zu einer
Geschichte der Ornamentik.
Verlag von Georg Siemens.
Nollendorfstr. 42.
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Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
[[III]]
Inhalt.
- Seite
- I. Der geometrische Stil1
- II. Der Wappenstil33
- III. Die Anfänge des Pflanzenornaments und die Entwicklung der ornamen-
talen Ranke41 - A. Altorientalisches48
- 1. Egyptisches. Die Schaffung des Pflanzenornaments 48
- 2. Mesopotamisches 86
- 3. Phönikisches 102
- 4. Persisches 109
- B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst112
- 1. Mykenisches. Die Entstehung der Ranke 113
- 2. Der Dipylon-Stil 150
- 3. Melisches 154
- 4. Rhodisches 160
- 5. Altböotisches. Frühattisches 172
- 6. Das Rankengeschlinge 178
- 7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre 191
- 8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung 197
- 9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments 208
- 10. Das hellenistische und römische Pflanzenornament 233
- a. Die flache Palmetten-Ranke 241
- b. Die Akanthusranke 248
- IV. Die Arabeske258
- 1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen
Kunst 272 - 2. Frühsaracenische Rankenornamentik 302
Einleitung.
„Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ kündigt der
Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei
Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es
denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage,
die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten
Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus
noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi-
kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaffen für
originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen
Stoff und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den
Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung
Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soweit als die so-
genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und
seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung
von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein-
zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer
kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich
berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst
vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund-
sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss
hauptsächlich die Buchgelehrten, die schon durch ihren Bildungsgang
auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me-
thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale
Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise
aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
[VI]Einleitung.
trachtung der Ornamentik bisher zu geschehen pflegte, ist höchst
bezeichnend für den ganz überwiegenden Einfluss, den die in erster
Linie erwähnten extremeren Kreise auf die öffentliche Meinung in
Dingen der ornamentalen Künste ausübten. Historische Wechselbezüge
zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte
Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel-
bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf
organische Lebewesen oder Werke von Menschenhand aufhörte, dort
machte die Kühnheit der Forscher mit entschiedener Scheu ein Halt.
Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus
in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen. geometrischen
Stils begann, dort wagte man es nicht mehr, den künstlerischen Nach-
ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen
Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je-
weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu
glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein „einfaches“ Mäanderband
abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel-
mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes
Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent-
fernte Verbindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch’ siegreichen
Terrorismus jene Extremen auch auf die „Historiker“ unter den mit
der Ornamentforschung Beflissenen ausübten.
Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse, die
in den letztverflossenen 25 Jahren einen so bestimmenden und vielfach
lähmenden Einfluss auf unsere gesammte Kunstforschung ausgeübt
haben? Er liegt vor Allem in der materialistischen Auffassung von dem
Ursprunge alles Kunstschaffens, wie sie sich seit den sechsziger Jahren
unseres Jahrhunderts herausgebildet und fast mit einem Schlage alle
kunstübenden, kunstliebenden und kunstforschenden Kreise für sich
gewonnen hat. Auf Gottfried Semper pflegt man die Theorie von
der technisch-materiellen Entstehung der ältesten Ornamente und Kunst-
formen überhaupt zurückzuführen. Es geschieht dies mit demselben,
oder besser gesagt, mit ebensowenig Recht, als die Identificirung des
modernen Darwinismus mit Darwin; die Parallele — Darwinismus und
Kunstmaterialismus — scheint mir um so zutreffender, als zwischen
diesen beiden Erscheinungen zweifellos ein inniger kausaler Zusammen-
[VII]Einleitung.
hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung in der
Auffassung der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die
Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. So
wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem-
perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem-
per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und
Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg:
die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff und Technik. Die „Technik“
wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien
es bald gleichwerthig mit „Kunst“ und schliesslich hörte man es so-
gar öfter als das Wort Kunst. Von „Kunst“ sprach der Naive, der
Laie; fachmännischer klang es, von „Technik“ zu sprechen.
Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst-
materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An-
hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried
Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei
schöpferischen Kunstwollens einen wesentlich mechanisch-materiellen
Nachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ-
niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler-
Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität,
welche die ausübenden Künstler in Sachen der „Technik“ genossen,
brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen
und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen,
wo nur irgendwie die „Technik“ in Frage kommen konnte, von der
sie — die Gelehrten — selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver-
standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten
kühner. Das Wort „Technik“ erwies sich als äusserst geduldig, man
fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell-
bar waren und thatsächlich dargestellt wurden, man machte die fröh-
liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten liess, und so
hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit-
schriften jene wilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht
nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für
ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man
sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge-
gangen ist.
[VIII]Einleitung.
Inmitten einer solchen Stimmung der Geister wagt es dieses Buch
mit Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik hervorzutreten.
Dass es vorab nur Grundlegungen sind und nichts Anderes sein wollen,
rechtfertigt sich wohl von selbst. Wo nicht bloss das Terrain Schritt
für Schritt hart bestritten ist, sondern sogar die Grundlagen mehrfach
in Frage gestellt werden, da müssen erst einige sichere Positionen er-
obert, einige fest verbundene Stützpunkte gewonnen werden, von denen
aus dann späterhin eine umfassende und systematische Gesammtbear-
beitung wird gewagt werden können. Ferner brachte es die Natur der
Sache mit sich, dass der „Thätigkeit des Verneinens“ in diesem Buche
ein allzu grosser Raum zugemessen werden musste, als sich mit einer
positiven, pragmatischen Geschichts-Darstellung vertragen würde: er-
scheint es doch als die nächste, dringendste Aufgabe, die fundamen-
talsten, die schädlichsten, der Forschung bisher hinderlichsten Irrthümer
und Vorurtheile hinwegzuräumen. Dies ist ein weiterer Grund, warum
die in diesem Buche niedergelegten Ideen zunächst in Form von „Grund-
legungen“ vor die Oeffentlichkeit treten.
Unser Erstes wird nach dem Gesagten sein müssen, die Existenz-
berechtigung dieses Buches überhaupt nachzuweisen. Dieselbe er-
scheint insolange in Frage gestellt, als die technisch-materielle Ent-
stehungstheorie für die ursprünglichsten, anfänglichsten Kunstformen
und Ornamente unbestritten zu Kraft besteht. Bleibt es doch in solchem
Falle ewig zweifelhaft, wo der Bereich jener spontanen Kunstzeugung
aufhört und das historische Gesetz von Vererbung und Erwerbung in
Kraft zu treten beginnt. Das erste Kapitel musste daher der Frage
nach der Stichhaltigkeit der technisch-materiellen Entstehungstheorie
der Künste gewidmet werden. In diesem Kapitel, das die Erörterung
des Wesens und Ursprungs des geometrischen Stils in der Ueber-
schrift ankündigt, hoffe ich dargelegt zu haben, dass nicht bloss kein
zwingender Anlass vorliegt, der uns nöthigen würde a priori die ältesten
geometrischen Verzierungen in einer bestimmten Technik, insbesondere
der textilen Künste, ausgeführt zu vermuthen, sondern, dass die ältesten
wirklich historischen Kunstdenkmäler den bezüglichen Annahmen viel
eher widersprechen. Zu dem gleichen Ergebnisse werden wir durch
andere Erwägungen von mehr allgemeiner Art geführt. Weit elementarer
nämlich, als das Bedürfniss des Menschen nach Schutz des Leibes
[IX]Einleitung.
mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nach Schmuck des Leibes
entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen,
darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem
Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen
Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der
die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die
Identificirung der Textilornamentik mit Flächenverzierung oder Flach-
ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass
die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler
Technik ausgeführt waren, hört auch die Identität der beiden zu gelten
auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die
Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich-
werthig anderen flächenverzierenden Künsten.
Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende
Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts-
punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der
Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen gewesen
ist, — ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige
Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums
für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge-
fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen,
dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu
verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der
langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen
Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Theil ihres Nimbus
rauben zu müssen.
War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes
von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil-
verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik
fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen
Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man
alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten
organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass
die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren
zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung
auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei
[X]Einleitung.
der weiten Verbreitung dieses ornamentalen Gruppirungsschemas, das
man auch den Wappenstil genannt hat, hielt ich es für nothwendig,
demselben das zweite Capitel zu widmen, um darin auseinander zu
setzen, dass auch diesbezüglich jeglicher Nachweis, ja sogar die Wahr-
scheinlichkeit fehlt, dass man zur Zeit, aus welcher die ältesten Denk-
mäler im Wappenstil stammen, sich auf die Kenntniss einer so aus-
gebildeten Kunstweberei wie sie die technische Voraussetzung hiefür
bilden müsste, verstanden hätte, und dass wir anderseits im Stande
sind, das Aufkommen des Wappenstils noch aus anderen, allerdings
nicht so greifbar „materiellen“ Gründen zu erklären.
Die Grundtendenz der beiden ersten Capitel dieses Buches er-
scheint hiernach als eine verneinende, wenngleich überall versucht
wird, an Stelle des Umgestürzten ein Neues, Positives zu setzen.
Was insbesondere den geometrischen Stil anbelangt, so erschien es als
das Dringendste, einmal die damit verknüpften falschen Vorstellungen
hinwegzuräumen, das Vorurtheil von der angeblichen Geschichtslosig-
keit dieses Stils, und seiner unmittelbar technisch-materiellen Abkunft
zu brechen. Der Umstand, dass die mathematischen Gesetze von Sym-
metrie und Rhythmus, als deren Illustrationen die einfachen Motive des
geometrischen Stils gelten können, auf dem ganzen Erdball mit ge-
ringen Ausnahmen die gleichen sein müssen, während die organischen
Wesen und die Werke von Menschenhand dem von ihnen inspirirten
Künstler mannigfache Abwechslung gestatten, erschwert die Unter-
suchung über geometrische Stilgebiete nach historischem Gesichtspunkte
allerdings ganz ungemein. Spontane Entstehung der gleichen geome-
trischen Ziermotive auf verschiedenen Punkten der Erde erscheint in
der That nicht ausgeschlossen; aber auch das historische Moment wird
man hier jeweilig mit voller Unbefangenheit in Rechnung ziehen dürfen.
Einzelne Völker sind den übrigen gewiss in dem gleichen Maasse vor-
angeeilt, als allezeit einzelne begabtere Individuen über ihre Neben-
menschen sich erhoben haben. Und von der grossen Masse gilt in der
grauen Vergangenheit gewiss dasselbe, was heutzutage: sie äfft lieber
nach, als dass sie selbst erfindet.
Festeren Boden gewinnt die Ornamentforschung von dem Augen-
blicke an, da die Pflanze unter die Motive aufgenommen erscheint.
Der nachbildungsfähigen Pflanzenspecies giebt es unendlich mehr, als
[XI]Einleitung.
der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat,
Raute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische
Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins-
besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflanzenmotive mit
den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt-
orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach-
weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von
Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht wurde,
die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann-
ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis
römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur
in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die man davor empfand,
ein „blosses Ornament“ zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori-
schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun, dessen sich ein an
deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde
vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W. G. Goodyear war
der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike
Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort-
bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben-
den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt
er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle
Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische
Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene
Schlösser und Basalte; der Name Gottfried Sempers ist mir im ganzen
Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen.
Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu; sein
unbestrittenes Eigenthum ist bloss der entschlossene Radikalismus, wo-
mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie
die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung.
Was einmal diese letztere — die Berufung auf den Sonnenkultus
— betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin-
aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige
Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends
unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen
Egyptens überschreiten. Symbolismus ist gewiss auch einer der Fak-
toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen
[XII]Einleitung.
Ornamentenschatzes der Menschheit beigetragen haben. Aber denselben
zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen
Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen
Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear
übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch-
künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er-
scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein-
lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort
lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso wie die Kunstmateria-
listen in dem gleichen Falle die Technik, den zufälligen todten Zweck
in’s Feld führen.
Was andererseits die fast schrankenlose Ausdehnung der Vorbild-
lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst
auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin
eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria-
listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his-
torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken, wo eine be-
sonnene Forschung sie unbedingt zurückweisen muss. Da er überall
nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für
feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar nicht anders
geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der
mykenischen Ornamentik übersah, und damit zugleich den viel-
leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi-
schen Ornamentik unberücksichtigt liess.
Die überwiegende Bedeutung, die dem Pflanzenornament inner-
halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug
auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Ornamentik inner-
halb der Gesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat
Goodyear ebenso klar erkannt, wie schon viele andere Forscher vor
ihm. Im Wintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität
Vorlesungen über eine „Geschichte der Ornamentik“ gehalten, inner-
halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pflanzenornaments
von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war.
Ein Theil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im 3. Kapitel
dieses Buches wiedergebe, mit geringen Zusätzen, die hauptsächlich
durch die nothwendig gewordenen Beziehungen auf das mittlerweile
[XIII]Einleitung.
erschienene Buch Goodyear’s veranlasst wurden. Entlehnung von Mo-
tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme
bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus-
gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst
anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst-
ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat
nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un-
beachtet gelassen, die mit Eifer nach selbständigen occidentalen Keimen
und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht haben. Es ist dies
die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen-
ranke, die wir in sämmtlichen altorientalischen Stilen vergebens suchen,
die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke-
nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen
Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein: ihre in schönen
Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist specifisch griechisch.
Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im
Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als
saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen
wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge-
winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So
geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das
abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenische,
und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister
ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik-klassischen Pflanzen-
rankenornamentik, wie das spätgothische Kriechwerk. Jener fort-
währende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller
bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be-
trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder-
typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst-
schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen-
ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten
Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte
Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen
dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt,
die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen
bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.
[XIV]Einleitung.
Das diesen Ausführungen gewidmete 3. Kapitel glaube ich unter Er-
wägung der also klargestellten Bedeutung des Gegenstandes als eine
ganz wesentliche „Grundlegung“ betrachten zu dürfen.
Solange man in der Pflanzenornamentik an den überlieferten
stilisirten Typen festhielt, ist der historische Gang als solcher unschwer
festzustellen; dagegen müsste eine grosse Unsicherheit in den Schluss-
folgerungen eintreten in dem Momente, wo der Mensch in der Zeich-
nung der Ornamente der natürlichen Erscheinung einer vorbildlichen
Pflanze möglichst nahe zu kommen trachten würde. Z. B. kann die
Projektion der Palmette, die wir in Egypten und Griechenland an-
treffen, kaum beiderseits selbständig erfunden sein, da dieses Motiv
eine durchaus nicht in der natürlichen Erscheinung begründete Blüthen-
form wiedergiebt: der Schluss ist unabweisbar, dass das Motiv nur an
einem Orte entstanden sein kann und nach dem andern übertragen
worden sein muss. Ganz anders, wenn wir an zwei ornamentalen
Werken verschiedener Herkunft etwa eine Rose in ihrer natürlichen
Erscheinung dargestellt fänden: die natürliche Erscheinung der Rose
in den verschiedensten Ländern ist im Allgemeinen die gleiche; eine
selbständige Entstehung jener Kopien da und dort wäre hienach sehr
wohl denkbar. Nun ist es aber ein Erfahrungssatz, der sich uns ge-
rade aus einer Gesammtbetrachtung des Pflanzenornaments ergeben
wird, dass eine realistische Darstellung von Blumen zu dekorativen
Zwecken, wie sie heutzutage im Schwange ist, erst der neueren Zeit
angehört. Der naive Kunstsinn früherer Kulturperioden verlangte vor
Allem die Beobachtung der Symmetrie, auch in Nachbildungen von
Naturwesen. In der Darstellung von Mensch und Thier hat man sich
frühzeitig davon emancipirt, sich mit Anordnung derselben im Wappen-
stil u. dergl. beholfen; ein so untergeordnetes, scheinbar lebloses Ding
wie die Pflanze dagegen hat man noch in den reifesten Stilen ver-
flossener Jahrhunderte symmetrisirt, stilisirt — namentlich, sofern man
dem Pflanzenbilde nicht eine gegenständliche Bedeutung unterlegte,
sondern in der That ein blosses Ornament beabsichtigt war. Von der
Stilisirung der ältesten Zeit zum Realismus der modernen ist man aber
nicht mit einem Schlage übergetreten. Zu wiederholten Malen begegnen
wir in der Geschichte des Pflanzenornaments einer Neigung zur Natura-
lisirung, zur Annäherung der Pflanzenornamente an die reale perspek-
[XV]Einleitung.
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der
Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten
Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war
nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten
traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All-
gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna-
ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals
bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch wichtigste Beispiel für die Art
und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten
Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf-
kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt widerspruchs-
los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un-
mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver-
dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich
das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte,
scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen-
der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein
solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der
That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass
dieselben im Aussehen gerade die charakteristischen Eigenthümlich-
keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen
Eigenthümlichkeiten haben sich nachweislich erst im Laufe der Zeit
aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf
der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan-
thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da
dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe
gekommen war? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so
hoffe ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts
Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal-
metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus
wichtigste von allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex
machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen-
hängenden, normalen Entwicklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die
sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
[XVI]Einleitung.
ausdrückt, scheint der Orient von Anbeginn, seit er sich der höheren
griechischen Kultur und Kunst gefangen gegeben, widerstrebt zu haben.
Die hellenistischen Formen hat er durchgreifend übernommen; an
diesem Satze wird heute wohl Niemand mehr zweifeln, dem es nicht
um ein blosses Justament-Festhalten an liebgewordenen Anschauungen
zu thun ist. Dass es Anhänger dieser letzteren trotz der überzeugen-
den Sprache der Denkmäler heute noch giebt, ist wohl auch vornehm-
lich auf Rechnung der festgewurzelten antihistorischen Tendenz in der
Beurtheilung ornamentaler Kunstformen zu setzen. Aber thatsächlich
begegnen uns an orientalischen Kunstwerken aus der römischen Kaiser-
zeit vielfach die stilisirten Blüthenformen der reifhellenischen und der
alexandrinischen Kunst neben den naturalisirenden Bildungen des
römischen Westens. Das byzantinische Ornament knüpft theilweise
direkt an hellenistische Formen an, die offenbar auf griechischem und
kleinasiatischem Boden auch während der römischen Kaiserzeit fort-
dauernd in Gebrauch geblieben waren. Wegen der grösseren Reihe
von Zwischengliedern nicht so unmittelbar einleuchtend, aber nicht
minder vollgiltig ist dies hinsichtlich der saracenischen Kunst.
Die derb byzantinischen Elemente in der saracenischen Ornamentik
hat man längst richtig auf ihre Herkunft hin erkannt, ja, man kann
sagen, in den vierziger und fünfziger Jahren richtiger als heutzutage,
woran eben wiederum die dazwischen gekommene, unselige technisch-
materielle Entstehungstheorie mit der Schwärmerei für spontan-autoch-
thone Anfänge der unterschiedlichen nationalen Künste Schuld ist.
Dagegen blieb die Arabeske allezeit unangetastetes Sondereigenthum
des Orients, insbesondere der Araber. Und doch lehrt die Geschichte
der Ornamentik im Alterthum, dass der antike Orient das Rankenorna-
ment, das ja der Arabeske zu Grunde liegt, nicht gekannt hat und da-
her dasselbe erst vom hellenischen Westen übernommen haben muss.
Auch konnte man längst bei näherem Zusehen in dem dichten Arabesken-
geschlinge einzelne mehr hervorstechende Motive wahrnehmen, die mit
ihren Volutenkelchen und Blattfächern deutlich den Zusammenhang
mit der alten Palmettenornamentik verrathen. Was aber an der
Arabeske als scheinbar völlig neu und gegenüber der antiken Auf-
fassung des Pflanzenornaments ganz fremdartig erschienen ist, das war
die Eigenthümlichkeit, dass die an den Ranken sitzenden saracenischen
[XVII]Einleitung.
Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Natur und im Allgemeinen
auch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist, als freie Endi-
gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig wiederum in Ranken
übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter-
drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen
der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft
bis zur Unkenntlichkeit verschleiert.
Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und
charakteristische der Arabeske bezeichnet werden darf, und in
welcher die antinaturalistische auf das Abstrakte gerichtete Tendenz
aller frühsaracenischen Kunst ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat,
lässt sich ebenfalls schon in der antiken Rankenornamentik vorgebildet
beobachten. Dem Nachweise dieses Sachverhaltes ist nebst den
Schlusse des dritten das vierte Kapitel dieses Buches gewidmet. Ich
hole damit zugleich etwas nach, was ich in meinen „Altorientalischen
Teppichen“ zu geben, hauptsächlich durch Raummangel verhindert
war. Dieser Nachtrag erscheint mir um so nothwendiger, als sich her-
ausgestellt hat, dass man vielfach die Natürlichkeit des Vorganges, die
antike Kunst zum Ausgangspunkte der frühmittelalterlichen auch auf
orientalischem Boden zu machen, nicht recht einsehen wollte: so tief-
gewurzelt ist in den modernen Geistern die antihistorische Anschauung,
dass die Kunst da und dort ihren spontanen, autochthonen Ursprung
genommen haben müsse, höchstens der Occident der lernende, der
Orient aber immer nur der spendende Theil gewesen sein könne.
Nicht bloss den Dichtern, auch den Kunstschriftstellern wurde der
Orient zum Lande der Märchen und Zauberwerke: in den fernen Orient
verlegen sie mit Vorliebe die Erfindung aller erdenklichen „Techniken“,
namentlich aber der flächenverzierenden. Und schien einmal eine
„Technik“ als im Orient autochthon erwiesen, so musste es dann auch
die mittels derselben hervorgebrachte Kunst gewesen sein, die doch
nach der herrschenden Anschauung der führenden „Technik“ überall
erst nachgehinkt wäre.
Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des
Pflanzenrankenornaments sind innerhalb des abendländischen Mittel-
alters gegeben. Nicht als ob dieses Gebiet von den Einwirkungen des
Kunstmaterialismus völlig verschont geblieben wäre: vielmehr lassen
[XVIII]Einleitung.
sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnen
ist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung der Verhältnisse in
der Frühzeit, in der sogen. Völkerwanderungs-, aber auch noch in der
Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich-
lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit-
lichkeit entbehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig-
stens nicht auf so eingewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand
stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich-
abendländische Pflanzenornament in seiner historischen Entwicklung
vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkommen der Re-
naissance darzustellen. Da nun Zeit und Raum vorläufig nicht ge-
gestatten Alles zu erörtern, was auf die historische Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be-
schränkt, jene Partien daraus zur Sprache zu bringen, die am meisten
einer fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg-
lichen Klarstellungen in der That als Grundlegungen zu einer darauf
weiter zu bauenden Geschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be-
treffen diese Partien, wie wir gesehen haben, das Pflanzen-
rankenornament im Alterthum und dessen treueste Fortsetzung im kon-
servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst-
geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Beschreibungen von
Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: „ein
Ornament“, worauf dann eine nähere Beschreibung folgt, die ganz
überflüssig wäre, wenn man das betreffende Ornament in der Gesammt-
entwicklungsgeschichte bereits untergebracht hätte. Dass diese Unter-
bringung, wenigstens soweit das antike und saracenische Pflanzen-
rankenornament in Betracht kommt, nichts weniger als schwer ist, zu
zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische
„Grundlegung“ zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit
dem 3. und 4. Kapitel dieses Buches gestellt habe.
Wenn es oberste Aufgabe aller historischen Forschung und so-
mit auch der kunsthistorischen ist, kritisch zu sondern, so erscheint
die Grundtendenz dieses Buches nach dem Gesagten vielmehr nach
der entgegengesetzten Seite gerichtet. Bisher Getrenntes und Ge-
schiedenes soll untereinander verbunden, und unter einheitlichem Ge-
sichtspunkte betrachtet werden. In der That liegt die nächste Auf-
[XIX]Einleitung.
gabe auf dem Gebiete der Ornamentgeschichte darin, den in tausend
Stücke zerschnittenen Faden wieder zusammenzuknüpfen.
Der Inhalt dieses Buches rührt an allzu tiefgewurzelte und lieb-
gewordene Anschauungen, als dass ich nicht auf vielfachen Wider-
spruch gefasst sein müsste. Ich bin seiner gewärtig; doch weiss ich
mich auch bereits mit so Manchem eines Sinnes. Andere mögen mir im
Stillen Recht geben, obgleich sie vielleicht nicht den Beruf in sich
fühlen, sich laut dazu zu bekennen. Die Uebrigen aber, die sich nicht
überzeugen lassen wollen, wenigstens dazu gebracht zu haben, dass sie
die Nothwendigkeit einsehen, für ihre vorgefasste Lieblingsmeinung
stärkere und bessere Gründe als die bisherigen beischaffen zu müssen,
erschien mir schon eine erstrebenswerthe That, indem selbst ein solcher
bedingter Erfolg dazu beizutragen vermöchte, Klarheit in die uns in
diesem Buche beschäftigenden fundamentalen Fragen zu bringen: ist
es doch menschliche Erbsünde, nur durch Irrthum zur Wahrheit zu
gelangen.
[][[1]]
I.
Der geometrische Stil.
Alle Kunst und somit auch die dekorative steht in unauflöslichem
Zusammenhange mit der Natur. Jedem Gebilde der Kunst liegt ein
Gebilde der Natur zu Grunde, sei es unverändert in dem Zustande, in
dem es die Natur geschaffen hat, sei es in einer Umbildung, die der
Mensch, sich zu Nutz oder Freude, damit vorgenommen hat.
Dieser stets vorhandene Zusammenhang tritt aber an verschie-
denen Kunstgebilden mit verschiedener Deutlichkeit zu Tage. Am un-
verkennbarsten offenbart er sich an den Werken der Skulptur: die
Hervorbringungen der Natur erscheinen hier eben nachgeahmt mit
allen ihren drei körperlichen Dimensionen. Die Versuchung zu einer
stärkeren Abweichung von den Vorbildern der Natur und die Gefahr
einer Verdunkelung des obwaltenden Zusammenhanges mit diesen
letzteren war erst recht nahegerückt von dem Augenblicke an, da
man im Kunstschaffen die Tiefendimension und damit zugleich die
volle körperliche Erscheinung preisgab, was bei jenen Künsten der
Fall ist, die in der Fläche darstellen.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Punkte. Wir haben
eben die beiden grossen Klassen festgestellt, in die sich die dekora-
tiven Künste scheiden: die plastischen und die in der Fläche darstel-
lenden. Es lassen sich aber aus dem Gesagten auch schon Schlüsse
auf das genetische Verhältniss ziehen, das zwischen den beiden ge-
nannten Kunstgebieten obwaltet. Wenn wir vorerst die Denkmäler
beiseite lassen und zunächst auf rein deductivem Wege uns die Frage
zu beantworten suchen, welcher von beiden Klassen von Künsten, den
plastischen oder den flächenbildenden, der Vorantritt in der Entwick-
lung zuerkannt werden müsse, so werden wir schon a priori — trotz
der weitverbreiteten gegentheiligen Meinung — das plastische Kunst-
Riegl, Stilfragen. 1
[2]Der geometrische Stil.
schaffen als das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das
jüngere, raffinirtere bezeichnen dürfen. Etwa ein Thier in feuchtem
Thon schlecht und recht nachzumodelliren, dazu bedurfte es, nachdem
einmal der Nachahmungstrieb im Menschen vorhanden war, keiner
höheren Bethätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild — das
lebende Thier — in der Natur fertig vorlag. Als es sich aber zum
ersten Male darum handelte, dasselbe Thier auf eine gegebene
Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu
schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Körper
wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um-
risslinie, die in Wirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst
frei erfunden werden musste 1). Von diesem Augenblicke an gewann
die Kunst erst recht ihre unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man
die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that
man den wesentlichsten Schritt, die Phantasie von dem Zwange der
strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu
einer freieren Behandlung und Combinirung dieser Naturformen hin-
zuleiten.
Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form-
gebung noch so wunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen bricht
doch immer das reale, aus der Natur entlehnte Vorbild hindurch. Dies
gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den plasti-
schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind nicht
minder von Naturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober-
körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen Welt nicht
existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei-
spältigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestimmt auf das
Naturvorbild der Lotusblüthe zurück, mochte nun der Zusammenhang
mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyprischen
Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht.
Also die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor-
bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und die in
der Wirklichkeit nicht existirende umgrenzende Linie zum Elemente
ihrer Darstellung gemacht hatten. In Umrisslinien dargestellte Thier-
[3]Der geometrische Stil.
figuren bleiben nichtsdestoweniger Thierfiguren, wenn ihnen auch die
Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging aber endlich
auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten,
ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Natur im Auge
zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun-
damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel-
loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck,
Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die
Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die
Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte
pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich
auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden Verwendung dieser
Gebilde aufbaut, heisst somit der geometrische Stil.
Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei-
nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich
damit dennoch nicht ausserhalb der Natur. Dieselben Gesetze von
Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der
Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier, Pflanze, Krystall), und
es bedarf keineswegs tieferer Einsicht, um zu bemerken, wie die
planimetrischen Grundformen und Configurationen den Naturwesen
latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz von den engen Be-
ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Naturerscheinungen
besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht.
Die geometrischen Kunstformen verhalten sich eben zu den übrigen
Kunstformen genau so, wie die Gesetze der Mathematik zu den leben-
digen Naturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen Verhalten der
Menschen, scheint es im Gange der Naturkräfte eine absolute Voll-
kommenheit zu geben: das Abweichen von den abstrakten Gesetzen
schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse,
unterbricht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der
nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng
aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig-
keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht
er aber am niedrigsten, und auch die Entwicklungsgeschichte der
Künste, soweit wir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den
Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gewesen ist, da sie noch auf
einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.
Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo-
metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen zwei Decennien eine
1*
[4]Der geometrische Stil.
sehr weitgehende Berücksichtigung erfahren. Einmal von Seiten der
archäologischen Forschung. Die ältesten Nekropolen von Cypern, die
vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene,
die Gräber des prähistorischen Nord- und Mitteleuropa u. a. förderten
den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung
nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu-
rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno-
logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienmotive des
geometrischen Stils vielfach als Verzierungen auf Geräthen moderner
Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen-
schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre
Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstverflossenen
Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet,
die geometrische Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine
historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen
Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit.
Da nun die wenigen grundlegenden Motive des geometrischen
Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der
gleichen Weise, wenngleich in verschiedenen Combinationen und unter
wechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden haben, in Europa
wie in Asien, in Afrika wie in Amerika und in Polynesien, so zog
man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem
Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über
alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, wo
nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen wir seiner
Anwendung begegnen, spontan entstanden wäre. Als höchst naiv und
unwissend würde derjenige gelten, der zwei Töpfe verschiedener Her-
kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht etwa in
unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch
eine längere Reihe von Zwischengliedern vermittelte Verwandtschaft
unter einander bringen wollte. Der geometrische Stil wäre überall
auf der Erdoberfläche spontan entstanden: dies ist der erste
autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt.
Stand einmal diese Überzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der
weitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses
Stils wohl überall der gleiche gewesen sein musste. Der rastlos nach
Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen
Zeitalters war alsbald bemüht, dieses Etwas zu ergründen, das den geo-
metrischen Stil an so vielen Punkten spontan hat in’s Leben treten
[5]Der geometrische Stil.
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein;
der blosse Hinweis auf unfassbare psychische Vorgänge hätte nicht als
Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende
Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen
Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus
ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der
Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs
bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden
wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von
Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi-
tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur
allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernothwendigste Produkte
eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen
Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen.
Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh-
zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den
Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben
gesucht haben.
Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech-
nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro-
ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente
beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns
und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen
Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten wären? Eine glückliche
Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie
zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie
der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben.
Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl-
gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden
sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man
glaubte sich schon mit dem soweit Gewonnenen begnügen zu dürfen.
Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines
rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand — so rai-
sonnirte man — die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge-
bracht. Sie waren einmal da, und der Mensch konnte sie nachahmen,
gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange-
feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am
Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge-
boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie
[6]Der geometrische Stil.
gefiel ihm an diesen letzteren und er wollte sie auch dort sehen, wo
sie nicht spontan entstand. Das geometrische Motiv des Zickzack, ur-
sprünglich das zufällige Produkt eines rein technischen Vorgangs, war
hiemit zum Ornament, zum Kunstmotiv erhoben. Die einfachsten
und wichtigsten Kunstmotive des geometrischen Stils wären
ursprünglich durch die textilen Techniken der Flechterei
und Weberei hervorgebracht: dies ist der zweite souveräne Lehr-
satz, der heutzutage vom geometrischen Stile gilt.
Mit dem zuerst entwickelten Lehrsatz von der spontanen unab-
hängigen Entstehung dieses Stiles an verschiedenen Punkten der Erd-
oberfläche berührt sich dieser zweite Lehrsatz insofern, als das elemen-
tare Bedürfniss nach Schutz des Leibes sich auf verschiedenen Punkten
der Erdoberfläche selbständig geltend gemacht haben dürfte und daher
auch an verschiedenen Punkten eine spontane Erfindung der Zaun-
flechterei und Gewandweberei veranlasst haben konnte. Ein Lehrsatz
stützte auf solche Weise den anderen; in ihrer Harmonie gaben sie
zusammen ein um so überzeugenderes Bild von der Entstehung des
geometrischen Stils und zugleich des frühesten primitivsten Kunst-
schaffens überhaupt.
Gottfried Semper war es, der zuerst die linearen Ornamente
des geometrischen Stils auf die textilen Techniken der Flechterei und
Weberei zurückgeführt hat. Dieser Schluss ergab sich ihm aber keines-
wegs selbständig, etwa wie wir ihn im Vorstehenden entwickelt haben,
sondern im Zusammenhange mit jenem Grundgedanken, dessen Be-
gründung und konsequenter Durchführung sein Stil in erster Linie ge-
widmet war: der Theorie vom Bekleidungswesen als Ursprung aller
monumentalen Baukunst. Auf diesem Wege gelangte er zur Zurück-
führung aller Flächenverzierung auf die Begriffe von bekleidender
Decke und einfassendem, abschliessendem Band, mit welchen Begriffen
ein textiler Charakter schon sprachlich verknüpft erscheint. Es geht
nun aus zahlreichen Stellen im Stil hervor, dass Semper sich diese Vor-
bildlichkeit von Decke und Band ursprünglich und überwiegend nicht
so sehr in stofflich-materiellem, als in ideellem Sinne gedacht hat,
wie denn auch Semper gewiss der Letzte gewesen wäre, der den frei
schöpferischen Kunstgedanken gegenüber dem sinnlich-materiellen Nach-
ahmungstriebe nicht gebührend berücksichtigt hätte; die Ausbildung
dieser seiner Theorie in grob materialistischem Sinne ist erst durch
seine zahllosen Nachfolger erfolgt. Aber es lag nun einmal nahe, die
Dinge auch in materiellen Zusammenhang zu bringen, und an einer
[7]Der geometrische Stil.
Stelle2) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters
aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen,
dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur-
sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel
übrig bleibt.
Semper’s Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit-
willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn
unseres Zeitalters, der für alle Erscheinungen die Causalzusammenhänge
nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich befriedigt fühlen von
einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das-
jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver-
blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben
wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie
aufgegriffen, die sich eben in die Lage versetzt fand, sich mit den auf
griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus-
einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen
Conze’s, der vor 20 Jahren Semper’s Hypothese für die sogen. Vasen
des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen
Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entwickelten beiden Lehr-
sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er-
rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der
Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er-
örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken
hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen
Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde
der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf
noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen
Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus
einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht
bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu beweisen
gesucht.
Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom
Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit
unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze
betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen
Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn
sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-
[8]Der geometrische Stil.
tausenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen,
darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut-
zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge-
meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz
heute vorgetragen wird, zumindest eine verfrühte genannt werden
muss. Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik
eingeführt werden, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten.
Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt
sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das
Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges
Urtheil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt
daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung
des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten.
Es muss sogar zugestanden werden, dass es Völkerschaften mit
sehr respektablem ornamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis-
liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und
Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine
Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen
scheint; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland,
werden auch wir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran-
lassung finden.
So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse
der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent-
stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die
bezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns
immer näher und entfernen sich in dem gleichen Maasse vom supponirten
Urzustande, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen. nord-
und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die
friedlichen Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr
Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwischen-
glieder vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen-
heiten, welche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen
mochten, hat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min-
destens zwischen den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern
werden vielfache causale Zusammenhänge auch in Betreff des geome-
trischen Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi-
tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft,
so erscheint da doppelte Vorsicht geboten zu einer Zeit, da selbst die
chinesische Mauer bedenkliche Risse zeigt, wie insbesondere die Nach-
[9]Der geometrische Stil.
weise F. Hirth’s von den intensiven Beziehungen Chinas zum römischen
Kaiserreich ergeben haben3).
Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs-
lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische
Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er-
blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des
geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei
allen Völkern, bei denen wir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab-
zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber
keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu
ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche
einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann war aber wieder
der Nachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen
nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit
pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem
zu rechnen.
Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der
Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes
sagen. Es liegt kein zwingender Grund vor zur Annahme, dass die
geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus
Verbreitung gefunden haben; die Möglichkeit verschiedener selbstän-
diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf
dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkern dürfte weitgehende
wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu
begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch
von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was
aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist
das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die
Frage als spruchreif erscheinen zu lassen.
Wir gehen nun an die Erörterung des zweiten Lehrsatzes, der
vom geometrischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak-
teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der
Flechterei und Weberei. Dieser Satz galt seit Semper und Conze
als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nur be-
scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die
[10]Der geometrische Stil.
jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Process, der von
den Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh-
griechischen Vasen geführt haben mochte, für überflüssig gehalten
wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher
die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu-
bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen,
wenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die übermächtige Strömung
der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betracht zieht.
Es ist die durch Lamark und Goethe angebahnte, durch Darwin zum
reifen Ausdruck gelangte Art der Weltanschauung nach stofflich-natur-
wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst-
forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit
der Darlegung der Entwicklung der Arten unter rein stofflichen Fort-
bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung
des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlich materielle Hebel aus-
findig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer
geistigen Entwicklung konnte — so meinte man — nicht von Anbeginn
vorhanden gewesen sein. Zuerst wäre die auf Erreichung rein praktischer
Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender
Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten
Techniken zählte man die Flechterei und Weberei, zu den ältesten
Verzierungs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrischen Figuren.
Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die Musterung
einfacher Geflechte und Gewebe aus technischen Bequemlichkeitsgründen
ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei-
nungen in causalen Zusammenhang unter einander zu bringen und zu
erklären: die geradlinigen geometrischen Figuren sind ursprünglich
nicht auf dem Wege künstlerischer Erfindung, sondern durch die
Technik auf dem Wege einer generatio spontanea hervorgebracht.
Diese geradlinigen geometrischen Ornamente sind aber nicht die
einzigen auf den ältesten vor- und frühgriechischen Vasen: es kommen
hiezu auch krummlinige Gebilde: Wellenlinie, Kreis, Spirale u. s. w.,
für deren Entstehung die Textiltechniken doch nicht so überzeugend
in’s Feld geführt werden konnten, wie für die geradlinigen Ornamente.
Dafür musste nun eine Anzahl anderweitiger Techniken herhalten, ja
man kann sagen, dass es in den letzten zwanzig Jahren, und zwar in
steigendem Maasse, ein fundamentales methodisches Gesetz der klassi-
schen Archäologie gewesen ist, für jedes Motiv, das man von einem
gewissen Punkte aus nicht mehr im Wege lehnweiser Uebernahme nach
[11]Der geometrische Stil.
rückwärts verfolgen konnte, die Technik ausfindig zu machen, die
sozusagen spontan, mit Ausschluss bewusst künstlerischer Erfindung,
auf die Schaffung des betreffenden Motives geführt haben mochte. Es
ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung der
künstlerischen Urformen, die zur schrankenlosen Geltung in der
Archäologie erhoben wurde und innerhalb welcher die Theorie von der
Entstehung der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen
Techniken nur eine Unterabtheilung bildet, so wie die geradlinigen
geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen
nachweisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als wenn
sie persönlich dabeigewesen wären und Material und Werkzeug des
kunsterweckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen
die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. w. Techniken
für die einzelnen Ziermotive auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine
Unsumme von Arbeit wurde an diese Versuche verschwendet, die ver-
schiedensten Combinationen versucht, die verschiedensten Techniken
für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, wie sich dies bei der
Natur der Sache von selbst versteht. Und gleichwie der Deutsche
Häckel Darwin’s Theorie am konsequentesten und autoritativsten aus-
gebildet hat, so waren es auch unter den Archäologen wiederum die
Deutschen, die hierin am entschiedensten vorangeschritten sind. Wie
weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser
Theorie, Gottfried Semper’s, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus
dessen Stil II. 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze:
Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei
seiner Ausführung anzuwendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung
entsprechen soll, „führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech-
nischen Ursprung vieler typisch gewordenen dekorativen Formen, über
die Frage, in welchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, wegen der
frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse welche die Stoffe auf diesem
Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus-
übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen von Zickzackorna-
menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den
Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor-
kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver-
tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waffen-
stücken sind, oder ob sie keinem von beiden Stoffen ursprünglich an-
gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bewusst-
volle Unterscheidung und künstlerische Verwerthung der
[12]Der geometrische Stil.
Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung
sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge-
statten.“
So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge-
lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts
die technischen Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit
und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch
aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende
Thätigkeit der „Technik“ im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten
der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge
des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung.
Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren
für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen.
Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein
unvergängliches Verdienst Gottfried Semper’s bleiben. Wenn dieser
Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird,
so mag man dies aus dem Umstande erklären, dass ich mir eben die
besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Technik unverdienter-
maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf
anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst-
formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria-
listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung
abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin’s und seiner
Nachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von der technisch-
materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der
archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen,
nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen
schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper’s und Conze’s, und
dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe
sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun
scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in
Sachen der Kunst in der angedeuteten Richtung viel zu weit vorgewagt
haben, und dass gewichtige Bedenken, die ich im Nachfolgenden ent-
wickeln werde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten
Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu
erklären, den Rückzug anzutreten.
Es wird sich in den folgenden Capiteln dieses Buches wiederholt
Gelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech-
nisch-materiellen Erklärungen und Ableitungen einzelner Ornamente zu
[13]Der geometrische Stil.
prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es
bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den
textilen Techniken zu thun.
Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils
aus den textilen Techniken hervorgegangen sein?
Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen
haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss-
mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht
hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213.
Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver-
tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt
er fort: „von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten
des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung
des Webens, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern,
hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen
Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran-
lasste bald ihre Benutzung nach abwechselnder Ordnung und so ent-
stand das Muster.“
Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich
darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits
in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der
Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er
es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon-
kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten
hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak-
tors nicht zu läugnen vermag. „Die Verschiedenheit der natürlichen
Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abwech-
selnder Ordnung.“ Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster
in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste („veran-
lasste“) Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in
rhythmischer Abwechslung („abwechselnder Ordnung“) sodann zum
Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein
kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt.
Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung
in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten.
Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht,
werden wir weiter unten kennen lernen.
Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten
Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Fadenverflech-
[14]Der geometrische Stil.
tungen entstanden sein mochten, hat Semper, wie schon erwähnt wurde,
nicht versucht, und ebensowenig seine zahlreichen Nachfolger, bis auf
die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekulé’s mit denen wir
uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Raisonnement lautete
ungefähr folgendermaassen: Im Anfange war keine Kunst, sondern bloss
Handwerk (nicht in wirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne
gemeint). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht
und dem gewebten Gewande kamen die geradlinigen planimetrischen
Ziermotive in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre
formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug.
Das Material, mit welchem man diese Theorie zu illustriren pflegt,
ist überwiegend ein keramisches, zum geringeren Theile ein metallur-
gisches. Thonvasen und Vasenscherben, die man in vorhistorischen
Schichten des Erdbodens fast aller Mittelmeerländer gefunden hat,
tragen überwiegend Ornamente des geometrischen Stils zur Schau.
Sollen diese Ornamente in der That unmittelbare Ableitungen aus den
textilen Verflechtungen und Fadenkreuzungen sein, so müsste ihre Ent-
stehung in sehr, sehr frühe Zeit zurückgehen. Das Werden des Musters
aus dem Flechten und Weben soll ja am Anfange alles Kunstschaffens
gestanden sein. Reichen nun die keramischen Funde aus den Mittel-
meerländern in der That auch nur annähernd in so frühe Zeit zurück?
Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren
Sinne galt, vom Dipylon, wird jetzt niemand mehr ein höheres Alter
behaupten. Ob seine Verbreiter in Griechenland — nehmen wir an die
einwandernden Dorer — diesen Stil in unvordenklich früheren Zeiten
aus der Textilkunst erfunden haben, mag einstweilen dahingestellt
bleiben. Zweifellos ist das Dipylon des ersten Jahrtausends v. Chr.
kein primitiver, sondern ein wohl überlegter, festgeschlossener, raffi-
nirter Kunststil. Ein Volk, das die Metalle zu bearbeiten verstand,
wird nicht erst die primitivsten Ornamente aus der primitivsten Technik
erfunden haben.
Aber die Ausgrabungen Schliemann’s und Anderer haben uns be-
lehrt, dass das Dipylon bei weitem nicht der älteste geometrische Stil
bei den Mittelmeervölkern gewesen ist. Als solcher gelten gegenwärtig
die gravirten [Linienverzierungen] auf Gefässen, die in den untersten
Schichten von Hissarlik und in gewissen Nekropolen Cyperns gefunden
worden sind. Wie steht es nun mit dem Alter dieser Gefässe? Gemäss
den Fundberichten ist auf das Zeitalter derselben alsbald der myke-
nische Stil gefolgt. Der mykenische Stil ist aber nach ziemlich sicher-
[15]Der geometrische Stil.
gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etwa in
die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen
also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und
Hissarlik gewiss nicht weit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist
dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des
Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr-
tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die weit über das geo-
metrische Stadium hinaus gediehen war? Es ist eine ganz willkürliche,
durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen
auf den bisher gefundenen mittelländischen Thonscherben auf diese
letzteren von den Erzeugnissen der Textilkunst übertragen worden
seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen
würde, in denen das erste Muster in die Welt gekommen ist, steht uns
— etwa mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde
aus der Dordogne — heute nirgends zur Verfügung. Man kann an die
Theorie von der Textiltechnik als der ältesten musterbildenden Technik
glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf
man nicht zur Illustration und zum Beweise jener Theorie heranziehen.
Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische
Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon
Jahrtausende früher vollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan-
den sind.
Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der Kulturfähigkeit
der Völker, — ein Unterschied der nur zu einem Theile von den
äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen
sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder
selbst um 3000 v. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster
gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen wäre
und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern
aufgerafft hätte, wird man sich ebensowenig entschliessen können, als
man die in den assyrischen Trümmerstätten oder in Jerusalem ge-
fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch
in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare
Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger
als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern
wird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und Metallfunde aus der
nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit als Zeugnisse einer unmittel-
baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf
anderes Material ansehen dürfen, da diese Funde gemäss der sich immer
[16]Der geometrische Stil.
mehr Bahn brechenden Erkenntniss noch jünger sind und zu den
mittelländischen vielfach im Abhängigkeitsverhältniss stehen.
Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin
sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Textil-Technik
vollzogen hat, nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den
Dolchgriff in Rennthierknochen geschnitzt.
Laugerie-Basse.
Mittelmeerländern und Nordeuropa vor-
liegenden prähistorischen Funde uns das
älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden
repräsentiren, und dass nicht ebenda-
selbst in noch früheren Zeiten ein wesent-
lich anderes Kunstschaffen bestanden
haben könnte. Ja noch mehr: es giebt
Monumente, welche der Annahme, dass
der geometrische Stil in Europa der
älteste Kunststil gewesen wäre, direkt
widersprechen.
Es ist heute über jeden Zweifel hin-
aus erwiesen, dass es menschliche Ge-
schlechter gegeben hat, die ein sehr be-
merkenswerthes Kunstschaffen entwickelt
haben, ohne dass eine textile Technik
(mit Ausnahme des Zusammennähens
von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach-
gewiesen werden konnte. Der Schutz
des Leibes, den man als ein so elemen-
tares Bedürfniss, als Bahnbrecher für
die erste älteste Technik, für die Textil-
kunst zu betrachten pflegt, wurde den-
selben augenscheinlich durch andere
Dinge gewährleistet, als durch den ge-
flochtenen Pferch und durch gewebte
Gewänder. Dieses Geschlecht von Men-
schen wohnte in Höhlen und bekleidete
sich mit den Häuten der erlegten Jagd-
thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann
man daran erkennen, dass sie das Mark aus den Knochen der erlegten
Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ihren eigenen Wohn-
höhlen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannibalismus, der uns da
entgegentritt. Die Häute wussten diese Höhlenbewohner zusammenzu-
[17]Der geometrische Stil.
nähen, wie zahlreich aufgefundene Nadeln aus Bein und Gräten be-
weisen; als Material hiezu dienten ihnen die Sehnen der Thierfüsse,
was sich ebenfalls aus den, an den Beinknochen vielfach beobachteten
Einschnitten zur Evidenz ersehen lässt. Also das Zickzack als spontanes
Produkt der Naht könnte man ihnen allenfalls lassen, wenn sie nicht
nachweislich weit Grösseres und Vollkommeneres zu leisten im Stande
gewesen wären. Denn diese halben Kannibalen mit ihren roh zube-
hauenen, ungeglätteten Steinbeilen übten eine wirkliche und unan-
zweifelbare Skulptur.
Die Schnitzereien (Fig. 1) und Gravirungen (Fig. 2) in Thierknochen,
die man auf mehreren Punkten von Westeuropa, insbesondere in den
Höhlen Aquitaniens gefunden hat, und deren Echtheit angesichts der
Gravirter Rennthierknochen. La Madeleine.
überaus genauen und gewissenhaften Grabungen und Fundberichte
namentlich Lartet’s und de Christy’s zum grössten Theile ausser allem
Zweifel steht, sind schon eine Reihe von Decennien bekannt und ver-
öffentlicht4). Bisher hat aber bloss die Anthropologie davon gebührende
Notiz genommen; die Kunstgeschichte hat sie fast vollständig ignoriren zu
dürfen geglaubt. Ich gebe nun vollständig Georges Perrot Recht, wenn
er in der Einleitung zu seiner Histoire de l’art dans l’antiquité die
bezüglichen Kunsterzeugnisse als ausserhalb des Rahmens seiner ge-
schichtlichen Darstellung stehend erklärt und sich damit für berechtigt
hält, dieselben ausser Erörterung zu lassen. In der That haben die
aquitanischen Höhlenfunde mit der Entwicklung der antiken Künste,Riegl, Stilfragen. 2
[18]Der geometrische Stil.
soweit wir sie gegenwärtig überblicken, nichts Augenfälliges gemein.
Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon-
scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren
hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen
und gravirten Thierfiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt
es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens
in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den
Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind
Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in
Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick-
lung in einander fliessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend
einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge-
sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch-
römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten
Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder mittelbar
noch unmittelbar, zu thun gehabt.
Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von
der Kunstgeschichte des Alterthums den Höhlenfunden der Dordogne
bisher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten,
so ist dies keineswegs der Fall mit der Geschichte der technischen
Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an-
geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da
haben wir ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden
der Menschheit hinaufreicht5). Von keinem der europäischen und west-
asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden
hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben
noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo-
dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un-
recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen-
schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man
die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig-
keit jene figuralen Schnitzereien und Gravirungen mit der Theorie
[19]Der geometrische Stil.
von der technisch-materiellen Entstehung der Künste in Einklang zu
bringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen-
stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar
als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts
anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit
fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen
würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie
von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite
her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen
frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse
näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das
Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher
wie Sophus Müller sagen konnte: „eine Erklärung der paläolithischen
Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere
Hypothesen erheben können“6), so haben wir darauf die Erwiderung,
dass uns da wenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es
ein noch spärlicheres als es in der That ist, wogegen die beliebten
technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen,
da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten,
nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung
der „Urmotive“ vollzogen haben muss. Welcher Art sind nun die von
den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst-
erzeugnisse gewesen?
Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt
man dermalen im Musée des antiquités nationales im alten Schlosse von
Saint Germain en Laye, wo sie sich, sei es in Originalien, sei es in Ab-
güssen, fast vollständig zusammengestellt finden. Material ist fast aus-
schliesslich der Thierknochen, und zwar überwiegend Rennthierknochen,
die Technik Schnitzerei oder Gravirung. Da ist es nun überaus lehr-
reich zu beobachten, in welchem Verhältnisse die beiden Techniken,
Schnitzerei und Gravirung, an diesen ältesten aller bisher gefundenen
Kunstdenkmäler der Menschheit zu einander stehen. Sehr häufig be-
gegnet uns das volle Rundwerk, z. B. ein Rennthier als Griff einer
Waffe, etwa eines Dolches (Fig. 1)7). Das gleiche Motiv kehrt sogar öfter
2*
[20]Der geometrische Stil.
wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs-
phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt:
zunächst ein flach gehaltenes Rundwerk, dann ein mehr oder minder
hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2),
die häufig mit dem Flachrelief zusammen entgegentritt, indem eines
in das andere übergeht.
Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns
schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt
haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen
körperlichen Erscheinung, im Wege des durch einen weiter unten zu be-
zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach-
ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaffens: die
ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen
immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be-
gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als
das menschliche Auge braucht. So gewöhnt man sich an die Darstel-
lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich
verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den-
selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung.
Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos
das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welcher man das Bild eines
Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Hiemit war die Linie
als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der
Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten
Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ihnen die Fadenkreu-
zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den
Erzeugnissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das
technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro-
cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, wie sie ihm
die Anhänger der technisch-materiellen Entstehungstheorie vindiciren
möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern
von dem bestimmten Kunstwollen aus. Man wollte das Abbild eines
Naturwesens in todtem Material schaffen, und erfand sich hierzu die
nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens war die
Rundfigur eines Rennthiers als Dolchgriff gewiss nicht nothwendig.
Ein immanenter künstlerischer Trieb, der im Menschen rege und nach
Durchbruch ringend vorhanden war vor aller Erfindung textiler Schutz-
wehren für den Körper, musste ihn dazu geführt haben den beinernen
Griff in Form eines Rennthieres zu bilden.
[21]Der geometrische Stil.
Bevor wir aber das Wesen dieses Triebes näher zu bezeichnen
suchen, empfiehlt es sich, bei dem geschilderten Entwicklungsgang der
Flachverzierung aus dem Plastischen noch einen Augenblick zu ver-
weilen, um darzuthun, dass damit eigentlich gar nichts so Unerhörtes
vorgebracht wurde.
Eine Bestätigung für das Gesagte bietet nämlich einmal auch das
Studium der altegyptischen Kunst, d. i. jener Kunst, die weiter als
irgend eine andere unter den antiken Künsten in die verflossenen Jahr-
tausende der Menschheit hinaufreicht. In bemaltem Relief en creux sind
die Bildwerke in den Gräbern des alten Reiches ausgeführt; erst in der
Kunst des mittleren Reiches, in den Felsengräbern von Beni Hassan be-
gegnen wir reinen figürlichen Flachmalereien, wenngleich der Übergang
zu den letzteren schon im alten Reiche sich vorbereitet hat. Aber auch
die Betrachtung der Kunstgeschichte im Allgemeinen lässt sich zur Be-
stätigung heranziehen: Seit den Tagen des Phidias ist die Skulptur
niemals mehr zur gleichen Blüthe gediehen, weil schon seit hellenistischer
Zeit immer ein mehr oder minder starkes malerisches Element in der
Skulptur sich geltend gemacht hat, und zwar entsprechend dem allge-
meinen Zuge der Zeit und ihrer Kunst mit eiserner Naturnothwendig-
keit sich geltend machen musste. Dass es auf diesem Wege keine Umkehr
giebt, dass Alles auf die Vervollkommnung der darstellungsfähigeren
Malerei hindrängt, lehrt zur Genüge die moderne Kunstentwicklung.
Die Techniken, welche an den Erzeugnissen der Troglodyten Aqui-
taniens zu beobachten sind, gehören nicht specifisch dem sogen. Kunst-
handwerk, sondern vielmehr der sogen. höheren Kunst (Figuralskulptur)
an, wodurch freilich das Sinnlose und Ungerechtfertigte, das in dieser
Scheidung vom wissenschaftlichen Standpunkte aus liegt, erst recht
augenfällig wird. Das Gleiche bestätigt uns die Betrachtung des Inhalts.
Wie schon erwähnt, handelt es sich hiebei vorwiegend um Reproduc-
tionen von Naturwesen, nicht um bedeutungsarme „bloss ornamentale“
Flächenfüllungen. Die Thiere, die dem Menschen zur Nahrung dienten,
oder mit denen er im Kampfe lebte, hat er auf seinen Geräthen bildlich
dargestellt: Rennthier, Pferd, Bison, Steinbock, Rind, Bär, Fisch. Auch
ihn selbst, den Menschen, finden wir, sowohl gravirt als in Rundwerk,
aber weit unbeholfener als die Thierbilder wiedergegeben: eine Erschei-
nung die wir in primitiven Künsten allenthalben wahrnehmen können.
Wenn man also bisher gewöhnlich die rein zwecklichen Techniken
der Textilkunst an den Beginn des menschlichen Kunstschaffens gestellt
hat, so widersprechen dem die Höhlenfunde der Dordogne in der aller-
[22]Der geometrische Stil.
bestimmtesten Weise. Wir treffen hier gerade diejenigen Techniken,
bei denen der Gegenstand der Darstellung, der künstlerische Inhalt von
vornherein gegeben sein muss, bevor derselbe aus dem todten Material
herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dessentwillen
dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer
sei es in flacher Ausführung, gegeben wurden, kann unmöglich ein
anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man
wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben
eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das-
jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht
zum ersten Male vorgebracht wird und zu dem sich auch Semper
wiederholt ausdrücklich bekannt hat8). Um so unbegreiflicher muss es
erscheinen, dass man trotzdem die Anfänge des Kunstschaffens erst
nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum
Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche
polynesische Stämme jedwede Kleidung verschmähen, aber die Haut
von der Stirne bis zu den Zehen tätowiren, d. i. mit linearen Ver-
zierungen schmücken9). Leider fehlen uns die Mittel um zu entscheiden,
ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätowirt haben;
auf den erwähnten Nachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer
Hand lässt es sich nicht nachweisen. Dass sie aber Schmuckgehänge
trugen, ist durch Funde sichergestellt. Denn zu welch’ anderem Zwecke
als zu demjenigen, etwa auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge-
reiht um den Hals getragen zu werden, konnten die durchlöcherten
Rinder- und Bärenzähne, zum Theil gleichfalls mit gravirten Thier-
[23]Der geometrische Stil.
bildern bedeckt, gedient haben, deren man eine ganze
Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen
wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz,
und nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen
der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge-
braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen-
scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von
der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf-
gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen
Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna-
mente finden10). Aber wir begegnen an den Erzeug-
nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen
Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym-
metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo-
metrischen Stils.
Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die
Zickzacklinien (Fig. 3)11), das sogen. Fischgrätenmuster,
dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante,
dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander
alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar
textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m.
Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus
der Natur zu thun: es sind rein ornamentale Gebilde,
bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be-
stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf-
niss oder horror vacui, wie die Thierbilder. Zu beachten
bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen „Muster“
den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer
diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig
halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität
der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen
„Mustern“ und die überwiegend plastische Tendenz des
Marklöffel aus
Rennthierknochen,
mit gravirten
Verzierungen.
Laugerie Basse.
[24]Der geometrische Stil.
primitiven menschlichen Kunstschaffenstriebes ergeben. Wie kam man
nun auf die Erfindung dieser „Muster“? Die Halm- und Fadenkreu-
zungen der Textilkunst, die angeblich hätten ein Vorbild abgeben können,
waren den Leuten augenscheinlich noch unbekannt. Es ist aber gar
nicht einzusehen, warum man derselben zu dem Zwecke überhaupt
bedurft hätte. Wie die Troglodyten zur Erfindung der Linie als des
Elementes aller Flächenzeichnung und Flächenverzierung von der
Plastik her gelangt sein mochten, haben wir ja oben gesehen. Es ist
dies offenbar im natürlichen Verlaufe eines überwiegend künstlerischen
Processes geschehen. Das Element der Linie also kannten die Höhlen-
menschen bereits; es bedurfte nur der Zusammenstellung derselben
nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie die beide, wie wir
gleichfalls gesehen haben, den Troglodyten nicht minder bekannt und
vertraut waren. Wer Bärenzähne zum Schmucke neben einander reiht,
wird dasselbe mit gravirten Linien zu Stande bringen. Der geometrische
Stil bei den Troglodyten Aquitaniens erscheint hienach nicht als
materielles Produkt einer handwerklichen Technik, sondern als reine
Frucht eines elementaren künstlerischen Schmückungstriebes.
Die gesammte Kunstgeschichte stellt sich ja dar als ein fortge-
setztes Ringen mit der Materie; nicht das Werkzeug, die Technik ist
dabei das Prius, sondern der kunstschaffende Gedanke, der sein Ge-
staltungsgebiet erweitern, seine Bildungsfähigkeit steigern will. Warum
soll dieses Verhältniss, das die gesammte Kunstgeschichte durchzieht,
nicht auch für ihre Anfänge gelten?
Was wir also über das Kunstschaffen der ältesten, in ihren Kultur-
überresten uns bekannt gewordenen, anscheinend noch auf halbkanni-
balischer Entwicklungsstufe gestandenen Völker wissen, das zwingt uns
nicht bloss in keiner Weise, eine technisch-materielle Entstehung der
Künste und insbesondere der Zierformen des geometrischen Stils an-
zunehmen, sondern es widerstreitet sogar direkt einer solchen Annahme.
Angesichts dieses Resultates dürfen wir es wohl unterlassen, uns
im Wege spekulativer Erwägung den Process veranschaulichen zu
trachten, wie denn etwa doch das eine oder andere geometrische Motiv
mittels einer Textiltechnik spontan hervorgebracht und zur Übertragung
auf anderes Material mittels einer anderen Technik bereitgestellt worden
sein konnte. Dass zur Erklärung der Entstehung aller geometrischen
Ornamente die textilen Techniken allein nicht ausreichen, wurde schon
mehrfach eingesehen, und man hat zu dem Behufe auch andere Tech-
niken, insbesondere die einer verhältnissmässig vorgeschrittenen Kultur-
[25]Der geometrische Stil.
stufe angehörigen Metalltechniken herangezogen. Auf einzelne Ver-
suche dieser Art zurückzukommen wird sich in den folgenden Capiteln
wiederholt Gelegenheit bieten. An dieser Stelle, wo auf die aller-
dings weitaus im Vordergrunde der ganzen Controverse stehenden tex-
tilen Techniken allein Bezug genommen wurde, obliegt es uns noch,
uns mit dem einzigen Versuche zu beschäftigen, der bisher gemacht
worden ist, um die Übertragung der geometrischen Ziermotive von den
Textiltechniken auf ein anderes, und zwar auf das keramische Gebiet,
in greifbarerer, über bloss allgemeine Aufstellungen hinaus gehender
Weise zu erklären.
Kekulé hat in der Juli-Sitzung der Berliner Archäologischen Ge-
sellschaft vom J. 1890 eine vorläufige Mittheilung über den „Ursprung
von Form und Ornament der ältesten griechischen und vorgriechischen
Vasen“ gemacht, welcher eine ausführlichere Darlegung folgen sollte.
Bis jetzt ist es bei dem im archäologischen Anzeiger von 1890 S. 106 f.
abgedruckten Sitzungsberichte geblieben, und da im engen Rahmen
eines solchen leider nur für allgemeinere Bemerkungen Platz war, muss
auch ich mich im Folgenden auf Gegenbemerkungen allgemeinerer
Natur beschränken.
Kekulé ging aus von der Beobachtung der Ethnologen, wonach die
Korbflechterei der Töpferei weit vorausgegangen wäre. Da er nun fand,
dass „innerhalb des sogen. mykenischen Stils, bei den sogen. Dipylon-
und den kyprischen Vasen u. dgl., bei den altrhodischen, melischen Thon-
gefässen u. s. w. korbartige Formen und korbgeflechtähnliche Orna-
mente, oft auch beide zugleich sich erkennen lassen“, so schloss er
daraus, dass „die ersten bestimmenden Vorbilder für die Vasen leib-
haftige Körbe, für ihre Ornamentik Korbflechtmotive“ waren. Fast
noch mehr Gewicht als auf die Abstammung der geometrischen Orna-
mentmotive von den Korbflechtmotiven scheint Kekulé auf die Formen
der Vasen zu legen, die er unmittelbar von Körben entlehnt sein lässt.
Das geflochtene Material, auf das er seine diesbezüglichen Beobachtungen
stützt, ist naturgemäss fast durchweg neuerer Entstehung, aber sehr
umfassend und reichhaltig.
Was zunächst die zur Voraussetzung gegebene Beobachtung der
Ethnologen betrifft, so mag dieselbe vielleicht richtig sein; ausgemacht
ist sie sicher nicht. Ich für meinen Theil mache mich sofort anheischig,
in Nachahmung der hohlen Hand oder einer ausgehöhlten Kürbishälfte
aus angefeuchtetem Thon eine Trinkschale aus freier Hand schlecht
und recht zu formen, wogegen ich in Verlegenheit käme, wenn man
[26]Der geometrische Stil.
mir zumuthete einen Korb zu flechten. Auch dürfen die Körbe, die da
zum Beweise herangezogen werden, nicht so ohne weiteres als „Urkörbe“,
als Erzeugnisse einer primitiven Korbflechterei angesehen werden. Es
giebt eine Kunst-Korbflechterei ebenso wie eine Kunstkeramik; dieser
Kunst-Korbflechterei mit ihren schrägen und complicirten, durchaus
nicht rein durch die Technik bedingten Verflechtungen gehören wohl
auch die von Kekulé angeführten exotischen Korbflechtereien an, deren
Schönheit und Stilgefühl er gewiss mit Recht rühmt. Aber nehmen
wir in der That an, dass die Menschen früher Körbe geflochten als
Thongefässe geformt hätten. Hatte man sich bei der Bereitung dieser
letzteren in der That bloss an Körbe als Vorbild zu halten, oder lagen
nicht andere Vorbilder zu dem Zwecke näher? Thongefässe dienten
zum Unterschiede von den Körben namentlich zur Fassung und Aufbe-
wahrung flüssiger Stoffe. Die Vorbilder hiefür in der Natur und aller
Wahrscheinlichkeit nach die Vorläufer in dieser Funktion waren die
hohle Hand und Fruchtschalen, wodurch man von vornherein auf rund-
liche Formen hingewiesen war, ohne dass es hiefür der Analogien der
Körbe bedurft hätte. Schon die Handsamkeit erforderte beim Thon-
gefäss die Rundung, all dies natürlich vor der Erfindung der Dreh-
scheibe, die vollends aus der Rundung ein „technisches“ Postulat ge-
macht hat. Bei Körben waren sogar viereckige Formen viel natürlicher
als beim Thongefäss. Hier ist der Punkt, wo ich es bedauere, dass der
mir vorliegende Sitzungsbericht Kekulé’s Gedanken nur so auszugs-
weise wiedergiebt. Wenn da gesagt wird: „im Material des Thones sind
gerade so gut andere zweckentsprechende Gefässformen denkbar, als
die, welche gewählt und ausgebildet worden sind, und die ästhetischen
Ausdeutungen, welche man versucht hat, reichen zur Erklärung nicht
aus“, so kann ich dem gegenüber auch nur im Allgemeinen bemerken,
dass gerade die bezügliche Partie aus Semper’s Stil, auf welche im
Obigen offenbar angespielt ist, mir immer noch als eines der überzeu-
gendsten Capitel seines Werkes gilt, namentlich um des Umstandes
willen, dass von Semper hiebei keineswegs bloss „ästhetische Ausdeu-
tungen“ versucht, sondern auch das statische Erfahrungsmoment in
recht sinnfälliger und überzeugender Weise berücksichtigt worden ist.
Zweifellos hat Kekulé bei der Enunciation des obigen Satzes ganz be-
stimmte Beobachtungen im Auge gehabt, von denen es höchst er-
wünscht wäre, dass er sie in vollständigerem Maasse zur allgemeinen
Kenntniss brächte. Denn die zwei einzigen Beweispunkte die er daselbst
vorbringt, sind unschwer zu entkräften. Es heisst nämlieh weiter: „Beim
[27]Der geometrische Stil.
Korbflechten ist es z. B. etwas Natürliches, dass man den runden, oben
offenen, nach unten sich verengenden Haupttheil kleiner wiederholt
und, ihn umstülpend, als Fuss verwendet; dass man ihn ein zweites
Mal wiederholt und mit einem aus Bastenden gewundenen Knopf ver-
sehen als Deckel oben aufsetzt — für den Töpfer liegt an sich kein
Grund vor, gerade diese Formen zu wählen.“ Dem gegenüber ist erstens
zu bemerken, dass mit einem Fussring versehene Vasen eine höhere
Standfähigkeit besitzen als solche ohne Fussring, also das Vorhanden-
sein dieses letzteren am Korb wie an der Vase durch einen unmittelbar
gegebenen praktischen Zweck gefordert war. Zweitens, dass es zwar
für uns schwer hält, uns heute in den Gedankengang des primitiven
Töpfers hineinzufinden, dass es aber nicht minder schwer hält, sich
auszudenken, wie er den Deckel anders, auf eine dem Töpfer natür-
lichere Weise hätte machen sollen. Ebenso wenig einleuchtend ist mir
die darauffolgende Bemerkung, dass „auf die flachrundlichen Henkel-
formen welche z. B. bei den altböotischen Schalen auffällig sind, kein
Töpfer je selbständig gekommen sein kann.“
Soweit von den Formen der ältesten Vasen in ihrem Verhältnisse
zu den Körben. Was aber uns im vorliegenden Falle noch mehr in-
teressirt, das ist die Ableitung der gangbarsten Ornamentmotive der
Vasen von Korbflechtmotiven. Leider sind Kekulé’s diesbezügliche
Ausführungen im Einzelnen noch kargere als hinsichtlich der Formen.
„Bei vielen Henkeln weist das Ornament schon äusserlich ganz unzwei-
deutig auf den Ursprung hin.“ Das ist noch die speciellste Bemerkung
im ganzen Berichte; man hat dabei offenbar an die in gewundener
Strickform plastisch modellirten oder in ähnlicher Weise bemalten
Henkel zu denken, wie sie sich mehrfach, aber keineswegs an den aller-
frühesten, wirklich prähistorischen Vasen, z. B. auf den Schnabelkannen
und anthropoïden Gefässen, vorfinden. Dass gelegentliche Uebertragungen
von einem Gebiete auf das andere möglich waren und stattgefunden
haben mögen, wird auch kein Besonnener in Abrede stellen; aber die-
selben sind eher das Produkt einer reiferen, raffinirteren, mit dem Reich-
thum der technisch zu bewältigenden Formen spielenden Kunst, als das
imitative Nothprodukt einer aus den Anfängen sich emporringenden
Kunstübung. Und hier muss ich dasselbe wiederholen, was ich schon
früher (S. 15) nachdrücklich hervorgehoben habe: fast das gesammte
Vasenmaterial, das uns heute zur Verfügung steht und das auch Kekulé
zum Substrat seiner Untersuchungen gedient hat, ist ein verhältniss-
mässig spätes, mit der Urzeit sich gar nicht mehr berührendes. Wie
[28]Der geometrische Stil.
soll in einer Zeit wie der mykenischen, die Metalle zu inkrustiren ge-
wusst hat, Raum sein für eine nachahmende Übertragung von Formen
und Ornamenten von den Produkten des primitivsten Kunsthandwerks?
Und auf die mykenische Kunst folgt erst das Dipylon! Selbst wenn
sich zur Evidenz nachweisen liesse, dass die bezüglichen Formen und
Ornamente nur auf geflochtenen Körben in die Welt gekommen sein
konnten, müsste ein so zähes atavistisches Festhalten an denselben in
der Keramik von der supponirten Primitivzeit bis in die glänzenden
Jahrhunderte mykenischer Kultur wunderbar erscheinen. Wir haben
aber „Korbflechtmotive“ auf Beinschnitzereien eines Volkes gefunden,
dem die Textilkunst augenscheinlich fremd und nicht Bedürfniss war,
und ebenso haben wir auf dem Wege rein spekulativer Schlüsse ge-
funden, dass die planimetrischen Liniencombinationen nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie nicht erst des materiellen Anstosses
einer geflochtenen Matte bedurften, um in die Welt zu kommen.
Wenn ich also bekennen darf, dass Kekulé’s Ausführungen
wenigstens in dem beschränkten Ausmaasse, in dem sie bisher in die
Öffentlichkeit gedrungen sind, mich nicht überzeugt haben, so bin ich
doch weit davon entfernt, den aufklärenden Fortschritt der in den be-
züglichen Untersuchungen Kekulé’s liegt, nicht in aller gebührenden
Bedeutung zu würdigen. „Man hat öfter das Vorhandensein eines Zier-
formenschatzes angenommen, welcher freilich vorwiegend technischen
Ursprunges sei und hauptsächlich auf die Technik der Weberei, eben-
falls auch auf die des Flechtens und Stickens zurückweise. Dazu
kommt dann die Bronzetechnik und aus diesen verschiedenen Techniken
entsteht eine verwirrende Zahl einzelner Ornamente und Ornament-
systeme, welche als Erbtheil einzelner Volksstämme oder irgendwie
sonst nach und nach zu einem abstrakten Formenschatz zusammen-
getragen werden und zu beliebiger Verwendung bereitstehen. Dieser
abstrakte Formenschatz soll dann ganz äusserlich nach Belieben auf
den Überzug der Thongefässe übertragen worden sein.“ Die Verur-
theilung der zwanzigjährigen Technikenjagd, die in diesen Worten
Kekulé’s liegt, bedeutet den namhaftesten Fortschritt auf diesem Gebiete
der klassischen Archäologie, der seit dem Tage gemacht worden ist, da
Conze uns über die Bedeutung der „geometrischen“ Klasse unter den
frühgriechischen Vasen zum erstenmale aufgeklärt hat.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, warum denn gerade an
den Produkten der textilen Techniken, der Flechterei und der Weberei,
das bloss geometrische Muster, die linearen Verzierungen sich so hart-
[29]Der geometrische Stil.
näckig, bis auf den heutigen Tag, erhalten haben. Zweifellos weil
diese Muster den textilen Techniken am besten entsprechen, oder besser
gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die
eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament-
lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun-
dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch-
liche Kunstwollen erscheint eben von Anbeginn unablässig darauf
gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb,
namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende
geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die
spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man
daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren,
also an Theilen, die nicht in’s Auge fallen, sondern nur zur Trennung
oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend
die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht
infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil
es eben die am leichtesten und einfachsten darstellbaren Motive waren.
Die „geometrischen“ Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in
der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die
angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be-
treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm-
lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute
zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den
Geräthen der aquitanischen Höhlenbewohner vor Augen haben, zuerst
in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die
Haut tätowirt worden sind.
Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so
Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die figuralen Schnitzereien
und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen.
Bronzezeit gefolgt sein sollen12). Nachdem man einmal zur Kenntniss der
[30]Der geometrische Stil.
Linie und zu planimetrischen Combinationen derselben nach den Regeln
von Rhythmus und Symmetrie gelangt war, lässt sich ganz gut einsehen,
warum man gerade diese zunächst mit überwiegender Vorliebe zur
Flächenverzierung verwendet hat. Diese Combinationen waren eben
weit leichter hervorzubringen als Schattenrisse von Thier und Mensch.
Für letztere war übrigens immer noch Platz im plastischen Kunstschaffen.
Aber auf den zahlreichen, insbesondere keramischen Geräthen und Ge-
fässen, deren eine steigende Civilisation bedurfte, mochte man sich gerne
mit einfacheren, leichter darstellbaren Verzierungen begnügt haben, und
dies waren die geometrischen, wie sie erst der ritzende Griffel und dann
vollends leicht der malende Pinsel auf die Thonvasen brachte. Erst
die nächste grosse Stufe der kunsthistorischen Entwicklung brachte
den Menschen dazu, den geometrischen Stil zu verlassen oder doch auf
die gewöhnlichste Dutzendwaare zu beschränken. Diese nächste Stufe
ist bekanntlich u. a. besonders charakterisirt durch das Aufkommen
pflanzlicher Ornamentmotive. Da ist es nun unter Hinblick auf das
vorhin Gesagte überaus lehrreich zu sehen, dass man sofort, nachdem
einmal die Pflanze unter die Zierformen aufgenommen war, sich beeilt
hat, dieselbe (Lotus!) zu geometrisiren, offenbar um der Vortheile willen,
die eine planimetrische Gestaltung bei der technischen Durchführung
und künstlerischen Verwerthung mit sich brachte. Anscheinend noch
früher als das Pflanzenbild hat das Thier- (und Menschen-) Bild sich
eine gelegentliche Umsetzung in den geometrischen Stil gefallen lassen
müssen. Dass diese Umsetzung keineswegs immer nur ein Produkt
der Noth, ein Ausfluss der Ohnmacht, Besseres zu schaffen, gewesen ist,
lehren zur Genüge die vorhin betrachteten Leistungen der Troglodyten,
bei denen das Thier- wie das Menschenbild unter unverkennbarem Be-
streben, der realen Erscheinung in der Silhouette möglichst nahezu-
kommen, entworfen ist. Die geometrischen Stilisirungen von Mensch
und Thier sind also wohl ursprünglich bewusste Umsetzungen dieser
Figuren in das lineare Schema gewesen, ebenso wie die geometrischen
Ornamente bewusste Combinationen der Linie nach den Gesetzen von
Symmetrie und Rhythmus. Darum ist es auch verfehlt, wenn man —
wie es häufig zu geschehen pflegt — geometrisirte figürliche Dar-
12)
[31]Der geometrische Stil.
stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen
Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre
Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen)
Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr
nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss
eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste
Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses.
Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor-
ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri-
sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete.
Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Naturreligionen darf mit
Gewissheit angenommen werden, dass mit jenen Symbolen (z. B. mit
dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen
realen Naturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisirung der in
der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor-
aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus
ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während
aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Naturformen
sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale
Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym-
bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische
Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der
schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol
auseinander zu halten; nach dieser — bisher wenig und fast aus-
schliesslich vom Dilettantismus verfolgten — Richtung steht dem mensch-
lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von
dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das-
selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen 13).
Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen
der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der
Troglodyten) und zwischen der raffinirten Verwendung dieser Formen
in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem
Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner
Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so
können wir den zweiten, der die Motive dieses Stils wenigstens zum
überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und
[32]Der geometrische Stil.
Webens auf rein zwecklich-materiellem Wege entstanden sein lässt,
nun nicht mehr gelten lassen. Ist aber damit in der That so viel ver-
loren? Für dasjenige, was im Menschen gemäss jenem Lehrsatze den
Gefallen an den rhythmischen Fadenkreuzungen erweckt haben soll, so
dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor-
derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt hat, dafür
giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine
Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der
materialistischen Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der
geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich-materiellen
Prämissen, um einen Schritt weiter hinauf zu rücken. Wir wollen diesen
Schritt gar nicht thun, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir
des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber
gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge-
fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch-materiellen
Descendenztheorie der Künste ebensowenig wie wir zu definiren im
Stande sind, — dass jenes Etwas die geometrischen Liniencombinationen
frei und selbständig erschaffen hat, ohne erst ein materielles Zwischen-
glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller
machen kann und höchstens nur zu einem armseligen Scheinerfolg der
materialistischen Weltanschauung führen würde.
Noch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden,
ausdrücklich zu wiederholen, was ich schon mehrfach angedeutet habe:
dass ich Gottfried Semper keineswegs dafür verantwortlich machen
möchte, dass man seine Worte in der erörterten Richtung interpretirt
und weiter entwickelt hat. Semper handelte es sich keineswegs-
darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst-
äusserungen des Menschen zu finden; es war seine Lieblingstheorie
vom Bekleidungswesen als Ursprung aller Baukunst, die ihn dazu ge-
führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten eine Rolle zu-
zuweisen, wie sie ihr besonnenermaassen nicht mehr wird eingeräumt
werden dürfen. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu,
gewisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band
und Decke, die erst einer vorgeschritteneren, raffinirteren Zeit des
Kunstschaffens angehören können, auf primitive Kunstzustände anzu-
wenden. Von der Überschätzung der Textilkunst in Semper’s Stil
werden wir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestoweniger
bleibt jede Seite, auf der er sich über dieses Thema äussert, auch für-
derhin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.
[[33]]
II.
Der Wappenstil.
Die übliche Identificirung der Textilornamentik mit Flächenorna-
mentik im Allgemeinen hat eine weitere Reihe von Irrthümern zur
Folge gehabt. Einer der anspruchvollsten darunter, der noch heute in
unbeschränktem Ansehen steht, betrifft jenes System der Ornamentik,
dem eine paarweise Gruppirung unter symmetrischer Gegenüberstellung
(Affrontirung bezw. Adossirung) zu Grunde liegt.
Auf Ernst Curtius1) geht die Unterscheidung zwischen einem
Teppichstil und einem Wappenstil zurück. Den Teppichstil erblickt Cur-
tius in jener Art von Flächenverzierung, wo z. B. Thiere in regel-
mässiger Reihenfolge, und zwar mehrere solcher Thierreihen in Zonen
übereinander angeordnet sind. Den Wappenstil bezeichnen ihm dagegen
die paarweise gruppirten Thiere, zu beiden Seiten eines trennenden
Mittels symmetrisch einander gegenübergestellt.
Was Curtius Teppichstil nennt, das hat weder mit der Textilkunst
im Allgemeinen, noch mit den Teppichen im Besonderen etwas Wesent-
liches zu thun. Hatte man nämlich eine Fläche überhaupt (nicht bloss
eine textile) zu verzieren, so lag es am nächsten, den Raum in der
Weise zu brechen, dass man denselben in einzelne horizontale Streifen
zerlegte und innerhalb dieser Streifen die Einzelornamente unter-
brachte. Eine solche Streifendekoration begegnet uns auf historischem
Boden bereits bei den Altegyptern (Reihen figuraler Scenen überein-
ander an den Grabwänden), bei den Assyrern2), aber auch später in
den reifsten Stilen immer wieder3). Um diese Art der Dekoration mit
Riegl, Stilfragen. 3
[34]Der Wappenstil.
Berechtigung als Teppichstil zu bezeichnen, müsste man erst nach-
weisen, dass sie zuerst auf Teppichen angewendet worden ist. Lässt
man aber gemäss unseren Ausführungen im 1. Capitel den gänzlich
unbewiesenen aprioristischen Lehrsatz fallen, wonach die ältesten
Flächenverzierungen auf textilem Gebiete zu Stande gekommen sein
müssten, so kann man heute eine Geschichte der Flächenornamentik
schreiben, in welcher den einzelnen Zweigen der Textilkunst kein be-
deutsamerer Platz eingeräumt ist, als etwa der Wandmalerei, der Gra-
virung und Emaillirung u. s. w. Wir könnten daher die Streifendeko-
ration mit ebenso gutem, wahrscheinlich aber mit besserem Rechte
als Schnitzereistil oder Gravirstil bezeichnen, weil der Mensch mittels
dieser Techniken gewiss mindestens ebenso früh bereits Flächen ver-
ziert hat, als er dies mittels der Teppichweberei gethan haben kann.
Was dagegen die symmetrische Gruppirung von je zwei Thieren
u. dgl. um ein gemeinsames Mittel anbelangt, so lässt sich Curtius4)
hierüber vernehmen, er sei durch sassanidische Gewebe dazu gelangt,
auch diesen Wappenstil nicht minder wie den Teppichstil auf die Webe-
kunst zurückzuführen. Den Beweis dafür erblickt er darin, dass auch
der Buntwirker (worunter offenbar der Kunstweber gemeint ist) aus
technischen Gründen eine öftere Wiederholung des Musters braucht
und anderseits die Fläche möglichst auszufüllen trachtet, um an der
Rückseite keine langen Fäden flott liegen zu lassen, und auch die kost-
baren Einschlagfäden möglichst nach vorne zu bringen. In ganz ähn-
licher Weise finde man aber an orientalisirenden Thonwaaren und
Metallarbeiten frühgriechischer Herkunft einerseits die wappenartige
[35]Der Wappenstil.
Anordnung der Hauptmotive, anderseits den Grund nach Möglichkeit
ausgiebig mit Mustern gefüllt.
Da nun diese wappenartige Ornamentik sich besonders häufig an
Werken der assyrischen Kunst (Fig. 4)5) vorfindet, und die früh-
griechische Kunst nachweisbar vielfach unter orientalischen Einflüssen
gestanden ist, so ergeben sich daraus unschwer die Schlüsse, welche die
klassische Archäologie aus der Curtius’schen Hypothese nothwendiger-
maassen gezogen hat. Einer ihrer namhafteren und auch mit den alt-
orientalischen Verhältnissen bestvertrauten Vertreter hat noch vor
Kurzem die diesbezüglich herrschende Lehrmeinung in folgende Worte
zusammengefasst: „Die Bildertypik des Orients hängt zum grössten
Theile von den Gewebemustern der grossen Wandtapeten ab, und
Skulpirter assyrischer Fries mit geflügelten Stieren im Wappenstil.
manche stilistische Eigenheiten ihrer Plastik, z. B. die übermässige Kon-
turirung der Muskeln, findet darin am natürlichsten ihre Erklärung6).“
Auch diesem Lehrsatze gegenüber werden wir die Frage aufwerfen
müssen, ob sich derselbe historisch rechtfertigen lässt, und ob für die
ihm zu Grunde liegenden Erscheinungen nicht eine andere Erklärung
gegeben werden kann.
Woher wissen wir, dass die Assyrer bereits eine Kunstweberei
gekannt hätten, die im Stande gewesen wäre Stoffe mit Thierpaaren im
Wappenstil zu mustern? Und zwar handelt es sich hier um eine „Kunst-
weberei“ im vollen Sinne des Wortes, — um eine Weberei, die mittels
Schiffchens im Stande ist, auf Grundlage einer vollkommenen Beherr-
3*
[36]Der Wappenstil.
schung der freien Bindungen, beliebig konturirte Figuren wiederzugeben;
denn nur eine solche bis zu einem gewissen Grade mechanische Art
der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederholung der einzelnen
Figuren, wie sie Curtius7) ganz richtig an den sassanidischen Seiden-
stoffen beobachtet hat.
Curtius’ Vermuthung hinsichtlich der Assyrer stützt sich auf die
Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern
einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Nimrud, sich Bor-
düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen
Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortwährend wiederholen,
nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden-
stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden-Kunst-
webereien, als unmittelbare autochthone Vorbilder schliessen zu dürfen.
Semper, der diese wandverkleidenden Reliefs der assyrischen Königs-
paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sich
aber in Bezug auf die technische Erklärung der im Wappenstil gehal-
tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Techniker mochte er wahr-
scheinlich das Gewagte einer Behauptung wie derjenigen Curtius’ ein-
gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern
Stickereien8), was an und für sich viel mehr Wahrscheinlichkeit bean-
spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle weit ge-
ringere Schwierigkeiten bereitet hätte.
Die Hypothese von der Entstehung des Wappenstils aus einer alt-
assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald wir das-
jenige in Betracht ziehen, was wir in den letzten Jahren über das
Wesen der Textilkunst im Alterthum in Erfahrung gebracht haben.
Als die weitaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin-
technik) herausgestellt9). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der-
selben wappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung,
sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh-
mittelalterlicher Zeit (Fig. 5) zahlreich an den Tag gekommen. Da-
gegen befand sich die Seidenkunstweberei denselben Funden zufolge
in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent-
wicklung. Essenwein berichtet über einen der in’s Germanische Museum
gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen: „Man sieht deut-
[37]Der Wappenstil.
lich, dass der Weber jeden Faden einzeln zwischen die Kettfäden ge-
schlungen und möchte fast meinen, es sei dies eher mit der Nadel als
mit dem Schiffchen geschehen. Wenn man so etwa mehr Handarbeit
als Fabrikation in der Herstellung der Gewebe erkennt, wird man auch
über die vielen Unregelmässigkeiten nicht erstaunt sein.“ Es war eben
noch nicht so lange her, dass die Seide ausserhalb der ostasiatischen
Kulturwelt verarbeitet wurde; keinesfalls reichen unsere Nachrichten
darüber in die Zeiten der altorientalischen Monarchien zurück. Ein
ununterbrochener technischer Zusammenhang zwischen einer vermeint-
lichen altassyrischen und der nachweisbaren sassanidischen Seidenkunst-
weberei lässt sich somit nicht herstellen; nach stilhistorischer Seite liegt
aber dazwischen die Ausbreitung der hellenistischen und römischen
Antike, die — allerdings unter unmittelbarer Berührung mit den alt-
orientalischen Künsten entstanden und herangebildet — ihrerseits wieder
insbesondere die Luxuskünste im Oriente durchaus in ihre Einfluss-
sphäre zu ziehen gewusst hat.
Das Princip des Wappenstils, die absolute Symmetrie hat in der
späten Antike überhaupt eine sehr maassgebende Rolle gespielt, was
vielleicht mit der sinkenden Schaffenskraft im Kunstleben dieser Zeit
zusammenhängt, da die hellenistische Kunst noch die relative Symmetrie
in der Dekoration beobachtete, und die Langweiligkeit der absoluten
Symmetrie nach Möglichkeit vermied. Es ist daher nicht recht zu ver-
stehen, warum uns das wappenartige Ornamentationssystem der sassa-
nidischen Seidenstoffe so fremdartig asiatisch, so ganz und gar nicht-
abendländisch erscheinen soll. Wenn die Beherrschung der Anfangs
so schwierigen Technik der Kunstweberei bereits am Ausgange der
Antike rasche Fortschritte gemacht zu haben scheint, so ist dies wohl
aus der zwingenden Nothwendigkeit zu erklären, die man empfunden
haben musste, für das eben zur vorherrschenden Geltung gelangte neue
Rohmaterial, die Seide, auch die passendste Technik auszubilden, wofür
sich aus anderwärts10) von mir erörterten Gründen die antike Wirkerei
durchaus nicht empfahl. Für die Seidenkunstweberei hatte nun das
zur damaligen Zeit wieder allgemein verbreitete Ornamentationssystem
des Wappenstils allerdings jene grossen Vorzüge, auf die auch Curtius
hingewiesen hat, und wohl aus diesem Grunde, nicht einer vermeint-
lichen assyrischen Textilüberlieferung halber, finden wir das genannte
Dekorationsschema an den Seidenstoffen von spätantiker Zeit (Fig. 5) an
[38]Der Wappenstil.
bis in das gothische Mittelalter in überwiegendstem Maasse zur Anwen-
dung gebracht. Nicht die Technik hat das Schema geschaffen, son-
dern sie hat das bereits vorhandene als das ihr zusagendste über-
nommen und im Besonderen für ihre Zwecke weitergebildet.
Mit Rücksicht auf die schon früher hervorgehobene Bedeutung,
welche die egyptisch-spätantiken Textilfunde für die Erklärung der
Gewirkter Gewandeinsatz aus einem Grabe bei Sakkarah (Egypten), spätantik.
Wappenstil-Frage haben, erscheint hieneben in Fig. 5 ein blattförmiger
Gewandeinsatz aus der in das k. k. österreichische Museum für Kunst
und Industrie gelangten Sammlung11) jener Funde wiedergegeben.
[39]Der Wappenstil.
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die
Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei-
blättrigen Blume, darunter die zwei Nachen mit je zwei Fischern, so-
wie die Fische und Blattpflanzen im Wasser. Und doch war durch
die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas-
sung gegeben zu solch symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an
der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte
es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse
daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren
zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine
technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen
kann. Die symmetrische Kunstform als solche war also gegeben und
in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver-
zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge-
nannten Funden12).
Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren
und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der
Kunstweberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge-
setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von
ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse
orientalische Monarchie aufgerichtet haben. Wie wir im vorigen Capitel
gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische
Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme-
trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das
ganze Bestreben dahin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als
Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym-
metrische Seitenansicht im Lotus, die symmetrische Vollansicht in der
Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll-
ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal-
mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar-
stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zwar bei
Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht
ist für’s Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak-
teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven
Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig-
keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer
Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um
[40]Der Wappenstil.
nun die Thierfiguren in Seitenansicht dennoch dekorativ13) zu verwerthen,
gab es zwei Wege. Entweder man liess die Symmetrie ganz fallen
und reihte die Thiere bloss rhythmisch hinter einander — dies geschah
in dem von Curtius sogenannten Teppichstil —, oder man nahm die
Thiere paarweise und stellte sie in absoluter Symmetrie einander
gegenüber, und zwar womöglich zu beiden Seiten eines symmetrisch
aufgebauten Mittels, wozu sich ein vegetabilisches Element am besten
eignete. Auf diese Weise etwa, keineswegs aber aus einer gar nicht
zu beweisenden Technik, werden wir uns die paarweisen assyrischen
Bestien zu beiden Seiten des sogen. „heiligen Baumes“ (Fig. 4) zu er-
klären haben.
Die Symmetrie erweist sich eben als ein dem Menschen einge-
borenes, immanentes Postulat alles dekorativen Kunstschaffens von An-
beginn. Der Chinese kennt sie ebensogut wie der Altegypter, und
nicht bloss im geometrischen Ornament, wiewohl man versucht hat,
ihnen diese Kenntniss abzusprechen. So finden wir z. B. zwei Böcke
um einen Baum symmetrisch gruppirt bereits im Alten Reiche unter
der 6. Dynastie14), also mehr als tausend Jahre vor der Entstehung der
assyrischen Königspaläste. Dass Altegypter wie Chinesen über eine be-
scheidene Beobachtung der Symmetrie in der figürlichen Composition
nicht hinausgekommen sind, mag vielleicht in dem anscheinend frühen
Reifen und Sichabschliessen, und dem hierauf erfolgten relativen Still-
stehen ihrer uralten Kulturen begründet sein. Ein Volk, das auf den
Errungenschaften eines anderen unter frischen Impulsen weiter zu
bauen in der Lage war, hat die künstlerische Bedeutsamkeit der Sym-
metrie sofort schärfer erfasst: so sehen wir sie eben bei den Assyrern
beobachtet, die auch den Unterschied zwischen Decke und Band, Fül-
lung und Bordüre, Inhalt und Rahmen, wie es scheint zuerst nicht
bloss deutlich begriffen, sondern auch zu unbedingter praktischer Gel-
tung gebracht haben; leider vermögen wir mit den heutigen Mitteln
nicht zu beurtheilen, welcher Antheil hiervon auf ihre älteren Stam-
mesgenossen, die Chaldäer, entfällt. Bedarf es da erst der Kunst-
weberei, um zu erklären, wie dieses Volk zur Übung des symmetrischen
Wappenstils gelangt ist?
[[41]]
III.
Die Anfänge des Pflanzenornaments und die
Entwicklung der ornamentalen Ranke.
Es ist heute schwer zu entscheiden, welches von den beiden orga-
nischen Bereichen der Natur, das animalische oder das vegetabilische,
dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er-
scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro-
duciren, grössere Schwierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe-
züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens
für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Ruhe verharren, wo-
durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild
von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage
beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren,
insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge-
rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer
und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Reproduktion
der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben
auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder graviren
wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor-
denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei-
gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden
Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm
herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären
sie von oben gesehen, während dieselben dem seitwärts gedachten Be-
schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung
blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung,
aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche
Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung
und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.
[42]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
Soviel aber die bisher gemachten Funde aus prähistorischer Zeit
erkennen lassen, hat sich der Mensch — entgegen dem Erwarten, das
wir an das oben Gesagte zu knüpfen berechtigt wären — früher in der
Nachbildung von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So
hat man auf den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten
Rennthierknochen, neben der so stattlichen Anzahl animalischer Bild-
werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) Motive gefunden, die man um
ihrer rosettenartigen Form willen für die Copie einer Blume halten
Rennthierknochen
mit gravirten
Blumen (?).
La Madeleine.
könnte1). Ähnliche Beobachtungen hat man auf dem Ge-
biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht.
Überall geht das geometrische Ornament und das Thier-
bild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver-
hältnissmässig hoch ausgebildete Ornamentiken, wie z. B.
die inkaperuanische, scheinen des Pflanzenbildes voll-
ständig zu entbehren. Die Erklärung dieser Erscheinung
werden wir wohl in dem Umstande zu suchen haben,
dass die bewegliche, scheinbar mit freiem Willen ausge-
stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan-
zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben
mochte. Thiere und nicht Pflanzen spielen im Fetischis-
mus die Hauptrolle, wie noch die altegypische Götter-
mythologie in ihren den Thierkult betreffenden rudimen-
tären Theilen deutlich beweist. Und ähnlich ist ja das
Verhältniss des Menschen zu Thier und Pflanze in der
Kunst allezeit auch späterhin geblieben. Die perspekti-
vische Durchbildung wurde früher an Menschen und
Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieb
am längsten „Flachornament“ und die „Landschaft“ ist
weit später nicht bloss als die religiöse und Historien-
malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also wohl ein-
mal das geringere Interesse, das der Mensch an der scheinbar be-
[43]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein-
führung der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären
haben werden.
Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitels
aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi-
lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um
einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen)
Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme
würde zur Voraussetzung haben, dass wir für den Menschen, der zuerst
Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an-
nehmen müssten, — eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen-
tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich
hinausgekommen war. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall
dort, wo wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen
Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re-
ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge-
standen sind, werden wir von einem gewissen, freilich nicht mehr näher
zu bestimmenden Zeitpunkte an, den Anstoss zu weiteren Versuchen in
einer wahrhaft „bildenden“, d. h. körperliche Naturerscheinungen nach-
empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen
immanenten Schmückungs- und plastisch-imitativen Gestaltungstrieb,
(wie bei den aquitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz wesentlich
auf religiöse d. h. gegenständliche Beweggründe zurückführen dürfen.
Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die wir heute kennen,
finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten.
Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, welcher aller altegyptischen
Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten
Reiche entgegentritt, eigen gewesen ist, werden wir auch die bezüglichen
Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse
Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst willen dürften wir die-
selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück-
sichtigt lassen. Wenn wir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen
Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung
machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent-
wicklung willen, die sich nachweislich an diese Motive geknüpft hat.
Jedes religiöse Symbol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe
der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu
werden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die
fortgesetzte überaus häufige Anwendung, die infolge ihrer Heiligung
[44]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
stereotyp gewordene äussere Form, die Ausführung in verschiedenen
Materialien, alles dies trägt dazu bei, das betreffende Symbol dem
Menschen vertraut und dessen Anblick bis zu einem gewissen Grade
unentbehrlich zu machen. Der naive Glaube der Alten kam diesem
Process ganz besonders zu Hilfe. Man trug das Symbol auf den
Kleidern, den Geräthen, überhaupt auf Dingen, die Einem möglichst
oft zu Gesichte kamen. Es gab fast keinen Gegenstand im Haushalte
der alten Egypter, an dem sie nicht den Lotus angebracht hätten. Die-
jenigen Völker, die die Symbole von den Egyptern übernahmen, waren
in ihrer Anschauung von denselben — nach dem freien Gebrauche, den
sie in der Regel davon gemacht haben, zu schliessen — nicht mehr
von den gleichen hieratischen Vorstellungen befangen. Die symbolische
Bedeutung des Lotus lockert sich zusehends bei Assyrern, Phönikern,
Griechen; die Summe der ganzen Entwicklung erscheint gezogen in der
hellenistisch-römischen Kunst, deren dekorativer Apparat zum aller-
grössten Theile im letzten Grunde von dem altorientalischen Symbo-
lismus bestritten ist. Nur haben die Griechen aus diesem letzteren mit
ihrem vollendeten Sinn für das Kunstschöne bloss jene Motive ausge-
wählt, die in der That einer künstlerischen Fortbildung und Ausge-
staltung fähig waren2).
Dafür, dass die bezüglichen Pflanzenmotive wenigstens zum über-
wiegenden Theile schon von Haus aus die Befähigung zu einer künst-
lerischen Ausgestaltung an sich trugen, war von der altegyptischen
Kunst selbst genügend vorgesorgt. Schon von Seiten dieser ersten
pflanzenbildenden Kunst erhielten die pflanzlichen Vorbilder bei der
Übertragung auf die Fläche (mittels des Relief en creux wie mittels
der Malerei) die nothwendige Stilisirung. Das maassgebende Postulat
bei dieser letzteren war wiederum die Symmetrie. Das Motiv hatte zwar
um seiner gegenständlichen Bedeutung willen Darstellung gefunden,
aber diese Darstellung selbst erfolgte unter strenger Berücksichtigung
derjenigen primitiven künstlerischen Postulate, die schon dem rein deko-
rativen, dem blossen Bedürfniss des Schmückens dienenden Kunstschaffen
zu Grunde gelegen waren. Die Altegypter selbst mussten das künst-
lerisch durchgebildete Symbol zugleich als Schmuck empfunden haben.
Umsomehr die auf niedrigerer Kulturstufe verharrenden Völker, die im
Laufe der Zeit mit diesen Symbolen bekannt wurden. Besassen die-
[45]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
selben — wie wir annehmen dürfen — bis zu dem Zeitpunkte ihrer
Berührung mit der egyptischen Kultur kein eigenes vegetabilisches
Schmuckmotiv, so lernten sie nunmehr eines kennen, das sie sich fürder
entweder im Handel erwerben oder selbst kopirend nachbilden konnten.
Aus der eigenen Flora ein Motiv sich mit Mühe heraus zu stilisiren,
daran hat wohl Niemand gedacht, sobald er ein fertiges Motiv von an-
derer Seite her empfing3). Aus dem gleichen Grunde gebrauchen wir
doch heute noch in unserer dekorativen Kunst überwiegend die über-
lieferten antiken Motive, obzwar wir Ornamentzeichner und Entwerfer
besitzen, wie sie das Alterthum gar nicht gekannt hat4).
Die Altegypter haben, so viel wir sehen, zuerst eine monumentale
Kunst ausgebildet, und für die übrigen Völker des Alterthums deren
Geschichte parallel mit derjenigen des pharaonischen Egypten läuft,
beginnt die Kunstgeschichte mit dem Momente, in dem sie in eine nähere
Beziehung zur egyptischen Kunst getreten sind. Dieser Moment lässt
sich zwar nicht in einem Falle genau zeitlich bestimmen; aber die
Thatsache selbst lässt sich kaum mehr bestreiten, angesichts der fun-
damentalen Verbreitung, welche gerade die typischen dekorativen
Formen der egyptischen Kunst bei den übrigen ältesten Kulturvölkern
des Alterthums gefunden haben. Damit ist auch die grundlegende Be-
deutung, die wir den altegyptischen Pflanzenmotiven für alle nach-
folgende Pflanzenornamentik einräumen müssen, genügend charakterisirt.
Aus dem Gesagten folgt aber noch nicht, dass wir alle durch die
altegyptischen Denkmäler überlieferten Darstellungen vegetabilischen
Inhalts in unsere Betrachtung werden einbeziehen müssen. In der
gegenständlichen egyptischen Kunst finden wir vielfach Nachbildungen
von Pflanzen, namentlich von Bäumen (Tell-el-Amarna), denen augen-
scheinlich keine symbolische Bedeutung beigelegt wurde und an die
sich daher auch keine ornamentale Fortbildung geknüpft hat. Ueber-
haupt ist es nicht so sehr die Pflanze als Ganzes, als Baum oder als
[46]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
Strauch, oder selbst als niedriges Zierblumengewächs, sondern vielmehr
deren einzelne Theile, Blüthe oder Blatt, die man zu Symbolen ver-
wendet hat. Wir werden sehen, dass solche Theile schon in den
ältesten Denkmälern der egyptischen Kunst mehrfach bis zur Unkennt-
lichkeit stilisirt gewesen sind; trotz ihrer Verwendung in gegenständ-
lichem Sinne trugen sie somit bereits damals in sich den sicheren Keim
späterer ornamentaler Bedeutung und Fortbildung.
Der künstlerisch wichtigste, weil vollendetste Theil eines Pflanzen-
gebildes ist die Blüthe mit ihrer farbenprächtigen Krone, die sich in
der Regel aus dem Kelche strahlenförmig entwickelt. Die Vorstufe zur
Blüthe bildet die in der Regel spitz zulaufende und darum zur Bekrö-
nung geeignete Knospe; der dritte wichtige Theil ist das Blatt. Die
Frucht tritt dagegen im ältesten Symbolismus und daher auch in der
ältesten Ornamentik merklich zurück; die nächstliegende Erklärung für
diese bemerkenswerthe Thatsache mag zum Theil vielleicht darin zu
suchen sein, dass die Frucht wegen ihrer wenig gegliederten, oft
asymmetrischen Form sich der künstlerischen Nachbildung nicht sonder-
lich empfahl.
Ein sehr wichtiges Element in der Pflanzendarstellung, insbesondere
mit Rücksicht auf die spätere ornamentale Entwicklung, ist endlich der
Stiel. Durch den Stiel wird es nämlich erst möglich die einzelnen
Blüthen, Knospen und Blätter untereinander in Verbindung zu setzen;
diese Verbindung ist aber hinwiederum die Vorbedingung für eine
zusammenhängende Ausfüllung sei es bandartiger Streifen, sei es decken-
artiger Flächenfelder mit vegetabilischen Motiven. Der Stiel tritt uns
nun in der altegyptischen Kunst überwiegend nicht als ein der Wirklich-
keit nachgezeichnetes Gebilde, sondern als ein lineares, geometrisches
Element entgegen. Dadurch war er von vornherein befähigt, alle die
geschwungenen und gerollten Formen anzunehmen, die den rein geo-
metrischen, aus Curven gebildeten Configurationen zu Grunde liegen.
Hiernach erscheint der Stiel als ein ganz besonders wichtiger Faktor
für die zunehmend ornamentale Ausgestaltung der ursprünglich gegen-
ständlich-symbolischen Pflanzenmotive. So werden wir frühzeitig in
der altegyptischen Kunst Verbindungen von Blüthen und Blättern
mittels der Stiele beobachten können, wie sie in der Natur an den
betreffenden Pflanzen keineswegs vorkommen, und nur als eine Ver-
quickung geometrischer Kunstformen mit vegetabilisch-gegenständlichen
aufgefasst werden können.
Unsere Aufgabe wird es also sein innerhalb eines jeden Stiles den
[47]Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
wir in unsere Betrachtung einbeziehen werden, zuerst die darin vor-
kommenden Blüthen- (Knospen- und Blatt-) Formen für sich vorzu-
nehmen, und sodann die Art ihrer Verbindung untereinander zum
Behufe der Flächenfüllung zu untersuchen. Nach beiden Richtungen
wird sich ein zusammenhängender historischer Faden von der ältesten
egyptischen bis auf die hellenistische Zeit verfolgen lassen, d. h. bis
zu dem Punkte, da die Griechen die Entwicklung zur Reife gebracht
haben: indem sie einerseits den einzelnen Theilmotiven den Charakter
vollkommener formaler Schönheit zu verleihen gewusst, anderseits —
und das ist ihr besonderes Verdienst — die gefälligste Art der Verbin-
dung zwischen den einzelnen Motiven geschaffen haben, nämlich die
line of beauty, die rhythmisch bewegte Ranke. Chronologisch genommen
zerfällt hiernach unsere Untersuchung in zwei Theile: 1. die Nach-
weisung des Ursprungs der in der hellenisch-römischen Universalkunst
(der Mittelmeerkunst) verbreiteten Pflanzenmotive in den altorientalischen
Künsten und die Geschichte ihrer allmäligen Ausbildung in diesen
Künsten, 2. die Verfolgung der Fortbildung dieser Motive durch die
Griechen bis auf die hellenistische Zeit, insbesondere die Entfaltung
des specifisch griechischen Motives der ornamentalen Ranke. In diesem
zweiten Theile wollen wir unsere eigentliche Hauptaufgabe erblicken,
zu der sich der erste Theil bloss als eine möglichst knapp gefasste
Einleitung verhalten soll.
Wir werden da eine fortlaufende Entwicklung kennen lernen, die
auf ihren eigenen Spuren einhergeht. Um einer symbolischen, gegen-
ständlichen Bedeutung willen mögen die ersten Pflanzenformen in die
Kunst gekommen sein. An diese Typen, und im Wesentlichen bloss
an diese wenigen Typen, knüpft die weitere Fortbildung an; an eine
neuerliche Heranziehung bestimmter Pflanzen in ihrer natürlichen Er-
scheinung dachte zunächst, und noch Jahrtausende darüber hinaus,
Niemand. Sogar als die deutliche Tendenz hervortrat, die solchermaassen
nahezu geometrisirten pflanzlichen Ornamentformen wieder dem natür-
lichen Pflanzenhabitus näher zu bringen, erfolgte dies zunächst nicht in
dem Wege einer realistischen Nachbildung leibhaftiger Pflanzen, sondern
im Wege allmäliger leiser Naturalisirung, Belebung der überlieferten
Pflanzenornamente. Die Schlüsse, die sich aus dieser Beobachtung für
die Geschichte der Ornamentik im Allgemeinen ergeben, liegen auf der
Hand. Darin beruht nicht zum Geringsten die Bedeutung, die wir den
in diesem Capitel zu behandelnden Fragen beizumessen uns für berech-
tigt halten.
[48]A. Altorientalisches.
A. Altorientalisches.
1. Egyptisches.
Die Schaffung des Pflanzenornaments.
Zwei Pflanzen sind es, die man bisher als untrennbar von aller
egyptischen Kultur gehalten hat und die man auch in der bilden-
den Kunst der Altegypter als die gebräuchlichsten Symbole überall
an den Denkmälern wiederzufinden glaubte: der Lotus und der Pa-
pyrus. Hinsichtlich der kulturellen Bedeutung dieser beiden Pflanzen
für die alten Egypter hatte man eine kostbare Stütze an dem Be-
richte, den uns Herodot über die Stellung derselben im Haushalte
der Egypter hinterlassen hat. Und auch auf Kunstdenkmälern lagen
Lotusblüthe in Profilansicht.
Lotusblüthe in Profilansicht (sogen. Papyrus).
zwei in die frühesten Zeiten zurückreichende, stilisirte Blumenprofile
vor, von denen das eine mit deutlich ausgeprägten dreieckigen Blättern
(Fig. 7) mit dem Lotus, das andere, glockenförmige, ohne Andeutung
von Blättern, mit dem Papyrus (Fig. 8) identificirt wurde. In der
That zeigt die Blüthenkrone derjenigen Pflanzenspecies, die man bisher
für den Lotus der Altegypter angesehen hat, einen Kranz von drei-
eckigen Blättern. Die Papyruspflanze dagegen ist bekrönt von einem
Wedel, dessen einzelne, haarförmige Halme nach allen Seiten strahlen-
artig auseinanderfallen; da aber die realistische Wiedergabe eines
solchen zerflatternden Gebildes einer noch unperspektivischen, mit
Umrisszeichnungen in der Fläche operirenden Kunst geradezu unmög-
lich gewesen sein mochte, nahm man an, dass der egyptische Künstler
sich die Halme des Wedels in einen glockenförmigen Schopf zusammen-
gefasst dachte, dessen kompakte Masse sich dann unschwer von einem
[49]1. Egyptisches.
festen Kontur umschreiben liess. Eine entscheidende Rolle bei dieser
Zuweisung der Profile an Lotus und Papyrus spielte ein angeblicher
Symbolismus des Papyrus für das sümpfe- und schilfreiche Delta, des
Lotus für das trockene Oberegypten.
Innerhalb der Kunst des Alten Reichs liessen sich die beiden Profile
leidlich streng auseinanderhalten. In der Kunst des Neuen Reichs
aber, dessen Zeitstellung gleichwohl im Verhältniss zu den übrigen uns
bekannt gewordenen Künsten der antiken Kulturvölker noch als eine
weit zurückliegende gelten darf, kam man mit einer absoluten Schei-
dung der beiden Grundtypen von einander nicht mehr aus. Dies ist
auch den Forschern nicht entgangen, die sich bisher der Mühe unter-
zogen haben den altegyptischen Denkmälern vom kunsthistorischen
Standpunkte aus näherzutreten; doch wagte Niemand an der Stich-
haltigkeit der Scheidung selbst zu rütteln. Bezeichnend hiefür ist die
Haltung von G. Perrot, dem wir doch bisher die einzige wahrhaft
wissenschaftliche Gesammtbearbeitung der altegyptischen Kunstgeschichte
verdanken. Auch dieser Forscher wusste sich keinen Rath, wenn er
z. B. Papyrusprofile von Glockenform, aber mit dreiblättrigem Lotus-
kelch versehen, vorfand; er behalf sich in solchem Falle mit der aus-
weichenden Bezeichnung: Wasserpflanzen5), womit sowohl Lotus als
Papyrus gemeint sein konnte. Ich war geneigt mir den Sachverhalt
so zu erklären, dass in der Kunst des Neuen Reichs eine auch an
vielen anderen Motiven nicht zu verkennende Tendenz zur ornamen-
talen Behandlung der überkommenen Symbole allmälig zu einer Ver-
mengung des Lotus- mit dem Papyrustypus geführt haben mochte. Dies
hätte freilich auch eine Vermengung der beiden Symbole in der religiösen
Anschauung der Egypter des Neuen Reichs zur Voraussetzung haben
müssen, und darin lag für mich das Unbefriedigende meiner eigenen
Erklärung, weil aus den bisherigen Arbeiten der Egyptologen kein
Zeugniss für eine solche Wandlung der religiös-symbolischen Begriffe
zu ersehen war.
W. G. Goodyear6) war es nun, der die Frage jüngst in der Weise
zur Entscheidung gebracht hat, dass er die Identificirung des Glocken-
typus mit dem Papyrus als auf einem Irrthume beruhend nachweist,
und denselben ebenso für den Lotus in Anspruch nimmt wie den Typus
Riegl, Stilfragen. 4
[50]A. Altorientalisches.
mit den dreieckigen Blättern7). Das Hauptargument in seiner Beweis-
führung bildet der Hinweis auf den Umstand, dass die Hieroglyphe
mit der Glockenbekrönung keineswegs zwingend als Papyrus inter-
pretirt werden muss, und dass die auf das Papyrusland Unteregypten
bezogene Bekrönung nicht bloss auf dem angeblichen Papyrus, sondern
auch auf ausgesprochenem Lotus mit dreispaltigem Profil, also auf dem
vermeintlichen Repräsentanten von Oberegypten vorkommt. Damit
waren die in der Egyptologie wurzelnden Hindernisse, über welche die
Nichtegyptologen nicht hinweg konnten, hinweggeräumt und der kunst-
historischen Forschung der Weg geebnet, um das Verhältniss der beiden,
dieselbe Blumenspecies symbolisirenden Typen zu einander zu klären.
Aber noch eine weitere fundamentale Aufklärung verdanken wir
dem genannten amerikanischen Forscher. Wie sich aus seinen Aus-
führungen7a) überzeugend ergiebt, hat man bisher das Lotusmotiv der
altegyptischen Kunst beharrlich mit einer Pflanzenspecies als angeb-
lichem Vorbild identificirt, die in jenen bildlichen Darstellungen gar
nicht gemeint ist. Es ist dies die Species Nymphaea Nelumbo
(oder Nelumbium speciosum), die streng genommen gar nicht zur
botanischen Gruppe des Lotus gehört. Den Irrthum hat in letzter Linie
Herodot’s Bericht verschuldet, der von einer in Egypten sehr populären
Lotusgattung berichtete, dass deren Samen essbar wären. Dies stimmt
nun allerdings nur für die erwähnte Species, die aber in Egypten nicht
heimisch, heute daselbst gar nicht zu finden ist, dagegen in Indien
hauptsächlich gedeiht und von dort in das altegyptische Reich für eine
gewisse Zeit verpflanzt worden sein mochte, bis dieselbe Mangels fort-
gesetzter Kultur wieder vom Boden des Nilthals verschwand. Der
wirkliche heilige Lotus dagegen, der noch heute in Egypten gedeiht,
ist die Nymphaea Lotus (weisser Lotus), von dem auch eine blaue
Abart (Nymphaea caerulea) existirt. Auch diesbezüglich würde es zu
weit führen die ganze Beweisführung Goodyear’s hierher zu setzen,
und ich beschränke mich daher nur auf die Hervorhebung des über-
zeugendsten Punktes, nämlich der Uebereinstimmung des Lotusblattes
(Fig. 9), wie es an den Kunstdenkmälern typisch wiederkehrt, mit der
gespaltenen Blattform von Nymphaea Lotus, wogegen die Trichterform
des Blattes von Nelumbium speciosum sich auf keine Weise — man mag
selbst eine noch so wunderliche Projektion des Blattes in der künst-
[51]1. Egyptisches.
lerischen Anschauung der ältesten Egypter für die Erklärung zu Hilfe
nehmen — mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt8).
Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden
Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus
das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die
minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun,
um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak-
teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der
Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform
lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen-
gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht
selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift
erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse
Lotusblatt.
Lotusknospe.
Aehnlichkeit zeigt, wäre das Blatt in die griechische Kunst über-
gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische
Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes
erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg
beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen
Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst
fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind.
Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna-
mentik noch im Besonderen zu handeln sein.
4*
[52]A. Altorientalisches.
Die Lotus-Knospe in der egyptischen Kunst zeigt die typische
Form eines Tropfens (Fig. 10), und ist häufig ohne alle Gliederung
belassen. In der Natur ist der innere Kern der Knospe von Nymphaea
lotus umschlossen von vier gleichlangen Blättern, die denselben voll-
ständig einhüllen. Die Lotusknospe ist am häufigsten alternirend mit
der Lotusblüthe (Fig. 11) dargestellt. Die beiden Motive — Blüthe
und Knospe — sind neben einander gereiht; die Blüthen sind das grössere
Motiv und ihre weit ausladenden Kelchblätter schlagen oft von beiden
Seiten über der dazwischen stehenden Knospe zusammen. Dass in den
Lotusblüthen-Knospen-Reihen der Ausgangspunkt für das griechische
Kyma und den Eierstab zu suchen ist, wurde schon öfter bemerkt,
und auch neuerlich von Goodyear9) ausführlich begründet. Die Lotus-
knospe kommt aber auch ohne Begleitung der Blüthe vor, und zwar ent-
weder vereinzelt, oder in stetiger Wiederholung gereiht; sie dient dann
Reihung von alternirenden Lotusblüthen und Knospen.
in der Regel zur Bekrönung eines Schaftes (Säule) oder eines horizon-
talen Gebälkes. Eine nähere Erklärung für diese Funktion wird sich
bei Betrachtung des Lotuskapitäls ergeben.
Die Lotus-Blüthe tritt uns in der altegyptischen Kunst in allen
drei Projektionen entgegen, in denen überhaupt Blüthenformen dar-
gestellt worden sind, so lange die Kunst in der Wiedergabe von Pflanzen
auf dem Standpunkte der Flachstilisirung stehen geblieben war. Es
sind dies 1. die Vollansicht (en face), 2. die Seitenansicht (en profil),
3. die halbe Vollansicht (en demiface).
Die Lotusblüthe in der Vollansicht ist die Rosette. (Fig. 12.)
Goodyear10) hält sie zwar für eine Nachbildung des Fruchtknotens von
Nymphaea lotus, der in der That eine ähnliche Zeichnung zur Schau
trägt. Aber späterhin verstand man unter der Rosette immer zweifel-
[53]1. Egyptisches.
los die vollentfaltete Blumenkrone und es ist nicht einzusehen, warum
das künstlerisch Bestechende dieser Projektion, die centrale Configura-
tion der strahlenförmig zusammengesetzten Blättchen, sich nicht auch
schon den alten Egyptern in höherem Maasse aufgedrungen haben
sollte, als der Fruchtknoten der abgewelkten Blume. Goodyear stützt
seine Meinung hauptsächlich darauf, dass sich neben spitz auslaufenden
Blättchen, wie sie der Lotusblüthenkrone entsprechen, auch umgekehrt
solche in Tropfenform, mit dem stumpfen Ende nach Aussen (Fig. 12)
finden11), in welcher Form sie den Blättchen auf dem vorerwähnten
Fruchtknoten sehr ähnlich sehen. Dass auch im letzteren Falle ein Pro-
dukt der Lotuspflanze gemeint ist, beweisen die Denkmäler, an denen das
Motiv als gleichwerthig mit unzweifelhaften Lotusmotiven vorkommt.
Stumpfblättrige Lotusblüthe in Vollansicht (Rosette).
Wir werden aber die Bildung mit abgestumpften Blättern eher als eine
blosse Variante der spitzblättrigen Blüthe zu erklären haben, wie sie
sich im Gefolge der typischen Ausgestaltung des centralen Rosetten-
motivs von selbst eingestellt haben mochte, indem das Hauptgewicht
auf den radianten Blattkranz, und nicht auf die Zeichnung der einzelnen
Blätter gelegt wurde. Goodyear hat übrigens selbst die Möglichkeit
eingeräumt, die Rosette als Lotusblüthe in Vollansicht zu erklären; dass
er sich schliesslich für den Fruchtknoten als das Vorbildliche entschied,
hängt mit der ausgesprochenen Tendenz dieses Autors zusammen, mög-
lichst viel aus sinnenfälligen und möglichst wenig aus künstlerischen
Prämissen abzuleiten.
Die Rosette findet sich, soweit unsere Denkmälerkunde heute reicht,
erst in der Kunst des Neuen Reiches häufiger angewendet. Gleichwohl
[54]A. Altorientalisches.
besitzen wir wenigstens ein Beispiel dafür aus dem Alten Reiche, näm-
lich die Statue der Nofret12), deren Diadem mit Rosetten, und zwar vom
Typus mit stumpf auslaufenden Blättern, verziert ist. Besonders charak-
teristisch ist die Rosette späterhin für die Ornamentik der assyrischen
Kunst geworden.
Ich kann Ludwig v. Sybel13) nicht beipflichten, der darum die
Rosette den Egyptern von den Semiten aus Asien zugebracht sein lässt.
Das Neue thebanische Reich beginnt zu einer Zeit, aus der uns die
Existenz einer Pflanzenornamentik weder von der chaldäischen noch von
irgend einer anderen asiatischen Kunst durch sichergestellte Denkmäler
bezeugt ist. Die Möglichkeit, dass die Chaldäer bereits im 16. und
17. Jahrh. v. Chr. die Rosette ornamental verwendet haben, soll ja
nicht in Abrede gestellt werden. Aber der Umstand allein, dass die
Rosette im Alten Reiche noch nicht öfter nachzuweisen ist und ander-
seits in der späteren mesopotamischen Kunst eine Hauptrolle spielt,
reicht noch nicht aus, um ihren asiatischen Ursprung auch für die
egyptische Kunst zu beweisen. Einer solchen Annahme widerspricht
schon der Charakter der Altegypter, ihr stolz ablehnendes Verhalten
gegen alles Fremde, in ihren Augen Barbarische. Mit der siegreichen
Neuaufrichtung der nationalen Selbständigkeit nach der Vertreibung
der Hyksos scheint eben ein intensiver Kulturaufschwung Hand in Hand
gegangen zu sein, der auch zu gesteigertem Schaffen auf dem Gebiete
der dekorativen Formen angeregt haben mochte. Das ganze Kunstleben
der Egypter in der Zeit der Thutmessiden und Ramessiden zeugt von
einer tief greifenden Neubelebung. Die Erklärung, die Sybel hierfür
hat: eine vorgebliche Befruchtung egyptischer Trockenheit durch asia-
tische Ueberfülle wird insolange unstichhaltig bleiben, als diese vor-
gebliche Ueberfülle in der asiatischen Kunst jener Zeit nicht monu-
mental erwiesen ist.
[55]1. Egyptisches.
Weitaus die wichtigste Projektion, in der uns die Lotusblüthe in
der altegyptischen Kunst entgegentritt, ist diejenige in Seitenansicht.
Und zwar haben wir hier mehrere Typen zu unterscheiden.
Der, wo nicht älteste, so doch ursprünglich verbreitetste Typus
ist derjenige, den wir bereits früher in Gegenüberstellung zum angeb-
lichen Papyrus kennen gelernt haben (Fig. 7). Typisch hierfür sind
drei spitze Kelchblätter, eines in der Mitte, zwei an den Seiten, ent-
weder geradlinig oder — was das Gewöhnlichere ist — in leise ge-
schwungenem Karniesprofil (Fig. 7) ausladend. In die spitzen Winkel,
oder dreieckigen Zwickel, die durch je zwei benachbarte Kelchblätter
gebildet werden, sind wiederum ähnliche spitze Blätter eingezeichnet,
und in die hierdurch entstandenen vermehrten Zwickel abermals Blätter
von derselben Form, aber entsprechend kleiner. Alle diese zwickel-
füllenden Blätter bilden zusammen die Blüthenkrone, die drei grössten,
zuerst erwähnten Blätter den Kelch. Goodyear hat nun gezeigt (S. 25 ff.),
dass von der Blüthe der Nymphaea Lotus in der That bei der Betrach-
tung von einer Seite nur drei von den vier grossen Kelchblättern zu
sehen sind, und die Blätter der Krone in ganz ähnlicher, wechselseitig
zwickelfüllender Weise wie in Fig. 7 innerhalb des Kelches empor-
ragen. Goodyear hat zugleich auch nachgewiesen, dass das bisher irr-
thümlich für das Vorbild der egyptischen Lotusdarstellungen gehaltene
Nelumbium speciosum einen mehr als vierblättrigen Kelch hat, und die
Blätter desselben sich keineswegs so scharf von denjenigen der Krone
unterscheiden lassen, dass es gerechtfertigt erscheinen könnte, darauf
eine Stilisirung zu basiren, wie sie in dem durch Fig. 7 repräsentirten
Typus enthalten zu sein scheint.
Dieser Typus der Lotusblüthe in Seitenansicht hat im Laufe der
Zeit einige Abbreviationen, und in Folge dessen auch leichte Verände-
rungen erfahren. Es würde zu weit führen, dieselben so weitgehend
zu erörtern, wie dies Goodyear14) gethan hat. Nur eine Abkürzung
des Typus muss hier Erwähnung finden, da dieselbe auf die Ausgestal-
tung des angeblichen Papyrus-Typus nicht ohne Einfluss gewesen zu
sein scheint. Die Abkürzung bestand darin, dass man bloss die drei
Blätter des Kelches zur Ausführung brachte, diejenigen der Blätterkrone
aber unterliess und sich damit begnügte, diese letztere durch eine die
Scheitel der drei Kelchblätter verbindende krumme Linie zu bezeichnen.
(Fig. 13.)
[56]A. Altorientalisches.
Ein zweiter Typus von Lotusblüthe in der Seitenansicht ist der
glockenförmige (Fig. 8), den man bisher ausnamslos auf den Papyrus-
wedel als vermeintliches Vorbild zurückgeführt hat. Der Unterschied
gegenüber dem ersten Typus beruht in dem glockenförmigen Profil
und in dem ursprünglichen Mangel jeglicher Andeutung von Blättern.
Aber selbst wenn wir die beiden Typen ohne Zuhilfenahme eines
äusseren vermittelnden Dritten nebeneinander halten, so werden wir
gewisse Züge entdecken, die beiden gemeinsam sind und eine Brücke
zwischen denselben bilden. Der karniesförmige Schwung, der den seit-
wärtigen Kelchblättern des ersten Typus so überaus häufig gegeben
erscheint (Fig. 7), bereitet bereits vor auf den potenzirten Schwung,
als dessen Resultat die Glockenform erscheint. Und was den Mangel
Lotusblüthe in Profilansicht
mit schematisch gezeichneter Krone.
Glockenförmiges
Lotusblüthen-Kapitäl.
an Blattzeichnung am sogen. Papyrus-Profil betrifft, so braucht nur auf
die erwähnte Abbreviatur des ersten Typus (Fig. 13) hingewiesen zu
werden, um zu zeigen, dass in der altegyptischen Kunst eine Tendenz
vorhanden war, gelegentlich die Details zu unterdrücken, sobald nur
die begrenzenden Grundlinien gezogen waren. Doch werden wir an-
gesichts der Häufigkeit des Papyrus-Profils15) darauf bedacht sein
müssen, über die vorgebrachten allgemeinen Erwägungen hinaus nach
einem bestimmteren äusseren Beweggrund zu suchen, der zur Adoption
des Glockenprofils für die Darstellung der Lotusblüthe in Seitensicht
geführt haben mochte.
Goodyear, dem wir die Aufklärung über die Vorbildlichkeit des
Lotus anstatt des Papyrus für die glockenförmige Blüthe verdanken,
[57]1. Egyptisches.
hat auch für das Zustandekommen dieser letzteren Form eine sehr an-
sprechende Hypothese geliefert. Er hat nämlich16) darauf hingewiesen,
dass die bildnerische Darstellung der Lotusblüthe als Rundwerk in
hartem Material (Stein) nothgedrungenermaassen zu einer glockenähn-
lichen Form ohne Angabe von Blättern mittels Skulptur führen musste.
Zum Beweis hierfür citirt er das glockenförmige Kapitäl (Fig. 14), das
in der That nichts anderes ist, als eine in Rundwerk übersetzte Lotus-
blüthe, an welcher die Blätter nicht plastisch herausgearbeitet, sondern
aufgemalt sind. Man hat ferner in Gräbern kleine Säulchen mit dem
Glockenkapitäl gefunden, die offenbar als Amu-
lete zu erklären sind und beweisen, dass die
bildnerische Herstellung von Lotusblüthen in
Rundwerk eine sehr umfassende und verbreitete
gewesen sein muss. Goodyear nimmt hiernach
an, dass die Lotusblüthe mit Glockenprofil zwar
nicht die Lotusblüthe als solche, sondern ein
Lotus-Amulet darstelle, und als solches wiederum
in die flächenverzierende Kunst, in die Malerei
oder das Relief en creux, Aufnahme gefunden
habe. Was sich nun die alten Egypter unter
der glockenförmigen Lotusblüthe zum Unter-
schiede von dem ersterwähnten Typus Beson-
deres gedacht haben, wird heute schwer zu ent-
scheiden sein. Aber die Erklärung des Zustande-
kommens des Motivs in Folge des Durchpassirens
durch die Skulptur in hartem Material wird sich
kaum durch eine bessere ersetzen lassen.
Diese Stelle halte ich für die passendste, um
einige Bemerkungen über die Bedeutung des
Säule mit Lotus-Knospen-
Kapitäl.
Lotusmotivs in der Architektur der alten Egypter einzuschalten. Wir
haben eben eine Art des Lotuskapitäls, diejenige des glockenförmigen,
kennen gelernt. Eine andere nicht minder häufige Art von Kapitäl
ist diejenige, die das Motiv der Lotus-Knospe verwendet (Fig. 15).
Zur Funktion des Vermittelns zwischen tragender Säule und lasten-
dem Architrav war ein zartes Blumen- oder Knospen-Motiv doch
wohl nicht geeignet, zumal angesichts der wuchtigen Formen, in denen
sich die altegyptische Architektur ergieng. Aber auch die andere
[58]A. Altorientalisches.
Hypothese, die darin den Nachklang einer ursprünglich üblichen Ver-
kleidung des Säulenkerns mit festlichen Lotusgewinden zu erblicken
meint, ist zu weit hergeholt und aus dem Gesammtcharakter dieser
Kunst kaum zu rechtfertigen. Das Wahrscheinlichste ist vielmehr, dass
der Verwendung des Lotusmotivs als Kapitäl eine sehr primitive
künstlerische Empfindung — etwa wie das Postulat der Symmetrie,
wenn auch ein minder gebieterisches — zu Grunde lag, die den Alt-
egyptern, wie allenthalben die Denkmäler lehren, ausserordentlich mass-
gebend erschienen sein muss: nämlich jene Empfindung, die eine
künstlerische Behandlung der freien Endigung verlangt. Ueberall dort,
wo ein wichtigerer Gegenstand, namentlich von überwiegender Längen-
ausdehnung (z. B. eine Stange) in eine Spitze ausläuft, verlangte der
altegyptische Kunstsinn eine ornamentale Betonung dieses Auslaufens,
Endigens. Besonders zwingend war das Postulat dort, wo es sich um
ein Auslaufen nach oben, um eine Bekrönung handelte; in diesem Falle
musste selbst die wagrechte, in überwiegender Breitenrichtung ver-
laufende Mauerwand sich einen deutlichen Krönungsschmuck, die
bekannte egyptische Hohlkehle gefallen lassen.17)
Um nun die Endigung, Bekrönung zum künstlerischen Ausdrucke
zu bringen, gab es verschiedene Mittel. Wie der menschliche Körper
vom Kopfe bekrönt ist, so wird in der egyptischen und mesopotamischen
Kunst der Thierkopf nicht selten zur Bekrönung von Möbelpfosten ver-
wendet.18) Das weitaus gebräuchlichste Motiv zur Bezeichnung der freien
Endigung war aber allezeit, soweit wir die altegyptische Kunst zurück
zu verfolgen im Stande sind, die Lotusblüthe. In Lotusblüthen laufen
die Maschen der geknoteten Diadembinden19) aus, in sogen. Papyrus
[59]1. Egyptisches.
das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in
der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen
der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in
Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Nilboote. Aus der-
selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle
der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her-
geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen-
Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine
belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange!), so
wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das
Kapitäl ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung;
die Funktion des Vermittelns zwischen tragender Säule und lastendem
Lotusblüthe in halber Vollansicht.
(egyptische Palmette.)
Lotusblüthe in Profil
mit Volutenkelch.
Architrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und
ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der
freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe
oder Knospe als Kapitäl: daher auch der Steinwürfel, der sich als
Kämpfer zwischen Kapitäl und Architrav einschiebt, sobald die Säule
zum Tragen bestimmt ist.
Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt-
egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Vollansicht
(Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden:
einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil
(Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei
divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein
kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, — einen mittleren in Form
[60]A. Altorientalisches.
eines bogenförmigen Zäpfchens (d) das den von den beiden Voluten
im Zusammenstossen gebildeten Winkel oder Zwickel ausfüllt, — und
einen krönenden Blattfächer (e). Wir pflegen dieses Motiv in der Form,
in der es uns in der griechischen Kunst entgegentritt, als Palmette zu
bezeichnen.
Der wichtigste, weil für die Gesammtform bezeichnendste Theil
sind hier die Voluten. Sie sind als der in Seitenansicht projicirte
Kelch der Blüthe aufzufassen, wie das Zwischenglied, Fig. 17, (von
einem sogen. Porzellan-Amulet im Louvre) beweist, wo der Kelch nicht
mit Zwickelzapfen und Blattfächer, sondern mit den dreieckigen Blättern
des ersten Profiltypus (Fig. 7) gefüllt erscheint.
Das erste Auftreten desVolutenkelchsist von ausserordent-
licher Wichtigkeit für die gesammte Geschichte der Orna-
mentik. Dass mindestens zwischen den Volutenkelchformen der antiken
Stile ein kausaler Zusammenhang obwalten müsse, hat man bereits
seit Längerem gemuthmasst; insbesondere die Voluten des jonischen
Kapitäls gaben in ihren augenscheinlichen Beziehungen zu den alt-
orientalischen Volutenkapitälen den Forschern viel zu denken. Es hat
sich allmälig eine ganze Literatur über diesen Gegenstand angesammelt,
die sich bei Puchstein20) und zum Theil auch bei Goodyear21) zusammen-
gestellt findet. Die Mehrzahl der Forscher rieth auf asiatischen Ur-
sprung, und der Umstand, dass man — offenbar unter dem Einflusse der
beliebten Theorie, wonach so ziemlich alle älteren Künste eine wesentlich
autochthone Entwicklung genommen hätten — den historischen Zu-
sammenhang der mesopotamischen mit der altegyptischen Kunst ge-
flissentlich unterschätzte, war auch die Ursache, dass man die alt-
egyptischen Volutenformen nicht in ihrer vollen Bedeutung als Ausgangs-
punkt der ganzen Entwicklung erkannte, trotzdem schon vor mehreren
Jahren ein französischer Ingenieur, M. Dieulafoy22), die Vorbildlichkeit
gewisser altegyptischer Blätterformen für das jonische Kapitäl aus-
drücklich behauptet hat. Mit aller Entschiedenheit ist für den egyptischen
Volutenkelch als Ausgangspunkt für alle übrigen Palmettenformen der
antiken Stile Goodyear (S. 71 ff.) eingetreten, wobei er zugleich eine
Erklärung für die Entstehung des Volutenmotivs versucht hat.
Goodyear’s Erklärung für das Aufkommen des Volutenkelchs knüpft
[61]1. Egyptisches.
wiederum an die natürliche Erscheinung von Nymphaea Lotus an. Sie
beruht auf der Wahrnehmung, dass die vier Kelchblätter dieser Blüthe
häufig sich nach unten einrollen, so dass eine solche Blüthe in der
Seitenansicht in der That einen von zwei seitlichen Voluten gebildeten
Kelch zeigt, aus dem sich der Blätterbüschel der Krone erhebt (Fig. 18).
Die Erklärung besticht durch ihre Einfachheit und scheinbare Exaktheit.
Wenn man aber erwägt, dass das Motiv des Volutenkelches in der
stilisirten Blumenornamentik aller späteren Völker und Stile, nicht bloss
des Alterthums, sondern auch des Mittelalters, insbesondere des sarace-
nischen, und noch in der neueren Zeit bis auf unsere Tage eine so
überaus wichtige Rolle gespielt hat, so hält es schwer, seinen Ursprung
auf eine mehr zufällige Erscheinung zu-
rückzuführen, wofür wir das Einrollen
der Kelchblätter von Nymphaea Lotus
wohl aufzufassen haben. Es muss dem
Motiv etwas Dauerhaftes, Gemeingiltiges,
Klassisches zu Grunde gelegen haben,
dass dasselbe überall so gleichmässig
Aufnahme finden und durchdringen liess.
Wodurch nun die Lotusblüthe mit
Volutenkelch sich von dem Typus mit
geraden Kelchblättern (Fig. 7) im künst-
lerischen Effekt unterscheidet, ist die
schärfere Trennung zwischen Kelch und
Krone. Und in der That lässt sich ein
künstlerisches Postulat namhaft machen,
das, wie zahlreiche Denkmäler lehren,
bei den Altegyptern mindestens in der
Zeit des Neuen Reiches ausserordentliche
Lotusblüthe (in Natur) mit überfallenden
Kelchblättern. Nach Goodyear.
Berücksichtigung gefunden hat, und das eine Accentuirung der Kelch-
form geradezu forderte. Bevor ich aber dieses Postulat des Näheren
kennzeichne, erscheint es mir geboten, die übrigen zwei Bestandtheile
der egyptischen Palmette zu diskutiren, wobei auch die tropfenförmigen
Füllungen, die in die Zwickel der besprochenen Voluten eingesetzt er-
scheinen, ihre Erklärung finden werden.
Haben wir im Volutenkelch eine Seitenansicht gegeben, so ist der
bekrönende Blattfächer von Fig. 16 (e) offenbar mit der Projektion der
Rosette (Fig. 12) zusammenhängend. Dieser Fächer giebt sich in der
That als ein Ausschnitt aus der Rosette. Goodyear hat auch bei seiner
[62]A. Altorientalisches.
Erörterung der egyptischen Palmette23) für den Fächer dieselbe Er-
klärung gegeben wie für die Rosette; demzufolge wäre die Palmette
eine Kombination des Lotuskelchs mit dem Lotus-Fruchtknoten. Auf
S. 53 habe ich die Gründe auseinander gesetzt, welche mich bestimmen,
das Vorbild der Rosette nicht mit Goodyear im Fruchtknoten, sondern
in der Vollansicht der aufgeblühten Lotusblume zu erblicken. Dies
angewendet auf die Palmette, lässt die letztere als eine Vereinigung
des Kelches in der bequemen und natürlichen Seitenansicht mit der
Krone in Vollansicht erscheinen.24) Man wollte den Vollstern zur An-
schauung bringen, und das Profil dennoch nicht aufgeben. Ich habe
daher vorgeschlagen, diese Projektion als „halbe Vollansicht“ zu be-
zeichnen.
Es bleibt uns noch ein drittes Element zu besprechen, das in der
Zeichnung der egyptischen Palmette (Fig. 16) als typisch entgegen-
tritt: nämlich das kleine Zäpfchen (d), das den zwischen beiden Voluten
gähnenden Zwickel ausfüllt. Zur Rosette oder dem Ausschnitte der-
selben gehört das Zäpfchen nicht. Demselben liegt vielmehr wiederum
ein primitives künstlerisches Postulat zu Grunde, das in der altegypti-
schen Kunst allmächtig gewesen ist und in dem wir einen der grund-
legenden Stilbegriffe dieser Kunst zu erblicken haben. Es ist dies das
Postulat der Zwickelfüllung. Wo immer zwei divergirende Linien einen
einspringenden Winkel zurücklassen, erfordert es das egyptische Stil-
gefühl, den leeren Winkel mit einem füllenden Motiv auszustatten; im
letzten Grunde geht dieses Postulat wohl auf den Horror vacui und
dieser wiederum auf das Schmückungsbedürfniss als maassgebendstes
Agens aller primitiven Künste zurück. Dass die Beweise hierfür aus
der Kunst des Alten Reiches verhältnissmässig spärlich vorliegen, hängt
wiederum damit zusammen, dass uns aus dieser Frühzeit überwiegend
bloss Darstellungen rein gegenständlicher Natur in den Gräbern erhalten
geblieben sind. Die üppigste Fundstätte für zwickelfüllende Motive
bilden die Deckendekorationen des Neuen Reiches, an denen die Einzel-
motive zwar nicht minder noch immer die alte symbolische Bedeutung
beibehalten zu haben scheinen, aber zum ausgesprochenen Behufe der
Flächenfüllung ihre Zusammenstellung offenbar unter dekorativ-künstle-
[63]1. Egyptisches.
rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche
Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus
des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist:
die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch-
blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln
steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor.
Der Erfüllung des gleichen Postulats der Zwickelfüllung25) dienen
auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten
an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein-
componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym-
bolischen Bedeutung auffasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna-
mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch
dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie
jedes andere alte Kunstvolk leiten liessen, fast grundsätzlich ausser
Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten
Tropfen in Fig. 16 und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser-
liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe,
geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht-
knoten konstruirt hat.
Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in
ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe — wie wir
gleich sehen werden (Fig. 20) — ohne bekrönenden Blattfächer, als
blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm
als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln.
Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische
Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son-
dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man
die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so-
viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel-
füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfluss gewesen
sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung
in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be-
deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt-
sächlich ästhetisch-dekorativer Natur.
[64]A. Altorientalisches.
Wie wichtig gerade der Volutenkelch bei der Zusammensetzung
der egyptischen Palmette gewesen ist, erhellt am besten daraus, dass zahl-
reiche Beispiele vorkommen, an denen der bekrönende Fächer in Weg-
fall gekommen ist. An Fig. 19 allerdings ist dieser Wegfall nur ein
scheinbarer, die einzelnen Blätter der Fächer sind zwar nicht in
Zeichnung ausgeführt, aber der Gesammt-Aussencontour desselben ist
deutlich umschrieben. Diese Stilisirung der Krone läuft vielmehr ganz
parallel jener in Fig. 13 beobachteten, wo die Blätter der Krone völlig
in der gleichen Weise nicht einzeln ausgeführt, sondern nur durch den
Gesammtcontour angedeutet sind.26) Eine zweifellose Reduction des
Palmettenmotivs bietet dagegen Fig. 20, nach einem Kapitäl aus der
Zeit Thutmes’ III. Hier haben wir, wenn wir von der untersten Blatt-
Egyptische Palmette
mit schematisch gezeichnetem Blattfächer.
Volutenkelch mit blossem Zäpfchen
als Zwickelfüllung. Aus Karnak.
hülse des Kapitäls absehen, bloss einen Volutenkelch mit zwickel-
füllenden Zäpfchen. Da gilt es aber vor Allem, den Nachweis zu
liefern, dass wir es in der That mit einer Verkürzung des schon
fertigen Palmettenmotivs zu thun haben, und nicht umgekehrt mit einer
früheren einfacheren Vorstufe, aus welcher sich unter Hinzufügung
des Fächers die Palmette erst nachträglich entwickelt hätte. So viel
nun bis jetzt bekannt, ist die Palmette früher27) an Denkmälern nach-
[65]1. Egyptisches.
gewiesen als der blosse Volutenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir
für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über
dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben wüssten,
wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut
motiviren lässt.
Es wurde schon bei Besprechung des Volutenkelches (S. 61) darauf
hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren-
gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst-
lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich
in der Kunst des Neuen Reiches überaus maassgebend geworden ist.
Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses
Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte,
dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen-
ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge-
wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand
aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die wohl
auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansatze
hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren
Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund-
motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich
die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu-
tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitäls in Fig. 20
aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich
um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man
dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen
hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund-
legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent-
sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es
klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen.
Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches
als bevorzugt der Volutenkelch auf28). Ich halte nun dafür, dass diese
Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers
zur Folge gehabt hat: man liess den Fächer zunächst an solchen Bei-
spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente,
und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt
hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an
Riegl, Stilfragen. 5
[66]A. Altorientalisches.
dem Kapitäl aus Karnak (Fig. 20). In letzterem Falle war aber, wenn
schon der Fächer in Wegfall kam, der krönende Zapfen ein unum-
gängliches Postulat des altegyptischen Kunstsinns, und in der That ist
mir kein Beispiel eines frei endigenden egyptischen Volutenkelchs ohne
zwickelfüllendem Zäpfchen bisher bekannt geworden29).
Der Hinwegfall des krönenden Fächers hat natürlich zur Folge
gehabt, dass an dem abbreviirten Palmettenmotiv auch die Projektion
in der halben Vollansicht vollständig unterdrückt worden ist. Es blieb
bloss die Projektion des Kelchs in der Profilansicht, und in der That
erscheint der frei endigende Volutenkelch in der Kunst des Neuen
Reiches vollständig gleichwerthig mit den früher betrachteten reinen
Lotusblüthen-Typen in Seitenansicht (Fig. 7, 8). Die aus dreieckigen
Blättern gebildete Hülse aber, die wir an Fig. 16 und 19 neben den
Voluten des Kelches wahrnehmen, braucht uns selbst dann nicht zu
verwundern, wenn wir sie thatsächlich als Pleonasmus gelten lassen
wollen, da die Ineinanderschachtelung von Kelchen, wie zahlreiche
Beispiele, namentlich von gemalten Kapitälen, beweisen, gleichfalls
einer bestimmten Tendenz der altegyptischen Kunst entgegenkommt.
Die gegebene Erklärung für die Ausbildung des Volutenmotivs in
der altegyptischen Kunst gewinnt eine weitere Stütze durch den Um-
stand, dass selbst das glockenförmige (das sogen. Papyrus-) Profil ge-
legentlich beiderseits eine volutenartige Krümmung erfahren hat, und
zwar überaus bezeichnendermaassen bloss an solchen Beispielen, wo
das betreffende Motiv als Ansatz für irgend einen Gegenstand (ein Ab-
zeichen, Spiegel u. dergl.) dient30).
Hiermit haben wir die wichtigsten vegetabilischen Formen kennen
gelernt, welche die altegyptische Kunst gebraucht und, wie es allen
Anschein hat, auch selbständig erfunden hat. Wir haben sie sämmt-
lich, nach Goodyear’s Vorgang auch den Papyrus, von dem echten
egyptischen Lotus abgeleitet. Einige minder wichtige Varianten dürfen
wir hier ausser Betracht lassen; sofern dieselben dennoch auf die
Entwicklung des Pflanzenornaments ausserhalb Egyptens von irgend
welchem Einflusse gewesen sein könnten, werden sie an jeweilig ge-
eigneter Stelle zur Sprache gebracht werden.
[67]1. Egyptisches.
Es obliegt uns nunmehr die Art und Weise festzustellen, in welcher
die erörterten pflanzlichen Einzelmotive unter einander in Ver-
bindung gebracht worden sind, sobald die Aufgabe herantrat, mit
denselben, sei es bandartige Streifen, sei es grössere Flächen zu verzieren.
Ueberaus häufig begegnet da die Verbindungslosigkeit, die einfache
Nebeneinanderreihung wobei das künstlerische Motiv in der Alternirung
von Blüthen und Knospen (Fig. 11), grossen ausladenden Fächern und
kleinen spitz zulaufenden Zwischengliedern gelegen war. Solchermaassen
gereihte Lotusblüthen und Knospen (oder Palmetten) eigneten sich wohl
zur Verzierung eines fortlaufenden Bandes, etwa eines Gesimses, eines
Frieses, einer Bordüre, minder dagegen zur Musterung einer grösseren
Fläche, was schon durch die einseitige Richtung der Einzelmotive er-
schwert wurde. Dagegen liess sich die Auskunft finden, dass man zwei
Bordüre mit gegenübergestellten Reihen von Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
solche Reihungen einander gegenüberstellte, so dass die eine Reihe
in die Zwischenräume der anderen gegenüberstehenden zahnartig ein-
griff. Die einseitige Richtung wurde dadurch paralysirt, und man
konnte durch beliebige Wiederholung des Streifens eine beliebig grosse
Fläche verzieren, ohne nach einer Richtung hin zu verstossen (Fig. 21).
Im Grunde genommen kam man aber auch damit über eine blosse
Streifenmusterung nicht hinaus.
Bei der einfachen verbindungslosen Reihung ist nun die Kunst des
Neuen Reiches von Egypten nicht stehen geblieben: sie hat auch die
einzelnen Pflanzenmotive unter einander durch Bogenlinien verbunden.
Betrachten wir den Bordürestreifen Fig. 2230a). Wir sehen da Lotus-
blüthen abwechselnd einmal mit Lotusknospen, das anderemal mit pal-
mettenfächerartigen Varianten des Lotusprofils, wie sie die frei und
5*
[68]A. Altorientalisches.
unbehindert schaltende Technik der Wandmalerei aus der typischen
Form heraus spielend erzeugt haben mochte: alle drei Motive aber
untereinander verbunden durch rundbogenförmig geschwungene Stengel.
Es ist dies die gefälligste Art von Verbindung zwischen
Blüthenmotiven, welche die vorgriechischen Stile geschaffen
haben, und nicht bloss für die altorientalischen (altegyptisch, assyrisch,
phönikisch, persisch), sondern selbst noch für gewisse orientalisirende
griechische Stile (rhodische, kyrenische Vasen) typisch. Die Alternirung
dreier Motive, wobei in Folge der steten Wiederholung des einen (der
Blüthe) bereits eine Art rhythmischer Gruppirung (von Knospe zu Knospe
oder von kleinerer Blüthe zu kleinerer Blüthe) hergestellt erscheint,
ist gleichfalls besonders zu vermerken. Dagegen sind die füllenden
Rosetten und kleinen tropfenförmigen Knospen (in der Reproduction
Bogenfries mit Lotusblüthen und Knospen.
Fig. 22 weggelassen) ohne weitere Bedeutung für unseren Gegenstand:
ein malerischer Ueberschwulst, durch den wir uns in der Fixirung des
Grundschemas nicht beirren lassen dürfen.
Ein solcher Bogenfries mit Pflanzenmotiven wies ebenso wie die
blosse Reihung nur nach einer Seite, eignete sich somit in dieser Form
wohl für Bordürstreifen, aber nicht für grössere Flächenfelder. Um
ihn für letzteren Zweck verwendbar zu machen, liess sich aber wieder
dieselbe Auskunft treffen wie bei der einfachen Reihung durch Gegen-
überstellung einer zweiten in die erstere eingreifenden Reihe Fig. 2331).
[69]1. Egyptisches.
Noch eines vereinzelten Versuches, die ornamentalen Lotusmotive
unter einander in Verbindung zu bringen, muss hier gedacht werden,
nicht zwar als ob es sich dabei um ein für die Fortentwicklung wich-
Innenmusterung aus gegenübergestellten Bogenfriesen mit Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
tiges Beispiel handeln würde, sondern nur vom Standpunkte des all-
gemeinen Interesses, da wir auch hieraus wieder ersehen, dass die Alt-
31)
[70]A. Altorientalisches.
egypter keineswegs starr bei ihren ursprünglichen Bildungen stehen
geblieben sind, sondern auf verschiedenen Wegen getrachtet haben, die
Verwendung der überkommenen Elemente mannigfaltiger und reicher
zu gestalten. So sehen wir nämlich in Fig. 24 eine Art Ranke in
Kreisform eingerollt und mit eben solchen fortlaufend durch Tangenten
verbunden, von denen je eine Lotusblüthe und Knospe abzweigen.
Die einzelnen Kreise sind mit Rosetten gefüllt. Das ganze Motiv er-
innert in Folge der Verbindung mittels Tangenten an ähnliche Bildungen
in der frühgriechischen Kunst, insbesondere im Dipylon, welch letztere
aber lediglich geometrischer Natur sind und keinerlei vegetabilische Ele-
mente tragen. Von der lebendig bewegten griechischen Ranke ist
dieses steife einseitige Schema noch durch eine ganze Welt getrennt.
Rankenartige Verbindung von Lotusblüthen und Knospen.
Eine Vereinigung geschwungener Stengellinien mit Lotusblüthen
(in den verschiedenen Profilansichten, die wir kennen gelernt haben)
treffen wir ferner an dem nicht seltenen Geschlinge, das die beiden
Reiche von Ober- und Unteregypten symbolisiren soll, z. B. bei Lepsius II.
120, III. 19. Der elegante Schwung der Linien und die Gruppirung der
Blüthen untereinander bietet uns in der That eine Vorahnung dessen,
was die Griechen später mit diesen — wenn einmal frei bewegten —
Motiven anzufangen wissen werden. Aber die Bedeutung des in Rede
stehenden Geschlinges war nicht so sehr eine ornamentale als eine
gegenständliche und es hat sich auch daran, so viel wir sehen, keine
weitere Entwicklung geknüpft.
Die Verbindung der gereihten Lotus-Motive mittels Bogenlinien hat
in der Natur kein Vorbild, sie ist zweifellos eine rein ornamentale
Erfindung. Wenn wir hinsichtlich der Stilisirung der Lotusblüthen,
die ja in der Mehrzahl der Typen, (insbesondere beim glockenförmigen
und beim Volutenkelch) der realen Erscheinung der Lotusblüthe eben-
[71]1. Egyptisches.
falls nur in sehr geringem Maasse entsprechen, die Unzulänglichkeit
einer vielfach noch primitiven, ohne belehrende Einflüsse von Aussen
her aus sich selbst heraus schaffenden bildenden Kunst zur Mitver-
antwortung heranziehen dürfen, so fällt ein solcher Entschuldigungs-
grund bei den verbindenden Bogenlinien hinweg: man hatte offenbar
gar nicht die Absicht hierin bloss die Natur zu kopiren, sondern man
schuf sich aus besonderen Beweggründen — und diese konnten doch
wohl nur rein künstlerischer Natur sein — eine gefällige Verbindung
zwischen den gereihten Blüthenmotiven: der altegyptische Bogenfries
kann daher nichts Anderes gewesen sein als blosses Ornament32).
Wir begegnen aber in der altegyptischen Kunst, insbesondere an
Denkmälern aus der Zeit des Neuen Reiches, noch einem anderen
Schema von Flächenverzierung, in welchem die verbindenden Ele-
mente als das Maassgebende, Musterbildende erscheinen, die
Spirale mit zwickelfüllenden Lotusblüthen.
vegetabilischen Motive dagegen als das Untergeordnete,
Accidentelle. Es sind dies jene Flächenverzierungen, denen das
Motiv der Spirale zu Grunde liegt.
Die Spirale in der flächenverzierenden Kunst ist ursprünglich ein
rein lineares, also ein geometrisches Element. Wir werden weiter unten
[72]A. Altorientalisches.
anscheinend primitive, von Aussen her unbeeinflusste Künste zur Ver-
gleichung heranziehen, die das Pflanzenornament gar nicht kennen, aber
die Spirale in ausserordentlichem Maasse ausgebildet haben; es soll
dann auch auf die vielerörterte Frage nach der Entstehung der Spirale
mit einigen Worten eingegangen werden. Vorerst wollen wir aber die
Art der Verwendung der Spirale in der altegyptischen Kunst in Be-
tracht ziehen. Das ursprüngliche Schema ist auch hier dasjenige
des Streifens, der Bordüre, des Frieses (Fig. 25). Die Spirale rollt sich
Innenmusterung mit Spiralen und zwickelfüllendem Lotus.
ein und wieder aus; der Mittelpunkt wird im vorliegenden Falle deut-
lich durch eine Rosette gekennzeichnet; ist das Ornament in kleinerem
Maassstabe gehalten, namentlich an Metallgefässen, dann erscheint
anstatt der vielblättrigen Rosette ein blosser Kreis, das sogen. Auge.
Die Zwickel, welche die verbindenden Linien mit der Peripherie
der kreisförmigen Einrollungen bilden, sind mit deutlichen Lotus-
blüthen in Profil ausgefüllt. Es leidet hiernach keinen Zweifel: das
maassgebende Verzierungselement ist hier die Spirale, die
Blüthenmotive sind dagegen blosse Zuthaten, hervorgerufen
durch das Postulat der Zwickelfüllung.
[73]1. Egyptisches.
Mittels der Spirale lassen sich aber auch ganze Flächen in zu-
sammenhängender Weise verzieren. Ein einfacheres Beispiel zeigt
Fig. 26. Zu Grunde liegt das Spiralenschema von Fig. 25, fortwährend
neben einander wiederholt, aber so, dass die Einrollungen immer im
Gegensinne geschehen, d. h. bei der einen Spirale rechts, wenn die
benachbarte Spirale sich links einrollt. Das übrige besorgen die
vegetabilischen Zwickelfüllungen, die aber nicht wie in Fig. 25 in die
Zwickel, welche die einzelnen Spiralen an sich tragen, eingefügt sind,
sondern in die Zwickel, welche die Einrollungen von immer je zwei
Innenmusterung mit Spiralen, zwickelfüllendem Lotus, und Bukranien.
benachbarten Spiralen in Folge ihrer Annäherung an einander bilden.
In diesem Falle sind also die Lotusblüthen nicht mehr blosse Zwickel-
füllungen, sondern sie dienen zugleich dazu, um die Verbindung
zwischen den einzelnen Spiralen und damit ein zusammenhängendes
Muster über die ganze Fläche hinweg herzustellen. Dass aber diese
erhöhte Bedeutung der vegetabilischen Motive innerhalb des Spiralen-
schemas nicht die ursprüngliche ist, und dass wir nach wie vor die
geometrische Spirale als das Hauptmotiv dieser Art von Flächenver-
zierung ansehen müssen, lehrt eben das einfachere Beispiel Fig. 25.
Ein noch reicheres Beispiel bietet Fig. 27. Die einzelnen Kreisein-
rollungen sind hier in mehrfacher Weise untereinander verbunden, so
[74]A. Altorientalisches.
dass an jedem Auge statt zweier Linien deren fünf zusammenlaufen.
Zur Zwickelfüllung sind neben Lotusblüthen auch Knospen verwendet,
was mit Rücksicht auf die Deutung der Tropfenfüllungen an den
Volutenkelchen von Bedeutung ist33).
Wenn wir an allen diesen Beispielen (Fig. 25—27) das Element der
Spirale als das Maassgebende, das vegetabilische Motiv dagegen als
blosses zwickelfüllendes Accidens aufgefasst haben, so ist Goodyear in
dieser Beziehung der gegentheiligen Meinung. Entsprechend der Grund-
tendenz seines Buches, womöglich alles antike Ornament aus der Ent-
wicklung des Lotusmotivs abzuleiten, will er auch die Spirale nicht
als ein selbständiges Element, sondern nur als blosses Derivat vom
Lotusmotiv gelten lassen. Den Ausgangspunkt hiefür erblickt er in
den Voluten der Lotusblüthe mit Volutenkelch. Goodyear dünkt die
Spirale nichts anderes, als eine Volute. Von solchem Gesichtspunkte
betrachtet wären aber die Lotusblüthen in Fig. 25—27 nicht mehr
blosse accidentelle Zwickelfüllungen, sondern sie müssten dann auch
in allen diesen Fällen für die Hauptmotive angesehen werden. Den
Beweis hierfür führt Goodyear34) hauptsächlich an der Hand von
Scarabäen; er kommt hierbei zu dem Schlusse, dass das Endresultat
des Ausbildungs- und Ablösungs-Processes der Voluten in den concen-
trischen Ringen vorliege. Dass Goodyear ausser Stande ist, den his-
torischen Verlauf des bezüglichen Processes an der Hand eines datirten
Materials durchzuführen, giebt er selbst zu. Wir kennen Denkmäler der
Spiralornamentik hauptsächlich aus dem Neuen Reiche; gewiss wird sie
aber schon im Alten Reiche in umfassendem Gebrauche gestanden sein,
wenn auch die Belege dafür sehr gering an Zahl sind. Gleichwohl
weiss Flinders Petrie einen Scarabäus mit dem ausgebildeten Schema
von Fig. 25 in die frühe Zeit der XI. Dynastie zu datiren35), einen
anderen ohne Zwickelfüllungen in die Zeit der V. Dynastie. Eine
scheinbare Rechtfertigung der Goodyear’schen Hypothese liefern nur
jene Beispiele, an denen die Lotusblüthen als Zwickelfüllungen zwischen
zwei selbständigen Einrollungen (Fig. 26) fungiren, welch letztere dann
als Volutenkelch für die Blüthe aufgefasst werden könnten. Gerade an
den einfachsten Beispielen aber (Fig. 25) schliesst sich an die füllende
[75]1. Egyptisches.
Zwickelblume immer jeweilig nur eine Einrollung als supponirte Volute
an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten
Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort-
laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen wollte.
Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern
gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten
dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den Nachweis
schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung
scheitert.
Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear
für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, wenn wir
unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber
wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt
primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich
die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen
ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven
Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens,
dass das Postulat der Zwickelfüllung in denselben primitiven Kunst-
stilen als ein sehr wichtiges und maassgebendes empfunden wurde.
Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer
bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben.
Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflusse allerdings schon so
gut wie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der-
selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gewusst.
Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische
Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener
naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung
ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun-
detes, aber doch von Allem was wir sonst an Künsten der Naturvölker
kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, wie es kaum anders zu er-
klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen,
auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt,
dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den
Gebrauch von Steingeräthen angewiesen waren, in deren Herstellung
sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori
in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear)
annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung
gestanden, so wäre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall-
geräthe auf die Inseln gekommen wären. Möglicherweise haben auch
[76]A. Altorientalisches.
die Maori vor Zeiten, bevor sie auf Neuseeland isolirt wurden, den
Gebrauch der Metalle gekannt: denkbar wäre dies immerhin. Aber
dann müsste seither ein sehr beträchtlicher Zeitraum verflossen sein,
wie wir ihn für das Zustandekommen einer so festgeschlossenen „Stein-
zeit“-Kultur unbedingt voraussetzen müssen.
Angesichts der vielen durch sei es stabilen, sei es zufälligen Handels-
verkehr vermittelten Beeinflussungen, die es uns in der Regel so schwer
machen an den Kunstübungen primitiver Völker das wirklich Autoch-
thone, Urabgekommene von dem Hinzugetragenen, durch Mischung Er-
Theil eines durchbrochenen Canoeschnabels der Maori.
zeugten zu scheiden, ist es schon ein ungeheurer Gewinn ein Gebiet
zu überblicken, das vermuthlich seit Jahrtausenden eine von Aussen
unbeeinflusste, ganz selbständige Entwicklung genommen hat36).
Da ist es nun vom grössten Interesse zu sehen, dass in der Orna-
mentik der Maori die Spirale eine überaus maassgebende Rolle spielt.
Sie findet sich da in Holz mittels Kerbschnitt eingearbeitet, dann in
Holz durchbrochen, so dass man ein Metallgitter zu sehen wähnt (Fig. 28),
ferner in nussartige Fruchtschalen gravirt (Fig. 29), wo sich die Spirale
[77]1. Egyptisches.
bandförmig glatt von dem schraffirten und durch den eingedrungenen
Schmutz geschwärzten Grunde abhebt, endlich in Stein eingegraben
und dann öfters von eingeschlagenen Punkten begleitet (Fig. 30). Diese
Spirale erweist sich als nächstverwandt mit der altegyptischen durch
den Umstand, dass sie sich, so wie diese, in kreisförmigem Schwunge
erst ein- und dann vom Mittelpunkte wieder herausrollt. In den grossen
Seitenfüllungen der Canoes (Fig. 28) beschreibt jede Spirale eine grössere
Anzahl von Windungen, bis im innersten Mittelpunkte die ein- und die
ausrollende Spirallinie aneinander absetzen; man sehe aber auf der-
selben Figur die äusserste Windung rechts, wo die eingeschnitzten
Gravirung auf einer Fruchtschale der Maori.
Gravirung an
einem Netzsenker der Maori.
Spiraleinrollungen bloss durch Tangenten untereinander verbunden sind:
also im Wesentlichen das altegyptische Schema von Fig. 25. Diese selbe
Windung stellt ein schmales Bordürenband dar: die Zwickel, welche
die Einrollungen mit den Rändern des Bandes bilden, sind durch drei-
eckige Figuren oder durch gebrochene Stäbchen ausgefüllt. Hierin
äussert sich also vollends der enge Zusammenhang mit Fig. 25, nur
dienen an letzterem Beispiele vegetabilische Lotusblüthen zur Zwickel-
füllung, während an der neuseeländischen Schnitzerei zu diesem Zwecke
gemäss dem ausschliesslich geometrischen Charakter dieser Ornamentik
blosse Linienconfigurationen herangezogen erscheinen.
Es gilt nun zu untersuchen, ob die Ausbildung der Spiralorna-
mentik bei den Neuseeländern in einer mit der altegyptischen nahe
[78]A. Altorientalisches.
verwandten Richtung nicht etwa aus äusseren Gründen erfolgt sein
könne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in
Folge bestimmter, rein technischer Nothwendigkeiten, in Folge eines
daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen
Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so müsste
untersucht werden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den
Altegyptern zutrafen. Es ist aber eine ausserordentlich bemerkens-
werthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die
gemeinüblichen Ableitungen dieses Motivs aus rein technischen Ur-
sprüngen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall-
ornament (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und
daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. 167) scheint
wiederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des
textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen
Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso vermissen wir auf
Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die
formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten vermitteln können. Wohl
giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel-
punkte entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen-
fällige Spiralwindung mit einigem guten Willen herausgebracht werden
kann. Und auf diese wollte man im Ernste die gesammte Spiralorna-
mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und
Stein, ist es unbegreiflicherweise, das sich die Maori ausgesucht haben,
um in dasselbe mit ihren Obsidianwerkzeugen unter Aufwendung un-
säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund
allerdings verwendeten sie hiefür, der diesem Processe weniger Wider-
stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat
weder mit metallischem noch mit textilem Charakter irgend etwas zu
thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich
in den Tätowirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen,
die aus Lubbock’s „Entstehung der Civilisation“ entlehnt sind. Eine
solche Entwicklung der Spiralornamentik müsste uns selbst dann räthsel-
haft erscheinen, wenn wir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor-
mals die Kenntniss der Metalle und des Drahtziehens besessen haben.
Gerade dieses Beispiel sagt uns vielmehr eindringlich, dass es keines-
wegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung
der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben37).
[79]1. Egyptisches.
Fassen wir dagegen die Spirale als geometrisches Kunstgebilde,
hervorgebracht auf dem Wege rein künstlerischen Schaffens, im Sinne
unserer Ausführungen im ersten Capitel S. 24. Wir fragen alsdann
nicht nach Naturerzeugnissen oder Produkten technischer Kunstfertigkeit,
welche zur Erfindung des Spiralenmotivs geführt haben mochten, son-
dern nach der nächst einfacheren geometrischen Form, aus welcher die
Spirale im Wege künstlerischer Fortbildung hervorgegangen sein konnte.
Unter den planimetrischen Grundmotiven steht ihr der Kreis am nächsten.
Der Kreis ist das vollkommenste aller planimetrischen Gebilde, er er-
füllt das Postulat der Symmetrie nach allen Seiten hin. Dies allein
würde schon genügen den Umstand zu erklären, dass der Kreis weit-
verbreitete Anwendung in den geometrischen Stilen gefunden hat. Die
Gliederung des Kreises erfolgte am vollkommensten durch seinesgleichen,
in koncentrischer Richtung, durch eingeschriebene kleinere Kreise oder
durch Betonung des Mittelpunkts. Setzte man Kreise unter einander
mittels der Linie in Verbindung, so war das Element der Tangente
geschaffen. Koncentrische Kreise, durch Tangenten verbunden, stehen
aber dem einfachen Spiralenband (Fig. 25) in der äusseren Erscheinung
bereits sehr nahe: wollte man dieselben mit einem fortlaufenden Zuge
hinzeichnen, so brauchte man bloss die Tangente in den äusseren Kreis,
37)
[80]A. Altorientalisches.
diesen in den nächstinneren und so weiter überzuschleifen, um dann
vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über-
zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und
bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern.
Aber die Uebersicht von Taf. VIII bei Goodyear, welche diese Reihe
— freilich leider ohne eine gesicherte chronologische Ordnung — lückenlos
herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang
weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, welchen Good-
year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten-
kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen wäre, und im Wege
der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen
linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre.
Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, will ich gleich
ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale
aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum
für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu
thun, die überzahlreichen im Schwange befindlichen Erklärungsversuche
für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um
einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar-
zuthun, dass eine solche Erklärung — wenn sie schon geliefert werden
soll — nicht bloss an eine primitive Technik, oder an bestimmte, wenig
bedeutsame Naturvorbilder anzuknüpfen braucht, sondern, dass dieselbe
auch auf ornament-entwicklungsgeschichtlichem Wege durchgeführt
werden kann, womit wir wenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden
der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik
oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen
Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem
primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können38).
Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübel’schen Hypo-
these (Ueber altperuanische Gewebemuster etc., in der Festschrift des
Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der
vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe
kommt, als auch Stübel hiebei von den koncentrischen Kreisen ausge-
gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusammenbringen von
bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe,
pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am allerwenigsten solche, die
[81]1. Egyptisches.
über den ganzen Erdball Verbreitung gefunden haben. Uebrigens wird
Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments
interessirt, den Stübel’schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen.
Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst
erschienenen Schrift über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur-
motivische Wirbelornamente in Amerika“ (Wien, A. Hölder, 1891) den
in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf hinwies, dass
einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B.
dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des
Rotirens, d. h. Sichbewegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese
Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist
völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten ähn-
liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An-
stoss zur ersten Entstehung des Spiralenmotivs nach dieser Seite zu
suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale
als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen
zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be-
zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen)
Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat39).
Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen
Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus-
blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie
das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller-
dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster
u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen
Schmückungskunst ansehen, als welche dieselben Motive in den
zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären
Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu-
seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der
Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher
Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise
dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen.
Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungen der Nase;
Riegl, Stilfragen. 6
[82]A. Altorientalisches.
in die Zwickel der dieselbe schmückenden Spiralen sind beiderseits
füllende Schraffirungen eingezeichnet. Die Art und Weise die Spiralen-
zwickel mittels Schraffen zu füllen, ist — wie ich gleich hier vor-
bemerken will — auch der mykenischen Kunst sehr geläufig; bei Be-
sprechung des Pflanzenornaments in dieser letzteren Kunst wird auch
auf diesen Umstand zurückzukommen sein.
Hier am Schlusse unserer Betrachtungen über die Errungenschaften
der Altegypter in der Heranziehung der Pflanze zu reinen Schmückungs-
zwecken erscheint es wohl angebracht, einige allgemeine Worte über
Stellung und Bedeutung der altegyptischen Kunst innerhalb der Ge-
schichte der dekorativen Künste überhaupt anzufügen. Soweit wir zu
sehen vermögen, ist die altegyptische Kunst die erste gewesen, die
Elemente von unzweifelhaft pflanzlichem Charakter unter die reinen
Zierformen aufgenommen hat. Hat sie diesbezüglich eine Vorgängerin
gehabt, so müssen die Spuren des Daseins dieser letzteren vollständig
ausgelöscht worden sein; bis jetzt wenigstens sind solche nicht zu
Stande gebracht worden. Dagegen haben wir im Capitel über den
geometrischen Stil (S. 16 ff.) primitive Künste aus verhältnissmässig frühen
Kulturperioden der Menschheit in der Hinterlassenschaft der aqui-
tanischen Höhlenbewohner kennen gelernt, die wir somit bis zu einem
gewissen Grade als Maassstab für die Beurtheilung der Entwicklung
der dekorativen Künste bei dem ältesten uns bekannt gewordenen
Kulturvolk, bei den Egyptern, benützen können. Welche Bedeutung
hat nun das Kunstschaffen der Egypter für die Entwicklung der dekora-
tiven Künste im Allgemeinen gehabt?
Diesbezüglich führt die Betrachtung der altegyptischen Künste zu
einem sehr widerspruchsvollen Ergebniss. Die Egypter haben zwar
ornamentale Typen von, so zu sagen, ewiger Geltung geschaffen, aber es
drängt sich jeweilig sofort die Bemerkung auf, um wie viel besser es
späterhin Andere gemacht haben, und zwar nicht erst die gottbegnadeten
Hellenen, sondern selbst schon die Assyrer und die Phöniker. Besonders
augenfällig tritt ein anscheinender Mangel an natürlicher Begabung
für dekoratives Kunstschaffen an den Bordüren zu Tage, deren Ver-
hältniss zu den eingerahmten Innenflächen mit seltenen Ausnahmen
kein glücklich gewähltes ist. Noch weniger erscheinen die Ecklösungen
gelungen; das Auge wird von diesen häufig geradezu unangenehm
betroffen. Auch die an Zahl vorwiegenden geometrischen Muster in den
schmalen Bordüren deuten auf eine Vernachlässigung dieser Seite des
Kunstschaffens. Gleichermaassen spielt in der altegyptischen Keramik
[83]1. Egyptisches.
der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings
kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs-
zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr
so überraschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder-
gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits
auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser
letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck-
liches zurück, aber im Kunstwollen war der Abstand keineswegs ein
unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund-
werk zu einem Löffel-Handgriff ist nicht wesentlich höher zu stellen,
als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn
dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1
kennen gelernt haben.
Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt-
egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht
ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo-
dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen
Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten
dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er-
scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt-
egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in’s Auge fassen.
Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische
Kunst hatte sich eben — die Erste soviel wir wissen — Aufgaben ge-
stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes
hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent-
lichen von gegenständlicher Bedeutung. Das Kunstschaffen
hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine
vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen,
Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen
nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf
die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen.
Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst-
schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur-
stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die
Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor-
zuschwingen.
Die künstlerischen Aufgaben, die den Egyptern aus den also ver-
änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so
hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das
6*
[84]A. Altorientalisches.
Fehlen aller und jeglicher Vorbilder so bedeutende, dass den bezüg-
lichen Versuchen und Bestrebungen gegenüber alles Andere in den
Hintergrund treten musste. Der naive Horror vacui, der alle Flächen
mit buntem Schmucke überzieht, und der abgeklärte Kunstsinn, der
das Höchste, das Göttliche, in sinnlichen Formen darzustellen sich be-
müht, sie sind beide ursprünglich durch eine ganze Welt getrennt.
Religiöse und politische Ideen waren es, von denen die Egypter bei
ihrem Kunstschaffen erfüllt waren: das rein Dekorative, bloss der
Schmuckfreudigkeit Genügende, konnte sie nur in weit minderem Grade
beschäftigen.
In weit minderem Grade! Es wäre aber viel zu weit gegangen,
wenn man behaupten wollte, dass das Reinornamentale die Egypter
überhaupt nicht beschäftigt hat. Die Lotustypen sind gewiss ursprüng-
lich nicht als Ornamente, sondern um der gegenständlichen Bedeutung
willen, die dem Lotus in den Kulturvorstellungen der Egypter zukam,
von den egyptischen Künstlern auf die Wände der Grabkammern ge-
meisselt und gemalt, oder als Rundwerk in Stein gehauen worden.
Aber ebenso gewiss haben dieselben Typen auch schon bei den Egyp-
tern des Alten Reiches um ihrer formalen Schönheit willen auf Schmuck-
sachen und Gebrauchsgeräth ihren Platz gefunden. Es hiesse den
ganzen Reichthum künstlerisch ausgestatteter Kleinsachen übersehen,
die uns die Gräber aus der Pharaonenzeit bewahrt haben, wenn man
den Egyptern allen Sinn für gefälligen Schmuck um seiner selbst willen
absprechen wollte. Dieses Volk hat zweifellos schon selbst versucht,
zwischen den beiden extremen Polen im Kunstschaffen einen Ausgleich
zu finden: einerseits dem auf Schaffung einer blossen Augenweide ab-
zielenden Schmückungstriebe, anderseits dem Bestreben, den bedeut-
samsten Ideen und Empfindungen der Menschen sinnlichen Ausdruck
zu leihen. Die Egypter waren ja die Ersten, so viel wir sehen, die
sich zwischen diese beiden Pole gesetzt fanden. Dass nicht sie es auch
waren, die eine endgiltig befriedigende Lösung gefunden haben, wird
man ihnen kaum verdenken können. Wie der Leistungsfähigkeit der
Individuen eine Grenze gesetzt ist, so scheint dasselbe bei den Völkern
der Fall zu sein. Und der grossen grundlegenden Leistungen in der
Kunstgeschichte haben die Egypter doch genug aufzuweisen, so dass
man die Erschöpfung begreift, die es ihnen schliesslich unmöglich ge-
macht hat, das Ziel zu erreichen, an das erst die Hellenen gekommen
sind: Formschönes und inhaltlich Bedeutsames in harmonischer Weise
mit einander zu verschmelzen, mit Bedeutung gefällig zu sein.
[85]1. Egyptisches.
Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass es ungerechtfertigt erscheinen
könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver-
ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem
anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter
waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale
Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die
Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro-
gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein
ausgeführt — Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt,
vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind.
Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische
Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der
egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am Anfange aller monu-
mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst
bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten
verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern:
die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren — mit Aus-
nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben — fast jeder
künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso-
potamier — auf anderen Wegen suchend — noch keine völlig befrie-
digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande
gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein
formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten,
dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit,
und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte
dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich „gefällig“
sein sollen, und die „Bedeutung“ wenigstens um ihrer selbst willen in
der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel-
lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich-
zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den
maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen,
anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein,
es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich-
lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks-
kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine
überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien-
talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern
den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten
[86]A. Altorientalisches.
haben, auf den Schultern ihrer Lehrmeister emporsteigen, und die Orna-
mentik in der Richtung, die sie schliesslich bei den Griechen genommen
hat, zwar langsam aber stetig fortentwickeln. Die grossen, übermäch-
tigen Aufgaben, die der egyptischen Kunst aus der Inanspruchnahme
durch Religion und Politik erwachsen waren, sie waren zwar auch für
die nachfolgenden orientalischen Völker vorhanden, aber doch in weit
minderem Grade. Wir werden sofort sehen, in welchem Maasse gleich
die nächsten Gründer einer orientalischen Weltmonarchie nach den
Egyptern, die Mesopotamier, über die ornamentalen Leistungen ihrer
Vorgänger hinausgeschritten sind.
2. Mesopotamisches.
Die zweitälteste Kultur und Kunst, die in der Geschichte des
Alten Orients nachweislich von weitreichender Bedeutung gewesen ist,
hat in Mesopotamien ihren Sitz gehabt. Leider stammen die Denk-
mäler, die uns von dieser Kunst erhalten sind, fast ausschliesslich erst
aus der verhältnissmässig späten Zeit der Assyrerherrschaft. Was vor
dem Jahre Eintausend v. Ch. liegt, darüber haben wir nur unzu-
reichende Kunde auf Grund sehr vereinzelter Denkmäler, deren älteste
kaum in die Zeit der Thutmessiden, also des in der egyptischen Ge-
schichte verhältnissmässig späten Neuen thebanischen Reiches zurück-
gehen. Wir vermögen daher nicht einmal vollkommen sicher zu ent-
scheiden, in wieweit die Chaldäer, also die Bewohner des unteren
Euphrat-Tigris-Landes, in der That, wie man allgemein vermuthet, die
ersten Begründer einer höheren Kultur und Kunst in dem ganzen
grossen mesopotamischen Stromgebiete gewesen sind. Wenn daher im
Folgenden von assyrischer Ornamentik die Rede sein wird, so bleibt
hiebei ausdrücklich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit vorbehalten,
dass die Ehre der Errungenschaften dieser Kunst den Chaldäern,
vielleicht wenigstens zum Theil auch den Elamiten, zugeschrieben wer-
den müsste.
Es kann hier nicht der Platz sein, die Bedeutung der assyrischen
Kunst für den Entwicklungsgang der Ornamentik in voll entsprechen-
dem Maasse zu würdigen. Es wäre hiefür vor Allem nothwendig, das
Verhältniss der Menschen- und Thierfigur zur Ornamentik bei den
Assyrern klarzustellen; einzelnes hierauf Bezügliches hat übrigens im
Capitel über den Wappenstil Erörterung gefunden. Aber das muss im
Allgemeinen nachdrücklich hervorgehoben werden, dass wir in der
[87]2. Mesopotamisches.
assyrischen Kunst zuerst die für die spätere Entwicklung
der Künste bei den Mittelmeervölkern40)so fundamentale
Scheidung zwischen Bordüre und Decke, Rahmen und Fül-
lung, statisch Funktionirendem und statisch Indifferentem
in mehr oder minder bewusster Weise durchgeführt sehen.
Auch bei den Egyptern gewahren wir die figürlichen Darstellungen in
der Fläche von Säumen eingefasst, doch sind diese Säume, mit sehr
geringen Ausnahmen, von höchst einfacher Musterung, die sich im
Wesentlichen bloss auf gereihte Stäbchen oder auf Zickzacklinien 41)
beschränkt. In ganz besonders bezeichnender Weise äussert sich diese
schwache Seite des ornamentalen Sinnes bei den Egyptern an den-
jenigen Stellen, wo zwei Säume unter einem rechten Winkel aufein-
anderstossen, wo es sich also um eine Ecklösung handelt. Häufig
sind beide auf einander stossende Säume ungleich gemustert und laufen
sich einer an dem anderen todt 42). Bei den Assyrern gewahren wir
dagegen zum ersten Male ein konsequent durchgeführtes System einer
gleichmässigen Umrahmung, unter Berücksichtigung einer künstlerisch
befriedigenden Ecklösung 43). Damit steht in engstem Zusammenhange
der Umstand, dass die Assyrer jene Anläufe, die die Egypter mit dem
vegetabilischen Element und mit den Versuchen einer gefälligen Ver-
bindung desselben gemacht hatten, ihrerseits mit Entschiedenheit auf-
genommen und in weit umfassenderer und bestimmterer Weise zur An-
wendung gebracht haben.
Die Elemente der assyrischen Pflanzenornamentik wurzeln in der
egyptischen. Ich sehe wenigstens nirgends eine Nöthigung vorhanden,
um mit Sybel annehmen zu müssen, dass das in der Kunst des Neuen
[88]A. Altorientalisches.
Reiches von Egypten auftretende Pflanzenornament 44) auf asiatischen
Ursprung zurückzuführen wäre. Der Umstand, dass Palmette und Ro-
sette im ersten Jahrtausend v. Ch. das beliebteste Ornament der assy-
rischen Kunst ausgemacht haben, beweist noch gar nichts für einen
mesopotamischen Ursprung dieser Motive. Noch umfassendere Verwen-
dung hat die Palmette späterhin in der griechischen Kunst gefunden,
und doch wird kaum Jemand behaupten, dass sie von den Griechen
selbständig erfunden worden ist. Auch müsste es auffällig erscheinen,
Gemaltes assyrisches Bordürenmuster.
dass die Egypter, wenn sie schon Rosette und Palmette entlehnt hätten,
gerade das beliebteste Bordenmotiv der Mesopotamier — das sofort zu
betrachtende Flechtband — nicht auch in ihre Ornamentik aufgenommen
haben sollten.
Betrachten wir einmal eine Wandborde (Fig. 33) 45), die sich auf
emaillirten Ziegeln im Schutte des ältesten ninivitischen Palastes aus
der Zeit des Assurnasirpal (10. Jahrh. v. Ch.) gefunden hat. Wir gewahren
[89]2. Mesopotamisches.
da einen Mittelstreifen, gebildet durch ein Flechtband, beiderseits be-
säumt von einer Reihe von Pflanzenmotiven, die mittels abgeflachter,
bandartiger Bogenlinien unter einander verbunden sind.
Was zunächst das Flechtband betrifft, so kann dasselbe als beson-
ders charakteristisch für die mesopotamische Kunst bezeichnet werden,
da sich gleichartige Vorbilder in der egyptischen Kunst bisher nicht
gefunden haben 46). Ueber seinen Ursprung hat man sich bisher kaum
welchen Zweifeln hingegeben. Seit Semper die Parole vom „Urzopf“
ausgegeben hat, galt die Abkunft des Flechtbandes vom Zopfgeflecht
für ausgemacht. Wer sich aber nicht bedingungslos zum herrschenden
Kunstmaterialismus bekennen will, wird doch fragen, was denn die
Menschen veranlasst haben konnte, gerade ein so untergeordnetes
Ding wie einen Zopf zu kopiren, um damit die für ewige Dauer be-
rechneten Monumente zu schmücken? Wer in den linearen geometri-
schen Ornamenten nicht mehr Abschreibungen von Zäunen und Bast-
geweben erkennen will, wird dies auch vom Zopf nicht mehr noth-
wendig finden. Sein eigenes Ebenbild, sowie gewisse, durch ihre Stärke
oder Nützlichkeit auffällige Thierspecies, hat der Mensch wohl zu
Schmückungszwecken aus der Natur direkt kopirt, späterhin schön
gegliederte Vasen und schlanke Kandelaber u. s. w. Dass ihm aber
daneben der Zopf selbst als Träger des Formschönen aufgefallen wäre,
kann nur in der Vorstellung eines Kunstmaterialisten ernsthaft glaub-
lich erscheinen, und dass ein ganzes Zeitalter daran nichts Bedenk-
liches finden konnte, wird manchem Späteren Veranlassung geben, auf
unsere eigenthümlich verbildeten Kunstanschauungen mit einer nicht
ganz unverdienten Geringschätzung zurückzublicken.
Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Pflanzenornaments hat
das Flechtband nur einmal bei den Griechen, in verhältnissmässig vor-
geschrittener Zeit, eine untergeordnete Rolle gespielt (Fig. 84). Ich
erachte mich daher der Nothwendigkeit überhoben, die müssigen Ab-
leitungsversuche für primitive Ornamente abermals um einen vermehren
zu sollen. Dass ich geneigt sein werde, das Flechtband unter die
[90]A. Altorientalisches.
linearen Compositionen nach den alleinigen formgebenden Gesetzen
von Symmetrie und Rhythmus zu zählen, brauche ich nach all dem
Gesagten kaum ausdrücklich zu erwähnen. Weit wichtiger für die
besonderen Zwecke unserer Untersuchung sind die das Flechtband in
Fig. 33 besäumenden Pflanzenmotive. Wir erkennen darin dreierlei
verschiedene Motive: eine Knospe, eine Palmette und eine dreispältige
Blüthe. Und zwar ist die rhythmische Reihenfolge, in welcher die
drei Motive wiederkehren, folgende: Palmette, Knospe, Palmette, Blüthe,
Palmette, Knospe u. s. f. Es ist dies dieselbe Art der gruppenweisen
Alternirung dreier Elemente, die wir bereits in der egyptischen Orna-
mentik (Fig. 22) angetroffen haben, nur mit dem Unterschiede, dass
dort die Lotusblüthe und hier die Palmette das doppelt wiederkehrende,
also das Hauptmotiv bildet, und das palmettenfächerartige Blüthen-
motiv jener egyptischen Borde hier durch das unzweifelhafte Palmetten-
motiv selbst ersetzt erscheint.
Diskutiren wir nun die Formen im Einzelnen, wobei wir die Art
ihrer Verbindung untereinander vorläufig ausser Acht lassen wollen.
Am wenigsten ist über die Form der Knospe zu sagen; auffällig gegen-
über den egyptischen Seitenstücken ist hier nur die schuppenförmige
Musterung 47). Die Palmette zeigt dagegen schon grössere Abweichungen
vom egyptischen Schema des Lotus in halber Vollansicht (der egyp-
tischen Lotus-Palmette (Fig. 16)). Während an letzterer Kelch und
Fächer sich proportionell ziemlich die Wage halten, ja eher der Kelch
überwiegt, ist an dem assyrischen Beispiel der Fächer das weitaus
Ueberwiegende geworden. Der Kelch zeigt nicht mehr die starken
Voluten des egyptischen Motivs, sondern ist aus zwei schwachen
nach abwärts umgebogenen Hörnchen gebildet. Ferner hat sich
zwischen Kelch und Fächer ein zweiter ausgeprägterer Kelch einge-
schoben, dessen stark betonte Voluten sich nach aufwärts einrollen.
Trotz dieser Verschiedenheiten erscheint mir der Zusammenhang mit
der egyptischen Palmette doch unabweislich. Es ist eine ganz eigen-
thümliche Projektion, die dem einen wie dem anderen Motiv zu
Grunde liegt und kaum beiderseits selbständig erfunden sein kann.
Man hat auch Zwischenformen, die vom egyptischen Lotus zu der
assyrischen Palmette führen sollen, in gewissen Erscheinungen der
phönikischen Kunst zu erkennen geglaubt, über welchen Erklärungs-
versuch weiter unten bei Betrachtung der phönikischen Pflanzenorna-
[91]2. Mesopotamisches.
mentik die Rede sein soll: hier will ich nur vorausschicken, dass
gerade dasjenige Motiv, das in der assyrischen Palmette völlig neu zu
sein scheint — der nach aufwärts eingerollte obere Volutenkelch —
bereits in der egyptischen Pflanzenornamentik seine Vorbilder gehabt
hat. Vollständig verfehlt wäre es aber, an die Palme als das natür-
liche Vorbild der assyrischen Palmette zu denken. Allerdings sind
die Fächer der Palmen auf assyrischen Reliefs in ähnlicher Weise dar-
gestellt wie die Fächer der Palmette, aber es fehlt dort überall gerade
der charakteristische Bestandtheil jeder Palmette: der Volutenkelch.
Man mag vielmehr die Zeichnung des Fächers für die Palme von der
fertigen ornamentalen Form der Palmette entlehnt haben, als eine sich
ungesucht darbietende Lösung, aber gewiss nicht umgekehrt 48).
Was endlich das dritte Motiv unserer in Diskussion stehenden
Borde, die dreiblättrige Blüthe anbelangt, so lässt auch sie sich auf den
egyptischen Lotus beziehen, und zwar allerdings nicht auf die typische
Form der Lotusblüthe, sondern auf ein seit dem Mittleren Reiche
(11. bis 12. Dynastie) sehr gebräuchliches, aber auch schon im Alten
Reiche 49) nachweisbares, bekrönendes Motiv (Fig. 37), das Sybel 50) als
Vasen erklären wollte, weil es oft spitz zulaufend vorkommt und in dieser
Form seine Analogien mit bildlich dargestellten Vasen besitzt. Häufig
läuft es aber nach oben nicht spitz, sondern im Schema der Lotus-
blüthe 51) aus, und deshalb möchte ich dieses egyptische Motiv auf den
Begriff der Lotusblüthe und Knospe zurückführen, von deren so über-
wiegender Anwendung in krönender Funktion schon oben (S. 58) die
Rede gewesen ist. Was mich an unserer assyrischen Borde in der
gegebenen Ableitung noch bestärkt, ist erstens die ausgeschweifte Um-
risslinie der Blüthe, dann die flache Form der verbindenden Bögen.
Das egyptische Motiv ist nämlich häufig ebenfalls auf zwei divergirende
Stengel aufgesetzt (Fig. 37), die allerdings nicht in Bogenform nach
rechts und links weiterlaufen, sondern wie zwei selbständige stützende
Füsse auf der Grundlinie absetzen 52).
[92]A. Altorientalisches.
Im Allgemeinen ist nun von den besprochenen assyrischen Pflan-
zenmotiven gegenüber den egyptischen zu sagen, dass die ersteren
eine unverkennbare Fortbildung in rein ornamentalem Sinne
vorstellen. Es fällt hier noch viel schwerer, die zu Grunde liegenden
Naturformen zu erkennen, als angesichts der egyptischen Stilisirung.
Unter denselben Gesichtspunkt fällt auch die farbige Musterung in
querlaufendem Zickzack, das Zusammenbringen von Motiven, die in
der egyptischen Kunst streng geschieden waren (aufwärts gerollter
Volutenkelch und gewöhnlicher Palmettenfächer), endlich die eigen-
thümliche Art der Verbindung der einzelnen Motive untereinander, was
uns auf die Betrachtung der letzteren überführt.
Die Verbindung der gereihten Pflanzenmotive mittels fortlaufender
Bogenlinien hatte, wie wir gesehen haben, bereits in der Kunst der
Ramessiden in Egypten statt. Waren es dort wirkliche schon ge-
schwungene Rundbogen, so bringen die Flachbogen an der assyrischen
Borde Fig. 33 einen minder günstigen Eindruck hervor. Es wurde
aber kurz vorhin auseinandergesetzt, inwiefern dies dennoch mit egyp-
tischen Vorbildern zusammenhängen könnte. Dagegen bemerken wir
an Fig. 33 gewisse Elemente in die Verbindung eingefügt, die wir an
den egyptischen Vorbildern vermissen, und die sowohl eine Fortbildung
im ornamentalen Sinne, als auch einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt
für die nachfolgende Entwicklung darbieten. Die verbindenden, im
Flachbogen geführten Bänder setzen nämlich nicht so wie die egyp-
tischen Rundbogen (Fig. 22) unmittelbar an dem unteren Ende der Pflan-
zenmotive ab, sondern sie erscheinen mit diesen durch ein zusammen-
fassendes Heftel, eine Junktur, verbunden, oberhalb deren überdies bei
der Knospe sich die beiden verbindenden Bänder, sowohl das von links
als das von rechts kommende fortsetzen und volutenförmig überschlagen,
und auf solche Weise für die Knospe denselben Kelch bilden, der an
der Palmette bereits von den egyptischen Vorbildern her vorhanden war.
Aber die Blüthe erscheint allein durch die Junktur mit den Bogen-
bändern verbunden. Der Kelch am Ansatze der Knospe und die
Junkturen bezeichnen somit Zusätze, die wir auf Rechnung einer bewusst
dekorativen Fortbildung seitens der Mesopotamier setzen dürfen 53).
Was besonders dazu veranlasst hat das Abhängigkeitsverhältniss
[93]2. Mesopotamisches.
der mesopotamischen von der egyptischen Kunst umzukehren, war der
Umstand, dass uns an späteren assyrischen Denkmälern, aus der Zeit
der Sargoniden (8. und 7. Jahrh. v. Ch.), eine weit engere Anlehnung
an egyptische Vorbilder entgegentritt als an den früheren, aus dem
10. Jahrhundert stammenden, was offenbar auf Rechnung der unmittel-
baren Berührung zu setzen ist, in welche die Assyrer in der Sargoniden-
zeit mit den Egyptern gerathen waren 54). Da hatte man nun zweifellose
assyrische Nachahmungen egyptischer Motive und folgerte daraus, jene
abweichenden älteren Formen aus Assurnasirpals Zeit müssten Original-
schöpfungen der Mesopotamier gewesen sein, und wenn schon ein Ab-
hängigkeitsverhältniss zwischen beiden Kunstgebieten existirte, so
müssten eher die Egypter die Empfangenden gewesen sein, nachdem
sie durch die Invasion der Hyksos mit den asiatischen Semiten in
engste Berührung gerathen waren. Mit mindestens ebenso gutem
Grunde lässt sich aber eine andere Erklärung für die Stilwandlung in
der assyrischen Pflanzenornamentik geben, die sich mit der Thatsache
des nachweislich höheren Alters der egyptischen Kunst gegenüber der
mesopotamischen besser verträgt: die Erklärung nämlich, es möchten
jene älteren assyrischen Imitationen egyptischer Pflanzenmotive auf
indirektem Wege nach Mesopotamien gelangt sein, — vielleicht schon vor
der Zeit, da in Egypten das Neue Reich aufgerichtet ward. Als aber
die Assyrer auf’s Neue die egyptische Kunst aus unmittelbarer An-
schauung kennen gelernt hatten, da begannen sie Lotusblüthe und
Knospe in der streng egyptischen Form zu imitiren, ohne vielleicht
auch nur zu ahnen, dass sie damit in ihre Ornamentik im Grunde
nichts Neues einführten. Macht doch die ganze Kunst der Chaldäer und
Assyrer den Endruck, dass diese Völker, auf den Schultern eines älteren
Kulturvolks emporsteigend, an das Kunstschaffen desselben eine zielbe-
wusste Fortsetzung geknüpft haben, so wie später die Griechen ihrerseits
auf den Errungenschaften der altorientalischen Ornamentik weiterbauten.
Betrachten wir nun ein solches egyptisirendes Bordürenmotiv aus
der Sargonidenzeit (Fig. 34). Wir haben da die Ecke eines Thür-
schwellenmusters, das seit Semper stets mit einem Teppichmuster ver-
glichen wurde, obzwar man den Assyrern kaum die nöthige technische
[94]A. Altorientalisches.
Fertigkeit zutrauen möchte, die vorausgesetzt werden müsste, um ein aus
so abgerundeten Motiven zusammengesetztes Muster an einem Teppich
sei es mittels Knüpfung, sei es mittels Weberei wiederzugeben. Nur
im Allgemeinen will ich zur Illustration des von der assyrischen Orna-
Thürschwelle aus Stein mit skulpirten Verzierungen. Assyrisch.
mentik eingangs (S. 87) Gesagten hinweisen auf die hier streng durch-
geführte Trennung zwischen Mittelfeld, verknüpfendem Zwischensaum
und Bordüre, sämmtlich in rein ornamentaler Behandlung, sowie auf
die geschickte Ecklösung in der Bordüre: alles Dinge, die wir an
egyptischen Flächenverzierungen in der Regel vergeblich suchen.
[95]2. Mesopotamisches.
Im Besonderen interessirt uns an Fig. 34 nur die Bordüre mit ihrer
Alternirung von Lotusblüthen und Knospen. An diesen ist Alles, was
das Motiv selbst betrifft, ganz übereinstimmend mit den egyptischen
Vorbildern; selbst die dreifach ausgezackte Hülse, in der die einzelnen
Knospen und Blüthen stecken, findet sich da und dort ganz in der
gleichen Weise. Auch für die Verbindung mittels Rundbogen haben
wir bereits die egyptischen Vorbilder kennen gelernt. Neu und spe-
cifisch assyrisch ist bloss der Kelch am Ansatze eines jeden dieser
Von palmettenbekrönten Stangen getragenes Tabernakel. Assyrisches Steinrelief.
Pflanzenmotive. Dieser Kelch ist ebenso wie an jenem früher be-
sprochenen Beispiele aus Nimrud (Fig. 33) gebildet durch die über-
fallende Fortsetzung der verbindenden Bänder oberhalb der wagrechten
Heftel 55). Das in der Mitte zwischen den beiden Kelchblättern der
Lotusblüthen in Fig. 34 emporragende spitze Blättchen ist offenbar
[96]A. Altorientalisches.
dasselbe, das wir zu Nimrud bloss an der Palmette beobachten konnten
und das wir daselbst gleichfalls mit der egyptischen Palmette in Ver-
bindung gebracht haben. In der That ist das abbreviirte egyptische
Palmettensystem — also diejenige Form, die wir als Lotusblüthe mit
Volutenkelch bezeichnet haben — eines der allergebräuchlichsten
assyrischen Ornamentmotive gewesen (Fig. 35). Der Unterschied gegen-
über dem egyptischen Vorbild beruht in der schlankeren Gestaltung der
Voluten, die auch den Charakter des Eingerolltseins häufig ganz ein-
gebüsst haben, und in der spitzen Gestaltung des mittleren Blattes.
Was aber doch wieder auf den Zusammenhang mit dem bezüglichen
egyptischen Motiv nachdrücklich hinweist, das ist die ganz gleichartige
Verwendung beider Motive. Denn auch in der assyrischen Kunst ist
das in Rede stehende Blüthenmotiv in der Regel einerseits dort an-
gewandt, wo es sich um die Krönung, das Auslaufen in eine freie En-
digung handelt 56), anderseits zur Bezeichnung derjenigen Stelle, wo ein
Granatapfel, assyrisch.
nach einer bestimmten Richtung funktionirendes Glied
von überwiegender Längenausdehnung ansetzt, worauf
noch im Folgenden bei Besprechung des sogen. heiligen
Baumes zurückzukommen sein wird.
Die assyrische Ornamentik hat ausserdem noch
ein Pflanzenmotiv aufzuweisen, das in der späteren
Kunst zu grosser Verbreitung gelangt ist und wegen
seiner häufigen Anwendung in der assyrischen Kunst
auf original-mesopotamischen Ursprung zurückgeführt werden könnte:
den sogen. Granatapfel. Man pflegt mit diesem Worte ein ornamentales
Motiv von kreisrunder Form zu bezeichnen, worauf eine aus drei
Blättchen gebildete Krone aufsitzt (Fig. 36). Dieses Motiv findet sich
in der assyrischen Kunst nicht selten 57), auch bordürenartig gereiht und
mittels Bogenlinien untereinander verbunden (Fig. 38), wobei die ein-
zelnen Granatäpfel mit den Rundbogenbändern mittels Heftel verknüpft
erscheinen. Es wäre aber auch nicht undenkbar, dass der Granatapfel
mit jenem egyptischen, vom Lotus abzuleitenden Krönungsmotiv zu-
sammenhängt, dessen Blattkrone sich gleichfalls über einer Scheibe er-
[97]2. Mesopotamisches.
hebt, allerdings unter Vermittlung eines balusterartigen Zwischengliedes
(Fig. 37) 58).
Die blosse Scheibe mit dreispältiger Krone, also die reine meso-
potamische Form, ist bisher in der egyptischen Kunst bloss einmal
nachgewiesen, nämlich von Goodyear 59) an einer Nilgott-Statue im
British Museum. Das Motiv findet sich daselbst alternirend gereiht mit
unzweifelhaften Lotusblüthen und Knospen, und Goodyear hat auch
keinen Augenblick gezögert, dieses Beispiel als genügenden Beweis für
den egyptischen Ursprung des Granatapfel-Motivs anzusehen, indem er
es einfach als Samenkapsel des echten Lotus erklärt. Mit Rücksicht
auf die bisherige Vereinzelung dieser Erscheinung in der egyptischen,
gegenüber dem häufigen Vorkommen in der assyrischen Kunst, möchte
ich mit der bedingungslosen Zustimmung zu Goodyear’s Ansicht
wenigstens so lange zögern, bis über das
Alter der betreffenden Statue genügende Auf-
klärung vorliegt. Dass ein ursächlicher Zu-
sammenhang des mesopotamischen Granat-
apfels mit gewissen Erscheinungen in der
egyptischen Kunst auch mir nicht bloss nicht
ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich
dünkt, habe ich schon unter Hinweis auf
Fig. 37 ausgesprochen.
Der auf Rundbogen gestellte Granatapfel
findet später Verwendung namentlich an den
Egyptisches Bekrönungs-Muster.
sogen. kyrenischen Vasen, was ich an dieser Stelle nur deshalb vor-
zeitig berühre, weil die Rundbogen an jenen Vasen in der Regel in
zwei einander überschneidenden Reihen angeordnet sind. Auch das
Motiv der einander überschneidenden Bogenlinien scheint nämlich bereits in
der assyrischen Kunst geübt worden zu sein, wie ein Fragment bei
Layard I. 84, Nr. 13 beweist. Wir hätten darin ein neuerliches Zeug-
niss für das Bestreben der assyrischen Künstler zu erblicken, in ihr
Pflanzenornament vermehrten Schwung und Bewegung zu bringen.
Das gebräuchlichste ornamentale Motiv der Assyrer ist neben dem
Flechtband die Rosette gewesen. Ihr Aufkommen und ihre Bedeutung
in der altegyptischen Kunst wurde bereits auf S. 52 erörtert. Was die
assyrische Rosette häufig von der altegyptischen unterscheidet, ist die
Riegl, Stilfragen. 7
[98]A. Altorientalisches.
Musterung der Blätter der ersteren in querlaufendem Zickzack (Fig. 38,
im unteren Streifen), das, wie wir schon an anderen Beispielen (Fig. 36)
gesehen haben, für die assyrische Farbmusterung überhaupt charak-
teristisch ist. Die Vermuthungen der technischen Erklärer, dass die
Rosette aus der getriebenen Metallarbeit hervorgegangen wäre, sind
schlechterdings unbeweisbar 60). Wenn sich die Rosette in der assy-
rischen Kunst nicht so deutlich als pflanzlichen Ursprungs giebt, wie
in der egyptischen Kunst, wo sie häufig mit einem langen Stiel aus-
gestattet erscheint, so lässt sich dies schon aus der Neigung zu weiter-
Assyrisches Bordürenmuster.
gehender Stilisirung erklären, die sich in gleicher Weise auch an der
assyrischen Lotusblüthe im Profil und an der Palmette äussert.
Am Schlusse dieser Uebersicht über die altmesopotamische Pflanzen-
ornamentik muss noch eines Motivs gedacht werden, dem bisher meines
Erachtens eine weitaus ungebührende Bedeutung und Verbreitung bei-
gemessen worden ist: des sogen. heiligen Baumes. Ein solcher „Baum“
war das geeignetste Mittel für die Trennung zweier im „Wappenstil“
gegenübergestellter Thiere. Die hohen [symbolischen] Bezüge, die man
in das Motiv vielfach hineingedeutelt hat, mögen beim ersten, für uns
[99]2. Mesopotamisches.
unkontrollirbaren Aufkommen desselben, maassgebend gewesen sein:
späterhin war die Grundbedeutung gewiss eine dekorative, was auch
die Herübernahme in die verschiedensten anderen Stile, insbesondere
in die griechischen (Blumenvase!) beweist. An dieser Stelle interessirt
uns nur das Verhältniss des heiligen Baumes zur Entwicklung der
Pflanzenornamentik.
Der Baum in seiner natürlichen Erscheinung ist in der Regel nicht
durch eine verhältnissmässig so weitgehende symmetrische Gestaltung
seiner nackten Grundform ausgezeichnet
wie die kleine Pflanzenstaude. Er hat auch
deshalb in der Ornamentik eigentlich nie-
mals eine umfangreichere Verwendung ge-
funden. In der altegyptischen Kunst sind
die Bäume dort, wo sie um ihrer gegen-
ständlichen Bedeutung willen, z. B. zur Be-
zeichnung eines Gartens (Tell el Amarna),
eingeführt werden mussten, in naturalistisch
gedachter, wenn auch schematisch ausge-
führter Symmetrielosigkeit dargestellt. Die
Assyrer gebrauchten in solchen Fällen
wenigstens für die Darstellung von Pal-
menwedeln den symmetrischen Palmetten-
fächer. Was uns aber als vermeintlicher
heiliger Baum der Assyrer entgegentritt
(Fig. 39) 61), verdient gar nicht die Bezeich-
nung eines Baumes. Es ist dies vielmehr
ein möbelartig zusammengesetztes Gebilde,
bestehend aus zwei viereckigen Schäften,
die so wie an den assyrischen Möbeln mittels
Hülsen 62) unter einander verbunden sind.
Der untere Schaft wächst aus einer abge-
Sogen. heiliger Baum der Assyrer.
Steinskulptur aus Nimrud.
kürzten (fächerlosen) Palmette empor, der obere Schaft ist bekrönt mit
einer Palmette mit Fächer 63). Die Hülsen sind zusammengesetzt aus je
7*
[100]A. Altorientalisches.
zwei fächerlosen Palmetten 64), von denen die eine aufwärts, die andere
abwärts weist, ganz genau in derselben Funktion zur Bezeichnung des
Ansatzes, wie wir sie an der abgekürzten egyptischen Palmette beob-
achten konnten.
Zeigt schon der Schaft keinerlei Eigenschaften eines Baumstamms,
so erhalten wir auch von dem denselben umgebenden Palmetten-
geschlinge keineswegs den Eindruck des Laubes. Es läuft nämlich um
den ganzen Baum herum eine Reihe von Palmetten, die durch Flach-
bogen unter einander verbunden erscheinen. Jede Palmette ist (mit
Ausnahme der drei obersten) wieder anderseits durch ein Band mit
dem Stamme verknüpft. In einzelnen Fällen sind die umlaufenden
Palmetten durch Pinienzapfen ersetzt (Layard I. 6), die aber nur mit
dem Stamme und nicht unter einander verbunden erscheinen, was besser
geeignet wäre dem Ganzen das Aussehen eines Baumes zu geben,
wenn der Stamm nicht auch in diesem Falle die möbelartige Verhül-
sung aufweisen würde 65).
Wir werden alsbald auf phönikischem Kunstgebiet ein ähnliches
Motiv kennen lernen, das man auch schon als Mittelglied zwischen der
egyptischen und assyrischen Form desselben aufgefasst hat, was sich
aber aus dem Grunde schwer wird beweisen lassen, weil die phönikische
Form, wenigstens so, wie wir sie aus Denkmälern kennen, jünger ist
als die mesopotamischen heiligen Bäume, die sich an der Relief-Figur des
Königs Merodach-idin-akhi 66) bis in das 12. Jahrhundert v. Ch. hinauf
verfolgen lassen.
Was die Art der Verbindung zwischen den ornamentalen Blumen-
und Knospenformen der mesopotamischen Kunst betrifft, so wurde schon
bemerkt, dass dieselbe in der Regel durch fortlaufende Bogenlinien be-
63)
[101]2. Mesopotamisches.
werkstelligt erscheint; die Spiralornamentik fehlt bei den Assyrern so gut
wie gänzlich. Zwar das Barthaar sowie das Wellengekräusel erscheint
an ihren Kunstwerken durch Spiralen wiedergegeben, aber als orna-
mentales Motiv, insbesondere als Verbindungsmotiv zwischen pflanzlichen
Ornamenten suchen wir die Spirale in der ganzen mesopotamischen
Kunst vergebens, was mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Spiral-
verbindung für die Geschichte des Pflanzenornaments — bei den Egyptern
sowohl, wie wir gesehen haben, als auch bei den Griechen, wie wir noch
sehen werden — nachdrücklich betont werden muss. Als vereinzelte
Ausnahme liesse sich allenfalls das obere Randornament an dem Gefässe,
das der Fischgott bei Layard II. Taf. 6 in der Hand hält, anführen; es
ist dies aber nicht so sehr eine laufende Spiralenreihe als ein ausge-
prägter laufender Hund, — ein allerdings mit der Spirale anscheinend
nächst verwandtes Ornamentmotiv, das aber in die Klasse der sogen.
reciproken Ornamente gehört und seine besondere Ausbildung bekannt-
lich in der griechischen Kunst gefunden hat 67).
Wo keine Spiralornamentik, dort kann auch kein öfter wieder-
kehrendes Bedürfniss nach dekorativer Zwickelfüllung vorhanden ge-
wesen sein. Es ist daher gewiss nicht zufällig, dass die assyrische
Kunst das Postulat der Zwickelfüllung, das in der altegyptischen Kunst
des Neuen Reiches eine so elementare Bedeutung gehabt hat, nicht
kennt. Dieser Umstand spricht ganz besonders eindringlich gegen
Sybel’s Theorie von der Entlehnung der charakteristischen Ornament-
formen des Neuen egyptischen Reiches aus Mesopotamien. Es muss
aber auch darum schon in diesem Zusammenhange nachdrücklich betont
werden, dass das von den Mesopotamiern vernachlässigte Postulat der
Zwickelfüllung, ebenso wie die von den Mesopotamiern nicht minder
unbeachtet gebliebene Spiralornamentik bei den Phönikern und Griechen
zu grösster Bedeutung gelangt ist.
[102]A. Altorientalisches.
3. Phönikisches.
Die Bedeutung der Phöniker für die Entwicklung der altorien-
talischen Künste scheint weniger in einer selbständigen Fortbildung von
nationalem Gepräge zu liegen, als in zwei anderen Umständen, die
gleichwohl für die weitere Entwicklungsgeschichte insbesondere der
Ornamentik sehr bedeutungsvoll geworden sind. Für’s erste haben die
Phöniker als seefahrende Kaufleute den Kunstformen egyptischen Stiles,
dann auch — obschon in minderem Grade — denjenigen mesopotamischen
Stiles, einerseits durch Vertrieb von Original-Erzeugnissen der genannten
beiden Völker, anderseits aber auch — und dies ist ganz besonders
hervorzuheben — durch Verhandelung phönikischer Imitationen, die
grösstmögliche Verbreitung geliehen. Damit hängt unmittelbar auch
der zweite Umstand zusammen, der das Dazwischenkommen der Phö-
niker für die Verbreitung einer an allen Mittelmeerküsten gangbaren
Ornamentik so entscheidend gemacht hat: der Umstand nämlich, dass
der Rest an gegenständlicher Bedeutung, der den altegyptischen und
altchaldäischen Mischwesen (Sphinx, Greif u. s. w.) ebenso wie ihren
vegetabilischen Motiven (Lotus) noch in der originalen Kunst dieser
Völker anhaftete, im Gefolge der für den blossen Handel mit Schmuck-
gegenständen und Hausrath berechneten Massenfabrikation vollständig
verloren gehen musste. Das ursprünglich gegenständliche Motiv wurde
unter den Händen der Phöniker schlechtweg zum reinen Ornament.
Auch die Scheidung zwischen Rahmen und Füllung, sowie die
Anwendung und Anordnung der Ornamente nach gewissen Regeln, die
sich aus dem technischen Werden und der Struktur der zu verzierenden
Gegenstände ergeben — dasjenige, was man als „tektonische“ Art der
Verzierung zu bezeichnen pflegt — hat unter den Phönikern weit-
gehende Berücksichtigung und Förderung erfahren. Typisch hiefür
sind gerade diejenigen Werke phönikischer Kleinkunst, durch die wir
bisher noch am besten in Stand gesetzt worden sind, den Eigenthüm-
lichkeiten der Kunst dieses Volkes näher zu kommen: nämlich die
Metallschüsseln mit ihren koncentrischen Zonen und ihrer Vertikalglie-
derung innerhalb der einzelnen Zonen, die zwischen ungeregelter Bunt-
heit und starrer geometrischer Abzirkelung in der Regel die richtige
Mitte zu halten weiss.
Nach dem geschilderten Stande der Dinge steht zu erwarten, dass
die Phöniker wenn auch nicht zur Entwicklung der maassgebenden Ziele
aller antiken Dekorationskunst im Allgemeinen, so doch zur Fortbildung
[103]3. Phönikisches.
einzelner ornamentaler Motive ihr Scherflein beigetragen haben mochten.
In der That haben sie sich nicht mit der blossen Bereicherung der
mittelländischen Ornamentik durch gleichmässige Heranziehung der aus
zwei verschiedenen Fonds entlehnten Elemente
(z. B. des assyrischen Flechtbandes neben egyp-
tischem Zickzack) begnügt, sondern auch wenig-
stens ein Motiv, so viel wir sehen, und zwar eben
ein Pflanzenmotiv in einer bestimmten, rein orna-
mentalen Weise weitergebildet. Es ist dies ein
baumartig emporstrebendes, zusammengesetztes
Motiv, das wir den phönikischen Palmettenbaum68)
nennen wollen.
Das dem phönikischen Palmettenbaum zu
Grunde liegende Motiv ist die vertikale In- und
Uebereinanderschachtelung von Blüthenkelchen,
die zu oberst von einem vegetabilischen Strahlen-
büschel bekrönt erscheinen. Sybel 69) hat dieses
Motiv als Bouquet bezeichnet. Es findet sich nicht
selten angewendet in der Kunst des Neuen Reiches
von Egypten. Am häufigsten tritt es uns da ent-
gegen als Aufbau mehrerer in einander geschach-
telter Blumentöpfe (?), aus deren jedem nach rechts
und links Blumen herauswachsen. Daneben finden
sich aber auch andere Systeme; uns interessirt
hier nur eines darunter, das die nebenstehende
aus Prisse 70) entlehnte Figur 40 wiedergiebt. Wir
gewahren da eine vertikal über einander auf-
gebaute Reihe von zwei alternirenden Blüthen-
formen: die eine, mit abwärts gerichteten Voluten,
kennen wir als Lotusblüthe mit Volutenkelch, die
andere lässt sich gleichfalls als Volutenkelch mit
Füllungszapfen in der Mitte definiren, aber die
Voluten sind in diesem Falle nach aufwärts ge-
Egyptischer Palmettenbaum.
[104]A. Altorientalisches.
zogen 71). Die oberste Bekrönung bildet ein strahlenförmiger Büschel
von Schaftblättern und langen Stengeln, die von glockenförmigen Lotus-
blüthen bekrönt sind. Als bemerkenswerth sind endlich auch noch
die tropfenförmigen Füllungen der infolge der Einrollungen entstan-
denen Zwickel hervorzuheben.
Ein weiteres Beispiel für die Verwendung dieses aus in einander
geschachtelten Volutenkelchen zusammengesetzten Motivs findet sich
an einem Armband bei Prisse, Choix de bijoux No. 14, und an einer
Handhabe bei Goodyear (Taf. IX, nach Champollion). Auch in diesen
beiden Fällen ist der aufwärts gerichtete Volutenkelch bekrönt
von einem Bündel langstieliger Lotusblüthen. Ein Beispiel, an welchem
dieser Volutenkelch mit dem gewöhnlichen Palmettenfächer bekrönt
vorkäme, ist mir aus der egyptischen Kunst nicht bekannt geworden.
Wir werden daher wenigstens in der egyptischen Kunst die typische
Lotuspalmette streng zu scheiden haben von der in Fig. 40 vor-
liegenden 72). Das gleiche Motiv treffen wir nun auf phönikischem Kunst-
boden. Betrachten wir daneben das kypriotische Kapitäl (Fig. 41) 73).
Wir haben da zu unterst den stark ausgeprägten Kelch mit abwärts
gekehrten Voluten, darüber den umgekehrten Volutenkelch in mehr-
facher Wiederholung, endlich den krönenden vegetabilischen Strahlen-
bündel. Derselbe Grundgedanke liegt den Palmettenbäumen auf den
Metallschüsseln zu Grunde, so z. B. jenen auf der Silberschüssel aus
Larnaka, die bei Longpérier, Musée Napoléon III. Taf. 10 abgebildet
ist. In letzterem Falle dient der Palmettenbaum zur Trennung von
Figurengruppen, die in regelmässiger Alternirung sich wiederholen.
In anderen Fällen (Schale aus Amathus in New-York, Perrot \& Chipiez
[105]3. Phönikisches.
III. Fig. 547) erfüllt es genau dieselbe Funktion wie der „heilige Baum“
auf den assyrischen Reliefs: zur Trennung zweier in absoluter Symme-
trie einander gegenüber gestellter Figuren. Man ersieht hieraus, wie die
Phöniker dieses ornamentale „Wappenschema“ für ihre vorwiegend
dekorativen Zwecke zu benutzen wussten. Immer treffen wir aber den
aufwärts gerichteten Volutenkelch vereint mit einem Fächer aus
Kyprisches Kapitäl mit Palmettenbaum.
Lotusblumen und Stengeln, niemals mit dem gewöhnlichen Palmetten-
fächer. Dagegen war die gewöhnliche egyptische Lotuspalmette auch
den Phönikern nicht fremd; eine Anzahl von Beispielen hat Goodyear
(Taf. XII. No. 4, 5, 8—11, 15) zusammengestellt: also auch auf phöni-
kischem Boden die gleiche scharfe Scheidung zwischen Palmette und
Palmettenbaum, wie wir sie schon in der egyptischen Kunst beobachtet
haben.
In abgekürzter Form findet man nicht selten
den bekrönenden Binsenfächer (ohne Glockenblü-
then) zusammen mit dem oberen aufwärts gerich-
teten Volutenkelch, der den Fächer von unten halb
kreisförmig umschliesst. Man pflegt dieses Gebilde,
das in der That eine abgekürzte, rein dekorative
Phönikische Palmette.
Fortbildung des Motivs auf phönikischem Boden zu sein scheint, die
phönikische Palmette im engeren Sinne zu nennen (Fig. 42).
Hier ist nun der Punkt, wo wir auf die assyrische Palmette zu-
rückgreifen müssen, bei deren Beschreibung (S. 90) wir ihre ursprungs-
[106]A. Altorientalisches.
geschichtliche Erörterung ausdrücklich für diese Gelegenheit vorbehalten
haben. Die assyrische Palmette zeigt nämlich eine Vereinigung der
beiden in Rede stehenden Motive: der egyptischen Lotuspalmette und
des sogen. phönikischen Bouquet (oder Palmettenbaums), in der Weise,
dass dem aufwärts gerollten oberen Volutenkelch ein einfacher Pal-
mettenfächer aufgesetzt erscheint. Eine solche Vereinigung ist uns
weder in der egyptischen noch in der phönikischen Kunst vorgekommen.
Die assyrische Palmette ist trotz des aufwärts gerichteten Volutenkelches
ein vegetabilisches Einzelmotiv wie die egyptische Lotuspalmette, mit
der sie in allem Uebrigen übereinstimmt. Dagegen sind die egyptischen
und phönikischen Gebilde mit aufwärts gerolltem Volutenkelch baum-
artig emporstrebende zusammengesetzte Motive, Uebereinanderstellungen
mehrfacher Blüthenkelche mit abzweigenden Zwickelblumen. Ein
inniger Zusammenhang der assyrischen Palmette mit den beiden egyp-
tischen Palmettenmotiven scheint mir unzweifelhaft; aber die vermit-
telnde Zwischenstellung der phönikischen Palmette wird man nicht als
so ausgemacht ansehen dürfen, wie z. B. Furtwängler74) anzunehmen
geneigt ist. Man müsste dann auch den einfachen Fächer der assy-
rischen Palmette als eine Schematisirung der bekrönenden Lotusbündel
des Palmettenbaums ansehen, während alle Wahrscheinlichkeit für den
entgegengesetzten Process spricht: für eine dekorative vegetabilische
Ausgestaltung des einfachen Fächers zu Gruppen von Lotusstengeln
und Blüthen. Das Gleiche gilt doch auch von der Rosette, deren ein-
fachere Formen gewiss älter sind als diejenigen, an denen die einzelnen
Blätter etwa durch Lotusblüthen ausgedrückt sind (Goodyear Taf. XX.
No. 13). Die Erklärung, wie die Mesopotamier dazu gekommen sein
mögen, die von den Egyptern entlehnte gewöhnliche Palmette durch
einen aufwärts gerollten Kelch, den sie übrigens gleichfalls auf egyp-
tischen Kunstgegenständen vorgebildet sahen, zu erweitern, bleibt somit
erst noch zu liefern.
Im äusseren Aufbau erinnert der egyptisch-phönikische Palmetten-
baum, — was wir schon durch die gewählte Bezeichnung angedeutet
haben — an den „heiligen Baum“ der assyrischen Kunst. Auch an
diesem begegneten wir75) einem System von Volutenkelchen, mittels
derer die den Stamm zusammensetzenden Einzelschäfte unter einander
verbunden waren. Die Bekrönung des Ganzen bildet aber wiederum
[107]3. Phönikisches.
die assyrische Palmette, und so stossen wir also auch bei der Parallele
mit dem „heiligen Baume“ schliesslich auf die Palmettenfrage, deren
Lösung wir — weil für die Fortführung des Entwicklungsfadens nicht
unbedingt nothwendig — diesmal getrost aussetzen können. Die or-
ganische Verwandtschaft des phönikischen Palmettenbaumes mit gewissen
„Bouquet“-Bildungen aus egyptischen Gräbern ist auch Sybel selbstver-
ständlich nicht entgangen. Entsprechend seiner Theorie spricht er aber
diesen Bildungen den egyptischen Ursprung ab und erklärt dieselben76)
für das „ältere phönikische Bouquet“, aus welchem dann das „jüngere
phönikische Bouquet“, d. i. jenes der Metallschalen, sich auf dem Wege
blosser Stilentwicklung im Laufe der Jahrhunderte ergeben hätte.
Der egyptische Ursprung von Sybel’s „älterem phönikischen Bouquet“
wird aber immer klarer, je mehr Beispiele davon aus den Denkmälern
der altegyptischen Kunst bekannt werden. So hat es erst vor wenigen
Jahren Dümmler auf einer egyptischen Holzkiste im Museum zu Bologna
gefunden und abgebildet in der Athen. Mitth. XIII. 30277).
Für den Zweck, den ich mir mit dieser Untersuchung gesetzt habe,
genügt es, den innigen genetischen Zusammenhang nachgewiesen zu
haben, der zwischen den egyptischen stilisirten Blumenmotiven einer-
seits, den pönikischen und assyrischen andererseits obgewaltet haben
muss. Wie das Verhältniss dieser beiden letzteren unter einander be-
schaffen gewesen ist, mag vorläufig eine offene Frage bleiben; das
Wahrscheinliche dünkt mir aber, dass die mesopotamischen Formen
ohne Dazwischenkunft derjenigen, die uns an phönikischen Denkmälern
erhalten geblieben sind, auf direktem Wege ihre Ableitung aus der
egyptischen Kunst gefunden haben. Die Beeinflussung Mesopotamiens
durch die uralte egyptische Kultur scheint mir viel früher erfolgt zu
sein, als diejenige der Phöniker. Wir brauchen ja mit dieser Beein-
flussung Mesopotamiens gar nicht in extrem frühe Jahrtausende zurück-
zugehen; es genügen hiefür die Zeiten der Thutmessiden und Rames-
siden, aus denen uns sichergestellte phönikische Denkmäler nirgends
erhalten sind, während eine gleichzeitige verhältnissmässig hohe Kultur
in Mesopotamien so ziemlich ausser Zweifel steht. So trägt bereits der
Chaldäerkönig des 12. Jahrhunderts, Merodach-idin-akhi (Perrot II.
[108]A. Altorientalisches.
Fig. 233), auf seinem Gewande den typisch ausgebildeten heiligen
Baum und die Rosetten der späteren assyrischen Ornamentik. Vollends,
wenn Renan Recht hat mit der Datirung der Inschrift der bekannten,
in den Monum. X. Taf. 32 publicirten palestrinischen Silberschale in
das 6. Jahrhundert v. Ch., so ergiebt sich bei der nahen stilistischen
Verwandtschaft fast aller erhaltenen phönikischen und phönikisch-ky-
priotischen Kunstdenkmäler für die Blüthe des phönikischen Kunsthand-
werks ein ziemlich spätes Datum, kaum viel über das Jahr Eintausend
v. Ch. hinauf. Für eine frühere Kunstblüthe bei den Phönikern mangelt
es vollständig an Beweisen. Dem Umstande, dass die Kafa (Phöniker)
auf egyptischen Wandgemälden den Thutmessiden Vasen als Tribute
darbringen, hat nicht nur Sybel, sondern haben auch Andere weit über-
triebene Bedeutung beigelegt. Denn selbst in dem unkontrollirbaren
Falle, dass die dargestellten Vasen in der That treue Abbilder phöni-
kischer Originalerzeugnisse wären, bleibt es doch noch immer fraglich,
ob ihre Ornamentik nicht auf egyptische Wurzel zurückgeht. Wenig-
stens vermissen wir an dem späteren uns aus Denkmälern bekannten
phönikischen Kunsthandwerk gerade die Spirale und die Thierköpfe
d. h. jene Elemente, die uns an den Geschenken der Kafa entgegen-
treten und die wir nicht minder an egyptischen Kunstwerken, wenn
auch erst des Neuen Reiches, so häufig wiederkehren sehen. Möglicher-
weise sind es in der That die Hetiter gewesen, die die egyptischen
Kunstformen, wenn auch nicht den Griechen, so doch den Mesopotamiern
vermittelt haben; freilich konnten es dann gewiss nicht jene rohen, eine
ausgebildete höhere Kunst barbarisirenden Bildwerke gewesen sein, die
man heute den Hetitern zuschreibt.
Was insbesondere den phönikischen Typus des Palmettenbaums
betrifft, so dürfen wir darin eine gefällige ornamentale Weiterbildung
einer egyptischen Grundform erblicken, die noch bis in die Zeit der
künstlerischen Hegemonie der Hellenen herab auf phönikischem Boden
zur Darstellung gebracht worden ist. Als Anknüpfungspunkt für die
weitere Entwicklung im Abendlande hat sie augenscheinlich wenigstens
dauernd nicht gedient78); sie ist aber für diese Entwicklung gerade im
7. und 6. Jahrhundert v. Ch. sehr bedeutungsvoll geworden durch den
Umstand, dass der phönikische Palmettenbaum das schon in der alt-
[109]4. Persisches.
egyptischen Ornamentik des Neuen Reiches zum Ausdruck gelangte
Postulat der Zwickelfüllung an den zahlreichen sphärischen Winkeln
zur fanatischen Anwendung gebracht hat.
Wenn wir also auf Grund des Vorgebrachten die Stellung der
phönikischen Kunst innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Pflanzen-
ornaments kennzeichnen wollen, so ist zu sagen, dass das phönikische
Pflanzenornament in der Hauptsache in egyptischem Kunstboden wurzelt:
dies beweisen insbesondere die Palmettenbildungen mit ihren Zwickel-
füllungen. Aber der phönikische Kunsthandwerker und Exporteur
schaltete frei und skrupellos mit den Motiven, die dem Egypter in
ihrer gegenständlichen Bedeutung geheiligt gewesen waren. Diese
Motive werden unter den Händen der Phöniker erst zu rechten Orna-
menten von rein oder doch überwiegend schmuckzwecklicher Daseins-
berechtigung. Aber auch von den Mesopotamiern entlehnten die Phö-
niker, was ihnen gut und brauchbar dünkte: von Einzelmotiven das zu
Einfassungszwecken so überaus geeignete Flechtband, und im Allge-
meinen — was das Allerwichtigste ist — eine schärfere Trennung
zwischen Füllung und Rahmen, wobei freilich schwer zu entscheiden
ist, in wiefern den Phönikern diesbezüglich nicht ein selbständiges
Eigenverdienst zuzuerkennen wäre.
4. Persisches.
Mehr der Vollständigkeit halber als um ihrer Bedeutung willen,
muss hier noch der altpersischen Kunst der Achämeniden gedacht
werden. Diese Kunst ist nämlich bis zum heutigen Tage vielfach
überschätzt worden. Schon der Umstand, dass die Altperser die tech-
nische Errungenschaft der Steindecke (mittels Wölbung) ihrer meso-
potamischen Vorfahren preisgegeben haben und an ihren Palastbauten
zur flachen Holzdecke zurückgekehrt sind, lässt erwarten, dass die Kunst
in diesem Reiche keinen aufsteigenden Gang genommen hat79). In der
That ermangeln die in der altpersischen Ornamentik beliebten Motive
fast aller Originalität; sie zeigen aber auch nicht die Vorzüge einer
[110]A. Altorientalisches.
Mischkunst. Obzwar die assyrische Wurzel unverkennbar ist, trägt
doch die Pflanzenornamentik bezeichnendermaassen ein entschieden
egyptisirendes Gepräge; dies lässt sich sowohl an den Lotusblüthen80)
als auch an den Palmetten (Fig. 43)81) wahrnehmen, welch letztere nur
den Kelch mit abwärts gerichteten Voluten (allerdings in der mageren
assyrischen Form) und nicht die darüber aufsteigenden aufwärts ge-
kehrten Voluten zeigen, und auch in den geringen Dimensionen des
Fächers näher der egyptischen als der assyrischen Palmette stehen. An
der Ornamentik von Fig. 43 beobachte man auch die nichtassyrische
(eher egyptische) Weise, wie die aus mehrfachen Motiven gehäufte Längs-
Persisches Bordüren-Eckstück. Emailziegel-Dekoration aus Susa.
bordüre (Palmettenreihe zwischen zwei Zickzackbändern, ausserdem
noch ein Rosettenband) sich an dem abschliessenden Querstreifen un-
vermittelt todtläuft. Auch das „Bouquet“ oder der „Palmettenbaum“ hat
in der altpersischen Ornamentik seinen Platz, und zwar gleichfalls nicht
in der assyrischen Form des „heiligen Baumes“, sondern in jener egyp-
tischen Form, wo vertikal in einander geschachtelte Töpfe (hier in
Kelchform) von einem einfachen Palmettenfächer bekrönt erscheinen
(Fig. 44)82).
[111]4. Persisches.
Wir begegnen also in der altpersichen Pflanzenornamentik einer
bereits wohlbekannten Formensprache, ohne neue fruchtbare Ansätze:
weder in Bezug auf die Einzelmotive (Lotus, Palmette), noch in Be-
zug auf ihre Verbindung unter einander (Bogenlinien mit Hefteln und
Volutenkelch). Auch haben wir es in der persischen Kunst bereits viel-
fach mit griechischem Einfluss zu thun, was ganz natürlich erscheint,
wenn man bedenkt, dass die Aufrichtung der persischen Weltmacht
erst vom Jahre 538 v. Ch. datirt. Dass den Griechen die Perser als
Inbegriff alles Orientalischen gegolten haben, ist nur aus dem Umstande
zu erklären, dass die Perser die alleinigen Universalerben ihrer Kultur-
Persischer Palmettenbaum. Emailziegel-Dekoration aus Susa.
vorfahren auf asiatischem Boden gewesen sind, — freilich Erben die
das empfangene Talent nicht gemehrt, sondern eher gemindert haben.
An den Vorzügen und dauernden Errungenschaften der altorientali-
schen Künste haben unter allen Kulturvölkern des Alterthums die
Perser den geringsten Antheil gehabt. Sie waren eben so glücklich,
Zeitgenossen der griechischen Kunstblüthe zu sein, durch die sie ver-
ewigt und den späteren Geschlechtern traditionell als Typen alles orien-
talischen Wesens überliefert worden sind. Die Wirkung davon ist noch
in der römischen Kaiserzeit zu spüren, und mag auch ein Wesentliches
beigetragen haben zur landläufigen Ueberschätzung, deren sich die
sassanidische Kultur und Kunst zu erfreuen hat.
[112]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Wir haben die Entstehung und Entwicklung der Pflanzenornamen-
tik bei den altorientalischen Kulturvölkern verfolgt bis zu dem späten
Momente herab, da der bewegliche hellenische Geist seine zunächst
friedliche Eroberung des Ostens bereits begonnen hatte. Wie auf allen
übrigen Gebieten des Kunstschaffens sehen wir auch auf demjenigen
der Ornamentik die griechische Kunst spätestens in hellenistischer Zeit
den Orient in Besitz nehmen. Zweifellos war die abendländische Deko-
rationsweise bereits lange vor den Perserkriegen sowohl in ihren Grund-
principien als in ihren Einzelmotiven gegenüber der orientalischen die
vollkommenere, stärkere geworden. Das Ziel, das schon der altorientali-
schen Ornamentik im Allgemeinen vorgeschwebt hatte und dem sich die
im Laufe der Geschichte einander ablösenden Kulturvölker des Alten
Orients, zwar mit stufenweisem Fortschritt, aber schliesslich doch nur in
unvollkommener Weise genähert haben, — dieses Ziel wurde zuerst und
allein von den Griechen erreicht: nämlich jene harmonische, dem inneren
Wesen eines jeden Kunstwerks und seinen äusseren Entstehungs- und
Zweckbedingungen entsprechende Ausstattung mit Verzierungsformen,
jene „tektonische“ Scheidung zwischen stofflichem Grund und schmücken-
dem Ornament, zwischen statisch Wirksamem und Indifferentem, zwi-
schen Rahmen und Füllung, welche allmälig bewusst durchgeführte
Scheidung die gesammte Kunstentwicklung der Mittelmeervölker (ein-
schliesslich Nordasiens bis jenseits des Iran, das ja gleichfalls allezeit
nach dem Mittelmeere und nicht nach dem Osten Asiens gravitirte) von
derjenigen in der grossen ostasiatischen Kulturwelt anscheinend grund-
sätzlich unterscheidet.
Die schönste und bedeutungsvollste Errungenschaft der
hellenischen Ornamentik, nach der schon die altorientalische
Kunst gestrebt hatte, ist die rhythmisch bewegte Pflanzen-
ranke; in ihr gipfelt das Verdienst der Griechen um die Entwicklung
des Pflanzenornaments. Die vegetabilischen Einzelformen, wie sie uns
etwa in der griechischen Kunst nach Beendigung der Perserkriege aus-
gebildet entgegentreten, erscheinen dagegen durchwegs über jeden
Zweifel hinaus von den früheren, den altorientalischen Stilen, über-
nommen und wurden von den Griechen lediglich unter Absicht auf
Erreichung vollkommenster formaler Schönheit ausgestattet. Beides —
sowohl die echt hellenische Ranke als das stilisirte vegetabilische Einzel-
[113]1. Mykenisches.
ornament von orientalischem Ursprung, aber in hellenischer Ausge-
staltung und Vollendung — ist für alle folgenden Stile, bis auf den
heutigen Tag, das Um und Auf aller idealen Pflanzenornamentik ge-
blieben. Wie dasselbe zu Stande gekommen ist, soll im Nachstehenden
wenigstens zu entwerfen versucht werden.
Die ersten Anfänge einer national-griechischen Kunst sind mit den
heutigen Mitteln noch ebenso wenig bestimmt zu fixiren, als die An-
fänge des griechisches Volkes, als einer ethnographischen Einheit. Die
allerältesten Kunstdenkmäler, die hierfür in Betracht kommen können,
lassen sich heutzutage nur in sofern als griechische bezeichnen, als der
Boden auf dem sie gefunden worden sind, in der hellen historischen
Zeit von Griechen bewohnt gewesen ist. Es sind dies die aus den
ältesten Schichten von Hissarlik und Cypern stammenden Funde:
meist keramische Objekte mit rein geometrischer Verzierung. Mit
Rücksicht auf das vollständige Fehlen einer Pflanzenornamentik an
diesen ältesten Funden1), erscheint ein näheres Eingehen darauf für
unseren Zweck überflüssig. Eine unzweifelhafte Pflanzenornamentik
findet sich dagegen in der sogen. mykenischen Kunst und diese werden
wir daher zum Ausgangspunkte unserer Betrachtung machen müssen.
1. Mykenisches.
Die Entstehung der Ranke.
Die älteste Kunst, an deren auf dem Boden des späteren Hellas
ausgegrabenen Denkmälern uns ein unzweifelhaftes Pflanzenornament
entgegentritt, ist die sogen. mykenische Kunst. Hinsichtlich der Frage,
welchem Volke die Pfleger und Träger dieser Kunst angehört haben
mochten, gehen die Meinungen heute noch weit auseinander. Die
Einen rathen auf einen echt hellenischen Stamm, die Anderen auf
die Karer, die Dritten auf Grund der weiten Verbreitung der Fund-
stätten der hierher gehörigen Denkmäler auf ein Mischvolk, das die
Inseln und die umliegenden Festlandküsten bewohnt hätte, wie es
übrigens auch der Zusammensetzung des späteren hellenischen Volks-
begriffs entspricht. Angesichts solchen Zwiespalts der Meinungen
Riegl, Stilfragen. 8
[114]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
müssen wir davon absehen, unserer Betrachtung der mykenischen Kunst-
denkmäler, oder, genauer gesagt, das an denselben zu Tage tretenden
Pflanzenornaments einen bestimmten ethnographischen Ausgangspunkt
zu Grunde zu legen. Wir wollen versuchen diese Kunst ausschliesslich
von denjenigen Gesichtspunkten aus zu charakterisiren, die uns im Zu-
sammenhange der gestellten Aufgabe interessiren; vielleicht wird sich
uns daraus umgekehrt die Möglichkeit ergeben, auf die ethnographische
Frage Rückschlüsse zu ziehen.
Eine Charakterisirung der mykenischen Kunst nach allen ihren
Seiten hin ist bisher nicht geliefert, ja nicht einmal versucht worden.
Die Ursache hiefür liegt zweifellos darin, dass bei der Betrachtung der
bezüglichen Denkmäler neben vielem Bekannten manches Fremdartige
aufstösst, dessen Einreihung in die hergebrachte Schablone des orien-
talischen Ursprungs nicht recht gelingen will, und das anderseits auch
mit späterer hellenischer Weise keinen augenfälligen Zusammenhang
aufweist. Aus verschiedenen Gründen glaubt man ein hohes Alter für
die Blüthezeit dieser Kunst, jedenfalls mehrere Jahrhunderte vor dem
Jahre Eintausend annehmen zu sollen; damit lassen sich wiederum
Funde von so vorgeschrittener technischer und künstlerischer Be-
schaffenheit, wie etwa der Becher von Vaphio, anscheinend schwer ver-
einbaren.
Goodyear allerdings trägt auch hinsichtlich der mykenischen Kunst
keine Bedenken, sie durchaus egyptischem Ursprunge zuzuweisen1a).
Von den ornamentalen Motiven der mykenischen Kunst lässt er nur
dem Tintenfisch eine selbständige, von Egypten unabhängige Bedeutung
zukommen, und selbst diese eine Ausnahme scheint ihm an Werth sehr
viel eingebüsst zu haben, seitdem zwei mykenische Vasen mit Tinten-
fischen auf egyptischem Boden gefunden worden sind. Nun ist doch
im Allgemeinen die vorherrschende Tendenz der klassischen Archäologie
eine orientfreundliche; wenigstens haben Ausführungen, die, wie etwa
diejenigen Milchhöfer’s, ein europäisch-autochthones nichtorientalisches
Moment in der mykenischen Kunst zu wesentlicher Geltung bringen
wollten, bisher wenig entgegenkommende Aufnahme gefunden. Es muss
also der Sachverhalt doch nicht so klar und überzeugend daliegen wie
er Goodyear erscheint, wenn wir wahrnehmen, dass dieser Forscher mit
seiner radikalen Theorie vom ausschliesslich egyptischen2) Ursprunge
[115]1. Mykenisches.
der mykenischen Kunst wenigstens vorläufig noch isolirt dasteht. Es
existirt in der mykenischen Ornamentik eine ganze Reihe von Motiven
ausser dem Tintenfische, die man auf originelle Erfindung des mykenischen
Kunstvolkes zurückzuführen versucht hat. Darunter befinden sich auch
solche von offenbar vegetabilischer Grundbedeutung, womit wir auf
unser eigentliches Thema gebracht werden.
Die mykenische Kunst hat von Pflanzenornamenten einen
sehr reichlichen Gebrauch gemacht. Indem wir uns der Er-
örterung der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden unter diesen
Motiven zuwenden, wollen wir analog dem Vorgange, den wir bei Be-
sprechung des altorientalischen Pflanzenornaments beobachtet haben,
wiederum zuerst die Blüthen-,
Knospen- und Blattmotive für
sich betrachten, und in zweiter
Linie die Art ihrer Verbindung
unter einander, und ihrer dekora-
tiven Verwendung zur Flächen-
musterung überhaupt in’s Auge
fassen.
Was zunächst die vornehmsten
Blüthenmotive betrifft, so ist ihre
Betrachtung in der That geeignet
Goodyear’s Anschauung zu bestäti-
Obertheil einer mykenischen Kanne.
gen. Unmittelbare Copien egyptischer Vorbilder mit allen wesentlichen
Einzelheiten treffen wir darunter zwar fast nirgends, aber ein wechsel-
seitiger Zusammenhang ist doch in den meisten Fällen unverkennbar.
Und zwar ist es insbesondere der Volutenkelch, der den Zusammenhang
so recht augenfällig macht (Fig. 45)2a). Diesbezüglich hat schon vor
Goodyear Furtwängler den Sachverhalt richtig erkannt3). Nur hat
letzterer als Vorbild diejenige Form des Volutenlotus im Auge gehabt,
die ausser dem Volutenkelch bloss eine zäpfchenförmige Füllung des
inneren Zwickels enthält (Fig. 20); der an Fig. 45 sichtbare Fächer,
der die Blüthe nach oben im Halbkreis abschliesst, musste infolgedessen
Furtwängler als selbständige Zuthat (Staubfäden) erscheinen. Eine solche
Annahme wird aber entbehrlich, wenn wir als Vorbild von Fig. 45 die
egyptische Lotuspalmette (Fig. 16, 19) annehmen, die ausser Voluten-
8*
[116]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
kelch und zwickelfüllendem Zäpfchen auch den Palmettenfächer, also
sämmtliche an der Blüthe von Fig. 45 zu beobachtenden Einzeltheile
enthält4). Egyptischer Kunstweise entspricht ferner das Ineinander-
schachteln von Kelchen, das Alterniren von abwärts und aufwärts ge-
rollten Voluten, wobei zu oberst die bekrönende Blume5). Auch ein-
fache dreiblättrige Lotusprofile sind nicht selten, z. B. neben Voluten-
kelchen zu Zwickelfüllungen verwendet an einem goldenen Diadem6).
Volutenkelchformen mit blosser Zwickelfüllung oder bekrönendem Pal-
mettenfächer in strengerer Ausführung als in der flüchtigen Vasen-
malerei treffen wir an Schmucksachen7). Gleichfalls an Goldschmiede-
sachen finden wir das Dreiblatt mit mehr oder minder volutenartig ge-
krümmten Kelchblättern unter Beigabe von Eigenthümlichkeiten in der
Detailzeichnung, die auf die Absicht naturalistischer Behandlung schliessen
lassen8), worauf weiter unten in anderem Zusammenhange zurückzu-
kommen sein wird. Endlich ist noch ein mit Voluten ausgestattetes
vegetabilisches Motiv (Fig. 49) zu erwähnen, das zwar grössere Aehn-
lichkeit mit einem Blatte als mit einer Blüthenform zeigt, aber der
stark betonten Voluten halber dennoch als stilisirte Blüthe aufzu-
fassen sein dürfte, an welcher das zu Grunde liegende Dreiblatt
durch Zusammenziehung des mittleren, krönenden Blättchens mit dem
Kelche zu einem einheitlichen ungegliederten Ganzen umgebildet er-
scheint.
Bisher haben wir es mit den Blüthen in Seiten- oder halber Voll-
ansicht zu thun gehabt, welche Projektionen an den mykenischen Nach-
bildungen der egyptischen Lotusprofil- und Lotuspalmetten-Vorbilder
nicht streng geschieden werden können. Auch die Blüthe in Voll-
ansicht oder die Rosette, hat vielfach Verwendung gefunden, so z. B.
am Alabasterfries zu Tiryns, an Wandmalereien ebendaselbst, beider-
seits einfach neben einander gereiht in fast geometrischem Charakter,
dagegen auf einer bemalten Vase aus dem 6. mykenischen Grabe9) in
Begleitung eines Zweiges, also in mehr naturalistischer Art.
[117]1. Mykenisches.
Ausgesprochene Knospenmotive, namentlich in der typischen
Alternirung mit Blüthen, wie sie die egyptische Kunst zeigt, hat die
mykenische Kunst anscheinend nicht zur Darstellung gebracht. Auch
von Blattformen ist nur eine hervorzuheben, die späterhin zu weiter
Verbreitung in der dekorativen Kunst gelangt ist: das sogen. Epheu-
blatt (Fig. 46)10). Goodyear (S. 161 ff.) hat auch für dieses Motiv Vor-
bilder oder doch Parallelen aus egyptischem Kunstgebiet beizubringen
gewusst, wie schon auf S. 51 angedeutet wurde.
Die Uebersicht der wichtigsten Blüthenmotive, die in der mykenischen
Kunst vorkommen, hat also ergeben, dass in der That die Vorbilder
derselben, wie schon Furtwängler und Goodyear wollten, in den Voluten-
Töpfchen mit „Epheublatt“-Ornament auf der Schulter. Mykenisch.
kelchformen der altegyptischen Lotustypen zu suchen sein werden.
Von einer Charakterisirung der Art und Weise, in welcher die Entleh-
nung erfolgt ist, wollen wir vorläufig absehen und nur so viel fest-
stellen, dass die Entlehnung in keinem einzigen Falle als eine sklavische
bezeichnet werden konnte. Wir wenden uns nun der Betrachtung des-
jenigen zu, was sich mit Bezug auf die sonstige Ausstattung der ge-
schilderten Blüthentypen, insbesondere mit Bezug auf die Vereinigung
mehrerer Blüthen auf einem und demselben Grunde sagen lässt.
Einfaches Nebeneinanderreihen findet sich nicht bloss bei den
Rosetten, die z. B. auf den Diademen geradezu den Uebergang zu
starren, aus dem Kreise heraus konstruirten geometrischen Motiven dar-
stellen. Auch die Volutenkelchformen sehen wir sehr oft um den Bauch
[118]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
oder die Schulter eines Gefässes herum in einfacher Wiederholung
neben einander gestellt, und zwar senkrecht zur Zone, auf welcher sie
fussen, gerade so wie an den egyptischen Lotusblüthen-Knospen-Friesen.
Ein höchst bemerkenswerther Unterschied gegenüber der egyptischen
Weise ergiebt sich aber sofort, wenn die einzelnen Blüthenmotive mit
einem längeren Stiele ausgestattet werden. Während in der egyptischen
Kunst die langen Schäfte steif und gerade emporstarren, sind die
flexiblen Stengel in der mykenischen Kunst in der Regel mehr oder
minder schräg seitwärts geneigt (Fig. 47)11), wodurch eine Be-
wegung zum Ausdrucke gebracht erscheint, die nicht in der Axenrich-
tung des Gefässes liegt und eben dadurch die Aufmerksamkeit des
Beschauers hervorruft. Das Gleiche lässt sich am Zweige mit dem
Epheublatte Fig. 46 beobachten. Es ist dies offenbar die gleiche Ten-
Mykenisches Vasenornament.
denz, die auch den Rosetten vielfach an Stelle der steifen, strahlen-
förmigen Anordnung eine schräge Richtung ihrer Blätter gegeben hat
(Fig. 48)12). Die zu Grunde liegende Tendenz vermögen wir nur
nach ihrem Effekte zu beurtheilen; war der letztere in der That beab-
sichtigt, so war das Ziel der „mykenischen“ Künstler eine Verleben-
digung, Bewegung der vorbildlichen steif stilisirten egyp-
tischen Motive.
Ein anderes Beispiel, das zu dem gleichen Ergebnisse führt (Fig. 49)13)
ist von einer Vasenscherbe aus dem Ersten Grabe entlehnt. Hier sehen
wir zwar die neben einander gereihten Pflanzenstengel parallel zur Axe
des Gefässes gestellt. Wodurch sich aber auch in diesem Falle ein
[119]1. Mykenisches.
grundsätzlicher Unterschied gegenüber der egyptischen Weise kund-
giebt, ist der Umstand, dass die Stengel, von denen die leise geschweiften
Schilfblätter und Volutenblüthen rhythmisch abzweigen, nicht steif und
gerade emporstarren, sondern sich in sanfter Wellenbewegung in die
Höhe schlängeln. Es äussert sich darin offenbar dieselbe Neigung für
die geschwungene Linie, die wir auch an Fig. 46 und 47 bevorzugt
Knochen, umwunden von einem
Goldbande mit getriebener schräg-
blättriger Rosette.
Aus dem Ersten mykenischen
Grabe.
Gemaltes Vasenornament. Mykenisch.
sahen, derselbe leitende freie Zug in der Zeichnung, und auch der
gleiche künstlerische Effekt. Die gekrümmte Linie, welche die Egypter
überwiegend bloss in den geometrischen Configurationen (Spirale) zur
Anwendung gebracht haben14), wurde von den „mykenischen“
[120]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Künstlern auf das vegetabilische Ornament übertragen15).
Die Kurven der altegyptischen Kunst (z. B. die Bogenlinien) sind starr
und leblos gegenüber der freien Art und Weise, in welcher dieselben
in der mykenischen Kunst geführt erscheinen.
Wenn noch ein Zweifel daran übrig bliebe, dass die geschilderte
Tendenz in der mykenischen Kunst eine durchaus maassgebende und
wesentliche gewesen ist, so muss er schwinden angesichts der That-
sache, dass diese Kunst die überhaupt einzig möglichen wahr-
haft künstlerischen Verbindungsarten gefunden hat, in
welche sich vegetabilische Motive innerhalb eines Fries-
Topfscherbe, verziert mit aufgemalter fortlaufender Wellenranke. Mykenisch, gefunden auf Thera
streifens vermittels der geschwungenen Linie bringen
lassen. Müssen wir nämlich angesichts der Fig. 46 und 49 bekennen,
dass die „mykenischen“ Künstler die Ersten gewesen sind, welche die
lebendig und frei bewegte Pflanzenranke erfunden haben, so lässt sich
ferner auch der strikte Nachweis führen, dass dieselben auch die beiden
innerhalb einer Bordüre möglichen und daher für ewige Zeiten giltigen
Wellenrankenschemen bereits gekannt und zur Anwendung gebracht
haben.
[121]1. Mykenisches.
Das eine ist die fortlaufende Wellenranke (Fig. 50)16). Diese besteht
in einer fortlaufenden Wellenlinie, von welcher in der Mitte einer jeden
Auf- oder Abwärtsbewegung eine schwach eingerollte Rankenlinie nach
der entgegengesetzten Richtung (nach rückwärts) abzweigt. An diese
Abzweigungen sind zwar keine Blüthen-, Knospen- oder Blattmotive
angesetzt, aber der vegetabilische Grundcharakter wird völlig klar,
wenn wir Fig. 46 zum Vergleiche heranziehen, wo die gleiche Ranke
an einem Zweige sitzt, der als solcher durch das Epheublatt in un-
zweifelhafter Weise gekennzeichnet erscheint. Auch das auf Taf. VI.
34 der Myken. Thongefässe abgebildete Fragment aus dem Vierten
Grabe dürfte zu einer ähnlichen Wellenranke wie Fig. 50 zu ergänzen
sein. Dass auch die reine geometrische Spirale dieses Schema über-
nommen haben mochte, lag nahe. Wenigstens ein Beispiel hiefür findet
sich bei Schliemann, Mykenä Fig. 460 auf der äussersten Scheibe links
unten (aus dem Ersten Grabe), wofern sich
der Zeichner diesfalls keine willkürliche Frei-
heit gestattet hat. Ja, ich würde mich nicht
einmal viel dagegen sträuben, wenn Jemand
behaupten wollte, dass die egyptische Spirale
den Anstoss zur Schaffung der fortlaufenden
Wellenranke gegeben hat: das Maassgebende
bliebe immer der Umstand, ob die Egypter
selbst, oder die „Mykenäer“ es gewesen sind,
Becher aus Megara. Mykenisch.
die diesen entscheidenden Schritt gethan haben. Es ist aber mit Gewiss-
heit anzunehmen, dass auch grössere vegetabilische Einzelmotive auf
fortlaufende Wellenranken aufgereiht worden sind: zum Beweise dessen
betrachte man nur noch einmal Fig. 49, wo der geschwungene Stengel
ja nichts anderes ist als eine Wellenranke, von der die paarweisen
Schaftblätter und die grösseren mit Voluten versehenen Blätter ab-
zweigen; nur konnten sie hier in freierer Bewegung gehalten werden,
weil sie in diesem Falle eben nicht in das schmale Band einer Bordüre
gebannt sind17).
[122]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Die fortlaufende Wellenranke ist in der hellenischen
Kunst eines der allergewöhnlichsten Motive geworden, und
ist es durch alle folgenden Stile hindurch bis auf den heutigen Tag ge-
blieben. Und doch ist dieselbe in der altorientalischen Kunst
nicht nachweisbar. Angesichts der Einfachheit des Schemas ist
man versucht an das Ei des Columbus zu denken. Blicken wir aber
zurück auf die altorientalischen Stile, wie diese sich zu analogen Auf-
gaben verhalten haben, so sehen wir deutlich ein, wie nach mannig-
fachem Tasten und Versuchen erst die „mykenischen“ Künstler die
erlösende Formel gefunden haben. An der reciproken Gegenüberstel-
lung gereihter Pflanzenmotive haben sich schon die Egypter versucht.
Ihre reifste Schöpfung nach dieser Richtung war der Bogenfries (Fig. 22),
dem sie einen zweiten gegenüberstellten (Fig. 23), um dem Postulat der
Reciprocität, des Aus- und Einwärtsweisens eines Bordürenmusters Genüge
zu leisten. Die Asiaten sind ebenfalls über diese Lösung nicht hinaus-
gekommen18). Erst den „mykenischen“ Künstlern gelang es durch die
Erfindung des Schemas der fortlaufenden Wellenranke einerseits die
Einseitigkeit des einfachen Bogenfrieses (Fig. 22), anderseits die unschöne
Steifheit des gedoppelten, sozusagen reciproken Bogenfrieses (Fig. 23)
zu brechen, und die Motive abwechselnd nach oben und unten weisend
auf eine durchlaufende Verbindungslinie aufzureihen. Dagegen hat
man höchst bezeichnendermaassen bis jetzt kein einziges Beispiel eines
vegetabilisch charakterisirten Bogenfrieses in der mykenischen Kunst
gefunden. Es ist dieser Umstand um so bezeichnender, als die Mykenäer
sowohl den Rundbogen als den Spitzbogen in fortlaufender Friesform
sehr wohl gekannt und insbesondere an getriebenen Metallbechern zur
17)
[123]1. Mykenisches.
Anwendung gebracht haben19). Auch auf Vasen ist der geometrische
Bogenfries nicht selten20).
So einfach also das Schema der fortlaufenden Wellenranke sich
vom Standpunkte unserer heutigen Uebersicht über das vergangene
Kunstschaffen darstellen mag, ist es doch zu jener Zeit eine Errungen-
schaft gewesen, die wir als epochemachend in der Geschichte der Or-
namentik bezeichnen dürfen. Und nicht genug damit: die mykenische
Kunst hat auch die zweite künstlerisch mögliche Variante des Wellen-
rankenmotivs, die intermittirende Wellenranke gekannt und geübt. Der
Beweis liegt vor auf einer Vase aus dem Sechsten Grabe (Fig. 52)21).
Die typische Form, in welcher das Motiv in der späteren griechischen
Kunst und in allen späteren Künsten überhaupt, überwiegend gebraucht
worden ist, soll gleich nachstehend durch ein Beispiel von einer melischen
Vase (Fig. 53 nach Conze, Melische Thongefässe I. 5) illustrirt werden,
Gemalte Epheuranke von einer Vase aus dem Sechsten mykenischen Grabe.
um die Identität desselben im letzten Grunde mit dem mykenischen
Beispiel zu belegen. Die Wellenlinie läuft an Fig. 53 nicht in einem
ununterbrochenen Flusse fort, sondern erscheint an den Berg- und Thal-
punkten unterbrochen durch Blüthenmotive, die sich daselbst in genau
derselben Weise ansetzen wie die Lotus-Blüthen und Knospen an die
einseitigen Bogenreihen in der egyptischen (Fig. 22) und assyrischen
(Fig. 34) Kunst. Die Blüthenformen in Fig. 53 sind ebenfalls unver-
kennbare Abkömmlinge von egyptischen Vorbildern: dies beweist das
spitzblättrige Lotusprofil und die Volutenkelche, die allerdings missver-
standener Weise in Kreise transformirt erscheinen, mit Ausnahme der
äussersten Blüthe links, wo die Volute als solche noch deutlich zu
Tage tritt. Das mykenische Beispiel Fig. 52 unterscheidet sich nun
von der eben betrachteten Fig. 53 in Bezug auf das zu Grunde liegende
[124]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Rankenschema bloss dadurch, dass an ersterem die Intermittirungen
nicht an die Berg- und Thalpunkte verlegt sind. Zu Grunde liegt aber
auch der Fig. 52 zweifellos die Wellenlinie, die nur zum Unterschiede
von Fig. 53 ungefähr in der Mitte einer jeden auf- und absteigenden
Schwingung intermittirt. Und selbst dieser Unterschied ist als wesent-
lich und charakteristisch nicht genug zu betonen, da er gleichfalls in
hohem Grade geeignet ist, dasjenige zu bestätigen, was wir vom Cha-
rakter der mykenischen Pflanzen-Ornamentik im Allgemeinen gesagt
haben.
Die Kunst, die uns an den melischen Vasen entgegentritt, steht
bereits im erneuerten Banne eines entschiedenen orientalischen Einflusses,
der sich weit unmittelbarer und autoritärer geltend gemacht hat, als der-
Gemaltes Ornament einer intermittirenden Wellenranke von einer melischen Vase.
jenige, dem die „mykenischen“ Künstler ihre Blüthenmotive verdankten.
Es hängt dies mit Geschehnissen der nachmykenischen Zeit zusammen,
deren Erörterung an geeigneterer Stelle nicht vorgegriffen werden
darf. Die Errungenschaften der Wellenranke haben nun die griechi-
schen Künstler auch der nachmykenischen Zeit niemals mehr preisge-
geben, aber die Stilisirung ist mit dem Eindringen der strengen orien-
talischen Typen gleichfalls eine strengere geworden. Die Lotusblüthen
in Fig. 53 weisen ganz so wie die egyptischen parallel zur Axe des
Gefässes entweder aufwärts oder abwärts22). An der mykenischen
[125]1. Mykenisches.
Wellenranke Fig. 52 manifestirt sich dagegen der freie oder nur inner-
halb loser Fesseln sich bewegende Zug, den wir schon wiederholt an
Fig. 46—49 u. s. w. hervorzuheben Gelegenheit hatten. Die angesetzten
Epheublätter weisen nicht starr nach auf- oder abwärts, sondern er-
scheinen schräg projicirt, um die einseitige Richtung zu durchbrechen;
dabei weisen ihre Spitzen dennoch, wie es dem Schema zukommt, ein-
mal nach oben und dann wiederum nach unten. Die Gefälligkeit des
Motivs ist eine bestechende und muss insbesondere denjenigen Wunder
nehmen, der die Blüthezeit dieser Kunst in möglichst fernabliegende
Zeiten zurückverlegen möchte. An Fig. 53 tritt dagegen das Schema
platt und deutlich zu Tage, und es bedarf erst genaueren Zusehens,
um uns zu überzeugen, dass es das gleiche Schema ist, das wir auch
an Fig. 52 befolgt gesehen haben.
Wenn die abweichende nüchterne Form von Fig. 53 dem Einflusse
orientalischer Art der Stilisirung zugeschrieben wurde, so ist damit zu-
gleich gesagt, dass der antike Orient in vorhellenistischer Zeit
die intermittirende Wellenranke ebensowenig gekannt hat,
wie die fortlaufende Wellenranke, — und um so weniger gekannt
haben konnte, als das intermittirende Schema gegenüber dem fort-
laufenden eine Weiterbildung und Complication darstellt. Der Umstand
dass wir es hier mit einer vegetabilischen Wellenlinie, mit einer wirk-
lichen Pflanzenranke zu thun haben, wofür wir bei Betrachtung der
fortlaufenden Wellenranke mangels von Blumen- oder Blätteransätzen
an den bezüglichen mykenischen Denkmälern keinen absoluten Nach-
weis führen konnten, erscheint ausser Zweifel gesetzt durch die „Epheu-
blätter“, in welchen die Wellenranke in Fig. 52 intermittirt.
Es wurde schon früher erwähnt, dass Goodyear23) für eine ganz
ähnliche Stilisirung der Lotusblätter (S. 51) in der egyptischen Kunst
Beispiele anzuführen weiss, und deshalb das Epheublatt einfach auf alt-
egyptischen Ursprung zurückführt. Was gegen einen solchen Zusam-
menhang zu sprechen scheint, ist der Umstand, dass das „Epheublatt“ in
der mykenischen Kunst gerade immer in solcher Behandlung entgegentritt,
die gar nichts Egyptisches an sich hat. Von dem specifisch mykenischen
Charakter des Zweiges Fig. 46 war schon früher die Rede; das gleiche
gilt womöglich in erhöhtem Maasse von Fig. 52. In der späteren grie-
22)
[126]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
chischen Kunst ist das Epheublatt von der geschwungenen Ranke meist
unzertrennlich; wo es lose gereiht vorkommt, dort zeigt es höchst cha-
rakteristischer Massen sehr frei bewegte Formen, wofür ein sprechendes
Beispiel auf der Schulter einer bei Salzmann, Nécropole de Camiros
Taf. 47 publicirten Vase. Auch die nicht seltenen etruskischen Beispiele
von „Epheublättern“, die Goodyear’s Scharfblick nicht entgangen sind,
treten gewöhnlich in Begleitung von geschwungenen Rankenstengeln
auf. Was aber doch wieder andererseits eine Entlehnung aus egyp-
tischem Gebiete als das Wahrscheinlichste erscheinen lässt, ist der Um-
stand, dass es ein in der Geschichte der Ornamentik bis zu diesem
Punkte und noch lange nachher unerhörtes Ereigniss bedeuten würde,
wenn man ein so unbedeutendes Ding wie ein Blatt an und für sich,
um seiner selbst willen, unter die Zierformen aufgenommen hätte. Es
erscheint daher immer noch als das Wahrscheinlichste, dass das „Epheu-
blatt“ als Blüthenform aus fremdem Kunstbesitz von den „mykenischen“
Künstlern übernommen wurde.
Wir fassen nunmehr das Ergebniss zusammen. In der mykenischen
Kunst begegnet uns überhaupt zum ersten Male eine frei bewegte
Pflanzenranke zu dekorativen Zwecken verwendet. Ferner ist die my-
kenische Kunst, so viel wir sehen können, die Wiege der fortlaufenden
sowie der intermittirenden Wellenranke gewesen, d. h. derjenigen zwei
Pflanzenrankenmotive, die der griechischen Kunst, und zwar dieser
zuerst innerhalb der ganzen antiken Kunstgeschichte, ganz besonders
eigenthümlich gewesen sind. Wer vorschauend sich der entscheidenden
Rolle bewusst ist, welche das Rankenornament in der Folgezeit, in der
hellenistischen und in der römischen Kunst, dann im Mittelalter nament-
lich in der saracenischen23a), endlich in der Renaissancekunst bis auf
den heutigen Tag gespielt hat, wird erst voll ermessen, welche epochale
Bedeutung jener Zeit und jenem Volke beigemessen werden muss, wo
dasselbe zum ersten Male nachweislich geübt wurde. Das Motiv der
frei bewegten Pflanzenranke ist in diesem Lichte betrachtet ein überaus
sprechender Ausdruck für den griechischen Kunstgeist überhaupt. Ebenso
wie dieser die uralt egyptischen Blüthenmotive nach den Gesetzen des
[127]1. Mykenisches.
Formschönen in der denkbar gefälligsten Weise umgebildet hat, so hat
er auch die vollkommenste Weise der Verbindung zwischen diesen
Blüthen gefunden: die im wohllautenden Rhythmus verfliessende Ranke.
Kein Vorbild in der Natur konnte auf das Zustandekommen der Wellen-
ranke unmittelbaren Einfluss üben, da sie sich in ihren beiden typischen
Formen, insbesondere in der intermittirenden, in der Natur nirgends
findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des
griechischen Kunstgeistes.
Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen wir aber eine neue,
fundamentale Anschauung von der geschichtlichen Stellung der my-
kenischen Kunst überhaupt: die mykenische Kunst erscheint uns
hiernach als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen
Kunst der hellen historischen Zeit. Das Dipylon und was sonst
dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der ange-
bahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang giebt zwischen
kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen,
so werden wir den Rückschluss wagen dürfen, dass das Volk, welches
die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonst-
welchen Namens gewesen sein, — dass dieses Volk eine ganz wesent-
liche Componente des späteren griechischen Volksthums gebildet haben
muss. Die zweite grosse Staffel der Kunstgeschichte, welche die vor-
alexandrinische Kunst der Hellenen repräsentirt, — die „mykenischen“
Künstler haben sie bereits erklommen. Wenn Puchstein in den Säulen
des Atridenschatzhauses die wahren protodorischen Säulen erblickt hat,
so werden wir in der Ornamentik der mykenischen Vasen und Gold-
sachen die wahre protohellenische Ornamentik sehen dürfen, ebenso
wie in der Kriegervase, dem Becher von Vaphio u. s. w. die unmittel-
baren Vorläufer jener Darstellungen rein menschlicher Thaten und Vor-
gänge, wie sie die reife hellenische Kunst auch auf gewöhnlichen All-
tagswerken dem Auge vorzuführen gesucht hat.
Die erörterte Bedeutung des Rankenornaments, insbesondere der
Wellenranke, in der mykenischen Kunst ist, wie es scheint — bisher
nicht genügend erkannt worden. Der einzige, dem meines Wissens das
Vorkommen der Wellenranke in den vor- und frühgriechischen Stilen
Anlass zu einigen Bemerkungen gegeben hat, ist J. Böhlau24) gewesen,
der das Schema der fortlaufenden Wellenranke, wie es sich an einigen
von ihm untersuchten böotischen Vasen findet, ganz richtig mit dem
[128]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
mykenischen Beispiel Fig. 50 in Verbindung gebracht und dasselbe als
specifisch griechisch erkannt hat, ohne die Sache weiter zu verfolgen.
Goodyear ist das Vorkommen der fortlaufenden Wellenranke in der
mykenischen Kunst augenscheinlich entgangen, nicht aber die inter-
mittirende Variante auf der Vase Fig. 52. Er giebt auch zu, dass dies
ein Motiv, und zwar — wie er meint — das einzige Motiv sei25), das der
mykenischen und der späteren griechischen Kunst gemeinsam gewesen
ist. Einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden durfte er aber
nicht zugestehen, kraft des Vorurtheils, in dem er hinsichtlich des Allge-
meincharakters der mykenischen Kunst und ihrer Träger befangen ist.
Die „Mykenäer“ sind in Goodyear’s Anschauung karische Söldner ge-
wesen, kriegerische Beutemacher, die in Egypten aus Anschauung etwas
erlernt haben, und es zu Hause schlecht und recht nachmachten. Das
tiefer liegende künstlerische Moment kam, wie auch sonst in der Regel
in Goodyear’s Buche, bei dieser Beurtheilung gar nicht in Rechnung.
Eine Erklärung für die konstatirte Gemeinsamkeit musste aber von
ihm gleichwohl geliefert werden.
Diese Erklärung Goodyear’s lautet dahin, dass das Motiv von
Fig. 52 in der griechischen Kunst erst vom 5. Jahrhundert ab vorkommt,
(was schon durch das melische Beispiel Fig. 53 widerlegt erscheint),
dass Zwischenglieder fehlen und daher eine beiderseitige Entlehnung
aus einem dritten Gebiet angenommen werden müsse. Als dieses dritte
Beispiel bezeichnet Goodyear Cypern und zwar auf Grund einer bei
Cesnola, Cyprus S. 145 abgebildeten Steinvase und eines daselbst auf
S. 190 publicirten Terracotta-Sarkophags. Keines der beiden Beispiele
zeigt aber eine intermittirende Wellenranke, und überdies sind beide
zweifellos griechischen Ursprungs. Die Steinvase enthält Epheublätter
auf einen geraden Stengel aufgereiht; die als Palmette gestaltete
Henkelattache lässt über den griechischen Ursprung dieses Stückes
keinen Zweifel. Der Sarkophag enthält allerdings die Epheublätter
auf eine fortlaufende (nicht auf eine intermittirende) Wellenranke auf-
gereiht; dieselbe macht aber einen völlig ausgeprägt griechischen Ein-
druck, und da Cesnola selbst über das Alter sich nicht ausspricht, auch
die Fundumstände keinen wie immer gearteten Schluss zulassen, so
kann auch dieses Beispiel nicht für einen Beweis des Vorkommens der
Wellenranke in der phönikisch-kyprischen Kunst angesehen werden.
In der Kritiklosigkeit, die Goodyear in dieser Frage bekundet, wurde
[129]1. Mykenisches.
er offenbar vollends bestärkt durch den Umstand, dass Flinders Petrie
im Jahre 1890 zwei Beispiele von Wellenranken im Typus von Fig. 52
in Egypten gefunden haben soll, datirbar in die Zeit der 19. oder den
Beginn der 20. Dynastie. Selbst wenn sich die Identität dieser zwei Bei-
spiele mit dem intermittirenden Typus von Fig. 52 herausstellen sollte,
wäre dies mit Rücksicht auf das massenhafte mykenische Geschirr, das
in Egypten (namentlich von Petrie) gefunden wurde, nicht entscheidend
für egyptischen Ursprung. Zwischen dem bornirten egyptischen Kunst-
geist und demjenigen der sich in der griechischen Pflanzenranke aus-
spricht, liegt eben eine ganze Welt.
Der freie naturalistische Zug, der sich im Rankenornament
ausspricht und dessen Vorhandensein in der mykenischen Kunst Good-
year schlankweg leugnet, lässt sich bei aufmerksamer Beobachtung auch
an gewissen Einzelmotiven der my-
kenischen Blüthenornamentik beob-
achten. Wir haben schon vorhin (S. 115 f.)
gesehen, dass die „Mykenäer“ die gebräuch-
lichsten Voluten-Blüthenmotive nicht skla-
visch nach dem egyptischen Typus kopirt,
sondern mehr oder minder frei nachgebildet
haben. Möglicherweise haben sie in der
That bei der Einzeichnung der Palmetten-
fächer an Staubfäden gedacht, die Furt-
wängler darin erblicken will. Es würde
sich darin eine naturalisirende Tendenz
Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.
aussprechen, die das seiner formalen Schönheit (oder symbolischen Be-
deutung?) halber übernommene Motiv der verständlichen Wirklichkeit,
der realen Pflanzennatur anzunähern bestrebt gewesen wäre. Der Nach-
weis dafür, dass bei der Nachbildung der egyptischen Volutenmotive
eine solche Tendenz vorhanden gewesen ist, lässt sich in der That
wenigstens an einem Typus führen, dessen Diskussion seinerzeit (S. 116)
für diese Gelegenheit vorbehalten wurde.
Es ist dies das Motiv des reinen Dreiblattes, woran zwei mehr oder
minder volutenförmig gestaltete Blätter als Kelch dienen, aus welchem
sich das dritte Blatt als krönende Zwickelfüllung erhebt. Als Beispiel
diene das Goldblech Fig. 5426) mit affrontirtem Pantherkatzen-Paar über
Riegl, Stilfragen. 9
[130]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem Dreiblatt. Die einzelnen Blätter zeigen eine deutliche vegetabilische
Stilisirung mit Mittelrippe und divergirenden Seitenrippchen. Diese
Stilisirung ist den analogen egyptischen Lotus-Dreiblättern27) fremd.
Man könnte daher versucht sein das mykenische Dreiblatt, wie es in
Fig. 54 entgegentritt, für eine selbständige mykenische Erfindung zu
halten, wenn sich der Zusammenhang desselben mit egyptischen Vor-
bildern nicht monumental nachweisen liesse.
Den Ausgangspunkt für diesen Nachweis bildet die berühmte, in
Stein skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55 nach Schliemann,
Skulpirtes Deckenornament von Orchomenos.
Orchomenos Taf. 2). Wer den entwicklungsgeschichtlichen Faden der
Ornamentik, soweit wir ihn bisher entrollt haben, sich gegenwärtig hält,
dem wird auf den ersten Blick insbesondere die daran (Schliemann,
ebendas. Taf. 1) durchgeführte entschiedene Scheidung zwischen Innen-
feld und Bordüre auffallen. Doch müssen wir die Erörterung dieses
Punktes vorläufig verschieben und vor Allem jene Umstände in’s Auge
fassen, welche einen unmittelbaren Zusammenhang des vorliegenden
[131]1. Mykenisches.
Deckenmusters mit egyptischen Vorbildern zu beweisen geeignet sind.
Es ist dies namentlich die Musterung in Spiralen, deren je vier immer
an einem mittleren Auge zusammenlaufen. Genau dasselbe Schema
finden wir wieder an einer gemalten egyptischen Deckendekoration
(Fig. 56)28). Die vier sphärischen Zwickel, die durch je vier benach-
barte Spiralen gebildet erscheinen, sind in letzterem Falle mit je einem
Zwickellotus ausgefüllt, so dass in der Mitte noch Raum bleibt für eine
Rosette. Dagegen ist am mykenischen Beispiel Fig. 55 immer nur einer
von je vier Zwickeln ausgefüllt, aber
das zur Füllung desselben verwen-
dete Motiv ist zweifellos ebenfalls
einem gleichgearteten egyptischen
Vorbilde entlehnt. Auch das myke-
nische Füllungsmotiv zeigt nämlich
die Grundform eines aus drei langen
und spitzen Blättern gebildeten Blu-
menprofils; die dazwischen eingezeich-
neten Blätter sind in Fig. 56 aller-
dings von spitzer Form, in Fig. 55
dagegen abgerundet, welche Ab-
weichung aber keineswegs als eine
wesentliche gelten darf, da auch für
diese Art der Stilisirung des Zwickel-
lotus ein egyptisches Vorbild vorliegt,
nämlich die Lotuspalmette, die in der
egyptischen Kunst zur Zwickelfüllung
in spiralengemusterten Bändern unter-
schiedslos neben dem spitzblättrigen
Lotusprofil verwendet vorkommt. Das
Gemaltes egyptisches Deckenmuster.
Zerfallen der den Fächer an Fig. 55 bildenden abgerundeten Blätter in je
vier Zonen ist nicht minder egyptisch und könnte vielleicht mit der techni-
schen Herstellung29) zusammenhängen. Als ein wesentliches Moment muss
aber die Schraffirung der beiden Kelchblätter betont werden, die sich
den Spiralen sphärisch anschmiegen. Das dritte, füllende Spitzblatt ist
nicht quer schraffirt, sondern der Länge nach durch Furchen gegliedert.
9*
[132]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Wenn man von der Schraffirung der Kelchblätter absieht, so trägt das
Ganze einen ziemlich strengen Charakter, was auch in dem Umstande
wohlbegründet ist, dass die Kopie des zu supponirenden egyptischen
Vorbildes offenbar in recht genauer Weise erfolgte.
Die konstatirte Genauigkeit der Uebertragung mochte vielleicht
damit zusammenhängen, dass die Decke von Orchomenos in Steinrelief
ausgeführt worden ist. Freiere Bewegung war erst dann ermöglicht,
wenn es sich um Ausführung in einer freieren Technik z. B. in Wand-
malerei handelte. Hiefür haben wir ein Beispiel aus Tiryns (Fig. 57)30),
das uns in trefflicher Weise dazu dienen wird, den Process der weiteren
Verarbeitung des Motivs durch die mykenischen Künstler zu verfolgen.
Das Grundschema ist hier das gleiche wie in Orchomenos: Spiralen
Ornamentale Wandmalerei aus Tiryns.
mit Zwickellotus31); dazu im Saum Rosetten und zu äusserst die zahn-
schnittartigen Stäbchen, ebenfalls genau wie an der Decke von Orcho-
menos. Uns interessirt hier vornehmlich der Zwickellotus. Von den
drei spitzen Blättern, die das Gerippe desselben bilden, sind hier nicht
bloss die beiden seitlichen durch Schraffirung gleichsam als gerippt
charakterisirt, sondern auch das füllende mittlere Blatt: also ein
zweifellos naturalisirender Zug, den wir an denselben Typen in der
egyptischen Kunst nirgends vorfinden. Hinsichtlich des Palmettenfächers
hat es sich der Maler sehr bequem gemacht, indem er nicht die ein-
zelnen radianten Blätter, sondern die der Breite nach angeordneten
[133]1. Mykenisches.
Zonen von Fig. 55 mit Strichen angegeben hat. Dagegen ist der Zwickel-
lotus in Fig. 57 gegenüber Fig. 55 um den dreiblättrigen Ansatzkelch
im innersten Spiralenwinkel vermehrt, was nach früheren Auseinander-
setzungen (S. 65) wiederum einem echt egyptischen Postulat entspricht.
Die gefiederten Lotusprofil-Blätter in Fig. 57 nun, die einerseits
mit denjenigen von Fig. 55 auf’s Engste zusammenhängen, dürfen
anderseits wohl als die nächsten Verwandten jener gefiederten Drei-
blätter angesehen werden, die uns an Fig. 54 begegnet sind. Der
naturalisirende Zug, der sich an den Goldblättchen gleich Fig. 54 aus-
spricht, tritt auch an der Wandmalerei Fig. 57 zu Tage, deren egyp-
tisches Vorbild ausser Zweifel stünde, auch wenn uns die Decke von
Orchomenos nicht zu Hilfe käme. Diese letztere (Fig. 55) zeigt uns
das egyptische Vorbild verhältnissmässig am reinsten kopirt; aber selbst
hier konnten wir an der Schraffirung der seitlichen zwei Spitzblätter
eines jeden Zwickellotus die beginnende Neigung zur naturalistischen
Charakterisirung beobachten. Auch diese Neigung ist eine echt
griechische, die durch Dipylon und orientalisirende Stile lediglich ver-
dunkelt wurde, und zwar so nachhaltig verdunkelt, dass sie erst in der
perikleischen Zeit, die auch schon in so vielen anderen Beziehungen
die unmittelbare Vorläuferin der hellenistischen gewesen ist, wiederum
zu mächtiger und gestaltender Geltung gelangte. Zum Beweise dessen
nenne ich, der weiteren Schilderung der Entwicklung vorgreifend, die
gesprengte Palmette und den Akanthus.
Also nicht so sehr die pflanzlichen Motive selbst, sondern
ihre Behandlung ist es, wodurch sich ein selbständiges Kunst-
schaffen an den Ueberresten der mykenischen Kultur kund-
giebt. Gerade die in dieser Kunst gebräuchlichsten Blüthenmotive
liessen sich auf dem Wege der Vergleichung auf die alten egyptischen
Typen mit Volutenkelch zurückführen. Wasserpflanzen darin zu er-
blicken, wie bisher vielfach angenommen wurde, halte ich nicht für
gerechtfertigt. Man hat dabei augenscheinlich die schmalen Schilf-
blätter im Auge gehabt, wie sie z. B. an Fig. 49 vom undulirenden
Hauptstamme abzweigen. Solche schilfartige Blätter finden sich aber
auch an egyptischen Vorbildern, z. B. an Fig. 40 in der Bekrönung
alternirend mit Lotus. Der Unterschied zwischen diesem egyptischen
und jenem mykenischen Beispiel beschränkt sich im Wesentlichen bloss
darauf, dass die Schilfblätter dort gerade und selbständig emporsteigen,
hier dagegen von einem gemeinsamen Stamme abzweigen: es ist also
wiederum eine verschiedene Behandlung der gleichen Grundmotive, die
[134]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
— wie wir gesehen haben — das Verhältniss der mykenischen zur
egyptischen Pflanzenornamentik überhaupt kennzeichnet.
Zweifellos enthält aber die mykenische Ornamentik auch
eine Reihe von Motiven, deren Ursprung wir aus der egyp-
tischen Kunst abzuleiten nicht im Stande sind, und die wir
daher, vorläufig wenigstens, als Originalschöpfungen dieser Kunst an-
sehen müssen. Vor Allem sind dies Motive animalischer Natur, was ja
um so begreiflicher erscheinen wird, wenn wir uns erinnern, dass der
Mensch allenthalben32) am frühesten die Lebewesen aus seiner Um-
gebung, sei es plastisch, sei es zeichnerisch, auf einer Fläche nachzu-
bilden versucht hat. Den küsten- und inselbewohnenden „Mykenäern“
wird der essbare, vielleicht einen Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ge-
bildet habende Tintenfisch oder der Polyp33) näher gestanden sein als
etwa der Ibis oder die Brillenschlange. Der Tintenfisch ist denn auch
dasjenige — und zwar das einzige — Motiv, dessen Originalität Good-
year (S. 311) den Trägern der mykenischen Kunst zugesteht; er ver-
weist hiebei auch recht überzeugend auf die Bedeutung, die dieses See-
thier noch heute für die Bevölkerung der Levante besitzt. Selbständige
Entstehung mag man ferner den Schmetterlingen34) einräumen, deren
Stilisirung (Kopf und Fühler) sich als ein gemeinsames Produkt egyp-
tischer und mykenischer Weise darstellt. Aber auch ein anscheinend
vegetabilisches Motiv finden wir in der mykenischen Kunst (Fig. 58)35),
wofür es wohl recht schwer fallen dürfte ein egyptisches Vorbild bei-
zubringen, dem vielmehr ein naturalistischer [Charakter] innezuwohnen
scheint. Die Projektion stellt sich dar in halber Vollansicht, hat aber
mit der egyptischen Palmette augenscheinlich nichts zu thun. In der
Akanthus-Palmette werden wir eine verwandte Bildung kennen lernen;
für die Herstellung eines beiderseitigen Zusammenhangs fehlen aber
alle Zwischenglieder. Es gewinnt somit den Anschein, dass dieses
pflanzliche Motiv, ebenso wie der Tintenfisch und der Schmetterling, im
[135]1. Mykenisches.
weiteren Verlaufe der Kunstentwicklung auf griechischem Boden ver-
schwunden und den strenger orientalisirenden Motiven Platz ge-
macht hat.
Die Bedeutung, welche der Spirale in der egyptischen Kunst für
die Fortbildung der Pflanzenornamentik eingeräumt werden musste,
zwingt uns, auch auf ihre Stellung in der mykenischen Kunst näher
einzugehen, trotzdem dieses Motiv von Haus aus ein geometrisches ist
Gestanztes Goldplättchen. Mykenisch.
und daher um seiner selbst willen in einer Untersuchung über das
Pflanzenornament keinen Raum beanspruchen könnte.
Eines der einfachsten Spiralenmuster in Bordürenform bietet die
Wand eines hölzernen Kästchens (Fig. 59)36). Die fortlaufende Spirale
windet sich hier um ein mittleres Auge, ähnlich wie das egyptische
Beispiel, Fig. 25, wo das Auge mittels einer Rosette verziert erscheint.
Das Grundelement ist beiderseits ein geometrisches, bandartiges: in
Fig. 25 ist es gemalt, in Fig. 59 im Holze vertieft zu denken. Soweit wäre
die Uebereinstimmung in allem Wesentlichen aufrecht; einen bemerkens-
werthen Unterschied ergiebt erst die Betrachtung der Zwickelfüllung.
[136]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
An dem mykenischen Kästchen ist diese Füllung vielleicht eine völlig
zufällige, gar nicht beabsichtigte, denn das sphärische Dreieck ist bloss
durch die Furchen hervorgebracht, welche dazu nöthig waren, um
einerseits die Spiralwindungen, anderseits den Aussensaum der Käst-
chenwand zu begrenzen. Man könnte in diesem Falle in der That
sagen, dass das Zwickeldreieck durch die „Technik“ bedingt sei: gewiss
eine der allerprimitivsten Zwickelfüllungen37). Wir begegnen derselben
bezeichnendermaassen auch bei den neuseeländischen Maori: vgl. Fig. 28
an der äussersten Windung rechts oben die Dreiecke, die auch nichts
anderes sind als Zwickelfüllungen der Spiralen. Dagegen zeigt die
egyptische Wandmalerei, Fig. 25, den ausgesprochenen Lotuskelch in
Geschnitzte Wand von einem Holzkästchen. Mykenisch.
Profil zur Zwickelfüllung verwendet. Man ist sich bereits einer künst-
lerischen Nothwendigkeit bewusst geworden, das neutrale Zwickelfeld
mit einem ornamentalen Motiv auszufüllen.
Die mykenische Spiralornamentik ist auch über blosse bordü-
renartige Streifenverzierungen hinausgegangen. Zwei neben
einander herlaufende Spiralen, die in ihrem Con- und Divergiren eine
fortlaufende Reihe herzförmiger Configurationen bilden, zeigt die Vase
bei Furtwängler u. Löschcke, Myken. Thongef. I, ohne jede Zwickel-
füllung. Das gleiche Motiv, aber bereits mit Zwickelfüllung nach egyp-
tischer Art, unter geometrischer Schematisirung der Zwickelpalmette
[137]1. Mykenisches.
finden wir auf der Vase bei Furtwängler u. Löschcke, Myken. Vasen
XII. 58. Legte man noch mehrere solcher Spiralen nebeneinander, so
konnte man ganze Flächen damit überkleiden, wie dies an der goldenen
Brustplatte, Fig. 6038), der Fall ist. Das gleiche Schema haben wir in
der egyptischen Ornamentik durch Fig. 26 kennen gelernt. Der beider-
seitige Unterschied beruht auch hier in der Zwickelfüllung. Die my-
kenische Brustplatte weist diesbezüglich ovale Motive auf, die sich mit
den tropfenförmigen Zwickelfüllungen der egyptischen Kunst (Fig. 20)
Goldene Brustplatte mit getriebenen Verzierungen. Mykenisch.
in Verbindung bringen lassen. Die egyptische Wandmalerei verwendet
dagegen wiederum die typischen Zwickellotusblüthen.
Stellt sich nach dem bisher Gesagten die mit dem Zwickellotus
ausgestattete Spirale als die specifisch egyptische Form derselben her-
aus, so ist doch daran zu erinnern, dass auch diese in der mykenischen
Kunst nachgewiesen ist, wofür einfach bloss auf Fig. 55 und 57 ver-
wiesen zu werden braucht. Die Uebereinstimmung dieser beiden Muster
mit dem egyptischen, Fig. 56, ist eine so weitgehende, dass wir trotz
einzelner Abweichungen im Detail an dem Zusammenhange zwischen
beiden nicht länger zweifeln zu dürfen glaubten. Eine ganz ähnliche
[138]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Verwendung der Spirale finden wir ferner auf der steinernen Grabstele
bei Schliemann Mykenä, Fig. 140, in diesem Falle aber bezeichnender-
maassen ohne Zwickelfüllung. Es ergiebt sich daraus der Schluss, dass
die „Mykenäer“ das Postulat der Zwickelfüllung nicht als ein absolutes
angesehen haben. Das Gleiche bestätigt der Rückverweis auf Fig. 59
und die hiezu citirten verwandten Beispiele.
Ist es nach all dem Gesagten nothwendig anzunehmen, dass die
Mykenäer das Ornamentmotiv der Spirale von den Egyptern über-
nommen haben? Die Nachahmung egyptischer Spiralmuster ist zwar
durch die Decke von Orchomenos über jeden Zweifel hinaus erwiesen;
genügt dies aber, um das Aufkommen des Motivs selbst in der my-
kenischen Kunst auf Anlernung aus egyptischen Vorbildern zurückzu-
führen? Es ist überaus schwierig, eine entscheidende Antwort auf diese
Frage zu geben. Ich muss mich daher darauf beschränken, meine
Bedenken dagegen zu äussern, dass man heute schon, auf Grund der
blossen Vergleichung der vorliegenden beiderseitigen Denkmäler, eine
vollständige Abhängigkeit der mykenischen von der egyptischen Spiral-
ornamentik behauptet, wie sie z. B. Goodyear über alle Zweifel erhaben
ansieht.
Ich denke dabei keineswegs an die vielfach beliebte Ableitung
der Spirale aus materiell-technischen Nothwendigkeiten, am wenigsten
an die Drahtspirale, die zu diesem Behufe am häufigsten herangezogen
wird. Weit eher könnte man diesbezüglich an die textile Schnur
denken, die auf einen Untergrund aufgelegt und mit Ueberfangstichen
befestigt erscheint. Die fortlaufende Schnur führt in solchem Falle
sehr natürlich zu spiraligen Einrollungen, aus denen sie den Ausgang
selber finden muss. Diese spiraligen Schnürchenstickereien bilden noch
heute die Hauptverzierung der Tracht der Balkanbewohner und weiter
in Kleinasien und Syrien, d. h. in solchen Ländern, die sämmtlich
wenigstens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. dem
Hellenismus anheimgefallen waren. Wir werden später sogar Beispiele
kennen lernen (Fig. 87), dass specifisch altgriechische Ornamentmotive
mittels der Schnürchenstickerei bis auf den heutigen Tag auf der
Balkanhalbinsel dargestellt werden. Dies Alles berechtigt uns noch
keineswegs, den Ursprung der Spirale auf die Technik der Schnürchen-
stickerei zurückzuführen. Die Schnürchenstickerei mochte sich des
Motivs der Spirale als des ihr zusagendsten gern bemächtigt haben:
die erste Schaffung desselben kann trotzdem auf das freie menschliche
Kunstwollen zurückgehen. Dasjenige, was mich vor Allem zögern
[139]1. Mykenisches.
lässt, die mykenische Spirale auf ausschliesslichen Anstoss von egyp-
tischer Seite zurückzuführen, ist vielmehr der Umstand, dass die my-
kenische Kunst eine mit der Spirale sehr verwandte Orna-
mentik gebraucht hat, welche in der egyptischen, soviel wir
sehen, nicht in Verwendung stand.
Das Element der Spiralornamentik in der mykenischen wie auch
in der egyptischen Kunst ist das Band39). In der mykenischen Kunst
kommt aber das Band nicht bloss in Spiralwindungen, sondern auch zu
Goldplättchen mit getriebenen Verzierungen. Mykenisch.
anderen Configurationen angeordnet vor. Namentlich getriebene Gold-
plättchen (Fig. 61)40) zeigen diese Bandornamentik. Als charakteristisch
[140]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
ist hiebei hervorzuheben, dass die Windungen der Bänder immer klar
nebeneinander gelegt sind im Gegensatze zu den „Bandverschlingungen“
der „nordisch-frühmittelalterlichen“ Kunst. Sollte nicht auch diese
Skulpirtes Bandornament von einem
Grabstein.
Regelmässigkeit, so wie der rhythmisch
undulirende Verlauf der mykenischen
Bandornamente auf Rechnung des in
der mykenischen Kunst latenten klassi-
schen Kunstgeistes zu setzen sein41)?
An Fig. 61 ist ferner der Umstand
zu beachten, dass die einzelnen Band-
windungen um Augen herumgelegt sind.
Aehnliches haben wir allerdings auch
in der Spiralornamentik der Egypter
(S. 72) wahrnehmen können. Wenn nun
die Mykenäer ihre Spiralen um Augen
laufen liessen (Fig. 59), so läge es zwar
am nächsten, diesen Umstand ebenso
wie das Motiv der Spirale selbst auf
Rechnung egyptischen Einflusses zu
setzen. Hingegen kennen wir um Augen
gerollte Bänder aus der egyptischen
Kunst nicht. Könnte da das Auge an
Beispielen wie Fig. 61 nicht ebenso
selbständig zur Anwendung und Gel-
tung im Künstlerischen gelangt sein,
wie etwa die sphärischen Zwickeldrei-
ecke in Fig. 59?42).
Von mykenischen Bandmustern
möge noch dasjenige von einer steiner-
[141]1. Mykenisches.
nen Grabstele (Fig. 62)43) Erwähnung finden. Das reciproke Muster,
zu welchem hier das Band zusammengelegt erscheint, ist ein höchst
einfaches; und doch welcher künstlerische Abstand von den gewöhn-
lichen starren Zickzacksäumen der egyptischen Füllungen! Ja, selbst
das wellenförmige Band, also die allereinfachste Bandconfiguration,
findet sich auf mykenischen Vasen, z. B. Myk. Thongef. X. 46, nicht
aber seine Transponirung in’s Eckige, d. i. das Zickzack. Daher weist
der ganze bisher zu Tage geförderte Denkmälerschatz aus dem Bereiche
Becher aus vergoldetem Silber. Mykenisch.
der mykenischen Kunst kein Beispiel eines eckigen Mäanders auf, wohl
aber den laufenden Hund, d. i. die abgerundete Form des Mäanders
(Fig. 63)44); der laufende Hund in der Mitte dieses Bechers ist in solchem
Sinne betrachtet ein reciprokes Bandornament wie dasjenige in Fig. 62
und bedarf zu seiner Ableitung nicht erst der Dazwischenkunft der
egyptischen Spirale45).
[142]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Ich glaube also in der Spirale nur eine besondere Art der Band-
ornamentik erblicken zu sollen. Das Bandornament ist aber ein aus
der gekrümmten Linie heraus konstruirtes geometrisches Ornament,
das eine höhere, vielleicht die höchste Stufe des geometrischen Stils
darstellt, und bereits eine besondere Kunstbegabung zur Voraussetzung
zu haben scheint. Von Naturvölkern, welche die Spiral- und Band-
ornamentik bis auf die neuere Zeit gepflogen haben, sind die neusee-
ländischen Maori besonders hervorzuheben. Die Bedeutung, die der
Kunst dieses Volkes für die Entwicklungsgeschichte der Künste in ihren
primitiven Stadien zuzuschreiben wäre, falls dasselbe in der That —
wofür aller Anschein spricht — seit unvordenklichen Zeiten isolirt und
auf sich selbst gestellt geblieben ist, wurde schon auf S. 75 erörtert.
Goodyear46) zwar hält malayischen Einfluss auf Neuseeland für wohl-
bezeugt, ohne sich aber darüber des Näheren zu verbreiten oder auch
nur, was er doch sonst in ähnlichen Fällen thut, zu citiren. Die Spirale
spielt in der Ornamentik der Maori eine so überwiegende Rolle, dass
der malayische Einfluss — sollte die Spirale in der That seinem Ein-
flusse zuzuschreiben sein — ein sehr tiefgreifender gewesen sein müsste.
Wie lässt sich nun damit der Umstand zusammenreimen, dass auf Neu-
seeland kein Metallgegenstand gefunden wurde? Die Abgeschnittenheit
vom Verkehr mit der südasiatischen Inselwelt muss hienach schon minde-
stens viele Jahrhunderte, wo nicht Jahrtausende lang gewährt haben.
Und wie kamen die Malayen zur egyptischen Spiralornamentik? Goodyear
nimmt zu diesem Behufe einen malayischen Zwischenhandel zwischen
Egypten und Indien an, wofür jedoch keinerlei Beweise vorliegen.
Haben aber die Maori in der That, wie es nach ihrer „Steinkultur“
zu schliessen allen Anschein hat, die Spiralornamentik selbständig ent-
wickelt, etwa in der Weise, dass sie kraft ihrer Kunstbegabung auf
der Stufenleiter der Kunstentwicklung zur höchsten Ausbildung des
geometrischen Stils, zur dekorativen Verwendung der Kreislinie gelangt
sind47), so ist auch die Möglichkeit vorhanden, dass die „Mykenäer“
45)
[143]1. Mykenisches.
schon vor der Berührung mit der altegyptischen Kulturwelt dieselbe
Ornamentik gebraucht und fortgebildet haben, und nach erfolgter Be-
rührung von den verwandten egyptischen Bildungen Anregung und
Befruchtung empfangen, anderseits aber auch eine ihrem individuellen
Kunstgeiste entsprechende Fortbildung daran geknüpft haben. Ent-
schieden abzuweisen wäre nur die Hypothese, dass die Egypter das
Spiralenmotiv aus der mykenischen Kunst entlehnt hätten. Die Egypter
waren zweifellos in „mykenischer“ Zeit das höher stehende Kulturvolk
und es existirt kein Beispiel in der Geschichte, dass ein solches Volk
von einem niedriger stehenden jemals eine so maassgebende Anleihe
gemacht hätte.
Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.
Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.
Im Anschlusse an die Erörterung der Parallele mit der neusee-
ländischen Spiralornamentik48) soll noch eine besondere Art der
Verwendung des Spiralmotivs in der mykenischen Kunst
zur Sprache gebracht werden, die gleichfalls ihre Parallelen in der
neuseeländischen Kunst hat, aber anderseits auch mit der späteren
griechischen Rankenornamentik bemerkenswerthe Analogien aufweist.
Man sehe das Ornament des Goldblattes Fig. 6449). Die Mitte der
47)
[144]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
grösseren unteren Hälfte nimmt eine Configuration ein, die aus zwei
zusammentretenden Doppelspiralen gebildet ist; nach unten reihen sich
an jede der beiden Spiralen koncentrisch gezeichnete, immer kleiner
werdende Schraffirungen an. Wenn man die beiderseitigen Schraffi-
rungen zusammen als ein Ganzes betrachtet, so geben sie mit ihrem
Fächer eine Art Palmette, deren Kelch die beiden darüber zusammen-
tretenden Voluten bilden. Das solchermaassen zu Stande gekommene
palmettenartige Motiv ist aber keineswegs das Ursprüngliche; die
Schraffirungen kehren nämlich auf mykenischen Goldsachen häufig
wieder, dienen aber immer als eine Art Zwickelfüllung für bloss ein-
fache Spiralen, so dass sie sozusagen Halbpalmetten bilden. Man vgl.
z. B. Fig. 6550). Hier zweigen von einer grossen Doppelspirale kleinere
Spiralen ab; wo diese letzteren mit den Umgrenzungslinien, sei es der
grösseren Spirale, sei es der Peripherie des ganzen Plättchens, Zwickel
bilden, sind diese letzteren koncentrisch zur Windung der betreffenden
Spirale mit parallelen, sich verjüngenden Schraffen ausgefüllt.
Dasselbe System zeigen nun einmal neuseeländische Spiral-
zwickel: so einige unten an der äussersten Windung in Fig. 28, ferner
besonders charakteristisch an den Nasen der Köpfe Fig. 31 und 32, wo
je zwei solcher Spiralen fächerartig genau zu der gleichen Palmette
zusammen treten, wie wir es an Fig. 64 gesehen haben. Zur Erklä-
rung dieses Motivs bei den Maori vermag ich nicht[s] Anderes anzu-
zuführen, als das Postulat der Zwickelfüllung; dies scheint wenigstens
aus Fig. 28 hervorzugehen, wo die gebrochenen (nicht im Halbkreis
gekrümmten) Schraffen mit Dreiecken (vgl. Fig. 59) abwechseln.
Ferner lässt sich für diese Erscheinung aber auch eine höchst be-
merkenswerthe Analogie mit der späteren griechischen Rankenorna-
mentik (siehe Fig. 125, 127) verzeichnen. Auch an den späteren Palmetten-
ranken, wie sie sich namentlich unter den Vasenhenkeln aufgemalt finden,
überziehen die freien Rankenlinien symmetrisch die Fläche und rollen
sich zu Spiralen ein, die von Palmettenfächern gekrönt sind; wo aber
für ganze Palmetten kein Raum ist — etwa in einem spitz zulaufenden
Zwickel — dort hat die Halbpalmette Platz, mit bloss einer Volute
und einem halben Fächer. Der Unterschied zwischen dem mykeni-
schen und dem reifhellenischen Motiv besteht hauptsächlich darin, dass
der Fächer der späteren griechischen Palmette analog der egyptisch-
[145]1. Mykenisches.
asiatischen, die ihr unmittelbares Vorbild gewesen ist, aus geraden,
aus dem Kelche herausstarrenden Strahlen besteht, während der Fächer
an den mykenischen Beispielen im Halbkreis gefiedert erscheint51). Die
Verwendung der freibewegten Ranke mit selbständig angesetzten Blüthen
zum Zwecke der Flächenfüllung, anstatt der starren egyptischen Spiral-
bänder mit bloss zwickelfüllenden Blüthen, ist — wie wir im weiteren
Verlaufe sehen werden — eine wesentliche, klassische Errungenschaft
der reifen griechischen Kunst gewesen. Ich stehe nicht an, Fig. 64
und 65 als Vorläufer dieser Entwicklung zu betrachten, Vorläufer,
für welche auf altorientalischem Boden ebensowenig ein
Vorbild vorhanden war wie für die Wellenranke und die ge-
sammte freie Rankenornamentik überhaupt.
Die Einführung der lebendigen Pflanzenranke in die Ornamentik
stellt sich somit als ein wesentlicher Fortschritt dar, den die mykenische
Kunst an die ihr dem Alter nach überlegene egyptische geknüpft hat.
Der Fortschritt nach dieser Richtung war zugleich ein bleibender, wie
wir sehen werden, was deshalb besonders zu betonen ist, weil die
meisten sonstigen Eigenthümlichkeiten der mykenischen Ornamentik,
die Band- und Spiralmuster, die Tintenfische und Schmetterlinge der
späteren griechischen Kunst fehlen, und auch die Entwicklung der
Blüthenformen nicht an die mykenischen Umbildungen der egyptischen
Typen, sondern neuerdings an original-orientalische Typen geknüpft
hat. Die mykenischen Rankenornamente bilden dagegen, wie gesagt,
eine dauernde Errungenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus lässt
sich auch manches Andere besser begreifen, was uns an der mykeni-
schen, scheinbar primitiven Kunst überraschend Vorgeschrittenes und
Vollkommenes begegnet. Wenn diese Punkte auch nicht die Pflanzen-
ornamentik im Besonderen betreffen, so hilft doch das Eine das Andere
aufzuklären, und deshalb wollen wir die Betrachtung der mykenischen
Kunst nach der angedeuteten Seite hin noch weiter verfolgen.
Solchen Zeugnissen einer vorgeschrittenen Entwicklung begegnen
wir innerhalb der mykenischen Kunst sowohl auf dem Gebiete des
rein Dekorativen als auf demjenigen der figürlichen Darstellungen.
In Bezug auf die Dekoration im Allgemeinen ist einmal zu-
rückzuweisen auf die skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55). Schon
Riegl, Stilfragen. 10
[146]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
bei der früheren Besprechung dieses überaus aufschlussgebenden Denk-
mals mykenischer Dekorationskunst wurde der überraschende Eindruck
hervorgehoben, den die streng durchgeführte Scheidung zwischen
Innenfeld und Bordüre auf den Beschauer ausübt. Die Grund-
tendenz, die zu dieser Scheidung getrieben hat und welcher sämmtliche
an der Entwicklung der Kunstgeschichte betheiligten Mittelmeervölker
nachgestrebt haben, wurde schon auf S. 87 gekennzeichnet. Das Ziel
konnte natürlich nur schrittweise erreicht werden; wie weit die Egypter
davon noch entfernt waren, wurde gleichfalls bereits in ausführlicher
Weise dargethan. Erst in der assyrischen Kunst konnten wir ein durch-
gängiges, anscheinend bewusst durchgeführtes System von Füllung und
Rahmen, Innenfeld und Bordüre wahrnehmen. In diesem Lichte be-
trachtet stellt sich das der Decke von Orchomenos zu Grunde liegende
dekorative Grundschema dar als ein Fortschritt gegenüber der sonst
vorbildlichen egyptischen Kunstweise und als auf einer Linie stehend
etwa mit der Steinschwelle von Ninive (Fig. 34), mit welcher sie sogar
unmittelbare Berührungspunkte (die Rosetten zur Besäumung von Innen-
feld und Bordüre) gemein hat. Der Zeit nach ist aber die Decke von
Orchomenos den bezüglichen assyrischen Denkmälern entschieden voraus.
Abgesehen von jener aus der verhältnissmässig späten Zeit der Sar-
goniden stammenden Steinschwelle sind die ältesten bekannt gewor-
denen Denkmäler aus den assyrischen Königspalästen nicht vor dem
Jahre Eintausend v. Ch. entstanden, während man die Blüthe der my-
kenischen Kultur in das 16. bis 12. Jahrhundert v. Ch. verlegen will.
Noch weniger können die phönikischen Kunstwerke, die gleichfalls die
Trennung zwischen struktiver Umrahmung und neutraler Füllung
ziemlich streng durchgeführt zeigen, als vorbildlich für die mykenischen
Künste angesehen werden, denn nach dem auf S. 108 Gesagten werden
wir die Entstehung der phönikischen Metallschalen u. dgl. auch nicht
viel früher als in die Zeit der Sargoniden zu setzen haben. Ist aber
die mykenische Kultur thatsächlich gleichzeitig mit der Herrschaft der
Ramessiden gewesen, aus deren Zeit uns die bei Prisse d’A. abgebil-
deten egyptischen Wandmalereien mit ihrer vielfach unvollkommenen
und tastenden Durchführung der Bordürenumrahmung erhalten sind,
so wird man zu dem Schlusse geführt, dass die Mykenäer so wie in
dem Einzelmotiv der freibewegten Pflanzenranke auch in dem allge-
meinen Schema der dekorativen Raumtheilung und Flächenbrechung
wesentlich über die Errungenschaften der Egypter hinaus- und den
späteren entscheidenden Thaten der Griechen entgegengekommen sind.
[147]1. Mykenisches.
Im innigsten Zusammenhange mit dem eben Gesagten steht die
weitere Wahrnehmung, dass uns an zahlreichen Denkmälern der mykeni-
schen Kunst eine freie, keineswegs mehr ängstliche, sondern mit-
unter geradezu grosse und kühne Anordnung des Ornaments
auf dem Grunde entgegentritt. Man sehe z. B. auf einer Vase aus
dem Sechsten Grabe (Mykenische Thongefässe IX. 44), deren Malerei
gewiss nicht durch allzu grosse Sorgfalt in der Detailausführung her-
vorragt, wie sicher und kühn die Vogelfiguren zwischen die zwei ab-
schliessenden Saumstreifen auf den Bauch des Gefässes hingeworfen
sind. Das Gleiche gilt von den Löwen, die um den goldenen Becher
bei Schliemann Mykenä Fig. 477 herumlaufen, indem sie mit ihren in
gestrecktem Laufe dargestellten Leibern genau so viel Raum füllen, als
die Kuppe des Bechers zur Verzierung darbot. So ängstlich streifen-
weise wie die Verzierung der Dipylonvasen ist nun diejenige der bei
Prisse d’Avennes a. a. O. abgebildeten egyptischen Gefässe nicht mehr,
aber doch wiederum keineswegs so frei und gross hinkomponirt wie
auf vielen mykenischen Beispielen. Und dasselbe gilt von den Formen
der Gefässe; auch diese verrathen in Mykenä den Zusammenhang mit
den späteren griechischen Typen gegenüber den gebundenen Formen
der egyptischen Vasen.
Für die herrschende Art der Kunstbetrachtung tritt die Kunst erst
dann aus dem Bereiche des wesentlich ethnologischen Interesses in den-
jenigen der kunsthistorischen Beachtungswürdigkeit, sobald sie den
Menschen in seinen Thaten und seinen Leiden zur Darstellung
bringt. Während das geometrische, das Pflanzen- und das Thierorna-
ment bloss vom Standpunkte des Schmückens betrachtet wird, ge-
winnen wir an dem mit menschlichen Figuren verzierten Kunstwerk
ein gegenständliches Interesse. Die Kunst der Neuseeländer wird trotz
ihrer kunstvollen Spiralornamentik bei [uns] niemals mehr als ein sozu-
sagen exotisches Interesse erwecken, weil dieselbe in der Darstellung
der menschlichen Figur nicht über völlig rohe götzenartige Monstra
hinausgekommen ist. In der mykenischen Kunst begegnen wir
aber vielfach der Darstellung des Menschen, und zwar nicht
bloss auf eigens dazu bestimmten Gegenständen, wohin z. B.
die Intaglios gehören mögen, sondern in rein dekorativer Ab-
sicht, zur Verzierung kunstgewerblicher Gegenstände ver-
wendet.
Dieser Punkt ist sofort zur Kennzeichnung des grundsätzlichen
Unterschiedes gegenüber der egyptischen Kunst hervorzuheben. Die
10*
[148]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Kriegervase z. B. steht in Bezug auf ihren Inhalt bereits vollständig auf
dem Boden der späteren griechischen Vasenmalerei; Aehnliches gilt von
dem tauschirten Becher mit menschlichen Köpfen, den Tsuntas gefunden
hat. Inwiefern die Anfänge der Darstellung menschlicher Figuren bei
den „Mykenäern“ auf egyptische Anregungen zurückgehen könnten,
ist heute schwer zu entscheiden. An egyptischen Zügen fehlt es nämlich
auch auf figuralem Gebiete nicht völlig: man beachte nur wie die Sti-
lisirung der menschlichen Figuren auch bei den „Mykenäern“ in der
von den egyptischen Reliefs sattsam bekannten Weise erfolgt ist, indem
der Oberkörper in Vorderansicht, der Kopf und die Füsse dagegen in
Seitenansicht gebildet erscheinen. Diese Art der Stilisirung hat auch
die charakteristischen „Wespentaillen“ der mykenischen Figuren zur
Folge gehabt, die noch im Dipylon typisch geblieben sind. Die An-
lehnung an egyptische Vorbilder mag sich selbst auf bestimmte Scenen
erstrecken. Für den „Gaukler“ aus Tiryns bringt Goodyear eine bei
Lepsius publicirte Parallele aus einem Mastaba-Grabe. Eine Stier-
fangscene könnte auch die bei Prisse a. a. O., Amphores jarres et autres
vases No. 1 publicirte egyptische Vase enthalten; ein darauf dargestellter
mit den Hinterbeinen nach rückwärts ausschlagender Stier zeigt in
seiner Haltung die nächste Verwandtschaft mit einem der Stiere auf
dem Becher von Vaphio. Und doch wird Niemand den Becher von
Vaphio für egyptische Arbeit erklären wollen. Wie individuell sind
doch da die Menschen charakterisirt, trotz der egyptisirenden Stilisirung
ihrer Oberleiber. Ja das Genreartige in Inhalt und Darstellung, sowie
die eingehende Berücksichtigung des Landschaftlichen52), wie sie uns auf
dem Becher von Vaphio entgegentritt, zeigt uns die mykenische Kunst
in einem so freien Verhältnisse zu dem Stoffe, den Natur und mensch-
liches Privatleben darbieten, wie es die spätere griechische Kunst kaum
vor der Diadochenzeit wieder erreicht hat. Auch diesbezüglich
mochten vielleicht die genremässigen Scenen in den egyptischen Gräbern
vorbildlich gewesen sein; wenn aber diese Scenen in der egyptischen
Kunst bekanntlich einen streng gegenständlichen, mit dem Leben nach
dem Tode zusammenhängenden Beweggrund und dementsprechende
Bedeutung hatten, so wird man dem Stierfang auf dem Becher von
Vaphio gewiss nur eine dekorative Bedeutung zuerkennen können: in
[149]1. Mykenisches.
diesem Falle sind es wirkliche Genrescenen. Aehnliches gilt von der
Löwenjagd auf der einen tauschirten Dolchklinge; und selbst die soge-
nannte Nilborde auf der zweiten Dolchklinge braucht nicht mehr als
allgemeine Anregung egyptischem Einflusse zu verdanken.
Die auf S. 128 allerdings widerlegte Behauptung Goodyear’s, dass
die mykenische Kunst gewisse Eigenthümlichkeiten wie die intermit-
tirende Wellenranke (Fig. 52) aus dem Bestande der sogenannten
griechisch-kyprischen Kunst entlehnt hätte, veranlasst mich, die
Stellung des Pflanzenornaments innerhalb dieser Kunst mit wenigen
Worten zu kennzeichnen. Dasselbe lehnt sich eng, weit enger als es
in der mykenischen Kunst der Fall war, an die egyptischen Vorbilder an
und hat es daher auch zu keiner fruchtbaren Fortbildung gebracht.
Phönikische Einflüsse haben daran Nichts geändert. Das Abweichende,
specifisch Kyprische, beruht hauptsächlich in dem isolirten Gebrauche
der Lotusblüthen u. s. w. gemäss dem jeweiligen dekorativen Zwecke,
zu dem dieselben dienen sollten. Das Figürliche steht völlig im Bann
der egyptischen Vorbilder. Der Mann auf der vielbesprochenen Vase
aus Athienu53) ist nicht bloss egyptisirend, sondern — was meines Wissens
bisher nicht scharf genug hervorgehoben wurde — ein leibhaftiger
Egypter, da zu den schon von Ohnefalsch-Richter54) beobachteten egypti-
schen Eigenthümlichkeiten noch der Schurz zu bemerken ist, den der
Mann ganz nach egyptischer Weise um die Hüften des bis auf ein
Halsband ganz nackten Körpers herumgelegt trägt. Das Vorkommen
eines specifisch griechischen Motivs — der fortlaufenden Wellenranke
— auf einem Fundstück aus Cypern wurde schon früher (S. 128) zu
erklären versucht. Ein zweites, von Goodyear unbeachtet gebliebenes
Beispiel derselben Wellenranke mit spitzoblongen Blättern bietet eine
Vase aus Curium, die bei Perrot und Chipiez III. Fig. 506 abgebildet
ist55). Auch in diesem Falle haben wir es weder mit einer einheimisch-
kyprischen Specialität, noch mit phönikisch-egyptischem Einflusse zu
thun, sondern mit griechisch-mykenischer Art, wie durch die umgebogenen
Epheuzweige auf der Schulter des Gefässes ausser Zweifel gesetzt er-
scheint. Perrot meint, diese seiner Ansicht nach kyprische Arbeit wäre
[150]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
verhältnissmässig jungen Datums. Damit mögen sich diejenigen aus-
einandersetzen, die der mykenischen Kunst ein bestimmtes, und zwar
ein möglichst hohes Alter zuweisen zu können glauben.
Jedenfalls lässt sich auch in diesem Falle ebensowenig wie in dem
früher erörterten (S. 128) erweisen, dass die epochemachende Erfin-
dung der Wellenranke auf kyprischem Boden vollzogen worden wäre.
Die Blüthenmotive auf kyprischen Vasen sind zumeist ohne Verbin-
dung, nach Art von Streumustern in den Raum hineingesetzt. Wo
Verbindungen auftreten, gehen dieselben über das von den Egyptern
und allenfalls von den Mesopotamiern Erreichte nicht hinaus. Gegen-
über den egyptischen Vorbildern liesse sich als Fortschritt höchstens
das Ueberschneiden zweier in der gleichen Richtung verlaufenden
Bogenreihen anführen, das sich auf kyprischen Vasen des öfteren
findet56) — ein Motiv, das gegenüber der einfachen Bogenreihe ver-
mehrte Lebendigkeit und Abwechslung bedeutet. Ob dieser Fortschritt
aber auf Rechnung kyprischen Kunstgeistes zu setzen ist, bleibt vor-
läufig zweifelhaft; anscheinend am frühesten begegnet es uns in Mesopo-
tamien57), und seine Fundstätten aus der ersten Hälfte des letzten
Jahrtausend v. Ch. liegen weit über die Kultursphäre des Mittelmeeres
zerstreut („Kyrenische“ Vasen, Kamiros auf Rhodos, anderseits Vulci
in Italien).
In der Entwicklungsgeschichte des Pflanzenornaments wird also
der griechisch kyprischen Kunst kein selbständiger Platz einzuräumen
sein. Sie zehrt vom Erbe der altorientalischen Kunstvölker, der Egypter
und Mesopotamier, verwendet phönikische Varianten wie den Palmetten-
baum, und übernimmt die wenigen vorkommenden Keime späterer
fruchtbarer Entwicklung von den Griechen, angefangen von der „my-
kenischen“ Zeit. Insofern ist diese Kunst in der That eine „griechisch“-
kyprische.
2. Der Dipylon-Stil.
Die natürliche Fortentwicklung der mykenischen Ornamentik erlitt
eine gewaltsame Störung und Unterbrechung durch das Eindringen
eines „geometrischen“ Stils, des Dipylon-Stils. Dieser Stil ist nicht
der geometrische Stil schlechtweg, kann auch keineswegs als
Muster eines reingeometrischen Stils gelten. Namentlich in Bezug
auf die Gesammtdekoration fehlt ihm die Naivetät der primitiven Stile.
[151]2. Der Dipylon-Stil.
Es ist etwas Raffinirtes in der Vertheilung der Ornamente. Es
herrscht zwar die elementare Eintheilung in Streifen: also ein Schema,
über welches die mykenische Kunst weit hinausgekommen war. Aber
die Abwechslung der Streifen nach der Breite, die hiebei beobachteten
„tektonischen“ Rücksichten, die Einfügung figürlicher Scenen, dies Alles
verräth eine vorgeschrittenere überlegtere Dekorationskunst, als wir
sie in den rein geometrischen Stilen — den nordischen, den ältesten
kyprischen, den amerikanischen, den polynesischen — anzutreffen ge-
wöhnt sind. Der Dipylon-Stil lässt sich überhaupt nicht mit einer
kurzen Formel abthun. Er ist keine blosse Uebertragung des Runden,
wie es in der mykenischen Kunst das Herrschende gewesen ist, in’s
Eckige. Wir begegnen im Dipylon runden Linien neben eckigen,
Kreisen neben Quadraten, rosettenartigen Vier- und Mehrblättern neben
Strahlenrosetten.
Wodurch sich das Dipylon als doch noch nicht ausser allem Zu-
sammenhange mit einer naiven, bloss schmucksuchenden Kunststufe
erweist, das ist neben der Streifenmusterung der Horror vacui.
Namentlich, wo figürliche Darstellungen auftreten, erscheint der ge-
sammte von den Figuren oder dem Beiwerk der Scenen nicht in An-
spruch genommene Raum mit Füllmotiven überstreut. Ueber diesen
Standpunkt war die „mykenische“ Kunst längst hinausgekommen. Das
Vorhandensein figürlicher Scenen in der Dekoration scheint zwar an
sich Zeugniss von einer höheren Entwicklung abzugeben; aber die
Figuren selbst, insbesondere die menschlichen, stehen weit zurück hinter
denjenigen, welche die mykenische Kunst geschaffen hat, hinter den
charakteristischen, lebendig bewegten Erscheinungen etwa des Vaphio-
bechers oder auf der Dolchklinge mit dem Löwenkampf. Ob wir nun
diese Stilisirung der Figuren im Dipylon für eine originale Errungen-
schaft seiner Träger, oder aber für Nachbildungen nach dem egypti-
schen Kanon halten, wofür in der That Manches58) zu sprechen scheint:
immer gelangen wir auf eine tiefer gelegene Stufe der Kunstentwick-
lung als diejenige gewesen ist, die bereits von der mykenischen Kunst
erreicht worden war.
Als charakteristisch für das Dipylon wird seit Conze59) das Fehlen
[152]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
von Pflanzenornamenten bezeichnet. In der That haben sich, trotz
des reichen Materials, das in den seither verflossenen zwanzig Jahren
zu Tage gefördert worden ist, nur höchst vereinzelte Beispiele60) un-
zweifelhaft pflanzlicher Motive auf geometrischen Vasen der Dipylon-
zeit gefunden. Freilich Goodyear, der im fortlaufenden Zickzack bloss
verkümmerte Lotusblüthenreihen erblickt, führt den Dipylonstil ebenso
gut wie den nordisch-prähistorischen in allem Wesentlichen auf egyp-
tische Wurzel zurück. Aber selbst wenn dem so wäre, würde der
Dipylonstil für unsere augenblickliche Aufgabe, für die Darlegung der
Entwicklung des Pflanzenornaments und der Pflanzenranke keine posi-
tive Bedeutung haben, da an den angeblichen Rückschlag in’s Geome-
trische keine fruchtbare Entwicklung des Pflanzlichen anknüpfen
konnte. Der Dipylonstil musste aber nichts desto weniger an dieser
Stelle zur Sprache gebracht werden, um die Unterbrechung der „myke-
nischen“ Entwicklung und das Nachfolgende überhaupt zu erklären.
Denn selbst auf solchen Punkten des späteren Hellas, wo sich myke-
nische Ueberlieferungen ziemlich treu erhalten haben, hat sich der Ein-
fluss des Dipylon in tiefgreifender Weise bemerkbar gemacht, so z. B.
auf der Insel Melos, auf deren Vasen wir neben unverkennbar myke-
nischen Ueberlieferungen die füllenden Streumuster des geometrischen
Horror vacui, des primitiven Schmückungstriebes finden werden.
Die bisherigen Funde haben ergeben, dass sich die Invasion des
geometrischen Stils über alle Landschaften erstreckt hat, wo später
Sitze griechischer Kultur und Kunst gewesen sind: am stärksten auf
dem europäischen Festlande, in stetig abnehmender Intensität nach
Osten hin bis gegen Cypern. Man hat daraus auch eine Antwort auf
die ethnographische Frage konstruirt. Die Träger des Dipylon wären
hiernach ein Volk gewesen, das nicht aus dem Orient, sondern über
europäische Landschaften, also wohl über die Balkangegenden nach
Griechenland eingewandert ist. Vielfach hat man hiebei an die Wan-
derung der Dorer gedacht, was wiederum den folgerichtigen Schluss
nach ziehen musste, dass die Träger der mykenischen Kunst in Grie-
chenland die Achäer, also ebenfalls Griechen, gewesen sein müssten.
Dies konnten diejenigen nicht zugeben, die in den Trägern der myke-
nischen Kultur die Karer erblicken wollten. Diese letzteren stützten
ihre Annahme hauptsächlich auf Gründe, die ausserhalb der Sphäre
[153]2. Der Dipylon-Stil.
des Kunstschaffens gelegen sind; doch empfanden sie von Ulrich Köhler
bis auf Goodyear immerhin die Verpflichtung, auch auf dem Gebiete der
Kunst das Ungriechische im Mykenischen, das Griechische im Dipylon
darzuthun. Das Erstere fiel anscheinend nicht schwer: haben doch
auch wir Gelegenheit gehabt, die zahlreichen Elemente zweifellos egyp-
tischer Herkunft in der mykenischen Formenwelt zu beobachten. Was
aber den griechischen Charakter im Dipylon betrifft, so hat den Ver-
tretern dieser Meinung Studniczka61) am bündigsten das Wort von der
Lippe weggesprochen. Ihm vertritt der geometrische Stil der einge-
wanderten Hellenenstämme das Princip strenger Zucht, mittels deren
alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichthum des Orients,
von den „mykenischen“ angefangen, zu echt hellenischem Gute umge-
prägt wurden.
Ebensowenig wie die Lösung der „mykenischen Frage“ nach ihrer
ethnographischen Seite kann die Klärung des Verhältnisses zwischen
den Trägern der mykenischen und der Dipylon-Kultur hier beabsichtigt
sein. Aber es muss daran erinnert werden, dass die Betrachtung des
Pflanzenornaments in der mykenischen Dekoration das Vorhandensein
specifisch griechischer Errungenschaften ergeben hat, die wir in den
altorientalischen Künsten vergebens suchen, und ebenso vergebens im
Dipylon. Dass die Träger der Dipylonkultur im späteren Hellenen-
thum aufgegangen sind, soll darum keineswegs bestritten werden; aber
die schöpferischen „Keime des Griechenthums“ vermögen wir weit mehr
im Mykenischen zu verfolgen, weshalb wir uns vorhin (S. 127) den Schluss
verstattet haben, dass die Träger der mykenischen Kultur, mögen die-
selben nun Karer oder Achäer gewesen sein, eine sehr wesentliche Com-
ponente des späteren hellenischen Volksthums ausgemacht haben müssen.
Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass das Eindringen des
geometrischen Stils an Stelle des mykenischen einen Rückschritt, und
nichts als einen Rückschritt bedeutet hat, so haben ihn die Griechen
selbst damit geliefert, dass sie angesichts der Aussichtslosigkeit, mit
diesem Stil etwas anzufangen, sich wiederum an die ursprüngliche
Quelle ihrer wichtigsten Zierformen, an den Orient, gewendet haben62).
[154]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Es ist nun unsere Aufgabe, zu zeigen, wie das Pflanzenorna-
ment neben und nach dem Dipylon in der griechischen Kunst
wieder zu Ehren kommt, wie es zum Theil die orientalischen
Errungenschaften schematisch wiederholt, namentlich aber
wie es an die grosse mykenische Errungenschaft, an die
freibewegte Pfanzenranke anknüpfend, diese selbst sowie
die angesetzten Blüthen im Sinne des Formschönen ausbildet,
so allmälig die Fähigkeit gewinnt, grössere Flächen zu
überziehen, und endlich auch menschliche und Thierfiguren
zur Dekoration heranzieht und sich subordinirt. Da es sich
somit um die Schilderung eines fortlaufenden Entwicklungsganges
handelt, werden die Formen und die Denkmäler im Allgemeinen in
chronologischer Reihenfolge vorgeführt werden. Doch lässt sich die
letztere auf einem Gebiete, das so vielfach lokale und individuelle
Fortbildungen zeigt, nicht immer streng aufrecht erhalten. Ich er-
achte es daher für nöthig, auch an dieser Stelle zu betonen, dass es
sich hier nicht um einen chronologischen Fixirungs- oder genaueren
Datirungs-Versuch der betreffenden Vasengattungen u. s. f. handelt,
welche Aufgaben gewiss nicht ausschliesslich auf Grund des Pflanzen-
ornaments gelöst werden könnten. Nur die Stellung der einzelnen zu
besprechenden Denkmäler innerhalb der Entwicklungsgeschichte des
Pflanzenrankenornaments soll jeweilig nach Möglichkeit genau um-
grenzt werden; die auf breitester Basis vorgehende klassische Kunst-
archäologie mag daraus jene Schlüsse ziehen, zu welchen sie sich
durch Vergleichung mit dem Befund der übrigen Eigenthümlichkeiten
der bezüglichen Denkmäler berechtigt glaubt.
3. Melisches.
An die Spitze sind die melischen Vasen zu setzen. Das Mykenische
tritt in dieser frühgriechischen Vasenklasse noch am deutlichsten zu
Tage, und zwar gerade jene Elemente, die in die spätere hellenische
Kunst übergegangen sind. Als Beispiel diene Fig. 66, entlehnt aus
Conze’s melischen Thongefässen (I. 1), wo auch die Details Fig. 67
(Mel. Thong. I. 4) und Fig. 53 (Mel. Thong. I. 5) zuerst publicirt sind.
Wenn wir von den rosettenartigen Gebilden absehen, so begegnen
uns an Fig. 66 von Einzelmotiven die beiden grundlegenden
Typen des egyptischen Lotus: die spitzblättrige Profilansicht
(Fig. 53), sowie die Lotuspalmette (in Fig. 66 unter den Hinterbeinen
[155]3. Melisches.
der Pferde). So unverkennbar der egyptische Ursprung, schon des
Volutenkelchs halber, so in die Augen springend sind anderseits die
Melische Vase.
Unterschiede. Insbesondere die Palmetten unter den Hinterbeinen der
Pferde sind weder egyptisch, wegen der stark eingerollten Volute,
[156]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
noch assyrisch, weil ihnen die nach Aufwärts gerollten Voluten
fehlen. Die Palmetten in Fig. 66 sind einfach griechisch. Charak-
teristisch dafür sind die stark eingerollten Voluten des Kelches und
die in entsprechender Grösse dazu gebildete Fächerkrone, deren kol-
benartig auslaufende Blätter nicht dicht, sondern lose nebeneinander
angeordnet sind. Das Motiv der griechischen Palmetten tritt uns da
in allen seinen wesentlichen Bestandtheilen fertig entgegen; es fehlt
nur noch die feine Abwägung und Durchbildung der Details im reinen
Sinne des Formal-Schönen, — ein Process, der erst im Laufe des
5. Jahrhunderts sein Ziel erreicht hat. — In abbreviirter Form wieder-
holt sich die Volutenblüthe am Fusse (als Doppelvolute mit giebelartiger
Zwickelfüllung) und in der gleichen Form in der Mitte des oberen
Randes des Figurenfeldes mit den Reitern.
Die Beziehungen dieser beiden pflanzlichen Einzelmotive der
melischen Vasenkunst, des Profillotus und der Palmette, zu orientali-
schen Vorbildern sind stärker ausgeprägt als diejenigen zur mykeni-
schen Ornamentik. Dies gilt insbesondere vom Profillotus; aber auch
hinsichtlich der Palmette ist kein mykenisches Beispiel bekannt, an
dem ein so regelmässig gestalteter Blattfächer mit dem Volutenkelch
verbunden wäre. Wir werden also an erneuerten orientalischen Ein-
fluss denken müssen, entweder an original-egyptischen oder einen ab-
geleiteten. Wie frei diese melischen Vasenmaler mit den frem-
den Blüthenmotiven schalteten, beweist nicht bloss die Verbin-
dung des Lotusprofils mit Volutenkelch, wie sie in Fig. 53 links
zweifellos kenntlich gemacht ist, sondern namentlich auch die Zusam-
menstellung zweier grosser Volutenblumen, wie sie die Mitte des Halses
in Fig. 66 schmücken. Die Spitzblätter, welche die beiden Blumen
bekrönen, stellen den Zusammenhang derselben mit dem spitzblättrigen
Profillotus her. Ein ganz ähnliches Gebilde gewahren wir unterhalb,
in der Mitte zwischen den beiden Pferden; aber an Stelle der Spitz-
blätter der Krone sind hier die Blattfächer des Palmettenmotivs ge-
treten. Die Voluten sind übrigens so sehr das Ueberwiegende, Grund-
legende des Motivs, dass die beiden von ihnen eingeschlossenen Kelche
sich als blosse Zwickelfüllungen darstellen, kaum stärker vorschlagend
als die zahlreichen weiteren Zwickelfüllungen, die überall bei der Be-
rührung der Spiralen und bei der Abzweigung von Ranken entstehen.
Das Gesammtmuster erschiene somit analog den egyptischen Spiral-
musterungen mit Zwickelblumen, wie z. B. Fig. 26, 27. Dass aber der
melische Vasenmaler nicht an starre geometrische Spiralen, sondern
[157]3. Melisches.
an lebendiges, vegetabilisches Schlingwerk gedacht hat, deuten die
kurzen Rankenzweige an, die sich oben und unten an die Seiten der
Voluten ansetzen. Auf diese Rankenzweige wird übrigens noch zurück-
zukommen sein.
Wir haben nun die Art und Weise zu betrachten, wie an den
melischen Vasen die vegetabilischen Einzelmotive unter einander in
Verbindung gebracht erschei-
nen. Das unmittelbar vorher
Gesagte hat uns bereits dazu
übergeleitet. Im Vordergrunde
standen da die Spiralen, wo-
gegen sich die Blüthenmotive
bloss als Füllsel darstellten.
Das Postulat der Zwickelfüllung
erschien an dem gegebenen Bei-
spiel als ein absolutes. Ver-
gleichen wir damit Fig. 67. Wir
sehen da zwei neben einan-
der laufende Spiralenreihen; die
Zwickel, die je zwei zusammen-
stossende Spiralen im Innern
bilden, erscheinen durch einen
Palmettenfächer gefüllt; alle
Zwickel, die sich nach Aussen
öffnen, sind durch einfache
Giebel geschlossen. Das egyp-
tische Vorbild haben wir in
Fig. 26 kennen gelernt, ein
mykenisches Zwischenglied in
Fig. 60. Die weitere Entwick-
lung hat anscheinend daraus
das doppelte Flechtband ge-
macht (Fig. 68)63), das sich sehr
Gemaltes Ornament von einer melischen Vase.
häufig an archaischen, bemalten Terracotten, aber selbst noch auf
spätrömischen Mosaiken findet.
Keinen wesentlichen Fortschritt über egyptischen Kunstgeist hinaus
zeigt ferner derjenige Ornamentstreifen von Fig. 66, der sich unmittelbar
[158]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
über dem Fusse befindet. Wir sehen da neben einander gelegte Dop-
pelvoluten (die beiden auf der Abbildung ersichtlichen nur zur Hälfte
sichtbar). Die beiden Zwickel, die eine jede von diesen Doppelvoluten
mit sich selbst bildet, sind mit Palmettenfächern gefüllt, die Zwickel
dagegen, die durch das Nebeneinanderstossen je zweier Doppelvoluten
entstehen, mit einfachen Giebeln.
Es bleiben an der Vase Fig. 66 noch die beiden Ornamentstreifen
zu betrachten, die den Figurenfries mit den Reitern oben und unten
besäumen. Wir haben diese beiden Säume absichtlich zum Schlusse
aufgespart, da dieselben in ihrer Musterung entschieden reingriechi-
schen Charakter zeigen, und zugleich mit mykenischen Vorbildern so
enge zusammenhängen, dass wir sie als direkte Zwischenglieder
zwischen mykenischen und hellenischen Kunstformen ansehen
Von einem klazomenischen
Thonsarkophag.
Gemaltes Füllornament von einer
melischen Vase.
dürfen. Der untere Saum besteht aus neben einander gelegten S-Spi-
ralen; diese wären nun an sich eben so wenig unegyptisch, wie die
giebelförmigen Zwickelfüllungen dazwischen. Das Mykenisch-Grie-
chische beruht in den Ranken, die von den Spiralen theils oben, theils
unten abzweigen und in den Palmettenfächer-Füllungen, die zwischen
diesen Ranken und den Spiralen eingezeichnet sind, und nicht, wie es
das egyptische Schema erforderte, in den inneren Winkeln der S-Krüm-
mung. Wie ein Egypter die Zwickel einer S-Spirale gefüllt hätte,
zeigt Fig. 69, die gleichfalls von einer melischen Vase (Conze Taf. IV)
entlehnt ist und daselbst als Füllsel zwischen den Pferdebeinen dient.
Dagegen bildet die abzweigende Ranke mit dem füllenden Fächer in
Fig. 66 eine Halbpalmette. Das Motiv der Halbpalmette, deren zwei eine
ganze Palmette zusammensetzen, ist späterhin in der griechischen Or-
namentik ein überaus wichtiges und grundlegendes geworden. An der
melischen Vase, Fig. 66, ist es in allem Wesentlichen schon vorhanden;
[159]3. Melisches.
aber wie wir auf S. 144 gesehen haben, war es bereits in der mykeni-
schen Kunst vorgebildet64). Ob nun der melische Vasenmaler das
Motiv bewusstermaassen als selbständige Halbpalmette65) oder als blosse
accidentelle Zwickelfüllung der S-Spirale aufgefasst hat: daran wird
nicht zu zweifeln sein, dass wir darin ein Zwischenglied zwischen einer
mykenischen und einer reingriechischen Kunstform zu erblicken haben.
Der Zweifel, der in dem letzterwähnten Falle noch übrig bleiben
könnte: ob nämlich die geometrische S-Spirale oder die vegetabilische
Halbpalmette das Hauptmotiv gebildet hat, — dieser Zweifel fällt hin-
weg bei der Betrachtung des Schultersaums von Fig. 66, in grösserem
Maassstabe reproducirt in Fig. 53. Derselbe zeigt abwechselnd ein-
wärts und auswärts gerichtete Profillotusblüthen, die unter einander
fortlaufend im Schema der intermittirenden Wellenranke ver-
bunden erscheinen, — einem im Sechsten mykenischen Schachtgrabe
zuerst nachgewiesenen Schema, dessen kunstgeschichtlicher Bedeutung
wir bereits auf S. 123 f. gerecht geworden sind. Auch hinsichtlich des
Verhältnisses dieses melischen Beispiels zu dem erwähnten mykenischen
ist auf die citirte Stelle zurück zu verweisen.
Fassen wir also das Ergebniss unserer Betrachtung der Pflanzen-
ornamentik auf den melischen Vasen zusammen. Das Pflanzenorna-
ment steht hier im Wesentlichen noch auf der Stufe der my-
kenischen Kunst. Es bewegt sich in der Regel auf der Grenzlinie
zwischen Spiralornament und Rankenornament. Die entscheidende
Schöpfung der mykenischen Kunst, die ausgesprochene Blumenranke,
hat es nicht preisgegeben, aber auch augenscheinlich nicht weiter fort-
gebildet. Die steife vertikale Stellung der Blumenkelche sowie der
Einzelstengel bedeutet eher einen Rückfall in’s Egyptische, worauf auch
die Stilisirung der Lotusblüthen und Palmetten hinweist. Die Zwickel-
füllung ist ein so grundlegendes Postulat geworden, wie sie es in der
mykenischen Kunst noch nicht gewesen ist, selbst nicht in der egyp-
tischen, wohl aber, wie es scheint, in der phönikischen. Am wenigsten
[160]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
gewahrt man — beiläufig bemerkt — von assyrischem Einfluss, man
wollte denn die Heftel oder die Klammern, wodurch die Spiralranken
bei ihrer Berührung in Fig. 66 und 67 zusammengehalten erscheinen,
als Zeugnisse dafür ansehen, weil sie sich auch auf assyrischen Bogen-
friesen (Fig. 33) finden. Der Rückfall in’s „Geometrische“ äussert sich
namentlich in der peinlichen Auftheilung der gesammten Oberfläche der
Vase Fig. 66 in parallele Streifen, und in den zahlreichen Streumustern
im Figurenfries. Es ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass
derselbe Horror vacui, der diese Streufüllsel hervorgebracht hat, die
peinliche Beobachtung der Zwickelfüllung im letzten Grunde zur Folge
gehabt hat.
4. Rhodisches.
Die nächste Gruppe von Denkmälern die wir in Betracht zu ziehen
haben, sind die sogen. rhodischen66) Vasen und die mit diesen eng ver-
wandten Thonsarkophage von Klazomenä. Das allgemeine Dekorationsschema
ist hier zwar im Wesentlichen das gleiche wie an den melischen Vasen:
Streifenmusterung und reichliche Streumuster als Füllungen zwischen
den menschlichen und Thierfiguren. Wenn aber an den melischen
Vasen in Bezug auf das Pflanzen- und Spiralen-Ornament die myke-
nische Tradition überwog, so tritt diese an der rhodischen Klasse in
den Hintergrund und macht Elementen von mehr orientalischem Ge-
präge Platz. Das Maass der Orientalisirung ist jedoch auch nicht überall
das gleiche, und schon die Betrachtung dieses Umstandes allein führt
sofort zu einer Scheidung, die freilich nicht ausschliessliche Geltung in
Anspruch nehmen kann und will.
Wo nämlich die Blüthenmotive vereinzelt, ohne Verviel-
fachung und ohne Verbindung mit ihresgleichen vorkommen, dort er-
scheinen die unverkennbaren, zu Grunde liegenden Volutenkelchblüthen
orientalischer, oder, genauer gesagt, egyptischer Schöpfung gewöhnlich
sehr frei behandelt und dem jeweiligen Zwecke angepasst. Als
Beispiel diene Fig. 7067). In diesem Falle handelte es sich um die Aus-
[161]4. Rhodisches.
füllung eines Kreissegments. Infolge dessen wurden die beiden, den
Kelch bildenden Voluten (die hier nach assyrischer, aber gleichfalls in
Egypten wurzelnder (S. 103) Weise nach aufwärts eingerollt sind) stark
in die Länge gezogen, und in den Zwickel dazwischen ein grosser
Gemalte Verzierung von einem rhodischen Teller.
Fächer eingesetzt. Zu bemerken ist auch die reichliche, ja peinliche
Füllung aller übrigen Zwickel innerhalb des Segments. Ein anderes
Beispiel giebt Fig. 71. Dieses Motiv bildet die Mitte eines Streifens von
einer Oenochoe68), woran sich rechts und links in symmetrischer Folge
Gemalte Verzierung von einer rhodischen Vase.
Vogelfiguren und Sphingen anschliessen. Hier gewahren wir einen
spiralig (also mykenisch-griechisch) eingerollten Volutenkelch, darüber
zwei ausladende spitze Kelchblätter, und zwischen diesen einen grie-
Riegl, Stilfragen. 11
[162]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
chischen Palmettenfächer; auch die vier dadurch entstandenen Zwickel
erscheinen entsprechend ausgefüllt. Das auf solche Weise zu Stande
gekommene Gebilde lässt sich ebenso wenig wie Fig. 70 als unmittel-
bare Kopie eines orientalischen Vorbildes erklären, wenngleich im letzten
Grunde die orientalische Volutenblüthe nicht zu verkennen ist; die Be-
Rhodischer Teller mit gemalter Verzierung.
handlung ist eben eine von der orientalischen gründlich verschiedene,
mykenische, oder, wenn man will, griechische.
Eine weit strengere Anlehnung an die orientalischen Vorbilder
zeigen hingegen in der Regel die Blüthenmotive der rhodischen Vasen,
sobald dieselben vervielfältigt neben einander gereiht oder unter ein-
ander in Verbindung gesetzt erscheinen. Fig. 72 giebt einen Teller
aus Kameiros69) wieder. Namentlich die Lotusblüthen-Knospen-Reihe
[163]4. Rhodisches.
des Randes erinnert unmittelbar an egyptische Vorbilder. Freilich wenn
man näher zusieht, gewahrt man Dinge, die an einem echten egyptischen
Beispiel undenkbar sind. Die Silhouette der Lotusblüthen ist hier schon
weit flüssiger und eleganter, die Füllung zwischen den zwei ausladenden
Kelchblättern ist nicht durch Spitzblätter, sondern durch Palmetten-
fächer hergestellt (vgl. hiefür Fig. 71). Vollends wenn wir die Mitte
des Tellers in Betracht ziehen, wo mit den Knospen blosse Palmetten-
fächer ohne die in der egyptischen Kunst damit unzertrennlich ver-
bundenen Volutenkelche alterniren, erscheint die nichtegyptische Her-
kunft des Tellers ausser allen Zweifel gesetzt. Immerhin aber ist zu
betonen, dass eine solche strenge Reihung von Lotus-Blüthen- und
Knospen nach dem egyptischen Grundschema in der ganzen mykeni-
schen Kunst nicht nachgewiesen ist.
Bogenfries mit Lotusblüthen und Knospen von einer rhodischen Vase.
Die einfache Reihung der Lotusmotive, wofür eben ein Beispiel
gegeben wurde, scheint gleichwohl selten in der rhodischen Kunst ge-
wesen zu sein. Das geradezu Typische ist dagegen der Bogenfries
mit Lotusblüthen und Knospen. Fig. 73 giebt hievon ein Beispiel,
dass bezeichnendermaassen von derselben Oenochoe entnommen ist,
auf welcher sich die mykenisirende Palmette Fig. 71 vorfindet. Hier ist
sogar der Kelch der Lotusblüthen aus Spitzblättern gebildet, also nach
egyptischer Weise, entgegen der unegyptischen Verquickung mit dem
Palmettenfächer, die wir in Fig. 72 kennen gelernt haben. Allzuviel
Gewicht wird man auf eine solche ausnahmsweise engere Anlehnung
an orientalische Vorbilder freilich nicht legen dürfen, wie insbesondere
die Betrachtung der Oenochoe bei Salzmann Taf. 44 nahelegt, wo unten
der Fries von Fig. 73, an der Schulter dagegen ein Bogenfries mit den
Motiven von Fig. 72 sich vereinigt findet. Gleichwohl ist das Schema
11*
[164]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
des Lotusblüthen-Knospen-Bogenfrieses ebenfalls in der mykenischen
Kunst nicht nachzuweisen, und erweist sich somit in gleichem Maasse
wie die Lotus-Blüthen-Knospen-Reihen als eine nachmykenische Anleihe
aus dem egyptisch-orientalischen Kunstfonds.
Obzwar es für unsere Aufgabe ziemlich gleichgiltig ist, ob der
zuletzt geschilderte Lotus-Bogenfries unmittelbar aus egyptischer Quelle
oder aber aus einer abgeleiteten übernommen worden ist, will ich doch
der häufig begegnenden Behauptung, dass wir es da mit einem specifisch
assyrischen Motiv zu thun haben, nicht ganz aus dem Wege gehen.
Was an dem Bogenfries Fig. 73 für assyrische Herkunft spricht, sind
insbesondere die Heftel oder Klammern, mittels welcher die Blüthen70)
an den Bogenlinien befestigt erscheinen (vgl. Fig. 28), in zweiter Linie
das Hinwegfallen aller jener kleinen füllenden Rosetten, Knöspchen u.s.w.,
mit denen die Zwischenräume an den egyptischen Bogenfriesen71) über-
laden sind. Diese Eigenthümlichkeiten halte ich aber noch nicht für
genügend, um ihr Vorkommen auf rhodischen Vasen aus assyrischer
Quelle erklären zu müssen. Die assyrische Kunst ist, wie wir gesehen
haben, in allem Wesentlichen eine abgeleitete, die Blüthe, die wir von
ihr kennen, eine verhältnissmässig späte und die mykenische in der
Entwicklung der Ornamentik nicht erreichende. Die strenger egypti-
sirenden Bogenfriese, die allein für die in Rede stehenden rhodischen
vorbildlich gewesen sein können, finden sich erst in der Zeit der Sar-
goniden (vgl. S. 93), sind also kaum nennenswerth älter als die rhodischen
Beispiele72).
Auch das Auftreten des Flechtbandes, jenes in der mesopotamischen
Kunst so weit verbreiteten (S. 89), in der egyptischen dagegen vernach-
[165]4. Rhodisches.
lässigten Motivs, in der rhodischen Kunst könnte man für ein Zeug-
niss assyrischen Einflusses nehmen. Die mykenische Kunst hat aber
das Flechtband anscheinend bereits gekannt (S. 140), zu einer Zeit, aus
welcher uns assyrische Denkmäler mit Flechtbändern mindestens nicht
erhalten geblieben sind. Und was das rhodische Flechtband streng
vom assyrischen unterscheidet, ist die an jenem in der Regel beob-
achtete Zwickelfüllung in den Aussenwinkeln. Am Euphorbosteller
ist dieselbe einfach giebelförmig73), an zwei Berliner Vasen74) kreis-
bis tropfenförmig, an den Sarkophagen aus Klazomenä75) durch Pal-
mettenfächer bestritten. Diese fanatische Zwickelfüllung, die wir schon
an den melischen Vasen beobachtet haben, ist aber der assyrischen
Kunst durchaus fremd. Dagegen findet sich tropfenförmige Zwickel-
füllung in den Aussenzwickeln eines Bogenfrieses schon auf mykenischem
Kunstgebiet, vgl. Myken. Vasen XIX. 136.
Nach dieser Abschweifung kehren wir zu den Blüthenmotiven der
rhodischen Vasen und ihren Verbindungsweisen zurück. Die Spirale,
die als verbindendes oder, infolge der ihr eigenthümlichen Zwickelbil-
dung, provocirendes Motiv für Blüthenformen noch in der melischen
Kunst eine so grosse Rolle gespielt hat, tritt in der rhodischen
Kunst zurück. Darin spiegelt sich der weitere Verlauf der griechischen
Pflanzenornamentik wieder: in ihrer selbständigen Existenz ist die
Spirale späterhin auf den laufenden Hund beschränkt worden. Wo sie
den Blumen als Kelch dient, hält sie sich länger, aber die Blumen
werden immer mehr das Maassgebende, an Bedeutung Ueberwiegende.
Mit anderen Worten: die Spirale verliert zusehends ihre geome-
trische Bedeutung und wird zur vegetabilischen Ranke.
Dieser Process, in der mykenischen Kunst angebahnt, erscheint in der
rhodischen zu weiterem Fortschritte gebracht, und darin ruht die
hauptsächliche Bedeutung der rhodischen Klasse für die Ent-
wicklungsgeschichte des Pflanzenornaments.
[166]B. Das Pflanzenornament in der griechischeu Kunst.
Nach dem eben Gesagten steht zu erwarten, dass die rhodische
Dekorationskunst von dem specifisch griechischen Motiv der Wellen-
ranke bereits umfassenderen Gebrauch gemacht hat. In der That lassen
sich mehrfache Beispiele dafür nachweisen.
Von fortlaufenden Wellenranken sind mir drei Beispiele aus
rhodisch-klazomenischem Gebiet bekannt geworden. Das erste findet
sich an einem Terracotta-Ziegel aus Kameiros, Fig. 7476), und ist merk-
würdigerweise eckig gebrochen. Auf den ersten Blick wähnt man einen
Mäander zu sehen, aber während dieser letztere in seiner typischen
Scherbe von einem rhodischen Teller.
Form stets einseitig (egyptisch) ist, laufen die rhombenartigen Ein-
rollungen in Fig. 74 bald von unten nach oben und bald umgekehrt,
wie es eben das Charakteristicum der fortlaufenden Wellenranke
(Fig. 50) bildet. Den rankenartigen Charakter vervollständigen zum
Üeberflusse die kleinen Einrollungen, die sich unten an die grösseren
zweigartig anschliessen. Um diese ganz vereinzelte eckige Bildung zu
erklären, wird man geneigt sein, den Einfluss des geometrischen Stils
heranzuziehen, der die Transponirung des ursprünglich aus der Kreis-
form construirten Motivs in’s Eckige verursacht haben mochte.
Haben wir es in Fig. 74 mit einer blossen Ranke ohne alle weitere
pflanzliche Zuthat zu thun, so tritt uns auf der Vase, Fig. 75, (Salzmann
[167]4. Rhodisches.
46) eine in vollendetem Kreisschwunge gehaltene Wellenranke entgegen,
deren Zwickel mit Palmettenfächern gefüllt sind. Diese augenschein-
lich einem vorgeschritteneren Stadium der Entwicklung angehörende
Amphora ist übrigens aus mehrfachen Gründen merkwürdig, und darf
Rhodische Amphora.
auf eine Sonderstellung ausserhalb der Reihe Anspruch erheben. Vor
Allem scheint eine Rechtfertigung dafür geboten, warum wir das Spiralen-
motiv auf dem Bauche dieser Amphora eine Wellenranke genannt haben.
Wir sehen nämlich in der Mitte zwei Spirallinien zusammenstossen, die
[168]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
nicht nach Rankenart in einander übergehen, sondern bloss äusserlich,
durch eine Klammer, mit einander verbunden sind. Wenn wir aber die
beiden Spirallinien rechts und links weiter nach rückwärts verfolgen,
bemerken wir beiderseits nach oben abzweigende Einrollungen, wie sie
eben dem Schema der fortlaufenden Wellenranke entsprechen. Wir
haben es da also nicht mehr mit geometrischen Spiralen, sondern mit
Ranken zu thun. Dieselben erscheinen zwar gegenüber den zwickel-
füllenden Palmettenfächern noch sehr vorschlagend in der Gesammt-
dekoration, aber auch die, bloss nach einer Seite (oben) eingezeichneten
Fächer77) sind grösser gehalten, als es bei bloss accidentellen Füllseln
in der Regel der Fall zu sein pflegt.
Lassen wir aber einen Moment das Detail aus dem Auge und be-
trachten wir die Gesammtdekoration, so werden wir uns erst be-
wusst, dass wir es da nicht mit der üblichen Streifenmusterung der
rhodischen Vasen, dem Erbtheil des geometrischen Stils, zu thun haben,
sondern mit einem einzelnen, grossartig hingeworfenen Muster,
das für sich genügt, den Bauch der Vase in gefälliger Weise zu
schmücken. Die mykenische Kunst war es, die einen solchen gross-
artigen Zug in der Dekoration entfaltet hat (S. 147): sollen wir nicht
auf eine latente Nachwirkung von dieser Seite auch den Anstoss zu
der Bildung von Fig. 75 zurückführen? Nicht anders ist das Schulter-
muster dieser Amphora zu erklären. Wir sehen da gereihte Blättchen
von epheuähnlicher Form, etwas schräg projicirt und mit anmuthig
geschlängelten Stengeln versehen: worin sich gleichfalls jene Neigung
zur lebendigeren Bewegung der pflanzlichen Motive kundgiebt, wie sie
(S. 118) die mykenische Kunst gegenüber den altorientalischen Künsten
so vortheilhaft auszeichnet. Wir könnten somit das Gefäss — abgesehen
von seiner Form — mykenisch nennen, wenn nicht der Hakenkreuz-
Mäander am Halse wäre, den die mykenische Kunst nicht kennt, und
der somit doch am allerwahrscheinlichsten aus Egypten herübergenom-
men sein wird. Werden wir uns schliesslich noch der „rhodischen“
Stilisirung der füllenden Palmettenfächer bewusst, so werden wir nicht
mehr überrascht sein, das übrigens nicht vereinzelt dastehende Gefäss78)
zusammen mit den übrigen „rhodischen“ Thonwaaren in Kameiros ge-
funden zu haben. Es ist eben in der Hauptsache mykenisch, mit
orientalischen Einflüssen, die auf „rhodischen“ Sachen nicht ungewöhn-
[169]4. Rhodisches.
lich sind, aber ohne Einfluss des Dipylon. Wenn man vom Mangel
einer figürlichen Darstellung absieht, so repräsentirt Fig. 75 das an-
schaulichste Zwischenglied zwischen mykenischer und hellenischer Kunst.
Das vollkommenste Beispiel einer fortlaufenden Wellenranke auf
rhodischem Stilgebiete findet sich an dem einen Berliner Sarkophag aus
Klazomenä79) (Fig. 76). Die Blumenmotive sind hier nicht mehr
Zwickelfüllungen, sondern vollendete Halbpalmetten. Es wäre dies ein
plötzlicher Sprung mitten in die reinste griechische Ornamentik, wenn
wir nicht ein melisches Zwischenglied (S. 158) kennen gelernt hätten,
das uns auf geradem Wege auf das mykenische Ursprungsgebiet zu-
rückführt. Der zwischen den Undulirungen der Wellenlinie und den
spiraligen Einrollungen ihrer Abzweigungen jeweilig freibleibende Raum
ist vollständig mit einem halben Palmettenfächer gefüllt, dieser Pal-
Gemalte Verzierung von einem klazomenischen
Thonsarkophag.
Von einem klazomenischen
Sarkophag.
mettenfächer wächst aber nicht aus dem inneren Zwickel heraus, sondern
verläuft concentrisch zum Spiralenkelch, analog dem mykenischen Vor-
bilde Fig. 64. Dass dies nicht bloss uns so erscheint, sondern auch
bereits den Verfertigern dieses klazomenischen Sarkophags das Motiv
der Halbpalmette vorgeschwebt hat, beweist das Ornament in Fig. 77,
das sich auf demselben Sarkophag vorfindet. Es ist dies zweifellos ein
Ausschnitt aus einem Lotus-Palmettenband (Fig. 79): in der Mitte wächst
der Lotus empor, rechts und links davon ist je eine halbe Palmette sicht-
bar, die genau dieselbe Form hat wie die Halbpalmetten in Fig. 7680).
[170]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Das Schema der intermittirenden Wellenranke ist in so
typischen Beispielen wie in Mykenä und Melos in der rhodischen Kunst
bisher nicht nachgewiesen. Immerhin lässt sich wenigstens ein Beispiel
anführen, an welchem der charakteristische Verlauf des genannten
Schemas latent zu Grunde liegt. Fig. 7881) zeigt einen Theil des
Innenmusters von einem Teller, wo vier umschriebene Palmetten in’s
Kreuz gestellt und in deren äussere Zwickel vier Palmettenfächer zur
Füllung eingesetzt sind. Die umschriebenen Palmetten weisen nach
Innen, die füllenden Fächer nach Aussen, so wie die Lotusblüthen auf
der melischen Vase Fig. 53; die wellenförmig dahinfliessenden Stengel
Theil eines bemalten rhodischen Tellers.
sind hier allerdings unterdrückt und dies hindert uns auch, das inter-
mittirende Schema völlig klar zu erkennen.
Fig. 78 giebt mir Veranlassung, noch eine bisher unbeachtet ge-
bliebene Seite des rhodischen Pflanzenornaments zur Sprache zu bringen.
Ich habe vorhin von umschriebenen Palmetten gesprochen, deren kreuzweise
Zusammensetzung dem Muster von Fig. 78 zu Grunde liegen soll. Die
umschriebene Palmette als Kunstausdruck ist nämlich in dieser Darstellung
etwas Neues. Nicht aber der Sache nach82). Wir hätten bei der Be-
schreibung von Fig. 78 ebenso gut sagen können, das Muster wäre aus
einem im Kreise verlaufenden Bogenfriese mit nach auswärts gekehrten
[171]4. Rhodisches.
Palmetten gebildet, in deren Volutenzwickel bei ihrem seitlichen An-
einanderstossen kelchfüllende Palmettenfächer, mit der Richtung nach
einwärts, eingesetzt wurden. Der geschwungene Kontur des einen
Motivs bildet eben zugleich denjenigen des benachbarten, wie es auch
den reciproken Ornamenten eigen ist. Das Motiv der umschriebenen
Palmette hat seine nächste Vorstufe an dem Ornamentband auf der
melischen Vase Fig. 66, das um den Bauch unmittelbar über dem
Fusse herumläuft (und am Schilde des rhodischen Euphorbostellers).
In letzterem Falle sind die Doppelspiralen noch die Hauptsache, die
Blüthen blosse Füllungen, in Fig. 78 bereits umgekehrt. Auf die gleiche
Wurzel geht offenbar die Verschränkung der Palmette mit dem alter-
nirenden Lotusblüthen-Profil, Fig. 7983), zurück, von einem klazome-
nischen Sarkophag84). Es ist zweifellos ein und dieselbe künstlerische
Tendenz, die allen diesen Versuchen zu Grunde liegt.
Von einem klazomenischen Sarkophag.
Die umschriebene Palmette hat in der späteren Ornamentik (bis
in romanische Zeit) eine überaus häufige Verwendung gefunden. Es
wäre daher wichtig, den Moment und die Umstände zu fixiren, unter
denen sie zuerst aufgetreten ist. Allem Anscheine nach ist dies jedoch
schon vor der Zeit geschehen, in welcher die klazomenischen Sarkophage
entstanden sind. Auf dem Sarkophage, Ant. Denk. I. 44, ist das Eier-
stabkyma nämlich bereits völlig typisch ausgeprägt, der vegetabilische
Lotus-Knospen-Reihen-Charakter daran vollständig verwischt. Soll dies
in der That schon in mykenischer Zeit geschehen sein, wie Goodyear
Taf. 55 No. 7 unter Hinweis auf Mykenische Vasen S. 49 Fig. 28 anzu-
nehmen geneigt ist? Jedenfalls sehen wir dann den Process in der
rhodischen Kunst mit den neu zugewanderten orientalischen Lotus-
Palmettenbändern auf’s Neue sich vollziehen. Dass darin ebenfalls ein
Keim der nachfolgenden Entwicklung in der korinthisch-attischen Kunst
liegt, hat schon Holwerda85) bemerkt. Auch dieser Umstand erscheint
[172]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
somit geeignet, die Bedeutung der rhodischen Kunst für die Fortbildung
des griechischen Pflanzenornaments zu erhöhen. Centrale Zusammen-
setzungen von vegetabilischen Motiven, ähnlich wie in Fig. 78, begegnen
uns schon in den altorientalischen Künsten, z. B. in der assyrischen
(Fig. 34); der bekannte aus je vier Lotusknospen und Palmettenfächern
zusammengesetzte Stern, der sich auch in Kameiros86) gefunden hat,
hängt noch eng mit jenen altorientalischen Bildungen zusammen.
Aber die richtige Grundlage für die Verschiebung und Verschränkung
der alternirenden Lotusblüthen und Palmetten war erst dann gegeben,
sobald man sich daran gewöhnt hatte, die Spirale völlig frei
zur Kelchbildung zu gebrauchen, und die Blumenmotive sich
von blossen Füllungen zu selbständigen Ornamenten eman-
cipirt hatten. Diese Stufe der Entwicklung hat aber, soviel wir heute
sehen können, zuerst die „rhodische“ Kunst erreicht87).
5. Altböotisches. Frühattisches.
Mit der Betrachtung der melischen und rhodischen Vasen haben
wir die Entwicklungsgeschichte des Pflanzenornaments über die my-
kenische Stufe hinaus weiter verfolgt und insbesondere an den Blüthen-
motiven des rhodischen Stils und ihren Verbindungsweisen deutlich die
Ausgangspunkte für die nachfolgende, unbestritten griechische Entwick-
lung erkannt. Es ist nun an der Zeit, in der Abwicklung der Fort-
bildungsgeschichte eine Weile innezuhalten und einige andere Denk-
mälergruppen zu Worte kommen zu lassen, die zwar keine wesentliche
oder gar führende Rolle in der Entwicklung des griechischen Pflanzen-
ornaments gespielt haben, aber durch gewisse Eigenthümlichkeiten uns
in Stand setzen, den zurückgelegten Process noch besser zu verstehen
und uns von der Stichhaltigkeit der aufgestellten Entwicklungsreihe
noch mehr zu überzeugen.
Dies gilt insbesondere von den böotischen Vasen, die Joh. Böhlau
[173]5. Altböotisches. Frühattisches.
im Arch. Jahrb. 1888 S. 325 ff. beschrieben hat; ja es wird sich zeigen,
dass wenigstens an einem Beispiele dieser Vasenklasse sich sogar ein
weiterer höchst bedeutsamer Schritt nach Vorwärts feststellen lässt.
Der Eindruck den der Bearbeiter von diesen Vasen anscheinend be-
kommen hat, der Eindruck einer in lokaler Isolirtheit befangenen
Kunstübung, mag vielleicht richtig sein. Dies schliesst aber nicht aus,
dass neben der von Böhlau in den Vordergrund gestellten geometrischen
Dekoration auch eine nicht zu unterschätzende pflanzliche sich vorfindet,
Altböotische Schale.
deren „lebendigen vegetabilischen“ Charakter übrigens auch Böhlau88)
wenigstens in Bezug auf die Palmette anerkannt hat. Das Lotus-
Blüthen- und Knospen-Band bei Böhlau, Fig. 14 S. 338, das derselbe
schwer verständlicher Weise mit einem Wellenband nach mykenischer
Art verwechselt hat, will ich nur beiläufig erwähnen, ebenso die selb-
ständigen, nach mykenischer Weise an geschweiften Stengeln sitzenden
Blumen: Lotusprofile mit drei Spitzblättern und bereits ganz griechisch
gebildete Palmetten89). Das Wichtigste für unsere Untersuchung ist das
[174]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Vorkommen der fortlaufenden Wellenranke in nicht weniger als
drei Fällen.
Der Rand der Schale Fig. 80 giebt eines davon wieder90). Die
Wellenranke rollt leicht und sicher um den Rand herum, in die Zwickel
sind nach egyptischer Art (also noch nicht nach Art der klazomenischen
Halbpalmetten) Zwickelblumen eingesetzt, die im Effekt den Spiral-
windungen mit Mühe die Waage halten. Dass wenigstens die in Halb-
kreis geschlossenen unter diesen Zwickelblumen noch im Stile der Pal-
metten des Furtwängler-Löschcke’schen mykenischen Vasenstils ge-
halten sind, hat Böhlau ebenso wie den Zusammenhang mit der
Scherbe aus Thera Fig. 50 anerkannt; ich möchte dazu auch die
Zwickelblumen mit punktirter Peripherie rechnen.
Altböotische Schale.
Das zweite Beispiel einer fortlaufenden Wellenranke giebt Böhlau
a. a. O. auf S. 335, Fig. 7. Die Zwickelfüllungen sind hier tropfenförmig,
ähnlich wie auf der mykenischen Brustplatte Fig. 60, und treten daher
gegenüber den Spiraleinrollungen noch mehr in den Hintergrund als
an Fig. 80. Bemerkenswerth ist bloss die Klammer, mittels welcher
jede Spiralabzweigung am Ansatze mit der fortlaufenden Wellenlinie
verbunden erscheint.
Unmittelbar unter Fig. 7 hat Böhlau in Fig. 8 (unsere Fig. 81) das
dritte Beispiel einer fortlaufenden Wellenranke abgebildet, das er selbst
nicht als solches erkannt hat. Man fasse aber den Zweig in der linken
Hälfte des Mittelstreifens in’s Auge. Der Stengel steigt vom Boden an
[175]5. Altböotisches. Frühattisches.
den oberen Rand, biegt dort um und spaltet sich in zwei durch eine
Klammer zusammen gehaltene Spiralen, die einem Palmettenfächer zum
Kelch dienen. Die nach rechts ausgreifende Spirale entsendet aber
wiederum einen Spiralschössling nach unten und bildet mit ihm einen
zweiten Kelch in dem allerdings aus Raummangel bloss ein füllender
Dorn Platz finden konnte. Der letztgenannte Spiralschössling endlich
entsendet einen gleichen noch weiter rechts nach oben und bildet mit
ihm den Kelch für eine Palmette gleich der zuerst genannten. Sehen
wir von den Füllungsblumen ganz ab, so erkennen wir unschwer das
Schema von Fig. 80, beziehungsweise Fig. 50.
Woran liegt es nun, dass Böhlau den Sachverhalt an Fig. 81 nicht
sofort erkannt hat? Vielleicht hat ihn auch die kurze Zweigform be-
irrt, gewiss aber die überwiegenden Dimensionen der Palmettenfächer
gegenüber den Spiralkelchen. Während diese letztere an Fig. 80 und
insbesondere an dem zweiten Böhlau’schen Beispiele klar und tonan-
gebend um die Schale herum fliessen, treten sie an Fig. 81 gegenüber
den Zwickelpalmetten zurück — mit anderen Worten: die Palmetten
werden zur Hauptsache, die Spiralen zur blossen acciden-
tellen Rankenverbindung. Darin kündigt sich der Weg der Zukunft
an, während das Motiv der fortlaufenden Wellenranke an sich den Zu-
sammenhang mit der mykenischen Vorstufe herstellt.
Aber auch noch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist Fig. 81
für die Entwicklung des griechischen Pflanzen-Rankenornaments be-
deutungsvoll: es ist dies das erste Mal, dass sich die Wellenranke von
der geschlossenen bordüreartigen Streifenform emancipirt und als selb-
ständiger Zweig91) frei hingeworfen erscheint. Dies ist aber das
eigentliche Ziel der griechischen Rankenornamentik gewesen: die freie
Entfaltung der undulirenden Linien über eine beliebige,
nicht bloss auf einen Längsstreifen beschränkte Fläche. Unter
diesem Hinblick ist der, wenngleich nicht eben schön gelungene Wellen-
rankenzweig Fig. 81 historisch weit bedeutsamer, als die auf S. 167 f. ge-
würdigte Wellenranke Fig. 75. Diese letztere ergiebt sich uns jetzt als
die formvollendete Lösung eines schon von der mykenischen Kunst
vorgebildeten Motivs, als Abschluss des Entwicklungsprocesses eines
[176]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
immerhin noch gebundenen, weil in Streifenform gebannten Motivs im
Sinne des höchst erreichbaren Formal-Schönen. Der Rankenzweig Fig. 81
durchbricht das hergebrachte Schema und weist auf neue fruchtbare
Wege: wer würde da verlangen, dass die Lösung auf den ersten Wurf
gelang?
Einschaltungsweise will ich hier — dem chronologischen Ent-
wicklungsgange vorgreifend — eine spätere böotische Vasenornamentik
zum Vergleiche heranziehen, weil sie vielleicht zur Erklärung für die
nachgewiesene öftere Verwendung der fortlaufenden Wellenranke in der
archaisch-böotischen Kunst beitragen könnte. Bei den Ausgrabungen
des Kabirenheiligthums zu Theben hat man nämlich eine Anzahl von
Vasenscherben zu Tage gefördert, die auffälligerweise zu allermeist mit
der fortlaufenden Wellenranke verziert sind (Fig. 82)92). Winnefeld hat
nachgewiesen, dass die betreffenden Vasen einer lokal-böotischen Fa-
Epheuranke von einem späteren böotischen Thongefäss.
brikation angehören und nicht vor dem 4. Jahrhundert entstanden sein
können. Zwischen der Entstehungszeit der altböotischen (nach Böhlau
7. Jahrhundert) und derjenigen der Kabirenvasen liegen allerdings
mehrere Jahrhunderte, in deren Verlaufe die fortlaufende Wellenranke
ein gemeinübliches Bordürenornament der griechischen Kunst geworden
ist. Auffällig ist aber an den Kabirenvasen immerhin die exclusive
Bevorzugung des fortlaufenden Schemas, das überwiegende Vorkommen
der sogenannten Epheublätter, jenes schon in der mykenischen Kunst
verbreiteten vegetabilischen Motivs, das Fehlen der „in anderen Vasen-
gattungen häufigsten Ornamentmotive: Mäander und Palmette, Stab-
ornament, Eierstab und Strahlen“ (Winnefeld). Nehmen wir dazu jenen
bestimmten mykenischen Zug, der sich z. B. in den gekrümmten, die
Wellenlinie begleitenden Stengeln der Epheublätter (Fig. 50) ausspricht,
so erscheint es in der That wahrscheinlich, dass diese lokal-böotische
Vasenornamentik hochalterthümliche Traditionen repräsentirt, wie sie
[177]5. Altböotisches. Frühattisches.
sich unter geringen Concessionen an die namentlich durch das attische
Geschirr und die attische Kunst überhaupt geschaffene und zur Mode
gewordene griechische Universalkunst bis gegen die alexandrinische
Zeit hin bewahrt haben mochten.
Da im Vorstehenden von dem Epheublatt die Rede war, halte ich
es für gerathen, um Missverständnisse zu vermeiden, nochmals (s. S. 125)
den Sinn dieser Bezeichnung zu erörtern. Ich denke dabei ebenso
wenig an ein wirkliches Epheublatt, wie bei der Bezeichnung Palmette
an eine Palme: es ist einfach ein Verständigungsmittel über eine gewisse
dekorative Kunstform, von welcher wir nicht wissen, was sich ihre je-
weiligen Darsteller darunter gedacht haben. Dies schliesst ja nicht aus,
dass man darin — namentlich in der naturalisirenden nachalexandrinischen
Zeit — in der That einen Epheu gesehen hat. Das Epheublatt begegnet
uns in Egypten, dann in Mykenä, es begegnet uns auf den sogenannten
chalkidischen Vasen und nun im Böotien des 4. Jahrhunderts. In letz-
teren beiden Fällen könnte man dem Motiv — die topographische
Nachbarschaft als über alle Zweifel erwiesen vorausgesetzt — die gleiche
Bedeutung beigelegt haben; wie aber in Mykenä oder gar in Egypten?
Deshalb kann ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, dass die
Blätter von Fig. 7 bei Winnefeld auf die botanische Species Tamus
cretica zurückgehen, viel eher halte ich sie als eine rein stilistische
Fortbildung der „Epheublätter“. Fig. 9 ebendaselbst zeigt allerdings
deutlich Weinblätter und Trauben: wir gelangen damit eben in die
naturalisirende Dekorationskunst, wie sie hauptsächlich die Diadochen-
zeit charakterisirt, aber schon seit dem peloponnesischen Kriege, seit
dem Aufkommen des Akanthus, sich in stets zunehmendem Maasse be-
merkbar gemacht hat. Gleichwohl ging auch dann noch daneben
immer eine stilisirende Richtung einher, die das Weinlaub z. B. fünf-
zackig bildete93) — eine Richtung die in spätrömischer Zeit im Orient
wieder entschieden die Oberhand gewann, und sie daselbst wahrschein-
lich auch in der Zwischenzeit niemals völlig eingebüsst hatte.
Böhlau’s frühattische Vasen im Arch. Jahrb. 1887 (S. 33 ff., Taf. 3—5)
stehen in Bezug auf die Entwicklung des Pflanzenornaments noch hinter
den melischen Vasen. Der Typus der Palmette ist hier noch keines-
wegs so abgeschlossen, wie wir ihn auf melischem Gebiete (S. 155) ge-
troffen haben. Die Vase auf Taf. 3 bei Böhlau zeigt an den Palmetten
Riegl, Stilfragen. 12
[178]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
zwar einen losen, aus kolbenartigen Blättern zusammengesetzten Fächer,
aber nicht die spiraligen Voluten; Taf. 4 dagegen die genannten Vo-
luten, aber in Verbindung mit einem dicht geschlossenen Fächer von
kugelförmigen Blättern. Auch die umschriebenen Palmetten auf Taf. 5
stehen hinter denen an unserer Fig. 66 zurück. Die Hydria bei Böhlau
S. 53 zeigt knospenartige Motive auf einen geknickten Bogenfries gereiht,
angeblich ein verkümmertes Lotusblumen-Knospen-Band; jedenfalls ist
dasselbe für die Entwicklung bedeutungslos. Fig. 23 bei Böhlau zeigt
dagegen zwei Doppelspiralen, deren jede in Form eines arabischen
Achters verschlungen ist und in Palmetten von ziemlich typisch-grie-
chischer Form ausläuft, während die Zwickel dazwischen mit Palmetten-
fächern gefüllt sind. Das wäre nun etwas, das sogar über die Freiheit
der Rankenführung in der rhodischen Kunst hinausginge, wenn es
nicht — wie auch Böhlau bemerkt — in der ganzen Klasse vereinzelt
dastünde. Das Motiv ist der Entwicklung nach nicht früher anzusetzen
als die gleichfalls von einer altattischen Vase stammende Fig. 83, mit
welcher — wie wir sehen werden — eine ganz eigenartige Weiterent-
wicklung des Pflanzenrankenornaments einsetzt.
6. Das Rankengeschlinge.
Das Material, auf Grund dessen wir heutzutage die Entwicklungs-
geschichte des Pflanzenornaments in der älteren griechischen Zeit zu
entwerfen im Stande sind, ist in der Hauptsache auf Gefässe beschränkt.
Unter diesen sind es wiederum die Thongefässe, welche an Zahl weitaus
im Vordergrunde stehen, in zweiter Linie erst die Metallgefässe. Der
Unterschied im Material hat zwar, wie ich zu betonen nicht müde
werde, nichts Wesentliches zu besagen. Der Lotus oder das Flechtband
war gegeben: auf den Thon wurden sie gemalt, in das Metall gravirt.
Ein wesentlicheres Hemmniss, um die Entwicklung völlig klar zu er-
blicken, könnte darin gelegen sein, dass es eben hauptsächlich nur
Gefässe sind, die uns zur Untersuchung vorliegen. Es macht sich
nämlich in der Verzierung der Gefässe schon in archaischer Zeit das
Bestreben geltend, die rein ornamentalen, bloss schmückenden, gegen-
ständlich nichtssagenden Motive einzuschränken und an ihre Stelle
figürliche Darstellungen, deren Inhalt der heroischen und der Göttersage
entlehnt wurde, treten zu lassen94).
[179]6. Das Rankengeschlinge.
Bei der reinen Streifendekoration konnte man da kaum stehen
bleiben. Es lag in der Natur der Sache, dass die figürlichen Dar-
stellungen immer mehr Raum für sich in Anspruch nahmen, die Thier-
friese dagegen und vollends die geometrischen und vegetabilischen
Zierformen auf ein zunehmend geringes Maass beschränkt wurden.
Wenn wir nun an den rhodischen Vasen deutlich das Bestreben des
Rankenornaments nach Ausbreitung wahrzunehmen glaubten, so trat
diesem Bestreben jenes andere nach Ausbreitung der figürlichen Scenen
hindernd entgegen. Die Ranken konnten sich auf den Vasen nicht frei
über grössere Flächen entfalten, weil ihnen der Raum hierfür von den
figürlichen Vasenbildern bestritten wurde. Wie war es aber auf anderen
Gebieten?
Was uns da sonst noch vorliegt, z. B. kleine Schmuckstücke aus
Edelmetall, das läuft in der ornamentalen Entwicklung ganz parallel
mit den Erscheinungen auf den Vasen. Wäre uns z. B. etwas von
Wandmalereien der betreffenden Zeiten erhalten, so würde sich vielleicht
eine weit freiere Pflanzenrankenornamentik, etwa wie sie die helle-
nistische Zeit kennzeichnet, schon für eine gewisse Zeit vor den Perser-
kriegen feststellen lassen. Dieser Schluss erscheint nicht zu gewagt,
sobald wir beobachten, wie das Pflanzenrankenornament selbst an den
Vasen, dort wo ihm noch eine freiere Entfaltung ermöglicht bleibt —
an und unter den Henkeln — davon begierig Gebrauch macht. Das
uns zur Verfügung stehende Vasenmaterial zeigt uns das Pflanzenranken-
ornament hauptsächlich in bordürenartige Längsstreifen gezwängt. Von
diesen letzteren, als den einfacheren gegenüber den endlosen Flächen,
hat aber auch sicher die folgende Entwicklung ihren Ausgang ge-
nommen.
Da begegnet uns nun zunächst die lehrreiche Erscheinung, dass das
fortlaufende und das intermittirende Wellenranken-Schema
nach mykenischem Muster in seiner einfachsten Form dem
nach Entfaltung drängenden dekorativen Sinn nicht mehr ge-
nügte. Fig. 83 stammt von einer Schüssel aus Aegina95), die auf alt-
94)
12*
[180]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
attischen Ursprung zurückgeführt wird; genau dasselbe Muster findet
sich übrigens an einer in Athen gefundenen Amphora, die auf S. 46
des Textes zu den Antiken Denkmälern Bd. I abgebildet ist. Das
Ornament als Ganzes setzt sich zusammen aus Blüthenmotiven und aus
Rankenlinien; betrachten wir zunächst die ersteren gesondert für sich.
Wir unterscheiden da zweierlei Motive: Lotusblüthen, gekenn-
zeichnet durch die weitausladenden Seitenblätter, und Palmetten oder
besser gesagt blosse Palmettenfächer. Das grössere, wichtigere Motiv
sind augenscheinlich die Lotusblüthen; dagegen treten die Palmetten
sowohl in der Grösse, als wegen des anscheinenden Mangels des zur selb-
ständigen Palmette unentbehrlichen Volutenkelchs zurück. Die Lotus-
blüthen sind nun ebenso wie die Palmetten mit der Krone abwechselnd
Gemaltes Rankengeschlinge von einer Schüssel aus Aegina.
von unten nach oben und von oben nach unten gekehrt, worin wir das
intermittirende Wellenrankenschema bereits ahnen. Um dieses letztere
vollends sicherzustellen, bedarf es aber des Nachweises einer entspre-
chenden Verbindung.
Diese letztere erscheint hergestellt durch die schlingenförmig
verlaufenden Rankenlinien. An der Stelle nämlich, wo zwei
Schlingen ineinander greifen, sitzt immer auf der einen Seite eine
Lotusblüthe, auf der anderen eine Palmette. Die zwei Schlingen ver-
treten auf solche Weise die Stelle von zwei Spiraleinrollungen eines
Volutenkelchs, indem sie für eine darüber sich erhebende Blüthe den
Kelch bilden. Man lösche jenen Theil der Rankenlinien, der sich durch
die Lotusblüthen hindurch schlingt und dieselben halbirt, ferner die bloss
raumfüllenden Spiralen, die sich beiderseits an die Palmetten ansetzen,
so gewinnt man das nackte Schema der intermittirenden Wellenranke,
an deren Berg- und Thalpunkten Lotusblüthen ansetzen. Die Palmetten
[181]6. Das Rankengeschlinge.
sind blosse accessorische Zwickelfüllungen der von der Ranke gebil-
deten Kelche.
Die Stichhaltigkeit der gegebenen Erklärung des Motivs springt
noch mehr in die Augen an Fig. 84, das von einem Bronzetäfelchen
im Berliner Antiquarium96) entlehnt ist. Hier haben wir in der That
das nackte intermittirende Schema: die Lotusblüthen setzen einmal
oben und dann unten ganz einfach, ohne alle Vermittlung durch
Spiralvoluten oder Schlingenkelche, an die zwei von rechts und links
zusammentreffenden Stengel an; die Schlingen, welche letztere vor
ihrem Absetzen an der Lotusblüthe bilden, sind eine Bereicherung des
Motivs und stellen den Zweck, den man mit dem ganzen Motiv ver-
folgte, erst recht deutlich in’s Licht. Hier beirren uns auch nicht mehr
die Bänder, von denen die Lotusblüthen durchzogen und halbirt sind,
Verziertes Bronzetäfelchen im Berliner Antiquarium.
da sie hier nicht so wie an Fig. 83 die intermittirende Wellenlinie
durchkreuzen, sondern an beiden Seiten für sich getrennt verlaufen.
Die Palmetten endlich geben sich hier vollends unverkennbar als blosse
Zwickelfüllungen.
Zweierlei haben wir an dem solchergestalt in seinem Wesen fest-
gestellten Motiv besonders vermerkt: erstens die in der Richtung
alternirende Paarung von Lotusblüthen und füllenden Pal-
mettenfächern, zweitens die Bereicherung der verbindenden
Wellenrankenlinien durch Schlingen, wozu noch die völlig als
dekorative Superfötation angehängten Bänder kommen. Die Paarung
von Lotusblüthen und Palmetten in alternirender Richtung, also das
Motiv, das in der herrschenden Kunstterminologie als gegenständige Lotus-
blüthen und Palmetten bezeichnet wird, ist uns im Wesen nicht mehr neu.
Sie findet sich schon auf dem melischen Beispiel Fig. 53; nur ist hier
anstatt des Palmettenfächers ein blosser Zapfen zur Zwickelfüllung
[182]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
verwendet, was an der wesentlichen Uebereinstimmung des Grundmotivs
nichts ändert.
Zum leichteren Verständniss des Sachverhaltes gebe ich in Fig. 85
das Ornament eines gleichfalls in Berlin verwahrten und in Theben
gefundenen Bronzeplättchens97), das zwischen dem melischen (Fig 53)
und dem frühattischen (Fig. 83, 84) Beispiel die Mitte hält98). Man vgl.
ferner bei Brunn-Lau, Die griechischen Vasen, Taf. VIII, das Halsorna-
ment von No. 1 mit No. 5 derselben Tafel, dann ebenda Taf. XI 6, 7,
welche schon der weiteren Entwicklung angehören. Der Schlusspunkt
dieser Entwicklung war so wie derjenige der attischen Ornamentik gegen
das 5. Jahrh. hin überhaupt die Lossagung vom Schwulste der schmuck-
freudigen archaischen Zeit, die Beschränkung auf wenige und verein-
fachte Motive von rein ornamentaler Wesenheit, freilich unter freiester
Verziertes Bronzetäfelchen im Berliner Antiquarium. Aus Theben.
Beherrschung der Darstellungsmittel und vollendeter Ausgestaltung im
Sinne des Formalschönen. Als Beispiel einer intermittirenden Wellen-
ranke mit gegenständigen Lotusblüthen und Palmetten, ohne alle Spiral-
windungen, Verschlingungen und Volutenkelche, möge Fig. 86 nach
Brunn-Lau XI. 8 dienen, das noch nicht dem freiesten Stile angehört.
Kehren wir nochmals zu Fig. 83 zurück. Neu ist daran, wie wir
gesehen haben, eigentlich bloss die Verschleifung der intermittirenden
Wellenlinie in ein ohne Unterbrechung fortlaufendes Band; dies wird
ermöglicht durch die Bildung von Schleifen, deren je zwei im Zusammen-
stossen immer den Kelch für die anzusetzenden Blüthenmotive bilden.
[183]6. Das Rankengeschlinge.
Wir haben das Aufkommen dieses Motivs aus einem Bestreben nach
reicherer Ausgestaltung des bordürenartigen Rankenstreifens zu erklären
gesucht, und zwar auf Grund der geraden Entwicklung aus dem ge-
gebenen Vorbilde der intermittirenden Wellenranke, wofür Fig. 84 wohl
jede weitere Beweisführung überflüssig macht. Es ist dies aber nicht
der erste Erklärungsversuch, den man für dieses Motiv aufgestellt hat.
Dasselbe hat nämlich schon um seines augenfälligen Zusammenhanges
mit dem gegenständigen Palmetten-Lotus-Band die Aufmerksamkeit einiger
Forscher erregt. Am bündigsten und entschiedensten hat sich Holwerda
im Arch. Jahrb. 1890, S. 239 f. darüber ausgesprochen.
Es ist fast selbstverständlich, dass Holwerda’s Erklärung an irgend
eine Technik anknüpfen musste. Diesmal fiel die Wahl auf eine Metall-
Gemalte Rankenverzierung. Griechisch.
technik. „Die durchsetzenden Schlingen waren die genaue Nachahmung
von Metalldrahtgeflechten, deren Muster sich noch mit voller Sicherheit
erkennen lassen. Es war dieses ganze, sehr künstlich“ (in der That!)
„erfundene Geflecht aus einem einzigen Metalldraht hergestellt, dessen
beide Enden, wenn das Ornament um einen Gegenstand herum gelegt
wurde, an einem Punkte zusammentrafen, welches aber durch seine
Windungen alle Elemente des Ornaments aufzunehmen geeignet war.“
Die Blüthenmotive denkt er sich dann aus Metallblech ausgeschnitten
und an den Draht angelöthet. Ich will nun gar nicht in Abrede stellen,
dass einmal ein ostmittelländischer Goldschmied in jenen Jahrhunderten
die Lotusblüthen und Palmetten etwa aus Metall getrieben und die
Schlingranken in Filigran darauf gelöthet haben mochte. Aber der
sonderbare technische Vorgang, wie ihn Holwerda schildert, müsste erst
monumental erwiesen werden, und vollends die Entstehung eines be-
stimmten Ornamentmotivs aus solcher Wurzel wird selbst derjenige
[184]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
kaum ernst nehmen können, der von der technisch-materiellen Ent-
stehung der Urmotive im Allgemeinen vollständig überzeugt ist.
Ich habe dieses Beispiel aus zahllosen anderen, wo der Metall-,
Textil-, Stein-Stil u. s. w. zur Erklärung älterer griechischer Ornament-
formen herhalten musste, deshalb gewählt, weil es besonders geeignet
ist zu zeigen, in welch abstruse Folgerungen sich Forscher, deren hohe
Verdienste um die Wissenschaft der klassischen Archäologie im Uebrigen
völlig unbestritten sein sollen, verlieren, sobald sie sich auf den gefähr-
lichen Weg der Spürsuche nach Techniken begeben. Es würde die
Grenzen dieses Buches in’s Unabsehbare erweitern, wenn ich hinsicht-
Schnürchenstickerei. Aus Ragusa.
lich eines jeden Motivs, das hier zu Sprache gebracht wird, auf die
bereits von anderer Seite versuchten „technischen“ Erklärungen Rück-
sicht nehmen würde. Nachdem ich mich aber nun einmal hinsichtlich
des obigen Falles in eine eingehendere Erörterung eingelassen habe,
so sei es mir gestattet dabei noch etwas zu verweilen und eine andere
„technische“ Parallele dazu vorzubringen, die sich den Anhängern der
technisch-materiellen Ableitungstheorie, zu denen ich selbst allerdings
nicht zähle, vielleicht besser empfehlen möchte als die von Holwerda
versuchte.
Fig. 87 zeigt einen Zwickel von der Weste eine Kleinbürgers aus
einer süddalmatinischen Stadt. Der Stoff ist blaues Tuch, die Stickerei
ist in aufgelegten Gold- und Silberschnürchen ausgeführt. Was dem
[185]6. Das Rankengeschlinge.
Auge des Archäologen sofort in’s Auge springen wird, ist das Orna-
ment, das sich in der oberen Hälfte gegen das schmale Ende hinzieht.
Es ist nämlich das leibhaftige „gegenständige“ Palmetten-Lotus-Band;
selbst das Band, das sich undulirend dazwischen schlingt, erinnert an
Fig. 83. Die technische Ausführung, die diesem gestickten Ornament
zu Grunde liegt, ist in der That diejenige, die Holwerda seinen Schling-
drähten zu Grunde legt. Es handelt sich darum mit fortlaufendem
Faden ein bestimmtes Ornament auf die Fläche hin zu zeichnen. Der
geübte Sticker wird die Fäden so legen, dass er niemals hinsichtlich
der Verbindung mit dem benachbarten Ornament in Verlegenheit
kommt. Das in Fig. 87 vorliegende Stück zählt ausnahmsweise nicht
zu den gelungensten: die meisten unter diesen Schnürchenstickereien
von der Balkanhalbinsel sind nämlich vollendet in der Zeichnung und
meisterhaft in der Mache. Der Verbreitungsbezirk geht aber über die
Balkanhalbinsel hinaus und umfasst auch die griechischen Inseln und
zum Theil Kleinasien bis nach Syrien. Die Ornamente sind beschränkt
an Zahl und eigenartig: an denjenigen von der Balkanhalbinsel tritt
die specifische saracenische Tünche zurück und das Autochthon-Byzan-
tinische, oder sagen wir gleich, das Antike unverkennbar hervor. Ich
hege daher auch keinen Anstand in Fig. 87 einen Epigonen des archai-
schen gegenständigen Palmetten-Lotus-Bandes zu erblicken. Das ver-
breitetste Saumornament am Balkan ist daneben die fortlaufende Spirale,
die sich kreisförmig ein- und vom Mittelpunkte wieder ausrollt, völlig
nach mykenischer Weise (Fig. 59). Historisch betrachtet, kann das
Ornament am Balkan nicht überraschen; in der Schnürchenstickerei
hatte man besondere Veranlassung strenge daran festzuhalten, da be-
greiflichermaassen kaum ein anderes über die blosse Wellenlinie hinaus-
gehendes Muster sich für Saummuster aus aufgelegten Schnürchen so
vortrefflich eignete. Immerhin wäre das Eindringen des auch ander-
wärts in Gebrauch gebliebenen oder wieder gekommenen einfachen
Spiralmotivs von aussen her nicht undenkbar. Das Motiv von Fig. 87 ist
aber ein höchst eigenartiges, das in solcher Stilisirung und individuellem
Charakter seit archaischer Zeit niemals mehr in der internationalen Kunst,
auch nicht in der römischen zur Darstellung gebracht worden ist. Die
italienische Renaissance, die ja auf dem Wege über Venedig die Balkan-
küsten nachweislich stark beeinflusst hat, kannte das Motiv nicht; auch
im Empire, das ja zuerst wieder archaisch-griechischen Formen Gefallen
abgewann, ist es nicht nachzuweisen. Nur in einer Volkskunst konnte es
sich durch die Jahrtausende so unverändert erhalten haben, und dies
[186]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
ist in Epiros am allerwenigsten unwahrscheinlich. Uebrigens spielt
ja auch in den Silberinkrustationen in Holz, die z. B. in Bosnien bis
auf den heutigen Tag erzeugt werden, die ausgemachte griechische
Palmette und die strenge Rankenführung die Hauptrolle.
Was könnte sich daraus für unser altattisches Muster Fig. 83 er-
geben? Da haben wir ein nächstverwandtes Muster, ausgeführt zwar
nicht in einer „Metalltechnik“, aber doch in einer „textilen Technik“.
Während Holwerda’s Metalldraht- und Blech-Löthung völlig in der Luft
hängt, haben wir hier einen monumentalen Beweis dafür, dass die be-
treffende Technik das Schlingmuster mit „gegenständigen“ Blüthen
wenigstens in neueren Zeiten gebraucht hat. Wäre es etwas Ungeheuer-
liches, den alten Griechen die Schnürchenstickerei zu vindiciren? Wie
sind denn die laufenden Hunde zu erklären, die an den Säumen der
gemalten Himatien und Chitons hinlaufen? Gewiss sind die Streumuster
und Thierfiguren etc. auf diesen Gewändern gemäss den antik-egyp-
tischen und taurischen Funden überwiegend als gewirkt anzunehmen;
warum soll aber der laufende Hund am Saum nicht in Schnürchen-
stickerei ausgeführt gewesen sein, genau so wie noch heute die Spiral-
säume albanesischer Westen? Es wäre wenigstens ein halbwegs palpables
Zwischenglied vorhanden, das sich zwischen das fertige Ornament und
die supponirte Technik einschieben liesse.
Und doch würde ich auch einen solchen Schluss noch für viel zu ge-
wagt halten, ja ich halte ihn geradezu für falsch und verfehlt. Auch dem
in Schnürchenstickerei ausgeführten Muster liegt eine künstlerische Con-
ception des ausführenden Menschen zu Grunde. Von selbst hat sich
die Linie nicht zu Schlingen zusammengeschoben. Gerade so wie wir
heute für jeden kunstgewerblichen Entwurf, in jedem Material, selbst
für die plastische Ausführung, eine Zeichnung schaffen, uns in linearen
Umrissen das Bild des fertig zu stellenden Gegenstandes vor Augen
führen, ebenso und nicht anders verfuhr der archaische Künstler.
Die Grundlage seiner schöpferischen Thätigkeit muss ebenfalls
eine zeichnerische gewesen sein: von diesem Gesichtspunkte betrachtet,
war es ihm aber gewiss natürlicher das Geschlinge aus den ihm bereits
durch die nationale Tradition oder durch erworbene fremde Gegenstände
bekannt und vertraut gewordenen Ranken mit dem Pinsel auf Thon
zu malen oder mit dem Stift zu graviren, als aus Drath zusammenzu-
löthen oder aus Schnürchen auf einen Gewandstoff hinzulegen. Wenn
wir dann schon durchaus von einer Technik reden sollen, so wäre es
diejenige der Malerei, der Zeichnung mit dem Pinsel, der Ritzung mit
[187]6. Das Rankengeschlinge.
dem Griffel u. s. w. Aber weder Pinsel noch Griffel schaffen automatisch,
sondern werden geführt von der menschlichen Hand, und diese von
der künstlerischen Eingebung, die Anerworbenes und geistig Erschautes
zusammenbringt und daraus in unwiderstehlichem Drange ein Neues
gestaltet.
Man ist aber mit dem Motiv von verschlungenen Rankenbändern
mit zwickelfüllenden Blüthen über die fortlaufende Längsstreifenform
hinausgegangen und hat dasselbe dazu benutzt, um abgeschlossene
Compositionen daraus zu gestalten. Als Beispiel gebe ich in Fig. 8899),
Sog. chalkidische Vase.
eine sogen. chalkidische Vase, für welche Klasse das Motiv besonders
charakteristisch ist. Die Rankenbänder gehen hier von einem festen
Mittelpunkt aus, verschlingen sich unter theilweiser Anwendung von
Klammern, divergiren nach oben und unten; im oberen Streifen endigen
sie in sogen. Epheublätter, im unteren intermittiren sie in solchen
Blättern und laufen in einen Spiralkelch aus, auf dessen zwickel-
füllendem Palmettenfächer ein Vogel sitzt.
Wir haben also in der That eine Verschlingung von regel-
[188]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
mässig undulirenden Ranken vor uns, in deren Zwickel füllende
Palmettenfächer eingestellt sind. Die Verwandtschaft mit Fig. 83 springt
somit in die Augen; der Unterschied liegt bloss darin, dass es in Fig. 83
galt eine struktiv einfassende, fortlaufende Bordüre zu schaffen, während
Fig. 88 eine selbständige Füllung darstellen sollte, die in sich abge-
schlossen werden musste. Im Epheublatt an den Intermittirungspunkten
drückt sich am deutlichsten die Brücke aus, die von Fig. 83 zu
Fig. 88 führt.
Was die Beurtheilung dieses Motivs bisher über Gebühr beein-
flusst hat, sind die zu beiden Seiten desselben in symmetrischer Gegen-
überstellung angeordneten Thierfiguren. In Fig. 88 sehen wir oben zwei
affrontirte Löwen, unten Löwe und Panther adossirt, die erwähnten
Vögel aber wieder affrontirt, durchweg mit umgewandten Köpfen, was
ein reiches Spiel des Rhythmus hervorbringt. Es ist das Schema des
„Wappenstils“, das wir vor uns haben. Was nun den vermeintlich
textilen Charakter desselben anbelangt, verweise ich auf das im 2. Ca-
pitel über diesen Gegenstand Gesagte. Ausserdem hat man aber das
ganze Schema als aus dem Orient herübergebracht erklärt, im Gefolge
der berüchtigten persisch-orientalischen Textilkunst. Es ist nun ohne
Weiteres zuzugeben, dass die Thierfiguren entschieden orientalisches
Gepräge aufweisen: insbesondere die Thierspecies selbst, sowie das
Auflegen der Tatze auf die Palmette. Das Schema war aber auf grie-
chischem Kunstboden schon bekannt vor der Entstehung der chalki-
dischen und verwandten Vasen. Die melischen Vasen (Fig. 66) zeigen
es auf Hals und Bauch, und zwar ohne orientalische Bestien und mit
einem Spiralrankenmuster von dem auch Holwerda100) zugiebt, dass es
nicht assyrisch ist. Lässt sich aber das Rankengeschlinge auf Fig. 88
nicht mit orientalischen Vorbildern in Verbindung setzen?
Man hat diesbezüglich Mehrfaches herangezogen. Einmal Assy-
risches, was schon der Thierfiguren halber näher liegt. Hier ist es der
„heilige Baum“, in dem man den Ausgangspunkt erkennen wollte. Der
heilige Baum trägt auch Palmetten an der Peripherie und seine Zweige
sind oft durch Klammern zusammengehalten. Damit ist aber die Ana-
logie auch schon erschöpft. Der heilige Baum entfaltet sich von unten
aus, eben wie ein Baum aus einer Wurzel; das chalkidische Rankenge-
schlinge krystallisirt sich um einen centralen Punkt. Der heilige Baum
ist ein Mittelding zwischen. Baum und Möbel, das chalkidische Ranken-
[189]6. Das Rankengeschlinge.
geschlinge hat nichts von beiden, sondern ist eine nach rein dekorativen
Grundsätzen erfolgte Verschlingung von gefällig geschwungenen Linien.
Die assyrischen Palmetten sind überdies, wie wir gesehen haben, nicht
bloss anders im Detail gestaltet, sondern am heiligen Baum auch selb-
ständige Ansätze, etwa gleich Früchten, an Fig. 88 dagegen grössten-
theils offenbare Zwickelfüllungen. Noch weniger lässt sich der phöni-
kische Palmettenbaum in Parallele setzen, der eine Ineinanderschachte-
lung von Kelchen in der vertikalen Richtung des Baumwuchses dar-
stellt, wogegen an Fig. 88 jede Betonung einer bestimmten Richtung
vermieden ist.
Eher liessen sich Analogien für das Geschlinge auf egyptischem
Boden finden. Es sind dies die bei Prisse d’Avennes abgebildeten Plafonds
(Fig. 27); das grundlegende Muster bilden schmale Bänder und Schnüre,
die sich zumeist spiralig einrollen, aber auch vielfach verschlingen.
Daneben spielt das zwickelfüllende Lotusblumenornament die ent-
scheidende Rolle. Unmittelbare Parallelen zu dem chalkidischen
Muster sind zwar keineswegs nachzuweisen; die Möglichkeit will ich
übrigens nicht schlankweg bestreiten, dass diese egyptischen Plafond-
malereien im Allgemeinen auf die Schaffung des chalkidischen Musters
von Einfluss gewesen sein könnten1). Der Geist aber, in dem es
durchgeführt erscheint, ist griechisch, die Ranke ist griechisch, die
Blüthenmotive sind gräcisirt.
Das in Rede stehende Muster wurde bisher stets als chalkidisch
bezeichnet; in der That hat es über diese Vasenklasse hinausgegriffen.
Fig. 88 bezeichnet nur den Typus; das Muster wurde aber vielfach
variirt. Ja man hat es sogar mittels Reihung zur Musterung von Bordüre-
streifen herangezogen, wie z. B. an dem „protokorinthischen“ Salbgefäss
Arch. Zeit. 1883 Taf. X. I, allerdings in weniger glücklicher Weise. Es
war eben eine lebhaft aufstrebende Zeit, die sich in den verschieden-
sten Combinationen versuchte.
Die geschichtliche Bedeutung des chalkidischen Ranken-
geschlinges beruht darin, dass hier die Ranke zum ersten Male
verwendet erscheint, um der Füllung einer neutralen Fläche
zum Grundmuster zu dienen. Im mykenischen Stil geschah dies bloss
mit der Spirale; die Ranken waren beschränkt auf Bordürestreifen.
Die Vorstufen des Gebrauches von Fig. 88 begegneten uns auf meli-
[190]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
schen Vasen2). Mit Rankenzweigen wurde auch schon Aehnliches
versucht: im Rhodischen (Fig. 70), im Böotischen (Fig. 81). Die vor-
geschrittenste unter den bisher beobachteten Lösungen war die chal-
kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere
Entwicklung angeknüpft.
Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein-
nehmen sehen, konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken-
geschlinge als Füllung hatte, wie wir gesehen haben, seinen eigent-
lichen Platz als Mittel zwischen flankirenden Thierfriesen. In dem
Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von
figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten
die Thierfriese zurück und wurde auch das Rankengeschlinge über-
flüssig. Aber eine Stelle gab es doch an der Vase, wohin die figür-
lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament
Zuflucht finden konnte. Es ist dies die Gegend um und unter dem
Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Ranken-
ornament wenigstens an den Vasen — leider unserem einzigen Unter-
suchungsmaterial — weiter entwickelt, und zwar, wie wir sehen werden,
unter deutlicher Anknüpfung an das centrale Rankengeschlinge, aber
unter zunehmender Verfeinerung der Ranken und Emanicipirung der
Blüthen, die aus blossen Zwickelfüllungen zu selbständigen Gebilden
werden.
Bei den kleinen symmetrischen Rankenornamenten, die häufig
anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der
Mitte zwischen den affrontirten Thieren bewerkstelligen3) und die
sämmtlich auf das symmetrische Zusammentreten zweier kurzer ge-
schwungener Ranken, mit Zwickelfüllung durch Lotus oder Palmette
(auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie
entwicklungsgeschichtlich kaum höher zu stellen sind als etwa die
rhodische Füllranke Fig. 70.
Bevor wir uns aber zur Betrachtung des Processes wenden, der
zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geometrischen Spiral-
bandcharakter geführt hat, wodurch sie erst befähigt wurde, beliebige
Flächen in unbeengtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem
Schwunge zu überziehen, wollen wir vorerst die Entwicklung betrachten,
die dieselbe in dem gebundenen Streifenschema der fortlaufenden
Bordüre genommen hat.
[191]7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre.
7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre (des Ranken-Frieses).
Die älteste, seit der egyptischen Thutmessidenzeit nachweisbare
Art der Verbindung von vegetabilischen Ziermotiven — der Bogen-
fries — ist auch in der griechischen Kunst fortdauernd in Gebrauch
geblieben. Es ist sozusagen eine der ewigen Formen, zu denen die
dekorative Kunst immer wieder wird zurückkehren müssen. Fig. 89
zeigt eine sogen. kyrenische Schale, in deren Mitte von Henkel zu Henkel
sich ein Bogenfries zieht. Die nach egyptischer Weise alternirenden
Einzelmotive sind birnförmige Blüthen mit dreispältiger Krone, und
einfache Knospen. Das Schema erinnert in seiner Gesammterscheinung
Kyrenische Schale.
an die egyptischen (und überhaupt altorientalischen) Beispiele; im
Einzelnen sind aber mehrfache Abweichungen erkenntlich. Die dicken
Stengel der altorientalischen Vorbilder (Fig. 22, 33), die sich auch noch
auf rhodischen Vasen (Fig. 73) finden, haben feinen elastisch geschwun-
genen Rankenlinien Platz gemacht, was wir wohl unbedenklich auf
Rechnung griechischen Dekorationsgeistes setzen dürfen. Die Heftel
kannten zwar auch schon die Vorbilder, und die raumfüllenden Punkte
in den Bogenfeldern sind nur analog den an gleicher Stelle und zu
gleichem Zwecke verwendeten Rosetten in der egyptischen Kunst
(Fig. 22, in welcher Reproduktion aber die Rosetten und anderes Füllsel
der Deutlichkeit des Grundschemas zuliebe weggelassen wurde) auf-
zufassen. Wesentliche Veränderungen bemerken wir aber auch an den
vegetabilischen Einzelformen, insbesondere an den Blüthen.
[192]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Es ist hier der Platz, um über die Fortbildung der altorien-
talischen, genauer gesagt, der egyptischen Blüthenmotive in
der griechischen Kunst überhaupt einige Worte einzuschalten. An
der Knospe war allerdings nicht viel zu ändern; die Palmette erfordert,
als eine ganz specielle Projectionsform, eine gesonderte Betrachtung,
die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll nur
von dem Motiv der Lotusblüthe selbst die Rede sein. Wenn man
nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervölker im
Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen
in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth-
gedrungenermaassen alle diese Formen — direkt oder indirekt — auf
egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen haben, die
Egypter, soweit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge-
wesen sind, die den dreiblättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel-
blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben.
Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt-
rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des
Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des
Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von
den Griechen etwa des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt
verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches
Symbol, sondern ein blosses Dekorativ, da wir in ersterem Falle doch
gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten.
Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl
nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher
künstlerischer Gesichtspunkte sind in der That viele denkbar, und
nachdem einmal die Tradition durchbrochen war, man vor einer Modi-
fikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die
Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen
uns vielmehr wundern, dass die Griechen bei ihren Umbildungen
wenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben.
Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des Bogen-
frieses von Fig. 89. Die dreispältige Blüthe ist unverkennbar und
darin beruht eigentlich in der Hauptsache die Verwandtschaft mit dem
egyptischen Lotusprofil. Der kyrenische Lotus ist nach oben stark
eingezogen; dies kommt zwar auch an egyptischen Beispielen vor
(Fig. 37), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine
ausgesprochene Kelchform aus, während die kyrenische Blüthe sich
birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-
[193]7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre.
den drei Blätter strahlenförmig entsendet. Halten wir nun damit Lotus-
blüthen zusammen wie in Fig. 83, 85. Man möchte auf den ersten
Blick kaum geneigt sein, darin das gleiche Grundmotiv zu erkennen,
wie in Fig. 89. Und doch liegt dasselbe auch den Figg. 83 und 85 zu
Grunde. Das mittlere von den drei Blättern ist eben an den letzteren
nicht deutlich als Kelchblatt hervorgehoben, sondern mit den die Krone
bildenden Blättern vereinigt; die ausladenden seitlichen Kelchblätter
stehen wiederum dem egyptischen Typus ganz besonders nahe.
Die untere Partie ist ferner ebenfalls beiderseits ganz verschieden
gebildet: an Fig. 89 in tropfenförmiger Rundung, an Fig. 83 und 85
doppelbogig ausgeschnitten. Letzterer Umstand hängt aber mit dem
Voluten- (oder Schlingen-)Kelch zusammen, auf welchen die Blüthe
gestellt ist, während an Fig. 89 kein Kelch vorkommt. Der Voluten-
kelch ist nun keine nothwendige Beigabe der Lotusblüthe: wir treffen
ihn erst verschämt an assyrischen Beispielen (Fig. 34), namentlich aber
an griechischen, infolge der Verquickung mit der Spiralrankenorna-
mentik. Wo das griechische Lotusprofil, auf einen Kelch aufgesetzt,
vorkommt, dort ist dasselbe auch in seinem unteren Theile ent-
sprechend gestaltet4); wo der Kelch hinwegfällt, ist auch der untere
Theil der Blüthe rund, ja mitunter sogar in convexen Doppelbogen
ausladend (Fig. 104—106).
Entwicklungsgeschichtlich hängen alle diese vielgestaltigen
Variationen des Profillotus auf’s Engste unter einander zusammen.
Damit soll nicht gerade gesagt sein, dass sich die Griechen nicht ganz
konkrete Species von Blumen darunter gedacht haben; doch wird die
Entscheidung hierüber heute gerade so schwierig, wo nicht unmöglich
sein, wie hinsichtlich der neueren persischen Dekorationsflora. Wenn
also Dümmler in einer Variante der dreispältigen Blüthe5) eine Rose
erblicken will, so mag er vielleicht Recht haben: viel zweifelloser
dürfte aber das Recht des Kunsthistorikers sein, die betreffende Blüthe
als Lotus in Seitenansicht zu bezeichnen, womit zwar nicht die Bedeutung
des Motivs bei den darstellenden Griechen, wohl aber seine kunstgeschicht-
liche Stellung mit grösster Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ausdrucke
gebracht erscheint.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung über die freie Behandlung
der Lotusblüthe in der griechischen Kunst kehren wir zur Betrachtung
Riegl, Stilfragen. 13
[194]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
der vegetabilischen Bordürenformen zurück und verweilen noch bei
der ersten, bisher genannten: beim Bogenfries. Eine lebendigere Varia-
tion desselben, die auch die assyrische Kunst (S. 97), dann die kypri-
sche (S. 150) kannte, wurde erzielt, sobald man zwei Bogenfriese
einander überschneiden liess. Eine Beigabe in specifisch griechischem
Geiste waren ferner die Bogenlinien, die man — namentlich an blossen
Gemalte griechische Vasenornamente.
Knospenfriesen (Fig. 90)6) — von Spitze zu Spitze laufen liess, so dass
sie der entgegen gesetzten Bogenreihe des Frieses die Wage hielten und
die einseitige Richtung desselben aufhoben.
Ein zweite Art von streifenförmiger Verbindung vegetabilischer
Motive geht aus vom Flechtband (Fig. 91)7). Das Schema tritt uns
fertig schon an den Sarkophagen von Klazomenä entgegen (Fig. 92)8);
Von einem klazomenischen Sarkophag.
in letzterem Falle ist aber das Flechtband die Hauptsache, die Pal-
mettenfächer blosse accessorische Zwickelfüllungen. In Fig. 91 ist das
Flechtband auf ein sehr Geringes zusammen geschrumpft; die Blüthen-
[195]7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre.
motive sind die Hauptsache geworden und sollen nicht mehr Zwickel-
füllungen sein, was sich schon darin deutlich ausspricht, dass nicht
jeder äussere Zwickel des Flechtbandes, sondern nur jeder zweite
durch eine Blüthe gefüllt erscheint. Das Aufsetzen eines Lotus oder
eines Palmettenfächers auf zwei Schlingen, anstatt auf einen Voluten-
kelch war ja auch sonst gebräuchlich, wofür bloss auf die Fig. 83, 84
zurück gewiesen zu werden braucht.
Gemaltes griechisches Vasenornament.
Ein drittes Medium zu friesartiger Aufreihung vegetabilischer
Einzelmotive bildete die einfache gerade Linie: also der Blätterzweig.
In älterer Zeit waren es gewöhnlich „Epheublätter“, späterhin, in der
naturalisirenden Periode, Lorbeerblätter, womit man den Zweig be-
setzte. Specifisch griechisch ist die häufig vorkommende Schwingung
der Blattstengel (Fig. 93).
Die vierte Art bildet die Wellenranke, und zwar in der
schwarzfigurigen Zeit vornehmlich die intermittirende Wellenranke.
Verzierungen einer etruskischen Elfenbeinsitula aus Chiusi.
Die Kelche an den Intermissionsstellen fallen häufig hinweg, so dass
die Motive genau so unvermittelt an die Rankenstengel ansetzen wie zu
Mykenä (Fig. 52). Einer Verkümmerung der Blüthenformen (Fig. 94)9)
begegnen wir an der bekannten Elfenbeinsitula aus Chiusi; dass in
diesem Falle thatsächlich das intermittirende Schema zu Grunde liegt,
beweist Fig. 95, wo die zur Intermission verwendeten Blüthen deutlich
mit dem dreispältigen Profil charakterisirt erscheinen. Das Stück ist
übrigens so merkwürdig, dass es von ornamentgeschichtlichem Stand-
punkt eine besondere Besprechung verdiente.
13*
[196]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Ich schliesse daran sofort eine Skizze der Fortentwicklung
der Blumenrankenfriese in der rothfigurigen Zeit, soweit
daran nicht schon eine ausgesprochen naturalisirende Tendenz zu
Tage tritt. Diese Tendenz wird am nachdrücklichsten markirt durch
das Aufkommen des Akanthus, das wir etwa um 430—450 v. Chr. an-
setzen können. Doch haben sich die strengeren stilisirten Formen
noch viel länger gehalten, insbesondere in den besäumenden Bordüren,
Gemaltes griechisches Vasenornament.
deren knappe Enge einer freieren Behandlung von vornherein nicht
günstig war.
An den rothfigurigen Vasen, für deren Beurtheilung wir aller-
dings fast ausschliesslich auf das attische Produktionsgebiet angewiesen
sind, begegnen wir einer zunehmend spielenden Behandlung, nicht
bloss der überkommenen Motive, sondern auch ihrer Verbindungen.
Dabei sind die Typen selbst eigentlich auf wenige beschränkt. Die
fortlaufende Wellenranke kommt wieder in umfassenderen Gebrauch;
Gemaltes griechisches Vasenornament.
ihre Windungen sind höchst elegant, die angesetzten Palmetten folgen
denselben in einer schrägen Projektion (Fig. 96), die nur durch jewei-
lige entsprechende Anpassung der Einzelblätter erzielt werden kann.
Dieselbe auf lebendigere Bewegung gerichtete Tendenz äussert sich
an der intermittirenden Wellenranke (Fig. 97): die Palmetten sind
nicht starr und steif nach oben und unten gekehrt, senkrecht zur Rich-
tung des Frieses, wie seit dem melischen Beispiele Fig. 53 allezeit, son-
dern schräg wie schon in Mykenä (Fig. 52).
[197]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
Daneben kommen komplicirtere Formen vor, die aber sämmtlich
aus spielenden Kombinationen der überlieferten Formen erklärt werden
können10). So geht z. B. Fig. 98 auf das einseitige Lotus-Palmetten-
Band zurück, unter spielender Vereinigung des Bogenfrieses mit den
Schlingenkelchen und der Palmetten-Umschreibung.
Gemaltes griechisches Vasenornament.
8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
Solange die Pflanzenranke sich bloss in der Längenrichtung, in
Streifen- oder Friesform, entwickeln konnte, blieb ihr die volle Freiheit
der Bewegung versagt. Diese wurde ihr erst dort gegeben, wo sie
sich nicht bloss nach der Länge, sondern auch nach der Breite ent-
falten konnte. An den Thongefässen, die hiefür leider so ziemlich
unser einziges Untersuchungsmaterial bilden, ist dies — wie schon
früher erwähnt wurde — im Wesentlichen bloss an und unter den
Henkeln geschehen. Immerhin lässt sich daran mit genügender Deut-
lichkeit der Weg verfolgen, welchen die Pflanzenranke genommen hat,
um beliebig begrenzte Flächen mit vollkommener Freiheit und dennoch
unter Beobachtung der dekorativen Grundgesetze von Rhythmus und
Symmetrie zu überziehen. Damit ist zugleich gesagt, dass wir dem
End- und Zielpunkte der ganzen Entwicklung zueilen.
Bevor wir aber auf den Schlussprocess selbst eingehen, muss noch
einer eigenthümlichen Dekorationsweise gedacht werden, welche an-
scheinend mit dem vorgeschrittenen Stadium der Entwicklung, dem
wir uns nun nähern, wenig zu thun hat. Es ist dies die Art
der Grundmusterung auf den korinthischen Vasen. Diese Vasen sind
grösstentheils mit figürlichen Darstellungen verziert. Zwischen den
Figuren bleibt viel Grund frei und da diese Vasengattung der Zeit
[198]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
und Technik nach ziemlich archaischen Charakters ist, so kann es uns
nicht überraschen, zur Ausfüllung des Grundes Streumuster verwendet
zu sehen, wie sie der Dipylonstil in die Kunst auf griechischem Boden
gebracht hat, und in der Folge auch der melische, rhodische, frühattische
u. s. w. Stil besessen haben. Man wird infolge dessen mit vollem Recht
fragen dürfen, aus welcher Veranlassung der korinthische Dekorations-
stil nicht in einem früheren Kapitel behandelt worden ist? Die Säumniss
war aber eine absichtliche und ist aus dem Grunde erfolgt, weil das
korinthische Streumuster in überaus lehrreicher und interessanter Weise
die Tendenz zeigt, den Weg zu einem zusammenhängenden Flächen-
muster zu finden.
Das Element des korinthischen Streumusters ist die Rosette,
ebenso wie an assyrischen Kunstwerken11). Möglicherweise ist auch
eine Beeinflussung vom Oriente her dahinter zu vermuthen. Was aber
gewiss nicht orientalisch ist, das ist die eigenthümliche Verwendung,
die der korinthische Stil mit der Rosette vorgenommen hat. Die
Rosetten sind da nämlich nicht bloss gemäss dem jeweilig auszufüllenden
Raume grösser oder kleiner gebildet — das ist in gewissem Maasse
auch an den assyrischen Denkmälern der Fall — sondern ihre Kon-
turen schmiegen sich auch vielfach den Umrissen der menschlichen
Figuren, Geräthe u. s. w. an, denen sie unmittelbar benachbart sind.
Bei fortgesetzter Vervollkommnung dieses Processes konnte es schliesslich
nicht ausbleiben, dass der Habitus einer Rosette an den Füllmotiven
vollständig verloren ging und ganz eigenartig verzogene Konfigura-
tionen entstanden, die wir vergebens versuchen würden in dem vor-
handenen ornamentalen Formenschatze unterzubringen. Es ist dies
aber auch gar nicht nöthig, weil die Ornamente ihre Gestalt sozusagen
von den figürlichen Darstellungen, zwischen denen sie eingespannt sind,
erhalten haben12).
Man nehme als Beispiel die Schale mit dem Reigentanz Fig. 99.
Das Streumuster erscheint hier auf die eben beschriebene Weise dazu
verwendet, um eine beliebige gegebene Fläche, unter Vermeidung
der im Dipylon üblich gewesenen langweiligen geometrischen Linien-
combinationen, möglichst vollständig auszufüllen. Darin liegt der Be-
rührungspunkt mit der Aufgabe, welche dem Rankenornamente gestellt
war und deren Lösung wir im Begriffe stehen zu verfolgen. Hinzu-
[199]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
gefügt darf noch werden, dass die korinthische Vasengattung eine
derjenigen ist, auf denen sich am allerfrühesten eine entschiedene
Neigung kundgiebt, überwiegend figürlichen, gegenständlichen Schmuck
anzubringen. In diesem Lichte begreift sich auch, warum die korinthi-
schen Vasenmaler nicht bei der Rosette als blossem Streumuster nach
assyrischer Weise stehen geblieben sind13).
Nun wenden wir uns dem Pflanzenrankenornament selbst zu und
untersuchen, in welcher Weise dasselbe in der Umgebung der Vasen-
henkel sich entfaltet hat.
Auf die Verwendung der Ranke unterhalb des Henkels kann die
Stilisirung der Henkelattache in Form einer Palmette von Einfluss
Korinthische Schale.
gewesen sein: aber diesen Einfluss als so sicher hinzustellen wie es
gewöhnlich zu geschehen pflegt, halte ich nicht für gerechtfertigt.
Zweifellos liegt der Palmette, wo sie als Henkelattache vorkommt, die
gleiche Empfindung, das gleiche Postulat zu Grunde, wie den unter-
schiedlichen lotusmässig stilisirten Angriffspunkten an egyptischen
(S. 65) und assyrischen (S. 99 Anm. 62) Geräthen u. s. w. Sie findet sich
auch frühzeitig auf griechischen Vasen (aber nicht auf der mykenischen
Kriegervase) in der Gegend der Henkel aufgemalt, aber seltsamermaassen
nicht als Umfassung, Markirung des Ansatzpunktes der Henkel, sondern in
[200]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
der Mitte zwischen beiden Ansatzpunkten: so auf Böhlau’s „frühattischer“
Vase, Arch. Jahrb. 1887, Taf. 4. Allerdings fehlt es aus schwarzfiguriger
(und rothfiguriger) Zeit auch nicht an Beispielen, wo die Palmette that-
sächlich als ornamentale Verkleidung der Ansatzpunkte des Henkels
gelten darf14). An der „kyrenischen“ Schale Fig. 89 sind die Pal-
metten von den Henkeln horizontal seitwärts gerichtet. Sei dem aber
wie immer: das Entscheidende für uns ist, dass man bei der isolirten
Palmette nicht stehen geblieben ist, sondern die Pflanzenranke dazu in
Verwendung gezogen hat.
Hierfür war bereits ein geeignetes Motiv vorgebildet, das nicht in
gestreckter Längenrichtung zu verlaufen brauchte, sondern in centralem
Sinne für sich abgeschlossen werden konnte. Es war dies das Ranken-
geschlinge, das wir auf S. 187 f. an der Hand des chalkidischen Beispiels
Henkel-Ornament von einer korinthischen Schale.
Fig. 88 diskutirt haben. Und in der That hat dieses Motiv in seiner
Grundcomposition den Ausgangspunkt wenigstens für eine, allerdings
sehr verbreitete und maassgebende Art der Rankenverzierung gebildet,
wie sie sich unter und über den Vasenhenkeln in schwarzfiguriger Zeit
entfaltet und in rothfiguriger Zeit die freieste Ausbildung erlangt hat.
Fig. 100 ist entlehnt von einer korinthischen Schale im Oesterrei-
chischen Museum (Kat. No. 107). Das Rankengeschlinge ist hier unter
dem Henkel auf eine sehr einfache Form reducirt. Es ist eine Ranke
mit „gegenständigem“ Lotus und Palmette, der Lotus durchzogen von
einem zweiten Rankenbande, das sich mit dem ersten verschlingt; die
Enden der Ranken sind spiralig eingerollt.
Schwarzfigurig ist auch No. 227 im Oesterr. Museum, wovon Fig. 101
entlehnt ist. Deutlich tritt noch die centrale Anordnung hervor, streng
nach symmetrischer Vertheilung, völlig im Geiste des chalkidischen
[201]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
Henkel-Ornament von einer
griechischen Amphora.
Henkel-Ornament von einer Amphora.
Henkel-Ornament von einer Amphora.
[202]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Rankengeschlinges Fig. 88, aber unter weit feinerer und eleganterer
Behandlung der Details, sowohl der subtil gezeichneten Blüthen, als
der langen dünnen Ranken.
Fig. 102 stammt von einer Vase15), an welcher schwarzfiguriger
(am Halse) und rothfiguriger (am Bauche) Stil sich vermengen. Das
Geschlinge trägt noch deutlich den Typus von Fig. 100 zur Schau.
Dagegen tritt uns mit dem noch von einer spät-schwarzfigurigen
Vase (der Nikosthenes-Gruppe)16) stammenden Beispiel Fig. 103, ein
wesentlich Neues entgegen. Der centrale Bezug ist unterdrückt, die
Henkel-Ornament von einem Stamnos.
Symmetrie keineswegs peinlich beobachtet. Eine einzige Ranke ist es,
die hin und herläuft und jedesmal drei Einrollungen aufweist; davon
zweigen zwei Spiralranken und drei Lotusblüthen ab, diese letzteren
an reich geschwungenen Stengeln. Wo zwischen den beiden äussersten
Einrollungen links etwas mehr Grund frei blieb, erscheint ein fliegender
Vogel eingesetzt.
Das ist viel des Neuen auf einmal und verdient näher betrachtet
zu werden. Das Auffälligste ist das Herausspringen aus der Sym-
[203]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
metrie. Dies hat man sicherlich — nicht bloss zu Nikosthenes’ Zeit,
sondern auch später — als Durchbrechung der künstlerischen Schranken
angesehen, denn eine Nachfolge in so entschiedener Richtung lässt sich
selbst in vorgeschrittener rothfiguriger Zeit nur vereinzelt beobachten.
Aber bezeichnend ist der Versuch immerhin für die Tendenz, die zu jener
Zeit geherrscht hat, — die Tendenz, die ererbten Fesseln zu sprengen,
das Rankenornament frei zu entfalten. Nur
ist der Vasenmaler von Fig. 103 darin für
seine Zeit entschieden zu weit gegangen.
Das Resultat, wie es in Fig. 103 vor-
liegt, ist auch kein sonderlich befriedigen-
des. Besser haben die Aufgabe die roth-
figurigen Vasenmaler gelöst, die den Ran-
kenzweig kranzartig um den Henkel her-
umgelegt haben (Fig. 104)17). Selbst die
sogen. nolanischen Vasen mit den einzelnen
Zweigen unter jedem Henkel nehmen mehr
Rücksicht auf die Symmetrie. In einem
Falle18) fassen die beiden Zweige — je einer
unter jedem Henkel — das Vasenbild in
der Mitte ein, so dass im Allgemeinen eine
Symmetrie wenigstens zwischen den beiden
Zweigen unter einander herrscht. In einem
anderen Falle (Fig. 105)19) spaltet sich der
Zweig oben in zwei Ranken, die wiederum
den zwischen ihnen liegenden Henkel sym-
metrisch flankiren. Im Uebrigen stehen
diese nolanischen Vasen in der That in
ihrer asymmetrischen Erscheinung dem
Schema von Fig. 103 sehr nahe, bilden
zusammen mit diesem und mit den min-
Henkel-Ornament von einer
nolanischen Vase.
der seltenen Beispielen gleich Fig. 104 eine Ausnahme, und lassen
sich ebenfalls als eine — vom Standpunkte griechischer Kunstempfin-
dung — zu weitgehende Befreiung von den Fesseln der dekorativen
Komposition erklären. Dass uns übrigens Fig. 103 an einer Vase aus
[204]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem Kreise des Nikosthenes entgegentritt, kann gerade bei diesem nicht
Wunder nehmen, wo wir ja gewohnt sind, mitunter den seltsamsten
Kombinationen von Motiven zu begegnen. Kleinere, minder auffällige
Durchbrechungen der strengen Symmetrie im Henkel-Rankenornament
sind aber in rothfiguriger Zeit sehr häufig gewesen (z. B. Fig. 106)20).
Der an Fig. 93 beobachtete Versuch lag also sozusagen in der Luft:
in der outrirten Fassung, die ihm der Nikosthenes-Kreis gegeben, reizte
er nicht zur Nachahmung, aber in maassvollerer Anwendung wurde er
offenbar als pikant und gefallsam empfunden.
Henkel-Ornament von einer attischen Vase.
Entsprach schon das gelegentliche Verlassen der streng symme-
trischen Anordnung einer Forderung der Zeit, so war dies noch umso-
mehr der Fall hinsichtlich der überwundenen centralen Anord-
nung. Das Ornament entwickelt sich von nun an zwar von einem be-
stimmten Punkte aus, der aber keineswegs den Mittelpunkt zu bilden
braucht, zu dem alles Uebrige in koncentrischer Beziehung steht. Die
[205]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
Ranken entfalten sich vielmehr symmetrisch rechts und links von dem
erwähnten Punkte in freier Weise, auf- oder absteigend, wie es eben
der zur Verfügung stehende, mit Ornamenten auszufüllende Raum er-
heischte. Fig. 106 bietet ein Beispiel hiefür; die strenge Symmetrie
erscheint gleich in diesem Falle unten kapriciöser Weise durchbrochen
durch eine abzweigende Blüthe21).
Das dritte Neue, das uns an Fig. 103 überraschend entgegentritt,
ist der eingestreute fliegende Vogel. Die Thierwelt war zwar der
archaischen Dekoration keineswegs fremd, weder Vierfüssler noch
Vögel. Aber die spielende Einstreuung eines Vogels in das Ranken-
gezweig war ein neuer überaus fruchtbarer Gedanke, der bekanntlich
in der Folgezeit in der dekorativen Kunst die grösste Verbreitung ge-
funden hat. Völlig neu kann man gleichwohl die Verbindung des vege-
tabilischen Ornaments mit Thierfiguren in der Zeit des Nikosthenes auch
nicht nennen. Es findet sich schon in der archaischen Zeit: auf me-
lischen22), frühattischen23) und chalkidischen24) Vasen. In beiden
letzteren Fällen tritt es aber in dem steifen „orientalischen“ Schema
der absolut symmetrischen Gegenüberstellung (Wappenstil) auf; auf der
melischen Vase steht der Vogel auf der Zwickelfüllung eines einzelnen
Rankenzweigs. Gefällig und wahrhaft fruchtbar wurde die Vereinigung
erst, sobald die Thierfiguren in eine grössere Komposition des Ranken-
ornaments eingesetzt wurden. Vielleicht eines der frühesten Beispiele
[206]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
hiefür25) bietet Fig. 107, entlehnt von einer Vase bei Brunn-Lau XI. 4.
Schon die Komposition des Rankenornaments ist hier bemerkenswerth
und für schwarzfigurige Zeit überraschend: allerdings entfaltet es sich
nicht auf dem beschränkten Raume unter den Henkeln, sondern am
Halse einer Amphora. In das vegetabilische Ornament sind nun gleich-
sam zwickelfüllend zwei Hasen eingestreut, die überdies einander nicht
einmal völlig symmetrisch entsprechen.
Das Einstreuen animalischer Wesen in das Rankenorna-
ment hat dann in rothfiguriger Zeit entschiedene und bedeutsame Nach-
folge gefunden. Fig. 108, nach Archäol. Zeitung 1880 Taf. XI, zeigt
das Schulterornament einer noch dem 5. Jahrhundert angehörenden
Griechisches Vasenornament.
attischen Lekythos: ein Rankenzweig läuft herum und wird von einem
schwebenden Eroten mit den Händen gefasst, der in spielender Weise
in die Ranke hineingesetzt erscheint. Zu voller Entfaltung und um-
fassender Anwendung gelangte das Motiv erst in hellenistischer Zeit
(z. B. am Hildesheimer Silberkrater). Die ersten Ansätze dazu waren
wir aber im Stande, noch bis in die archaische Zeit zurückzuverfolgen
und auch die bewegenden Tendenzen klarzulegen, welche auf eine
[207]8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung.
solche Entwicklung hinarbeiteten, — Tendenzen, die im Wesen der
griechischen Dekorationskunst seit mykenischer Zeit begründet lagen.
Soweit das einseitige Material, das uns zur Beurtheilung des
Ganges der älteren griechischen Ornamentik zur Verfügung steht, einen
allgemeineren Schluss zulässt, war man in der Beherrschung des
Pflanzenrankenornaments etwa in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts an
das erstrebte Ziel gekommen: man war im Stande, eine jede gegebene
Fläche mit dem Rankenornament in gefälliger Weise zu überziehen,
wobei die einzige Schranke in der Beobachtung der Symmetrie im
Schulterornament von einer attischen Lekythos.
Allgemeinen bestand. Daneben waren kleine Abweichungen von der
strengen Symmetrie nicht bloss gestattet, sondern sogar gern angebracht,
weil sie den Reiz erhöhten, das Gefühl der Langeweile nicht aufkommen
liessen, und dennoch den harmonischen dekorativen Gesammteffekt,
der eben die Symmetrie im Allgemeinen forderte, nicht beeinträchtigten.
Immerhin blieb der Raum, auf dem sich das Rankenornament in voller
Freiheit hätte entfalten können, noch ein sehr beschränkter. An den
Vasen war es, wie wir gesehen haben, die Umgebung der Henkel, um
die sich das Rankenwerk herumschlängelte. Die grossen Flächen blieben
noch immer den figürlichen Darstellungen vorbehalten. So lange der
Process der aufsteigenden Entwicklung insbesondere in der Plastik
[208]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
nicht vollendet war, so lange man noch nicht zu Typen gelangt war,
welche den Zeitgenossen als unübertrefflicher Ausdruck für die Gestalten
der heroischen und der Göttersage erschienen, musste das blosse Orna-
ment nothgedrungenermaassen in der Beachtung zurückstehen, auf
untergeordnete Stellen, auf Säume, auf Henkel, Füsse u. dgl. beschränkt
bleiben. Auf die verhältnissmässig geringe Aufmerksamkeit, welche
Phidias dem Ornament zugewendet hat, wurde ja schon öfter hinge-
wiesen. Als aber die Höhe erreicht war, da drängte sich wiederum die
Schmuckfreudigkeit hervor, um nun auch zu ihrem Rechte zu gelangen.
Es äusserte sich dies erstens in der Verwendung der geschaffenen figür-
lichen Typen zu rein dekorativen Zwecken, wie es für die pompeja-
nische Dekoration vor Allem charakteristisch erscheint, ferner in der
Verwendung blosser Ornamente, höchstens unter spielender Einstreuung
figürlichen Beiwerks, zur Verzierung ausgedehnter Flächen, was in der
Zeit vor und bis auf Phidias als zu nichtssagend befunden worden
wäre. Dies war der Moment, da die Pflanzenranke zur vollen Entfal-
tung der ihr innewohnenden Qualitäten gelangen konnte. Dass sie die
Befähigung dazu schon aus der Zeit vor dem 4. Jahrhundert v. Chr.
mitgebracht hatte, glaube ich im Vorstehenden genügend bewiesen zu
haben.
Die Pflanzenranke tritt von nun an in ihrer völlig freien Verwen-
dung auf in Begleitung von Motiven, die der griechischen Dekorations-
kunst, soweit wir sie bis jetzt betrachtet haben, anscheinend fremd ge-
wesen sind. Es wurde nun zwar schon wiederholt erklärt, dass es
innerhalb der vorliegenden, der Entfaltung des Pflanzenrankenornaments
im Allgemeinen gewidmeten Untersuchung zu weit führen würde, wenn
wir zugleich auch die Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen vegeta-
bilischen Motivs der antiken Ornamentik verfolgen wollten. Im vor-
liegenden Falle handelt es sich aber um das Aufkommen eines Motivs,
das in der Geschichte der Pflanzenornamentik in jeder Beziehung als
epochemachend bezeichnet werden muss, und der Process, der dazu ge-
führt hat, läuft so parallel demjenigen, der die freie Entfaltung der
Ranken zur endlichen Folge gehabt hat, dass wir der Entstehungsge-
schichte dieses Motivs ein besonderes Kapitel zu widmen bemüssigt sind.
9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
Die dreispältige Lotusblüthe in Profil und die Palmette sind so
ziemlich die einzigen vegetabilischen Motive gewesen, mit denen die
Griechen der archaischen Zeit und bis herab zu den Perserkriegen im
[209]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
Wesentlichen ihre Dekoration bestritten haben. Eine untergeordnete
Rolle haben daneben einige weitere — gleichfalls im antiken Orient
nachweisbare — Motive gespielt, die wir als Lotusknospe, Epheublatt
und Granatapfel zu bezeichnen pflegen. Natürlich bedingte dieses Ver-
harren bei einer kleinen Auswahl von Motiven nicht auch ein starres
Stillehalten bei bestimmten Typen im Einzelnen. Jedes der genannten
Motive hat in der Zeit vom 7. bis zum 5. Jahrh. v. Ch. seine eigene
Geschichte gehabt, und wenn das Material, das uns heute vorliegt, nicht
ausreichend sein sollte, um diese Geschichte in allen Einzelheiten auf-
zuhellen und sicher zu stellen, so würde es doch meines Erachtens ge-
nügen, um einen diesbezüglichen Versuch zu rechtfertigen. Im Rahmen
dieser der Pflanzenranke gewidmeten Untersuchung muss ich mich
darauf beschränken, mit allgemeinen Worten die Tendenz zu kenn-
zeichnen, welche die Fortbildung der Lotus- und Palmetten-Typen in
älterer griechischer Zeit augenscheinlich geleitet hat. Wir vermögen
als das Treibende, Gestaltende lediglich die auf das Form-Schöne ge-
richtete Absicht zu erkennen. Die zwei Grundformeln — der dreispäl-
tige, spitzblättrige Kelch und der Fächer über dem Volutenkelch —
waren gegeben, ihre Ausgestaltung erfolgte in derjenigen Weise wie sie
dem Künstler jeweilig als die gefälligste dünkte. In dieser Tendenz war
ein leise naturalisirender Zug bereits eingeschlossen, da dieselbe die
steife geometrische Zeichnung der Vorbilder nicht wohl vertrug und
nach einer schwungvolleren Belebung verlangte.
Das weitaus wichtigste dekorative Blüthenmotiv wurde im Laufe
der Zeit die Palmette. In der rothfigurigen Vasenklasse hat sie die
übrigen aus älterer Zeit stammenden Motive nahezu verdrängt. Die
Geschichte der griechischen Palmette würde allein ein Buch füllen.
Einzelnen ihrer Entwicklungsphasen haben bisher Furtwängler26) und
Brückner27) ausführlichere Erörterungen gewidmet. Die einzelnen Be-
standtheile, aus denen sich die griechische Palmette zusammensetzt, sind
bis in das 5. Jahrhundert die gleichen geblieben, die wir schon als Kom-
ponenten der altegyptischen Palmette kennen gelernt haben: der Vo-
lutenkelch, der zwickelfüllende Zapfen und der krönende Fächer. In
der Behandlung der einzelnen Theile und in ihrem Verhältnisse zu ein-
ander hat freilich die griechische Kunst einschneidende Veränderungen
vorgenommen. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrh. nun macht sich die
Riegl, Stilfragen. 14
[210]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
naturalisirende Tendenz, welche die freie Entfaltung der Pflanzenranke
so mächtig gefördert hat, auch an den vegetabilischen Einzelmotiven
geltend. Es drückt sich dies aus erstens in gewissen Umbildungen der
Palmette, die als solche von Niemandem verkannt werden können und
auch — soweit mir bekannt — allseits als solche aufgefasst worden sind;
zweitens in dem Aufkommen eines ornamentalen Typus von ausge-
sprochen vegetabilischem Habitus, den man als unmittelbare Nachbildung
einer leibhaftigen botanischen Species, des Akanthus (Bärenklau) zu be-
trachten sich längst allgemein gewöhnt hat.
Die Umbildungen der Palmette in der 2. Hälfte des 5. Jahrh.
betreffen sowohl den bekrönenden Fächer, als auch die unteren Theile:
Volutenkelch und Zapfen. Diese letzteren beiden werden nämlich ent-
weder unmittelbar akanthisirend gegliedert, (Fig. 110), oder sie treten
in Verbindung mit dem Akanthus, weshalb sie ihre Besprechung besser
im Zusammenhange mit der Erörterung des Akanthus selbst finden
werden. Der Fächer der Palmette hingegen behält im Allgemeinen
die Selbständigkeit der einzelnen langen und schmalen Blätter, aus
denen er sich zusammensetzt, bei; aber die Richtung dieser Blätter
die an den egyptischen Vorbildern eine streng radiant-centrale (gleich
dem Ausschnitt einer Rosette) gewesen war, wurde nun allmälig eine
schwungvollere. Die Blattspitzen starren nicht mehr streng radiant in
die Höhe, sondern wiegen sich in leiser Wellenlinie empor und neigen
die Spitzen sanft seitwärts, die einen nach rechts, die anderen nach
links von dem senkrechten Mittelblatte (Fig. 10928); wir wollen diese
Bildung die überfallende Palmette nennen. Noch charakteristischer für die
zu Grunde liegende Tendenz, weil nicht so in der natürlichen Ent-
wicklungslinie liegend, ist die gesprengte Palmette (Fig. 11029), an welcher
die Blätter der Fächers in wellenförmigem Schwunge mit den Spitzen
gegen die Mitte des Fächers gekehrt sind.
Diese zweite Form, die mit ihrer geschweiften Spitze der Ausgangs-
punkt für spätere bedeutungsvolle Fortbildungen im Osten des Mittel-
meeres geworden ist, scheint erst im 4. Jahrhundert zu häufigerer An-
[211]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
wendung gelangt zu sein. Sie stellt sich im Grunde genommen dar
als eine Zerlegung der orientalischen Palmette in zwei Halbpalmetten.
Die Zusammensetzung der Palmette nach dem herkömmlichen, im Orient
geschaffenen Typus hatte etwas an sich, das den geometrischen sche-
matischen Charakter niemals ganz verwinden konnte. Der eingerollte
Volutenkelch blieb immer eine Doppelspirale, in deren Zwickel der
Zapfen mit dem Fächer bloss äusserlich eingriff. Die gesprengte Pal-
mette hebt sowohl den Volutenkelch als den geschlossenen Fächer auf
und bringt zugleich beide in organische Verbindung zu einander. Die
gesprengte Palmette zerfällt nicht mehr in ein Oben und Unten (Fächer
und Kelch), sondern in ein Rechts und Links (zwei Halbpalmetten).
Ueberfallende Palmette
vom Parthenon.
Gesprengte Palmette,
von einer attischen Grabstele.
Beiderseits bemerken wir eine Art Gabelranke: von unten steigen
zwei Stengel (als solche meist vegetabilisch charakterisirt) auf, gabeln
sich jeder alsbald in zwei Ranken, wovon die äussere seitwärts spiralig
sich einrollt, die innere in Wellenschwingung aufwärts strebt und hiebei
die Form der den Fächer zusammensetzenden langen und schmalen
Blätter annimmt. Aehnlich geschwungene, gegen unten entsprechend
kleiner werdende Blätter bilden so zu sagen die Zwickelfüllung zwischen
beiden Ausläufern der Gabelranke. Mit ihrem symmetrischen Gegen-
über bildet nun die Gabelranke die gesprengte Palmette.
Es soll zwar nicht behauptet werden, dass der Process, der zu
der Schaffung dieses Motivs geführt hat, in der That in bewusster
Weise und in direkter Linie gemäss der eben gegebenen Erklärung
sich vollzogen hat; aber dass das Motiv der Rankengabelung den ent-
14*
[212]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
scheidenden Einfluss dabei geübt haben dürfte, wird man kaum be-
streiten können angesichts der grundlegenden Bedeutung, die gerade
die Gabelung innerhalb der griechischen Rankenornamentik gehabt
hat. Durch die Gabelung charakterisirt sich ja schon die mykenische
fortlaufende Wellenranke (Fig. 50) eben als Ranke und nicht mehr als
egyptisirende geometrische Spirale30).
Noch weit wichtiger aber als die bisher geschilderten Umbil-
dungen der Palmette war das Aufkommen des Akanthus. Insbe-
sondere wenn man gemäss der allgemein herrschenden Meinung die
Entstehung des Akanthusornaments in der That auf die bewusste Nach-
ahmung eines natürlichen Pflanzenvorbildes zurückführt, wird man sich
gezwungen sehen, den Moment, in welchem der Akanthus zum ersten
Male aufgetreten ist, seiner Bedeutung nach unmittelbar neben den-
jenigen zu stellen, in welchem die Lotustypen der altegyptischen Kunst
geschaffen worden sind. Und selbst wenn wir — das Resultat der nach-
folgenden Untersuchung vorwegnehmend — den Akanthus nicht als
ein auf Grund der Naturnachahmung neu geschaffenes Dekorations-
motiv, sondern als Produkt eines ornamentgeschichtlichen Fortbildungs-
processes ansehen, werden wir den Moment nicht geringschätzen wollen,
in welchem das seither allezeit weitaus zur grössten Bedeutung gelangte
vegetabilische Motiv in die Welt gekommen ist.
In der Ueberlieferung der Alten ist der Akanthus auf’s Engste
verknüpft mit der Entstehung des korinthischen Kapitäls. Dies
geht wenigstens aus der Erzählung hervor, worin uns Vitruv (IV. 19, 10)
schildert, wie sich seine Zeitgenossen die Entstehung des korinthischen
Kapitäls dachten. Hienach soll die zufällige Kombination eines Korbes
und einer unter demselben dem Boden entsprossenen Akanthuspflanze
und die Wahrnehmung des zierlichen Effekts dieser Kombination durch
den Bildhauer Kallimachos in Korinth die Veranlassung zur Schaffung
des korinthischen Kapitäls gegeben haben. Die begleitenden Umstände
der Erzählung sind so bekannt, dass ich sie mir ebenso wie die Citi-
rung der ganzen Stelle in extenso ersparen kann. Der ganzen Er-
zählung ist der Stempel des Fabulirens — eines, wie man zugestehen
[213]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
kann, übrigens nicht der Grazie entbehrenden Fabulirens — in völlig
unverkennbarer Weise aufgedrückt, und ich glaube kaum, dass es
irgend ein Forscher in neuerer Zeit unternommen haben möchte, ihre
Stichhaltigkeit ernsthaft zu vertreten. Furtwängler hat auch schon
(a. a. O. S. 9) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das erste Auf-
treten des Akanthus nachweislich an Palmetten-Akroterien erfolgt ist,
Korinthisches Kapitäl vom Lysikrates-Denkmal. Nach Jacobsthal.
zu einer Zeit, da ein korinthisches Kapitäl bisher noch nicht nach-
gewiesen werden konnte. Brückner scheint der gleichen Meinung zu
sein, da er (a. a. O. 82) sogar die Gründe nennen zu können glaubt,
welche dazu geführt hätten, den Akanthus an den Akroterien der
Grabstelen anzubringen. Dass aber das eigenthümliche ausgezackte
vegetabilische Motiv, das ein so charakteristisches Merkmal des korin-
thischen Kapitäls ist, in der That gemäss Vitruv’s Berichte auf eine
unmittelbare Nachahmung der Acanthus spinosa zurückgeht, daran hat
[214]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
— so viel ich weiss — bis heute noch Niemand31) zu zweifeln gewagt.
Die leidige Folge davon ist, dass über die keineswegs so sonnenklare
früheste Entwicklungsgeschichte des Akanthus es vollständig an Vor-
arbeiten gebricht. Es liegt mir natürlich fern, dieses Kapitel hier in
erschöpfender Weise erörtern zu wollen, schon um der ausserhalb meiner
Berufssphäre liegenden philologischen Untersuchung willen, die parallel
mit derjenigen der Denkmäler einhergehen müsste. Ich kann und
will mich auf den Gegenstand nur insoweit einlassen, als es für den
Blatt der Acanthus spinosa. Nach Owen Jones.
allgemeinen Gang unserer Untersuchungen über das antike Pflanzen-
ranken-Ornament nothwendig ist. Was sich daraus zweifellos er-
geben wird, das ist die dringende Nothwendigkeit, das Kapitel von
der Entstehung des Akanthusornaments einmal einer gründlichen Be-
arbeitung zu unterziehen. Ich hoffe aber auch wenigstens einen Theil
der Fachgenossen dahin zu überzeugen, dass der Akanthus nicht im
[215]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
Wege der unmittelbaren Nachbildung eines Naturvorbildes, sondern in-
folge eines völlig künstlerischen, ornamentgeschichtlichen Entwicklungs-
processes entstanden ist.
Der Akanthus als plastisches Ornament, wie er sich z. B. am
Lysikrates-Monument (Fig. 111) und auch schon an Grabstelen-Akro-
terien früherer Decennien des 4. Jahrh. darstellt, zeigt eine unläugbare
Aehnlichkeit mit dem Blatte der Acanthus spinosa (Fig. 112). Charak-
teristisch für beide ist die Gliederung in einzelne Vorsprünge, deren
jeder seinerseits in eine Anzahl scharfer ausspringender Zacken ge-
gliedert ist; zwischen je zwei Vorsprüngen ist immer eine tiefe rund-
Halsverzierung eines Kapitäls von der nördlichen Vorhalle des Erechtheion.
liche Einziehung (die „Pfeifen“ des plastischen Akanthus). Gerade
diese Gliederung vermissen wir aber an den frühesten Bei-
spielen von Akanthusornamenten.
Betrachten wir Fig. 113 von einem Kapitäl des Erechtheions32).
Die einzelnen Rippen, in welche sich hier das stets im Profil gesehene
Akanthusblatt gliedert, liegen gleichwerthig nebeneinander wie die
radianten Blätter einer Palmette. Als Stelen-Bekrönung auf Lekythen
aufgemalt, also in flacher Projektion (Fig. 114), erscheint das Blatt aus-
geschnitten und mit spitzen Zacken besetzt, etwa wie ein Cactus- oder
[216]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Aloëblatt, wie es eben durch die zeichnerische Projektion bedingt ist.
In keinem Falle aber gewahren wir eine Gliederung der Konturen,
wie sie der Acanthus spinosa entsprechen würde. Und während die
vorspringenden Glieder des Akanthusblattes längs einer Mittelrippe
alternirend abzweigen (Fig. 112), gehen dieselben an Fig. 113 sämmtlich
von einer gemeinsamen unteren Basis aus, sind also parallel koordinirt
mit dem Mittelblatte, zweigen nicht von dem letzteren ab.
Gemälde von einer attischen Lekythos, nach Benndorf Taf. XV.
Dies sind zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem Ha-
bitus der Acanthus spinosa und der typischen Stilisirung des
Akanthusornaments, wie es uns an den ältesten erhaltenen Denk-
mälern dieser Art entgegentritt. Es wird sich noch reichlich Gelegen-
heit geben, die Abweichungen im Einzelnen zu erörtern. Es genüge
vorläufig, dieselben festgestellt zu haben. Die Schlussfolgerungen, die
wir daraus ziehen können, sind zweierlei Art. Entweder wir halten an
der Identität des Akanthusornaments mit der Acanthus spinosa fest, und
[217]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
erklären uns das von der Natur abweichende Aussehen der ältesten
Beispiele durch Unbehilflichkeit, weitgehende Stilisirung o. dgl., oder
wir geben die Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa preis und suchen
nach einer anderen Entstehungsursache, einem anderen Ausgangspunkte
für die Ausbildung des Akanthusornaments.
Fassen wir zuerst kurz die erstere Möglichkeit in’s Auge. Wem
der Buchstabe der Ueberlieferung über Alles gilt, dem wird es viel-
leicht nicht sehr schwer fallen, einen solchen Erklärungsgrund für die
in zwei wesentlichen Punkten von der Natur abweichende Stilisirung
des Akanthusornaments gelten zu lassen. Der Künstler müsste hienach
sozusagen ein abbreviirtes Akanthusblatt geschaffen haben, bei dem
nicht bloss die einzelnen vorspringenden Glieder in Wegfall gekommen
sind, sondern auch die scharf ausgezackten Konturen unterdrückt
wurden. Denn diese scharf ausgezackten Konturen wie sie z. B. an
Fig. 114 zu bemerken sind, waren an den frühesten plastischen Akan-
thus-Darstellungen, wie wir noch im Besonderen sehen werden, gar
nicht vorhanden, und machen sich bloss an den Abbildungen geltend,
was mit der zeichnerischen Projektion zusammenhängt. Der gemalte
Akanthus der attischen Lekythen (Fig. 114) zeigt daher die spitzen
Zacken am schärfsten ausgeprägt; man vergleiche damit den plastischen
Akanthus, Fig. 113, wo die spitzen Zacken als solche gar nicht her-
vortreten, die einzelnen Glieder oder „Rippen“ rundlich endigen, und
nur durch die eingekerbten Furchen zwischen je zwei Rippen in der
Perspektive des Beschauers eine Spitze im Kontur des Blattes entsteht.
Die Kelchblätter der Lotusblüthe links in Fig. 113 machen dies an-
schaulich33). Unten endigen sie in halbrunden Konturen, oben da-
gegen, wo sie sich überschlagen, zeigen sie in der Perspektive spitze
Zacken, wie die seitlichen Blätter an Fig. 114.
Die Stilisirung der Akanthuspflanze wäre hienach mindestens in
einer eigenthümlichen, von den naturalisirenden Neigungen jener Zeit
wenig berührten Weise durchgeführt worden. Erst allmälich wäre man
auf die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften der Acan-
thus spinosa gelangt und hätte dieselben im bezüglichen Ornament zum
Ausdrucke gebracht. Zuerst hätten die „Rippen“ ihre plastische Gestalt
verloren, wären zu Hohlkehlen geworden, zwischen denen die trennen-
den Grate (nicht mehr Furchen) in spitzen Zacken vorsprangen. Dann
wäre man vollends daran gegangen, diese einzelnen spitzen Zacken
[218]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
zu vielzackigen Vorsprüngen auszugestalten, womit man endlich der
natürlichen Erscheinung der Acanthus spinosa nahegekommen wäre.
Das treibende Moment in diesem ganzen Processe könnte man in der
wachsenden Tendenz auf Naturalismus erblicken. In dem angedeuteten
Entwicklungsgange läge auch durchaus nichts Unwahrscheinliches; das
Bedenkliche daran bleibt immer der Ausgangspunkt. Bevor man sich
daher einer sagenhaften Tradition zuliebe zu einer solchen Annahme
entschliesst, wird es geboten sein, alle übrigen begleitenden Um-
stände wohl zu erwägen, und nach etwaigen anderen Erklärungs-
gründen Umschau zu halten.
Was erstlich diese begleitenden Umstände der Tradition von der
Nachahmung des natürlichen Akanthus in der griechischen Kunst des
5. Jahrhunderts betrifft, so wäre eine Untersuchung derselben zum
grösseren Theile Sache der philologisch-historischen Forschung. Eine
erschöpfende Erörterung dieser Umstände wäre ich ausser Stande zu
liefern und will mich daher darauf beschränken, meine diesbezüglichen
Bedenken in kurzen Worten am Schlusse des ganzen Kapitels vorzu-
bringen.
Dagegen will ich ungesäumt daran gehen, meine Anschauung
darüber zu entwickeln, wie das Akanthusornament — weitab von jeg-
licher unmittelbarer Naturnachahmung — aus rein ornamentalen Mo-
tiven heraus, wenn auch unter dem Einflusse naturalisirender Tendenz
— entstanden sein dürfte.
Das Akanthusornament ist meines Erachtens ursprüng-
lich nichts anderes als eine in’s plastische Rundwerk über-
tragene Palmette, beziehungsweise Halbpalmette: in Fig. 113 und
114 sind es durchweg Halbpalmetten. Die einzelnen Blätter, die den
Fächer bilden, entwickeln sich in Fig. 113 nicht längs einer Mittelrippe,
wie an der Acanthus spinosa, sondern von einer gemeinsamen unteren
Basis wie an der Palmette; sie sind an der Wurzel schmal und ver-
breitern sich gegen das Ende, wo sie rundlich abschliessen: alles wie
am Palmettenfächer. Was an dem Akanthusblatt gegenüber dem flachen
Palmettenfächer eigenthümlich erscheint, ist der elastische Schwung der
nach auswärts gekrümmten Spitze. Dies ist eben an der flach proji-
cirten Palmette nicht wohl möglich; inwieferne es dennoch wenigstens
Andeutung gefunden hat, werden wir weiter unten bei Betrachtung
des Rankenornaments in hellenistischer Zeit sehen. Uebrigens erscheint
auch die herkömmliche geradblättrige Palmette (etwa nach dem Par-
thenonschema) an Grabstelen mit überhängender Spitze nach vorn ge-
[219]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
krümmt, weil es in solchem Falle die plastische Ausführung ermöglichte,
und die allgemeine Kunsttendenz es erforderte. Dieselbe Neigung zur
schwungvollen Ausbiegung der Spitzen liegt übrigens auch der ge-
sprengten Palmette zu Grunde, und hiemit haben wir meines Erachtens
der Berührungspunkte genug, die das Gekrümmtsein des Akanthus-
ornaments bei der versuchten Ableitung von der Palmette erklären.
Parallel mit Vollpalmetten und Halbpalmetten lassen sich Akan-
thusvollblätter und Akanthushalbblätter unterscheiden. In
Fig. 113 haben wir es bloss mit letzteren zu thun. Sind dieselben
nichts Anderes als plastisch-vegetabilische Umbildungen von Halbpal-
metten, so werden wir sie auch an der gleichen Stelle, in der gleichen
Function innerhalb des Rankenornaments angebracht erwarten müssen.
Und dies ist in der That der Fall. Man fasse einmal in Fig. 113 die
Ranke in’s Auge die links von der grossen Palmette sich wellenförmig
in die Höhe windet. Ueberall wo eine Gabelung statthat — und nur
dort — erscheint ein Akanthushalbblatt eingezeichnet. Nur befindet es
sich nicht gleich dem Halbpalmettenfächer in dem Zwickel zwischen den
beiden sich gabelnden Ranken, sondern noch unmittelbar vor der Gabe-
lung um den Rankenstengel herum geschlagen. Es handelte sich eben
um eine Umsetzung des Palmettenfächers in ein plastisch-vegetabilisches
Gebilde. Die lebendig spriessende Pflanzennatur kennt aber kein Postulat
der Zwickelfüllung. Man muste daher darauf bedacht sein, den im
Flachornament zwickelfüllenden Fächer nunmehr bei der Umsetzung
in’s Plastisch-Vegetabilische auf eine andere, dem Pflanzenhabitus natür-
lichere Weise anzubringen, als im Wege einer Einschiebung zwischen
die beiden Ranken. Und in der That kann man sich kaum eine bessere
und glücklichere Lösung denken, als die Verhülsung, wodurch sowohl
ein durch die künstlerische Tradition gleichsam kanonisch gewordenes
Ornamentmotiv beibehalten, als auch eine gefällige Gliederung der
Ranke selbst herbeigeführt erscheint. Schon am Erechtheion wurde dann
diese Verhülsung mittels Akanthushalbblattes an Stellen übertragen, wo
eine ausgesprochene Rankengabelung nicht statthatte: so unten an den
S-Spiralen sowie an den Kelchblättern der Lotusblüthe in Fig. 113.
Zum Wesen einer Palmette gehört nebst dem Fächer auch der
Zapfen und vor Allem der Volutenkelch. Ist der Akanthus in der
That ein Derivat von der Palmette, so werden wir auch nach diesen
beiden Theilen zu fragen haben. Wie wurden dieselben in’s Plastische
übertragen? Für den Volutenkelch weise ich hin auf die hülsenartige
Anschwellung der Rankenstengel an allen jenen Stellen, wo die Akan-
[220]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
thushalbblätter in Fig. 113 ansetzen. Der Zapfen war lediglich Zwickel-
füllung; diese fiel in der plastischen Gestaltung des (nun nicht mehr
flachen) Volutenkelches zu einem kreisförmigen (weil um den Ranken-
stengel umlaufenden) Kelche hinweg, und damit auch die Veranlassung
zur Einfügung eines Zapfens. Und auch die Hülsen der Akanthus-
blätter sind in der Folgezeit, als ihre ursprüngliche Bedeutung in Ver-
gessenheit gerathen war, als unwesentlich in Wegfall gekommen.
Wem die soeben gegebene Erklärung für den Wegfall des Vo-
lutenkelches an der plastischen Palmette (d. i. dem Akanthus) nicht
genügt, den verweise ich auf das Ornament an der Einfassung der be-
rühmten Thür des Erechtheions (Fig. 115). Hier erscheint die
plastische Palmette sozusagen wiederum in’s Flache übertragen. Niemand
Lotusblüthen-Palmetten-Band in Karniesprofil, von einem Gebälkstücke des Erechtheion.
wird daran zweifeln können, dass uns hier ein Lotus-Palmetten-Band
vorliegt. An der Basis liegen S-Spiralen, die im Aneinanderstossen
Kelche bilden; in diese Kelche sind alternirend dreispaltige Profil-Lotus-
blüthen und Palmetten als Füllungen eingesetzt. Aber nur am An-
satze der Lotusblüthen bilden die erwähnten Spiralranken wirkliche
Kelche: gerade an den Palmetten, für die der Volutenkelch geradezu
als wesentlich gilt, sind ihre Enden nicht kelchartig umgeschlagen,
sondern verlaufen unmittelbar in die Mittelrippe der Palmette. Die
Erklärung dafür liefert eine nähere Betrachtung der Stilisirung, welche
die Palmette in diesem Falle erfahren hat. Die concaven Einbuchtungen
an der Peripherie belehren uns, das wir es da mit einem Akanthus-
vollblatt zu thun haben; nur wurde dasselbe hier sozusagen wieder
ins Flache zurückübersetzt, genau wie es auf den Lekythen (Fig. 114)
gemalt vorkommt. An diese malerische Art der Stilisirung hat — wie
schon angedeutet wurde — die weitere Entwicklung vornehmlich an-
[221]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
geknüpft, wie es den zunehmend malerischen Tendenzen der griechi-
schen Skulptur der nachperikleischen Zeit vollkommen entspricht. Wir
brauchten die Palmetten in Fig. 115 nur vom Grunde loszulösen und
frei sich krümmen zu lassen: dann müssten wir sie schlankweg als
Akanthus bezeichnen. Im vorliegenden Falle sind sie aber Palmetten,
wie ihre Alternirung mit dem Lotus schlagend beweist. Und noch auf
eine lehrreiche Analogie sei bei dieser Gelegenheit hingewiesen. Die
damalige griechische Kunst hatte bereits ein Beispiel zu verzeichnen
für die Uebertragung eines — übrigens nächstverwandten — flachen
Blumenornaments in die Plastik: nämlich den Eierstab als Reproduk-
tion des Lotusblüthen-Knospen-Bandes. Nun sehen wir Aehnliches,
wenngleich auf Umwegen, sich vollziehen mit dem Lotus-Palmetten-
Bande.
Ich habe die Palmetten in Fig. 115 als Uebertragung des Akanthus
in’s Flache bezeichnet. Es muss aber hinzugefügt werden, dass die
Palmetten in das Karniesprofil des Thürrahmens zu liegen kamen und
daher nicht in einer Ebene liegen, sondern einer geschwungenen, echt
akanthusmässigen Fläche sich anschmiegen. In dem erörterten Bande
waren es zum Unterschiede von Fig. 113, wo wir es bloss mit halben
Akanthus-Palmetten zu thun hatten, ganze Palmetten (Akanthusvoll-
blätter). Dieselbe Thür des Erechtheions zeigt übrigens am krönenden
Gebälke auch halbe Akanthus-Palmetten (Akanthushalbblätter) in der
gleichen Stilisirung.
Ist diese Stilisirung in der That, wie es allen Anschein hat und
wie u. a. die gemalten Lekythen beweisen, eine Rückübertragung der
plastischen Palmette in’s Flache unter malerisch-perspektivischen Ge-
sichtspunkten, so ist sie jedenfalls später erfolgt, als das Aufkommen
des Akanthus, d. h. der plastischen Palmette selbst. Deshalb braucht
die Thür des Erechtheions noch nicht jünger zu sein, als die nördliche
Säulenhalle, von welcher Fig. 113 stammt, da ja beide Arten eine Zeit-
lang neben einander hergehen konnten. Es ist überhaupt bezeichnend
für die Rührigkeit und die Schaffensfreudigkeit der griechischen Künstler
jener ganz einzigen Zeit, dass sie mit denselben Motiven die in ihrer
ursprünglichen Heimat durch Jahrtausende hindurch fast in einer un-
veränderten typischen Gestaltung belassen worden sind, in verhältniss-
mässig kurzer Zeit so Vieles, Verschiedenes und doch Bedeutungsvolles,
anzufangen gewusst haben. Diese Bewegungslust, die Neigung zum
freien Schalten und Gestalten mit dem Ueberlieferten und Anerworbenen,
ist auch seither ein Erbtheil der westlichen Angehörigen der Mittelmeer-
[222]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
kultur geblieben, während die orientalischen Völker trotz der gründ-
lichen Durchsetzung mit dem Hellenismus im Wesentlichen konservativ
geblieben sind, auch in ihrer Ornamentik.
In Fig. 115 erscheint der Akanthus vollkommen gleichwerthig mit
der Palmette, als Palmette selbst verbraucht. Es ist dies eine Ausnahme
in unserem Denkmälervorrathe aus der frühesten Zeit des Akanthus, da
demselben fast in allen übrigen Fällen eine ganz bestimmte Funktion
als Akanthushalbblatt zugewiesen erscheint. In Fig. 113 sind die Haupt-
motive abwechselnd Lotusblüthen und flache Palmetten33); der Akan-
thus ist auf untergeordnete Stellen verwiesen, und bildet einerseits die
Füllung der Gabelranken, wovon schon früher die Rede war, andererseits
den Kelch der Lotusblüthen. Diejenigen, die trotz allem bisher Vor-
gebrachten an der Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa festhalten,
werden kaum in der Lage sein, irgend einen Beweggrund zu nennen,
der die griechischen Künstler veranlasst haben konnte, gerade den
Ranken- und Blüthen-Kelchen die Form des Akanthus zu geben. Wir
haben wenigstens für die Rankenkelche eine Erklärung in der Ana-
logie mit den zwickelfüllenden Halbpalmetten des flachen Rankenorna-
ments der Vasen geboten. Für die akanthisirende Bildung des Kelches
der Lotusblüthen hält es schwerer einen unmittelbaren Veranlassungs-
grund namhaft zu machen, da seine beiden Blätter auch in der pla-
stischen Ausführung ebenso gut glatt belassen werden konnten. Die
geschwungene Linie der Kelchblätter eignete sich aber ganz besonders
für eine akanthisirende Profilirung, weit mehr als die steife volle Pal-
mette. Dies wird auch der Grund sein, warum volle Palmetten in
akanthisirender Stilisirung uns in den ersten Stadien der Entwicklung
so selten begegnen. Als Akroterien der Grabstelen sind sie zwar mit
dem oberen Rande etwas vorgeneigt; dieser Schwung war aber offen-
bar ein viel zu sanfter, weshalb man selbst in vorgeschrittener Zeit
(4. Jahrh.) die Akroterien-Palmetten in der Regel in der flachen Pro-
jektion beliess, und lediglich durch die gesprengte Form derselben dem
naturalisirenden Zuge der Zeit Rechnung trug. Ich halte es daher in
der That für ganz gut möglich, dass die akanthisirende Bildung der
plastischen Palmette nicht an einer vollen Palmette, sondern an einer
[223]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
halben, also kelchförmigen, zuerst versucht worden ist. Es würde dies
mit den Wahrnehmungen Furtwängler’s stimmen, der das früheste Auf-
treten des Akanthus an Grabstelen gleich der karystischen (Sammlung
Sabouroff, Skulpt. Taf. VI) und der venetianischen (ebenda S. 7) beob-
achtet haben will, — in beiden Fällen als Akanthuskelch genau in der
Weise wie an Fig. 113, d. h. als gerippter Kelch für übersteigende glatte
Kelche oder Blätter.
Die Ornamentik des Erechtheion ist allem Anscheine nach für
die primitive Entwicklung des Akanthus von grösster Bedeutung ge-
Von einem Pilasterkapitäl der östlichen Vorhalle des Erechtheions.
wesen. Wo dieser letztere auftritt, an den Säulenhälsen am Architrav,
an den Thüreinrahmungen: überall zeigt er leise Variirungen, deren
jede eine gesonderte Besprechung verdiente, und die sich sämmtlich im
Sinne des Gesagten erklären lassen. Nur eine Variante (Fig. 116)34)
will ich hier im Besonderen erwähnen, da dieselbe eine überaus be-
deutsame Erscheinung bildet. Die Lotusblüthe zeigt hier nicht nur
den akanthisirenden Profilkelch aus zwei Blättern, wie in Fig. 113,
sondern unter diesem noch einen anderen aus drei Akanthusblättern
gebildeten perspektivischen Kelch. Die offenbar perspektivische
Projektion ist es, die das Motiv so bemerkenswerth macht in der
[224]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Zeit seines nachweisbar ersten Auftretens; die Erfindung war übrigens
eine so gefällige, dass sie für alle Folgezeit beibehalten wurde und in
allen Renaissancen der Antike eine Rolle gespielt hat. Das mittlere
Blatt stellt sich dar als der reine, abwärts gekehrte Palmetten-
fächer, der mit dem Blatte der Acanthus spinosa (Fig. 112) gar nichts
gemein hat. Die seitlichen Blätter sind dagegen nicht halbe Akan-
thus-Palmetten, wie man erwarten möchte, sondern in perspektivischer
Verkürzung gebildete ganze Akanthus-Palmetten. Hier findet sich auch
der deutliche Uebergang von Blatt zu Blatt mittels der rundlichen
„Pfeifen“, wie sie am späteren entwickelteren Akanthusblatt (Fig. 111)
den Uebergang zwischen den einzelnen ausspringenden Gliedern ver-
mitteln. Dass hierauf die Gliederung der Acanthus spinosa einen Ein-
fluss gehabt haben könnte, wird man schwerlich behaupten wollen:
der perspektivische Kelch in Fig. 116 trägt doch sonst nichts zur Schau,
was mit der Acanthus spinosa mehr Verwandtschaft zeigen würde, als
Fig. 113—115, und darf als reines Produkt künstlerischer Erfindung,
allerdings unter Neigung zu grösserer Annäherung an die natürlichen
lebendigen Pflanzenformen im Allgemeinen, bezeichnet werden.
Wir haben bis jetzt bloss die ältesten Akanthus-Beispiele vom
Erechtheion (und zwei Grabstelen S. 223) in Erörterung gezogen; es
obliegt uns nun, darüber hinausgehend anderweitige Denkmäler aus
dem 5. Jahrh. heranzuziehen und an denselben die Stichhaltigkeit der
versuchten Ableitung des Akanthusornaments von der plastischen Pal-
mette zu erproben. Dies gilt namentlich von jenem Denkmal, das
bisher fast einstimmig als das älteste Beispiel eines korinthischen Kapi-
täls und vielfach auch als Ausgangspunkt für die Entwicklung des
Akanthus angesehen worden ist: das Kapitäl von Phigalia. Dieser
seiner Bedeutung hätte es — möchte es scheinen — entsprochen, das-
selbe anstatt der Beispiele vom Erechtheion an die Spitze der ganzen
Untersuchung zu stellen. Diese Unterlassung glaube ich aber mit gutem
Grunde rechtfertigen zu können. Das korinthische Kapitäl von Phigalia
ist keineswegs eine so bekannte Grösse, dass man mit ihr so sicher
rechnen könnte, wie es allerdings gewöhnlich zu geschehen pflegt.
Das Original ist heute anscheinend verschollen, zu Grunde gegangen.
Zur Zeit da es nachweislich noch existirte, befand es sich bereits in
sehr zerstörtem Zustande. Nicht einmal ein Gipsabguss davon scheint
bewahrt worden zu sein. Wir sind daher für seine Beurtheilung auf
die zeichnerischen Reproduktionen angewiesen. Da fällt schon auf,
dass die Abbildungen in den verschiedenen Handbüchern sehr beträcht-
[225]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
lich von einander abweichen. Geht man aber der Ueberlieferung nach,
so kommt man zu dem Resultate, dass alle Abbildungen im letzten
Grunde auf zwei Originalaufnahmen zurückgehen, die eine von Donald-
son bei Stuart and Revett, anthiqu. of Athens, Taf. 9, Fig. 3 des Tempels
von Bassae, die andere von Stackelberg in dessen „Apollotempel zu
Bassae“ S. 44 (Fig. 117).
Die Aufnahme von Donaldson empfiehlt sich scheinbar als die
vertrauenswürdigere, da sie das Original in seinem verstümmelten Zu-
stande tale quale wiedergiebt. Dagegen hat Stackelberg dasselbe augen-
scheinlich in integrum restaurirt. Die beiden Aufnahmen weichen in
vielen Punkten wesentlich von einander ab; insbesondere der Akanthus
Kapitäl von Phigalia.
ist da und dort gründlich verschieden gebildet. Nähere Betrachtung
lehrt, dass die weiche lappige Bildung des Akanthus bei Donaldson
nur auf Rechnung einer flüchtigen skizzenhaften Zeichnung gesetzt
werden kann35). Dagegen erscheinen die einzelnen Blätter bei Stackel-
berg (Fig. 117) völlig ebenso wie am Erechtheion gebildet. Und zwar
sind es hier Akanthusvollblätter, die um die Basis des Kapitäls herum
gereiht sind, und auch die untere Parthie der aufsteigenden Voluten-
stengel verkleiden. Jedes einzelne Akanthusblatt zeigt hier den aus
plastisch gewölbten Blättchen zusammengesetzten Fächer. Ich möchte
Riegl, Stilfragen. 15
[226]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
daher unbedingt der Stackelberg’schen Reproduktion den Vorzug geben,
zumal sich der Autor auch im Texte auf S. 42 über die Form der
Blätter ausspricht und damit beweist, dass er sich dieselben genau
angesehen hat: „Die Blätter des Säulenknaufs sind weder vom Oelbaum,
noch Akanthus, sondern vielmehr von einer konventionellen Form,
einer Wasserpflanze im Steinsinn nachgebildet“. Es ist über-
raschend, wie nahe gerade dieser erste Beobachter und Beurtheiler
dieses Kapitäls der Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gekommen
ist. Selbst mit der Wasserpflanze trifft er, wenngleich wahrscheinlich
unbewusst, das Richtige, da ja die Palmette auf den Lotus zurückgeht.
Der Zusatz „im Steinsinn“ verräth aber deutlich, wie Stackelberg schon
intuitiv das plastische Moment als das formbereitende für die Stilisirung
dieser „konventionellen Form“ erkannt hat36).
Am Kapitäl von Phigalia haben wir es durchweg mit vollen
Akanthus-Palmetten zu thun. Der Akanthus kommt aber auf demselben
Bauwerke auch in Kelchform wie am Erechtheion vor, für die wir die
halbe Palmette als zu Grunde liegend erkannt haben. Stackelberg37)
giebt ein Simastück auf S. 45, einen Stirnziegel auf S. 101. Damit
stimmen die Aufnahmen von Donaldson38) überein, worin wir wohl
einen neuerlichen Beweis dafür erblicken können, dass auch das Ka-
pitäl die gleiche Stilisirung des Akanthus gezeigt hahen wird. Beson-
ders deutlich ist der Stirnziegel a. a. O. Fig. 4 auf Taf. 5 gezeichnet:
hier sieht man nämlich mit vollster Deutlichkeit, dass die ausspringenden
spitzen Zacken der gezeichneten Konturen am plastischen Original in
der That eingekerbte, also zurückspringende Furchen bedeuten und dass
das Vorspringende in letzterem Falle die Blattrippen des Fächers sind.
Neben den architektonischen Ziergliedern und den Akroterien der
Grabstelen kommen für die älteste Geschichte des Akanthus hauptsäch-
lich die bemalten attischen Lekythen in Betracht. Es hängt be-
kanntlich mit dem Sepulkralcharakter dieser Vasengattung zusammen,
dass gewöhnlich in der Mitte des — gleichfalls auf Bestattung und
Todtenkult bezüglichen — Bildes eine Grabstele sich befindet, zu deren
[227]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
Rechten und Linken die Handlung sich entfaltet. Die Grabstelen sind
bekrönt mit Akroterien. Da ist es nun vor Allem schon merkwürdig,
dass ein einfaches Palmettenakroterium, wie an den erhaltenen Origi-
nalen in Stein, sich nur ausnahmsweise vorfindet, z. B. Benndorf, Griech.
und sicil. Vasenbilder Taf. 14. Es treten in der Regel neben Palmetten
Akanthusblätter auf, und zwar in einer solchen Vermehrung und An-
ordnung, wie es an einem Grabstelen-Akroterium in Stein noch nicht
beobachtet worden ist. Deshalb glaubte man auch dieses Auftreten des
Akanthus auf den gemalten Grabstelen als „noch ganz unvermittelt
und ohne organische Verbindung über, unter oder neben die nach alter
Weise gebildeten Voluten“ bezeichnen zu sollen (Furtwängler a. a. O.
S. 8).
Es scheint mir aber mindestens fraglich, ob man für die Mehrzahl
dieser gemalten Stelen überhaupt die im Original erhaltenen viereckig-
tafelartigen Steinstelen mit Palmetten-Akroterien wird als vorbildlich
betrachten dürfen. Nach der convex nach oben ausgebauchten Linie
zu schliessen, in welcher die Simse (Fig. 114) und die um den Schaft
der Stele herumgeschlungenen Tänien gezeichnet sind, wird man nicht
mehr an einen viereckigen tafelartigen Pfeiler, sondern an eine runde
Säule denken müssen39). Wo dagegen ein viereckiger Grabpfeiler durch
die dreieckige Form des Akroterions als solcher gekennzeichnet ist,
sind die Simse ganz horizontal gezeichnet40): ein deutlicher Beweis,
dass sich der Zeichner in dem ersteren Falle bei der krummen Führung
der Linie auch etwas gedacht hat, und dieses Etwas kann nichts an-
deres gewesen sein als die Voraussetzung eines runden Schaftes. Diese
Thatsache ist zu greifbar und unumstösslich, als dass man mit dem
blossen Hinweise darauf, dass sich cylindrische Grabstelen nicht im
Original erhalten haben, einfach darüber hinweggehen könnte41). Haben
15*
[228]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
wir aber einen Säulenschaft vor uns, so ist seine Bekrönung nicht mehr
ein einseitiges Akroterium, sondern ein kreisrunder Kapitälknauf. Man
betrachte unter diesem Hinblick insbesondere die Stelenbekrönung
Fig. 118 (nach Taf. 3 der Arch. Zeit. 1885), wo die fünf bekrönenden
Von einem Gemälde auf einer attischen Lekythos.
Motive schon in der perspektivischen Art der Darstellung das Herum-
gereihtsein auf halbkreisrundem Grundrisse ausser Zweifel gesetzt er-
41)
[229]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
scheinen lassen. Dann erklärt sich aber auch die Vermehrung und an-
scheinend unorganische Nebeneinandersetzung der Akanthusblätter. Diese
Grabstelenkapitäle mit Akanthus auf den attischen Lekythen würden da-
durch zunächst herangerückt an das Kapitäl von Phigalia, und wären als
unerlässliche Hilfsglieder zur Feststellung der Anfänge des korinthischen
Kapitäls überhaupt zu betrachten.
Wie so manches Andere aus dem Darstellungsinhalte der Lekythos-
Malereien wird auch dieser Punkt von Seite der Specialforschung erst
noch seine vollständige Aufklärung finden müssen. Uns handelt es sich
aber im vorliegenden Falle bloss um die Klarstellung des Verhältnisses
zwischen Palmette und Akanthus. In Fig. 114 haben wir nur Akanthus-
blätter von der Seite gesehen (also Akanthushalbblätter) und in der
Von einem Gemälde auf einer attischen Lekythos.
Mitte eins in der Vorderansicht (Akanthusvollblatt). Fig. 119 (Benndorf
a. a. O. XXII. 2) zeigt dagegen zwischen zwei Akanthushalbblättern
in der Mitte eine Palmette in der traditionellen Flachstilisirung. Aber
auch die seitlichen Halbblätter finden sich gelegentlich durch aus-
gesprochene flache Halbpalmetten ausgedrückt: vgl. Fig. 120, nach
Stackelberg, Gräber der Hellenen, XLIV. 142). Der Schluss hieraus
kann nicht anders lauten, als dass flache und Akanthus-Palmetten
als gleichwerthig gebraucht erscheinen, dass dieselben somit ur-
sprünglich gleichbedeutend und identisch gewesen sein müssen.
Schliesslich verweise ich noch einmal auf Fig. 118: in der Mitte eine
volle flache Palmette in der Vorderansicht, ihr zu Seiten zwei gleich-
falls flache Palmetten, aber perspektivisch gedacht, daher nicht mehr
in der vollen Vorder-, aber auch noch nicht in der ausgesprochenen
[230]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Seitenansicht, endlich zu äusserst an den Flanken die Palmetten in reiner
Seitenansicht, daher akanthisirend gebildet.
Auch die Betrachtung des gemalten Akanthus auf Lekythen scheint
also zu beweisen, dass derselbe zunächst mit besonderer Vorliebe in
der Seitenansicht, in der Projektion der Halbpalmette zur Darstellung
gebracht wurde, parallel mit der plastischen Kelchform an den archi-
Malerei am Bauche einer attischen Lekythos.
tektonischen Ziergliedern. Dass
die spitzen Stacheln der Konturen
bloss durch die perspektivische
Nachzeichnung der Einkerbun-
gen hervorgebracht sind und ur-
sprünglich nicht einen spitzstache-
ligen Blattkontur reproduciren
sollten, beweist auch Fig. 11443),
wo die Auszackungen der übri-
gens höchst skizzenhaft gezeich-
neten Mittelpalmette keineswegs
die accentuirten Stachelendigun-
gen vom Kontur der Seitenblätter
aufweisen. Das Resultat unserer
Untersuchung des gemalten Akan-
thus stimmt somit völlig überein
mit Demjenigen, was sich uns aus
der Betrachtung der plastischen
Akanthus-Denkmäler der frühe-
sten Zeit ergeben hat.
Ich glaube im Vorstehenden
den Nachweis geliefert zu haben,
dass es ganz gut möglich ist,
die Entstehung des Akanthus auf
dem Wege der natürlichen künst-
lerischen Entwicklung abzuleiten, ohne dass man zu der Annahme
einer plötzlichen, in der griechischen Kunst in so unvermittelter
Weise bis dahin nicht dagewesenen Nachbildung einer natürlichen
Pflanzenspecies greifen müsste. Was die Kritik der Vitruvianischen
Erzählung überhaupt betrifft, so muss — wie wiederholt betont wurde
— die endgiltige Entscheidung hierüber insolange vertagt werden,
[231]9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
als nicht auch von philologischer Seite diesbezügliche Untersuchungen
gepflogen sein werden. Nur in allgemeinen Umrissen möchte ich an-
deuten, dass mir wenigstens die Glaubwürdigkeit jener Ueberlieferung
schon äusserlich wenig gestützt erscheint. Es sähe den Römern der
Vitruvianischen Zeit — nach Analogie auf so vielen anderen Gebieten
— ganz ähnlich, wenn sie sich auch die Entstehung des Akanthus so-
zusagen in rationalistischer Weise zurecht gelegt hätten. Doch scheint
in der That die äusserliche Verwandtschaft des ausgebildeten Akanthus-
ornaments mit der Acanthus spinosa schon von den Griechen bemerkt
worden zu sein. Es würde auch für die ursprüngliche Auffassung der
Griechen vom Wesen des Akanthus noch sehr wenig besagen, wenn
Theokrit, also ein Dichter des 3. Jahrh. v. Chr., in der viel citirten Stelle
Jdyl. I. 55 in der That ein Ornament im Auge hätte, was mit Rücksicht
auf seine Bezeichnung des Akanthus als eines feuchten nicht zwingend
nöthig erscheint. Vor Allem aber werden wir fragen: welche schwer-
wiegende Ursache mochte es gewesen sein, die veranlasst hat,
gerade den Akanthus als Ornament in Stein nachzuahmen?
Denn so ist der aufkeimende Naturalismus im griechischen Kunstsinn
nach der Zeit der Perserkriege nicht zu verstehen, dass man sich zu
unmittelbarer Imitation der Naturwesen gedrängt gefühlt haben sollte.
Die überlieferten Kunstformen galt es zu beleben, aber nicht lebendige
Naturformen in lebloses Material umzusetzen. Es hätte also ein äusserer
Anstoss vorhanden gewesen sein müssen, der die Einführung der Akan-
thuspflanze in die Zahl der vegetabilischen Kunstformen herbeigeführt
hat, — ein Anstoss etwa gleich demjenigen, der die Egypter veranlasst
hat zur Schaffung ihrer Lotustypen.
Brückner ist der Einzige, der in offenbarer Erkenntniss der Noth-
wendigkeit eines solchen Nachweises eine bestimmte Erklärung dafür
versucht hat. „Wie heute noch, wucherte um Tempel und Gräber der
Akanthus; für die Gräber bezeugen dies die Darstellungen der weiss-
grundigen Lekythoi (Benndorf II, Griech. und sicil. Vasenb. Taf. 14).
Wenn also die Plastik des 5. Jahrhunderts den alten Palmettenschemata
als belebendes Element den Akanthus hinzufügte, so trat die Stele mit
der Landschaft, die sie umgab, in engere Beziehung; sie verwuchs
geradezu mit ihr44).“
Ob nun dieser von Brückner angeführte Umstand ein ausreichender
Grund gewesen sein mochte, um daraufhin ein völlig neues, künstlerisch
[232]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
überaus bedeutsames Element in die Dekoration einzuführen, darüber
wird man mindestens verschiedener Ansicht sein können. Aber die
Voraussetzung, auf welche Brückner seine Vermuthung aufbaut, ist
nachweisslich eine unzutreffende: Was Brückner als wuchernden
Akanthus auf den Lekythosmalereien ansieht, ist in der That ein
Akanthus-Ornament, das zur „tektonischen“ Hervorhebung des unteren
Säulenansatzes dient44a). Diese Funktion entspricht dem auf S. 65 aus-
führlich erörterten Postulat, und ist völlig identisch mit der Funktion des
Blattkelches am unteren Ansatz der Vasenkörper44b). Es findet sich näm-
lich ausschliesslich an dieser Stelle (Fig. 118), oberhalb der Basis, und am
allerdeutlichsten an dem von Brückner citirten Beispiel bei Benndorf
a. a. O. Taf. 14. Der Akanthus am unteren Säulenschafte ist da voll-
kommen gleichwerthig mit dem krönenden auf den „Akroterien“, d. h.
als blosses Ornament, nicht als Darstellung einer Pflanze gemeint.
Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass schon im 5. Jahrh.
der Akanthus um Tempel und Gräber gewuchert hat: aber dass das
Vorhandensein dieses Unkrauts den Athenern so sehr aufgefallen wäre,
dass sie es für würdig erachtet hätten, zur Dekoration ihrer Grabstelen
ausdrücklich herangezogen zu werden, das scheint durch die Lekythos-
Malereien mit Nichten bewiesen. Auch in diesem Falle hat man moderne
Verhältnisse auf Vorgänge aus antiker Zeit zu übertragen versucht:
die Suche nach „neuen“ Ornamenten in der natürlichen Flora ist ein
echtes Produkt modernster Kunstempfindung, zum Theil auch moderner
Kunstrathlosigkeit. Das ornamentale Kunstschaffen in der Antike ging
ganz andere, wesentlich künstlerischere Wege, als ein mehr oder
minder geistloses Abschreiben der Natur.
Der entwickelte Akanthus mit fortgeschrittener Blattgliederung
lässt sich also gerade auf den ältesten Denkmälern, die hier in Betracht
kommen, nirgends nachweisen. Was am Akanthus-Ornament Aehnlich-
keit mit der Acanthus spinosa begründet, ist erst im Verlaufe der
weiteren Entwicklung dazu gekommen. Freilich hat sich diese Ent-
wicklung wie die Akroterien der Grabstelen beweisen, verhältnissmässig
rasch vollzogen, und zwar — was kaum zufällig sein wird — in der
Plastik und nicht in der Malerei. Diesen Umstand hat auch Brückner
[233]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
bereits gebührend hervorgehoben: „Es ist bezeichnend für die attische
Ornamentmalerei und lässt sich übereinstimmend an der Ornament-
malerei der attischen Thonvasen erweisen, dass die bloss gemalten
Muster, soweit sie erhalten sind, nur äusserst schüchtern den Akanthus
angeben“.
10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Im Akanthus haben wir das wichtigste vegetabilische Motiv kennen
gelernt, das eine neuaufgekommene naturalisirende Tendenz in der
griechischen Kunst, allem Anscheine nach nicht vor der Mitte des
5. Jahrhunderts, geschaffen hat. Auch mit der schematischen Profil-
blüthenform des Lotus hat man sich auf die Dauer nicht begnügt. Der
dreiblättrige Kelch erfuhr Umbildungen (z. B. in Glocken-, Dolden-,
Birnform), die sich vom ursprünglichen egyptischen Typus weiter ent-
fernten, als es die übrigen altorientalischen Stile sowie der archaiche
griechische jemals gethan haben. Auch anscheinend neue Blüthen-
formen kamen auf, die sich als unverkennbare Versuche perspektivischer
Projektion darstellen. Dass auch diese Motive auf ornamentgeschicht-
lichem Wege aus gegebenen Elementen heraus entstanden sind, lässt
sich bisher bloss vermuthen; einer Entscheidung hierüber müsste eine
besondere Untersuchung des Gegenstandes vorangehen. Das Material,
wofür die unteritalischen Vasen eine Hauptquelle bilden dürften45), ist
leider daraufhin noch nicht einmal gesammelt und gesichtet, geschweige
denn bearbeitet. Das Interesse für die hellenistische Kunst datirt ja im
Wesentlichen erst seit den Ausgrabungen von Pergamon. Die Würdi-
gung des Dekorativen in dieser Kunst hat namentlich an Theodor
Schreiber einen verständnissvollen und eifrigen Anwalt gefunden. Es
stünde lebhaft zu wünschen, dass die Lücke zwischen der attischen
Vasenornamentik des 4. Jahrh. und der pompejanischen Ornamentik
möglichst bald gründlich und systematisch ausgefüllt würde. Der Unter-
suchung, welche wir angestellt haben, erübrigt nur noch die Aufgabe
zu zeigen, wie die hellenistische Kunst, kraft ihrer vorwiegend dekora-
tiven Tendenzen, die griechische Rankenornamentik endlich an das Ziel
geführt hat, dem dieselbe seit Jahrhunderten beharrlich zugestrebt hatte.
[224[234]]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Sofern dieses Ziel die Ausgestaltung der an den Rankenlinien
haftenden pflanzlichen Einzelmotive betraf, war dasselbe spätestens in
perikleischer Zeit thatsächlich erreicht. Der Akanthus bedeutet den
äussersten Punkt, bis zu welchem sich das Pflanzenornament der Natur
nähern durfte, ohne in kopistenhafte Abhängigkeit von dieser letzteren
zu gerathen.46) Die Veränderungen, Fort- und Umbildungen, die uns
an den Blüthenmotiven des hellenistischen und römischen Ranken-
ornaments entgegentreten, sind nicht als Krönungen des vorangegangenen
Werdeprocesses, sondern als Keime, Ansätze für darauf folgende funda-
mentale Neugestaltungen anzusehen. Was der hellenistischen Kunst
für die Vervollkommnung des Rankenornaments noch zu leisten übrig
blieb, das betraf nicht die Behandlung der Einzelmotive, sondern das
Maass, die Ausdehnung des Verwendungsgebietes, das man der Ranke
überhaupt einzuräumen hatte.
Die gleichsam physische Vorbedingung zu einer umfassenderen
Verwendung — die freie künstlerische Handhabung des Rankenorna-
ments — hatte eigentlich schon die schwarzfigurige Vasenmalerei er-
füllt. Es handelte sich im Grunde nur mehr darum, dem Ranken-
ornamente den erforderlichen Raum zur vollen Entfaltung
seiner Qualitäten zur Verfügung zu stellen. Dies geschah in
der hellenistischen Zeit. Nicht als ob es dieser Zeit um blosse Befrie-
digung des Schmuckbedürfnisses, und nicht auch um die Lösung hoher
künstlerischer Probleme zu thun gewesen wäre. Diese Probleme lagen
aber überwiegend auf dem Gebiete der Architektur: den monarchisch-
orientalisirenden Gedanken der Bauherren der Diadochenzeit genügte
das einfach-edle Säulenhaus nicht mehr. Der Massenbau und die Wöl-
bung beschäftigten die Phantasie dieses Zeitalters, ganze Städte wurden
im Nu gegründet, und Prachtbauten gleich dem Sarapeion in Alexandrien
aufgeführt, in denen der Skulptur und Malerei die bloss dienende Rolle
des Schmuckbereitens zukam. Die Ziele der Skulptur und Malerei
mussten daher vorwiegend dekorative werden, und damit war für die
gefällige schmiegsame Ranke die richtige Zeit gekommen.
Von den Prachtbauten und Dekorationen der Diadochen hat sich
[235]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Silberne Amphora in der Eremitage.
[236]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
leider so gut wie Nichts erhalten. Wir müssen die einzelnen Stücke
mühsam zusammensuchen, aus denen wir uns die Vollendung des Ent-
wicklungsprocesses der griechischen Pflanzenranke zu rekonstruiren
vermögen. Ein vortreffliches Beispiel für die Dekoration des ganzen
Bauches einer Vase mittels des Rankenornaments bietet die Nikopol-
Vase in der Eremitage Fig. 12147). Wir sehen hier nur eine Seite der
Vase; auf der anderen Seite ist die Dekoration eine völlig ähnliche.
Der Figurenfries der attischen Vasen des 5. Jahrh. ist hier auf ein
schmales Schulterband beschränkt; den weitaus grössten Theil der Ober-
fläche füllt das Rankenwerk. Unten gewahren wir einen Kelch von
drei Akanthusblättern: einem vollen en face zwischen zwei halben in
Profilansicht. Aus dem Kelche steigen zwei Rankenstengel empor und
verbreiten sich in symmetrischer Weise, indem sie in undulirender Be-
wegung dem oberen Rande zustreben. Der Akanthus kommt auch an
den Ranken wiederholt vor; als plastische Halbpalmette dient er da
zur Hülse der Rankengabelungen und zum Kelch der Lotusblüthen und
Palmetten: also in der schon am Erechtheion festgestellten Stilisirung
und Funktion. Neben den plastisch-perspektivischen Halbpalmetten
begegnen wir aber auch den traditionellen flach-abstrakten; sie sind
geschwungen und zum Theil von dem gesprengten Palmettentypus ent-
lehnt. Auch die Blüthenformen sind mehrfach die alten flachen Pal-
metten, zum Theil zeigen sie aber Neigung zu perspektivischer Bildung
und naturalisirenden Zuthaten. Dieses Nebeneinander von flach-abstrak-
ten und plastisch-perspektivischen Formen scheint für die hellenistische
Ornamentik besonders charakteristisch gewesen zu sein, da es sich auch
an den Halsverzierungen der unteritalischen Vasen überaus häufig beob-
achten lässt. — An der Nikopol-Vase wären ausserdem noch besonders
zu vermerken die eingestreuten Vögel, die als leichtschwebende Lebe-
wesen zu solchem Zwecke besonders geeignet waren, und mit halbent-
falteten Flügeln dargestellt erscheinen. Die elegante Bewegung der
Ranken ist anscheinend völlig frei; die trotzdem eingehaltene Sym-
metrie macht sich dem Auge nicht vordringlich bemerkbar.
Die griechische Kunst hatte aber nicht umsonst Jahrhunderte hin-
durch danach gestrebt, in der höchsten Aufgabe aller Skulptur und
Malerei, in der Darstellung der menschlichen Figur, das Vollkommenste
zu leisten. Die menschliche Figur wurde schliesslich auch in die De-
koration eingeführt. Es war eine der hellenistischen Künstler würdige
[237]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Aufgabe, die menschliche Figur mit dem Rankenornament in
geeignete Verbindung zu bringen. Einen Vorläufer hiefür aus
der attischen Kunst des 5. Jahrh. hatten wir schon in Fig. 108 kennen
gelernt. Verhältnissmässig einfach war die Lösung, sobald es sich um
bordürenartige Streifen, um eine Friesform handelte. Ein vortreffliches
Beispiel für hellenistische Behandlung einer solchen Aufgabe bietet das
Golddiadem aus Eläa.
Diadem aus Eläa Fig. 12248). Die zu beiden Seiten der Mittelpal-
mette sitzenden Jünglingsfiguren sind als geflügelte Eroten gestaltet;
die Dekorationsflora steht in der stilistischen Behandlung völlig nahe
der Nikopol-Vase. Lehrreich ist auch der Vergleich der das Diadem
umziehenden fortlaufenden Wellenranke mit Halbpalmettenfächer-Fül-
lungen, mit dem Saume von einem klazomenischen Sarkophag Fig. 76:
Golddiadem aus Abydos.
einerseits Identität des Grundschemas, anderseits Wandlung in der
Stilisirung der füllenden Halbpalmetten-Fächer infolge der inzwischen
zum Durchbruch gelangten Tendenz nach lebhafterer Bewegung.
Reichere Verwendung von menschlichen Figuren findet sich an
dem Diadem aus Abydos Fig. 12349): in der Mitte auf einem Doppel-
[238]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
kelch aus Akanthus, Dionysos und Ariadne, beiderseits auf den Ranken-
windungen sitzend musicirende Figuren. Das Motiv, in welches die
Ranken an beiden Enden auslaufen, hat in der hellenistischen und später
in der orientalischen Kunst eine grosse Rolle gespielt. Es ist wohl das-
selbe, das Jacobsthal50) mit einer in Griechenland heimischen Pflanze,
dem Dracunculus vulgaris, identificirt hat. Abgesehen von principiellen
Bedenken scheint mir die Verbreitung des Motivs, namentlich über
orientalischen Kunstboden, gegen jene Zuweisung zu sprechen. Aehn-
liche Motive, augenscheinlich als Palmen gedacht, finden sich schon in
der egyptischen Kunst der Pharaonenzeit dargestellt. Ich gebe als Bei-
spiel Fig. 124 nach Lepsius III. 69, vgl. ebenda III. 95. An Fig. 123 giebt
sich das Motiv als gleichsam zwickelfüllender Abschluss der Ranke. Man
sieht, dass in der Friesform eine Combination von Figuren und Ranken-
windungen verhältnissmässig leicht gefunden war. Das Gleiche gilt
Stilisirte Baumkronen. Altegyptisch.
von Pilasterfüllungen, wofür eines der glänzendsten Beispiele in der
Villa Hadriana (Canina VI. 172) gefunden wurde. Schwieriger gestaltete
sich die Lösung, sobald es sich um die Einstreuung von Figuren in
eine grössere mit Rankenwerk überzogene Fläche handelte. Ein vol-
lendetes Beispiel hiefür liefert der Hildesheimer Silberkrater51)
Als Figuren sind Putten gewählt, offenbar ob ihrer schwebenden Leich-
tigkeit und Possirlichkeit, wodurch sie sich besser als Erwachsene zu
den heiteren spielenden Zwecken der Dekoration eigneten. Dazu das
kleine Seegethier, die Krebse, Seepferdchen, Fische, auf welche ein
Theil der Putten mit Poseidons Dreizack Jagd macht, während andere
sich behaglich in den Rankeneinrollungen wiegen. Die Entstehung des
Hildesheimer Silberkraters wird von Einigen in römische Zeit verlegt.
Selbst wenn dem so wäre, wird man nicht zweifeln können, dass der
seiner Dekoration zu Grunde liegende Gedanke — die freie Ranken-
[239]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
entfaltung mit eingestreuten Kinderfiguren — auf hellenistische Ein-
gebungen zurückgeht. Tritt uns doch das System in der ersten römi-
schen Kaiserzeit (Pompeji, Farnesina) allzu vollendet und ausgeprägt
entgegen, als dass es zu dieser Zeit nicht schon seine Entstehungs-
stadien lange hinter sich gehabt haben müsste.
Mit Werken, wie der Hildesheimer Krater, war die Leistungsfähig-
keit der dekorativen Pflanzenranke aufs Höchste gesteigert, der Kreislauf
erschöpft. Auch unsere Eingangs gestellte Aufgabe, die Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments von seinen frühesten Anfängen in der mykeni-
schen Kunst bis zur reifsten Ausbildung zu verfolgen, erscheint damit ge-
löst und wir könnten hiemit füglich dieses Kapitel abschliessen. Es wurde
aber schon angedeutet, dass in der Detailbehandlung der Ranke und
der Stilisirung ihrer anhaftenden Blüthen- und Blättermotive während
der hellenistischen und der römischen Kaiserzeit gewisse Veränderungen
und Fortbildungen sich vollzogen haben, die man nicht so sehr für
Vollendungen des Entwicklungsganges in vorperikleischer Zeit, als viel-
mehr für die Vorboten und Ausgangspunkte einer künftigen,
wesentlich verschiedenen Zielen zustrebenden Stilweise an-
zusehen hat. Es wird sich daher empfehlen, der hellenistischen Ranken-
ornamentik nach der angedeuteten Richtung noch einige Betrachtungen
zu widmen, um für den Augenblick, da wir an die Erörterung des
byzantinischen und saracenischen Rankenornaments schreiten werden,
den Anknüpfungspunkt sichergestellt und bereit zu haben.
Im Verlaufe des Entwicklungsprocesses der griechischen Ranken-
ornamentik hatte unter allen hiebei in Betracht kommenden Einzel-
motiven die Palmette allmälich die grösste Wichtigkeit erlangt. Der
Palmettenfächer war es eben, der sich weitaus am besten dazu eignete,
genau nach Maassgabe des jeweiligen Bedürfnisses in die Zwickel der
Rankengabelungen eingesetzt zu werden. Traten zwei Rankenendigungen
in spiraligen Einrollungen zu einem Kelche zusammen, so erhob sich
darüber als Füllung der Fächer einer vollen Palmette. Handelte es
sich nur um die Abzweigung eines Schösslings vom Hauptstamme der
Ranke, so war mit diesem Schössling bloss eine spiralige Einrollung,
die Hälfte eines Kelches gegeben, über welchem dann als Füllung bloss
ein halber Palmettenfächer nothwendig war. Geschah endlich die
Rankengabelung unter sehr spitzem Winkel, so genügte ein kleiner
(¼—⅓) Ausschnitt aus dem Fächer einer vollen Palmette.
Als im Laufe des 5. Jahrhunderts eine lebhaftere Bewegung, ein
[240]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
ersichtliches Bestreben nach Verlebendigung in die Darstellung des
Pflanzenornaments gekommen war, knüpften die wichtigsten und ent-
scheidendsten Versuche nach dieser Richtung an die Palmette an. Es
erfuhren zwar auch die Profil-Blüthentypen naturalisirende Verände-
rungen; dauernd und klassisch erwiesen sich aber eigentlich bloss
diejenigen, die sich an der Palmette vollzogen.
Als die nächste dieser Veränderungen haben wir das Aufkommen
der gesprengten Palmette kennen gelernt. Die dauernde Bedeutung,
die dieses Motiv für die spätere Entwicklung gewonnen hat, beruht in
der daran vollzogenen Zweitheilung des Palmettenfächers. Das Postulat
der Zwickelfüllung hatte bereits — wie wir gesehen haben — das
Motiv der Halbpalmette nothwendigermaassen in die Welt gebracht, das
nun alsbald seiner ganzen Funktion nach als das wichtigere, verwend-
barere und daher auch zukunftsreichere gegenüber der vollen Palmette
erscheinen musste. Die gesprengte Palmette trägt diesem Umstande
volle Rechnung, indem sie den einheitlichen Fächer preisgiebt und sich
unzweideutig als Produkt der symmetrischen Zusammensetzung zweier
Halbpalmetten kundgiebt.
Der nächste und entscheidende Schritt geschah mit der Schaffung
eines plastisch-perspektivischen Palmettentypus, der uns im sogen.
Akanthus vorliegt. Und zwar haben wir auch hier zu unterscheiden
zwischen dem Akanthusblatt, das der vollen Palmette entspricht, und
der sogen. Akanthusranke, die aber nichts anderes ist als das längs einer
Ranke dahinlaufende Akanthusblatt in halber, d. h. in Profilansicht,
und die daher als plastische Halbpalmette erklärt werden darf. Wir
haben (S. 219) das erstere Motiv als Akanthusvollblatt, das zweite als Akan-
thushalbblatt bezeichnet.
Vom Ende des 5. Jahrhunderts an laufen beide Pro-
jektionen, die flach-abstrakte und die plastisch-perspek-
tivische, neben einander her. So begegneten sie uns gemeinsam
auf der Nikopolvase, und dass das Gleiche auf den unteritalischen Vasen
des 4. und 3. Jahrh. zu beobachten ist, wurde auch schon erwähnt.
Ein weiteres Beispiel haben wir in einem Diadem aus Eläa (Fig. 122)
kennen gelernt. Gleichwohl finden sich noch Jahrhunderte lang nach
dem Aufkommen des Akanthus Verzierungen, die bloss von der flach-
stilisirten Palmettenranke bestritten sind, und zwar bezeichnender-
maassen unter den Henkeln der Vasen, wo ja das reine Ornament seit
jeher seine Zufluchtstätte hatte, während auf den Hals zum Theil sich
die figürlichen Darstellungen erstrecken, mindestens ein menschlicher
[241]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Kopf, häufig aber auch eine ganze Figur den Mittelpunkt der Deko-
ration bildet, wodurch sich dann auch die Heranziehung des plastisch-
perspektivischen Akanthus rechtfertigt. Untersuchen wir nun vorerst
einmal
a. Die flache Palmetten-Ranke.
Was uns an Fig. 12552) entgegentritt, ist im Grunde nichts anderes,
als ein von den attischen Vasen des 5. Jahrh. her wohlbekanntes
System von Palmettengeranke: unten eine grosse Palmette, umschrieben
von zwei Rankenlinien, die sich über dem Scheitel der Palmette in
wellenförmigen Schwingungen nach rechts und links symmetrisch aus-
breiten, die zahlreichen, hierdurch entstehenden Zwickel gefüllt mit
ganzen Palmetten, Halbpalmetten und Fächer-Ausschnitten. Und doch
lassen sich bei näherem Zusehen einige Eigenthümlichkeiten beobachten,
die den attischen Palmettenranken des 5. Jahrh. theils gar nicht,
theils nur in weit minderem Grade eigen gewesen sind.
Für’s Erste die sorgfältige Raumausfüllung. Die Einzelmotive
erscheinen so nahe an einander gerückt, dass es unmöglich ist zu ver-
kennen, dass der Vasenmaler möglichst wenig schwarzen Grund frei-
lassen wollte. Den attischen Vasen mindestens der Zeit vor dem
peloponnesischen Kriege war ein solcher Horror vacui fremd. Wie
haben wir uns diese neue Erscheinung zu erklären? Offenbar aus dem
gleichen Grunde, der die analoge Erscheinung im Dipylonstil u. s. w.
zur Folge gehabt hat. Ein neuerliches, vermehrtes Schmuckbedürfniss,
ein langsam, aber mit Macht vordrängender dekorativer Zug verräth
sich augenscheinlich in dieser Sucht, den Grund möglichst ausgiebig
mit Zierformen zu mustern. Dies entspricht denn auch dem allgemeinen
Charakter der hellenistischen Kunst. Der Zug zur Darstellung des
Gegenständlichen, der die griechische Kunst etwa bis in die perikleische
Zeit charakterisirt, das überwiegende Streben nach Bemeisterung der
menschlichen Körperformen, nach Versinnlichung der das Hellenen-
thum bewegenden religiösen, sittlichen und politischen Ideen: damit
war man im letzten Drittel des 5. Jahrh. auf einen Höhepunkt ge-
langt, von dem aus es kaum mehr eine Steigerung gab. Nun regte
sich wieder die Schmuckfreudigkeit, drängte es wieder nach dem
anderen der beiden Pole, zwischen denen sich alles Kunstschaffen be-
wegt. Der hohen und erhabenen Typen waren genug geschaffen, um
Herz und Auge daran zu erfreuen. Die pompejanische Innendekoration
Riegl, Stilfragen. 16
[242]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
erscheint geradezu charakterisirt durch die spielende Verwendung, die
sie mit den von der vorangegangenen grossen Kunstperiode geschaffenen
Typen der heroischen und der Göttersage vorgenommen hat. Natürlich
bedurfte eine solche Zeit eines ganz anderen Apparates an reinen
Schmuckformen, als es derjenige gewesen war, mit dem sich die über-
Gemaltes griechisches Rankenornament.
wiegend mit figürlich-monumentalen Problemen beschäftigte griechische
Kunst des 6. und 5. Jahrh. hatte begnügen können. Mit einem Schlage
war aber ein solcher Apparat nicht zu beschaffen; der nächste Schritt
bestand daher in einer reichlicheren, üppigeren Verwendung der über-
kommenen Zierformen. Dieses Stadium sehen wir u. A. in Fig. 125
verkörpert. Hatte sich der attische Vasenmaler etwa der 1. Hälfte des
5. Jahrh. mitunter bloss mit einem einzigen Rankenzweige begnügt,
[243]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
den er unter die Henkel hinwarf, so erscheint nunmehr der ganze von
den Henkeln einerseits, der figürlichen Darstellung auf dem Bauche
der Vase anderseits freigelassene Raum möglichst mit der Palmetten-
ranke ausgefüllt.
Der eben gekennzeichnete Unterschied von Fig. 125 gegenüber
der älteren attischen Weise betrifft die Anwendung des Ranken-
ornaments im Allgemeinen. Die besprochene Erscheinung ist auch
mehr als Symptom für den sich nunmehr anbahnenden Tendenzwechsel
zu verzeichnen, und nicht so sehr als typisches Beispiel von einer fest-
stehenden Regel. Der grosse Zug in der Führung des Rankenornaments,
dem die griechische Kunst seit mykenischer Zeit augenscheinlich zu-
strebte, verräth sich auch noch — und Dank den gesteigerten Mitteln
da erst besonders — an gewissen Kunsterzeugnissen der hellenistischen
Zeit, wie an der Nikopol-Vase oder am Hildesheimer Silberkrater. Diese
letzteren betrachten wir daher auch als die Repräsentanten der Voll-
endung des bisherigen Entwicklungsprocesses, während in Zusammen-
schiebungen des Rankenornaments gleich Fig. 125 sich ein künftiger,
anderen Zielen zugewandter Kunstgeist ankündigt.
An dem gegebenen Beispiel treten aber noch einige Eigenthümlich-
keiten zu Tage, die das Detail, die pflanzlichen Einzelmotive
betreffen. Da wäre einmal die Verdickung zu vermerken, die den
Ausläufern der Ranken verliehen erscheint. Man war augenscheinlich
bestrebt, diesen Ausläufern gegenüber den feinen spiraligen Einrollungen
ein körperliches Aussehen zu geben. Man beachte namentlich die Aus-
läufer der unteren Ranken, die gegen die Mitte zu nach aufwärts ver-
laufen: einerseits eine Rankenspirale, anderseits das verdickte, nackt-
schneckenartige Ende, dazwischen drei füllende Blätter eines Fächer-
ausschnitts. Der verdickte Ausläufer sollte offenbar nicht zur blossen
Kelchbildung, gleich der Spiralranke, dienen, was dazu auffordert, in
dem ganzen Motiv eine frei auslaufende Halbpalmette zu erkennen.
Das „freie Auslaufen“ dieser Halbpalmette wurde absichtlich
betont, weil uns in Fig. 125 auch mehrfache Halbpalmetten ent-
gegentreten, die sich nicht als freie Endigungen darstellen,
sondern von deren Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin
beruht eine dritte wesentliche Eigenthümlichkeit, die wir an dem in
Rede stehenden Rankenornament zu verzeichnen haben. Verfolgen wir
z. B. die Rankenlinie, die an der unteren centralen Palmette rechts
hinaufläuft. Ueber dem Scheitel der besagten Palmette — wo sie mit
der von links herankommenden Rankenlinie einen Kelch bildet, über
16*
[244]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem sich dann die obere centrale Palmette erhebt — wendet sie sich
nach rechts und biegt nach abwärts um, indem sie zugleich einen
Spiralschössling entsendet. In den Zwickel zwischen dem letzteren und
der Hauptranke selbst ist der Fächer einer Halbpalmette eingezeichnet,
deren (halben) Kelch eben der erwähnte Spiralschössling bildet. Gewiss
ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Halbpalmettenfächers bloss die-
jenige einer accessorischen Zwickelfüllung gewesen. Aber im vorliegen-
den Falle ist das Verhältniss zwischen Spiralkelch und Fächer bereits ein
so entsprechend gewähltes, drängt sich die Konfiguration einer Halb-
palmette dem Auge bereits so zwingend auf, dass wir unmöglich an-
nehmen können, es wäre dies dem Vasenmaler entgangen und von ihm
nicht beabsichtigt gewesen. Aber verfolgen wir die Fortsetzung: die
Ranke läuft von der Spitze (dem Scheitel) der eben konstatirten Halb-
palmette weiter, biegt wieder nach aufwärts um, bildet zuerst eine
neuerliche Halbpalmette, umschreibt dann eine volle Palmette und
endigt in eine freie Halbpalmette mit verdicktem und energisch aus-
wärts gekrümmten Scheitel.
Zweierlei haben wir aus dem Gesagten besonders zu vermerken.
Erstlich den Umstand, dass so augenscheinliche, vegetabilische Blüthen-
oder Blattmotive wie die Halbpalmetten an eine Ranke in der Weise
angesetzt werden, dass sie nicht die freien Endigungen bilden, sondern
von ihren Spitzen oder Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin be-
kundet sich ein entschiedenes Abweichen von einem Grund-
gesetze der Natur, nach welchem die Blätter und Blüthen regel-
mässig die Bekrönung der Stiele bilden. Zweifellos hat die Ornamentik
das Recht zu solchen Abweichungen, aber es ist doch überaus wichtig
zu beobachten, wann und in welcher Weise dies zuerst geschehen ist.
Ein rein künstlerischer Process ist es augenscheinlich gewesen, der
dazu geführt hat. Wir haben das Maass der Berücksichtigung des
Postulats der Zwickelfüllung bei allen antiken Künsten, von der
egyptischen Kunst angefangen, verfolgt, und es kann keinen Zweifel
leiden, dass dieses Postulat allmälig zur Herausbildung der unfreien
Halbpalmette, wie wir sie nennen wollen, geführt hat. Ich glaube auch
nicht, dass der Vasenmaler von Fig. 125 sich den Sachverhalt so ge-
dacht hat, dass in der That die Spitze, das Scheitelende der Halb-
palmette den Ausgangspunkt für die weiterlaufende Ranke bilden sollte.
Den strikten Beweis hiefür werden wir an der Hand der plastisch-
perspektivischen Halbpalmette, d. i. des Akanthushalbblatts führen
können, das ursprünglich geradezu daraufhin stilisirt worden ist, um
[245]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
nicht als in der Ranke aufgehend, als unfrei zu erscheinen. Was aber
das gegebene Beispiel für die künftige Entwicklung so überaus wichtig
macht, das ist der Umstand, dass daran in der zeichnerischen
Projektion Formen vorliegen, aus denen eine spätere, dem Naturalismus
abgekehrte und die ursprüngliche vegetabilische Bedeutung des Orna-
ments absichtlich verkennende Kunst ein mehr oder minder abstraktes
Gebilde schaffen konnte und in der That geschaffen hat, mochte auch
der griechische Maler dieser Vase noch gar nicht daran gedacht haben,
dass er mit seiner Stilisirung ein die Natur vergewaltigendes, ein anti-
naturalististisches Schema von Pflanzendekoration geschaffen hat.
Ferner ist noch einmal hinzuweisen
auf die Scheitelenden der freien Halb-
palmetten, deren verdickte körperliche
Form bereits an früherer Stelle Erörte-
rung gefunden hatte. Es erübrigt uns
daran noch die starke Krümmung nach
Aussen in’s Auge zu fassen. Diese Krüm-
mung konnte sich naturgemäss bloss an
den freien Halbpalmetten so energisch
äussern; es ist aber wichtig zu ver-
merken, dass auch die unfreien Halb-
palmetten die Neigung zeigen, den
Scheitel umzubiegen. Es ist der Geist
der gesprengten Palmette, der sich darin
ausdrückt, und dem allerdings an der
Gemaltes griechisches Rankenornament.
unfreien Halbpalmette schon durch die undulirende Bewegung der
Ranke Vorschub geleistet wurde. Ein sehr lehrreiches Beispiel für die
Tendenz der Halbpalmetten nach einer Krümmung ihrer Scheitelspitzen
nach Aussen bietet auch Fig. 12653), wo übrigens der Fächer der
mittleren Halbpalmetten durch Unterdrückung der einzelnen Blätter zu
einem sphärischen Dreieck zusammengezogen und dadurch fast arabesk
geometrisirt erscheint.
Die Wichtigkeit die wir der Gestaltung des Palmettenrankenorna-
ments, wie sie uns in Fig. 125 entgegentritt, nach dem Gesagten bei-
messen müssen, dürfte es rechtfertigen, wenn in Fig. 12754) noch ein
[246]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Beispiel hiefür gegeben wird. Das Schema ist im Grunde das gleiche
wie in Fig. 125, aber entsprechend der geringeren zur Verzierung ge-
gebenen Fläche minder reich entwickelt. Dieselbe peinliche Ausfül-
lung des Grundes, die gleiche Aufreihung von unfreien und Endigung
in freie Halbpalmetten. An der inneren Windung war aber für einen
wirklichen Halbpalmettenfächer kein Raum, die Stilisirung der Zwickel-
füllung läuft hier vielmehr ganz parallel der an dem mykenischen
Beispiel Fig. 64 beobachteten. Die freie Halbpalmette mit verdicktem
und gekrümmtem Ausläufer zeigt anstatt des Blattfächers das sphärische
Gemaltes Rankenornament von einer attischen Lekythos des 4. Jahrh.
Dreieck wie Fig. 126. Dass der Blattfächer in dieser geometrisirten
Form thatsächlich latent vorhanden ist, beweist Fig. 12855), wo die Halb-
palmette von einer geraden Umrisslinie umzogen und abgeschlossen
erscheint, innerhalb deren sich aber der Blattfächer ausdrücklich ein-
gezeichnet findet.
[247]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Mit Rücksicht auf den Umstand, dass wir den Fortentwicklungs-
process des flachen Palmettenrankenornaments in hellenistischer Zeit
hauptsächlich bloss an der Hand unteritalischer Vasen zu verfolgen im
Stande sind, ist es bedeutsam zu erwähnen, dass die Lekythos, von
welcher Fig. 127 entlehnt ist, aus Athen stammt, worauf mich Dr. Masner
aufmerksam macht: bedeutsam deshalb, weil sich hieraus ergiebt, dass
die erwähnten Besonderheiten nicht einen blossen unteritalischen Provin-
cialismus repräsentiren, sondern als weitreichende, weil offenbar organi-
sche Fortentwicklung angesehen werden müssen.
Das flache Palmettenornament ist auch während der römischen
Kaiserzeit stets in Anwendung gekommen, wenngleich nur in beschei-
denem Maasse. Namentlich im römischen Westen dagegen hat das
Gemaltes griechisches Rankenornament.
plastischperspektivische Palmettenornament des sogen. Akanthus allmälig
das entschiedene Uebergewicht erlangt. Aber selbst hier finden wir
vereinzelt noch in der spätesten Zeit (Spalato) gesprengte Palmetten von
flacher Stilisirung an einer und derselben Ranke alternirend mit akan-
thisirenden Palmetten. Auch die spiralige Wellenranke ohne alle vege-
tabilischen Ansätze und Zwickelfüllungen, völlig im nackten Schema
des mykenischen Beispiels Fig. 50, ist bis in die späteste Zeit des
Römerweltreichs im Gebrauch geblieben56). Ja im Osten des Mittel-
meeres scheinen die flachen Typen aus der Zeit der ausgehenden
attischen Kunsthegemonie, zu welcher Zeit sich eben die künstlerische
Eroberung des Orients vollzogen hatte, in konservativer Weise stets
bewahrt und mit Vorliebe gebraucht worden zu sein, zum bezeichnenden
[248]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Unterschiede von den überwiegend naturalisirenden Neigungen, denen
sich der Westen hingegeben hat.
Der Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung, und daher auch
der ornamentalen Entwicklung lag zunächst nicht im Orient, sondern
im Westen. Zweifellos hat das Bekanntwerden mit orientalischen Mo-
numentalwerken vielfach fördernd und befruchtend auf die Ausbildung
der hellenistischen Kunst eingewirkt. Aber der entscheidende, der
formgebende Faktor war der westliche, der griechische. Haben wir in
der That, wie Theodor Schreiber will, den wichtigsten Schauplatz der
Heranbildung der hellenistischen Dekorationskunst in Alexandrien zu
suchen, so bietet gerade diese Stadt die augenfälligsten Parallelen zu
der Kunst, die daselbst ihre Heimstätte gefunden haben soll: eine
griechische Gründung auf orientalischem Boden, bewohnt von griechi-
schen Bürgern, regiert von Griechen, aber nach orientalisch-monarchi-
schen Principien. Darin erkennen wir das Spiegelbild der hellenistisch-
alexandrinischen Kunst: grosse monarchische Bauherrengedanken (Se-
rapeion), unter Anwendung prunkvollen und kostbaren Materials, kühne
technische Proceduren (Wölbung), aber unter Beobachtung griechischer
Einzelformen und wohl auch ebenmässig abwägenden griechischen
Kunstgefühls.
Der Schluss, der sich aus dieser allgemeinen Betrachtung auf den
Entwicklungsgang des Pflanzenrankenornaments ergiebt, lautet dahin,
dass die naturalisirende Tendenz, deren mächtiges Anwachsen wir
schon in den letzten Jahrzehnten attischer Kunsthegemonie wahrnehmen
konnten, auch in der Kunst an den orientalisirenden Diadochenhöfen
sich geltend gemacht haben muss. Wir werden daher erwarten, dass das
hellenistische Rankenornament der plastisch-perspektivischen Palmette,
d. i. dem Akanthus, breiten Eingang gewährt hat. Und zwar handelt
es sich hiebei nicht so sehr um das Akanthusvollblatt, wie es um den
Calathus des korinthischen Kapitäls herum gereiht erscheint, sondern
um das mit der fortlaufenden Rankenlinie fest verwachsene Akanthus-
halbblatt oder die sog. Akanthusranke.
b. Die Akanthusranke.
Nichts ist bezeichnender für die Art und Weise wie man, beein-
flusst durch Vitruv’s Erzählung jede bessere Einsicht in das wahre Wesen
des Akanthusornaments gewaltsam in sich niedergekämpft hat, als der
Umstand, dass man längst ganz klar erkannt hat, dass die Akanthusranke
in Wirklichkeit nicht existirt und eine blosse Erfindung des ornamen-
[249]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
talen Schaffensgeistes der Griechen gewesen ist, und dass man trotzdem
an der Vorbildlichkeit der Akanthuspflanze keine Zweifel hat auf-
kommen lassen wollen.
Ist aber der Akanthus gemäss unseren Ausführungen auf S. 218 ff.
nichts anderes als die Palmette in plastisch-perspektivischer Projektion,
so werden wir ihn sofort auch im Rankenornament an die Stelle der flach
projicirten Palmette treten sehen müssen. Vor Allem kommt hier die
fortlaufende Wellenranke in Betracht, deren Schema es ja schon mit
sich bringt, dass von der Hauptranke fortwährend Seitenschösslinge ab-
zweigen und dadurch spitzwinklige Zwickel entstehen, deren Ausfüllung
durch Halbpalmetten-Fächer der griechische Kunstsinn gebieterisch
Von einer getriebenen Goldplatte in der Eremitage.
forderte. In zweiter Linie werden wir das Auftreten des Akanthus in
der intermittirenden Wellenranke in Untersuchung zu ziehen haben.
Frühzeitig erfolgte die Uebertragung des Akanthus auf die
fortlaufende Wellenranke auf plastisch verzierten Kunstwerken.
Fig. 129 giebt ein Bordürenfragment von einer in Gold getriebenen
Arbeit des 4. Jahrhunderts, die Stephani im Compte rendu 1864 Taf. IV
publicirt hat. Von den zwei Streifen, in welche die Bordüre zerfällt,
interessirt uns hier zunächst der obere57). Derselbe enthält eine fort-
laufende Wellenranke, deren spiralig eingerollte Seitenschösslinge in
je eine naturalisirende Blüthe auslaufen. Jede Rankengabelung, d. i. der
Punkt, an welchem ein Seitenschössling abzweigt, ist mit einer Hülse
[250]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
aus zwei Akanthushalbblättern ausgestattet. Gemäss unseren Aus-
führungen auf S. 219 haben wir darin nichts anderes zu erblicken als
Halbpalmetten in plastisch-perspektivischer Projektion. Gleichwie an
Fig. 125 erscheinen die Scheitelenden der Palmetten verdickt und nach
auswärts gekrümmt; die Rankenabzweigung, deren Zwickel sie zu füllen
haben, läuft unterhalb der gekrümmten Scheitelspitze hinweg. Diese
energische Auswärtskrümmung ist zugleich ein Beweis dafür, dass die
griechischen Kunsthandwerker der hellenistischen Zeit nicht daran
dachten, dem vegetabilischen Element der Halbpalmette unnatürlichen
Zwang anzuthun, woraus wir wohl berechtigt sind die entsprechenden
Rückschlüsse auch auf die flache, scheinbar unfreie Halbpalmette
Steinerner Relieffries aus Pompeji.
(S. 244) zu ziehen, an welcher wir der eigenthümlichen Projektion halber
über die eigentlichen Absichten des Vasenmalers im Unklaren geblieben
waren.
Als Beispiel römischer Behandlung der fortlaufenden Akanthus-
ranke diene Fig. 130 vom Isisheiligthum zu Pompeji58). Der römische
Akanthus ist zwar in der Regel schwerer und üppiger, und lässt nicht
so viel von den Rankenstengeln frei. Aber das gegebene Beispiel aus
einer frühen Zeit der bezüglichen Entwicklung eignet sich gerade seiner
verhältnissmässig mageren Behandlung halber besser zu dem Zwecke,
die Zusammensetzung der römischen Akanthusranke im Einzelnen auf-
zuzeigen. Die Ausführung ist eine plastische in Stein, wiewohl zur
gleichen Zeit die Wandmalerei bereits den reichlichsten Gebrauch von
der Akanthusranke gemacht hat, wovon gleichfalls aus dem Isisheilig-
thum geradezu klassische Beispiele vorliegen59).
[251]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Zunächst einige Worte über die Behandlung des Akanthusblattes
als solchen. Diesbezüglich muss an Fig. 130 gegenüber dem typischen
griechischen Akanthus vom Lysikratesdenkmal (Fig. 111) die weichere,
rundlichere Stilisirung der einzelnen ausspringenden Zacken auffallen.
Auch hiefür hat man eine Erklärung gefunden, die an Einfachheit nichts
zu wünschen übrig liesse, wenn sie nur nicht so ganz und gar unkünst-
lerisch wäre. Man hat nämlich diese verschiedene Behandlung des
Akanthus im Osten und im Westen — spitzzackig in Athen, rundzackig
in Italien — auf eine Verschiedenheit der natürlichen Vorbilder zurück-
führen wollen, die da und dort dem Künstler zu Gebote standen. Man
fand, dass von der Familie der Akanthuspflanzen in Griechenland die
Species Acanthus spinosa, in Italien dagegen Acanthus mollis besonders
heimisch wäre. Was natürlicher, als dass die Griechen ihren heimischen
dornigen Akanthus, die Italiener dagegen ihren weichblättrigen kopirt
und auf die Denkmäler gebracht hätten? Erschien es uns nun schon
höchst bedenklich anzunehmen, dass die Athener den auf den Kirch-
höfen wuchernden Akanthus auf ihre Grabstelen gebracht haben sollten,
so werden wir vollends den Kopf schütteln müssen ob der Zumuthung,
dass die italischen Steinmetzen dem Beispiele der griechischen folgend
sich ihr heimisches Akanthus-Unkraut mit Lust und Sorgfalt abkonterfeit
hätten. Der weicheren Bildung des Akanthus in römischer Zeit liegt
vielmehr eine Stilwandlung zu Grunde, die nicht bloss auf Italien be-
schränkt geblieben ist, sondern sich auch auf die übrigen kunstschaffenden
Gebiete des römischen Weltreichs erstreckt hat, wie sich insbesondere
an kleinasiatischen Denkmälern monumental erweisen lässt60). Aehnliche
Wandlungen haben sich, wie wir noch sehen werden, mit dem Akanthus
am Ausgange der spätantiken Zeit vollzogen, und gleichermaassen lässt
sich der Akanthus der Hochrenaissance von demjenigen des Louis XIV
und des Empire streng unterscheiden.
Unterziehen wir nun an Fig. 130 die Wellenranke selbst einer Be-
trachtung. Wo Seitenschösslinge von der Hauptranke abzweigen, ist
jedesmal ein Akanthushalbblatt angebracht, und zwar nur ein Blatt,
nicht die Verdoppelung zu einem Kelche wie an Fig. 129. Dagegen
sind die Rankenstengel an anderen Stellen von mehr oder minder
akanthisirenden Kelchen unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist
aber der Umstand, dass die Akanthushalbblätter sich auch an
[252]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
solchen Stellen finden, wo keine Rankengabelung statt hat.
Dieser Punkt ist geradezu charakteristisch für die römische Akanthus-
ranke: die Blätter nehmen immer zu an Zahl, die Stellen wo die Ranken-
stengel frei sichtbar bleiben, schrumpfen immer mehr zusammen, bis
in spätrömischer Zeit von ihnen fast gar nichts mehr ersichtlich ist.
Bis in die späteste Zeit ist aber regelmässig das Spitzende des Akan-
thushalbblattes in der bestimmtesten Weise nach auswärts
gekrümmt. Das Blatt ist also nicht mit der Ranke verwachsen, son-
dern soll sich von der letzteren selbständig plastisch abheben.
So viel von der fortlaufenden Akanthusranke. Wir haben nun-
mehr zu untersuchen, in welcher Weise der Akanthus in das Schema
der intermittirenden Wellenranke Eingang gefunden hat. Hier war
es weniger die Halbpalmette, als die Palmette, an der sich die Um-
setzung in den Akanthus zu vollziehen hatte. Das Material, das uns für
die Verfolgung des bezüglichen Processes zur Verfügung steht stammt
fast ausschliesslich erst aus der römischen Kaiserzeit. Doch werden
wir kaum fehlgehen wenn wir auf Grund der Beobachtung pompe-
janischer Beispiele annehmen, dass die Umsetzung der Lotusblüthen
und Palmetten mit ihren flachen ungegliederten Fächern in akanthi-
sirende Blattgebilde sich schon in hellenistischer Zeit angebahnt, wo
nicht vollzogen haben muss. Gleichwohl scheint auch hier die Um-
bildung zuerst mit der Halbpalmette oder dem Akanthushalbblatt vor-
gegangen zu sein. Der Beweis liegt vor am unteren Streifen der Gold-
platte Fig. 129. Die alternirenden Lotusblüthen und Palmetten sind
zwar nicht nach entgegengesetzten Richtungen gekehrt wie das Schema
eigentlich erfordern würde, sondern wie am Bogenfries neben einander
gereiht. Aber die Kelche, aus denen sich die Blüthen erheben, sind
durch S-förmig geschwungene Rankenlinien gebildet, und dieser Um-
stand mag es im vorliegenden Falle rechtfertigen, denselben mit der
intermittirenden Wellenranke in Verbindung zu bringen.
Der Akanthus tritt nun im unteren Streifen von Fig. 129 bloss
an den Palmetten auf, und zwar als zwickelfüllendes Akanthushalb-
blatt zwischen dem Volutenkelch und dem Fächer. Es ist im Grunde
dieselbe schüchterne Verwendung des Akanthus, wie wir sie am An-
fange der ganzen Entwicklung, am Erechtheion (Fig. 113) angetroffen
haben.
Bevor wir uns zur Betrachtung der ausgebildeten intermittirenden
Akanthusranke der römischen Zeit wenden, erscheint es zweckmässig
die besondere Bedeutung, die wir diesem Motiv für die weitere Ent-
[253]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
wicklung der Rankenornamentik beizumessen haben, mit einigen Worten
in das gebührende Licht zu setzen. Weit strenger als die fort-
laufende Wellenranke hat die intermittirende an dem ur-
sprünglichen Grundschema der archaischen Kunst, und an
den ursprünglichen flachstilisirten Blüthentypen festgehalten.
Noch weniger als für die fortlaufende ist nämlich für die intermittirende
Wellenranke ein unmittelbares Vorbild in der Natur anzutreffen. Epheu
und Rebe liessen sich im Gefolge der naturalisirenden Kunstströmung
in das fortlaufende Schema übersetzen, wie insbesondere zahlreiche
pompejanische Wanddekorationen bezeugen; auch anderes, wahrschein-
lich von der künstlerischen Phantasie entworfenes, aber dem natürlichen
Pflanzenhabitus sehr nahe kommendes Gezweig findet sich wellenranken-
artig eingerollt. Zu solcher weitgehender Annäherung an natürliche
Blumengewinde war das intermittirende Schema, als ein reines Produkt
künstlerischer Phantasie, von vornherein nicht geeignet. Nur figürliche
Gesimsornament vom Oktogontempel zu Spalato.
Motive, Delphine, Füllhörner und dgl. fanden vereinzelt spielende Ein-
streuung in dieses Schema; was aber die Blüthenmotive betrifft, so haben
sich hier die alten stilisirten Formen, flacher und perspektivischer Lotus,
bis in die späteste Zeit fast ausschliesslich behauptet. Es liegt auf der
Hand, dass in der frühmittelalterlichen Folgezeit, da abermals eine
geometrisirende Tendenz die naturalisirende der hellenistisch-römischen
Antike abgelöst hatte, die intermittirende Wellenranke mit ihrem stren-
geren Ductus und ihren verhältnissmässig konservativ gebliebenen Mo-
tiven es sein wird, die besondere Verwendung finden und dement-
sprechend unsere hervorragende Beachtung fordern wird.
Gerade an der intermittirenden Wellenranke haben sich, wie ge-
sagt, die uralten flach stilisirten Palmettenmotive am längsten erhalten,
— weit länger als an der fortlaufenden Ranke. In der Regel ist es die
gesprengte Palmette, die uns da entgegentritt: doch werden wir auch
die Palmette mit dem urabkömmlichen radianten Fächer noch an Werken
der Kaiserzeit (Fig. 135) antreffen. Beispiele für die Verwendung der
reinen Ranke mit flachen Palmetten bieten: aus der früheren Kaiserzeit
[254]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
das Theater von Aspendos, aus der späteren der sog. Jupitertempel
zu Spalato (Fig. 131)61).
Daneben gab es aber — wie schon erwähnt, gewiss seit helle-
nistischer Zeit — auch akanthisirend gebildete, d. h. plastisch-perspek-
tivisch stilisirte Palmetten. Fig. 132, gleichfalls vom Jupiter-Oktogon zu
Spalato entlehnt62), zeigt flach stilisirte gesprengte Palmetten, alternirend
mit Palmetten von dem Typus mit überfallenden Blättern (S. 210), welch
Gesimsornament vom Oktogontempel zu Spalato.
letztere aber bereits nicht mehr flach und geometrisch wie an der ge-
sprengten Palmette, sondern akanthisirend gebildet sind. Die verbin-
denden Rankenlinien hinwiederum zeigen keinerlei vegetabilische Zusätze,
geben sich also noch als reine, so zu sagen geometrisirte Rankenlinien.
Einen recht entscheidenden und folgenschweren Schritt sehen wir
vollzogen in Fig. 13363) vom sogen. Aeskulaptempel zu Spalato. Die
Blüthenmotive zeigen den überfallenden Typus, abwechselnd flach und
akanthisirend; dagegen hat sich an den verbindenden Rankenschwin-
Gesimsornament vom sogen. Aesculaptempel zu Spalato.
gungen eine höchst bemerkenswerthe Veränderung vollzogen. Diese
Rankenverbindungen geben sich nämlich nicht mehr als bloss
geometrisirende Linien, sondern als Akanthushalbblätter64).
[255]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Und zwar vermissen wir an denselben die auswärts gekrümmten Schei-
telenden, (S. 252), so dass das Blatt beiderseits, nicht bloss vom Ansatz
sondern auch von dem spitzen Ende weg rankenmässig weiter zu laufen
scheint, um schliesslich umzubiegen und den Kelch für die benachbarte
Palmette zu bilden. Wir sehen hier somit vollzogen, was uns schon
am flachen Halbpalmetten-Ornament der hellenistischen Zeit (Fig. 125,
127) entgegen zu treten schien, aber in der plastisch-perspektivischen
Rankenornamentik durch Umstülpen der Halbblatt-Enden bisher stets
wieder verneint und beseitigt wurde: das Akanthushalbblatt wird
unfrei, es verwächst mit der Ranke, wird selbst zur Ranke
indem es deren verbindende Funktion erfüllt. Da letztere
Funktion in der Natur nicht den Blättern, sondern den Stielen zukommt,
erscheint hiedurch ein antinaturalistischer Zug in der Ornamentik zum
unzweideutigen Ausdruck gebracht. Was in der geometrisirenden flachen
Gesimsornament vom Oktogontempel zu Spatato.
Palmetten-Rankenornamentik der hellenistischen Zeit schon angebahnt
und wenigstens schematisch begründet worden ist, das sehen wir nun
in spätrömischer Zeit, unter dem befruchtenden Einflusse einer allmälig
zur Geltung gelangten Reaction nach der geometrischen Seite hin
greifbar plastische Formen annehmen.
Betrachten wir noch Fig. 134, abermals vom Jupitertempel zu
Spalato65). Es ist dies im Wesentlichen eine Wiederholung von
Fig. 133: die gleichen Motive66), und die verbindenden Ranken zu
Akanthushalbblättern umgestaltet. Diese verbindenden Halbblätter
schwingen sich nicht in gleichmässiger Fiederung von einer Palmette
zur anderen, sondern sie gabeln sich in der Mitte. Bemerkenswerth
[256]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
ist ferner die in der geringen Gliederung dieser gegabelten Akanthus-
halbblätter sich verrathende Neigung zur Stilisirung in’s Flache, Geo-
metrisch-Schematische.
Die gegebenen Beispiele stammen sämmtlich von Bauten der spä-
teren römischen Kaiserzeit. Die vollständige Akanthisirung der inter-
mittirenden Wellenranke in Motiven und Verbindungslinien lässt sich
aber schon weit früher nachweisen. Ich gebe zwei Beispiele vom
Forum des Nerva. Fig. 13567) zeigt von Motiven die alten Lotus-
blüthen und die Palmetten mit seitlich überfallenden Blättern, diese
letzteren in rhythmischer Abwechslung entweder flach oder akanthisirt,
wobei allerdings selbst die flach stilisirten Blätter durch das lebendige
Umstülpen ihrer keulenartigen Enden eine unverkennbare Neigung
zur naturalistischen Bildung verrathen. Die Verbindung ist durchweg
durch Akanthushalbblätter hergestellt, zwischen denen Rankenstengel
Fries vom Nerva-Forum.
gar nicht sichtbar werden. Das Hauptblatt zwar hat die für das
römische Akanthushalbblatt typische Krümmung des Spitzendes nach
Aussen aufzuweisen, aber darunter läuft kein Stengel, sondern aber-
mals ein Akanthushalbblatt hinweg, das im Ueberfallen mit einem
zweiten seinesgleichen den Kelch für das nächste Blüthenmotiv bildet.
Sowohl aus dem Kelch wie aus den Verbindungskurven sind die
linearen oder bandartigen Rankenstengel verschwunden, und an ihre
Stelle die zu solcher Funktion von Natur aus ungeeigneten Akanthus-
halbblätter getreten.
Den Schlusspunkt der ganzen Entwicklung bietet Fig. 13668). Von
Blüthen wiederholt sich anscheinend bloss ein Motiv — eine Lotus-
blüthe — mit alternirenden geringen Varianten. Die Richtung ist eine
einseitige, so dass es fast den Anschein hat, als ob uns hier nur ein
Bogenfries vorläge. Und doch braucht man nur den Verlauf der
[257]10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
schweren buschigen Akanthusranke zu verfolgen, um das zu Grunde
liegende intermittirende Schema zu erkennen.
An Fig. 136 sind nun folgende zwei Punkte von einer für die
Folgezeit geradezu fundamentalen Bedeutung: 1. Die obersten Kelch-
blätter (in Form von Akanthushalbblättern) jeder zweiten Lotusblüthe
schlagen oben um und laufen in undulirendem Schwunge, als Wellen-
ranke, abwärts, um unten wieder nach aufwärts zu streben und im
Ueberfallen den Kelch für die nächst benachbarte Lotusblüthe zu bilden.
Es ist zwar nicht bloss ein einziges Akanthushalbblatt, das jede dieser
Verbindungen herstellt, sondern eine Anzahl gleichsam ineinanderge-
schachtelter Blätter, deren Spitzen jeweilig sorgfältig nach Aussen ge-
krümmt sind, wie um damit laut darzuthun, dass sie nicht unfrei sind,
sondern eine selbständige Existenz für sich beanspruchen. Aber das
letzte Blatt bildet ganz unzweideutig den Kelch für die nächste Lotus-
Fries vom Nerva-Forum.
blüthe und damit erscheint das ganze Motiv — trotz des bemerk-
baren Sträubens gegen dieses Endresultat — in ein in der Natur nicht
begründetes und derselben zuwiderlaufendes Schema gebracht. —
2. Jede der eben erwähnten Verbindungen gabelt sich in der Mitte,
indem sie einen Blattschössling nach rückwärts aussendet; dieser
Schössling läuft aber nicht frei aus wie an Fig. 134, sondern senkt sich
nach rückwärts bis zum unteren Ansatze der Lotusblüthe, von deren
Scheitel die Verbindung ausgegangen ist und bildet daselbst mit
dem von der entgegengesetzten Seite herankommenden Schössling im
Ueberfallen einen Kelch. Auch in dieser Funktion erscheint das Akan-
thushalbblatt an Stelle eines Rankenstengels getreten, so dass wir in
solchem Falle bereits mit allem Rechte von einer Gabelranke sprechen
könnten. Dieselbe umschliesst, umschreibt69) das eine Blüthenmotiv und
Riegl, Stilfragen. 17
[258]B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dient gleichzeitig mit ihrem zweiten Arme zur gefälligen Verbindung
mit den benachbarten Blüthen.
Den Zeitpunkt, wann sich die bezüglichen zukunftsreichen Ver-
änderungen zuerst vollzogen haben, genau zu fixiren, kann hier nicht
unsere Absicht sein. Erstlich mangelt es hiefür völlig an Vorarbeiten,
da die klassische Archäologie es bisher nahezu unter ihrer Würde be-
funden hat, sich mit der römischen Spätzeit zu befassen, und die For-
scher der altchristlichen und byzantinischen Kunstgeschichte einer ge-
naueren Bekanntschaft mit der Antike, zumal mit deren späteren
Phasen, zumeist entrathen zu können glaubten. Es dürfte aber über-
haupt schon schwer sein, sich über den sachlichen Punkt zu einigen,
wo das Neue begonnen hat, im Kunstwollen der spätantiken Zeit be-
wusste Beachtung und Anwendung zu finden. Die Ansätze hiefür
waren, wie wir gesehen haben, mindestens seit dem 4. Jahrh. v. Chr. ge-
Wandborde aus bemaltem Stuck. Aus Pompeji.
geben. Namentlich die leichte und flüssige dekorative Wandmalerei
mag bereits Freiheiten in der angedeuteten Richtung sich erlaubt
haben, zu einer Zeit, da in der architektonischen Dekoration noch kein
Raum war für eine Verwendung des Pflanzenornaments nach einem
widernatürlichen Schema. Vor Allem wären daraufhin die pompejani-
schen Dekorationen systematisch und an der Hand der Originaldenk-
mäler selbst durchzugehen. Soviel hat aber die vollzogene Uebersicht
über die Entwicklung der Wellenranken-Friese in der römischen
Kaiserzeit wohl zur Gewissheit dargethan, dass die Entnaturalisirung
dieses gemeingebräuchlichsten Friesschemas etwa um 400 n. Ch. so weit
vorgeschritten war, dass dieselbe zum Ausgangspunkte einer selbstän-
digen Entwicklung werden konnte, sobald einmal durch eine erfolgte
politische Zerreissung des Universalreichs auch in die Einheit der römi-
schen Universalkunst Bresche gelegt war.
[[259]]
IV.
Die Arabeske.
Die Arabeske ist das Pflanzenrankenornament der sara-
cenischen Kunst, d. i. der Kunst des Orients im Mittelalter und in der
neueren Zeit. Der Gegenstand, den wir in diesem Schlusskapitel zu
behandeln gedenken, schliesst sich somit chronologisch wie entwick-
lungsgeschichtlich unmittelbar an denjenigen, der im vorhergehenden
Kapitel seine Erörterung gefunden hat. Ist nämlich unsere eingangs
gegebene Definition richtig, so drängt sich schon mit Rücksicht auf
das allwaltende Causalitätsgesetz die Vermuthung auf, es müsse
zwischen der saracenischen und der ihr zeitlich unmittelbar voraus-
gehenden antiken Ornamentranke ein genetischer Zusammenhang ex-
istiren, welchen im Einzelnen genau und schrittweise nachzuweisen, im
Folgenden unsere Aufgabe wäre. Es darf aber nicht verschwiegen
werden, dass die bezügliche Definition heutzutage noch keineswegs ein
ausgemachtes Gemeingut der kunstforschenden Kreise bildet. Dieser
Umstand lässt es empfehlenswerth erscheinen, vorerst einmal ein fer-
tiges, völlig ausgebildetes Beispiel einer Arabeske in Betrachtung zu
ziehen, und an der Hand desselben jene bestimmten Eigenthümlich-
keiten zu erörtern, welche den Pflanzenranken-Charakter daran trüben
und unterdrücken. Damit wird uns zugleich auch erwünschte Gelegen-
heit geboten sein, die wesentlichsten Einzelmotive des Arabeskenorna-
ments kennen zu lernen, und somit den Grundcharakter dieser be-
deutsamen Ornamentgattung scharf zu erfassen, bevor wir an die
eigentliche Untersuchung der Frage nach ihrer historischen Abkunft
schreiten.
Da es also nun einmal durch die Umstände geboten erscheint, an
den Anfang das Ende zu stellen, so wählen wir gleich ein aller-
spätestes, halbmodernes Beispiel (Fig. 138), eine dekorative Wand-
17*
[260]Die Arabeske.
Arabeske von einer modernen Wandmalerei, aus Stambul.
malerei1) aus des Sultans Abdul Aziz Palaste von Tscheragan. Wir
gewahren da ein Spiel von feinen, spiralig eingerollten oder doch bogen-
förmig verlaufenden Linien, an denen gewisse breitere Motive haften.
[261]Die Arabeske.
Die Konturen dieser Motive bewegen sich gleichfalls in Kurven. Wir
unterscheiden darunter einige wenige Haupttypen, die in mehrfachen
Varianten2) immer wiederkehren:
- a, b, ein zweispältiges Motiv;
- c, d, ein in seiner einfachsten Form fast tropfenähnliches, öfter
aber mit einem oder selbst mehreren Ansätzen versehenes Motiv, in
welch letztem Falle es sich in der Grundform dem Motiv a nähert; - e, f, g, reicher gegliederte Gebilde, zum Theil (f, g) streng sym-
metrisch. Das Motiv g erscheint im Allgemeinen als Verdoppelung
von d3).
Welche Grundbedeutung haben wir den Motiven a-g beizumessen?
Naturalistische Nachbildungen realer Wesen oder Dinge sind es gewiss
nicht; die Stilisirung giebt sich vielmehr als eine ausgesprochen und be-
wusst abstrakte. Dies geht aber doch wieder nicht so weit, dass wir
die Motive dem Bereiche des geometrischen Stils zuzählen dürften.
In solchem Falle wäre streng symmetrische Bildung oberstes Gesetz,
das wir aber bloss an f und g befolgt sehen. Der Schluss ist somit
unabweisbar, dass ein Bezug zu gewissen realen Dingen als Vorbildern
dennoch obwalten muss.
Vergleichen wir mit dem gegebenen Beispiel aus dem 19. Jahrh.
ein solches etwa aus der Mitte der Entwicklung. Fig. 139 giebt die
Randleiste einer Miniaturhandschrift4) wieder, die laut inschriftlicher
Datirung im Jahre 1411 am Hofe eines der egyptischen Mameluken-
Sultane vollendet worden ist. Die geschwungenen Linien, die hier
ebenso wie in Fig. 138 das Gerippe des Gesammtornaments bilden, sind
in diesem Falle etwas stärker gezeichnet. Die kreisförmigen Ein-
[262]Die Arabeske.
rollungen treten zurück und werden kaum bis zur Spirale gesteigert.
Die Bogenform ist aber auch hier in der Linienführung durchaus bei-
behalten; dabei tritt eine Eigenthümlichkeit klar und deutlich zu Tage,
die in Fig. 138 der schwachen Zeichnung der Linien halber nur dem
mit dem Wesen dieser Ornamentik Vertrauten erkennbar ist. Wir sehen
nämlich in Fig. 139 die Linien stellenweise zu anscheinend selbständigen
Konfigurationen zusammentreten, von denen die durch eine eigene
Arabeske in Miniaturmalerei, aus einer Handschrift vom Jahre 1411, in Kairo.
schwarze Grundirung ausgezeichnete besonders in die Augen fällt. Da
aber die Linienführung durchweg aus dem Bogen heraus zu geschehen
hat, so verlaufen die Konturen dieser Konfigurationen nothwendiger-
weise fortwährend nur in convexen und concaven Ausbuch-
tungen5), und wo zwei solche karniesförmig geschwungene Linien
unter einem spitzen Winkel zusammentreten, dort entsteht ebenfalls
[263]Die Arabeske.
folgerichtigermaassen eine kielbogenartig ausgeschweifte spitze
Ausladung.
Fassen wir nun die Einzelmotive in’s Auge, die sich an die das
Gerippe bildenden Linien ansetzen. Auch von diesen geben wir neben-
stehend die wichtigsten in besonderer Reproduktion, und versehen sie
mit den Nummern, welche wir den parallelen Motiven von Fig. 138
gegeben haben6).
Worüber uns die in blossen Umrissen gezeichneten Motive in
Fig. 138 im Zweifel gelassen haben, dafür bieten uns diejenigen von
Fig. 139 infolge der ihnen verliehenen Modellirung willkommenen Auf-
schluss. Die blattartig ausgezackten Linien, durch welche diese
Modellirung bewerkstelligt erscheint, stellen in zweifelloser Weise
die Verbindung mit dem Pflanzenhabitus her. Stilisirte Blatt-
oder Blüthenformen sind es, die uns in Fig. 139 a-d entgegentreten;
daraus ergiebt sich aber zugleich mit Nothwendigkeit, dass wir berechtigt
sind die Linien, an welchen die bezüglichen Motive haften, schlankweg
als Ranken zu bezeichnen.
Die Motive a-d sind augenscheinlich sämmtlich in Seitenansicht
gehalten. Bemerkenswerth an und für sich und auch für die Profil-
richtung ist die volutenförmig gekrümmte Linie, der Halbkelch, der sich
an jedem einzelnen der Motive a-d unten am Ansatze eingezeichnet
findet. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit lässt sich aber eine Zweithei-
lung vornehmen. Die Motive a und b stellen sich dar als Gabelungen
eines Motives in der Seitenansicht: wir wollen demgemäss hiefür die
Bezeichnung Gabelranke7) wählen.
Die Motive c und d hingegen sind Einzelmotive; d nähert sich
seiner Gliederung halber dem Typus b. Da d augenscheinlich die
Hälfte von g darstellt, wollen wir vor der Fixirung einer Bezeichnung
für die Motive c, d, die übrigen drei in Betracht ziehen.
Die Motive e, f, g, bezeichnen pflanzliche Blüthenmotive in Voll-
ansicht. Als absolut war dieselbe allerdings schwerlich gemeint; dass
[264]Die Arabeske.
aber ein ganzes Blüthenmotiv vorliegt, beweisen schon allein die zwei
seitlichen volutenartig gekrümmten Ausladungen, worin wir wohl den
Volutenkelch zu erkennen haben. Dieses Element, dessen Wichtig-
keit und Bedeutsamkeit für die gesammte Geschichte der Ornamentik
bereits bei der Erwähnung seines ersten Auftretens in der egyptischen
Kunst (S. 60) gebührend hervorgehoben wurde, begegnet uns an Fig. e-g
nicht bloss wie an a-d als Halbkelch eingezeichnet, sondern auch in
der Silhouette ausladend. Da der Volutenkelch in der antiken Pflanzen-
ornamentik einen wesentlichen und charakteristischen Theil der Blume
in halber Vollansicht, der von uns sogen. Palmette ausgemacht hat, so
wollen wir das analoge Motiv in der Arabeskenornamentik — unbe-
schadet der vorzubehaltenden Frage nach einer etwaigen gegenständ-
lichen Bedeutung dieser Motive bei den saracenischen Kunstvölkern —
als saracenische Palmette bezeichnen. Innerhalb des Grundschemas sind
je nach dem Reichthum der Gliederung zahlreiche Varianten möglich;
die einfachste Form ist durch g repräsentirt, wofür wir ihres überaus
häufigen Wiederkehrens halber eine besondere Bezeichnung, als sara-
cenisches Dreiblatt festsetzen wollen.
Hieraus ergiebt sich unmittelbar auch die Bezeichnung, die wir
für die Motive c, d zu wählen haben. Erscheint d als die Hälfte der
Palmette g, so werden wir das erstere als saracenische Halbpalmette be-
zeichnen dürfen, umsomehr als auch für dieses Motiv ein entsprechend
bezeichnetes Analogon aus der Geschichte der antiken Pflanzenorna-
mentik vorliegt.
Die gegebenen Bezeichnungen haben wir vorerst bloss festgesetzt,
um für jedes der Einzelmotive, mit deren Geschichte wir uns im Fol-
genden zu befassen haben, ein Verständigungsmittel zu schaffen. Es
ist aber unausweichlich, dass dadurch schon von vornherein die Rich-
tung gewiesen, die Neigung erweckt wird, die vorläufig bloss nomi-
nellen Beziehungen zwischen der antiken und der saracenischen Pal-
metten-Ornamentik in sachlichem Sinne zu nehmen, wozu wir die
Berechtigung erst werden erweisen müssen. Um nun die Betrachtung
der beiderseitigen Motive von entwicklungsgeschichtlichem Gesichts-
punkte zu erleichtern und mögliche Missverständnisse zu vermeiden,
soll gleich hier Eingangs vorausgeschickt werden, dass es nicht so
sehr die strenge griechische Palmette ist, deren unmittelbaren Ab-
kömmlingen wir in der Arabesken-Ornamentik begegnen werden, son-
dern deren naturalisirte Fortbildungen aus der hellenistischen und der
römischen Kunst. Der Akanthus ist es, der uns z. B. in der Model-
[265]Die Arabeske.
lirung von c, d entgegentritt, und nicht der starre Fächer der strengen
griechischen Halbpalmette. Es braucht hiefür bloss an das Ergebniss
unserer früheren Untersuchungen über den Akanthus (S. 218 ff) erinnert
zu werden: das Akanthusblatt in Vollansicht ist ja selbst nichts an-
deres als die naturalisirte Palmette, das Akanthusblatt in der Profil-
ansicht (etwa in der Akanthusranke) nichts als die naturalisirte Halb-
palmette.
Damit soll aber nicht gesagt sein, dass das strenger stilisirte
griechische Rankenornament von der saracenischen Arabesken-Orna-
mentik grundsätzlich ausgeschlossen gewesen ist. So wie in der ganzen
römischen Kaiserzeit die griechischen Palmettenranken neben der
Akanthusranke in Verwendung gestanden sind, liefen auch in der
saracenischen Kunst allezeit strenger stilisirte Rankenbildungen und
Blüthenmotive neben solchen eines mehr naturalisirenden Charakters
einher. Den Nachweis hiefür werden wir späterhin an der Hand von
Denkmälern zu führen in der Lage sein; hier sei nur zur vorläufigen
Probe auf den augenfälligen Unterschied verwiesen, der in Fig. 139
zwischen d und g zu beobachten ist. Die Halbpalmette d ist akanthi-
sirend gebildet, gleichsam perspektivisch projicirt: die Vollpalmette g
dagegen ist reines „Flachornament“, an welchem ein Bestreben, der
natürlichen Erscheinung in der zeichnerischen Wiedergabe greifbar
näher zu kommen, nicht ersichtlich ist.
Doch der genetische Zusammenhang der Arabeske mit der klas-
sisch-antiken Ranke ist ja dasjenige, was wir erst beweisen wollen.
Als ausgemachte Voraussetzung dürfen wir auf Grund unserer Erörte-
rung der Einzelmotive von Fig. 139 bloss den Umstand ansehen, dass
die Arabeske als Pflanzenrankenornament aufzufassen ist. Versuchen
wir es zuerst dasjenige festzustellen, was die saracenische Ranke von
der klassisch-antiken unterscheidet; auf diesem Wege werden wir am
raschesten dazu gelangen, ein genaues Bild von den Sondereigenthüm-
lichkeiten der Arabeske zu gewinnen. Diese Unterschiede betreffen
theils die das Gerippe bildenden Rankenlinien, theils die Behandlung
der Blüthenmotive.
In der Führung der Rankenlinien herrscht zwischen dem
klassischen Rankenornament und der Arabeske der grundsätzliche
Unterschied, dass bei dem ersteren die einzelnen Ranken klar und
selbständig neben einander über den Grund hinweggelegt erscheinen,
während sie sich bei der Arabeske vielfach durchschneiden und
durchkreuzen. Zwar verhält es sich auch mit dieser Definition wie
[266]Die Arabeske.
mit fast allen anderen, die die obersten Principien einer jeweiligen
Ornamentik betreffen: absolute Geltung schlechtweg darf man ihr nicht
beimessen. Auch das antike Rankenornament kennt gewisse Durch-
schneidungen: zum Beweise dessen braucht bloss auf das Ranken-
geschlinge (Fig. 83) rückverwiesen zu werden, von den naturalisirenden
Blumenranken der augusteischen Zeit ganz zu geschweigen8). Ander-
seits werden wir Beispiele von Arabesken-Füllungen kennen lernen
(Fig. 197), an denen die Rankenlinien nicht minder wie in der strengen
hellenischen Ornamentik klar und selbständig, ohne alle Durchschnei-
dungen, nebeneinander gelegt erscheinen. Aber in allen diesen Fällen
handelt es sich um Ausnahmen, denen gegenüber die weitaus über-
wiegende Mehrzahl der Denkmäler unsere oben gegebene Definition
rechtfertigt.
Mit der wechselseitigen Durchkreuzung der Rankenlinien hängt
die bereits vordem (S. 262) bei Besprechung von Fig. 139 betonte Eigen-
thümlichkeit der Arabeskenranken zusammen, innerhalb des Gesammt-
musters in regelmässiger Folge bestimmte abgeschlossene Kom-
partimente in Form von sphärischen Polygonen zu bilden, die für
den darin befindlichen Inhalt (natürlich ebenfalls Blumenranken)
gleichsam den Rahmen bilden. Eine solche Verwendung der Ranken-
linien hat zur Voraussetzung, dass denselben eine selbständige und
bedeutsame Stellung gegenüber den Blüthenmotiven eingeräumt wurde.
Soll die Ranke vollständige Kompartimente bilden, so muss ihr auch
von vornherein die Möglichkeit gegeben sein, sich entsprechend zur
Geltung zu bringen. Nun haben wir als Leitmotiv des Ausbildungs-
processes der klassisch-antiken Ranke das Bestreben gekennzeichnet,
die daran zu Tage tretenden Palmetten von blossen Zwickelfüllungen
zwischen den Rankengabelungen zu wirklichen und selbständigen
Blüthenmotiven zu emancipiren, d. h. die Bedeutung dieser letzteren
gegenüber der verbindenden Ranke zu stärken. Uns schien dieses
Bestreben offenbar zusammen zu hängen mit der naturalisirenden Ten-
denz, die sich in der griechischen Pflanzenornamentik mindestens seit
dem 5. Jahrh., vielleicht sogar schon seit viel früherer Zeit, übermächtig
geltend gemacht hat. Wenn wir nun an der Arabeske das entgegen-
[267]Die Arabeske.
gesetzte Bestreben wahrnehmen — ein Bestreben, das darauf gerichtet
war, die Rankenlinien, die das geometrische Element in dieser ganzen
Ornamentik bilden, wieder zu maassgebender Geltung zu bringen —
so liegt der Schluss auf der Hand, für dieses rückläufige Bestreben
auch eine der hellenischen entgegengesetzte Grundtendenz in der
künstlerischen Auffassung des Pflanzenrankenornaments verantwortlich
zu machen. War das Ziel der griechischen Künstler eine Ver-
lebendigung der Palmettenranken, so erscheint als dasjenige
der saracenischen Künstler umgekehrt die Schematisirung,
Geometrisirung, Abstraktion.
Der Ausgangspunkt der Pflanzenornamentik im Orient (Egypten)
war die geometrische Spirale (Fig. 25), an welche sich die Blüthen-
motive als blosse accessorische Zwickelfüllungen anschlossen. Die
Griechen gestalteten daraus die lebendige Ranke, an deren Schösslinge
und Enden sie schön gegliederte Blüthenmotive ansetzten. Im saraceni-
schen Mittelalter kommt der (wie wir sehen werden, schon in spät-
antiker Zeit wieder angebahnte) orientalische Geist der Abstraktion
abermals zur Geltung, indem er die Ranke wiederum geometrisirt.
Zwar die fundamentalen Errungenschaften der Griechen — die rhyth-
mischen Wellenranken und der freie Schwung über grössere Flächen
hinweg — wurden nicht mehr preisgegeben, letzterer sogar nach be-
stimmter Richtung hin weiter entwickelt. Aber das geometrische Ele-
ment drängte sich allenthalben wieder in den Vordergrund: in der
Führung der Rankenlinien drückt sich dies ganz besonders prägnant
aus eben durch die sphärisch-polygonalen Kompartimente, die ja zweifel-
los dem geometrischen Formenbereiche angehören.
Hier erscheint es mir zweckmässig einen Seitenblick einzuschalten
auf die so überaus reiche Entwicklung, welche die Bandverschlin-
gung in der saracenischen Kunst genommen hat. Den Ausgangspunkt
hiefür bildet das antik-orientalische Flechtband (Fig. 33). Von den
Griechen der klassischen Zeit wurde es immer maassvoll angewendet.
In Pompeji tritt es uns schon öfter entgegen, und zwar stets als einfassen-
des, bordirendes Element. An Mosaiken der späteren römischen Kaiserzeit
vermehren sich die zu je einem Flechtmuster vereinigten Bänder: in
Fig. 1409) sind sie bereits kaum mehr zu zählen, aber noch auf die
Bordüre beschränkt, in Fig. 14110) endlich ist das Bandornament
für würdig befunden ein Innenfeld zu schmücken.
[268]Die Arabeske.
Dies ist der entscheidende Ausgangspunkt für die gesammte nach-
folgende Entwicklung des Bandverflechtungsornaments im Morgen- wie
im Abendlande. Dieses im Grunde bedeutungslos-geometrische Element,
das die klassische Kunst bloss zu untergeordneten Einfassungszwecken
benützt hat, wird von der spätantiken Kunst, in welcher das Bedeu-
tungsvolle wiederum zurückgedrängt wird und der reine dekorative
Schmückungstrieb in den Vordergrund des Kunstschaffens tritt, als
vollgiltiges Hauptmotiv der Dekoration hingenommen. Daher rühren
die Bandverschlingungen auf den altchristlichen Sarkophagen und Am-
bonen, wovon sich so zahlreiche Trümmer in den Vorhallen und Kreuz-
gängen der altchristlichen Basiliken Roms eingemauert finden, daher
Eckstück von der Bordüre eines
spätrömischen Mosaikfussbodens.
Füllungsstück von einem spätrömischen
Mosaikfussboden.
die byzantinischen Entrelacs, welche selbst schon Bourgoin11) als die
unmittelbaren Vorläufer der saracenischen Verschlingungen und Ver-
gitterungen anerkannt hat.
Diese Abschweifung auf das Gebiet des Entwicklungsprocesses
der mittelalterlichen Bandverkreuzungen erschien nothwendig, um hier-
mit zugleich den antinaturalistischen, zum Abstrakten geneigten Zug
in der Stilisirung der Arabeskenranke anschaulicher und verständlicher
zu machen. Man wird nun nicht mehr zweifeln können, dass es der-
selbe Zug gewesen ist, der einerseits die geometrischen Bandverschlin-
gungen so reich und üppig ausgebildet, andererseits die Rankenlinien
der Arabeske zu wechselseitiger Durchschneidung und Durchkreuzung
gebracht hat. Damit erscheint zugleich eine Erklärung des Umstandes,
[269]Die Arabeske.
wieso die Saracenen schliesslich zu einer von der klassisch-antiken
anscheinend so grundsätzlich abweichenden Behandlung der Ranken-
führung gekommen sind, aus dem Gesammtcharakter der saracenischen
Kunst heraus geliefert.
Betraf der besprochene erste Punkt, in dem sich die Arabeske
vom klassisch-antiken Rankenornament fundamental unterscheidet, die
Führung der Rankenlinien, so beruht der zweite, nicht minder wesent-
liche Differenzpunkt in der Behandlung der an die Rankenlinien
angesetzten Blüthenmotive. Und zwar sind es nicht so sehr die
Motive selbst, die den wesentlichen Unterschied begründen: wir werden
im 14. Jahrh. Beispiele saracenischer Rankenmuster (Fig. 189 b, c)
kennen lernen, die den griechischen der besten Zeit überaus nahe
stehen; andererseits werden uns bereits im 5. Jahr. n. Chr., also noch
unter voller Herrschaft der späten Antike, Blüthenformen von einer so
weitgediehenen Rückstilisirung in’s Abstrakte (Fig. 142) begegnen, wie
sie auch an den gegebenen Beispielen aus dem 15. (Fig. 139) und
19. Jahrh. (Fig. 138) nicht übertroffen erscheinen. Es ist vielmehr das
Verhältniss der Blume zu der Ranke, an welcher sie haftet, wodurch
sich das Arabeskenornament vom klassisch-antiken abermals in ganz
grundsätzlicher Weise unterscheidet.
In der antiken Rankenornamentik setzen die Blüthenmotive der-
maassen an die Hauptranke an, dass von letzterer kleine Schösslinge
abzweigen, an deren Ende dann die Blume versetzt wird. Das Ver-
hältniss ist somit das gleiche wie in der Natur: der Stiel, der Schaft
ist das untere; die Blume ist die Bekrönung, die freie Endigung.
Betrachten wir dagegen das Motiv a in Fig. 13912). Die beiden
Theile, in welche sich dieses Motiv von zweifellos vegetabilischer Be-
deutung gabelt, bilden nicht die freien Endigungen der ihnen zur Basis
dienenden Rankeneinrollung, sondern sie verdünnen sich gegen das
Ende zu in neuerliche Ranken: die eine endigt schliesslich in eine
Kugel, welcher, sei es eine kleine spiralige Einrollung, sei es ein frei
auslaufendes Drei- oder Halbblatt, zu Grunde liegt; die andere bildet
mit einem zweiten gleichfalls von einer Gabelranke herkommenden
Schössling einen Kielbogen, an den sich ein grösseres, die freie Eck-
lösung bildendes Dreiblatt ansetzt. Gemäss früheren Ausführungen
werden wir die Gabelranke a als unfrei bezeichnen.
[270]Die Arabeske.
Das Gleiche gilt von der Halbpalmette c. Das spitz zulaufende
Ende derselben setzt sich fort in einer Ranke, aus der sich im weiteren
Verlaufe eine Gabelranke entfaltet. Aber selbst auf die vollen Pal-
metten erstreckt sich diese eigenthümliche Verquickung der Ranke mit
der Blüthe. In Fig. 139 tritt diese zwar nicht besonders augenfällig zu
Tage, da die zwei Gabelranken, die von dem mittleren Dreiblatt in
dem schwarz grundirten sphärischen Polygon abzweigen, nicht an das
spitze Ende, sondern an die Seiten des kielbogenförmigen Blattes an-
setzen. Deutlicher ist es an Fig. 138 an dem Dreiblatt etwas rechts
von der Mitte zu sehen13).
Ob wir uns nun unter den bezüglichen Motiven Blumen oder
Blätter oder Knospen vorzustellen haben: die Eigenthümlichkeit, von
der krönenden Spitze derselben die Ranken weiter laufen zu lassen,
verstösst in jedem Falle wider die Natur. Es offenbart sich darin
zweifellos wiederum jener ausgesprochen antinaturalistische Zug, den
wir schon als für die Behandlung der Rankenlinien so wesentlich
maassgebend befunden haben. Die klassisch-antike Ornamentik hat
sich diese Freiheit anscheinend nicht erlaubt. Anscheinend, sofern
man nämlich bloss die vollen und wirklichen Blumenmotive (Pal-
metten u. s. w.) im Auge hat. Erinnern wir uns aber an den Schluss-
punkt unserer Betrachtungen über den Entwicklungsprocess des flach
stilisirten griechischen Palmettenrankenornaments in hellenistischer
Zeit, den wir bereits ausdrücklich (S. 243 f.) als den Ausgangspunkt für
das Aufkommen der unfreien Halbpalmetten bezeichnet haben; ferner
an das Resultat unserer Untersuchungen über die Akanthusranke in
römischer Zeit (S. 255), an der wir ein Uebergreifen der gleichen Ten-
denz auf das plastisch-naturalistische Rankenornament feststellen konnten.
Wenn wir dortselbst noch Bedenken gehabt haben, ob die in der un-
freien Behandlung der Halbpalmetten zum Ausdruck gelangte anti-
naturalistische Tendenz den antiken Künstlern zum klaren Bewusstsein
gekommen ist, so dürfen wir diese Bedenken der Arabeske gegenüber
völlig fahren lassen. Wir haben daher die betreffenden Motive in
Fig. 139 schlankweg als saracenische Halbpalmetten bezeichnet. Der Sache
und der Herkunft nach sind sie (sowie die Gabelranken) nichts Anderes
als die Zwickelfüllungen der klassisch-antiken Ranke. Den Uebergangs-
process zwischen beiden im Einzelnen aufzuzeigen, wird den Gegenstand
[271]Die Arabeske.
der nachfolgenden Untersuchung bilden. Nur auf einen Umstand soll
noch gleich hier ausdrücklich hingewiesen werden, da derselbe in be-
sonderem Maasse geeignet erscheint, das eben skizzirte Verhältniss
zwischen den antiken zwickelfüllenden Palmetten und den Blumen-
motiven der Arabeske verständlich zu machen: die der Natur zuwider-
laufende unfreie Behandlung der Blüthen findet sich in der Arabeske
in der Regel wohl an den Halbpalmetten und Gabelranken, verhältniss-
mässig selten dagegen und erst in einem vorgeschritteneren Stadium
der Entwicklung an den vollen Palmetten.
Die Arabeske treffen wir an in sämmtlichen Ländern, die sich
der Islam im Laufe der Jahrhunderte unterworfen hat. Hauptsächlich
kommen hier in Betracht: Nordafrika mit Unteregypten, Syrien, Klein-
asien, Mesopotamien und Persien, also im Allgemeinen jene Länder,
die einstmals zum grossen römischen. Universalreiche gehört hatten,
und wie die Denkmäler ausnahmslos beweisen, sich durchweg die
Formensprache der hellenistisch-römischen Universalkunst angeeignet
hatten. In dieser Kunst spielte, wie wir gesehen haben, für die deko-
rativen Aufgaben das Pflanzenrankenornament die weitaus wichtigste
und tonangebende Rolle. Sehen wir nun im Mittelalter in den gleichen
geographischen Gebieten abermals ein Pflanzenrankenornament, wenn
auch anscheinend von verschiedener Beschaffenheit, als maassgebendstes
Dekorationselement verwendet, so erscheint — wie schon auf S. 259 be-
tont wurde — der Gedanke an eine genetische Abhängigkeit des zweiten
von dem ersteren unabweislich. Es möchte doch mindestens der Mühe
verlohnen, dem wechselseitigen Verhältnisse etwas nachzugehen; — um
so unbegreiflicher und wohl wieder nur aus der unglückseligen kunst-
materialistischen Bewegung mit allen ihren Konsequenzen zu erklären
bleibt der Umstand, dass man selbst von vielerfahrenen Kunstkennern
der heutigen Tage noch kurz aburtheilen hört: zwischen klassischer
Antike und orientalischer Arabeske gäbe es keinen Zusammenhang,
weil es — nun weil es eben zwischen Feuer und Wasser keinen solchen
geben könne.
Die bisher verschmähte Untersuchung des Verhältnisses zwischen
dem antiken und dem saracenischen Rankenornament wollen nun wir
im Nachfolgenden anstellen. Was wir unter Arabeske verstehen, was
den hervorstechendsten Charakterzug dieses für die saracenische Kunst
typischen Ornaments bildet, haben wir soeben einleitungsweise ausein-
[272]Die Arabeske.
andergesetzt: wir kennen somit den Zielpunkt, auf den die Entwicklung
losstrebt. Wir wenden uns nun zum Ausgangspunkte, und nehmen
damit die historische Betrachtung wieder auf. Dieser Ausgangspunkt
liegt natürlich an der Wende des Alterthums und des Mittelalters,
wofür man gemeiniglich das Jahr 476 n. Chr. als feste Grenze anzu-
nehmen pflegt. Bis zu diesem Zeitpunkte haben wir die Entwicklung
des Pflanzenrankenornaments im vorigen Kapitel durchgeführt. Folge-
richtig müssen wir nunmehr mit demjenigen beginnen, das die Kunst-
systematiker nach dem Sturze des weströmischen Reiches ansetzen. Es
ist dies im Abendlande die reifere altchristliche, im oströmischen Reiche
die byzantinische Kunst. Da wir bloss das Werden der Arabeske im
Auge haben, können wir uns auf das Verfolgen des Pflanzenornaments
in der oströmischen Kunst beschränken und von der abendländisch-
altchristlichen Rankenverwendung absehen, wenngleich die beider-
seitige Vergleichung nicht ohne Nutzen und Lehre anzustellen wäre.
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Beginnt nicht schon mit der byzantinischen Kunst etwas völlig
Neues? Wenn man so die landläufigen Aeusserungen hört, möchte es
in der That danach scheinen. Ein historischer Zusammenhang mit der
Antike im Allgemeinen wird zugegeben, aber im Einzelnen hört man
nur von dem und jenem, das so ganz anders geartet wäre als es in
der Antike der Fall gewesen ist. Dies hat allerdings seine — zwar
auch nur bedingte — Richtigkeit, wenn man unter Antike die griechische
Kunst des Phidias und Iktinos versteht. Aber wie weit entfernt vom
attischen Architekturideal ist schon das Pantheon des Agrippa! Und
doch wird diesem Niemand die Zugehörigkeit zur klassischen Antike
abstreiten. Es gab einen Entwicklungsgang in der antiken Kunst der
römischen Kaiserzeit und zwar auch einen aufsteigenden, nicht bloss
einen Niedergang wie man allenthalben glauben machen will. Man
weist diesbezüglich gern hin auf die schwachen zeitgenössischen
Reliefs des Konstantinbogens gegenüber den vom Trajanbogen ent-
lehnten, und vergisst dabei vollständig die bewunderungswürdige That-
sache, dass uns gerade aus der Zeit des spätrömischen Kaisers Kon-
stantin das erste Beispiel einer überwölbten Basilika vorliegt! Das
Problem, das die ganze mittelalterliche Baukunst des Abendlandes in
Athem hielt, bereits vollendet auf dem monumentalsten Grundplan am
Anfange des 4. Jahrh. n. Chr.!
[273]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Die byzantinische Kunst ist zunächst nichts Anderes als
die spätantike Kunst im oströmischen Reiche. Es existirt kein
irgendwie ersichtlicher Grund, um mit der Erhebung von Byzanz durch
Kaiser Konstantin eine Epoche in der Kunstgeschichte anzusetzen.
Nehmen wir bloss die architektonischen Leistungen zum Maassstab.
Byzanz und, seinem Beispiele gemäss, fast das gesammte oströmische
Reich übernahm für das christliche Kulthaus den Centralbau. Das
Schema des griechischen Kreuzes mit centralem Wölbungsraum ward
nicht erst im kaiserlichen Byzanz erfunden, sondern ist — offenbar als
Resultat hellenistischer Baubestrebungen — schon im 2. Jahrh. n. Chr.
(Musmieh in Syrien) bezeugt. Die Ausbildung dieses fertigen Systems
für die Zwecke des christlichen Kirchenbaues unterlag keinen wesent-
lichen Schwierigkeiten: in diesem Lichte betrachtet reicht die Hagia
Sophia in baugeschichtlicher Bedeutung an die Friedensbasilika des
Konstantin bei weitem nicht heran. Und was wir die Stagnation, die
„Erstarrung“ in der byzantinischen Kunst nennen, das liegt zum grossen
Theile eben in jener Uebernahme eines fertigen, vollendeten Bausystems
begründet: wo keine neuen Wege zu suchen, keine Schwierigkeiten zu
überwinden waren, dort musste man schliesslich in Manier verfallen.
Wir loben die tadellose technische Ausführung byzantinischer Werke
und spenden ihren Künstlern Dank für die traditionelle Bewahrung
der tüchtigen römischen Technik: aber zu den schöpferischen Kunst-
stilen werden wir den byzantinischen niemals zählen, denn gerade
seine reifsten Hervorbringungen sind im Grunde nicht Leistungen der
Byzantiner, sondern die Hinterlassenschaft einer kunstregeren und
schaffensfreudigeren — der hellenistischen — Zeit.
Noch einen Umstand müssen wir sofort in der allgemeinen Cha-
rakteristik der byzantinischen Kunst herausheben, um dadurch die
Detailbetrachtung kürzer und verständlicher zu machen. Die Zeit, in
welcher die sogen. byzantinische Kunst anhebt, war trotz ihrer über-
wiegend dekorativen Neigungen zum fröhlich-fruchtbaren Erschaffen
neuer Formen in keiner Weise angethan. Es ging ein Zug nach Ein-
schränkung durch das ganze damalige Kunstschaffen, nach Preisgebung
des unerschöpflichen Reichthums an heiteren dekorativen Formen, den
die hellenistische und die frühere römische Kaiserzeit aufgehäuft hatte,
unter blosser Festhaltung weniger, der Architektur unentbehrlich ge-
bliebener Elemente.
Das richtige Verständniss für diese Erscheinung wird am besten
ein Hinblick auf die Aufgaben, die der Skulptur und Malerei in jener
Riegl, Stilfragen. 18
[274]Die Arabeske.
Zeit gestellt waren, vermitteln. Eine neue religiöse Vorstellungswelt,
ein neuer Kultus hatten neue künstlerische Bedürfnisse und Aufgaben
geschaffen. Wie wenig zwar dieselben ursprünglich ein Heraustreten
aus der klassisch-antiken Dekorationswelt nothwendig erscheinen liessen,
wissen wir sattsam aus der Katakombenkunst. Erst allmälig verliess
man die Orpheus- und Hermes-Typen und schuf sich selbständige, na-
türlich in klassisch-traditioneller Pose und Gewandung. Aber all dies
war zunächst nur sozusagen Nothbau, ermangelte der wahrhaft künstle-
rischen Durchbildung und Behandlung. Es ist ein charakteristisches
Merkmal der altchristlichen Bildwerke, dass an ihnen gerade auf die
eigentlich künstlerischen Momente nur geringer Werth gelegt erscheint.
Man suchte irgend eine testamentarische Figur, den Träger irgend
einer der neuen religiösen Ideen zu verkörpern: auf Schönheit, Wohl-
laut, Ebenmaass wurde wenig Gewicht gelegt. Die Form wurde von
der Idee todtgeschlagen, — soweit dies nämlich bei einem Künstler, der
wenigstens äusserlich noch unter dem Einflusse der klassischen Tradition
stand, eben möglich war.
Freilich musste späterhin eine Zeit kommen, wo der unversieg-
bare Drang nach Pflege des Formschönen wieder rege wurde und sich
an den christlichen Bildwerken und Malereien zu bethätigen suchte.
Auch dieser Drang wurde im byzantinischen Reiche nahezu im Keime
erstickt durch den Bildersturm. Und nachdem auch die letztere Be-
wegung ausgetobt hatte, war doch soviel in der Stimmung der Ge-
müther zurückgeblieben, dass das Kunstschaffen auf religiösem Gebiete
durch Regeln und Satzungen eng umgrenzt wurde. Wie weit sich da
Schönheitsdrang und wahrer Kunstschaffenstrieb noch bethätigen konnten,
ist es geschehen: dass nicht viel Raum hiezu übrig blieb, lag in der
Natur der Verhältnisse. Ja diese Wiederaufnahme der religiösen Kunst
wurde — von einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet — sogar zum
Verhängnisse für die Byzantiner: das Höchste darin zu erstreben, wie
es die Abendländer thaten, verwehrten ihnen ihre Satzungen, aber da
doch figürlich-religiöse Darstellungen den Hauptgegenstand künstleri-
schen Schaffens bilden sollten, kam man anderseits auch nicht dazu,
die Kunst entschieden auf rein dekorativen Boden, auf die Befriedigung
blosser menschlicher Schmuckfreudigkeit zu stellen, welchen Schritt
bekanntlich die Saracenen zu ihrem Vortheile gethan haben. Schwan-
kend in der Mitte zwischen dem Ringen nach dem Höchsten in der
religiösen Kunst und dem Streben nach Schaffung einer möglichst voll-
kommenen dekorativen Augenblicks-Augenweide, beides aber niemals
[275]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
erreichend, hat es die byzantinische Kunst zeitlebens nur zu halben
Leistungen bringen können.
Also eine Reduction des Kunstformenschatzes war das Nächste,
das die Oströmer mit dem überreichen Erbe der klassischen Antike
vorgenommen haben. Das Eine muss man ihnen aber lassen, dass sie
eine gute Auswahl getroffen haben: so wie sie im Kirchenbau das
treffliche Centralsystem übernahmen, an Stelle der römischen Basilika,
an deren Ungefügigkeit sich das ganze abendländische Mittelalter ab-
zumühen hatte, so behielten sie auch von den ornamentalen Formen
die schmiegsamsten und leistungsfähigsten bei: insbesondere die alten
typischen Wellenrankensysteme.
Indem wir uns nun der Betrachtung des Pflanzenranken-Orna-
ments in der byzantinischen Kunst im Einzelnen zuwenden, müssen
wir abermals die leidige Bemerkung vorausschicken, dass uns hiebei
keinerlei Vorarbeiten zu Statten kommen. Einzelne Details, etwa den
Schnitt des Akanthusblattes betreffend, sind wohl von den Schrift-
stellern, die sich vornehmlich mit den justinianischen Bauten beschäf-
tigt haben, erwähnt und hervorgehoben worden: die Leitmotive der
byzantinischen Dekoration, die grossen Gesichtspunkte, von denen jedes
einzelne Detail Zeugniss giebt, hat man bisher so gut wie ignorirt.
Wir haben an dieser Stelle nicht die Absicht, die diesbezüglich vor-
handene Lücke vollständig auszufüllen: unsere Aufgabe gebietet es,
uns auf das Pflanzenrankenornament zu beschränken. Nichtsdesto-
weniger wird es die Knappheit der einschlägigen Literatur mehr als
einmal nöthig machen, über Dinge Worte zu verlieren, die längst in
einer allgemeineren Bearbeitung der byzantinischen Kunst ihre Erledi-
gung gefunden haben sollten.
Als Ausgangspunkt wähle ich ein Denkmal, dessen Entstehungs-
zeit sichergestellt ist: die im Jahre 463 n. Chr. erbaute Johannes-
kirche zu Konstantinopel. Fig. 142 giebt nach Salzenberg14) ein
Kapitäl mit darauf liegendem Architrav, soweit derselbe für unseren
Gegenstand von Interesse ist.
Das Kapitäl gehört der sogen. Kompositform an. Den runden
korbartigen Kern umgeben Akanthusvollblätter, die in zwei Reihen
übereinander angeordnet sind. Die Behandlung der Akanthusblätter
18*
[276]Die Arabeske.
war bisher dasjenige Moment, das im Vordergrunde des Interesses an
den Einzelgliedern dieses Bauwerkes gestanden ist. Und zwar hat man
die langen und spitzen Zacken, in welchen die Ränder geschnitten
sind, als eine bemerkenswerthe Neuerung gegenüber der weichen,
üppigeren Behandlungsweise der bezüglichen Details am römischen
Akanthus hingestellt15). So auffallend die Bildung der einzelnen Zacken
Kapitäl und Gebälkstück von der St. Johanneskirche zu Konstantinopel.
nun ist, so bildet sie doch nicht das entscheidende Merkmal. Es wäre
auch unschwer nachzuweisen, dass dieser Blattschnitt unmittelbar aus
dem römischen schmalzackigen herkommt, wie er sich an so vielen Denk-
mälern neben dem weicheren, vielfach mit Hilfe des Bohrers skizzirten
[277]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
findet16). Wäre es bloss bei der langen und spitzen Bildung der
Einzelzacken geblieben, so hätten wir kaum einen genügenden Grund
von einem „byzantinischen“ Akanthus zu reden.
Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal für den byzantini-
schen Akanthus beruht in der Auflösung des früheren Gesammt-
blattes in einzelne kleinere Blätter. In Fig. 142 ist es am Kapitäl
noch nicht genügend ersichtlich, weil daselbst nach dem zwingenden
Vorbilde des römischen Kapitäls bloss neben einander gereihte Akan-
thusvollblätter angebracht werden konnten17). Aber selbst an diesen
lässt sich der Umschwung bei näherem Zusehen beobachten: die ein-
zelnen Zackengruppen, die als grössere Zacke in der Peripherie der
Blätter ausladen, sind ungemein tief eingeschnitten. Wäre nicht der
Scheitel-Ueberfall eines jeden Vollblattes, so würde der Charakter eines
solchen schon sehr zurücktreten, gegenüber den einzelnen ausladenden
Zacken. Völlig deutlich veranschaulicht sehen wir das Endergebniss
dieses Processes an der fortlaufenden Akanthusranke, mit welcher der
Architrav in Fig. 142 verziert erscheint. Zweifellos kommt das Blatt-
werk dieser Wellenranke von dem Akanthushalbblatt her, wofür bloss
auf unsere Ausführungen über die Akanthusranke (S. 254 ff.) rückver-
wiesen zu werden braucht. Aber die vormals einheitlichen Halbblätter
sind aufgelöst in meist drei-, seltener vier- bis fünf-spältige Zacken,
wie sie sich von der Peripherie des Akanthusblattes abgetrennt haben.
Ja noch mehr: diese Drei- (Vier- und Mehr-) Blätter schmiegen sich
bereits den verschiedenen Konfigurationen des Raumes an, der auszu-
füllen ist, lassen sich in die mannigfaltigsten Richtungen und Projek-
tionen pressen.
Es kann nur zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, wenn wir
an diesem entscheidenden Punkte einen flüchtigen aber übersichtlichen
Rückblick auf den Entwicklungslauf des Akanthus werfen. Ausgegangen
ist derselbe vom glatten Blattfächer der Palmette: bald knüpft sich
daran eine Gliederung der einzelnen Blätter des Fächers in mehr-
zackige Enden, wie wir sie z. B. am Lysikratesdenkmal bereits vor-
finden. Trotz dieser Gliederung bleibt das Akanthusblatt, sowohl als
[278]Die Arabeske.
volles wie als halbes, die ganze hellenistische und frühere römische
Kaiserzeit hindurch ein ungetheiltes Ganzes. Vorboten der kommenden
Auflösung lassen sich aber bereits an den Beispielen vom Nerva-Forum
(Fig. 135, 136) erkennen: das Uebergehen der einzelnen Halbblätter in
verbindende Ranken, das Ineinanderschachteln von Blättern erscheinen
als geeignete Zwischenglieder, um allmählich die ursprüngliche Indivi-
dualität des Akanthusblattes zu verwischen. Nun im 5. Jahrh. sehen
wir den Process am Ende angelangt und die einzelnen mehrspältigen
Zacken lösen sich vom ehemaligen Akanthusvoll- oder Halbblatte ab
und bilden eigene Konfigurationen von selbständiger Bedeutung. Es
hat völlig den Anschein, als ob ein gerader Entwicklungsgang zu gar
keinem anderen Resultate hätte führen können. Der „byzantinische“
Akanthus erscheint hienach als reines Produkt eines von der besten
klassischen Zeit an zu verfolgenden Entwicklungsprocesses, und keines-
Ornamentale Details von der Kirche der hll. Sergius u. Bacchus zu Konstantinopel.
wegs als Schöpfung eines byzantinischen genius loci oder als Resultat
der Beeinflussung Seitens einer unerfindlichen „orientalischen“ Original-
kunst.
Beispiele von selbständigen abgelösten Zacken des byzantinischen
Akanthus zeigt Fig. 143 aus St. Sergius und Bacchus18). Das wichtigste
Beispiel darunter ist das in der Mitte befindliche sogen. Dreiblatt. Es
zeigt ungefähr die Stilisirung der heraldischen Lilie. Späterhin ist es
nicht bloss in der byzantinischen, sondern auch in der saracenischen
Kunst von solcher Bedeutung gewesen, ein so vulgäres Element aller
Dekoration geworden, dass wir ihm an dieser Stelle einige Worte im
Besonderen widmen müssen.
Das Dreiblatt besteht aus einem Volutenkelch und krönendem
Blatt darüber. Aeusserlich ist es somit fast identisch mit gewissen ab-
breviirten Lotusblüthen-Bildungen der altorientalischen Künste (Fig. 20,
35). Der reducirte Volutenkelch der auch im 5. Jahrh. und darüber
[279]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
hinaus immer noch bekannt gewesenen flachen — insbesondere der
gesprengten — Palmette mag gewiss auf die Stilisirung des Dreiblattes
Einfluss geübt haben. Dazu kommt aber noch ein Zweites von ganz
wesentlicher, weil unmittelbarer Bedeutung: der Volutenkelch des by-
zantinischen Dreiblattes war schon an und für sich bedingt durch die
scharfe Einziehung zwischen den einzelnen ausgezackten
Gliedern, in welche eben das alte Akanthusblatt zu zerfallen im Begriffe
stand. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Drei-
blätter, in welche die Akanthusranke auf dem Architrav in Fig. 142
aufgelöst ist.
Am Dreiblatt ist ferner die Kielbogenform des krönenden Blätt-
chens zu vermerken. Diese Bogenform ist bekanntlich späterhin ganz
besonders charakteristisch für die saracenische Stilweise geworden.
Ihr Auftreten in der oströmischen Kunst des 5. Jahrh. wird uns aber
gleichfalls nicht völlig unerwartet kommen: hat doch das Akanthus-
halbblatt (sowie die gesprengte Palmette) in der ganzen römischen Zeit
und schon früher die ausgesprochene Tendenz nach Führung in aus-
wärts gekrümmten, ausgeschweiften Linien bekundet (S. 245.)
Man vergleiche alle die einschlägigen Kapitäle aus den Publika-
tionen von Salzenberg und Pulgher, und man wird sich alsbald davon
überzeugen, dass die Auflösung, die Zerpflückung des ursprünglichen
individuellen Akanthusblattes und die willkürliche Verwendung und
Zusammenstellung der einzelnen Theilglieder (Fig. 143) den wesent-
lichen Unterschied der justinianischen Ornamentik gegenüber der
griechisch-römischen begründen. Um so entschiedener muss eine Hypo-
these abgewiesen werden, welche den vermeintlich so eigenartigen
Blattschnitt, d. h. die „fette und zackige“ Bildung des Blattrandes,
wiederum mit der ostmittelländischen Acanthus spinosa, gegenüber der
italischen Acanthus mollis, in Verbindung bringen wollte19). Die Stein-
metzen der Justinianischen Zeit hätten nach dieser Hypothese aber-
mals Blattstudien nach der Natur gemacht, wie dies heutzutage in
unseren Kunstgewerbeschulen zu geschehen pflegt; oder aber sollte die
Gewohnheit solchen Naturstudiums, überhaupt seit Kallimachos in un-
unterbrochener Uebung geblieben sein? Gerade die Auflösung des
ehemaligen Akanthusblattes in spätrömischer Zeit beweist die Unmög-
lichkeit einer solchen engen Anlehnung an bestimmte Naturvorbilder,
und liefert auf’s Neue den Beweis, dass die ornamentale Kunst zu allen
[280]Die Arabeske.
Zeiten ganz andere, und zwar künstlerischere Wege gegangen ist, als
diejenigen des Kopirens bestimmter botanischer Species nach der Natur.
Bisher haben wir bloss von den Veränderungen im ornamentalen
Blattwerk gesprochen; dasselbe erscheint aber am Architrav in Fig. 142
in ein fortlaufendes Wellenschema gebracht. Es obliegt uns daher noch
die Behandlung der Ranke auf diesem frühen byzantinischen Beispiele
zu erörtern.
Darf man im vorliegenden Falle überhaupt von einer fortlaufenden
Wellenranke sprechen? Vermissen wir doch für’s Erste die Ranken-
stengel oder Linien selbst, ferner die Abzweigung der Schösslinge in
dem charakteristischen, kreisförmigen Schwunge nach rückwärts. Es
bedarf einer Erinnerung an den Entwicklungsgang, den das ganze
Motiv genommen hat, um auf dem Architrav in Fig. 142 eine fort-
laufende Wellenranke zu erkennen.
Ausgangspunkt war die blosse Ranke (Fig. 50); in die Zwickel
der spiraligen Abzweigungen kamen füllende Halbpalmetten (Fig. 76).
In der naturalisirenden Zeit krümmten sich die Fächer der Halbpal-
metten (Bordüre von Fig. 122) oder sie wurden plastisch-perspektivisch
ausgeführt als Akanthushalbblätter (Fig. 129, 130). Diese letzteren
trugen aber immer noch Sorge, ihre Spitzenden auswärts zu krümmen,
damit an ihrer selbständigen Individualität kein Zweifel übrig bleibe;
die Ranken selbst liefen unter den Enden der Halbpalmetten hinweg
weiter. An mehrfachen Beispielen (Fig. 133—136) konnten wir deut-
lich wahrnehmen, wie die Rankenstengel zusehends schwanden und
ihre Function auf die Blätter selbst übertragen wurde. Als nun das
Akanthushalbblatt seine Individualität schon darum verlor, weil es in
eine Anzahl Theilglieder aufgelöst wurde, fiel vollends jeder weitere
Grund hinweg, an der Fiction eines selbständig abzweigenden Blattes
festzuhalten. Auf dem Architrav in Fig. 142 ist es sozusagen eine
einzige Akanthusrippe, von welcher fortlaufend einzelne Zacken ab-
zweigen.
Die fortlaufende Wellenranke, die in Fig. 142 in eine Bordüre ge-
bannt ist, dient an Fig. 14420) dazu, eine grössere Fläche in freien
Schwingungen auszufüllen. Der hellenistischen und früheren römischen
Zeit wäre eine blosse Ranke21), ohne eingestreutes figürliches u. dgl.
[281]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Beiwerk, zu dieser Function ungenügend erschienen; in spätrömischer
Zeit waren die Anforderungen an die Bedeutsamkeit des Ornaments so
geringe geworden, dass die Akanthusranke öfter zur Musterung grosser
Innenflächen herangezogen wurde22). An die fortlaufende Ranke setzen
sich die Theilglieder der ehemaligen Akanthushalbblätter der Reihe nach
an, und zwar unfrei, ohne selbständige Stielung. Dass darin das ganze
Geheimniss der Arabeskenornamentik liegt, hat schon Owen
Jones erkannt, wenn auch noch nicht völlig richtig erfasst. Im Text zu
den arabischen Ornamenten seiner Grammatik der Ornamente hat er den
Arkadenwand-Ausschnitt Fig. 144 gleichfalls abgebildet und sagt dazu:
„.. bildet diese Spandrille jedenfalls die Grundlage der bei den
Arabern und Mauren gebräuchlichen Verzierung der Oberflächen. Das
Arkadenzwickel von der Sophienkirche zu Konstantinopel.
Blattwerk, welches den Mittelpunkt der Spandrille umgiebt, ist zwar
noch eine Reminiscenz des Akanthusblattes, doch offenbart sich in dem-
selben der erste Versuch, das Principium der aus einander entspriessen-
den Blätter23) zu beseitigen, denn die Rankenverzierung ist zusammen-
hängend und ununterbrochen. Das Muster ist über den ganzen Bogen-
zwickel vertheilt, um eine gleiche Färbung hervorzubringen, ein Resultat,
welches die Araber und Mauren unter allen Umständen zu erzielen
suchten.“
[282]Die Arabeske.
Auch der Umstand, dass bereits in der früheren römischen Kaiser-
zeit Lockerungen des griechischen Princips, die Blätter selbständig an
eigenen Stielen abzweigen zu lassen, vorgekommen sind, ist Owen
Jones nicht entgangen: „Die römischen Ornamente kämpften beständig
gegen dieses scheinbar unbewegliche Gesetz an, ohne es zu beseitigen.“
Aber im Wesentlichen erschien ihm der endgiltige Schritt in justinia-
nischer Zeit doch als eine spontane Erfindung, die eine ganz neue
Entwicklungsreihe des Pflanzenornaments geschaffen hat. Wir waren
im Stande, die frühesten Anfänge und Grundlegungen dieses Processes
bis in die griechische Zeit hinauf zu verfolgen, wofür es Owen Jones
hauptsächlich schon an der nöthigen Kenntniss und Uebersicht des
seither durch die Forschung beigebrachten Materials gefehlt hat. Ferner
glaubte Owen Jones das Wesen der ganzen Veränderung darin zu er-
blicken, dass nunmehr von byzantinischer Zeit an die Blätter sich un-
mittelbar von einer fortlaufenden Ranke, ohne Vermittlung selbständiger
Stengel entwickeln. Darin liegt aber doch nicht der Kern der Sache.
Dieser ist vielmehr in dem Umstande zu suchen, dass das Blatt seine
selbständige Existenz, wie sie ihm in der Natur eigen ist, in der Dekora-
tion verliert. Das Blatt zweigt nicht mehr von der Ranke ab, son-
dern es durchsetzt die Ranke, verwächst mit derselben. An
den byzantinischen Ornamenten von St. Johannes und der Hagia Sophia
ist dieses Verhältniss noch nicht so deutlich ausgesprägt, weil die ein-
zelnen Theilglieder des ursprünglichen Akanthushalbblatts der Reihe
nach scheinbar selbständig von einer Ranke abzweigen. Insofern er-
scheint der Process an den beiden gegebenen Beispielen erst auf halbem
Wege angelangt. Das in der Arabeske ausgeprägte Schlussresultat, die
Ranken von den Spitzenden der unfreien Blätter wiederum weiter
laufen zu lassen, findet sich an den byzantinischen Beispielen noch
nicht völlig unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist es
— wie wir später sehen werden — für die frühere byzantinische Kunst
schon über alle Zweifel hinaus nachzuweisen.
Wenden wir uns nochmals zurück zur Betrachtung von Fig. 142,
wo uns noch zwei Ornamentstreifen des Kapitäls zu besprechen bleiben.
Der eine zieht sich zwischen den zwei krönenden Voluten des Kapitäls
hin und zeigt eine intermittirende Wellenranke in ihrem nackten
Schema. Hier bemerken wir keine Spur von naturalistischen Bildungen:
eine blosse glatte Wellenlinie schlängelt sich von Blüthe zu Blüthe.
Diese letzteren zeigen den Volutenkelch der flachen Palmette in einer
Reducirung, wie sie das oben erörterte Dreiblatt in Fig. 143 aufweist.
[283]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Aus diesem Kelch erhebt sich eine dreiblättrige Blüthenkrone, zunächst
stehend dem dreiblättrigen Lotusprofil. Es kann kein Zweifel sein: es
ist die alte griechische intermittirende Wellenranke, deren Palmetten
allerdings beeinflusst erscheinen von jener Blattbildung, die sich in-
zwischen am Akanthus infolge der Auflösung seiner individuellen Selbst-
ständigkeit vollzogen hat.
Der Ornamentstreifen endlich, der die Deckplatte ziert, zeigt eine
fortlaufende Wellenranke, aber nach dem alten griechischen Schema:
bloss die abzweigenden Blätter zeigen eine Stilisirung, die gerade so
viel vom Palmettenhabitus noch beibehalten hat, um die Abkunft von
diesem letzteren zu erweisen. In der Mitte ist dieser Streifen unter-
brochen von einer ausladenden Bosse, die mit einer Lotusblüthen-Pal-
mettenreihe verziert ist. Die Lotusblüthen zeigen die gleiche Stilisirung
wie die vorbesprochenen der intermittirenden Wellenranke zwischen den
Voluten des Kapitäls, und die Palmetten verrathen an den Voluten
gleichfalls die deutliche Beeinflussung des mit dem byzantinischen
Akanthusornament stattgehabten Auflösungsprocesses.
Was an Fig. 142 und 144 die darin enthaltene Veränderung gegen-
über dem klassisch-antiken Rankenornament für den oberflächlichen
Blick so schwer erkennbar macht, ist der Umstand, dass die Kurven,
in welchen sich die Rankenlinien bewegen, nichts Auffälliges gegen-
über der griechischen Weise zeigen. Es ist die Bewegung der uns
wohlvertrauten fortlaufenden Wellenranke, die uns da entgegentritt.
In der That hat die klassisch-antike Rankenornamentik im Allgemeinen
bis an ihr äusserstes Ende niemals verläugnet, dass sie ursprünglich
aus der Spiralornamentik hervorgegangen ist: selbst als das ausgebil-
dete Akanthushalbblatt jede Erinnerung an die ehemalige fast rein
geometrische Bedeutung der blossen Zwickelfüllung vollständig ver-
wischt hatte, wurde der rollende Schwung der Ranken immer noch aus
dem Kreise heraus konstruirt.
Betrachten wir dagegen Fig. 14524), die gleichfalls von einer Arkade
der Hagia-Sophia entlehnt ist. Fassen wir zuerst das Ornament der Bogen-
leibung oben in’s Auge. Die Ranken laufen hier nicht mehr zu runden,
sondern zu spitzovalen Konfigurationen zusammen. Dieser Punkt ist
ein besonders entscheidender für den Werdeprocess einer, neuen Im-
pulsen folgenden Dekorationskunst im Osten des Mittelmeers. Die Ver-
änderung im Verhältniss zwischen Ranke und Blatt, die wir an Fig. 144
[284]Die Arabeske.
vollzogen sehen und die schon Owen Jones als so bedeutungsvoll er-
kannt hatte, ist, wenigstens soweit als die Byzantiner in der Zeit
Justinians darin gegangen sind, auch von den abendländischen Künsten
übernommen worden. Dagegen haben diese letzteren allezeit an dem
mehr oder minder kreisförmigen Schwung der Ranke festgehalten,
während wir gemäss Fig. 145 schon an der Hagia-Sophia die erwachende
Neigung für spitzovale Rankenführung beobachten können25).
Kapitäl und Stück einer Bogenleibung, von der Sophienkirche zu Konstantinopel.
Hinsichtlich der Einzelmotive von Fig. 145 ist hinzuweisen auf
die gekrümmten Halbpalmetten, die das vorherrschende Element der
Blattdekoration bilden und überaus bemerkenswerther Maassen in sym-
metrischer Paarung zu gesprengten Vollpalmetten zusammen-
treten. Die Halbpalmetten, die eine solche Vollpalmette zusammensetzen
gehen aber nicht von einer und derselben Ranke, sondern von ver-
[285]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
schiedenen Stengeln aus. Auch dies entspricht nicht dem Vorgange
in der Natur, wo jede Blüthe ihren eigenen einzigen Stengel besitzt.
Wir haben somit einen neuerlichen antinaturalistischen Zug zu ver-
zeichnen, der für die Arabeske geradezu charakteristisch geworden
ist. Betrachten wir doch daraufhin noch einmal Fig. 139. Links sehen
wir die Gabelranken wiederholt zu kielbogenartigen Konfigurationen
zusammentreten, wie es eben der Bewegung der beiden Hälften einer
gesprengten Palmette entspricht. Noch deutlicher prägt sich dies in
der Ecklösung rechts unten in Fig. 139 aus. Hier laufen die Gabel-
ranken von zwei verschiedenen Seiten her zusammen und bilden einen
Kielbogen, an den sich erst noch ein Dreiblatt als freie Endigung an-
schliesst. Haben wir es nun auch an Fig. 145 noch nicht mit Gabel-
ranken zu thun, weil die Schematisirung der vegetabilischen Einzel-
motive im 6. Jahrh. noch nicht entsprechend fortgeschritten gewesen
ist, so ist doch die Neigung, zwei selbständige Halbmotive zu einem
Vollmotiv unter einem geschweiften Winkel zusammen treten zu lassen,
bereits unverkennbar. Den Anknüpfungspunkt an das Frühere, Helle-
nistisch-römische, bietet hinsichtlich der geschweiften Berührungswinkel
die gesprengte Palmette, ferner pompejanische Beispiele gleich Fig. 152,
hinsichtlich des Zusammenlaufens der (kelchbildenden) Rankenstengel
von verschiedenen Seiten her schüchterne Vorläufer gleich der oberen
centralen und den seitlichen umschriebenen Palmetten in Fig. 125.
Der Volutenkelch der Halbpalmetten in Fig. 145 ist wiederum auf
einen fleischigen Blattkelch reducirt; hiebei ist überaus bezeichnend
für die folgende Entwicklung der Umstand, dass die Kelchbildung im
Stein durch eine runde Vertiefung mittels des Bohrers erfolgt ist: ein
technischer Process, den sich späterhin auch die Saracenen angeeignet
haben.
Das unter der beschriebenen Bogenleibung befindliche Kapitäl
zeigt in der Mitte kreisrunde Einrollungen von Ranken, an die sich
seitwärts lange geschwungene Halbpalmetten des gesprengten Typus,
innen in den Einrollungen Ableger des Akanthusblattes ähnlich Fig. 143
ansetzen. Die in einander verschlungenen Kreise als Flächenmuster,
grosse mit kleinen alternirend, kennen wir aus der römisch-altchrist-
lichen Kunst, wo sie in die Ornamentklasse der Bandverschlingungen
einzureihen sind. Dass die Byzantiner dieses Ornament mit besonderer
Vorliebe gepflegt haben, wurde schon erwähnt (S. 268). Die Fortbil-
dung, die die Saracenen daran geknüpft haben, hatte zur Voraussetzung
eine freiere Benutzung der Bänder. Sowie in der Rankenführung sind
[286]Die Arabeske.
die Römer auch in der Bänderführung im Wesentlichen bei der
Kreisform stehen geblieben; die Saracenen haben dagegen ihre Bänder
skrupellos gebrochen und geknickt. So wie Fig. 145 lehrt, dass die
Byzantiner in Bezug auf die Emancipation der Rankenführung von
der Kreisform die unmittelbaren Vorläufer der Saracenen gewesen sind,
so ergiebt sich aus den Verzierungen des Kapitäls Fig. 146 26), dass
auch der Uebergang von der kreisförmigen zur geknickten
Bandverschlingung sich bereits im vorsaracenischen Byzanz
vollzogen hat.
Zur weiteren Bekräftigung des Gesagten mögen noch einige
Details folgen, die den latenten saracenischen Zug in der byzantinischen
Kapitäl mit Gebälkstück, von der Sophienkirche zu Konstantinopel.
Kunst der Justinianischen Zeit des Weiteren zu demonstriren geeignet
sind. Fig. 147 von St. Sergius und Bacchus 27) giebt ein Beispiel für die
Freiheit, mit der man in der Verwendung der vom Akanthusblatt los-
gelösten Theilglieder verfuhr. Wir gewahren da ein reducirtes Akanthus-
halbblatt, das in dem uns nunmehr wohlvertrauten Kelch aus zwei Spitz-
blättern steckt. Demselben Motiv in lappig-akanthisirender Ausführung
begegnet man später in der saracenischen Kunst überaus häufig.
Fig. 148 28) zeigt eine Art von Palmettenstilisirung, die der byzan-
tinischen wie der früh saracenischen Kunst gleich geläufig gewesen
ist. Man vergleiche damit den pompejanischen Vorläufer dieses Motivs
[287]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Fig. 149 29). Fig. 150 30) zeigt die Verschlingung zweier Dreiblätter mit
den Stielen, und die wechselseitige Durchschneidung der zwei
benachbarten Blätter mit ihren Enden: ein Motiv, das in der
spielenden Behandlung der doch noch als vegetabilisch gelten sollenden
Elemente geradezu saracenisch genannt werden könnte.
Fig. 151 31) endlich zeigt die geschnitzte Verzierung von einem
hölzernen Spannbalken der Hagia - Sophia. In dem äusseren Kreise
Fig. 147, 148, 150, 153 byzantinisch. Fig. 149 pompejanisch.
links gewahren wir unten zwei divergirende unfreie Halbpalmetten,
deren Scheitelenden zugleich als Stengel für zwei daraus entspriessende
Halbpalmetten der gleichen Art dienen: also das fertige Princip der
Arabeske ohne alle Maskirung. Allerdings gehen diese geschnitzten
Verzierungen nicht in die Zeit Justinians zurück: die Behandlung der
Details ist nicht mehr so scharf und eckig, sondern vielmehr flüssig
und geradezu geometrisch korrekt. Dass aber diese Ornamente, die
Verzierungen von einem Deckenbalken der Sophienkirche zu Konstantinopel.
man ohne Weiteres als saracenische Arbeit des 11.—12. Jahrh. be-
zeichnen könnte, noch zur Zeit der christlich-griechischen Herrschaft
in Konstantinopel gefertigt worden sind, beweisen die Kreuze, die sich
an anderen Balken genau der gleichen Art 32) vorfinden. Noch immer
[288]Die Arabeske.
bliebe da die Annahme möglich, dass diese Schnitzereien entweder un-
mittelbar von Saracenen im Dienste der Byzantiner gefertigt, oder doch
unter dem bestimmenden Einflusse einer bereits erstarkten saraceni-
schen Kunst entstanden wären; aber gerade im Hinblick auf alles das
vorhin Gesagte werden wir keine Nothwendigkeit empfinden, fremde
Einflüsse für die Stilisirung in Fig. 151 verantwortlich zu machen.
Der eigenthümliche Eindruck wird ja vornehmlich hervorgebracht:
erstens durch die rund herausgebohrten Löcher für die Blattkelche,
zweitens durch das ausgeschweifte Blattwerk. Das eine wie das andere
haben wir bereits an den skulpirten Dekorationen der Justinianischen
Zeit festgestellt. Und wie die Neigung zu geschweiften Spitzbogen-
formen selbst schon in der griechischen Kunst latent gewesen ist, wie
sie bloss eines Anstosses zu schematisirender Bildung bedurft hat, um
Ornamente von pompejanischen Wandmalereien.
als maassgebendes Formelement in’s Leben zu treten, dafür citire ich
nach all dem über die gesprengte Palmette, die auswärts geschweiften
Spitzenden der Akanthushalbblätter u. s. w. Gesagten noch die drei
nebenstehenden Details aus Pompeji (Fig. 152) 33).
Für das Aufgehen des Blattes in der Ranke, wofür wir soeben
ein vollendetes Beispiel im äusseren Kreise links von Fig. 151 kennen
gelernt haben, sind übrigens zweifellose Repräsentanten auch aus früh-
byzantinischer Zeit, von der Hagia-Sophia, nachzuweisen. Fig. 153 34)
zeigt drei Akanthushalbblätter rankenartig in einander übergehend.
Fig. 154 und 155 sind von der musivischen Dekoration entlehnt. Erstere
zeigt eine kapitälartige Zusammenstellung von zwei Halbpalmetten des
gesprengten Typus: der spiralig eingerollte Volutenkelch und die
feinen geschweiften Einzelblätter lassen keinen Zweifel übrig. Die
äussere Blattrippe aber schwingt sich rankenartig nach abwärts um
und dient als Stiel einer Palmette. Aehnlich sehen wir an Fig. 155
[289]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
von den Füllhörnern einer nach bekannten römischen Mustern ent-
worfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer
Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen-
treten, wie wir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der
Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe
oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet
sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge-
tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb-
ständigkeit des Blattes in der Ranke auszudrücken scheint.
Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben-
den Leitgrundsätzen des byzantinischen Kunstschaffens seinen unver-
kennbaren Ausdruck fand, war gewiss das Resultat tiefgreifender Kultur-
vorgänge, worüber Einiges bereits andeutungsweise vorgebracht worden
Von der Mosaikverzierung der Sophienkirche in Konstantinopel.
ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen Processe
gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders
günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent-
wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele
Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben
mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die
Kunst im Osten des Mittelmeerbeckens auch während der römischen
Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken-
ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich,
dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen-
ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der
frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh.
begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, wie
Fig. 156 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a.
die Deckplatte des Kapitäls aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier
und Poplewell, Architekt. byzant. Taf. 39, links mit den liegenden
S-Spiralen und in die Zwickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz
Riegl, Stilfragen. 19
[290]Die Arabeske.
nach dem altgriechischen Schema, nur mit byzantinischer Blattstilisi-
rung; am Halse des Kapitäls eine nicht minder charakteristische
intermittirende Wellenranke. Und in der That lehren die wenigen
römischen Denkmäler auf asiatischem Boden, die man bisher einer
sorgfältigeren Publikation für würdig befunden hat 35), dass die inter-
mittirende Wellenranke unter reichlicher Hinzuziehung der flachen
Palmettenmotive daselbst allezeit eine sehr maassgebende Rolle ge-
spielt hat. Dieser Wechselbezug zwischen byzantinischer und helle-
nischer Weise ist auch Salzenberg bereits aufgefallen, der allerdings
wieder über’s Ziel geschossen hat, indem er kurzweg gesagt hat: „Das
(byzantinische) Blattornament zeigt nicht die römische Behandlungsweise,
sondern mehr die hellenische 36)“.
Gesimsstück von der Pantokrator-Kirche zn Konstantinopel.
Dieser Punkt ist wichtig nicht bloss für die Herausbildung der
Ornamentik der Justinianischen Zeit, sondern auch für die spätere Ent-
wicklung. Es muss im Orient allezeit ein — sei es lokales, sei es an
gewissen Techniken haftendes — Beharren an älteren Weisen, insbe-
sondere an der Flachstilisirung in althellenischem Charakter, gegeben
haben. Nur so ist es zu erklären, dass uns — wie wir sehen werden —
noch an Kunstwerken des 12.—14. Jahrh. fast rein griechische Ranken-
verzierungen begegnen.
Ferner ist die Behandlung des Akanthus, die wir an den justinia-
nischen Steinskulpturen vollzogen sahen, nicht die alleinige und aus-
schliessliche im frühbyzantinischen Reiche gewesen. Auch der weiche
lappige Akanthus hat daneben — wofür uns allerdings hauptsächlich
die nachfolgende Entwicklung zum Zeugniss dienen muss — fortdauernd
Verwendung gefunden. Auf diese Unterschiede werden gewiss Material
[291]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
und Technik von sehr wesentlichem Einflusse gewesen sein: so wird
die Malerei naturgemäss die lappige Blattbildung bevorzugen, während
die Steinskulptur der scharfkantigen zuneigt. Aber auch lokale Unter-
schiede werden obgewaltet haben — Unterschiede, die zwar innerhalb
der kanonischen römischen Universalkunst keine wesentliche Bedeutung
gewinnen konnten, aber zur Zeit, da neue Impulse auftraten, neue
Dekorationsweisen in Fluss kamen, sehr wohl zu einer maassgebenderen
Stellung gelangen konnten. Wir wollen daher, bevor wir an die Erörte-
rung zweifellos saracenischer Denkmäler schreiten, noch raschen
Schrittes die Provinzen des oströmischen Reiches durcheilen, um zu
sehen, welche Fortsetzungen sich daselbst an die spätantike Universal-
kunst geknüpft haben.
Gesimsstück aus El-Barah in Syrien.
Verhältnissmässig am meisten Kenntniss ist uns von der spätantik-
frühmittelalterlichen Kunst in Syrien geworden. Die Aufnahmen, die
der Graf de Vogüé von den centralsyrischen Städteruinen gemacht hat,
würden genügen, uns ein geschlossenes Charakterbild der syrischen
Ornamentik jener Zeit zu entwerfen, soweit dieselbe in der Architektur
Ausdruck gefunden hat. Wir werden uns im Folgenden bloss auf das
Pflanzenrankenornament beschränken.
Fig. 157 ist die Reproduktion eines Frieses von der grossen Pyra-
mide von El-Barah 37), die von de Vogüé in das 5. Jahrh. datirt wird.
Die fortlaufende Akanthusranke, die diesen Fries ziert, bringt uns so-
fort ein ähnliches Denkmal in Erinnerung, den Architrav von St. Johannes
zu Konstantinopel, Fig. 142. Vergleichen wir beide nebeneinander, so
gelangen wir zu dem überraschenden, aber unabweisbaren Ergebniss,
dass das syrische Beispiel die Vorstufe des konstantinopolitanischen
bildet. Gerade das, was wir an Fig. 142 vermisst haben, und was uns
darum von vornherein zögern hat lassen, darin eine fortlaufende Akan-
19*
[292]Die Arabeske.
thusranke zu erblicken — selbständig abzweigende Schösslinge in
einer der Rankenbewegung entgegengesetzten Richtung — das findet
sich am Friese von El-Barah deutlich beibehalten. Und auch das
alte klassische Akanthusblatt ist noch klar zu erkennen. Wenn auch
die verbindenden Rankenstengel schon unterdrückt sind, gleichsam eine
Blattrippe wellenförmig weiterläuft, so sind doch die an der Peripherie
ausladenden Zacken noch subordinirte Bestandtheile eines unfreien
Akanthushalbblatts, und noch nicht selbständige dreispältige bis vier-
spältige Individuen wie zu Konstantinopel. Es leidet aber keinen
Zweifel: der syrische Fries ist der Ausgangspunkt, aus dem sich mit
dem nächsten Schritte der Fries von St. Johannes ergeben wird. Die
Stengel sind bereits unterdrückt, die Schösslinge sind abgegabelte
Akanthusblätter, und — was das Wichtigste ist — die Hauptrippe dieser
abzweigenden Blätter setzt sich vom Ende des Blattes hinweg weiter
fort in einem Stiele, der schliesslich eine zur eckigen Palmette stilisirte
Blume als freie Endigung trägt. Wir haben es also bereits mit einer
ausgesprochenen Gabelranke zu thun, an die sich weitere gestielte
Blüthenmotive schliessen.
Die Bedeutung, die diesem syrischen Beispiele innewohnt, beruht
hauptsächlich darin, dass uns damit laut und eindringlich gesagt wird,
wie diese ganze Bewegung auf dem Gebiete des ornamentalen
Kunstschaffens keineswegs als eine lokal-byzantinische auf-
gefasst werden darf, die von Konstantinopel ausgegangen wäre und
ihren Weg in die Provinzen des Reiches gefunden hätte. Die Keime
waren vielmehr überall vorhanden, weil sie eben mit der griechisch-
römischen Universalkunst überall hin verstreut worden waren; auch die
Kulturlage, sowie die treibenden Kräfte nach Veränderung und Fort-
bildung sind im ganzen Reiche die gleichen gewesen. Ferner beweist
die vortreffliche flüssige Bildung des Frieses von El-Barah — falls der
Zeichner sich nicht Willkürlichkeiten erlaubt hat — gegenüber der
steifen, kriechenden an der konstantinopler Johanneskirche, dass man
in Dingen der dekorativen Skulptur im 5. Jahrh. in Syrien gegen
Byzanz mindestens nicht im Rückstande gewesen ist. Uebrigens steht
das Beispiel in Syrien nicht vereinzelt da. Einmal zeigt Taf. 121 bei
de Vogüé eine ähnliche Behandlung der fortlaufenden Akanthusranke.
Ferner sind die Thürbogen an der bei de Vogüé, Temple de Jerusalem
Taf. V abgebildeten Porte double sowie an der goldenen Pforte mit
einer fortlaufenden Akanthusranke geschmückt, die geradezu als engeres
Zwischenglied zwischen El-Barah und St. Johannes bezeichnet werden darf.
[293]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Polygonbildung mit überschneidenden Ranken und füllenden Blät-
tern und Blüthen, und damit eine Zwischenstufe zu einem specifisch
saracenischen Dekorationsschema, treffen wir an syrischen Bauten
wiederholt, so z. B. auf Taf. 43 bei de Vogüé. Anderseits finden sich
auch wieder frappante Parallelen mit altgriechischen Rankenbildungen,
wie Fig. 158 38), womit die fortlaufende Wellenranke Fig. 96 aus dem
5. Jahrb. v. Ch. zu vergleichen ist.
Friesstreifen aus Kalb Luzeh in Syrien.
Von spätantiker Kunst auf egyptischem Boden hat man vor etwa
zehn Jahren so gut wie Nichts gewusst. Heute verfügen wir, wenigstens
was die Ornamentik betrifft, von dorther über ein reicheres Material als
von irgend einem anderen Kunstboden jener Zeit. Wir danken dies erst-
lich einmal den textilen Gräberfunden aus Sakkarah, Akhmîm, Fayum
u. s. w., dann den Denkmälern koptischer Skulptur, die in das Museum
von Bulak gerettet worden sind und zum grossen Theile im 3. Hefte
des 3. Bandes der Mémoires publiés par les membres de la mission archéologique
française au Caire, von Al. Gayet unter dem Titel: Les monuments coptes
du musée de Boulaq ihre Veröffentlichung gefunden haben.
Das hiemit gebotene, wider Erwarten reiche Material hat nun aller-
dings schon mehrseitige Bearbeitung erfahren. Einen Theil der Textil-
funde — die ersten nach Europa gelangten dieser Art, die vom k. k. öster-
reichischen Museum in Wien erworben worden sind — hat J. Kara-
bacek hauptsächlich auf die daran zu beobachtenden Zusammenhänge
mit der persisch-sassanidischen und der späteren saracenischen Kunst
untersucht 39). Das rein Ornamentale an jenen Funden in seinen Be-
ziehungen zur späten Antike wenigstens in grossen allgemeinen Zügen
klar zu stellen, hat Verfasser in dem von der Direktion des k. k. österreichi-
schen Museums herausgegebenen Kataloge der betreffenden Collektion 40)
[294]Die Arabeske.
unternommen. Was hingegen die koptischen Skulpturen betrifft, so hat
nächst Gayet G. Ebers41) sich darüber eingehender verbreitet. Auch
dieser Autor hat den engen Zusammenhang dieser Denkmäler mit den
spätrömisch-byzantinischen zu Gunsten einer vermeintlichen Renaissance
national-egyptischer Kunst weit unterschätzt, was ich in einem Aufsatze
über Koptische Kunst in der Byzantinischen Zeitschrift42) im Einzelnen nach-
zuweisen versucht habe. Trotz dieser verschiedenen Anläufe steht eine
zusammenfassende Bearbeitung, die gewiss ein höchst bedeutsames Re-
sultat ergeben dürfte, noch aus; wir aber werden uns im Nachstehenden
Fragment vom Giebel eines Sarkophag-Deckels. Egyptisch-spätrömisch.
beschränken müssen auf die Erörterung derjenigen Denkmäler, die uns
über die Entwicklung der Rankenornamentik im frühmittelalterlichen
Egypten Aufschluss zu gewähren geeignet sind.
Das weitaus bedeutsamste darunter giebt Fig. 159 43) wieder. Es
ist dies das Fragment eines skulpirten Giebels aus Stein. Rechts sind
zwei Blätter vom gesprengten Palmettenfächer eines Eckakroterions
sichtbar, darüber Theile vom Vorderleib eines Thieres. Die Mitte des
[295]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Giebels ist mit einer nicht eben fein ausgeführten Gruppe von zwei
Personen geschmückt, worin Gayet David und Bathseba erkennen wollte.
Uns interessirt hier bloss das Ornament, das sich in dem zweimal spitz-
winklig gebrochenen Bordürenbande befindet. Dieses Ornament besteht
aus zwei ineinander verschlungenen Wellenranken. Die Blätter — drei-
theilige Ableger des Akanthusblattes, wo nicht direkte Epigonen der
flachen Halbpalmetten — zweigen nicht frei an selbständigen Stielen
von der Ranke ab, sondern durchsetzen die letztere. Eines der drei
Blättchen, aus denen jedes grössere Blatt besteht, ist nach rückwärts
gekrümmt, und somit als Kelchblatt aufzufassen; die beiden anderen
Blätter weisen in der Richtung der Ranke. Man braucht bloss diese
beiden letzteren nicht in selbständiger Ausladung zu belassen, sondern
in eine feste, glatte Umrisslinie zu bannen, und wir haben eines der
allergebräuchlichsten saracenischen Streifenmuster, namentlich für
pilasterförmig aufsteigende Füllungen. Zu Grunde liegt wiederum
nichts anderes, als die neue emancipirte Weise, die Ranke von den
Spitzen der unfreien Akanthushalbblätter oder Halbpalmetten weiter zu
führen. Wo aber die Ranken endgiltig auslaufen, dort bilden Voll-
blätter (oder Vollpalmetten, was bei der nunmehrigen schematischen
Stilisirung schwer zu entscheiden ist) die freie Endigung.
Wie es das spätere häufige Vorkommen dieser Art von Ranken-
verzierung in der ausgebildet saracenischen Stilisirung erwarten lässt,
ist dasselbe in der byzantinischen Uebergangsfassung an Skulpturen
egyptischer Provenienz noch wiederholt nachzuweisen: so bei Gayet
Taf. 4 und Taf. 93. Gayet allerdings will die figürlichen Darstellungen,
die damit auf Taf 4 und 6 verbunden sind, als Zeugnisse für byzan-
tinischen Ursprung geltend machen und die Stücke daher für importirt
ansehen. Wir, die wir Gayet’s Unterscheidung zwischen einer byzan-
tinischen und einer national-egyptischen Kunst im 6. und 7. Jahrhundert
n. Ch. keineswegs für begründet erachten, werden auch die erwähnten
Denkmäler ohne Bedenken egyptischem Ursprunge zuweisen. Aber
wenn dem selbst so wäre, wie Gayet möchte, würde dies für unseren
Gegenstand kein wesentlich anderes Resultat bedeuten: der zur sara-
cenischen Einverleibung des Profilblattes in die Ranke treibende Zug,
der sich als dem Schema von Fig. 159 zu Grunde liegend erwiesen hat,
wurde ja von uns bereits an so vielen anderen Denkmälern aus dem
oströmischen Reiche, auch solchen lokal konstantinopolitanischer Her-
kunft, festgestellt. Es ist nur ein recht unzweideutiger und entschiedener
Schritt nach der angedeuteten Richtung, den uns Fig. 159 repräsentirt,
[296]Die Arabeske.
und diesen werden wir immerhin eher auf einem Boden erwarten, auf
dem späterhin die reine Arabeske sich entfaltet hat, als innerhalb der
Bannmeile von Byzanz, wo man niemals recht über die halbe Mitte
zwischen dem Beharren an der Tradition und dem Nachgeben gegen-
über den dekorativen Neigungen der Zeit hinaus gekommen ist.
Was sonst an Beispielen einer Rankenornamentik auf koptischen
Skulpturen vorliegt, bewegt sich in der gleichen Richtung, wenngleich
in minder entschiedenem Tempo. Ich verweise diesbezüglich bloss auf
die zahlreichen Gabelungen (Fig. 160) 44), die ebenfalls nicht denkbar
wären ohne das Aufkommen jenes neuen Grundprincips der Blattranken-
führung, das wir schon an der Fig. 159 als maassgebend erkannt haben.
Auch die üppige Gliederung der von einer fortlaufenden Wellenranke
abzweigenden Schösslinge in reich verzweigte Nebenranken 45) wider-
Bordürenfragment von einer egyptisch-frühmittelalterlichen Grabstele.
streitet der antiken Tradition, die an dieser Stelle im Wesentlichen nur
eine spiralige Einrollung mit einer freien Endigung gekannt hat. Es
verrieth sich in dieser Neuerung der zur dicht und gleichmässig ver-
streuten Kleinmusterung neigende neuorientalische Geschmack. Daneben
finden sich Beispiele von nackter spiraliger Wellenranke gleich dem
mykenischen Urschema (Fig. 50), nur bereichert durch eine nicht minder
primitive Zwickelfüllung mittels einfacher Giebel 46). Es ist dies nicht
unwichtig im Hinblick darauf, dass uns noch unter der vollen Herr-
schaft der ausgebildeten Arabeske dergleichen urtypische Rankenbil-
dungen öfter begegnen werden.
Wir müssen es uns versagen, das überreiche aus Egypten vor-
liegende Material nach der besprochenen Richtung noch weiter zu er-
örtern. Es drängt uns, noch die früh-mittelalterlichen Denkmäler der
[297]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
übrigen asiatischen Länder vorzunehmen, die zu Ostrom Beziehungen
unterhalten haben. Hinsichtlich Kleinasiens ist das zugängliche
publicirte Material leider ein so geringfügiges, dass wir dasselbe ohne
Schaden ausser Rechnung lassen können, zumal auch die [Vermuthung]
gestattet ist, dass gerade der westlichste Vorsprung Asiens dem Beispiele
von Byzanz am nächsten und engsten gefolgt sein mag. Dagegen liegt
eine an Zahl geringe, inhaltlich aber werthvolle Denkmälergruppe aus
den östlichsten Grenzgebieten der Mittelmeerkultur vor, die zwar keine
politische, wohl aber eine künstlerische Provinz des Römerreiches ge-
bildet haben.
Eine sehr wichtige, ja entscheidende Rolle bei der Herausbildung
eines mittelalterlich- orientalischen, des sogen. saracenischen Stils pflegt
man den Persern der Sassanidenzeit (220—641 n. Ch.) zuzuschreiben.
Was uns von bezüglichen Denkmälern mit ornamentaler Ausstattung
erhalten ist, würde nach dieser geltenden Auffassung eher seinen Platz
unter den beglaubigt saracenischen Denkmälern selbst, oder doch als
Einleitung zu diesen letzteren beanspruchen. Dass wir nichtsdesto-
weniger die Besprechung auch der persisch-sassanidischen Denkmäler-
gruppe derjenigen der byzantinischen Fortbildungen der antiken Ran-
kenornamentik anreihen, hoffen wir im Laufe unserer Ausführungen
selbst zu rechtfertigen.
Eigentlich ist es recht merkwürdig und bezeichnend dafür, wohin
wir mit der blinden Anhängerschaft des Kunstmaterialismus und der
vermeintlich autochthonen Entwicklung fast jeder Kunstweise von
einigem nationalen Gepräge gerathen sind, dass es einer Rechtfertigung
nach der gedachten Richtung heute überhaupt noch bedarf. Leute, die
noch einen offenen, durch Voreingenommenheit nicht getrübten Blick
für historische Entwicklungen besassen, haben — wie wir sehen werden
— schon vor vierzig und mehr Jahren nicht einen Augenblick ge-
zweifelt, dass die bezüglichen Denkmäler der Sassanidenkunst in eng-
stem Zusammenhange mit der Kunst des abendländischen Westens
gestanden sein müssen. Erst die seither aufgekommene übermächtige
Bewegung, die überall sozusagen spontan wirkende materielle Hebel
für das Kunstschaffen thätig sehen möchte, wo es sich um traditionelle
Anlernung und Nachahmung handelt, hat die ursprünglichen richtigen
Anschauungen unbefangener Forscher verdunkelt und in den Hinter-
grund gedrängt. Indem wir also einige besonders charakteristische
dieser Denkmäler nach der Publikation von Flandin und Coste, Voyage
en Perse in Erörterung ziehen, werden wir uns nicht auf die blosse
[298]Die Arabeske.
Hervorhebung desjenigen beschränken dürfen, was für unsere Darlegung
des Entwicklungsganges der Pflanzenrankenornamentik von Bedeutung
ist, sondern auch die kunsthistorische Stellung dieser ganzen Denkmäler-
gruppe zu präcisiren trachten.
Das Material, das uns hiefür vorliegt, besteht erstlich aus dem
Bogen des vorletzten Sassanidenkönigs Chosroes Parwiz zu Tak-i-Bostan;
die Entstehungszeit desselben werden wir rund um 600 n. Ch. annehmen
dürfen. Ferner aus einer Anzahl von Architekturfragmenten, die
Flandin und Coste zu Ispahan gefunden haben und die im allge-
meinen Charakter wie in den Details eine so weitgehende Ueberein-
stimmung mit der Dekoration auf dem Chosroes-Bogen zur Schau
tragen, dass wir sie unbedenklich ungefähr der gleichen Entstehungszeit
zuweisen können. Wir bewegen uns somit in einer Zeit, da in Byzanz
jene Neuerungen, die wir hauptsächlich an den Bauten Justinians wahr-
nehmen konnten, bereits zu fertiger Ausgestaltung gelangt waren, aber
seit dem Zerfalle des römischen Weltreichs doch noch nicht so viel
Zeit verflossen war, dass die Differenzirung der Kunst in den Provinzen
bereits entscheidende Fortschritte gemacht haben konnte. Mit anderen
Worten: die uns erhaltenen sassanidischen Baudekorationen stammen
genau aus jener Zeit, in der sich die für unsere Sonderaufgabe grund-
wichtigen Uebergangserscheinungen vollzogen haben müssen.
Betrachten wir zuerst das Kapitäl Fig. 161. Die Verzierung ist
bestritten durch ein einziges, vielfach gegliedertes Pflanzenmotiv.
Charakterisirt erscheint dasselbe durch den fleischigen, von Ringen und
Hülsen unterbrochenen Stengel — durch die Blattranken, die in kreis-
förmigem Schwunge nach abwärts sich einrollen und in eine Blume
endigen — durch die grossen üppigen Blätter, die aufwärtsstrebend
davon abzweigen und das erste Blatt nächst dem Stielansatz voluten-
artig einwärts, das äusserste dagegen auswärts gekrümmt und geschweift
zeigen, und unter deren Spitzen wieder ein Rankenstengel mit Halbblatt
und krönender Blume hervorbricht, — endlich durch die Blume, die
den Hauptstamm selbst krönt, mit Voluten am Stielansatz, und mehr-
fachen Blattkelchen, die den ovalen Kern einschliessen.
Enthält schon der Aufbau Nichts, was uns nicht von so und so
vielen römischen Denkmälern bekannt wäre, so gilt das Gleiche von
den Blättern. Dieselben sind durchwegs und ausschliesslich vom
Akanthus bestritten. Und zwar ist es nicht der geometrisirende Akan-
thus, den wir an den Bauten der frühbyzantinischen Zeit so über-
wiegend angetroffen haben, sondern ein buschiger, üppiger, plastischer
[299]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
Akanthus, der dem echten römischen Akanthus noch überaus nahe
steht. Die einzelnen Hauptzacken schneiden zwar schon tief in das
Blatt hinein, ohne aber dessen Individualität als untheilbares Ganzes
in Frage zu stellen. Die Krümmung der Spitzen der grossen seitlichen
Akanthushalbblätter erinnert wohl einerseits an die ausgesprochene Vor-
liebe der nachmaligen Saracenen für ausgeschweifte kielbogenförmige
Linienführung, ist aber gleichwohl noch rein römisch, was auch durch
die nicht von der Blattspitze weg, sondern unter derselben hervor-
laufende Ranke bestätigt wird. Antik sind ferner die unzweideutigen
Volutenkelch-Bildungen sowohl am Stielansatze der grossen seitlichen
Persische Kapitäle aus der Sassanidenzeit.
Blätter, als an demjenigen der centralen Blüthe, und zwar entsprechen
dieselben nicht so sehr römischem Stilgefühl, das am plastischen Akan-
thus den flachgedachten Volutenkelch grösstentheils entbehren zu können
geglaubt hat, als dem strengeren griechischen, das ja einst-
mals noch vor der Herausbildung einer stärker naturalisiren-
den römisch-klassischen Kunst in Asien seinen siegreichen
Einzug gehalten hatte.
Was dem Vorausschauenden an Fig. 161 als Vorläufer der
specifisch saracenischen Weise erscheint, das betrifft nicht
die Rankenführung, sondern die Blatt- und Blüthenbildung.
Am Akanthusblatt sind es die eng nebeneinander hingezeich-
neten Seitenrippen, dann die Umrisslinie, die an den meisten
Blättern einer inneren, ausgezackten parallel läuft47) und
[300]Die Arabeske.
nicht zum mindesten die plastisch zusammengelegte Form des
Akanthushalbblatts, wodurch sich dieses letztere zur Komposition
mehrfacher Kelche zu grösseren Blüthenformen bequem eignete, wie
dies gleich an der centralen Blüthe von Fig. 161 sichtbar ist. Es ist
dieser Umstand deshalb von ganz besonderer Bedeutung, weil wir
späterhin in der Arabeske vegetabilische Formen finden werden, die
aus doppelt zusammengeschlagenen lappigen Kelchblättern gebildet er-
scheinen.
Auf das der sassanidischen Blüthenbildung zu Grunde gelegene
ornamentale Gesetz noch näher einzugehen, verbietet uns schon der
Umstand, dass dies nur dann erfolgreich geschehen könnte, wenn wir
die Blüthenbildung seit hellenistischer Zeit, da eben eine solche von
naturalisirendem Charakter anhebt, im Zusammenhange verfolgen
würden. Diese gewiss dankbare Arbeit bleibt noch zu leisten; Einzelnes
von specieller Bedeutung hervorzuheben wird sich später noch Gelegen-
heit finden.
Betrachten wir das Pilasterkapitäl, Fig. 162, vom Chosroes-Bogen
zu Tak-i-Bostan. Am Halse eine Reihe Akanthuskelche von dem eben
erwähnten plastisch zusammengestülpten Charakter; die „Pfeifen“ sind
mit dem Bohrer hineingegraben. Auf dem Kapitäl selbst die Pflanzen-
staude mit dem fleischigen kandelaberartigen Stengel wie in Fig. 161.
Abzweigend Blätter in Profilansicht, von denen es zweifelhaft bleibt, ob
wir sie als flache Halbpalmetten oder als Akanthushalbblätter erklären
sollen; der theilweise Mangel von Volutenkelchen liesse letzteres als
das Wahrscheinlichere erscheinen, wenn nicht unten zwei unzweifelhafte
Akanthushalbblätter in kreisrunder Einrollung sich befänden, die eine
etwas abweichende Behandlung zeigen. An die erwähnten Halbpal-
metten nun schliesst sich jedesmal von der Spitze weg je eine Blume
an, worin wir wieder jenes sattsam erörterte antinaturalistische Gesetz
der Blumenrankenbildung erkennen. — Auf der Deckplatte liegt eine
Reihe von Dreiblättern (Fig. 143), deren jedes von einer herzförmigen
Linie umschrieben ist.
Diese beiden gegebenen Beispiele sassanidischer Ornamentik werden
wohl genügen, um Owen Jones’ Urtheil zu rechtfertigen, der sich dar-
über folgendermaassen ausgedrückt hat: „Die Ornamente sind nach
denselben Principien wie die römischen Ornamente konstruirt, doch ver-
künden sie dieselbe Modifikation der modellirten Oberfläche, die man
in den byzantinischen Ornamenten entdeckt, denen sie auffällig ähnlich
sehen“. Diejenigen, die darin ureigenste Hervorbringungen des ver-
[301]1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
meintlichen persischen Kunstvolks sehen möchten, fragen wir aber:
wann, unter welchen Verhältnissen soll sich diese „nationale“ Kunst
entwickelt haben? Mit der persischen Kunst der Achämenidenzeit
die wir ja im 3. Kap. (S. 109) kennen gelernt haben, hat die Ornamentik
der Sassanidendenkmäler Nichts zu thun. Sollte diese durch die
Parther aus Centralasien gekommen sein? Von dort ist aber, wie wir
von Türken und Mongolen wissen, niemals etwas Anderes als Geometrisches
nach dem Westen gelangt. Es bliebe somit nur die Annahme, die
Perser hätten parallel mit der griechisch-römischen Pflanzenrankenor-
namentik eine eigene aus dem Nichts heraus gebildet, hätten in wenigen
Jahrhunderten aus eigener Kraft den ganzen Gang der Entwicklung
durchgemacht, wozu die übrigen Kunstvölker des Alterthums, wie wir
gesehen haben, zwei Jahrtausende gebraucht haben. Eine solche An-
nahme wird aber schwerlich viele Anhänger finden.
Detail von einem persischen Kapitäl aus der Sassanidenzeit.
Der Akanthus trägt an Fig. 161 und 162, wie erwähnt, eine natu-
ralisirende, üppige, römische Form zur Schau. Die vom vollen Blatt
abgezupften schematischen Zacken der frühbyzantinischen Kunst treffen
wir an einem anderen sassanidischen Kapitäl, wovon wir ein Detail in
Fig. 164 wiedergeben. Dasselbe erscheint auf den ersten Blick völlig
saracenisch; und doch finden wir daran bei näherem Zusehen kein
Detail, das uns nicht von frühbyzantinischen Denkmälern her bekannt
wäre. So die gesprengte Palmette unten (vgl. Fig. 148), das Dreiblatt
in der Mitte (vgl. Fig. 143), dessen rundovale Umschreibung sogar
noch antiker ist als die herzförmige in Fig. 162, und endlich das Paar
von divergirenden Dreiblättern oben (vgl. Fig. 143). Wir ersehen
daraus, wie nahe bereits die frühbyzantinische Weise der sara-
cenischen steht, und wie gleichmässig sich der Process in
allen von der oströmischen Kunst beherrschten Gebieten an-
gebahnt hat. An den Blumen- und Blattmotiven blieb in der That
nicht mehr viel zu ändern, um zur reinen Arabeske zu gelangen: nur
[302]Die Arabeske.
in der Rankenführung war noch ein entschiedenerer Schritt nach
vorwärts zu thun, wenngleich der grundsätzliche, wie wir gesehen
haben, auch nach dieser Richtung bereits gethan war.
2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Indem wir uns endlich der Besprechung von Denkmälern zuwenden,
die nach Ablauf mehrerer Jahrhunderte seit dem Aufkommen des
Islam bereits nachweislich für Saracenen hergestellt worden sind, wollen
wir uns vor Allem noch einmal die specifischen Eigenthümlichkeiten
gegenwärtig machen, die das ausgebildete saracenische Rankenornament,
die sogenannte Arabeske, charakterisiren.
1. Die Ranken werden an sich wieder zu mehr oder minder
linearen, also geometrisirenden Verbindungselementen, in ihrer
Bewegung verlassen sie aber sehr häufig den aus der Kreislinie heraus
konstruirten Schwung, wie er der vom Spiralornament herkommenden
klassisch-antiken Ranke allezeit eigen gewesen war, und rollen sich
nunmehr auch in ovalen, gebrochenen, geschweiften Linien ein,
laufen von verschiedenen Richtungen her vielfach sogar zu polygonen
Konfigurationen zusammen, was insbesondere dann statthat, wenn die
Ranke bandartig gestaltet wird, das Rankenornament mit dem Band-
verschlingungsornament sich verquickt. In solchem Falle verlaufen
die bandförmigen Hauptlinien nach einem neuen (polygonalen oder
kurvilinearen) Schema, während die feinen füllenden Ranken dazwischen
den vollen schönen Kreisschwung beibehalten.
2. Die Motive knüpfen entweder an die alten flachen Palmetten,
oder an das alte Akanthushalbblatt, oder endlich an die byzantinischen
Ableger dieses letzteren an. Der antinaturalistische Zug, der bereits
die Ranken wiederum in eine geometrisirende Richtung gebracht hat,
verräth sich an den Einzelmotiven durch die Reducirung oder Unter-
drückung der Einzelblätter, überhaupt durch eine ausgesprochene
Neigung zur symmetrischen Schematisirung und durch Aus-
schweifung der spitz zulaufenden Theile (z. B. Blattspitzen).
Neben solchen völlig geometrisch stilisirten Motiven (Dreiblatt) laufen
solche von mehr naturalisirendem Charakter, deren Modellirung unzwei-
deutig auf einen genetischen Zusammenhang mit dem plastischen
Akanthusblatt hinweist. Aber selbst in diesem Falle sind an der
Peripherie rund um das fein ausgezackte Detail glatte ungegliederte
Umrisslinien gezogen, die den gewissermaassen geometrischen Habitus
[303]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
nach aussen herstellen. — Charakteristisch ist ferner die überaus häufig
zu beobachtende Weise, zwei Halbblattmotive als Endigungen zweier
von verschiedenen Seiten zusammenlaufender Ranken zu einem ganzen
Motiv unter einem geschweiften Winkel zusammentreten zu lassen.
Inwiefern dies mit einem ganz bestimmten Grundgesetz der sarace-
nischen Flächenornamentik — dem unendlichen Rapport — zusammen-
hängt, wird weiter unten (S. 307) seine Erörterung finden.
3. Das Verhältniss zwischen Ranken- und Blüthenmotiven
gestaltet sich endgiltig dahin, dass die letzteren von den ersteren nicht
mehr bloss abzweigen, sich an die Ranken ansetzen, sondern dieselben
durchsetzen, unfreien Charakters mit den Ranken gleichsam verwachsen.
Stuckborde von der Moschee des Ibn Tulun zu Kairo.
An die Spitze unserer Denkmälerschau setzen wir die Stuckorna-
mente von der im Jahre 878 nach zweijähriger Baudauer vollendeten
Moschee des Ibn Tulun zu Kairo. Prisse d’Avennes 48) hat die-
selben vollständig publicirt; bloss die daselbst in der Mitte befindliche
breite Füllung No. 17 wird man von den Resten des 9. Jahrh. abziehen
und einer späteren Zeit (12.—13. Jahrh.) zuschreiben müssen. Jedes
einzelne der hienach verbleibenden 36 Bordürenfragmente verdiente
um der durchgängigen Beziehung zur historisch gewordenen Pflanzen-
ornamentik willen eine besondere Erörterung: die umfassende Aufgabe,
die wir uns hier gestellt haben, zwingt uns diesbezüglich uns auf das
allerknappste Maass zu beschränken.
Vor Allem begegnen uns die alten wohlbekannten Wellenranken-
schemen. Fig. 165 49) zeigt eine intermittirende Wellenranke mit
alternirenden dreispältigen Lotusblüthen und Palmetten, das verbindende
Rankenglied als Gabelranke (Fig. 134—136) charakterisirt. An Fig. 166 50)
[304]Die Arabeske.
ist das gleiche Schema bereichert um eine Halbpalmette (oder ein
Akanthushalbblatt), die mit ihrer Spitze unmittelbar in die Vollpalmette
übergeht, somit die Wellenranke unzweideutig durchsetzt. Die beiden
Gabelranken von Fig. 165 sind hier zu flankirenden, einrahmenden und
zugleich raumfüllenden Elementen geworden; man beachte auch, wie
dieselben für die fünfspältige Vollpalmette eine glatte äussere Um-
Stuckborde von der Moschee des Ibn Tulun zu Kairo.
risslinie ergeben, und in der gleichen Weise besorgen dies die
äusseren Blätter der dreispältigen Lotusblüthe gegenüber den vier Aus-
zackungen der rankendurchsetzenden Halbpalmetten.
Eine fortlaufende Wellenranke enthält Fig. 167 51). Von jeder
Wellenbewegung der Hauptranke zweigt ein Schössling ab, und zwar
zuerst in kreisförmigem, antikem Schwunge. Anstatt aber mit der Pal-
mette zu endigen, setzt sich das äusserste Blatt 52) dieser letzteren
Stuckborde von der Moschee des Ibn Tulun
zu Kairo.
a.
Uebersetzung von Fig. 167
in’s Griechische.
wiederum in einem Rankenstengel fort, der in entgegengesetzter Rich-
tung zur ursprünglichen Kreiseinrollung verläuft und sich noch einmal
gabelt. Zweierlei unterscheidet diese frühsaracenische Wellenranke auf
den ersten Blick von einer klassisch-antiken: 1. das Umschlagen des
[305]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
fortlaufenden Rankenschösslings in eine entgegengesetzte Richtung,
2. der Umstand, dass die durch das Volutenkelchblatt am unteren An-
satz deutlich charakterisirte Palmette nicht die freie Endigung des
Schösslings bildet, sondern denselben bloss durchsetzt. Wie aber
diese beiden, scheinbar grundsätzlichen Unterschiede bereits im alt-
griechischen Schema vorgebildet gewesen sind, beweist die in Fig. 167 a
gegebene Uebersetzung von Fig. 167 in’s Antike. Die Ranke läuft hier
nicht einheitlich fort, sondern theilt sich, und die Palmette ist blosse
Zwickelfüllung53). Die byzantinische Zwischenstufe finden wir in Fig. 160.
Noch auf zwei Punkte, die uns an Fig. 167 bedeutsam entgegen-
treten, muss die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Erstlich auf die ausge-
sprochene tropfenförmige Zwickelfüllung in den Winkeln, die durch
die Abzweigung eines Hauptschösslings von der Hauptranke entstehen.
Das Postulat der Zwickelfüllung, überaus mächtig in pharaonischer Zeit
(S. 62), ist in Egypten auch im Mittelalter in bevorzugter Anwendung
geblieben. Man vgl. hiefür namentlich die Beispiele aus koptischen
Miniaturen, die Stassoff54) gegeben hat: die weit ausladenden, ovalen
Knöpfe in den Rankenzwickeln wirken daselbst geradezu unschön und
anstössig. Das zweite, noch bemerkenswerthere Detail an Fig. 167 be-
steht in den kommaähnlichen Schlitzen, durch welche jede Palmette
oder vielmehr Halbpalmette zweigetheilt ist. Es drückt sich darin eine
Untertheilung des durchsetzenden Blüthenmotivs aus, die neben der
Gliederung der Blattperipherie in Zacken nebenherläuft. Inwiefern
dieses Detail für die Fortentwicklung bedeutsam gewesen ist, wird sich
sofort an einem geeigneteren Beispiele zeigen lassen.
An Fig. 16855) laufen die Ranken zu spitzovalen Konfigurationen
zusammen. In das Innere der Spitzovale werden von unten zwei
Ranken entsendet, die sich in zwei Halbpalmetten fortsetzen. Diese
Halbpalmetten treten als Fächerhälften zu einer gesprengten Palmette
zusammen, die aber nocht nicht freie Endigung ist, sondern eine blosse
Durchsetzung der Ranken, die von den Spitzenden der beiden Fächer-
hälften sich fortsetzend umschlagen und nach abermaligem Zusammen-
schlusse erst in ein Dreiblatt auslaufen, das nun eine definitive freie
Endigung bildet. Auch für diese Art der Rankenführung fiele es nicht
schwer, das nackte klassische Schema hinzuzuzeichnen. Wir sind aber
Riegl, Stilfragen. 20
[306]Die Arabeske.
der Mühe dies zu thun überhoben durch den überraschenden Umstand,
dass uns eine solche Uebersetzung in’s Griechische an einer,
später zu erörternden, echt saracenischen Holzschnitzerei des
XII. Jahrhunderts vorliegt (Fig. 168a). Es ist daher auch gewiss
nicht zufällig und am wenigsten als Entlehnung aus saracenischem
Kunstbesitz zu erklären, wenn wir genau dem gleichen Motiv — eine
gesprengte Palmette, deren Fächerhälften oben rankenartig sich fort-
setzen, gegen das Innere umschlagen und endlich in ein gemeinsames
Dreiblatt frei auslaufen — sehr häufig auch an byzantinischen Kunst-
werken begegnen56). Was das Gesammtmotiv in Fig. 168 so fremdartig
„orientalisch“ erscheinen lässt, ist weder die Rankenführung noch die
Stuckborde von der
Moschee des Ibn Tulun
zu Kairo.
Stilisirung der Blüthenmotive, sondern vor Allem
das Aufgehen dieser letzteren in der Ranke: auf
den ersten Blick vermag Niemand zu erkennen,
wo die Ranke aufhört und die
Blüthe beginnt und umgekehrt,
wogegen in der klassisch-anti-
ken Ornamentik Ranke und fül-
lende Palmettenfächer ursprüng-
lich deutlich und klar geschie-
den sind, und selbst noch in der
byzantinischen Ornamentik die
a.
unfreien Akanthushalbblätter sich noch leidlich von
der Ranke scheiden lassen. Die Saracenen haben
eben konsequent und entschieden fortgebildet, was
sie im Keime und zum Theil schon im Aufsprossen
von den antiken Kulturvölkern übernommen haben:
auch unter diesem Hinblick erscheint der Unterschied zwischen
spätantiker und saracenischer Ornamentik bloss als ein
gradueller, nicht als ein habitueller.
Betrachten wir noch die ausgezackten Halbpalmetten, die sich
innerhalb des Spitzovals zu einer gesprengten Palmette ergänzen. Die
ausladenden Zacken deuten wohl die einzelnen Blätter des Fächers an,
aber die Blattrippen selbst sind nicht kenntlich gemacht; die glatte
äussere Umrisslinie besorgen die das Spitzoval begrenzenden Ranken.
Ferner zeigen die genannten Halbpalmetten wiederum die schon an
[307]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Fig. 167 bemerkten Komma - Schlitze, die wiederum jede Palmette
etwa in zwei Theile theilen. Es drückt sich darin offenbar die Ten-
denz zur Zweitheilung, Gabelung der ganzen Halbpalmette aus,
deren Endresultat in der arabesken Gabelranke (Fig. 189a) vorliegt.
Die beiden Rankenbänder, die für das eben beschriebene Füllungs-
motiv den spitzovalen Rahmen bilden, theilen sich über dem Scheitel
wieder, um abermals ein Spitzoval zu bilden, wovon in Fig. 168 bloss
der untere Anfang sichtbar ist. In Folge des Zusammenlaufens der
beiden Rankenbänder zwischen den beiden Spitzovalen mussten im Fries-
streifen naturgemäss rechts und links segmentartige Zwickel entstehen.
Man betrachte die — beiderseits im Gegensinne identische — Fül-
lung dieser Zwickel. Bei näherem Zusehen ergiebt sich dieselbe als
nichts Anderes, als die Hälfte des Füllungsmotivs, das wir im Spitz-
oval angetroffen haben. Besser als es mit vielen Worten an den
Einzelmotiven demonstrirt werden kann, drückt sich darin der schema-
tische, antinaturalistische Zug aus, der schon diese werdende sarace-
nische Rankenornamentik charakterisirt. Der Künstler schaltet mit
dem ursprünglich vegetabilischen, also bestimmten lebendigen Natur-
gesetzen folgenden Motiv, wie mit einem leblosen, geometrischen: er
theilt es, versetzt es ganz nach Belieben, je nach dem Be-
dürfniss des zu füllenden geometrisch-symmetrisch abgezirkelten Raumes.
Andererseits vergleiche man die seitlichen Segmentfüllungen von
Fig. 168 mit Fig. 167. Die ersteren erscheinen hienach als nichts An-
deres, als blosse Ausschnitte aus einer fortlaufenden Wellenranke, als
ein blosser Schössling dieser letzteren. Der einzige Unterschied besteht
darin, dass in Fig. 168 entsprechend dem grösseren auszufüllenden
Segmentraume die Palmette mehr in die Länge gezogen und in mehr
Zacken gebrochen ist. Ziehen wir hieraus wiederum den Rückschluss
auf die Füllung innerhalb des Spitzovals in Fig. 168. Dieselbe ist hie-
nach auch nichts anderes, als die Verdoppelung jenes Schösslings der
fortlaufenden Wellenranke Fig. 16757). Diese Wahrnehmung ist doch ge-
wiss nur geeignet den schematischen Eindruck zu verstärken, den wir
soeben von dieser Art Rankenornamentik erhalten und hervorgehoben
haben. Es drückt sich darin zugleich ein ganz wesentliches Grund-
gesetz der Arabeskenbildung und der saracenischen Flächen-
ornamentik überhaupt aus. Ein — wenn auch zusammengesetztes —
20*
[308]Die Arabeske.
Element liegt in der Regel einer ganzen Gesammtkonception zu Grunde:
sei es durch Halbirung, sei es durch Verdoppelung, wird ein fortwähren-
der Rapport hergestellt. In geometrischer Ausführung war dieses Gesetz
zwar längst bekannt und geübt: Quadrirung, Rautennetz sind die älte-
sten Vorstufen desselben. Die Errungenschaft der Saracenen lag
darin, dieses Gesetz des unendlichen Rapports zum leitenden
in ihrer Pflanzenrankenornamentik gemacht zu haben.
Dass wir in diesem Falle von einer ornament-geschichtlichen „Er-
rungenschaft“ sprechen dürfen, wird sofort gerechtfertigt erscheinen,
wenn man die betreffenden Ornamente des 9. Jahrhunderts noch einmal
aufmerksam betrachtet. Dass die seitlichen Füllungen in Fig. 168 nichts
Anderes sind als die Hälften der mittleren Spitzoval-Füllung, springt
keineswegs so sehr in die Augen, und wird erst bei näherer Unter-
suchung wahrgenommen. Noch weniger drängt sich dem Auge der
Zusammenhang auf, der zwischen der Spitzoval-Füllung von Fig. 168
und der Wellenranke Fig. 167 obwaltet. Das ist eben das Charakte-
ristische am Arabeskenornament, dass dasselbe trotz geringer Ab-
wechslung in den Motiven und fortwährender Wiederholung
der Einzelkonfigurationon dennoch niemals langweilig wird.
Das Gesammtmuster erscheint unendlich reicher als es ist, ja für den
naiven abendländischen Beschauer erscheint es oft so verwirrt und
komplicirt, dass man daran verzweifeln möchte, überhaupt den Ariadne-
faden dafür zu finden, wenngleich dies bei einiger Kenntniss der
Grundgesetze der Arabeskenbildung jederzeit mit geringer Mühe zu be-
werkstelligen ist.
Einmal bei diesem Punkte angelangt, wollen wir denselben nach
der historischen Seite noch etwas weiter erörtern, wiewohl es eine
Abschweifung von der geraden Linie der Darstellung unseres Gegen-
standes bedeutet. Wann ist der unendliche Rapport in der Flächenorna-
mentik aufgekommen? Lässt sich derselbe auch in vorsaracenische Zeiten
zurück nachweisen? Wie man sieht, bezwecken diese Fragen die Fest-
stellung des etwaigen schöpferischen Antheils der Saracenen an dieser
Art von Flächendekoration. Das Thema ist begreiflichermaassen ein
so weitgespanntes, das Material ein so reichhaltiges, dass eine er-
schöpfende, gewissen Erfolg verheissende Bearbeitung desselben ein
ganzes Buch füllen würde. Hier müssen wir uns auf die Markirung der
Hauptpunkte der Entwicklung beschränken.
Unendlichen Rapport ergiebt schon das Schachbrett- und das Rauten-
[309]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
muster; in den geometrischen Stilen muss derselbe also schon früh-
zeitig Anwendung gefunden haben. Damit kommen wir aber über die
primitive Streifendekoration kaum wesentlich hinaus. Unser Interesse
an dem Schema beginnt erst recht von dem Augenblicke an, da man
darin über die Verwendung bloss geometrischer Einzelmotive hinaus-
geschritten ist. Dies ist — soviel wir sehen, zuerst — in den Decken-
dekorationen des neuen thebanischen Reiches von Egypten der Fall
gewesen. Das Gerippe derselben bilden zwar Spiralenverschlingungen,
aber die Füllungen dazwischen sind vielfach animalischer oder vege-
tabilischer Natur. An den Reproduktionen von Prisse d’Avennes58)
lässt sich nun öfter nachweisen, dass z. B. eine füllende Palmette am
Rande des Musters, wo dasselbe an die Bordüre stösst, bloss zur Hälfte
dargestellt ist. Es giebt sich damit ziemlich unzweideutig der Gedanke
kund, dass man sich jenseits dieses Durchschnitts die halbe Palmette
zu einer vollen ergänzt, das Muster somit im unendlichen Rapport weiter-
laufend zu denken hat. Doch bildete diese Art, das Muster an den
Rändern, Säumen abzusetzen, wenn man nach Prisse’s Abbildungen
schliessen darf, keineswegs die Regel59); eine endgiltige Entscheidung
wäre wohl übrigens nur vor den Originalien zu treffen.
Dass in der griechischen Dekorationskunst der unendliche Rapport
keine entscheidende Rolle spielen konnte60), wird Jedermann klar sein,
nach demjenigen was wir im 3. Kapitel dieses Buches über Ziele und
Tendenzen der griechischen Pflanzenornamentik kennen gelernt haben.
So lange die griechische Kunst in ihrer langsam aber stetig zunehmen-
den naturalisirenden Tendenz einen aufsteigenden Gang genommen
hat, war darin für ein unendliches Pflanzenrankenmuster kein Raum.
Erst von hellenistischer Zeit ab, als der naturalisirende Process seinen
Höhepunkt erreicht hatte und die beginnende Reaction in einer vorerst
leisen, dann stetig anwachsenden Neigung zum Schematisiren der nicht-
geometrischen Ziermotive sich zu regen begann, dürfen wir überhaupt
nach einem unendlichen Muster von nichtgeometrischer Beschaffenheit
in der antiken Kunst Umschau halten.
[310]Die Arabeske.
Pompeji, das unschätzbare, hat uns auch diesbezüglich unver-
ächtliche Aufschlüsse geliefert. Trotzdem die pompejanische Dekoration
als das hohe Lied der freien Rankenornamentik und der figürlichen
Streumuster bezeichnet werden darf, haben sich daneben doch auch
Beispiele von geometrisirender Wanddekoration nach dem Schema des
unendlichen Rapports gefunden. Erstlich einmal das nackte Rauten-
muster61): wobei bloss die bunte Färbung, in der die einzelnen Rauten-
felder prangen, den wechselnden Schmuck hervorbringt. Dann eine
reicher behandelte Rautenmusterung, wo die grösseren Rautenfelder
Mosaik-Füllung aus dem Isistempel zu Pompeji.
nach abwechselndem Schema durch kleinere Rauten verschiedener
Färbung untermustert erscheinen62). Auch hier ist die Färbung allein
das schmuckbereitende Element. In beiden Fällen aber begegnen wir
an den Rändern Dreiecken = halben Rauten, wodurch sich der unend-
liche Rapport unzweideutig kundgiebt.
Bei solch einfachsten Mustern ist man aber in Pompeji nicht stehen
geblieben. Wir begegnen daselbst mehrfachen höchst bemerkenswerthen
Versuchen (Fig. 169)63), eine Fläche in Theilkompartimente zu zerlegen,
[311]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
die zwar sämmtlich von geometrischer Grundform, aber untereinander
nicht gleich sind, sondern verschiedene Konfigurationen darstellen:
Dreiecke, Quadrate, Rauten, Sechsecke, deren je mehrere zusammen
sich zu einer grösseren Konfiguration höherer Ordnung (Zwölfecken,
Sternen) zusammenfassen lassen. Es sind dies die direkten und
nächstverwandten Vorläufer der saracenischen Polygonal-
ornamentik mittels eckig gebrochener Bänder. Nur wollte sich der
klassisch-antike Kunstsinn mit bloss geometrischen Konfigurationen
nicht gern begnügen: wir sehen daher in die einzelnen Sechsecke u. s. w.
in Fig. 169 kleine ornamentale Motive — in diesem Falle allerdings
von sehr einfacher, fast geometrischer Grundform — eingesetzt. Und
selbst diese haben schon genügt, um den unendlichen Rapport an den
Rändern zu stören, zu trüben: die besagten Füllmotive waren eben
nicht so absolut geometrischer Natur, oder — was dasselbe ist — sie
waren nicht so symmetrisch komponirt, um sich nach Bedarf einfach
halbiren zu lassen. Und damit haben wir auch den Hauptgrund be-
rührt, warum der unendliche Rapport bei den Römern niemals zu einer
so maassgebenden Rolle gelangen konnte wie später im Mittelalter:
der Römer wollte sich nicht mit bedeutungslosen geometrischen Füllseln
begnügen, er wollte das Figürliche nicht missen.
Der Belege für das eben Gesagte lassen sich noch mehrere auf-
zählen. Haben wir es in Fig. 169 an den Rändern immerhin noch mit
leidlich für sich abgeschlossenen geometrischen Kompartimenten zu
thun gehabt, so sind in einem anderen Falle64) die das Rautennetz
bildenden Spitzovale an den Rändern etwa in Dreiviertellänge abge-
schnitten, nur damit die schwebenden Eroten und Bacchantinnen und
die graciösen Blumenzweige innerhalb der von je vier Spitzovalen ein-
geschlossenen sphärisch-quadraten Kompartimente vollständig zur Dar-
stellung gebracht werden konnten. Man opferte lieber den unendlichen
Rapport und die Reinheit des ornamentalen Grundplans, als dass man
den Gebrauch der dekorativen Figuren eingeschränkt hätte.
Einen überaus wichtigen Schritt zur Vervollkommnung dieser
reicher variirten Flächendekoration nach geometrischem Grundschema
bedeuten jene Deckenverzierungen (Fig. 170)65), an denen kreisförmige
und sphärisch-polygonale Kompartimente mit einander abwechseln,
und durch verschlungene Bänder unter einander verbunden erscheinen.
Bedarf es da noch eines weiteren Beweises für unsere Annahme, dass
[312]Die Arabeske.
die polygonalen Bandverschlingungen der saracenischen Kunst un-
mittelbar auf spätantike Anfänge zurückgehen? — dass sie nichts
Anderes sind als die äussersten und konsequenten Ausbildungen einer
geometrisirenden Tendenz in der Flächendekoration, deren erste leise
und schüchterne Regungen sich bis in die vorgeschrittenere hellenisti-
Pompejanische Deckendekoration in bemaltem Stuck.
sche Zeit zurückverfolgen lassen und deren fortgesetzte Verfolgung
durch so viel Mosaikfussböden von Trier bis Afrika monumental er-
wiesen vorliegt?
In Fig. 170 sind die sphärischen Kompartimente abermals durch-
weg mit figürlichen Darstellungen gefüllt, was wiederum die erörterten
[313]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Schwierigkeiten an den Rändern zur Folge hatte. Die pompejanische
Kunst hatte es aber auch zu Wege gebracht, einen Ausgleich zu finden
zwischen dem geometrischen Grundschema und der Neigung für eine
nichtgeometrische Füllung: indem sie entsprechend stilisirte vege-
tabilische Motive dazu verwendet hat, um damit geometri-
sche Kompartimente zu bilden. Der Beweis liegt vor auf einer
mosaicirten Säule im Neapeler Museum (Fig. 171)66): das Rautennetz
ist durch Blüthenkelche hergestellt, die auf gerade Diagonallinien auf-
gereiht sind; an den Durchkreuzungsstellen sitzen Rosetten mit vier
kreuzweise davon ausgehenden dreispältigen Blüthenprofilen, als Fül-
lungen dienen gleichfalls Rosetten, wofür
auch der Grund klar zu Tage liegt: die
Rosette zeigt nämlich die symmetrischeste,
und daher geometrischeste Projektion, in
der sich überhaupt Blumen darstellen
lassen.
Die Wichtigkeit, die das eben erörterte
pompejanische Flächenmuster innerhalb der
Gesammtgeschichte der Ornamentik bean-
spruchen darf, kann nicht genug betont
werden. Es liegt uns hiemit ein vollkom-
mener unendlicher Rapport vor, bestritten
durch vegetabilische Motive in der ent-
sprechenden Auswahl und Stilisirung. Zum
ersten Male tritt uns hier dieses Schema
entgegen, das späterhin in der saraceni-
Mosaizirter Säulenschaft
aus Pompeji.
schen Dekoration, insbesondere in der Ornamentik von Teppichen
und Fliesen von so übermächtiger Bedeutsamkeit geworden ist: halbe
Blumenprofile an den Rändern, die sich in der Phantasie zu ganzen
ergänzen und somit das Muster in’s Unendliche fortspinnen lassen.
Wie überraschend dieses Beispiel uns innerhalb der pompejanischen Orna-
mentik entgegentritt, wird erst recht klar, wenn man sich vergegen-
wärtigt, wie peinlich die Römer noch in viel späterer Zeit darauf ge-
sehen haben, vegetabilische Ornamente in der Komposition als untheil-
bares Ganzes zur Anschauung zu bringen. Als solches typisches Beispiel
für römische Flächendekoration mittels vegetabilischer Ornamentmotive
diene Fig. 17267).
[314]Die Arabeske.
Noch eines Punktes muss hier Erwähnung geschehen, da ein still-
schweigendes Darüberhinweggehen Missdeutung erfahren könnte. Man
hat nämlich auch das Schema des unendlichen Rapports in dem ausge-
bildeten Charakter wie es uns in Fig. 171 entgegentritt, sowie alle
anderen ornamentalen Systeme aus technischen Prämissen abzuleiten
gesucht, und namentlich mit dem Plattenbelag identificirt. Diese
Hypothese beruht auf der Wahrnehmung, dass der unendliche Rapport
sich in der Regel auf polygone, vielfach sogar auf quadrate Grund-
formen zurückführen lässt, was für die Technik des Fliesenmosaiks in
Skulpirte Füllung von einem römischen Gebälkstück.
der That den Vortheil mit sich brachte, dass man eine Unzahl von
Fliesen mit dem gleichen Muster brennen konnte, die einfach neben
einander gelegt, ein vollkommenes und verhältnissmässig reiches Muster
ergaben. Aber auch in diesem Falle hat man den kausalen Sachver-
halt umgekehrt. Dass die Fliesenfabrikation oder der „Plattenbelag“
sich mit Eifer dieses dekorativen Systems bemächtigte, das sich der
genannten Technik in der That ganz besonders empfahl, ist ja gewiss
nur natürlich. Dass aber der unendliche Rapport zuerst an Fliesen
Anwendung gefunden haben soll, ist schlechterdings unbewiesen. Kein
Beispiel aus römischer Zeit lässt sich dafür anführen: was wir im Vor-
[315]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
stehenden an einschlägigen pompejanischen Denkmälern kennen gelernt
haben, ist durchweg entweder in bemaltem Stuck, oder in Wand-
malerei, oder in Stiftmosaik ausgeführt, in keinem einzigen Falle mittels
grösserer Platten. Dagegen hat man in Ländern, in denen der ge-
brannte Thon die Stelle des — fehlenden — Steins vertreten musste,
schon sehr frühzeitig bemalte Fliesen gebraucht, wie in Chaldäa und
hienach in Assyrien. Aber diese emaillirten quadratischen Fliesen
aus dem alten Mesopotamien zeigen keineswegs Ornamente nach un-
endlichem Rapport zusammengestellt, sondern Darstellungen gegen-
ständlichen Inhalts wie diejenigen aus Khorsabad (bei Place, Ninive),
oder Bogenfriese mit aufgereihten vegetabilischen Ornamenten, wie in
unserer Fig. 33, S. 88.
Wir werden daher auch für Erscheinungen gleich Fig. 171 nicht
technische, sondern künstlerische Momente als die zeugenden und
bildenden anzunehmen haben. Und diese dürften im letzten Grunde
keine anderen gewesen sein, als diejenigen die zur allmählichen Ent-
naturalisirung des Akanthus und der Ranke geführt haben. In der
That laufen von nun an beide Erscheinungen parallel. Wo wir den
ersten ausgesprochenen Umbildungen des Akanthus begegnen — im
Ostrom des 5. und 6. Jahrhunderts — dort tritt uns auch die Wand-
verzierung nach dem Schema des unendlichen Rapports in häufigerer
Anwendung entgegen, — Beides etwa auf dem halben Wege der Ent-
wicklung, die erst in der saracenischen Kunst an das äusserste Ziel
gelangt ist. Fig. 144 enthält noch eine völlig in antikem Geiste kon-
cipirte, wenn auch im Einzelnen bereits stark veränderte Ranken-
ornamentik. An Fig. 145 vollzieht sich der Uebergang in ein geometri-
sches Grundschema, aber der unendliche Rapport ist doch noch recht
mangelhaft zum Ausdruck gebracht: am deutlichsten in der Halbpal-
mette unten am Rande, die man in der Phantasie zu dem vollen Fächer
einer gesprengten Palmette zu ergänzen hat. Ein vollständiges Beispiel
von unendlichem Rapport giebt aber Salzenberg a. a. O. auf Taf. XXV. 2:
in der Anordnung und selbst in den Motiven herrscht darin mehrfache
Verwandtschaft mit dem pompejanischen Beispiel Fig. 171, weshalb ich
davon keine Abbildung gebe. Einschlägiges Material ist übrigens
an Denkmälern der oströmischen Kunst so zahlreich erhalten, dass es
eine eigene Bearbeitung lohnen würde. Ich gebe daher in Fig. 173
bloss ein besonders charakteristisches Beispiel aus Betursa (Syrien)68).
[316]Die Arabeske.
Die Bänder, die hier theils vierpass-, theils bretzenförmige Ver-
schlingungen bilden, sind — was dem oberflächlichem Beschauer voll-
ständig entgeht — jedes nach Art eines liegenden Kreuzes hingelegt,
worin sich bereits die für die Saracenen so charakteristische Tendenz
nach Verräthselung der Schlingbewegungen unzweideutig ankündigt.
Als Füllung dient eine Rosette, die aus vier byzantinischen Akanthus-
Dreiblättern zusammengesetzt ist. An den Rändern bezeichnen halbe
Rosetten in halben Vierpässen den unendlichen Rapport, in den oberen
Ecken sind dieselben folgerichtig vollends auf ein Viertel reducirt.
Skulpirte Füllung aus Betursa (Syrien).
Wir kehren nunmehr zu unserer Darstellung der Rankenorna-
mentik auf frühsaracenischen Denkmälern zurück. Fig. 17469) zeigt die
geschnitzte Vorderwand eines Elfenbeinkästchens, dass sich gegen-
wärtig im Musée des arts decoratifs zu Paris befindet. Eine Inschrift
am Deckel bezieht sich auf das Jahr 965 n. Chr., also ungefähr ein
Jahrhundert nach der Entstehung der Stuckornamente der Moschee des
Ibn Tulun zu Kairo. Beide Hälften — rechts und links vom Schloss-
beschlag — entsprechen einander in völliger Symmetrie, so dass wir
bloss eine Hälfte zu erörtern brauchen. In vielen Details erweist
sich Fig. 174 eher zurückgeblieben in der Entwicklung gegenüber jenen
älteren Beispielen. Die spiraligen Abzweigungen, die Stiele, an denen
die grösseren Blüthen sitzen, und anderseits die geringe Rolle, die den
kleinen unfreien Halbpalmetten zugewiesen ist, lassen den engen Zu-
[317]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
sammenhang mit dem antiken Rankenornament noch recht greifbar
deutlich erscheinen. Das Gleiche gilt von der ausgesprochen vegeta-
bilischen Modellirung, der feinen, kleinlichen Fiederung sämmtlicher
Blattmotive: dass dies auf eine stilistische Veränderung mit dem
Akanthusblatt zurückgeht, wurde schon auf S. 299 auseinandergesetzt,
und erscheint vollends bewiesen durch Fig. 175, wo der Akanthus zum
Theil noch mit den rund herausgebohrten Pfeifen zwichen den ein-
zelnen Zacken versehen ist70). Auch sind die fein ausgezackten Konturen
der Blätter ohne umschreibende glatte Aussenlinie geblieben. Dennoch
wird schon beim ersten Anblick Niemand an der saracenischen Her-
kunft dieses Kästchens zweifeln. Es liegt dies vor Allem an dem
Vorderwand eines saracenischen Elfenbeinkästchens, datirt vom Jahre 965 n. Ch.
eigenthümlichen Polygon, welches die Hauptranke in der ganzen Höhe
der Wand bildet, ferner in gewissen Durchschneidungen der Ranken,
endlich — wie es wenigstens zunächst den Anschein hat — in der Be-
handlung einiger Blüthenmotive.
Es ist eben charakteristisch für diesen ganzen Umwandlungs-
process der naturalistischen antiken Ranke zur geometrisirend-stilisirten
Arabeske, dass derselbe an verschiedenen Punkten gleichzeitig ansetzt
und in der Fortbildung keineswegs gleichmässig verfährt: hier wird
die Schematisirung der Motive mehr gefördert, dort diejenige der
Rankenführung, wie es eben auf einem so weit ausgedehnten Gebiete
[318]Die Arabeske.
zwischen Pyrenäen und Hindukusch nicht anders geschehen konnte.
Gewiss wird man beim weiteren Verfolgen der Geschichte der sarace-
nischen Kunst dazu gelangen, bestimmte lokale Gruppen genau zu
unterscheiden und zu charakterisiren. Heute handelt es sich noch
darum, das Einheitliche in dem ganzen Entwicklungsgange aufzuzeigen,
das seine — einzig mögliche — Wurzel in der gemeinsamen spätantik-
byzantinischen Kunst hatte, d. h. in jener Kunst, die in allen diesen
über drei Welttheile sich erstreckenden Ländern beim Aufkommen
des Islam die herrschende gewesen ist.
Erörtern wir nun kurz die vorhin fixirten, specifisch-saracenischen
Motive an Fig. 174. Es ist dies erstlich die Einrollung der Haupt-
ranke zu einem Polygon mit theilweise sphärischen Seiten. Dasselbe
dient als Rahmen einer Konfiguration von zwei einander doppelt über-
schneidenden Rankenzweigen. Besonders charakteristisch ist dabei
die untere Durchschneidung, die in der Weise geschehen ist, dass die
daran ansetzenden Halbblätter eine Art Vollblatt bilden. Die Blüthen-
motive sind aus akanthisirenden Blättern gebildet und zeigen zweierlei
Typen: in einander geschachtelte zwei Kelche mit krönendem, palmetten-
fächerartigem Blatt, oder (innerhalb des Kielbogens) seitwärts ge-
krümmte lange Fächer über einem Kelch aus kreisförmig eingerollten
Voluten. Die Ableitung dieser Blüthenformen wird uns weiter unten
des Besonderen beschäftigen.
Vorerst wollen wir aber noch ein zweites Elfenbeinkästchen
(Fig. 175) in Betracht ziehen, woran so nahe Beziehungen zu dem
datirten Stück Fig. 174 zu beobachten sind, dass wir beiden wohl un-
gefähr die gleiche Zeitstellung einzuräumen gezwungen sind. Die
deutlich antikisirende Bildung des Akanthus und das Fehlen des Poly-
gons von Fig. 174 scheinen zwar geeignet, uns in Fig. 175 eher eine
frühere Entwicklungsstufe erblicken zu lassen; das Gleiche gilt von den
Spiralranken, die aus den Halbpalmetten am oberen Rande der Vorder-
wand gleichsam zwickelfüllend hervorbrechen. Aber anderseits fehlt
es auch wieder nicht an Punkten, welche den „saracenischen“ Cha-
rakter von Fig. 175 recht deutlich machen. So die vielfachen Ver-
schlingungen (namentlich am Deckel), die Durchschneidungen von
Blättern und Ranken und die Stilisirung der einzelnen Blattmotive.
In den Gabelungen rechts und links vom Schlossbeschlag auf der
Vorderwand erscheinen ganze Akanthusblätter eingesetzt, mit einer
Einziehung in der Mitte: es ist dies die leibhaftige saracenische Gabel-
ranke (Fig. 138, 139 a, b). Hinsichtlich der betonten Einziehung in
[319]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
der Mitte dieses Motivs verweise ich auch auf die entwicklungsge-
schichtlich damit zusammenhängenden Schlitze, die uns an den Pal-
metten Fig. 167, 168 (S. 307) entgegengetreten sind, und die nunmehr
ihre Erklärung finden. Die Ranke, an der sich die eben besprochene
Gabelung vorfindet, erscheint unmittelbar unterhalb dieser Gabelung
von einem grossen Akanthusblatt überschnitten. Dasselbe ist durch
die — allerdings akanthisirend gebildete — Volute am Ansatz als Halb-
palmette charakterisirt, wie es denn überhaupt für diese Stufe der
Spanisch-saracenisches Elfenbeinkästchen.
saracenischen Ornamentik als geradezu charakteristisch bezeichnet
werden darf, dass die allgemeinen Umrisse von den zum Geometrischen
neigenden flachen Palmettentypen, die Einzelbehandlung dagegen meist
vom Akanthus entlehnt ist. Auch jene eben erwähnte akanthisirende
Halbpalmette nun nähert sich sehr dem Habitus der saracenischen
Gabelranke, die ja eben aus diesen zwei Wurzeln herkommt: der Ranken-
gabelung mit akanthisirender Zwickelfüllung und der Halbpalmette.
Dass übrigens diese beiden Wurzeln im letzten Grunde auch eins und
dasselbe sind, ist uns aus der Entwicklungsgeschichte der antiken
Pflanzenrankenornamentik längst klar geworden.
Noch auf ein Detail an Fig. 175 sei aufmerksam gemacht: die
[320]Die Arabeske.
Ranke, welche in der zuletzt erörterten Halbpalmette endigt, entsendet
kurz vorher einen unfreien Halbblattfächer, der die Hauptranke durch-
schneidet und mit einem gleichartigen Gegenüber in symmetrischer
Paarung zusammentritt, so wie wir es zu wiederholten Malen an Halb-
palmetten beobachtet haben, die zu gesprengten Palmetten zusammen-
traten. Dieses echt „arabeske“ Motiv tritt gleich den früher erwähnten
in der Gesammtwirkung nur deshalb zurück, weil die akanthisirende
Bildung der Details den Eindruck vornehmlich beherrscht.
Da die Inschrift des Kästchens (Fig. 175) den Namen eines spani-
schen Khalifen nennt, so erscheint die Herkunft desselben aus spanisch-
maurischem Kunstgebiet ziemlich sichergestellt. Da
ist es nun gewiss lehrreich zu sehen, dass die christ-
lich-spanische Kunst sich der gleichen Stilisirung des
Akanthus bediente Den Nachweis hiefür möge Fig. 176
bieten. Wir sehen da einen gerade aufgesprossten
Stamm, von dem rechts und links in symmetrischer
Paarung je zwei Akanthushalbblätter abzweigen. Die
Blätter zunächst dem Stamme sind deutlich voluten-
artig eingerollt, aber ebenso wie die übrigen Blatt-
theile fein gefiedert. Die Bekrönung bildet eine fünf-
spaltige Palmette, die von den zwei Halbfächern einer
gesprengten Palmette eingerahmt erscheint, Die akan-
thisirende Bedeutung ist auch hier durch die tiefen
Einziehungen zwischen den einzelnen Blattgliedern
sichergestellt, und die Konturen durchweg in der gleichen feinen Weise
gefiedert, wie in Fig. 174 und 175, und ausserdem von einer glatten
Umrisslinie umzogen, worin wir mindestens kein unsaracenisches Mo-
ment zu erkennen vermögen. Endlich zeigt auch der fünfblättrige
Fächer, aus dem der Stamm emporwächst, die erörterte akanthisirende
Behandlung.
Fig. 176 ist entlehnt aus dem Codex Vigilanus im Escurial, und
zwar von einem Blatte mit bildlichen Darstellungen, deren Beischriften
im paläographischen Charakter noch stark kursive Elemente aufweisen
und daher nicht unter das 9. Jahrh. herabgerückt werden können, und
somit gewiss jünger sind, als die Kästchen Fig. 174 und 175. Was aber
der Fig. 176 besondere Wichtigkeit verleiht, ist die Beischrift „arbor“,
die bei ihren Wiederholungen mehrfach wiederkehrt. Es ist also sozu-
sagen der „Idealbaum“, den sich die spanischen Miniaturisten der
Karolingischen Zeit unter solchen mit Akanthusblättern besetzten Ge-
[321]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
bilden vorgestellt haben. Muss da nicht die Bedeutung dieser Gebilde
bei ihren Schülern, den Saracenen, wenigstens ursprünglich, noth-
wendigermaassen die gleiche gewesen sein?
An Fig. 174 konnten wir wahrnehmen, dass das Akanthusblatt
darin nicht bloss zur Stilisirung des Halbpalmettenfächers — also in
seiner traditionellen historischen Funktion — verwendet erscheint,
sondern auch zur Gliederung der Voluten, die als Halbkelch am An-
satze einer jeden solchen Akanthus-Halbpalmette — gleichfalls einem
traditionell-historischen Schema zufolge — angebracht wurden, und
endlich zur Zusammensetzung der grösseren Blüthenmotive selbst,
in welche die Ranken frei endigen. Diese umfassende Anwendung des
Akanthusblatts müsste uns in einer Kunst, deren Ziele auf das Abstrakte,
Symmetrisch-Schematische gerichtet waren, Wunder nehmen, wenn sie
in diese Kunst neu aufgenommen wäre. Sie ist aber nicht minder ein
überkommenes Erbstück aus der späten Antike. Hier ist die Stelle,
um auf die Rolle, die der Akanthus als vegetabilisches Einzelmotiv in
der spät-antiken und früh-mittelalterlichen Kunst gespielt hat, näher ein-
zugehen: erstlich um gewisse typische Formen der saracenischen Kunst
zu erklären, zweitens um der Frage willen, wohin denn das weitaus
wichtigste Ornamentmotiv der Antike — eben der Akanthus — im
mittelalterlichen Orient gekommen ist? — eine Frage, die man sich
bisher noch gar nicht vorgelegt zu haben scheint, da man eben unter
dem lähmendem Drucke der allverbreiteten Meinung stand, dass für
die Erscheinungen auf dem Gebiete der Ornamentik das Kausalitäts-
gesetz keineswegs unbedingt geltend gemacht werden dürfte.
Der Ausgangspunkt liegt auch hiefür wieder in der ausgebildeten
hellenistischen Kunst. Fig. 177 zeigt die Reliefverzierung einer steinernen
cylinderförmigen Ara aus Pompeji71). Das Ornament trägt alle charak-
teristischen Züge der hellenistischen Dekorationskunst. Die mit einer
Schleife umwundenen Embleme des Herkules repräsentiren die unver-
meidliche Götter- und Heroensage, aber in spielender dekorativer Be-
handlung, trophäenartiger Zusammenstellung; dahinter zwei gekreuzte
Zweige, die nach abwärts divergiren und mit den von beiden Seiten ent-
gegenkommenden Zweigen unten zu Festons verknüpft werden. Wir ahnen
zwar den kreisförmigen Schwung der ornamentalen Ranke, sehen aber
nur knorrige blätterbesetzte Zweige. Soweit athmet alles Naturalismus.
Wenn wir aber dasjenige, womit die Zweige belaubt sind, in’s Auge
Riegl, Stilfragen. 21
[322]Die Arabeske.
fassen, so gerathen wir in Verlegenheit. Zwar, dass es Blätter sind,
ist bis auf eine geringe Anzahl von knospenartigen Endigungen völlig
klar; welcher botanischen Species gehören aber dieselben an? Es ist
eben nicht eine bestimmte südliche Blattflora, die uns da entgegentritt,
sondern ein rein ornamentales Blattwerk. Der Charakter, den der
Naturalismus der hellenistischen Zeit besessen hat, lässt sich kaum an
einem anderen Beispiele so treffend nachweisen, wie an Fig. 176. Es
ist das Akanthusornament, das hier dazu benutzt ist, um ein Blattwerk
von rein ornamentaler Herkunft und Daseinsberechtigung zu schaffen,
— gleichwohl aber ein Blattwerk, das den Beschauer nicht einen Augen-
blick darüber im Zweifel lässt, dass eben ein solches damit gemeint
Reliefverzierung eines Steincylinders, aus Pompeji.
ist. Während wir z. B. angesichts der alten strengen Palmette uns nicht
bloss fragen, auf welche Blumenspecies sie wohl zurückgehen möchte,
sondern vor Allem, ob überhaupt eine Blume dahinter zu suchen ist,
fällt an dem Blattwerk in Fig. 176 eine solche Frage hinweg. Was in
diesem Falle die Intention des Künstlers gewesen ist, leidet keinen
Augenblick Zweifel: es galt ein ornamentales Blattwerk darzustellen,
und zu diesem Zwecke verwendete der Künstler das ihm traditionell
überkommene und für ähnliche Zwecke bewährte Akanthusornament.
Der Naturalismus der hellenistischen Künstler ging in der Ornamentik
nicht bis zum unmittelbaren Abschreiben der Natur72): die dekorative
[323]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Kunst bewahrte sich noch immer ihre eigene Sphäre, wenngleich sie
an ihren Hervorbringungen den Zusammenhang mit der lebendigen
und realen Natur deutlicher durchblicken liess als dies jemals in den
zeitlich voraufgegangenen Künsten der Fall gewesen war.
Dieser Punkt ist nicht bloss für die hellenistisch-römische Pflanzen-
ornamentik, sondern für das dekorative Kunstschaffen aller vergangenen
Jahrhunderte bis auf die neueste Zeit allzu wichtig und bedeutsam, als
dass es überflüssig erscheinen könnte, denselben noch an einem weiteren
Beispiele zu erläutern. Fig. 17873) zeigt die Reliefverzierung von einer
anderen steinernen Ara aus Pompeji. Aus einem doppelten Blattkelch
(der gleichfalls unsterbliche historische Nachfolge gefunden hat) —
Steineylinder mit Reliefverzierung, aus Pompeji.
einem ab- und einem aufwärts gerichteten — entspriessen zwei Ranken,
die nach bekanntem hellenistischen Schema (Fig. 121) sich nach Rechts
und Links entfalten, spiralig einrollen, ja sogar verschlingen. In diesem
Falle erscheint ansnahmsweise auch die botanische Species charakteri-
sirt, die wir uns darunter vorzustellen haben: kleine Träubchen sagen
72)
21*
[324]Die Arabeske.
uns nämlich, das es Rebranken sind, die sich da nach dem altgriechi-
schen Schema der dekorativen Wellenranke über die Fläche des Cy-
linders verzweigen. Betrachten wir aber die Blätter: ihre Form ver-
stösst zwar nicht augenfällig gegen das Aussehen von realen Wein-
blättern, aber ein Botaniker wird sie als Kopien nach der Natur ge-
wiss sehr mangelhaft finden. „Diese Weinblätter sind nicht streng nach
der Natur facsimilirt“, wird er sagen, „sondern der Künstler hat in ihre
Zeichnung etwas aus seiner Phantasie hineinfliessen lassen.“ Und was
die Phantasie des Künstlers in diesem Falle erfüllt hat, kann für uns
keinen Augenblick zweifelhaft sein: es ist wiederum das Akanthus-
ornament mit seinen lappigen Ausladungen und den tiefen „pfeifen“-
artigen Einziehungen dazwischen, das der Stilisirung dieser „Weinblätter“
zu Grunde liegt. Immerhin bezeichnet eine so weitgehende Annäherung
an die natürliche Erscheinung, wie sie insbesondere das Einstreuen von
Träubchen beweist, eine Ausnahme, für deren Erklärung sich aller-
dings schwerwiegende Gründe geltend machen lassen: vor Allem die
gegenständliche und symbolische Bedeutung, die mit dem Weine und
was damit zusammenhängt seit frühester historischer Zeit verknüpft
worden ist, gewiss aber auch die augenfällige Verwandtschaft, die
zwischen der ornamentalen Ranke und der Rebranke obwaltet. Wir
finden daher die Weinranke nach dem Schema der fortlaufenden
Wellenranke bereits auf verhältnissmässig so frühen Beispielen, wie
der sogen. Alexandersarkophag von Sidon (publ. bei Hamdy Bey, Né-
cropole de Sidon). Dass auch in diesem Falle das Akanthusornament
für die Stilisirung des Weinlaubs vorbildlich gewesen ist, beweisen die
„Pfeifen“, doch sind hier überaus bezeichnendermaassen die Konturen
der Weinblätter entsprechend dem griechischen Akanthus (Fig. 111)
spitz ausgezackt, zum Unterschiede von der weichen und lappigen
Bildung an dem römischen Beispiel Fig. 178.
Wenden wir uns wieder zurück zu Fig. 177. Die einzelnen aus
dem Akanthuselement gestalteten Blätter sind nach Bedürfniss in die
Länge und Breite gezogen; von all’ diesen Projektionen interessirt
uns bloss eine: es sind dies die zusammengefalteten abwärts hängenden
Blätter, die mit ihren auswärts gekrümmten Spitzenden bloss längs einer
Ranke aufgelegt zu werden brauchen, um als Akanthushalbblätter gelten
zu können. Dieses krautartig zusammengefaltete Akanthusblatt ist es
nämlich, das in die spätrömische Antike und mit dieser in das Mittel-
alter übergegangen ist, und das Element zur Zusammensetzung neuer
bedeutsamer Blüthenmotive gebildet hat.
[325]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Aber auch die Verwendung des Akanthus zur Bildung neuer kompli-
cirter Blüthenmotive ist keine Neuerung der byzantinischen Zeit. Pom-
peji bietet hiefür bereits überzeugende Beispiele. An der fortlaufen-
den Wellenranke (Fig. 179)74) endigt die Einrollung rechts in eine ge-
meinübliche Rosette, die Einrollung links dagegen in ein buschiges Ge-
bilde, das unzweifelhaft aus Akanthusblättern zusammengesetzt, dennoch
nicht als Blatt, und somit wohl nur als Blume, und zwar als orna-
mentale Blume erklärt werden kann.
Aus früherer byzantinischer Zeit bieten die besten Beispiele von
komplicirten buschigen Blumenkelchbildungen aus zusammengefalteten
Akanthusblättern die sassanidischen Architekturfragmente, wovon unsere
Figuren 161—163 überzeugende Proben an die Hand geben.
Steinerner Fries mit Akanthus-Ranke und Blumen. Aus Pompeji.
Der Zeitpunkt, von welchem ab die Ornamentik in den dem Islam
zugefallenen Provinzen des ehemaligen oströmischen Reiches einen von
der Entwicklung in den unter byzantinischem Scepter verbliebenen
Ländern merklich verschiedenen Charakter angenommen hat, lässt sich
heute noch nicht genügend deutlich erkennen. Soviel ist aber schon
aus unserer bisherigen Uebersicht klar geworden, dass die Fortbildung
zunächst lange Jahrhunderte des früheren Mittelalters hindurch keine
politischen Grenzen gekannt, hüben und drüben den gleichen Weg ge-
nommen hat. Freilich konnte es nicht ausbleiben, dass das Fortbildungs-
tempo in Ländern, wo die Pflege figürlicher Darstellungen in Folge
religiöser Satzungen geflissentlich zurückgestellt, wo nicht geradezu
unterdrückt wurde, und die Kunst somit im Wesentlichen auf die Be-
friedigung des Schmückungstriebes, auf die Ornamentik allein be-
schränkt erschien, — dass das Fortbildungstempo der Rankenornamentik
in solchen Ländern schliesslich ein rascheres werden musste, als inner-
halb der Grenzen byzantinischen Kunstgebietes, wo man trotz ikono-
klastischer Neigungen doch der bildlichen Darstellung einer Anzahl
[326]Die Arabeske.
von figürlichen Typen religiöser Bedeutung nicht entsagen wollte oder
konnte.
Im 9. Jahrh. fanden wir an den Stuckornamenten der Moschee des
Ibn Tulun zu Kairo die ersten Spuren einer Differenzirung saracenischer
und byzantinischer Ornamentik; doch muss die bezügliche Entwicklung
zunächst eine sehr langsame gewesen sein, da wir sie noch fast hundert
Jahre später an Elfenbeinschnitzereien nur um Geringes weiter fort-
geschritten angetroffen haben. Ja man darf vermuthen, dass, wenn
erst unsere Kenntniss der byzantinischen Ornamentik auf ein grösseres
und umfassenderes Material gestellt sein wird, die Differenzpunkte
zwischen der byzantinischen und saracenischen „Arabeske“ sich eher
noch mehr vermindern, der gemeinsame Entwicklungsgang für beide
sich noch um ein Stück weiter herab verfolgen lassen wird75). Erst im
12. Jahrh., wie wir sehen werden, tritt uns die saracenische „Arabeske“
ziemlich fertig entgegen, erscheinen die verschiedenen charakteristischen
Züge, welche den Begriff der Arabeske zusammensetzen, nicht bloss
vereinzelt, sondern in ihrer Gesammtheit neben einander vertreten und
in Folge dessen die Beziehungen zur klassischen Rankenornamentik
nicht mehr so unmittelbar zu Tage tretend. Ob zwar wir also — wie
Eingangs gestanden wurde — einen genauen Zeitpunkt für die
Trennung der byzantinischen und der saracenischen Entwicklung
in der mittelalterlichen Rankenornamentik heute noch nicht fixiren
können, so werden wir dieselbe doch im Allgemeinen in das 10. und
11. Jahrh. verlegen dürfen, welcher weit gespannte Zeitraum sich aus
dem Grunde rechtfertigt, als der bezügliche Process in den weit aus-
gedehnten Gebieten, über welche sich die Herrschaft des Islam im Laufe
der Zeit erstreckt hat, gewiss nicht einen gleichmässigen, sondern einen
zeitlich sehr verschiedenen Gang genommen haben muss.
Die ornamentalen Elemente, an welchen sich die raschere und
somit von der strengbyzantinischen verschiedene Entwicklung auf
saracenischem Boden vollzogen hat, müssen nothwendigermaassen die-
jenigen gewesen sein, bis zu denen die gemeinsame Entwicklung im
Osten des Mittelmeeres, im christlich byzantinischen wie im saraceni-
schen, zuletzt geführt hatte.
Ist nun der Trennungspunkt nach dem eben vorhin Gesagten im
10. und 11. Jahrh. zu suchen, so werden wir dem uns aus dieser Zeit
[327]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
bekannt gewordenen Pflanzenrankenornament byzantinischer Her-
kunft besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben, da dasselbe eben
die letzte Phase gemeinsamer byzantinisch-saracenischer und zugleich
den Ausgangspunkt für die erste Phase einer rein saracenischen Orna-
mentik repräsentirt. Am besten unterrichtet sind wir über das Kunst-
schaffen dieser Zeit im byzantinischen Reiche aus Miniaturhandschriften,
deren Pflege man damals augenscheinlich ganz besonders zugewandt
war. Die ornamentale Ausstattung der Bücher religiösen Inhalts war
in der Regel eine sehr reiche und buntfarbige. Als maassgebendstes
Element tritt uns hiebei das uns im Besonderen beschäftigende, das
vegetabilische entgegen, und zwar sind es die Blüthenformen, die
den charakteristischen Theil dieser Ornamentik ausmachen.
Es sind dies Kombinationen von Akanthusblättern, wie wir
solche schon seit pompejanischer Zeit (S. 325) kennen gelernt haben.
Fig. 180 zeigt die einfachste und vulgärste, auch in der romanischen
Byzantinische Blüthenbildungen aus Akanthus.
Kunst des Abendlandes weit verbreitete Form: den Akanthuskelch. Zwei
der Hälfte nach zusammengeklappte Akanthushalbblätter (Fig. 177,
161—163) treten da zu einem Kelch zusammen. Damit haben wir das
nackte Schema gegeben; die sozusagen lebendige Ausführung in Mini-
aturmalerei zeigt Fig. 18076). Hier erscheint der Kelch gemustert mit
kleinen Doppelschraffen, und versehen mit einem Zwickelabschluss, den
das mittelalterliche Kunstgefühl nicht minder wie das antike fortgesetzt
verlangte.
Komplicirtere Formen zeigen Fig. 181 und 182. An ersterer ge-
wahren wir zu unterst einen Kelch ähnlich Fig. 180, darüber einen
zweiten, dessen obere Ränder volutenartig nach abwärts umgeschlagen
sind. Dazu kommen wieder füllende Schraffen und Zwickelabschlüsse.
Charakteristisch ist die Neigung zum Umklappen, Einschlagen der
Ränder, und zu geschweifter Bewegung der Blattspitzen. (Vgl. auch
[328]Die Arabeske.
die Blume in der Einrollung einer Akanthusranke Fig. 194.) Diese Be-
wegung gestaltet sich mitunter sehr lebhaft, wie in Fig. 182, wo die
Akanthushalbblätter weder streng symmetrisch gruppirt sind, noch nach
der gleichen Richtung weisen, sondern auf und ab und durcheinander
geschlagen erscheinen77).
Eine sehr häufig wiederkehrende Form zeigt Fig. 183. Im Grunde
haben wir da nichts Anderes, als ein Akanthushalbblatt mit umge-
klappten Seiten, aus einem akanthusartig gegliederten Volutenkelch
emporsteigend.
Nach der vollzogenen Erörterung der Fig. 180—183 wird es nicht
mehr schwer sein, die entsprechenden Bildungen in Fig. 18478) in ihrer
Wesenheit zu erkennen. Am häufigsten begegnen uns hier Dreiblätter in
akanthisirender Stilisirung: sowohl am Volutenkelch als am krönenden,
Kopfleiste aus einer byzantinischen Miniaturhandschrift des 10. Jahrh.
etwas ausgeschweiften Blättchen. Dieses Dreiblatt vereinigt also in
sich die typischen Eigenschaften des saracenischen Pflanzenornaments:
geometrische Umrisse bei vegetabilischer Detailbehandlung. Auch
Fig. 183 erscheint hienach bloss als eine reichere und üppigere Aus-
gestaltung eines solchen akanthisirenden Dreiblatts. Im mittleren Rund
[329]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
von Fig. 184 ist ein Dreiblatt von zwei Gabelranken umschlossen: ein
echt saracenisches Motiv, aber ganz vegetabilisch charakterisirt und auf
byzantinischem Kunstgebiet entstanden. Auf der Bildung von Fig. 181
beruht endlich diejenige der Blüthen in den beiden äusseren Runden.
Bei der Erörterung der Ornamentik der Elfenbeinkästchen Fig. 174
und 175 haben wir uns die Charakterisirung der daselbst auftretenden
frei endigenden Blüthenmotive für späterhin vorbehalten. Nunmehr er-
scheinen dieselben durch den blossen Hinweis auf die Bildungen
Fig. 181 und 183 völlig klargestellt.
Kopfleiste aus einer armenischen Miniaturhandschrift des 11. Jahrh.
Die byzantinische Miniaturmalerei hat gerade in der uns beschäf-
tigenden Zeit eifrige Aufnahme in den armenischen Klöstern gefunden.
Ein Beispiel, angeblich aus dem 11. Jahrh., auf dessen Bedeutung ich
schon bei anderer Gelegenheit79) hingewiesen habe, ist publicirt bei
Collinot und Beaumont, Ornements turcs Taf. 27—29. Der Ausschnitt
aus Taf. 28, der in unserer Fig. 185 wiedergegeben ist, repräsentirt
recht lehrreich die letzten Stadien einer gemeinsamen byzantinisch-
saracenischen Ornamentik: Unfreie Akanthushalbblätter (in mehr steifer
palmettenfächerartiger Stilisirung), Gabelranken, Blumentypen gleich
[330]Die Arabeske.
Fig. 181 und 183, an kreisrund eingerollten Ranken, an deren Führung
das Nichtklassische bloss in der Durchkreuzung besteht80).
Es erübrigt uns noch eine Anzahl von saracenischen Kunstdenk-
mälern aus jener Zeit zu betrachten, da die Eigenthümlichkeiten des
sarazenischen Rankenornaments bereits nachweislich ihre reife Aus-
bildung[erreicht] hatten. Wir werden bei dieser Betrachtung von
dem Bestreben geleitet sein, stets den innigen genetischen Zusammen-
hang mit dem vorangegangenen klassischen, beziehungsweise byzanti-
nischen Pflanzenrankenornament aufzuzeigen, ja selbst das noch lang-
Steinerne Rankenfüllung aus Kairo.
währende Vorkommen einzelner ein-
schlägiger Motive in der urthümlichen
Form durch Beispiele nachzuweisen.
Das Beweismaterial ist fast ausschliess-
lich aus Prisse d’Avennes, L’art arabe
entlehnt, fusst somit überwiegend auf
den Denkmälern von Kairo aus dem
12.—14. Jahrh.
Fig. 186 zeigt eine durchbrochene
Fensterfüllung von der Moschee El-
Daher, nach Prisse aus dem 13. Jahrh.
Das Ornament mit seinen Akanthus-
Ablegern an kreisrund gerollten Ran-
ken könnte man schlechtweg byzanti-
nisch nennen. Man ersieht auch dar-
aus, wie der Zusammenschluss der
Ranken zu Spitzovalen schon in der
Wellenbewegung selbst begründet lag,
also ein wesentliches Charakteristicum der Arabeskenführung schon in
der klassisch-antiken Wellenranke gleichsam latent vorhanden ge-
wesen ist.
[331]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Fig. 186 steht nicht vereinzelt da. Es gehören hieher u. a. aus
Prisse eine zweite Füllung von derselben Moschee; ferner zwei Fül-
lungen von der Moschee Thelai Abu-Rezik, wovon eines noch fast rein
justinianisch, das andere ähnlich Fig. 186, mit durchgeschlungenen
arabischen Schriftzügen.
Die letzteren zwei Beispiele versetzt Prisse in das 12. Jahrh.; ist
diese Datirung in der That nicht zu spät angesetzt, so erscheint uns
damit ein überraschendes Zeugniss geliefert für den Conservatismus,
mit welchen die kairenischen Arbeiter in einzelnen kunsttechnischen
Zweigen an der Rankenornamentik rein byzantinischer Stilisirung fest-
gehalten haben. Ungefähr auf der gleichen Stufe stehen die Orna-
mente von der Marmorkanzel der Moschee von Cordova, wie Fig. 18781)
Steinerne Friesfüllung aus Cordova
Sternfüllung in Stuck.
Aus der Cuba (Palermo).
beweist. Es ist dies ein Ausschnitt aus einem Bordürestreifen, einen
Bogenfries mit gereihten Lotusblüthen und Palmetten in akanthisirender
Uebertragung enthaltend. An der letzteren Bedeutung lassen die rund
herausgebohrten „Pfeifen“ keinen Zweifel aufkommen. Eine Inschrift
bezieht sich auf das Jahr 965 der christlichen Aera; die Kanzel stammt
somit aus der 2. Hälfte des 10. Jahrh. und wäre hienach um mehrere
Jahrhunderte älter als Fig. 186, der sie aber in der Entwicklung eher
voraus ist. Man beachte in Fig. 187 noch den aus zwei Akanthushalb-
blättern gebildeten Kelch an der niedrigeren Blüthe (die die Stelle
einer Palmette des alten Lotusblüthen-Palmetten-Schemas vertritt). Die
sachliche Identität dieses skulpirten Kelches mit dem gemalten Akan-
thuskelch Fig. 180 liegt wohl klar zu Tage.
[332]Die Arabeske.
Dagegen ergiebt eine nahe Verwandschaft mit dem Ornamenta-
tionssystem, das wir an Elfenbeinarbeiten des 10. Jahrh. (Fig. 174, 175)
angetroffen haben, die Betrachtung der sicilianischen Arbeiten, die
zumeist im 12. Jahrh. für die normannischen Könige von deren sarace-
nischen Unterthanen gefertigt worden sind. Als Probe diene Fig. 18882)
von der Stuckbekleidung eines Kuppelgewölbes der Cuba bei Palermo.
Die gefiederartige Behandlung des Akanthus erinnert sehr an jene er-
wähnten Elfenbeinschnitzereien; auch die Palmetten mit seitwärts ge-
schlagenen Akanthushalbblättern und den scharf herausgebohrten Kelch-
voluten finden sich an Fig. 174 bzw. 175; ihre byzantinische Vorstufe
haben wir in Fig. 183 kennen gelernt.
Holzgeschnitzte Friesfüllung. Aus Kairo.
Eine vollendete Arabeske tritt uns in Fig. 18983) entgegen.
Wenn man von dem mit Kreisfiguren besetzten Bande absieht, das in
lambrequinartiger Zeichnung mitten durch den Ornamentfries sich hin-
durchwindet und denselben in zwei reciproke Rundzackenreihen theilt,
ist die Verzierung durchweg von Rankenwerk bestritten. Die Führung
der Ranken ist bereits eine sehr mannigfaltige und komplicirte, nament-
lich nicht mehr auf die Kreisbewegung beschränkte, die Motive aber,
mit Ausnahme von kleinen Spiralschösslingen und Akanthusablegern
nach frühbyzantinischer Art (S. 277 f.), von glatten Konturen umrissene
[333]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Halbpalmetten und Gabelranken, zum Theil auch Vollmotive84). Er-
örtern wir die ersteren, als die wichtigsten, im Einzelnen.
In a erkennen wir zwei zu einem Vollmotiv (nach Art der ge-
sprengten Palmette) zusammengestellte Halbpalmetten (oder Akanthus-
halbblätter mit streng gezeichnetem Fächer); Kelch und Fächer er-
scheinen vegetabilisch gegliedert, wie z. B. in Fig. 174, aber glatt um-
rissen: ich verweise auch auf die Schlitze in der Mitte der einzelnen
Halbblätter85). Beide Fächer setzen sich wieder rankenartig fort zu
einer ähnlich behandelten Gabelranke u. s. w.
Die vegetabilische Gliederung von a fehlt der Halbpalmette b.
Deutlich scheidet sich bloss das gekrümmte Kelchblatt und der Fächer,
sowie eine ausladende Zwickelfüllung dazwischen. Was aber den
Details von Füllungen in Holzschnitzerei, aus Kairo.
breiten Körper dieses arabesken Motivs ausfüllt, das ist uns kostbarer
als alle akanthisirende Gliederung. Es ist nämlich eine leibhaftige
griechische Ranke mit allen ihren Eigenthümlichkeiten, die uns da
entgegentritt. Dort wo sie sich zum ersten Male gabelt, ist ein Pal-
mettenfächer eingesetzt, in der Richtung der zwickelfüllenden Aus-
ladung im Aussenkontur. Nach Links endigt die Ranke alsbald in eine
regelmässige griechische Vollpalmette, nach Rechts rollt sie in einer
typischen fortlaufenden Wellenranke dahin, mit spiraligen Schösslingen
und peinlich beobachteten Zwickelfüllungen.
Nehmen wir dazu die Halbpalmette c. Von derselben ist das Gleiche
zu sagen wie von b, mit dem Unterschiede, dass wir in der Ranken-
füllung diesmal eine deutliche Halbpalmette nach altgriechischem Muster
(Fig. 126) vorfinden. Den Uebergang von der reinen und selbständigen
Palmettenranke zur akanthisirenden Gliederung des arabesken Halb-
[334]Die Arabeske.
palmettenkörpers zeigt Fig. 190, von einer anderen Füllung der gleichen
Kanzel. Prisse d’Avennes giebt von der letzteren noch eine ganze An-
zahl von Blättern mit Details, die eine selbständige erschöpfende Unter-
suchung und Erörterung verdienen würden. Davon möge an dieser
Stelle nur noch unsere Fig. 168a Erwähnung finden: eine Doppel-
ranke mit zwickelfüllenden Halbpalmettenfächern nach gesprengtem
Typus, oben in eine Vollpalmette frei endigend. Die verblüffenden Be-
ziehungen, die zwischen diesem anscheinend rein griechischen Ranken-
ornament und dem saracenischen Fig. 168 obwalten, haben bereits auf
S. 306 gebührende Hervorhebung gefunden. Die Betrachtung von
Fig. 189—190 hat ergeben, dass wir darin keineswegs eine vereinzelte
Kopie oder Reminiscenz nach altem Muster, sondern einen festen orga-
nischen Bestandtheil der saracenischen Ornamentik zu erkennen haben.
Es erscheint damit über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen, dass selbst
Ranken-Zierleiste; byzantinische Buchmalerei.
noch die ausgebildete sarazenische Kunst das reine flache Palmetten-
Rankenornament nach bestem griechischem Muster gekannt und geübt
hat. Die Brücke, die diesbezüglich vom 5. Jahrh. v. Chr. zum 12. Jahrh.
n. Chr. führt, ist auch nicht schwer herzustellen. Dass das flache
Palmetten-Rankenornament auch zur Zeit der Vorherrschaft des Akan-
thus sich fortdauernd im Gebrauche erhalten hatte, wurde schon bei
Besprechung des spätantiken Rankenornaments hervorgehoben, des-
gleichen der Umstand, dass die frühmittelalterliche Kunst im oströmischen
Reiche mit wohl erklärbarer Vorliebe (S. 289) auf die stilisirteren
hellenischen Blüthen- und Rankenformen zurückgegriffen hatte. Byzan-
tinische Zwischenstufen bieten aber Miniaturmalereien des 10. und 11.
Jahrh., wie z. B. Fig. 19186).
Wir begegnen aber an den kairenischen Denkmälern des späteren
Mittelalters auch noch Arabesken, die ohne alle Durchschneidung und
Polygonbildung lediglich durch die abstrakte Umbildung der Einzel-
[335]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
motive (Voll- und Halbpalmetten) den saracenischen Charakter ver-
rathen. Fig. 192 bietet ein solches Beispiel (nach Bourgoin, Précis de
l’art arabe I. 32), wozu ich in Fig. 192a eine Uebersetzung ins Grie-
chische gebe.
Einzelne bestimmte Techniken scheinen es somit gewesen zu sein,
an denen sich das feine klassische Palmettenranken-Ornament bis in
Arabesken-Füllung, aus Kairo.
das spätere saracenische Mittelalter erhalten konnte. An Holz-
schnitzereien ist es z. B. auf den berühmt gewordenen Füllungen vom
Moristan des Sultans Kalaun vom Ende des 13. Jahrh. noch nachzu-
weisen87). Dass aber an den Schnitzereien der Kanzel von Kus das
griechische Palmettenrankenornament gerade dazu bestimmt war, die
grossen abstrakt umrissenen Halbpalmettenmotive auszufüllen, das
Uebersetzung von Fig 192 ins Griechische.
scheint mir ein nicht zu unterschätzender Fingerzeig dafür zu sein,
dass die saracenischen Künstler sich des engen sachlichen
Zusammenhanges ihrer Arabeskenornamentik mit der
[336]Die Arabeske.
früheren klassischen Rankenornamentik völlig bewusst
waren. Und zwar betone ich: des sachlichen, nicht des historischen
Zusammenhanges, denn um den letzteren hat sich das ornamentale
Kunstschaffen früherer wahrhaft schöpferischer Jahrhunderte niemals
gekümmert.
Aus dem 14. Jahrh. stammt Fig. 193 von einer Füllung der Kanzel
in der Grabmoschee des Sultans Barkuk zu Kairo. Die arabesken
Halbpalmetten haben hier feine lineare Halbpalmetten eingezeichnet;
mit diesen sind wir unmittelbar an die Behandlung der Motive in
Fig. 139 herangekommen, die wir seiner Zeit (S. 263) unserer Definition
Füllung in Stuck, aus Kairo.
von den specifischen Eigenthümlichkeiten der Arabeske zu Grunde ge-
legt hatten. Hier drängt sich die Frage auf: gehen die erwähnten ein-
gezeichneten Füllungen der Motive von Fig. 193 auf die klassische
Halbpalmette zurück, wie es unter Hinweis auf das zu Fig. 189 b und c
und 190 Gesagte in der That denkbar wäre, oder sind dieselben als
stilisirte Uebertragung der umgeklappten Ränder des Akanthushalb-
blatts (Fig. 180—183) aufzufassen?
Diese Frage ist nicht unwichtig, weil wir beim abstrakten Cha-
rakter der saracenischen Blüthenmotive in den meisten Fällen unsicher
sind, ob wir uns darunter Akanthus oder flache Projektion (Palmetten-
fächer) als zu Grunde liegendes formgebendes Element vorzustellen
[337]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
haben. Was an den erwähnten Einzeichnungen an den Motiven von
Fig. 193, sowie an Fig. 139 (insbesondere an b und c) zunächst an
flache Halbpalmetten-Projektion denken lässt, ist hauptsächlich die
Kelchvolute am Ansatze des eingezeichneten Blattes, die wir von alt-
egyptischer Zeit her (S. 60) als wesentlichen und unzertrennlichen Be-
standtheil der Blüthendarstellungen in Palmettenprojektion kennen ge-
lernt haben. Die Kelchvolute an den saracenischen Halbpalmetten und
Gabelranken in Fig. 193 und 139 kommt aber nicht von der altgriechi-
schen Palmettenvolute, sondern von einer Eigenthümlichkeit des Akanthus
selbst her, nämlich von den rundlichen „Pfeifen“, die immer zwischen
je zwei Zackenausladungen des
Akanthusblattes angebracht sind.
Inwiefern dies schon an den
frühbyzantinischen Ablegern des
Akanthusblattes als formbilden-
des und charakteristisches Ele-
ment zu beobachten ist, haben
wir auf S. 279 festgestellt. In
Fig. 194 gebe ich ferner einen
Ausschnitt aus dem Apsismosaik
von San Clemente in Rom88), das
im 12. Jahrh. vielleicht von by-
zantinischen Arbeitern, gewiss
aber unter der Herrschaft der
Maniera greca, wenigstens in der
Ornamentik, ausgeführt worden
Rankeneinrollung vom Apsis-Mosaik
in San Clemente (Rom).
ist. An den Akanthushalbblättern, die da der Reihe nach die Akan-
thusranke zusammensetzen, erscheinen die entwicklungsgeschichtlichen
Abkömmlinge der plastischen „Pfeifen“ jedesmal am Ansatze, an der
Wurzel des Blattes durch eine volutenförmige Einrollung deutlich her-
vorgehoben.
Angesichts der Systemlosigkeit in den Anschauungen, die gegen-
wärtig vom Wesen und Ursprung der saracenischen Ornamentik und
insbesondere von ihrem wichtigsten Ausdrucksmittel — von der Ara-
beske — in Umlauf sind, erschien es geboten, vor Allem einmal den
Riegl, Stilfragen. 22
[338]Die Arabeske.
Werde- und Ausbildungsprocess derselben von einheitlichem Gesichts-
punkte aus darzustellen. Auf die lokale Provenienz des jeweilig ge-
wählten Beweismaterials wurde wenig Gewicht gelegt; zum überwiegen-
den Theile wurde dasselbe entlehnt von den Denkmälern in Kairo, wo
sich — offenbar Dank dem unvergleichlichen Klima — die reichste
und unversehrteste Auswahl davon erhalten hat. Zweifellos hat es
aber auch lokale Sonderentwicklungen gegeben, und Aufgabe der
weiteren Forschung wird es nun sein, den Differenzirungen in den
geographisch so weit verstreuten Gebieten der Islamvölker nachzu-
gehen, und das Trennende zwischen den einzelnen festzustellen. Aber
ich wiederhole es — unsere Aufgabe war nach der entgegengesetzten
Seite gelegen: es galt erst einmal den historischen und genetischen
Zusammenhang in der Entwicklung des Pflanzenrankenornaments seit
antiker bis in die neuere Zeit aufzuzeigen, und zu diesem Behufe die
gemeinsamen grossen Gesichtspunkte, nicht die trennenden kleinen
Varianten, hervorzusuchen und festzustellen.
Diese Aufgabe glauben wir nun gelöst zu haben durch die Er-
bringung des Nachweises, dass die ausgebildete fertige Arabeske, wie
sie uns an kairenischen Kunstwerken vom Anfange des 15. Jahrh.
entgegentritt, in ihren scheinbar geometrischen Motiven einen unver-
kennbaren Kern von pflanzlicher Bedeutung birgt. Unsere Unter-
suchung in dem vorhergehenden, dritten Kapitel dieses Buches hat aber
ergeben, dass die Pflanzenornamentik seit dem für uns überhaupt kon-
trollirbaren Beginn menschlichen Kunstschaffens einen streng historischen
Gang eingehalten hat. Nachdem einmal in Folge etwelcher für uns
nicht mehr bestimmbarer — vermuthlich gegenständlich symbolischer
— Gründe das pflanzliche Element in die Dekoration eingeführt worden
war, haben die Kulturvölker die in historischer Reihenfolge die künst-
lerischen Errungenschaften ihrer Vorfahren übernahmen und weiter-
bildeten, in Bezug auf das Pflanzenornament immer bloss an die ihnen
von ihren Vorgängern überlieferten Typen angeknüpft, und dieselben
ihrerseits nach eigenem Kunstermessen ausgestaltet und ihren Nach-
folgern hinterlassen. Ein willkürliches Hineingreifen in das natürliche
Pflanzenreich behufs Schaffung von Ornamenten89) hat erstlich in dem
Ausmaasse, wie es gewöhnlich angenommen zu werden pflegt, über-
haupt niemals stattgefunden, oder wo dies dennoch90) der Fall gewesen
[339]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
zu sein scheint, niemals zu dauernden Erfolgen geführt, wogegen die
stilisirten Palmetten-, Akanthus- u. s. w. Ornamente ihre ewige, klassische
Bedeutung selbst noch in unserer modernen Zeit des Realismus bewahrt
haben. Von der durch gewisse stilisirte Blüthenprojektionen, z. B. die
Palmette, vorgezeichneten Linie der Entwicklung ist man in der Haupt-
sache bis in die späteste antike Zeit (und sagen wir auch gleich, bis
zum Spätmittelalter) nicht mehr abgewichen. Aus solcher Erwägung
heraus ergab sich uns die Aufgabe, das spätantike Pflanzenranken-
ornament mit der Arabeske zu verknüpfen, die dazwischenliegenden
Entwicklungsphasen durch datirte Beispiele aufzuzeigen, und dies ist
uns, trotz des fast absoluten Mangels an Vorarbeiten, hoffentlich auch
gelungen.
Was wir im Nachfolgenden noch zu sagen haben, betrifft an-
scheinend bloss ein bestimmtes provincielles Gebiet innerhalb der
grossen gemeinsaracenischen Kunst. Aber schon die damit verknüpften
Fragen von allgemeinerer Bedeutung mögen es rechtfertigen, wenn wir
das Kapitel von der Arabeske mit der Erörterung einer Dekorations-
weise von scheinbar bloss lokaler Bedeutung abschliessen.
Es hat nämlich in der Kunst des saracenischen Orients auch eine
Art von Pflanzenrankenornamentik gegeben, die man als eine natura-
lisirende bezeichnen könnte. Die Denkmäler, auf denen sie uns er-
halten ist, bestehen hauptsächlich aus Knüpfteppichen und aus Thon-
fliesen, und als ihre Heimat wird überwiegend Persien bezeichnet91).
Die Entstehungszeit der bezüglichen Denkmäler reicht zwar grossen-
theils herab in die letzten drei Jahrhunderte, da europäischer Einfluss
nicht bloss in der Türkei, sondern auch in Persien nachweislich breiten
Eingang gewonnen hatte. Aber an einzelnen Beispielen lässt sich das
naturalisirende Pflanzenrankenwerk bis in das 15. Jahrh. zurück ver-
folgen.
Fig. 195 zeigt ein Fragment sammt Eckstück von der Bordüre
eines persischen Teppichs92), dessen Entstehung aus stilistischen Gründen
in das 16. Jahrh. verlegt wird. Das Grundschema der Rankenführung
bildet die intermittirende Wellenranke, und zwar nach echt saracenischer
22*
[340]Die Arabeske.
Fragment von der Bordüre eines persischen Teppichs des 16. Jahrh.
Behandlung: geometrisch-ara-
beske Spitzovale bilden die
Blüthenmotive und auch die
Rankenschwingungen dazwi-
schen sind breit dahin stili-
sirt, aber auf diesem arabes-
ken Fond entfaltet sich erst
ein feines vegetabilisches
Rankenwerk, das natürlich
in seinem Verlaufe der Haupt-
sache nach gleichfalls das in-
termittirende Wellenschema
einhält. Im frei bleibenden
Grunde zwischen den gros-
sen Motiven der intermittiren-
den Wellenranke verbreitet
sich das Rankenwerk gemäss
dem fortlaufenden Wellen-
schema93). Die einzelnen
Blüthenmotive zweigen nur
zum Theil von den Ranken
ab, namentlich die grösseren
sind fast durchweg unfrei und
durchsetzen die Ranken: bis-
her alles wohlbekannte Eigen-
thümlichkeiten der gemein-
saracenischen Pflanzenranken
ornamentik. Erst die Betrach-
tung der Einzelmotive ergiebt
Unterschiede gegenüber den
typischen Arabeskenmustern,
wie wir sie etwa in Fig. 139
kennen gelernt haben.
Fassen wir zuerst das
grosse Spitzoval in der Mitte
in’s Auge. Um einen rund-
lichen, das Gesammtmotiv im
[341]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Kleinen wiederholenden Kern legen sich äusserlich einige Blätter an,
die von unten emporwachsen und in undulirender Bewegung, an die
Fächer der gesprengten Palmette erinnernd, emporstreben. In die
spitzen Winkel, die zwischen je zweien dieser Blätter einspringen,
erscheinen zwickelfüllende Blätter mit akanthisirend behandelten Rän-
dern eingesetzt. Wir wollen der Kürze halber für das ganze Motiv
in seiner Grundform die Bezeichnung Kelchpalmette gebrauchen.
Das eben erörterte Motiv kehrt noch mehrmals wieder. So in der
Mitte einer jeden Wellenschwingung, wo die den Kern kelchförmig ein-
schliessenden, ausgeschweiften Blätter an den Rändern gleichsam zu-
sammengeklappt und akanthisirend behandelt sind. Ferner im
Innern des zur Ecklösung verwendeten Spitzovals, hier umschlossen
von einem äusseren Kranz von Blättern, die nicht minder fein aus-
gezackte Ränder zeigen. Kehren wir aber zur Wellenschwingung
zurück, so fallen daselbst neben der erwähnten Kelchpalmette noch
zwei grössere, häufig wiederkehrende Blüthenmotive auf: oben ein
flacher, ausgezackter, oblonger Teller, aus dem sich der Blüthenkolben
erhebt: die sogen. Fächerpalmette, unten hingegen eine Kranzpalmette,
die sich von der Kelchpalmette wesentlich dadurch unterscheidet, dass
die den Kern umgebenden Blätter um denselben nicht kelchartig
herumgeschlagen und in geschweifte Spitzen auslaufend, sondern
gleich einem Kranz herumgereiht und in geraden Achsen geführt er-
scheinen.
Charakteristisch für diese Motive bleibt die eigenthümliche Stili-
sirung der Blattränder. Und zwar muss dieselbe für ganz wesentlich
angesehen worden sein, weil sie uns fast an allen den genannten Motiven,
an dem einen mehr, an dem anderen minder scharf gezeichnet, entgegen-
tritt. Um eine historische Erklärung dafür zu finden, liegt es am nächsten,
die arabesken Blüthenmotive der vorhergehenden, mittelalterlichen Kunst
heranzuziehen und zu untersuchen, ob es nicht diese gewesen sein
könnten, aus denen jene oben beschriebenen „Palmetten“, etwa unter
dem Einflusse einer gegen Ende des Mittelalters in der orientalischen
Kunst aufgekommenen Neigung zur Naturalisirung, entstanden sein
möchten. Aber auf Grund einer Betrachtung des typischen Arabesken-
musters von Fig. 139 werden wir kaum in der Lage sein, daraus die
naturalisirenden Palmetten jenes persischen Teppichs im Wege direkter
künstlerischer Formen-Entwicklung und Umbildung abzuleiten. Es
bleiben hiernach bloss zwei Möglichkeiten offen: entweder haben wir in
den fraglichen Motiven etwas specifisch Persisches, das Produkt einer
[342]Die Arabeske.
autochthonen lokalen Entwicklung zu erblicken, oder die Wurzel für
ihre Entstehung muss ausserhalb der persischen und saracenischen
Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti-
gen Tage — entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit — die
grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir werden für diese angeb-
lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts,
oder aus unbekannten technischen Prämissen ebensowenig zugeben kön-
nen, wie wir es bisher irgendwann für zulässig gefunden haben. Bleibt
somit bloss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und
zwar naturgemäss wieder nach dem nächstgelegenen.
Was wir schon durch den Hinweis auf die akanthisirende Ge-
staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der
Kelchpalmette vom Mosaik der Omar-Moschee
zu Jerusalem.
gleichsam zusammengeklappten Blät-
ter der Kelchpalmette vernehmlich an-
gedeutet haben, giebt die Erklärung
für das ganze Genre: es sind blü-
thenförmige Kombinationen von
Akanthusblättern, ähnlich den Bil-
dungen, wie wir sie gemäss unseren
Ausführungen auf S. 325 bereits von
römischer Zeit ab nachweisen konn-
ten; für die Kelchpalmette lässt sich
der Entwicklungsgang sogar ziemlich
genau herstellen. Den Ausgangspunkt
geben persische Bildungen aus der
Sassanidenzeit (Fig. 161). Den römi-
schen Charakter haben wir auf S. 299
zur Genüge klargestellt; wenn noch
ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die-
selben nicht doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten,
so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kelchpalmette
in frühmittelalterlicher Zeit auch ausserhalb Persiens vorkommt, und
zwar auf den noch vor Schluss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken
der Omar-Moschee zu Jerusalem (Fig. 196)94), die man gemeiniglich als
Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren
Entwicklung sind es Bildungen der byzantinischen Kunst gleich
Fig. 180—185, die mit dem Motiv der Kelchpalmette dem Wesen nach
[343]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
auf’s Engste parallel laufen95); insbesondere Seidenstoffe liefern Zwischen-
glieder, von denen es zumeist offene Frage bleibt, ob sie byzantini-
schem oder saracenischem Ursprunge zugewiesen werden sollen. Völlig
abgeklärt und in ein echt saracenisches Schema gebracht, tritt uns die
Kelchpalmette in der mesopotamischen Kunst des 13. und 14. Jahrh.
entgegen, die uns durch zahlreiche, zum Theil datirte Metallarbeiten
repräsentirt ist96). Als Beispiel diene Fig. 197 von dem tauschirten Schreib-
zeuge eines kairenischen Mamelukensultans des 14. Jahrh.97). Hierbei ist
es wichtig zu beobachten, dass das auf dieser Denkmälergruppe vorfind-
liche Pflanzenrankenornament im Allgemeinen von arabesker Stilisirung
ist, und fast ausschliesslich schematisch umrissene Palmetten mit Voluten-
Kelchpalmette und Rankenornament von einer Mossul-Bronze.
kelch (Fig. 197), zum Theil mit einfach gefiedertem Fächer aufweist.
Es erscheint damit nämlich bewiesen, dass der Gebrauch der Kelch-
palmette als solcher keineswegs einer bestimmten naturalisirenden
Richtung eigen gewesen ist, und dass dieselbe als ornamentales Motiv
[344]Die Arabeske.
längst fertig und gegeben war, wenn in der That, wofür mehrfacher
Anschein spricht, gegen Ende des Mittelalters eine naturalisirende
Tendenz in gewissen Techniken und auf bestimmten lokalen Gebieten
zum Durchbruch gekommen sein sollte. Mit weitaus besserem Grunde
wird man aber die Erklärung der naturalisirenden Bildungen gleich
Fig. 195 darin zu suchen haben, dass, so wie in antiker (S. 240) und
früh-mittelalterlicher (S. 289) Zeit auch in der vollentwickelten sara-
cenischen Kunst, namentlich an einzelnen Techniken traditionell haftend,
jederzeit zwei Strömungen der Pflanzenrankenornamentik, eine flache
und eine plastischere, eine arabeske und eine naturalisirende, neben
einander hergelaufen sind. Diese letztere wäre es sonach gewesen, die
in direkter Linie von den spätrömischen in einander geschachtelten
Akanthusblattkelchen zu den Kelchpalmetten auf den Teppichen der
persischen Staatsmanufakturen des 16. Jahrh. geführt hat.
Um den Ursprung der besprochenen naturalisirenden Blüthen-
bildungen in der persischen Teppichknüpferei des 15. und 16. Jahrh.
zu erklären, wurde vor Kurzem98) auf die Idee Sir Georges Birdwood’s
zurückgegriffen, der die daran obwaltenden Beziehungen zu dem alt-
egyptischen und altmesopotamischen Ornamentmotiv der Lotusblüthe
zuerst literarisch zum Ausdruck gebracht hat. Dem betreffenden Autor
ist es vermuthlich nicht bewusst geworden, dass er damit im Grunde
nichts Anderes gesagt hat, als was ich schon in meinen „Altorientali-
schen Teppichen“, vernehmlich genug für denjenigen, der sich nicht
der Mühe entschlagen hat, sich mit der Entwicklung der antiken
Pflanzenornamentik vertraut zu machen, angedeutet habe. Darin sind
wir eben gegenwärtig über den Standpunkt den noch Birdwood u. A.
in den bezüglichen Fragen einnehmen mussten, hinausgeschritten, dass
wir dasjenige, was jener geistreiche Forscher mehr intuitiv geahnt und
als Endresultat künftiger Specialuntersuchungen verkündet hatte, nun-
mehr mit einzelnen Zwischengliedern zu belegen, eine zusammen-
hängende Entwicklungskette für die früher lose behaupteten Anhalts-
punkte herzustellen, im Stande sind. Aber den von Birdwood, Owen
Jones, de Vogüé und Anderen vor so langer Zeit ausgesprochenen
Grundideen, soweit sie sich nach der angedeuteten Richtung bewegen,
entgegenzutreten, wäre ich der Letzte; ja, ich stehe nicht an zu er-
klären, dass es um unsere Erkenntniss mittelalterlicher Kunstgeschichte
besser und reifer bestellt wäre, wenn die gerade Linie rein histori-
[345]2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
scher Betrachtungsweise, wie sie z. B. de Vogüé gepflogen hat, nie-
mals verlassen worden wäre.
Die ornamentalen Blumentypen der persischen Teppiche un-
mittelbar auf achämenidisch-persische oder assyrische Anfänge zu-
rückzuführen, ist darum unstatthaft, weil sich zwischen diese und das
saracenische Spätmittelalter eine ganz grundverschiedene Kultur- und
Kunstschicht gelegt hat, bedingt durch das sieghafte Vordringen der
hellenistischen Antike und die eigenthümlichen Fortbildungen in der
sogen. byzantinischen Zeit. Aber selbst abgesehen von solchen all-
gemeinen stilhistorischen Erwägungen, wird man die persische Teppich-
blumistik schon deshalb nicht als unmittelbar autochthone Abkommen-
schaft altorientalischer Kunstformen gelten lassen können, weil das
Substrat selbst — der orientalische Knüpfteppich — nichts schlechthin
Altorientalisches ist99). Die allgemein verbreitete Meinung, dass der
orientalische Teppich seit Urzeiten in Westasien in Gebrauch gewesen
wäre, widerlegt sich durch die Beobachtung, dass der für die neueren
Orientalen charakteristische Gebrauch des Teppichs an Stelle des Sitz-
und Standmöbels im ganzen orientalischen Alterthum nicht nachzu-
weisen ist, derjenige von solchen Möbeln aber feststeht.
Auch dies ist charakteristisch für die seichte, schablonenhafte
Art der Betrachtung auf diesem Gebiete, dass man die in den Schriften
der Alten erwähnten orientalischen „Teppiche“ schlechtweg für Knüpf-
teppiche nahm, und es ganz überflüssig fand, diese Meinung an der
Hand der bildlichen Darstellungen zu kontrolliren. Diese erweisen
aber für den ganzen antiken Orient von der altpharaonischen bis ein-
schliesslich der achämenidisch-persischen Zeit den Gebrauch von Stuhl,
Bettstelle und Tisch, dagegen kein einziges Mal einen Teppich an
deren Stelle. Erst die in Folge ihres nomadenhaften Vorlebens an die
Möbellosigkeit gewöhnten centralasiatischen Stämme turko-tartarischer
Abkunft, deren Vordringen und Sichfestsetzen in Westasien fast die
gesammte Geschichte des mittelalterlichen Orients ausfüllt, haben den
Knüpfteppich mit sich gebracht und seinen so charakteristischen Ge-
brauch im Westen eingebürgert. Wo die eingewanderten Nomaden-
tribus bei ihrer ursprünglichen Lebensweise stehen geblieben sind,
haben sie auch ihre heimische, primitiv-geometrische Verzierungsweise
— abstrakte Symmetrie in Form von Linien-Kombinationen — in ihrer
[346]Die Arabeske.
Teppichornamentik beibehalten, wie sie der sogen. Nomadenteppich
grossentheils noch heute zeigt. Wo sie aber grosse und glänzende
Hofhaltungen aufrichteten, wie in Persien und in Kleinasien, dort über-
trugen sie die bei den dortigen Kulturvölkern vorgefundene höher-
stehende Verzierungsweise — eben die von der klassischen Antike
überkommene Pflanzenrankenornamentik — auf ihre Luxusteppiche.
Also weder der Knüpfteppich, noch sein „geblümtes“ Muster sind
in Westasien urheimisch, in dem Sinne, wie man dies gewöhnlich an-
zunehmen pflegt. Ersterer stammt aus Centralasien; vereinzelte ver-
sprengte Ausnahmen, etwa am Kaukasus, mag es immerhin schon im
Alterthum gegeben haben. Das „Blumenmuster“ aber darf nur inso-
ferne als „urorientalisches“ gelten, als ja in der That die unmittel-
baren Vorläufer der saracenischen Pflanzenornamente — die klassisch-
antiken — im letzten Grunde aus dem Orient herstammen. Die einzel-
nen Glieder dieser Kette aber, die von der geheimnissvollen Blume
des Nilthals und der Spiralranke des vorläufig noch räthselhafteren
„mykenischen“ Inselvolkes zu den ornamentalen Wunderleistungen der
Arabeske führt, glaube ich im dritten und vierten Kapitel dieses
Buches in ziemlich lückenloser Reihe zusammengefügt zu haben.
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zu berichten, dass sie ihr eigenes Bild in Zeichnung oder Photographie nicht
erkennen: sie vermögen eben die Dinge nur körperlich, aber nicht in die Fläche
gebannt, ohne Tiefendimension, aufzufassen — ein Beweis, dass für letzteres
bereits eine vorgeschrittene Kulturstufe vorausgesetzt werden muss.
auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es
bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst-
historischem Gebiete zu ziehen.
Dictionnaire archéologique de la Gaule, (aus welchem unsere Figg. 2,
3 und 6 entlehnt sind), und die knapp zusammenfassende Bearbeitung von
dem besonnenen Alex. Bertrand: La Gaule avant les Gaulois, woraus
unsere Fig. 1.
das Mammuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö-
rige Rennthier, ist in diesem Falle ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische
„Steinzeit“ weit hinter jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi-
schen Archäologie behandelten vorgriechischen Funde geometrischen Stils und
vollends diejenigen der Bronzezeit stammen, wird von Niemandem bestritten
und ist geologisch festgestellt.
nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten
des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach
Lartet in unvollendetem Zustande geblieben.
Nacktheit des Leibes (wenn man die Bemalung der eigenen Haut nicht
dazu rechnet) ist vermuthlich eine jüngere Erfindung als die Benutzung
deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen.“ — II. 466
… „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den
Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert.“
es, wenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge-
bildet aus gemalten oder tätowirten Fäden“ … Diesen Widerspruch mildert
er dadurch, dass er das Tätowiren möglicherweise nicht für die Eigenthüm-
lichkeit eines primitiven, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes
erklärt, welche Annahme hinwiederum nur zulässig erscheint unter der bei
Semper öfter wiederkehrenden Idee von einem ursprünglichen Vollkommen-
heitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere
Idee wiederum mit der Descendenztheorie und der ihr parallel gehenden
technisch-materiellen Entstehungstheorie der Künste?
disposés symmétriquement et d’un très bon goût“.
dieser Höhlenfunde begreiflichermaassen weit weniger Beachtung geschenkt,
als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält-
nissmässig beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken
wieder; unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger
gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtige Zickzack.
gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung
der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung
derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge-
wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und
rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe-
dischen Zeitschrift „Ymer“ und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil. der
Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang
Stolpe’s, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen
auf ethnographischem Gebiete, wo bisher nur wenig und ziemlich systemlos
in Dingen, die die Kunst betreffen, gearbeitet wurde, der einzig richtige.
Seine in dem citirten Aufsatze niedergelegten Forschungsergebnisse erscheinen
mir daher auch sehr beachtenswerth.
von A. R. Hein über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir-
belornamente in Amerika (Wien 1891).
Figur rechts, mit rein geometrischen Einzelmotiven.
ration“ auch in der hellenistischen Dekorationskunst sehr maassgebend ge-
wesen.
an glänzenden Vertretern und Erfolgen so reichen Berliner archäologischen
Schule möge verzeihen, wenn ich mich hier auf Abhandlungen beziehe, deren
Verfassung nun schon eine beträchtliche Reihe von Jahren zurückliegt, und
die heute vielleicht nicht einmal mehr seinen eigenen Anschauungen völlig
entsprechen. Aber dieselben haben, wie die seitherige Literatur lehrt, in der
klassischen Archäologie allenthalben Schule gemacht, und so bleibt mir nichts
anderes übrig, als mich auf denjenigen Autor zu beziehen, der die Sache
zuerst vor die Öffentlichkeit gebracht hat. Übrigens wird Jeder aus dem
Context meiner Ausführungen in diesem und dem vorigen Capitel entnehmen,
wie ich von der Einsicht durchdrungen bin, dass u. a. auch die von Curtius
aufgestellte Lehre vom Teppichstil und Wappenstil im allgemeinen Zuge der
Zeit begründet war, und dass es dem so vielbewährten Forscher unter diesem
Hinblick nur zum Verdienst angerechnet werden kann, dass er einmal die
vollen Consequenzen gezogen hat, da man nur auf diesem Wege zu einer
weiteren Klärung der Anschauungen gelangen konnte.
artigen Thiere auf den assyrischen Königsgewändern ausgeführt gewesen.
Inhalt bemerkenswerth, da es eines der überaus seltenen Beispiele vom Nach-
leben altegyptisch-nationaler Kunstformen im späteren Alterthum bietet.
Heerden auf altegyptischen Grabreliefs.
Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte man auch auf die Schwie-
rigkeit hinweisen, die das Nachbilden der reich gegliederten Pflanzen in
Skulptur gegenüber den weit minder gegliederten Thierkörpern mit sich brachte.
Die älteste Kunsttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten
Capitel S. 20 die Skulptur. Bildete diese nun Thierfiguren, so konnte dies
immerhin auf die nachfolgenden, in der Fläche bildenden Künste bereits von
traditioneller, also das Pflanzenbild zunächst ausschliessender Wirkung sein.
Götter, die Skarabäen u. dgl.
bolismus, sei es den Sonnenkult oder einen anderen zu Hilfe zu rufen, um
die Verbreitung altegyptischer Kunstmotive in der ganzen frühantiken Welt
zu erklären. Hierzu genügt allein schon der im Menschen allmächtige Trieb
des Nachahmens, Nachbildens, Nachformens.
Zwecken ist ein echt moderner Zug, und charakterisirt in ganz besonderem
Maasse die Art unseres heutigen Kunstschaffens; nichtsdestoweniger be-
herrschen noch heute der Akanthus und die klassischen Blüthenprofile alle
vegetabilische Ornamentik.
development of sun worship. London, Sampson Low, Marston \& Co. 1891.
dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte
Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen:
geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und
die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion.
Kyma im Auge. Vom lesbischen lässt es sich aber gleichfalls nachweisen:
man betrachte bloss Prisse d’Avennes, L’art egyptien, Frises fleuronnées,
Fig. 5 und 6.
Bedeutung dieses im J. 1883 erschienenen Schriftchens beruht darin, dass es
ein ganz vereinzelter Erstlingsversuch gewesen ist, der Wichtigkeit des Stu-
diums der Ornamentik für die Kunstgeschichte des Alterthums gerecht zu
werden. Mit der Tendenz der Schrift, die neuen Erscheinungen in der Kunst
des zweiten thebanischen Reiches auf asiatische Einflüsse zurückzuführen,
kann ich mich in keinem Punkte einverstanden erklären. — Neuerlich hat
sich auch Goodyear (S. 99 ff.) dagegen ausgesprochen, unter sehr glücklicher
Ausführung seiner, von mir vollständig getheilten Meinung über das Verhält-
niss zwischen altegyptischer und mesopotamischer Kunst.
Lotusdarstellungen in Seitenansicht aus.
Entstehung der egyptischen Hohlkehle denkt — durch Umbiegung der
krönenden Rohrstababschnitte in Folge ihrer Belastung durch einen auf-
liegenden Balken in der uregyptischen Holzarchitektur — pflegen Ornamente
doch wohl nicht zu entstehen. Der egyptischen Hohlkehle liegt vielmehr
derselbe Gedanke der Bekrönung zu Grunde, wie z. B. dem völlig analogen
Kopfschmuck einer Göttin (Prisse, a. a. O. La déesse Anouke et Ramses II).
Als vorbildlich für letzteren möchte ich wiederum den kranzförmigen Federn-
kopfschmuck ansehen, den z. B. die Aethiopier tragen bei Prisse, Arrivée à
Thèbes d’une princesse d’Ethiopie.
Stuhlfüsse, die in Hufe oder in Löwentatzen auslaufen, wodurch offenbar die
besondere Funktion dieser nicht frei sondern stumpf auf dem Boden endi-
genden Glieder betont werden sollte.
in der saracenischen Kunst (namentlich an Fliesen und Teppichen) in der
Vereinigung tulpen- oder knospenförmiger Blumenprofile mit Vollrosetten an
einem und demselben Blumenmotiv äussert.
dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach-
weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em-
pfindung zu Grunde liegt, wird gleichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung
finden.
der Ueberzeugung, dass der krönende Fächer der Palmette eben als Blüten-
krone und nicht als Fruchtknoten, wie Goodyear will, aufzufassen ist.
aus der XII. Dyn., die Palmette mit blosser Contourumschreibung des Fächers
sogar schon an Denkmälern aus der Zeit der IV. Dyn.
Geisseln u. dgl. bei Lepsius III. 1 und 2.
in solchem Falle erlitt, scheint Goodyear in ganz besonderem Maasse zu seiner
Hypothese bestimmt zu haben, darin nichts als eine umgekehrte Lotusknospe
zu erblicken.
Tendenz des rein ornamentalen Kunstschaffens, die sich namentlich in der
geometrischen Ornamentik in hohem Grade bemerkbar gemacht hat: jedem
ornamentalen Elemente ein womöglich congruentes Gegenüber zu geben.
Auf solche Weise entstanden die sogen. reciproken Ornamente, unter denen
der laufende Hund und der einfache Mäander die grösste Berühmtheit erlangt
schränkung in den Säumen gehen auf dasselbe Bestreben zurück, die Richtung
eines Ornaments durch seine Wiederholung im Gegensinne aufzuheben. Mit
geometrischen Ornamenten liess sich in der That die ganze Fläche einer
Bordüre in solche zwei congruente Streifen zerlegen, die fortlaufend von oben
und unten ineinandergriffen. Bei den vegetabilischen Ornamenten hatte dies
natürlich seine Schwierigkeiten, und so begnügten sich die Altegypter dies-
bezüglich mit der blossen Wiederholung der Motive im Gegensinne, wobei
beiderseits ein Grund von anderer Configuration frei blieb. Dagegen wurde
das Problem, pflanzliche Motive in ein reciprokes Schema zu bringen, von
der sogen. mauresken Kunst gelöst, was dann von den maurisirenden euro-
päischen Renaissancekünsten eine Zeitlang auf beschränktem Gebiete nach-
geahmt wurde. Vgl. Spanische Aufnäharbeiten, in der Zeitschr. des bayr.
Kunstgewerbevereins in München, Dec. 1892.
motiven gelten. Man findet häufig die von einer Lotusblüthe bekrönten
langen Schaftstengel mit kleinen tropfenförmigen Gebilden besetzt, denen
augenscheinlich dasselbe Vorbild zu Grunde liegt, wie den tropfenförmigen
Zwickelfüllungen. Goodyear (S. 50) hat dieselben ohne Zögern für Lotus-
knospen erklärt, aber zugleich auf den Widerspruch einer solchen Anbringung
der Knospe längs des Schaftstengels mit der Wirklichkeit hingewiesen, da in
der Natur jede Knospe von einem selbständigen, aus dem Wasser empor-
ragenden Stengel getragen wird. Es bleibt sonach kaum Anderes übrig, als
auch diese Art der Verbindung zwischen Knospen und Blüthe aus bloss deko-
rativen Beweggründen heraus zu erklären. In diesem Falle nun, sowie bei
der Verbindung mittels Bogenlinien bilden immer die Blüthen- (oder Knospen-)
Motive die Hauptsache, die verbindenden Linien die Nebensache, das Accidens
werden von Goodyear u. A. als die frühesten Vorläufer der Bukranien der
griechisch-römischen Dekorationskunst bezeichnet.
der anthropologischen Gesellschaft in Wien 1890, S. 84 ff. Hieraus unsere
Figg. 28, 29, 30.
fachen Verwendungsarten der Spirale in der Kunst gab A. Anděl im Pro-
dekorativen Kunst.
wohl nachgebildet, aber keine spiraligen Rebranken, und gewiss auch nicht
Geflechte, wenn sie deren überhaupt besessen hätten.
der Formen zunächst in der künstlerischen Anlage des Menschen und in dem
Drange nach einer Bethätigung des Kunsttriebes begründet“ ansieht, doch
geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten
wenn er das Citat: „geometric ornament is the offspring of technique“ in
seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht.
auch die Bewohner Mesopotamiens und Irans zählen, da sie allezeit sowohl
in ihren politischen als in ihren religiösen Beziehungen nicht nach dem Osten
Asiens, sondern nach dem Mittelmeere gravitirten.
an den bei Prisse d’Avennes, Boîtes et ustensiles de toilette abgebildeten höl-
zernen Löffeln, die von einer Zickzacklinie eingefasst sind.
d’Avennes, Guillochis et méandres, links oben in der Ecke, mit Zickzack;
ebendas. postes et fleurs, links unten in der Ecke, mit dem Vorläufer des
Eierstabs (Fig. 23). Diese Beispiele beweisen, dass das zu Grunde liegende
künstlerische Postulat auch den Altegyptern bereits klar geworden war, aber
von ihnen noch nicht zur absoluten Geltung und konsequenten Durchführung
gebracht worden ist.
pyrus will Sybel die egyptische Provenienz einräumen.
seiner Lotus-Theorie zu bringen: the guilloche is an abbreviated spiral scroll.
Hienach wäre das Flechtband aus der Spiral-Welle entstanden. Für diesen
Uebergangsprocess, der übrigens meiner Ueberzeugung nach mit dem Lotus
gar nichts zu thun haben würde, wüsste ich aber nur ein einziges stützendes
Beispiel aus verhältnissmässig später Zeit, nämlich aus mykenischem Gebiete
(Schliemann, Mykenä 288, Fig. 359) anzuführen.
dem Knospenmotiv die Bedeutung des Pinienzapfens untergelegt.
(Layard I. 47, Perrot u. Ch. II, Fig. 137) an Stengeln Pinienzapfen vor, die
wahrscheinlich um einer symbolischen Bedeutung willen beigefügt wurden.
An den Palmen der assyrischen Reliefs historischen Inhalts hängen dagegen
die Früchte am unteren Ansatze des Fächers vom Stamme herab.
tischen Kunst nachzuweisen sind: für die Junkturen z. B. bei Prisse d’A.,
couronnements et frises fleuronnées 8, frises fleuronnées 4; für Lotusknospen
mit Volutenkelchen Lepsius III. 62.
formen wie die Egypter; darin liegt wohl gewiss ein wesentlicher Grund für
die Erscheinung, dass dieses Volk in der Ausbildung der dekorativen Kunst
so entschieden über die Leistungen der Egypter hinausgekommen ist, weil
eben nur Fremdes mit Fremdem ein Neues zu gebären vermag.
in der egyptischen Kunst an der Lotus-Palmette vorhanden; das specifisch
Assyrische beruht hier in der Ausdehnung dieses fruchtbaren ornamentalen
Motivs auf die Knospe und auf die Profilblüthe.
Perrot II. Fig. 68) und die von einem Architrav überdachte Säule bei Perrot II,
Fig. 71, was die Analogie mit der Bedeutung der egyptischen Lotuskapitäl-
säulen unmittelbar nahelegt.
funden der Dordogne in Bein gravirt (Fig. 6).
gedient hatte, gefunden zu Nimrud, ist abgebildet bei Layard I. 96; ihre An-
wendung illustrirt z. B. das Tabouret auf dem Relief bei Layard I. 5.
„Papyrus“ zur Charakterisirung der freien Endigung. Besonders beweisend
möglicherweise chaldäischen Ursprungs (vergl. auch hiefür das altchaldäische
Relief Perrot II. Fig. 71.)
vorkommenden Blüthenmotive mit den unterschiedlichen Lotusmotiven nicht
entgangen. Auch in Bezug auf die Abweisung der so beliebten Hypothese
von einem Zusammenhange des heiligen Baumes mit dem arischen Soma oder
Hom begegnet er sich vollständig mit meiner Ueberzeugung.
die von zwei Halbfiguren gehaltenen Stricke in Palmetten endigen, genau so
wie die Stricke, mit denen die Gefangenen auf egyptischen Reliefs gefesselt
erscheinen, in Lotus auslaufen. Vgl. auch oben S. 95 Fig. 35.
Hundes aus verhältnissmässig später Zeit, ist dasjenige, das ich aus der alt-
egyptischen Ornamentik beizubringen weiss, nämlich die Bordüre an einer
von Adoranten getragenen Tafel bei Lepsius VII. 187, aus der Zeit des grossen
Ramses. Die für wissenschaftliche Zwecke nach heutigen Anforderungen viel-
fach ungenügenden Abbildungen bei Layard und Lepsius lassen namentlich
bei so vereinzelten Beispielen Zweifel übrig. — Vgl. auch Owen Jones VII. 16.
gegeben; doch war es schwer eine andere Bezeichnung zu finden, die mit der
gleichen Verständlichkeit sowohl die Palmette als maassgebendes Element der
Form, als auch den anscheinend vorhandenen Bezug auf den „heiligen Baum“
zum Ausdrucke brächte.
ihrer leichten und freien Behandlung halber erfahrungsmässig am ehesten zu
Durchbrechungen der gegebenen Formentypen geführt hat. Die zwei anderen
angeführten Beispiele sind aber in hartem Material (Metall und Holz) ausge-
führt, woraus sich ergiebt, dass wir es da mit einem festbegründeten, nicht
bloss flüchtiger, spielender Veranlassung seine Entstehung verdankenden
Motiv zu thun haben. Daher geht es auch nicht an, den nach aufwärts ge-
richteten Volutenkelch einfach als a purely decorative variant, als blosse
Umkehrung des abwärts gerichteten Volutenkelches zu erklären, wie Goodyear
leichtherzig annimmt (S. 89). Es wäre dann nicht zu begreifen, warum die
Variante nicht auch mit dem einfachen Fächer (halbe Vollansicht) verbunden
vorkommt.
rischen Ursprungs zu sein brauchen, wie noch Dümmler annimmt, ist wohl
klar, seitdem wir dieses Motiv in Egypten bereits an Werken der VI. Dynastie
angetroffen haben (S. 40).
linie umzogene Palmette von der phönikischen im engeren Sinne abstammen,
was aber gänzlich unstatthaft ist, da jene sich aus dem Lotusblüthen-Knospen-
Bande abgelöst hat.
die Perser sicher kein Kunstvolk. Dass sie es späterhin nicht geworden sind,
dafür mag auch der Umstand mitbestimmend gewesen sein, dass dem sieg-
reichen Fortschreiten des Hellenenthums gegenüber der Orient bereits im
6. Jahrh. sich so ohnmächtig fühlen musste, dass er gar nicht mehr ernstlich
daran denken mochte, die Rivalität auf künstlerischem Gebiete aufzunehmen.
hier aber bereits griechischen Einfluss.
d. i. der gravirten Dreieck- und Zickzackornamentik, gleichfalls in den egypti-
schen Lotusblüthen-Reihen erblicken: eine allzugewagte Behauptung, die sich
bloss unter Berücksichtigung von Goodyear’s radikaler Theorie von einer ein-
zigen Quelle für alle späteren Kunstformen verstehen lässt.
Sinne gezählt.
Schliemann, Mykenä Fig. 87.
mettenbaumes gehalten. Eine Auswahl bei Goodyear auf Taf. LIV.
z. B. Schliemann, Mykenä Fig. 282, 358.
mentik ungebräuchlich, offenbar bloss um einer gegenständlichen Bedeutung
willen Darstellung gefunden hat, bei Prisse a. a. O., Jarres et Amphores, be-
gefässe VI. 30, 31, 32, 34.
etwas geneigt sind, verräth sich ein zu Grunde liegendes starres Schema.
Löschcke ihrem zweiten mykenischen Vasenstil zugeschrieben.
IV. 19: das Hauptmotiv ist in diesem Falle eine Wellenlinie, in deren Keh-
lungen je ein Kreis mit einem eingeschriebenen fächerförmigen Zweige sitzt.
Ferner erblicke ich eine fortlaufende Wellenranke in der Dekoration eines
Bechers aus Megara (Fig. 51), den Löschcke im Arch. Anzeiger 1891, S. 15
ranke verziertes Geschmeide abgebildet, das aus Curium stammt und von
Perrot phönikischem Ursprung zugewiesen wird. Dieses Beispiel hat wohl
auch Böhlau im Auge, wenn er (Jahrb. 1888 S. 333) zum böotischen Beispiel
einer Wellenranke (siehe Fig. 80) von kyprisch-griechischen Goldschmiedesachen
spricht, die das in Rede stehende Motiv zur Schau tragen. In Anbetracht
der Vereinzelung und des dem allgemeinen Charakter nach gewiss späten
Entstehungsdatums dieses Geschmeides kann man dasselbe in der That nur
mit Böhlau griechischem Ursprunge zuweisen.
ableiten zu sollen. Ich sehe eine Wellenlinie, in deren Buchten mandelförmige,
seitwärts geschwungene Knospen oder Blätter sitzen, ohne gleichwohl durch
einen Stengel mit der Wellenlinie verbunden zu sein; die kleinen Schlangen-
linien mit Punkt dienen offenbar zum Abschlusse der Zwickel.
als feinsinnige Bezugnahme auf die Function des Aus- und Eingiessens auf-
fassen. Dies würde nun allenfalls für den Hals einer Vase passen; Fig. 53
Beziehung haben die Nachredner Semper’s viel zu viel hineingedeutelt.
lichste Bordürenmotiv an persischen Teppichen. Da kein assyrisches oder
achämenidisches Denkmal über die einseitigen Bogenreihen hinausgekommen
ist, wird es wohl für niemand Unbefangenen mehr einen Zweifel leiden, dass
dieses Motiv erst mit der hellenistischen Invasion in das Festland von Asien
gelangt ist.
264, 265, 470.
Malerei.
Emailpasten aufzunehmen.
Auge nur je zwei Spiralen ab, was natürlich die Identität beider Muster nicht
alterirt.
gewiss auch selbständige gegenständliche Bedeutung und weder mit dem
mykenischen Polypen noch mit etwaigen egyptischen Vorbildern kunstgeschicht-
lich irgend etwas zu thun.
Heuschrecke zur Darstellung gebracht: Prisse d’A., Ornementation des plafonds
bucrânes unten.
248, 250.
Taf. IV, aber auch in Wandmalerei ebenda Taf. Xa, auf Vasen Myken. Thon-
gefässe IV. 14, an einem Goldknopf bei Schliemann, Mykenä Fig. 422.
zierungsformen die Einwirkungen der Textilkunst zu vermuthen, halte ich es
für nöthig ausdrücklich zu betonen, dass mit der oben gebrauchten Bezeich-
nung „Band“ durchaus keine Bezugnahme auf die Vorbildlichkeit eines textilen
Bandes verknüpft zu denken ist. Das „Band“ ist in diesem Fall nur eine be-
sonders körperlich zur Darstellung gebrachte Linie. Bandornamentik in
diesem Sinne treffen wir bei Völkern (Maori), die niemals ein textiles Band
gekannt haben.
Ausnahme, da in diesem Falle das Räthselhafte beabsichtigt war; um so be-
zeichnender ist hiebei der Umstand, dass das griechische Labyrinth die Ver-
schlingungen verschmäht, wogegen die „nordischen“ Labyrinthe ihren wirren
Charakter hauptsächlich dem vielfachen Sichkreuzen und Untereinanderver-
schwinden der Bänder verdanken.
band (Fig. 28, S. 88), das sich gleichfalls um ein Auge rollt, sowohl von
egyptischen als von mykenischen Bildungen unabhängig sein. Verwandte
aber keineswegs gleichartige Beispiele aus mykenischem Bereich sind bei
Schliemann, Mykenä Fig. 359, Myken. Vasen XXXIV. 338.
Kreis ausfüllen, sowie die Triquetren (z. B. Mykenä Fig. 138, 139) u. dgl. sind
aus der Bandornamentik abzuleiten. — Für eine Verwendung der Spirale zur
wir auch nur eine geometrische und eine animalische Ornamentik kennen,
Fig. 246 entgegentritt, und die mit der Bandornamentik von Fig. 244, 245
ebendaselbst völlig parallel läuft, hat die egyptische Kunst gleichfalls kein
Beispiel. Mit dieser Art der Spiralenornamentik möchte ich die charakteristischen
Verzierungen der Vasen des Furtwängler-Löschcke’schen vierten Stils (Myken.
Vasen XXXVI. 370, 371) in Verbindung bringen.
Art, wie wir es an der neuseeländischen Fruchtschale Fig. 29 gesehen haben,
findet sich in übereinstimmender Weise auch an einer Wandmalerei zu Tiryns,
Schliemann, Taf. VIe.
entscheidenden Momente von Aussen her zugemittelt worden ist.
Ähnliches vermuthe ich als der Ornamentik einiger Vasen des sogen. vierten
Stils zu Grunde liegend: Myken. Vasen XXXVII. 378, 379, 382.
Doppelspiralen in der Bordüre einer der Grabstelen, bei Schliemann, Mykenä
Fig. 24. Die Zwickel der Spiralen erscheinen da mit Halbpalmetten von fast
saracenisch-abstraktem Charakter gefüllt.
Besprechung des überaus interessanten Holzplättchens im Berliner Antiquarium
(Arch. Anz. 1891, S. 4 f.).
scheint völlig dieselbe Ranke zu sein die wir auf dem Bonner Becher (Fig. 51)
angetroffen haben.
als in der mykenischen Kunst in der Vorderansicht gebildet; über Egyptisches
im Dipylon vgl. Kroker im archäol. Jahrb. 1886, S. 95 ff.
berichten der kk. Akad. der Wissensch. phil. hist. Classe LXIV. 2. Heft, 1870.
Umstand schon Furtwängler hervorgehoben hat.
achten, (S. 93) wo uns auch zur Zeit der Sargoniden reiner egyptisch stilisirte
Blumentypen entgegengetreten sind, als an den älteren Denkmälern aus der
Zeit des Assurnasirpal u. s. w. Freilich mochten die Gründe da und dort ver-
schiedene gewesen sein.
Bordüre der Grabstele bei Schliemann, Mykenä Fig. 24, S. 58 zu stehen.
Halbpalmette seitens der melischen Vasenmaler monumental erweisen. Die
Sphinx auf der melischen Vase Arch. Jahrb. 1887, Taf. XII trägt sie am Haupte
als Bekrönung, also in einer Funktion, in welcher späterhin häufig wohl die
Palmette gebraucht wurde (Arch. Zeit. 1881, Taf. XIII No. 2, 3, 6), aber nicht
die einzelne Spirale.
argivischen, also europäischen Ursprung zurückgeführt werden (vgl. Dümmler
im Archäol. Jahrb. 1891, 263 ff.), sei deshalb erwähnt, um es zu rechtfertigen,
dass die bemerkbaren stärkeren orientalischen Einflüsse in dieser Vasengruppe
von uns nicht ausdrücklich mit der Nähe der Levante in Verbindung gebracht
wurden.
Taf. 51).
Deutlichkeit des Grundschemas zuliebe hinweg gelassen sind.
wird erst noch näher umgrenzt werden müssen; soviel darf aber heute schon
gesagt werden, dass derselbe grösstentheils weit über Gebühr überschätzt
worden ist; so auch von Holwerda im Arch. Jahrb. 1890, S. 237 ff. Wenn da-
selbst u. A. zum Beweise die pränestinische Ciste Mon. ined. VIII. 26 citirt er-
scheint, so ist dagegen zu sagen, dass die Lotusblüthen an diesem Beispiele
steif egyptisirend, die Palmetten gräcisirend, keineswegs aber assyrisch ge-
bildet sind. In der Zeit der Sargoniden war das Kunstschaffen auf nachmals
hellenischem Boden übrigens bereits soweit erstarkt und vorgeschritten, dass
seinen Trägern und Pflegern das gleichzeitige assyrische Kunstschaffen kaum
sonderlich imponirt haben dürfte.
zweischenkligen Giebel ist offenbar die einfachste Lösung des Postulats der
Zwickelfüllung; es ist daher nicht nothwendig die Spitzblätter des Lotus als
hiefür vorbildlich zu Hilfe zu nehmen. Am Schild des Menelaus auf dem-
selben Teller sind zwar die Zwickel zwischen den Doppelvoluten mit je drei
Giebeln gefüllt, hier ist aber in der That ein spitzblättriges Lotusprofil gemeint,
nach Analogie von Fig. 55, 56.
aber durch seine vorgeschrittene Bildung fast verblüffende Motiv (birnförmige
spiralenbekrönte Lotusblüthe zwischen zwei blattartigen Halbpalmetten)
zwischen den zwei Sphingen unterhalb des Kopfstücks des Klazomenischen
Sarkophags. Mon. ined. XI, 53, hingewiesen werden. Eine Halbpalmette, die
einen selbständigen liegenden Zweig krönt, und deren Seltsamkeit auch Furt-
wängler aufgefallen ist, findet sich auf einer Berliner Kanne, abgeb. im Arch.
Jahrb. 1886, S. 139.
Linie den Kelch darstellt, hat aber damit nichts zu thun.
als ein Ausschnitt aus Fig. 79.
Versuchen, ist die Schale aus Kameiros auf Taf. 33 bei Salzmann lehrreich.
Mit den Spiralen sind hier ganz zweckentsprechend die Volutenkelche für
ebensoviele Palmetten gebildet. Die Ausfüllung der Zwischenräume ist dem
Maler aber nicht mehr gelungen: zwei Lotusblüthen war er im Stande anzu-
bringen, mit dem dritten Zwischenraum ist er aber dermaassen in die Enge
gerathen, dass er sich mit der Einfügung einer Knospe begnügen musste.
Dem gegenüber ist die Lösung in Fig. 78 eine klassische zu nennen.
Kunst sowie die meisten archaisch-griechischen Stile (auch der in Rede
stehende böotische). Es ist der Wellenrankenzweig, der hier zum ersten-
male auftritt; allerdings vermöchte man vielleicht selbst hiefür ein mykeni-
sches Vorbild in Fig. 49 erblicken.
ist, wird man heute schwerlich entscheiden können. In der mykenischen
legende Keime des späteren Hellenismus verdanken, war sie zweifellos schon
vorhanden gewesen (S. 147). Aber auch die Dipylonvasen zeigen häufig
figürliche Darstellungen: ob unter mykenischem Einfluss? Und selbst die
Orientalen haben die figürliche Composition von den Werken des „Kunst-
gewerbes“ nicht grundsätzlich ausgeschlossen: man denke nur an die Metall-
schalen!
linien an jedem Lotusansatz herumwinden, geben auch Auskunft über die
Kreise, in die sich in Fig. 53 die meisten kelchbildenden Voluten umgewandelt
haben.
Museum No. 219, Taf. III.
und 84 gelten, da dieselben nicht zum intermittirenden Grundschema gehören.
dacht sind, deren seitliche Kronenblätter unmittelbar in die verbindenden
Bogen übergehen.
schehen, vgl. z. B. die pränestinischen Cisten, Mon. ined. VIII. Taf. 7, 29, 30.
Museum, S. 9, Fig. 6; hienach unsere Fig. 99.
Ornament-Ranken befolgten die attischen Vasenmaler vom Ende des 5. Jahrh.;
die Stelle der Rosette vertrat hier aber die tropfenförmige Zwickelfüllung,
die dann oft nach Bedarf kleksartig verbreitert erscheint.
Taf. II an den Horizontalhenkeln anstatt der Palmetten Rosetten.
Adikia).
Blüthe, welche unten die Symmetrie durchbricht, ist auch bemerkenswerth
wegen der Verbindung des Lotusprofils mit dem geschlossenen Palmetten-
fächer, die uns daran entgegentritt: also ein egyptischer Pleonasmus, aber
unter griechischer Formgebung.
attischen Schalen hat F. Winter kürzlich im Jahrbuch des kaiserl. deutsch.
archäol. Instituts VII. 2 (Die Henkelpalmette auf attischen Schalen, S. 105 bis
117) eine Reihe aufgestellt, die nicht vom centralen Geschlinge, sondern von
den zwei losen Palmettenzweigen der sogen. Kleinmeister-Schalen ausgeht,
deren je einer sich an jedem Henkelansatz befindet. Diese zwei getrennten
Palmetten werden dann in der Folge mittels einer Ranke untereinander ver-
bunden. Mit fortlaufender Entwicklung wird die Rankenverbindung eine
immer reichere, freiere, schwungvollere, völlig gemäss dem Processe, den wir
an unserer Entwicklungsreihe (Fig. 100—108) beobachten konnten. — Leider
kam die erwähnte Arbeit von F. Winter zu spät, um noch eine eingehendere
Berücksichtigung in diesem Kapitel erfahren zu können. Sie behandelt das
Palmettenranken-Ornament auf räumlich und zeitlich sehr beschränktem Ge-
biet und zeigt deutlich die wesentlichen Vortheile, die eine sorgfältige und
genaue Beachtung des rein ornamentalen Beiwerks auch für Bestimmung und
Datirung der Vasen im Gefolge haben kann.
ihm durch die Technik angewiesenen Stelle aufzunehmen, sind die mehrfachen
daran zu Tage tretenden Singularitäten, worüber auch Brunn im Text S. 24
sich geäussert hat. Die von Letzterem gegebene Erklärung für die Durch-
brechung der Symmetrie durch die Hasen glaube ich durch diejenige ersetzen
zu sollen, die sich aus dem Gedankengange der obigen Untersuchung von
selbst ergiebt.
staltung des Blattfächers gehen aber bis in die Zeit vor den Perserkriegen
zurück. Vergl. u. a. Ant. Denkm. I. Taf. 38, A 2.
Hinweglassung des grossen unteren Akanthuskelchs. — Das Beispiel zählt
nicht zu den frühesten und soll nur dazu dienen, das reife Produkt zu
veranschaulichen.
ursprünglichen orientalisirenden Form der Palmette, mit mehr oder minder
überfallenden Blattfächern, stehen geblieben ist, äussert sich eine unver-
kennbare Neigung, die im Rankenwerk verstreuten Palmetten in Halb-
palmetten zu zerlegen.
die er der Anekdote Vitruvs sonst entgegenbringt. Von einer Stackelberg
betreffenden Ausnahme wird weiter unten die Rede sein.
erschien mir die alte Quast’sche Reproduktion völlig genau und zutreffend.
dert, und die einzelnen Blätter des Fächers oben etwas ausladend heraus-
gearbeitet: also gleichfalls der strikte Uebergang von der Palmette zum
Akanthus, bedingt durch die plastische Form, was auch in der Abbildung
Fig. 113 zum Ausdrucke kommt.
Abbildung kein Gewicht legen, obzwar derselbe in seiner offenbaren Gleich-
werthigkeit mit der zwickelfüllenden Palmette so recht besonders geeignet
wäre, die ursprüngliche Identität von Palmettenfächer und Akanthus zu be-
stätigen.
des Kapitäls noch mehr verballhornt. So sehen wir z. B. bei Durm, Baukunst
der Griechen, an der Basis eine doppelte Reihe von Akanthusblättern, die in
der vollkommen ausgebildeten Weise des Lysikrates-Monuments stilisirt er-
scheinen.
Thanatos Taf. 1.
vgl. Conze, Attische Grabreliefs No. 59, Text S. 20. — In diesem Zusammen-
hange darf ich auch auf die Darstellung auf einer Lekythos verweisen, die
vor Kurzem aus dem Nachlasse weil. des Diplomaten und Orientreisenden
Grafen Prokesch-Osten in den Besitz des k. k. österr. Museums in Wien ge-
langt ist. Die Grabstele ist hier zwar viereckig gestaltet, mit geraden Simsen,
trägt aber oben einen Stuhl mit einem Korb darunter. Die Stele kann somit
unmöglich tafelartig gedacht gewesen sein, sondern es muss ein Pfeiler von
quadratischem Grundriss dem Maler vorgeschwebt haben. Ob es nun solche
im vorliegenden Falle gar nicht in Betracht: in der Vorstellung des
Malers haben sie existirt, diese Pfeiler mit vier Fronten; und das
Gleiche werden wir von den Stelen in cylindrischer Säulenform annehmen
dürfen. — In K. Masner’s Katalog der Sammlung antiker Vasen etc. im
k. k. österr. Museum hatte die Lekythos nicht mehr Aufnahme finden können;
eine Publikation derselben von seiten des genannten Autors ist in Kürze zu
erwarten, weshalb ich darauf verzichtete, hier eine Abbildung davon zugeben.
blättrigen, unbehilflich perspektivisch gezeichneten Akanthuskelche steckend.
z. B. Mon. ined. VIII. 10. In Stein plastisch bei Perrot und Chipiez III. 79,
Fig. 28.
plastisch!) bei Stephani, Compte rendu 1880, Taf. IV. 8.
ornament“, die Schaffung vegetabilischer „Flachmuster“, die man gewöhnlich
für eine specifische Errungenschaft der mittelalterlichen Orientalen anzusehen
pflegt, verdient in ihrer Durchführung auf den Halsverzierungen der unter-
italischen Vasen allein schon eine Monographie.
völlig natürlichem Habitus und zwar anscheinend nicht um einer gegenständ-
lichen Bedeutung willen, sondern zu rein dekorativen Zwecken an die Wände
gemalt; aber dies war augenscheinlich bloss eine vorübergehende Episode: die
natürlichen Blumenabbildungen verschwanden in der späteren Kaiserzeit
wieder aus der Dekoration; Palmetten und Akanthus dagegen sind geblieben.
Indust., Kat. No. 370. — Die Redaction dieses Kataloges durch Dr. K. Masner
(Die Sammlung antiker Vasen und Terrakotten im k. k. österr. Museum, Wien
antike Pflanzenrankenornament vielfach fördernd und anregend erwiesen,
was ausdrücklich hervorzuheben ich meinem genannten Amtskollegen gegen-
über als angenehme Pflicht empfinde.
schen Diadem aus Abydos (Fig. 123) entgegen, doch zeigen die kurzen Seiten-
schösslinge an der ersten Windung rechts und links von der Mitte akanthi-
sirende Stilisirung. Es liegt somit eine Akanthusranke vor, an der nur die
buschigen Blätter zu Gunsten der in die Windungen hineingesetzten musi-
cirenden Figuren unterdrückt sind.
mittirenden Akanthusranke zurückkommen.
lien und Pisidien.
Taf. 37.
dos bei Lanckoronski, Städte Pamphyliens und Pisidiens I. 100.
ten Palmetten gegeben erscheint, kehrt am Akanthusornament der Diocletia-
nischen Bauten (z. B. an der Thür des Jupitertempels) öfter wieder. Es ist
wohl der gleiche Zug, der z. B. an einer Gruppe von Goldschmiedesachen
aus dem Fund von Nagy St. Miklos so charakteristisch entgegentritt.
(S. 170) könnte thatsächlich von Einfluss gewesen sein auf das Aufkommen
der Übung, die überfallenden Blätter der Blüthenkrone gleich verbindenden
Stuckbordüre aus Pompeji, nach Nicolini Descriz. gener. 45.
Varianten finden sich oben in Zeichnung reproducirt. Die übrigen lassen sich
hiernach leicht feststellen.
nur für das vorliegende Beispiel charakteristisch. Sie sind entweder als kleine
Spiralschösslinge oder als schematische Umschreibungen von kleinen Blatt-
(Halbpalmetten) aufzufassen, wie nebenstehende Beispiele aus einem kairenischen
Manuskript vom J. 1411 beweisen, woraus auch unsere Fig. 139 mit den gleichen
kugeligen Rankenenden genommen ist.
den Falle allerdings dazu bei, das Grundschema in seiner einfachsten Form
zu verdunkeln.
Analogie. — Die Ausläufer der Ranken sind zum Theil kugelförmig wie an
Fig. 138, (vgl. Anm. 3), zum Theil als spiralige Einrollungen deutlich
charakterisirt.
XIII. 267 ff.) habe ich das Motiv als zwiespältige Rankentheilung bezeichnet;
im Text zu der vom k. k. österr. Handelsmuseum herausgegebenen Publikation
über „Orientalische Teppiche“ erscheint bereits die obige kürzere Bezeichnung
gebraucht.
zweigen lange blüthenbekrönte Rankenstengel ab, die die Hauptranke mehr-
fach durchschneiden; dies geschieht aber in freier, bewusst naturalistischer,
weil asymmetrischer Weise, wogegen die Durchschneidungen der saracenischen
Ranken stets nach einem streng symmetrisch-ornamentalen Grundplan erfolgen.
lich nur ein womöglich noch entschiedeneres und vorgeschritteneres.
zweigen soll, erscheint infolge eines Fehlers in der Kopie unterhalb der Spitze
angesetzt.
ist offenbar noch immer treuer als diejenige bei Pulgher, Les anciennes églises
byzantines de Constantinople I.
Instit. zu Athen XIV. 280 ff., wo sich auch eine verdienstliche Zusammen-
stellung des weitverstreuten, bisher grösstentheils unbeachtet gebliebenen
Untersuchungsmaterials findet.
Pamphylien.
am längsten bis in die ausgebildete saracenische Kunst erhalten; doch lässt
sich anderseits der Einfluss der Auflösung selbst schon an Kapitälen der
frühbyzantinischen Zeit feststellen (Salzenberg Taf. V).
dendsten Punkte, in denen klassische und spätantik-mittelalterliche Ornamentik
aus einander gehen.
des Lateran, nach de’Rossi um 400; Deckenmosaik der Apsis von San Vitale.
Einheitliches, sondern als eine äusserliche Aneinanderreihung einzelner Spiral-
ranken. Die Einseitigkeit dieser Auffassung darzulegen, ist nach den Aus-
führungen im 3. Kapitel dieses Buches wohl überflüssig.
ganze Anzahl spielender Vorläufer liefern.
Pamphylien und Pisidien.
Wien 1889.
1892.
waare erklärt.
auch bei Owen Jones Taf. 30.
dann setzt die fortlaufende Ranke an das mit dem vorhandenen einen Kelch-
blatt korrespondirende zweite Kelchblatt an.
monumental zu erweisen: Tragaltar in der Coll. Spitzer, Jvoires XIII.
wegs selten auch in der abendländischen Kunst des X.—XII. Jahrh.
Neigung zwei Halbmotive zu einem symmetrisch aufgebauten Vollmotiv zu-
sammentreten zu lassen.
malerei bei Schliemann, Tiryns Taf. XI, in Vasenmalerei ebenda Taf. XXVII.
In letzterem Falle sind wohl die begrenzenden Polygone am oberen Rande
halbirt, nicht aber die füllenden Motive von augenscheinlich vegetabilischer
Herkunft. — Diese Dinge harren alle noch der genaueren Verfolgung.
S. 125.
ländischen Arbeiten (Elfenbeinschnitzereien, Miniaturmalereien) jener Zeit nicht
selten genau die gleiche.
handen war, in welchem Falle man der Natur ihre charakteristischen Seiten
Denkm. I. 11 (Wandbild in Prima Porta) die Grenze zwischen gegenständ-
licher und dekorativer Absicht nicht mehr streng zu ziehen. Solche Fälle
scheinen vielmehr zu beweisen, dass man schon in der augusteischen Zeit
sich auf einem Wege zum Realismus in der Kunst befand, von dem man
jedoch alsbald abgekommen ist, um sich ihm erst wieder in neuerer Zeit,
diesmal aber entschiedener, zuzuwenden.
Eindruck recht überzeugend gewinnen.
schrift des XI. Jahrhdts.
nungen der ausgebildeten saracenischen Dekorationsflora zu erklären, will ich
gleich bei dieser Gelegenheit bemerken, dass die kapriciöse Art der Blattbe-
handlung gleich Fig. 182 gleichfalls von der saracenischen Kunst übernommen
worden ist, wie zahlreiche Teppiche, Miniaturen und Fliesen aus dem späteren
Mittelalter und der beginnenden Neuzeit beweisen. Ich knüpfe daran eine
Selbstberichtigung, da ich im Jahrbuch der Kunstsammlungen des Aller-
höchsten Kaiserhauses Band XIII S. 303 die Meinung ausgesprochen habe, jene
eigenthümliche Blattbehandlung wäre auf chinesische Einflüsse zurückzu-
führen. Nun mir der wahre Sachverhalt klar geworden ist, vermag ich die
gleiche Tendenz auch in der Bildung der Blattränder zahlreicher Arabesken-
motive des 14. und 15. Jahrh. zu erkennen.
J. Strzygowski, das Etschmiadzin Evangeliar S. 91, die Rede ist, sind nichts
Anderes als Gabelranken, an verschlungenen Wellenlinien pilasterförmig über-
einander aufsteigend, wofür das eigentliche historische Prototyp in Fig. 159
vorliegt. Die Verwandtschaft derselben mit den sassanidischen Ornamentbil-
dungen gleich Fig. 161—163, bin ich der Letzte zu bestreiten; doch liegt diese
Verwandtschaft keinesfalls unmittelbar zu Tage, sondern ist erst aus der Be-
trachtung und Erkenntniss der allgemeinen und gemeinsamen Entwicklung
heraus, wie ich sie im Obigen zu geben versucht habe, wirklich und über-
zeugend zu verstehen.
Mores Taf. 4 No. 6.
d’Avennes aus dem XII. Jahrh.
in der Art von Fig. 181 zu Grunde.
talische Teppiche 161 ff.) hingewiesen habe; ebendas. reproducirt nach Prisse
d’Avennes; ebenso bei Lane Poole, Art of the Saracens of Egypt 125.
beachte auch die frei endigende Blüthe in der Mitte der Einrollung, mit ihren
umgeschlagenen Blättern gemäss Fig. 181—183.
Bedeutung.
Pflanzenranken-Ornamentik; den Thatbestand umzukehren, wie auch schon
geschehen ist, war abermals nur möglich unter der Herrschaft des Vorurtheils
von einer wesentlich autochthonen Entwicklung aller ornamentalen Künste.
Prachtwerke: Orientalische Teppiche Taf. II.
nisse chinesischen Einflusses — kommen hier nicht in Betracht.
ihre entsprechenden Analogien in Fig. 180—183. Vgl. S. 327.
— Der spielend dekorative Gebrauch, den die saracenische Kunst vom
Pflanzenrankenornament gemacht hat, äussert sich in höchst beachtenswerther
Weise in der theilweisen Ersetzung der Halbpalmetten durch Vogelleiber, wie es
sich an den erwähnten mesopotamischen Metallarbeiten — und anscheinend nur
an diesen — findet: z. B. fortlaufende Wellenranken mit abzweigenden Vogel-
leibern bei Prisse a. a. O.
österreichischen Monatsschrift für den Orient, Jänner 1892: Die Heimat des
orientalischen Knüpfteppichs.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Riegl, Alois. Stilfragen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn5d.0