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DER TOD DES TIZIAN

EIN DRAMATISCHES FRAGMENT


AUFGEFUEHRT ALS TOTENFEIER FUER
ARNOLD BOECKLIN IM KUENSTLERHAUSE
ZU MUENCHEN DEN 14. FEBRUAR 1901.

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ERSCHIENEN IM VERLAGE DER INSEL BEI
SCHUSTER \& LOEFFLER BERLIN SW 46.
GEDRUCKT IN DER OFFICIN W. DRUGULIN
LEIPZIG.


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DER TOD DES TIZIAN

EIN DRAMATISCHES FRAGMENT


AUFGEFUEHRT ALS TOTENFEIER FUER
ARNOLD BOECKLIN IM KUENSTLERHAUSE
ZU MUENCHEN DEN 14. FEBRUAR 1901.
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DRAMATIS PERSONAE.


  • Der Prolog.

  • Filippo Pomponio Vecellio, genannt Tizianello,
    des Meisters Sohn.

  • Giocondo.

  • Desiderio.

  • Gianino, er ist 16 Jahre und sehr schön.

  • Batista.

  • Antonio.

  • Paris.

  • Lavinia, eine Tochter des Meisters.

  • Cassandra.

  • Lisa.

Spielt im Jahre 1576, da Tizian neunundneunzigjährig starb.


[6]
DER Vorhang, ein Gobelin, ist herabgelassen. Im Proscenium
steht die Büste Böcklins auf einer Säule; zu deren Fuss ein
Korb mit Blumen und blühenden Zweigen.
In die letzten Takte der Symphonie tritt der Prolog auf, seine
Fackelträger hinter ihm.
Der Prolog ist ein Jüngling; er ist venezianisch gekleidet, ganz
in schwarz, als ein Trauernder.

Der Prolog:

Nun schweig, Musik! nun ist die Scene mein,
Und ich will klagen, denn mir steht es zu!
Von dieser Zeiten Jugend fliesst der Saft
In mir; und er, dess Standbild auf mich blickt,
War meiner Seele so geliebter Freund!
Und dieses Guten hab ich sehr bedurft,
Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit,
Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier,
Aus der Najade triefend weissen Händen
Sich seine Nahrung küsst, so bog ich mich
In dunklen Stunden über seine Hände
Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.


[7]

Schmück ich dein Bild mit Zweig und Blüten nur?
Und du hast mir das Bild der Welt geschmückt,
Und aller Blütenzweige Lieblichkeit
Mit einem solchen Glanze überhöht,
Dass ich mich trunken an den Boden warf
Und jauchzend fühlte, wie sie ihr Gewand
Mir sinken liess, die leuchtende Natur!


Hör mich, mein Freund! ich will nicht Herolde
Aussenden, dass sie deinen Namen schrein
In die vier Winde, wie wenn Könige sterben:
Ein König lässt dem Erben seinen Ruf
Und einem Grabstein seines Namens Schall. —
Doch du warst solch ein grosser Zauberer,
Dein Sichtbares ging fort, doch weiss ich nicht
Was da und dort nicht alles von dir bleibt,
Mit heimlicher fortlebender Gewalt
Sich dunklen Auges aus der nächtigen Flut
Zum Ufer hebt — oder sein haarig Ohr
Hinter dem Epheu horchend reckt,
drum will ich
Nie glauben, dass ich irgendwo allein bin,
Wo Bäume oder Blumen sind, ja selbst
Nur schweigendes Gestein und kleine Wölkchen
Unter dem Himmel sind: leicht dass ein Etwas,
Durchsichtiger wie Ariel, mir im Rücken
Hingaukelt, denn ich weiss: geheimnisvoll
War zwischen dir und mancher Creatur
[8] Ein Bund geknüpft, ja! und des Frühlings Au
Siehe, sie lachte dir so wie ein Weib
Den anlacht, dem sie in der Nacht sich gab!


Ich meint’ um dich zu klagen; und mein Mund
Schwillt an von trunkenem und freudigem Wort:
Drum ziemt mir nun nicht länger hier zu stehen.
Ich will den Stab dreimal zu Boden stossen
Und dies Gezelt mit Traumgestalten füllen.
Die will ich mit der Last der Traurigkeit
So überbürden, dass sie schwankend gehn,
Damit ein jeder weinen mag und fühlen:
Wie grosse Schwermut allem unsren Thun
Ist beigemengt.


Es weise euch ein Spiel
Das Spiegelbild der bangen, dunklen Stunde
Und grossen Meisters trauervollen Preis
Vernehmet nun aus schattenhaftem Munde!


Er geht ab, die Fackelträger hinter ihm. Das Proscenium liegt
in Dunkel. Die Symphonie fällt wieder ein. Das Standbild ver-
schwindet.
Darauf ertönt das dreimalige Niederstossen eines Stabes. Der
Gobelin teilt sich und enthüllt die Scene.

Die Scene ist auf der Terrasse von Tizians Villa, nahe bei
Venedig. Die Terrasse ist nach rückwärts durch eine steinerne,
durchbrochene Rampe abgeschlossen, über die in der Ferne die
[9] Wipfel von Pinien und Pappeln schauen. Links rückwärts läuft
eine (unsichtbare) Treppe in den Garten; ihr Ausgang vor der
Rampe ist durch zwei Marmorvasen markiert. Die linke Seite
der Terrasse fällt steil gegen den Garten ab. Hier überklettern
Epheu- und Rosenranken die Rampe und bilden mit hohem Ge-
büsch des Gartens und hereinhangenden Zweigen ein undurch-
dringliches Dickicht.
Rechts füllen Stufen fächerförmig die rückwärtige Ecke aus und
führen zu einem offenen Altan. Von diesem tritt man durch
eine Thür, die ein Vorhang schliesst, ins Haus. Die Wand des
Hauses, von Reben und Rosen umsponnen, mit Büsten geziert,
Vasen an den Fenstersimsen, aus denen Schlingpflanzen quellen,
schliesst die Bühne nach rechts ab.

Spätsommermittag. Auf Polstern und Teppichen lagern auf den
Stufen, die rings zur Rampe führen, Desiderio, Antonio, Ba-
tista und Paris. Alle schweigen. Der Wind bewegt leise den
Vorhang der Thür. Tizianello und Gianino kommen nach einer
Weile aus der Thür rechts. Desiderio, Antonio, Batista und
Paris treten ihnen besorgt und fragend entgegen und drängen
sich an sie. — Nach einer kleinen Pause:

Paris:

Nicht gut?


Gianino,
mit erstickter Stimme:

Sehr schlecht.


Zu Tizianello, der in Thränen ausbricht:

Mein armer, lieber Pippo!


Batista:

Er schläft?


[10]
Gianino:

Nein. Er ist wach und phantasiert
Und hat die Staffelei begehrt.


Antonio:

Allein
Man darf sie ihm nicht geben, nicht wahr, nein?


Gianino:

Ja, sagt der Arzt. Wir wollen ihn nicht quälen
Und geben, was er will, in seine Hände.


Tizianello,
ausbrechend:

Heut oder morgen ist’s ja doch zu Ende!


Gianino:

Er darf uns länger, sagt er, nicht verhehlen …


Paris:

Nein, sterben, sterben kann der Meister nicht!
Da lügt der Arzt, er weiss nicht, was er spricht.


Desiderio:

Der Tizian sterben, der das Leben schafft!
Wer hätte dann zum Leben Recht und Kraft?


Batista:

Doch weiss er selbst nicht, wie es um ihn steht?


Tizianello:

Im Fieber malt er an dem neuen Bild,
In atemloser Hast, unheimlich wild:
Die Mädchen sind bei ihm und müssen stehn,
Uns aber hiess er aus dem Zimmer gehn.


Antonio:

Kann er denn malen, hat er denn die Kraft?


Tizianello:

Mit einer rätselhaften Leidenschaft,
Die ich beim Malen nie an ihm gekannt,
Von einem martervollen Zwang gebannt …


Ein Page kommt aus der Thür rechts, hinter ihm Diener. Alle
erschrecken.

Tizianello:
Gianino:
Paris:

Was ist?


[11]
Page:

Nichts, nichts. Der Meister hat befohlen,
Dass wir vom Gartensaal die Bilder holen.


Tizianello:

Was will er denn?


Page:

Er sagt, er muss sie sehen …
„Die alten, die erbärmlichen, die bleichen,
Mit seinem neuen, das er malt, vergleichen …
Sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar,
Es komme ihm ein unerhört Verstehen,
Dass er bis jetzt ein matter Stümper war …“
Soll man ihm folgen?


Tizianello:

Gehet, gehet, eilt!
Ihn martert jeder Pulsschlag, den ihr weilt.


Die Diener sind indessen über die Bühne gegangen. An der
Treppe holt sie der Page ein. Tizianello geht auf den Fuss-
spitzen, leise den Vorhang aufhebend, hinein. Die Andern gehen
unruhig auf und nieder.

Antonio,
halblaut:

Wie fürchterlich, das Letzte, wie unsäglich …
Der Göttliche, der Meister, lallend, kläglich …


Tizianello,
zurückkommend:

Jetzt ist er wieder ruhig. Und es strahlt
Aus seiner Blässe, und er malt und malt.
In seinen Augen ist ein guter Schimmer,
Und mit den Mädchen plaudert er wie immer.


Antonio:

So legen wir uns auf die Stufen nieder
Und hoffen bis zum nächsten Schlimmern wieder.


Sie lagern sich auf den Stufen. Tizianello spielt mit Gianinos
Haar, die Augen halb geschlossen.

[12]
Batista,
halb für sich:

Das Schlimmre … dann das Schlimmste endlich …
nein.
Das Schlimmste kommt, wenn gar nichts Schlimmres
mehr.
Das tote, taube, dürre Weitersein …
Heut ist es noch, als ob’s undenkbar wär …
Und wird doch morgen sein.


Pause.

Gianino:

Ich bin so müd.


Paris:

Das macht die Luft, die schwüle und der Süd.


Tizianello,
lächelnd:

Der Arme hat die ganze Nacht gewacht!


Gianino,
auf den Arm gestützt:

Ja, du … die erste, die ich ganz durchwacht.
Doch woher weisst denn du’s?


Tizianello:

Ich fühlt es ja,
Erst war dein stilles Atem meinem nah,
Dann standst du auf und sassest auf den Stufen …


Gianino:

Mir war, als ginge durch die blaue Nacht,
Die atmende, ein rätselhaftes Rufen.
Und nirgends war ein Schlaf in der Natur.
Mit Atemholen tief und feuchten Lippen,
So lag sie, horchend in das grosse Dunkel,
Und lauschte auf geheimer Dinge Spur.
Und sickernd, rieselnd kam das Sterngefunkel
[13] Hernieder auf die weiche, wache Flur.
Und alle Früchte schweren Blutes schwollen
Im gelben Mond und seinem Glanz, dem vollen,
Und alle Brunnen glänzten seinem Ziehn,
Und es erwachten schwere Harmonien.
Und wo die Wolkenschatten hastig glitten,
War wie ein Laut von weichen, nackten Tritten …
Leis stand ich auf — ich war an dich geschmiegt —


Er steht erzählend auf, zu Tizianello geneigt:

Da schwebte durch die Nacht ein süssen Tönen,
Als hörte man die Flöte leise stöhnen,
Die in der Hand aus Marmor sinnend wiegt
Der Faun, der da im schwarzen Lorbeer steht,
Gleich nebenan, beim Nachtviolenbeet.
Ich sah ihn stehen still und marmorn leuchten;
Und um ihn her im silbrig Blauen, Feuchten,
Wo sich die offenen Granaten wiegen,
Da sah ich deutlich viele Bienen fliegen,
Und viele saugen, auf das Rot gesunken,
Von nächtgem Duft und reifem Safte trunken.
Und wie des Dunkels leiser Atemzug
Den Duft des Gartens um die Stirn mir trug,
Da schien es mir, wie das Vorüberschweifen
Von einem weichen, wogenden Gewand
Und die Berührung einer warmen Hand.
In weissen, seidig weissen Mondesstreifen
War liebestoller Mücken dichter Tanz,
Und auf dem Teiche lag ein weicher Glanz
[14] Und plätscherte und blinkte auf und nieder.
Ich weiss es heut nicht, ob’s die Schwäne waren,
Ob badender Najaden weisse Glieder,
Und wie ein süsser Duft von Frauenhaaren
Vermischte sich dem Duft der Aloë …
Und was da war, ist mir in eins verflossen:
In eine überstarke, schwere Pracht,
Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.


Antonio:

Beneidenswerter, der das noch erlebt
Und solche Dinge in das Dunkel webt!


Gianino:

Ich war in halbem Traum bis dort gegangen,
Wo man die Stadt sieht, wie sie drunten ruht,
Sich flüsternd schmieget in das Kleid von Prangen,
Das Mond um ihren Schlaf gemacht und Flut.
Ihr Lispeln weht manchmal der Nachtwind her,
So geisterhaft, verlöschend leisen Klang.
Beklemmend seltsam und verlockend bang.
Ich hört es oft, doch niemals dacht ich mehr …
Da aber hab ich plötzlich viel gefühlt:
Ich ahnt’ in ihrem steinern stillen Schweigen,
Vom blauen Strom der Nacht emporgespült,
Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen,
Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen,
Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen.
Und schwindelnd überkam’s mich auf einmal:
Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die
Qual,
[15] Der Hass, der Geist, das Blut: das Leben wacht.
Das Leben, das lebendige, allmächtge —
Man kann es haben und doch sein’ vergessen! …


Er hält einen Augenblick inne.

Und alles das hat mich so müd gemacht:
Es war so viel in dieser einen Nacht.


Desiderio,
an der Rampe, zu Gianino:

Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?
Gehüllt in Duft und goldne Abendglut
Und rosig helles Gelb und helles Grau,
Zu ihren Füssen schwarzer Schatten Blau,
In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit.
Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,
Da wohnt die Hässlichkeit und die Gemeinheit,
Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen;
Und was die Ferne weise dir verhüllt,
Ist ekelhaft und trüb und schaal erfüllt
Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen
Und ihre Welt mit unsren Worten nennen …
Denn unsre Wonne oder unsre Pein
Hat mit der ihren nur das Wort gemein …
Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen,
So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht:
Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen,
Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern — —
Sie aber schlafen, wie die Austern dämmern.


Antonio,
halb aufgerichtet:

Darum umgeben Gitter, hohe schlanke,
[16] Den Garten, den der Meister liess erbauen,
Darum durch üppig blumendes Geranke
Soll man das Aussen ahnen mehr als schauen.


Paris,
ebenso:

Das ist die Lehre der verschlungnen Gänge.


Batista,
ebenso:

Das ist die grosse Kunst des Hintergrundes
Und das Geheimnis zweifelhafter Lichter.


Tizianello,
mit geschlossenen Augen:

Das macht so schön die halbverwehten Klänge,
So schön die dunklen Worte toter Dichter
Und alle Dinge, denen wir entsagen.


Paris:

Das ist der Zauber auf versunknen Tagen
Und ist der Quell des grenzenlosen Schönen,
Denn wir ersticken, wo wir uns gewöhnen.


Alle verstummen. Pause. Tizianello weint leise vor sich hin.

Gianino,
schmeichelnd:

Du darfst dich nicht so trostlos drein versenken,
Nicht unaufhörlich an das Eine denken.


Tizianello,
traurig lächelnd:

Als ob der Schmerz denn etwas andres wär
Als dieses ewige dran-denken-müssen,
Bis es am Ende farblos wird und leer …
So lass mich nur in den Gedanken wühlen,
Denn von den Leiden und von den Genüssen
Hab längst ich abgestreift das bunte Kleid,
[17] Das um sie webt die Unbefangenheit,
Und einfach hab ich schon verlernt zu fühlen.


Pause. Gianino ist seitwärts auf den Stufen, den Kopf auf den
Arm geschmiegt, eingeschlummert.

Paris:

Wo nur Giocondo bleibt?


Tizianello:

Lang vor dem Morgen
— Ihr schlieft noch — schlich er leise durch die
Pforte,
Auf blasser Stirn den Kuss der Liebessorgen
Und auf den Lippen eifersüchtge Worte …


Pagen tragen zwei Bilder über die Bühne (die Venus mit den
Blumen und das grosse Bacchanal). Die Schüler erheben sich
und stehen, solange die Bilder vorübergetragen werden, mit ge-
senktem Kopf, das Barett in der Hand.

Nach einer Pause (Alle stehen):

Desiderio:

Wer lebt nach ihm, ein Künstler und Lebendiger,
Im Geiste herrlich und der Dinge Bändiger
Und in der Einfalt weise wie das Kind?


Antonio:

Wer ist, der seiner Weihe freudig traut?


Batista:

Wer ist, dem nicht vor seinem Wissen graut?


Paris:

Wer will uns sagen, ob wir Künstler sind?


Tizianello:

Er hat den regungslosen Wald belebt:
Und wo die braunen Weiher murmelnd liegen
Und Epheuranken sich an Buchen schmiegen,
Da hat er Götter in das Nichts gewebt:
Den Satyr, der die Syrinx tönend hebt,
[18] Bis alle Dinge in Verlangen schwellen
Und Hirten sich den Hirtinnen gesellen …


Batista:

Er hat den Wolken, die vorüberschweben,
Den wesenlosen, einen Sinn gegeben:
Der blassen weissen schleierhaftes Dehnen
Gedeutet in ein blasses, süsses Sehnen;
Der mächt’gen goldumrundet schwarzes Wallen
Und runde, graue, die sich lachend ballen,
Und rosig silberne, die abends ziehn:
Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.
Er hat aus Klippen, nackten, fahlen, bleichen,
Aus grüner Wogen brandend weissem Schäumen,
Aus schwarzer Haine regungslosen Träumen
Und aus der Trauer blitzgetroffner Eichen
Ein Menschliches gemacht, das wir verstehen,
Und uns gelehrt, den Geist der Nacht zu sehen.


Paris:

Er hat uns aufgeweckt aus halber Nacht
Und unsre Seelen licht und reich gemacht:
Und uns gewiesen, jedes Tages Fliessen
Und Fluten als ein Schauspiel zu geniessen,
Die Schönheit aller Formen zu verstehen
Und unsrem eignen Leben zuzusehen.
Die Frauen und die Blumen und die Wellen
Und Seide, Gold und bunter Steine Strahl
Und hohe Brücken und das Frühlingsthal
Mit blonden Nymphen an krystallnen Quellen,
Und was ein Jeder nur zu träumen liebt,
Und was uns wachend Herrliches umgiebt:
[19] Hat seine grosse Schönheit erst empfangen,
Seit es durch Seine Seele durchgegangen.


Antonio:

Was für die schlanke Schönheit Reigentanz,
Was Fackelschein für bunten Maskenkranz,
Was für die Seele, die im Schlafe liegt,
Musik, die wogend sie in Rhythmen wiegt,
Und was der Spiegel für die junge Frau
Und für die Blüten Sonne licht und lau:
Ein Auge, ein harmonisch Element,
In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt —
Das fand Natur in seines Wesens Strahl.
„Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal!“
Rief alles Lebende, das ihn ersehnte
Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte.


Während Antonio spricht, sind die drei Mädchen leise aus der
Thür getreten und zuhörend stehen geblieben. Nur Tizianello,
der zerstreut und teilnahmslos etwas abseits rechts steht, scheint
sie zu bemerken. Lavinia trägt das blonde Haar im Goldnetz
und das reiche Kleid einer venezianischen Patrizierin. Cassandra
und Lisa, etwa 19- und 17jährig, tragen Beide ein einfaches
Gewand aus weissem, anschmiegendem, flutendem Stoff; nackte
Arme mit goldenen Schlangenreifen am Oberarm; Sandalen,
Gürtel aus Goldstoff. Cassandra ist aschblond, Lisa hat eine
gelbe Rosenknospe im schwarzen Haar. Irgend etwas an ihr
erinnert ans Knabenhafte, wie irgend etwas an Gianino ans
Mädchenhafte erinnert. Hinter ihnen tritt ein Page aus der Thür,
der einen getriebenen, silbernen Weinkrug und Becher trägt.

[20]
Antonio:

Dass uns die fernen Bäume lieblich sind,
Die träumerischen, dort im Abendwind …


Paris:

Und dass wir Schönheit sehen in der Flucht
Der weissen Segel in der blauen Bucht …


Tizianello,
zu den Mädchen, die er mit einem leichten Nicken
begrüsst hat. — Alle Andern drehen sich um:

Und dass wir eures Haares Duft und Schein
Und eurer Formen mattes Elfenbein
Und goldne Gürtel, die euch weich umwinden,
So wie Musik und wie ein Glück empfinden —
Das macht: Er lehrte uns die Dinge sehen …


Bitter:

Und das wird man da drunten nie verstehen!


Desiderio,
zu den Mädchen:

Ist er allein? Soll Niemand zu ihm gehen?


Lavinia:

Bleibt Alle hier. Er will jetzt Niemand sehen.


Tizianello:

O, käm ihm jetzt der Tod, mit sanftem Neigen,
In dieser schönen Trunkenheit, im Schweigen!


Alle schweigen.
Gianino ist erwacht und hat sich während der letzten Worte
aufgerichtet. Er ist nun sehr blass. Er blickt angstvoll von
einem zum andern.
Alle schweigen.
Gianino thut einen Schritt auf Tizianello zu. Dann hält er inne,
zusammenschaudernd; plötzlich wirft er sich vor Lavinia hin,
die vorne allein steht und drückt den Kopf an ihr Knie.

[21]
Gianino:

Der Tod! Lavinia, mich fasst ein Grausen!
Ich war ihm nie so nah! Ich werde nie,
Nie mehr vergessen können, dass wir sterben!
Ich werde immer stumm daneben stehn
Wo Menschen lachen, und mit starrem Blick
Dies denken: dass wir alle sterben müssen!
Ich sah einmal: sie brachten mit Gesang
Einen geführt, dem war bestimmt zu sterben.
Er schwankte hin und sah die Menschen alle
Und sah die Bäume, die im leisen Wind
Die süssen Schattenzweige schaukelten.
Lavinia, wir gehen solchen Weg!


Lavinia, ich schlief nur eine Weile
Dort auf den Stufen, und das erste Wort,
Da ich die Augen aufschlug, war der Tod!


Schaudernd:

Ein solches Dunkel senkt sich aus der Luft!


Lavinia steht hochaufgerichtet, den Blick auf den völlig hellen
Himmel geheftet. Sie streift mit der Hand über Gianinos Haar.

Lavinia:

Ich seh kein Dunkel. Ich seh einen Falter
Dort schwirren, dort entzündet sich ein Stern
Und drinnen geht ein alter Mann zur Ruh.
Der letzte Schritt schafft nicht die Müdigkeit,
Er lässt sie fühlen.


Indem sie spricht, und der Thür des Hauses den Rücken wendet,
hat dort eine unsichtbare Hand den Vorhang lautlos aber heftig
[22] zur Seite gezogen. Und alle, Tizianello voran, drängen lautlos
und atemlos die Stufen empor, hinein.

Lavinia,
ruhig weitersprechend, immer gehobener:

Grüsse du das Leben!
Wohl dem der von des Daseins Netz gefangen
Tief atmend und nicht grübelnd, wie ihm sei,
Hingiebt dem schönen Strom die freien Glieder,
Und schönen Ufern trägt es ihn —


Sie hält plötzlich inne und sieht sich um. Sie begreift was ge-
schehen ist und folgt den andern.

Gianino,
noch auf den Knieen, schaudernd vor sich hin:

Vorbei!


Er richtet sich auf und folgt den andern.

Der Vorhang fällt.

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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Tod des Tizian. Tod des Tizian. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn5x.0