Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1867.
[[III]]
Das Polizeirecht.
Das Allgemeine Polizeirecht und die Sicherheitspolizei.
(Vierter Theil.)
Das Pflegſchaftsweſen und ſein Recht.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1867.
[[IV]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
[[V]]
Einleitung.
Es war eine der Hauptaufgaben, die ich mir bei der Be-
arbeitung der innern Verwaltungslehre geſtellt, einmal das ganze
Syſtem derſelben auf ſeine organiſchen Grundbegriffe zurückzuführen,
und dadurch eine ſyſtematiſche Eintheilung der ganzen Wiſſenſchaft
und aller ihrer Theile in der Weiſe feſtzuſtellen, daß jede von der-
ſelben umfaßte Thatſache, jede in derſelben enthaltene Rechtsfrage
ſofort ihre natürliche Stellung im Syſtem finden und damit eben
durch dieſen organiſchen Zuſammenhang mit dem Ganzen ihren
Werth und ihre Löſung finden möge.
Das nun zwingt mich, über den Gegenſtand des folgenden
Werkes ein paar Worte hinzuzufügen.
Ich darf ſagen, daß als ich dieſe Arbeit begann, alle einzelnen
Theile nach langjährigen Vorarbeiten mir vollkommen klar ſchienen.
Das Syſtem, in allen Punkten abgeſchloſſen, lag als ein fertiges
vor mir, und meine Arbeit beſtand und beſteht nur noch darin,
daſſelbe mit ſeinem Material und mit der Ausführung im Einzelnen
auszufüllen. Richtig oder nicht richtig — die Entſcheidung darüber
muß ich der Wiſſenſchaft der Verwaltung anheimgeben — mir
ſelbſt war kein Theil des Ganzen mehr in ſeinem organiſchen Zu-
ſammenhang und ſeiner Stellung unbeſtimmt, als ich die Aus-
arbeitung begann.
Nur auf Einem Punkte ſehe ich jetzt, nachdem der folgende
vierte Theil mir fertig vorliegt, daß ich mich in der ſyſtematiſchen
Ordnung geirrt habe. Er betraf die formell ſchwierigſte aller Fragen,
die Frage nach der Polizei und ihrer Rechte.
[VI]
Bei dem Entwurfe des Ganzen und ſelbſt noch bei der Aus-
arbeitung des ſpeziellen, die Polizei betreffenden Theiles dachte ich
mir, daß das Polizeirecht an ſich, oder das Allgemeine Polizeirecht,
als der allgemeine Theil der Aufgabe und des Rechts der Sicher-
heitspolizei, oder als die Einleitung in die letztere zu ſtellen und
zu bearbeiten wäre. Nun die vollſtändige Ausarbeitung mir vor-
liegt, muß ich annehmen, daß dieß falſch war. Ich kann dieſen
ſyſtematiſchen Fehler nur gut machen, indem ich ihn hier offen
geſtehe, und das richtige Verhältniß angebe. Es wird derſelbe
dem Inhalt im Einzelnen keinen Abtrag thun; ich gebe mich aber
der Hoffnung hin, daß er zur Löſung der Einen und vielleicht
wichtigſten Aufgabe dieſes Werkes nicht unweſentlich beitragen wird.
Denn es ſcheint mir noch immer unendlich viel gewonnen, wenn
neben der Selbſtändigkeit der Verwaltungslehre auch das organiſche
Syſtem als ein feſtſtehendes erkannt wird.
Das Allgemeine Polizeirecht, das hier als Erſter Theil des
Polizeirechts auftritt und der Sicherheitspolizei voraufgeht, gehört
nämlich überhaupt nicht in die innere Verwaltungslehre, ſondern
es iſt ein organiſcher Theil der vollziehenden Gewalt und ihres
Rechts, und hätte in derſelben die Stelle einnehmen ſollen, welche
dort (S. 196 ff.) unter dem ſchon an ſich nicht klaren und deßhalb
nicht richtigen Titel „Das Polizeirecht oder das Zwangsrecht“ die
dritte Abtheilung des erſten Theiles bildet. Es iſt mir vielleicht
geſtattet, dieß zu begründen, und dabei den Fehler und ſeine, bei
jedem ſolchen wiſſenſchaftlichen Irrthum eintretende Folge, die
Sünde der Wiederholung, zu geſtehen. Denn das ſicherſte Crite-
rium eines Fehlers in einem Syſtem oder auch die Unſicherheit
in demſelben iſt es ſtets, wenn man gezwungen wird, auf den-
ſelben Gegenſtand mehr als einmal einzugehen. Das richtige Ver-
hältniß aber iſt folgendes.
Die geſetzgebende Gewalt iſt der Wille des Staats; die Voll-
ziehung iſt ſeine That (Handlung). Dieſe Vollziehung hat wieder
ihren ſelbſtändigen Willen (Verordnung, Verfügung ꝛc.); ſie hat
ihren Organismus und ſie hat ihr Recht. Dieß Recht iſt das
[VII] ihrer eigenen Willensbeſtimmung als das rechtliche Verhältniß der
Verordnung zum Geſetz (Verordnungs- und Verfügungsrecht), das
ihrer eigenen inneren Ordnung als das rechtliche Verhältniß ihrer
Organe zu einander (Competenz ꝛc.) und endlich drittens entſteht
das äußere Vollziehungsrecht, wenn und ſo weit die Action der
Vollziehung mit der ſelbſtändigen einzelnen Perſon und ihrer
Rechtsſphäre zu thun hat. Dieſes Recht nennen wir meiſt im
engeren Sinne das Vollziehungsrecht, oder das Zwangsrecht. Und
von dieſem Rechtsgebiete iſt das was wir das Polizeirecht nennen,
ein, und zwar der zweite Theil. In folgender Weiſe.
Aus dem allgemeinen Begriff der Vollziehung des Staats-
willens entſteht nämlich der Begriff der Verwaltung dadurch, daß
die Vollziehung ein beſtimmtes Object — eine beſtimmte Aufgabe
des thätigen Staats — empfängt. So entſtanden die Begriffe
und Namen der Staatswirthſchaft, der Rechtspflege, und der Innern
Verwaltung. Alle dieſe Gebiete haben aber vermöge der Staats-
begriffe eine gemeinſame, doppelte Aufgabe. Einerſeits ſollen
ſie poſitiv die Bedingungen der perſönlichen Entwicklung feſtſtellen,
andrerſeits ſollen ſie gegen die übermächtigen Gefahren ſchützen.
Die letztere Aufgabe iſt die der Polizei. Die Polizei als ſolche iſt
daher dem geſammten Umfang der Verwaltung immanent, wie die
Gefahr ſelbſt, mit der ſie es zu thun hat. Jedes jener angeführten
drei Hauptgebiete der Verwaltung hat nun ſeine Polizei, weil
jedes ſeine eigenthümlichen Gefahren hat. Allein der Begriff der
Polizei iſt ſchon mit dem der Verwaltung an ſich gegeben, und
gehört daher keinem Theile — alſo auch nicht der Verwaltung des
perſönlichen Lebens — ſpeziell an. Sie iſt vielmehr die ganz all-
gemeine negative Seite aller Verwaltung.
Das Recht nun entſteht für ſie wie immer erſt da, wo ein
Wille — der der vollziehenden Gewalt — einem andern Willen —
dem des Einzelnen — gegenüber tritt. Geſchieht dieß nun da, wo
die Verwaltung die Freiheit des Einzelnen beſchränkt, um durch
dieſe Beſchränkung eine Gefährdung der allgemeinen Entwicklung
zu beſeitigen, alſo eine polizeiliche Function auszuüben, ſo entſteht
[VIII] der Begriff des Polizeirechts. Wie daher die Polizei ein
Theil der Verwaltung überhaupt, und die Verwaltung wieder
ihrem Weſen nach die Vollziehung von beſtimmten Staatsaufgaben
iſt, ſo iſt das Allgemeine Polizeirecht ein Theil des allgemeinen
Rechts der vollziehenden Gewalt und die Grundſätze deſſelben gelten
nicht etwa bloß für die Innere Verwaltung etwa als allgemeiner
Theil der Sicherheitspolizei, wie ſie hier formell hingeſtellt iſt,
ſondern als ein Theil des Rechts der vollziehenden Gewalt.
Die Sicherheitspolizei dagegen iſt wieder eine ganz beſtimmte Er-
ſcheinung dieſer Polizei, und zwar diejenige, welche gegen Gefahren
gerichtet iſt, die ſpeziell die allgemeine öffentliche Ordnung durch
an ſich erlaubte Handlungen einzelner Perſonen bedrohen, wie
etwa die Geſundheitspolizei vor Gefährdungen der Geſundheit, die
Gewichtspolizei vor Gefährdungen der richtigen Gewichte im Ver-
kehr ſchützt u. ſ. w. Die öffentliche Sicherheit iſt daher ein be-
ſtimmter, einzelner Begriff und daher eine beſtimmte Art der
Gefahr, und die Sicherheitspolizei und ihr Recht gehören daher
auch ganz unzweifelhaft in die Verwaltung der perſönlichen Lebens-
verhältniſſe, wie das Polizeirecht an ſich in die vollziehende Gewalt.
Das iſt wohl das wahre Verhältniß, und es war am Ende falſch,
in der Abſicht, die Sicherheitspolizei beſſer zu erklären, dem allge-
meinen Polizeirecht ſeine richtige Stelle zu nehmen.
Dagegen läßt es ſich anderſeits nicht verkennen, daß die for-
melle Verbindung des allgemeinen Polizeiweſens mit der Sicherheits-
polizei auch einen großen Vortheil darbietet. Derſelbe beſteht darin,
daß faſt nur in dieſer Verbindung eigene Vorleſungen und ſelb-
ſtändige theoretiſche Behandlungen des Polizeiweſens praktiſch ein-
gerichtet werden können, da ein Hinausreißen der Sicherheitspolizei
aus dem ganzen Gebiete nicht thunlich iſt. In der That hat auch
dieß an ſich nicht das geringſte Bedenken; nur ſoll man dabei ſtets
das Bewußtſein von der wahren ſyſtematiſchen Stellung und Auf-
gabe des allgemeinen Polizeirechts neben dem des ſpeziellen der
Sicherheitspolizei feſthalten. Damit würde jedem, auch dem ſtreng-
ſten ſyſtematiſchen Bedürfniß Genüge geſchehen.
[IX]
Ich habe geglaubt, dieſe Erklärung hier vorausſenden zu
müſſen. Die große Unbeſtimmtheit des Begriffes der Polizei, die
Aufgabe, dieſelbe nur erſt überhaupt auf ihr wahres Gebiet zu-
rückzuführen, das Streben, ſie dem ſo viel höheren und größeren
der Verwaltung überhaupt und ſpeziell des Innern unterzuordnen,
und die Schwierigkeit, den Begriff der Sicherheitspolizei, der bis-
her die ganze Polizei umfaßte, als einen ganz ſpeziellen in der
innern Verwaltung aufzuſtellen, haben den ſyſtematiſchen Fehler
hervorgerufen. Die Lücke, die dadurch in der Lehre von der voll-
ziehenden Gewalt entſtanden iſt, iſt keine unbedeutende, und der
Begriff und die Stellung der Sicherheitspolizei als ſpezielle Polizei
des perſönlichen Lebens haben dadurch nicht an Klarheit gewonnen.
Indeß darf ich wiederholen, daß die einzelnen Ausführungen da-
durch kaum erheblich leiden werden. Sollten meine verehrten Leſer
daher auf das Syſtem als ſolches Werth legen, ſo bitte ich nur,
das hier aufgeſtellte „Polizeirecht“ einfach an die oben bezeichnete
Stelle der vollziehenden Gewalt zu ſetzen. Es ſcheint mir, als ob
alsdann dem Ganzen Genüge geſchehen wäre.
Ich kann dabei nicht ſchließen, ohne einen zweiten Punkt,
gleichfalls ſyſtematiſcher Natur, hier zu berühren, bei dem es ſich
jedoch mehr um die Auffaſſung ſelbſt als um eine formelle Be-
ſtimmung handelt. Das iſt das Preßrecht. Viele meiner Leſer
werden erwarten, daß das Preßrecht und die Preßgeſetzgebung
nebſt Briefrecht, Hausrecht u. ſ. w. gleichfalls in die Sicherheits-
polizei hineingeſtellt ſein werde. Ich muß dieſe Auffaſſung für
eine nicht richtige halten. Die Preſſe iſt an und für ſich durchaus
keine bloß erlaubte Handlung, wie das Briefſchreiben, der Beſitz
von Waffen u. ſ. w., ſondern ſie iſt ein großes, gewaltiges Mittel
der geiſtigen Bildung eines Volkes, und nimmt namentlich in
unſerer Zeit neben dem Unterrichtsweſen eine vollkommen ſelb-
ſtändige, demſelben an Bedeutung und Einfluß faſt gleichkommende
Stellung ein. Wir können daher mit dem, was man die „Preß-
polizei“ nennt und was in derſelben vorkommt, weder das Weſen
der Preſſe, noch auch das Recht derſelben erſchöpfen. Der
[X] Gedanke, die ganze Preſſe nur vom Standpunkt der Polizei zu
behandeln, iſt an ſich dieſes großen Bildungsmittels unwürdig; es
wäre das faſt als wollte man die Univerſitäten nur noch vom
Standpunkt der Univerſitätspolizei betrachten. Es iſt ferner kein
Zweifel, daß gerade ſeit der letzten Zeit die Preſſe einen ſolchen
Umfang gewonnen, daß ſie mit der früheren kaum verglichen wer-
den kann. So lange der Kampf um die Grundlagen der Ver-
faſſung Europa erſchütterte, war es natürlich, daß die politiſche
Preſſe nicht bloß die tonangebende, ſondern auch die dem Umfange
nach bedeutendſte war. Daher ſtammt jene Einſeitigkeit, die man
noch vielfach findet, unter dem Ausdruck der „Preſſe“ ausſchließ-
lich die politiſche zu verſtehen, und daher auch jene Richtung,
welche das Preßrecht weſentlich nur als die höhere Polizei gegen
die politiſche Preſſe auffaßte. Das hat ſich geändert, und ändert
ſich mit jedem Tage mehr. Neben, ja zum Theil in der politi-
ſchen Preſſe ſelbſt iſt eine zweite entſtanden, die wir die Bildungs-
preſſe nennen können, und die in der That an Umfang und In-
halt in einer Weiſe gewonnen, die man noch vor zwanzig Jahren
kaum für möglich gehalten. Dieſelbe hat die dritte große Function
der geiſtigen Welt übernommen, welche wir die Selbſtbildung
des Volkes, die Selbſtverwaltung ſeines geiſtigen Lebens nennen
können. Wir werden im folgenden Theile auf Inhalt und Bedeutung
dieſer Function genauer eingehen; hier genügt wohl, darauf hin-
zuweiſen, daß die Maſſe von geiſtiger Arbeit und geiſtiger Con-
ſumtion, die hier geboten und empfangen wird, ſo groß und ſo
hochbedeutend iſt, daß das politiſche, einſt ausſchließlich herrſchende
Element jetzt nur noch eine, wenn auch ſtets entſcheidende Seite
in dieſer großen Bewegung der Geiſter bildet. Damit hat dann
die Preßpolizei eine ganz andere Stellung eingenommen. Man
hat ſich endlich überzeugt, daß es weder in der Aufgabe noch in
der Macht der Verwaltung liegt, in dieſes Leben der Preſſe mit
poſitiver Thätigkeit einzugreifen. Die Illuſion iſt geſchwunden, daß
man den Geiſt des Volkes beherrſchen kann, indem man einen
nutzloſen polizeilichen Kampf mit dem Geiſte der Preſſe fortſetzt.
[XI] Für unſere Zeit giebt es daher ſtatt der alten Preßpolizei als
der einzigen Form, in der die Verwaltung ſich um die Preſſe
kümmerte, ein Preßweſen, wie es ein Geſundheits- und ein Unter-
richts-, ein Communications- und ein Creditweſen und anderes
giebt. Dieß Preßweſen ſoll als ſolches in die Verwaltungslehre
aufgenommen und von derſelben behandelt werden; es iſt nicht
mehr bloß Gegenſtand der Polizei, ſondern der geiſtigen Bildung
überhaupt, und die Lehre von ihm und ſeinem Recht iſt künftig
das Bewußtſein der Staatswiſſenſchaft von der geiſtigen Welt und
ihrer Arbeit im Staate. Das iſt der Standpunkt, den wir ein-
nehmen, und dieſem Standpunkt entſpricht in der That das poſi-
tive Preßrecht und ſeine Geſchichte. Die Bewegung zur „Freiheit
der Preſſe“ iſt nicht bloß negativ die Beſeitigung der polizeilichen
Maßregeln gegen dieſelbe, ſondern eben ſo ſehr poſitiv die Ent-
wicklung einer organiſchen Auffaſſung ihrer Function. In dieſer
Weiſe haben wir im folgenden Theil, der Verwaltung des geiſtigen
Lebens, die Preſſe aufgefaßt und ihr Recht behandelt. Es iſt klar,
daß dabei die Polizei der Preſſe keineswegs verſchwindet. Die
Preſſe fordert ihre gerichtliche und Verwaltungspolizei eben ſo gut
als der Unterricht, das Maß und Gewicht, der Werthumlauf,
die Land- und Forſtwirthſchaft u. ſ. w. Allein das Weſentliche
iſt, daß die Preßpolizei nicht mehr wie früher das Preßrecht
ſelber iſt, ſondern vielmehr nur in dem Preßrecht vorkommt,
in demſelben Sinne, wie die Polizei als die ſchützende negative
Seite der Verwaltung in jedem Gebiete des Verwaltungsrechts
erſcheint. Die würdige Auffaſſung der Preſſe im Ganzen fordert
daher, daß man das Preßrecht nicht mehr als ſelbſtändige Kate-
gorie der Sicherheitspolizei, und damit die Preſſe ſelbſt nicht mehr
als eine beſtändige, immanente, wir möchten ſagen organiſche Ge-
fährdung der öffentlichen Rechtsordnung betrachte. Die Verwal-
tungslehre, will ſie ihrem Zweck entſprechen, muß ſich gewöhnen,
ſtatt wie bisher von den Gefahren, jetzt vielmehr von den Auf-
gaben und der ſelbſtgebildeten Organiſation der Preſſe zu reden
und ſie wie jeden innern Lebensgenuß der freien Selbſtentwicklung
[XII] der Gemeinſchaft aufzufaſſen. Dann erſt wird in der Wiſſenſchaft
die beſchränkte Verweiſung des Preßweſens in das Polizeirecht
aufhören, und die geiſtige Welt der Völker, die gewaltige bewun-
dernswerthe Arbeit der Selbſtbildung derſelben, die die Grund-
lage der Gegenwart und den Keim der Zukunft enthält, in ihrer
mächtigen organiſchen Entwicklung ſich zum Bewußtſein bringen.
Wir dürfen nun nochmals die Ueberzeugung ausſprechen, daß
das hier Aufgeſtellte, für die organiſche Auffaſſung des Syſtems
entſcheidend, die Erörterung und Vergleichung der einzelnen Punkte
in ihrem bezüglichen Werthe kaum weſentlich beeinfluſſen dürfte.
Im Uebrigen muß die nachfolgende Arbeit es durch ihren
Inhalt rechtfertigen, weßhalb ſie eine größere Ausdehnung erhalten
hat, als ich urſprünglich beabſichtigte. Ich muß, je länger ich dieß
wichtige Gebiet betrachte, immer entſchiedener zu der Ueberzeugung
kommen, daß die wiſſenſchaftliche Behandlung des Polizeirechts,
die unſrer Literatur bekanntlich gänzlich fehlt, einerſeits ein prin-
zipiell durchgeführtes Verſtändniß des öffentlich rechtlichen Verhält-
niſſes von Geſetz und Verordnung, von Klag- und Beſchwerderecht
vorausſetzt, und andrerſeits zu einer der bisherigen Auffaſſung
weſentlich verſchiedenen Anſchauung von der Natur und der Be-
deutung der Strafe führen wird. Die Theorie, welche bisher
ſei es in dieſer, ſei es in jener Weiſe, aus dieſem oder jenem
Motiv die Strafe als einen in ſeinem ganzen Umfang weſentlich
gleichartigen Begriff behandelt, und keine Unterſcheidung innerhalb
derſelben enthält, iſt nicht mehr haltbar. Ebenſowenig iſt das
von Frankreich allerdings mit gutem hiſtoriſchen Grunde herüber-
genommene Syſtem der Strafgeſetzgebung, in dem alle Strafen
gleichmäßig in die Strafgeſetzbücher aufgenommen werden, auf die
Dauer aufrecht zu halten. Wir müſſen die alte Vorſtellung eines
ſpezifiſchen Unterſchiedes zwiſchen Verbrechen einerſeits und Ver-
gehen andrerſeits wieder zu ihrer wahren Bedeutung erheben. Es
iſt falſch, wenn man darin nichts als eine quantitative Verſchie-
denheit erblickt, und es iſt falſch, wenn in Folge deſſen die Be-
handlungen der Strafrechtstheorien gar keine Rückſicht mehr auf
[XIII] dieſen Unterſchied nehmen, und das ganze Gebiet als eine gleich-
artige Einheit mit einer ſo oder ſo gearteten Deduction umfaſſen.
Es iſt unabweisbar, dem Begriffe des Verbrechens eine Idee der
ſittlichen, dem Begriffe des Vergehens und der Uebertretung eine
Idee der ſtaatlichen oder wenn man lieber will der adminiſtrativen
Ordnung zum Grunde zu legen. Es wird nicht möglich bleiben,
alles was wir Strafe nennen, künftig als eine ebenſo gleichartige
Erſcheinung mit einem und demſelben Begriffe zu erledigen. Es
iſt ſchon dem gewöhnlichen Menſchenverſtande klar, daß eine Buße
von einem Thaler etwas weſentlich anderes iſt, als eine lebens-
längliche Zuchthaus- oder gar die Todesſtrafe. Es wird ſich als
unvermeidlich zeigen, das ganze Gebiet der Ordnungsſtrafen
von dem der eigentlichen Strafen, die wir die peinlichen Stra-
fen nennen, zu trennen, und darnach die Wiſſenſchaft des Straf-
rechts umzugeſtalten. Es wird das aber nicht von der Straf-
rechtslehre ausgehen, ſondern vom Polizeirecht. Damit aber
das Polizeirecht das vermöge, muß es innerhalb der Verwaltungs-
lehre wieder als ein ſelbſtändiges Gebiet erſcheinen. Ueber die
Verwechslung von Polizei und Verwaltung, von Polizeiwiſſenſchaft
und Verwaltungslehre noch weiter zu reden, halten wir für über-
flüſſig. Allein wir müſſen daran feſthalten, daß wir ohne eine
ſolche ſelbſtändige Lehre vom Polizeirecht weder in der Verwaltung
noch in der Strafrechtslehre weiter kommen werden, und die Conſe-
quenzen für das Strafverfahren, die ſich aus dem Weſen der
letzteren ergeben und die ja ſchon zum Theil praktiſch durchgeführt
ſind, liegen ſo nahe, daß wir ſie nicht eigens hervorzuheben
brauchen. Das ſind die Gedanken, welche uns bewogen haben,
die Frage nach dem Weſen der Polizei im Allgemeinen und der
Sicherheitspolizei im Beſondern hier möglichſt gründlich und mit
Zuhilfenahme der Geſetzgebung aller Hauptſtaaten Europas zu be-
handeln. Wir wiſſen recht wohl, daß wir in Beziehung auf die
bisherige Anſchauung der Criminaliſten hier nur negativ aufge-
treten ſind. Aber obwohl wir ſonſt der negativen Arbeit keinen
allzugroßen Werth beilegen, ſo wird man uns doch zugeben, daß
[XIV] ſie der poſitiven Neugeſtaltung vorausgehen muß. Vielleicht daß
uns Zeit und Kraft bleibt, wenn unſere nächſte große Arbeit, die
Verwaltungslehre, vollendet iſt, auch im poſitiven Sinn die obigen
Gedanken weiter auszuführen. Immer aber würde es unſer Stolz
ſein, wenn das, was wir hier verſucht, den Anlaß zu ernſterer
Erwägung der ganzen Frage geben würde.
Das Pflegſchaftsweſen hätte eigentlich einen ſelbſtändigen vier-
ten Band bilden und dem Geſundheitsweſen folgen ſollen. Es iſt
aber nicht möglich, mehr über denſelben zu ſagen als was wir
geſagt, ohne für eine Arbeit wie die unſere, die ohnehin ſo ziem-
lich das Maß ſelbſt einer recht geübten und auf langen Vorarbeiten
ruhenden Leiſtungsfähigkeit erreicht, zu viel ſagen zu müſſen. Wenn
es uns nur gelingt, den verwaltungsrechtlichen Standpunkt für
dieß bisher amphibiſche Gebiet, das ziemlich heimatlos theils in
bürgerliche Rechte, theils außerhalb demſelben unter verſchiedenen
Namen umhergeworfen wird, feſtzuſtellen, ſo wäre viel gewonnen.
Das Uebrige würde ſich faſt von ſelbſt ergeben.
Wien, Juni 1867.
[[XV]]
Inhalt.
- Das Polizeirecht.
- Grundbegriffe.
- Seite
- I. Begriff der Polizei 1
- II. Das Syſtem der Polizei und die Sicherheitspolizei 3
- III. Das Polizeirecht. Syſtem deſſelben. Allgemeines und beſonderes
Polizeirecht 6 - Erſter Theil.
Das allgemeine Polizeirecht (der vollziehenden Gewalt gehörend). - Einleitung 12
- I. Begriff 12
- II. Die ſyſtematiſchen Elemente deſſelben 12
- III. Die gerichtliche Polizei und die Verwaltungspolizei 15
- 1) Der Unterſchied an ſich 15
- 2) Das Strafgericht und ſeine Polizei 16
- 3) Das Princip des Unterſchiedes im Recht der gerichtlichen und
der Verwaltungspolizei 19 - Das allgemeine Verwaltungspolizeirecht für ſich26
- I. Begriff 26
- II. Princip des Rechts der Verwaltungspolizei 27
- III. Syſtem des allgemeinen Polizeirechts 31
- A. Das Recht der Polizeiverfügungen 31
- 1) Die Polizeiverfügung an ſich 31
- 2) Das Polizeiſtrafrecht 36
- B. Das Polizeiverfahren und ſein Recht 50
- 1) Begriff 50
- 2) Das ſtrafgerichtliche Polizeiverfahren 51
- 3) Das Verfahren der Polizeigerichte 57
- 4) Das verwaltungspolizeiliche Verfahren und das öffentliche
Waffenrecht 60 - a) Das polizeiliche Vollzugsrecht im Allgemeinen 61
- b) Das perſönliche Zwangsrecht 62
- c) Begriff und ſyſtematiſche Geſtalt des polizeilichen Waffenrechts 64
- 1) Die militäriſche Aſſiſtenz 65
- 2) Die Gendarmerie 67
- 3) Waffenrecht einzelner Vollzugsorgane 70
- C. Die Verantwortlichkeit der Polizei 74
- Begriff 74
- 1) Haftung für die Polizeiverfügung 75
- 2) Die Haftung für das Polizeiverfahren 79
- Zweiter Theil.
Die Sicherheitspolizei und ihr Recht. (Perſönliches Leben.) - Seite
- Begriff, Princip und Stellung derſelben 88
- Erſte Abtheilung. Höhere Sicherheitspolizei 92
- I. Begriff und Princip 92
- II. Die Grundlagen der hiſtoriſchen Rechtsbildung der höheren Sicher-
heitspolizei 97 - III. Das Syſtem und Princip des Rechts der höheren Sicherheitspolizei 103
- IV. Das geltende Recht 107
- 1) Die Polizei der Verbindungen und geheimen Geſellſchaften 107
- 2) Die Polizei der öffentlichen Verſammlungen 115
- 3) Polizei der Volksbewegungen 119
- 4) Das Recht des Belagerungszuſtandes 124
- Zweite Abtheilung. Einzelpolizei 132
- I. Begriff und Recht der gerichtlichen und der eigentlichen Einzelpolizei 132
- II. Allgemeine Principien des Rechts der Einzelpolizei 137
- III. Das Syſtem des Rechts der Einzelpolizei 140
- 1) Die polizeiliche Verhaftung 140
- 2) Das polizeiliche Hausrecht 151
- 3) Polizeiliche Hausdurchſuchung, Beſchlagnahme, Briefrecht 156
- 4) Polizei der Waffen 158
- Dritte Abtheilung. Niedere Sicherheitspolizei 160
- Begriff und Recht 160
- I. Perſönliche niedere Sicherheitspolizei 161
- a) Polizei des Bettels und Vagabundenweſens 161
- b) Polizei der entlaſſenen Sträflinge 166
- II. Gewerbliche niedere Sicherheitspolizei 169
- III. Elementare niedere Sicherheitspolizei 171
- Das Pflegſchaftsweſen.
- Begriff und Rechtsprincip 177
- I. Das Vormundſchaftsweſen 181
- 1) Begriff 181
- 2) Das Rechtsprincip der Vormundſchaft 183
- 3) Die hiſtoriſchen Grundformen des Vormundſchaftsweſens und
ſeines öffentlichen Rechts 184 - a) Das Vormundſchaftsweſen der Geſchlechterordnung und des
römiſchen Rechts 184 - b) Das Vormundſchaftsweſen der ſtändiſchen Epoche (das ger-
maniſche Vormundſchaftsrecht) 186 - c) Das Vormundſchaftsweſen der gegenwärtigen ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaftsordnung 188 - II. Das Verlaſſenſchaftsweſen 190
- Begriff und Rechtsprincip 190
- 1) Die Todesfallsaufnahme und Verſchollenheitserklärung 193
- 2) Die Verlaſſenſchaftspflege 195
- 3) Die Erbſchaftseinweiſung und Erbſchaftstheilung 196
- III. Die Maſſenverwaltung (Concursweſen) 198
Das Polizeirecht.
Grundbegriffe.
I. Begriff der Polizei.
Wer ſich irgendwie mit den Grundbegriffen des öffentlichen Rechts
und ihrer beſtimmten und klaren Faſſung eingehend beſchäftigt hat, der
weiß, daß es im ganzen Gebiete deſſelben keinen Begriff und kein
Rechtsſyſtem gibt, die auch nur annähernd ſolche Schwierigkeit machen,
wie diejenigen, welche ſich auf die Polizei beziehen. So wie man
wiſſenſchaftlich oder praktiſch an dieß Gebiet hinankommt, ſo häufen ſich
dieſe Schwierigkeiten nicht ſo ſehr im Einzelnen, als vielmehr für das
Ganze und ſein richtiges Verſtändniß, und zwar in einem ſolchen
Grade, daß bisher weder die Wiſſenſchaft noch die Geſetzgebung es
verſucht haben, zu einem definitiven Abſchluß für Begriff und Gränze
dieſes Gebietes zu gelangen.
Daß dieß nun dennoch, und zwar keinesweges bloß theoretiſch
nothwendig iſt, darüber ſind wohl im Grunde alle einig. Denn das,
was wir Polizei nennen, greift ſo tief und gewaltig in das ganze
Leben des Staats und des Einzelnen hinein und beſchränkt die Freiheit
des letzteren im Namen der Entwicklung des erſteren in ſo entſchei-
dender und zugleich empfindlicher Weiſe, daß ohne die vollſtändige
Klarheit über die Polizei kein öffentliches Recht, am wenigſten das
Verwaltungsrecht, als ein in ſich harmoniſches und fertiges angeſehen
werden kann.
Um nun zu dieſer Klarheit zu gelangen, muß man ſich zuerſt über
Einen Satz einig ſein.
Kein Begriff iſt an ſich unklar. Jede Unfertigkeit in demſelben
beruht ſtets nur darauf, daß man mit demſelben Wort verſchiedene
Funktionen bezeichnet. Die Aufgabe beſteht nun darin, dieſe Funktionen
zu ſcheiden. Nirgends iſt dieß mehr erſichtlich, als bei dem Begriffe
und in Folge deſſen bei dem Recht der Polizei.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 1
[2]
Der reine Begriff der Polizei iſt an ſich ſehr einfach. Er enthält
die Geſammtheit der Funktionen des Staats, durch welche derſelbe jedem
in der Natur jeder Kraft liegenden maßloſen und eben dadurch gemein-
gefährlichen Streben begränzend entgegentritt, wo ein ſolches die öffent-
lichen Zuſtände der Gemeinſchaft und ihres Rechts, ihres inneren und
äußeren Lebens ſich und ſeinen Sonderzwecken unterzuordnen trachtet
und dadurch die organiſche Geſammtentwicklung gefährdet. Die Polizei
iſt daher die vollziehende Gewalt, in ſofern der Gegenſtand der-
ſelben eine öffentliche Gefährdung, und ihre Aufgabe ein Schutz iſt.
Der Polizeiorganismus, den man auch wohl kurz als „Polizei“ bezeich-
net, iſt dabei der Organismus von Behörden, welche dieſe Funktion
zu ihrer Aufgabe haben. (S. Vollz. Gewalt 196 ff.)
Dieſer reine Begriff iſt nun durch zwei Momente unklar geworden.
Zuerſt hat der geſchichtliche Gang der Entwicklung es mit ſich
gebracht, daß nicht eben bloß jene die Geſammtheit ſchützende,
ſondern jede Thätigkeit des Staats mit dem Ausdruck „Polizei“ be-
zeichnet ward. Wir haben in der Lehre von der vollziehenden Gewalt
dieß Verhältniß bereits erklärt. Sie bedeutet in dieſem Sinn in der
That die Verwaltung ſelbſt, aber freilich die Verwaltung, inſofern ſie
ohne alle ſelbſtthätige Mitwirkung des Volkes einſeitig vom ſtaatlichen
Organismus ausgeht. Sie iſt damit die unfreie, wenn auch keinesweges
principloſe Form der Verwaltung, und enthält daher hier mehr einen
hiſtoriſchen Abſchnitt in der Verwaltung ſowohl nach Geiſt als nach
Form derſelben, als einen ſyſtematiſchen Begriff. Das Princip, das ſie
verwirklicht, iſt in der Inneren Verwaltung (Einleitung) als der Eudä-
monismus bezeichnet worden. Wir können nun dieſen Standpunkt für
die Auffaſſung der Polizei wohl als einen überwundenen anſehen.
Zweitens aber bedeutet der Ausdruck „Polizei“ die Vollziehung
und die vollziehende Gewalt überhaupt in ihrer Scheidung von der
Verwaltung in dem von uns aufgeſtellten Sinne, nach welchem die
Verwaltung die Vollziehung einer beſtimmten organiſchen Aufgabe des
Staats iſt. Aber auch hier wird unter Polizei wieder nicht die Voll-
ziehung überhaupt, ſondern nur dasjenige Gebiet derſelben verſtanden,
welches ſich gegen die einzelne Perſönlichkeit richtet, und dieſelbe
zur Erfüllung der im Verwaltungsrecht liegenden Vorſchriften zwingt.
Die Polizei iſt in dieſem Sinne die Zwangsgewalt der Verwal-
tung gegen den Einzelnen. (Vollz. Gewalt 201.)
Allerdings nun könnte man bei dieſem Begriffe ſtehen bleiben,
wenn jene ganz allgemeine Funktion der Polizei, die Vollziehung im
einzelnen Falle zu erzwingen, eben eine allgemeine bliebe. Denn man
kann ganz füglich ſagen, daß jede Vollziehung zugleich eine Sicherung
[3] gegen diejenigen Gefahren enthält, welche die Nichtvollziehung mit ſich
bringt, ſo daß der obige formale Begriff mit der angegebenen Auffaſſung
übereinſtimmte.
Allein ſo wenig es einen abſtrakten Begriff der Verwaltung gibt
der bloß abſtrakt bliebe, ſo wenig bleibt jenes allgemeine Element der
Vollziehung ein bloß allgemeines. Auch die Aufgabe, durch die Po-
lizei die öffentliche Sicherheit herzuſtellen, erſcheint in Wirklichkeit als
eine ſehr concrete und beſtimmte, zum Theil höchſt verſchieden geſtaltete
in jedem einzelnen Gebiete der Verwaltung; und das, was wir
„Polizei“ nennen, wird daher in der Wirklichkeit des Staatslebens aus
einer abſtrakten Vollziehungsgewalt zu einer vielfach beſtimmten Verwal-
tungsaufgabe. In jedem Gebiete der Verwaltung muß die Funktion
derſelben für dieſe Verwaltungsaufgabe vorhanden ſein, denſelben Zweck
in der verſchiedenſten Weiſe erfüllen, denſelben Grundſatz unter den
verſchiedenſten Modifikationen zur Geltung bringen. Es gilt daher für
die Polizei, was wir für den Unterſchied von Vollziehung und Verwal-
tung geſagt haben. Aus dem allgemeinen Begriff der Polizei entſteht
die eigentliche oder wirkliche Polizei, indem derſelbe im Gebiete der Ver-
waltung ſich in lauter ganz beſtimmte einzelne polizeiliche Aufga-
ben auflöst. Dieſe nun bilden zuſammen genommen das, was wir
das Syſtem der Polizei nennen. Erſt an dieß Syſtem der Polizei
ſchließt ſich das, worauf es uns ankommt, und was ſo viele Schwie-
rigkeiten in der Staatswiſſenſchaft von jeher gemacht hat, das Syſtem
und die wiſſenſchaftliche Behandlung des Polizeirechts.
II. Das Syſtem der Polizei und die Sicherheitspolizei.
Faßt man nämlich die Polizei in dem obigen Sinne als diejenige
Funktion auf, welche in allen Punkten des Geſammtlebens daſſelbe
vor den Gefahren zu ſchützen hat, die aus dem Uebermaße irgend einer
Kraft entſtehen, ſo iſt es klar, daß die Polizei an ſich gar kein Sy-
ſtem für ſich haben kann, ſondern daß ſie ſich vielmehr an das
Syſtem der Verwaltung anſchließt, und in jedem organiſchen Theil der
letztern die negative Seite deſſelben bildet. Dadurch iſt es eben erklärlich,
daß, ſo lange überhaupt die Funktion der Verwaltung eine weſentlich
negative war, auch die „Polizeiwiſſenſchaft“ als Form der ganzen Ver-
waltungslehre auftreten konnte. Jetzt, nachdem die poſitive Thätigkeit
der Verwaltung als die Hauptſache anerkannt iſt, müſſen wir natürlich
einen andern Standpunkt ſuchen. Und dieſer beſteht darin, daß, wie
geſagt, die Polizei für jedes Gebiet der Verwaltung die negative Funktion
beſitzt, und daher ſich an das Syſtem der Verwaltung ſelbſt anſchließt.
[4]
Die Durchführung dieſes Satzes nun hat dadurch einen Werth,
daß man auf dieſe Weiſe zur endgültigen Klarheit über die große
Unbeſtimmtheit gelangt, welche in dem Worte Polizei liegt.
I. Zuerſt nämlich haben wir den allgemeinen Begriff und Inhalt
der Polizei von den einzelnen Gebieten derſelben zu unterſcheiden. Der
allgemeine Theil der Polizeilehre enthält alles dasjenige, was in
allen einzelnen Funktionen, bei aller ihrer Verſchiedenheit gleichartig
iſt. Und da nun dieß weſentlich in der wirklichen Durchführung
der Aufgaben der Polizei beſteht, ſo iſt allerdings richtig, daß dieſer
allgemeine Theil der Polizeilehre eben ſo gut als ein Theil der voll-
ziehenden Gewalt und ihres Rechts im Unterſchiede von der eigentlichen
Verwaltung angeſehen werden kann. Die Aufnahme deſſelben in die
innere Verwaltung hat dagegen den allerdings nur didaktiſchen Vorzug,
daß das Polizeiweſen als ein Ganzes erſcheint. Steht dieß feſt, und
iſt damit die organiſche Grundlage für das Verſtändniß der Polizei
gefunden, ſo kann man alsdann ſpäter die Uebernahme dieſes allgemei-
nen Theils in die vollziehende Gewalt neben ihrer ſyſtematiſchen Rich-
tigkeit auch zweckmäßig finden.
II. Der beſondere Theil der Polizei zerfällt dann, wie der allge-
meine Begriff der Verwaltung, in die drei großen Gebiete der Staats-
wirthſchaft, der Rechtspflege und des Innern. Es gibt daher eine
Finanzpolizei, eine Polizei der Rechtspflege oder gerichtliche
Polizei, und endlich eine innere Polizei, die man wohl die eigentliche
oder Verwaltungspolizei nennt. Wie es nun Sache der Staats-
wirthſchaft iſt, ihre Polizei zu behandeln, und wie es Sache der Rechtspflege
wäre, die ihrige zu erledigen, ſo iſt es Sache der innern Verwaltungs-
lehre, die Verwaltungspolizei als ſelbſtändigen Begriff anzuerkennen und
durchzuführen. Das letztere iſt es aber, was man als die eigentliche
Polizeilehre bezeichnen könnte, wenn es möglich wäre, die polizeiliche,
negative Funktion von der adminiſtrativen, poſitiven zu ſcheiden.
Dieß nun iſt aber nicht bloß faſt unthunlich in den einzelnen Ge-
bieten der Verwaltung des Innern, ſondern es iſt zugleich höchſt
ſchwierig zwiſchen der gerichtlichen und der Verwaltungspolizei, und
wird noch ſchwieriger gemacht durch die in Geſetzgebung und Literatur
faſt durchgreifende Verſchmelzung beider Begriffe. Es wird daher, ſo
lange die ganze Theorie nicht feſtſteht, für jede Polizeilehre von ent-
ſcheidender Bedeutung, dem Verhältniß der gerichtlichen wie adminiſtra-
tiven Funktion der Polizei eine ſelbſtändige Beachtung zu widmen, was
wir unten thun werden.
III. Stehen auf dieſe Weiſe der Begriff und die drei Hauptgruppen
der Polizei feſt, ſo kann man nunmehr für die Verwaltungspolizei
[5] von dem reden, was wir das Syſtem der letzteren nennen müſſen.
Das Syſtem dieſer Polizei iſt das der Verwaltung ſelbſt. Man
wird daher von einer Bevölkerungs-, Geſundheits-, Bildungs-, Elementar-,
Verkehrs-, Landwirthſchaftspolizei u. ſ. w. mit Recht reden. Jeder dieſer
Begriffe wird die Geſammtheit von Grundſätzen und Maßregeln enthal-
ten, welche die Verwaltung zum Schutze jedes dieſer beſtimmten Le-
bensverhältniſſe gegen die daſſelbe bedrohenden Gefahren ergreift, wäh-
rend die Verwaltung im engern Sinne die Maßregeln zur Förderung
der Entwicklung bedeutet. Der Grund jedoch, weßhalb man dieſe
Verwaltungspolizei von der Verwaltung nicht formell trennt, liegt
dann eben im Weſen der Sache ſelbſt, wie wir unten ſehen werden.
Und ſo wäre alles klar, bis auf den letzten formalen Begriff, mit dem
wir noch abrechnen müſſen. Das iſt der der Sicherheitspolizei.
IV. Das Bewußtſein von jener doppelten Funktion der Verwal-
tung in allen ihren Gebieten, nämlich der poſitiven, fördernden und
helfenden, und der negativen, ſchützenden und bewahrenden, iſt bereits,
wie bekannt, im vorigen Jahrhundert ſehr lebhaft vorhanden geweſen,
und hat auch ſeinen ganz ſpecifiſchen Ausdruck gefunden. Man um-
faßte nämlich jene Geſammtheit der poſitiven Anordnungen und Thä-
tigkeiten mit dem Namen der Wohlfahrtspolizei und die Geſammt-
heit der negativen mit dem Ausdruck der Sicherheitspolizei, welche
man dann wieder gemeinſam als die „Polizei“ zuſammenfaßte. Wohl-
fahrtspolizei war demnach Verwaltung, Sicherheitspolizei war die innere
Polizei. Am deutlichſten iſt darüber vielleicht das preußiſche allgemeine
Landrecht, das bekanntlich eben ſo ſehr ein Verwaltungs- als ein bürger-
liches Geſetzbuch iſt, und ſich daher über Verwaltung und Polizei klar
ſein mußte. Daſſelbe ſagt II, 13. §. 2. „Die vorzüglichſte Pflicht des
Staatsoberhaupts iſt es, ſowohl die innere als die äußere Ruhe und
Sicherheit zu erhalten.“ §. 3. „Ihm kommt es zu, für Anſtalten
zu ſorgen, wodurch den Einzelnen Mittel und Gelegenheit geſchaffen
werden, ihre Fähigkeit und Kraft zu bilden und dieſelben zur Förde-
rung des Wohlſtandes anzuwenden.“ Da ſind beide Begriffe in
ihrer reinſten Form des vorigen Jahrhunderts. Endlich ſetzt das allge-
meine Landrecht II, 17. §. 1—10 hinzu: „Die nöthigen Anſtalten
zu treffen, zu Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, iſt das Amt
der Polizei.“ So ſind die Dinge bereits lange vorhanden, von denen
wir zu reden haben. Nur Eins fehlt: das iſt der Begriff eines ſelb-
ſtändigen Rechts dieſer Polizei, oder einer Gränze ihrer Berechtigung
gegenüber dem Individuum. Um nun zu dieſem zu gelangen, müſſen
wir nur zuvor die Bedeutung der Sicherheitspolizei als Theil des
ganzen Polizeiſyſtems genauer beſtimmen.
[6]
In der That nämlich iſt dem Wortlaute nach jede Polizei eine
„Sicherheitspolizei.“ Wenn man mithin noch den Ausdruck der Sicher-
heitspolizei in einem ſpeziellen Sinne gebraucht, ſo iſt es nothwendig,
ſich darüber zu einigen, daß man damit einen beſtimmten Theil
der innern Polizei bezeichnet. Sonſt iſt der Verwirrung kein Ende.
Und in dieſem Sinne werden wir die „Sicherheit“ als ein ſelbſtändiges
Gebiet der Polizei ſpäter aufſtellen, als dasjenige nämlich, in welchem
es ſich nicht mehr um eine beſtimmte, an ihrem Objekte qualificirbare,
ſondern um eine allgemeine Gefährdung der öffentlichen Ordnung
handelt. Wir werden daher ſagen, daß die innere Polizei aus zwei
Hauptgebieten beſteht, der Sicherheitspolizei, welche die Gemein-
ſchaft vor der Gefährdung der allgemeinen Zuſtände und der öffentlichen
Ordnung ſchützt, und den ſpeziellen Theilen der Verwaltungspolizei,
welche den Schutz gegen irgend eine ganz beſtimmte, einzelne Gefähr-
dung bietet. Die Sicherheitspolizei bildet daher auch einen ſelbſtändi-
gen Theil der Verwaltung und ihres Rechts, während alle übrigen
Funktionen der Polizei den einzelnen Gebieten der inneren Verwaltung
immanent erſcheinen.
An dieſe allgemeinen Grundlagen ſchließen ſich nun Begriff, In-
halt und Syſtem des Polizeirechts.
III. Das Polizeirecht. Syſtem deſſelben. Allgemeines und beſonderes
Polizeirecht.
Wegen der entſcheidenden Bedeutung, welche das Recht gerade
für die Beſtimmung und Stellung der Polizei im Geſammtleben des
Staats hat, iſt es nun nothwendig, gerade für die Polizei den Begriff
ihres Rechts genauer zu entwickeln. Hier darf die allgemeine Definition
nicht genügen, weil auf der letzteren die ganze Schärfe der folgenden
Unterſcheidungen zu beruhen hat.
Die oben bezeichnete Funktion der Polizei hat es nämlich zuerſt
mit denjenigen Gefahren zu thun, welche aus elementaren Kräften ent-
ſpringen. Dieſen gegenüber gibt es kein Recht der Polizei. Der
Rechtsbegriff iſt daher unanwendbar, wo der Polizei nur natürliche
Gewalten entgegen treten (z. B. Errichtung von Leuchtthürmen, Regu-
lirung von Wegen, Strombetten ꝛc.).
Der Begriff des Rechts entſteht hier wie immer erſt auf dem Punkte,
wo die Funktion der Polizeiorgane in die Sphäre des individuellen
Lebens hineingreift, und im Namen des Geſammtwohles eine Be-
ſchränkung der perſönlichen Freiheit von dem Einzelnen ent-
weder fordert, oder ſie einſeitig hervorruft. Daß eine ſolche Beſchränkung
[7] der perſönlichen Freiheit durch die Organe und im Intereſſe der
Gemeinſchaft überhaupt, alſo auch bei öffentlichen Gefährdungen noth-
wendig und berechtigt ſein könne, hat der Begriff der Verwaltung
entwickelt, welchem ſie als immanenter Theil angehört. Das Weſen
der freien Perſönlichkeit fordert aber andererſeits, daß dieſe polizeiliche
Beſchränkung nicht in der Willkür der Polizeiorgane liege, ſondern
ſelbſt wieder eine feſte, durch den allgemeinen Willen geſetzte Gränze
habe. Und die Geſammtheit von Grundſätzen, Regeln und geltenden
Beſtimmungen, welche der polizeilichen Funktion überhaupt gegenüber
der perſönlichen Freiheit eine ſolche Gränze geben, bilden das
Polizeirecht.
Dieſer allgemeine Begriff des Polizeirechts umfaßt daher allerdings
die finanzielle und die gerichtliche ſowohl als die Verwaltungspolizei.
Es iſt eine der großen Vorausſetzungen der ſtaatsbürgerlichen Freiheit,
daß es gar keinen Akt der geſammten polizeilichen Thätigkeit gebe,
dem nicht das ihm entſprechende Polizeirecht zur Seite ſtehe. Wenn
die Polizei ſelbſt die organiſche Bedingung der Geſammtentwicklung
dadurch iſt, daß ſie dem Einzelnen wie der Geſammtordnung das Ele-
ment der öffentlichen Sicherheit gibt, ſo iſt das Polizeirecht das
Corollar derſelben, indem es dem Einzelnen wie der Geſammtheit die
zweite große Bedingung aller Entwicklung, die Freiheit der indivi-
duellen Rechtsſphäre, gewährleiſtet. Das iſt die organiſche Stellung
und Bedeutung des Polizeirechts überhaupt neben der der Polizei.
II. Aus dieſem Weſen des Polizeirechts hat ſich nun zunächſt der
Gang der Geſchichte deſſelben und ſein Verſtändniß in der Lehre des
öffentlichen Rechts ergeben. Die ſehr große und zum Theil ſehr ver-
worrene Bewegung, welche das Gebiet des Polizeirechts im Allgemeinen
umfaßt, namentlich ohne ſtrenge Unterſcheidung der gerichtlichen und
Verwaltungspolizei, läßt ſich in folgende Hauptgruppen zuſammenfaſſen.
Die Geſchlechterordnung hat noch gar keine ſelbſtändige Polizei,
weil ſie noch keine ſelbſtändige Verwaltung hat. Selbſt die Verpflich-
tung gegen die Friedensbrecher, welche an die gerichtliche Polizei erin-
nert, iſt doch im Grunde nur Nothwehr. Die ſtändiſche Geſellſchafts-
ordnung dagegen entwickelt bereits die Polizei als Thatſache; aber zum
Begriffe eines öffentlichen Polizeirechts gelangt auch ſie nicht, weil
die Grundherrlichkeiten und Körperſchaften, die die Polizei ausüben,
zugleich die Funktion der Geſetzgebung, der Verordnung und des Ge-
richts mit der der Polizei in demſelben Organ vereinigen, was den
Begriff des individuellen Rechts gegenüber dieſem Organe ſo gut auf-
hebt, wie der Begriff des Geſetzes es in der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft thut. Um den Begriff und Inhalt des Polizeirechts ſelbſtändig
[8] zur Geltung zu bringen, und damit für die geſammte Polizei in all
ihren Formen eine neue Epoche zu begründen, mußte ein neues Element
zur Geltung gelangen.
Dieß nun geſchieht mit dem Beginne der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft dadurch, daß der Staat ſich ſelbſtändig hinſtellt, von den an
ſich freien Einzelnen, die ihm angehören, ſcheidet, und ſomit in Staat
und Staatsbürger ſich zwei Perſönlichkeiten (Rechtsſubjekte ſagt man,
als ob es „Subjekte“ ohne Recht gäbe) gegenüber treten, von denen die
eine in die Rechtsſphäre der andern hineingreift, während das Weſen
der andern für dieß Hineingreifen eine Gränze, das iſt ein Recht
fordert. Dieß Polizeirecht iſt daher das erſte charakteriſtiſche, formelle
Merkmal des Eintretens der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung und
der Erhebung derſelben über die ſtändiſche Geſellſchaft. Und von da
an gilt nun für die geſammte hiſtoriſche Entwicklung des Polizeirechts
der Satz, daß daſſelbe mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft ſelbſt fortſchreitet, und ſomit den formellen Ausdruck des
öffentlichen Bewußtſeins von dem Werthe und dem Rechte, den
Forderungen und der Beſtimmung der individuellen Freiheit
des Staatsbürgerthums bildet.
Man kann nun in dieſer hiſtoriſchen Entwicklung des Polizeirechts
zwei große Epochen unterſcheiden, die wir wenigſtens im Allgemeinen
charakteriſiren müſſen, um dem, was wir zu leiſten haben, ſeine Stel-
lung anzuweiſen.
Die erſte Epoche beginnt mit dem ſechzehnten Jahrhundert, und
geht dahin, die ſtaatsbürgerliche Freiheit gegen die polizeiliche Funktion
dadurch zu ſichern, daß zunächſt die Aufgaben der letztern geſetzlich
feſtgeſtellt werden. Dieß iſt bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts
der Inhalt aller auf die Polizei bezüglichen Geſetze, und vermöge der-
ſelben erſcheint das geſammte Verwaltungsrecht noch faſt ausſchließlich
in Polizeiverordnungen. In dem Sinne aber, daß dieſe Geſetze neben
den Verwaltungsaufgaben, welche die Polizei zu vollziehen hat, auch
eine geſetzliche Gränze für die Freiheit des Einzelnen gegenüber jener
Funktion der Polizei aufgeſtellt, und ſomit ein Polizeirecht in unſerm
Sinne geſchaffen hätten, gibt es noch kein Polizei- oder Verwal-
tungsrecht. Erſt mit dem Ende des vorigen und dem Anfang unſers
Jahrhunderts beginnt die zweite Epoche. Dieſe beruht darauf, daß
ſich der Gedanke der Verantwortlichkeit der geſammten Polizei
Bahn bricht und damit das Princip der perſönlichen Freiheit gegen-
über der polizeilichen Funktion ſich ein ſelbſtändiges Rechtsſyſtem bildet.
Im Beginn dieſer Epoche ſtehen wir, und das Folgende hat die Auf-
gabe zu zeigen, welche Geſtalt dieſe Epoche in den verſchiedenen Ländern
[9] angenommen hat, und wie weit Theorie und Praxis darin gekommen
ſind, das Rechtsſyſtem der polizeilichen Verantwortlichkeit gegenüber der
Freiheit des einzelnen Staatsbürgers zum Bewußtſein zu bringen und
auszubilden.
Dieß wäre nun wohl ziemlich leicht, wenn namentlich in Deutſch-
land die Epoche der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung und der polizei-
lichen Verwaltung bereits nicht bloß im Princip, ſondern auch in der
Wirklichkeit vollſtändig überwunden wäre. Allein das iſt nicht der Fall.
Die Wiſſenſchaft hat daher hier nicht ſo ſehr mit verkehrten Zuſtänden,
als vielmehr mit unklaren Vorſtellungen zu kämpfen. Die weſentlichſte
Aufgabe des Folgenden iſt es daher, vor allen Dingen neben dem all-
gemeinen Begriffe die einzelnen Momente deſſelben ſelbſtändig feſtzu-
ſtellen, und das Recht der Polizei, das in ſeinem allgemeinen Begriffe
feſtſteht, an dieſen einzelnen Momenten zu einem ſelbſtändigen Syſtem
zu entwickeln. Denn nur dadurch wird es möglich ſein, dasjenige zu
erreichen, was uns in der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts noch ſo
gut als gänzlich fehlt, eine Theorie und Jurisprudenz des
Polizeirechts, als des Rechts der perſönlichen Freiheit gegen-
über der polizeilichen Funktion.
In dieſem Sinne nun müſſen wir neben dem Begriffe und der
Geſchichte des Polizeirechts von einem Syſtem deſſelben reden. Es
ergibt ſich dafür zunächſt von ſelbſt, daß dieſes Syſtem auch hier nicht
in dem Begriffe des Rechts, ſondern in dem der Polizei liegt und liegen
muß, für die es gelten ſoll. Daſſelbe iſt daher naturgemäß identiſch
mit dem organiſchen Weſen der Polizei; aber es iſt für die wiſſen-
ſchaftliche Behandlung von entſcheidender Bedeutung, dieß ſpeziell zu
betonen.
Es ergibt ſich nämlich daraus, daß wir zunächſt von einem
allgemeinen Polizeirecht zu reden haben, als demjenigen Recht
der Polizei, das allen verſchiedenen Funktionen und Aufgaben derſelben
gleichmäßig inwohnt.
An dieß ſchließt ſich dann das beſondere Polizeirecht, als dem-
jenigen beſondern Recht derſelben, das durch die einzelnen, ſpeziellen
Aufgaben der Polizei in den einzelnen Gebieten der Verwaltung be-
ſtimmt wird, und das dem entſprechend diejenigen Modifikationen jenes
allgemeinen Polizeirechts enthält, welche durch dieſe beſondern Aufgaben
der Polizei gefordert werden.
Von dieſem beſondern Polizeirecht bildet nun die Sicherheits-
polizei wieder ein ſelbſtändig zu bearbeitendes Rechtsgebiet, während
alle übrigen Theile der inneren Polizei [integrirende] Theile der einzelnen
Verwaltungsgebiete ausmachen, die man wiſſenſchaftlich nie, und praktiſch
[10] nie mit Nutzen von den betreffenden Theilen der Verwaltungslehre
ſcheiden kann.
Das ſind die Elemente des Syſtems des Polizeirechts. Der
Grund des Mangels an einem Syſtem des Polizeirechts liegt in dem
geſammten Entwicklungsgange der deutſchen Geſetzgebung und Rechts-
wiſſenſchaft, die ſich in denjenigen Arbeiten, mit denen ſie ſich dem
Polizeirechte überhaupt zugewendet hat, namentlich mit dem Gebiete
der gerichtlichen Polizei bisher beſchäftigte, und hier Bedeutendes leiſtet,
während die Verwaltungspolizei faſt gänzlich von ihr unberückſichtigt
geblieben iſt. Der Grund davon beſteht weſentlich in dem Mangel
des Begriffes von einem ſelbſtändigen Verwaltungsrecht einerſeits, und
der beſtimmten Unterſcheidung von Klag- und Beſchwerderecht. Das
erſte hat die Theorie des geltenden Rechts überhaupt, das zweite das
Syſtem der rechtlichen Verantwortlichkeit nicht gedeihen laſſen. Daher
finden wir eine Literatur für das Polizeirecht auch nur im Gebiete der
einzelnen Fragen, was eine zum Theil große Einſeitigkeit des Stand-
punkts zur Folge hat, während ſie für das Ganze fehlt. Weſentlich
anders iſt es in der franzöſiſchen Literatur, die ſehr vollſtändige und
ſelbſt caſuiſtiſche Arbeiten über das Recht der Verwaltungspolizei beſitzt.
Dies beruht wieder darauf, daß die Polizei ſeit dem Code Pénal kein
eigenes, formell gültiges Strafrecht hat, und daher das ganze Verfahren
der criminaliſtiſchen Bearbeitung anheimfiel und auf allen Punkten der
juriſtiſchen Auffaſſung Raum ließ. Die ſtrenge, wenn auch vielfach
formale Entwicklung des verfaſſungsmäßigen Rechts trug auch das ihrige
dazu bei, ſo wie endlich die hohe und vortreffliche Ausbildung des Be-
ſchwerdeverfahrens. Hier haben wir daher ſehr viel zu thun, bevor wir
der franzöſiſchen Literatur nachkommen; doch hat ihre Entwicklung ſelbſt
es begründet, daß ſie nicht ſo ſehr ſyſtematiſch und dogmatiſch, als
vielmehr caſuiſtiſch und hermeneutiſch auf Grundlage der beſtehenden Ge-
ſetze verfahren iſt. Die Deutſchen werden hier die geiſtige Ordnung in
das reiche, faſt überreiche franzöſiſche Material zu bringen haben. Daß
die engliſche Literatur für das Polizeirecht kein eigenes Gebiet eröffnet
hat, erklärt ſich von ſelbſt. Wenn man ſich übrigens den Werth und
die Bedeutung des Begriffs eines „Polizeirechts“ überhaupt, und daneben
den mächtigen Fortſchritt vergegenwärtigen will, den wir in Deutſchland
denn doch trotz alles Mangels an „Syſtem“ in dem öffentlichen Recht
gemacht haben, ſo muß man einen Blick auf das werfen, was noch im
Anfang unſers Jahrhunderts als Polizei gelehrt werden konnte, und
was um ſo mehr Wunder nehmen muß, als ſchon im vorigen Jahr-
hundert einzelne hervorragende Männer, wie Möſer, J. H. Berg
und Sonnenfels auf einem hochachtbaren Standpunkte ſtanden,
[11] während freilich bei andern die Auffaſſung trotz mancher ſchönen Phraſe
im Kathederthum untergeht, wie bei Jakob, der Sonnenfels aus-
geſchrieben und nicht citirt, und Soden citirt und nicht verſtanden hat.
Die gewöhnlichen Lehrbücher der Polizei in den erſten Decennien unſers
Jahrhunderts dagegen kannten das Polizeirecht überhaupt nur als
„Hoheitsrecht“ des Staats, und mithin als Berechtigung der Polizei,
ohne demſelben in dem freien Staatsbürgerrecht ein Gegengewicht zu
geben, wie z. B. Eiſenhuth, Polizei der Staatseinwohner-Ordnung;
Jung, Lehrbuch der Staatspolizeiwiſſenſchaft, der auf S. 344 zu dem
Satze gelangt: „die Unterthanen ſeien ſchuldig, alles zu tragen, was
ihnen auferlegt werde,“ — worauf Soden in ſeiner Staatspolizei
(National-Oekonomie Bd. 7) S. 123 mit Recht ausruft: „Wenn die
Lehrer der Nationen ſolche Behauptungen wagen, können wir wohl
erſtaunen, daß die Willkür an die Stelle der Geſetze tritt und der
Staatszweck bis auf die Erinnerung untergeht?“ Erſt gegenüber ſolchen
Anſchauungen lernt man begreifen, wie Männer wie der treffliche
Aretin in ſeinem Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie (1827,
II. 166) und im Grunde auch Zachariä (Vierzig Bücher, IV. S. 288)
ſich ſo energiſch auch gegen die „Wohlfahrtspolizei“ ausſprechen konnten,
die doch ſelbſt in der franzöſiſchen Revolution in der déclaration des
droits de l’homme et du citoyen von 1793 in dem erſten Artikel
derſelben gipfelt: „Le but de la société est le bonheur commun.“
(Vergl. Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung in Frankreich, I. Band
S. 160 ff.)
In der That, erſt wenn man dieſe Schriftſteller mit unſrer Zeit
vergleicht, ſo ſieht man, wie viel wir in Deutſchland ſeit fünfzig Jah-
ren weiter gekommen ſind, und wie viel die Nation Männern wie
Soden, Lotz, Zachariä, Mohl und Andern verdankt. Wenigſtens die
Literaturgeſchichte und die hiſtoriſche Wiſſenſchaft ſollte ihnen bleibende
Denkmale errichten, ſtatt ſie, wie namentlich Soden, zu vergeſſen.
Denn wie ganz anders ſieht denn doch ſelbſt bei Zimmermann
(Weſen, Geſchichte und Literatur der modernen Polizei, 1852, der
freilich auch noch kein Polizeirecht kennt) dieſe Polizei aus, als im
Beginne dieſes Jahrhunderts!
[[12]]
Erſter Theil.
Das allgemeine Polizeirecht.
Einleitung.
I. Begriff.
Der formale Begriff des allgemeinen Theiles des Polizeirechts
dürfte nun wohl keine Schwierigkeit haben. Daſſelbe entſteht, indem
in allen verſchiedenen Funktionen und Gebieten der Polizei ein gemein-
ſames und gleichartiges Element anerkannt wird. Dieß gemeinſame
und gleichartige Element iſt die, in gewiſſen Akten der Polizei enthaltene
Beſchränkung der Freiheit des Einzelnen, die zum Zwecke der Abwen-
dung einer öffentlichen Gefahr geſchieht. Das Recht dieſes Eingreifens
beſteht in der Beſtimmung der Gränze, welche dieſer Beſchränkung
durch die Berechtigung der perſönlichen Freiheit einerſeits und durch die
Natur der Gefahr andrerſeits vorgeſchrieben werden. Die Wiſſenſchaft
dieſes Rechts beſteht in der Darlegung der Elemente und Folgeſätze,
vermöge deren jene Gränze im Allgemeinen und in jedem beſondern
Falle beſtimmt wird.
Der Unterſchied des allgemeinen Polizeirechts von dem beſondern
beſteht dann darin, daß, da der allgemeine Theil der Polizei ſich nicht
auf eine einzelne Polizeihandlung, ſondern auf die Thätigkeit der Polizei
als ſolche bezieht, dieß Recht der allgemeinen Polizei auch nicht durch
die Natur der einzelnen Gefahr gegeben wird, ſondern durch die Natur
der Thätigkeit der Polizei ſelber. Dadurch entſteht das, was man das
Syſtem des allgemeinen Polizeirechts nennen kann.
II. Die ſyſtematiſchen Elemente deſſelben.
Indem wir nämlich, abſehend von dem Objekt der polizeilichen
Thätigkeit und dem Einfluß, den daſſelbe auf das Recht hat, nur auf
[13] dieſe polizeiliche Funktion als ſolche ſehen, ergibt ſich, daß dieſe poli-
zeiliche Funktion einzelne ſelbſtändig daſtehende, und auch äußerlich von
einander trennbare Momente beſitzt, die jedes für ſich dem allgemeinen
Polizeirecht unterworfen ſind. Das Weſen dieſer Momente der Funk-
tion, und die dadurch gewonnene beſtimmte Geſtalt des allgemeinen
Begriffes des Rechts der Polizei, ergibt das Syſtem des letztern.
Dieſe Elemente des Polizeirechtsſyſtems ſind nun um ſo wichtiger,
als ſie keineswegs bloß für die Verwaltungs-, ſondern eben ſo gut für
die finanzielle und die gerichtliche Polizei gelten. Sie werden daher
zugleich als Grundlage eines bedeutſamen Theiles des Strafproceſſes
und ſogar des Civilproceſſes gelten müſſen.
Die Funktion der Polizei, welche jenes formale Syſtem ihres
Rechts begründet, hat nun drei Momente.
a) Sie erſcheint zuerſt als eine Verfügung des betreffenden Ver-
waltungsorgans, welche den Willen deſſelben enthält, der das Ver-
fahren zu verwirklichen hat. Dieſe Verfügung heißt je nach ihrer Form
Befehl, Mandat, Erſuchen u. ſ. w. Sie erſcheint ſelbſtändig und
äußerlich von dem Verfahren geſchieden in ſchriftlichem oder mündlichem
Wege, kann aber auch in der Form von Verordnungen als öffentliche
Bekanntmachung auftreten, oder endlich ſo eng mit dem wirklichen
Vollzug zuſammenfallen, daß man ſie nicht mehr äußerlich ſcheiden
kann, wie bei den Anwendungen von perſönlichen Zwangsmitteln.
In allen dieſen Formen aber bleibt die Sache ſelbſt, und mithin ihr
Recht, dieſelbe. Dieß Recht der Polizeiverfügung beſteht nun nicht
in dem Verhältniß derſelben zur Sphäre und dem Recht der indivi-
duellen Freiheit, denn ſo lange ſie eben bloß Verfügung iſt, hat das
Individuum nichts mit ihr zu thun; ſondern dieſelbe enthält das öffent-
liche rechtliche Verhältniß derſelben zu dem geltenden Recht der
Geſetze und Verordnungen, und richtet ſich daher nach den Grund-
ſätzen, welche über das verfaſſungsmäßige Verordnungsrecht in der
vollziehenden Gewalt dargelegt ſind, ſo daß bei dem Widerſtreit der-
ſelben mit einem Geſetze die Klage, mit einer andern Verordnung die
Beſchwerde eintritt. Daß dieſe polizeiliche Verfügung eine ganz andere
Geſtalt in der gerichtlichen als in der Verwaltungspolizei hat, ändert
dieſe allgemeinen Grundſätze nicht.
b) Das zweite Moment der polizeilichen Funktion iſt dann auf das
die Vollziehung der Verfügung gerichtete Verfahren. Natürlich
iſt daſſelbe unendlich verſchieden, je nach dem äußern Zweck. Allein
rechtlich ſind alle Formen deſſelben gleich. Dieß Recht des polizeilichen
Verfahrens beruht nun, im Gegenſatz zu dem der polizeilichen Ver-
fügung, darauf, daß es nicht durch das Verhalten zu dem gegebenen
[14] Objekt, ſondern zu der Rechtsſphäre des freien Staatsbürgers
entſteht, und denjenigen Punkt beſtimmt, bis zu welchem das Ver-
fahren die perſönliche Freiheit des Einzelnen beſchränken darf. Der
leitende Grundſatz dabei iſt der, daß das Verfahren nur zur Anwen-
dung derjenigen Mittel berechtigt iſt, welche als unabweisbare Be-
dingung der wirklichen und vollſtändigen Vollziehung des öffentlichen
Willens angeſehen werden müſſen. Auch das gilt für beide Hauptarten
der Polizei gleichmäßig, wird aber bei weitem vorwiegend für die Ver-
waltungspolizei von Bedeutung.
c) Das dritte Moment endlich enthält das Verhältniß der vollzoge-
nen Funktion der Polizei zum beſtehenden Rechtszuſtande; das Recht
deſſelben iſt einfach das der Verantwortlichkeit und Haftung
der vollziehenden Organe auf dem verfaſſungsmäßigen Wege der Klage
und der Beſchwerde, und zwar ſo, daß entweder die Verfügung als
ſolche Gegenſtand derſelben wird, oder der Vollzug für ſich; eine
Unterſcheidung, welche am wichtigſten iſt für die Organe, welche für
Klage und Beſchwerde zu haften haben, indem die erſte Haftung ſich
auf die den Befehl gebenden, die zweite auf die den Befehl vollziehen-
den bezieht, die wenigſtens in den Funktionen der gerichtlichen und
Verwaltungspolizei meiſtens geſchieden ſind.
Demnach zerfällt das Polizeirecht an ſich, und zwar noch ohne
Rückſicht auf die Trennung zwiſchen der gerichtlichen und Verwaltungs-
polizei, in drei Theile: das Recht der Polizeiverfügung, das Recht
des Polizeiverfahrens und das Recht der Haftung der Polizei.
Bei der weſentlich verſchiedenen Funktion aber, welche die gerichtliche
und die Verwaltungspolizei haben, werden die Formen und Namen
dieſer drei Theile auch für beide verſchieden ſein. Und darauf nun be-
ruht das, was wir das Syſtem des Polizeirechts nennen, von dem,
wie wir gleich hier ſagen wollen, das Recht und Syſtem der eigentlichen
Sicherheitspolizei wieder nur einen beſonderen, wenn auch vorzugsweiſe
wichtigen Theil bildet.
Dieſes Syſtem erſcheint demnach in dem Verfügungs-, Verfahrens-
und Haftungsrecht der gerichtlichen Polizei, gegenüber dem Einzelnen,
dann in dem der Verwaltungspolizei, und endlich in dem Verhält-
niß beider Zweige der Polizei zu einander, indem die letztere neben
ihrer ſelbſtändigen Funktion auch noch als bloßes Vollzugsorgan der
erſtern agirt. Wir werden jedoch die beiden letzten Theile am beſten
zum Zwecke der klareren Ueberſicht mit einander verbinden.
[15]
Die Schwierigkeit für die Theorie wird wohl darin beſtehen, dieſe
Auffaſſung für die gerichtliche Polizei gelten zu laſſen, da man zwar die
Funktionen derſelben kennt, allein gewohnt iſt, ſie als integrirende
Theile des eigentlichen Strafproceſſes zu behandeln. Dennoch müſſen
wir daran feſthalten, daß dieſer Theil des Strafproceſſes in der That
nichts iſt, als ein Theil des Verwaltungsrechts, und daher eigener
Darſtellung bedarf, die er im Strafproceſſe nicht zu finden gewohnt iſt.
III. Die gerichtliche Polizei und die Verwaltungspolizei.
1) Der Unterſchied an ſich.
Auf der Grundlage der obigen Beſtimmungen wäre nun das ganze
Gebiet der Polizei ein höchſt einfaches, wenn man mit dem an ſich
unzweifelhaften Satze genügen könnte, daß dieſe Polizei demnach in
allen drei Gebieten der Verwaltung, Staatswirthſchaft, Rechtspflege
und Innerem auftritt, und man daher von einer allgemeinen und be-
ſondern Finanz-, Gerichts- und Ordnungspolizei zu reden haben würde.
Allein es gibt hier ein Moment, welches die Gränze dieſer an ſich
einfachen Begriffsbeſtimmungen verwirrt, und damit zugleich das Recht
der Polizei unbeſtimmt macht. Dieß Moment liegt in dem allgemeinen
Objekt aller Polizei, der gefährdenden Thätigkeit des Einzelnen.
Ohne allen Zweifel nämlich iſt die öffentliche Sicherheit, ganz ab-
geſehen von dem ethiſchen Momente, gefährdet nicht bloß durch das,
was jemand möglicher Weiſe thun kann, ſondern auch dadurch, daß
das, was jemand bereits gegen das Recht gethan hat, unbeſtraft
bleibt. Die Sicherung der Beſtrafung der Verbrechen iſt daher ganz
gewiß eine eben ſo weſentliche Bedingung der öffentlichen Sicherheit,
als die Verhinderung von materiellen Gefährdungen. Nimmt man
daher den oben bezeichneten allgemeinen Begriff der Polizei, ſo fällt
unzweifelhaft die Verfolgung der Verbrecher zum Zwecke ihrer Beſtra-
fung eben ſo nothwendig unter denſelben, als die polizeiliche Verhin-
derung von Verbrechen und Gefährdungen. Und nun nennt man der
Regel nach die Geſammtheit von polizeilichen Thätigkeiten, welche
ſich auf ein bereits geſchehenes Verbrechen und ſeine Verfolgung be-
ziehen, die gerichtliche Polizei, während dagegen Thätigkeiten der
Polizei, welche es mit der Abwendung von Gefährdungen zu thun
haben, die Verwaltungs- oder eigentliche Polizei heißt.
Auch dieß nun wäre einfach, wenn nicht zwei Momente in der
Wirklichkeit jene doctrinär ſcharfe Gränze beſtändig wieder verwiſchten,
ſo wie es zur wirklichen polizeilichen Funktion kommt. Das erſte liegt
[16] darin, daß oft dieſelbe Handlung, welche einen verwaltungs-polizei-
lichen Akt enthält, auch eine gerichtspolizeiliche iſt, wie das namentlich
bei der eigentlichen Sicherheitspolizei beſtändig eintritt. Das zweite
liegt darin, daß meiſtens dieſelben Organe beide Arten der Polizei
ausüben. Nun würde dieß wiederum ohne große praktiſche Bedeutung
ſein, wenn nicht das Recht der gerichtlichen Polizei ein weſentlich
anderes wäre, als das der Verwaltungspolizei, und daher die Polizei-
organe regelmäßig in ihrer praktiſchen Funktion ſtets unter dieſen bei-
den ſo weſentlich verſchiedenen Rechtsſyſtemen zugleich ſtünden. Es
tritt daher die Nothwendigkeit ein, hier eine Gränze zu ziehen, welche
zwar ſehr ſchwierig feſtzuhalten iſt, aber dennoch für die ſtaatsbürger-
liche Freiheit hochwichtig iſt. Und zu dieſem Ende muß es uns erlaubt
ſein, zuerſt die ganze Funktion der Rechtspflege zu charakteriſiren, um
den Punkt zu finden, auf welchem ſich die gerichtliche Polizei eigentlich
anſchließt, und dann die Gränze und den Inhalt des Rechts beider
Funktionen zu ziehen.
2) Das Strafgericht und ſeine Polizei.
Wir glauben nun in Beziehung auf das gerichtliche Verfahren ſo
kurz ſein zu ſollen, als es irgend möglich iſt. Die Aufgabe des Fol-
genden kann es nur ſein, anzudeuten, weßhalb die Frage nach dem
Verhältniß der Polizei zum Gerichte und ſeinem Verfahren als eine
ſelbſtändige, mit eigener Funktion und eigenem Recht in der Straf-
proceßordnung daſtehende behandelt werden ſollte.
Erkennt man nämlich, daß die ganze Strafrechtspflege ſelbſt nur
ein beſtimmtes Gebiet der Verwaltung des Rechts iſt, ſo theilt ſich der
Strafproceß in vier Theile.
Der erſte Theil iſt der, welcher die Bedingungen für die Auf-
ſtellung und Durchführung des ſtrafrechtlichen Beweiſes zu ſuchen und
herzuſtellen hat. Der zweite iſt der, welcher mit den auf dieſe Weiſe
herbeigeſchafften Mitteln den Beweis führt. Der dritte ſchöpft das
Urtheil. Der vierte vollzieht es.
Es iſt nun kein Zweifel, daß der erſte Theil kein Strafverfahren
iſt, ſondern im weiteſten Sinne eben das umfaßt und enthält, was
wir die gerichtliche Polizei nennen. Die vom Gerichte geforderte Her-
ſtellung der Beweismittel wird nämlich zur gerichtlichen Polizei, ſo-
bald und in ſo fern dieſelbe durch ein Eingreifen in die Rechtsſphäre
des Individuums geſchieht. Dieſer Theil iſt kein Theil des eigentlichen
Strafproceſſes; denn das organiſche Weſen des Strafproceſſes iſt eben
die Führung des Beweiſes mit den hergeſtellten Beweis-
mitteln. Die Scheidung zwiſchen beiden Theilen iſt im Einzelnen oft
[17] ſehr ſchwer, nicht aber weil die Begriffe, ſondern weil ihre Aeußerun-
gen gleichdeutig ſind und in einander übergehen. Unzweifelhaft aber iſt,
daß beide Funktionen weſentlich verſchieden ſind und auch oft weſentlich
verſchiedene Perſonen betreffen, wie bei Zeugen ꝛc. Steht nun dieß
feſt, ſo erſcheint alles, was zur bloßen Herſtellung der Beweismittel
dient, eben als der Inbegriff der gerichtlichen Polizei. Und man kann
und muß daher, noch ehe man zum Verhältniß derſelben zu der Ver-
waltungspolizei übergeht, die Kategorien des allgemeinen Polizeirechts
auf dieſen erſten Theil der ſtrafgerichtlichen Thätigkeit anwenden. Die
einzige Schwierigkeit wird dabei in der traditionellen Vorſtellung liegen,
als ſeien dieſe Funktionen Theile des Strafverfahrens, während ſie
ein polizeiliches Verfahren enthalten. In der That, wie könnte das-
jenige ein Strafverfahren ſein, dem noch nicht einmal die Gewißheit
eines geſchehenen Verbrechens zum Grunde liegt? Geht man daher
davon aus, daß alles das, was dem auf der Gewißheit eines geſche-
henen Verbrechens begründeten Strafverfahren voraufgeht, ein ſtraf-
polizeiliches Verfahren iſt, ſo erſcheinen für das letztere die drei oben
bereits bezeichneten Kategorien des allgemeinen Polizeiverfahrens, die
Verfügung, die Vollziehung und die Haftung.
1) Die ſtrafpolizeiliche Verfügung des Strafgerichts hat ſtets
zum Inhalt, die Herſtellung des Beweiſes zu ſichern. Die Art und
das Maß, in welchem ſie in die perſönliche Freiheit eingreift, iſt aller-
dings eine weſentlich verſchiedene, je nachdem es ſich um bloße Gegen-
ſtände handelt, die im Beſitze einer beſtimmten Perſon ſind, oder um
die Ausſagen derſelben, oder um die Sicherung des Verdächtigen. Sie
erſcheinen daher namentlich in dem gerichtspolizeilichen Recht der Be-
ſchlagnahme und der Hausdurchſuchung, der Vorführung und der Ver-
haftung. Wir werden ihnen und der nicht glücklichen Verſchmelzung
derſelben mit den ſicherheitspolizeilichen Maßregeln unten wieder be-
gegnen.
2) Das Verfahren in Gemäßheit ſolcher Verfügungen iſt nun
zwar an ſich einfach, aber ſchon hier tritt der Punkt ein, auf welchem
ſich Gericht und Verwaltung ſcheiden. Die gerichtliche Polizei kann
nämlich entweder mit ihren eigenen Organen ſelbſt ihre (obigen) Ver-
fügungen vollziehen, oder ſie kann zu dieſer Vollziehung die Organe
der Verwaltungspolizei benutzen. Im zweiten Falle bedarf die letztere
eines formellen Befehles derſelben, und es iſt Grundſatz aller Ver-
waltung, daß die Verwaltungspolizei ſolchen Befehlen zu gehorchen hat.
Die Fragen aber, die hier entſtehen, bilden einen ſo weſentlichen Theil
des Folgenden, daß wir ſie hier nur andeuten.
3) Was endlich die Haftung betrifft, ſo betreten wir hier ein
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 2
[18] ſchwieriges und wenig geordnetes Gebiet. Die Verantwortlichkeit für
Beweis, Urtheil und Exekution liegt nämlich in der Appellation, die
im Grunde das vollſtändig geregelte Beſchwerdeverfahren inner-
halb der Rechtspflege und berufen iſt, das Muſter des Beſchwerde-
verfahrens für die innere Verwaltung zu werden. Die
eigentliche Frage über die Haftung für die Aktionen der gerichtlichen
Polizei, namentlich bei Verhaftungen u. ſ. w., die ſich durch richterliches
Urtheil als ungerechtfertigt zeigen, iſt erſt in neueſter Zeit entſtanden.
Offenbar iſt es unmöglich, eine Sicherung für die Verfolgung von
Verbrechen herzuſtellen, wenn man die Richter oder den Staatsanwalt
perſönlich für jeden mit der Verfolgung von Verbrechen verbundenen
Eingriff in die Rechtsſphäre der Perſönlichkeit (wie Verhaftung, Unter-
ſuchungshaft ꝛc.) verantwortlich machen will, wo dieſer Eingriff ſich
durch ein freiſprechendes Urtheil als unbegründet, und daher als eine Ver-
letzung des individuellen Rechts darſtellt. Denn da ſie vom Staate einen
Auftrag erhalten haben, deſſen Ausführung ohne Irrthum unmöglich
iſt, ſo folgt daß, ſo lange die letztere die geſetzlichen Formen nicht über-
ſchreitet, eben nur der Staat ſelber den Schadenserſatz zu leiſten
hat. Doch glauben wir nicht, hier auf dieſe Frage eingehen zu ſollen.
Dieß nun wären diejenigen Punkte, welche den gerichtspolizeilichen
Inhalt der Strafproceßordnungen bilden. Bei allen verſchiedenen An-
ſichten über Einzelnes wäre es nun gewiß leicht, ſich über das Ganze
zu einigen, wenn jene Funktionen ſtets nur von den dienenden Organen
der Gerichte ſelbſt ausgeführt werden könnten. Das geſchieht aber nicht
nur nicht, ſondern kann auch nicht geſchehen. Und hier iſt es nun,
wo die polizeiliche Funktion und die Beſtimmung ihres allgemeinen
Rechts eigentlich erſt ihre Schwierigkeit finden.
Es möge uns hier nur geſtattet ſein, darauf hinzuweiſen, daß
hier der Ort wäre, an welchem die Frage namentlich nach dem (gerichts-
polizeilichen) Zwange zur Zeugnißablage (namentlich auch einer Re-
daction bei incriminirten Artikeln), und die Frage nach Caution und
Freilaſſung gegen dieſelbe, ſo wie die ganze Frage nach der Unter-
ſuchungshaft zu behandeln ſind. Es ſcheint uns unzweifelhaft, daß
alle dieſe Unterſuchungen halb in der Luft ſchweben ohne rechte ſyſtema-
tiſche und ſtaatswiſſenſchaftliche Heimath, ſo lange die gerichtliche Po-
lizei nicht als ein ſelbſtändiger Theil der Strafproceßlehre behan-
delt wird. Warum ſollen ſie dieſe organiſche Angehörigkeit erſt der Lehre
von der Verwaltungspolizei zu verdanken haben?
[19]
3) Das Princip des Unterſchiedes im Recht der gerichtlichen
und der Verwaltungspolizei.
Die Nothwendigkeit der Unterſcheidung der obigen beiden Funk-
tionen der Polizei beruht nämlich für das praktiſche Recht darauf, daß,
wie ſchon angedeutet, jener erſte Theil, die ſtrafgerichtliche Funktion,
eben von einem ganz anderen, einem dem Gerichte nicht unterſtehenden
Organe, nämlich von dem Organismus der Sicherheitspolizei beinahe
ausſchließlich ausgeführt wird, ſo daß wie bekannt die Sicherheits-
polizei zugleich die ganze Funktion der ſtrafgerichtlichen Polizei zu über-
nehmen hat. Es ergibt ſich daraus, daß man in den Funktionen der
Sicherheitspolizei drei Momente zu ſcheiden hat. Das erſte und ein-
fachſte iſt das, wo ſie nur als vollziehende Gewalt für die ſtrafgericht-
liche Thätigkeit erſcheint; das zweite das, wo ſie als Vertreterin der
öffentlichen Sicherheit, ohne Veranlaſſung vom Gerichte zu verlangen,
ſelbſtthätig die Verbrechen aufſucht und verfolgt, um ſie dem Gericht
zu überliefern; das dritte endlich iſt dasjenige, wo ſie mit geſchehenen
Verbrechen überhaupt nichts zu thun hat, ſondern ihrem Begriffe nach
nur als Verwaltungspolizei auftritt.
Um nun die Bedeutung dieſer Unterſcheidung zu verfolgen, muß
man natürlich vor allen Dingen die Grundlagen aufſtellen, nach welchen
ſich für beide Theile, für das gerichtliche und das adminiſtrativ-poli-
zeiliche Element, ein beſonderes Recht bildet.
So wie es nämlich feſtſteht, daß die Gerichte zugleich die Funktion
haben, nicht bloß den Beweis für ein Verbrechen herzuſtellen und es
zu ſtrafen, ſondern auch das geſchehene Verbrechen zu entdecken, ſo
haben Gerichte und Polizei dieſelbe Thätigkeit, und in dieſer ſpeziellen
Aufgabe ſind die Organe der Polizei den Gerichten untergeordnet. Dieſe
Unterordnung iſt es nun, welche das erſte Element des öffentlichen
Polizeirechts erzeugt.
So bald es ſich nämlich darum handelt, das Eintreten der Rechts-
folgen einer geſchehenen That zu ſichern, ſei es durch Feſtſtellung be-
weiſender Thatſachen, ſei es durch Feſthalten und Vorführen verdächti-
ger Perſonen, da iſt das Gericht das dazu competente Organ. Das
Gericht hat in ſolchem Falle die geſchehene That als ſolche nach dem
ihr vorgeſchriebenen Verfahren conſtatirt, und die Thäterſchaft wenig-
ſtens wahrſcheinlich gemacht. In dieſem Falle muß das Urtheil dar-
über, es müſſen die in Folge deſſelben zu ergreifenden Maßregeln, ſo wie
die Beſtimmung der durch dieſe Maßregeln betroffenen Perſon bereits
feſtſtehen, ehe ein Schritt geſchieht, der, um die Verwirklichung des
Rechts zu ſichern, in die perſönliche Freiheit hineingreift. Und in
[20] Gemäßheit dieſer gerichtlichen Entſcheidung hat dann die Ausführung
Statt zu finden. Dieſe Entſcheidung erſcheint daher hier als ein ge-
richtlicher Befehl an die vollziehenden Organe der Verwaltungs-
polizei. Die letztere, welche einem ſolchen Urtheil gemäß handelt, hat
hier daher ſelbſt kein Urtheil zu fällen, ſondern iſt in der That
nichts als die rein vollziehende Behörde für das Urtheil einer
anderen. Sie hat daher ihrerſeits nichts zu unterſuchen und nichts zu
beſchließen, ſondern ſie hat einfach dem ihr von jenem Organe gegebe-
nen Befehle Folge zu leiſten. Sie hat daher auch nichts zu verant-
worten, und unterliegt keiner Haftung für das, was ſie thut. Sie
hat nur zu ſorgen, daß ihre in Gemäßheit des ihr zugekommenen Be-
fehles vorgenommenen Thätigkeiten zur Sicherung der Rechtspflege die
Gränze des Nothwendigen nicht überſchreiten; das iſt ihre Funktion,
und das iſt ihr Recht. Die Polizei iſt hier nichts als Dienerin des
Gerichts. Und in dieſem Sinne iſt ſie eigentlich überhaupt keine Po-
lizei, ſondern ſteht in Betreff ihrer Funktion neben dem Gerichtsdiener.
Daß ſie und nicht der letztere in dieſen Fällen funktioniren, iſt daher
nicht Sache des organiſchen Syſtems, ſondern Sache der Zweckmäßig-
keit. Gäbe es keine weſentlich andere Thätigkeit derſelben, ſo gäbe es
eigentlich überhaupt keine wahre Polizei.
Es wird daher nothwendig, zunächſt erſt die ſpecifiſch von der
obigen verſchiedene, eigentlich verwaltungspolizeiliche Thätigkeit
und ihr Recht zu charakteriſiren.
Dieſe nun entſteht da, wo es ſich nicht mehr um eine geſchehene
Rechtsverletzung handelt, deren Rechtsfolgen durch die Vollſtreckung ge-
ſichert werden ſollen, ſondern um die Herſtellung irgend eines Verhal-
tens der betreffenden Perſonen, durch welche eine aus der Thätigkeit
oder den Zuſtänden derſelben möglicher Weiſe hervorgehende öffentliche
Gefährdung beſeitigt werden ſoll. Es liegt dabei ſchon im Begriff
der letzteren, daß ſie noch keine Rechtsverletzung enthalten darf; denn
ſo wie dieß der Fall wird, iſt das Einſchreiten von Seiten der Polizei
ſchon ein gerichtliches, das zur Aufgabe hat, die Anwendung des Ge-
ſetzes gegen die bereits geſchehene Uebertretung zu ſichern. Dieß iſt
namentlich da vorhanden, wo eine allgemeine Polizeiſtrafverfügung eine
Ordnungsſtrafe auf eine Uebertretung gelegt hat. Hier iſt die Ueber-
tretung der Polizeiverfügung nicht mehr eine öffentliche Gefährdung,
ſondern ſelbſt ein ſtrafbares Vergehen, deſſen Beſtrafung das betreffende
Einſchreiten der Polizei ſichert, das Gericht aber ausſpricht. Wo es
ſich dagegen um etwas handelt, was die öffentliche Sicherheit zu ge-
fährden droht, da iſt das Einſchreiten der Polizei nicht mehr bedingt
durch die Strafandrohung, ſondern durch die Natur der Gefahr, welcher
[21] begegnet werden ſoll. Es folgt daraus, daß das in dieſem Sinne zu
Vollziehende nicht aus dem Urtheil eines Gerichtes, ſondern aus der
freien und ſelbſtändigen Beurtheilung des Organes ſelbſt hervorgehen
muß, welches eben zu handeln hat. Es folgt weiter, daß Natur und
Gränze ſolcher Vornahmen der Polizei daher auch von der Natur und
Gränze dieſer Gefahr bedingt ſein müſſen. Es folgt endlich, daß das
Organ, welches ſolche Vornahmen ſeinerſeits beſchließt und durchführt,
auch für das, was es thut, für die in ſeiner Thätigkeit enthaltene
Beſchränkung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit die Verantwortung
ſelbſt zu übernehmen hat. Und es ergibt ſich mithin, daß hier
dieß Organ als ein ſelbſtthätiges Organ der Verwaltung
auftritt, und eine im Weſen der inneren Verwaltung überhaupt lie-
gende, durch ihr Princip und durch ihre Objekte nicht etwa auf einem
einzelnen Punkte, ſondern vielmehr in allen Gebieten der Verwaltung
gleichmäßig vorhandene und nothwendige Funktion der geſammten in-
neren Verwaltung iſt. Dieſe Funktion nennen wir nun die Verwal-
tungspolizei.
Es ergibt ſich nun daraus zunächſt, daß die gerichtliche Polizei
und die Verwaltungspolizei die beiden großen Grundformen aller Po-
lizei überhaupt ſind. Die klare und bis ins Einzelne durchgeführte
Scheidung beider iſt daher die erſte Bedingung jeder förderlichen wiſſen-
ſchaftlichen Bearbeitung der eigentlichen Polizeilehre; ohne allen Zweifel
aber iſt eine definitive Geſtaltung deſſen, was wir das Polizeirecht
nennen müſſen, überhaupt nur durch dieſe ſtrenge Unterſcheidung mög-
lich, und ſpeziell der Begriff der Sicherheitspolizei, wie wir ihn
als eigenes Gebiet der inneren Verwaltung im Folgenden aufſtellen
müſſen, ohne dieſelbe undenkbar. Denn es ſcheint klar, daß in dem
erſten Falle das Recht der Polizei in den großen und allgemeinen
Grundſätzen des dienſtlichen Gehorſams, im zweiten dagegen in
dem Recht der Polizeiverwaltung ſelber liege. Competenz und
Haftung übernimmt im erſten Falle das Gericht, im zweiten die Po-
lizei ſelbſt. Demgemäß beruht auch das poſitive Recht des erſten Mo-
ments vorzugsweiſe auf den Strafproceßordnungen, das des zweiten
auf eigenen Geſetzen. Und es wäre daher bei der großen Einfachheit
dieſer Begriffe überhaupt kein Zweifel darüber möglich, daß der Ausdruck
„gerichtliche Polizei“ ſtreng im obigen Sinne genommen werden müßte,
wenn nicht ein drittes Element, wieder mit eigenem Recht, hinzuträte.
Dieß Element beſteht nun darin, daß die Verwaltungspolizei
ihrerſeits auch ohne gerichtliche Aufforderung die allgemeine und ſpe-
zielle Verpflichtung hat, die Verbrecher zu verfolgen und ſie den Ge-
richten zu überliefern. Sie iſt daher hier in Wirklichkeit eine Polizei
[22] mit gerichtlicher Funktion; und wir müſſen nur betonen, daß dieſelbe
gerade in dieſem Sinne meiſtens die „gerichtliche Polizei“ genannt
wird, während man ſie weder als einfache Exekution des Gerichts,
noch als reine Verwaltungspolizei ſo nennt. Es iſt nun gegen eine
ſolche Bezeichnung durchaus nichts zu erinnern. Nur iſt eins dabei
feſtzuhalten. In dieſer ihrer gerichtlichen Funktion tritt nämlich für
die Polizei nicht das Recht der gerichtlichen Exekutivpolizei, alſo
nicht die Haftung des Gerichts für das, was die Polizei vornimmt,
ein, ſondern vielmehr das Recht der Verwaltungspolizei, das iſt das
der eigenen polizeilichen Haftung für ihre Maßregeln, ſo daß in dem,
was wir im obigen Sinne „die gerichtliche Polizei“ genannt haben, alſo
die polizeiliche Verfolgung von Verbrechen ohne Auftrag des Gerichts,
eine ſtrafgerichtliche Funktion, verbunden mit verwaltungs-
polizeilichem Rechte, vorliegt. Gerade hier liegt daher auch die
Schwierigkeit, das Recht der gerichtlichen Polizei mit all der Schärfe
zu beſtimmen, welche die Jurisprudenz fordern muß. Und zu dem
Ende iſt es ſchon hier klar, daß die Polizei in ihrem Verfahren nicht
die Selbſtändigkeit des Gerichts für ihre Maßnahmen in Anſpruch
nehmen darf, ſondern daß auch hier das Recht der Verwaltungs-
polizei und nicht das Recht des gerichtlichen Einſchreitens die
rechtliche Gränze beſtimmt, innerhalb deren die Polizei die Freiheit des
Einzelnen zum Zweck der Verfolgung von Verbrechen beſchränken darf.
Die Anerkennung dieſes Grundſatzes, die Zurückführung des Rechts
der gerichtlichen Polizei auf die Principien der Verwal-
tungspolizei bildet den höchſten Ausdruck des verfaſſungsmäßigen
Polizeirechts, und bezeichnet den definitiven Uebergang von der ſtändi-
ſchen zur ſtaatsbürgerlichen Epoche des Verwaltungsrechts überhaupt.
Denn die Geltung des gerichtlichen Rechts für das rein polizeiliche
Verfahren, welches die erſtere Epoche charakteriſirt, legt das Urtheil
über die Rechtlichkeit des Einſchreitens eben in die Hand der Polizei,
das iſt in die des vollziehenden Organes, und das iſt es, was die
ſtaatsbürgerliche Freiheit des Einzelnen principiell des Schutzes gegen
die Willkür und den Irrthum der Polizei beraubt, indem es dieſe
richterliche Competenz einem für die richterliche Funktion weder berufe-
nen noch geeigneten Organe überweist. Erſt nach dieſem Punkte
entſcheidet es ſich daher auch, ob ein richtiges Verſtändniß des Weſens
der Polizei vorhanden iſt oder nicht, und von dieſem Geſichtspunkte
aus muß auch die Bewegung der hier einſchlagenden Literatur beur-
theilt werden.
Denn nun wird es, denken wir, klar ſein, weßhalb man einerſeits
die Polizei als weſentlich für die Verfolgung der Verbrechen beſtimmtes
[23] Organ bezeichnet hat, wie in Frankreich, während man andererſeits,
wie in England, trotzdem mit ſolcher Schärfe die rechtliche Gränze für
die Funktionen der Polizei feſthält. In Deutſchland iſt das poſitive
Recht viel klarer als die Literatur, namentlich weil das erſtere von
Juriſten ausgegangen iſt, die leider die Polizeiwiſſenſchaften den Staats-
wiſſenſchaften ausſchließlich überlaſſen haben. Aber auch die nächſte
Aufgabe der Folgezeit liegt damit vor. Auch wir müſſen der Polizei
die Verpflichtung zur Verfolgung und Verhütung von Verbrechen un-
bedingt zuweiſen. Aber wir müſſen dabei feſthalten, daß die Gränze
ihres Rechts gegenüber der perſönlichen Freiheit ſowohl im Allgemeinen
als in den beſonderen Polizeifunktionen in den Grundſätzen liegt, welche
das Recht der Verwaltungspolizei im Allgemeinen, wie das Recht der
Sicherheitspolizei im Beſonderen aufſtellen.
Dieß nun zu ſuchen, iſt der Zweck des Folgenden. Und das Ver-
waltungspolizeirecht, welches ſich daraus ergibt, wird dann, und das
iſt ſein wahrer Werth, zugleich das Recht der gerichtlichen Polizei im obigen
Sinne ſein, das iſt derjenigen Polizei, welche Verbrechen aufſucht und zur
Beſtrafung bringt, ſo weit ſie dafür keinen gerichtlichen Befehl beſitzt.
Man wird am beſten die ganze bisherige Literatur nach zwei durch-
greifenden Epochen oder Richtungen ſcheiden.
Die erſte iſt die, welche anſtatt der Scheidung zwiſchen der gericht-
lichen und der Verwaltungspolizei es nur zu einer Scheidung zwiſchen
der Wohlfahrts- und Sicherheitspolizei bringt. Dieſe Auffaſſung
iſt nichts anderes, als eine Entwicklung der eudämoniſtiſchen Verwal-
tungsanſchauung des vorigen Jahrhunderts, in der man anfangs in
ziemlich unbeſtimmter Weiſe die poſitiven, direkt förderlichen Funktio-
nen der „Polizei“ als Wohlfahrts-, die negativen, direkt vor Gefahren
ſchützenden Funktionen derſelben als Sicherheitspolizei bezeichnete. Die
gerichtliche Polizei, welche dabei zur Aufgabe hatte, durch Verfolgung
der Rechtsverletzungen das Recht zu ſchützen, fällt dadurch unmittelbar
in die Sicherheitspolizei. Das iſt im Weſentlichen die Vorſtellung, wie
ſie bei Sonnenfels, Berg, Jacob u. A. herrſcht, und ſich bis in unſer
Jahrhundert hineinzieht. Die Entwicklung dieſes Standpunktes beſteht
nun in der, allerdings mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts immer
beſtimmter werdenden, ſtrengeren Scheidung zwiſchen beiden Gebieten,
die ſchon von Juſti (Band 13, Hauptſtück 47) klar gefühlt wird, aber
erſt, und zwar weſentlich durch den Einfluß der franzöſiſchen Auffaſſung,
mit Pölitz und Aretin recht ſcharf hervortritt. Pölitz (Encykl. der
Staatswiſſenſchaften I. 11 und namentlich II. 274 ff.) erkennt deutlich die
[24] Verſchiedenheit der Funktion, und Aretin (Staatsrecht der conſtitu-
tionellen Monarchie II. 2. Abthl. 177 ff.), kommt ſogar ſchon zu dem
Gedanken einer „Rechtspolizei“ und iſt ſomit der erſte Vertreter der
Idee eines Rechtsſtaats gegenüber dem eudämoniſtiſchen Polizeiſtaat.
Allein das ſpezifiſche Weſen der Polizei wird auch ihm nicht recht klar.
Es blieb deßhalb die ganze Literatur bei dem abſtrakten Begriffe ſtehen;
das, worauf es ankam, den Begriff und den Inhalt des Polizeirechts,
konnte man unter dieſen Umſtänden natürlich nicht finden, namentlich
da auch der ſelbſtändige Begriff der Verwaltung gegenüber der Ver-
faſſung noch gänzlich fehlte. Dazu kam die vollſtändige Unklar-
heit der Doktrin des öffentlichen Rechts ſowohl der deutſchen Länder
als der einzelnen Territorien, welche ſich durchaus nicht von der un-
glücklichen Vorſtellung los machen konnte, als ſei die „Polizei“ ein
„Hoheitsrecht.“ Die Hoffnungsloſigkeit der Verwirrung bezeichnet ſehr
gut der im Einzelnen ſo klare, im Ganzen ſo unſyſtematiſche Klüber
(Oeffentl. Recht des deutſchen Bundes §. 380. 381). Die deutſchen
Staats- und Bundesrechtslehrer haben die Sache ohne viel Nachdenken
hingenommen, und mit fleißig gehäuftem Material den Mangel zuzu-
decken geſucht; ſo noch zuletzt Zöpfl mit ſeiner „Polizeihoheit“ (II. §. 480).
An einen Fortſchritt war von dieſer Seite nicht zu denken.
Derſelbe kam dagegen von Frankreich; und zwar auch nicht durch
theoretiſche Reflexion, ſondern durch den lebendigen Gang der freien
Rechtsentwicklung. Die Beſeitigung der grundherrlichen Verwaltung hob
hier die polizeiliche Funktion der Gerichte auf, und mußte daher con-
ſequent auch die gerichtliche Funktion der Polizei beſeitigen. Der Ge-
danke, den Staatsbürger ohne Urtheil in ſeiner Freiheit beſchränken
zu laſſen, widerſprach dem neuen Staatsbürgerthum. Es ward daher
durchgreifender Grundſatz des neuen franzöſiſchen Rechts, die geſammte
gerichtliche Funktion der Polizei zu entziehen und dieſelbe den Ge-
richten als police correctionnelle zu übergeben. Damit ward es denn
nothwendig, in dem bisherigen allgemeinen Begriff der Polizei jene
Unterſcheidung eintreten zu laſſen, die wir angeführt, und die gericht-
liche Polizei neben der Verwaltungspolizei ſelbſtändig hinzuſtellen; nur
daß man dabei wieder nach der alten Theorie nicht zum Begriff der
Verwaltungspolizei gelangte, ſondern nur von der Sicherheitspolizei
ſprach. Die erſte formell ausgeſprochene Beſtimmung der Polizei in
dieſem Sinne iſt wohl die des ſog. Code de Brumaire, an IV, art. 16:
„La police est instituée pour maintenir l’ordre public, la liberté, la
propriété, la sûreté individuelle.“ (Dazu Polizeiordnung vom 12. Mess.
an VIII.) Der Code d’Instr. cr., art. 8, beſtimmt die Sache noch genauer
und definirt die gerichtliche Polizei: „La police judiciaire a pour objet de
[25] réchercher les délits, d’en rassembler les preuves, et d’en livrer les
auteurs aux tribunaux„ — dem dann die ſpätere Theorie ganz conſequent
die Verwaltungspolizei zur Seite ſtellte: „La police administrative
consiste dans le maintien habituel de l’ordre public dans chaque
lieu et dans chaque partie de l’administration générale.“ Laferrière,
Dr. publ. et adm. II. Observat. prélim. Die übrige Literatur hält
dieſe Scheidung aufrecht und führt ſie im Detail durch, indem ſie das
polizeiliche Verwaltungsrecht der einzelnen Gebiete der Polizei daran an-
knüpft. (S. die Literatur bei Block, Dict. de l’Adm. v. Police.) Frank-
reich hat daher eine eigene ſelbſtändige Polizeirechtslehre; weßhalb aber
dennoch dieſelbe nicht zu einem Syſtem geworden iſt, ſondern in lauter
einzelnen Bruchſtücken auftritt, wird ſich unten erklären. Theoretiſch iſt
die Polizei ganz in demſelben Sinne auch in Holland weſentlich als
Schutz gegen Verbrecher und als Mittel ihrer Entdeckung aufgefaßt
(de Bosch-Kemper, Staatsregt §. 338), obgleich ſie auch dort
praktiſch zugleich Verwaltungspolizei iſt und zu dem Ende ihr eigenes
nicht unwichtiges Verordnungsrecht hat (ſ. unten).
Dieſe franzöſiſche Bewegung hat nun in den deutſchen Staaten
erſt Platz gegriffen mit dem allgemeinen Streben, die Adminiſtration von
der Juſtiz zu ſcheiden und zugleich an die Stelle der bisher meiſt willkür-
lichen Polizeiſtrafrechte ein geſetzliches Recht zu ſtellen. Das geſchah
namentlich dadurch, daß das Polizeiſtrafgeſetz nach franzöſiſchem Muſter
in die Strafgeſetzbücher überging, wovon unten. Allein zur Klarheit
kommt auch dieſe Epoche nicht recht, bis die neueſten Polizeiſtrafgeſetz-
bücher den Gegenſtand eingehender Debatten bilden. Erſt hier tritt
der Begriff eines eigenen Polizeirechts auf; aber er leidet ſelbſt da
noch an dem großen Mangel, daß zum Theil die Polizeiorgane noch
eigene Gerichtsbarkeit behalten und über die von ihnen ſelbſt aufge-
ſtellten Verordnungen Recht ſprechen, während man andererſeits nie-
mals zur klaren Unterſcheidung von Klag- und Beſchwerderecht gelangte,
ohne welche eine definitive Geſtaltung dieſer Begriffe nicht denkbar iſt.
Als den Uebergang zu dieſer Epoche, in deren Beginn wir ſtehen,
kann man die Vorſtellung von einer ſog. „Präventiv-Juſtiz“ bezeichnen,
die ſchon in ihrem Namen ihren Widerſpruch enthält, obwohl Mohl
ihr ein eigenes Buch gewidmet hat, dem vor allem neben der hier
unumgänglich nothwendigen Berückſichtigung des poſitiven Rechts die
Klarheit des Begriffes ſelbſt fehlt. Denn es leuchtet ein, daß das,
was ein Verbrechen hindert, das noch nicht geſchehen iſt, ſondern zu
geſchehen droht, keine Juſtiz, und daß das, was ſich auf ein bereits
geſchehenes Verbrechen bezieht, wieder keine Prävention ſein kann.
Denn ſelbſt der Verſuch zu einem Verbrechen iſt ja ein Verbrechen,
[26] und wird beſtraft, während die Ueberſchreitung der gültigen Polizei-
vorſchriften eben dadurch, daß die letzteren ein geltendes Recht bilden,
ein ſtrafbares Vergehen bilden. Eine Vermiſchung beider Funktionen
wird unter dieſen Umſtänden nur dadurch erklärlich, daß dieſelben von
denſelben Organen und oft in derſelben Aktion vorkommen, wie bei
der handhaften That; allein ihr Weſen bleibt verſchieden und daher
haben ſie auch ein weſentlich verſchiedenes Recht. An dieſem Rechte
nun wird der innere Unterſchied ein äußerer, und daher wird die
juriſtiſche Auffaſſung auch hier die formale Grundlage und der prak-
tiſche Ausgangspunkt des Syſtemes bleiben.
Das allgemeine Verwaltungs-Polizeirecht für ſich.
I. Begriff.
Das allgemeine Verwaltungs-Polizeirecht in dem obigen Sinn iſt
daher das Recht der polizeilichen Thätigkeit an ſich, noch ohne be-
ſtimmte Beziehung auf einen einzelnen Gegenſtand, inſofern dieſe
Thätigkeit um der Erhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit
willen eine Beſchränkung der perſönlichen Freiheit enthält; und zwar
dem Obigen gemäß nicht bloß in Beziehung auf die Verhütung un-
mittelbar drohender Gefahren, ſondern auch in Beziehung auf die Ver-
folgung von Verbrechen, ſo weit eben die Polizei hier kraft ihrer orga-
niſchen Beſtimmung und nicht kraft eines richterlichen Befehles handelt.
Die Aufgabe dieſes allgemeinen Polizeirechts beſteht nun darin,
für jene Thätigkeit, ſo viel als thunlich iſt, anſtatt des ſubjektiven
Ermeſſens der Polizeiorgane eine geſetzliche Gränze zu geben, welche
eben dadurch die geſetzliche, von der Polizei in ihrer Funktion nicht zu
überſchreitende Gränze der ſtaatsbürgerlichen Freiheit des Einzelnen
enthält.
Dieſes Polizeirecht nun wird, wie geſagt, theils durch ſpezielle Ge-
ſetze, theils wo dieſelben nicht vorhanden ſind, durch Verordnungen ge-
bildet. Die Verfaſſungsmäßigkeit deſſelben erſcheint dadurch, daß
durch das Syſtem des Klage- und Beſchwerderechts die wirkliche Aktion
der Polizei ſtets auf die in den Geſetzen beſtehenden Gränzen zurück-
geführt wird.
Das Syſtem des allgemeinen Polizeirechts enthält demnach die
drei ſchon oben angedeuteten Theile: das Recht der Polizeiver-
fügung, das Recht des Polizeiverfahrens, und das Recht der
Haftung der Polizei für dasjenige, was ſie in Verfügung und Ver-
fahren wirklich als Beſchränkung der individuellen Freiheit ausgeführt
[27] hat. Und es iſt auch dabei wieder feſtzuhalten, daß dieſe drei Mo-
mente auch für das gelten, was wir die gerichtliche Polizei genannt
haben.
II. Princip des Rechts der Verwaltungspolizei.
Das Princip des Rechts aller Verwaltungspolizei, auch der ge-
richtlichen, iſt an ſich ziemlich einfach. Es beruht daſſelbe auf dem
Weſen der Gefährdung, wobei die Strafloſigkeit der Verbrechen gleich-
falls zunächſt als eine Art der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
aufgefaßt werden muß.
Das Weſen der „Gefährdung“ nämlich bringt es mit ſich, daß
es unthunlich iſt, die Gränze des Gefährlichen von dem Ungefährlichen
in objektiver Beſtimmung zu ſcheiden, oder diejenigen Maßregeln ob-
jektiv feſtzuſtellen, welche jedesmal vorgenommen werden müſſen, um
der Gefahr vorzubeugen. Es iſt vielmehr klar, daß dieß Einſchreiten
gegen die öffentliche Gefährdung wenigſtens in einer von vorn herein
unbeſtimmbaren Maſſe von Fällen demjenigen Organ überlaſſen
werden muß, das der Staat zur Wahrung der allgemeinen Sicherheit
aufſtellt. Das dafür eingeſetzte Organ nennen wir nun die Polizei.
Die Beſtimmung der Polizei, die ſomit in ihrem Weſen liegt, gibt
ihr damit die Verpflichtung, dasjenige zu thun, was als Bedingung
für die Abwendung der öffentlichen Gefahr nothwendig erſcheint, und
mithin auch das Recht, diejenige Beſchränkung der ſtaatsbürgerlichen
Freiheit eintreten zu laſſen, welche als Bedingung der öffentlichen Sicher-
heit erſcheint. Und das Recht auf dieſe Maßregeln bildet das Recht
der Verwaltungspolizei.
Die Wichtigkeit der möglichſt ſcharfen Beſtimmung dieſes Rechts,
ſowohl in ſeinem allgemeinen Princip als in ſeinen einzelnen Momen-
ten, beruht nun in Folgendem:
In der That iſt es nämlich unmöglich, in dem ganzen Gebiete
dieſer polizeilichen Thätigkeit mit dem poſitiven Recht im Einzelnen
auszureichen. Es muß vielmehr unabweisbar dem Organismus der
Polizei überlaſſen werden, ſelbſtändig und einſeitig über dasjenige zu
entſcheiden, was in jedem einzelnen Falle für die öffentliche Sicher-
heit nothwendig iſt, und die Einzelnen müſſen ſich demſelben eben ſo
nothwendig unterwerfen. Nun aber enthält jedes Einſchreiten der
Polizei eine Beſchränkung der perſönlichen Freiheit. Es ergibt ſich
daraus, daß die Aufgabe der Polizei das Recht derſelben involvirt,
durch ihre Thätigkeit, und zwar ganz nach ihrem Ermeſſen, in die
Sphäre der perſönlichen Freiheit hineinzugreifen. Es iſt nicht möglich,
der Polizei dieß Recht zu nehmen, wenn man ihr die Verantwortlichkeit
[28] für die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit geben will. Und
auf dieſe Weiſe wird das Recht die Verwaltungspolizei, während es
die Sicherheit aller gewährt, andererſeits als eine Gefährdung der
öffentlichen Frreiheit des Einzelnen erſcheinen.
Es iſt dieß der Punkt, auf welchem ſich die mit dem vorigen
Jahrhundert entſtehende tiefe Abneigung gegen ein Inſtitut und ein
Recht erklärt, deſſen Nothwendigkeit und Nützlichkeit dennoch von nie-
mandem bezweifelt ward. So wie die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft auf-
tritt, wird das Gefühl allgemein, daß die Unverletzlichkeit der indivi-
duellen Rechtsſphäre die erſte Bedingung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit
und Entwicklung, und daß daher in jener Geſtalt des Polizeirechts
der lebendige und demnach nie zu beſeitigende Feind der freien Bewegung
des Volks gegeben ſei. Dieſer Gegenſatz charakteriſirt nun das Ende
des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts, und
der Haupteindruck deſſelben beſteht in der Thatſache, daß man über-
haupt gar nicht zu einem Begriff oder einer Anerkennung des Rechts
der Polizei kommt, ſondern von vorn herein geneigt iſt, alles, was
„Polizei“ bedeutet, als gleichbedeutend mit Reaktion und Regierungs-
willkür anzuſehen, was natürlich dadurch nur noch allgemeiner ward,
daß man ohnehin keine Selbſtverwaltung zuließ, und das Vereinsweſen
auf der niederſten Stufe ſtand. Das war im Allgemeinen der Stand-
punkt dieſer Zeit; derſelbe iſt aber kein europäiſcher, ſondern ein ſpe-
cifiſch deutſcher, indem Frankreich ſchon damals die Polizei mit ihrem
Recht ſehr klar anerkannte und behandelte, während England ſie durch
ſeine Geſetze mit vollem Bewußtſein auf ihr geringſtes Maß zurück-
führte. Auch in Deutſchland wird dieß mit dem Siege der freien Auf-
faſſung allgemein, und damit beginnt die Epoche, in der wir gegen-
wärtig ſtehen.
So wie nämlich das freie Staatsbürgerthum in dem öffentlichen
Recht zum Siege gelangt, wird es klar, daß auch die freieſte Verfaſ-
ſung der Polizei und ihres Rechtes nicht entbehren kann, und daß daher
nicht in der Beſeitigung der Polizei, ſondern vielmehr in der Zurück-
führung derſelben auf ihr richtiges Maß die wahre Aufgabe der
ſtaatsbürgerlichen Epoche liege. Damit nun entſtand das Streben, dieſe
Beſchränkung derſelben auf das Nothwendige für die öffentliche Sicher-
heit auch wirklich zu formuliren, und ſo mit der Sicherung des Ein-
zelnen vor öffentlichen Gefahren auch die Sicherung der freien Be-
wegung des Volkes vor der Polizei zu verbinden. Aus dieſem Streben
entſteht nun das, was wir das verfaſſungsmäßige Polizeirecht
nennen, und das in Princip, Umfang und Form ein weſentlich charak-
teriſtiſches Element des geſammten öffentlichen Rechts bildet.
[29]
Das verfaſſungsmäßige Polizeirecht erſcheint daher zunächſt nicht
als ein einzelnes beſtimmtes Gebiet, ſondern es tritt vielmehr in
allen Theilen der Verwaltung auf, und in dieſem Sinne iſt es gar
kein Zweifel, daß auch die geſammte gerichtliche Polizei nach ihrem
oben aufgeſtellten Begriff dem verfaſſungsmäßigen Polizeirecht eben ſo
gut angehört, als die Verwaltungspolizei. Allein eben weil ſich das
verfaſſungsmäßige Polizeirecht auf dieſe Weiſe durch das ganze Gebiet
aller Verwaltung, Staatswirthſchaft, Rechtspflege und Inneres hindurch
zieht, erſcheint es von vorne herein unthunlich, daſſelbe in gleicher
Form wie alles übrige öffentliche Recht geſetzmäßig zu codificiren.
Die Unmöglichkeit einer ſolchen ſelbſtändigen Codification hat nun zwar
die theoretiſche Anerkennung jenes Begriffes als eines organiſchen im
öffentlichen Recht allerdings bisher gehindert, und die Doktrin eines
eigenen „Polizeirechts“ und ſeiner Wiſſenſchaft noch nicht zugelaſſen.
Allein die Sache ſelbſt iſt dennoch da, und es iſt kein Zweifel, daß
ſie damit auch einer wiſſenſchaftlichen Behandlung entgegen geht. Es
kommt zunächſt nur darauf an, die Elemente dieſes verfaſſungsmäßigen
Polizeirechts feſtzuſtellen, und demnach das geltende Polizeirecht der
einzelnen Staaten in ſeinem Werthe zu meſſen. Dieſe Elemente aber
ſind folgende:
Das Princip der Verfaſſungsmäßigkeit des Polizeirechts nämlich
beruht darauf, daß die Funktion aller Polizei nicht mehr als eine
geſetzgeberiſche, wie im vorigen Jahrhundert, ſondern als eine ver-
ordnungsmäßige angeſehen wird, und daß daher das von uns in
der vollziehenden Gewalt aufgeſtellte Recht der Verordnungen gegenüber
den Geſetzen für die geſammte Funktion der Polizei zur Geltung gelangt.
Daraus folgt zuerſt, daß das Recht der Polizei grundſätzlich nur
ſo weit geht, als es mit dem beſtehenden Rechte der Geſetze nicht
in Widerſpruch tritt. Die Gränze des Polizeirechts iſt daher
das Geſetz oder ſoll es ſein. Das iſt der erſte leitende Grundgedanke
alles Polizeirechts der verfaſſungsmäßigen Zuſtände.
Dieſes allgemeinſte Princip ſetzt nun voraus, daß eben wirkliche
Geſetze vorhanden ſind, um dieſe Gränze der Polizei auch wirklich
beſtimmen zu können. Denn das Weſen des verfaſſungsmäßigen Ver-
ordnungsrechts zeigt, daß da, wo das Geſetz fehlt, die Verordnung das
Recht hat, dieſelbe mit vollem Recht der Geſetze zu erſetzen, und daß,
wenn dadurch eine Beengung des freien ſtaatsbürgerlichen Rechts ent-
ſteht, die Verordnungsgewalt nicht haftbar, ſondern daß es Sache der
Geſetzgebung iſt, durch ſpezielle Geſetze der letztern ihre Gränze vorzu-
zeichnen. Um zu einem wirklichen verfaſſungsmäßigen Verordnungs-
recht zu gelangen, muß daher die Geſetzgebung nunmehr die Aufgabe
[30] anerkennen, ein geſetzliches Polizeirecht zu ſchaffen, und ſomit die
ſtaatsbürgerliche Freiheit durch Geſetze ſtatt durch Verordnungen in
ihrer Sphäre zu beſchränken, wo die öffentliche Sicherheit dieß fordert.
Allein dabei ſteht zweitens feſt, daß eine allgemeine Codification
des Polizeirechts überhaupt eben ſo unthunlich iſt, als eine genauere
Beſtimmung der Funktion der Polizei in jedem einzelnen Falle. Die
Bildung des verfaſſungsmäßigen Polizeirechts muß daher einen andern
Weg einſchlagen, und hat dieß auch bisher in ganz naturgemäßer Weiſe
gethan. Dieſelbe tritt nämlich in zwei Richtungen ein, die, wie wir
gleich hier bemerken wollen, nicht gleichmäßig ausgebildet ſind. Es iſt
vielmehr gewiß, daß der Charakter des Polizeirechts eines jeden Landes
in dem Verhältniß beſteht, in welchem dieſe beiden Richtungen
neben einander zur Geltung und zur Entwicklung gediehen
ſind.
Die erſte und natürlichſte dieſer Richtungen beſtand darin, daß
man, ſo weit thunlich, das Recht aller Polizei in einzelnen Geſetzen
für die einzelnen polizeilichen Aufgaben feſtſtellte, welche dann die
Gränze für die Berechtigung der Polizeifunktion in ihrer Beſchränkung
der perſönlichen Freiheit bilden. Wir bemerken dabei nur, daß dieſe
Geſetzgebung in vier Gruppen erſcheint. Die erſte iſt in der Auf-
nahme gewiſſer Geſetze für die Sicherheitspolizei in die verſchiedenen
Verfaſſungen gegeben. Die zweite beſteht in den Rechtsbeſtimmungen
über die Finanzbehörden (Regalien und Steuererhebung), die dritte
in den Strafproceßordnungen (gerichtliches Polizeirecht), die vierte
endlich in den Geſetzen über die innere Polizei. Die letztern nennt man
zweckmäßig die eigentliche Polizeigeſetzgebung. Es wird unſre
Aufgabe ſein, ſie weiter unten näher zu charakteriſiren.
Die zweite der obigen Richtungen enthält nun das Syſtem der
rechtlichen Verantwortlichkeit und Haftung der Polizeiorgane für
das, was ſie im Namen des Polizeirechts wirklich ausgeführt haben.
Dieß Syſtem iſt nun allerdings formell mit einiger Schwierigkeit auf-
zuſtellen; in Wirklichkeit aber iſt es ſehr einfach, und wir werden es
gleichfalls unten ausführen.
Dieß ſind nun die beiden Grundlagen für die Bildung des poſi-
tiven Polizeirechts als eines ſelbſtändigen, aber formell mit dem ge-
ſammten Gebiete der Verwaltung innig verſchmolzenen Theiles des
öffentlichen Rechts. Die „Polizeigeſetzkunde“ oder das „Polizeirecht“
der einzelnen Staaten wird demnach die Geſammtheit eben jener ein-
zelnen Geſetze enthalten, vermöge welcher das an ſich dem Ermeſſen
der Polizei überlaſſene Recht derſelben ſo weit möglich objektiv beſtimmt
wird. In dieſem Sinne iſt der Begriff des Polizeirechts ein ſehr ein-
[31] facher. Verwiſcht wird die Beſtimmtheit deſſelben nur dann, wenn man,
wie es allerdings der Regel nach geſchieht, wieder einen Theil der eigent-
lichen Verwaltungsgeſetze mit den Polizeigeſetzen zuſammenwirft.
Allein offenbar mangelt auch dieſem Standpunkt, obwohl der Fort-
ſchritt, der in demſelben liegt, ein ganz unverkennbarer iſt, ein weſent-
liches Moment. Da nämlich die Polizeigeſetzgebung oder das poſitive
Recht der Polizei eben nicht ausreicht, ſo iſt es klar, daß man die un-
vermeidlichen Lücken, welche dieſelbe ſtets hinterläßt, mit dem Elemente
der allgemeinen Auffaſſung des Polizeirechtes erſetzen, und in dieſem
allgemeinen Theil des Polizeirechts die Quelle für den Erſatz der be-
ſondern Beſtimmungen zu ſuchen hat.
In dieſem Sinne haben wir verſucht, dieſen allgemeinen Theil
des Polizeirechts zu einem ſelbſtändigen Theile des Verwaltungsrechts
zu erheben, und daran das beſondere Polizeirecht anzuſchließen. Und
es folgt, denken wir, faſt von ſelbſt aus dem früheren, daß dieſer all-
gemeine Theil ſich in die drei bereits oben bezeichneten Abſchnitte theilen
muß, in das allgemeine Recht der Polizeiverfügung, das des Polizei-
verfahrens, und das der polizeilichen Haftung. Und nun zum Schluß
möge noch einmal hervorgehoben werden, daß dieß ganze Polizeirecht
nur ſo weit gilt, als die Polizei nicht auf Befehl des Gerichts handelt,
dann aber auch da, wo es ſich um die Entdeckung und Verfolgung
bereits begangener Verbrechen handelt, eben ſo weit noch kein gericht-
licher Befehl vorliegt.
III. Syſtem des allgemeinen Polizeirechts.
A. Das Recht der Polizeiverfügungen.
Das Recht der Polizeiverfügung beruht auf der organiſchen Funktion
der Polizei, die öffentliche Ordnung durch Beſchränkung der Freiheit
des Einzelnen zu ſichern, indem die letztere in ſo weit von der Polizei
gefordert wird, als dieſelbe einzelne in dieſer Freiheit liegende Hand-
lungen für öffentlich gefährlich, oder aber die Vornahme gewiſſer anderer
Handlungen als eine Bedingung der öffentlichen Sicherheit erkennt.
Die Polizeiverfügung iſt dieß auf dieſer Erkenntniß beruhende
öffentliche Verbot oder Gebot der betreffenden Handlungen des
Einzelnen. Das Recht der Polizei auf den Erlaß ſolcher Verfügungen
iſt daher an ſich und organiſch durch das Weſen der Polizei ſelbſt ge-
geben, und die formellen Anerkennungen deſſelben in den Geſetzen der
einzelnen Staaten müſſen daher nicht als der wahre Rechtsgrund,
[32] ſondern nur als die öffentlich rechtliche Formulirung deſſelben angeſehen
werden. Die Polizei hat an ſich das Recht zu Polizeiverfügungen,
und keine Geſetzgebung der Welt hat es der Polizei jemals beſtritten
oder verweigert.
Die Competenz zum Erlaß der Polizeiverfügung überhaupt —
noch ohne Beziehung auf das Polizeiſtrafrecht — iſt eben deßhalb durch
die Natur der Funktion jedes einzelnen Organes gegeben, auch ohne
daß ſie beſtimmt ausgeſprochen oder formulirt wäre. Jedes Organ
der Verwaltung hat die, für die Sicherung ſeiner ſpeziellen
Funktion nothwendige Beſchränkung der Thätigkeit des Einzelnen durch
Gebot und Verbot zu beſtimmen. Es gehören daher zum allgemeinſten
Begriffe der Polizeiverfügungen auch diejenigen Anordnungen irgend
einer Behörde, welche ſich auf ihren ſpeziellen Dienſtverkehr mit dem
Einzelnen beziehen. (Bureaudienſtvorſchriften ꝛc.) Indeſſen verſteht man
unter Polizeiverfügungen im eigentlichen Sinne doch nur diejenigen,
welche das Verhalten des Einzelnen und ſeiner Thätigkeit zum öffent-
lichen Verkehr betreffen. Und hier kann es kein Zweifel ſein, daß
die Competenz zu ſolchen Verfügungen nur denjenigen Organen zuſteht,
welche für die Sicherheit eben dieſes öffentlichen Verkehrs zu ſorgen
haben. Dieſe nun ſind entweder ſtaatliche Organe, oder Organe der
Selbſtverwaltung, alſo weſentlich Gemeindeorgane. Die Natur der Sache
bringt es mit ſich, daß die ſtaatlichen Organe die allgemeine Sicherheit,
die Gemeindeorgane die örtliche aufrecht halten. Die Gränze zwiſchen
beiden Begriffen iſt daher auch im Grunde die Gränze zwiſchen der Com-
petenz der ſtaatlichen und der Gemeindebehörde. Und es folgt daraus,
daß grundſätzlich die Gemeindeordnungen die Grundlage der Competenz
zum Erlaß von Polizeiverfügungen enthalten; während eine ſolche Com-
petenz für Vereine nur ausnahmsweiſe bei ſolchen Erwerbsgeſellſchaften
eintritt, die mit dem öffentlichen Verkehr zu thun haben, wie Eiſen-
bahngeſellſchaften u. a. Dagegen haben die Regierungen faſt durchgehend
den Grundſatz feſtgehalten, daß diejenigen ortspolizeilichen Vorſchriften,
welche ſich zugleich auf allgemeine Verkehrsverhältniſſe beziehen, einer
höheren amtlichen Beſtätigung bedürfen, was in Bayern, Württemberg,
Baden ausdrücklich vorgeſchrieben iſt, während in andern Staaten die
Natur der Sache das Geſetz erſetzen muß.
Das Recht ſolcher Verfügungen iſt nun dem Principe nach ſehr
einfach. Da jede Verfügung einen Willensakt der vollziehenden Gewalt
enthält, ſo fordert dieſelbe zunächſt den ſtaatsbürgerlichen Gehorſam.
Der Einzelne iſt nicht zum Widerſtande berechtigt. Er hat ſelbſt die Com-
petenz der betreffenden Behörde nicht zu unterſuchen; wohl aber hat er
das Recht, zu fordern, daß die Verfügung als Wille und Vorſchrift
[33] eines (öffentlichen) Verwaltungsorgans auch wirklich legitimirt werde.
Ueberſchreitet dann ſeiner Meinung nach das Organ das Recht eines
Geſetzes, ſo hat er dafür das Klagerecht; überſchreitet es das Recht
einer Verordnung, ſo hat er das Beſchwerderecht. Das allgemeine
Recht der Verfügung iſt daher das allgemeine Haftungsrecht der Polizei,
das unten zu bezeichnen iſt. Wenn aber für eine Verfügung eine ge-
ſetzliche Form vorgeſchrieben, und dieſe nicht eingehalten iſt, ſo iſt
in der That die Verfügung ſelbſt keine Verfügung mehr, und gibt
offenbar das Recht des Widerſtandes, ſo weit eben die Verfügung
ſelber geht.
Dieß ganze allgemeine Verfügungsrecht iſt nun wohl eigentlich nie-
mals zweifelhaft geweſen und daher auch in der Theorie nur ſo weit
beachtet, als es ſich um die Competenzverhältniſſe handelte. Eine be-
ſtimmte Geſtalt gewinnt die Frage erſt in dem Recht der Polizeiſtrafe.
Und es iſt nicht zu verkennen, daß der einzige Mangel der über den
letztern Punkt vorliegenden Arbeiten weſentlich nur in dem Fehlen der
Unterſcheidung zwiſchen Polizeiverfügungs- und Polizeiſtrafrecht liegt,
die wir nunmehr beſonders zu betrachten haben.
Wir glauben daher auch hier für Literatur und Geſetzgebung mit
einigen kurzen Andeutungen ausreichen zu können, ſpeziell über die
Literatur der Competenz zur Polizeiverfügung überhaupt und ihre Ge-
ſchichte. Das Beſte iſt noch immer für die frühere Zeit Malchus,
Politik der innern Staatsverwaltung (I. Theil Organismus der Be-
hörden 1823). Speziell §. 33. Klüber, Oeffentliches Recht §. 380 ff.
Vergl. Aretin, Conſtitutionelles Staatsrecht II. Bd. 2. Abth. S. 172.
Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I.Rau, Begriff und Weſen der Polizei.
Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft 1853. Ein recht guter Artikel im
Staatswörterbuch „Polizei.“ Der Gedanke, daß die Sicherheits-
polizei ſelbſtändig, und in jedem Staate individuell entwickelt und ge-
ſtaltet iſt, wird nicht genug feſtgehalten. Ueber Begriff und Weſen des
Organismus ſ. Stein, Vollziehende Gewalt S. 223 ff. Geſetzgebung
und Recht.
England. Frühere Geſchichte: Gneiſt, Engliſches Verfaſſungs-
und Verwaltungsrecht I. 105 und a. a. O. — Gegenwärtig: Oberſtes
Organ: Miniſter des Innern als oberſter Friedensrichter. Beamtete:
Friedensrichter mit amtlicher Competenz, aber unter voller Haft-
barkeit vor dem bürgerlichen Gericht. Selbſtverwaltung: Die
Gemeinden haben das Recht auf örtliche Polizeigeſetze, bye-laws,
und Organe derſelben, gleichfalls unter richterlicher Haftung. Die
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 3
[34]höhere Polizei iſt durch die ſtaatsbürgerlichen Rechte begränzt.
(GneiſtI. und II.)
Frankreich. Die klarſte Organiſation in Europa, aber mit dem
Princip der völligen Ausſchließung der Selbſtverwaltungspolizei.
Selbſtändiges Auftreten der königlichen Polizei gegenüber der Patri-
monialgerichtsbarkeit des Seigneurs. (Akten des Parlaments. Dec. 1561.)
Verbot an die Juges seigneuriaux de faire des actes de police;
der Chancelier de France wird chef de la justice et de la police.
(Arr. vom 28. Sept. 1584.) Lieutenant de Police. (Edikt vom 15. März
1667 und Okt. 1699.) Loiseau, Traité des Seigneuries. — Seit der
Revolution Uebertragung der Polizei an den amtlichen Organismus:
Präfekt für das Departement, Maire für die Commune, nebſt ört-
licher Organiſation, und neben ihnen die Commissaires de police
(Geſetz vom 28. Pluv. an VIII) für je 10,000 Einw. in den Städten, ſtreng
durchgeführt durch Arrêté vom 10. März 1855. Polizeidirektion neben
dem Bürgermeiſter, unmittelbar unter dem Präfekten, mit Competenz
über die niederen Sicherheitspolizeiorgane der Gardes champêtres und
forestiers auf dem Lande, die sergeants de ville und agents de police
in den Städten, die vom Maire eingeſetzt werden und zugleich Voll-
zugsorgane der Rechtspflege (police judiciaire) ſind. Préfet de
police für das Depart. der Seine (Arr. 3. Brum. a. X). Daneben
das Inſtitut der Gendarmerie, welche ein integrirender Theil des
Heeres, aber verpflichtet iſt zu Berichten an den Präfekten und zur Hülfe
für die Commiſſäre. Neueſte Organiſationsordre vom 29. Oct 1820.
Reglement vom 21. Nov. 1823 und Decret vom 1. März 1854. (ſ. unten).
— Dieſer Gewalt gegenüber wird das Bedürfniß einer ſtreng um-
ſchriebenen Competenz um ſo lebhafter gefühlt; daher deren oberſter
Grundſatz: gänzliche Scheidung aller Rechtspflege in polizei-
lichen Sachen durch Errichtung der tribunaux de police correctio-
nelle (Maire und Juge de paix, bei welchem der Commissaire de
police die Staatsanwaltſchaft bildet), bis zu Bußen von 15 Frcs.; bei
größeren Bußen iſt das tribunal de première instance das competente
Gericht (Code d’Instr. crim. 1808). So iſt hier der Organismus der
Sicherheitspolizei reine vollziehende Gewalt geworden, was wir
in Deutſchland noch zu erſtreben haben. (Laferrière, Dr. admin. I.
Literatur bei Block, Dict. de l’admin. v. police.Malchus, Politik
der innern Staatsverwaltung I. S. 140 ff. Klüber, Oeffentliches
Recht §. 387.)
Oeſterreich. Neue Organiſation der Polizeibehörden
nach Aufhebung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit: Grundzüge vom
10. Dec. 1850. Wirkungskreis der Polizeibehörden von demſelben
[35] Datum. Dann: Errichtung der Gendarmerie, Geſetz vom 18. Jan.
1850 (militäriſche Organiſation). Trennung der Polizei von der
inneren Verwaltung (Allerhöchſte Entſchließung vom 25. April 1852).
Einſetzung der oberſten Polizeibehörde; Errichtung von Polizei-
direktionen (I. und II. Claſſe) mit Polizei-Bezirken und Com-
miſſariaten. Oberleitung: Statthalter und Länderchefs. Gendar-
merie unterſteht jedoch nur der oberſten Polizeibehörde; doch kann die
Polizeibehörde Auftrag geben, und Pflicht der Gendarmerie zur Auf-
rechthaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung. (Inſtruktion §. 103.
104). — Gerichtliche Competenz über Polizeivergehen bei den Poli-
zeibehörden ſelbſt (Verordnung vom 20. Juni 1858); zweite In-
ſtanz: Commiſſäre. (Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 15. 16).
— Neueſte Zeit: Geſetz vom 22. Oct. 1862, und Ueberlaſſung der
geſammten Polizei an die größeren Städte zur Selbſtverwaltung:
Wien, Gratz ꝛc. 1866. (Vergleiche darüber unten.)
Preußen. Durchgreifende Unterſcheidung zwiſchen dem Oſten und
dem Weſten (Rheinlande). Jener noch weſentlich auf Grundlage guts-
herrlicher Polizei, mit Oberaufſicht der Staatsbehörden; dieſer nach
franzöſiſchem Recht. Dieſer Charakter bleibt nach 1848. Standpunkt:
Allgem. Landrecht II. 13. 6. Recht auf Erlaß allgemeiner Ver-
bote und Strafbeſtimmungen für „ein Majeſtätsrecht“ erklärt. Gen-
darmerie bereits 1812 eingeführt; neue Organiſation 1820; Princip:
militäriſche Ordnung mit Hülfe für die Polizeibehörden. Verhältniß
der Selbſtverwaltung bis 1848: Revid. Städteordnung vom 17. März
1831; Magiſtrat als Verwaltung der Ortspolizei. (Rönne §. 60
mit den einzelnen Geſetzen und Literatur.) — Dann Verfaſſung vom
5. Dec. 1848. Art. 40. Aufhebung der gutsherrlichen Polizei
und Verfaſſungs-Urkunde 1850 §. 52, jedoch mit Vorbehalt. Erfolg:
die Strafgerichtsbarkeit vollſtändig entzogen; die niedere Polizei iſt
geblieben. Darauf Geſetz über Polizeiverwaltung vom 11. März
1850 und Gemeindeordnung vom 11. März 1850; principielle
Uebergabe an die Selbſtverwaltung; aber Siſtirung der Gemeinde-
ordnung (Erlaß vom 19. Juni 1852). Aufhebung (Geſetz vom
24. Mai 1853). RönneI. 16. Städteordnung vom 30. Mai
1853. Bürgermeiſter mit Bürgerwache, weſentlich gegen Volksbe-
wegung, ohne regelmäßigen Dienſt. (K. Ordre vom 1. Oct.) Land-
gerichtsordnung: Gutsherr. — Das Geſetz vom 20. Febr. 1858
erklärt die Polizei als ein mit dem Beſitze eines Ritter- oder ähn-
lichen Gutes verbundenes Recht. Dabei iſt es geblieben! (Rönne
§. 60—61.)
Die holländiſche Polizeiverwaltung beruht auf dem durchgreifenden
[36] Unterſchied der königlichen und der örtlichen Polizei. Die erſte
wird durch ein Syſtem von königlichen Polizeicommiſſarien, die letztere
durch den Bürgermeiſter als Haupt der ganzen örtlichen Polizei aus-
geübt; dem letztern ſind auch die Polizeicommiſſarien untergeordnet.
(Gemeindegeſetz von 1850, Art. 184. 185.) de Bosch-Kemper,
Staatsregt §. 196. Dieß Syſtem empfängt ſeine innere Einheit wieder
dadurch, daß der König den Bürgermeiſter ernennt, was noch aus der
franzöſiſchen Zeit herſtammt.
Bayern. Organ: Miniſterium des Innern als Haupt, Kreisregie-
rungen; Diſtriktspolizeibehörden, theils Magiſtrate, theils Landgerichte
(gutsherrlich). Für die Competenz allgemeines Geſetz. Polizeiſtraf-
recht (Geſetz vom 10. Nov. 1861). Pözl, Verwaltungsrecht §. 74 ff.
May, bayeriſches Strafrecht I. 136. — Württemberg. Mohl, Ver-
waltungsrecht §. 146; ſpeziell über die Landjäger und das Bürger-
militär §. 191. 192. — Die Organiſation in den meiſten übrigen
Staaten beruht auf der allgemeinen Organiſation der Verwaltung,
indem meiſtens die Selbſtverwaltungskörper (Gemeinden) die niedere,
die höheren Verwaltungsſtellen die höhere Polizei ausüben.
Obwohl nun der Begriff des Polizeiverfügungsrechts an ſich ſehr
einfach iſt, ſo bleibt derſelben dennoch ſtets unbeſtimmt, ſo lange nicht
das, was die Vollziehung und Verwirklichung ſolcher Verfügungen
ſichern ſoll, ſeinerſeits beſtimmt wird. Das iſt die für die Uebertretung
der Polizeiverfügung aufzuſtellende Strafe, oder das Polizeiſtraf-
recht. Erſt an dem Polizeiſtrafrecht gewinnt die Polizeiverfügung
gleichſam ihren Körper; es iſt der Weg, auf dem die letztere in das un-
mittelbar praktiſche Leben hineingreift, und daher iſt von jeher das
Polizeiſtrafrecht das eigentlich charakteriſtiſche Moment an dem ganzen
Polizeirecht und ſeiner Entwicklung geweſen.
Das allgemeine Princip deſſelben iſt wohl klar. Iſt das, was
die Polzeiverfügung vorſchreibt, eine wirkliche Bedingung der Geſammt-
entwicklung, ſo iſt eine Nichterfüllung derſelben von Seiten des Einzelnen
ein Vergehen gegenüber der Geſammtheit, die ja doch wieder die erſte
Bedingung der Einzelwohlfahrt iſt. Es muß daher auch für dieß Ver-
gehen eine Strafe eintreten. Allein dieſe Strafe hat einen andern
Charakter als die des Verbrechens. Da die polizeiliche Uebertretung
keine Rechtsſphäre verletzt, ſo kann auch das Maß und die Art der
Strafe mit dem durch die Uebertretung verletzten Recht in keinem Ver-
hältniß ſtehen. Die Strafe hat hier vielmehr einen Zweck, und ihr
[37] Charakter iſt daher im durchgreifenden Gegenſatze zu dem eigentlichen
Strafrecht der, vielmehr eine Verwaltungsmaßregel als eine
Strafe zu ſein.
Dieſer Charakter entſcheidet nun einerſeits für das ganze Recht,
und andererſeits für das Maß der Polizeiſtrafe.
Eine Verwaltungsmaßregel nennen wir die Polizeiſtrafe, weil es
nicht ihre Aufgabe iſt, dem ſittlichen Princip der Strafe für eine ge-
ſchehene Rechtsverletzung zu genügen, ſondern nur den Einzelnen zur
nothwendigen Befolgung der Vorſchriften der Verwaltung zu veran-
laſſen. Daher heißt ſie auch mit ihrem allgemeinen Namen Ordnungs-
ſtrafe, das iſt eine Strafe, deren Baſis nicht die Idee des Rechts,
ſondern die durch die Verwaltung aufrecht zu haltende öffentliche Ord-
nung iſt. Und dieſer Charakter der Polizeiſtrafe entſcheidet nun auch
für das Maß und für das Rechtsprincip derſelben.
Was zunächſt das letztere betrifft, ſo folgt aus jenem Charakter
derſelben zunächſt, daß ſie als Verwaltungsmaßregel auch principiell
von der Verwaltung ausgehen kann, und daher an ſich keines
eigentlichen Geſetzes bedarf, um gültig zu ſein. Das iſt für die Ge-
ſchichte des Polizeiſtrafrechts von entſcheidender Bedeutung geworden,
und darf bei der heutigen Geſtalt deſſelben nicht überſehen werden, wie
es andererſeits ein nicht unweſentliches Element für die Geſchichte der
eigentlichen Strafgeſetzgebung bildet.
Geht man aber einen Schritt weiter, ſo iſt es wohl keine Frage,
daß eben damit auch das, was die Verwaltung als Verwaltungs- oder
Ordnungsſtrafe auflegt, auch einen weſentlich verſchiedenen inneren
Charakter hat, der ſchon dadurch äußerlich ſich manifeſtirt, daß jede
Verwaltungsſtrafe keine That, ſondern nur eine Gefahr vorausſetzt,
und daher in Form und Inhalt ſich als eine weſentlich verſchiedene
von der peinlichen Strafe herausſtellt. Indeß bleibt die äußere Ent-
wicklung hier zunächſt bei den obigen Momenten ſtehen; jener tiefere
Unterſchied tritt noch nicht hervor, und die Entwicklung bewegt ſich
noch bis auf die neueſte Zeit im rein formellen Rechtsgebiet.
In der That hat nämlich das alte Strafrecht bis zum Ende des
vorigen Jahrhunderts ſich grundſätzlich auf dem Standpunkt gehalten,
alle Ordnungs- und Polizeiſtrafen als ganz außerhalb ſeiner Sphäre
liegend anzuſehen. Es genügt ein Blick auf die Carolina, um dieß zu
beweiſen. Da aber die Nothwendigkeit eines ſtrafrechtlichen Zwanges
zur Befolgung der Polizeivorſchriften dadurch natürlich nicht geringer
ward, ſo mußte man das Recht zur Auferlegung von Polizeiſtrafen
einfach der Polizeiverwaltung ſelbſt überlaſſen. Dieß nun ſchien um
ſo natürlicher, als der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verordnung
[38] überhaupt weder theoretiſch noch öffentlich rechtlich exiſtirte und die
Verwaltung der Rechtspflege mit der des Innern vielfach zuſammenfiel.
An eine ſyſtematiſche Mitwirkung der Vertretung ward weder bei der
allgemeinen noch bei der örtlichen Geſetzgebung gedacht, und ſo fiel es
bis dahin niemandem ein, an dem Rechte der Polizei zum Erlaß von
Strafverfügungen zu zweifeln, denen gegenüber die Freiheit des Ein-
zelnen ernſtlich bedroht erſchien. Auf dieſe Weiſe gab es nun zwar
ſchon damals zwei große Strafſyſteme: das peinliche Strafrecht, deſſen
Recht die Carolina bildete, und das polizeiliche, das von Ort zu Ort,
von Zeit zu Zeit verſchieden, nur darin gleich war, daß die „Polizei,“
das iſt der geſammte Organismus der Verwaltung, es einſeitig feſt-
ſtellte, und zweitens auch über das von ihr aufgeſtellte Recht einſeitig
und meiſt ohne ordentliches Verfahren richtete. Allein daß in beiden
ſtrafrechtlichen Gebieten nicht bloß formell, ſondern der Sache nach eine
weſentlich verſchiedene Idee enthalten ſei, kam nicht zum Bewußtſein.
Es handelte ſich nur noch um die formelle Bedrängniß der bürgerlichen
Freiheit durch das letztere, und dieſe ward natürlich um ſo tiefer ge-
fühlt, als keine Volksvertretung ein Gegengewicht gegen dieſelbe abgab.
Das war der Zuſtand, auf welchem in jener Zeit eben die große Ge-
walt der Polizei beruhte, und deſſen tiefere Grundlage eben jene Idee
des Eudämonismus war, deſſen ſittliche und praktiſche Bedeutung wir
bereits früher feſtgeſtellt haben.
So wie nun mit unſerem Jahrhundert die Selbſtändigkeit des Ein-
zelnen gegenüber der bisher allgewaltigen Regierungsthätigkeit die Grund-
lage aller öffentlichen Rechtsordnung wird, tritt dieſes Princip natür-
lich einem Zuſtande aufs Entſchiedenſte entgegen, in welchem nicht bloß
die polizeiliche Beſchränkung der perſönlichen Freiheit des Einzelnen,
ſondern auch die Strafordnung, wenn auch nur für das Gebiet der
Ordnungsſtrafen, ausſchließlich in das Ermeſſen der Polizeibehörde ge-
legt iſt. Die allgemeine Forderung, die ſich daraus als erſte und un-
bedingteſte, wenn auch nur formelle ergibt, iſt die, daß jenes Recht
der Polizei auf objektiv geltende Beſtimmungen zurückgeführt, und da-
durch die Selbſtändigkeit des Einzelnen geſchützt werden ſolle. Dieſe
mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nothwendige
Forderung erſcheint nun, wie in ſolchen Fällen immer, zuerſt nur als
allgemeines Princip. Allmählig gewinnt ſie dann eine feſte juriſtiſche
Geſtalt, und wird zur Grundlage einer eigenen Rechtsbildung; und
für dieſe mußte es ſich zunächſt um zwei Fragen handeln; die erſte
war die, ob man überhaupt noch eines Syſtems der polizeilichen Strafen
bedürfe; die zweite Frage war die, in welcher Geſtalt dies Syſtem
zum öffentlichen Recht werden ſolle. Die dritte Frage nach dem höheren
[39] Weſen des Unterſchiedes zwiſchen beiden Strafrechtsgebieten ward durch
jene formelle Richtung noch in den Hintergrund geſchoben, und kommt
erſt ſpäter zum Vorſchein.
Was nun die erſte jener Fragen betrifft, ſo war die Antwort an
ſich ſehr einfach. Die gänzliche Beſeitigung dieſer Ordnungsſtrafen
bleibt ſtets unmöglich, wenn man überhaupt die Polizei für die Auf-
rechthaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich machen will. Das,
worauf es daher ankam, war, das Syſtem dieſer Ordnungsſtrafen zu
einem geſetzlich geltenden zu machen, und auf dieſe Weiſe auch hier das
verfaſſungsmäßige Recht an die Stelle des polizeilichen zu ſetzen. Das
nun konnte nur geſchehen, indem man jenes Syſtem in ein eigenes
Geſetz zuſammenfaßte. Und ſo entſtand jene Bewegung, welche mit
dem Anfange dieſes Jahrhunderts beginnend, auch jetzt noch keineswegs
als abgeſchloſſen betrachtet werden darf, und deren Inhalt durch geſetz-
liche Feſtſtellung der Ordnungsſtrafen die Grundlage für die Herſtellung
eines geſetzmäßigen Polizeiſtrafrechts an die Stelle des
bisherigen verordnungsmäßigen war.
Allein trotz der Richtigkeit dieſer Forderung an ſich und trotz des
Strebens ihr durch förmliche Polizeiſtrafgeſetzbücher zu genügen, war
es bald klar, daß eine vollſtändige Erſchöpfung dieſes Rechtsgebiets
auch durch die ausführlichſte Geſetzgebung nicht zu erreichen ſein werde.
Die Natur der Gefährdungen, denen die öffentliche Ordnung unterliegt,
forderte noch immer einen gewiſſen freien Spielraum für die ſelbſtändige
Polizeiverfügung, und innerhalb dieſer Sphäre war es nun, wo ſich
die alte, wenn auch jetzt auf einen ſehr engen Raum reducirte Be-
rechtigung der Polizeiſtrafverfügung nach wie vor mit ihrer Gefährdung
der individuellen Freiheit bewegte. Es kam mithin darauf an, dieſe
beiden Elemente der Polizeiſtrafgeſetzgebung zu combiniren. Und aus
dieſem Streben ſind die gegenwärtigen Formen des Polizeiſtrafrechts
hervorgegangen, die ſich auf folgende Grundzüge zurückführen laſſen.
Die erſte Geſtalt des ganzen Polizeiſtrafrechts, das wir nunmehr
wohl das ſtaatsbürgerliche nennen können, iſt diejenige, in welcher
wenigſtens grundſätzlich die Polizei gar kein eigenes Recht zu Straf-
verfügungen hat, ſondern die Strafen auch für die Polizeiüber-
tretungen, obwohl ſie keine peinlichen, ſondern nur Verwaltungs- oder
Ordnungsſtrafen ſind, in das allgemeine Strafgeſetzbuch aufgenommen
wurden, während den Polizeiorganen damit das Recht genommen iſt,
außerhalb dieſer ſtrafgeſetzlichen Beſtimmungen ihren Verfügungen noch
eine pönale Sanktion zu geben. Dieß Syſtem iſt zuerſt und ausführlich
in Frankreich durchgeführt. Die darauf bezügliche Geſetzgebung beginnt
bereits mit dem großen organiſatoriſchen Geſetz vom 16./24. Aug. 1790,
[40] welches der Ortspolizei zwar das Recht der Verfügung gab, aber das
Recht der Beſtrafung nahm. Die Scheidung der Polizei von der Rechts-
pflege, hier zum erſtenmal in Europa geſetzlich ausgeſprochen, hat die erſte
ſelbſtändige Polizeiſtrafgeſetzgebung (T. IX. art. 5.) zur Folge, die frei-
lich noch ſehr unvollſtändig iſt, ſo wie die erſte öffentlich rechtliche Or-
ganiſation des Verfügungsrechts im Dekret vom 19./27. Juli
1791, nach welchem das Polizeiverfügungsrecht der Gemeindever-
tretung überwieſen ward — zwei Principien, von denen jedes ſeine
eigene weitere Entwicklung in Frankreich hat, die aber beide zwei Men-
ſchenalter ſpäter nach Deutſchland übertragen werden.
Die Entwicklung der Organiſation des Verfügungsrechts beſteht
freilich in Frankreich darin, daß die Theilnahme der Selbſtverwaltung
daran ſchon durch das Geſetz vom 28 Pluv. VIII aufgehoben, und an
ihre Stelle der ganz amtliche Maire geſetzt wird. Die ziemlich voll-
ſtändige Freiheit deſſelben, nach ſeinem Ermeſſen Verfügungen zu er-
laſſen, ward dann durch das Geſetz vom 18. Juli 1837 dahin neu geregelt,
daß er ſeine Verfügungen jedesmal dem Souspréfet mitzutheilen habe,
und daß der Préfet dieſelben aufheben könne. Doch ſind die Ver-
fügungen des Maireſofort gültig, und nur wenn ſie dauernde
Ordnungen betreffen, erſt nach vier Wochen rechtskräftig. Dabei iſt es
geblieben; das Polizeiverfügungsrecht an ſich iſt ein ſtreng amtliches;
Deutſchland hat das freie Element der Selbſtverwaltung erſt in neuerer
Zeit wieder hineingebracht.
Das Polizeiſtrafrecht ſeinerſeits, wie geſagt, durch das Geſetz vom
16./25. Aug. 1790 ſelbſtändig begründet, bleibt von da an ein ſelb-
ſtändiger Theil des peinlichen Geſetzbuches. Es empfängt ſeine weitere
Ausbildung durch den Code de Brumaire (Loi de 3 Brum. an IV)
art. 600—606, wodurch eine für das ganze Polizeiſtrafrecht wichtige
Unterſcheidung feſtgeſtellt ward. Das war die der allgemeinen
Ordnungsſtrafe von den ſpeziellen, für die einzelnen, ſpeziell vom
Geſetze aufgeführten Uebertretungen ſanktionirten Polizeiſtrafen. Die
erſtere beſtand in einer Buße von dem Werthe von 1—3 Arbeitstagen
als Gefängniß. Die ſpeziellen Polizeiſtrafen dagegen wurden dann
im Code Pénal art. 470 ff. für einzelne Uebertretungen feſtgeſtellt.
Auf dieſen beiden Punkten beruht von da an das franzöſiſche Syſtem
des Polizeiſtrafrechts und der Art. 4 des Code Pénal konnte nunmehr
mit aller Sicherheit beſtimmen, daß keine Uebertretung mehr ſtrafbar
ſein ſolle, wenn nicht das Geſetz die Strafbarkeit ausgeſprochen. Dieſer
Standpunkt war nun allerdings ein weſentlicher Fortſchritt gegenüber
dem früheren, indem er die individuelle Freiheit gegenüber den Ver-
waltungsorganen durch Aufſtellung eines Geſetzes ſicherte. Allein er hat
[41] trotzdem das Weſen des Strafrechts mißverſtehen laſſen, indem er die
peinliche und die polizeiliche Strafordnung als ihrer Natur nach
identiſch hinſtellte, was wiederum erſt durch die deutſche Wiſſenſchaft
überwunden werden ſoll. Dabei war übrigens die praktiſche Folge die,
daß der Maire als Ortspolizei nunmehr in jener Beſtimmung nur die
Maximalgränze ſeiner, auf dem Code Pénal begründeten Strafan-
drohung fand, woher denn auch die ortspolizeilichen Verfügungen in
Frankreich durchaus nicht ſeltener, oft aber viel willkürlicher ſind als
in Deutſchland. Nur das ward feſtgehalten und mußte den deutſchen
Zuſtänden gegenüber als ein großer Fortſchritt gelten, daß das Ur-
theil über dieſe Verwaltungsſtrafen gerichtlich in der Police cor-
rectionnelle ausgeſprochen, und die Verbindung von Polizei und Ge-
richtsbarkeit darin beſeitigt wird.
(Vergleiche die Organisation communale bei Laferrière, Droit
publ. T. I. und bei Balbie Dr. administr. T. II. Das Hauptwerk
iſt noch jetzt N. de Champagny, Traité de la police municipale,
ou de l’autorité des maires, de l’administration et du gouvernement
réglementaire 2. Bd. 1844. 47. Kurz bei Mohl, Literatur der Staats-
wiſſenſchaft III. 263. 264. Eng zuſammengeſtellt in Block, Dict. de
l’Adm. v. Organ. crim. nebſt Literatur. Edel, Vortrag über den
allgemeinen Theil des bayeriſchen Polizeiſtrafgeſetzbuchs, Verhandl. der
Kammer der Abgeordneten II. S. 149 ff.)
An dieß franzöſiſche Syſtem hat ſich nun zunächſt die belgiſche
Geſetzgebung angeſchloſſen. Belgien hat franzöſiſche Principien in ſeinem
Recht, aber deutſche in ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung. Das erſte
Element iſt für das Strafrecht, das zweite für das Verfügungsrecht
entſcheidend geworden. Das belgiſche Recht hat gleich anfangs das Ge-
ſetz von der Verordnung und ihrem Recht als „droit réglementaire“
oder „pouvoir réglementaire“ ſehr beſtimmt geſchieden, und daher auch
das peinliche Strafrecht dem verwaltungsrechtlichen ſcharf getrennt zur
Seite geſtellt. In dem letztern iſt aber die allgemeine Ordnungsſtrafe
wieder von den einzelnen, im Code Pénal enthaltenen Polizeiſtrafen ge-
ſchieden, und zwar hier zum erſtenmale mit klarem Bewußtſein ihrer
beſonderen Stellung. Das betreffende Geſetz iſt ſo klar, daß wir mit
ſeinen Worten alles erſchöpft ſehen. Das Geſetz vom 6. März 1818
ſagt: Art. 1. „Les infractions aux réglements d’administration géné-
rale, à l’égard desquelles la loi ne détermine pas des peines par-
ticulières, sont punies d’une amende de dix à cent florins ou
d’un emprisonnement d’un jour au moins ou de quatorze jours au
plus, même cumulativement d’une amende et d’un emprisonnement.“
Dabei wird jedoch wieder feſtgehalten, daß „keine Handlung beſtraft werden
[42] kann, als die vom Geſetz verboten iſt.“ Der Cirkel iſt klar. Da
das Geſetz vom pouvoir réglementaire das Recht gibt, Handlungen
durch réglements zu verbieten, ſo ſind die verordnungsmäßig verbo-
tenen Handlungen geſetzlich verboten und mithin nach dem Geſetz von
1818 verwaltungsrechtlich ſtrafbar, neben den Beſtimmungen des Code
Pénal. Vergl. de Fooz, Droit adm. belg. T. III. Titre prélimin.
und T. I. Tit. I. und T. IV. Die Erkenntniß, daß das peinliche und
adminiſtrative Strafrecht ihrer Natur nach weſentlich verſchieden ſind,
iſt hier jedoch mehr geahnt als anerkannt. Das Recht zum Erlaß der
Verfügungen iſt jedoch nicht wie in Frankreich dem Maire überlaſſen;
das germaniſche Element der Selbſtverwaltung hat vielmehr den Grund-
ſatz zur Geltung gebracht, den ſchon das Geſetz von 1818 anerkennt,
daß die Gemeindeverwaltungen das Recht haben, Verwaltungsſtrafen
bis zu 50 fl. auszuſprechen, was die neuere Loi communale art. 78.
auf die gewöhnlichen Polizeiſtrafen herabſetzte. De Fooz T. I. Tit. II.
Die deutſchen Staaten, die ſich dem Princip nach an die franzö-
ſiſche angeſchloſſen haben, bilden nun wieder eine ſelbſtändige Gruppe.
Das ſind diejenigen, welche den Verſuch gemacht haben, das Verwaltungs-
ſtrafrecht von dem peinlichen zu ſcheiden und neben dem peinlichen Straf-
geſetzbuch ein eigenes Polizeiſtrafgeſetzbuch aufzuſtellen. Dieſe Staaten
ſind Württemberg, Bayern und Baden. Und damit iſt nun die
Bahn zu einer ganz neuen Geſtaltung des Strafrechts gebrochen, die,
freilich nur noch im erſten Beginne ihrer Entwicklung, doch ſchon eben
in jenen Polizeiſtrafgeſetzbüchern Bedeutendes geleiſtet hat.
Das Verhältniß der letzteren zu einander iſt eben deßhalb von be-
ſonderem Intereſſe und gehört ſchon jetzt der Geſchichte des peinlichen
Rechts an. Das älteſte, Württembergiſche (1839) hat noch keine klare
Vorſtellung von dem Gegenſatz zwiſchen Geſetz und Verordnung; doch
hat Mohl (Württemb. Verfaſſungsrecht S. 67 ff.) den Unterſchied ſchon
ziemlich klar, wenn auch ohne Anwendung auf den Begriff des ver-
faſſungsmäßigen Verordnungsrechts dargeſtellt, und den Satz der Ver-
faſſungs-Urkunde §. 25 betont, daß niemand anders, als in den vom
Geſetze beſtimmten Fällen Strafe erleiden ſoll, weßhalb keine Verord-
nung neue Strafandrohungen enthalten darf. Indeß bleibt dabei die
Frage nach den örtlichen Polizeiverfügungen unentſchieden (ebendaſ.
S. 8, 9, 10) während die theoretiſche Behandlung des Polizeiſtraf-
rechts (Roller, Württemb. Polizeirecht 1856) ſich um alles, was über
den Text deſſelben hinausgeht, nicht kümmert. Dafür aber iſt dieß
Polizeiſtrafrecht die erſte Codificirung des Verwaltungsſtrafrechts,
und dadurch ſeinem Stoffe nach umfangreicher und ſpezieller, als der
betreffende Theil des Code Pénal. Es iſt, obwohl in der allgemeinen
[43] deutſchen Literatur wenig bekannt, dennoch ſehr wichtig, weil es eben
durch dieſe Aufſtellung eines ſelbſtändigen Polizeiſtrafrechts den Anlaß
zu der Frage gab, ob und wie weit die Elemente des allgemeinen
Theils des peinlichen Strafrechts auf die Verwaltungsſtrafen anzuwen-
den ſeien. Und auf dieſem Gebiet liegt nun der Standpunkt für
das, was die beiden andern Polizeiſtrafgeſetzbücher geleiſtet haben.
Das erſte ihm folgende iſt das bayeriſche von 1861. Wir
können uns der Ueberzeugung nicht verſchließen, daß durch dieß Geſetz-
buch und vielleicht noch mehr durch die Verhandlungen über daſſelbe
die Bahn für eine neue ſelbſtändige Behandlung des Verwaltungsſtraf-
rechts gebrochen iſt. In der That iſt es das erſte, welches die Frage
nach dem organiſchen Inhalt des Polizeiſtrafrechts zuerſt gründlich
angeregt, und ein feſtes Syſtem für das Recht der Polizeiverfügung
aufgeſtellt hat. Die Grundlagen dieſes Syſtems ſind: I. Beſtimmung
der Competenz zum Erlaß ortspolizeilicher und diſtriktspolizeilicher
Vorſchriften (Art. 32—36). II. Competenz zum Erlaß von ſtrafpolizei-
lichen Vorſchriften ohne ſpezielle Ermächtigung durch ein Geſetz, nur
als königliche Verordnung, mit Polizeiſtrafen von 10—100 fl. (Art. 38).
III. Die erſte Anwendung der Grundbegriffe des allgemeinen Theils
des peinlichen Strafrechts auf das Polizeiſtrafrecht. Der Mangel in
dieſem ſonſt trefflichen Geſetze ſcheint in dem Fehlen einer allgemeinen
Ordnungsſtrafe zu beſtehen, das nicht durch die allgemeine Verweiſung
auf das (peinliche) Strafgeſetzbuch in Art. 31. erſetzt wird. Für die
frühere Geſchichte und die ſpeziellen Motive ſiehe Edels gründlichen
Bericht a. a. O. Auf den Schultern dieſes Geſetzes ſteht das neueſte
badiſche vom 31. Oktober 1863. Auch dieß Geſetz hat zunächſt zur
Aufgabe, das Verwaltungsſtrafrecht zu einer ſelbſtändigen Geſetzgebung
zu machen; zugleich aber daſſelbe durch innige Verbindung mit den
Grundbegriffen des peinlichen Strafrechts zu einem auch wiſſenſchaftlichen
Syſtem zu erheben. Es enthält faſt dieſelben Elemente, wie das baye-
riſche; einen „allgemeinen Theil“ mit den Begriffen von That, Verſuch,
Verjährung u. ſ. w. und einen ſpeziellen mit den einzelnen Strafbe-
ſtimmungen. Nur iſt es mit, wir möchten ſagen mehr Bewußtſein
über Weſen und Stellung des Polizeiſtrafrechts entworfen, indem es
ſpeziell noch die neben ſeinen Beſtimmungen geltenden Verwaltungs-
ſtrafgeſetze aufnimmt, und dadurch dasjenige begründet, was als der
wahre Abſchluß dieſer ganzen Bewegung angeſehen werden muß, die
Aufſtellung eines vollſtändigen Verwaltungsſtrafgeſetzes
neben dem peinlichen Strafgeſetz, ſo daß das eigentlich ſoge-
nannte Polizeiſtrafgeſetz hier ſelbſt wieder nur als ein Theil des Ver-
waltungsſtrafrechts angeſehen wird. Wir ſind überzeugt, daß damit
[44] für das ganze Strafrecht jene neue Richtung beginnt, deren Grund-
lage eben die doppelte Idee der Strafe ſein wird — der peinlichen
mit ihrem ſittlichen Inhalt, die ihren Grund im ethiſchen Weſen der
Perſönlichkeit hat, und der verwaltungsrechtlichen, die ihren
Grund in ihrer Zweckmäßigkeit für die Aufgaben der Verwaltung ſuchen
muß. Dieſe Idee entſcheidet dann auch für das Recht zur Strafver-
fügung, das nur bei der letzteren im Verordnungswege denkbar iſt,
indem alles, was für einen äußeren Zweck geſchieht, ſtets ſich der Ver-
ordnung unterwirft, während eine peinliche Strafe nur als Ausdruck
des ſittlichen Bewußtſeins der Geſammtheit auftreten kann. Es würde
hier zu weit führen, darauf einzugehen. Wir bemerken nur noch, daß
ſich trotz des in §. 32, 33 enthaltenen Verbotes, irgend eine andere
als die geſetzlich anerkannte Strafe auszuſprechen, die Idee der allge-
meinen Ordnungsſtrafe in §. 6 und 29 erhalten, und damit der An-
knüpfungspunkt für die allgemeinere Auffaſſung erhalten hat. Jeden-
falls dürfte ſchon hier das feſtſtehen, daß die ſyſtematiſche Weiterbildung
der geſammten Strafrechtslehre nicht mehr innerhalb des bisherigen
peinlichen Rechts liegen wird, das wohl ohnehin im Weſentlichen er-
ſchöpft iſt, ſondern in einer Auffaſſung, die hoch genug ſteht, um beide
Theile, das peinliche wie das Verwaltungsſtrafrecht, von einem höchſten
gemeinſamen Geſichtspunkt zu umfaſſen, als zwei große, verſchiedene,
aber doch organiſch zuſammenhängende Gebiete Eines Gedankens, der
eben darum nicht mehr beiläufig, ſondern in ſelbſtändiger wiſſenſchaft-
licher Durchführung zu behandeln und die etwas ermüdete Strafrechts-
lehre neu zu beleben beſtimmt iſt.
(Von allen auf die Polizeiſtrafgeſetzgebung bezüglichen Arbeiten
gebührt ohne Zweifel der vortrefflichen Arbeit von C. Edel, das Polizei-
ſtrafgeſetzbuch für das Königreich Bayern (Dollmann, Geſetzgebung
des Königreichs Bayern 1862 B. V.) der Vorzug. Der Verfaſſer
hat das bayeriſche Polizeiſtrafgeſetzbuch ſchon in den Verhandlungen
der zweiten Kammer mit ſeinen eingreifenden Erläuterungen begleitet;
das citirte Werk enthält aber außerdem nicht bloß die Exegeſe und die
Geſchichte der einzelnen Beſtimmungen des betreffenden Geſetzes, ſon-
dern in vollſtändiger Ausführlichkeit auch die übrige dahin gehörende
Geſetzgebung des Königreichs, und darf dieß Werk als ein Muſter für
ähnliche Bearbeitungen angeſehen werden. Wir nehmen daher an, daß
bei allen folgenden einzelnen Paragraphen des bayeriſchen Polizeiſtraf-
geſetzbuchs die betreffende Ausführung des Verfaſſers als hinzu citirt
angenommen werden möge.)
Was Baden betrifft, ſo verweiſen wir auf die ſchöne Arbeit von
L. Kempf, das Polizeiſtrafgeſetzbuch für das Großherzogthum Baden,
[45] mit den Motiven, Commiſſionsberichten und landſtändiſchen Verhandlun-
gen 1864. Eine andere Arbeit iſt uns bis jetzt nicht bekannt.
Auf dieſer allgemeinen Grundlage wird es nun wohl leicht ſein,
das Recht und Weſen der Polizeiſtrafordnungen in den übrigen Staaten
zu charakteriſiren, ſo weit uns dieſelben zugänglich waren.
Am nächſten dem Standpunkte des ſüddeutſchen Polizeiſtrafgeſetz-
buches kommt das preußiſche Recht. Im preußiſchen Recht iſt näm-
lich das Verhältniß zwiſchen Verordnung und Geſetz, und die Compe-
tenzfrage über den Erlaß der erſteren allerdings ſehr klar behandelt
und entſchieden. Hier ſind zuerſt die königlichen Verordnungen von
den Polizeiverordnungen weit beſſer getrennt, als in Belgien und ſelbſt
in Baden und Bayern, und den letzteren das Recht voller Gültigkeit
beigelegt, wenn ſie unter den geſetzlichen Formen publicirt ſind. Dieſer
Grundſatz iſt ſchon durch das Allgemeine Landrecht II. T. 13, §. 6 be-
gründet, der das Recht auf Erlaß von Verordnungen für ein „Maje-
ſtätsrecht“ erklärt hat. Die Frage, in wie weit dieß Recht den Polizei-
organen zukomme, und in wie weit ſpeziell dieſelben Polizeiſtrafen auf
verordnungsmäßigem Wege ausſprechen können, war in der rein poli-
zeilichen Epoche des preußiſchen öffentlichen Rechts eigentlich gar nicht
vorhanden, ſondern die Sache wurde als ſelbſtverſtändlich angeſehen.
Erſt mit dem Siege der verfaſſungsmäßigen Verwaltung zeigte es ſich
auch hier, daß es eine der weſentlichſten Bedingungen der letzteren ſei,
über dieſen Punkt ins Klare zu kommen. Und das geſchah nun in der,
für die ganze Entwicklung dieſer Begriffe bezeichnenden Weiſe dadurch,
daß die Reform der Strafgeſetzgebung weſentlich zu dem
Zweck unternommen wurde, um durch die Aufnahme des Polizeiſtrafen-
ſyſtems in das Strafgeſetzbuch ein geſetzliches Strafſyſtem für
das Verwaltungsrecht zu ſchaffen. Das war nun die Haupt-
aufgabe der neuen Redaktion des preußiſchen Strafgeſetzbuches, bei
dem im dritten Theil das franzöſiſche Muſter des Code Pénal IV.
vorſchwebte. Es geſchah daher hier, was 1808 in Frankreich geſchehen
war, daß man nämlich das Verwaltungsſtrafrecht mit dem peinlichen
durch gemeinſame Codification formell identificirte, und dafür zwar
ein objektioes Recht des erſteren gewann, aber in Gefahr gerieth, das
Bewußtſein von ſeinem tiefen Unterſchiede vom peinlichen Recht definitiv
zu verlieren. Die formell vortreffliche Organiſation der preußiſchen
Verwaltung hat jedoch davor geſchützt, indem jetzt neben dem betref-
fenden Theile des Strafgeſetzbuches das Geſetz vom 11. Mai 1850 über
die Polizeiverwaltung gegeben ward, das im Grunde dasjenige als
Princip enthält, was die Polizeiſtrafgeſetzbücher des Südens als ſyſte-
matiſches Strafrecht formuliren, das ſelbſtändige Verwaltungsſtrafrecht.
[46] Nach dieſem Geſetz kann nämlich auch jetzt noch die Verwaltung (unter
dem Namen der Polizei) unter ausdrücklich vorgeſchriebenen Formen
die allgemeine Ordnungsſtrafe für Ungehorſam gegen Polizeiver-
fügungen da ausſprechen, wo das Strafgeſetz keine beſtimmte Strafe
enthält, und zwar im Maximum bis zu 3 und 10 Thaler Geldbuße.
Dieſe Polizeiſtrafen bilden dann ein gültiges Recht für die Polizeigerichte,
wie das Strafgeſetzbuch ſelbſt. Der verfaſſungsmäßige Fortſchritt in
dieſem Geſetz beſteht darin, daß es, wir glauben zuerſt in Deutſchland
den Grundſatz zur Anwendung brachte, daß nach §. 5 deſſelben ſolche
Ordnungsſtrafen nur nach Berathung mit dem Gemeindevorſtande
erlaſſen werden, wobei wohl das belgiſche und holländiſche Recht zum
Grunde lag. Wir verweiſen für das Spezielle auf Rönne, Staats-
recht I. §. 16, 48 und 49, und die ſtenographiſchen Berichte der I. Kam-
mer von 1849, S. 2336 ff. — Bei allem formell Unfertigen, das hierin
liegt, iſt vielleicht gerade dieſes Verhältniß der preußiſchen Geſetzgebung
ein hochwichtiges Element der Weiterbildung. In der That bedeutet
die Selbſtändigkeit des Geſetzes von 1850 die innere Selbſtändigkeit
der Verwaltungsſtrafe gegenüber der peinlichen; es iſt klar, daß es,
wenn auch hiſtoriſch begründet, doch wiſſenſchaftlich falſch iſt, den
III. Theil des Strafgeſetzbuches zu einem Theil des peinlichen Rechts
zu machen; es ſollte vielmehr das Geſetz von 1850 der allgemeine,
und das III. B. des Strafgeſetzbuches der beſondere Theil des
preußiſchen Verwaltungsſtrafrechts ſein, und darauf die
Theorie und Praxis des letzteren gegenüber dem peinlichen Strafrecht
begründet werden. Das Geſetz von 1850 hat die hohe Bedeutung,
dieſen Standpunkt eines allgemeinen Verwaltungsſtrafrechts geſetzlich zu
begründen, dem das badiſche Polizeiſtrafgeſetzbuch ſeinen materiellen
Inhalt in ſeinem erſten Abſchnitt gibt; die in der Selbſtändigkeit dieſes
Geſetzes gegebene Veranlaſſung zu einer ſolchen Behandlung iſt der
größte und eigentliche Vorzug des, wie ſich aus dem Obigen ergiebt,
zweitheiligen preußiſchen Verwaltungsſtrafrechts, und wir halten feſt an
der Ueberzeugung, daß ſich die Scheidung beider Grundformen alles
Strafrechts, des peinlichen und des polizeilichen, von dieſem Punkte
aus entwickeln wird.
Weit unklarer und unfertiger, wie dieſe Rechte, ſind nun die
übrigen poſitiven Geſetze Deutſchlands in dieſer Beziehung.
Was zunächſt Oeſterreich betrifft, ſo iſt es in ſeiner Geſetzgebung
geradezu auf dem halben Wege ſtehen geblieben.
Daſſelbe begann nämlich allerdings nach dem Vorgange Frank-
reichs und Preußens damit, das geſammte Gebiet der „Vergehungen
und Uebertretungen“ in ſeinem zweiten Theile des Strafgeſetzes von
[47] 1852 ſelbſtändig dem erſten Theile, die Verbrechen betreffend, gegen-
über zu ſtellen. Das Gefühl der Sache war richtig; es iſt das unklar
gebliebene Streben, das peinliche Recht von dem Verwaltungsrecht zu
ſcheiden. Allein dieſer zweite Theil war zu allgemein gefaßt, und ent-
hielt in der That neben dem Verwaltungsſtrafrecht auch ſehr weſentliche
peinliche Elemente, was die ganze Auffaſſung nur verwirren konnte;
dabei ließ derſelbe eben wegen ſeiner Genauigkeit das Aufſtellen einer
allgemeinen Ordnungsſtrafe als unnöthig erſcheinen. Dieſelbe fehlt
demnach. Und da nun keine Verwaltung ohne eine ſolche allgemeine
Ordnungsſtrafe beſtehen kann, während doch ein Recht zum Ausſprechen
derſelben wieder nirgends in der öſterreichiſchen Geſetzgebung formulirt
war, ſo mußte man nachträglich das thun, was man in Preußen mit
dem Strafgeſetzbuch gleichzeitig gethan hatte, nämlich ein Geſetz erlaſſen,
das der Verwaltung die rechtliche Möglichkeit gab, ihre Verfügungen
durch Verwaltungsſtrafen zu ſanktioniren. Das war die Verordnung
vom 20. April 1854, welche an die Stelle der Verordnung vom 11. Mai
1851 und 14. Auguſt 1853 getreten iſt, und das preußiſche Geſetz von
1850 erſetzen ſollte. Dieſe Verordnung hat aber ſonſt den großen
Fehler, daß ſie eben keine allgemeine Verwaltungsſtrafe ausſprach,
ſondern ſich begnügt, den (Polizei)-Behörden in §. 1 das Recht zu
geben, ihre Verfügungen „durch die ihnen geſetzlich zuſtehenden
Mittel zum Vollzuge zu bringen.“ Welches dieſe Mittel ſind, wird
nicht beſtimmt genug geſagt; der §. 11 beſtimmt nur, daß in beſtimmten
Fällen polizeiwidrigen Verhaltens eine Buße von 1 bis 100 fl. und
6 Stunden bis 14 Tage Arreſt eintreten könne. Daraus nun ward
die allgemeine Ordnungsſtrafe durch die Verordnung vom 30. Septem-
ber 1857, welche freilich eine zweite Unklarheit an die Stelle der erſten
ſetzte, indem ſie vorſchrieb, daß „alle Handlungen oder Unterlaſſungen,
welche von den Geſetzen oder von den Behörden innerhalb ihres Wir-
kungskreiſes — im Allgemeinen als ſtrafbar, oder aus polizeilichen oder
andern (?) Rückſichten als geſetzwidrig erklärt ſind, mit 1 bis 100 fl.
Strafe oder Arreſt von 6 Stunden bis 14 Tagen zu belegen ſind.“
Was nun unter den „Behörden,“ was unter den „andern Rückſichten“
verſtanden iſt, wird nicht geſagt. Die Ordnungsſtrafe iſt damit da,
aber die Competenz zur Anwendung derſelben iſt unbeſtimmt geblieben.
Dagegen iſt allerdings das Verfahren geregelt, ſpeziell durch die Ver-
ordnung vom 3. April 1855 und 5. März 1858, während wiederum
der Grundſatz gänzlich und ſelbſt in der neuen Gemeindeordnung fehlt,
daß die Behörde bei örtlichen Vorſchriften ſich mit der Gemeindever-
tretung ins Einvernehmen ſtellen ſolle. Das Ganze hat daher den
Charakter eines formellen, nur im letzterwähnten Punkte auch materiellen
[48] Fortſchreitens nach einem an ſich beſtimmt anerkannten, aber nicht
zum Abſchluß gediehenen Princip; es bleibt zu hoffen, daß Theorie
und Praxis ſich die Hände reichen, um aus dieſem Zuſtande in den
einer definitiven Rechtsordnung des Polizeirechts überzugehen. Vergl.
dazu namentlich die Motive zur Strafproceßordnung von 1863, S. 92.
Noch unfertiger ſind nun wohl die übrigen deutſchen Geſetzgebungen,
wie die von Sachſen-Weimar, Geſetz vom 17. Januar 1854, welches
das ganze Polizeiſtrafrecht den Polizeibehörden übergibt, nur mit der
faſt unklaren Beſchränkung, daß dieſelben bei Strafen über 5 Thaler
oder 10 Tagen Gefängniß die Zuſtimmung des Bezirksdirektors einholen
ſollen. In Naſſau hat die Gemeindeordnung vom 12. December 1848
dem Bürgermeiſter mit dem Gemeinderath das Recht zur Ordnungs-
ſtrafe in niederen Polizeiſachen bis zu 3 fl. und 6 Tagen Arreſt ge-
geben. In andern Staaten mag es ähnlich ſein. Es iſt aber klar,
daß alles dieß zu unfertig iſt, um wiſſenſchaftliche Beachtung zu ver-
dienen. Wir bedürfen in Deutſchland einer ſelbſtändigen Theorie und
Geſetzgebung des Verwaltungsſtrafrechts neben dem peinlichen Straf-
recht, auf Grundlage des preußiſchen Princips und der ſüddeutſchen
Ausführung; darin liegt die Zukunft dieſes Rechtsgebietes.
Was nun endlich die beiden letzten Staaten betrifft, deren Verwal-
tungsſtrafrecht das Bild der in Europa geltenden Ordnungen weſentlich
vervollſtändigt, England und Holland, ſo iſt das Verhältniß derſelben
jetzt wohl einfach.
England hat gar kein Strafgeſetzbuch; aber es hat und hatte
auch kein Polizeiſtrafrecht im continentalen Sinne. Das Syſtem, welches
das letztere vertritt, iſt im Ganzen ſehr einfach, im Einzelnen aber in
lauter Sonderbeſtimmungen zerſplittert. Das Bedürfniß nach einem
Verwaltungsſtrafrecht hat nämlich bei dem völligen Mangel einer Codi-
fication einerſeits, und dem einer amtlichen Polizei andrerſeits dahin
geführt, das Recht zum Erlaß von Verwaltungsverfügungen mit polizei-
lichem Bußrecht entweder in den einzelnen Verwaltungsgeſetzen unmittelbar
aufzunehmen, wobei die Buße gewöhnlich ſofort genau beſtimmt wird,
wie bei Geſundheitspolizei, Sicherheitspolizei, vielen Theilen der Ge-
werbspolizei und den dieſelbe regelnden statuts, — oder aber den
Selbſtverwaltungskörpern, namentlich den Gemeinden, das Recht zu
Polizeierlaſſen und Strafbeſtimmungen zu geben. Dieſe örtlichen Ge-
meindepolizeibeſchlüſſe ſind die bye-laws; die statuts, welche das Recht
zu bye-laws verleihen, ſind dann meiſtens ſchon mit einem Maximum
der Buße verſehen. Die Literatur des engliſchen öffentlichen Rechts hat
ſich mit dieſem Theil des geltenden Rechts ſehr wenig beſchäftigt. Der
Grundzug in allen dieſen Beſtimmungen beſteht darin, daß das Princip
[49] der allgemeinen Ordnungsſtrafe das leitende iſt, und daß die
ſpezielle Anwendung der letztern bei dem Mangel eines Strafgeſetzbuches
ganz dem Friedensrichter überlaſſen iſt, wo die Bußen (fines) mit einem
Statute verbunden ſind, den Gemeindebehörden dagegen, wo dieſe das
Recht der bye-laws durch die Genehmigung (to incorporate) ihrer
Statuten empfangen haben. Weder Gneiſt noch Fiſchel, der ge-
ſchmackvolle Compilator aus dem Gneiſt’ſchen Werk, noch Homers-
ham haben darüber etwas Genaueres; auch dürfte das Obige im Weſent-
lichen den Sachverhalt erſchöpfen.
Dem Grundcharakter nach gleich, der Form nach verſchieden iſt
das Recht Hollands. Holland hat nämlich zuerſt allerdings den Code
Pénal in einfacher Ueberſetzung angenommen (1810) und daher auch
das Polizeiſtrafrecht des Art. 471. Allein die Gemeinde und ihre
Selbſtverwaltung war von jeher viel zu kräftig, als daß man ihr das
Recht auf Erlaß von Gemeindeordnungen, ſelbſt mit Polizeiſtrafen, je-
mals hätte nehmen können. Grundſatz bleibt daher und iſt gegenwärtig,
daß der Gemeinderath das Recht hat, die Uebertretungen ſeiner Ver-
ordnungen, ſoweit kein Geſetz oder Provinzialbeſchluß dem vorgeſehen
hat, mit Geldbuße von 1 bis 25 fl. oder Gefängniß von 1 bis 3 Ta-
gen zu bedrohen. (Gemeentewet vom 29. Juni 1851, Art. 161—178.
Van plaatzelike Verordeningen, nebſt den genauen Vorſchriften über
die Formen derſelben.) Doch kann der königliche Commiſſarius ſolche
Verordnungen ſiſtiren; der Bürgermeiſter hat deßhalb die Pflicht, die-
ſelbe ſtets dem Commiſſär mitzutheilen. (Gem. Wet. §. 187.) Die
Frage nach Erlaß eines ſelbſtändigen Polizeiſtrafgeſetzbuchs iſt übrigens
ſchon ſeit Jahren in Holland angeregt, und hat eine eigene Literatur her-
vorgerufen, ohne daß man jedoch bisher zu einem Beſchluß gelangt wäre.
(De Bosch-Kemper, Nederlandsche Staatsregt en Staatsbestur.
Neueſte Ausgabe 1866, §. 338 ff.) Bis dahin gilt der allgemeine
Grundſatz des Gemeindegeſetzes (28. Juli 1850) Art. 190: „Die Gemeinde-
polizei beruht auf den örtlichen Verordnungen und Befehlen, welche die
Gemeinde nach dem Gemeindegeſetz ſelbſt beſchließt.“
Dieß nun ſind die Umriſſe und Grundlagen, des gegenwärtigen
Polizei- oder Verwaltungsſtrafrechts. Man ſieht, daß alle Elemente
einer Aufnahme in die Wiſſenſchaft und einer ſelbſtändigen Behandlung
vorhanden ſind; allein ihre Erfüllung erhalten ſie trotzdem erſt durch das-
jenige, was wir nun als das Polizeiverfahren genauer darzulegen
haben, und das gleichfalls noch einer wiſſenſchaftlichen Behandlung ent-
behrt — hoffentlich nicht auf lange Zeit.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 4
[50]
B. Das Polizeiverfahren und ſein Recht.
Das, was wir nunmehr das Polizeiverfahren nennen, iſt die Thätig-
keit der Polizei, mit der ſie die in der Polizeiverfügung gegebene An-
ordnung vollſtreckt. Jedes Polizeiverfahren gehört daher im weiteren
Sinne des Wortes der vollziehenden Gewalt, wie jede Polizeiverfügung
der Verordnungsgewalt angehört. Das Polizeiverfahren aber bildet
einen ſelbſtändigen Theil der Vollziehung, dadurch, daß es ſtets die Voll-
ziehung der Verfügung der Polizei ſelbſt iſt, oder eine Vollziehung nicht
durch ein beſonderes Vollzugsorgan, ſondern durch das Organ der ver-
ordnenden Gewalt ſelbſt enthält. In jedem Polizeiverfahren vollzieht
daher die Polizei ihre eigenen Verfügungen.
Es iſt nun allerdings zunächſt einleuchtend, daß jeder Theil der
Polizei ſein eigenes Verfahren haben muß. Denn die Form und Natur
dieſes Verfahrens wird beſtimmt durch das ſpezielle Objekt deſſelben,
und muß ſich nach demjenigen richten, was vermöge dieſes Objekts als
zweckmäßig erſcheint. Es iſt Sache der Verwaltung, bei den einzelnen
Behörden dieß für jeden Fall beſonders zu beſtimmen. Dieſe Beſtim-
mungen ſind entweder formelle, von der höheren Behörde ausgegangene,
die als Inſtruktionen oder Circulare ꝛc. bezeichnet werden, oder ſie
ſind dem Takte und der Sachkenntniß der Polizeiorgane ſelbſt über-
laſſen. Dem Rechte gehören ſie demnach nicht an, ſondern dem Be-
griffe der Zweckmäßigkeit.
Das Recht des Polizeiverfahrens entſteht auch hier erſt auf dem
Punkte, wo die in ihm liegende Vollziehung einer an ſich rechts-
gültigen Polizeiverordnung in die Rechtsſphäre des einzelnen Indi-
viduums hineingreift. Das Verfahren bei einer nicht rechtsgültigen
Polizeiverordnung gehört nicht unter dieß Recht, weil ſchon ſeine Vor-
ausſetzung eine rechtloſe iſt. Das Recht des Polizeiverfahrens hat daher
nur die Frage zu beantworten, wo die Gränze für die ihre eigenen
Verfügungen vollziehende Thätigkeit gegenüber der ſelbſtändigen indi-
viduellen Perſönlichkeit des Staatsbürgers zu ſetzen ſei.
Offenbar nun kann dieſe Frage nach dem Rechte des Polizeiver-
fahrens gerade ſo wie die nach dem der Polizeiverfügung nur dadurch
entſtehen, daß die Natur der Sache, oder der Vollziehung, der Polizei
das Ermeſſen über das, was ſie zum Zwecke der Vollziehung zu thun
hat, oder über Form und Gränze ihrer Thätigkeit bis zu einem ge-
wiſſen Grade ſelbſt überlaſſen muß. In dieſer Berechtigung der Polizei,
ſelbſt zu entſcheiden, was ſie zu thun hat, liegt die Möglichkeit einer
Verletzung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit eben ſo ſehr, als in ihrer
[51] Berechtigung zu ſelbſtändigen Strafandrohungen. Jene ſtaatsbürgerliche
Freiheit ſoll nun gegen jeden Eingriff geſchützt werden; andererſeits
ſoll aber auch die Vollziehung der Anordnungen geſichert ſein, und die
Gränze zwiſchen beiden gleichberechtigten organiſchen Forderungen bildet
eben das Recht des Polizeiverfahrens.
Es ergibt ſich daraus das allgemeine Princip dieſes Rechts von ſelbſt.
Die Eingriffe in die ſtaatsbürgerliche Freiheit vermöge des Verfahrens
der Polizei ſind zwar unvermeidlich, aber ſie dürfen in keinem einzelnen
Fall weiter gehen, als ſie die unabweisbare Bedingung für die
wirkliche Vollziehung der öffentlich rechtlichen Anordnungen bilden.
Wie weit dieß nun in jedem einzelnen Falle wirklich eintritt,
hängt aber wegen der Natur der polizeilichen Vollziehung von dem ein-
zelnen Falle ſelber ab. Allein alle dieſe noch ſo verſchiedenen einzelnen
Fälle haben etwas Gemeinſames und Gleichartiges; und wenn man
daher mit Recht ſagt, daß jede polizeiliche Funktion ihr eigenes Ver-
fahren und Recht hat, ſo iſt es andererſeits eben ſo gewiß, daß es für
jenes, allem Polizeiverfahren Gemeinſame auch ein gemeinſames Recht
gibt. Und dieß gemeinſame Recht bildet daher den allgemeinen
Theil des Rechts des Polizeiverfahrens.
Die Rechtsgebiete, welche dieſer allgemeine Theil des Verfahrens
der Polizei hat, werden nun zunächſt weſentlich beſtimmt durch das Ver-
hältniß deſſelben zur Rechtspflege. Es muß daher zuerſt dasjenige
Verfahren charakteriſirt werden, welches wir das der gerichtlichen
Polizei nennen. Dann muß der Charakter desjenigen Verfahrens
feſtgeſtellt werden, welches wir als das der Polizeigerichte bezeichnen.
Und erſt dann kann man übergehen zu dem Verfahren der Verwal-
tungspolizei und ihrem Recht.
Dabei iſt es klar, was wir ſchon früher hervorgehoben, daß dieß
letztere ſehr wohl auch als ein Theil der vollziehenden Gewalt betrachtet
werden könne. Es wäre vielleicht ſogar beſſer und ſyſtematiſcher ge-
weſen, daſſelbe als Polizeilehre in der Lehre von der letzteren aufzu-
ſtellen. Daß wir es hieher ſtellen, hat nur den Vorzug, damit die
Baſis für die wiſſenſchaftliche Behandlung der Sicherheitspolizei als
beſonderen Theil der Verwaltung zu gewinnen. Steht mit dem Fol-
genden dieſer Begriff und ſein Inhalt feſt, ſo könnte man unbedenklich
das ganze Polizeirecht in die vollziehende Gewalt hinüber verſetzen,
wohin es ſyſtematiſch gehört.
Nach dem eben dargelegten Begriff der gerichtlichen Polizei enthält
das gerichtliche Polizeiverfahren die Geſammtheit von Thätigkeiten,
[52] welche die Verfolgung und Beſtrafung von Verbrechen zu ſichern haben.
Das gerichtliche Polizeiverfahren im weiteren Sinne des Wortes iſt
daher ein Theil des gerichtlichen Verfahrens überhaupt, und gehört
daher in der That dem Strafproceſſe an, wo es auch faſt allenthalben
als integrirender Theil erſcheint. Im engeren Sinne aber nennen wir
das gerichtliche Polizeiverfahren diejenigen Thätigkeiten, welche nicht mehr
von den Organen der Rechtspflege ſelbſt, ſondern von den Organen
der Verwaltungspolizei für die Zwecke der Strafrechts-
pflege vollzogen werden. Und das Recht des gerichtlichen Polizei-
verfahrens iſt demgemäß das Recht des Verfahrens der Verwaltungs-
polizei in ihrer Funktion für die Strafrechtspflege.
Es iſt nun natürlich, daß dieß Verfahren ſelbſt und ſo auch ſein
Recht weſentlich verſchieden ſind von dem verwaltungspolizeilichen Ver-
fahren. Denn hier hat die Polizei nicht mehr ihre eigenen Verfügungen,
ſondern die Aufgabe eines ganz anderen Theiles der Verwaltung zu
vollziehen. Sie iſt daher mit ihrer Thätigkeit dieſem Zwecke unter-
geordnet, und das Recht dieſer Thätigkeit wird ſich daher auch nach
dieſen Zwecken beſtimmen.
Allein zugleich kommt dabei ein rein polizeiliches Element zur
Geltung, und das iſt es, wodurch dieß Verfahren nicht bloß als reine
Exekution erſcheint. Da nämlich die Strafloſigkeit von Verbrechen an
ſich zugleich eine indirekte Gefährdung der öffentlichen Ordnung enthält,
ſo folgt, daß die Polizei auch als ſolche den Zwecken der Rechtspflege
zu dienen hat. Das gerichtliche Polizeiverfahren enthält daher ſelbſt
wieder mehrere Geſichtspunkte und Theile, und mit denſelben ein ver-
ſchiedenes Recht, das keineswegs immer in den Strafproceßordnungen
ſelbſtändig geſchieden oder von der Theorie hinreichend behandelt wird.
Für unſern Zweck muß es jedoch genügen, dieſe Gebiete hier zu be-
zeichnen, und die ſpezielle Ausführung der Strafproceßlehre zu über-
laſſen.
I. Das gerichtliche Polizeiverfahren erſcheint nämlich zuerſt als die-
jenige Thätigkeit der Polizei, welche in Folge direkter Aufforderung
von Seiten der Organe der Rechtspflege eintritt. Das Rechtsprincip
dieſer Funktion iſt, daß dabei die Verwaltungspolizei nur im Namen
und alſo unter der Verantwortlichkeit des Gerichts handelt. Die Folge
davon iſt, daß ſie dazu eines beſtimmten Befehles von demſelben be-
darf. Es iſt nothwendig, daß die Form dieſes Befehles eine geſetzliche
ſei, damit die Selbſtändigkeit des Staatsbürgers hier vor dem Irrthum
der Polizei geſchützt ſei. Die Beſtimmung dieſer Form iſt dagegen un-
zweifelhaft Sache des Strafproceßrechtes, und die Unterſuchung der
dabei vorkommenden Fragen Aufgabe der Strafproceßlehre.
[53]
II. Die zweite Form, in der das gerichtliche Polizeiverfahren auf-
tritt, enthält bereits ein weſentlich verwaltungspolizeiliches Element.
Sie beſteht in der Entdeckung von Verbrechen und den Thätern der-
ſelben. Es iſt im Allgemeinen kein Zweifel, daß dieſe Funktion eine
Aufgabe der Verwaltungspolizei an ſich iſt, und zwar in der Weiſe,
daß ſie zur Ausübung derſelben keines eigentlich gerichtlichen Befehles,
ja nicht einmal einer eigenen Veranlaſſung von Seiten des Gerichts
bedarf, ſondern ſie vermöge ihrer eigenen organiſchen Beſtimmung zu
leiſten hat. Allein zugleich iſt es klar, daß ſich in dieſer Funktion
jene beiden Momente der polizeilichen Thätigkeit, die gerichtliche und
die verwaltungspolizeiliche, bereits ſcheiden, und daß man daher hier
auch von einem zweifachen Rechte derſelben ganz füglich wird reden
müſſen. Da indeß auch dieß Recht noch dem Strafverfahren angehört,
ſo muß es hier genügen, jene beiden Elemente nur in ihren Haupt-
punkten zu bezeichnen.
Das Verhältniß dieſer Funktion zum Gericht beſteht darin, zu-
nächſt dem Gerichte von demjenigen Anzeige zu machen, was auf ein
geſchehenes Verbrechen oder ſeine Thäter hindeuten kann. Sowie dieſe
Anzeige geſchehen iſt, hat die gerichtliche Thätigkeit ſelbſt einzutreten.
Dabei nun tritt uns ein Begriff entgegen, der mit all ſeinen Miß-
verſtändniſſen als ein hiſtoriſcher, in ſeinem wahren Inhalt dagegen ein
ganz einfacher und organiſcher iſt. Das iſt der Begriff der geheimen
Polizei. Man hat dieſelbe früher als ein beſonderes Gebiet der
Polizei betrachtet, weil ſie meiſtens gegen Bedrohungen der öffentlichen
Rechtszuſtände gerichtet war. Es iſt klar, daß dieß falſch iſt, und daß
es eben ſo falſch iſt, die geheime Polizei an ſich zu verdammen, ja auch
nur ihrer entbehren zu wollen. Sie iſt ihrem Begriffe nach die ohne
Kenntniß der Betheiligten vor ſich gehende Unterſuchung von That-
ſachen und Zuſtänden, welche zur Entdeckung von Verbrechen führen
können. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe Entdeckung oft ohne Ge-
heimniß gar nicht möglich iſt, und daß nichts verkehrter wäre, als dieß
Geheimniß an und für ſich nicht zu wollen, wo es die Bedingung für
das iſt, was jeder will, die Beſtrafung des Unrechts. Die geheime
Polizei iſt daher keine eigene Polizei, ſondern erſcheint nur als ein
geheimes Verfahren der gerichtlichen Polizei. Das, worauf
es bei dieſer geheimen Polizei ankommt, iſt daher auch nicht ihr Vor-
handenſein an ſich, ſondern vielmehr beſteht und entſteht ihr Recht aus
zwei andren Elementen. Zuerſt nämlich handelt es ſich darum, was
das Objekt derſelben ſein ſoll. Und hier iſt es, wo ſich die geheime
Polizei unſerer Zeit von der früheren unterſcheidet. Das, was den
tiefen Unmuth des Staatsbürgerthums gegen dieſelbe erweckte, war,
[54] daß man als das ſpecifiſche Objekt der geheimen Polizei nicht eben ein
wirkliches Verbrechen, ſondern die politiſche Geſinnung als ſolche
anſah, wobei es nur durch den tiefen Widerſpruch mit jeder politiſchen
Entwicklung möglich ward, daß dieſe Geſinnung an und für ſich den Cha-
rakter eines Verbrechens gegen die öffentliche Ordnung annahm. Zwei-
tens folgt zum Theil aus dieſer Stellung derſelben, daß ſie beſtändig
verſucht war, die rechtlichen Gränzen des polizeilichen Verfahrens
gegenüber dem Staatsbürger zu überſchreiten, ohne daß der letztere eben
vermöge jenes Geheimniſſes ſich dagegen zu ſchützen im Stande war.
Dieſe beiden Punkte waren es, welche man mit dem Begriffe der ge-
heimen Polizei identificirte, nicht ohne große Schuld der Regierungen; ſie
haben ſehr viel zum Mißverſtändniß des geſammten Polizeirechts bei-
getragen. Sowie man aber darüber einig iſt, daß die Polizei weder im
öffentlichen noch im geheimen Verfahren das Recht, oder auch nur die Auf-
gabe hat, die politiſche Geſinnung des Einzelnen zu unterſuchen, und noch
weniger das, um dieſes Zweckes willen die Gränzen des gerichtspolizei-
lichen Verfahrens zu überſchreiten, ſondern daß ſie nichts iſt, als eine
durch die Natur der Sache nothwendig gemachte Form des gerichtlichen
Verfahrens gegen ein bereits begangenes Verbrechen, das zur
Entdeckung deſſelben oder ſeines Thäters führen ſoll, ſo kann verſtän-
diger Weiſe gegen dieſe geheime Polizei nichts eingewendet werden.
Man kann daher von dieſem Standpunkt aus auch kein poſitives Recht
derſelben fordern, ſondern nur ein negatives; das iſt eine Bezeichnung
der Gränze, über welche ſie nicht hinausgehen darf. Und dieſe iſt in
den einzelnen Geſetzen der Sicherheitspolizei gegeben, welche wir unten
darzulegen haben.
Der Endpunkt der Funktion dieſes Verfahrens, möge es nun ein
öffentliches oder geheimes ſein, beſteht zunächſt, wie geſagt, darin, den
Gerichten von den gemachten Entdeckungen die Anzeige zu machen.
In der Verpflichtung dazu iſt das Recht des Polizeiverfahrens
gegeben.
Daran aber knüpft ſich das zweite Element dieſes Rechts, nämlich
das Verhältniß dieſes Theiles des Polizeiverfahrens gegenüber dem
Einzelnen. Die Aufgabe der Polizei auf dieſem Punkte beſtimmt
das Recht derſelben. Die Bedingung für die Entdeckung des Verbrechers
und des Verbrechens beſteht darin, daß die Dinge, welche zur Ent-
deckung führen können, von dem Einzelnen nicht geändert, verheim-
licht oder beſeitigt werden. Es folgt daraus das Recht der Polizei im
Dienſte der Gerichte, diejenigen Beſchränkungen der perſönlichen
Freiheit anzuordnen und eventuell ſelbſt herzuſtellen, welche jede Be-
ſeitigung der Spuren des Verbrechens zur Folge haben könnten. Die
[55] Polizei hat dieß jedoch gleichfalls nur in der Weiſe zu thun, daß ſie
ſofort dem Gerichte Anzeige macht. So wie dieß geſchehen iſt, hat
die gerichtliche Verfügung hier an die Stelle der polizeilichen einzutreten;
die polizeiliche hört auf, und die Verwaltung der Rechtspflege tritt ein
ſtatt der Verwaltung der öffentlichen Sicherheit.
Dieß iſt allerdings nur ein allgemeines Princip. Das ſpezielle
Recht erſcheint dann in den beſonderen Geſetzen der Sicherheitspolizei,
die gerade hier ſehr genau ſind, um die Freiheit des Einzelnen gegen
die Eingriffe des Polizeiverfahrens zu ſchützen.
III. Das dritte Gebiet des gerichtlichen Polizeiverfahrens iſt nun
das Verfahren der Polizei bei handhafter That. Es bedarf keiner
Erklärung, daß die Ergreifung des Thäters zugleich ein Gerichts- und
ein verwaltungspolizeilicher Akt iſt; jenes, um die Vollziehung der
Strafe zu ſichern, dieſes, wo eine Wiederholung, Fortſetzung oder Er-
weiterung des Verbrechens gehindert wird.
Daß nun dieſe Ergreifung bei handhafter That zum Rechte des ge-
richtlichen Polizeiverfahrens gehört, iſt natürlich kein Zweifel. Betrachtet
man dieſelbe aber genauer, ſo zeigt es ſich, daß ſie ſich in die drei
Momente der Verhaftung, Beſchlagnahme und Hausdurchſuchung auflöst.
Denn nur in dieſen Formen kann ſie überhaupt ſtattfinden. Es folgt
daraus, daß es neben dem Rechte dieſer drei Akte der Sicherheitspolizei
gar kein eigenes Recht der Ergreifung auf handhafter That geben kann.
Wir verweiſen daher auf dieſen Theil unſerer Darſtellung und bemerken
nur, daß wohl eben darum in den Geſetzgebungen keine weitere Ent-
wicklung der für dieſelbe geltenden Grundſätze aufgenommen iſt.
IV. Dieß nun ſind die drei Formen, in denen die Aufgaben der
gerichtlichen Polizei von den Organen der Verwaltungspolizei vollzogen
werden. Die letzte und für das Strafverfahren vielleicht wichtigſte
Frage iſt aber die über das Competenzverhältniß beider Organis-
men der Verwaltung, des Gerichts und der Polizei.
Indem wir nun auch dieſe Frage in ihrem ſpeziellen Inhalt na-
türlich der Strafproceßlehre überweiſen, muß doch die Verwaltungslehre
ſich über das Princip klar ſein, nach welchem dieſes Competenzver-
hältniß zu beſtimmen iſt. Und dieß Princip, obwohl es unſeres Wiſſens
nirgends ausgeſprochen iſt, iſt dennoch eben ſo einfach als es wichtig
iſt. Das ganze Competenzverhältniß nämlich muß durch die Erforderniſſe
deſſelben Zweckes beſtimmt ſein, um deſſentwillen überhaupt das
Zuſammenwirken beider Organe gefordert wird, die Entdeckung und Be-
ſtrafung der Verbrechen. Und da nun ſpeziell für dieſe Funktion ſich das
eigene Inſtitut der Staatsanwaltſchaft herausgebildet hat, das die Be-
dingungen und Forderungen für dieſe Beſtrafung am beſten kennt, ſo iſt
[56] es die natürliche Folge, daß ſich die Verwaltungspolizei im Dienſte der
Strafproceßordnung den Anweiſungen der Staatsanwälte zu fügen und
ihnen zu folgen hat, ohne daß damit die eigene Thätigkeit der Polizei
ausgeſchloſſen wäre, ſo weit dieſelbe mit den Anordnungen der Staats-
anwaltſchaft nicht im Widerſpruch ſteht. Ein bloßes Recht zum „Er-
ſuchen“ iſt nicht ausreichend. Ebenſo muß die wirkliche Thätigkeit der
Polizei auf dieſem Gebiete unter der Aufſicht des Staatsanwaltes
ſtehen, ſo wie hier auch die Staatsanwaltſchaft die Sorge zu tragen
hat, daß die Anzeigen ſo ſchnell als möglich an die Gerichte gemacht
werden, um aus dem polizeilichen Verfahren in möglichſt kurzer Friſt
in das gerichtliche übergehen zu können.
Wir glauben hier auf die Geſetze und Literatur nicht eingehen zu
ſollen, da das Ganze ſeine rechte Geſtalt doch erſt in einiger Verbin-
dung mit dem Vorverfahren des Strafproceſſes finden kann. Indeß
muß doch hervorgehoben werden, daß die betreffenden Geſetze hier
meiſtens ſehr kurz ſind und auf die einzelnen Punkte nicht eingehen,
und daß eben ſo die ſtrafproceſſuale Literatur gleichfalls die Sache nicht
erledigt. Die geſetzlichen Beſtimmungen ſelbſt ſind zum Theil ſelbſtändig
erlaſſen, zum Theil ſtehen ſie in den verſchiedenen Strafproceßordnungen,
die meiſtens ganz allgemein den „erſten Angriff“ der Polizei zuweiſen.
Preußen: Verordnung vom 3. Januar 1849 §. 4. Kurheſſen: Geſetz
vom 22. Juli 1851 §. 145. Sachſen: Strafproceßordnung §. 76.
Weimar: Strafproceßordnung von 1850 §. 39. Braunſchweig: Straf-
proceßordnung §. 23. 25. Bayern: Strafgeſetzbuch Art. 19. Baden:
Strafproceßordnung §. 51 u. ff. Die Begränzung des kurheſſiſchen
Geſetzes auf ſolche Handlungen, „deren Zweck durch richterliche Handlun-
gen nicht erreichbar“ ſein ſoll, iſt unklar. Vergl. Sundelin, die Habeas-
Corpus-Acte in der deutſchen Strafproceßordnung von 1862 §. 4. Der
Code d’Instr. Crim. ſagt eigentlich gar nichts über das Verhältniß, als
daß die „police judiciaire d. i. die recherche des crimes, delits et
contraventions) sera exercée sous l’autorité des cours“ (Art. 8, 9).
Darnach wieder Belgien und Holland, während in England ſehr ge-
naue Inſtruktionen, die bis ins Einzelnſte gehen und höchſt lehrreich
ſind, namentlich für die Londoner Polizei beſtehen. Sie ſind in treff-
licher Weiſe geſammelt im Inſtruktionsbuche der Polizeiwache der Haupt-
ſtadt London 1849, das man bei dahin einſchlagenden Verfügungen
als ausgezeichnetes Material benützen ſollte. — Was die geheime Polizei
betrifft, ſo iſt die Frage nach derſelben mit Unrecht ganz aus der Rechts-
lehre verſchwunden; es iſt nicht überflüſſig, die oben angeführten Punkte
[57] auch jetzt noch feſtzuhalten; nur darf man die hiſtoriſche Auffaſſung
mit der ſyſtematiſchen nicht verſchmelzen oder gar verwechſeln. Ueber
die erſteren ſiehe eine Menge eben nur vom angeführten hiſtoriſchen
Standpunkte verſtändlicher Schriften und Streitigkeiten zuſammengeſtellt
bei Klüber, öffentliches Recht §. 381. Grävell, über höhere, ge-
heime und Sicherheitspolizei 1820. Zachariä (deutſches Staatsrecht
II. 180) faßt ſie noch als „Nothrecht“ des Staats. Klüber gleichfalls
a. a. O. Zachariä, 40 Bücher. IV. 294. Bei Zöpfl verſchwindet
ſie. Meiſt die vorherrſchende Meinung früherer Zeit, daß die höhere
Sicherheitspolizei ſtets eine geheime ſein müſſe (police haute ou géné-
rale). Aretin (Conſtitutionelles Staatsrecht II. 2. Abth.) charakteriſirt
am beſten und zugleich am kürzeſten, was man im Anfange unſeres
Jahrhunderts ſich unter der geheimen Polizei (auch ſpecifiſch die „hohe“
Polizei genannt) dachte, und citirt die Publiciſten, die den Kampf gegen
dieſelbe leiteten. In Frankreich war die geheime Polizei aus einem
Organe der Sicherheit geradezu zu einem Organe der ſyſtematiſchen
Reaction gegen die conſtitutionelle Entwicklung geworden. Daher
heftiger Kampf gegen dieſelbe. Im franzöſiſchen Budget von 1824 waren
noch 2½ Mill. für geheime Polizei aufgeführt. MohlII. 189 iſt ſich
offenbar nicht mehr klar geworden. Seit 1848 ſind Namen und Be-
griff verſchwunden und die einzelnen Geſetze an ihre Stelle getreten. —
Gute Zuſammenſtellung bei Rönne, preußiſches Staatsrecht I. 52.
Schon im vierten Rheiniſchen Landtag (3. März 1835) ward verſprochen,
daß keine geheime Polizei eingeführt werden ſolle; namentlich nicht für
Briefe. Die ſpeziellen Rechtsbeſtimmungen folgen unten.
Es liegt wohl ſchon in dem von uns aufgeſtellten Begriff der
Polizei und ſeinem Unterſchiede von der Rechtspflege von ſelbſt, daß
wir mit dem Verfahren der Polizeigerichte als zweiter Form des Ver-
hältniſſes der Polizei zum Gerichtsweſen uns hier nicht beſchäftigen.
Ob nun die Organiſirung ſelbſtändiger Polizeigerichte richtig oder nicht
richtig ſei, und welches Verfahren dabei ſtattfinden ſolle, immer iſt es
gewiß, daß die Funktion eines vorhandenen Polizeigerichts eben eine
gerichtliche iſt, und daher nur deßhalb hier erwähnt werden muß, weil
eben dieſelben Organe dieſe gerichtliche Funktion vollziehen, welche
die Verwaltungspolizei beſorgen. Wir würden daher mit dieſer Be-
merkung dieß ganze Gebiet als erledigt anſehen, wenn nicht die Sache
durch das, was wir als weſentlichen und tiefgehenden Unterſchied des
peinlichen und polizeilichen Strafrechts aufgeſtellt haben, uns nöthigte,
[58] hier eine Anſicht auszuſprechen, die nicht bloß die Klarheit der Sache,
ſondern in eigenthümlicher Weiſe auch die Unklarheit der Geſetze und
des beſtehenden Rechts für ſich hat, und für eine vernünftige Entwick-
lung des innern Lebens der Staaten keinesweges gleichgültig iſt.
Es iſt von jeher und mit Recht die Scheidung der Rechtspflege
von der Verwaltung als eines der Hauptkriterien des ſtaatsbürgerlichen
Rechtslebens angeſehen. Im Grunde drückt dieſe Forderung in ihrer
Weiſe nur das aus, was wir als den organiſchen Unterſchied zwiſchen
Geſetz und Verordnung bezeichnet haben. Derſelbe große Proceß des
Fortſchrittes im öffentlichen Recht, der ſich hier Bahn gebrochen, hat
ſich nun auch, wie wir dargelegt, im Polizeiſtrafrecht Geltung ver-
ſchafft. Seine erſte Aeußerung war auf dieſem Punkte die, das Ver-
waltungsſtrafrecht in das peinliche Strafrecht als Theil deſſelben
hinüber zu nehmen, bis erſt in neueſter Zeit die von der Natur der
beiden großen Strafprincipien des Verbrechens und Ordnungsrechts
geforderte Unterſcheidung und Scheidung wieder in den ſelbſtändigen
Polizeiſtrafgeſetzbüchern zur Erſcheinung kam. Die natürliche Folge
jener vom Code Pénal eingeführten Einverleibung des Verwaltungs-
ſtrafrechts in das peinliche war natürlich die, daß nun auch jedes im
Strafgeſetzbuch aufgeführte Ordnungsvergehen von denſelben Ge-
richten beurtheilt werden mußte, welches die eigentlichen Verbrechen
beurtheilte. So entſtanden alle den tribunaux en matière criminelle
nachgebildeten unterſten Strafinſtanzen. Die Sache war nothwendig,
um nur überhaupt das Recht des Geſetzes gegenüber dem der Verord-
nung zur Geltung zu bringen. Allein es zeigte ſich bald, daß das
peinliche Strafgeſetzbuch eben kein Verwaltungsſtrafgeſetzbuch ſein könne,
auch wenn man es wollte. Die ſpecifiſche Natur des Ordnungsſtraf-
rechts brach ſich Bahn theils in den Polizeiſtrafgeſetzbüchern, theils aber
auch in dem, was wir die allgemeinen Ordnungsſtrafen und das
Recht der Polizeibehörden auf Erlaß ſolcher Strafverfügungen genannt
haben. Selbſt in Frankreich war ein ſolches Ordnungsſtrafrecht nicht
zu vermeiden. Und jetzt mußte die Frage entſtehen, ob denn wirklich auch
dieſe Strafen durch die Gerichte beſtimmt werden ſollten. Die Antwort
war faſt allenthalben eine negative. Frankreich ſelbſt ging mit ſeinem
Beiſpiel voran, und ſchied in der Competenz der Gerichte, was
es im Strafrecht nicht zu unterſcheiden gewagt hatte, den
Begriff der Ordnungsſtrafe von dem der peinlichen Strafe. Der
Code d’Instr. Crim. ſtellt nämlich bekanntlich die tribunaux de Police
ſelbſtändig neben die tribunaux en matière correctionnelle und zwar
ſo, daß die kleineren Ordnungsſtrafen von dem Juge de paix und dem
Maire „concurrement“ auf Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens
[59] entſchieden werden, während die tribunaux de Police correctionnelle
competent werden mit 5 Tagen Gefängniß. Offenbar, ein ſolcher
weſentlicher Unterſchied war nur möglich, indem man zugleich den
Unterſchied der Verwaltungsſtrafe von der peinlichen feſthielt — und hat
darnach, wie wir geſehen, der Maire das Recht behalten, Verfügun-
gen zu erlaſſen, über die er dann nach Art. 166 des Code d’Instr. Crim.
ſelbſt wieder zu Gericht ſaß, und zwar als ganz formelles Gericht
mit ſuſpenſivem Appell an die tribunaux. Im Grunde war damit die
Frage eigentlich entſchieden. Die Verwaltungs-Strafgerichtsbarkeit iſt
eine Verwaltungs-Jurisdiction, die peinliche gehört dem pein-
lichen Gericht. Das, worauf es bei den Ordnungsſtrafen ankommt,
iſt nicht das, daß ſie gerade vor dem peinlichen Gericht verhandelt
werden, ſondern daß ſie ein geſetzmäßiges öffentliches Ver-
fahren mit Appellationsinſtanz haben. Die Competenzgränze zwiſchen
dem Polizei- und dem peinlichen Gericht muß in demjenigen gefunden
werden, was das Strafgeſetzbuch aufnimmt; es iſt naturgemäß,
daß das Urtheil über die allgemeinen Ordnungsſtrafen nicht dem
peinlichen Gericht übergeben werde. Es folgt daraus, daß es große
Bedenken hat, das Verwaltungsſtrafrecht in gar zu weitem Umfang
in das Strafgeſetzbuch aufzunehmen. Es iſt entſchieden richtiger,
daſſelbe in ſelbſtändigen Polizeiſtrafgeſetzbüchern hinzuſtellen und mit
einer guten Einleitung zu verſehen, die formalen Grundſätze des Ver-
fahrens zu fixiren und dann die Rechtspflege des Verwaltungsſtraf-
rechts eigenen Polizeigerichten zu überlaſſen, bei deren Bildung nur
der Gedanke feſtzuhalten iſt, daß das ſtrafandrohende Organ, die Po-
lizei, nicht allein entſcheidet. Daß ein Organ über die Anwendung
ſeiner eigenen Androhung entſcheidet, kommt ja auch bei dem Gericht
vor, und iſt principiell nicht zu vermeiden, aber auch nicht bedenklich,
wenn ein gutes Geſetz vorliegt. Die abſolute Scheidung der Ver-
waltungs- von der Gerichtsthätigkeit iſt daher weder theoretiſch noch
praktiſch nothwendig oder durchführbar. In allen Gebieten des wirk-
lichen Lebens gibt es Punkte, auf denen die Funktionen in einander
übergehen.
Doch, wie geſagt, kann die Verwaltungslehre hier nicht weiter
als bis zur Anregung der Sache gelangen. Sie wird, eben weil ſie
doch am Ende mit den höheren Geſichtspunkten innig zuſammenhängt,
erſt dann zur klaren Entſcheidung gelangen, wenn die allgemeine Straf-
rechtslehre das Verbrechen und die peinliche Strafe von der Ueber-
tretung und der Ordnungsſtrafe, das peinliche Geſetz von der Straf-
verordnung, und damit dann das peinliche Gericht und ſein Verfahren
von dem Ordnungsgerichte ſcheiden wird.
[60]
Waffenrecht.
Nachdem nun die beiden andern Formen der Thätigkeit der Po-
lizei ſelbſtändig hingeſtellt ſind, wird es keine Schwierigkeit mehr haben,
nunmehr das eigentliche verwaltungspolizeiliche Verfahren mit ſeinem
eigenen Recht zu beſtimmen.
Das eigentliche (verwaltungs-) polizeiliche Verfahren iſt nun die-
jenige Thätigkeit, vermöge welcher die Polizei ihre eigenen Verfügun-
gen verwirklicht.
So lange das Objekt dieſer Thätigkeit ein bloß ſachlicher Zuſtand
iſt, iſt natürlich auch von einem Recht keine Rede. Das Recht des
polizeilichen Verfahrens beginnt da, wo die Thätigkeit der Polizei zum
Zweck der Vollziehung ihrer Verfügung eine Beſchränkung der perſön-
lichen Freiheit vornimmt. Die Gränze dieſer Beſchränkung iſt dann
das Recht des Polizeiverfahrens.
Daß eine ſolche ſtattfinden muß, wenn die öffentliche Ordnung
nicht von der Willkür Einzelner abhängig ſein ſoll, iſt klar, und
niemals beſtritten; daß ferner in dem Weſen dieſer Thätigkeit eine
unvermeidliche Unbeſtimmtheit liegt, und daß dieſe Unbeſtimmtheit
es iſt, welche die Freiheit der Staatsbürger bedroht, bedarf keines
Beweiſes. Die Beſtimmungen für das Polizeiverfahren ſind daher
Sache der bloß objektiven Zweckmäßigkeit, inſofern es ſich um die
materiellen Verhältniſſe handelt; ſo wie ſie dagegen die Freiheit des
Staatsbürgers betreffen, ſo werden ſie zu einem öffentlichen Recht. Und
das allgemeine Princip dieſes Rechts iſt unzweifelhaft. Die in dem
Polizeiverfahren liegende Beſchränkung der perſönlichen Freiheit darf
nur ſo weit gehen, als es nöthig iſt, um die Vollziehung der
polizeilichen Verfügung wirklich zu vollziehen, und nicht weiter.
Die allgemeine Polizeirechtswiſſenſchaft hat daher die Aufgabe,
im Intereſſe der perſönlichen Freiheit dieſe Gränze feſtzuſtellen. Offenbar
kann nun dieß nur geſchehen, indem dieſelbe die Thätigkeit der Polizei
nicht den materiellen Zwecken, ſondern dem Willen und der Thätigkeit
des Einzelnen ſelbſt gegenüber gedacht wird. Die Elemente, die in
dieſen liegen, bilden die Theile des Rechts für das Polizeiverfahren,
und geben zugleich den Inhalt deſſelben ab.
Offenbar nun hat dieß Verfahren darnach zwei Stadien. Zuerſt
muß die Polizei ſorgen, daß das rechtliche Nothwendige auch ohne den
Willen des Betreffenden geſchehe; zweitens muß ſie den Widerſtand,
den ihr die Thätigkeit des Einzelnen (als der erſcheinende Wille) ent-
gegenſetzt, durch Anwendung ihrer Kraft bezwingen. Wo das erſte
[61] ausreicht, iſt das zweite überflüſſig, und wenn es dennoch geſchieht,
ſogar unrechtlich.
Das Recht des Polizeiverfahrens hat daher zwei Theile. Den
erſten nennen wir das Vollzugsrecht, den zweiten das Zwangs-
recht, das in das öffentliche Waffenrecht übergeht.
Die Geſetzgebungen ſind auf dieſem Gebiete eben ſo mangelhaft,
als die bisherige Literatur. Jene ſchweigen meiſtens ganz, mit Aus-
nahme der Beſtimmungen über das Waffenrecht, indem ſie die Aus-
führung im Einzelnen dem Ermeſſen der Polizeiorgane überlaſſen. Dieſe
dagegen hat ſich auch mit dem letzteren nur in einzelnen Fällen be-
ſchäftigt. Dennoch iſt die Sache von großer Bedeutung für die öffent-
liche Sicherheit ſowohl, als für die individuelle Freiheit, und beſtimmt,
einen weſentlichen Theil der Wiſſenſchaft des Polizeirechts zu bilden.
Uebrigens geſtehen wir gerne, daß unſre Quellen nicht weit genug
reichen, um mit aller Beſtimmtheit ein Urtheil über alle beſtehenden
Geſetze abgeben zu können. Die Wiſſenſchaft hat auch hier ſich noch
viel zu wenig mit der Vergleichung des Beſtehenden abgegeben.
Bei der Begriffsbeſtimmung des polizeilichen Vollzugsrechts tritt
uns zuerſt als Grundlage des letzteren das Verhältniß deſſelben zum
Zwangsrecht entgegen, das für das geſammte Polizeiverfahren maß-
gebend iſt. Da es ſich bei der öffentlichen Ordnung nämlich nicht um
den Willen des Einzelnen, ſondern um die Thatſache handelt, durch
welche die öffentliche Ordnung bedroht wird, ſo folgt, daß der erſte
Zwang gegen den Willen der betreffenden Perſon, der zweite gegen die
Sache, und erſt der dritte gegen die Perſon ſelbſt gehen muß, indem ein
Zwang gegen die Perſon ſo lange ungerechtfertigt iſt, als die Polizei
das von ihr Geforderte auch ohne ſolchen perſönlichen Zwang erzielen
kann. Das Vollzugsrecht muß daher folgende Stufen haben.
Das erſte Stadium iſt das der polizeilichen Anordnung, welche
mit dem in dem allgemeinen Ordnungsſtrafrecht liegenden, aber auch
einer beſtimmten Strafandrohung als entfernteſtes, rein auf den
Willen des Betreffenden bezüglichen Zwangsmittel verſehen ſein kann.
Wir müſſen dabei annehmen, daß wenn auch keine Strafandrohung
ausgeſprochen iſt, dennoch von dem Polizeigerichte auf eine ſolche er-
kannt werden kann, ſobald überhaupt die allgemeine Ordnungsſtrafe in
das Syſtem des Polizeiſtrafrechts aufgenommen iſt (ſ. oben). Das iſt
übrigens ein weiterer Grund, dieſelbe geſetzlich anzuerkennen, und dabei
jenes Syſtem zu completiren.
[62]
Das zweite Stadium beſteht dann darin, daß die Polizei die an-
geordnete Vornahme auf Koſten des Betreffenden ſelbſt vornehmen
läßt. Es muß ſich nach dem Weſen der abzuwendenden Gefahr richten,
ob und wann dieß geſchehen ſoll. Dabei iſt ohne Zweifel feſtzuhalten,
daß eine ſolche Vornahme den Betreffenden nicht von der Anwendung
der allgemeinen Ordnungsſtrafe befreit; jedoch dürfte gegen die Verur-
theilung zu der letzteren in ſolchem Falle ſtets die Einwendung gelten,
daß der Beklagte nicht im Stande war, aus einem nachweisbaren
äußeren Grunde der polizeilichen Anordnung Folge zu leiſten.
Mit dieſen beiden Schritten iſt nun das polizeiliche Vollzugsver-
fahren erſchöpft, womit der Zweck der Polizei erreicht iſt. Das Zwangs-
verfahren kann in dem Sinne des ſpeziellen Zwanges immer erſt in
dem folgenden Falle eintreten.
Von den uns bekannten Geſetzgebungen hat zunächſt Oeſterreich
die obigen Elemente ziemlich ſyſtematiſch und genau anerkannt und
ausgeführt in der „Vorſchrift für die Vollſtreckung der Verfügungen
und Erkenntniſſe der politiſchen und polizeilichen Behörden“ (Verord-
nung vom 20. April 1854), obwohl der §. 7 noch immer zu gewiſſen
Unſicherheiten Anlaß gibt, da er neben der Vollziehung auf Koſten
des Betreffenden und neben der allgemeinen Ordnungsſtrafe des §. 11
noch den Behörden geſtattet, „die zum Zwecke führenden Vollzugs- und (?)
Exekutionsmittel in Anwendung zu bringen.“ Das Verfahren in den
zur politiſchen Amtshandlung gehörigen Uebertretungsfällen iſt weiter
geregelt durch Verordnung vom 5. März 1858. (S. Stubenrauch,
öſterreichiſche Verwaltungsgeſetzeskunde I. §. 158.) Das bayeriſche Poli-
zeiſtrafgeſetzbuch §. 30 iſt nicht bloß kürzer, ſondern auch juriſtiſch beſſer
gefaßt. Das badiſche ſtellt ſich weſentlich auf den Standpunkt der
Vollzugserzwingung durch Strafe (§. 30. 31); was nicht ausreicht,
ſelbſt wenn man in dieſer Strafandrohung ſo weit geht, der Polizei
das Recht auf eine 24ſtündige Verhaftung zu geben. — Der in dem
Code d’Instr. Crim. mehrmals gebrauchte Ausdruck, daß derjenige, der
ſich nicht gehorſam zeigt, „sera contraint“ — natürlich von der con-
trainte par corps zu unterſcheiden — läßt ſich eigentlich juriſtiſch nicht
weiter definiren.
Dem Obigen entſprechend tritt nun der Zwang gegen die Perſon
erſt da ein, wo der Zwang gegen den Willen derſelben oder die eigene
polizeiliche Vollſtreckung nicht mehr ausreichen. Welcher Art nun dieſe
[63] Anwendung phyſiſchen Zwanges gegen die Perſon ſein müſſe, läßt
ſich natürlich gar nicht weiter beſtimmen, als daß derſelbe gerade in
der Art und in der Weiſe vorkommen müſſe, um das von der Polizei
als nothwendig Erklärte wirklich herzuſtellen; z. B. gewaltſame Entfer-
nung von einem verbotenen Wege, gewaltſame Entreißung gewiſſer
Gegenſtände, gewaltſame Hinderung der Flucht durch Feſſeln ꝛc. Die
Gränze und Form, und damit das Recht des Zwanges beruhen hier
auf dem einzelnen Fall. Nur der allgemeine Grundſatz gilt, daß
der Zwang innerhalb der Gränze des Nothwendigen zu bleiben habe.
Ein weſentlich verſchiedenes Stadium tritt dagegen da ein, wo
von Seiten des Betreffenden der Funktion der Polizei mit thätlicher
Widerſetzlichkeit begegnet wird. Auf dieſem Punkte nun ſind zwei
Fälle möglich, welche gleichfalls ein verſchiedenes Recht enthalten.
Der erſte Fall iſt der, wo die Thätigkeit des Widerſtandes bis
zum direkten Angriffe gegen das polizeiliche Vollzugsorgan geht. Es
iſt kein Zweifel, daß in dieſem Falle eigentlich der Begriff des Zwangs-
rechts wegfällt, und an ſeine Stelle der Begriff und das Recht der
Nothwehr für das Polizeiorgan eintritt. Die Frage nach der Be-
ſtrafung der in jenem Falle enthaltenen Widerſetzlichkeit gegen den
Beamteten muß dabei natürlich für ſich behandelt werden. Aber ſchon
bei dieſer Frage nach der Nothwehr kommt das Recht der Waffe in
Betracht, wie wir ſogleich ſehen werden.
Der zweite Fall iſt der, wo ſich der Betreffende durch gewaltſame
Thätigkeit der Funktion des Polizeiorganes entziehen will. Auf
dieſem Punkte iſt die Gränze zwiſchen den erlaubten und nicht erlaub-
ten Zwangsmitteln im Allgemeinen gar nicht zu ziehen, und zwar
deßhalb nicht, weil jenes ſich Entziehen eben ſo gut wie die thätliche
Widerſetzlichkeit unter die Kategorie des Widerſtandes fällt. Nun
muß man zugeben, daß es in der Natur des thätlichen Widerſtandes
liegt, keine objektive Gränze zwiſchen den einzelnen Akten des phyſiſchen
Kampfes mehr zuzulaſſen. Es iſt die von beiden Seiten entfeſſelte
materielle Kraft, die elementare und mechaniſche Gewalt, in deren
Bewegung die einzelnen Aktionen ununterſcheidbar in einander über-
gehen, und bei der es doch unzweifelhaft iſt, daß das öffentliche Organ
verpflichtet iſt, ein größeres Maß von mechaniſcher Kraft anzu-
wenden, als ihm entgegengeſetzt wird. Es muß daher als allgemeiner
Grundſatz angenommen werden, daß um ein Unrecht von Seiten des
letztern zu conſtatiren, der Beweis von Seiten des Gezwungenen
geliefert werden muß, daß die phyſiſche Kraftanwendung des öffentlichen
Organes nicht nöthig war, und daß jede in derſelben gegebene Ver-
letzung der Perſon ſo lange ſtrafbar bleibt, bis dieſer Beweis wirklich
[64] von derſelben geliefert iſt. Für den Beweis ſelbſt müſſen indeß alle
regelmäßigen Grundſätze der Beweisführung gelten.
Dieß alles wäre nun einfach, wenn nicht die Betheiligung der
öffentlichen Organe mit Waffen hier ein neues Gebiet eröffnete.
Das polizeiliche Waffenrecht beruht zunächſt auf dem Weſen der
Waffe ſelbſt; zweitens auf dem Weſen der öffentlichen Betheiligung mit
der Waffe.
Die Natur der Waffe nämlich enthält das Mittel und damit den
Ausdruck der an ſich nicht mehr begränzten Zwangsgewalt, die
denn vermöge der Waffe bis zur Tödtung gehen kann. Die öffentliche
Betheiligung mit der Waffe bedeutet dann das Recht des zwingen-
den Organes, die Waffe eben jener Natur nach auch wirklich anzu-
wenden. Der Begriff eines öffentlichen Waffenrechts enthält demnach
die Frage, ob es bei der öffentlichen Betheiligung mit der Waffe noch
eine objektive Gränze für die Anwendung derſelben gebe, und wo
dieſelbe zu ſetzen ſei. Die Nothwendigkeit der Aufſtellung eines ſolchen
Waffenrechts beruht wiederum auf demſelben Grunde, aus dem das
Polizeirecht überhaupt hervorgeht, nämlich darauf, daß die Waffe
als rein phyſiſches Element an ſich in ihren Folgen für den, gegen
den ſie gebraucht wird, unbegränzt und unberechenbar iſt, und daß das
Zulaſſen des Waffengebrauches daher das Zulaſſen ganz unbegränzter
Zwangsgewalt gegen die Perſon wird, bei welcher alsdann die Gränze,
die ſich das Exekutivorgan ſetzen will, ganz in dem ſubjektiven Er-
meſſen des letztern liegt. Und hier iſt daher der Punkt, auf welchem
ein öffentliches Waffenrecht entſtehen, und die Frage entſchieden werden
mußte, ob und wie weit eine geſetzliche Vorſchrift über jene Gränze
an die Stelle des individuellen Ermeſſens des Polizeiorgans treten
könne.
Dieſe Frage war dem vorigen Jahrhundert eine faſt ganz unbe-
kannte. Ihre Erledigung im Sinne eines Theiles des öffentlichen
Rechts, und mithin als ein Theil des verfaſſungsmäßigen Verwaltungs-
rechts gehört erſt der Zeit an, wo die rechtliche Selbſtändigkeit der
einzelnen Staatsbürger gegenüber der ſelbſtändigen Staatsgewalt geſetz-
lich auf allen Punkten formulirt wird. Das verfaſſungsmäßige Waffen-
recht iſt daher, wie dieß ganze verfaſſungsmäßige Polizeirecht, ein Recht
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung.
Die Grundlage der Rechtsbildung für dieß öffentliche Waffenrecht
iſt nun an ſich ſehr einfach; aber es iſt wichtig, ſie theoretiſch feſtzuhalten,
[65] weil ſich nur daran künftig eine klare und ausreichende Geſetzgebung
über daſſelbe anſchließen kann.
Dieſe Grundlage beſteht nämlich darin, daß der Gebrauch der
Waffe von den übrigen Exekutionsmitteln zuerſt geſchieden und
dann in ſeinen Hauptformen ſelbſtändig behandelt wird, in der
Weiſe, daß jede dieſer Hauptformen wieder ihr beſonderes öffentliches
Waffenrecht bekommt.
Dieſe Hauptformen ſind nun erſtlich die Benutzung der militä-
riſchen Aſſiſtenz, zweitens die Aufſtellung der Gendarmerie als
ſelbſtändiges Organ für den polizeilichen Waffendienſt, und drittens
das Waffenrecht einzelner Polizeiorgane.
Die leitenden Grundſätze ſind dabei, daß kein Vollzugsorgan
Waffen ohne öffentliche Betheiligung führen darf, daß die Anwen-
dung der Waffe daher regelmäßig dem polizeilichen Waffencorps der
Gendarmerie und nur bei geſetzlichen Ausnahmen den einzelnen
Polizeiorganen zuſteht, und daß die militäriſche Aſſiſtenz an beſtimmte
geſetzliche Formen gebunden iſt. Dieſe drei Grundlagen gelten wohl
praktiſch allenthalben. Allein ſie ſind verhältnißmäßig wenig ausgebildet,
und zum Theil nur in den einzelnen Fällen der Sicherheitspolizei ge-
nauer beſtimmt worden.
Das Recht der militäriſchen Aſſiſtenz hat zwei Stadien durchge-
macht, welche, von Frankreich ausgehend, im preußiſchen Recht in ſehr
beſtimmter Weiſe formulirt, in den übrigen Staaten dagegen, ſo viel
wir ſehen, noch im öffentlichen Recht zu keiner Klarheit gediehen ſind.
Vor der Einführung der Gendarmerie nämlich vertrat das reguläre
Militär in allen Fällen die Anwendung der Waffengewalt, und ob-
wohl darüber keine uns bekannte Geſetze beſtanden, wurde es allenthalben
als ſelbſtverſtändlich angenommen, daß das Militär den Aufforderun-
gen der Behörden zu folgen haben, ſo wie dieſelben erklärten, mit
ihren Mitteln nicht mehr für die öffentliche Ordnung einſtehen zu
können. Die Einführung der Gendarmerie ändert dieß Verhältniß
wenigſtens für Preußen dahin, daß die Verwaltungs- und Juſtizbehörden,
wenn die Nothwendigkeit der Waffenanwendung eintritt, ſich nur an
die Gendarmerie zu wenden und dieſer die anderweitige Requiſition
der bewaffneten Macht zu überlaſſen haben. Den erſten Standpunkt drückt
die preußiſche Verordnung vom 26. December 1808 (§. 48) und die
allgemeine Gerichtsordnung (Tit. 24. Thl. I. §. 148—150) aus; letztere
jedoch ſchreibt noch vor, daß die Gerichte, ehe ſie ſolche Hülfe eigenmächtig
nachſuchen, ſich erſt an die Gerichte erſter Inſtanz wenden und dieſe
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 5
[66] wieder bei dem Juſtizminiſter anfragen ſollen. Das Unpraktiſche in
dieſem Verhältniß ward mit der Organiſation der Gendarmerie beſei-
tigt, durch welche die letztere jeder Behörde auf ihre Requiſition Hülfe
zu leiſten hat. Das Recht des Militärs zum Waffengebrauch iſt
dann ſchließlich durch die Verordnung vom 20. März 1837 genau be-
ſtimmt, die einzelnen Fälle genau aufgeführt und dabei §. 8 der all-
gemeine Grundſatz ausgeſprochen, „daß es von ſeinen Waffen nur ſo
weit Gebrauch machen darf, als es zur Erreichung des gegebenen
Zweckes erforderlich iſt.“ Die Beurtheilung dieſer Frage iſt jedoch
den Militärorganen ſelbſt überlaſſen. Genauer bei Rönne, preußiſches
Staatsrecht I. §. 52. Dieſe Beſtimmungen ſind ganz geeignet, als
Muſter für das Recht des militäriſchen Waffengebrauches zu dienen;
nur Eins fehlt, nämlich die Entſcheidung der Frage, nach welchen
Grundſätzen die Haftung und Verantwortlichkeit des Militärs bei
Ueberſchreitung der obigen Geſetze ſtattfinden ſoll. In dieſer Bezie-
hung iſt die öſterreichiſche Geſetzgebung klarer. Die einzige Be-
ſtimmung iſt das Reſcript vom 8. October 1844. Nach dieſem
Reſcript ſoll die „wirkliche Anwendung der Waffengewalt“ bei
„Aſſiſtenz-Commanden“ als „erſte Hauptregel nur da eintreten, wo der
politiſche Commiſſär (?), der für die Anwendung in erſter Linie (?)
verantwortlich iſt, ſein Einſchreiten ſelbſt als unfruchtbar erklärt.“
Der zweite Fall iſt da, wo das Militär ſelbſt angegriffen wird. (S. das
Nähere bei Ign. Maucher, das öſterreichiſche Strafgeſetz ſammt Geſetz
und Verordnung. Wien 1847.) Daſſelbe enthält noch ſpezielle Vor-
ſchriften über die Anwendung der Waffe, läßt aber jene „Verantwort-
lichkeit“ im Uebrigen doch unerörtert. Die franzöſiſche Geſetzgebung
hat einen etwas andern Standpunkt. Hier iſt jeder bei Strafe ge-
zwungen, den öffentlichen Organen im Falle öffentlicher Gefahr phyſiſche
Hülfe zu leiſten. Code Pénal, Art. 475. c. 12. Die Requiſition
des Militärs iſt dagegen in den einzelnen Beſtimmungen des
Code d’Instr. Crim. als Theil des Strafrechts aufgefaßt. Die „force
publique est tenue de marcher sur la réquisition contenue dans le
mandat d’amener.“ Code d’Instr. Crim. 99. vgl. 108. 376.) Eine Ver-
antwortlichkeit der bewaffneten Gewalt dürfte ſchwer nachzuweiſen ſein.
Ueber den Tumult ſ. bei der Sicherheitspolizei. Hollands militäri-
ſches Aſſiſtenzrecht iſt theils im Gemeindegeſetz (Art. 184. 185), theils im
Strafproceß (Art. 102) principiell, und durch eine eigene Inſtruktion aus-
führlich geordnet. De Bosch-Kemper, Staatsregt §. 342. Der Bür-
germeiſter als Haupt der örtlichen Polizei kann auch die Bürgerwehr
(schuttery) berufen (ib. §. 196).
[67]
Das Inſtitut, welches wir jetzt als Gendarmerie bezeichnen, iſt
nicht neu. Schon Berg hat in ſeinem Handbuch des T. Polizeirechts
Inſtruktionen für die „Hatſchiere“ und „Landdragoner“ mehrerer deut-
ſchen Staaten aus dem vorigen Jahrhundert mitgetheilt. Das, was
demſelben in unſerem Jahrhundert aber ſeine eigentliche Bedeutung gab,
iſt ſein Verhältniß zum öffentlichen Waffenrecht.
Die Aufſtellung der Gendarmerie bedeutet nämlich die Trennung
des zur Anwendung der Waffe ſpeziell beſtimmten Vollzugs-
organes von allen übrigen Polizeiorganen. In der Gendarmerie er-
ſcheint das polizeiliche Waffenrecht als ein ſelbſtändiger Körper; mit ihr
wird die Anwendung der Waffe zur Ausnahme im ganzen übrigen Ge-
biet des polizeilichen Vollzugs; die Möglichkeit, die Waffe nach Ermeſſen
anzuwenden, iſt damit den letzteren grundſätzlich entzogen, und dem
entſpricht die weitere Conſequenz, daß da, wo einem Polizeiorgan jetzt
noch eine Waffe gegeben wird, dieſelbe, wenn nicht ausdrückliche Geſetze
entgegenſtehen, nicht mehr als Zwangsmittel, ſondern nur als Mittel
des Schutzes bei vorausſichtlichen Fällen der Nothwehr gebraucht
werden ſoll. In dieſem Sinne iſt das Aufſtellen der Gendarmerie ein
keineswegs unweſentlicher Fortſchritt, und das Recht derſelben bildet
damit einen integrirenden Theil des öffentlichen Zwangs- und Polizei-
rechts.
Dieſes Recht nun ſtellt ſich in folgenden Hauptgeſichtspunkten dar.
Zuerſt enthält es das Princip ſeiner inneren Organiſation; dann ſein
Verhältniß zu der polizeilichen Vollziehung; dann ſeine ſelbſtändige
polizeiliche Thätigkeit, und endlich ſein ſpezielles Waffenrecht, ſo weit
ein ſolches beſonders zur Erſcheinung kommt. Alle dieſe Punkte beruhen
nun gemeinſchaftlich auf dem oben bezeichneten Weſen der Gendarmerie
als ſelbſtändigem Organ des öffentlichen Waffenrechts.
Was zuerſt die innere Organiſation derſelben betrifft, ſo mußte
die Gendarmerie, als eine für die Waffen beſtimmte und daher aus
dem Heere hervorgehende Anſtalt, innerlich militäriſch organiſirt
bleiben. Die Grundlage dieſer militäriſchen Organiſation war dabei
formell die des Heeres in der Bildung, der Vertheilung, der Sub-
ordination und der höchſten Leitung des ganzen Körpers. Materiell
fand dem entſprechend, auf Recht und Disciplin der einzelnen Glieder
dieſes Körpers, das militäriſche Recht und Verfahren Anwendung. So
ſtellte ſich die Gendarmerie ganz ſelbſtändig und eigengeartet neben die
übrige Polizei. Wenn darin nun einerſeits ein Element ihrer Kraft
lag, ſo war freilich damit andrerſeits gerade durch dieſe Verſchiedenheit
[68] die Schwierigkeit gegeben, das Verhältniß der Unterordnung und Com-
petenz der übrigen Polizei, gegenüber dieſem militäriſchen Körper, gut
zu organiſiren. Dieß Verhältniß nun erſcheint als ein zweifaches.
Zuerſt hat die Gendarmerie eine ſelbſtändige polizeiliche
Funktion. Sie ſoll allenthalben und ohne beſondere Aufforderung da
einſchreiten, wo die öffentliche Ordnung in der Weiſe bedroht erſcheint,
daß vorausſichtlich die Waffe ſelbſt, oder doch die Furcht vor derſelben
als Mittel des Zwanges nothwendig wird. Zweitens aber iſt die
Gendarmerie eben ihrer Natur nach dazu beſtimmt, den übrigen Voll-
zugsorganen zu Hülfe zu kommen, wo der waffenloſe Vollzug nicht
ausreicht. Dieß nun muß ſie natürlich auch da thun, wo dieſe Hülfe
ihr auch ohne Aufforderung als nothwendig erſcheint; es muß daher
als rechtlicher Grundſatz angenommen werden, daß allenthalben,
wo irgendwie Gewaltthätigkeiten, ſei es gegen Vollzugsorgane, ſei
es gegen Einzelne, vorkommen, es in der öffentlichen Pflicht der
Gendarmerie liegt, einzuſchreiten. Die Gendarmerie aber bildet dann,
wo dieſe Hülfe ausdrücklich von den Behörden gefordert wird, natür-
lich die erſte und naturgemäße Stellvertretung der militäriſchen Gewalt.
Ueber alles dieß iſt wohl kein Zweifel. Die Frage beſteht wohl nur
noch in dem Verhältniß der Funktion derſelben, als ſelbſtändigen
polizeilichen Körpers, zu der der übrigen Polizei. Und hier wird man
ſcheiden müſſen. Daß die Gendarmen eigene Beobachtungen und Be-
richte zu machen haben, iſt klar. Es fragt ſich nur, welcher Stelle
ſie dieſelben mittheilen ſollen. Das Natürliche iſt, daß ſie verpflichtet
ſein ſollten, der Verwaltungsbehörde dieſelben mitzutheilen, wenn die-
ſelbe ſie ausdrücklich dazu auffordert, ſolche Beobachtungen zu machen.
Es ſcheint aber zweitens, daß ſie zu jeder Funktion des Vollzugs be-
rechtigt ſind, die nicht eine beſondere Polizeiverfügung fordert,
denn dieſe kann nur von den Polizeiorganen ausgehen. — Was endlich
die Anwendung der Waffe betrifft, ſo muß dieſelbe ihrer Natur nach
der Gendarmerie überlaſſen bleiben; jedoch ſoll das Correlat dieſes
Rechts in der ſtrafrechtlichen Haftung für dieſe Anwendung beſtehen,
bei der der Grundſatz ſtreng durchgeführt werden muß, daß über jede
wirkliche Anwendung der Waffe ſogleich vom Polizeigericht ein genaues
Protokoll aufzunehmen iſt, das der eventuellen weiteren Unterſuchung
um Grunde lie gt.
Die Erkenntniß von der großen Bedeutung dieſes Organs, einer-
ſeits für die öffentliche Sicherheit, aber auch zweitens für die Freiheit
der Staatsbürger, iſt zwar allgemein, hat aber doch noch nicht eine
ſelbſtändige Beachtung in der allgemeinen Literatur hervorgerufen.
[69] Wenn einerſeits das Gute in der Aufſtellung der Gendarmerie liegt,
daß ſie die Waffenanwendung auf dieß beſtimmte Organ beſchränkt hat,
ſo iſt andererſeits die bedenkliche Folge nicht zu verkennen, daß der von
dieſem militäriſchen Organe geforderte Gehorſam zugleich den Charakter
eines militäriſchen annimmt, da derſelbe wenig geneigt iſt und ſein
kann, die Grundſätze des ſtaatsbürgerlichen Gehorſams mit ſeinem Recht
auf paſſiven Widerſtand anzuerkennen. Dieſes Bedenken aber liegt ſo
tief in der Natur des Organs ſelber, daß es nicht möglich iſt, es durch
ſeine innere Organiſation zu ändern; denn dieſe muß vermöge der
Waffe eine militäriſche ſein. Das einzige Gegengewicht dagegen, das
zugleich das an ſich richtige Weſen derſelben nicht ändert, iſt die genaue
Competenzbeſtimmung zwiſchen ihr und der Polizei, und zweitens
die Verpflichtung zur ſtrafrechtlichen Verantwortlichkeit vor dem bürger-
lichen, und nicht militäriſchen Gericht, für den wirklichen Gebrauch der
Waffe. Während der erſte Theil meiſt trefflich organiſirt iſt, läßt der
zweite ſehr viel zu wünſchen übrig. Die erſte Organiſirung und Com-
petenzbeſtimmung iſt ſchon im Code d’Instr. Crim. gegeben, (art. 32—46
und 48—49); genau ausgeführt im neueſten Decret vom 1. März 1854,
ſpeziell Art. 238—268. Die leitenden Grundſätze ſind: die Officiere der
Gendarmerie haben als Organe der gerichtlichen Polizei die Compe-
tenz zu allen Akten des procureur; in Betreff der Verwaltungspolizei
haben ſie die Aſſiſtenz zu leiſten, jedoch nur auf eine geſetzlich vorge-
ſchriebene formelle Aufforderung, Decret von 1854, Art. 91, 95. Die ver-
waltungs polizeilichen Berichte ſind dem Préfet resp. Souspréfet (alle
5 Tage) abzuſtatten; die größern Störungen und Gefährdungen der öffent-
lichen Sicherheit ſind dem Kriegsminiſter (!) zugleich mitzutheilen; in
Beziehung auf die Ueberwachung der öffentlichen Ordnung hat ſie jedoch
wieder vom Miniſter des Innern ihre Inſtruktionen zu empfangen, ſpeziell
in Beziehung auf Bettler, Vagabunden, entlaſſene Sträflinge u. ſ. w.
Sie haben die Verpflichtung, außerdem den procureurs alle Mitthei-
lungen zu machen, welche ſich auf geſchehene Verbrechen beziehen; aber
über das eigentliche Waffenrecht iſt ſo wenig eine Beſtimmung enthalten,
als über ihre ſtrafrechtliche Haftbarkeit. Das preußiſche Recht ſteht
hier viel höher. Sie ward zuerſt im Jahr 1812 eingeführt. Die neue
Organiſation vom 20. December 1820 iſt noch im Weſentlichen nicht
geändert. Dieſelbe iſt ſchon damals weſentlich als Hülfsorgan der
Polizei erklärt, obgleich ſie ihre natürliche militäriſche Organiſation
beibehalten hat. Ihre ſelbſtändigen Funktionen ſind ungefähr dieſelben,
wie in Frankreich; allein die einzelnen Gendarmen ſind in ihren Dienſt-
obliegenheiten, in der Anordnung und Ausführung derſelben lediglich den
betreffenden Civilbehörden untergeordnet, während die Offiziere
[70] wieder den höheren Stellen der Gendarmerie unterworfen bleiben,
welche ſie zum Dienſt für die Civilbehörden commandiren kann. Das
Recht der Waffen iſt daneben mit möglichſter Beſtimmtheit vorge-
ſchrieben, und ſo weit als möglich auf das Princip der Nothwehr zu-
rückgeführt. (Siehe bei Rönne, Staatsrecht I. §. 52, II. §. 298 und
§. 331.) Die Gendarmerie Oeſterreichs iſt durch das Geſetz vom
18. Januar 1850 organiſirt. Die beiden Funktionen, die ſelbſtändige
und die auf Aufforderung der Behörden geſchehende, ſind allerdings
beſtimmt geſchieden, allein die Verbindung derſelben mit den letztern,
iſt denn doch weſentlich nur auf die höheren Stellen angewieſen; münd-
liche Befehle kann der Gendarme nur von ſeinen Vorgeſetzten em-
pfangen. Die Unterordnung iſt ſtrenge ausgeſchloſſen. Von einer ſtraf-
rechtlichen Verantwortlichkeit für den Gebrauch der Waffen iſt keine
Rede. (Stubenrauch, I. §. 158.) Auf demſelben Standpunkt ſteht
die bayeriſche Gendarmerie-Ordnung vom 11. Oktober 1812. (Pözl,
Bayeriſches Verwaltungsrecht §§. 74, 75.) Ueber die preußiſche Schutz-
mannſchaft, auf welche die Grundſätze der Gendarmerie durch das
Geſetz vom 4. Februar 1854 anwendbar erklärt worden ſind, ſiehe
Rönne a. a. O. I. §. 52.
Obwohl nun durch dieſe Organiſation der Gendarmerie das all-
gemeine Waffenrecht der vollziehenden Gewalt geſetzmäßig feſtgeſtellt iſt, ſo
gibt es dennoch eine Reihe von Verhältniſſen, in welchen die Ueberweiſung
aller der Fälle, in denen die Anwendung der Waffen nothwendig wird,
an die Gendarmerie nicht thunlich iſt. Es handelt ſich dabei um die
Vollziehung öffentlich rechtlicher Anordnungen gegen den offenen Wider-
ſtand der Betheiligten. Es ſcheint nun — denn beſondere geſetzliche
Vorſchriften wüßten wir darüber nicht aufzuführen — daß bis zur neue-
ſten Zeit die Beleihung eines Polizeiorgans mit der Waffe ſchon an
und für ſich als die Berechtigung für dieſelbe galt, nach eigenem Er-
meſſen von dieſer Waffe Gebrauch zu machen. Natürlich war das ein
um ſo ernſteres Princip, als die Verantwortlichkeit für den wirklichen
Gebrauch der Waffe im Dienſte in der That nirgends geſetzlich aner-
kannt war, und die Staatsbürger daher dem Ermeſſen, ja der Willkür
und ſelbſt ſchlechteren Motiven jener Organe bei jeder Exekution preis
gegeben waren.
Als nun das große Princip der Verfaſſungsmäßigkeit für die poli-
zeiliche Vollziehung zur Geltung gelangte, mußte die Geſetzgebung das
öffentliche Waffenrecht der Exekutivorgane dadurch zum vollen Abſchluß
bringen, daß ſie für diejenigen einzelnen Fälle, in denen die Gendarmerie
[71] nicht genügte, eine Reihe einzelner Verordnungen über den Waffen-
gebrauch erließ, und zwar mit ſpezieller Beziehung auf diejenigen poli-
zeilichen Organe, deren Funktion gelegentliche Selbſthülfe erforderlich
macht. Die dadurch entſtandenen ſpeziellen Beſtimmungen bilden daher
den dritten Theil des Rechts der polizeilichen Waffengewalt.
Wenn man die darauf bezüglichen Verfügungen überſieht, ſo iſt
es deutlich erkennbar, daß ſie eigentlich mehr aus dem einzelnen Be-
dürfniß, als aus einem beſtimmten, klar anerkannten, gemeinſamen
Princip hervorgegangen ſind. Sie ſind daher auch ſo viel wir ſehen
da, wo ſolche beſtehen, ſtückweiſe und ohne Zuſammenhang entſtan-
den, haben nirgends geſetzliche Sanktion empfangen, ſind auch nir-
gends Gegenſtand wiſſenſchaftlicher Unterſuchung geworden, und die
Theorie iſt daher, da der Mangel an Berückſichtigung derſelben auch
nicht einmal eine Sammlung hervorgerufen hat, auf ein ſehr geringes
Material angewieſen. Dennoch liegt dem Ganzen ein gemeinſamer
Gedanke — oder Gefühl — zum Grunde, und es iſt dadurch möglich,
auch allgemeine Grundſätze für dieſe einzelnen Beſtimmungen aufzu-
ſtellen, und damit die wiſſenſchaftliche Behandlung zu begründen.
I. Ohne Zweifel muß angenommen werden, daß die Anwendung
der Waffengewalt zum Zwecke der Vollziehung, nach Herſtellung der
Gendarmerie allenthalben ausgeſchloſſen iſt, wo nicht eine beſtimmte
öffentliche Vorſchrift ſie zuläßt, ſo daß die Anwendung der Waffe außer-
halb dieſer geſetzlich beſtimmten Gränze ein Vergehen, eventuell ein
Verbrechen des vollziehenden Organs conſtituirt.
II. Niemals ſoll einem ſolchen Organ eine Waffe gegeben werden,
wenn es nicht mit ſolchen beſtimmten Vorſchriften über die Anwendung
der Waffe verſehen iſt, deren genauere Kenntniß Pflicht des Betreffen-
den iſt.
III. Die Betheiligung mit der Waffe und dem öffentlichen Waffen-
recht ſoll nur da erfolgen, wo vorausſichtlich der Zwang gegen den
Widerſtand keine genügende und augenblickliche Hülfe des eigentlichen
polizeilichen Waffenkörpers finden wird.
IV. Dieſe Betheiligung, als eine grundſätzliche und unter Umſtän-
den tief eingreifende Beſchränkung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit, ſoll nie
auf dem Wege der Verordnung, ſondern nur als Geſetz erlaſſen werden.
V. Die wirkliche Anwendung der Waffe geſchieht ſtets unter ſtraf-
rechtlicher Haftung des Polizeiorganes.
Wir können nicht verhehlen, daß ſowohl die bisherige Literatur
als die Geſetzgebung den Anforderungen, welche man hier machen muß,
[72] nicht entſpricht. Was zunächſt die Literatur betrifft, ſo liegt der Grund
einer ausreichenden Berückſichtigung auch dieſer Frage in dem ſchon oben
angeführten Verhältniß, nach welchem man den Gegenſtand nicht be-
handelt hat, weil man keinen rechten Platz für denſelben wußte. In-
deß haben einige Schriftſteller dennoch dieſe ſpezielle Geſetzgebung auf-
genommen und zwar bei der ſyſtematiſchen Darſtellung des Strafproceſſes.
Daneben ſind die betreffenden Beſtimmungen natürlich in den territorialen
Verwaltungsgeſetzkunden aufgeführt, jedoch ohne daß auch hier eine Ge-
meinſamkeit der Auffaſſung ſtattfände. So hat Stubenrauch die
öſterreichiſchen Geſetze nicht mitgetheilt, während Mayerhofer ſie
anführt; Rönne hat ſie wieder vollſtändig, aber nur als Nebenbeſtim-
mung neben dem einzelnen Organe: Roller hat gar nichts; eben ſo
Pözl; dagegen fehlen die polizeilichen Beſtimmungen über das bürger-
liche Waffenrecht nirgends. Das wird ſich erſt ändern, wenn die Lehre
vom Rechte der vollziehenden Gewalt, ſpeziell vom Polizeirechte, wiſſen-
ſchaftlich behandelt werden wird.
Was die poſitive Geſetzgebung betrifft, ſo hat England darüber
unſers Wiſſens gar keine Beſtimmung; das polizeiliche Waffenrecht fällt
hier ganz unter das folgende Gebiet der Verantwortlichkeit der polizei-
lichen Vollziehung. Eben ſo hat Frankreichs Geſetzgebung eine aus-
drückliche Berechtigung zum Gebrauch der Waffen für einzelne Polizei-
organe nicht ausgeſprochen, ſelbſt nicht bei den Flurwächtern. Doch
ſagt der Art. 186 des Code Pénal: Lorsqu’un fonctionnaire ou un
officier public ou un administrateur, un agent ou un préposé du
gouvernement ou de la police, un exécuteur des mandats de justice
ou jugements, un commandant en chef ou en sousordre de la force
publique aura, sans motif légitime, usé ou fait user de violences envers
les personnes dans l’exercice ou à l’occasion de l’exercice de ses
foncitions, il sera puni selon la nature et la gravité de ses violences
et en élevant la peine suivant la régle posée par l’art. 198. Es
wäre allerdings zu wünſchen geweſen, daß das Syſtem, welches wir
oben bezeichnet haben, auch formell in dieſem Artikel klarer bezeichnet
worden wäre. Indeß iſt es der Sache nach nicht zweifelhaft. Das
motif légitime iſt offenbar entweder die handhafte That, oder die direkte
Widerſetzlichkeit gegen die Organe der Vollziehung. Beide geben dem-
nach das Recht auf „violences“, unter denen man neben der allge-
meinen phyſiſchen Gewalt ohne Zweifel auch die Waffen zu verſtehen
hat. Ob und wie weit die Anwendung der Waffen dann eine berech-
tigte geweſen, hat das Gericht zu entſcheiden, und zwar einfach nach
Art. 309. Eine Unterſcheidung der verſchiedenen Arten der Polizei findet
dabei nicht ſtatt. Ueber die gerichtliche Verantwortlichkeit ſelbſt ſiehe unten.
[73]
Das zweite große Syſtem iſt nun das der beiden großen deutſchen
Staaten, Oeſterreichs und Preußens. Beide haben das öffentliche
Waffenrecht einzelnen Vollzugsorganen zugeſprochen. Es war natür-
lich, daß bei dieſen Beſtimmungen die ſpezielle Natur der einzelnen
Funktionen entſcheidend war. Im Allgemeinen läßt ſich dabei nicht
verkennen, daß die betreffenden Geſetze das Beſtreben haben, die An-
wendung der Waffen geſetzlich, ſo weit als irgend thunlich, einerſeits
auf die Nothwehr zurückzuführen, andrerſeits aber die Verantwort-
lichkeit für den Waffengebrauch feſtzuhalten; Grundſätze, welche eben nur
durch die Aufſtellung der Gendarmerie möglich wurden, und ſtets in
Verbindung mit derſelben gedacht werden müſſen.
Was zunächſt Oeſterreich betrifft, ſo gibt es hier nur zwei Ka-
tegorien von Beamteten, denen die Waffe im Dienſt überhaupt gegeben
iſt, und für welche daher auch ein eigenes geſetzliches Waffengebrauchs-
recht aufgeſtellt werden mußte. Das iſt das Perſonal des Forſt- und
Feldſchutzes einerſeits, und das der Finanzwache andrerſeits. Die ge-
ſetzlichen Beſtimmungen für beide haben einen weſentlich verſchiedenen
Charakter. Für die erſte Kategorie iſt die Anwendung der Waffe grund-
ſätzlich auf die Nothwehr beſchränkt, offenbar, weil hier der Beweis
des Widerſtandes in den meiſten Fällen kaum zu führen und die An-
wendung der Waffe daher ganz der Willkür der Bedienſteten überlaſſen
ſein würde. Für die zweite Kategorie findet eine ſolche Beſchränkung
dagegen nicht ſtatt. Die betreffenden Beſtimmungen ſind:
I. Forſtgeſetz vom 3. December 1852 (Reichsgeſetzblatt 250). Nach
§. 54 darf im Forſtdienſt von der Waffe nur im Falle gerechter Noth-
wehr Gebrauch gemacht werden. — II. Miniſt.-Verord. vom 2. Januar
1854 (Reichsgeſetzblatt 4. §. 3) verordnet, daß das für den Forſtſchutz-
und Jagddienſt oder für den Jagddienſt allein beeidete Perſonal befugt
iſt, von der Waffe nur im Falle gerechter Nothwehr Gebrauch zu machen.
(Außer dieſem Falle iſt es denſelben nicht erlaubt, ihrer Selbſterhaltung
wegen auf Perſonen zu ſchießen, die auf ihr Zurufen ſich nicht ergeben.)
— III. Daſſelbe beſtimmt die Minſt.-Verord. vom 30. Januar 1860
(Reichsgeſetzblatt 28) für das beeidete Feldſchutzperſonal. — IV. Für die
Finanzwache beſtehen mehrere Vorſchriften. a) Die allgemeine des Hof-
kammerdecrets vom 8. Februar 1846 (Politiſche Geſetzſamml. 74. Band,
S. 21) b) Für die Gränzbezirke Miniſt.-Verord. vom 15. Okt. 1853
(Reichsgeſetzblatt 210 und vom 27. Juli 1864, Reichsgeſetzblatt 64).
Letztere Verordnungen beſchränken das Recht zum Waffengebrauche nicht
auf den Fall gerechter Nothwehr. (Vergl. Herbſt, Handbuch des öſter-
reichiſchen Strafrechts.)
Alle übrigen Beſtimmungen gehören in den folgenden Abſchnitt
[74] über die ſtrafrechtliche Haftung für die Vollziehung. Es war wohl
nicht ganz richtig, ſie einfach mit dem Obigen zuſammen zu ſtellen.
Das amtliche Waffengebrauchsrecht in Preußen ſteht formell
in allem Weſentlichen auf demſelben Standpunkt; jedoch iſt es nicht zu
verkennen, daß die preußiſche Geſetzgebung ihren Beamteten viel größeren
Spielraum in der Anwendung der Waffen einräumt, als die öſter-
reichiſche. Die Kategorien ſind dabei dieſelben. In Preußen haben
nämlich das Recht des Waffengebrauchs erſtlich die Gränzaufſichts-
beamteten (alſo nicht wie in Oeſterreich alle Finanzwachebeamteten) in
Gemäßheit des Geſetzes vom 28. Juni 1834, dann die königlichen
Forſt- und Jagdbeamteten in Gemäßheit des Geſetzes vom 31. März
1837 und endlich die Gefängnißaufſichtsbeamteten (Inſtruktion
vom 11. März 1839). Dieſe Geſetze ſind viel genauer und beſtimmter
als die betreffenden öſterreichiſchen, und dürfen in dieſer Beziehung
als Muſter gelten. Genaue Darſtellung bei Rönne, Staatsrecht II.
§. 298. — Im franzöſiſchen Recht muß wohl der allgemeine Grundſatz
des Code Pénal (art. 28 und 42) ausreichen, daß jeder das Recht hat,
Waffen zu tragen, wenn ihm dieß Recht nicht durch das Urtheil eines
Gerichtes entzogen iſt. Eine beſondere Vorſchrift über den Waffen-
gebrauch einzelner Organe, wie der Garde champêtre oder Garde des
forêts findet ſich nicht. Ich habe auch bei den deutſchen Staaten keine
näheren Beſtimmungen finden können.
C. Die Verantwortlichkeit der Polizei.
Begriff.
Der dritte, wichtige Theil des öffentlichen Rechts der Polizei ent-
hält nun dasjenige, was wir die öffentlich rechtliche Verant-
wortlichkeit derſelben nennen.
Dieſelbe iſt in der That nirgends nothwendiger als hier. Denn
jene Unbeſtimmtheit, welche in dem Weſen der Gefahr liegt, erzeugt
theils Unaufmerkſamkeit auf die polizeiliche Thätigkeit, welche ſie ab-
wenden ſoll, theils auch geradezu Willkür; und doch iſt gerade bei der
Polizei, deren Aufgabe ſo ſelten ſcharf begränzt werden kann, die mög-
lichſt beſtimmte Reducirung derſelben auf eine rechtliche Gränze noth-
wendig. Da nun das Geſetz dieſe Gränze nicht geben kann, ſo muß
ſie für jeden einzelnen Akt der Polizei eintreten; das iſt, es muß jedes
Polizeiorgan für jede ihrer einzelnen Thätigkeiten in rechtlicher Haftung
ſein. Erſt mit dieſer und ihrem Syſtem iſt das verfaſſungsmäßige Po-
lizeirecht vollſtändig.
[75]
Dieſe rechtliche Haftung hat nun wie die Thätigkeit der Polizei
ſelbſt zwei Hauptformen. Sie bezieht ſich zuerſt auf die Polizei-
verfügungen und zweitens auf das Polizeiverfahren. Bei dem
erſten handelt es ſich um das Recht des Willens der Polizei, bei dem
zweiten um das Recht ihrer Thätigkeit. Es darf uns nicht wundern,
daß beides noch ſehr wenig auf dem Continente ausgebildet iſt; indeß
ſtehen die großen Grundzüge dieſes Rechts dennoch feſt, und ſollten
einen integrirenden und ſelbſtändigen Theil jeder Behandlung des Po-
lizeirechts bilden.
Daß gerade dieſer Theil von der bisherigen Theorie ſo wenig beachtet
iſt, liegt an zwei Gründen. Zuerſt iſt und bleibt allerdings die erſte Vor-
ausſetzung dieſes ganzen Gebietes das klare Bewußtſein von dem Unter-
ſchiede von Geſetz und Verordnung, zweitens der auf jenem beruhende
von Klag- und Beſchwerderecht, ohne welchen freilich der erſtere keinen
Werth hat. Das letztere zeigt ſich am deutlichſten in den Behandlungen
des territorialen Staatsrechts, welche die Begriffe von Geſetz und Ver-
ordnung auf das Klarſte ſcheiden, ohne jedoch zu der naheliegenden
verfaſſungsrechtlichen Conſequenz zu gelangen, wie zuerſt Mohl im
württemb. Staatsrecht I. S. 66 ff., der den Unterſchied ſehr gut charak-
teriſirt, und Rönne, preuß. Staatsrecht I. §. 16, namentlich aber §. 47.
Doch iſt dabei nicht zu überſehen, daß ſich beide viel zu ſehr auf
königliche Verordnungen beſchränken, alſo die Verfügungen nicht be-
rühren. Andere Territorial-Darſtellungen haben die Frage überhaupt
nicht berührt; das ſog. deutſche Staatsrecht hat — theils auch aus
hiſtoriſchen Gründen — die Begriffe von Geſetz und Verordnung
überhaupt nicht in ſich aufgenommen. (S. Stein, Vollziehungsgewalt
S. 55 ff.) Wenn einmal jene Grundbegriffe auch in ihren Anwen-
dungen feſtſtehen, wird die innere Ordnung des verfaſſungsmäßigen
Rechts viel klarer werden, als ſie es gegenwärtig iſt.
Unter dem Recht der Polizeiverfügung überhaupt — alſo ſpeziell
auch der Polizeiſtrafverfügung — bezeichnen wir das Verhältniß, in
welchem dieſe Verfügungen zum geſetzlichen Recht ſtehen.
Es bezeichnet einen hohen Grad öffentlich rechtlicher Entwicklung,
wenn ein Staat überhaupt zu dem Bewußtſein gelangt, daß die Ver-
fügungen ſeiner Exekutivorgane ein Recht haben müſſen. Wir ſind,
wenigſtens auf dem Continent, erſt im Beginne dieſer Rechtsbildung.
Um ſo wichtiger iſt es, die Elemente derſelben feſtzuſtellen.
[76]
Dieſe nun beſtehen in drei Punkten, welche bis jetzt erſt in wenig
Staaten ſelbſtändige Berückſichtigung gefunden haben.
Der erſte Punkt betrifft das eigentliche Verordnungsrecht; der
leitende Grundſatz iſt die Unterzeichnung der Miniſter, welche wiederum
die miniſterielle Verantwortlichkeit für das, in den Verordnungen auf-
geſtellte Recht gegenüber den Geſetzen enthaltene geſetzliche Recht be-
gründet. Dieß Verordnungsrecht gehört jedoch nur im weiteren Sinne
hierher, inſofern die Verfügungen auf demſelben beruhen.
Der zweite Punkt — bereits erwähnt unter Polizeiverfügung —
betrifft die Vorſchriften über den Erlaß von örtlichen Polizeiver-
fügungen. Das Princip derſelben, das erſt die neuere Zeit ausgebildet
hat, hat ſich in einigen Staaten zu einem förmlichen Syſtem entwickelt.
Man muß hier das franzöſiſche von dem deutſchen Princip ſcheiden, und
es iſt kein Zweifel, daß das letztere viel höher ſteht, als das erſtere.
Nach dem franzöſiſchen Princip iſt nämlich jede Polizeiverfügung eine
rein amtliche, und ſteht daher nur unter der Controle der höheren
amtlichen Stellen, ohne alle Herbeiziehung der Theilnahme der Selbſt-
verwaltungskörper. Nach deutſchem Princip dagegen ſind ſolche orts-
polizeilichen Verfügungen von Seiten der Ortsbehörden unter Zuziehung
der Selbſtverwaltungskörper — des Gemeinderathes — zu erlaſſen,
und nur wenn ſie allgemeine und dauernde Vorſchriften enthalten, der
höheren amtlichen Stelle mitzutheilen, welche dieſelben eventuell außer
Kraft ſetzen können.
Der dritte Punkt endlich betrifft die Publikation ſolcher Ver-
fügungen, welche in einigen Staaten genau geregelt iſt.
Auf dieſen Elementen nun beruht das verfaſſungsmäßige Recht der
Polizeiverfügung, welches, wie die Natur der Sache es fordert, in dem
Recht der Beſchwerde gegen die Verfügung als ſolche beſteht.
Da dieß Recht noch keineswegs gehörig entwickelt iſt, ſo ſtellen wir für
die Beurtheilung des geltenden Rechts hier die beiden leitenden Geſichts-
punkte auf.
Der erſte iſt der der Anerkennung des Beſchwerderechts im All-
gemeinen, deſſen Unbeſtimmtheit im deutſchen, deſſen Klarheit im fran-
zöſiſchen, und deſſen Vermiſchung mit dem Klagrecht im engliſchen Recht
bereits in der „vollziehenden Gewalt“ dargelegt worden iſt (S. 121 ff.).
Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß auch da, wo keine beſondere Be-
ziehung auf das Recht der Polizeiverfügung vorhanden iſt, dennoch die
letztere unter daſſelbe fällt, ja wohl meiſtens das eigentliche Objekt des-
ſelben bildet. Es gelten daher hier alle am angemerkten Orte auf-
geſtellten Grundſätze für dieſe Verfügungen.
Der zweite ſchließt ſich nun auf das Genaueſte an den tiefen,
[77] wenig durchgeführten Unterſchied des peinlichen und Verwaltungsſtraf-
rechts. So lange nämlich nach dem Vorgange des Code Pénal beide
mit einander verſchmolzen blieben, war auch eine beſondere Hervor-
hebung des Verfahrens gegen Polizeiverfügungen nicht wohl thunlich.
Auch gab Frankreich dafür kein Vorbild, da man dort ein vollſtändiges
Beſchwerderecht organiſirt hatte, und daher das Bedürfniß nach einem
eigenen Princip nicht empfand. Es konnte daher ein klares Bewußtſein
über das wahre Verhältniß erſt auftreten, als man das Ordnungs-
ſtrafrecht von dem peinlichen ſchied. So lange man nun dabei bei dem
allgemeinen Ordnungsſtrafrecht ſtehen blieb, mußte auch das Beſchwerde-
recht eine etwas allgemeine und unbeſtimmte Faſſung erhalten. So-
wie ſich aber das Verwaltungsſtrafrecht zu einer ſelbſtändigen Geſetz-
gebung in den Polizeiſtrafrechten erhob, trat die Nothwendigkeit einer
genauen Definition des erſtern ein; und dieß muß als ein großer Fort-
ſchritt in der Klarheit des öffentlichen Rechts überhaupt, namentlich in
ſeinem Verhältniß zur individuellen ſtaatsbürgerlichen Freiheit betrachtet
werden. Es iſt zu wünſchen und zu hoffen, daß ſich dieſes Syſtem
bald allgemein Bahn breche, und daß demgemäß das geſammte Ver-
waltungsſtrafrecht von dem peinlichen Recht geſchieden werde.
Da die übrigen deutſchen Staaten unſers Wiſſens über dieſe Frage
gar nichts Beſtimmteres beſitzen, als was bereits in der vollziehen-
den Gewalt dargelegt iſt, ſo beſchränken wir uns hier darauf, das
Recht Oeſterreichs, Preußens, und das des ſüddeutſchen Polizeiſtrafgeſetz-
buches zu charakteriſiren.
Das Recht Oeſterreichs iſt entſchieden am unklarſten. Das Be-
ſchwerderecht exiſtirt hier nur in der Form des Rekurſes, und zwar in
dieſer eben ganz formlos und ohne irgend ein geſetzlich vorgeſchriebenes
Verfahren. Der Charakter des Verfügungsrechtes dagegen liegt auf einem
andern Punkte. Da man nämlich kein geſetzliches Verfahren gegen die
Verfügung als ſolche hatte, ſo gab man ein ſolches gegen das in Ge-
mäßheit eines ſolchen ergangenen Urtheil. Die Folge war, daß der
Schwerpunkt dieſes ganzen Rechts in die Beſtimmung über die Natur
der competenten Behörde fiel. War dieſe nun Polizeibehörde, ſo
gab es kein eigentliches Appellationsrecht, ſondern das Verfahren war
ein reines Beſchwerdeverfahren wie in Frankreich, nur ohne die
vortrefflichen Formen deſſelben. In dieſem Sinne ward die ganze Frage
durch drei ſehr wichtige Verordnungen feſtgeſtellt — die Verordnung
vom 3. April 1855, das Verfahren in den im Strafgeſetzbuch auf-
genommenen Verwaltungsvergehen betreffend, welche die Polizeibehörden
[78] dafür anſtatt der Strafgerichte competent machte; die Verordnung vom
5. März 1858, welche das Verfahren vor dieſen Polizeigerichten regelte,
(und nach welcher ſtatt des „Urtheils“ ein Auszug aus dem Protokoll
gegeben wird, der die Thatſachen und die Entſcheidung enthält) und die
Verordnung vom 20. Juni 1858, welche den Polizeibehörden die Com-
petenz für eine große Reihe von Verwaltungsſtraffällen überwies, ſo-
wie den Inſtanzenzug der Beſchwerde (Polizeibehörde — politiſche
Landesbehörde — Miniſterium des Innern) feſtſtellte; die Verordnung vom
31. Jan. 1860 fügte einige, namentlich die Strafmilderungsgründe in
der Rekursinſtanz betreffende Beſtimmungen hinzu. Dieß Verfügungs-
recht und Strafcompetenzrecht der Verwaltungsbehörden ward dann
modificirt durch das, unter Mitwirkung des Reichsrathes erlaſſene, aber
freilich höchſt dürftige Geſetz vom 22. Okt. 1862, welches einen Theil
dieſer polizeilichen Competenz aufhob, und namentlich das im Straf-
geſetzbuch enthaltene Gebiet der Verwaltungsvergehen den Gerichten zu-
rückgab, wieder mit Ausnahme der großen Städte. Der Competenzſtreit
ward dabei durch die höchſt eigenthümliche Beſtimmung des §. 4 erledigt:
„zweifelt eine Polizeibehörde, ob eine derſelben angezeigte ſtrafbare
Handlung in ihren Wirkungskreis gehöre, ſo ſoll ſie ſich mit dem be-
treffenden (?) Gericht ins Einvernehmen ſetzen, und auf deſſen Verlangen
die Verhandlung dahin abtreten.“ Die völlige Unfertigkeit dieſer Be-
ſtimmungen, ſowie die Unklarheit des ganzen Standpunktes iſt offenbar.
Eine Entſcheidung über das Recht der Verfügung an ſich wird gar
nicht provocirt; der Einzelne muß es vom Ermeſſen der Polizei abhängen
laſſen, ob ſie ſich ſelber für competent hält; eine Organiſirung des Re-
kursverfahrens exiſtirt nicht. Dennoch iſt das Streben nach einem ob-
jektiven Recht der Verfügung nicht zu verkennen, das namentlich auch
durch die Aufſtellung der allgemeinen Ordnungsſtrafen (Verordnung
vom 30. Sept. 1857) allerdings wohl motivirt war. Hier iſt daher ein
feſtes Rechtsſyſtem noch zu ſchaffen. — Das preußiſche Recht iſt darüber
weit klarer, wenn auch nicht eben freiſinniger. Schon das Geſetz vom
11. Mai 1842 ſtellte den Grundſatz auf, daß gegen jede polizeiliche Ver-
fügung der Rekurs, oder gegen eine ſolche die Klage oder der Rechts-
weg nur dann ergriffen werden kann, wenn die Verletzung eines zum
Privateigenthum gehörigen Rechts (alſo keines Geſetzes überhaupt)
behauptet wird. Der erſtere iſt an die vorgeſetzte Dienſtbehörde, der
letztere an das Gericht zu richten. Dabei gelten die beiden Grundſätze,
daß die Klage keinen Suspenſiveffekt für die Ausführung der Verfügung
hat, wohl aber der Beamtete (nach dem allg. Landrecht II. 10. §. 127 ff.)
haftet. S. Rönne, Staatsrecht I. §. 56, nebſt dem Streit über den
Umfang jenes Geſetzes. Das Rekursverfahren iſt nicht geregelt. —
[79] In Holland gibt der Bürgermeiſter in dringenden Fällen Polizei-
verordnungen, welche er zur Kenntniß der Provinzial-Polizeicommiſſion
bringt, die das Recht hat, die Ausführung derſelben zu vertagen (Gem.
Geſetz von 1850, Art. 187, und oben). Was nun die Territorien des
Polizeiſtrafgeſetzbuchs betrifft, ſo iſt hier das Beſchwerderecht ſo viel
weiter aufgefaßt, daß es nicht bloß den Einzelnen, ſondern auch den
Gemeindevorſtänden zuſteht, und daß jede höhere Stelle das Recht hat,
die Verfügungen der niedern außer Kraft zu ſetzen. Bayer. Polizei-
ſtrafgeſetzbuch Art. 40. 43. Ganz ähnlich bad. Polizeiſtrafgeſetzbuch §. 26.
Von beſonderem Intereſſe ſind die Debatten über die Frage, ob die
Polizeigerichte auch die „Nothwendigkeit“ von Verfügungen neben ihrer
„geſetzlichen Gültigkeit“ in Berathung ziehen können. (S. Stempf
a. a. O. S. 63—73.) Eine ſolche Frage wäre ganz unmöglich geweſen,
wenn man eben nicht in dem unglücklichen Ausdruck „Polizeigericht“ die
Möglichkeit des Zweifels veranlaßt hätte, ob das Polizeigericht ein Ge-
richt oder eine Verwaltungsinſtanz ſei. Wir haben über die Stel-
lung der Gerichte zu der Frage nach der Rechtsgültigkeit der Verord-
nungen uns vollſtändig ausgeſprochen. Es iſt die Entſcheidung, daß
die Polizeigerichte jenes Recht nicht haben, eben gar nichts anderes
als die einfache Qualifikation derſelben zu rein gerichtlichen Organen.
Warum dann aber ſie noch Polizeigerichte nennen? Etwa weil ſie
über Polizeivergehungen richten? Würden darnach die, über die in dem
Strafgeſetzbuch aufgenommene Polizeivergehen richtenden Strafgerichte
nicht auch conſequent Polizeigerichte heißen müſſen? — Sondern der
Grund lag in dem unklaren Gefühl, daß das Verwaltungsſtrafrecht
eben etwas ganz anderes iſt als das peinliche Strafrecht; die Scheidung
der Polizei- und der peinlichen Gerichte entſprach und entſpricht daher
dem wahren Sachverhältniß, nur ſtehen wir noch auf dem Standpunkt,
daß formelle Competenz und geſetzliche Natur der Sache ſich nicht decken.
Dieſer Zweifel wird ſich ſo lange wiederholen, bis das Verwaltungs-
ſtrafrecht aus dem peinlichen Strafgeſetzbuch verbannt, und das Be-
ſchwerderecht und Verfahren, wie das Klagverfahren, ein öffentliches und
geregeltes ſein wird.
Die Haftung oder das Recht für das Polizeiverfahren neben
dem Recht der Polizeiverfügung tritt nur da ein, wo es ſich um das
Verhalten der wirklich vollziehenden, phyſiſchen Thätigkeit der Po-
lizeiorgane bei dem Eingriffe derſelben in die Sphäre der individuellen
Freiheit handelt.
[80]
Es kann ſich daher bei dieſem Rechte weder um den Mißbrauch
der phyſiſchen Gewalt an ſich, noch auch um die Nothwehr handeln,
ſondern die Vollzugshaftung bezieht ſich nur auf das beſtimmte Moment
der Art und des Grades in der an ſich rechtlich begründeten Voll-
ziehung. Die Grundlage des Rechts dieſer Haftung als Theil des ver-
faſſungsmäßigen Polizeirechts iſt nun in dem Weſen der polizeilichen
Funktion überhaupt gegeben.
Jede polizeiliche Funktion hat es nämlich, wie wir dargelegt, mit
Kräften zu thun, und iſt gegen die Aeußerung dieſer Kräfte gerichtet.
Jede Kraft aber iſt an ſich unbeſtimmt. Es iſt daher auch nicht mög-
lich, die Art und den Grad der Kraft für jeden Fall vorher zu be-
ſtimmen, welche das Vollzugsorgan brauchen muß, um dem allgemeinen
Willen gegenüber der Einzelkraft Verwirklichung zu verſchaffen. Deß-
halb iſt es unvermeidlich, dem öffentlichen Organ und deſſen individuellem
Ermeſſen Form und Gränze der Gewalt zu überlaſſen, welche es im
einzelnen Falle anzuwenden hat. Es folgt daraus, daß bei aller Ge-
nauigkeit des geltenden Rechts über die Veranſtaltung und das Verfahren
der Exekution dennoch die Rechtsgränze des einzelnen Staatsbürgers
gegenüber jenem Ermeſſen der Vollzugsorgane gefährdet iſt. Gegen
dieſe Gefährdung der ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit durch die letztere
gibt es nur einen Schutz, und dieſer beſteht in dem ſtaatsbürgerlichen
Recht der Beſchwerde und der Klage des Einzelnen gegen die Ueber-
ſchreitung der Gränzen der Zwangsgewalt, das auf dieſe Weiſe den
Schlußſtein des Syſtems des verfaſſungsmäßigen Polizeirechts bildet,
und dem natürlich das Princip und das Recht der perſönlichen Haf-
tung der Polizeiorgane als Correlat entſpricht.
So einfach nun dieſer Grundſatz an ſich erſcheint, und obwohl es
keinem Zweifel unterliegen kann, daß erſt hier die letztere Sicherung
gegen polizeiliche, ja gegen adminiſtrative Willkür überhaupt gefunden
werden kann, ſo fehlen uns doch die meiſten Quellen, und wir ſind
darauf angewieſen, es bei den allgemeinen Grundlagen dieſes öffentlichen
Rechts bewenden zu laſſen.
I. Die allgemeine Schwierigkeit, mit der es dieſer Theil des Rechts
zu thun hat, iſt im Beſondern dieſelbe, mit welcher das Syſtem des
Klag- und Beſchwerderechts bei der vollziehenden Gewalt im Allgemeinen
zu kämpfen hat. Eine zu laxe Verantwortlichkeit wird die Rechtsſicher-
heit des Einzelnen gegenüber der Polizei, eine zu ſtrenge die der Ge-
meinſchaft und des öffentlichen Rechtszuſtandes im Allgemeinen gegen-
über dem Einzelnen in ſeinem Widerſtande gefährden. Es kommt darauf
an, hier eine richtige Gränze zu finden. Und es iſt unmöglich, eine
ſolche Gränze durch einzelne Beſtimmungen zu ſetzen. Sie muß vielmehr
[81] auf einem feſten und allgemeinen, für alle Vollziehung durch die
Polizei gültigen Grundſatz beruhen.
Dieſer Grundſatz ſelbſt dürfte nun ein an ſich ſehr einfacher ſein.
Kein Vollzugsorgan darf in der Anwendung der ihm zu Gebote ſtehen-
den Mittel weiter gehen, als die Sicherung der Vollziehung
des betreffenden öffentlichen Rechts es fordert. Ueber dieſen
Grundſatz iſt wohl kein Streit denkbar. Es wird ſich aber darum
handeln, den Inhalt dieſes allgemeinen Princips auf ſeine einzelnen
Grundlagen zurückzuführen. Als dieſe dürften nun die folgenden gelten.
Zuerſt muß angenommen werden, daß jede Anwendung phy-
ſiſcher Gewalt gegen die Perſon von Seiten des Vollzugsorganes un-
berechtigt iſt, ſo lange die adminiſtrativen Vollzugsmittel (ſ. oben) nicht
als erſchöpft, oder nicht als unanwendbar erſcheinen. Der zweite
Grundſatz fordert, daß da, wo der perſönliche Zwang eintritt, derſelbe
in Freiheit und Geſundheit des Gezwungenen nur ſo weit eingreifen
darf, als die Vollziehung gegen den Willen des Betreffenden es unabweis-
bar macht. Es muß daher jeder Anwendung perſönlichen Zwanges
eine beſtimmte Aufforderung zum Gehorſam voraufgehen. Wenn der-
ſelben von Seiten des Betreffenden die beſtimmte Erklärung folgt, nicht
gehorchen zu wollen, ſo iſt der Beginn des phyſiſchen Zwanges ge-
rechtfertigt. Ohne eine ſolche Erklärung nur dann, wenn der Be-
treffende durch andere äußerlich unzweifelhafte Zeichen die Abſicht kund
gibt, ſich der Vollziehung entziehen zu wollen. In beiden Fällen iſt
offenbar das Eintreten des perſönlichen Zwanges gerechtfertigt. Das
ſind die allgemeinen Rechtsgrundſätze für den polizeilichen Zwang.
II. Sowie aber damit der Zwang wirklich in Ausübung gebracht
wird, treten zwei Fälle ein, welche den Inhalt des Zwangsrechts
bilden, und daher auch die Formen und den Inhalt des Haftungsrechts
beſtimmen.
Zuerſt kann der Zwang in Form und Objekt ein falſcher ſein.
Verkehrt iſt er ſtets, wenn er nicht geeignet iſt, die Vollziehung des
beſtimmten betreffenden Rechts hervorzubringen. Allein dieſer Mangel
im wirklichen Zwange iſt keine Verletzung des Rechts des Gezwungenen,
ſondern nur eine falſche Ausführung eines an ſich berechtigten Befehles.
Es tritt daher auch hier keine Haftung des vollziehenden Organes gegen-
über dem Gezwungenen ein, ſondern die Verantwortlichkeit deſſelben
bezieht ſich nur auf die befehlende Behörde, und beſteht in der falſchen
Auffaſſung der an ſich rechtsgültigen Funktion des Polizeiorganes. Daher
iſt hier kein Grund zu einer Klage des Gezwungenen, ſondern nur zu
einer Beſchwerde deſſelben bei der höheren Stelle, von welcher der
betreffende Befehl ausgegangen iſt, und das dafür geltende Recht wird
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 6
[82] daher ſtets nicht etwa ein Strafrecht, ſondern das Disciplinarrecht
der Staatsdiener ſein.
Wenn aber zweitens der Zwang in ſeinem Grade das Maß
desjenigen überſchreitet, was zur Vollziehung nothwendig war, ſo iſt
das Recht des Gezwungenen verletzt, und damit tritt ſtatt des
Beſchwerderechts das Klagrecht deſſelben, mit demſelben das der ſtraf-
rechtlichen, eventuell der bürgerlichen Haftung des Vollzugsorgans auf
Schadenerſatz ein. Sowie dieſer Grundſatz des Klagrechts einmal an-
erkannt und die Klage eingebracht iſt, beginnt die Funktion des Ge-
richtes, und die Klage hat den regelmäßigen Rechtsweg zu gehen.
Es muß dabei feſtgehalten werden, daß dieſes Klagrecht nicht etwa
auf die Anwendung der Waffengewalt und dabei vorkommende Ver-
letzungen beſchränkt iſt, ſondern auf jeden gegen die Perſon aus-
geübten Zwangsakt geht. Es iſt dabei ſelbſtverſtändlich, daß das Recht
der Nothwehr bei dem polizeilichen Zwange für den Gezwungenen
nicht gilt, da der Widerſtand gegen die Funktion des Vollzugsorganes
eben keine Noth enthält. Ebenſo unzweifelhaft iſt es offenbar, daß
das Vollzugsorgan ſtets auf Nothwehr ſich berufen und das ganze
ſtrafrechtliche Recht der Nothwehr für ſich in Anſpruch nehmen kann;
mit der Nothwehr hört natürlich die Haftung auf. — Ob nun das
Vollzugsorgan in jedem einzelnen Falle die Gränze des Zwanges über-
ſchritten hat oder nicht, das zu beurtheilen iſt die Sache des Gerichts.
Es iſt gar kein Grund vorhanden, das Urtheil oder Verfahren irgend
eines andern Organes zu fordern. Das Gericht hat aber dabei ganz
nach den für jede andere körperliche Verletzung geltenden Regeln zu ver-
fahren, und zwar natürlich zuerſt den Beweis herzuſtellen, daß das
nothwendige Maß überſchritten ſei, dann die Strafe für die verſchuldete
Ueberſchreitung feſtzuſetzen.
Alle dieſe höchſt einfachen Grundſätze finden nun für ihre Anwendung
überhaupt eigentlich nur die allgemeine Schwierigkeit in dem Bedenken gegen
die Zulaſſung des adminiſtrativen Klagrechts überhaupt. Wo dieß nur
erſt einmal anerkannt iſt, wird ſich die Einfachheit und die entſchiedene
Berechtigung der obigen Forderungen von ſelbſt ergeben. Und es iſt kein
Zweifel, daß kein verfaſſungsmäßiges Polizeirecht vollſtändig, und kein
ſtaatsbürgerlicher Rechtszuſtand geſichert iſt, ſo lange jene Grundſätze nicht
allgemein als unbezweifelt geltendes öffentliches Recht, als die letzte Voll-
endung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts verwirklicht werden.
Der ſpezielle Theil des Polizeirechts, namentlich das Sicherheits-
polizeirecht, hat dann zu zeigen, mit welchen Modifikationen dieſelben in
den einzelnen Gebieten der Polizei zur Anwendung zu gelangen haben.
[83]
Das geltende Recht der großen Staaten Europas iſt nun gerade
auf dieſem Punkte nicht bloß dem Umfange und den Einzelheiten nach,
ſondern in ſeinem innerſten Charakter ſo verſchieden, daß es wenig Dinge
gibt, in denen der tiefe Unterſchied des öffentlichen Rechtszuſtandes ſo
beſtimmt ausgeprägt wäre, den uns die neuere Geſtaltung des öffent-
lichen Rechts gebracht hat. Obwohl uns — vielleicht eben deßhalb —
eine eingehende Literatur und wiſſenſchaftliche Behandlung mangelt, ſo
wollen wir dennoch verſuchen, die Grundlagen dieſes Theiles der Wiſſen-
ſchaft hier anzudeuten. In der That gehört nämlich dieß Gebiet zu
denjenigen, in denen ohne eine Vergleichung des Charakters der ver-
ſchiedenen Staaten das Verſtändniß und die Beurtheilung der einzelnen
beinahe unmöglich iſt; und es iſt der Mangel eben einer ſolchen Ver-
gleichung wohl nicht der letzte Grund, weßhalb die ſonſt ſo reiche deutſche
Strafrechtsliteratur auch in dieſem Theile nicht nur nicht der ſyſte-
matiſchen Behandlung, ſondern ſelbſt der Kenntniß des geltenden Rechts in
den deutſchen Staaten zu ermangeln ſcheint. Sie iſt auch hier nicht über-
den Inhalt der Strafproceßordnungen hinausgekommen.
Wir hätten allen Grund gehabt, namentlich den neuern Schriftſtellern
wie Pohlmann (über das Weſen der adminiſtrativen contentiöſen
Sachen mit beſonderer Rückſicht auf Bayern, Näff, das Verhältniß
der Gerichte zu den Staats- und Regierungsſachen (Zeitſchr. für Civil-
recht in Preußen, XII. 1. 22), welche gegen, und Bähr, der Rechts-
ſtaat, 1864, welcher in energiſcher und geiſtreicher Weiſe für das Klage-
recht bei den Funktionen der Regierungsorgane eingetreten ſind, zu
danken, wenn ſie außer abſtrakten Gründen ſich auch auf das bezogen
hätten, was bereits in den einzelnen Staaten Europas Rechtens iſt.
Die Weiterentwicklung wird erſt beginnen, wenn wir ein wiſſenſchaft-
liches Polizeirecht als Theil der Lehre von der vollziehenden Gewalt
beſitzen werden.
Das engliſche Princip des Haftungsrechts iſt ein ſehr einfaches.
Es iſt bereits in der vollziehenden Gewalt S. 130 ff. dargeſtellt, und
zwar in ſeiner allgemeinen Form. Die Haftung für die Anwendung
der Vollzugsgewalt iſt nicht nur keine andere als die allgemeine, ſondern
bildet recht eigentlich das Gebiet für die Geltung des engliſchen Rechts.
Auf ſeine einfachſten Grundſätze zurückgeführt, beſteht daſſelbe in folgen-
den Punkten. Jedes Vollzugsorgan, alſo namentlich der Friedens-
richter, haftet für jeden Akt des Vollzuges. Die Haftung tritt jedoch
niemals ein von Seiten der oberen Behörde, ſondern ſtets von Seiten
des Einzelnen, der ſie durch eine förmliche Klage gegen die Organe
geltend machen muß. Das Beſchwerderecht iſt hier in das Klagrecht
aufgegangen, und eine Unterſcheidung zwiſchen der Verordnung und
[84] ihrem Vollzuge findet nicht ſtatt. Jedes Vollzugsorgan ſteht daher
bei jeder Funktion unter der Möglichkeit eines Proceſſes, und die
ſpezielle Beziehung auf Anwendung der Waffengewalt war daher hier
gar nicht nöthig. Die große Unſicherheit der Vollziehung, die durch
dieſe Verſchmelzung von Beſchwerde und Klage entſtehen mußte, erzeugte
nun ein Gegengewicht in dem Grundſatz, daß man zwar nicht das
Klagrecht aufhob, wohl aber demſelben ein Syſtem von geſetzlichen
Einreden für die Vollziehungsorgane zur Seite ſtellte, welches
die letzteren vor unbegründeten und leichtſinnigen Klagen ſchützen
ſolle. Das Princip dafür lag ſchon lange im engliſchen Recht; das
Syſtem ſelbſt ward durch das St. 11. 12. Vict. 44. (An act to protect
Justices of the Peace from vexatious actions done by them in
execution of their office 1848) ausgeführt; Grundlage iſt, daß
der Kläger vollſtändig beweiſen muß, daß die Vollziehung maliciously
und ohne reasonable and probable cause entweder überhaupt ſtatt-
gefunden, oder ihre Gränzen überſchritten habe. Der Mangel einer
Unterſcheidung des Beſchwerderechts vom Klagerecht würde ſelbſt nach
dieſem Akte die Vollziehung in England ernſtlich beeinträchtigen, wenn
nicht die Proceſſe ſo theuer wären. S. Gneiſt, Engl. Verwaltungs-
recht II. a. a. O. Vergl. auch Kries, Engl. Armenpflege S. 56—57,
der ſich freilich nur auf das Verordnungs- und nicht auf das Vollzugs-
recht bezieht; es iſt aber nicht zu überſehen, daß für beide dieſelben
Rechtsgrundſätze gelten.
Während ſomit in England das Haftungsrecht auf dem Klag-
recht allein beruht, und zugleich ein für alle Vollziehung geltendes
Recht bildet, ohne Unterſchied der gegen Sachen oder Perſonen ange-
wendeten Gewalt, ſehen wir in Frankreich eine weſentlich andere Geſtalt
dieſes Rechts auftreten. Hier iſt nämlich die Haftung zwar grundſätz-
lich auf das Klagerecht gegen jeden Beamteten baſirt, der in der Voll-
ziehung die Form und das Maß überſchreitet, praktiſch aber gilt
dennoch faſt nur das Beſchwerderecht, ſo daß jenes die Ausnahme,
dieſes die Regel bildet. Die Aufſtellung des Rechts der ſtrafrechtlichen
Haftung iſt durch den Art. 186 des Code Pénal ganz allgemein und
ohne alle Beſchränkung ſowohl für die Handlungen der Vollzugsorgane
gegen Sachen als gegen Perſonen ausgeſprochen; die ſpezielle Beziehung
auf unberechtigte Vergewaltigung der Perſonen enthält Art. 309, zu
welchem die Art. 485 und 486 des Code d’Instr. Crim. hinzugenommen
werden müſſen. Allein dieſer einfache Grundſatz iſt nun faſt illuſoriſch
gemacht durch eine Reihe von Beſtimmungen, welche ſich an den noch
geltenden Art. 75 der Conſtitution vom 22 Frim. an VIII anſchließen:
„Les agents du Gouvernement autres que les Ministres ne peuvent
[85] être poursuivis pour des faits rélatifs à leur fonctions qu’en vertu
d’une décision du Conseil d’État.“ Dieſe Autoriſation des Staats-
raths iſt daher die eigentliche Grundlage des Syſtems der Haftung;
wird ſie nicht ertheilt, ſo folgt allerdings noch nicht, daß das Voll-
zugsorgan ohne Strafe innerhalb der Disciplin bleibe, wohl aber, daß
das Klagrecht ausgeſchloſſen iſt. Der Conseil d’Étatentſcheidet
daher, ob eine Uebertretung der Vollzugsvorſchrift ſtattgefunden habe
oder nicht, ſo daß das Verfahren vor dem Conseil d’État das eigent-
liche Beſchwerdeverfahren iſt, während das Klagrecht oder die Ver-
folgung der Haftung vor dem ordentlichen Gericht nur ſehr ſelten zur
Ausübung kommt. Der eigenthümliche Charakter des ganzen Verwal-
tungsrechts und ſeine ſcharfe, eben ſo ſehr hiſtoriſche als principielle
Scheidung vom Gerichte, den wir in der Lehre von der vollziehenden
Gewalt dargelegt haben, kommt hier in ſchlagender Form wieder zur
Erſcheinung. Bei aller ſcheinbaren Freiheit des öffentlichen Rechts
Frankreichs hat daſſelbe ſich niemals dazu verſtehen können, das Ver-
waltungsrecht und die Stellung der Beamteten als eine dem bürger-
lichen Recht gleichſtehende Rechtsbildung anzuerkennen, und die Be-
amteten dem letzteren zu unterwerfen. Das Klagrecht des Code Pénal
gegen die violences des fonctionnaire und die Art. 485. 486. des Code
d’Instr. Crim. ſind daher in der That eine leere Fiktion, und werden
effektiv faſt nie als bei gemeinen Verbrechen ausgeübt, während bei
Rechtsverletzungen durch die Vollziehung grade das Beſchwerderecht das
einzig wirklich praktiſche Mittel iſt.
Da nun aber trotzdem der Code Pénal mit ſeinen Vorſchriften be-
ſteht, ſo hat ſich aus dem oben bezeichneten Gegenſatze deſſelben zu der
Verfaſſung des Jahres VIII eine vollſtändige Jurisprudenz entwickelt,
deren einzelne Sätze meiſtens durch Entſcheidungen des Caſſationshofes
zu anerkanntem öffentlichem Recht geworden ſind. Die darauf bezüg-
lichen, geltenden Normen ſcheiden ſich in zwei Gruppen.
Zuerſt iſt durch eine Reihe von Entſcheidungen feſtgeſtellt, daß
für gewiſſe Kategorien von Beamten eine Zuſtimmung des Conseil
d’État zur gerichtlichen Verfolgung überhaupt, alſo auch zum Klag-
recht wegen Vollzugshandlungen, nicht erforderlich iſt. Jedoch ſind dieß
nur Steuerbeamtete wegen Rechnungsmängel, und die Mitglieder der
verſchiedenen Conſeils, Greffiers und andere, die eigentlich gar keine
Beamteten ſind.
Zweitens iſt jene Verpflichtung, die Erlaubniß zur klagrechtlichen
Verfolgung des Beamteten wegen ſeiner amtlichen Akte nachzuſuchen,
ſo weit ausgedehnt, daß in der That die letzte Illuſion über die
Beſeitigung deſſelben bei jedem andern als dem gemeinen Verbrechen
[86] verſchwindet. Erſtlich iſt jene Erlaubniß auch für die Verfolgung ſolcher
Rechtsverletzungen gefordert, welche gar nicht in der Vollziehung ſelbſt
enthalten waren, ſondern nur mit derſelben zuſammenfallen; ſie iſt
zweitens nothwendig, auch wenn der Beamtete aus dem Amte ausge-
treten iſt; ſie wird drittens gefordert auch für die Rechtsanſprüche gegen
die Erben der Betreffenden; und endlich kann der fonctionnaire gar
nicht darauf verzichten. Vollziehende Gewalt S. 133 ff. (Kurz und
klar zuſammengeſtellt von Smith bei Blockv. Fonctionnaires.)
Es iſt nun wohl nicht nothwendig, das Syſtem weiter zu charak-
teriſiren. Wir begnügen uns damit, es als ein unwahres zu bezeichnen,
während das engliſche ein unpraktiſches iſt. Von beiden verſchieden iſt
das deutſche Syſtem.
Das deutſche Syſtem der Haftung für Vollzugsübertretungen iſt
nämlich ein unfertiges. Es iſt nicht thunlich, irgend etwas als ge-
meingültig, oder auch nur von der Theorie durchſtehend anerkannt auf-
zuſtellen. Das beruht nun zuerſt wieder darauf, daß überhaupt im
deutſchen öffentlichen Recht die Begriffe von Beſchwerde und Beſchwerde-
recht neben dem öffentlichen Klagrecht ſich nicht bloß in der Theorie
in vollſtändiger Unklarheit befinden, ſo weit es eine ſolche darüber gibt,
ſondern auch im Gebiete der Verfaſſungsurkunden und der übrigen Ver-
faſſungsgeſetze in höchſt unklarer, zum Theil ſogar widerſprechender
Weiſe erledigt werden. Wir haben die einſchlagenden Geſetze und An-
ſichten in der vollziehenden Gewalt S. 143—148 bereits mit-
getheilt. Es kann nicht zweifelhaft ſein, daß das dort Geſagte, das für
die Thätigkeiten der Verwaltungsorgane überhaupt gilt, auch und zwar
ſpeziell für ihre Haftung bei Vollziehungen gelten muß. Ehe man daher
in Deutſchland nicht über die Begriffe von Geſetz und Verordnung
und Klag- und Beſchwerderecht überhaupt einig wird, iſt es nicht
möglich, zur Klarheit über das Haftungsrecht der Organe beim Voll-
zuge zu gelangen. — Indeſſen ſcheinen denn doch zwei Grundſätze feſt-
zuſtehen, welche vor der Hand den geltenden Zuſtand charakteriſiren.
Daß nämlich die Nothwehr und ihr Beweis das Vollzugsorgan vor
jeder Verantwortung befreit, iſt ſelbſtverſtändlich und gehört daher nicht
hierher. Nicht ohne Bedeutung iſt jedoch das Streben, dieſe Nothwehr
auch für die Vollzugsthätigkeit möglichſt genau zu definiren, und mit
der geſetzlichen Vollziehung in Harmonie zu bringen. Oeſterreich. K.
K. Decret vom 9. Okt. 1846; preuß. Strafgeſetzbuch §. 316. Rönne,
Staatsrecht I. §. 103 Note. Dagegen gilt als erſter Grundſatz, daß zwar
die Amtshandlung da aufhört, wo die Ueberſchreitung des Maßes in
der Vollziehung beginnt, daß aber der Beamtete für dieſe Ueberſchrei-
tung nur „der vorgeſetzten Behörde“ „verantwortlich“ ſei. So nach
[87] preußiſchem Recht. Strafgeſetzbuch §. 87 ff. Goldtammer, Archiv des
Strafrechts 1. 700. Oppenhof, Strafgeſetzbuch §. 89. Beſeler,
Commentar zum Strafgeſetzbuch S. 256. 257. Das iſt höchſt unvoll-
ſtändig, da weder die vorgeſetzte Behörde, noch der Begriff der Ver-
antwortlichkeit auch nur annähernd klar ſind und keiner der Commen-
tatoren die Frage nach dem Klagrechte ernſtlich zu unterſuchen verſucht
hat. Leider hat auch Temme (Gloſſen zum Strafgeſetzbuch S. 161)
ohne Erkenntniß des letztern die Sache behandelt. Daß übrigens ein
Vergehen im Exceß des Vollzugs liegt, hat das Strafgeſetzbuch §. 316
anerkannt. Hier iſt offenbar das Syſtem nicht fertig und klar. (Vergl.
Rönne, Staatsrecht I. §. 103.) — In gleicher Weiſe erklärt das öſterr.
Strafgeſetzbuch §. 101 den „Mißbrauch der Amtsgewalt“ ſtrafbar; aber
zur Verfolgung iſt regelmäßig die Anzeige an die obere Behörde nöthig.
Ganz ähnlich, und in gleich unfertiger Beſtimmung des Klagrechts, die
übrigen deutſchen Strafgeſetzbücher. — Neben dieſer Unbeſtimmtheit ſteht
der zweite, wie es ſcheint, durchſtehende Grundſatz, daß bei Tödtungen
oder Verletzungen in Ausübung des Dienſtes eine gerichtliche Unter-
ſuchung Regel iſt, jedoch die vorgeſetzten Beamteten beigezogen werden
ſollen. So in der preuß. Verordnung für Gränz- und Forſtbeamtete
von 1834 und 1837 (ſ. oben); öſterr. Strafproceßordnung (29. Juli
1853) §. 93 für „Finanz- oder andere öffentliche Wachen.“ — Wir
können hierin jedoch nicht den Anfang einer rationellen Ordnung dieſes
Rechts erkennen. Derſelbe liegt vielmehr in denjenigen einzelnen Be-
ſtimmungen, welche die Geſetzmäßigkeit der Vollziehung der ſicherheits-
polizeilichen Maßregeln geordnet haben, zu denen wir jetzt übergehen.
Bei aller Richtigkeit fehlt denſelben jedoch ſowohl im geltenden Recht
als in der Theorie der innere Zuſammenhang, der ſie als Ausdruck
der obigen Grundſätze und damit als eine organiſche Einheit erſchei-
nen ließe.
[[88]]
Zweiter Theil.
Die Sicherheitspolizei und ihr Recht.
Begriff, Princip und Stellung derſelben.
Nachdem auf dieſe Weiſe der allgemeine Begriff der Polizei und
des Polizeirechts zunächſt als Theil der geſammten Verwaltung feſt-
geſtellt iſt, wird es jetzt nothwendig, den ſpeziellen Begriff der Sicherheits-
polizei als einen Theil der innern Verwaltung zu beſtimmen, wobei
es nicht zu vergeſſen iſt, daß der Begriff der Sicherheit in dem bis-
herigen, gewöhnlichen Sinne ein ſpecifiſch deutſcher und urſprünglich
nur als Gegenſatz zur Wohlfahrtspolizei aufgeſtellter anzuſehen iſt. Erſt
mit unſerm Jahrhundert, wo jene Wohlfahrtspolizei ſich zur Idee der
innern Verwaltung entwickelt, ſcheidet ſich die Sicherheitspolizei als ein
ſelbſtändiges Gebiet, und nun geſchieht das, was wir bereits früher
bezeichnet haben, daß nämlich der Ausdruck Sicherheitspolizei die ganze
polizeiliche Thätigkeit bezeichnet, da in der That die letzte Aufgabe der
Polizei ſtets die Herſtellung der Sicherheit enthält. Wir glauben nun
ſchon früher gezeigt zu haben, daß es unabweisbar iſt, dieſen Begriff
aufzulöſen. Wir haben dabei nicht bloß die Polizei im Allgemeinen ſelb-
ſtändig hingeſtellt, ſondern wir haben auch bereits angedeutet, daß die
innere Polizei ſo viele und verſchiedene Aufgaben hat, daß man den
Begriff der „Sicherheitspolizei“ als einen ſelbſtändigen und mit einem
eigenen Rechtsſyſteme verſehenen innerhalb der innern Polizei wieder
aufſtellen kann und muß, will man anders zur Klarheit über dieß Ge-
biet gelangen. Und es möge uns daher geſtattet ſein, zunächſt den Be-
griff der „öffentlichen Sicherheit“ als einen beſtimmten, von allen ver-
wandten Vorſtellungen zu ſcheidenden, zu definiren.
Zu dem Ende muß man von dem Weſen des Objekts aller Polizei,
der Gefährdungen ſelbſt und ihren Formen, ausgehen.
Alles, was wir ein Gefährdung nennen, wird nämlich zunächſt
[89] einen beſtimmten einzelnen Zuſtand oder ein beſtimmtes einzelnes
Lebensverhältniß einer Perſon betreffen. Alsdann beruht dieſe Gefähr-
dung ſtets auf einer einzelnen Vornahme oder einer einzelnen Erſchei-
lung. Dieß iſt der Fall für Geſundheit, Credit, Maß und Gewicht
und hundert andere Dinge. Es iſt kein Zweifel, daß es Aufgabe der
Polizei iſt, auch hiefür in jedem einzelnen Falle ſo viel Schutz zu ge-
währen, als überhaupt durch Maßnahmen und Vorſchriften über das auf
ſolche ſpezielle Verhältniſſe bezügliche Verhalten der einzelnen Perſon
erzielt werden kann. Auf dieſe Weiſe entſteht das, was wir die ein-
zelnen Arten der Polizei nennen — wie Geſundheits-, Credits-, Wege-,
Maß- und Gewichtspolizei u. ſ. w. Und nun haben wir ſchon bemerkt,
daß während das allen dieſen Funktionen der Polizei Gemeinſame in
das allgemeine Polizeirecht gehört, die einzelnen Theile vielmehr als
immanente Elemente der einzelnen Zweige der Verwaltung ſelbſt be-
trachtet und in derſelben dargeſtellt werden müſſen, ſo daß, wenn es
nicht noch ein ſpezielles Gebiet außer jenen einzelnen Abtheilungen gäbe,
die ganze „Sicherheitspolizeilehre“ im Grunde vermöge dieſer Auflöſung
in die Abtheilungen der innern Verwaltung geradezu verſchwinden, und
nur noch die Kategorie des allgemeinen Polizeirechts, die wir oben in
ihrem Inhalt entwickelt haben, übrig bleiben würde. Dieß ſpezielle
Gebiet iſt aber das der eigentlichen „Sicherheit.“
Die erſte und allgemeinſte Vorausſetzung aller geſicherten Entwicklung
des Einzelnen nämlich iſt offenbar die, daß die beſtehende Rechtsordnung
nicht geſtört werde. Der Forderung nach einer geſicherten Rechtsordnung
werden ſich ſtets alle andern Forderungen unterordnen; ſie umfaßt ihrer-
ſeits alle Zuſtände und Lebensverhältniſſe jedes Einzelnen; ſie wird in
keinem derſelben erſchöpft, und daher auch in der Gefährdung keines
Einzelnen gefährdet. Denjenigen Zuſtand nun, in welchem dieſe öffent-
liche Ordnung als Ganzes geſichert erſcheint, nennen wir eben die
öffentliche Sicherheit.
Nun gibt es Bewegungen und Zuſtände, deren Natur es mit
ſich bringt, daß ſie in irgend einer Weiſe nicht etwa einzelne Verhält-
niſſe, ſondern eben die Rechtsordnung als ſolche bedrohen. Ihr Weſen
beſteht darin, daß ſie gewiſſe unmeßbare, im Voraus nicht zu berech-
nende Wirkungen erzeugen können, welche auf eine unbeſtimmbare Menge
von Rechtsverhältniſſen gefahrbringenden Einfluß ausüben. Solche Be-
wegungen und Zuſtände gehen ihrerſeits ſtets von Menſchen aus, und
in den meiſten Fällen liegen ihnen Hoffnungen und Intereſſen zu
Grunde, welche geeignet ſind, die Gefährdung der öffentlichen Sicher-
heit noch zu vergrößern. Dieſe Bewegungen und Zuſtände ſind daher
naturgemäß Objekte der Polizei; und in dieſem Sinne erſcheint die
[90] eigentliche Sicherheitspolizei als derjenige Theil der Polizei, deren
Aufgabe es iſt, nicht mehr die Gemeinſchaft gegen einzelne Gefährdungen
durch ſpezielle Maßregeln und Vorſchriften zu ſchützen, ſondern die ge-
ſammte öffentliche und private Rechtsordnung, eben als Vorausſetzung
der Unverletzlichkeit jedes einzelnen Rechts, vor Erſchütterung zu be-
wahren.
Ohne Zweifcl nun iſt dieſer Begriff ſehr unbeſtimmt, und es iſt
einleuchtend, daß ein auf einen ſo unbeſtimmten Begriff gebautes Polizei-
recht der individuellen Freiheit ſehr bedenklich werden mußte. In der
That war das letztere bis zum vorigen Jahrhundert der Fall, wo man
nicht dazu gelangte, in jenen Begriff der öffentlichen Sicherheit mehr
Beſtimmtheit zu bringen, und daher auch für die Sicherheitspolizei ſo
wenig als für die übrige Polizei zu einem eigentlichen Rechtsſyſteme
gelangte. Erſt mit dem Auftreten des großen Princips der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft mußte man, da man dieſes Zweiges der Polizei
natürlich nicht entbehren konnte, die ſpeziellen Aufgaben derſelben ſcharf
beſtimmen, um vermöge dieſer Aufgaben ein eben ſo ſcharf beſtimmtes
Syſtem des Rechts der Sicherheitspolizei aufzuſtellen. Damit be-
ginnt ein Proceß der Rechtsbildung, der von großer Bedeutung für das
geſammte Staatsbürgerthum geworden, und für alle Theile der Sicher-
heitspolizei gleichmäßig gültig iſt.
Die Natur der oben charakteriſirten Gefährdungen bringt es nämlich
mit ſich, daß ſich für die Thätigkeit der Polizei, für ſich betrachtet,
ſchwer oder gar keine Gränze geſetzlich aufſtellen läßt, während ein Ein-
ſchreiten derſelben dennoch unbedingt nothwendig erſcheint. Eine Rechts-
bildung, welche die öffentliche Sicherheit mit der perſönlichen Freiheit
vereinigen ſoll, konnte daher nur dadurch ſtattfinden, daß man gewiſſe
Handlungen, ſtatt ſie bloß der polizeilichen Thätigkeit zu überlaſſen,
geradezu in das Strafrecht aufnahm, und ſomit dieſe polizeiliche
Thätigkeit auf die gerichtliche reducirte. Allerdings haben die früheren
Strafgeſetzgebungen bereits Andeutungen für dieſe Gruppe von ſtraf-
baren Handlungen; allein erſt mit unſerm Jahrhundert ſind die Be-
ſtimmungen über dieſelben genau ausgebildet, und zwar mit der un-
verkennbaren Tendenz, die Aufgabe der Polizei und ihre ſelbſtthätige
Wirkſamkeit auf das möglichſt geringe Maß zu reduciren. An die
Stelle allgemeiner ſicherheitspolizeilicher Principien iſt daher jetzt ein
Syſtem von Verbrechen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung
getreten, das wir allerdings der Strafrechtslehre zu überlaſſen haben.
Allein trotzdem konnte das Strafrecht nicht alle Verhältniſſe umfaſſen
und erſchöpfen, welche als Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit er-
ſcheinen. Die Polizei behielt daher eine ſehr weſentliche Funktion,
[91] welche unabweisbar ihrer eigenen ſpecifiſchen Thätigkeit überlaſſen werden
mußte; und ſo entſtand ein Verhältniß, welches uns erſt das eigentliche
Princip des Rechts der Sicherheitspolizei aufſtellen läßt. Dieß nun iſt,
dem Obigen gemäß, in folgender Weiſe zu formuliren.
Durch die Entwicklung des ſtaatsbürgerlichen Rechts iſt jede Ge-
fährdung der öffentlichen Rechtsordnung an ſich ein Verbrechen, wenn
ſie eine — meiſt geſetzlich beſtimmte — Gränze überſchreitet. Bis zu
dieſer Gränze iſt dieſelbe nur noch eine öffentliche Gefahr. In jedem
Theile der Sicherheitspolizei ſind daher, vermöge der neuen Strafgeſetz-
gebung, zwei Elemente vorhanden, einerſeits die gerichtliche Polizei mit
ihrem Recht, und andrerſeits die Verwaltungspolizei. Und die Auf-
gabe des Rechtsſyſtems der Sicherheitspolizei wird es demnach ſein, in
jedem einzelnen Falle oder Gebiete der Frage für die öffentliche Sicher-
heit diejenige Gränze für die polizeiliche Thätigkeit zu beſtimmen, bei
welcher die gerichtliche Polizei aufhört und die reine Sicherheits-
polizei mit ihrem Recht der Verfügung, des Verfahrens und
der Haftbarkeit anfängt.
Da nun aber endlich die hier eintretenden Verhältniſſe ſo ſehr
verſchiedener Natur ſind, ſo iſt eine gemeinſame Codifikation dieſes
Polizeirechtes gar nicht verſucht worden, und in der That nicht möglich.
Im Gegentheil hat ſich für jeden Theil ein eigenes Polizeirecht gebildet.
Dieß nun iſt in der Literatur noch ſehr ungleichmäßig behandelt, und
auch iſt das geltende Recht keineswegs überall gleichartig. Daher wird
es die erſte und wichtigſte Aufgabe der Wiſſenſchaft ſein, nur erſt ein-
mal hier ein feſtes Syſtem mit allgemein gültigen Geſichtspunkten auf-
zuſtellen. An dieſes Syſtem ſchließt ſich dann naturgemäß die Ver-
gleichung des geltenden Rechts, und hoffentlich die eigentlich wiſſen-
ſchaftliche Behandlung des Sicherheitspolizeirechts, das bisher in der
Theorie noch keine Heimath und in der Geſetzgebung keine Freiheit
gehabt hat.
Wir theilen nun das ganze Gebiet der Sicherheitspolizei nach einem
einfachen Geſichtspunkt. Die höhere Sicherheitspolizei iſt diejenige,
welche das öffentliche Recht und ſeine Grundlagen zu ſchützen hat;
die niedere Sicherheitspolizei dagegen iſt diejenge, bei welcher es ſich
um den Schutz des Rechtszuſtandes der einzelnen Staatsbürger
handelt. Die Eintheilung wird in klarer Weiſe alle Aufgaben derſelben
zu ordnen im Stande ſein.
[92]
Erſte Abtheilung.
Höhere Sicherheitspolizei.
I. Begriff und Princip.
Die höhere Sicherheitspolizei beruht darauf, daß der geordnete,
theils in den Verfaſſungen, theils in dem Organismus und der regel-
mäßigen Funktion der vollziehenden Gewalt ausgedrückte Rechtszuſtand
eines Volkes nicht durch die elementaren Gewalten des Volkslebens
und nicht durch Einzelbeſtrebungen gewaltſam geſtört werde. Denn
dieſe feſte Ordnung erſcheint als die erſte Bedingung der Entwicklung
jedes Einzelnen, weil ſie die Gewähr der großen Funktionen des Staats
für das Ganze und der freien Entwicklung der Thätigkeit des Indivi-
duums für ſich ſelber enthält. Die Gefährdung jener Ordnung iſt
daher eine Gefährdung aller Grundlagen des Volkslebens, und es iſt
die Aufgabe der höheren Sicherheitspolizei, dieſe Gefährdungen zu
beſeitigen.
So einfach und natürlich nun auch dieſe Forderungen ſind, ſo
unterliegen ſie doch einem Verhängniß, das zugleich die Grundlage der
hiſtoriſchen Rechtsbildung für die Sicherheitspolizei geworden iſt. Da
nämlich die durch die Sicherheitspolizei zu ſchützende öffentliche Ordnung,
das öffentliche Recht eines Staats, ein objektiv geltendes, feſtes Recht
iſt, während die dieſes Recht erzeugenden Kräfte wechſeln und fort-
ſchreiten, ſo iſt ein Zuſtand, in welchem eine vollſtändige und
dauernde Harmonie dieſer Kräfte und jenes für ſie geltenden Rechts
vorhanden wäre, weder denkbar, noch im Grunde wünſchenswerth.
Jede Entwicklung wird durch eine mehr oder weniger große und fühl-
bare Spannung zwiſchen jenen beiden Faktoren begonnen und bedingt;
der wirkliche Fortſchritt erſcheint damit in der materiellen und geiſtigen
Entwicklung, ſo wie er zu einem ausgeſprochenen Drange nach einer
Aenderung des öffentlichen Rechts wird, natürlich als eine Gefahr des
letzteren, da er es ja poſitiv beſeitigen will, und jeder Ausdruck dieſes
Strebens, mag es ſonſt ſo berechtigt ſein als es wolle, wird zur Ge-
fährdung des Beſtehenden, formell zunächſt ganz gleichgültig ob das Be-
ſtehende gut oder nicht gut, und das durch die geiſtigen und materiellen
Volksbeſtrebungen erzielte Neue beſſer oder ſchlechter iſt. Jede ſolche
Beſtrebung wird eben damit zu einem Gegenſtande der höheren Sicher-
heitspolizei, welche denſelben nach ihrer formellen Aufgabe zu bekämpfen
hat, während die höhere Entwicklung des Volkslebens ihn ſtets in
ſolchen Fällen mit Freude begrüßt und fördert.
[93]
Jeder Staat daher, der ein innerlich noch lebendiger iſt, trägt den
Keim dieſes Widerſpruches in ſich, der eine höhere Sicherheitspolizei im
Namen des Beſtehenden fordert und thätig macht, während er zugleich
dieſelbe im Namen des Werdenden bekämpft und als den Feind des
freiheitlichen Fortſchrittes verurtheilt. Das iſt der Grund aller Miß-
verſtändniſſe über das Weſen der höheren Sicherheitspolizei.
Allein die geſunde Ordnung des Staatslebens hat ein Mittel,
dieſen Widerſpruch zu löſen. Sie ſetzt grundſätzlich die Möglichkeit
einer Aenderung des Beſtehenden, aber zu gleicher Zeit beſtimmt ſie
die geſetzlichen Formen, in denen dieſelbe geſchehen muß. Durch das
erſte wird dem Bedürfniß der Entwicklung genügt; durch das zweite
wird jede ungeſetzliche Form derſelben ſtatt zu einer Gefahr vielmehr
zu einem Verbrechen. Die geſetzlichen Reformbewegungen gehören daher
in ſolchen Staaten in die Verfaſſung, die ungeſetzlichen in das Straf-
recht. Alle Formen der Beſtrebungen ſind hier frei, ſo lange ſie
nicht ſtrafbar ſind. Die höhere Sicherheitspolizei hat hier daher
nicht den Schutz der Verfaſſung, ſondern nur noch den der öffentlichen
Ordnung zur Aufgabe. Sie hat nicht zu kämpfen mit den politiſchen
Anſichten, Beſtrebungen und Aeußerungen an ſich, ſondern nur mit
der That, welche äußerlich die beſtehende Rechtsordnung angreift.
Das Element der Verfaſſungspolizei iſt in ihr nicht vorhanden,
ſondern ſie iſt bloß Ordnungspolizei; die Verfaſſung kennt keine Ge-
fahren, ſondern nur Verbrechen, und nicht die Polizei, ſondern nur
die Gerichte halten dieſelben aufrecht.
Wo nun aber das öffentliche Recht die Reform grundſätzlich überhaupt
nicht zuläßt, oder doch die Theilnahme der verfaſſungsbildenden Elemente
des Volkslebens davon ausſchließt, da beginnt die höhere Sicherheits-
polizei ihre ſeit einigen Jahrhunderten ſo ſehr ausgebildete und ziem-
lich beſtrittene Aufgabe. Sie muß, da eine ſolche Bewegung mit den
beſtehenden Rechtsgrundſätzen in formellen Widerſpruch tritt, dieſelbe
auch bekämpfen. Je tiefer nun die geltende Verfaſſung unter den Forde-
rungen der geſellſchaftlichen Entwicklung ſteht, um ſo lauter wird das
Beſtreben nach Reform, um ſo ſchwieriger und ernſter die Aufgabe
der höheren Sicherheitspolizei. Daher kommt es denn, daß die höhere
Sicherheitspolizei ſtets im umgekehrten Verhältniß zur freien Entwick-
lungsfähigkeit der Verfaſſung ſteht. Je zweckmäßiger die letztere, deſto
unnöthiger die erſtere; je unfreier jene, deſto nothwendiger und aus-
gebildeter dieſe. Und es folgt aus demſelben Grunde, daß da, wo die
beſtehende Verfaſſung durch das grundſätzliche Ausſchließen aller Reform
Gegenſtand gewaltſamer Angriffe zu werden droht, die höhere Sicher-
heitspolizei ſich auch mehr mit materiellen Mitteln umgibt, und da, wo
[94] der Geiſt des Volkes im Namen der Idee der Freiheit die Reformen
fordert, mit dem Geiſte und mit den Ideen ſelbſt einen Kampf auf
Leben und Tod beginnt. Das iſt der Weg, auf dem die Sicherheits-
polizei, obwohl im Grunde kein Verſtändiger ihre Nothwendigkeit und
Berechtigung jemals bezweifeln wird, dennoch ſich und die Regierung,
welche ſie vertritt, mit den gewaltigſten Faktoren des Volkslebens in
unlösbaren Widerſpruch bringt, und mit dem falſchen Zwecke, für den
ſie arbeiten muß, ſelbſt zugleich verurtheilt wird.
Auch dieſer Widerſpruch kann gelöst werden, und muß es, und
dieſe Löſung iſt es, aus welcher das Recht der höheren Sicherheits-
polizei hervorgeht. Offenbar iſt es nicht das Streben nach Aenderung
des Beſtehenden, welches an ſich durch polizeiliche Thätigkeit zu unter-
drücken iſt, ſondern nur das gewaltſame Eingreifen in die beſtehende
Ordnung, um vermöge deſſelben ein neues Recht zu ſchaffen. Ein
ſolches gewaltſames Eingreifen, oder jede äußere, auf Aenderung der
beſtehenden Rechtsordnung gerichtete gewaltſame That enthält nun ſelbſt
wieder zwei Elemente, und daher auch zwei Arten des Rechts; und
hier iſt es, wo die gewöhnliche Auffaſſung uns nicht mehr ausreicht.
Einerſeits nämlich als wirkliche Verletzung der beſtehenden geſetzlichen
Ordnung iſt ſie ein Verbrechen, andererſeits als Vorbereitung zu jener
Verletzung durch an ſich nicht verbotene Handlungen iſt ſie ein Gegen-
ſtand der Polizei. Zum Verbrechen ſind alle jene Handlungen zu zäh-
len, welche den individuellen Willen an die Stelle des allgemeinen
ſetzen; zur Vorbereitung diejenigen, welche die materiellen Bedingungen
eines gewaltſamen Kampfes des Einzelnen mit der Ordnung der Ge-
ſammtheit darbieten. Das Recht des Verbrechens und Vergehens gegen
die Sicherheit des öffentlichen Rechts findet daher ſeinen Platz im
Strafrecht; allein das Recht der, ſolche Verbrechen materiell ermög-
lichenden, an ſich erlaubten Handlungen kann nicht im Strafrecht Platz
finden, wo nicht die Begriffe von Verſuch und Hülfe angewendet werden
können. Das letztere Recht iſt daher ein Theil des Polizeirechts, und
erſcheint ſomit als dasjenige, was wir ſpeziell das Recht der höhe-
ren Sicherheitspolizei zu nennen haben.
Der Unterſchied beider Rechtsgebiete an ſich iſt nun wohl einleuch-
tend, eben ſo wie ihr Objekt. Das Objekt des Strafrechts bei Bedro-
hung der öffentlichen Rechtsordnung iſt eine durch das Strafgeſetz ver-
botene Handlung, das Objekt der Sicherheitspolizei dagegen ſtets eine
erlaubte. Die Aufgabe des erſteren iſt es, den Thäter der gericht-
lichen Beſtrafung zu überliefern; die Aufgabe der zweiten dagegen, die
Einzelnen an der Begehung von Handlungen zu hindern, welche be-
ſtraft werden müßten. Das Organ, welches funktionirt, iſt allerdings
[95] regelmäßig daſſelbe; die Polizei wird ſowohl den wirklichen Tumultuanten
feſtnehmen und vor Gericht bringen, als ſie den zum Tumult Herbeieilenden
durch Abſperrung der Straße von der Theilnahme am Auflauf zurückhält.
Allein das Recht beider Funktionen iſt wie die Funktionen ſelbſt, ein
ſehr verſchiedenes. Denn es kann nicht zweifelhaft ſein, daß das Organ
im erſten Falle als gerichtliche, im zweiten als eine Sicherheitspolizei
funktionirt. Und es ergibt ſich daraus, daß es ſich hier auch nicht mehr
um eine einfache, ſondern vielmehr um eine doppelte Rechtsbildung
handelt, deren Charakter, denken wir, nunmehr feſtgeſtellt werden kann.
Die Rechtsbildung für die gerichtliche höhere Sicherheitspolizei und
die Verbrechen, die dahin gehören, liegt im Gebiete des Strafrechts
und des Strafproceſſes. Es iſt einer der weſentlichen Unterſchiede des
gegenwärtigen Strafrechts von dem früheren, daß jetzt die Gränze für
dasjenige genau feſtgeſtellt iſt, was als Verbrechen gegen das öffentliche
Recht gilt. Die Aufgabe dabei war nicht bloß, die Strafe überhaupt
zu fixiren, ſondern durch die Beſtimmungen des Strafrechts ſie der
Polizei zu entziehen und den Gerichten zu übergeben, um die ſtaats-
bürgerliche Freiheit gerade in dieſem Gebiete gegen polizeiliche Willkür
ſicher zu ſtellen. Allein es war klar, daß mit dem Strafrecht und
Strafproceß hier nicht ausgereicht werden konnte. Es mußte ſtets dem
eigentlich polizeilichen Verfahren ein weſentliches Maß von Berechtigung
eingeräumt bleiben. Und an dieſe Nothwendigkeit ſchloß ſich nun der
zweite Theil der obigen Rechtsbildung. Dieſer enthält nämlich den
großen, in allen civiliſirten Nationen ziemlich ſyſtematiſch durchgeführ-
ten Verſuch, nunmehr auch das eigentlich ſicherheitspolizeiliche Verfah-
ren neben dem ſtrafrechtlichen durch beſtimmte Geſetze zu ordnen, die
ſtaatsbürgerliche Freiheit und namentlich die Formen der Kundgebung
öffentlicher Anſichten, die im Gegenſatz zum geltenden öffentlichen Recht
ſtehen, vor polizeilicher Willkür ſicher zu ſtellen, und damit dasjenige zu
bilden, was wir das verfaſſungsmäßige Sicherheitspolizei-
recht zu nennen haben. Wir denken, daß dieſer Begriff nunmehr
wohl klar ſein wird. Die Sache ſelbſt iſt natürlich lange bekannt;
das, worauf es hier zunächſt ankam, war, ſie wiſſenſchaftlich zu formu-
liren, und ihr ihre ſyſtematiſche Stellung zu geben. Dieſe kann ſie
im Strafrecht nicht finden, und das iſt wohl der Grund, weßhalb ſie
bisher nie ſyſtematiſch behandelt worden iſt. Es iſt nicht möglich, ſich
dieß ſo wichtige Gebiet anders als in der Form der Sicherheitspolizei
und ihres Rechts zu denken, unter beſtimmter theoretiſcher Scheidung
von der gerichtlichen Polizei, und zugleich als eine ſelbſtändige, eine
eigene hiſtoriſche Entwicklung darbietende, wichtige Erſcheinung unſers
öffentlichen Rechtslebens.
[96]
Indem wir nun auch hier, wie in den übrigen Gebieten des
Verwaltungsrechts, das tiefere Eingehen in die einzelnen namentlich
juriſtiſchen Fragen den berufenen Fachmännern überlaſſen müſſen, iſt
es doch nicht überflüſſig, den Charakter der hiſtoriſchen Entwicklung
dieſes ſpeziellen Sicherheitspolizeirechts ſchon hier feſtzuſtellen, der
wohl eben ſo leicht zu verſtehen als zu bezeichnen ſein dürfte.
Dieſe Rechtsbildung geht nun auch hier auf der allgemeinen Grund-
lage ihrer beiden Elemente vor ſich, des allgemeinen Princips und der
einzelnen Rechtsſätze.
Die Vorausſetzung jeder juriſtiſchen Behandlung iſt hier offenbar
die Scheidung zwiſchen dem Element des Straf- und des Polizeirechts,
und mithin zwiſchen der gerichtlichen und der Sicherheitspolizei, bei
welcher die offene Anerkennung der Nothwendigkeit der letztern, obwohl
ſie niemand formell zu läugnen wagt, doch auf große Schwierigkeit
ſtößt. Man darf ſich eben aus dem letzten Grunde nicht wundern,
daß man in dieſer Beziehung nicht weiter gekommen iſt, da jede ſolche
Anerkennung gar leicht als eine Negation des Rechts auf freie Ent-
wicklung der Verfaſſung aus den angeführten hiſtoriſchen Gründen er-
ſchien, und jeder ſich leicht für um ſo freiſinniger hielt, je rückſichts-
loſer er jede höhere Sicherheitspolizei verurtheilte. Daß daher England
darüber gar keine Literatur hat, wird uns nicht wundern. Aber auch
in Frankreich, wo doch die Polizei ſo thätig und mit einer ſo reichen
Literatur verſehen iſt, hat man nicht gewagt, die höhere Sicherheits-
polizei (haute police) ernſtlich zu behandeln, da man, gleichfalls aus
hiſtoriſchen und hinreichend bekannten Gründen, in derſelben ſtets das
Element der Reaktion gegen die Entwicklung einer freien Verfaſſung
ſah, und dieſelbe meiſtens geradezu mit der „geheimen“ oder rich-
tiger der Geſinnungspolizei verwechſelte, über deren Verurtheilung
wohl alle einig ſind. Die franzöſiſche Literatur hat ſich daher auf die
einzelnen Sicherheitspolizeigeſetze beſchränkt, ohne zu einem Princip zu
gelangen. Was Deutſchland betrifft, ſo iſt hier von jeher der Muth der
wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung ſtärker geweſen und hat daher auch die
höhere Sicherheitspolizei offene Anerkennung im Princip und offene
Bekämpfung ihrer Uebergriffe gefunden. Hier iſt der erſte wiſſen-
ſchaftliche Vertreter der freien Geſtaltung des Sicherheitspolizeirechts
Aretin in ſeinem Staatsrecht der conſt. Monarchie Bd. II, Abth. II,
deſſen letzte Arbeit (S. 177 ff. 194 bei dieſem Punkte beginnt die
Fortſetzung Rottecks nach dem Tode des ausgezeichneten Verfaſſers)
zu dem Trefflichſten gehört, was über die Polizei geſagt worden iſt.
[97] Ihm folgt Pölitz, (Staatswiſſenſchaft I. 502 und II. 361), die Frage
bereits im Princip ganz richtig behandelnd, ohne jedoch auf die einzelnen
Rechtsgebiete einzugehen, während die übrigen ſich mehr im Gebiete
allgemeiner Redensarten halten. Erſt ſeit 1848 iſt das Princip voll-
ſtändig anerkannt, aber der Mangel einer ſelbſtändigen Verwaltungs-
lehre ſchob das ganze Gebiet in die Strafproceßlehre, wo ſie z. B.
v. Sundelin in ſeiner fleißigen, aber ohne Beziehung zum Begriffe
der hohen Polizei gearbeiteten Schrift: „Die Habeas Corpus-Akte und
die Vorſchriften zum Schutz der Perſon in den deutſchen Strafgeſetz-
gebungen 1862“ zuſammenſtellte. — Was Mohl in ſeiner ſog. „Prä-
ventiv-Juſtiz“ will, iſt ihm wohl nie klar geworden. Abgeſehen von
der ſchüchternen Beſprechung der Hauptpunkte (§. 2—17) iſt es doch
wohl klar, daß das, was „Prävention“ iſt, eben keine „Juſtiz“ mehr
ſein kann, die ihrem Begriffe nach eben eine geſchehene That und für
dieſelbe eine poſitive Beſtrafung enthält. Er denkt ſich dabei offenbar
unklar die von uns oben bezeichnete gerichtlich-polizeiliche Funktion der
Verwaltungspolizei; aber hier kann man mit allgemeinen Sätzen eben
nicht weit kommen. Begriff und Ausdruck der Präventiv-Juſtiz ſind be-
zeichnend genug, aber eben für den überwundenen Standpunkt der erſten
Hälfte unſeres Jahrhunderts.
II. Die Grundlagen der hiſtoriſchen Rechtsbildung der höheren
Sicherheitspolizei.
Alle höhere Sicherheitspolizei hat eine Vorausſetzung, die wir
bereits angedeutet haben, und die es erklärt, weßhalb ſie erſt in der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zu einer ſelbſtändigen Rechtsbildung ge-
langen kann. So lange nämlich die Aenderung des beſtehenden öffent-
lichen Rechts grundſätzlich ausgeſchloſſen iſt, iſt auch jedes Beſtreben,
eine ſolche Reform herbeizuführen, an und für ſich ein öffentliches Ver-
brechen. Die Polizei hat hier daher nur die Funktion einer gerichtlichen
Polizei, welche jede Aeußerung eines ſolchen Beſtrebens ſofort als be-
reits geſchehenes Verbrechen einfach dem Gerichte zuweiſen muß. Erſt
da, wo die Verfaſſung ſelbſt ihre eigene Entwicklungsfähigkeit und
damit das Streben nach einer ſolchen Entwicklung als einen organiſchen
Theil des ſtaatsbürgerlichen Rechts anerkennt, ſcheidet ſich die Sicher-
heitspolizei von der gerichtlichen Polizei der Verbrechen gegen die öffent-
liche Rechtsordnung; und dieſer Proceß der Scheidung bietet dann
eben den Inhalt der Geſchichte ihrer Rechtsbildung.
Die letztere hängt daher auf das Engſte mit der ganzen öffentlichen
Rechtsentwicklung Europa’s zuſammen, oder iſt vielmehr ein eigener
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 7
[98] Theil derſelben. Auf dieſer Grundlage iſt ſie nicht ſchwer zu überſehen.
Sie beginnt mit der franzöſiſchen Revolution, und läßt uns einen
tiefen Blick in das Weſen derſelben, ſowie in die Geſammtzuſtände
der europäiſchen Völker thun, deren Recht durch die Folgen jener ge-
waltigen Bewegung ſo tiefe Umwälzungen erfahren hat.
Die Geſchichte der franzöſiſchen Revolution mit all ihren wunder-
baren Wechſelgeſtaltungen wäre gewiß unverſtändlich, und unverſtänd-
lich bliebe mit ihr das neue Recht der Sicherheitspolizei in Europa,
wenn jene einen einfachen Inhalt gehabt hätte. Allein in ihr waren
vielmehr drei große Elemente der Geſchichte thätig, und die Wechſel-
wirkung dieſer Elemente hat das wechſelnde Recht der Revolution ſelbſt er-
zeugt und ihre Hauptepochen definirt. Das erſte dieſer Elemente war die
vollſtändige Beſiegung der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung und ihres
Rechts. Das zweite war der Gegenſatz des freien Staatsbürgerthums
gegen die ſelbſtthätige und ſelbſtändige, perſönliche Staatsidee und ihre
öffentlich rechtliche Stellung. Das dritte war das, auf dem Gegenſatz
der Claſſen beruhende große ſociale Element. Wir haben dieſe Elemente
bereits in unſerer Geſchichte der ſocialen Bewegung Frankreichs ent-
wickelt. Wir bedürfen ihrer hier nur, um das Weſen und die Stel-
lung der Sicherheitspolizei in der neuen Rechtsordnung zu charakteriſiren.
So wie die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zur Herrſchaft gelangt,
bildet ſie ſich ihr eigenthümliches Recht, das wir unter dem Namen
des „conſtitutionellen Staatsrechts“ begreifen. Dabei iſt ſie von dem
Bewußtſein durchdrungen, daß ſie ſelbſt keine abgeſchloſſene und fertige
iſt, und daß daher eine ſtarre, für alle Zeit gültige Conſtitution ihr
nicht entſpricht. Sie fürchtet aber in dieſem Werden, dem von ihr
grundſätzlich anerkannten Recht auf Neugeſtaltung der Verfaſſung, zwei
Dinge zugleich. Einerſeits fürchtet ſie die perſönliche Staatsgewalt,
andererſcits den ſocialen Kampf. Sie erkennt faſt inſtinktiv, daß die
erſtere den Fortſchritt hemmen wird, und daß der zweite ihn überſtürzen
muß. Sie kann die Reform nicht entbehren um der erſteren willen,
um ſo weniger, als ſich die letzten Elemente der ſtändiſchen Ordnung
auf das Engſte mit ihr verbinden; ſie kann ſie nicht unbeſchränkt
zulaſſen um des zweiten willen, weil dann das Ende der Waffen-
kampf iſt. So muß ſie ein doppeltes Syſtem des öffentlichen Rechts
zulaſſen und ausbilden. Sie muß die nothwendigen Bedingungen der
Reformbewegung als über dem Willen der Regierung erhaben feſtſtellen,
und das kann nur dadurch geſchehen, daß ſie dieſelben unmittelbar in
die Verfaſſungsurkunde aufnimmt, als einen Theil des Grund-
geſetzes. Sie muß zugleich aber der Regierung ſelbſt die rechtliche Ge-
walt geben, gegen gewaltſame Störungen der beſtehenden Conſtitution
[99] aufzutreten. Damit aber die letztere dieſe ihre Gewalt nicht mißbrauche,
muß dieſelbe in zweifacher Weiſe beſchränkt werden. Zuerſt muß die
wirklich vorhandene Störung ein eigenes Verbrechen im Strafgeſetze
werden; dann muß auch da, wo ſtatt des Verbrechens eine Gefahr
vorliegt, das Verfahren gegen dieſe Gefährdung mit möglichſt genauen
Geſetzen umgeben werden. So beſchränkt die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaft die höhere Sicherheitspolizei in drei geſetzlichen Formen. Die
erſte beſteht in der Aufnahme des allgemeinen Princips der freien
öffentlichen Willensäußerungen in die Verfaſſung, welche hier mit dem
Princip des freien individuellen Rechts verbunden erſcheint. Das zweite
beſteht in den Beſtimmungen der neuen Strafgeſetzbücher. Das dritte
endlich enthält nun erſt das eigentliche Sicherheitspolizeirecht.
Aus dieſem Verhältniß erklärt ſich uns der hiſtoriſche Gang dieſer
Rechtsbildung. Natürlich kommt dabei ſtets die Aufnahme in die Ver-
faſſung in erſter Reihe. Frankreich hat den Ruhm, das Princip für
das Recht der höheren Sicherheitspolizei zuerſt zum Bewußtſein gebracht
und auch formulirt zu haben. Nur erſcheint daſſelbe hier rein negativ,
als Beſtimmung der rechtlichen Gränze für die Berechtigung der voll-
ziehenden Gewalt gegenüber der freien Bewegung des Staatsbürger-
thums. Die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“
vom 26. Aug. 1789, welche der Constitution vom 3. Sept. 1791 vorauf-
geht, iſt im Grunde der erſte große Ausdruck des Princips der Selbſtbe-
ſtimmung der Völker oder ihrer Verfaſſung — „le principe de toute sou-
veraineté réside essentiellement dans la nation.“ (Art. 3.) Alle folgen-
den Artikel enthalten die Beſtimmungen über die Gränze der höheren, durch
die Regierung ausgeübten Sicherheitspolizei gegenüber der Entwicklung
der Verfaſſung durch eben dieſen Volkswillen. Die déclaration des
droits iſt in der That das erſte große Sicherheitspolizeirecht des
Continents. Alle nachfolgenden Geſetze, ja alle nachfolgenden Ver-
faſſungen und Theorien ſind nichts anderes, als die weitere Entwicklung
der in dieſer Declaration aufgeſtellten Principien des Polizeirechts
der Verfaſſungsänderungen. Es mag uns, da man das vielfach
gänzlich vergeſſen hat, verſtattet ſein, darauf hier wieder hinzuweiſen.
Um dieß Verhältniß klar zu machen, ſetzen wir einfach das Wort
„Polizei“ an die Stelle des unbeſtimmten Fürwortes „nul,“ und die
Sache liegt auf der Hand. Art. 5: Keine Polizei (nul) kann verbieten,
was das Geſetz nicht verbietet. Art. 7: Die Polizei kann niemanden ver-
haften, wenn das Geſetz (la volonté générale) es nicht vorſchreibt.
Art. 8: Die Polizei kann keine als die vom Geſetze vorgeſchriebene Strafe
anwenden. Art. 9: Jede polizeiliche Verhaftung einer Perſon, die
nicht geſetzlich berechtigt iſt, ſoll vom Geſetze ſtrenge beſtraft werden.
[100] Art. 10: Die Polizei darf niemanden in ſeinen religiöſen Anſichten
ſtören, wenn dieſelben nicht die öffentliche Ordnung bedrohen. Art. 11:
Die Sicherheitspolizei kann in dem Verkehr der Gedanken nur da ein-
greifen, wo das Geſetz es im beſtimmten Falle ausgeſprochen hat.
Endlich gar ſchon das Princip der polizeilichen Verantwortlichkeit im
Art. 15: „Die Gemeinſchaft (la société) hat das Recht, von jedem
Organe (agent) ſeiner Verwaltung Rechenſchaft zu fordern.“ Und um
dem Bewußtſein von demjenigen, wovon es ſich hier handelt, den
klarſten Ausdruck zu geben, ſagt Art. 12: „Die Sicherheit der öffent-
lichen Rechte (la garantie des droits de l’homme et du citoyen) er-
fordert eine öffentliche Gewalt (eine Sicherheitspolizei — „une force
publique“), dieſe öffentliche Gewalt iſt alſo eingeſetzt zum Vortheil
aller, und nicht zum Vortheil derer, denen ſie anvertraut iſt.“ — So
iſt hier das Syſtem des verfaſſungsmäßigen Polizeirechts beinahe voll-
ſtändig formulirt. Die Scheidung zwiſchen dem Staatsbürger und der
vollziehenden Gewalt, die Anerkennung der letzteren und ihrer ſelbſt-
beſtimmten Thätigkeit, und endlich das große Princip der Begränzung
der letzteren durch das Geſetz liegen hier klar vor. Dasjenige nämlich,
wodurch jene déclaration des droits ihre Zeit ſo gewaltig ergriff, jene
ſo oft mißverſtandene Idee der souveraineté de la nation (noch nicht
die du peuple) iſt in der That nur Ein Moment in der Bedeutung
der neuen bill of rights; ſie iſt zunächſt nichts als das große Princip,
daß das Geſetz das höchſte Recht bilde. Das zweite Moment derſelben
beſteht dagegen darin, daß ſich dieſem Geſetze die Verordnungsgewalt,
und namentlich die der Sicherheitspolizei, die ihrer Natur nach am
unbeſtimmteſten iſt, zu unterwerfen habe. Mit dieſem Princip gab
ſie den Völkern neben der Idee der Verfaſſung zugleich, wenn auch
nur noch in ziemlich enger Beſchränkung eben auf die Sicherheitspolizei,
die große Grundlage alles verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts, die
Unterordnung der Exekution unter die Legislative, und die Baſis der
perſönlichen Freiheit in der Gültigkeit des Geſetzes gegenüber der (Polizei-)
Verordnung. Das war es, deſſen die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft be-
durfte, um aus der ſtrengen und willkürlichen polizeilichen in die ſtaats-
bürgerliche Verwaltung überzugehen, und der Jubel, mit dem man
dieſe Erklärung der Menſchenrechte begrüßte, bedeutete eben ſo ſehr
eine neue Epoche des Verwaltungs- und namentlich des Polizeirechts
als der Verfaſſung. Und wenn man das erſtere mehr fühlte als begriff,
und darum viel ſchneller zu dem zweiten gelangte, das jedermann ver-
ſtändlich war, ſo lag das einfach darin, daß eben eine Verfaſſung weit
leichter herzuſtellen iſt, als eine Verwaltung. Indeß blieb das gewon-
nen, daß dieſe großen Principien, wenn auch nur erſt in Beziehung
[101] auf die Sicherheitspolizei, als Grundlagen der Rechtsbildung von da an
feſtgehalten werden. Und es muß dabei nicht überſehen werden, daß
es ſich hier eben noch nicht um die Verwaltungspolizei, ſondern nur
um die höhere Sicherheitspolizei handelt. Von hohem Intereſſe aber
iſt es nun, zu ſehen, wie ſchrittweiſe mit dem Wiedererſtehen der ſelb-
ſtändigen Regierungsgewalt jene elementaren Grundſätze jetzt in den
Verfaſſungen, zuerſt in Frankreich und ſpäter auf dem übrigen Con-
tinent, langſam aber unverkennbar abgeſchwächt werden. Das ſpecifiſche
Merkmal dieſer Abſchwächung beſteht darin, daß die ſpäteren Verfaſ-
ſungen den Begriff und das organiſche Weſen des Geſetzes weglaſſen,
die höhere Sicherheitspolizei, namentlich das Verſammlungs- und Ver-
einsrecht, in den Verfaſſungsurkunden ſtillſchweigend übergehen, und
ſich meiſtens darauf beſchränken, nur noch dasjenige beizuhalten, was
die verfaſſungsmäßige Beſchränkung der Einzelpolizei, Verhaftungs-,
Haus- und Briefrecht betrifft. Schon die erſte franzöſiſche Constitution
vom 3. Sept. 1791, indem ſie den Titre premier als Approbation
des principes de la déclaration des droits formell anerkennt, und
alle obigen Punkte aufnimmt, kommt zu dem bedeutſamen Princip des
Vereins- und Verſammlungsrechts: „La liberté aux citoyens de s’as-
sembler paisiblement et sans armes, en satisfaisant aux lois de
police.“ Da ſteht bereits das „Geſetz der Polizei“ neben der Ver-
faſſung. Es iſt eine zweite Geſetzgebung neben der erſten, mit gleicher
Berechtigung, mit gleicher Beſtimmung; es iſt ein zweites Element in
die liberté des citoyens hingekommen. Es iſt klar, daß man ſich
über jene zweite Gewalt eben nicht klar iſt; man erkennt ihre Noth-
wendigkeit, aber noch nicht ihre Gränzen; und dieſe zweite Gewalt iſt
eben die Polizei. Sie iſt da; ihre freie, ſelbſtändige Bewegung iſt
ſchon jetzt als Bedingung der organiſchen Entwicklung betrachtet, und
es kommt nun darauf an, dieſe Bewegung der Polizei auch ihrerſeits
mit Geſetzen zu umgeben, um das ſtaatsbürgerliche Recht des Einzel-
nen zu wahren. Die Verfaſſung von 1793 iſt in dieſer Beziehung
höchſt bezeichnend; ſie ſetzt die ſtrengſten Strafen ein für jedes öffent-
liche Organ, das in die Freiheit der Einzelnen ungeſetzlich eingreift
(Déclar. des droits in der neuen Redaktion als Einleitung in die
Constitution (Art. 11, 12); aber der Art. 55 ſcheidet bereits die Décrets
von den Lois, und überweist den décrets des Corps législatif unter
anderem auch „les mesures de sûreté et tranquillité générale;“ die
Quelle des Verordnungsrechts iſt damit formell neben derjenigen der
Geſetze gleichberechtigt anerkannt, und ſeine Geſchichte zeigt uns, in welch’
furchtbarer Weiſe dieſe höhere Sicherheitspolizei — denn es war nichts
anderes, warum es ſich handelte — ausgeübt ward. Die déclaration
[102] des droits vor der Conſtitution von 1795 lautet ſchon ganz anders.
Hier iſt nur die „rigueur qui ne serait pas nécessaire“ bei Verhaftung
u. ſ. w. ſtreng verboten (Art. 10); von einem Verſammlungsrecht iſt
keine Rede mehr; es erſcheint nur noch in den Assemblées primaires,
den Urverſammlungen (T. III.) Die Conſtitution von 1799 hat nun faſt
das Ganze weggelaſſen, und von da erſcheint die höhere Sicherheits-
polizei gar nicht mehr in den Verfaſſungen, ſondern nur noch als
Beſtimmung über das Recht der Einzelpolizei. Dieſe aber bildet von
da an einen integrirenden Beſtandtheil aller, aus den franzöſiſchen
Verfaſſungen unmittelbar hervorgehenden Verfaſſungen des Continents,
während namentlich in den deutſchen Verfaſſungen auch dieſe nur zum
Theil aufgenommen ſind. Von einem Recht der freien öffentlichen
Verſammlungen und von einem Klagrecht gegen die Polizeiorgane
dagegen, den beiden Elementen des verfaſſungsmäßigen Rechts der
höheren Sicherheitspolizei, iſt bei denſelben keine Rede. Erſt nach
1848 tritt von dieſen beiden Rechten das erſtere in den Verfaſſungen
wieder auf, wenn auch nur ſchüchtern und ohne zur allgemeinen An-
erkennung zu gelangen. Dagegen iſt allerdings der Fortſchritt auf
dem zweiten und dritten Gebiet, das den obigen Mangel weſentlich
erſetzt, nicht zu verkennen. Derſelbe beſteht einerſeits in der Aufnahme
der Verletzungen der öffentlichen Rechtsordnung in die Strafgeſetz-
bücher, bei denen wieder der Code Pénal vorangeht, und zwar nicht
bloß für die Verwaltungsvergehen (Art. 471), ſondern auch für die
Verbrechen gegen die beſtehende Rechtsordnung, wodurch die Funktion
der Sicherheitspolizei auf die Ueberweiſung der Thäter an die Gerichte
beſchränkt, und ſtatt der polizeilichen Willkür eine feſte geſetzliche Strafe
und ein gerichtliches Verfahren aufgeſtellt wird, ein Verhältniß, was
früher nicht ſtattfand, wo gegen die Feinde der beſtehenden Rechts-
ordnung ohne Urtheil und Recht polizeilich verfahren wurde. Anderer-
ſeits aber entſteht in Frankreich an der Stelle jener allgemeinen Prin-
cipien für das Recht der höheren Sicherheitspolizei eine Reihe von
Geſetzen für die einzelnen Akte derſelben, welche ihrerſeits die bür-
gerliche Freiheit zum Theil weit beſſer ſchützen, als jene abſtrakten
Grundſätze der déclaration des droits. Dieſe Bewegung geht nun von
Frankreich über auf Belgien, Holland und die deutſchen Staaten. Allein
auch bei den letztern iſt dieß Streben nach ſtaatsbürgerlicher Verfaſſung
und Freiheit in der ganzen erſten Hälfte unſers Jahrhunderts noch ein
ſehr abſtraktes, und bewegt ſich faſt ausſchließlich auf dem Boden der
Frage nach der Volksvertretung und ihrer Steuerbewilligung, während
die Fragen der Verwaltung und ſpeziell das Recht der höheren Sicher-
heitspolizei faſt gar nicht berührt werden. Vereine und Verſammlungen,
[103] in Belgien und Holland erlaubt, bleiben in Deutſchland einfach ver-
boten, über das Einſchreiten bei Tumult exiſtiren ſtatt der Geſetze
faſt nur Verordnungen, die von den „Ständen“ gar nicht berathen.
ſondern als Domaine der Regierungsgewalt betrachtet werden; ein Be-
ſchwerderecht wird zwar im Princip anerkannt, aber ein öffentlich recht-
liches Verfahren in demſelben gibt es überhaupt nicht, und die ſtaats-
rechtliche Literatur, erſchöpft in reinen Verfaſſungsfragen, gelangt auch
ihrerſeits bei völliger Unklarheit über das Weſen der höheren Sicher-
heitspolizei nicht zu einer Unterſuchung über das Recht derſelben. Deutſch-
land iſt daher bis 1848 nicht bloß in der Einzelpolizei, ſondern auch
in der höheren Sicherheitspolizei weit hinter England, Belgien, Holland
und ſelbſt Frankreich zurück.
Allerdings beginnt nun mit 1848 eine neue Zeit. Allein man
hat ſie auch in dieſer Beziehung mannigfach überſchätzt. Die Verfaſ-
ſungen haben ſich auch ſeit der deutſchen Reichsverfaſſung zwar viel mit
dem Recht der Einzelpolizei, aber wenig mit dem der höheren Polizei
beſchäftigt. Ein Princip iſt auch in der neuen Literatur nicht ent-
ſtanden. Der Charakter deſſen, was hier geſchehen iſt, beſteht vielmehr
wieder nach franzöſiſchem Muſter darin, daß man ein geſetzliches Syſtem
des Polizeiſtrafrechts anerkannt, und zweitens, daß man für die ein-
zelnen Akte der höheren Sicherheitspolizei einzelne Geſetze, und auch
dieſe nicht allenthalben, erlaſſen hat. Es iſt aber dennoch kaum zwei-
felhaft, daß hier die Geſetzgebung weiter iſt, als die Wiſſenſchaft.
Deutſchland will einmal vorher ſyſtematiſch wiſſen, was es geſetzlich
zur Gültigkeit bringen ſoll. In keinem Lande iſt die Literatur für die
Rechtsbildung ſo bedeutend als hier. Gut oder übel, wir gehen von
dieſer Thatſache aus. So wenig wir auch hier hoffen dürfen, bei dem
geringen Maß von Kenntniß des geltenden Rechts, das uns bis jetzt
zu Gebote ſteht, hier irgend einen Punkt endgültig zu erledigen, ſo hat
doch das Folgende vielleicht den Werth, in einer, wie wir glauben,
entſcheidenden Epoche für dieſen Theil des öffentlichen Rechts den Anlaß
zur Bildung einer ſyſtematiſchen Auffaſſung des Ganzen darzubieten.
III. Das Syſtem und Princip des Rechts der höheren Sicherheitspolizei.
Es geht aus der obigen Darſtellung hervor, daß das geltende Recht
jener großen Aufgabe, welche wir als die höhere Sicherheitspolizei bezeich-
net haben, ſich nicht ſo ſehr in einer ſyſtematiſchen Einheit, als vielmehr in
ihren einzelnen Funktionen und ſtückweiſe gebildet hat. Es hat daher
einen Werth, eben jene Einheit hier als Grundlage dieſer Theile und
ihres Rechts voranzuſtellen.
[104]
Das Syſtem der höheren Sicherheitspolizei iſt natürlich das Syſtem
der einzelnen Thätigkeiten der Polizei, mit welchen ſie den Bewegungen
entgegentritt, die die beſtehende Rechtsordnung gefährden. So viele
Grundformen die letzteren zeigen, ſo viele Abtheilungen muß daher auch
das Syſtem dieſer Polizei haben. Jene Grundformen nun haben ſich
allmählig in ſehr beſtimmter Weiſe ausgebildet, und ihre Namen
und Begriffe im öffentlichen Rechtsſyſteme empfangen. Sie ſind die
Verbindung, die öffentliche Verſammlung, die Volksbewe-
gung, und endlich der Zuſtand allgemeinſter Bedrohung der öffentlichen
Rechtsordnung, die zum Belagerungszuſtande führt. In dieſen
vier Formen iſt die Bedrohung der letzteren wohl erſchöpft.
An dieß formelle Syſtem ſchließt ſich nun das des Rechts, wel-
ches die höhere Polizei dieſen Gefährdungen gegenüber beſitzt. Und
hier nun wird die Darlegung dieſes Syſtems auf demjenigen fußen,
was wir theils über den Unterſchied der gerichtlichen und der Verwal-
tungspolizei, theils über die Geſchichte des Polizeirechts ausgeführt
haben.
Es iſt nämlich dargelegt, wie die Nothwendigkeit, die höhere Sicher-
heitspolizei beizubehalten, und anderſeits die Forderung, das Recht der
Staatsbürger ihnen gegenüber zu ſchützen, dahin geführt haben, die
Verletzungen und ſelbſt ſchon die ernſtlichen Bedrohungen der öffent-
lichen Rechtsordnung durch die Beſtrebungen, welche ſich darauf richten,
zu ſelbſtändigen, mit beſtimmten Thatbeſtänden bezeichneten, und mit
beſtimmten Strafen belegten Verbrechen zu machen. Das nun hat
die ganze Stellung und das Recht der Polizei hier weſentlich geändert.
Bis zur Aufſtellung der neuen Strafgeſetzbücher nämlich war die Polizei
allein berechtigt, hier einzugreifen, und die Strafen, ſowie das Ver-
fahren gegen die Störer der öffentlichen Rechtsordnung fielen der Polizei
anheim. Dieſe Vollgewalt der Polizei, die hier demnach allein nach
ihrem eigenen Ermeſſen handelte, war für alle Beſtrebungen, welche
auf einen Fortſchritt in den beſtehenden Rechtsverhältniſſen gerichtet
waren, eine ſehr ernſthafte Sache. Das Aufſtellen eines beſtimmten
Strafſyſtems hatte daher den großen Werth, die Linie zu bezeichnen,
bei der die rechtliche Strafbarkeit ſolcher Beſtrebungen anfing, und es
der Polizei unmöglich zu machen, einſeitig ſolche Bewegungen durch ihr
Strafverfahren unmöglich zu machen. Dann aber ſchied dieß Strafſyſtem
nun auch innerhalb der höheren Sicherheitspolizei die gerichtliche von der
polizeilichen Funktion, und gab damit beiden Funktionen ihr Recht.
Von jetzt an nämlich hatte die Polizei da, wo in Verbindung, Ver-
ſammlung und Tumult ein nach dem Strafrecht zu verfolgendes Ver-
brechen vorlag, nur noch das Recht und natürlich auch die Pflicht,
[105] einerſeits durch ihre Maßregeln die Fortſetzung des Verbrechens zu
hindern, anderſeits aber die Thäter zwar zu ergreifen, aber dieſelben
auch ſofort nach den bei der Einzelpolizei geltenden Grundſätzen (ſ. unten)
den Gerichten zu überliefern. Alles weitere Verfahren ging ſie nichts
an; von einer rein polizeilichen, einſeitig durch die Verordnungsgewalt
ausgeſprochenen Beſtrafung war keine Rede mehr. In ſo weit war
ſie alſo zur rein gerichtlichen Polizei geworden, und alle Grundſätze
des, früher bereits dargeſtellten allgemeinen gerichtlichen Polizeirechts
waren auf ſie anwendbar. Das, was früher die Polizei geleiſtet, be-
ſchränkte ſich daher jetzt auf die Anwendung der Grundſätze der reinen
Sicherheitspolizei. Sowie dieſe Unterſcheidung feſtſtand, mußte nun die
Frage entſtehen, ob nicht auch dieſe rein ſicherheitspolizeiliche Funktion
der Polizei, ſtatt ihrem Ermeſſen überlaſſen zu bleiben, nicht viel-
mehr gleichfalls beſtimmten, die individuelle Freiheit ſchützenden Rechts-
formen unterworfen werden ſolle. Das Princip des neuen Staats-
bürgerthums ließ dieß als eine nicht bloß berechtigte, ſondern als eine
ganz natürliche Forderung erſcheinen; und ſo entſtanden die Geſetze
über Verbindungen, Verſammlungen, Tumulte und Belagerungszuſtand.
Der urſprüngliche Gedanke dieſer Geſetze war nur der, ein geſetzliches
Recht für die Funktion der Sicherheitspolizei in jenen Fällen
zu ſchaffen, während die gerichtliche Funktion der letzteren als ſelbſtver-
ſtändlich vorausgeſetzt, und die gerichtliche Strafe im Strafgeſetzbuche
beſtimmt war. Da jedoch in einigen Strafgeſetzbüchern dieß Strafrecht
entweder gar nicht oder nicht vollſtändig enthalten war, ſo geſchah es,
daß die Specialgeſetzgebung für jene Fälle vielfach neben dem rein poli-
zeilichen Recht auch Elemente des eigentlichen Strafrechts mit enthielt.
Das nun war der Grund, weßhalb man ſich, namentlich da auch ein
klarer Begriff der ſelbſtändigen höheren Sicherheitspolizei fehlte, über
die eigentliche Stellung dieſer Geſetze ſo wenig einig ward, als über
die, welche die Einzelpolizei betrafen. Dennoch kann wohl über die
Sache ſelbſt kaum ein Zweifel ſein. Das, was hin und wieder in
jenen Geſetzen ſtrafrechtliche Beſtimmungen enthielt, muß als einfache
Erweiterung des geltenden Strafrechts angeſehen werden, und gehört
dem Polizeirechte mithin überhaupt nicht an. Nimmt man dieß hin-
weg, ſo folgt, daß alle übrigen Vorſchriften nur das Recht des Polizei-
verfahrens in den Fällen der höheren Sicherheitspolizei enthalten.
Dieſes Recht hört auf in dem Augenblick, wo ſtatt einer bloßen Ge-
fährdung ſchon ein wirkliches Verbrechen, ſtrafbar nach dem Straf-
geſetz, vorliegt. So wie dieß der Fall iſt, wie wenn eine verbotene
und ſtrafbare Verbindung wirklich vorhanden iſt u. ſ. w., hat die höhere
Sicherheitspolizei dieß Verbrechen nur zu entdecken, ſeine Fortſetzung
[106] zu hindern und die Thäter dem Gericht zu überliefern; ſo lange es
nicht geſchehen iſt, geht das Recht der höheren Sicherheitspolizei nur
gegen die Gefahr, daß ein ſolches Verbrechen überhaupt geſchehen könne.
Natürlich ſind nun dabei die Funktionen der gerichtlichen und der Sicher-
heitspolizei materiell ſo eng verſchmolzen, daß, da beide ein ſehr ver-
ſchiedenes Recht haben, die Aufſtellung einer principiellen Gränze von
entſcheidender Bedeutung wird. Dieſe nun glauben wir im folgenden
Satze aufſtellen zu können. Die Aufgabe und das Recht der gericht-
lichen Funktion der höheren Sicherheitspolizei tritt ein, ſobald die letztere
als eine Freiheitsbeſchränkung eines einzelnen Indivi-
duums auftreten muß, was natürlich namentlich bei Verhaftung der Fall
iſt. Hier hat die höhere Sicherheitspolizei ſofort, ſowie ſie in die Rechts-
ſphäre eines einzelnen, ſpeziell beſtimmten Individuums für die Zwecke
der allgemeinen Polizei eingreift, die Regeln der gerichtlichen Polizei zu
befolgen, und ſteht in Beziehung auf ihre einzelnen Aktionen unter dem
Grundſatze der Verantwortlichkeit des allgemeinen Polizeirechtes, ganz
gleichgültig, welcher von den vier Fällen vorliegt. Sie kann eben deß-
halb nie ſtrafen, ſondern nur die Beſtrafung und Verfolgung gegen
dieß Individuum ſichern, und das Moment der höheren Sicherheits-
polizei liegt eben darum nur darin, daß überhaupt durch die gerichtliche
Beſtrafung der Einzelnen die Verbrechen gegen die Rechtsordnung ge-
hindert werden. — So lange es ſich dagegen nicht um den Einzelnen
und mithin um die von ihm bereits nach dem Strafgeſetz ſtrafbare
Handlung und ihre Verfolgung handelt, ſondern bloß noch um die Gefahr,
daß durch ſolche Bewegung in den oben bezeichneten vier Formen die
öffentliche Rechtsordnung geſtört werde, tritt die reine Sicherheitspolizei
ein, und zwar iſt das Princip ihres Rechts in allen dieſen Fällen ein-
fach das, daß ſie berechtigt iſt, alle ihr geſetzlich zu Gebote ſtehen-
den Mittel ohne Rückſicht auf die Rechtsverletzung Einzelner zur
Beſeitigung ſolcher Gefährdung anzuwenden. Man kann daher vielleicht
am kürzeſten und beſten ſagen: das reine Recht der höheren Sicherheits-
polizei gilt ſo weit, als die Funktion der Polizei es nicht mit beſtimm-
ten Individuen zu thun hat; das Recht der gerichtlichen Polizei beginnt
auf dem Punkte, wo jene Funktion ſich gegen das einzelne beſtimmte
Individuum wendet. Und dieſe Scheidung muß daher dieſem Theile
des Polizeirechts zum Grunde gelegt werden.
Demgemäß werden wir es nun verſuchen, die vier einzelnen Fälle
und ihr rein polizeiliches Recht zu charakteriſiren. Jeder derſelben hat
wieder ſein eigenes Recht, und es iſt eine Aufgabe der Wiſſenſchaft
des Polizeirechts, daſſelbe mit den Grundſätzen des allgemeinen Polizei-
rechts in organiſche Verbindung zu bringen.
[107]
IV. Das geltende Recht.
1) Die Polizei der Verbindungen und geheimen Geſellſchaften.
Der Wechſel der Geſetzgebung wie die Unbeſtimmtheit der theoreti-
ſchen Begriffe macht es nothwendig, der Darſtellung der Verbindungs-
und Geſellſchaftspolizei eine möglichſt ſcharfe Beſtimmung der Begriffe
vorauszuſenden, die um ſo nothwendiger iſt, als das Vereinsweſen
überhaupt noch keine rechte Stelle weder in der Rechts noch in der
Staatswiſſenſchaft gefunden hat, und jede Jurisprudenz des Vereins-
weſens ſich doch zuletzt an ſolche feſte Kategorien anſchließen muß. Wir
können dieß jetzt leichter verſuchen, als wir in der vollziehenden Ge-
walt das eigentliche Vereinsweſen in ſeiner verwaltungsrechtlichen Be-
deutung bereits bezeichnet haben.
Die Grundlage des ganzen Rechtsſyſtems muß die Unterſcheidung
von Verbindungen und Vereinen bleiben. Die Verbindung iſt
jede Vereinigung, deren Zweck die Aenderung der beſtehenden Rechts-
ordnung iſt. Ein Verein iſt dagegen jede organiſirte und dauernde
Vereinigung, deren Zweck die Vollbringung irgend einer Aufgabe der
Verwaltung iſt. Die Geſellſchaft endlich iſt diejenige Unterart der
Vereine, deren Zweck ein durch die organiſirte Gemeinſchaft der Kräfte
angeſtrebter Erwerb der Mitglieder iſt. Eine Genoſſenſchaft wird
man denjenigen Verein nennen, der, weil ſein Zweck ein adminiſtrativer,
aber die Erreichung deſſelben von der Vereinigung aller Betheiligten
abhängiger iſt, ſeine Organiſation durch geſetzliche Vorſchrift empfängt,
wie die Associations syndicales in Frankreich, die Handwerkergenoſſen-
ſchaften in Oeſterreich u. a. Dieß ſind die formellen Grundlagen. An
ſie ſchließt ſich zuerſt das allgemeine Rechtsprincip derſelben.
Da nämlich dieſe Vereinigungen in allen ihren Formen tief in
das Geſammtleben hineingreifen und eine öffentliche Macht ſind, ſo iſt
die erſte und unabweisbare Forderung an alle, daß ſie, ganz gleichgültig
gegen ihren Zweck, öffentlich ſein müſſen. Der Begriff der „Oeffent-
lichkeit“ hat eine doppelte rechtliche Bedeutung. Erſtlich ſollen ſolche
Vereinigungen, da ſie ſelbſt ein Theil des Organismus der vollziehen-
den Gewalt ſind, ihren ſpeziellen Organismus, in Statuten und Leitung,
den Organen der vollziehenden Gewalt mittheilen; zweitens ſollen ſie
ihre Thätigkeit in irgend einer Form der öffentlichen Kenntniß nicht
vorenthalten. Aus dieſen im Weſen aller Vereine liegenden Forderungen
geht nun das erſte Rechtsprincip für dieſelben hervor, das Recht der
Oeffentlichkeit.
Dieſes Rechtsprincip fand nun bis auf die neueſte Zeit ſeinen Aus-
druck weſentlich darin, daß jeder Verein entweder erſt erlaubt ſein, oder
[108] doch die Anzeige bei der Behörde machen mußte, die dann das Recht
hatte, ihn zu verbieten. Eine Pflicht zur Oeffentlichkeit gegenüber dem
Publikum exiſtirte nicht. Die neuere Zeit hat nun jenes Recht be-
ſtimmter dahin formulirt, daß, zunächſt abgeſehen von jedem ſpeziellen
Zweck der Vereine, die Geheimhaltung als ſolche zu einem ſtraf-
rechtlich zu verfolgenden Verbrechen geworden iſt. Damit iſt denn auch
die Aufgabe der Sicherheitspolizei wohl klar. Sie hat die Exiſtenz ge-
heimer Geſellſchaften, ohne Rückſicht auf ihren Zweck, zu entdecken, zu
conſtatiren und die Mitglieder den Gerichten zu überliefern. Ein weiteres,
eignes Polizeirecht gegenüber allen Arten von geheimen Geſellſchaften
gibt es nicht; das Uebrige gehört dem Strafverfahren und dem Straf-
gericht. Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß wenn außer dem in der
Geheimhaltung an ſich liegenden Verbrechen auch noch der Zweck ein
verbrecheriſcher iſt (z. B. Hochverrath ꝛc.), die Strafe auch noch nach
den ſtrafrechtlichen Grundſätzen über Verſuch und Beihülfe ꝛc. geregelt
wird. Allein der Zweck hat auf das Recht der Sicherheitspolizei gar keinen
Einfluß; der allergefährlichſte Zweck gibt ihr nicht mehr Recht, als ſelbſt
der erlaubte, wenn derſelbe auch die Thätigkeit anſpornen mag. Der
geheimen Geſellſchaft gegen über iſt die Polizei mithin rein gericht-
liche Polizei, ſei es, daß ſie auf Befehl des Gerichts, oder nach
eigenem Ermeſſen vorgeht.
II. Weſentlich anders geſtaltet ſich die Sache da, wo es ſich um
den eigentlichen Verein handelt, der der Forderung der Oeffent-
lichkeit Genüge geleiſtet hat, und ſeinen Statuten gemäß funktionirt.
Hier ſind zunächſt, wie geſagt, Vereine, Erwerbsgeſellſchaften und Ge-
noſſenſchaften zu unterſcheiden. Das Princip für das Recht der Ver-
waltungspolizei iſt dabei einfach. In ſo weit nämlich dieſe Körper,
wie es bei den eigentlichen Vereinen und Genoſſenſchaften immer, bei
den Erwerbsgeſellſchaften in vielen Fällen (Banken, Bahnen u. ſ. w.)
der Fall iſt, Aufgaben der Verwaltung vollziehen, tritt für ſie das all-
gemeine Recht ein, nach welchem die vollziehende Gewalt im Namen
ihrer Verantwortlichkeit die Harmonie der einzelnen Thätigkeit mit dem
Ganzen der Verwaltung herſtellen muß. Die Ausübung dieſes Rechts
gegenüber den Selbſtverwaltungskörpern und den Vereinen haben wir
die Oberaufſicht genannt. Das Recht der Oberaufſicht beſteht darin,
von jedem Akte eines ſolchen öffentlichen Vereins Kenntniß zu nehmen,
und ſpeziell einzelne Akte im Geſammtintereſſe der Verwaltung zu ver-
bieten. Die Verwaltungsorgane werden nun dieß Recht regelmäßig durch
eigens dazu beſtimmte Beamte (Commiſſäre) ausüben. Sie können es
aber auch ausüben laſſen durch die Organe der Sicherheitspolizei. In
dieſem Falle muß eine beſtimmte Delegation vorausgeſetzt werden, und
[109] das delegirte Sicherheitspolizeiorgan iſt alsdann nichts anderes, als jener
Commiſſär. Es exiſtirt auch hier kein beſonderes Recht der Sicherheits-
polizei, ſondern dieß ganze Recht iſt nichts als eine beſondere Ausübung
der Oberaufſicht. Dieß ſcheint keiner Erläuterung zu bedürfen.
III. Was nun endlich die Verbindungen betrifft, deren Zweck es
iſt, durch die Vereinigung ihrer Mitglieder einen Einfluß auf die öffent-
liche Rechtsordnung auszuüben, ſo iſt das Polizeirecht gleichfalls ein un-
gemein einfaches; nur muß man gerade hier den hiſtoriſchen Geſichts-
punkt feſthalten, der allein dieß ganze Rechtsgebiet aufklärt.
Urſprünglich — ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert — ſind alle
Verbindungen verboten, da der Gedanke einer Aenderung des beſtehen-
den Rechts an und für ſich als ein Verbrechen erſchien. In der That
verfolgte man in den Verbindungen die Tendenz derſelben; es ergab
ſich daraus, daß nicht das Geheimniß als ſelbſtändiges Vergehen an-
erkannt ward, ſondern das Verbrechen beſtand in dem Zwecke an und
für ſich. Erſt mit dem Auftreten des conſtitutionellen Rechts entſteht
die Frage, ob jener Zweck ein an ſich erlaubter ſei, natürlich abgeſehen
von dem Mittel, deſſen ſich die Verbindung zur Erreichung dieſes Zweckes
bedienen wollte; denn daß dieſes Mittel für ſich betrachtet jede ſolche
Verbindung zu einem Verbrechen mache, wenn es die Anwendung von
Gewalt enthielt, war ja kein Zweifel. Da nun die Verfaſſungen meiſtens
ſelbſt die Möglichkeit ihrer Aenderung anerkennen, ſo konnte man den
Zweck, die Vorbereitung für eine nicht gewaltſame Aenderung der Ver-
faſſung, an ſich nicht verurtheilen. Da aber dennoch die öffentliche
Sicherheit bedroht erſchien, wenn Verbindungen mit der offen ausge-
ſprochenen Tendenz der Erzielung von Verfaſſungsänderungen entſtehen
dürften, ſo ſuchte man dem Bedürfniß jener öffentlichen Sicherheit in
anderer Form zu genügen, und ſo entſtand das, was man die zweite
Epoche des Polizeirechts der Verbindungen nennen kann. Dieſelbe be-
ſtand in dem Verſuche, das Entſtehen oder doch die Ausbreitung ſolcher
Verbindungen, die gerade durch die Oeffentlichkeit am mächtigſten zu
werden drohten, polizeilich zu hindern. Daraus gingen drei Syſteme
hervor. Das erſte, franzöſiſche Syſtem war das der Beſchränkung auf
eine geringe Anzahl von Mitgliedern bei an ſich erlaubten Verbin-
dungen. Das zweite, öſterreichiſch-preußiſche, war das des abſoluten Ver-
botes jeder „politiſchen Verbindung.“ Das dritte, ſüddeutſche, war
das der Erlaubniß. Im franzöſiſchen Syſtem beſteht daher das
öffentliche Recht der Verbindungen in den Strafbeſtimmungen gegen die
direkte oder indirekte Ueberſchreitung der Zahl der erlaubten Mitglieder;
im öſterreichiſch-preußiſchen Bundesrecht in den ſtrafrechtlichen Folgen der
Errichtung einer ſolchen Verbindung überhaupt; im ſüddeutſchen Recht
[110] in den ſtrafrechtlichen Folgen der unerlaubten Errichtung derſelben.
Dadurch war nun das Polizeirecht wieder auf das enge Maß der ge-
richtlichen Polizei zurückgeführt; die Polizei hatte, wieder mit oder ohne
Befehl, nur zu bewachen, daß nicht ſolche unerlaubte Verbindungen
entſtehen, und die Uebertreter an das Gericht zu liefern. Das Recht
der Verbindungen ward zum reinen Strafrecht. Man kann dieß,
wie geſagt, als die zweite Epoche des letzteren betrachten.
Die dritte Epoche tritt nun da ein, wo dieſe politiſchen Verbin-
dungen „erlaubt“ ſind. Erſt hier kann es ſich um ein eigentliches
Sicherheitspolizeirecht handeln. Denn es iſt doch kein Zweifel, daß,
mag auch die Abſicht der Verbindungen oder politiſchen Vereine noch ſo
edel und an ſich unbedenklich ſein, die Thatſache derſelben eine Gefahr
für die öffentliche Rechtsordnung enthält. Während daher hier die ge-
richtliche Polizei dieſen Verbindungen als ſolchen gegenüber ausgeſchloſſen
iſt, und höchſtens gegen die Vornahmen Einzelner innerhalb der Vereine
gerichtet werden kann — wie wenn in denſelben Einzelne zum Hoch-
verrath ꝛc. auffordern — tritt ſtatt derſelben die höhere Sicherheitspolizei
ein. Und das Recht dieſer Sicherheitspolizei iſt nun hier das eigentliche
öffentliche Recht der „politiſchen Vereine“ oder Verbindungen.
Man wird es dem Obigen nach nunmehr wohl nicht unerklärlich
finden, wenn dieß Recht noch keineswegs ein fertiges und klares iſt.
Es iſt, wenigſtens in den deutſchen Staaten, noch ſehr in der Entwick-
lung begriffen, und es ſcheint daher, abgeſehen von dem poſitiven gel-
tenden Recht, nicht unwichtig, die Grundkategorien des Sicherheits-
polizeirechts der Verbindungen hier aufzuſtellen. Als dieſe erſcheinen
uns folgende:
Erſtlich darf die Sicherheitspolizei ſelbſt bei völliger Freiheit der
Verbindungen — natürlich ſtets unter Ausſchluß jeder geheimen Ge-
ſellſchaft — fordern, daß ihr von dem Daſein, der Organiſation, den
leitenden Perſönlichkeiten und den Zuſammenkünften regelmäßige und
genaue Anzeige gemacht werde. Mit Recht ſoll man auch die ſtaats-
bürgerliche Mündigkeit als Bedingung des Eintritts verlangen.
Zweitens muß die Sicherheitspolizei das Recht der Kenntniß
jedes Aktes ſolcher Verbindungen beſitzen, und daher ihre Organe zur
Theilnahme an den Verſammlungen ſenden dürfen, ſo wie man ihr
das Recht der Einſicht in die Beſchlüſſe nicht vorenthalten kann. Das
Recht der Beſchlagnahme ſoll jedoch unter die Grundſätze der Einzel-
polizei fallen (ſiehe unten).
Drittens muß man den Grundſatz der Localiſirung feſthalten.
Unter Localiſirung iſt dasjenige Recht zu verſtehen, vermöge deſſen die
Bildung gemeinſamer Beſchlüſſe verſchiedener Verbindungen an
[111] ſich als gemeingefährlich anerkannt werden muß, ſei es, daß dieſelbe
durch Affiliation, ſei es durch andere Verbindungsformen ausgeübt wird.
Hier tritt die Funktion der höheren Sicherheitspolizei ein, welche ſolche
Affiliationen zu hindern, eventuell zu entdecken hat; ſowie dieß letztere
aber geſchehen iſt, hat ſie die Betreffenden dem Gerichte zu übergeben.
Viertens endlich kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die
höhere Sicherheitspolizei das Recht haben muß, durch polizeiliche Ver-
fügungen die einzelnen Verſammlungen ſolcher Vereine aufzuheben,
und ſogar ohne gerichtliche Intervention die geſammte Thätigkeit der
Vereine zu ſiſtiren. Wir ſind ſogar der Anſicht, daß der Polizei das
Recht zuſtehen muß, polizeilich ſolche Vereine aufzulöſen. Nur ſollte
dabei ein geordnetes, nach franzöſiſchem Muſter eingerichtetes Beſchwerde-
verfahren hergeſtellt werden. Daß dieſe Auflöſung außerdem im Falle
eines verbrecheriſchen Vorgehens von Seiten des Gerichtes durch Ur-
theil ausgeſprochen werden kann, bedarf keines Beweiſes.
Dieß ſind nun die allgemeinen Grundſätze für das Recht der
höheren Sicherheitspolizei. Das poſitive Recht derſelben iſt, wie ſchon
geſagt, noch ſehr unfertig. Wir beſchränken uns darauf, daſſelbe in
ſeiner gegenwärtigen Geſtalt zu charakteriſiren.
Auch im engliſchen Recht geht der oben bezeichnete Proceß vor
ſich; jedoch nur in Beziehung auf die geheimen Geſellſchaften, während
die politiſchen Verbindungen frei blieben. Der Grund lag nicht etwa
in der freieren Auffaſſung von Seiten der Regierung, ſondern in der
höchſt begränzten Funktion der Sicherheitspolizei überhaupt, und die
Stellung, welche das öffentliche Klagrecht hier einnimmt. Daher iſt es
der einfache Grundſatz, daß jede Art von Verbindung als ſolche frei
iſt; beabſichtigte Verbrechen unterliegen dem Strafgeſetz; für geſchehene
Rechtsverletzung haften die Mitglieder. Die Sicherheitspolizei iſt hier
rein gerichtlich. Ueber die Entſtehung der Clubbs als Leſegeſellſchaften,
und die ſich daran anſchließenden Discussing Societies des vorigen Jahr-
hunderts, wie der Robin Hood Society in London, ſ. Buckle, History
of Civil. I. 394. — In Frankreich wird neben dem vollkommen freien
Recht des Vereinsweſens das Clubbweſen in den sociétés secrètes ſchon
durch das Decret vom 29. September 1791 verboten, nebſt der Affi-
liation und der petition en nom collectif. Eine feſte Geſtalt gewinnt
jedoch dieß ganze Recht erſt unter dem Kaiſerthum, durch den viel be-
ſprochenen Art. 291 des Code Pénal. Derſelbe iſt zugleich die Baſis
des ganzen franzöſiſchen Vereinsrechts. Nach ihm ſoll jede Aſſociation, die
ſich mit „objets religieux, littéraires, politiques ou autres“ beſchäftigt
und zu gewiſſen Zeiten zuſammentritt, der Erlaubniß bedürfen, widri-
genfalls die Vereinigung aufgehoben und die Leiter beſtraft werden
[112] (Art. 292); eben ſo die, welche ihre Wohnung dazu hergeben. Weſentlich
iſt, daß die in ſolchen Zuſammenkünften geſchehenen Aufforderungen
zum öffentlichen Widerſtande an den Vorſtänden des Vereins beſtraft
werden (Art. 293). Ein Recht der Sicherheitspolizei iſt nun indirekt in
dem Satze enthalten, daß die Behörde das Recht haben ſoll, dem Ver-
eine bei ſeiner Erlaubniß jede ihr angemeſſen erſcheinende Bedingung
aufzuerlegen. Das Geſetz vom 10. April 1834 ging einen weſentlichen
Schritt weiter, und führte auch die Strafbarkeit der Theilnehmer ein;
das Geſetz vom 28. Juli 1848 erlaubte wieder unbedingt die politiſchen
Geſellſchaften, verbot aber die geheimen Clubbs; das Geſetz vom 19. Juni
1849 gab der Regierung das Recht, jede Geſellſchaft aufzulöſen, und
das Decret vom 23. März ſtellte das alte Recht wieder her, mit größerer
Vollmacht für die Präfectur. So liegt jetzt wie früher das ſicherheits-
polizeiliche Element eben in den polizeilich vorgeſchriebenen Bedingungen
und in dem rein polizeilichen Recht der Auflöſung. Laferrière, Droit
admin. I. Ch. I. Block, Dict. v. Clubs und Sociétés secrètes. — Das
Recht Belgiens iſt auch hier viel freier wie das franzöſiſche. Es ſteht
auf der Baſis der vollen Freiheit des Vereinsrechts; die Conſtitution vom
7. Februar 1831 (Art. 19, 20) erlaubt ohne alle Beſchränkung jede
Art von Vereinen; nur da, wo ſie durch den für die Zuſammenkunft
gewählten Ort den Charakter von Volksverſammlungen annehmen, tritt
ein anderes Recht ein. (Vergl. J. Britz, La Constitution Belge 1865,
S. 44, 45). In Holland beſtand bisher die franzöſiſche Geſetzgebung
des Code Pénal (Strafregt art. 291—294). Erſt das neue Grund-
geſetz (in Art. 10) hat das Recht zu Vereinen ganz allgemein anerkannt;
das eigentliche Vereinsgeſetz iſt jedoch erſt vom 22. April 1853, und
dieß iſt keineswegs ſo gar einfach. Zwar iſt keine Erlaubniß gefordert,
(as) wohl aber ſind alle Vereine, „welche mit der öffentlichen Ordnung
im Widerſpruch ſtehen“ (stridig met de openbare orde) verboten;
dazu gehören alle Vereine, die zum Zweck haben, 1) den Widerſtand
gegen die Uebertretung von einem Recht, 2) Unſittlichkeit, 3) die Stö-
rung in der Ausübung von Rechten, welche ſie ſein mögen (Art. 3).
Damit werden die Art. 291, 292 und 294 des Strafrechts aufgehoben.
Der Art. 293 aber blieb; derſelbe beſtimmt, daß (wörtlich nach Art. 293
des Code Pénal) die Aufreizungen an den leitenden Organen mit Bußen
von 100 bis 300 fl. beſtraft werden ſollen. Dieß Rechtsſyſtem iſt mit-
hin in der That nur ein ſcheinbar freies Vereinsrecht. (Vergleiche de
Bosch-Kemper §§. 80, 81.) Das holländiſche Vereinsrecht hat
übrigens ſchon eine vollſtändige juriſtiſche Literatur, deſſen ſich das
deutſche nicht rühmen kann. (Siehe de Bosch-Kemper §. 36.)
Was ſpeziell Deutſchland betrifft, ſo muß man hier ſowohl die
[113] Epochen als die einzelnen Länder ſcheiden. In der erſten Epoche gibt
es kein Landes-Vereinsrecht, ſondern an deſſen Stelle tritt das Bundes-
Vereinsrecht, deſſen Formulirung im Bundesbeſchluß vom 8. Juli 1832
gegeben iſt. Die bekannte Grundlage iſt das Verbot jedes politiſchen
Vereins, alſo die rechtliche Unzuläſſigkeit der Erlaubniß; die geheimen
Geſellſchaften ſind außerdem ſtrafbar. Dieß Syſtem fällt mit der Reichs-
verfaſſung vom 28. März 1849, welche das Vereinsrecht unbeſchränkt
anerkennt. Es war gleich anfangs wohl klar, daß es ſich dabei nur
um ein Princip handle, und daß eine beſondere Geſetzgebung die ſpe-
ziellen Fragen zu regeln habe. Die legislative Bewegung, die darauf
entſtand, ſcheidet ſich daher zunächſt in zwei Richtungen. Einerſeits
wird jenes allgemeine Princip in den einzelnen neuen Verfaſſungen an-
erkannt: Oldenburg, Verfaſſungsurkunde 1852, Art. 51, 1; Preußen,
1850, §. 30; Schwarzburg-Sondershauſen, Geſetz vom 2. Aug.
1852; Anhalt-Bernburg, Verfaſſung von 1850, §. 10; Coburg-
Gotha, 1852, §. 46; Reuß, 1852; zugleich aber in den meiſten,
neben der gänzlich überflüſſigen Beſtimmung, daß die Vereine den be-
ſtehenden Strafgeſetzen nicht zuwiderlaufen ſollen, eine beſondere Rege-
lung des Vereinsrechts verſprochen, wie ſchon das Erfurter Parlament
gefordert. Dieſe Regelung iſt nun in einzelnen Bundesſtaaten wirk-
lich eingetreten, und zwar in der Weiſe, daß einige Staaten ſofort
beſondere Vereinsgeſetze erließen, andere nicht, ſo daß wieder erneuert
der Bund eintrat, und das Bundesgeſetz vom 13. Juli 1854 das Vereins-
weſen betreffend erließ. Das deutſche Vereinsrecht hat daher jetzt eine
zweifache Geſtalt; es iſt ein Bundesrecht, und ein Recht der einzelnen Staa-
ten, ſo daß auch nach Auflöſung des deutſchen Bundes das Geſetz von 1854
da als gültig angeſehen werden muß, wo es publicirt worden iſt. Das
letztere enthält nun im Weſentlichen die leitenden Gedanken der Terri-
torialgeſetze, in ein Ganzes zuſammengefaßt. Die grundſätzlichen Be-
ſtimmungen ſind: jeder politiſche Verein ſoll der Erlaubniß bedürfen,
und überwacht werden; jeder ſolcher Verein kann, jeder Verein von
Arbeitern mit ſocialiſtiſchen Zwecken (!) ſoll verboten werden; Minder-
jährige dürfen nicht beitreten; und jede Verbindung der Vereine unter
einander iſt an und für ſich verboten (die Principien der Publicität,
der Localiſirung und der obrigkeitlichen Erlaubniß). Zöpfl, deutſches
Staatsrecht II. §§. 468, 469. Im Allgemeinen ſind nun die territorialen
Geſetze viel freiheitlicher als dieß letzte Geſetz des deutſchen Bundes.
Die erſte große Geſetzgebung über das Vereinsweſen war das preußiſche
Vereinsgeſetz vom 11. März 1850, das ſich an die Verfaſſung von 1848
und 1850 anſchloß. Beide hatten ihrerſeits das Recht der Vereine un-
beſchränkt anerkannt, jedoch hatte die Verfaſſung von 1850 (Art. 30)
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 8
[114] ſchon ausgeſprochen, daß „politiſche Vereine“ beſondern Beſchränkungen
unterworfen werden könnten. In Gemäßheit dieſer Beſtimmung ward
eben das Vereinsgeſetz erlaſſen. Nach dieſem Geſetz iſt die Bildung
ſolcher Vereine frei, jedoch müſſen ſie bei der Behörde angezeigt wer-
den, und darf dieſelbe ihre Organe den Sitzungen beiwohnen laſſen.
Letztere können die Verſammlung aufheben; die Strafen gegen diejenigen,
welche dieſen Vorſchriften zuwider handeln, ſind in §. 15 und 16 ent-
halten (Bußen von 5 bis 50 Thaler und Gefängniß von 8 Tagen bis
zu 3 Monaten). Die Vorſteher müſſen überdieß bei gleicher Buße die
Statuten und das Verzeichniß der Mitglieder einſenden; daneben Ver-
bot der Affiliation und der Aufnahme von unſelbſtändigen Perſonen.
(Das Nähere bei Rönne, Staatsrecht I. §. 100.) — In Oeſterreich
ſtellte ſich das Vereinsgeſetz von 1852 noch auf den Standpunkt des
Verbots aller politiſchen Vereine; es iſt das einzige dieſer Art in
Deutſchland. Das bayeriſche Vereinsgeſetz vom 26. Februar 1850
iſt dagegen ganz frei, nur mit Beſchränkung der Perſonen; der Bundes-
beſchluß von 1854 nicht publicirt. (Pözl, Verfaſſungsrecht §. 28.) Doch
können Verbindungen durch ſpezielle Verordnungen bei Ordnungsſtrafe
verboten werden (Polizeiſtrafgeſetzbuch §. 59). — In Baden iſt
das Geſetz vom 14. Februar 1851 das geltende Recht, welches auf
demſelben Standpunkt ſteht, und nur noch härtere Strafen androht.
Das Polizeiſtrafgeſetzbuch hat es unberührt gelaſſen. (Stempf a. a. O.
S. 105.) Württemberg: Die erſte Unterſuchung des Vereinsrechts
vom Standpunkte des öffentlichen Rechts iſt wohl die von Mohl in
deſſen württembergiſchem Staatsrecht (I. Bd. Verfaſſungsrecht S. 377 ff.)
Grundſatz: Zurückführung auf das Strafrecht (Strafgeſetzbuch Art. 78
bis 83 und Art. 149 und 173); Verpflichtung zur Vorlage der Sta-
tuten, jedoch nur bei politiſchen Vereinen; bei andern Vereinen kann
die Behörde die Statuten verlangen; geheime Verbindungen ſind
unbedingt verboten. (Verordnung vom 10. Febr. 1837; Mohl, Staats-
recht II. 290.) Strafen im Polizeiſtrafgeſetzbuch (Art. 18, Mohl, S. 384.)
Neueſtes Recht auf Grundlage des Bundesbeſchluſſes von 1854, eine eigene
Verordnung vom 25. Juni 1855 mit weſentlich gleichen Grundſätzen.
(Roller, württemb. Polizeirecht S. 172—175.) — Königreich Sachſen:
bis 1850 einfach der Standpunkt des Bundesbeſchluſſes vom 5. Juli
1852. (Funke, Polizeirecht III. S. 10 ff.) Dann werden dieſe Bundes-
beſchlüſſe aufgehoben (Funke, Bd. V. S. 117, 118) und mit dem Jahre
1850 ein ganz neues Syſtem von Beſtimmungen erlaſſen. Das Geſetz
vom 22. November 1850 enthielt die Grundlage des gegenwärtig gel-
tenden Rechts: Abſchnitt I. von Verſammlungen, Abſchnitt II. Verein,
Abſchnitt III. Verſammlung der bewaffneten Corps, Abſchnitt IV.
[115] Schließung, nebſt Strafbeſtimmungen. Dann ward wieder der Bundes-
beſchluß von 1854 durch die Verordnung vom 30. Januar 1855 publi-
cirt; die Verordnung vom 31. Januar 1855 enthält die Ausführungs-
beſtimmungen. (Vergl. Funke, V. S. 118—124.)
2) Die Polizei der öffentlichen Verſammlungen.
Da die gewöhnliche Auffaſſung und ſelbſt die Geſetzgebungen nicht
immer zwiſchen Vereinen und Verſammlungen hinreichend unterſcheiden,
obwohl das Recht derſelben ein nicht unweſentlich verſchiedenes iſt, ſo
muß hier eine juriſtiſche Definition vorausgehen, welche zugleich als
Baſis des ſicherheitspolizeilichen Rechts zu dienen hat.
Indem nämlich ein Verein nicht ohne eine Verſammlung ſeiner
Mitglieder gedacht werden kann, ſo folgt, daß die Vereinsverſammlungen
und ihr Recht bereits in dem Vereinsrecht enthalten ſind. Von dieſen
weſentlich verſchieden ſind die öffentlichen Verſammlungen. Oef-
fentliche Verſammlungen ſind ſolche, die von beſtimmten Perſonen ver-
anlaßt, für einen beſtimmten Zweck veranſtaltet, und in ihrer Bethei-
ligung nicht durch das Angehören an einen Verein beſchränkt ſind.
Es ſcheint nicht nothwendig, daß jeder Theilnehmer das Recht zur Rede
oder zur Stimmesabgabe habe, da dieß von den Leitern der Verſamm-
lung vorher beſtimmt werden kann. Daher iſt eine Vereinsverſammlung
als eine öffentliche anzuſehen, ſowie ſie eine unbeſtimmte Zahl auch
nur von Zuhörern zuläßt, während die Zulaſſung von vorausbeſtimmten
Perſonen, wie von Berichterſtattern ꝛc., den Vereinsverſammlungen
nicht den Charakter der Oeffentlichkeit gibt. Denn gerade in der Un-
beſtimmtheit der Theilnehmer liegt das, was für die öffentlichen Ver-
ſammlungen ihr eigenthümliches Recht erzeugt hat.
Offenbar nämlich erzeugt jede Verſammlung mit unbeſtimmter Zahl
und daher auch unbekannten Mitgliedern eine an ſich unmeßbare, gleich-
ſam elementare Gewalt, deren Bewegung nicht mehr ganz in der Macht
der leitenden Perſonen iſt, und bei denen daher auch keine Gewähr
gegeben werden kann, daß ſie durch das Bewußtſein des Rechts oder
durch den Einfluß von einzelnen Perſönlichkeiten von Störungen der
öffentlichen Rechtsordnung abgehalten werden können. Natürlich hängt
mithin die Gefahr für die letztern, welche in ſolchen öffentlichen Ver-
ſammlungen liegt, vielfach von den Zeitverhältniſſen, und ſelbſt von dem
Orte ab, an dem ſie gehalten werden. Es iſt daher ganz erklärlich, daß
die Verſammlungen in geſchloſſenen Räumen einen andern Charakter
haben als die unter freiem Himmel, und daß eine Verſammlung mit
Waffen etwas anderes bedeutet, als eine waffenloſe. Es iſt eben ſo
[116] klar, daß das Vereinsrecht das Verſammlungsrecht nicht erſetzen kann,
ja daß das Recht des erſteren von dem des letzteren in ſeinem ganzen
Charakter unterſchieden ſein muß. Und demgemäß iſt auch die Rechts-
bildung nun ganz verſchieden geworden, obgleich die Geſetzgebungen
regelmäßig beide Theile zuſammenfaſſen.
Während nämlich bei dem Vereinsrecht und dem beſtimmten Zwecke
des Vereins der Schwerpunkt der polizeilichen Aufgabe darin liegt, die
Ueberſchreitung dieſes Zweckes zu hindern, muß bei öffentlicher Verſamm-
lung der ganze Akt Gegenſtand der Sicherheitspolizei ſein. Während
es beim Vereine einer eigenen Beſtimmung bedarf, um die Organe der
letzteren zuzulaſſen, iſt dieſe Zulaſſung bei Verſammlungen ſelbſtverſtänd-
lich und polizeilich nothwendig. Während bei den erſteren die Abhaltung
von Vereinsverſammlungen ſtatutenmäßig geordnet iſt, muß jede ein-
zelne öffentliche Verſammlung Gegenſtand beſonderer Anzeige, beziehungs-
weiſe Erlaubniß ſein. Während endlich bei den erſteren die Leiter bis
zu einem gewiſſen Grade haften, iſt eine ſolche Haftung bei den letz-
teren nicht füglich denkbar, und die Bedeutung des an ſich vernünftigen
Princips der Erlaubniß beſteht gerade darin, daß durch die letztere die
Haftung von den Leitern auf die Einzelnen übergeht. Das Recht
der öffentlichen Verſammlungen iſt daher unter allen Umſtänden ein
durchaus ſicherheitspolizeiliches Recht; und die Grundſätze dieſes Rechts
ſcheinen ſehr einfach zu ſein.
Erſtlich iſt es richtig, das Princip der Anzeige aufrecht zu halten,
und damit iſt die unabweisbare Conſequenz gegeben, daß die Sicherheits-
polizei das Recht haben muß, eine Verſammlung außerhalb beſchränkter
(geſchloſſener) Räume „unter freiem Himmel“ zu verbieten und zwar
ohne Rückſicht auf den angegebenen Zweck, bloß wegen der in der
Maſſe liegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Es verſteht ſich,
daß dagegen eine Beſchwerde ſtatthaft bleibt; aber das Vornehmen einer
ſolchen Verſammlung gegen das Verbot iſt aktiver Widerſtand. Wo
es ſich dagegen um geſchloſſene Räume handelt, ſollte die An-
zeige mit dem Zweck genügen, und ein Verbot nicht gegen die Verſamm-
lung als ſolche, ſondern nur gegen den Zweck derſelben ſtatthaft ſein.
Es iſt keine Frage, daß im Zweifel die Sicherheitspolizei entſcheidet,
ob etwas ein geſchloſſener oder freier Raum iſt; natürlich gegen das
Recht der Beſchwerde der Betheiligten.
Zweitens bedarf es keiner Erklärung, daß bewaffnete Ver-
ſammlungen als an und für ſich gefährlich verboten ſein müſſen.
Drittens haftet bei angezeigten, beziehungsweiſe erlaubten Ver-
ſammlungen nicht die Leitung, ſondern jeder Einzelne für das, was
er in ihr ſagt und thut. Wird eine Verſammlung ohne Anzeige oder
[117] gegen die verweigerte Erlaubniß gehalten, ſo haften die Leiter als in-
tellektuelle Urheber für das Vergehen der Theilnehmer, außer der
Ordnungsſtrafe.
Viertens iſt es kein Zweifel, daß der Sicherheitspolizei in jedem
Augenblick das Recht zuſtehen muß, die Verſammlung, nöthigenfalls
mit militäriſcher Aſſiſtenz, aufzulöſen.
Die hiſtoriſche Entwicklung des Rechts der öffentlichen Verſamm-
lungen iſt dadurch ſo unklar, daß man ſie von den Vereinen nicht ge-
hörig geſchieden hat. Die frühere Zeit hat ſie in Literatur und ſelbſt
in Geſetzgebung beſtändig verſchmolzen. (Siehe Zachariä, deutſches
Staats- und Bundesrecht I. 90; namentlich noch das allgemeine Land-
recht II. 6, 1—10. Rönne, preuß. Staatsrecht I. §. 100.) Mohl
hat das Verdienſt, ſie zuerſt geſchieden zu haben; doch iſt er in ſeiner
Behandlung der Frage in hohem Grade unklar durch ſeine Aengſtlichkeit
(Präventiv-Juſtiz, §. 10). Das allgemeine Strafrecht hat nichts
darin geleiſtet. (Man vergleiche z. B. BluntſchliII. 12. 8, 9.)
Die Geſetzgebung iſt aber auch in neuerer Zeit nicht zur rechten
Scheidung gekommen, bis mit dem Jahre 1848 die Frage unabweisbar
war. In England entſtand ſie ſchon 1769; als die Bewegung der
franzöſiſchen Revolution ſich dort fühlbar machte, wurden die Verſamm-
lungen unter freiem Himmel zuerſt geradezu verboten, 36 Georg III. 8
(1795) — dann gegen Anzeige mit Angabe des Zweckes geſtattet,
37 Georg III. 79. (Siehe Buckle, History of Civilisation I. 422.) —
In Frankreich geht das Recht der öffentlichen Verſammlungen gleichen
Schritt mit dem Vereinsrecht, weil eben die erſteren regelmäßig Vereins-
verſammlungen waren. Die Déclar. des droits enthält noch keine Be-
ſtimmung; erſt die Conſtitution von 1791 ſtellt den techniſch gewordenen
Grundſatz auf: die Conſtitution garantirt la liberté aux citoyens de
s’assembler paisiblement et sans armes, jedoch en satisfaisant aux
lois de police. Ueber dieſe Unbeſtimmtheit kommt auch die ſpätere
Zeit nicht hinaus; doch iſt es nicht zu überſehen, daß während das Ver-
einsrecht beſtändig anerkannt wird, das Verſammlungsrecht ſich nur in
der Conſtitution von 1848 (Art. 8) findet; namentlich die Charte läßt
es gänzlich aus. An die Stelle dieſes Princips tritt der Grundſatz,
daß die „Réunions“ aller Art von der Autorité municipaleerlaubt
ſein müſſen, ohne Rückſicht auf ihren Zweck, und daß dieſe das Recht
hat, ſie jeden Augenblick für Attroupements zu erklären und dadurch
ſtrafbar zu machen. — In Deutſchland traf die polizeiliche Beſchränkung
der Vereine natürlich die Verſammlungen in noch höherem Grade. Der
[118] Bundesbeſchluß vom 5. Juli 1832, der alle politiſchen Vereine verbot,
ſtellte ſogar den Grundſatz auf, daß nicht bloß Volksverſammlungen,
ſondern ſogar Volksfeſte, die „nicht üblich“ waren, der Genehmigung
bedürfen, mit ſpezieller Beſtimmung, daß in den erlaubten Verſamm-
lungen keine politiſchen Reden, keine Adreſſen und keine Beſchlüſſe ſtatt-
finden dürfen. (Vergl. Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 462.) Die
Reichsverfaſſung von 1849 brach auch dieſes Princip, und ward maß-
gebend für die folgende Geſetzgebung. Sie ſtellte nämlich einerſeits das
Recht auf, ſich „friedlich und ohne Waffen“ und ohne Erlaubniß zu
verſammeln, aber auch das Recht der Polizei, Verſammlungen „unter
freiem Himmel“ bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu verbieten
(§. 161). Das Erfurter Parlament beſchränkte jenes Volksrecht auf Ver-
ſammlung in „geſchloſſenen Räumen.“ Dieſe Sätze wurden dann mit
mehr oder weniger Klarheit zur Grundlage des öffentlichen Verſamm-
lungsrechts. Einige Verfaſſungsurkunden blieben bei einigermaßen un-
beſtimmten Ausdrücken; Oldenburg, Verfaſſung von 1852, Art. 50;
Sachſen-Coburg, Verfaſſung von 1852, 44; Anhalt-Bernburg,
1850, §. 9; Hannover, Geſetz vom 5. September 1848, §. 4; doch
wird das Recht der polizeilichen Ueberwachung und meiſtens auch die
Beſchränkung der Freiheit zu Verſammlungen in geſchloſſenen Räumen
ausdrücklich anerkannt, während die Erlaubniß und das Recht der Auf-
löſung als ſelbſtverſtändlich angenommen wird. (Zöpfl, deutſches Staats-
recht II. §. 294.) Andere haben ausdrückliche Beſtimmungen darüber,
die aber ſtets mit dem Vereinsrecht verbunden ſind; Grundlage iſt das
preußiſche Vereinsgeſetz von 1850: Vorgängige Anzeige (24 Stunden),
Erlaubniß, Recht des Verbots und der Auflöſung, Waffenloſigkeit,
Beſchränkung auf Verſammlungsfreiheit in geſchloſſenen Räumen; Streit-
frage über den Begriff der letzteren. (Rönne, Strafrecht I. §. 100.)
Bayern, Vereinsgeſetz von 1850: gleichfalls Erlaubniß bei Verſamm-
lungen unter freiem Himmel. (Pözl, Verfaſſungsrecht §. 65, Verwal-
tungsrecht §. 104.) Württemberg: Grundſatz der Erlaubniß all-
gemein. (Verordnung vom 12. Juni 1832 und Verhandlungen darüber
bei Mohl, württemb. Verfaſſungsrecht §. 73.) Das neueſte Recht iſt
die Verordnung vom 25. Januar 1855, welche aber nur von den Ver-
einsverſammlungen redet, und bei politiſchen Vereinen jedesmal 12
Stunden vorher eine Anzeige fordert. (Roller, württemb. Polizeirecht
§. 263.) Baden, Geſetz von 1851, ſiehe oben; ebenſo über Sachſen,
ſiehe Funke, a. a. O. — Das belgiſche Recht hat die alte franzö-
ſiſche Beſtimmung der vollen Freiheit beibehalten. (Const. von 1831,
Art. 19, 20.) Doch hat die Ortspolizei das Recht, die Verſammlungen
zu geſtatten, wenn ſie an einem öffentlichen Orte abgehalten werden
[119] ſollen, was durch mehrere Arrêts feſtgeſtellt iſt. (Britz, La Const.
Belge, Art. 55 und 56.) — Das holländiſche Vereinsgeſetz vom
22. April 1855 ſtellt die zwei leitenden Grundſätze auf, daß Verſamm-
lungen unter freiem Himmel nicht ohne polizeiliche Erlaubniß ſtattfin-
den dürfen (Art. 18), daß die höhere Polizei ſie eventuell verbieten, und
daß ſie auch zu jeder Verſammlung, in der das Publikum zugelaſſen
wird, ihre Organe ſchicken, eventuell dieſen Zugang „unter Beihülfe der
Gemeindeverwaltung“ erzwingen kann.
3) Polizei der Volksbewegungen.
Auch bei dem Begriff und Recht der Volksbewegungen muß man
damit beginnen, das Strafrecht von dem Polizeirecht, und mithin auch
das gerichtliche und das ſicherheitspolizeiliche Verfahren ſcharf zu trennen,
um ſo mehr, als auch das poſitive Recht dieſe Unterſcheidung bereits
gemacht und für beide Kategorien ein eigenes Rechtsſyſtem geſchaffen hat.
Das was wir im Allgemeinen eine Volksbewegung nennen — das
iſt eine ohne ſpezielle Aufforderung entſtandene Anhäufung von Menſchen
auf einem öffentlichen Platze, welche durch irgend eine gemeinſame Ab-
ſicht in Bewegung geſetzt wird — enthält zwei Hauptformen.
Die erſte Form iſt die, in welcher die Verſammelten einen be-
ſtimmten, auf irgend eine Störung der öffentlichen Rechtsordnung ge-
richteten Zweck haben und dieſer Zweck durch beſtimmte Handlungen
erkennbar erſcheint. Dieſer Zweck kann entweder ein negativer, Wider-
ſtand gegen ein Organ der vollziehenden Gewalt, oder ein poſitiver,
Vergewaltigung von Perſonen oder Sachen aus irgend einem Grunde
ſein. In beiden Fällen wird von allen Theilnehmern das Verbrechen
der öffentlichen Gewaltthätigkeit begangen. Dieſe allgemeine Kategorie
hat nun verſchiedene Momente; es kann Anſtifter, Thäter, Mitſchuldige
geben; man kann je nach dem Objekte Aufruhr, Aufſtand und bloßen
Tumult oder öffentliche Ruheſtörung unterſcheiden; die Strafen können
ſehr verſchieden ſein; immer aber fallen alle dieſe Formen unter das
Strafrecht.
Demgemäß iſt auch hier das Polizeirecht ein einfaches. Es iſt kein
anderes als das der gerichtlichen Polizei. Nur iſt das wohl klar,
daß es keine gerichtliche Polizei gegen die Volksbewegung als ſolche
gibt, wie gegen Verbindungen und öffentliche Verſammlungen, in denen
die gerichtliche Polizei ſich in der Perſon der Leiter gegen das Ganze
richtet, während alles, wofür dieſe nicht verantwortlich gemacht werden
können, wie wir geſehen haben, die Sicherheitspolizei iſt. Bei der Volks-
bewegung hat dagegen die gerichtliche Polizei, ſelbſt wo das Verbrechen
[120] des Aufſtandes u. ſ. w. vorliegt, nicht mit dem Ganzen zu thun. Die
Aufgabe der Polizei geht, in Beziehung auf alle dieſe Verbrechen, viel-
mehr einzig und allein dahin, die Einzelnen, die ſich an ſolchen Be-
wegungen betheiligen, zu ergreifen, und ſie der gerichtlichen Verhand-
lung zuzuführen. Jeder Akt der Polizei, ſobald derſelbe mit irgend
einem Einzelnen zu thun hat, fällt daher unter das Recht der ge-
richtlichen Polizei; die Polizei iſt in Beziehung auf das Individuum zu
nichts anderem berechtigt, als zu demjenigen, was innerhalb der Auf-
gabe liegt, dieß Individuum vor Gericht zu ſtellen. Im Falle des
Widerſtandes von Seiten dieſer Einzelnen treten dann die Rechtsgrund-
ſätze der allgemeinen Polizei, ſpeziell das Waffenrecht derſelben, ein.
Die zweite Form der Volksbewegung iſt nun die, in der weder ein
erkennbarer Zweck, noch eine bereits geſchehene ſtrafrechtliche Störung
der öffentlichen Rechtsordnung vorliegt, ſondern nur, eben vermöge der
an ſich unbeſtimmten Gefahr, die in jeder Maſſenbewegung liegt, die
Möglichkeit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Hier hat
wieder die gerichtliche Polizei gar nichts zu thun, ſondern die Be-
ſeitigung dieſer Gefährdung iſt eben Sache der höheren Sicherheits-
polizei. Und die geſetzlichen Vorſchriften über das Verfahren derſelben
gegenüber einer ſolchen, noch kein Verbrechen enthaltenden Volks-
bewegung iſt eben das Recht der höheren Sicherheitspolizei.
Dieſes Recht nun erſcheint zunächſt an ſich unendlich — gegenüber
der elementaren Gewalt der Maſſe erſcheint die Sicherheitspolizei be-
rechtigt und ſogar berufen, ganz nach ihrem, und zwar beinahe un-
controlirbaren Ermeſſen, gleichfalls die materielle Gewalt anzuwenden.
Allein eben ſo gewiß iſt es, daß gerade in dieſem an ſich unbeſchränkten
Recht der Sicherheitspolizei die Unverletzlichkeit des Einzelnen dem ſub-
jektiven Dafürhalten der einzelnen Polizeiorgane in die Hand gegeben
iſt. Die Aufgabe nun, dieſem einſeitigen Ermeſſen der ſicherheitspolizei-
lichen Gewalten im Namen der Sicherheit des einzelnen Staatsbürgers
diejenigen geſetzlichen Gränzen vorzuzeichnen, welche es derſelben noch
möglich machen, die Sicherheit herzuſtellen, hat nun ein förmliches
Rechtsſyſtem von Vorſchriften erzeugt, die man einzeln betrachten
muß, um wiederum ihr Verhältniß zur gerichtlichen Polizei klar zu ſtellen.
Dieß Rechtsſyſtem zerfällt in zwei Theile. Der erſte enthält das
Recht der Polizeiverfügungen, der zweite das Recht des Polizei-
verfahrens bei den gefährlichen Volksbewegungen.
Das Recht der Polizeiverfügungen zunächſt beſteht in dem Recht
der Polizei, die freie Bewegung der Einzelnen im Verkehr bei drohender
Gefahr durch Verbote zu beſchränken (Abſperrung von Straßen,
Schließen der Läden u. ſ. w.), oder aber die Vergrößerung der Gefahr
[121] durch beſtimmte Gebote zu beſeitigen (Befehl die Angehörigen zu Hauſe
zu halten, Erleuchtung von Fenſtern u. ſ. w.). Es iſt kein Zweifel,
daß ein ſolches Recht auch dann beſteht, wenn es entweder gar nicht,
wie in einzelnen Ländern, geſetzlich ausgeſprochen iſt, oder ſtillſchweigend
vorausgeſetzt wird, wie in anderen (z. B. öſterreichiſches Strafgeſetzbuch,
§. 282). Sowie eine ſolche Verfügung erlaſſen iſt, tritt natürlich das
Recht der Polizei auf Erzwingung ſeiner Befolgung ein. Aber um zur
gerichtlichen Verfolgung ein Recht zu geben, muß es öffentlich
bekannt gemacht werden. Die Nichtbefolgung iſt dann wieder ein Ver-
gehen, meiſt mit eigenen Strafen bedroht, und die Maßregeln, durch
welche die Polizei den Einzelnen zur Strafe zieht, fallen dann unter
die gerichtliche Polizei und ihr Recht.
Viel ernſter und die eigentliche Hauptſache iſt nun natürlich das
Verfahren der Sicherheitspolizei und das Recht deſſelben. Und hier
liegt die Scheidung in den Mitteln, welche die Polizei anwendet;
jenes Recht iſt weſentlich ein Recht dieſer Mittel.
So lange nämlich die Polizei die Gefährdung durch die Volks-
bewegung nicht für groß genug hält, um zu den Waffen zu greifen,
erſcheint es nicht nothwendig, ein eigenes Recht für ihr Verfahren vor-
zuſchreiben, ſondern es muß angenommen werden, daß das Waffenrecht
des allgemeinen Polizeiverfahrens ausreicht. Die Gränze für dieß
Waffenrecht liegt da, wo die Polizei noch durch Maßregeln gegen Ein-
zelne (Verhaftung, Abführung ꝛc.) die Volksbewegung in Ordnung zu
halten hoffen darf. Sowie dieß nicht mehr thunlich ſcheint, tritt dann
das ſpezifiſche Recht des Waffengebrauches gegen die Maſſe ein. Und
auf dieſem Punkte hört eben das Recht auf, und der Kampf der
elementaren Kräfte in der Geſellſchaft beginnt.
In der früheren Zeit nun war das, worauf es hierbei ankommt,
die Entſcheidung über das Vorhandenſein einer ſo großen Gefahr,
daß die Polizei zu den Waffen gegen das Volk zu greifen habe, ganz
dem Ermeſſen der letztern überlaſſen. Erſt unſer Jahrhundert hat, um
dieſer ernſten Berechtigung der Sicherheitspolizei eine objektive Gränze
zu geben, ein formelles Recht ſelbſt für dieſen Fall gebildet; und dieß
formelle Recht zerfällt in zwei Theile.
Der erſte Rechtsſatz dafür iſt das Princip, das Intereſſe der Bürger
ſelbſt zur Beſeitigung ſolcher Gefahren zu Hülfe zu rufen. Dieß geſchieht
durch die geſetzliche Haftung der Gemeinden für den durch eine
Volksbewegung innerhalb ihrer Gränzen entſtehenden Schaden. Dieſer
vollkommen richtige Grundſatz verbindet die Intereſſen mit dem Recht und
iſt als ein weſentliches Element der öffentlichen Ordnung anzuſehen; denn
praktiſch iſt dieſer Grundſatz ein Rechtsſatz der hohen Sicherheitspolizei.
[122]
Der zweite Theil dieſes Rechts wird nun durch die ſpeziellen Vor-
ſchriften über das Verfahren bei dem Waffengebrauch ſelbſt gebildet.
Die Aufgabe der dahin zielenden rechtlichen Beſtimmungen iſt, durch
beſtimmte Maßregeln und Einwirkungen auf die Maſſe dieſelbe zu zer-
ſtreuen, um der Anwendung der Waffengewalt enthoben zu ſein, und
die letztere erſt dann als berechtigt zu erklären, wenn die Fruchtloſigkeit
jener Einwirkungen conſtatirt iſt. Die praktiſche Ordnung dafür iſt an
ſich einfach. Sie fordert erſtlich, daß die Organe der vollziehenden Ge-
walt mit ihren erkennbaren Abzeichen die Aufforderung zum Auseinander-
gehen und die Drohung der Anwendung der Gewalt erlaſſen, und zwar
in erkennbarer Weiſe (Trommeln ꝛc., „Verleſen der Aufruhrsakte“),
dann, daß die Waffe gegen die Maſſe erſt dann angewendet werde,
wenn jene Drohung erfolglos bleibt. Daß bei direktem Angriffe gegen
die militäriſche Macht die Anwendung der Waffe auch ohne ſolche Ver-
leſung ſtattfinden kann, verſteht ſich von ſelbſt. — Sowie die Waffen-
gewalt beginnt, hört dann die Thätigkeit der Polizei auf; in dem
mechaniſchen Kampf der elementaren Kräfte geht das Recht unter.
Die Geſetzgebung über das Recht des Verfahrens der Sicherheits-
polizei bei Volksbewegungen iſt in England zuerſt auf Grundlage des
freien bürgerlichen Rechts, in Frankreich auf Grundlage der verwaltungs-
rechtlichen Organiſation der Behörden entſtanden. Der Kampf zwiſchen
Volk und Regierung am Ende des vorigen Jahrhunderts ließ die ganze
Geſetzgebung unter der Regierung Georgs IV. entſtehen. Das Sta-
tute 1 Georg IV. 2, die Riot-Act, iſt das erſte europäiſche Geſetz
über die Anwendung der Waffengewalt gegen Volksbewegungen; das
Statute 7. 8 Georg IV. 30 iſt eine ſpezielle Anwendung derſelben
gegen Arbeitertumulte. Das Statute 1 Vict. folgte dann dem Vor-
gange Frankreichs, und ſetzte eigene Strafen für den Tumult ein, damit
die gerichtliche Polizei an der Seite der Sicherheitspolizei einführend;
wozu noch 4. 5 Vict. 56 weſentliche Zuſätze gab. Ebenſo ward die
Haftung der Gemeinden ſchon durch 7. 8 Georg IV. 31 ausgeſprochen.
(Vgl. Gneiſt, engl. Verfaſſung II. 36.) — Von weit größerer Klarheit
und auch von viel größerem Einfluß auf das übrige Europa war die
franzöſiſche Geſetzgebung. Sie faßte zuerſt die ſicherheitspolizeiliche An-
wendung der Waffengewalt bei Volksbewegungen als ein ſelbſtändiges
Polizeirecht neben dem Strafrecht auf, und hat daſſelbe auch vollſtändig
ausgebildet. Der rechtliche Name dafür iſt die Loi martiale, der polizei-
liche Ausdruck für die gefährliche Volksbewegung iſt Attroupement
(„rassemblement tumultueux formé sur la voie publique“). Die
[123] erſte Loi martiale iſt vom 21. Okt. 1789; ein förmliches Syſtem ſtellte
dann das Geſetz vom 3. Aug. 1791 auf, deſſen Inhalt ziemlich unver-
ändert auf das übrige Europa übergegangen iſt. Darnach haben alle
Behörden (nur mit Ausnahme der gardes champêtres et forestiers)
das Recht, dieß Geſetz anzuwenden. Die Formel iſt: „Obéissance à la
loi; on va faire usage de la force, que les bons citoyens se retirent.“
Dieſe Aufforderung muß mehrmal wiederholt werden unter Trommel-
ſchlag. An dieſe Beſtimmung für das Verfahren ſchloß ſich dann der
zweite Grundſatz der Haftung der Gemeinden (Geſetz vom 10 Vend.
an IV). Dieſe rein polizeiliche Geſetzgebung wird nun ſpäter durch eine
ſtrafrechtliche vervollſtändigt; und zwar zuerſt durch das Geſetz vom
10. April 1831, dann durch das neueſte Geſetz vom 10. April 1851.
Darnach iſt das Attroupement ſelbſt für ein Délit der Betheiligten er-
klärt, und zwar hat die Polizei dieſelben nach der Verhaftung ſofort
vor das Gericht (tribunal de simple police) zu ſtellen; das letzte Geſetz
hat namentlich das Strafſyſtem in der Weiſe geordnet, daß die Strafe
bei der Verhaftung nach der erſten Aufforderung eine Ordnungsſtrafe
iſt (Code Pénal I. IV.), nach der zweiten eine Gefängnißſtrafe bis
zu 3 Monaten; nach der dritten bis zu einem Jahre; daneben werden
die „Chefs“ beſonders beſtraft. Es iſt das rationellſte Verfahren, das
es gibt, und werth, allgemein eingeführt zu werden. Vgl. Laferrière,
Droit adm. I. Ch. 2. Block, Dict. v. Attroupement.
Was Deutſchland betrifft, ſo hat zuerſt Preußen den Verſuch
gemacht, ſein Recht dem franzöſiſchen nachzubilden. Die K. Kabinets-
Ordre vom 3. Dec. 1798 iſt eigentlich eine Umſchreibung des Geſetzes
von 1791; die Verordnung vom 17. Auguſt 1835 über die Anwendung
der Waffengewalt hat das ausgeführt. Allein der weſentliche Unter-
ſchied vom franzöſiſchen Recht beſteht darin, daß die Aufforderung zum
Auseinandergehen vom militäriſchen Befehlshaber und nicht von der
Civilbehörde ausgeht, und daß demgemäß auch dem letzteren allein über-
laſſen wird, über ſein Einſchreiten zu entſcheiden. Das Strafgeſetzbuch
(§. 92) ging allerdings weiter, und fordert eine dreimalige Aufforderung,
jedoch ohne beſtimmte Form, und ohne beſtimmte Competenz zur Er-
klärung über den Zeitpunkt der Anwendung der Waffengewalt zwiſchen
Militär- und Civilbehörde, ſo daß hier viel Einzelnes zweifelhaft ge-
blieben iſt, obgleich es gerade auf das Einzelne ankommt. Mit Recht
bemerkt daher Rönne (Staatsrecht II. §. 346), daß eine Reviſion der
betreffenden Geſetze ſehr angezeigt wäre, was um ſo richtiger iſt, als
die Beſtimmungen über die Solidarität der Theilnehmer durch die Ver-
ordnung vom 17. Auguſt 1835 (§. 11), und die Haftung der Gemeinden
im Geſetz vom 11. März 1850 (§. 6) ausgeſprochen iſt, das Ganze daher
[124] ſehr zerſtreut und einheitslos erſcheint. — In Oeſterreich gibt es
neben den oben angeführten geſetzlichen Beſtimmungen über Waffen-
gewalt kein beſonderes Recht. Das iſt gegenüber dem preußiſchen Recht
ein weſentlicher Mangel. In den übrigen deutſchen Staaten iſt uns
eine eigene Geſetzgebung nur für Bayern bekannt: Geſetz über die
Haftung der Gemeinden vom 12. März 1850 und Geſetz über die An-
wendung der Waffen vom 4. Mai 1851 (Pözl, Verwaltungsrecht
§. 106 und 107); und für Sachſen Geſetz vom 10. Mai 1851
über das Verfahren bei Störungen der öffentlichen Ruhe und Sicher-
heit; Berufung der bewaffneten Macht §. 1—6, Anwendung der Waffen
§. 7—12 und Erklärung des Belagerungszuſtandes. (Funke, ſächſiſches
Polizeirecht, V. S. 124. 125.) — Das übrigens beſtehende Recht wird
demnach wohl auch jetzt das Verfahren ganz dem behördlichen Ermeſſen,
oder aber dem des militäriſchen Befehlshabers überlaſſen, wie früher.
(Vgl. Zöpfl, deutſches Staatsrecht, I. 155; ſehr unbeſtimmt bei Mohl,
Polizeiwiſſenſchaft, III. 15. Weitere Literatur fehlt.)
4) Das Recht des Belagerungszuſtandes.
(Kriegszuſtand und bürgerlicher Belagerungszuſtand.)
Es iſt kein Zweifel, daß derjenige Zuſtand, den wir den Be-
lagerungszuſtand — in Oeſterreich das Standrecht — nennen, die äußerſte
ſicherheitspolizeiliche Maßregel iſt, deren Verhängung in der Gewalt der
Verwaltung liegt. Daß aber auch ſelbſt für dieſen Zuſtand ein objektiv
gültiges Recht zur Anerkennung gelangt iſt, muß als einer der weſent-
lichſten Fortſchritte der ſtaatsbürgerlichen Freiheit anerkannt werden.
Es darf uns jedoch nicht wundern, daß dieß Verhältniß noch ſo gut
wie gar keine eigene Bearbeitung gefunden hat, da es ohne eine
ſelbſtändige Theorie der höhern Sicherheitspolizei kaum richtig behandelt
werden kann. Es möge uns daher verſtattet ſein, hier die Elemente
dieſer Theorie der Vergleichung des geltenden Rechts voranzuſtellen.
Der Belagerungszuſtand entſteht, wenn die öffentliche Sicherheit
durch eine allgemeine Gewalt auf allen Punkten zugleich, und nicht
mehr auf einem einzelnen Punkte äußerlich bedroht iſt. In einem ſolchen
Zuſtande erſcheint die Gefahr, welche eben zu jener Maßregel den Anlaß
gibt, in einer zweifachen Geſtalt, und das was wir den Belagerungs-
zuſtand nennen, hat daher auch zwei Hauptformen, die wieder jede ihr
beſonderes Recht haben. Es iſt dieß um ſo mehr feſtzuhalten, als nur
noch das franzöſiſche Recht dieſe Unterſcheidung wenigſtens zum Theil
in ſich aufgenommen hat, während das deutſche und die geringe darauf
bezügliche Literatur denſelben ganz übergeht.
[125]
I. Da wo die öffentliche Sicherheit durch einen feindlichen Angriff
in Waffen bedroht wird, entſteht das, was wir den militäriſchen
Belagerungszuſtand — wir werden nach franzöſiſchem Vorbild
ſagen Kriegszuſtand — nennen. Der Kriegszuſtand beruht darauf,
daß die erſte Bedingung der Vertheidigung gegen den feindlichen An-
griff die Unterordnung des Bürgerthums unter die militäriſchen For-
derungen iſt. Der Kriegszuſtand muß daher diejenigen Beſchränkungen
der ſtaatsbürgerlichen Freiheit ſetzen, welche als Bedingung der mili-
täriſchen Vertheidigung erſcheinen. Dieſe Beſchränkungen beſtehen darin,
daß das Recht zu bürgerlichen Verfügungen auf die militäriſchen
Organe übergeht; zweitens darin, daß für dieſe Verfügungen ein mili-
täriſcher, und nicht mehr ein bürgerlicher Gehorſam gefordert wird.
Die erſte Folge davon iſt, daß die noch vorhandenen Polizeiorgane
ihrerſeits das Recht auf Erlaß von einſeitigen Verfügungen verlieren,
und dieß ausſchließlich an die militäriſchen Stellen übergeht. Die zweite
iſt die, daß die Polizeiorgane den militäriſchen unbedingt untergeordnet
werden, und ihnen in ihren Vollziehungen Gehorſam zu leiſten haben.
Dieß Recht der militäriſchen Stellen auf Verfügungen und militäriſchen
Gehorſam hat demgemäß nur Eine Gränze. Das Militär darf nicht
mehr verlangen, als eben für die Vertheidigung nothwendig iſt; alle
Rechtsverhältniſſe, welche mit der Vertheidigung gegen den äußern Feind
in keiner Verbindung ſtehen, werden von dem Kriegszuſtand gar nicht
berührt. Das Recht des Kriegszuſtandes erſcheint daher auch in Be-
ziehung auf das Eigenthum als Nothrecht, indem jeder ſein Gut zur
Vertheidigung hergeben muß, natürlich gegen die entſprechende Ent-
ſchädigungsanſprüche. — Das Verfahren im Kriegszuſtand beruht darauf,
daß mit der Pflicht zum militäriſchen Gehorſam auch die Gerichtsbarkeit
über die Befolgung und Nichtbefolgung der militäriſchen Verfügungen
(in welche nach dem Obigen alle polizeilichen aufgehen) an die mili-
täriſchen Gerichte übergeht; dagegen bleiben alle anderen Organe der
Verwaltung in ihrer ſyſtematiſchen Funktion. Es muß dabei angenommen
werden, daß die militäriſchen Stellen das Recht haben, dieſe Funktion
als ſolche (z. B. Unterricht, Geſundheitspolizei, bürgerliche Rechts-
pflege ꝛc.) ſo weit zu ſuſpendiren, als dieß für militäriſche Zwecke
nothwendig erſcheint; jedoch darf dadurch kein erworbenes Privatrecht
verletzt werden, und darf dieſe Suspenſion auch nicht länger dauern
und nicht weiter gehen, als der militäriſche Zweck dieß nothwendig
macht. In keinem Falle jedoch erſcheint gegen ſolche Maßregeln ein
Klagrecht berechtigt, und eine Beſchwerde kann nur bei der höheren
militäriſchen Stelle angebracht werden. Dagegen ſteht das Recht
der Entſchädigung für jede Leiſtung natürlich jedem Einzelnen zu; daß
[126] von einem Suspenſiveffekt jedoch weder hier noch bei der Beſchwerde
die Rede ſein kann, verſteht ſich von ſelbſt.
Die gänzliche Unterordnung des öffentlichen Rechts der Staats-
bürger unter das Militär, die auf dieſe Weiſe durch das leitende Princip
des militäriſchen Gehorſams gegen jede militäriſche Verfügung geſetzt
wird, muß nun zur möglichſt genauen Beſtimmung der Fälle auf-
fordern, die bei dem Kriegszuſtand zur Beachtung kommen. Dieſe ſind
folgende:
Erſtlich kann der Kriegszuſtand nur örtlich ausgeſprochen werden,
und zwar nur im Falle eines wirklich vorhandenen oder bevorſtehenden
Angriffes auf einen beſtimmten Ort. Er tritt daher nur in den
Fällen ein, wo es ſich um einen Kampf mit einer vorhandenen bewaff-
neten Macht, ſei es einer äußern, ſei es einer innern, handelt, und
nicht bei einer bloßen Störung der öffentlichen Ordnung durch die Ver-
brechen Einzelner.
Zweitens muß aber, wo eine ſolche feindliche bewaffnete Macht
wirklich da und in der Lage iſt, einen Angriff zu verſuchen, der mili-
täriſche Befehlshaber auch das Recht haben, den Kriegszuſtand ein-
ſeitig auszuſprechen. Eine ſolche Erklärung in Kriegszuſtand gilt dann
nicht weiter, als die unter dem betreffenden Befehlshaber ſtehenden
Truppen vertheilt ſind. Sowie dieſe Truppen den einzelnen Ort ver-
laſſen, hört der Kriegszuſtand von ſelbſt auf, und die Sicherheitspolizei
tritt in ihre frühere Funktion und Berechtigung zurück.
Drittens dauern dieſe Funktionen und Berechtigungen auch wäh-
rend des Kriegsſtandes in ſo weit fort, als ſie nicht ſpeziell den mili-
täriſchen Organen übertragen worden ſind. Die ſicherheitspolizeilichen
Organe haben jedoch in ſolchem Falle nicht ohne ausdrücklichen mili-
täriſchen Befehl das Recht auf militäriſchen, ſondern nur auf bürger-
lichen Gehorſam. Nur muß angenommen werden, daß das polizeiliche
Verfügungsrecht unbedingt an die militäriſche Behörde übergeht, ſo weit
es ſich um neue Verfügungen handelt. Das Recht der beſtehenden
polizeilichen Anordnungen wird nicht geändert, wenn eine ſolche Aen-
derung nicht ausdrücklich ausgeſprochen iſt.
II. Ein ganz anderer Fall iſt nun derjenige, den wir als den
bürgerlichen Belagerungszuſtand — hier würden wir ſagen das
Standrecht — bezeichnen. Der bürgerliche Belagerungszuſtand beruht
darauf, daß die öffentliche Sicherheit nicht mehr durch eine ſelbſtändig
auftretende bewaffnete Macht, ſondern durch die Menge und häufige
Wiederholung von Verbrechen Einzelner bedroht wird. Ein
ſolcher Zuſtand iſt der Beweis, daß das ethiſche Element des Rechts-
bewußtſeins nicht mehr ſtark genug iſt, die Menge von der Begehung
[127] ſolcher Verbrechen abzuhalten, und daß daher die Furcht vor unmittel-
barer Strafe als äußerſtes Mittel zur Verhinderung derſelben gebraucht
werden muß, während der Kriegszuſtand es mit Verbrechen überhaupt
nicht zu thun hat. Daraus geht nun auch das Recht des Standrechts
(bürgerlichen Belagerungszuſtandes) in ſeiner ſpecifiſchen Unterſcheidung
von dem des Kriegszuſtandes faſt von ſelbſt hervor. Das Princip
dieſes Rechts muß es darnach ſein, diejenigen Maßregeln zu ergreifen,
welche zum Zweck der Abſchreckung eben die unmittelbare Beſtrafung
der, die geſammte Rechtsordnung gefährdenden Verbrechen möglich
machen. Das Mittel dafür iſt die Aufhebung des bürgerlichen Rechts
für das Verfahren der gerichtlichen Polizei und der Strafgerichte.
Das Syſtem deſſelben enthält folgende weſentliche Punkte.
Zuerſt muß die Erklärung des Standrechts von derjenigen Be-
hörde ausgehen, welche für die öffentliche Sicherheit die Verantwort-
lichkeit hat, alſo nicht wie beim Kriegszuſtand von der militäriſchen,
ſondern von der (politiſchen) Verwaltungsbehörde. Die Beziehung
deſſelben auf Verbrechen und Rechtspflege fordert dabei, daß eine Ueber-
einſtimmung der letzteren mit den höheren Behörden der Rechtspflege
voraufgehe; indeß muß der Verwaltungsbehörde als Vertreterin der
Sicherheit das Recht zuſtehen, einſeitig das Standrecht zu erklären,
dann aber ſofort bei Nichtübereinſtimmung mit dem Gerichte die definitive
Entſcheidung des Verwaltungsminiſteriums darüber einzuholen.
Zweitens muß die Erklärung formell und öffentlich geſchehen, in
der Weiſe, daß ſie zu jedermanns Kunde gelangen kann (Trommel-
ſchlag, Markt ꝛc.).
Drittens hat dieſelbe ihrem Inhalt nach ſich 1) nur auf die-
jenigen beſtimmten Verbrechen zu beziehen, welche eben durch ihre
häufige Wiederholung den Grund zur Erklärung ſelbſt abgegeben haben.
Die Standrechtserklärung ſoll daher in Beziehung auf dieſe Verbrechen
ſtets ſo beſtimmt lauten als möglich. Sie wird conſequent ſich auf
ſolche Verbrechen beſchränken, welche die öffentliche Ruhe und Ordnung
direkt oder indirekt ſtören, und nicht mit ſolchen zu thun haben, die
nicht in das öffentliche Leben eingreifen. 2) Hat die Erklärung des
Belagerungszuſtandes ein neues Syſtem der Strafe aufzuſtellen, welches
naturgemäß in härteren, als den regelmäßigen Strafen beſteht. Der
Grund der größeren Härte liegt darin, daß das Verbrechen ſelbſt durch
die, in einem ſolchen aufgeregten Zuſtande liegende Gefährdung der
öffentlichen Ordnung ein doppeltes wird, indem zu dem Verbrechen
gegen das höhere oder niedere Individuum (Majeſtätsverbrechen, Mord,
Brand ꝛc.) ſtets ein Verbrechen gegen die Rechtsordnung als ſolche
hinzukommt. Die Anwendung der Todesſtrafe ſcheint jedoch nicht
[128] nothwendig, als da, wo ſie überhaupt im Strafgeſetze ſchon ausgeſprochen
iſt. 3) Kann dieſe Erklärung Thätigkeiten und Aeußerungen, welche
an ſich nur eine Gefährdung der öffentlichen Rechtsordnung enthalten,
zu ſelbſtändigen Verbrechen machen. Dahin gehören namentlich
Ausſtreuung falſcher Gerüchte, Aufreizungen und aufregende Reden u. ſ. w.
Es liegt dabei der richtige Gedanke zum Grunde, daß die Verhältniſſe
aus dem, was an ſich nicht einmal ein entfernter Verſuch iſt, eine
wirkliche Verletzung der öffentlichen Sicherheit machen. Die Veröffent-
lichung des Standrechts ſetzt jeden Einzelnen in die Lage, zu wiſſen,
daß dieſer Fall eingetreten iſt. Das Halten von aufregenden Reden u. ſ. w.
wird daher vermöge dieſes Bewußtſeins zu einem Verſuch, der durch
die Verhältniſſe als ein nächſter Verſuch erſcheint, und daher naturgemäß
als Verbrechen ſtrafbar iſt, Es folgt daraus, daß die Erklärung des
Standrechts zugleich die Strafe dafür beſtimmen muß, da ohne Stand-
recht ſolche Aeußerungen ſtraflos ſind. 4) Daß die Preſſe damit gleich-
falls unter daſſelbe Recht geſtellt wird, verſteht ſich von ſelbſt.
Es iſt klar, daß in ſolchem Zuſtande das Verfahren von doppelter
Wichtigkeit wird.
Das ganze Weſen des Standrechts fordert nämlich allerdings, daß
das Verfahren der Gefahr angemeſſen ſei, welche in dem Verbrechen
liegt, und daß es daher ein kurzes und inappellables ſei. Allein für
daſſelbe ſind dennoch im Intereſſe der ſtaatsbürgerlichen Freiheit drei
Grundſätze leitend.
Erſtlich ſoll das ganze Verfahren ſich nur auf die ſtandrechtlichen
Verbrechen beziehen.
Zweitens ſoll das Gericht ein beſonders dazu beſtimmtes ſein.
Die Natur der öffentlichen Gefahr macht dabei ein militäriſches Gericht
durchaus nicht nothwendig, läßt aber auch die Wirkſamkeit der Schwur-
gerichte nicht zu. Die für die Standgerichte geltenden Grundſätze müßten
ſich auf zwei Hauptpunkte beſchränken: erſtlich muß die militäriſche
Gerichtsbarkeit für alle diejenigen Fälle eintreten, wo die Einzelnen
mit den Waffen in der Hand im offenen Widerſtande gegen die Ver-
waltung ergriffen werden; zweitens bleiben die früheren Gerichte,
alſo auch die Schwurgerichte für alle diejenigen Verbrechen, für welche
das Standrecht nicht verkündet iſt.
Drittens bleibt das geſammte Recht der Einzelpolizei vollkommen
beſtehen; nur iſt die Polizei mit der Einführung des Standrechts eine
ſtandgerichtliche. Dieß nun heißt, daß Verhaftung, Hausſuchung,
Beſchlagnahme und Waffenrecht im Namen des Standgerichts ausgeübt
werden. Die rechtliche Formel daher iſt die, daß die Polizei für ihre
Funktionen nicht mehr eines gerichtlichen Befehles bedarf; daß
[129] alſo die Verhaftung ohne gerichtlichen Befehl auch bei nicht handhafter
That, daß die Hausſuchung ohne denſelben auch bei nicht vorliegender
elementarer Gefahr, und daß die Beſchlagnahme auch ohne gerichtlichen
Befehl und ohne Zuziehung der Gemeindeorgane ſtattfinden kann. Der
Waffenbeſitz als ſolcher kann zu einem Verbrechen gemacht und poli-
zeilich verfolgt werden. Dieß iſt der Unterſchied zwiſchen der ſtand-
rechtlichen und Verwaltungspolizei; derſelbe iſt kaum klar zu erkennen,
ohne daß man das Syſtem der Einzelpolizei in ſeinen beiden Elementen,
dem gerichtlichen und dem ſicherheitspolizeilichen, vor Augen hat. Wir
kommen ſogleich auf das Letztere, und bemerken nur, daß wie die Theorie
ſo auch die Geſetzgebungen hier nicht vollſtändig klar ſind. Es muß
daher das Recht der Standrechtserklärung eben ſo gut, als das der Er-
klärung des Kriegszuſtandes noch eine Erläuterung in Beziehung auf
die Verfaſſungen empfangen.
III. Das Verhältniß der Verfaſſungsurkunden zu jenen beiden ſicher-
heitspolizeilichen Maßregeln kann zunächſt nur hiſtoriſch erklärt werden.
Die Verfaſſungsurkunden bezeichnen nämlich hiſtoriſch das Heraus-
treten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aus der polizeilichen Verwaltung.
Es war daher eine ihrer Hauptaufgaben, das individuelle ſtaatsbürger-
liche Recht vor der Polizei mit ihrer naturgemäß unbeſtimmten Be-
rechtigung zu ſchützen. Dadurch geſchah es, daß die großen Principien
der Einzelpolizei nicht bloß in die Verfaſſungen aufgenommen wurden,
wohin ſie gar nicht gehören, ſondern auch eine weſentliche Stelle
in derſelben einnehmen. (S. den folgenden Abſchnitt.) Die nothwendige
Conſequenz davon war die, daß die im reinen Begriff der höheren
Sicherheitspolizei liegende Befugniß zur Erklärung des Belagerungs-
zuſtandes und ſeines Rechts als eine theilweiſe Aufhebung der Ver-
faſſung angeſehen wurde, und daher natürlich unter alle die Fragen
und Beſtimmungen fällt, welche ſich an die Aenderungen der Verfaſſung
anknüpfen. Die geſchichtlich wohlbegründete Abneigung gegen die reine
Polizeiverwaltung übertrug ſich daher auf jenes Recht der Erklärung
des Belagerungszuſtandes, denn das richtige Gefühl ſagte den Völkern,
daß im Grunde der Belagerungszuſtand gar nichts anderes iſt, als die
Herſtellung des Verwaltungs- und Sicherheitspolizeirechts
des vorigen Jahrhunderts innerhalb der verfaſſungs-
mäßigen Verwaltung des unſrigen. Daher denn das Suchen
nach einer Begränzung des Rechts der Erklärung dieſes Zuſtandes, und
zweitens die Entſtehung der Frage, ob die verfaſſungsmäßigen Funktionen
des Volkes durch die Erklärung des Belagerungszuſtandes aufgehoben
werden.
Was nun den erſten Punkt betrifft, ſo gibt es dafür drei Syſteme.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 9
[130] Entweder kann der Belagerungszuſtand nur durch den Beſchluß der
Reichsvertretung eingeführt werden, wie in England, oder er kann
durch Verordnung des Miniſteriums, aber gegen deſſen Verantwortlich-
keit gegenüber der Volksvertretung erklärt werden, wie in Preußen, oder
endlich erklären ihn einfach die höheren und höchſten Verwaltungsbehörden
als ſicherheitspolizeiliche Maßregel, wie in Frankreich und Oeſterreich.
Von dieſen Syſtemen iſt ohne Zweifel das zweite das beſte.
In Betreff des zweiten Punktes muß man einfach ſagen, daß die
Vornahme der verfaſſungsmäßigen Funktionen durch den Belagerungs-
zuſtand als ſolchem nicht unterbrochen werden dürfe, ſondern daß eine
ſolche Unterbrechung, wie namentlich die Siſtirung von Wahlen, nur
auf Grundlage örtlicher Unruhen, und zwar alsdann gegen Mittheilung
an die verfaſſungsmäßigen Vertretungskörper und unter Verantwort-
lichkeit der Verwaltungsbehörde eintreten kann.
Geſetzgebung und Literatur. Mohl ſchweigt. Faſt die einzige
Arbeit iſt Mittermaier, Geſetz über die perſönliche Freiheit (Ar-
chiv des Criminalrechtes 1849). — In England erſcheint der Belage-
rungszuſtand als Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte, kann nur durch
Parlamentsbeſchluß eingeführt werden, enthält nie das Eintreten der
Militärgerichte, ſondern weſentlich nur das Recht auf Verhaftung und
die Aufhebung der Freilaſſung gegen Caution. Mittermaier ebend.
S. 20. (S. das Folgende.) — In Frankreich iſt die verfaſſungsmäßige
Möglichkeit des bürgerlichen Belagerungszuſtandes zuerſt durch das Geſetz
vom 10 Frimaire, an VII eingeführt und dann die Grundzüge des Rechts
deſſelben in der Conſtitution von 1799 (an VIII) Art. 91 aufgeſtellt, die
wir anführen, weil ſie nicht eben das ſicherheitspolizeiliche, wohl aber das
rechtliche Verhältniß des Belagerungszuſtandes zur Verfaſſung ſo formu-
liren, daß die deutſchen Geſetze derſelben faſt ausſchließlich gefolgt ſind.
Es heißt: „Dans le cas de révolte à main armée, ou de troubles qui
menacent la sûreté de l’État, la loi peut suspendre dans les lieux
ou pour le temps qu’elle détermine, l’empire de la constitution.
Cette suspension peut être provisoirement declarée dans les mêmes
cas, par un arrêté du gouvernement, le corps législatif étant en
vacances, pourvu que ce corps soit convoqué au plus court terme
par un article du même arrêté.“ Nur überſah man, daß dieſer
Artikel alle verfaſſungsmäßigen Funktionen aufhebt, und daher die
ſofortige Berufung des geſetzgebenden Körpers fordert. Erſt unter Na-
poleon I. wird dann der état de guerre von dem état de siège ge-
ſchieden, jeder mit eigenem Recht; die polizeiliche und gerichtliche
[131] Organiſirung des bürgerlichen Belagerungszuſtandes datirt erſt von dem
Decret vom 24. December 1811, mit Einführung der militäriſchen
Gerichtsbarkeit (Arrêté vom 30. Juni 1832). Streit durch Conſtitution
vom 24. Juni 1848, Art. 106, namentlich wer den Belagerungs-
zuſtand erklären darf. Conſtitution von 1852, Art. 12: Recht des
Kaiſers; Geſetz vom 9. Auguſt 1849: Nur die juridiction criminelle
geht über an die militäriſche Gerichtsbarkeit. Laferrière Dr. adm. I.
art. II.Mittermaier a. a. O. S. 34 ff. — Oeſterreich: Die Er-
klärung ſteht dem Landeschef zu; das Standrecht wird verkündet. Bildung
des Standgerichts durch den Vorſteher des Gerichtshofes; das
Ganze iſt weſentlich Gegenſtand der Strafproceßordnung (§. 396 u. ff.)
Dieſe §§. haben es nur mit dem bürgerlichen Belagerungszuſtand zu
thun, für den ſie den Namen des „Standrechts“ feſthalten; Beſtim-
mungen über den Kriegszuſtand fehlen. Militäriſche Beſtimmungen ſind
von 1803; modificirt durch Hofdecret vom 10. Februar 1816. Kund-
machung vom 24. November 1849 und 22. Februar 1848. (Stuben-
rauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 209. Mittermaier a. a. O.
S. 42.) — Preußen: Recht der Verfaſſungsurkunde von 1848, §. 109.
(Mittermaier a. a. O. S. 43.) Dieſe allgemeine Beſtimmung wird
erſt ausgeführt durch die Verfaſſungsurkunde von 1850. Die Grund-
lage des preußiſchen Rechts iſt die ſtrenge Unterſcheidung zwiſchen dem
Kriegszuſtand und dem bürgerlichen Belagerungsrecht, indem nach dem
oben bezeichneten franzöſiſchen Vorgange der erſte ſich auf einen feind-
lichen Angriff, ſpeziell auf Feſtungen bezieht, und daher auch vom
Feſtungscommandanten ausgeſprochen werden kann, während den bürger-
lichen Belagerungszuſtand nur das Staatsminiſterium erklären darf.
Art. 111 der Verfaſſungsurkunde von 1850 ſtellte nämlich den Grund-
ſatz feſt, daß die Regierung das Recht habe, bei Gefahr für die öffent-
liche Sicherheit gewiſſe verfaſſungsmäßige Rechte zu beſchränken, und ver-
ſprach ein eigenes Geſetz. Dieſes erſchien: Geſetz vom 4. Juni 1851
über den Belagerungszuſtand, das ausführlichſte unter allen exiſti-
renden Geſetzen, hart, aber klar. Erklärung des, vom militäriſchen
(§. 1) geſchiedenen bürgerlichen Belagerungszuſtandes durch das Staats-
miniſterium; öffentliche Bekanntmachung; Uebergang der geſammten
vollziehenden Gewalt an die militäriſche; dagegen iſt die ſpezielle
Suſpenſion der einzelnen bürgerlichen verfaſſungsmäßigen Rechte noth-
wendig. Dabei Verpflichtung zur Anzeige an die Volksvertretung.
Rönne, Staatsrecht I. 47, §. 101. Bayern: Ohne eigenes Geſetz; das
Recht des Aufruhrs iſt hier wie in Oeſterreich Theil des Strafgeſetz-
buches (1813, Art. 441). (Pözl, Verfaſſungsrecht §. 161.) — In den
übrigen deutſchen Staaten nach Vorgang der Reichsverfaſſung vom
[132] 28. März 1849 (Art. IV.) meiſt allgemeine Anerkennung des Rechts der
Regierung auf Erklärung des Standrechts, jedoch ohne beſtimmte Ge-
ſetzgebung. Oldenburg: Verfaſſungsurkunde von 1852, Art. 54. Wal-
deck: §. 96. Reuß: Geſetz vom 20. Juni 1856, Art. 38. Luxem-
burg: Verfaſſungsurkunde von 1856, Art. 113. Dagegen in Baden
eine ganze Geſetzgebung: Geſetz vom 7. Juni 1848; ſtrenges Geſetz
vom 23. Oktober 1848; endlich beſſer organiſirt durch Geſetz vom
29. Januar 1851 über Kriegszuſtand und ein zweites eodem über Be-
lagerungszuſtand. In Württemberg bezieht ſich das „Standrecht“
nur auf das Militär; für den Belagerungszuſtand keine Geſetzgebung.
(Mohl, Württemb. Verwaltungsrecht §. 236.) Königreich Sachſen:
Miniſt.-Geſetz v. 10. Mai 1851 enthält im §. 13 ff. die Beſtimmungen über
die Erklärung des ganzen Landes oder einzelner Orte in Belagerungs-
ſtand. (Funke, Polizeirecht V. S. 124. 125. In den übrigen Staaten
fehlt die Geſetzgebung. Mittermaier a. a. O. 41 ff. Zöpfl, deutſches
Staatsrecht I. 414.) In Holland iſt man ſich nach de Bosch-Kemper
§. 343 (Maatregelen by oproer, in-staat-van-beleg-stelling) nicht
einig darüber geworden, ob das franzöſiſche Recht (ſ. oben), das ſeiner
Zeit auch in Holland eingeführt ward, daſelbſt noch gilt oder nicht,
obwohl man zugibt, daß bei Aufruhr „die Gemeinde in eine außer-
ordentliche Stellung zur Regierung kommen kann, welche ungewöhnliche
Maßregeln nöthig macht.“ (S. Literatur darüber a. a. O.) — Das
belgiſche Recht ſcheint ganz das franzöſiſche beibehalten zu haben. (De
Fooz, Droit adm. c. T. 1. Chap. II.)
Zweite Abtheilung.
Einzelpolizei.
I. Begriff und Recht der gerichtlichen und der eigentlichen Einzelpolizei.
Bei der großen Wichtigkeit des Gebietes der Einzelpolizei und
ihrem innigen Zuſammenhange mit dem bisher dargeſtellten Syſteme
des Polizeirechtes wird es uns verſtattet ſein, dieſen Gegenſtand auf
ſeine allgemeinen Grundlagen zurück zu führen, bevor wir auf die ein-
zelnen Punkte eingehen, namentlich da man gerade hier ohne die ſtrenge
Scheidung von gerichtlicher und Verwaltungspolizei nicht zu einem klaren
Rechtsſyſteme gelangen kann.
Dieſe allgemeinen Grundlagen dürften nun folgende ſein:
Die Einzelpolizei enthält ihrem formalen Begriffe nach diejenigen
[133] Beſchränkungen der individuellen Freiheit durch die Organe der Sicher-
heitspolizei, welche durch die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und
Rechtsordnung durch den Einzelnen gefordert werden.
Dieſe Bedrohung oder Gefährdung iſt es nun, welche durch ihre
zwei Grundformen die zwei Grundformen der polizeilichen Thätigkeit
und damit die zwei Rechtsſyſteme der Einzelpolizei hervorruft.
Jene Gefährdung kann nämlich einerſeits in der durch die Thätig-
keit der Betreffenden erzeugten Strafloſigkeit einer bereits geſchehenen
Rechtsverletzung liegen, oder ſie kann in der Gefahr beſtehen, daß
eine ſolche Verletzung des öffentlichen oder Privatrechts durch beſtimmte
Handlungen des Einzelnen demnächſt entſtehe. Beide Fälle der Ge-
fahr, obwohl ganz ungleichartiger Natur, hat die Polzei abzuwenden.
In beiden Fällen kann ſie in die Lage kommen, um der öffentlichen
Sicherheit willen in die Rechtsſphäre des einzelnen Individuums ein-
greifen zu müſſen. In beiden Fällen muß die Aktion, welche ihr noth-
wendig erſcheint, bis zu einem gewiſſen Grade ihrem einſeitigen Er-
meſſen aus den bereits im allgemeinen Theile aufgeſtellten Gründen
überlaſſen werden. Aber da in beiden Fällen die Unverletzlichkeit des
Einzelnen zugleich erhalten und vor Irrthum und Willkür der Polizei
geſchützt werden ſoll, ſo muß jene Gränze für das Ermeſſen der Polizei
rechtlich feſtgeſtellt werden. Und diejenigen rechtlichen Beſtimmungen
nun, durch welche dieß geſchieht, bilden das Recht der Einzelpolizei.
Dem Obigen gemäß zerfällt dieß Recht der Einzelpolizei daher in
zwei große Abtheilungen. Die Polizei kann nämlich zuerſt bei jenen
Eingriffen in die perſönliche Freiheit als das vollziehende Organ der
Rechtspflege oder des Gerichts auftreten, und dann iſt ſie gerichtliche
Polizei. Oder ſie kann als Organ der öffentlichen Rechtsſicherheit die
Sicherung der letzteren durch ſolche Eingriffe herſtellen, und dann iſt ſie
Sicherheitspolizei. Das Recht beider Arten der Funktionen iſt ſchon
früher bezeichnet. Das Recht der gerichtlichen Polizei beſteht darin, daß
die Einzelpolizei hier keine andere Verpflichtung hat, als die der Aus-
führung eines Befehles, und daher auch keine Haftung übernimmt. Das
Recht der Verantwortlichkeit für das, den Befehl gebende Gericht iſt
von dem Strafproceß vorgeſchrieben, oder in den Inſtruktionen der
Staatsanwaltſchaft enthalten, und die Haftung der Polizei beſteht daher
eben nur in der richtigen Ausführung des Befehles. Die Formen
dieſer Ausführung und die Gränze, bis zu welcher dieſe Ausführung
in den Eingriffen in die perſönliche Freiheit gehen kann, ſind in den
geſetzlichen Vorſchriften über das gerichtliche Verfahren beſtimmt, wie
bei Verhaftung, Hausſuchung u. ſ. w. Alle dieſe Vorſchriften bilden
kein Polizeirecht, ganz gleichgültig, ob ſie von der Polizei oder von einem
[134] anderen Organe, oder ſelbſt von einzelnen Staatsbürgern (wie bei Er-
greifung auf handhafter That) ausgeführt werden, ſondern einen integri-
renden Theil des Strafverfahrens. Sie gehören daher auch gar nicht
in das Verwaltungsrecht, ſondern in die Lehre von der Rechtspflege.
Nur auf Einem Punkte erſcheint das Polizeirecht auch in dieſem Gebiete.
Dieß iſt da, wo der Einzelne der gerichtlichen Aktion des Polizeiorganes
Widerſtand entgegenſetzt. Dasjenige Polizeirecht jedoch, welches das
Recht der Polizei gegenüber dem Widerſtande des Einzelnen beſtimmt, iſt
ein Theil des Rechts der vollziehenden Gewalt, und erſcheint in der
Verwaltungslehre in demjenigen, was wir das allgemeine Polizeirecht
genannt haben. Auch dieß fällt daher nicht unter die Einzelpolizei.
Man muß daher zuerſt davon ausgehen, daß die geſammte Funktion
der gerichtlichen Polizei, welche eben in der Ausführung irgend
eines gerichtlichen Befehles gegen den Einzelnen geſchieht, überhaupt
keinen Theil des Sicherheitspolizeirechts gegen den Einzelnen bildet.
Das Recht der eigentlichen Polizei gegen den Einzelnen beginnt
daher erſt da, wo entweder in Beziehung auf ein ſchon begangenes Ver-
brechen oder bei einer vorhandenen öffentlichen Gefährdung die Polizei im
Namen der öffentlichen Sicherheit das Recht des Einzelnen nach ihrem
eigenen Ermeſſen beſchränkt. Das Kriterium dieſes Rechts gegenüber
dem der gerichtlichen Polizei beſteht nun, wie erwähnt, darin, daß das
Intereſſe der öffentlichen Sicherheit ein ſolches ſelbſtändiges Einſchreiten
der Sicherheitspolizei ohne gerichtlichen Befehl niemals ganz ausſchließen
kann; daß aber dieſes Einſchreiten geſetzliche Gränzen hat, und daß in
jedem ſolchen Falle die Polizei für die Innehaltung dieſer Gränzen
ſelbſtändig haftet und das Polizeiorgan dafür perſönlich verant-
wortlich wird.
Offenbar nun hat dieſe Haftung der Sicherheitspolizei für ihre
eigne ſelbſtändige Aktion einen ganz anderen Charakter als die des
Gerichts. Denn das letztere kann ſich zwar irren, aber es kann kein
Unrecht thun in ſeinen Entſcheidungen. Die Sicherung der perſönlichen
Freiheit beſteht hier daher in der Appellation. Die Polizei aber kann
poſitiv das Geſetz überſchreiten. Es kann daher, da der Einzelne der-
ſelben gehorchen muß, die Rechtsſphäre des letzteren nur durch die geſetzlich
anerkannte perſönliche Haftung des Polizeiorgans wirklich geſchützt werden.
Eine ſolche iſt nun aber nur denkbar, indem dem Einzelnen ein förm-
liches Klagrecht gegen die Organe der Sicherheitspolizei und ihre
Eingriffe in die Freiheit eingeräumt wird, da eine bloße Beſchwerde
zwar die Verkehrtheit der Aktion der Polizei als öffentliches Organ etwa
im Disciplinarwege beſtraft, aber für die Verletzung der Einzelfreiheit
keinen Entgelt gibt. Man muß daher ſagen, daß das entſcheidende
[135] Kriterium dafür, ob jener ſo tief greifende Unterſchied zwiſchen der ge-
richtlichen und der Sicherheitspolizei und ihrem Rechte wirklich anerkannt
iſt oder bloß im Gefühle beſteht, in allen Rechtsſyſtemen darin liegt, ob
dem Einzelnen bei Ueberſchreitungen der Sicherheitspolizei ein eigenes
Klagrecht gegen das einzelne Polizeiorgan eingeräumt und
organiſirt iſt, oder nicht. Denn es iſt klar, daß ohne ein ſolches
Klagrecht zwar eben ſo genaue Vorſchriften über das Verhalten der
Sicherheitspolizei als ſolche gegeben ſein können, wie ſie in den Straf-
proceßordnungen für das Verfahren derſelben als gerichtlicher Polizei
wirklich meiſtens gegeben ſind, daß aber gegen die Uebertretungen ſolcher
Vorſchriften kein eigentlicher Rechtsſchutz beſteht, indem ſelbſt bei vor-
kommender Beſchwerde die Polizei hier Richterin über das Verhalten
ihrer Organe gegenüber dem geſetzlichen Polizeiverfahren gegen Einzelne
bleibt, was mit dem Weſen der Rechtspflege in Widerſpruch ſteht. Alle
allgemeine Beurtheilung des Einzelpolizeirechts muß daher von dieſer
beſtimmten Frage ausgehen.
Um nun das zu können, muß natürlich erſt die Vorfrage betrachtet
werden, ob überhaupt für das Verfahren der Sicherheitspolizei als
ſolcher, abgeſehen von ihrer Funktion als vollziehendes Organ der
Rechtspflege, überhaupt Geſetze beſtehen. Und dieſe Frage kann
nun nicht füglich ohne einen Blick auf die hiſtoriſche Entwicklung ge-
löst werden.
Dieſelbe beruht nämlich, wie es aus den früheren Darſtellungen
hervorgeht, auf dem Proceß, durch welchen überhaupt die Funktion der
Sicherheitspolizei von der der Gerichte getrennt wurde, eine Trennung,
welche im Gebiete der Competenz den Uebergang von der ſtändiſchen
Geſellſchaft und ihrer Rechtsordnung zu der ſtaatsbügerlichen bezeichnet.
Dieſe Trennung der Polizei vom Gericht, oder der Adminiſtration von
der Juſtiz, erſcheint nämlich zuerſt als eine negative Scheidung ihrer
beiderſeitigen Funktionen; dieſer aber lag die ſehr beſtimmte Anſchauung
zum Grunde, daß nur das Gericht durch ſeine Funktion den Staats-
bürgern Schutz ihres Rechts gewähre. Von dieſer Anſchauung aus kam
man zu der erſten ſehr wichtigen und richtigen Conſequenz, daß die
wichtigſte Aufgabe des öffentlichen Rechts zum Schutze der perſönlichen
Freiheit darin beſtehen müſſe, die Funktion der Sicherheitspolizei in Be-
ziehung auf den Einzelnen ſo zu ordnen, daß dieſelben ſo ſchnell und
ſicher als möglich in eine Funktion der Gerichte übergehe. Dieß
bildete ſich, wie es in der Natur der Sache lag, zuerſt aus bei der
Verhaftung, und ward dann bald auf die anderen Theile der Einzel-
polizei ausgedehnt. Die leitenden Grundſätze dafür wurden aus dem
engliſchen Recht genommen. Dieſelben beſtehen darin, daß niemand
[136] ſeinem ordentlichen Richter entzogen werden, alſo durch keine Polizei ver-
urtheilt werden kann, daß keine andere, als eine geſetzlich gültige Strafe
ausgeſprochen werden darf, und daß die Sicherheitspolizei die Verpflich-
tung habe, den von ihr Ergriffenen in einer möglichſt kurzen Friſt vor
den Richter zu ſtellen, der dann über die Fortdauer der Verhaftung
u. ſ. w. entſcheidet. Eben ſo ward das Hausrecht dahin beſtimmt, daß
der Polizei das Recht genommen wurde, als reine Sicherheitspolizei,
alſo ohne gerichtlichen Befehl, das Haus zu betreten. Dieſe Grundſätze
treten auf dem Continent bekanntlich zuerſt in der Déclaration des
droits de l’homme et du citoyen vom 26. Auguſt 1789 auf, aber
freilich noch in ganz abſtrakter Form (art. 7: Un homme ne peut
être accusé, arrêté ni détenu que dans les cas déterminés par la
loi). Die folgenden Verfaſſungen behalten dieſen allgemeinen Satz bei,
ohne zum Hausrecht und zur Beſchlagnahme überzugehen; die Charte
vom 4. Juni 1814 und die von 1830 führen ihn wörtlich fort, und das
Recht der drei andern ſicherheitspolizeilichen Funktionen wird durch
eigne Geſetze beſtimmt. Allein der Grundgedanke, daß jenes Recht der
perſönlichen Freiheit eine der großen und unabweisbaren Grundlagen
der ſtaatsbürgerlichen Ordnung ſei, erhält ſich von da an dauernd im
Bewußtſein der Völker, und den Ausdruck dieſes Bewußtſeins bildet
dann die Aufnahme jenes abſtrakten Princips faſt in alle continentalen
Verfaſſungen dieſes Jahrhunderts. Daſſelbe ſteht ſo feſt, daß auch die
neueſten Verfaſſungen, nicht nur Deutſchlands, ſondern auch die außer-
deutſchen, jenen Satz faſt mit gleichen Worten wiederholen, wie das
däniſche Grundgeſetz vom 3. Juni 1849 (VIII. §. 45 ff.), bis herab
zum Grundgeſetz von Serbien vom Jahre 1863 und Rumänien
von 1866. Auf dieſer Grundlage ließ ſich dann allerdings leicht weiter
bauen, und ein ausgebildetes Syſtem des Rechts der gerichtlichen
Einzelpolizei errichten. Das iſt nun zum Theil in einzelnen ſpeziell
dafür beſtimmten Geſetzen geſchehen; die Hauptbeſtimmungen jedoch
bilden den Inhalt eines Theils der Strafproceßordnungen unſeres Jahr-
hunderts. Auch hier geht die franzöſiſche Strafproceßordnung des Code
d’Instr. crim. voran; ihr folgen dann langſam die der deutſchen Staaten,
welche jenes gerichtliche Polizeirecht ſehr genau und gut ausgebildet
haben. Und bei dieſem Syſtem iſt man nun in Betreff des geſetzlichen
Polizeirechts formell ſtehen geblieben.
In der That aber war dabei ein ſehr weſentliches Moment nicht
klar geſtellt, und das iſt es, worauf es gerade für das Verwaltungs-
recht ankommt. Unzweifelhaft nämlich gibt es eine Reihe von Fällen,
in denen zwar wirklich geſchehene Verbrechen vorliegen, in denen aber
aus irgend einem Grunde ein gerichtlicher Auftrag an die Polizei nicht
[137] gegeben iſt, und in welchem das Einholen eines ſolchen auch nicht möglich
iſt. Es iſt klar, daß in dieſen Fällen die Polizei nach eigenem Er-
meſſen vorgehen muß, und daß das Recht dieſer eigentlichen, oder ſicher-
heitspolizeilichen Funktion in den Strafproceß- und gerichtlichen Polizei-
ordnungen nicht gegeben iſt. Dennoch war ein ſolches Recht eben ſo
nothwendig, als das gerichtliche Polizeirecht. Und hier müſſen wir nun
ſagen, daß die Geſetzgebungen Europa’s nicht vollſtändig, und da, wo
ſie es ſind, nicht immer klar ſind, da ſie faſt durchſtehend den An-
forderungen dieſes Rechts durch die bereits angeführten Beſtimmungen
zu genügen glaubten, nach denen die Polizei namentlich in Verhaftungs-
fällen die Verhafteten an das gerichtliche Verfahren zu überliefern habe.
Zugleich rief die zum Theil ſehr genaue Ausführung der gerichtlichen
Polizei einerſeits, und der Mangel einer ſelbſtändigen wiſſenſchaftlichen
Bearbeitung des Polizeirechts anderſeits eine ſehr einſeitige ſtrafproceßliche
Auffaſſung des ganzen Verhältniſſes bei den Criminaliſten hervor, und
wir ſind daher auch auf dem Gebiete der Einzelpolizei nicht zu einem
rechtlichen theoretiſchen Syſteme gekommen, das allerdings in der crimi-
naliſtiſchen Jurisprudenz keine Stelle hatte, da dieſe immer erſt bei
dem gerichtlichen Befehle und ſeinen Folgen anfängt.
Daß nun eine ſolche ſelbſtändige Behandlung des Einzelpolizei-
rechts nothwendig iſt, wird wohl niemand bezweifeln; eben ſo wenig,
daß ſie einen unabweisbaren Theil des Verwaltungsrecht im Allgemeinen,
des Sicherheitspolizeirechts im Beſondern bildet. Wir wollen daher ver-
ſuchen, die Elemente derſelben hier darzulegen, indem wir die vielfach ge-
gebenen, aber zerſtreuten Beſtimmungen und Anſichten auf ein beſtimmtes
Syſtem zurückführen. Es darf demnach als Reſultat des Bisherigen der
Satz feſtgehalten werden, daß das Recht der Einzelpolizei das Recht der-
jenigen polizeilichen Eingriffe in die perſönliche Freiheit des Einzelnen
iſt, welche für die Verfolgung von Verbrechen oder für die Erhaltung
der öffentlichen Sicherheit von der Polizei vorgenommen werden, ohne
daß dieſelben auf Grund einer richterlichen Anordnung
geſchehen, indem wir die letztere nunmehr definitiv als eigentliche
gerichtliche Polizei in das Gebiet des Strafproceſſes verweiſen.
Dieß Recht der Einzelpolizei hat nun wieder einen allgemeinen
Theil, und vier beſondere Fälle, in denen die Grundſätze dieſes allge-
meinen Theils zur beſonderen Anwendung gelangen.
II. Allgemeine Principien des Rechts der eigentlichen Einzelpolizei.
Die eigentliche Einzelpolizei hat nun ihrerſeits, als eine von der
gerichtlichen Polizei ſelbſtändig geſchiedene Funktion, zwei Hauptauf-
[138] gaben. Die erſte dieſer Hauptaufgaben gehört, trotz ihrer formellen
und rechtlichen Selbſtändigkeit, der Funktion der Rechtspflege an; erſt
die zweite iſt rein polizeilich. Und es iſt nicht etwa die Identität des
letzten Zweckes der erſten Funktion mit dem der geſammten Rechtspflege,
welche eine ſelbſtändige Behandlung derſelben gehindert hat.
Ohne Zweifel hat nämlich die Polizei die Aufgabe, auch ohne
richterlichen Befehl geſchehene Verbrechen zu entdecken, die Beweismittel
zu ſammeln und die Möglichkeit der Beſtrafung zu ſichern. Sie hat
daher die Pflicht, alle diejenigen Thätigkeiten vorzunehmen, welche
die Bedingung der Erfüllung dieſer Aufgabe ſind. Das Recht der
Einzelpolizei wird daher die Gränze bedeuten, welche jene Thätig-
keiten gegenüber der perſönlichen Freiheit zu beobachten haben. Nun
iſt es ganz unmöglich, dieſe Gränze für alle denkbaren Fälle aufzu-
ſtellen. Und da nun trotzdem die Polizei auch ohne gerichtlichen Befehl
jene Aufgabe erfüllen muß, ſo kann dieß Rechtsgebiet nur auf zwei
Punkten beruhen. Erſtlich muß die Polizei für die Geſammtheit aller
Fälle, um die es ſich dabei handelt, ein leitendes Princip haben,
und zweitens muß ſie durch gerichtliche Haftung genöthigt werden,
in jedem einzelnen Falle nach dieſem Princip auch wirklich zu verfahren.
Dieſes allgemeine Recht der Einzelpolizei, das allerdings ſehr ge-
eignet iſt, die ganze Thätigkeit der Polizei in hohem Grade beſchwerlich
zu machen, wird nun in den folgenden vier Fällen in den meiſten
Ländern durch ſpezielle Geſetze ſo genau beſtimmt, daß die polizeiliche
Funktion dadurch wieder ſehr erleichtert wird. Allein dennoch bleiben
jene leitenden Principien von hohem Werthe, ſowohl für die Polizei
ſelbſt als für die ſtaatsbürgerliche Freiheit.
Der erſte Grundſatz dafür iſt nun der, daß die Polizei, wo ſie
als ſolche ein Verbrechen verfolgt, das Gericht beſtändig von den Er-
gebniſſen ihrer Beobachtung in Kenntniß zu halten hat, um auf dem
Punkt, wo es zur Verfolgung nothwendig wird, den gerichtlichen Be-
fehl bereits in Händen zu haben, vermöge deſſen ſie dann als ge-
richtliche und nicht mehr als Sicherheitspolizei in die Freiheit des Ein-
zelnen eingreifen kann. Dieß Syſtem gilt faktiſch in England und
Frankreich, und iſt die natürliche Conſequenz der wohl motivirten ge-
richtlichen Haftungspflicht der Polizei, welche darin das Mittel beſitzt,
ſich von der letzten ſo weit als möglich frei zu machen. Es wäre gut,
dieß Princip zu einem geltenden durch Aufnahme in alle Polizei-
inſtruktionen zu machen.
Der zweite Grundſatz iſt der, daß da, wo die Polizei in der
Lage iſt, dennoch ohne gerichtlichen Befehl in die Sphäre der perſön-
lichen Freiheit einzugreifen, ſie ihr Verfahren nur ſo einrichten, alſo
[139] die perſönliche Freiheit nur ſo weit beſchränken ſoll, daß die Thatſachen,
auf die es ankommt, ungetrübt und ungeſtört dem Gerichte vorgelegt
werden können. Die Polizei hat daher hier eine weſentlich negative
Aufgabe. Sie hat den Einzelnen zu nichts zu zwingen, ſondern ihn
nur zu hindern, ſich ſelbſt oder Beweismittel dem gerichtlichen Ver-
fahren zu entziehen. Alles was darüber hinausgeht, liegt ſchon außer-
halb der Sphäre des Rechts der Sicherheitspolizei, und in der That ſind
die meiſten Sätze der folgenden einzelnen Fälle nichts anders als An-
wendungen dieſes Satzes.
Der dritte Grundſatz iſt nun der, daß die Polizei für das, was
ſie in dieſer Beziehung wirklich thut, dem Einzelnen haftet, und daß
mithin derſelbe in allen Fällen das betreffende Organ auf dem Wege
der Klage für ſein Verfahren gerichtlich verfolgen kann. Dieß iſt natür-
lich der wichtigſte von allen Sätzen; von ihm hängt der praktiſche Werth
der obigen Principien ab, und es muß gefordert werden, daß jede Ge-
ſetzgebung dieſes Klagrecht als ein ſelbſtändiges Recht anerkenne und
als ſolches formulire.
Die Anwendung dieſer Grundſätze findet ſich nun in den folgen-
den Punkten.
Da eine eigene Geſetzgebung über das Recht der Einzelpolizei im
Allgemeinen fehlt, ſo wird das, was über die Verantwortlichkeit der Polizei
beſtimmt iſt, für dieß ganze Gebiet des Polizeirechts entſcheidend. Nun
ſteht allerdings wohl in ganz Europa feſt, daß jeder Beamtete für die
Ueberſchreitung ſeiner amtlichen Gewalt gerichtlich zur Rechenſchaft ge-
zogen werden kann. Allein dieß Princip hat dennoch zwei weſentlich
verſchiedene Formen, die wir als die engliſche und die continentale
bezeichnen können. Das engliſche Princip iſt, wie ſchon früher ausge-
führt, daß jeder, der ſich durch die Ausübung der Polizeigewalt verletzt
glaubt, das betreffende Organ auf dem Wege der Einzelklage ver-
folgen, und eventuell zu Strafe und Schadenerſatz verurtheilen laſſen
kann (ſ. oben und in der vollziehenden Gewalt). Die viel ſtrengere amt-
liche Entwicklung auf dem Continent hat das Princip der Haftung zwar
ſchon in der franzöſiſchen Revolution in allgemeinen Sätzen anerkannt,
allein es hat ſich nie zum engliſchen Recht der Privatklage gegen das
Polizeiorgan erheben können. Der franzöſiſche Grundſatz iſt ſchon in der
Déclaration des droits (art. 9) aufgeſtellt, freilich nur für die Verhaftung:
„toute rigueur qui ne serait pas nécessaire pour s’assurer (d’une
personne) doit être sévèrement réprimée par la loi“ und dann ſpeziell
wiederholt in der Conſtitution von 1793, Art. 10. Die folgende Zeit
läßt denſelben dann aus den Verfaſſungen weg und ſchiebt ihn in das
[140] Strafrecht hinüber, und hier erſcheint derſelbe als das Strafrecht des
Amtsmißbrauchs in allen continentalen Strafrechten. Allein der weſent-
liche Unterſchied zwiſchen dieſem Recht und dem engliſchen beſteht den-
noch darin, daß die Verfolgung des Amtsmißbrauchs Sache der
Staatsanwaltſchaft iſt, daß alſo dasjenige Organ, welches eben
die Sicherheitspolizei am meiſten gebraucht, zugleich daſſelbe ſein muß,
das ſie im einzelnen Fall verklagt — ein Mißverhältniß, das natürlich
praktiſch faſt dieſelben Folgen haben kann, als ob es gar kein Geſetz in
dieſer Beziehung gäbe. Die Geſetze zum „Schutze der perſönlichen Freiheit,“
wie das preußiſche von 1850 und die neueſten öſterreichiſchen von 1862,
ſind im übrigen eben ſo gut, zum Theil beſſer, wie das engliſche Recht.
Nur in dem obigen Punkte fehlt der entſcheidende Schlußſatz, der freilich
eine weſentlich andere Auffaſſung auch im Strafproceß vorausſetzt.
Auch auf dieſem Punkte wird nur durch die Einführung der Schwur-
gerichte geholfen werden. — Die Uebung, daß die Polizei ſich mit Be-
fehlen des Gerichts verſieht, um ſie anwenden zu können, wenn nöthig,
ſollte ganz regelmäßig eingeführt werden. Wie man es in Frankreich
macht, zeigen unter anderm Caulers Memoiren. Warum hat Stieber
bei ſeiner ſonſt praktiſchen Darſtellung nicht darauf hingewieſen? Oder
iſt es mehr ein Mangel in der Verantwortlichkeit im preußiſchen Syſtem,
als ein Mangel in dem Schriftſteller?
III. Das Syſtem des Rechts der Einzelpolizei.
1) Die polizeiliche Verhaftung.
Auf Grundlage der obigen Darlegung ſcheiden wir nunmehr ganz
beſtimmt die polizeiliche Verhaftung als diejenige, welche die Polizei
kraft ihres eigenen beſonderen Rechts vollzieht, von der gerichtlichen,
die auf Befehl eines Gerichts vorgenommen wird. Die letztere mit
allen dahin gehörigen Fragen, Caution, Unterſuchungshaft u. ſ. w.,
verweiſen wir definitiv in den Strafproceß. Nur die erſtere gehört
dem Polizei-, und damit dem Verwaltungsrechte an.
Es iſt nun wohl klar, daß gerade in dieſem polizeilichen Ver-
haftungsrecht das Hauptgebiet desjenigen liegt, was wir das Recht des
Schutzes der perſönlichen Freiheit nennen. Denn in der That iſt es
vollſtändig unmöglich, zu verkennen, daß der Akt der Verhaftung nicht
immer auf einen gerichtlichen Befehl warten kann, und daß es daher
neben und vor der gerichtlichen Verhaftung noch eine polizeiliche gibt
und geben muß, die ihrerſeits ein Recht zum Schutze der perſönlichen
Freiheit fordert, ſo gut wie letztere. Der Verſuch, die hierin liegende
Schwierigkeit zu überwinden, beſchränkt ſich bis auf die neueſte Zeit
[141] darauf, wie wir ſchon bemerkt, jede polizeiliche Verhaftung zu einer
gerichtlichen zu machen, oder ſie aufzuheben. Das wird zu-
erſt in England zu einem der großen Grundſätze des öffentlichen Rechts
und bildet eigentlich den Kern der Habeas-Corpus-Akte. Von dem eng-
liſchen Recht geht nun die Rechtsbildung über auf den Continent, behält
aber ſtets jenen Charakter des engliſchen Rechts; und wie dieſem, ſo fehlt
denn auch dem letztern ein klares und durchgeführtes Bewußtſein davon,
daß mit der ganzen Habeas-Corpus-Akte und allen Beſtimmungen über
die gerichtliche Verhaftung das Recht der polizeilichen gar nicht berührt,
ſondern im Grunde nur der Rechtsſatz ausgeſprochen iſt, daß die poli-
zeiliche Verhaftung als ſolche nicht länger als eine möglichſt kurze Friſt
dauern, und dann durch Vorführung vor den Richter in eine gericht-
liche übergehen muß. Damit war nun freilich ein Recht der polizei-
lichen Verhaftung überhaupt nicht gegeben, ſondern nur ein Termin,
innerhalb dem ſie verſtattet war, ohne daß andere Rechtsſätze für ſie
Platz gegriffen hätten. Denn die Habeas-Corpus-Akte war in der That
überhaupt nicht ſo ſehr ein Recht der Verhaftung, als ein Recht auf
ein richterliches Urtheil vor dem zuſtändigen Gericht. Trotz der
Habeas-Corpus-Akte haben daher die Engländer eben ſo gut nur eine
polizeiliche Verhaftung als der Continent, und im Grunde iſt der Einzelne
gegen dieſelbe noch weit weniger geſchützt als hier. Erſt als die viel
höher ſtehende Jurisprudenz des Continents ſich der Sache bemächtigte,
ward allmählig — keineswegs ſogleich — die polizeiliche Verhaftung
von der gerichtlichen geſchieden, und damit ein eigenes Recht für die
erſtere vorbereitet. Die Schwierigkeit, es von dem letzteren zu ſcheiden,
iſt in der That nur durch den Mangel eines eigenen Polizeirechts ge-
geben. Die Grundſätze deſſelben ſind ſehr einfach.
Das Recht dieſer polizeilichen Verhaftung hat zwei Theile: Das
Recht der Verhaftung ſelbſt, und das Recht des Verfahrens nach
der Verhaftung.
I. Die Polizei hat das Recht zur Verhaftung in zwei Haupt-
kategorien. Es kann ſich nämlich dieſe rein polizeiliche Verhaftung ent-
weder auf ein geſchehenes Verbrechen und Vergehen, oder auf eine Ge-
fahr für die öffentliche Sicherheit beziehen.
In Beziehung auf ein geſchehenes Verbrechen ſind die Fälle des Rechts
der polizeilichen Verhaftung: 1) Die Ergreifung auf handhafter That,
die keiner Erklärung oder Begründung bedarf; daß die Verfolgung nach
der That dazu gehört, wenn jemand augenſcheinlich als Thäter er-
ſcheint, verſteht ſich von ſelbſt. 2) Bei dringendem Verdacht gegen
einen Verbrecher hat die Polizei gleichfalls das Recht der Verhaftung,
ſowie in dem Fall, wo ſie nur durch Verhaftung die Beſeitigung der
[142] Beweismittel eines Verbrechens verhindern kann. Allein in dieſem
Falle ſoll ſie ihrerſeits ihren Akt gerichtlich bei eintretender Klage des
Verhafteten vertreten, und das Gericht wird dann entſcheiden, ob die
Verhaftung eine gegründete Urſache hatte, widrigenfalls das Polizei-
organ zum Schadenerſatz verurtheilt werden ſoll. Dieß iſt darum richtig,
weil jedes Polizeiorgan am beſten über Verdachtsgründe urtheilen kann,
und daher in der Lage iſt, ſich nöthigenfalls vom Gericht vorher einen
Haftbefehl auszuwirken. 3) Die Verhaftung bei Uebertretung von
Polizeiverfügungen gehört eigentlich dem erſten Fall, unterſcheidet ſich
aber dadurch, daß die Freilaſſung ſofort geſchieht, ſobald die polizei-
liche Buße gezahlt iſt.
In Beziehung auf öffentliche Ruheſtörung hat die polizeiliche
Verhaftung einen andern Charakter. Hier iſt ſie nicht der Beginn des
gerichtlichen Verfahrens durch die Polizei, ſondern vielmehr das Ende
des polizeilichen Verfahrens, eine Maßregel, welche mit ihrer Urſache
zu Ende ſein muß. Sie wird aus dieſem Grunde oft ſtatt einer Ver-
haftung oder Verwahrung eine bloße Wegführung von dem Orte ſein.
Natürlich wird eine wirkliche Verhaftung daraus, wenn in der öffent-
lichen Ruheſtörung eine ſtrafbare Uebertretung enthalten iſt.
II. Das Verfahren nach der Verhaftung und das Recht deſſelben
iſt nun gegeben durch den Zweck, aus dem die Verhaftung ſelbſt her-
vorging. Bei Verhaftung wegen eines Verbrechens war der Zweck die
gerichtliche Verfolgung des letztern, daher muß ſie ſofort zu der letztern
übergehen, oder aufgegeben werden. Deßhalb allgemeiner Grundſatz,
daß bei jeder Verhaftung der Verhaftete vor ſeinen ordentlichen Richter
geſtellt werden muß. Der Termin für dieſe Stellung vor Gericht ſoll
dabei ſtets als das Maximum der Dauer der rein polizeilichen Ver-
haftung angeſehen, und der Polizei die Pflicht auferlegt werden, wenn
möglich den Verhafteten ſogleich vor den Richter zu führen. Das
Recht der polizeilichen Verhaftung iſt hier gleich dem der gerichtlichen;
der Unterſchied liegt nur darin, daß bei der letztern der Richter, der
den Befehl gab, bei der erſtern aber das Polizeiorgan ſelbſt für die
Einleitung des Verhörs in der feſtgeſetzten Friſt verantwortlich iſt, und
dafür beſtraft werden kann. Ein weiterer Unterſchied exiſtirt nicht; und
dieſer Unterſchied iſt wiederum nur da ein weſentlicher, wo, wie in
England, das Recht der Privatklage dem Einzelnen zuſteht. Ohne
Zweifel aber geht auch das polizeiliche Verhaftungsrecht ſo weit, jeden
Fluchtverſuch und jede Colluſion auch vor dem gerichtlichen Verhöre zu
hindern; aber auch in dieſem Falle hat die Polizei die Verhaftung dem
Gerichte ſofort anzuzeigen und von demſelben beſtätigen zu laſſen,
damit aus der polizeilichen eine gerichtliche Verhaftung werde. War
[143] dagegen der Zweck die Zahlung der Polizeiſtrafe, ſo hört die Verhaftung
mit dieſer Buße auf, wie ſie durch das Angebot der Buße vermieden
werden kann. War endlich der Zweck einfach die Verhinderung der
öffentlichen Ruheſtörung, ſo wird der Verhaftete, nachdem keine Be-
fürchtung mehr dafür da iſt, entlaſſen (Trunkenheit ꝛc.). Aber auch
hier muß feſtgehalten werden, daß eine ſolche Verhaftung nicht länger
als die kürzeſte Verhaftungsfriſt dauern darf, ohne das Polizei-
organ verantwortlich zu machen. Es iſt Sache des einzelnen Falles,
die Verhaftung in eine andere Maßregel übergehen zu laſſen, wenn
nach der polizeilichen Verhaftungsfriſt noch keine Gewißheit gegeben iſt,
daß die Ruhe nicht mehr geſtört werde, wie wenn es ſich zeigt, daß
der Verhaftete irrſinnig iſt, oder aus Hungersnoth ſich verhaften ließ u. ſ. w.
Ueberſieht man nun von dem angegebenen Standpunkt die beſtehenden
Geſetzgebungen Europa’s, ſo iſt es durchaus nicht zu verkennen, daß das
Bewußtſein von dieſer doppelten Art der Verhaftung denſelben eigent-
lich ganz deutlich vorſchwebt, daß ſie ſogar ein doppeltes Recht dafür
bereits aufgeſtellt haben, und daß es im Grunde nur darauf noch an-
kommt, beide formell zu unterſcheiden, um jene beiden Rechtsſyſteme,
die ja bereits gelten, durch ihre Trennung und beſondere Behandlung
als gleichberechtigt neben einander zu ſtellen. Namentlich ſtehen Eng-
land und Frankreich in dieſer Beziehung in ihren Geſetzen ſehr klar da,
während Deutſchland durch die noch immer herrſchende Unſicherheit über
das Klagerecht ſelbſt unſicher geworden iſt.
Was zunächſt England betrifft, ſo iſt bekanntlich das Recht der
gerichtlichen Verhaftung nicht erſt durch die Habeas-Corpus-Akte ein-
geführt, ſondern die letztere hat vielmehr nur die Verletzung der in der-
ſelben enthaltenen Grundſätze gerichtlich klagbar gemacht. Die con-
tinentale Literatur hat dabei faſt ausnahmslos überſehen, daß das
Weſen jenes berühmten Geſetzes eben in dieſer Klagbarkeit lag, und
nicht in den Vorſchriften, welche durch die Verpflichtung zur Stellung
vor Gericht aus der polizeilichen Verhaftung eine gerichtliche machen
ſollen. Daher denn auch die allgemeine Vorſtellung, daß man die
engliſche Habeas-Corpus-Akte einführe, wenn man einen Termin
für die Vorführung des Verhafteten vor Gericht aufſtelle, während man
für die rein polizeiliche Verhaftung gar kein Recht gab, und die Ver-
folgung des Amtsmißbrauchs nicht dem Verletzten, ſondern der Staats-
anwaltſchaft übergab, was ſie praktiſch werthlos machte. Wären die
Juriſten Englands ſo gut wie ſeine Geſetze, ſo hätten ſie dieß Ver-
hältniß bald durchſchaut; ſo aber haben ſie es den Publiciſten und
[144] Hiſtorikern überlaſſen. Unter dieſen bezeichnet wohl am beſten mit
wenig aber ſchlagenden Worten Macaulay (Charles the Second, Ch. II.)
die Habeas-Corpus-Akte und die Bill of rights in ihrer eigentlichen Be-
deutung für England. „From the time of the Great Charter the
substantive law respecting the personal liberty of Englishmen (das
Princip der perſönlichen Freiheit, abſtrakt wie in den deutſchen Ver-
faſſungsurkunden) had been nearly the same as at present, but it
had become nearly inefficacious for want of procedure. What
was needed, was not a new right, but a prompt and searching
remedy; and such a remedy the Habeas Corpus Act supplied (an-
erkannt den 26. Mai 1679). Wir wüßten wenig zu dieſen einfachen
und durchſichtigen Sätzen hinzuzufügen. Daß neben jenem Recht der
gerichtlichen Verhaftung nun noch die polizeiliche ganz ſelbſtändig beſteht,
und ſogar ein eigenes Rechtsſyſtem hat, dürfen wir nach den neueſten
Forſchungen über England und ſein Recht wohl als bekannt voraus-
ſetzen. Es ſteht jetzt feſt, daß der Justice of peace das Recht auf
Erlaß und Durchführung der einzelnen Polizeimaßregeln beſitzt; der Ein-
zelne, gegen den er ſie durchführt, hat dagegen das Recht, ihn bei dem
bürgerlichen Gericht zu verklagen, wo der Friedensrichter verurtheilt
werden kann zum Schadenerſatz; Schutz der letzteren gegen ſolche An-
klagen durch 11 Vict. 12. 44 (1848). Siehe über das ganze Verhältniß
Gneiſt (civilrechtliche Verantwortlichkeit der Friedensrichter) engl. Ver-
faſſung II. §. 74. 75. Kries, engl. Armenweſen; S. 55—57. Stein,
vollziehende Gewalt, S. 130 — 133. Die beſte Darſtellung für das
Verfahren der Friedensrichter: Burn, Justice of the peace, ſeit 1814
mit mehr als 30 Auflagen; jedoch iſt hier das polizeiliche von dem ge-
richtlichen Verfahren nicht ſtrenge geſchieden. Die einzige deutſche
Darſtellung, welche, ſo viel wir ſehen, zuerſt dieſe richtige Scheidung
aufgeſtellt und auch durchgeführt hat, iſt J. Glaſer, das engliſch-
ſchottiſche Strafverfahren 1850, mit ſehr praktiſcher — warum nicht
zugleich kritiſch auf die Sache eingehender? — Verweiſung auf die ent-
ſprechenden Rechtsſätze des öſterreichiſchen und franzöſiſchen Verfahrens
(§. 177—186). Die neueſte Schrift von E. Bertrand, de la détention
préventive en France et en Angleterre (1862), hat zwar nicht dieſe
klare Unterſcheidung feſtgehalten, wohl aber das ganze Verhaftungs-
recht beider Länder einer ſehr gründlichen Darſtellung und Kritik unter-
zogen, bei der er zu dem Reſultat kommt, daß für die Schnelligkeit
der Juſtiz, oder für das Verfahren nach der Verhaftung, viel beſſer
in Frankreich geſorgt iſt als in England. Er zeichnet ſich dadurch
vor Glaſer aus, daß er das Verfahren nicht bloß der polizeilichen
Verhaftung ſelbſt, ſondern auch das nach derſelben genauer unterſucht.
[145] Wir haben uns hier mit den Formen der gerichtlichen Verhaftung, die
die vorzüglich gut behandelt ſind, nicht zu beſchäftigen. Allein das
engliſche Recht beſtimmt, daß der Conſtabel jeden, den er ohne Haft-
befehl (warrant) verhaftet — alſo bei jeder rein polizeilichen Verhaf-
tung — ſo lange in Haft behalten kann, als das Gericht keine Sitzung
hat (whenever any person shall be without warrant in the
custody of any constable — during the time when the police wart
shall be shut —) ohne daß ein feſter, weiterer Termin angegeben
wäre. Dieſer Grundſatz iſt alt und durch 2. 3 Vict. 65 nicht erſt ein-
geführt, wie Bertrand zu glauben ſcheint. Das Recht zur polizeilichen
Verhaftung von Seiten des Conſtabler iſt aber, wie er richtig ausführt,
viel größer irgendwo auf dem Continent, vielleicht mit Ausnahme
Rußlands. In der That kann er nicht bloß auf handhafter That bei
Verbrechen und Vergehen verhaften, ſondern auch „jede Perſon, welche
er mit gutem Grund im Verdacht hat, ein öffentliches Unrecht begangen
zu haben oder verſuchen zu wollen“ (about to comit any felony
misdemeanour or breach of peace) ja ſelbſt da, wo dieſelbe die ge-
ringſte öffentliche Ruheſtörung begeht, und alle dieſe Fälle hat eben
das Statute 2. 3 Vict. 17 genau und ausdrücklich formulirt. (Vgl.
Bertrand, S. 6. 7.) Iſt jemand des Nachts verhaftet ohne warrant,
ſo wird er in das nächſte Polizeigefängniß abgeführt. Hier kann der
Conſtabler zwar den Verhafteten freilaſſen gegen Caution, wobei er die
bail of recognizance unterzeichnen muß. Die Polizei hat zu dieſem
Zweck eigene polizeiliche Verhaftungsregiſter, in welche dieſe Stellungs-
verpflichtung genau und ſpeziell aufgezeichnet werden, nach 10 Georg IV.
44. (Bertrand, S. 23. 24.) Dieſe Gewalt der Polizei iſt nun, wie
geſagt, eben dadurch eine ſehr ernſte, daß die Gerichte eben nicht regel-
mäßige Sitzungen haben und kein Termin vorgeſchrieben iſt, ſo daß
mit gutem Recht Blackſtone ſagt: „In Betrachtung der Individuen,
welchen dieſe große Gewalt überliefert iſt (der Conſtabler), iſt es viel-
leicht ganz gut, daß ſie nicht gar zu ſehr aufgeklärt ſind über die Aus-
dehnung ihrer geſetzlichen Berechtigung!“ (Liv. 1. ch. IX) Das iſt
vollkommen richtig, um ſo mehr, als der Conſtabler ermächtigt iſt, bei
etwaigem Widerſtand zur phyſiſchen Gewalt überzugehen, ja den Wider-
ſtehenden zu tödten! (Glaſer, §. 176.) — Indeß hat Bernard
dabei eben die zweite Seite der Sache weggelaſſen, nach welcher derſelbe
Conſtabler perſönlich gegen Privatklage haftet für den unberechtigt zu-
gefügten Schaden in Haft und Verletzung. Freilich verſteht man erſt
jetzt die Nothwendigkeit dieſer Haftung ganz, und es läßt ſich jetzt
begreifen, weßhalb man auf dem Continent bei viel geringerer Berech-
tigung der Polizei dieſe Nothwendigkeit ſo lange mißverſtanden hat.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 10
[146] Denn während in England ſich der Einzelne ſelbſt gegen den nahe
liegenden Amtsmißbrauch durch jene Klage ſchützt, ſucht auf dem Con-
tinent das Recht der polizeilichen Haft ihn geſetzlich zu ſchützen; dafür
aber iſt das Recht der Privatklage beſeitigt, und die künftige Rechts-
bildung Europas wird zur Aufgabe haben, beide Principien in an-
gemeſſener Form zu vereinigen.
Das continentale Verhaftungsrecht der Polizei beginnt mit der
franzöſiſchen Conſtitution vom 3. Sept. 1791 auf Grundlage der Decl.
des droits. Und da die ganze folgende Rechtsbildung auf dieſen Be-
ſtimmungen beruht, und nur eine mehr oder weniger klare Entwicklung
derſelben iſt, ſo dürfen wir ſie hierherſetzen, um ſo mehr, als die Theorie
gewöhnlich bei dem Code d’Instr. Crim. ſtehen bleibt, der nur in an-
derer Form daſſelbe geſagt hat. Die betreffenden Stellen lauten:
Chap. V. Du pouvoir judiciaire. Art. 10. Nul homme ne peut être
saisi (polizeiliche Vorführung) que pour être conduit devant l’officier
de police; et nul ne peut être mis en arrestation ou déténu
(Verhaftung und Verwahrung) qu’en vertu d’un mandat des officiers
de policc (polizeilicher Verhaftungs- und Vorführungsbefehl) oder eines
gerichtlichen Befehls: d’une ordonnance de prise de corps d’un
tribunal, d’un decret d’accusation du corps législatif ou d’un
jugement de condemnation à prison ou détention correctionnelle.
Art. 11. Tout homme saisi et conduit devant l’officier de police
sera examiné sur le champ ou au plus tard, dans les vingt-
quatre heures. S’il résulte de l’éxamen qu’il n’y a aucun sujet
d’inculpation contre lui, il sera remis aussitôt en liberté; ou s’il
y a lieu de l’envoyer à la maison d’arrêt, il y sera conduit dans
le plus bref délai, qui en aucun cas, ne pourra excèder trois
jours. Art. 12. Nul homme arrêté ne peut être rétenu, s’il donne
caution suffisante, dans tous les cas ou la loi permet de rester libre
sous cautionnement. Folgen die trefflichen Beſtimmungen über die
Aufnahme in die Gefängniſſe: daß jeder Wächter eine Perſon nur gegen
Vorzeigung eines Haftbefehls aufnehmen, und die betreffende Perſon
dem Vorſtande des Gefängniſſes vorführen ſoll, die allerdings ſchon
dem Strafverfahren angehören. Unſerer Anſicht nach iſt eine beſſere
Beſtimmung über die polizeiliche Haft und das Verfahren nirgends auf-
geſtellt. Die folgende Geſetzgebung hat nur mehr Schärfe in die ein-
zelnen Momente des letztern hineingebracht. Das allgemeine Haftungs-
recht der Polizei für unberechtigte Verhaftung ward dann im Code
Pénal 119. 120 und Code d’Instr. Crim. 113—126 genauer als
Strafe für détentions illegales und arbitraires ausgeführt, und das
Recht der polizeilichen Verhaftung der Gendarmerie zugeſprochen. (Geſetz
[147] vom 28 Germ. an VI. art. 158—169.) Mit Recht bemerkt Bertrand,
daß der Grundgedanke der Beſchränkung der rein polizeilichen Haft auf
die Fälle der handhaften That im Code d’Instr. Crim. art. 106 erſt
durch die Jurisprudenz auch auf die Fälle des dringenden Verdachts
und des Fluchtverſuches hat ausgedehnt werden müſſen, und daß trotz-
dem die Polizei in allen ihren Organen niemals wegen eines Ver-
gehens (contravention) ohne gerichtliche Aufforderung (réquisition)
verhaften dürfe. S. 8. (Vgl. Laferrière, Droit adm. I. I. ch. IV.
Vgl. auch Batbie, Droit publ. et adm. II. ch. III), der übrigens
dieſen Theil nicht ſehr eingehend behandelt. Hier iſt es klar, daß nur
noch das Eine fehlt — die Haftung auf Privatklage des Betheiligten,
daß dieſelbe aber auch ſo weit überflüſſig geworden iſt, als ſie dieß
überhaupt werden kann.
Auf dieſer Grundlage hat ſich nur das deutſche Recht der poli-
zeilichen Verhaftung entwickelt. Es iſt nicht richtig, hier im Allgemeinen
zu reden. Man muß vielmehr zwei Perioden unterſcheiden, die erſte
geht bis zum Jahr 1848; wir ſtehen in der zweiten, die künftige dritte
wird mit der Durchführung der Schwurgerichte und des Privatklagrechts
beginnen.
In der erſten Periode gelangen die Geſetzgebungen und ſelbſt
die Literatur nicht weiter, als bis zu Anerkennung des allgemeinen
Princips, daß für die Verhaftung überhaupt eine geſetzliche Berech-
tigung ſein müſſe. Von einer Unterſcheidung der polizeilichen und ge-
richtlichen Verhaftung iſt noch keine Rede, und die Verhaftung ſelbſt
wird noch mit dem Recht auf ein competentes Gericht und dem Recht
auf ein gerichtliches Urtheil als Bedingung jeder Beſtrafung zuſammen-
geworfen. Dafür aber werden dieſe allgemeinen Grundſätze in die
Verfaſſungsurkunden aufgenommen, und beſtehen zum Theil noch immer
fort; ſo Bayern (Verfaſſungsurkunde von 1818. IV. 18). Würt-
temberg (Verfaſſungsurkunde von 1819. §. 26). Baden (Verfaſ-
ſungsurkunde von 1818. 15). Aehnlich in außerdeutſchen: Schwediſche
Verfaſſungsurkunde §. 14. Polniſche Verfaſſungsurkunde §. 18. Nor-
wegiſche Verfaſſungsurkunde §. 99. Holländiſche Grondwet. §. 168.
Neueſter Zeit däniſche Verfaſſungsurkunde. §. 85 ff. Rumäniſche
von 1866. §. 24. Serbiſche von 1863. Die übrigen kleinen deutſchen
Staaten nehmen dann jene Beſtimmungen ſeit den zwanziger Jahren
gleichfalls auf: Großherzogthum Heſſen (Verfaſſungsurkunde von 1820.
§. 3). Königreich Sachſen (Verfaſſungsurkunde von 1831. §. 31). Kur-
fürſtenthum Heſſen von 1831. §. 115. Sachſen-Altenburg von 1831.
§. 50. Vergl. was Zöpfl ſagt, der die Perioden nicht auseinander hält.
(Deutſches Staatsrecht. II. §. 290. 292, dann 448.) Daß dieß nicht
[148] genüge, ward ſchon damals erkannt (Aretin, Staatsrecht der conſti-
tutionellen Monarchie. Bd. II. I. Abth. S. 9 ff.). Sehr ſchön ſagte
Benj. Constant (Cours de polit. constitut. T. I. 302): „Ce qui pre-
serve de l’arbitraire, c’est l’observance des formes. Les formes
sont les divinités tutélaires des associations humaines, les formes
sont les seules protectrices de l’innocence.“ Er hatte Recht; und
gerade die Formen fehlten, und dadurch auch die Sache. Und eben
darum konnte die zweite Periode nicht eintreten ohne eine tiefgehende
Erſchütterung. Dieſe kam mit dem Jahr 1848, und mit ihr eine neue
Rechtsbildung für das Recht der perſönlichen Freiheit. Man war zu
der Ueberzeugung gekommen, daß es mit dem Princip nicht genug ſei,
ſondern daß man eben geſetzlicher Formen bedürfe. Es war daher
ganz natürlich, daß das deutſche Parlament in den Grundrechten ein
ſpezielles Recht der Verhaftung aufzuſtellen verſuchte. Allein da zeigte
es ſich, daß man keine klare Vorſtellung hatte von dem weſentlichen
Unterſchiede zwiſchen der polizeilichen und der gerichtlichen Verhaftung
und ihrem Recht; man wollte das Unmögliche — die polizeiliche Ver-
haftung nur als gerichtliche gelten laſſen, mit Ausnahme der handhaf-
ten That, und trotz aller im Parlament beſchäftigten Juriſten zugleich
die nicht gerichtliche, rein polizeiliche daneben rechtlich beſtehen laſſen.
So geſchah es, daß es im Art. III der deutſchen Grundrechte heißt:
„Die Verhaftung einer Perſon ſoll, außer im Falle der Ergreifung
auf friſcher That, nur geſchehen kraft eines richterlichen Befehles. Dieſer
Befehl muß im Augenblicke der Verhaftung oder (!) innerhalb der näch-
ſten 24 Stunden dem Verhafteten zugeſtellt werden. Die Polizeibehörde
muß jeden, den ſie in Verwahrung genommen hat, im Laufe des
folgenden Tages entweder freilaſſen, oder der richterlichen Behörde
übergeben.“ Die Unklarheit iſt klar genug; hier iſt eine Verhaftung
auf 24 Stunden, die nur auf richterlichen Befehl geſchehen darf, zugleich
ohne richterlichen Befehl förmlich autoriſirt, und daneben der Begriff
der „Verwahrung.“ Natürlich war es unmöglich, bei einem ſolchen
direkten Widerſpruch ſtehen zu bleiben. Allerdings begnügten ſich einige
Verfaſſungen damit, einfach jene Sätze aufzunehmen, wie Schwarz-
burg-Sondershauſen 1849, §. 11. Oldenburg 1852, Art. 39.
Anhalt-Bernburg 1850, §. 5. Allein daß man in jenen Sätzen
eine Vermengung der polizeilichen und gerichtlichen Verhaftung vorge-
nommen, ward erſichtlich, ſo wie man aus dem abſtrakten Gebiete der
„bürgerlichen Freiheit“ in das des concreten Rechts hinüberkam. Und
dafür gab Preußen in ſeiner Verfaſſung von 1850 den Anſtoß.
Die preußiſche Verfaſſungsurkunde beſtimmte nämlich im Art. 5:
„Die Bedingungen und Formen, unter denen eine Beſchränkung (der
[149] perſönlichen Freiheit) insbeſondere eine Verhaftung, ſtattzufinden hat,
werden durch das Geſetz beſtimmt.“ Dieß Geſetz nun war das Geſetz vom
12. Febr. 1850 zum Schutze der perſönlichen Freiheit, das den Unter-
ſchied jener beiden Arten der Verhaftung durchführt, und das beſte und
vollſtändigſte von allen dahin gehörigen Geſetzen iſt, und mit Recht
als Muſter aufgeſtellt zu werden verdient. Darnach unterſcheidet daſſelbe
die Verhaftung als die gerichtliche, auf gerichtlichen Befehl geſchehende
von der Feſtnahme wegen handhafter That, Fluchtverſuch, Colliſion
oder dringenden Verdachts bei einem begangenen Verbrechen, und die
polizeiliche Verwahrung wegen öffentlicher Ruheſtörung, mit dem
Principe, daß die Feſtgenommenen im Laufe des folgenden Tages vom
Richter verhört, die Verwahrten (Eingeführten) dagegen in derſelben
Zeit entlaſſen oder vor Gericht geſtellt werden ſollen. Ich kann die
Anſicht Rönne’s (Staatsrecht. I. §. 89) nicht theilen, daß der zweite
Punkt mit dem Art. 5 der Verfaſſung im Widerſpruch ſtehe; dagegen
iſt auch die Feſtnahme polizeilicher Natur, und es fehlt die Beſtim-
mung, daß bei Erlegung der betreffenden Geldbuße die Freilaſſung
ſofort geſchehen müſſe. Bernard hätte aus dieſem Geſetze viel lernen
können; daß Heinze in ſeiner geſchmackvollen Abhandlung (Das Recht
der Unterſuchungshaft, 1865) gar keinen Punkt gefunden hat, auf dieß
Geſetz zu kommen, können wir nur beklagen. Noch näher hätte die
Sache wohl dem, übrigens eben ſo umſichtigen als gründlichen K. R.
Sonntag für ſeine treffliche Arbeit (Die Entlaſſung gegen Caution im
deutſchen Strafverfahren, 1865) gelegen, der in beſcheidener Weiſe auf
dem Titel gar nicht erwähnt, daß er eben ſo tüchtig das engliſche und
franzöſiſche Recht behandelt. Dieß Werk iſt ein entſcheidender Beweis
dafür, daß die auch hier zum Grunde liegende einſeitige Vorſtellung,
als ob die Verhaftung nur eine gerichtliche ſein ſolle und jede andere
an und für ſich entweder eine Ausnahme oder ein Uebelſtand iſt, uns
nicht zu einem ſelbſtändigen Polizeirecht kommen läßt. — Die übrigen
deutſchen Verfaſſungen haben es über die Verfaſſungsurkunde nicht
hinausgebracht. Anhalt-Bernburg (Verfaſſungsurkunde von 1850,
§. 6). Schwarzburg-Sondershauſen (Verfaſſungsurkunde von
1849, §. 13). Waldeck (Verfaſſungsurkunde von 1852, §. 92). Olden-
burg (Verfaſſungsurkunde von 1852, Art. 58. 59). Coburg-Gotha
(Verfaſſungsurkunde von 1852, §. 32). Reuß, 1852, §. 10. Hier muß
man die Fortbildung dieſes Rechts ſtatt in eigenen Geſetzen nach den
geltenden Geſichtspunkten in den Strafproceßordnungen ſuchen. In
dieſen erſcheint die Feſtnahme als das Ausnahmsweiſe; es iſt die unklare
Vorſtellung des „erſten Angriffes,“ die hier herrſcht, oder die Modifici-
rung in beſtimmten Fällen, wie bei Ruheſtörungen u. ſ. w. Wir glauben
[150] uns darauf nicht einlaſſen zu ſollen, da Sundelin die betreffenden
Stellen in den deutſchen Strafproceßordnungen in ſeiner kleinen Schrift
(Die Habeas Corpus-Akte und Vorſchriften zum Schutz der Perſon
und des deutſchen Strafproceßgeſetzes 1862) bereits geſammelt hat
(S. 49—51). Wir bemerken nur, daß Württemberg wohl den Ruhm
hat, die Frage nach dem Recht der perſönlichen Freiheit zuerſt ſyſte-
matiſch ausgebildet zu haben. (Grundlage für die Verfaſſungsurkunde
§. 23). Siehe über die dieſen Paragraphen betreffenden Kammerverhand-
lungen: Mohl, württembergiſches Verfaſſungsrecht, S. 348. Eine förm-
liche Geſetzgebung kam jedoch nicht zu Stande; das Ganze blieb auf dem
Standpunkt der Strafproceßordnung, jedoch mit dem, Württemberg
eigenen, ſpeziell durchgeführten Grundſatz, daß die Unterlaſſung der
Vorführung vor den Richter innerhalb der erſten 24 Stunden mit
beſtimmten Strafen belegt ward. (Strafgeſetzordnung Art. 432.) Haus-
recht und Beſchlagnahme fehlen dagegen. Auf dieſem einſeitigen Stand-
punkt iſt das württembergiſche Recht geblieben; die Grundlage iſt noch
immer nur die Strafproceßordnung vom 22. Juni 1843 (Art. 144—63),
daneben Regelung des Verfahrens durch Dienſt-Inſtructionen des Land-
jägercorps (Verordnung vom 7. Juni 1823). Roller, Polizeirecht
§. 238 ff. — Selbſt für Bayern müſſen wir auf die Strafproceßord-
nung von 1813, (Art. 118—124) und dasjenige verweiſen, was
Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 26 und Sundelin anführen. Die neueſte
Geſetzgebung iſt die von Oeſterreich in dem erſten Geſetze vom
27. Oct. 1863 zum Schutze der perſönlichen Freiheit. Auch dieß Geſetz
ſcheidet zwiſchen „Verhaftung,“ die nur „kraft eines richterlichen, mit
Gründen (war das zweckmäßig, da der Verhaftete ſie ohnehin am an-
dern Tage erfährt?) verſehenen Befehls“ (§. 2) und der „Anhaltung und
Verwahrung“ (§. 3), auf welche binnen 48 Stunden entweder die Frei-
laſſung oder die richterliche Unterſuchung folgen ſoll. Dabei iſt jede
andere Beſchränkung der perſönlichen Freiheit durch die Behörde bei
böſem Vorſatz als Amtsmißbrauch (§. 101 des Strafgeſetzes), ſonſt aber
als Uebertretung mit drei Monaten Arreſt zu beſtrafen. Wie leider
nur zu gewöhnlich, iſt dieß ſo wichtige und in der deutſchen Geſetzge-
bung eine ehrenvolle Stellung einnehmende Geſetz von Sonntag
a. a. O. S. 113 mit einigen Zeilen abgefertigt. Es hätte neben ſo
mancher höchſt unvollſtändigen Geſetzgebung in Deutſchland wohl einen
beſſern Platz verdient.
Das Geſammtreſultat iſt, daß die polizeiliche Verhaftung und ihr
Recht thatſächlich, wie es ihre Natur fordert, allenthalben vorhanden
ſind, aber theoretiſch zu keiner ihrer Wichtigkeit entſprechenden Selb-
ſtändigkeit gelangen und auch nicht gelangen werden, ſo lange es neben
[151] dem peinlichen Strafrecht und Strafproceß nicht ein Verwaltungsſtraf-
recht und Verfahren geben wird.
2) Das polizeiliche Hausrecht.
Nachdem wir nunmehr die polizeiliche Verhaftung von der gericht-
lichen geſchieden, wird es leicht ſein, auf derſelben Grundlage das Recht
der Hausdurchſuchung in ſeinen zwei Formen zu beſtimmen.
Das Betreten des Hauſes hat als Beſchränkung der perſönlichen
Freiheit einen andern Charakter als die Verhaftung; da nämlich bei
ihr natürlich das Moment der Flucht ganz und die der handhaften
That und der Colluſion zum Theil wegfallen, ſo folgt ſchon im Allge-
meinen, daß die Beſchränkung des polizeilichen Betretens eines Hauſes
viel größer ſein muß als die der Verhaftung. Während es daher un-
zweifelhaft iſt, daß das Gericht unbedingt das Recht hat, das Betreten
eines Hauſes durch ſeinen Befehl zu erwirken, entſteht daher die Frage,
ob überhaupt die Polizei ohne einen ſolchen Befehl das Recht haben
ſolle, nach ihrem Ermeſſen in das Haus einzudringen.
Die aus dem engliſchen Recht ſtammende Regel, daß „mein Haus
meine Burg“ ſein ſolle, hat nun durch den Mangel durchgreifender
Unterſcheidung zwiſchen gerichtlichem und polizeilichem Hausrecht viel
Unklarheit hervorgerufen. Dennoch iſt das Syſtem des letzteren im
Grunde ein ſehr einfaches.
Das gerichtliche Hausrecht haben wir wohl nunmehr unbeſtritten
den Strafproceßordnungen zu überlaſſen. Wir bemerken nur, daß das
Verfahren bei dem Eindringen in das Haus etwas anderes iſt als das
Verfahren innerhalb des Hauſes, deſſen Charakter durch das Recht der
Beſchlagnahme (ſ. unten) gegeben iſt.
Das polizeiliche Hausrecht iſt dagegen das Recht der Polizei, nach
eigenem Ermeſſen mit amtlicher Gewalt Einlaß in ein Haus zu fordern.
Wenn es bei dieſem polizeilichen Hausrecht einerſeits klar iſt, daß
dieß Eindringen niemals der zufälligen und willkürlichen Anſicht des
Polizeiorganes überlaſſen werden kann, ohne die Freiheit des Indivi-
duums ernſtlich zu gefährden, ſo iſt andererſeits nicht weniger klar,
daß man das polizeiliche Eindringen auch nicht allein auf den Fall
eines gerichtlichen Befehles abſolut beſchränken kann, ohne die Sicher-
heit in Gefahr zu bringen. Während daher die Vorſtellung von dem
freien Hausrecht mit dem unbezweifelten Recht des Gerichts, das Be-
treten eines Hauſes zu befehlen, gar nichts zu thun hat, beſteht die
rechtliche Freiheit des Hauſes demnach 1) in den rechtlichen Bedin-
gungen, unter denen die Polizei nach ihrem Ermeſſen auch
[152] ohne gerichtlichen Befehl das Haus betreten darf; 2) in der rechtlichen
Begründung der Thätigkeiten, welche die Polizei nach geſchehenem
Betreten des Hauſes vornimmt.
Demnach ergeben ſich folgende Grundlagen des polizeilichen Haus-
rechts im Gegenſatz zu dem gerichtlichen.
Erſtlich muß die Polizei das Recht haben, in Beziehung auf ein
wirklich geſchehenes Verbrechen in zwei Fällen ein Haus zu betreten,
bez. den Eintritt zu erzwingen. Der erſte dieſer Fälle iſt der der
Verfolgung eines Verbrechers, der ſich in ein Haus flüchtet; derſelbe iſt
klar, und auch die Nachtzeit macht hier keine Ausnahme, da, wenn das
Haus des Nachts offen iſt für den Verbrecher, es auch für die nach-
eilende Polizei nicht geſperrt ſein ſoll. Der zweite tritt bei dem
bloßen Verdacht eines Verbrechens ein. Hier muß feſtgehalten werden,
das es nur Einen Fall gibt, in welchem der Verdacht zu einem poli-
zeilichen Eindringen ermächtigt; das iſt der, wo durch äußere unver-
kennbare Zeichen (Nothruf u. ſ. w.) das Eindringen die Natur einer
Verfolgung und Ergreifung auf handhafter That annimmt. Jedes
andere Eindringen ohne gerichtlichen Befehl iſt darum um ſo weniger
berechtigt, als dieſer gerichtliche Befehl leicht zu erhalten iſt, und jede
andere Form des Verdachts wirklich jede Grenze der Sicherheit des
Hauſes gegenüber der Polizei aufhebt. Wenn nun auf dieſe Weiſe
die Polizei in das Haus eingedrungen iſt, ſo iſt ihr Recht zu polizei-
lichen Maßregeln wiederum durch den Zweck beſchränkt, um deſſent-
willen ſie eingedrungen ſind. Dieſer Zweck iſt entweder die Verhaftung
einer betreffenden Perſon, oder die Beſchlagnahme von Beweismitteln.
Jedes Eingreifen der Polizei in Dinge und Verhältniſſe, welche mit
dem erfolgten Verbrechen nicht in Verbindung ſtehen, muß als Ueber-
tretung betrachtet und dem Klagerecht untergeordnet werden.
Die zweite weſentlich verſchiedene Gruppe von rechtlichen Bedin-
gungen für das Eindringen ohne gerichtlichen Befehl beſteht darin,
daß elementare Gefahren für die perſönliche oder allgemeine Sicher-
heit unverkennbar vorliegen, wie Feuer, Waſſer und Einſturz. Hier
kann es zwar kein Zweifel ſein, daß die Polizei das Recht des Ein-
trittes ſich nöthigenfalls erzwingen kann; allein andererſeits gibt ihr
dieß Eindringen auch kein Recht zu irgend einer andern Vor-
nahme, als derjenigen, welche auf die Beſeitigung dieſer Gefahr
Bezug hat. Die Polizei haftet dabei für jede Handlung, mit der ſie
dieſe Grenze überſchreitet.
Das Recht der Polizei, öffentliche Lokale zu jeder Zeit zu be-
treten, gehört eigentlich nicht in das Hausrecht, da ein ſolches öffent-
liches Lokal (Schenke, Bordell ꝛc.) eben kein Haus im polizeilichen
[153] Sinne, das iſt ein für den Aufenthalt eines einzelnen Individuums
beſtimmte Wohnung iſt.
Es iſt wohl vorzugsweiſe die Möglichkeit der großen Willkür, welche
die Polizei ausüben kann, wenn ſie nach eigenem Ermeſſen in ein
Haus einzudringen das Recht hat, die die Vorſtellung von der Un-
verletzlichkeit der Wohnung erzeugt hat. Auch hier iſt der engliſche
Grundſatz für das poſitive Recht, der franzöſiſche für die Bezeichnung
deſſelben maßgebend geworden; das deutſche, keineswegs vollſtändige
Recht hat wiederum ſeinerſeits aus Mangel an polizeilich rechtlicher
Auffaſſung daſſelbe beinahe ausſchließlich in die Strafproceßordnungen
verwieſen und dadurch das Verſtändniß des Polizeirechts unſicher ge-
macht. Das engliſche Recht iſt einfach. Das polizeiliche Recht
des Eindringens in ein Haus iſt neben dem unbezweifelten gerichtlichen
(Glaſer a. a. O. §. 134—139) ganz dem der polizeilichen Verhaf-
tung gleich und nach dem beſtehenden Recht hat der engliſche Conſtable
hier wieder eine Gewalt, welche keinem continentalen Polizeiorgane
zuſteht. Wir können, da merkwürdiger Weiſe die Schriftſteller, die
über das engliſche Verhaftungsrecht ſo umſtändlich ſind, ſich mit dem
engliſchen Hausrecht gar nicht beſchäftigen, uns wohl am beſten auf
Glaſer berufen. Jeder Conſtable hat das Recht, bei „glaubwürdiger
Anzeige“ eine Verfolgung einer Perſon wie auf handhafter That durch
„Horn und Nachruf“ (by hue and cry) einſeitig anzuordnen und bei
dieſer Verfolgung in jedes Haus einzudringen, ja ſogar die zur
Verfolgung aufgeforderten Privatperſonen, die überdieß zur Nach-
eile verpflichtet ſind, haben mit ihm genau daſſelbe Recht. Ob eine
ſolche Anzeige glaubwürdig iſt oder nicht, darüber entſcheidet niemand
anders als eben der Conſtable! Das gilt ſchon ſeit 3. Edw. I. 9
bis auf die Gegenwart (Blackstone IV, 21. Burn II, 683. v. Hue
and cry). Vgl. Glaſer a. a. O. §. 138 u. 430. Eine rückſichtsloſere,
unbeſchränktere Gefährdung des Rechts des Hauſes iſt wohl nicht denkbar,
und man wird daraus ermeſſen, was rechtlich in England der Satz my
house is my castle, wirklich werth iſt. Wiederum müſſen wir auf den
früher citirten Satz Blackſtones über die Conſtabler hinweiſen, und
wiederum müſſen wir hervorheben, daß unter ſolchen Umſtänden aller-
dings das Privatklagrecht in England in der That mehr als eine Noth-
wehr gegen Polizei, denn als ein verfaſſungsmäßiges Recht erſcheint.
Auf dem Continent hat dieß ganze Syſtem nun eine ganz andere
Geſtalt angenommen. Hier hat wiederum Frankreich die Initiative
ergriffen. Frankreich hat, wie geſagt, das allgemeine Princip der
[154] Unverletzlichkeit des Hauſes zuerſt anerkannt; die Unmöglichkeit jedoch,
die Polizei ganz auszuſchließen, ließ die Beſchränkung auf die gerichtliche
Hausſuchung nicht zu, und die Unmöglichkeit der Privatklage gegen die
Beamteten machte damit jenes Princip faktiſch illuſoriſch. Aus dem
Zuſammenwirken dieſer Elemente iſt nun ein vollkommenes Syſtem
des Hausrechts entſtanden, das ſich erſt allmälig gebildet hat. Das
Geſetz vom 19.—22. Juli 1791 ſtellt zuerſt den Grundſatz auf, daß
kein officier municipal in das Haus eindringen könne als in gewiſſen
einzelnen Fällen, bei drohender Gefahr und mit richterlichem Befehl.
Dieſe Grundſätze wurden nun in die Conſtitution vom Jahr VIII 1799
als Grundrecht im Weſentlichen aufgenommen, und ſind die Grundlagen
des ganzen continentalen Hausrechts geworden. Alle ſpäteren Geſetze
ſind zum Theil nur Ausführungen dieſer einfachen Principien, zum
Theil ſogar nur Ueberſetzungen. Die Conſtitution von 1799 ſagt T. VII.
§. 76. La maison de toute personne habitant le territoire français
est un asile inviolable. Pendant la nuit, nul n’a le droit d’y entrer
que dans le cas d’incendie, d’inondation, ou de réclamation faite
de l’intérieur de la maison. Pendant le jour on peut y entrer pour
un objet special déterminé, ou par une loi, ou par ordre émané
d’une autorité publique. Unter dem objet special wurden die Fälle
des Geſetzes von 1791 verſtanden (Volkszählung und Steuererhebung)
unter der autorité publiquezugleich Gericht und Polizei. Damit war
der franzöſiſchen adminiſtrativen Jurisprudenz ein weites Gebiet eröffnet
und eine genauere Geſetzgebung nothwendig gemacht. Zuerſt trat hier
das Code pénal entſcheidend auf, indem es im Art. 184 jede Behörde
mit Strafe belegte, welche gegen den Willen des Einzelnen und ohne
die Beobachtung der geſetzlichen Formen eine Wohnung betrat.
Die Inſtruction der Gendarmerie vom 29. Oct. 1824 ſchrieb dann vor,
daß auch ſie des Nachts ſich auf die Cernirung der Wohnung zu be-
ſchränken habe. Bei der Feld- und Forſtwache iſt beſtimmt, daß dieſelben
ſelbſt in Verfolgung handhafter That nur in Gegenwart des Juge de
paix oder des Maire in ein Haus eindringen können. Doch hat der
Staatsanwalt das Recht, in der Wohnung eines „prévenu“ ein-
zudringen, um Beweismittel des Verbrechens zu conſtatiren (Code d’Instr.
Crim. Art. 36). Das Recht des Eindringens bei der Nacht bleibt auf
die urſprünglichen Fälle des Geſetzes von 1791 und der Conſtitution
von 1799 beſchränkt; dabei wird angenommen, daß er auch das Recht
der Delegation an ein anderes Organ habe. So ſteht hier ein ſehr
gut ausgearbeitetes Syſtem ſowohl des gerichtlichen als des rein poli-
zeilichen Hausrechts feſt, das mit Recht zum Muſter für die Nachbar-
ſtaaten wurde. (Vgl. Batbie, Traité de droit publ. et admin. T. II.
[155] Ch. IV. Inviolabilité du domicile. Auch Laferrière, Droit publ.
et admin. I. Ch. 2). Die deutſche Geſetzgebung hat dagegen erſt
nach 1848 ein ſolches Recht bei ſich ausgebildet und iſt auch hier ſehr
unvollſtändig geblieben. Der Charakter iſt derſelbe wie bei der Ver-
haftung, zunächſt die abſtrakte, faſt werthloſe Aufnahme des Princips
in einzelnen Verfaſſungen wie die von Preußen §. 6. Oldenburg
Art. 40. Reuß §. 17. Waldeck §. 29. Luxemburg Art. 15 u. a.
Dieſe Verfaſſungen folgen den deutſchen Grundrechten, welche die
franzöſiſchen Beſtimmungen im §. 140 unter dem allgemeinen Satz:
„die Wohnung iſt unverletzlich“ aufnahmen, jedoch viel unbeſtimmter,
indem ſie im §. 3 das Recht der polizeilichen Hausſuchung neben
der gerichtlichen und der Verfolgung auf friſcher That dahin beſtimm-
ten, daß ſie zuläſſig ſei „in den Fällen und Formen, in welchen das
Geſetz ausnahmsweiſe (warum Ausnahme?) beſtimmten Beamten auf
richterlichen Befehl dieſelbe geſtattet.“ (Zöpfl, Staatsrecht II. §. 242
und 480.) Der Grund, die Regel des polizeilichen Eindringens in ein
Haus zu einer Ausnahme zu erklären, liegt offenbar nur in der tradi-
tionellen Furcht vor der Polizei. Jedenfalls kam es nun eben darauf
an, dieſe Geſetze für jene ſogenannten Ausnahmsfälle zu erlaſſen. Und
hier traten wieder die beiden deutſchen Formen ein. Zunächſt lag es
an der deutſchen Rechtsbildung, das gerichtliche Hausrecht als Haupt-
ſache zu betrachten. Daher wurde das Hausrecht faſt allenthalben zu
einem Theil des Strafproceſſes, was zur Folge hatte, daß die
Strafproceßordnungen der verſchiedenen Länder, da ſie nun auch zu-
gleich das polizeiliche Hausrecht zu regeln hatten, ſehr unklar wurden,
wie namentlich die badiſche §. 112, und die württembergiſche §. 239 und
bayeriſche §. 251. Meiſtens genügt ein Verdacht, wie in England, ohne
Klage gegen den Beamteten. (Sundelin a. a. O. S. 33—35.) Da
nun offenbar dieſer einſeitige Standpunkt nicht ausreichen konnte, ſo
entſtanden eigene Geſetze und zwar zuerſt das preußiſche von 1850,
welches eigentlich gar nichts anderes enthält, als die eben angeführten
franzöſiſchen Beſtimmungen des droit de visite à domicile, und
vernünftiger Weiſe auch gar nichts anderes enthalten konnte. Das
Decret vom 14. Aug. 1850 regelt daneben jedoch noch namentlich das
Verfahren der Finanzbeamten. Ein Fortſchritt dagegen iſt es, daß das
Recht der Hausſuchung von dem Hausrecht hier zuerſt geſchieden iſt.
Rönne (Staatsrecht I. §. 98) hat alle einzelnen auf dieſen Punkt
bezügliche Beſtimmungen angeführt. Warum ſich Sundelin gegen
dieſe durchaus natürlichen Beſtimmungen ereifert, iſt in der That
nicht abzuſehen. Sie ſind das Ergebniß einer fünfzigjährigen Rechts-
bildung und gewiß dem engliſchen Recht vorzuziehen; es wäre nur ein
[156] Rückſchritt, wenn die Geſetzgebung, wie er es will, mit der thüringiſchen
Strafproceßordnung (Art. 145) auf die vage Bezeichnung „in dringenden
Fällen“ beſchränken würde. Das neueſte Geſetz iſt das öſterreichiſche
vom 27. Oct. 1862. Hier iſt der Unterſchied zwiſchen der gerichtlichen
und polizeilichen Hausſuchung viel weniger klar als im preußiſchen.
Regel iſt die gerichtliche; Ausnahme iſt die polizeiliche ohne Befehl
des Gerichts zum Zwecke der gerichtlichen Verhaftung, der handhaften
That, Nacheile, oder „Beſitz von Gegenſtänden, welche auf Betheili-
gung an einer ſtrafbaren That hinweiſen.“ Die Conſequenz davon iſt
nicht abzuſehen, da die Polizei ſelbſt das Urtheil darüber behält, ob
dieß der Fall iſt, oder nicht. Dazu kommt, daß die Zuſtellung des
Befehles erſt innerhalb 24 Stunden ſtattfinden ſoll. Die Unterſcheidung
zwiſchen Nacht und Tag fehlt ganz, wie in Frankreich und Preußen.
Die „polizeiliche Aufſicht“ gibt wie die „finanzielle Aufſicht“ (?) das
Recht nur in den vom Geſetz beſtimmten Fällen. Dieß Geſetz iſt, wie
man ſieht, neben der übrigen Rechtsbildung Europa’s kein vollkommenes
zu nennen. Doch ſind auch hier Hausſuchungen von dem Betreten des
Hauſes geſchieden (§. 5).
3) Polizeiliche Hausdurchſuchung, Beſchlagnahme, Briefrecht.
Geht man auch hier davon aus, das gerichtlich-polizeiliche Ver-
fahren von dem ſicherheitspolizeilichen zu ſcheiden, ſo ſind die obigen
Punkte nunmehr wohl ſehr einfacher Natur, wenn gleich es von großer
Wichtigkeit iſt, ſich über das leitende Princip zu einigen.
Alle jene drei Thätigkeiten haben nämlich nur dann einen Sinn,
wenn man ſie in Beziehung nicht auf eine Gefahr, ſondern auf ein
bereits geſchehenes Verbrechen denkt. Es folgt daraus, daß dieſe Funk-
tionen der Polizei wirklich in der Regel nur als Akte der gerichtlichen
Polizei, und daher auch nur auf Befehl des Gerichts geſchehen können.
Es folgt daraus ferner, daß die Vornahme ſolcher Thätigkeiten durch
die Vorſchriften der Strafproceßordnungen geordnet werden muß. Nur
in Einem Falle kann von einem ſpeziellen Polizeirecht dabei die Rede
ſein und das Recht dieſes Falles iſt gleichfalls ſehr einfach; nur tritt
hier das Eigenthümliche ein, daß gerade dieſes Recht nirgends beſtimmt
ausgeſprochen iſt. Die Polizei kann ohne richterlichen Befehl nur dann
zur Beſchlagnahme greifen, wenn nicht etwa eine Perſon, ſondern ein
ganz beſtimmter einzelner Gegenſtand ihr als ein Beweismittel für
die Verfolgung eines Verbrechens erſcheint. Ihr Recht iſt dabei gleich-
falls einfach. Es beſteht einzig und allein darin, die nöthigen Maß-
regeln anzuordnen, damit ein ſolcher Gegenſtand bis zur Vornahme der
[157] gerichtlichen Schritte unberührt bleibe. Sie hat natürlich in einem
ſolchen Falle ſofort die Anzeige an das Gericht zu erſtatten und die
weiteren Aufträge von demſelben als gerichtliche Polizei zu erwarten.
Iſt Grund vorhanden, daß ein ſolcher Gegenſtand beſeitigt werde, ſo
kann ſie ihn, eventuell mit Gewalt, dem Beſitze der betreffenden Perſon
entziehen, ohne ſelbſt irgend eine Aenderung damit vornehmen zu
dürfen. Je nach den Verhältniſſen muß dieß durch Bewachung, Ver-
ſiegelung oder Depot geſchehen. Grundſatz iſt, daß ſie ſelbſt in
Papiere und Briefe niemals Einſicht nehme, ſondern ſie nur dem
Gericht überliefere, und eventuell von dem Gerichte das Recht zur Ein-
ſichtnahme empfangen muß. Alle andern Beſtimmungen gehören den
Strafproceßordnungen, alſo nicht der Sicherheitspolizei, ſondern der
gerichtlichen Polizei; oder, um das ganze Rechtsgebiet in Eine Formel
zuſammenzufaſſen: die Beſchlagnahme kann auch polizeilich, die
Durchſicht kann nur gerichtlich ſtattfinden.
Es iſt ſehr ſchwer, etwas Genügendes über das poſitive Recht zu
ſagen, da ſo viel wir ſehen, ein beſonderes Recht für alle jene Fälle
neben den Strafproceßordnungen und ihren Vorſchriften nur in Preußen
beſteht. Das engliſche Recht läßt die Beſchlagnahme, auch von Pa-
pieren, durch den Conſtabler auch außergerichtlich zu, jedoch ohne be-
ſtimmtes Geſetz und nur als allgemeine Conſequenz des rein polizeilichen
Rechts deſſelben. Grundſatz iſt jedoch, daß die Einſicht in alle Papiere,
alſo auch in Briefe, nur durch das Gericht geſchehen darf. Die gerichtliche
Beſchlagnahme fordert einen formellen Search warrant. (Glaſer a. a. O.
§. 140—146.) In Frankreich ſind die visites à domicile und die
Beſchlagnahme nach dem Geſetz vom 24. Februar 1834 auf Grundlage
des Code d’Instr. crim. 33 genau geordnet, und der Grundſatz feſt-
geſtellt, daß ſie nur in Gemäßheit eines Mandat de récherche vorge-
nommen werden dürfen, wodurch die ganze Frage Sache der Straf-
proceßordnung geworden iſt. Doch hat der Code d’Instr. crim. art. 36
und 37 dem Staatsanwalt das einſeitige Recht der Beſchlagnahme ge-
geben. Die Unverletzlichkeit des Briefgeheimniſſes iſt formell anerkannt:
ſchon Napoleon I. erklärte die Nothwendigkeit deſſelben vom rein poli-
zeilichen Standpunkt „la violation du secret des lettres est inutile et
dangereuse.“ (Thiers, Histoire de l’Empire T. XX. L. 62, p. 636.)
In Belgien hat die Conſtitution von 1830 das Briefgeheimniß für
unverletzlich und die Poſtbeamten für verantwortlich erklärt. (Batbie,
Dr. publ. et admin. II. Ch. VI.) — Das engliſche Briefrecht wird
durch ſpezielle warrants gelegentlich umgangen, obgleich die Regierung
[158] es nicht geſteht. (Fiſchel, die Verfaſſung Englands, S. 97—100.)
Preußen hat in ſeinem Geſetz vom 12. Februar 1850 das einzige
ſyſtematiſche Recht der Hausdurchſuchung und Beſchlagnahme, von dem
polizeilichen Hausrecht geſchieden, aufgeſtellt. Der leitende Grundgedanke
dabei iſt, den allgemeinen Grundſatz der Verfaſſungsurkunde (Art. 33)
dahin zu erklären, daß Hausſuchungen nur unter Zuziehung von Behörden,
der Angeſchuldigten und Hausgenoſſen vorgenommen, und daß die Briefe
zwar mit Beſchlag belegt, aber nur auf richterlichen Befehl geöffnet
werden dürfen. Ein Geſetz für die Ausnahmen bei Krieg ꝛc. iſt noch
nicht erlaſſen. Gute Darſtellung bei Rönne, Staatsrecht I. §. 99. Der
frühere Kampf für die Unverletzlichkeit des Briefgeheimniſſes, außer
dem, was Klüber in ſeinem Oeffentlichen Recht ſagt, namentlich bei
Aretin, conſtitutionelles Staatsrecht II. 1. Abth. 188 ff. Das übrige
deutſche Recht iſt nur ſtrafproceſſualiſch; die Berechtigung der Gerichte
iſt hier durchgehend ſehr gut beſtimmt, meiſt auf Grundlage des Satzes,
daß die Briefe nur auf collegialen Beſchluß geöffnet werden dürfen.
Dagegen fehlt eine beſtimmte Scheidung des Rechts der Beſchlagnahme
von dem der Einſicht in die Papiere, wie überhaupt des Sicherheits-
von dem gerichtlichen Polizeiverfahren. (Sundelin a. a. O. S. 33—42.)
Das öſterreichiſche Geſetz vom 27. Oktober 1862 hat geradezu vorge-
ſchrieben, daß auch die „Hausſuchungen zum Zweck der polizeilichen Auf-
ſicht“ nach den Vorſchriften der Strafproceßordnung zu geſchehen haben
§. 5. Dagegen fehlt das Recht der polizeilichen Beſchlagnahme und die
Strafproceßordnung §. 104 ff. gibt indirekt das Recht zu derſelben ſchon
bei dringenderem Verdacht; zur Nacht ſoll die Hausdurchſuchung nur
in ſehr dringenden Fällen ſtattfinden §. 107. Gemeindebeamte werden
nicht beigezogen.
4) Polizei der Waffen.
Die Polizei der Waffen hat nur eine Bedeutung, inſofern die
Waffen als Mittel zur Störung der öffentlichen Ordnung dienen. Sie
iſt daher in der Heimath der Revolutionen, in Frankreich entſtanden,
dort ausgebildet, und von da nach Deutſchland herüber gegangen,
während in England eine ſolche nicht exiſtirt. Man kann im Allgemei-
nen unterſcheiden zwiſchen der Waffenpolizei überhaupt, und der Waffen-
polizei in ſpeziellen Fällen. Die Waffenpolizei überhaupt iſt meiſten-
theils ein Verbot, Waffen von beſtimmter Art ohne Genehmigung ver-
fertigen, theils dieſelben beſitzen, theils mit denſelben öffentlich er-
ſcheinen zu dürfen. Die Waffenpolizei der ſpeziellen Fälle tritt bei
Störungen der öffentlichen Ruhe auf, und beſteht in der meiſt mit
ſchweren Strafen beſtärkten Vorſchrift, die Waffen abliefern zu müſſen.
[159] Es iſt ganz natürlich, daß mit oder ohne Geſetz und Verfügung die
Handhabung dieſer Polizei im umgekehrten Verhältniß zur öffentlichen
Ruhe ſteht.
Die Waffenpolizei Frankreichs unterſcheidet zwiſchen der Erlaubniß
zur Waffen fabrikation, indem die Produktion von Kriegswaffen
einer eigenen Genehmigung von Seiten des Kriegsminiſteriums unter-
liegt (Dekret vom 14. December 1810; Ordonnanz vom 24. Juli 1816,
Geſetz vom 14. Juli 1860.) Der bloße Beſitz von ſolchen Kriegswaffen
wird als Vergehen betrachtet (Verordnung vom 6. März 1861). — Das
Tragen von Waffen ward ſchon durch das Geſetz vom 13. Frim. an V
verboten; das Geſetz vom 24. Februar 1834 hat das Tragen derſelben
mit beſtimmten Strafen belegt, ſpeziell bei einer aufrühreriſchen Bewe-
gung. Die Jagdwaffen wurden durch Dekret vom 11. Juli 1810
und 4. Mai 1812 erlaubt; dieſe Erlaubniß iſt beſtimmt durch permis
de chasse. (Geſetz vom 3. Mai 1844.) Gut bei Batbie a. a. O.
S. 354—362. Laferrière a. a. O. I. Ch. II. Block v. Armes.
— Das deutſche Syſtem hat ſich wenig um die franzöſiſche Unterſchei-
dung von Kriegs- und Privatwaffen gekümmert, dagegen hat es mit
Recht das Hauptgewicht auf das Verbot heimlicher Waffen, und auf
die ſicherheitspolizeiliche Ueberwachung von Schießübungen gelegt.
Eine ſehr genaue Geſetzgebung in Preußen, welche in ganz verſtän-
diger Weiſe mit der definitiven Verweiſung auf das Strafgeſetzbuch
§. 340. ff. ſchließt. (Reſcript vom 22. November 1860.) Weitere Vor-
ſchriften Rönne, Staatsrecht I. §. 100 und II. §. 350. In Oeſter-
reich iſt das Waffenpatent vom 24. Oktober 1852 zu einer ſyſtema-
tiſchen Geſetzgebung über die Waffenpolizei geworden. Verbotene
Waffen und Munition, jedoch mit Bewilligungsrecht der Behörde
§. 1—14. Waffentragen §. 14—17. Waffenpäſſe §. 18. Waffen-
ſendungen; daneben Haftung für Culpa im Strafgeſetzbuch §. 374.
(Stubenrauch, §§. 206 und 214.) — Auch in Württemberg auf
Grundlage früherer Geſetze ein ausführliches Geſetz über Waffentragen
vom 1. Juni 1853 (Roller, Polizeirecht §. 123). — Bayern, Polizei-
ſtrafgeſetzbuch §. 49. (Baden, Polizeiſtrafgeſetzbuch §. 41); weſentlich
nach franzöſiſchem Muſter mit Unterſcheidung von Kriegs- und Privat-
waffen, ohne Unterſchied von heimlichen und offenen Waffen, wie in
Preußen. (Stempf a. a. O., S. 116—118.)
[160]
Dritte Abtheilung.
Niedere Sicherheitspolizei.
Begriff und Recht.
Die niedere Sicherheitspolizei entſteht dadurch, daß durch menſch-
liche oder natürliche Kräfte die Exiſtenz der Einzelnen gefährdet werden
kann, ohne daß eine beſtimmte unmittelbar gefährdende That vorläge-
und dieſelbe im Stande wäre, ſich überhaupt oder ohne Anwendung
ganz außergewöhnlicher Vorſicht dagegen zu ſchützen. Es iſt natürlich,
daß eine ſolche Polizei überhaupt erſt da entſteht, wo eine gewiſſe Dich-
tigkeit der Bevölkerung ſolchen Gefahren den Charakter allgemeiner Zu-
ſtände gibt. In dem Beginne der Civiliſation ſowohl als da, wo auch
bei hoch ausgebildeter Geſittung die Bevölkerung ſehr dünn iſt, wie
in einſamen Gegenden, muß die Gemeinſchaft es den Individuen ſelbſt
überlaſſen, ſich dieſen Schutz zu ſchaffen. Je enger die Bevölkerung
rückt, je mehr wälzt ſie dieſe Sorge auf die Verwaltung, und ſo ent-
ſteht ein ganzes Syſtem von Maßregeln, welche zuſammen die niedere
Sicherheitspolizei bilden.
Dieſelbe hat demgemäß einen ganz unbeſtimmten Umfang, weil
ſie ſich auf alle den Einzelnen gefährlichen Verhältniſſe bezieht. Je-
doch ſcheiden ſich in derſelben drei ganz beſtimmte Gebiete nach den drei
Elementen der Gefahr. Die erſte Urſache der Gefährdung der Sicher-
heit ſind die Menſchen ſelbſt als ſolche, die zweite ſind die Beſchäfti-
gungen und die Beſitzer derſelben, die dritte endlich die natürlichen Zu-
ſtände. Es iſt dabei natürlich weder möglich, noch hat es einen Werth,
alle einzelnen auf dieſe Gefährdungen bezüglichen Beſtimmungen in den
verſchiedenen Ländern anzugeben, ſchon darum nicht, weil eben die natür-
lichen Verhältniſſe örtlicher Natur ſind. Wohl aber hat das daraus
entſtehende niedere Polizeiweſen und ſein Recht einen gewiſſen gleich-
artigen Charakter, je nach der Urſache, aus der es entſteht, und auf
dieſen als das eigentliche Element der Vergleichung ſind die einzelnen
Beſtimmungen zurückzuführen.
Da nämlich die Sicherheitspolizei gefährlicher Perſonen und gefähr-
licher Unternehmungen ſtets eine unvermeidliche Beſchränkung der per-
ſönlichen Freiheit mit ſich bringt, ſo wird das dieſe Freiheit beſchrän-
kende Recht ſtets ein geſetzmäßiges ſein müſſen, während die Ausführung
ſeiner Beſtimmungen den Selbſtverwaltungskörpern um ihrer örtlichen
Natur willen überlaſſen wird. Die rein natürliche Sicherheitspolizei
dagegen beruht auf Verfügungen, und dieſe müſſen ſtets von dem ört-
lichen Verwaltungsorgane, vorzugsweiſe von den Selbſtverwaltungskörpern
[161] ſowohl angeordnet als ausgeführt werden. Daher fallen höchſtens die
erſtern unter eine ſpezielle Vergleichung, während bei den letztern die
Aufſtellung der allgemeinen Kategorie genügen kann.
Es ergibt ſich von ſelbſt daraus, daß die Quellen dieſes Rechts
hauptſächlich in den Verwaltungsgeſetzkunden der einzelnen Länder zu
ſuchen ſind, die dieß Gebiet mit um ſo mehr Liebe und Umſtändlichkeit
behandeln, als in ihm ſich die Verwaltungsthätigkeit der niederſten
Organe am meiſten bewegt.
I. Perſönliche niedere Sicherheitspolizei.
Die Grundlage der perſönlichen niedern Sicherheitspolizei ſind die-
jenigen Zuſtände und Lebensverhältniſſe der Individuen, welche wie ſie
ſelbſt dauernd ſind, auch eine dauernde Gefährdung der Gemeinſchaft
durch ſolche Perſönlichkeiten enthalten. Dieſe Lebensverhältniſſe erſcheinen
nun in zwei Hauptformen, den Vagabunden und Bettlern einer-
ſeits, und den entlaſſenen Sträflingen andererſeits. Es iſt wohl
kein Zweifel, daß bei beiden die Art und Weiſe, wie ſie Gefahr bringen,
vielfach gleich iſt. Allein der ethiſche ſowohl als der wirthſchaftliche
Grund dieſer Gefahr iſt weſentlich verſchieden, und daher iſt auch das
Polizeiverfahren und das Polizeirecht bei beiden ein nicht minder ver-
ſchiedenes. Sie fordern daher eine beſondere Darſtellung, wie denn
das betreffende Verwaltungsrecht beider nicht gleichzeitig entſtanden iſt.
a) Polizei des Bettler- und Vagabundenthums.
Die tiefe, dem germaniſchen Leben vorzugsweiſe eigenthümliche Ab-
neigung gegen das Bettler- und Vagabundenthum beruht im Allgemeinen
auf der Grundanſchauung der Geſchlechterordnung, welche das Angehören
des Einzelnen an ein Geſchlecht, und damit die Seßhaftigkeit als Baſis
der geſammten öffentlichen Rechtszuſtände anerkennt. Der Unſeßhafte,
nicht unter dem Recht des örtlichen Geſchlechterkörpers ſtehend, iſt ihm
gegenüber rechtlos. Der Bettler aber wird, da in der Geſchlechterordnung
das Geſchlecht ſeine Armen ernährt, ein Vorwurf gegen die Seinen.
Beide ſind daher im Widerſpruche mit dem geſammten öffentlichen Rechts-
zuſtande. Daher erſcheint ſowohl das Bettler- als das Vagabunden-
thum als ein Unrecht, das an und für ſich als Vergehen beſtraft werden
muß. Die ſtändiſche Ordnung ſchärft dieſe Auffaſſung für Vagabunden,
da ſie fordert, daß jeder einer ſtändiſchen Grundherrlichkeit angehören
ſoll, während das kirchliche Almoſen die Bettelei umgekehrt fördert.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 11
[162] In der polizeilichen Epoche tritt dagegen ein neues Syſtem ins Leben,
deſſen Grundlage das geſetzliche Armenweſen iſt. In ihm entſpricht
die Pflicht der Gemeinde, ihre Armen zu ernähren, dem Recht derſelben,
die Bettelei zu verfolgen. Das ganze Bettlerweſen als ſolches erſcheint
dadurch als eine Uebertretung der öffentlichen Ordnung, als ein Ver-
gehen des Armen gegen ſeine Pflicht, ſich nach den Regeln des Armen-
weſens ſeiner Heimath unterſtützen zu laſſen, und ſo entſteht der Grund-
ſatz der Strafe für die Bettelei, die urſprünglich als eine Polizeiſtrafe
auftretend und von den Selbſtverwaltungskörpern gehandhabt, durch
Härte, Willkür und zufällige Ausführung von Seiten der örtlichen
Polizeiorgane die Geſetzgebung der ſtaatsbürgerlichen Epoche dazu nöthigt,
die Beſtrafung der Bettelei in das allgemeine Strafrecht aufzu-
nehmen. Das Vagabundenthum dagegen bleibt ſeiner Natur nach ein
Gegenſtand der Polizei, da es auf keine beſtimmbare rechtswidrige Hand-
lung zurückgeführt werden kann. Es wird daher gleichſam in ſeine
Momente aufgelöst. Grundlage iſt das polizeiliche Verbot des erwerb-
loſen Herumtreibens, mit der Conſequenz, daß die geſetzliche Armen-
heimath nöthigenfalls den Vagabunden zu unterhalten habe. Die daraus
entſtehenden Maßregeln ſind erſtlich: die Verpflichtung des Unſeßhaften
ſelbſt im Fall eines auf das Herumziehen berechneten Erwerbes, den
letztern legitimiren zu können (Wanderbuch, Hauſirpaß); zweitens:
das Recht der Polizeiorgane bei mangelnder Legitimation den Betreffen-
den feſtzuhalten; drittens: denſelben an die Armenheimath abzuſen-
den (das ſogenannte Schubweſen.) Zu einer Beſtrafung der Vaga-
bunden liegt an ſich kein Grund vor. Dieſelbe kann rationell nur da
eintreten, wo der Unterſtützte ſeine Armenheimath verläßt ohne Anzeige,
und ohne Grund zu einem Erwerbe zu haben. Das Hauſiren ſteht
unter der Gewerbeordnung.
Natürlich beſtehen nun eine Menge der ausführlichſten Vorſchriften
über das Einzelne bei dieſem Verfahren, die manches Verſchiedene ent-
halten. Doch iſt die Grundlage allenthalben gleichartig wie die Natur
der Sache es fordert. Dieſelbe läßt ſich in folgende Punkte zuſammen-
faſſen: Betteln iſt an ſich ſtraffällig bei organiſirtem Armenweſen,
Herumtreiben nur bedingt. Die Polizei hat in Beziehung auf das letzte
die Aufgabe, den erwerbloſen Herumtreiber dem organiſirten Ar-
menweſen ſeiner Heimath zu übergeben. Das Betteln iſt ein
Verſtoß gegen das Recht, das Vagabundenthum ein Verſtoß gegen die
Ordnung. Mit im Grunde ſehr geringen Abweichungen ſind daher
Geſchichte und Recht in allen Ländern, bei aller Verſchiedenheit doch
weſentlich gleich. Regel iſt jedoch, daß das Strafverfahren in dem
Grade ſtrenger iſt, in welchem das Armenweſen allgemeiner und
[163] beſtimmter ausgebildet erſcheint. Man kann daher auch dies ganze Ge-
biet als Theil des Armenweſens und als letzte Erfüllung ſeines Rechts
betrachten.
Von einer eigenen Literatur iſt dabei außer den Angaben in den
verſchiedenen Verwaltungs- oder Polizeirechts-Darſtellungen der ein-
zelnen Länder keine Rede. Leider ſtoßen wir hier wieder auf den Mangel
ſolcher Arbeiten in den meiſten kleineren Staaten.
England bietet den Hauptbeweis des obenerwähnten Zuſammen-
hangs zwiſchen Armen- und Bettlerweſen. Die ſtrenge und ſchwere
Armenpflicht hat das Herumtreiben und Betteln ſchon lange zu einem
ſtrafbaren Vergehen gemacht, ein Standpunkt, der ſeit Eduard IV. bis
zur neueſten Zeit ſich erhalten hat. Das gegenwärtige Recht beruht
auf 5 Georg IV. 83. Aufſtellung von drei Kategorien von Vagabun-
den — disorderly persons — rogues and vagabonds — und incorri-
gible rogues. Die Strafen ſind darnach verſchieden. Das Recht der
Abführung in die Arbeitshäuſer iſt vollſtändig anerkannt; die höheren
Grade werden eventuell mit Peitſchenhieben beſtraft. (Vergl. Gneiſt,
engliſches Verwaltungsrecht II. 37.)
In Frankreich iſt bei viel unvollſtändigerer Organiſation des
Armenweſens, aber bei einer genaueren Entwicklung des Strafrechts
das Verhältniß eingetreten, daß zwar die Bettelei ſowohl als das Va-
gabundenthum ſtrafbar ſind, daß aber die Bettelei vielmehr nur als
Anlaß zur regelmäßigen Armenunterſtützung betrachtet wird. Im vori-
gen Jahrhundert waren die Strafgeſetze gegen die Mendicité ſehr hart,
wie überhaupt auf dem Continent (ſeit Edikt vom 27. Aug. 1612 in
vielfacher Wiederholung und Verſchärfung bis Dekret vom 20. Oktober
1750) bis man 1764 auf das dem engliſchen Syſtem ähnliche Syſtem der
maisons de correction verfiel (Dekret vom 21. Sept. 1767), die nachher
die Dépots de mendicité genannt wurden. Dieſelben wurden durch das
Dekret vom 30. Mai 1790 aufrecht erhalten, aber das Dekret vom 15. Okt.
1793 machte die Bettelei zu einem Vergehen, befahl die Errichtung von
freilich nur Eines Arbeitshauſes in jedem Departement, nannte die-
ſelben maison de correction und ging ſo weit, auf Grundlage der
Armenpflicht die Bettelei im Wiederholungsfalle mit der Deportation
zu bedrohen; zugleich ſollte jeder Bettler in ein ſolches Depot abge-
führt werden. Da aber dieſelben nicht zu Stande kamen (es gibt auch
jetzt nur noch 20), ſo mußte ſich der Code Pénal darauf beſchränken,
die harte Beſtrafung der Bettelei auf diejenigen Orte zu beſchränken,
wo ſich ein ſolches befindet (Art. 274), doch bleibt die gewerbsmäßige
Bettelei auch ſonſt ſtrafbar (Art. 275) und ein erſchwerender Umſtand
[164] bei Verbrechen (Art. 276—282). Die Inſtruktton für die Dépots de
mendicité, ſo wie die Organiſation ihrer Verwaltung in einem eigenen
Reglement, Decl. des instruct. du M. de l’Intérieur. Die „Vagabundage“
wird gerichtlich erklärt, und hat nebſt Kerkerſtrafe von 2 bis 6 Mo-
naten die Unterſtellung unter die polizeiliche Aufſicht von 5 bis 10
Jahren zur Folge. (Code Pénal art. 269—271.) Ueber das Ganze
vergl. Laferrière, Dr. administratif I. T. I. Ch. IV.Sehr kurz
iſt Batbic, Dr. public et admin. II. p. 345. Eine ſehr umfaſſende
und zugleich mit hiſtoriſchen Angaben verſehene Arbeit (ſpeziell über die
Declaration von 1794, S. 20—23) iſt die Schrift von Th. Homberg,
De la repression du vagabondage 1862. Freilich bezieht ſich dieſe
Arbeit weſentlich auf Frankreich und hat mehr einen ſocialen als juri-
ſtiſchen Charakter (mesures à prendre von S. 52 ff., nebſt Statiſtik),
enthält aber ſehr viel Material für einzelne Fragen.
In Deutſchland war die Bettelei und das Vagabundenthum
ſtets verfolgt; die Unſicherheit des vorigen Jahrhunderts machte nament-
lich gegen das letztere ſehr ernſte Maßregeln nothwendig. Ueber die
damaligen Zuſtände, namentlich das Räuberweſen, das keineswegs bloß
eine Fiktion oder gar poetiſch war (1799 und 1801, waren in der
Wetterau angeblich zwei Räuberbanden von einigen hundert Mann mit
Infanterie und Cavallerie), ſowie über die ſtrengen Geſetze gegen die
Landſtreicherei ſiehe J. H. Berg, deutſches Polizeirecht (Bd. IV. 2. Abth.
Nr. XXXI.) Mit unſerem Jahrhundert und der Einführung eines
geordneten Armenweſens tritt allenthalben ein geregelter Zuſtand ein,
der freilich noch mit einer Unmaſſe einzelner Vorſchriften überdeckt iſt.
Oeſterreich. Nachdem die Hülfe durch die Verpflichtung zur
regelmäßigen Armenunterſtützung anerkannt iſt (Verordn. vom 11. Oktober
1783), erſcheint die Bettelei im Strafgeſetzbuch §. 517 als ſtrafbar.
Die Gemeinde hat die Bettelpolizei. Das Vagabundenthum wird durch
polizeiliche Ablieferung an die Heimath und in die Arbeitshäuſer ver-
folgt. Schubweſen und Verfahren dabei Stubenrauch, öſterreichiſche
Verwaltungsgeſetzkunde §. 338 ff.
Preußen. Auch hier ward der alte Grundſatz der Beſtrafung
der Bettelei anerkannt (Geſetz vom 6. Januar 1843) aber zugleich iſt
dieſer ganze Theil als Armenzuchtpolizei ſowohl für die Armen
als die Vagabunden geregelt durch das Geſetz vom 11. Mai 1855. Die
letzteren kann die Landesbehörde (jetzt Landrath) ſchon nach dem allge-
meinen Landrecht II. 19. 3, 5, in die Zwangsarbeitshäuſer abführen
laſſen; das Strafgeſetzbuch §§. 117—120 beſtimmt ſogar, daß ſie dort
bis zu drei Jahren ſtationirt werden können. (Siehe das Einzelne bei
Rönne, Staatsrecht II. 336—344; K. v. Schmid, die Polizei-
[165] verwaltung auf dem platten Lande und in Städten, insbeſondere in
ihrem Verhältniß zur Strafrechtspflege 2. Aufl. 1866.)
Bayern. Grundlage war bis zum Polizeiſtrafgeſetzbuch das
Mandat, das Bettler- und Vagantenweſen betreffend vom 28. Novbr.
1816, in welchem auch die Hauſirgewerbe und ihr Recht aufgenommen
waren. Das neue Polizeiſtrafgeſetzbuch vom (10. November 1861) hat
dann dieſe Begriffe und Verhältniſſe neu beſtimmt, die „Arbeitſcheine“
(Art. 87), die „Landſtreicher“ (Art. 88) und den „Bettel“ (Art. 89)
juriſtiſch definirt, das unbefugte Gabenſammeln hinzugefügt (Art. 91)
und ein Strafſyſtem aufgeſtellt (Art. 90), in welchem bei jugendlichen
Perſonen „das Polizeigericht die Unterbringung in eine Erziehungs-
anſtalt“ anordnen kann. Das Strafgeſetzbuch Art. 76 liegt dieſen
Beſtimmungen zum Grunde.
Württemberg ſteht im Ganzen auf demſelben Standpunkt. Die
Aufſicht ſchon in der Landesordnung T. 26. §. 12 ausgeſprochen. Ge-
nau organiſirt in unſerem Jahrhundert. Das Almoſengeben ſogar ver-
boten 1766. Das Polizeiſtrafgeſetz Art. 20 ff. hat die bisherigen Be-
ſtimmungen ziemlich zuſammengefaßt, nebſt dem Ergänzungsgeſetz vom
2. Mai 1853; auch hier im Zuſammenwirken mit dem Strafgeſetzbuche
Art. 198. Strafe: Arreſt. Competent iſt das Bezirkspolizeiamt, daneben
noch die Beſtrafung der zur Armuth führenden Unmäßigkeit nach
dem Polizeiſtrafgeſetzbuch Art. 24 mit Arreſt. Confination arbeits-
ſcheuer Perſonen (bis 3 Jahre polizeiliche Competenz). Das Vagabunden-
thum in Verbindung mit falſchen Documenten nach dem Strafgeſetz-
buch Art. 197, beim Rückfalle Art. 196. Sonſt polizeiliche Strafe
bis 14 Tage Arreſt, nebſt Abführung in die „Beſchäftigungsanſtalt“
als polizeiliche Maßregel. (Mohl, Württembergiſches Verwaltungsrecht
S. 374 und 284. G. Roller, Württembergiſches Polizeirecht 1856,
§. 40—82.)
Königreich Sachſen. Grundlage iſt noch das Mandat vom
9. Juni 1803, an welches ſich wegen Einlieferung von Bettlern die
Armenordnung vom 22. Oktober 1840 anſchließt. Errichtung von Land-
arbeitshäuſern ſeit 1803 und Organiſirung derſelben. Einlieferung
jugendlicher Verbrecher in die Correctionsanſtalten (Verordn. vom
11. Juli 1839); Schubtransportweſen (Reſcript vom 22. April 1842);
ausführlich G. L. Funke, Polizeigeſetze und Verordnungen des König-
reichs Sachſen, II. Bd. 1847.
Baden. Die Verhandlungen über das neue Polizeiſtrafgeſetzbuch
bieten ſehr viel intereſſante Geſichtspunkte. Das Polizeiſtrafgeſetzbuch
ſcheidet die Arbeitsſcheu von der Landſtreicherei und dem Bettel.
Natürlich iſt auch hier die Begriffsbeſtimmung der erſteren die eigentliche
[166] Schwierigkeit; Grundlage iſt die Arbeitsfähigkeit; unklar iſt dabei
die Beſtimmung, daß arbeitsſcheue Perſonen, „die ſich nicht auf er-
laubte Weiſe ernähren“ mit 4 Wochen Gefängniß beſtraft werden ſollen.
Hier liegt doch offenbar das Strafbare in jenen unerlaubten Handlungen,
die ja auch den Diebſtahl umfaſſen. Für die Landſtreicherei iſt noch
ſpeciell durch Verordnung vom 19. December 1856 das polizeiliche Ver-
fahren geregelt. (S. über die früheren Beſtimmungen die Commiſſions-
berichte bei Stempf a. a. O. S. 150—155 und badiſches Strafgeſetz-
buch §. 639, ſowie Geſetz vom 12. April 1856.) — Es iſt wohl gewiß,
daß in allen deutſchen Staaten ähnliche Geſetze beſtehen; durchgehend
iſt jedoch die Aufnahme der Strafbeſtimmungen in die verſchiedenen
Strafgeſetzbücher, die zum Theil ſehr hart ſind, wie das braun-
ſchweigiſche §. 73 (Gefängniß von 14 Tagen bis 3 Monaten).
b) Polizei der entlaſſenen Sträflinge.
Die Polizei der entlaſſenen Sträflinge beruht offenbar auf einem
weſentlich anderen Grunde als die der Arbeitsloſen. Nicht die Strafe,
ſondern das Motiv des erſten Verbrechens wird als ein fortwirkendes
angeſehen und daher in dem entlaſſenen Sträfling der frühere Ver-
brecher unter polizeiliche Aufſicht geſtellt. Es iſt für den Begriff der
Sache gleichgültig, ob der entlaſſene Sträfling arbeitslos iſt oder nicht;
die geſchehene That haftet an ihm als Gefahr einer künftigen. Dieſe
Vorſtellung hat in früherer Zeit zu großer Willkür und nicht minder
großem Unheil Anlaß gegeben. Unſer Jahrhundert hat an die Stelle
der früheren Rückſichtsloſigkeit eine feſte Rechtsordnung geſetzt, und hier
hat wieder das Vereinsweſen hilfreiche Hand geleiſtet. Man muß daher
in dieſem Gebiete zwei Standpunkte ſcheiden, den juriſtiſch-polizeilichen
und den ſocialen.
Die Aufgabe der polizeilichen Geſetzgebung war es, die polizei-
liche Oberaufſicht über die entlaſſenen Sträflinge juriſtiſch zu formuliren.
Daraus entſtand der Grundſatz, daß dieß Aufſichtsrecht, das ſeiner
Natur nach unbeſtimmt in ſeinen Gränzen iſt, wenigſtens nicht Gegen-
ſtand der Willkür, ſondern durch einen förmlichen Urtheilsſpruch
geſetzt werden ſolle. Dieſes Princip gilt auf dem ganzen Continent, und
hat die wichtige Folge, daß die Begründung der Nothwendigkeit jener
Beſchränkung der Freiheit nicht mehr in dem Beſtraftwerden als ſolchem,
ſondern in der aus der Unterſuchung ſich ergebenden Individualität
des Verbrechers geſucht und vom Gerichte nach beſtimmten geſetzlichen
Vorſchriften feſtgeſtellt wird — der einzige Weg, der polizeilichen
Thätigkeit eine ethiſche Baſis zu geben. Die Ausübung dieſer Ober-
[167] aufſicht iſt dann naturgemäß Sache der amtlichen Polizei, die Ver-
pflichtung den entlaſſenen Sträflingen durch Arbeit wieder zu helfen,
wird dagegen den Gemeinden zugewieſen, und anderſeits iſt es Sache
der Rechtspflege, zu beſtimmen, ob und wie weit die Aufſicht einen
etwaigen Rückfall erſchwert.
Die ſociale Auffaſſung dagegen erkennt hier die Aufgabe, jene
Uebelſtände in ihren Urſachen zu bekämpfen. Dieß geſchieht theils
durch die Sorge für die allgemeine Heranbildung der Jugend, welche
dem Hülfsweſen angehört, theils durch das Auftreten des Vereinsweſens,
welches Vereine für entlaſſene Sträflinge, namentlich für jugend-
liche Verbrecher gegründet hat, um dieſelben in eigenen Anſtalten zu
erziehen. Die Frage iſt dabei nur die, ob es auch hier nicht beſſer
wäre, ſolche Individuen bei Familien durch Mitwirkung der Vereine
unterzubringen und auf dieſem Wege das Ziel anzuſtreben. Uebrigens
iſt das ganze Gebiet noch ſehr unentwickelt und ohne gemeinſam an-
erkannte Grundlagen. Es fehlt noch ſowohl die Statiſtik als die wiſſen-
ſchaftliche Bearbeitung, während die reine ſicherheitspolizeiliche Seite
faſt nur in den ausführlichen Inſtruktionen der niederen Polizeiorgane
ausgebildet iſt.
Geltendes Recht. England. Hier beſtimmte ſchon das Statut
4 Georg IV. 64 (The Goal Act. 1825), daß jedem entlaſſenen Sträfling
bei ſeiner Entlaſſung eine kleine Summe (bis 2 Pfd.) gegeben werden
ſolle, um zurückzukehren to any place of employment or honest oc-
cupation. Darauf entſtanden mehrfach Vereine für entlaſſene Sträf-
linge (decharged prisoners, aid societies). Dieſe Vereine, welche die
entlaſſenen Sträflinge theils direct, theils indirect unterſtützen, ſtanden
bisher unter dem allgemeinen Vereinsrecht. Das Statut 25—26 Vict. 44
beſtimmt nun, daß, ſowie ein ſolcher Verein in einer Quarterly session
formell anerkannt (certified) iſt, jene Unterſtützung des Goal Act nicht
mehr den Sträflingen ſelbſt, ſondern dieſem Vereine zur Verwendung
übergeben werden ſoll. Damit beginnt die ſociale Richtung der eng-
liſchen Sträflingsgeſetzgebung.
Frankreich. Selbſtändige Behandlung der répris de justice:
Grundſatz der polizeilichen Ueberwachung ſchon im Geſetz vom 28 Flor.
an XII. Der Code Pénal ſtellt ſie à la disposition du Gouverne-
ment (Art. 44); das Geſetz vom 28. April 1832 ordnet das polizeiliche
confinement. Die Colonies pénitentiares, eingeführt durch ein Geſetz
vom 5. Auguſt 1830, haben keinen großen Erfolg gehabt. Colonie de
Mettraye, landwirthſchaftliche Anſtalt für entlaſſene junge Sträflinge,
beſteht ſeit 20 Jahren.
[168]
Oeſterreich. Grundſatz, die ſeit 1811 geſetzlich ausgeſprochene
Aufſicht über entlaſſene Sträflinge den Gemeinden durch die Polizei-
organe zuzuweiſen (Erlaß vom 5. März 1853). Dieſe ſollen ihnen
Arbeit geben, „daß ſie nicht aus Noth ein Verbrechen begehen“ (Ent-
ſchließung vom 30. Mai 1778). Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde
§. 179. Das Geſetz vom 27. Oktober 1862 zum Schutz der perſönlichen
Freiheit ſagt in ziemlich unbeſtimmter Weiſe §. 5. „Niemand kann
zum Aufenthalt an einem beſtimmten Orte ohne rechtlich begründete
Verpflichtung (?) erhalten (confinirt, internirt) werden. Eben ſo darf
niemand außer den durch im Geſetz beſtimmten Fällen aus einem be-
ſtimmten Ort ausgeweiſen werden.“
Die neueſte Inſtruction vom December 1865 an die Generalinſpection
des Gefängnißweſens, auf ſehr rationeller Baſis entworfen, enthält in
Beziehung auf entlaſſene Sträflinge folgenden Paſſus: „Durch Schutz-
vereine iſt dahin zu wirken, daß Sträflinge bei ihrer Entlaſſung
aus der Strafanſtalt einen ehrlichen Erwerb finden, damit nicht
bloß ſie ſelbſt, ſondern vor allem die ganze Geſellſchaft vor Rückfällen
derſelben in die Bahn der Verbrechen bewahrt werde. Zu dieſem Be-
hufe ſind die Ueberverdienſtgelder zweckentſprechend zu regeln, ſo
wie die Geldmittel zu beſtimmen, aus welchen an ſolche Arbeits-
geber, bei welchen entlaſſene Sträflinge durch mehrere Jahre mit Erfolg
angemeſſene Beſchäftigung und Obſorge finden, entſprechende Prä-
mien verabreicht werden können.“ Arbeitshäuſer ſind ſehr unvoll-
ſtändig, jedes mit eigenen Inſtructionen. Den Vereinen für ent-
laſſene Sträflinge alle Unterſtützung verſprochen. Decret vom 17. April
1847. Wenige entſtanden.
Preußen. Grundſatz, daß die polizeiliche Aufſicht nur als
ſelbſtändige Strafe ausgeſprochen werden ſoll (Geſetz vom 12. Februar
1850 und Strafgeſetzbuch §. 26—29. 116). Dagegen Recht auf polizei-
liche Ueberwachung ſowohl bei Sträflingen als bei allen herumziehen-
den Gewerben.
Bayern. Auch hier iſt die Polizeiauſſicht auf entlaſſene Sträflinge
als eigene Strafe gerichtlich auszuſprechen nach dem Strafgeſetzbuch (Haupt-
ſtück XV. XVII—XIX). Von eigenen Anſtalten dafür iſt nichts bekannt.
Württemberg. Hier kann die Confination durch die Kreisregie-
rung gegen gewerbsmäßige Bettler erkannt werden. Polizeiſtrafgeſetzbuch
Art. 19—21. 24. 25; dagegen muß die polizeiliche Oberaufſicht gerichtlich
erkannt werden (Strafgeſetzbuch Art. 42) mit Recht der Ortsvorſteher
auf Erlaubniß zur Ueberſchreitung der Gränze (Strafgeſetzbuch 43).
Ueber die Beaufſichtigung ſelbſt eine Miniſterialverfügung vom 29. Juli
1845. Roller, Württembergiſches Polizeirecht S. 41—43.
[169]
Königreich Sachſen. Das „Correctionsweſen“ iſt im König-
reich Sachſen durch viele Beſtimmungen ſeit dem vorigen Jahrhundert
geordnet: daſſelbe iſt eigentlich auf Vagabunden und Bettler berechnet,
und die dortigen Correctionsanſtalten ſind nichts anders als Zwangs-
arbeitshäuſer; die Correctionsanſtalt zu Bräunesdorf iſt namentlich für
jugendliche Vaganten beſtimmt. Für entlaſſene Sträflinge beſteht
kein eignes Recht, als daß ihnen die Verwendung beim Straßenbau-
weſen offen gehalten wird. Dagegen exiſtirt ſeit 1836 ein Verein
für entlaſſene Sträflinge, und ein Frauenverein für die entlaſſenen
Mädchen und Frauen ſeit 1843. Vergl. Funke, Polizeigeſetze und Ver-
ordnungen des Königreichs Sachſen 1837. Bd. II. S. 472—505. —
Für Baden iſt das betreffende Recht in den Vorſchriften über Land-
ſtreicherei enthalten. Polizeiſtrafgeſetzbuch §. 64. 65. S. Stempf a. a. O.
S. 151.
Italien. Das Syſtem der modernen Polizei iſt auch hier nach
franzöſiſchem Vorgange in das Strafgeſetzbuch aufgenommen (Codice
Pénale vom 20. Nov. 1859). Darnach können die Sträflinge unter
polizeiliche Aufſicht geſtellt werden (Art. 45) und ihnen ein gezwungener
Aufenthalt angewieſen werden [(darf)]. Die Strafe für Bettelei Art. 442.
Das Vagabundenthum beſtimmt Art. 436. Strafe für oziosi, vagabondi
und mendicanti validi (Art. 447). Gezwungener Aufenthalt. Verordnung
vom 20. Mai 1866.
II. Gewerbliche niedere Sicherheitspolizei.
Die gewerbliche niedere Sicherheitspolizei hat die Aufgabe, die
Gefährdung der Einzelnen durch den Betrieb einzelner Gewerbe zu be-
ſeitigen. Da dieſe Gefährdung namentlich in geſundheitspolizeilicher
Hinſicht beſteht, mit Ausnahme der Druckereien, welche auch in Beziehung
auf Sittenpolizei gefährlich werden können, ſo kann man dieß Gebiet
eben ſo wohl der niederen Geſundheitspolizei hinzurechnen. Außerdem
iſt es natürlich nicht thunlich, hier alle einzelnen dahin einſchlagen-
den Beſtimmungen aufzuzählen, da dieſelben wenigſtens dem größeren
Theile nach örtlicher Natur ſind. Es iſt jedoch von Werth, dieſe Vor-
ſchriften auf gewiſſe Kategorien zurückzuführen, welche die Einrichtung
der einzelnen Beſtimmungen erleichtern, und einen ſyſtematiſchen Ueber-
blick gewähren.
Alle dahin gehörigen Beſtimmungen haben nämlich als Objekt ent-
weder die Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit, oder die Gefährdung
der Geſundheit durch die mechaniſchen, oder die durch die chemiſchen
Elemente des Gewerbes. Die niedere Sicherheitspolizei hat die Auf-
gabe, dieſe Gefahren auf doppeltem Wege zu bekämpfen.
[170]
Die erſte iſt die Conceſſion der Anlage eines Gewerbes.
Die neuere Entwicklung der Gewerbefreiheit hat das Syſtem der Ge-
nehmigung in dieſem Sinne beibehalten; ſie iſt nicht mehr eine Genehmi-
gung der Unternehmung als ſolcher, ſondern nur die ſicherheits-
polizeiliche Erklärung, daß die Anlage in der Art und Weiſe an
dem Orte, wo ſie geſchehen ſoll, keine Gefährdung des öffentlichen Wohl-
ſeins enthält. Dieß bezieht ſich wieder theils auf die Unternehmung
ſelbſt (Druckerei), theils auf den Ort derſelben (Schlachthäuſer, Seifen-
ſiedereien ꝛc.). Die Entſcheidung muß natürlich von der Ortsbehörde
geſchehen; jedes ſolche Verfahren aber ſoll ſtets unter Zuziehung der
Nachbarn vorgenommen werden, und es iſt durchaus richtig, nicht etwa
an Ort und Stelle ſofort zu entſcheiden, ſondern den Antrag des Be-
treffenden zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, und um etwaigen
Einwendungen eine Friſt zu ſetzen, ſowie das Beſchwerderecht in vollem
Umfange gelten zu laſſen.
Das zweite Mittel iſt die Sicherheitspolizei des Betriebes; und
zwar theils in Beziehung auf die gemeingefährliche Kraft der mechaniſchen
Motoren (Dampfmaſchinen), theils in Beziehung auf die phyſiologiſchen
Eigenſchaften des Betriebsmateriales (geſundheitsgefährliche Stoffe
und ihre Beſeitigung). Alle hier einſchlagenden Beſtimmungen bilden
das zweite Gebiet der ſanitären Gewerbepolizei. Erſt die neueſte
Zeit hat hier auf Grundlage der Mechanik und Chemie ein ausgebreitetes
und treffliches Syſtem erſchaffen, dem weſentlich jedoch noch die ſanitäre
Polizei der Werkſtätten der Handwerker fehlt, während es für Com-
munikationsmittel und Fabriken ein vortreffliches genannt werden muß.
Das dritte Mittel iſt endlich die Sicherheitspolizei der Produkte
ſelbſt. Auch hier handelt es ſich weſentlich um geſundheitspolizeiliche
Vorſchriften, die ſich theils auf die Naturprodukte (Fleiſch, Brod, Ge-
tränke ꝛc.), theils auf gewerbliche Produkte beziehen; im letzteren Falle
enthalten ſie meiſt Anwendungen der Giftpolizei.
Als Nachtrag zu den in dem Geſundheitsweſen S. 72—76 bereits
aufgeführten Geſetzgebungen über die Kinderarbeit möge uns geſtattet
ſein, hier die zum Theil ſehr reiche und ausführliche Geſetzgebung der
Schweiz in Betreff der Fabriksarbeit aufzuführen. Die Kantone,
welche eine ſolche Geſetzgebung bisher beſitzen, ſind Zürich, Glarus,
St. Gallen, Aargau und Thurgau. In Zürich ſind auf Grund-
lage des Geſetzes vom 7. Mai 1832 (Gewerbeordnung) und des Polizei-
geſetzes vom 16. December 1844 das Geſetz vom 24. Oktober 1859
betreffend die Verhältniſſe der Fabrikarbeiter nebſt mehreren Vollziehungs-
verordnungen von 1859 und 1861, ſpeciell die Verordnung vom 7 Febr.
1857, betreffend geſundheitspolizeiliche Unterſuchung fremder Geſellen,
[171] Arbeiter u. ſ. w. erſchienen. Tägliche Arbeitszeit für Schulkinder
höchſtens 5, für nicht confirmirte dagegen bis 13 Stunden! Verbot
jeder Verwendung von 9 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens. — Glarus.
Geſetz vom 10. Auguſt 1864 über die Fabrikpolizei. Schulkinder dürfen
in keiner Fabrik verwendet werden; Repetirſchulkinder nie während
der Schulzeit; höchſte Arbeitszeit überhaupt 12 Stunden. St. Gallen.
Geſetz vom 8. Juni 1853 betreffend die „Fabrikkinder.“ Auch hier
Ausſchluß der Schulkinder; Kinder der Ergänzungsſchulen während der
Schulzeit; Arbeitszeit unter dem 15. Jahre 12 Stunden und Verbot
der nächtlichen Arbeit unter dieſem Alter. — Aargau. Fabrikpolizei-
geſetz vom 16. Mai 1862. Vollzugsverordnung vom 10. December 1862.
Vor dem 13. Jahr Verbot jeder regelmäßigen Arbeit in den Fabriken;
der Regierungsrath kann bei geſundheitsſchädlichen Arbeiten die Ver-
wendung von Kindern bis zum 16. Jahre verbieten. Arbeitszeit bis
zum 16. Jahre 12 Stunden. Nachtarbeit verboten. — Thurgau.
Verordnung vom 22. December 1815 und Unterrichtsgeſetz vom 5. April
1853. Schulpflicht, und darf die Fabriksarbeit ſie nicht beſchränken.
Arbeitszeit nicht genau beſtimmt — doch nicht mehr als 12 bis 14 Stun-
den! Für „junge Leute“ (?) nur Verbot der Arbeit zur Nachtzeit. —
Die übrigen Kantone haben keine ſpeziellen Geſetze; die einzige Be-
ſchränkung, freilich die ſehr wichtige, iſt die, daß in vielen Kantonen
die Verwendung vor der Beendigung der Schulpflicht (Graubündten
14 Jahre, Schwyz 12 Jahre) geradezu verboten iſt. Es iſt dabei kein
Zweifel, daß die obige Dauer der Arbeitszeit für die Kinder eine viel
zu große iſt. (Vgl. Zeitſchrift für die ſchweizeriſche Statiſtik 1865 Nr. 1.)
Wir glauben, daß dieß ganze Gebiet weſentlich der Geſundheits-
polizei gehört, und dürfen, um nicht in Wiederholungen zu verfallen,
auf dieſelbe verweiſen. Wenn die Ordnung der Kategorien eine etwas
andere iſt, ſo beruht dieß darauf, daß der Standpunkt der letzteren
etwas verſchieden iſt, als der der bloßen Sicherheitspolizei, da dieſe im
Grunde hier als das vollziehende Organ für die erſtere erſcheinen muß.
III. Elementare niedere Sicherheitspolizei.
Die elementare (natürliche) niedere Sicherheitspolizei hat es ihrer-
ſeits mit den Gefährdungen zu thun, welche durch rein natürliche Ge-
walten nicht mehr ſo ſehr der Geſammtheit als vielmehr den Einzelnen
bedrohen. Es iſt unmöglich, darüber etwas Beſtimmtes zu ſagen,
da dieſe Gefährdungen faſt immer ganz örtlicher Natur ſind. Sie
[172] entſtehen theils durch Thiere, theils aus elementaren Verhält-
niſſen. Es iſt Sache der Ortsbehörden, in beiden Beziehungen ſolche
Vorſchriften zu erlaſſen und zur Geltung zu bringen, welche in beiden
Beziehungen der öffentlichen Sicherheit genügen. Auch hier erſcheint
dieſe ganze Sicherheitspolizei im Grunde nur als das Vollzugsorgan
für die polizeilichen Forderungen gewiſſer größerer Verwaltungsgebiete;
es iſt feſtzuhalten, daß die elementare Sicherheitspolizei ebenſo wie die
gewerbliche keine wiſſenſchaftliche oder ſyſtematiſche Selbſtändigkeit hat,
und daß die von der übrigen Verwaltung getrennte Darſtellung der-
ſelben im Grunde nur auf der Verwechslung der Vollziehung und der
Verwaltung im Kleinen beruht.
In der That iſt die örtliche Polizei der Hunde (Hundswuth), des
Viehes, der Epizootie ein Theil der reinen Geſundheitspolizei, ebenſo
die Sicherheitspolizei der Badeſtellen ꝛc. Die Polizei der Gefahren auf
öffentlichen Wegen gehört dem Wegeweſen; die Polizei des Feuers
dem Feuerweſen u. ſ. w. Die Aufgabe der Doctrin kann es hier nur
ſein, den innern Zuſammenhang darzulegen; die Aufgabe der Praxis
iſt meiſt nichts anders, als eine vernünftige Anwendung des geſunden
Menſchenverſtandes auf gewiſſe öffentliche Bedürfniſſe, welche in nur
zu vielen Fällen ſtatt von der Bevölkerung ſelbſt, erſt von der Orts-
behörde angeordnet werden muß, um überhaupt zu geſchehen. Die
Selbſtändigkeit dieſer elementaren Sicherheitspolizei beruht demnach dar-
auf, daß eben die Polizeiorgane gleichſam das Sicherheitsgewiſſen der
Bevölkerung ſind; und es iſt nicht zu verkennen, daß dieß ſeinen
Werth hat.
Es darf dabei, indem wir für alle ſpeziellen Vorſchriften auf die
Landespolizeiordnungen aller Art verweiſen müſſen, doch der hier wieder
erſcheinende ſpecifiſche Charakter des Polizeirechts der großen
Völker nicht übergangen werden. In England beruht das ganze Ge-
biet auf zwei Dingen. Zuerſt auf der Removal Nuisances Act
(Geſundheitsweſen S. 33), welche die Behörde geſetzlich berechtigt, ſolche
polizeiliche Sicherheitsmaßregeln vorzunehmen, wie ſie das öffentliche
Bedürfniß fordert. Allein es gibt dafür gar keine Art von amtlicher
Inſpektion. Es iſt den Selbſtverwaltungskörpern vollſtändig über-
laſſen, ob ſie und wie weit ſie im Sinne jenes Geſetzes derartige Vor-
ſchriften ſelbſt erlaſſen und über ihre Ausführung wachen wollen.
Dagegen hat der Einzelne das Recht und auch das Mittel, die be-
treffenden Behörden für die wirkliche Ausübung dieſer Sicherheitsmaß-
regeln zu zwingen. Dieß geſchieht durch das Syſtem und Recht der
Popular Actions gegen jedes Organ der Verwaltung, eine Klage des
[173] Einzelnen auf Schadenerſatz mit dem Klagfundament der Nichtbeachtung
der Public Nuisances Act. Das Gericht entſcheidet dann. Dieß an ſich
ſehr ſchöne Syſtem des Polizeirechts würde ſchwerlich zu etwas nützen,
wenn das Intereſſe der Bewohner nicht vermöge der Selbſtverwaltung
ohnehin für dieſe Sicherheitspolizei ſorgte. In Frankreich dagegen iſt
dieſe ganze Polizei in den Händen des Maire, der nichts als Beam-
teter iſt. Hier iſt von einer Selbſtverwaltung keine Rede, wohl aber
hat Frankreich dafür ſein treffliches Beſchwerdeverfahren, das dieſelbe in
ſo vielen Punkten erſetzen muß. In Deutſchland iſt das Verhältniß ein
vielgeſtaltiges, indem in einigen Beziehungen die Gemeinden, in anderen
wieder die amtlichen Polizeibehörden, zum Theil auch die Gendarmerie
eingreifen. Es iſt vor der Hand unthunlich, darüber etwas Gemein-
gültiges zu ſagen. Die Polizeihandbücher von Funke für Sachſen, Roller
für Württemberg, Mayerhofer und zum Theil auch Stubenrauch für
Oeſterreich geben das Einzelne; in Preußen hat dieſe niedere Polizeiver-
waltung ſogar in ähnlicher Weiſe eine eigene Literatur, wie die der
Justices of peace in England und der Juges de paix in Frankreich
in den Mannels etc. Vergl. namentlich das Werk von K. v. Schmid
über die Polizeiverfaſſung (ſiehe oben; 2. Aufl. 1866). Der weſent-
lichſte Fortſchritt beſteht jedoch in den Polizeiſtrafgeſetzbüchern
(Württemberg, Bayern), welche ein objektives Recht und Verfahren
beſtimmen. Aber auch deren ſind nur wenige, ſo daß wir ſagen müſſen,
daß dieſe Sicherheitspolizei in Deutſchland ganz als eine örtliche
Rechtsbildung angeſehen werden muß.
[[174]][[175]]
Innere Verwaltungslehre.
Erſtes Hauptgebiet.
Die Verwaltung und das perſönliche Leben.
Vierter Theil.
Das Pflegſchaftsweſen.
Das Pflegſchaftsweſen.
Begriff und Rechtsprincip.
[[176]][[177]]
Es kann natürlich nicht die Abſicht des Folgenden ſein, eine
auch nur annähernd vollſtändige Darſtellung des Pflegſchaftsweſens zu
geben. Daß wir dabei ſehr kurz ſind, bedarf gegenüber dem mächtigen
Stoffe wohl keiner Entſchuldigung. Wohl aber müſſen wir erklären, weß-
halb wir überhaupt von demſelben in der Verwaltungslehre reden, und
während bisher das Verwaltungsrecht in dem bürgerlichen Rechte ent-
halten war, nunmehr fordern, umgekehrt das bürgerliche Recht deſſelben
in das Verwaltungsrecht aufzunehmen.
Wir haben uns bereits im Allgemeinen über das Weſen desjenigen
Rechtsgebietes ausgeſprochen, das wir das bürgerliche Verwaltungsrecht
genannt haben (vollziehende Gewalt S. 212). Es kann wohl kaum
zweifelhaft ſein, daß das Pflegſchaftsweſen eines der Hauptgebiete iſt,
welche dieſem bürgerlichen Verwaltungsrecht angehören. Das, worauf es
uns dabei ankommt, iſt daher für unſern Zweck eben die Feſtſtellung des
Geſichtspunkts, nach welchem wir das geſammte Pflegſchaftsweſen nicht
als einen Theil des bürgerlichen, ſondern als einen Theil des Verwal-
tungsrechts betrachten müſſen, und zwar in der Weiſe, daß nicht etwa das
bürgerlich-rechtliche Element in demſelben als aufgehoben angeſehen wird,
ſondern daß daſſelbe vielmehr nur als die Geſammtheit derjenigen bürgerlich-
rechtlichen Folgen erſcheint, welche ſich aus der, das Pflegſchaftsweſen bil-
denden Verwaltungsthätigkeit für die dabei betheiligten Einzelnen ergeben.
In der That nämlich kann man denn doch wohl ſchwerlich daran
zweifeln, daß die Beſtellung von Vormündern, die Pflicht zur Ueber-
nahme der Vormundſchaft, die Oberaufſicht der Behörde u. ſ. w. kein
Privatrecht bilden, quod pactis privatorum mutari potest. Der
Grund, weßhalb man es als ſolches behandelt hat, iſt rein ein hiſto-
riſcher; und niemand wird die Aufnahme in die bürgerlichen Geſetz-
bücher, die ſo viel anderes aus dem Verwaltungsrecht enthalten, für
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 12
[178] einen Grund anſehen, ein bürgerliches Recht daraus zu machen. Doch
müſſen wir die weitere Darlegung dieſes Gedankens, die ohne tieferes
Eingehen auf das Weſen des Rechts und auf die Geſchichte nicht denkbar
iſt, einer eigenen Arbeit überlaſſen. Hier muß es genügen, den innern
und klaren Zuſammenhang zwiſchen der Verwaltung und dem geſammten
Pflegſchaftsweſen feſtzuſtellen, und dem ganzen Gebiete ſeine organiſche
Stellung in der Wiſſenſchaft damit anzuweiſen.
Dieß nun iſt im Grunde ſehr einfach. Es wird nur darauf an-
kommen, den Begriff des Pflegſchaftsweſens nur erſt einmal von dem
ſeines Rechtes zu trennen; die adminiſtrative Natur des letztern ergibt
ſich dann faſt von ſelbſt. Freilich muß man zu dem Ende einen allge-
meinen Ausgangspunkt annehmen.
Die Grundlage alles Pflegſchaftsweſens iſt nämlich die Thatſache,
daß das, was wir eine Perſönlichkeit nennen, aus zwei Elementen
beſteht, die, obwohl innigſt verbunden, dennoch neben einander ſo ſelb-
ſtändig ſind, daß ſie ſich trennen, und jedes für ſich untergehen können.
Das erſte dieſer Elemente iſt das rein perſönliche, die Fähigkeit der
freien Selbſtbeſtimmung, ohne welche eine volle Perſönlichkeit nicht ge-
dacht werden kann; das zweite iſt das natürliche, die Gütereinheit der
Perſönlichkeit, die wir die Wirthſchaft nennen. Wir werden daher von
einer geiſtigen und von einer wirthſchaftlichen Perſönlichkeit reden können.
Nun iſt das die Natur des Menſchen, daß, während er ſtets und
nothwendig eine wirthſchaftliche Perſönlichkeit iſt, die geiſtige Perſönlichkeit
fehlen kann. Sie kann fehlen aus natürlichen Gründen, indem der
Einzelne wegen Alters, Krankheit, Wahnſinns keine freie Selbſtbeſtim-
mung hat; ſie kann fehlen, indem die Perſon dauernd abweſend iſt;
ſie kann aber auch fehlen, indem die Perſon ſtirbt; und ſie kann end-
lich fehlen, indem ſie die wirthſchaftliche Perſönlichkeit aufgeben, ihre
Gütereinheit auflöſen muß. Damit können alſo Zuſtände eintreten, in
welchen die Perſönlichkeit in der Wirklichkeit nur noch mit dem Einen
ihrer beiden Momente exiſtirt. Und hier tritt nun die Frage ein, was in
ſolchem Falle die rechtlichen Forderungen und Folgen dieſes Zuſtandes ſind.
Wenn nun ein ſolcher Zuſtand wirklich nur die Einzelnen berührte,
ſo würde das Recht deſſelben kein anderes als das bürgerliche ſein
können. So iſt es auch in der That, wo jemand z. B. während einer
geiſtigen Affektion einen Vertrag ſchließt, oder in ſeiner Abweſenheit
der negotiorum gestor ſeine Angelegenheiten verwaltet. Man iſt ſich
vollſtändig darüber einig, daß da, wo die Störung oder materielle
Aufhebung der freien Selbſtbeſtimmung nur im Verhältniß des Ein-
zelnen zum Einzelnen vorkommt, die Grundſätze des bürgerlichen
Rechts entſcheiden.
[179]
Allein wo der Mangel der Selbſtbeſtimmung aus irgend einem
Grunde ein dauernder iſt, da tritt ein anderes Verhältniß ein.
Während nämlich jene fehlt, bleibt die wirthſchaftliche Perſön-
lichkeit beſtehen, und führt nothwendig ihr eigenes Leben fort. Dieß
Leben bedingt und erzeugt wiederum ſeinerſeits ganz unabwendbar
eine beſtändige Berührung mit dem perſönlichen und wirthſchaftlichen
Leben des andern Einzelnen; es iſt ein Zuſtand einer wirthſchaft-
lichen Perſönlichkeit ganz undenkbar, in welchem nicht beſtändige und
unvermeidliche gegenſeitige Leiſtungen vorhanden wären. Dieſe gegen-
ſeitigen Leiſtungen ſind jedesmal ſelbſtändige wirthſchaftliche Akte,
und die Selbſtbeſtimmung der Perſönlichkeit erſcheint hier in dem
Momente des gegenſeitigen übereinſtimmenden Willens, im Vertrage,
oder in dem Kampfe gegen die fremde Verletzung, im Anſpruch auf
Schadenerſatz. Es iſt nun klar, daß demgemäß in der That nicht
nur die eigene wirthſchaftliche Perſönlichkeit, ſondern daß auch alle
anderen, die mit oder ohne ihren Willen mit derſelben in ſolchen
Verhältniſſen ſtehen, der perſönlichen Zuſtimmung, alſo des geiſtigen
Elementes der Perſönlichkeit gar nicht entbehren können. Oder daß, da
wir jene beſtändige und lebendige Gegenſeitigkeit den Verkehr nennen,
der Verkehr, der ſelbſt eine Bedingung und zugleich eine Form des
Lebens iſt, das Vorhandenſein der geiſtigen Perſönlichkeit in der wirth-
ſchaftlichen unbedingt fordert. Der Mangel der erſteren in der letzteren
wird daher zu einem Widerſpruch, ja zu einer Unmöglichkeit im Verkehrs-
leben. Die einfache Aufhebung der wirthſchaftlichen Perſönlichkeit aber
iſt theils nicht möglich, weil ſelbſt bei vollem Mangel der Selbſtbeſtim-
mung die Perſon da iſt (Geiſteskranke), theils als vorhanden geſetzt
wird (Abweſende), theils eine Werdende iſt (Unmündige), theils geſucht
wird (Verlaſſenſchaft), theils aber kann ſie, wo ſie eintritt (Concurs),
dem Einzelnen nicht überlaſſen bleiben. Es muß daher durch die höchſte
Perſönlichkeit ſelbſt, den Staat, und in demſelben durch ſeine Verwaltung,
das Moment der geiſtigen Perſönlichkeit in der wirthſchaftlichen als eine
Bedingung des Geſammtlebens hingeſtellt werden. Denn da die auf
dieſe Weiſe hergeſtellte Perſönlichkeit eine für alle im Verkehr gültige
ſein, und das Recht der nicht vorhandenen daher für den ganzen Ver-
kehr erſetzen muß, ſo kann nur der Staat dieß allgemein Gültige in
allgemein gültiger Weiſe thun. Und die Geſammtheit derjenigen Ord-
nungen und Beſtimmungen nun, durch welche die Verwaltung eine
ſolche Erfüllung der Selbſtbeſtimmung der Perſönlichkeiten
für den öffentlichen Verkehr herſtellt, bildet das Pflegſchafts-
weſen.
Die Grundformen dieſes Pflegſchaftsweſens ſind nun ſo vielfach,
[180] als es perſönliche Lebensverhältniſſe gibt, welche daſſelbe fordern. Man
wird ſie jedoch auf drei zurückzuführen haben. Da, wo der Perſon
nur die volle Selbſtbeſtimmung für die durch ihr Weſen und ihr wirth-
ſchaftliches Leben nothwendigen Thätigkeiten fehlt, und die letztere
daher um der erſteren willen von der Verwaltung hergeſtellt werden
muß, entſteht das Vormundſchaftsweſen. Da, wo die wirthſchaft-
liche Perſönlichkeit (das Vermögen), vorhanden iſt, die Perſon aber
gänzlich fehlt, und mithin der Uebergang an die Rechtsnachfolger ver-
mittelt werden ſoll, entſteht das Verlaſſenſchaftsweſen. Da end-
lich, wo zwar die Perſon vorhanden, aber durch den Concurs der
wirthſchaftliche Tod eingetreten iſt, entſtehen die Begriffe der Maſſe
und der Maſſenverwaltung. Alle drei zuſammen bilden das Pfleg-
ſchaftsweſen.
In dieſem Pflegſchaftsweſen nun erſcheint das Recht deſſelben
dadurch, daß die Einzelperſönlichkeit mit ihren Beziehungen zwar un-
vollſtändig aber nicht aufgehoben iſt, und daß daher die Verwaltung
mit den Einzelnen zuſammenwirken muß, wie die Pflegſchaft in jedem
einzelnen Falle herzuſtellen. Die Gränze, bis zu welcher auf dieſe
Weiſe die Thätigkeit der Verwaltung in der Erfüllung und Vertretung
des Einzelnen zu gehen hat, bildet das öffentliche Recht des Pfleg-
ſchaftsweſens.
Die Gebiete, in welchen dieſes Recht erſcheint, ſind zuerſt die Be-
ſtellung des Pflegers, dann die Führung der Pflegſchaft, endlich
die mit dem Princip der Haftung verbundene Entlaſtung des Pflegers.
Das leitende Princip dieſes Rechts, welches demſelben ſeinen Cha-
rakter gibt, beſteht darin, daß die Thätigkeit in Beſtellung, Führung
und Entlaſtung der Pfleger entweder von der Verwaltung ausgeht,
und daher den Pflegern und der Pflegſchaft den Charakter einer öffentlich
rechtlichen Funktion gibt, oder daß die Verwaltung nur als oberauf-
ſehende Gewalt der Pflege zur Seite ſteht. Dieß iſt nach den verſchie-
denen Zeiten und Völkern in jedem Theile der Pflegſchaft ſehr ver-
ſchieden geweſen. Im Allgemeinen jedoch beruht die Geſtalt und Ge-
ſchichte dieſes Rechts weſentlich auf der Geſellſchaftsordnung, und iſt
daher verſchieden für die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die
ſtaatsbürgerliche, indem namentlich die erſtere den Antheil der Verwal-
tung faſt ganz ausſchließt, die letztere dagegen die Pflegſchaft überhaupt
als eine öffentlich rechtliche Funktion, ein munus publicum hinſtellt.
Der Organismus des Pflegſchaftsweſens iſt aus einer Reihe
von Gründen, die theils in der Natur der Sache, theils aber auch in
hiſtoriſchen Verhältniſſen, namentlich im Weſen der Grundherrlichkeit
liegen, von jeher identiſch mit dem Organismus der Gerichte geweſen,
[181] und wird es auch zweckmäßig bleiben. Man kann daher ſich begnügen,
zu ſagen, daß grundſätzlich die Gerichte die Pflegſchaftsbehörden
bilden.
Allerdings aber iſt Stellung und Thätigkeit derſelben weſentlich
verſchieden, je nach den einzelnen Zweigen des Pflegſchaftsweſens. Die
Grundverhältniſſe dieſes ganzen Gebietes der Verwaltung nun ſind
folgende.
Die oben angedeutete Verbindung der Pflegſchaft mit der Thätig-
keit der Gerichte hat es mit ſich gebracht, daß alle drei Gebiete der-
ſelben ausſchließlich von der Jurisprudenz behandelt worden ſind,
theils in dem Civilrecht, theils aber auch in dem Staatsrecht, während
ſie wieder bei vielen Darſtellungen des Staatsrechts ganz weggelaſſen,
bei andern wieder nur einige Theile derſelben von demſelben aufge-
nommen werden. Dieſe Behandlungen ſind ſtets mit der, der civiliſtiſchen
Literatur eigenthümlichen Schärfe und Umſicht im Einzelnen und Prak-
tiſchen, aber einerſeits ohne den organiſchen Zuſammenhang aller drei
Gebiete des Pflegſchaftsweſens, anderſeits ohne das innere Verhältniß
zwiſchen dem römiſchen und germaniſchen Rechtsprincip, ſo wie großen-
theils ohne Vergleichung der neueren hiſtoriſchen Entwicklung dieſes
Rechts gearbeitet. Unſere Darſtellung kann nur Andeutungen über jene
Punkte und ihren Zuſammenhang geben. Es hat die Wiſſenſchaft in
der Anſchauung und Verarbeitung des Ganzen noch ein weites Feld
zu gewinnen, das zuletzt der Verwaltungslehre angehören wird. Wir
glauben, daß der einzige Schriftſteller der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur,
der ſich vom Standpunkt der Staatswiſſenſchaft mit der Obervormund-
ſchaft beſchäftigt, Soden iſt (Bd. 7), der auch ſeinerſeits nur das po-
lizeiliche Element darin bekämpft (S. 98), ohne zum Verlaſſenſchafts-
und Maſſenweſen zu kommen. — Uebrigens habe ich verſucht, die oben-
ſtehenden Grundgedanken zunächſt für das Vormundſchaftsweſen genauer
auszuführen in meiner unten citirten Abhandlung über das Vormund-
ſchaftsweſen.
I. Das Vormundſchaftsweſen.
1) Begriff.
Das Vormundſchaftsweſen enthält die Geſammtheit von
Thätigkeiten und Beſtimmungen der Verwaltung und des öffentlichen
Rechts in allen denjenigen Verhältniſſen, in welchen die Perſon für
die wirthſchaftliche Perſönlichkeit zwar vorhanden iſt, die natürlichen
Zuſtände der Perſon aber die Selbſtbeſtimmung derſelben dauernd
[182] beſchränken. Die Aufgabe des Vormundſchaftsweſens iſt es, den ge-
gebenen Mangel in der Selbſtbeſtimmung znnächſt formell ſo weit zu
erſetzen, als dieß das perſönliche und wirthſchaftliche Leben noth-
wendig erſcheinen läßt, dann aber ſo weit thunlich auch für die Her-
ſtellung und Entwickelung dieſer Selbſtbeſtimmung bei der betreffenden
Perſon zu ſorgen.
Es gibt daher ſo viele Grundformen der Vormundſchaft, als
es Grundformen des Mangels an perſönlicher Selbſtbeſtimmung gibt.
Dieſelben erſcheinen in drei großen Claſſen. Die erſte enthält die Min-
derjährigkeit, in der die Selbſtbeſtimmung als eine werdende an-
genommen wird und der Mangel derſelben auf dem Alter beruht.
Die zweite enthält die weibliche Vormundſchaft, in der das Geſchlecht
der Grund der unvollkommenen Selbſtbeſtimmung iſt. Die dritte end-
lich umfaßt alle Fälle, in denen die Vertretung durch zufällige
Lebensverhältniſſe nothwendig wird. Die erſte hat daher ein natür-
liches Ende mit dem Eintreten der Mündigkeit, die zweite iſt natur-
gemäß eine dauernde, die dritte iſt je nach ihrer Urſache dauernd oder
vorübergehend (absens — furiosus — prodigus). Die erſte bezieht ſich
ſtets auf Perſon und Vermögen zugleich, die zweite nur im Falle ſpe-
zieller Aufforderung auch auf die Perſon, die dritte je nach den Um-
ſtänden auf eine oder beide. Eine durchgreifende Scheidung einer bloß
auf das Vermögen bezüglichen Vertretung durch die Vormundſchaft
(cura) von der auch auf die Perſon bezüglichen (tutela) iſt weder denk-
bar, noch auch praktiſch. Der Unterſchied von cura und tutela iſt nur
als ein hiſtoriſcher anzuerkennen; er iſt nur durch die falſche Behand-
lung des römiſchen Rechts in die deutſche Rechtswiſſenſchaft auf-
genommen, von den deutſchen Geſetzgebungen längſt beſeitigt, und muß
als verwirrend aufgegeben werden. Die Vormundſchaft iſt vielmehr
Ein Ganzes, hat als ſolches ihre Geſchichte, ihr öffentliches Recht und
ihren Organismus, und muß in dieſem Sinne als organiſcher Theil
des Pflegſchaftsweſens behandelt werden. Dagegen iſt allerdings die
Aufgabe der Vormundſchaft, das iſt Form und Maß, in welcher die
Verwaltung den Mangel der Perſönlichkeit zu erſetzen oder dieſelbe zu
vertreten hat, natürlich in den oben angegebenen drei Grundformen
ſehr verſchieden, weil eben das Objekt derſelben, der Mangel an der
Fähigkeit zur Selbſtbeſtimmung, ſehr verſchieden iſt. Es iſt Aufgabe
des ſpeziellen Vormundſchaftsrechts und ſeiner Lehre, dieß Verhältniß
in den einzelnen Fällen genauer auszuführen. Die für alle geltenden,
das allgemeine Vormundſchaftsweſen bildenden Grundſätze ſind aber als
Theil der Verwaltungslehre die folgenden.
[183]
Ich habe verſucht, die Elemente der Geſchichte des Vormundſchafts-
weſens in der römiſchen und germaniſchen Welt hinzuſtellen. S. Stein,
das Vormundſchaftsweſen. Haimerls öſterr. Vierteljahrsſchrift.
1865. Heft 2. S. 224 ff. — Die Unterſcheidung des öſterr. bürgerl.
Geſetzbuchs §. 188 und des preuß. allgem. Landrechts II. 18. §. 3.
49 u. a. O. zwiſchen Cura und Tutela ſind die Reflexe der römiſchen
Theorie und an ſich ohne praktiſchen Werth; es gibt in Wahrheit nur
Eine Vormundſchaft, wie es nur Eine Obervormundſchaft gibt.
2) Das Rechtsprincip der Vormundſchaft.
Das allgemeinſte Rechtsprincip der Vormundſchaft iſt auch hier das
Rechtsprincip aller Verwaltung. Die Verwaltung hat dem Mangel der
Selbſtbeſtimmung nur in ſo weit durch ihr Eingreifen abzuhelfen,
als die Erfüllung dieſes Mangels eine Bedingung des Geſammt-
verkehrs iſt, und der Einzelne ſich ſelbſt nicht helfen kann. Wo beides
der Fall iſt, muß die Verwaltung eintreten; wo und in wie weit beides
wegfällt, da muß die Thätigkeit der Verwaltung aufhören.
In aller Thätigkeit der Vormundſchaft iſt daher ein Zuſammen-
wirken der Elemente der individuellen und der allgemeinen Perſönlich-
keit vorhanden; und das öffentliche Recht der Vormundſchaft beſtimmt
demnach Gränze und Inhalt deſſen, was die Verwaltung ihrerſeits in
der Vormundſchaft gegenüber dem Einzelnen zu leiſten hat.
Dieß nun erſcheint zuerſt als die Oberaufſicht über jede vor-
mundſchaftliche Thätigkeit, die auf dem Princip beruht, daß der Mündel
nicht im Stande iſt, ſich ſelbſt vollſtändig zu vertreten und die wir
mit einem Worte als das Princip der Obervormundſchaft bezeichnen.
Dann aber erſcheint derſelbe in den einzelnen poſitiven Thätigkeiten
der Verwaltung, die wir die Vormundſchafts-Verwaltung nennen.
Die erſtere gilt für alle Arten der Vormundſchaft gleichmäßig, die letztere
iſt nach denſelben ſehr verſchieden. Die Oberaufſicht der Obervormund-
ſchaft nun geht demgemäß eben dahin, zu ſorgen, daß in jeder Art der
Vormundſchaft gerade das, durch die ſpezielle Natur dieſer Art Vor-
geſchriebene auch wirklich geſchehe. Das Organ der Ausübung dieſer
Oberaufſicht oder die obervormundſchaftliche Behörde iſt dabei faſt aus-
ſchließlich das Gericht. Seine Grundſätze empfängt das Gericht durch
das beſtehende Recht. Das beſtehende Recht aber hängt gerade bei der
Vormundſchaft weſentlich von der beſtehenden Geſellſchaftsordnung ab.
Jede Geſellſchaftsordnung hat daher ihre Vormundſchaft und ihr Vor-
mundſchaftsrecht, und auch das gegenwärtige Recht kann nur als natür-
liches Entwicklungsſtadium dieſer Geſchichte erkannt werden. Wir werden
[184] es verſuchen, dieſe großen hiſtoriſchen Grundformen der Vormundſchaft
im Folgenden zu charakteriſiren, weſentlich um damit die Möglichkeit
einer richtigen Beurtheilung des Charakters und der Rechtsbildung des
heutigen europäiſchen Vormundſchaftsweſen anzubahnen.
Diejenigen Punkte nun, worauf dieſe Vergleichung des verſchiedenen
geltenden Rechts hier zurückgeführt, und an denen als abſoluten Grund-
lagen des Vormundſchaftsweſens der Charakter jeder einzelnen Geſtal-
tung deſſelben zurückgeführt werden muß, ſind zuerſt das Organ der
Obervormundſchaft, und dann das Verhältniß ſeiner Thätigkeit zu dem
des Individuums in Beſtellung, Führung und Beendigung der
Vormundſchaft.
Es iſt uns leider hier ganz unmöglich, genauer auf das Vormund-
ſchaftsrecht einzugehen. Die organiſche und zugleich hiſtoriſche Auffaſſung
deſſelben bleibt eine der großen Aufgaben der Zukunft. Wir haben
einige leitende Geſichtspunkte dafür in unſerm oben erwähnten Aufſatz
gegeben. Möge derſelbe bald bedeutendere Arbeiten zu Nachfolgern haben!
3) Die hiſtoriſchen Grundformen des Vormundſchaftweſens und
ſeines öffentlichen Rechts.
a) Das Vormundſchaftsweſen der Geſchlechterordnung und des römiſchen Rechts.
Das Vormundſchaftsweſen der Geſchlechterordnung aller Zeiten,
der römiſchen Patrizier ſowohl als der germaniſchen Stämme, beruht
darauf, daß das Geſchlecht die einzige öffentlich rechtliche Perſönlichkeit
und zugleich der wahre Eigenthümer der Güter ſeiner Mitglieder iſt. Das
Geſchlecht hat daher auch allein das Recht, die Obervormundſchaft aus-
zuüben, wenn der pater familias geſtorben iſt. Eine wirthſchaftliche
Unmündigkeit neben der perſönlichen gibt es noch nicht, alſo weder eine
curatela noch einen minor; die Mündigkeit tritt mit der Waffenfähigkeit
ein. Einer Vormundſchaftsordnung bedarf es nicht. Dieſe entſteht erſt im
römiſchen Recht, und zwar im Anſchluß an die Geſchlechterloſen, die Plebejer.
Dieſe hatten urſprünglich in ihrer Unterwerfung unter die Ge-
ſchlechter, ähnlich wie die freigebornen Mannen der germaniſchen Grund-
herren, den patriziſchen Geſchlechterherrn als Vormund: den Patronus.
Erſt die XII Tab. gaben ihnen das Recht, den Vormund ihrer Kinder
teſtamentariſch einzuſetzen. Die Lockerung und Löſung der Abhängigkeit
derſelben von den Geſchlechtern, theils auch der tiefe gegenſeitige, nament-
lich aber auf der Ausbeutung der plebejiſchen gentiles durch die patri-
ziſchen patroni beruhende Haß der erſteren erzeugte dann den Grundſatz,
daß da, wo kein teſtamentariſcher Vormund vorhanden war, nunmehr
[185] die Staatsbehörde durch den Prätor einen ſolchen einzuſetzen, und daß
die Organe der plebejiſchen Sonderintereſſen, die tribuni plebis, dar-
über als eine noch unbeſtimmt gedachte Obervormundſchaft zu wachen
haben. Das beſtimmte die Lex Atilia. Die mit der Auflöſung der
Geſchlechterordnung gegebene Selbſtändigkeit der Frau machte dann
die Ausdehnung der tutela auf dieſe, der häufige Mangel eines Hauptes
der familia die Ausdehnung auf die Abweſenheit und auf den Wahn-
ſinn nothwendig. Da hier aber keine tutela vorhanden war, weil der
pupillus fehlte, ſo entſtand die Unterſcheidung der wirthſchaftlichen
Vormundſchaft, der curatela, von der perſönlichen, der tutela. Die
Steigerung des Reichthums und der Verſchwendung nebſt der Verfüh-
rung junger aus der tutela entlaſſener 14jähriger Menſchen erzeugte
endlich die Nothwendigkeit, im öffentlichen Intereſſe einen neuen Rechts-
begriff einzuführen. Das war der der wirthſchaftlichen Unmün-
digkeit neben der perſönlichen Mündigkeit, nebſt Aufſtellung einer
zweiten wirthſchaftlichen Vormundſchaft in dem minor annis und der
cura minorum durch die lex Plaetoria, an die ſich als ſelbſtverſtänd-
liche Ausdehnung der Begriff des prodigus und die cura prodigi auch
über das 25. Jahr hinaus anſchloß. Dadurch und durch den allmäh-
ligen Untergang der Geſchlechter löst ſich nun die alte tutela gänzlich
auf, die Geſchlechtervormundſchaft verſchwindet, und an ihre Stelle tritt
das große römiſche Syſtem der richterlichen Obervormundſchaft,
das, wenn auch im Einzelnen außerordentlich genau durchdacht, doch im
Ganzen ziemlich unverſtanden den Darſtellungen der Pandekten zum
Grunde liegt und durch ſie mit all ihren Unklarheiten auf die germaniſche
Zeit übergegangen iſt. Läßt man die traditionellen Unterſchiede weg, und
erfaßt man dieß Syſtem ſeinem Weſen nach, ſo enthält es folgende Sätze:
1) Die tutela und curatela ſind munera publica, das iſt Auf-
gaben der Verwaltung. Der Einzelne hat die Pflicht, dieſe Aufgabe
zu übernehmen, und kann ſich nur durch beſondere Excuſationsgründe
davon befreien.
2) Die Obervormundſchaft iſt das Gericht, das jedoch unter Um-
ſtänden und nach Ermeſſen die Verwandten als Familienrath herbeizieht.
3) Das Beſtellungsrecht unterſcheidet die Selbſtbeſtellung
(den tutor testamentarius), die natürliche oder vielmehr geſchlechtliche
Beſtellung (den tutor legitimus) und die adminiſtrative (den tutor dati-
vus). Bei dem Minor treten alle drei Fälle ein, bei der Frau nur die
beiden letztern; bei dem majorennen absens und furiosus nur der letztere.
4) Die Führung der Vormundſchaft iſt weſentlich die wirth-
ſchaftliche Vermögensverwaltung. Ihr Princip iſt die Erhaltung
des Capitals, dem der Erwerb eines Vermögens unbedingt untergeordnet
[186] iſt. Die Aufgabe des Erwerbs geiſtiger Güter (Bildung) kommt nicht
zur ſelbſtändigen Erſcheinung.
5) Die Beendigung der Vormundſchaft enthält die Haftung
der Vormünder. Aber dieſe Haftung iſt eine privatrechtliche; der
Mündel muß ſich ſeine Anſprüche ſelbſt geltend machen.
Es iſt klar, daß auf dieſe Weiſe die alte tutela faſt ganz ver-
ſchwunden und an ihre Stelle ein allgemein gültiges Syſtem der Vor-
mundſchaft getreten iſt, in dem die früher als ſelbſtändige Rechtsverhält-
niſſe erſcheinenden Curatelen nur noch als untergeordnete Modifikationen
des einheitlichen Vormundſchaftsweſens auftreten. Leider behielt man
die alten Ausdrücke ohne hiſtoriſches Verſtändniß in der Compilation
Tribonians bei, was zu einer endloſen Maſſe von ganz unnützen und
verwirrenden Anſichten Anlaß gegeben hat, ſo daß die Jurisprudenz
darüber das germaniſche Vormundſchaftsweſen gar nicht begriff, und
das ſtaatsbürgerliche trotz guter Geſetze vielfach unklar machte.
Die bisherigen Bearbeitungen der römiſchen Vormundſchaft begehen
den Fehler aller Lehren von den Pandekten, das römiſche Recht als
ein innerlich gleichartiges Ganzes anzuſehen. Damit iſt jedes Verſtänd-
niß, namentlich ſeines Verhältniſſes zur gegenwärtigen Vormundſchaft
ſo gut als unmöglich. Doch iſt hier nicht der Ort, genauer darauf
einzugehen. (Vgl. meine oben citirte Abhandlung S. 242—266.)
b) Das Vormundſchaftsweſen der ſtändiſchen Epoche. (Das germaniſche
Vormundſchaftsrecht.)
Während das römiſche Vormundſchaftsweſen auf dem Begriff der
Perſönlichkeit und ihren einzelnen Momenten beruht, geht das der ſtän-
diſchen Epoche aus dem Hauptfaktor der ſtändiſchen Rechtsbildung, der
Grundherrlichkeit und dem Lehnsweſen hervor. Die Natur des letztern
macht namentlich die kriegeriſche Leiſtung des Vaſallen gegenüber dem
Lehnsherrn zur Bedingung des Rechts auf den Lehnsbeſitz. Die Ver-
tretung des Unmündigen enthält daher vor allen Dingen die Pflicht
zur Leiſtung dieſer Dienſte, und die Annahme derſelben von Seiten
des Lehnsherrn. Aus dem erſtern Satz entwickelt ſich neben der Waffen-
vormundſchaft zugleich die Frage, bis zu welchem Alter dieſe Waffen-
vertretung nothwendig wird. Die Unterſchiede der Waffen- oder
perſönlichen Mündigkeit und der wirthſchaftlichen Volljährigkeit greifen
dabei ein, und erzeugen, da das germaniſche Recht an den Unterſchied
von Tutel und Curatel nicht denkt, ſehr verſchiedene Beſtimmungen, in
denen ſich ſtatt der obigen römiſchen Unterſcheidung eine zweite endgültig
[187] feſtſtellt — die der Zurechnungsfähigkeit, welche der römiſchen pubertas,
und die der Volljährigkeit, welche der römiſchen Majorennität ent-
ſpricht; jene nur auf perſönliche, dieſe auf wirthſchaftliche Verhältniſſe
bezogen, aber dennoch in der Jahresziffer verſchieden, meiſt vom 18. bis
zum 24. Jahre. — Aus dem zweiten Punkte entwickelt ſich als ganz ſpezielles
Recht dieſer Zeit das Recht des Lehnsherrn, der Tochter und Wittwe
einen Mann zu geben, als Organ der Leiſtungen für die Lehnsherrn. —
Beide Punkte zugleich, weſentlich auch in Verbindung mit dem Princip
der Geſchlechterherrſchaft, nach welchem der König das Haupt aller
Ascendenten und jetzt zugleich oberſter Lehnsherr iſt, erzeugen dann die
Vorſtellung von einer noch ganz unbeſtimmten Vormundſchaft des Kö-
nigs, die erſt in der folgenden Epoche zu einer amtlichen wird. Dieſe
lehnsrechtliche Vormundſchaft iſt dann wieder verſchieden nach den ver-
ſchiedenen Ländern. Die grundherrliche Vormundſchaft hat dagegen den
Charakter der alten römiſchen tutela legetima des patronus; nur nimmt
ſie gleich anfangs, da der Grundherr ſeine Rechte durch ſein Patrimonial-
gericht ausübt, die Elemente des römiſchen Vormundſchaftsweſens in
ſich auf; und ſo ſtehen beide Syſteme eine Zeit lang neben einander, bis
ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert mit den perſönlichen Leiſtungen der Va-
ſallen auch die alte lehnsrechtliche Vormundſchaft verſchwindet, die ge-
richtliche allenthalben an ihre Stelle tritt, und ſo die neueſte Geſtalt
des Vormundſchaftsweſens eingeleitet wird, in der die Sache ſelbſt
allerdings viel klarer und einfacher iſt, als die Theorie, welche aus
Mangel an hiſtoriſchem Bewußtſein das Verſchiedene vermiſcht und große
Unklarheiten erzeugt, bis in unſerem Jahrhundert das Vormundſchafts-
weſen ſeine ziemlich definitive Geſtalt annimmt.
Auch hier wäre die Vorausſetzung aller richtigen Behandlung das
Verſtändniß der innern Entwicklung des ſtändiſchen Weſens und nament-
lich ſeines Beſitzrechtes. Der Mangel deſſelben hat, da man aus den
verſchiedenſten Angaben ein Gleiches machen wollte und in Deutſchland
weder das franzöſiſche noch das engliſche verſtand, große Unklarheit er-
zeugt, die leider auch auf unſere Zeit fortgewirkt hat. (Vgl. Stein
in der angeführten Abhandlung S. 266 ff.)
c) Das Vormundſchaftsweſen der gegenwärtigen ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaftsordnung.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung hat nun, wie ſie es immer
thut, aus den früheren Epochen diejenigen beiden Elemente hervor-
[188] gehoben, welche ſie mit ihrem Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit
vereinigen konnte, und daraus das gegenwärtige Syſtem gebildet.
Aus dem römiſchen Recht hat ſie zuerſt den Grundſatz der
rechtlichen Selbſtändigkeit der Unmündigen gegenüber dem Vormund,
und mithin der bürgerlichen Haftung für die wirthſchaftliche Thätigkeit
deſſelben entnommen, dann aber den Grundſatz, daß das Vormundſchafts-
weſen eine Verwaltungsaufgabe (munus publicum) ſei und daher ein
öffentliches Recht der Beſetzung, Führung und Haftung der Vormund-
ſchaft enthalte, das ſich auf alle Zuſtände erſtrecke, bei denen die Per-
ſönlichkeiten der öffentlichen Vertretung bedürfen.
Aus dem ſtändiſch-germaniſchen Recht entnimmt ſie dann die prin-
cipielle Aufhebung des Unterſchiedes von Tutel und Curatel in den all-
gemeinen Begriff der Vormundſchaft, und zweitens den großen Gedanken
der Obervormundſchaft des Staats, welche die Pflicht enthält, das Vor-
mundſchaftsweſen im Ganzen durch Geſetze und Verordnungen zu regeln,
und in jedem einzelnen Falle über die wirkliche Führung die Oberauf-
ſicht auszuüben.
Die Staatenbildungen, in denen ſich jene Geſellſchaftsordnung ver-
wirklicht, ihrerſeits auf dem Principe der Einheit und Gleichheit aller
Rechtsverhältniſſe beruhend, erzeugen demgemäß eine, jene großen leiten-
den Gedanken formulirende Vormundſchaftsgeſetzgebung, die be-
reits im vorigen Jahrhundert beginnt, und glücklicher Weiſe verſteht,
ſich von den Unklarheiten ſowohl der rein römiſchen, als der ſogenannten
deutſch-privatrechtlichen Theorie fern zu halten. Sie verſchmelzen die-
ſelben vielmehr zu einem, im Ganzen ſehr wohl geordneten, innerlich
einheitlichen Syſtem, deſſen Charakter im Weſentlichen darauf beruht,
daß die im römiſchen Recht aufgeſtellten Aufgaben und Pflichten unter
thätiger Mitwirkung der, einheitlich und amtlich organiſirten
obervormundſchaftlichen Behörde zur Ausführung gelangen.
Aus nahe liegenden Zweckmäßigkeitsgründen iſt die letztere das Ge-
richt, obgleich es nicht zu läugnen iſt, daß dieß, mag man die Sache
nehmen wie man immer will, doch im Grunde ein Widerſpruch bleibt.
Dieß iſt der Charakter des Vormundſchaftsweſens unſerer Zeit im
Allgemeinen. Im Beſondern aber hat nun jedes Land wieder ſein
eigenes Recht, und obwohl uns noch jede Vergleichung fehlt, ſo iſt es
doch kein Zweifel, daß der Unterſchied weſentlich auf dem Verhältniß
beruht, in welchen eben die Thätigkeit der Verwaltung zu der des
Vormundes ſteht; dann auch in dem Maße, in welchem die Vormund-
ſchaft von den übrigen Theilen des Pflegſchaftsweſens geſchieden iſt.
Man kann in dieſer Beziehung drei Hauptſyſteme unterſcheiden.
Nach dem öſterreichiſchen Syſteme hat das Geſetz die Formen
[189] der vormundſchaftlichen Thätigkeit ſehr genau beſtimmt, und die Ent-
laſtung des Vormundes zum Theil von dieſen Formen abhängig ge-
macht. Das Gericht als obervormundſchaftliche Behörde hat jedoch,
nächſt der Einſetzung des Vormundes, nur die oberaufſehende Ge-
walt und den Schutz des Mündels gegen den Vormund. Es iſt das
römiſche Syſtem des Vormundſchaftsweſens als munus publicum in
ſeiner reinſten Form, und kann als die feſte Ordnung der Vormundſchaft
nach dem ſogenannten gemeinen Recht Deutſchlands angeſehen werden.
Das preußiſche Syſtem dagegen, auch hier ſeinem Charakter con-
ſequent, „betrachtet den Vormund nicht als einen bloßen Verwalter
eines fremden Vermögens, ſondern als einen Beamten des Staats.
Die Obervormundſchaft iſt demgemäß nicht eine weſentlich oberaufſehende
Gewalt, ſondern der wahre Vormund, und der Vormundſchaftsrichter“
(der amtliche Vormund) „kann mit Uebergehung des Vormundes, ſelbſt
wider deſſen Willen, unmittelbar handeln.“ Dieſe vormundſchaftliche
Gewalt iſt das Gericht, und „der geweſene Pflegling muß dem Vor-
munde und dem Gerichte quittiren.“ (Rönne, Staatsrecht II. §. 319.)
Das franzöſiſche Syſtem dagegen geht im Gegentheil davon
aus, daß die ſtaatliche Obervormundſchaft nur dann einſchreitet, wenn
die Geſchlechtervormundſchaft nicht ausreicht. Ihre Aufgabe iſt es
daher, den Familienrath zu berufen (das consilium propinquorum
der plebejiſchen Vormundſchaft), eventuell ihn durch „Nachbarn“ zu er-
ſetzen; doch hat der juge de paix den Vorſitz. Dieſer Conseil de famille
hat dann die Berufung und Oberaufſicht des von ihm zu beſtellenden
Vormundes. Der Vormund legt dieſem Rathe Rechnung, und dieſe
Rechnung wird, wieder nach römiſchem Recht, wie jede andere Privat-
forderung vor dem Gerichte behandelt.
Das engliſche Syſtem endlich iſt noch jetzt eine vollſtändig unklare
Verwirrung der Grundſätze aus dem lehns- und dem ſtaatsbürgerlichen
Rechte, bei der das römiſche Recht allerdings nicht ohne Einfluß geweſen iſt.
Alles Speziellere muß nun als Aufgabe der beſondern Darſtellung
des Vormundſchaftsrechts angeſehen werden.
Es ergibt ſich indeß leicht, daß demgemäß das Vormundſchafts-
weſen als ſpezifiſcher Theil des Verwaltungsrechts angeſehen werden
muß, und daß dem bürgerlichen Rechte nur diejenigen rechtlichen
Verhältniſſe angehören, welche zwiſchen Vormund und Mündel
aus der Befolgung des öffentlichen Vormundſchaftsrechts entſtehen kann.
Man wird daher ſagen, daß die Vormünderordnungen das öffent-
liche, die bürgerlichen Geſetzbücher das bürgerliche Recht des Vormund-
ſchaftsweſens enthalten, und daß demgemäß die Scheidung beider
Theile, nach der ſie theils im bürgerlichen Recht, theils als beſonderes
[190] Recht behandelt werden, theils auch im rein römiſchen Recht als heu-
tiges gemeines Recht erſcheinen, in der bisherigen Weiſe nur geeignet
iſt, unklare Vorſtellungen und Verwirrung zu erwecken.
Doch fordert die weitere Ausführung dieſer Gedanken eine eigene,
ſehr tief einſchneidende Behandlung.
Ohne uns auf die Literatur einzulaſſen, bemerken wir hier nur
die Hauptquellen für jene neueſte Geſtalt des Vormundſchaftsweſens.
In Deutſchland iſt wohl allenthalben als das ſogenannte gemeine
Recht das bürgerliche von dem öffentlichen Recht in den Vormund-
ſchaftsordnungen geſchieden. In Oeſterreich iſt das bürgerliche Recht
im bürgerl. Geſetzbuch (Theil I. 4. Hauptſtück) enthalten, das öffent-
liche Recht oder die Vormundſchaftsverwaltung dagegen in dem Geſetz
vom 9. Auguſt 1854 über das gerichtliche Verfahren über Rechtsangelegen-
heiten außer Streitſachen, 31. Hauptſtück. In Preußen ſteht das
bürgerliche Recht im allgem. Landrecht II. 18. (Rönne, II. §. 319.)
In Frankreich hat der Code Civil L. I. T. X. das obige Syſtem
des Conseil de famille aufgeſtellt. Eine Einigung über die Geltung
des bürgerlichen oder öffentlichen Geſichtspunkts mangelt. In Eng-
land ſcheint gar keine zu gelten. Stephen, Commentaries T. 192.
III. 338. Stein in der angeführten Abhandlung, S. 282 und 293.
II. Das Verlaſſenſchaftsweſen.
Begriff und Rechtsprincip.
Das Verlaſſenſchaftsweſen enthält das öffentliche Recht für
dasjenige Verhältniß, welches eintritt, wenn durch das Wegfallen der
Perſon in der vermögensrechtlichen Perſönlichkeit die letztere an einen oder
mehrere andere Berechtigte übergeht. Dieſer Uebergang iſt ein Proceß,
der ſich entweder ohne Zuthun der Verwaltung vollzieht, wenn die
berechtigten Perſonen vorhanden ſind, oder der das Vermögen ſo lange
ohne perſönliche Vertretung läßt, bis die berechtigte Perſon gefunden,
oder ihr Recht anerkannt iſt. In dieſem Falle hat die Verwaltung im
Intereſſe ſowohl der einzelnen Betheiligten als des Verkehrs dieſe Ver-
tretung zu übernehmen; die Aufgabe derſelben iſt aber nicht wie bei
der Vormundſchaft die wirthſchaftliche Sorge für das Vermögen, ſondern
nur die Sicherung der Berechtigten durch die amtliche Vermitt-
lung des Ueberganges an dieſelben. Die Geſammtheit der
Vorſchriften für dieſe Thätigkeit der Verwaltung bildet das Verlaſſen-
ſchaftsweſen.
[191]
Das leitende Princip dieſes öffentlichen Rechts des Verlaſſenſchafts-
weſens iſt demgemäß das allgemeine alles Verwaltungsrechts. Daſſelbe
ſoll nur da und nur ſo weit eintreten, als die Berechtigten faktiſch
oder rechtlich nicht im Stande ſind, ihre eigenen Intereſſen durch
eigene Thätigkeit geltend zu machen. In dieſem Grundſatz liegt die
natürliche und allein richtige Gränze für die Thätigkeit der Verwaltung
bei Verlaſſenſchaften. Wenn ſie dieſelbe überſchreitet, thnt ſie zu viel;
wenn ſie ſie nicht inne hält, thut ſie zu wenig. Der Werth des gel-
tenden Verlaſſenſchaftsrechts beſteht aber, ſelbſt da, wo dieſe Gränze
inne gehalten wird, weſentlich darin, daß die Thätigkeit der Verwal-
tung oder die Verlaſſenſchaftsverhandlung den Berechtigten
ſo leicht und ſo billig als möglich zu ihrem Rechte verhelfe.
Das Entſtehen einer nach dieſen Grundſätzen geordneten Verlaſſen-
ſchaftsordnung muß daher als ein weſentlicher Fortſchritt der Verwal-
tung anerkannt werden. Innerhalb ihrer richtigen Gränzen kann keine
öffentliche Verwaltung ihrer entbehren. Allerdings aber fehlt uns auch
hier nicht bloß die organiſche Auffaſſung ihres Weſens und ihrer Stellung
im ganzen Syſtem, ſondern auch die ſelbſtändige ſyſtematiſche Behandlung
überhaupt und meiſt ſogar eine eigene Geſetzgebung. Es iſt die Ver-
waltungslehre, die dieß alles von ihrem Standpunkt zu leiſten hat.
Im Allgemeinen ſcheiden ſich nun zwei große hiſtoriſche Standpunkte
nach den zwei großen Elementen, welche das Verlaſſenſchaftsrecht bilden.
Der erſte iſt der des römiſchen Rechts, welcher das Verlaſſenſchafts-
weſen als eine Angelegenheit der einzelnen Betheiligten auffaßt und
den Berechtigten überläßt, auf dem Wege der gerichtlichen Klage ihr
Recht geltend zu machen. Der zweite iſt der der germaniſchen Ver-
waltung, welche die Vertretung der Berechtigten amtlich, wenn auch
in ſehr verſchiedenem Grade und in verſchiedener Weiſe, übernimmt, und
dabei das Recht des Einen gegen den Andern ſchützt. Daß das letztere
nothwendig wird, wo die Exiſtenz des Eigenthümers rechtlich fraglich
iſt, iſt klar, und das daraus entſtehende Recht empfing als Theil des
Vormundſchaftsweſens wohl ſchon frühe Namen und Recht der Cura
absentis, während die privatrechtlichen Grundgeſetze der hereditas jacens
das Auftheilungsrecht enthielten. So lange nun im Mittelalter wenig
Verkehr von Ort zu Ort war, konnte das genügen. Als aber die
entſtehende Verkehrsbewegung verbunden mit dem verſchiedenen localen
Erbrecht Erben und Hinterlaſſenſchaft oft weit auseinander brachte,
mußte ſelbſt bei vorhandenen Erben zum Theil um der gabella here-
ditaria willen, die für Fremde zuerſt in unſerem Jahrhundert aufge-
hoben ward (für Frankreich wird ſie erſt durch das Geſetz vom 14. Juli
1819 des Art. 726 des Code Civil aufgehoben), die örtliche Obrigkeit
[192] das Recht des Erben anerkennen und die Erbſchaft auch dem aner-
kannt Berechtigten durch einen eigenen Akt hinausgeben. Daraus ent-
ſtand die Verlaſſenſchaftsabhandlung des ſiebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts, die ſich in einigen Ländern, wie Oeſterreich, über jede
Verlaſſenſchaft ausbreitete, während ſie ſich ſonſt mit der Ausgleichung
der Erbrechtsunterſchiede allmählig auf diejenigen Punkte zurückzog, in
denen eine amtliche Thätigkeit wirklich im Geſammtintereſſe nothwendig
erſcheint. Das Verlaſſenſchaftsweſen iſt daher jetzt im Princip allent-
halben mit Ausnahme Oeſterreichs auf ſeine natürlichen Gränzen zurück-
geführt. Aber ihm fehlt noch gänzlich die organiſche wiſſenſchaftliche
Behandlung. Das Folgende kann nur die entſcheidenden Punkte für
dieſelbe als Theil der Verwaltungslehre bezeichnen.
Offenbar enthält die Verlaſſenſchaftsabhandlung als Proceß des
Ueberganges einer Hinterlaſſenſchaft an die Berechtigten drei Theile
oder Momente. Der erſte Theil hat die öffentlich rechtliche Todes-
fallserklärung zum Inhalt; der zweite Theil die amtliche Ueber-
nahme der Hinterlaſſenſchaft; der dritte Theil die Vertheilung oder
die Uebergabe an die Berechtigten. Allerdings nun haben, mit einer
Ausnahme, weder Theorie noch Geſetzgebung das Verlaſſenſchaftsweſen
in dieſem Sinne als Ganzes behandelt; dennoch aber haben Praxis
und Theorie gleichmäßig dazu gewirkt, für jeden dieſer Theile ein
öffentliches, meiſt im Einzelnen ſehr genau beſtimmtes Recht aufzu-
ſtellen, bei dem freilich nach der Natur der Sache in den gewöhnlichen
Bearbeitungen das privatrechtliche Element überwiegt. Es muß hier
genügen, die organiſche Einheit im Sinne der Verwaltungslehre anzugeben.
Die bedeutendſten Arbeiten über dieſen Gegenſtand ſind in früherer
Zeit die Motive zum preußiſchen allgemeinen Landrecht bei Borne-
mann, ſyſtematiſche Darſtellung des preußiſchen Civilrechts, Bd. VI.,
und J. Ungers Schrift: die Verlaſſenſchaftsabhandlung in Oeſterreich
1862. Die letztere hat ſich aber zu eng begränzt auf den Kampf
gegen die öſterreichiſche Verlaſſenſchaftsabhandlung und dadurch negativ
Bedeutendes geleiſtet, während ein poſitives Reſultat, die Beantwortung
der Frage, was denn die Verlaſſenſchaftsabhandlung nun ſein und wie ſie
wirken ſolle, unerledigt bleibt. Die überwiegend negative Behandlung
läßt den Verfaſſer auch ſowohl das franzöſiſche als das preußiſche
Recht etwas einſeitig beurtheilen. Das hiſtoriſche Entſtehen des „gericht-
lichen Einſatzes“ muß man auch nicht, wie S. 61 ff. geſchieht, bloß
auf Verordnungen zurückführen, ſondern auf weit allgemeinere Verhält-
niſſe. Leider hat die rein kritiſche Richtung den Verfaſſer abgehalten,
[193] das Recht der Ediktalcitation und Todeserklärungen mit aufzunehmen.
Solche Mängel ſind immer die Folge davon, wenn man in der Kritik
die höchſte Leiſtung der Wiſſenſchaft zu ſehen glaubt. Weit objektiver
und daher auch das ganze Recht der Verlaſſenſchaft viel klarer dar-
ſtellend iſt die gründliche Arbeit von Ph. v. Harraſſowsky, Grund-
züge der Verlaſſenſchaftsabhandlung nach öſterreichiſchem, im Vergleiche
mit gemeinem, preußiſchem und franzöſiſchem Recht. 1862.
Eine ſelbſtändige Geſetzgebung über das Verlaſſenſchaftsweſen
als Ganzes beſteht nur in Oeſterreich in dem Geſetze über das gericht-
liche Verfahren außer Streitſachen vom 9. Auguſt 1854, Hauptſtück II.
In den übrigen Staaten ſind die betreffenden Beſtimmungen ſehr zer-
ſplittert, und daher eine Darſtellung ſehr ſchwer. Unger hat auch in
ſeinen ſonſt ſo reichen Citaten die geſetzlichen Beſtimmungen über die
Todesfallserklärungen leider nicht aufgenommen. Warum hat der ſonſt
ſo umſichtige Harraſſowsky nicht das poſitive Recht der Ediktalcita-
tionen ſpezieller nach den beſtehenden Geſetzen behandelt?
1) Die Todesfallsaufnahme und Verſchollenheitserklärung.
Der Tod iſt in ſeinen rechtlichen Folgen ein Ereigniß, deſſen ob-
jektive Gewißheit in jedem einzelnen Falle eine wichtige Bedingung des
ungeſtörten Verkehres der Lebenden iſt. Das römiſche Recht nun hat
die Herſtellung dieſer Gewißheit als Sache jedes Einzelnen aufgefaßt;
im römiſchen Recht iſt der Tod in keiner Beziehung eine öffentliche
Thatſache. Theils der Zuſammenhang, in welchem in der germaniſchen
Welt jeder Einzelne mit ſeinem ſtändiſchen Körper ſteht, theils die Ent-
wicklung der Sanitätspolizei haben dagegen im germaniſchen Europa
die öffentlich rechtliche Conſtatirung des Todes erzeugt, und die Ver-
laſſenſchaftsbehandlung, für welche ſie die erſte Vorausſetzung iſt, haben
ſie formell ſehr genau beſtimmt, ſo daß über den öffentlichen Werth
derſelben kaum ein Zweifel obwaltet. Grundſatz iſt dabei, daß dieſe
Todesfallserklärung in dem Grade umſtändlicher formulirt wird, in
welchem die Verwaltung ſich mit der Verlaſſenſchaft mehr beſchäftigt.
Dieſe amtliche Anerkennung des Todes erſcheint nun in zwei Formen.
Die erſte iſt die Todesfallsaufnahme, welche den Tod einer
gegenwärtigen Perſon gerichtlich conſtatirt. Sie iſt, gegenüber dem
römiſchen Recht, als öffentliche Pflicht der dazu beſtellten amtlichen
Organe anerkannt, ihre Formen ſind vorgeſchrieben, und ihr Recht iſt
Anerkennung der durch ſie bewieſenen Thatſache. Sie bezeichnet dem-
gemäß den Moment in dem Verlaſſenſchaftsweſen, wo die amtliche
Thätigkeit der Verlaſſenſchaftsabhandlung zu beginnen hat.
Stein, die Verwaltungslehre. IV. 13
[194]
Die zweite iſt die amtliche (gerichtliche) Todes- oder Verſchollen-
heitserklärung. Sie enthält, gegenüber dem römiſchen Recht, die
von der Verwaltung (Rechtspflege) ſtatt von dem proceſſualen Beweiſe
den Einzelnen ausgehende, und daher als ein Verwaltungsakt mit be-
ſtimmten öffentlich rechtlichen Formen ausgeſtattete Aufhebung aller
Rechtswirkung des Lebens der betreffenden Perſon. Jene Formen, an
dem Zeitungsweſen ausgebildet, und mehr durch die Natur der Sache
als durch eigene Geſetze beſtimmt, beruhen auf der Ediktalladung
oder Ediktalcitation, der die gerichtliche Verſchollenheitserklärung
folgt. Grundſatz iſt, daß dem Verſchollenen ſeine Rechte im Falle
ſeines Wiedererſcheinens gewahrt werden. Jedoch funktionirt das Gericht
bei jener als Organ der inneren Verwaltung, ſpeziell des Pflegſchafts-
weſens, bei dieſem als Organ der Rechtspflege.
Während die Todesfallsaufnahme ſchon im vorigen Jahrhundert
ſehr genau beſtimmt ward, iſt das Recht der Verſchollenheitserklärung
weder geſetzlich noch theoretiſch gut behandelt. Das preußiſche all-
gemeine Landrecht II. T. 11. §. 469 enthält die erſten genauen Vor-
ſchriften über die Todesfallsaufnahme; das öſterreichiſche bürgerl.
Geſetzbuch folgte T. I. 24 und T. 4. 277. Der Code Civil ausführlich
im L. 1. T. IV. art. 4: Des actes de décès, dazu Art. 720 ff. Das
öſterreichiſche Geſetz vom 9. Auguſt 1854 §. 34 ff. ſchrieb dann das
Verfahren genauer vor, mit der ſpeziellen Beziehung auf das Erbrecht,
während in Preußen und Frankreich theils der criminalrechtliche, theils
der ſanitäre Geſichtspunkt vorwaltet. Ueber das öſterreichiſche Verfahren
Unger a. a. O. S. 115. Da es kein gemeines Recht dafür gibt, gibt
es auch keine deutſche Literatur. Auch Harraſſowsky hat nur die
Todesfallsaufnahme nach öſterreichiſchem, und daneben ſehr kurz die
nach preußiſchem und franzöſiſchem Recht behandelt S. 8—14. Recht
und Ordnung der Verſchollenheitserklärung haben ſich meiſt in
die bürgerlichen Geſetzbücher verirrt. Oeſterreichiſches bürgerliches Ge-
ſetzbuch §. 112 mit ſpezieller Beziehung auf die Ehe; Code Civil
art. 115 und 143 das geſammte Recht des absens. Fehlt bei Unger
und Harraſſowsky.
2) Die Verlaſſenſchaftspflege.
Die Verlaſſenſchaftspflege enthält nun die Geſammtheit der Auf-
gaben der Verwaltung in Beziehung auf das, vermöge der Todesfalls-
aufnahme oder Verſchollenheitserklärung zu einer Verlaſſenſchaft
erklärte Vermögen. Es iſt klar, daß, ſo lange bei Abweſenden
[195] die Verſchollenheitserklärung nicht eingetreten iſt, die Verlaſſenſchafts-
pflege nur als Vormundſchaft für Abweſende erſcheint. Die Aufgabe
der Verlaſſenſchaftspflege iſt aber eine von der Verlaſſenſchaftstheilung
weſentlich verſchiedene.
Dieſelbe iſt eine zweifache. Zuerſt iſt ſie die Vormundſchaftspflege
über die Verlaſſenſchaft, ſo lange bis die Verlaſſenſchaftstheilung ein-
tritt. Zweitens enthält ſie diejenigen Anordnungen, welche die Be-
dingungen für die Sicherung der Rechte aller Betheiligten gegen
einander und gegen Dritte herzuſtellen hat. Offenbar iſt die natürliche
Gränze dieſes Rechts der Verwaltung in demjenigen gegeben, wodurch
an die Stelle des Verſtorbenen die durch die Erbeserklärung berechtigte,
alſo in die Haftungen des Verſtorbenen eintretende Perſon aufgeſtellt iſt.
Keine Verlaſſenſchaftspflege ſoll weiter gehen, als bis zu dieſem Augenblick;
und es ergibt ſich daraus der Satz, daß jede Verlaſſenſchaftspflege nur
ſubſidiär ſtattfinden ſoll. Die einfachen Grundſätze dafür ſind unzweifel-
haft die des franzöſiſchen Rechts, nach welchem bei den geſetzlichen
Erben überhaupt keine Verlaſſenſchaftspflege eintritt, während die
Fälle dieſes Eintretens genau beſtimmt ſind. Das Verfahren dabei
iſt gleichfalls geordnet und zerfällt in den Akt der Verſiegelung,
den Akt der Entſiegelung, und den Akt der Inventariſirung,
weil der geſetzliche Erbe mit dem Erbrecht zugleich den Beſitz der Ver-
laſſenſchaft empfängt. Wo dagegen dieſer Beſitz erſt erworben werden
muß, tritt eine Zwiſchenzeit ein, in welcher das Gericht als Organ der
Verwaltung Beſitzer iſt; und dasjenige, was es in dieſer Zwiſchenzeit
zu thun hat, bildet den Inhalt der eigentlichen Verlaſſenſchaftspflege.
Dieſe nun iſt eine zweifache; eine wirthſchaftliche und eine rechtliche.
Wirthſchaftlich hat das Amt (Gericht), während es den Beſitz
der Erbſchaft hat, dieſelbe nach den allgemeinen Regeln der Vormund-
ſchaft zu verwalten.
Rechtlich hat das Amt diejenigen Maßregeln vorzunehmen, durch
welche die Anſprüche aller Berechtigten auf den ihnen zukommenden
Erwerb geſichert werden. Dieſe beſtehen in den drei Akten der amt-
lichen Verſiegelung, der Entſiegelung und der Inventari-
ſirung. Die wirkliche Uebergabe an die Berechtigten kann natürlich
erſt auf Grund eines, dieſe Berechtigung anerkennenden gerichtlichen
Urtheiles erfolgen und gehört dem Folgenden. Die Bedingung, unter
der jene drei Akte vorzunehmen ſind, wird ſtets entweder das Geſuch
der Erben, das Recht des Staats, die Gefahr der Entwendung, oder
das nachgewieſene Recht Dritter ſein. Wo dieß nicht eintritt, wird bis
zur Einweiſung die Verlaſſenſchaft wie jedes andere vormundſchaftliche
Vermögen verwaltet.
[196]
Die Literatur erſcheint hier nur als Commentar zu den betreffen-
den Stellen des Geſetzes, und eben deßhalb meiſt ohne klare Unter-
ſcheidung der Verlaſſenſchaftspflege und der Erbſchaftstheilung und Ein-
weiſung. Rönne (Staatsrecht II. §. 320) ſcheidet das viel beſſer wie
Unger — „dieſe Verfügungen haben die Natur eines Arreſtſchlages“ —
preußiſche allgemeine Gerichtsordnung I. 3. 29. 30. Das ganze öſter-
reichiſche Verfahren iſt freilich überhaupt auf der grundſätzlichen, mög-
lichſt ausgedehnten Einengung des Gerichtes berechnet, die Unger mit
vernichtender Kritik bezeichnet hat; und wenn Harraſſowsky gegen
ihn in Beziehung auf die materielle Seite der Sache gewiß Recht hat,
ſo glauben wir, daß im öffentlichen Intereſſe das bisherige Verfahren
kein haltbares ſein kann.
3) Die Erbſchaftseinweiſung und Erbſchaftstheilung.
Die Erbſchaftseinweiſung (Einantwortung) und Erbſchaftstheilung
bezeichnen nun denjenigen Akt, durch welchen da, wo das Amt den
Beſitz der Verlaſſenſchaft hat übernehmen müſſen, dieſer Beſitz den
als berechtigt Erklärten ausgeliefert wird. Es iſt grundſätz-
lich falſch, daß bei geſetzlichen Erben das Gericht überhaupt in dieſen
Beſitz gelange, oder daß auch für dieſe eine amtliche Erbeseinweiſung
erfolgen müſſe. Es iſt aber unthunlich, dieß da zu vermeiden, wo das
Erbrecht — nicht das Recht auf Vermächtniſſe — ſelbſt ſtreitig iſt. Der
daraus folgende an ſich einfache Grundſatz, daß im letzteren Falle das
Amt die Betheiligten ſelbſt, ohne ſein Zuthun, ſich ein gerichtliches
Urtheil erwirken laſſe, um auf Grundlage dieſes Urtheils Einweiſung
und Theilung vorzunehmen, ſoll im Intereſſe des wirthſchaftlichen Lebens
dahin geändert werden, daß durch Intervention des Erbſchaftsamts
dieſe rechtlichen Fragen durch ein kurzes Vergleichsverfahren er-
ledigt werden. Dieß Vergleichsverfahren hat nur auf die Erben Bezug;
alle andern Berechtigten ſind auf dieſe anzuweiſen; es iſt gänzlich
falſch, Erledigung dritter Berechtigungen als Bedingung für die Erbſchafts-
einweiſung aufzuſtellen, und dem Erben „nur den reinen Nachlaß ein-
antworten zu wollen.“ Dagegen iſt es richtig, daß, wenn bei Erb-
theilungen Abſchätzungen, Verkäufe u. ſ. w. zum Zweck derſelben vor-
genommen werden müſſen, dieſe vom Gericht als Erbſchaftsamt voll-
zogen werden.
In der Einweiſung und Theilung der Erbſchaften zeigen ſich die
drei Syſteme des geltenden Rechtes für das geſammte Verlaſſenſchafts-
weſen am deutlichſten; das franzöſiſche, das die Erbeseinweiſung
[197] nur bei nicht geſetzlichen Erben, und bei dieſen nur auf Grundlage
eines gerichtlichen Verfahrens der Berechtigten als reine Execution des
gerichtlichen Urtheils fordert — Koczynski, Verſuch einer ſyſtematiſchen
Darſtellung des franzöſiſchen Gerichtsverfahrens und Civilproceßordnung
— Wackau nennt dieſes Verfahren „die Verhandlungsmaxime beim Nach-
laßverfahren“ — das öſterreichiſche, das die Einweiſung erſt ein-
treten läßt, wenn das Gericht alle auf die Erbſchaft bezüglichen Streitig-
keiten erledigt hat (Unger S. 117), ſelbſt bei geſetzlichen Erben, und
das preußiſche, das nach dem allgemeinen Landrecht I. 17. 82. und
der allgemeinen Gerichtsordnung I. T. 46. den Grundſatz eines ſum-
mariſchen Vergleichsverfahrens an die Stelle der franzöſiſchen Erbproceſſe
ſetzt, unter unmittelbarem Uebergange bei nicht ſtreitigen Fällen. Es
iſt kaum zweifelhaft, daß das preußiſche das bei weitem vorzüglichere
iſt. Die Zuſammenſtellung der drei Grundformen iſt ſehr gut bei
Harraſſowsky a. a. O. S. 49—55; die Charakteriſtik des öſterreichiſchen
Verfahrens S. 68, ſowie die ganze Vergleichung iſt klar und treffend;
doch möchten wir das öſterreichiſche Princip um ſo weniger ganz ver-
theidigen, als es ſelbſt nach Haraſſowsky kein einfaches iſt, und dadurch
offenbar die Behörden viel zu viel da in Anſpruch nimmt, wo die
Selbſtthätigkeit des Einzelnen ausreichen könnte und ſollte. Weßhalb
Unger übrigens S. 30 principiell gegen das „Legitimationsverfahren“
des preußiſchen norddeutſchen allgemeinen Landrechts 1. 9. 482 auftritt,
iſt trotz Kochs Bemerkungen denn doch nicht recht abzuſehen, wogegen
wir allerdings die ſtrenge Beſchränkung deſſelben auf Fälle „mit
beſonderem Grund“ nach Koch für vollkommen richtig halten. Unger
S. 32. Uebrigens iſt neuerdings ein Geſetzentwurf für das Verlaſſen-
ſchaftsweſen publicirt, der in hohem Grade beachtenswerth iſt. Wir
unſererſeits vermiſſen darin jedoch eine definitive Organiſation des
Verſchollenheits- und Ediktalcitationsweſens, die namentlich für Oeſter-
reich von ſehr hohem Werthe geweſen wäre.
III. Die Maſſenverwaltung. (Concursweſen.)
Wir glauben hier das Concursweſen nur im Allgemeinen als
letzten Theil des Pflegſchaftsweſens anfügen zu müſſen, da es einer
ſelbſtändigen Darſtellung ohnehin bedarf, zugleich aber ein zweites
weſentliches Element enthält, wodurch es eben ſo ſehr der Volkswirth-
ſchaftspflege, ſpeciell dem Handels- und Creditrecht angehört. Die beiden
großen Beſtandtheile alles Concursweſen ſind nämlich folgende.
Das Concursweſen iſt zuerſt ein Theil des reinen Pflegſchafts-
weſens, inſofern bei ihm der wirthſchaftliche Tod der Perſönlichkeit
[198] zum Grunde liegt, wie beim Verlaſſenſchaftsweſen der perſönliche Tod.
Als Theil des Pflegſchaftsweſens tritt mit dem Concurs ſofort die
Pflegſchaft ein, deren Aufgaben aber eben nur die gänzliche Auflöſung
der Wirthſchaft durch die Theilung des Vermögens iſt. Das Princip
dieſer Thätigkeit iſt ein doppeltes: Sicherung aller Berechtigungen und
Vertheilung des Vorhandenen. Es iſt kein Zweifel, daß die erſte Be-
dingung einer zugleich gerechten, billigen und ſchnellen Erfüllung dieſer
Aufgabe durch das organiſche Zuſammenwirken des Amts (Gerichts)
als Vertreter der Geſammtheit und eines Ausſchuſſes der Gläubiger
als Vertreter der Einzelintereſſen iſt. Ein langſames, theures und
koſtſpieliges Concursweſen iſt ein großes volkswirthſchaftliches Unglück
für jedes Land.
Die Aufgabe des wirthſchaftlichen Concursweſens beſteht dem-
gemäß wie bei der Verlaſſenſchaft zuerſt in der Beſitzübertragung der
Maſſe an die Verwaltung mit vormundſchaftlicher Thätigkeit, und
dann in der Ueberlieferung an die gerichtlich als berechtigt aner-
kannten Perſonen. Die Concursordnungen enthalten dabei eben
nur die öffentlichen rechtlichen Beſtimmungen für das Verfahren in
Uebernahme, Streit und Vertheilung. Für das Maſſenvormundſchafts-
recht gilt dagegen der Grundſatz, der für alle Fälle maßgebend iſt, daß
die wirthſchaftlichen Bedingungen des Erwerbes und ſelbſt der Erhaltung
des Vermögens denen der leichten und klaren Theilung unter-
geordnet ſein müſſen; weßhalb der Verkauf meiſtens die Haupt-
aufgabe iſt, da nur der Werth und nicht die Sache für die volle Theil-
barkeit empfänglich erſcheint.
Das Concursweſen iſt zweitens ein Theil des Creditrechts.
Auf dem Grundgedanken, daß die Zahlungsfähigkeit des Einen die Be-
dingung der Zahlungsfähigkeit des Andern wird, geht der weitere Ge-
danke hervor, daß die Benützung des Credits bei bewußter Zahlungs-
unfähigkeit eine wiſſentliche Gefährdung des allgemeinen wirthſchaftlichen
Lebens wird; und das erzeugt wieder den Grundſatz einer Beſtrafung
für den ſelbſtverſchuldeten Bankerott. Dieſe Beſtrafung erſcheint zuerſt
in der rohen Form der Perſonalhaft, die indeß allmählig die Strafe
des betrügeriſchen, und endlich die des bloß ſelbſtverſchuldeten
Bankerottes als die allein richtigen Formen des Creditſtrafrechtes er-
zeugt, an die ſich ſelbſt bei nichtverſchuldetem Bankerott die Unfähigkeit
zur Theilnahme an der Verwaltung öffentlicher Vermögen im weiteſten
Sinne anreiht — Grundſätze, mit denen das Pflegſchaftsweſen ſchon
in die Volkswirthſchaftpflege und ihre Rechtsordnungen hinüber reicht.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Stein, Lorenz von. Die Verwaltungslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn5g.0