GEBURT DER TRAGÖDIE
AUS DEM
GEISTE DER MUSIK.
VERLAG VON E. W. FRITZSCH.
1872.
Das Uebersetzungsrecht ist vorbehalten.
VORWORT AN RICHARD WAGNER.
Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten,
Aufregungen und Missverständnisse ferne zu halten,
zu denen die in dieser Schrift vereinigten Gedanken
bei dem eigenthümlichen Charakter unserer ästhe¬
tischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um
auch die Einleitungsworte zu derselben mit der glei¬
chen beschaulichen Wonne schreiben zu können, deren
Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter und er¬
hebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegen¬
wärtige ich mir den Augenblick, in dem Sie, mein
hochverehrter Freund, diese Schrift empfangen wer¬
den: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen Wan¬
derung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus
auf dem Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen
und sofort überzeugt sind, dass, mag in dieser Schrift
stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes
und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er,
bei allem, was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit
einem Gegenwärtigen verkehrte und nur etwas dieser
Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte.
Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher
[—IV—] Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethoven
entstand, das heisst in den Schrecken und Erhaben¬
heiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu die¬
sen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen
irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Ge¬
gensatz von patriotischer Erregung und ästhetischer
Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel
denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem
wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen
deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen
Problem wir zu thun haben, das von uns recht
eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als
einen »Wirbel ihres Seins«, hingestellt wird. Viel¬
leicht aber wird es für eben dieselben überhaupt an¬
stössig sein, ein ästhetisches Problem so ernst zu
nehmen, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr
als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu
missendes Schellengeklingel zum »Ernst des Daseins«
zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand wüsste,
was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem sol¬
chen »Ernste des Daseins« auf sich habe. Diesen
Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der
Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich
metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne
des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem
erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift
gewidmet haben will.
I.
Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen
haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern
zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind,
dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des
Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher
Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter,
bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender
Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den
Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬
anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬
nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo
und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der
griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene
Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt
mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes
zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬
nischen »Willens«, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬
werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.
Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken
wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des
Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen
Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem
Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 1[—2—] Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius,
die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen,
im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Glieder¬
bau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der helle¬
nische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich
Hebbels mit diesen Worten ausspricht:
Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung
jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller
bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wich¬
tigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren
Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es
giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höch¬
sten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch
die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens
ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität,
ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizu¬
bringen hätte. Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört,
beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in
denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt.
Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die an¬
genehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener All¬
verständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe,
Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Necke¬
reien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die
ganze »göttliche Komödie« des Lebens, mit dem Inferno,
zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn
wir leben und leiden mit in diesen Scenen — und doch auch
nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins: ja ich
[—3—] erinnere mich, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des
Traumes mir mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen
zu haben: »Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!«
Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Cau¬
salität eines und desselben Traumes über drei und mehr
aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren:
als welche Thatsachen deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass
unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns
allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den
Traum an sich erfährt.
Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist
gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt
worden: Apollo als der Gott der Traumesvorstellungen ist
zugleich der wahrsagende und künstlerische Gott. Er, der
seiner Wurzel nach der »Scheinende«, die Lichtgottheit ist,
beherrscht auch den schönen Schein der Traumwelt. Die
höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im
Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklich¬
keit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und
Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das sym¬
bolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und über¬
haupt der Kunst, durch die das Leben lebenswerth und die
Zukunft zur Gegenwart gemacht wird. Aber auch jene zarte
Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht
pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein nicht nur
täuschen, sondern betrügen würde — darf nicht im Bilde
des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit
von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des
Bildnergottes. Sein Auge muss »sonnenhaft«, gemäss seinem
Ursprunge, sein; auch wenn es zürnt und unmuthig blickt,
liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und so
möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten,
was unser grosser Schopenhauer von dem im Schleier der
1*[—4—] Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vor¬
stellung I S. 416: »Wie auf dem tobenden Meere, das,
nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt
und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen
Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von
Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend
auf das principium individuationis«. Ja es wäre von Apollo
zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes
principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen
seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man
möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des prin¬
cipii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und
Blicken die ganze Lust und Weisheit des »Scheines«, sammt
seiner Schönheit, zu uns spräche.
An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure
Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er
plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird,
indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestal¬
tungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu
diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen,
die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur
emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des
Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss
des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen
Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem
gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen
des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren
Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin¬
schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter
der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren,
singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct¬
[—5—] Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen
Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Klein¬
asien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen.
Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie
von »Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Gefühl
der eigenen Gesundheit abzuwenden: man giebt damit eben
zu verstehen, dass man »gesund« ist, und dass die an einem
Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte,
erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres
flüchten, wenn so ein gesunder »Meister Zettel« plötzlich
vor ihnen erscheint.
Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht
nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen:
auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert
wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem
Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und fried¬
fertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit
Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus über¬
schüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.
Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der »Freude«
in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht
zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken:
so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der
Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feind¬
seligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder »freche Mode«
zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem
Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem
Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, son¬
dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und
nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen
herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch
als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen
und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend
[—6—] in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die
Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde
Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬
natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so
verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬
deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬
werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur
höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich
hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon,
der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der
Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬
künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: »Ihr stürzt nie¬
der, Millionen!«
2.
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬
satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet,
die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen
Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe
zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die
Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden
Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬
lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬
volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,
sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine
mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬
mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder
Künstler »Nachahmer«, und zwar entweder apollinischer
Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬
lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie —
zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir
uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen
[—7—] Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und
abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie
sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein
eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde
der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.
Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegen¬
überstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu
erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene
Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind:
wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss
des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach
dem aristotelischen Ausdrucke, »die Nachahmung der Natur«
tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der
Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahl¬
reichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch
mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich
bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges,
sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man
sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Später¬
geborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität
der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren
besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen,
deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich
wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende
Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu be¬
zeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne
Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu
vergleichen wagt.
Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu
sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll,
welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Bar¬
baren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — um die
neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon
[—8—] können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren
Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen
verhält, wie der bärtige bocksbeinige Satyr zu Dionysus
selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer
überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wel¬
len über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen
hinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur
wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung
von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigent¬
liche »Hexentrank« erschienen ist. Gegen die fieberhaften
Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und
Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine
Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in
seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo,
der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegen¬
halten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten diony¬
sischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene maje¬
stätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Be¬
denklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand,
als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus
sich ähnliche Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkte sich
das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen
Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöh¬
nung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen.
Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Ge¬
schichte des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die
Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Ver¬
söhnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von
jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer
Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die
Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem
Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offen¬
barte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen baby¬
[—9—] Ionischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum
Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen
die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen.
Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel,
erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individua¬
tionis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexen¬
trank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft:
nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affec¬
ten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn — wie
Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern —‚ jene Erscheinung,
dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust
qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der
Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über
einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen
bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor,
als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen
habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwie¬
fach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische
Welt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte
ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn
die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war
sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des
Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apolli¬
nischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo
war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeu¬
teten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam
ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das
den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik
überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones
und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im
dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten
Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt;
etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver¬
[—10—] nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der
Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur
symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist
nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die
Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern
die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.
Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der
Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich unge¬
stüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen
Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe
der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften
sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Diony¬
susdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!
Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf
ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war,
als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles
doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches
Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor
ihm verdecke.
3.
Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Ge¬
bäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein
abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es be¬
gründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen
olympischen Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses
Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden
Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn
unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit
neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung,
so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe
Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene
[—11—] ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf
uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das
ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft
olympischer Wesen entsprang?
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese
Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heilig¬
keit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen
Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und ent¬
täuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert
nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein
üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vor¬
handene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.
Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phan¬
tastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fra¬
gen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen
Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin
sie sehen, Helena, das »in süsser Sinnlichkeit schwebende«
Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem
bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber
zurufen: »Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was
die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aus¬
sagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir
ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass König Midas lange
Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im
Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich
in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den
Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr
und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den
König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese
Worte ausbricht: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin¬
der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was
nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Aller¬
beste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu
[—12—] sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist
für dich — bald zu sterben«.
Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische
Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolter¬
ten Märtyrers zu seinen Peinigungen.
Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬
berg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und
empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins:
um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die
glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes un¬
geheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur,
jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira,
jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes
Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch
der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gor¬
gonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Wald¬
gottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die
schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind — wurde
von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der
Olympier überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick
entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese
Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang
wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprüng¬
lichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen
apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die
olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde:
wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie
anders hätte jenes unendlich sensible, zum Leiden so einzig
befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht
dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen
Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst
in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergän¬
zung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische
[—13—] Welt entstehn, in der sich der hellenische »Wille« einen
verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter
das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein
genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnen¬
scheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe
empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen
Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem
auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen,
mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, »das
Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweit¬
schlimmste, überhaupt einmal zu sterben«. Wenn die Klage
einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden
Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des
Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit.
Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem
Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So
ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der »Wille«
nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische
Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede
wird.
Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von
den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie,
ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das
Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so
einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeid¬
licher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als
einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies
konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich
auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil ge¬
funden zu haben wähnte. Wo uns das »Naive« in der Kunst
begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen
Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich
[—14—] zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige
Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine
schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Lei¬
densfähigkeit Sieger geworden sein muss. Ach, wie selten
wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schön¬
heit des Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben
ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner, zu jener apolli¬
nischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler
zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt.
Die homerische »Naivetät« ist nur als der vollkommene Sieg
der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche
Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten,
so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahn¬
bild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und
jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den
Griechen wollte der »Wille« sich selbst, in der Verklärung des
Genius und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherr¬
lichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichens¬
werth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre
wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung
als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre
der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen,
sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der helle¬
nische »Wille« gegen das dem künstlerischen correlative Talent
zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal
seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler.
4.
Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traum¬
analogie einige Belehrung. Wenn wir uns den Träumenden
vergegenwärtigen, wie er, mitten in der Illusion der Traum¬
welt und ohne sie zu stören, sich zuruft: »es ist ein Traum,
[—15—] ich will ihn weiter träumen«, wenn wir hieraus auf eine tiefe
innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn
wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am
Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreckliche
Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: so dürfen wir
uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise unter
der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So
gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen
und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich
bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein
gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine
einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unsers
Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegen¬
gesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr
ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und
in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöst¬
werden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle
ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass
das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende
und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den
lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: wel¬
chen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm be¬
stehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fort¬
währendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen
Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind.
Sehen wir also einmal von unsrer eignen »Realität« für einen
Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie
das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte
Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als
der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befrie¬
digung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus
diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene
unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem
[—16—] naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur »Schein des Scheins«
ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen »Naiven«, hat
uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren
des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers
und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner
Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem be¬
sessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos
geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Ur¬
schmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der »Schein« ist
hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der
Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer
Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der
jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuch¬
tendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus
weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in
höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und
ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor
unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegen¬
seitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als
die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in
dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er¬
lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit
erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig
ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der er¬
lösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen
versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten
des Meeres, sitze.
Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie
überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht
wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung
der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen
Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den
Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,
[—17—] Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Noth¬
wendigkeit der Schönheit die Forderung des »Erkenne dich
selbst« und des »Nicht zu viel!« her, während Selbstüber¬
hebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dä¬
monen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften
der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der
ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet
wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen
musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner
übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx
löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von
Unthaten stürzen: so interpretirte der delphische Gott die
griechische Vergangenheit.
»Titanenhaft« und »barbarisch« dünkte dem apollinischen
Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte:
ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch
zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und
Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden:
sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte
auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er¬
kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt
wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus
leben! Das »Titanische« und das »Barbarische« war zuletzt
eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische! Und
nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die
Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der eksta¬
tische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauber¬
weisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der
Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdrin¬
genden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem
dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende
Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang,
bedeuten konnte! Die Musen der Künste des »Scheins«
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 2[—18—] verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die
Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe!
aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all
seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstver¬
gessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die
apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als
Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene
Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus.
Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang,
das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so
gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten
wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes
starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag näm¬
lich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als
ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären:
nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch¬
barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzig-spröde, mit
Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und
herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staats¬
wesen von längerer Dauer sein.
Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden,
was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das
Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden
Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen
beherrscht haben: wie aus dem »erzenen« Zeitalter, mit
seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie,
sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes,
die homerische Welt entwickelt, wie diese »naive« Herrlich¬
keit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen
verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich
das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere helle¬
nische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien,
[—19—] in vier grosse Kunstperioden zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt,
weiter nach dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens
zu fragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die
der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunst¬
triebe gelten sollte: und hier bietet sich unseren Blicken das
erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie
und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel
beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss, nach lan¬
gem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde —
das zugleich Antigone und Kassandra ist — verherrlicht hat.
5.
Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Unter¬
suchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen
Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungs¬
volle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier
fragen wir nun zuerst, wo jener springende Lebenspunkt sich
zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, der sich
nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus
steigert. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich
Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der
griechischen Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken,
Gemmen u. s. w. neben einander stellt, in der sicheren Em¬
pfindung, dass nur diese Beiden gleich völlig originalen Na¬
turen, von denen aus ein Feuerstrom auf die gesammte
griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer,
der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apol¬
linischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend den leiden¬
schaftlichen Kopf des wild durch's Dasein getriebenen krie¬
gerischen Musendieners Archilochus: und die neuere Aesthetik
wusste nur deutend hinzuzufügen, dass hier dem »objectiven«
2*[—20—] Künstler der erste »subjective« entgegengestellt sei. Uns ist
mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven
Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art
und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des
Subjectiven, Erlösung vom »Ich« und Stillschweigen jedes
individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Ob¬
jectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die
geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können.
Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie
der »Lyriker« als Künstler möglich ist: er, der, nach der
Erfahrung aller Zeiten, immer »ich« sagt und die ganze chro¬
matische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen
vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns,
neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes,
durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der
erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche
Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm,
dem Dichter, gerade auch das delphiſche Orakel, der Herd
der »objectiven« Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen
erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch
eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende
psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich
als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens
nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität
der Gedanken, vor ſich und in ſich gehabt zu haben, sondern
vielmehr eine musikalische Stimmung (»Die Empfindung ist
bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand;
dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische
Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir
erst die poetische Idee«). Nehmen wir jetzt das wichtigste
Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als
natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit
[—21—] dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein
Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf
Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,
uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst,
als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem
Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das
Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung
der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben;
jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬
nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬
wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein
des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine,
erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss
oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits
in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm
jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine
Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt
der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das »Ich« des Lyrikers
tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine »Subjectivität«
im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn
Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende
Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬
kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die
vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus
und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer
Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬
pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬
trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn
heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬
musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬
sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer
höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben
heissen.
[—22—]
Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist
in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬
sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz
und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus
dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande
eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz
andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene
Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬
nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬
hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten
Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des
zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden
Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst — so
dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬
werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬
schützt ist —. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts
als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen
von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt
»ich« sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie
die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬
zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der
Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische
Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun
denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch
sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein »Subject«, das
ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬
kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen;
wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit
ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere
von sich selbst jenes Wörtchen »ich« spräche, so wird uns
jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬
dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬
jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬
[—23—] lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende
Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr
Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz
in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch
ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende
Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein
kann. Es ist aber gar nicht nöthig. dass der Lyriker
gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor
sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins: und die Tra¬
gödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers
von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen ent¬
fernen kann.
Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker
für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt
hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht
mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen
Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war,
mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden
konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre
hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das
eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille
und Vorstellung I S. 295) : »Es ist das Subject des Willens,
d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden
füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen Freude),
wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als
Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben die¬
sem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der
umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Sub¬
jects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütter¬
liche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange
des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die
Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigent¬
lich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über¬
[—24—] haupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleich¬
sam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen
und seinem Drange zu erlösen: wir folgen: doch nur auf
Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die
Erinnerung an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen
Beschauung: aber auch immer wieder entlockt uns dem
Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die
reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im
Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persön¬
liche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich
darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander:
es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imagi¬
nirt; die subjective Stimmung, die Affection des Willens,
theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener
ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten
und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der
Abdruck«.
Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass
hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam
im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charak¬
terisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren Wesen darin be¬
stehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h.
der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam
durch einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass
der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser
auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Sub¬
jectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik
ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoi¬
stischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht
als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber
das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem indivi¬
duellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch
das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Er¬
[—25—] lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem,
zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass
die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer
Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir
ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind:
wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für
den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische
Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken
unsre höchste Würde haben — denn nur als aesthetisches
Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: —
während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung
kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger
von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist
unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches,
weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und iden¬
tisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer
jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur so¬
weit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit
jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über
das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er,
wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens
gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann;
jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter,
Acteur und Zuschauer.
6.
Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte,
dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und
dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben
Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegen¬
satz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das
perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und
[—26—] des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich
erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde
Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener
künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger
Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgia¬
stischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik ver¬
ewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie
jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf
das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden
ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des
Volksliedes zu betrachten haben.
Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musika¬
lischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt
eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich¬
tung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine,
das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren
Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem
wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des
Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar
immer wieder von Neuem: nichts Anderes will uns die Stro¬
phenform des Volksliedes sagen : welches Phänomen ich immer
mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklä¬
rung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des
Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird
unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende
Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Bunt¬
heit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen
eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen
wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos
ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik
einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen
epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des
Terpander gethan.
[—27—]
In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die
Sprache auf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuah¬
men: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der
Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde wider¬
spricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältniss
zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das
Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen
Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich.
In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des
griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je¬
nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder
die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über
die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau's,
des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Be¬
deutung dieses Gegensatzes zu begreifen: ja es wird Einem
dabei handgreiflich deutlich, dass inzwischen (zwischen Homer
und Pindar) die orgiastischen Flötenweisen des Olympus er¬
klungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles,
inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner
Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen
Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen
Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere
hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dün¬
kendes Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immer
wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die einzelnen
Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine
Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück
erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja wider¬
sprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren
armen Witz zu üben und das doch wahrlich erklärenswerthe
Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik.
Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Compo¬
sition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pasto¬
[—28—] rale und einen Satz als »Scene am Bach«, einen anderen
als »lustiges Zusammensein der Landleute« bezeichnet, so
sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne
Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegen¬
stände der Musik — Vorstellungen, die über den dionysischen
Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können,
ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern
haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern
haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpfe¬
rische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kom¬
men, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das
ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nach¬
ahmung der Musik aufgeregt wird.
Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende
Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten,
so können wir jetzt fragen: »als was erscheint die Musik im
Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?« Sie erscheint als
Wille, das Wort im Schopenhauer'schen Sinne genommen,
d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen
willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf
als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erschei¬
nung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich
Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der
Kunst zu bannen wäre — denn der Wille ist das an sich
Unästhetische —; aber sie erscheint als Wille. Denn um
ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker
alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung
bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apolli¬
nischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die
ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende,
Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern
deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apolli¬
nischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das
[—29—] Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender
und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch
dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild
im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen,
Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem
er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬
kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch
das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von
der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.
Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik
eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik
selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den
Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.
Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht
in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits
in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der
Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache
auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf
den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen
symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle
Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber
ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die
Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und
nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren,
sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der
Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der
Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬
redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden
kann.
7.
Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir
jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht
zu finden, als welches wir den Ursprung der griechischen
Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes
zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ur¬
sprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, ge¬
schweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen
der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander
genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueber¬
lieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tra¬
gödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprüng¬
lich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Ver¬
pflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigent¬
lichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläu¬
figen Kunstredensarten — dass er der idealische Zuschauer
sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der
Scene zu bedeuten habe — irgendwie genügen zu lassen.
Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende
Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittenge¬
setz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore
dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitungen
und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht be¬
halte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles
nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tra¬
gödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ur¬
sprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz
jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir
möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische
Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie
erachten, hier von der Ahnung einer »constitutionellen Volks¬
[—31—] vertretung« zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht
zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung
kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und
haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal
»geahnt«.
Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors
ist der Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor ge¬
wissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauer¬
menge, als den »idealischen Zuschauer« zu betrachten an¬
empfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener histo¬
rischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie nur
Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe
unwissenschaftliche doch glänzende Behauptung, die ihren
Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks,
durch die echt germanische Voreingenommenheit für Alles,
was »idealisch« genannt wird und durch unser momentanes
Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich erstaunt, sobald
wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore
vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus
diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges
herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern
uns jetzt eben so über die Kühnheit der Schlegel'schen Be¬
hauptung wie über die total verschiedene Natur des griechi¬
schen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer gemeint,
dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer
bewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben,
nicht eine empirische Realität: während der tragische Chor
der Griechen in den Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen
zu erkennen genöthigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirk¬
lich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und hält sich
selbst für eben so real wie den Gott der Scene. Und das
sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich
den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und
[—32—] real zu halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen
Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen
Martern zu befreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publi¬
cum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so be¬
fähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk
als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns
der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische
Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern
leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese
Griechen! seufzten wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um!
Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen
Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier
gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die
primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer
Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das
für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers
herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der »Zu¬
schauer an sich« zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schau¬
spiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die
Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der
sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des
schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies
Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten
auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung
des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede
zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine
lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum
zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und
sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den ge¬
meinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen
[—33—] Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst
auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur
eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen
Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Gan¬
zen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische
Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die
Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit
dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der
Krieg erklärt sei. — Eine solche Betrachtungsart ist es,
scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter
das wegwerfende Schlagwort »Pseudoidealismus« gebraucht.
Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung
des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealis¬
mus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfiguren¬
cabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei
gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man
uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der
Schiller-Goethesche »Pseudoidealismus« überwunden sei.
Freilich ist es ein »idealer« Boden, auf dem, nach der
richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der
Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein
Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn
der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die
Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und
auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist
auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon
deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der
Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine
willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt;
vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdig¬
keit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläu¬
bigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische
Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 3[—34—] unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit
ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische
Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so be¬
fremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der
Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen
Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung
hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu
dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die
dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Ri¬
chard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde
wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise,
glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im An¬
gesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste
Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und
die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und
Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, wel¬
ches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische
Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns
jede wahre Tragödie entlässt — dass das Leben im Grunde
der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzer¬
störbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in
leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Natur¬
wesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar
leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der
Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.
Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum
zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene,
der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Ver¬
nichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so
wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Ge¬
fahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des
Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die
Kunst rettet ihn sich — das Leben.
[—35—]
Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner
Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des
Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches
Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit
Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der
Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel
als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende
Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne
hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide
haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge
gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln;
denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der
Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmach¬
voll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den
Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das
Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion — das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile
Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Re¬
flexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten
nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! —
die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte
Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv,
bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt
verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt
nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein
wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den
Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der
Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der
Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins,
jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt
erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.
3*[—36—]
Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich,
als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein ver¬
mag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde
des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich
leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische
Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künst¬
lerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor
des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst;
an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften
sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.
8.
Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren
Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und
Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen
unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Wald¬
menschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne
Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden
weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Er¬
kenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch uner¬
brochen sind — das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm
deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegen¬
theil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner
höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer,
den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,
in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheits¬
verkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild
der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche
gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der
Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste er
besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen
Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäfer
[—37—] beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert gross¬
artigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener
Befriedigung: hier war die Illusion der Cultur von dem Ur¬
bilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der
wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte auf¬
jubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügen¬
haften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der
tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine leben¬
dige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er —
der Satyrchor — das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, voll¬
ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität
achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht
ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit
eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der
ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben des¬
halb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit
des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser
eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität
gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem
ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesamm¬
ten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem meta¬
physischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes,
bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin¬
weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem
Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Er¬
scheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen
Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden
Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will
die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft — er sieht
sich zum Satyr verzaubert.
Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die
schwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie
selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich
[—38—] als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken
wähnen. Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die
künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens; bei
der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zu¬
schauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur
muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum
der attischen Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra
wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Pu¬
blicum und Chor gab: denn alles ist nur ein grosser erhabe¬
ner Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von
solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen.
Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen
Sinne erschliessen. Der Chor ist der »idealische Zuschauer«,
insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visions¬
welt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es
kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war
es Jedem, bei dem amphitheatralischen Bau des Zuschauer¬
raumes, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum
ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen
selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser Einsicht dürfen
wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie,
eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen: als
welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des
Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung,
sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahr¬
nehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchor
ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie
wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors
ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den
Eindruck der »Realität«, gegen die rings auf den Sitzreihen
gelagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und unem¬
pfindlich zu machen. Die Form des griechischen Theaters
erinnert an ein einsames Gebirgsthal: die Architektur der
[—39—] Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die
im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus
erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen
das Bild des Dionysus offenbar wird.
Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Er¬
klärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei
unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren
künstlerischen Prozesse, fast anstössig; während nichts aus¬
gemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch
Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor
ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er
hineinblickt. Durch eine eigentümliche Schwäche der mo¬
dernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Ur¬
phänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Me¬
tapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur,
sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle
eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht
etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes,
sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person,
die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das
fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet.
Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dich¬
ter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über
Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein
pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach:
man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel
zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu
leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich
selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen
herauszureden, so ist man Dramatiker.
Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen
Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von
einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie
[—40—] sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors
ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich ver¬
wandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich
in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen
wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung
des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der
mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler
ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist
bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine
fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen endemisch
auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert.
Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen
Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor¬
beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo
ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie
sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyram¬
bische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre
bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig ver¬
gessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesell¬
schaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle
andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steige¬
rung des apollinischen Einzelsängers: während im Dithyramb
eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht,
die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen.
Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller drama¬
tischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der diony¬
sische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut
er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue
Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustan¬
des. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.
Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tra¬
gödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer
von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.
[—41—] Jene Chorpartieen, mit denen die Tragödie durchflochten ist,
sind also gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen soge¬
nannten Dialogs d. h. der gesammten Bühnenwelt, des
eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden
Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision
des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und inso¬
fern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation
eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung
im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des In¬
dividuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt.
Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung diony¬
sischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch
eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.
Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol der
gesammten dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer
Auffassung seine volle Erklärung. Während wir, mit der
Gewöhnung an die Stellung eines Chors auf der modernen
Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten,
wie jener tragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher,
ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche »Action«, — wie
dies doch so deutlich überliefert war — während wir wiederum
mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und Ursprünglich¬
keit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen
dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksbeinigen Satyrn
zusammengesetzt worden sei, während uns die Orchestra vor
der Scene immer ein Räthsel blieb, sind wir jetzt zu der
Einsicht gekommen, dass die Scene sammt der Action im
Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, dass
die einzige »Realität« eben der Chor ist, der die Vision aus
sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes,
des Tones und des Wortes redet. Dieser Chor schaut in
seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus und ist
darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie dieser, der Gott,
[—42—] leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht.
Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung
ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der
Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬
kel- und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich
der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬
dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig
scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der
zugleich »der tumbe Mensch« im Gegensatz zum Gotte ist:
Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬
selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst:
Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der
Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬
lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie,
nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden
vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur »Chor«
und nicht »Drama«. Später wird nun der Versuch gemacht,
den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt
sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar
darzustellen: damit beginnt das »Drama« im engeren Sinne.
Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die
Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬
regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬
scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen,
sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene
Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen
seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und
ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend —
wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬
des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken
wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches
Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — so haben wir
[—43—] ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch
erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah,
mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwill¬
kürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde
Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Re¬
alität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies
ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des
Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, ver¬
ständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher,
in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert.
Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durch¬
greifenden Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit,
Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des
Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der
Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus ein¬
ander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Di¬
onysus objectivirt, sind nicht mehr »ein ewiges Meer, ein
wechselnd Weben, ein glühend Leben«, wie es die Musik
des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum
Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysus¬
diener die Nähe des Gottes spürt: jetzt spricht, von der
Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Ge¬
staltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte,
sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.
9.
Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬
gödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach,
durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein
Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart,
weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich
in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth.
[—44—] So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden
durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass
wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken
wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem
Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf
die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter
des Helden ab — der im Grunde nichts mehr ist als das auf
eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung
durch und durch — dringen wir vielmehr in den Mythus
ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben
wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss
zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem
kräftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns ge¬
blendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleich¬
sam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene
Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das
Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes
in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende
Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten
Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernst¬
haften und bedeutenden Begriff der »griechischen Heiterkeit«
richtig zu fassen; während wir allerdings den falsch ver¬
standenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten
Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen.
Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der un¬
glückselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch
verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz
seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein
ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich
ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist.
Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter
sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch
[—45—] dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirk¬
ungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der um¬
gestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern
er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er
uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den
der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Ver¬
derben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen
Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener
Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauder¬
haften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze
abbricht. Im »Oedipus auf Kolonos« treffen wir diese selbe
Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben:
dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen¬
über, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge¬
geben ist — steht die überirdische Heiterkeit, die aus gött¬
licher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der
traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste
Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift,
während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren
Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für
das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten
der Oedipusfabel langsam entwirrt — und die tiefste mensch¬
liche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück
der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter
gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt
werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist: und
hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts
ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick
in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der
Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der
Räthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle
Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, be¬
sonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur
[—46—] aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick
auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,
sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬
sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬
kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der
eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure
Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache voraus¬
gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum
Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,
dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬
liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬
heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das
Räthsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx — löst,
muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die
heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint
uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die
dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,
welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der
Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der
Natur zu erfahren habe. »Die Spitze der Weisheit kehrt
sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der
Natur«: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu:
der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl
die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus,
so dass er plötzlich zu tönen beginnt — in sophokleischen
Melodieen!
Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der
Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus
umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen
hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges
Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe
in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen
gewusst:
[—47—]
Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich
selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm
zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die
Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.
Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem
Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmig¬
keit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtig¬
keit: das unermessliche Leid des kühnen »Einzelnen« auf
der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer
Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum
metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidens¬
welten — dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittel¬
punkt und Hauptsatz der äschyleischen Weltbetrachtung, die
über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtig¬
keit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit
der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeits¬
wagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der
tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des
metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass
sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen
entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere
empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl
wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des
Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler
fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und
olympische Götter wenigstens vernichten zu können: und
dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges
[—48—] Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche »Können«
des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering
bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers — das ist Inhalt
und Seele der äschyleischen Dichtung, während Sophokles
in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen präludirend
anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus
dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckens¬
tiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künst¬
lers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen
Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich
auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Pro¬
metheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten
arischen Völkergemeinde und ein Document für deren Be¬
gabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne
Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische
Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt,
die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass
zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert,
wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung
jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den
eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren
Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch
frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Ge¬
schenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmen¬
den Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen
Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen
Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem
einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch
und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die
Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die
Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen
Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen,
nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen,
[—49—] mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende
Menschengeschlecht heimsuchen — müssen: ein herber Ge¬
danke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt,
seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht,
in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung,
die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬
nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels
angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬
zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als
der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der
ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden
ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und
zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬
wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge — das
der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln —, der
Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein
Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen
und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im
Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre
Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange
des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den
Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Welt¬
wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den
Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬
det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den
Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der
Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen
wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:
Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht —
nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 4[—50—] Nothwendigkeit des Frevels — der muss auch zugleich das
Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfinden;
denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe
bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er
immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit
seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses
erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die
Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre,
damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre
Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des
ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die
hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die
der einseitig apollinische »Wille« das Hellenenthum zu bannen
suchte. Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen
nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen
auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Ti¬
tan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam der
Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem Rücken
höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Ge¬
meinsame zwischen dem Prometheischen und dem Diony¬
sischen. Der äschyleische Prometheus ist in diesem Betracht
eine dionysische Maske, während in jenem vorhin erwähnten
tiefen Zuge nach Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche
Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und
der Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verräth. Und
so möchte das Doppelwesen des äschyleischen Prometheus,
seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begriff¬
licher Formel so ausgedrückt werden können: »Alles Vor¬
handene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich
berechtigt«.
Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! —
[—51—]10.
Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die grie¬
chische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des
Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit
hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war.
Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass
niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tra¬
gische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren
der griechischen Bühne Prometheus Oedipus u. s. w. nur
Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass
hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der
eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische
»Idealität« jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht
wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch
und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, dass
die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne
nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfun¬
den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung
und Werthabschätzung der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«,
zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um
uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von
den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu
reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer
Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Hel¬
den und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt.
So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt
er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass
er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deut¬
lichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo,
der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich¬
4 *[—52—] nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener
Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden
der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wunder¬
volle Myten herzählen, wie er als Knabe von den Titanen
zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als
Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese
Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer
Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass
wir also den Zustand der Individuation als den Quell und
Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu
betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind
die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen
entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat
Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dä¬
mons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff¬
nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des
Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungs¬
voll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus
erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur
in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem
Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt:
wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte De¬
meter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut,
als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal ge¬
bären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits
alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Welt¬
betrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tra¬
gödie zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles
Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des
Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als
die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation
zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten
Einheit. —
[—53—]
Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische
Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie
ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes
gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der
tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von
Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass
inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen
Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Pro¬
metheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt,
dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls
er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In
Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor
seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird
das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem
Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und
nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der ho¬
merischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit
an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge
dieser Göttin — bis sie die mächtige Faust des dionysischen
Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die
dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des
Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese
theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den
geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer
unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies,
die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den My¬
thus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies
ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der
Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den
Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpre¬
tiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der
Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist
das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb¬
[—54—] lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend
einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen
Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren
bereits völlig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugend¬
traum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragma¬
tische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die
Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die
mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen,
verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus
als eine fertige Summe von historischen Ereignissen syste¬
matisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdig¬
keit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche
Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben,
wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine
Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen
tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neuge¬
borne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand
blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie ge¬
zeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer
metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglän¬
zen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald
haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den
von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten
Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem
tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal
erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze
Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des
Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen
Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen
Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen
suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und
jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus,
[—55—] der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke
nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus
starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du
auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern,
auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas¬
kirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess
dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager
auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für
die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht
— auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte
Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte
Reden.
11.
Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen
als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb
durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also
tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten
und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich
einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner
Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden,
so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen
solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter,
und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer
Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das
Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen
entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere;
wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an
einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten
»der grosse Pan ist todt«: so klang es jetzt wie ein schmerz¬
licher Klageton durch die hellenische Welt: »die Tragödie
ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen!
[—56—] Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen!
Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen
der vormaligen Meister einmal satt essen könnt!«
Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung auf¬
blühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin
verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie aller¬
dings die Züge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene
in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todes¬
kampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunst¬
gattung ist als neuere attische Komödie bekannt. In ihr lebte
die entartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres
überaus mühseligen und gewaltsamen Hinscheidens.
Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zu¬
neigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie
zu Euripides empfanden; so dass der Wunsch des Philemon
nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen
mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen
zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte,
dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will
man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit
etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was
Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was
für jene so aufregend vorbildlich wirkte: so genügt es zu
sagen, dass der Zuschauer von Euripides auf die Bühne ge¬
bracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe
die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten
und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der
Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über
die gänzlich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren
sein. Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn
aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem
früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen,
zeigte jetzt eine peinliche Treue, die auch die misslungenen
[—57—] Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der
typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den
Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab,
der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im
Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides
sich in den aristophanischen »Fröschen« zum Verdienst anrech¬
net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von
ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem
an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen
sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf
der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut
zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht:
man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt
er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn
jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬
cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu
ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬
lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich
gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr,
wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf
der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit,
auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute,
kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der
Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der
Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt
der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie
er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben
dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei.
Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter
Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w.,
so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem
Volke eingeimpften Weisheit.
An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte
[—58—] sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides
gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal
der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald
dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war,
erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die
neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬
heit und Verschlagenheit. Euripides aber — der Chorlehrer —
wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet
haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht
gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien
wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben
an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben
an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an
eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift
»als Greis leichtsinnig und grillig« gilt auch vom greisen
Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn,
die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand,
der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach,
jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von
»griechischer Heiterkeit« die Rede sein darf, so ist es die
Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten,
nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬
tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser
Schein der »griechischen Heiterkeit« war es, der die tief¬
sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte
des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische
Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬
genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich,
sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und
ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬
derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums
mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬
farbe festhielt — als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit
[—59—] seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pytha¬
goras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke
der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch —
jedes für sich — aus dem Boden einer solchen greisenhaften
und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu
erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als
ihren Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zu¬
schauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den
Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu be¬
fähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische
Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht heraus¬
gekommen sei: und man möchte versucht sein, die radicale
Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen
Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt
über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist »Publicum«
nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich
verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Ver¬
pflichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die
ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner
Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen
dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem ge¬
meinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capaci¬
täten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ höchst
begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechi¬
scher Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenug¬
samkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch be¬
handelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die
Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner
eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben
Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn
dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium
des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen¬
[—60—] schlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Lauf¬
bahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung,
dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die
Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsfähig
zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach
einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben.
Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und
Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im
Vollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesen Vor¬
gängern des Euripides keineswegs von einem Missverhältniss
zwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Was
trieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffen ge¬
drängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über
dem die Sonne der grössten Dichternamen und der unbe¬
wölkte Himmel der Volksgunst leuchteten? Welche sonder¬
bare Rücksicht auf den Zuschauer führte ihn dem Zuschauer
entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung vor seinem
Publicum — sein Publicum missachten?
Euripides fühlte sich — das ist die Lösung des eben
dargestellten Räthsels — als Dichter wohl über die Masse,
nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben: die Masse
brachte er auf die Bühne, jene beiden Zuschauer verehrte
er als die allein urtheilsfähigen Richter und Meister aller
seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend
übertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leiden¬
schaften und Zuständen, die bis jetzt auf den Zuschauer¬
bänken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich
einstellten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihren Forder¬
ungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktere auch das
neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen
allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens
eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von
der Justiz des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah.
[—61—]
Von diesen beiden Zuschauern ist der eine — Euripides
selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm
könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines
kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv
künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fort¬
während befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller
Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte
Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den
Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkel¬
gewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wieder¬
zuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in
die tieferen Geheimnisse der äschyleischen Tragödie Einge¬
weihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas In¬
commensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine ge¬
wisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthsel¬
hafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste
Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der
in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe
Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal über der
Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die
Lösung der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Be¬
handlung der Mythen! Wie ungleichmässig die Vertheilung
von Glück und Unglück! Selbst in der Sprache der älteren
Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft;
besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse,
zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit
der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater,
und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen
Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als
die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so
musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand
so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität
eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Ein¬
[—62—] zelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn; erklären
aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und Ein¬
wendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte
seien. Und in diesem qualvollen Zustande fand er den an¬
deren Zuschauer, der die Tragödie nicht begriff und deshalb
nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte er es wagen,
aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren Kampf
gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu be¬
ginnen — nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer
Dichter, der seine Vorstellung von der Tragödie der über¬
lieferten entgegenstellt. —
12.
Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen,
verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen früher
geschilderten Eindruck des Zwiespältigen und Incommen¬
surabeln im Wesen der äschyleischen Tragödie selbst in's
Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere eigene
Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener
Tragödie gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohn¬
heiten ebensowenig wie mit der Ueberlieferung zu reimen
wussten — bis wir jene Doppelheit selbst als Ursprung und
Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den
Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des
Apollinischen und des Dionysischen.
Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element
aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf un¬
dionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen —
dies ist die jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende
Tendenz des Euripides.
Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage
nach dem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem
[—63—] Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vor¬
gelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn? Ist es
nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten?
Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre:
aber der Gott Dionysos ist zu mächtig; der verständigste
Gegner — wie Pentheus in den »Bacchen« — wird unver¬
muthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser
Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden
Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des
greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten
Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig
fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es ge¬
zieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber minde¬
stens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen:
wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an
einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplo¬
maten — wie hier den Kadmus — schliesslich in einen
Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit
heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus
widerstanden hat — um am Ende desselben mit einer Glorifi¬
cation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf¬
bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um
nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu
entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie
ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach,
und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war ge¬
schehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz
gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne
verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende
dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne
nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht
Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner
Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz:
[—64—] das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk
der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. Mag
nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu trösten
suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt
in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers
und sein Geständniss, dass es der schönste aller Tempel ge¬
wesen sei? Und selbst dass Euripides zur Strafe von den
Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt wor¬
den ist — wen möchte diese erbärmliche Compensation be¬
friedigen?
Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit
der Euripides die äschyleische Tragödie bekämpfte und
besiegte.
Welches Ziel — so müssen wir uns jetzt fragen —
konnte die euripideische Absicht, das Drama allein auf das
Undionysische zu gründen, in der höchsten Idealität ihrer
Durchführung überhaupt haben? Welche Form des Drama's
blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem Geburtsschoosse der
Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des Dionysischen
geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos: in
welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische
Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den
Inhalt der dargestellten Ereignisse an; ja ich möchte be¬
haupten, dass es Goethe in seiner projectirten »Nausikaa«
unmöglich gewesen sein würde, den Selbstmord jenes idylli¬
schen Wesens — der den fünften Act ausfüllen sollte —
tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt
des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten
Dinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösung durch
den Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des
dramatisirten Epos kann eben so wenig wie der epische Rhap¬
sode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer
noch ruhig unbewegte aus weiten Augen blickende An¬
[—65—] schauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler
in diesem dramatisirten Epos bleibt im tiefsten Grunde
immer noch Rhapsode; die Weihe des inneren Träumens
liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals ganz
Schauspieler ist.
Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen
Drama's gegenüber das euripideische Stück? Wie der feier¬
liche Rhapsode der alten Zeit zu jenem jüngeren, der sein
Wesen im platonischen »Jon« also beschreibt: »Wenn ich etwas
Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Thränen; ist
aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann
stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge,
und mein Herz klopft«. Hier merken wir nichts mehr von
jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affectlosen
Kühle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner höch¬
sten Thätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist.
Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen,
mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker
entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt
er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch
im Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich
kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbren¬
nen gleich befähigt; es ist ihm unmöglich, die apollinische
Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich
von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat, und
jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht,
die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe,
des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese
Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken — an Stelle
der apollinischen Anschauungen — und feurige Affecte —
an Stelle der dionysischen Entzückungen — und zwar höchst
reale, naturwahre, keineswegs in den Aether der Kunst ge¬
tauchte Gedanken und Affecte.
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 5[—66—]
Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides
überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das
Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische
Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokra¬
tismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz
ungefähr so lautet: »alles muss verständig sein, um schön
zu sein«; als Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der
Wissende ist tugendhaft«. Mit diesem Kanon in der Hand
maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss die¬
sem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen
Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der
sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dich¬
terischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das
ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Pro¬
zesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische
Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität jener ra¬
tionalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik
widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides.
Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des
Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe,
was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes ge¬
schehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als
ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten
auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles,
was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies
wirklich geschieht? — da ja hier keinesfalls das aufregende
Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später ein¬
tretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte
Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf
der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit,
was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf
jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Lei¬
[—67—] denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten
und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur
Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos
vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die
genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert,
ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe
der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch ausrechnen
muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und
jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraus¬
setzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden
und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden
und Mitfürchten noch nicht möglich. Die äschyleisch-sopho¬
kleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel,
um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen
zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in
die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künst¬
lerschaft bewährt, die das nothwendige Formelle gleichsam
maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber
glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten
Scenen der Zuschauer in eigentümlicher Unruhe sei, um das
Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die
dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für
ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor
die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der
man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste häufig
den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen
garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus
nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der
empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche
Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen ver¬
mochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides
noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft
seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die
5*[—68—] Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der
epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch-
lyrische Gegenwart, das eigentliche »Drama«.
So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall
seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm
eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechi¬
schen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-pro¬
ductives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den
Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig
machen, deren erste Worte lauten: »im Anfang war alles
beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung«.
Und wenn Anaxagoras mit seinem »Nous« unter den Philo¬
sophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen er¬
schien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den ande¬
ren Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde be¬
griffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des
Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausge¬
schlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei
beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die
»trunkenen« Dichter als der erste »Nüchterne« verurtheilen.
Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das
Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des
Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass
Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe.
Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen
des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist,
zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des
Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter
nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden
sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unter¬
nahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegen¬
stück des »unverständigen« Dichters der Welt zu zeigen;
sein ästhetischer Grundsatz »alles muss bewusst sein, um
[—69—] schön zu sein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem
sokratischen »alles muss bewusst sein, um gut zu sein«.
Demgemäss darf uns Euripides als der Dichter des ästheti¬
schen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener zweite
Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb
nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der He¬
rold eines neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem
die ältere Tragödie zu Grunde ging, so ist also der ästhe¬
tische Sokratismus das mörderische Princip: insofern aber
der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerich¬
tet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus,
den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und,
obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Ge¬
richtshofs zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott
selbst zur Flucht nöthigt: als welcher, wie damals, als er vor
dem Edonerkönig Lykurgos floh, sich in die Tiefen des
Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die
ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.
13.
Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu
Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht;
und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spür¬
sinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege
dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden
von den Anhängern der »guten alten Zeit« in einem Athem
genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwait
aufzuzählen: von deren Einflusse es abhänge, dass die alte
marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele
immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreiten¬
der Verkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte, zum
[—70—] Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb
mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von
jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren,
welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht
genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste
und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller so¬
phistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei
es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als
einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den
Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen In¬
stincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu
nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des
Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfindung
heraus zu erweisen; in welchem Sinne namentlich daran zu
erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst
sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein
neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den
Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe
Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakel¬
spruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Men¬
schen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem
Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.
Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles ge¬
nannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue
das Rechte und zwar, weil er wisse, was das Rechte sei.
Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens
dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei
»Wissenden« ihrer Zeit auszeichnet.
Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte
Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates,
als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe,
nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung
durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern,
[—71—] Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung
des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle
jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und
sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben.
»Nur aus Instinct«: mit diesem Ausdruck berühren wir Herz
und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm ver¬
urtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie
die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke
richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht
des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche
Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von
diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corri¬
gieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der
Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer
ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt
hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
grössten Glücke rechnen würden.
Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedes¬
mal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer
und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser frag¬
würdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer
ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische
Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus,
als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der
tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden
Anbetung gewiss ist? Welche dämonische Kraft ist es, die
diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen
darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der
Edelsten der Menschheit zurufen muss : »Weh ! Weh ! Du
hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie
stürzt, sie zerfällt!«
Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns
jene wunderbare Erscheinung, die als »Dämonion des Sokrates«
[—72—] bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein unge¬
heurer Verstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen
festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde
göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt,
immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser
gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen
hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei
allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöp¬
ferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und
abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum
Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer — eine wahre Mon¬
strosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon¬
strosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass So¬
krates als der specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre,
in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben
so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive
Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates er¬
scheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich
selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt
er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten
instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung
antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät
und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den plato¬
nischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das unge¬
heure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter
Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie
durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.
Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung
hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit
dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen
Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im
Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden
Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Conflicte
[—73—] war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates
gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung ge¬
boten, die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes,
Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze
weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht ge¬
wesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen.
Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn
ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger
Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode,
durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod. mit jener Ruhe,
mit der er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher
im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen
neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm, auf den Bänken
und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurück¬
bleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träu¬
men. Der ſterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat
sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrün¬
stigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde
niedergeworfen.
14.
Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des
Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie
der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat
— denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die
dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen — was
eigentlich musste es in der »erhabenen und hochgepriesenen«
tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas recht
Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit
Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das
Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen
[—74—] Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche
Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche
einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde,
die äsopische Fabel: und dies geschah gewiss mit jener
lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert
in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der
Poesie singt:
Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal
»die Wahrheit zu sagen«: abgesehen davon, dass sie sich an
den wendet, der »nicht viel Verstand besitzt«, also nicht an
den Philosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu
bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen
Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche dar¬
stellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsam¬
keit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen
Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tra¬
gödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte,
um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber
unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen an¬
kämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes
ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die
Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen
zu drängen.
Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der
in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt
gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zu¬
rückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Noth¬
wendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit
den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen
innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der
[—75—] älteren Kunst zu machen hatte, — dass sie Nachahmung
eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre
als die empirische Welt ist angehöre — durfte vor allem
nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so
sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus
zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende
Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf
einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets
heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die
ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten.
Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich auf¬
gesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excen¬
trischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch
Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwi¬
schen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie
in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Ge¬
setz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat;
auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter
gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des
Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und
metrischen Formen auch das litterarische Bild des »rasenden
Sokrates«, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht
haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn,
auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen
ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammen¬
gedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich
unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die
an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt
sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato
das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des
Roman's: der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel
zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rang¬
ordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr¬
[—76—] hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: näm¬
lich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die
sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst
und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den
Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat
sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides
etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des
Dionysischen in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten.
Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, er¬
innert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden,
der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen ver¬
theidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser
tragisches Mitleiden einzubüssen; denn wer vermöchte das
optimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen,
das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in
kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische
Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre
dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie noth¬
wendig zur Selbstvernichtung treiben muss — bis zum Todes¬
sprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige
sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: »Tugend
ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der
Tugendhafte ist der Glückliche«: in diesen drei Grundformen
des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt
muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss
zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein noth¬
wendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscenden¬
tale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und
frechen Princip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinem
üblichen deus ex machina erniedrigt.
Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen
Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der
[—77—] ganze musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie?
Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende Re¬
miniscenz an den Ursprung der Tragödie; während wir doch
eingesehen haben, dass der Chor nur als Ursache der Tra¬
gödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden kann.
Schon bei Sophokles beginnt jene Verlegenheit in Betreff des
Chors — ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der
dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er
wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung
anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaassen ein,
dass er jetzt fast den Schauspielern coordinirt erscheint, gleich
als ob er aus der Orchestra in die Scene hineingehoben
würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag
auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine
Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition,
welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der
Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen
hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren
Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie
mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die
optimistische Dialektik treibt mit der Geissei ihrer Syllogis¬
men die Musik aus der Tragödie: d. h. sie zerstört das
Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Mani¬
festation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als
sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines
dionysischen Rausches interpretiren lässt.
Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende
antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen
unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht
vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Er¬
scheinung wie die des Sokrates deute: die wir doch nicht
im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine
nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss
[—78—] die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine
Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns
eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der
Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst
nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob
die Geburt eines »künstlerischen Sokrates« überhaupt etwas
in sich Widerspruchsvolles sei.
Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der
Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines
halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters
kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt,
ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe
sagte: »Sokrates, treibe Musik!« Er beruhigt sich bis zu
seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren
sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine
Gottheit ihn an jene »gemeine, populäre Musik« erinnern
werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Ge¬
wissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering
geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dich¬
tet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige äsopische
Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnen¬
den Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte,
es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbaren¬
könig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr
sei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein
Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerschei¬
nung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die
Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich
fragen — ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch so¬
fort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der
Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist
die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supple¬
ment der Wissenschaft?
15.
Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun
ausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf
diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich
einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten,
über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur
Neuschaffung der Kunst — und zwar der Kunst im bereits
metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne — immer wieder
nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Un¬
endlichkeit verbürgt.
Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste
Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen
von Homer bis auf Sokrates überzeugend dargethan war,
musste es uns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern
mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal
sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien ge¬
sucht, weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, schein¬
bar völlig Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötz¬
lich Farbe und Leben zu verlieren schien und zur misslunge¬
nen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte. Und so
bricht immer von Neuem einmal der herzliche Ingrimm gegen
jenes anmaassliche Völkchen hervor, das sich erkühnte, alles
Nichteinheimische für alle Zeiten als »barbarisch« zu bezeichnen:
wer sind jene, fragte man sich, die, obschon sie nur einen
ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte
Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte auf¬
zuweisen haben und sogar mit hässlichen Lastern gekenn¬
zeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unter den
Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der
Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich den
Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen ein¬
[—80—] fach abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid,
Verläumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht
hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und
so schämt und fürchtet man sich vor den Griechen; es sei
denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte und so sich
auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen
unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen
haben, dass aber fast immer Wagen und Pferde von zu ge¬
ringem Stoffe und der Glorie ihrer Führer unangemessen
sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solches Ge¬
spann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit
dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.
Um diese Führerstellung von Sokrates zu erweisen, ge¬
nügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseins¬
form zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen,
über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen
unsre nächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat
ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler,
und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus
und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen,
durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler
bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten
Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Ent¬
hüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der
theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein
höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen,
durch eigne Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine
Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und
um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann müsste es
ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch
gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder
einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstren¬
gung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu
[—81—] durchgraben im Stande sein, welches vor seinen Augen durch
die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass
ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne
Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. Wenn
jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem
directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer
wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei
denn, dass er sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Ge¬
stein zu finden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat
Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen
gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr
selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss der Wissen¬
schaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen,
aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser ver¬
einzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn
nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung,
welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener
unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden
der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche,
und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, son¬
dern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene
metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beige¬
geben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Gren¬
zen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: als auf welche
es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.
Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf
Sokrates hin: so erscheint er uns als der Erste, der an der
Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, son¬
dern — was bei weitem mehr ist — auch sterben konnte:
und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates als des
durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Men¬
schen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der
Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert,
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 6[—82—] nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerecht¬
fertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe
nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den
ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der
Wissenschaft soeben bezeichnete.
Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates,
dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule
nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine
nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten
Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für
jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See
führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben
werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemein¬
sames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja
mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnen¬
systems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der er¬
staunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich ver¬
gegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates
den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Welt¬
geschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese
ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welt¬
tendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erken¬
nens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der
Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in
allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völker¬
wanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt,
dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne
vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste,
wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohns eine
Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer
Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völker¬
mordes aus Mitleid erzeugen könnte — der übrigens überall
in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die
[—83—] Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und
Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pest¬
hauchs erschienen ist.
Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates
das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeich¬
neten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge
dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universal¬
medizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift.
In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen
Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft mensch¬
liche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe,
Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethäti¬
gung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle
anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten
sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopfe¬
rung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeres¬
stille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne
nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nach¬
folgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des
Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet.
Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren
hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die
ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird
von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte,
heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu
vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen.
Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokra¬
tes als der Lehrer einer ganz neuen Form der »griechischen
Heiterkeit« und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen
zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeuti¬
schen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum
Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.
6*[—84—]
Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen
Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an
denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus schei¬
tert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat
unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzu¬
sehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden
könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch
vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche
Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare
starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die
Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und
endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue
Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die,
um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die
Kunst braucht.
Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen er¬
labten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die
uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich
erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkennt¬
niss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umge¬
schlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niede¬
ren Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die
dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie
dies an der Bekämpfung der äschyleischen Tragödie durch
den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde.
Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pfor¬
ten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes »Umschlagen«
zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des
musiktreibenden Sokrates führen? Wird das über das Dasein
gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen
der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter
geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos
barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt »die Gegen¬
[—85—] wart« nennt, in Fetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht
trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Be¬
schaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren
Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber
dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen
muss!
16.
An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir
klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Ent¬
schwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde
geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.
Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und anderer¬
seits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen,
müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen
der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein
in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen
der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tra¬
gischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer
jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen
den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder
Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten
und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss
um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B.
allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen
üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohl¬
riechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten
Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und meine
damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft,
mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen
auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir
eine Wiedergeburt der Tragödie — und welche andere
[—86—] selige Hoffnungen für das deutsche Wesen ! — zu verbürgen
scheinen.
Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen,
hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten
Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen, welche be¬
flissen sind, die Künste aus einem einzigen Princip, als dem
nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, halte
ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der
Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in
ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier
in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschie¬
denen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als der verklärende
Genius des principii individuationis, durch den allein die Er¬
lösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter
dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Indi¬
viduation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des
Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser
ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen
Kunst als der apollinischen und der Musik als der diony¬
sischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen
Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst
ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der
Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen
anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle,
Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des
Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt
das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich
darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung
I p. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik,
mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik
erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer
ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im
»Beethoven« feststellt, dass die Musik nach ganz anderen
[—87—] ästhetischen Principien als alle bildenden Künste und über¬
haupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen
sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer miss¬
leiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen
Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe,
von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken
der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des
Gefallens an schönen Formen. Nach der Erkenntniss jenes
ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung,
mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der
tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen; denn
erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die
Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem
der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können:
wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das
Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als
ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische
Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schatten¬
spielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe.
Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage
berühren: welche ästhetische Wirkung entsteht, wenn jene
an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des
Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen? Oder
in kürzerer Form: wie verhält sich die Musik zu Bild und
Begriff? — Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für
diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und
Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich
hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich
hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als
Wille und Vorstellung I p. 309: »Diesem allen zufolge
können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die
Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache an¬
sehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana¬
[—88—] logie beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene
Analogie einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Aus¬
druck der Welt angesehen, eine im höchsten Grad allge¬
meine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe
ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre
Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit
der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist verbunden
mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin
den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die
allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung
und auch alle a priori anwendbar, doch nicht abstract, son¬
dern anschaulich und durchgängig bestimmt sind. Alle
möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeusserungen des
Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, welche
die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft,
sind durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszu¬
drücken, aber immer in der Allgemeinheit blosser Form,
ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach
der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben,
ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die
Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies
zu erklären, dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung,
Vorgang, Umgebung, eine passende Musik ertönt, diese
uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschliessen scheint
und als der richtigste und deutlichste Commentar dazu auf¬
tritt; imgleichen, dass es Dem, der sich dem Eindruck einer
Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle möglichen
Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen:
dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit
angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm
vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von
allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild
der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität
[—89—] des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst
ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische,
zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte
demnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als ver¬
körperten Willen nennen: daraus also ist es erklärlich, warum
Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens
und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervor¬
treten lässt; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie
dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf
beruht es, dass man ein Gedicht als Gesang, oder eine an¬
schauliche Darstellung als Pantomime, oder beides als Oper
der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder des
Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik unter¬
gelegt, sind nie mit durchgängiger Notwendigkeit ihr ver¬
bunden oder entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im
Verhältniss eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen
Begriff: sie stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Das¬
jenige dar, was die Musik in der Allgemeinheit blosser Form
aussagt. Denn die Melodien sind gewissermaassen, gleich
den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum der Wirklichkeit.
Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert
das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den ein¬
zelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur
Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten
einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; in¬
dem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung ab¬
strahirten Formen, gleichsam die abgezogene äussere Schale
der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstracta sind;
die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorher¬
gängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Ver¬
hältniss liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker
ausdrücken, indem man sagte: die Begriffe sind die univer¬
salia post rem, die Musik aber giebt die universalia ante rem,
[—90—] und die Wirklichkeit die universalia in re. — Dass aber über¬
haupt eine Beziehung zwischen einer Composition und einer
anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, wie gesagt,
darauf, dass beide nur ganz verschiedne Ausdrücke des¬
selben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im ein¬
zelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist,
also der Componist die Willensregungen, welche den Kern
einer Begebenheit ausmachen, in der allgemeinen Sprache
der Musik auszusprechen gewusst hat: dann ist die Melodie
des Liedes, die Melodie der Oper ausdrucksvoll. Die vom
Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden
muss aber aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens
der Welt, seiner Vernunft unbewusst, hervorgegangen und
darf nicht, mit bewusster Absichtlichkeit, durch Begriffe
vermittelte Nachahmung sein: sonst spricht die Musik nicht
das innere Wesen, den Willen selbst aus; sondern ahmt
nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie dies alle eigent¬
lich nachbildende Musik thut«. —
Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die
Musik als die Sprache des Willens unmittelbar und fühlen
unsere Phantasie angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare
und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie
in einem analogen Beispiel uns zu verkörpern. Andrerseits
kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung einer wahr¬
haft entsprechenden Musik zu einer erhöhten Bedeutsamkeit.
Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf
das apollinische Kunstvermögen auszuüben: die Musik reizt
zum gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemein¬
heit, die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild in
höchster Bedeutsamkeit hervortreten. Aus diesen an sich
verständlichen und keiner tieferen Beobachtung unzugäng¬
lichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung der Musik,
den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und
[—91—] gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der
dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem
Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik
im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr
Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt, dass die
Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten
Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für
möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck
für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse;
und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben,
wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des
Tragischen?
Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der
einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen
wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzu¬
leiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir
eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an
den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns
nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich
gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter
dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller
Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt.
Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung
der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die
Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung,
wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung
ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernich¬
tung nicht berührt wird. »Wir glauben an das ewige Leben«,
so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare
Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat
die Kunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden
des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der
Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über das
[—92—] dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem
gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In
der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik
redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten
Stimme an: »Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen
Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum
Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig
befriedigende Urmutter!«
17.
Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen
Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht
in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen
suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum
leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen
in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken —
und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost
reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten
heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Ur¬
wesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und
Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Er¬
scheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Ueber¬
maass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossen¬
den Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit
des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel
dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir
gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins ge¬
worden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit
dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht
und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als In¬
dividuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungs¬
lust wir verschmolzen sind.
[—93—]
Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt
uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunst¬
werk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik heraus¬
geboren ist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male
dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors
gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen
wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des
tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den
griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit
durchsichtig geworden ist; ihre Helden sprechen gewisser¬
maassen oberflächlicher als sie handeln; der Mythus findet in
dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objec¬
tivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder
offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte
und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei Shake¬
speare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähn¬
lichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht
aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen
und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamlet¬
lehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie,
die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich
sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus
und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und
bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine
oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach
den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht
vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war,
die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu er¬
reichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick
gelingen musste! Wir freilich müssen uns die Uebermacht
der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege recon¬
struiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu
empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
[—94—] Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur,
wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben: wäh¬
rend wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik —
der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren
gegenüber — nur das in schüchternem Kraftgefühle ange¬
stimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören
glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester
sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst
nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spiel¬
zeug unter ihren Händen entstanden ist und — zertrümmert
wird.
Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und
mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik
bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach
eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet
gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst: wäh¬
rend die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbe¬
trachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunder¬
barsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört,
ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer
mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird?
Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren
Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug
Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie
und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die
alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum
Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde,
so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwi¬
schen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu
schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft
bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf uni¬
versale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen ver¬
nichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu
[—95—] hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musik¬
treibenden Sokrates, in dem früher erörterten Sinne hinzu¬
stellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter
dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des
Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die Ergründlich¬
keit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.
Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärts¬
dringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort
vergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde
und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natür¬
lichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt
war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen,
den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden
wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen
haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feind¬
lich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des
neueren attischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das
innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die
Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten
Nachahmung wiedergab: von welcher innerlich entarteten
Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben
Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen
Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende In¬
stinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn
er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik
der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des
Hasses zusammenfasste und in allen drei Phänomenen die Merk¬
male einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren
Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitato¬
rischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines
Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffen¬
den Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere
Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt,
[—96—] äusserliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens
und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und
charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich
unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befrie¬
digen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in
der eine Empfängniss des Mythischen unmöglich ist; denn
der Mythus will als ein einziges Exempel einer in's Unend¬
liche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich
empfunden werden. Die wahrhaft dionysische Musik tritt
uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens gegen¬
über: jedes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel
bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde
einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches an¬
schauliches Ereigniss durch die Tonmalerei des neueren Dithy¬
rambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet; jetzt
ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung ge¬
worden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst:
durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Er¬
scheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine
derartig musikalisch imitirte Schlacht sich in Marschlärm,
Signalklängen u. s. w. erschöpft, und unsere Phantasie ge¬
rade bei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird. Die
Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das Gegenstück zu
der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik: durch sie
wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch
die dionysische Musik die Erscheinung sich zum einzelnen
Weltbilde bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger
Sieg des undionysischen Geistes, als er, in der Entfaltung
des neueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet
und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte.
Euripides, der in einem höhern Sinne eine durchaus unmusi¬
kalische Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem
Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambi¬
[—97—] schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes
alle ihre Effectstücke und Manieren.
Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses
undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in
Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen
der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffine¬
ments in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Cha¬
rakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern
lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge
und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien
individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr
den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die
Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch hier gewahren
wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die
Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir
athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher
die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künst¬
lerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung
auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter:
während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer
raffinirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt
Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge,
die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; in der
neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit
einem Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, ver¬
schmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin
ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik? Was jetzt noch
von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Er¬
innerungsmusik d. h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe
und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere
kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon
bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 7[—98—] zu singen anfangen, recht lüderlich zu; wohin mag es bei
seinen frechen Nachfolgern gekommen sein?
Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue un¬
dionysische Geist in den Schlüssen der neueren Dramen. In
der alten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende
zu spüren gewesen, ohne den die Lust an der Tragödie über¬
haupt nicht zu erklären ist; am reinsten tönt vielleicht im
Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen
Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie
entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt:
denn woher sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost
schöpfen können? Man suchte daher nach einer irdischen
Lösung der tragischen Dissonanz; der Held, nachdem er
durch das Schicksal hinreichend gemartert war, erntete in
einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einen
wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator gewor¬
den, dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit
Wunden überdeckt war, gelegentlich die Freiheit schenkte.
Der deus ex machina ist an Stelle des metaphysischen Trostes
getreten. Ich will nicht sagen, dass die tragische Weltbe¬
trachtung überall und völlig durch den andrängenden Geist
des Undionysischen zerstört wurde: wir wissen nur, dass sie
sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Ent¬
artung zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem
weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens
wüthete der verzehrende Hauch jenes Geistes, als welcher
sich in jener Form der »griechischen Heiterkeit« kundgiebt,
von der bereits früher, als von einer greisenhaft unproduc¬
tiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Gegen¬
stück zu der herrlichen »Naivetät« der älteren Griechen, wie
sie, nach der gegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die
aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der
apollinischen Cultur, als der Sieg, den der hellenische Wille
[—99—] durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die
Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener
anderen Form der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini¬
schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: sie zeigt
dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem
Geiste des Undionysischen ableitete — dass sie die dionysische
Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzu¬
lösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes
eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina
setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h.
die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwen¬
deten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der
Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft ge¬
leitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den
einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren
Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben
sagt: »Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden«.
18.
Es ist ein ewiges Phänomen : immer findet der gierige
Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion
seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben
zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erken¬
nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des
Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen
Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst,
jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem
Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar
weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren
Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu
schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die
7*[—100—] edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere
des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und
die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinweg¬
zutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was
wir Cultur nennen; je nach der Proportion der Mischungen
haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische
oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplifi¬
cationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische
oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.
Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexan¬
drinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit
höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der
Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Ur¬
bild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungs¬
mittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere
Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als er¬
laubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast er¬
schreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete
allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst
unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imi¬
tationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des
Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen
Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen,
recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste
einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne
Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten
unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem
Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben
Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne
Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu
ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere
nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Ecker¬
mann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: »Ja mein Guter,
[—101—] es giebt auch eine Productivität der Thaten«. so hat er, in
anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theo¬
retische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaub¬
würdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der
Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende
Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse
dieser sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt
sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken,
wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von
einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein
durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen
und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erden¬
glück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen
allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende For¬
derung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die
Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt!
Man soll es merken: die alexandrinische Cultur braucht einen
Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie
leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die
Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn
der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte
von der »Würde des Menschen« und der »Würde der Arbeit«
verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung
entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen
Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten
gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern
für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, sol¬
chen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an
unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren,
die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen ent¬
artet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraus¬
setzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und
[—102—] selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herr¬
schaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer
Gesellschaft eben bezeichnet haben.
Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlum¬
mernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu äng¬
stigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner
Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden,
ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er
also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben
grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen
Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu be¬
nützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des
Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch
der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke
entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten
Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche,
an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen
der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit
und Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste
Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik ver¬
borgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund
unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und
Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbe¬
denklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und
Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster
Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich
nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der
Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und
sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge
zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch
unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen
Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a.
W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur
[—103—] eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen
wage : deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der
Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die
sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der
Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde
der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit
sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu er¬
greifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Gene¬
ration mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem
heroischen Zug in's Ungeheure, denken wir uns den kühnen
Schritt dieser Drachentödter. die stolze Verwegenheit, mit
der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus
den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen »resolut zu
leben« : sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch
dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum
Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen
Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena be¬
gehren und mit Faust ausrufen muss:
Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten
aus erschüttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur
noch mit zitternden Händen zu halten vermag, einmal aus
Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade
zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen
Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren
naiven Zutrauen überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schau¬
spiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer
auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen und sie dann
plötzlich wieder, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien,
schaudernd fahren lässt. Das ist ja das Merkmal jenes
»Bruches«, von dem Jedermann als von dem Urleiden der
modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch
[—104—] vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht
mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzu¬
vertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will
nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische
Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die
auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde
gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d. h.
vor ihren Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst
offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an
alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch
anlehnt, umsonst dass man die ganze »Weltlitteratur« zum
Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn
mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt,
damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe:
er bleibt doch der ewig Hungernde, der »Kritiker« ohne Lust
und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Biblio¬
thekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern
elend erblindet.
19.
Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur
nicht schärfer bezeichnen als wenn man sie die Cultur der Oper
nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit
eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen,
zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper
und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen
Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusam¬
menhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des
stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass
diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik
der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleich¬
[—105—] sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen
und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaus¬
sprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's erhoben
hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige
Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer
dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende
Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass in derselben
Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Pale¬
strinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche
Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusi¬
kalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer
im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen
Tendenz zu erklären.
Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich
vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr
spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck
in diesem Halbgesange verschärft: durch diese Verschärfung
des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und
überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigent¬
liche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik
einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort
Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde
gehen müsste: während er andrerseits immer den Trieb zu
musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation
seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der »Dichter« zu
Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjec¬
tionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu
bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem
rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort,
ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch
nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection,
der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wech¬
selnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung,
[—106—] bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken,
ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des
Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so
innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung
des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künst¬
lerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schil¬
derung zu definieren als die Vermischung des epischen und
des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich be¬
ständige Mischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen
nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaik¬
artige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der
Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war
aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr
glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch
jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik
gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines
Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie er¬
klären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung
der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte
sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung
der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume über¬
lassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Mensch¬
heit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik
jene unübertroffne Reinheit. Macht und Unschuld gehabt
haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so
rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das inner¬
lichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung,
der Oper: ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine
Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art: die Sehnsucht
zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des
künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als
die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper
als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch
[—107—] guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem
natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen
hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühls¬
erregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns
jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des
paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die
alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und ver¬
lornen Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppo¬
sitionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem
aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus ge¬
funden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei
der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten
gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der
eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunst¬
form in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Be¬
dürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des
Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als
des von Natur guten und künstlerischen Menschen: als wel¬
ches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und
entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Ange¬
sicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht
mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will seine
Rechte: welche paradiesischen Aussichten!
Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung
meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien
mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper
ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen
Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten That¬
sachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung
recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem
das Wort verstehen müsse; so dass eine Wiedergeburt der
Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Ge¬
sangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über
[—108—] den Contrapunkt wie der Herr über den Diener herrsche.
Denn die Worte seien um so viel edler als das begleitende
harmonische System, um wie viel die Seele edler als der
Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser
Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung
von Musik, Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Aesthetik
kam es auch in den vornehmen Laienkreisen von Florenz,
durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu den ersten
Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich
eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der unkünst¬
lerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe
der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss
zur verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leiden¬
schaft im stilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesanges¬
künste; weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er
den Maschinisten und Decorationskünstler in seinen Dienst;
weil er das wahre Wesen des Künstlers nicht zu erfassen
weiss, zaubert er vor sich den »künstlerischen Urmenschen«
nach seinem Geschmack hin d. h. den Menschen, der in der
Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt sich in eine
Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge
und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande
gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraus¬
setzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstleri¬
schen Process und zwar jener idyllische Glaube, dass eigent¬
lich jeder empfindende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses
Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der
Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus des
theoretischen Menschen dictirt.
Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei
der Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen
Begriff zu vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von
einer idyllischen Tendenz der Oper zu sprechen: wobei wir
[—109—] uns allein der Ausdrucksweise und Erklärungi Schillers zu be¬
dienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das
Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses
als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand
der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste
giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester
Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal
jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam
zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die
Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser
Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen
der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal
der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstler¬
schaft, erreicht hatte: als von welchem vollkommnen Ur¬
menschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues
Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir Einiges von uns
werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu er¬
kennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von über¬
flüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungs¬
mensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte
Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zu¬
sammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirk¬
lichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante
den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses
geführt zu werden: während er von hier aus selbständig noch
weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen
Kunstform zu einer »Wiederbringung aller Dinge«, zu einer
Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen über¬
ging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwe¬
genen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen
Cultur! — einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären,
dass »der Mensch an sich« der ewig tugendhafte Opernheld,
der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich
[—110—] immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst
irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig
die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokra¬
tischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische
Duftsäule emporsteigt.
Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener
elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiter¬
keit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer
idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich
in jedem Augenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht
einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein
phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an
dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit
den eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu ver¬
gleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem
Phantom! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man
glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist,
einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, ver¬
scheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den
Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die
sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht,
ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die
Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten,
deren Ursprünge überhaupt nicht im ästhetischen Bereiche
liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre
auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über
diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hin¬
wegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich
dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen
der wahren Kunst? Wird nicht zu muthmaassen sein,
dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen
alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahr¬
haftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst — das Auge
[—111—] vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das
Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem
Krampfe der Willensregungen zu retten — zu einer leeren und
zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde? Was
wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des
Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie
am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die
Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die
Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele ver¬
glichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine um¬
schreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem
im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre
Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet
ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung,
das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem
Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung
zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhäng¬
nissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der
gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; dem in
der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsen¬
tirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender
Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Welt¬
bestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen,
vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung
nur etwa die Metamorphose des äschyleischen Menschen in den
alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.
Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten
Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes
mit einer höchst auffälligen, aber bisher unerklärten Um¬
wandlung und Degeneration des griechischen Menschen in
Zusammenhang gebracht haben — welche Hoffnungen müssen
in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien den
umgekehrten Process, das allmähliche Erwachen des diony¬
[—112—] sischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es
ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig
im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem
dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht
emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen
Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären
noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als
das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feind¬
selige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vor¬
nehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu
Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.
Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage
günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen
emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder von dem
Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch
mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der
contrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen,
in derem dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich
unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen ver¬
möchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker,
mit dem Fangnetz einer ihnen eignen »Schönheit«, nach dem
vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musik¬
genius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach
der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen
beurtheilt werden wollen. Man mag ſich nur diese Musik¬
gönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so
unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei
wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten
Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht viel¬
mehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form,
für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen ästhetischen
Vorwand suchen: wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor
der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler
[—113—] in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer
Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist,
von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen
Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreis¬
bahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisa¬
tion nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Diony¬
sus erscheinen müssen.
Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen
strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und
Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust
der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer
Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine un¬
endlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen
und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in
Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können :
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der
deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht
auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur
aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?
Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir
an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen
stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene
Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form
ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ord¬
nung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens
analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem
alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tra¬
gödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfin¬
dung; als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den
deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges
Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange
Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in
hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht¬
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 8[—114—] schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich
darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens,
vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer
romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er
nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem
überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine
auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann
brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt,
wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr
sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten
zu können, wohin sie will?
20.
Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen
Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen
Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu
lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit
Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe
Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zu¬
gesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen,
dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes
Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung
und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise
schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um
nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen,
nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend wel¬
chem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen
sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzu¬
dringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deut¬
schen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass
vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in
den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie,
[—115—] nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch
weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden.
Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den
Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise
entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den
verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu
hören; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schön¬
rednerei mit der »griechischen Harmonie«, der »griechischen
Schönheit«, der »griechischen Heiterkeit«. Und gerade in
den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem grie¬
chischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung,
zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren
Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den
Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht
selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen
Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren
Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen
Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger
Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprach¬
mikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch
das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich
»historisch« anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode
und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen ge¬
bildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigent¬
liche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch
niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der
Gegenwart, wenn der »Journalist«, der papierne Sclave des
Tages, in jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren
Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die be¬
reits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun
auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der »leichten
Eleganz« dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling
zu bewegen — in welcher peinlichen Verwirrung müssen die
8*[—116—] derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen
anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher
unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre,
das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wieder¬
geburt der Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode,
in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst
so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als
wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen
es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst
hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber
sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch¬
alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine
so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung
ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller
und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu
erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn
es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist
als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe'sche Iphi¬
genie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über
das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher
Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer
ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur
unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte — unter
dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik.
Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch be¬
vorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu
verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre
Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen
Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten
wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung
der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für
die Zukunft erwecken könnte? Vergebens spähen wir nach
einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck
[—117—] fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand,
Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos
Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den
Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet
hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke,
der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Ge¬
fährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund
zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser
Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die
Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. —
Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster
geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der
dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Ab¬
gelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wir¬
belnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier
in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Ent¬
schwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Ver¬
senkung an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so
üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tra¬
gödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und
Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwer¬
müthigen Gesange — er erzählt von den Müttern des Seins,
deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. — Ja, meine
Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an
die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen
Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den
Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger
und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen.
Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden! Ihr sollt den
dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten!
Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder
eures Gottes!
21.
Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurück¬
gleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass
nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches
wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den
innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist
das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten
schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege
geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank.
Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch
mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des
dionysischen Dämon bis in's Innerste erregt wurde, noch
einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten poli¬
tischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ur¬
sprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen? Ist
es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer
Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung
von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer
bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beein¬
trächtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss
andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des
principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht
ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können.
Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg,
der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt
mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener
seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum,
Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philo¬
sophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der
Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden.
Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten
[—119—] Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster
Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschreck¬
lichster Ausdruck das römische imperium ist.
Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführeri¬
scher Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in
classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich
nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für
die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh
sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie
mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von
dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des
Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem
römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich
nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit.
Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Grie¬
chen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausser¬
ordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe,
weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzeh¬
rendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu er¬
schöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie
sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender
Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volks¬
leben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der
Tragödie eingedenk sein; deren höchsten Werth wir erst
ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als In¬
begriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den
stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des
Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.
Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich
hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen,
wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den
tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der
dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische
[—120—] Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet:
während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus,
in der Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange
nach diesem Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender
Hand an ein anderes Sein und an eine höhere Lust erinnert,
zu welcher der kämpfende Held durch seinen Untergang,
nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll vorbereitet. Die
Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik
und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes
Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein,
als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Be¬
lebung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen
Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithy¬
rambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich einem
orgiastischen Freiheitsgefühle hingeben, in welchem sie als
Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen
wagen dürfte. Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie
er ihr andrerseits erst die höchste Freiheit giebt. Dafür ver¬
leiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus
eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Be¬
deutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hülfe,
nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt
durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vor¬
gefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang
und Verneinung führt, so dass er zu hören meint, als ob der
innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche.
Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten
Sätzen vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort
verständlichen Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich ge¬
rade an dieser Stelle nicht ablassen, meine Freunde zu einem
nochmaligen Versuche anzureizen und sie zu bitten, an einem
einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen Erfahrung sich für
die Erkenntniss des allgemeinen Satzes vorzubereiten. Bei
[—121—] diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche
die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte
der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe
der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht
Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe,
nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne
je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen; manche
von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht
einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe
ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik,
in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den
Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Ver¬
bindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage,
ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten
Act von »Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort
und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perci¬
piren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Aus¬
spannen aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der
wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Welt¬
willens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein
als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach
von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er
sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, in der
elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den
Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem »weiten
Raum der Weltennacht« zu vernehmen, ohne bei diesem
Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam
zuzuflüchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes
percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexi¬
stenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte,
ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern — woher nehmen wir
die Lösung solches sonderbaren Widerspruches?
[—122—]
Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung
und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held,
im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten That¬
sachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden
kann. Als Gleichniss würde nun aber der Mythus, wenn
wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich wirkungslos
und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen
Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wieder¬
klang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch
die apollinische Kraft, auf Wiederherstellung des fast zer¬
sprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer
wonnevollen Täuschung hervor: plötzlich glauben wir nur
noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich
fragt: »die alte Weise; was weckt sie mich?« Und was uns
früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins
anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie »öd und leer das
Meer«. Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im
krampfartigen Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges
uns mit dieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen
wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht
sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe:
»Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehn¬
sucht nicht zu sterben!« Und wenn früher der Jubel des
Horn's nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl ver¬
zehrender Qualen fast wie der Qualen höchste uns das Herz
zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem »Jubel an
sich« der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden
trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns
hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das
Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild
des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschaun der höch¬
sten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor
dem ungedämmten Erguss des unbewussten Willens rettet.
[—123—] Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es uns,
als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt
gegenüber träte, als ob auch in ihr nur Tristan's und Isol¬
dens Schicksal, wie in einem allerzartesten und ausdrucks¬
fähigsten Stoffe geformt und bildnerisch ausgeprägt worden sei.
So entreisst uns das Apollinische der dionysischen All¬
gemeinheit und entzückt uns für die Individuen; an diese
fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den
nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheits¬
sinn; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu
gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebens¬
kernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs,
der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das
Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbst¬
vernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit
des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er
ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und
es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen
solle. Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo,
wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als ob
wirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen
Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musik sogar
wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei?
Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem voll¬
endeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Drama
einen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad
von Schaubarkeit. Wie alle lebendigen Gestalten der Scene
in den selbständig bewegten Melodienlinien sich zur Deutlich¬
keit der geschwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertönt
uns das Nebeneinander dieser Linien in dem mit dem be¬
wegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden Har¬
monienwechsel: als durch welchen uns die Relationen der
Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise,
[—124—] unmittelbar vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn
erkennen, dass erst in diesen Relationen das Wesen eines
Charakters und einer Melodienlinie sich rein offenbare. Und
während uns so die Musik zwingt, mehr und innerlicher als
sonst zu sehen, und den Vorgang der Scene wie ein zartes
Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser vergeistigtes,
in's Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so un¬
endlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was ver¬
möchte der Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem
viel unvollkommneren Mechanismus, auf indirectem Wege,
vom Wort und vom Begriff aus, jene innerliche Erweiterung
der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere Erleuchtung zu
erreichen sich abmüht? Nimmt nun zwar auch die musikalische
Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den
Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen
und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, ver¬
deutlichen.
Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben
so bestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein,
nämlich jene vorhin erwähnte apollinische Täuschung sei,
durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andrange
und Uebermaasse entlastet werden sollen. Im Grunde ist ja
das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das umge¬
kehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama
nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild
derselben. Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der
lebendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und den Charakter¬
relationen jener Gestalt ist in einem entgegengesetzten Sinne
wahr, als es uns, beim Anschaun der musikalischen Tragödie,
dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf das Sicht¬
barste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten,
sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke
giebt, die in die wahre Realität, in's Herz der Welt führte.
[—125—] Aus diesem Herzen heraus aber redet die Musik; und zahl¬
lose Erscheinungen jener Art dürften an der gleichen Musik
vorüberziehn, sie würden nie das Wesen derselben erschöpfen,
sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder sein. Mit
dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele
und Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von
Musik und Drama nichts zu erklären und alles zu verwirren;
aber die unphilosophische Rohheit jenes Gegensatzes scheint
gerade bei unseren Aesthetikern, wer weiss aus welchen Grün¬
den, zu einem gern bekannten Glaubensartikel geworden zu
sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung und
des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls
unbekannten Gründen, nichts lernen mochten.
Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass
das Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung
völlig den Sieg über das dionysische Urelement der Musik
davongetragen und sich diese zu ihren Absichten, nämlich
zu einer höchsten Verdeutlichung des Drama's, nutzbar ge¬
macht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige Einschränkung
hinzuzufügen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene apol¬
linische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama,
das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen
und Gestalten, mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet,
als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Nieder¬
zucken entstehen sehen — erreicht als Ganzes eine Wirkung,
die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der
Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wie¬
der das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der
niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen
könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung
als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie
anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wir¬
kung: die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische
[—126—] Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit diony¬
sischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und
seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich
das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Diony¬
sischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gott¬
heiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo,
Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit
das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt
erreicht ist.
22.
Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer
wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach
seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phä¬
nomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben
zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu
deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er,
im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu
einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt
die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei,
sondern in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die
Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den an¬
schwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der
Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig
bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis
in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinab¬
tauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung
seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe
bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese
lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes
beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das
der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich
[—127—] apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei ihm hervor¬
bringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte Recht¬
fertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und
der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die ver¬
klärte Welt der Bühne und verneint sie doch. Er sieht den
tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und
Schönheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Er
begreift bis in's Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet
sich gern in's Unbegreifliche. Er fühlt die Handlungen des
Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben,
wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schau¬
dert vor den Leiden, die den Helden treffen werden und
ahnt doch bei ihnen eine höhere, viel übermächtigere Lust.
Er schaut mehr und tiefer als je und wünscht sich doch er¬
blindet. Woher werden wir diese wunderbare Selbstentzwei¬
ung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten
haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum
Schein die apollinischen Regungen auf's Höchste reizend,
doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in
seinen Dienst zu zwingen vermag. Der tragische Mythus ist
nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weis¬
heit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der
Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und
wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität
zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit Isolden. ihren
metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint:
So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahr¬
haft ästhetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst,
wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine
[—128—] Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als
»Nachahmung der Natur« zu begreifen wäre — wie dann
aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der
Erscheinungen verschlingt; um hinter ihr und durch ihre
Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse
des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser
Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden
Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apol¬
linischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere
Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde
werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den
Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie
bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische
zu charakterisiren: als welche Unverdrossenheit mich auf den
Gedanken bringt, sie möchten überhaupt keine ästhetisch
erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie
vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen.
Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen
Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände,
auf eine ästhetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen wer¬
den dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die
ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt
werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler
Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer
sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen; und
so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade
das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich
ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpre¬
tirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten
Kunst nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung,
die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht
recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die mora¬
lischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merk¬
[—129—] würdige Ahnung Goethe's. »Ohne ein lebhaftes pathologi¬
sches Interesse«, sagt er, »ist es auch mir niemals gelungen,
irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe
sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl
auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass
das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen
gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss,
um ein solches Werk hervorzubringen?« Diese so tiefsinnige
letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Er¬
fahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen
Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste
Pathetische doch nur ein ästhetisches Spiel sein kann: wes¬
halb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des
Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt
noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausser¬
ästhetischen Sphären zu erzählen hat und über den patho¬
logisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt,
mag nur an seiner ästhetischen Natur verzweifeln: wogegen
wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach der Manier des
Gervinus und das fleissige Aufspüren der »poetischen Ge¬
rechtigkeit« als unschuldigen Ersatz anempfehlen.
So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der
ästhetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher
in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb
moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte,
der »Kritiker«. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künst¬
lich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der
darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er
mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu be¬
ginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden
Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten
Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum
Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen »Kritikern«
Nietzsche, Geburt der Tragödie. 9[—130—] bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schul¬
knabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war
wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu
einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die
edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem
solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte,
und der Anruf der »sittlichen Weltordnung« trat vikarirend
ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten
Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine
grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen
und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der
Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähn¬
lichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder
kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des
Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und
des Lasters: als welche Entfremdung der eigentlichen Kunst¬
absichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz
führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstel¬
ten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle
Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die
Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen
Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft
genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen
Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird.
Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist
in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft
gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungs¬
object der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde
als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen
und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren
Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen
zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst
geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.
[—131—] Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der
im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu
unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage
beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen,
was er sich unter »Bildung« vorstellt, vorausgesetzt dass er
die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor
Ueberraschung bereits verstummt ist.
Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur
Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich
zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so
unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu er¬
zählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrin¬
aufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede
Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass
auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus un¬
vergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, ver¬
einzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem
Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der ästhe¬
tische Zuhörer ist.
23.
Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er
dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Ge¬
meinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der
mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit
der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt:
ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psycho¬
logische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit
einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als
ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen
zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet.
Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über¬
9*[—132—] haupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Welt¬
bild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung,
das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist
aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch
den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt,
um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Ab¬
stractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaub¬
lich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer
gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit
Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Cultur¬
bewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und
des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus
aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder
des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämo¬
nischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele
heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben
und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine
mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Funda¬
ment, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Her¬
auswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.
Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen ge¬
leiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte,
das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige
sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte
Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine
Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle
Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmer¬
lich zu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das
Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten So¬
kratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig
hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und
wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten
Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das un¬
[—133—] geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen
Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das
verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des
Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des my¬
thischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieber¬
hafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas
Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung-
Haschen des Hungernden — und wer möchte einer solchen
Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie
verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung
sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in »Historie und Kritik«
zu verwandeln pflegt?
Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerz¬
lich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner
Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir
das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen be¬
obachten können; und das, was lange Zeit der grosse Vor¬
zug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Ueber¬
gewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur,
dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück
zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt
mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein
hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehn¬
suchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem
unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungs¬
krampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft ver¬
borgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich
gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen
Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die
deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die
Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief,
muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte
dieser Choral Luther's, als der erste dionysische Lockruf, der
[—134—] aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings,
hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall
jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer,
denen wir die deutsche Musik danken — und denen wir die
Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden
Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung
führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und
rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden
Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben
wir bis jetzt, zur Reinigung unserer ästhetischen Erkenntniss,
jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein ge¬
sondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren
gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die grie¬
chische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk¬
würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe
musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbei¬
geführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration
und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Ein¬
klang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie
nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und
Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen
sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Unter¬
gang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwill¬
kürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzu¬
knüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen:
wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie
aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste.
In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der
Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier
des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel
ist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als
es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken
[—135—] vermag, denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt
seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität
der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen
Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein,
wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die
mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: wo¬
mit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch
mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins,
in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die grie¬
chische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödie hielt
vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: man musste sie
mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden,
ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der
That leben zu können. Auch jetzt noch versucht jener
metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte
Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drän¬
genden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den niederen
Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen,
das sich allmählich in ein Pandämonium überallher zusammen¬
gehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte
der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es
verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leicht¬
sinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend
einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu be¬
täuben.
Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wieder¬
erweckung des alexandrinisch-römischen Alterthums im fünf¬
zehnten Jahrhundert, nach einem langen schwer zu beschrei¬
benden Zwischenacte, in der auffälligsten Weise angenähert.
Auf den Höhen dieselbe überreiche Wissenslust, dasselbe
ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure Verweltlichung,
daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges Sich¬
drängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung
[—136—] der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie
saeculi, der »Jetztzeit«: als welche gleichen Symptome auf
einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen
geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum
möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden My¬
thus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueber¬
pflanzen heillos zu beschädigen: als welcher vielleicht einmal
stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furcht¬
barem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber
siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich
verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und
kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von
ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder
Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten,
dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt.
Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen
Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in
der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten
Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in
dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf
dieser Bahn, Luther's ebensowohl als unserer grossen Künst¬
ler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er
glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine
mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen« aller deutschen
Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche za¬
gend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wie¬
der in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege
und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur dem
wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen,
der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.
24.
Wir hatten unter den eigentümlichen Kunstwirkungen
der musikalischen Tragödie eine apollinische Täuschung her¬
vorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein
mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während
unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Ge¬
biete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittel¬
welt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben,
wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen
Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen
heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen
apollinischen Kunst unerreichbar ist: so dass wir hier, wo
diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und
emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und
somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus
die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen
Kunstabsichten anerkennen mussten.
Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei
der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigen¬
thümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer
Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen,
das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der
Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz
einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen
lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit
bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive —
und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns
vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaub¬
ten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten,
um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlich¬
keit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben so
[—138—] wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es
mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des
Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes
aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuch¬
tete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer
zu dringen.
Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen
und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird
sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese bei¬
den Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus
nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden wer¬
den: während die wahrhaft ästhetischen Zuschauer mir be¬
stätigen werden, dass unter den eigentümlichen Wirkungen
der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei.
Man übertrage sich nun dieses Phänomen des ästhetischen
Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler,
und man wird die Genesis des tragischen Mythus verstanden
haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle
Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er
diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der
Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tra¬
gischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der
Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber
jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schick¬
sale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die
qualvollsten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification
jener Weisheit des Silen, oder, ästhetisch ausgedrückt, das
Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit
solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade
in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn
nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird?
Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht,
würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform er¬
[—139—] klären: wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der
Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supple¬
ment der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben
sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur
Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser meta¬
physischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was
verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem
Bilde des leidenden Helden vorführt? Die »Realität« dieser
Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade:
»Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! Dies
ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!«
Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns
damit zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegt dann die
ästhetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vor¬
überziehen lassen? Ich frage nach der ästhetischen Lust und
weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter
noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des
Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können.
Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen
moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der
Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht
glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben: die
vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für
die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste
Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein ästhe¬
tischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids,
der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann
das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tra¬
gischen Mythus, eine ästhetische Lust erregen?
Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen An¬
lauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen,
indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein
ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerecht¬
[—140—] fertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische
Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Dis¬
harmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille,
in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses
schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird
aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar
erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Disso¬
nanz: wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt,
allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Recht¬
fertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu ver¬
stehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat
eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Disso¬
nanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am
Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss
der Musik und des tragischen Mythus.
Sollte sich nicht inzwischen, dadurch, dass wir die Musik¬
relation der Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige
Problem der tragischen Wirkung wesentlich erleichtert haben?
Verstehen wir doch jetzt, wass es heissen will, in der Tragödie
zugleich schauen zu wollen und sich über das Schauen hinaus
zu sehnen: welchen Zustand wir in Betreff der künstlerisch
verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten, dass
wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaus¬
sehnen. Jenes Streben in's Unendliche, der Flügelschlag der
Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich percipirten
Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen
ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben, das uns immer
von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern
der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in
einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen
die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das
spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut
und wieder einwirft.
[—141—]
Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig
abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes,
sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses
Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken
haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen
Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit
einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmer¬
ung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der
Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des
dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides
dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen
Wesens nicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem ab¬
stracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur
Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom
Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich un¬
künstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen
Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es An¬
zeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher
Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich
einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem un¬
zugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Ab¬
grunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu
verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt
noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten
Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist
seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so
deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Hei¬
mat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in
aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er
Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünn¬
hilde erwecken — und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg
nicht hemmen können !
Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik
[—142—] glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet.
In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragi¬
schen Mythus — und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das
Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns
alle — die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Ge¬
nius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer
Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort — wie ihr auch, zum
Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.
25.
Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise
Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von
einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche,
das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine
Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das
schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit
dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauber¬
künsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel
die Existenz selbst der »schlechtesten Welt«. Hier zeigt sich
das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die
ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze
Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein
neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt
der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns
eine Menschwerdung der Dissonanz denken — und was ist
sonst der Mensch? — so würde diese Dissonanz, um leben
zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen
Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die
wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle
jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen,
die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth
machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.
[—143—]
Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von
dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel
dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von
jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden
kann: so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger
wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Ge¬
rechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die diony¬
sischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben,
da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns
herniedergestiegen sein; dessen üppigste Schönheitswirkungen
wohl eine nächste Generation schauen wird.
Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder
am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er ein¬
mal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz
sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen
Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch
reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wieder¬
spiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor,
rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen,
mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärden¬
sprache — würde er nicht, bei diesem fortwährenden Ein¬
strömen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend aus¬
rufen müssen: »Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss
unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche
Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn
zu heilen«! — Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser
Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm
aufblickend, entgegnen: »Sage aber auch dies, du wunder¬
licher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so
schön werden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie
und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten«!
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn6b.0