[][][][][]
Neues
Organon

oder
Gedanken
uͤber die
Erforſchung und Bezeichnung
des
Wahren
und deſſen
Unterſcheidung
vom
Jrrthum und Schein.



Zweyter Band.


Leipzig,:
bey Johann Wendler,1764.

[][[1]]

Jnhalt des zweyten Bandes.
Semiotik
oder
Lehre von der Bezeichnung der Ge-
danken und Dinge.





  • Erſtes Hauptſtuͤck.
    Von der ſymboliſchen Erkenntniß uͤberhaupt   Seite 5
  • Zweytes Hauptſtuͤck.
    Von der Sprache an ſich betrachtet   44
  • Drittes Hauptſtuͤck.
    Von der Sprache als Zeichen betrachtet   64
  • Viertes Hauptſtuͤck.
    Von den Zeitwoͤrtern   86
  • Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
    Von den Nennwoͤrtern   102
  • Sechſtes Hauptſtuͤck.
    Von den unveraͤnderlichen Redetheilen   121
  • Siebentes Hauptſtuͤck.
    Von der Wortforſchung   148
  • Achtes Hauptſtuͤck.
    Von der Wortfuͤgung   165
  • Neuntes Hauptſtuͤck.
    Von der Art einer Sprache   190
  • Zehntes Hauptſtuͤck.
    Von dem Hypothetiſchen der Sprache   201


[[2]]Jnhalt des zweyten Bandes.

Phaͤnomenologie
oder
Lehre von dem Schein.



  • Erſtes Hauptſtuͤck.
    Von den Arten des Scheins   Seite 217
  • Zweytes Hauptſtuͤck.
    Von dem ſinnlichen Schein   237
  • Drittes Hauptſtuͤck.
    Von dem pſychologiſchen Schein   276
  • Viertes Hauptſtuͤck.
    Von dem moraliſchen Schein   300
  • Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
    Von dem Wahrſcheinlichen   318
  • Sechſtes Hauptſtuͤck.
    Von der Zeichnung des Scheins   421


[[3]]

Semiotik
oder
Lehre
von der
Bezeichnung der Gedanken
und Dinge.


A 2
[[4]][[5]]

Semiotik.

Erſtes Hauptſtuͤck.

Von der
ſymboliſchen Erkenntniß uͤberhaupt.


§. 1.


Die genauere Betrachtung der Woͤrter und
uͤberhaupt jeder Zeichen, wodurch wir
Begriffe und Sachen vorſtellen, macht
ſich einem Weltweiſen, der das Wahre vom Falſchen zu
trennen ſucht, aus vielen Gruͤnden nothwendig, und
kann daher auch aus der Grundwiſſenſchaft nicht weg-
bleiben. Jede Sprache beut uns eine gewiſſe Anzahl
Woͤrter an, mit deren mannichfaltigen Verbindung wir
uns lebenslang beſchaͤfftigen, theils um unſere Gedan-
ken auszudruͤcken, theils um durch neue Verbindungen
oder Combinationen der Woͤrter neue Wahrheiten zu
ſuchen. Dieſe ziemlich beſtimmte Anzahl der Woͤrter
einer Sprache ſetzet unſerer Erkenntniß, in Abſicht auf
ihre Ausdehnung, gewiſſermaßen Schranken, und giebt
derſelben eine ihr eigene Form oder Geſtalt, welche al-
lerdings in die Wahrheit ſelbſt einen Einfluß hat, und
in allewege die Unterſuchung eines Weltweiſen ver-
A 3dienet.
[6]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
dienet. Es iſt eine auch fuͤr Kenner des Alterthums
ſchwere Arbeit, unſere dermaligen Sprachen in ihrem
erſten Urſprunge aufzuſuchen. Was uns aber theils
die Natur der Sache, theils auch die Geſchichte lehret,
iſt, daß es damit ſehr gelegentlich zugegangen, daß die
Sprachen jeder wiſſenſchaftlichen Erkenntniß Jahrhun-
derte vorgehen, und ihren Urſprung Unſtudierten zu
danken haben. Jn jeder Sprachlehre wird der Ge-
brauch zu reden
als ein Tyrann vorgeſtellet, der
tauſend Anomalien und Abweichungen von allgemeinen
Regeln eingefuͤhret hat, und deſſen Eigenſinn ſich
Sprachlehrer und Weltweiſe bald unbedingt unterwer-
fen muͤſſen. Man ſtellet daher die Sprache als eine
Democratie vor, wo jeder dazu beytragen kann, wo aber
auch alles, gleichſam wie durch die Mehrheit der Stim-
men, angenommen oder verworfen wird, ohne daß man
ſich immer um das Wahre oder Falſche, Richtige oder
Unrichtige, Schickliche oder Ungereimte viel umſieht.


§. 2. Es ſieht demnach mit den Sprachen, von
dieſer Seite betrachtet, ſehr mißlich aus. Sie ſind al-
lerdings nicht ſyſtematiſche Lehrgebaͤude, wobey alles
nach allgemeinen und einfoͤrmigen Regeln waͤre aufge-
fuͤhret worden. Man kann ſich wohl etwan einen Be-
griff einer einfachen und durchaus regelmaͤßigen Spra-
che machen. Große Gelehrte haben daran gedacht, ſie
aber noch nicht gefunden. Man wuͤrde ſie auch ſchwer-
lich Unſtudierten oder dem gemeinen Volke anvertrauen
koͤnnen, weil man fruͤher, als man es gedenken ſollte,
den Gebrauch zu reden wiederum zum Tyrannen
haben wuͤrde. Um deſto weniger wird man ſich ver-
wundern, wenn die wirklichen Sprachen, welche Unſtu-
dierte zum Urheber haben, von einer ſolchen einfachen
Sprache abweichen, und vielmehr ein Cahos, als etwas
Regelmaͤßiges, vorſtellen.


§. 3.
[7]Erkenntniß uͤberhaupt.

§. 3. Jndeſſen, wenn man die wirklichen Spra-
chen naͤher betrachtet, ſo findet ſich ungemein viel Meta-
phyſiſches und Allgemeines darinnen, |und dieſes wird
um deſto bewundernswuͤrdiger, da man, wenn man auf
den Urſprung der Sprachen und ihrer Urheber zuruͤcke
geht, wenig oder nichts dergleichen vermuthen ſollte,
weil man dabey keine Verabredung vorausſetzen kann.
Man ſollte daher gedenken, daß die erſten Urſachen der
Sprache an ſich ſchon in der menſchlichen Natur ſind,
und es lohnet ſich der Muͤhe, es aufzuſuchen. Denn
dadurch wird ſich entſcheiden laſſen, was in den Spra-
chen nothwendig, natuͤrlich und willkuͤhrlich iſt.
Ein Unterſchied, welcher einem Weltweiſen im gering-
ſten nicht gleichguͤltig ſeyn kann.


§. 4. Das Dechiffriren, wobey wir bereits in der
Dianoiologie bey Betrachtung der Hypotheſen (§. 555.
ſeqq.) Erwaͤhnung gethan, zeigt uns ebenfalls, daß es
moͤglich iſt, eine mit Ziffern geſchriebene Schrift zu le-
ſen, und den Schluͤſſel dazu zu finden, und laͤßt vermu-
then, daß es eben nicht durchaus unmoͤglich ſeyn wuͤr-
de, ein Buch, das in einer ganz unbekannten Sprache
geſchrieben waͤre, ohne weitere Beyhuͤlfe uͤberſetzen zu
koͤnnen. So giebt uns auch in denen Sprachen, die
wir gelernet haben, oͤfters der Zuſammenhang den wah-
ren Verſtand der Woͤrter, und nicht ſelten auch ihre
Bedeutung, die wir bis dahin noch nicht wußten. Oh-
ne das Regelmaͤßige in den Sprachen, wuͤrde uns von
allen dieſen wenig oder nichts moͤglich ſeyn.


§. 5. Aus dieſen Betrachtungen, die wir hier nur
kurz anfuͤhren, erhellet ſo viel, daß in den Sprachen Re-
geln ſind; daß ſie aber nicht unbedingt als allgemein
angeſehen werden koͤnnen, und ſolglich genauer muͤſſe
entſchieden werden, wie ferne man darauf bauen koͤn-
ne. Da wir hier die Sprache, und uͤberhaupt die
ſymboliſche Erkenntniß in ſo ferne betrachten werden,
A 4als
[8]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
als ſie einen Einfluß auf die Wahrheit hat; ſo werden
wir uns vornehmlich bey dem Philoſophiſchen, welches
in der Sprache und andern Zeichen unſerer Erkennt-
niß iſt, aufhalten, und das Grammatiſche nur in ſo
weit mitnehmen, als es dazu dienet.


§. 6. Das erſte, ſo ſich uns hier anbeut, iſt die Un-
terſuchung der Nothwendigkeit der ſymboliſchen Er-
kenntniß uͤberhaupt, und der Sprache beſonders. Zu
dieſem Ende koͤnnen wir die bereits in der Alethiologie
(§. 15. ſeqq.) gemachte Anmerkung wiederholen, daß
wir die klaren Begriffe, ſo wir durch die aͤuſ-
ſern Sinnen erlangen, wachend nicht in ihrer
voͤlligen Klarheit erneuern koͤnnen, es ſey denn
durch die Erneuerung der Empfindung.
Wir
koͤnnen dieſen Satz eben ſo unter die Poſtulata rechnen,
wie wir (§. 163. Alethiol.) den Satz des Widerſpruches
unter dieſelben gerechnet haben. Man verſuche es
naͤmlich, ob man wachend von Licht, Farben,
Schall, und jeden andern Gegenſtaͤnden der
aͤußern Sinnen, ohne die Erneuerung der Em-
pfindung, den klaren Begriff erneuern koͤnne.
Es wird nicht angehen.
Was in Anſehung der
Figuren hierbey zu erinnern, haben wir bereits in der
Alethiologie §. 17. angezeigt. Die Erneuerung ihrer
Vorſtellung iſt moͤglich, weil die Bewegung in unſerer
Gewalt iſt. Sie iſt aber auch nur in ſo ferne moͤglich,
als wir dem Unwiſſe der Figur, ich ſage nicht in Ge-
danken, ſondern durch die Bewegung der Augen, Haͤn-
de ꝛc. nachfahren koͤnnen, und folglich, ſo fern uns dieſer
Unwiß bekannt, oder die Bewegung angewoͤhnet iſt.


§. 7. Da wir demnach die klaren Begriffe durch
die Wiederholung der Empfindung erneuern muͤſſen,
ſo bleiben ſie uns ohne dieſe Wiederholung nur dunkel.
Der Traum zeigt uns, daß ſie klar werden koͤnnen,
wenn es ſtaͤrkere Empfindungen nicht hindern, und
wenn
[9]Erkenntniß uͤberhaupt.
wenn ihre Aufklaͤrung veranlaßt wird. Wir nehmen
dieſes hier ſchlechthin als eine Erfahrung an. Die
Veranlaſſung kann auch im Wachen da ſeyn: allein die
Aufklaͤrung geht nicht von ſtatten. Und dieſes wuͤrde
uns, wenn wir keine Sprache noch Zeichen der Begriffe
haͤtten, Zeichen zu gebrauchen noͤthigen. Wir wuͤrden
immer Simulacra durch Gebaͤrden, Bewegung ꝛc. ſu-
chen, um den Begriff, der dunkel in der Seele iſt, und
zu deſſen Aufklaͤrung die Veranlaſſung da iſt, aufzu-
klaͤren,
oder wenigſtens uns ſelbſt oder andern anzu-
deuten.
Das Aufklaͤren geht bey Zahlen, Figu-
ren
und Bewegung mehr oder weniger an; bey Far-
ben, Geruch, Geſchmack, Waͤrme ꝛc. wuͤrden wir es bey
bloßen Zeichen muͤſſen bewenden laſſen, ſo oft die Em-
pfindung ſelbſt nicht koͤnnte erneuert werden.


§. 8. Da die eigentlich klaren Begriffe nur bey den
Empfindungen ſtatt haben, ſo iſt nothwendig, daß ſol-
che Zeichen ebenfalls von der Art ſeyn muͤſſen, daß wir
ſie jedesmal und nach Belieben wieder empfinden koͤn-
nen. Denn nicht nur wird dadurch der Begriff des
Zeichens klar, ſondern, weil ſtaͤrkere Empfindungen die
ſchwaͤchern unterdruͤcken, ſo koͤnnen wir auch ohne Muͤ-
he die Aufmerkſamkeit darauf richten, und das Zeichen
erinnert uns an den Begriff, deſſen wir uns zwar ohne
Empfindung nicht klar bewußt ſind, den wir aber, ſo
bald die Empfindung erneuert wird, wieder erkennen
koͤnnen. Dieſes iſt alles, was wir uns vorſtellen, wenn
wir, ohne die Empfindung zu erneuern, an den Be-
griff roth, weiß, gruͤn ꝛc. oder an eine Terz, Quart,
Quint, Octave ꝛc. oder an ſuͤß, bitter, ſauer ꝛc. ge-
denken.


§. 9. Die Empfindungen, die am meiſten in unſe-
rer Gewalt ſind, ſind die Bewegungen des Leibes,
die Figuren oder Zeichnungen, und die artikulir-
ten Toͤne.
Wir gebrauchen ſie auch wirklich alle drey
A 5zu
[10]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
zu Zeichen der Gedanken, deren Empfindung wir nicht
jedesmal erneuern koͤnnen. Die Gebaͤrden werden
beſonders bey Rednern als eine Belebung der Spra-
che erfordert, und ſind bey den Affecten ſehr natuͤrlich.
Taube und Stumme ſind dazu eingeſchraͤnkt, daß ſie
ſich nicht wohl anders, als durch Deutungen mit den
Haͤnden und Gebaͤrden, koͤnnen zu verſtehen geben. Die
Schriften der Chineſer ſind Figuren, wodurch ſie ih-
re Begriffe vorſtellen. Die Hieroglyphen der Ae-
gyptier waren ebenfalls ſolche. Jn der Aſtronomie,
Chymie, Algeber, Muſik, Choreographie ꝛc. kommen
ſolche ebenfalls vor. Unſere Buchſtaben ſind Zei-
chen artikulirter Toͤne, und daher die geſchriebe-
nen Woͤrter
nur mittelbare Zeichen der Begriffe.
Alle dieſe Zeichen ſind vornehmlich fuͤr das Auge, und
daher ſind ſie des Nachts oder im Dunkeln von weni-
gem oder gar keinem Gebrauche. Jn dieſer Abſicht
hat demnach der Schall und die Rede einen Vor-
zug, der ſie immer und nothwendig zum Zeichen unſe-
rer Begriffe machen wird. Denn nicht nur iſt das
Reden leicht, hurtig und vernehmlich, ſondern es iſt
auch nicht an die Abwechſelung der Tages- und Jahres-
zeiten gebunden.


§. 10. So lange die Sache, welche ein Zeichen vorſtel-
let, nicht gegenwaͤrtig iſt, noch von uns empfunden wird,
haben wir nur den Begriff des Zeichens klar, weil
wir in der That keine andere unmittelbare Zeichen waͤh-
len koͤnnen, als ſolche, die in Empfindungen beſtehen.
Denn waͤhleten wir Zeichen, die wir nicht immer wie-
der empfinden koͤnnten, ſo wuͤrde der Begriff deſſelben
in ſeiner Abweſenheit uns eben ſo dunkel bleiben, als
der Begriff der ebenfalls abweſenden Sache, die das
Zeichen vorſtellet, und wir muͤßten ein neues Zeichen
annehmen, welches wir empfinden koͤnnten.


§. 11.
[11]Erkenntniß uͤberhaupt.

§. 11. Bey der Empfindung des Zeichens iſt das
Bewußtſeyn, daß es dieſe oder jene Sache, dieſen oder
jenen Begriff vorſtelle, und dieſes Bewußtſeyn iſt eben-
falls nur dunkel, ſo lange wir die Sache nicht ſelbſt
empfinden. Dieſe Dunkelheit des Bewußtſeyns der
bedeuteten Sache hat ihre Stufen, welches daraus er-
hellet, daß wir zuweilen Muͤhe haben, uns darauf zu
beſinnen, und es etwan auch vollends vergeſſen. Eben
dieſes hat auch hinwiederum bey den Zeichen ſtatt, weil
wir uns zuweilen auf ein Wort beſinnen muͤſſen, dieſen
oder jenen Begriff oder Sache zu benennen und aus-
zudruͤcken.


§. 12. Aus den bisherigen Betrachtungen erhellet
nun, daß die ſymboliſche Erkenntniß uns ein
unentbehrliches Huͤlfsmittel zum Denken iſt.

Denn da wir, ohne die Empfindung der Sache zu er-
neuern, den Begriff derſelben wachend nicht aufklaͤren
koͤnnen, wie es etwan im Traume geſchieht; (§. 6.) ſo
wuͤrden wir ohne die Zeichen der Begriffe, entweder
von jeder gegenwaͤrtigen Empfindung hingeriſſen wer-
den, und uns hoͤchſtens nur der aͤhnlichen Empfindung
dunkel bewußt ſeyn, oder von andern vormals gehabten
Empfindungen nur ein dunkeles und fluͤchtiges Bewußt-
ſeyn haben, welches uns aber wenig dienen wuͤrde, wenn
wir es nicht an Zeichen binden koͤnnten, deren Empfin-
dung wir erneuern, und die Aufmerkſamkeit ganz dar-
auf richten koͤnnten.


§. 13. Daß wir ohne ſolche Zeichen anderen unſere
Begriffe nicht mittheilen koͤnnen, iſt an ſich ſo klar, daß
es keines Beweiſes bedarf. Es macht aber den zwey-
ten Theil des Beweiſes von der Nothwendigkeit der
Zeichen oder der ſymboliſchen Erkenntniß aus.


§. 14. Daß ferner die Rede dazu ein ſolches
Mittel iſt, welches wir immer und am leichteſten in un-
ſerer Gewalt haben, erhellet aus der (§. 9.) angegebe-
nen
[12]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
nen Zergliederung der Mittel zu ſolchen Zeichen derge-
ſtalt, daß, ungeachtet wir auch Bewegung und Figu-
ren
dazu gebrauchen koͤnnen, die Rede ſelbſt dennoch
unentbehrlich bleibt, und uns den Vorzug giebt, den
Redende uͤber Taube und Stumme haben.


§. 15. Bey ſo bewandten Sachen iſt nicht zu zwei-
feln, daß nicht die Natur des Menſchen ganz dazu ein-
gerichtet ſeyn ſollte. Jn der That umgiebt uns die
Luft, welche den Schall fortpflanzet, aller Orten, und
ſo, daß wir ohne dieſelbe nicht leben koͤnnten. Die mei-
ſten lernen von dem muͤndlichen Vortrage leichter, als
wenn ſie eben denſelben leſen muͤßten, und viele koͤnnen,
ohne laut zu leſen, mit dem Leſen nicht fortkommen.
Der Schall iſt ferner von der Art, daß man ſelten ge-
noͤthigt iſt, das Ohr nach demſelben zu wenden, wie wir
das Auge gegen die Sache richten muͤſſen: und da die
Graͤnzen des deutlichen Sehens innerhalb wenigen Zol-
len enthalten ſind, ſo koͤnnen wir den Schall in ungleich
groͤßern Entfernungen vernehmlich hoͤren, und die Re-
de durch merklich viele Stuffen verſtaͤrken ꝛc.


§. 16. Die Zeichen thun uns ferner den Dienſt,
daß dadurch alle unſer Denken in eine unun-
terbrochene Reihe von Empfindungen und
klaren Vorſtellungen verwandelt wird.
Denn
wir koͤnnen keine andere Zeichen gebrauchen, als ſolche,
die empfunden werden koͤnnen (§. 10). So lange wir
nun keine Zeichen empfinden, ſind wir uns im Wachen
jeder andern ſtaͤrkern Empfindung bewußt. Demnach
gehen uns Empfindungen nie ab.


§. 17. Da wir ferner weder immer die Dinge em-
pfinden, an welche wir denken, und viele Abſtracta nicht
empfunden werden koͤnnen, ſo fuͤllet die Empfindung
der Zeichen die meiſten Luͤcken in unſerem Denken aus,
und beſonders iſt unſere allgemeine oder abſtracte
Erkennt-
[13]Erkenntniß uͤberhaupt.
Erkenntniß durchaus ſymboliſch, weil alles, was wir un-
mittelbar empfinden koͤnnen, individual iſt.


§. 18. Hier koͤmmt uns nun das zu ſtatten, was
wir in der Alethiologie von der Vergleichung der Jn-
tellectualwelt und Koͤrperwelt angemerkt haben. (§. 46.
ſeqq. l. cit.) Der Eindruck, den die Objecte der verſchie-
denen Sinnen und des Verſtandes in uns machen, iſt
eigentlich die Grundlage zu unſerer ſymboliſchen Er-
kenntniß. So gedenken wir hohe Gebaͤude, hohe Toͤ-
ne, hohe rothe Farbe, hohe Gedanken, hohe Wuͤrden ꝛc.
wegen gewiſſer Aehnlichkeiten des Eindruckes, den dieſe
Dinge in uns machen, die von ganz verſchiedenen Sin-
nen herruͤhren. Die Folge, die wir daraus ziehen, iſt
dieſe, daß, wenn unter den articulirten Toͤnen eine ſolche
Mannichfaltigkeit des Eindruckes waͤre, wie unter den
Objecten jeder andern Sinnen; wenn ferner durchaus
kenntliche Aehnlichkeiten unter dieſen Eindruͤcken ſtatt
haͤtten, und wenn endlich jede Sache bey allen Menſchen
einerley ſtaͤrkere Eindruͤcke machten, daß, ſage ich, in
ſolchen Umſtaͤnden eine natuͤrliche Sprache gar wohl
wuͤrde moͤglich ſeyn. Denn da wir gleichſam genoͤthigt
ſind, zu unſern Begriffen und Empfindungen Simula-
cra
zu ſuchen, (§. 7.) ſo iſt klar, daß uns auch bey je-
den geſehenen oder empfundenen Dingen, die denſelben
entſprechenden, oder wegen Aehnlichkeit des Eindruckes
damit harmonirenden articulirten Toͤne, zu Zeichen die-
nen wuͤrden.


§. 19. So ſind nun allerdings unſere Sprachen
nicht beſchaffen, und es waͤre zu weitlaͤuftig, zu unterſuchen,
welche Woͤrter und in welchen Sprachen ſie eine merk-
lichere Aehnlichkeit zu der bedeuteten Sache haben.
Man muͤßte zu den allererſten Primitiuis oder Wurzel-
woͤrtern zuruͤcke gehen, und ihre urſpruͤngliche Bedeu-
tung wiſſen, oder gar den Anlaß kennen, bey welchem
ſie das erſtemal ſind gebraucht worden, wenn man
ſehen
[14]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
ſehen wollte, ob der erſte Eindruck des Wortes und der
Sache etwas aͤhnliches habe. Verſchiedene Jnterjectio-
nen, z. E. ach! o! he! ey! ꝛc. weil ſie Wirkungen,
und daher natuͤrliche Zeichen von Affecten ſind, ſchei-
nen bey dieſer Unterſuchung ſich zuerſt anzubieten.


§. 20. Wir koͤnnen daher die Woͤrter, und beſon-
ders die Wurzelwoͤrter der Sprachen, nicht wohl anders,
als willkuͤhrliche Zeichen der Sachen und Begriffe
anſehen, wenn wir ihre eigene Bedeutung nehmen.
Hingegen haben ſie als Metaphern, wobey naͤmlich die
eigene Bedeutung ſchon vorausgeſetzt wird, bereits mehr
Aehnlichkeiten. Dieſe beſtehen aber nicht in der Ver-
gleichung des Eindruckes, den das Wort und die Sache
macht, ſondern in demjenigen, welchen die Dinge ma-
chen, die man durch die Metapher benennt. Eben die-
ſes iſt auch von den abgeleiteten und zuſammengeſetzten
Woͤrtern zu verſtehen, ſo fern naͤmlich die urſpruͤngliche
Bedeutung der Wurzelwoͤrter noch bekannt iſt, und der
Gebrauch zu reden keine Anomalie eingefuͤhrt hat.


§. 21. Da wir von abweſenden oder auch an ſich
unempfindbaren Dingen, uns nur der Woͤrter oder Zei-
chen klar, des dadurch vorgeſtellten Begriffes oder
Sache nur dunkel bewußt ſind; (§. 12.) ſo kann es gar
wohl geſchehen, daß wir in der That nichts als Woͤrter
denken, und uns nur einbilden, daß ein realer, wahrer,
richtiger Begriff dabey zum Grunde liege. Und die
Faͤlle ſind eben nicht gar ſelten, wo wir bey genauerer
Unterſuchung ſinden, daß wir unmoͤgliches Zeug uns
als wahr und moͤglich vorgeſtellt oder eingebildet haben.
Denn das dunkle Bewußtſeyn, daß die Woͤrter Be-
griffe vorſtellen, hat ſeine Stuffen, und es iſt dabey ſehr
leicht, einen Begriff fuͤr den andern zu nehmen, weil
wir uns derſelben nur dunkel bewußt ſind. Man nennt
die Woͤrter und Saͤtze, welche etwas Falſches, Unmoͤgli-
ches, Ungeraͤumtes ꝛc. vorſtellen, leere Toͤne, und ein
Syſtem
[15]Erkenntniß uͤberhaupt.
Syſtem von ſolchen Woͤrtern und Saͤtzen, einen leeren
Wortkram.
Die Schulweisheit der Anhaͤnger des
Ariſtoteles wird eines ſolchen Wortkrams beſchuldiget,
und man hat ſich bisher Muͤhe gegeben, die Weltweis-
heit davon zu reinigen. Uebrigens iſt es ſehr wohl
moͤglich, unvermerkt in ſolchen Wortkram zu fallen,
wenn man ſich nicht die Muͤhe nimmt, die Begriffe, die
die Woͤrter vorſtellen, durch wirkliche Empfindung der
Sache, neuerdings klar zu machen. Baco hat dieſes
eingeſehen, weil er die Erfahrung und Verſuche als ei-
nen Probierſtein der Bedeutung der Woͤrter und der
Begriffe vorgeſchlagen. Und dieſes hat die Wirkung
gehabt, daß unter allen Theilen der Weltweisheit die
Naturlehre am meiſten und am ſichtbarſten von dem
leeren Wortkram befreyt worden, und noch immer mehr
daran gearbeitet wird. Man ſehe auch Dianoiol. §. 585.


§. 22. Man nennt die ſymboliſche Erkenntniß auch
figuͤrlich, und zwar vornehmlich in ſo fern die Zeichen,
wodurch ſie vorgeſtellt wird, ſichtbar oder Figuren
ſind, wie z. E. die Schriften, Zahlen, Noten ꝛc. Uebri-
gens iſt das Wort figuͤrlich vieldeutig, und wird uͤber-
haupt von den Metaphern oder verbluͤmten Aus-
druͤcken
gebraucht, beſonders aber auch, ſo fern wir
die abſtracten Begriffe und die Dinge der Jntellectual-
welt, wegen Aehnlichkeit des Eindruckes, uns unter ſinn-
lichen Bildern vorſtellen, wovon wir in der Alethiologie
§. 47. Beyſpiele geben. Jn dieſen letztern Faͤllen iſt
die ſymboliſche Erkenntniß auf eine gedoppelte Art figuͤr-
lich, weil man von der eigenen Bedeutung des Worts
abgeht, und ſich die Sache unter dem ſinnlichen Bilde
vorſtellt. Auf dieſe Art haben wir in der Dianoiologie
erwieſen, wie man die Lehre von den Schluͤſſen durch-
aus und im eigentlichſten Verſtande figuͤrlich machen
koͤnne, indem wir gezeigt haben, wie ſie ſich zeichnen laſſe.


§. 23.
[16]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen

§. 23. Die Zeichen der Begriffe und Dinge ſind
ferner im engeren Verſtande wiſſenſchaftlich, wenn
ſie nicht nur uͤberhaupt die Begriffe oder Dinge vorſtel-
len, ſondern auch ſolche Verhaͤltniſſe anzeigen, daß die
Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zei-
chen mit einander verwechſelt werden koͤnnen.

Da hierinn die letzte Vollkommenheit der Zeichen be-
ſteht, ſo wollen wir uns dabey beſonders aufhalten, und
die bereits ſchon erfundenen Zeichen in dieſer Abſicht
durchgehen, oder nach dieſem Maaßſtabe ihren Werth
beſtimmen.


§. 24. Die Theorie der Sache auf die Theo-
rie der Zeichen reduciren,
will ſagen, das dunkle Be-
wußtſeyn der Begriffe mit der anſchauenden Erkennt-
niß, mit der Empfindung und klaren Vorſtellung der
Zeichen verwechſeln. Die Zeichen ſind uns fuͤr jede
Begriffe, die wir nicht immer durch wirkliche Empfin-
dung aufklaͤren koͤnnen, ohnehin ſchlechterdings noth-
wendig. Kann man ſie demnach ſo waͤhlen und zu ſol-
cher Vollſtaͤndigkeit bringen, daß die Theorie, Combi-
nation, Verwandlung ꝛc. der Zeichen ſtatt deſſen dienen
kann, was ſonſt mit den Begriffen ſelbſt vorgenommen
werden muͤßte; ſo iſt dieſes alles, was wir von Zeichen
verlangen koͤnnen, weil es ſo viel iſt, als wenn die Sa-
che ſelbſt vor Augen laͤge.


§. 25. Die erſte Art von Zeichen, die wir in dieſer
Abſicht betrachten koͤnnen, ſind die Noten in der
Muſik.
Sie haben einen merklichen Grad der Voll-
kommenheit, weil ſie mit einem male die Hoͤhe des
Tones und ſeine Dauer, und vermittelſt einiger andern
Zeichen auch die Art, wie er geſpielt werden ſolle, des-
gleichen auch in dem Generalbaß vermittelſt einiger dar-
uͤber geſetzten Zahlen, eine Harmonie oder Conſonanz
mehrerer Toͤne vorſtellen. Der einige Mangel dabey
iſt, daß ſie die Criteria der Harmonie nicht angeben,
weil
[17]Erkenntniß uͤberhaupt.
weil Diſſonanzen, falſche Gaͤnge und Spruͤnge, eben ſo
wie die wahren, gezeichnet werden koͤnnen. Man iſt
daher dabey genoͤthigt, nach den Regeln der Compoſi-
tion das Gute und Harmoniſche zu waͤhlen. Die Noten
ſelbſt geben es nicht an.


§. 26. Von der Choreographie des Feuillet
laͤßt ſich eben dieſes ſagen, doch mit dem Zuſatze, daß, in-
dem er bey Erfindung eines neuen Tanzes die Figur
derſelben zeichnet, die Zeichnung ſelbſt mehr Geometri-
ſches hat, und durch die Groͤße, Zeit und Anzahl jeder
Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß.
Dieſe Bedingung, nebſt der, daß die Figur ſchließen, und
nach Abſpielung eines jeden Theils der Contredanſe ein
neuer Theil der Figur des Tanzes anfangen muß,
ſchraͤnkt das Willkuͤhrliche dabey mehr ein, und die Zeich-
nung ſelbſt verraͤth die Fehler, und noͤthigt, ſie zu ver-
meiden. Die Englaͤnder haben Contredanſes, wofuͤr
ſie zwar keine Zeichnung gebrauchen: aber weil dieſelben
aus einer gewiſſen Anzahl von Figuren beſteht, deren
jede eine gewiſſe Anzahl von Takten dauert, ſo koͤnnen
ſie durch bloße Combination dieſer Figuren unzaͤhlig
vielerley Abwechslungen und verſchiedene Taͤnze faſt oh-
ne Muͤhe erfinden. Und da dieſe Figuren ihre Namen
haben, z. E. Le pas, monter, tourner, la Chaine, le
moulinet, Caſtof, le huit \&c.
ſo laſſen ſich alle dieſe
Taͤnze mit wenigen Worten ſchriftlich verfaſſen, und
ohne Schwierigkeit begreifen und bewerkſtelligen. Uebri-
gens, da die Taͤnze ſelbſt Figuren und Bewegungen ſind,
ſo iſt auch die Zeichnung derſelben in einem viel einfa-
chern Verſtande figuͤrlich, als die Zeichnung der Toͤne in
der Muſik vermittelſt der Noten.


§. 27. Man giebt ferner die Woͤrter Barbara, Ce-
larent \&c.
wodurch man in der Vernunftlehre die
Structur der zulaͤßigen einfachen Schluͤſſe vorſtellt, als
Meiſterſtuͤcke einer Zeichenkunſt aus. Sie ſind aber in
Lamb. Orgenon II B. Bder
[18]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
der That nichts anders, als zum Behufe des Gedaͤcht-
niſſes abgekuͤrzte Ausdruͤcke, und zugleich Namen der
einfachen Schlußarten, denen wir in der Dianoiologie
noch ſieben andere fuͤr die einfachſten Umwege beyge-
fuͤgt haben, in welchen jeder Buchſtabe bedeutend iſt.
Denn ungeacht in den Woͤrtern oder Namen dieſer Um-
wege im Schließen, Caſpida, Serpide, Saccapa \&c.
jede Sylbe und uͤberdieß noch jeder Buchſtab eine Re-
gel, und daher jeder dieſer Namen zehen Regeln vor-
ſtellt, ſo geben ſie doch die Theorie der Schluͤſſe nicht
ſelbſt, ſondern nur die Folgen derſelben an; weil man
aus andern Gruͤnden ausmachen muß, welche Combi-
nationen dieſer Buchſtaben zulaͤßige Schluͤſſe geben,
und welche hingegen muͤſſen verworfen werden. Man
hat auch fuͤr andere Faͤlle noch ſehr viele dergleichen
Verſus memoriales, und vorzeiten wurden dadurch
bald ganze Kalender vorgeſtellt. Wir wollen zum Bey-
ſpiel aus dem Sacroboſco und Maurolyco folgende
anfuͤhren, weil ſie keiner andern Erlaͤuterung beduͤrfen,
als daß der Anfangsbuchſtab eines jeden Wortes den
Sonntagsbuchſtab des Julianiſchen Kalenders fuͤr
jede 28 Jahre des Sonnenzirkels vorſtellt.


Fallitur Eua Dolo, Cibus Adae Gaudia Finit,
Et Cum Botrus Adhuc Germinet, Eua Dolet.
Chriſtus Bella Gerit, Finitur Eo Duce Bellum
Ad Grauidam Fit Dux, Cuncta Beauit Aue.

Faͤngt man bey dem zweyten Worte des zweyten Verſes
an, ſo erhaͤlt man die Sonntagsbuchſtaben fuͤr den Gre-
gorianiſchen und verbeſſerten Kalender dieſes jetztlaufen-
den Jahrhunderts.


§. 28. Namen, die mehr wiſſenſchaftlich zuſammen-
geſetzt ſind, ſind die von den 32 Winden, welche die
Schiffer gebrauchen. Es ſind vier einfache Namen,
S, O, N, W, fuͤr die vier Hauptgegenden. Mitten zwi-
ſchen
[19]Erkenntniß uͤberhaupt.
ſchen dieſe fallen vier andere, SO, SW, NO, NW, und
dieß giebt ſchon acht. Zwiſchen dieſe fallen acht andere,
SSO, OSO; SSW, WSW; NNO, ONO; NNW,
WNW,
und dieſes giebt 16. Zwiſchen dieſe fallen 16 an-
dere, welche von den acht erſten her benennt werden, SgO,
SOgS, SOgO, OgS; SgW, SWgS, SWgW, WgS;
NgO, NOgN, NOgO, OgN; NgW, SWgN, NWgW,
WgN.
Die zweyte Ordnung zeigt ſchlechthin die zwo
Hauptgegenden an, zwiſchen welche die 4 entſprechende
Winde fallen. Jn der dritten Ordnung wird den Na-
men der zweyten die Hauptgegend vorgeſetzt, gegen wel-
che die dadurch angezeigten Winde von den Winden
der zweyten Ordnung abweichen. Jn der vierten Ord-
nung wird den Namen der beyden erſten Ordnungen die
Hauptgegend angehaͤngt, gegen welche die dadurch be-
nennten Winde von den Winden der erſten und zwey-
ten Ordnung abweichen. Damit kommen ſie nun in
folgende Reihe: S, SgO, SSO, SOgS, SO, SOgO, OSO,
OgS; O, OgN, ONO, NOgO, NO, NOgN, NNO,
NgO; N, NgW, NNW, NWgN, NW, NWgW,
WNW, WgN; W, WgS, WSW, SWgW, SW,
SWgS, SSW, SgW.
Zu dieſen 32 Winden wuͤr-
den leicht noch 32 andere, die zwiſchen dieſelben fallen,
benennt werden koͤnnen, wenn man die 16 Winde der
drey erſten Ordnungen zum Grunde legt, und nur durch
Beyfuͤgung der Woͤrter halb S, halb O, halb W, halb N,
anzeigt, gegen welche Hauptgegend ſie davon abweichen.
Z. E. ShO, SSOhS, SSOhO, SOhS, SOhO ꝛc. dieſe
Namen geben durch ihre Combination nicht nur die
Gegend der Winde zu erkennen, ſondern ſind auch von
der Art, daß man, vermittelſt einiger ſehr einfachen Re-
geln, gar nicht noͤthig hat, das Gedaͤchtniß mit 32 oder
gar 64 verſchiedenen Namen zu beſchweren, ſondern
ohne Muͤhe jeden Wind benennen, und hinwiederum
aus dem Namen die Gegend deſſelben finden kann.
B 2Die
[20]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
Die Moͤglichkeit jeder Combination dabey iſt allgemein,
welches bey den Namen der Schlußarten Barbara, Ce-
larent \&c.
nicht angeht, weil die meiſten von den com-
binirten Buchſtaben A, E, I, O, nur unzulaͤßige Schluͤſſe
angeben.


§. 29. Hingegen iſt die Zeichnung der Schluͤſſe,
wie wir ſie in der Dianoiologie angegeben, durchaus
Charakteriſtiſch, weil ſie ganz auf der Vergleichung
der Jntellectualwelt und Koͤrperwelt
(§. 52.
Alethiol.) beruht. Denn wir geben den allgemeinen
Begriffen eine Ausdehnung, weil ſie ſich auf alle
darunter gehoͤrende Indiuiduaerſtrecken. Jn dieſer
Abſicht ließen ſich Indiuidua durch Puncte, die Arten
und Gattungen durch Linien vorſtellen, die Linien der
Arten unter die Linien ihrer hoͤhern Gattungen zeich-
nen, und die Linien der nicht unter einander gehoͤrenden
Begriffe außer oder neben einander ſetzen. Dieſes
gab die Zeichnung der vier Arten von Saͤtzen, und ſo-
dann die Zeichnung jeder Schlußarten von ſelbſt an,
und das Weſentliche von dieſer Zeichnungsart, welches
dieſelbe im ſtrengſten Verſtande wiſſenſchaftlich macht,
iſt, daß ſie die Unmoͤglichkeit unzulaͤßiger Schluͤſſe an-
giebt, weil dieſelben nicht koͤnnen determinirt gezeichnet
werden, und daß ſie hingegen bey den zulaͤßigen Schluͤſ-
ſen alle Schlußſaͤtze, die aus den Vorderſaͤtzen gerade
und umgekehrt gezogen werden koͤnnen, mit einem male
vor Augen ſtellt. Man ſehe Dianoiol. §. 196. ſeqq.
Hier laͤßt ſich demnach die Theorie der Sache mit der
Theorie der Zeichen verwechſeln (§. 23.), welches bey
den vorhin angefuͤhrten Beyſpielen der Noten, Taͤnze,
Namen der Schlußarten und Winde (§. 25. ſeqq.),
nicht durchaus angeht, wenigſtens ſo, wie ſie noch der-
malen ſind.


§. 30. Die chymiſchen und aſtronomiſchen Zeichen
ſind bloße Abkuͤrzungen, die man ſtatt der Woͤrter ge-
braucht.
[21]Erkenntniß uͤberhaupt.
braucht. Jndeſſen laͤßt ſich von einigen der Grund an-
geben, warum ſie vielmehr dieſe als eine andere Figur
haben. Boerhave hat in ſeiner Chymie einige Aehn-
lichkeit der Zeichen ☉, ☽, ☿, ♀, ♃ ♂, ♄, mit den da-
durch bezeichneten Metallen aufgeſucht. Die Aſtrono-
men gebrauchen eben dieſe Zeichen fuͤr die Planeten,
und finden nach Anleitung der Mythologie in ☿ den
Caduceum des Merkurs, in ♀ den Spiegel der Venus,
in ♂ den Spieß und Schild des Mars, in ♄ die Senſe
des Saturns, in ♃ den Donnerſtral des Jupiter. Jn
den Zeichen des Thierkreiſes ♈, ♉, ♊, ♋, ♌ ꝛc. ſollen
ebenfalls die Hoͤrner des Widders, der Kopf und die
Hoͤrner des Stiers ꝛc. gezeichnet zu ſehen ſeyn. Es
ſind aber alles dieſes nur Anſpielungen, die zur wiſſen-
ſchaftlichen Kenntniß der Sternlehre wenig oder nichts
beytragen.


§. 31. Hingegen haben die Zeichen, die man uͤber
die Grade, Minuten, Secunden ꝛc. ſetzt, im eigentlichſten
Verſtande etwas Wiſſenſchaftliches, wenn man ſie fuͤr
Exponenten von Sexageſimalbruͤchen anſieht.
Denn auf dieſe Art will z. E. der Bogen


13°, 15′, 35″, 46‴, ꝛc.


eben ſo viel ſagen, als die Reihe


Oder:


welche Zeichnungsart aus der Algeber entliehen, und
durchaus wiſſenſchaftlich iſt, nachdem Newton die
Theorie der Exponenten darinn eingefuͤhrt hat.


§. 32. Jn den Rechten ſtellt man die Grade der
Verwandſchaft und Schwaͤgerſchaft figuͤrlich vor, und
daher ſind auch die Stammtafeln, Sipſchafibaͤume ꝛc.
genommen. Die Namen der aufſteigenden, ab-
B 3ſtei-
[22]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
ſteigenden, Collaterallinien, die Grade der Ver-
wandſchaft ꝛc. gruͤnden ſich darauf, daß die Succeſſion
nur eine Dimenſion hat, und als Linear vorgeſtellt, und
hingegen was zugleich iſt, wie z. E. Zwillinge und
uͤberhaupt Geſchwiſter, neben einander gezeichnet wer-
den koͤnnen. Da demnach dieſe figuͤrliche Vorſtellung
mit der Sache ſelbſt eine durchgaͤngige Aehnlichkeit hat,
ſo iſt ſie allerdings wiſſenſchaftlich, und wird in den
Rechten zum augenſcheinlichen Demonſtriren, und zur
Abzaͤhlung der Grade der Verwandſchaft und Schwaͤ-
gerſchaft wirklich gebraucht.


§. 33. Die ſogenannten Sinnbilder, Emblema-
ta,
und allem Anſehen nach auch die aͤgyptiſchen Hiero-
glyphen,
haben ebenfalls etwas von der Charakteriſtik.
Sie dienen aber mehr, ſchlechthin die bedeutende Sache
gleichſam poetiſch vorzuſtellen, und es muß immer aus
andern Gruͤnden erwieſen werden, wie weit ſich die Al-
luſion und Aehnlichkeit erſtrecke. So malt man die
Gerechtigkeit mit verbundenen Augen, mit der Wage
und dem Schwert ꝛc. die Zeit mit der Senſe und Stun-
denglas ꝛc. weil dieſe Bilder eine Aehnlichkeit mit der
dadurch vorgeſtellten Sache haben. Aber dieſe Aehn-
lichkeit muß man voraus wiſſen.


§. 34. Auf eine vollſtaͤndigere Art iſt das Zahlen-
gebaͤude
charakteriſtiſch, wie wir es heut zu Tage ha-
ben. Es iſt allerdings nichts geringes, durch zehen Zif-
fern, oder nach der Leibniziſchen Dyadik, nur durch zwo
Ziffern, alle moͤgliche Zahlen vorſtellen zu koͤnnen, und
jede Rechnungen damit zu macher, und zwar auf eine ſo
mechaniſche Art, daß es wirklich auch durch Maſchinen
geſchehen kann, dergleichen Paſcal, Leibniz, Ludolf
und andere erfunden. Das heißt im ſtrengſten Ver-
ſtande: die Theorie der Sache auf die Theorie
der Zeichen reduciren,
und man iſt ſo ſehr daran
gewoͤhnt, daß man die Zahlen bald fuͤr nichts anders
als
[23]Erkenntniß uͤberhaupt.
als Zeichen anſieht, zumal da ſie in der That auch nur
Verhaͤltnißbegriffe ſind.


§. 35. Das vollkommenſte Muſter der Charakte-
riſtik aber iſt die Algeber, und die dadurch veranlaßte
Theile der Analyſis der Mathematiker. Sie hat als
Zeichenkunſt ihre eigene Theorie, die man niemals
weit genug wird treiben koͤnnen. Wird aber eine Auf-
gabe aus andern Wiſſenſchaften auf eine algebraiſche
reducirt, ſo kann man von derſelben ganz abſtrahiren,
und die Aufloͤſung der algebraiſchen Aufgabe iſt zugleich
auch die von der andern Aufgabe, welche man auf die
algebraiſche reducirt hatte.


§. 35a. Da hier der Ort iſt, die Algeber nicht als
Algeber, ſondern als Charakteriſtik zu betrachten, ſo ſe-
tzen wir ſie voraus, und merken daher an, daß dieſe
Wiſſenſchaft nur beſtimmt, welche zuſammenge-
ſetzte Moͤglichkeiten aus allen moͤglichen Ver-
bindungen der an ſich unbedingten Poſtulaten
der Groͤßenlehre entſtehen, wie weit ſie rei-
chen, welche Verhaͤltniſſe ſie haben, und wie
ſie ſich in einander verwandeln laſſen.
Daß
die Poſtulata im Reiche der Wahrheiten uͤberhaupt all-
gemeine und unbedingte Moͤglichkeiten angeben, haben
wir in der Alethiologie (§. 246.) erwieſen. Solche
ſind nun in der Groͤßenlehre diejenigen, welche die Al-
geber durch die Zeichen + und — ausdruͤckt. Die
naͤchſt daraus fließenden werden durch die Zeichen (·)
und (:) und √ vorgeſtellt, und aus dieſen begeben ſich
die Exponenten, und jede Wurzeln. Der Ausdruck


√ (a — b)


faͤngt ſchon an, Grenzen der Moͤglichkeit zu haben, weil,
wenn b \> a, die Quadratwurzel, unmoͤglich und daher
nur eingebildet iſt.


B 4§. 36.
[24]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen

§. 36. Wir merken ſerner an, daß die Zeichen
+ — · : √, und die Stelle der Exponenten, an ſich
betrachtet, willkuͤhrlich ſind, daß man aber dennoch, um
einander verſtaͤndlich zu bleiben, nicht mehr davon ab-
geht. Hingegen in Anſehung der Zeichen, die man fuͤr
die Groͤßen ſelbſt gebraucht, iſt mehr willkuͤhrliches.
Man bedienet ſich uͤberhaupt der Buchſtaben, und hat
auch mehrerer Deutlichkeit halben ſich angewoͤhnet, die
bekannten und unveraͤnderlichen Groͤßen durch die erſten
Buchſtaben a, b, c ꝛc. die unbekannten und veraͤnderli-
chen aber durch die letzten Buchſtaben x, y, z ꝛc. und
die bloßen Verhaͤltniſſe durch die mittlern Buchſtaben
m, n, p ꝛc. des Alphabets vorzuſtellen. Jndeſſen iſt
dieſes ſo gar nothwendig nicht, und beſonders werden
die Verhaͤltniſſe oͤfters fuͤglicher durch die Functionen
von Zirkelboͤgen vorgeſtellet, zumal, nachdem die Jn-
tegralrechnung gelehret hat, daß ſolche vorkommen koͤn-
nen, wo von Figuren bald keine Rede iſt, oder wo die
Figuren ſelbſt nur ſinnliche Bilder der Groͤßen ſind.


§. 37. Der Grund, warum die Auswahl der Buch-
ſtaben, wodurch man die Groͤßen ſelbſt vorſtellet, will-
kuͤhrlicher iſt, liegt darinn, daß die Algeber nicht mit
Zahlen, ſondern mit Groͤßen umgeht, die man nach
Belieben beſtimmen kann, und daß bald jede Aufgabe
mehr oder weniger gegebene und geſuchte Groͤßen mit
einander vergleicht. Hingegen kommen die Poſtulata
+ — · : √ ꝛc. immer vor, weil man nicht anders, als
nach dieſen allgemeinen und unbedingten Moͤglichkeiten,
diejenigen beſtimmen kann, welche in der Aufgabe vor-
kommen.


§. 38. Die Algeber iſt demnach nicht eine Zeichen-
kunſt der Groͤßen ſelbſt, ſondern nur ihrer Verwan-
delungen
und Verhaͤltniſſe, und die Aufloͤſung je-
der algebraiſchen Aufgabe giebt an, wie man die gege-
benen Groͤßen addiren, multipliciren ꝛc. und uͤberhaupt
ver-
[25]Erkenntniß uͤberhaupt.
verwandeln ſolle, damit man eine Groͤße heraus bringe,
die der geſuchten gleich iſt.


§. 39. Wir merken dieſes an, weil daraus erhellet,
daß Wolf allerdings Urſache hatte, zu der Leibnizi-
ſchen allgemeinen Zeichenkunſt noch eine Verbin-
dungskunſt der Zeichen
zu fordern. Denn ſollen
wir die Vergleichung weiter ausdehnen, ſo wird die
Zeichenkunſt jeder einzelner Begriffe nur dem Zahlenge-
baͤude, die Verbindungskunſt der Zeichen aber der Al-
geber gleichen. Dieſes erhellet daraus, weil jeder Be-
griff, eben ſo wie jede Zahl, etwas eigenes hat, dage-
gen aber die Verbindungskunſt der Zeichen auf die all-
gemeinen Verhaͤltniſſe der Begriffe, ſchlechthin als
Begriffe betrachtet, geht, wie die Algeber die Groͤßen
nur als Groͤßen betrachtet, und ihre Verhaͤltniſſe be-
ſtimmet.


§. 40. Ohne aber auf dieſe Vergleichung zu ſehen,
ſo laͤßt ſich ſowohl die allgemeine Zeichenkunſt, als die
Verbindungskunſt der Zeichen an ſich betrachten. Er-
ſtere ſollte uns uͤberhaupt jedes
Definitumdurch
ſeine Definition kenntlich machen.
Dieſen Vor-
theil gewaͤhren uns die Woͤrter unſerer Sprachen ſelten
oder gar nicht. Wir werden aber dennoch im folgen-
den unterſuchen, wiefern ſie dazu eingerichtet ſind, und
was daran noch mangelt. Hier merken wir nur an,
daß man im Nachdenken und in Verbindung mehrerer
Schluͤſſe, zuweilen auf Definitionen verfaͤllt, deren De-
finita
bereits unter gewiſſen Namen bekannt ſind. Die
Woͤrter, wodurch die Definition ausgedruͤcket wird, ge-
ben dieſe Namen nicht an. Sie ſollten es aber thun,
wenn unſere Sprachen weniger willkuͤhrlich und mehr
charakteriſtiſch waͤren. Denn dieſes hieße die Theorie
der Sache auf die Theorie der Zeichen reduciren. Neh-
men wir nun noch hiezu, daß eigentlich zuſammenge-
ſetzte Begriffe muͤſſen definirt werden, und daß dieſel-
B 5ben
[26]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
ben im Reiche der Wahrheiten als Praͤdicate vorkom-
men, ehe ſie als Subjecte vorkommen (§. 241. ſeq. Ale-
thiol.); ſo ergiebt ſich leicht, daß das erſtangefuͤhrte Re-
quiſitum
der Charakteriſtik durchaus nothwendig ſey.
Denn wenn man im ſtrengſten Verſtande a priori
geht, ſo verfaͤllt man auf die Definition der zuſammen-
geſetzten Begriffe, ehe man auf ihre Namen verfaͤllt.
(§. cit.) Sollten nun die Zeichen ſtatt der Sachen ſelbſt
ſeyn, ſo iſt klar, daß dieſe Ordnung ebenfalls dabey vor-
kommen muͤßte. Dieſes Requiſitum iſt demnach der
Leitfaden, wenn man eine ſolche Charakteriſtik erfin-
den will.


§. 41. Die Verbindungskunſt der Zeichen be-
zieht ſich auf die allgemeinen Verhaͤltniſſe der Begriffe,
Saͤtze, und uͤberhaupt jeder Wahrheiten. Sie be-
ſtimmt, welche zuſammengeſetzte Moͤglichkei-
ten aus allen moͤglichen Verbindungen der an
ſich unbedingten Poſtulaten der Alethiologie
entſtehen, wie weit ſie reichen, welche Ver-
haͤltniſſe ſie haben, und wie ſie ſich in einander
verwandeln laſſen ꝛc.
Was dieſes ſagen will, wer-
den wir am fuͤglichſten durch Beyſpiele, die wir in der
Dianoiologie und Alethiologie bereits angefuͤhret haben,
erlaͤutern koͤnnen. Denn daraus wird erhellen, daß
es wirklich ſolche Verhaͤltniſſe, Verwandelun-
gen und bedingte Moͤglichkeiten gebe.
Man
rechne demnach uͤberhaupt hieher, was wir (§. 431—454.
Dianoiol.) von der Reduction jeder Aufgabe auf eine
pur logiſche, ausfuͤhrlich geſaget haben: Jnsbeſondere
aber die allgemeine Moͤglichkeit, jeden aus einfachen
Schluͤſſen beſtehenden Beweis in eine ganz einfache
Schlußkette von lauter Grundſaͤtzen zu verwandeln,
(§. 309. Dianoiol.) die Jdentitaͤt der Vorderſaͤtze zu
einem identiſchen Schlußſatze (§. 356. l. cit.), die Un-
moͤglichkeit, aus einem Satze ſein Gegentheil herzulei-
ten
[27]Erkenntniß uͤberhaupt.
ten (§. 370. l. cit.), die Bedingungen, vom Theil auf
das Ganze zu ſchließen (§. 383. ſeqq. loc. cit.), die Be-
dingungen, von den Folgen auf die Gruͤnde zu ſchlieſ-
ſen (§. 391—409. loc. cit.), den Einfluß falſcher Vor-
derſaͤtze auf den Schlußſatz (§. 235. ſeqq. loc. cit.), die
Bedingungen und Formeln der naͤchſten Umwege im
Schließen (§. 270. ſeqq. 289—300. l. cit.), die allge-
meine Moͤglichkeit, irrige Saͤtze auf Widerſpruͤche zu
bringen (§. 171—173. Alethiol.), den Anfang im Reiche
der Wahrheiten (§. 236. Alethiol.), die Unmoͤglich-
keit, alle Wahrheiten zugleich zu laͤugnen (§. 258. loc.
cit.
) ꝛc.


§. 42. Jn allen dieſen Beyſpielen wird die Wahr-
heit theils uͤberhaupt, theils unter gewiſſen Bedingun-
gen, ſchlechthin als Wahrheit betrachtet, und ihre Sym-
ptomata beſtimmt. Es iſt nicht zu zweifeln, daß zu
denſelben nicht noch mehrere andere ſollten koͤnnen ge-
funden werden, und dahin dienet die angezogene Re-
duction jeder Aufgabe auf eine pur logiſche, und hin-
wiederum auch die Beſtimmung der Anlaͤße, wobey je-
de logiſche Aufgabe angewandt werden kann.


§. 43. Wir haben ferner dieſe Beyſpiele hier nur
angefuͤhret, um zu zeigen, daß die Theorie der Wahr-
heit an ſich oder unter gewiſſen Bedingungen betrach-
tet, Aufgaben enthalte, welche eine ihnen eigene Zeich-
nung verdienen. Diejenige, die wir in der Dianoio-
logie fuͤr die Saͤtze und Schluͤſſe angegeben haben, iſt
kaum noch ein Anfang dazu, und wir haben ſie in den
angefuͤhrten Beyſpielen nicht einmal gebraucht, ſondern
die Begriffe durch Buchſtaben, die Bedingungen
und Verhaͤltniſſe aber durch Worte ausgedruͤcket.
Statt dieſer Worte haͤtten wir gar leicht andere Zei-
chen einſuͤhren koͤnnen, die in der That mehr oder weni-
ger wiſſenſchaftlich wuͤrden geweſen ſeyn. Sie waͤren
aber nur noch auf einzelne Theile anwendbar geweſen,
und
[28]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
und da etwas Allgemeines und durchaus Wiſſenſchaft-
liches dabey moͤglich bleibt, ſo haben wir uns bey ſol-
chen einzelnen Stuͤcken nicht aufhalten wollen. Denn
da die Zeichen von der Art ſeyn muͤſſen, daß ihre Theo-
rie ſtatt der Theorie der Sache ſelbſt dienen ſoll, ſo iſt
unſtreitig, daß man erſt letztere vollſtaͤndig vor ſich ha-
ben muͤſſe, wenn man die Zeichen ganz dazu will einge-
richtet haben. So weit waren wir aber an angefuͤhr-
ten Orten noch nicht gekommen. Jndeſſen kann die
fuͤr die Schluͤſſe angegebene Zeichnung zur Probe der
Moͤglichkeit dienen.


§. 44. Außer den bisher angefuͤhrten Arten der Zei-
chen (§. 25. ſeqq.) haben wir in der Dichtkunſt einige,
wodurch die Form der Verſe vorgeſtellet wird, z. E.
die Hexameter


wo das — eine lange, das ⏑ aber eine kurze Sylbe
vorſtellet. Dieſe Zeichen haben keine andere Theorie,
als daß ſie ſich combiniren laſſen, um dadurch alle moͤg-
liche Versarten herauszubringen. Welche aber ſich zu
jeder Art von Gedichten ſchicken, muß aus andern Gruͤn-
den beſtimmt werden. Wir haben eben dieſes von den
Noten in der Muſik angemerket (§. 25.). Man koͤnn-
te ſtatt dieſer zwey Zeichen der kurzen und langen Syl-
ben, wirklich Noten gebrauchen, wenn man zugleich auch
auf die Abwechſelung der Vocalen in den Worten ſe-
hen wollte, weil dieſelben eben ſo gut, als die Laͤnge der
Sylben, etwas muſikaliſches haben, worauf allem Anſe-
hen nach der Erſinder der Namen ut, re, mi, fa ꝛc. ge-
ſehen. Es haben aber die lateiniſche, und beſonders
die griechiſche Sprache, mehr Abwechſelungen in den
Vocalen, und ſchicken ſich daher zu dieſer Art von Mu-
ſik ungleich beſſer, und uͤberhaupt koͤmmt es dabey mehr
auf
[29]Erkenntniß uͤberhaupt.
auf gluͤckliche Einfaͤlle des Dichters, als auf den Zwang
des Ausſuchens an.


§. 45. Die Heraldik iſt ebenfalls eine Art von
Zeichenkunſt, die aber bald durchaus auf willkuͤhrlichen
Dingen beruhet. Jndeſſen hat ſie ihre Regeln, nach
denen die Figur des Wapens, die Metalle und Farben,
die Theilung des Schildes, die Figuren und Zierrathen
beſtimmet werden. Man hat die meiſten von dieſen
Dingen bedeutend gemacht, und daher die Wapen in
Herrſchafts-Praͤtenſions-Wuͤrden-Geſchlechts-Wa-
pen ꝛc. unterſchieden. Man kann ſie uͤberhaupt als
Zeichen der Verhaͤltniſſe anſehen, in welchen der, ſo
ein Wapen fuͤhret, ſeines Geſchlechts, Standes, Ran-
ges halben ꝛc. ſich befindet, und in dieſer Abſicht ma-
chen ſie eine beſondere Sprache aus. Es hat ſie der
eingefuͤhrte Gebrauch nothwendig gemacht, und in ſo
ferne ſind ſie in vielen Stuͤcken ein Theil der Au-
thentitaͤt.


§. 46. Man hat ferner in den Landcharten eine
Menge von Zeichen, wodurch, nebſt der Lage der Oer-
ter, auch vieles von ihrer Beſchaffenheit vorgeſtellet
wird. Dieſe Zeichen ſind, ungefaͤhr wie die chymi-
ſchen und aſtronomiſchen (§. 30.), nur Abkuͤrzungen, und
in ſoferne nuͤtzlich, weil ſie viel auf einen Anblick vor-
ſtellen. Es iſt nicht zu zweifeln, daß ſie noch mehre-
rer Vollkommenheit faͤhig waͤren, und vielleicht ließen
ſich Namen ausſinnen, in welchen jeder Buchſtab eine
geographiſche Bedeutung haͤtte, ungefaͤhr wie wir in
der Dianoiologie den naͤchſten Umwegen im Schließen
die Namen Caſpida, Serpide, ꝛc. gegeben haben, in
welchen jeder Buchſtab einen beſondern Umſtand oder
Regel anzeigt. Wir koͤnnen eben dieſes fuͤr die Bo-
tanik
anmerken. Es werden wiſſenſchaftliche Zeichen
und Namen jeder Kraͤuter und Gewaͤchſe moͤglich ſeyn,
ſo bald man die Unterſcheidungsſtuͤcke derſelben auf eine
geringe
[30]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
geringe Anzahl und ihre Combinationen wird bringen
koͤnnen, welches aber noch dermalen nicht ſo leicht anzu-
gehen ſcheint.


§. 47. Es giebt ferner noch eine Menge anderer
Zeichen von ſehr verſchiedener Art und Abſicht. Die
natuͤrlichen ſind mit der bedeuteten Sache mit ihren
Urſachen, Wirkungen ꝛc. in einer gewiſſen Verbindung,
wie z. E. der Rauch ein Zeichen von der Gegenwart
des Feuers, die Abendroͤthe ein Zeichen des darauf fol-
genden hellen Wetters iſt. Die natuͤrlichen Zeichen
ſind allerdings einer Theorie faͤhig, wodurch ihre Ver-
bindung mit der bedeuteten Sache beſtimmt und erwie-
ſen werden ſollte. Jn Ermangelung derſelben aber
muß wenigſtens durch genaue Erfahrungen ausgemacht
werden, ob ſie immer zutreffen, oder nicht. Denn da
ſie deswegen Zeichen genennet werden, weil ſie Anzeigen
einer bereits geſchehenen oder einer gegenwaͤrtigen oder
Vorbothen einer kuͤnftigen Veraͤnderung in der Natur
ſeyn ſollen, ſo iſt die Haupterforderniß dabey, daß man
ſich darauf muͤſſe verlaſſen koͤnnen, und daß ſie nicht
truͤgen, wie die meiſten Zeichen der bevorſtehenden Wit-
terung, die man von Alters her fuͤr ſolche ausgegeben
hat, und ſtatt deren man in der Naturlehre, ſo wie
auch in Abſicht auf die Krankheiten in der Arzneyge-
lehrtheit, immer mehr bemuͤhet iſt, zuverlaͤßigere aus-
zufinden.


§. 48. Unter die willkuͤhrlichen Zeichen gehoͤren
die meiſten Caͤrimonien, das Laͤuten der Glocken, die
verabredeten Zeichen im Kriege, bey Solemnitaͤten ꝛc.
das Anklopfen, das Winken, Drohen ꝛc. Dieſe alle
ſind mehr oder weniger willkuͤhrlich, je nachdem ſie
weniger oder mehr Aehnlichkeit mit der bedeuteten Sa-
che haben. Beſonders aber ſind die Caͤrimonien einer
Theorie faͤhig, wenn man das Unnuͤtze und Altfraͤnki-
ſche daraus wegſchaffen, und ſie uͤberhaupt ſo beſtim-
men
[31]Erkenntniß uͤberhaupt.
men ſoll, daß ſie die Hauptſache, die ſie vorſtellen, nicht
verdraͤngen, ſondern eher dazu behuͤlflich ſind, daß die-
ſe ihre aͤchte Form erhalte. Die verabredeten Zeichen
aber ſollen kenntlich und zuverlaͤßig ſeyn, weil die da-
von abhaͤngende Unternehmung fehlſchlagen kann, wenn
ſie nicht recht gewaͤhlt werden.


§. 49. Da die Zeichen, welche im ſtrengſten Ver-
ſtande wiſſenſchaftlich ſind, von der Art ſeyn ſollen, daß
die Theorie der dadurch vorgeſtelleten Sache auf die
Theorie der Zeichen ſollen koͤnnen reducirt werden
(§. 23.), ſo bleibt bey denſelben ungleich weniger Will-
kuͤhrliches, als bey jeden andern Arten, die etwan nur
zur Abkuͤrzung gebraucht werden, oder wodurch man,
wie bey den Ziffern oder verborgenen Schriften, ei-
gentlich die Abſicht hat, ſeine Gedanken zu verſtecken.
Wir haben demnach zu ſehen, wie ferne bey den wiſſen-
ſchaftlichen Zeichen etwas Willkuͤhrliches bleibe.


§. 50. Zu dieſem Ende koͤnnen wir dabey anfan-
gen, daß wir die Zeichen, wodurch eine Sache vorge-
ſtellet wird, von der Nachahmung und dem bloßen
Bilde der Sache unterſcheiden, ſo ferne naͤmlich dieſe
Woͤrter etwas Aehnliches in ihrer Bedeutung haben,
und in einigen Faͤllen mit einander verwechſelt werden.
Denn das Zeichen, die Nachahmung und das Bild,
oder die Abbildung der Sache, ſtellen dieſelbe vor, aber
jedes auf eine beſondere Art. Die Nachahmung
hat unzaͤhlige Stufen, und erſtrecket ſich zuweilen auf
Dinge von ganz verſchiedener Art. Der Maler, der
Tonkuͤnſtler und der Dichter ſuchen das Licht durch den
Schatten zu erhoͤhen, und darinn der Natur nachzuah-
men, der Maler faſt von Wort zu Wort, der Tonkuͤnſt-
ler durch ſeine Contrapunkte und gewaͤhlte Diſſonan-
zen, der Dichter durch das horaziſche: ex fumo dare
lucem,
oder wenn er, wie zuweilen Homer, zu ſchlafen
ſcheint, um mit mehrerem Leben aufzuwachen, wie z. E.
wenn,
[32]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
wenn, nachdem Diomedes aus dem Treffen weg iſt,
Merion und die andern Subalternen ſich matt weh-
ren, damit Achilles ſich zeigen, und ehe er ſchlaͤgt, den
Trojanern den ſchon gefaßten Muth mit einem male fal-
len machen koͤnne.


§. 51. Die Abbildungen ſind im engern Verſtande,
Abſchriften des Originals, wie bey den Portraits und
allen nach dem Leben gezeichneten Gemaͤlden. Oder
wie bey den Tonkuͤnſtlern, wenn ſie den Geſang der
Voͤgel und jeden andern Schall, ſo gut es mit Jnſtru-
menten moͤglich iſt, oder in der Vocalmuſik den Ton
der Affecten vorſtellen. Jm weitlaͤuftigern Verſtande
ſind Abbildungen auch die Sinnbilder, und mit Wor-
ten die Beſchreibung jeder Eigenſchaften der Sache,
von abſtracten Dingen aber die Metaphern und
ſinnlichen Bilder, die mit der Sache eine merkliche-
re Aehnlichkeit haben. Dieſe letztern grenzen nun naͤ-
her an die Zeichen, welche wir wiſſenſchaftlich nennen,
und von dem bloßen Unwiſſe der Abbildung, bis uͤber-
haupt zu jeder Vorſtellung der Sache oder ihres ſinnli-
chen Bildes gehen. Die Stufen der Aehnlichkeit ſind
nun folgende.


§. 52. Einmal, wenn die Sache, ſo gezeichnet werden
ſoll, ſelbſt eine Figur, Bewegung, Rangordnung, Suc-
ceßion ꝛc. iſt, ſo hat man die Zeichnung nicht weit her-
zuholen. Jn der Choreographie laͤßt ſich die Figur des
Tanzes durch Linien, die Groͤße eines jeden Schrittes
durch numerirte Punkte, die Art des Schrittes durch
einfache Zuͤge, welche die Stellung des Fußes, und uͤber-
haupt des Leibes, anzeigen, an ſich vorſtellen, weil die
Bewegung linear, und bey dem Tanze alles Figur iſt.
Die Succeßion iſt ebenfalls linear, und daher wird in
der Sprache jeder Buchſtabe, in der Muſik jede Note
nach der andern gezeichnet, wie ſie auf einander folgen.
Die Ordnung der Toͤne, in Abſicht auf ihre Hoͤhe und
Tiefe,
[33]Erkenntniß uͤberhaupt.
Tiefe, gab ſehr natuͤrlich Anlaß, ſich die Notenlinien
als Stufen vorzuſtellen, und auf dieſe Art gebraucht
die Tonkunſt zwo Dimenſionen, um figuͤrlich vorge-
ſtellet zu werden.


§. 53. Bey dem Zahlengebaͤude hatte man ebenfalls
auf die Rangordnung zu ſehen. Denn, nachdem man
laͤngſt ſchon gewoͤhnet war, nach der Abzaͤhlung an den
Fingern, von 1 zu 10, 100, 1000 ꝛc. zu zaͤhlen, und da-
bey immer wieder zu den 1, 2, 3 ꝛc. zuruͤck zu kehren, ſo
kam die Erfindung des wiſſenſchaftlichen Zahlengebaͤu-
des darauf an, daß man die 1, 10, 100, 1000 ꝛc. vor
einander ſetzete, und daher ihre Wuͤrde durch die Stel-
le
anzeigte. Man kann hieraus ſehen, wie viel es dar-
auf ankoͤmmt, daß uns die Vorderſaͤtze zu einem nuͤtz-
lichen Schlußſatze zugleich beyfallen. Denn dieſe Er-
findung haͤtte ungleich aͤlter ſeyn koͤnnen, als ſie wirklich
iſt, und man hat ſich zu verwundern, daß ſie nicht ſchon
dem Pythagoras in Sinn gekommen.


§. 54. Die Algeber hat in ihren Zeichen viel will-
kuͤhrliches, und in ſo ferne ſind ſie in der That nur Ab-
kuͤrzungen, welche machen, daß man die ganze Rech-
nung leichter uͤberſehen kann, als wenn man Worte da-
zu gebrauchen wollte. Die Deutlichkeit dabey fordert,
daß man die Zeichen der Groͤßen von den Zeichen
der Operationen verſchieden annahm, und da man
fuͤr die erſtern mehrentheils Buchſtaben gebraucht, ſo
hat man fuͤr die letztern die Zeichen + — · : √ ange-
nommen, welche mit der bedeuteten Sache wenig Aehn-
lichkeit haben. Da alſo dieſe Zeichen weder Bilder
der algebraiſchen Operationen noch ihrer Verhaͤltniſſe
ſind, ſo geben ſie auch die damit vorzunehmende Ver-
wandelung einer Gleichung in eine andere nicht an, ſon-
dern es wird eine Theorie dazu erfordert, welche zeigt,
wie man dieſe Zeichen der Sache gemaͤß verwechſeln
ſolle, und welche zugleich auch den Erfolg jeder Verwech-
Lamb. Organon II B. Cſelung
[34]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
ſelung beſtimmt. Dadurch erhaͤlt man ſo viel, daß die
Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen reducirt
wird, und daß man von der Sache abſtrahiren kann,
ſo bald man die Aufgabe auf ihre Gleichungen ge-
bracht hat. Die Aufgabe wird dadurch local gemacht,
und ihre Aufloͤſung koͤmmt nur auf die Veraͤnderung
der Zeichen und der Stelle jedes Buchſtabens an, weil
derjenige, welcher die geſuchte Groͤße vorſtellet, zuletzt
auf der Seite des Gleichſtriches = allein bleiben ſoll.
Man kann ſich die Rechnung unter dem Bilde des Ab-
waͤgens vorſtellen, und was auf beyden Seiten des
Gleichſtriches iſt, als Gewichter in beyden Wagſcha-
len betrachten, und die Wage foll immer inne ſtehen.
Z. E. die Aufgabe: Aus der Summe a, und Differenz
b, zwoer Groͤßen x, y, jede dieſer Groͤßen zu finden,
will in dieſem Stylo ſagen: beyde Gewichte x und y
waͤgen zuſammen a Pfund, und x wiegt b Pfund mehr
als y, oder wenn x auf der einen Wagſchal liegt, ſo
muß man auf der andern y und b legen, wenn die Wa-
ge inne ſtehen ſoll. Dieſe beyden Bedingungen heißen
nun algebraiſch


x + y = a
x = y + b


naͤmlich x und y waͤgen a.
x
wiegt y und b.


Die letzte Gleichung zeigt, daß man in der erſten fuͤr x
koͤnne y + b ſetzen, und damit erhaͤlt man


2 y + b = a.


Die Wage naͤmlich ſteht wiederum inne, wenn man
das kleinere Gewicht doppelt zu dem Unterſchiede b legt,
und in der andern Wagſchal a liegen laͤßt. Nimmt
man nun aus der erſten Wagſchal b weg, ſo muß
eben ſo viel aus der andern weggenommen werden,
wenn anders die Wage inne ſtehen ſoll. Demnach


2 y = a — b


Hier
[35]Erkenntniß uͤberhaupt.

Hier hat man nun in der erſten Wagſchal das kleine-
re Gewicht doppelt, in der andern ein bekanntes Ge-
wicht, demnach wird y die Haͤlfte deſſelben ſeyn, die-
ſes heißt


y = a — b/2


So weitlaͤuftig aber raiſonirt ein Algebraiſte nicht.
Denn da er weiß, daß in der Gleichung


2 y + b = a


das y auf der einen Seite allein bleiben ſoll, ſo faͤngt
er an, das b auf die andere Seite zu bringen, und die
erſten Gruͤnde der Algeber geben ihm ein fuͤr allemal
an, es muͤſſe mit Verwechſelung des Zeichens + in —
geſchehen. Demnach macht er ohne viel Beſinnens


2 y = a — b


Nun iſt noch das 2 auf die andere Seite zu brin-
gen, und da giebt die Algeber gleich an, es muͤſſe zum
Theiler gemacht werden. Demnach ſetzet er ſogleich


y = a — b/2


und damit iſt die kleinere Zahl gefunden ꝛc. Alles die-
ſes iſt local.


§. 55. Es liegt demnach auch bey den algebraiſchen
Gleichungen ein ſinnliches Bild, naͤmlich das von der
Wage, zum Grunde, weil man ſich jede Gleichungen
und ihre Verwandelungen unter dieſem Bilde vorſtel-
len kann. Das Hauptwerk aber dabey iſt, daß da-
durch die ſchwerſten Rechnungen auf bloße Verwechſe-
lungen des Ortes reducirt werden, und dieſes macht,
daß die ganze Einrichtung der Buchſtabenrechnung me-
chaniſch wird, ungeachtet man bis dermalen noch nicht,
wie fuͤr die Zahlenrechnungen, Maſchinen dazu erfun-
den hat.


C 2§. 56.
[36]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen

§. 56. Da man die Algeber beſonders als ein Mu-
ſter zur allgemeinen Zeichenkunſt, oder beſſer zu ſagen,
zur allgemeinen Verbindungskunſt der Zeichen (§. 39.)
angiebt, ſo koͤnnen wir noch anmerken, daß die Regel
falſi die Erfindung der Algeber ſcheint veranlaßt zu ha-
ben, oder wenigſtens nothwendig haͤtte veranlaſſen koͤn-
nen. Wir haben dieſe Regel in der Dianoiologie
(§. 555.) als ein Beyſpiel von Hypotheſen angegeben,
und (§. 558. l. cit.) gezeigt, wie man uͤberhaupt die Hy-
potheſen nach dem Muſter der Regel falſi einrichten ſoll,
und wie fern dieſes angeht. Da nun die Algeber un-
gleich weiter geht, als dieſe Regel, ſo laͤßt ſich leicht der
Schluß machen, was man von der allgemeinen Ver-
bindungskunſt der Zeichen in dieſer Abſicht zu erwarten
habe. Man kann naͤmlich die Analogie machen: Wie
ſich die Regel falſi zur Algeber verhaͤlt, ſo verhaͤlt ſich
unſere dermalige Art mit Hypotheſen umzugehen, zu ei-
nem vierten Begriffe x, welcher der Anwendung der
allgemeinen Verbindungskunſt der Zeichen auf die Faͤl-
le, wo wir ſonſt Hypotheſen gebrauchen, entſpricht.


§. 57. Bey den wiſſenſchaftlichen Zeichen geht im-
mer eine gedoppelte Ueberſetzung vor. Denn dieſe Zei-
chen machen eine beſondere Sprache aus, in welche je-
der vorkommende Fall dadurch uͤberſetzet wird, daß man
denſelben zeichnet, oder durch Zeichen vorſtellet, um das,
ſo mit der Sache ſelbſt haͤtte ſollen vorgenommen wer-
den, ſchlechthin nur mit den Zeichen vorzunehmen. Jſt
dieſes geſchehen, ſo geben die Zeichen den Erfolg an,
und dieſer muß ſodann wiederum in die gemeine Spra-
che uͤberſetzet werden.


§. 58. Von dieſen Ueberſetzungen giebt ſich die er-
ſte von ſelbſt, wenn die Sache oder der vorkom-
mende Fall durch ſolche Worte ausgedruͤcket
wird, oder ausgedruͤcket werden kann, deren
buchſtaͤblicher Verſtand die Zeichen, der meta-

phoriſche
[37]Erkenntniß uͤberhaupt.
phoriſche Verſtand aber den Fall ſelbſt vor-
ſtellt.
Dieſe Schicklichkeit findet ſich in der Theorie
der Saͤtze und Schluͤſſe, und veranlaßte die bereits oben
erwaͤhnte Zeichnung derſelben (§. 29.). Sie wuͤrde
ſich auch bey der Algeber einfinden, wenn ihre Zeichen
etwas mehr von den ſinnlichen Bildern haͤtten, unter
welchen ſich ihre Aufgaben vorſtellen laſſen. Naͤmlich,
die Ueberſetzung derſelben in die figuͤrliche Sprache,
koͤnnte mit Worten geſchehen, die von dem Bilde her-
genommen ſind, und ſo ließen ſie ſich von Wort zu
Wort zeichnen. So aber fordern die willkuͤhrlichen
Zeichen + — · : ꝛc. eine vorlaͤufige Theorie, die nicht
von irgend einem Bilde, ſondern unmittelbar von der
Sache ſelbſt hergenommen iſt, und wodurch man aus-
macht, wenn dieſe Zeichen, und welche mit einander
verwechſelt werden muͤſſen. Man ſieht hieraus zu-
gleich, daß die Theorie erſetzen muß, was das
Willkuͤhrliche der Zeichen zuruͤck laͤßt, und daß
hingegen die Zeichen vollkommener ſind, wenn
ſie das Kennzeichen ihrer Bedeutung mit ſich
fuͤhren, oder wenn die Beſchreibung der Zei-
chen, von Wort zu Wort genommen, die Be-
ſchreibung der Sache figuͤrlich angiebt.


§. 59. Die zweyte vorhin (§. 57.) erwaͤhnte Ueber-
ſetzung geht den Ruͤckweg der erſten. Beyde muͤſſen
von gleichem Umfange ſeyn, wenn anders unſere gewoͤhn-
liche Sprachen hiebey nicht zu unvollkommen ſind.
Denn ſo laͤßt man es unterbleiben, alle algebraiſche
Formeln mit Worten auszudruͤcken, weil es bey vielen,
wo nicht unmoͤglich, doch wenigſtens ſo weitlaͤuftig waͤ-
re, daß man es nie enden wuͤrde. Jndeſſen koͤnnen wir
hier gelegentlich anmerken, daß man ſich von der Ue-
berſetzung algebraiſcher Formeln in die gemeine Spra-
che, nicht immer durch ihre Weitlaͤuftigkeit oder ſchein-
bare Unſchicklichkeit muͤſſe abſchrecken laſſen. Denn ſie
C 3koͤnnen
[38]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
koͤnnen oͤfters ſehr in die Kuͤrze gezogen werden, wenn
man ſich umſieht, was die einzeln Theile und ihre Ver-
bindung bedeuten.


§. 60. Dieſe zweyte Ueberſetzung geſchieht entwe-
der unmittelbar nach der Zeichnung, oder erſt, nachdem
mit den Zeichen die behoͤrige Verwandelung vorgenom-
men worden. Erſteres findet ſich bey der in der Dia-
noiologie angegebenen Zeichnungsart der Schluͤſſe.
Denn da hat man nur die Vorderſaͤtze, welches die ei-
gentlichen, Data ſind, zu zeichnen, und alle moͤgliche
Schlußſaͤtze ſind zugleich mit gezeichnet, ohne daß man,
um ſie herauszubringen, etwas an der Zeichnung zu
veraͤndern noͤthig habe. Das letztere findet ſich bey der
algebraiſchen Zeichnungsart. Denn da muͤſſen die
Gleichungen, welche der Aufgabe Genuͤge thun, ſo ver-
wandelt werden, daß das Geſuchte auf der einen Seite
des Gleichſtriches allein bleibe (§. 54.). So fern man
aber eine algebraiſche Aufgabe durch Conſtruction auf-
loͤſen kann, ſo fern erhaͤlt man die unmittelbare Ueber-
ſetzung ebenfalls. Z. E. die vorhin (§. cit.) angefuͤhrte
wird ſo conſtruirt:


Die kleinere Groͤße ſey CD, die groͤßere DF, ſo iſt die
Summe CF. Traͤgt man nun DC in DE, ſo iſt EF
die Differenz. Demnach beſteht die Summe CF aus
der Differenz FE und der kleinern Groͤße doppelt ge-
nommen. Man zieht demnach FE von CF ab, und
den Ueberreſt EC halbirt man, ſo erhaͤlt man die klei-
nere Groͤße CD oder DE, welche zu der Differenz FE
addirt, die groͤßere DF geben wird. Man ſieht leicht,
daß dieſe Art zu conſtruiren ſo gut analytiſch iſt, als
die algebraiſche Aufloͤſung. Man verrichtet hier von
Wort zu Wort, was die Bedingungen der Aufgabe
fordern,
[39]Erkenntniß uͤberhaupt.
fordern, und nach geſchehener Zeichnung nimmt man
den Ruͤckweg, wie ihn die Zeichnung angiebt, um die
Regel herauszubringen, wodurch die geſuchten zwo
Groͤßen durch Rechnung oder durch die bisher in der
Meßkunſt uͤbliche Conſtruction gefunden werden koͤnnen.


§. 61. Beyde Ueberſetzungen gruͤnden ſich auf die
Bedeutung der Zeichen. Dieſe iſt nun ebenfalls
wiederum von zweyerley Arten. Ein Zeichen bedeu-
tet
ſchlechthin die dadurch vorgeſtellte Sache, ſo fern
es willkuͤhrlich iſt, das will ſagen, ſo fern es mit der
Sache keine ſolche Aehnlichkeit hat, daß es ein ſinnli-
ches Bild derſelben waͤre. So z. E. ſind in der Alge-
ber die Buchſtaben, wodurch man die Groͤßen vorſtel-
let, imgleichen die Zeichen + — · : ꝛc. willkuͤhrlich, hin-
gegen haben die Zeichen \> \< = ſchon mehr Aehn-
lichkeit mit der dadurch vorgeſtellten Sache, ungeachtet
ſie noch nicht ſo weit geht, daß ſie zu den vorhin (§. 58.)
erwaͤhnten vollkommenen Zeichen gerechnet werden koͤnn-
ten, welche nicht eine bloße Bedeutung haben, ſondern
gewiſſermaßen eine ſyſtematiſche Abbildung der Sa-
che ſind.


§. 62. Jndeſſen iſt dieſe Abbildung, ſo ferne Zei-
chen Zeichen bleiben ſollen, niemals ſo vollſtaͤndig, daß
nicht einige Unaͤhnlichkeit zuruͤcke bliebe. Denn iſt die
Sache, welche gezeichnet werden ſoll, wirklich eine Fi-
gur, ſo laͤßt man aus der Zeichnung als uͤberfluͤßig weg,
was an der Theorie nichts aͤndert. Dieſes fordert die
Kuͤrze der Zeichen, und die Vermeidung der Verwir-
rung. Hievon giebt die Choreographie Beyſpiele
(§. 52.). Und uͤberhaupt kann man hieher rechnen,
was die Mathematiker auf Figuren reduciren, und durch
bloße Unwiſſe vorſtellen. Jſt aber die Sache, die ge-
zeichnet werden ſoll, nicht eine Figur, ſo beruht die
Aehnlichkeit zwiſchen den Zeichen und der Sache auf
der Aehnlichkeit des Eindruckes, den beyde machen
C 4(§. 46.
[40]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
(§. 46. Alethiol.), und die Vollkommenheit der Zeich-
nung beſteht in der durchgaͤngigen Allegorie zwiſchen
den Zeichen und der Sache, und zwiſchen der Theorie
von beyden (§. 23. 29.), weil beyde Theorien ſollen ver-
wechſelt werden koͤnnen.


§. 63. Die Zeichen ſind ferner in einem hoͤhern
Grade wiſſenſchaftlich, wenn ſie, nachdem die gegebenen
oder beſtimmenden Stuͤcke gezeichnet worden, das da-
durch Beſtimmte zugleich mit gezeichnet iſt. So iſt es
ein Vorzug der Algeber, daß ſie nicht nur antwortet,
was gefragt wird, ſondern wenn die Frage in der That
mehrere Antworten leidet, ſo giebt ſie mit einem mal
alle an. Auf eine aͤhnliche Art beſtimmt ſie, wenn ein
Umſtand aus der Frage wegbleiben kann, oder wenn
ein Datum uͤberfluͤßig iſt, und ſo auch, wenn nicht ge-
nug Data ſind, und ebenfalls, wenn die Frage unmoͤg-
lich iſt, oder wo ſie anfaͤngt, unmoͤglich zu werden. Die-
ſes alles beſtimmt ſich durch eine der Algeber eigene
Theorie, welche nicht von den Zeichen, ſondern von der
Natur der Groͤßen hergenommen iſt, weil die algebrai-
ſchen Zeichen zuviel willkuͤhrlich ſind, als daß ſie dieſe
Theorie unmittelbar angeben ſollten (§. 58.).


§. 64. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß, wenn die
Zeichnung mehr angeben ſoll, als wirklich gezeichnet
worden, dieſes mehrere nur in Verhaͤltniſſen beſtehen
koͤnne. Denn wenn das, was man zeichnen wollte, ge-
zeichnet iſt, ſo kommen keine neue Zeichen mehr hinzu.
Hingegen da aus zweyen Verhaͤltniſſen ein drittes an
ſich ſchon beſtimmt ſeyn kann (§. 467. ſeq. Dianoiol.),
ſo iſt es auch moͤglich, daß die Zeichnung dieſes dritte
Verhaͤltniß angebe, ohne daß es beſonders gezeichnet
werden muͤſſe. Und dieſes ſoll bey wiſſenſchaftlichen
Zeichen von Rechts wegen ſeyn, weil ihre Theorie ſtatt
der Theorie der Sache ſoll dienen koͤnnen (§. 23.).


§. 65.
[41]Erkenntniß uͤberhaupt.

§. 65. Da demnach das, was die Zeichnung mehr
angiebt als wirklich gezeichnet worden, in Verhaͤltniſſen
beſteht, ſo erhellet zugleich hieraus, daß die Theorie der
Zeichen eigentlich auch nur dieſe Verhaͤltniſſe betrifft.
Denn da die Aehnlichkeit zwiſchen den Zeichen und der
Sache einmal ganz vollſtaͤndig iſt (§. 62.), ſo bleibt be-
ſonders bey den einfachen Zeichen immer etwas Will-
kuͤhrliches, und ihre Auswahl muß durch die Theorie
der Sache beſtimmt werden, dergeſtalt, daß ſich mit den
einmal gewaͤhlten Zeichen ſolche Verbindungen vorneh-
men laſſen, die den entſprechenden Verhaͤltniſſen der
Sache und ihren Verbindungen entweder aͤhnlich ſind,
oder dieſelben wenigſtens bedeutungsweiſe vorſtellen
(§. 61.). Und dieſes ſoll allgemein und reciprocirlich
ſeyn (§. 23.). Denn auf dieſe Art ſind die Zeichen ei-
ner Theorie faͤhig. Da demnach dieſe Theorie erſt an-
faͤngt, nachdem die Zeichen ſchon gewaͤhlt ſind, ſo be-
trifft ſie nur die Moͤglichkeiten und Bedingungen ihrer
Verbindung, folglich auch nur die Verhaͤltniſſe.


§. 66. Die Algeber erlaͤutert dieſes durch ihr Bey-
ſpiel. Denn ihre Theorie, welche eigentlich die Ver-
wandlung und Aufloͤſung der Gleichungen zum Gegen-
ſtande hat, geht auf das Locale in der Verſetzung der
Zeichen (§. 54.). Jede Verſetzung aber bringt eine
andere Verhaͤltniß in den durch die Zeichen vorgeſtell-
ten Groͤßen hervor. Auf eine aͤhnliche Art haben wir
im dritten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie gewieſen, daß
man Indiuidua durch Punkte, allgemeine Begriffe aber
durch Linien vorſtellen, und dieſe ganz, oder zum Theil,
unter und neben einander zeichnen muͤſſe, wenn man die
vier Arten von Saͤtzen A, E, I, O, und daher auch je-
de Schluͤſſe zeichnen wolle. Hierauf beruht die ganze
Theorie dieſer Zeichnung, welche ſodann bey den ge-
zeichneten Vorderſaͤtzen alle moͤgliche Schlußſaͤtze, das
will ſagen, alle Verhaͤltniſſe der drey Hauptbegriffe der
C 5Schluß-
[42]I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
Schlußrede ohne weiters angiebt, ſo fern naͤmlich dieſe
Verhaͤltniſſe nur darauf beruhen, ob dieſe Begriffe, und
wie fern ſie einander zukommen oder nicht. Denn auf
andere Verhaͤltniſſe erſtrecket ſich dieſe Theorie nicht.


§. 67. Die Verhaͤltniſſe, welche bey der Theorie
der Sache in Betrachtung kommen, werden entweder
durch wirkliche Zeichen, oder durch den Ort angezeigt,
den die uͤbrigen Zeichen gegen einander haben. Denn
dieſes iſt alles, worinn ſich ein Unterſchied finden kann.
Beyde Arten kommen in der Algeber vor. Denn die
Zeichen + und — gehen auf den Begriff des Ganzen
und ſeiner Theile. Bey erſterm hat der Ort nichts zu
ſagen, weil


a + b = b + a


Bey dem Zeichen — aber laͤßt ſich nicht (a—b) fuͤr
(b—a) ſetzen, weil man dadurch addiren mit ſubtrahi-
ren verwechſeln wuͤrde. Eben ſo iſt ab = ba, aber
nicht a:b = b:a, es ſey denn a = b. Die Exponen-
ten werden durch den Ort angezeigt, vermuthlich nach
Aehnlichkeit der Redensart; eine Groͤße zu einer Di-
gnitaͤt oder Potenz erhoͤhen ꝛc. Jn der Zeichnung der
Saͤtze und Schluͤſſe werden ebenfalls die Verhaͤltniſſe
der Begriffe ſchlechthin durch den Ort angezeigt, und
zwar faſt nothwendig, weil wir in allen Sprachen ei-
nen Begriff unter oder nicht unter den andern ſe-
tzen. Jndeſſen iſt der Ort nur relativ, und dieſes macht,
daß es nicht nothwendig iſt, den directen und umge-
kehrten Satz jeden beſonders zu zeichnen.


§. 68. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß wir hier von
Zeichen reden, die eines Ortes faͤhig ſind, und folglich
aus Figuren beſtehen. Denn außer dieſen giebt es
noch andere, denen man nur metaphoriſch die von dem
Orte hergenommenen Begriffe beylegt, wie z. E. die
Toͤne, welche man ebenfalls als hoch oder tief be-
trachtet.
[43]Erkenntniß uͤberhaupt.
trachtet. Die Begriffe lang, kurz, werden bey Figu-
ren und Toͤnen gebraucht, nur daß ſie ſich bey den Fi-
guren auf die Ausdehnung, bey den Toͤnen aber auf
die Dauer beziehen, in beyden Faͤllen aber nur eine
Dimenſion, und daher etwas lineares haben. Eben
dieſes gilt auch von den Begriffen vor, nach, welche
ſowohl von der Ausdehnung als von der Dauer Ver-
haͤltniſſe vorſtellen, und einen Rang und Ordnung an-
zeigen, welche in Abſicht auf die Zeichen bedeutend wer-
den kann.


§. 69. Daferne die Verhaͤltniſſe in zu großer An-
zahl waͤren, als daß man ſie alle durch einfache Unter-
ſchiede des Ortes oder der Zeit vorſtellen koͤnnte, ſo
muß man entweder beſondere Zeichen dafuͤr annehmen,
oder wenn ſie ſich trennen laſſen, ſie wirklich trennen,
und die Sache theilsweiſe oder in jeden Abſichten be-
ſonders betrachten. Auf dieſe Art haben wir in der
Dianoiologie von den Begriffen nur die Ausdehnung
und Subordination vorgenommen, weil dieſe beyden
Stuͤcke zur Zeichnung der Saͤtze und Schluͤſſe zurei-
chend ſind. Auf gleiche Art nimmt man in der Alge-
ber nur die Groͤße und Grade der Dinge vor, und
kann es thun, weil ſich die mathematiſche Seite der
Sachen beſonders betrachten laͤßt, und von den uͤbrigen
nur ſo viel fordert, als etwan noͤthig iſt, zu Gleichun-
gen zu gelangen.



Zwey-
[44]II. Hauptſtuͤck.

Zweytes Hauptſtuͤck.
Von
der Sprache an ſich betrachtet.


§. 70.


Nach der allgemeinen Betrachtung der Zeichen uͤber-
haupt, werden wir uns nun beſonders zu der
Sprache wenden, um ihre Structur naͤher kennen zu
lernen. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke
geſehen, daß uns die ſymboliſche Erkenntniß, und in
dieſer die Rede unentbehrlich iſt (§. 12. 13. 14.), und daß
die Sprache als das Behaͤltniß unſerer Begriffe und
Wahrheiten, aus vielen Gruͤnden die Unterſuchung ei-
nes Weltweiſen verdiene (§. 1-4.) Man iſt daher
bereits ſchon auf zwo Wiſſenſchaften gefallen, deren Er-
findung von ungemeiner Wichtigkeit ſeyn wuͤrde, wenn
ſie ſo leicht waͤren. Die eine iſt die Lehre einer all-
gemeinen Sprache,
welche ſo wohl im Reden als
im Schreiben fuͤr ſich verſtaͤndlich waͤre, oder wenigſtens
ohne viele Muͤhe gelernt werden koͤnnte. Naͤmlich ſo,
wie das Alphabet der Schluͤſſel zum Leſen unſerer der-
maligen Sprachen iſt, ſo wuͤrde dieſe geſuchte allgemeine
Sprache hoͤchſtens nur eines Schluͤſſels beduͤrfen, um
nicht nur lesbar, ſondern auslegbar und verſtaͤndlich zu
werden.


§. 71. Die andere Wiſſenſchaft iſt die allgemeine
Sprachlehre,
Gramatica uniuerſalis, welche man
ebenfalls noch erſt ſucht. Wir haben oben (§. 3.) an-
gemerkt, daß in unſern Sprachen das Willkuͤhrliche,
Natuͤrliche
und Nothwendige mit einander ver-
mengt iſt. Die allgemeine Sprachlehre muͤßte nun
vornehmlich das Natuͤrliche und Nothwendige in
der Sprache zum Gegenſtande nehmen, und das Will-
kuͤhr-
[45]Von der Sprache an ſich betrachtet.
kuͤhrliche, ſo viel immer moͤglich iſt, theils wegſchaffen,
theils mit dem Natuͤrlichen und Nothwendigen in en-
gere Verbindung ſetzen. Die Claſſiſchen Schriftſteller
haben in jeden gelehrten Sprachen viel hierinn gethan,
ohne noch eine wiſſenſchaftliche allgemeine Sprachlehre
vor ſich zu haben. Es kann auch eine Sprache nicht
wohl zur gelehrten Sprache werden, es ſey denn, daß
ſie nach dieſer Theorie ausgebeſſert werde. Die Ver-
dienſte der Wolſiſchen Weltweisheit um die deutſche
Sprache, ſind in dieſer Abſicht bekannt, weil ungemein
viele, theils alte, theils auch neue Woͤrter, dadurch eine
beſtimmte Bedeutung bekommen haben.


§. 72. Wir gedenken nicht, die eine oder die andere
dieſer Wiſſenſchaften bey unſern gegenwaͤrtigen Betrach-
tungen zur Abſicht zu machen, oder ſie uns als einen
Leitfaden, dem wir folgen koͤnnten, vorzuſetzen, ſondern
werden nach den im vorhergehenden Hauptſtuͤcke geleg-
ten Gruͤnden, den Weg zu beſtimmen ſuchen, den ſie
uns zu der Betrachtung der Sprache anbieten, ohne
eben vorlaͤufig auszumachen, wohin, noch wie weit er
fuͤhren werde. So weit wir aber kommen, wird ſich
jedesmal finden laſſen, was theils zum Behufe dieſer
beyden Wiſſenſchaften, theils auch uͤberhaupt zu jeden
nuͤtzlichen Abſichten dienen kann. Zu dieſem Ende wer-
den uns wirkliche und moͤgliche Sprachen gleich-
guͤltig ſeyn, weil die Weglaſſung dieſes Unterſchiedes
uns nicht einſchraͤnkt, die Sprachen ſchlechthin zu neh-
men, wie ſie ſind, oder uns ſtatt aͤchter Gruͤnde, mit
dem: es iſt ſo, weil es ſo iſt, zu begnuͤgen. Man
kann noch beyfuͤgen, daß die allmaͤhliche Abaͤnderung
der lebenden Sprachen noch viele Moͤglichkeiten zulaͤßt,
die es gut iſt, vorher zu wiſſen, und deren viele, nur
weil man ſie nicht weiß, auf Anlaͤße warten. Solche
Moͤglichkeiten werden wir aufzuſuchen bemuͤht ſeyn, und
ſie auch da anzeigen, wo die Mittel und Wege, ſie
brauch-
[46]II. Hauptſtuͤck.
brauchbar zu machen, noch dermalen etwas weiter zu-
ruͤcke zu bleiben ſcheinen. Die Beſtimmung jeder Man-
nichfaltigkeiten, die uns die Sprache, als Sprache be-
trachtet, anbeut, die damit verbundene Unterſuchung,
wozu jede dieſer Mannichfaltigkeiten dienen kann, macht
die Charakteriſtiſche Theorie der Sprache aus,
die wir vornehmen werden. Wir haben dabey die
Sprache als ein Datum, und koͤnnen ſie durch jede
Combinationen und Proben durchfuͤhren, um zu ſehen,
welcher Theorien und Verwandlungen ſie, an ſich be-
trachtet, faͤhig iſt, und welche Aehnlichkeiten ſie mit den
Theorien der Dinge hat, die ſie bezeichnen kann, ſie
mag ſie nun wirklich bezeichnen oder nicht.


§. 73. Man wird ſich daher nicht verwundern,
wenn wir bey den erſten Elementen der Sprache anfan-
gen, und nach der in der Dianoiologie (§. 517. ſeqq.)
gegebenen Anleitung, die einfachſten Moͤglichkeiten auf-
ſuchen. Dieſes ſind die einfachen Laute, die wir durch
Buchſtaben vorſtellen. Jhre Anzahl haͤngt von der
Structur der Gliedmaßen der Sprache, der Lippen, Zaͤh-
ne, Zungen, Gaumen und Kehle ab. Die Erfahrung
lehrt uns, daß diejenigen Wendungen dieſer Gliedmaſ-
ſen, die man nicht in der Kindheit zu einer Fertigkeit
macht, uns im hoͤhern Alter, theils ſchwer, theils ganz
unmoͤglich werden. Das Schibbolet der Juͤden, das
th der Englaͤnder, das mſt der Ruſſen, ſind verhaͤltniß-
weiſe von dieſer Art. Die Welſchen haben Muͤhe zu
aſpiriren, und werden leicht Hengelland und Oland
ausſprechen, die Deutſchen treffen das Franzoͤſiſche eu
nach ſeinen beyden Ausſprachen ſehr ſelten, und verwech-
ſeln es leicht mit i und e. Das Griechiſche y ſcheint
ein Mittelton zwiſchen e und i geweſen zu ſeyn, deſſen
Ausſprache die Lateiner mit e verwechſelten; und da die
Lateiner das Griechiſche φ durch ph und nicht durch f
geben, ſo ſcheint auch, daß es ein Mittel zwiſchen ph
und
[47]Von der Sprache an ſich betrachtet.
und f geweſen ſey, ſo wie die Franzoſen das Wort
vive als vifve dergeſtalt ausſprechen, daß das fv ein
Mittel zwiſchen f und v iſt.


§. 74. Auf dieſe Art wird es ſchwer, die moͤgliche
Anzahl der einfachen Buchſtaben zu beſtimmen. Wir
wollen bey den Vocalen anfangen, und bemerken, daß
ſie nur ſtufenweiſe von einander verſchieden ſind, und
daher wegen der Continuitaͤt dieſer Stufen nicht wohl
auf eine beſtimmte Zahl gebracht werden koͤnnen, weil
es ein feines Gehoͤr erfordert, die kleinern Unterſchiede
zu bemerken. Die groͤßern Unterſchiede ſind, ſo viel
mir vorgekommen, folgende:


  • 1. a, wie es die Deutſchen in haben, Adam ꝛc.
    ausſprechen.
  • 2. oa, ein Mittelton zwiſchen o und a.
  • 3. ae, wie in dem Wort Vers, maͤß, her.
  • 4. ae, wie im Franzoͤſiſchen in fait, im Deutſchen
    ſetz, Herr.
  • 5. e, wie in geh, mehr,
  • 6. e, wie in den letzten Sylben der Woͤrter ſitzen,
    faire.
  • 7. e, wie in einigen hollaͤndiſchen Oertern die erſte
    Sylbe in ſiten, ein Mittelton zwiſchen e und i.
  • 8. i, wie in dem Deutſchen mir, hirt.
  • 9. i, wie im Franzoͤſiſchen vif, im Deutſchen vil.
  • 10. u, wie im Franzoͤſiſchen pur.
  • 11. u, wie in der Schweiz fuͤr, uͤber, fuͤllen.
  • 12. u, wie outre, joug,Muſe, Uhr.
  • 13. u, wie gloire,ruhen, fuhr.
  • 14. u, wie Stufe, murren, um.
  • 15. o, das o chiuſo der Jtaliener, ein Mittel zwi-
    ſchen u und o.
  • 16. o, das o aperto der Jtaliener, ein klingendes o.
  • 17. oe, wie in der Schweiz hoͤren, im Franzoͤſi-
    ſchen leur, feu.

§. 75.
[48]II. Hauptſtuͤck.

§. 75. Dieſe unterſchiedene Toͤne bemerkt man in
einigen Sprachen durch Accente, oder auch durch Zu-
ſammenſetzung mehrerer Vocalen. Da ſie aber auf
eine vernehmliche Art von einander verſchieden und ein-
fach ſind, ſo ſollte jeder ſeinen ihm eigenen Buchſtaben
haben. Es iſt daher ein Mangel der Schriften, daß
wir fuͤr dieſe 17 und vielleicht noch mehr auf eine ver-
nehmliche Art von einander verſchiedene Toͤne oder
Selbſtlaute nur die ſechs Zeichen a, e, i, o, u, y, haben,
und die griechiſche Sprache nur um das y reicher iſt.


§. 76. Haͤtten wir aber ſolche Zeichen fuͤr jede Toͤne
der Selbſtlaute, ſo wuͤrden ſich auch die Doppellaute,
Diphtongi, wo naͤmlich zween oder mehree Vocalen
vernehmlich unterſchieden werden, vollſtaͤndig ſchreiben
koͤnnen, indem man die Vocalen in der Ordnung, wie
ſie ausgeſprochen werden, nach einander ſetzt. Z. E. Die
erſte Sylbe in dem Wort Kaiſer, wuͤrde die Zeichen
der Vocalen No. 3 und 9 haben, und die Woͤrter
Mayn, Hayn, Stein ꝛc. eben ſo geſchrieben werden.
Der Doppellaut in Laͤufer waͤre No. 3 und 10, in
haͤufenNo. 4 und 10, in huyNo. 14 und 9, in
BrauchNo. 1 und 12, ꝛc. Bey dieſem Vorrathe von
Zeichen wuͤrde die Ortographie gewinnen, und jede
Sprache nach ihrer Ausſprache geſchrieben werden
koͤnnen.


§. 77. Die Mitlauter oder Conſonanten theilen
ſich in einfache und zuſammengeſetzte. Von den erſtern
haben wir Zeichen fuͤr folgende dreyzehn:
b, d, f, g, h, l, m, n, r, s, w, χ χ,
zu welchen vielleicht noch das griechiſche φ als ein Mit-
telton zwiſchen f und bh, und das englaͤndiſche th, wel-
ches aus d, h, s, zuſammengeziſcht wird, kommen koͤnnte.
Ob aber die Gliedmaßen der Sprache nicht noch meh-
rere Conſonanten moͤglich ſeyn laſſen, laͤßt ſich nicht
wohl anders entſcheiden, als wenn man ſolche in ganz
frem-
[49]Von der Sprache an ſich betrachtet.
fremden Sprachen findet. Wir bemerken hiebey nur
eine Anomalie in den gewoͤhnlichen Buchſtaben unſerer
Sprachen. Denn fuͤr dh, gh, dhs, gs, bh, nehmen
wir einfache Zeichen t, k, z, x, p, und hingegen fuͤr die
einfachen Mitlauter der Griechen χ [χ] φ, nehmen
wir ch, ſch, ph. Letzteres vermuthlich aus Mangel eige-
ner Zeichen, erſteres als eine ganz willkuͤhrliche Abkuͤr-
zung, die nach ſtrengern Regeln entweder unterbleiben,
oder auf jede andere zuſammengeſchlungene Conſonan-
ten, z. E. bl, br, bs, gl, gr, gs, ſt, ſpr, ſtr ꝛc. ausgedehnt
werden muͤßte.


§. 78. Von dieſen einfachen Conſonanten kommen
einige den Vocalen naͤher, und dieſe ſind s, ch, ſch, f, r,
weil der Ton in der Ausſprache, ſo lange man will, dar-
auf ruhen kann, wie bey den Vocalen. Nach dieſen
haben die 3 Buchſtaben l, m, n, noch etwas ſelbſttoͤnen-
des, d und g ſind ſtummer, b und w fordern eine voͤlli-
ge Schließung der Lippen, und das h iſt eine bloße
Aſpiration. Man koͤnnte ſie demnach in halblaute,
fluͤßige, halbſtumme, ſtumme
und aſpirirende
abtheilen.


§. 79. Das Zuſammenſchlingen zweener oder meh-
rerer Conſonanten, um ſie mit einem male auszuſpre-
chen, koͤmmt theils auf die von Jugend auf angewoͤhnte
Biegſamkeit der Gliedmaßen der Sprache, theils auch
darauf an, ob die Bewegung dieſer Gliedmaßen bey
der Ausſprache eines Conſonanten, naͤher an die Bewe-
gung bey der Ausſprache eines andern grenze. Das
letztere macht nur die Ausſprache mehr oder minder
hart oder fließender, wie denn uͤberhaupt eine Sprache,
die fuͤnf, ſechs und etwa gar noch mehr Conſonanten
ohne eingemengten Vocal mit einem male und jeden
vernehmlich auszuſprechen vorgiebt, als eine haͤrtere
Sprache angeſehen wird, und von Fremden, die ſich
nicht von Jugend auf darinn geuͤbt haben, muͤhſam
Lamb. Organon II B. Doder
[50]II. Hauptſtuͤck.
oder gar nicht ausgeſprochen werden kann. Bey der
Ausſprache ſo vieler Conſonanten ſcheint es auf das
Verſchlingen der zwiſcheneingeſchobenen Vocalen anzu-
kommen; eine Fertigkeit, zu welcher man ſich in der Ju-
gend gewoͤhnen muß, wenn ſie von ſtatten gehen ſoll.
Die Verwandlung des Worts Landsknecht in Lans-
quenet
,
die nachgeahmte Verwandlung des Hinkmar
von Repkow
in Enquemare de Repikove machen es
begreiflich, wie die Griechen und Roͤmer die Namen
der barbariſchen Sprachen in griechiſch und lateiniſch
lautende Namen verwandelt haben. Die vielen Ein-
ſchaltungen des e in den deutſchen Woͤrtern haben eben-
falls beygetragen, die deutſche Sprache fließender zu
machen als ſie vorzeiten war.


§. 80. Man kann es als durchgehends moͤglich an-
ſehen, jede zween Conſonanten gerade und umgekehrt
zuſammen zu ſchlingen, und nebſt einem vor oder nach-
gehenden Vocal auszuſprechen, und mit Einmengung
der Halbvocalen f, s, ch, ſch, r, dehnt ſich dieſe Moͤg-
lichkeit auf noch mehrere Conſonanten aus. Nur kann
man ſich in hoͤherm Alter nicht mehr zu allen Combi-
nationen gewoͤhnen, die man in der Kindheit und Ju-
gend nicht erlernt hat. Wir binden uns aber hier an
die nur von dem Alter und allmaͤhliger Verhaͤrtung
der Gliedmaßen der Sprache abhaͤngende Unmoͤglich-
keit nicht. Denn wenn man je wiſſenſchaftliche
Woͤrter
ſollte zu Stande bringen, worinn Buchſta-
ben und Sylben und ihre Ordnung bedeutend waͤren,
ſo wuͤrde dieſe bedingte Moͤglichkeit der Ausſprache die
geringſte Hinderniß ſeyn.


§. 81. Wir koͤnnen noch anmerken, daß man in
den Sylben an, en, in, on, un, wie ſie in den Woͤrtern
écran, enfin, ſaiſon, aucun, und eben ſo in den Woͤr-
tern aimant, faifant, champ, argent, gens, ſein, ſain,
ſaint, ont, tond, uns, faim, parfum \&c.
ausgeſprochen
werden,
[51]Von der Sprache an ſich betrachtet.
werden, als eine Art von Vocalen anſieht, und ſie Voi-
elles nazales
nennt. Da auch dieſe Art auszuſprechen
die Mannichfaltigkeit in den Elementen der Sprache
vergroͤßert, ſo kann ſie da, wo man auf die vielfaͤltigſte
Verſchiedenheit der einfachen Laute oder Toͤne ſieht,
ebenfalls mit in Betrachtung gezogen werden, zumal da
ſie bey allen den 17 verſchiedenen Vocalen (§. 74.)
moͤglich bleibt, weil ſie nur in einer Abaͤnderung des
Klanges oder in einer Modification deſſelben beſteht.
Es gebraucht dabey auch keine beſondere Zeichen. Denn
da die Modification bey allen einerley iſt, ſo wuͤrde ein
Accent oder ander gleichgeltendes Zeichen dieſelbe an
ſich hinlaͤnglich von der reinen und hellern Ausſprache
eben derſelben Vocalen unterſcheiden.


§. 82. Die Aſpiration bey dem h, und eben ſo auch
die Ausſprache des r und s, hat mehrere Stuffen. Die
Tuͤrken aſpiriren aus voller Kehle, die Schweizer merk-
lich ſtark, die Deutſchen minder, die Franzoſen und
Welſchen faſt unmerklich. Das s wird von einigen
mehr geliſpelt, und viele ſtoßen an dem r dergeſtalt an,
daß es einen von dem gewoͤhnlichen r verſchiedenen Laut
abgeben kann. Ueberhaupt laſſen ſich in dieſer Abſicht
auch die Fehler der Zunge zu Moͤglichkeiten der Aus-
ſprache machen, weil eine biegſame Zunge ſich, ehe ſie
erhaͤrtet, dazu gewoͤhnen kann.


§. 83. Jndeſſen, wenn wir die Sachen ſo nehmen,
wie ſie ſind, ſo finden wir hier die erſte Grundlage zu
dem, was man die Art einer Sprache,Genius lin-
guae,
nennt. Denn von allen moͤglichen Combinatio-
nen der Buchſtaben zu einer Sylbe nimmt jede wirkli-
che Sprache nur eine gewiſſe Anzahl fuͤr ſich, und wer
nicht von Jugend auf ſich an die Ausſprache fremder
Sprachen gewoͤhnt, dem wird es in dem Alter mehr
oder minder unmoͤglich, und dieſe Unmoͤglichkeit dehnt
ſich auch auf die todten Sprachen aus, weil jede Nation
D 2dieſel-
[52]II. Hauptſtuͤck.
dieſelben nach ihrer Ausſprache einrichtet. So hat ein
Deutſcher Muͤhe, einen Englaͤnder zu verſtehen, wenn
dieſer Latein oder Griechiſch redt, weil er dieſe Sprachen
auf den Fuß des Englaͤndiſchen lieſt und ausſpricht.
Und ungeacht die Reuchliniſche Ausſprache derjenigen
nahe koͤmmt, die die heutigen Griechen noch haben, und
Eraſmus aus Gruͤnden zu erweiſen geſucht hat, wie die
alten Griechen muͤſſen ausgeſprochen haben, ſo glauben
doch die Englaͤnder, daß ſie im Engliſchen alle die Toͤne
und Mannichfaltigkeiten haben, welche die Griechen
hatten, und daß niemand das Griechiſche genauer aus-
ſpreche, als ſie es thun.


§. 84. Dieſe aus dem bloßen Nicht-uͤben herruͤh-
rende Unmoͤglichkeit, jede zuſammengeſchlungene Mit-
lauter auszuſprechen, hat in Abſicht auf die Art einer
Sprache, Indoles oder Genius linguae, verſchiedene
Folgen. Die Woͤrter einer fremden Sprache, denen
man in einer Sprache das Buͤrgerrecht giebt, werden
ſo veraͤndert, daß ſie ſich ausſprechen laſſen. Man giebt
ihnen andere Wendungen, und dieſes geht zuweilen ſo
weit, daß man Muͤhe hat, die Ableitung zu erkennen.
Auch die Moͤglichkeit und die Art, zuſammengeſetzte
Woͤrter zu bilden, haͤngt davon ab. Eine Sprache, in
welcher ohne Bedenken fuͤnf, ſechs und mehrere Mitlau-
ter an einander ſtoßen duͤrfen, weil man an ihre Aus-
ſprache von Jugend auf ſchon gewoͤhnt iſt, leidet eine
viel unmittelbarere Zuſammenſetzung, als eine gelindere
Sprache, die entweder Buchſtaben weglaſſen, oder die
haͤrtern mit weichern verwechſeln, oder Vocalen einſchal-
ten muß, um dem zuſammengeſetzten Worte eine Fluͤßig-
keit zu geben, die ſich durch weniger biegſam gemachte
Zungen ausſprechen laſſe. Die deutſche Sprache leidet
eine ſolche unmittelbare Zuſammenſetzung, und geht dar-
inn ſo weit, daß ſie ehender mehr Conſonanten als
Selbſtlauter einmengt, wie z. E. in den Woͤrtern:
Erfin-
[53]Von der Sprache an ſich betrachtet.
Erfindungskunſt, Kruͤmmungskreis, ꝛc. wo das
s ſchlechterdings eingeſchaltet iſt, und ſtatt deſſen ein
Grieche oder Lateiner einen Vocal wuͤrde gebraucht
haben.


§. 85. Wir wollen aber die Zuſammenſetzung der
Buchſtaben oder einfachen Selbſtlauter und Mitlauter,
in ſo fern einzelne Sylben daraus entſtehen koͤnnen, in
ihrer allgemeinſten Moͤglichkeit und an ſich betrachten,
und den Reichthum der Sprache an Sylben beſtim-
men. Zu dieſem Ende nehmen wir nur die oben
(§. 74.) von einander unterſchiedene 17 einfache Selbſt-
laute, weil ſich nicht wohl ausmachen laͤßt, wie viele
Zwiſchenlaute, die etwan nur ein feineres Gehoͤr unter-
ſcheidet, moͤglich bleiben. Wir halten uns auch nicht
damit auf, daß einige dieſer Selbſtlaute in dieſer oder
jener Sprache als ein Doppellaut genommen werden.
Denn dieſes geſchieht nur, weil man nicht eigene Buch-
ſtaben oder Zeichen dafuͤr hat. Aus gleichem Grunde
verſtehen wir durch Doppellaute nur diejenigen Laute,
wo zween Vocalen einer nach dem andern, und jeder
vernehmlich, in einer Sylbe ausgeſprochen werden, der-
gleichen in den Woͤrtern auch, die, ein, und im Jta-
lieniſchen buon’ \&c. vorkommen. Die verſchiedenen
Combinationen ſind nun folgende.


§. 86. Erſtlich, da jeder einfache Selbſtlaut fuͤr ſich
ausgeſprochen werden kann, ſo haben wir dadurch 17
Sylben, welche unter allen die einfachſten, und vielmehr
nur Anfaͤnge zu Sylben als wirkliche Sylben ſind. Jn-
deſſen kann jeder Selbſtlaut fuͤr ſich ſchon einen Begriff
vorſtellen, wie z. E. im Lateiniſchen das a und e Praͤ-
poſitionen ſind.


§. 87. Die Anzahl der Doppellaute iſt ſchon merk-
lich groͤßer. Denn jeder der 17 Selbſtlaute kann mit
jedem andern zuſammengenommen zum Doppellaute
werden, und jeder dem andern vor und nachgehen. Auf
D 3dieſe
[54]II. Hauptſtuͤck.
dieſe Art bringen wir, die Verdopplung eines gleichen
Selbſilautes mitgerechnet, 17 mal 17, oder 289 Doppel-
laute heraus, welche ebenfalls wiederum, jeder einen
Begriff, vorſtellen koͤnnen, wie z. E. im Deutſchen die
Woͤrter au, je, ey, ja, ꝛc. ſind.


§. 88. Die Ausſprache aller dieſer Doppellaute ſetzt
weiter nichts als die Ausſprache aller Selbſtlaute vor-
aus, und man kann ſich in der Jugend zu einer beſon-
dern Fertigkeit darinn gewoͤhnen. Das Ausſprechen
dreyer Selbſtlauter in einer Sylbe iſt allerdings an ſich
muͤhſamer, wenn man, ohne zwo Sylben daraus zu ma-
chen, jeden vernehmlich ausſprechen will. Die Welſchen
haben etwas dergleichen in den Worten gli uomini, wo
ſie das gliuo in eine Sylbe ziehen. Uebrigens wird
bey der Ausſprache ſolcher Triphtonge oder Dreylaute
noch mehr als bey den Doppellauten erfordert, daß
man es in der Jugend zur Fertigkeit bringe. Und da
die Selbſtlaute nur ſtufenweiſe von einander verſchieden
ſind, ſo iſt fuͤr ſich klar, daß die Ausſprache ſolcher
Dreylaute leichter iſt, wenn ſie nach der Ordnung ihrer
Stufen auf einander folgen. Die Anzahl ſolcher Drey-
laute belaͤuft ſich auf 17 mal 289 oder 4913, worunter
aber die doppelt und dreyfach genommenen Selbſtlaute
mit begriffen ſind. Denn ohne dieſe kommen nur
17 · 16 · 15 = 4080 heraus. Die Anzahl der Vier-
laute
iſt noch 14 mal groͤßer, ſo daß, wenn man ſie noch
als moͤglich und ausſprechbar anſehen will, uͤber die
60000 Laute herauskommen, die noch alle, und ohne
Zuziehung eines Conſonanten, in Form einer Sylbe aus-
geſprochen werden, und Begriffe vorſtellen koͤnnen.


§. 88a. Wenn wir aber Conſonanten mitnehmen,
und ebenfalls nur bey den (§. 77.) angezeigten 13 einfa-
chen bleiben, ſo wird die Anzahl der moͤglichen Sylben
noch ungleich groͤßer. Denn, um bey einem anzufan-
gen, ſo kann jeder Conſonant einem Selbſtlaute, Dop-
pellaute,
[55]Von der Sprache an ſich betrachtet.
pellaute, Dreylaute, ſowohl vor als nachgehen. Dieſes
macht die erſt angegebenen Zahlen 26 mal groͤßer. Dem-
nach 26 mal 17 = 442 Sylben von einem Mitlaut
und einem Selbſtlaut. 16 mal ſo viel oder 7072 von
einem Mitlaute und einem Doppellaute. 15 mal ſo viel
oder 106080 von einem Mitlaute und einem Dreylaute.


§. 89. Nehmen wir aber zween Conſonanten, ſo
haben wir 13 mal 13 oder 169 Combinationen, und die
Selbſtlaute, Doppellaute ꝛc. koͤnnen vor, oder zwiſchen,
oder nach den beyden Conſonanten ſtehen. Da dieſes
nun fuͤr jeden Selbſtlaut, Doppellaut ꝛc. 3 mal 169
oder 507 Abwechslungen giebt, ſo muͤſſen die im §. 87.
gefundene Zahlen mit 507 multiplicirt werden, welches
ſchon merklich groͤßere Zahlen geben wird. Und es iſt
fuͤr ſich klar, daß noch ungleich groͤßere herauskommen
werden, wenn man drey, vier und mehr Conſonanten zu
einer Sylbe nimmt. Wir ſetzen aber dieſe Rechnung
hier nicht weiter fort, weil ſie ſonſt genauer und mit meh-
rern Unterſchieden muͤßte vorgenommen, und die Wie-
derholung eines gleichen Conſonanten von den uͤbrigen
Faͤllen, wo man verſchiedene Conſonanten nimmt, im-
gleichen die Moͤglichkeiten der Stelle der Selbſtlaute,
Doppellaute ꝛc. von einander unterſchieden werden, wel-
ches aber hier um deſto weniger nothwendig iſt, weil
die zum Grund gelegte Anzahl der 17 Selbſtlaute, und
13 Mitlaute, nur hypothetiſch angenommen iſt, und
folglich alle Zahlen noch zu klein ſeyn wuͤrden, ſo bald
dieſe muͤßten noch um einige einfache Selbſtlaute und
Mitlaute vermehrt werden.


§. 90. Die Sylben haben die Bedingung, daß ſie
mit einem male oder mit einer Oeffnung des Mundes
muͤſſen koͤnnen ausgeſprochen werden, weil man ſie eben
deswegen Sylben nennt. Dieſe Bedingung ſchraͤnkt
ihre moͤgliche Anzahl ein, doch ſo, daß es uns ſchwer
oder gar unmoͤglich wird, die Grenzen dieſer Moͤglich-
D 4keit
[56]II. Hauptſtuͤck.
keit zu beſtimmen, weil man ſich in der Jugend zu der
Ausſprache von Sylben gewoͤhnen kann, die aus ſehr
vielen Buchſtaben zuſammengeſetzt ſind. Die wirkli-
chen Sprachen gehen hierinn Stufenweiſe, und die
Deutſche und Slavoniſche haben zuſammengeſetztere
Sylben, als die Lateiniſche und davon abſtammenden
Sprachen. Es laͤßt ſich aber nicht wohl eroͤrtern, wo
die Structur der Gliedmaßen der Sprache ſelbſt an-
faͤngt Schranken zu ſetzen, und es iſt unſtreitig eine Ue-
bung
hierinn, wie bey jeden uͤbrigen Leibesuͤbungen,
z. E. bey dem Springen, Seiltanzen ꝛc. moͤglich, wo-
durch man es bis zum Unglaublichen ſollte bringen koͤn-
nen. Solche Uebungen im Ausſprechen wuͤrden auch
leicht eingefuͤhrt werden, wenn erhebliche Gruͤnde eine
Sprache, die ſie erſordern wuͤrde, nothwendig machen
ſollten.


§. 91. Hingegen hat die Zuſammenſetzung der Syl-
ben keine Einſchraͤnkung. Denn es koͤnnen in zwo
auf einander folgenden Sylben eben ſo viel Conſonan-
ten an einander ſtoßen, als in zwey auf einander fol-
genden Woͤrtern, weil man im Reden die Woͤrter wie
Sylben zuſammenhaͤngt. Man kann ſich hievon ver-
ſichern, wenn man jemanden eine ganz fremde Sprache
reden hoͤrt. Eine ganze Periode wird ein einiges Wort
zu ſeyn ſcheinen. Man hat ſie vorzeiten auch an ein-
ander haͤngend geſchrieben, bis man anfieng, die Woͤr-
ter abzuſetzen. Jm Deutſchen gieng man weiter, und
theilte auch die zuſammengeſetzten Woͤrter durch Strich-
lein, indem man z. E. Hof-Rath, Luſt-Haus ꝛc.
ſchrieb, welches aber wiederum in Abgang koͤmmt.


§. 92. Die Anzahl der Sylben, um ein Wort zu
machen, iſt ebenfalls unbeſtimmt, in ſo fern man nur
die Moͤglichkeit betrachtet, ein Wort aus Sylben zu-
ſammen zu ſetzen. Hingegen ſo lange die Woͤrter nur
willkuͤhrliche Zeichen der Dinge und Begriffe bleiben,
wird
[57]Von der Sprache an ſich betrachtet.
wird man allerdings die Verba feſquipedalia, die naͤm-
lich aus uͤberhaͤuſt vielen Sylben beſtehen, und dennoch
nicht mehr, als ein kuͤrzeres Wort bedeuten, fuͤr fehler-
haft anſehen, ſo wie man es hingegen fuͤr eine Zierde
einer Sprache haͤlt, wenn ſie eben nicht durchaus ein-
ſylbige, ſondern eine ſchickliche Abwechslung von laͤn-
gern und kuͤrzern Woͤrtern hat. Sollten aber die Woͤr-
ter wiſſenſchaftliche Zeichen der Dinge und Begriffe
werden koͤnnen, ſo wuͤrde ſich die Frage von ihrer Laͤnge
und Kuͤrze aus ganz andern Gruͤnden entſcheiden muͤſ-
ſen, und man wuͤrde, wie bey den algebraiſchen For-
meln, das Einfachere dem Weitlaͤuftigern und Kuͤrzern
vorziehen.


§. 93. Aus dem bisher geſagten erhellet genugſam,
wie viele Mannichfaltigkeiten aus der Combination und
Permutation von 17 Selbſtlauten und 13 Mitlauten,
folglich in allem von 30 Buchſtaben, in der Sprache
entſtehen koͤnnen, auch nur ſo fern ſie geredet wird.
Jm Schreiben kann dieſe Mannichſaltigkeit noch viel-
fach groͤßer werden, weil man dabey die Wahl behaͤlt,
wie viele verſchiedene Zeichen man fuͤr jeden Buchſtab
nehmen, und folglich wie viele Alphabete man gebrau-
chen will. Die Abſichten, die man hiebey haben kann,
ſind vielerley.


§. 94. Einmal, wenn jemand fuͤr ſich ein ganz will-
kuͤhrliches Alphabet waͤhlet, ſo geſchieht dieſes, um das,
ſo er ſchreibt, zu verſtecken, und das Alphabet oder uͤber-
haupt das Regiſter der Zeichen und ihrer Bedeutung
heißt der Schluͤſſel zu ſolchen Schriften. Die Wiſſen-
ſchaft ſelbſt, ſolche geheime Schriften zu erfinden, heißt
die Cryptographie, Steganographie oder ge-
heime Schreibkunſt,
und die Zeichen, deren man
ſich zu geheimen Schriften bedient, werden Ziffern
genennt. Wenn der Schluͤſſel zu der geheimen Schrift
nach ſehr einfachen Regeln gemacht iſt, z. E. wenn man
D 5fuͤr
[58]II. Hauptſtuͤck.
fuͤr jeden Buchſtab ſchlechthin ein Zeichen waͤhlt, ſo iſt
es wohl moͤglich, eine ſolche verborgene Schrift zu le-
ſen, ohne den Schluͤſſel dazu von ihrem Urheber entleh-
nen zu duͤrfen. Wie man es anzugreifen habe, wird
in der Dechiffrirkunſt gewieſen. Dieſe Wiſſenſchaft
iſt ſchlechthin eine Anwendung einer viel allgemeinern
analytiſchen Aufgabe, naͤmlich: Wenn eine nach
Regeln gemachte Sache gegeben, die Regeln
zu finden, nach denen ſie gemacht worden,
oder haͤtte koͤnnen gemacht werden.
Wir ha-
ben bereits in der Dianoiologie bey der Betrachtung
der Hypotheſen davon Erwaͤhnung gethan (§. 555.
feqq.).


§. 95. Ferner kann man ſich ein Alphabet und Zei-
chen waͤhlen, um das, welches man ſchreiben will, am
geſchwindeſten ſchreiben zu koͤnnen, ſo, daß man darinn
dem Redenden gleich oder gar zuvorkomme. Die Wiſ-
ſenſchaft, die dieſes lehrt, heißt die Tachygraphie.
Sie giebt die Zeichen, die am einfachſten, am leichte-
ſten zu ſchreiben und an einander zu haͤngen ſind, in-
gleichen die ſchicklichſten Abkuͤrzungen der Woͤrter an,
und richtet alles dieſes ſo ein, daß man eben nicht mehr
Zeit gebrauchen muͤſſe, ſich auf die Zeichen zu beſinnen,
als es gebrauchte, um mit der gewoͤhnlichen und von
Jugend auf erlernten Schrift zu ſchreiben.


§. 96. Man kann ferner auch auf die Schoͤnheit
der Schriften
ſehen, nicht nur daß ſie leslich ſeyn,
ſondern mit ihren Nebenzierrathen wohl in das Auge
fallen. Hierinn ſcheint es die lateiniſche Schrift allen
andern zuvor zu thun. Die Wiſſenſchaft oder Kunſt,
ſchoͤn zu ſchreiben, heißt die Calligraphie. Sie ſoll
angeben, wie die Buchſtaben nach dem natuͤrlichen Zu-
ge der Hand und Feder ungezwungen, ſymmetriſch,
einfach, genugſam verſchieden ꝛc. geſchrieben werden
koͤnnen. Dieſen Bedingungen hat Hr. Prof. Spreng
auch
[59]Von der Sprache an ſich betrachtet
auch in Anſehung der deutſchen Curſivſchrift meines
Wiſſens am beſten Genuͤge geleiſtet, weil er viele uͤbel
in das Auge fallende Ecken und unnoͤthige Zuͤge ſchick-
lich abgeruͤndet, und den Buchſtaben des geſchriebenen
kleinern Alphabets eine ſolche Symmetrie gegeben, daß
ſie nur aus der Zuſammenſetzung weniger einfachen
und nach dem Zuge der Feder eingerichteten Zuͤge be-
ſtehen, und die meiſten Buchſtaben umgekehrt wieder-
um Buchſtaben vorſtellen.


§. 96a. Jn ſo ferne die Buchſtaben und uͤberhaupt
jede geſchriebene Zeichen der Woͤrter Figuren ſind, ſo
ferne iſt es auch an ſich moͤglich, daß ſie als Figuren
eine Bedeutung haben, welche weſentlich ſeyn, und ſich
auf die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Sache und
das Zeichen macht, gruͤnden kann (§. 46. Alethiol.). Ob
Leibniz Zeichen von dieſer Art durch ſeine allgemeine
Zeichenkunſt verſtanden habe, koͤnnen wir hier dahinge-
ſtellt ſeyn laſſen. Wir muͤſſen aber anmerken, daß,
da uns die Rede immer unentbehrlich bleiben wird
(§. 14. 15.), auch die einfachſten Zeichen der Buchſta-
ben und einfachen Laute von gleicher Nothwendigkeit
bleiben werden, weil ſie dazu dienen, daß wir die Rede
vor Augen malen, und weil man außer dem Alphabet
keinen kuͤrzern Schluͤſſel zur Zeichnung der Rede wird
finden koͤnnen. Die Woͤrter muͤſſen demnach ſchon in
der Rede bedeutend ſeyn, wenn ſie es je in einem hoͤ-
hern Grade ſollen werden koͤnnen, und die Verſchieden-
heit der geſchriebenen Alphabete mag hoͤchſtens nur zu
gewiſſen allgemeinen Abſichten dienen. Wir werden
unten Anlaß haben, dieſe Anmerkung genauer zu er-
wegen.


§. 97. Die Orthographie iſt die Anweiſung, die
Woͤrter richtig zu ſchreiben. Sie wuͤrde auf einer ei-
nigen Regel beruhen, daß man naͤmlich jeden
Buchſtab, den man in der deutlichen Ausſpra-

che
[60]II. Hauptſtuͤck.
che des Wortes hoͤrt, in eben der Ordnung
ſchreiben muͤſſe,
wenn nicht der Gebrauch zu re-
den und andere Hinderniſſe im Wege ſtuͤnden. Die
erſte iſt, daß wir fuͤr die einfachen Selbſtlaute nicht ge-
nug, fuͤr einige Mitlaute uͤberfluͤßig Zeichen haben,
und uͤberdieß noch Selbſtlaute und Doppellaute, im-
gleichen zuſammengeſetzte Mitlauter mit einfachen ver-
wechſeln (§. 75. ſeqq.). Jn einigen Sprachen, und be-
ſonders in der Franzoͤſiſchen und Englaͤndiſchen, weicht
man noch mehr ab, weil man weder alle Buchſtaben,
noch alle immer auf gleiche Art ausſpricht, und daher
ganz anders lieſt, als man ſchreibt. Die Jtaliener und
Deutſchen haben wenigſtens einige Provinzen, deren
Ausſprache, in Ermangelung anderer Regeln, zum Mu-
ſter im Schreiben genommen wird, weil ihre Einwoh-
ner auch die uͤbrigen Woͤrter nach dem Buchſtaben
ausſprechen, ſo viel naͤmlich die vorhin angefuͤhrten Ab-
weichungen in der Bezeichnung der Buchſtaben zulaſ-
ſen. Jndeſſen iſt dieſes nicht ſo ausgemacht, daß nicht
noch Unbeſtimmtes und Willkuͤhrliches zuruͤcke bliebe.
Die Abwechslung in der Ausſprache traͤgt auch vieles
dazu bey, und ſcheint in ihrem erſten Anfange von ge-
wiſſen Unbiegſamkeiten der Zunge herzuruͤhren, die bey
jedem Menſchen ihre beſondere Stufen hat. So giebt
es auch Neuerungen in der Ausſprache, und in meh-
rern andern Theilen der Sprache, die man unvermerkt
nachahmt, weil ſie das erſtemal, und oͤfters aus Neben-
umſtaͤnden, das Gluͤck hatten, zu gefallen.


§. 98. Die Ordnung im Schreiben fordert zwar,
daß die Buchſtaben und Woͤrter ſo auf einander
folgen, wie im Reden. Es bleibt aber das willkuͤhr-
lich dabey, daß man den Anfang vorn oder hinten,
oben oder unten ſetzen kann. Daher ſchreiben die Chi-
neſer von hinten angefangen herunterwaͤrts, die He-
braͤer von hinten angefangen vorwaͤrts, die Griechen,
Latei-
[61]Von der Sprache an ſich betrachtet.
Lateiner, Deutſchen ꝛc. von vorn hinterwaͤrts, oder
von der linken zur rechten Hand. Dieſe Verſchieden-
heit in der Ordnung ſcheint anzuzeigen, daß mehrere
Erfinder der Schriften geweſen ſind. Jndeſſen, ſo
fern man annehmen kann, daß es natuͤrlicher ſey, mit
der rechten Hand zu ſchreiben, wird auch die Ordnung
der Europaͤer die natuͤrlichſte und bequemſte ſeyn, weil
die Feder dabey nicht geſtoßen, ſondern gezogen wird.
Wir wuͤrden es auch mit den Zahlen thun, wenn dieſe
nicht von Arabern waͤren erfunden worden, welche die
Hypotheſe, von hinten anzufangen, nach der Ordnung
der Buchſtaben in ihrer Sprache eingerichtet. Jn der
Algeber haben wir uns aber nicht daran gebunden, ſon-
dern weil a + b = b + a, und a. b = b. a iſt, die
Gleichungen und beſonders die Ausdruͤcke a—b, a:b,
nach der europaͤiſchen Ordnung eingerichtet.


§. 99. Der Gebrauch der Accente iſt ſehr unbe-
ſtimmt, und in verſchiedenen Sprachen verſchieden, weil
man theils die Staͤrke, theils die Laͤnge eines Tones,
und wie z. E. im Franzoͤſiſchen bey den è, é, die Aus-
ſprache des Vocals, und in andern Faͤllen ſchlechthin
den Unterſchied zweyer gleichgeſchriebener Woͤrter oder
einen wegbleibenden Buchſtab anzeigt. Die Spra-
chen waͤren mit immer gleich langen Sylben zu einfoͤr-
mig, und dem Ohre gefallen die darinn eingefuͤhrten
Abwechslungen. Es ſind aber dieſe Abwechslungen
nicht bloß der Harmonie zu gefallen eingefuͤhrt, ſondern
wir ſind von Natur dazu gewoͤhnt, diejenigen Woͤrter
und Sylben ſtaͤrker, haͤrter, laͤnger ꝛc. auszuſprechen,
auf welche der Nachdruck der Rede faͤllt, und wor-
auf der Zuhoͤrende vorzuͤglich Acht haben ſoll, und die-
ſes kann einen Einfluß auf den Verſtand der Rede ha-
ben. Z. E.


  • 1. Jch hab es ihm geſagt: will ſagen, nicht ein
    anderer.

2. Jch
[62]II. Hauptſtuͤck.
  • 2. Jch hab es ihm geſagt: zeigt an, es ſey ge-
    ſchehen.
  • 3. Jch hab es ihm geſagt: naͤmlich nicht einem
    andern.
  • 4. Jch hab es ihm geſagt: das iſt, nicht gedeutet,
    geſchrieben ꝛc.

Wir koͤnnen hiebey anmerken, daß in Verſen dieſer
Nachdruck der Woͤrter mit den Stellen des
Verſes zuſammentreffen ſoll, welche die Vers-
art, die man gewaͤhlt hat, zu Stellen eines
laͤngern oder ſtaͤrkern Tons macht.
Denn auf
dieſe Art giebt der Vers den Nachdruck der Worte an,
und harmonirt mit denſelben.


§. 100. Wenn die geſchriebene Sprache durch-
aus alles, was in der geredten Mannichfaltiges vor-
koͤmmt, genau anzeigen ſoll, ſo wird man allerdings auch
Zeichen gebrauchen muͤſſen, welche jede Modification
in der Laͤnge, Kuͤrze, Schaͤrfe, Nachdruck ꝛc. der Woͤr-
ter und Sylben anzeigt, und beſonders die ſtaͤrkern Gra-
de davon unterſcheidet. Die Verſchiedenheit des Al-
phabets in gedruckten Schriften, welche beſonders Bil-
finger
in ſeinen Dilucidationen gebraucht, um die
Grade der Aufmerkſamkeit dem Leſer anzuzeigen, thun
hiebey ſehr gute Dienſte, wo naͤmlich der Nachdruck auf
ganze Woͤrter und Redensarten geht. Die Ausru-
fungszeichen (!), welche einen Affect anzeigen, das NB,
das Sela in den Pſalmen, die dermalen in Aufnahm
kommende — —, welche dem Leſer eine Pauſe oder Ru-
heplatz geben, noch mehr hinzuzudenken, als man mit
Worten anzeigt, die .... bey einsmaligem Abbru-
che oder Unterbrechung der Rede, wie in dem Virgil:
Quos ego ‒ ‒ ‒ ſed motos praeſtat componere fluctus.
Die ungewoͤhnlichere Verſetzung der Woͤrter, wie in
vielen der beſten poetiſchen Perioden, oder auch z. E.
wie im Livius:Per ego te fili etc. Alles dieſes ſind
Mittel, die Aufmerkſamkeit des Leſers zu erwecken und
abzu-
[63]Von der Sprache an ſich betrachtet.
abzuaͤndern, und den Begriff von dem, was man ſagen
will, genauer und ſicherer zu bilden. Es iſt aber fuͤr
ſich klar, daß der Schreibende ſelbſt wohl wiſſen muß,
wo er dieſe Mittel zu gebrauchen hat, und ob er auf die
in der That nachdruͤcklichere Woͤrter ſelbſt aufmerkſamer
iſt. Dieſes iſt vielleicht ein Grund mit, warum ſolche
feinere Unterſcheidungszeichen in der geſchriebenen Re-
de nicht durchgaͤngig eingeſuͤhrt ſind, und in Gedichten
giebt es noch mehrere Schwierigkeiten, wenn man den
Schwung der Gedanken, der Worte und des Ver-
ſes
mit einander durchaus in Harmonie bringen ſoll.


§. 101. Ungeacht man in den wirklichen Sprachen,
in Anſehung der Accente, nicht leicht eine Neuerung
vornimmt, ſo kann es doch zum Behufe der Fremden,
die eine Sprache lernen wollen, geſchehen, daß man in
den Sprachlehren und Woͤrterbuͤchern dergleichen ein-
fuͤhrt, um die Ausſprache und ihre Modificationen an-
zuzeigen. Um hierinn vollſtaͤndig zu verfahren, muͤßte
man durch ſchickliche Abaͤnderung in der Figur der Vo-
calen a, e, i, o, u, die oben angezeigten 17 einfachen
Vocalen kenntlich von einander unterſcheiden, und hin-
gegen koͤnnte man die Laͤnge und Kuͤrze der Sylben
durch Accente oder durch die Zeichen — ⏑ (§. 44.)
ſo uͤber die Vocale geſetzt wuͤrden, die Schaͤrfe der Syl-
ben durch Accente anzeigen, die uͤber denjenigen Conſo-
nant geſetzt wuͤrden, auf welchen der Nachdruck des To-
nes in der Ausſprache faͤllt. Dieſes einmal eingefuͤhr-
te Mittel wuͤrde auch dienen, jede fremde Sprache ih-
rer natuͤrlichen Ausſprache gemaͤß zu ſchreiben. Viel-
leicht verhuͤlfe es ebenfalls dazu, die Ausſprache des
Deutſchen, welche in jeden Provinzen Deutſchlandes
verſchieden iſt, dergeſtalt zu zeichnen, daß man ſich, we-
nigſtens im Leſen, auf eine einfoͤrmige Art darnach rich-
ten koͤnnte. Die Aenderung der Vocale hat hiebey al-
lerdings die groͤßte Schwierigkeit, weil man bald in al-
len Sprachen dieſelben mit Doppellauten verwechſelt.


Drittes
[64]III. Hauptſtuͤck.

Drittes Hauptſtuͤck.
Von
der Sprache als Zeichen betrachtet.


§. 102.


Wir haben im vorhergehenden Hauptſtuͤcke die Stru-
ctur der Sprache an ſich betrachtet, und ihre
einfachſten Elemente nebſt den allgemeinſten Moͤglich-
keiten deren Zuſammenſetzung vorgezaͤhlt. Wir wer-
den ſie nun als Zeichen anſehen, und die ſich dabey
aͤußernden Moͤglichkeiten aufſuchen.


§. 103. An einer Sylbe, ſo fern ſie vernehmlich
ausgeſprochen wird, kann alles, was ſich daran unter-
ſcheiden laͤßt, bedeutend ſeyn, folglich


  • 1. jeder Buchſtab,
  • 2. die Ordnung der Buchſtaben,
  • 3. die Modification oder Art der Ausſprache,
  • 4. die Sylbe im Ganzen,
  • 5. ihre Verbindung und Ordnung mit andern
    Sylben.

§. 104. Von dieſen fuͤnf Stuͤcken kommen in den
wirklichen Sprachen hoͤchſtens nur die drey letzten vor.
Denn die zwey erſten werden zum vierten gerechnet,
weil man nur auf die ganzen Sylben, auf die Kuͤrze und
Laͤnge derſelben, und auf ihre Stelle in den zuſammen-
geſetzten Woͤrtern Acht hat. Es ſind demnach in den
wirklichen Sprachen die Buchſtaben und ihre Ordnung
nicht anders bedeutend, als in ſo fern ſie die Sylben
und Woͤrter von einander unterſcheiden, und in dieſer
Abſicht giebt es Faͤlle, wo man genau darauf Acht ha-
ben muß.


§. 105.
[65]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.

§. 105. Hingegen haben wir bereits einige wiſſen-
ſchaftlichere Woͤrter, in welchen auch die beyden erſten
Stuͤcke vorkommen, wo naͤmlich die Buchſtaben bedeu-
tend ſind, und theils eine gewiſſe Ordnung haben, theils
an ſich ſchon eine Ordnung in der Sache anzeigen.
Solche Woͤrter ſind die Namen der Schlußarten Bar-
bara, Celarent \&c.
der Umwege im Schließen Caſpi-
da, Serpide \&c.
(§. 27.) Wir haben auch bereits ſchon
(§. 46.) angezeigt, daß noch mehrere dergleichen moͤglich
waͤren, und beſonders waͤre es zu wuͤnſchen, daß man
die Arten und Gattungen in den drey Reichen der Na-
tur durch die Combination und Modification einer ge-
ringen Anzahl kenntlicher Merkmale zureichend von
einander unterſcheiden koͤnnte. Denn ſo ließen ſich Na-
men derſelben finden, deren Structur an ſich ſchon die
Sache kenntlich machen wuͤrde, und der Name ſelbſt
wuͤrde ſtatt der Beſchrelbung dienen.


§. 106. Bey Erfindung ſolcher Namen iſt es vor-
nehmlich um den Schluͤſſel zu thun, welcher naͤmlich
die Bedeutung jeder Buchſtaben, ihrer Ordnung, der
Ordnung der Sylben ꝛc. angiebt, und ſo eingerichtet
iſt, oder noch ſo viel Willkuͤhrliches zuruͤcke laſſe, daß
der herausgebrachte Name ausgeſprochen werden, oder
ſelbſt noch einen gewiſſen Wohlklang behalten koͤnne.
Wir haben uns in der Dianoiologie nach dieſen Re-
geln gerichtet, um die Namen Caſpida, Serpide \&c.
herauszubringen, welche ein Beyſpiel und nur noch ein
kleiner Anfang ſolcher bedeutenden Namen ſind.


§. 107. Da ohne Vocal keine Sylbe ausgeſprochen
werden kann, ſo maßen ſich die Vocalen und Diphton-
gen in Erfindung bedeutender Namen ein gewiſſes
Vorrecht an, ſo daß ſie in denſelben entweder gar nichts,
oder ſolche Merkmale, Theile, Stuffen, Modificatio-
nen, Verhaͤltniſſe ꝛc. vorſtellen muͤſſen, die in allen Faͤl-
len vorkommen.


Lamb. Organon II B. E§. 108.
[66]III. Hauptſtuͤck.

§. 108. Die Ordnung der Buchſtaben und Sylben
ſtellt entweder an ſich eine Ordnung in der Sache ſelbſt
vor, oder man giebt derſelben willkuͤhrlich eine Bedeu-
tung, indem man die Theile der Sache in einer gewiſ-
ſen Ordnung annimmt, und die Buchſtaben jeder Syl-
be zur naͤhern Charakteriſirung des Theiles oder der Ei-
genſchaft, die ſie vorſtellt, dienen macht.


§. 109. Wir merken dieſes hier kurz an, um zu zei-
gen, daß bey Erfindung durchaus bedeutender Namen
die Sache darauf ankomme, daß man die Moͤglichkei-
ten und Combination der Bedingungen und Theorie
der Sache ſelbſt, mit den Moͤglichkeiten und Combina-
tion der Buchſtaben und Sylben gegen einander halte,
und jene auf dieſe vertheile, und daß es eben nicht durch-
aus gleichguͤltig iſt, wie dieſe Vertheilung geſchehe. Es
iſt uͤberhaupt leichter, wo die Moͤglichkeiten und Ab-
wechslungen in der Bezeichnung zahlreicher ſind, als
in der Sache. Denn da kann man nicht nur der Aus-
ſprache, ſondern auch dem Wohlklange des Wortes
freyer Genuͤge thun.


§. 110. Hingegen wird es ſchwerer, wenn die Moͤg-
lichkeiten in der Sache in groͤßerer Anzahl ſind, als
in der Bezeichnung. Da kann es allerdings ge-
ſchehen, daß die Anzahl aller Buchſtaben noch zu klein
bleibt, daß zu viele Conſonanten in eine Sylbe kom-
men, und die Woͤrter, die man aus den Sylben zuſam-
menſetzen muͤßte, allzulang wuͤrden. Jn ſolchen Faͤl-
len muß man, wie in der Algeber, auf Abkuͤrzungen
denken, und daher Zeichen annehmen, die einen ſehr
zuſammengeſetzten Begriff nur deswegen bedeuten, weil
man ihn an das Zeichen bindet, oder weil man daſſelbe
zum Zeichen des Begriffes macht. Dadurch werden
aber neue Willkuͤhrlichkeiten eingefuͤhrt, und die Spra-
che wird noch mehr zu einer Gedaͤchtnißſache.


§. 111.
[67]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.

§. 111. Man iſt ferner aus eben dieſen Gruͤnden,
und wegen der geringen Anzahl der Buchſtaben, faſt
nothwendig daran gebunden, daß man vielmehr die
Sylben als Buchſtaben zur Grundlage der Bedeutung
der zuſammengeſetzten Woͤrter macht. Jhre Anzahl
iſt an ſich ſchon ungemein groß, und man kann ſagen
groͤßer, als daß ſie nicht ſollte dem Gedaͤchtniß zur Laſt
werden, wenn jede Sylbe nur einen individualen Be-
griff vorſtellen ſollte, der mit andern nichts gemein hat.
Man verſuche es, allen Pflanzen, Thieren und ihren
Theilen, allen Arten des Steinreiches, allen Werkzeu-
gen ꝛc. einſylbige Namen zu geben. Es wird ein Ver-
zeichniß herauskommen, deſſen Erlernung ungemein vie-
le Zeit gebrauchen wird.


§. 112. Jndeſſen iſt es, an ſich betrachtet, das na-
tuͤrlichſte, daß ein Begriff, der fuͤr ſich gedacht
werden kann, ſchlechthin nur durch eine Syl-
be angedeutet werde.
Denn eine Sylbe laͤßt ſich
fuͤr ſich ebenfalls mit einem male ausſprechen. Die
Kuͤrze des Zeichens iſt eine Vollkommenheit, und es
bedarf ein Zeichen nicht mehr, als daß es das Bewußt-
ſeyn der Sache errege. Aus dieſem Grunde ſind zu-
ſammengeſetzte Woͤrter, in welchen nicht jede Sylbe ih-
re eigene Bedeutung hat, Unvollkommenheiten einer
Sprache. Man muß aber nicht alle Woͤrter von die-
ſer Art, die in den wirklichen Sprachen vorkommen,
nach dieſer ſtrengen Regel, oder nach derſelben allein
beurtheilen. Von vielen Woͤrtern iſt die Bedeutung
der Sylben und der anfaͤngliche Anlaß zu ihrer Zuſam-
menſetzung verlohren, deſſen Erkenntniß uns anzeigen
wuͤrde, was das Wort in ſeiner erſten Bildung und
in ſeinen Sylben und Fuͤgung derſelben bedeutet habe.
Bey andern Woͤrtern war der Anlaß zu der Zuſam-
menſetzung etwan ein Jrrthum, oder etwas von der be-
ſondern Gedenkensart ihres Urhebers, und dieſes macht,
E 2daß
[68]III. Hauptſtuͤck.
daß es in den Sprachen Woͤrter giebt, deren buchſtaͤb-
liche Bedeutung mit der Sache nicht uͤberein koͤmmt,
und folglich nur nach dem Sinn oder Gedenkensart ih-
res Urhebers erklaͤrt werden muß, der Sache ſelbſt aber
kein Licht giebt.


§. 113. Bey dem Urſprunge der wirklichen Spra-
chen findet ſich in Anſehung der erſt gemachten Anmer-
kungen noch verſchiedenes, welches eine beſondere Be-
trachtung verdient. Sie ſind allerdings nicht wiſſen-
ſchaftlich erfunden worden, und die Geſchichte, wie ſie
in der heil. Schrift vorgeſtellt wird, nennet den Ur-
ſprung der verſchiedenen oder mehreren Sprachen,
die in der Welt ſind, eine Verwirrung, die dem
Thurmbaue zu Babel ein Ende machte, und, als eine
nothwendigere Wirkung, die Vertheilung der Menſchen
auf der Erdflaͤche hervorbrachte.


§. 114. Jndeſſen, wie auch immer dieſe Verwir-
rung ihren Einfluß in den Urſprung der Sprachen mag
gehabt haben, ſo koͤnnen wir uͤberhaupt dennoch zum
Behufe des Metaphyſiſchen und Allgemeinen, ſo in den
Sprachen iſt, zum Grunde ſetzen, daß, ungeacht eine
wiſſenſchaftliche Sprache regelmaͤßiger waͤre, und allge-
meinere Moͤglichkeiten haͤtte, als die wirklichen, dieſe
letztern dennoch nicht ſo beſchaffen ſind, daß ſie an ſich
nicht haͤtten entſtehen koͤnnen.


§. 115. Auf dieſe Art ſieht man es z. E. als eine be-
traͤchtliche Schwierigkeit fuͤr den Erfinder der Schrif-
ten an, daß er in den Woͤrtern nicht nur die Sylben,
ſondern auch in dieſen noch die Buchſtaben unterſchei-
den, und dabey bemerken mußte, daß ihre Anzahl gar
nicht groß ſey, und auch nach dieſer Bemerkung war es
noch nicht ſo leicht, die einfachen Laute genau zu bemer-
ken und auszuleſen, und beſonders die Vocalen von den
Conſonanten zu trennen. Jn der Chineſiſchen Schrift
koͤmmt eine ſolche Anatomie der Rede gar nicht vor.
Jn
[69]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
Jn der Hebraͤiſchen bleiben die Vocalen entweder ganz
weg, oder ſie werden nur durch Punkte angezeigt, und
in den abendlaͤndiſchen Sprachen ſcheinen noch die ver-
ſchiedenen Stuffen und Mitteltoͤne zwiſchen den Haupt-
vocalen nicht durch einen genugſamen Vorrath von Zei-
chen angezeigt worden zu ſeyn, wenigſtens ſind ſie es
in den heutigen Sprachen nicht, weil wir fuͤr 17 und
mehr verſchiedene und einfache Selbſtlaute nur 5, oder,
das η und υ der Griechen mitgerechnet, nur 7 Zeichen
haben.


§. 116. Die Folge, die wir hieraus ziehen, iſt, daß
man um deſto weniger noch von den erſten Urhebern
einer Sprache fordern koͤnne, daß ſelbſt dieſe ſchon die
Buchſtaben, und beſonders die Conſonanten ſollten be-
deutend gemacht haben, wie es bey durchaus bedeuten-
den Woͤrtern ſeyn koͤnnte (§. 105.). Die Selbſtlaute,
Doppellaute und etwan noch die Halblaute (Semiuo-
cales
§. 78.) litten eine Bedeutung, und haben ſie auch
wirklich in einigen Sprachen mehr oder weniger (§. 87.),
weil ſie fuͤr ſich einen Ton geben oder ausgeſprochen
werden koͤnnen.


§. 117. Ferner waren die Urheber der Sprachen
gleichſam genoͤthigt, bey ſolchen Begriffen anzufangen,
fuͤr welche man in einer wiſſenſchaftlichen Sprache auf
Abkuͤrzungen wuͤrde denken muͤſſen (§. 110.). Denn
da die abſtracte Erkenntniß durchaus ſymboliſch iſt
(§. 17.), ſo ließ ſichs dabey nicht anfangen, und die er-
ſten Dinge, die benennt werden mußten, konnten kei-
ne andere, als ſolche ſeyn, deren wirkliche Empfindung
ſich mit der Empfindung des Lautes, wodurch man ſie
andeuten wollte, unmittelbar verbinden ließ, wenn an-
ders die Sprache gemeinſam werden ſollte. Hiezu
hatten nun die Handlungen und Bewegungen des Lei-
bes, und ſodann die in der Natur und zunaͤchſt um
den Menſchen vorhandenen Arten und Gattungen der
E 3Pflanzen
[70]III. Hauptſtuͤck.
Pflanzen und Thiere, und ihre Theile, das erſte Recht,
um deſto mehr, weil dieſe Arten und Gattungen nach
unveraͤnderlichen Geſetzen bleiben, und ſich fortpflan-
zen. Moſe erzaͤhlt auch ausdruͤcklich, daß die Thiere
auf dieſe Art von Adam benennt worden, doch ſo, daß
ſeine Sprache nicht damit anfienge.


§. 118. Die Handlungen oder Bewegungen des Lei-
bes haben ferner noch ein deſto unmittelbareres Recht,
zuerſt benennt zu werden, weil ſie in Ermanglung der
Sprache die einigen Zeichen der Begriffe ſeyn wuͤr-
den, wie ſie es denn auch bey Tauben und Stummen
wirklich ſind. Sie ſind ferner von vielen Dingen, und
beſonders von Figuren und Bewegungen, nicht nur
bloße Zeichen, ſondern wirkliche Nachahmungen, wenn
man ſie dazu auswaͤhlt, und ſie bleiben es auch, wenn
die Sache ſelbſt nicht mehr vor Augen iſt (§. 7. 9.). Und
man kann ſetzen, daß ſie der Sprache natuͤrlicher Weiſe
noch vorgehen, oder daß, ehe die Rede zur Bezeichnung
der Begriffe gebraucht worden, die Bewegungen des
Leibes dazu dienten. Bey der Sprache der Affecten
ſcheinen Stimme, Minen, Geberden und Bewegung
des Leibes und der Glieder zuſammenzutreffen, weil
ſtaͤrtere Leidenſchaften den ganzen Leib erſchuͤttern.


§. 119. Auf dieſe Art fangen die Sprachen eben
ſo, wie unſere ganze Erkenntniß, bey den Sinnen und
Empfindungen an. Die erſten Woͤrter ſind einſylbig,
und bezeichnen Handlungen und Bewegungen, und
zwar als ſolche, die geſchehen ſind. Von dieſer Art
ſind die hebraͤiſchen Wurzelwoͤrter, aus welchen die
uͤbrigen gebildet werden. Jn den europaͤiſchen Spra-
chen ſind die einſylbigen Worter nicht ſo genau an Be-
griffe von Handlungen gebunden. Sie ſind aber al-
lerdings von ihrem erſten Urſprunge weiter entfernt.


§. 120. Die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die
Empfindung der Dinge und der artikulirten Toͤne ma-
chen,
[71]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
chen, ſcheint in die Benennung der Dinge einen gewiſ-
ſen Einfluß zu haben. Es giebt weichere, haͤrtere, an-
nehmlichere, und anſtoͤßigere Toͤne, die ſich bey Em-
pſindung der Dinge, leichter darbieten, welche einen
aͤhnlichen Eindruck in die Sinnen machen. Da indeſ-
ſen dieſer Eindruck nicht bey allen Menſchen gleich,
noch gleich ſtark iſt, ſo wird man auch dieſe Aehnlich-
keit in den Sprachen nicht ſo durchgaͤngig antreffen,
beſonders wo der Urſprung des Wortes, oder der erſte
Anlaß dazu, nicht mehr bekannt iſt. Selbſt die Bieg-
ſamkeit der Zunge, mehrere und haͤrtere Conſonanten
auszudruͤcken, mag viele Ausnahmen hierinn gemacht,
und in verſchiedenen Sprachen einerley Dinge mit ganz
verſchiedenen Namen belegt haben. Man ſehe auch
§. 18. 19.


§. 121. Die Sprachen ſind von der Algeber darinn
verſchieden, daß dieſe letztere Wiſſenſchaft nur wenige
Zeichen von beſtaͤndiger und immer beybehaltener Be-
deutung hat, da hingegen die Woͤrter der Sprachen
ungefaͤhr wie die Zeichen der Zahlen, ihre Bedeutung
behalten ſollen, wenn man anders im Reden und
Schreiben verſtaͤndlich bleiben will. So unveraͤnder-
lich ſind zwar nun die wirklichen Sprachen nicht durch-
aus, indeſſen aber aͤndern ſie ſich auch nicht ſo, daß
man von einem Tag zum andern eine neue Sprache
haͤtte. Es giebt immer eine gute Menge von Din-
gen, die man nicht mit einander verwechſeln kann, ohne
den Jrrthum leicht zu erkennen, und deren Namen
gleichſam die Grundlage und der Maaßſtab von dem
Fortdauernden und Feſtgeſetzten in den Sprachen ſind
(§. 138. Alethiol.). Nach dieſen muͤßten ſich die uͤbri-
gen Woͤrter richten, wenn eine neuaufkommende Spra-
che im Beharrungsſtande bleiben ſolle. Wir haben in
der Dianoiologie und Alethiologie hin und wieder An-
laͤße gehabt, dieſen Unterſchied des Beſtaͤndigen und Ver-
E 4aͤnder-
[72]III. Hauptſtuͤck.
aͤnderlichen einer Sprache anzumerken, und werden es
hier nicht wiederholen. Man wird aber ohne viele
Muͤhe die Schicklichkeit finden, daß eben die
Woͤrter, bey welchen eine neuentſtehende
Sprache anfangen muß, diejenigen ſind, deren
Bedeutung am unveraͤnderlichſten und zu-
gleich am kenntlichſten iſt.
Man darf zu dieſem
Ende nur die vorhin (§. 117.) angezeigten Claſſen der-
ſelben mit den im erſtangezogenen §. 138. der Alethiolo-
gie gegen einander halten.


§. 122. Aus dieſer Vergleichung wird auch mit er-
hellen, daß die erſten Urheber einer Sprache unmittel-
bar da anfangen, wohin man bey einer charakteriſti-
ſchen oder wiſſenſchaftlichen Sprache erſt nach ſehr weit-
laͤuftigen Zuſammenſetzungen einfacher Zeichen gelan-
gen wuͤrde, weil man endlich doch auf Abkuͤrzungen
denken muͤßte, wie man es in der Algeber thut (§. 110.).
Denn ohne dieſe Abkuͤrzungen muͤßten in der charakte-
riſtiſchen Sprache, alle und jede Theile der Sache, ih-
re Verbindung und Verhaͤltniſſe gezeichnet werden.
Dieſes kann nun fuͤr einfache Figuren allerdings geſche-
hen. Hingegen fuͤr die Dinge in der Natur wird es
ſo leicht nicht angehen, weil ihre Grundtheilchen uns
unempfindbar ſind. Gienge es aber dennoch an, ſo
wuͤrde unſtreitig die Bezeichnung ſo weitlaͤuftig, daß
man ſie nicht zu Ende bringen wuͤrde. Denn ſollte
ſie durchaus complet ſeyn, ſo wuͤrde ſie uns die Anato-
mie der Koͤrper, der Thiere und Pflanzen ꝛc. ganz uͤber-
fluͤßig machen, weil ſie uns die Lage, Groͤße, Kraft,
Verbindung, Verhaͤltniß ꝛc. jeder kleinern und groͤßern
Theile entwickelt vorſtellen muͤßte.


§. 123. Die Urheber der wirklichen Sprachen ver-
fuhren aber ganz anders, und Natur und Nothwen-
digkeit verhalf ihnen dazu. Sie fiengen bey dem Gan-
zen
an. Sie benennten jedes Thier, jede Pflanze,
jeden
[73]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
jeden kenntlichen Koͤrper, der ihnen vorkam, die Hand-
lungen und kenntlichſten Arten der Veraͤnderungen,
Modificationen und Verhaͤltniſſe mit beliebigen Na-
men,
als eben ſo vielen abgekuͤrzten Zeichen, Vom
Ganzen giengen ſie zu den groͤßern, und von dieſen zu
den kleinern Theilen deſſelben. Sie ließen unbeſtimmt,
wie weit man bey genauern Unterſuchungen noch ge-
hen koͤnne, und trieben z. E. die Benennung jeder Thei-
le des menſchlichen Leibes nicht bis auf anatomiſche
Kleinigkeiten, und die microſcopiſchen Entdeckungen
waren zur Zeit der aufkommenden Sprachen noch weit
außer dem Geſichtskreiſe der menſchlichen Erkenntniß.


§. 124. Man ſieht hieraus, daß die Sprache ſich
mit der Erkenntniß erweitert, und immer ungefaͤhr von
gleichem Umfange iſt, und eben dieſes erhellet auch aus
der oben erwieſenen Nothwendigkeit der ſymboliſchen
Erkenntniß (§. 12.).


§. 125. Den Urhebern der Sprache verhalf die Na-
tur dazu, auf die erſtbemeldte wirklich analytiſche Art
zu verfahren, weil ſie ihnen eine Menge von bereits
ſchon vollendeten Ganzen
vor Augen legte, die ſie
nicht erſt aus unendlich vielen kleinen Theilen zuſam-
menzuſetzen, ſondern als ſchon zuſammengeſetzt, und
in ihrer Art beſtaͤndig, nur zu benennen hatten. Die
Nothwendigkeit, dabey anzufangen, war ebeufalls da,
weil die kleinſten Theile unempfindbar, ihre Anzahl zu
groß, das Bewußtſeyn, ohne Zeichen zu gebrauchen,
zu verwirrt und zu fluͤchtig iſt, und folglich immer et-
was haͤtte mit Zeichen benennt werden muͤſſen. Aber
bey den kleinſten Theilen nicht anfangen koͤnnen, will
ſagen, genoͤthigt ſeyn, entweder von aller Bezeichnung
zu abſtrahiren, oder bey dem Ganzen und ſeinen groͤßern
und kenntlichern Theilen anzufangen. Und dabey muͤſ-
ſen wir es, ſowohl in Anſehung der Zeichen als der
E 5Be-
[74]III. Hauptſtuͤck.
Begriffe, noch dermalen bewenden laſſen (§. 33. Ale-
thiol.).


§. 126. Die Benennung der Dinge und Handlun-
gen wuͤrde aber entweder zu weitlaͤuftig oder zu unvoll-
ſtaͤndig ſeyn, wenn nicht in den Sprachen ein gewiſſes
Mittel waͤre getroffen worden. Denn da die Dinge
ſehr viele Abwechslungen und Verhaͤltniſſe, die Hand-
lungen ſehr viele Modificationen und Beſtimmungen
haben, von welchen in jeden einzeln Faͤllen nur eine vor-
koͤmmt, ſo haͤtte man entweder fuͤr jeden Fall beſondere
und eigene Woͤrter gebrauchen, oder in den Ausdruͤk-
ken alle dieſe Veraͤnderungen und Unterſchiede durch-
aus weglaſſen muͤſſen. Das Mittel, ſo man hierinn
getroffen, macht die Sprachen gewiſſermaßen und noch
in einem ziemlichen Grade wiſſenſchaftlich. Denn ſie
ſind ſo eingerichtet worden, daß wir ſehr viele Veraͤn-
derungen und Beſtimmungen der Dinge auf die Woͤr-
ter bringen koͤnnen, und dieſes geſchieht durch Ablei-
ten, Zuſammenſetzen, Abaͤndern, Abwandlen,
Vergleichen
ꝛc. (Deriuatio, Compofitio, Declinatio,
Coniugatio, Comparatio \&c.
). Ferner geſchieht es
durch beſondere Woͤrter, wodurch man die Umſtaͤnde,
Verhaͤltniſſe, Verbindungen, Grade, Zuſammenhang,
Affecte ꝛc. anzeigt, dergleichen die Beywoͤrter, Zu-
woͤrter, Vorwoͤrter, Bindwoͤrter, Zwiſchen-
woͤrter
ꝛc. (Adiectiua, Aduerbia, Præpofitiones,
Coniunctiones, Interiectiones \&c.
) ſind, und welche,
nebſt einigen andern, uͤberhaupt Beſtimmungswoͤr-
ter,
Particulae, genennt werden. Ueberdieß nehmen
wir alle dieſe Woͤrter entweder in ihrer eigenen Be-
deutung,
oder wir gebrauchen ſie in verbluͤmtem
oder figuͤrlichem Verſtande, wegen der Aehnlichkeit
des Eindruckes der dadurch in beyden Faͤllen vorgeſtell-
ten Dinge (§. 46. Alethlol.), und auch dadurch wird
die Anzahl der Woͤrter vermindert.


§. 127.
[75]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.

§. 127. Jn allem dieſem findet ſich ungemein viel
Charakteriſtiſches, doch ſo, daß der Gebrauch zu reden,
und die ſehr gelegentliche Entſtehung und Veraͤnderung
der wirklichen Sprachen eine gute Menge von Anoma-
lien mit einmiſcht, und das Natuͤrliche mit dem Will-
kuͤhrlichen verwechſelt. Dieſe Anomalien wuͤrden ſich
nun leicht beſtimmen laſſen, wenn wir nebſt den wirkli-
chen Sprachen noch eine durchaus nach erwieſenen Re-
geln eingerichtete Sprache haͤtten. Denn ſo kaͤme es
ſchlechthin auf eine durchgaͤngige Vergleichung an. Jn
Ermanglung einer ſolchen Sprache aber werden wir
uns an die Gruͤnde zu halten ſuchen, und die Verglei-
chung der wirklichen Sprachen unter einander mit zu
Huͤlfe nehmen, weil ihre Unterſchiede ſehr viel Will-
kuͤhrliches, und etwan auch das Beſſere und Schlechtere
angeben helfen.


§. 128. Die oben (§. 23.) fuͤr wiſſenſchaftliche Zei-
chen gegebene Grundregel, daß naͤmlich die Theorie
der Sache mit der Theorie der Zeichen ſolle
koͤnnen verwechſelt werden,
mag uns auch hier
dienen. Wir merken nur an, daß wir ſie bey den
Sprachen nicht ſo ſynthetiſch gebrauchen koͤnnen, weil
in den Sprachen die einfachſten Zeichen, oder die
Wurzelwoͤrter,Primitiua, Radices, zuſammengeſetzte
Ganze vorſtellen. Da aber dieſe Ganze ihre Modifi-
cationen, Veraͤnderungen und Verhaͤltniſſe haben, ſo
werden wir leicht ſehen, daß ein Wort dieſen Ab-
aͤnderungen, ſo viel es ſeine Structur zulaͤßt,
entſprechen ſolle.
Auf dieſe Art laͤßt ſich in der
Sprache, von erſtangefuͤhrter Regel die Haͤlfte erfuͤllen.
Denn die Theorie der Woͤrter ſolle nach der Theorie der
Sache ziemlicher maßen eingerichtet werden koͤnnen.
Damit reichen wir aber noch nicht bis an die recipro-
cirliche Verwechslung beyder Theorien, daß wir naͤm-
lich jede nach den Regeln der Sprache moͤgliche Ver-
bindung
[76]III. Hauptſtuͤck.
bindung der Woͤrter ſogleich als eine an ſich auch moͤg-
liche Verbindung der Dinge, die ſie vorſtellen, anſehen
koͤnnten, wie es in der Algeber geſchieht. Es giebt zwar
in den wirklichen Sprachen ſolche Faͤlle, wo die Woͤrter
oder Redensarten ſowohl grammatiſch als an ſich un-
richtig ſind, und dieſes ſind die, wo wir ſagen, die Re-
densart oder der Ausdruck habe keinen Ver-
ſtand.
Wir muͤſſen aber mehrentheils auch die Bedeu-
tung der Woͤrter mit zu Huͤlfe nehmen. Und eben die-
ſes thun wir auch in denen Faͤllen, wo der Sinn der
Worte aus dem Zuſammenhange muß beſtimmt
werden.


§. 129. Da die Woͤrter als Zeichen betrachtet will-
kuͤhrlich ſind, ſo ſind ſie auch in ſo ferne eine bloße Ge-
daͤchtnißſache, und ihre Anzahl ſolle dadurch vermindert
werden, daß man ihre Ableitung und Zuſammenſetzung
in allewege bedeutend mache. Eine Sprache iſt
daher auch vollkommener, je mehr ſie Moͤg-
lichkeiten enthaͤlt, aus ihren Wurzelwoͤrtern
Woͤrter von jeder beliebigen Bedeutung zu-
ſammenzuſetzen und abzuleiten, dergeſtalt,
daß man aus der Structur des neuen Wortes
ſeine Bedeutung verſtehen koͤnne.
Dieſen Vor-
zug hat die griechiſche und die deutſche Sprache. Hin-
gegen bleibt die lateiniſche darinn zuruͤcke, und die Roͤ-
mer borgten ihre neuen Woͤrter mehrentheils den Grie-
chen ab, und der Gebrauch verboth ihnen, viele davon
aus ihrer eigenen Sprache zuſammenzuſetzen, die gar
wohl moͤglich und der Art ihrer Sprache nicht zuwider
geweſen waͤren. Die Schullehrer maßten ſich dieſe
Freyheit an, aber mehrentheils ohne die Art der Spra-
che zu kennen, und daher waren ihre philoſophiſchen
Kunſtwoͤrter eher Misgeburten als aͤchtes Latein.
Die deutſche Sprache, die bereits angefangen hat, zur
gelehrten Sprache zu werden, ſcheint die Vollkommen-
heit
[77]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
heit der griechiſchen erreichen zu koͤnnen. Sie hat be-
ſtimmte und bedeutende Woͤrter, und ſehr viele Moͤg-
lichkeiten der Zuſammenſetzung und Ableitung. Sie
leidet haͤrtere Fuͤgungen der Mitlauter, und iſt zu Me-
taphern biegſam. Jn dieſer Abſicht verdient die deut-
ſche Sprache eine beſondere Theorie, worinn naͤmlich die
Bedeutung jeder Art der Zuſammenſetzung und Ablei-
tung der Woͤrter feſtgeſetzt, die Grenzen ihrer Moͤglich-
keit aus der Art der Sprache beſtimmt, und die Um-
ſtaͤnde und Redensarten, worinn ein neues Wort ſeinen
beſtimmten Verſtand hat, und welche folglich ſtatt der
Definition dienen, angezeigt werden. Z. E. von dem
Wort aͤcht, welches ſo viel als genuin, authentiſch ꝛc.
bedeutet, koͤmmt: aͤchtbar, aͤchtig, aͤchtlich, aͤcht-
ſam, unaͤcht, uraͤcht, ꝛc. Aechtheit, Aechtung,
Aechtigung, Aechtigkeit, Aechtbarung, Aecht-
barkeit, Aechting, Aechtniß, Aechtſchaft, Aecht-
thum, Aechter, Aechtiger ꝛc. aͤchten, aͤchtigen,
beaͤchten, beaͤchtigen, beaͤchtbaren, veraͤch-
ten ꝛc. Aechtsſache, Aechtsfrage, Aechtsbtief ꝛc.

nebſt noch ſehr vielen andern, die in beſondern Faͤllen
und Redensarten den ihnen eigenen Verſtand und Nach-
druck haben koͤnnen. Der Unterſchied in der Bedeu-
tung jeder dieſer Woͤrter gruͤndet ſich auf ſehr allgemel-
ne und metaphyſiſche Verhaͤltnißbegriffe, welche durch
die dem Wort: aͤcht, zugeſetzte Sylben angedeutet
werden. Und dieſe ſollen in vorerwaͤhnter Theorie vor-
kommen, von welcher die deutſche Sprache einen Reich-
thum von bedeutenden, nachdruͤcklichen und genau be-
ſtimmten Woͤrtern zu erwarten hat, weil die wenigſten
Woͤrter durch alle Verwandlungen und Ableitungen,
die ſie theils ihrer Bildung, theils ihrer Bedeutung
nach leiden, durchgefuͤhrt ſind.


§. 130. Man ſieht ungefaͤhr hieraus, daß in den
Sprachen mit einem Worte eine ganze Claſſe von Woͤr-
tern
[78]III. Hauptſtuͤck.
tern zugleich gegeben iſt, ſo bald man annehmen kann,
daß der Gebrauch zu reden die Bedeutung der bereits
eingefuͤhrten abgeleiteten Woͤrter nicht veraͤndert habe.
Jndeſſen da es vieldeutige Woͤrter giebt, ſo iſt es auch
an ſich moͤglich, die eigentliche und ſo zu reden buchſtaͤb-
liche Bedeutung eines Wortes wieder aufzuleben. Es
koͤmmt darauf an, daß das Wort in ſolchen Redensar-
ten wiederum gebraucht werde, in welchen es ſeine wahre
Stelle und Nachdruck hat, und wo man klar ſieht, daß
kein anderes ſo gut dient. Die Zeit, einer Sprache
dieſen Schwung zu geben, und ſie auf ihre einfachſten
Regeln zu bringen, iſt vornehmlich diejenige, wo ſie an-
faͤngt, zur gelehrten Sprache zu werden, und die Claſſi-
ſchen Schriftſteller ſowohl in Lehrbuͤchern als in Ge-
dichten ſind in jeden Sprachen im Beſitz des Rechts und
des Anſehens, welches hiezu erfordert wird.


§. 131. Ungeacht ferner in jeden Sprachen die Syl-
ben, die man zur Ableitung der Woͤrter gebraucht, eine
gute Menge metaphyſiſcher Verhaͤltniſſe und Beſtim-
mungen angeben (§. 129.), ſo iſt doch nicht zu vermu-
then, daß in der erſtrn Bildung der Sprachen alle ge-
troffen worden, beſonders da bald jede Sprache von
den uͤbrigen hierinn abgeht. Die Griechen haben einige
Participia, die im Deutſchen mangeln, und durch Um-
ſchreibungen muͤſſen gegeben werden. Wodurch immer
die Zeichnung der Gedanken verlaͤngert, und oͤfters der
Nachdruck geſchwaͤcht wird. So ſind auch viele grie-
chiſche und lateiniſche Endungen, denen im Deutſchen
nicht durchaus gleichbedeutende entſprechen. Wenn
man demnach eine wiſſenſchaftliche Sprache erfinden
wollte, ſo muͤßte man dieſe Luͤcken ausfuͤllen, und jede
Bedeutung, die ein Wort durch die Ableitung und Zu-
ſammenſetzung erlangen kann, in Claſſen bringen, und
ſelbſt dieſe Claſſen vollſtaͤndig abzaͤhlen. Uebrigens iſt
nicht zu zweifeln, daß nicht auch in den wirklichen
Spra-
[79]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
Sprachen neue Arten von Ableitungen ſollten eingefuͤhrt
werden koͤnnen. Wir merken zu dieſem Ende an, daß
die bereits uͤblichen Ableitungsſylben, eine urſpruͤngliche
Bedeutung haben, die aber im Deutſchen zum Theil,
im Lateiniſchen faſt durchaus verloren gegangen. Dieſe
urſpruͤngliche Bedeutung aber machte, daß die abgelei-
teten Woͤrter nicht anders ausſahen, als die zuſam-
mengeſetzten, weil ſie in der That auch zuſammengeſetzt
waren. Z. E. die Schlußſylbe: er, bedeutete urſpruͤng-
lich eben ſo viel als Mann. Daher iſt das Wort
Krieger ſo viel als Kriegsmann. Die Sylbe bar
heißt ſo viel als tragend, daher fruchtbar ſo viel als
fruchttragend. Es iſt demnach nur die Frage, in
Anſehung anderer Woͤrter den Ruͤckweg zu nehmen,
welche allgemeine metaphyſiſche Beſtimmungen und
Verhaͤltnißbegriffe vorſtellen, und aus denſelben eine
der alten deutſchen Sprachart gemaͤße Ableitungsſylbe
zu machen.


§. 132. Jn Ermanglung genugſamer Ableitungs-
ſylben, und auch um die Woͤrter nicht allzulang zu ma-
chen, werden in den Sprachen eine Menge von Bey-
woͤrtern und Zuwoͤrtern gebraucht, die man beſonders
ſchreibt, ohne ſie mit dem Wort, zu deſſen genauern
Beſtimmung ſie dienen, zuſammenzuhaͤngen. Solle
aber dieſer Unterſchied auf ſeine wahre Gruͤnde gebracht
werden, ſo muß man bey den Beſtimmungen, Modifi-
cationen und Verhaͤltniſſen die trennbare von den
untrennbaren unterſcheiden, und zwar beydes ſowohl
in Anſehung der Sache ſelbſt, als in Anſehung der
Vorſtellung und Erkenntniß derſelben. Eine Sache
mag Beſtimmungen haben, die zwar nothwendig damit
verbunden ſind, die wir aber nicht immer gleich wiſſen.
Solche Beſtimmungen werden nun natuͤrlicher Weiſe
dem Wort ſelbſt nicht angehaͤngt, weil es ſich nur wuͤr-
de gebrauchen laſſen, wo uns die Beſtimmung bekannt
iſt.
[80]III. Hauptſtuͤck.
iſt. Auf dieſe Art haben wir bey den Nennwoͤrtern
und Zeitwoͤrtern nur die einzele und mehrere Zahl,
(ſingularis, pluralis,) weil ſichs, ſobald mehrere ſind,
nicht immer wiſſen oder beſtimmen laͤßt, wie viele? Auf
eine aͤhnliche Art ſehen wir bey den Zeitwoͤrtern nicht
auf den Unterſchied des Ortes, als in ſo fern ſich den-
ſelben die Ableitungstheilchen aus, vor, nach ꝛc. vor-
ſetzen laſſen, und in Anſehung der Zeit ſehen wir nur
uͤberhaupt auf das Vergangene, Gegenwaͤrtige und
Kuͤnftige, die genauere Beſtimmung der Zeit und
Dauer aber zeigen wir, wo es noͤthig iſt, durch beſon-
dere Woͤrter an.


§. 133. Ungeacht nun hiebey in den wirklichen
Sprachen viel Willkuͤhrliches bleibt, ſo koͤnnen wir doch
die Grundregeln anfuͤhren, nach welchen eine durchaus
wiſſenſchaftliche Sprache eingerichtet ſeyn ſollte. Wir
rechnen daher zu den bereits vorhin angemerkten, noch
folgende. Daß in den zuſammengeſetzten oder
vielſylbigen Woͤrtern nicht nur jede Sylbe,
ſondern auch die Ordn[u]ng der Sylben, bedeu-
tend ſeyn ſolle.
Jeder Sylbe ſolle demnach ein Be-
griff entſprechen, welcher fuͤr ſich gedacht werden kann,
und welcher ſich mit andern wiederum verbinden laͤßt.
Dieſe Regel mag vielleicht eine Ausnahm leiden, wenn
naͤmlich die moͤgliche Anzahl der Sylben, ſo groß ſie
auch iſt (§. 86. ſeqq.), nicht groß genug waͤre, alles
dadurch vorzuſtellen, was durch einzele Sylben vorge-
ſtellt werden ſolle.


§. 134. Um dieſes aber genauer zu durchgehen, ſo
merken wir aus dem vorhergehenden (§. 122.) an, daß
wir in Benennung der Dinge da anfangen, wo man
nach der ſynthetiſchen Charakteriſtik Abkuͤrzungen
einfuͤhren und gebrauchen muͤßte, weil wir bereits ſchon
vollendete Ganze vor uns haben, deren kleinſte Theile
und Structur uns unbekannt ſind. Jn dieſer Abſicht
koͤnnten
[81]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
koͤnnten jede Arten der Pflanzen, Thiere ꝛc. als Ganze
betrachtet, mit einzeln Sylben benennt werden. Jn die-
ſen Sylben wuͤrden gewiſſe Buchſtaben bedeutend ge-
macht, um daran die Claſſen und Arten, zu welchen
jede einzele Art gehoͤrt, zu erkennen. Allein die Anzahl
dieſer einzeln Arten iſt an ſich merklich groß, und duͤrfte
leicht die Anzahl jeder moͤglichen Sylben erſchoͤpfen und
uͤbertreffen. Da wir nun noch zu allen dieſen Arten
auch ihre Theile, und uͤberdieß noch unzaͤhlige Arten von
Handlungen, Veraͤnderungen, Modificationen, Verhaͤlt-
niſſen ꝛc. zu benennen haben, ſo iſt klar, daß die Anzahl
der moͤglichen Sylben auf eine andere Art vertheilt,
und bedeutend gemacht werden muͤſſe. Und uͤberhaupt
fordert die Kuͤrze der Zeichen, daß die einzeln Sylben
haͤufig vorkommende, und vielfaͤltig verbindbare Be-
griffe bedeuten. Denn ſo laſſen ſich durch bloßes Zu-
ſammenhaͤngen ſolcher Sylben zuſammengeſetzte und
modificirte Begriffe vorſtellen. Auf dieſe Art haben
die Handlungen und Verhaͤltniſſe ein vorzuͤglicheres und
viel natuͤrlicheres Recht dazu, weil wir ſie in Ermange-
lung der Rede zu Zeichen der Begriffe machen wuͤr-
den, und auch bey der Rede wirklich dazu machen
(§. 118.).


§. 135. Die Ordnung der Sylben kann ebenfalls
bedeutend gemacht werden, und die wirklichen Sprachen
bieten uns Spuren davon an. Die Rede hat nur eine
Dimenſion und iſt linear. Daher haben wir auch nur
eine ganz einfache Ordnung, weil eine Sylbe einer an-
dern ſchlechthin entweder vorgeht oder nachfolgt. Dieſe
Ordnung hat man in den Sprachen nicht ganz gleich-
guͤltig gelaſſen. Jm Deutſchen ſind Rathhaus und
Hausrath, Bruchſtein und Steinbruch, Holz-
bau
und Bauholz, ꝛc. ſolche Woͤrter, deren Verſe-
tzung die Bedeutung aͤndert. Auf gleiche Art werden
die Ableitungstheilchen den Woͤrtern entweder vorgeſetzt,
Lamb. Organon II B. Foder
[82]III. Hauptſtuͤck.
oder angehaͤngt, zwiſcheneingeſchoben oder ganz abge-
ſondert, und ihre Ordnung iſt theils an ſich, theils dem
Sprachgebrauche nach, nicht gleichguͤltig. Wir ſagen:
igkeit, ichtheit, lichkeit, keitlich, barung, barlich,
barkeit, barlichkeit, barſchaft, ſchaftlich, thuͤm-
lich, ꝛc. unver, verun, unab, unum, herab, her-
unter, unzu, unent, verur, einver,
ꝛc. Warum
aber vielmehr dieſe als eine andere Ordnung und Ver-
bindung der Ableitungstheilchen ſtatt habe, muß in der
vorhin (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen
Sprache, und ihrer charakteriſtiſchen Einrichtung, unter-
ſucht werden.


§. 136. Die Sprache ſaͤngt in Benennung der
Dinge bey Empfindungen der aͤußerlichen Sinnen
an, und ſie benennt nicht ſo faſt die Dinge ſelbſt, als
ihr Bild oder den Eindruck, den ſie in die Sinne ma-
chen. Dieſer Weg iſt von demjenigen nicht verſchie-
den, nach welchem wir von Jugend auf zu unſerer Er-
kenntniß gelangen, und er konnte auch von den erſten
Urhebern der Sprachen nicht anders genommen wer-
den. Die Folge, die wir hieraus ziehen, iſt, daß man
in der Zergliederung eines Wortes, welches einen nicht
ſinnlichen, ſondern abſtracten Begriff vorſtellt, immer
auf einen ſinnlichen Begriff kommen wird, ſo oft naͤm-
lich das Wort abgeleitet iſt, oder eine Wortforſchung
zulaͤßt.


§. 137. Die Hauptfrage aber, die hiebey vorkoͤmmt,
iſt dieſe: Ob die Koͤrperwelt, aus welcher wir die Woͤr-
ter nehmen, von gleichem Umfange mit der Jntellectu-
alwelt oder mit dem Reiche der abſtracten Begriffe
ſey; ſo, daß wenn man alles Aehnliche und Verſchie-
dene in der Koͤrperwelt benennt hat, man durch bloße.
Metaphern alle Begriffe der Jntellectualwelt, und uͤber-
haupt alle abſtracte Begriffe ausdruͤcken koͤnne? Denn
waͤre dieſes, ſo iſt klar, daß man bey Erfindung einer
wiſſen-
[83]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
wiſſenſchaftlichen und durchaus regelmaͤßigen Sprache
ſich ſchlechthin begnuͤgen koͤnnte, alle Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten der Koͤrperwelt zu benennen, und die
Aehnlichkeit des Eindruckes ſinnlicher und abſtracter
Dinge, die wir in der Alethiologie (§. 46. ſeqq.) aus-
fuͤhrlicher betrachtet haben, wuͤrde gebraucht werden
koͤnnen, die Sprache auf jede abſtracte und unempfind-
bare Begriffe auszudehnen, es ſey, daß man ſie meta-
phoriſch machte, oder durch gewaͤhlte Ableitungstheil-
chen die Verwandlung in der Bedeutung anzeigte.


§. 138. Was wir hievon in den wirklichen Spra-
chen antreffen, koͤmmt darauf an, daß ſie gewiſſe Haupt-
woͤrter (Subſtantiua) haben, welche zuſammengenom-
men eine ganz beſondere Claſſe von Woͤrtern und ab-
ſtracten Begriffen vorſtellen, und zwar ſo, daß eine
Sprache nicht zur gelehrten Sprache werden kann, oh-
ne daß die Anzahl ſolcher Hauptwoͤrter betraͤchtlich ver-
mehrt werde. Jm Deutſchen unterſcheiden ſie ſich durch
die Endungen: heit, keit, niß, ſal, ſchaft, thum,
ung,
ꝛc. wodurch ſie haͤufig abgeleitet werden, z. E.
Schoͤnheit, Moͤglichkeit, Hinderniß, Truͤbſal,
Eigenſchaft, Eigenthum, Aenderung,
ꝛc. und
zu dieſen kommen noch unzaͤhlige, die von Zeitwoͤrtern
hergenommen werden, z. E. das Schreiben, die
Schrift, die Lehre, das Vermoͤgen, ꝛc. Dieſe
Hauptwoͤrter werden ſchlechthin Abſtracta genennt, weil
ſie in der That allgemeine und abgezogene Begriffe
vorſtellen, ohne welche eine Sprache nothwendig unge-
lehrt bleibt.


§. 139. Man ſieht auch aus den angefuͤhrten Bey-
ſpielen, daß dieſe Claſſe von Woͤrtern keine Subſtanzen
oder fuͤr ſich beſtehende, ſondern ſolche Dinge vorſtel-
len, die als fuͤr ſich beſtehend angeſehen werden. Viele
dieſer Begriffe werden daher auch als Perſonen gemalt,
F 2z. E.
[84]III. Hauptſtuͤck.
z. E. die Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit, ꝛc.
und in ſolchen Bildern iſt bald alles bedeutend.


§. 140. Dieſe abſtracte Hauptwoͤrter haben ferner
das beſonders, daß ſie ſich nicht wohl anders, als durch
Woͤrter von eben der Claſſe, definiren laſſen. Denn die
uͤbrigen Hauptwoͤrter der Sprache ſtellen Subſtanzen
vor, welche in dieſer Abſicht ſo gut als heterogen ſind.
Die Vollkommenheit eines Menſchen iſt nicht der
Menſch ſelbſt, ſondern etwas demſelben Anhangendes,
Zukommendes, ꝛc.


§. 141. Wenn die Sprache keinen Mangel an ſol-
chen Hauptwoͤrtern hat, ſo laſſen ſie ſich leichter defini-
ren, weil ſie einander fuͤglich ſubordinirt werden koͤnnen.
Hingegen werden ſie gewoͤhnlich vieldeutig, wenn man,
aus Mangel mehrer ſolcher Woͤrter, genoͤthigt iſt, den
Umfang ihrer Bedeutung nach den Umſtaͤnden einzu-
richten. Und dieſes iſt um | deſto eher moͤglich, weil
ſie abſtracte Begriffe vorſtellen, die oͤfters aus einer
willkuͤhrlich zuſammengenommenen Anzahl von Merk-
malen beſtehen. Man ſehe, was wir in Anſehung der-
ſelben in der Alethiologie (§. 139-158.) angemerkt
haben.


§. 142. Jn Anſehung der Beywoͤrter (Adiectiua)
haben wir im Deutſchen ebenfalls gewiſſe Endungen,
die das Abſtracte und Metaphyſiſche darinn vorſtellen,
z. E. icht, ig, ley, lich, mal, ſam, ſelig, bar, ꝛc.
wie in den Woͤrtern: bergicht, verſtaͤndig, vieler-
ley, moͤglich, einmal, ſattſam, feindſelig, offen-
bar,
ꝛc. wohin auch jede Mittelwoͤrter (Participia)
gerechnet werden koͤnnen.


§. 143. Hingegen unterſcheiden ſich die Zeitwoͤrter
(Verba), wenigſtens in der deutſchen Sprache, nicht
durch beſondere Endungen, woran man ſehen koͤnnte,
ob ſie koͤrperliche Handlungen oder abſtracte vorſtellen,
und die abſtracten ſind faſt durchgehends von den koͤr-
perlichen
[85]Von der Sprache als Zeichen betrachtet.
perlichen entlehnt, z. E. verſtehen, begreifen, faſſen,
einſehen,
ꝛc. und eine Menge anderer, die ſowohl bey
der Koͤrperwelt, als bey der Jntellectualwelt vorkom-
men. Dieſes giebt den meiſten Woͤrtern eine Vieldeu-
tigkeit und theils unbeſtimmten Umfang der Bedeutung,
und verurſacht, daß mehrentheils aus dem Zuſammen-
hang der Rede der Verſtand der Woͤrter muß be-
ſtimmt werden.


§. 144. Ungeacht uͤbrigens die Sprachen bey der
Benennung empfindbare Dinge anfangen, ſo benennt
man dabey eigentlich nicht ſo faſt die Dinge ſelbſt, als
den Eindruck, den ſie in die Sinnen machen, und die
Dinge werden in dieſer Abſicht nur gebraucht, ſo fern
ſie bey jedem dieſen Eindruck machen, weil man durch
Vorzeigung derſelben andern andeuten kann, was man
durch das Wort verſteht. Da nun dieſes mit Dingen,
ſo nicht unter die Sinnen fallen, nicht angeht, ſo wird
es nothwendig, dieſelben nach der Aehnlichkeit des Ein-
druckes durch Metaphern anzuzeigen. Die Gewohn-
heit macht ſodann, daß man das Bewußtſeyn, daß es
Metaphern ſind, nach und nach verliert, oder auf die
urſpruͤngliche Bedeutung gleichſam mit Vorſatze zuruͤcke
ſehen muß, um die Aehnlichkeit zu finden, welche die
Metapher veranlaßte.



F 3Vier-
[86]IV. Hauptſtuͤck.

Viertes Hauptſtuͤck.
Von den Zeitwoͤrtern.


§. 145.


Die Zeitwoͤrter, wodurch ein Thun oder Leiden ange-
zeigt wird, gehen den uͤbrigen Gattungen von
Woͤrtern aus verſchiedenen Gruͤnden vor. Sie laſſen
ſich nicht nur fuͤr ſich gedenken, ſondern ſind auch zum
Verſtand einer Rede unentbehrlich. Man hat daher
in den Sprachlehren die Regel, daß eine Redensart
oder
Phraſiswenigſtens ein Zeitwort haben
muͤſſe,
und daher ſcheinen ſie im Lateiniſchen gleichſam
vor andern auch Verba oder ſchlechthin Woͤrter, ge-
nennt worden zu ſeyn. Die Aufgaben, auf ihre ein-
fachſte Form gebracht, fordern ſie ebenfalls, (Dianoiol.
§. 152.) und uͤberhaupt haben die Handlungen das
naͤchſte Recht, zuerſt benennt zu werden (§. 118.).


§. 146. Dieſes iſt nun in den wirklichen Sprachen
auf eine ſehr metaphyſiſche Art geſchehen, weil man,
nebſt dem Begriff der Handlung, noch eine Menge von
Beſtimmungen derſelben mit einem Worte ausdruͤckt.
Man unterſcheidet das Thun von dem Leiden durch
die thaͤtige und leidende Gattung, (genus actiuum
et paſſiuum
); die vergangene, gegenwaͤrtige und
kuͤnftige Zeit der Handlung, durch die Tempora oder
Zeiten; die Anzeige, das Gebieten, das Verbin-
den
und das Unbeſtimmte durch die Modos: Indi-
catiuus, Imperatiuus, Coniunctiuus
und Inſinitiuus;
die einzele oder mehrere Zahl der Thuenden oder Leiden-
den, und endlich auch den Unterſchied der Perſonen,
durch die Woͤrter: ich, du, er; wir, ihr, ſie, und
dazu gewiedmeten Endungen. Die hebraͤiſche und grie-
chiſche
[87]Von den Zeitwoͤrtern.
chiſche Sprache gehen hierinn noch weiter, da die Grie-
chen mehrere Zeiten, Zahlen, Arten und Gattungen,
(tempora, numeros, modos, genera,) die Hebraͤer
aber ſieben Conjugationen haben, durch welche die Be-
ſtimmungen und Verhaͤltniſſe eines Zeitworts abgeaͤn-
dert werden koͤnnen.


§. 147. Bey allem dieſem ſind die Perſonen auf
eine genau beſtimmte Art getroffen. Wir zeigen ſie im
Deutſchen theils durch die Endungen des Worts, theils
durch die Woͤrter: ich, du, er, wir, ihr, ſie, an; zu
welchen noch die Woͤrter: es, man, kommen, welche
die Perſon unbeſtimmt laſſen; z. E. es verlautet,
man ſagt,
ꝛc.


§. 148. So haben wir auch in der Dianoiologie
(§. 163.) angemerkt, daß die Arten (Modi) einen or-
dentlichen Unterſchied haben, und daß beſonders die
Fragen der Aufgaben durch den Infinitiuum, die Regeln,
durch den Imperatiuum, die cathegoriſchen Saͤtze durch
den Indicatiuum, die Bedingungen, Erforderniſſe, ꝛc.
durch den Coniunctiuum angezeigt werden, ungeacht
allerdings in den Sprachen Moͤglichkeiten ſind, davon,
wenigſtens dem Schein nach, abzuweichen.


§. 149. Die nothwendige Anzahl der Zeiten, ſind
eigentlich nur drey, naͤmlich die gegenwaͤrtige, ver-
gangene
und kuͤnftige. Jndeſſen bleibt es moͤglich,
bey jeder vergangenen und kuͤnftigen Zeit etwas vor-
und nachgehends zu gedenken, und mit dieſem Un-
terſchiede wuͤrden ſieben Zeiten herauskommen. Man
ſieht aber leicht, daß noch ungleich mehrere Unterſchiede
und Verhaͤltniſſe der Zeit angegeben werden koͤnnten,
und beſonders auch, daß man die Beſtimmung der Zeit
ganz weglaſſen koͤnne, wie es ungefaͤhr in den Aoriſtis
der Griechen geſchieht, ſtatt deren wir uns im Deut-
ſchen mit den Ausdruͤcken: vielleicht iſt es nun ge-
F 4ſchehen,
[88]IV. Hauptſtuͤck.
ſchehen, nun ſolle es ſchon geſchehen ſeyn ꝛc.
aushelfen.


§. 150. Die Abtheilung der Zeitwoͤrter in die thaͤ-
tige
und leidende Gattung iſt nicht ſo genau getrof-
fen, und auch nicht allgemein. Sie bezieht ſich auf den
Unterſchied, ob man von dem rede, der etwas thut,
oder von dem, ſo gethan wird, und daher betrifft ſie
auch nur die Zeitwoͤrter, die eine Veraͤnderung anzei-
gen, welche ſich ſowohl von der Urſache als von der ver-
aͤnderten Sache benennen laͤßt. Dieſes wird auch nicht
immer ſo genau genommen, weil man oͤfters die ent-
fernten Urſachen mit den unmittelbaren vermengt, oder
eine Handlung demjenigen zuſchreibt, der ſie nur veran-
laßt, oder endlich die leidende Sache ſelbſt als thaͤtig
anſieht. Z. E. das Zimmer, das Eſſen, das Bett
waͤrmen,
ſieht man als eine Handlung deſſen an, der
Feuer in den Ofen legt, das Eſſen auf das Feuer ſtellt,
die Bettpfanne mit Glut oder warmem Waſſer gefuͤllt
in das Bett ſchiebt. Ein Stein faͤllt, nicht auf eine
ſelbſt thaͤtige, ſondern leidende Art. Man ſieht leicht,
daß in ſolchen Faͤllen die Sprache Anlaß zu Jrrthuͤ-
mern geben kann, nicht nur weil die Arten der Veraͤn-
derungen darinn nicht genugfam unterſchieden werden,
ſondern weil man aus Mangel genauerer Kenntniß die
Sache dem Schein nach benennt. Z. E. die Sonne
geht auf, ſie laͤuft vom Morgen gegen Abend; ein
Pferd zieht den Wagen, die Sonne zieht Waſſer,
der Thau faͤllt, ꝛc. Bey den Empfindungen verhal-
ten wir uns oͤfters ſchlechthin leidend, und doch vermen-
gen wir das Hoͤren mit dem Zuhoͤren, das Stehen
mit Aufſtehen, weil wir das Thaͤtige und Leidende in
den Worten nicht unterſcheiden. Die Griechen haben
außer dem Actiuo und Paſſiuo noch das Verbum me-
dium,
und koͤnnen ſich damit einigermaßen aushelfen,
weil es in der That Faͤlle giebt, wo man die Wirkung
ohne
[89]Von den Zeitwoͤrtern.
ohne Ruͤckſicht auf das Thun und Leiden vorſtellen, oder
wo man unbeſtimmt laſſen muß, ob die Sache, wovon
die Rede iſt, wirke oder leide.


§. 151. So haben wir auch Zeitwoͤrter, die nicht
eine Veraͤnderung, ſondern eine Dauer, Zuſtand,
Beharrungsſtand
anzeigen. Z. E. ſeyn, bleiben,
harren, leben, liegen, ſtehen, ruhen, wohnen,
ſitzen, ſchlafen,
ꝛc. wobey von Thun und Leiden wei-
ter keine Rede iſt, weil ſie etwas Unthaͤtiges anzeigen.
Sie werden daher in der Sprache auch nicht durch das
Actiuum und Paſſiuum durchgefuͤhrt, ſondern bleiben
in dem einen oder dem andern, wie ſie anfangs ge-
waͤhlt worden, das iſt, wie ihrem Urheber entweder
das Thun oder das Leiden ſchicklicher geſchienen.


§. 152. Ferner iſt bey allen dieſen Zeitwoͤrtern
ſchlechthin nur etwas Wirkliches. Und daher bleibt
das Moͤgliche und das Nothwendige in ſo ferne
zuruͤck, als man es durch die ſo genannten Huͤlfswoͤr-
ter koͤnnen, moͤgen, muͤſſen, ſollen, heißen, doͤr-
fen,
anzeigt, welchen man noch wegen anderer Beſtim-
mungen die Huͤlfswoͤrter laſſen, wollen, thun, pfle-
gen
ꝛc., und im Franzoͤſiſchen aimer, faire, paroitre,
ſembler, aller, venir
ꝛc. beyſuͤgt.


§. 153. Dieſe Huͤlfswoͤrter beſtimmen die Modifi-
cationen und Verhaͤltniſſe der Handlung, und das Zeit-
wort wird denſelben ſchlechthin im Infinitiuo beygeſetzt.
Z. E. Er kann ſchreiben, ich mag es wohl lei-
den, man muß es ſagen, er ſoll gehen, man
heißt ihn ſchweigen, er darf ſich unterſtehen,
man laͤßt es hingehen, man laͤßt wiſſen, er will
ſagen, er thut reden, man pflegt zu denken
ꝛc.,
und im Franzoͤſiſchen, j’aime lire, il fait avertir, il
paroit inſinuer, il ſemble croire, il va écrirc, il vient
dire
ꝛc.


F 5§. 154.
[90]IV. Hauptſtuͤck.

§. 154. Wir haben zu dieſen Huͤlfswoͤrtern die Woͤr-
ter: ſeyn, haben, werden, nicht mitgerechnet, weil
dieſe im Deutſchen in einem ganz andern Verſtande
Huͤlfswoͤrter ſind; indem wir ſie ſchlechthin zu Beſtim-
mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deutſchen nicht
genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie
die Lateiner im Actiuo, und die Griechen durchaus.
Wir ſagen daher: ich habe geſehen, ich hatte ge-
ſehen, ich werde ſehen, ich wuͤrde ſehen, ich
werde geſehen, ich wuͤrde geſehen worden ſeyn

ꝛc. Und alles dieſes in einem ſehr uneigentlichen und
ſchlechthin angewoͤhnten Verſtande. Hingegen gehen
die vorhin erwaͤhnten Huͤlfswoͤrter durch alle Zeiten und
Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be-
deutung.


§. 155. Es waͤre an ſich moͤglich, die Bedeutung
dieſer Huͤlfswoͤrter durch Ableitungstheilchen anzuzei-
gen, um dadurch die Sprache kuͤrzer und nachdruͤckli-
cher zu machen. Die Lateiner haben ihre Inchoatiua,
Frequentatiua, Deſideratiua, Deminutiua.
Z. E. la-
baſco, lectito, lecturio, cantillo
,
ꝛc. So haben wir
auch im Deutſchen alten, aͤltern, aͤlteln, rechten,
rechtigen,
ꝛc. Ob ſich aber ihre Anzahl durch neue
und dem Sprachgebrauch gemaͤße Ableitungstheilchen
vermehren laſſe, iſt eine andere Frage, die in der oben
(§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Sprache vor-
kommen ſolle, weil darinn die Bedeutung der Sylben,
wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird,
vorkommen muß. Und hiezu finden ſich allerdings
Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann.


§. 156. Die Verſchiedenheit der Conjugationen
oder Abwandlungsarten der Zeitwoͤrter, wie ſie z. E.
im Lateiniſchen und den daherruͤhrenden Sprachen vor-
koͤmmt, ſcheint keinen metaphyſiſchen Grund zu haben,
ungeacht ſie einen haben koͤnnte. Denn ſo koͤmmt es
im
[91]Von den Zeitwoͤrtern.
im Lateiniſchen auf die Endungen are, ere, ere, ire an.
Dieſe ſollten bedeutend ſeyn, und vielleicht waren ſie es
anfaͤnglich, und ſo waͤren ſie, wie die meiſten Ableitungs-
theilchen der lateiniſchen Sprache, in Vergeſſenheit kom-
men. Man wird auch ſchwerlich etwas a poſteriori
daruͤber beſtimmen koͤnnen. Da ſich aber ein und eben
daſſelbe Zeitwort nicht durch alle vier Conjugationen
durchfuͤhren laͤßt, ſo iſt klar, daß dieſe Endungen keine
Modificationen einer und eben derſelben Handlung ha-
ben bedeuten koͤnnen. Sie muͤßten demnach nur ver-
ſchiedene Arten von Handlungen angezeigt haben, und
auch da laͤßt ſich noch kein Grund finden, warum es
nur viererley geweſen ſind.


§. 157. Wir merken dieſes nur an, um zugleich mit
zu zeigen, daß die Sprachen charakteriſtiſcher ſeyn koͤnn-
ten, als ſie wirklich ſind, und wie viele Umſtaͤnde man
ſich zu Nutze machen koͤnne, wenn man eine wirklich
charakteriſtiſche Sprache erfinden wollte. Die vorhin
erwaͤhnten Beſtimmungen der Zeitwoͤrter durch Huͤlfs-
woͤrter (§. 152.), durch Ableitungstheilchen (§. 155.), ihr
Unterſchied in Abſicht auf die Veraͤnderung und Dauer
(§. 151.), die Bemerkung der Verhaͤltniß der Veraͤnde-
rung zur Urſache und Wirkung (§. 150.), wuͤrden da-
bey mit in Betrachtung gezogen, und die Zeitwoͤrter al-
ſo bezeichnet werden muͤſſen, daß die Ableitungen derſel-
ben, welche die Sache ſelbſt nicht litte, ſchon durch die
Structur des Wortes oder durch charakteriſtiſche Re-
geln ausgeſchloſſen wuͤrden. Denn es iſt fuͤr ſich klar,
daß, ſo weit dieſes angienge, die Theorie der Zeichen
ſtatt der Theorie der Sache wuͤrde koͤnnen gebraucht
werden, wie es bey wiſſenſchaftlichen Zeichen ſeyn ſolle
(§. 23.).


§. 158. Wir koͤnnen noch anmerken, daß die vor-
hin (§. 152.) angefuͤhrten Huͤlfswoͤrter nicht die einigen
moͤgli-
[92]IV. Hauptſtuͤck.
moͤglichen ſind. Jede Sprache hat ihre eigene, die
durch den Gebrauch eingefuͤhrt worden, und die in al-
len Sprachen ebenfalls ſeyn koͤnnten. Wir haben nur
ſolche als Beyſpiele angefuͤhrt, die im Franzoͤſiſchen und
Deutſchen einen Jnfinitivum zu ſich nehmen, weil auf
dieſe Art alle uͤbrigen Beſtimmungen der Zeit, Zahl,
Perſon ꝛc. auf das Huͤlfswort fallen. Man ſieht aber
leicht, daß bald alle Modificationen der Handlung, die
Verhaͤltniſſe des Redenden, der Antheil, den er an der
Handlung nimmt, die Art, Kraft, Geſchwindigkeit,
Wiederholung, Gewohnheit, der Affect, die Grade der
Heftigkeit, die Gewißheit, Moͤglichkeit, Nothwendig-
keit, Wichtigkeit ꝛc. entweder durch Huͤlfswoͤrter oder
durch Ableitungstheilchen ausgedruckt werden koͤnnten,
ſtatt deren wir in den wirklichen Sprachen mehren-
theils nur Beſtimmungswoͤrter gebrauchen (§. 126.).


§. 159. Jm Deutſchen haben wir nicht viele Ab-
leitungstheilchen, die den Zeitwoͤrtern angehaͤngt wer-
den. Hingegen haben wir deſto mehrere denſelben
vorzuſetzen, dergleichen die Sylben: ab, an, auf,
aus, be, bey, ein, em, ent, er, fuͤr, ge, her, hin,
miß, nach, in, por, ver, um, un, unter, vor,
ur, weg, zer, zu, voll, dar, wider, fort, mit,
ob, uͤber, durch, gegen, zwiſchen,
ꝛc. ſind, aus
welchen ſich noch mehrere zuſammenſetzen laſſen. Der
Grund davon iſt, weil die letzten Sylben der Zeitwoͤr-
ter zum Conjugiren, und folglich zur Beſtimmung der
Zeit, Zahl, Perſon, ꝛc. gewiedmet ſind. Dieſes macht,
daß die Ableitungstheilchen eigentlich eingeſchoben wer-
den, wie z. E. in den Woͤrtern: vereinigen, offen-
baren, raͤuchern, wandeln
ꝛc., und unzaͤhligen an-
dern, die ſich von Nennwoͤrtern herleiten laſſen. Man
ſieht uͤbrigens auch hieraus, daß in der Ordnung der
Sylben mehr oder weniger Bedeutendes iſt (§. 135.).


§. 160.
[93]Von den Zeitwoͤrtern.

§. 160. Dieſe Ableitungstheilchen dienen uͤber-
haupt, die Zeitwoͤrter, denen ſie beygefuͤgt, vorgeſetzt
oder eingeſchoben werden, beſtimmter, bedeutender und
nachdruͤcklicher zu machen, weil ſie dem Begriffe der
Handlungen mehrere Beſtimmungen geben. So fern
ſich aber dadurch das Wort nur da gebrauchen laͤßt,
wo eben dieſe Beſtimmungen wirklich vorkommen, ſo
wird der Gebrauch deſſelben ſeltener und ſchwerer. Er-
ſteres, weil ſeine Bedeutung durch die Zuſammenſet-
zung individualer wird; letzteres aber, weil man ſich da,
wo das Wort gebraucht werden ſolle, vorerſt verſichern
muß, ob es auf die erheblichen Umſtaͤnde der Sache ge-
nau paſſe? Jn der Fertigkeit dieſer Auswahl der Woͤr-
ter liegt ein großer Theil deſſen, was man: einer
Sprache maͤchtig ſeyn,
heißt.


§. 161. Die Ableitungstheilchen, wodurch ein Zeit-
wort beſtimmter wird, muͤſſen daher auch wegbleiben,
und mit andern verwechſelt werden koͤnnen, damit ſich
das Wort nach jeden abgeaͤnderten Umſtaͤnden richten
laſſe. Wir merken zu dieſem Ende, und zugleich zum
Behufe der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deut-
ſchen Sprache an, daß dieſe Sprache auch hierinn noch
eines großen Wachsthums faͤhig iſt. Sie hat noch ei-
ne Menge abgeleiteter Zeitwoͤrter, deren Wurzelwoͤrter
mehr aus Nachlaͤßigkeit als tuͤchtigen Gruͤnden in Ab-
gang gekommen, und die man dermalen, da die deut-
ſche Sprache zur gelehrten Sprache wird, mit Vor-
theil wiederum hervor ſuchen koͤnnte, nicht nur um die-
ſe Wurzelwoͤrter ſelbſten, ſondern mit denſelben zugleich
noch mehrere abgeleitete zu haben. Als Beyſpiele wol-
len wir nur die Woͤrter: erſtaunen, bewahren,
draͤngen, geneſen, befremden, erhellen, erquik-
ken, genuͤgen, gelingen
ꝛc. anfuͤhren, von deren
Wurzelwoͤrtern eine Menge anderer abgeleitet und in
Aufnahme gebracht werden koͤnnen (§. 130.).


§. 162.
[94]IV. Hauptſtuͤck.

§. 162. Da die Ableitungstheilchen Beſtimmungen
ſind, die das Zeitwort bedeutender und individualer ma-
chen, ſo muͤſſen die Wurzelwoͤrter dieſe Beſtimmungen
nicht an ſich ſchon enthalten, weil man ſonſt ohne Noth
uͤberfluͤßig viele Wurzelwoͤrter haben wuͤrde. Beſon-
ders muͤſſen aus dem Wurzelwort die veraͤnderlichen
und trennbaren Beſtimmungen wegbleiben, weil dieſe
fuͤglicher durch Ableitungstheilchen gegeben werden.
Wir merken dieſes theils zum Behufe der charakteriſti-
ſchen Sprache, theils auch deswegen an, weil die Gra-
de der Vollkommenheit der wirklichen Sprachen auch
nach dieſer Regel koͤnnen gepruͤft werden. Denn eine
Sprache iſt unſtreitig deſto vollkommener und charak-
teriſtiſcher, je mehr und je mehrerley andere Woͤrter mit
einem vorgegebenen Worte zugleich gegeben ſind. Die-
ſes fordert, daß die Zeitwoͤrter, welche Wurzelwoͤrter
ſind, nur das Allgemeine einer Handlung, einer Veraͤn-
derung, eines Zuſtandes ꝛc. vorſtellen, und die beſondern
Beſtimmungen durch Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrter
und Beſtimmungswoͤrter ausgedruͤckt werden.


§. 163. Dieß will nun nicht ſagen, daß man, wo
der Ausdruck zu weitlaͤuftig wuͤrde, nicht an Abkuͤrzun-
gen denken, und folglich zuſammengeſetzte Handlungen,
die an ſich ein Ganzes ausmachen, durch ein eigenes
Wurzelwort anzeigen, oder die Handlung von ihrer Ab-
ſicht, Urſach, Mittel, weſentlichſten Theile ꝛc. benennen
ſolle. Die wirklichen Sprachen bieten uns hievon haͤu-
fige Beyſpiele an, und jede hat etwas beſonderes, weil
man ſich bey Ueberſetzungen aus einer Sprache in eine
andere nicht ſelten genoͤthigt ſieht, einzelne Woͤrter mit
Umſchreibungen zu vertauſchen, und die Ueberſetzung
bald kuͤrzer bald weitlaͤuftiger zu machen, als die Ur-
ſchrift iſt.


§. 164. Die hebraͤiſche Sprache iſt nebſt ihren ver-
wandten Sprachen, vielleicht die einzige, deren Wurzel-
woͤrter
[95]Von den Zeitwoͤrtern.
woͤrter Zeitwoͤrter ſind. Jm Deutſchen ſcheint es ſich,
wenigſtens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur-
ſprung dieſer Sprache in alten und laͤngſt abgelebten
Sprachen faſt ganz vergraben liegt. Wenn wir ſie
aber nehmen, ſo gut ſie dermalen bekannt iſt, ſo hat ſie
allerdings vielerley Mittel, Zeitwoͤrter zu bilden, weil
ſie dieſelben von jeden andern Redetheilen herleiten,
und auch hinwiederum dieſe aus Zeitwoͤrtern bilden
kann. Dieſe Ableitung hat ihre Grundſaͤtze, die in der
oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Spra-
che muͤſſen entwickelt und brauchbar gemacht werden.
Man hat ſich bisher mehrentheils nur mit der Analo-
gie begnuͤgt, und neue Woͤrter gebilliget, oder hingehen
laſſen, wenn man aͤhnlich abgeleitete gefunden.


§. 165. Alle bisher angefuͤhrte Mittel, die Zeitwoͤr-
ter durch bloße Abaͤnderung einiger Buchſtaben und
Sylben nach jeden Umſtaͤnden bedeutend zu machen,
ſind an ſich betrachtet, willkuͤhrlich. Die wirklichen
Sprachen geben uns Beyſpiele, daß die Abweichung da-
von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach ſich
ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege-
kunſt erfordert, den Zuſammenhang der Rede mit zu
Huͤlfe nimmt. So z. E. hat legere im Lateiniſchen
vier Bedeutungen, legeris ebenfalls. Man muß dem-
nach aus dem Zuſammenhang beſtimmen, welche Be-
deutung genommen werden ſolle. Jm Hebraͤiſchen wird
die Zeit und die Zahl, im Deutſchen die Zahl und Per-
ſon verwechſelt, und die Gewohnheit hat das Anſtoͤßige
dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch
daruͤber geſtritten, ob man im Franzoͤſiſchen Gott in
der mehrern Zahl anreden, und ſie in der Ueberſetzung
der Schrift gebrauchen duͤrfe oder ſolle? Nach dieſen
Beyſpielen laͤßt ſich als moͤglich gedenken, daß man alle
Zeitwoͤrter ſchlechthin im Jnfinitivo gebrauchen koͤnnte,
und ſo wuͤrde man in denen Faͤllen, wo Zweydeutigkei-
ten
[96]IV. Hauptſtuͤck.
ten vorkommen, dieſe durch dienliche Beſtimmungswoͤr-
ter der Zeit und Perſon heben.


§. 166. Wir fuͤhren dieſes nur an, um die bloße
Moͤglichkeit zu zeigen. Denn an ſich betrachtet iſt es
beſſer, wenn die Zeitwoͤrter beſtimmtere Bedeutungen
haben, und fuͤr jede Bedeutung anders lauten. Die
Kuͤrze der Zeichnung fordert ſie, und die Auslegung der
Rede wird dadurch erleichtert. Uebrigens iſt an ſich
klar, daß beſtimmtere Ausdruͤcke ſchwerer zu
gebrauchen ſind,
und wenn man ſie richtig gebrau-
chen will, ſo muß man allerdings ihre Bedeutung ge-
nauer kennen, die Sache genauer wiſſen, und beyde zu-
ſammenrichten. Da nun dieſes nicht immer gleich
leicht iſt, ſo iſt es das nuͤtzlichſte, wenn die Sprache fuͤr
jede Stuffen der Genauigkeit und Modificationen einge-
richtet iſt. Und hierinn hat die griechiſche Sprache,
in Abſicht auf die Zeitwoͤrter, einige Vorzuͤge (§. 149.
150.).


§. 167. Die Mittelwoͤrter (Participia) haben in den
Sprachen das beſonders, daß man ſie von andern Woͤr-
tern, die ſich von Zeitwoͤrtern ableiten laſſen, unterſchei-
det, und aus denſelben eine beſondere Claſſe macht. Es
iſt fuͤr ſich klar, daß dieſer Unterſchied von den erſten
Sprachforſchern getroffen worden, weil die Mittelwoͤr-
ter nach ſehr allgemeinen Regeln von den Zeitwoͤrtern
abgeleitet werden koͤnnen, und nur fuͤr einige Faͤlle Ab-
weichungen anzumerken waren. Es iſt aber ihre An-
zahl nicht in allen Sprachen gleich, und eben daher laſ-
ſen ſich auch mehrere gedenken. Die griechiſche Spra-
che iſt damit am beſten verſehen, die lateiniſche hat
weniger, und die deutſche noch weniger, wenn man
naͤmlich nur die nimmt, die man in den Sprachlehren
fuͤr Mittelwoͤrter angiebt. Denn eigentlich koͤmmt
noch die Frage vor, was man Mittelwoͤrter heiße,
und wiefern der Begriff davon allgemeiner gemacht
werden
[97]Von den Zeitwoͤrtern.
werden koͤnne? Mit den Zeitwoͤrtern haben ſie weiter
nichts gemein, als daß ſie davon abgeleitet werden, und
etwan noch die Beſtimmung der Zeit behalten, wie
z. E. amans, amatus, amaturus, amandus. Sodann
ſollen ſie wie andere Beywoͤrter (Adiectiua) gebraucht
werden koͤnnen, und daher nicht Redensarten, ſondern
einzelne Woͤrter ſeyn. Nach dieſen Gruͤnden hat man
im Deutſchen nur zwo Arten von Mittelwoͤrtern zuge-
laſſen, dergleichen lobend, gelobt, ſind. Die erſte Art
zeigt ein Thun an, die andere ein Leiden. Wiefern
aber eine Beſtimmung der Zeit dabey vorkomme, ſcheint
nicht ſo leicht zu eroͤrtern zu ſeyn. Denn die erſte Art
ſtellt zuweilen auch nur eine bloße Moͤglichkeit, Ge-
wohnheit, Fertigkeit, Faͤhigkeit ꝛc. vor. Z. E. ein to-
bendes Waſſer, ein blendendes Licht, ꝛc. und damit laſ-
ſen ſich jede Zeiten verbinden. Die andere Art bindet
ſich auch nicht an die Zeit, wiewohl ſie etwas anzeigt,
das zu der Zeit, wovon die Rede iſt, ſchon angefangen
hat, und fortdauert, oder auch ſchon aufgehoͤrt hat.
Z. E. die abgeleſenen Worte, der angebothene Dienſt,
ein geſchaͤtzter Freund, ꝛc.


§. 168. Jndeſſen giebt es im Deutſchen noch Spu-
ren von andern Arten von Mittelwoͤrtern. Jn den Ti-
tulaturen gebrauchen wir z. E. das: Hochzuehren-
der Herr!
und nach Aehnlichkeit auch: die beyzu-
legende Sache, die anzuſtellende Reiſe
ꝛc. Die-
ſes ſind allerdings Mittelwoͤrter, die den lateiniſchen
Participiis in dus aͤhnlich ſind. Von zuſammengeſetz-
tern Ausdruͤcken, die als Mittelwoͤrter angeſehen wer-
den koͤnnen, finden ſich einige von folgenden Formeln:
anzutreten habend, anzufangen gehabte, ge-
liebt habend, geſchrieben ſeyn ſollend,
ꝛc. Ob
aber Mittelwoͤrter von dieſer Art, zur Bereicherung der
Sprache, allgemeiner gemacht, und in Aufnahme ge-
bracht werden ſollen, iſt eine andere Frage. Es koͤmmt
Lamb. Organon II B. Gdarauf
[98]IV. Hauptſtuͤck.
darauf an, ob ſie deutſch genug klingen, und ob ſie viel
kuͤrzer und nachdruͤcklicher ſind, als die Umſchreibungen,
die man dafuͤr gebraucht?


§. 169. Vielleicht aber haben wir im Deutſchen
Mittelwoͤrter von einer ganz andern Art. Die Bedin-
gung, daß ſie ſo viel als Beywoͤrter ſeyn, oder ſtatt der-
ſelben dienen ſollen, ſcheint viel Willkuͤhrliches an ſich
zu haben, und ſie wird allgemeiner, wenn wir ſie auch
auf die Hauptwoͤrter und Zuwoͤrter ausdehnen. Auf
dieſe Art wird zu einem Mittelwort erfordert, daß es
von einem Zeitwort herkomme, und die Ableitungsart
allgemein ſey. Von dieſen Bedingungen macht die er-
ſtere, daß der Begriff eines Thuns oder Laſſens in
dem Mittelwort bleibt; die andere macht, daß die Mit-
telwoͤrter nach einer allgemeinen Form gebildet, und zu-
gleich mit der Abwandlung der Zeitwoͤrter erlernt wer-
den koͤnnen.


§. 170. Dieſe zwo Bedingungen haben nun etwas
Allgemeines, und dem eigentlichſten Verſtande des Na-
mens Mittelwort,Participium, gemaͤßes. Wir wol-
len nun einige Arten als Beyſpiele anfuͤhren. Die er-
ſte iſt, daß wir im Deutſchen jeden Jufinitivum zum
Hauptwort machen koͤnnen. So ſagen wir: das Sit-
zen, das Leſen, das Gehen, das Trinken, das
Wohlſeyn,
ꝛc. Ferner benennen wir den, der etwas
thut, ebenfalls von dem Zeitworte, welches die Hand-
lung anzeigt, mit Verwandlung der letzten Sylbe en
in er, welcher ſo viel als Mann bedeutet, oder in
erin, wenn es weiblichen Geſchlechts iſt, z. E. der
Liebhaber, der Richter, der Leſer, der Hoͤrer, ꝛc.
die Beherrſcherin, Richterin, Vorſteherin ꝛc.

Ungeacht nun noch nicht alle Woͤrter, die ſich auf
dieſe Art ableiten laſſen, wirklich im Gebrauche ſind, ſo
wird es doch wenig nothwendige Ausnahmen geben,
und ſie haben in den behoͤrigen Redensarten einen ih-
nen
[99]Von den Zeitwoͤrtern.
nen eigenen Nachdruck. Einige davon ſind angenom-
mene Amtsnamen und Titel, und in ſo ferne bedeuten
ſie nicht mehr. Hingegen werden ſie bedeutender, wo
ſie in ihrem eigentlichen Verſtande vorkommen, z. E.
die Vernunft iſt eine Richterin in Zweifeln, eine
Fuͤhrerin auf den Wegen der Wahrheit ꝛc. Es iſt
nicht zu zweifeln, daß die Endungen, ig, iſch, z. E. in
den Woͤrtern: ſtutzig, glaͤubig, eiferig, ꝛc. nei-
diſch, zaͤnkiſch, kriegeriſch, ꝛc.
noch ungleich meh-
rern, wo nicht allen Zeitwoͤrtern angehaͤngt werden koͤnn-
ten. Sie ſcheinen aber mehr als den bloßen Begriff
des Thuns und Laſſens zu enthalten, und wuͤrden da-
her den Begriff eines Mittelworts allgemeiner machen,
als es noͤthig zu ſeyn ſcheint. Es gehoͤrt aber dieſe
Unterſuchung in die ſchon oͤfters erwaͤhnte Theorie der
deutſchen Sprache. Daher iſt es genug, ſie hier be-
ruͤhrt zu haben.


§. 171. Die Zeitwoͤrter ſind bey dem Anfang der
Sprachen, ſo wie jede andere Redetheile, von ſinnlichen
Dingen hergenommen worden, und haben ſich nach
Aehnlichkeit des Eindruckes der Vorſtellungen, nach
und nach auch auf Dinge der Jntellectualwelt erſtreckt,
indem man ſie metaphoriſch gemacht hat. Damit
geht es nun in den lebenden Sprachen immer weiter.
Denn eine Metapher hoͤrt gleichſam auf, eine Meta-
pher zu ſeyn, ſo bald man ſich von Jugend auf daran
gewoͤhnt. So glaubt man z. E. in der Vernunftleh-
re, Metaphyſik, Moral ꝛc. jede Woͤrter nach ihrem ei-
gentlichen Verſtande zu definiren; es iſt aber nur nach
dem Verſtande, den ſie in jeder dieſer Wiſſenſchaften
haben, wo ſie faſt alle ſchon metaphoriſch ſind, wenn
man auf ihre urſpruͤngliche und buchſtaͤbliche Bedeu-
tung zuruͤcke ſieht. Es geſchieht ſelten, daß man in ei-
ner Sprache ganz neue Wurzelwoͤrter einfuͤhrt. Da
man aber zu ganz neuen Sachen Woͤrter gebraucht, ſo
G 2nimmt
[[100]]IV. Hauptſtuͤck.
nimmt man entweder zuſammengeſetzte, oder man ge-
braucht Metaphern dazu. Die Namen, die man in
der Anatomie, in der Naturgeſchichte ꝛc. im Deutſchen
eingefuͤhrt hat, und ſie immer mehr in Aufnahme bringt,
moͤgen als Beyſpiele dienen. Es koͤmmt dabey viel
darauf an, daß man den ſchicklichſten Namen waͤhle.
Denn da wird oͤfters eine Metapher einem zuſammen-
geſetzten oder abgeleiteten Worte vorgezogen. Die Re-
geln, dieſes beſonders in Abſicht auf die Zeitwoͤrter im
Deutſchen zu beſtimmen, wo die Moͤglichkeit ihrer Bil-
dung gar mannichfaltig iſt, gehoͤren ebenfalls in die der
deutſchen Sprache eigene Theorie.


§. 172. Da man in den Sprachen ſehr zuſammen-
geſetzte Handlungen und Zuſtaͤnde der Dinge, abkuͤr-
zungsweiſe, durch einzelne Woͤrter benennt: ſo ſind die-
ſes entweder Wurzelwoͤrter, und folglich ganz willkuͤhr-
lich, oder ſie haben ganz oder theilsweiſe bereits ſchon
eine Bedeutung, welche entweder von einer aͤhnlichen
Handlung,
oder von der Urſache, Mittel, Werk-
zeug, Abſicht, Wirkung, Eindruck auf die
Sinnen, Veraͤnderung
ꝛc. hergenommen iſt. Da
nun dieſes auf vielerley Arten angeht, ſo ſieht man
leicht, daß einerley Handlung verſchiedene, und hinwie-
derum verſchiedene Handlungen einerley Benennungen
haben koͤnnen. Das Zeitwort, nach ſeiner buchſtaͤbli-
chen Bedeutung, zeigt nicht alle Beſtimmungen der
Handlung an, und daher kann es leicht geſchehen, daß
man ſich einige dieſer Beſtimmungen entwe-
der gar nicht oder irrig vorſtellt,
und letzteres um
deſto leichter, je mehr man gewoͤhnt iſt, alles individual
zu denken, zumal, wenn man nicht weiß, oder ſich
nicht gleich beſinnet, daß eine Sache auf mehrerley Ar-
ten moͤglich iſt. Die Geſchicklichkeit unter mehrern
ſolchen Zeitwoͤrtern, die, uͤberhaupt betrachtet, einerley
Handlung vorſtellen, dasjenige zu waͤhlen, welches einem
ſolchen
[101]Von den Zeitwoͤrtern.
ſolchen Misverſtande am beſten vorbeugt, gehoͤrt wie-
derum zu dem, was man: einer Sprache maͤchtig
ſeyn,
nennt, und fordert, daß man auch die Sache
ſelbſt genug verſtehe.


§. 173. Wir haben ferner in den Sprachen Zeit-
woͤrter, die zwar uͤberhaupt einerley Sache, aber zu-
gleich auch die verſchiedenen Stuffen derſelben, nebſt
andern Modificationen vorſtellen. Auf dieſe Art ſind
z. E. die Woͤrter: ſchleichen, gehen, ſchreiten, ei-
len, laufen, rennen,
von einander verſchieden, welche
bald keine andere Modificationen vorſtellen, als ſolche,
die mit dem verſchiedenen Grade der Geſchwindigkeit
an ſich verbunden ſind, da hingegen die Woͤrter: flie-
hen, entgehen, entfernen, nahen, naͤhern, wan-
deln, wandern, reiſen, kommen,
ꝛc. ſchon einige
Beſtimmungen mehr haben. Solche Woͤrter haben
nun einen ihnen eigenen Nachdruck, wenn ſie richtig ge-
braucht werden, und um ſie richtig zu gebrauchen, muß
man ihre Nebenbeſtimmungen und Stuffen genau ken-
nen. Es iſt aber auch ſchwerer, feſt zu ſetzen, wo jede
Stuffe anfaͤngt, zumal da ſolche oͤfters nur Verhaͤltniß-
weiſe groͤßer oder kleiner ſind. Man verwirrt auch
die Sprache, wenn man ſolche Woͤrter ohne Grund
verwechſelt, und uͤberhaupt ruͤhrt eine ſolche Verwechs-
lung auch mehrentheils nur daher, daß man den jedem
Wort eigenen Nachdruck nicht genug kennt. Denn
auf dieſe Art verwechſelt man die Umſtaͤnde der Sache
mit derjenigen, die das unſchicklich gebrauchte Wort
vorſtellt.


§. 174. Ungeacht es nun einen Reichthum der Spra-
che anzeigt, wenn ſie Woͤrter fuͤr jede Stuffen und Mo-
dificationen einer Handlung hat, ſo iſt dieſer Reichthum
dennoch nur alsdann eine Vollkommenheit, wenn ſolche
Woͤrter nicht, oder wenigſtens nicht alle, Wurzelwoͤrter
ſind. Denn da es unzaͤhlige Handlungen giebt, die
G 3mehrere
[102]V. Hauptſtuͤck.
mehrere kenntliche Stuffen haben, ſo iſt klar, daß, wenn
eine Sprache Ableitungstheilchen hat, dieſelben anzu-
zeigen, die Anzahl der Wurzelwoͤrter dadurch vermin-
dert, und hingegen die Anzahl der abgeleiteten Woͤrter
vermehrt wird. Und dieſes macht die Sprache charak-
teriſtiſcher und wiſſenſchaftlicher, wie wir es bereits oben
(§. 152. 155. 158.) bey Betrachtung der Huͤlfswoͤrter an-
gemerkt haben.



Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Von den Nennwoͤrtern.


§. 175.


Die andere Claſſe der Woͤrter, die wir in den Spra-
chen haben, ſind die Nennwoͤrter, wodurch
man entweder die Dinge ſelbſt, oder ihre Eigen-
ſchaften
und Beſtimmungen benennt. Jm erſtern
Fall ſind es Hauptwoͤrter (Subſtantiua), und dieſe
ſtellen uͤberhaupt alles vor, was man als fuͤr ſich beſte-
hend anſieht, folglich im eigentlichſten Verſtande jede
Subſtanzen, z. E. Berg, Haus, Menſch, Waſ-
ſer
ꝛc. Man hat aber in den Sprachen Mittel geſun-
den, Hauptwoͤrter einzufuͤhren, die gar nicht Subſtan-
zen ſind, und dieſes ſind die bereits oben (§. 138.) er-
waͤhnten Abſtracta, die eine ganz beſondere Claſſe von
Woͤrtern ausmachen, und vorzuͤglich dienen, eine Spra-
che zur gelehrten Sprache zu machen. Um demnach
beyde Gattungen von Hauptwoͤrtern auf einerley Kenn-
zeichen zu bringen, und ſie von jeden andern Woͤrtern
zu unterſcheiden, kann man anmerken, daß ſich die Din-
ge, die ſie vorſtellen, zaͤhlen laſſen. Die Hauptwoͤr-
ter ſind demnach alle der Beſtimmung des Zaͤhlens
faͤhig,
[103]Von den Nennwoͤrtern.
faͤhig, und hinwiederum wird, was ſich zaͤhlen laͤßt, un-
ter die Claſſe der Hauptwoͤrter gerechnet.


§. 176. Dieſes Merkmal der Hauptwoͤrter iſt nicht
charakteriſtiſch, ſondern durchaus metaphyſiſch, und da
die Sprachen ſehr ordentlich nach demſelben eingerich-
tet ſind, ſo gehoͤrt dieſer Umſtand mit unter diejenigen,
wo das Metaphyſiſche in der Sprache zur Richtſchnur
gedient, und dem Willkuͤhrlichen und Verwirrten vor-
gebogen hat. Die Hauptwoͤrter wuͤrden dadurch ſaͤmt-
lich in eine Claſſe gebracht, und zu allgemeinen Wen-
dungen gebogen, wodurch ſie von den Zeitwoͤrtern und
uͤbrigen Redetheilen unterſchieden, und charakteriſtiſche
Merkmale und Geſtalten erhielten.


§. 176a. Die andere Gattung der Nennwoͤrter, ſind
die Beywoͤrter, Adiectina, und dieſe bezeichnen nur
Eigenſchaften, Modificationen, Beſtimmungen ꝛc. der
Dinge: z. E. ein ſchoͤnes Haus, ein hoher Berg,
ein fremder Menſch, ein helles Waſſer
ꝛc. Sol-
che Woͤrter ſind nun ungefaͤhr, was in der Algeber die
Coefficienten. Denn ſie helfen den allgemeinern Be-
griff des Hauptworts, dem ſie beygefuͤgt werden, naͤher
beſtimmen. Das Charakteriſtiſche, ſo dabey vorkoͤmmt,
beſteht dariun, daß die Beywoͤrter die Anzahl der
Hauptwoͤrter merklich vermindern. Denn ſo laͤßt man
aus dem Begriff des Hauptwortes die gemeinſamen
und zufaͤlligen Merkmale weg, und benennt dieſe
durch eigene Beywoͤrter, welche man ſodann zu jeden
Hauptwoͤrtern hinzuſetzen kann, die ſie haben ſollen.
Die Hauptwoͤrter ſtellen dadurch die abſtracten Be-
griffe der Gattungen vor, und die Beywoͤrter geben
die Beſtimmungen der einzeln Arten, auf eine ſehr ab-
gekuͤrzte Art, weil man ſonſt ſtatt derſelben ganze Re-
densarten und Umſchreibungen gebrauchen muͤßte. Das
will nun nicht ſagen, daß nicht auch Indiuidua einen
ihnen eigenen Namen haben koͤnnen. Denn da wir
G 4uͤber-
[104]V. Hauptſtuͤck.
uͤberhaupt die Woͤrter als Abkuͤrzungen weitlaͤuftiger
Vorſtellungen gebrauchen, ſo wird auch dazu, daß wir
den einzeln Dingen Namen geben, weiter nichts erfor-
dert, als daß es im Reden oſt vorkomme. Auf dieſe
Art haben in Staͤdten jede Gaſſen, Plaͤtze, Gegenden ꝛc.
ihre eigene Namen,nomina propria.


§. 177. Die Nennwoͤrter ſind in den Sprachen
nicht ohne Abaͤnderungen geblieben, wodurch man die
beſondern Umſtaͤnde und Beſtimmungen der dadurch
vorgeſtellten Dinge ausdruͤckt. Jndeſſen haben ſie un-
gleich weniger, als die Zeitwoͤrter, weil die Dinge und
ihre Eigenſchaften nur theils als fuͤr ſich, theils in
gewiſſen Verhaͤltniſſen betrachtet werden. Da man
ſie als fortdaurend anſieht, ſo faͤllt die Beſtimmung
der Zeit weg, welche ſich bey dem Begriff der Hand-
lungen immer mit einmengt. Aus gleichem Grunde
bleibt auch die Beſtimmung des Thuns und Leidens
weg, weil man die Dinge gleichſam als im Behar-
rungsſtande betrachtet, und das, ſo man mit denſelben
vornimmt, in das Zeitwort und deſſen Nebenbeſtim-
mungen einſchiebt. Hingegen bleibt die Zahl, und
zwar um deſto nothwendiger, weil ſie das Unterſchei-
dungsſtuͤck der Hauptwoͤrter iſt (§. 176.), und ſeldſt
die Zeitwoͤrter die Beſtimmung der Zahl daher ent-
lehnen.


§. 178. Es ſind aber in den Sprachen die Caſus
oder Fallendungen bey den Nennwoͤrtern eingefuͤhrt
worden, die, uͤberhaupt betrachtet, etwas Metaphyſi-
ſches an ſich haben, jedoch nicht ſo, daß nicht viel Will-
kuͤhrliches zugleich mit unterlieſe. So viel ſieht man
wohl, daß dieſe Fallendungen die Dinge in gewiſſen
Verhaͤltniſſen vorſtellen, und folglich dieſe Verhaͤltniſſe
anzeigen und unterſcheiden ſollten. Und dieſes erhellet
auch aus den Fragen: Wer? Weſſen? Wem?
Wen?
ꝛc. auf welche man in den vier erſten Fallen-
dungen
[105]Von den Nennwoͤrtern.
dungen antwortet. Man kann aber nicht ſagen, daß
dieſe vier Fragen alle ſeyn ſollten, die man machen
kann, und der bekannte topiſche Vers:


Quiſ? Quid? Ubi? Quibus auxiliis? Cur? Quomodo?
Quando?


nach welchem man eine jede Materie abhandeln oder
gar erſchoͤpfen zu koͤnnen glaubte, enthaͤlt ſchon mehrere,
ohne die Fragen Cuius? Cui? mit inzubegreifen. Man
kann demnach ſagen, daß, ſo fern man auf jede dieſer
Fragen mit einem Nennwort antworten kann, die Nenn-
woͤrter eben ſo viele Fallendungen haben koͤnnten. Und
ſo wuͤrde die Fallendung an ſich ſchon die Verhaͤltniſſe
bezeichnen, und eine vollſtaͤndige Redensart wuͤrde aus
Nennwoͤrtern von jeder Fallendung zuſammengeſetzt
werden koͤnnen.


§. 179. So charakteriſtiſch ſind aber die wirklichen
Sprachen nicht, und ſelbſt die Verhaͤltniſſe der Dinge
in Abſicht auf die Zeit, den Ort, die Lage, Urſache, Wir-
kung, Veraͤnderung ꝛc., ſind auch nicht ſo leicht in Claſ-
ſen zu bringen, daß ſich die Anzahl der moͤglichen und
nothwendigen Fallendungen aus Gruͤnden beſtimmen
ließe. Um ſo viel weniger konnte man es von den er-
ſten Urhebern der Sprachen ſordern.


§. 180. Es koͤnnten aber auch dieſe Unterſchiede der
Fallendungen ganz wegbleiben, und die Zweydeutigkeit,
ſo etwan aus ihrer Vermengung entſtehen koͤnnte, durch
die Ordnung der Woͤrter oder durch andere ſehr leichte
Mittel gehoben werden. Dieſe Vermengung koͤmmt
auch in den wirklichen Sprachen zum Theil vor. Jm
Lateiniſchen hat z. E. Menſae viererley Bedeutungen,
Cornu bleibt durch alle ſechs Fallendungen der einzeln
Zahl unveraͤndert. Jm Deutſchen iſt die ſechſte En-
dung oder der Ablatiuus ſo gut als gar nicht vorhanden,
und in der mehrern Zahl unterſcheidet ſich die erſte
G 5Endung
[106]V. Hauptſtuͤck.
Endung von der vierten durchaus nicht. Es iſt dem-
nach weder das Metaphyſiſche noch das Charakteriſti-
ſche in den Fallendungen der Nennwoͤrter genau ge-
troffen, und oͤfters gehen verſchiedene Sprachen bey ei-
nerley Redensarten von einander ab, daß ſie ganz ande-
re Endungen erfordern. Dieſes macht, daß man bey
jeder Sprache beſonders erlernen muß, was ihre Zeit-
woͤrter und Vorwoͤrter fuͤr Endungen erfordern.


§. 181. Judeſſen hat die zweyte Fallendung oder
Genitiuus das beſonders, daß er von einem andern
Hauptwort regiert oder erfordert wird, und dieſe Con-
ſtruction zeigt verſchiedene Arten von Verhaͤltniſſen
an, deren Anzahl und Beſchaffenheit ſich nicht leicht be-
ſtimmen laͤßt. Man ſieht den Unterſchied beſonders
in denen Faͤllen, wo ſich die Conſtruction umkehren
laͤßt. So ſind z. E. das Land des Koͤnigs und
der Koͤnig des Landes, imgleichen die Lehre der
Vollkommenheit
und die Vollkommenheit der
Lehre,
ganz verſchiedene Dinge, ungeacht nichts als
die Ordnung der Conſtruction in den Worten verſchie-
den iſt. Zuweilen, und beſonders im Hebraͤiſchen, wird
das Wort, welches im Genitiuo iſt, ſtatt eines Bey-
worts gebraucht, und auch in andern Sprachen geſchieht
es oͤfters mit einem gewiſſen Nachdruck, z. E. im Phae-
dro
mit Aenderung beyder Woͤrter,


Gulaeque credens colli longitudinem,


an ſtatt collum longum, welches minder nachdruͤcklich
geweſen waͤre. Es iſt aber bey ſolchen Verwechslun-
gen immer etwas Metaphoriſches, und jeder Ausdruck
ſeinem eigentlichen Sinn nach von den uͤbrigen verſchie-
den. Z. E. Man kann ſagen: das Maaß der Laͤn-
ge, das Laͤngenmaaß, die Laͤnge des Maaßes,
das lange Maaß ꝛc.,
aber jeder dieſer Ausdruͤcke hat
etwas ihm eigenes. Ueberhaupt liegt in ſolchen Con-
ſtructionen
[107]Von den Nennwoͤrtern.
ſtructionen etwas Charakteriſtiſches, und die Ordnung
der Woͤrter nebſt der Abaͤnderung der Fallendung, iſt
dabey bedeutend. Da aber jede Sprache hierinn et-
was beſonderes hat, ſo koͤnnen wir die Beſtimmung der
Verhaͤltniſſe und des Metaphyſiſchen, das in ſolchen
Conſtructionen iſt, in Abſicht auf die deutſche Sprache
beſonders, in die ſchon oͤfters erwaͤhnte Theorie derſel-
ben verweiſen. Denn da dieſe Sprache ſehr viel Re-
gelmaͤßiges hat, und dermalen im Schwunge iſt, zur
gelehrten Sprache zu werden, ſo lohnt es ſich allerdings
der Muͤhe, alles anzuzeigen, was ſie noch regelmaͤßiger
und charakteriſtiſcher machen kann. Das Ziel, wel-
ches man zwar ſchwerlich ganz erreichen wird, dem man
aber dennoch noch naͤher kommen kann, iſt die oben
ſchon angegebene Grundregel fuͤr wiſſenſchaftliche Zei-
chen; daß naͤmlich ihre Theorie ſtatt der Theo-
rie der Sache ſolle dienen koͤnnen
(§. 23.). Und
dieſes fordert, daß man mehr auf das Metaphyſiſche
als auf das Grammatiſche der Sprachen ſehen muß,
wenn ihre Theorie dieſe Abſicht erreichen, oder die Spra-
che zu derſelben dienlich machen ſolle.


§. 182. Was ferner die Sprachen in Abficht auf
die Nennwoͤrter beſonders haben, ſind die Geſchlech-
ter,
Genera, in welche die Hauptwoͤrter eingetheilt
werden. Jn den meiſten Sprachen ſind deren drey,
und man nennt ſie das maͤnnliche, weibliche und
unbeſtimmte Geſchlecht, (genus maſculinum, femi-
ninum, neutrum
). Dieſe Benennungen ruͤhren aber
von den Sprachlehrern her. Denn man kann nicht
ſagen, ob die erſten Urheber der Sprachen an ſolche
Unterſchiede gedacht, oder ſie ſich zur Regel vorgeſetzt
haben, weil bald jede Sprache beſondere Anomalien hat,
die mit vieler Muͤhe erlernt werden.


§. 183. Die Hauptwoͤrter ſelbſt, auf die es doch ei-
gentlich angeſehen iſt, haben auch nicht ſo viel Charakte-
riſtiſches,
[108]V. Hauptſtuͤck.
riſtiſches, daß der Unterſchied des Geſchlechts dem Wort
angemerkt werden koͤnnte, und die Sprachlehrer gebrau-
chen nicht nur die Endungen dieſer Woͤrter, ſondern auch
ihre Bedeutung, um die Regeln von dem Geſchlechte
der Hauptworter, ſo gut es ſich thun laͤßt, zu beſtim-
men. Hingegen zeigt ſich dieſer Unterſchied an den
Beywoͤrtern und den Artikeln oder eigentlich ſo ge-
nannten Geſchlechtswoͤrtern, welche mehrentheils
dreyfach ſind, und nach dem Geſchlechte des Haupt-
worts gewaͤhlt werden muͤſſen. Alles dieſes iſt ſehr
willkuͤhrlich. Denn waͤre der Unterſchied der Geſchlech-
ter etwas nothwendiges fuͤr die Sprache, ſo forderte die
Charakteriſtik, daß man es den Hauptwoͤrtern ſelbſt an-
ſehen muͤßte, es ſeye, daß die Endungen oder andere
Sylben dazu gewidmet waͤren, und in ſo ferne waͤre es
uͤberfluͤßig, die Artikel und Beywoͤrter dazu zu gebrau-
chen, um ſo mehr, da oͤfters die Hauptwoͤrter ganz allein
vorkommen.


§. 184. Es iſt nicht zu zweifeln, daß man, ſtatt des
in den Sprachen wirklich vorkommenden Unterſchieds
der Geſchlechter, ungleich ſchicklichere haͤtte waͤhlen koͤn-
nen. Die Dinge, ſo man durch Hauptwoͤrter benennt,
laſſen ſich unſtreitig in unzaͤhlig viele Claſſen und Gat-
tungen eintheilen, welche in ihren Namen durch Buch-
ſtaben, Sylben, Endungen, ꝛc. koͤnnten angezeigt wer-
den, ſo wie im Deutſchen die Abſtracta dadurch noch
ziemlicher maßen kenntlich gemacht werden (§. 138.).
Bey den Namen der Arten von Thieren, Pflanzen, ꝛc.
wuͤrde z. E. ein einiger Buchſtab zureichen, um kenntlich
zu machen, zu welchem Theile des Naturreiches jedes
Hauptwort gehoͤre. Ein anderer Buchſtab wuͤrde et-
wan die Hauptclaſſe anzeigen, und in Abſicht auf die
Thiere, z. E. die kriechenden, vierfuͤßigen, Voͤgel, Fi-
ſche ꝛc. unterſcheiden. Allein damit wuͤrde die Sprache
bedeutender, als daß man ſie einem ganzen Volke uͤber-
laſſen
[109]Von den Nennwoͤrtern.
laſſen koͤnnte, weil der Gebrauch zu reden, die Unwiſſen-
heit in den Regeln und noch mehr andere Urſachen,
bald wiederum Anomalien einfuͤhren wuͤrde.


§. 185. Wir haben ungefaͤhr eben das von den De-
clinationen oder Abaͤnderungen der Nennwoͤrter an-
zumerken. Jhre Anzahl iſt in verſchiedenen Sprachen
verſchieden, und ein Hauptwort laͤßt ſich nicht durch alle
durchfuͤhren, ſo daß es in jeder eine beſondere Beſtim-
mung in der Bedeutung erhielte, und auch die Woͤrter
von einerley Abaͤnderung gehoͤren nicht unter einerley
Claſſe oder Gattung der Dinge. Jndeſſen ſordert die
Charakteriſtik, daß eines oder das andere ſtatt haben
muͤßte, wenn die Sprache wiſſenſchaftlich ſeyn ſollte.
Nun fehlt es zwar in den Sprachen an Mitteln nicht,
aus einem Nennworte andere zu bilden, indem man
die Endung abwechſelt, und dadurch in der That auch
das Nennwort in andere Declinationen bringt. Die-
ſes iſt aber nicht allgemein, und das Metaphyſiſche liegt
nicht ſo faſt in dem Unterſchiede der Declinationen, als
in den Endungen oder Ableitungstheilchen. So laufen
z. E. im Lateiniſchen die Woͤrter: Deſpicientia, ſpe-
ctrum, ſpectaculum, ſpectator, inſpector, ſpecimen,
deſpicatio, deſpectio, exſpectatio, ſuſpicio, perſpi-
cuitas, adſpectus, conſpectus, deſpicatus, proſpectus,
reſpectus, ſpecies,
nebſt noch mehrern Beywoͤrtern, die
alle von dem veralteten ſpecio herkommen, durch alle
fuͤnf Declinationen. Es macht aber nicht die Declina-
tion, ſondern die Ableitungstheilchen, und theils auch
der Sprachgebrauch, daß jedes dieſer Woͤrter eine be-
ſondere Bedeutung erhaͤlt. Die Sprachen bleiben dem-
nach hierinn zuruͤcke.


§. 186. Was man bey den Zeitwoͤrtern in Abſicht
auf die Zeit gethan hat, das iſt in den Sprachen bey
den Beywoͤrtern in Abſicht auf die Grade geſchehen.
Und dieſes hat allerdings etwas Metaphyſiſches. Denn
die
[110]V. Hauptſtuͤck.
die Eigenſchaften, zu deren Anzeige die Beywoͤrter ge-
wiedmet ſind, koͤnnen dem Grade nach verſchieden ſeyn.
Nun hat man es darinn eben nicht nach mathemati-
ſcher Schaͤrfe genommen, und man konnte es von den
Urhebern der Sprachen um deſto weniger fordern, weil
die Matheſis intenſorum noch dermalen weit zuruͤcke
bleibt. Jndeſſen iſt die Sache dennoch ſo ausgefallen,
daß ſie ſich noch ziemlich rechtfertigen laͤßt.


§. 187. Denn in dem Poſitiuo wird die Eigenſchaft
gleichſam ohne Beſtimmung des Grads angezeigt, z. E.
ſchoͤn, vollkommen, weiß, hell, ꝛc. und wenn man
etwas Vorzuͤglicheres oder Geringeres anzeigen will, ſo
geſchieht dieſes durch beſondere Zuwoͤrter oder Aduer-
bia,
z. E. gar ſchoͤn, ſehr vollkommen, ungemein
hell, ꝛc. ziemlich, maͤßig, wenig, ſchoͤn ꝛc. oder
man vergleicht es mit aͤhnlichen und bekannten Dingen,
z. E. ſo ſchoͤn als, ſo groß wie, eben ſo kraͤf-
tig als,
ꝛc.


§. 188. Findet man keine genau paſſende Verglei-
chung, ſo gebraucht man den Comparatiuum ſowohl
bejahend als verneinend, z. E. weißer als Schnee,
viel heller als der Tag ꝛc. nicht ſo groß als ein
Haus, lange nicht ſo tief als das Meer,
ꝛc.


§. 189. Endlich bemerkt man die aͤußerſten Grade
durch den Superlatiuum, mit Anzeige der verglichenen
Dinge. Z. E. der groͤßte Monarch, der Gelehr-
teſte unter den Griechen, der Beredteſte unter
den Roͤmern,
ꝛc.


§. 190. Da man bey ſehr vielen Eigenſchaften
Grade von mehrern Dimenſionen findet, z. E. die
Groͤße von der Staͤrke unterſcheidet, ſo hat man bey
dem Comparatiuo und Superlatiuo mehrentheils die
Gradus intenſitatis mitgenommen, und die Groͤße, Aus-
dehnung, ꝛc. durch beſondere Beywoͤrter angezeigt. So
z. E. ſagt man ein groͤßeres und ein helleres Licht,
und
[111]Von den Nennwoͤrtern.
und in ſo fern dieſe beyde Ausdruͤcke einander entgegen-
geſetzt ſind, wird durch den erſten die ſcheinbare oder
auch die wahre Groͤße des leuchtenden Koͤrpers, durch
den andern aber die Staͤrke ſeiner Klarheit verſtanden.
So ſcheinen Sonn und Mond gleich große Lichter, aber
nicht gleich helle. Wo aber die verſchiedenen Dimenſio-
nen nicht ſo gut bekannt ſind, da werden ſie auch in der
Sprache gemeiniglich vermengt. Und ſo giebt es auch
Dinge, die keine Vergleichung zulaſſen, wie z. E. eine
Wahrheit iſt nicht mehr wahr als eine andere, eine
exiſtirende Sache iſt nicht exiſtirender als eine andere.
(§. 12. Alethiol.) So ſcheinen aus gleichem Grunde
im Lateiniſchen die Beywoͤrter aqueus, vitreus, chry-
ſtallinus, ligneus,
ꝛc. ihrer Bedeutung und der Na-
tur der Sache nach keinen Comparatiuum zuzulaſſen,
weil ſie keine Gradus intenſitatis haben. Und es iſt
ſehr natuͤrlich, daß Comparatiui und Superlatiui, die
in der Sache ſelbſt nicht vorkommen, an ſich ſchon aus
der Sprache wegbleiben. Hingegen koͤnnen auch ohne
Grund einige wegbleiben, die die Sache ſelbſt ſehr wohl
leiden wuͤrde, und auch hierinn hat die lateiniſche Spra-
che eine gute Menge von Anomalien.


§. 191. Man ſieht aus dieſen Betrachtungen, daß
in den wirklichen Sprachen die Mittel, wodurch die
Grade der Eigenſchaften der Dinge angezeigt werden,
noch ziemlich gut getroffen, und ſo weit es die gemeine
Erkenntniß
fordert, brauchbar ſind. Oefters begnuͤgt
man ſich mit dem mehr oder minder, ohne eben zu
beſtimmen, um wie viel? Bey genauern Verglei-
chungen koͤmmt es auf die ſchickliche Auswahl der Din-
ge an, von welchen das Bekanntere in Abſicht auf ge-
wiſſe Eigenſchaften zum Maaßſtabe des Unbekanntern
dienen ſolle. Ueberdieß ſind die angefuͤhrten Verglei-
chungsarten nur noch die kuͤrzern. Und die Sprachen
haben Mittel genug, da, wo man es noͤthig findet, die
Verglei-
[112]V. Hauptſtuͤck.
Vergleichung umſtaͤndlicher anzuſtellen. Und wo ſie
nach aller Schaͤrfe genommen werden ſolle, da dienen
Zahlen und mathematiſche Verhaͤltniſſe. Die Verglei-
chung wird wiſſenſchaftlich, und entlehnt ihre Gruͤnde
aus der Matheſi intenſorum, welche Wiſſenſchaft aber
noch dermalen merklich zuruͤcke bleibt.


§. 192. Außer den drey vorhin betrachteten Ver-
gleichungsſtuffen haben die Sprachen noch ein anderes
und ſehr allgemeines Mittel, unbekanntere oder auch
gar nicht in die Sinne fallende Dinge durch bekanntere
vorſtellig zu machen, und das ſind die Metaphern,
welche vornehmlich bey Zeitwoͤrtern und Hauptwoͤrtern
gebraucht werden. Auf dieſe Art druͤcken wir alles,
was zur Jntellectualwelt gehoͤrt, durch Woͤrter aus, die
nach ihrem buchſtaͤblichen Verſtande ſinnliche Dinge
vorſtellen, und es iſt auch nicht wohl moͤglich, die ab-
ſtracten Begriffe anders als auf dieſe Art bey andern zu
erwecken. Die Aehnlichkeit des Eindruckes der aͤußer-
lichen und innern Empfindungen, die wir bereits in der
Alethiologie (§. 46. ſeqq.) betrachtet haben, iſt der
Grund zu dieſer Vergleichung. Da es hiebey nicht ſo
faſt darauf ankoͤmmt, daß wir unſere Gedanken und
Empfindungen fuͤr uns ſelbſt an Worte binden, ſondern
daß wir Worte ſuchen muͤſſen, ſie auch bey andern zu
erwecken, ſo koͤmmt es bey ganz neuen Empfindungen
und abſtracten Begriffen, auf Proben an, ob wir Me-
taphern finden koͤnnen, ſie auch andern vorſtellig zu ma-
chen. Geht es an, und iſt die figuͤrliche Vorſtellung
zur Erweckung dieſer Begriffe faͤhig, ſo iſt auch die
Metapher tuͤchtig, in die Sprache aufgenommen zu
werden. Auf dieſe Art und durch ſolche Proben, haben
die wirklichen Sprachen laͤngſt ſchon den hiezu dienen-
den Schwung genommen, und ihre Bereicherung wird
augenſcheinlicher und merklicher, wenn eine Sprache
anfaͤngt
[113]Von den Nennwoͤrtern.
anfaͤngt zur gelehrten Sprache zu werden, und claſſiſche
Schriftſteller ſich darinn anfangen hervor zu thun.


§. 193. Da es hiebey viel auf die Anlaͤße ankoͤmmt,
ſo iſt auch leicht zu begreifen, daß jede Sprache hierinn
einen ihr eigenen Schwung nimmt, und theils ganz an-
dere Metaphern, theils auch bey einerley Metaphern
einen verſchiedenen Umfang annimmt. So hat z. E.
das franzoͤſiſche Wort genie einen ungleich groͤßern Um-
fang als das lateiniſche ingenium, von welchem es her-
koͤmmt. Und uͤberhaupt muß eine Sprache, die aͤrmer
an Worten iſt, nothwendig mehr Metaphern haben,
wenn ſie alles, was eine reichere Sprache ausdruͤckt,
ebenfalls ausdruͤcken will.


§. 194. Wir finden ferner hierinn den Grund, wie
es gar leicht moͤglich iſt, daß Schriftſteller, theils in ei-
nerley, theils auch in verſchiedenen Sprachen, in den
Worten ungemein verſchieden, und einander ganz un-
verſtaͤndlich werden koͤnnen. Denn dieß geſchieht im-
mer, ſo oft ſie einerley Woͤrtern und Metaphern un-
gleiche Bedeutungen und ungleichen Umfang geben.
Denn eine Metapher paßt eigentlich niemals durchaus
und in allen Theilen auf die verglichene Sache, und
oͤfters laͤßt ſie ſich zur Vorſtellung ganz verſchiedener
Begriffe gebrauchen, je nachdem man andere Verglei-
chungsſtuͤcke (Tertium comparationis) waͤhlt. Auf
gleiche Art laſſen ſich fuͤr einerley Begriffe ganz verſchie-
gene Metaphern gebrauchen. Man hat z. E. die New-
toniſche Fluxionalrechnung und die Leibnitziſche Diffe-
rentialrechnung, zumal da die Erfinder auch in der
Zeichnung von einander abgiengen, anfangs fuͤr ganz
verſchiedene Dinge angeſehen. Euclid im Xten Buche,
die Cloſſiſten und die heutigen Analyſten ſind gleichfalls
in den Worten bald durchaus verſchieden. Noch un-
verſtaͤndlicher aber wird man, wenn man fuͤr ſich, und
ohne die vorhin erwaͤhnte Probe anzuſtellen, ganze
Lamb. Organon II B. HSyſte-
[114]V. Hauptſtuͤck.
Syſtemen von neuen Metaphern errichtet, und eine von
der andern herleitet, dergleichen z. E. in einigen myſti-
ſchen Schriften vorkommen, die man ungeleſen liegen
laͤßt, weil man das ganze Syſtem der Sprache und Ge-
danken in eine ganz neue Form bringen muͤßte, und
nicht vorausſieht, ob es ſich allenfalls der Muͤhe lohnen
wuͤrde. Bey einem Syſtem von abſtracten Begriffen
iſt es uͤberhaupt ſehr leicht, in einen Wortkram zu
verfallen, der entweder in der That leer iſt, oder wenig-
ſtens andern als leer vorkommen kann. Denn da ſind
die Worte nicht unmittelbare Zeichen der Dinge, wie
ſie es in der Geometrie und Phyſik ſind, ſondern ſie
ſind nur Zeichen der Begriffe, die man nicht anders als
in Indiuiduis, und zwar mit unzaͤhligen Jndividualbe-
ſtimmungen vermengt, aufweiſen kann. Man wird in
dem erſten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie und in dem
dritten Hauptſtuͤcke der Alethiologie hieher dienende
Betrachtungen finden.


§. 195. Uebrigens iſt klar, daß wir hier nicht von
Metaphern reden, wie ſie etwan die Dichter gebrau-
chen, um ihren Vorſtellungen mehr Leben und Nach-
druck zu geben, ſondern von ſolchen, die man in Er-
manglung eigener Namen gebrauchen muß, um ab-
ſtracte und nicht in die Sinne fallende Begriffe vorſtel-
lig zu machen, und wo man folglich wiſſenſchaftliche
Begriffe damit zu benennen hat. Die Metaphyſik, die
Moral, die Vernunftlehre ſind mit ſolchen Begriffen
angefuͤllt, und ſordern allerdings ſorgfaͤltigere Definitio-
nen, wodurch der Umfang ſolcher Begriffe genauer be-
zeichnet wird, als es durch die bloße Etymologie der
Namen wuͤrde geſchehen koͤnnen. Da in dieſem Um-
fange oͤfters viel Willkuͤhrliches zuruͤckbleibt, ſo geſchieht
es auch, daß, wenn man ſich einmal an ein gewiſſes
Syſtem gewoͤhnt hat, man ſich nicht ſo leicht an ein
anderes, auch wenn es beſſer waͤre, gewoͤhnen kann.
Daher
[115]Von den Nennwoͤrtern.
Daher entſtehen ſehr natuͤrlich die heftigern Streitig-
keiten fuͤr und wider eine neu aufkommende Secte in
der Weltweisheit und Theologie, und großentheils auch
die Abwechslungen in den Syſtemen dieſer Wiſſenſchaf-
ten, und die Verdunklung der klarſten Saͤtze, wenn
man ſie in einen Kram von Worten willkuͤhrlichen Um-
fanges und Bedeutung verwickelt.


§. 196. Wir haben bereits oben (§. 123.) ange-
merkt, daß die erſten Urheber der Sprachen, in Benen-
nung der Dinge bey Ganzen anfiengen, und nicht wohl
anders verfahren konnten. Die Dinge der Natur ſo-
wohl am Himmel als auf der Erdflaͤche haben entwe-
der fuͤr ſich oder in ihrer Art etwas Fortdaurendes und
nach den Geſetzen des Beharrungsſtandes Eingerichte-
tes. Und da hiebey die Worte nicht ſo faſt mit den
Begriffen, als mit den Sachen ſelbſt verbunden wur-
den, die jedesmal wiederum vorgelegt oder empfunden
werden konnten, ſo war auch der Umfang in der Bedeu-
tung ihrer Namen ein fuͤr allemal bezeichnet. Man-
weiß, daß die Sache im Ganzen exiſtirt, und daß folg-
lich ihr Name ein wirkliches Ding, und daher auch den
Begriff eines wirklichen Dinges vorſtellt. Auf dieſe
Art haben Sonne, Mond, Sterne, Wolken, Regen,
Schnee, Berge, Thaͤler, Fluͤſſe, die Arten der Thiere,
Pflanzen, Metallen, die Gliedmaßen der Thiere, die
Theile der Pflanzen, Werkzeuge, Hausrath ꝛc. ihre be-
ſtandigen Namen bekommen, welche gleichſam der
Maaßſtab von der allmaͤhligen Abaͤnderung der Spra-
chen ſind.


§. 197. Bey ſolchen Namen iſt es an ſich betrach-
tet gleichviel, ob es Wurzelwoͤrter oder abgeleitete Woͤr-
ter ſind. Denn da die Sache ſelbſt immer vor Augen
gelegt werden kann, ſo laͤßt ſich auch der Begriff des
Wortes unmittelbar mit der Sache verbinden, und bey
ſehr zuſammengeſetzten Ganzen, dergleichen die Thiere
H 2und
[116]V. Hauptſtuͤck.
und Pflanzen ſind, wuͤrde ein abgeleiteter Name hoͤch-
ſtens nur einige etwan mehr in die Sinne fallende
Merkmale angeben. Man muß immer zur Anatomie,
zu chymiſchen und andern Verſuchen ſchreiten, wenn
man alles, was ſolche Ganze enthalten, entdecken will.
(§. 123.).


§. 198. Wenn aber eine Sprache ſchon ihren
Schwung genommen, und mit Woͤrtern verſehen iſt, ſo
kommen darinn ſelten neue Wurzelwoͤrter auf, und es
iſt an ſich natuͤrlicher, daß man neue und noch unbe-
nennte Sachen durch abgeleitete, zuſammengeſetzte oder
auch metaphoriſche Woͤrter benenne. Was in dieſer
Abſicht fuͤr die Dinge, die von fremden Laͤndern herkom-
men, wirklich geſchieht, iſt, daß man mit der Sache zu-
gleich auch den Namen in die Sprache einſuͤhrt, den ſie
in ihrem Stammorte hat.


§. 199. Jn Anſehung der Beywoͤrter giebt es in
jeden Sprachen ebenfalls eine gute Menge, die ein fuͤr
allemal ihre beſtimmte Bedeutung haben. Dahin ge-
hoͤren diejenigen, welche einfache Begriffe und Verhaͤlt-
niſſe vorſtellen, und unmittelbare Gegenſtaͤnde der
Sinnen ſind; die Namen der Farben, roth, gelb, weiß ꝛc.
der Zahlen und Figuren ꝛc. und ſehr viele, die von den
Namen der Subſtanzen hergeleitet werden, z. E. hoͤl-
zern, eiſern, waͤſſericht, ꝛc. Jndeſſen ſind bey vielen von
ſolchen Beywoͤrtern die Grenzen des Umfanges ihrer
Bedeutung ſchwerer zu beſtimmen, wo ſie nur dem
Grade nach von einander verſchieden ſind: So giebt es
zwiſchen roth, gelb, gruͤn, blau, ſchwarz ꝛc. Mittel-
ſtuffen, wo ſich die eine dieſer an ſich ſehr kenntlichen
Farben in die andere verliert. Man ſieht leicht, daß es
hiebey um die eigentlichen Mittelſtuffen zu thun iſt,
und daß die uͤbrigen durch Verhaͤltniſſe beſtimmt wer-
den muͤſſen, und eine Ausmeſſung fordern, wenn ſie
nach aller Schaͤrfe beſtimmt werden ſollen.


§. 200.
[117]Von den Nennwoͤrtern.

§. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey-
woͤrter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, ſon-
dern mehrere zuſammengenommen vorſtellen, ohne daß
dieſe ein unumgaͤngliches Ganzes ausmachen, ſondern
ſowohl in der Anzahl als in den Graden ſolche Abwechs-
lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zuſam-
menhang der Rede beſtimmen muß, welchen Umfang
ſie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile
der Sache ſie ſich erſtrecken. So iſt an einer guͤlde-
nen
Uhr oͤfters nur das Gehaͤuſe von Gold, oder auch
nur verguͤldet. Die meiſten moraliſchen Eigenſchaften
ſind von eben ſo unbeſtimmtem Umfange. Man un-
terſuche, in wie vielerley Abſichten eine Sache gut ge-
nennt, oder was zum gelehrt ſeyn erfordert werde. Jn
allen ſolchen Faͤllen, und wo es auf die Genauigkeit
ankoͤmmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan-
gen, ſondern man verfaͤhrt beſſer, wenn man die einzel-
nen Eigenſchaften jede fuͤr ſich betrachtet, und ſie ſo zu-
ſammennimmt, daß man zeigen kann, es komme ein
Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be-
trachtet zu werden verdiene.
Dadurch wird das
Willkuͤhrliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigſtens
ſo vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den
Begriff und ſeinen Umfang gelten zu laſſen. Denn ſo
wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach
dem Begriffe gerichtet, und folglich dieſe drey Stuͤcke in
die erforderliche Uebereinſtimmung gebracht.


§. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. ſeqq.) An-
laß gehabt, diejenigen Hauptwoͤrter zu betrachten, wel-
che nicht Subſtanzen, ſondern Abſtracta vorſtellen, und
dabey angemerkt, daß dieſe Woͤrter eine ganz beſondere
Claſſe ausmachen, daß ſie in einer gelehrten Sprache
zahlreicher ſeyn muͤſſen, und daß ſie ſich auf eine noch
ziemlich charakteriſtiſche Art durch beſondere Endungen
unterſcheiden. Jn der That ſtellen auch z. E. im Deut-
H 3ſchen
[118]V. Hauptſtuͤck.
ſchen die Endungen: heit, keit, niß, ſal, ſchaft,
thum, ung,
ꝛc. abſtracte metaphyſiſche Begriffe und
Verhaͤltniſſe vor, wodurch der Begriff des abgeleiteten
Hauptwortes durch den Begriff desjenigen Wortes be-
ſtimmt wird, von welchem es abſtammt, wiewohl es
unter den bereits eingefuͤhrten Hauptwoͤrtern von dieſer
Art, auch ſolche giebt, wo der Gebrauch zu reden Ano-
mallen verurſacht hat.


§. 202. Es iſt ſchwer zu eroͤrtern, woher dieſe
Claſſe von Hauptwoͤrtern in die Sprachen gekommen
iſt, zumal da die Sprachen dadurch einen Schwung be-
kommen, der ſie vom Sinnlichen zu dem Abſtracten,
Allgemeinen und Metaphyſiſchen erhoͤht hat. Allem
Anſehen nach hatte man angefangen, Handlungen und
Eindruͤcke als Subſtanzen anzuſehen, und ihnen ſo wie
den Subſtanzen Namen zu geben. Allein der erſte
Schritt darinn ſcheint immer ſchwer geweſen zu ſeyn, ſo
leicht er uns dermalen vorkommen mag, da wir ſolche
Woͤrter in Menge haben, und an ihre Begriffe von
Jugend auf unvermerkt gewoͤhnt werden. Man iſt
gleichſam genoͤthigt, ſie durch Woͤrter von gleicher Claſſe
zu definiren, und man kann auch nicht wohl anders, als
vermittelſt eben ſolcher Woͤrter, davon reden. Dieſes
mußte aber dem erſten Erfinder nothwendig die
Schwierigkeit vermehren, das Eis zu brechen, und zu
dieſer ihm ganz neuen Welt von Begriffen zu gelangen.
Und man koͤnnte ſo gar daher Anlaß nehmen zu ver-
muthen, es moͤchten noch dermalen ganze Claſſen von
Woͤrtern zuruͤcke bleiben, die unter ſich ein beſonderes
Syſtem von Begriffen und Vorſtellungsarten ausma-
chen wuͤrden, zu welchem der Uebergang von unſern
dermaligen Woͤrtern noch im Dunkeln verborgen liegt.
Dem ſey aber, wie ihm wolle, ſo haben die bereits
vorhandenen abſtracten Hauptwoͤrter in den Sprachen
am meiſten Charakteriſtiſches. Es liegt bey den mei-
ſten,
[119]Von den Nennwoͤrtern.
ſten, wo nicht bey allen, immer ein anderer Begriff zum
Grunde, von dem ſie abgeleitet werden, und die Ablei-
tungstheilchen ſtellen metaphyſiſche Begriffe und Ver-
haͤltniſſe vor.


§. 203. Die Umſtaͤnde des Ortes ſind ſowohl bey
den Zeitwoͤrtern als bey den Nennwoͤrtern in den wirk-
lichen Sprachen gewiſſermaßen vergeſſen, oder wenig-
ſtens nicht ſo mitgenommen worden, wie es in Anſe-
hung der Zeit, der Grade und anderer Verhaͤltniſſe
geſchehen. Jndeſſen gehen doch Zeit und Ort mit
einander ſo zu paaren, daß ſie ſo gut als unzertrennlich
ſind. Es iſt daher kaum zu zweifeln, daß Gruͤnde da
ſeyn muͤſſen, warum die Beſtimmung des Ortes bey
den Zeitwoͤrtern ungleich weiter zuruͤcke geblieben, als
die Beſtimmung der Zeit. Denn bey den Nennwoͤr-
tern ſcheinen beyde wegbleiben zu koͤnnen, weil man ſo-
wohl die Dinge als ihre Eigenſchaften, als fortdaurend,
und nicht als an Zeit und Ort gebunden, ſich vorſtellt,
und folglich in den Sprachen gleichſam nur das Weſent-
liche davon benennt.


§. 204. Die Beſtimmungen der Zeit waren an
ſich einfacher, weil die Zeit nur eine Dimenſion hat,
und das Gegenwaͤrtige der Zeit nach, etwas abſo-
lutes iſt. Hingegen hat der Ort oder die Beſtimmung
deſſelben nothwendig drey Dimenſionen, wenn man
ihn dem Raum nach nimmt. Und die vielerley Ge-
genden
machen, daß man dabey nicht wohl mehr als
den Unterſchied des Gegenwaͤrtigen und Abweſen-
den
mitnehmen koͤnnte, wenn man die Beſtimmung
des Orts, ſo wie die von der Zeit, den Zeitwoͤrtern
ſelbſt haͤtte anhaͤngig machen wollen, und dieſer Unter-
ſchied muͤßte ſich vornehmlich auf den Redenden be-
ziehen. Denn da die ſogenannte Actio in diſtans
ſchlechthin gelaͤugnet wird, ſo iſt die Handlung immer
H 4an
[120]V. Hauptſtuͤck. Von den Nennwoͤrtern.
an gleichem Orte mit dem, der ſie thut, und die Wir-
kung da, wo die Urſache iſt.


§. 205. Was man in den Sprachen hiebey gethan
hat, iſt, daß man die Umſtaͤnde des Ortes nicht durch
die Endungen der Zeitwoͤrter, ſondern durch Ab-
leitungstheilchen
anzeigt, die denſelben koͤnnen vor-
geſetzt werden, dergleichen im Deutſchen die meiſten
von denen ſind, die wir oben (§. 159.) angezeigt haben.
Die naͤhern Beſtimmungen, ſowohl des Orts als der
Zeit, und anderer Modificationen, hat man durch Zu-
woͤrter (Adverbia) anzuzeigen geſucht. Endlich koͤmmt
auch die Beſtimmung des Ortes eigentlich nur den
Dingen der Koͤrperwelt zu, und wird figuͤrlich, wenn
ſie auf die Jntellectualwelt angewandt werden ſolle.
Hingegen ſind auch Dinge der Jntellectualwelt einer
Zeitfolge oder Succeſſion faͤhig, und wir haben dieſen
Begriff am unmittelbarſten in dem Aufeinanderfolgen
unſerer Gedanken. Jn dieſer Abſicht erſtreckt ſich
demnach die Beſtimmung der Zeit weiter als die Be-
ſtimmung des Ortes, ungeacht, wenn man letztere
figuͤrlich nimmt, ſie ſich allerdings eben ſo weit erſtre-
cken kann.



Sechſtes
[121]

Sechſtes Hauptſtuͤck.
Von
den unveraͤnderlichen Redetheilen.


§. 206.


Die bisher betrachteten zwo Hauptclaſſen der
Sprachtheile begreifen uͤberhaupt diejenigen
Woͤrter, deren Endungen nach gewiſſen allgemeinen
Formeln abgeaͤndert werden, und nach dieſen Abaͤnde-
rungen beſtimmtere Verhaͤltniſſe, Modificationen und
Umſtaͤnde vorſtellen. Die Nennwoͤrter beſonders
bezeichnen Dinge und ihre Eigenſchaften, und ſtel-
len dieſe gleichſam ihrem Weſen nach und als fortdau-
rend vor. Das Beharren und die Veraͤnderun-
gen
ſind hingegen auf die Zeitwoͤrter geſchoben wor-
den, weil ſich allerdings dabey ein Thun und Leiden
gedenken laͤßt. Wir haben dieſe zwo Hauptclaſſen der-
geſtalt betrachtet, daß wir anmerkten, welche Beſtim-
mungen in den wirklichen Sprachen in den Endungen
und verſchiedenen Ableitungstheilchen ſind vorſtellig ge-
macht worden, und wie man eine gute Menge derſelben
durch beſonders dazu gewiedmete Woͤrter anzudeuten
noͤthig hat, wenn man jede Umſtaͤnde genauer beſtimmt
ausdruͤcken will.


§. 207. Es iſt daher in den wirklichen Sprachen
noch eine dritte Claſſe von Woͤrtern eingefuͤhrt worden,
die man, weil man ſie nicht abaͤndert, die unveraͤn-
derlichen Redetheile,
und uͤberhaupt die Parti-
culn
nennt. Dieſe Eigenſchaft, daß ſie nicht abgeaͤn-
dert werden, macht ſie uͤberhaupt und in jeden Spra-
chen leicht kenntlich. Es haben ſich auch die Sprach-
H 5lehrer
[122]VI. Hauptſtuͤck.
lehrer Muͤhe gegeben, ſie alle aufzuſuchen, und ſie in
Gattungen und Arten zu theilen, und dabey theils auf
ihre Bedeutung und metaphyſiſchen Unterſchied, theils
auch auf den bloß grammatiſchen Unterſchied zu ſehen.
Nach dieſer Eintheilung kamen vier allgemeine Claſſen
oder Gattungen heraus, naͤmlich die Aduerbia, Prae-
poſitiones, Coniunctiones
und Interiectiones, oder
die Zuwoͤrter, Vorwoͤrter, Bindwoͤrter und Zwiſchen-
woͤrter. Man ſahe naͤmlich daß einige, naͤmlich die
Zuwoͤrter, zu naͤherer Beſtimmung der Zeitwoͤrter; an-
dere, naͤmlich die Vorwoͤrter, zur Beſtimmung und naͤ-
herer Modification der Nennwoͤrter; noch andere aber,
naͤmlich die Bindwoͤrter, zum Zuſammenhang und Ver-
bindung der Rede; und endlich noch andere, naͤmlich
die Zwiſchenwoͤrter, zur Anzeige des Affects des Re-
denden dienten. Und ſo ward die Abtheilung getrof-
fen, nachdem die Sprachen ſchon da waren, und als ein
Datum angeſehen werden konnten.


§. 208. Da wir uns aber hier an den Unterſchied
der wirklichen und moͤglichen Sprachen nicht binden,
ſondern uͤberhaupt das Willkuͤhrliche, Natuͤrliche und
Nothwendige in den Sprachen aufſuchen, ſo werden
wir auch dieſe unveraͤnderlichen Redetheilchen nach all-
gemeinern Gruͤnden betrachten, und das Metaphyſiſche
von dem Grammatiſchen zu unterſcheiden ſuchen.


§. 209. Wir fangen bey den Praͤpoſitionen an,
und bemerken, daß man dieſe in den wirklichen Spra-
chen allerdings beſonders nehmen, und von den Zuwoͤr-
tern unterſcheiden mußte, nicht nur, weil ſie etwan den
Nennwoͤrtern vorgeſetzt werden, ſondern, weil ſie ge-
wiſſe
Caſusoder Fallendungen regieren. Die-
ſes macht, daß ſie wegen der Syntax oder Regeln der
Wortſuͤgung muͤſſen bemerkt werden. Und man kann
ſagen, daß etwas Charakteriſtiſches dabey ſeyn wuͤrde,
wenn die Fallendungen der Nennwoͤrter fuͤr ſich ſchon
eine
[123]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
eine Bedeutung haͤtten, aus welcher ſich nebſt der Be-
deutung eines jeden Vorworts, diejenige Fallendung
ein fuͤr allemal beſtimmen ließe, die es erfordert. Ei-
ne Vollkommenheit, die die Sprachen noch in meh-
rern Stuͤcken haben ſollten, um wiſſenſchaftlich zu ſeyn.
(§. 157.)


§. 210. So ordentlich ſind aber die wirklichen Spra-
chen nicht, und ſie zeigen hierinn mehr als eine Abwei-
chung von dieſer Vollkommenheit. Jhre Luͤcken in Ab-
ſicht auf die Bedeutung und Anzahl der Fallendungen,
haben wir ſchon oben (§. 178. ſeqq.) angezeigt, ohne
noch auf ihre Verhaͤltniß zu den Vorwoͤrtern oder
Praͤpoſitionen zu ſehen. Dieſe Verhaͤltniß aber hat in
den wirklichen Sprachen wenig oder gar nichts Meta-
phyſiſches. Denn wenn wir ſie unter einander verglei-
chen, ſo findet ſich, daß einerley Vorwoͤrter in verſchie-
denen Sprachen verſchiedene Fallendungen fordern,
und daß in einigen Sprachen Vorwoͤrter wegbleiben,
die man in den andern mitnimmt. So z. E. haben
die Lateiner nur Vorwoͤrter fuͤr die vierte und ſechſte
Fallendung, daferne man nicht einige Jnterjectionen,
als: O Meliboee! Hei mihi! Vae miſero! und ei-
nige Nennwoͤrter, als: vi dicti, ꝛc. oder auch einige
Aduerbia, als: ubi gentium, ꝛc. darunter rechnen will.
Jm Deutſchen geben wir propter ea, durch deswe-
gen;
cis, ultra montem, durch dießeits, jenſeits
des Berges;
ante me, durch vor mit ꝛc. verbo,
durch mit einem Wort;forma excellens, durch
von anſehnlicher Geſtalt ꝛc. Alles dieſes macht,
daß man in jeder Sprache beſonders erlernen muß, wo
Praͤpoſitionen noͤthig ſind, und welche Fallendungen ſie
regieren. Es zeigt aber auch, daß das meiſte dabey
willkuͤhrlich iſt. Und da die Fallendungen entweder
fuͤr ſich ſchon den Begriff der Praͤpoſition in ſich ſchlieſ-
ſen koͤnnten, wie im Lateiniſchen oͤfters der Ablatiuus,
oder
[124]VI. Hauptſtuͤck.
oder da, mit Beybehaltung der Praͤpoſitionen, denſel-
ben ſchlechthin die erſte Fallendung zugegeben, und die
uͤbrigen Fallendungen zu andern Bedeutungen gewied-
met werden koͤnnten, ſo ſieht man leicht, daß eine wiſ-
ſenſchaftliche Sprache hierinn von den wirklichen Spra-
chen merklich verſchieden ſeyn wuͤrde.


§. 211. Da nun der Unterſchied der Fallendungen
in Anſehung der Vorwoͤrter durchaus willkuͤhrlich iſt,
ſo ſind auch die Vorwoͤrter von den Zuwoͤrtern in die-
ſer Abſicht nur auf eine willkuͤhrliche Art verſchieden,
und wenn ſie dennoch haben ſeyn ſollen, ſo entſteht ganz
natuͤrlicher Weiſe die Frage, ob weder mehr noch min-
der moͤglich waren, als die in den wirklichen Sprachen
eingefuͤhrt ſind? Wir koͤnnen zu dieſem Ende anmer-
ken, daß die Sprachen bey koͤrperlichen Dingen ange-
fangen haben, und daß die Praͤpoſitionen Verhaͤltniſ-
ſe
der Koͤrper oder Subſtanzen haben anzeigen ſollen.
Das ſind nun allerdings Verhaͤltniſſe der Zeit, des
Orts oder der Lage, der Bewegung, der Urſache
und Wirkung oder der Mittel und Abſichten.
Denn die Dinge und ihre Eigenſchaften an ſich be-
trachtet, werden durch die Nennwoͤrter abſolute ange-
zeigt. Demnach bleiben nur noch die Verhaͤltniſſe
uͤbrig, in welchen ſie gegen einander ſtehen, es ſey daß
ſie der Zeit oder dem Orte nach, oder nach beyden zu-
gleich, oder ihren Veraͤnderungen und Urſachen nach,
betrachtet werden.


§. 213. Jn dieſe Claſſen laſſen ſich auch die Vor-
woͤrter der wirklichen Sprachen vertheilen, wiewohl die
meiſten wegen der Aehnlichkeit des Eindruckes vieldeu-
tig ſind. Denn da ſich ſowohl dem Raum als der Zeit
nach eine Ordnung gedenken laͤßt, ſo iſt ſich nicht zu
verwundern, wenn man die Vorwoͤrter: vor, nach,
gegen, um, von, zu, bis, uͤber, in, aus, außer,
bey, ꝛc.
in beyderley Faͤllen gebraucht. Der Unter-
ſchied
[125]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
ſchied des Beharrens und der wirklichen Bewe-
gung,
wird großentheils durch die Zeitwoͤrter bemerkt,
weil dieſe ſich in dieſe zwo Claſſen theilen (§. 151.). Und
die Urſachen und Gruͤnde werden durch die Vorwoͤrter:
wegen, halben, laut, willen, kraft, durch, ꝛc.
angezeigt.


§. 214. Man kann zu dieſen durch die Vorwoͤrter
angezeigten Verhaͤltniſſen noch verſchiedene andere rech-
nen, wobey die Vorwoͤrter weggeblieben ſind. Hieher
gehoͤren beſonders diejenigen, die wir oben (§. 181.) be-
trachtet haben, da naͤmlich zwey Hauptwoͤrter ſo mit
einander verbunden werden, daß das eine die zweyte
Fallendung des andern erfordert. Auf dieſe Art wer-
den im Lateiniſchen in den Redensarten inſtar montis,
virtutis ergo,
die Woͤrter: inſtar, ergo, als Subſtan-
tiua
angeſehen. So regieren auch die Comparatiui
und Superlatiui beſondere Caſus, welche folglich zur
Anzeige der dadurch vorgeſtellten Verhaͤltniſſe gewied-
met ſind. Hingegen im Deutſchen haben wir fuͤr den
Comparatiuum keine eigene Fallendung; fuͤr den Su-
perlatiuum
die zweyte, oder mit Zuſetzung der Vorwoͤr-
ter aus, von, unter, die dritte Fallendung. Aus al-
lem dieſem erhellet, daß eben ſowohl alle Vorwoͤrter aus
den Sprachen haͤtten wegbleiben, oder deren noch meh-
rere ſeyn koͤnnen, und daß ſie gar nicht nothwendig an
gewiſſe Fallendungen gebunden ſind.


§. 215. Der grammatiſche Unterſchied der Vorwoͤr-
ter, daß ſie naͤmlich gewiſſe Caſus regieren, hat dem-
nach in den wirklichen Sprachen nichts Charakteriſti-
ſches oder Wiſſenſchaftliches, wie es an ſich betrachtet
ſeyn koͤnnte (§. 209.). Hingegen findet ſich allerdings
ein metaphyſiſcher Unterſchied zwiſchen denſelben, in ſo
ferne man auf ihre Bedeutung und die Arten der Ver-
haͤltniſſe ſieht, die ſie vorſtellen (§. 207.). Und in die-
ſer Abſicht laſſen ſie ſich in Claſſen theilen. Da die
erſte
[126]VI. Hauptſtuͤck.
erſte Grundlage der Sprachen immer die Koͤrperwelt
iſt, und die Verhaͤltniſſe zwiſchen abſtracten Begriffen
und Dingen der Jntellectuglwelt nicht wohl anders, als
durch ihre Aehnlichkeit mit den Dingen der Koͤrperwelt,
koͤnnen angezeigt werden, ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß
dieſes auch in Anſehung der Vorwoͤrter ſtatt geſunden.
Wir haben vorhin (§. 213.) angemerkt, daß man fuͤr
Zeit und Ort bald durchaus einerley Vorwoͤrter gebrau-
che, und dieſes geht nothwendig an, ſo oft in Anſehung
des Ortes nur von einer Dimenſion die Rede iſt. Man
bindet ſich auch in Anſehung der Zeit nicht ſo genau an
dieſe oder jene Dimenſion des Ortes, ſondern ſagt z. E.
vor einem Tag, nach einem Jahr, uͤber drey Wo-
chen, um fuͤnf Uhr, außer dieſer Zeit, gegen das Ende
des Jahrs ꝛc. Wie man verſchiedene von den Vor-
woͤrtern zur Zeichnung der Toͤne in der Muſik, der Saͤ-
tze und Schluͤſſe in der Vernunftlehre gebraucht, ha-
ben wir bereits in dem erſten Hauptſtuͤcke angemerkt.
Alles koͤmmt darauf an, daß die Vergleichung richtig
getroffen werde, weil auf dieſe Art die Sprachen kuͤr-
zer, die Anzahl der Woͤrter geringer, und die Aehnlich-
keit zwiſchen Dingen von ganz verſchiedener Art ihren
Zeichen anhaͤngig gemacht wird. Die abſtracte Er-
kenntniß wird auch allerdings leichter figuͤrlich gemacht,
wo ſchon die Worte den Anlaß dazu geben, wie es in
Anſehung der Noten und der Zeichnung der Schluͤſſe
geſchehen. Und hierinn haben die Vorwoͤrter, welche
die Verhaͤltniſſe des Ortes anzeigen, etwas voraus.


§. 216. Man hat ferner die meiſten Vorwoͤrter in
den wirklichen Sprachen zu Ableitungstheilchen von Zeit-
woͤrtern gemacht, und beſonders diejenigen, die die Ver-
haͤltniſſe des Ortes, der Zeit, und der Bewegung an-
zeigen, und daraus ſind neue Bedeutungen und Meta-
phern entſtanden, weil bey vielen dieſer Zeitwoͤrter das
Hauptwort wegbleibt, welches ſonſt bey dem Vorwort
ſtehen
[127]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
ſtehen muͤßte. So z. Z. ſind im Deutſchen die Woͤr-
ter: anlaufen, innſtehen, beyfallen, zuſetzen,
hinterlegen, vorgehen, durchdenken, fuͤrbitten,
widerſtreben, ausgehen, mitlaufen, aufzeich-
nen, uͤberſchicken,
ꝛc. Der Unterſchied der Redens-
arten: etwas aufſtellen, auf etwas ſtellen; ei-
nem vorgehen, vor einem gehen; etwas an-
ſtoßen, an etwas ſtoßen
ꝛc. zeigt in Beyſpielen,
daß es nicht gleichguͤltig iſt, ob ein Vorwort als Vor-
wort oder als Ableitungstheilchen gebraucht werde, und
daß folglich die Bedeutung der Vorwoͤrter dadurch viel-
faͤltiger geworden, daß man ſie zu Ableitungstheilchen
gemacht hat. Denn dadurch wird ihre Bedeutung
abſoluter, weil ſie aus Verhaͤltnißbegriffen der
Dinge, zu Beſtimmungsbegriffen der Handlun-
gen
werden. Man wird uͤbrigens aus dem §. 159.
ſehen, daß die Zeitwoͤrter noch andere Ableitungstheil-
chen zu ſich nehmen, die keine Vorwoͤrter ſind, ungeacht
es vielleicht einige ſeyn koͤnnten. Hingegen rechnet man
im Lateiniſchen die Woͤrter: Aduer ſus, circiter, juxta,
prope, propter, ſecundum, ſecus, verſus, verſum, usque

und clam, palam, procul, ſimul, lieber zu den Aduer-
biis,
als zu den Praͤpoſitionen, weil man eine ausgelaſ-
ſene Praͤpoſition darunter verſtehen kann, die ſich wirk-
lich bey einigen Schriſtſtellern ausgedruͤckt findet. Man
ſieht aber leicht, daß dieſe Anmerkung bloß grammatiſch
iſt. Denn ſo koͤnnte prope nicht nur eine Praͤpoſition
ſeyn, ſondern ſowohl den Ablatiuum, als den Accuſati-
uum
und noch den Datiuum regieren, je nachdem ein
Entfernen, oder Annaͤhern oder Bleiben dadurch
ausgedruͤckt werden muͤßte, und dieſe Bedeutung waͤre
der Art der Sprache, und zugleich auch der Natur der
Fallendungen, ſo gut dieſe naͤmlich in den wirklichen
Sprachen getroffen worden, gemaͤß (§. 178. 209.).


§. 217.
[128]VI. Hauptſtuͤck.

§. 217. Wie es unter den Beywoͤrtern mehrere
giebt, die der Natur der Sache nach keine Stuffen oder
Grade haben (§. 190.), ſo iſt ſich nicht zu verwundern,
wenn man auch Vorwoͤrter findet, die keine zulaſſen.
Aber auch hierinn ſind die wirklichen Sprachen nicht
zum Muſter zu nehmen, weil ſie durch andere Mittel
erſetzen, was ſie in den Vorwoͤrtern ſelbſt nicht anzei-
gen. Jm Lateiniſchen findet ſich das einige prope, aus
welchem man propius und proxime bildet, und z. E.
propius urbem, proxime Italiam, ꝛc. ſagt, indeſſen aber
dennoch die Praͤpoſition ad darunter verſtehen kann.
Warum man aber z. E. an ſtatt potius propter, potis-
ſimum propter,
oder vel maxime propter, nicht kuͤrzer,
propterius, propterrime, ſagt, laͤßt ſich nur daher lei-
ten, weil die Urheber der lateiniſchen Sprache derſelben
dieſen Schwung nicht gegeben haben. Solche Moͤg-
lichkeiten wird man in den Sprachen bald fuͤr jede Vor-
woͤrter finden, weil die Verhaͤltniſſe, die ſie vorſtellen,
unſtreitig Grade haben, und dadurch naͤher beſtimmt
oder angezeigt werden koͤnnten.


§. 218. Die Zwiſchenwoͤrter oder Jnterjectionen
machen die andere Claſſe der unveraͤnderlichen Rede-
theilchen der Sprachen aus. Sie haben etwas Meta-
phyſiſches, wodurch ſie ſich von den uͤbrigen Woͤrtern
unterſcheiden, weil ſie den Affect oder uͤberhaupt den
Gemuͤthszuſtand des Redenden ausdruͤcken. Man kann
auch ſagen, daß ſie der Natur der Sache nach etwas
Phyſiſches haben, oder in der That Wirkungen der Af-
fecten ſeyn ſollten, und es in den wirklichen Sprachen
zum Theil ſind. Denn da bey heftigen Affecten der
ganze Leib in Bewegung iſt, ſo iſt nicht zu zweifeln, daß
nicht auch die Gliedmaßen der Sprache an dieſer Be-
wegung Antheil haben, und nach dem individualen Un-
terſchiede des Affectes auch individuale Unterſchiede der
Bewegung haben ſollten. Die genauere Unterſuchung
dieſes
[129]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
dieſes Unterſchiedes gehoͤrt in die Phiſiologie. Wir
merken hier nur an, daß man ſchwerlich andere als ein-
ſylbige Toͤne oder Woͤrter herausbringen wird. Das
Seufzen und Aechzen in der Traurigkeit, das Schluch-
zen bey ſtarkem Weinen, das Knirſchen der Zaͤhne bey
dem Zorn, gewiſſe Bewegungen der Zunge, Zaͤhne,
Lippen ꝛc. bey ekelnden, bittern, ſauren, widrigen Spei-
ſen, die Aehnlichkeit des Eindruckes anderer Empfin-
dungen und Vorſtellungen, die man, ſelbſt in der Spra-
che auch, bitter, herbe, ſauer, widrig ꝛc. nennt; alles
dieſes mag zu Beſtimmung der Toͤne und Sylben die-
nen, welche in der Sprache Jnterjectionen genennt wer-
den. Auf dieſe Art ſcheinen die Woͤrter ach! weh!
pfuy! o! he! ju! hey! oi! huy! ey!
ſt! ouai! ꝛc.
theils natuͤrliche, theils etwan auch von den Thieren ab-
gelernte Ausdruͤcke der Affecten zu ſeyn. Man hat
aber in den Sprachen nebſt dieſen Jnterjectionen noch
andere, die von abgeleiteter Bedeutung ſind, z. E. im
Deutſchen: wohlan! wohlauf! getroſt! luſtig!
leider!
ꝛc. Und uͤberdieß gewiſſe Redensarten und
Wendungen derſelben, die eben dahin dienen, z. E.
geliebt es Gott! erbarm es Gott! Gott befoh-
len! ſo wahr ich lebe! ſo gewiß ich da bin!
ꝛc.


§. 219. Jn ſo ferne die Natur ſelbſt die Jnterje-
ctionen angiebt, werden ſie in verſchiedenen Sprachen
nicht ſehr verſchieden ſeyn, als nur in ſo fern man ſich
von Jugend auf zu gewiſſen Beugungen der Gliedmaſ-
ſen der Sprache gewoͤhnt (§. 73.), oder auch von Na-
tur dazu aufgelegter iſt. Die uͤbrigen Unterſchiede wer-
den ſich aus den oben ſchon (§. 18. 19.) angegebenen
Gruͤnden beurtheilen laſſen. Es iſt auch fuͤr ſich klar,
daß die Affecten ſich nicht bloß durch ſolche Juterjectio-
nen ausdruͤcken, ungeacht dieſe in dem hoͤchſten Grade
des Affectes bald ganz allein bleiben, oder wenn das Er-
ſtarren aufhoͤrt, den Anfang zur wiederkommenden
Lamb. Organon II B. JSpra-
[130]VI. Hauptſtuͤck.
Sprache machen. Die mindern Grade der Affecte
miſchen ſich in die ganze Rede und ihre Wendungen,
und in den Ton der Ausſprache, welche bloß durch die
Veraͤnderung des Schwunges eine und eben die Re-
densart, z. E. ich ſollte das thun, bald zu einer
bloßen Erzaͤhlung, bald zur Anzeige der Verwun-
derung,
der Jndignation, Entruͤſtung, Verla-
chung, Verſpottung
ꝛc. macht, und zu dieſem Ende
den Ton bald auf dem einen bald auf dem andern
Worte ruhen laͤßt (§. 99.). Die Wendungen der Re-
de, die von den Affecten herruͤhren, hat man in der
Redekunſt und Dichtkunſt geſammelt, und ſie in Wort-
figuren
und Sachfiguren eingetheilt, weil ſie zum
Pathetiſchen oder zum Leben der Rede viel beytragen.
Man nennt ſie Figuren oder Schemata, weil ſie gewiſ-
ſermaßen Formeln ſind, nach welchen Worte und Ge-
danken eingerichtet werden, und dadurch eine Geſtalt,
Bildung und Wendung bekommen. Jn ſo ferne liegt
auch etwas Charakteriſtiſches darinn, welches aber mehr
fuͤr die Begehrungskraͤfte als fuͤr die Erkenntniß-
kraͤfte
iſt. Es iſt noch dermalen nicht ſo vollſtaͤndig,
daß dabey die Theorie der Zeichen ſtatt der Theorie der
Sache ſollte dienen koͤnnen (§. 23.). Man weiß naͤm-
lich nur aus der Erfahrung, daß die redneriſchen Figu-
ren theils die Sprache der Leidenſchaften ſind, theils
auch Leidenſchaften erregen koͤnnen, und daher ſind auch
ihre Formeln nur aus der Erfahrung. So fern aber
in der Conſtruction der Worte und der Wendung der
Gedanken gewiſſe Harmonie, Ordnung, Wiederholung,
Abwechslung ꝛc. ſeyn kann, welche theils dem Ohr,
theils dem Verſtande gefaͤllt, ſo ferne kann auch das
Charakteriſtiſche in dieſen Figuren, und eben ſo auch in
jeden redneriſchen und dichteriſchen Perioden wiſſenſchaft-
licher werden.


§. 220.
[131]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.

§. 220. Jn ſo ferne die Sprache als en Behaͤlt-
niß der Wahrheiten, und als ein Mittel zu ihrer Ent-
deckung angeſehen wird, kommen die Zwiſchenwoͤrter
wenig oder gar nicht in Betrachtung. Die Unterſu-
chung der Wahrheit fordert eine Stille des Gemuͤthes,
welche bey Affecten nicht ſtatt findet, und ſelbſt die Lie-
be zur Wahrheit muß in ſo weit gemaͤßigt ſeyn, daß
man dabey die Moͤglichkeit zu irren nicht vergeſſe. Die
Figuren der Redener bleiben dabey mit der Jnterje-
ctionen weg, weil die Wahrheit fuͤr den, der ſie ſucht,
ohne ſolche Nebenzierrathen am kenntlichſten und ſchoͤn-
ſten iſt. Man wird daher in geometriſchen Schriften,
dergleichen die Euclidiſchen ſind, von ſolchen Ausdruͤk-
ken nichts finden, und Pythagoras und Archimedes, ſo
ſehr ſie ihre Entdeckungen in der Meßkunſt freueten,
haben ſie deſſen uneracht in ihrer einfachen Geſtalt
nicht als etwas Erfreuliches, ſondern als Wahrheit
vorgetragen. Hingegen wird in andern Wiſſenſchaf-
ten ſehr oft das, was an dem Vollſtaͤndigen der Wahr-
heit und an ihren Beweiſen fehlt, durch redneriſche Fi-
guren, durch Affecten und Anathemata erſetzt.


§. 221. Da die Jnterjectionen theils Wirkungen,
theils Ausdruͤcke der Affecten ſind, ſo haben ſie unſtrei-
tig auch ihre Grade. Dieſe aber werden mehr in der
Ausſprache und den damit verbundenen Geberden als
in den Worten angezeigt. Die Wiederholung der
Jnterjection wird am natuͤrlichſten und gewoͤhnlichſten
dazu gebraucht, weil ſie theils die Staͤrke, theils das
Anhalten des Affectes anzeigt, und auch groͤßtentheils
eine Wirkung davon iſt. Man hat daher in den wirk-
lichen Sprachen keinen Comparatiuum oder Superla-
tiuum
fuͤr die Jnterjectionen, die nicht von abgeleiteter
Bedeutung ſind; hingegen kommen die denſelben bey-
gefuͤgten Beywoͤrter deſto haͤufiger im Superlatiuo zu
J 2ſtehen,
[132]VI. Hauptſtuͤck.
ſtehen, weil man im Affect die Sachen zu uͤbertreiben
gewohnt iſt.


§. 222. Es haben auch die Jnterjectionen, ſo fern
ſie Ausdruͤcke der Affecten ſind, ihren Verſtand fuͤr ſich,
und laſſen ſich daher auch ohne Zuziehung anderer
Woͤrter gebrauchen. Daher regieren ſie eigentlich auch
keine Fallendung. Jndeſſen hat man doch zur Anrede
die fuͤnfte Fallendung oder den Vocatiuum in die Spra-
chen eingefuͤhrt, welcher aber von dem Nominatiuo
mehrentheils nicht verſchieden iſt, und auch nicht noth-
wendig verſchieden ſeyn muß. Jn andern Faͤllen, und
beſonders bey den Jnterjectionen von abgeleiteter Be-
deutung, iſt entweder ein Zeitwort oder ein Vorwort da-
bey, oder darunter verſtanden, welches eine gewiſſe Fall-
endung erfordert: z. E. Wohl mir! Heil mir! fort
mit dem!
ꝛc. anſtatt: wohl ſeye mir ꝛc.


§. 223. Die dritte Claſſe der unveraͤnderlichen Re-
detheile, welche die Zuwoͤrter oder Aduerbia begreift,
iſt ungemein weitlaͤuftig, weil ſie bald alles enthaͤlt, was
bey den Zeitwoͤrtern und Nennwoͤrtern von Beſtimmun-
gen in den Sprachen zuruͤcke geblieben. Die Sprach-
lehrer haben ſich die Muͤhe gegeben, ſie aus einander
zu leſen, und ihrer Bedeutung und Gebrauche nach in
beſondere Claſſen oder Arten einzutheilen, deren Anzahl
ſich uͤber dreyßig belaͤuft, und wenn man ſpecialer ge-
hen will, noch leicht vergroͤßert werden kann. Wir ha-
ben im vorhergehenden ſchon angemerkt, daß die Um-
ſtaͤnde des Ortes und der Zeit (§. 203. ſeqq.), imglei-
chen die genauere Beſtimmung der Grade (§. 187.) in
den wirklichen Sprachen durch Aduerbia ausgedruͤckt
werden, und daß dieſe den Abgang genugſamer Ablei-
tungstheilchen bey den Zeitwoͤrtern erſetzen (§. 158.).
Dadurch erreicht nun wiederum die Sprache eine ge-
wiſſe Kuͤrze und Geſchmeidigkeit, und die Anzahl der
Wurzelwoͤrter wird durch die Aduerbia eben ſo, wie
durch
[133]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
durch die Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrer und Bey-
woͤrter (§. 162. 176.) merklich vermindert, veil ſie trenn-
bare Beſtimmungen
anzeigen, die nan weglaſſen
oder nach den Umſtaͤnden waͤhlen kann. Man kann ſie
in dieſer Abſicht eben ſo, wie die Beyvoͤrter, mit den
Coefficienten in der Algeber vergleichen (§. 176.). Der
Unterſchied iſt nur, daß letztere ſich auf die Haupt-
woͤrter, die Aduerbia aber mehr auf die Zeitwoͤrter
beziehen.


§. 224. Die Zuwoͤrter, welche die Umſtaͤnde der
Zeit, des Ortes, die Grade, Zahl, Groͤße, Men-
ge, Aehnlichkeit
ꝛc. anzeigen, machen daher in den
wirklichen Sprachen einen betraͤchtlichen Theil der gan-
zen Claſſe aus. Zu dieſen kommen ſodann noch dieje-
nigen, welche die Umſtaͤnde des Redenden, ſeine Ge-
denkensart, die Beſchaffenheit der Rede ꝛc., und folg-
lich ein Fragen, Bejahen, Verneinen, Zweifeln,
Ermahnen, Betheuren, Rufen, Antworten
ꝛc.
anzeigen. Die groͤßte Anzahl aber machen diejenigen
aus, welche die Beſchaffenheit der Sache vorſtellen,
und mehrentheils von Nennwoͤrtern und Zeitwoͤrtern
abgeleitet ſind. So z. E. laſſen ſich im Deutſchen bald
alle Beywoͤrter als Aduerbia gebrauchen, indem man
ſie indeclinabel nimmt. Jhre Bedeutung wird aber
dadurch gleichſam von dem Hauptwort los, und dem
Zeitwort anhaͤngig gemacht. Der Unterſchied der Re-
densarten: etwas muͤhſames verrichten, und et-
was muͤhſam verrichten,
imgleichen eine deutli-
che Schrift leſen,
und eine Schrift deutlich le-
ſen
ꝛc. macht es augenſcheinlich, daß Beywoͤrter ſich
auf die Sache, Zuwoͤrter aber auf die Handlung bezie-
hen, es ſey denn, daß ſie, ihrer eigenen Bedeutung
nach, ſich auch auf den Thuenden oder auf die Sache
oder auf beydes beziehen. Z. E. Er hat mir er-
wuͤnſcht geantwortet,
will ſagen, wie ich es
J 3wuͤnſchte.
[134]VI. Hauptſtuͤck.
wuͤnſchte. Man muß die Sache wiederum
gut machen,
will ſagen: die Sache wiederum
in Gang bringen, zurecht machen, den Folgen
ſteuren
ꝛc. Ueberhaupt hat dieſe Aenderung der Be-
deutung der Zuvoͤrter etwas ganz aͤhnliches mit der von
den Vorwoͤrtern, wenn ſie zu Ableitungstheilchen wer-
den (§. 216.).


§. 225. Ueberhaupt beziehen ſich die Zuwoͤrter der
Zeit und des Ortes, (Aduerbia temporis et loci) auf
die Sache ſelbſt, welche geſchieht, oder von welcher die
Rede iſt, und ſie ſind großentheils nur Abkuͤrzungen
weitlaͤuftigerer Beſtimmungen, die man leicht findet,
wenn man den Ort oder die Zeit benennt, und die
Verhaͤltniſſe durch Vorwoͤrter ausdruͤckt. So z. E.
kann man anſtatt hier, heute, rechts, bald, ꝛc. ſa-
gen: an dieſem Ort, an dieſem Tag, auf den
heutigen Tag, zur rechten Hand, in weniger
Zeit,
ꝛc.


§. 226. Hingegen koͤnnen ſich die Zuwoͤrter, welche
die Grade, Groͤße, Zahl, Menge, Aehnlichkeit ꝛc. an-
zeigen, ſowohl auf die Handlung, als auf die Sache be-
ziehen, ſo fern naͤmlich Handlung und Sache der Gra-
de, Wiederholung, Vergleichung ꝛc. faͤhig ſind. Die
meiſten Zuwoͤrter, und beſonders die, ſo von Beywoͤr-
tern gebildet werden, haben an ſich ſchon in den Spra-
chen ihren Comparatiuum und Superlatiuum, und die
beſtimmtere Grade laſſen ſich durch eben die Mittel
anzeigen, die wir oben in Anſehung der Beywoͤrter an-
gemerkt haben (§. 187. ſeqq.).


§. 227. So ferne die Zuwoͤrter Beſtimmungen der
Zeitwoͤrter ſind, ſo fern ſind ſie auch Mittelbegriffe, die
mit jeden andern Sprachtheilen in Verbindung ſtehen.
Daher ſind ſie auch groͤßtentheils von andern Woͤrtern
abgeleitet, und ſelbſt die, velche Wurzelwoͤrter ſind, die-
nen hinwiederum, andere Woͤrter daraus zu bilden.
Wir
[135]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
Wir machen dieſe Anmerkung beſonders auch zum Be-
hufe der deutſchen Sprache und der allgemeinen Sprach-
lehre uͤberhaupt. Denn da die deutſche Sprache ſehr
viele und ſehr allgemeine Mittel zur Ableitung und
Bildung neuer Woͤrter hat, ſo lohnt es ſich der Muͤhe,
in der oben ſchon oͤfters erwaͤhnten Theorie derſelben
die Sache ſo allgemein zu betrachten, daß die Verhaͤlt-
niſſe zwiſchen jeden Claſſen von Woͤrtern oder Rede-
theilen beſtimmt, und die Mittel aufgeſucht werden, je-
des Wort durch alle durchzufuͤhren, ſo viel es, theils
die Sache ſelbſt, theils auch die Art der Sprache zu-
laͤßt. Dieſe letztere Bedingung faͤllt bey einer durch-
aus wiſſenſchaftlichen Sprache und der Theorie derſel-
ben in ſo weit weg, als man dabey nicht auf Gewohn-
heit und Herkommen zu ſehen hat.


§. 228. So z. E. geben die Vorwoͤrter ſowohl an
ſich, als in ſo fern ſie Ableitungstheilchen ſind, eine gu-
te Menge von Zuwoͤrtern, welche zu Beſtimmung der
Zeitwoͤrter dienen koͤnnen. Aus den Zeitwoͤrtern laſ-
ſen ſich auf vielerley Arten Nennwoͤrter bilden, denen
ſolche Zuwoͤrter, in die Form der Beywoͤrter verwan-
delt, als Beſtimmungen zugeſetzt werden koͤnnen. Hin-
wiederum laſſen ſich bald alle Beywoͤrter in Zuwoͤrter
verwandeln, daher aus welchen Quellen jene hergeleitet
werden, erlangt man dieſe zugleich mit, und dazu bieten
ſowohl Zeitwoͤrter als die Subſtantiua abſtracta haͤufige
Anlaͤße an. Man ſieht leicht, daß hierinn in Abſicht
auf die Structur der Woͤrter viel Charakteriſtiſches,
und in Abſicht auf die Art, wie ſie mit der Verwand-
lung ihre Bedeutung aͤndern, viel Metaphyſiſches liegt,
wozu bey wirklichen Sprachen noch der Gebrauch
koͤmmt, welcher zu dem Jndividualen und zugleich auch
zu vielen Anomalien fuͤhrt, und hingegen bey einer wiſ-
ſenſchaftlichen Sprache nach Regeln beſtimmt werden
kann.


J 4§. 229.
[136]VI. Hauptſtuͤck.

§. 229. Die letzte Claſſe der unveraͤnderlichen Re-
detheile begreift die Conjunctionen oder Bindwoͤrter.
Ohne dieſe wuͤrde eine Rede aus lauter einzeln Saͤtzen
beſtehen, und ohne allen Zuſammenhang ſeyn, oder
wenigſtens zu ſeyn ſcheinen. Und wenn auch ſolche
Saͤtze in behoͤriger Ordnung auf einander folgten, ſo
waͤre es immer der Einſicht des Leſers oder Zuhoͤrers
uͤberlaſſen, ob er denſelben finden wuͤrde, oder auch fin-
den koͤnnte, weil in der That Vieldeutigkeiten dabey
vorkommen koͤnnen. Z. E. Man nehme die zween
Saͤtze: Jch bin nicht bey Cajo geweſen. Ti-
tius iſt bey mir geweſen;
ſo ſeheint einer von dem
andern unabhaͤngig, und jeder ein Stuͤck von zwo ganz
verſchiedenen Erzaͤhlungen zu ſeyn. Jndeſſen koͤnnen
ſie auf vielfache Art zuſammenhaͤngen. Der erſte kann
ein Anlaß zum andern, der andere ein Grund des er-
ſten, oder eine Folge davon ſeyn ꝛc. Die Conjunctio-
nen: denn, weil, aber, ſo ꝛc. geben ſolche Unterſchie-
de an, und breiten den Zuſammenhang auf das vor- und
nachgebende der Rede aus. Z. E. Jch war nicht
bey Cajo, denn Titius war bey mir,
will ſagen:
Titius hat mich verhindert, oder hat es unnoͤthig ge-
macht. Eben ſo: Jch war nicht bey Cajo, aber
Titius war bey mir,
kann anzeigen, daß Titius er-
ſetzt habe, was bey Cajo zu thun geweſen waͤre, und
hier koͤnnen ſehr ſpeciale Verhaͤltniſſe zum Grunde lie-
gen, die ſich jedesmal aus den Umſtaͤnden und der gan-
zen Rede vermittelſt ſolcher Conjunctionen gleichſam
von ſelbſt angeben.


§. 230. Man ſieht aus dieſem Beyſpiele, daß die
Bindwoͤrter nicht Kleinigkeiten, ſondern Meiſterſtuͤcke
der Sprache ſind, weil ſie auf eine ſehr kurze Art einer
Rede Verſtand, Beſtimmung und Zuſammenhang ge-
ben. Wir haben in der Dianoiologie (§. 300.) in ei-
nem ausfuͤhrlichern Beyſpiele gewieſen, wie durch die
Bind-
[137]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
Bindwoͤrter eine Formel von trockenen Saͤtzen in eine
fließende Ordnung und Verbindung gebracht wird, wel-
ches um deſto mehr hieher gehoͤrt, weil darinn eine gu-
te Menge von Conjunctionen vorkommen, und einen
weitlaͤuftigen und verwickelten Umweg im Schließen in
eine deutlichere Ordnung bringen. Ueberhaupt muß
man, um ſie richtig zu gebrauchen, ihre Bedeutung
wohl wiſſen, und den Zuſammenhang der Sache ſelbſt
ſich deutlich vorſtellen, damit die Conjunctionen, die
man zu gebrauchen hat, richtig gewaͤhlt, und nicht et-
wan durch unſchickliche Auswahl derſelben, der Ver-
ſtand der Rede verwirrt werde, oder anders ausfalle,
als er ſeyn ſolle. Denn allerdings geſchieht dieſes, es
ſey, daß man Gruͤnde mit Folgen, zuſammengehoͤrende
Begriffe mit einander zuwider laufenden, Anmerkun-
gen mit Schluͤſſen ꝛc. verwechſele, oder ſie durch un-
ſchickliche und ganz was anders bedeutende Bindwoͤrter
vorſtelle. Da ferner die Bindwoͤrter viele Saͤtze und
Redensarten zuſammenhaͤngen, ſo koͤnnen allerdings
dadurch die Perioden der Rede ſehr verlaͤngert werden,
und man findet auch Schriften, worinn dieſes ohne
Nothwendigkeit geſchieht. Vielleicht, um dieſen Feh-
ler zu vermeiden, haben andere Schriftſteller die aͤchte
Schoͤnheit und Deutlichkeit der Rede in kurzen Saͤtzen
geſucht, und daher bald alle Bindwoͤrter weggelaſſen,
aber zugleich auch den Zuſammenhang der Rede ent-
kraͤftet, und oͤfters vieldeutig und raͤthſelhaft gemacht.
Noch andere haben, ſtatt Bindwoͤrter zu gebrauchen,
oder die Luͤcken des Zuſammenhangs auszufuͤllen,
ſchlechthin Striche — und Punkte .... eingefuͤhrt, die
allerdings in gewiſſen Faͤllen ihren Nachdruck und Be-
deutung haben, durch unſchickliche Nachahmung aber
leicht verkehrt und ohne Grund gebraucht werden.


§. 231. Die Sprachlehrer haben ſich auch in An-
ſehung der Conjunctionen Muͤhe gegeben, ſie in gewiſſe
J 5Claſſen
[138]VI. Hauptſtuͤck.
Claſſen einzutheilen, und den Grund zu der Einthei-
lung von ihrer Bedeutung hergenommen. Daher ſind
die verknuͤpfende, zuwiderlaufende, verurſa-
chende, ausſchließende, entgegenſetzende, be-
dingende, fortſetzende, abzwackende, zugeben-
de, folgernde, aufklaͤrende, ordnende ꝛc. Bind-
woͤrter
mit dieſen beſondern Namen benennt worden.
Sie laſſen ſich aber noch in mehrern andern Abſichten
eintheilen, und beſonders kommen hiebey die Grade
vor, wie weit ſie den Zuſammenhang und Verbindung
uͤber die Rede ausdehnen. Denn da giebt es ſolche,
die bey einzeln Woͤrtern anfangen, und ebenfalls auch
auf Saͤtze und ganze Perioden gehen. Dergleichen
ſind die Bindwoͤrter und, auch, imgleichen, eben-
falls, oder, entweder, ſowohl, als,
ꝛc. Andere ge-
hen nicht auf einzelne Woͤrter, ſondern nur auf Saͤtze,
und Perioden. Z. E. weil, demnach, ſo, denn,
auf daß, damit, ferner, folglich, daher, obſchon,
daferne ꝛc.


§. 232. Ferner laſſen ſie ſich in Abſicht auf die
Structur der Rede eintheilen. Denn einige dienen
zum Anfange, und dieſe fordern faſt nothwendig ande-
re zum Zuſammenhaͤngen und Schließen. Z. E. auf:
da, da nun, demnach, weil, wenn ꝛc. folgt: ſo;
auf zwar folgt aber; auf obſchon, obwohl ꝛc. folgt
doch, dennoch, ꝛc. Andere koͤnnen zur Foͤrtſetzung
gebraucht werden, dergleichen ſind: denn, damit,
auf daß, weil, naͤmlich ꝛc.
Man ſieht leicht, daß
ſich hiebey ganze Formeln von Redensarten und Pe-
rioden gedenken laſſen, dergleichen man auch wirklich
in verſchiedenen Anweiſungen zur Redekunſt vorge-
ſchrieben findet. Sie dienen aber daſelbſt weiter nicht,
als daß ſie den Anfaͤngern die Mannichfaltigkeit in dem
Schwunge der Perioden als bloße Moͤglichkeiten zei-
gen, weil man nicht die Gedanken nach den Perioden
richten,
[139]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
richten, ſondern dieſe ſich nur in ſo ferne bekannt ma-
chen muß, daß man ſie, wo ſie ſchicklich ſind, ungeſucht
gebrauchen koͤnne.


§. 233. Jn Anſehung des Charakteriſtiſchen ſind
die Conjunctionen entweder Wurzelwoͤrter oder abgelei-
tet und zuſammengeſetzt. Und hierinn kommen die
wirklichen Sprachen nicht uͤberein. Jm Deutſchen ſchei-
nen: und, auch, ſo, als, oder, wenn, wo, wie,
aber, weder, noch, doch, ſonſt, ob, denn, weil,
daß, da, nun, ꝛc.
Wurzelwoͤrter zu ſeyn. Die Latei-
ner haben noch die verneinende ne, nec, quin, ꝛc. die
wir im Deutſchen zuſammenſetzen, ſo wie ſie hingegen
das deutſche auch, durch etiam, quoque, ꝛc. geben.
Die abgeleiteten oder zuſammengeſetzten Bindwoͤrter,
beſonders wenn ſie von andern Redetheilen herkommen,
aͤndern gewiſſermaßen ihre Bedeutung, und oͤfters ſind
es Abkuͤrzungen von Redensarten. Z. E. das Bind-
wort daher, welches an ſich eine Verhaͤltniß des Ortes
anzeigt, wird metaphoriſch und wegen Aehnlichkeit des
Eindruckes auf die Gruͤnde und Schlußſolgen gezogen;
als ein Bindwort aber iſt es eine Abkuͤrzung der Re-
densart: daher koͤmmt, daß ꝛc. Das Bindwort da-
mit,
welches auf Mittel und Abſichten geht, behaͤlt noch
etwas von dem Vorworte mit, aus welchem es abge-
leitet iſt. Das Bindwort deswegen oder derowe-
gen, derohalben,
hat wie im Lateiniſchen quapropter,
propterea,
faſt ganz ſeine natuͤrliche und urſpruͤngliche
Bedeutung, weil propter,wegen, an ſich auch eine
Praepoſitio cauſſalis iſt. (§. 213.). Man wird in den
Bindwoͤrtern: ebenfalls, desgleichen, dazu, außer
dem, ungeachtet, hingegen, folglich, demnach,
obſchon, nachdem, indeſſen, inzwiſchen, unter-
weilen, mitlerweilen, ferner, weiter, uͤbrigens,
zwar, ꝛc.
aͤhliche Spuren der Ableitung und Abkuͤr-
zung finden.


§. 234.
[140]VI. Hauptſtuͤck.

§. 234. Die Bindwoͤrter ſind uͤberhaupt in Abſicht
auf die Sprache eben das, was die Zeichen + — · : in
der Algeber ſind. Denn ungeacht dieſe Zeichen auch
wirkliche Operationen vorſtellen, wenn man auf das
Practiſche ſieht, ſo zeigen ſie doch, theoretiſch genommen,
bloße Verhaͤltniſſe, Verbindungen und Zuſammenhang
der Groͤßen an, auf welche ſie ſich beziehen. Beſon-
ders iſt das Zeichen + eben das, was das Bindwoͤrtgen
und, weil die Redensart: 4 und 5, algebraiſch 4+5
gezeichnet wird.


§. 235. Es giebt ferner in der Sprache eine Claſſe
von Woͤrtern, die mit den Conjunctionen vieles gemein
haben. Dahin rechnen wir die Pronomina relatiua
oder beziehende Fuͤrwoͤrter: derſelbe und wel-
cher,
und in gewiſſen Faͤllen auch die Artikel oder Ge-
ſchlechtswoͤrter, der, und ſo auch dieſer, ſolcher, ꝛc.
Das Beziehende darinn hat etwas mit den Conjunctio-
nen gemein, und nur das beſonders, daß es vornehmlich
auf die Hauptwoͤrter geht, ſtatt deren man ſolche Fuͤr-
woͤrter gebraucht, um ſie nicht ſo oft zu wiederholen.
Dieſes Beziehende zeigt ſich am deutlichſten, wenn eine
neue Periode oder Redensart mit ſolchen Fuͤrwoͤrtern
angefangen wird. Hingegen haben dieſelben von den
Conjunctionen das verſchieden, daß ſie ſich wie die Bey-
woͤrter, ſowohl dem Geſchlechte als den Fallendungen
nach, abaͤndern laſſen.


§. 236. Sodann kommen unter den Zuwoͤrtern
auch einige vor, die eine Beziehung auf das Vorherge-
hende anzeigen. Dergleichen ſind die Woͤrter: da-
mals, alsdann, dort, dorthin, daſelbſt, ꝛc.
womit
auch ofters neue Saͤtze angefangen, und mit den vor-
hergehenden zugleich verbunden werden, weil ſie ſich auf
beſondere Umſtaͤnde beziehen.


§. 237. Die Conjunctionen geben uͤberhaupt den
Geſichtspunkt an, aus welchem ein Satz in Abſicht auf
die
[141]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
die vorhergehenden und folgenden muß betrachtet wer-
den, ob er ein Grund, Beweis, Folge, Erlaͤute-
rung, Ausnahme, Hinderniß, Nebenumſtand,
Zuſatz, Mittelglied zum Schluſſe, Einwurf,
Gegenſatz, Fortſetzung, Anmerkung, Abſicht,
Endzweck, Bedingung, Trennung, Verknuͤ-
pfung, Vergleichung, Zuſammenfaſſung, Ein-
raͤumung, Umſtoßung oder Vereitelung des
Einwurfs oder Hinderniſſes
ꝛc. ſey. Dieſe Ver-
haͤltnißbegriffe des Zuſammenhanges der Rede, werden
durch die Bindwoͤrter groͤßtentheils als durch abge-
kuͤrzte Ausdruͤcke
angezeigt. Denn da wir ſie hier
durch Abſtracta ausdruͤcken, ſo iſt es auch moͤglich, den
Begriff einer jeden Conjunction, wodurch Saͤtze ver-
bunden werden, durch dieſe Abſtracta anzuzeigen, oder
ſie durch Redensarten zu geben, worinn hoͤchſtens nur
die vorhin (§. 235.) erwaͤhnten Beziehungsfuͤrwoͤrter
vorkommen. So haben die Mathematiker fuͤr ihre
Saͤtze beſondere Namen, die ihnen ſtatt der Conjunctio-
nen dienen, z. E. Erklaͤrung, Grundſatz, Forde-
rung, Lehrſatz, Lehnſatz, Beweis, Zuſatz, Er-
fahrungsſatz, Aufgabe, Aufloͤſung, Anmerkung.

Dieſe Namen zeigen ſowohl, was der Satz iſt, als
auch wozu er dient, woher er genommen iſt, in welcher
Verbindung er mit den vorhergehenden oder folgenden
ſtehe, was zu ſeinem Behufe erfordert werde ꝛc.


§. 238. Da ferner die Bindwoͤrter ſich auf den
Zuſammenhang der Rede beziehen, ſo iſt leicht zu be-
greifen, daß ſie uͤberhaupt auch der Rede eine andere
Conſtruction geben, wie wir es bereits ſchon (§. 231.
232.) zum Theil angemerkt haben. So z. E. ſind:
denn und weil, Bindwoͤrter, die den Grund anzei-
gen, aber jedes fordert eine ihm eigene Conſtruction und
Ordnung der Woͤrter. Letzteres laͤßt zu, daß man den
Grund vor oder nach dem Gegruͤndeten ſetzt; erſteres
aber
[142]VI. Hauptſtuͤck.
aber ſetzt das Gegruͤndete voraus, und faͤngt eine neue
Periode an. Die Bindwoͤrter: daß, auf daß, da-
mit, wenn nur,
ziehen faſt immer einen Coniuncti-
uum
des Zeitwortes nach ſich, auf welches ſie ſich be-
ziehen, und dieſe Abwandlungsart der Zeitwoͤrter ſcheint
den Conjunctionen zugefallen in den Sprachen zu ſeyn,
welche nicht eine ausdruͤckliche Anzeige angeben, ſon-
dern ſich aufs ungewiſſe, unbeſtimmte, bedingte, ꝛc. be-
ziehen. Der Unterſchied der Ausdruͤcke: wenn die-
ſes iſt, wenn dieſes waͤre,
ingleichem: ich weiß,
daß es geſchieht; ich will, wuͤnſche, hoffe, ꝛc.
daß es geſchehe,
und mehrer anderer, zeigt das Ge-
wiſſere des Indicatiui, und das Ungewiſſere des Con-
iunctiui,
einigermaßen an. Man ſehe auch (§. 148.).
Uebrigens da uͤberhaupt die Bindwoͤrter die ſchwerſte
Claſſe der Redetheile ſind (§. 230.), und uͤberdieß in
den Sprachen die Modi der Zeitwoͤrter nicht immer ſo
genau genommen werden, ſo iſt ſich nicht zu verwun-
dern, wenn in den wirklichen Sprachen Anomalien vor-
kommen, die das Charakteriſtiſche, ſo bey den Conjun-
ctionen ſeyn koͤnnte, mehr oder minder verwirren.


§. 239. Die moͤgliche Anzahl der Bindwoͤrter ſollte
ſich durch eine genaue Eintheilung und Abzaͤhlung der
Verhaͤltnißbegriffe des Zuſammenhangs der Rede be-
ſtimmen laſſen. Von dieſen Verhaͤltnißbegriffen ha-
ben wir bereits (§. 237.) eine gute Menge angefuͤhrt,
die ſich durch Abſtracta ausdruͤcken laſſen. Es giebt
aber deren mehrere, zu welchen die Sprachen noch keine
ſolche abſtracte Hauptwoͤrter haben, und die folglich
durch Redensarten muͤſſen definirt werden. Z. E. das
Bindwort uͤbrigens ſcheint von dieſer Art zu ſeyn. Es
zeigt theils etwas, das man noch nachholet, theils et-
was, ſo gleichſam zum Ueberfluſſe noch beygefuͤgt wird,
theils ein Zuſammennehmen, theils ein Abſtrahiren von
ausgelaſſenen oder auch angefuͤhrten Betrachtungen an,
und
[143]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
und aͤndert dieſe Bedeutungen nach der Beſchaffenheit
der Sache, welche gemeiniglich, mit dem Begriffe des
Bindworts verglichen, den Begriff des Zuſammenhangs
der Rede naͤher beſtimmt, und individual macht.


§. 240. Da die Bindwoͤrter durch Subſtantiua
abſtracta
definirt werden, ſo laͤßt ſich von denſelben
eben das anmerken, was wir oben von dieſen abſtracten
Hauptwoͤrtern angemerkt haben (§. 138. ſeqq. 175. 201.
202.). Eine gelehrte Sprache muß derſelben mehr
haben, die groͤßere Mannichſaltigkeit und Anzahl von
beyden Arten erleichtert die Mittel, ſie zu definiren, und
ihr Umfang hat etwas Unbeſtimmtes, welches ſich nach
den Faͤllen richtet, worinn ſie gebraucht werden. Daß
die Bindwoͤrter beſonders zu einer gelehrten Sprache
nothwendig ſind, iſt auch daraus klar, daß ſie Begriffe
des Zuſammenhanges der Rede vorſtellen, welcher
in der gelehrten oder wiſſenſchaftlichen Erkenntniß die
Grundlage und der Anſang und das Ende iſt. Die
Bindwoͤrter gehoͤren demnach unter allen Sprachthei-
len am unmittelbarſten zum Gebiete der Vernunft, und
ſind im eigentlichſten Verſtande das Werk dieſer Er-
kenntnißkraft, ſowohl in Abſicht auf ihren Urſprung als
in Abſicht auf ihren richtigen Gebrauch. Denn da die
uͤbrigen Woͤrter nur an ſich vorſtellen, was man ſagen
will, ſo breiten die Bindwoͤrter Licht und Ordnung auf
den ganzen Zuſammenhang der Rede aus, und zeigen,
wie das, ſo man jedesmal ſagt, zu dem Vorhergehenden
und Folgenden diene, und wie alles zuſammengehoͤre.
Die Fragen: Was hat das hiebey zu thun: Wie
ſchickt ſich das hieher? Wie reimt es ſich mit
dem Vorhergehenden?
zeigen ungeſaͤhr die Faͤlle
an, wo Bindwoͤrter und Zuſammenhang gar nicht oder
unſchicklich gebraucht werden, und wo man die vorhin
(§. 237.) angegebenen Begriffe verwechſelt und uͤbel
anwen
[144]VI. Hauptſtuͤck.
anwendet, oder wenigſtens den Schein von dieſen Feh-
lern veranlaßt.


§. 241. Das Geſetz der Einbildungskraft, vermoͤg
deſſen uns vorhin gehabte Vorſtellungen bey Anlaß der
gegenwaͤrtigen wieder in Sinn kommen, wenn dieſe ein
Theil davon ſind, oder auch nur etwas Aehnliches und
Gemeinſames haben, kann uns allerdings oft verleiten,
Dinge zuſammenzubringen, die weiter keinen Zuſam-
menhang unter ſich haben, als daß ſie uns zugleich oder
gelegentlich in Sinn kommen. Das franzoͤſiſche à pro-
pos
iſt das Bindwoͤrtgen, oder, beſſer zu ſagen, das
Flickwort, welches einen ſo gelegentlichen Zuſammen-
hang oder vielmehr Unterbrechung und Wendung der
Rede anzeigt, oder ſtatt deſſen wir durch gleichgeltende
Redensarten die Zuhoͤrer oder Leſer errinnern, daß das,
ſo wir ſagen wollen, weder einen logiſchen noch metaphyſi-
ſchen Zuſammenhang mit dem vorhergehenden habe, ſon-
dern uns nur bey Anlaß deſſelben in Sinn komme. Durch
ſolche à propos iſt es leicht moͤglich, daß in Unterredun-
gen, wo man keinen vorgeſetzten Gegenſtand hat, un-
vermerkt die ganze Welt durch die Muſterung geht,
und zuletzt gefragt wird, wo das Geſpraͤch angefan-
gen habe?


§. 242. Hingegen wo man ſich im Reden und
Schreiben vorſetzt, den Gegenſtand nicht aus dem Ge-
ſichte zu verlieren, da werden ſolche à propos ſeltener.
Man abſtrahirt von den gelegentlich beyfallenden Ge-
danken, und waͤhlt und ſucht diejenigen, die zum Zu-
ſammenhange gehoren. Die Mathematiker, die hier-
inn am ſtrengſten verfahren, haben ihre ſo genannten
Scholia zu ſolchen Ruheplaͤtzen gemacht, wo ſie die
durch die Theorie der Sache veranlaßte Anmerkungen
anbringen. Groͤßere Abweichungen von der Hauptſa-
che werden Digreſſionen, und wenn ſie fehlerhaft ſind,
wirkliche
[145]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.
wirkliche Ausſchweifungen genennt, beſonders wo
der Leitfaden daruͤber ganz verloren geht.


§. 243. Da ſich die Conjunctionen nicht auf einzelne
Begriffe von Dingen, Handlungen, Eigenſchaften, ꝛc.
ſondern auf die Verbindung derſelben und den Zuſam-
menhang der Rede erſtrecken, und daher logiſche und
metaphyſiſche Verhaͤltnißbegriffe vorſtellen, ſo wird ihre
Bedeutung und Umfang auch ſchwerer und ſpaͤter er-
lernt, und man muß ſich den Zuſammenhang der Ge-
danken in allen Abſichten und nach allen Modificatio-
nen wohl bekannt gemacht haben, wenn man ſie richtig
gebrauchen und die Misbraͤuche beſtimmen und aus-
beſſern will. Sie ſind an ſich ſchon ein Werk der
Vernunſt, und vor dem Gebrauche oder Reifigkeit die-
ſes Erkenntnißvermoͤgens werden ſie hoͤchſtens nur auf
eine abgelernte Art gebraucht, und es iſt gut, wenn es
aus Buͤchern geſchieht, worinn ſie richtig und in ihrem
wahren Nachdrucke vorkommen. Die ſtrengſte Me-
thode der Mathematiker bindet ſich an das Unbeſtimmte
in den Conjunctionen nicht, ſondern hat außer den vor-
hin (§. 237.) ſchon erwaͤhnten Namen, noch andere
Redensarten, wodurch das Beziehende der Conjun-
ctionen, ohne Gefahr zu irren, richtiger erhalten wird.
Das Citiren der §. §. und Saͤtze, die in den Beweiſen
gebraucht werden, leitet den Leſer auf die beſtimmteſte
Art dahin, wo er dieſe Saͤtze bewieſen, erklaͤrt, oder in
ihrer wahren Geſtalt vorgeſtellt findet. Die Ausdruͤcke:
Vermoͤg der Bedingung, vermoͤg der Conſtru-
ction, vermoͤg des Erwieſenen, welches der
Bedingung zuwider,
ꝛc. zeigen dem Leſer ebenfalls,
woher die Gewißheit des Beweiſes koͤmmt. Und die
Schlußformeln: Welches zu erweiſen war, wel-
ches zu thun war, welches zu finden war, ꝛc.

zeigen, daß der Beweis oder die Aufloͤſung nunmehr zu
Ende ſey. Dadurch werden viele Conjunctionen uͤber-
Lamb. Organon II B. Kfluͤßig,
[146]VI Hauptſtuͤck.
fluͤßig, die lange nicht ſo beſtimmte Bedeutungen haͤt-
ten, wenn man ſie dafuͤr gebrauchen wollte, und uͤber-
dieß wuͤrde man in Abſicht auf das Beziehende mit
den in der Sprache uͤblichen Conjunctionen nicht ganz
ausreichen.


§. 244. Da die Conjunctionen auf den Zuſammen-
hang der Rede gehen, ſo erſtrecken ſie ſich oͤfters vor-
waͤrts und nachwaͤrts durch viele Perioden durch. So
z. E. kann das Bindwoͤrtgen daher, oder demnach,
eine ſehr lange Forge von einer ebenfalls ſehr langen
und ausfuͤhrlichen Betrachtung nach ſich ziehen. Die
Bedingungswoͤrer wenn, woferne, ꝛc. erſtrecken ſich
ebenfalls auf alles, was die Bedingung begreift, und
was vermoͤg derſelben geſagt wird. Die Bindwoͤrter:
denn, weil, ꝛc. dehnen ſich auf den ganzen Zuſam-
menhang des Beweiſes und des Bewieſenen aus, und
der Beweis, wenn er disjunctiv oder dilemmatiſch iſt,
kann ſich durch das: entweder, oder, in Aeſte zer-
theilen, die noch alle ſich auf das erſte denn beziehen.
Und noch weitlaͤuftiger wird es, wo man Betrach-
tungen, Gruͤnde, Beweggruͤnde ꝛc. aufhaͤufen, und
durch die Coniunctiones ordinatiuas,erſtlich, ſo-
dann, ferner, wiederum, desgleichen auch, end-
lich
ꝛc. als zuſammengehoͤrend vorſtellen muß. Bey
einem noch weitlaͤuftigern Zuſammenhang reichen theils
die Bindwoͤrter nicht mehr zu, theils iſt es gut, wenn
man, um die Verwirrung zu vermeiden, den Zuſam-
menhang und wie weit man jedesmal darinn gekom-
men, durch ausdruͤcklich dazu dienende Anmerkungen
anzeigt, dergleichen bey dem Uebergang von einem
Theile zum andern die Tranſitionen ſind, worinn man
auch oͤfters alle vorhergehende einzele Stuͤcke kurz wie-
derum zuſammenfaßt, um das noch Ruͤckſtaͤndige durch
die Betrachtung des Ganzen deutlich vorzuſtellen.


§. 245.
[147]Von den unveraͤnderlichen Redetheilen.

§. 245. Man hat in den wirklichen Sprachen durch
die Structur der Rede anzuzeigen geſucht, wie weit eine
jede Conjunction ſich vor und nachwaͤrts ausdehne, und
dieſes bey kuͤrzern Ausdehnungen noch zienlich erhalten.
Bey laͤngern muß die Betrachtung der Sache ſelbſt
dieſer charakteriſtiſchen Vorſtellung des Zuſammenhan-
ges nachhelfen und ſeinen Umfang beſtimmen. Die ſyn-
tactiſche Regel, daß die Bindwoͤrter: und, auch, ſo-
wohl: als, gleichwie: ſo auch, entweder: oder,
weder: noch, zwar: aber, nicht: ſondern, ob-
ſchon: doch, ꝛc.
ſo viel es die Sache leidet, in den
Redensarten und Theilchen der Perioden eine achnliche
Conſtruction erfordern, findet ſich in allen Sprachleh-
ren. Daß dieſe Conſtruction viel Charakteriſtiſches
habe, und in allgemeinen Formeln vorgeſtellt werden
koͤnne, haben wir bereits oben (§. 232.) errinnert, und
eben ſo auch (§. 238.) die Verhaͤltniß zwiſchen dem
Coniunctiuo der Zeitwoͤrter und den Conjunctionen, die
ihn nach ſich ziehen, kuͤrzlich beruͤhrt, zugleich aber auch
angemerkt, daß die wirklichen Sprachen hierinn noch
charakteriſtiſcher ſeyn koͤnnten.



K 2Sieben-
[148]VII. Hauptſtuͤck.

Siebentes Hauptſtuͤck.
Von der Wortforſchung.


§. 247.


Bisher haben wir die einzelnen Redetheile nach ihren
Hauptclaſſen betrachtet, und dabey das Willkuͤhr-
liche von dem, was in der That Nothwendiges und
Metaphyſiſches darinn iſt, unterſchieden, und zugleich
auch mit angemerkt, was in verſchiedenen Abſichten zu
mehrerer Vollkommenheit der Sprachen, und beſonders
auch der deutſchen, als moͤglich zuruͤckbleibt. Wir
werden nun die Verwandſchaft der Woͤrter aus den ver-
ſchiedenen Claſſen der Redetheile etwas naͤher betrach-
ten, um die Moͤglichkeiten der Ableitung eines Wortes
aus dem andern, und uͤberhaupt die Bildung neuer
Woͤrter, genauer unterſuchen. Und hiebey werden uns
wirkliche und moͤgliche Sprachen aus den anfangs
ſchon angezeigten Gruͤnden (§. 72.) großentheils gleich-
guͤltig ſeyn.


§. 248. Es iſt nicht wohl anders moͤglich, als daß
man bey Einfuͤhrung einer durchaus neuen Sprache
Wurzelwoͤrter aus allen Claſſen der Redetheile anneh-
me, um die Ableitung jeder uͤbrigen Woͤrter kuͤrzer und
leichter zu machen, und der Sprache zugleich jede Voll-
ſtaͤndigkeit und die Moͤglichkeit der Vorſtellung jeden
Zuſammenhanges zu geben. Die Vollſtaͤndigkeit muß
uͤber dieß nicht nur ſo weit reichen, daß man jeden Ge-
danken nur etwan auf eine einzige Art vorſtellen koͤnne,
ſondern dieſes muß auf mehrere Arten moͤglich ſeyn,
weil gleichgeltende Ausdruͤcke und Redensarten einander
gleichſam zur Probe dienen, und das Wankende in der
Bedeutung der Woͤrter dadurch großentheils und leich-
ter
[149]Von der Wortforſchung.
ter vermieden wird, als wenn man in zweifelhaften
Faͤllen immer die Sache ſelbſt wieder vorzeigen muͤßte,
wie es etwan bey dem Urſprung der Sprachen geſche-
hen. Jn dieſer Abſicht iſt demnach eine Sprache viel
vollkommener, wenn ſie Stoff genug hat, jede Ausdruͤ-
cke und Redensarten auf mehrere Arten mit gleichgel-
tenden zu verwechſeln, (§. 136. Dianoiol.). Auch das
Definiren der Woͤrter und Begriffe wird dadurch er-
leichtert, und dieſes iſt beſonders bey ſolchen Woͤrtern
wichtig, deren Bedeutung, der Natur der Sache nach,
von unbeſtimmtem Umfange iſt, weil dieſer an jedem
Orte durch Zuziehung der beſtimmenden Woͤrter feſtge-
ſetzt werden kann, (§. 141.).


§. 249. Jn dieſer Abſicht finden wir in den wirkli-
chen Sprachen ganze Claſſen von Redetheilen, die auf
eine ſchlechthin charakteriſtiſche Art Abkuͤrzungen weit-
laͤuftigerer Ausdruͤcke ſind, und zu deren Erklaͤrung und
Beſtimmung dieſe letztere koͤnnen gebraucht werden.
Hieher gehoͤren uͤberhaupt die Mittelwoͤrter oder
Participia, weil man ſtatt derſelben durch eine bloß
grammatiſche Verwandlung immer eine gleichgeltende
Redensart oder Umſchreibung gebrauchen kann. Man
iſt auch zu dieſer Umſchreibung gleichſam genoͤthigt, wo
man aus einer Sprache in eine andere uͤberſetzt, welche
nicht alle Arten von Mittelwoͤrtern der erſten hat, wie
z. E. aus dem Griechiſchen ins Lateiniſche oder Deutſche.
Man wird eben ſo aus dem §. 237. ſehen, daß ſehr viele
Bindwoͤrter nur abgekuͤrtzte Ausdruͤcke von Redens-
arten ſind, durch welche die Art des Zuſammenhanges
der Rede umſtaͤndlicher oder umſchreibungsweiſe ange-
zeigt werden kann.


§. 250. Die Zuwoͤrter oder Aduerbia ſind eben-
falls auf eine minder nothwendige Art Wurzelwoͤrter,
weil ſie faſt alle von andern Redetheilen, z. E. von Vor-
woͤrtern und Beywoͤrtern, abgeleitet werden koͤnnen,
K 3§. 224.
[150]VII. Hauptſtuͤck.
(§. 224. 225.). Hingegen ſcheinen viele Jnterjectionen
um deſto natuͤlicher und nothwendiger Wurzelwoͤrter
zu ſeyn, weil ſie natuͤrliche Wirkungen der Affecten ſind
(§. 218.). Aber noch ungleich nothwendiger ſcheinen die
Vorwoͤrter unter die Wurzelwoͤrter zu gehoͤren. Denn
ſie druͤcken ſehr einfache Verhaͤltniſſe des Orts, der Zeit,
der Lage, der Urſeche und Wirkung aus (§. 212.), und
die Begriffe dieſer Verhaͤltniſſe ſind allerdings von den
Begriffen der Handlungen und Dinge ſelbſt, durchaus
verſchieden. Und da die urſpruͤngliche Bedeutung der
Vorwoͤrter Verhaͤltniſſe der Koͤrperwelt vorſtellen, de-
ren Empfindung man immer wieder damit verbinden
kann, ſo iſt auch dieſes ein Grund mit, warum ſie aller-
dings unter die erſten Woͤrter oder zu der Grundlage
einer Sprache gehoͤren, weil ſich bey dem erſten Ur-
ſprung der Sprachen keine andere Wurzelwoͤrter geden-
ken laſſen, als ſolche, deren Bedeutung durch Vorzei-
gung der Sache ſelbſt konnte bekannt gemacht werden.
Denn die Bedeutung eines Wurzelwortes iſt von der
Bedeutung jeder andern Woͤrter unabhaͤngig, weil es
eben dadurch ein Wurzelwort iſt. Man kann noch
mit anmerken, daß die Bedeutung der Vorwoͤrter ſich
auch dermalen noch nicht wohl anders als durch die
Darſtellung der Sache ſelbſt kenntlich machen laͤßt.


§. 251. Dieſe Bedingung, daß die Wurzelwoͤrter
urſpruͤnglich ſolche Dinge anzeigen muͤſſen, die in die
Sinnen fallen, ſchleußt die meiſten Bindwoͤrter aus,
und beſonders diejenigen, welche abſtractere Beſtim-
mungsbegriffe des Zuſammenhangs der Rede vorſtel-
len. Wir haben daher bereits (§. 233.) angemerkt, daß
ſolche Bindwoͤrter theils metaphoriſch, theils abgeleitet,
theils auch Abkuͤrzungen ſind. So z. E. ſcheint im
Deutſchen das Bindwort wenn anfaͤnglich nur eine
Bedingung der Zeit, nachgehends aber, wegen Aehn-
lichkeit des Eindruckes, jede andere Bedingung ange-
zeigt
[151]Von der Wortforſchung.
zeigt zu haben. Eben dieſes laͤßt ſich auch von dem
Bindwort wo oder wofeme anmerken. Ob die
Bindwoͤrter denn, daß, anfangs nur Geſchlechtswoͤrter
waren, bey ſchicklichen Anlaͤßen aber allgemeiner und
zu Bindwoͤrtern gemacht worden, laͤßt ſich nicht wohl
eroͤrtern. Man findet Verwandlungen der Bedeutung
in den Sprachen, die noch ungleich haͤrter ſind, und die-
ſe glaublich machen. Uebrigens laͤßt ſich leicht erach-
ten, daß die erſten Urheber der Sprachen ſich anfangs
mit der Moͤglichkeit, einzelne Saͤtze vorzuſtellen, begnuͤ-
gen mußten, und erſt nach und nach an ihre Verbin-
dung gedenken konnten. Denn die Bindwoͤrter ſind
ohnehin ein Gegenſtand und Werk der Vernunft und
der abſtracten Erkenntniß. Die Sprachen aber muß-
ten nothwendig bey den Sinnen anfangen. Auf dieſe
Art aber konnte z. E. das Bindwort und, welches un-
ſtreitig unter die erſten gehoͤrt, anfangs nicht wohl an-
ders als zum Zuſammenzaͤhlen einzelner Dinge, und et-
wan als ein Flickwort zum Fortſetzen der Rede ge-
braucht werden, ungeacht der Gebrauch deſſelben nun-
mehr vielfacher und allgemeiner iſt.


§. 252. Am nothwendigſten aber mußten die Be-
griffe der Handlungen und Subſtanzen und ihrer Ei-
genſchaften mit Wurzelwoͤrtern benennt werden, und
beſonders diejenigen, die oft als eben dieſelben wieder
vorkamen, weil eben dadurch auch der Anlaß, davon zu
reden, oͤfterer wurde. Die Schicklichkeit, die die Na-
tur ſelbſt anboth, dieſe erſte Grundlage der Sprache
ſehr unveraͤnderlich und kenntlich zu machen, haben wir
bereits oben (§. 121.) angezeigt, und werden ſie im Fol-
genden beſonders betrachten, weil die Woͤrter, deren
Bedeutung durch die Natur der Sache ſelbſt beſtimmt
und kenntlich iſt, gleichſam zum Maaßſtabe und Richt-
ſchnur jeder uͤbrigen dienen.


K 4§. 253.
[152]VII. Hauptſtuͤck.

§. 253. Wir haben ferner ebenſalls angemerkt
(§. 126.), daß die Sprachen viel zu weitlaͤuftig gewor-
den waͤren, wenn man nicht Mittel gefunden haͤtte, die
Anzahl der Wurzelwoͤrter auf mehrerley Arten geringer
zu machen, wodurch aus einem einzigen Wurzelwort ei-
ne ganze Claſſe von Woͤrtern zugleich und auf eine faſt
bloß charakteriſtiſche Art gebildet werden kann (§. 130.).
Zu dieſen Mitteln gehoͤren die Zuſammenſetzung, die
Ableitung, die Abaͤnderung und Abwandlung (§. 126.).
Die Etymologie oder die Wortforſchung iſt derjenige
Theil der Sprachlehre, worinn die Woͤrter auf dieſe
Art betrachtet werden, ungeacht in den Sprachlehren
der wirklichen Sprachen groͤßtentheils nur die Lehre
von der Abaͤnderung und Abwandlung der Nennwoͤr-
ter und Zeitwoͤrter und ihrer Anomalien vorkoͤmmt,
und hingegen die Ausforſchung der Wurzelwoͤrter und
der Bedeutung jeder Ableitungsart den Criticis und
Philologen uͤberlaſſen wird.


§. 254. Die Urſache hievon iſt, weil die Sprach-
lehren faſt alle nur fuͤr Anfaͤnger geſchrieben werden,
und uͤberdieß in den wirklichen Sprachen in der Ablei-
tung der Woͤrter, ſowohl der Form als der Bedeutung
nach, das Metaphyſiſche mit dem Willkuͤhrlichen gar
zu ſehr untermengt iſt, und unſtreitig viele Wurzelwoͤr-
ter, nebſt ihrer urſpruͤnglichen Geſtalt und Bedeutung,
in Vergeſſenheit gekommen. Dieſe Verwirrung und
Unvollſtaͤndigkeit machen den wichtigern Theil der Ety-
mologie bey den wirklichen Sprachen ſehr ſchwer, und
ihre Regeln von der Beſtimmung der Bedeutung ab-
geleiteter Woͤrter aus der Ableitungsart, in einem ge-
wiſſen Grade unzuverlaͤßig, ſo daß man ſie in vielen
Faͤllen hoͤchſtens nur als einen Anlaß zum Vermuthen
anſehen kann, die aus der Ableitungsart beſtimmte Be-
deutung des Wortes moͤchte mit der wirklichen uͤber-
einkommen, oder wenigſtens zu ihrer Erfindung den
Weg
[153]Von der Wortforſchung.
Weg bahnen. Wir haben einige Gruͤnde hievon be-
reits oben (§. 112.) kurz angezeigt, und werden nun die
verſchiedenen Faͤlle, die in den wirklichen Sprachen vor-
kommen, etwas naͤher betrachten, weil die Urſachen, die
in die Bedeutung abgeleiteter Woͤrter einen Einfluß
haben, nothwendig muͤſſen unterſchieden werden, damit
man wiſſe, was einer jeden zuzuſchreiben iſt, und wie
ferne man auf die Etymologie bauen koͤnne, zumal da
dieſer Theil der Sprachlehre in ſehr ungleicher Ach-
tung iſt.


§. 255. So viel iſt uͤberhaupt unſtreitig, daß die
Etymologie der Woͤrter dem Gedaͤchtniß große Erleich-
terung giebt, weil ohne dieſelbe alle Woͤrter der Spra-
che als von einander unabhaͤngig muͤßten angeſehen
werden. Dieſes waͤre aber der Abſicht und Vollkom-
menheit der Sprache zuwider, weil die Anzahl der Wur-
zelwoͤrter darinn ſo geringe, als moͤglich iſt, ſeyn ſolle.
Jn dieſer Abſicht waͤre demnach zu wuͤnſchen, daß nicht
nur die Wurzelwoͤrter einer Sprache, nebſt ihrer ur-
ſpruͤnglichen Bedeutung, durchaus bekannt waͤre, ſon-
dern auch die daraus abgeleiteten und zuſammengeſetz-
ten Woͤrter eine ihrer Ableitung und Zuſammenſetzung
gemaͤße Bedeutung erhalten haͤtten.


§. 256. An dieſen beyden Stuͤcken aber fehlt in
den wirklichen Sprachen viel. Denn einmal kann
man nicht ſagen, daß man in denſelben alle Wurzel-
woͤrter nebſt ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung und Ge-
ſtalt wuͤßte. Und daher entſteht die Aufgabe, wie
man aus den noch vorhandenen abgeleiteten Woͤrtern
die urſpruͤngliche Geſtalt und Bedeutung der Wurzel-
woͤrter, daraus ſie entſtanden ſind, finden ſolle? Jede
Sprache hat hierinn etwas eigenes. Beſonders aber
laͤßt ſich zum Behufe der deutſchen Sprache anmerken,
daß ſie in Provinzen, wo man an ihre Ausbeſſerung
noch wenig gedacht, und wo nicht die Einkehr fremder
K 5Voͤlker
[154]VII. Hauptſtuͤck.
Voͤlker zur Aenderung der Sprache beygetragen, die
urſpruͤngliche Bedeutung der Woͤrter unveraͤnderter ge-
blieben. Ein Wort iſt dadurch, daß es ein Provin-
zialwort iſt, von dem Buͤrgerrecht in der Sprache noch
nicht unmittelbar ausgeſchloſſen, und wird daſſelbe ver-
dienen, wenn es uͤberhaupt deutſch klingend, vom Poͤ-
belhaften frey, von beſtimmter und eigener Bedeutung,
und zu Ableitung noch mehrerer Woͤrter geſchickt iſt.
Es wird noch um deſto ehender taugen, wenn man be-
reits abgeleitete Woͤrter davon in der Sprache hat, wo-
von wir oben (§. 161.) Beyſpiele angezeigt haben.


§. 257. Ueberdieß kann ein Wurzelwort ſowohl in
ſeiner eigenen als in metaphoriſcher Bedeutung genom-
men, zur Ableitung anderer Woͤrter dienen, und ſelbſt
die abgeleiteten Woͤrter koͤnnen in einer Sprache un-
vermerkt durch mehrere Metaphern durchgefuͤhrt wer-
den. Und damit geht es noch immer leichter, ſo oft
dieſe Mittelſtuffen auf die Natur der Sache gegruͤndet
ſind. Denn auf dieſe Art laͤßt ſich etwan eine aus der
andern wieder finden, wiewohl man auch dabey gleich-
ſam genoͤthigt iſt, durch Beyſpiele und Autoritaͤten zu
beweifen, daß man ſich nicht geirret habe. Hingegen
wo das abgeleitete Wort ſich nicht ſo faſt auf die Sa-
che ſelbſt, als auf die Gedenkensart oder gar auf einen
Jrrthum des Urhebers gruͤndet, da taugt die Etymolo-
gie ſehr wenig, weil man hiſtoriſche Nachrichten muß
aufweiſen koͤnnen, daß dieſe oder jene Gedenkensart,
Vorurtheile, Jrrthuͤmer ꝛc. zu der Bedeutung des ab-
geleiteten Wortes Anlaß gegeben.


§. 258. Ferner koͤmmt es in einzeln Faͤllen und bey
Auslegung einer Stelle eines Autors nicht nur darauf
an, welche Bedeutung ein Wort zu ſeiner Zeit gehabt,
ſondern auch vornehmlich, mit welchem Begriffe es der
Autor in der vorgegebenen Stelle verbunden habe?
Hiezu hilft nun unſtreitig viel, wenn man uͤberhaupt die
Geden-
[155]Von der Wortforſchung.
Gedenkensart des Autors genauer kennt. Denn ſo
wird der Zuſammenhang der Rede ungleich beſſere
Dienſte thun, als die Etymologie des Wortes, zumal
wenn dieſe erſt weit muß hergeholt werden. Am aller-
wenigſten aber iſt es nothwendig, auf die Etymologie
zu ſehen, wo der Autor ſeine Worte durch Erklaͤrungen
beſtimmt, oder, wie es in den mathematiſchen Wiſſen-
ſchaften geſchieht, die Sache ſelbſt oder ihre Figur vor
Augen legt. Jn Ermanglung deſſen muß man aller-
dings den Zuſammenhang, die Etymologie und Paral-
lelſtellen zu Huͤlfe nehmen.


§. 259. Ein abgeleitetes Wort, deſſen in der Spra-
che eingefuͤhrte Bedeutung ſich auf einen Jrrthum
gruͤndet, kann, an ſich betrachtet, nicht wohl anders, als
ein Wurzelwort angeſehen werden, weil in Abſicht auf
dieſe Bedeutung der Gebrauch der Etymologie auf-
hoͤrt, und der Grund der Bedeutung nicht etymologiſch,
ſondern hiſtoriſch iſt. Hingegen koͤmmt der Gebrauch
der Etymologie dennoch dabey vor, wenn man unterſu-
chen will, was das abgeleitete Wort, vermoͤg ſeiner
Ableitung, haͤtte bedeuten koͤnnen. Denn koͤmmt ein
Begriff heraus, der moͤglich und brauchbar iſt, ſo iſt es
auch nicht unmoͤglich, dieſe Bedeutung durch behoͤrige
Anwendung des Wortes wieder in Aufnahm zu brin-
gen. Man ſehe, was wir oben (§. 130.) hieruͤber an-
gemerkt haben.


§. 260. Der weſentlichſte Nutzen der Etymologie
und zugleich ihre Hauptabſicht, geht eigentlich dahin,
daß das Charakteriſtiſche in den Sprachen, ſo
viel moͤglich iſt, bekannt gemacht, beybehalten
und erweitert werde.
Und dieſes iſt der oben
(§. 23.) angegebenen Grundregel fuͤr wiſſenſchaftliche
Zeichen vollkommen gemaͤß. Die Theorie der Zeichen
ſolle ſtatt der Theorie der Sache dienen koͤnnen. Die-
ſes wird nun in einer Sprache deſto beſſer erhalten, je
einfoͤr-
[156]VII. Hauptſtuͤck.
einfoͤrmiger und allgemeiner die Regeln ihrer Etymo-
logie ſind. Die Bemuͤhungen der Sprachforſcher ſind
demnach, in dieſer Abſicht betrachtet, nicht ohne Nut-
zen, beſonders wenn dabey das Metaphyſiſche von
dem Willkuͤhrlichen, Jrrigen und bloß Grammatiſchen
unterſchieden wird, und die Woͤrter in ſolchen Redens-
arten angegeben werden, in welchen ſie ihre urſpruͤngli-
che Bedeutung haben, und die ihnen ſtatt der Defini-
tion dienen koͤnnen. Die Beyfuͤgung der Redensar-
ten, worinn ſie ſtuffenweiſe metaphoriſch werden, und
ſich dadurch von ihrem buchſtaͤblichen Verſtande ent-
fernen, hilft ebenfalls den Schwung der Sprache und
die Art beſtimmen, wie ſie zu Nebenbedeutungen bieg-
ſam iſt.


§. 261. Wenn ein Wort aus einer Sprache in eine
andere aufgenommen oder eingefuͤhrt wird, ſo wird ge-
woͤhnlich etwas daran geaͤndert, daß es ſeine anfaͤngli-
che Geſtalt und Ausſprache nicht mehr behaͤlt. Dieſes
geſchieht, wie wir es oben ſchon angemerkt haben
(§. 84), theils der Ausſprache halber, theils auch um das
Wort der Art der Sprache gemaͤß klingen zu machen
(§. 79.). So z. E. geben wir im Deutſchen den la-
teiniſchen Zeitwoͤrtern eine Endung, die allem Anſehen
nach zur Abwandlung tauglicher geſchienen, weil ſie
auch in einigen urſpruͤnglich deutſchen Woͤrtern vor-
koͤmmt, dergleichen das Wort zieren oder auch ſchat-
tiren
zu ſeyn ſcheint, nach deſſen Form die Woͤrter re-
gieren, citiren
ꝛc. abgewandelt werden.


§. 262. Was wir aber hieruͤber in Anſehung der
Etymologie anzumerken haben, iſt, daß ſolche aus frem-
den Sprachen entlehnte Woͤrter in derjenigen Spra-
che, in welche ſie aufgenommen werden, nicht wohl fuͤr
anders als Wurzelwoͤrter angeſehen werden koͤnnen.
Denn wenn ſie es auch in ihrer eigenen Sprache nicht
ſind, ſo iſt doch die Ableitungsart allen denen, die dieſe
Sprache
[157]Von der Wortforſchung.
Sprache nicht verſtehen, unbekannt, und folglich traͤgt
ſie zu mehrerer Kenntniß der Bedeutung des Wortes,
in Anſehung der meiſten Leute, nichts bey. Wird aber
ſeine Bedeutung durch den Gebrauch oder durch Erklaͤ-
rungen bekannt, ſo iſt es allerdings wohl moͤglich, an-
dere Woͤrter daraus abzuleiten. So z. E. haben wir
im Deutſchen die Woͤrter Philoſoph, philoſophiſch,
philoſophiren
ꝛc. Man kann von dem erſten eine
etymologiſche und eine hiſtoriſche Erlaͤuterung angeben,
aber ſtatt beyder thut die Erklaͤrung der Sache ſelbſten
beſſere Dienſte, weil die Woͤrter dieſe nicht angeben.


§. 263. Wenn in der Veraͤnderung, die ein Wort
leidet, indem es aus einer Sprache in eine andere auf-
genommen wird, entweder nichts Allgemeines noch Re-
gelmaͤßiges vorkoͤmmt, oder wenn dieſe Regeln nicht
bekannt ſind, ſo iſt der etymologiſche Beweis der Her-
kunft deſto unzuverlaͤßiger, je unaͤhnlicher ein ſolches
Wort demjenigen iſt, von welchem man es herleiten
will, es ſey denn, daß man den Beweis nicht bloß aus
den Buchſtaben und der allgemeinen Moͤglichkeit ihrer
Verwechslung, oder aus einem aͤhnlichen Beyſpiele, ſon-
dern aus hiſtoriſchen Nachrichten hernehmen koͤnne.
Ueberdieß hat man mit allem dem noch nicht mehr ge-
wonnen, als daß man weiß, eine Sprache habe von ei-
ner andern abgeborgt. Man gewinnt auch nur in de-
nen Faͤllen mehr, wo die Sprache, aus welcher das
Wort entlehnt iſt, einen nuͤtzlichen und brauchbaren
Grund ſeiner Bedeutung angiebt, das will ſagen, wo
ſie die Seite beleuchtet, von welcher das Wort
die Sache vorſtellt.
So z. E. hat man in den
neuern Zeiten die Woͤrter Barometer, Thermometer ꝛc.
aus dem Griechiſchen gebildet, und ihre Etymologi
zeigt mehr oder minder ihre Bedeutung an. Aber
auch dieſe wird durch die Vorzeigung der dadurch [b]e-
nennten Jnſtrumente oder durch ihre Definition und
Be-
[158]VII. Hauptſtuͤck.
Beſchreibung ungleich vollſtaͤndiger, und den meiſten
kommen dieſe Namen nicht anders als Wurzelwoͤrter
vor, weil ſie den Begriff von der Sache haben, und
um den Urſprung ihres Namens nicht ſehr bekuͤmmert
ſind. Man iſt auch uͤberhaupt mehr daran gewoͤhnt,
ſich nur alsdann an den Namen zu halten, wo man den
Begriff nicht von der Sache ſelbſt herholen kann. Und
in dieſer Abſicht iſt die Etymologie eine Huͤlfswiſſen-
ſchaft, die man allerdings auch da, wo ſie uͤberfluͤßig
ſcheint, nicht verſaͤumen muß, damit ſolche leichtere Faͤl-
le den ſchwerern, wobey ſie nothwendiger wird, gleich-
ſam zur Probe dienen koͤnnen.


§. 264. Jndeſſen giebt die Etymologie nicht immer
die Sache oder den Begriff ganz, ſondern mehrentheils
nur eine Seite oder einen Theil, und zuweilen auch nur
etwas der Sache aͤhnliches, zuweilen auch etwas ganz
irriges, und zur Sache nicht dienendes an. Man muß
daher faſt immer den Zuſammenhang der Rede, Pa-
rallelſtellen, hiſtoriſche Nachrichten und die Umſtaͤnde
mit zu Huͤlfe nehmen, wenn man ſehen will, welche
von dieſen Moͤglichkeiten in einem vorgegebenen Falle
ſtatt findet. So z. E. koͤmmt in dem Wort Baro-
meter
nur der Begriff der Schwere und des Meſ-
ſens
vor. Der Etymologie nach koͤnnte es folglich je-
de Mittel, die Schwere zu beſtimmen, und folglich eine
Wage, Schnellwage, Weinprobe ꝛc. anzeigen. Und
wenn man es nicht ſonſt wuͤßte, ſo wuͤrde man ſchwer-
lich darauf verfallen, daß eigentlich nur das Gewicht
der Luft dadurch beſtimmt wird. Man wuͤrde eben ſo
Muͤhe haben, aus der Etymologie des Worts Dicht-
kunſt,
den Begriff des Sylbenmaaßes, und Verſe,
und noch viel weniger der Reimen herauszubringen.
Und der Begriff der Geometrie iſt ebenfalls viel hoͤ-
her, als ihn die Etymologie des Griechiſchen angiebt.


§. 265.
[159]Von der Wortforſchung.

§. 265. Man wird ohne Muͤhe den Grund dieſer
Unvollſtaͤndigkeit in der Art finden, wie neue Woͤrter
und neue Bedeutungen derſelben in den Sprachen auf-
kommen. Es geſchieht ſelten, daß wir das Weſen der
Dinge genau kennen, und noch ſeltener, daß abgeleitete
oder zuſammengeſetzte Woͤrter gefunden wuͤrden, daſſel-
be genau auszudruͤcken. Daher begnuͤgen wir uns, ſo
viel es die Sprache zulaͤßt, die Dinge mit Woͤrtern zu
benennen, welche die Sache wenigſtens von einer ge-
wiſſen Seite vorſtellen, oder ſie nach Aehnlichkeiten be-
nennen. Und es iſt klar, daß, ſo lange die Sache ſelbſt
vorhanden und bekannt iſt, das Etymologiſche in dem
Namen eben nicht als das Huͤlfsmittel, ſie zu erkennen,
angeſehen wird, und der Name eben ſo gut ein Wur-
zelwort oder von ganz andern Dingen hergenommen
ſeyn kann. So z. E. weiß man in der Mathematik,
was der pythagoriſche Lehrſatz, der Nonius,, ein
Orrery ꝛc. bedeuten, weil die Sache ſelbſt erklaͤrt, be-
ſchrieben oder vorgelegt wird. Die Worte aber geben
davon nichts an.


§. 266. Hingegen wird die Etymologie nothwen-
diger, wenn bald nichts mehr als die Worte uͤbrig blei-
ben, wie es in den abgelebten Sprachen geſchieht. Fuͤr
dieſe waͤre zu wuͤnſchen, daß alle Ableitungen darinn be-
deutend und richtig, und alle Stuffen, durch die jedes
Wort metaphoriſch geworden, bekannt, oder wenigſtens
nicht auf zufaͤllige Anlaͤße oder Jrrthuͤmer, ſondern auf
die Natur der Sache ſelbſt gegruͤndet waͤren. Ein
Wort, das ſich durch mehrere Stuffen von ſeiner erſten
Bedeutung oder auch von dem Begriffe ſeines Wurzel-
wortes entfernt, wird in dieſer entſerntern Bedeutung
gleichſam zu einem neuen Wurzelwort, weil man ſich
dabey der Aehnlichkeiten, durch die es ſich entfernt hat,
nicht mehr bewußt iſt. Es wuͤrde demnach nicht wohl
anders als eine ſchwuͤlſtige, uͤbertriebene und unnatuͤr-
liche
[160]VII. Hauptſtuͤck.
liche Metapher klingen, wenn man ſich an den buch-
ſtaͤblichen Verſtand halten, und nach demſelben uͤberſet-
zen wollte. Man weiß, daß die buchſtaͤblichen Ueber-
ſetzungen aus den morgenlaͤndiſchen Sprachen auf dieſe
Art, und faſt uͤbertrieben metaphoriſch klingen, und al-
lem Anſehen nach wuͤrde viel davon wegfallen, wenn
man in den Ueberſetzungen| nicht die Worte, ſondern
die Gedanken der Morgenlaͤnder auszudruͤcken, durch-
aus im Stande waͤre. Denn Metaphern, die zu Na-
men der Dinge werden, hoͤren dadurch auf, Metaphern
zu ſeyn, und in der Ueberſetzung taugt der Name der
Sache ſelbſt, wenn einer vorhanden iſt, beſſer, als die
buchſtaͤbliche Ueberſetzung des Wortes.


§. 267. Da die Etymologie die Sache ſelten ganz
angiebt, ſondern ſie nur von einer gewiſſen Seite vor-
ſtellt (§. 265.), ſo entſteht oͤfters auch die Frage, wie
ferne ſich die Luͤcke ausfuͤllen laſſe, die dabey zuruͤcke
bleibt? Dieſes geht nun bey koͤrperlichen Dingen, die
an ſich ein Ganzes ausmachen, in ſo ferne leichter an,
daß man wenigſtens mit Zuziehung des Zuſammen-
hanges die Claſſe oder Gattung finden kann, worunter
die Sache gehoͤret, z. E. ob es eine Pflanze, Thier,
Werkzeug ꝛc. ſey? Hingegen bey abſtracten Begrif-
fen, deren Umfang an ſich mehrentheils unbeſtimmt
und veraͤnderlich iſt (§. 139. Alethiol.), wird auch der
Gebrauch der Etymologie in ſo ferne unſicherer, als
dieſe Begriffe uͤberhaupt ſchwerer zu beſtimmen ſind,
und die Sache nicht im Ganzen und ohne eingemengte
Nebenbegriffe vorgelegt werden kann, beſonders auch,
wenn nur eine Aehnlichkeit des Eindrucks zum Grunde
liegt. Das Willkuͤhrliche in dem Umfang ſolcher Be-
griffe kann ſich oͤfters auf ganze Syſtemen ausdehnen,
in welchen man noch Deutlichkeit und Wahrheit findet,
ſo lange noch Leute ſind, die den Umfang ihrer Begriffe
darnach von Jugend auf abzirkeln und einrichten. Wer
aber
[161]Von der Wortforſchung.
aber ſich dieſe Muͤhe nicht nimmt, oder anderer Beſtim-
mungen ſolcher Begriffe gewohnt iſt, der wird das gan-
ze Syſtem ſehr leicht, und oͤfters mehr als es verdiente,
einer Verwirrung, Dunkelheit oder leeren Wortkrams
beſchuldigen (§. 194.). Die ſogenannten Kunſtwoͤrter,
Termini technici, welche nicht durch Vorlegung der
Sache, ſondern hoͤchſtens nur durch Worterklaͤrungen
koͤnnen beſtimmt werden, und deren die Schulphiloſo-
phie voll war, ſind dieſer Aenderung und den daraus
entſtehenden Folgen vorzuͤglich unterworfen. Man ge-
braucht ſie als Abkuͤrzungen ſtatt der Definitionen, und
in ſo ferne dienen ſie dem, der ſich daran gewoͤhnt hat.
Jn Anſehung anderer werden ſie oͤfters fuͤglicher und
mit Vermeidung vieler Wortſtreite weggelaſſen, und
die Definitionen an deren ſtatt gebraucht. Wir ma-
chen hier dieſe Anmerkung, weil ſie zugleich zeigt, daß
die Etymologie dieſen Schwierigkeiten wenig oder gar
nicht abhilft, nachdem ſie einmal da ſind. Sie giebt
nur einen Theil des Begriffes, oder auch nur einen
aͤhnlichen Begriff, an, die Schwierigkeiten aber betref-
fen den Begriff ſelbſt und deſſen Umfang.


§. 268. Die Etymologie giebt an ſich nur den
buchſtaͤblichen Verſtand der abgeleiteten Worte, ſo fern
er durch den Begriff des Wurzelwortes und der Ablei-
tungstheilchen beſtimmt werden kann. Der Gebrauch
zu reden verurſacht aber oͤfters, daß das abgeleitete
Wort in ſeinem buchſtaͤblichen Verſtande nicht vor-
koͤmmt, oder laͤngſt ſchon in Abgang gekommen. Er-
ſteres kann ſich auf verſchiedene Arten zutragen. Denn
einmal iſt es moͤglich, daß der, ſo das abgeleitete Wort
zuerſt aufgebracht hat, von dem Wurzelwort, oder von
der Ableitungsart, oder endlich auch von der Sache, die
er damit benennte, irrige Begriffe hatte. Jn allen die-
ſen Faͤllen bleibt die Etymologie ohne Gebrauch (§.
259.). Sodann iſt es auch moͤglich, daß das abgeleitete
Lamb. Organon II B. LWort
[162]VII. Hauptſtuͤck.
Wort gleich anfangs in einem metaphoriſchen Verſtan-
de genommen, und folglich ſtatt der Sache, die es dem
Buchſtaben nach haͤtte bedeuten ſollen, eine aͤhnliche da-
durch vorgeſtellt werde, welches um deſto leichter geſche-
hen kann, wenn ſelbſt das Wurzelwort ſchon metapho-
riſch vorkoͤmmt, oder wenn die Aehnlichkeit des Ein-
druckes, den beyde Sachen machen, an ſich ſehr natuͤr-
lich iſt (§. 257.). Jn allen dieſen Faͤllen aber bleibt
es dennoch immer moͤglich, den buchſtaͤblichen Verſtand
des abgeleiteten Wortes wiederum in Aufnahm zu brin-
gen (§. 130.).


§. 269. Die Etymologie gruͤndet ſich auf die Theo-
rie der Zuſammenſetzungs-und Ableitungsart, und be-
ſonders der Bedeutung der Ableitungstheilchen und
Ordnung, wie die Wurzelwoͤrter zuſammengehaͤngt,
oder mit den Ableitungstheilchen verbunden werden.
Jede Sprache hat darinn etwas beſonderes, welches
von dem erſten Schwunge herruͤhrt, den ſie in ihrer
Bildung nimmt, und der zugleich den Grund zu der
Aehnlichkeit oder Analogie legt, nach welcher man ſich
nachgehends in Bildung und Beurtheilung jeder neuen
Woͤrter richtet. Da die Sprachen den Sprachlehren
bisher noch immer vorgegangen ſind, ſo iſt ſich auch
nicht zu verwundern, wenn in den Sprachen ſelbſt Ab-
weichungen vorkommen, und die Regeln der Etymolo-
gie nicht, ſo viel es ſonſt moͤglich waͤre, ohne Ausnah-
men ſind. Die Sprachlehrer muͤſſen a poſteriori ge-
hen, und jede allgemeinere Aehnlichkeiten in der Spra-
che als Regeln anſehen. Auf dieſe Art laͤßt ſich auch
die Bedeutung der Ableitungstheilchen groͤßtentheils
nur a poſteriori finden, und die Vieldeutigkeiten in den-
ſelben aus einander leſen. Wir haben in den vorher-
gehenden Hauptſtuͤcken Anlaͤße gehabt, anzumerken,
was in dieſer Abſicht zum Behufe der deutſchen Spra-
che beſonders, zu thun bleibe, und wie das Metaphyſi-
ſche,
[163]Von der Wortforſchung.
ſche, ſo darinn ſehr haͤufig vorkoͤmmt, den Grund zu
einer ihr eigenen Theorie angeben koͤnne.


§. 270. Die Ableitungstheilchen geben uͤberhaupt
die Veraͤnderung in der Bedeutung an, die das Wur-
zelwort durch die Ableitung erhaͤlt. Sie betreffen dem-
nach gewiſſe allgemeine metaphyſiſche Verhaͤltnißbe-
griffe, die entweder bey jeden Dingen, oder wenigſtens
bey Dingen von einerley Art, vorkommen. Wir ha-
ben oben (§. 131.) ſchon angemerkt, daß in den wirkli-
chen Sprachen ſchwerlich alle getroffen worden, und bis
die Metaphyſik nicht an Begriffen vollſtaͤndiger iſt,
wird ſich nicht wohl an eine erweisbare Abzaͤhlung der-
ſelben gedenken laſſen, und noch ſchwerer wird es ſeyn,
die noch mangelnden in den Sprachen einzufuͤhren.
Wir wollen daher nur ſo viel davon anmerken, als die-
nen kann, ihre Menge anzuzeigen, und daß allerdings
mit einem Worte viele andere gegeben ſind.


§. 271. Das Wurzelwort ſey ein Zeitwort, und ſtel-
le folglich eine Handlung oder Veraͤnderung vor; ſo
wird an ſich ſchon dem Thun das Leiden entgegen
geſetzt. Ferner kann die Handlung als angehangen,
als bald vollendet, als durchaus vollendet, als
oͤfters vorkommend, als wiederholt, als ſtaͤrker
oder ſchwaͤcher, als moͤglich, als nothwendig ꝛc.
angeſehen, und jede von dieſen Beſtimmungen durch
Ableitungstheilchen angezeigt werden, die von dem
Wurzelworte trennbar ſind. Jede Verhaͤltniſſe der
Zeit und des Ortes (§. 213. 159.) geben ebenfalls ſol-
che Beſtimmungen. Sodann kommen bey Veraͤnde-
rungen und Handlungen die Urſache, Wirkung,
Abſicht, Mittel, Materie,
der Thuende, das
Gewirkte, die Aenderung der Verhaͤltniſſe,
Eigenſchaften, Stuffen
ꝛc. vor, welche durch
Hauptwoͤrter angezeigt werden koͤnnen, die ſich von dem
L 2Wur-
[164]VII. Hauptſtuͤck.
Wurzelworte oder von den davon abgeleiteten und naͤ-
her beſtimmten Zeitwoͤrtern bilden laſſen.


§. 272. Das Wurzelwort ſey ein Hauptwort, und
zeige folglich ein Ding an, ſo laſſen ſich davon die
Handlungen benennen, die man damit vornehmen
kann, und dieß giebt Zeitwoͤrter. Ferner giebt es Bey-
woͤrter, in ſo ferne die Sache als andern anhaͤngig,
oder als ein Beſtimmungsſtuͤck von andern angeſe-
hen werden kann. Die Verwandlungen, die ſie lei-
der,
die dadurch koͤnnen gewirkt werden, ihre Urſa-
che
ꝛc. laſſen ſich ebenfalls durch Ableitungstheilchen,
und daraus gebildete Hauptwoͤrter ausdruͤcken. Wenn
hingegen das Wurzelwort ein Beywort iſt, und folg-
lich eine Eigenſchaft oder Verhaͤltniß anzeigt, ſo laͤßt
ſich auch hinwiederum die Sache daher benennen, de-
ren es zukoͤmmt, die Handlungen, dadurch die Ei-
genſchaft gewirkt oder veraͤndert wird, die Urſache,
wodurch dieſes geſchieht, und von jeden dieſen Stuͤcken
koͤnnen auch die verſchiedenen Modificationen durch Ab-
leitungstheilchen naͤher beſtimmt werden. Ueberdieß
laͤßt ſich jedes Beywort in ein Zuwort verwandeln,
und dadurch wird es zu einem Beſtimmungsſtuͤck von
Handlungen gemacht (§. 224.).


§. 273. Es iſt klar, daß man auch hiebey wieder-
um den Ruͤckweg nehmen, und aus einem Zuwort,
wenn es ein Wurzelwort iſt, ein Beywort machen
kann. Wir haben dieſes bereits ſchon (§. 228.) ange-
merkt, und dabey zugleich auch errinnert, daß die Vor-
woͤrter ſowohl Ableitungstheilchen als Zuwoͤrter ange-
ben koͤnnen. Da endlich die Bindwoͤrter ſich durch
Abſtracta erklaͤren laſſen (§. 237.), ſo iſt gar kein Zwei-
fel, daß dieſe Abſtracta nicht unmittelbar von den
Bindwoͤrtern ſollten abgeleitet werden koͤnnen. Dieß
will nun nicht ſagen, daß alle die bisher angefuͤhrten
Moͤglichkeiten in den wirklichen Sprachen vorkommen,
oder
[165]Von der Wortforſchung.
oder daß es leicht waͤre, fuͤr dieſelben ganz neue Ablei-
tungstheilchen und Ableitungsarten einzufuͤhren. Die
Luͤcken, ſo in dieſer Abſicht zuruͤcke bleiben, zeigen nur
an, daß das Metaphyſiſche in den Sprachen mit dem
Charakteriſtiſchen viel allgemeiner und genauer koͤnnte
verbunden ſeyn, als es wirklich iſt, und daß der Erfin-
der einer wiſſenſchaftlichen Sprache hieruͤber eine aus-
fuͤhrliche Zergliederung jeder Moͤglichkeiten und Claſ-
ſen vornehmen muͤßte, damit die Theorie des Charak-
teriſtiſchen ſtatt der Theorie der Sache dienen moͤge.
Denn die abgeleiteten Woͤrter ſollen wiſſenſchaftlich
ſeyn, und ihre Bedeutung durch den Begriff des Wur-
zelwortes und der Ableitungsart, als durch Data be-
ſtimmt werden koͤnnen.



Achtes Hauptſtuͤck.
Von der Wortfuͤgung.


§. 274.


Wir haben im obigen (§. 39.) ſchon angemerkt, daß
zu der Zeichenkunſt noch die Verbindungskunſt
der Zeichen erfordert werde. Von der erſtern dieſer
Wiſſenſchaften koͤnnen wir, in Abſicht auf die Sprache,
die Ortographie und Etymologie als Theile anſehen,
weil darinn die Bildung und Zeichnung der Woͤrter
abgehandelt wird. Da man aber damit noch nicht
ausreicht, weil nicht jede Woͤrter mit jeden andern ver-
bunden, einen Verſtand geben, ſo haben die Sprach-
lehrer ſich auch um die Verbindung der Woͤrter einer
Sprache umgeſehen, und ſie, ſo viel ſichs thun ließe, in
Regeln gebracht. Der Jnnbegriff dieſer Regeln heißt
die Wortfuͤgung oder Syntaxe, und macht daher
L 3aller-
[166]VIII. Hauptſtuͤck.
allerdings einen Theil der allgemeinen Verbindungs-
kunſt der Zeichen aus.


§. 275. Die Wortfuͤgung beſchaͤfftigt ſich uͤberhaupt
mit zweyen Stuͤcken. Einmal beſtimmt ſie die Ord-
nung, in welcher die Woͤrter in einer Rede auf
einander folgen ſollen,
und dieſes geht ſowohl auf
die veraͤnderlichen als unveraͤnderlichen Redetheile.
Sodann beſtimmt ſie in Abſicht auf die veraͤnderlichen
Redetheile, dergleichen die Zeitwoͤrter und Nennwoͤr-
ter ſind, wie dieſe in jeder Rede veraͤndert wer-
den ſollen.


§. 276. Der haͤufige Unterſchied, der ſich hiebey in
den wirklichen Sprachen aͤußert, und fuͤr jede eine ihr
eigene Syntaxe fordert, zeigt uͤberhaupt das viele Will-
kuͤhrliche in denſelben an, weil bald jede Sprache eine
beſondere Ordnung und Conſtruction ihrer Woͤr-
ter und Redensarten hat. Da wir aber hier eben ſo-
wohl auf das Moͤgliche als auf das Wirkliche in der
Sprache ſehen, ſo werden wir uns auch an den beſon-
deren Anomalien der wirklichen Sprachen nicht viel
aufhalten, ſondern vielmehr unterſuchen, was die Syn-
taxe
ſeyn ſollte, und ſeyn wuͤrde, wenn die Sprachen
wiſſenſchaftlicher waͤren.


§. 277. Zu dieſem Ende koͤnnen wir aus dem §. 23.
wiederholen, daß die Theorie wiſſenſchaftlicher
Zeichen mit der Theorie der Sache ſelbſt ſolle
koͤnnen verwechſelt werden.
Von dieſer Regel
erfuͤllen die wirklichen Sprachen in ſo ferne die Haͤlfte,
als wir Woͤrter und Redensarten haben, eine jede Wahr-
heit, die wir denken oder empfinden, auf eine nette und
beſtimmte Art auszudruͤcken. Die Moͤglichkeit hierinn
geht auch nicht viel weiter, als ſo fern wir Woͤrter ha-
ben, weil wir in Anſehung anderer Zeichen noch zu viel
zuruͤcke bleiben. Es giebt demnach, in Abſicht auf die
Wahr-
[167]Von der Wortfuͤgung.
Wahrheit, und im ſtrengſten Verſtande, was Horaz
den Dichtern anraͤth:


Scribendi recte ſapere eſt et principium et fons,
Verbaque prouiſam rem non inuita ſequentur.

Denn die ſymboliſche Erkenntniß iſt uns ein unentbehr-
liches Huͤlfsmittel zum Denken (§. 12.). Und nette Be-
griffe ſind bey uns faſt nothwendig mit dem Bewußt-
ſeyn ihrer Namen verbunden.


§. 278. Wieferne aber die andere Haͤlfte der erſt
angefuͤhrten Regel in Anſehung der Syntaxe erhalten
werden koͤnne, iſt eine ganz andere Frage. Sie wuͤr-
de vollſtaͤndig erhalten, wenn in jeden Redensarten das
grammatiſch richtige oder unrichtige, auch zugleich me-
taphyſiſch richtig oder unrichtig waͤre (§. 128.). So
aber ſind die wirklichen Sprachen nicht durchaus be-
ſchaffen. Denn ungeacht wir allerdings ſtatt der Sa-
chen die Worte klar gedenken, ſo koͤnnen wir es doch
nicht ſchlechthin auf die Worte ankommen laſſen, ſon-
dern muͤſſen immer das Bewußtſeyn ihrer Bedeutung
mit zu Huͤlfe nehmen. Und da dieſes Bewußtſeyn,
wo die Sache nicht unmittelbar empfunden wird, nur
dunkel iſt, ſo iſt es auch moͤglich, daß wir Woͤrter zu-
ſammenbringen, die in ihrer Verbindung gar nichts
vorſtellen (§. 21.). Um ſo viel noͤthiger und wichtiger
waͤre es demnach, wenn man es den Worten anſehen
koͤnnte, ob ſie einen moͤglichen und richtigen Verſtand
geben. Hiezu aber wuͤrde erfordert, daß die Sprachen
mehr Metaphyſiſches haͤtten, als ſie wirklich haben,
und dadurch wuͤrde von dem Willkuͤhrlichen in der
Erwaͤhlung der Wurzelwoͤrter, ihrer Endungen und
Ableitungstheilchen ſehr viel wegfallen.


§. 279. Denn ſo haben wir z. E. in Anſehung der
Conjugationen und Declinationen, imgleichen auch in
Anſehung der Fallendungen und Geſchlechter der Haupt-
woͤrter (§. 156. 185. 178. 182. ſeqq.) angemerkt, daß ſie
L 4aller-
[168]VIII. Hauptſtuͤck.
allerdings bedeutend ſeyn koͤnnten. Auf dieſe Art aber
haͤtte man nicht mehr die Wahl, jede Sache durch je-
des Wort vorzuſtellen, weil die Bildung des Wortes
die Claſſe der Dinge und Handlungen beſtimmen wuͤr-
de, welche es bedeuten koͤnnte, und wodurch die ſyntacti-
ſchen Regeln charakteriſtiſcher wuͤrden. Dieſe Erleich-
terung der Syntaxe wuͤrde demnach die Etymologie,
und uͤberhaupt die Benennung der Dinge, ſchwerer
machen, ohne daß die Moͤglichkeit, zu irren, gehoben
wuͤrde.


§. 280. Jndeſſen haben die wirklichen Sprachen
in ihrer Syntaxe noch vieles, das ſich aus allgemeinen
Gruͤnden beſtimmen und rechtfertigen laͤßt. Die
Schwierigkeit koͤmmt nur darauf an, es von dem Hy-
pothetiſchen und Willkuͤhrlichen zu trennen und auszu-
leſen. Das Charakteriſtiſche in vielen Ableitungsarten
iſt ſehr allgemein (§. 249. ſeqq.), und ungeacht es nur
auf einzelne Woͤrter geht, ſo hat es dennoch auf ganze
Redensarten einen Einfluß, theils, weil es ſie beſtimm-
ter macht, theils auch, weil es abkuͤrzt und Umſchreibun-
gen erſpart.


§. 281. Vornehmlich aber gehoͤrt die oben (§. 145.)
ſchon erwaͤhnte Regel hieher, daß naͤmlich eine Re-
densart wenigſtens ein Zeitwort haben muͤſſe.

Die Zeitwoͤrter ſind naͤmlich vor allen andern Rede-
theilen aus mit ſo vielen Nebenbeſtimmungen verbun-
den, daß ſie oͤfters auch ganz allein eine Redensart vor-
ſtellen koͤnnen. Das: Veni, vidi, vici, des Caͤſars,
mag zum Beyſpiele dienen. Das Thun, die Art des
Thuns, das Anzeigen, die Zeit, Zahl und Perſon, ſind
in jedem dieſer drey Woͤrter zugleich beſtimmt. Was
uͤber jede dieſer Arten von Beſtimmungen anzumerken,
haben wir in dem vierten Hauptſtuͤcke umſtaͤndlich an-
gezeigt. Sie ſcheinen deswegen in den Zeitwoͤrtern
ſelbſt mitgenommen zu ſeyn, weil ſie mehrentheils leicht
ſind,
[169]Von der Wortfuͤgung.
ſind, und eine Menge anderer Woͤrter dadurch erſpart
wird, und weil ſie mit dem Begriffe des Thuns und
Leidens an ſich auch immer verbunden ſind.


§. 282. Die Zeitwoͤrter ſind nicht wohl anders als
anzeigens-und befehlsweiſe allein. Denn der Con-
iunctiuus
fordert entweder Bindwoͤrter, oder er bezieht
ſich auf das vorhergehende der Rede. Der Infiniti-
uus
koͤmmt zwar in der einfachſten Form der Aufgaben
und Fragen vor (§. 148.), allein er iſt gewoͤhnlich mit
dem Namen der Sache, die zu thun vorgegeben oder
gefragt wird, verbunden, weil die Aufgaben faſt immer
beſtimmter ſind, als der Begriff des Zeitworts.


§. 283. Die unmittelbarſten Beſtimmungswoͤrter,
die ſich den Zeitwoͤrtern zuſetzen laſſen, ſind die Zuwoͤr-
ter oder Aduerbia, weil dieſe die Art und Modification
der Handlung, die das Zeitwort anzeigt, ſelbſten naͤher
beſtimmen. Z. E. geſchwinde gehen, lange ver-
weilen, viel leſen, oft denken
ꝛc. Solche Beſtim-
mungen geben noch immer fuͤr ſich verſtaͤndliche Re-
densarten, wenn das Zeitwort anzeigens-oder befehls-
weiſe genommen wird. Die Moͤglichkeit, jede Zuwoͤr-
ter mit jeden Zeitwoͤrtern zu verbinden, iſt zwar aller-
dings grammatiſch allgemein. Sie iſt es aber nicht
metaphyſiſch, und wird in Jndividualfaͤllen auf be-
ſtimmte Woͤrter eingeſchraͤnkt, wo man naͤmlich die
Sache mit ihrem eigentlichen Namen benennen muß.
Es iſt auch fuͤr ſich klar, daß die Einſchraͤnkung noch
groͤßer wird, wenn man mehrere Zuwoͤrter mit einem
oder auch mit mehrern Zeitwoͤrtern zuſammen aufhaͤuft,
oder eine zuſammengeſetzte Veraͤnderung mit zuſam-
mengeſetzten Beſtimmungen vorzuſtellen hat.


§. 284. Die Jnterjectionen oder Zwiſchenwoͤrter ha-
ben theils fuͤr ſich ſchon einen Verſtand, weil ſie oͤfters
ganz allein gebraucht werden (§. 219.), theils koͤnnen ſie
mit Nennwoͤrtern und Zeitwoͤrtern verbunden, naͤher
L 5anzeigen,
[170]VIII. Hauptſtuͤck.
anzeigen, worauf ſie ſich beziehen, ungeacht ſie eben nicht
nothwendig zum Zuſammenhang der Rede gehoͤren,
und unter allen Redetheilen davon am meiſten unab-
haͤngig ſind, (§. 220.). Jndeſſen laſſen ſie ſich in den
wirklichen Sprachen auch mit einigen Conjunctionen
verbinden, und ziehen in den Zeitwoͤrten den Coniun-
ctiuum
oder Optatiuum nach ſich, wie z. E. Ach daß
du die Himmel zerriſſeſt, und fuͤhreſt herab,
ꝛc.
Bey Unterſuchung und Erfindung der Wahrheit, und
daher bey dem wichtigern Gebrauch der Sprache aber
ſind ſie entbehrlich, weil das Gemuͤth dabey ruhiger
ſeyn ſolle (§. 220.).


§. 285. Die Bindwoͤrter koͤnnen ebenfalls in den
einfachſten Redensarten mit den Zeitwoͤrtern allein ge-
braucht werden, und auf dieſe Art bilden ſie die einfach-
ſte Form von zuſammengeſetzten Redensarten und Pe-
rioden, die auch bleibt, wenn gleich eine Menge von an-
dern Redetheilen mit eingeflochten wird. Wir haben
dieſer Form bereits oben (§. 232.) Erwaͤhnung gethan,
und eben ſo auch (§. 238.) angemerkt, welchen Einfluß
die Bindwoͤrter in den Sprachen auf die Form der Zeit-
woͤrter haben.


§. 286. Es waͤren aber die meiſten Redensarten
und Perioden noch lange nicht beſtimmt genug, wenn
nicht noch die Nennwoͤrter hinzukaͤmen. Denn die
Zeitwoͤrter zeigen nur die Handlung oder Veraͤnderung
an ſich an, die Zuwoͤrter beſtimmen ebenfalls nur ihre
Modificationen. Dabey bleibt aber noch unausge-
macht, wer die Handlung thut, worauf ſie geht, und in
Anſehung welcher Dinge und Verhaͤltniſſe eine Veraͤn-
derung dabey vorgeht. Um dieſes anzuzeigen, werden
Hauptwoͤrter, und wo es noͤthig iſt, zu deren naͤhern
Beſtimmung noch Beywoͤrter erfordert. Dieſe beyden
Claſſen von Redetheilen ſind nun in den Sprachen
nicht unveraͤnderlich. Sie koͤnnen durch die Fallendun-
gen
[171]Von der Wortfuͤgung.
gen durchgefuͤhrt, in der einzeln oder mehrern Zahl ge-
nommen werden, und uͤberdieß unterſcheiden ſie ſich den
Declinationen und Geſchlechtern nach, und wo ſie in ge-
wiſſen Verhaͤltniſſen vorgeſtellt werden muͤſſen, da neh-
men ſie noch Vorwoͤrter zu ſich.


§. 287. Wir haben das viele Willkuͤhrliche, das
Unvollſtaͤndige und Ungegruͤndete, ſo bey allem dieſem
in den wirklichen Sprachen vorkoͤmmt, bereits in dem
fuͤnften Hauptſtuͤcke umſtaͤndlich durchgegangen. Und
aus der Betrachtung deſſelben wird leicht erhellen, daß
es einen merklichen Einfluß in die Regeln der Syntaxe
habe, und dieſelben weniger einfach ſeyn laſſe, ſondern
mit ſehr vielen Anomalien anfuͤlle, die nicht in dem Me-
taphyſiſchen ſondern ſchlechthin in dem Willkuͤhrlichen
der Sprachen ihren Grund haben, und folglich eben
dadurch bloß grammatiſch ſind, weil man die wirklichen
Sprachen nehmen muß, wie man ſie findet. Wir
wollen dieſes nur in einigen ſehr allgemeinen Beyſpie-
len anzeigen.


§. 288. Einmal haben wir bereits (§. 182. ſeqq.)
angemerkt, daß der Unterſchied der Geſchlechter bey den
Hauptwoͤrtern wenig metaphyſiſches hat, daß die Bil-
dung der Hauptwoͤrter ſie nicht angiebt, daß er ſchlecht-
hin dient, die Abaͤnderung der Artikel und Beywoͤrter
darnach zu richten, und daß ſtatt der drey in den
Sprachlehren benennten Geſchlechter andere gewaͤhlt
werden koͤnnten, die metaphyſiſcher waͤren, und auf das
Charakteriſtiſche der Sprachen einen nuͤtzlichern Einfluß
haͤtten, daß endlich eben dieſes auch von dem Unterſchie-
de der Declinationen gelte. Es iſt offenbar, daß wenn
die wirklichen Sprachen ſtatt dieſer Maͤngel die entge-
gengeſetzten Vollkommenheiten haͤtten, die Regeln der
Syntaxe dabey ungleich einfoͤrmiger und einfacher wuͤr-
den. Die Geſchlechter wuͤrden nicht auf die Beywoͤr-
ter geſchoben, weil die Hauptwoͤrter ſie an ſich ſchon
durch
[172]VIII. Hauptſtuͤck.
durch ihre Form oder Endungen angeben wuͤrden. Hin-
gegen waͤren ſie auf eine ganz andere Art bedeutend,
und koͤnnten dienen, die Claſſe der Dinge kenntlich zu
machen, worunter die Sache gehoͤrt, oder die Verhaͤlt-
niſſe anzuzeigen, in welchen ſie gegen einander und ge-
gen die Handlungen oder Veraͤnderungen ſtehen, welche
durch die Zeitwoͤrter angegeben werden, zumal wenn
dieſe ſelbſt auch den Conjugationen nach in Claſſen ge-
theilt waͤren, (§. 156.).


§. 289. Mit dem Unterſchiede der Fallendungen
geht es in den wirklichen Srachen nicht viel beſſer. Sie
ſind nicht ſo vollſtaͤndig abgezaͤhlt, als es ſeyn koͤnnte
(§. 178. ſeqq.), und auch ihre Verhaͤltniſſe zu den Zeit-
woͤrtern und Vorwoͤrtern koͤnnten ungleich metaphyſi-
ſcher und daher auch charakteriſtiſcher ſeyn. Was in
Anſehung der Vorwoͤrter abgeht und unordentlich iſt,
haben wir oben (§. 209. ſeqq.) ſchon angezeigt. Und
in Anſehung der Zeitwoͤrter findet man es ebenfalls,
wenn man aus einer Sprache in die andere uͤberſetzt,
weil da mit einerley Zeitwoͤrtern ganz verſchiedene Fall-
endungen verbunden werden.


§. 290. Der eigentlich ſo genannte Nennfall,
Nominatiuus, ſcheint vor den uͤbrigen etwas voraus zu
haben. Er bezieht ſich auf die Frage: Wer? und dieſe
laͤßt ſich allerdings bey jeden Redensarten machen.
Man hat in den Sprachen, die Faͤlle, wo er doppelt
vorkoͤmmt, dadurch unterſchieden, daß man die Zeitwoͤr-
ter, die vor und nach ſich einen Nominatiuum haben,
mit beſondern Namen benennt hat. Dergleichen ſind
im Lateiniſchen die Verba ſubſtantiua, die Paſſiua nun-
cupandi, exiſtimandi, cognoſcendi,
ꝛc. Jn der That
ſcheint es auch die Sache ſelbſt mit ſich zu bringen, hin-
gegen unterſcheiden ſich dieſe Woͤrter durch nichts cha-
rakceriſtiſches, und man muß ſie theils aus der Bedeu-
tung, theils aus dem Gebrauche kennen lernen.


§. 291.
[173]Von der Wortfuͤgung.

§. 291. Die uͤbrigen Fallendungen haben nicht ſo
viel Metaphyſiſches. Jhre Verhaͤltniß zu den Zeit-
woͤrtern iſt nicht genau beſtimmt, und ſelbſt die Form
der Zeitwoͤrter beut wenig Charakteriſtiſches an, woraus
die behoͤrige Fallendung koͤnnte erkannt werden. Man
hat z. E. in den Sprachlehren die Verba immanentia,
tranſitiua, intranſitiua, reciproca,
ꝛc. mehr der Bedeu-
tung als der Form nach unterſchieden, und angemerkt,
wie ſie ſich in Abſicht auf die Nennwoͤrter und ihre Fall-
endungen verhalten, die ſie erfordern. Denn ungeacht
die meiſten Actiua, welche in der That Paſſiua haben,
tranſitiv ſind, ſo machen ſie doch keine beſondere Conju-
gation aus, durch die ſie von den Neutris oder Intran-
ſitiuis
(§. 151.) unterſchieden werden. Eben ſo bleiben
auch die Zeitwoͤrter ununterſchieden, die eine Handlung
vorſtellen, welche nicht die Sache, ſondern nur ihre Ver-
haͤltniſſe aͤndert, und wobey folglich nebſt den Namen
des Thuenden und der Sache, noch andere Namen von
Perſonen oder Sachen vorkommen, oder wenigſtens
vorkommen koͤnnen, dergleichen die meiſten Zeitwoͤrter
ſind, die einen doppelten Accuſatiuum, oder Datiuum,
oder einen Accuſatiuum mit einem Datiuo, oder uͤber-
haupt mehrere Caſus obliquos zugleich zu ſich nehmen.
Man wird aber aus den vorhin ſchon angezogenen
§. 178. und §. 209. ſehen, daß uͤberhaupt hierinn viel
Unvollſtaͤndiges und Willkuͤhrliches in den Sprachen iſt,
und daß ſie eben daher auch mehr und leichter aus dem
Gebrauche als aus Regeln erlernt werden.


§. 292. Sofern die Beywoͤrter den Hauptwoͤrtern
als Beſtimmungen zugeſetzt werden, fordert allerdings
die Natur der Sache und die Deutlichkeit, daß ſie mit
denſelben in gleichen Fallendungen ſtehen, und in ſo
ferne iſt es beſſer, daß die Beywoͤrter nicht wie die Zu-
woͤrter unveraͤnderlich geblieben ſind, ſondern eben ſo
wie die Hauptwoͤrter declinirt werden. Dieſes iſt be-
ſonders
[174]VIII. Hauptſtuͤck.
ſonders in den Sprachen nothwendig, wo man nicht
daran gebunden iſt, das Beywort dem Hauptworte, zu
welchem es gehoͤrt, unmittelbar vorgehen oder folgen zu
laſſen, und uͤberdieß werden dadurch Zuwoͤrter und Bey-
woͤrter leichter von einander unterſchieden, weil auch ihre
Bedeutung unterſchieden iſt (§. 224.).


§. 293. Der Unterſchied der einzeln oder mehrern
Zahl, welcher ſowohl in den Nennwoͤrtern als Zeitwoͤr-
tern vorkoͤmmt, fordert auch eine Zuſammenrichtung
der veraͤnderlichen Redetheile. Die Beywoͤrter richten
ſich darinn ſchlechthin nach den Hauptwoͤrtern, denen ſie
als Beſtimmungen beygefuͤgt werden, damit das Be-
ziehende darinn auch dadurch noch kenntlicher werde.
Hingegen richtet ſich die Zahl des Zeitworts nach der
Zahl des Hauptworts, welches den Thuenden oder Lei-
denden vorſtellt, und von dem eigentlich die Rede iſt.
Da der Unterſchied der Zahl an ſich leicht zu beſtim-
men iſt, und uͤberdieß etwas Geometriſches hat, ſo iſt
es auch nur den Anomalien des Gebrauches zuzuſchrei-
ben, wenn die Zahl verwechſelt wird (§. 165.).


§. 294. Die Beſtimmung der Zeit liegt ſchlechthin
nur in den Zeitwoͤrtern, ſo fern man naͤmlich ſich mit
dem Unterſchiede des Vergangenen, Gegenwaͤrtigen
und Zukuͤnftigen begnuͤgt. Denn ſonſt laͤßt ſie ſich ſo-
wohl durch Zuwoͤrter als auch durch ganze Redensar-
ten genauer angeben. Jndeſſen gehen dabey verſchie-
dene Verwechslungen vor. Z. E. eine Erzaͤhlung von
bereits geſchehenen Dingen kann und ſollte ganz in der
vergangenen Zeit vorgeſtellt werden. Man findet ſie
aber oͤfters bey den Geſchichtſchreibern und beſonders
bey Rednern und Dichtern in der gegenwaͤrtigen Zeit
vorgetragen, und zwar, um die Vorſtellung davon leb-
hafter zu machen. Der Vortrag allgemeiner Saͤtze
und Wahrheiten, die nicht an die Zeit gebunden ſind,
ſondern immer bleiben, iſt auch in der gegenwaͤrtigen
Zeit,
[175]Von der Wortfuͤgung.
Zeit, und zwar weil in den meiſten Sprachen die Aoriſti
mangeln. Jn Weißagungen und Verheißungen wird
ſtatt der kuͤnftigen Zeit ebenfalls oͤfters die gegenwaͤr-
tige, und im Hebraͤiſchen auch ſelbſt die vergangene
gebraucht, theils um die Vorſtellung lebhafter zu ma-
chen, theils auch um die Gewißheit zu verſtaͤrken. Jn
allen dieſen Verwechslungen muß der Zuſammenhang
der Rede und die Natur der Sache anzeigen, ob von
vergangenen, gegenwaͤrtigen, fortdauernden oder kuͤnfti-
gen Dingen die Rede iſt. Und eben dieſes ſolle ſich
auch finden, wenn in Redensarten, die durch Bindwoͤr-
ter zuſammengehaͤngt werden, die Abhaͤnglichkeit der
Zeiten zu beſtimmen iſt, in welchen jede Zeitwoͤrter vor-
kommen ſollen. Da die Beſtimmung oder Anzeige
der Zeit uͤberhaupt etwas ſehr metaphyſiſches hat, ſo
laſſen ſich die Anomalien, welche der Gebrauch zu re-
den, in den Sprachen eingefuͤhrt hat, in jeden beſon-
dern Faͤllen leicht beurtheilen.


§. 295. Die Modi der Zeitwoͤrter haben einen
metaphyſiſchen Unterſchied, den wir, wie oben (§. 148.)
angemerkt worden, ſchon in der Dianoiologie angege-
ben haben. Der Coniunctiuus, welchem die Grie-
chen noch den Optatiuum beyfuͤgen, ſcheint die meiſte
Schwierigkeit zu haben, weil es bald in jeden Sprachen
auf eine beſondere Art von dem Ungewiſſen, Bedingten
und von den Beywoͤrtern abhaͤngt, und oͤfters auch
durch ausgelaſſene Zeitwoͤrter und andere Redetheile
regiert wird. Wir haben hievon und von den dabey
vorkommenden Anomalien in den wirklichen Sprachen,
bey Betrachtung der Bindwoͤrter (§. 238.) und auch
vorhin (§. 282.) Erwaͤhnung gethan, und muͤſſen es
hier dabey bewenden laſſen, weil wir das, ſo jede Spra-
che hierinn beſonders hat, nicht mitnehmen koͤnnen.


§. 296. Wir werden demnach kuͤrzlich die Ordnung
betrachten, in welcher die Woͤrter in jeden Redensarten
auf
[176]VIII. Hauptſtuͤck.
auf einander folgen ſollen. Dieſe Ordnung iſt nicht
nur in jeden Sprachen mehr oder minder verſchieden,
ſondern in einigen viel eingeſchraͤnkter als in andern.
Die Lateiner und Griechen laſſen ſich darinn mehr Frey-
heit als die Franzoſen und Deutſchen. Und man ſtrei-
tet etwan daruͤber, welche Ordnung die beſte ſey? Was
wir hieruͤber anmerken koͤnnen, koͤmmt darauf an.


§. 297. Einmal hat die freye Wahl, uͤber die Ord-
nung der Woͤrter zu diſponiren, gewiſſe Vortheile, weil
die Stelle, die jedes Wort in einer Redensart hat, eben
ſo wenig durchaus gleichguͤltig iſt, als die Ordnung, ſo
die einzeln Redensarten in einer Rede unter ſich haben.
Es iſt nicht immer gleichguͤltig, wo man anfange, be-
ſonders wenn man etwas mit Nachdruck, oder behut-
ſam, oder mit einer Parrheſie vorzutragen hat. Jn
Reden und vornehmlich in Gedichten koͤmmt noch der
Wohlklang, das Sylbenmaaß und uͤberhaupt der
Schwung der Periode
hinzu, welcher die Anord-
nung der Woͤrter noch weniger gleichguͤltig ſeyn laͤßt,
und faſt nothwendig gewiſſe gar nicht proſaiſche Verſe-
tzung der Woͤrter und Redensarten forderte, weil die
poetiſche Periode etwas viel abgerundeters hat (§. 100.).


§. 298. Es iſt ferner moͤglich, die Ordnung der
Woͤrter bedeutend zu machen, und die wirklichen Spra-
chen bieten uns einige Beyſpiele davon an, wiewohl ſie
nur auf einzelne Woͤrter gehen. So z. E. im Deutſchen
iſt der Ausdruck: dieſes waͤre geſchehen, eine An-
zeige und Folge einer Bedingung; hingegen der Aus-
druck: waͤre dieſes geſchehen, entweder eine Be-
dingung oder eine Frage. Und auch der erſtere dieſer
Ausdruͤcke kann eine Frage vorſtellen, die aber mit ei-
ner Verwunderung oder Befremdung verbunden iſt.
Eben ſo haben auch die Bindwoͤrter auf die Conſtru-
ction und Ordnung der Woͤrter einigen Einfluß. Z. E.
weil und denn ſind Bindwoͤrter, die den Grund anzei-
gen.
[177]Von der Wortfuͤgung.
gen. Man ſagt aber: weil es geweſen iſt, und hin-
gegen: denn es iſt geweſen. Alles dieſes aber ſind
noch ſehr kleine Abaͤnderungen in der Wortordnung, und
beſonders iſt die von dem letztern Beyſpiele ganz will-
kuͤhrlich, weil ſie bloß grammatiſch iſt, und in dem
Verſtande der Rede nichts aͤndert.


§. 299. Hingegen iſt die Ordnung mehr metaphy-
ſiſch, wo ſie in der Sache ſelbſt liegt, ſie mag nun in ei-
ner Folge oder in Stuffen beſtehen. So z. E. ge-
ſchieht es oft, daß man Beywoͤrter, oder Hauptwoͤrter,
oder Zeitwoͤrter, oder auch Zuwoͤrter aufhaͤuft, weil ſie
zuſammen gehoͤren, oder weil die uͤbrigen Theile der
Rede oder Periode ſich auf alle beziehen, und dabey iſt
es oͤfters nicht durchaus gleichguͤltig, in welcher Ord-
nung ſie auf einander folgen. Die Deutlichkeit, die
Staͤrke des Nachdruckes, die Natur der Sache ſelbſt
beſtimmen die Auswahl, die man zu treffen hat. Das
veni, vidi, vici, iſt nach der Natur der Sache, das
abiit, exceſſit, euaſit, erupit, nach den Stuffen. Man
wird in den Schriften der Redner und Dichter leicht
noch zuſammengeſetztere Beyſpiele finden.


§. 300. Man hat ferner die Regel eingefuͤhrt, daß
der Verſtand einer Redensart oder Periode
durch dieſelbe ganz durchlaufen und mit
Schließung derſelben erſt vollſtaͤndig beſtimmt
ſeyn ſolle.
Nach dieſer Regel werden z. E. im Deut-
ſchen die Huͤlfswoͤrter von den dazu gehoͤrenden Zeit-
woͤrtern, und ſelbſt auch gewiſſe Ableitungstheilchen der
Zeitwoͤrter von denſelben ſo getrennt, daß das Zeitwort
und zuweilen das dazu gehoͤrende Ableitungstheilchen
faſt immer den Schluß der Periode oder ihrer Glieder
ausmacht. Und darinn iſt man, beſonders in den Canz-
leyſchriften, bis zur Ausſchweifung gegangen, weil man
durch Einſchiebung aller Nebenbeſtimmungen die Laͤnge
der Perioden auf ganze Seiten ausgedehnt, und die
Lamb. Organon II B. MZeit-
[178]VIII. Hauptſtuͤck.
Zeitwoͤrter ſo weit von ihrer natuͤrlichen Stelle hinweg
geruͤckt, daß man am Ende errathen oder ſich zuruͤck
beſinnen mußte, auf welche Hauptwoͤrter ſie ſich bezie-
hen, zumal wenn man am Ende bald alle Zeitwoͤrter
der ganzen Periode aufhaͤufte.


§. 301. Die Ausdruͤcke oder Redensarten, welche
man in andere einſchiebt, ſind entweder Umſchreibun-
gen, die man ſtatt tuͤchtiger Beywoͤrter oder Mittelwoͤr-
ter gebrauchen muß, oder ſie dienen ſtatt der Jnterje-
ctionen, oder werden denſelben angehaͤngt, oder es ſind
Fragen, oder andere Ausdruͤcke, einen Affect anzuzeigen
oder zu erregen, oder auch Anmerkungen, die das Vor-
hergehende oder das Folgende, oder den Zuſammen-
hang von beyden nachdruͤcklicher, aufmerkenswuͤrdiger,
oder auch im Gegentheil weniger hart oder anſtoͤßig
machen, als es ohne ſolche Einſchiebungen wuͤrde gewe-
ſen ſeyn. Man ſieht uͤberhaupt hieraus, daß eine
ſchickliche Vertheilung ſolcher eingeſchobenen Ausdruͤcke
einer Periode ihren wahren Schwung, Nachdruck und
Schoͤnheit geben kann, und man rechnet auch die in
dieſer Abſicht wohlgerathenen unter die feineren Ausbil-
dungen ſchoͤner Reden und Gedichte, (§. 297.). Wir
koͤnnen noch anmerken, daß auf dieſe Art neue und bis
dahin noch nicht uͤbliche Wortordnungen entſtehen und
in Aufnahm gebracht werden koͤnnen. Es koͤmmt auf
Faͤlle an, wo die bisher uͤblichen Wortordnun-
gen, der Ordnung, in welcher der Gedanks
der Periode bey den Leſern am netteſten gebil-
det wird, nicht ſo gut Genuͤgen thun, als die
neue, die man nach dem Gedanken ſelbſt rich-
tet.
Erhaͤlt man dieſes in einem hoͤhern Grade, ſo
opfert der Leſer, zumal wenn er das Willkuͤhrliche in
der Sprache recht zu ſchaͤtzen weiß, der Nettigkeit des
Gedankens das Ungewoͤhnliche in der Wortordnung
auf. Die neue Periode findet Beyfall, und ſchickliche
und
[179]Von der Wortfuͤgung.
und unſchickliche Nachahmungen tragen dazu bey, ſie in
Aufnahme zu bringen. Große Redner und Dichter,
die zu claſſiſchen Schriftſtellern werden, geben hierinn,
wie bald in allen zur Ausbeſſerung der Sprache dienen-
den Stuͤcken, und faſt ohne es voraus zu ſehen, die er-
ſten Proben. Sie wagen ſie mit wahrſcheinlicherm Be-
wußtſeyn, die Probe werde Beyfall finden, und aufge-
nommen werden. Es iſt nicht zu zweifeln, daß die
deutſche Sprache auch in Anſehung der Wortordnung
noch ungleich biegſamer koͤnne gemacht werden. Es
koͤmmt auf Dichter an, die reich genug an Einfaͤllen
ſind, durch neue Wendungen der Gedanken das Nach-
druͤckliche und Erhabene darinn recht auszubilden, und
die dazu dienende Ordnung und Auswahl der Worte zu
treffen. Man kann hiezu noch mitrechnen, was wir zu
Ende des §. 100. angemerkt haben.


§. 302. Wir haben noch den vollends metaphyſi-
ſchen Theil der Syntaxe oder Conſtruction ganzer Re-
densarten und Perioden zu betrachten. Die Grundre-
gel dabey iſt, daß die Redensart, ſo wie ſie con-
ſtruirt wird, einen Verſtand haben ſolle.
Dieſe
Regel muß man ſich allerdings im Reden und Schrei-
ben vorſetzen, und bey dem Leſen und Auslegen fremder
Reden und Schriften wird ſie ebenfalls und in ſo ferne
gebraucht, daß man auch in zweifelhaftern und vieldeu-
tigen Faͤllen dem Urheber, ſo oft nicht das Gegentheil
kann bewieſen werden, denjenigen Sinn der Rede gel-
ten laͤßt, der in Abſicht auf das Wahre und Gute fuͤr
ihn der vortheilhafteſte iſt, und dieſe Billigkeit auch da
noch hat, wo er aus Mangel ſchicklicher Ausdruͤcke, oder
bloß weil ſie ihm nicht beyfielen, das was er wirklich
hatte ſagen wollen, mehr aus den Umſtaͤnden und dem
Zuſammenhang, als aus den Worten zu ſchließen giebt.
Wir haben dieſen letztern Fall bereits in dem §. 145.
M 2der
[180]VIII. Hauptſtuͤck.
der Alethiologie als ein Beyſpiel angefuͤhrt, und zugleich
angezeigt, wo derſelbe leichter und oͤfters vorkomme.


§. 303. Zu dem Verſtand einer Redensart traͤgt je-
des Wort und ſelbſt auch die Ordnung der Woͤrter, und
ihr Zuſammenhang mit dem Vorhergehenden und Fol-
genden, und uͤberdieß noch der Accent in der Ausſpra-
che bey. Die Modification der Ausſprache giebt dem
Verſtand der Rede naͤhere Beſtimmungen. Sie zeigt
auch in Reden, die uͤbrigens gleichguͤltig ſcheinen wuͤr-
den, den Gemuͤthszuſtand des Redenden an, und lenkt
die Aufmerkſamkeit des Zuhoͤrers durch jede Stuffen
auf die verlangten Gegenſtaͤnde. Man ſehe die hieruͤ-
ber oben ſchon bey Anlaß der Accente (§. 99.) und der
Jnterjectionen (§. 219.) gemachten Anmerkungen und
Beyſpiele. Da ſich hiebey ein Unterſchied zwiſchen dem
muͤndlichen und geſchriebenen Vortrage aͤußert, weil
man im Schreiben nicht alle Modificationen der Aus-
ſprache durch Zeichen ausdruͤckt, ſo muß der Affect und
uͤberhaupt der Ton, mit welchem die geſchriebene Rede
geleſen werden ſolle, durch andere Mittel erſetzt werden.
Und dieſe ſind theils die Ordnung der Worte, theils
redneriſche Figuren, theils Beywoͤrter, die den Affect
und Ton der Rede beſtimmen, theils auch uͤberhaupt
die Seite, von welcher die Sache vorgeſtellt, und der
Leſer ſelbſt vorbereitet wird. Von dieſem allem kann
in dem muͤndlichen Vortrage viel wegbleiben, und der
Unterſchied zeigt ſich augenſcheinlich in Reden, die ange-
hoͤrt voller Leben, geleſen aber ganz kahl zu ſeyn ſchei-
nen, weil der Redner das Lebhafte, das Einnehmende
und Bewegliche nur im Vortrage, nicht aber in den
Ausdruͤcken hat, oder die Mittel, den Ausdruck an ſich
zu beleben, nicht gebraucht. Man giebt hingegen die
Rede der Juno beym Virgil


Mene incepto deſiſtere victam?
Nec poſſe Italia Teucrorum auertere regem?
Quippe vetor fatis. \&c.

als
[181]Von der Wortfuͤgung.

als ein Muſter des Lebens in den Ausdruͤcken an, und
man muͤßte den Charakter der Juno wenig kennen, um
nicht unvermerkt gleichſam nachzumachen, was


Flammato ſecum dea corde volutat.

§. 304. Die drey andern Stuͤcke, naͤmlich die Be-
deutung jeder Worte, ihre Ordnung und der Zuſam-
menhang der Redensart mit den vor und nachgehenden,
helfen ſowohl im muͤndlichen als im ſchriftlichen Vor-
trage zur Beſtimmung des Verſtandes. Der muͤndli-
che hat hierinn in ſo ferne einen Vorzug, als der Zuhoͤ-
rer um Erlaͤuterung fragen kann, wo er irgend einen
Anſtand findet. Der ſchriftliche aber, daß man der
Sache laͤnger nachdenken, und ſowohl im Schreiben als
im Leſen alles genauer erwaͤgen kann. Die Faͤlle, die
hiebey vorkommen, ſind, wo eine Redensart einen richti-
gen oder einen ganz verkehrten oder gar keinen Ver-
ſtand hat, oder wo ſie wenigſtens keinen zu haben
ſcheint. Jn allen dieſen Faͤllen wird der Zuſammen-
hang nur in ſo ferne mitgenommen, als der der Re-
densart eigene Verſtand dadurch eroͤrtert werden muß.
Es ſind aber auch noch Faͤlle, wo die Schwierigkeit auf
die Beſtimmung des Zuſammenhanges ankoͤmmt.
Dieſe haben wir bereits bey der Betrachtung der Bind-
woͤrter (§. 229 ‒ 245.) und eben ſo auch das Bedeutende
in der Wortordnung (§. 296. ſeqq.) unterſucht. Wir
werden demnach hier noch die erſtern Faͤlle betrachten.


§. 305. Man kann nicht ſagen, daß man eine Re-
densart verſtehe, ſo bald man jedes Wort derſelben ver-
ſteht. Denn da die Redensart die Woͤrter mit einan-
der verbindet, ſo kann ſie nur alsdann einen Verſtand
haben, wenn ſich die Begriffe, die jedes Wort vorſtellt,
auf eben die Art mit einander verbinden laſſen. So
z. E. muͤſſen die Beywoͤrter in der That Eigenſchaften
der Dinge anzeigen, die die Hauptwoͤrter anzeigen, de-
nen ſie beygeſetzt werden. Eben ſo muͤſſen die Zuwoͤr-
M 3ter
[182]VIII. Hauptſtuͤck.
ter wirkliche Beſtimmungsbegriffe der Handlung ange-
ben, die das Zeitwort anzeigt. Das Hauptwort, ſo die
thuende Sache anzeigt, imgleichen das, ſo die geſche-
hene Sache benennt, und eben ſo auch die, wodurch
man die Verhaͤltniſſe der Handlung und Dinge anzeigt,
muͤſſen gleichfalls weder verwechſelt noch irrig gewaͤhlt
werden, und uͤberhaupt muß auch alles, was in der Re-
densart oder Periode beziehend iſt, auch in den Be-
griffen ſelbſt beziehend ſeyn, und dem Sprachgebrauche
gemaͤß ausgedruͤckt werden, damit man andern ver-
ſtaͤndlich bleibe.


§. 306. Die ſchwerern Faͤlle, die aber hiebey vor-
kommen koͤnnen, ſind die, wo ein oder mehrere Woͤrter
erſt in der Redensart ihre beſtimmtere Bedeutung be-
kommen, oder darinn in einer ungewoͤhnlichern Bedeu-
tung genommen werden. Damit geht es zwar noch im-
mer leichte, wenn die Bedeutungen eines Wortes von
einander ganz verſchieden, und in der Sprache ſchon
eingefuͤhrt ſind. So z. E. wird man in den zween Ho-
raziſchen Verſen:


Ergo aut adulta vitium propagine
Altas maritat populos.

ohne Muͤhe finden, daß darinn nicht von Laſtern und
Volkern, ſondern von Weinreben und Papelbaͤumen die
Rede iſt, weil der Zweydeutigkeit der Woͤrter ungeacht,
die Verbindung derſelben nicht zweydeutig iſt, ſondern
die Bedeutung der Woͤrter beſtimmt.


§. 307. Hingegen giebt es unzaͤhlige Faͤlle, wo vor-
nehmlich nur der Umfang des Begriffes, den ein Wort
vorſtellt, in der Redensart eine beſondere Beſtimmung
erhaͤlt, ſo daß man ohne eine mehrere Aufmerkſamkeit
leicht zu viel oder zu wenig mitnimmt. Wir werden
hier nicht wiederholen, was wir bereits in der Alethiolo-
gie (§. 139 ‒ 158.) und ſo auch oben (§. 138. ſeqq. 192.
ſeqq.) hieruͤber angemerkt haben, ſondern die Redens-
arten
[183]Von der Wortfuͤgung.
arten in dieſer Abſicht mit den Algebraiſchen Glei-
chungen
vergleichen. Bey dieſen iſt die Bedingung,
daß die Groͤßen auf beyden Seiten des Gleichſtriches
einander gleich ſeyn ſollen, und durch dieſe Bedingung
laͤßt ſich eine Groͤße durch die uͤbrigen beſtimmen.
Nimmt man an, eine Redensart ſolle einen durchaus
richtigen Verſtand haben, ſo iſt ebenfalls klar, daß dieſe
Bedingung fordert, man muͤſſe die Bedeutung jeder
Woͤrter, ihren Umfang und Verbindung ſo gegen ein-
ander proportioniren, daß die Redensart verſtaͤndlich
werde. Die hermeneutiſche Billigkeit (§. 302.) for-
dert dieſes auch bey Leſung und Auslegung der Schrif-
ten anderer. Hiebey koͤmmt es nun in vielen Faͤllen
auf den verſchiedenen Grad des Witzes und Scharfſin-
nigkeit und Gedult an. Es iſt moͤglich, oͤfters aus den
verworrenſten Schriften noch einen ertraͤglichen Ver-
ſtand heraus zu bringen, oder zu beſtimmen, was der
Autor von jeden Worten ſich muͤſſe fuͤr einen Begriff
gemacht haben, dafern man der hermeneutiſchen Billig-
keit gemaͤß, annehmen will, er habe mit einigem Be-
wußtſeyn geſchrieben, und ſich in der That doch etwas
vorgeſtellt. Die Art, wie wir nach und nach zu dem
Begriffe der Bedeutung der Woͤrter gelangen, beſon-
ders, wo die Sache nicht im Ganzen kann vorgelegt
werden, und die Moͤglichkeit, daß jeder ſich durch ganz
individuale Reihen von Gedanken, den Weg zu neuen
Metaphern baͤhnen kann, und endlich auch, die vielen
Umſtaͤnde, welche dazu beytragen, daß bald jeder die
Dinge ſich von beſondern und individualen Seiten vor-
ſtellt, alles| dieſes macht die Beobachtung erſtbemeldter
Billigkeit nothwendiger, und theils durch Uebung, theils
mit Beyhuͤlfe eines hoͤhern Grades der Scharfſinnig-
keit, des Witzes und der Gedult, leichter, und benimmt
zugleich das Vorurtheil, als wenn die Vorſtellungsart,
die man zur Leſung einer Schrift mitbringt, der Maaß-
M 4ſtab
[184]VIII. Hauptſtuͤck.
ſtab zur Auslegung und Beurtheilung derſelben waͤre,
oder die Dinge von keiner andern Seite betrachtet wer-
den koͤnnten.


§. 308. Die Anlaͤße, wobey man gleichſam genoͤ-
thigt iſt, den Umfang in der Bedeutung eines Wortes
anders, als es gewoͤhnlich war, zu nehmen, ſind dieje-
nigen, wo man kein ſchicklicheres findet, es ſey, daß man
keines wiſſe, oder die Sprache ſelbſt keines habe. Bey
Ueberſetzungen aus fremden Sprachen kommen ſolche
Faͤlle leicht vor, weil jede Sprache auch darinn einen
ihr eigenen Schwung hat, daß ſie ſich in dem Umfang
der Bedeutung ihrer Woͤrter eben nicht nothwendig
nach andern Sprachen richtet (§. 163.). Sodann kann
es auch leicht geſchehen, daß, wenn man an einer Sa-
che neue Seiten aufdeckt, oder ſie aus neuen Geſichts-
punkten betrachtet, die daher entſtehenden Begriffe
mehr oder minder Merkmale enthalten, als die Woͤr-
ter angeben, die man bis dahin dabey gebraucht hatte.
So hatte Kepler die Woͤrter der Ptolomaͤiſchen Aſtro-
nomie beybehalten, aber denſelben neue Bedeutungen
gegeben, welche man allerdings nicht ſo leicht mit den
alten verwechſelt, weil der Unterſchied der Syſtemen
bekannt iſt, und die Sache in Figuren vor Augen liegt.
Bey dem Aufbringen eines neuen Syſtems in der Me-
taphyſik und Moral, faͤllt dieſes Mittel mehr oder min-
der weg, und der neue Umfang der Begriffe, der oͤfters
noch viel Willkuͤhrliches behaͤlt, kann nur durch Defi-
nitionen angegeben werden, an welche eben nicht ſo
gleich jeder ſich zu gewoͤhnen verbunden erachtet (§. 195.
200.).


§. 309. Ferner kann es auch geſchehen, daß man
ſich begnuͤgt, nur uͤberhaupt die Claſſen anzuzeigen, wor-
unter ein Begriff gehoͤrt, und worauf man das Augen-
merk richtet, ohne eben durch eine Definition zu beſtim-
men, wie viel oder wie wenig man von der Bedeutung
des
[185]Von der Wortfuͤgung.
des Worts zu dem Begriffe nimmt. So z. E. haben
wir im vorhergehenden immer das Grammatiſche dem
Charakteriſtiſchen, und beydes dem Metaphyſiſchen in
den Sprachen entgegengeſetzt, ohne weder dieſe Woͤrter
zu definiren, noch an jedem Orte umſtaͤndlich anzuzei-
gen, wie weit ſie ſich anwenden laſſen. Man wird
aber aus dem Gebrauche dieſer Woͤrter leicht finden,
daß das Metaphyſiſche auf die bedeuteten Sachen und
ihre Natur und allgemeine Verhaͤltniſſe geht, das Cha-
rakteriſtiſche aber dasjenige in den Zeichen betrifft, was
ſich durch das Metaphyſiſche beſtimmen und auf Re-
geln bringen laͤßt, und daß hingegen das Grammati-
ſche dasjenige begreift, was in den wirklichen Sprachen
an ſtatt charakteriſtiſch zu ſeyn, bloß willkuͤhrlich, und
weder in der Sache noch in den Zelchen gegruͤndet iſt.
Da aber dieſe Unterſchiede durch viele Stuffen groͤßer
oder kleiner ſeyn koͤnnen, ſo kommen im obigen auch
Faͤlle vor, wo das Grammatiſche ſehr nahe an das
Charakteriſtiſche grenzt, und wo die Auswahl des Wor-
tes ſchwerer waͤre, oder dem erſtern etwas von dem letz-
tern zugegeben werden konnte.


§. 310. Wir koͤnnen noch anmerken, daß wir die
Bedeutung der meiſten Woͤrter unſerer Mutterſprache
auf keine andere Art lernen, als aus dem Verſtand der
Redensarten, in welchen wir ſie von Kindheit auf ler-
nen. Jch ſage, die meiſten Woͤrter. Denn es iſt
klar, daß wir nicht bey ganzen Redensarten anfangen,
ſondern nothwendig eine gewiſſe Anzahl von Woͤrtern,
jedes fuͤr ſich muß erlernt werden. Dieſe fuͤr ſich er-
lernbare Woͤrter ſind ungefaͤhr eben die, wobey die er-
ſten Urheber der Sprachen anfangen mußten. Sie
ſtellen Dinge und Handlungen vor, die nicht nur unter
die Sinnen fallen, ſondern ein mit fremden Umſtaͤn-
den nicht untermengtes Ganzes ausmachen, die man
den Kindern vorzeigen, und dadurch das Wort mit der
M 5Empfin-
[186]VIII. Hauptſtuͤck.
Empfindung der Sache verbinden kann. Hierauf fol-
gen die Worter, die wegen der Aehnlichkeit des Ein-
druckes, Eigenſchaften von verſchiedenen Dingen anzei-
gen, z. E. gut, ſchoͤn, boͤſe, ꝛc. und nach und nach
ergeben ſich auch ſtuffenweiſe die metaphoriſchen Be-
deutungen, und mit dieſen die Begriffe der Jntellectual-
welt und der abſtracten oder nicht unter die Sinnen
fallenden Dinge. Da man dieſe nicht vorzeigen kann,
oder da ſie, wenn man ſie vorzeigt, mit vielen Neben-
umſtaͤnden vermengt ſind, ſo muͤſſen ſie faſt nothwen-
dig aus den Redensarten erlernt werden, in welchen ſie
vorkommen, und die Verhaͤltniſſe zwiſchen ſolchen Be-
griffen, ihre Verwandſchaft, Aehnlichkeit, Entgegenſet-
zung, Verbindung, ihre gemeinſame und eigene Merk-
male, ergeben ſich vornehmlich auch aus dem Zuſam-
menhang der Rede.


§. 311. Man kann ſich von allem dieſem noch mehr
verſichern, wenn man die Regeln betrachtet, die in der
Vernunftlehre angegeben werden, um abſtracte Be-
griffe zu erklaͤren, oder, wie wir es in dem erſten
Hauptſtuͤcke der Dianoiologie genommen haben, ihren
Umfang zu beſtimmen.
Denn da das Charakte-
riſtiſche und Etymologiſche in den wirklichen Sprachen
hiezu viel zu unvollſtaͤndig und unzuverlaͤßig iſt, ſo muß
man ſtatt deſſen, oder wenigſtens nebſt demſelben (§. 260.
268.) die Faͤlle und Redensarten aufſuchen, in welchen
das Wort vorkoͤmmt, und auf den Grund ſehen, war-
um es in denſelben gebraucht wird, damit man die ge-
meinſamen und eigenen Merkmale des Begriffes, und
oͤfters auch die Vieldeutigkeit des Wortes dadurch fin-
den, und kenntlich machen moͤge.


§. 312. Da wir die hiebey vorkommenden Faͤlle
und Regeln in dem erſten und neunten Hauptſtuͤcke der
Dianoiologie ausfuͤhrlich betrachtet haben, und hier vor-
nehmlich nur auf das Charakteriſtiſche dabey ſehen, ſo
merken
[187]Von der Wortfuͤgung.
merken wir an, daß es unter den vielen Redensarten,
worinn ein Wort vorkoͤmmt, auch ſolche giebt, worinn
ſeine Bedeutung mit den wenigſten fremden Umſtaͤn-
den untermengt iſt, und folglich das Weſentliche in dem
Begriffe und in ſeinem Umfange den Verſtand der
Redensart genauer beſtimmt. Von dieſer Art ſind
nun unſtreitig, und nach aller Schaͤrfe genommen, die
Definitionen. Sie haben aber eine Form, die in dem
gemeinen Gebrauche der Sprache ſeltener vorkoͤmmt,
wo die definirte Sache oͤfters in Caſu obliquo, oder in
der Form anderer Redensarten und Nebenbeſtimmun-
gen verwickelt liegt. Von dieſen haben wir einige in
der Dianoiologie (§. 499. ſeqq.) betrachtet, und das
Charakteriſtiſche, ſo bey dem Zuſetzen und Weglaſſen
der Beſtimmungsbegriffe vorkoͤmmt, mit dem Multi-
pliciren in der Rechenkunſt verglichen (§. 500. l. cit.).
Die Hauptfrage hiebey iſt demnach allerdings dieſe:
Wiefern man ſolche Redensarten, worinn ein
Wort in dem genauen Umfange ſeiner Be-
deutung vorkoͤmmt, durch eine bloß gramma-
tiſche Verwandlung der Woͤrter, oder durch
die wenigſten Subſtitutionen anderer Woͤrter
in die Form einer Definition bringen koͤnne?

Dieſe Frage laͤßt ſich nicht allgemein aufloͤſen. Jn-
deſſen wo ſich etwan Faͤlle anbieten, da lohnt es ſich,
zum Behufe des Charakteriſtiſchen in den Spra-
chen, der Muͤhe, ſie in dieſer Abſicht genauer zu be-
trachten.


§. 313. Was wir vorhin (§. 310.) in Anſehung der
Mutterſprache angemerkt haben, dehnt ſich ebenfalls
auf die Erlernung fremder Sprachen aus. Man faͤngt
bey der Sprachlehre und Woͤrterbuͤchern an. Allein
aus dieſen kann man von den meiſten Woͤrtern nur
beylaͤufig den Umfang ihrer Bedeutung kennen lernen,
ſo ferne naͤmlich in der Mutterſprache Woͤrter von un-
gefaͤhr
[188]VIII. Hauptſtuͤck.
gefaͤhr gleichem Umfange ſind. Wer es nun dabey
bewenden laͤßt, dem bleibt das meiſte von dem, was
der fremden Sprache eigen iſt, und die feinern Unter-
ſchiede in dem Gebrauche ihrer Woͤrter und Redensar-
ten, faſt nothwendig unbekannt. Man hat daher ſchon
laͤngſt angemerkt, daß man mit wenigern grammati-
ſchen Regeln, aber deſto mehrerer Leſung der claſſiſchen
Schriftſteller, einer fremden Sprache ungleich beſſer
Meiſter werde, als wenn man ſich alle Regeln der
Sprachlehre durchaus bekannt macht, und es dabey be-
wenden laͤßt. Das will nun eben auch ſagen, daß man
das Feinere einer fremden Sprache nicht anders, als
eben ſo, wie in der Mutterſprache, aus dem Verſtand
der Redensarten und ihrem Zuſammenhange erlernen
muͤſſe. Da findet man bey guten Schriftſtellern jedes
Wort an ſeinem Orte, und der Umfang in ſeiner Be-
deutung ergiebt ſich zugleich mit dem Verſtande der Re-
densart, und aus der Betrachtung der dadurch vorge-
ſtellten Sache. Alles koͤmmt dabey darauf an, daß
der Autor richtig gedacht, und ſich nett ausgedruͤckt ha-
be, und der Leſer die Aufmerkſamkeit und Faͤhigkeit be-
ſitze, ihm genau zu folgen.


§. 314. Es giebt ferner auch Saͤtze und Redens-
arten, die, fuͤr ſich allein betrachtet, widerſinniſch, an-
ſtoͤßig oder gar ungereimt und irrig ſcheinen, es ſey,
daß der Autor derſelben ſich aus Sorgloſigkeit, Nach-
laͤßigkeit ꝛc. in den Ausdruͤcken verſehen, oder daß er
eine Abſicht dabey habe, oder daß er in der That keine
ſchicklichere Worte in der Sprache gefunden. Jm letz-
ten Fall beſonders wird er natuͤrlicher Weiſe entweder
den Leſer vorerrinnern, oder durch beygefuͤgte Erlaͤute-
rungen naͤher anzeigen, wie er ſeine Worte will genom-
men wiſſen, und falls er es auf den Zuſammenhang
ankommen laͤßt, ſo fordert allerdings die hermeneutiſche
Billigkeit, daß man dieſen mit zu Rathe ziehe, um das
Anſtoͤßi-
[189]Von der Wortfuͤgung.
Anſtoͤßige in den Worten zu heben, und ihren genauen
Verſtand zu beſtimmen (§. 307.). Die Regel in den
Rechten, daß man den genauen Sinn der Geſetze durch
ihren Grund, warum ſie von dem Geſetzgeber gegeben
worden, beſtimmen muͤſſe, gruͤndet ſich ebenfalls auf
dieſe Billigkeit. So giebt es auch widerſinniſche Lehr-
ſaͤtze, die durch die Erwaͤgung ihres Beweiſes aufhoͤren
widerſinniſch zu ſeyn. Denn es iſt fuͤr ſich klar, daß
man ſie nicht anders nehmen muß, als es der Beweis
angiebt. Zuweilen klaͤrt auch ein Beyſpiel einen all-
gemeinen Satz eben dadurch auf, weil es die naͤhern
Beſtimmungen mit angiebt, die in dem allgemeinen
Satze entweder gar nicht oder nur confus angezeigt wa-
ren. Man wird in dem vierten Hauptſtuͤcke der Ale-
thiologie hin und wieder Beyſpiele finden, die dieſe Be-
trachtungen erlaͤutern. Denn da wir daſelbſt genau
beſtimmte Saͤtze vorzutragen hatten, ſo war es mehr
nothwendig, ihren wahren Sinn aufzuklaͤren, und das
Vieldeutige zu heben. Und dieſes geſchahe theils durch
die Beweiſe, theils durch Beyſpiele, und theils auch
durch ausdruͤckliche Errinnerungen.



Neun-
[190]IX. Hauptſtuͤck.

Neuntes Hauptſtuͤck.
Von
der Art einer Sprache.


§. 315.


Nach der allgemeinen Betrachtung der Sprachthei-
le, ihrer Etymologie und Syntaxe, wird in den
Sprachlehren die Proſodie oder Tonmeſſung vorge-
nommen, und darinn mehrentheils a poſteriori eroͤr-
tert, welche Sylben laͤnger oder kuͤrzer ausgeſprochen
werden, und welche Abwechslungen in den Versarten
aus jeder wohl in das Ohr fallenden Verbindung lan-
ger und kurzer Sylben entſtehen. Wir halten uns
aber hiebey nicht auf, da wir verſchiedenes hieher und
ſelbſt auch zur Dichtkunſt gehoͤriges bereits oben (§. 44.
99. 100. 101. 297. 303.) gelegentlich angemerkt haben,
woraus ſich der Ton der Sylben und Woͤrter uͤber-
haupt, und auch in Abſicht auf die Gedanken ſelbſt, be-
urtheilen laͤßt, und woraus man zugleich ſehen kann,
daß der bloße Unterſchied der Sylben in lange und kur-
ze viel zu einfach iſt, als daß dadurch alle Modificatio-
nen der Ausſprache ſollten koͤnnen angezeigt werden.
Die Griechen und Lateiner hatten das beſonders, daß
die Aufhaͤufung der Mitlauter eine ſonſt an ſich kurze
Sylbe lang machen konnte, wovon ein feineres Gehoͤr,
vermuthlicher aber eine angewoͤhnte Ungelenkigkeit der
Gliedmaßen der Sprache, der Grund geweſen zu ſeyn
ſcheint (§. 79. 84.). Denn da die Laͤnge und beſonders
die Schaͤrfe des Tons der Sylben und Woͤrter, mit
dem mehr oder minder Nachdruͤcklichen und Aufmer-
kenswuͤrdigen in den Gedanken, in Verhaͤltniß ſtehen
ſolle,
[191]Von der Art einer Sprache.
ſolle, und da aus dieſem Grunde die Wiederholung ei-
nes gleichen Wortes fehlerhaft iſt, wenn nicht beyde-
male der Nachdruck des Tons darauf faͤllt, ſo ſieht man
leicht, daß die Proſodie ſich auf viel feinere Regeln
gruͤnden muͤſſe, zumal da das Ohr und die Zunge bieg-
ſam genug ſind, ſich darnach zu richten. Jn dieſer Ab-
ſicht iſt demnach eine Sprache vollkommener, in wel-
cher mehr Auswahl bleibt, die Sylben, und beſonders
die einſylbigten Woͤrter, lang oder kurz zu machen,
und dieſe Auswahl nach den Gedanken zu richten
(§. 99. 100.).


§. 316. Hiebey halten wir uns aber nicht laͤnger
auf, ſondern wenden uns zur Betrachtung des Unter-
ſchieds der Sprachen.
Dieſen lernt man vornehm-
lich bey dem Ueberſetzen aus einer Sprache in die an-
dere kennen, und das Allgemeine darinn wird durch die
Woͤrter: Genius linguae, Indoles linguae, die beſon-
dere Art, der Schwung einer Sprache,
ꝛc. oder
durch die Redensarten: Es iſt demGenio linguae
zuwider, die Art der Sprache bringt es ſo
mit
ꝛc. ungefaͤhr angezeigt. Es iſt ſchwer, den genauen
Umfang dieſer Begriffe und Redensarten zu beſtim-
men, weil man dabey auf ſehr viele und ſehr verſchiede-
ne Stuͤcke zu ſehen hat. Wir wollen Ausſchließungs-
weiſe gehen, und daher erſtlich anmerken, daß die mei-
ſten beſondern Ausnahmen, die man ſowohl in der Ety-
mologie als in der Syntaxe einer Sprache findet, nicht
zu dem genio linguae gerechnet werden. So z. E.
ſagt man nicht, es ſey dem Genio linguae latinae ge-
maͤß, daß ſie in ihren veraͤnderlichen Redetheilen ſehr
viel Unregelmaͤßiges habe. Denn alle dieſe Unrichtig-
keiten ſind mit der Sprache auf eine ſehr zufaͤllige Art
entſtanden.


§. 317. Man kann auch nicht das, was allen Spra-
chen gemein iſt, zu dem Genio einer Sprache rechnen,
weil
[192]IX. Hauptſtuͤck.
weil dieſes Wort ehender auf die beſondern Wendun-
gen geht, die einer Sprache eigen ſind, und uͤberhaupt
mehr das Metaphyſiſche als das Charakteriſtiſche der
Sprachen zu betreffen ſcheint. Jn dieſer Abſicht kann
man dasjenige zu dem Genio einer Sprache rechnen,
wodurch ſie zu einer gewiſſen Art und Form der Er-
kenntniß biegſamer iſt, als zu andern. Sie kann z. E.
maͤnnlicher, nachdruͤcklicher, bedeutender, beſtimmter ꝛc.
ſeyn, als eine andere, oder ſie kann zur Dichtkunſt, Be-
redſamkeit, zu hoͤhern Wiſſenſchaften ꝛc. beſſer als an-
dere dienen, oder ſie giebt die Aehnlichkeit, Verſchie-
denheit, weſentliche Merkmale der Dinge ꝛc. beſſer an,
oder ſie iſt mehr fuͤr den Witz, Scharfſinnigkeit, Ver-
nunft, oder mehr fuͤr die untern Erkenntnißkraͤfte ꝛc.
Alles dieſes ſind Abſichten, in denen ſich die wirklichen
Sprachen betrachten und beurtheilen laſſen. Wir ha-
ben gleich Anfangs (§. 1.) angemerkt, daß jede Sprache
eine gewiſſe Anzahl von Woͤrtern hat, und daß unſere
Erkenntniß dadurch eine gewiſſe Form oder Geſtalt er-
halte. Beſonders iſt die Anzahl der Wurzelwoͤrter
ziemlich eingeſchraͤnkt, und wird ſelten anders als mit
Woͤrtern aus andern Sprachen vermehrt Die Mit-
tel, aus den Wurzelwoͤrtern zuſammengeſetzte und abge-
leitete zu bilden, und ihre Anzahl durch Metaphern zu
vermehren, geben bald jeder Sprache einen beſondern
Schwung, und da ſie die Dinge mehrentheils nur von
einer gewiſſen Seite betrachtet, benennen (§. 265.), ſo
decken ſie auch nur dieſe Seite unmittelbarer auf, und
veranlaſſen Umwege, die uͤbrigen Seiten der Dinge
ebenfalls aufzudecken, wobey auch jede Sprache wieder-
um einen ihr eigenen Schwung nimmt.


§. 318. Wir koͤnnen ferner noch anmerken, daß es
viel darauf ankoͤmmt, von welcher Art der Gelehrſam-
keit die claſſiſchen Schriftſteller einer Sprache ſind.
Die Philoſophen ſuchen vornehmlich das Bedeutende,
das
[193]Von der Art einer Sprache.
das Nachdruͤckliche, das Beſtimmte in der Bedeutung
der Woͤrter und Redensarten. Je gruͤndlicher ſie den-
ken, und je genauer ſie gehen, deſto mehr werden ſie be-
muͤht ſeyn, die Woͤrter an fixe Begriffe zu binden, und
dabey zu erhalten. Und da ſie mehr fuͤr den Verſtand
als fuͤr das Ohr und die Zunge arbeiten, ſo ſind ſie auch
nicht ſo ſehr bemuͤht, fuͤr das Fließende und den Wohl-
klang der Sprache zu ſorgen. Dieſe Sorgfalt neh-
men hingegen die Dichter und Redner mehr auf ſich.
Und da dieſe mehr fuͤr die untern Erkenntnißkraͤfte ar-
beiten, ſo iſt ihnen auch an dem genauen Umfang der
Bedeutung der Woͤrter nicht ſo viel gelegen. Sie
trennen den Schein vom Wahren nicht ſo ſorgfaͤltig,
und vermengen die eigene Bedeutung der Woͤrter mit
der metaphoriſchen, um die Sprache zu jeden Bildern
biegſam zu machen. Dadurch faͤllt von dem Nachdruͤck-
lichen in der Sprache viel weg, die Sprache wird wei-
cher, fluͤßiger, und auch zum Theil kraftloſer und weibi-
ſcher. Man kann daher annehmen, daß ein gutes und
aͤchtes Mittel getroffen wird, wo nicht nur die Sprache
Woͤrter genug hergiebt, ſondern wo Weltweiſe und Dich-
ter zugleich an ihrer Ausbeſſerung arbeiten. Die Grie-
chen hatten dieſen Vortheil, von denen die Lateiner ei-
nen guten Theil wiſſenſchaftlicher Woͤrter borgen muß-
ten. Die Englaͤnder arbeiten fuͤr die obern und un-
tern Erkenntnißkraͤfte, und ihre Sprache iſt dazu deſto
aufgelegter, weil ſie Woͤrtern aus jeden andern Spra-
chen das Buͤrgerrecht in der ihrigen geben koͤnnen. Die
Deutſche koͤmmt der Griechiſchen bey, und waͤchſt erſt
noch zu ihrer wahren Vollkommenheit, woran Welt-
weiſe und Dichter arbeiten. Hingegen iſt die italieniſche
Sprache laͤngſt ſchon einer allzugroßen Weichheit be-
ſchuldigt worden. Sie hat auch faſt nur Geſchicht-
ſchreibern, Rednern und Dichtern ihre Ausbeſſerung zu
verdanken, weil ihre Weltweiſen faſt noch dermalen an
Lamb. Organon II B. Nden
[194]IX. Hauptſtuͤck.
den lateiniſchen Wortkram der Scholaſtik gebunden
ſind. Die franzoͤſiſche Sprache ſcheint ihre hoͤchſte
Periode, in Abſicht auf das Beſtimmte und Nachdruͤck-
liche, erreicht zu haben, daferne ſie nicht durch gruͤndli-
che Philoſophen darinn einen neuen Schwung bekoͤmmt.
Da ſie nicht ſo reich an Woͤrtern iſt, ſo werden ihre
Woͤrter deſto vieldeutiger, und zugleich auch ſchwerer
zu definiren.


§. 319. Das bisher Angemerkte betrifft den Ge-
nium
einer Sprache, ſo ferne wir das Metaphyſiſche
darinn betrachten. Das Charakteriſtiſche hat immer
auch mehr oder minder Antheil daran. Es ſcheint ſich
aber weiter auszudehnen, als der Begriff des Genius
einer Sprache geht. Ob das Wort indoles oder die
Art der Sprache
von viel weiterm Umfange in der
Bedeutung ſey, und das Metaphyſiſche und Charakte-
riſtiſche, ſo einer Sprache eigen iſt, ganz begreife, koͤn-
nen wir hier dahin geſtellt ſeyn laſſen, zumal da dieſe
Woͤrter theils vieldeutig, theils von veraͤnderlichem Um-
fange in der Bedeutung ſind, und der damit verbunde-
ne Begriff jedesmal aus dem Zuſammenhange genauer
beſtimmt werden muß (§. 307.). Wir werden daher,
ohne uns an das Wort zu binden, uns vielmehr an die
Sache ſelbſt halten, und ſtuͤckweiſe durchgehen, wie ei-
ne Sprache einen beſondern Schwung haben, und von
andern Sprachen unterſchieden ſeyn kann. Und hiezu
koͤnnen wir kurz wieder anzeigen, was wir in den vor-
hergehenden Hauptſtuͤcken an jedem Orte beſonders hier-
uͤber angemerkt haben.


§. 320. Die Grundregeln, die wir uns hiebey vor-
ſetzen koͤnnen, laſſen ſich durch verſchiedene bereits in
dieſer Abſicht gebraͤuchliche Redensarten anzeigen. Die
Lateiner verſtunden unter dem Ausdrucke: barbare lo-
qui,
uͤberhaupt alles, was nicht gut oder aͤchtes La-
tein
war, und im Deutſchen gebrauchen wir ebenfalls
den
[195]Von der Art einer Sprache.
den Ausdruck: undeutſch klingen, ſowohl von ein-
zeln Woͤrtern als von ganzen Redensarten. Wenn ein
ſolches Wort oder Redensart nach den Regeln einer
andern Sprache conſtruirt iſt, ſo benennt man dieſe Ab-
weichung von der Sprachaͤhnlichkeit mit einem be-
ſondern Namen. Dergleichen ſind die Hebraiſmi in
dem Griechiſchen des neuen Teſtamentes, die Graecis-
mi
in vielen lateiniſchen Dichtern und andern Schrif-
ten. Jm Deutſchen kommen etwan Galliciſmi vor,
und bald iſt keine Sprache, die nicht aus Nothwendig-
keit oder Ungeſchicklichkeit Woͤrter und Conſtructionen
aus fremden Sprachen habe. Endlich, da die leben-
den Sprachen ſich allmaͤhlig aͤndern, ſo unterſcheidet
man auch alte Ausdruͤcke von neuen. Die Archaiſmi
ſind ſolche abgelebte Ausdruͤcke, und im Deutſchen ſa-
gen wir etwan, es klinge altfraͤnkiſch, altvaͤte-
riſch
ꝛc. Eben ſo werden auch poͤbelhafte Ausdruͤcke
von den feinern und geſittetern, und in weitlaͤuftigen
Laͤndern die Provinzialwoͤrter, Idiomata und Dialecten
von dem allgemeinern oder reinern Dialecte und Mund-
art unterſchieden.


§. 321. Aus dieſem vielfachen Unterſchiede, den
man unter den Woͤrtern einer Sprache macht, erhellet,
daß man das Feinere, Regelmaͤßigere und Allge-
meinere
beſonders herausnimmt, und daſſelbe gleich-
ſam zum Maaßſtabe und Probierſtein von allem uͤbri-
gen macht, daß dieſe Auswahl eine merklichere Har-
monie habe, und daß, ungeacht bald jedermann an der
Veraͤnderung und Erweiterung der Sprache Antheil
hat, dieſe Harmonie dennoch dabey in ſo weit die Ober-
hand behalte, daß die Anzahl der Ausnahmen in der
Sprache geringer werde, und die Mehrheit der Stim-
men in dieſem demokratiſchen Reiche der Jntellectual-
welt (§. 1.) da ſeyn muͤſſe, ehe eine Neuerung geduldet
oder zugelaſſen wird.


N 2§. 322.
[196]IX. Hauptſtuͤck.

§. 322. Dieſes Allgemeine in einer Sprache faͤngt
ſchon bey den erſten Beſtandtheilen, das iſt, bey den
Buchſtaben und Sylben an. Es geſchieht ſelten, daß
neue Buchſtaben und neue Zuſammenſetzungen derſel-
ben in einer Sprache aufgenommen werden, und bey
aͤltern Leuten faͤllt die Ausſprache derſelben ins Unmoͤg-
liche. Wir haben dieſes ſchon oben (§. 73. 79. 83. 84.
90.) umſtaͤndlicher und in mehrerley Abſichten ange-
merkt. Die wirklichen Sprachen gehen hierinn in ſo
ferne von einander ab, daß ſie zwar einige gemeinſame
Laute von Buchſtaben und Sylben haben, hingegen ſich
durch viele andere von einander ſo unterſcheiden, daß
man es den meiſten Woͤrtern anhoͤren kann, ob ſie
Deutſch, Franzoͤſiſch, Jtalieniſch, Slavoniſch, ꝛc. klin-
gen, und dieſes findet ſich beſonders auch bey den Na-
men der Staͤdte, Familien ꝛc. ungeacht das Ohr hierinn
eben nicht durchaus ein untruͤglicher Richter iſt. Ue-
brigens ſind es vornehmlich die Endungen der Woͤrter,
die die wirklichen Sprachen von einander unterſcheiden,
und mehrentheils in Ableitungstheilchen beſtehen, und
daher, da ſie nicht in gar zu großer Anzahl ſind, leicht
mit einander koͤnnen verglichen werden.


§. 323. Es ſind aber die Ableitungstheilchen nicht
nur in Anſehung der Buchſtaben und des Klanges in
verſchiedenen Sprachen verſchieden, ſondern dieſer Un-
terſchied erſtreckt ſich großentheils auch auf ihre Bedeu-
tung, und deren Vieldeutigkeit. Man findet nicht fuͤr
jedes Ableitungstheilchen einer Sprache ein gleichbe-
deutendes in einer andern. Da ſie indeſſen metaphy-
ſiſche Verhaͤltnißbegriffe und Beſtimmungen vorſtellen,
ſo erhaͤlt dadurch jede Sprache, in ſo ferne ſie von an-
dern abgeht, einen ihr eigenen Schwung, und ſie kann
in einem Worte ausdruͤcken, was man in andern Spra-
chen durch Umſchreibungen oder durch Woͤrter geben
muß, die einen ganz andern Urſprung haben, oder Wur-
zelwoͤrter,
[197]Von der Art einer Sprache.
zelwoͤrter, oder Metaphern ſind. Die Art, die Ablei-
tungstheilchen anzuhaͤngen, vorzuſetzen oder einzuſchie-
ben, und die Ordnung, Woͤrter zuſammenzuſetzen, hat
ebenfalls in jeder Sprache etwas beſonders, welches
dem Charakteriſtiſchen in derſelben eine eigene Geſtalt
giebt (§. 135. 159.).


§. 324. Der Schwung, den eine Sprache hierinn
nimmt, macht einen Theil ihrer Art oder ihres Genius
aus, und aͤußert ſich in allgemeinern Aehnlichkeiten,
nach denen man ſich in Ableitung und Zuſammenſet-
zung neuer Woͤrter richtet. Was dieſer Aehnlichkeit
zu einer gewiſſen Zeit zuwider iſt, oder was ſelbſt noch
kein Beyſpiel vor ſich hat, das ſieht man als dem Ge-
nio
der Sprache zuwider an. Da indeſſen in lebenden
Sprachen neue Wortfuͤgungen entſtehen, ſo bleibt auch
hiebey zu unterſuchen, warum einige in Aufnahm kom-
men, andere aber nicht.


§. 325. Um bey einem Beyſpiele anzufangen, ſo
iſt es im Deutſchen nicht ungewoͤhnlich, ein Hauptwort
und ein Beywort zuſammenzuſetzen, wovon erſteres
zur Beſtimmung des andern dient. So ſind die Woͤr-
ter: kugelrund, himmelweit, ſteinhart, meilen-
lang
ꝛc. laͤngſt ſchon in die Sprache aufgenommen.
Und man ſieht leicht, daß das Hauptwort vorgeſetzt
wird, weil es zur Vergleichung dient, und das ange-
haͤngte Beywort eine Eigenſchaft davon anzeigt, und
durch alle Fallendungen abgewandelt wird. Dieſe Zu-
ſammenſetzung iſt eine bequeme Abkuͤrzung, da man
ſonſt an ſtatt kugelrund, muͤßte ſagen: rund, wie
eine Kugel.
Ein Hauptwort kann auch nicht wohl
anders als Vergleichungsweiſe zur naͤhern Beſtimmung
eines Beywortes dienen, und die bloße Zuſammenſet-
zung zeigt auch an ſich keine andere Bedeutung an, als
daß ein Wort das andere naͤher beſtimme, und unge-
faͤhr das ſey, was in der Algeber die Coefficienten ſind.
N 3Dem-
[198]IX. Hauptſtuͤck.
Demnach bringt es die Natur der Sache und der Zeich-
nung mit, daß das Hauptwort, ſo dem Beywort vor-
geſetzt wird, daſſelbe vergleichungsweiſe beſtimme. Aus
dieſem Grunde aber ſcheint es dem Genio der Sprache
zuwider, wenn man etwan Hauptwoͤrter mit ſolchen
Beywoͤrtern zuſammenſetzt, die ein Vorwort fordern,
und mittelſt dieſes Vorworts eine ordentliche Conſtru-
ction haben, z. E. rußgeſchwaͤrzt, anſtatt: mit
Ruß geſchwaͤrzt,
ſo auch gottgeliebt, an ſtatt:
von Gott geliebt. Dergleichen grammatiſche El-
lipſen ſcheinen zu hart, und machen ſolche Woͤrter den
Leſern anſtoͤßig, da man hingegen diejenigen gelten laͤßt,
wo das Beywort keines Vorwortes oder hoͤchſtens nur
einer gewiſſen Fallendung bedarf, wie z. E. in den
Woͤrtern: gnadenreich, demuthsvoll, ſorglos,
fruchtbringend,
ꝛc. Man kann aber auch bey ſol-
chen Woͤrtern ausgelaſſene Ellipſen gedenken, und an
ſtatt gnadenreich, den Ausdruck: reich an Gna-
den,
ſetzen. Und ſo ſcheint es, daß es nur auf den
Mangel der Gewohnheit ankomme, wenn man Woͤr-
ter von der erſtern Art in der Sprache nicht gelten laͤßt.
Denn durch die Gewohnheit ſehen wir ſolche Woͤrter
faſt nicht anders als Wurzelwoͤrter an, deren Bedeu-
tung ſich aus der Ableitungsart entweder gar nicht oder
wenigſtens ſehr muͤhſam erkennen laͤßt, weil wir nicht
gewoͤhnt ſind, im Reden die Begriffe erſt durch Schluͤſ-
ſe mit den Woͤrtern zu verbinden, oder ſie uns durch
die Vorſtellung und das Bewußtſeyn der Etymologie
und Ellipſen zu Sinne zu legen.


§. 326. Das andere Beyſpiel, ſo wir noch anfuͤh-
ren wollen, nehmen wir von den Mittelwoͤrtern her, de-
ren Gebrauch man im Deutſchen allgemeiner und viel-
faͤltiger zu machen geſucht hat, als er bis dahin gewe-
ſen war. Man kann aus Vergleichung der alten und
neuen gelehrten Sprachen leicht ſehen, daß die deut-
ſche
[199]Von der Art einer Sprache.
ſche in Anſehung der Mittelwoͤrter zuruͤcke bleibt. Be-
ſonders hat die griechiſche Sprache ſowohl in Abſicht
auf ihre Anzahl als auf ihren Gebrauch viel voraus,
und auch die lateiniſche, englaͤndiſche, franzoͤſiſche und
italieniſche Sprache koͤnnen ſich ihrer Mittelwoͤrter
ſreyer und vielfaͤltiger bedienen, als die deutſche ſich
der ihrigen bedient hatte. Man giebt daher einige
aus dieſen Sprachen entlehnte oder nachgeahmte Fuͤ-
gungen der Mittelwoͤrter als gezwungen und undeutſch
aus. Und daher entſteht billig die Frage: ob denn
die deutſche Sprache von der Art ſey, daß ſie allein
darinn ſolle zuruͤcke bleiben, oder wieferne ſie wenigſtens
nach und nach eine zu jedem Gebrauche ihrer Mittel-
woͤrter ſchickliche Wendung erhalten koͤnne?


§. 327. Hiebey werden wir nicht wiederholen, was
wir oben (§. 167. ſeqq.) bereits ausfuͤhrlich von den
Mittelwoͤrtern geſagt haben. Die deutſche Sprache
hat nur zweyerley, daferne man den Begriff eines Mit-
telwortes nicht allgemeiner machen will, und in ſo ferne
ſcheint ſie an ſich ſchon in Abſicht auf ihren Gebrauch
eingeſchraͤnkter. Man hat ſie auch bisher nur als Be-
ſtimmungswoͤrter von Hauptwoͤrtern und Zeitwoͤrtern,
und zwar im erſten Fall wie Beywoͤrter, im andern
aber wie Zuwoͤrter gebraucht, z. E. der eilende Wan-
derer, die gewuͤnſchte Stunde ꝛc. er gieng ei-
lend, er lebt vergnuͤgt
ꝛc. Jn ſolchen Redensar-
ten bedienen ſich die Dichter, wie in ſehr vielen andern,
der Freyheit, die Woͤrter mehr zu verſetzen, als es in
gemeiner und ungebundener Rede uͤblich iſt (§. 301.),
und in ſo ferne iſt man auch bereits daran gewoͤhnt.


§. 328. Sodann hat man auch den Gebrauch des
Mittelworts der vergangenen Zeit weiter ausgedehnt,
als das von der gegenwaͤrtigen Zeit. Man ſagt z. E.
dieſes vorausgeſetzt, laͤßt ſich wohl gedenken,
da es hingegen ungewoͤhnlicher klingen wuͤrde: dieſes
N 4vor-
[200]IX. Hauptſt. Von der Art einer Sprache.
vorausſetzend, koͤnnen wir ꝛc. Und noch unge-
woͤhnlicher wuͤrde man das franzoͤſiſche voiant, qu’il
arriva, je dis,
ꝛc. durch: Sehend, daß er ankame,
ſagte ich
ꝛc. oder durch: ihn ankommen ſehend,
ſprach ich
ꝛc. uͤberſetzen. Dieſe Ausdruͤcke ſind aber
auch nur ungewoͤhnlich, und das iſt alles, was man da-
wider ſagen kann. Denn da ſie in den uͤbrigen Spra-
chen angehen, und auch im Deutſchen gegeben werden
koͤnnen, ſo ſcheint nichts als der Mangel der Gewohn-
heit Schuld daran zu ſeyn, daß ſie nicht anfangs bey
Dichtern, ſodann in lebhaftern und nachdruͤcklichern
Stellen von Reden, und ſo unvermerkt endlich im ge-
meinen Leben eingefuͤhrt werden. Und hierinn ſcheint
bereits auf die oben (§. 301.) beſchriebene Art ein nicht
ungluͤcklicher Anfang gemacht worden zu ſeyn. Denn
ſo trocken, wie wir erſt die Beyſpiele angefuͤhrt haben,
wuͤrde es ſich kaum der Muͤhe lohnen, ſolche Wortfuͤ-
gungen zu gebrauchen. Es muͤſſen immer Wendun-
gen dabey ſeyn, die das minder gewoͤhnliche uͤber-
ſehen machen.



Zehntes
[201]

Zehntes Hauptſtuͤck.
Von
dem Hypothetiſchen der Sprache.


§. 329.


Da die Woͤrter und ihre Verbindung Zeichen von
unſern Begriffen und deren Verbindung ſind, ſo
daß wir durch das Bewußtſeyn und Empfinden der
Zeichen das Bewußtſeyn der Begriffe erneuern, und
dadurch die wiederholte Empfindung der Dinge ſelbſt
großentheils entbehrlich machen, ſo hat die Sprache un-
ſtreitig einen vielfachen und merklichen Einfluß in die
Art und Geſtalt unſerer geſammten Erkenntniß. Wir
haben in dem erſten Hauptſtuͤcke hieruͤber bereits ver-
ſchiedene allgemeinere Betrachtungen angeſtellt, die wir
noch umſtaͤndlicher aus einander zu ſetzen haben. Sie
betreffen vornehmlich das Hypothetiſche in der Spra-
che, und dieſes iſt durchaus allen Sprachen gemein.
Daß ein Wort vielmehr dieſe als eine andere Sache
bedeute, koͤmmt ſchlechthin darauf an, daß man es da-
zu gewaͤhlt hat, und die letzten Gruͤnde, die man in den
Sprachlehren geben kann, beziehen ſich endlich ſchlecht-
hin auf den Gebrauch zu reden, als welcher auch
noch in den groͤßten Anomalien vorgewandt wird.


§. 330. Es dehnt ſich aber dieſes Hypothetiſche
nicht nur auf jede Woͤrter und jede Wortfuͤgungen, und
folglich ſo weit als die Sprache aus, ſondern ſo will-
kuͤhrlich es auch an ſich iſt, ſo muß man faſt durchaus
dabey bleiben, wenn man nicht eine neue Sprache vor-
bringen, noch andern unverſtaͤndlich werden will, und
es laſſen ſich ohne ſtrengern Beweis einer Nothwendig-
keit nicht wohl Aenderungen darinn vornehmen, unge-
N 5acht
[202]X. Hauptſtuͤck.
acht in lebenden Sprachen faſt immer und unvermerkt
kleine Veraͤnderungen vorgehen, ohne daß ſich die Ver-
anlaſſung dazu in jeden einzeln Faͤllen finden ließe,
wenn man ſich nicht mit allgemeinen Gruͤnden ihrer
Moͤglichkeit begnuͤgen will.


§. 331. Auf dieſe Art iſt man bald durchaus genoͤ-
thigt, ſich dem Hypothetiſchen in der Sprache zu unter-
werfen, und die Sprache zu nehmen, wie ſie iſt, oder
wie ſie uns uͤberliefert worden. Hiebey aber finden ſich
zwo nicht geringe Schwierigkeiten. Die erſte iſt die
Weitlaͤuftigkeit der Sprache, beſonders wenn ſie in groſ-
ſen Provinzen ausgebreitet, und an ſich ſehr reich an
Worten und Metaphern iſt. Jn dieſer Abſicht ſollte
jede Sprache ein Woͤrterbuch haben, darinn nicht nur
alle Woͤrter, und jede Bedeutungen derſelben, ſondern
auch alle etwas beſonders an ſich habende Redensarten
befindlich waͤren. Solche Woͤrterbuͤcher aber finden
ſich noch nicht, und wenn man ſie auch haͤtte, ſo wuͤrden
ſie, wegen der allmaͤhligen Abaͤnderungen der Spra-
chen, nur fuͤr eine gewiſſe Zeit dienen.


§. 332. Die andere Schwierigkeit iſt noch betraͤcht-
licher, und hat in die erſterwaͤhnte einen nicht geringen
Einfluß. Es iſt naͤmlich nicht genug, nur alle Woͤr-
ter zu ſammlen, ſondern man muͤßte auch den genauen
Umfang der Begriffe wiſſen, und feſtſetzen, den jedes
Wort bedeutet. Dieſes iſt aber in den meiſten Faͤllen,
wo man die Sache nicht im Ganzen und ohne mitun-
termengte fremde Umſtaͤnde vorzeigen kann, eine gar
nicht leichte Arbeit, beſonders, wo der Umfang der Be-
griffe noch an ſich willkuͤhrlich, und bey verſchiedenen
Perſonen verſchieden iſt. Jn dieſen Faͤllen reicht man
mit Vorwendung des Gebrauchs zu reden nicht aus,
weil derſelbe nur Redensarten, nicht aber richtige Defi-
nitionen angiebt. Die vielen Wortſtreite, wobey
man naͤmlich nur in den Worten verſchieden, in der
Sache
[203]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
Sache aber eins iſt, fließen aus dieſer Quelle, und zei-
gen die Schwierigkeit, davon wir hier reden, als in
eben ſo vielen Beyſpielen.


§. 333. Dieſe zwo Schwierigkeiten machen, daß
wenn man auch die Sprache nehmen wollte, wie ſie iſt,
man es niemal ganz thun kann, theils weil es zu viel
Muͤhe gebrauchte, ſie ſich ganz bekannt zu machen, theils
weil man in ſtreitigen Faͤllen nicht ſo leicht die Mehr-
heit der Stimmen (§. 1.) einholen kann, und allerdings
noch ſehr viel Willkuͤhrliches darinn zuruͤcke bleibt.


§. 334. Ungeacht aber das Hypothetiſche einer Spra-
che nicht wohl von jemand durchaus erlernt werden
kann, ſo laͤßt ſich dennoch der Anfang und Fortgang
darinn ſo ferne aufklaͤren, daß ſich verſchiedene brauch-
bare Regeln daraus herleiten laſſen, wodurch man in
Stand geſetzt wird, das anfaͤnglich ganz verwirrt ſchei-
nende Cahos immer mehr aus einander zu leſen. Die
Sprache in ihrem vollſtaͤndigen Gebrauche dient nicht
ſo faſt, einzelne Begriffe, ſondern vielmehr den Zuſam-
menhang, die Vergleichung und Verbindung derſelben
andern mitzutheilen und vorſtellig zu machen. Solle
dieſes angehen, ſo iſt unſtreitig, daß man ſowohl in der
Bedeutung jeder einzelnen Worte, als auch jeder
Wortfuͤgung, eins ſeyn muͤſſe. Und in dieſen beyden
Stuͤcken beſteht das Hypothetiſche einer Sprache. Es
wird jedesmal vorausgeſetzt, und man thut deſſen keine
Erwaͤhnung, als bis der eine von den Unterredenden
anfaͤngt, zu vermuthen, es muͤſſe Mißverſtand in den
Worten und Ausdruͤcken verſteckt liegen, vor deſſen Auf-
klaͤrung man nicht ſehen koͤnne, ob man in der That
nicht einerley Meynung ſey. Die oben (§. 302. 307.)
erwaͤhnte hermeneutiſche Billigkeit und die dafuͤr ange-
gebenen Gruͤnde rathen dieſes Verfahren um deſto mehr
an, weil es Streitigkeiten vermeidet und abkuͤrzt, und
weil es ohnehin ehender zu entſchuldigen iſt, wenn man
nur
[204]X. Hauptſtuͤck.
nur in den Worten von einander abgeht, als wenn man
ſogleich den andern eines Jrrthums in der Sache ſelbſt
zeihen wollte.


§. 335. Man hat zur Vermeidung ſolcher Wort-
ſtreite laͤngſt ſchon in den Vernunftlehren Regeln gege-
ben, deren die vornehmſte dieſe iſt, daß man ſich um die
Bedeutung der Woͤrter umſehen muͤſſe, ehe man ſich in
Unterredung und Streitigkeiten einlaͤßt, und daß dieſes
beſonders in Anſehung derer Woͤrter zu thun ſey, wel-
che ehender als andere in ungleicher Bedeutung genom-
men werden koͤnnten. Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß
dieſe vorlaͤufige Behutſamkeit um deſto nothwendiger
iſt, je verſchiedener die Secten und Lehrgebaͤude ſind,
denen die Unterredenden anhangen (Alethiol. §. 141.).
Man ſehe auch, was wir oben (§. 194.) hieruͤber ange-
merkt haben.


§. 336. Der Anſtand, ob man in Anſehung der
Bedeutung der Woͤrter einig ſey, hat unſtreitig ſeine
Stuffen, nach welchen ſich der ganze Vorrath derſelben
in gewiſſe Claſſen theilen laͤßt. Wir haben zu dieſem
Ende bereits in der Alethiologie (§. 138.) angezeigt,
daß nicht nur die Woͤrter, welche einfache Begriffe
vorſtellen, ſondern auch jede andere, wodurch die in der
Natur vorhandenen Dinge, die an ſich ſchon ein Ganzes
ſind, benennt werden, ihrer Bedeutung halber keine
Schwierigkeit haben. Und eben ſo haben wir auch
oben (§. 121.) angemerkt, daß die erſten Urheber der
Sprachen nothwendig bey der Benennung ſolcher Din-
ge und Handlungen anfangen mußten, die ſie vorzeigen
konnten. Denn um in der Bedeutung der erſten Woͤr-
ter einig zu werden, mußten ſie Wort und Sache zuſam-
men nehmen, und den Vorſatz, daß das Wort die Sa-
che bedeuten ſolle, durch Geberden und Deutungen an-
zeigen, die ohne allen Zweifel ihren Grund in der
menſchlichen Natur haben, und von dem andern dadurch
verſtan-
[205]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
verſtanden werden, weil er ſie, um ſich zu verſtehen zu
geben, ebenfalls wuͤrde gebraucht haben. Man wird
in der Art, wie Kinder ihre Mutterſprache lernen, bey
genauerer Aufmerkſamkeit, noch viel hieher dienendes
finden, und wir koͤnnen beſonders auch anmerken, daß
die Sprache, ſo weit ſie Kindern faßlich iſt, am wenig-
ſten Anlaͤße zu Wortſtreiten giebt, als welche vornehm-
lich nur bey abſtracten und nicht im Ganzen in die Sin-
ne fallenden Dingen und Begriffen anfangen.


§. 337. Bey allen denen Dingen, die im Ganzen
und ohne Einmengung fremder Umſtaͤnde fuͤr ſich vor-
gezeigt oder empfunden werden koͤnnen, laͤßt ſich das
Wort unmittelbar mit der Sache verbinden, und der
Begriff entſteht ebenfalls aus der Empfindung der
Sache. Da dieſes bey Figuren auf die leichteſte Art
angeht, ſo iſt ſichs nicht zu verwundern, wenn man in
der Geometrie von Wortſtreiten bald gar nichts weiß,
und warum jeder, der ſich etwan aus Mangel der Er-
lernung dieſer Wiſſenſchaft in Benennung der Figuren
verſtoͤßt, ſehr leicht kann zurechtgewieſen werden. Die
Naturlehre und Naturgeſchichte koͤmmt durch die Be-
muͤhung der Naturforſcher dieſem Grade der Vollkom-
menheit immer naͤher, weil Erfahrungen, Beobachtun-
gen, Verſuche, Abbildungen und Modelle die Mittel
ſind, wodurch man die Namen mit der Sache verbin-
den kann. Man ſehe, was wir in der Dianoiologie
(§. 698.) hieruͤber angemerkt haben.


§. 338. Alle die Woͤrter, die, in ihrem eigentlichen
Verſtande genommen, ein in die Sinne fallendes Gan-
zes vorſtellen, machen, in Abſicht auf das Hypothetiſche
der Sprache, die erſte Claſſe und zugleich die Grundlage
zur Beſtimmung der Bedeutung jeder uͤbrigen Woͤrter
aus. Die zweyte und naͤchſt darauf folgende Claſſe
gruͤndet ſich auf die Aehnlichkeit des Eindruckes, den
die Dinge der Jntellectual- und Koͤrperwelt in die Seele
machen,
[206]X. Hauptſtuͤck.
machen, und welche verurſacht, daß zu Benennung von
beyden einerley Woͤrter gebraucht werden, welche in ih-
rem eigentlichen Verſtande Dinge der Koͤrperwelt, in
metaphoriſchem Verſtande aber Dinge der Jntellectual-
welt oder abſtracte Begriffe vorſtellen. Da man die
Dinge der Jntellectualwelt nicht vorzeigen kann, ſo iſt
die Vergleichung derſelben mit den Dingen der Koͤrper-
welt das einzige Mittel, das Bewußtſeyn und Vorſtel-
lung derſelben bey andern zu erwecken, und dieſe Ver-
gleichung iſt deſto ungezwungener, je groͤßer die Aehn-
lichkeit des Eindruckes iſt, und je mehr ſich dieſe auf die
menſchliche Natur uͤberhaupt gruͤndet. Denn es iſt
unſtreitig ein Menſch mehr dazu aufgelegt als ein an-
derer, und der eine kann ganze weitlaͤuftige und genau
paſſende Allegorien ausſinnen, wovon ein anderer kaum
den Anfang verſteht, wenn man ihm nicht darinn nach-
hilft. Wir haben die Art, wie ſolche Vergleichungen
veranlaßt werden und vorgehen, und wie die Sprache
bereits dazu eingerichtet iſt, in der Alethiologie (§. 45.
ſeqq.) betrachtet. So ferne wir fuͤr Dinge von ganz
verſchiedener Art einerley Woͤrter gebrauchen, ſo muͤſſen
wir bey dem Gebrauch derſelben immer vorauswiſſen,
von welcher Art jedesmal die Rede iſt, und dieſes giebt
mehrentheils der Zuſammenhang an, es ſey denn,
daß die Allegorie ſo vollkommen gemacht werde, daß ſie
eben ſowohl im natuͤrlichen als im verbluͤmten Verſtan-
de genommen werden koͤnne. Jn jeden andern Faͤllen
aͤußern ſich Unterbrechungen und Abweichungen von
dem Bilde, oder von der Sache, die die Woͤrter im
Fall einer Allegorie vorſtellen wuͤrden.


§. 339. Wegen der Aehnlichkeit des Eindruckes ge-
ben wir Dingen einerley Namen, die Gegenſtaͤnde ver-
ſchiedener Sinnen ſind, oder auch wohl gar nicht in die
aͤußern Sinnen fallen, ſondern unmittelbar zu dem ab-
ſtractern Gedankenreiche gehoͤren. Es findet ſich aber
der
[207]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
der Unterſchied dabey, daß wir im letztern Fall faſt im-
mer genothigt ſind, die Namen fuͤr abſtracte Begriffe
von ſinnlichen Dingen und Bildern herzunehmen, im
erſtern aber dient es nur zu Abkuͤrzung der Sprache,
und baͤhnt etwan den Weg, uns zu dem andern leichter
zu gewoͤhnen.


§. 340. Um dieſes mehr ins Licht zu ſetzen, ſo mer-
ken wir an, daß Gegenſtaͤnde der aͤußern Sinnen, eben
deswegen, weil ſie koͤnnen empfunden und vorgezeigt
werden, jedes fuͤr ſich mit einem eigenen Namen belegt
werden koͤnnen, und es iſt eben nicht unumgaͤnglich
nothwendig, den einen mit dem Namen des andern zu
belegen. Jndeſſen iſt es in den wirklichen Sprachen
theils zufaͤlliger Weiſe, theils auch wegen Aehnlichkeit
des Eindruckes geſchehen. Jm erſtern Fall iſt es viel-
mehr ein Fehler der Sprache, weil Dinge, die gar nichts
gemein haben, ſchicklicher mit eigenen Woͤrtern benennt
werden. Jm andern Fall mag die Aehnlichkeit des
Eindruckes einen abſtractern Begriff veranlaſſen, wel-
chen das Wort, womit die Gegenſtaͤnde benennt wer-
den, in ſeiner allgemeinern oder tranſcendenten Bedeu-
tung vorſtellt. Auf dieſe Art gebrauchen wir die Woͤr-
ter lang, kurz, welche eigentlich auf die Ausdehnung
dem Raume nach gehen, bey der Zeit, und bald bey al-
lem, was einer Dimenſion faͤhig iſt.


§. 341. Hingegen ſind wir faſt immer genoͤthigt,
abſtracte Begriffe durch Woͤrter anzuzeigen, die von
ſinnlichen Dingen hergenommen ſind, und einen aͤhnli-
chen Eindruck machen, weil wir ſolche Begriffe nicht
vorzeigen koͤnnen. Jſt aber einmal der Anfang zu ſol-
chen Benennungen gemacht, ſo iſt es wohl moͤglich, ſol-
che Begriffe unter ſich zu vergleichen, zuſammenzuſetzen,
zu verbinden, ꝛc. und die dadurch veranlaßten oder her-
ausgebrachten neuen Begriffe, mit neuen Namen zu be-
legen, wenn es ſich der Muͤhe lohnet (§. 200.). Man
thut
[208]X. Hauptſtuͤck.
thut aber auch in ſolchen Faͤllen beſſer, auf die Aehn-
lichkeit des Eindruckes zu ſehen, und ſtatt ganz neuer
Woͤrter, abgeleitete, zuſammengeſetzte oder metaphori-
ſche zu nehmen. Wir merken nur an, daß ſolche Woͤr-
ter ſchon anfangen, kuͤnſtlicher zu werden, als daß wir
ſie noch zur zweyten Claſſe rechnen koͤnnten. Sie ma-
chen auch die Grundlage der abſtractern Wiſſenſchaften
aus, und wir koͤnnten ſie mit dem bereits uͤblichen Na-
men von Kunſtwoͤrtern,Terminis technicis, benen-
nen, daferne nicht dadurch uͤberhaupt alle nur in einzel-
nen Kuͤnſten und Wiſſenſchaften vorkommende Woͤrter
verſtanden wuͤrden.


§. 342. Ueberhaupt koͤnnen bey allen bisher in die-
ſer Abſicht betrachteten Claſſen von Woͤrtern Wortſtreite
vorkommen. Es findet ſich aber ein merklicher Unter-
ſchied dabey. Denn bey der erſten Claſſe (§. 338.)
koͤnnen die Wortſtreite unmittelbar durch Vorzeigung
der Sache gehoben werden, und dieſes Mittel iſt in der
Naturlehre, beſonders aber und leichter noch in der
Meßkunſt, durchaus moͤglich. Da dadurch die Woͤrter
mit der Sache ſelbſt verbunden werden, ſo hat man ſich
oͤfters zu verwundern, wenn man theils Philologen fin-
det, welche die Begriffe der Mathematiker nach der
Etymologie beſtimmen; theils auch bloße Metaphyſi-
ker antrift, die eben deswegen von mathematiſchen Din-
gen ſehr unrichtig denken, weil ſie die Begriffe nicht
von der Sache, ſondern aus andern ganz abſtracten und
viel unbeſtimmtern Begriffen herleiten wollen.


§. 343. Bey der zweyten Claſſe ſind die Wortſtreite
ſchon ungleich haͤufiger und leichter. Sie begreift die-
jenigen Woͤrter, welche von ſinnlichen Dingen herge-
nommen ſind, in figuͤrlichem Verſtande aber, wegen
Aehnlichkeit des Eindruckes, abſtracte und zur Jntelle-
ctualwelt gehoͤrende Dinge vorſtellen. Es liegt dabey
immer eine Vergleichung zum Grunde, welche einen
abſtra-
[209]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
abſtracten Begriff unter einem ſinnlichen Bilde vor-
ſtellt. Und dieſe Vergleichung muß unmittelbar ſeyn,
daferne das Wort zu der zweyten Claſſe ſolle koͤnnen
gerechnet werden. Die Auseinanderſetzung der Ver-
gleichungsſtuͤcke, ſo weit ſie immer reichen moͤgen, klaͤrt
ſolche Begriffe am beſten und deutlichſten auf, und
was in dem abſtracten Begriffe willkuͤhrlich und wan-
kend ſcheinen moͤchte, wird dadurch auf ein nettes Gan-
zes gebracht, von welchem man um deſto weniger Urſa-
che hat, abzugehen, weil die Aehnlichkeit des Eindru-
ckes, welche den abſtracten Begriff bildet, dabey ganz
zum Grunde liegt. Auf dieſe Art ſind z. E. in der Er-
findungskunſt die Begriffe Ruͤckweg, Umweg,
Abweg, Spur, Leitfaden, Luͤcke, Fragment, ꝛc.

von ſinnlichen Dingen hergenommen, und ſehr brauch-
bar und beſtimmt, wenn man die Vergleichungsſtuͤcke
dabey entwickelt und die Allegorie fortſetzt.


§. 344. Auf die erſtbeſchriebene Art zu verfahren,
erhaͤlt man Klarheit und Deutlichkeit bey den abſtra-
cten Begriffen, weil jede Vergleichungsſtuͤcke durch die
Vergleichung mit einem ſinnlichen Bilde auseinander-
geſetzt werden. Die Moͤglichkeit, einander verſtaͤndlich
zu bleiben, gruͤndet ſich darauf, daß andere die ihnen
vorgezeigte Aehnlichkeit des Eindruckes ebenfalls em-
pfinden koͤnnen, wenn ſie von dem ſinnlichen Bilde
klare Begriffe haben. Dieſe Forderung richtet ſich aller-
dings nach den beſondern Faͤhigkeiten einzelner Men-
ſchen, und nach der Geſchicklichkeit und Bemuͤhung,
auch den Einfaͤltigſten verſtaͤndlich zu bleiben. Dem-
nach gilt auch hievon, was wir in der Dianoiologie von
den menſchlichen Faͤhigkeiten und Fertigkeiten uͤberhaupt
angemerkt haben (§. 531. ſeqq. l. cit.)


§. 345. Hingegen bey der dritten Claſſe von Woͤr-
tern, wobey die Vergleichung mit ſinnlichen Bildern
nicht unmittelbar iſt, ſondern welche durch andere eben-
falls abſtracte Woͤrter muͤſſen definirt werden, faͤllt die
Lamb. Organon II B. OKlar-
[210]X. Hauptſtuͤck.
Klarheit in der Vorſtellung groͤßtentheils weg, und ſie
geben haͤufigern Anlaß zu Wortſtreiten. Sie koͤnnen auch
nicht ſo unmittelbar durch genau paſſende ſinnliche Bilder
aufgeklaͤrt werden, und der Beweis, daß der Umfang des
dadurch vorgeſtellten Begriffes richtig beſtimmt ſey, und
nichts Willkuͤhrliches babe, iſt nicht immer ſo leicht.


§. 346. Bey dieſer dritten Claſſe haben wir gleich-
ſam nur Worte und Begriffe gegen einander zu halten,
weil wir ſetzen, daß die Sache entweder nicht im Gan-
zen oder auch gar nicht vorgezeigt werden koͤnne, ſon-
dern ſchlechthin ideal ſey, wohin uͤberhaupt alle allge-
meinere Verhaͤltnißbegriffe koͤnnen gerechnet werden
(Dianoiol. §. 476. ſeqq.). Um nun die dabey vorfal-
lenden Schwierigkeiten zu entwickeln, ſo werden wir die
einzeln Faͤlle umſtaͤndlicher auseinander ſetzen. Und
da findet ſich gleich anfangs der Unterſchied, ob man
den Begriff nach dem Wort einrichtet, oder ob man
das Wort zu dem Begriffe waͤhlt? Von dieſen zween
Faͤllen koͤmmt der letztere gemeiniglich vor, wo jemand
auf einen neuen Begriff verfaͤllt, der beſonders benennt
zu werden wuͤrdig ſcheint. Dieſer Fall kann aber auch
vorkommen, wo der Begriff nicht neu iſt, ſondern nur
dem Nachſinnenden neu ſcheint, dabey aber bereits un-
ter einem andern Namen bekannt ſeyn kann. Letzteres
kann allerdings zu Wortſtreiten Anlaß geben, wo man
endlich findet, man habe unter verſchiedenen Namen
einerley Begriffe verſtanden. Was aber vorzuͤglich
hieruͤber anzumerken iſt, koͤmmt auf die Auswahl des
Namens an. Hiezu nimmt man nun nicht Wurzel-
woͤrter, die noch gar nichts anders bedeuten, ſondern
entweder abgeleitete, oder zuſammengeſetzte oder meta-
phoriſche Woͤrter, und da geſchieht es ſelten, daß dieſe
Woͤrter den vorhabenden Begriff genau ausdruͤcken,
und andere koͤnnen mehr oder minder darunter verſte-
hen. Was nun der Erfinder des Begriffes hiebey zu
thun hat, um Wortſtreite zu vermeiden, iſt, daß er durch
eine
[211]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
eine Definition den eigentlichen Umfang ſeines Begrif-
fes beſtimme, und dabey nicht nur die Moͤglichkeit deſ-
ſelben erweiſe, ſondern auch durch tuͤchtige Gruͤnde zeige,
daß man nicht Urſache habe, dieſen Umfang weder wei-
ter noch enger zu nehmen, und daß der Begriff an ſich
ein nettes und erhebliches Ganzes vorſtelle. Auf dieſe Art
wird der Name in ſo ferne gleichguͤltig, daß die Leſer ſich
an ſeiner buchſtaͤblichen Bedeutung nicht ſo ſtrenge auf-
halten, wie es geſchehen kann, wenn der Umfang des Be-
griffes willkuͤhrlicher iſt, oder wenigſtens zu ſeyn ſcheint.


§. 347. Der andere Fall, wo man naͤmlich den Be-
griff nach dem Wort richtet, koͤmmt mehrentheils vor,
wo man ſich noch an keine Definition des Wortes ge-
woͤhnt hat. Denn da entſteht der Begriff aus den
Faͤllen und Redensarten, in welchen man das Wort
gehoͤrt hat. Und in der gemeinen Erkenntniß, ſo ferne
naͤmlich dieſe der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß entgegen-
geſetzt iſt, laͤßt man es bey dieſer Art, zu den abſtracten
Begriffen zu gelangen, bewenden, (§. 310. ſeqq. und
Dianoiol. §. 601.). Es iſt fuͤr ſich klar, daß nicht je-
dem fuͤr jedes Wort einerley Faͤlle und Redensarten
vorkommen, und daß folglich auch nichts leichters und
nichts haͤufiger iſt, als daß man in Abſicht auf den Um-
fang abſtracter Begriffe uneins ſey. Man wird hiebey
eine der vornehmſten Quellen der Vorurtheile finden,
die von der Auferziehung und Umſtaͤnden jeder einzel-
ner Menſchen herruͤhren, und die ſodann in ganze phi-
loſophiſche Syſtemen einen augenſcheinlichen Einfluß
haben. Die tiefer verſteckte Wortſtreite ruͤhren bey
ganzen Syſtemen ebenfalls daher, daß man ſchon fuͤr
die Woͤrter, welche, andere zu definiren, gebraucht wer-
den, Begriffe von verſchiedenem Umfange annimmt,
und nicht ſelten die erſten Definitionen ſo einrichtet, da-
mit man im Folgenden andere darauf bauen, und ge-
wiſſe beliebte Saͤtze daraus herleiten koͤnne.


O 2§. 348.
[212]X. Hauptſtuͤck.

§. 348. Das Mittel, ſolche Wortſtreite und bloß
ſcheinbare Beweiſe zu vermeiden, iſt nun eben das, ſo
wir vorhin (§. 346.) angegeben haben. Man muß
das Willkuͤhrliche in dem Umfang der Begriffe aufhe-
ben, und eine Art von Nothwendigkeit dabey einfuͤhren,
folglich jeden Begriff ſo beſtimmen, daß er fuͤr ſich ein
nettes und vollſtaͤndiges Ganzes vorſtelle. Man ſehe,
was wir in dem dritten Hauptſtuͤcke der Alethiologie
(§. 135-158.) hieruͤber angemerkt haben. Man kann
uͤberhaupt auch anrathen, in abſtracten Wiſſenſchaften
die Anzahl der Kunſtwoͤrter lieber zu vermindern als zu
vermehren. Sie dienen auch meiſtens nur zur Abkuͤr-
zung der Ausdruͤcke, und verwandeln dieſe Kuͤrze meh-
rentheils in eine Dunkelheit und wenigſtens ſcheinbaren
Wortkram, weil nicht jeder ſich die Muͤhe nimmt, ſich
alle die Woͤrter und ihre Definitionen ſo genau bekannt
zu machen. So iſt z. E. in der ſcholaſtiſchen Welt-
weisheit viel Nuͤtzliches. Es liegt aber unter einem faſt
ungeheuern Wortkrame gleichſam begraben.


§. 349. Wir haben ferner bereits ſchon in der Ale-
thiologie (§. 156.) angemerkt, daß die Sprache lange
nicht genug Woͤrter fuͤr jede Begriffe und ihre Modifi-
cationen hat, und daß man daher gleichſam genoͤthigt
iſt, die Woͤrter der Sprache ſtuffenweiſe metaphoriſch
zu machen, bis ſie bald vieldeutig werden, und einen
unbeſtimmten Umfang in ihrer Bedeutung bekommen,
der ſich in jeden einzeln Faͤllen aus dem Zuſammen-
hange der Rede naͤher beſtimmt, daferne es nicht un-
mittelbarer durch eine Definition geſchieht, wodurch
man anzeigt, was man in einem vorgegebenen Falle
durch dieſes oder jenes Wort verſtehe. Solche Defi-
nitionen ſind nun auf eine viel unmittelbarere Art Hypo-
theſen, nicht in ſo ferne der Begriff willkuͤhrlich iſt,
ſondern in ſo fern man ihn durch das Wort benennt,
ungefaͤhr wie man in der Algeber die in die Rechnung
gezogenen Groͤßen durch Buchſtaben bezeichnet, ſchlecht-
hin
[213]Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
hin um ſie von einander zu unterſcheiden und kurz vor-
zuſtellen. Unterlaͤßt man aber ſolche Definitionen, ſo
daß der genaue Verſtand des Wortes aus dem Zuſam-
menhange beſtimmt werden muß, ſo gilt hier, was wir
bereits oben (§. 307-312.) angemerkt haben.


§. 350. Laͤßt man aber einem Worte einen noch
unbeſtimmten Umfang der Bedeutung, ſo gebraucht es
allerdings einige Behutſamkeit, wenn man daſſelbe zum
Mittelgliede von Schluͤſſen macht. Denn da koͤnnte
leicht der Oberſatz in einem ganz andern Umfange wahr
ſeyn, als der Unterſatz, und ſo haͤtte man in der Schluß-
rede nicht drey, ſondern vier wirklich verſchiedene Glie-
der, und der Schlußſatz koͤnnte ganz oder zum Theile
falſch ſeyn, oder ſeine Glieder werden metaphoriſch, und
da muß ſeine Richtigkeit fuͤr ſich gepruͤft werden. Auf
dieſe Art laſſen ſich Allegorien fortſetzen, aber ſolche
Schluͤſſe ſind nur die Veranlaſſung dazu. So z. E.
wenn man den Verſtand unter dem Bilde eines Lichtes
vorſtellt, ſo laͤßt ſich allerdings viel von dem, was man
von einem Lichte ſagen kann, metaphoriſch von dem
Verſtande ſagen, und die Allegorie kann weit fortgeſetzt
werden. Der Unterſatz in dieſen Schluͤſſen iſt immer,
daß der Verſtand ein Licht ſey, aber das Praͤdicat des
Oberſatzes wird im Schlußſatze metaphoriſch, und muß
gepruͤft werden, ob es als eine Metapher vom Verſtan-
de koͤnne geſagt werden. Denn da in ſolchen Schluͤſ-
ſen fuͤnf Glieder ſind, ſo dienen ſie nur als Anlaͤſſe zu
Vermuthungen, die deſſen uneracht oͤfters gluͤcklich aus-
fallen. Es iſt unſtreitig, daß von den ſo genannten
gluͤcklichen und unerwarteten Einfaͤllen viele auf dieſe
Art veranlaßt werden.


§. 351. Die ziemlich beſtimmte und in Vergleichung
der Menge von Begriffen geringe Anzahl der Woͤrter
einer Sprache macht ferner das Definiren der Begriffe
und Woͤrter in vielen Faͤllen ſchwer und großentheils
unmoͤglich. Denn es koͤmmt immer darauf an, ob die
O 3Sprache
[214]X. H. Vom Hypothetiſchen der Sprache.
Sprache Woͤrter habe, welche man zu der Definition
gebrauchen muͤßte, und die den behoͤrigen Umfang in
der Bedeutung haben. Trift dieſes ſchicklich zu, ſo iſt
es ſehr gelegentlich, weil man die Sprache nehmen
muß, wie man ſie findet. Findet man aber dergleichen,
ſo ſind dennoch ſolche Nominaldefinitionen oͤfters nichts
anders als bloße Beſtimmungen der Bedeutung des
Wortes, und woferne dabey nicht die Sache ſelbſt im
Ganzen zum Grunde liegt, ſo ſieht es damit noch miß-
licher aus. Denn da entſteht der Begriff, den
man mit dem Worte verbindet, aus den Re-
densarten, in welchen das Wort gebraucht
wird, und man richtet die Definition ſo ein,
daß ſie dieſen Redensarten und Saͤtzen nicht
zuwiderlaufe.
Dieſe Saͤtze werden demnach bereits
vorausgeſetzt, weil ſie der Grund ſind, warum man die
Definition vielmehr ſo als anders einrichtet. Leitet man
ſie demnach nachgehends aus der Definition her, ſo iſt
klar, daß dieſes hoͤchſtens nur in der Abſicht geſchehen
koͤnne, um die Definition dadurch wie auf die Probe
zu ſetzen, nicht aber um dieſe Saͤtze daraus zu beweiſen,
als welches ein logiſcher Circul waͤre. Von dieſer Art
iſt z. E. der ontologiſche Satz: Modi poſſunt adeſſe
et abeſſe ſalua rei eſſentia.
Denn die darinn ange-
zeigte Moͤglichkeit wird vorausgeſetzt, wenn man die
Begriffe des Weſens und der Modificationen defi-
niren und die Definitionen beweiſen will (Dianoiol.
§. 23. 22.). Und uͤberhaupt will dieſer Satz nicht mehr
ſagen, als daß wir den Sachen einerley Namen beybe-
halten, ohne auf gewiſſe kleinere Veraͤnderungen zu ſe-
hen, die ſie leiden. Und dieſes thun wir theils zur Ab-
kuͤrzung der Sprache, theils zum Behufe des Gedaͤcht-
niſſes, theils auch weil die Veraͤnderungen uns nicht
immer in die Sinnen fallen, und mehrentheils auch der
Zeit nach durch unmerkliche Stuffen gehen.



Phaͤno-
[[215]]

Phaͤnomenologie
oder
Lehre
von
dem Schein.


O 4
[[216]][[217]]

Phaͤnomenologie.

Erſtes Hauptſtuͤck.
Von den Arten des Scheins.


§. 1.


Die menſchliche Erkenntniß hat nicht nur
das beſonders, daß wir gleichſam genoͤ-
thigt ſind, unſere Begriffe an Woͤrter
und Zeichen zu binden, durch deren Vor-
ſtellung wir uns die dadurch angedeuteten Begriffe und
Bilder der Dinge wieder zu Sinne bringen, ſo gut wir
uns derſelben errinnern koͤnnen: ſondern die Art, wie
wir nach und nach zu Begriffen und Vorſtellungen ge-
langen, bringt darinn noch eine andere Verwirrung her-
vor, die uns die Verſicherung von der Richtigkeit und
Uebereinſtimmung der Begriffe mit den Dingen ſelbſt,
in vielen Faͤllen und aus vielfaͤltigen Urſachen ſchwer
macht. Wir haben naͤmlich nicht ſchlechthin das Wah-
re
dem Falſchen entgegen zu ſetzen, ſondern es findet
ſich in unſerer Erkenntniß zwiſchen dieſen beyden noch
ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und
dieſer macht, daß wir uns die Dinge ſehr oft unter ei-
ner andern Geſtalt vorſtellen, und leichte das, was ſie
O 5zu
[218]I. Hauptſtuͤck.
zu ſeyn ſcheinen, fuͤr das nehmen, was ſie wirklich
ſind,
oder hinwiederum dieſes mit jenem verwechſeln.
Die Mittel, dieſes Taͤuſchwerk zu vermeiden, und durch
den Schein zu dem Wahren durchzudringen, ſind dem-
nach einem Weltweiſen, der durchaus das Wahre an
ſich zu erkennen ſucht, um deſto unentbehrlicher, je man-
nigfaltiger die Quellen ſind, woraus die Blendungen
des Scheins fließen. Die Theorie des Scheins und
ſeines Einfluſſes in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der
menſchlichen Erkenntniß, macht demnach den Theil der
Grundwiſſenſchaft aus, den wir die Phaͤnomenologie
nennen, und in dieſem erſten Hauptſtuͤcke den Begriff
davon entwickeln werden.


§. 2. Der Begriff des Scheins iſt ſowohl dem
Wort als ſeinem erſten Urſprunge nach, von dem Auge
oder von dem Sehen hergenommen, und ſtuffenweiſe
auf die uͤbrigen Sinnen und auf die Einbildungskraft
ausgedehnt, und dadurch zugleich allgemeiner, und theils
auch vielfach geworden. Hingegen iſt die Theorie des
Scheins, ſo fern man naͤmlich etwas vollſtaͤndiges ver-
langt, bisher faſt ganz bey dem Auge zuruͤcke geblie-
ben. Jn der That beut auch das Auge vielſachern
Stoff zum Schein an, ſeine Structur iſt einfacher, und
die Wege des Lichtes bekannter, und ſo war eine naͤhere
Moͤglichkeit da, die Theorie des Sehens auf richtige
und brauchbare Gruͤnde zu bringen, und damit die ma-
thematiſchen Wiſſenſchaften zu bereichern. Ueberdieß
war die Optik oder Sehekunſt den Aſtronomen,
welche aus der ſcheinbaren Geſtalt des Himmels auf
die wahre Einrichtung des Weltbaues zu ſchließen hat-
ten, viel zu unentbehrlich, als daß ſie nicht die ſchwe-
rern optiſchen Lehrſaͤtze laͤngſt ſchon haͤtten aufſuchen
und anwenden ſollen. Jn den neuern Zeiten haben
die Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤſer neuen Stoff
zur Erweiterung der optiſchen Wiſſenſchaften gegeben,
und
[219]Von den Arten des Scheins.
und ſo hat es allerdings an Anlaͤßen, Fleiß und Be-
muͤhung fuͤr dieſen Theil der Phaͤnomenologie nicht ge-
fehlt, ſo ſehr auch die uͤbrigen zuruͤcke geblieben ſind.


§. 3. Es iſt unnoͤthig, viele Faͤlle hier anzufuͤhren,
wodurch der Unterſchied des Scheins und der wahren
Beſchaffenheit der ſichtbaren Dinge, in ſo fern ſie ein
Gegenſtand des Sehens ſind, gewieſen wird. Denn
ſo weiß jedermann, daß einerley Dinge in groͤßerer Ent-
fernung kleiner, undeutlicher und blaſſer ſcheinen; daß
ſie, von andern Seiten betrachtet, anders ausſehen; daß
ihre Farbe ſich mit Abaͤnderung des auffallenden Lich-
tes aͤndert; daß den Schiffenden die Ufer ſich zu entfer-
nen, oder zu naͤhern, und uͤberhaupt zu bewegen ſchei-
nen; daß ein Circul, ſchief betrachtet, ablang, und hin-
wiederum eine ablange Ovale, von gewiſſen Seiten be-
trachtet, rund ſcheinen koͤnne ꝛc. Aus ſolchen und un-
zaͤhligen andern taͤglich vorkommenden Faͤllen, weiß je-
dermann, daß die ſcheinbare Geſtalt und Anſehen der
Dinge von ihrer wahren Geſtalt muͤſſe unterſchieden
werden, und daß man von jener auf dieſe nicht ſo ſchlecht-
hin ſchließen koͤnne, weil es Faͤlle giebt, wo ganz ver-
ſchiedene Dinge ſich unſern Augen unter einerley Ge-
ſtalt zeigen. Alles dieſes iſt nun in der Optik ſo weit
entwickelt und auf Grundſaͤtze gebracht, daß man darinn
von dem Schein der ſichtbaren Dinge einen ausfuͤhrli-
chen Begriff geben kann. Man weiß naͤmlich, daß
alles, was man anſieht, ſich auf dem Augennetze gleich-
ſam abmalet; daß dieſes kleine Gemaͤlde eben ſo in das
Auge faͤllt, als die Gegenſtaͤnde ſelbſt, und daß von
dem Schein der Gegenſtaͤnde gelte, was von dieſem
kleinen Gemaͤlde auf dem Augennetze kann geſagt wer-
den, es mag nun die Figur, Groͤße, Entfernung, Lage,
Farbe, Helligkeit, Ruhe oder Bewegung betreffen.
Man hat daher in der Optik den Grundſatz angenom-
men, daß Dinge einerley ſcheinen, ſo fern ſie auf einer-
ley
[220]I. Hauptſtuͤck.
ley Art in das Auge fallen. Und dieſer Grundſatz, auf
jede Sinnen ausgedehnt, wird ſo lauten: daß einerley
Empfindung entſtehe, wenn eben der Sinn einerley
Eindruck leidet.


§. 4. Die Optiker ſind darinn noch weiter gegan-
gen, und haben in der Perſpective Mittel angegeben,
den Schein der ſichtbaren Dinge zu malen, oder wenig-
ſtens ihre ſcheinbare Figur nach geometriſcher Schaͤrfe
ſo zu zeichnen, daß| ſowohl die Gegenſtaͤnde ſelbſt, als
die Zeichnung, aus den angegebenen Geſichtspunkten be-
trachtet, einerley Bild auf dem Augennetze machen,
oder auf einerley Art in das Auge fallen. Und da der
Schein von dem Wahren oͤfters ſehr verſchieden, ja
ganz entgegengeſetzt ſeyn kann, ſo haben ſie beſonders
in der Aſtronomie fuͤr den Schein eine eigene Sprache
angenommen, und die Ueberſetzung aus derſelben in die
wahre, und hinwiederum aus dieſer in jene gewieſen.
Und dieſes macht in der That auch den Unterſchied
zwiſchen der ſphaͤriſchen und theoriſchen Aſtronomie
aus. Wir merken dieſes hier um deſto mehr an, weil,
wenn wir die Phaͤnomenologie als eine tranſcendente
Optik anſehen, wir uns ebenfalls eine tranſcendente
Perſpective, und Sprache des Scheins gedenken, und
folglich dieſe Begriffe zugleich mit dem Begriffe des
Scheins bis zu ihrer wahren Allgemeinheit erweitern
koͤnnen. Und in ſo ferne Dichter malen, ſo ferne wird
auch ein Theil der Dichtkunſt zu dieſer tranſcendenten
Perſpective oder Malerkunſt gerechnet werden koͤnnen.


§. 5. Wenn wir den optiſchen Begriff des Scheins
(§. 3.) auf jede Sinnen ausdehnen, ſo wird er uͤber-
haupt in dem Eindrucke beſtehen, den die empfunde-
nen Dinge in den Sinnen machen. Dieſer Eindruck
wird in Abſicht auf das Auge insbeſondere das Bild
der Sache genennt, und das Bewußtſeyn, daß wir
dieſes Bild empfinden, giebt den klaren Begriff von
dem
[221]Von den Arten des Scheins.
dem Schein der geſehenen Sache. Jn Anſehung der
uͤbrigen Sinnen haben wir, ſo viel mir bewußt iſt, in
der Sprache kein Wort, welches uͤberhaupt vorſtellte,
was das Wort Bild in Anſehung des Auges vorſtellt,
und vielleicht wuͤrde es zu hart ſeyn, wenn wir den Ein-
druck oder klaren Begriff, den uns jede Sinnen durch
die Empfindung ihrer Gegenſtaͤnde geben, damit be-
nennen, und z. E. das Bild der Waͤrme, des
Schalles
ꝛc. ſagen wollten. Jndeſſen wuͤrde dieſe
Benennung das ausdruͤcken, was uns dieſe Gegenſtaͤn-
de, der Empfindung nach, zu ſeyn ſcheinen.


§. 6. Bey dem erſt gegebenen Begriff des Scheins
ſetzen wir voraus, daß die Empfindung durch eine wirk-
lich außer uns ſich befindende Sache verurſacht werde,
und in allen ſolchen Faͤllen ſteht der Begriff von dem,
was dieſe Sache in der That iſt, mit demjenigen, den
ſie durch die Empfindung in uns hervorbringt, in ei-
ner gewiſſen Verhaͤltniß. Dieſe Verhaͤltniß wird durch
die Lage der Sache und des Sinnes, wodurch die Sa-
che empfunden wird, dergeſtalt beſtimmt, daß ſich von
der Empfindung auf die Beſchaffenheit der Sache, oder
hinwiederum von dieſer auf jene ſchließen laͤßt. Er-
fahrung und Uebung hilft uns hierinn in vielen Faͤllen
zu einer gewiſſen Fertigkeit, ungeacht die mathematiſche
Genauigkeit bisher faſt allein in der Optik hat erhalten
werden koͤnnen, weil wir da Mittel haben, ſowohl den
Schein als das Wahre in mehrerley Abſichten aus-
zumeſſen.


§. 7. Es iſt aber erſt angefuͤhrte Vorausſetzung
nicht allgemein, weil uns die Erfahrung Beyſpiele von
dem Gegentheil giebt. Naͤmlich die Begriffe, die wir
ſonſt durch die Empfindung einer wirklich außer uns
vorhandenen Sache erlangen, koͤnnen auch in uns er-
weckt werden, ohne daß die Sache vorhanden ſey, oder
in die Sinnen wirke. So z. E. iſt das Laͤuten in
den
[222]I. Hauptſtuͤck.
den Ohren jedermann bekannt. Jm Schwindel
ſcheint alles ſich umzudrehen, und im Traume ſtellen
wir uns Dinge eben ſo lebhaft vor, als wenn ſie vor-
handen waͤren. Die innere Waͤrme des Leibes miſcht
ſich vielfaͤltig in das Urtheil, ſo wir, der Empfindung
nach, von der aͤußern Waͤrme faͤllen, und die Thermo-
meter haben uns gelehrt, daß einerley Temperatur der
Luft uns kalt und warm vorkommen koͤnne. Ueber-
haupt mengen ſich die aus innerlichen Urſachen herruͤh-
renden Bewegungen der Empfindungsnerven in die, ſo
von den aͤußern Gegenſtaͤnden herkommen, und erſt an-
gezogene Erfahrungen zeigen, daß jene auch ohne dieſe
allein wirken, oder ſie in der Wirkung uͤberwiegen koͤn-
nen. Von dem, was in hitzigen Fiebern, im Deliri-
ren ꝛc. vorgeht, iſt hier unnoͤthig anzufuͤhren, weil ſolche
Zufaͤlle ſich bey geſundem Zuſtande der Sinnen nicht
einfinden.


§. 8. Jndeſſen zeigen uns dieſe Beobachtungen ei-
ne beſondere Art und Quelle des Scheins an, welcher
ſich, auch ohne von aͤußern Gegenſtaͤnden veranlaßt zu
werden, einfinden kann. Es kann daher Faͤlle geben,
wo man in der That ſich aus andern Gruͤnden, Kenn-
zeichen und Verſuchen verſichern muß, ob ein ſolches
Blendwerk vorgehe, oder die Sache wirklich ſey? Bey
unerwarteten und unmoͤglich ſcheinenden Faͤllen zwei-
feln wir an der Wirklichkeit, und hinwiederum nach
gar zu lebhaften Traͤumen ſtehen wir an, ob es nicht
wirklich ſey?


§. 9. Aber auch dieſer Unterſchied iſt von den Jdea-
liſten angefochten worden, als welche dieſe zweyte Art
des Scheins ſchlechthin auf alles ausdehnen, was wir
ſonſt wirklich außer uns zu ſeyn glauben. Sie machen
zwiſchen dem, was wir wachend ſehen, und dem, was
wir im Traume ſehen, keinen andern Unterſchied, als
den, ſo zwiſchen einer zuſammenhaͤngenden und nicht
zuſam-
[223]Von den Arten des Scheins.
zuſammenhaͤngenden Einbildung ſtatt hat, und ſehen
folglich die ganze Koͤrperwelt ſchlechthin als einen bloſ-
ſen Schein an. Wir merken hier nur beylaͤufig an,
daß dieſer idealiſche Schein etwas ganz beſonderes
haben muͤßte. Denn nimmt man die Koͤrperwelt als
real an, ſo giebt ſie lauter zuſammenhaͤngende Wahr-
heiten, weil keine Erfahrung der andern weder wider-
ſpricht noch widerſprechen kann. Hingegen werden wir
im Folgenden umſtaͤndlicher zeigen, daß jeder andere
Schein, als real angenommen, nicht durchaus mit ſich
ſelbſt beſteht, und dadurch verraͤth, daß er nicht als
real angenommen werden kann, ſondern das Reale,
oder was die Sache an ſich iſt, erſt daraus geſchloſſen
werden muß.


§. 10. Wir haben bisher die Arten des Scheins
uͤberhaupt angezeigt, die in Anſehung der Sinnen vor-
kommen. Es dehnt ſich aber der Schein auch bis in
das Gnadenreich aus, und beſonders bieten uns das
Bewußtſeyn, das Gedaͤchtniß und die Einbil-
dungskraft,
verſchiedene Quellen des Scheins an,
und die Leidenſchaften tragen nicht wenig dazu bey,
die Verwirrung zu vermehren, weil ſie die Aufmerkſam-
keit auf beſondere Seiten lenken, das Bewußtſeyn hem-
men oder verſtaͤrken, und die Einbildungskraft zum
Nachtheil der Vernunft und des Verſtandes reger ma-
chen, als es zur genauen und richtigen Erkenntniß und
Pruͤfung der Wahrheit erfordert wuͤrde.


§. 11. Das Bewußtſeyn koͤmmt bereits ſchon bey
den Empfindungen der aͤußern Sinnen vor. Einmal
findet ſich in jeder Empfindung ungemein viel Mannich-
faltiges, weil ſie individual, und daher durchaus be-
ſtimmt iſt. Allein, wir ſind uns dieſes Mannichfalti-
gen niemals durchaus bewußt, und es bleiben in jeder
Empfindung immer unbemerkte Stuͤcke. Daher kann
es geſchehen, daß bey Wiederholung der Empfindung
uns
[224]I. Hauptſtuͤck.
uns andere Stuͤcke lebhafter vorkommen, und dieſes
kann uns veranlaſſen, eine und eben die Sache fuͤr zwo
verſchiedene Sachen anzuſehen, oder hinwiederum zwo
verſchiedene Sachen fuͤr eine zu halten, oder eine fuͤr
die andere zu nehmen.
Es iſt fuͤr ſich klar, daß
das Gedaͤchtniß dazu beytraͤgt, wenn wir uns der Em-
pfindung, wie wir ſie das erſtemal hatten, nicht mehr
ganz errinnern.


§. 12. Sodann iſt es moͤglich, daß eine Empfin-
dung, wovon wir uns nicht aller Theile bewußt ſind,
nachgehends in uns auflebt, und uns auch einige von
denen Stuͤcken zu Sinne bringt, deren wir uns bey der
Empfindung ſelbſt nicht bewußt waren, oder hinwieder-
um andere wegbleiben, deren wir uns bey der Empfin-
dung wohl bewußt waren. Der Begriff der Sache
wird dadurch offenbar gleichſam verunſtaltet, und die
Urtheile, die wir bey der Empfindung uͤber die Sache
faͤllten, wollen ſich mit dem aufgelebten Begriffe der
Sache nicht mehr durchaus reimen. Denn dieſer Be-
griff ſowohl als der, den wir bey der Empfindung der
Sache hatten, ſtellen ſie von verſchiedenen Seiten vor.
Und wenn auch beyden Seiten weiter nichts fehlt, als
daß ſie die Sache nicht ganz vorſtellen, ſo koͤnnen ſie
widerſprechend ſcheinen, ohne daß ſie es in der That
ſind.


§. 13. Das erſt betrachtete mehr oder mindere Be-
wußtſeyn der einzeln Theile einer Vorſtellung, koͤmmt
aber nicht nur bey den Empfindungen der aͤußern Sin-
nen vor, ſondern es dehnt ſich uͤberhaupt auf das ganze
Gedankenreich aus, und bringt darinn aͤhnliche Ver-
wirrungen hervor. Vorzuͤglich aber aͤußern ſich dieſe
Folgen: 1. Bey Beurtheilung der Grade und des
Werths der Dinge, wobey man noch keinen beſtimm-
ten Maaßſtab hat, wie z. E. bey Beurtheilung der
Schoͤnheit und Vollkommenheit einer Sache. Jn ſol-
chen
[225]Von den Arten des Scheins.
chen Dingen ſind wir leicht geneigt, die aͤußerſten Gra-
de, die wir kennen, fuͤr die zu nehmen, die an ſich die
aͤußerſten ſind, und wo die Sache gar zu ſehr zuſam-
mengeſetzt iſt, da ſind wir uns weder aller Theile, noch
ihres Werthes bewußt, und die Summe koͤmmt uns
bald groͤßer bald kleiner vor, je nachdem das Bewußt-
ſeyn vollſtaͤndiger iſt, und je nachdem wir eine Sache
zum Maaßſtabe der Schaͤtzung annehmen. 2. Eben
dieſe Veraͤnderlichkeit findet ſich auch bey Beurtheilung
der moraliſchen Gewißheit oder der wahrſcheinlichen
Beweiſe. Sie koͤnnen uns bald ſtaͤrker bald ſchwaͤcher
vorkommen, je nachdem wir ſie uns lebhafter und aus-
fuͤhrlicher vorſtellen. 3. Bey Beurtheilung der Be-
weggruͤnde, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, kann
ſich ein ſolcher Wankelmuth ebenfalls einfinden, beſon-
ders wo die Folgen des Entſchluſſes noch erſt wahr-
ſcheinlich ſind, und die Guten gegen die Schlimmern,
oder die Folgen des Thuns gegen die Folgen des Unter-
laſſens muͤſſen abgewogen werden. Da iſt es ſchwer,
ſich jedesmal aller bewußt zu ſeyn, und die, deren man
ſich nicht bewußt iſt, werden leicht als gar nicht mit un-
terlaufend angeſehen, wenigſtens kann man ſie nicht in
die Rechnung ziehen.


§. 14. Die Einbildungskraft giebt uns ebenfalls
vielfache und ſehr erhebliche Quellen des Scheins an.
Einmal mengt ſie ſich bey den meiſten Empfindungen
ſo mit ein, daß wir Muͤhe haben, das aus der Empfin-
dung entſtehende Bild rein, das iſt, ohne Einmiſchung
von ehmals gehabten Vorſtellungen und Schluͤſſen, zu
erhalten. Daher koͤmmt es, daß ſehr oft als Erfah-
rung ausgegeben wird, was ſich nicht unmittelbar em-
pfinden laͤßt, ſondern aus der Empfindung erſt geſchloſ-
ſen, oder von ganz fremden Bildern mit eingemengt
wird. Man ſehe, was wir in dem achten Hauptſtuͤcke
Lamb. Organon II B. Pder
[226]I. Hauptſtuͤck.
der Dianoiologie von ſolchen Fehlern des Erſchlei-
chens
angemerkt haben.


§. 15. Sodann iſt die Einbildungskraft die eigent-
liche Quelle jeder Hirngeſpinſter, Chimaͤren, lee-
ren Traͤume
und Einbildungen. Sie unterſchei-
det den von den Sinnen herruͤhrenden Schein von dem
wahren nicht, ſondern ſetzt die Bilder zuſammen, ſo
unvollſtaͤndig ſie auch ſeyn moͤgen, und laͤßt ſie als rich-
tig gelten, ſo lange ſie keine Diſſonanz bemerkt, und je-
desmal ſcheinen die Bilder vollſtaͤndig, weil die Luͤcken
darinn, als etwas Leeres, nicht empfunden werden koͤn-
nen. Daher ſind die Ausſchweifungen der Ein-
bildungskraft
und ihre Jlluſionen und Blend-
werke
nicht ſelten, und es gebraucht viele Vernunft
dazu, wenn man voraus beſtimmen ſoll, wie weit man
ihr koͤnne den Lauf laſſen, und wo die Grenzlinie an-
faͤngt, da man ſie wieder zuruͤcke lenken muß, dafern
man bey dem Wahren und Zulaͤßigen bleiben will.


§. 16. Der Schein, ſo hiebey vorkoͤmmt, geht auf
die Richtigkeit und Vollſtaͤndigkeit der Begrif-
fe,
auf die Wahrheit der Saͤtze und Urtheile,
und auf die Zulaͤßigkeit der Fragen (Dianoiolog.
§. 430.). Dieſe Erforderniſſe muͤſſen in jedem Fall er-
wieſen ſeyn. Wenn wir uns aber in Ermanglung ei-
nes vollſtaͤndigen Beweiſes, nur mit dem begnuͤgen,
daß wir einen Theil der Gruͤnde wiſſen, und daß uns
nichts dawider einfaͤllt, ſo iſt auch nur noch der bloße
Schein
da, und die Frage, ob er mit der Wahrheit
uͤbereinſtimme, oder davon abweiche, iſt noch unentſchie-
den. Wie ſich aber dennoch nach dieſem Schein un-
ſer Beyfall richte, haben wir in der Alethiologie (§. 179.)
angezeigt, und (Dianoiol. §. 620. ſeq.) umſtaͤndlicher
aufgeklaͤrt, wie eine Fertigkeit moͤglich ſey, durch Em-
pfinden der in dem taͤuſchenden Schein vorkommenden
Diſſo-
[227]Von den Arten des Scheins.
Diſſonanzen und Unvollſtaͤndigkeiten denſelben leichter
von dem wahren zu unterſcheiden.


§. 17. Endlich ſind die Leidenſchaften vielfaͤltige Ur-
ſache, daß wir uns die Dinge anders vorſtellen, als ſie
ſind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein
taͤuſchen laſſen. Einmal mengt ſich das Angenehme
und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein,
und lenkt die Aufmerkſamkeit und das Bewußtſeyn
mehr auf die angenehmere oder verdruͤßlichere Seite der
Sache, ſo daß wir von der andern abſtrahiren, nicht
darauf achten, und ſie als gar nicht vorhanden anſehen.
Und dieſes geht nicht nur bey den Empfindungen, ſon-
dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor.
Luſt und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und
Furcht ꝛc. beſtimmen, ohne daß wir darauf merken, die
Seite der Sache, die wir ſehen wollen, und ſtellen ſie
uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei-
niglich mit einer merklichen Vergroͤßerung jeder Theile
und Umſtaͤnde. Man muß die Vorzuͤge der Wahr-
heit genau zu ſchaͤtzen wiſſen, wenn der Vorſatz, ſie, wie
ſie an ſich iſt, zu finden, jede Affecten und ihre Blend-
werke uͤberwiegen ſoll. Es giebt faſt immer eine
Seite, von welcher wir wuͤnſchten, daß ſie nicht waͤre,
und dieſe muß man ſich ſo gut als die angenehmere ge-
fallen laſſen, um den Werth und Unwerth der Sache
genau zu wiſſen, weil man ſich ſonſt zuletzt doch nur
wuͤrde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch
viel widrigerer Erfolg die Augen oͤffnet.


§. 18. Die Begriffe des Leichtern und Muͤhſa-
mern
haben mit den erſt betrachteten Begriffen des
Angenehmern und Unangenehmern eine ſolche
Verbindung, daß dieſe bey jenen immer mehr oder min-
der vorkommen. Sie beſtimmen bey jedem Monſchen
von Kindheit auf den natuͤrlichen Hang zu gewiſſen
Verrichtungen, Geſchaͤfften und Arbeiten, und in Abſicht
P 2auf
[228]I. Hauptſtuͤck.
auf die Erkenntniß beſtimmen ſie ebenfalls die Seite
der Sache, die man lieber als andere betrachtet, und
ſich daher bekannter macht. Der Mangel der Anlaͤße,
der Zwang der Auferziehung, und jede aus andern
Quellen fließende Beſtimmung der Lebensart eines
Menſchen, moͤgen hiebey viel aͤndern, aber auch nicht
ſelten zeigt der Erfolg, daß man nicht mit dem Strome
geſchifft iſt, das will ſagen, dem natuͤrlichen Beruf nicht
gefolgt, ſondern die Naturgaben ihrer Beſtimmung zu-
wider gebraucht hat. Die Fertigkeiten, die wegen der
natuͤrlichen Faͤhigkeiten auf einen hohen Grad haͤtten
koͤnnen gebracht werden, unterbleiben aus Mangel der
Uebung, weil dieſe auf andere Seiten gelenkt wird.
Wie es aber immer damit vorgeht, ſo iſt der Erfolg
uͤberhaupt dieſer, daß jeder Menſch durch Uebung und
Gewohnheit nach und nach in einen gewiſſen Geſichts-
punkt koͤmmt, aus welchem ſich ihm eine beſondere Sei-
te der Dinge mehr als die uͤbrigen auf deckt, und das
Hauptziel ſeiner Aufmerkſamkeit wird. Die Luͤcken,
die dabey in ſeiner Erkenntniß bleiben, laſſen ebenfalls
Unvollſtaͤndigkeiten in ſeinen Urtheilen uͤber die Sachen,
und zwar beſonders in denen drey Abſichten, die wir
vorhin (§. 13.) bey Betrachtung des Bewußtſeyns an-
gezeigt haben.


§. 19. Die hoͤhern Erkenntnißkraͤfte, der Verſtand
und die Vernunft, ſollen uns eigentlich keine Quellen
des Scheins geben, weil ſie es ſind, die durch jedes
Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man
in der That auch nur in ſo ferne Verſtand und Ver-
nunft hat, in ſo ferne man genau und richtig denkt und
ſchließt. So ferne man aber hierinn zuruͤckbleibt, und
unrichtige Begriffe und Schluͤſſe fuͤr richtig anſieht, ſo
ferne wird auch nur die Einbildungskraft und das Ge-
daͤchtniß als der Grund ſolcher Fehler angegeben, weil
ſie uns nebſt den Affecten verleiten, Vorſtellungen und
Schluͤſſe
[229]Von den Arten des Scheins.
Schluͤſſe fuͤr richtig zu halten, die es bey genauerer Pruͤ-
fung nicht ſind.


§. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig-
ten Quellen und Arten des Scheins ſo gegen einander
halten, daß wir ihre Verhaͤltniſſe und Unterſchiede uͤber-
haupt beſtimmen, und jede Art, ſo viel es die Sprache
zulaͤßt, mit behoͤrigen Namen von den uͤbrigen zu un-
terſcheiden ſuchen. Die aͤußern Sinnen geben uns die
zwo Arten an, die wir oben (§. 5—8.) betrachtet haben.
Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs-
nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei-
ner Sache in den Gedanken vorſtellt. Hingegen un-
terſcheiden ſie ſich dadurch, daß dieſe Bewegung der
Empfindungsnerven im erſten Fall durch eine wirklich
außer uns vorhandene Sache verurſacht wird, im an-
dern Fall aber keine ſolche Sache in die Sinnen wirkt,
ſondern nur die Empfindungsnerven durch Fluͤſſe, wie
bey dem Ohrenlaͤuten, durch ſtaͤrkere Bewegung der
Lebensgeiſter, wie im Deliriren ꝛc. rege werden. Die-
ſe letztere Art des Scheins koͤnnen wir fuͤglich den or-
ganiſchen
oder auch den pathologiſchen Schein
nennen, weil in der That faſt immer dabey ein kraͤnklicher
oder demſelben aͤhnlicher Zuſtand des Sinnes und der
Empfindungsnerven vorkoͤmmt. Hingegen wird die erſte
Art, wo naͤmlich die Sache wirklich da iſt, und den
Eindruck in die Sinnen macht, am bequemſten der
phyſiſche Schein genennt werden koͤnnen, weil der
Eindruck in der That phyſiſch iſt, und der Begriff, den
die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht ſo faſt, wie
ſie an ſich iſt, ſondern nur, wie wir ſie empfinden, vor-
ſtellt. Es giebt Faͤlle, wo dieſe beyden Scheine zuſam-
mentreffen. So z. E. wenn die Saͤfte im Auge gelb
oder truͤb ſind, ſo kann man zwar etwan noch die Din-
ge ſehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher.
Eben ſo miſcht ſich die von der Galle herruͤhrende Bit-
P 3terkeit
[230]I. Hauptſtuͤck.
terkeit im Munde in den Geſchmack der Speiſen, die
man koſtet, und die innere Waͤrme des Leibes in die
Empfindung der aͤußern. So iſt es auch moͤglich, daß,
wenn waͤhrendem Traum die Glocke laͤutet, oder ein
ander Geraͤuſch entſteht, die Empfindung deſſelben ſich
in den Traum einmengt.


§. 21. Was die Jdealiſten ſich in Anſehung der
Sinnen und der ganzen Koͤrperwelt fuͤr eine beſondere
Art des Scheins vorſtellen, haben wir bereits (§. 9.)
angezeigt, und denſelben den idealiſtiſchen Schein ge-
nennt. Da derſelbe mit jeden anderen Arten des Scheins
nichts gemein hat, ſondern fuͤr ſich zu betrachten iſt, ſo
wenden wir uns zu dem Gedankenreiche, und werden
uͤberhaupt jede Bilder der Einbildungskraft, ſo fern ſie
naͤmlich in Anſehung der oben (§. 16.) angezeigten Er-
forderniſſe nicht gepruͤft noch gelaͤutert ſind, unter dem
Namen des pſychologiſchen Scheins begreifen.
Jns beſondere aber ſind ſie unter dem Namen von
Chimaͤren oder Hirngeſpinſter begriffen, wenn nichts
wahres noch reales dabey zum Grunde liegt, ſo daß
demnach in dem pſychologiſchen Scheine ein aͤhnlicher
Unterſchied anzutreffen, wie der, ſo zwiſchen dem phy-
ſiſchen und pathologiſchen in Anſehung der aͤußern
Sinnen ſtatt findet, weil Hirngeſpinſter faſt immer
Wirkungen einer in ſo ferne kranken, ſchwachen oder
ungebaͤndigten Einbildungskraft ſind.


§. 22. Den Schein, der von den Leidenſchaften her-
ruͤhrt, koͤnnen wir uͤberhaupt den moraliſchen Schein
nennen, weil der Wille und die Affecten der Gegen-
ſtand der Moral ſind, und die Begriffe des Guten und
Boͤſen immer dabey mit unterlaufen. Dieſer Schein
mengt ſich in die vorhergehenden Arten ſo mit ein, daß
die Leidenſchaften den Geſichtspunkt und die Seiten
der Sachen beſtimmen, die wir uns ehender, leichter
und
[231]Von den Arten des Scheins.
und lebhafter als die uͤbrigen vorſtellen, und von dieſen
mehr oder minder abſtrahiren.


§. 23. Die bisher angefuͤhrten Urſachen und Quel-
len des Scheins finden ſich noch alle in uns ſelbſt. Sie
gehoͤren demnach in ſo fern in eine Hauptclaſſe, und
wir koͤnnen ſie die ſubjectiven Quellen des
Scheins
nennen, um ſie von zwoen andern Claſſen zu
unterſcheiden, welche theils von den Objecten, theils
von ihren Verhaͤltniſſen gegen die ſubjectiven Urſachen
herkommen, und daher die objectiven und relativen
Quellen
oder Claſſen des Scheins genennt werden
koͤnnen. Wir werden ſie noch anzeigen, um die Ab-
zaͤhlung vollſtaͤndig zu machen.


§. 24. Um wiederum bey den aͤußern Sinnen an-
zufangen, ſo beut uns die Optik in Abſicht auf das Au-
ge verſchiedene hieher dienende Lehrbegriffe an, die wir
allgemeiner zu machen und auf jede Empfindungen aus-
zudehnen haben. Man weiß naͤmlich, daß die ſchein-
bare Geſtalt oder das Bild der ſichtbaren Dinge, 1. von
der Lage der Sache, 2. von den Mitteln, wodurch das
Licht geht, ehe es auf die Objecte, und von dieſen in
das Auge faͤllt, 3. von der Lage des Auges ſelbſt ab-
haͤngt. Die Beſchaffenheit oder Art und Staͤrke des
Lichtes, und die Reflexion deſſelben, tragen ebenfalls da-
zu bey, daß das Bild eine andere Farbe und Klarheit
erhaͤlt, und an einem andern Orte geſehen wird, als an
dem, wo die Sache ſelbſt iſt. Aus allen dieſen Urſa-
chen ſieht das Auge jedesmal nur eine Seite der Sa-
che, und zwar in determinirter ſcheinbaren Figur und
Groͤße. Der Ort des Auges wird an ſich der Ge-
ſichtspunkt
genennt, in Vergleichung mit der Sache
aber ſagt man, daß man ſie von dieſer oder jener
Seite betrachte.
Endlich haͤngt die Deutlichkeit
des Bildes von der Entfernung der Sache und von
P 4den
[232]I. Hauptſtuͤck.
den Mitteln ab, wodurch das Licht davon in das Au-
ge faͤllt.


§. 25. Jn Abſicht auf die uͤbrigen Sinnen haben
wir aͤhnliche Umſtaͤnde zu bemerken. Am aͤhnlichſten
ſind ſie allerdings bey dem Gehoͤr, weil der Schall
ebenfalls, wie das Licht, gerade geht, reflectirt wird, und
durch Mauren und Waͤnde durchdringt. Die Lage des
Ohrs hat ebenfalls einen Einfluß auf die Empfindung
des Schalles, und man kann noch ziemlich erkennen,
woher er koͤmmt, und von welcher individualen Art der
Koͤrper er erregt wird. So hat in der Sprache jeder
Buchſtab, und ſodann uͤberhaupt jede Menſchenſtimme
etwas ihr eigenes, ohne Ruͤckſicht auf die Hoͤhe und
Staͤrke des Tones.


§. 26. Was nun aber in Abſicht auf jede Sinnen
an der Sache geaͤndert wird, und daher auch faſt im-
mer eine bemerkbare Aenderung in der Empfindung
derſelben hervorbringt, aͤndert den objectiven Schein der
Sache. Entſteht aber in dem Schein eine Aenderung
bey unveraͤnderter Sache und einerley ſubjectiven Quel-
len des Scheins, ſo ruͤhrt ſie von den geaͤnderten Ver-
haͤltniſſen, z. E. der Lage der Sache und des Sinnes
her, und man kann es dieſer Aenderung zuſchreiben,
wenn man es auch nicht voraus weiß. Wir fuͤhren die-
ſes hier nur an, um den Unterſchied genauer zu bezeich-
nen, den wir zwiſchen den objectiven und relativen Quel-
len des Scheins zu machen haben.


§. 27. Jn Anſehung des Gedankenreiches ſind wir
ſchon laͤngſt daran gewoͤhnt, die Begriffe der Seiten
und der Geſichtspunkte dabey zu gebrauchen, ſo wie
wir etwan auch dem Verſtande Augen geben, und den
Begriff des Sehens auch auf abſtracte Dinge aus-
dehnen. Die Seiten ſind nun hier die Verhaͤltniſſe,
in welchen eine vorgegebene Sache mit andern ſteht.
Z. E. ein Geſchaͤffte, ein Vorhaben von allen Seiten
betrach-
[233]Von den Arten des Scheins.
betrachten, will ſagen, auf die Urſachen, Mittel, Hin-
derniſſe, Umſtaͤnde, Schwierigkeiten, Folgen ꝛc. ſehen,
und alles durchgehen, was damit in Verbindung ſteht,
davon abhaͤngt ꝛc. Jn ſo vielerley Abſichten eine Sa-
che betrachtet werden kann, ſo viele einzelne Geſichts-
punkte
hat ſie auch. Und die Redensart, eine Sa-
che naͤher betrachten,
zeigt ebenfalls an, daß man
zwiſchen dem Geſichtspunkt und der Sache ſich einen
Abſtand gedenkt, welcher deſto kleiner iſt, je genauer
und umſtaͤndlicher die Sache in allen Theilen betrachtet
wird. Umſtaͤnde bemerken und anzeigen, die die Sa-
che aufklaͤren und ihren Zuſammenhang enthalten, heißt
Licht und Ordnung uͤber dieſelbe ausbreiten,
oder die Sache ins Licht ſetzen.


§. 28. Da demnach die Seiten der Sachen hier
die Verhaͤltniſſe ſind, die ſie zu andern Sachen hat, ſo
iſt klar, daß jeder einzelne Geſichtspunkt dieſelbe auch
nur vermittelſt der dazu gehoͤrigen Verhaͤltniſſe, und
folglich weder durchaus, noch unmittelbar, wie ſie an
ſich iſt, kenntlich macht, und daher nur die ſcheinbare
Geſtalt derſelben zeigt. So ſagt man z. E. die Sa-
che von dieſer Seite betrachtet, koͤmmt mir ſo
vor, daß
ꝛc. Denn allerdings aͤndert ſich die Ge-
ſtalt, wenn man ſie von andern Seiten betrachtet, und
von einer Seite allein laͤßt ſich nicht immer die Sache,
wie ſie an ſich iſt, vollſtaͤndig erkennen.


§. 29. Die Verhaͤltniſſe zwiſchen der Sache, die
man ſich vorſtellt, und demjenigen, der ſie ſich vorſtellt,
tragen ebenfalls viel zu dem Bilde oder Begriffe bey,
den er ſich davon macht. Der Unterſchied, ob ſie ihm
neu, oder ſchon bekannt ſey; ob er daran Antheil neh-
me, oder ob ſie ihm gleichguͤltig vorkomme; ob er in ſol-
chen Sachen ſchon Uebung habe, oder darinn noch un-
erfahren ſey; ob er mit voreingenommenem oder ruhi-
gem Gemuͤthe ſie betrachte ꝛc. alles dieſes aͤndert an
P 5der
[234]I. Hauptſtuͤck.
der Sache nichts, weil ſie iſt, was ſie iſt. Hingegen
hat es einen merklichen Einfluß auf den Begriff, den
er ſich davon macht, und die Seite, die er ſich von der
Sache vorſtellt, erhaͤlt dadurch ſehr individuale Beſtim-
mungen.


§. 30. Wir haben oben (§. 16.) ſchon angemerkt,
daß in dem Gedankenreiche der Schein auf die Rich-
tigkeit
der Begriffe, auf die Wahrheit der Urtheile,
und auf die Zulaͤßigkeit der Fragen gehe. Von die-
ſen dreyen Arten hat man bereits ſchon die zweyte be-
ſonders herausgenommen, und das Wahrſcheinli-
che
dem Wahren gewiſſermaßen entgegengeſetzt, und
fuͤr das erſtere eine beſondere Vernunftlehre zu haben
verlangt. Da das Wahrſcheinliche eine determinirte
Art des Scheins iſt, und zwar eine ſehr ſpeciale, ſo
macht dieſe Vernunftlehre einen einzeln und ſehr ſpe-
cialen Theil der Phaͤnomenologie aus. Das Wahr-
ſcheinliche beſteht in einer unzureichenden Anzahl Ver-
haͤltniſſe eines Satzes zu andern wahren oder auch nur
wahrſcheinlichen Saͤtzen. Und dieſe Verhaͤltniſſe zu-
ſammengenommen, machen die Seite aus, von wel-
cher der Satz in einem gewiſſen Grade wahrſcheinlich
iſt (§. 27.). Scheint er, von einer andern Seite be-
trachtet, falſch zu ſeyn, ſo koͤmmt es auf eine Verglei-
chung der Grade, oder der Gruͤnde und Gegengruͤnde
an, ob die Wahrſcheinlichkeit oder Unwahrſcheinlich-
keit uͤberwiege? Auf eine aͤhnliche Art laͤßt ſich die
ſcheinbare Richtigkeit und Vollſtaͤndigkeit der Begriffe,
wie auch die ſcheinbare Zulaͤßigkeit der Fragen beſtim-
men, als deren Theorie mit zu dem erſtbemeldten ſpecia-
len Theile der Phaͤnomenologie gehoͤrt. Das Gute
kann, eben ſo wie das Wahre, mit dem Begriffe
des Scheins verbunden werden, weil zwiſchen gut
ſcheinen
und gut ſeyn, ein aͤhnlicher Unterſchied iſt
(§. 13.).


§. 31.
[235]Von den Arten des Scheins.

§. 31. Ungeacht wir bisher die verſchiedenen Arten
des Scheins jede beſonders und einzeln betrachtet ha-
ben, ſo finden ſie ſich doch in vorkommenden Faͤllen faſt
immer beyſammen, daferne etwas reales dabey ſeyn
ſoll. Der ſubjective Schein allein wuͤrde ein Traum,
ein Hirngeſpinſt, eine leere Einbildung ſeyn. Der ob-
jective allein iſt eine bloße Moͤglichkeit, und ohne ein
denkendes Weſen wuͤrde ihm immer das fehlen, was
ihn zum Schein macht. Beyde muͤſſen nebſt dem re-
lativen beyſammen ſeyn, wenn etwas reales zum Grun-
de liegen ſolle. Es kommen aber auch die beſondern
Arten des ſubjectiven Scheins mehrentheils beyſam-
men vor. Denn bey den Empfindungen mengt ſich
die Einbildungskraft mit ein, und die Affecten bleiben
ſelten ganz weg. Es ſind wenige Theile der menſchli-
chen Erkenntniß, wobey man ganz gleichguͤltig bliebe,
oder wo die Vorſtellung des Wahren nicht durch Affe-
cten truͤbe gemacht, oder wo nicht Muͤhe und Vorſatz
erfordert wuͤrde, das Wahre zu ſuchen und anzuneh-
men, wie man es findet. Sodann ſind die Empfin-
dungen die Grundlage zu jeden andern und auch zu den
abſtracteſten Begriffen, und es mengt ſich daher in dieſe
faſt immer etwas von dem Schein, den jene veranlaſſen,
und die Muͤhe, ſie ganz zu laͤutern und ſich uͤber die
Sinnen hinauszuſchwingen, ohne noch etwas mit ankle-
ben zu laſſen, iſt oͤſters theils ſchwer, theils fruchtlos.
So ſtuffenweiſe wir demnach zu abſtracten Begriffen
gelangen, eben ſo ſtuffenweiſe muß auch der Schein
vom Wahren getrennt werden, um letzteres rein zu ha-
ben, und ſicherer darauf zu bauen. Wir werden daher
dieſer Ordnung folgen, und jede Quelle des Scheins
beſonders vornehmen, um nachgehends deutlicher ſehen
zu koͤnnen, wie ſie ſich bey zuſammengeſetztern Vorſtel-
lungen vermiſchen, und denſelben determinirte Geſtalten
geben.


§. 32.
[236]I. Hauptſt. Von den Arten des Scheins.

§. 32. Da wir unſere Empfindungen und Begriffe
an Woͤrter und Zeichen binden, und dieſe ſtatt der
Dinge ſelbſt, und oͤfters auch ſtatt der Begriffe gebrau-
chen, wie letzteres in der Algeber geſchieht, ſo laͤßt ſich
auch ein hermenevtiſcher und uͤberhaupt ein ſemio-
tiſcher Schein
gedenken. Erſterer bey Auslegung
der Zeichen, Reden und Schriften anderer; letzterer aber
in Anſehung des Gebrauchs der Zeichen uͤberhaupt.
Allegorien, Metaphern, Mißverſtand, Vieldeutigkeit, ꝛc.
ſind Quellen und Anlaͤße zu ſolchem Schein, die ſich
oͤfters in die ſuͤbtilſten Sophiſmata einmengen, und die
etymologiſche Bedeutung der Woͤrter geht nicht ſelten
von der durch den Gebrauch eingefuͤhrten ab. So ſchei-
nen auch Streitende oͤfters in der Sache uneins zu ſeyn,
da ſie bey genauerer Unterſuchung nur in den Worten
von einander abgehen.


§. 33. Um hier eine aͤhnliche Verwirrung zu ver-
meiden, werden wir noch anmerken, daß wir den
Schein uͤberhaupt betrachtet, von dem, was wir
bloßen Schein nennen, unterſcheiden muͤſſen. Bey
letzterm liegt nichts reales zum Grunde, oder wenigſtens
das Reale nicht, was ſonſt zum Grunde liegen koͤnnte.
So z. E. kann ein bloßer Wiederglanz ein Licht zu ſeyn
ſcheinen, und das Falſche den Schein des Wahren, das
Boͤſe den Schein des Guten haben. Hingegen bey
dem Schein uͤberhaupt betrachtet, laſſen wir hier un-
ausgemacht, ob er nur Schein, oder mehr als bloßer
Schein iſt, weil dieſes aus andern Gruͤnden in jedem
Fall eroͤrtert werden muß.



Zweytes
[237]

Zweytes Hauptſtuͤck.
Von dem ſinnlichen Schein.


§. 34.


Da unſere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an-
faͤngt, ſo werden wir der Ordnung der Natur fol-
gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die ſie uns an-
bieten, zuerſt und beſonders zu betrachten vornehmen,
zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Anſehung
des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen
ſind. Wir haben in vorhergehendem Hauptſtuͤcke den
Schein, ſo von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den
phyſiſchen und den organiſchen oder pathologi-
ſchen
eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken,
daß letzterer durchaus ſubjectiv iſt, bey dem erſtern aber
ſowohl das ſubjective, als das objective und relative
des Scheins vorkoͤmmt.


§. 35. Die erſte Frage, die ſich hiebey anbeut, iſt
dieſe: Wie man in jeden beſondern Faͤllen er-
kennen koͤnne, ob das, ſo wir zu empfinden
glauben, ein bloß organiſcher oder aber ein
wirklich phyſiſcher Schein ſey,
das will ſagen,
ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache
gewirkt werde oder nicht? Jn Anſehung dieſer Frage
merken wir voraus an, daß die Jdealiſten ſie ungefaͤhr
ſo abfaſſen muͤſſen: Ob die Seele ſich ohne aͤußere Ver-
anlaſſung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob
ihre Einbildung unvollſtaͤndig und unzuſammenhaͤngend
waͤre, wenn ſie ſich nicht auch die aͤußere Veranlaſſung
einbildete? Denn in der Sprache der Jdealiſten iſt al-
les hypothetiſch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter
der Bedingung, die Koͤrperwelt ſey nur eingebildet,
muͤſſen
[238]II. Hauptſtuͤck.
muͤſſen ſie alles gelten laſſen, was davon erwieſen wird,
wenn man die Bedingung aͤndert, und ſie als real an-
nimmt, und ſtatt der leeren Einbildung von realen Em-
pfindungen und Vorſtellungen redet.


§. 36. Wir halten uns aber hier bey dieſer idealiſti-
ſchen Sprache nicht auf, ſondern nehmen die Frage, wie
wir ſie vorgetragen haben, um theils die Wege zu ihrer
Aufloͤſung anzuzeigen, theils auch einzelne Faͤlle zu
durchgehen, worinn ihre Eroͤrterung ſtuffenweiſe leichter
oder ſchwerer iſt. Da der organiſche Schein ſchlecht-
hin ſubjectiv iſt (§. 20. 23.) ſo gilt von demſelben uͤber-
haupt alles, was von dem ſubjectiven Schein kann ge-
ſagt werden. Er dehnt ſich naͤmlich zugleich, und ſo
lange die Urſache in uns fortwirkt, auf mehrere Objecte
aus. So ſcheinen einem Gelbſuͤchtigen jede Dinge an-
ders gefaͤrbt, dem Schwindelnden ſcheint alles ſich um-
zudrehen, und in verdruͤßlichen Stunden aͤrgert, was man
ſonſt ſelbſt befehlen oder zulaſſen wuͤrde.


§. 37. Eine Hauptclaſſe des organiſchen Scheins
ſind die Traͤume. Sie werden zwar bey dem Aufwa-
chen faſt immer leicht als Traͤume erkennt, die wenigen
Faͤlle ausgenommen, wo man es ſich faſt nicht ausre-
den kann. Die meiſten Traͤume haben an ſich etwas
Ungereimtes, und das ſich in den Zuſammenhang der
Welt nicht ſchickt. Oefters findet man des Morgens
die Sachen noch, wie ſie vor dem Einſchlaſen waren,
und verſichert ſich dadurch, daß die gefuͤrchtete oder ge-
wuͤnſchte Aenderung nicht in der Natur vorgegangen,
fondern nur ertraͤumt geweſen ſey. Zuweilen hat man
auch im Traum ſelbſt ein dunkles Bewußtſeyn, daß
man traͤume. Und die Verſicherung, daß man kein
Nachtwandler ſey, und daß man nur eine Nacht ge-
ſchlafen, macht bey dem Aufwachen alle Traͤume kennt-
lich, wobey man haͤtte auf ſeyn oder viele Tage zubrin-
gen muͤſſen. Bey jeden Traͤumen finden ſich Luͤcken,
die
[239]Von dem ſinnlichen Schein.
die in der wirklichen Welt ausgefuͤllt waͤren, geſchehene
Dinge, die nicht geſchehen ſind, oder anders geſchehen
waͤren ꝛc. Und auch dieſes macht die Traͤume als Traͤu-
me erkennen, die wirklich erfuͤllt ſind. So kann man
z. E. traͤumen, man hoͤre einen Schuß, wenn in der
That keiner geſchieht, oder man ſehe ein Feuer, wenn
in der That Feuer ausbricht und das Zimmer helle
macht ꝛc. Allein der Traum ſetzt die Geſchichte ganz
anders fort, als ſie in der Natur vorgeht, oder als man
ſie wachend wuͤrde erfahren haben. Sieht man hinge-
gen wachend unmoͤglichſcheinende und unerwartete Din-
ge, z. E. einen Menſchen, den man ſchon laͤngſt todt
geglaubt hatte, ſo iſt man im Zweifel, ob man ſich irre,
oder traͤume? Allein auch in ſochen Faͤllen muß das
Aufklaͤren des Zuſammenhanges jeder Umſtaͤnde bewei-
ſen, daß das Geſehene oder Empſundene ein Stuͤck der
wirklichen Welt ſey. Man fragt der Veranlaſſung
nach, warum man anders geglaubt hatte, und findet
Jrrung und Luͤcken darinn, hingegen Ordnung und Zu-
ſammenhang in dem, was nun die Sinnen zeigen. Jo-
ſeph wuͤrde dem Jacob, wenn er ihn unverſehens be-
ſucht haͤtte, ſeine Geſchichte und den Betrug ſeiner
Bruͤder erzaͤhlt, und ihr Geſtaͤndniß durch jede kleine
Umſtaͤnde abgezwungen haben.


§. 38. Was wir hier vom Traume angemerkt ha-
ben, gilt auch vom Deliriren fuͤr den, der ſich darinn
befindet. Er redet und handelt, wie wenn er in einer
andern Welt waͤre, und den Umſtehenden faͤllt es leicht
in die Augen, daß der Zuſammenhang in den Hand-
lungen und Reden mit der Vernunft anfange zu fehlen.
Das Verdrehen der Augen und andere Gebaͤrden, die
Kunſt und Liſt nicht leicht nachahmt, geben ebenfalls
den kranken Zuſtand der Sinnen und des Gemuͤths zu
erkennen. Jndeſſen muß man zuweilen auf alle dieſe
Kennzeichen Acht haben, wenn man ſich verſichern will,
ob
[240]II. Hauptſtuͤck.
ob jemand wirklich delirire, oder anfange das Concept
zu verlieren, oder ob nur allzulebhafte Vorſtellungen und
Affecten ihm die Welt fuͤr kurze Zeit anders vorſtellen,
als ſie iſt. Die Frage, ob man bey Sinnen ſey, giebt
die Anlaͤße zu erkennen, wo einer des andern Reden
und Thun nicht mehr begreift, und wo es dem einen
oder dem andern an Einſicht zu fehlen anfaͤngt. Denn
dieſe Frage laͤßt es noch uneroͤrtert, und es koͤmmt dar-
auf an, ob man ſich gegeneinander deutlicher erklaͤren
koͤnne oder wolle, oder ob man es auf den Erfolg, auf
Proben und Erfahrung muͤſſe oder wolle ankommen
laſſen?


§. 39. Das Auge hat weiter keine Zufaͤlle, als daß
ſeine Saͤfte gefaͤrbt oder truͤbe werden, und daß man
nur in gewiſſer Entfernung deutlich ſieht. Erſteres iſt
auch bey geringem Bewußtſeyn, wie die Objecte vorhin
ausgeſehen, leicht zu erkennen, beſonders, wenn die Aen-
derung der Saͤfte nicht unvermerkt, wie bey zunehmen-
dem Alter, ſondern ſchneller vergehen, wie bey der Gelb-
ſucht oder andern Zufaͤllen. Die Aenderung in der
Farbe, Helligkeit und Deutlichkeit breitet ſich auf alle
Objecte aus, ſo daß man ſicher genug ſchließen kann,
daß weder das Licht noch die Objecte, ſondern das Auge
ſich geaͤndert habe. Die Grenzen des deutlichen Sehens
laſſen ſich ausmeſſen, und folglich kann die Aenderung,
ſo darinn vorgeht, auf Zahl und Maaß gebracht wer-
den. Und dermalen hat man Augenglaͤſer, ſo die Ge-
genſtaͤnde in jeder Entfernung deutlich vorſtellen. Uebri-
gens machen die ſogenannten Viſionarii, die wachend
Geſichte ſehen, eine beſondere Claſſe von Menſchen aus,
bey denen die Bilder der Einbildungskraft lebhaft ge-
nug ſind, die Eindruͤcke der aͤußern Sinnen zu verdun-
keln, und ſich an der Vorſtellung von jenen zu verwei-
len. Verſchiedene Geſpenſtergeſchichten haben etwas
mit ſolchen Viſionen gemein.


§. 40.
[241]Von dem ſinnlichen Schein.

§. 40. Das Ohr iſt ebenfalls wenigen Zufaͤllen un-
terworfen, wenn man die Abwechslungen in dem ſchaͤr-
fern und ſchwaͤchern Gehoͤre, und das Ohrenlaͤuten aus-
nimmt. Letzters laͤßt ſich leicht erkennen, und allenfalls
kann man andere darum befragen. Und auf das, ſo
man nur halb oder muͤhſam hoͤrt, hat man nicht viel zu
achten, weil es unverſtaͤndlich iſt, und weil man dabey
leicht uͤberhoͤrt. Demnach muß das Nachfragen die
Sache aufklaͤren, oder wo es nicht angeht, thut man
beſſer, nichts daraus zu ſchließen, als Verdacht zu ſchoͤ-
pfen, oder uͤbelgehoͤrtes nachzuſagen.


§. 41. Hingegen hat das Gefuͤhl der Waͤrme das
beſonders, daß die Empfindung der innern Waͤrme des
Leibes ſich in die Empfindung der aͤußern mit einmengt,
und folglich das Urtheil uͤber beyde, und beſonders uͤber
die letztere, unzuverlaͤßig macht. Da wir aber nun
Thermometer haben, ſo laͤßt ſich der Grad der aͤußern
Waͤrme richtiger beſtimmen, und der Grad der innern
kann darnach beurtheilt werden. Der Grundſatz dazu
iſt, daß wir nicht den Grad der Waͤrme und Kaͤlte ſelbſt,
ſondern nur den Grad der Erwaͤrmung und Erkaͤltung
der Gliedmaßen empfinden. So ſcheint uns die Tem-
peratur der Keller im Winter warm, im Sommer kalt
zu ſeyn, weil wir im Winter weniger, im Sommer mehr
Waͤrme mit in den Keller bringen, oder beſſer zu ſagen,
weil der innere Zufluß der Waͤrme gegen die Flaͤche
des Leibes des Sommers geringer, des Winters groͤßer
iſt, als was in dem Keller weggeht.


§. 42. Die Grade der Empfindlichkeit des Gefuͤhls
uͤberhaupt richten ſich nach der Feinheit, Auflebung und
Ermuͤdung der Empfindungsnerven. Wer zu haͤrterer
Arbeit gewoͤhnt iſt, rohere Speiſen genießt, Wein oder
ſtarkes Getraͤnke haͤufiger zu ſich genommen, und hin-
wiederum wem ein Glied entſchlafen iſt, iſt unem-
pfindlicher. So koͤnnen auch andere ſtaͤrkere Empfin-
Lamb. Organon II B. Qdungen
[242]II. Hauptſtuͤck.
dungen die ſchwaͤchern verdunkeln, daß man ſich ihrer
nicht bewußt iſt. Auch die Affecten koͤnnen unempfind-
lich machen, wie etwan in der Hitze des Treffens em-
pfangene Wunden nicht geachtet werden. Alle dieſe
Urſachen, die den Grad der Empfindlichkeit des Gefuͤhls
aͤndern, werden durch die Vergleichung mit aͤhnlichen
vorhingehabten Empfindungen, und dadurch, daß ſie
ſich auf mehrere Objecte ausbreiten (§. 36.) entdeckt und
beurtheilt.


§. 43. Jn den meiſten Faͤllen, wo wir Anſtand ha-
ben, ob wir wirkliche Dinge empfinden, oder ob wir die
empfinden, die uns der Eindruck in die Sinnen da zu
ſeyn glauben macht, iſt es rathſam und thunlich, an-
dere Sinnen zu Huͤlfe zu nehmen, und aus den Um-
ſtaͤnden und dem Zuſammenhang der Dinge in der
Welt hergenommene und dahin dienende Schluͤſſe zu
gebrauchen. Man glaubt z. E. eine Perſon dem An-
ſehen nach zu kennen, und verſichert ſich durch die Re-
den, ob ſie es iſt oder nicht? Man glaubt in einem
Glaſe Waſſer zu ſehen, der Geruch verraͤth, daß es ge-
brannt iſt. Man glaubt einen Freund zu ſehen, man
weiß aber gewiſſer, daß er abweſend iſt, ꝛc.


§. 44. Die bisherigen Betrachtungen leiten uns
unvermerkt zu der Betrachtung des phyſiſchen Scheins,
wo naͤmlich der Eindruck in die Sinnen in der That
durch aͤußerliche Gegenſtaͤnde verurſacht wird. Dieſer
Schein hat unzaͤhlige Stuffen, wodurch er endlich an
den organiſchen graͤnzt. Der Anfang dieſer Stuffen
iſt, wo die Sache durchaus ſo iſt, wie ſie empfunden
wird, und wobey folglich Wahrheit und Schein zuſam-
mentrifft. So z. E. ſcheint uns eine Kugel in jeden
Umſtaͤnden rund, wenn ſie durchaus beleuchtet oder ſelbſt
licht iſt. Von dieſer Stuffe an gerechnet ſind die uͤbri-
gen, wobey die Sache von dem Schein verſchieden iſt,
und wo ſich in die Empfindung andere bloß von den
Sinnen
[243]Von dem ſinnlichen Schein.
Sinnen und ihren Nerven herruͤhrende Vorſtellungen
mit einmengen, die das Bild der Sache aͤndern, und
mehr hinzuſetzen, oder die Empfindung derſelben ganz
verdunkeln, oder, wie bey dem durchaus organiſchen
Schein, ganz allein ſind. Wir haben dieſe Vermi-
ſchung der beyden Arten des Scheins, ſo von den Sin-
nen herruͤhrt, bereits ſchon (§. 20.) angemerkt.


§. 45. Bey der Beurtheilung des phyſiſchen
Scheins werden wir den vorhin ſchon (§. 3.) aus der
Optik entliehenen und allgemeinen vorgetragenen Grund-
ſatz gebrauchen: daß naͤmlich einerley Empfin-
dung entſtehe, wenn eben der Sinn einerley
Eindruck leidet.
Was dieſes ſagen will, muͤſſen
wir umſtaͤndlicher anzeigen, und den Nachdruck eines
jeden Wortes beſtimmen. Einmal iſt hier von Em-
pfindungen
und nicht von dem Bewußtſeyn deſſen,
was ſie in ſich faſſen, die Rede. Es giebt ungemein
zuſammengeſetzte Empfindungen, wovon wir uns lange
nicht aller einzelnen Theile bewußt ſind, weil ſich die
Aufmerkſamkeit nicht immer ſo weit ausbreitet, ſondern
faſt immer vorzuͤglicher auf einige Theile als auf andere
geht, und zuweilen ganz wegbleibt, oder durch die Ge-
wohnheit unmerklich wird. Jndeſſen wirkt die Em-
pfindung immer ganz in die Gliedmaßen und Ner-
ven des Sinnes, und bringt das Bild der Sache theils
klar, theils auch dunkel in die Gedanken. Der Unter-
ſchied beſteht darinn, daß wir uns des Klaren bewußt
ſind, und uns deſſen leichter errinnern, da hingegen die
dunkeln Theile des Bildes nachgehends in uns aufleben
koͤnnen, und uns etwas neuer und fremder vorkommen,
oder daß wir ſie gar als eigene Einfaͤlle anſehen, weil
wir uns nicht errinnern, daß ſie Theile einer ehmaligen
Empfindung waren (§. 12.).


§. 46. Sodann merken wir an, daß wir in erſtan-
gefuͤhrtem Grundſatze unbeſtimmt laſſen, ob der Ein-
Q 2druck
[244]II. Hauptſtuͤck.
druck von einerley, oder von verſchiedenen Sachen her-
komme, oder ob er nur durch die Bewegung der Ner-
ven in dem Sinne ſelbſt verurſacht werde? Letzteres
waͤre nur organiſcher Schein, von dem wir hier abſtra-
hiren. Erſteres aber zeigt an, daß wir aus der Jdenti-
taͤt der Empfindung nicht ſo ſchlechthin auf die Jdenti-
taͤt der Sache einen Schluß machen ſollen, weil die Er-
fahrung lehrt, daß verſchiedene Sachen ſich uns unter
einerley Geſtalt vorſtellen koͤnnen, zumal wenn wir von
der Empfindung nur das nehmen, was wir uns davon
bewußt ſind.


§. 47. Ferner verſtehen wir in angefuͤhrtem Grund-
ſatz durch einerley Sinn, nicht nur dem Namen und
der Art nach eben denſelben. Denn es ſind lange nicht
alle Empfindungen mehrern Sinnen gemein, und die,
ſo jedem Sinne eigen ſind, koͤnnen an ſich ſchon nicht
von andern verſtanden werden, ſo wenig man eine Far-
be hoͤrt, den Schall ſieht, ꝛc. Sondern wir nehmen
hier die Jdentitaͤt des Sinnes viel ſtrenger, und ſchlieſ-
ſen jede Aenderung aus, die in die Empfindung und
ihre Grade einen Einfluß haben kann. So z. E. ſcheint
ein Licht heller, wenn der Augenſtern mehr offen iſt.
Es iſt auch empfindlicher, wenn man aus dem Dunkeln
ans Licht koͤmmt. Der Hunger wuͤrzt die Speiſen, und
wer geſalzen Waſſer gekoͤſtet hat, wird das nicht geſal-
zene, ſo er es gleich darauf trinkt, ſuͤß finden. Auf ſol-
che Umſtaͤnde hat man allerdings zu merken, wenn man
Empfindungen beurtheilen und mit einander vergleichen
will. Sie muͤſſen beyde male einerley ſeyn, oder wenn
ſie verſchieden ſind, muß man den Unterſchied mit in
die Rechnung ziehen. Ueberdieß werden auch die Sin-
nen durch zu lang anhaltenden Gebrauch ſtumpf, und
die Empfindlichkeit der Nerven ſchwaͤcher. Man ge-
woͤhnt ſich an eine Helligkeit, die anfangs blendete,
wenn man ſie laͤnger anſchaut, und ſie ſcheint minder
helle.
[245]Von dem ſinnlichen Schein.
helle. Die Gewohnheit nuͤtzt die Lebhaftigkeit jeder Em-
findungen ab, und macht darauf unachtſam.


§. 48. Auf dieſe Art genauer beſtimmt dient ange-
zogener Grundſatz zur Vergleichung der Empfindungen,
beſonders aber ihrer Grade. Denn da wir zwar mit
den Sinnen die ſtaͤrkern Unterſchiede der Grade bemer-
ken koͤnnen, ſo koͤnnen wir doch die Verhaͤltniſſe dadurch
nicht genau beſtimmen, und der einzige Fall, wo es an-
geht, iſt, wenn die Grade gleich ſind, und die Empfin-
dung zugleich geſchieht. So z. E. man ſieht zwey Ob-
jecte neben einander und gleich helle, ſo kann man aller-
dings den Schluß machen, ihre Helligkeit ſey nicht,
oder wenigſtens nicht merklich, verſchieden, Man hoͤrt
zween Toͤne auf einmal, ſo wird das Ohr auch geringe
Unterſchiede empfinden, und daher leicht urtheilen, ob ſie
einſtimmig ſind.


§. 49. Sind aber die Empfindungen verſchieden,
ſo laͤßt ſich allerdings der Schluß machen, es muͤſſe ent-
weder der Sinn oder der Eindruck oder beydes verſchie-
den ſeyn. Wenn nicht beydes iſt, ſo richtet ſich die Em-
pfindung nach der Aenderung, ſo in dem Sinn, oder in
dem Eindrucke iſt. Und es muß aus andern Gruͤnden
entſchieden werden, woran es liege? Die Aenderung,
ſo in dem Sinne vorgeht, breitet ſich auf mehrere Ob-
jecte aus, und laͤßt ſich daher in vielen Faͤllen beurthei-
len, wenn man bekannte Objecte zur Pruͤfung waͤhlt.
Findet ſich aber in dem Sinne keine Aenderung, ſo pro-
portionirt ſich die Empfindung nach dem Eindrucke.
Und in dieſen Faͤllen iſt es gut, wenn man Mittel hat,
durch Aenderung des Objectes, ſeiner Lage ꝛc. den Ein-
druck in gegebener Verhaͤltniß ſtaͤrker oder ſchwaͤcher zu
machen, bis die Empfindung der Empfindung des an-
dern Objectes, ſo man zum Maaßſtabe annimmt, gleich
wird. So z. E. wenn die Klarheit zweyer Objecte, die
ungleich weiß ſind, zu vergleichen iſt, ſo kann man auf
Q 3das
[246]II. Hauptſtuͤck.
das Hellere das Licht ſchiefer fallen laſſen oder es weiter
entfernen, bis beyde Objecte gleich helle ſcheinen, wenn
man ſie auf einmal anſchaut. Die Beſtimmung, wie
vielmal das Licht hat muͤſſen ſchwaͤcher werden, giebt
den Unterſchied und die Verhaͤltniß der Weiße beyder
Objecte an. Jndeſſen ſind ſolche Vergleichungen, wo-
bey wir es muͤſſen auf das Urtheil der Sinnen ankom-
men laſſen, nicht immer genau, weil kleinere Unter-
ſchiede den Sinnen unmerklich ſind. Man hat daher
allerdings auf Jnſtrumente und andere Mittel zu den-
ken, die Ausmeſſung genauer zu machen. Derglei-
chen ſind z. E. fuͤr das Gewicht die Wage, fuͤr die Waͤr-
me das Thermometer, fuͤr die Ausdehnung Maaßſtaͤbe,
Zirkel, Winkelmeſſer, ꝛc. fuͤr die Zeit Uhren, ꝛc.


§. 50. Ungeacht aber der bisher betrachtete Grund-
ſatz nur zur Vergleichung der Empfindungen dient, ſo
reichen wir doch damit am weiteſten, weil wir es in vie-
len Faͤllen dabey muͤſſen bewenden laſſen. Man hat
ſchon laͤngſt die Anmerkung gemacht, daß uns das in-
nere Weſen der Koͤrper und ihrer Beſtandtheile wegen
ihrer Kleinheit, und weil wir keine Sinnen und auch
dermalen noch keine Jnſtrumente dazu haben, faſt noth-
wendig unbekannt bleibe, und daß wir uns mit dem
Aeußerlichen begnuͤgen muͤſſen, was davon in die Sin-
nen faͤllt. Man ſetze ſogar, daß uns von den Koͤrpern
nur das bekannt bleibe, was ſie der Empfindung nach
zu ſeyn ſcheinen, ſo wird doch immer die Vergleichung
dieſer Empfindungen uns helfen, die Koͤrper zu erken-
nen, ſie von einander zu unterſcheiden, aus dem einen
Schein auf das Daſeyn oder Wegſeyn der andern und
uͤberhaupt auf die Verhaͤltniſſe zwiſchen den Koͤrpern zu
ſchließen, und uns damit in Abſicht auf ihren Gebrauch
fortzuhelfen.


§. 51. Sodann muͤſſen wir, ſo lange wir die Gruͤn-
de zu Beurthcilung deſſen, was die Dinge an ſich ſind,
noch
[247]Von dem ſinnlichen Schein.
noch nicht haben, faſt nothwendig bey ſolchen Verglei-
chungen der Empfindungen und des Scheins anfangen.
So lange der Schein mit dem Wahren zuſammentrift,
geht es damit richtig. Hingegen wo der Schein an-
faͤngt, von dem Wahren abzugehen, da zeigen ſich nach
und nach bey genauern Vergleichungen, Anomalien
darinn, welche bey dem Wahren nicht ſeyn koͤnnen und
folglich den Schein verrathen. Auf dieſe Art iſt aus
der anfaͤnglich bloß ſphaͤriſchen Aſtronomie die theori-
ſche erwachſen, worinn man den Weltbau ganz anders
als nach dem Urtheil der Sinnen vorſtellt.


§. 52. Durch Bemerkung ſolcher Anomalien kann
man allerdings endlich dahin gelangen, in den meiſten
Faͤllen den Schein als Schein zu erkennen, und wo
nicht das Wahre zu entdecken, doch wenigſtens zu
ſchließen, daß es anders beſchaffen ſeyn muͤſſe. Was
hiebey vorausgeſetzt wird, iſt, daß nur das Wahre mit
ſich ſelbſt und mit jedem andern Wahren beſtehe.
Nimmt man daher einen in der That von dem Wahren
verſchiedenen Schein als durchaus wahr an, ſo iſt die-
ſes ein Jrrthum, aus welchem es folglich immer moͤg-
lich iſt, Widerſpruͤche herzuleiten (Alethiol. §. 171.). Hin-
gegen bleiben ſolche Anomalien weg, ſo oft der Schein
mit dem Wahren uͤbereintrifft, und hinwiederum wenn
in der That keine Anomalien koͤnnen gefunden werden,
ſo laͤßt ſich richtig der Schluß machen, daß der Schein
von dem Wahren nicht abgehe. Denn ſonſt waͤre es
nothwendig moͤglich, Anomalien zu finden. Dieſes will
nun allerdings nicht ſagen, als wenn ſie ſich von uns je-
desmal ſogleich finden ließen, und aus unſerm nicht
finden
koͤnnen wir eben nicht ſo unbedingt auf das
nicht ſeyn einen Schluß machen. Jnzwiſchen mag
es unſtreitig Faͤlle geben, und giebt auch ſolche, wo wir
gleichſam interimsweiſe oder bis auf genauere Unterſu-
chung einen ſolchen Schluß gelten laſſen, und von dem
Q 4Schein,
[248]II. Hauptſtuͤck.
Schein, wie von dem Wahren reden, bis ſich etwan der
Unterſchied zeigt. Und dieſes geht um deſto mehr an,
weil wir ohnehin oͤfters aus der Sprache des Wahren
in die Sprache des Scheins uͤberſetzen muͤſſen, wo wir
uns, wie es in der Aſtronomie geſchieht, im gemeinen
Leben nach dem Schein richten wollen.


§. 53. Wir haben ferner dem Schein Begriffe zu
danken, die ſich fuͤr ſich gedenken laſſen. So z. E. ha-
ben wir den Begriff der Ausdehnung von dem Au-
ge und dem Gefuͤhle, und wenn auch die ſcheinbare Ge-
ſtalt der Figuren nie mit der wahren zuſammentraͤfe, ſo
wuͤrde dieſes dennoch nicht hindern, Begriffe von Figu-
ren uͤberhaupt zu haben, und die Geometrie daraus her-
zuleiten, vermittelſt deren wir aus der ſcheinbaren Ge-
ſtalt und Figur der Dinge ihre wahre finden koͤnnen.
Der geometriſche Grundſatz, daß Figuren, die einander
decken, gleich ſind, iſt von dem Schein unabhaͤngig,
und fuͤhrt folglich unmittelbar zu dem Wahren. Wir
koͤnnen eben dieſes von der Dauer, von der Bewe-
gung,
und uͤberhaupt von den einfachen Begriffen
und ihren Grundſaͤtzen anmerken, die wir in dem zwey-
ten Hauptſtuͤcke der Alethiologie, als die Grundlage zu
dem Wahren in unſerer Erkenntniß betrachtet haben.


§. 54. Wenn in dem Schein eine Aende-
rung vorgeht, ſo geht auch in der That eine
Aenderung vor. Es bleibt aber noch unaus-
gemacht, ob ſie in dem Objecte, oder in dem
Sinn oder in der Verhaͤltniß von beyden, oder
in zwey oder in allen dieſen drey Stuͤcken vor-
gehe. Hingegen aber giebt die Aenderung im
Schein das Relative von der wirklichen Aen-
derung an.
Wir haben dieſe drey Saͤtze hier zu-
ſammengenommen, weil ſie gleichſam drey Theile eines
Satzes ſind. Der erſte beweiſt ſich dadurch, daß der
Schein verurſacht wird, und ſich daher ohne die Aen-
derung
[249]Von dem ſinnlichen Schein.
derung der Urſachen nicht aͤndert. Der zweyte Theil
zaͤhlt die Urſachen des Scheins ab, weil der ganze
Schein aus dem ſubjectiven, objectiven und relati-
ven zuſammengeſetzt iſt, und folglich die wirkliche Aen-
derung entweder in dem Sinn, oder in dem Object,
oder in ihrer Verhaͤltniß, oder in zwey oder in allen
drey Stuͤcken vorgehen muß. Welches aber hievon
ſtatt habe, laͤßt ſich aus der Aenderung des Scheins
nicht ſchließen, weil dieſer nur die Summe oder Dif-
ferenz von den drey Urſachen angiebt. Wird aber
die Summe vor und nach der Aenderung verglichen,
ſo giebt der Unterſchied das Relative in der Aende-
rung an.


§. 55. Wir wollen dieſen Lehrſatz durch Beyſpiele
von der localen Bewegung erlaͤutern. Die Sonne
ſcheint in 24 Stunden 360 Grade eines Circuls zu
durchlaufen. Dieſer Schein kann hervorgebracht wer-
den, es ſey, daß die Erde, oder die Sonne ruhe, oder
beyde ſich bewegen. Dreht ſich die Erde und die Son-
ne zugleich, ſo giebt der Schein nur die Summe oder
Differenz der Bewegung an; die Summe, wenn die
Richtung entgegengeſetzt iſt, die Differenz, wenn ſie
nach einerley Gegend geht. Und in beyden Faͤllen be-
traͤgt es in 24 Stunden 360 Grade, ohne daß wir aus
dem Schein noch ſchließen koͤnnten, was der Erde oder
der Sonne davon beſonders zuzuſchreiben iſt. Auf ei-
ne aͤhnliche Art giebt das Copernicaniſche Syſtem nur
die relative Bewegung der Erde um die Sonne an,
und dieſe iſt elliptiſch, da hingegen die wahre cycloi-
diſch iſt. Die Empfindung der Waͤrme giebt uns aͤhn-
liche Beyſpiele. Wir kommen in ein Zimmer, und
finden es das erſtemal waͤrmer als das andere. Jedes-
mal urtheilen wir nach dem Unterſchied der Waͤrme des
Leibes und des Zimmers. Dieſen Unterſchied finden
wir geaͤndert, und die Aenderung zeigt uns nur das Re-
Q 5lative
[250]II. Hauptſtuͤck.
lative an. Denn an ſich konnte das erſtemal das Zim-
mer waͤrmer, oder der Leib kaͤlter geweſen ſeyn, als das
andere mal, oder es kann beydes zugetroffen haben. So
iſt auch uͤberhaupt jede Empfindung ſchwaͤcher, es mag
nun der Sinn ſtumpfer oder der Eindruck vom Object
in der That ſchwaͤcher, oder beydes zugleich ſeyn. Die
Aenderung in der Empfindung giebt nur das Relati-
ve in der Sache an. Was demnach jede Urſache fuͤr
ſich beytraͤgt, muß aus andern Gruͤnden gefunden
werden.


§. 56. Hiezu dient nun der oben ſchon angefuͤhrte
Satz, daß die Aenderung in dem ſubjectiven
Theile des Scheins ſich weiter ausbreite, und
einen
Iſochroniſmummit ſich bringe, das will
ſagen, ſich zugleich auf mehrere Objecte ausdehne.
So iſt man in der Aſtronomie nun ſchon daran ge-
woͤhnt, jede Bewegung, die zugleich das ganze Firma-
ment betreffen muͤßte, als viel natuͤrlicher der Erde zu-
zuſchreiben. Die taͤgliche Umwaͤlzung des Himmels,
die jaͤhrlichen Anomalien der Planeten, die Aberration
des Lichtes ꝛc. ſind Beyſpiele davon. Die Aenderung
in dem ſcheinbaren Ort der Dinge, welche bloß von der
geaͤnderten Stelle des Zuſchauers herruͤhrt, wird die
Parallaxe genennt. Und wenn wir dieſen Begriff all-
gemeiner machen wollen, ſo werden wir durch Parallaxe
uͤberhaupt den ſubjectiven Theil des Scheins verſtehen
koͤnnen. Sie dehnt ſich auf jede Dinge aus, die wir
mit geaͤndertem Sinne empfinden, und beſteht in dem
Unterſchied der Empfindung, ſo fern er von der Ver-
aͤnderung des Sinnes und ſeiner Lage herruͤhrt.


§. 57. Wenn dieſe Veraͤnderung des Sinnes und
ſeiner Lage nicht an ſich uns bekannt iſt, ſo iſt erſter-
waͤhnter Iſochroniſmus in dem veraͤnderten Schein je-
der Objecte, ſo wir mit dem Sinne empfinden, das ein-
zige Mittel, denſelben zu entdecken, ungeacht der Schluß
nicht
[251]Von dem ſinnlichen Schein.
nicht unmittelbar und nach aller Schaͤrfe gemacht wer-
den kann. Es iſt aber an ſich ſehr unwahrſcheinlich,
daß alle Objecte zu gleicher Zeit und mit einem male
einerley oder wenigſtens aͤhnliche Veraͤnderungen ſollten
gehabt haben, ohne daß die Urſache davon anzugeben
waͤre, wie es z. E. bey den Erdbeben, bey der taͤglichen
und jaͤhrlichen Erleuchtung und Erwaͤrmung der Erd-
flaͤche ꝛc. geſchieht. Jndeſſen laͤßt ſich dieſer Schluß
als eine Veranlaſſung anſehen, aus andern Gruͤnden zu
unterſuchen, ob nicht in dem Sinne oder in ſeiner Lage
eine Veraͤnderung vorgegangen, welche die in dem
Schein der Objecte beobachtete Veraͤnderung verurſa-
chen kann. Findet ſich dieſes, ſo iſt die Sache durch-
aus eroͤrtert. Sie iſt es ebenfalls, wenn man von den
Objecten aus andern Gruͤnden weiß, daß ſie unveraͤn-
dert geblieben, oder in ihren Veraͤnderungen bey der
dermaligen Einrichtung der Natur eines ſolchen Iſo-
chroniſini
nicht faͤhig ſind.


§. 58. Der relative Theil des Scheins laͤßt ſich
an ſolchen Veraͤnderungen erkennen, die in dem Schein
eines Objectes vorgehen, ohne daß weder das Object
noch der Sinn eine Veraͤnderung erlitten, von welcher
jene herruͤhren koͤnnten. Es koͤmmt derſelbe demnach
von der Lage der Sache und des Sinnes, beſonders
aber auch von den Urſachen her, die die Empfindung
erwecken, oder ihre Modificationen aͤndern koͤnnen.
Da ſolche Aenderungen ſtuffenweiſe verſchieden ſeyn
koͤnnen, ſo wird auch eine von ſolchen Stuffen gleich-
ſam zum Modell oder Maaßſtabe der uͤbrigen genom-
men. Wir wollen es durch Beyſpiele erlaͤutern. Die
Farbe der Koͤrper haͤngt von dem Lichte ab, welches ſie
beleuchtet. Des Nachts laͤßt ſich Scharlack und
Schwarz kaum unterſcheiden. Bey dem Lampenlich-
te ſcheint blau und gruͤn faſt einerley Farbe zu haben.
Eine gleiche Mauer an der Sonne oder am Schatten,
iſt
[252]II. Hauptſtuͤck.
iſt nicht nur an Helligkeit, ſondern an Weiße verſchie-
den. Es fragt ſich demnach, bey welchem Lichte die
Koͤrper ihre natuͤrliche Farbe zeigen? Die weiße Far-
be des Lichtes wird dazu gewaͤhlt, und ungeacht noch
ganz unbeſtimmt iſt, wie ſie weiß ſeyn ſoll, ſo wird ſie
dennoch bey Beurtheilung der wahren Farbe der Koͤr-
per zum Grunde gelegt. Die ſcheinbare Figur der
Koͤrper hat aͤhnliche Abwechslungen. Man muß jede
Seite gerade vor ſich anſchauen, wenn man ihre na-
tuͤrliche
Geſtalt ſehen will, und auf dieſe werden jede
Abwechslungen bezogen, welche ſich aͤußern, wenn man
ſie ſchief anſchaut. Jn Anſehung der Speiſen bemer-
ken wir aͤhnliche Abwechslungen, und wer die feinern
Unterſchiede verſchiedener Weine empfinden will, muß
darauf denken, die Zunge und den Gaumen nicht durch
Koſtung ſcharfer, bitterer oder anderer Speiſen und
Getraͤnke unempfindlich zu machen, oder dadurch die
Empfindungen zu vermengen, und ſo auch den Wein
nicht in Faͤſſer gießen, worinn die Hefen und folg-
lich der Erdguſt von andern ganz verſchiedenen Arten
Weins iſt.


§. 59. Wenn die Urſachen des relativen Scheins
bekannt ſind, ſo kann man denſelben voraus wiſſen,
oder deſſen Rechnung tragen. Widrigenfalls verfaͤllt
man ſehr leicht in den Fehler, daß man ihn als von der
Sache ſelbſt, oder von den Sinnen oder von beyden
herruͤhrend anſieht. So z. E. ſieht man das Licht der
Sonne fuͤr gelber an, als es an ſich iſt, weil die Luft,
durch die es geht, von den blauen Stralen deſto mehr
auffaͤngt, je groͤſſer der Weg der Sonnenſtralen durch
die Luft, und je naͤher folglich die Sonne dem Horizont
iſt. Denn am Horizonte ſcheint ſie nicht nur gelb,
ſondern roth, und der Wiederglanz dieſer rothen Stra-
len in den Wolken iſt es, was die Morgen-und Abend-
roͤthe ausmacht. Man wuͤrde unrichtig denken, wenn
man
[253]Von dem ſinnlichen Schein.
man dieſe Abwechslung in der Farbe des Sonnenlich-
tes der Sonne ſelbſt oder dem Auge zuſchreiben wollte.


§. 60. Um den relativen Theil des Scheins der
Dinge zu entdecken, iſt es gut, die Umſtaͤnde der Sa-
che auf alle Arten abzuwechſeln. Man ſchreibt dieſe
Regel nicht nur fuͤr den Schein, ſondern auch fuͤr die
wahren Eigenſchaften vor, wenn man das Weſentliche
von dem Zufaͤlligen trennen will. So zeigen uns die
Verſuche in Luftleerem Raume, was in den Koͤrpern
von dem Daſeyn der Luft herruͤhrt, und folglich denſel-
ben nicht unmittelbar zugeeignet werden kann. Die
Geometrie geht hierinn noch weiter. Denn indem ſie
uns lehrt, wie aus den in zween Staͤnden gemeſſenen
Winkeln ein ganzes uͤberſehbares Feld in Grund gelegt
werden kann, ſo will dieſes eben ſo viel ſagen, als aus
der an zween Oertern obſervirten ſcheinbaren Lage der
Gegenſtaͤnde auf dem Felde ihre wahre Lage zu beſtim-
men. Denn die gemeſſenen Winkel geben an jedem
Rande die ſcheinbare Lage an, da hingegen zu der wah-
ren Lage nicht nur die Winkel, ſondern auch die wahren
Entfernungen gehoͤren.


§. 61. Der objective Theil des Scheins der Din-
ge laͤßt ſich ebenfalls aus den Aenderungen der Sache
ſelbſt erkennen, wenn man dieſe aus andern Gruͤnden
weiß, oder ſie daraus ſchließen kann, daß der ſubjective
und relative Theil des Scheins ungeaͤndert geblieben
ſind, oder keinen Einfluß in die bemerkte Aenderung
des Scheins der Sache haben. Die Hauptfrage aber,
die wir hiebey zu unterſuchen haben, betrifft den Unter-
ſchied deſſen, was in den Koͤrpern wahr, real und
Schein iſt. Damit ſind nun allerdings die Jdealiſten
am geſchwindeſten fertig, weil ſie die ganze Koͤrperwelt
als einen bloßen Schein anſehen. Sie reichen aber
mit dieſer kurzen Aufloͤſung der Frage nicht weit, weil
ſie bey ihrem allgemeinen Schein noch eben die Unter-
ſchiede
[254]II. Hauptſtuͤck.
ſchiede zu machen haben, die wir zwiſchen dem Realen
und dem Schein machen muͤſſen, wenn wir Zuſammen-
hang und Ordnung von dem Unzuſammenhaͤngenden
und Verwirrten trennen wollen.


§. 62. Wir werden in dieſer Abſicht die Begriffe,
welche wir durch die Sinnen von den Koͤrpern haben,
genauer betrachten. Die drey allgemeinſten ſind die
Ausdehnung, die Soliditaͤt und die Beweglich-
keit.
Der erſte ſtellt uns den Raum, der zweyte die
Ausfuͤllung des Raums mit etwas, das wir Dich-
te
oder Materie nennen koͤnnen, und der dritte die
Moͤglichkeit, den Ort zu veraͤndern oder bewegt zu wer-
den, vor.


§. 63. Außer dieſen drey Begriffen, welche ſich auf
alle Koͤrper ausdehnen, und worauf die Theorie ihrer
Structur, ihrer Veraͤnderungen und ihres Mechanis-
mus
beruht, geben uns die Sinnen noch eine Menge
von andern Begriffen, die nicht ſo allgemein ſind. Da-
hin rechnen wir die Begriffe der Farben, des Schalls,
des Geruchs, des Geſchmackes, der Haͤrtigkeit,
Fluͤßigkeit,
der Waͤrme und Raͤlte, des Schmer-
zens
ꝛc. Von dieſen iſt nun vornehmlich die Frage,
ob es nur Bilder ſind, unter welchen ſich uns die Koͤr-
per vorſtellen, oder was davon den Koͤrpern ſelbſt koͤn-
ne zugeeignet werden? Wie ferne hierinn die Sprache
des Wahren von der Sprache des Scheins abgehe,
und wie ferne letztere ohne Nachtheil des Wahren ge-
braucht und beybehalten werden koͤnne?


§. 64. Um die Beantwortung dieſer Fragen deut-
licher zu machen, wollen wir den Begriff der Farben
beſonders vornehmen, und ſehen, was die Verſuche und
die Anatomie des Auges uns hieruͤber angeben. Daß
eine Mauer weiß ſcheine, dazu wird allerdings Licht
erfordert, weil ohne Licht nichts ſichtbar iſt. Die Ca-
mera obſcura,
mit welcher ſich das Auge durchaus ver-
gleichen
[255]Von dem ſinnlichen Schein.
gleichen laͤßt, zeigt uns, daß jede lichte und beleuchtete
Objecte ſich darinn abmalen, und ein gleiches Gemaͤlde
findet ſich auch auf dem Augennetze. Bis dahin kom-
men folglich die von den Objecten in das Auge fallende
Lichtſtralen, ſo, daß wir eigentlich nicht die Objecte, ſon-
dern dieſes kleine Gemaͤlde oder den Eindruck der Licht-
ſtralen empfinden. Demnach wird die weiße Farbe
nicht ſo faſt der Mauer, als den Lichtſtralen, die ſie zu-
ruͤcke wirft, zugeſchrieben werden koͤnnen, und der Mauer
bleibt nichts, als daß ſie eine Structur in ihren klein-
ſten Theilen habe, die das Licht, ſo wie es auffaͤllt, zu-
ruͤck wirft, und nach genauern Verſuchen nicht einmal
alles. Die Lichtſtralen bringen die Geſichtsnerven in
Bewegung, und dieſe erweckt in uns den Begriff der
Farbe der Mauer, oder eines jeden ſichtbaren Gegen-
ſtandes. Ob die Lichtſtralen an ſich die Farbe haben,
iſt eine Frage, die nicht gemacht werden kann, weil ſie
die Objecte ſichtbar machen, an ſich aber nicht ſichtbar
ſind. Wir koͤnnen demnach den Begriff der Farben
weder den Objecten noch dem Lichte zueignen, ſondern
er gehoͤrt in das Gedankenreich, und wird durch die
Structur der Objecte und die daherruͤhrenden Modi-
ficationen der Lichtſtralen nur veranlaßt. Wenn wir
alſo ſagen: die Mauer iſt weiß, eine Roſe iſt roth ꝛc.
ſo reden wir die Sprache des Scheins, und gebrauchen
ſie Abkuͤrzungsweiſe. Denn ſonſt muͤßten wir ſagen:
die Objecte werfen die Lichtſtralen ſo zuruͤcke, daß uns
z. E. die Mauer weiß, die Roſe roth ꝛc. zu ſeyn ſcheint,
oder die Begriffe dieſer Farben in uns erregt werden.


§. 65. Dieſe Betrachtung dehnt ſich auf die uͤbri-
gen vorhin (§. 63.) angefuͤhrten Begriffe aus. Jn
Anſehung des Schalls iſt ſie noch offenbarer. Die Luft
iſt zur Fortpflanzung deſſelben nothwendig. Jn dem
toͤnenden Koͤrper bemerkt man nur eine zitternde Be-
wegung, welche Undulationen in der Luft hervorbringt,
und
[256]II. Hauptſtuͤck.
und den Begriff des Schalles durch die Erſchuͤtterung
der Gehoͤrsnerven erregt. Wir ſind auch um deſto
weniger gewoͤhnt, den Ton dem Koͤrper zuzueignen,
weil er in Bewegung muß geſetzt werden, um einen
Ton von ſich zu geben. Bey den Empfindungen der
uͤbrigen Sinnen findet ſich ebenfalls, daß eine Bewe-
gung dabey vorgehe, die von den empfundenen Obje-
cten in den Empfindungsnerven verurſacht wird, und
den Begriff erregt, der jeder Empfindung eigen | iſt.
Wir merken noch an, daß dieſe Bewegung einen ge-
wiſſen Grad der Staͤrke haben muͤſſe, um den Begriff
mit einem Bewußtſeyn zu erwecken.


§. 66. Obwohl demnach die (§. 63.) angefuͤhrten
Begriffe uns die Koͤrper nur unter einem ſinnlichen
Bilde und dem Schein nach vorſtellen, ſo iſt dennoch
dieſer Schein real, ſo oft die Begriffe wirklich durch
aͤußerliche Gegenſtaͤnde erweckt werden, und daher nicht
bloß ſubjectiv, ſondern zugleich objectiv iſt. Es ſetzt
derſelbe in den Koͤrpern eine zu jeder Art der Empfin-
dung erforderliche Structur und mechaniſche Wirkung
in die Empfindungsnerven voraus. Und ſo ferne wir
dieſe Structur und den Mechaniſmum erklaͤren koͤn-
nen, ſo ferne iſt uns auch die wahre Sprache und die
Ueberſetzung aus derſelben in die Sprache des Scheins
bekannt. Widrigenfalls ſind wir an die letztere gebun-
den, und gebrauchen ſie auch uͤberhaupt zur Abkuͤrzung
der Ausdruͤcke, und weil uns die Koͤrper nach derſelben
am bekannteſten ſind.


§. 67. Daß aber die wahre phyſiſche Sprache ſich
auf die drey (§. 62.) angefuͤhrten Begriffe der Ausdeh-
nung, Soliditaͤt und Beweglichkeit gruͤnde, erhellet aus
der Allgemeinheit dieſer Begriffe, weil wir ohne dieſel-
ben keinen Koͤrper gedenken koͤnnen. Man mag ſich
einen Koͤrper vorſtellen, oder er mag wirklich exiſtiren,
ſo ſind dieſe drey Begriffe weſentliche Stuͤcke davon.
Hin-
[257]Von dem ſinnlichen Schein.
Hingegen faͤllt mit dem Licht die Farbe, mit der Luft
der Schall und Geruch weg. Der Geſchmack iſt auch
nicht bey allen, und die Waͤrme ebenfalls zufaͤllig ꝛc.
Demnach ſind alle dieſe Begriffe den Koͤrpern nicht
weſentlich, ſondern bloße Modificationen und Moͤglich-
keiten. Auch die Veraͤnderungen in den Koͤrpern laſ-
ſen ſich ohne die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt
und Beweglichkeit nicht gedenken, und der Eindruck,
den ſie in die Sinnen machen, muß ebenfalls ſich dar-
aus begreiflich machen. Demnach beruht die wahre
phyſiſche Sprache auch da noch auf dieſen Begriffen,
wo ſie am naͤchſten an die Sprache des Scheins grenzt.
Wir werden nun noch unterſuchen, wie ferne wir in
Anſehung der Empfindungen die wahre Sprache errei-
chen koͤnnen.


§. 68. Aus dem bisher geſagten erhellet, daß dieſe
Sprache in der Erklaͤrung des Mechaniſmi beſtehe,
nach welchem die Objecte einen Eindruck in die Sin-
nen machen, und ſie dehnt ſich auf jede Ausmeſſung der
Grade aus, die dabey vorkommen, es ſey, daß wir die
Grade der Empfindung unmittelbar mit den Graden
der wirkenden Urſache, oder wenigſtens mit den Graden
einer andern Wirkung vergleichen, die dieſe Urſache in
dem Koͤrper ſelbſt aͤußert, und die ausmeßbar iſt. Je
umſtaͤndlicher und vollſtaͤndiger wir alles dieſes in Ab-
ſicht auf jede Sinnen und Empfindungen erreichen koͤn-
nen, deſto vollſtaͤndiger und brauchbarer wird auch die
wahre Sprache, und ihre Ueberſetzung in die Sprache
des Scheins. Wir wollen die bereits vorhandenen
Beyſpiele nach dieſem Leitfaden durchgehen.


§. 69. Hiebey hat nun das Auge betraͤchtliche Vor-
zuͤge, weil die Wege des Lichtes und die Theorie des
Sehens in der Optik bereits auf Gruͤnde gebracht ſind.
Man konnte am Rande des Schattens den Weg des
Lichtes ſehen, wie er gerade fortgeht, oder nach gewiſſen
Lamb. Organon II B. RGe-
[258]II. Hauptſtuͤck.
Geſetzen gebrochen oder reflectirt wird. Dieſe Geſetze
ſind nun ebenfalls ſo weit entdeckt, als ſie zur Beſtim-
mung des Weges in jeden Faͤllen dienen, und dadurch
ließe ſich die Theorie des Bildes zu Stande bringen,
welches ſich von jeden ſichtbaren und angeſchauten Ob-
jecten auf dem Augennetze abmalt. Die Groͤße und
Figur deſſelben iſt ausmeßbar, und das ganze Bild der
Grund zur Theorie des optiſchen Scheins, weil ſich un-
ſer Urtheil von dem Schein der ſichtbaren Dinge ganz
nach dieſem Bilde richtet. Wo wir hierinn noch zu-
ruͤcke bleiben, iſt die genaue Ausmeſſung der Helligkeit
und Farbe, weil wir beydes noch mit dem Auge ſchaͤtzen
muͤſſen. Es fehlt uns ein Jnſtrument, welches die
Grade der Helligkeit und Farbe ungefaͤhr ſo anzeigte,
wie das Thermometer die Waͤrme, die Wage das Ge-
wicht ꝛc. anzeigt. So dann bleiben wir in der Theorie
von dem ſcheinbaren Orte der ſichtbaren Dinge, und in
der phyſiſchen Theorie der Materie des Lichtes und des
Mechaniſmi ſeiner Fortpflanzung, Brechung und Zu-
ruͤckprallung noch ſo weit zuruͤck, daß wir noch nicht alle
Erſcheinungen daraus erklaͤren und noch weniger unbe-
kannte vorausſehen koͤnnen.


§. 70. Wie ſich das Auge gleichſam ſelbſt ausge-
holfen hat, ſo hat es auch bey Erklaͤrung der uͤbrigen
Sinnen, und beſonders des Gehoͤrs, gute Dienſte ge-
than. Die zitternde Schwuͤnge geſpannter Saiten ſind
ſichtbar. Sie ließen ſich in einigen Faͤllen abzaͤhlen,
und mit der Laͤnge, Dicke und Spannung der Saiten,
wie auch mit der Empfindung des Tones ſelbſt verglei-
chen. Dieſes gab den Anfang zur Theorie der Toͤne
und ihrer Harmonie und Diſſonanz, welche man ſodann
auf Glocken, Pfeifen und andere toͤnende Koͤrper aus-
zudehnen, und die Theorie der Undulation der Luft oder
der Fortpflanzung des Schalles ebenfalls auf Gruͤnde
zu bringen ſuchte. Hingegen beut uns das Ohr kein
ſicht-
[259]Von dem ſinnlichen Schein.
ſichtbares Bild an, worauf ſolche Undulationen gleich-
ſam eingepraͤgt waͤren. Wir muͤſſen es bey dem Hoͤ-
ren bewenden laſſen, und koͤnnen nur noch die Empfin-
dung der Toͤne mit der Anzahl der undulirenden Schlaͤ-
ge vergleichen, welche den Schall fortpflanzen.


§. 71. Die Empfindung der Waͤrme wuͤrde noch
dermalen ſich ſelbſt uͤberlaſſen ſeyn, wenn man nicht in
den neuern Zeiten bemerkt haͤtte, daß die Waͤrme noch
auf eine andere Art, naͤmlich durch die ausdehnende
Kraft, kenntlich und der Ausmeſſung faͤhig iſt. Nach-
dem man aber dieſes gefunden, ſo laſſen ſich die Grund-
ſaͤtze vom Gleichgewichte und dem Beharrungsſtande
dabey anwenden, und ſelbſt die Empfindung der Waͤr-
me und Kaͤlte auf eine mathematiſche Theorie bringen.
Das Sonnenlicht, welches zugleich empfindlich erwaͤrmt,
und durch Glaͤſer in beliebiger Verhaͤltniß ſtaͤrker und
ſchwaͤcher gemacht werden kann, giebt ebenfalls Verſu-
che an die Hand, wodurch die Theorie der Waͤrme ſich
erweitern laͤßt.


§. 72. Dem Gefuͤhl haben wir die drey Grundbe-
griffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglich-
keit
zu danken, auf welchen die wahre phyſiſche Spra-
che beruht. Mit dieſen ſind die Begriffe des feſten,
harten, weichen, zaͤhen, fluͤßigen ꝛc.
in naher Ver-
bindung, und laſſen ſich durch Theorie und Verſuche
nach ihren Graden und Modificationen ſehr ausfuͤhr-
lich entwickeln. Das Gefuͤhl iſt unter allen Sinnen
der unmittelbarſte, und fuͤhrt daher an ſich ſchon naͤher
zu dem, was die Koͤrper ſind. Denn das Auge ſieht
ſie nur vermittelſt des Lichtes, das Ohr bedarf der Luft,
um das Hoͤrbare in ihrer zitternden Bewegung zu em-
pfinden. Der Geruch empfindet nur die Ausfluͤſſe, und
der Geſchmack nur die ſalzichten Theile. Demnach
ſtellen uns dieſe vier Sinnen nur die Modificationen
der Koͤrper vor. Hingegen haben wir den Begriff des
R 2etwas,
[260]II. Hauptſtuͤck.
etwas, welches das weſentliche der Koͤrper ausmacht,
und ſie von dem leeren Raume unterſcheidet, dem Ge-
fuͤhl zu verdanken, und koͤnnen die Theorie der Stru-
ctur und des Mechaniſmus der Koͤrperwelt daher lei-
ten, weil wir mit dem Begriffe der Ausdehnung die
Geometrie, und mit den Begriffen der Soliditaͤt und
Beweglichkeit die Phoronomie und Dynamik gleich-
ſam in unſerer Gewalt haben.


§. 73. Wir koͤnnen uns aber nicht die Rechnung
machen, daß uns die Structur und der Mechaniſmus
der Koͤrperwelt ſo bald werde durchaus bekannt wer-
den. Es ſind uns weder alle Materien bekannt noch
alle empfindbar. Und auch bey den empfindbarn bleibt
die Structur derſelben in den kleinſten Theilen unſern
Sinnen verborgen. Demnach wird es immer Faͤlle
geben, wo wir an die Sprache des Scheins gebunden
bleiben, ſo wie wir ſie abkuͤrzungsweiſe auch da gebrau-
chen, wo uns die wahre bekannt geworden. Der
Schein dient uns immer, die Koͤrper von einander zu
unterſcheiden. Wir werden demnach nun unterſuchen,
wie er dazu gebraucht werden koͤnne.


§. 74. Hiezu nehmen wir nun als einen Grundſatz
an, daß die Jndividualien in dem Objecte, ſo
ferne ſie in die Sinnen einen Eindruck machen,
auch in den Theilen dieſes Eindruckes und den
daher entſtehenden Empfindungen und Be-
griffen individual ſind.
Vermoͤg dieſes Satzes
beut jede Art der Koͤrper und auch jeder einzelne Koͤr-
per den Sinnen etwas an, wodurch er von jeden andern
unterſchieden und erkennt werden kann. Es giebt aber
allerdings Faͤlle, wo dieſes Jndividuale muͤhſamer ent-
deckt wird, und gleichſam aufgeſucht werden muß, es
ſey, daß man die Sache auf Proben ſetze, oder mehrer
Sinnen dazu gebrauche, oder Uebung dazu erforder
werde, oder aus den Umſtaͤnden und dem Zuſammen
hang
[261]Von dem ſinnlichen Schein.
hang der Dinge in der Natur Schluͤſſe ziehen muͤſſe,
die den Anſtand aufheben ꝛc.


§. 75. So z. E. wenn man einen durchaus verguͤl-
deten und einen wirklich guͤldenen Becher vor ſich hat,
ſo wird das Auge ſie nicht unterſcheiden. Hingegen
kann das Ohr aus der Verſchiedenheit des Klanges den
Unterſchied des Metalls bemerken, und zwar auf eine
gedoppelte Art, wenn beyde von gleicher Figur und
Groͤße ſind. Unter eben dieſer Bedingung wird ſich
auch ein Unterſchied am Gewichte bemerken laſſen.
Die Chymie und Metallurgie geben eine Menge von
Proben an, wodurch jede Mineralien und Metalle und
ihre Grade gepruͤft werden koͤnnen, welche die Sinnen
nicht zureichend beurtheilen wuͤrden. Jn der Aſtrono-
mie hingegen hat man aus der Einrichtung des Welt-
baues den Schluß gemacht, daß die Erſcheinungen am
Himmel, die nicht den 24ſtuͤndigen Umlauf mit den
Sternen gemein haben, nicht zum Firmamente gehoͤren,
ſondern nur in der Luft ſind.


§. 76. Wir koͤnnen aus dieſen Beyſpielen ſehen,
daß die Wiederholung der Empfindung einer Sache
in jeden Umſtaͤnden und Abwechslungen, die genauere
Kenntniß dieſer Umſtaͤnde und der Geſetze ihrer Ver-
aͤnderungen dazu beytragen, dieſelbe kenntlicher zu ma-
chen, und ſie von andern, die nur den Schein davon ha-
ben, zu unterſcheiden. So irren wir uns ſelten in An-
ſehung der Dinge, mit welchen wir taͤglich umgehen,
oder die den Gegenſtand unſerer Lebensart und Be-
ſchaͤfftigung ausmachen, und in unbekanntern Dingen
ſind wir gewoͤhnt, diejenigen zu fragen, die Uebung und
Erfahrung darinn haben. Ein Juwelierer, der taͤglich
Edelgeſteine von jeden Arten unter Haͤnden hat, macht
ſich ihre Kennzeichen dergeſtalt bekannt, daß er ſie nicht
nur von einander, und die wahren von den falſchen un-
terſcheiden, ſondern auch die Grade ihrer Feinheit und
R 3Guͤte
[262]II. Hauptſtuͤck.
Guͤte ſchaͤtzen kann. Man iſt eben ſo in allen Dingen,
wo Verfaͤlſchung und Betrug mit unterlaͤuft, auf feine-
re Unterſcheidungsſtuͤcke des Wahren von dem Falſchen
bedacht, um ſich nicht durch nachgeaͤften Schein blen-
den zu laſſen. Und dieſes iſt auch alles, was man fuͤr
ſolche Faͤlle anrathen kann, wo man Betrug, Schaden
und Verſpottung zu befahren hat, wenn man den
Schein von dem Wahren, und das Falſche von dem
Aechten nicht zu unterſcheiden weiß. Uebrigens giebt
es auch Faͤlle, wo Kenner ſich irren, und wo ihre
Scharfſichtigkeit und Sorgfalt nicht ausreicht, den Be-
trug zu bemerken, oder wo die Sache ſelbſt die feinern
Proben nicht zulaͤßt. Die Archimediſche Probe, die
Verfaͤlſchung einer guͤldenen Krone durch den Unter-
ſchied des Gewichts zu entdecken, iſt bey einem ſolchen
Anlaſſe erfunden worden. Die Krone ſollte ganz blei-
ben, allenfalls ſie aͤcht befunden wuͤrde.


§. 77. Ueberhaupt betrachtet, machen die gar zu
große Aehnlichkeit zwoer verſchiedener Sachen, und
hinwiederum die gar zu große Veraͤnderung einer glei-
chen Sache, die Faͤlle aus, wo uns der Schein am
leichteſten taͤuſcht, und zwar ohne Ruͤckſicht auf das, was
der Mangel des behoͤrigen Bewußtſeyns der Aufmerk-
ſamkeit und Uebung dazu beytragen kann. Der erſte
Fall, wo naͤmlich die Aehnlichkeit taͤuſcht, begreift zween
ſpecialere Faͤlle unter ſich. Denn einmal koͤnnen zwey
Indiuidua einander ſehr aͤhnlich ſeyn, und uns verleiten,
eines fuͤr das andere zu nehmen. Jn vielen Faͤllen hat
dieſes nichts zu ſagen. So z. E. wenn man von je-
mand Geld zuruͤckzufordern hat, und man ſieht nur auf
die Summe, ſo waͤre es unnoͤthig, und mehrentheils un-
moͤglich, eben die Stuͤcke wiederzufordern, die man
ausgeliehen. Hingegen vertauſcht man ſolche Dinge,
die ein Pretium affectionis haben, nicht gern gegen an-
dere oder nachgemachte von gleicher Art. Man iſt auch
laͤngſt
[263]Von dem ſinnlichen Schein.
laͤngſt ſchon daran gewoͤhnt, die Sachen, ſo leicht ver-
lohren gehen oder verwechſelt werden koͤnnen, z. E.
Hausgeraͤthe, Leinenzeug, Buͤcher ꝛc. zu bezeichnen, um
ſie auf die leichteſte Art kenntlich zu machen, zumal
wenn ſie durch den Gebrauch abgenutzt, und daher ihre
Jndividualkennzeichen taͤglich veraͤndert werden.


§. 78. Sind aber nicht Indiuidua, ſondern ein In-
diuiduum
mit der Art zu vergleichen, ſo koͤmmt es al-
lerdings auf die Kennzeichen der Art an, und auf Pro-
ben, die das Indiuiduum aushalten muß, dafern es zu
der Art gehoͤren ſoll. Dieſes iſt ſchon mehr wiſſen-
ſchaftlich. Man kann auch nicht ſagen, daß uns weder
jede Arten der Dinge, noch jede von ihren Kennzeichen
bekannt ſind, ſo ſehr man ſich in den neuern Zeiten hat
angelegen ſeyn laſſen, die Naturgeſchichte vollſtaͤndiger
zu machen. Wer viel mit einer Art von Dingen um-
geht, macht ſich allerdings ihre Kennzeichen und Proben
beſſer bekannt, und muß es thun, wenn das Jrren
Schaden bringen wuͤrde. Die Kennzeichen und Pro-
ben der Metalle, Mineralien, Kraͤuter, Steine, Krank-
heiten ꝛc. ſind in dieſer Abſicht wichtig, und noch immer
mehrerer Vollſtaͤndigkeit faͤhig. Wir merken hiebey an,
daß es ſehr ſchwer, und mehrentheils unmoͤglich iſt, al-
les Jndividuale, ſo in den Empfindungen liegt, mit
Worten auszudruͤcken, und daher die oͤftere Wiederho-
lung der Empfindung der Sachen in jeden Umſtaͤn-
den vor der Beſchreibung derſelben viel voraus hat
(§. 76.).


§. 79. Der andere Fall, wo naͤmlich eine Sache
durch merkliche Veraͤnderungen nach und nach unkennt-
lich wird, und daher als eine ganz verſchiedene Sache
vorkommen kann, findet ſich auf vielerley Arten bey den
meiſten Dingen in der Natur. Was man dabey thun
kann, iſt, daß man die Veraͤnderungen und die Geſetze
derſelben ſtuffenweiſe bemerke. Dieſe Bemerkungen
R 4machen
[264]II. Hauptſtuͤck.
machen einen weſentlichen Theil der Naturgeſchichte
aus. Das Wachsthum der Pflanzen und Thiere, die
Verwandlungen der Nahrung in jede Saͤfte, die Auf-
loͤſung, Faͤulniß, Verweſung, Vermoderung ꝛc. jede
chymiſche Proceſſe der Natur und Kunſt gehoͤren ſaͤmt-
lich hieher. Und da ſolche Veraͤnderungen in den klein-
ſten Theilen vorgehen, ſo laͤßt ſich der Mechaniſmus
davon ſelten oder gar nie erklaͤren, daher muß man es
faſt nothwendig bey der Bemerkung der Jngredientien
und der daraus erfolgenden ſcheinbaren Veraͤnderungen
bewenden laſſen. Dadurch erhalten wir ſtatt der wiſ-
ſenſchaftlichen Erkenntniß, eine bloß hiſtoriſche, zumal
wo die wirkenden Urſachen unempfindbar ſind, und ihr
Daſeyn erſt aus der erfolgten Veraͤnderung muß ge-
ſchloſſen werden, wie z. E. wenn ein Stuͤck Eiſen durch
die Laͤnge der Zeit magnetiſch wird.


§. 80. Die bisher (§. 77. ſeqq.) betrachteten zween
Faͤlle, ſind die aͤußerſten von ſehr vielen andern, wo
bey Vergleichung der Dinge Aehnlichkeiten und Ver-
ſchiedenheiten zuſammentreffen, und wo die Frage, ob
ſie einerley ſind, oder zu einer gleichen Art gehoͤren, oder
verſchieden, oder von verſchiedener Art ſind, leichter ent-
ſchieden wird. Die Vergleichung der Aehnlichkeiten
hat ſchon laͤngſten zu der Eintheilung der Dinge in Ar-
ten und ſtuffenweiſe hoͤhere Gattungen Anlaß gegeben.
Wir werden hier nicht wiederholen, was wir in den
zwey erſten Hauptſtuͤcken der Dianoiologie hieruͤber an-
gemerkt haben, wo von dem Unterſchiede der Begriffe
und ihren Eintheilungen die Rede war, in ſo ferne ſie
ohne Ruͤckſicht auf den Unterſchied des Wahren und
des Scheins, uͤberhaupt nur als Begriffe zu betrachten
vorkamen. Hier aber, wo wir auf dieſen Unterſchied
ſehen, koͤnnen wir uͤberhaupt anmerken, daß wir die
Eintheilung der koͤrperlichen Dinge in Arten und Gat-
tungen, noch groͤßtentheils nur in der Sprache des
Scheins
[265]Von dem ſinnlichen Schein.
Scheins haben, und uns ſtatt der wahren Unterſchie-
de der Arten
noch immer nur mit Kennzeichen be-
gnuͤgen muͤſſen, wenn wir ſie mit Worten kenntlich ma-
chen wollen. Denn der Anblick, und uͤberhaupt die
Empfindungen, machen uns dieſelbe durch ihre Bilder
(§. 5.) auf eine ganz individuale Art (§. 74. 76.) be-
kannt, und wir duͤrfen dabey weiter nichts, als mit die-
ſen Empfindungen die Namen verbinden. Sollen ſie
aber durch Worte kenntlich gemacht werden, ſo nehmen
wir die in die Sinnen fallenden Theile, Figur ꝛc. da-
durch ſie am kenntlichſten ſind, wie z. E. bey den Edel-
geſteinen, die Figur, welche ſie durch die Chryſtalliſation
erhalten, bey den Kraͤutern die Anzahl, Figur und La-
ge der Blaͤtter, Staubfaͤden ꝛc. ihrer Blumen. Solche
Beſchreibungen dienen aber nur, die Arten kenntlich zu
machen, ohne uns von ihrem Weſen, Eigenſchaften,
Wirkungen, Verhaͤltniſſen ꝛc. das geringſte anzugeben,
als welches durch Verſuche gefunden werden muß, weil
der Weg, es aus ſolchen Kennzeichen zu ſchließen, zu
weit, und noch unbekannt, und vermuthlich auch nicht
zureichend iſt.


§. 81. Jn ſo ferne die Begriffe der Ausdehnung,
Soliditaͤt
und Beweglichkeit, die Grundlage zu
der wahren phyſiſchen Sprache ſind, in ſo ferne dient
auch alles, was wir von der ſcheinbaren Geſtalt der
Koͤrper mit dieſen Eigenſchaften derſelben in Verbin-
dung bringen koͤnnen, zu der Vergleichung und Ver-
bindung der wahren Sprache und der Sprache des
Scheins. Letztere muͤſſen wir gebrauchen, wo uns die
Koͤrper noch weiter nicht als nach den Empfindungen
bekannt ſind, und ſich uns folglich nur noch durch den
Schein kenntlich machen. Wir koͤnnen ſie auch ge-
brauchen, weil dieſer Schein real, und an Geſetze ge-
bunden iſt, und weil das Jndividuale in den Koͤrpern
auch den objectiven Schein derſelben individual macht
R 5(§. 74.).
[266]II. Hauptſtuͤck.
(§. 74.). Was wir aber von erſterwaͤhnten dreyen
Begriffen und ihren Modificationen und Verhaͤltniſſen
in die Sprache des Scheins mit einmengen, iſt immer
mehr oder minder von der wahren Sprache hergenom-
men. So z. E. haben wir durch das Gefuͤhl einen
Begriff von der Haͤrtigkeit eines Koͤrpers. Ver-
gleichen wir damit die Begriffe der Ausdehnung,
Soliditaͤt, Theile, Zuſammenſetzung,
und der
zuſammenhaͤngenden oder druͤckenden Kraͤfte,
ſo bringen wir endlich den Schluß heraus, daß der Koͤr-
per dadurch hart ſey, weil er durch aͤußerliche Gewalt
in Stuͤcke getrennt werden muß, und weil ohne eine ſol-
che Gewalt ſeine Theile beyſammen bleiben. Dadurch
beſtimmen wir zwar nur die Bedingungen, unter wel-
chen ein Koͤrper durch das Gefuͤhl den Begriff der
Haͤrtigkeit in uns erweckt. Dieſer Begriff wird aber
dadurch mit der Vorſtellung der Sache ſelbſt in Ver-
bindung gebracht. Es iſt uͤberhaupt mit den Begrif-
fen, ſo uns die Empfindungen veranlaſſen, immer eine
wirkliche Eigenſchaft und Modification der Koͤrper ſelbſt
verbunden, die uns anzeigt, was die Sache an ſich iſt,
ſo bald wir ſie durch die Structur und den Mechanis-
mus
der Koͤrperwelt erklaͤren koͤnnen.


§. 82. Nach den bisher angebrachten Betrachtun-
gen wenden wir uns nun zu der Eroͤrterung der Frage,
wo Schein und Wahres in Anſehung der Em-
pfindungen zuſammentreffe?
Es verſteht ſich fuͤr
ſich, daß hier nicht von dem organiſchen, ſondern rea-
len phyſiſchen Schein die Rede iſt. Dieſe Frage ha-
ben wir durch die bereits angeſtellten bisherigen Unter-
ſuchungen ſo weit eroͤrtert, daß wir die Begriffe der
Farben, des Schalles, ꝛc. (§. 63.) ſchlechthin in das
Gedankenreich verwieſen, und dabey angemerkt haben,
daß ſie, in ſo fern ſie phyſiſcher Schein ſind, oder uns
die Koͤrper unter ſinnlichen Bildern vorſtellen, jedesmal
durch
[267]Von dem ſinnlichen Schein.
durch wirkliche Eigenſchaften und Modificationen der
Koͤrper, und vermittelſt eines dabey vorgehenden Me-
chanismus veranlaßt oder in uns erweckt werden. Alle
dieſe von den Sinnen herruͤhrende Begriffe haben das
beſonders, daß der Mechanismns, wodurch ſie erweckt
werden, ſelbſt von uns nicht empfunden wird. Wir
muͤſſen ihn durch Schluͤſſe, anatomiſche Obſervationen
und Verſuche herausbringen, und auch dieſes iſt uns
bisher noch nicht durchaus gelungen. Es iſt daher al-
lerdings betrachtenswuͤrdig, daß diejenigen Theile der
Structur und des Mechanismus in der Koͤrperwelt,
die wir wegen der Feinheit nicht einzeln empfinden, und
ſie uns folglich nicht unter den Begriffen der Ausdeh-
nung, Soliditaͤt
und Beweglichkeit durch unmit-
telbare Empfindungen vorſtellen koͤnnen, uns unter Bil-
dern empfindlich ſind, die den Koͤrpern ſelbſt nicht an-
ders als ein Schein koͤnnen beygelegt werden. Hinge-
gen wo die Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweg-
lichkeit,
wie bey großen und feſten Koͤrpern, in die
Sinnen faͤllt, da ſtellen wir uns dieſe Eigenſchaften
nicht unter fremden Bildern, ſondern an ſich vor, und
empfinden ſie auch als ſolche. Die Vergoͤßerungsglaͤ-
ſer helfen uns dieſe Betrachtung durch die Erfahrung
beſtaͤtigen, weil ſie dieſe drey Begriffe auch da noch em-
pfindbar machen, wo das bloße Auge hoͤchſtens nur Far-
ben ſieht. Die Beobachtung der rothen Kuͤgelchen,
die dem Blut die Farbe geben, und ihrer Bewegung,
die deſſelben Umlauf augenſcheinlich machen, mag hier
zum Beyſpiele dienen.


§. 83. Ungeacht wir demnach das Wahre in den
Empfindungen nur bey den Begriffen der Ausdehnung,
Soliditaͤt und Beweglichkeit zu ſuchen haben, weil die
uͤbrigen ſinnlichen Begriffe (§. 63.) uns nur Schein
zeigen, ſo kann man doch nicht ſagen, daß dieſe drey
Begriffe und ihre Modificationen ganz ohne Schein
ſind.
[268]II. Hauptſtuͤck.
ſind. Denn die wahre Ausdehnung, Soliditaͤt und
Bewegung iſt von der empfundenen oder ſcheinba-
ren
faſt immer verſchieden. Jndeſſen giebt es Faͤlle,
wo ſie zuſammentreffen, und die Beſtimmung derſelben
macht demnach die Aufloͤſung der erſt vorgelegten Frage
(§. 82.) vollſtaͤndig. Wir ſind nicht geſonnen, dieſelbe
hier ſo vollſtaͤndig vorzutragen, weil wir einen betraͤcht-
lichen Theil der Optik ausſchreiben muͤßten, ſondern
werden nur einige Beyſpiele anfuͤhren. Die ſchein-
bare Groͤße
iſt der flache oder auch der ſolide Winkel,
den die Objecte im Auge machen. Man kann leicht
zeigen, daß es moͤglich iſt, einen gleichſeitigen Triangel
ſo anzuſchauen, daß die ſcheinbare Groͤße jeder Seite
ebenfalls gleich iſt. Hier trifft demnach Wahrheit und
Schein zuſammen. Der Triangel iſt und ſcheint gleich-
ſeitig. Wiederum ein Koͤrper, der ſich mit gleicher Ge-
ſchwindigkeit in einem Circul bewegt, oder bewegt wird,
in deſſen Mittelpunkt oder Axe das Auge iſt, wird auch
eine ſcheinbare gleiche Geſchwindigkeit haben. Jn An-
ſehung der Soliditaͤt iſt das Gefuͤhl nicht empfindlich
genug, die kleinern Unterſchiede in der Haͤrtigkeit der
Koͤrper zu bemerken, ungeacht es bey weichern die Gra-
de noch ziemlich unterſcheidet, und bey gleich weichen
ebenfalls eine bemerkbare Gleichheit fuͤhlet.


§. 84. Es geben uns aber uͤberhaupt die Sinnen
die Grade der Empfindungen nicht genau an, und die
kleinern Unterſchiede zwiſchen denſelben ſind uns un-
merkbar. Wir finden dieſes in denen Faͤllen, wo wir
das Urtheil des Sinnes durch Wiederholung der Em-
pfindung oder durch andere Proben pruͤfen koͤnnen. So
z. E. wenn auf dem Felde einerley Winkel mehrmalen
gemeſſen wird, ſo findet ſich faſt immer ein kleiner Un-
terſchied. Zwo Farben koͤnnen uns gleich ſcheinen, wenn
wir ſchon aus den Jngredientien offenbar wiſſen, daß
ſich ein kleiner Unterſchied zeigen ſollte. Zwo Hellig-
keiten
[269]Von dem ſinnlichen Schein.
keiten ſcheinen uns gleich, wenn auch der Abſtand des
Lichtes uns verſichert, daß ſie um \{1}{30} oder noch merkli-
chern Theil verſchieden ſind. Jn Anſehung der Toͤne
zeigt uns die Laͤnge der Saiten ebenfalls, daß wir die
kleinern Unterſchiede nicht bemerken. Das Augen-
maaß, die Schaͤtzung der Gleichheit zweyer Gewichter,
zweener Grade der Waͤrme ꝛc. ſind noch unzuverlaͤßi-
ger, wenn wir Zirkel, Maaßſtab, Wage und Thermo-
meter zur Pruͤfung gebrauchen. Solche Schaͤtzungen
koͤnnen zuweilen zutreffen. Denn wenn in der That
eine Gleichheit da iſt, ſo wuͤrde es Unachtſamkeit oder
eine Veraͤnderung in dem Sinne anzeigen, wenn ſie
uns merklich ungleich vorkaͤme. Wird aber die Beob-
achtung mehrmalen wiederholt, ſo faͤllt dieſes zufaͤllige
Uebereinſtimmen weg. Und wo man es in der That
muß auf das Urtheil der Sinnen ankommen laſſen, da
iſt die Wiederholung deswegen dienlich, weil ſich aus
allen das Mittel nehmen laͤßt. Dieſes wird, wofern
man nicht vorſetzlich ſorglos ſeyn oder fehlen will, zuver-
laͤßiger, als jede einzelne Schaͤtzung, fuͤr ſich betrach-
tet, ſeyn.


§. 85. Aus der erſt angeſtellten Unterſuchung und
Aufloͤſung der (§. 82.) vorgelegten Frage erhellet, daß
wir den phyſiſchen Schein in zwo ganz verſchiedene
Hauptclaſſen eintheilen koͤnnen, wenn wir ihn mit dem
Wahren, das dabey zum Grunde liegt, vergleichen. Zu
der erſten Claſſe gehoͤren die Begriffe der Farben, des
Schalls, ꝛc. (§. 63.) welche uns die Dinge unter ganz
fremden Bildern vorſtellen, und wobey folglich der
Schein von dem Wahren der Art nach verſchieden
iſt, weil das, was wir uns unter dieſen Begriffen vor-
ſtellen, nicht in den Koͤrpern ſelbſt iſt, ſondern nur durch
die Structur und den Mechanismus derſelben veran-
laßt wird. Zu der andern Claſſe gehoͤren die drey Be-
griffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweg-
lichkeit
[270]II. Hauptſtuͤck.
lichkeit (§. 62.) mit ihren Beſtimmungen, Modifica-
tionen und Verhaͤltniſſen. Jn Anſehung dieſer Be-
griffe iſt der Schein von dem Wahren nicht der Art
nach,
ſondern hoͤchſtens nur den Graden nach ver-
ſchieden, und daher geht auch die Sprache des Scheins
von der wahren Sprache bey dieſer zweyten Claſſe nicht
in den Worten, ſondern nur in dem Gebrauch der Worte
ab. Z. E. Was uns ausgedehnt zu ſeyn ſcheint, iſt auch
in der That ausgedehnt; wo eine ſcheinbare Bewegung
iſt, da iſt auch in der That eine Bewegung ꝛc.


§. 86. Man ſieht leicht, daß ſich die Ueberſetzung
aus der Sprache des Scheins in die wahre, und hin-
wiederum aus dieſer in jene, nach dem erſt angezeigten
Unterſchiede beyder Claſſen richten muß. So ferne die
ſcheinbare Ausdehnung und Bewegung, daher auch die
ſcheinbare Figur, Groͤße, Lage, Ort, Entfernung, ꝛc. mit
der wahren, nach dem Urtheil des Auges muß vergli-
chen werden, dafuͤr hat man in der Optik laͤngſt ſchon
Gruͤnde feſtgeſetzt, ſowohl um aus dem Wahren den
Schein, als auch hinwiederum aus dem Schein das
Wahre zu beſtimmen. Wir haben ſchon oben (§. 69.)
angemerkt, daß die Beſtimmung des ſcheinbaren Orts
der Dinge und ihrer Entfernung noch etwas zuruͤck-
bleibe, und aus gleichen Gruͤnden iſt auch die Beſtim-
mung der ſcheinbaren Woͤlbung des Himmels noch ei-
ner vollſtaͤndigern Theorie beduͤrftig. Uebrigens haben
ſich die Aſtronomen die optiſchen Lehrſaͤtze bisher noch
am meiſten zu Nutze gemacht, aus der ſcheinbaren Lage
und Bewegung der Sterne die wahre zu finden, und
hinwiederum aus dieſer jene vorauszuſagen.


§. 87. Hingegen iſt die Ueberſetzung aus der Spra-
che des Scheins in die wahre, und hinwiederum aus
dieſer in jene, in Anſehung der Begriffe der erſten
Claſſe ganz anders beſchaffen, und bleibt noch in den
meiſten Faͤllen weit zuruͤcke. Wir haben oben (§. 69.
ſeqq.)
[271]Von dem ſinnlichen Schein.
ſeqq.) geſehen, wie ferne es uns hiebey noch dermalen
gelungen, wenigſtens Vergleichungen der Grade des
Wahren mit den Graden des Scheins zu beſtimmen,
und etwas von dem Mechanismo, ſo bey den Empfin-
dungen vorgeht, zu entdecken. So haben wir auch
(§. 58.) bey der Betrachtung des relativen Theiles des
Scheins angezeigt, in welchen Faͤllen derſelbe etwas
Abſolutes oder Natuͤrliches hat, worauf die uͤbrigen
Faͤlle, da der Schein durch die Umſtaͤnde geaͤndert wird,
bezogen werden muͤſſen. Denn darauf hat man aller-
dings Achtung zu geben, wenn man den Schein, den
jeder Koͤrper nach jeden Arten der Empfindungen an
ſich hat, von den zufaͤlligen Aenderungen unterſcheiden
will, die nicht von dem Koͤrper ſelbſt, ſondern von mit-
wirkenden Urſachen und Umſtaͤnden herruͤhren.


§. 88. Wir muͤſſen noch anmerken, daß es in An-
ſehung der zweyten Claſſe leichter iſt, die Sprache des
Scheins und des Wahren zu vermengen, und dadurch
Jrrthum und Verwirrung in unſere Erkenntniß zu
bringen, als bey der erſten Claſſe. Denn bey der zwey-
ten Claſſe kommen beyde Sprachen in den Worten uͤber-
ein, weil die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt
und Beweglichkeit nebſt ihren Modificationen die
Grundlage zu beyden ſind. Hingegen ſo bald man ein-
mal weiß, daß die Begriffe der Farben, des Schal-
les,
ꝛc. nur Bilder ſind, unter welchen uns die Koͤrper
ihre uns unempfindbare Structur und Mechaniſmus
vorſtellen, ſo weiß man ein fuͤr allemal, daß dieſe Bil-
der ſchlechthin zu der Sprache des Scheins gehoͤren,
welche hiebey von der wahren auch in den Worten ab-
geht. Es iſt aber bey der erſten Claſſe leichter, einen
Schein mit dem andern zu verwechſeln, weil eine Sache
den Schein der andern haben kann (§. 74. ſeqq.).


§. 89. Da bey den Koͤrpern immer eine Eigenſchaft,
Modificatioͤn, ꝛc. zum Grunde liegt, welche durch die
Empfin-
[272]II. Hauptſtuͤck.
Empfindung derſelben ſolche Bilder in uns erregt, ſo
koͤnnen wir dieſe Bilder gewiſſermaßen als Zeichen
ſolcher Eigenſchaften und Modificationen anſehen, die
durch Geſetze der Natur mit denſelben verbunden ſind.
Sie ſind Zeichen, ſo fern wir uͤberhaupt jede Wirkung
als ein Zeichen ihrer vorhandenen Urſache anſehen koͤn-
nen. Und wir koͤnnen ſie fuͤr nicht mehr als Zeichen
anſehen, ſo bald wir ein fuͤr allemal wiſſen, daß ſie nicht
den Koͤrpern ſelbſt zukommen, ſondern durch die Stru-
ctur und den Mechanismus derſelben, vermittelſt der
Empfindung in uns erregt werden. Es iſt uns auch
dieſe Benennung nur deswegen ungewoͤhnter, weil uns
dieſe Structur und Mechanismus nicht in die Sinnen
faͤllt, und auch dermalen noch nicht durch Schluͤſſe ge-
nug entdeckt iſt. So z. E. wiſſen wir nunmehr in An-
ſehung der Farben ſo viel, daß ein Koͤrper abſolute
weiß iſt, wenn er die Lichtſtralen in eben der Verhaͤlt-
niß zuruͤcke wirft, in welcher ſie auffallen, und je genau-
er letzteres iſt, deſto mehr naͤhert ſich die Farbe des Koͤr-
pers dieſer abſoluten Weiße. Wir koͤnnen demnach
vermoͤg dieſes Satzes die weiße Farbe an jedem Koͤr-
per, der ſie hat, als ein Zeichen anſehen, daß die Stru-
ctur ſeiner Theile zu einer ſolchen proportionirten Zu-
ruͤckwerfung des Lichtes muͤſſe eingerichtet ſeyn. Und
ſollte uns dieſe Structur kuͤnftig noch genauer und fuͤr
jede Grade bekannt werden, ſo wuͤrde ſich die Bedeu-
tung des Zeichens eben ſo weit erſtrecken. So ſind
wir ſchon gewoͤhnt, jede Helligkeit als ein Zeichen der
Gegenwart eines Lichtes anzuſehen, wenn wir auch das
Licht ſelbſt nicht ſehen.


§. 90. Wenn wir demnach die Sprache des Scheins
gebrauchen, und z. E. ſagen, ein Koͤrper ſey weiß, roth,
blau ꝛc. ſo legen wir der bezeichneten Sache den Na-
men und Begriff des Zeichens, oder der wirkenden Ur-
ſache den Namen des dadurch veranlaßten Begriffes
bey.
[273]Von dem ſinnlichen Schein.
bey. Und darinn beſteht folglich der Jrrthum, den wir
mit unterlaufen laſſen, wenn wir die Sprache des
Scheins fuͤr die wahre anſehen. Sehen wir ſie aber
als eine Aufhaͤufung von Metonymien und Metaphern
an; ſo faͤllt dieſer Jrrthum weg, weil wir in den Spra-
chen ſolche Verwechslungen der Namen in Menge ha-
ben. Und da iſt es genug, daß wir ſie als ſolche er-
kennen.


§. 91. Aus allem bisher geſagten erhellet, daß die
Koͤrperwelt ſich uns in allewege nur nach ihrem Schein
zeigt. Denn auch die wenigen Faͤlle, wobey Wahrheit
und Schein zuſammentrifft (§. 83.), ſind auch von der
Art, daß wir dieſe Uebereinſtimmung beweiſen muͤſſen.
Man hat daher in der Aſtronomie laͤngſt ſchon die
Sorgfalt gehabt, die Beobachtungen und Erfahrungen
in der Sprache des Scheins vorzutragen, um nicht das,
ſo man wirklich erfahren oder beobachtet hat, mit den
daraus gezogenen Schluͤſſen zu vermengen. Dieſe Regel
wird auch in der Verſuchkunſt vorgeſchrieben, und ſollte,
wenn man genau gehen will, bey jeden Erfahrungen,
Beobachtungen und Verſuchen gebraucht werden. Jhre
Ausuͤbung, und die Vorſchriften dazu, machen einen be-
traͤchtlichen Theil der tranſcendenten Perſpective
aus, wovon wir oben (§. 4.) den Begriff gegeben ha-
ben. Hier haben wir ſie nur noch in Abſicht auf die
Sinnen zu betrachten, und werden daher nach dem, ſo
wir ſchon in dem achten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie
angebracht haben, noch folgende Anmerkung daruͤber
machen.


§. 92. Einmal iſt es bey denen (§. 85.) angefuͤhr-
ten Begriffen der zweyten Claſſe leichter, die Erfahrun-
gen, Beobachtungen und Verſuche genau in der Spra-
che des Scheins vorzutragen, weil die ſcheinbare Aus-
dehnung und Bewegung nicht nur in die Augen faͤllt,
ſondern ausgemeſſen, und folglich nach aller Schaͤrfe
Lamb. Organon II B. Sbeſtimmt
[274]II. Hauptſtuͤck.
beſtimmt werden kann. Damit darf man nur aufzeich-
nen, was man wirklich ausmißt, und diß ſind ordentlich
Zeit und Winkel, weil die ſcheinbare Ausdehnung
durch Winkel gemeſſen, und zur Beſtimmung der ſchein-
baren Bewegung, die Zeit mit in die Rechnung gezogen
werden muß. Hievon geben bald alle Aſtronomiſche
Obſervationen Beyſpiele, und es war den Aſtronomen
leichter, und faſt das einzige, was ſie thun konnten, ſich
mit Ausmeſſung der Zeit und Winkel zu beſchaͤfftigen,
und beydes ſo, wie ſie es befunden, aufzuzeichnen. Man
hat auch Urſach, das, ſo jemand aus ſeinen Beobachtun-
gen ſchließt, dahingeſtellt ſeyn zu laſſen, dafern er nicht
dieſe angiebt, und ausfuͤhrlich zeigt, wie er die Schluͤſſe
daraus gezogen. Es iſt leicht, Umſtaͤnde zu vergeſſen,
ſich zu uͤberrechnen, ſich im Schließen zu uͤbereilen ꝛc.


§. 93. Bey den Begriffen der erſten Claſſe (§. 85.)
geht es hingegen nicht ſo leicht an, die Beobachtungen
von den Schluͤſſen, ſo man daraus zieht, zu trennen,
und in der Beſchreibung der Beobachtungen nichts an-
ders zu benennen, als was wir unmittelbar empfinden.
Man wuͤrde oͤfters dadurch ohne Noth in eine faſt laͤ-
cherliche Weitlaͤuftigkeit fallen, wenn man ſtatt des Na-
mens der Dinge und ihrer Theile, die Figur, Farbe,
ſcheinbare oder wahre Groͤße ꝛc. anzeigen wollte. Die-
ſes thut man nur in Anſehung ganz unbekannter Dinge.
Und ſolche Beſchreibungen ſind mehrentheils ſo man-
gelhaft, daß man die Sache daraus nicht erkennen wuͤr-
de. Man iſt daher laͤngſt ſchon darauf verfallen, ſolche
Beſchreibungen durch Gemaͤhlde, Figuren, Modelle, ꝛc.
abzukuͤrzen, und dadurch die Dinge denen kenntlicher zu
machen, die ſie ſelbſt noch nicht geſehen haben. Bey be-
kannten und taͤglich vor Augen ſchwebenden Dingen be-
gnuͤgt man ſich allerdings kuͤrzer mit dem Namen der
Sache, und in zweifelhaftern Faͤllen, oder wo man ſorg-
faͤltiger ſeyn muß, ſich zu verſichern, ob es eben die
Sache
[275]Von dem ſinnlichen Schein.
Sache ſey, die man ſich vorſtellt, oder die den Namen
hat, koͤmmt es auf die oben ſchon (§. 74. ſeqq.) ange-
gebenen Vorſichtigkeiten an, das, was man empfindet,
von allem zu unterſcheiden, was wir wegen Aehnlichkeit
der Empfindung damit verwechſeln koͤnnten.


§. 94. Wir haben eine Menge Woͤrter in der Spra-
che, wodurch wir gleichſam abkuͤrzungsweiſe ſehr zuſam-
mengeſetzte Dinge, Veraͤnderungen und Handlungen
benennen koͤnnen. Jn einzelnen Faͤllen aber kann es
geſchehen, daß wir ſolche Dinge, Veraͤnderungen und
Handlungen nicht ganz, ſondern nur zum Theil ſehen
oder empfinden, und folglich den nicht empfundenen
Theil durch Schluͤſſe herausbringen muͤſſen, es ſey, daß
wir deſſen Daſeyn aus dem wirklich Empfundenen oder
aus andern Gruͤnden erweiſen koͤnnen. Will man dem-
nach hiebey ſorgfaͤltig verfahren, ſo iſt allerdings noth-
wendig, das Empfundene einzeln und ſtuͤckweiſe anzu-
zeigen, und ſodann auch die Schluͤſſe, wodurch man das
uͤbrige beſtimmt, aus einander zu ſetzen, beſonders wo
das, ſo man durch Schluͤſſe beſtimmt, ohne dieſelbe
mehrerley Beſtimmungen leiden koͤnnte, wie z. E. die
Abſichten bey Handlungen, die Urſachen bey Veraͤnde-
rungen, ꝛc. Es iſt fuͤr ſich klar, daß man oͤfters auch
den Umfang von der Bedeutung der Woͤrter genauer
beſtimmen und angeben muͤſſe, die man bey ſolchen Er-
fahrungen und Beobachtungen gebraucht, damit nicht
ſtatt des Jrrthums, den man in der Sache vermeiden
will, aus den Worten ein anderer entſtehe.



S 2Drittes
[276]III. Hauptſtuͤck.

Drittes Hauptſtuͤck.
Von
dem pſychologiſchen Schein.


§. 95.


Wir ſind in vorhergehendem Hauptſtuͤcke bey dem
unmittelbar von den aͤußern Sinnen herruͤhren-
den Schein ſtehen geblieben, und haben denſelben an
ſich betrachtet, ohne noch zu ſehen, wieferne die dadurch
veranlaßten Begriffe ſich auch ihrem Schein nach in
das abſtractere Gedankenreich einmengen, oder wieferne
ſelbſt auch die aͤußern Sinnen Quellen und Urſachen
des pſychologiſchen Scheins ſind, zu deſſen Unter-
ſuchung wir nun fortſchreiten werden. Die Eroͤrterung
dieſer Frage wird um deſto erheblicher, weil die von den
Sinnen herruͤhrenden Begriffe die Grundlage und der
Anfang zu unſerer abſtracten Erkenntniß ſind. Und da
iſt allerdings zu vermuthen, daß ſich der ſinnliche Schein
auch in dieſe einmenge, und darinn das Scheinbare mit
dem Wahren vermiſche. Ueberdieß laͤuft bald in allem,
was wir von Koͤrpern und der Koͤrperwelt reden, die
Sprache des Scheins und die wahre Sprache durch
einander, theils weil erſtere zur Abkuͤrzung dient, theils
weil wir letztere noch lange nicht durchaus wiſſen. Die
Frage iſt demnach, wieferne deſſen uneracht wahre
Verhaͤltniſſe beſtimmt werden koͤnnen, und wieferne
ſelbſt der Schein uns zu richtigen abſtracten Begriffen
fuͤhre?


§. 96. Ueber dieſe Frage koͤnnen wir nun verſchie-
dene zu ihrer Aufloͤſung dienende Anmerkungen machen.
Einmal macht uns der ſinnliche Schein die Koͤrper
kenntlich, und zwar deſto genauer, je vollſtaͤndiger er iſt,
(§. 74.
[277]Von dem pſychologiſchen Schein.
(§. 74. ſeqq.). Beſonders aber dienen uns die daher-
ruͤhrenden Begriffe als natuͤrliche und genau paſſende
Zeichen von Eigenſchaften der Koͤrper, die nicht ſelbſt
in die Sinnen fallen, ſondern erſt durch Schluͤſſe muͤſ-
ſen gefunden werden (§. 89. 82.). Sodann wie ſich
uns auch immer die Koͤrper nach ihrem Schein zeigen,
ſo findet ſich der Begriff der Soliditaͤt, und daß es
Dinge ſind, mit dabey, und in Anſehung des Auges
wuͤrde die Empfindung der Ausdehnung, Figur und
Bewegung wegfallen, wenn die Koͤrper nicht durch
Licht und Farben ſichtbar waͤren. So iſt auch bey je-
den ſichtbaren Handlungen Figur und Bewegung
ſichtbar. Und in ſo ferne mengt ſich in das Scheinbare
der Koͤrperwelt immer viel Wahres mit ein, welches
ausgeleſen und beſonders betrachtet werden kann.


§. 97. Wir machen ferner in vielen Faͤllen aus dem
Schein, den uns die Koͤrper zeigen, ein Hauptwerk.
Die Faͤrbe- und Malerkunſt, die Muſik und der feinere
Theil der Kochkunſt ſind Proben davon. Jn dieſer
Abſicht hat auch der Schein, als Schein betrachtet, ſei-
ne Grade, Verhaͤltniſſe, Harmonien und Annehmlich-
keiten. Ueberdieß ſind die Theile des Scheins ſo mit
einander verbunden, daß man, wenigſtens mittelſt der
Erfahrung, von dem einen auf die andern ſchließen
kann. Und wo wir das Reale oder Wahre bereits
wiſſen, da giebt uns der Schein daſſelbe und deſſen
Grade an, weil ſich die ſcheinbaren Grade nach den
wahren richten, ſo oft nichts organiſches ſich mit ein-
mengt. Endlich koͤnnen wir auch in den meiſten Faͤl-
len aus der Aehnlichkeit des Scheins auf die Aehnlich-
keit der Eigenſchaften ſchließen, die den Schein in un-
ſern Sinnen veranlaſſen, ſo unbekannt uns ihre Stru-
ctur und Mechaniſmus noch ſeyn mag; wiewohl wir
dieſe Aehnlichkeit, ohne anderweitige Gruͤnde zu haben,
S 3nicht
[278]III. Hauptſtuͤck.
nicht wohl weiter ausdehnen koͤnnen, als die Empfin-
dungen des Aehnlichen im Schein gehen.


§. 98. Um nun zu der Betrachtung des pſycholo-
giſchen Scheins den Weg zu bahnen, wollen wir an-
merken, daß die Bewegung, die bey den Empfindungen
in den Empfindungsnerven vorgeht, zwar bis in das
Gehirn fortgepflanzt wird, aber auch in demſelben, al-
lem Anſehen nach, andere ungleich feinere Bewegungen
und Empfindungen erregt. Jch ſage, allem Anſehen
nach.
Denn dieſe Nerven und Fibern werden immer
feiner, je naͤher ſie dem Gehirne liegen, und in dem Ge-
hirne ſelbſt verlieren ſie ſich aus dem Geſichte. Die
Bewegung geht dabey aber allerdings nicht verlohren,
ſondern ſcheint ſich, wegen der Communication der an-
liegenden Theile, auszubreiten, und dadurch in jedem
Theile ſchwaͤcher zu werden. Das Bewußtſeyn, daß
wir nicht in den Gliedern ſondern im Gehirne, und zwar
in einem gewiſſen Punkt deſſelben, denken, deſſen Ort
wir, wie den Ort jeder innern Empfindung von Schmerz,
Reiſſen, Druͤcken, ꝛc. gleichſam anzeigen zu koͤnnen
glauben, macht glaublich, daß daſelbſt gleichſam die
Werkſtaͤtte der Seele iſt, dahin ſich jede von den
Empfindungsnerven herruͤhrende Bewegungen concen-
triren, und wo gleichſam die Zuͤgel ſich vereinigen, wo-
mit der Wille den Leib und jede Glieder in Bewegung
ſetzt, und lenkt. Ein Fall, den man thut, und wodurch
das Gehirn erſchuͤttert wird, verurſacht in demſelben
allerdings nur mechaniſche und koͤrperliche Veraͤnderun-
gen. Daß man aber dadurch das Bewußtſeyn und
Gedaͤchtniß verlieren kann, lehren uns einige Erfahrun-
gen. Und ſo giebt es bey vielen die Erfahrung auch,
daß ein allzuſtarkes Nachſinnen Kopfweh oder Schmerz
in dem Gehirne und deſſen einzeln Theilen verurſachen
koͤnne; daß man nach dem Eſſen uͤberhaupt zum Nach-
denken weniger aufgelegt iſt, und ſtarke. Getraͤnke an-
fangs
[279]Von dem pſychologiſchen Schein.
fangs die hoͤhern, ſodann die untern Erkenntnißkraͤfte,
und endlich gar die Sinnen betaͤuben und fuͤr eine Zeit-
lang unbrauchbar machen koͤnnen. Dieſe und mehrere
dergleichen Erfahrungen zeigen, nicht nur, daß das Sy-
ſtem der Gedanken von dem phyſiſchen Zuſtande des
Gehirns abhaͤngt, ſondern auch, daß die feinern Gedan-
ken ſich ſtuffenweiſe nach den feinern Fibern und Bewe-
gungen in dem Gehirne richten, und mit denſelben lei-
den, ſo unbekannt uns deſſen Structur und Mechanis-
mus
und die Gemeinſchaft der Seele und des Leibes
ſeyn mag.


§. 99. So viel iſt gewiß, daß wenn wir dieſe
Structur und den Mechaniſmus des Gehirns durchaus
wuͤßten, die Theorie davon uns in Abſicht auf das Ge-
dankenreich und den pſychologiſchen Schein eben den
Dienſt thun wuͤrde, den uns die Anatomie des Auges
in der Optik thut (§. 3. 4. 69.). Beſonders wuͤrde ſich
die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Gegen-
ſtaͤnde verſchiedener Sinnen und ſogar auch die Dinge
der Jntellectualwelt in uns machen, und wodurch wir
zu abſtractern und tranſcendenten Begriffen gelangen,
und in der Sprache Metaphern einfuͤhren, ꝛc. daraus
umſtaͤndlicher entwickeln laſſen. Wir haben ſie in der
Alethiologie und Semiotik, in Ermanglung dieſer Theo-
rie, ſchlechthin nur als eine Erfahrung angenommen, und
den Gebrauch davon ebenfalls aus Beyſpielen angezeigt.


§. 100. Jndeſſen koͤnnen wir hier ſo viel annehmen,
daß, wenn eine Empfindung durch die Bewegung der
Nerven und Fibern bis in das Gehirn fortgepflanzt
wird, und ſich theils communicirt, theils gleichſam ge-
gen den Sitz der Gedanken convergent wird, daß wir,
ſage ich, von jeden dieſen Bewegungen Empfindungen
haben, und zwar deſto ſtaͤrkere, je ſtaͤrker ſie an ſich ſind.
Beſonders aber macht die Communication der Bewe-
gung, daß uns auch aͤhnliche vorhin gehabte Empfin-
S 4dungen
[280]III. Hauptſtuͤck.
dungen wiederum zu Sinne kommen, die theils durch
directe oder auch durch communicirte Bewegungen wa-
ren erregt worden. Die unvermerkte Einmengung
fremder Bilder in die Empfindungen mag ebenfalls da-
her entſtehen, wenn das Bewußtſeyn, daß ſie fremd
ſind, und die behoͤrige Aufmerkſamkeit, fehlt. So koͤn-
nen auch die Fehler und Gebrechen der feinern Fibern
einen Mangel und Verwirrung der daherruͤhrenden
Empfindungen und Gedanken nach ſich ziehen, und die
Affecten, welche mit heftigern Bewegungen begleitet
ſind, das Bewußtſeyn der feinern Empfindungen hem-
men, welches bey ruhigerm Gemuͤthe ſtatt hat. Man
kann ſich auch gedenken, daß bey Fortpflanzung der
Bewegung jede folgende und feinere Fiber in Ruhe
ſeyn ſollte, daferne in den daraus entſtehenden Empfin-
dungen alles objectiv ſolle genommen werden koͤnnen.
Was demnach von Bewegung ſchon wirklich da iſt,
wird zu dem ſubjectiven Theile dieſer Empfindungen
gerechnet werden muͤſſen, der ſich auf dieſe Art in den
objectiven mit einmengt.


§. 101. Wenn aber auch alles dieſes kann zugege-
ben werden, ſo iſt es doch nur ein ungefaͤhrer Schatten-
riß der wahren Sprache. Denn vollſtaͤndig ſollten
wir jede Fiber benennen, ihre Communication mit
den anliegenden beſtimmen, und den klaren Begriff,
den ſie beſonders erregt, und der ein Bild der Empfin-
dung iſt, anzeigen koͤnnen, um auf dieſe Art die Ver-
bindung der wahren Sprache und der Sprache des
Scheins vollſtaͤndig zu machen. Aber in allem dieſem
bleiben wir noch durchaus zuruͤcke, weil die erſt ange-
ſtellten Betrachtungen kaum noch das Allgemeine da-
von angeben. Wir werden uns daher von der Be-
trachtung des Gehirns, der ſo genannten innern Sin-
nen
und ihres Mechaniſmus, zu den Gedanken ſelbſt
wenden, und das Gedankenreich nach Anleitung der
Erfah-
[281]Von dem pſychologiſchen Schein.
Erfahrung, folglich ſtatt der Urſachen, die Wirkungen
betrachten.


§. 102. Zu dieſem Ende werden wir uns nach der
Art und Weiſe umſehen, wie wir zu allgemeinen, ab-
ſtracten und tranſcendenten Begriffen gelangen, und
da wird ſich leicht zeigen, daß die in der Semiotik
(§. 12. ſeq.) bereits angezeigte Nothwendigkeit der Spra-
che und Zeichen, viel dazu beytrage. Denn die Spra-
che wuͤrde unendlich weitlaͤuftig werden, wenn wir fuͤr
jede Indiuidua, ſo uns die Koͤrperwelt darbeut, und fuͤr
jede Theile, Modificationen und Veraͤnderungen derſel-
ben, eigene Woͤrter und Zeichen haben muͤßten. Sol-
che eigene Namen gebrauchen wir nur fuͤr die Indiui-
dua,
die wir aus beſondern Gruͤnden von andern zu
unterſcheiden haben, dergleichen die Namen einzelner
Perſonen, Staͤdte, Haͤuſer, Fluͤſſe ꝛc. ſind. Um dieſe
Weitlaͤuftigkeit abzukuͤrzen, waͤre es ſehr natuͤrlich, daß
ſich die Urheber der Sprachen nach Aehnlichkeiten
umſaͤhen, und aͤhnliche Dinge, Theile, Modificationen,
Handlungen, Verhaͤltniſſe ꝛc. mit einerley Namen be-
nennten. So wuͤrden die Thiere, Pflanzen, Metalle,
Steine ꝛc. nach ihrer Art benennt, ohne daß man
ſich an den Jndividualunterſchieden und Varietaͤten
aufhielte. So erhielten auch die aͤhnlichen Glieder und
Theile verſchiedener Arten von Thieren und Pflanzen
einerley Namen, und die Namen der Handlungen und
Verrichtungen ſind auch großentheils von dem Begriffe
der Art der Thiere unabhaͤngig, ſo oft ſie naͤmlich bey
allen oder auch bey mehrern eine Aehnlichkeit haben.
Eben dieſes laͤßt ſich auch von den Namen der Veraͤn-
derungen, Figur, Verhaͤltniſſe, Geſtalt, Farbe, Zahl ꝛc.
anmerken. Die Bedeutung ſolcher Woͤrter wuͤrde un-
vermerkt weiter ausgedehnt, weil es ſehr natuͤrlich waͤre,
neuempfundenen Dingen und ihren Theilen den Na-
men von ſolchen zu geben, deren Empfindung aͤhnlichen
S 5Ein-
[282]III. Hauptſtuͤck.
Eindruck machen. Wir haben daher auch Woͤrter in
der Sprache, die ſich auf die Gegenſtaͤnde mehrerer
Sinnen erſtrecken, dergleichen z. E. das Wort ſchoͤn
iſt, welches Farben, Figur, Geſtalt, Ton, Muſik, Ge-
danken, Geiſt ꝛc. als ein Beywort zugeſetzt wird, und
in ſo ferne tranſcendent iſt.


§. 103. Hieruͤber koͤnnen wir anmerken, daß, wo
Woͤrter von ſo weitlaͤuſtiger Ausdehnung zu definiren
ſind, es viel darauf ankomme, ob die Sprache mehr
andere Woͤrter von gleicher Ausdehnung habe? Wo
dieſes nicht iſt, da iſt man gleichſam genoͤthigt, den Be-
griff in Claſſen zu theilen, und jede beſonders zu defini-
ren. Sodann koͤnnen wir hier den Begriff der Va-
rietaͤt
allgemeiner machen, den man bisher in der
Kraͤuterkunde gebraucht hat, um dadurch die Abwechs-
lungen anzuzeigen, die bey einer gleichen Art von Pflan-
zen vorkommen, dergleichen z. E. die Farben bey den
Tulpen, Nelken ꝛc. ſind. Dieſer Begriff laͤßt ſich eben-
falls auf Handlungen ausdehnen, die von ihrer Abſicht,
Urſache, Wirkung ꝛc. her benennt, und daher, aller uͤbri-
gen Unterſchiede und Abaͤnderungen ungeacht, in eine
Claſſe geſetzt werden.


§. 104. Das Wahre in den Begriffen koͤmmt dar-
auf an, daß ſie moͤglich ſeyen, und ein fuͤr ſich gedenkba-
res Ganzes vorſtellen. Dieſes macht ſie richtig und
vollſtaͤndig. Die Merkmale, die man zuſammennimmt,
muͤſſen ſich koͤnnen zuſammennehmen laſſen, und es
muß keines wegbleiben, das zu den uͤbrigen mit gehoͤrt,
damit keine Luͤcke in dem Begriff bleibe. Was hie-
bey uͤberſehen oder aus der Acht gelaſſen wird, das
macht den Begriff nur ſcheinbar, oder dem Schein
nach richtig, und es iſt ein bloßer Schein, ſo oft in dem
Begriffe noch entweder unbemerkte Widerſpruͤche
oder unbemerkte Luͤcken ſind, oder gar beydes vor-
koͤmmt. Jſt hingegen der Begriff an ſich richtig, aber
wir
[283]Von dem pſychologiſchen Schein.
wir ſind weder durch Beweiſe noch andere Proben da-
von verſichert, ſo daß wir denſelben nur annehmen,
weil uns nichts dawider einfaͤllt, ſo iſt es zwar an ſich
kein leerer Schein, aber wir koͤnnen ihn noch nicht als
real erkennen. Ueberhaupt finden ſich die Wider-
ſpruͤche
leichter in Begriffen, die wir aus andern ein-
fachern oder einfacher ſcheinenden zuſammenſetzen. Hin-
gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab-
ſtrahiren, ſo iſt es ſehr leicht, Merkmale aus der Acht
zu laſſen, die wir haͤtten mitnehmen ſollen, und dieſes
macht den abſtrahirten Begriff unvollſtaͤndig, oder es
bleiben Luͤcken darinn, die ſich nur dann entdecken,
wo in vorkommenden Faͤllen die weggelaſſenen Merk-
male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen.
Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen,
ſondern von andern Begriffen abſtrahirt, ſo iſt es auch
moͤglich, die Widerſpruͤche und Luͤcken von dieſen ganz
oder zum Theil in den abſtrahirten Begriff zu nehmen.
Die Luͤcken in einem Begriffe geben irrige verneinende
Saͤtze, weil man die weggelaſſenen Merkmale von dem
Begriffe ausſchließt. Die Widerſpruͤche aber fuͤh-
ren auf Saͤtze, die einander ganz oder zum Theil auf-
heben.


§. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der
Schein vom Wahren abgeht, ſo ferne koͤnnen wir, um
ihn zu entdecken, Vergleichungen anſtellen, wie wir es
im vorhergehenden Hauptſtuͤcke, in Abſicht auf den von
den Sinnen herruͤhrenden Schein (§. 50. ſeqq.), ange-
geben haben. Wie hiezu apogogiſche Beweiſe dienen,
haben wir in der Dianoiologie (§. 379.) angezeigt, und
durch ein an ſich offenbares Beyſpiel erlaͤutert, wie wir
bey der Vergleichung unſerer Gedanken anfangen zu
merken, daß etwas irriges mit unterlaufe, und ſolglich
ihre Richtigkeit nur ſcheinbar war. Denn wenn wir
Vorſtellungen gegen einander halten, und koͤnnen ſie
nicht
[284]III. Hauptſtuͤck.
nicht zuſammenreimen, ſo iſt nothwendig entweder
ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir
ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen,
oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus
der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze
neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir
von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und
ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt
haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein
und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr-
rigen vermengt.


§. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken-
reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus.
Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das
Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er ſtellt
ſich die Sache anders vor, oder bildet ſie ſich anders
ein, als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer
Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei-
ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt,
als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah-
ren Paradoxa oder widerſinnigen Saͤtze ſind von der
Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie
bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es
auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich
oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an-
ders vorgeſtellt hatten.


§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra-
cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren
Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden
koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen
Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je-
dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die
Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey
iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei-
nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom-
me?
[285]Von dem pſychologiſchen Schein.
me? oder ob er nur vorzukommen ſcheine, oder ob das
Gegentheil vorzukommen ſcheine? Jſt nun der vorge-
gebene Fall ſehr zuſammengeſetzt, mit vielen Nebenum-
ſtaͤnden verwickelt, ſo daß der darinn liegende allgemei-
ne Begriff aus mehrern Theilen muß zuſammengeleſen
werden: ſo iſt klar, daß uns auch in jeden dieſen Thei-
len der Schein taͤuſchen kann, und da kann oͤfters ein
einziger Umſtand, den man etwan uͤberſieht, die Sache
ganz aͤndern. Am ſchwerſten geht es hiebey, wo das
Weſentliche von dem Begriffe nicht in die Sinnen faͤllt,
wie z. E. die Abſicht bey Handlungen, deren Mora-
litaͤt man unterſuchen will, die Aufrichtigkeit in ſol-
chen Faͤllen, wo man auf Treu und Glauben zu gehen
hat. Dieſe Schwierigkeit aͤußert ſich ſelbſt auch bey
Beurtheilung ſeiner eigenen Handlungen. Man hat
laͤngſt ſchon das menſchliche Herz als ein betruͤglich
Ding angegeben. Es iſt ſchwer, ſich ſelbſt nicht zu
heucheln, und ſeine Schwaͤche nicht ſtaͤrker zu glauben,
als ſie wirklich iſt. Man wird auch Muͤhe finden, ſo
unpartheyiſch gegen ſich ſelbſt zu ſeyn, bey einer Hand-
lung genau zu beſtimmen, was Temperament, Eigen-
nutz, Ruhmbegierde, Hoffnung, Furcht, natuͤrliche Faͤ-
higkeit und Leichtigkeit, Luſt, Neid, Trotz ꝛc. dazu beyge-
tragen haben, daß man ſie gethan hat. Jn Anſehung
vieler Affecten kann man ſich Ruhe traͤumen, bloß, weil
ſie wie unter der Aſche glimmen, und nur auf Anlaͤße
warten. Und auf dieſe macht man ſich nicht immer
gefaßt. Die Liebe zur Wahrheit, und die Beſorgniß
des Selbſtbetrugs, muß alle dieſe Schwierigkeiten uͤber-
winden, weil dadurch aͤrgere Folgen vermieden werden
(§. 17.).


§. 108. Jn Anſehung der Moralitaͤt der Handlun-
gen, hat man allerdings die Handlung an ſich betrach-
tet, von der Abſicht des Handelnden zu unterſcheiden.
Die Handlung und ihre Folgen koͤnnen an ſich gut ſeyn,
ohne
[286]III. Hauptſtuͤck.
ohne daß ſie auf des Thuenden Rechnung zu ſtehen
komme, wenn naͤmlich ſeine Abſicht nicht viel taugte.
Da wir auch die Abſicht nicht immer ſo genau noch ſo
gewiß entdecken koͤnnen, ſo muͤſſen und koͤnnen wir uns
allerdings an der Betrachtung der Handlung und ihrer
Folgen begnuͤgen, und ſie, wo ſie gut ſind, geſchehen
laſſen, und da Einhalt thun, wo es zu weit gehen, oder
wo ſich ſchlimmes mit einmengen wuͤrde. So iſt es
auch moͤglich, daß jemand bey einer Handlung oder
Sache anfangs an keinen Misbrauch derſelben denkt,
oder dieſen Gedanken ſo ſehr in ſeinem Herzen verſteckt,
als wenn er nicht da waͤre, beſonders wo die Aeußerung
des Vorhabens, ſie zu misbrauchen, die Sache wuͤrde
ins Stecken gerathen machen. Jſt ſie aber geſchehen,
ſo faͤllt auch dieſe Beſorgniß weg, und die Verſuchung
iſt nun da, die Sache zu misbrauchen, im Truͤben zu
fiſchen, zu des andern Nachtheil ſeinen Nutzen befoͤr-
dern ꝛc. Da es ſchwer iſt, ſolche Tuͤcke des Herzens
vorauszuſehen, ſo iſt unſtreitig das rathſamſte, wo es
geſchehen kann, ſich fuͤr jeden Borfall eine freye Diſpo-
ſition zu menagiren, oder ſich nur Schritt fuͤr Schritt
einzulaſſen. Wer aber die Moͤglichkeit fuͤrs kuͤnftige
auf eine einzige einſchraͤnkt, der hat es allerdings ſich
ſelbſt zuzuſchreiben, wenn ſie Umſtaͤnde mit ſich bringt,
die ſich, ſo gern er wollte, nicht mehr aͤndern laſſen.


§. 109. Die abſtracten Begriffe ſind in einzeln
Faͤllen mit Nebenbeſtimmungen, Zufaͤlligkeiten und
Varietaͤten vermengt, und zeigen ſich daher auch unter
ſehr verſchiedenen Geſtalten, auch da, wo man ſie kaum
ſuchen wuͤrde. Hingegen an ſich betrachtet, ſollen ſie
ihrer Natur nach unveraͤnderlich ſeyn, und ein fuͤr
allemal ihre weſentliche Merkmale behalten. Es iſt
zwar moͤglich, daß die Bedeutung des Wortes nach
und nach metaphoriſch, allgemeiner oder gar tranſcen-
dent wird, dabey aber bleibt der anfaͤngliche Begriff
deſſen
[287]Von dem pſychologiſchen Schein.
deſſen unerachtet, wie er war, und wenn er fuͤr ſich be-
trachtet, etwas ganzes, nettes und einer Theorie wuͤrdi-
ges vorſtellt, ſo bleibt die engere Bedeutung des Wor-
tes dennoch, oder es erhaͤlt, mehrerer Deutlichkeit hal-
ber, eine naͤhere Beſtimmung. Man ſehe, was wir in
Anſehung dieſer Faͤlle in der Dianoiologie (§. 50.) in
der Alethiologie (§. 153. ſeqq.), und in der Semiotik
(§. 200. 348.) angemerkt haben.


§. 110. Dieſe Unveraͤnderlichkeit allgemeiner und
abſtracter Begriffe will aber nicht ſagen, daß auch un-
ſere Vorſtellung derſelben eben ſo unveraͤnderlich ſey.
Es iſt allerdings moͤglich, daß wir ſie bald ſo, bald an-
ders nehmen, und etwan ihren Umfang und den Be-
weis davon vergeſſen, oder ihre Anwendbarkeit auf be-
ſondere Faͤlle wechſelsweiſe glauben und in Zweifel zie-
hen, zumal wenn der Beweis aus vielen einzeln Thei-
len beſteht, deren man ſich aller bewußt ſeyn muß, um
ſeiner Vollſtaͤndigkeit verſichert zu ſeyn. Es kann die-
ſes beſonders bey den ſogenannten moraliſchen und hi-
ſtoriſchen Beweiſen geſchehen, wovon letztere auf Glaub-
wuͤrdigkeiten, erſtere auf den aus einem Satze gezoge-
nen Folgen und Auſhebung der Einwuͤrfe beruhen,
und wo die Jnduction in beyden Faͤllen vollſtaͤndig ſeyn
muß.


§. 111. Wenn uns daher ein allgemeiner Begriff
anders vorkoͤmmt, ſo iſt die Urſache des geaͤnderten
Scheins ſubjectiv, und daher in uns ſelbſt zu ſuchen,
und zwar fehlt es theils an dem Bewußtſeyn, und
theils auch, wenn die Einbildungskraft fremdes
Zeug mit einmengt, oder uns den Begriff in ſcheinba-
ren Verhaͤltniſſen mit andern vorſtellt, die uns an deſſen
Richtigkeit zweifeln machen. Beydes kann auch vor-
kommen, wenn wir die Sache nicht an ſich, ſondern
nur vermittelſt ihrer Verhaͤltniſſe zu andern, folglich
von gewiſſen Seiten betrachtet, uns vorſtellen. Dieſe
verſchie-
[288]III. Hauptſtuͤck.
verſchiedene Arten des pſychologiſchen Scheins haben
wir bereits in dem erſten Hauptſtuͤcke angezeigt, und
werden ſie nun umſtaͤndlicher betrachten.


§. 112. Das Bewußtſeyn hat uͤberhaupt den Er-
folg, daß wir geneigt ſind, aus dem Mangel des Be-
wußtſeyns auf das nicht ſeyn zu ſchließen, und daher
die Begriffe, ſo wie wir ſie uns jedesmal vorſtellen, als
vollſtaͤndig anzuſehen, ungeacht ſie es nicht ſind. Die-
ſes kann vorkommen, es ſey, daß wir nur einige Be-
ſtimmungen vergeſſen, oder daß wir ſie in der That nie
gewußt haben. Jn beyden Faͤllen bleibt in der Vor-
ſtellung des Begriffes eine Luͤcke, und die Theorie da-
von reicht nicht ſo weit als die Sache ſelbſt. So wenn
man zu dem Begriff eines Koͤrpers nur die Ausdeh-
nung, zu dem Begriff der Unſterblichkeit der Seele nur
die Jmmaterialitaͤt nimmt, ſo reicht man damit nicht
aus, weil ein Koͤrper ſolid iſt, und den Raum ausfuͤllt,
und weil man zu dem nicht ſterben, das nicht vernichtet
werden, und das Bewußtſeyn mitnehmen muß.


§. 113. Noch leichter aber faͤllt man in dieſen Feh-
ler, bey der Abzaͤhlung der Arten, Glieder, Faͤlle ꝛc.
die zu einer Gattung oder Claſſe gehoͤren. Wir haben
die Schwierigkeiten, ſolche Abzaͤhlungen vollſtaͤndig zu
machen, und ſie zu beweiſen, in dem zweyten Haupt-
ſtuͤcke der Dianoiologie angezeigt. Bey mehreren Ar-
ten der Moͤglichkeit einer Sache, bey mehrern moͤgli-
chen Abſichten einer Handlung, Auslegungen einer Re-
de ꝛc. ſcheint uns oͤfters die, ſo uns beyfaͤllt, ſo einleuch-
tend, als wenn ſie die einzige waͤre, ſo, daß wir uns nur
nicht in Sinn kommen laſſen, andere zu ſuchen. Bey
Dingen, die wirklich geſchehen ſind, oder geſchehen wer-
den, hat von ſolchen Moͤglichkeiten allerdings jedesmal
nur eine ſtatt. Ob es aber eben die ſey, die wir uns
ſogleich dabey vorſtellen, das iſt eine andere Frage, die
durch genaueres Aufſuchen der Umſtaͤnde eroͤrtert wer-
den
[289]Von dem pſychologiſchen Schein.
den muß, und in gerichtlichen Faͤllen oͤfters nicht gerin-
ge Weitlaͤuftigkeiten nach ſich zieht. Daß uͤbrigens
ein bloßer Schein ſo tief einwurzeln koͤnne, erhellet aus
denen Faͤllen, wo ſich jemand eine an ſich irrige Sache
nicht will ausreden oder aus dem Sinn bringen
laſſen. Zuweilen iſt auch in der That etwas Patholo-
giſches dabey, zumal wenn die Ungereimtheit in die Au-
gen faͤllt, oder der Eigenſinn aus Affecten entſteht, oder
hypocondriſche Verwirrungen der Einbildungskraft die
Gedanken auf eine Seite hinreißen, bis der Anfall auf-
hoͤrt. So iſt man auch geneigt, einem Menſchen, dem
man aus Vorurtheil oder andern Gruͤnden nicht traut,
alles was er thut, um ſich das Zutrauen zu erwerben,
auch wenn er es aufrichtig meynt, von der verkehrten
Seite her und zur Vermehrung des Mistrauens aus-
zulegen. Die Unterſchiede der Scheinheiligkeit und
wahren Froͤmmigkeit ſind in vielen Faͤllen ebenfalls
ſchwer zu erkennen. Denn da letztere nirgends ohne
mit unterlaufende Fehler, Maͤngel, Verſaͤumniſſe ꝛc. iſt,
ſo koͤmmt es vielmal darauf an, ob man dieſe zum Be-
weiſe, daß das uͤbrige nur Schein ſey, gebrauchen, oder
deſſen uneracht, das Gute in ſeinem Werthe laſſen will.
Man ſehe, was wir oben ſchon (§. 107.) uͤber die Be-
urtheilung der Moralitaͤt der Handlungen angemerkt
haben. Da uͤberhaupt kein Menſch weder durchaus
fromm, noch durchaus gottlos und laſterhaft iſt, ſo iſt
es allerdings Uebereilung und blinde Liebe oder blinder
Haß, wenn man jemand auf dieſe Extremitaͤten ſetzt,
und entweder alles oder gar nichts zutraut, ohne zu be-
ſtimmen, was man ohne Bedenken thun oder laſſen
kann. Eine allgemeine Entſcheidung waͤre allerdings
kurz und bequem, ſie geht aber bey der wirklichen Be-
ſchaffenheit der Menſchen ſo unbedingt nicht an.


§. 114. Was man ſich uͤberhaupt von einer Sache
bewußt iſt, koͤnnen wir eine Seite derſelben nennen.
Lamb. Organon II B. TDieſe
[290]III. Hauptſtuͤck.
Dieſe iſt oͤfters aus mehrern kleinern zuſammengeſetzt,
deren jede entweder einzelne Theile oder einzelne Ver-
haͤltniſſe
zu andern Sachen vorſtellt. Der Mangel
des Bewußtſeyns der uͤbrigen Theile und Verhaͤltniſſe
wird von uns nicht immer empfunden, und dieſes macht,
daß wir die Eigenſchaften, Einrichtungen und Veraͤn-
derungen anderer Dinge, die damit verflochten ſind,
nicht genau noch vollſtaͤndig beurtheilen koͤnnen, beſon-
ders wo die wirkenden Urſachen und Triebfedern ver-
ſteckt ſind, oder wie es bey Jntriguen geſchieht, ver-
ſteckt werden, ſo daß man, wenn man Gruͤnde hat, ſich
mit dem aͤußern Schein nicht zu begnuͤgen, oͤfters Muͤ-
he findet, ganz hinter die Sache zu kommen, das
Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die
Sache an ſich iſt
ꝛc.


§. 115. Die erſtgegebene Erklaͤrung der Seiten ei-
ner Sache, iſt von der Sache ſelbſt hergenommen, und
folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum
wir uns nicht mehr oder minder davon vorſtellen, groͤß-
tentheils in uns ſelbſt. Es koͤmmt auf den Grad der
Aufmerkſamkeit, der Scharfſinnigkeit und des
Witzes, und auf den Vorrath von allgemeinen
Saͤtzen
an, die wir zur Entwicklung der Sache an-
wenden muͤſſen, um die bemerkten Theile mit einander
zu vergleichen, ihre Verbindung und Zuſammenhang
zu entdecken, und die Luͤcken auszufuͤllen. Dieſes, nebſt
den Umſtaͤnden und Anlaͤßen, die man vor ſich findet,
die Sache naͤher zu betrachten, macht den pſychologi-
ſchen Theil des Geſichtspunkts aus, aus welchem
ſich uns die Sache vorſtellt. Nimmt man noch den
Zuſtand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und
des Gemuͤths dazu, ſo laͤßt ſichs beſtimmen, wie viel
oder wie wenig ein Menſch von einer vorgegebenen Sa-
che uͤberſehen kann, weil man auf dieſe Art den Ge-
ſichtspunkt
deſſelben, und ſeine Lage gegen die Sache
voll-
[291]Von dem pſychologiſchen Schein.
vollſtaͤndig beſtimmt hat. Denn da muͤſſen wir alles
zuſammennehmen, was in dem Menſchen ſelbſt ein
Grund iſt, warum er ſich eine Sache vielmehr ſo, als
anders vorſtellt. Die genauere Einſicht in verſchiedene
Arten von Sachen, haͤngt von den natuͤrlichen Faͤhig-
keiten, von den durch Uebung erlangten Fertigkeiten der
Kraͤfte des Verſtandes, und von der durch Erfahrung
und Theorie erlangten Erkenntniß derſelben ab. Und
uͤberhaupt lernt man das Blendwerk des Scheins naͤ-
her kennen, wenn man bey jedem Jrrthum, den man
entdeckt, ſorgfaͤltiger unterſucht, woher er gekommen.
Denn es laufen immer Saͤtze mit unter, die wahr ge-
ſchienen haben, und je allgemeiner dieſe ſind, auf deſto
mehrere Faͤlle breitet ſich auch der Schein der Wahr-
heit aus, den man eben deswegen, weil er leer iſt, zu
vermeiden hat. Von ſolcher Art Saͤtze ſind die Vor-
urtheile
und vorgefaßten Meynungen, wodurch
man am haͤufigſten zu Jrrthuͤmern verleitet wird, weil
ſie allem, was man aus denſelben oder mittelſt derſelben
ſchließt, den Schein der Wahrheit geben, und folglich
mit den ſubjectiven Urſachen des ſinnlichen Scheins viel
gemein haben (§. 56.).


§. 116. Ein hoͤherer Grad des pſychologiſchen
Scheins, ſo fern er nur Schein iſt, wird ſpe[s]ios genennt.
Man gebraucht dieſe Benennung vornehmlich, wenn
jemand einer ganz oder zum Theil irrigen Meynung
das Anſehen der Wahrheit zu geben ſucht, und dazu
viele ſcheinbare Argumente aufhaͤuft. Geſchieht dieſes
wiſſentlich und mit dem Vorſatz, einem andern die ir-
rige Meynung oder Ausſage, nach welcher er ſeine Ent-
ſchließungen richten wuͤrde, glaublich zu machen, ſo ſagt
man, daß er ihm einen blauen Dunſt vor die Au-
gen mache,
oder ihn hinter das Licht fuͤhre, zu-
mal wenn man mit den Worten noch Werke und An-
ſtalten verbindet, den Fallſtrick noch ſcheinbarer zu
T 2ver-
[292]III. Hauptſtuͤck.
verdecken. Eben dieſes geht auch vor, wo nur ein
Theil der Sache, oder die ſchoͤnere oder die haͤßlichere
Seite derſelben vorgezeigt, die andere aber verſchwie-
gen, hinterhalten oder bedeckt wird. Da in ſolchen
Faͤllen immer Widerſpruͤche und Luͤcken vorkommen,
wovon erſtere gehoben, letztere ausgefuͤllt werden muͤſ-
ſen, wenn die Sache durchaus mit der Wahrheit beſte-
hen ſoll, ſo iſt allerdings auch hier das Schritt fuͤr
Schritt gehen
(Alethiol. (§. 213. ſeqq.), und zwar
ſowohl in Anſehung des Beyfalls als auch der Ent-
ſchließung und Handlungen, das Mittel, die Sache ins
Reine zu bringen,
und dabey ſicher zu verfahren,
oder die rechte Form beyzubehalten, und zu fordern,
daß ſie beybehalten werde. Zumuthungen, wovon man
weder den Zuſammenhang mit dem vorgehenden, noch
das Ziel, wohin ſie fuͤhren ſollen, vollſtaͤndig einſieht,
haben an ſich ſchon immer das Anſehen, daß Einfalt,
Unwiſſenheit, Misverſtand oder Vorſatz ſie veranlaſſen,
und daher mehrere Aufklaͤrung dabey noͤthig ſey, ehe
man denſelben zufolge mehr thut, als was man ohne
Bedenken oder aus andern Gruͤnden, und oͤfters auch
um die fernere Aufklaͤrung zu veranſtalten, thun kann
(§. 108.).


§. 117. Bey Vernunftſchluͤſſen koͤnnen nicht nur die
Vorderſaͤtze, ſondern auch die Form eine bloß ſcheinba-
re Richtigkeit haben, und ſo kann auch hinwiederum die
Form unrichtig zu ſeyn ſcheinen. Letzteres koͤmmt vor,
wenn die Vorderſaͤtze verſetzt oder auch umgekehrt, oder
durch gleichbedeutende Woͤrter und Redensarten aus-
gedruckt werden. Erſteres aber findet ſtatt, wenn das
Wort, ſo das Mittelglied ausdruͤckt, eine unbemerkte
Vieldeutigkeit hat, und in jedem der zween Vorderſaͤtze
eine andere Sache vorſtellt. Die verſteckteren Fehler
in der Form der Schluͤſſe und Beweiſe werden Sophis-
mata
genennt, und man findet ihre verſchiedenen Arten
in
[293]Von dem pſychologiſchen Schein.
in den Anweiſungen zur Vernunftlehre angezeigt. Da-
fern aber der Fehler nicht in den Worten liegt, ſo laͤßt
ſich mit Umkehrung und Verwandlung der Saͤtze jeder
Schluß leicht in die rechte Form bringen, und dadurch
wird der Fehler, ſo in der Form war, in die Materie
gebracht, und oͤfters auch der Schlußſatz geaͤndert.


§. 118. Jn Anſehung der Worte kann ſich ebenfalls
etwas bloß ſcheinbares in die Definitionen und Ange-
bung der Urſachen und Gruͤnde einmengen. Eine De-
finition ſoll den Umfang eines Begriffes entweder durch
Angebung der weſentlichen Merkmale, oder der Ver-
haͤltniſſe zu andern Begriffen und Sachen beſtimmen.
Gebraucht man aber nur | grammatiſche Umſchreibun-
gen oder gleichbedeutende Woͤrter, ſo giebt man nur
die Bedeutung des Worts auf eine grammatiſche Art
an, und man weiß von der Sache ſelbſt weder mehr
noch minder, als nur, daß ſie noch mit andern Woͤr-
tern benennt werden kann. Auf eine aͤhnliche Art, wenn
man die Urfache von der Wirkung her benennt, ohne
ſie auf eine andere und von der Wirkung unabhaͤngige
Art kenntlich zu machen, ſo weiß man dadurch von der
Urſache weder mehr noch minder, als man zuvor wußte.
Denn daß die Wirkung eine Urſach habe, iſt fuͤr ſich
klar, und eben ſo, daß die Urſach diejenige ſey, die die
Wirkung hervorbringt, daran iſt kein Zweifel. Wenn
man demnach auf die Frage, warum der Magnet das
Eiſen anziehe, nur ſo viel antwortet, daß er eine anzie-
hende Kraft habe; ſo iſt dieſes nur ein Schluß, den
man aus der Vorausſetzung der Frage macht, nicht
aber eine Angebung der Urſache. Denn dieſe Ange-
bung ſollte in einer aus andern Verſuchen gefundenen
Anzeige der wirkenden Materie, der Structur und des
Mechaniſmus beſtehen. Die Schulweisheit hatte vor-
mals eine Menge ſolcher leeren Definitionen und An-
gebungen von Urſachen und Gruͤnden. Es||ſind auch
T 3nicht
[294]III. Hauptſtuͤck.
nicht alle ſo unmittelbar und einfach, und bey den ver-
decktern geht man oͤfters wie in einem groͤßern Circul
herum, ehe man findet, daß man wiederum da iſt, wo
man angefangen hat. Solche Arten von Circuln ha-
ben wir bereits in der Dianoiologie (§. 680. ſeqq.) be-
trachtet, und koͤnnen ebenfalls das Scheinbare in der
Zulaͤßigkeit der Fragen hier uͤbergehen, weil wir in
der Dianoiologie (§. 425. ſeqq.) umſtaͤndlich unterſucht
haben, wieferne ſich Jrrthum und Unvollſtaͤndigkeit
darinn befinden kann, welches, ſo lange es noch unbe-
merkt iſt, die Frage zulaͤßig ſcheinen macht (§. 106.).


§. 119. Man ſetzt uͤberhaupt die Einbildungs-
kraft
dem Verſtande, und zwar beſonders dem ſo ge-
nannten reinen Verſtande, entgegen. Durch dieſen
verſteht man ſubiectiue betrachtet, das Vermoͤgen der
Seele, ſich die Dinge durchaus deutlich vorzuſtellen,
obiectiue aber die Begriffe, die zu dieſer Deutlichkeit ge-
bracht ſind, und in ſo ferne ſie dahin gebracht ſind.
Die Einbildungskraft laͤßt Schein und Wahres unge-
trennt. Die Abſonderung des Wahren von dem
Schein, iſt das Werk des Verſtandes, und ſo fern es
demſelben darinn gelingt, ſo ferne wird er rein genennt.
Man fragt hiebey, wie ferne es uns moͤglich ſey,
daß wir uns Wahrheiten ohne ſinnliche Bil-
der deutlich vorſtellen koͤnnen?
Wir wollen aber
genauer unterſuchen, was dieſe Frage eigentlich ſagen
will, und ob ſie nicht muͤſſe in andere aufgeloͤſt, oder
ob ſtatt derſelben nicht einige andere muͤſſen gemacht
werden?


§. 120. Um bey den Gegenſtaͤnden der aͤußern Sin-
nen anzufangen, welche ohnehin der Einbildungskraft
den erſten Stoff zu ihren Bildern geben, ſo haben wir
in vorhergehendem Hauptſtuͤcke ausſuͤhrlich angezeigt,
wie dabey das Wahre von dem Schein getrennt wer-
den muͤſſe, und wie ſich der phyſiſche Schein in zwo
Haupt-
[295]Von dem pſychologiſchen Schein.
Hauptclaſſen theile, daß bey der einen die Sprache des
Scheins von der wahren Sprache nur in dem Gebrauch
der Worte, bey der andern aber in den Worten ſelbſt
abgehe, die wahre Sprache aber einerley Worte behalte
und gebrauche. Wir haben dabey angemerkt, daß die
Bilder der Farben, des Schalls ꝛc. nicht die Sache
ſelbſt vorſtellen, ſondern gleichſam nur Zeichen davon
ſind (§. 89.), und daß hingegen die Bilder der Aus-
dehnung,
der Soliditaͤt und Beweglichkeit, die
Sache ſelbſt vorſtellen, doch ſo, daß die Sprache des
Scheins dabey optiſch, die wahre aber geometriſch
und mechaniſch iſt, und mit Beybehaltung der Worte
eine in die andere uͤberſetzt werden kann. Jn dieſer
Abſicht kann man allerdings ſagen, daß die reine Ma-
thematik und ihre Anwendung auf die Chronometrie
und Mechanik, ein Werk des reinen Verſtandes ſey,
weil dabey das Phyſiſche von dem Optiſchen durchaus
getrennt werden kann.


§. 121. So ferne die Begriffe der Ausdehnung, des
Raums, der Zeit, und der Dauer, nur auf die Geome-
trie, Mechanik und Chronometrie angewandt werden,
hat es noch, ſo viel mir bewußt iſt, keine erhebliche
Schwierigkeiten gegeben. Hingegen hat man in der
Metaphyſik derſelben deſto mehrere finden wollen, und
ſie nicht anders zu heben gewußt, als dadurch, daß man
dieſe Begriffe fuͤr bloße Bilder der Einbildungskraft
angebe. Dieſe Schwierigkeiten liegen nicht in den Be-
griffen ſelbſt, als welche einfach ſind, und eben des-
wegen keine innere Widerſpruͤche haben koͤnnen
(Alethiol. §. 4.). Sie koͤnnen daher auch nur aus der
Vergleichung dieſer Begriffe mit andern Begriffen ent-
ſtehen, und auch nur darinn haben ſie ſich geaͤußert.
Dahin gehoͤren z. E. die Fragen: ob der Raum von
den Koͤrpern unabhaͤngig ſey, ob er fuͤr ſich exiſtire, ob
er habe muͤſſen erſchaffen werden, ob er vor Erſchaffung
T 4der
[296]III. Hauptſtuͤck.
der Welt geweſen ſey, oder wenn der Raum nichts iſt,
ob die Koͤrper im nichts ſeyn koͤnnen ꝛc. Es iſt hier
der Ort nicht, die Vorausſetzungen dieſer Fragen zu
unterſuchen, oder die etwan in den Worten liegende Un-
beſtimmtheit und Vieldeutigkeit aus einander zu ſetzen.
So viel iſt fuͤr ſich klar, daß von dem Begriffe des
Raums, der an ſich einfach iſt, und daher durch innere
Merkmale nicht definirt werden kaun, viele fremde Bil-
der muͤſſen getrennt werden, die die Einbildungskraft
gar zu leicht damit verbindet. Locke in ſeinem Wer-
le von dem menſchlichen Verſtande haͤlt ſich bey
dieſen Unterſuchungen weitlaͤuftig auf, und ſo wird man
auch in dem erſten Hauptſtuͤcke der Alethiologie (§. 43.
48. 49. 50.) hieher dienende Betrachtungen finden.
Allem Anſehen nach traͤgt auch die Sprache dazu bey,
daß, indem ſie Raum und Zeit durch Subſtantiva
ausdruͤckt, und alle Redensarten darnach einrich-
tet,
dieſe beyde Begriffe als koͤrperliche Subſtanzen
anſehen macht. Dieſes mag die Schwierigkeit, dieſe
beyden an ſich einfachen Begriffe rein zu denken, noch
merklich vermehren.


§. 122. Laͤßt man aber die Begriffe der Ausdeh-
nung, Zeit, und Bewegung als wahre Begriffe gelten,
ſo bleibt auch in dem Bilde davon viel, das mit zu der
reinen Vorſtellung gehoͤrt, und der reine Verſtand kann
davon nicht abſtrahiren, weil es zur Sache ſelbſt gehoͤrt.
Jn Anſehung der meiſten uͤbrigen Wahrheiten, und
beſonders der abſtracten, muͤſſen wir anmerken, daß,
ſo ferne die ſinnlichen Bilder ſie nicht an ſich vorſtellen,
der reine Verſtand allerdings davon abſtrahirt, und
abſtrahiren muß, daferne die Vorſtellung ohne ſolche
Bilder ſeyn ſoll. Dadurch aber erhalten wir nur ſo
viel, daß wir das, ſo an der Sache iſt, uns vermittelſt
der Woͤrter und anderer dafuͤr angenommenen Zeichen
vorſtellen muͤſſen. So finden wir in den Zahlen nicht
wohl
[297]Von dem pſychologiſchen Schein.
wohl anders einige Deutlichkeit, als in ſo weit wir ſie
durch Ziffern vorſtellen. Jn dieſer Abſicht koͤnnen wir
ſagen, daß wir, vermittelſt der Sprache und anderer
Zeichen, unſere Erkenntniß uͤber die Bilder und Gren-
zen der Einbildungskraft hinaus ſchwingen, wovon uns
die Algeber ein vollkommeneres Beyſpiel giebt.


§. 123. Die Einbildungskraft hat in ihren Bildern
immer etwas Jndividuales, ſo oft ſie ſich nicht bloß die
Woͤrter, ſondern die Sache vorſtellt. Wir finden die-
ſes in den Traͤumen, wo ſie gleichſam allein wirkt.
Und wenn wir uns auch wachend eine Sache, z. E. ei-
nen Triangel, Circul oder andere Figur vorſtellen wol-
len, ſo geben wir ihm ſogleich einen Ort, Groͤße und
Lage. Das heißt: wir ſtellen uns die Sache in Ge-
danken gleichſam vor Augen. Bey abſtracten Be-
griffen giebt uns die Einbildungskraft ein Exempel,
oder einzeln Fall, ſo klar oder dunkel wir uns auch deſ-
ſen moͤgen bewußt ſeyn. Demnach wenn wir das Ab-
ſtracte rein denken wollen, ſo ſtellen wir uns eigentlich
nur die Worte, und zwar mit dem Bewußtſeyn vor,
daß ſie etwas Wahres und Allgemeines aus-
druͤcken oder anzeigen, welches ſich auf jede
durch die Worte vorgeſtellte Faͤlle anwenden
laſſe.
Und ſo ferne wir darinn richtig verfahren, ſo
ferne thut uns die ſymboliſche Erkenntniß eben den
Dienſt, den wir von dem reinen Verſtand erwarten
koͤnnten.


§. 124. So bald wir einmal einen Vorrath von all-
gemeinen Saͤtzen haben, ſie moͤgen nun Grundſaͤtze,
Forderungen oder Erfahrungsſaͤtze ſeyn, ſo giebt uns
die Lehre von den Schluͤſſen die Moͤglichkeit an die
Hand, aus der Berbindung ſolcher Saͤtze neue Schluß-
ſaͤtze zu ziehen, und dadurch auf neue Verhaͤltniſſe der
Dinge zu kommen, die wir ſodann als Begriffe anſehen,
mit Namen benennen und die Theorie davon fortſetzen
T 5koͤnnen.
[298]III. Hauptſtuͤck.
koͤnnen. Es iſt fuͤr ſich klar, daß dieſe Saͤtze gemein-
ſame Glieder haben muͤſſen, um dadurch in Schlußre-
den verbunden werden zu koͤnnen. Dieſes aber voraus-
geſetzt, ſo iſt die ganze Operation gleichſam bloß mecha-
niſch oder ſemiotiſch, weil ſich die Schlußreden in For-
meln vorſtellen laſſen. Uebrigens geht man in der Al-
geber hierinn weiter und ſicherer, weil man, ſo bald eine
Aufgabe in ihre Gleichungen gebracht iſt, von der Be-
deutung der Buchſtaben ganz abſtrahirt, und nur auf
die Stelle und die Zeichen + — · : √ ꝛc. zu ſehen hat,
um die Aufloͤſung nach allgemeinen Regeln zu Ende zu
bringen. Hingegen in der Rechenkunſt muͤſſen wir uns
der Bedeutung der Ziffern, und in der Sprache der
Bedeutung der Woͤrter beſtaͤndig bewußt ſeyn, zumal
wenn uns die durch die Woͤrter vorgeſtellte Begriffe
andere Begriffe zu Sinne bringen ſollen, die mit jenen
in Verbindung ſtehen.


§. 125. Auf die erſt angezeigte Art koͤnnen wir durch
Schluͤſſe zu ſehr allgemeinen und abſtracten Begriffen
und deren Verhaͤltniſſen gelangen, und ſo gar uns et-
wan darinn verſteigen, das will ſagen, auf abſtracte
Speculationen gerathen, die entweder gar nicht oder
muͤhſam brauchbar gemacht werden koͤnnen. Zu die-
ſem Ende merken wir an, daß das Brauchbare immer
wiederum zu dem Jndividualen zuruͤcke fuͤhren ſoll, weil
der eigentliche Gebrauch eines Satzes in jedem Fall
individual iſt. Demnach gebraucht ein Satz, der ſich
von dem Jnvidualen zu weit entfernt, noch mehrere an-
dere ſtuffenweiſe minder abſtracte, auf welche er in ei-
ner formlichen Theorie angewandt werden muß, damit
man dadurch dem Jndividualen naͤher komme, und ſo
wird nicht der abſtracte Satz, ſondern die daraus ge-
fundene ſpecialere in vorkommenden Faͤllen angewandt.


§. 126. Aus den bisherigen Anmerkungen uͤber die
(§. 119.) vorgelegte Frage erhellet nun ſo viel. 1. Daß
es
[299]Von dem pſychologiſchen Schein.
es Faͤlle giebt, wo auch der reine Verſtand die Bilder
der Einbildungskraft beybehaͤlt. 2. Daß aber auch in
dieſen Faͤllen die ſymboliſche Erkenntniß die Vorſtellung
erleichtere und deutlicher machen helfe. 3. Daß bey
abſtracten Begriffen die Einbildungkraft individuale
Beſtimmungen mit einmenge, von welchen der reine
Verſtand abſtrahiren muß. 4. Daß dieſes Abſtraht-
ren nicht wohl anders geſchehe, als indem wir Begriffe
und Urtheile durch Worte oder Zeichen ausdruͤcken, mit
dem Bewußtſeyn, daß ſie allgemein, wahr und richtig
ſeyn. 5. Daß man auf dieſe Art vermittelſt des Ab-
ſtrahirens und der Schluͤſſe die abſtracte Erkenntniß
weit uͤber die Einbildungskraft hinaufſchwingen koͤnne,
aber auch, um ſie brauchbar zu machen, in der Anwen-
dung ſolcher abſtractern Erkenntniß ſie dem Jndividua-
len wiederum naͤher bringen muͤſſe. Uebrigens haben
wir bereits (§. 97.) angemerkt, daß auch der Schein
uns allgemeine Saͤtze und Verhaͤltniſſe anbiete, die ſich
auf eben ſo allgemeine Verhaͤltniſſe in der Sache ſelbſt
gruͤnden. Jene koͤnnen ohne dieſe aus der Erfahrung
gefunden werden, und ſo lange uns dieſe unbekannt
ſind, muͤſſen wir uns mit jenen begnuͤgen, und koͤnnen
es um ſo mehr thun, da der gemeine Gebrauch faſt
mehr die Sprache des Scheins als die wahre fordert
(§. 66. 73.).



Viertes
[300]IV. Hauptſtuͤck.

Viertes Hauptſtuͤck.
Von dem moraliſchen Schein.


§. 127.


Die bisher betrachteten Arten und Quellen des
Scheins wuͤrden die einzigen ſeyn, daferne wir in
Abſicht auf das Wahre und Jrrige gleichguͤltig blieben.
So aber iſt die menſchliche Natur nicht beſchaffen, und
die Wahrheiten, wobey ſich nicht Angenehmes oder Wi-
driges, oder uͤberhaupt die Begriffe des Guten und
Schlechten mit einmengen, ſind ſehr ſelten. Man hat
die Geometrie, und die damit verbundenen Wiſſenſchaf-
ten, als ſolche angeſehen, weil wir darinn die Sachen
nehmen, wie ſie ſind, und weil die geometriſchen Wahr-
heiten mit den Begriffen des Gluͤckes und Ungluͤckes,
der Furche und Hoffnung, ꝛc. keine unmittelbare Ver-
bindung haben. Jndeſſen kann man doch nicht in Ab-
rede ſeyn, daß ſich nicht oͤfters Ruhmbegierde und an-
dere Leidenſchaften mit einmengen, und wie es bey ſo
vielen gefehlten Quadraturen des Circuls geſchehen,
Uebereilung und fehlerhafte Schluͤſſe veranlaſſen, die
man bey ruhigerm Gemuͤthe gar leicht wuͤrde haben
entdecken und vermeiden koͤnnen. Jn Anſehung jeder
andern Wahrheiten, die uns naͤher angehen, oder
wobey ſich Luſt und Unluſt, Furcht und Hoffnung mit
einmengen, bleiben wir lange nicht ſo gelaſſen, daß es
uns gleichguͤltig waͤre, ob ſie wahr oder nicht wahr ſind,
und die Faͤlle, wo man das Wahre nach dem Vortheil
ſchaͤtzt, und nur glaubt, weil man wuͤnſcht, oder nicht
glaubt, weil man fuͤrchtet oder verabſcheut, ſind gar
nicht ſelten. Man weiß, auf wie vielerley Arten Reli-
gion und Sittenlehre theils ganz, theils ſtuͤckweiſe, ge-
glaubt, verworfen, nach den Trieben des Herzens umge-
aͤndert,
[301]Von dem moraliſchen Schein.
aͤndert, oder in andere Formen gebracht werden, und
wie ſchwer es dabey iſt, nicht nur die Wahrheit, ſondern
auch den wahren Grad der Erheblichkeit eines jeden
Satzes zu beſtimmen, und bey der einmal feſtgeſetzten
Beſtimmung zu bleiben.


§. 128. Wir haben den Einfluß der Leidenſchaften
in die Veraͤnderungen des Scheins bereits in dem er-
ſten Hauptſtuͤcke kuͤrzlich angezeigt, und den daher ruͤh-
renden Schein moraliſch genennt (§. 17. 18. 22.), theils
um ihn durch ein eigenes Wort von dem phyſiſchen
und pſychologiſchen zu unterſcheiden, theils auch,
weil in der That der Wille, die Leidenſchaften und die
Begriffe des Guten und Boͤſen Gegenſtaͤnde der Mo-
ral ſind. Wir werden aber, ohne uns bey dem Worte
aufzuhalten, ſtuͤckweiſe anzeigen, was wir unter dem
moraliſchen Schein verſtehen, und wie weitlaͤuftig
ſich die Theorie deſſelben ausbreite.


§. 129. Zu dieſem Ende merken wir an, daß man
in der Sittenlehre laͤngſt ſchon das wahre Gute von
dem Scheingut unterſchieden hat, weil zwiſchen gut
ſcheinen und gut ſeyn allerdings ein Unterſchied iſt.
Wir haben die Theorie dieſes Unterſchiedes oben ſchon
(§. 30.) als einen ſpecialen Theil der Phaͤnomenologie
angegeben. Es iſt aber dieſe Theorie faſt nichts anders,
als eine Anwendung der Lehre des phyſiſchen und pſy-
chologiſchen Scheins auf das Gute. Wir haben da-
her in vorgehendem Hauptſtuͤcke einige Faͤlle davon als
Beyſpiele angefuͤhrt (§. 107. 108. 113. 116.), und werden
hier nur die erſten Grundbegriffe dazu angeben, und die
verſchiedenen Arten des Scheinguten beſtimmen. Wir
merken demnach an, daß es bey Beurtheilung des Gu-
ten auf eine Schlußrede ankomme. Der Unterfatz zeigt
die Beſchaffenheit der Sache an. Der Oberſatz
aber giebt an, daß eine Sache von ſolcher Beſchaffen-
heit gut ſey. Jn Anſehung dieſer Schlußrede koͤnnen
nun
[302]IV. Hauptſtuͤck.
nun auf verſchiedene Arten Luͤcken und Fehler vor-
kommen. 1. Wenn die Sache die vorgegebene Be-
ſchaffenheit gar nicht, oder nur zum Theil hat. 2. Wenn
nebſt dem, ſo wir davon wiſſen, noch andere Eigenſchaf-
ten dabey ſind, die das daran bemerkte Gute wieder
verderben, fruchtlos machen, oder uͤberwiegen. 3. Wenn
Umſtaͤnde mit unterlaufen, die das Gute unbrauchbar
machen, oder ſchlimmeres mit einmengen. 4. Wenn
es ganz oder zum Theil falſch iſt, daß die vorgegebene
Beſchaffenheit der Sache, fuͤr ſich betrachtet, gut ſey.
5. Wenn das Gute daran nur in den naͤchſten Folgen
gut, in den entferntern ſchlecht iſt. 6. Wenn das Gute
nicht erheblich genug iſt, und ſtatt deſſen beſſeres geſucht
und erlangt werden kann. Jn welcher von dieſen Abſich-
ten wir uns nun in jedem Fall irren, ſo wird das Gute, ſo
wir dabey zu ſeyn glauben, ein Scheingut genennt, es
ſey, daß es in der That ſchlecht iſt, oder vom ſchlechten
uͤberwogen wird, oder ein groͤßeres Gut verhindert, und
zwar wiederum entweder fuͤr ſich betrachtet, oder in vor-
gegebenen Umſtaͤnden, und ſo auch entweder in Abſicht
auf jede Folgen, oder nur in Abſicht auf einige.


§. 130. Sodann koͤnnen wir anmerken, daß das
Gute in jeden einzelnen Faͤllen theils individuale Be-
ſtimmungen erhaͤlt, auf die man mit zu ſehen hat, theils
mit individualen Umſtaͤnden in den Zuſammenhang der
Welt verflochten wird, theils auch verhaͤltnißweiſe be-
trachtet, und mit der Summe des Guten, das ein
Menſch in ſeinen Lebensumſtaͤnden erlangen und wirken
kann, verglichen werden muß. Wir haben bereits in
dem zweyten Hauptſtuͤcke der Alethiologie (§. 105. ſeqq.)
die erſten Gruͤnde der Agathologie kurz angezeigt, und
dabey beſonders angemerkt, daß das Gute keine be-
ſtmmte Einheit hat, ſondern nach mehrern Dimenſionen
von 0 bis ins Unendliche geht. Und da die Anzahl
und Vielfaͤltigkeit ſeiner Folgen in jeden Abſichten muß
beſtimmt
[303]Von dem moraliſchen Schein.
beſtimmt werden, ſo iſt man auch laͤngſt ſchon gewoͤhnt,
den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer
Sache oder Handlung vollſtaͤndig zu beſtimmen, man
ſie von allen Seiten betrachten, und das Gute und
Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤſſe. So
viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤberſieht, ſo
viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt ſich durch den
Schein blenden
oder irre machen, wenn man nur
die ſchoͤnere oder hinwiederum nur die ſchlimmere
Seite
allein betrachtet. Man ſehe, was wir oben (§. 13.)
hieruͤber angemerkt haben.


§. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo-
rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und deſſen
Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn
geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des
Wahren ab. Denn was an ſich wahr iſt, iſt auch in
jeden Umſtaͤnden und fuͤr jede Menſchen wahr, weil da
hoͤchſtens nur einzelne Beſtimmungen hinzukommen, die
aber dem an ſich Wahren nicht widerſprechen koͤnnen.
Hingegen mag zwar das an ſich Gute gut heißen, es
koͤnnen ſich aber in beſondern Faͤllen Umſtaͤnde mit ein-
mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die-
ſes nicht iſt, ſo geht der Wille auf das Beſſere, und
dieſes hat in Abſicht auf jedes Gute ſtatt, weil das Gute
keine abſolute Einheit hat. Daher iſt auch das Beſte,
das wir kennen oder deſſen wir uns bewußt ſind, noch
nicht das beſte Moͤgliche, und in ſo ferne kann auch
hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuſchwerk des
Scheins vorkommen. Die Beſtimmung der groͤßten
Summe des Guten, das ein Menſch in ſeinem Leben
erlangen und wirken kann, wenn man ſeine Kraͤfte, Na-
turgaben und aͤußerliche Umſtaͤnde mit der moͤglichen
Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die
ſichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus-
meſſung der Grade des Guten vorerſt auf Gruͤnde ge-
bracht
[304]IV. Hauptſtuͤck.
bracht werden muß. Die Agathologie und die Anwen-
dung der Phaͤnomenologie auf dieſelbe, bleibt demnach
bis dahin nothwendig ſehr unvollkommen.


§. 132. Die bisherigen Anmerkungen (§. 129. ſeqq.)
gehen auf die Frage, wieferne in den Begriffen
und Vorſtellungen des Guten Wahres iſt?

Wir werden nun dieſe Frage umkehren, und umſtaͤnd-
licher unterſuchen, wieferne die Vorſtellung des
Guten, und die damit verbundene Luſt, und
hinwiederum die Unluſt an dem Nichtguten,
in der Vorſtellung und Erkenntniß des Wah-
ren etwas aͤndern, und ſie theils unrichtig ma-
chen, theils auch nur auf eine gewiſſe Seite
lenken?
Hiebey gebrauchten wir nun die andere Helfte
der oben (§. 98. ſeqq.) angezeigten Theorie des Mecha-
niſmus,
der in den Saͤften und Fibern des Gehirns
vorgeht. Wir hatten ſie daſelbſt nur in ſo ferne be-
trachtet, als ſie uns das Bewußtſeyn jeder ſtuffenweiſe
feinern Empfindungen erregen, indem ſich die in den
Empfindungsnerven verurſachte Bewegung bis zu dem
Sitz oder der Werkſtaͤtte der Seele fortpflanzt.
Von allen dieſen Empfindungen iſt nun keine gleich-
guͤltig,
ſondern mit einem gewiſſen Grade von Ange-
nehmem
oder Widrigem verbunden, ungeacht wir uns
mehrentheils nur der ſtaͤrkern Grade, oder ihrer Ver-
ſtaͤrkung und Schwaͤchung bewußt ſind. Beſonders
ſind auch die ſtaͤrkern Grade von Empfindungen, die
ſonſt an ſich nichts widriges haͤtten, mit der Empfin-
dung des Schmerzens verbunden. Ein gar zu hel-
les Licht blendet und verletzt. Ein zu ſtarker Schall be-
taͤubt und wird ſchmerzhaft. Selbſt das Hauptweh
kann von zu ſtarkem und zu lange anhaltendem Nach-
ſinnen herkommen, und iſt eine Anzeige, daß auch die
mit dem Nachdenken verbundenen und harmonirenden
Bewe-
[305]Von dem moraliſchen Schein.
Bewegungen der Theile des Gehirnes bis zum Schmer-
zen ſtark werden koͤnnen.


§. 133. Es gehen aber ſolche Bewegungen nicht ſo
ſchlechthin nur gegen den Sitz der Seele zu, ſondern es
finden ſich andere, die ſich von da wiederum ausbreiten.
Man koͤnnte beſonders von den widrigen Empfindun-
gen gedenken, daß ſie eine Art von Repercuſſion veran-
laſſen, die, wie es bey dem Schrecken, Entſetzen,
Erſtaunen, Verabſcheuen,
ꝛc. geſchieht, den ganzen
Leib ſtarren oder erſchuͤttern macht. Solche gleichſam
divergirende Bewegungen verurſachen, daß bey den
Empfindungen nicht alles objectiv iſt, ſondern daß ſich
der innere Zuſtand der Seele oder die Gemuͤthsverfaſ-
ſung in die durch die Empfindungen verurſachten Vor-
ſtellungen und Gedanken mit einmengt, und in denſel-
ben manchen leeren Schein fuͤr wahr anſehen macht,
weil er ſchlechthin ſubjectiv iſt (§. 100. 31.). Es mag
auch Faͤlle geben, wo man den Unterſchied des bloß Ob-
jectiven und des mit eingemengten Subjectiven in den
Empfindungen und Gedanken bemerkt, und gewiſſer-
maßen empfindet. Dieſes kann naͤmlich geſchehen, wo
man bey ſtaͤrkern Graden der Affecten ſich ſelbſt noch
genug beſitzt, um auf die dadurch veranlaßte Revolu-
tion in den Gedanken Achtung zu geben, und ſie ſo wie
man ſie alsdann hat, mit denen zu vergleichen, die man
uͤber einerley Sachen ehemals bey ruhigem Gemuͤ-
the
oder auch bey entgegengeſetzten Leidenſchaf-
ten
hatte. Man wird viele von dieſen letztern Gedan-
ken gleichſam aufſuchen muͤſſen, und den Grad ihrer
Erheblichkeit merklich geaͤndert finden. Und wenn man
ſich gleich auch vorſtellt, das Urtheil des Verſtandes
bey ruhigerm Gemuͤthe ſey allerdings zuverlaͤßiger, ſo
hat man doch Muͤhe, es ſo anzunehmen, und findet den
Verſtand, und, man kann auch ſagen, die mit deſſen
Gebrauche ſich bewegenden feinern Fibern des Gehirns,
Lamb. Organon II B. Ugleich-
[306]IV. Hauptſtuͤck.
gleichſam umnebelt, daß das Bewußtſeyn davon
ſchwaͤcher oder ganz verdunkelt iſt. Dieſes Umnebeln
iſt in ſolchen Faͤllen eine laͤngſt eingefuͤhrte Metapher.
Bey ſtarken Getraͤnken ſcheint es dem buchſtaͤblichen
Verſtande nach vorzukommen, und es iſt kaum zu zwei-
feln, daß es bey ſtaͤrkern ſinnlichen Leidenſchaften nicht
auch ſey, weil ſie ihre Wirkung auf die Gebaͤrden, Ge-
ſichtszuͤge und den ganzen Leib erſtrecken.


§. 134. Die von dem Willen abhaͤngenden Bewe-
gungen des Leibes und jeder Theile ruͤhren urſpruͤnglich
ebenfalls aus dem Gehirne her, und ſind daſelbſt mit den
Bewegungen, die das Bewußtſeyn der Empfindungen
verurſachen, ebenfalls in Verbindung. Die Leichtigkeit
derſelben, ihre Grade, die allmaͤhlich bis zum Schmer-
zen gehende Ermuͤdung, die dadurch veranlaßte Begier-
de nach der Ruhe, und ſelbſt das Erquickende des Aus-
ruhens, ſind Proben davon. Da man auch des zu
lange anhaltenden Nachdenkens muͤde werden kann,
und Ruhe und Zerſtreuung der Gedanken ſuchen
muß, ſo ſcheint, daß auch der Gebrauch der Erkenntniß-
kraͤfte darinn dem Gebrauche der Leibeskraͤfte aͤhnlich
ſey, daß ſie ſich ermuͤden, und bey beyden die ſtaͤrkere
Ermuͤdung durch den Schlaf muß erſetzt werden.


§. 135. Alles dieſes iſt bey verſchiedenen Menſchen
verſchieden, und die individualen Beſtimmungen, ſo ſich
bey denſelben finden, machen von Kindheit auf die erſte
Anlage zu den Charaktern einzelner Menſchen aus. Die
Nahrung, die Lebensart und die Erziehung helfen dieſe
erſte Anlage vollends ausbilden, und ſie in vielerley Ab-
ſichten und einzelnen Theilen beſſer oder ſchlechter ma-
chen. Einige ſind feinerer Empfindungen faͤhig, an-
dere zu dem Gebrauche der untern, andere zu dem Ge-
brauche der obern Erkenntnißkraͤfte mehr aufgelegt. Bey
einigen ſcheint ein beſtaͤndiger Nebel im Gehirne die
feinern Empfindungen zu hemmen, und den Verſtand
und
[307]Von dem moraliſchen Schein.
und die Vernunft unbrauchbarer zu machen. Bey ei-
nigen macht die Empfindung der Verſchiedenheiten, bey
andern aber die Empfindung der Aehnlichkeiten der
Dinge ſtaͤrkern Eindruk. Bey einigen iſt das Objective
in den Empfindungen lauterer, bey andern aber mit
dem Subjectiven (§. 100.) mehr untermengt. Solche
Unterſchiede finden ſich ebenfalls in Anſehung der |Af-
fecten, Triebe, und Kraͤften des Leibes. Wir werden
aber den erſt angegebenen Schattenriß der Theorie die-
ſer Unterſchiede aus gleichem Grunde, wie oben (§. 101.)
nicht weiter fortſetzen, weil ſie noch viel zu weit zuruͤcke
bleibt, ſondern auch hier ſtatt der wirkenden Urſachen
in dem Leibe und dem Gehirne die Wirkungen betrach-
ten, und ihren Einfluß in den Schein der Dinge
unterſuchen.


§. 136. Das erſte, das ſich uns hiebey anbeut, iſt
der Unterſchied, den wir zu machen haben, ob die Seele
ſich leidend oder thaͤtig verhalte. Erſteres iſt, wenn
ſie die Emfindungen annimmt, und da mengt ſich das
Angenehme und das Widrige mit ein, es mag nun
von dem Grade oder von der Art der Empfindung her-
ruͤhren. Letzteres aber findet ſtatt, wenn die Kraͤfte, die
von dem Willen abhaͤngen, gebraucht werden, und da
findet ſich das Muͤhſamere und das Leichtere.
Beydes aber iſt hinwiederum mit dem Angenehmen
und Widrigen verbunden. Den Einfluß, den dieſe
gedoppelte Verbindung auf den Charakter eines jeden
Menſchen hat, haben wir bereits oben (§. 18.) ange-
zeigt. Ueberhaupt betrachtet iſt das Muͤhſame widrig,
das Leichte aber angenehm. Und dieſes findet vornehm-
lich ſtatt, wo jemand das Leichte und Muͤhſame zum
Maaßſtabe des Angenehmen und Widrigen macht, oder
dieſes ſchlechthin nur nach jenem ſchaͤtzt. Hingegen fin-
det ſich die Sache auch umgekehrt, daß man naͤmlich
dem Angenehmen die Muͤhe aufopfert, und das Leichte
U 2fahren
[308]IV. Hauptſtuͤck.
fahren laͤßt, wenn es widrig iſt. Man ſieht leicht, daß
hiebey das Angenehme und Widrige aus ganz andern
Gruͤnden beſtimmt wird, als in dem erſten Fall, wo
man es nach den Graden der Leichtigkeit und der Muͤhe
ſchaͤtzt. Der Unterſchied, der in beyden Faͤllen in dem
Charakter eines Menſchen daraus entſteht, iſt betraͤcht-
lich. Denn wer die Muͤhe zum Maaßſtabe ſeiner
Entſchließungen und zur Richtſchnur ſeines Thuns
macht, iſt indolent, traͤge und unentſchloſſen, und gegen
andere Beweggruͤnde gleichguͤltig: Jndolent, weil der
Gebrauch der Leibes- oder Seelenkraͤfte ihn bald ermuͤ-
det; traͤge, weil er ſie eben deswegen nicht gern ge-
braucht; unentſchloſſen, weil er ihren Gebrauch wegen
der Ermuͤdung lieber aufſchiebt. Das Gegentheil fin-
det ſich, wo andere Beweggruͤnde und Triebe ſtaͤrker
ſind, und die Anſtrengung der Kraͤfte nicht ſo leicht eine
Ermuͤdung nach ſich zieht. Bey ſolchen Charaktern iſt
mehr Muth, Unverdroſſenheit und Hurtigkeit. Und
wer die Muͤhe und Schwierigkeit gar nicht oder gleich-
ſam nur zuletzt in die Rechnung zieht, iſt zu groͤßern
Verrichtungen aufgelegt. Dieſer Unterſchied aͤußert
ſich in Abſicht auf die Vorſtellung der Dinge ebenfalls.
Der Schein beut ſich gleichſam von ſelbſt an, dahinge-
gen das Wahre erſt daraus geſchloſſen und geſucht wer-
den muß. Wer demnach in Abſicht auf den Gebrauch
der Erkenntnißkraͤfte indolent iſt, der begnuͤgt ſich mit
dem Schein, und laͤßt ſich leicht blenden, ſo oft es ihm
Muͤhe macht, auf die Wahrheit zu kommen.


§. 137. Was wir aber in Anſehung der Phaͤnome-
nologie beſonders hieruͤber anzumerken haben, iſt, daß
die einzelnen Theile dieſer beyden Charakter faſt immer
bey einzelnen Menſchen durch einander vermiſcht ſind.
Die Schwierigkeiten koͤnnen nicht immer uͤberwunden
werden, und zu dem Leichten koͤnnen ebenfalls andere
Beweggruͤnde mangeln. Auf dieſe Art giebt es in
Abſicht
[309]Von dem moraliſchen Schein.
Abſicht auf die Erkenntniß Seiten der Sachen, wo
man ſich mit dem Schein behilft, oder es dabey bewen-
den laͤßt, andere, wo man auf das Wahre dringt, und
noch andere, die man ganz unbemerkt laͤßt, es ſey daß
ſie zu viele Muͤhe fordern wuͤrden, oder daß man ſie
ungern aufdeckt. Ueberhaupt macht man ſich die Din-
ge und ihre Seiten bekannter, die man ſich lieber vor-
ſtellt, und daraus entſtehen in Abſicht auf das Wah-
re,
beſonders aber auch in Abſicht auf das Gute, Luͤ-
cken in der Erkenntniß, die nicht ſelten nachtheilig ſind
(§. 130. 18.).


§. 138. Es bleibt aber dabey nicht bloß bey den
Luͤcken, ſondern die Affecten helfen ſie oͤfters ſo ausfuͤl-
len, daß die Vorſtellung von der Sache ſelbſt ganz ver-
ſchieden wird. Auf dieſe Art ſtellt man ſich eine Hand-
lung, ſo man jemand thun ſieht, ganz vor, wenn man
gleich nur das Aeußerliche oder einen Theil davon ge-
ſehen, aus welchem ſich weder unmittelbar auf das
Ganze, noch auf die Abſicht und den Grund derſelben
ſchließen laͤßt. Und dieſes kann geſchehen, ohne daß
man ſich eines Vorſatzes bewußt ſey, die Sache beſſer
oder ſchlimmer auszudeuten als ſie wirklich iſt. Denn
die Affecten treiben, ohne daß man noͤthig habe, mit
Ueberlegung einen Vorſatz zu faſſen. Ueberdieß haben
viele Sachen außer ihrem eigenen Namen noch andere,
die ſie von der beſſern oder ſchlimmern Seite vorſtellen,
und da iſt es ganz natuͤrlich, daß die Affecten unver-
merkt die Auswahl des Namens beſtimmen, und der
eigene ſelten dazu gewaͤhlt wird. So werden auch ei-
nem Menſchen, der ſich mit Bewußtſeyn an die Gren-
zen des Erlaubten hinauswagt, ohne ſie zu uͤberſchreiten,
ſeine Handlungen von andern, die ohne Bedenken daruͤ-
ber hinausſchweifen, oder auch dieſe Grenzen viel enger
ſetzen, auf eine ganz verſchiedene Art ausgelegt werden.
Letztere verdammen ihn, erſtere aber meſſen ihn nach
U 3ihrer
[310]IV. Hauptſtuͤck.
ihrer Elle, weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr
beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man
auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo-
raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und
zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ-
ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß
haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.


§. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-
jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh-
rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu-
gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer Iſochroniſinus
iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta-
delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli-
ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache
von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht
ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu
haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber-
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte
verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen
Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey
ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man
bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß-
ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden
muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich
ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen.


§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel-
lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und
ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes
nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun-
gen
[311]Von dem moraliſchen Schein.
gen und Gedanken Raum giebt, da giebt man bald nur
auf die Aehnlichkeiten Achtung, die ſie mit denen Bil-
dern und Vorſtellungen haben, die der Gegenſtand des
Affects ſind. Daher iſt auch die Sprache der Leiden-
ſchaften voller Bilder, Vergleichungen und kuͤhner Me-
taphern, woraus man oͤfters den herrſchenden Affect in
dem Charakter eines Menſchen erkennen kann. Ge-
meiniglich betrachtet man auch die ſonſt mit dem Affect
nicht verbundenen Dinge lieber und faſt allein von der
Seite, welche mehr ſolcher Aehnlichkeiten anbeut, und
nimmt die Metaphern, wodurch man ſie benennt, un-
vermerkt und oͤfters ohne Grund von dem Stoffe des
Affectes her. Daß man bey den Cometen und Nord-
lichtern Ruthen, Schwerter, Spieße, Kriegsheere ꝛc.
getraͤumt hat, iſt allerdings der Furcht zuzuſchreiben,
welche der Aberglaube, die Unwiſſenheit, und etwan
auch das boͤſe Gewiſſen erregten.


§. 141. Die moraliſchen Wahrheiten, welche auf
das Thun und Laſſen gehen, ſchraͤnken einander ein, und
man kann nicht eine zum Nachtheil der andern ſchlecht-
hin und ohne die behoͤrige Einſchraͤnkung behaupten
oder einſchaͤrfen. Jndeſſen geſchieht dieſes bey Affe-
cten, als welche die denſelben angemeſſene Wahrheit
gleichſam als die einzige vorſtellen, und die uͤbrigen ver-
geſſen machen. Dabey iſt man ſich der Grenzen des
Erlaubten nicht mehr bewußt, und indem man ſich ent-
weder zu viel einſchraͤnkt, oder zu weit ausſchweift, zieht
man ſich Folgen zu, die man leicht haͤtte vermeiden
koͤnnen, wenn man die Theorie richtig und vollſtaͤndig
beybehalten haͤtte. Wenn hiebey die die Affecten ein-
ſchraͤnkenden Wahrheiten nur vergeſſen werden, ſo iſt es
bey geringern Graden der Affecten, und bey ruhigerm
Gemuͤthe moͤglich, die Folgen dieſes Vergeſſens zu be-
merken, oder wenn ſie von andern vorgeſtellt werden,
der Errinnerung Gehoͤr zu geben, und den Affect zu
U 4maͤßi-
[312]IV. Hauptſtuͤck.
maͤßigen, oder in die aͤchten Schranken zu bringen. Jſt
aber die Sache ſo weit gekommen, daß man entweder
nicht mehr nachlaſſen will, oder nicht mehr kann, ſo iſt
es ſehr gewoͤhnlich, daß man wider die den Affect ein-
ſchraͤnkende Wahrheit Zweifel aufſucht, und ſie auch
da zu finden glaubt, wo kaum ein Anſchein war. Wir
haben zu Anfang dieſes Hauptſtuͤckes (§. 127.) ſchon an-
gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus ſol-
chen Gruͤnden willkuͤhrliche Aenderungen vorgenommen
worden, und wie leicht das Herz ſich zu einem Vertrag
bequemt, einzelne Stuͤcke daraus gar nicht oder anders
zu glauben. Eine richtige und vollſtaͤndige Theorie
von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion,
welche auf pſychologiſchen und mediciniſchen Gruͤnden
beruhen ſoll, iſt in dieſer Abſicht von nicht geringer Wich-
tigkeit.


§. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey-
nungen ſind gewoͤhnlich auch mit Affecten verbunden.
Ein zu großes Zutrauen auf eigene Einſicht; eine
uͤbertriebene Verehrung gegen die Einſicht eines an-
dern Menſchen; die Beſorgniß, man moͤchte in Able-
gung einer Meynung etwas von ſeinem Anſehen verlie-
ren, zumal nachdem man ſie zu dictatoriſch behauptet;
die Hoffnung, ſich mit Behauptung einer ſeltſamen
Meynung einen Namen zu machen ꝛc. ſind gewoͤhnlich
die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthuͤ-
mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen
ſucht, ſo ſehr man ſich auch mit der Liebe zur Wahrheit
ſchmeichelt, oder auch gar die, ſo anderer Meynung
ſind, eines Vorurtheils beſchuldigt. Man hat ange-
merkt, daß die Affecten gewoͤhnlich alsdann reger wer-
den, wenn jemand entweder aus Unwiſſenheit ſeine Mey-
nung nicht klar genug erweiſen kann, oder wenn ſie ſich
entweder gar nicht oder nur zum Theil beweiſen laͤßt,
und daß hingegen die groͤßten Geiſter die beſcheidenſten
ſind.
[313]Von dem moraliſchen Schein.
ſind. Jn der That wiſſen auch nur dieſe auf eine poſi-
tive Art, wie viele Muͤhe, Behutſamkeit und Erkennt-
nißkraͤfte erfordert werden, die Wahrheit immer genau
zu finden, und wie leicht man zuruͤcke bleibt. Eine
Reihe zuſammenhaͤngender Schluͤſſe gleicht einer weit-
laͤuftigen Rechnung, und man kann beyden das ſaluo
errore calculi
beyfuͤgen, weil doch das Ueberſehen ſo
leicht iſt.


§. 143. Da die Affecten uns die Dinge gewoͤhnlich
nur von einer Seite vorſtellen, und das Bewußtſeyn
der uͤbrigen verdunkeln, ſo iſt es auch moͤglich, mit Aen-
derung des Affects gleichſam andere Seiten der Sa-
chen herauszukehren oder ins Licht zu bringen,
oder ſie mit ganz andern Augen anzuſehen.
Vermuthlich hat man aus dieſem Grunde mit gewiſſen
und oͤfters bloß theoretiſchen Wahrheiten, vermittelſt
willkuͤhrlicher Belohnungen und Strafen, Affecten ver-
bunden, wogegen andere, welchen ſolche Wahrheiten
eben nicht ſo einleuchtend vorkommen, die ſo genannte
Freyheit zu philoſophiren behaupten, um ſich da-
durch den Weg zu bahnen, ihre Meynungen vortragen
zu duͤrfen. Carteſius ſchuͤtzte die Nothwendigkeit
vor, auf ſeine eigene Meynung ein Mistrauen zu ſet-
zen, oder vorerſt an allem zu zweifeln, um dadurch de-
ſto unpartheyiſcher die Wahrheit zu ſuchen. Jn der
That liegt auch in der gemeinen Erkenntniß Schein
und Wahres und Jrriges durch einander gemengt,
und es muß behutſam aus einander geleſen werden,
wenn man Stuͤcke daraus in eine wiſſenſchaftliche
Erkenntniß
verwandeln will (§. 105.). Dieß will
aber allerdings noch nicht ſagen, daß die Freyheit zu
philoſophiren nicht aͤußerſt gemisbraucht werden koͤnne,
weil jeder, dem entweder herrſchende oder auch unter-
druͤckte Leidenſchaften die Sachen nur von einer und
gewoͤhnlich irrigen und uͤbertriebenen Seite ſo vorſtel-
U 5len,
[314]IV. Hauptſtuͤck.
len, als wenn ſie richtig und die einzige, oder wenigſtens
die einzige erhebliche waͤre, ſich einbildet, er werde durch
die reine Liebe zur Wahrheit getrieben, ſeine Meynung
an Tag zu geben, und ſey daher berechtigt, ſich mit der
Freyheit zu philoſophiren zu ſchuͤtzen.


§. 144. Die Affecten haben uͤberhaupt das, daß ſie
auf gewiſſe Seiten der Sachen aufmerkſamer machen,
weil man ſie ſich lieber und lebhafter vorſtellt, und in ſo fer-
ne helfen ſie dieſe Seiten auch umſtaͤndlicher aufdecken.
Da aber gemeiniglich alles dabey uͤbertrieben iſt, ſo
muß man das, ſo man gefunden oder zu finden ge-
glaubt hat, entweder andern zu beurtheilen uͤbergeben,
oder die Beurtheilung nebſt der Unterſuchung der Ur-
ſachen in ruhigern Stunden vornehmen, zumal weil
man ſodann die uͤbrigen Seiten der Sache, die man in
dem Affecte nicht geachtet hatte, mit in Betrachtung
ziehen kann. Es iſt natuͤrlich, daß man dadurch Mit-
tel findet, die Wiederkehr des Affects vorauszuſehen
und zu vermeiden, oder wenigſtens dem Blendwerk deſ-
ſelben auszuweichen. Hypocondriſten, bey denen der
Anfall noch nicht zu ſtark geworden, iſt ebenfalls anzu-
rathen, nach dieſer Vorſchrift zu verfahren, ihre Geden-
kensart bey ruhigem Gemuͤthe zum Grunde zu legen,
den Lauf der Gedanken bey dem Anfang des Anfalls
durch Leſen, Unterreden, Schlafen ꝛc. abzubrechen, und
zu dieſen pſychologiſchen Mitteln auch die phyſiſchen und
medieiniſchen zu gebrauchen.


§. 145. Die Gemuͤthsruhe iſt diejenige Lage der
Seele, wobey der von den Affecten herruͤhrende Schein
der Dinge am meiſten vermieden wird, und gleichſam
von ſelbſt wegbleibt, wobey wir den Empfindungen
und Gedanken Raum geben, die Aufmerkſamkeit auf
jede Seite der Sache lenken, und die hoͤhern Erkennt-
nißkraͤfte frey gebrauchen koͤnnen. Wir koͤnnen uns
aber deſſen uneracht auf keine voͤllige Gleichguͤltigkeit
Rech-
[315]Von dem moraliſchen Schein.
Rechnung machen, und auch unterdruͤckte Affecten wir-
ken oͤfters gleichſam auf die Gedanken ſo zuruͤcke, daß
ſie ſich vielmehr zu einem Syſtem als zu einem andern
bequemen. Das Widrige und Angenehme miſcht ſich
auch ohne heftigern Sturm der Affecten auf eine feine-
re und unvermerktere Art in die Gedanken mit ein, und
uͤbereilt oͤfters das Urtheil, ſo wir faͤllen, wenn es gleich
noch mehrerer Pruͤfung beduͤrfte. Die Vorſtellung,
daß die Wahrheit immer Wahrheit bleibe,
wir moͤgen ſie gerne oder ungern haben,
muß
lebhaft bey uns eingepraͤgt ſeyn, und uns bey Unterſu-
chung der Dinge beſtaͤndig im Sinne ſchweben, wenn
wir Uebereilung vermeiden, Schritt fuͤr Schritt gehen,
und uns jedesmal mit dem, was wir gewiß haben, be-
gnuͤgen, und das noch nicht durchaus Erwieſene fuͤr nicht
mehr als es iſt, anſehen und ausgeben wollen. Wir
koͤnnen hier beylaͤufig anmerken, daß man ſich mit einer
ſolchen Beſcheidenheit bey Leuten, die auf ihre Fragen
ſchlechthin ja oder nein haben wollen, das Anſehen ei-
nes Gruͤblers oder auch eines Zweiflers zuziehen kann.
Die meiſten ſind ſo ſehr daran gewoͤhnt, alles individual
und durchaus beſtimmt zu denken, daß ein unentſchei-
dender Vortrag ihnen misfaͤllt, und daß ſie ſtatt deſſen
lieber irriges glauben wollen. Jndeſſen iſt es der Na-
tur des menſchlichen Verſtandes gar nicht zuwider, den
Beyfall nicht etwan nur zu geben, oder zu verſagen,
ſondern ihn auch aufzuſchieben, wo die Gruͤnde nicht
uͤberwiegend ſind.


§. 146. Die Gemuͤthsruhe hilft eigentlich nur, den
moraliſchen Schein und das Uebereilte, Uebertriebene
und Unvollſtaͤndige darinn vermeiden, weil die uͤbrigen
Arten des Scheins aus ihren eigenen Gruͤnden muͤſſen
unterſucht werden. Jndeſſen breitet ſich der Vortheil
davon auch auf dieſe Arten aus, weil die Affecten den
Verſtand umnebeln, und zu genauern Unterſuchungen
unfaͤ-
[316]IV. Hauptſtuͤck.
unfaͤhig machen. Wer ſich ſelbſt ſo weit beſitzt, daß
er ſich auch auf die unerwarteteſten Faͤlle gefaßt macht,
und ſich daher von Verwunderung, Erſtaunen,
Schrecken
ꝛc. nicht irre machen laͤßt, der bleibt aller-
dings zum Beobachten, zu Entſchließungen und Hand-
lungen aufgelegt, wenn andere Verwirrung in dem
Verſtande, Unentſchloſſenheit und Verlegenheit im
Wollen, und Zerſchlagenheit in den Kraͤften empfinden.
Horaz ſcheint dieſes mit ſeinem Nil admirari anzuzei-
gen, und in der That muß man ſich, wenn man anders
die Vortheile eines ruhigen Zuſchauers erhalten will,
nichts uͤbernehmen laſſen, und auch zu dem Unerwarte-
ten voraus gefaßt ſeyn. Man koͤmmt dadurch leichter
auf das Weſentliche einer Sache, weil man die Neben-
umſtaͤnde, die dabey nichts zu ſagen haben, und nur
Folgen oder Zufaͤlligkeiten ſind, ehender erkennen und
weglaſſen kann. Ein von Natur ruhiges Gemuͤth und
empfindlichere Sinnen helfen ungemein viel zu einer
ausgedehntern und richtigern Erkenntniß.


§. 147. Die Liebe und der Haß, ſo ferne ſie auf
Sachen und Perſonen gerichtet ſind, haben in Abſicht
auf die Erkenntniß den Erfolg, daß man an dem Ge-
liebten die ſchlechtere, an dem Gehaßten die beſſere Sei-
te nicht gern glaubt, und oͤfters wider die, ſo ſie aufdek-
ken, boͤſe wird, und unglaͤubig bleibt. Lieben und ver-
achten, und ſo auch haſſen und verehren findet ſich
nicht wohl beyſammen. Die Vorſtellung, daß die
Sachen ſind, wie ſie ſind, ſo gern wir es an-
ders haͤtten,
muß dieſes Blendwerk der Affecten uͤber-
wiegen, zumal wenn man mitnimmt, daß die Erkennt-
niß der Fehler an dem Geliebten zur Beſſerung deſſel-
ben gebraucht, die Erkenntniß des Guten an dem Ge-
haßten zur Verminderung dieſes an ſich widrigen Affe-
ctes angewandt, das Gute ſelbſt auch oͤfters genutzt
werden koͤnne. Es iſt fuͤr ſich klar, daß dieſe Betrach-
tung
[317]Von dem moraliſchen Schein.
tung ebenfalls auf die Selbſtliebe angewandt werden
muͤſſe, wenn man im Ernſt darauf denken will, das
Gute, ſo man an ſich liebt, durch Ausbeſſerung der Feh-
ler zu vergroͤßern.


§. 148. Wenn ſich mit einem wahren oder irrigen
Satze Affecten verbinden, ſo dehnen ſich dieſe gemeinig-
lich auch auf diejenigen Saͤtze aus, die man mit dem
vorgegebenen Satze in Zuſammenhang zu ſeyn glaubt,
beſonders aber auf die, von welchen derſelbe abzuhaͤn-
gen ſcheint. Daher koͤmmt es, daß man unvermerkt
Liebe und Haß auf ganze Syſtemen ausbreitet, und
zwar nicht ſelten mit einer merklichen Uebereilung. Der
vorgegebene Satz ſey A. Wer nun denſelben gern fuͤr
wahr haͤlt, oder wuͤnſcht, daß er wahr ſey, wird auch
geneigter ſeyn, die Vorderſaͤtze einzuraͤumen, aus wel-
chen er als ein Schlußſatz folgt, und eben ſo wird er
auch leichter zugeben, was vermittelſt anderer Saͤtze B
daraus geſchloſſen werden kann, oder wenn der Schluß-
ſatz widrig iſt, ſo wird er ehender den Satz B als den
Satz A in Zweifel ziehen. Auf dieſe Art koͤnnen ei-
nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen
und verworfen werden, und es koͤmmt unvermerkt zu
einem Syſtem. Jſt nun der Satz A jemand zuwider,
ſo wird er ordentlich die Vorderſaͤtze zu deſſen Beweis
in Zweifel ziehen, und die Saͤtze B behaupten, welche
eine richtige oder ſcheinbare Deductionem ad abſur-
dum
angeben. Jndeſſen iſt mit dem bloßen Laͤugnen
der Vorderſaͤtze, woraus A geſchloſſen wird, A noch
nicht umgeſtoßen, und mit dem Laͤugnen des Satzes A
fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil
dieſe aus andern Gruͤnden dennoch wahr ſeyn koͤnnen
(Dianoiol. §. 243. ſeqq.). Da die Theorie des Zu-
ſammenhanges der Saͤtze in der Vernunftlehre aus-
fuͤhrlich entwickelt iſt, ſo iſt es deſto unverantwortlicher,
wenn man wegen einiger Saͤtze ſich ſo gleich von den
Affecten
[318]V. Hauptſtuͤck.
Affecten hinreißen laͤßt, ohne weitern Unterſchied das
ganze Syſtem zu verwerfen. Es hat inzwiſchen ſchon
mehrere Syſtemen gegeben, die man gleichſam wech-
ſelsweiſe verworfen und wieder hervorgezogen hat, und
das Gefallen oder Nichtgefallen iſt dabey nicht
immer aus dem bloßen Begriffe des Wahren oder
Nichtwahren entſtanden. Denn dieſe Begriffe al-
lein laſſen dem Gemuͤthe noch die erforderliche Ruhe
und Geduld zum ſorgfaͤltigern Auseinanderleſen.



Fuͤnftes Hauptſtuͤck.
Von dem Wahrſcheinlichen.


§. 149.


Wir haben noch das Wahre und den Schein des
Wahren
mit der Gewißheit und ihren
Graden zu vergleichen, und hiezu beut uns die Spra-
che eine Menge von Ausdruͤcken an, deren wir uns da-
bey bedienen, und die theils der Art nach, theils ſtuf-
fenweiſe, in ihrer Bedeutung verſchieden ſind. Denn
nebſt dem, daß wir etwan ſagen, daß eine Sache oder
Ausſage wahr, oder nicht wahr, gewiß oder un-
gewiß
ſey, daß man ſie noch nicht eroͤrtert habe, daß
ſie dahin geſtellt bleibe ꝛc., ſo bedienen wir uns zu-
weilen auch der Ausdruͤcke: vermuthlich, glaub-
lich, ohne Zweifel, allem Anſehen nach, kaum
zu zweifeln, es ſcheine wahr zu ſeyn, es ſey
wahrſcheinlich, muthmaßlich ꝛc.
Dieſe Ausdruͤk-
ke haben ſaͤmtlich etwas gemeinſames, indem ſie die
Art und den Grad der Verſicherung angeben, mit wel-
cher wir uͤber eine Sache urtheilen oder denken. So
z. E. ſagen wir: ohne Zweifel, wenn uns nichts ein-
zuwenden
[319]Von dem Wahrſcheinlichen
zuwenden beyfaͤllt. Wir gebrauchen den Ausdruck:
allem Anſehen nach, wenn wir aus Betrachtung
der Sache und ihrer Umſtaͤnde, wie ſie uns vorkom-
men, das Urtheil zu faͤllen geneigt gemacht werden.
Der Ausdruck glaublich geht auf den Beyfall, den
wir einer Ausſage geben, wenn wir auf die Vorſtellung
der Sache mit ſehen. Vermuthlich bezieht ſich
ſchlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa-
che machen, zumal wenn ſie kuͤnftig oder auch abwe-
ſend iſt. Wahrſcheinlich aber geht mehr auf die
Gruͤnde, die wir haben, daß ehender die Sache als das
Gegentheil wahr oder wirklich ſey oder ſeyn werde ꝛc.


§. 150. Da man ſich aber beſonders im gemeinen
Leben an die Unterſchiede dieſer Woͤrter ſo genau nicht
bindet, ſo hat man auch ſtatt aller den Begriff des
Wahrſcheinlichen allein herausgenommen, und mit
der dieſem Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene
Bedeutung der uͤbrigen vermengt. Ueberdieß hat man
dem Begriff der geometriſchen Gewißheit den
Begriff der moraliſchen Gewißheit bald an die
Seite, bald entgegengeſetzt, und im letzten Fall alles,
was nicht nach geometriſcher Schaͤrfe erwieſen werden
konnte, ſchlechthin nur fuͤr wahrſcheinlich ausgegeben,
im erſten Fall aber behauptet, daß die moraliſche Ge-
wißheit der geometriſchen im geringſten nichts nachge-
be, und nur der Art nach davon verſchieden ſey. Die
einzelen Theile der moraliſchen Beweiſe, ſofern dieſe
den Demonſtrationen entgegengeſetzt wurden, hat man
Argumente genennt, und ſie in beweiſende und an-
zeigende,
probantia et indicantia, unterſchieden, ohne
immer auf den Unterſchied zu ſehen, ob es Argumen-
te fuͤr den Verſtand
oder Argumente fuͤr den
Willen, Gruͤnde
oder Beweggruͤnde ſind. Alles
dieſes ſind Umſtaͤnde, wo wir uns nicht an die Worte,
ſondern an die Sache ſelbſt halten muͤſſen, wenn wir
ſie
[320]V. Hauptſtuͤck.
ſie entwickeln, und Licht und Ordnung darinn finden
wollen. Wir werden demnach die beſondern Faͤlle
durchgehen, wobey das Wort Wahrſcheinlichkeit
oder Probabilitaͤt gebraucht wird, und dabey ſehen,
was man in jedem Fall dadurch verſteht.


§. 151. Der erſte Fall, der ſich uns hiebey anbeut,
und ſich ſehr weit erſtreckt, begreift uͤberhaupt die
Gluͤcksſpiele, und mit dieſen auch die Looſe und
Lotterien ꝛc. wobey man aus der Einrichtung des
Spieles Regeln herleitet, den Grad der Hoffnung
zu beſtimmen, den die Spielenden haben, ein oder mehr-
malen zu gewinnen. Dabey werden nun alle moͤgli-
che Faͤlle abgezaͤhlt, und die, ſo dem Spielenden guͤn-
ſtig ſind, beſonders genommen, und gegen die ganze
Anzahl proportionirt. So wenn zwiſchen dreyen das
Loos geworfen wird, iſt die Hoffnung eines jeden ⅓,
weil es jeden eben ſowohl fallen kann, als den beyden
uͤbrigen. Eben ſo, weil man annimmt, daß die eine
Seite eines Wuͤrfels eben ſo leicht fallen kann, als jede
der uͤbrigen, wird die Hoffnung deſſen, der ſie das erſte
mal werfen will, ⅙ geſchaͤtzt, weil unter 6 Faͤllen nur
einer ihm guͤnſtig iſt. Fragt man aber, ob unter 6 auf
einander folgenden Wuͤrfen ihm einer guͤnſtig ſeyn wer-
de, ſo ſagt man, es ſey wahrſcheinlich, daß ihm
unter 6 Wuͤrfen einer treffe. Jn dieſer Antwort liegt
nun der Begriff des Wahrſcheinlichen vollſtaͤndig
und abſolut. Es iſt nur die Frage, wieferne ſich ſeine
Merkmale herausbringen und mit Worten ausdruͤcken
laſſen? Einmal wird es dem Nothwendigen entge-
gengeſetzt, in ſo fern es ſich auf die Sache ſelbſt bezieht.
Denn es bleibt moͤglich, daß unter den 6 Wuͤrfen ent-
weder kein, oder mehr als ein Treffer ſey, ja auch der
Fall, wo alle 6 Wuͤrfe treffen, iſt nicht unmoͤglich, weil
jeder Wurf von dem andern unabhaͤngig iſt. Aus glei-
chem Grunde iſt das Wahrſcheinliche hier dem
Gewiſ-
[321]Von dem Wahrſcheinlichen.
Gewiſſen entgegengeſetzt, weil wir nicht voraus ſehen
koͤnnen, wie der Wuͤrfel bey jedem Wurfe fallen wird,
und weil er in keinem der 6 Wuͤrfe nothwendig auf die
vorhabende Zahl fallen muß, ſondern jedesmal das Ge-
gentheil moͤglich bleibt. Jndeſſen iſt es ſo abſolute
der Natur der Sache gemaͤß,
daß unter 6 Wuͤr-
fen einer treffe, daß, wenn es geſchieht, wir uns gar
nicht
daruͤber zu verwundern haben, da hingegen
immer ein groͤßerer oder kleinerer Grad der Verwun-
derung dabey iſt, wenn es anders ausfaͤllt, und dieſer
Grad iſt am groͤßten, wenn alle 6 Wuͤrfe treffen. Wir
koͤnnen demnach ſagen: das Wahrſcheinliche bey
den Gluͤcksſpielen ſey dasjenige, was wir der
Natur der Sache nach erwarten koͤnnen, daß
es geſchehe, ungeacht das Gegentheil dadurch
nicht unmoͤglich wird.
Und zwar iſt dieſes der
Begriff der abſoluten Wahrſcheinlichkeit. Denn da
das Gegentheil moͤglich bleibt, und in den meiſten Faͤl-
len der Gluͤcksſpiele ſtuffenweiſe unerwarteter wird, ſo
wird auch jedem dieſer Faͤlle vergleichungsweiſe ein
Grad der Wahrſcheinlichkeit beygelegt, der ſich
nach dem Grade der Moͤglichkeit richtet, und wenn
der Fall vorkoͤmmt, in umgekehrter Verhaͤltniß der Er-
wartung,
und ſo auch der Verwunderung iſt.


§. 152. Die meiſten Gluͤcksſpiele ſind von der Art,
daß ſich die Anzahl der moͤglichen Faͤlle aus der Natur
und den Geſetzen des Spiels eroͤrtern laͤßt, und von
Rechtswegen ſollen auch die Bedingniſſe dabey ſo ein-
gerichtet ſeyn, daß entweder die Spielenden gleiche Hoff-
nung zum Gewinn haben, oder daß, wenn die Hoffnung
ungleich iſt, die Einlage derſelben proportionirt werde.
Da man ferner bey ſolchen Beſtimmungen eine glei-
che Moͤglichkeit
jeder Faͤlle ſetzt, ſo hat man auch
auf die phyſiſchen Umſtaͤnde zu ſehen, die dieſer Vor-
ausſetzung zuwider ſind. Wie z. E. die Ungleichheit der
Lamb. Organon II B. XEcken
[322]V. Hauptſtuͤck.
Ecken und Seiten der Wuͤrfel, welche macht, daß ſie
leichter auf eine als auf die andere Seite fallen, die
Ungleichheit des Gepraͤges bey Muͤnzen, die man auf-
wirft ꝛc. Dieſes vorausgeſetzt, ſo iſt die Theorie von
Berechnung der Grade der Wahrſcheinlichkeit bey den
Gluͤcksſpielen von Huygens, Moivre, Bernoulli
und andern bereits auf Gruͤnde gebracht, und auf ein-
zelne Faͤlle angewandt worden. Wir wollen aus der
Bernoulliſchen Ars coniectandi einer einzigen Aufgabe
Erwaͤhnung thun. Man kann naͤmlich fragen, wie
ferne die bey den Gluͤcksſpielen, Looſen ꝛc. angenomme-
ne gleiche Moͤglichkeit aller Faͤlle in der wirkli-
chen Welt ſtatt haben koͤnne, ohne daß man dabey ein
blindes Ungefaͤhr vorausſetze, zumal da die Folgen
der Gluͤcksſpiele und Looſe im geringſten nicht gleichguͤl-
tig ſind? Hieruͤber wollen wir folgendes anmerken.
Einmal giebt es die Erfahrung, daß bey Gluͤcksſpielen,
Looſen und Loterien der Erfolg ſich nach der Lehre der
Wahrſcheinlichkeit richtet, wenn man nicht einzelne Faͤl-
le, ſondern eine Menge derſelben zuſammen nimmt.
Man nehme z. E. eine Ziehungsliſte von einer Loterie,
die aus 10000 oder 100000 Looſen beſteht, und ver-
theile die Numeros tauſendweiſe, man wird bey jeden
Tauſenden eine ziemlich gleiche Anzahl von ſolchen fin-
den, die etwas gezogen haben. Es verſteht ſich fuͤr ſich,
daß man dabey nicht auswaͤhlen, ſondern jede Tauſend
nach einem gleichen Geſetze nehmen muͤſſe. Eben ſo,
wenn man eine gewiſſe Anzahl bezeichneter und unbe-
zeichneter Zettel durch einander mengt, jedes herausge-
zogene wiederum einlegt, und aufzeichnet, wie viele man
von jeder Art gezogen, ſo wird die Verhaͤltniß zwi-
ſchen beyden Arten gezogener Zettel, der Ver-
haͤltniß der Eingelegten deſto naͤher kommen,
je laͤnger man zu ziehen fortfaͤhrt.
Dieſes iſt
nun, was Herr Bernoulli, mit Vorausſetzung der glei-
chen
[323]Von dem Wahrſcheinlichen.
chen Moͤglichkeit aller Faͤlle beweiſt, daß es geſchehen
muͤſſe. Waͤren aber nicht alle Faͤlle gleich moͤglich, ſo
muͤßte man der Ungleichheit Rechnung tragen, und da-
mit wuͤrde die Anzahl der ausgezogenen Zettel der An-
zahl der Eingelegten nicht mehr proportional ſeyn, ſon-
dern ſich auch nach dem Geſetze der ungleichen Moͤglich-
keit richten. Solche Geſetze koͤnnen ſich, ohne daß man
gleich darauf achtet, aus bloß phyſiſchen Gruͤnden mit
einmengen. Die gleiche Moͤglichkeit aber gruͤndet ſich,
auch bey der weiſeſten Einrichtung des Laufs der Din-
ge in der Welt, auf die Menge einzelner Urſachen, die
bey den Gluͤcksſpielen, jede nach ihren eigenen Geſetzen
ſo zuſammentreffen, daß ſie eben ſo leichte den einen
Fall als den andern hervorbringen, und bey Fortſetzung
des Spieles einander compenſiren. Dadurch aber koͤmmt
jeder Fall deſto haͤufiger vor, je wahrſcheinlicher er an
ſich iſt.


§. 153. Die Gluͤcksſpiele haben das beſonders, daß
man aus ihrer Einrichtung die moͤglichen Faͤlle abzaͤh-
len, und den Grad der Moͤglichkeit von jeden beſtimmen
kann. Auf dieſe Art wird die Wahrſcheinlichkeit jeder
Faͤlle a priori berechnet. Es erhellet aber aus erſtge-
ſagtem, daß es auch a poſteriori geſchehen koͤnnte, wenn
man das Spiel lange oder unendlich vielmale wieder-
holte. Man hat aus dieſem Grunde angefangen, die
Lehre der Wahrſcheinlichkeit auch in andern Faͤllen zu
gebrauchen. Denn da die Natur nicht nur bey Gluͤcks-
ſpielen, ſondern in unzaͤhligen andern Dingen, nach ſehr
zuſammengeſetzten Geſetzen wirkt, ſo daß man aus der
Erfahrung nur das Product von allen erkennen kann,
ſo hat man dieſe Producte abgezaͤhlt, um dadurch den
Grad eines jeden Geſetzes, und die Probabilitaͤt der
Faͤlle, da es die Oberhand hat, zu finden. Dieſes iſt
nun die zweyte allgemeine Art der Wahrſcheinlichkeit,
die wir umſtaͤndlicher erlaͤutern werden.


X 2§. 154.
[324]V. Hauptſtuͤck.

§. 154. Man findet naͤmlich einen Satz, den die
Erfahrung angiebt, davon ſie aber auch zuweilen ab-
weicht, und zwar ohne daß man die Umſtaͤnde eroͤrtern
kann, wenn das eine oder das andere geſchieht. Jn-
deſſen zeichnet man beyderley Faͤlle, ſo wie ſie vorkom-
men, und ohne Auswahl auf, um aus der Summe von
beyden zu beſtimmen, wie ſich die zutreffenden Faͤlle ge-
gen die fehlenden verhalten. Dieſe Verhaͤltniß be-
ſtimmt den Grad der Wahrſcheinlichkeit des
Satzes der Natur gemaͤß.
Man weiß dadurch
nicht nur, daß etlicheA, B ſind, ſondern genauer, wie
viele es ſind, und wie viele es nicht ſind. So z. E. hat
man in großen Staͤdten die Anzahl der Lebenden zu
den in jedem Jahre Sterbenden aus der vieljaͤhrigen
Abzaͤhlung von beyden gefunden.


§. 155. Bey ſolcher Abzaͤhlung der Faͤlle koͤmmt
nun folgendes zu bemerken vor. Einmal ſieht man,
daß es um die Beſtimmung des Grades der Particula-
ritaͤt eines Satzes zu thun iſt, wenn man nur die zween
Begriffe A, B in Betrachtung zieht. Und dieſes iſt
der einfachſte Fall. Die Bedingungen, die dabey vor-
ausgeſetzt werden, ſind: 1. Daß man bey den Begrif-
fen A, B genau bleibe. 2. Daß man ſie in einerley
Umſtaͤnden aufſuche, oder wo dieſe abwechſeln, die Ob-
ſervation ſo lange fortſetze, bis die Ungleichheit der Um-
ſtaͤnde einander compenſire, und die aus der Summe
geſundene Verhaͤltniß derer A, die B ſind, zu denen, die
es nicht ſind, anfange beſtaͤndig zu werden, oder nicht
mehr merklich verſchieden zu ſeyn. 3. Daß man unter
dieſen Bedingungen die Faͤlle A nehme, wie ſie ſich
anbieten, ohne dabey auszuwaͤhlen, weil eine ſolche Aus-
wahl einen Einfluß in die geſuchte Verhaͤltniß haben,
und ſie fehlerhaft machen koͤnnte.


§. 156. Es bleibt aber ſelten bey ſo einfachen Be-
obachtungen, ſondern man nimmt zu den Begriffen A, B
noch
[325]Von dem Wahrſcheinlichen.
noch mehr andere mit, oder theilt ſie in Claſſen ein.
So z. E. begnuͤgt man ſich an der bloßen Anzahl aller
jaͤhrlich Sterbenden nicht, ſondern man ſieht zugleich auf
das Alter, auf die Art der Krankheit, auf den Monat
des Jahrs, auf den Monat der Geburt ꝛc. Dadurch
erhaͤlt man ungleich ſpecialere Saͤtze, aus welchen ſich
ſodann andere zuſammen ſummiren laſſen, die allgemei-
ner oder unbeſtimmter ſind. Da aber bey ſolchen ſpe-
cialern Abtheilungen die Anzahl der Faͤlle fuͤr jede Claſ-
ſe vermindert wird, ſo muß die Obſervation laͤnger fort-
geſetzt, oder haͤufiger angeſtellt werden. Denn die ge-
ſuchten Verhaͤltniſſe werden mit der Anzahl der Obſer-
vationen genauer. Es iſt fuͤr ſich klar, daß die vorhin
fuͤr den einfachſten Fall angegebenen Bedingungen auch
bey ſolchen ſpecialern Faͤllen beobachtet werden muͤſſen,
um ſo mehr, weil man hier auf mehrere Umſtaͤnde zu
ſehen hat.


§. 157. Auf dieſe Art findet man nicht bloß unbe-
ſtimmte Particularſaͤtze, ſondern den Grad ihrer Parti-
cularitaͤt, und oͤfters auch genaue Eintheilungen einer
gewiſſen Art Faͤlle in einzelne Claſſen, ſo daß man die
Anzahl der zu jeder Claſſe gehoͤrenden gegen einander
proportioniren kann. Da ferner allgemein bejahende
Saͤtze, wenn man ſie umkehrt, particular werden, ſo
laͤßt ſich auch bey dieſen der Grad der Particularitaͤt
auf dieſe Art beſtimmen. Was aber dieſes in Abſicht
auf die Schluͤſſe und ihre Zeichnung auf ſich hat, ha-
ben wir in der Dianoiologie (§. 179. 193.) angemerkt.
Es iſt nur zu bedauren, daß ſolche Abzaͤhlungen der
Faͤlle ſehr muͤhſam ſind, und lange nicht bey allen Saͤt-
zen vorgenommen werden koͤnnen. Jndeſſen geben be-
ſonders die nunmehr ſchon ſo haͤufig geſammleten me-
teorologiſchen Obſervationen noch einen reichen Vor-
rath zu ſolchen Saͤtzen an die Hand, wenn man ſich die
Muͤhe geben will, ſie nach jeden Abſichten in Claſſen zu
X 3bringen,
[326]V. Hauptſtuͤck.
bringen, und dadurch die Geſetze der Witterung zu be-
ſtimmen. Man ſehe auch Dianoiol. §. 584. ſeq.


§. 158. Aus ſolchen ſpecialern Verhaͤltniſſen und
Wahrſcheinlichkeiten laſſen ſich ſodann, beſonders mit
Zuziehung der|Grundſaͤtze vom Gleichgewichte, vom
Beharrungsſtande und den Schranken der Kraͤf-
te der Natur,
noch andere herleiten, die ſich entweder
nicht ſo unmittelbar oder gar nicht wuͤrden aus Beob-
achtungen finden laſſen. So z. E. wenn man annimmt,
daß in einer großen Stadt oder Lande die Anzahl der
Lebenden beynahe gleich bleibe, ſo iſt es moͤglich, aus
der durch Beobachtungen gefundenen Anzahl derer, die
jaͤhrlich von jedem Alter ſterben, die Anzahl derer zu
beſtimmen, die von jedem Alter leben, und daher auch
den Grad der Sterblichkeit, und die Hoffnung zu leben,
fuͤr jedes Alter zu finden. Eine Rechnung, die bey bil-
liger Einrichtung der Leibrenten, Tontinen ꝛc. und fuͤr
viele andere Faͤlle des buͤrgerlichen Lebens von betraͤcht-
lichem Nutzen iſt.


§. 159. Es kommen aber auch Faͤlle vor, wo die
Beſtimmung der Grade der Wahrſcheinlichkeit aus
Betrachtung der Natur der Sache, eben ſo, wie bey den
Gluͤcksſpielen, vorgenommen werden kann. So z. E.
wenn man mit dem Zirkel die Laͤnge einer Linie faßt, ſo
wird man ſie ſelten genau faſſen. Der Grund iſt, weil
das Auge die beyden Enden der Linie nicht genau ſieht.
Man kann ſich daher an jedem Ende einen kleinen Cir-
cul gedenken, der ſich der Schaͤrfe des Auges entzieht.
Jn jeden Punkt dieſer Circul iſt es nun gleich moͤglich,
den Fuß des Zirkels zu ſetzen. Denn da das Auge
darinn nichts mehr unterſcheidet, ſo bleibt keine Aus-
wahl. Combinirt man nun jede Punkte in jedem der
beyden Circul mit einander, ſo laͤßt ſich berechnen, wie
vielmal jede Oeffnung des Circuls vorkommen kann,
und wie groß folglich der Grad der Wahrſcheinlichkeit
von
[327]Von dem Wahrſcheinlichen.
von jeder iſt. Man wird in den coſmologiſchen
Briefen uͤber die Einrichtung des Weltbaues

aͤhnliche Betrachtungen uͤber die Vertheilung und Lage
der Cometenbahnen um die Sonne, und hieher dienende
Anmerkungen uͤber die dabey angebrachte Lehre der
Wahrſcheinlichkeit finden.


§. 160. Wir haben bisher das Abzaͤhlen der
Faͤlle,
es mag nun a priori oder a poſteriori geſche-
hen, ſo genommen, daß man dabey alle Sorgfalt an-
wendet, folglich wenn man ſie aus der Erfahrung nimmt,
dieſelbe aufzeichnet, oder wenn man ſie aus der Natur
der Sache beſtimmt, die Regeln der Combination und
Permutation dabey gebraucht, und die Sache deutlich
aus einander ſetzt. Laſſen wir es aber in Anſehung der
Erfahrungen ſchlechthin auf das Gedaͤchtniß ankom-
men, ſo kann es unvermerkt geſchehen, daß wir uns
von der Oefternheit oder Seltenheit einer jeden Art von
Faͤllen, und daher auch von dem Grade ihrer Wahr-
ſcheinlichkeit einen Begriff machen, und dieſen Grad et-
wan wohl auch auf Zahlen ſetzen. So gebrauchen wir
die Ausdruͤcke: unter tauſend kaum einer, ſehr
wenige, die meiſten, gar oft, ſelten, haͤufig
ꝛc.
wodurch wir den Particularſaͤtzen naͤhere Beſtimmun-
gen geben. Auf eine aͤhnliche Art, wenn uns die Ur-
ſachen bekannt ſind, die zu jeder Claſſe von Faͤllen er-
fordert werden, koͤnnen wir uns aus Betrachtung der-
ſelben einen beylaͤufigen Begriff machen, ob die Faͤlle
haͤufiger oder ſeltener vorkommen. Die Anzahl und
Mannichfaltigkeit der Umſtaͤnde und Urſachen, die zu-
ſammentreffen muͤſſen, traͤgt zu dieſer Beſtimmung viel
bey. So z. E. kann ich aus der Erfahrung wiſſen,
daß Titius oft zu dem Cajo geht, wenn ich ihn naͤm-
lich oft hingehen ſehe. Weiß ich aber, daß er Geſchaͤff-
te halber oft zu ihm gehen muß, ſo iſt mir die Erfah-
rung dabey unnoͤthig, ſo bald ich weiß, daß keine dauer-
X 4hafte
[328]V. Hauptſtuͤck.
hafte Hinderniſſe, z. E. Krankheit, Abweſenheit ꝛc. ihn
abhalten. Jn beyden Faͤllen aber kann das Bewußt-
ſeyn des oͤftern Umganges zur Eroͤrterung anderer Fra-
gen dienen.


§. 161. Es kann ferner die wirkliche Abzaͤhlung der
Faͤlle auch nur da gebraucht und vorgenommen werden,
wo die durch einander laufenden Urſachen in ihren Ver-
aͤnderungen etwas Beſtaͤndiges und Beſtimmtes haben.
Denn ſonſt wuͤrde man zwiſchen den zu jeder Claſſe ge-
hoͤrenden Faͤllen keine beſtaͤndige oder beſtimmte Ver-
haͤltniß finden koͤnnen, wenn ſich immer neue Urſachen
aͤußerten, oder einige auf hoͤrten, ohne durch gleichgel-
tende erſetzt zu werden, oder wenn ſie nur fuͤr eine kurze
Zeit dauern, wie es bey ſehr vielen Verrichtungen eines
Menſchen geſchieht. Jn ſolchen Faͤllen muß man
demnach ganz andere Gruͤnde gebrauchen, und die in-
dividualen Umſtaͤnde mit in Betrachtung ziehen, wenn
man wahrſcheinlich oder vollends gewiß beſtimmen will,
was wirklich ſeyn wird.


§. 162. Dieſes leitet uns nun zu der dritten allge-
meinen Art der Wahrſcheinlichkeit. Wir koͤnnen uns
naͤmlich von geſchehenen Dingen unmittelbar verſichern,
daß ſie geſchehen ſind, wenn wir ſie entweder ſelbſt ge-
than, oder geſehen haben, oder wenn wir Folgen davon
ſehen, aus denen ſie ſich nothwendig ſchließen laſſen.
Sind aber die Folgen, die wir finden, unzureichend,
das Geſchehene daraus zu erkennen, ſo gelangen wir
dadurch auch nur zu einem gewiſſen Grade der Wahr-
ſcheinlichkeit. Wir reichen ebenfalls nicht weiter, wenn
wir aus den Umſtaͤnden, Anlaͤßen, Urſachen und Be-
weggruͤnden ſchließen muͤſſen, ob die Sache geſchehen
ſey, oder geſchehen werde, zumal wenn ſie Hinderniſſen
unterworfen ſeyn kann. Die Folgen ſind unzuverlaͤßig,
wenn ſie ſaͤmtlich, oder jede fuͤr ſich, von andern Urſa-
chen herruͤhren koͤnnen. Jndeſſen je mehr und je ver-
ſchiedener
[329]Von dem Wahrſcheinlichen.
ſchiedener ſolche Urſachen ſeyn muͤßten, deſto unwahr-
ſcheinlicher wird es, daß ſie alle ſollten zuſammengetrof-
fen haben, um Folgen nachzulaſſen, die ſaͤmtlich von ei-
ner gleichen Sache hergeleitet werden koͤnnen. Hiebey
helfen nun beſonders die Jndividualien in den Folgen,
daß man davon ruͤckwaͤrts auf die Urſache ſchließen
kann. Widrigenfalls aber nimmt man die Urſache
hypothetiſch an, und leitet die Folgen daraus her.
Dieſe Art zu ſchließen, iſt aber nur eine Jnduction, wel-
che demnach complet ſeyn muß, wenn ſie ſtatt eines Be-
weiſes dienen ſoll. Denn ſo iſt unſtreitig, daß, wenn
jede Folgen, die eine Urſache in vorgegebenen Umſtaͤn-
den nach ſich ziehen muß, durchaus in der Erfahrung
gefunden werden, der Schluß, daß ſie von nichts anders
herruͤhren koͤnnen, richtig gemacht werden kann (Dia-
noiolog. §. 569. 595. Alethiol. §. 176.). Uebrigens iſt
zwiſchen den Folgen ſelbſt allerdings der Unterſchied zu
machen, ob ſie unmittelbar oder entfernter ſind. Denn
bey der Jnduction iſt es an ſich genug, wenn man die
unmittelbaren Folgen complet hat, weil die entferntern
von dieſen herruͤhren, und weil man oͤfters viele entfern-
tere zuſammennehmen muß, um den Abgang einer un-
mittelbaren zu erſetzen. Wir machen dieſe Anmerkung
zum Behuf der Berechnung der Wahrſcheinlichkeit bey
ſolchen Jnductionen. Alle unmittelbare Folgen zuſam-
mengenommen, machen die Gewißheit aus, welche in
der Berechnung der Wahrſcheinlichkeit als eine Ein-
heit
genommen wird, wovon die Grade der Wahr-
ſcheinlichkeit Bruͤche ſind (Alethiol. §. 76.). Jede un-
mittelbare Folge giebt einen ſolchen Bruch, und man
ſieht leicht, daß die Beſtimmung deſſelben auf die Be-
ſtimmung des Theils ankoͤmmt, den die Folge von dem
Ganzen ausmacht. Wie aber auch immer die Berech-
nung hiebey angeſtellt werden muͤſſe, ſo ſieht man leicht,
daß die Summe aller dieſer Bruͤche nicht groͤßer als
X 5die
[330]V. Hauptſtuͤck.
die Einheit werden koͤnne, daß ſie aber auch, wiewohl
auf eine fehlerhafte Art, koͤnne groͤßer werden, wenn
man naͤmlich ohne Unterſchied die unmittelbaren und
die entferntern Folgen zuſammenrechnet, und ſie nach
einerley Einheit ſchaͤtzt, als wenn ſie von einander un-
abhaͤngig waͤren. Dieſe Vermengung, welche bey Red-
nern, und uͤberhaupt bey den ſo genannten moraliſchen
Beweiſen, ſehr oft vorkoͤmmt, iſt ein Grund mit, war-
um man ſich bey Durchleſung ſolcher Beweiſe uͤberzeug-
ter glaubt, als man in der That iſt, und warum leicht
wiederum Zweifel entſtehen, wenn man das, ſo man er-
wieſen glaubte, von andern Seiten betrachtet, und da-
bey Luͤcken findet, die haͤtten ausgefuͤllt werden ſollen,
und etwan auch ausgefuͤllt werden koͤnnen.


§. 163. Jſt aber die Sache nicht geſchehen, oder
man weiß die Folgen davon nicht, ſondern nur die vor-
gehenden Umſtaͤnde, Anlaͤße, Urſachen, Beweggruͤnde ꝛc.
ſo laͤßt ſich daraus mehrentheils nur wahrſcheinlich er-
weiſen, ob ſie geſchehen ſey, oder geſchehen werde, oder
nicht? Die Faͤlle, wo man es dabey zur Gewißheit
bringt; ſind diejenigen, wobey eine phyſiſche Noth-
wendigkeit
ſtatt hat, oder wo der Lauf der Natur ſich
nach beſtaͤndigen Geſetzen richtet, die man aus vorge-
henden Erfahrungen gelernt hat. Auf dieſe Art be-
rechnen die Aſtronomen die Finſterniſſe und andere Er-
ſcheinungen am Firmamente voraus. So auch wenn
man im menſchlichen Leben die Auswahl unter mehrern
Entſchließungen dadurch auf eine einige einſchraͤnkt, daß
man die uͤbrigen unmoͤglich oder unthunlich macht, ſo
laͤßt ſichs leicht voraus ſehen, daß geſchehen werde, was
geſchehen muß, oder wobey keine Wahl mehr bleibt.
Koͤmmt aber keine ſolche Nothwendigkeit vor, ſo iſt
auch das Gegentheil immer moͤglich, und wir koͤnnen
aus den Umſtaͤnden, Urſachen ꝛc. nur finden, was na-
tuͤrlicher Weiſe, der Natur der Sache gemaͤß,

oder
[331]Von dem Wahrſcheinlichen.
oder allem Anſehen nach, daraus erfolgen werde,
ungeacht das Gegentheil nicht unmoͤglich iſt (§. 149.
151.). Unter ſolchen Umſtaͤnden dienen hiezu vorzuͤglich
diejenigen, die man Anſtalten oder Vorbereitungen
nennt, zumal ſolche, die nicht vorgenommen oder vorge-
kehrt werden, es ſey denn, daß man ſie wirklich ge-
brauchen will oder gebrauchen muß. Denn da iſt nur
zu ſehen, ob man die Anſtalten nicht bloß zum Schein
vornimmt, oder ob nicht neue ſich aͤußernde Umſtaͤnde
und Hinderniſſe die wirkliche Ausfuͤhrung unnoͤthig oder
unmoͤglich machen. Sieht man aber von den Anſtal-
ten nur einzelne Theile, die auch aus andern Gruͤnden
vorgenommen werden koͤnnen, ſo iſt fuͤr ſich klar, daß
man vorerſt ausfinden muͤſſe, ob es aus dieſen Gruͤnden
geſchieht. Uebrigens gruͤndet ſich der Begriff der An-
ſtalten
darauf, daß man zu gewiſſen Abſichten gewiſſe
Mittel entweder nothwendig, oder natuͤrlicher Weiſe,
oder gewoͤhnlich gebraucht, oder Umſtaͤnde veranlaßt
werden muͤſſen, ohne welche die Sache nicht vorgenom-
men werden koͤnnte, oder der Natur und Gewohnheit
nach nicht vorgenommen wird. Wer ſie demnach als
Anſtalten anſehen will, dem muß dieſe Verhaͤltniß be-
kannt ſeyn.


§. 164. Die uͤbrigen Umſtaͤnde, die, ohne eben Vor-
bereitungen oder Anſtalten zu ſeyn, der Sache natuͤrli-
cher Weiſe vorgehen oder ſie begleiten, koͤnnen gleichfalls
zum Beweiſe gebraucht werden, daß die Sache geſchehe
oder geſchehen werde. Zu dieſem Ende muß man die
Verhaͤltniß wiſſen, die zwiſchen denſelben und der Sa-
che iſt, und wieferne ſie den Erfolg der Sache natuͤrli-
cher Weiſe nach ſich ziehen, oder Zeichen davon ſind.
So ſagt man z. E. daß ſich alles zu einer gewiſ-
ſen Veraͤnderung anſchicke,
wenn man Anlaͤße,
Urſachen und Beweggruͤnde dazu ſieht, ſie moͤgen nun
geſucht oder veranſtaltet ſeyn, oder ſich auch nur unver-
merkt
[332]V. Hauptſtuͤck.
merkt und gleichſam zufaͤlliger Weiſe zuſammen einfin-
den. Die Aufmerkſamkeit auf ſolche Umſtaͤnde und
die Einſicht in den Zuſammenhang ihrer Folgen, die
groͤßtentheils aus der Erfahrung erlangt wird, macht
einen betraͤchtlichen Theil der Kunſt zu muthmaßen
und das Kuͤnftige voraus zu vermuthen
aus,
die ſich, in ihrem weitlaͤuftigſten Umfange genommen,
auf jede an keine einfache und nothwendige Geſetze ge-
bundene Veraͤnderungen in dem Lauf der Dinge er-
ſtreckt. Man muß dabey wiſſen, welche Umſtaͤnde und
Urſachen einer Veraͤnderung vorgehen muͤſſen, ehe ſie
erfolgen kann, und welche dazu erfordert werden, damit
ſie wirklich erfolge, oder wenigſtens ohne neue Hinder-
niſſe erfolgen koͤnne. Oefters laſſen auch die Umſtaͤnde,
ſo weit ſie ſich entdecken, eine Luͤcke, die ſich ohne die
Vorausſetzung, daß eine gewiſſe Sache vorgegangen
ſey, oder vorgehen muͤſſe, nicht ausfuͤllen laͤßt. Die
Betrachtungen, daß nichts durch einen Sprung
geſchieht; daß eine nicht verhinderte Urſache
ihre Wirkung aͤußert; daß jede Veraͤnderung
verurſacht werde; daß die Menſchen nach
Trieben und Beweggruͤnden handeln
ꝛc. werden
bey ſolchen Unterſuchungen haͤufig angewandt.


§. 165. Wir werden nun von den phyſiſchen
Folgen,
die eigentlich Wirkungen und Veraͤnderungen
ſind, zu den logiſchen fortſchreiten, welche allgemeiner
ſind, und jene als eine beſondere Claſſe unter ſich be-
greifen, in ſo fern ſie in Schlußreden vorgetragen wer-
den. Hier betrachten wir demnach nicht die Sachen
ſelbſt,
ſondern die Begriffe und Saͤtze, die ſie uns
angeben, und dabey giebt es nun wiederum verſchiedne
Arten von Wahrſcheinlichkeiten, wobey zu unterſuchen
vorkoͤmmt, worinn ſie beſtehen, und worinn ſie von der
Gewißheit abgehen. Die erſte nehmen wir von der
Frage her, wieferne ein Satz aus ſeinen Folgen
bewie-
[333]Von dem Wahrſcheinlichen.
bewieſen werden koͤnne? Daß es uͤberhaupt be-
trachtet bey jeden Saͤtzen angehe, haben wir in der Ale-
thiologie erwieſen, wo wir (§. 175.) zeigten, daß ein
Satz nothwendig wahr ſey, ſo oft ſich nichts
widerſprechendes daraus herleiten laͤßt.
Wenn
demnach jede Schlußſaͤtze, die man mit Zuziehung wah-
rer Saͤtze und in richtiger Form aus einem Satze her-
leiten kann, wahr befunden werden, ſo iſt der Satz ſelbſt
ebenfalls wahr, und man iſt dadurch von ſeiner Wahr-
heit verſichert, ohne daß man ihn aus Gruͤnden herzu-
leiten oder zu beweiſen noͤthig habe. Bey dieſer Art
zu beweiſen wird der Satz ſelbſt als eine Hypotheſe an-
genommen, und mit Zuziehung wahrer Saͤtze Folgen
daraus gezogen, von deren Wahrheit man ſich aus an-
dern Gruͤnden oder durch die Erfahrung verſichert. Wir
haben uns an angezogenem Orte begnuͤgt, die allgemei-
ne Moͤglichkeit und Zulaͤßigkeit dieſes Verfahrens zu
beweiſen, und uͤber die Anwendung deſſelben auf phyſi-
ſche Hypotheſen einige Anmerkungen beygefuͤgt. Es
koͤmmt aber nicht nur bey dieſen Hypotheſen, ſondern
vornehmlich auch bey den ſogenannten moraliſchen Be-
weiſen ſehr haͤufig vor. Daher iſt hier eigentlich der
Ort, daſſelbe umſtaͤndlicher aus einander zu ſetzen, um
zu ſehen, woran es fehle, wenn man dabey bey
dem Wahrſcheinlichen zuruͤcke bleibt, und
nicht bis zur voͤlligen Gewißheit ausreicht.


§. 166. Die Hauptſchwierigkeit, die ſich wider die
Brauchbarkeit dieſes Verfahrens aͤußert, iſt naͤmlich die,
daß es den Anſchein hat, man koͤnne ſich dadurch von
der Wahrheit des Satzes nicht wohl anders, als durch
eine unendliche Menge von Schluͤſſen verſichern, indem
man alle moͤgliche Folgen aus dem Satze gleichſam
muͤſſe durch die Muſterung gehen laſſen. Bleibe man
aber nur bey einer gewiſſen Anzahl ſtehen, ſo werde der
Anſtand in Anſehung der Richtigkeit der uͤbrigen nicht
geho-
[334]V. Hauptſtuͤck.
gehoben, und man reiche folglich dadurch nur zu einem
gewiſſen Grade der Wahrſcheinlichkeit. Es iſt aller-
dings unſtreitig, daß man in dieſer Abſicht ſowohl bey
phyſiſchen Hypotheſen als auch in redneriſchen und mo-
raliſchen Beweiſen Schluͤſſe auf Schluͤſſe, oder Argu-
mente auf Argumente haͤuft, und durch die Menge der-
ſelben die Leſer und Zuhoͤrer gleichſam uͤbertaͤubt. Die
Lebhaftigkeit des Vortrages und die Erregung der Af-
fecten mag auch viel dazu verhelfen, die Seele mit ſol-
chen Argumenten gleichſam auszufuͤllen, daß ſie ſich
nicht ſo gleich auf die Luͤcken beſinnt, die bey ſolchen Ar-
gumenten noch zuruͤcke bleiben. Man findet aber etwan
nachher jede einzelne Argumente zu ſchwach, ohne zu
wiſſen, ob ihre Summe die voͤllige Gewißheit ausma-
che. Endlich iſt es auch an ſich leichter, aus einem
Satze Schluͤſſe zu ziehen, als denſelben aus Gruͤnden zu
beweiſen, und auf dieſe Art hat das Argumentiren und
Conſequenzen ziehen etwas Natuͤrliches und Leichtes, und
es ſcheint gleichſam viel zu leicht zu ſeyn, als daß die
dabey zuruͤckbleibenden Schwierigkeiten dadurch geho-
ben werden koͤnnten. Wir wollen aber die verſchiede-
nen Arten ſolcher Argumente durchgehen.


§. 167. Man habe demnach den Satz: A iſt B,
der durch ſeine Folgen ſolle bewieſen werden, und den
wir in dieſer Abſicht die Hypotheſe nennen koͤnnen.
Man mache ihn zum Unterſatze in der erſten Figur, und
mit Zuziehung wahrer Oberſaͤtze: B iſt C, D, E, F, ꝛc.
folgere man die Schlußſaͤtze: A iſt C, D, E, F, ꝛc.
daraus, und dieſe ſeyen vermoͤg der Erfahrung oder aus
andern Gruͤnden ſaͤmtlich wahr. Wir nehmen hiebey
die Oberſaͤtze ſaͤmtlich bejahend, weil die verneinenden
mehrentheils nur terminos infinitos angeben, woraus
fuͤr A nichts poſitives folgt. Unter dieſer Vorausſe-
tzung laſſen ſich die Oberſaͤtze ſaͤmtlich in einen copula-
tiven Satz: B iſt C, und D, und E, ꝛc. zuſammenzie-
hen.
[335]Von dem Wahrſcheinlichen.
hen. Die Begriffe C, D, E, F, ꝛc. ſind eben ſo viele
Merkmale von B, und laſſen ſich daher zuſammenge-
nommen als einen zuſammengeſetzten Begriff M anſe-
hen. Auf dieſe Art haben wir ſtatt ſo vieler Schluß-
reden eine einige


  • B iſt M.
  • A iſt B.
  • A iſt M.

worinn nicht der Schlußſatz, ſondern der Unterſatz zu
beweiſen iſt. Dieſes geht nun nicht anders als mit
Umkehrung des Oberſatzes an. Denn ſo haben wir
den Schluß


  • M iſt B.
  • A iſt M.
  • A iſt B.

in welchem nun die Wahrheit des Schlußſatzes ſchlecht-
hin von der Wahrheit des Oberſatzes abhaͤngt. Man
ſieht demnach, daß man ſich begnuͤgen kann, von den
Begriffen oder Merkmalen C, D, E, F, ꝛc. ſo viele zu-
ſammen zu nehmen, bis der Satz: B iſt M, allgemein
umgekehrt werden kann, und daß es demnach nicht
auf die Menge, ſondern auf die Beſchaffenheit
der Begriffe
C, D, E, F, ꝛc. ankoͤmmt, wenn man
ſtatt bloßer Wahrſcheinlichkeiten eine Gewiß-
heit herausbringen will.
Jn der That kann oͤfters
unter dieſen Begriffen ein einiger zu der Gewißheit hin-
reichend ſeyn, wenn er ein eigenes Merkmal von B iſt.
Das in der Dianoiologie wegen ſeiner Kuͤrze und Faß-
lichkeit mehrmalen angefuͤhrte Beyſpiel von der Run-
dung der Erde mag auch hier zur Erlaͤuterung dienen.
Denn nimmt man an, die Erde ſey eine Kugel, ſo laͤßt
ſich die ganze mathematiſche Geographie und Hydro-
graphie daraus herleiten, und die Erfahrung wird den
Folgen nicht widerſprechen. Allein mit allen dieſen Fol-
gen
[336]V. Hauptſtuͤck.
gen wuͤrde der angenommene Satz noch immer nur das
Anſehen einer, wiewohl ſehr großen Wahrſcheinlichkeit
gehabt haben. Damit aber begnuͤgten ſich die Mathe-
matiker nicht: ſondern da eine Kugel ſehr viele eigene
Merkmale und Verhaͤltniſſe hat, ſo ſuchten ſie vornehm-
lich dieſe durch die Erfahrung bekraͤftigt zu finden. Hie-
zu gab nun der immer runde Schatten der Erde bey
den Mondsfinſterniſſen den erſten Anlaß, und nachge-
hends brachte man nicht nur ihre Groͤße, ſondern in den
neuern Zeiten auch ihre Sphaͤroiditaͤt heraus. Da jeder
Begriff ſeine eigene Merkmale hat (Alethiol. §. 176.),
ſo merken wir hier uͤberhaupt an, daß, wennA, Biſt,
es immer an ſich betrachtet moͤglich ſey, auch
die eigenen Merkmale des
Bin dem Begriffe
oder Sache
Azu finden. Es iſt unſtreitig, daß es
noch viele Faͤlle giebt, wo man ſtatt der Muͤhe, Argu-
mente ohne Auswahl aufzuhaͤufen, und einen Satz da-
durch nur wahrſcheinlich zu machen, ſich viel nuͤtzlicher
die Muͤhe geben wuͤrde, ſolche eigene Merkmale aufzu-
ſuchen, das will ſagen, den Begriff B ſo weit zu entwi-
ckeln, bis man auf Saͤtze koͤmmt, die ſich allgemein um-
kehren laſſen. So weiß man z. E. daß die genauere
Entwicklung der Theorie von den Centralkraͤften in der
Mechanik den Aſtronomen Saͤtze angegeben hat, welche,
mit ihren Erfahrungen und Obſervationen verglichen,
uns die Geſetze der Bewegung jeder Weltkoͤrper um die
Sonne bekannt, und die Berechnung des Laufs der Co-
meten moͤglich und leicht gemacht haben.


§. 168. Wir haben in erſt angeſtellter Unterſuchung
die erſte Figur der Schluͤſſe gebraucht, und dabey muß
der Satz, A iſt B, welcher durch ſeine Folgen erwieſen
oder wenigſtens wahrſcheinlich gemacht werden ſolle, bis
dahin als eine Hypotheſe angeſehen werden. Man ge-
braucht aber auch oͤfters die zweyte Figur dazu, und
zwar nicht in der Abſicht, einen Schlußſatz zu ziehen,
weil
[337]Von dem Wahrſcheinlichen.
weil dieſer nebſt einem der Vorderſaͤtze verneinend ſeyn
muͤßte: ſondern die Saͤtze


  • B iſt C, D, E, F ꝛc.
  • A iſt ebenfalls C, D, E, F ꝛc.

mit einander zu vergleichen, weil man durch dieſe Art
des Vortrages faſt unvermerkt geneigt wird, den Schluß
zu machen, daßAmuͤſſeBſeyn, zumal wenn uns
dabey kein Merkmal einfaͤllt, welches nicht beyden Be-
griffen zukomme, oder nur von dem einen bejaht, von
dem anderen aber verneint werden muͤſſe. Hiebey iſt
unſtreitig, daß wenn A in der That B iſt, uns kein ſol-
ches Merkmal beyfallen koͤnne, wenn wir anders die
Begriffe A, B, nicht irrig denken. Ferner iſt aus dem
Vorhergehenden klar, daß der Schluß: A ſey B, angehe,
ſo oft unter den Praͤdicaten C, D, E, F ꝛc. ſolche vor-
kommen, die einzeln oder zuſammengenommen, eigene
Merkmale von B ſind. Denn ſo laͤßt ſich der erſte
Satz umkehren, der Schluß wird in der erſten Figur,
und der Schlußſatz wahr und richtig ſeyn. Den drit-
ten Fall, wo naͤmlich C, D, E, F ꝛc. die ganze Summe
von allen moͤglichen Praͤdicaten des B ſind, beruͤhren
wir hier nicht, weil ſolche Summen fuͤr uns viel zu
weitlaͤuftig ſind. Daferne wir aber den Begriff B in
ſeine eigene und gemeinſame Merkmale dergeſtalt auf-
loͤſen koͤnnen, daß ſie zuſammengenommen den Umfang
deſſelben ausfuͤllen; ſo machen dieſe Merkmale zuſam-
men den Begriff M aus, und der Satz: B iſt M, laͤßt
ſich, wie alle identiſche Saͤtze, ſchlechthin umkehren.
Das einzige, was wir hier noch zum Behufe der Wahr-
ſcheinlichkeit anmerken wollen, iſt, daß wenn man auch,
ohne Auswahl treffen zu koͤnnen, bey dieſer Art zu
ſchließen, eine ſehr große Menge von Praͤdicaten C, D,
E, F
ꝛc. aufhaͤuft, die Vermuthung, es moͤchten doch
einige oder mehrere darunter zuſammengenommen dem
Begriff B allein zukommen, und folglich der Satz: A iſt B,
Lamb. Organon II B. Ydadurch
[338]V. Hauptſtuͤck.
dadurch erwieſen ſeyn, groͤßer wird, und zwar um deſto
mehr, je verſchiedener die Praͤdicate C, D, E, F ꝛc. ſind,
und je weniger es den Anſchein hat, daß einige fuͤr ſich
ſchon aus den andern folgen. Dieſe Verſchiedenheit
muͤſſen wir bey der Aufhaͤufung der Argumente an ſich
auch vorausſetzen, weil ein Argument, das nur eine
Folge von dem andern iſt, zu der Vermehrung der
Wahrſcheinlichkeit nichts beytraͤgt, und uns folglich, ſo
lange wir dieſe Abhaͤnglichkeit nicht wiſſen, durch einen
falſchen Schein blendet.


§. 169. Wenn die Praͤdicate C, D, E, F ꝛc. nicht
eigene Merkmale von B ſind, ſo kommen ſie noch irgend
andern Subjecten zu. Kann man nun in Anſehung
derſelben die oben (§. 154. ſeqq.) betrachtete Abzaͤhlung
der Faͤlle, in welchen ſie dem B zukommen, und in wel-
chen ſie ihm nicht zukommen, vornehmen, oder die Ver-
haͤltniß zwiſchen beyden aus andern Gruͤnden finden, ſo
laͤßt ſich der Grad der Wahrſcheinlichkeit, der aus den-
ſelben erwaͤchſt, berechnen. Wir wollen uns hier be-
gnuͤgen, dieſe Berechnung auf die Theorie der Gluͤcks-
ſpiele zu reduciren. Man ſtelle ſich ſo viele Haufen
Zettel vor als Argumente ſind. Jn jedem Haufen ſey
die Anzahl der guͤltigen oder bezeichneten Zettel zu der
Anzahl der nicht bezeichneten in eben der Verhaͤltniß,
wie die Faͤlle, in welchen das Argument guͤltig iſt, zu
denen ſind, in welchen es nicht guͤltig iſt. Man ſetze
nun, Cajus nehme blindhin von jedem Haufen einen
Zettel, die Frage iſt, wie wahrſcheinlich es ſey, daß
unter dieſen herausgenommenen Zetteln kein guͤltiger
ſey? So wahrſcheinlich, oder ſo unwahrſcheinlich wird
es ſeyn, daß alle Argumente, ſo man zum Behuf des
Satzes gefunden, ihn nicht beweiſen. Die Theorie der
Gluͤcksſpiele giebt zu dieſer Berechnung folgende Regel
an. Man multiplicire die Anzahl der geſamm-
ten Zettel eines jeden Haufens mit einander,

und
[339]Von dem Wahrſcheinlichen.
und eben ſo multiplicire man auch die Anzahl
der unguͤltigen oder nicht bezeichneten Zettel
eines jeden Haufens mit einander: ſo wird, das
letzte Product durch das erſte dividirt, den
Grad der Wahrſcheinlichkeit angeben, daß die
Argumente nicht beweiſen. Und wird dieſer
Grad, welcher nothwendig ein Bruch iſt, von
1 abgezogen; ſo bleibt der Grad der Wahr-
ſcheinlichkeit uͤbrig, daß die Argumente be-
weiſen.


§. 170. Es giebt aber auch Mittel, die Sache zur
Gewißheit zu bringen, wenn gleich die Praͤdicate C, D,
E, F
ꝛc. nicht eigene Merkmale von B ſind. Und dieß
geſchieht, wenn man die uͤbrigen Subjecte, denen ſie zu-
kommen, aufſucht, und in Claſſen bringt. Auf dieſe
Art ſieht man z. E. den Begriff C als eine Gattung an,
unter welche die Art B nebſt ihren Nebenarten P, Q,
R,
ꝛc. gehoͤren. Da nun A, C iſt, ſo folgt, daß A ent-
weder B oder P, oder Q oder R ꝛc. ſeyn muͤſſe. Findet
man nun, daß entweder der Begriff A an ſich, oder
auch nur ſeine Praͤdicate D, E, F, ꝛc. weder P noch Q,
noch R ꝛc. ſind, ſo iſt der Schluß, daß A muͤſſe B ſeyn,
erwieſen, und nicht mehr bloß wahrſcheinlich. Dieſe
Art zu ſchließen geht nothwendig an, wenn A in der
That B iſt. Denn ſo iſt B ein hoͤherer Begriff als A,
und C ein hoͤherer Begriff als B. Wird nun C in die
Arten B, P, Q, R ꝛc. vollſtaͤndig und richtig eingetheilt,
ſo wird A, weil es unter B gehoͤrt, unter den Arten P,
Q, R
ꝛc. nicht vorkommen, und daher auch Praͤdicate
haben, die den Arten P, Q, R ꝛc. nicht zukommen.
Daß aber die Praͤdicate D, E, F ꝛc. ſolche ſeyn, folgt
aus der Bedingung, weil wir ſie dem Praͤdicat C coor-
dinirt angenommen haben. Uebrigens ſieht man leicht,
daß bey dieſer Art zu ſchließen verſchiedene von den zu-
ſammengeſetztern Umwegen vorkommen, die wir zu
Y 2Ende
[340]V. Hauptſtuͤck.
Ende des fuͤnften Hauptſtuͤckes der Dianoiologie (§. 310.
ſeqq.) betrachtet, und einige Beyſpiele davon in For-
meln vorgeſtellt haben. Jn gegenwaͤrtigem Falle wird
die Formel geaͤndert, je nachdem man, um die Arten
P, Q, R ꝛc. auszuſchließen, entweder A, oder D, E, F ꝛc.
gebraucht. Z. E.


  • A iſt C
  • C iſt entweder B, oder P, oder Q, oder R.
  • A iſt weder P, noch Q, noch R
  • Folglich A iſt B.


  • A iſt C, D, E, F.
  • C iſt entweder B, oder P, oder Q, oder R.
  • aber D iſt nicht P
    E
    iſt nicht Q
    F
    iſt nicht R.
  • demnach: A iſt B.


§. 171. Aus dem bisher geſagten erhellet nun uͤber-
haupt, daß bey den ſo genannten moraliſchen Beweiſen
oder Aufhaͤufungen von Argumenten immer eine Jn-
duction vorkomme, die entweder nur unvollſtaͤndig zu
ſeyn ſcheint, oder es in der That iſt. Denn dieſes laſſen
ſolche Beweiſe uneroͤrtert, weil der Antheil, den jedes
Argument an dem Beweiſe hat, dabey nicht beſtimmt
oder berechnet wird. Es kann daher gar leicht geſche-
hen, daß der Satz dadurch nicht nur bewieſen, ſondern
gleichſam mehr als bewieſen iſt; das will ſagen, daß
man einige Argumente haͤtte weglaſſen koͤnnen, wenn
man darauf Achtung gehabt haͤtte, daß die uͤbrigen zum
Beweiſe voͤllig ausreichen. So z. E. wenn in dem Fall
des §. 168. unter den Praͤdicaten C, D, E, F ꝛc. ein ein-
ziges vorkoͤmmt, welches ein eigenes Merkmal von B iſt,
ſo iſt dieſes zureichend, den Satz: A iſt B, zu beweiſen.
Auf dieſe Art erkennen wir die meiſten Dinge bey dem
erſten
[341]Von dem Wahrſcheinlichen.
erſten Anblicke wieder, weil uns ihre eigene Merkmale
ſogleich in die Sinnen fallen, ſo ſchwer es uns auch oͤf-
ters iſt, dieſe Merkmale mit Worten zu benennen. Es
iſt auch nicht zu zweifeln, daß die, ſo viel mit wahr-
ſcheinlichen Dingen umgehen, auf dieſe Art unvermerkt
eine Fertigkeit erlangen, in ihren Vermuthungen auf die
rechte Spur zu kommen. Sie kennen ihre Leute und
die Sachen, mit denen ſie umgehen, nebſt ihren Verhaͤlt-
niſſen, bis aufs Jndividuale, und dieſes giebt in einzel-
nen Faͤllen immer die ſicherſten Unterſcheidungszeichen.
Und ſo kann die Vermuthung auf eine ſehr natuͤrliche
Art richtig ſeyn, ungeacht andere, die ſolche individuale
Kenntniß nicht haben, und daher hoͤchſtens nur ſich mit
allgemeinen Betrachtungen und Moͤglichkeiten begnuͤgen
muͤſſen, ſie nur fuͤr wahrſcheinlich und den Erfolg fuͤr
gluͤcklich anſehen.


§. 172. Bey Aufhaͤufung der Argumente macht im-
mer der Beweis, daß die Jnduction dabey vollſtaͤndig
ſey, das Beruhigende in der Gewißheit aus.
Wir haben in der Alethiologie (§. 182.) erwieſen, daß
jeder irrige Satz mit mehrern Wahrheiten in Harmonie
gebracht werden kann, und daß ſich mehrere wahre
Saͤtze daraus herleiten laſſen. Demnach iſt es immer
moͤglich, einem irrigen Satze durch Aufhaͤufung ſolcher
Folgen und Argumente den Schein eines wahren Sa-
tzes zu geben, und in ſo ferne haben die moraliſchen Be-
weiſe fuͤr irrige und fuͤr wahre Saͤtze einerley Form.
Von den einzelnen Argumenten beweiſt keines vollſtaͤn-
dig, und die Frage, ob ſie zuſammengenommen vollſtaͤn-
dig beweiſen, bleibt uneroͤrtert, daferne man nicht er-
weiſt, daß die Jnduction vollſtaͤndig ſey. Denn wenn
ſie es auch iſt, aber man hat ſich davon nicht verſichert,
ſo iſt der Zweifel noch nicht ganz gehoben, und man
glaubt nur mit einem verworrenen Bewußtſeyn, indem
man das Gewicht der Argumente mehr empfindet als
Y 3richtig
[342]V. Hauptſtuͤck.
richtig abwiegt. Dieſes macht auch, daß man bey je-
dem neuen Anſtand ſie immer wiederum zuſammen neh-
men muß, um ihr Gewicht aufs neue zu empfinden, und
den Anſtand dadurch zu uͤberwiegen. Cicero beſchreibt
uns einen ſolchen Wankelmuth in ſeinen Tuſculani-
ſchen Fragen,
in Anſehung der Platoniſchen Argu-
mente fuͤr die Unſterblichkeit der Seele, welcher um deſto
natuͤrlicher war, weil mit den Argumenten noch Furcht
und Hoffnung ſich vermengten.


§. 173. Die verſchiedenen Arten, in welche ſich die
Argumente eintheilen laſſen, die man von der Sache
und ihren Verhaͤltniſſen hernimmt, richten ſich nach den
verſchiedenen Arten der Jnductionen, und nach dieſen
muͤſſen wir jene eintheilen, wenn wir die Vollſtaͤndigkeit
oder Unvollſtaͤndigkeit bey ihrer Aufhaͤufung beurtheilen
wollen. Wir wollen ſie hier kuͤrzlich anzeigen:


  • 1. Bey Koͤrpern und zuſammengeſetzten Sy-
    ſtemen derſelben ihre einzelnen Theile, wel-
    che zuſammengenommen das ganze Sy-
    ſtem oder den ganzen Koͤrper ausmachen.

    Hiebey kann man durch Jnduction die Fragen er-
    oͤrtern: ob das Syſtem vollzaͤhlig ſey, um mit
    dieſem oder jenem Namen benennt zu werden; ob
    eine vorgegebene Eigenſchaft jeden einzelnen Thei-
    len zukomme, um den Satz allgemein machen
    zu koͤnnen; ob man alle Theile wiſſe oder habe,
    um den Begriff des Ganzen oder das Ganze
    ſelbſt daraus zuſammenzuſetzen?
  • 2. Bey zuſammengeſetzten Begriffen diejeni-
    gen einzelnen Merkmale, welche zuſam-
    mengenommen den Umfang des Begrif-
    fes ausfuͤllen.
    Hier wird durch Jnduction er-
    oͤrtert, ob dieſe Merkmale in einem vorgegebenen
    Fall ſaͤmtlich votkommen, um daraus zu ſchließen,
    daß
    [343]Von dem Wahrſcheinlichen.
    daß auch der ganze Begriff dabey vorkomme.
    Man ſehe hieruͤber §. 166. 167.
  • 3. Bey einem Satze deſſelben naͤchſte und
    von einander unabhaͤngige Folgen.
    Um
    ſich aus der Wahrheit der Folgen von der Wahr-
    heit des Satzes zu verſichern, welcher in dieſer
    Abſicht hypothetiſch angenommen wird. Dieſen
    Fall haben wir auf den vorhergehenden reducirt
    (§. 166.).
  • 4. Bey einer Veraͤnderung ihre naͤchſten und
    von einander unabhaͤngigen Folgen.
    Um
    aus dieſen zu ſchließen, daß jene vorgegangen ſey.
    Man ſehe hieruͤber §. 162.
  • 5. Bey einer Wirkung ihre an ſich moͤgli-
    chen Urſachen.
    Um mit Zuziehung der Um-
    ſtaͤnde und ausſchließungsweiſe die wirkliche zu
    finden.
  • 6. Bey einer Handlung ihre moͤglichen Ab-
    ſichten.
    Um mit Zuziehung der Umſtaͤnde und
    ausſchließungsweiſe die wirkliche zu finden.
  • 7. Bey einer Gattung ihre Arten. Um in
    vorgegebenem Fall, wo eine Sache unter die Gat-
    tung gehoͤrt, mit Zuziehung der Praͤdicate der
    Sache und ausſchließungsweiſe die Art zu finden.
    Man ſehe hieruͤber §. 170.

§. 174. Kann nun in einem vorgegebenen Fall auch
nur eine von dieſen Jnductionen complet gemacht, und
auf den Fall angewandt werden, ſo wird der Satz da-
bey entweder durchaus erwieſen, es mag nun der Be-
weis collectiv oder disjunctiv ſeyn; oder man ſieht we-
nigſtens deutlich, was zu dem voͤlligen Beweiſe noch
ruͤckſtaͤndig bleibt, und was man folglich, um ihn voll-
ſtaͤndig zu machen, noch aufzuſuchen hat. Dabey iſt
nun alles und nach aller Schaͤrfe in logiſcher Form.
Solchen nach aller Schaͤrfe der Geſetze des Denkens
Y 4aus
[344]V. Hauptſtuͤck.
aus einander geſetzten Beweiſen, werden die Morali-
ſchen
entgegengeſetzt. Dieſe Benennung koͤmmt ver-
muthlich daher, weil die moraliſchen Beweiſe nebſt den
Argumenten fuͤr den Verſtand, auch die Argumente fuͤr
den Willen begreifen, und letztere ebenfalls gebraucht
werden, wo man, was von menſchlichen Entſchließun-
gen abhaͤngt, eroͤrtern, oder bey Unterſuchung der Glaub-
wuͤrdigkeit den Einfluß der Affecten in die Ausſage be-
ſtimmen ſoll. Hier betrachten wir ſie nur noch, in ſo
ferne ſie Argumente fuͤr den Verſtand angeben. Und
dieſes ſind einzelne Stuͤcke von Jnductionen, welche
man aufhaͤuft, ohne zu beſtimmen, ob ſie zum voͤlligen
Beweiſe zureichend ſind, ſie moͤgen nun zureichend oder
mehr als zureichend (§. 171.), oder unzureichend ſeyn.
Die Verſaͤumniß der Beſtimmung ihrer Vollſtaͤndig-
keit, und daß ſie weder uͤberfluͤßiges enthalten noch un-
zureichend ſind, iſt es demnach, wodurch wir die mora-
liſchen Beweiſe
von den logiſchen in Abſicht auf
den Verſtand unterſcheiden, weil letztere eben dadurch
logiſch genennt werden, daß ſie dieſe genaue Vollſtaͤn-
digkeit deutlich an Tag geben. Dieſe Verſaͤumniß,
woher ſie auch immer entſtehe, macht nun, daß die mo-
raliſchen Beweiſe, ſo ſehr man auch darinn Argumente
zuſammen aufhaͤuft, noch immer mehrerer zu beduͤrfen
ſcheinen (§. 172.). Es geſchieht daher ſehr oft, daß
man, anſtatt auch nur eine von den vorhin angefuͤhrten
Arten von Jnductionen complet zu machen (§. 173.),
einzelne Stuͤcke von mehreren, ſo viel man ihrer finden
kann, aufhaͤuft, und die Luͤcken durch einen dazu dienen-
den Vortrag nicht ausfuͤllt, ſondern bedeckt, indem man,
ſtatt des ausgelaſſenen zu erwaͤhnen, die Aufmerkſam-
keit des Leſers oder Zuhoͤrers mit neuen Argumenten,
Harmonien, Uebereinſtimmungen und Beantwortungen
von Einwuͤrfen beſchaͤfftigt. Und dieſes laͤßt ſich, wenn
der Satz, den man beweiſen will, in der That wahr iſt,
meiſter-
[345]Von dem Wahrſcheinlichen.
meiſterlich thun. Denn mit Zuziehung richtiger Ober-
ſaͤtze werden jede Folgen wahr ſeyn. Man wird jede
in dem Praͤdicat gefundene Merkmale, wenn es beja-
hend iſt, auch in dem Subject finden, und wenn der
Satz allgemein bejahend iſt, ſo wird man auch das
Subject von jeden Nebenarten des Praͤdicats aus-
ſchließen koͤnnen ꝛc. Allein da bey allem dieſem die
Vollſtaͤndigkeit ſolcher Jnductionen ſehlt, oder
verſaͤumt wird, und da man die dem Praͤdicat eigene
Merkmale unter den gemeinſamen vermengt oder gar
weglaͤßt, ſo wird zwar der Leſer oder Zuhoͤrer wider den
Satz keine gegruͤndete Einwendungen machen koͤnnen,
dagegen aber etwan bemerken, daß auf eine ſolche Art
auch irrige Saͤtze glaublich gemacht werden koͤnnten.


§. 175. Jndeſſen muß man allerdings ſagen, daß
man, um irrige Saͤtze glaublich zu machen, mit der
Aufhaͤufung der Argumente ehender zuruͤcke bleibt, und
nothwendig nicht ſo weit reichen kann, als wenn man
einen an ſich wahren Satz durch Argumente zu beſtaͤti-
gen vornimmt, weil das Vollſtaͤndige in der Harmonie
mit wahren Saͤtzen der Wahrheit eigen iſt, und weil
es immer moͤglich bleibt, aus irrigen Saͤtzen Wider-
ſpruͤche herzuleiten, und Luͤcken darinn zu entdecken, die
nicht anders als mit leeren Einbildungen ausgefuͤllt
werden koͤnnen (Alethiol. §. 185. 171. 205.). Solche
Diſſonanzen koͤnnen, auch wenn man ſie nicht ſogleich
deutlich anzeigen kann, dennoch oͤfters leicht empfunden
werden (Dianoiol. §. 620. ſeqq.).


§. 176. Die Hauptfrage aber, die hier gemacht wer-
den kann, und die uns wiederum von dem Wahrſchein-
lichen zur Gewißheit lenkt, iſt dieſe: ob es bey dem
Gebrauche einzelner Theile von verſchiedenen
Arten von Jnductionen, nicht Mittel giebt,
den Beweis daraus vollſtaͤndig zu machen,
auch ohne daß man die Jnductionen vollſtaͤn-

Y 5dig
[346]V. Hauptſtuͤck.
dig habe? oder wieferne die vorhandenen Thei-
ie der einen Jnduction die Luͤcken der andern
ausfuͤllen koͤnnen?
Denn man ſieht leicht, daß, ſo
ferne dieſes angeht, dadurch die Aufhaͤufung uͤberfluͤßi-
ger Argumente erſpart, und der Anſtand uͤber ihre Voll-
ſtaͤndigkeit gehoben wird. Man ſieht aber zugleich auch
uͤberhaupt ein, daß zu dieſer Abſicht nicht jede Argu-
mente dienen, und daß man auch hiebey wiederum
mehr auf ihre Beſchaffenheit als auf ihre Men-
ge
zu ſehen habe. Wir wollen nun, um zu zeigen, daß
dieſe Frage zuweilen angehe, ein Beyſpiel anfuͤhren,
woraus zugleich erhellen wird, welche Vortheile wir von
richtigen Eintheilungen der Gattungen in Arten zu er-
warten haͤtten, wenn ſie in Menge vorraͤthig waͤren.


§. 177. Es ſey demnach, wie oben (§. 170.) C eine
Gattung, B, P, Q, R ꝛc. ihre naͤchſten Arten. Jſt nun
die Eintheilung richtig gemacht, ſo hat jede Art, z. E.
B nothwendig nur zweyerley Merkmale. Einmal alle,
die die Gattung C hat, und dieſe finden ſich in jeder der
uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. Sodann ſolche, die die
Gattung C nicht hat, und dieſe finden ſich auch noth-
wendig in den Arten P, Q, R ꝛc. nicht. Dieſes folgt
aus der Vorausſetzung, daß die Eintheilung richtig, und
C die naͤchſt hoͤhere Gattung von B, P, Q, R ꝛc. ſey.
als welche außer den Merkmalen des C keine haben ſol-
len, die mehr als einer dieſer Arten zukaͤmen. Man
habe nun den Satz: alle B ſind D; ſo giebt es fol-
gende Faͤlle:


  • 1. Findet man, daß alle C ebenfalls D ſind; ſo koͤmmt
    D nicht nur allen B, ſondern auch allen P, Q, R ꝛc.
    zu. Denn in dieſem Fall gehoͤrt D unter die ge-
    meinſamen Merkmale von dieſen Arten.
  • 2. Findet man aber, daß etliche C nicht D, hingegen
    alle B, D ſind; ſo gehoͤrt D nothwendig nicht un-
    ter die Praͤdicate der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc.
    weil
    [347]Von dem Wahrſcheinlichen.
    weil vermoͤg der Bedingung dieſe Arten kein an-
    der gemeinſames Merkmal, als ſolche haben, die
    allen C zukommen, welches man vermoͤg der
    Vorausſetzung von D nicht ſagen kann.
  • 3. Findet man, daß alle B, D ſind, hingegen auch
    nur ein einziges D unter eine der uͤbrigen Arten
    P, Q, R ꝛc. nicht gehoͤrt; ſo wird D allgemein
    und nothwendig von allen ausgeſchloſſen. Denn
    wenn D unter dieſen Arten dem B nicht allein zu-
    kaͤme, ſo waͤre es ein gemeinſames Merkmal von
    allen, und daher ein Merkmal von der Gattung C.
    Dieſes iſt aber der Vorausſetzung zuwider.

Von dieſen Faͤllen laufen die beyden letzten auf eines
hinaus, weil man in beyden findet, daß D dem B allein,
und mit Ausſchluß der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. zu-
komme. Man ſetze nun: alle A ſeyen C, und: alle A
ſeyen D; ſo wird man, ſo oft einer der beyden letzten
Faͤlle ſtatt hat, den Schluß machen koͤnnen: alle A ſeyen
B. Denn da gehoͤrt A unter die Gattung C, weil alle
A, C ſind. Es haben aber alle A das Praͤdicat D,
welches den Arten P, Q, R ꝛc. nicht zukoͤmmt, oder der
Art B allein zukoͤmmt. Demnach gehoͤrt A ganz unter
die Art B, oder; alle A ſind B.


§. 178. Um nun zu zeigen, daß auf dieſe Art, um
den letzten Satz zu beweiſen, die Muͤhe erſpart wird,
von zwoen Jnductionen, davon hier einzelne Stuͤcke vor-
kommen, die eine complet zu machen: ſo wollen wir
die dabey gebrauchten Saͤtze zuſammennehmen. Es
ſind folgende:


  • Alle B ſind C, D.
  • Alle A ſind C, D.
  • C iſt entweder B, oder P, oder Q, oder R ꝛc.
  • Etliche D ſind nicht P.
  • Oder auch: Etliche C ſind nicht D.

Von
[348]V. Hauptſtuͤck.

Von dieſen Saͤtzen wuͤrden die beyden erſten eine ſehr
unvollſtaͤndige Jnduction geben. Und in Anſehung
des dritten Satzes erſpart man ſich die Muͤhe, den Be-
griff D von jeder der Arten P, Q, R ꝛc. | beſonders zu
verneinen, weil man vermittelſt des erſten und eines der
beyden letzten Saͤtze, ohne ſolche Jnduction findet, daß
D dem B allein zukomme; und dieſes iſt genug, um ſo-
dann den Schluß zu ziehen, daß alle A, B ſeyn.


§. 179. Die Moͤglichkeit dieſer betraͤchtlichen Ab-
kuͤrzung, die uns ſtatt der Wahrſcheinlichkeit die Ge-
wißheit giebt, gruͤndet ſich ſchlechthin darauf, daß die
Eintheilung der Gattung C in ihre naͤchſten Arten B,
P, Q, R
ꝛc. richtig gemacht ſey. Dieſe Genauigkeit
vorausgeſetzt, erſtreckt ſich ebenfalls auf die in der Dia-
noiologie angegebene Zeichnung, welche fuͤr gegenwaͤr-
tigen Fall ſo ausfaͤllt:


Man faͤngt naͤmlich bey der Gattung C an, und ſetzt
ihre Arten B, P, Q, R ꝛc. unter dieſelbe (Dianoiolog,
§. 188.). So dann folgt aus den Saͤtzen:


  • Alle B ſind D
  • Etliche C ſind nicht D

daß die Ausdehnung von D nicht kleiner als die von B,
aber auch nicht groͤßer ſeyn koͤnne (§. 177. No. 2, und
Dianoiol. §. 181.). Man macht ſie demnach nicht nur
gleich, fondern ſetzt D gerade uͤber B. Endlich aus dem
Satze:


  • Alle A ſind D

folgt, daß A unter D zu ſtehen komme, und wenigſtens
von nicht groͤßerer Ausdehnung ſey (Dianoiol. §. 181.).
Demnach wird A ganz unter D geſetzt. So ſind nun
die beyden andern Saͤtze:


Alle
[349]Von dem Wahrſcheinlichen.
  • Alle B ſind C.
  • Alle A ſind C.

an ſich ſchon gezeichnet, und die Zeichnung giebt außer
dem Satze


  • Alle A ſind B

welchen wir eigentlich finden wollten, noch eine Menge
anderer an. Z. E. daß A weder P, noch Q, noch R ꝛc.
ſey, daß D ebenfalls davon ausgeſchloſſen werde, daß
ſowohl C, als D, als B dem A particular zukomme,
und zwar C nothwendig nur particular, D und B we-
nigſtens particular ꝛc. Wir muͤſſen aber noch anmer-
ken, daß ungeacht in der Zeichnung D und B gleiche
Ausdehnung haben, dieſes nur in Abſicht auf die Gat-
tung C iſt. Denn aus den Saͤtzen


  • Etliche C ſind nicht D, alle B ſind D

und aus der Natur der Eintheilung folgt nur, daß die-
jenigen C nicht D ſind, welche P, Q, R ꝛc. ſind. Da-
bey bleibt nun moͤglich, daß alle D C ſind, aber es bleibt
auch moͤglich, daß etliche D nicht C ſind. Dieß iſt der
Grund, warum wir in der Zeichnung der Linie D d
Punkte vorgeſetzt haben (Dianoiol. §. 179.), weil es un-
beſtimmt bleibt, ob D nicht muͤſſe vorwaͤrts verlaͤngert
werden. Wir wollen ein Beyſpiel aus der Geometrie,
und zwar von den Kegelſchnitten, anfuͤhren, weil ihre
Eintheilung in Ellipfen, Parabeln und Hyperbeln ge-
nau getroffen iſt. Unter die Ellipſen rechnen wir die
Circul mit, weil ein Circul die ruͤndeſte oder abſolute
runde Ellipſe iſt. Man ſetze demnach


  • C = Kegelſchnitt.
  • B = Ellipſe.
  • P = Parabel.
  • Q = Hyperbel.
  • A = Circul.
  • D = in ſich kehrende Linie,

ſo
[350]V. Hauptſtuͤck.

ſo wird man die ganze Aufgabe und jede vorangefuͤhrte
Saͤtze dabey anwenden koͤnnen. Die Punkte, ſo wir
vor D gezeichnet, gelten, weil nicht alle in ſich kehrende
Linien Kegelſchnitte ſind. Hingegen wuͤrden ſie weg-
fallen, wenn wir dem D noch die Beſtimmung: vom
zweyten Grade,
beygefuͤgt haͤtten. R und die an-
gehaͤngten Punkte fallen weg, weil die Eintheilung nur
drey Glieder hat, und die Linie C endet ſich mit Q ꝛc.
Uebrigens fuͤhren wir dieſes Beyſpiel nur in ſo ferne
an, als es hier angewandt werden kann. Denn die
Eintheilung der Kegelſchnitte, die wir dabey angenom-
men haben, iſt nur in einer beſondern Abſicht, und noch
nicht ſo genau, daß was nicht allen Arten zukoͤmmt,
nur einer derſelben zukomme. Denn ſo haben in an-
dern Abſichten betrachtet; Circul und Parabeln verſchie-
denes gemein, das den Ellipſen und Hyperbeln nicht
zukoͤmmt, und hinwiederum laͤßt ſich von beyden letztern
verſchiedenes ſagen, das von beyden erſtern nicht kann
geſagt werden.


§. 180. Wir haben den bisher (§. 177. ſeqq.) be-
trachteten Fall nur angefuͤhrt, um dadurch zu zeigen,
daß die (§. 176.) vorgelegte Frage zuweilen angehe, und
auch mit Erſparung der Argumente und Jnductionen
eine Gewißheit erhalten werden koͤnne, und daß es,
wenn die Argumente in der That zureichend
oder gar im Ueberfluſſe vorhanden ſind, oͤfters
nur daran liege, daß man, an ſtatt ſie ohne
Auswahl aufzuhaͤufen, ſich bemuͤhe, ſie von
der Seite zu betrachten, von welcher ſie einen
vollſtaͤndigen Beweis angeben, der auch als
ein ſolcher in logiſcher Form koͤnne vorgetra-
gen werden.
Und dieſes geht um deſto ehender an,
je mehr man ſich die verſchiedenen Wege und Umwege
zu beweiſen bekannt gemacht hat. Der hier ausfuͤhr-
licher entwickelte beut uns in dieſer Abſicht Anlaͤße zu
ver-
[351]Von dem Wahrſcheinlichen.
verſchiedenen Anmerkungen an, die wir noch kuͤrzlich an-
zeigen wollen. Einmal iſt er ein Beyſpiel zu der in
der Dianoiologie (§. 444—467.) vorgetragenen Aufga-
be, und zeigt zugleich, daß noch mehrere zuruͤckbleiben,
wenn man da, wo die Argumente zureichend
oder gar uͤberhaͤuft ſind, das was ein jedes in
Abſicht auf den Beweis auf ſich hat, logiſch
ausdruͤckt, und aus dieſen
Datisdie Form des
Beweiſes zu beſtimmen ſucht.
Sodann geben
beſonders die zween letzten Faͤlle des §. 177. ein ſehr all-
gemeines Beyſpiel zu der in der Dianoiologie (§. 394.
ſeqq.) vorgetragenen Frage, wieferne man von
einigen auf alle ſchließen koͤnne?
Welches wir
hier um deſto mehr anmerken, weil wir dieſen Fall da-
ſelbſt nicht betrachtet haben. Ferner erhellet auch aus
der (§. 179.) angegebenen Conſtruction oder Zeichnung,
was wir in der Dianoiologie (§. 194.) uͤberhaupt von
derſelben angemerkt haben, daß ſie ungleich brauchba-
ter ſeyn wuͤrde, wenn unſere Erkenntniß beſtimmter
waͤre. Denn ſo unbeſtimmt wir hier die Zeichnung
laſſen mußten, ſo ſtellte ſie uns aus wenigern Datis jede
Saͤtze mit einem male vor Augen, die ſich aus den Da-
tis
(§. 178.) ſchließen laſſen, und gab zugleich die Unbe-
ſtimmtheit der gegebenen Stuͤcke an. Endlich wenn
man ſetzt, daß man die (§. 178.) vorgetragenen Saͤtze
aus einem einzeln Fall oder aus wirklich zum Beweiſe
eines Satzes aufgehaͤuften Argumenten abſtrahirt, und
mit Weglaſſung der Materie die bloße logiſche Form
beybehalten haͤtte, ſo wuͤrde ſowohl die Zeichnung als
die andere Aufloͤſung im eigentlichſten Verſtande ein
logiſcher Lehnſatz geweſen ſeyn (Dianoiol. §. 445.),
ſo wie man in der angewandten Matheſi Lehrſaͤtze aus
der reinen Matheſi gebraucht. Und dieſe letzte Anmer-
kung iſt von nicht geringer Erheblichkeit, weil ſie in ei-
nem einzeln Beyſpiele zeigt, was wir fuͤr unzaͤhlige an-
dere
[352]V. Hauptſtuͤck.
dere von der Vernunftlehre zu erwarten haͤtten, wenn
darinn zu ſolchen Lehrſaͤtzen der Weg gebahnt waͤre.
Man ſehe hieruͤber (Dianoiol. §. 449. 455. 467.).


§. 181. Die bisher betrachteten Arten von Argu-
menten ſind gleichſam poſitiv. Man nimmt dabey den
Satz, den man beweiſen will, als eine Praͤmiſſe an, und
zeigt, daß jede Folgen, ſo man daraus herleitet, wahr
ſind, oder daß er mit andern Wahrheiten, mit welchen
man ihn vergleicht, harmonire, oder denſelben wenig-
ſtens nicht widerſpreche (§. 167. 168.). Da es aber bey
der bloßen Aufhaͤufung ſolcher Argumente immer noch
wenigſtens ſcheinbare Maͤngel und Luͤcken giebt (§. 172.
174.), ſo kommen auch dabey gewoͤhnlich Zweifel zu
heben, und Einwuͤrfe zu beantworten vor, die man
theils gegen den Satz ſelbſt, theils gegen die in den Ar-
gumenten gebrauchte Saͤtze macht, theils auch von den
Luͤcken hernimmt, die noch ausgefuͤllt werden muͤſſen,
und die theils in Anzeigen von Moͤglichkeiten beſtehen,
von denen man zeigen muß, daß ſie in Anſehung des
Satzes nicht ſtatt haben. Der allgemeine Zweifel aber
iſt, daß die Argumente nicht vollſtaͤndig zu beweiſen
ſcheinen. Und dieſem kann nicht wohl anders begegnet
werden, als daß man ihnen eine logiſche Geſtalt gebe,
und zeige, daß ſie ſtricte und vollſtaͤndig erweiſen.


§. 182. Wir koͤnnen die Lehre von den Einwuͤr-
fen
uͤberhaupt in folgende Saͤtze zuſammenfaſſen.


  • 1. Wenn ein Satz richtig beſtimmt, und zureichend
    erwieſen iſt, ſo koͤnnen die Einwuͤrfe hoͤchſtens
    nur aus Misverſtaͤndniß herruͤhren. Sie wer-
    den demnach vermieden, oder man beugt ihnen
    vor, wenn man den Beweis klar, ausfuͤhrlich und
    mit aller Evidenz aus einander ſetzt. Denn ſo
    wird, wer die Worte verſteht, die Sache zugeben.
    Dieß iſt der Fall geometriſcher Saͤtze und Be-
    weiſe.
    [353]Von dem Wahrſcheinlichen.
    weiſe. Wer Einwuͤrfe dawider macht, hat die
    Schuld in ſich zu ſuchen. Sie liegt nicht in der
    Sache.
  • 2. Jſt hingegen der Satz nicht richtig beſtimmt, es
    ſey, daß man darinn zu viel oder zu wenig ſage,
    oder Vieldeutigkeit in den Worten liege: ſo muß
    man die Vieldeutigkeit heben, und die Einſchraͤn-
    kungen und naͤhere Beſtimmungen beyfuͤgen, es
    ſey, daß man ſie in den Satz ſelbſt einſchiebe, oder
    es nachhole. Wo dieſes verſaͤumt wird, da ſetzt
    man ſich gegruͤndeten Einwuͤrfen bloß, und
    hat es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn ſie gemacht
    werden, oder wenn man ſie zuletzt ſelbſt macht,
    und in der Beantwortung von dem anfaͤnglichen
    Vorgeben wiederum ganze Stuͤcke abbrechen muß,
    wodurch ſelbſt auch die Nettigkeit des Vortrags
    verderbt wird.
  • 3. Jſt endlich der Satz richtig beſtimmt, aber nicht
    vollſtaͤndig oder nicht zureichend erwieſen, es ſey,
    daß man einzelne Theile des Satzes unbewieſen
    gelaſſen, oder den Beweis nicht bis auf unbeſtrit-
    tene Gruͤnde entwickelt, oder in der Form der
    Schluͤſſe und ihres Zuſammenhanges gefehlt ha-
    be: ſo giebt es ebenfalls wiederum gegruͤndete
    Einwuͤrfe, deren Beantwortung man, ohne der
    Nettigkeit des Vortrags Abbruch zu thun, nicht
    fuͤglich nachholen kann, ſondern denen man durch
    die genauere Entwicklung des Beweiſes viel na-
    tuͤrlicher begegnet.
  • 4. Kann man, an ſtatt einen directen Beweis zu
    fuͤhren, die Einwuͤrfe wider den Satz abzaͤhlen,
    und jeden beſonders heben, ſo iſt der Satz indi-
    recte, und in Form eines Polylemma erwieſen.

§. 183. Bey der Aufhaͤuſung der Argumente bleibt
man aber auch hierinn zuruͤcke, oder man ſcheint wenig-
Lamb. Organon II B. Zſtens
[354]V. Hauptſtuͤck.
ſtens zuruͤcke zu bleiben, weil man zwar Gruͤnde an-
bringt, und Einwuͤrfe beantwortet, aber dabey unaus-
gemacht laͤßt, ob erſtere zureichend, und letztere alle mit-
genommen ſind. Es [kann] beydes ſeyn, aber die Form
des Vortrags giebt es nicht an. Denn ſonſt wuͤrde der
Beweis, daß die Gruͤnde zureichend ſind, die Beant-
wortung der Einwuͤrfe uͤberfluͤßig machen, oder auch
hinwiederum wuͤrden die Gruͤnde wegbleiben koͤnnen,
wenn man bewieſen haͤtte, daß außer den beantworte-
ten Einwuͤrfen keine andere gemacht werden koͤnnen.
Wir haben uͤbrigens die vorigen vier Saͤtze (§. 182.)
deswegen angefuͤhrt, weil ſie ebenfalls zum Leitfaden
dienen koͤnnen, wenn man einCahosvon Argu-
menten aus einander leſen, und ſie in logiſche
Form bringen will, um ſodann beurtheilen zu
koͤnnen, ob ſich nicht ein netter und vollſtaͤn-
diger Beweis aus denſelben herausbringen
laſſe?
Denn dieſes iſt, wenn die Argumente in der
That zureichend ſind, an ſich betrachtet, allemale moͤg-
lich, und die Schwierigkeit liegt immer nur in der Art,
wie man es anzugreifen habe.


§. 184. Um nun wiederum zu der Betrachtung des
Wahrſcheinlichen zuruͤcke zu kehren, ſo merken wir an,
daß die oben (§. 169.) angegebene Berechnung der
Grade der Wahrſcheinlichkeit eigentlich nur da angeht,
wo jedes Argument von dem andern unabhaͤngig iſt.
Denn ſo traͤgt jedes fuͤr ſich dazu bey, die Unwahrſchein-
lichkeit zu vermindern, dergeſtalt, daß, wenn ein einzi-
ges gewiß iſt, oder wenn man von einem einzigen weiß,
daß es in einem vorgegebenen Fall zutreffe, die uͤbri-
gen dadurch uͤberfluͤßig werden. Denn ſo iſt die Fra-
ge, ob Cajus aus mehreren Haufen Zetteln wenigſtens
einen guͤltigen ziehen werde, bald entſchieden, wenn
auch nur in einem dieſer Haufen lauter guͤltige ſind.
Cajus
[355]Von dem Wahrſcheinlichen.
Cajus darf nur nach dieſen greifen, um den Zweifel
ſo gleich zu heben.


§. 185. Hingegen iſt es ganz anders, wenn die
Wahrſcheinlichkeit eines Schlußſatzes aus der Wahr-
ſcheinlichkeit der Vorderſaͤtze ſolle beſtimmt werden.
Denn da laſſen ſich die Vorderſaͤtze nicht als einzelne
und von einander unabhaͤngige Argumente anſehen,
weil der Schlußſatz nothwendig von beyden zugleich ab-
haͤngt; ſo daß der Schlußſatz nur alsdann zutrifft,
wenn die Vorderſaͤtze alle zutreffen. Dieſes vorausge-
ſetzt, ſo laͤßt ſich die Berechnung der Wahrſcheinlichkeit
eines Schlußſatzes auch von ganzen Schlußketten eben-
falls auf die Theorie der Gluͤcksſpiele reduciren. Wir
wollen zu dieſem Ende wiederum die Haufen Zettel neh-
men, und zwar ſo viele als Vorderſaͤtze in der Schluß-
kette ſind. Jn jedem Haufen ſey die Anzahl der guͤlti-
gen zu der Anzahl der unguͤltigen in eben der Verhaͤlt-
niß, wie die Faͤlle, in welchen der Vorderſatz zutrifft, zu
denen, in welchen er nicht zutrifft. Man ſetze nun,
Cajus nehme blindhin von jedem Haufen einen Zettel:
ſo iſt die Frage, wie wahrſcheinlich es ſey, daß unter
den gezogenen Zetteln kein unguͤltiger vorkomme, oder
daß alle guͤltig ſeyn? Dieſen Grad der Wahrſcheinlich-
keit wird bey der vorgegebenen Schlußkette der Schluß-
ſatz haben. Die Theorie der Gluͤcksſpiele giebt zu die-
ſer Berechnung folgende Regel: Man multiplicire
die Anzahl der geſammten Zettel eines jeden
Haufens mit einander; und eben ſo multiplici-
re man auch die Anzahl der guͤltigen Zettel ei-
nes jeden Haufens mit einander: ſo wird das
letzte Product durch das erſte dividirt, den
Grad der Wahrſcheinlichkeit des Schlußſat-
zes angeben.
Oder das erſte Product ſtellt die An-
zahl aller moͤglichen Faͤlle, das letztere aber die Anzahl
Z 2der-
[356]V. Hauptſtuͤck.
derjenigen vor, in welchen der Schlußſatz zutrifft, oder,
welches einerley iſt, alle Vorderſaͤtze zugleich zutreffen.


§. 186. Vergleicht man dieſe Berechnung mit der-
jenigen, ſo wir (§. 169.) fuͤr Argumente, die von einan-
der unabhaͤngig ſind, gegeben haben: ſo wird man ſie
in vielen Stuͤcken aͤhnlich, in den uͤbrigen aber ganz
entgegengeſetzt finden, ſo daß, was dort die Wahrſchein-
lichkeit des Zutreffens vermehrte, ſie hier vermindert,
weil die Data und das Quaeſitum ganz umgekehrt ſind.
Um ſo viel deſto mehr hat man bey Beſtimmung der
Grade der Wahrſcheinlichkeit auf den Unterſchied zu
ſehen, ob die Argumente von einander abhaͤngen oder
nicht. Und da bey Schlußketten jeder Vorderſatz, der
nur wahrſcheinlich iſt, die Wahrſcheinlichkeit des
Schlußſatzes vermindern hilft; ſo ſieht man uͤberhaupt,
daß es mit ſolchen Schlußketten eine mißliche Sache
iſt, wobey man mehrere eben nicht in einem groͤßern
Grad wahrſcheinliche Saͤtze gebraucht.


§. 187. Wir wollen aber nicht ſo ſchlechthin bey die-
ſer Berechnung ſtehen bleiben, ſondern die Gruͤnde,
worauf ſie beruht, etwas genauer betrachten. Und die-
ſes iſt hier um deſto nothwendiger, weil die Theorie von
den wahrſcheinlichen Schluͤſſen und Schlußketten einen
betraͤchtlichen Theil der Vernunftlehre des Wahr-
ſcheinlichen
ausmacht. Zu dieſem Ende werden
wir damit anfangen, daß wir ſehen, was eigentlich ein
wahrſcheinlicher Satz iſt, woher ſie entſtehen, und
wie das Wahrſcheinliche derſelben ſich von dem
Wahren und von dem Gewiſſen unterſcheide? Zu
dieſem Ende merken wir an, daß die oben (§. 154.
ſeqq.) betrachtete Abzaͤhlung der Faͤlle, ſo ſehr
man ſie auch zur Beſtimmung der Grade der
Wahrſcheinlichkeit gebrauchen kann, an ſich
ſelbſt dennoch nicht bloß wahrſcheinliche, ſon-
dern wahre, gewiſſe und beſtimmte Saͤtze an-

gebe.
[357]Von dem Wahrſcheinlichen.
gebe. Denn dieſe Abzaͤhlung wird jedesmal an ſich
ſchon durch die Verſicherung oder wenigſtens durch die
Vermuthung veranlaßt, daß einige A, B ſind. Man
nimmt ſie auch ſodann nur vor, um zu finden, wie viele
es ſind, und wie viele es hingegen nicht ſind, oder we-
nigſtens um die Verhaͤltniß zwiſchen beyden Claſſen zu
finden, es mag nun a priori oder a poſteriori geſche-
hen. Findet man nun, daß B allen A zukomme, ſo
hat man einen Satz, von deſſen Wahrheit und All-
gemeinheit
man verſichert iſt, und da iſt vom
Wahrſcheinlichen keine Rede mehr. Eben dieſes
gilt auch, wenn man findet, daß kein A, B iſt. Auf
gleiche Art, wenn man findet, daß nur ein gewiſſer
Theil von allen A, z. E. ¾ Theile das Praͤdicat B ha-
ben; ſo hat man zween Saͤtze:


  • ¾ A ſind B.
  • ¼ A iſt nicht B.

Dieſe Saͤtze laſſen nun nichts mehr zu beſtimmen uͤbrig,
als nur, wenn man etwan diejenigen A, die B ſind, von
denen, die nicht B ſind, durch andere Merkmale zu un-
terſcheiden und kenntlich zu machen ſuchen will. Wenn
man aber auch dieſes unterlaͤßt, ſo ſind ſolche Saͤtze
nicht mehr bloß wahrſcheinlich, weil man gewiß weiß,
daß nicht bloß etwan etliche, ſondern ¾ von allen In-
diuiduis,
die A ſind, das Praͤdicat B haben, und ¼ es
nicht haben. Beyde Saͤtze ſind particular, aber der
Grad der Particularitaͤt iſt dabey beſtimmt.


§. 188. Jn ſo fern ſolche Saͤtze particular ſind, laſ-
ſen ſie ſich wie jede andere Particularſaͤtze in Schlußre-
den gebrauchen, und man reicht damit nicht weiter,
wenn man nicht auf den Grad der Particularitaͤt oder
andere naͤhere Beſtimmungen ſehen will, dergleichen
wir in der Dianoiologie (§. 235. ſeqq.) einige ange-
fuͤhrt haben. So kann auch der Grad der Particula-
Z 3ritaͤt
[358]V. Hauptſtuͤck.
ritaͤt Schlußreden zulaͤßig machen, die ohne denſelben
nicht angehen wuͤrden. Z. E.


  • ¾ A ſind B
  • A ſind C
  • folglich etliche C ſind B.

Dieſer Schluß folgt, weil ¾ + ⅔\> 1 iſt, und demnach
wenigſtens \frac {5}{12}A ſeyn muͤſſen, welche B und C zugleich
ſind.


§. 189. Man habe nun zween Saͤtze


  • ¾ A ſind B
  • C iſt A.

ſo iſt die Frage, welch ein Schluß daraus koͤnne gezo-
gen werden, weil ſie das gemeinſame Mittelglied A
haben? Wir ſetzen hiebey voraus, beyde Saͤtze ſeyen
wahr und beſtimmt; naͤmlich in Anſehung des Ober-
ſatzes ſey man verſichert, daß weder mehr noch minder
als ¾ von den ſaͤmtlichen A, das Praͤdicat B haben;
und in Anſehung des Unterſatzes ſey C ein Indiuiduum,
und man wiſſe, daß es A iſt. Weiß man nun nicht
mehr als dieſes, ſo bleibt es abſolute uneroͤrtert, ob C
unter die ¾ A gehoͤre, die B ſind, oder unter die ¼ A,
die nicht B ſind? Denn waͤre dieſes entſchieden, ſo wuͤr-
de der Schluß bald gemacht ſeyn, ob B dem C zukom-
me, oder nicht? und die voͤllige Gewißheit waͤre wie-
derum da. So aber, da wir ſetzen, man wiſſe von C
weiter nichts als daß es A ſey, koͤnnen wir den Schluß
nicht weiter beſtimmen, als: es ſey vermuthlicher, daß
B dem C zukomme, als aber, daß es ihm nicht zukom-
me. Denn da unter 4 A immer 3 ſind, ſo das Praͤ-
dicat B haben, und da in Anſehung des C alle Aus-
wahl wegbleibt; ſo iſt es auch zmal, vermuthlicher, daß
C unter den A ſey, die B ſind, als aber unter denen,
die es nicht ſind. Wenn man demnach den Schluß
zieht, daß C, B ſey, ſo iſt dieſer Schluß nicht voͤllig ge-
wiß,
[359]Von dem Wahrſcheinlichen.
wiß, ſondern es geht ihm ¼ an der Gewißheit ab, das
will ſagen, ſeine Wahrſcheinlichkeit iſt ¾. Dieſes
druͤcken wir nun folgendermaßen aus:


  • C iſt ¾ B.

Um aber bey dieſer Art, wahrſcheinliche Saͤtze vorzu-
ſtellen, eine Zweydeutigkeit zu vermeiden, ſo merken
wir an, daß der zwiſchen das Bindwoͤrtgen iſt und das
Praͤdicat B geſetzte Bruch, nicht das Praͤdicat, ſandern
das Bindwoͤrtgen angehe. Denn wuͤrde man denſel-
ben als dem Praͤdicat beygefuͤgt anſehen, ſo wuͤrde er
einen Theil ſeiner Merkmale deſſelben anzeigen, ſo wie
er in dem Oberfatze


  • ¾ A ſind B

einen Theil von den Indiuiduis, die A ſind, anzeigt.
Soll aber ein ſolcher Bruch den Grad der Wahr-
ſcheinlichkeit
des Satzes ausdruͤcken, ſo muß er dem
Bindwoͤrtgen beygefuͤgt werden, es ſey, daß man ihn
vorſetze oder anhaͤnge. Und auf dieſe Art ſtellte er
nicht nur den Grad, ſondern auch den Be-
griff der Wahrſcheinlichkeit vor,
weil die Be-
griffe ſeyn und nicht ſeyn, keine Gradus intenſitatis
haben. Naͤmlich, entweder CiſtB, oder iſt nichtB.
Dabey giebt es kein Mittel. Wenn wir demnach
ſagen:


  • C ¾ iſt B
  • C ¼ iſt nicht B.

So zeigen die Bruͤche ¾, ¼, im eigentlichſten Verſtan-
de die Wahrſcheinlichkeit der Saͤtze an. Wir geben
dadurch dem iſt ¾, dem iſt nicht aber ¼, wie wenn wir
beydes gegen einander abzuwaͤgen haͤtten.


§. 190. Der hier gemachte Schluß


  • ¾ A ſind B
  • C iſt A
  • folglich C ¾ iſt B.

Z 4giebt
[360]V. Hauptſtuͤck.

giebt uns nicht nur den Begriff, ſondern auch wenig-
ſtens eine Quelle wahrſcheinlicher Saͤtze an. Denn
hier entſteht die Wahrſcheinlichkeit aus der Verbin-
dung einer abſoluten Ungewißheit mit zween wahren
beſtimmten und gewiſſen Saͤtzen. Die Ungewißheit
liegt darinn, ob das Mittelglied in beyden Vorderſaͤt-
zen einerley ſey, oder ob C, weil es doch A iſt, unter
die A gehoͤre, die B ſind, oder unter die, ſo nicht B ſind?
Dieſes haben wir als ganz dahingeſtellt angenommen,
und ſo bliebe, um den Schluß zu ziehen, kein anderer
Grund, als daß ¾, und folglich der groͤßere Theil von
allen A, B ſind, demnach C wahrſcheinlicher darunter
gehoͤre, als nicht darunter gehoͤre. Wir haben ferner
hiebey C als ein Indiuiduum angeſehen. Stellt es aber
eine Art oder Gattung vor, ſo wird zwar der Unterſatz
und ſo auch der Schlußſatz allgemein; aber der Grad
der Wahrſcheinlichkeit bleibt ungeaͤndert, ſo lange man
in Anſehung des Unterſatzes weiter nichts weiß, als daß
alle C, A ſind. Denn ſo bleibt es fuͤr jedes C dahin-
geſtellt, ob es unter die A gehoͤre, die B ſind, oder un-
ter die, ſo nicht B ſind. Demnach iſt der Schluß:


  • ¾ A ſind B.
  • Alle C ſind A.
  • Alle C ¾ ſind B.

Und auf gleiche Art


  • ¾ A ſind B.
  • Etliche C ſind A.
  • Etliche C ¾ ſind B.

Oder noch beſtimmter


  • ¾ A ſind B.
  • C ſind A.
  • C ¾ ſind B.

§. 191. Jn allen dieſen Faͤllen zieht ſich der Grad,
ſo die Wahrſcheinlichkeit beſtimmt, aus dem Oberſatz
in
[361]Von dem Wahrſcheinlichen.
in den Schlußſatz. Wir werden nun den Fall umkeh-
ren, und zeigen, wie er auch aus dem Unterſatze ſich
darein ziehe? Es ſeyen M N P Q die Merkmale des Be-
griffes B, die ſeinen Umfang ausfuͤllen, aber es bleibe
unbeſtimmt, ob darunter ein eigenes Merkmal von B
ſey? Man habe nun die zween Saͤtze


  • M N P Q iſt B.
  • C iſt M N P

ſo laͤßt ſich wiederum der Schlußſatz


  • C iſt B

nur wahrſcheinlich ziehen, weil wir ſetzen, daß es dahin
geſtellt bleibe, ob C auch noch das Praͤdicat Q habe.
Hier proportionirt ſich nun der Grad der Wahrſchein-
lichkeit nach der Groͤße und Anzahl der Praͤdicate M
N P,
die man in C ſchon gefunden, zu der Groͤße und
Anzahl derer, die noch ſollen gefunden werden. Man
ſetze z. E.


  • M N P Q = A
  • M N P = ⅔ A.

So iſt der Schluß


  • Alle A ſind B
  • C iſt ⅔ A
  • folglich C ⅔ iſt B.

Und dieſer Schluß bleibt, C mag nun allgemein oder
particular ſeyn, oder einen beſtimmten Grad der Par-
ticularitaͤt haben.


§. 192. Aus dieſen beyden einfachern Arten von
wahrſcheinlichen Schluͤſſen laͤßt ſich nun leicht die dritte
zuſammenſetzen. Sie wird ſo ausfallen:


  • ¾ A ſind B.
  • C iſt ⅔ A.
  • folglich C ½ iſt B.

Denn hier wird die Wahrſcheinlichkeit des einen Vor-
derſatzes in Verhaͤltniß der Wahrſcheinlichkeit des an-
Z 5dern
[362]V. Hauptſtuͤck.
dern vermindert. Man kann demnach fuͤr den Schluß-
ſatz nur ⅔ von den ¾, das iſt, nur \frac {2}{4} oder ½ nehmen.


§. 193. Macht man in dieſem Schluſſe den Ober-
ſatz verneinend, ſo koͤmmt


  • ¼ A ſind nicht B
  • C iſt ⅔ A
  • folglich C ⅙ iſt nicht B.

Demnach iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß der Schluß-
ſatz verneinend ſey ⅙, hingegen, daß er bejahend ſey ½.
Beyde Wahrſcheinlichkeiten zuſammen geben ⅙ + ½ = ⅔,
welches die Wahrſcheinlichkeit des Unterſatzes iſt. Und
mehr bringt man ſo wohl der Rechnung als der Natur
der Schluͤſſe nach nicht heraus. Denn man kann in
der erſten Figur der Schlußreden den Unterſatz nicht
verneinend ſetzen, weil, wenn er verneinend iſt, es unbe-
ſtimmt bleibt, wie der Schlußſatz ausſehen werde.
Demnach finden wir in denen Faͤllen, wo der Unterſatz
in die Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes einen Ein-
fluß hat, nur denjenigen Theil der Wahrſcheinlichkeit
des Schlußſatzes, der ſich aus der Form der Schlußrede
und ihren Regeln beſtimmen laͤßt. Man ſetze naͤmlich
eine Anzahl Faͤlle, wo Vorderſaͤtze vorkommen, die den
beyden hier vorgetragenen der Art und den Graden nach
aͤhnlich ſind, ſo wird der Schlußſatz bey der Haͤlfte die-
ſer Faͤlle bejahend, bey einem ⅙ derſelben verneinend
ſeyn, und bey dem ⅓, der uͤbrig bleibt, iſt es vollends
unbeſtimmt, ob er ganz oder zum Theil bejahe oder
verneine.


§. 194. Man nenne das bejahende a, das vernei-
nende e, das unbeſtimmte u: ſo wird in Abſicht auf
das Mittelglied der zuſammengeſetzteſte Fall dieſer ſeyn:


Um
[363]Von dem Wahrſcheinlichen.

Um dieſe Formel, welche in Abſicht auf die Zahlen nur
ein einzelnes Beyſpiel iſt, zu erklaͤren und zu beweiſen,
merken wir an:


  • 1. Jn dem Oberſatze bedeutet ,
    daß von allen Jndividuis, die A ſind, oder von al-
    len A, ⅔ ſeyn, denen B gewiß zukomme, ¼, denen
    es nicht zukomme, und \frac {1}{12} von denen es unbe-
    ſtimmt bleibt, ob ſie B ſeyn oder nicht. Auf dieſe
    Art ſind gleichſam 3 Oberſaͤtze in einen zuſam-
    mengezogen, und da iſt, ſo ſieht
    man, daß in dieſem Schluſſe aller A Rechnung
    getragen werde.
  • 2. Jn dem Unterſatze ſtellt die Summe
    der Merkmale des B vor. Von ⅗ derſelben weiß
    man, daß ſie dem C zukommen, von den uͤbrigen
    ⅖ bleibt es noch unbeſtimmt. Der Theil, der 0
    waͤre, kann hier nicht ſtatt finden. Denn wenn
    auch nur ein Merkmal in B waͤre, von dem man
    wuͤßte, daß es nicht in C iſt, ſo waͤre der Unterſatz
    gewiß verneinend, und folglich der Schlußſatz
    durchaus unbeſtimmt.
  • 3. Nun wird mit
    multiplicirt, und das Product in 3 Claſſen getheilt.
    Naͤmlich, was mit u behaftet iſt, gehoͤrt in eine
    Claſſe, oder zu dem unbeſtimmten Theil des
    Schlußſatzes, das ae in die zweyte oder zu dem
    verneinenden Theile, das aa in die dritte, oder zu
    dem bejahenden Theile.

4. Der
[364]V. Hauptſtuͤck.
  • 4. Der Schlußſatz will demnach ſagen, daß unter
    20 Faͤllen, wo Schluͤſſe von dieſer Art und Graden
    unausgeſucht vorkommen, 8 bejahen, 3 verneinen,
    9 unbeſtimmt bleiben: oder aber in einem einzel-
    nen Fall habe man 8 Gruͤnde den Schlußſatz zu
    bejahen, 3 Gruͤnde ihn zu verneinen, 9 Gruͤnde
    nichts zu ſchließen oder es dahin geſtellt zu laſſen.

§. 195. Man ſieht leicht, daß in erſt vorgelegter For-
mel die Begriffe C und B aͤhnliche Beſtimmungen ha-
ben koͤnnen, wie das Mittelglied A. Sie kommen aber
zugleich mit dieſen Beſtimmungen in den Schlußſatz,
jedoch mit einigem Unterſchiede, den wir fuͤr einfachere
Faͤlle anzeigen wollen. Man habe den Schluß:
Hier wird das ⅙ e + \frac {1}{12}u zuſammengezogen in ¼ u ver-
wandelt. Denn ⅙ e in dem Unterſatze zeigt an, man wiſſe
daß ⅙ C nicht B ſind. Da nun in der erſten Figur aus
einem verneinenden Unterſatze nichts beſtimmtes folgt,
ſo iſt der Schlußſatz fuͤr die ⅙ e ſo gut unbeſtimmt, als
fuͤr die \frac {1}{12}u. Demnach zieht man beyde zuſammen.


§. 196. Hat man hingegen
ſo folgt hier der Schlußſatz richtig, und B behaͤlt darinn
die Beſtimmung die es im Oberſatze hatte. Denn der
Oberſatz will ſagen: A habe ⅔ der Merkmale des B,
von dem uͤbrigen ⅓ wiſſe man es nicht. Da nun auch
C unter A gehoͤrt, ſo gilt dieſe Ausſage von C ebenfalls.


§. 197. Setzt man nun beyde Faͤlle zuſammen, ſo
iſt der Schluß:


Alle
[365]Von dem Wahrſcheinlichen.
  • Alle A ſind (⅔ a + ⅓ u) B
  • a + ⅙ e + \frac {1}{12}u) C ſind A
  • folglich (¾ a + ¼ u) C ſind (⅔ a + ⅓ u) B.

Dieſer Schlußſatz will nun ſagen: man wiſſe von ¾ C
gewiß, daß ſie ⅔ der Merkmale des B haben, ob ſie aber
auch den uͤbrigen ⅓ haben, bleibe dahingeſtellt; und ſo
bleibe auch von dem uͤbrigen ¼ der C vollends unbe-
ſtimmt, ob ihnen etwas von B zukomme oder nicht.
Wir haben in dieſen drey letzten Formeln (§. 195. ſeqq.)
das Mittelglied freygelaſſen, weil auf dieſe Art deutlicher
erhellet, daß die Wahrſcheinlichkeit ſich nur von demſel-
ben, und nicht von den beyden andern Gliedern der
Vorderſaͤtze in das Bindwoͤrtgen des Schlußſatzes zieht.
Denn in der letzten Formel, welche von dieſer Art die
zuſammengeſetzteſte iſt, bleibt das Bindwoͤrtgen im
Schlußſatze noch frey, und es iſt darinn nur vom Ge-
wiſſen
und vollends Unbeſtimmten, vom Wahr-
ſcheinlichen
aber gar nicht die Rede. Und wenn auch
ein Theil von dem u etwan einen Grad der Wahrſchein-
lichkeit haͤtte, den man beſonders vorſtellen wollte, ſo
wuͤrde das Bindwoͤrtgen des Schlußſatzes dennoch frey
bleiben, daferne man denſelben nicht in etliche beſondere
Saͤtze zerfaͤllen wollte. Um dieſes durch ein einziges
Beyſpiel zu erlaͤutern; ſo ſetze man den Schluß


  • A iſt (⅔ a + ⅓ a ¼) B
  • a + ¼ a ½) C iſt A
  • folglich (¾ a + ¼ a ½) C iſt (⅔ a + ⅓ a ¼) B

wo wir in dem Oberſatze durch ⅓ a ¼ B verſtehen, daß
man ¼ gr. der Gewißheit habe, von A zu vermuthen,
daß ihm ⅓ der Merkmale des B zukomme; in dem Un-
terſatze aber durch ¼ a ½ C anzeigen, man habe ½ gr. der
Gewißheit, daß einem ¼ Theil der C das Praͤdicat A
zukomme, ſo wird ſich der Schlußſatz in folgende 4
Saͤtze zerfaͤllen laſſen:


¾ C iſt
[366]V. Hauptſtuͤck.
  • ¾ C iſt ⅔ B.
  • ¾ C ¼ iſt ⅓ B.
  • ¼ C ½ iſt ⅔ B.
  • ¼ C ⅛ iſt ⅓ B.

Dieſe Saͤtze waͤren ebenfalls aus 4 beſondern Schluß-
reden gefolgt, in welche ſich die vorgegebene zerfaͤllen
laͤßt. Naͤmlich


Bey ſolchen zerfaͤllten Slußſaͤtzen aber vergißt man
leicht, daß von einerley ¾ C, ¼ C,B,B die Rede iſt.


§. 198. Wenn man einen Satz hat, wo ſowohl das
Bindwoͤrtgen als die beyden Glieder keine Einheit ſind,
Z. E.


  • \frac {4}{3}A ⅓ iſt ⅜ B.

ſo iſt hier eigentlich nur der dem Bindwoͤrtgen beyge-
fuͤgte Bruch, der ſo die Wahrſcheinlichkeit beſtimmt,
und wo dieſer wegbleibt, ſo ſtellt der Satz, ſo weit er
reicht, einen wahren und gewiſſen Satz vor. Man ſetze
nun, daß man weder von den uͤbrigen A noch von den
uͤbrigen Merkmalen des B nichts beſtimmtes wiſſe, ſo
iſt es an ſich moͤglich, die dem A und B zugeſetzte Bruͤ-
che in das Bindwoͤrtgen zu ziehen. Der Satz naͤmlich
giebt an, man wiſſe mit ⅓ Gewißheit, daß ⅘ von den
Indiuiduis A, ⅜ von den Merkmalen des B haben.
Fragt man nun, wie wahrſcheinlich es ſey, daß der
ganze Begriff B allen A zukomme? ſo wird man leicht
antworten, die Wahrſcheinlichkeit ſey = ⅘ · ⅓ · ⅜ = \frac {1}{10}.
Demnach


  • A\frac {1}{10} iſt B.

Und in dieſen Satz kann uͤberhaupt betrachtet, der vor-
gelegte


A
[367]Von dem Wahrſcheinlichen.
  • A ⅓ iſt ⅜ B

verwandelt werden, wenn man die Beſtimmungen, die
derſelbe mehr hat, will fahren laſſen. Denn der Satz


  • A\frac {1}{10} iſt B

mengt nun ohne Unterſchied alle Indiuidua A, und alle
Merkmale des B ſo durch einander, daß die ⅘ A, von
denen man mit ⅓ Gewißheit wußte, daß ſie ⅜ der Merk-
male des B hatten, nunmehr mit denen vermengt ſind,
von denen man vollends nichts weiß; und eben ſo ſind
auf dieſe Art auch die ⅜ Merkmale des B mit den uͤbri-
gen ⅝, von welchen man nichts wußte, vermengt, weil
das \frac {1}{10}, womit das Bindwoͤrtgen darinn behaftet iſt,
uͤber den ganzen Satz eine gleichfoͤrmige Wahr-
ſcheinlichkeit
ausbreitet, die aus dem Satze


  • A ⅓ iſt ⅜ B

gar nicht folgt, ſondern nur willkuͤhrlich angenom-
men wird. Wir merken dieſes hier an, um den Unter-
ſchied dieſes Willkuͤhrlichen von dem Nothwendigen an-
zuzeigen, welches bey den Schluͤſſen ſtatt findet, wo die
Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes aus dem Mittel-
gliede der Vorderſaͤtze entſpringt. Denn dieſe breitet
ſich nothwendig gleichfoͤrmig uͤber den ganzen Schluß-
ſatz aus (§. 190. 191.), es ſey denn, daß die Ungleichfoͤr-
migkeit ſich ſchon in den Vorderſaͤtzen finde, welches
aber, wenn das Bindwoͤrtchen in denſelben frey iſt,
auf die (§. 194. ſeqq.) beſchriebene Art kann vermieden
werden.


§. 199. Sind die Vorderſaͤtze ſelbſt nur wahrſchein-
lich, ſo iſt die Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes das
Product ihrer Wahrſcheinlichkeit. Z. E.


  • A ⅔ iſt B.
  • C ¾ iſt A.
  • C ½ iſt B.

Jſt
[368]V. Hauptſtuͤck.

Jſt aber das Mittelglied ebenfalls mit Bruͤchen behaf-
tet, ſo wird die Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes auch
dadurch geringer. Z. E.


  • A ⅔ iſt B.
  • C ¾ iſt ⅘ A.
  • C ⅓ iſt B.

Denn


§. 200. Auf gleiche Art laͤßt ſich die Wahrſchein-
lichkeit ganzer Schlußketten beſtimmen, wenn man
die Bruͤche, womit nicht nur die Bindwoͤrt-
chen ſondern auch die Mittelglieder behafter
ſind, mit einander multiplicirt.
Z. E.


  • A iſt ⅔ B
  • B ½ iſt ¾ C
  • C ⅓ iſt ½ D
  • D ⅚ iſt E
  • ¾ E ½ iſt F
  • folglich A\frac {1}{96} iſt F

Man loͤſe, um dieſes zu beweiſen, die Kette nur in ein-
zelne Schluͤſſe auf, ſo hat man


§. 201. Jn ſolchen Schlußketten kann nur der letzte
Satz verneinend ſeyn, weil die uͤbrigen den Schlußſatz
durchaus unbeſtimmt machen wuͤrden. Wenn wir dem-
nach fuͤr den letzten Satz


  • ¾ E ½ iſt F

den darinn unbeſtimmt gelaſſenen ¼ als gewiß vernei-
nend anſehen, ſo wird er


  • ¼ E iſt nicht F

ſeyn,
[369]Von dem Wahrſcheinlichen.

ſeyn, und dieſes macht den Schlußſatz


  • A\frac {1}{144} iſt nicht F.

Demnach iſt die Wahrſcheinlichkeit, daß der Schlußſatz
bejahe = \frac {1}{96}, daß er verneine = \frac {1}{144}, daß er un-
beſtimmt
bleibe


§. 202. Wir werden die groͤßern Verwicklungen,
die ſich bey der Beſtimmung der Wahrſcheinlichkeit in
Anſehung der erſten Figur der Schlußreden und der
daraus zuſammengezogenen Schlußketten gedenken laſ-
ſen, hier nicht beruͤhren, ſondern begnuͤgen uns, die er-
ſten Gruͤnde dieſer Berechnung angezeigt zu haben, ver-
mittelſt deren die Theorie davon leicht weiter ausgefuͤhrt
werden kann. Jn Anſehung der uͤbrigen drey Figuren
werden wir noch kuͤrzer ſeyn, und nur in einigen einfa-
chern Faͤllen zeigen, daß ſie in Abſicht auf die Wahr-
ſcheinlichkeit von der erſten Figur merklich abgehen.
Darinn kommen zwar die Schlußarten jeder Figuren
uͤberein, daß wenn in den Vorderſaͤtzen nur das Bind-
woͤrtgen mit einem Bruche behaftet iſt, die Beſtimmung
der Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes nach der Regel
geſchehe, die wir (§. 199.) fuͤr die erſte Figur gegeben
haben. Z. E. fuͤr die Schlußart


  • Cameſtus
    • alle A ½ ſind B
    • kein C ⅔ iſt B
    • kein C ⅓ iſt A
  • Darapti
    • alle A ¾ ſind B
    • alle A ⅘ ſind C
    • etliche C ⅗ ſind B.
  • \&c.

§. 203. Fragt man hingegen, ob oder wie ſich die
Wahrſcheinlichkeit von dem Mittelgliede in das Bind-
Lamb. Organon II B. A awoͤrt-
[370]V. Hauptſtuͤck.
woͤrtgen des Schlußſatzes ziehe; ſo hat hierinn jede der
drey uͤbrigen Figuren der Schlußarten etwas beſonders.
Jn der zweyten Figur iſt das Mittelglied in beyden
Vorderſaͤtzen das Praͤdicat, und der eine Vorderſatz
muß verneinend ſeyn. Dieſem zufolge aber kann deſſel-
ben Praͤdicat keinen Bruch haben, welcher die Anzahl
der dem Subject nicht zukommenden Merkmale anzeigte.
Denn der Satz wird ſchlechthin verneinend, wenn auch
nur ein einziges Merkmal des Praͤdicats dem Subject
nicht zukoͤmmt. Hingegen kann das Praͤdicat des be-
jahenden Vorderſatzes mit einem Bruche behaftet ſeyn,
und dieſer Bruch zieht ſich in das Bindwoͤrtgen des
Schlußſatzes. Z. E.


  • alle A ſind ¾ B
  • kein C iſt B
  • kein C ¾ iſt A.

Denn die Gewißheit, daß A dem C nicht zukomme,
waͤre vollſtaͤndig oder = 1, wenn man wuͤßte, daß A
alle Merkmale des B habe. Nun aber weiß man es
nur von ¾ dieſer Merkmale, und von dem uͤbrigen ¼
bleibt es dahin geſtellt. Demnach weiß man auch nur
mit ¾ Gewißheit, daß kein C, A ſey; und ſo auch hin-
wiederum kein A, C ſey.


§. 204. Jn der dritten Figur iſt das Mittelglied in
beyden Vorderſaͤtzen das Subject, und der Schlußſatz
wird particular. Sind nun die Subjecte beyder Vor-
derſaͤtze mit Bruͤchen behaftet, ſo ſind beyde zwar parti-
cular, und in ſo ferne wuͤrde der Schlußſatz unbeſtimmt
bleiben. Weil aber der Grad der Particularitaͤt bey
beyden beſtimmt iſt, ſo giebt es Faͤlle, wo ſich der
Schlußſatz nicht nur etwan wahrſcheinlich, ſondern ge-
wiß ziehen laͤßt. Einen ſolchen Fall haben wir bereits
oben (§. 188.) angefuͤhrt. Denn wenn beyde Vorder-
ſaͤtze bejahend ſind, und die Summe der Bruͤche, mit
denen
[371]Von dem Wahrſcheinlichen.
denen die Subjecte behaftet ſind, iſt groͤßer denn 1, ſo
laͤßt ſich der Schluß ziehen. Auf dieſe Art folgert man
mit Gewißheit


  • ¾ A ſind B
  • A ſind C
  • etliche C ſind B.

§. 205. Jſt aber dieſe Summe beyder Bruͤche klei-
ner denn 1, z. E.


  • ¼ A ſind B
  • A ſind C

ſo faͤllt auch die Gewißheit aus dem Schlußſatze weg,
wenn derſelbe bejahend ſeyn ſolle. Setzen wir aber die
Vorderſaͤtze ſo beſtimmt, daß


  • ¾ A nicht B
  • A nicht C

ſind, ſo laͤßt ſich ein verneinender Schluß ziehen. Denn
aus den Saͤtzen


  • ¾ A ſind nicht B
  • A ſind C

folgt, daß etliche C nicht B ſind. Und zwar wiederum,
weil die Summe beyder Bruͤche ¾ + ⅓ groͤßer als 1 iſt.
Unter gleicher Bedingung wird man einen verneinenden
Schlußſatz herausbringen, ſo oft die den beyden Sub-
jecten zugeſetzten Bruͤche ungleich ſind. Z. E. man habe


  • (⅗ a + ⅖ e) A iſt B
  • (⅘ a + ⅕ e) A iſt C

ſo folgt, daß etliche C nicht B ſeyn, und hinwiederum
auch, daß etliche C, B ſeyn. Denn wenn man die ⅗ A,
die B ſind, ſaͤmtlich unter die ⅘ A rechnet, die C ſind, ſo
bleiben von dieſen dennoch ⅕ uͤbrig, denen folglich B
nicht zukoͤmmt. Demnach ſind wenigſtens dieſe C nicht
B. So auch hinwiederum, wenn man die ⅖ A, die nicht
B ſind, ſaͤmtlich wollte unter die ⅘ A rechnen die C
A a 2ſind;
[372]V. Hauptſtuͤck.
ſind; ſo blieben hier noch ⅖ A uͤbrig, denen folglich, ſo-
wohl C als B zukoͤmmt. Demnach kann man wenig-
ſtens von dieſen C ſagen, daß ſie B ſeyn. Man ſieht
hieraus, daß man bey den Schluͤſſen der dritten Figur,
wo beyde Subjecte der Vorderſaͤtze mit Bruͤchen behaf-
tet ſind, vermittelſt dieſer Bruͤche einen Schluß ziehen
kann, und daß man vorerſt das Gewiſſe abſondern muͤſſe,
ehe man das bloß Wahrſcheinliche aufſucht. So Z. E.
bey den Vorderſaͤtzen


  • nur ¾ A ſind B
  • nur ⅔ A ſind C

faͤngt man an beyde Bruͤche ¾ + ⅔ zu addiren, und da
die Summe 1\frac {5}{12}A groͤßer als 1 iſt, ſo fallen dieſe \frac {5}{12}A
von beyden Vorderſaͤtzen weg, weil man von denſelben
gewiß weiß, daß ihnen ſowohl B als C zukomme. Auf
dieſe Art bleiben nun


  • A ſind B
  • ¼ A ſind C.

Hier zieht man nun ¼ von ⅓ ab, der Ueberreſt \frac {1}{12}A
giebt diejenigen A an, von denen man gewiß weiß, daß
ſie nur B, aber nicht C ſind. So aber bleiben nur


  • ¼ A ſind B
  • ¼ A ſind C

und von der ganzen Summe aller A bleiben ebenfalls
nur 1 — \frac {5}{12} — \frac {1}{12} oder die Haͤlfte. Und von dieſer iſt
es nun unbeſtimmt, wie viele einzelne A darunter B und
C zugleich oder keines von beyden, oder nur C, oder
nur B ſind.


§. 206. Auf gleiche Art laͤßt ſich aus den Vorder-
ſaͤtzen


  • nur ¼ A ſind B
  • nur ⅓ A ſind C

finden, daß \frac {5}{12}A ſowohl B als C ſind, und hingegen
\frac {1}{12}A
[373]Von dem Wahrſcheinlichen.
\frac {1}{12}A nur C aber nicht B ſind, und daß es von der Haͤlfte
der ſaͤmtlichen unbeſtimmt bleibe, wiefern ihnen B und C
zugleich, oder keines, oder nur B oder nur C zukomme.


§. 207. Jn dieſen beyden Beyſpielen (§. 206. 207.)
bleibt demnach noch die Haͤlfte der ſaͤmtlichen A ſo weit
uneroͤrtert, daß man nur weiß, ein ¼ A oder die Haͤlfte
dieſer Haͤlfte ſey B, und ein ander ¼ A oder eine andere
Haͤlfte eben dieſer Haͤlfte ſey C. Wenn wir demnach
die ganze Haͤlfte D nennen, ſo haben wir die zween
Saͤtze


  • ½ D iſt B.
  • ½ D iſt C.

Von dieſen laͤßt ſich nun jeder gleich umkehren, weil
der Bruch, mit dem das Subject behaftet iſt, und der
bey der Umkehrung wegfaͤllt, bey beyden gleich iſt. Auf
dieſe Art erlangen wir zween Schluͤſſe der erſten Figur


wo nun beyde Schlußſaͤtze ½ Gewißheit haben. Der
Grund, warum wir bey der Umkehrung der Saͤtze


  • ½ D iſt B
  • ½ D iſt C

den dem Subject beygefuͤgten Bruch weggelaſſen und
ſchlechthin


  • etliche B ſind D
  • etliche C ſind D

geſetzt haben, iſt, weil wir hier D, wenn es ein Subject
iſt, als die Summe von allen Indiuiduis, die D ſind;
hingegen wenn es ein Praͤdicat iſt, als ein Praͤdicat, das
iſt, als ein Merkmal oder Eigenſchaft des Subjects an-
ſehen, deſſen Praͤdicat es iſt.


A a 3§. 208.
[374]V. Hauptſtuͤck.

§. 208. Da wir in ſolchen Vorderſaͤtzen den Grad
der Particularitaͤt als beſtimmt anſehen, ſo koͤnnen im-
mer die bejahenden Theile genommen werden. Es ſeyn
demnach


  • m A ſind B
  • n A ſind C

wo m und n zween Bruͤche vorſtellen, und n der groͤßere
iſt: ſo werden erſtlich (n — m) A diejenigen A ſeyn,
welchen nur eines der Praͤdicate, naͤmlich C, zukoͤmmt.
Daher hat man mit Gewißheit,


  • etliche C ſind nicht B.

Ferner wenn die Summe n + m groͤßer als 1 iſt; ſo
wird (1 — n — m) A diejenigen A vorſtellen, denen ſo-
wohl B als C zukoͤmmt, und in dieſem Fall hat man mit
Gewißheit


  • etliche C ſind B
  • etliche B ſind C.

Jſt aber die Summe kleiner als 1, ſo wird (m + n — 1) A
diejenigen A angeben, die weder B noch C ſind. Jn
dieſem Fall hat man nur die zween ſehr unbeſtimmten
Saͤtze


  • etliche nicht B ſind nicht C
  • etliche nicht C ſind nicht B

welche hoͤchſtens nur anzeigen, daß B und C keine ſolche
Begriffe oder Praͤdicate ſind, die nothwendig beyde al-
len moͤglichen Subjecten zukommen muͤßten. Laͤßt man
nun die gewiß beſtimmten Faͤlle, ſowohl von der ganzen
Summe als von beyden Vorderſaͤtzen weg, ſo bleiben
die unbeſtimmten,


woraus
[375]Von dem Wahrſcheinlichen.

woraus in beyden Faͤllen folgt


  • etliche B ½ ſind C.
  • etliche C ½ ſind B.

Die dritte Figur beut demnach immer zugleich gewiſſe
und ½ gewiſſe Schlußſaͤtze an, wenn beyde Mittelglieder
mit einem Bruche behaftet ſind, der den Grad ihrer
Particularitaͤt beſtimmt.


§. 209. Jn Anſehung der vierten Figur ſind die
drey Schlußarten Baralip, Calentes, Dibatis nur umge-
kehrte Schlußarten der erſten Figur, und die Wahr-
ſcheinlichkeit zieht ſich aus den Mittelgliedern eben ſo in
das Bindwoͤrtgen des Schlußſatzes. Hingegen bey den
uͤbrigen beyden Schlußarten Feſapo, Freſiſon, kann
das Mittelglied in dem Oberſatze keinen Bruch haben
(§. 203.). Hat es aber in dem Unterſatze einen Bruch,
ſo wird Feſapo in Freſiſon verwandelt, und in beyden
faͤllt die Wahrſcheinlichkeit des Schlußſatzes ganz weg,
weil er gewiß iſt.


§. 210. Was wir bisher in Abſicht auf alle Schluß-
figuren vorausgeſetzt haben, iſt, daß in jedem Satze das
Subject entweder alle oder etliche Indiuidua zuſammen-
faſſe, die unter dem Begriffe des Subjects enthalten
ſind; und daß hingegen das Praͤdicat nicht Indiuidua
ſondern den Begriff ſelbſt vorſtellen. Dieſem nach ſoll-
ten die Praͤdicate lauter Adiectiua, die Subjecte aber
laͤuter Subſtantiua ſeyn. So einfoͤrmig aber ſind die
Sprachen nicht. Jndeſſen wenn ſolche Faͤlle in der
dritten und vierten Figur vorkommen, wo naͤmlich das
Praͤdicat des Unterſatzes im Schlußſatze zum Subject
wird, ſo faͤllt dieſer Unterſchied zwiſchen Praͤdicaten und
Subjecten in die Sinnen. Denn im Praͤdicat laͤßt
man die Adiectiua wie ſie ſind, hingegen im Subject
fuͤgt man ihnen den Begriff Ding als eine metaphyſi-
ſche Einheit bey, beſonders wenn der Satz particular iſt,
A a 4oder
[376]V. Hauptſtuͤck.
oder man tractirt das Adiectiuum in Form eines Sub-
ſtantiui.
Eben dieſes findet ſich auch bey der Umkeh-
rung der Saͤtze. Die Folge, die wir hieraus ziehen,
iſt, daß in der dritten und vierten Figur das Praͤdicat
des Unterſatzes keinen Bruch haben koͤnnen, wenn der
Schlußſatz ſolle koͤnnen gezogen werden. Denn dieſer
Bruch wuͤrde im Unterſatze einen Theil von Merkma-
len, im Schlußſatze aber einen Theil von Indiuiduis
vorſtellen, und ſo haͤtte die Schlußrede vier verſchiede-
ne Glieder, welches nicht angeht. Man ſetze z. E. in
Darapti


  • alle A ſind B.
  • alle A ſind ¾ C.

ſo wuͤrde folgen: Etliche ¾ C ſind B. Das will ſa-
gen: Etliche Dinge, welche ¾ von den Merkmalen des
C haben, ſind B. Dieſer Schluß iſt aber von dem
Schluß: Etliche C ſind B, verſchieden. Und der
Schluß: ¾ C ſind B, geht gar nicht an, weil ſichs von
¾ der Merkmale des C auf ¾ von den darunter gehoͤ-
renden Indiuiduis nicht ſchließen laͤßt.


§. 211. Aus gleichem Grunde kann auch ein Satz,
deſſen Praͤdicat mit einem Bruche behaftet iſt, nicht
umgekehrt werden, und ohnehin auch nicht verneinend
ſeyn (§. 203.). Jſt aber das Subject mit einem Bru-
che behaftet, ſo faͤllt bey der Umkehrung der Bruch weg.
So wird z. E. aus dem Satze


  • A ſind B

der Satz


  • etliche B ſind A.

Denn ⅔ A ſind etlicheA, und zum Umkehren iſt es
genug, daß B etlichen A zukomme. Haͤtte man aber
ſetzen wollen


  • etliche B ſind ¾ A

ſo waͤre der Verſtand des Satzes geaͤndert worden, weil
es auf dieſe Art ſchiene, als wuͤßte man nur noch von ¾
der
[377]Von dem Wahrſcheinlichen.
der Merkmale des A, daß ſie einigen B zukommen, da
man es doch von dem ganzen Begriffe A weiß. Wir
machen hier dieſe Anmerkung von der Umkehrung der
Saͤtze, weil man dieſelbe gebraucht, wo Schluͤſſe aus
einer Figur in eine andere gebracht werden. Uebrigens
wenn bey einem Satze das Bindwoͤrtgen einen Bruch
hat, ſo bleibt derſelbe auch bey dem Bindwoͤrtgen des
umgekehrten Satzes, weil die Wahrſcheinlichkeit, die
ſich auf den ganzen Satz ausbreitet, bey der Umkehrung
nicht veraͤndert wird.


§. 212. Die Grade der Wahrſcheinlichkeit, die man
fuͤr das Bejahen und fuͤr das Verneinen der Schluß-
ſaͤtze herausbringt, machen zuſammengenommen, nicht
immer ein Ganzes, weil oͤfters noch ein betraͤchtlicher
Theil unbeſtimmt bleibt, wie wir es in dem (§. 200. 201.)
angebrachten Beyſpiel der Schlußketten ſehen. Man
hat demnach allerdings dieſes unbeſtimmten Theils
Rechnung zu tragen, wenn man aus dem Grade der
Wahrſcheinlichkeit auf den Grad der Unwahrſcheinlich-
keit ſchließen will. Wir wollen die einfachern Faͤlle,
wie ſich eine Unbeſtimmtheit in das Bindwoͤrtgen zie-
hen kann, noch kuͤrzlich anzeigen.


§. 213. Man habe demnach


  • ¼ A ſind B.
  • alle C ſind A.

Weiß man hier nur, daß ¾ A, B ſind, ohne zu wiſſen,
ob die uͤbrigen es ſind oder nicht; ſo iſt der Schlußſatz


  • alle C ¼ ſind B

nur fuͤr die poſitive Wahrſcheinlichkeit, und es folgt nicht
daraus, daß kein C ¾ nicht B ſey, ſondern die Wahr-
ſcheinlichkeit des Verneinens bleibt ganz unbeſtimmt.
Daher zeigt die gefundene Wahrſcheinlichkeit des Be-
jahens auch nur den Theil an, den wir gewiß wiſſen.
Demnach iſt der Schlußſatz


A a 5§. 214.
[378]V. Hauptſtuͤck.

§. 214. Weiß man aber, daß die uͤbrigen ¾ A nicht
B ſind, ſo wird der Schluß ſo ausſehen (§. 194.)


  • a + ¾ e) A ſind B
  • alle C ſind A
  • alle Ca + ¾ e) ſind B.

Hier iſt nun nichts unbeſtimmtes mehr in dem Schluß-
ſatze. Man bejaht ihn mit ¼ Gewißheit, und verneint
ihn mit ¾ Gewißheit.


§. 215. Man habe nun


  • alle A ſind B
  • alle C ſind ⅔ A

ſo iſt hier der uͤbrige ⅓ A nothwendig unbeſtimmt.
Denn wuͤßte man, daß in dieſem ⅓ A ein einzig Merk-
mal dem C nicht zukaͤme, ſo wuͤrde der Unterſatz vernei-
nend, und folglich der Schlußſatz durchaus unbeſtimmt
ſeyn. Demnach iſt der Schlußſatz


§. 216. Dieſe drey einfacheren Faͤlle ſind in der all-
gemeinern Formel des §. 194. bereits enthalten. Wir
haben ſie hier beſonders angefuͤhrt, um anzuzeigen, wie
ſich aus dem Mittelgliede eines jeden Satzes Wahr-
ſcheinlichkeit, Unwahrſcheinlichkeit und Unbeſtimmtheit
in das Bindwoͤrtgen des Schlußſatzes ziehe. Der zu-
ſammengeſetzteſte Fall iſt nun fuͤr die erſte Figur fol-
gender:


  • (⅔ a + ¼ e + \frac {1}{12}u) A (⅖ a + ⅓ e + \frac {4}{15}u)
    ſind (¼ a + ¾ u) B.
  • a + ¼ u) C (⅔ a + ⅓ u) ſind (⅚ a + ⅙ u) A.
  • folglich (¾ a + ¼ u) C (\frac {7}{36}a + \frac {29}{162}e + \frac {203}{324}u)
    ſind (¼ a + ¾ u) B.

Wobey wir anmerken


  • 1. Jn den Praͤdicaten koͤmmt kein e vor, und zwar
    im Praͤdicate des Unterſatzes nicht, weil es den-
    ſelben
    [379]Von dem Wahrſcheinlichen.
    ſelben verneinend, und folglich den Schlußſatz
    durchaus unbeſtimmt machen wuͤrde. Jm Praͤ-
    dicate des Oberſatzes nicht, weil es die Bruͤche,
    womit dieſes Praͤdicat behaftet iſt, wuͤrde weg-
    fallen machen, und B in nichtB verwandelt
    wuͤrde.
  • 2. Aus gleichem Grunde bleiben die e bey dem Sub-
    jecte und dem Bindwoͤrtgen des Unterſatzes weg.
    Denn kaͤme es darinn vor, ſo wuͤrde der davon
    abhaͤngende Theil des Schlußſatzes unbeſtimmt.
    Demnach kann es ſogleich im Unterſatze zu den u
    gerechnet werden. Doch kann es Faͤlle geben, wo
    man aus andern Gruͤnden das e bey dem Sub-
    jecte des Unterſatzes nicht zu u rechnet.
  • 3. Die den beyden aͤußerſten Gliedern C, B beyge-
    ſetzten Bruͤche bleiben ihnen auch in dem Schluß-
    ſatze (§. 195. 196.).
  • 4. Die Bruͤche des Bindwoͤrtgens im Schlußſatze
    aber, werden durch die Multiplication der Bruͤ-
    che beyder Mittelglieder und beyder Bindwoͤrtgen
    der Vorderſaͤtze folgendermaßen gefunden. Um
    die Rechnung abzukuͤrzen, laſſe man alle u weg,
    ſo hat man noch die Factores
    Hiebey iſt nun zu merken, daß a mit a multipli-
    cirt, eben ſo wie e mit e multiplicirt bejahe,
    hingegen a mit e oder e mit a multiplicirt vernei-
    ne. Auf dieſe Art wird das Product
    Endlich ziehe man die Summe dieſer beyden
    Bruͤche \frac {7}{36} + \frac {29}{162} = \frac {121}{324} von 1 ab, ſo bleibt
    \frac {203}{324} fuͤr die u. Demnach iſt der dem Bindwoͤrt-
    gen des Schlußſatzes beygefuͤgte Bruch

5. Der
[380]V. Hauptſtuͤck.
  • 5. Der Schlußſatz geht nun ſchlechthin auf die Fra-
    ge, ob man von ¾ C ſagen koͤnne, daß ſie ¼ der
    Merkmale des B haben? Die Antwort, ſo der
    Schlußſatz angiebt, iſt; die Wahrſcheinlichkeit,
    dieſe Frage zu bejahen, ſey \frac {7}{36}, ſie zu verneinen
    \frac {29}{162}, ſie dahingeſtellt ſeyn zu laſſen \frac {203}{324}.

§. 217. Wir werden nun noch einige Betrachtun-
gen beyfuͤgen, wie man in beſondern Faͤllen die Luͤcken,
ſo wahrſcheinliche Schluͤſſe laſſen, ausfuͤllen, und daher
den Schlußſatz zur Gewißheit bringen koͤnne, und wie
es zugehe, daß man ſtatt deſſen ſehr leicht beſtimmtere
Saͤtze in bloß wahrſcheinliche verwandle, und ſich da-
durch den Weg zur Gewißheit ſchwerer mache. Ein-
mal wird aus Saͤtzen von der Art,


  • alle A ſind ¾ B

ſehr leicht und gleichſam unvermerkt,


  • alle A ¾ ſind B

gemacht, und dadurch die Merkmale des B, von denen
man gewiß wußte, daß ſie auch in A ſind, mit denen
vermengt, von welchen es unbeſtimmt iſt, ob ſie in A
ſind oder nicht. Man ſchließt, z. E. A hat die mei-
ſten Merkmale des B, demnach iſt es wahrſcheinlich B.
Behaͤlt man nun hier den erſten Satz; ſo koͤnnen
Schluͤſſe von dieſer Art vorkommen


  • alle A ſind ¾ B
  • alle C ſind A
  • alle C ſind ¾ B.

Hier iſt nun klar, daß, um den Schlußſatz,


  • alle C ſind B

oder


  • kein C iſt B

beſtimmt zu machen, es darum zu thun ſey, daß man
ſehe, ob die Merkmale des B, die man in A noch nicht
gefunden, ſich in C finden laſſen, weil dieſes oͤfters leich-
ter iſt. Findet man dieſelben, ſo iſt der Schlußſatz


alle
[381]Von dem Wahrſcheinlichen.
  • alle C ſind B

durchaus beſtimmt und gewiß. Findet man aber, daß
auch nur eines dieſer Merkmale in C nicht iſt; ſo iſt
der Schlußſatz


  • kein C iſt B

wiederum beſtimmt und gewiß. Da gewoͤhnlich C
mehr Merkmale als A hat, ſo iſt es im letzten Fall
auch leichter und moͤglicher, von C als von A zu bewei-
ſen, daß ein Merkmal des B ihm nicht zukomme.


§. 218. Noch leichter und haͤufiger aber werden
Saͤtze von der Art


  • a + ¼ e) A ſind B
  • a + ¼ u) A ſind B
  • ¾ A ſind B

in wahrſcheinliche von der Art


  • alle Aa + ¼ e) ſind B
  • alle Aa + ¼ u) ſind B
  • alle A ¾ ſind B

verwandelt. Man ſchließt z. E.


  • 1. Die meiſten A ſind B, demnach iſt A wahrſchein-
    lich B.
  • 2. Einige A ſind nicht B, demnach kann man von
    dieſem oder jenem A nur wahrſcheinlich ſagen,
    daß es B ſey.

Aber auf beyde Arten entfernt man ſich von der Ge-
wißheit und von den Mitteln, ſie ganz zu erhalten.
Denn bleibt man bey den erſten Saͤtzen, ſo kommen
oͤfters Schluͤſſe von der Art vor


  • alle B ſind C
  • a + ¼ u) A ſind B
  • folglich (¾ a + ¼ u) A ſind C.

Nun kann es oͤfters leichter ſeyn, daß man in den uͤbri-
gen ¼ A, das Praͤdicat C, als aber das Praͤdicat B
finde. Und iſt dieſes, ſo iſt der Schluß: alle A ſind C,
richtig.


§. 219.
[382]V. Hauptſtuͤck.

§. 219. Vornehmlich aber wird bey den Saͤtzen


  • a + ¼ e) A ſind B.

verſaͤumt, die Kennzeichen aufzuſuchen, woran
ſich diejenigen
A,dieBſind, von denen, die es
nicht ſind, unterſcheiden laſſen.
Bey dieſer Ver-
ſaͤumniß aber kann man ſodann nicht anders, als nach
folgender Art Schluͤſſe machen, dergleichen ſich leicht
anbieten:


  • a + ¼ e) A ſind B
  • alle C ſind A
  • alle Ca + ¼ e) ſind B.

Wobey der Schlußſatz ſchlechthin wahrſcheinlich bleibt.
Die Lehre von der Gewißheit uͤberhaupt, und beſon-
ders von der Gewißheit der Sinnen, giebt uns hie-
von ein ſehr allgemeines und wichtiges Beyſpiel, weil
man aus dem, daß uns die Sinnen zuweilen zum Jr-
ren verleiten, den Schluß macht, daß die durch die Sin-
nen erlangte und uͤberhaupt die ganze hiſtoriſche Er-
kenntniß nur wahrſcheinlich ſey. Die Zweifler gien-
gen noch weiter, und verwandelten das Wahrſchein-
liche
vollends ins Ungewiſſe. Carteſius ſcheint die-
ſes Verſehen eingeſehen zu haben, weil es ihn veran-
laßte, ein Criterium veritatis zu ſuchen.


§. 220. Wenn die Wahrſcheinlichkeit und Unbe-
ſtimmtheit eines Satzes aus den Mittelgliedern der
Vorderſaͤtze herruͤhrt, aus welchen man denſelben gefol-
gert (§. 213. ſeqq.), ſo iſt es wiederum beſſer, die Vor-
derſaͤtze beyzubehalten. Man habe z. E.


  • ¾ A ſind B.
  • alle C ſind ⅔ A.
  • alle C ½ ſind B.

So bieten ſich, um den Schlußſatz vollends gewiß zu
machen, verſchiedene Wege an. Einmal kann man ſe-
hen, ob die uͤbrigen ¼ A auch B ſind, und ob C die uͤbri-
gen
[383]Von dem Wahrſcheinlichen.
gen ⅓ der Merkmale des A habe? Wird beydes be-
jaht, ſo laͤßt ſich der Schluß ziehen. Findet man un-
ter den ⅔ A, von welchen man weiß, daß ſie Praͤdicate
von C ſind, eigene Merkmale des A, ſo iſt die Jndu-
ction fuͤr den Unterſatz uͤberfluͤßig, und ſie wird es auch
in Anſehung des Oberſatzes, wenn man in A eigene
Merkmale des B findet. Letzteres geht nun nicht an,
wenn nur ¾ A das Praͤdicat B haben, die uͤbrigen ¼ A
es nicht haben. Jn dieſem Fall theilt ſich der Begriff
A in Arten, deren jede ihre eigene Merkmale hat, die
man aufſuchen, und mit dem Begriffe C vergleichen
kann. Endlich, da ſolche Schluͤſſe als Veranlaſſungen
angeſehen werden koͤnnen, die Begriffe C, B unmittel-
bar mit einander zu vergleichen, ſo kann man auch die
eigenen Merkmale des B aufſuchen, und ſodann ſehen,
ob ſie dem C zukommen oder nicht?


§. 221. Da wir in der Dianoiologie (§. 229. ſeqq.)
den Unterſchied der vier Schlußſiguren in Abſicht auf
ihren Gebrauch umſtaͤndlich angegeben und erwieſen
haben, ſo iſt nicht zu zweifeln, daß dieſer Unterſchied ſich
nicht auch auf wahrſcheinliche Schluͤſſe erſtrecke, und
die Vergleichung deſſelben mit dem vorhin (§. 203.
ſeqq.) in Abſicht auf das Mittelglied angemerkten Un-
terſchiede, zu mehreren ſpecialern und brauchbaren Be-
griffen und Saͤtzen Anlaß gebe, die uns die Arten, wie
wir in beſondern Faͤllen zu wahrſcheinlichen Saͤtzen ge-
langen, kenntlicher machen, und eben ſo auch naͤher be-
ſtimmen, wie ſich die Gruͤnde zum Bejahen von den
Gruͤnden zum Verneinen unterſcheiden, und aus wel-
chen Quellen beyde herfließen. Wir halten uns aber
hier bey dieſer an ſich ſehr weitlaͤuftigen Unterſuchung
nicht auf, ſondern werden nur einige dahin dienende all-
gemeinere Betrachtungen anfuͤhren.


§. 222. Die erſte iſt dieſe: Daß ein bloß wahr-
ſcheinlicher Satz weder ein Grundſatz, noch ein aus
Gruͤn-
[384]V. Hauptſtuͤck.
Gruͤnden oder Erfahrung bereits erwieſener Satz ſey,
obwohl er, wenn er an ſich wahr iſt, in die eine oder
andere dieſer Claſſen kann gebracht werden. Der Un-
terſchied, der ſich hiebey findet, iſt wohl zu bemerken.
Denn ſcheint uns ein Satz nur wahrſcheinlich, der doch
an ſich oder im Reiche der Wahrheiten ein Grund-
ſatz
iſt, ſo liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den
Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge-
nug verſtehen, was die Worte ſagen wollen. Denn
eben das macht ihn zum Grundſatze, daß man ihn nur
verſtehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben.
Scheint uns hingegen ein Lehrſatz nur wahrſcheinlich,
ſo iſt es, weil wir deſſen Beweis nicht vollſtaͤndig einſe-
hen, oder nicht wiſſen, daß er vollſtaͤndig iſt. Wir moͤ-
gen uns aber einen Satz als wahrſcheinlich oder
als unwahrſcheinlich vorſtellen, ſo iſt dieſe Vorſtel-
lung immer mit einem deutlichen oder confuſen Be-
wußtſeyn eines noch unzureichenden Beweiſes verbun-
den, es mag nun dieſer aus einer Schlußkette, oder
in Aufhaͤufung einzelner Schluͤſſe, oder aus Jnductio-
nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden ꝛc. be-
ſtehen.


§. 223. Da wir die eigentlich ſo genannten Gruͤn-
de
in der erſten Figur der Schlußreden vortragen, ſo
beſteht bey einem nur wahrſcheinlichen Schlußſatze das
Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von
folgenden Stuͤcken: 1. Wenn wir von der Aklge-
meinheit
des Oberſatzes nicht verſichert ſind, oder ver-
mittelſt der 3ten Figur Exempla in contrarium finden.
Erſteres macht den Schlußſatz unzuverlaͤßig, letzteres
giebt Gruͤnde oder Vermuthungen fuͤr das Gegentheil.
2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Unterſatzes
nicht verſichert ſind. Dieſes macht auch die Allgemein-
heit des Schlußſatzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht
verſichert ſind, ob das Praͤdicat dem Subject des Unter-
ſatzes
[385]Von dem Wahrſcheinlichen.
ſatzes ganz zukomme, oder ob das Subject alle Merk-
male des Praͤdicats habe. Dieſes macht den Schluß-
ſatz, ſo weit wir es wiſſen, wahrſcheinlich, ſo weit wir es
nicht wiſſen, oder das Gegentheil finden, unbeſtimmt.
4. Haben wir eben dieſen Anſtand in Anſehung des
Oberſatzes; wenn wir denſelben bejahend nehmen, ſo
faͤllt der Zweifel auch ganz auf den Schlußſatz, weil,
wenn das Subject auch nur ein Merkmal des Praͤdi-
cats nicht hat, dadurch der Oberſatz, und mit demſelben
der Schlußſatz, verneinend wird.


§. 224. Dieſes ſind nun die vier unmittelbaren
Quellen, aus welchen das Unzureichende der Gruͤnde
fließt, wenn wir ſie in der erſten Figur vortragen. Je-
de hat auf den Schlußſatz einen beſondern Einfluß.
Es geſchieht aber oͤfters, daß wir die Vorderſaͤtze als
noch eines Beweiſes beduͤrftig anſehen, ohne ſo gleich
zu wiſſen, an welchem von den erſterwaͤhnten 4 Stuͤcken
es ihnen fehle (§. 217. ſeqq.). Werden ſie ebenfalls durch
Schluͤſſe der erſten Figur erwieſen, ſo ſieht man leicht,
daß dieſe 4 Quellen wiederum vorkommen, und einen
entferntern Einfluß in den Schlußſatz haben koͤnnen.


§. 224 a. Wir gebrauchen die zweyte Figur, um die
Verſchiedenheit der Begriffe und Dinge zu bewei-
ſen. Der Zweifel an der Allgemeinheit des Oberſatzes
geht auf die Guͤltigkeit des Schlußſatzes, ſo wie hin-
gegen der Anſtand uͤber die Allgemeinheit des Unterſat-
zes ſich auf die Allgemeinheit des Schlußſatzes er-
ſtreckt. Steht man an, ob das Subject des bejahen-
den Vorderſatzes alle Merkmale des Praͤdicats habe,
ſo wird der Schlußſatz, ſo weit man es gewiß weiß,
wahrſcheinlich, ſo weit man es nicht weiß, unbeſtimmt.
Steht man hingegen an, ob der verneinende Vorderſatz
wirklich verneine, ſo wird auch die Guͤltigkeit des Ver-
neinens im Schlußſatze zweifelhaft, und oͤfters koͤmmt
hiebey der oben (§. 168.) betrachtete Fall vor.


Lamb. Organon II B. B b§. 225.
[386]V. Hauptſtuͤck.

§. 225. Die dritte Figur giebt Beyſpiele zu beſon-
dern Arten und Ausnahmen. Dabey hat nun die Par-
ticularitaͤt der Vorderſaͤtze nichts zu ſagen. Sie koͤn-
nen, ohne der Gewißheit des Schlußſatzes Abbruch zu
thun, unter einer von folgenden Bedingungen beyde zu-
gleich particular ſeyn. 1. Wenn man weiß, daß in den
Subjecten beyder Vorderſaͤtze von einerley Indiuiduis
die Rede iſt. 2. Wenn man weiß, daß jeder Vorder-
ſatz von den meiſten Indiuiduis des Subjects wahr iſt.
3. Wenn man weiß, daß der Grad der Particularitaͤt
beyder Vorderſaͤtze verſchieden iſt (§. 204. ſeqq.) und
(Dianoiol. §. 236.). Der Zweifel, ob der Unterſatz
bejahe, geht auf die Guͤltigkeit des Schlußſatzes, ſo
wie hingegen der Zweifel uͤber das Bejahen oder Ver-
neinen des Oberſatzes ſich auf das Bejahen oder Ver-
neinen des Schlußſatzes erſtreckt.


§. 226. Jn Anſehung der vierten Figur, welche
zum Reciprociren gebraucht wird, kann der Anſtand
uͤber die Allgemeinheit des Oberſatzes die Schlußarten
Baralip und Feſapo in Dibatis verwandeln; bey den
uͤbrigen Schlußarten Calentes und Freſiſon aber, wird
dadurch die Guͤltigkeit des Schlußſatzes zweifelhaft.
Steht man |hingegen an, ob der Unterſatz allgemein
ſey, ſo verwandelt ſich Feſapo in Freſiſon, hingegen
wird in den Schlußarten Baralip, Calentes, Dibatis die
Guͤltigkeit des Schlußſatzes wankend. Der Anſtand
uͤber das Bejahen des Oberſatzes kann Baralip und Di-
batis
in Feſapo verwandeln, bey Calentes aber die Guͤl-
tigkeit des Schlußſatzes zweifelhaft machen; ſo wie
hingegen der Anſtand uͤber das Verneinen des Ober-
ſatzes Feſapo in Baralip umkehren, und Freſiſon zwei-
felhaft machen kann. Steht man an, ob der Unterſatz
bejahe, ſo kann aus Baralip Calentes werden, in Diba-
tis, Feſapo
und Freſiſon wird der Schlußſatz wankend.
Hinwiederum kann Calentes ſich in Baralip verwan-
deln,
[387]Von dem Wahrſcheinlichen.
deln, wenn das Verneinen des Unterſatzes zweifelhaft
wird.


§. 227. Der Unterſchied, den wir (§. 223. ſeqq.)
zwiſchen den Graden der Allgemeinheit und dem An-
ſtand uͤber das Bejahen oder Verneinen gemacht ha-
ben, beſteht darinn, daß wir die Frage von der Allge-
meinheit eines Satzes aus dem Subjecte, hingegen die
Frage von dem Bejahen oder Verneinen aus dem Praͤ-
dicate entſcheiden. Man habe z. E.


  • ¾ A ſind ⅔ B.

ſo zeigt ¾ A nicht nur die Particularitaͤt, ſondern auch
deſſen Grad an. Hingegen will ⅔ B ſagen, daß man
nur noch von ⅔ der Merkmale des B wiſſe, ob ſie den
¾ A zukomme, von den uͤbrigen ⅓ B bleibe es dahinge-
ſtellt. Fehlte es aber an einem einzigen, ſo wuͤrde der
Satz verneinend. Demnach wird die Frage von dem
Bejahen oder Verneinen des Satzes aus dem Praͤdi-
cat eroͤrtert. Es muß dem Subject ganz zukommen.
Dieſes macht, daß bey verneinenden Saͤtzen der Bruch
von dem Praͤdicat wegbleibt. Denn


  • A iſt nicht ¼ B

will ſagen


  • A iſt nicht B.

Steht man aber an, ob ein Satz verneine, ſo wird
der Grad des Anſtandes dem Bindwoͤrtgen beyge-
fuͤgt. Z. E.


  • A ¼ iſt nicht B.

oder man zieht den Bruch von 1 ab, und fuͤgt den Ue-
berreſt dem Praͤdicat in Form eines bejahenden Satzes
bey. Z. E.


  • A iſt ¾ B.

Denn der Grund des Zweifels ruͤhrt immer daher, daß
A Merkmale von B habe, und daß man vermuthen
koͤnne, es habe ſie alle. Was aber noch an der Gewiß-
B b 2heit
[388]V. Hauptſtuͤck.
heit dieſes Vermuthens abgeht, wird zu dem Unbe-
ſtimmten gerechnet.


§. 228. Will man Saͤtze von der Art


  • ¾ A ½ iſt ⅘ B

durch Multiplicirung der Bruͤche in


  • alle A\frac {3}{10} ſind B

verwandeln, und dadurch das Gewiſſe mit dem Unbe-
ſtimmten vermengen, ſo breitet ſich die Wahrſcheinlich-
keit dieſes letzten Satzes nicht gleichfoͤrmig uͤber den
ganzen Satz aus (§. 198.). Und man ſieht leicht, daß
Vorderſaͤtze von dieſer Art ebenfalls eine vermiſchte
Wahrſcheinlichkeit in den Schlußſatz bringen, und die
einzeln Quellen, woraus dieſe Wahrſcheinlichkeit fließt,
daruͤber verlohren gehen. Man wird ebenfalls leicht
finden, daß die meiſten Saͤtze, die uns ohne deutliches
Bewußtſeyn der Gruͤnde, wahrſcheinlich vorkommen,
eine ſolche vermiſchte oder verwirrte Wahrſcheinlichkeit
haben, und daß man die einzeln Quellen, daraus ſie zu-
ſammenfleußt, hervorſuchen muͤſſe, wenn man die Luͤk-
ken und das Unvollſtaͤndige in den Gruͤnden deutlich
einſehen und ſie vollſtaͤndig machen will.


§. 229. Was wir bisher uͤber die Argumente und
ihre Wahrſcheinlichkeit geſagt haben, geht noch immer
auf den Verſtand. Die Argumente fuͤr den Wil-
len
haben damit, in ſo fern ihre Wahrheit und Wahr-
ſcheinlichkeit beurtheilt werden muß, ſehr vieles gemein.
Hingegen machen ſie, ſo fern ſie auf den Willen gehen,
eine beſondere Claſſe aus. Der Wille geht auf das
wahre oder ſcheinbare Gute, oder da das Gute keine
beſtimmte Einheit hat, wie das Wahre, ſo kann man
richtiger und genauer ſagen, daß der Wille auf das
Wahre oder ſcheinbare Beſſere gehe. Hiebey haben
wir nun den Unterſchied zwiſchen dem Wahren und
Scheinbaren bereits in vorhergehendem Hauptſtuͤcke be-
trachtet.
[389]Von dem Wahrſcheinlichen.
trachtet. Wir halten uns demnach hier dabey nicht auf:
ſondern merken nur an, daß, da man fuͤr und wi-
der einen Satz nicht zugleich wahre Gruͤnde
haben kann, ſo fern er ein Object des Verſtan-
des iſt, es hingegen fuͤr und wider denſelben
wahre Gruͤnde geben koͤnne, ſo fern man ihn
als ein Object des Willens betrachtet.
Naͤm-
lich, ſo fern man fuͤr und wider die Wahrheit eines
Satzes Gruͤnde hat, ſo iſt derſelbe nur noch wahrſchein-
lich, an ſich aber nothwendig entweder wahr oder falſch.
Beyde Arten von Gruͤnden ſind oder ſcheinen wenig-
ſtens noch unvollſtaͤndig, und welche von beyden einer
Vollſtaͤndigkeit faͤhig ſind, ſo bleibt in den andern noth-
wendig Unvollſtaͤndigkeit zuruͤcke. Jſt aber der Satz
ein Object des Willens, ſo kann es wahre Gruͤnde fuͤr
und wider denſelben geben. Denn ſo fern darinn dem
Willen etwas als gut vorgeſtellt wird, ſo bleibt beſon-
ders in einzeln Faͤllen die Frage: ob es das Beſſere
oder das Beſte ſey? Dieſes zieht nun eine Betrach-
tung der Folgen, und die Vergleichung des Gewaͤhlten
oder Vorgeſchlagenen mit dem, was man ſtatt deſſen
waͤhlen oder vorſchlagen koͤnnte, nach ſich. Bey allem
dieſem aber kann in Abſicht auf den Verſtand Schein,
Wahrheit, Wahrſcheinlichkeit, Jrrthum, Ungewißheit
und Unbeſtimmtheit vorkommen. Daher ſind die Ar-
gumente fuͤr den Willen auch allerdings Argumente fuͤr
den Verſtand. Und die Beweiſe, ſo man daruͤber fuͤhrt
oder daraus zuſammenſetzt, ſind die eigentlich oder dem
Buchſtaben nach ſo genannten moraliſchen Bewei-
ſe,
deren Begriff aber, wenn man das Wort metapho-
riſch macht, ungleich ausgedehnter wird (§. 174.).


§. 230. Die Argumente fuͤr den Willen werden
eigentlich da gebraucht, wo man unterſucht, ob man ſich
zu etwas entſchließen ſolle, oder auch, wo man andere
dazu bereden will. Sie muͤſſen demnach gewiß oder
B b 3wahr-
[390]V. Hauptſtuͤck.
wahrſcheinlich zeigen, daß der Entſchluß beſſer als jeder
andere ſey, den man ſtatt deſſen in vorgegebenen Um-
ſtaͤnden nehmen koͤnnte. Da das Allgemeine hievon
in die Agathologie gehoͤrt, das Beſondere aber aus den
jedesmal vorkommenden Umſtaͤnden hergenommen wer-
den muß; ſo halten wir uns dabey nicht auf, weil wir
hier nicht das Gute, ſondern das Wahre, zum Ge-
genſtand haben. Jndeſſen mußten wir den Begriff
der Argumente fuͤr den Willen hier uͤberhaupt anzei-
gen, weil er uns zu der Betrachtung der Argumente
von dem Willen, oder der von dem Willen her-
genommenen Argumente
dient. Dieſe kommen
nun bey Beurtheilung geſchehener oder kuͤnftiger Din-
ge, welche von menſchlichen Entſchließungen abhaͤngen,
imgleichen auch bey der Beurtheilung der Aufrichtig-
keit
und Glaubwuͤrdigkeit der Zeugen haͤufig vor,
und beruhen auf der Kenntniß der Gedenkensart,
Kraͤfte,
des Verſtandes und Willens, Gemuͤths-
beſchaffenheit, Umſtaͤnde
und Verhaͤltniſſe der-
jenigen Perſonen, von welchen gefragt wird, ob ſie eine
vorgegebene Sache gethan haben, oder thun werden,
oder die Wahrheit ſagen, oder aufrichtig handeln ꝛc.
Hiebey werden nun die Begriffe der Nothwendig-
keit, Moͤglichkeit, Unmoͤglichkeit
ꝛc. auf eine drey-
fache Art genommen. 1. Metaphyſiſch, was naͤmlich
an ſich nothwendig, moͤglich, unmoͤglich iſt. 2. Phy-
ſiſch, was es in der gegenwaͤrtigen Welt nach den Ge-
ſetzen ihrer Einrichtung und Veraͤnderungen iſt. 3. Mo-
raliſch, was es nach den Geſetzen und Kraͤften des Wil-
lens, und bey beſtimmten Graden und Vollkommenhei-
ten oder Unvollkommenheiten deſſelben iſt. Man ſieht
leicht, daß die von dem Willen hergenommene Argu-
mente vornehmlich auf das gehen, was man mora-
liſch moͤglich, unmoͤglich, nothwendig
nennt,
und daß man dabey den Vorſatz von dem Verſehen,
Un-
[391]Von dem Wahrſcheinlichen.
Unachtſamkeit und Nachlaͤßigkeit zu unterſchei-
den habe. Das moraliſch Unmoͤgliche iſt der Geden-
kensart und Gemuͤthsverfaſſung eines Menſchen zuwi-
der, und ſo fern ein Menſch ſich Regeln vorſchreibt,
oder auch ſich daran gewoͤhnt, die er mit Wiſſen nicht
uͤbertritt, ſo fern wird das vorſetzliche Uebertreten derſel-
ben fuͤr moraliſch unmoͤglich angeſehen, weil er ſich
eine Art von Nothwendigkeit auferlegt, nach denſel-
ben zu handeln, auch wo das Gegentheil moͤglich bleibt.
Was nun ſolche Regeln unbeſtimmt laſſen, wird zu
dem moraliſch Moͤglichen gerechnet. Uebrigens
werden die Woͤrter, moraliſch moͤglich, unmoͤg-
lich, nothwendig,
metaphoriſch genommen, und da-
her der Begriff derſelben, ſo wie der Begriff der mo-
raliſchen Beweiſe,
viel weiter ausgedehnt. Auf die-
ſe Art wird ſogar in Gluͤcksſpielen ein Fall, der kaum
\frac {1}{1000} oder \frac {1}{10000} Wahrſcheinlichkeit hat, moraliſch
unmoͤglich genennt.


§. 231. Die von dem goͤttlichen Willen, und
uͤberhaupt von den goͤttlichen Vollkommenheiten
hergenommene Argumente, machen hiebey eine beſon-
dere Claſſe aus, und verdienen in vielen Abſichten eine
genauere Unterſuchung. Man macht dabey, was wirk-
lich geſchieht, zu goͤttlichen Abſichten, und die Urſachen,
ſo die Veraͤnderungen hervorbringen, zu Mitteln. Jn
Anſehung erſterer wird zwiſchen dem poſitiven Wol-
len
und dem bloßen Zulaſſen ein Unterſchied ge-
macht. Gott will, was wirklich und gut iſt, er laͤßt
die Schranken des Wirklichen und die daherruͤhrenden
Maͤngel, wegen des Wirklichen und Guten zu. So
lange man hiebey a poſteriori geht, und folglich die all-
gemeinern Geſetze der Dinge und Veraͤnderungen in
der Welt aus der Erfahrung kennen lernt, ſo lange hat
die Vergleichung derſelben keine Schwierigkeiten. Wir
koͤnnen noch beyfuͤgen, daß, wenn wir die goͤttlichen
B b 4Voll-
[392]V. Hauptſtuͤck.
Vollkommenheiten aus der Welt, und folglich den Schoͤ-
pfer aus ſeinem Werke wollen kennen lernen, es auf
dieſe Art geſchehen muͤſſe. So gewoͤhnen wir uns an
eine gedoppelte Sprache. Die erſte ſtellt uns die Din-
ge der Welt, ihre Veraͤnderungen, Verbindungen und
Verhaͤltniſſe nebſt den Geſetzen, ſo, wie ſie die Erfah-
rung angiebt, mit eigenen Worten vor. Wir reden
darinn von Urſachen, Kraͤften und Wirkungen. Die
andere Sprache macht aus den Wirkungen Abſichten,
aus den Urſachen Mittel, aus den Geſetzen Vorſchrif-
ten des goͤttlichen Willens, die den goͤttlichen Vollkom-
menheiten gemaͤß ſind, und die ganze Schoͤpfung vom
Anfange an durch alle Zeiten durch, wird darinn ein
Abdruck und fortdauernde Wirkung aller goͤttlichen
Vollkommenheiten zuſammengenommen, genennt. Die
Ueberſetzung aus der erſten dieſer Sprachen in die letz-
tere, iſt immer moͤglich und leicht, ſo weit erſtere reicht
und richtig iſt. Jn ſo ferne aber dient dieſe Ueberſet-
zung eigentlich nur zur Erbauung. Es koͤnnte aber
dieſe Erbauung noch ungleich groͤßer und ausgedehnter
und zugleich noch mit wichtigen Vortheilen begleitet
werden, wenn wir die zweyte dieſer Sprachen zum
Grunde legen, ſie in ein richtiges Syſtem bringen, und
was wir daraus finden, in die erſtere uͤberſetzen koͤnn-
ten. Das will ſagen: Die Theologie oder die
Lehre von den Abſichten der Dinge in der Welt,
ſollte ihre allgemeinen Gruͤnde aus der Theo-
rie der goͤttlichen Vollkommenheiten herneh-
men, und uns nicht nur die Allgemeinheit der
Geſetze der Natur beweiſen, ſondern auch zur
Erfindung derſelben dienen.
So weit iſt aber
dieſe Wiſſenſchaft noch nicht gebracht, und in dem, was
wir davon haben, auch ſo ſtrenge nicht a priori erwie-
ſen, daß die daraus entliehene Gruͤnde nicht immer noch
der Erfahrung, als einer Probe beduͤrften, wodurch
die
[393]Von dem Wahrſcheinlichen.
die Beſorgniß, es moͤchten andere Gruͤnde Ausnahmen
und Aenderungen an unſeren teleologiſchen Schluͤſſen
machen, gehoben wird.


§. 232. Der allgemeinſte Anſtand, der in Anſehung
der teleologiſchen Gruͤnde vorkoͤmmt, und als ein Zwei-
fel wider dieſelben gebraucht wird, iſt die Beſorgniß,
daß wir von Gott viel zu menſchlich denken. Wer
dieſen Anſtand hat, nimmt die vorgemeldte zweyte
Sprache nur als eine Hypotheſe an, und zweifelt, ob ſie
weiter, als die Erfahrung reicht, gebraucht werden koͤn-
ne? Jn ſo ferne wird er teleologiſche Schluͤſſe hoͤchſtens
nur als eine Veranlaſſung anſehen, Erfahrungen auf-
zuſuchen, die uns vielleicht ohne ſolche Schluͤſſe nicht
beygefallen waͤren. Hieruͤber merken wir nun an, daß
beyde Sprachen einerley Sache benennen, und daher
gleichſam nur in der Benennung verſchieden ſeyn ſol-
len. Naͤmlich, die phyſiſche Sprache gebraucht die ei-
genen Namen, die teleologiſche aber ſolche, die die Ver-
haͤltniß der Dinge gegen Gott zugleich mit den Dingen
benennen. Man fange nun bey der Erfahrung an,
um ſich zur Ueberſetzung aus einer Sprache in die an-
dere den Weg zu bahnen, und die Gruͤnde zu dieſer Ue-
berſetzung zu beſtimmen: ſo entſteht die Frage, ob man
aus Erfahrungen andere Erfahrungen herleiten koͤnne?
Dieſes iſt nun allerdings moͤglich, und die Phyſik giebt
uns haͤufig Beyſpiele davon. Nun ſage ich, daß dieſe
Moͤglichkeit bey dem Gebrauche der teleologiſchen Spra-
che nicht wegfalle, wenn ſie auf erſtbemeldte Art einge-
richtet iſt. Denn ſo benennt ſie einerley Dinge, wie
die phyſiſche Sprache, nur daß ſie Namen gebraucht,
die eine Verhaͤltniß der Dinge zu den goͤttlichen Voll-
kommenheiten mit anzeigen. Dieſe Verhaͤltniß aber
verwandelt hoͤchſtens nur das iſt, ſo die phyſiſche Spra-
che gebraucht, in ein muß ſeyn, weil die goͤttlichen
Vollkommenheiten das fordern, was die Erfahrung
B b 5lehrt,
[394]V. Hauptſtuͤck.
lehrt, daß es ſey. Um ein Beyſpiel anzufuͤhren, wel-
ches in der Teleologie und Phyſik ſehr weit reicht, ſo
gebraucht man in der Phyſik den Satz: Was be-
ſtaͤndig geweſen iſt, faͤhrt fort zu ſeyn, und wie
ferne,
als einen Grundſatz von dem Beharrungs-
ſtande
der Dinge und Geſetze der Natur. Die Te-
leologie macht dieſen Satz aus dem Begriffe der Un-
veraͤnderlichkeit Gottes in den Vorſchriften ſeines Wil-
lens nothwendig. Nun kann man beweiſen, daß, wo
ein Beharrungsſtand ſeyn ſoll, dasjenige dabey vorkom-
men muͤſſe, was man in der hoͤhern Geometrie ein ma-
ximum
und ein minimum heißt. Denn die Kraͤfte,
die an dem Beharrungsſtande etwas aͤndern koͤnnen,
muͤſſen nicht nur im Gleichgewichte, und folglich das
Uebergewicht = 0 ſeyn, ſondern auch das Differentiale
des Uebergewichtes muß = 0 ſeyn. Letzteres aber giebt
ein maximum oder ein minimum. Auf eine aͤhnliche
Art werden die Abwechslungen, die in dem Behar-
rungsſtande vorkommen, durch maxima und minima
innert beſtimmten Schranken erhalten, wie es z. E. in
Anſehung der Witterung geſchieht. Die Teleologie ſucht
die Bedingungen des Beharrungsſtandes aus den Fol-
gen, die die beſten ſeyn ſollen, und daraus leitet ſie
allerdings auch maxima und minima her. Zu dem
koͤmmt noch, daß Groͤßen, die veraͤnderlich angenom-
men werden koͤnnen, oder bey deren Beſtimmung eine
Auswahl bleibt, die eleganteſten und ſchicklichſten Eigen-
ſchaften da haben, wo ſie ein maximum oder ein mini-
mum
werden. So z. E. hat Herr Profeſſor Koͤnig
dem Herrn von Reaumur auf des letztern Anſuchen er-
wieſen, daß man bey den Bienencellen nicht nur die
ſechseckige Figur, ſo die laͤnglichten Seiten machen, ſon-
dern auch die Pyramidalfigur des Bodens beſtimmen
kann, wenn man annimmt, daß die Bienen, um eine
gleiche Menge Honigs zu faſſen, am wenigſten Wachs
gebrau-
[395]Von dem Wahrſcheinlichen.
gebrauchen, und folglich ihre Sparſamkeit darinn zum
maximo wird. Setzt man aber die Rechnung weiter
fort, ſo ergiebt ſichs, daß von allen 9 Flaͤchen jede zwo
aneinanderſtoßende einerley Neigungswinkel gegen ein-
ander haben, und folglich die Bienen einerley Mecha-
niſmum
gebrauchen, ſowohl den prismatiſchen als den
pyramidiſchen Theil ihrer Cellen mit der groͤßten Spar-
ſamkeit zu bauen. Eine Schicklichkeit, die man um
deſto weniger erwarten konnte, weil bey mehrern Ab-
ſichten faſt immer eine der andern Abbruch thut. Wir
koͤnnen uͤbrigens in Anſehung des Beharrungsſtan-
des
noch anmerken, daß eine entwickelte Theorie deſſel-
ben zu der Teleologie und deren Brauchbarkeit nicht
wenig dient, beſonders wenn darinn die Bedingungen
eroͤrtert werden, unter welchen ein Beharrungsſtand
moͤglich iſt. Denn dieſes giebt umgekehrte Saͤtze, die
ſich ſodann auf die Welt anwenden laſſen, und zugleich
Aufhaͤufungen von Argumenten erſparen (§. 168.).


§. 233. Die hiſtoriſche Gewißheit beruht großen-
theils auf der Glaubwuͤrdigkeit der Nachrichten, die
wir davon haben. Denn was wir von den Veraͤnde-
rungen in der Welt ſelbſt ſehen oder empfinden, oder
aus ihren Folgen und Urſachen ſchließen koͤnnen, macht
einen geringen Theil der Geſchichte aus. Die Beur-
theilung der Richtigkeit und Zuverlaͤßigkeit einer Nach-
richt beruht aber 1. theils auf der Unterſuchung der Sa-
che ſelbſt, ſo ferne ſie erzaͤhlt wird. Sie ſoll nichts wi-
derſprechendes enthalten, und ſo auch nichts das meta-
phyſiſch oder phyſiſch unmoͤglich iſt. 2. Theils auf
der Vergleichung der Nachricht mit den Umſtaͤnden, die
ſie vorausſetzt, und mit den Folgen, die die Sache, falls
ſie wahr iſt, haben muß. 3. Auf der Unterſuchung
der Glaubwuͤrdigkeit des Zeugen, Ausſagers oder
Nachſagers, ob er die Wahrheit ſagen koͤnne, und
ob er ſie ſagen wolle? Die Aufmerkſamkeit, das
Ge-
[396]V. Hauptſtuͤck.
Gedaͤchtniß und die durch Uebung erlangte Kenntniß
von Sachen gleicher Art ſind Erforderniſſe, ohne die
ein Zeuge, auch wenn er die Wahrheit ſagen will, der-
ſelben leicht verfehlt, zumal wenn auch Affecten ſich mit
einmengen, deren Einfluß in die Erkenntniß der Wahr-
heit wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke umſtaͤndlicher
betrachtet haben. Es iſt auch hinwiederum fuͤr ſich klar,
daß wenn es dem Zeugen am Willen fehlt, die Wahr-
heit zu ſagen, der Grund davon ebenfalls in wahren
oder irrigen Vorſtellungen liege, wodurch Affecten ihm
den Willen anders lenken, und durch eine groͤßere Hef-
tigkeit in der Erzaͤhlung die Erzaͤhlung an ſich ſchon da-
durch verdaͤchtig machen, daß ſie, wo nicht ganz falſch,
doch verſtellt und uͤbertrieben ſey.


§. 234. Jndeſſen muß es dem Zeugen weder an
der Erkenntniß noch am Willen fehlen, wenn ſeine
Glaubwuͤrdigkeit = 1, oder vollſtaͤndig ſeyn ſolle. Das
erſtere entſcheidet ſich aus der Vergleichung der Nach-
richt oder der Erzaͤhlung mit der Faͤhigkeit des Erzaͤh-
lenden, und dabey muß die Erzaͤhlung ſtuͤckweiſe be-
trachtet werden, wenn ſie aus mehrern beſteht. Sodann
muß man unterſuchen, ob der Zeuge nicht mehr ſagt,
als er wirklich hat ſehen oder empfinden koͤnnen? Dieß
geſchieht 1. wenn er Schluͤſſe aus den Empfindungen
mit in die Erzaͤhlung mengt. 2. Wenn er den empfun-
denen Sachen Namen giebt, die mehr in ſich begreifen,
als man empfinden kann, z. E. bey Handlungen die Ab-
ſicht und Moralitaͤt. Jm erſten Fall muß man die
Schluͤſſe weglaſſen, im andern Fall aber ſtatt der in der
Erzaͤhlung gebrauchten Woͤrter ſolche dafuͤr nehmen, die
nicht mehr angeben, als der Erzaͤhlende wirklich hat
empfinden koͤnnen. 3. Wenn der Erzaͤhlende ſtatt des
Scheins, den die Empfindung darbeut, das erzaͤhlt, was
er dabey fuͤr das Wahre und Reale anſieht. Da muß
man ſeine Sprache ebenfalls wiederum in die Sprache
des
[397]Von dem Wahrſcheinlichen.
des Scheins uͤberſetzen. So weit man es in dieſen
dreyen Stuͤcken bringen kann, ſo weit wird auch die Er-
zaͤhlung das Empfundene eigentlicher und einfacher vor-
ſtellen. Koͤmmt die Erzaͤhlung dadurch nun ſo heraus,
daß die Empfindung nicht nur moͤglich iſt, ſondern daß
wir klar einſehen, wir wuͤrden die Sache ebenfalls ſo
empfunden haben, wenn wir an des Erzaͤhlenden Stelle
geweſen waͤren, ſo koͤnnen wir von ihm in Abſicht auf
die Erkenntniß oder das Wiſſen nicht mehr fordern;
und hinwiederum verraͤth es ſich durch eine ſolche Zer-
gliederung ſehr oft, wenn es dem Erzaͤhlenden am Wil-
len fehlt, zu ſagen, was er empfunden hat. Denn die
Affecten miſchen das Empfindbare und das Nichtem-
pfindbare faſt immer durch einander, und bey Erdich-
tungen giebt man darauf ebenfalls nicht ſo ſorgfaͤltig
Achtung.


§. 235. Die Glaubwuͤrdigkeit eines Menſchen kann
ſowohl in Abſicht auf den Verſtand als in Abſicht auf
den Willen eingetheilt werden.


  • 1. Die Glaubwuͤrdigkeit uͤberhaupt, ſo fern ſie
    gleichſam perſoͤnlich iſt, proportionirt ſich nach
    den Graden der Erkenntnißkraͤfte, und der Ge-
    wiſſenhaftigkeit. Erſtere machen das Jrren ſel-
    tener, je groͤßer und geuͤbter ſie ſind; letztere aber
    macht die Luͤgen und Unwahrheiten ſeltener, und
    zuweilen moraliſch unmoͤglich; ſo wie es hingegen
    Leute giebt, die aus Scherz, Muthwillen, Affe-
    cten ꝛc. ſich zum Luͤgen gewoͤhnen, und das Gute,
    Nuͤtzliche ꝛc. zum Maaßſtab des Wahren machen.
  • 2. Die Glaubwuͤrdigkeit in einer gewiſſen
    Art von Sachen.
    Dieſe kann durch Mangel
    der dazu noͤthigen Erkenntniß, durch Vorurtheile
    und Affecten, die ſich dabey mit einmengen, merk-
    lich vermindert werden, und in ſoferne der allge-
    meinen oder perſoͤnlichen Glaubwuͤrdigkeit Abbruch
    thun.
    [398]V. Hauptſtuͤck.
    thun. So wie hingegen die durch Uebung er-
    langte Erkenntniß in einer gewiſſen Art Sachen,
    ſie in Anſehung derſelben vermehren kann.
  • 3. Die Glaubwuͤrdigkeit in einem beſondern
    Fall.
    Hier muß man noch zu beyden erſtern
    Beſtimmungsſtuͤcken noch die Jndividualien mit-
    nehmen, die der Fall ſelbſt und ſeine Verhaͤltniß
    zu dem Erzaͤhlenden anbeut, ſowohl in Abſicht auf
    die Moͤglichkeit, ſich den Fall richtig vorzuſtellen,
    als in Abſicht auf die Beweggruͤnde, ihn aufrichtig
    oder verſtellt zu erzaͤhlen.

§. 236. Die beyden erſten von dieſen drey Arten der
Glaubwuͤrdigkeit, auch wenn ihre Grade bey einem
Menſchen beſtimmt waͤren, wuͤrden nur eine vermiſchte
Wahrſcheinlichkeit geben, weil ſie aus einer Summe
von einzelnen Glaubwuͤrdigkeiten beſtehen, deren jede
einen verſchiedenen Grad hat. Sie ſind demnach ei-
gentlich nur das Mittel aus allen, und wenn man es
dabey wollte bewenden laſſen, ſo wuͤrde jede auf bloßen
Nachrichten beruhende hiſtoriſche Erkenntniß nur einen
ſehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrſcheinlichkeit haben.
Wir haben das Fehlerhafte von ſolchen Vermengungen
bereits oben (§. 219.) angezeigt. Nun ſucht man zwar
ſolche geringer ſcheinende Grade der Wahrſcheinlichkeit
durch die Aufhaͤufung einzelner Zeugen zu vermehren,
und man kann allerdings nicht in Abrede ſeyn, daß
wenn auch ſolche Aufhaͤufung ohne Auswahl geſchieht,
jeder von dem andern unabhaͤngige Zeuge als ein beſon-
deres und von den uͤbrigen unabhaͤngiges Argument
koͤnne angeſehen werden, wenn ſie naͤmlich in der Aus-
ſage uͤbereinſtimmen, und ſo ferne ſie uͤbereinſtimmen.
Wir wollen aber die Berechnungsart vollſtaͤndiger an-
geben.


§. 237. Man ſetze zween Zeugen, die einerley aus-
ſagen. Des erſten Glaubwuͤrdigkeit ſey ſo beſchaffen,
daß
[399]Von dem Wahrſcheinlichen.
daß er gegen 10 Wahrheiten 3 Unwahrheiten und 1 Luͤge
ſagt: das iſt, daß man ihm in 10 Faͤllen glauben, in
3 Faͤllen nicht glauben, und in einem Fall das Gegen-
theil glauben muͤſſe, wenn man die Wahrheit treffen
will. Dieſes druͤcken wir nun ſo aus


10a + 3u + 1e.


Eben ſo ſey die Glaubwuͤrdigkeit des andern


12a + 5u + 2e.


Werden nun dieſe Faͤlle mit einander multiplicirt, ſo iſt
das Product


120aa + 86au + 15uu + 11eu + 2ee + 32ae.


Aus dieſem Product wird 32ae weggelaſſen, weil es un-
moͤglich iſt, dem einen Zeugen die Ausſage und dem an-
dern das Gegentheil zugleich zu glauben. Ferner wird
120aa + 86 au zuſammengezogen, und 206 a daraus
gemacht. Denn ungeacht man in den 86 Faͤllen dem
einen Zeugen nicht glaubt, ſo glaubt man doch dem an-
dern. Auf gleiche Art zieht man 2ee + 11eu zuſam-
men, und macht 13e daraus. Denn bey den 11eu
faͤllt der Glaube auf das Gegentheil der Ausſage.
Demnach haben wir


206a + 15u + 13e


fuͤr die Glaubwuͤrdigkeit eines Zeugen, der ſo viel gilt,
als beyde erſtere zuſammengenommen. Koͤmmt noch
ein dritter Zeuge dazu, ſo wird ſeine Glaubwuͤrdigkeit
mit der erſtgefundenen auf eben die Art multiplicirt, um
die von einem Zeugen zu finden, der ſo viel gilt als alle
drey zuſammengenommen. Die allgemeine Formel
iſt dieſe:


  • 1. Zeuge, Ma + Nu + Pe.
  • 2. Zeuge, ma + nu + pe.


  • Beyde, (Mm + Mn + mN) a + Nn. u + (Pp +
    Pn + pN) e.

Jſt
[400]V. Hauptſtuͤck.

Jſt des einen Zeugen Glaubwuͤrdigkeit vollſtaͤndig, ſo iſt
n = p = o, demnach fallen im Product alle Glieder,
u, e, weg, welches anzeigt, daß die uͤbrigen Zeugen ſeine
Glaubwuͤrdigkeit, weder vermehren noch vermindern,
weil alle uͤbrigbleibende Faͤlle a ſind. Hingegen wo
keines Zeugen Glaubwuͤrdigkeit vollſtaͤndig iſt, da koͤmmt
in der Summe von allen noch immer u und e vor, und
folglich auch nur Wahrſcheinlichkeit fuͤr die Ausſage.


§. 238 Sind die Zeugen in der Ausſage nicht ein-
ſtimmig, ſo ſagen ſie entweder ganz verſchiedene Sachen
oder das Gegentheil, weil die Ausſage immer poſitiv
ſeyn, und die Sache nicht dahin geſtellt laſſen ſolle. Sa-
gen ſie ganz verſchiedene Sachen, ſo koͤmmt keine Be-
rechnung der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeit vor. Hin-
gegen koͤmmt ſie vor, wenn einige das Gegentheil ſagen.
Jn dieſem Fall verwandelt man nur ihre Glaubwuͤrdig-
keit in die Glaubwuͤrdigkeit des Gegentheils, und ſo
wird, um bey vorigem Beyſpiel zu bleiben, wenn der
zweyte Zeuge das Gegentheil ausſagt,


12a + 5u + 2e


in


2a + 5u + 12e


verwandelt. Nimmt man nun den erſten Zeugen


10a + 3u + e


dazu, ſo iſt die Summe der Glaubwuͤrdigkeiten


76a + 15u + 53e,


welche von der vorigen merklich verſchieden iſt. Jſt
der Zeuge, ſo das Gegentheil ſagt, vollſtaͤndig glaub-
wuͤrdig, ſo wird in der allgemeinen Formel M=N=o,
und ſo bleiben in dem Product nur die Faͤlle e, ſo daß
folglich die Glaubwuͤrdigkeit jeder anderer Zeugen dem-
ſelben keinen Abbruch thut. Es iſt auch an ſich unmoͤg-
lich, daß von zween Zeugen, die beyde eine vollſtaͤndige
Glaub-
[401]Von dem Wahrſcheinlichen.
Glaubwuͤrdigkeit haben, der eine das Gegentheil der
Ausſage des andern ſagen ſollte. Setzt man dieſen
Fall, ſo wird in der Formel M=N=n=p=o, und
demnach in dem Product alle Glieder = o. Das will
nun ſagen, es komme kein ſolcher Fall vor.


§. 239. Wir koͤnnen hier beylaͤuftig anmerken, daß
erſtgegebene Formel auch bey Argumenten gebraucht
werden koͤnnen, die von einander unabhaͤngig ſind, und
einen gleichen Satz wahrſcheinlich machen. Jſt ein
ſolches Argument


12a + 5u + 2e,


ſo will dieſes ſagen: es beweiſe in 12 Faͤllen den Satz,
in 5 Faͤllen beweiſe es nichts oder laſſe den Satz dahin-
geſtellt, in 2 Faͤllen ſtoße es den Satz um, oder beweiſe
das Gegentheil, oder mache ihn verneinend. Bringt
man durch wahrſcheinliche Schluͤſſe Saͤtze von dieſer
Art (§. 194.)


alle A (\frac {12}{19}a + \frac {5}{19}u + \frac {2}{19}e) ſind B


heraus, ſo ſtellen die Bruͤche, womit das Bindwoͤrtgen
behaftet iſt, die Glaubwuͤrdigkeit des Satzes, und folg-
lich das Gewicht des Arguments vor. Uebrigens wird
man die hier angegebene Berechnungsart von derjeni-
gen merklich verſchieden finden, die in der Bernoulli-
ſchen Arte coniectandi pag. 220. ſeq. vorkoͤmmt. Herr
Bernoulli nimmt daſelbſt zweyerley Argumente an,
naͤmlich ſolche, die theils beweiſen, theils nicht beweiſen:
und ſodann ſolche, die theils beweiſen, theils das Gegen-
theil beweiſen. Erſtere nennt er reine, die andern aber
vermiſchte Argumente. Dieſen fuͤgt er noch die dritte
Art bey, die naͤmlich theils nicht beweiſen, theils das
Gegentheil beweiſen, welche er aber nicht mit in die
Rechnung gezogen, ſondern nur angegeben hat. Dieſe
drey Arten von Argumenten haben wir hier in eine all-
gemeine Art zuſammengezogen. Denn aus der Formel


Lamb. Organon II B. C cMa
[402]V. Hauptſtuͤck.

Ma + Nu + Pe


kann man


  • 1. Ma + Nu
  • 2. Ma + Pe
  • 3. Nu + Pe

machen, wenn man P oder P oder M = o ſetzte. Jn
dieſer Abſicht iſt die hier angegebene Berechnungsart
allgemeiner, als die Bernoulliſche, weil ſie mit einem
male alle ſeine beſondern Faͤlle vorſtellt. Sie giebt
aber auch ein anderes Product, und dieſes ſollte nicht
ſeyn, wenn beyde richtig waͤren. Wir werden die Ber-
noulliſche nicht herſetzen, ſondern nur anmerken, daß,
wenn man in ſeiner Formel (pag. 221.)


eines von den Argumenten, die zum Theil nichts, zum
Theil das Gegentheil beweiſen, als vollſtaͤndig annimmt,
oder ſetzt, es beweiſe das Gegentheil vollſtaͤndig, und
demnach q oder t = o ſetzt, dieſe Formel ſich in


verwandelt, da ſie doch = o werden ſollte, weil in die-
ſem Fall alle bejahende Argumente, deren Summe dieſe
Formel vorſtellt, ganz entkraͤftet werden. Man wird
den Grund, warum die Formel dieſes anders angiebt
pag. 221. darinn finden, daß Herr Bernoulli die Faͤlle,
in welchen die reinen Argumente fuͤr ſich betrachtet be-
weiſen, als guͤltig anſieht, die damit combinirten Faͤlle
der vermiſchten Argumente moͤgen das Gegentheil
beweiſen oder nicht. Wir haben aber (§. 237.) die
Faͤlle ae ganz weggelaſſen, weil ſie unmoͤglich ſind, und
dieſes macht das Product in der hier angegebenen Rech-
nung von dem Product der Bernoulliſchen verſchieden.


§. 240
[403]Von dem Wahrſcheinlichen.

§. 240. Dieſe ganze Berechnungsart geht aber nur
auf das Allgemeine von der Glaubwuͤrdigkeit der Zeu-
gen, und der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeiten, wenn
mehrere ſind. Denn es wird darinn alles ohne Aus-
wahl vermengt. Man muß daher, wenn man in be-
ſondern Faͤllen nicht bey allgemeinen und verworrenen
Wahrſcheinlichkeiten ſtehen bleiben will, die Moͤglichkeit,
daß jeder Zeuge zuweilen irren oder luͤgen koͤnne, nicht
ſo ohne Auswahl und ohne Ruͤckſicht auf den vorgegebe-
nen Fall zum Grunde ſetzen, und noch weniger die Moͤg-
lichkeiten bey dem einen Zeugen ohne naͤhere Verglei-
chung und Auswahl mit den Moͤglichkeiten bey den
andern Zeugen verbinden, weil man auf dieſe Art
nicht uͤber einen oͤfters ſehr mittelmaͤßigen Grad der
Wahrſcheinlichkeit hinausreichen wuͤrde, zumal wo die
Ausſagen widerſprechend ſind (§. 238.). Denn in einzel-
nen Faͤllen iſt es gar wohl moͤglich, daß ein Zeuge
gerade dasjenige erſetze, was noch an der
Glaubwuͤrdigkeit des andern mangelte,
und ſo
kann die Gewißheit bey zween Zeugen vollſtaͤndig wer-
den, da hingegen, wenn man ſie nicht genauer mit ein-
ander vergleicht, auch bey mehrern Zeugen noch immer
ſcheinbare Zweifel zuruͤcke bleiben wuͤrden.


§. 241. Die oben ſchon (§. 234.) angegebene Zer-
gliederung der Zeugniſſe oder Ausſagen, beſonders wenn
dieſe theils in den Worten, theils in den einzelnen Thei-
len, von einander verſchieden ſind, mag hiebey, ſo ferne
ſie jedesmal angeht oder genugſame Data vorraͤthig ſind,
ſehr gute Dienſte thun. Denn laͤßt man bey jeder
Ausſage weg, was nicht hat empfunden werden koͤnnen,
und uͤberſetzt man das uͤbrige in die Sprache des
Scheins; ſo laͤßt ſich, was man heraus bringt, in Anſe-
hung jeder Ausſage mit dem Geſichtspunkt vergleichen,
aus welchem jeder Zeuge die Sache geſehen oder em-
pfunden hat. Und auf dieſe Art werden oͤfters auch
C c 2wider
[404]V. Hauptſtuͤck.
widerſprechend ſcheinende Ausſagen mit einander ver-
glichen und zuſammengereimt werden koͤnnen, wobey
denn der Anſtand, ob es den Ausſagern am Willen fehle,
faſt nothwendig verſchwindet.


§. 242. Kommen aber die Ausſagen in den Wor-
ten uͤberein, und ſie ſind uͤbrigens von einander unab-
haͤngig, ſo iſt es wohl moͤglich, daß ſie in gewiſſen Faͤl-
len nur den Schein der Sache angeben, zumal wenn
ſich die Sache nur nach dem Schein zeigt. Man for-
dert aber auch von den genaueſten Beobachtern ſelbſt
nichts anders, und in ſo ferne kann auch von den Zeu-
gen nicht mehr gefordert werden, weil man das Wahre
durch Schluͤſſe herausbringen, und dieſe von der Em-
pfindung ſelbſt unterſcheiden ſolle (§. 91.).


§. 243. So fern man aber die Zuverlaͤßigkeit der
Ausſage aus den Graden der Glaubwuͤrdigkeit ſchaͤtzen
muß, ſo iſt allerdings darauf zu ſehen, ob man das
Anſehen des einen Ausſagers durch das Anſe-
hen des andern ergaͤnzen koͤnne.
Dazu wird nun
nothwendig erfordert, daß es nicht beyden in einerley
Stuͤcken fehle, wie z. E. wenn keiner die Kenntniß hat,
die zu Beurtheilung und richtiger Benennung der em-
pfundenen Sache erfordert wird, oder wenn beyde aus
einerley oder auch verſchiedenen Gruͤnden in Anſehung
des Willens verdaͤchtig ſind. Sind aber die Ausſagen
von Wort zu Wort oder wenigſtens im Grunde einer-
ley, ſo iſt auch oͤfters die Ausſage des Verſtaͤndigern ein
Beweis, daß der Einfaͤltigere nicht geirret oder eines
fuͤr das andere genommen habe; ſo wie hingegen die
Aufrichtigkeit des Einfaͤltigern den Zweifel heben kann,
daß der Verſtaͤndigere ſich keinen Betrug vorgeſetzt habe.


§. 244. Die Hauptfrage aber, die hier zu unterſu-
chen vorkoͤmmt, betrifft die hiſtoriſche Gewißheit
uͤberhaupt, ob ſie jemals vollſtaͤndig oder = 1 werden
konne? Hieruͤber merken wir vorerſt an, daß unſere
eigene
[405]Von dem Wahrſcheinlichen.
eigene Exiſtenz auch mit unter dieſe Frage gehoͤrt, weil
die hiſtoriſche Erkenntniß eigentlich auf exiſtirende Din-
ge geht. Wir machen aber unſere Exiſtenz zum
Maaßſtabe der Gewißheit, wenn wir Z. E. ſagen:
ſo gewiß ich da bin, (Alethiol. §. 72. 110.). Und
dieſen Maaßſtab gebrauchen wir auch vornehmlich nur
bey hiſtoriſchen Wahrheiten, wo es ſchlechthin auf un-
ſere Glaubwuͤrdigkeit ankoͤmmt. Denn in der Geome-
trie und andern a priori erweisbaren Wiſſenſchaften
wird der Beyfall durch Demonſtrationen erhalten, ſo
wie wir da, wo wir die Sache ſelbſt empfinden, den
Beyfall nicht mehr auf der Glaubwuͤrdigkeit des Er-
zaͤhlenden, ſondern auf der Empfindung beruhen laſſen.
Naͤmlich bey Demonſtrationen glauben wir, weil
wir uns die Sache vorſtellen; bey Empfindun-
gen,
weil wir uns der Empfindung bewußt ſind; bey
Nachrichten, ſie moͤgen nun beweisbar ſeyn oder hi-
ſtoriſch, weil wir den Erzaͤhlenden fuͤr glaubwuͤrdig
anſehen.


§. 245. Wir koͤnnen ferner die ganze Reihe unſerer
Gedanken mit unter die hiſtoriſche Erkenntniß rechnen,
und dabey haben wir den Grundſatz: Wenn wir
etwas denken, ſo iſt es gewiß, daß wir es den-
ken.
Und dieſe Gewißheit geht mit der von unſerer
Exiſtenz durchaus zu paaren.


§. 246. Jn Anſehung der Empfindungen haben
wir bereits im zweyten Hauptſtuͤcke das, was in denſel-
ben Schein iſt, und beſonders den organiſchen und pa-
thologiſchen Schein von dem realen getrennt, und die
ſpecialern Mittel angegeben, Empfindungen als Em-
pfindungen zu erkennen, und das Wahre darinn zu ent-
decken, und uns davon zu verſichern. Denn hiebey muß
man die Gewißheit in ſpecialen Faͤllen aufſuchen. Die
Zweifel, die man macht, daß ſie niemals = 1 werde,
gruͤnden ſich nur auf Saͤtze, worinn man jede Stuffen
C c 3des
[406]V. Hauptſtuͤck.
des Gewiſſen mit dem Ungewiſſen vermengt hat (§. 219.).
Wir koͤnnen die geographiſchen Nachrichten zum Bey-
ſpiele nehmen. Sie ſind unſtreitig nicht alle von glei-
cher Zuverlaͤßigkeit, und es mengt ſich ſalſches und fa-
belhaftes mit ein. Nun wird ſich wohl niemand in
Sinn kommen laſſen, dieſe ſo verſchiedenen Grade der
Gewißheit durch einander zu mengen, und daher jeder
einzelnen Nachricht nicht mehr als den mittlern Grad
der Wahrſcheinlichkeit zu geben. Wir fuͤhren dieſes
Beyſpiel an, weil es da gar zu offenbar iſt, daß man
ſich, in Anſehung der Zuverlaͤßigkeit einzelner
Nachrichten, um ſpecialere Gruͤnde und Kenn-
zeichen umſehen muͤſſe.


§. 247. Wir finden uns in Anſehung der aͤußern
Sinnen uͤberhaupt in gleichem Falle. Es iſt unſtreitig,
daß jede Arten von Schein ſich dabey zuweilen mehr
oder minder einmengen, und die Koͤrperwelt ſich uns
durchaus nur nach dem Schein zeigt (§. 91.). Wollte
man aber alle Empfindungen in eine Claſſe ſetzen, und
die beſondern Grade der Zuverlaͤßigkeit einer jeden
durch einander mengen, um alle nach dem mittlern Grad
zu ſchaͤtzen; ſo wuͤrde man jeder einzelnen Empfindung
einen ſehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrſcheinlichkeit
geben, und die Nachrichten davon wuͤrden noch einen
geringern bekommen. Jndeſſen verfaͤhrt man dennoch
auf dieſe Art, wenn man die Frage von der Zuverlaͤßig-
keit dieſer oder jener Empfindung unterſtuͤtzt. Die Ein-
wuͤrfe ſind immer: daß die Sinnen zuweilen be-
truͤgen, man koͤnnte ſich uͤberſehen haben, es
koͤnnte an der Aufmerkſamkeit, am Gedaͤcht-
niß ꝛc. gefehlt haben ꝛc.
Allein, Einwuͤrfe von die-
ſer Art machen, will nicht mehr ſagen, als den mittlern
Grad der Wahrſcheinlichkeit ohne Unterſchied auf jede
einzelne Empfindung ausbreiten. Die Gewißheit
bey Empfindungen iſt individual,
und man kann
die
[407]Von dem Wahrſcheinlichen.
die Faͤlle, wo ſie vollſtaͤndig ſtatt hat, nicht durch dieje-
nigen in Zweifel ziehen, wo ſich Jrrthum einmengte,
ſondern ſie muß in jedem Fall fuͤr ſich, und waͤhrend
dem er ſich zutraͤgt, unterſucht und eroͤrtert werden, weil
man nachgehends nicht alle Jndividualien vor ſich ha-
ben kann. So z. E. wenn ein Aſtronome oder ein Na-
turforſcher Beobachtungen oder Verſuche anſtellt, ſo
muß die Gewißheit, daß er richtig dabey verfahren und
jede Umſtaͤnde mit Bewußtſeyn bemerkt habe, waͤh-
render Beobachtung oder waͤhrendes Verſuches erlangt
werden. Daß dieſes, zumal bey einfachern Obſervatio-
nen und Verſuchen, moͤglich und haͤufig geſchehen ſey,
das beweiſt die Aſtronomie durch die Mittel die ſie hat,
die Veraͤnderungen am Firmamente vorauszuſagen, und
die Phyſik erweiſt es theils durch aͤhnliche Mittel, theils
auch dadurch, daß viele von ihren Verſuchen wieder an-
geſtellt und dadurch gleichſam auf die Probe geſetzt wer-
den koͤnnen. Und da dient der oben (§. 232.) zum Be-
huf der Theologie angefuͤhrte Grundſatz: Was be-
ſtaͤndig geweſen iſt, faͤhrt fort zu ſeyn, und wie-
ferne,
der ſich bey Beurtheilung der Gewißheit einzel-
ner Empfindungen und deren Pruͤfung haͤufig anwen-
den laͤßt.


§. 248. So ſerne es demnach Faͤlle giebt, wo wir
bey eigenen Empfindungen zu einer voͤlligen Gewißheit
gelangen koͤnnen: ſo ferne koͤnnen wir die Moͤglichkeit
davon auch andern zutrauen, und zwar deſto mehr und
allgemeiner, je ſorgfaͤltiger und geuͤbter ſie ſind, mit Be-
wußtſeyn zu empfinden, und das Empfundene richtig zu
benennen. Kommen demnach ſolche Faͤlle vor, wo je-
mand ohne vorſetzliche Unachtſamkeit ſich nicht hat irren
koͤnnen, ſo wird die Glaubwuͤrdigkeit ſeiner Nachricht
ſchlechthin auf den Willen reducirt. Und damit hat es
in Sachen, die wir allenfalls ſogleich ſelbſt erfahren
oder von mehrern Nachricht einziehen koͤnnen, wenigen
C c 4Anſtand.
[408]V. Hauptſtuͤck.
Anſtand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach-
richt anders verſtehen, als ſie der Ausſager will verſtan-
den wiſſen. Dieſes gehoͤrt aber zur Auslegekunſt, als
welche Mittel angiebt, dem Misverſtand vorzubeugen.
Ueberhaupt aber hat es in Abſicht auf den Willen die
Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Gruͤn-
de oder Beweggruͤnde dazu haben muß, theils weil es
natuͤrlich iſt, das, was man denkt, zu ſagen, theils weil
es jedem Menſchen daran gelegen ſeyn ſoll, ſich nicht
durch Unwahrheiten in Gefahr zu ſetzen, in wahren
Ausſagen, und wo er es wuͤnſchte, nicht mehr Glauben
zu finden.


§. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer-
den wir nun umſtaͤndlicher entwickeln koͤnnen, wie vie-
lerley man durch die moraliſche Gewißheit und
moraliſche Beweiſe verſtehe. Man ſetzt erſtere der
geometriſchen Gewißheit, letztere aber den geo-
metriſchen Demonſtrationen
entgegen, und da
koͤnnen wir anmerken, daß hiebey das Wort geome-
triſch
ſich nicht auf den Stoff, ſondern auf die Form
und den Zuſammenhang der Demonſtration be-
ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wiſſen-
ſchaften giebt, die eben ſolcher Gewißheit und Demon-
ſtrationen faͤhig ſind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663.
Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieſer Bedin-
gung das Wort geometriſch beybehalten, und ſo koͤn-
nen wir verneinensweiſe jede Gewißheit moraliſch
nennen, die nicht geometriſch iſt, oder nicht aus geo-
metriſchen Demonſtrationen erwaͤchſt. Man ſieht
leicht, daß dieſer terminus infinitus mehrere Arten
in ſich begreifen koͤnne, und dieſe haben wir hier auf-
zuſuchen.


§. 250. Zu dieſem Ende kehren wir zu der bereits
(§. 244.) gemachten Anmerkung zuruͤcke, daß wir naͤm-
lich außer den Demonſtrationen noch die Empfin-
dungen
[409]Von dem Wahrſcheinlichen.
dungen und Nachrichten zu Mitteln haben, eine
Erkenntniß zu erlangen. Die Empfindungen ge-
ben uns unmittelbar eine hiſtoriſche Erkenntniß, und
man iſt ebenfalls ſchon daran gewoͤhnt, die dabey vor-
kommende Gewißheit moraliſch zu nennen, und zwar
wiederum, weil ſie von einer andern Art als die geo-
metriſche
iſt. Jn Anſehung der Nachrichten,
wodurch wir jede Erkenntniß verſtehen, die wir nur
glauben, weil wir ſie von andern haben, ſind wir in ſo
ferne von ihrer Wahrheit gewiß, ſo fern wir wiſſen,
daß die davon gewiß ſind, von welchen wir ſie haben.


§. 251. Die geometriſche Gewißheit, wenn ſie an-
ders ganz rein, und ohne Einmengung der andern Ar-
ten ſeyn ſoll, koͤmmt eigentlich nur bey Wiſſenſchaften
vor, die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind, und bey
einfachen oder fuͤr ſich gedenkbaren Begriffen anfangen.
Man ſehe hieruͤber die vorhin (§. 249.) aus der Dia-
noiologie und Alethiologie angezogenen Stellen. Hin-
gegen kann ſie bedingnißweiſe auch da vorkommen, wo
die uͤbrigen Arten der Gewißheit mit eingemengt wer-
den, und zwar, da nur in ſo fern die Form der geome-
triſchen Demonſtrationen dabey anwendbar iſt. Denn
da geht ſie auf die Nothwendigkeit und Richtigkeit der
Folgen. Beyſpiele hievon kommen in der angewand-
ten Matheſi und Phyſik haͤufig vor.


§. 252. Hingegen erſtreckt ſich die Gewißheit, ſo
uns die Erfahrung giebt, unmittelbar auf das, ſo wir
ſelbſt a poſteriori erlernen, und folglich auf die Begrif-
fe, die wir nicht fuͤr ſich denken koͤnnen, wie die einfa-
chen Begriffe (Dianoiol. §. 656. ſeq.). Die Natur-
geſchichte, und Experlmentalphyſik bieten uns Beyſpiele
davon an. Die Begriffe und Saͤtze, ſo uns die Em-
pfindungen unmittelbar angeben, ſind individual. Sie
werden durch Jnductionen allgemein, und die Moͤglich-
keit, ſolche Jnductionen complet zu machen, oder von ei-
C c 5nigen
[410]V. Hauptſtuͤck.
nigen auf ganze Arten zu ſchließen, koͤmmt vor, ſo fern
man den (§. 232. 247.) angefuͤhrten Grundſatz vom Be-
harrungsſtande anwenden kann. So fern man auf
dieſe Art allgemeine Begriffe und Saͤtze findet, laͤßt
ſich die geometriſche Methode dabey anwenden, weil
allgemeine Begriffe und Saͤtze zu Schluͤſſen erfordert
werden.


§. 253. Jn Anſehung der Handlungen geben uns
die Sinnen nur das Phyſiſche davon zu erkennen.
Wenn wir demnach ihre Moralitaͤt betrachten, und ſie
von da her benennen wollen: ſo muß die Abſicht,
welche eigentlich die Moralitaͤt ausmacht, und nicht in
die Sinnen faͤllt, auf eine andere Art gefunden werden.
Nun ſollen wir bey unſern eigenen Handlungen uns we-
nigſtens derjenigen Abſicht bewußt ſeyn, die wir uns
dabey klar oder deutlich vorſtellen. Und dieſe geht or-
dentlich auf das, wozu wir die Handlung als ein Mit-
tel gebrauchen, ſie mag nun das Mittel ſeyn oder nicht.
Ob aber die Abſicht immer der erſte Anlaß und An-
trieb zur Handlung ſey, iſt eine andere Frage, weil es
verborgenere Triebfedern zu Handlungen giebt. Bey
den Handlungen anderer iſt die Beſtimmung der Ab-
ſichten ſchwerer. Sie laͤßt ſich weder aus dem Sicht-
baren der Handlung, noch aus dem Erfolge ſo ſchlecht-
hin beſtimmen, und von denen, die eine Handlung be-
gehen, koͤnnen wir die Abſicht, die ſie dabey hatten, ſo
ferne wiſſen, als ſie ſelbſt ſich dieſelbe klar vorſtellten,
und ſie uns aufrichtig entdecken (§. 107. 108. 113.). Jn-
deſſen giebt es allerdings Faͤlle, wo ſich bey Handlun-
gen die Abſichten leicht abzaͤhlen laſſen, und wo man
folglich mit Zuziehung der uͤbrigen Umſtaͤnde auf die
wahre oder wirkliche ſchließen kann, beſonders wenn
man nur auf die naͤchſte oder unmittelbare Abſicht ſieht.
Denn dieſe iſt oͤfters auf die einzige moͤgliche einge-
ſchraͤnkt. Man ſieht leicht, daß die Gewißheit und die
Grade
[411]Von dem Wahrſcheinlichen.
Grade derſelben, die bey ſolchen Unterſuchungen gefun-
den werden, in einem ungleich engern Verſtande mo-
raliſch
genennt werden koͤnnen. Die Gewißheit hie-
bey iſt a poſteriori, und eben dadurch von der geome-
triſchen verſchieden, demnach ſchon in dieſem Verſtande
moraliſch (§. 249.). Sie iſt es aber auch, weil ſie auf
die Moralitaͤt der Handlungen, auf die Beſtimmung
und Verſicherung derſelben geht.


§. 254. Die Beſtimmung der Urſachen von Ver-
aͤnderungen in der Welt, wo uns die unmittelbare Em-
pfindung nur die letzteren angiebt, imgleichen die Be-
ſtimmung der Folgen der Veraͤnderungen, die ſich nicht
ſo unmittelbar in ihren Verbindungen empfinden laſ-
ſen, geben noch eine Art der moraliſchen Gewißheit und
ihrer Grade, welche aus der Gewißheit der Empfindun-
gen und Schluͤſſe zuſammengeſetzt iſt, und wobey die
Vorderſaͤtze der Schluͤſſe, und beſonders die Oberſaͤtze,
ſelbſt aus der Erfahrung muͤſſen hergenommen werden
(§. 252.). Wir haben die Art, wie wir dabey theils zu
Wahrſcheinlichkeiten, theils zur Gewißheit gelangen,
bereits oben (§. 162. ſeqq.) beſchrieben, und fuͤhren
ſie hier nur an, um die Abzaͤhlung vollſtaͤndiger zu
machen.


§. 255. Bey den vier bisher erwaͤhnten Arten der
Gewißheit (§. 251. ſeqq.) haben wir noch immer vor-
ausgeſetzt, daß, wenn wir den Stoff dazu auch nicht
aus den ihnen eigenen Quellen haben, dennoch die Ge-
wißheit oder Wahrſcheinlichkeit ſelbſt daher ruͤhre.
Was dieſes ſagen will, wollen wir durch Beyſpiele er-
laͤutern. So iſt es z. E. moͤglich, einen geometriſchen
Satz durch die Erfahrung zu finden, und ſeine Allge-
meinheit durch Jnduction zu beweiſen. Auf dieſe Art
hat Fermat viele merkwuͤrdige Eigenſchaften der Zah-
len gefunden, und Harriot brachte eben ſo ſeine Re-
gel von der Anzahl wahrer und falſcher Wurzeln einer
alge-
[412]V. Hauptſtuͤck.
algebraiſchen Gleichung a poſteriori und gleichſam wie
durch die Erfahrung heraus. Ungeacht nun ſolche
Saͤtze gewiß ſind, ſo iſt die Gewißheit doch nicht geo-
metriſch, weil dieſe einen Beweis a priori, oder einen
eigentlich geometriſchen Beweis fordert. Wieder-
um, wer den Euclid lieſt, und von der Wahrheit ſei-
ner Saͤtze uͤberzeugt wird, der glaubt ſie mit geometri-
ſcher Gewißheit, nicht, weil Euclid ſie ihm angiebt,
ſondern weil er nach deſſelben Anleitung ſich die Sache
ſelbſt vorſtellt. Die Samaritaner machten einen
aͤhnlichen Unterſchied, wenn ſie Joh. 4, 42. ſagten: Wir
glauben nun fort nicht mehr um deiner Rede
willen; wir haben ſelber gehoͤrt und erkennt.

Denn was man ſelbſt ſieht und hoͤrt, darf man eben
nicht mehr bloß auf eines andern Ausſage hin glauben,
weil man unmittelbarere Gruͤnde hat. Wir gelan-
gen eben ſo a poſteriori zu unſern Begriffen, weil un-
ſere Erkenntniß bey den Sinnen anfaͤngt. Dieß will
aber nicht ſagen, daß ſich unter dieſen Begriffen nicht
ſolche finden ſollten, die, nachdem wir ſie einmal haben,
ſodann fuͤr ſich gedenkbar ſind (Dianoiol. §. 657.).
Dieſes aber macht, daß wir z. E. die Geometrie als ei-
ne Wiſſenſchaft anſehen, die im ſtrengſten Verſtande
a priori iſt, weil ihre Grundbegriffe einfach, und fuͤr
ſich gedenkbar ſind.


§. 256. Wir machen dieſe Anmerkungen, weil die
fuͤnfte Art der Gewißheit, die wir nun betrachten wer-
den, immer mit einer der vorhin erwaͤhnten vier Arten
verbunden iſt. Sie geht naͤmlich auf jede Erkenntniß,
von deren Wahrheit wir nicht anders verſichert ſind,
als ſo fern wir wiſſen, daß andere davon verſichert ſind,
oder die wir ſchlechthin nur aus Nachrichten haben.
Sie beruht demnach auf der Glaubwuͤrdigkeit an-
derer,
und ſoll ſie = 1 oder vollſtaͤndig ſeyn, ſo muͤſ-
ſen wir mit vollſtaͤndiger Gewißheit wiſſen, daß ſie ſich
nicht
[413]Von dem Wahrſcheinlichen.
nicht irren, und daß ſie uns das, worinn ſie nicht irren,
wirklich ſagen, oder daß ſie ſich in dem, was ſie uns ſa-
gen, nicht irren. Dieſes nicht irren ſetzt nun alle-
mal eine von den vorhergehenden Arten der Gewißheit
bey demjenigen voraus, auf deſſen Wort hin wir
die Ausſage glauben ſollen. Er muß die Sache ent-
weder durch Demonſtrationen, oder durch unmit-
telbare Empfindungen,
oder durch beyde zuſam-
mengenommen,
gewiß wiſſen. Und wir muͤſſen ver-
ſichert ſeyn, daß er ſie auf eine von dieſen Arten weiß,
und uns nicht etwas anders ſage.


§. 257. Hiebey iſt nun fuͤr ſich klar, daß, ſo oft wir
ſelbſt auf eben die Art zur unmittelbaren Gewißheit
gelangen koͤnnen, wie der dazu gelangt iſt, von dem wir
die Nachricht haben, wir der Gewißheit, die ſchlechthin
auf deſſelben Glaubwuͤrdigkeit beruht, eben nicht noth-
wendig beduͤrfen, weil dieſe nur mittelbar iſt. So
ſind wir z. E. berechtigt, von der Allgemeinheit ei-
nes jeden Satzes einen Beweis zu fordern. Denn der,
ſo uns einen ſolchen Satz vorgiebt, muß ſich ſelbſt durch
Gruͤnde von deſſen Allgemeinheit verſichern, weil Em-
pfindungen individual ſind. So koͤnnen wir auch jede
Empfindung, die ſich erneuern laͤßt, wiederholen, um
uns von der Wahrheit der Ausſage, worinn von ſolchen
Empfindungen die Rede iſt, unmittelbar ſelbſt zu ver-
ſichern. Auf eine aͤhnliche Art iſt es uns oft auch moͤg-
lich, von dem, was vorgegangen ſeyn ſoll, die Gruͤnde
und Folgen aufzuſuchen, und uns aus dieſen von der
Wahrheit der Nachricht zu verſichern (Dianoiol. §. 562.
563.). Hingegen wenn uns jemand ſagt, daß er die-
ſes oder jenes denke, ſo wiſſen wir zwar, daß er es denkt,
alldieweil er es ſagt, daß er es aber als wahr denke
oder es ſelbſt glaube, zumal wenn es uns unglaublich
vorkoͤmmt, davon koͤnnen wir keine ſo unmittelbare Ver-
ſicherung haben, und oͤfters giebt es Muͤhe, davon ge-
wiß
[414]V. Hauptſtuͤck.
wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108.
113.) uͤber den Selbſtbetrug, die Aufrichtigkeit und das
Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher
dienen koͤnnen.


§. 258. Jn die bisher erwaͤhnten Claſſen laͤßt ſich
unſere ganze Erkenntniß in Abſicht auf die Gewißheit
und ihre Grade eintheilen. Denn ſie beruht entweder
auf unmittelbaren Empfindungen, oder auf De-
monſtrationen,
oder auf Nachrichten, oder ſie
fleußt aus zwoen oder allen drey dieſer Quellen zuſam-
men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer
dieſer Quellen, und zwar aus jeder beſonders, kann her-
geleitet werden, ſo dient eine der andern zur Probe.
Die Rangordnung iſt folgende: 1. Wo Demonſtratio-
nen ſtatt haben koͤnnen, da gehen dieſe vor, weil dieſel-
ben gleichſam nichts weiter als ein denkendes Weſen,
und in ſo ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer
fordern. Jndeſſen da man ſich, zumal bey weitlaͤufti-
gern Schluͤſſen, und wo man auf viele Bedingungen
und Umſtaͤnde zugleich zu ſehen hat, leicht uͤberſehen,
und daß Bewußtſeyn, daß man auf alles Acht habe,
verlieren oder muͤde werden kann; ſo nimmt man die
Erfahrung zu Huͤlfe, um ſich von der Richtigkeit des
Herausgebrachten zu verſichern, oder man legt den Fall
anderen in ſolchen Dingen Geuͤbten vor, um von ihnen
zu vernehmen, ob ſie einerley Facit herausbringen. Zu-
weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene
noch auf eine andere Art herauszubringen ſucht, oder
nachſieht, ob ſich die einzeln und an ſich offenbaren Faͤl-
le daraus herleiten laſſen? 2. Die eigenen Empfin-
dungen, Erfahrungen und Verſuche
gehen an
ſich den Nachrichten vor, hingegen werden ſie in
Sachen, wo Demonſtrationen moͤglich ſind, den De-
monſtrationen
nachgeſetzt. Sie haben demnach ei-
gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine
Moͤglich-
[415]Von dem Wahrſcheinlichen.
Moͤglichkeiten oder um einfache und fuͤr ſich gedenkbare
Begriffe, ſondern um die individualen Beſtimmungen
der gegenwaͤrtigen Welt zu thun iſt, und wo man ſich
folglich auf die Sinnen berufen muß. Jndeſſen ge-
ſchieht es auch, daß man Erfahrungen, ſo man gehabt
hat, andern vorlegt, um ſie zu wiederholen, und ſie da-
durch zu bekraͤftigen, beſonders wo man den Einfluß
der Jndividualien des ſubjectiven Scheins zu beſorgen
hat, z. E. ob man ſcharf genug ſehe, genugſame Ach-
tung habe ꝛc. Da hinwiederum Erfahrungen durch
Schluͤſſe koͤnnen zuſammengehaͤngt werden, da man
aus einigen andere voraus beſtimmen kann, und da ſich
ebenfalls Saͤtze, die man durch Demonſtrationen oder
a priori gefunden, bey Erfahrungen anwenden laſſen;
ſo fließen dieſe Quellen oͤfters zuſammen, und dienen
einander zur Probe. 3. Die Nachrichten haben,
an ſich betrachtet, den letzten Rang. Denn wo man
mit den beyden erſten Arten ausreicht, da dienen ſie nur
zur Probe oder auch als ein Anlaß. Jndeſſen machen
ſie immer den groͤßten Theil unſerer Erkenntniß, und
den hiſtoriſchen faſt ganz aus (§. 233.). Wir koͤnnen
auch im weitlaͤuftigſten Verſtande unter dem Begriff
der Nachrichten, ſo wie wir ihn hier nehmen, die ganze
Summe der Erkenntniß anderer Menſchen verſtehen,
ſo fern es uns naͤmlich moͤglich iſt, ſie durch Nachfra-
gen und Leſen zu unſerer Erkenntniß zu machen. Da
es uns auch nicht moͤglich iſt, alles, was wir von an-
dern erfahren, und was davon aus den beyden erſten
Quellen hergeleitet werden, folglich zu einer unmittelba-
ren Gewißheit gebracht werden koͤnnte, wirklich daraus
herzuleiten, und zu einer ſolchen Gewißheit zu bringen;
ſo bedienen wir uns der Vergleichungen, um jedes
Stuͤck durch die uͤbrigen zu pruͤfen, die Widerſpruͤche
wegzuſchaffen, und einzelne Theile, mit unſern eigenen
Erfahrungen und aus Beweiſen gefundenen Saͤtzen in
Zuſam-
[416]V. Hauptſtuͤck.
Zuſammenhang zu bringen, und hiezu finden wir in
wohlgeſchriebenen Buͤchern zubereiteten Stoff, der es
uns unnoͤthig macht, das in dieſer Abſicht bereits erfun-
dene, nochmals zu erfinden.


§. 259. Die Rangordnung, ſo wir hier den ver-
ſchiedenen Quellen unſerer Erkenntniß gegeben haben,
gruͤndet ſich darauf, daß zu der einen mehr erfordert
wird als zu der andern. Die Demonſtrationen for-
dern gleichſam nur ein denkendes Weſen, weil ſie auf
Begriffe gehen, die einfach und fuͤr ſich gedenkbar ſind.
Die Erfahrungen fordern nicht nur ein denkendes
Weſen, ſondern auch Sinnen, weil ſie auf das Jndivi-
duale gehen. Die Nachrichten ſetzen beydes bey
andern und zugleich bey uns voraus, weil ſie uns das,
was andere erkennen, mittheilen. Hingegen hat die
Schwierigkeit, aus dieſen Quellen Erkenntniß zu erlan-
gen, eine andere Ordnung. Was man erfragen kann,
erfaͤhrt man am kuͤrzeſten. Das Selbſterfahren
hat mehrentheils groͤßere Muͤhe und Umwege, indeſſen
iſt es ebenfalls kurz, weil man ſich mit der Antwort be-
gnuͤgt, die die befragte Natur giebt, wenn ſie nicht an
ſich ſchon vernehmlich genug redet (Dianoiol. §. 599.).
Hingegen fordern die Demonſtrationen Verſtand
und Vernunft, und einen hoͤhern Grad von Aufmerk-
ſamkeit, wozu ſich die wenigſten aufgelegt finden. Die
Gewißheit in Anſehung dieſer drey Quellen unſerer Er-
kenntniß, iſt nicht an ſich, ſondern nur in der Art ver-
ſchieden, wie ſie erlangt wird. Denn an ſich iſt ſie
immer das Bewußtſeyn, daß das, ſo wir erkennen,
wahr ſey. Sie hat demnach bey irrigen Saͤtzen, ſo
ferne ſie irrig ſind, durchaus nicht ſtatt, und in dieſer
Abſicht ſind jede Mittel, das Jrrige zu vermeiden, zu-
gleich auch Mittel, zur Gewißheit zu gelangen.


§. 260. Jnsbeſondere kann bey den Demonſtratio-
nen etwas an der Gewißheit abgehen, wenn ſie theils
an
[417]Von dem Wahrſcheinlichen.
an ſich unvollſtaͤndig oder unausfuͤhrlich ſind, theils
wenn wir ſie uns nicht durchaus mit dem behoͤrigen
Bewußtſeyn vorſtellen. Das Rechnen kann uns hier
zum deutlichſten Beyſpiel dienen. Man ſetze ſich z. E.
vor, zwo Zahlen mit einander zu multipliciren. Hier
muß man bey jeder einzeln Ziffer, die man ſchreibt, ſich
bewußt ſeyn, daß es diejenige ſey, die man ſchreiben ſoll,
um ohne fernere Probe verſichert zu ſeyn, daß man
das rechte Product herausbringe. Auf ſo viele einzel-
ne Stuͤcke man dabey Achtung zu geben hat, ſo muß
man in Anſehung eines jeden ſich bewußt ſeyn, daß man
darauf Acht habe. Was hiebey fehlt, das fehlt zu-
gleich an der Gewißheit von der Richtigkeit des Pro-
ductes. Das behoͤrige Bewußtſeyn, von dem wir
hier reden, iſt eben ſo, wie die Gewißheit, die es her-
vorbringt, eine abſolute Einheit, und wird nie groͤßer.
Hingegen kann es kleiner ſeyn, wo naͤmlich Unacht-
ſamkeit, Ermuͤdung
der Aufmerkſamkeit, und von
andern Empfindungen und Gedanken herruͤhrende Zer-
ſtreuung derſelben,
verurſachen, daß man nicht dar-
auf allein oder nicht vollſtaͤndig Achtung giebt. Dieſe
abſolute Aufmerkſamkeit, deren gradus intenſitatis
oder Staͤrke = 1 iſt, muß auf jede Theile der Demon-
ſtration gehen, und bis man ſie durchgedacht hat, mit
gleicher Staͤrke fortdauern. Dieß iſt nun beſonders
bey verwickeltern Demonſtrationen nicht jedermanns
Ding, weil die erſt angefuͤhrten Hinderniſſe ſich bey den
meiſten Menſchen leichter und fruͤher einfinden, und
daher aus bloß ſubjectiven Gruͤnden verurſachen,
daß das Bindwoͤrtgen in dem Schlußſatze mit einem
Bruche behaftet wird (§. 189.).


§. 261. Hier waͤre nun allerdings zu wuͤnſchen, daß
wir einen Maaßſtab haͤtten, woran ſich dieſe Einheit
des vollſtaͤndigen Bewußtſeyns, und deſſen Theile erken-
nen und ausmeſſen ließen. Denn allem Anſehen nach
Lamb. Organon II B. D diſt
[418]V. Hauptſtuͤck.
iſt der Mangel deſſelben ein Grund mit, warum ſich in
unſere Erkenntniß Jrriges und Ungewißſcheinendes ein-
ſchleicht, und warum man die Gewißheit als eine ſehr
mißliche Sache anſieht, weil man gar zu leicht in den
oben ſchon (§. 219. 247.) angemerkten Fehler faͤllt, und
das Gewiſſe mit dem Ungewiſſen vermengt. An ſol-
chen Faͤllen, wo dieſe Einheit wirklich ſtatt hat, iſt eben
kein Mangel. Die Schwierigkeit liegt nur darinn,
daß wir es in jedem einzeln Fall auf das Empfinden
ſelbſt muͤſſen ankommen laſſen, weil die Gewißheit in-
dividual iſt (§. 247.). Denn ſie iſt an Perſon und Zeit
und Materie gebunden.


§. 262. So fern wir in Vorſtellungen und Empfin-
dungen, die weitlaͤuftiger ſind, die Gewißheit durchaus
erhalten wollen, ſo hat dieſelbe drey Dimenſionen.
1. Die Staͤrke des Bewußtſeyns, und dieſe muß durch-
aus = 1 ſeyn. 2. Die Ausdehnung deſſelben, und
dieſes muß ſich auf jede Theile erſtrecken, um Wider-
ſpruͤche und Luͤcken zu vermeiden. 3. Die Dauer;
und da muß die Staͤrke fortwaͤhren, bis alle Theile
durchgedacht ſind. Von dieſen dreyen Dimenſionen
gehoͤrt die erſte und dritte ſchlechthin zu dem ſubjectiven
Theile der Gewißheit, weil auch die Hinderniſſe (§. 260.)
ſubjectiv ſind. Hingegen geht die zweyte oder die Aus-
dehnung der Aufmerkſamkeit auf die Sache ſelbſt, ſo
fern die Vorſtellung wahr und vollſtaͤndig ſeyn ſoll.
Wir haben ſie daher in der Alethiologie (§. 204—221.)
beſonders betrachtet.


§. 263. Wir koͤnnen nun auf die oben (§. 249.) vor-
gelegte Frage, was moraliſche Gewißheit ſey, folgendes
antworten:


  • 1. So fern man ſie der geometriſchen, die aus De-
    monſtrationen herruͤhrt (§. cit.), entgegenſetzt, ſo
    iſt ſie dem Urſprung nach davon verſchieden, weil
    ſie
    [419]Von dem Wahrſcheinlichen.
    ſie aus Empfindungen und Nachrichten erwaͤchſt,
    oder dabey vorkoͤmmt (§. 250.).
  • 2. Dieſes hindert aber nicht, daß die Gewißheit
    nicht auch ſollte bey Empfindungen und Nach-
    richten = 1, oder vollſtaͤndig ſeyn koͤnnen (§. 246.
    247. 258.). Jn ſo ferne iſt ſie demnach nur der
    Art nach von der geometriſchen verſchieden (§. 259.
    260.).
  • 3. Ferner iſt die geometriſche Gewißheit mit der De-
    monſtration nicht ſo verbunden, daß ſie nicht auch
    aus ſubjectiven Urſachen und Hinderniſſen ſollte
    wegbleiben koͤnnen (§. 260.).
  • 4. Sieht man aber auf die Form des Vortrages,
    ſo haben die Demonſtrationen in Wiſſenſchaften,
    die im ſtrengſten Verſtande a priori ſind, alle
    Schaͤrfe, Ordnung und Vollſtaͤndigkeit, und ſind
    darinn von einer bloßen Aufhaͤufung von Argu-
    menten weſentlich verſchieden.
  • 5. Sieht man bey ſolchen Argumenten nicht darauf,
    ob ihre Summe ein Ganzes ausmache, ſo kann
    daraus, wenn ſie in der That zureichend ſind, ei-
    ne Art von Gewißheit entſtehen, die aber von den
    drey vorhin erwaͤhnten Arten darinn verſchieden
    iſt, daß ſie einer logiſchen Entwicklung und Ord-
    nung der Gruͤnde bedarf, ohne welche ſie von dem
    bloß Wahrſcheinlichen nicht unterſchieden werden
    kann (§. 171. 172. 174. 180. 183. 240.).

§. 264. Wenn es daher nur um Namen zu thun
iſt, dieſe Arten der Gewißheit zu unterſcheiden, ſo
kann man die, ſo aus Demonſtrationen a priori er-
waͤchſt, geometriſch, die, ſo aus Empfindungen ent-
ſteht, phyſiſch, die, ſo bey Nachrichten vorkoͤmmt,
hiſtoriſch; alle drey Arten aber logiſch nennen,
weil die Gewißheit dabey ohne die logiſche Form, nur
tumultuariſch ſeyn wuͤrde. Dieſen Namen aber
D d 2koͤnnen
[420]V. Hauptſtuͤck.
koͤnnen wir fuͤglicher derjenigen Gewißheit geben, die
bey Argumenten ſtatt haben kann, wenn dieſe an ſich
zwar zureichend ſind, aber ohne Auswahl aufgehaͤuft
werden. Die moraliſche Gewißheit mag nach die-
ſer Ausſonderung der uͤbrigen Arten, da vorkommen,
wo die Gruͤnde und Argumente fuͤr den Willen oder
von dem Willen hergenommen ſind (§. 229. 230.).


§. 265. Dieſe verſchiedenen Arten der Gewißheit
kommen nun nicht immer einzeln, ſondern mehrentheils
vermiſcht vor, und oͤfters laͤßt ſich eine in die andere
verwandeln, wie es aus den vorhin (§. 255.) angefuͤhr-
ten Beyſpielen erhellet. Da es beſonders um die tu-
multuariſche
Gewißheit ſehr mißlich ausſieht, ſo ha-
ben wir uns in dieſem ganzen Hauptſtuͤcke angelegen
ſeyn laſſen, zu zeigen, wie ſie durch eine ſchickliche Aus-
wahl und Vergleichung der Argumente ins Reine ge-
bracht werden koͤnne, und eine logiſche Geſtalt bekom-
me. Sodann iſt es fuͤr ſich klar, daß, wo die hiſto-
riſche
Gewißheit in eine phyſiſche, und auch dieſe in
eine geometriſche verwandelt werden kann, man da-
bey allerdings gewinne (§. 258.). Dieß iſt auch der
Grund, warum die Mathematiker in der angewandten
Matheſi, wo ſie Erfahrungen und Nachrichten gebrau-
chen, ſich die Muͤhe geben, alle Saͤtze, die aus bloß
geometriſchen Gruͤnden a priori erweisbar ſind, in
Form von Lehnſaͤtzen vorzutragen, und daß auf glei-
che Art auch mehrere logiſche Lehnſaͤtze zu wuͤnſchen
waͤren (§. 180.), weil man auf dieſe Art alle allgemeine
und im ſtrengſten Verſtande a priori erweisbare Ver-
haͤltniſſe der Wahrheiten von Erfahrung und Nachrich-
ten unabhaͤngig, und zugleich allgemeiner anwendbar
machen wuͤrde. Da ferner das, ſo man a priori er-
weiſen kann, auf einfachen und fuͤr ſich gedenkbaren
Begriffen beruht, ſo hat man die Vorſtellung der Sa-
che und ihre Erneuerung immer in ſeiner Gewalt.
Hinge-
[421]Von dem Wahrſcheinlichen.
Hingegen muß man ſich bey der phyſiſchen Gewißheit,
der Empfindungen errinnern, und kann ſie im Fall des
Vergeſſens nicht immer ſo leicht wiederum erneuern.
Daß die hiſtoriſche oder aus Nachrichten erlangte Ge-
wißheit noch leichter verlohren gehen koͤnne, iſt fuͤr ſich
klar, es ſey, daß das Anſehen des Ausſagers vergeſſen
oder wankend wird, oder daß man im Nachſagen die
Ausſage nicht ſo genau beybehaͤlt, oder von dem Bey-
behalten keine ſo zuverlaͤßige Gruͤnde geben kann. Um
deſto mehr hat man demnach auf die Verwandlung
der Gewißheiten in dauerhaftere und unmittelbarere
zu ſehen.



Sechstes Hauptſtuͤck.
Von
der Zeichnung des Scheins.


§. 266.


Die Phaͤnomenologie beſchaͤfftigt ſich uͤberhaupt da-
mit, daß ſie beſtimme, was in jeder Art des
Scheins real und wahr iſt, und zu dieſem Ende entwik-
kelt ſie die beſondern Urſachen und Umſtaͤnde, die einen
Schein hervorbringen und veraͤndern, damit man aus
dem Schein auf das Reale und Wahre ſchließen koͤnne.
Wir haben bereits in dem erſten Hauptſtuͤcke (§. 2.
ſeqq.) angemerkt, daß die Optiker uns laͤngſt ſchon ei-
nen Lehrbegriff des ſichtbaren Scheins gegeben, und
die Phaͤnomenologie in ihrem allgemeinſten Umfange
eine tranſcendente Optik genennt werden koͤnne, ſo fern
ſie uͤberhaupt aus dem Wahren den Schein, und hin-
wiederum aus dem Schein das Wahre beſtimmt. Die-
ſes thut die Optik in Abſicht auf das Auge. Sie geht
D d 3aber
[422]VI. Hauptſtuͤck.
aber noch weiter, und giebt in der Perſpective Mittel
an, den Schein der ſichtbaren Dinge zu malen, oder ih-
re ſcheinbare Geſtalt ſo zu zeichnen, daß die Zeichnung
eben ſo in das Auge falle, als die Gegenſtaͤnde ſelbſt,
wenn beyde aus dem dazu gewaͤhlten Geſichtspunkt be-
trachtet werden. Wir haben dieſen Begriff der Per-
ſpective bereits (§. 4.) allgemeiner genommen, und den-
ſelben auf die ganze Phaͤnomenologie ausgedehnt, und
werden nun umſtaͤndlicher beſtimmen, was dieſe tran-
ſcendente Perſpective,
in dieſem weitlaͤuftigen Um-
fange genommen, fuͤr beſondere Arten und Theile be-
greift, und in dieſer Abſicht werden wir den Be-
griff der optiſchen Perſpective ſtuffenweiſe allgemeiner
machen.


§. 267. Wir merken demnach an, daß die perſpe-
ctiviſche Zeichnung des Scheins jedesmal auf einen
Geſichtspunkt eingeſchraͤnkt iſt. Hierinn iſt nun die
Bildhauer-Modellir- und Poßirkunſt allgemei-
ner, weil das Bild oder das Modell die abgebildete
oder modellirte Sache in jeden Geſichtspunkten eben ſo
vorſtellen ſoll, wie ſich in demſelben die Sache ſelbſt
zeigt, und uͤberdieß nicht nur dem Auge, ſondern auch
dem Gefuͤhl einerley Schein zeigen muß. Wir mer-
ken hiebey an, daß man in ſolcher Nachahmung ei-
gentlich nur auf die koͤrperliche Geſtalt ſieht, ſo fern
ſie ſichtbar und fuͤhlbar iſt, und daß hingegen dieſe Ge-
ſtalt der Groͤße nach von dem Original verſchieden ſeyn
koͤnne, wenn nur jede Theile in der Lage und Propor-
tion dem Original aͤhnlich bleiben.


§. 268. Noch weiter aber geht man in ſolchen Nach-
ahmungen, wenn man ſelbſt auch den Stoff eines
Koͤrpers durch Kunſt nachzumachen ſucht, wie z. E. bey
nachgemachten Perlen, Edelgeſteinen, Metallen, Mine-
ralien, Arzneyen, Speiſen, Getraͤnken ꝛc. wobey, wie
wir bereits oben (§. 76.) bey der Betrachtung dieſer
Art
[423]Von der Zeichnung des Scheins.
Art des Scheins angemerkt haben, oͤfters kuͤnſtlichere
Proben angeſtellt werden muͤſſen, wenn man ſich durch
das Blendwerk nicht will betriegen noch taͤuſchen laſſen.


§. 269. Das Theater beut uns ferner einen be-
traͤchtlichen Theil der allgemeinen Perſpective an, weil
es in allen Abſichten deſto vollkommener iſt, je genauer
jede Theile die Sache ſelbſt vor Augen zu ſtellen ſchei-
nen. Da die Einſchraͤnkung auf eine ſehr kurze Zeit,
und maͤßig geraͤumigen Ort dieſe Nachahmung deſſen,
was in der Welt vorgeht, eben nicht durchaus moͤglich
macht; ſo iſt die Frage, was der Zuſchauer ſehen,
oder was er nur erzaͤhlungsweiſe vernehmen
ſoll,
in Abſicht auf die Schauſpiele, von nicht geringer
Erheblichkeit, wenn man wenigſtens das gar zu Unna-
tuͤrliche in der Vorſtellung vermeiden will. Denn bey
kleinern Abweichungen von dem Natuͤrlichen im Schein
iſt es gar wohl moͤglich, die Aufmerkſamkeit des Zu-
ſchauers ſtaͤrker auf die Hauptſache zu lenken, daß er
das uͤbrige nicht achtet, oder es entſchuldigt. Die Strei-
tigkeiten, die in dieſer Abſicht uͤber den Cid des Cor-
neille
ſind gefuͤhrt worden, ſind bekannt, und moͤgen
einem Kunſtrichter Stoff geben, die hier vorgelegte Fra-
ge aus ihren wahren Gruͤnden zu eroͤrtern, wie ferne
man, ohne wider das Natuͤrliche merklich zu verſtoſ-
ſen, in Schauſpielen dem Zuſchauer mehr als eine bloße
Unterredung vorſtellen koͤnne?


§. 270. Wir koͤnnen ferner jede Nachahmung der
Geberden und Reden anderer Menſchen, und noch viel-
mehr jede Verſtellung, als einzelne Stuͤcke der tran-
ſcendenten Perſpective anſehen, weil bey Verſtellungen
der Schein einer ganz andern Gemuͤthsverfaſſung, Ab-
ſicht, Vorſatzes, Charakters ꝛc. gezeigt wird, als wirklich
in dem Menſchen iſt, der ſich verſtellt, dieſer Schein
mag nun in Geberden, Worten oder Handlungen, oder
in allen zugleich beſtehen. Die geſchickte und unge-
D d 4zwungene
[424]VI. Hauptſtuͤck.
zwungene Nachahmung der Geberden gehoͤrt mit unter
die Vollkommenheiten des Schauſpieles, und wird auch
einem Redner, als ein Mittel, den Vortrag zu beleben,
zur Zierde gerechnet. Hingegen gehoͤrt die Frage von
der Zulaͤßigkeit der Verſtellung in die Sittenlehre, und
wird darinn billig verworfen, wenn ſie zum Nachtheil
anderer gebraucht wird.


§. 271. Das Gedankenreich beut uns ebenfalls
Stoff zu einem betraͤchtlichen Theile der tranſcendenten
Perſpective an. Es geſchieht nicht ſelten, daß wir uns
die Sachen nach demjenigen Geſichtspunkt vorſtellen
muͤſſen, aus welchem ſie andere betrachten, es ſey, daß
wir uns in Gedanken an ihre Stelle ſetzen, oder daß
wir wenigſtens von ihrer Vorſtellungsart uns einen
Begriff machen muͤſſen. Letzteres geſchieht, wenn wir
ſehen oder wenigſtens uns einbilden, daß wir nicht glei-
cher Meynung mit ihnen ſind, oder wenn ihr Verfahren
mit unſerer Gedenkensart nicht uͤbereinkoͤmmt. Erſte-
res aber thun wir, um uns die Umſtaͤnde, worinn an-
dere ſich befinden, lebhafter und vollſtaͤndiger vorzuſtel-
len, und ſie mit ihrem Betragen und Entſchließungen
zu vergleichen, oder auch dahin dienende Anſchlaͤge zu
geben. Die Redensarten: Jch ſehe nun ſchon,
wie Cajus ſich die Sache vorſtellt; wenn ich an
ſeiner Stelle waͤre, ſo ꝛc. Wer Titium kennt,
wird ſich nicht verwundern, daß
ꝛc. und mehrere
dergleichen, geben die Faͤlle zu erkennen, wo die hier er-
waͤhnte Perſpective vorkoͤmmt, und zugleich auch, daß
ſie von ſehr haͤufigem Gebrauche iſt, beſonders, wo
man jemand ſeinen Jrrthum und den Urſprung deſſel-
ben aufklaͤren, ihn zurechte weiſen, ihm Anſchlaͤge ge-
ben, oder auch ſein Betragen nach der Billigkeit beur-
theilen will.


§. 272. Das Zuruͤckdenken und Ueberlegen unſerer
eigenen ſowohl dermaligen als auch ehmals gehabten
Gedan-
[425]Von der Zeichnung des Scheins.
Gedanken gehoͤrt ebenfalls hieher, und kann uns zu aͤhn-
lichen Abſichten dienen, weil dadurch Leichtſinnigkeit,
Unbedachtſamkeit, Jrrthum und Uebereilung vermieden
werden kann, und weil wir uns ohne ein ſolches Zuruͤck-
denken von jedem Blendwerke des Scheins wuͤrden hin-
reißen laſſen. Wir ſtellen uns dadurch mit Bewußt-
ſeyn in den Geſichtspunkt, in welchem wir uns ohnehin
befinden. Dieſes Bewußtſeyn aber macht uns zugleich,
daß wir in Stand geſetzt werden, das bloß Scheinbare
in unſern Vorſtellungen von dem Wahren zu unter-
ſcheiden, und die Seite, von welcher wir uns die Sache
vorſtellen, ſchlechthin als eine Seite, nicht aber als die
ganze Sache anzuſehen.


§. 273. Das allgemeinſte Mittel aber, ſowohl die
Sachen als ihren Schein und die Begriffe zu bezeich-
nen, giebt uns die Sprache an, wenn wir naͤmlich
das, was uns die Sache, aus jedem Geſichtspunkt be-
trachtet, zu ſeyn ſcheint, und ſo auch, was ſie an ſich iſt,
mit Worten beſchreiben. Wir haben bereits im zwey-
ten Hauptſtuͤcke (§. 91. ſeqq.) angemerkt, daß es bey
Erfahrungen, Beobachtungen und Verſuchen nothwen-
dig ſey, den phyſiſchen Schein zu beſchreiben, damit man
das Wahre ſodann durch Schluͤſſe herausbringen, und
dadurch das Geſchloſſene von dem Beobachteten genau
unterſcheiden koͤnne. Die verſchiedenen Faͤlle, die ſich
dabey eraͤugnen, haben wir ebendaſelbſt bereits ange-
fuͤhrt. Werden uns aber Erfahrungen von andern er-
zaͤhlt, und dabey der Schein mit dem Wahren, oder
mit dem, was ihnen wahr zu ſeyn vorkam, vermengt,
ſo koͤmmt ebenfalls auch die Frage vor, wie ferne wir
aus der Erzaͤhlung den Schein, ſo wie er bey der Er-
fahrung war, wieder heraus bringen koͤnnen? Laͤßt ſich
dieſes thun, ſo ſind wir auch beſſer im Stande, zu be-
urtheilen, ob das Wahre richtig daraus geſchloſſen wor-
den. Man ſehe, was wir in vorhergehendem Haupt-
D d 5ſtuͤcke
[426]VI. Hauptſtuͤck.
ſtuͤcke, in Abſicht auf die Unterſuchung und Vergleichung
der Ausſagen und Zeugniſſe, hieruͤber angemerkt haben
(§. 234. 241.).


§. 274. Die Dichtkunſt beſchaͤfftigt ſich vornehm-
lich, uns die Dinge nach ihrem Schein vorzumalen,
und durch ihre Vorſtellungen diejenigen Eindruͤcke voll-
ſtaͤndig hervorzubringen, die die Empfindung der Sache
ſelbſt in uns machen wuͤrde, wenn wir ſie aus dem Ge-
ſichtspunkt ſaͤhen, aus welchem ſie der Dichter vorſtellt,
und in den er uns gleichſam in Gedanken verſetzt. Die
Vollſtaͤndigkeit dieſes Eindruckes macht, daß der Dich-
ter ſich mit den eigenen Namen der Dinge nicht ſo
ſchlechthin begnuͤgen kann, ſondern der Beſchreibung
derſelben einen lebhaftern Schwung geben muß, damit
die Seite, von welcher er die Sache vorſtellt, ganz auf-
gedeckt uns vorgelegt werde. Solche Gemaͤlde unter-
ſcheiden ſich ſtuffenweiſe von den Beſchreibungen, die
ein Redner von eben der Sache geben wuͤrde, und die
an ſich ſchon mehr enthalten muß, als eine bloß hiſtori-
ſche Nachricht oder Erzaͤhlung, oder eine wiſſenſchaftli-
che Beſchreibung und Zergliederung der Sache. Letz-
tere geht auf das Wahre, und gebraucht die eigenen
Namen und Kunſtwoͤrter, um alles genau zu benennen,
und den Schein als Schein, das Wahre als wahr an-
zuzeigen. Die hiſtoriſche Erzaͤhlung, ſo fern wir ſie
der wiſſenſchaftlichen entgegenſetzen, laͤßt Wahres und
Schein ungetrennt, und beſchreibt beydes, ohne viele
Kunſtwoͤrter mit einzumengen, und ohne Abſicht oder
unpartheyiſch. Ein Redner aber richtet ſeine Beſchrei-
bung der Abſicht der Rede gemaͤß ein, damit ſie zur
Erleuchtung, Beredung und Bewegung der Affecten
diene, weil er um den Eindruck beſorgt ſeyn muß, den
jede Theile ſeiner Rede auf den Zuhoͤrer machen ſollen.
Die Vermeidung des Uebertriebenen ſchraͤnkt den Red-
ner ſo ein, daß in der Rede alles ungeſucht und unge-
zwungen
[427]Von der Zeichnung des Scheins.
zwungen auf einander folge, und der Affect, in den die
Zuhoͤrer kommen ſollen, muß ſelbſt auch bey dem Red-
ner erſt aus der Rede entſtehen, ſo oft naͤmlich nicht
ſchon der Anlaß der Rede dem Zuhoͤrer ſo bekannt iſt,
daß dieſem der Affect nicht unerwartet vorkoͤmmt. So
gemeſſen aber verfaͤhrt der Dichter nicht, weil das Ge-
dicht eine Frucht ſeines Enthuſiaſmus oder Begeiſte-
rung iſt. Er malt die Seite der Sache, die er ſich in
dem angenommenen Geſichtspunkt ſchon ganz vorſtellt,
mit allen Eindruͤcken, die ſie bey ihm auf die Erkennt-
niß und Begehrungskraͤfte macht, und bey den Leſern
machen ſolle.


§. 275. Jn Anſehung dieſes Verfahrens der Red-
ner und Dichter iſt nun leicht anzumerken, daß ſie ge-
wiſſermaßen das Gegentheil deſſen thun, was der Welt-
weiſe ſich vorſetzt, der wiſſenſchaftliche Erkenntniß ſucht.
Beyde erſtere erſtrecken ihr Gebiet nicht uͤber die gemei-
ne Erkenntniß und auch nicht uͤber ihre Form. Der
Redner traͤgt nicht foͤrmliche Demonſtrationen, ſondern
Argumente vor, und dieſe haͤuft er auf, ohne daruͤber
Rechnung zu tragen, ob ihre Summe ein Ganzes aus-
mache. Selbſt auch Demonſtrationen verwandelt er
in ſolche Argumente, um ihnen die wiſſenſchaftliche Form
zu benehmen, und daher iſt die Gewißheit, die er ſucht,
diejenige, ſo wir in vorhergehendem Hauptſtuͤcke tumul-
tuariſch genennt haben (§. 264.). Der Dichter faßt
ſeine Argumente noch ungleich kuͤrzer. Denn wer ſollte
ihm nicht glauben, da ihn die bloße Vorſtellung der
Sache ſchon ganz dahinreißt und in Affect ſetzt? Der
moraliſche Schein, von dem wir in dem vierten Haupt-
ſtuͤcke gezeigt haben, daß er ganz ſubjectiv iſt, und bey
Unterſuchung der Wahrheit vermieden werden muß, iſt
gleichſam das Hauptwerk des Dichters, und ſein En-
thuſiaſmus iſt der daſelbſt (§. 145. ſeq.) angeprieſenen
Gemuͤthsruhe ganz entgegengeſetzt. Da demnach Red-
ner
[428]VI. Hauptſtuͤck.
ner und Dichter, ſo fern ſie ſolche ſind, das Wahre und
das Wahrhaftgute ſo genau nicht abwaͤgen, ſo haben
ſie allerdings den Stoff zu ihrem Vortrage von dem
Weltweiſen zu borgen, um ihn ſo einzukleiden, daß er
auch denen faßlich werde, die weder Muße noch Faͤhig-
keit haben, dem Weltweiſen in ſeinen genauern und
tiefſinnigern Unterſuchungen zu folgen, und die ſich durch
Affecten lenken laſſen, wohin ihr Wille, aus Mangel
der behoͤrigen Deutlichkeit der Vorſtellungen, nicht rei-
chen mag. Eine redneriſche oder poetiſche Vorſtellung
mag ſo einnehmend ſcheinen, als es immer ſeyn mag, ſo
geht derſelben immer der weſentlichſte Vorzug ab, wenn
ſie auf Jrrthum gegruͤndet iſt. Sie bleibt unbrauch-
bar oder man gebraucht ſie mit Nachtheil. Die Seite
der Sache, die der Dichter vorſtellt, muß wirklich eine
Seite derſelben ſeyn, oder wenigſtens ſeyn koͤnnen, und
die Bilder, die er gebraucht, um ſie lebhafter auszuma-
len, muͤſſen ſich wirklich dazu koͤnnen gebrauchen laſſen,
wenn anders der Leſer am Verſtand und Willen gebeſ-
ſert werden ſoll.


§. 276. Jns beſondere wird die oben (§. 141.) ge-
machte Anmerkung, daß die moraliſchen Wahrheiten
einander einſchraͤnken, und die daraus gezogenen Folgen
von den Rednern und mehr noch von den Dichtern bey-
ſeite geſetzt, als welche gewoͤhnlich auf eine von ſolchen
Wahrheiten zum Nachtheil der uͤbrigen dringen, da-
durch ſie ſollte eingeſchraͤnkt werden. Daher kann es
kommen, daß, wer ſich von dem in moraliſchen Reden
und Gedichten herrſchenden Affecten leicht einnehmen
laͤßt, nach und nach von ganz entgegengeſetzten Affecten
hingeriſſen wird, ohne daß er das Ebenmaaß zwiſchen
allen beſtimmen, und ſich nach dieſem richten koͤnnte.
Man kann aber dieſes den Rednern und Dichtern um
ſo weniger zur Laſt legen, da die genauere Beſtimmung
von den Schranken der Wichtigkeit jeder moraliſchen
Wahr-
[429]Von der Zeichnung des Scheins.
Wahrheit ihres Thuns nicht iſt, und da ſelbſt die Aga-
thologie, die wiſſenſchaftlich und ein Werk des Weltwei-
ſen ſeyn ſollte, die oben (§. 131.) dazu erforderte Voll-
kommenheit noch lange nicht erreicht hat.


§. 277. Man hat aber in Anſehung der vorhin
(§. 275.) angefuͤhrten Betrachtungen allerdings den
Unterſchied zu machen, ob der Dichter ſelbſt redet, oder
ob er andere redend einfuͤhrt. Jm erſten Fall wird al-
ler Eindruck, den das Gedicht macht, auf des Dichters
Rechnung geſetzt, ſo fern naͤmlich der Leſer nicht, ohne
Verſchuldung des Dichters, eigenes mit einmengt. Jm
andern Fall hat der Dichter allerdings die Freyheit, je-
den an ſich moͤglichen Charakter vorzuſtellen, wie es in
dramatiſchen Stuͤcken und Epopeen haͤufig geſchieht.
Jedoch ſchraͤnkt ihn die Moral auch ſo fern ein, daß er
bey Vorſtellung ſchlechter Charakter vermeide, daß ſie
nicht die Wirkung von ſchlechten Beyſpielen haben, ſon-
dern bey dem Leſer Widerwillen und Abneigung erwe-
cken, und hingegen Zweifel wider die Wahrheit und
kraͤftige oder gegebene Aergerniſſe vermieden werden.


§. 278. Da der Dichter, ſo fern er ſelbſt redet, die
Seite der Sache, die er ſich in dem angenommenen
Geſichtspunkt vorſtellt, mit allen Eindruͤcken vormalt,
die ſie auf ſeine Erkenntniß und Begehrungskraͤfte ma-
chen; ſo macht in ſeinem Gemaͤlde der ſubjective Theil
des Scheins einen betraͤchtlichen Theil deſſelben aus,
und das individuale in der Gedenkens- und Gemuͤths-
art des Dichters mengt ſich durchaus mit ein. Man
kann daher leicht den Schluß machen, daß das Erhab-
nere in den Gedanken, das Feinere in den Bildern der
Einbildungskraft, und das Edlere in den Affecten bey
dem Dichter ſelbſt ſeyn muß, wenn es zu dem Gemaͤl-
de ungeſuchten und ungezwungenen Stoff geben, und
ſelbſt auch die Sache und ihre Seite beſtimmen ſoll,
die
[430]VI. Hauptſtuͤck.
die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oder
die denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn
auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und
Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe
dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die
Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen,
ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen
Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah-
re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus
dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch
aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt.


§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter
vor, es ſey daß er ſie nur beſchreibt, oder ſie redend
einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, ſo muß er ſie eben-
falls mit dem Eindrucke vorſtellen, den ſie auf ſein Ge-
muͤth machen, wenn anders die Vorſtellung wirklich
poetiſch und nicht eine bloß hiſtoriſche Nachricht ſeyn
ſoll. Soll nun hiebey die Einſchraͤnkung der Moral
(§. 277.) ſeinem Enthuſiaſmus keinen Einhalt thun, ſo
iſt fuͤr ſich klar, daß die Gemuͤthsverfaſſung des Dich-
ters von Natur ſchon dazu muͤſſe eingerichtet ſeyn, das
Liebens- und Verabſcheuenswuͤrdige eines jeden Charak-
ters in das Gemaͤlde deſſelben mit einfließen zu laſſen.
Dieſes macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re-
dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Geſichtspunkt, und
oͤfters auch einen vielfachen zu ſeinem Gemaͤlde hat.
Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte
Perſon die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen
Geſichtspunkte, aus welchen die Perſonen, mit denen ſie
redet, eben die Dinge anſehen. Und endlich der Ge-
ſichtspunkt, aus welchem der Dichter ſelbſt die ganze
Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge-
ſichtspunkt ſeiner Leſer werden ſoll. Dieſer letztere
Geſichtspunkt unterſcheidet das Werk des Dichters, ſo
fern
[431]Von der Zeichnung des Scheins.
fern er Dichter iſt, von einer hiſtoriſchen Erzaͤhlung, als
welche die Sache an ſich und ohne beſonders gewaͤhlten
Geſichtspunkt beſchreiben, und daher den ſubjectiven
Theil des Scheins ganz weglaſſen ſolle (§. 274. 278.).


§. 280. Die Gemaͤlde des Dichters koͤnnen an ſich
ſchon erheblich genug ſeyn, die Aufmerkſamkeit des Le-
ſers zu beſchaͤfftigen. Es giebt aber beſonders in dra-
matiſchen Stuͤcken und Epopeen ſolche Stellen, wo der
Leſer Gemaͤlde erwartet, und der Dichter ſelbſt muß ſol-
che Stellen veranlaſſen, um ſich der ſtaͤrkern und anhal-
tenden Aufmerkſamkeit des Leſers deſto mehr zu verſi-
chern. Solche Gemaͤlde ſind in Abſicht auf den Leſer
von zweyerley Arten. Denn entweder ſieht er den Jnn-
halt uͤberhaupt betrachtet voraus, und da will er ihn
nur von dem Dichter geſchildert wiſſen, und dieſes for-
dert einen hoͤhern Grad des Enthuſiaſmus, wie z. E.
wenn Contraſte oder Exceſſe von Affecten zu malen ſind:
oder der Leſer ſieht den Jnnhalt nicht voraus, wie z. E.
wenn durch neue Vorfaͤlle die Geſichtspunkte der Per-
ſonen geaͤndert werden, die der Dichter vorſtellt, und da
will der Leſer die Eindruͤcke wiſſen, die die geaͤnderten
Umſtaͤnde auf jede machen, und welchen Einfluß ſie auf
den noch ungewiſſen Ausgang haben koͤnnen, oder wie
ferne ſie denſelben noch ungewiſſer machen. Die Sei-
ten, von welchen die eingefuͤhrten Perſonen die Sache
anſehen, ſind objectiue verſchieden, ſo oft einige Theile
von Verhaͤltniſſen der Sache der einen Perſon bekannt,
der andern verborgen ſind, ſubjectiuc aber, ſo fern
auch bey einerley Theilen und Verhaͤltniſſen der Sache
jede Perſon das Jndividuale ihrer Gedenkens- und Ge-
muͤthsart und Geſinnungen mit der Vorſtellung ſolcher
Theile und Verhaͤltniſſe verbindet. Beyde Verſchie-
denheiten und die durch neue Vorfaͤlle veranlaßten Ab-
aͤnderungen darinn, geben der Sache in Abſicht auf die
Leſer
[432]VI. Hauptſtuͤck.
Leſer eine Mannigfaltigkeit und Verwicklung, die ſeine
Aufmerkſamkeit in allewege beſchaͤfftigt.


§. 281. Der Dichter kann ſich, ohne ſeinen Enthu-
ſiaſmus zu ſchwaͤchen, und in dem Gedichte matter zu
werden, nicht ſo genau nach der Gedenkensart der Leſer
richten, es ſey denn, daß ſein Enthuſiaſmus durch dieſe
mit veranlaßt werde. Sein Thun iſt, das Gemuͤth des
Leſers wie ein Strom mit fortzureißen. Hingegen iſt
der Redner ungleich mehr daran gebunden, ſeinen Vor-
trag auf die Gedenkensart der Zuhoͤrer zu gruͤnden, und
dieſe auch nur in ſo ferne zu aͤndern, als er ſeinen Vor-
trag nicht darauf gruͤnden kann. Dieſes macht aller-
dings, daß er ſich den Geſichtspunkt vorſtellen muß,
aus welchem ſeine Zuhoͤrer den Vortrag anſehen wuͤr-
den, wenn er ihn ſchlechthin ſagte, damit er die denſel-
ben noch unbekannte Seiten und Verhaͤltniſſe der Sache
aufdecken, und ſie ſo vorzeigen koͤnne, daß ſie in dem
Gemuͤthe der Zuhoͤrer den behoͤrigen Eindruck machen.


§. 282. Dieſes koͤmmt nun ſelbſt im gemeinen Le-
ben, ſo fern man die Menſchen nehmen muß, wie ſie
ſind, ſowohl in Abſicht auf die Reden, als auf die Ent-
ſchluͤſſe und Handlungen, ebenfalls vor. Je genauer
man den Geſichtspunkt kennt, aus welchem andere ſich
die Sachen vorſtellen, deſto leichter iſt es auch, ihre Ge-
danken, Entſchluͤſſe und Handlungen gleichſam voraus
zu beſtimmen, und zu finden, wieferne ſie hinderlich oder
befoͤrderlich ſeyn werden, wenn man ihnen ſeine Abſich-
ten entdeckt, oder ihnen auch nur einzelne Stuͤcke davon
ſehen laͤßt. Wie man ſolche Kenntniß der Geſichts-
punkte anderer Menſchen gebrauchen koͤnne, auch ihnen
hinwiederum nuͤtzlich zu ſeyn, haben wir bereits oben
(§. 271.) angezeigt, und fuͤhren es hier nur an, weil
beydes mit einander verbunden ſeyn ſolle.


§. 283.
[433]Von der Zeichnung des Scheins.

§. 283. Die Ausſicht in die Zukunft macht ebenfalls ein
Theil der tranſcendenten Perſpective aus, und iſt deſto er-
heblicher, weil die Beweggruͤnde fuͤr den Willen, wenn man
die reinen und edlen Triebe der Dankbarkeit ausnimmt,
durchaus von dem Zukuͤnftigen hergenommen ſind. Was
zur Beſtimmung und Vorausſehen der kuͤnftigen Umſtaͤnde
und Veraͤnderungen erfordert werde, haben wir bereits in
vorhergehendem Hauptſtuͤcke (§. 164.) angezeigt. Die per-
ſpectiviſche Vorzeichnung des Zukuͤnftigen ſetzt die Gewiß-
heit deſſelben voraus, und gemeiniglich gebraucht man ſie,
wenn man ſich oder andere zu Entſchluͤſſen bereden will, de-
ren Ausfuͤhrung eine Reihe von Folgen nach ſich zieht, die
etwas Angenehmes, Anlockendes, Vortheilhaftes ꝛc. an ſich
haben. Das Allgemeine dabey aber, das ſich nicht nach ein-
zelnen Umſtaͤnden richtet, ſondern auf das Leben uͤberhaupt
geht, beſteht in jeden Beweggruͤnden und Vorſtellungen,
wodurch die Gemuͤthsruhe (§. 146.) verſichert, und erwie-
ſen wird, daß die Zufriedenheit und die daherruͤhrende
Stille und Gluͤckſeeligkeit nicht in aͤußern Umſtaͤnden, ſon-
dern in der Seele ihren Sitz habe. Ein Stoff, der Dichter
ſchon oft beſchaͤfftigt hat, und noch mehr beſchaͤfftigen kann,
zumal wenn dieſe Zufriedenheit nicht mit einer ſtoiſchen Un-
empfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit vermengt werden ſoll
(§. 141. 278.). Uebrigens giebt die mit Hoffnung und Be-
ſorgniß vermengte Ausſicht in die Zukunft dem Dichter in
dramatiſchen Stuͤcken ruͤhrende Scenen an die Hand, es ſey
daß der Leſer den Ausgang voraus wiſſe, und ihm folglich
das Gemaͤlde nur wegen eigener Schoͤnheit gefalle, oder daß
er ſelbſt noch in der Ungewißheit des Ausganges gelaſſen
werde, und indem er ſich fuͤr die redende Perſon intereſſirt,
gleichſam Troſt und Beſorgniß mit derſelben theile.


§. 284. Sofern die Muſik dienen kann, Affecten zu erre-
gen, oder ſie auszudruͤcken, oder auch nur die Poeſie zu bele-
ben, laͤßt ſie ſich ebenfalls hieher rechnen, wiewohl es uͤber-
haupt ſchwer zu beſtimmen iſt, wieferne die Muſik Gedan-
ken und Empfindungen bezeichnet, oder ſtatt einer Spra-
che dient. Die Redekunſt, und mehr noch die Poeſie hat in
dem Schwunge der Perioden und Abwechslung des Syl-
benmaaßes etwas Muſikaliſches, oder eine Harmonie, die
dem Ohr gefaͤllt, und den Vortrag einnehmender macht.
Aus gleichem Grunde mag auch der Geſang viel dazu
Lamb. Organon II B. E ebey-
[434]VI. Hauptſtuͤck.
beytragen, den Nachdruck der Worte lebhafter zu machen,
wenn der Affect die Melodie angiebt. Daß auch die bloße
Jnſtrumentalmuſik Affecten und Bewegungen des Leibes er-
regen koͤnne, lehrt die Erfahrung. Der Klang der Feldmu-
ſik muß allerdings von dem Angenehmen einer Serenate,
und auch dieſe von dem zum Tanzen aufmunternden Tone,
in Anſehung der Jnſtrumente und Melodien verſchieden ſeyn.
Die Beſtimmung der feinern Unterſchiede jeder Jnſtrumen-
te, Melodien und Toͤne und ihrer Wirkungen auf das Ge-
muͤth mag demnach viel dazu beytragen, den Nachdruck
der Worte in der Vocalmuſik durch die behoͤrige Auswahl
des Tones und der Singweiſe zu erhoͤhen, zumal wenn noch
die beſondern Modificationen der Stimme, welche haͤrter,
weicher, aufgereimter, klaͤglich, wehmuͤthig ꝛc. ſeyn kann,
und die ſelbſt ein Redner ohne Ruͤckſicht auf die Muſik muß
abzuaͤndern und dem Jnhalt der Rede gemaͤß zu gebrauchen
wiſſen, mit in Betrachtung gezogen werden. Daß von al-
lem dieſem vieles unter die Vollkommenheiten des Thea-
ters gehoͤre, iſt aus dem oben davon geſagten (§. 269. ſeq.)
fuͤr ſich klar.


§. 285. Bisher haben wir nun die beſondern Theile der
tranſcendenten Perſpective angezeigt. Aus ihrer Vergleichung
erhellet allerdings, daß ſie merklich von einander verſchie-
den ſind, und jeder einen ſehr ausgedehnten Umfang hat.
Sie unterſcheiden ſich vornehmlich in demjenigen, was zur
Vorſtellung der Sache gewaͤhlt wird, und welches in Ge-
maͤlden, Modellen, Bildern, Nachahmungen, Handlungen,
Geberden, Gedanken, Worten, Toͤnen ꝛc. beſteht, und theils
mit der vorgeſtellten Sache von einerley, theils auch von
verſchiedener Art iſt. Was wir aber bey allen voraus ſe-
tzen, iſt, daß dadurch nur der Schein der Sache vorgeſtellt
werde, denn auch nur in ſo ferne gehoͤren dieſe Theile zur
tranſcendenten Perſpective. Bey dieſer Vorausſetzung aber
machen wir zwiſchen dem leeren und realen Schein keinen
Unterſchied, weil beyde gezeichnet werden koͤnnen, ſo wie
ſich die optiſchen Perſpective und Malerkunſt an dieſen Un-
terſchied ebenfalls nicht kehrt, und ein Maler jede Spiele
der Einbildungskraft, Viſionen, ertraͤumte Bilder ꝛc. ſo
fern ſie ſich zeichnen laſſen, wo es die Abſicht erfordert,
vormalet, und der Dichter aus derſelben ebenfalls Stoff
zu ſeinen Gemaͤlden nimmt, wo er ſie gebrauchen kann.


§. 286.
[435]Von der Zeichnung des Scheins.

§. 286. Da wir ferners hier nur das Allgemeine des
Scheins betrachten, ſo koͤnnen wir uns auch nicht mit der
beſondern Theorie jeder dieſer Theile aufhalten, als welche
Stoff zu eben ſo vielen beſondern Wiſſenſchaften und Kuͤn-
ſten geben, und auch theils wirklich ſchon dazu gemacht
ſind. Wir haben in den vorhergehenden Hauptſtuͤcken aus-
fuͤhrlicher angezeigt, was von jeden Arten des Scheins zu
bemerken iſt, und wieferne ſie von dem Wahren abgehen.
Da die Perſpective uͤberhaupt aus dem Wahren den Schein
zeichnet und vorſtellt, ſo findet ſich in den angefuͤhrten
Hauptſtuͤcken geſammleter Stoff dazu. Wir werden daher
nur einige Stuͤcke als Beyſpiele anfuͤhren.


§. 287. Der pſychologiſche leere Schein findet ſtatt, wo
die Seite nicht an der Sache iſt, die man ſich an derſelben
zu ſeyn vorſtellt. Der reale hingegen, wo die Seite, die
man ſich vorſtellt, oder deren Bild man ſich wenigſtens
vorſtellt, an der Sache iſt. Da nun beyde Arten einen
Eindruck auf das Gemuͤth und den Willen machen koͤnnen,
ſo werden die oben (§. 271. 282.) betrachtete zween Faͤlle
von Wichtigkeit, weil man ſich in dem Umgange mit andern
Menſchen nach dem zu richten hat, was ihnen die Sachen
zu ſeyn ſcheinen.


§. 288. Das Leere im Schein beſteht mehrentheils in
dem ſubjectiven Theile deſſelben, den die Einbildungskraft,
die Vorurtheile und Affecten mit in den objectiven ein-
mengen, und der folglich aus der beſondern Gedenkens-
und Gemuͤthsart eines Menſchen geſchloſſen werden muß.
Weiß man nun, was die Sache im Grunde iſt, und zu-
gleich wie jemand ſich dieſelbe vorſtellt, ſo laͤßt ſich aus
dem Unterſchiede vieles von den ſubjectiven Quellen des
Scheins ſchließen, und durch mehrere dergleichen Erfah-
rungen gelangt man zu dem Allgemeinen in ſolchen Quel-
len, die ſich wegen des Iſochroniſmus, der dabey ſtatt hat,
auf mehrere Dinge ausbreiten, und daher den Geſichts-
punkt und die Seiten der Sachen naͤher beſtimmen, wel-
che er ſich vorſtellt (§. 19. 136. 137.).


Ende des zweyten Bandes.


[[436]]

Appendix A Einige Druckfehler.


  • Dianoiol. §. 5. lin. 4. von hinten liſe: linſenfoͤrmig an ſtatt
    leiſtenfoͤrmig.
    • §. 77. lin. 1. von unten: Cosmologie anſtatt Chronologie.
    • §. 101. lin. 2. von unten: Semiotic anſtatt Semiſtic.
    • §. 122. lin. 9: unausgedehnt anſtatt ausgedehnt.
    • §. 132. lin. 26. liſe: zum theil, oder zum theil nicht.
    • §. 235. lin. 5. von hinten, liſe: KeinEiſtB.
    • §. 245. lin. 16. liſe: umgeaͤndert anſtatt ungeaͤndert.
    • §. 276. lin. 15. liſe: ſo iſtAnichtB.
    • §. 461. lin. 1. liſe: nicht nur nicht, anſtatt nicht nur.
    • §. 540. lin. 9. liſe: unzureichend anſtatt zureichend.
    • §. 577. lin. 4. liſe: und ſo vernehmlich.
    • §. 655. lin. 1. liſe: nicht einfach.
  • Semiotik. §. 4. lin. 2. liſe: §. 568. anſtatt §. 555.
    • §. 6. lin. 22 und 25 liſe: Umriß anſtatt Unwiß.
    • §. 21. p. 15. lin. 16. liſe: 598. anſtatt 585.
    • §. 41. lin. 15. liſe: 444—467. anſtatt 431—454.
    • —— lin. 21. liſe: 322. anſtatt 309.
    • —— lin. 22. liſe: 369. anſtatt 356.
    • — p. 27. lin. 1. liſe: 383. anſtatt 370.
    • ——— lin. 2. liſe: 396. anſtatt 383.
    • ——— lin. 4. liſe: 404—422. anſtatt 391—409.
    • ——— lin. 5. liſe: 248. anſtatt 235.
    • ——— lin. 7. liſe: 280. ſeqq. 302—313. anſtatt 270.
      ſeqq. 289—300.
    • §. 56. lin. 8. liſe: 568. anſtatt 555.
    • —— lin. 9. liſe: 571. anſtatt 558.
    • §. 64. lin. 7. liſe: 480. anſtatt 467.
    • §. 73. lin. 3. liſe: 530. anſtatt 517.
    • §. 94. p. 58. lin. 12. liſe: 568. anſtatt 555.
    • §. 145. lin. 12. liſe: 156. anſtatt 152.
    • §. 148. lin. 2. liſe: 168. anſtatt 163.
    • §. 230. lin. 5. liſe: 313. anſtatt 300.
    • §. 248. p. 149. lin. 7. liſe: 139. anſtatt 136.
  • Phaͤnomenol. §. 202. liſe: Cameſtres anſtatt Cameſtus.
    • §. 206. lin. 5. liſe: ſo wohl nichtBals nichtC.
    • §. 208. lin. 13. liſe: (m+n—1).
    • —— lin. 18. liſe: (l—m—n).
    • §. 231. lin. 42. liſe: Teleologie anſtatt Theologie.
    • §. 239. p. 402. liſe: PoderNoderM.
    • §. 247. lin. 5. von hinten, liſe: Teleologie.

[][][][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Neues Organon. Neues Organon. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn55.0