprechlichen! —


Ach der, den einmal eine Klotilde geliebt haͤtte
der koͤnnte jetzt vor Entzuͤckung nicht weiter leſen
— nicht weiter ſchreiben . . . . . oder auch vor
Schmerz! —


Jetzt legte er den ſchoͤnern Weg ſchweigend und
geheiligt zuruͤck — Der Mond hing wie ein bethau¬
ter mit weiſſen Bluͤten uͤberlegter Morgen vom
Himmel herab — Der Fruͤhling bewegte ſeine
Auen und ſeine Blumen unter dem Schleier von
Schnee — das Entzuͤcken ſchlug in Viktors Herzen,
ſchwoll in ſeiner Bruſt, glaͤnzt' in ſeinem Auge —
aber die Sprachloſigkeit der Ehrfurcht herrſchte uͤber
das Entzuͤcken. . . . Sie kamen an. Und als beide
im Zimmer der Harmonika, wo man Abends vor
Schmerzen ihre Hand ergriffen hatte, einander
einſam gegenuͤber ſtanden, ſo veraͤndert, ſo ſee¬
Heſperus. II. Th. B h[386] lig zum erſtenmale, zwei ſolche Herzen, ſie wie
ein Engel der vom Himmel niederſank, er wie ein
Seeliger, der aus der Erde auferſtand, um dem
bloͤden Engel an das Herz zu fallen und mit ihm
ſprachlos in den Himmel zuruͤckzugehen . . . welche
Szene! — O nur fuͤr euch, ihr ſchoͤnen Seelen, die
ihr ſolche Szenen nie erlebt und doch verdient,
mal' ich dieſe fort!. . . . Wie zwei Seelige vor
Gott ſchauen ſie einander in die Augen und in die
Seelen — wie ein Zephyr, den zwei ſchwankende
Roſen fortſetzen, wehet zwiſchen den zitternden Lip¬
pen der ſprachloſe Wonne Seufzer, von der Bruſt
in ſchnellen Zuͤgen eingetrunken und freudig ſchau¬
ernd in langen ausgezittert — ſie reden nicht, um
ſich anzublicken, ſie heben die Augen auf, um durch
den Freudentropfen durchzuſehen, und ſenken ſie nie¬
der, um ihn mit den Augenliede abzutrocknen. ..
Nein, es iſt genug — o es iſt eine andere Thraͤne
die jetzt druͤckend in dem ſchoͤnen Herzen liegt, das
ſchweigt und ſagen will: ich war niemals gluͤcklich
und ich werd' es auch nie!


Viktor hatte ihr ſoviel zu ſagen und hatte ſo wenig
Minuten mehr dazu: gleichwohl machte ihn nicht ſowohl
die Freude als die Ehrfurcht ſtumm — denn heilig iſt
dem liebenden Herzen die Geſtalt, die zu ihm geſagt
hat: ich bin dein. — Denket aber nicht, er wollte
etwan die rohe Bitte thun, ſeinetwegen da zu bleiben:
nur die Frage, ob er ſie in Maienthal beſuchen
duͤrfe, nur die Bitte, daß ſie fuͤr ihr Geneſen ſor¬
ge, kann er wagen. Klotilde hatte nur Eine an ihn zu
thun, die ſie nicht genug uͤberhuͤllen konnte: naͤm¬
lich, ihres eiferſuͤchtigen Bruders wegen, ſie nicht
in Maienthal zu ſehen.


Unter dem Zoͤgern der Entzuͤckung ſchellet der
zweite Schlitten. Die Eile noͤthigte ſie zum Muth
— — Viktor verwandelte die Bitte in den
Wunſch, daß der Fruͤhling die Abſicht ihrer Reiſe
[387] (die Geneſung) beguͤnſtigen moͤge, und die Frage
in die Freude, wie gluͤcklich ſie in Maienthal neben
Dahore ſeyn werde, wie ſeelig er ſonſt dort geweſen
und wie wenig er ſonſt geglaubt, daß man's da noch
mehr werden koͤnne. Klotilde antwortete (wahrſchein¬
lich auf ſeinen Wunſch nachzureiſen): »ich hinterlaſſe
Ihnen eben ſoviel, meinen Bruder und Ihren
Freund, vergeſſen Sie meine vorige Bitte nicht.»


Erſt, da die annaͤhernden Eltern Klotilden erin¬
nerten, den Schleier zuruͤckzuſchlagen, und ihren Ge¬
liebten anmahnten, den erſten Abſchied von dem er¬
rungenen Herzen zu nehmen: da blickten beide weit
in das großen Eden hinein, das ſich um ihr Leben
aufgethan — und die helle Minute, die jetzt im
Strom der Zeit voruͤberfloß, ſpiegelte in die Ewig¬
keit zwei himmliſche Geſtalten hinauf, eine entſchlei¬
erte, blaßrothe, von Thraͤnen verklaͤrte, und eine von
Liebe verherrlichte, von Hoffnung wiederſcheinende
— und jetzt laſſet nicht laͤnger die Hand Seelen zeich¬
nen, die nicht einmal das glaͤnzende große Auge der
Liebe abmahlet. . . .


Als die Eltern kamen: fuͤhlt' er alle moͤgliche
Kontraſte, aber er vergab alle moͤgliche. Er nahm
bald Abſchied, um zu Hauſe in der Stille der Nacht
den erſten betenden Blick uͤber ſeinen kuͤnftigen Le¬
bensſtrom zu werfen, der ſich jetzt zum Grab hinzog
in Schoͤnheitslinien und in dem bunte Minuten ſpiel¬
ten wie Goldfiſche.


In der Nachtſtille, nicht weit von ſeiner Wachs¬
mumie wollte der Gluͤckliche niederfallen vor dem
unendlichen Genius und ihm mit neuen Thraͤnen
danken fuͤr dieſe Nacht, fuͤr dieſe Freundin, deren
erſte Liebe er iſt. — Aber der Gedanke es zu thun,
iſt die That und o wie koͤnnte unſer geruͤhrtes Herz,
das ſchon vor Menſchen verſtummt, noch andere
[388] Worte vor dem Unendlichen finden als Thraͤnen und
Gedanken? —


— Und in dieſer ergebnen Stimmung voll tiefer
Ruhe, worin ich die Feder weglege, moͤgeſt Du,
lieber Leſer, den zweiten Band weglegen und auch
ſagen wie ich: es werden ſich wohl mehr truͤbe Ta¬
ge ſo beſchließen wie der acht und zwanzigſte Hunds¬
poſttag. —


Ende des zweiten Heftleins.

[][][]
Notes
*)
Geſchabtes Fiſchbein fanden die Britten als das weichſte
Lager aus.
*)
So heiſſet der Schimmer um den Kopf, wenn man elek¬
triſirt iſt.
*)
Kuhlpepper that ihm nie den Gefallen, um den er ihn ſo
oft bat, daß er dem Fuͤrſten ein Klyſtier verordnete, wel¬
ches alsdann der Apotheker ſelber geſetzet haͤtte, um nur
einmal dem Regenten beizukommen und deſſen ſchwa¬
che Seite in ſeine eigne Sonnenſeite zu verwandeln.
*)
Es iſt der mit den langen Schuhen, in ſeiner ”Erziehung
”eines jungen Prinzen 1705.”
*)
Der Dezember begünſtigt die Beobachtungen der Aſtrono¬
men am meiſten.
*)
Ein Beiſpiel iſt jetzt das erſte Prinzip der Moral und das
der Regierungsformen.
*)
S. deſſen amoen. acad. die Abhandlung von der bewohnten
Erde.
*)
Hyſteriſche Kugel d. h. die hyſteriſche Krankenempfindung
als rolle ſich eine Kugel die Kehle herauf.
*)
Inſtrument, das Blau des Himmels zu beſtimmen.
*)
Dieſer exzentriſche Unſinn ſteht wirklich in Paskals Brie¬
fen, S. den 10ten.
*)
Der Schlangenſtein ſaugt ſich ſo lange an die Wunde an
bis er ihren Gift weggeſogen.
*)
Joachime, Klotilde‚ Viktor und der Teufel.
*)
Adjuvans iſt Ingredienz‚ das die Kräfte der Hauptin¬
gredienzien ſtärkt; constituens iſt was Arzenei die Form
einer Pille‚ Larwerge Mixtue ertheilt.
*)
Wie man ſagt: Erbſenkoch, Nudelkoch.
*)
Der Gott des Schlafes wurde von drei Weſen umgeben,
von Phantaſus, der ſich nur in lebloſe Dinge verwan¬
deln konnte, von Phobetor, der alle Thiergeſtalten von
Morpheus, der alle Menſchengeſtalten annehmen und
vorgaukeln konnte. Metamorph. L. II. Fab. 10.
*)
Auch nicht durch den Luxus, den man — indem man
ihre Ausgabe mit unſerer Einnahme vergleicht — uͤber¬
treibt und der ihnen nur dadurch ſchadete daß ſie die Völ¬
ker gleichſam wie oſtindiſche Vettern beerbten Es war der
eines Schuſters, der das große Loos gewonnen; es war
die Verſchwendung eines Soldaten nach der Plünderung.
[Daher] hätten ſie Luxus ohne Verfeinerung. Es konnte ſich
Ihre Größe nur durch Vergrößerung erhalten. Hätte
man ihnen Amerika mit ſeinen Goldſtangen vorgeworfen
ſie hätten beim größern Luxus noch einige Jahrhunderte
länger an dieſer Krücke gehen können.
*)
Der Millionär ſetzt Bettler, der Gelehrte Heloten voraus:
die höhere Kultur wird mit der Verwilderung der Menge
erkauft.
*)
Denn nach 400000 Jahren ſteht die Erdaxe, wie Jupiter
jetzt, ſenkrecht auf ihrer Bahn.
*)
Julius wurde erſt im zwölften Jahre blind und hatte alſo
Vorſtellungen des Geſichts.
*)
Planeten mit Monden.
*)
Emproſthotonus iſt der Krampf der den Menſchen vor¬
wärts krümmt — der Opiſthonus beugt ihn rückwärts.
*)
Siehe die Wochenſchrift: der Jude Seite 380, z. B. nach
dem Buch Lebuſch Attere: Sahaph iſt ein Menſch mit ei¬
nem Thierkopf eine menſchliche Erſtgeburt, aber ein In¬
ſekt, ein ganzes Thier iſt es nicht.
*)
Die Spinner nennen Abfällige der Baumwolle ſo.
*)
Die Hände der medizeiſchen Venus ſind neu und ergänzt.
*)
Aber ich vergeſſe hingegen mich wenn ich verzeihe.
*)
Nach der gemeinen Meinung: denn ich bin der andern
zugethan, nach der ſie heiſſen Ator, Sator, Peratoras —
Dieſe Namen unterſcheiden die Könige ganz von den Hir¬
ten, die Miſati, Acheel, Cyriakus und Stephanus heiſſen
und auch eher kamen, Casaub' oxercit. ad Ann. Berron.
II
. 10.
*)
Poetii select. disputat. theol. P. 1. p. 918.
*)
Er nennt den Tod und den Staat einen Pflaſterer obwohl
in verſchiedenem Sinn.
*)
So nennt man eine hohe neben dem Mont¬
blanc, i [...] der ein Loch iſt, wodurch man den Himmel ſieht.
Für mich iſt's eine ſanfte Phantaſie mir n [...]ben dem höch¬
ſten Berg, der ſo viel Himmel als Erde i [...]n [...]t, einen klei¬
nern vorzuſtellen, der ſich in eine kleine A [...]sſicht au [...]thut,
die unſerem Auge eine bla [...]e Perſpektive reicht, aus der
unſere Hofnung die Wölbung des Himmels bauet.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn6n.0