zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
beiJohann Friedrich Hartknoch.
[[IV]][[V]]
Inhalt
der ſiebenten Sammlung.
- Br. 81. Vom Unterſchiede der alten und
neuen Voͤlker in der Poeſie, als
Werkzeug der Cultur und Hu-
manitaͤt betrachtet. Ankuͤndigung
einiger Fragmente uͤber dieſen
Inhalt. S. 1. - Erſtes Fragment. Verfall
der Poeſie bei Griechen und Roͤ-
mern. S. 5. - Nachſchrift. Urſachen des Ver-
falles. S. 19. - Br. 82. Zweites Fragment. Chriſt-
liche Hymnen. Gebrauch der
Pſalmen unter den Chriſten. Ei-
gene Geſaͤnge. Ihr ausgezeich-
neter Charakter. Ihre Wirkung
auf Nationalcharaktere, Muſik,
Sprache, Wiſſenſchaften, und
Stimmung der Seele. S. 21. - Nachſchrift. Proben dieſer
Geſaͤnge. S. 45. - — 83. Was in der Cultur des Menſchen
vom Urtheil des Auges und des
Ohrs abhaͤngt. Poeſie des Au-
ges und Ohres. Reſultat deſ-
[VII] ſen, was nach dem Gegebnen
fuͤr eine neue Denkart in My-
thologie, Umriß der Begriffe,
Intereſſe, Farbe der Handlun-
gen und Leidenſchaften, und de-
ren Ausdruck werde entſtehen
muͤſſen. S. 52. - Br. 84. Drittes Fragment. Bildung
eines neuen Geſchmacks in Eu-
ropa und deſſen erſte Verfeine-
rung. Lieder von Thaten der
Vorfahren. Unterſchied der nor-
diſchen und ſuͤdlichen Tonbildung.
Nordiſches und ſuͤdliches Syſtem
der Anklaͤnge und Alliterationen.
Erzaͤhlungen. Hang zu Aben-
theuern, und Abentheuerſagen.
Chroniken. Grober Moͤnchsge-
ſchmack. — Cultur der Araber
in Spanien. Entſtehung der Pro-
[VIII] venzalpoeſie, als angenehme Un-
terhaltung. S. 62. - Br. 85. Daß ein beſſerer Geſchmack hier
entſtehen muͤſſen. Warum er
nirgend anders als von hieraus
alſo entſtanden? Hoͤflichkeit der
Araber in Reimen. S. 84. - — 86. Wohin der Reim gehoͤre? Wem
er unentbehrlich ſei. S. 98. - Nachſchrift. Große Verſchie-
denheit im Entſtehen dieſes Ge-
ſchmacks und der Cultur der
Alten. Gutes, was die Proven-
zal Poeſie bewirkt hat, Bildung.
der Landesſprache, Freiheit der
Gedanken. S. 104. - — 87. Viertes Fragment. Einfluß
der Provenzalen in die Europaͤi-
ſche Cultur und Dichtkunſt. Von
[IX] der Italiaͤniſchen Dichtkunſt im
Aeußern und Innern. Vom ly-
riſchen Drama der Italiaͤner.
Metaſtaſio. Vom Charakter
der Franzoſen, Erzaͤhlen und Re-
praͤſentiren. Von der Spani-
ſchen Dichtkunſt. S. 109. - Br. 88. Wie ſchwer es ſei, vom Charak-
ter einer Nation oder eines Zeit-
alters zu ſprechen! Wie ſchwer,
von der Poeſie einer Nation zu
reden! Was uns dennoch dazu
treibe? Wie es moͤglich und noth-
wendig ſei? S. 135. - — 89. Fuͤnftes Fragment. Vom
Werth der Europaͤiſchen Dichtung
mittlerer Zeiten. Ihre Nach-
theile und Vortheile. Ihr Cha-
rakter in Andacht, Tapferkeit
und Liebe. S. 142. - Br. 90. Fortſetzung des Fragments. Er-
weiterung des Feldes der Wiſſen-
ſchaft. Vereinigung vieler Natio-
nen zu Einem Zweck. Geſellung
der Staͤnde zu einander. Froͤh-
liche Wiſſenſchaft. S. 156.
81.
Ihnen iſt der beruͤhmte Streit bekannt,
der unter Ludwig dem vierzehnten uͤber den
Vorzug der alten oder der neuern Natio-
nen in Wiſſenſchaften und Kuͤnſten mit
großer Waͤrme gefuͤhrt ward, und an wel-
chem auch außer Frankreich Gelehrte und
Kuͤnſtler Antheil nahmen. Da man nicht
allemal gnug beſtimmte, von welchen Alten
oder Neuern, von welchen Kuͤnſten und
Wiſſenſchaften die Rede ſei? es uͤbrigens
dabei auch mehr auf einen Rangſtreit da-
Siebente Samml. A
[2] mals lebender Perſonen, als auf eine un-
partheiiſche Schaͤtzung alter und neuer Ver-
dienſte angeſehen war, ſo konnte wenig
ausgemacht werden, obgleich von beiden
Theilen viel Gutes geſagt ward.
In der Cultur zum Schoͤnen, die
wir der Kuͤrze halben Poeſie nennen wol-
len, ſpringt uns der Unterſchied alter und
neuer Zeiten d. i. der Griechen und Roͤ-
mer in Vergleich aller neueren Europaͤiſchen
Voͤlker ins Auge. Wir moͤgen Italiaͤniſche,
Spaniſche, Franzoͤſiſche, Engliſche, Deutſche
Dichter, aus welchen Zeiten wir wollen,
leſen; der Unterſchied iſt unver-
kennbar.
Und doch wird es ſchwer, ihn ſich im
reinſten Umriß aufzuklaͤren; noch ſchwerer,
ihn bis auf ſeine erſten Urſachen zuruͤckzu-
fuͤhren, und dabei jeder Nation und Zeit
ihr Recht wiederfahren zu laſſen. Wie?
[3] kann man fragen, bluͤhet dieſe ſchoͤne Blu-
me der Humanitaͤt, Poeſie in Denk-
art, Sitten und Sprache nicht uͤberall
und allezeit gleich gluͤcklich? Und wenn zu
ihrem Aufkommen ein beſondrer Boden,
eine eigene Pflege und Witterung gehoͤret;
welches iſt dieſer Boden, dieſe Witterung
und Pflege? Oder wenn ſie mit jeder Zeit,
unter einem andern Himmelsſtrich auch
ihre Geſtalt und Farbe veraͤndern muß;
welches iſt das Geſetz dieſer Veraͤnde-
rung? geht ſie ins Beſſere oder Schlech-
tere uͤber? —
Ueber dieſe Fragen, die man oft ge-
than hat, ſind mir einige Fragmente
zu Haͤnden gekommen, die mir der Auf-
merkſamkeit unſrer Geſellſchaft nicht un-
werth ſcheinen. Die Bluͤthe der alten
Cultur unter Griechen und Roͤmern ſetzen
ſie entweder als bekannt voraus, oder es
A 2
[4] fehlt die Unterſuchung daruͤber in den mir
zugekommenen Blaͤttern. Dieſe bemerken
vorzuͤglich, wie ſich die mittlere und
neue Europaͤiſche Cultur in und durch
Dichtkunſt und zwar bei den verſchiedenen
Nationen Europa's, nach beſondern Ver-
anlaſſungen, Huͤlfsmitteln und Zwecken ge-
bildet habe? Das Endurtheil, in manchen
Stuͤcken die Vergleichung ſelbſt uͤberlaſſen
ſie dem Leſer. Da in ihnen die Poeſie in
einem weiten Verſtande genommen und als
Werkzeug oder als Kunſtprodukt und Bluͤ-
the der Cultur und Humanitaͤt
nach Nationen und Zeiten im All-
gemeinen betrachtet wird; mich duͤnkt,
ſo werden wir bei jedem Fragment zu eignen
Gedanken Gelegenheit finden, und dies iſt
doch der ſchoͤnſte Zweck einer ſchriftlichen Un-
terhaltung.
[5]
Erſtes Fragment
Verfall der Poeſie bei Griechen
und Roͤmern.
Im Fruͤhlinge und in der Jugend ſingt
man; in der Winterzeit und im Alter ver-
ſtummen die Toͤne. Die lebendigſte Poeſie
Griechenlandes traf auf eine gewiſſe Ju-
gendzeit des Volks und der Sprache, auf
einen Fruͤhling der Cultur und Geſinnun-
gen, in welchem ſich mehrere Kuͤnſte, keine
noch im Uebermaas, gluͤcklich verbanden,
endlich ſelbſt auf einen Fruͤhling von Zeit-
umſtaͤnden und Weltgegend, in welchem
entſprießen konnte was entſproſſen iſt. Von
der Poeſie der aͤlteſten Saͤnger und von
Bildung der Sprache durch ihren Geſang,
[6] von Alcaͤus und der Sappho, von
Pindar und dem Chor der Griechen ha-
ben wir geredet *) und allenthalben einen
jugendlich-aufſtrebenden Geiſt, jene erſte
Blume der Cultur bemerket, die, wenn ſie
verbluͤhet und zur Frucht gediehen iſt, der
laueſte Zephyr nicht wieder erwecken mag.
Alles in der Welt hat ſeine Stunde.
Es war eine Zeit, da Poeſie alle menſch-
liche Weisheit in ſich faßte, oder deren Stelle
vertrat. Sie ſang die Goͤtter, und erhielt
die ruhmwuͤrdigen Thaten der Vorfahren,
der Vaͤter und Helden; ſie lehrte die Men-
ſchen Lebensweisheit und war ſo wie das
einzige und ſchoͤnſte Mittel ihres Unter-
richts, ſo auch an Feſten und in Geſellſchaft
ihr geiſtigſtes Vergnuͤgen. Ehe die Schrift
[7] erfunden oder ſo lange ſie noch nicht haͤu-
fig im Gebrauch war, ſangen die Toͤchter
der Erinnerung, die Muſen, und wur-
den mit Entzuͤcken gehoͤret. Dichter waren
der Mund der Vorwelt, Orakel der Nach-
welt, Lehrer und Ergetzer des Volks, Loh-
ner großer Thaten, Weiſe. —
Je mehr die Schrift aufkam und ſich
durch ſie die Sprache ausbildete, je mehr
mit der Zeit Wiſſenſchaften aus einander
gingen und einzeln bearbeitet wurden: deſto
mehr mußte der Poeſie allmaͤhlich von ihrer
Allgemeinherrſchaft entnommen werden:
denn ſobald man ſchreiben konnte, wollten
viele eine wahre Geſchichte lieber in Proſe,
die der Poeſie nachgebildet war, leſen oder
leſen hoͤren; als Fabel und Geſchichte fer-
nerhin in Hexametern durch Geſang verneh-
men. Allmaͤhlich verſtummte alſo die erzaͤh-
lende Muſe, oder ſang aus Sagen ihrer
[8] aͤltern Schweſter kuͤnſtlich-gearbeitete Toͤne
nach.
Je mehr die Philoſophie aufkam, je
mehr man die Natur der Dinge, inſon-
derheit des Menſchengeſchlechts und ſeiner
Verfaſſungen unterſuchte: deſto weiter ent-
fernte man ſich von jener alten Einfalt
moraliſcher Spruͤche, denen die Poeſie
einſt Glanz und Nachdruck geben konnte.
Philoſophiſche Unterredungen und Syſteme
konnte der Dichter nicht mit derſelben Kraft
wie alte Begebenheiten und ſinnliche Ge-
genſtaͤnde darſtellen; er war hier in einem
fremden Lande.
Auch die Mythologie ſelbſt, die der
Poeſie einſt ſo viel Schwung gegeben hatte,
ward mit der Zeit eine alte Sage. Der
kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt
an Goͤtter und Heroën war dahin; was tau-
ſendfach geſungen war, mußte zuletzt bloß dem
[9] Herkommen gemaͤß, mit trockner Kaͤlte ge-
ſungen werden; es hatte ſeine Zeit uͤber-
lebet.
Endlich, da Scherz und Freude die
Eltern des Geſanges ſind, wo waren dieſe
hingeflohen in jenen traurigen Zeiten, die
Griechenland zuletzt erlebte? In- und aus-
waͤrtige Kriege zerſtoͤrten, loͤſeten auf und
miſchten alles unter einander. Der leben-
dige Geiſt aufbluͤhender Pflanzvoͤlker, froͤh-
licher Inſeln, im Ruhm und Geſange
wetteifernder Staͤdte war laͤngſt entwichen;
und ob man gleich die Anſtalten, durch
welche er gewirkt hatte, oͤffentliche Gebraͤu-
che, Tempel, Spiele, Wettkaͤmpfe, Theater
u. f. ſo lange es moͤglich war, erhielt oder
wiederherſtellte: ſo war doch jene Jugend
nicht zuruͤckzurufen, in welcher dies alles
wie durch ſich ſelbſt entſtanden und veran-
laßt war. Auch Hadrian rief dieſen
[10] Genius nicht aus Hektors Grabe. Zu-
letzt kamen die Barbaren heran; und als
die chriſtliche Religion uͤber Griechenland
herrſchte, da ſang z. B. Syneſius der
Biſchof *) von jenen alten Zeiten alſo:
Nach Tejer-Melodieen
[11]
[12]
Und ſo geht der Geſang in Platoniſch-
Chriſtliche Ideen uͤber *)
Die Geſchichte der Roͤmer endete
nicht anders. Ihnen war die Poeſie, in-
ſonderheit der Lyriſche Geſang gewiſſerma-
ßen immer eine fremde Kunſt geblieben;
die Oden Catulls und Horaz ſind nur
[14] ein Nachhall der griechiſchen Lyra. Auch
hat es ein Gelehrter unſrer Zeit wahr-
ſcheinlich gemacht *), daß ſelbſt Horaz Oden
zuerſt lange nicht ſo viel Celebritaͤt hatten,
als ſie in der Folge, inſonderheit ſeitdem
die lateiniſche Sprache eine todte Sprache
war, mit Recht erhielten. Nachfolger fand
dieſer ſchoͤne Dichter unter den Roͤmern
wenige, und keinen, der an ihn reichte.
Bis auf ein paar Stuͤcke des Statius
und einige arme Gedichte der Grammati-
ker ſind dieſe auch untergegangen, ſo daß
in Latium das Feld der lyriſchen Poeſie
von Auguſtus Zeiten hinab fuͤr uns am
oͤdeſten daliegt.**)
[15]
Die Urſachen hievon ſind faſt dieſelben,
wie in der griechiſchen Geſchichte. Die
alte Mythologie war den Roͤmern von An-
beginn an ungleich fremder und entfernter,
als ſie es in den neueren Zeiten den Grie-
chen je werden konnte. Schon bei Vir-
gil und Ovid, bei Properz und Ho-
raz bemerkt man dies Fernhergebrach-
te zuweilen mit einigem Anſtoß; bei Se-
neka, Statius, beim bluͤhenden Clau-
dian, Auſonius u. f. noch vielmehr.
Man fuͤhlt, die alte Goͤtterlehre habe ſich
uͤberlebet. Ohne Zweifel war dies mit
eine Urſache, warum die meiſten roͤmiſchen
Dichter, z. B. Ennius, Lucan, Si-
lius, Claudian lieber hiſtoriſche als
rein-heroiſche Gedichte ſchrieben, und
**)
[16] einige ſogar ziemlich unpoëtiſche Gegen-
ſtaͤnde waͤhlten. Der alte Blumengarten
war abgebluͤhet. Die Thebaiden- und Achil-
leiden-Dichter, noch mehr aber die ſchreck-
lichen Atriden-Saͤnger hatten nicht nur
den Reiz der Neuheit verlohren; ſondern
die Satyrendichter gingen ihnen auch hart
entgegen.
Der Zuſtand Italiens und der roͤmi-
ſchen Provinzen unter den meiſten Kaiſern
lockte noch minder einen neuen Fruͤhling
hervor. Wahnſinnige Tyrannen bedruͤckten
die Welt; Kriege, bald auch die Anfaͤlle
der Barbaren verheereten ſie, und unter
den wenigen guten Kaiſern ward aus meh-
reren Urſachen lieber Griechiſche Philoſo-
phie als Roͤmiſche Dichtkunſt gepfleget.
Jener hatte nach damaligen Umſtaͤnden die
Troſt- und Huͤlfbeduͤrftige Zeit mehr als
dieſer noͤthig. In Zeiten, die Tacitus
beſchreibt,
[17] beſchreibt, in andern, die nachher folgten,
wollte man wahrlich oft weniger ſingen,
als ſeufzen.
Der letzte Roͤmer Boëthius endlich
ſuchte auch in lyriſchen Sylbenmaaßen Troſt
gegen ſein Ungluͤck; ſeine Philoſophie ge-
waͤhrte ihm aber nicht ſowohl Gedichte
als philoſophiſche Sentenzen *) Laͤngſt
Siebente Samml. B
[18] ſchon war nach und nach das Chriſtenthum
ins Reich gedrungen; es hatte den Sieg
erlangt und erfuͤllte bald alle heilige Orte
mit chriſtlichen Geſaͤngen und Hymnen.
[19]
Nachſchrift.
So weit das erſte Fragment. Samm-
len wir ſeine Winke, ſo werden wir gewahr,
daß in Griechenland und Rom die aͤchte
Poeſie mit Religion, Sitten und dem
Staate ſelbſt untergegangen ſei: denn wor-
an ſollte ſie ſich, außer dieſen ihren drei
Grundſtuͤtzen halten? Waren die Goͤtter
zu Maͤhrchen worden, an welche niemand
mehr glaubte: ſo ward man ihrer Lobge-
ſaͤnge, zuletzt auch des Gelaͤchters uͤber ſie
bald uͤberdruͤſſig; der Hymnus ſowohl als
der Mimus hatte ſich an ihnen erſchoͤpfet.
Mit dem Ernſt und der Anſtaͤndigkeit
in Sitten hatte die Poeſie ihren geſundeſten
und veſteſten Nerv verlohren: denn das
Lachen eines Kranken iſt nicht ein Zeichen
ſeiner Geſundheit. Die niedrigen Zwecke,
wozu man im uͤppigen Rom die Poeſie an-
B 2
[20] wandte, machten ſie veraͤchtlich, zuletzt ab-
ſcheulich; ſo wie Gegentheils die ſtrafende
Poeſie, die ihre Geißel dagegen erhob, noth-
wendig auch oft uͤber die Grenzen des Schoͤ-
nen und Wohlgefaͤlligen ſtreifen mußte.
Sank endlich der Staat: ſo ſank alles
Edle mit ihm; nichts konnte ſich retten:
denn wohin haͤtte es außer dem Staat ſich
retten moͤgen? Wie in einbrechender Nacht
ſehen wir alſo allmaͤhlich die Sonne, die
Abendroͤthe, zuletzt auch die hie und da
noch funkelnden Sterne verſchwinden: das
Firmament umziehen dunkle Wolken, es wird
Nacht. Vermuthlich waͤre das ganze ſuͤdliche
Europa eine ſo dunkle Nacht und ein Chaos
worden, wenn nicht aus Orient ein ſonder-
barer Stral die Finſterniß zertheilt und einer
neuen Morgenroͤthe von fern den Weg ge-
bahnt haͤtte. Das zweite Fragment wird
hievon reden.
[21]
82.
Zweites Fragment.
Chriſtliche Hymnen.
Den Hymnen, die das Chriſtenthum ein-
fuͤhrte, lagen jene alte Ebraͤiſche Pſalmen
zum Grunde, die wo nicht als Geſaͤnge
oder Antiphonien, ſo doch als Gebete ſehr
bald in die Kirche kamen. Das Denkmal,
das die bleibende Gegenwart des Stifters
unter den Seinigen darſtellen ſollte, das
Abendmal, war unter Lobgeſaͤngen aus
[22] dem Pſalmbuch eingeſetzt; Er, der Stifter
des Chriſtenthums ſelbſt, hatte ſich mit
Worten aus dem Pſalmbuch getroͤſtet; dem
Pſalmbuch alſo gaben Apoſtel und Kirchen-
vaͤter mit Recht, auch ſeiner Popularitaͤt
wegen, das groͤßeſte Lob, da ſowohl die
Stimme einzelner Perſonen, als eines gan-
zen Volks in ihm ſo herzlich, ſo ſtark und
lieblich erſchallte. Luther bei ſehr veraͤn-
derten Zeitumſtaͤnden nennet es einen Blu-
mengarten von allerlei Blumen,
einen ganzen Weltlauf von Zuſtaͤnden
des menſchlichen Herzens und Le-
bens. *) Da iſt keine Klage, meynt er,
kein Schmerz, kein Jammer, aber auch keine
Hoffnung, kein Troſt, keine Freude, die in
ihm nicht ihren Ausdruck finde.
[23]
Und weil es mit der groͤßeſten Einfalt
abgefaßt iſt: (denn lyriſch-einfacher kann
nichts ſeyn, als der Parallelismus der Pſal-
men, gleichſam ein doppeltes Chor, das ſich
einander fragt und antwortet, zurechtweiſet
und beſtaͤrket;) ſo war es einer einfaͤltigen
Chriſten-Gemeine, ſowohl in Zeiten des
Drucks, als in Empfindungen der Freude
und Hoffnung, wie vom Himmel gegeben.
Daher der fruͤhe Gebrauch dieſes Buchs in
der chriſtlichen Kirche; daher von den erſten
Zeiten an, ehe es chriſtliche Dichter geben
konnte, jene lauten Geſaͤnge, dadurch ſich
ihre Zuſammenkuͤnfte den Roͤmern merkbar
machten; *) es waren Pſalmen.
[24]
ſagt Opitz.
Nicht nur von Seiten des Inhalts,
ſondern auch von Seiten der Form ward
dieſer Gebrauch der Pſalmen dem Geiſt und
Herzen der Menſchen eine Wohlthat. Wie
man in keinem lyriſchen Dichter der Grie-
chen und Roͤmer ſoviel Lehre, Troſt und
Unterweiſung, wie hier, beiſammen fand;
ſo war auch ſchwerlich irgendwo ſonſt,
(wenn man die Pſalmen nur als Oden be-
trachtet,) eine ſo reiche Abwechſelung des
Tons in jeder Geſangesart, wie hier, ge-
geben. Zwei Jahrtauſende her ſind dieſe
[25] alte Pſalmen oft und vielfach uͤberſetzt und
nachgeahmet worden; und doch iſt noch
manche neue Bildung ihrer vielfaſſen-
den reichen Manier moͤglich. Sie ſind Blu-
men, die ſich nach jeder Zeit, nach jedem
Boden verwandeln und immer in friſcher
Jugend daſtehn. Eben weil dies Buch die
einfachſten lyriſchen Toͤne zum Ausdruck der
mannichfaltigſten Empfindungen enthaͤlt, iſt
es ein Geſangbuch fuͤr alle Zeiten.
Den naͤheren Ton zu chriſtlichen Geſaͤn-
gen gaben indeß die Lobgeſaͤnge Zacha-
rias und der Maria, der Gruß des
Engels, der Abſchied Simeons u. f.,
mit denen das neue Teſtament anfing.
Ihre ſanftere Stimme war dem Geiſt des
Chriſtenthums gemaͤßer, als ſelbſt der laute
Paukenſchall jener alten frohlockenden Hal-
lelujah, obgleich auch dieſe vielfach ange-
wandt, und mit Stimmen der Propheten
[26] oder andrer bibliſchen Geſaͤnge bald ver-
ſtaͤrkt, bald gemildert wurden. Ueber den
Graͤbern der Verſtorbenen, deren Auferſte-
hung man im Geiſt ſchon gegenwaͤrtig er-
blickte, in Einoͤden und Katacomben ertoͤn-
ten zuerſt dieſe Buß- und Gebet- dieſe
Trauer- und Hoffnungs-Pſalmen, bis ſie
nach oͤffentlicher Einfuͤhrung des Chriſten-
thums aus dem Dunkel ins Licht, aus der
Einſamkeit in praͤchtige Kirchen, vor ge-
weihte Altaͤre traten, und jetzt auch in
ihrem Ausdruck Pracht annahmen. Schwer-
lich wird jemand ſeyn, der z. B. im Geſange
des Prudentius: Jam moeſta quieſce
querela, nicht von ruͤhrenden Toͤnen ſein
Herz ergriffen fuͤhlte, dem der Todtenge-
ſang: Dies irae, dies illa nicht Schauder
einjagte, den ſo viel andre Hymnen, jeder
mit ſeinem Charakter bezeichnet, z. B. Veni,
redemtor gentium: Vexilla Regis pro-
[27] deunt: Salvete, flores Martyrum: Pange
lingua glorioſi u. f. nicht in den Ton ver-
ſetzten, den jeder Hymnus will, und in
ſeiner demuͤthigen Geſtalt, mit allen ſeinen
kirchlichen Idiotismen maͤchtig gebietet. In
Dieſem toͤnt die Stimme der Betenden;
Jenen koͤnnte nur die Harfe begleiten; in
andern ſchallt die Poſaune; es ruft und
toͤnt die tauſendſtimmige Orgel u. f. —
Fragt man ſich um die Urſache der ſon-
derbaren Wirkung, die man von dieſen
altchriſtlichen Geſaͤngen empfindet, ſo wird
man dabei eigen betroffen. Es iſt nichts
weniger, als ein neuer Gedanke, der
uns hier ruͤhrt, dort maͤchtig erſchuͤttert;
Gedanken ſind in dieſen Hymnen uͤberhaupt
ſparſam. Manche ſind nur feierliche Reci-
tationen einer bekannten Geſchichte, oder
ſie ſind bekannte Bitten und Gebete. Faſt
kommt der Inhalt Aller in Allen wieder.
[28] Selten ſind es auch uͤberraſchend-feine und
neue Empfindungen, mit denen ſie uns
etwa durchſtroͤmen; aufs Neue und Feine
iſt in den Hymnen gar nicht gerechnet.
Was iſts denn, was uns ruͤhret? Einfalt
und Wahrheit. Hier toͤnt die Sprache
eines allgemeinen Bekaͤnntniſſes, Eines Her-
zens und Glaubens. Die meiſten ſind ein-
gerichtet, daß ſie alle Tage geſungen wer-
den koͤnnen und ſollen; oder ſie ſind an
Feſte der Jahreszeiten gebunden. Wie dieſe
wieder kommen, kommt in ewiger Umwaͤl-
zung auch ihr chriſtliches Bekaͤnntniß
wieder. Zu fein iſt in den Hymnen keine
Empfindung, keine Pflicht, kein Troſt ge-
griffen: es herrſcht in ihnen allen ein
allgemeiner populaͤrer Inhalt in
großen Accenten. Wer in einem Te Deum
oder Salve regina neue Gedanken ſucht,
ſucht ſie an unrechtem Orte; eben das
[29]taͤglich- und ewig Bekannte ſoll hier
das Gepraͤge der Wahrheit ſeyn. Der Ge-
ſang ſoll ein ambroſiſches Opfer der Natur
werden, unſterblich und wiederkehrend, wie
dieſe.
Es ergiebt ſich hieraus, daß, da man
bei chriſtlichen Hymnen auf die Schoͤnheit
eines klaſſiſchen Ausdrucks, auf die Anmuth
der Empfindung im gegenwaͤrtigen Moment,
kurz auf die Wirkung eines eigentlichen
Kunſtwerks gar nicht rechnete, dieſe Ge-
ſaͤnge, ſobald ſie eingefuͤhrt waren, die
ſonderbarſten Folgen haben muſten. Wie
naͤmlich die Hand der Chriſten Bildſaͤulen
und Tempel der Goͤtter dem unſichtbaren
Gott zu Ehren zerſtoͤrte: ſo hielten dieſe
Hymnen auch einen Keim in ſich, der den
heidniſchen Geſaͤngen den Tod bringen ſollte.
Nicht nur wurden von den Chriſten jene
Hymnen an Goͤtter und Goͤttinnen, an
[30] Heroën und Genien als Werke der Unglaͤu-
bigen oder der Aberglaͤubigen angeſehen;
ſondern und vorzuͤglich ward auch der Keim,
der ſie hervorgebracht hatte, die dichtende
oder ſpielende Einbildungskraft,
die Luſt und Froͤhlichkeit des Volks
an Nationalfeſten und als eine Schule
boͤſer Daͤmonen verdammt, ja der Natio-
nalruhm ſelbſt, auf welchen jene Ge-
ſaͤnge wirkten, als eine gefaͤhrlich-glaͤnzende
Suͤnde verachtet. Die alte Religion
hatte ſich uͤberlebet; die neue Religion hatte
gewonnen, wenn die Thorheit des heidni-
ſchen Goͤtzendienſtes und Aberglaubens, die
Unordnungen und Graͤuel, die an den Feſten
des Bacchus, der Cybele, der Aphrodite
vorgingen, ins Licht kamen. Alſo auch was
von der Poeſie dahin gehoͤrte, war ein Werk
des Teufels. Es begann eine neue Zeit
fuͤr Poeſie, Muſik, Sprache, Wiſ-
[31]ſenſchaften, ſelbſt fuͤr die ganze Rich-
tung der menſchlichen Denkart.
Denn 1. Fortan war die Poeſie
keinem Volk, keinem Lande eigen,
weil dieſer Geiſt chriſtlicher Hymnen, mit
Zerſtoͤhrung aller Nationalheiligthuͤmer, die
Voͤlker insgeſammt umfaßte und glauben
lehrte. An die Stelle jener laͤngſt verleb-
ten Heroën und Nationalwohlthaͤter traten
jetzt neue Heroën, die Maͤrtyrer; die
auf der Erde ihre Feſttage, Kirchen und
Patrimonien bekamen, wie ſie als Schutz-
patronen und Fuͤrbitter bei Gott angeſehene
Plaͤtze droben beſaßen. Himmel und Erde
war alſo den Heiligen gegeben, die chriſt-
liche Welt war unter ſie vertheilet. Statt
einzelner irrdiſcher Wohlthaten ſang man
Eine große Wohlthat, die Erloͤſung der
Welt vom Aberglauben und den
Daͤmonen. Statt eingeſchraͤnkter irrdi-
[32] ſcher Hoffnungen ſang man Eine große
Hoffnung, die Erwartung der Ankunft
des Richters uͤber Lebendige und
Todte, mit welcher die Geſammtherrſchaft
in ſeinem Reiche weſentlich verknuͤpft war.
Jahrhunderte lang hielt man dieſe Ankunft
fuͤr nah; alle traurige Zeichen der Zeit, an
denen man großentheils ſelbſt Schuld war,
wurden auf ſie gedeutet; und ungeheure
Dinge, Verfolgungen, Schenkungen, Kriege
wurden durch ſie befoͤrdert. Hymnen an
die Maͤrtyrer, Hoffnungen der Auferſtehung
und der Wiederkunft Chriſti machen alſo
einen großen Theil der Dichtkunſt dieſer
Zeiten aus; ſie waren auch eine maͤchtige
Triebfeder. Von heidniſcher Poeſie mochte
untergehen was untergehen wollte; was
man rettete, ward etwa der Sprache, der
Sylbenmaaße, der ſpaͤteren platoniſchen Phi-
loſophie oder zufaͤllig eines dem Chriſten-
thum
[33] thum zutraͤglichen Umſtandes wegen erhal-
ten. Selbſt die Juͤdiſchen Pſalmen wurden
jetzt blos und allein chriſtlich verſtanden,
und gegen Ketzer, ja gegen die Juden ſelbſt
Zeitmaͤßig gedeutet; es ward mit ihnen ge-
betet, geflucht, verbannet, exorciſiret. Was
irgend man in der Literatur fand und an-
wenden wollte, verlor ſeinen alten Zweck
und ward chriſtlich.
2. Die Muſik bekam durch die chriſt-
lichen Hymnen mit der Zeit eine ganz an-
dre Art und Weiſe. Da der Inhalt dieſer
Geſaͤnge gleichſam ein Chor der Voͤlker
und ſo allgemein war, daß ſich die Toͤne
dem einzelnen Ausdruck einer individuellen
Empfindung weder anſchließen konnten noch
ſollten: ſo ging dabei der Strom der Muſik,
allumfaſſend, in ſeinem großen Gange deſto
ungehinderter und praͤchtiger fort. Wenig
achtete er auf Fuͤße des Sylbenmaaßes, auf
Siebente Samml. C
[34] den Inhalt einzelner Strophen, auf einzelne
Worte; mit der Strophe, welches Inhalts
ſie auch war, kehrte der Geſang wieder;
das Feierliche verbarg jede Verſchieden-
heit in ſeinen weiten Mantel. Bei den
Griechen war dies anders geweſen; bei
ihnen war die Poeſie herrſchend, die Muſik
dienend. Jetzt ward die Muſik herrſchend,
die im Sylbenmaaß gebrechliche Poeſie
diente. Ein einziger Umſtand, der ſchon
einen voͤlligen Unterſchied zwiſchen der alten
und neuen Poeſie, der alten und neuen
Muſik gruͤndet. Die jetzt herrſchende Muſik,
die gleichſam von einem unermeßlichen Chor
in den Wolken getragen ward, mußte noth-
wendig, ſpaͤter oder fruͤher, fuͤr ſich ſelbſt
ein Gebaͤude der Harmonie ausbil-
den, da bei den Hymnen des Chriſtenthums
auf Melodie wenig, auf einzelne Glieder
des Versbaues und der Empfindungen noch
[35] weniger, und auf ein daraus entſpringen-
des momentanes Kunſtvergnuͤgen gar nicht
gerechnet war. Der Tonkuͤnſtler dagegen
war Zauberer in den Wolken, der mit ſei-
nen Schritten im großen Gange der Har-
monie deſto gebietender den Inhalt des
Ganzen verfolgte, und auf andaͤchtige Ge-
muͤther in dieſem vollſtimmigen Gange
deſto ſtaͤrker wirkte. Durch den chriſtlichen
Geſang war alſo die Harmonie der
Stimmen im Concert der Voͤlker
gleichſam gegeben.
3. Auch die Sprache ward durch
dieſe neue Einrichtung der Dinge ſehr ver-
aͤndert. Wenn bei Griechen und Roͤmern
jener alte aͤchte Rhythmus, nach welchem
jede Sylbe ihr beſtimmtes Zeitmaas an
Laͤnge und Kuͤrze, an Tiefe und Hoͤhe hatte,
nicht ſchon verlohren gegangen war, ſo
ging er jetzt, wie die chriſtlichen Hymnen
C 2
[36] zeigen, bald verlohren. Man achtete auf
ihn wenig und folgte dagegen, weil auf
Popularitaͤt alles gerechnet war, der ge-
meinen Ausſprache, ihren Perioden
und Cadenzen, kurz dem Wohlklange
des plebejen Ohrs. Ohne Quantitaͤt
der Sylben brachte man alſo Reime und
Aſſonanzen ins Spiel; man formte einen
gewiſſen Numerus der Strophe, der dem
alltaͤglichen Gehoͤr gemaͤß war, den aber
die Griechen und Roͤmer nur in den ſoge-
nannten politiſchen oder gemeinen Volks-
verſen ertraͤglich gefunden hatten. Im
Innern konnte die Sprache eben ſo wenig
rein bleiben, da jetzt in Poeſie und
Rede der Genius faſt aller Voͤlker
miteinander vermiſcht ward. Aus-
druͤcke der Ebraͤer und andrer Aſiaten,
der Griechen und Roͤmer in den verſchie-
denſten Provinzen, endlich der Barbaren,
[37] die Sieger waren und Chriſten wurden,
floſſen zuſammen: ſo ward dann nach Ort
und Zeit das Griechiſche und das Latein
der mittleren Zeiten gebildet, das man mit
Recht die Moͤnchsſprache nennet. Sie
bildete ſich einen Reichthum neuer Ausdruͤcke
nach ihren Beduͤrfniſſen und Umſtaͤnden,
der alte Roͤmergenius aber war ver-
ſchwunden.
4. Wie manche Wiſſenſchaften das
damalige Chriſtenthum entbehrlich glaubte,
erweiſet die Geſchichte der mittleren Zeiten.
Geſaͤnge, Predigten und Ordens-Regeln,
die vom Untergange der Welt, (ſeculi huius)
von der Eitelkeit aller irrdiſchen Dinge,
von der Truͤglichkeit des menſchlichen Gei-
ſtes, von der Naͤhe eines Reichs ſprechen,
in welchem alles anders ſeyn wird und
ſeyn muß, fachen nicht eben die Luft an,
den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Welt, wie
[38] er iſt, zu beleben. Im Himmel war das
Vaterland der Chriſten; dahinauf ſtrebten
ihre Geſaͤnge; das Schema der gegenwaͤr-
tigen Welt war ihnen vergaͤnglich, ob ſie
es uͤbrigens gleich fuͤr ſich ſehr gut und
Ein Theil mit Bedruͤckung eines groͤßeren
andern Theils der Menſchheit zu gebrau-
chen wußten.
5. Dagegen ward bald, hie und da,
jene myſtiſche Empfindungs-Theo-
logie ausgeſponnen, die, ihrer ſtillen Ge-
ſtalt ungeachtet, vielleicht die wirkſamſte
Theologie in der Welt geweſen. Im Chri-
ſtenthum ſchlang ſie ſich dem juͤngeren Pla-
tonismus an, der ihr viel Zweige der Ver-
einigung darbot; aber auch ohne Plato-
nismus war ſie bei allen Voͤlkern, die em-
pfindend dachten und denkend empfanden,
in jeder Religion, die beſeligen wollte,
am Ende das Ziel der Betrachtung. Sinn-
[39] liche Voͤlker ſelbſt haben zuweilen auf die
ſonderbarſte Weiſe einen Myſticismus
geſucht und ſich in ihm berauſchet; ver-
nuͤnftelnde Voͤlker ſuchten ihn auf ihre
Weiſe. Der Grund dazu liegt in der Natur
des Menſchen. Er will Ruhe und Thaͤtig-
keit, Genuß und Beſchauung auf die koſten-
freieſte, dauerhafteſte, zugleich auch auf die
untruͤglichſte, auf eine gleichſam unend-
liche Weiſe. So gern moͤchte er mit
Ideen leben und ſelbſt Idee ſeyn.
Die traͤge Zeit, den leeren Raum, die
lahme Bewegung um ſich her moͤchte er
gern uͤberſpringen, und vernichten, dagegen
Alles an ſich ziehn, ſich Allem zueignen und
zuletzt in einem Ideal zerfließen, das je-
den Genuß in ſich faßt, wohin ſeine Vor-
ſtellung reichet. Viele Umſtaͤnde der dama-
ligen und folgenden Zeit kamen zuſammen,
dieſen Myſticismus zu naͤhren und ihn dem
[40] Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich
nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu-
lirender Geiſt, dem es an Materie zur
Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne
Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf
den Myſticismus. Einſame Gegenden,
Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß
und Kerker, endlich auch auffallende Bege-
benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar-
liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte,
die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit,
die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge
bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings-
kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg-
heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl-
lung aus und geben ihm zuletzt die bunten
Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie-
bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und
weiß nicht Was? Etwas Unendliches,
das Hoͤchſte, Schoͤnſte, Beſte.
[41]
So unentbehrlich dem Menſchen dieſe
Tendenz nach dem Vortreflichſten und Voll-
kommenſten iſt, ohne welche er wie eine
Raupe umherkroͤche und vermoderte: ſo
leer bleibt dennoch die Seele, wenn ſie
blos auf Fluͤgeln der Imagination im Tau-
mel der Begeiſterung fortgetragen in unge-
heuren Wuͤſten umherſchweift. Das Un-
endliche giebt kein Bild: denn es hat keinen
Umriß; ſelten haben dieſen auch die Poe-
ſieen, die das Unermeßliche ſingen. Sie
ſchwingen ſich entweder in ein Empyreum
des Urlichts voll Geſtaltloſer Seraphim auf,
oder wenn ſie von da in die Tiefen des
menſchlichen Herzens zuruͤckkehren, kann die
erhoͤhete Speculation dennoch nur aus ihm
jene Urbilder himmliſcher Schoͤnheit holen,
die ſie uͤber den Wolken begruͤßet und in
ein Paradies der Liebe und Seligkeit hin-
auf zaubert. Die Hymnen der mittleren
[42] Zeiten ſind voll von dieſen goldnen Bil-
dern in die unermeßliche Blaͤue des Him-
mels gemahlet. Ich glaube nicht, daß es
Ausdruͤcke ſuͤßerer Empfindungen gebe, als
die bei der Geburt, dem Leiden und Tode
Chriſti, bei dem Schmerz der Maria, bei
ihrem Abſchiede aus der Sichtbarkeit, oder
bei ihrer Aufnahme in den Himmel und
bei dem freudigen Hingange ſo manches
Maͤrtyrers, bei der ſehnenden Geduld ſo
mancher leidenden Seele, meiſtens in den
einfachſten Sylbenmaaßen, oft in Idiotis-
men und Soldcismen des Affects geaͤußert
wurden. Wer ſich davon uͤberzeugen will,
leſe die frommen Liebesgeſaͤnge des heil.
Bernhards und Thomas, des Cardi-
nals Bona, der heil. Thereſe, des Juan
de la Cruz und ihres Gleichen; oder viel-
mehr er hoͤre ſie mit Muſik begleitet. Das
Stabat Mater doloroſa (Jacobus de Bene-
[43] dictis iſt ſein Verfaſſer) iſt in Pergoleſi's
Compoſition ſehr bekannt; dergleichen ſuͤße
Schmerzen- und Liebesgeſaͤnge giebts in der
Moͤnchsſprache viele, die ganz dazu geſchaf-
fen ſcheinet. Wilder Sylbenmaaße bediente
man ſich dabei nicht; vielmehr aͤußerſt an-
ſtaͤndiger und ſanfter. Selbſt das verzuͤckte
Metrum des ſogenannten Pervigilii: cras
amet, qui numquam amauit, das in den
Hymnen oft gebraucht iſt, erhaͤlt in ihnen
einen Triumphton und eine Wuͤrde, die uns
gleichſam aus uns ſelbſt hinausſetzt und
unſer ganzes Weſen erweitert. Wie konnte
dies auch anders ſeyn, da, wo man die
Bibel nur aufſchlaͤgt, im Hohenliede, Pro-
pheten, Pſalmen, in den Evangelien,
Briefen und der Offenbahrung man Aus-
druͤcke bald der erhabenſten Einfalt, bald
der innigſten Zaͤrtlichkeit und Liebe findet?
Wer Haͤndels Meſſias, einige Pſalmen
[44] von Marcello, und Allegri's, Leo,
Palaͤſtrina Compoſitionen der ſimpelſten
bibliſchen Worte gehoͤrt hat und dann die
lateiniſche Bibel, chriſtliche Epitaphien,
Paſſions- Grab- Auferſtehungslieder lieſet,
der wird ſich Trotz aller Soloͤcismen und
Idiotismen in dieſer chriſtlichen wie in einer
neuen Welt fuͤhlen.
[45]
Nachſchrift
Da ich es nicht vorausſetzen kann, daß
Jedem von Ihnen eine Menge der Hymnen
bekannt ſey, von denen das Fragment re-
det: ſo laſſe ich von einigen der angefuͤhr-
ten nur Strophen abſchreiben, die ich etwa
mit einer Anmerkung begleite. Die Soloͤ-
cismen und Idiotismen darinn gehoͤren zur
Sprache der Zeit; uͤberhaupt ſind dieſe
Verſe nicht zu leſen, ſondern mit der ihnen
gebuͤhrenden Muſik zu hoͤren:
Jam moeſta quieſce.*)
[46]
Dies irae.*)
*)
[47]
*)
[48]
Dies
[49]
nobilem;
germine,
ſuſtinet. ſeq.
Siebente Samml. D
[50]
[51]
Intra mare;
Amor care,
[52]
83.
Mit Ihrem dies irae, dies illa haben
Sie mir eine ſchoͤne Welt zu Grabe gelaͤu-
tet; die Welt der Erſcheinungen des Al-
terthums in ihren beſtimmten, lieb-
lichen Formen, in ihren bedeuten-
den Gebehrden, in ihren gleich-
ſam organiſirten Toͤnen. Sie wird
nicht wieder kommen auf unſrer Erde; ſo
wenig uns unſre Jugend zuruͤckkommt.
Jene erſten Verſuche der Menſchen,
ſich das Unſichtbare ſichtbar, das Ver-
gangene und Entfernte gegenwaͤrtig
zu machen, eine Welt von Gegenſtaͤnden,
[53] von Bildern und Empfindungen durch
Worte und Toͤne darzuſtellen und zwar
alſo dazuſtellen, daß auch ihre Folge ſpre-
chend, daß ihre Veraͤnderung in Licht
und Farben bis zum Kleinſten empfun-
den oder bemerkt werde; dieſe Verſuche,
in einer gegebnen langen Zeit zu Meiſter-
werken der poetiſchen Kunſt erhoͤhet,
von einer Nation, der die Kunſt Natur,
der Geſchmack am Schoͤnen Charakter
geweſen zu ſeyn ſcheinet, werden ihres
gleichen ſchwerlich in Zeiten finden, die
Ihre angefuͤhrte Hymnen eingelaͤutet haben.
Nichts iſt von zarterem Weſen, als der
aͤchte Natur- und Kunſtgeſchmack.
Durch Froͤmmigkeit und Andacht, ſelbſt
durch Gelehrſamkeit und Fleiß laͤßt er ſich
nicht erlangen; er iſt eine himmliſche Gra-
zie, die auf unſrer Erde nur hie und da,
dann und wann erſcheinet. Sie kann eben
[54] ſo leicht weggebetet, als wegſtudirt wer-
den; einmal vertrieben kommt ſie ſelten
oder ſpaͤt wieder.
Und doch iſt mit dieſem Natur- und
Kunſtgeſchmack ſelbſt der richtige
Sinn, die wahre Vernunft des
Menſchen ſo innig verbunden. Schwer-
lich werde ich in Ihrem Athanaſius und
Ambroſius ſo ſchlicht und rein zu leſen
bekommen, was mich Cicero's Pflichten,
Horaz Briefe und Sermonen lehren.
Die Litaneien und Legenden der Heiligen,
ja das ganze Breviarium dieſer Sitten-
lehre und Weisheit wird das aͤchte Richt-
maas menſchlicher Moralitaͤt kaum ſo ſtren-
ge an mich legen, als es die veſten Leh-
ren des Alterthums, ſeine mit ſichrer
Hand, im beſtimmteſten Umriß gezeichne-
ten Charaktere zu thun vermochten. Iſt
Einmal der Geſichtskreis und das Ziel der
[55] Beſtimmung verruͤckt, zu welchem die Men-
ſchen auf Erden leben, ſo erſcheinen durch
katopriſche Spiegel zuruͤckgeworfene ſelt-
ſame Bilder und Vorbilder des Lebens.
Eine Zauberlaterne bringt Geſtalten her-
vor, die in Schrecken und Verwunderung
ſetzen koͤnnen, denen man aber nicht ohne
Gefahr folget.
Ihr Fragment meldete uns an, daß
ſich fortan die Muſik von der Poeſie
ſcheiden und in eignen Regionen
ihr Kunſtwerk treiben werde; fuͤrs
unbewehrte menſchliche Geſchlecht eine ge-
faͤhrliche Scheidung. Muſik ohne Worte
ſetzt uns in ein Reich dunkler Ideen; ſie
weckt Gefuͤhle auf, jedem nach ſeiner Weiſe;
Gefuͤhle, wie ſie im Herzen ſchlummern,
die im Strom oder in der Fluth kuͤnſtli-
cher Toͤne ohne Worte keinen Wegweiſer
und Leiter finden. Eine Muſik, die uͤber
[56] Worte gebietet, iſt nicht viel anders; ſie
herrſcht deſpotiſch. Erinnern Sie ſich
in Drydens Ode am Caͤcilientage, wo-
hin die Gewalt der Muſik den Alexan-
der reißt? Der Halbgott ſinkt der Buh-
lerinn in den Arm, er ſchwingt die Fackel
zu Perſepolis Brande. Auf gleiche Weiſe
kann durch eine geiſtliche und, wenn man
will, eine himmliſche Muſik die Seele der-
geſtalt aus ſich geſetzt werden, daß ſie ſich,
unbrauchbar und ſtumpf gemacht fuͤr dies
irrdiſche Leben, in geſtaltloſen Worten und
Toͤnen ſelbſt verlieret.
Unſre zarte, fehlbare und fein empfaͤng-
liche Natur hat aller Sinne noͤthig, die
ihr Gott gegeben; ſie kann keinen ſeines
Dienſtes entlaſſen, um ſich einem andern
allein anzuvertrauen: denn eben im Ge-
ſammtgebrauch aller Sinne und
Organe zuͤndet und leuchtet allein die
[57] Fackel des Lebens. Das Auge iſt, wenn
man will, der kaͤlteſte, der aͤußerlichſte und
oberflaͤchlichſte Sinn unter allen; er iſt aber
auch der ſchnellſte, der umfaſſendſte, der
helleſte Sinn; er umſchreibt, theilt, bezirkt
und uͤbt die Meßkunſt fuͤr alle ſeine Bruͤ-
der. Das Ohr dagegen iſt ein zwar tief-
dringender, maͤchtigerſchuͤtternder, aber
auch ein ſehr aberglaͤubiger Sinn. In
ſeinen Schwingungen iſt etwas Unabzaͤhl-
bares, Unermaͤßliches, das die Seele in
eine ſuͤße Verruͤckung ſetzt, in welcher ſie
kein Ende findet. Behuͤte uns alſo die
Muſe vor einer bloßen Poeſie des Ohrs
ohne Berichtigung der Geſtalten und ihres
Maaßes durchs Auge.
Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch
und frage: „wie wenn aus dieſer heilgen
Moͤnchspoeſie eine Volksdichtung hervorge-
hen ſollte, wie wird ſie werden? Gewiß
[58] anders als die Poeſie der Griechen war,
nicht nur im Inhalt des Geſanges, ſondern
auch in deſſelben ganzer Art und Weiſe.“
1. Von Mythologie wird in ihr nicht
die Rede ſeyn koͤnnen, da man dieſe als
eine Daͤmonenſage anſah. Wenn Eine der-
ſelben gebildet werden ſollte, wird ſie aus
dem Glauben der Kirche, aus Sagen des
gemeinen Volks, aus National-Meinun-
gen und Abentheuern hervorgehn. Jede
ſolcher Geſtalten wird die Kirche weihen
und ordnen. —
2. Reine Umriſſe der Phantaſie
und des Naturſinnes nach Art der
Griechen wird dieſe Dichtkunſt ſchwerlich
enthalten, da dieſe Welt ihr nur ein vor-
uͤbergehender Schatte zur kuͤnftigen
Welt iſt. Zwiſchen beide wird ſich der
Blick theilen, mithin Jene ſich in eine Art
Daͤmmerung verliehren. Hoͤchſtens alſo
[59] werden Allegorieen auftreten, ſtatt rei-
ner und beſtimmter Begriffe; auch wirkli-
che Perſonen werden gern als Allego-
rieen und Larven oder als heilige Nebel-
geſtalten erſcheinen, die ſich in der Ferne
verlieren.
3. Das Intereſſe, das dieſe Poeſie
giebt, wird ſelten ein National-In-
tereſſe ſeyn, wie bei Griechen und Roͤ-
mern, vielleicht aber ein allgemeine-
res Intereſſe chriſtlicher Voͤlker,
die alle das heilige Bad beſprengt hat,
die als Beguͤnſtigte des Himmels mit dem
Kreutz bezeichnet, eine eigne chriſtliche Pro-
videnz uͤber ſich erkennen, Engel zu ihrer
Seite haben, und von der Erde gen Him-
mel wandern. In der Erzaͤhlung wird
dies den Ton der Geſchichte und Dichtung
ganz aͤndern.
[60]
4. Allen Handlungen und Leidenſchaf-
ten der Menſchen, ihren Tugenden und
Laſtern wird hiemit eine eigne religioſe
Farbe, ein Anzug gegeben werden, den
die alte Welt nicht kannte. In die Liebe
wird ſich Andacht miſchen; und die Uep-
pigkeit dagegen vielleicht deſto ſinnlicher
ihr Werk treiben. Statt des Verdienſtes
der Vorfahren um ein enges Vaterland
wird ein andaͤchtiger Ruhm, eine
Ehre hervorgehn, die Stand iſt und
nach Staͤnden wirket. Auf dieſem Wege
wird eine Sentimentalitaͤt zum Vor-
ſchein kommen, von der die Poeſie der Al-
ten nicht wußte, eine anerzogne Senti-
mentalitaͤt der Staͤnde.
5. Endlich, da der Rhythmus der Grie-
chen verlohren iſt und ſich der poëtiſche
Genius hier ungebildeten, mit dem Roͤ-
miſchen Volksdialekt vermiſchten Sprachen
[61] mittheilen ſoll: ſo werden in dieſer Ver-
wirrung ohne Sylbenmaaße der Alten ſich
ohne Zweifel rohere Volksgeſaͤnge nach
dem Modell der Moͤnchspoeſie for-
men. Was das innere Maaß und Ge-
wicht der Sylben nicht thun kann, wird
der Reim erſetzen ſollen, mit dem von
jeher das Ohr und die Zunge des Volks
ſpielte. Poeſie wird alſo eine gereimte
Proſe in Versperioden werden, de-
ren Abwechſelung und Ruͤndung etwa auch
ein unwiſſendes Ohr verfolgen kann; da-
gegen die Muſik, vom Bau der Sylben
getrennt, in ihrer eignen Region ihr Werk
treibet. Laſſen Sie uns bald einige Glocken-
und Poſaunen- und Orgeltoͤne, aber wenn
ich bitten darf, auch einige Toͤne der Harfe
aus dieſem neuen chriſtlichen Odeum aller
Europaͤiſchen Nationen hoͤren.
[62]
84.
Drittes Fragment.
Bildung
eines neuen Geſchmacks in Europa
und deſſen erſte Verfeinerung.
Alle Deutſche Nationen, die das Roͤmi-
ſche Reich unter ſich theilten, kamen mit
Heldenliedern von Thaten ihrer
Vorfahren in die ihnen neue Welt; es
ſind auch Zeugniſſe vorhanden, daß dieſe
Geſaͤnge unter ihnen ſich lange erhalten
haben. Wie auch anders? Dieſe Geſaͤnge
[63] waren ja die ganze Wiſſenſchaft und Gei-
ſtesergoͤtzung ſolcher barbariſchen Voͤlker,
das Archiv ihres Ruhmes und Nachruhms.
Was zu den Zeiten der griechiſchen Saͤn-
ger (ϰοιδων) der Fall geweſen, kam jetzt
auf eine rohere Weiſe wieder. Voͤlker,
die das Schreiben nicht viel kannten und
noch weniger liebten, erhielten durch Lie-
der das Andenken ihrer Vorfahren, und
jedes Volk hatte dabei ſeine eigne Lieb-
lingshelden, ſeine eigne Lieblingstoͤne.
Sehr nuͤtzlich waͤre es, wenn wir dieſe
alten Wurzeln des Stammes der Denkart
und Sprache unſrer Vorfahren noch be-
ſaͤßen; wenn wir die Lieder von Mann
und Hermann, Dietrich von Bern,
Alboin, Hildebrand, Ruͤdiger,
Siegfried, die Englaͤnder ihr horn-
Child, Hervart, Grym, Hanelock,
und ſo jedes Deutſche Volk die Seinigen
[64] noch haͤtten. Es gilt aber von allen die-
ſen, was Horaz von jenen uralten griechi-
ſchen Helden ſagt, die vor Homer lebten:
Die Veraͤnderung und Miſchung der Spra-
chen, bei den wandernden Voͤlkern die Ver-
ſchiedenheit des nordlichen und ſuͤdlichen
Klima, wohl aber am meiſten der Fort-
gang der Sitten ſelbſt, hat uns dieſer
wahrſcheinlich in rauhen Toͤnen beſunge-
nen Heldengeſtalten beraubet.
Wie verſchieden naͤmlich die Mundar-
ten der Deutſchen Sprache nach den ver-
ſchiedenen Volksſtaͤmmen, Zeiten und Ge-
genden waren, dergeſtalt, daß man die
Gothen am ſchwarzen Meer, in Italien
und Spanien, die Wandalen in Pommern
und Afrika, die Angeln zu Hengſt und zu
Wil-
[65] Wilhelm des Eroberers Zeiten nicht fuͤr
Eins nehmen darf: ſo iſt doch in allem,
was wir von ihren Sprachen wiſſen, ihr
nordiſches Gewand unverkennbar. Die
Deutſche Sprache naͤmlich, zumal in rau-
hen Gegenden, liebt einſylbige Toͤne.
Hart wird der Schall angeſtoßen, ſtark an-
geklungen, damit ſo viel moͤglich Alles auf
Einmal geſagt werde. Eine Sylbe ſoll
alles faſſen; die folgenden werden zuſam-
mengezogen, und gleichſam verſchlungen;
ſo daß ſie ſelten aushallen und kaum zwi-
ſchen den Lippen als erſtickte Geiſter
ſchweben. Die ganze Bildung unſrer
Sprache, am meiſten die aus dem Latein
bei uns aufgenommenen Worte und Na-
men beweiſen dies; es ſind hart zuſam-
mengedraͤngte Laute; und was noch ſon-
derbarer iſt, mit dem Verfolg der Jahr-
hunderte hat ſich dies Zuſammendraͤngen
Siebente Samml. E
[66] der Buchſtaben nicht vermindert, ſondern
vermehrt. Ulfila's und Ottfrieds
Sprache ſind ungleich toͤnender, als wie
man z. B. im vorigen Jahrhundert oder
noch jetzt aus dem Munde des Volks die
Worte ſchreibet. Das Angelſaͤchſiſche ſchlich
mit viel ſtummen E. in mehreren Sylben
langſam fort; das Engliſche, das ſich
unter den Normaͤnnern bildete, warf
Buchſtaben weg, draͤngte ſie zuſammen,
ſchnitt vorn und hinten ab die Sylben; ſo
entſtand ein ganz neuer Gang und Rhyth-
mus der Sprache.
Aus dieſer beliebten Einſylbigkeit
der nordiſchen Mundarten, bei der man
aus Traͤgheit oder wie in boͤſer Luft die
Lippen kaum zu oͤfnen waget, und immer
nur hm! hm! ſprechen moͤchte, war es
natuͤrlich, daß wenn man Worte gegen
einander kuͤnſtlich ſtellen wollte, dies in-
[67] ſonderheit im Anklange bemerkt werden
mußte, indem der Ausgang der Worte gern
im Dunkeln blieb. Dies iſt nun jenes be-
ruͤhmte Syſtem nordiſcher Alliteratio-
nen, (Annominationen,)*) das um kein
Haar unnatuͤrlicher als der Reim iſt; in-
dem man hier nur in der Mitte oder vorn
reimet. Den Alten, d. i. Griechen und
Roͤmern waren beide Arten eines ſolchen
Wohlklanges Uebelklaͤnge; aͤhnliche An-
klaͤnge der Worte ſuchten ſie, wie den Reim
E 2
[68] zu vermeiden. Auch fuͤr die Gegenden
eines beſſeren Klima war dieſer nordiſche
rauhe Sylbentritt nicht; die Spaniſche Ro-
manzen, die vielleicht nach Gothiſchen Volks-
liedern geformt ſind, haben jenen wilden,
maͤnnlichen Jambus, der urſpruͤnglich in
Waͤldern zum Jagd- und Kriegshorn toͤnte,
fahren laſſen und ſtatt deſſen langſame
Trochaͤen in weiblichen Ausgaͤngen mit dem
zuletzt praͤchtig-verhallenden ar gewaͤhlet.
In Italiens Luft zerfloß gleichfalls der go-
thiſche und longobardiſche Sylben-Anklang
*)
[69] in weiche und immer weichere Toͤne. Kein
Wunder alſo, daß jene alten Helden-Me-
lodieen in dieſer ſanfteren Luft den Toͤnen
nach allmaͤhlich verhallten.
Dabei aber gingen nicht ſofort auch die
Erzaͤhlungen ſelbſt, jene Heldenſa-
gen zu Grunde, die gleichſam die Seele
dieſer Voͤlker, ihr Trank und ihre geiſtige
Speiſe waren. Sie konnten nicht zu Grunde
gehen, weil dieſe Voͤlker, (wenn mir der
Ausdruck erlaubt iſt) abentheuerlich
dachten und entweder gar nicht oder im
Abentheuer lebten. Ein Volk von we-
nigen aber ſtarken Begriffen und Leiden-
ſchaften geregt und getrieben, hat wenig Luſt
zu Ordnungsmaͤßigen, gewoͤhnlichen, ruhi-
gen Geſchaͤften; es bleibt gegen ſie kalt
und traͤge. Dagegen flammets auf, wenn
ein Abentheuer ruft, wenn wie ein Jagd-
und Kriegshorn die Abentheuerſage
[70] ertoͤnet. In eingepflanzten Trieben, in an-
gebohrnen Begriffen und Neigungen ging
dieſe Liebe zum Abentheuer auf Geſchlech-
ter hinab; der geiſtliche Stand, in deſſen
Haͤnden die Bildung der Menſchen nach
Begriffen der Zeit war, bemaͤchtigte ſich
dieſes Triebes; er fabelte, dichtete, erzaͤhlte.
Von Erzaͤhlungen faͤngt alle Cultur roher
Voͤlker an; ſie leſen nicht, ſie vernuͤnfteln
nicht gern, aber ſie hoͤren und laſſen ſich
erzaͤhlen. So Kinder, ſo alle Staͤnde, die
inſonderheit unter freiem Himmel ein halb-
muͤßiges Leben fuͤhren. Wo ſie auch leben,
Norweger und Araber, Perſer und Mogo-
len, der Gothe, Sachſe, Frank und Katte
des Mittelalters, noch jetzt alle halbmuͤſ-
ſige Abentheurer, Krieger, Jaͤger, Reiſen-
de, Pilger haben hierinn Einerlei Geſchmack,
Einerlei Zeitkuͤrzung. Unwiſſenheit iſt die
Mutter des Wunderbaren, unternehmende
[71] Kuͤhnheit ſeine Ernaͤhrerinn, unzaͤhliche Sa-
gen ſeine Nachkommenſchaft und ihr gro-
ßer Mentor, der Glaube. Wenn Moͤnche
dergleichen Erzaͤhlungen in ihre Chroniken
aufnahmen und ihre Legenden ſelbſt dar-
nach ſchrieben: ſo thaten ſie es nicht im-
mer aus Luſt zu betruͤgen. Es war Ge-
ſchmack und ſogar Kreis des Wiſſens,
Denkart der Zeit; eine aͤchte Moͤnchschro-
nik mußte vom Anfange der Welt anfan-
gen und in beſtimmten Zeitraͤumen durch
Fabel und Geſchichte der Griechen und Roͤ-
mer, (Geſchichte und Dichtung auf Einem
Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt
fortgehn; das war der gegebene Umriß.
Eben nach den Begebenheiten der Zeit,
die alleſamt geiſtliche und weltliche
Abentheuer waren, formte ſich der Um-
riß der Erzaͤhlung, bildete ſich der Ton
des Ganzen. Mehr als Eine Chronik der
[72] mittleren Zeiten iſt wie ein cykliſches
Gedicht zu leſen.
Wenn aber und wie wird aus dieſen
vermiſchten Sagen und Abentheuermaͤhr-
chen ſo verſchiedner Voͤlker in ſo verſchied-
nen Gegenden und Umſtaͤnden ein Ilias,
eine Odyſſee erwachſen, die Allem gleich-
ſam den Kranz raubte, und jetzt als Sage
der Sagen gelte?
Dazu gehoͤrt viel; inſonderheit aber
daß die Sprache und der Witz der Euro-
paͤiſchen Voͤlker einigermaßen verfeinert
werde, daß Voͤlker mit einander in Ver-
bindung oder in Wettkampf gerathen, da-
durch ſie einander verſtehen lernen, endlich
daß, wenns ſeyn kann, hier oder da ein
Homer aufkomme, dem alle horchen.
Aeußerſt ſchwer und langſam konnte dieſe
Aufgabe aufgeloͤſet werden, da Einestheils
die Voͤlker durch Stammesvorurtheile und
[73] Leidenſchaften blind getrennt, anderſeits die
Sitten ſo grob oder verderbt waren, daß
ſchwerlich ein Lorbeerbaum fuͤr ganz Euro-
pa ſproſſen konnte. Tapferkeit und Witz
ſind nicht immer beiſammen; eben ſo ſel-
ten ſind es Witz und Kloſterandacht, wie die
Eſels- und Narrenfeſte, das Hez, Sir Ane,
Hez, und andre Anſtalten zeigen. Wenn
in die Sprachen Europa's Bildung, in
ſeine Sitten Geſchmack, in ſeine Poeſie
Unterhaltung kommen ſollte, ſo mußten dieſe
anderswoher kommen, als vom Waffenplatz
und aus dem Kloſter. Sie mußten aus
einer Gegend kommen, wo ein fremder Um-
gang etwas anders als den bloßen Moͤnchs-
und Kloſtergeiſt zeigte. Kurz —
Spanien war die gluͤckliche Gegend,
wo fuͤr Europa der erſte Funke einer wie-
derkommenden Cultur ſchlug, die ſich denn
auch nach dem Ort und der Zeit geſtalten
[74] mußte, in denen ſie auflebte. Die Ge-
ſchichte davon lautet wie ein angenehmes
Maͤhrchen.
Spanien naͤmlich, ſo ſagt die Geſchichte,
hatte unter der Herrſchaft der Mauren
eine ſehr bluͤhende Geſtalt gewonnen; mit
dem Ackerbau, dem Fleiß, dem Handel,
waren in ihm mehrere Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte, unter dieſen auch die Dichtkunſt
cultivirt worden. Die Mauriſche Galan-
terie hatte ſich unter dem ſchoͤnen Himmel
von Granada, Murcia, Andaluſien
veredelt; glaͤnzende Ritterſpiele waren im
Gebrauch, an denen als Preisaustheilerin-
nen auch die Damen Theil nahmen. Ohne
Zweifel war die Nachbarſchaft dieſes gebil-
deten Volks mit andern eine Urſache, daß
unter dem gleichſchoͤnen Himmel von Va-
lenzia, Catalonien, Arragonien und den
ſuͤdlichen Provinzen Frankreichs ſich die ſo-
[75] genannte Provenzal- oder Limoſini-
ſche Sprache auch aus der Barbarei riß
und eine friſche Bluͤthe, die provenzali-
ſche Dichtkunſt hervorbrachte. Von
Valenzia an uͤber die Inſeln Majorka,
Minorka, Ybiza, uͤber Arragonien und
Katalonien, jenſeit der Alpen uͤber die
Provence, Languedoc, Guienne,
das Delphinat, bis nach Poiton hin-
ein erſtreckte ſich dieſe Sprache, die nach
damaligen Zeitumſtaͤnden allgemach die ge-
bildetſte in Europa ward *). Regierende
Fuͤrſten und Grafen, Ritter und Edle von
jedem Range ſahen es als eine Ehre an,
[76] ſie an ihren Hoͤfen und in ihren Schloͤſ-
ſern, die kleine Hoͤfe waren, zierlich zu
ſprechen. Die Damen nahmen daran Theil,
nicht nur als Richterinnen und als der
vielfaͤltige Gegenſtand der Gedichte, ſon-
dern zuweilen auch als Dichterinnen ſelbſt.
Die Provenzal-Poeſie ward das Organ
des galanten Rittergeiſtes in allen
Zweigen ſeiner Denkart. Man be-
ſang die Liebe und warf Fragen der Liebe
auf, die in ſogenannten Corte d'amore
verhandelt wurden; man nannte ihre Vers-
art Tenzonen. Kleine und große Aben-
theuer, Begebenheiten des Lebens und der
*)
[77] Geſchichte, auch geiſtliche Dinge wurden
in Canzonen, Villaneſca's und an-
dern Gedichtarten beſungen, unter welchen
man die Satyren Sirventes nannte.
Auch Lehre und Unterricht trug man in
mancherlei Einkleidungen vor; ja es ereig-
neten ſich keine Haͤndel der damaligen Zeit,
die an großen Ereigniſſen und Verwirrun-
gen ſehr reich war, an denen hie und dort
nicht irgend ein Provenzal Antheil genom-
men haͤtte. Kreuzzuͤge und andre Kriege,
Vererbungen der Reiche und Schloͤſſer,
Sitten der Fuͤrſten, der Damen, der Geiſt-
lichkeit, der Paͤbſte ſelbſt; alles beruͤhrte
dieſe Dichtkunſt, oft mit einer kuͤhnen Frei-
heit. Finder, Trobadoren nannten
ſich die Dichter, die vorher in der baͤuri-
ſchen Roͤmerſprache Fatiſten (Macher,
faiseurs) geheißen hatten. Ihre Kunſt
hatte den Namen der froͤhlichen Wiſ-
[78]ſenſchaft(gay ſaber, gaya ciencia) ſo
wie auch ihr entſchiedner Zweck froͤhliche
angenehme Unterhaltung war.
Der erſte Garten, wo dieſe Blume auf-
ſproßte, war vielleicht der Hof zu Bar-
cellona; ſehr bald aber muͤſſen andre ge-
folgt ſeyn: denn der aͤlteſte Provenzaldich-
ter, den wir haben, Wilhelm der neun-
te, Graf von Poitou, Herzog von Aqui-
tanien, am Ende des eilften und im An-
fange des zwoͤlften Jahrhunderts, ſang ſchon
in einer zur Poeſie voͤllig gebildeten Spra-
che. Auch in Gallicien, Caſtilien, Portu-
gal finden ſich zu eben dieſer Zeit aͤhnliche
Uebungen der Verskunſt ohngefaͤhr in dem-
ſelben Gedankenkreiſe. Die ſogenannten
Jeux floraux aber, eine Blumengeſell-
ſchaft, wo der Preis der Dichtkunſt ein
goldnes Veilchen war, iſt von weit ſpaͤ-
terem Datum. (1324.) Ihre Stifterinn
[79] war Clemenzia Iſaura, Graͤfin von
Toulouſe.
Man hat uͤber den Urſprung des Reims
viel geſtritten, und ihn bei Nordlaͤndern
und Arabern, bei Moͤnchen, Griechen und
Roͤmern geſucht; mich duͤnkt mit unnoͤthi-
ger Muͤhe. Man koͤnnte uͤber ihn das be-
kannte Kinderſpiel mit dem Motto: „alles
was reimen kann, reimt“ ſpielen. Moͤnche
reimen, Otfried reimte, die Araber reimen,
Mahomed im Koran, der Engel Gabriel
reimt; der alte Lamech vor der Suͤndfluth
reimte. Aber Griechen und Roͤmer in ih-
ren ſchoͤnſten Zeiten vermieden die Reime
und ſuchten einen fortgehenden, hoͤheren
Wohlklang. Die Trobadoren, die in jedem
Innern die Poeſie der Araber nicht nach-
ahmen konnten, ſondern ſich eine Poeſie,
wie ſie ihnen ihr Zeitgeiſt, ihre Spra-
che und das naͤhere Vorbild der latei-
[80]niſchen Moͤnchspoeſie gab, finden
mußten; ſie mußten reimen, ja ſogar in
die Mannichfaltigkeit gereimter
Versarten einen großen Theil der An-
muth ihrer Poeſie legen, weil ſie ihrer
Zeit und Sprache nach nichts Anders thun
konnten. Die Limoſiniſche Mundart, wie
jedes andre Kind der lingua ruſtica Ro-
mana wußte vom Rhythmus der alten
Roͤmerpoëſie ganz und gar nichts; alſo
konnten die Provenzalen ihre Verſe nicht
nach der Grammatik der Alten ſcandiren;
ſie accentuirten ſie, wie Spanier, Portu-
gieſen, Italiener und Franzoſen noch bis
jetzt ihre Verſe accentuiren, ſolche daher
auch nicht nach einer eigentlichen Quantitaͤt
der Sylben, ſondern zur artigen, ver-
ſtaͤndigen Declamation einrichten *).
[81] Dieſe accentuirte Declamation ward eine
eigne Kunſt, auf welche ſich die Rhapſo-
den der damaligen Zeit, die auch Erzaͤhler
hießen, (Conteours,) legten. Mit den Ge-
dichten der Trobadoren reiſeten ſie an den
Hoͤfen umher, und begleiteten ſie theils
mit einem Inſtrument, theils mit Gebehr-
den; daher man ſie auch Jongleours, (Jo-
culatores) Muſars, Comirs Plaiſantins
*)
Siebente Samml. F
[82] nannte. Sie unterhielten die Geſellſchaft
mit Liedern und Erzaͤhlungen, den bekann-
ten fabliaux vergangner und damaliger
Zeiten, bis ſie es zuletzt ſo arg machten,
daß ſie von mehreren Hoͤfen verbannt wur-
den.
Die urſpruͤngliche froͤhliche Wiſſen-
ſchaft(gaya ciencia) ging alſo von Ar-
tigkeiten des Geſpraͤchs, von Fragen und
Unterredungen, von einer angenehmen Un-
terhaltung aus; auch in Sonnetten der
Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei je-
dem Inhalt blieb dieſer Charakter den Pro-
venzalen; ein hoͤherer poëtiſcher Ton war
ihnen ganz fremde. Alſo mußte das an-
genehme und mannichfaltige Spiel der Rei-
me, an welche damals in geiſtlichen und
Volksliedern das Ohr gewoͤhnt war, den
Mangel des hohen lyriſchen Wohlklanges
und Rhythmus der Alten, von dem ihre
[83] Sprache und ihr Organ nicht wußte, er-
ſetzen. Jede Versart bekam ihre Strophe,
d. i. ihren abgemeſſenen Perioden der De-
clamation in einer angewieſenen Ordnung
und Art der Reime; in welcher Wiſſen-
ſchaft eben die Kunſt der Trobado-
ren beſtand. Und ſo haben wir die Ge-
ſtalt der neuern Europaͤiſchen Dichtkunſt,
ſofern ſie ſich von der Poeſie der Alten un-
terſcheidet, auf einmal vor uns. Sie war
Spiel, eine amuſirende Hofvers-
kunſt in gereimten Formen, weil der
damaligen Sprache der Rhythmus und der
damaligen Denkart der Zweck der Poeſie der
Alten fehlte. Sie war ein Hofgarten, in dem
hier ein Baum zum Sonnet, dort zur Tenzo-
ne, zum Madrigal u. f. kuͤnſtlich ausgeſchnit-
ten ward; eine hoͤhere Gartenkunſt war dem
Geſchmack der damaligen Zeit fremde. —
[84]
85.
Gluͤck alſo zum erſten Stral der neueren
poetiſchen Morgenroͤthe in Europa! Sie
hat einen ſchoͤnen Namen: die froͤliche
Wiſſenſchaft, (gaya ciencia, gay ſaber;)
moͤchte ſie deſſen immer werth ſeyn! Wir
wollen uns nicht in den Streit einlaſſen,
ob die Spaniſche oder Limoſiniſche Sprache
die erſten Dichter gehabt? ob in dieſer dies-
oder jenſeit der Pyrenaͤen fruͤher und gluͤck-
licher gedichtet worden? *) Die Erſchei-
[85] nung ſelbſt, daß an den Grenzen des Ara-
biſchen Gebiets ſowohl in Spanien als in
Sicilien fuͤr ganz Europa die erſte
Aufklaͤrung begann, iſt merkwuͤrdig und
auch fuͤr einen großen Theil ihrer Folgen
entſcheidend.
Unlaͤugbar iſts naͤmlich, daß die Ara-
ber in ihrem weiten Reiche, das ſich von
China bis Fez, von Moſambique bis
faſt an die Pyrenaͤen erſtreckte, Sprache
*)
[86] und Wiſſenſchaften, Handel und Kuͤnſte ſehr
cultivirt hatten. Wie anders nun, als daß
in Spanien, wo ein Hauptſitz dieſer Cul-
tur war, wo Jahrhunderte lang die Chri-
ſten mit ihnen in Streit oder ihnen unter-
wuͤrfig gelebt hatten, neben dieſem hellen
Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit
verharren konnte? Es mußten ſich mit
der Zeit die Schatten brechen; man muß-
te ſich ſeiner ſchlechten Sprache und Sit-
ten, der ungebildeten Ruſtica ſchaͤmen ler-
nen, und da die meiſten Spanier Arabiſch
konnten, auch eine unſaͤgliche Menge ara-
biſcher Buͤcher und Anſtalten in Spanien
Jedermann vor Augen war: ſo konnte es
ja nicht fehlen, daß jeder kleine Schritt
zur Vervollkommnung auch unvermerkt
nach dieſem Vorbilde geſchah. Was
ſie nicht hatte, konnte die Moͤnchspoeſie
nicht geben; Gegentheils konnte und wollte
[87] auch die Provenzalpoeſie nicht nachahmen,
was bei den Arabern fuͤr ſie nicht gehoͤrte,
Mahomeds Lehre, ſo wenig einſt die
Araber den Homer und die griechiſche
Mythologie hatten aufnehmen moͤgen.
Aber was ſich aufnehmen ließ, der Ge-
nius des Werks, die Arabiſche
Denk- und Lebensweiſe; ſie ſind in
den Verſuchen der Provenzalen, (dieſe moͤ-
gen ſchlecht oder gut ſeyn,) wie mir duͤnkt,
unverkennbar.
Bei welch anderm Volk in Europa wa-
ren poetiſche Fragen und Antwor-
ten in Gebrauch, als bei den Arabern?
Es wurde Kunſt und Lebensart darinn ge-
ſetzt, auch unvorbereitet witzig in gereim-
ten Verſen zu antworten *). Daher
[88] alſo die Fragen und Antworten der Liebe
bei den Provenzalen. Welch andres Volk
in Europa hielt die Sprache fuͤr Eins ſei-
ner edelſten Heiligthuͤmer und feierte Wett-
kaͤmpfe des ſchoͤnſten poetiſchen Ausdrucks
in ihr? Kein andres, als die Araber; die
angrenzenden Chriſten, beſchaͤmt uͤber ihre
Rohheit, zuerſt vielleicht auch nur aus
Nachahmungsſucht, folgten ihnen nach.
Ihre Großen und Edlen thaten aus Mode,
was die Araber ſeit Jahrhunderten aus
Trieb und aus Nationalſtolz gethan hatten,
ſich der Wiſſenſchaften anzunehmen und in
der Sprache der Dichter ſelbſt zu glaͤnzen.
*)
[89] Welch andres Volk in Europa verband in
ſeinen Vorſtellungen Tapferkeit, Liebe
und Andacht, wie die Araber? Von den
aͤlteſten Zeiten an war es bei ihnen die
gewoͤhnliche Regel eines Gedichts, von
Gott und vom Propheten anzufangen,
ſodann der Liebe ihren Zoll zu entrichten,
und darauf gegen Freund oder Feind ſeine
Tapferkeit zu bezeugen. Wie uͤbel auch
oft dieſe Stuͤcke zuſammenhingen; es war
das angenommene poetiſche Geſetz,
dem ſich, wiefern es Religion und Sitte
erlaubte, nun auch die Chriſten bequemten.
Die feſtgeſetzten Gattungen der Poeſie der
Araber, Preis und Tadel, Frohlocken und
Klage, Liebe und Haß, Lehre und Beſchrei-
bung wurden auch hier der Inhalt ver-
ſchiedener Geſangesarten; ſelbſt die Pros-
odie der Provenzalen ward nach der blos
accentuirten und declamirten arabiſchen
[90] Verskunſt, in welcher der Reim unentbehr-
lich war, eingerichtet. Hoͤren Sie daruͤ-
ber das Zeugniß des vielleicht gelehrteſten
Arabers, den unſre Nation gehabt hat,
Reiske: *)
„Die alleraͤlteſten Schriften der Araber
ſowohl in gebundner als freier Rede
ſind in Reimen abgefaßt. Die Art ohne
Reime zu reden und zu ſchreiben, iſt neuer
als jene. Noch heutiges Tages pflegen ſie
auch in ihren ungebundenen
Schriften, wenn ſie recht ſchoͤn ſchreiben
wollen, den Reim beizubehalten, ſo daß
ſie, wenn ſie einen Reim drei- vier- oder
mehrmal wiederholt haben, alsdann einen
andern vor die Hand nehmen, und es mit
dieſem eben ſo machen, und dann wieder-
um einen andern. Auf dieſe Weiſe iſt der
[91] ganze Hariri geſchrieben, der fuͤr den
Cicero der Araber gehalten wird; im-
gleichen des Tamerlans Arabiſche Lebens-
beſchreibung.“
„In der Poeſie ſind ihre aͤlteſten Stuͤcke
gereimt. Die alten Araber uͤbten ſich auch
ſogar ihre haͤuslichen und vertraulichen Ge-
ſpraͤche in Reimen vorzutragen. So hat
man ein noch vor dem Muhamed ver-
fertigtes, etliche achtzig bis neunzig Verſe
langes Gedicht, das ein gewiſſer Haretſch
Ben Helza ohn' einiges vorhergegangnes
Bedenken, ſich auf ſeinen Bogen lehnend,
hergeſagt hat. Die Uebung hierinn muß
bei ihnen ſehr groß geweſen ſeyn.“
„Wie die erſte Haͤlfte des Verſes ſich
ſchließt, ſchließt ſich auch die andre Haͤlfte
eben deſſelbigen Verſes; und wie ſich der
erſte Vers in der Mitte und am Ende en-
digt, ſo endigen ſich auch alle andre fol-
[92] gende, wenn ihrer auch noch ſo viel waͤ-
ren, bis zwei- dreihundert und noch mehr.
Doch pflegen ſie ihre Gedichte ſo lang nicht
zu machen. Schon zu Chriſti Zeiten und
kurz hernach muͤſſen ſich die Araber der
Reime bedient haben, weil ihre Dichtkunſt
ſchon einige Jahrhunderte vor Muhamed
vollkommen geweſen und nicht die geringſte
Spur von einem Reimloſen Gedicht bei ih-
nen gefunden wird; es ſei lang oder kurz,
heroiſch oder jambiſch. Doch ſind ihre jam-
biſchen Gedichte ſo beſchaffen, daß ſie den
einmal gefaßten Reim nicht beſtaͤndig bei-
behalten, welches ſonſt ein weſentliches Er-
forderniß der heroiſchen Gattung iſt; ſon-
dern ſie wechſeln mit dem Rhythmus ab,
beinahe wie wir. Haben ſie Einen Rhyth-
mum drei- viermal wiederholt, ſo fallen ſie
auf einen andern.“ U. f. — Ich glaube
nicht, daß die Erbauung der Sonnette,
[93] Madrigale und andrer Versarten der Pro-
venzalen ihrem Urſprunge nach einer hel-
lern Erklaͤrung faͤhig ſei oder beduͤrfe, als
dieſer. Urſpruͤnglich waren ſie eine Art
gereimter, oft aus dem Stegreif
gereimter Proſe; die meiſten Poeſieen
der Provenzalen ſind offenbar nichts an-
ders.
Daß viele unſrer Poeſieen dieſen Ara-
biſchen Schmuck noch an ſich tragen, wiſ-
ſen wir alle; wenige aber wiſſen den Ur-
ſprung dieſer Feſſeln, daß ein Volk naͤm-
lich ſich dieſelbe aus Uebermuth der Be-
geiſterung ſogar im gemeinen Leben ange-
legt, und damit ſo leicht umzugehen ge-
wußt habe, daß es lange Reden durch ſo-
gar Einen und Denſelben Reim beibehal-
ten konnte. Auch bei den Provenzalen war
es in mehreren Sylbenmaaßen offenbar
aufs oͤftere Wiederkommen deſſelben
[94] Reims angeſehen, womit denn weder unſer
Ohr noch unſre Sprache ſonderlich zufrie-
den ſeyn duͤrfte. Wenige wiſſen es, daß
die Poeſie der Araber zwar leidenſchaftlich
und Bildervoll, nicht aber im beſten Ge-
ſchmack abgefaßt war *); daher auch ſchon
die Provenzalen von dieſem ganz und gar
Aſiatiſchen Geſchmack ſehr abgehen mußten.
Da ihnen nun mit der Leidenſchaft und
dem Scharfſinn dieſes fremden Volks auch
deſſen ausgebildete Sprache fehlete; was
Wunder, daß ihnen oft nur die Form des
Gedichts, angenehm wiederkommende Schaͤlle
uͤbrig blieben, in die ſie das Weſen der
[95] Dichtkunſt ſetzten? Dieſe ſollte ja nur Un-
terhaltung in einer angenehm-gereim-
ten Proſe ſeyn und bleiben.
Ganz anders wird die Sache fuͤr uns,
die wir einen artigen Umgang in haͤus-
lichen und vertraulichen Geſpraͤchen nicht
eben in Reime ſetzen, uns auch von Ju-
gend auf nicht geuͤbt haben, ſinnreich ex
tempore zu reimen. Einzig in der Poeſie
haben wir dieſe alte arabiſche Hoͤflichkeit
beibehalten, das Ohr unſrer Freunde mit
Reimen zu vergnuͤgen *). Und dennoch
wuͤrde auch das Reimſuͤchtigſte Ohr es ſich
[96] verbitten, wenn wir wie die Araber den-
ſelben Klang oder Endbuchſtaben einige
hundertmal wiederkommen ließen und in
heroiſchen Gedichten unſern Helden durch
Einen Reim zehntauſendmal wiederkom-
mend prieſen.
Fuͤge ich nun zu dieſer Reimgalan-
terie der Araber noch das andre Ge-
ſchenk hinzu, damit ſie (andre Nationen
nicht ausgeſchloſſen) die Poeſie der Euro-
paͤer beſchenkt haben, jene Phantome
Aſiatiſcher Einbildungskraft naͤm-
lich,
*)
[97] lich, die vom Berge Kaf uͤber Afrika und
Spanien, uͤber Palaͤſtina und die Tatarei
zu uns gekommen ſind; gewiß, ſo ſind
wir ihnen wie in der Chemie und Arznei-
kunſt ſo auch in der Dichtung viele ge-
brannte Waſſer ſchuldig.
[98]
86.
Den Reim laſſe ich unſrer Poeſie nicht
nehmen; vielmehr zeigt der bemerkte Ur-
ſprung deſſelben zugleich auch ſeine gluͤck-
lichſte Anwendung. Er gehoͤrt
1. Fuͤr Kirchen- und andre Volks-
lieder. Umſonſt fuͤhrten ihn nicht die
heiligen Vaͤter von Ambroſius an in
ihre Choͤre und Hymnen ein. Der gute
Prudentius ging ihm noch aus dem
Wege; Sedulius, Fortunatus u. f.
gebrauchen ihn ſchon haͤufig, ohne ihn von
den Arabern gelernt zu haben. Sie wuß-
ten, was fuͤrs Volk gehoͤre. Zuletzt ward
[99] er inſonderheit in den lateiniſchen Liebes-
geſaͤngen ſo uͤberfließend gebraucht, als ihn
wohl kein Araber gebraucht hat.
2. Denkſpruͤche fuͤrs Volk klin-
gen in Reimen praͤchtig! Daher die Macht
unſrer gereimten Spruͤchwoͤrter, unſrer al-
ten Oden und Alexandriner. Ein beruͤhm-
ter Dichter hat von einem ungezwungenen
Reim geſagt:
„Er ſtuͤtzt und hebt die Harmonie; und leimt
die Rede ins Gedaͤchtniß.“
Dies iſt wahr. Wohlgereimte Sentenzen
ſind Machtſpruͤche; ſie tragen im Reim das
Siegel der ewigen Wahrheit. Von An-
fange der Welt an hat man Raͤthſel und
Denkſpruͤche gereimet.
3. Lebhafte Antworten ſind fuͤr
den Reim, nicht nur in Arabien, ſondern
bei allen Voͤlkern. Vom Franzoͤſiſchen Thea-
G 2
[100] ter werden Sie ſich ſolcher unerwarteten
Ausgaͤnge gnug erinnern; aus Epigram-
men, wohin ſie eigentlicher gehoͤren, noch
mehrere. Es iſt ein Fehler des Verſifica-
tors, wenn er um Einen gluͤcklichen Reim
zu erhaſchen fuͤnf ungluͤckliche vorhergehn
oder folgen laͤßt *); ein ſolcher iſt kein
Haretſch Ben Helza, der auch im
Staatsrath ſeines Koͤniges ſein Votum fuͤr
den Krieg in donnernden Reimen hinſtellte.
4. Es giebt mehrere Gattungen an-
genehmer Converſationspoeſie,
die ohne Reimen nichts ſind. Der geſuchte,
ſo wie der ungeſuchte, der verſteckte ſo wie
der klingende Reim ſind in ihnen Kunſt-
[101] maͤßig geordnet. Man ſollte ſie Arabes-
ken nennen: denn eben auch den Arabern
galt der Reim fuͤr ein Siegel des vollen-
detſten Ausdrucks.
5. Endlich muͤſſen Sie der Gewohn-
heit nachgeben und Sprachen ſowohl
als Dichtern erlauben, ſich auf ihre Art
zu vergnuͤgen. Dieſem Dichter iſt der Reim
ein Steuer, jenem ein Ruder der Rede;
ohne ihn litte jenes poëtiſche Fahrzeug
Schiffbruch, dieſes ſtrandete auf dem nie-
drigſten Sande *). Einem andern Verſi-
ficator iſt er noch etwas Wertheres, ein
Erwerbmittel der Gedanken; wollten Sie
ihm alſo mit dem Reim ſeine hyperuſiſche
Nahrung nehmen? Einem Dritten iſt der
[102] Reim eine Werb-Trommel, Bilder zu ver-
ſammeln; zwar kommen die Geworbenen
oft etwas bunt zuſammen, aber was ſcha-
dets? Deſto ſtaͤrker fallen ſie ins Auge.
Nehmen Sie Pope, Cowley und ihren
fuͤnf Bruͤdern den Reim; ſo haben Sie
ihnen Moſes und die Propheten genom-
men; wen ſollen ſie fuͤrder hoͤren? Neh-
men Sie der Franzoͤſiſchen Sprache den
Reim — hoͤren Sie, was daruͤber ihre eigne
Autoren ſagen:
Nos Vers affranchis de la rime ne pa-
roiſſent differer en rien de la Proſe.
Prevot.
Je n'ai garde de vouloir abolir les ri-
mes; ſans elles notre verſification tomberoit.
Fenelon.
Les Italiens et les Anglois peuvent
ſe paſſer de rime, parceque leur langue a
des inverſions et leur poeſie mille liber-
[103] tés qui nous manquent. Chaque langue
a ſon genie; le genie de notre langue eſt
la clarte et l'elegance: nous ne permet-
tons nulle licence à notre Poeſie, qui doit
marcher comme notre Proſe dans l'ordre
precis de nos Idees. Nous avons donc
un beſoin eſſentiel du retour des mêmes
ſons pour que notre Poeſie ne ſoit
pas confondu avec la Proſe.
Voltaire.
Nos ſillabes ne peuvent produire uno
harmonie ſenſible par leurs meſures lon-
gues ou breves; la rime eſt donc neceſ-
ſaire aux vers Francois.
Voltaire.
Hier ſind klare Bekenntniſſe; ſchonen
Sie alſo in mehr als Einer Sprache der
Reime, dieſer unſchuldigen Kinder. Auch
bei uns gehoͤren rime und raiſon zuſam-
men, wie bei den Arabern. Ungereimt iſt
uns, was — ſich nicht reimet.
[104]
Nachſchrift.
Ernſthaft geſprochen, laͤßt ſich an die-
ſem Urſprunge der Europaͤiſchen Cultur
in Vergleich mit der Poeſie der Alten noch
Manches bemerken.
1. Bei den Griechen war Poëſie mit
der Sprache entſtanden; jene hatte dieſe
gleichſam von innen heraus gebildet; ehe
ſchriftſtelleriſche Proſe entſtand, war Ge-
ſang und Poeſie — geweſen. In der li-
moſiniſchen Sprache, ſo wie in allen ihren
Schweſtern hatte man nicht nur laͤngſt
Proſe geſprochen, ehe man durch Versarten
mit abgezaͤhlten Sylben und Reimen dieſe
gemeine Sprache (lingua volgare) zu ver-
edeln ſuchte; ſondern die Vulgarpoeſie ſelbſt
ſollte eine gereimte, cadenzirte, ſchoͤ-
nere Proſe ſeyn und bleiben. Die Syl-
[105] benmaaße der Alten fanden in ihr nicht
Platz, weil ſie eigentlich blos von der
Converſation ausging, und auf dieſe
hinfuͤhrte.
2. Die Poeſie der Alten hatte in ihrem
Urſprunge viel mehr Wichtigkeit, Zweck und
Anlage in ſich, als dieſe neuere haben konnte.
Vor Erfindung der Schreibekunſt vertrat
Jene die Stelle aller Wiſſenſchaft; ſie war
die Sprache der Goͤtter, der Geſetzgeber
und Weiſen; was der Nachwelt wuͤrdig
geachtet war, ward in ſie gelegt, daher
auch von ihr faſt jede Wiſſenſchaft ausging.
In Europa war alles anders. Die Spra-
che des Heiligthums war und blieb die
lateiniſche, in welcher ſich denn auch
lange Zeit hin die Wiſſenſchaften fortge-
bildet haben; die Vulgarpoeſie wollte we-
der gelehrt noch andaͤchtig, ſondern un-
terhaltend ſeyn. In allen Sprachen,
[106] denen die Provenzalpoeſie den Ton gab,
iſt dies ihr Hauptcharakter geblieben.
3. Dagegen aber ward Etwas, wor-
auf die Poeſie der Alten ihre Segel nicht
hatte richten doͤrfen, dieſer Poeſie Ziel und
Zweck, naͤmlich Freiheit der Gedan-
ken. Durch die Provenzalpoeſie und durch
das was ſie hervorbrachte, ſo viel oder
wenig es war, ward zuerſt das Joch zer-
brochen, das alle Voͤlker Europa's unter dem
Deſpotismus der lateiniſchen Spra-
che feſthielt; und damit war viel geſche-
hen. Sollten Europa's Voͤlker denken ler-
nen, ſo mußten ihre Landes-Sprachen
gebildet werden; ſie mußten in ihrer Volks-
ſprache witzige, ſinnreiche, anmuthige Dinge
hoͤren, an denen ſich ihr Verſtand ſchaͤrfte.
Wenn dieſes zuerſt auch nur in den obern
Staͤnden und auf eine ſehr unvollkommene
Weiſe geſchah; ſo gelangte es doch bald
[107] weiter. Mit Fragen der Liebe fing man
an; zu weit wichtigern ſchritt man fort;
die mittleren Zeiten haben manche Dinge
ſehr ſcharf und rein eroͤrtert. Mit Erzaͤh-
lungen fing man an, und wußte in ſie ein-
zukleiden, was man nackt nicht ſagen dorf-
te; ja was die Erzaͤhlung nicht ſagte, ge-
ſticulirte das rohe Schauſpiel. Den beſten
Erweis, daß durch die Ausbildung der Pro-
venzalſprache fuͤr ganz Europa Freiheit
der Gedanken bewirkt worden, zeigt die
in ihr entſtandene erſte Reformation,
die ſich von den Pyrenaͤen und Alpen nach-
her in alle Laͤnder verbreitete. In dieſer
Sprache naͤmlich wurde die edle Unter-
weiſung(la noble leyçon) der erſte
Volks- und Sittenkatechismus geſchrieben;
in ſie wurde zuerſt die Bibel uͤberſetzt; in
ihr das apoſtoliſche Chriſtenthum erneuert.
Mit großem Muth ging ſie den Aerger-
[108] niſſen der Kleriſei entgegen, und hat wie
den poetiſchen Lorbeerkranz, ſo auch unſaͤg-
licher Verfolgungen wegen die Maͤrtyrer-
krone der Wahrheit fuͤr ganz Europa ver-
dienet. Sind wir den Provenzalen und
ihren Erweckern den Arabern nicht viel
ſchuldig? *)
[109]
87.
Viertes Fragment
Einfluß der Provenzalen in die Euro-
paͤiſche Cultur und Dichtkunſt.
Die Verskunſt der Provenzalen ging auf
alle benachbarte Nationen uͤber; ja ſie iſt
das Vorbild der Poeſie aller ſuͤdlichen
Voͤlker Europa's, in manchem ſogar
der Englaͤnder und Deutſchen worden:
denn mit den Kaiſern aus dem Schwaͤbi-
ſchen Hauſe kam die provenzaliſche Dicht-
[110] kunſt auch nach Deutſchland. Die Min-
neſinger ſind unſre Provenzalen.
Zu Dante's Zeiten waren ſchon ſie-
ben Gattungen dieſer Verskunſt in der Ita-
liaͤniſchen Sprache, Sonnet, Ballade, Can-
zone, Rodondilla, Madrigal, Servente,
Stanze; ſie haben ſich ſeitdem zahlreich
vermehrt, vielfach veraͤndert; immer aber
iſt die Italiaͤniſche Sprache jenem Richt-
maas treu geblieben, das zu Dante,
Boccaz und Petrarka Zeiten die Pro-
venzalpoeſie ihr anwies. Die Sylbenmaaße
der Griechen und Roͤmer, ſo oft ſie ver-
ſucht worden, haben in Italien, Spanien
und Frankreich ihr Gluͤck nie machen moͤ-
gen.
Nun muͤßte es wohl ein ſehr barbari-
ſches Ohr ſeyn, das nicht, zumal unter
jenem Himmel, die Muſik dieſer Versarten
fuͤhlte. Der weitverhallende Wohlklang
[111] einer regelmaͤßigen Italiaͤniſchen oder Spa-
niſchen Stanze, die ſchoͤn verſchlungene
Harmonie eines vollkommenen Sonnets,
Madrigals, oder einer vortreflichen
Canzone, die abwechſelnde leichte Melo-
die einer ſchoͤnen Canzonette, Rodon-
dilla oder Seguidilla toͤnt ſo anmuthig;
der Tanz ihrer Sylben iſt ſo aͤtheriſch, daß
ihn unſre deutſche Sprache, die ein ganz
andrer Genius belebet, vielleicht auch nicht
nachahmen ſollte. Die Poeſien ſo vieler
Lyriſchen und Epiſchen Dichter in Italien
und Spanien ſind gleichſam ſo viel Heſpe-
riſche Zaubergaͤrten, wo die Baͤume ſingen,
und an jedem Zweige des ſingenden Baums
ein Gloͤckchen toͤnet. Die Poeſie der Alten
ſingt nicht alſo; aber das Rauſchen des
Baumes ſelbſt, das Wehen ſeiner Zweige
im zarteſten Sproͤßling iſt begeiſternd, iſt
heilig.
[112]
So im Aeußern; iſts aber auch anders,
wenn man die Poeſie der Italiaͤner mit
den Alten im Innern vergleichet? Neh-
met z. B. ein Sonnet, ein Madrigal, eine
Canzone, eine Stanze, und fuͤhret ſie auf
Formen der Griechen und Roͤmer zuruͤck.
Hier, findet man oft, mußte der Ausdruck
des Gedankens gedehnt, dort die Empfin-
dung gelaͤngt und geweitert werden. Ein-
ſchiebſel und fremde Zuſaͤtze mußten zu
Huͤlfe kommen, um ein regelmaͤßiges Son-
net, ein klingendes Madrigal zu werden;
als ein Epigramm, als ein Bild (ειδος)
und Skolion der Alten wuͤrde Alles in
natuͤrlichem Maas einfacher und reiner
daſtehn. — Eine Canzone oder Ode der
Italiaͤner mit Pindar oder Horaz vergli-
chen, hat, wie es uns Deutſchen ſcheint,
viel Declamation, viel proſaiſche, redneri-
ſche Schoͤnheit. Wie anders? Auf dieſe
ſchoͤne
[113] ſchoͤne gereimte Declamation war die Can-
zone angeleget. Die Stanzen, (ottave rime)
ſind hallende Kammern; *) jede Abtheilung
in ihnen, zuletzt der Schluß jeder Stanze,
(il clave) haͤlt uns melodiſch an, damit er
uns weiter fortfuͤhre. Vortreflich. Aber der
Hexameter der Alten iſt ein langer uner-
meßlicher Gang, wo nichts uns aufhaͤlt;
wir wandern ungeſtoͤrt fort, und haben
den Blick immer am Ziele. So koͤnnte
man mehr vergleichen; wozu aber die Ver-
gleichung, wenn ſie den Genuß ſtoͤret? Die
Poeſie der Italiaͤner iſt, was ſie ihrem
Urſprunge nach ſeyn wollte, Unterhal-
tung, accentuirte Converſation;
das iſt ihr Standpunkt. Ein Sonnet, ein
Siebente Samml. H
[114] Madrigal wird adreſſirt; eine Canzone wird
abgeſandt und bekommt am Schluß eigne
Verſe als ein Creditiv mit, ein Siegel der
Sendung, (il commiato della Canzone.)
Arioſt ſchrieb ſeinen unſterblichen Orlan-
do, daß er in Geſellſchaften geleſen wer-
den, daß er als ein Fabelbuch angenehm
unterhalten ſollte. Dazu ſchrieben Ber-
nardo Taſſo, Fortinguerra, Taſ-
ſoni, Marino, und jene unzaͤhlbare
Schaar Italiaͤniſcher luſtiger Dichter.
Wenn Torquato nebſt wenigen andern
ſich hoͤher erhob, ſo erhebt ihn der Inhalt
ſeines Gedichtes; im Ganzen aber verfolgt
er den Zweck aller ſeiner Bruͤder.
Ob dieſen Zweck jede dieſer Poëſieen
erreicht habe? daruͤber kann kein Auslaͤn-
der entſcheiden; indeſſen ſcheinets. In
Italien ſind die Sonnette eigentlich nichts
als feinere Anreden in einem gegebnen
[115] Ton der Geſellſchaft; beinahe jeder gebil-
dete Menſch macht ein Sonnet, ohne daß
er deßhalb ein Dichter zu ſeyn ſich einbil-
det. Die Werke ihrer großen Dichter ſind
jedem Gebildeten bekannt; ihre Sprache iſt
ins Ohr der Nation uͤbergegangen und
man hoͤrt Stellen aus Dichtern oft von
Perſonen, von denen man ſie am wenig-
ſten erwartet. Der gemeine Mann, das
Kind ſogar gebraucht Ausdruͤcke, die man
dieſſeit der Alpen in viel andern Kreiſen
weder ſucht, noch hoͤret.
Die ganze Dichtkunſt Italiens hat etwas
ſich Anneigendes, Freundliches und
Holdes, dem die vielen weiblichen Reime
angenehm zu Huͤlfe kommen, und es der
Seele ſanft einſchmeicheln. Dagegen frei-
lich ſteht die Poeſie der Alten fuͤr ſich
ſelbſt da, in ſchweigender Wuͤrde, in
natuͤrlicher Schoͤnheit. Sie ſpricht und
H 2
[116] laͤßt ſich ſprechen; die Italiaͤniſche Poeſie
buhlet zwar nicht, aber ſie declamirt an-
genehm vor; ſie converſiret.
Ungerecht waͤre es alſo, wenn man ſelbſt
bei der eigentlichen Empfindungspoeſie die-
ſer Sprache, z. B. den Schaͤfergedich-
ten, einen Maasſtab gebrauchen wollte,
der ihr nicht geziemet. Wie viel Unzeiti-
ges z. B. iſt uͤber den Aminta des Taſſo,
uͤber den Pastor fido des Guarini und
uͤber aͤhnliche Gedichte geſagt worden! —
Unſre Schaͤfer freilich, unſre Liebhaber rai-
ſonniren ſo nicht von Liebe, oder mit der
Liebe; nimmt man indeſſen das Local der
Italiaͤner, die Zeit, in welcher dieſe Dich-
ter lebten, die einmal getroffene Arabiſch-
Provenzaliſche Convention, uͤber die Lie-
be in Reimen zu converſiren, auch
viele kleine Umſtaͤnde der damaligen Lebens-
weiſe zuſammen: ſo werden uns dieſe mu-
[117]ſikaliſche Liebes-Converſationen
nicht nur erklaͤrlich, ſondern beinahe natuͤr-
lich erſcheinen. Das ganze lyriſche Dra-
ma der Italiaͤner beruhet auf dieſer Con-
verſation; Nationen, denen ſie fremde iſt,
wird die ernſthafte ſowohl als die komiſche
Oper der Italiaͤner, dem eigentlichen Mo-
tiv nach, immer fremde bleiben.
So kommen wir dann auf das poëti-
ſche Meiſterwerk dieſer Nation, die Oper,
das lyriſche Drama. Wohl nirgend
anders als in Italien konnte es entſprie-
ßen und zugleich zu der Bluͤthe gelangen,
zu welcher es zuletzt in Metaſtaſio ge-
langt iſt. Er, ein Schuͤler des philoſophi-
ſchen Kenners der Alten, des Gravina,
Er, dem das Gluͤck ward, hinter den Ver-
dienſten des Apoſtolo Zeno und ſo viel
andrer großen Maͤnner in Italien und
Frankreich dies Drama in einer Sprache
[118] zu bearbeiten, die zum Geſange geſchaffen
iſt, brauchte ſeines Gluͤcks und erhob aus
ihr alles Singbare, (cantabile) in
jeder Art des Affekts, in jedem Perio-
den des Recitativs, der Arien und Choͤre,
zur Blume des Geſanges und Vortrags.
Zeige man ein ſingbares Wort, das er
nicht und zwar auf der beſten Stelle ge-
braucht, eine unſingbare Wendung, die er
nicht gemildert oder vermieden haͤtte! Auch
aus der menſchlichen Seele, aus Fabel
und Geſchichte zog er jeden ſingbaren Ge-
genſtand, jede melodiſche Geſinnung und
Empfindung auf die zierlichſte Weiſe her-
vor und wußte ſie zu einem muſikali-
ſchen Sentiment im zarteſten und vol-
leſten Ausdruck zu bilden. Jede Arie des
Metaſtaſio iſt gleichſam ein poëtiſch-muſi-
kaliſcher Canon worden.
[119]
Um hieher zu gelangen, welchen langen
Weg hatte das Melodrama zuruͤckgelegt,
ſeit es in rauhen Provenzaliſchen Canzo-
nen nach Italien gekommen und von um-
herziehenden Minſtrels mit einer Art thea-
traliſchen Vorſtellung verbunden hie und
da geſpielt war! Durch Maitaͤnze, (Mag-
giolate)Carnevaleſken, Choͤre mit Zwi-
ſchenſpielen u. f. hatte es einen beſchwer-
lichen Weg nehmen muͤſſen, bis es unter
der Beihuͤlfe vieler fremden Kuͤnſtler, Fran-
zoſen, Spanier, Niederlaͤnder, Deutſcher,
nur zu einiger Regelmaͤßigkeit gelangte.
Italieniſche Fuͤrſten, die Pracht und Ver-
gnuͤgen liebten, hatten ihm dazu Raum
und Koſten verſchafft; der Geſchmack der
Nation in beiden Geſchlechtern hatte es
mit Freude empfangen; Florenz inſonder-
heit hatte ihm zuerſt ſeine glaͤnzende Ge-
ſtalt gegeben. Unwiſſend hatten, von
[120]Dante und Petrarca an, alle Dichter
dazu gearbeitet; Taſſo und Guarini
mit ihren Schaͤferpoeſien hatten dazu naͤher
den Ton gegeben; hundert Componiſten
geiſtlicher und weltlicher Melodieen die
Pforten geoͤfnet; Metaſtaſio kam, und
ſetzte der ganzen Gattung den Kranz auf.
Indeſſen auch bei Metaſtaſio denke
man nicht an die Griechen; vielmehr hat
vielleicht Er aufs weiteſte von ihnen ver-
fuͤhret, und ſteht wie auf einem andern
Hemiſphaͤr da. Bei Jenen ſprach die
Poeſie; die Muſik begleitete ihre Worte in
jeder Wendung des Ganges der Rede,
zwanglos. Hier mahlet die Muſik, und
die Worte dienen. Geſetzt daß es ihr auch
gefiele, ſie zehnmal dienen zu laſſen, ſie
umher zu kreiſen und wie im Spott zu
wiederholen; ſie tanzt ihren Tanz, und
unter ihrer Herrſchaft dorfte der Dichter
[121] nichts als das ihr Wohlgefaͤllige waͤhlen,
Keiner Leidenſchaft dorfte er tiefer nachgehn,
als es die Muſik ertrug und mußte ſich
daher uͤberall an das Weichſte, das Zar-
teſte, die Liebe halten. Mit Verletzung
jedes Coſtume der Zeiten und Orte ſind
Metaſtaſio's Helden Schaͤfer, ſeine Prin-
zeſſinnen Schaͤferinnen; erhabne Freſco-
Geſtalten der Geſchichte werden durch ihn
Miniaturgemaͤhlde des lyriſchen Theaters;
denn auf dieſe und auf keine andre Dar-
ſtellung hat Er gerechnet. Wenn alſo Me-
taſtaſio in jedem ſeiner Stuͤcke einen
zierlichen Porcellanthurm mit klingenden
Silbergloͤckchen erbauen wollte: ſo ſollte
und konnte dieſer kein griechiſches Odeum
werden.
Indeſſen hat auch dieſe Poeſie ihre
Zwecke erreicht. Sie ward was ſie ſeyn
wollte, ein Vergnuͤgen feinerer Seelen, die
[122] auf die angenehmſte Weiſe in ſuͤßen Toͤnen
ſich ſchoͤne Geſinnungen einfloͤßen laßen
und ſich ſingend belehren. Wer ſich durch
eine uͤbermaͤßige Liebe dieſes Dichters und
dieſer Kunſt den Geſchmack verwoͤhnt, und
ihn zum Unmaͤnnlichen erweichet, der hat
daran ſelbſt die Schuld; gewiß aber wird
durch Metaſtaſio's Geſaͤnge Niemandes
Herz verderbt, vielmehr kann ſeine mora-
liſche Empfindung, wenn er ſie aufwecken
laſſen will, erweckt und zart gelaͤutert wer-
den. Kurz in allen Italiaͤniſchen Dichtern
iſt Converſation und Geſang herr-
ſchend; ſie converſiren ſingend, ſie
ſingen dichtend.
Der Zweig der Provenzaliſchen Dicht-
kunſt, der ſich in Frankreich verbreitete,
trug andere Fruͤchte. Die Franzoͤſiſche Spra-
[123] che, die lange nicht ſo ſangbar war, als die
Italiaͤniſche, hatte deſto mehrere Luſt zu
erzaͤhlen, und zu repraͤſentiren. Sie
nahm alſo von ihren Provenzalen Einerſeits
vorzuͤglich die Contes und fabliaux auf,
die bald zu großen Romanen ausgebildet
wurden. Andererſeits gefielen der Nation
die Gebehrdenſpiele der Muſars, Co-
mirs, Plaiſantins ſo ſehr, daß ſie mit der
Zeit auch Spiele der Nation wurden, aus
welchen zuletzt das Franzoͤſiſche Thea-
ter hervor ging. Wir wollen von beiden
Charakterzuͤgen dieſer Nation, vom Er-
zaͤhlen und Repraͤſentiren, den großen
Erweis der Zeiten bemerken.
Muntre Erzaͤhler ſind die Franzoſen
von jeher geweſen; das ganze Gebilde ihrer
Sprache traͤgt davon den Charakter. Schon
unter Philipp Auguſt reimte man Maͤhr-
chen; unter Philipp dem kuͤhnen fan-
[124] den die Fabelerzaͤhler allenthalben Zutritt;
zahlreiche Romane von Artus und ſei-
nen Rittern, von Karl dem großen und
ſeinen Pairs, vom Amadis und ſo vielen
andern Helden der Tapferkeit und Liebe
wurden in Frankreich zwar nicht erfunden,
aber ausgebildet, als die Normaͤnner die-
ſen Zweig der Dichtkunſt bluͤhend machten.
Sie verbreiteten ſich nach England, Spa-
nien, Italien, zuletzt nach Deutſchland.
In der Periode des neueren franzoͤſi-
ſchen Geſchmacks, wer waren ihre erſten
Meiſter? Villon und Rabelais, Ma-
rot und Seines Gleichen, die durch muntre
Einfaͤlle und Erzaͤhlungen bleibenden Ein-
druck machten; die ernſthaften Dichter gin-
gen in die Vergeſſenheit uͤber. Frankreichs
Philoſoph war Montagne, der ſo Vie-
les von ſich ſelbſt und von andern zu er-
zaͤhlen wußte.
[125]
Im goldnen Zeitalter Ludwigs end-
lich war ein Erzaͤhler, la Fontaine, wohl
das eigenthuͤmlichſte Genie, deſſen Grazie
nicht veralten wird, ſo lange die franzoͤ-
ſiſche Sprache dauret. Eine zahlreiche
Menge von Erzaͤhlern in jeder Gattung
des Styls, proſaiſch, poetiſch, burleſk,
komiſch, war vorhergegangen und folgte.
Bei Voltaire iſt luſtige Erzaͤhlung viel-
leicht ſein gluͤcklichſtes Talent; die Prophe-
tinn von Orleans und Guillaum Vadé
gelangen ihm beſſer als die Henriade.
Dies Talent, das in Marmontel, Di-
derot, Cazotte und ſo vielen andern
immer neue Fruͤchte gebracht hat, ſolche
wahrſcheinlich auch bringen wird, ſo lange
ein Franzoſe oder eine Franzoͤſin die Lippen
beweget, hat ihrer Sprache in Allem, ſelbſt
in den ernſthafteſten Wiſſenſchaften, jene
Klarheit und Nettigkeit, jene muntre Praͤ-
[126] ciſion gegeben, die beinah ganz Europa
zur Nachahmung erweckt hat. Discours
heißt der Genius ihrer Schreibart. Alles
iſt ihnen klar; was ſie wiſſen und nicht
wiſſen, koͤnnen und doͤrfen ſie erzaͤhlen.
Repraͤſentation iſt der zweite Zug
ihres entſchiedenen Charakters. Das Volk
repraͤſentirt gern und liebte von jeher Re-
praͤſentationen. Schon unter den erſten
barbariſchen Koͤnigen ſpielten die Hiſtrio-
nen an allen Staatsfeſten ihre Rollen,
denen die Jongleurs und Jongleureſſes,
die Joueurs de Farces, Bateleurs u. f.
folgten. In mehreren und wiederholten
Reglemens mußte dieſen bei Gefaͤngniß-
und Leibesſtrafe verboten werden, nur nicht
an Sonn- und Feſttagen, waͤhrend des
Gottesdienſtes, in geiſtlichen Kleidern, an
oͤffentlichen Orten, aͤrgerliche Farcen zu
ſpielen. Zur Zeit der Kreuzzuͤge und der
[127] Wallfahrten nach dem heiligen Lande, ka-
men die Pilgrime wieder, um in ihrem
Vaterlande zu repraͤſentiren. In aben-
theuerlicher Kleidung erzaͤhlten und agirten
ſie ihre Geſchichten von weither,
Wunderdinge, Abentheuer, Viſionen; man
repraͤſentirte die Geſchichte des alten und
neuen Teſtaments, unter andern la Paſ-
ſion de N. S. Jeſus Chriſt en Vers bur-
lesques.Bruͤder der Paſſion(les
Confréres de la Paſſion) entſtanden; ſie
zogen die Privilegien des Narrenprin-
zen(prince des ſots) und des Narren-
feſtes(de la fête des foux) an ſich; man
raͤumte ihnen Hotels ein; ſo ward das
erſte franzoͤſiſche Theater, das bald darauf
devans leurs Majeſtès dans la ſalle du
ChâteauMoralitaͤten ſpielte. Der Ge-
ſchmack dieſer Moralitaͤten, in denen ſich
das Heilige und Profane ſonderbar miſchte,
[128] iſt bekannt; ſie hießen Jeux des pois pilés,
Spiele zerſtoßener Erbſen, und blie-
ben es ſo lange, bis aus ihnen die fran-
zoͤſiſche Comoͤdie hervorging, in wel-
cher denn, ſo wie auf dem franzoͤſiſchen
Theater uͤberhaupt, Repraͤſentation
von jeher der Hauptgeſichtspunkt geweſen
und geblieben iſt, nach welchem ſich Alles
ordnet. Es iſt zu erweiſen, daß Alles
Gute und Mangelhafte des franzoͤſiſchen
Theaters offenbar aus Repraͤſentation,
aus franzoͤſiſcher Repraͤſentation
erwachſen ſei, als einem der Nation unab-
leglichen Charakter. Jene Lebhaftigkeit und
Natur des Spiels mit Anſtand und Ge-
faͤlligkeit begleitet, jene Klarheit nicht nur
in der Expoſition ſondern auch in der gan-
zen Oekonomie des Stuͤcks, inſonderheit
in der Folge und Bindung ſeiner Scenen;
in der Oper das Feierliche der Choͤre, die
Pracht
[129] Pracht der Decoration u. f. kurz, was
Repraͤſentation fodert und geben kann,
ward dort gegeben und ausgebildet. Da-
gegen was Repraͤſentation nicht leiſtet,
was manchmal z. B. im Trauerſpiele ſie
ſogar nicht wuͤnſchet und gern verbirgt,
die tiefere Wahrheit und Natur der Leiden-
ſchaften dem franzoͤſiſchen Theater, ver-
glichen mit dem Griechiſchen und Engli-
ſchen, oft fremd blieb. Sowohl der He-
roismus als die Liebe erſcheinen in der
franzoͤſiſchen Theaterkunſt, (von vortreflichen
Ausnahmen iſt hier nicht die Rede) nach
dem Geſetz einer National-Convention
repraͤſentiret; dieſe Convention herrſcht
in Allem, im Ton der Stimme, in der
Kleidung und Gebehrde, in jedem Schritt
und Tritt des Acteurs und der Actrice.
Wenn Der oder Jene aus dieſem Gleiſe
des Anſtandes gluͤcklich herauszutreten wuß-
Siebente Samml. J
[130] ten; ſo ward ihre Ausnahme bald ſelbſt
zur conventionellen Regel. Faſt auf alle
Werke des Geiſtes, ſelbſt der Wiſſenſchaft,
erſtreckt ſich dieſe Franzoͤſiſche Repraͤſen-
tationsgabe; auf ihre gerichtlichen und
Kanzelreden, auf ihre Akademien und Elo-
gien, ſelbſt auf ihre Staatsverhandlungen
und Staatsgrundſaͤtze; in ihnen erſcheint
die Gerechtigkeit, die Andacht, die Ge-
lehrſamkeit, das Lob, die Politik, die Wiſ-
ſenſchaft repraͤſentirend. Es wird der
Nation ſchwer fuͤr ſich allein zu ſeyn; ſie
iſt gern im Auge andrer, am liebſten im
Auge des Univerſum ſprechend, ſchreibend,
agirend.
Die groͤßeſte Repraͤſentantin iſt die
Franzoͤſiſche Sprache. Mit dem Schein
Alles aufs genaueſte, aufs feinſte zu ſagen,
umſchreibt ſie in geltenden Ausdruͤcken, die
jeder zu verſtehen glaubt; und giebt, was
[131] ſie in ſo großer Menge hat, ins Ohr fal-
lende Worte, gemein gewordne Abſtrac-
tionen. Unendlich reich an Ausdruͤcken
der Hoͤflichkeit, der guten Lebensart, der
Kunſtphiloſophie u. f. huͤtet ſie ſich wohl,
mit dieſen Ausdruͤcken etwas mehr zu mei-
nen, als zum conventionellen Alltagsver-
ſtaͤndniß derſelben gehoͤret. Wehe dem,
der ſich auf ein Franzoͤſiſches Modewort,
auf eine Formel und Wendung des Fran-
zoͤſiſchen Styls verließ; die Mode aͤndert
ſich und das Wort bedeutet ganz etwas
Andres. —
Sollen den Franzoſen jetzt die Spanier
nachtreten, wie auch ſie etwa von den
Provenzalen gelernt haben? Nein. Die
Cultur der Spanier iſt von den Proven-
zalen nicht erborgt, ſondern an ihrer
J 2
[132] Seite ſtolz und eigenthuͤmlich erwachſen.
Jahrhunderte lang hatten die Araber ihr
ſchoͤnes Land beſeſſen, und in alle Provin-
zen deſſelben ihre Sprache und Sitten ver-
breitet. Jahrhunderte gingen hin, ehe es
ihnen entriſſen ward, und in dieſem lan-
gen Kampf zwiſchen Rittern und Rittern
hatten ſie wohl Zeit, den Charakter zu er-
proben, der ſich auch in Werken des Ge-
ſchmacks als ihr Genius zeigt; es iſt die
Idee eines chriſtlichen Ritterthums, den
Heiden und Unglaͤubigen entgegen. Als
alte, vom H. Jakobus bekehrte Chriſten
waren ſie in die Gebuͤrge geflohen; als
ſolche hielten ſie ſich in ihnen veſt und er-
oberten ihr Land wieder. Als ſolche wa-
ren ſie zu ſtolz, ſich mit Mauriſchem Blute
zu vermiſchen und entvoͤlkerten dadurch ihr
Land; als ſolche waren ſie in fremden
Welttheilen ſtolz und grauſam. Ihr Vor-
[133] trefliches und ihre Fehler kommen aus
Einer Quelle; aus welcher mit beiden,
mit Fehlern und Tugenden, auch ihre Poe-
ſie und Sprache floß. Dieſe ſtehet zwi-
ſchen der Italiaͤniſchen und altroͤmiſchen
in der Mitte; an Majeſtaͤt und Wuͤrde
der Mutter aͤhnlicher als eine ihrer Schwe-
ſtern; voll Wohlklanges fuͤr die Muſik,
und in dieſer faſt eine heilige Kirchenſpra-
che. Nicht lief ſie, wie die Provenzalinn,
auswaͤrts umher; ſie war ſtolz und blieb
zu Hauſe, brachte aber in ihrer ſchoͤnen
Wuͤſte unter manchem Sonderbaren und
Abentheuerlichen edle Fruͤchte. Vielleicht
giebt es keine ſcharfſinnigern Spruͤche und
Spruͤchwoͤrter als in der Spaniſchen Spra-
che; von Alphons dem Weiſen an
hat ſie in allen Productionen dieſen Cha-
rakter behauptet. Ihre Erzaͤhlungen, Thea-
terſtuͤcke und Romane ſind voll Verwicke-
[134] lungen, voll Tiefſinnes und bei vielem
Befremdenden voll feiner und großer Ge-
danken. Ihre Sylbenmaaſſe ſind ſehr
wohlklingend und die Leidenſchaft der Lie-
be ſteigt in ihnen oft bis zum ſchoͤnen
Wahnſinn. Sie ſind veredelte Araber;
auch ihre Thorheit hat etwas Andaͤchtiges
und Erhabnes.
[135]
88.
Wie mir immer eine Furcht ankommt,
wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge
durch einige Worte charakteriſiren hoͤre:
denn welch eine ungeheure Menge von
Verſchiedenheiten faſſet das Wort Nation,
oder die mittleren Jahrhunderte,
oder die alte und neue Zeit in ſich!
eben ſo verlegen werde ich, wenn ich von
der Poeſie einer Nation oder eines
Zeitalters in allgemeinen Ausdruͤcken
reden hoͤre. Die Poeſie der Italiaͤner,
der Spanier, der Franzoſen, wie viel,
wie mancherlei begreift ſie in ſich! und
[136] wie wenig denket, ja wie wenig kennet
der ſie oft, der ſie am wortreichſten cha-
rakteriſiret!
Wenn ich meinen Dante und Pe-
trarca, Arioſto und Cervantes las,
und Jeden dieſer Dichter, wie meinen
Freund und Lehrer von Innen aus kennen
lernen wollte: ſo war es mir angenehm,
ihn als einen Einzigen zu betrachten.
Zu dieſem Zweck ſuchte ich Alles auf, was
in ihm liegt, was rings um ihn zu ſeiner
Bildung oder Misbildung beigetragen. Die
ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver-
ſchwand vor meinen Augen; ich ſahe nur
ihn. Und doch wurde ich bald an die
ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor
ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte
gelernt und lehrte; er folgte andern, andre
ihm nach. Das Band der Sprache, der
Denkart, der Leidenſchaften, des Inhalts
[137] knuͤpfte ihn mit mehreren, ja zuletzt mit
allen Dichtern: denn — er war ein Menſch,
er dichtete fuͤr Menſchen. Unvermerkt
werden wir alſo darauf geleitet, zu unter-
ſuchen, was jeder gegen jeden Aehnlichen
in und außer ſeiner Nation, was ſeine
Nation gegen andre vor- und ruͤckwaͤrts
ſei; und ſo ziehet uns eine unſichtbare
Kette ins Pandaͤmonium, ins Reich
der Geiſter.
Wenn Poeſie die Bluͤthe des menſch-
lichen Geiſtes, der menſchlichen Sitten,
ja ich moͤchte ſagen das Ideal unſrer
Vorſtellungsart, die Sprache des
Geſammtwunſches und Sehnens der Menſch-
heit iſt: ſo, duͤnkt mich, iſt der gluͤcklich,
dem dieſe Bluͤthe vom Gipfel des Stam-
mes der aufgeklaͤrteſten Nation zu
brechen vergoͤnnt iſt. Es iſt wohl kein ge-
ringer Vorzug unſeres inneren Lebens,
[138] außer den Morgenlaͤndern und Alten mit
den edelſten Geiſtern Italiens, Spaniens,
Frankreichs ſprechen und bei jedem bemer-
ken zu koͤnnen, wie Er die Begriffe und
Wuͤnſche ſeines Herzens, die Ihn am mei-
ſten entflammten, auf die wuͤrdigſte Art
einzukleiden und fuͤr Welt und Nachwelt
angenehm, ja hinreißend vorzutragen ſuchte.
Hingeriſſen in eure ſuͤße und bittre Traͤu-
mereien, ihr Dichter, wandeln wir mit
euch in einer Zauberwelt und hoͤren eure
Stimme als ob ihr lebtet. Andre erzaͤhlen
von ſich und andern; ihr verſetzet uns in
euch ſelbſt, in eure Welt von Gedanken
und Empfindungen des Leides und der
Freuden.
Und ach, wie klein iſt unſre Welt! wie
oft wiederholen ſich Empfindungen und Ge-
danken! Enge iſt der Kreis des menſchli-
chen Tichtens und Trachtens; in wenige,
[139] wenige Knoten iſt alle unſer Intereſſe ge-
knuͤpfet.
In dieſer Ruͤckſicht nun kann man
freilich die Geſchichte der Dichtkunſt d. i.
die Geſchichte menſchlicher Einbil-
dungen und Wuͤnſche, und wenn ich
ſo ſagen darf, des ſuͤßen Wahns der
Menſchheit, der aufs feurigſte aus-
gedruckten Leidenſchaften und Em-
pfindungen unſres Geſchlechts nicht
allgemein und im Großen gnug neh-
men. Wie ganzen Nationen Eine Spra-
che eigen iſt, ſo ſind ihnen auch gewiſſe
Lieblingsgaͤnge der Phantaſie, Wendungen
und Objecte der Gedanken, kurz ein Ge-
nius eigen, der ſich, unbeſchadet jeder
einzelnen Verſchiedenheit, in den beliebte-
ſten Werken ihres Geiſtes und Herzens
ausdruckt. Sie in dieſem angenehmen Irr-
garten zu belauſchen, den Proteus zu feſ-
[140] ſeln und redend zu machen, den man ge-
woͤhnlich Nationalcharakter nennt und
der ſich gewiß nicht weniger in Schriften
als in Gebraͤuchen und Handlungen der
Nation aͤußert; dies iſt eine hohe und feine
Philoſophie. In den Werken der Dichtkunſt
d. i. der Einbildungskraft und der Empfin-
dungen wird ſie am ſicherſten geuͤbet, weil
in dieſen die ganze Seele der Nation
ſich am freieſten zeiget.
So iſt es auch mit dem Geiſt Eines
oder mehrerer Zeitalter, ſo viel die-
ſer Name unter ſich begreifet: denn jedes
Zeitalter hat ſeinen Ton, ſeine Farbe; und
es giebt ein eignes Vergnuͤgen, dieſe im
Gegenſatz mit andern Zeiten treffend zu
charakteriſiren. Mir ſind z. B. die ſoge-
nannten mittleren Zeiten auch in ihren
Maͤhrchen, in dem guten Glauben und
Aberglauben, der ſie beherrſchte, in der
[141] ganzen Richtung, den die Europaͤiſche Denk-
art damals nahm, ſehr merkwuͤrdig. Die-
ſer Wahn liegt uns naͤher, als die My-
thologie der Griechen und Roͤmer; manche
Zuͤge davon haben wir vielleicht in ange-
bohrnen Neigungen und Vorſtellungsarten,
gewiß aber in Reſten der Gewohnheit von
unſern Vaͤtern geerbet.
[142]
89.
Fuͤnftes Fragment
Vom Werth der Europaͤiſchen Dich-
tung mittlerer Zeiten.
Wir haben jetzt Umfang gnug gewonnen,
die Europaͤiſche Cultur durch die Poeſie
der mittleren Zeiten in dem weiten Raum,
den ſie durchging, unpartheiiſch zu ſchaͤtzen,
und ihren Werth oder Unwerth zu zeigen.
Ein großer Nachtheil war fuͤr ſie die
allenthalben mit fremden Spra-
[143]chen vermiſchte, in ihr ſelbſt ver-
fallene Roͤmerſprache. Mit Recht
hieß dieſe ruſtica, eine Bauernſprache; die
Dichtkunſt, die in ihr aufkam, konnte mit
Noth und Muͤhe auch nur eine vulgare
Dichtkunſt werden. Alles war hier durch
einander gemiſcht und verdorben. Nordi-
ſche Voͤlker kamen mit einer harten, ſkla-
viſche, in Feigheit verſunkene Voͤlker ſpra-
chen eine vernachlaͤßigte Sprache. Unruhe
und wiederkommende Verwuͤſtung, Nacht
und Aberglaube verheerten die Welt; was
aus dieſem Chaos uͤber einander ſtuͤrzen-
der Voͤlker und Sprachen hervortoͤnte,
konnte nicht oder ſehr ſpaͤt der Geſang je-
ner Muſe ſeyn, die einſt in Jonien, Athen
und Tibur reingeſtimmte, harmoniſche Sai-
ten beſeelt hatte. Hier ſchrieb man Reime.
(coplas, rime.)
[144]
Einen noch herbern Feind hatte die
Bildnerinn der Sitten, die Poeſie, an den
Sitten dieſer Nationen ſelbſt, im
mittleren Zeitalter. Kriegeriſchen Voͤl-
kern ertoͤnt nur die Tuba; unterjochte,
Baͤuriſche Voͤlker ſangen rohe Volksgeſaͤn-
ge; Kirchen und Kloͤſter Hymnen. Wenn
aus dieſer Miſchung ungleichartiger Dinge
nach Jahrhunderten ein Klang hervorging;
ſo wars ein dumpfer Klang, ein vielarti-
ges Sauſen. Schon der Charakter-Name
des Inhalts der Zeiten ſagt dies. Er heißt
Abentheuer, Roman; ein Inbegriff
des wunderbarſten, vermiſchteſten Stoffs,
der urſpruͤnglich nur ununterrichteten Oh-
ren gefallen ſollte, und ſich faſt ohne
Kaͤnntniß der Natur, Kunſt und Geſchichte
von der Vorwelt her uͤber Meer und Laͤn-
der in wilder Rieſengeſtalt erſtreckte. Von
den Arabern her beſtimmten drei Ingre-
dien-
[145]dientien den Inhalt dieſer Sagen, Lie-
be, Tapferkeit und Andacht; ſchoͤne
Namen, waͤre ihre Bedeutung nur im-
mer auch in der Anwendung der Namen
werth geweſen.
Liebe. Gewiß aber wars nicht immer
jene zaͤrtlich-bewundernde Liebe, die man
aus einem guten Vorurtheil, den Erzaͤh-
lungen und Liedern des Mittelalters ge-
meiniglich als Charakter zuſchreibt. Viele
Geſaͤnge und Geſchichten zeigen ein Andres,
das ſich auch zu jenen Gedankenloſen, und
dabei unternehmenden Zeiten beſſer ſchickt
und fuͤget. In muͤßigen, reichen und uͤp-
pigen Staͤnden, in Schloͤſſern, an Hoͤfen,
deren es damals ſo viel gab, hatte man
Zeit und Mittel, jene Galanterie, die
geprieſene Bluͤthe der Ritter-Jahrhunderte,
oft in einem Geſchmack zu treiben, wie ſie
des Boccaz Decamerone oder Bran-
Siebente Samml. K
[146]tome und ſo manches uͤppige Capitolo
ſchildert. Man ruͤhmte ſich deſſen, was man
erfahren haben wollte, nicht immer auf die
feinſte und ſittlichſte Weiſe.
Tapferkeit. Ein edles Wort; die
damaligen Zeiten aber gebrauchten es nicht
immer in der edelſten Anwendung. Der
Ritter, der in die Welt zog, Unglaͤubige oder
Ketzer zu vertilgen und ſich außer den Pflich-
ten gegen Ebenbuͤrtige, gegen Damen, ge-
gen ſeinen Lehnsherren und die Kirche Alles
erlaubt hielt, war eben nicht das reinſte
Ideal maͤnnlicher Tugend. Eine Poeſie alſo,
die ſolche Ritterzuͤge beſang oder erzaͤhlte,
mußte oft dumpf umherſchwaͤrmen und bis
zum Ermuͤden ſingen und ſagen, was Rit-
terthum und Ritterehre erfodert. Oder
um dieſem Einerlei zuvor zu kommen, mußte
ſie ſich ins Ungeheure, ins Unmoͤgliche ver-
lieren, hier eine brutale Macht loben, dort
[147] Ahnenſtolz, Raͤubergluͤck oder leeren Glanz
preiſen. Wider Willen mußte ſie oft lang-
weilig, oft Geiſtlos und unmoraliſch wer-
den, weil ſie Geiſtloſe Menſchen in Zweck-
loſen oder unmoraliſchen Thaten zu ſchil-
dern hatte, und auch bei großen und gu-
ten Zwecken ſie mit zu viel falſchem Glanz
vergulden mußte.
Andacht endlich. Bloß als Feierlich-
keit behandelt, ermuͤdet ſie und laͤßt die
Seele bald leer; als eine Verbindung mit
dem Unendlichen, als Anſchauung des Un-
ermeßlichen betrachtet, erhebt ſie zwar die
Seele, entzuͤckt ſie aber auch in einen Glanz,
in welchem der Poeſie zuletzt jede Form
ſchwindet. Soll Andacht aber ſogar Miſſe-
that verſoͤhnen, es ſei mit leeren Gebraͤu-
chen, oder mit Geſchenken und Vermaͤcht-
niſſen, ohne daß dem Unterdruͤckten Er-
ſtattung geſchehe; o da wird ſie dem Men-
K 2
[148] ſchenſinn, dem moraliſchen Gefuͤhl widrig
und auch im ſchoͤnſten poëtiſchen Nachbilde
veraͤchtlich.
Alle dieſe Maͤngel und Laſter entſpran-
gen aus dem Verderben der Religion und
Sitten damaliger Welt in obern und un-
tern Staͤnden; eine froͤhliche Wiſſenſchaft,
die an Hoͤfen entſtanden, von Großen ge-
naͤhrt und nur zur Zeitkuͤrzung gebraucht
ward, konnte und wollte die Schwaͤchen
des Jahrhunderts weder abthun noch ver-
ſoͤhnen. Sie dachte an den Inhalt einer
Erzaͤhlung nur ſofern als dieſer Inhalt
vergnuͤgte, und es war Sitte der Zeit,
ſich bisweilen auch langweilig und gemein
zu vergnuͤgen. Das Ohr des Volks, vor
welches zuletzt dieſe Divertiſſements auch
kamen, nahm ſie mit Freuden auf, weil
ſie bei Hofe erfunden waren, weil man ſie
in hoͤheren Staͤnden belachte. Es war
[149] eine Hof-Art (corteſania) ſie ſchoͤn zu
finden — —
So gewiß iſts, daß nichts bleibend ſchoͤn
ſeyn kann, als das Wahre und Gute.
Keine Kunſt, kein Kuͤnſtler vermag von
einem falſchen Schimmer der Macht und
Hoheit, vom geſchminkten Reiz der Wohl-
luſt und Ueppigkeit, oder von der Schwaͤr-
merei ein Ideal zu borgen, das beſtehe
und fortdaure. Was unrein dem menſch-
lichen Gemuͤth iſt, muß ihm fruͤher oder
ſpaͤter auch in der Poeſie unrein erſchei-
nen: denn nur fuͤrs menſchliche Gemuͤth
wird gedichtet.
Jene Romane voll Langweiligkeiten des
Ritterthums, voll falſchen Glanzes der
Hofſitten oder gar jene Gemaͤhlde des Gar-
tengottes und der Goͤttinn Crapula, was
ſind ſie unter dem Fuß der Zeit worden?
Schlamm und Moder. Es iſt Geſetz der
[150] Natur, daß auch in der Poeſie und Kunſt
nur das Wahre und Gute bleibe.
Der Keim, der davon auch in der
Dichtkunſt der mittleren Zeiten lag, iſt nicht
verweſet. Fruchtreich hat ihn die Zeit aus-
gebildet: denn in den drei groſſen Namen
Liebe, Ehre und Andacht liegt Alles,
was die Menſchheit wecken, die Poeſie
beleben kann. Sie ſind mehr als Patrio-
tismus; ein weites und tiefes Meer der
Seeligkeit, aus dem die Schoͤnheit ent-
ſprang und in welchem ſie ſich ſpiegelt.
1. Andacht. Freilich iſts nicht jedem
Geiſt in ſeiner ſterblichen Huͤlle gegeben,
ſich Formlos ins Flammenmeer der Gott-
heit zu verſenken; aber auch nur im Ab-
glanz dieſe Sonne, das hoͤchſte Ideal menſch-
licher Gedanken zu betrachten, erquickt und
erheitert. Die Poeſie der mittleren Zeiten
hatte ſich hiezu das Bild des ewigen
[151] Vaters, des Sohnes Gottes und ſei-
ner Mutter, der heiligen Jungfrau
ausgemahlt und in das letzte inſonderheit
ein hohes Ideal weiblicher Tugend, alle
Grazie ihres Geſchlechts geleget. Jung-
fraͤuliche Keuſchheit, Huld und Anmuth,
eine ſich ſelbſt unbewußte Hoheit und Wuͤr-
de, muͤtterliche Liebe, ſchweigende Geduld,
Großmuth, Hoffnung, endlich ein ſtiller
Dank- und Freudegenuß jenes uͤberſchweng-
lichen Lohns, deſſen ſich die Wohlthaͤtige
jetzt in Ewigkeit werth macht — alles dies
ward nach und nach von der dichtenden
Andacht in ſie geſenkt, in ihr beſungen und
geprieſen.
Der Werth der Heiligen, die Maͤrty-
rer waren, ſcheinet von geringerer Art; die
Tapferkeit der Seele aber, die um
des Bekaͤnntnißes der Wahrheit willen Lei-
den ertraͤgt und Martern erduldet; jene
[152]ſtille Großmuth, die verkannt einher-
geht, die Reichthum, Wohlluſt, und nie-
drigen Ruhm verſchmaͤht, unbillige Ver-
achtung, Schmach und Hohn fuͤr nichts
achtet und dennoch wohlzuthun fortfaͤhrt;
die Heiterkeit der Seele endlich, die
durch Einfalt, Unſchuld, Zuverſicht und
Erfahrung bewaͤhrt, in der Wolke des To-
des den offnen Himmel ſieht, und das
Lied der Vorangegangenen hoͤret; eine An-
dacht dieſer Art iſt mehr als eine Helden-
wuͤrde von außen. Und es ſangen ſie ſo
viele Hymnen, ſo praͤchtige Canzonen.
2. Tapferkeit. Auch der Werth
eines Mannes, der nach reinen Begrif-
fen des Ritterthums um Ehre ſtreitet, iſt
nicht von geringer Art. Schwache zu be-
ſchuͤtzen, die Unſchuld zu vertheidigen, auch
im heftigſten Streit ſich nichts Unwuͤrdiges
zu erlauben, im Feinde noch den Mann
[153] zu erkennen, im Ueberwundenen den Tapfern
zu ehren, endlich, die wehrloſe, die kranke
Menſchheit mit ritterlicher Hand zu pfle-
gen, zu warten; dies alles waren Pflich-
ten des Ritterthums, die freilich mit gro-
ßen Ausnahmen, alleſammt auch nur un-
ter dem Mantel der Religion, und noch
nicht als reine Obliegenheiten des
Menſchen geſungen und eingeſchaͤrft wur-
den. Sie oͤfneten indeß einer allgemeinern,
reineren und hoͤheren Tugend die Schran-
ken, als ſelbſt in einem weit engeren Be-
zirk von der alten Heldenſage der Grie-
chen und Roͤmer geprieſen werden konnte.
Wenn Andacht, Liebe und Tapferkeit
reiner Art ſich ritterlich in einander ver-
weben, erniedern ſie den maͤnnlichen Cha-
rakter nicht.
3. Liebe. Hier findet wohl kein Zwei-
fel ſtatt, daß die Hochachtung und
[154]zarte Behandlung des weiblichen
Geſchlechts, welche Araber und Nor-
maͤnner in Romane und Poeſie brachten,
die ſich auch mit dem Dienſt der heiligen
Jungfrau und dem Chriſtenthum
uͤberhaupt wohl vertrug, eine Blume ſei,
die Griechen und Roͤmer eben nicht vorzuͤg-
lich cultivirten. Groͤßtentheils beſangen dieſe
im Weibe nur das Weib oder gar eine
Buhlerinn, eine Hetaͤra. Da das noͤrdliche
Klima Luſtbarkeiten, wie ſie Horaz oder
Petron ſchildern, keinen Raum gab,
auch in dieſen Gegenden die ſpaͤter entwik-
kelte und deſto laͤnger daurende Jugend
des Weibes eine ſittlichere, reifere Liebe
fodert: ſo wandte ſich jetzt allmaͤhlich die
Poeſie auf Etwas, darauf jene Zeiten nicht
ausgehen konnten, auf Cultur des Um-
ganges beider Geſchlechter mit ein-
ander, von welchem unſre nordiſche
[155]Wohlerzogenheit groͤßtentheils abhaͤngt.
Das Weib war von der Religion geehrt;
warum ſollten ſie nicht auch Menſchen eh-
ren? Sie gaben den Maͤnnern Rath, dem
Leben Anmuth; ſie bewegten das Herz des
roheren Mannes und waren gleichſam
Mittlerinnen im Himmel und auf Erden.
Nach chriſtlichen Begriffen ſchlang die Liebe
nicht nur in dieſer Sichtbarkeit einen un-
aufloͤslichen Knoten, ſondern auch das Band
der Freundſchaft in einer ewigen Welt.
Durchs Chriſtenthum ſahe man dort lich-
tere Gegenden vor ſich, als den traurigen
Orkus; in ihnen beſang Dante ſeine
Beatrice, Petrarca eine himmliſche
Laura. U. f.
[156]
90.
Das unvollendete Fragment vom Werthe
der Poëſie mittlerer Zeiten moͤchte ich,
gleichfalls fuͤr und wider, mit Vortheil
und Nachtheil alſo ergaͤnzen.
Erſtens. Fuͤgt man dem Vorigen
hinzu, daß die Poeſie der mittleren Zeiten
nach und nach mit mehreren Wiſſen-
ſchaften bekannt ward, als jene Poeſie
der Jugend-Welt je kennen lernen konnte:
ſo war ihr hiemit, eben wie bei Andacht,
Liebe und Ehre, ein großer aber auch
ein ſehr gefaͤhrlicher Knaͤuel in die Hand
gegeben. Sie konnte daraus Vieles ent-
[157] wickeln, aus jeder Wiſſenſchaft ſich zu eigen
machen, was fuͤr ſie diente; jede Erfin-
dung, jedes neu entdeckte Land ſtand ihr
zu Gebote. Sie konnte aber auch auf die-
ſem Wege zu gelehrt, ſpitzfuͤndig
und ſcholaſtiſch werden; und waͤre ſie
es nicht hie und da reichlich geworden?
Der groͤßere Boden von Wiſſenſchaft
indeß, den der menſchliche Geiſt gewann,
war ein betraͤchtliches Erwerbniß. Die
neuere Poeſie hat davon Nutzen gezogen
und wird davon Vortheile ziehen, ſo lange
Wiſſenſchaften wachſen, Erfindungen ſich
mehren, ſo lange der menſchliche Geiſt
fortſchreitet. Nicht vergebens hat der
Vater der neueren Dichtkunſt, Dante,
mit einem Werk begonnen, das eine Art
von Encyklopaͤdie des menſchlichen
Wiſſens uͤber Himmel und Erde enthaͤlt;
er hat ſeinem von jeder Vorzeit unterrich-
[158] teten Kinde hiemit den Weg eines immer
fortſchreitenden Verdienſtes gewieſen.
Zweitens. Und da in der mittleren
Zeit viele Nationen, die geſamm-
ten Voͤlker des roͤmiſch-chriſtli-
chen Europa auf Einem Kampf-
platz des Ruhms ſtanden, und durch
mehrere Verbindungen in Einer Schule
der Unterweiſung lernten: ſo bekam,
ungeachtet aller Nationalunterſchiede von
Sitten und Sprachen, die Europaͤiſche
Poeſie und Lehre hiemit eine gemein-
ſchaftliche Richtung. Mit ſo vielem
Unreinen ſie hie und da vermiſcht war,
ſo trug ſie allenthalben dazu bei, das
Schwert der Barbaren, das noch nicht
geſtumpft war, einzuhalten, zu weihen, zu
veredeln. Rittern und edlen Herren ward
ein Kranz des Ruhms und der Ver-
dienſte vorgehalten, ohne welchen ſie,
[159] wie die Geſchichte mehrerer Laͤnder zeigt,
harte Herren, Trunkenbolde, raͤuberiſche
ſtolze Barbaren blieben. Selbſt die Grie-
chen des oͤſtlichen Kaiſerthums, die an den
Rittergeſetzen der Weſtwelt keinen Antheil
nahmen, erlaubten ſich Niedertraͤchtigkeiten
gegen Feinde und Ueberwundene, die in
Spanien, Italien und Frankreich kein Rit-
ter ſich jemals erlaubt haben wuͤrde. Als
uͤppige Treuloſe gingen ſie unter. —
Alles alſo was Menſchen, Staͤnde und
Voͤlker miteinander verband, was die Ge-
ſchlechter einander freundlich, Gemuͤther
einander geneigt machte, was zu einem
gemeinſchaftlich-anerkannten Zweck und
gleichſam zu der Lehrform beitrug, nach
welcher man von Jugend auf, wenn gleich
auf rohe Weiſe, der Tapferkeit, Liebe
und Andacht huldigen lernte, offenbar
bahnte dies der Menſchenliebe oder
[160] zufoͤrderſt jener chriſtlichen Herzens-
guͤte den Weg, die als carità die Grazie
der Grazien iſt, und jede Huldigung ver-
dienet. Die Poeſie des Mittelalters wirkte
zu dieſem Zweck unverkennbar.
Aus den Haͤnden der Araber hatten
die Europaͤer Andacht, Liebe und Ta-
pferkeit, als einen Kranz der Ritter-
wuͤrde empfangen; ſie verſchoͤnten ihn nach
chriſtlicher Weiſe.
Und da gerade dieſe Poeſie es war,
die auch das Volk nicht verachtete, die
ſich auf oͤffentlichen Plaͤtzen und Maͤrkten
hoͤren ließ und durch Geiſt, Witz und Spott
eigene Gedanken und ein freies Urtheil
auch uͤber Zeithaͤndel, uͤber die Sitten
geiſtlicher und weltlicher Staͤnde, uͤber das
Verhaͤltniß derſelben gegen einander weckte:
ſo ward, wie die Geſchichte zeigt, Poeſie
der erſte Reformator. Immerhin wird
dies
[161] dies auch die froͤhliche Wiſſenſchaft,
(gaya ciencia, gay fabè) ſeyn und bleiben.
Siebente Samml. L
[162]
Ptolemais und bedung ſich dabei ausdruͤck-
lich, daß er weder ſeine Frau verlaſſen, noch
eine Auferſtehung des Leibes glauben doͤrfe.
Seine Hymnen ſowohl als ſeine andern Schrif-
ten ſind ein Gemiſch des Chriſtenthums und
der Alexandriniſchen Philoſophie, in welcher
Hypatia ſeine Lehrerinn geweſen war.
A. d. H.
nicht, daß es auch im chriſtlichen Zeitalter,
bis zur Eroberung Conſtantinopels und fer-
nerhin griechiſche Dichter gegeben habe. Es
gab Griechiſche Dichter, aber keine Poeſie
Griechenlandes in dem Sinne, von dem
hier die Rede iſt. A. d. H.
claſſicos pertinentibus. Berol. 1785. p. 131.
ſequ. iudicium aequalium de Horatio.
in den poet. lat. minorib. T. III.ſammt
iſt, mit großem Fleiß geſammelt. A. d. H.
zur Zeit des allgemeinen Verfalls der Roͤmi-
ſchen Sprache und Poeſie merkwuͤrdige Er-
ſcheinungen. Beide Dichter waren Chriſten,
und doch laſſen ſie es ſich in ihren Gedich-
ten wenig merken; der Erſte gar nicht, der
Zweite iſt gleichſam wechſelsweiſe Chriſt und
Heide. Beide ſuchen, wie aus Truͤmmern
vergangener Zeiten Schaͤtze hervor; Jener
Philoſophie, die er in alle Sylbenmaaße ſei-
nes Seneka ordnet, Dieſer das Andenken an
alle ihm werthe Sachen und Menſchen. Bei-
de, inſonderheit Boëthius, ſind den fol-
genden dunkeln Jahrhunderten leitende Sterne
reren Dichtern der letzten Zeit bereits ſicht-
barer Weiſe ein neuer Geſchmack hervor-
gehet, der den folgenden Zeiten verwandt
und ihnen daher lieber war, als der große
Geſchmack der alten claſſiſchen Dichter. Von
Boëthius haben wir nach zwei merkwuͤrdi-
gen Ueberſetzungen des vorigen Jahrhunderts
(Nuͤrnberg 1660. Sulzbach 1667. letzte vom
Sulzbachſchen Canzler Knorr von Roſen-
roth) neulich eine unſrer Zeit gemaͤßere er-
halten, auf welche viel Fleiß gewandt iſt.
(Troſt der Philoſophie aus dem Latei-
niſchen des Boëthius von F. C. Freitag,
Riga 1794.) In den Sylbenmaaßen iſt der
Ueberſetzer dem Dichter nicht gefolget; die
ſeinen aber ſind edel und ſtreben im Rhythmus
der Jamben dem Milton nach. Boëthius
iſt ein Philoſoph fuͤr alle Zeiten. A. d. H.
Hoͤrt auf mit Klagen iſt eine Nachah-
Geſang ins Engliſche: The Day of Wreath,
der beim Prudentius anfaͤngt: Deus,
ignee fons animarum.
ten aus ihm:
Unſer Deutſches Lied: Es iſt gewißlich
an der Zeit, iſt eine Nachahmung dieſes
Geſanges.
Merkur, Februar 1781.
als Otfried, dem ſehr hart begegnet ward.
Er ſchrieb dies als ein Vertriebner, im Ge-
faͤngniß.
Syſtem der Nordiſchen Prosodie findet man
in Olaus Wormiusliteratura Danica,
Hickestheſaur. linguar. ſeptentrion. und
aͤhnlichen Werken. Wer ihrer entbehrt, ziehe
die Briefe uͤber Merkwuͤrdigkeiten
der Literatur (Schleswig 1767.) Th. I.
S. 150, zu Rath; eine Sammlung Briefe,
die weit mehr Aufmerkſamkeit verdient, als
tionen, daß gewiſſe Worte im Anfange und
in der Mitte des Verſes von einem Buch-
ſtaben anfangen und einen aͤhnlichen Vocal
haben, iſt, wie mich duͤnkt, mehr angeſtaunt
als erklaͤrt worden; ſein natuͤrlicher Grund
iſt der Bau der Sprache ſelbſt, der Genius
des Volks, das ſie ſprach und die Art, wie
man die Worte antoͤnte. A. d. V.
Poeſia, in Velasquez-Diez Geſchichte
der Spaniſchen Dichtkunſt und denen daſelbſt
angefuͤhrten Schriften, in mehreren Abhand-
lungen des um die Provenzalen ſehr verdien-
ten Curne de St. Palaye in der Academie
Troubadours, Abbt Andrèsſtoria d'ogni
literatura T. I. II. kann man ſich uͤber dieſe
merkwuͤrdige Erſcheinung weiter belehren.
Sie iſt die Morgenroͤthe der neueren Eu-
ropaͤiſchen Cultur und Dichtkunſt.
odie, von dem viele keinen deutlichen Begriff
alten und neuen Poeſie viel beitraͤgt, iſt am
beſten in Iſaak Voß bekannter Abhandlung
de cantu veterum (uͤberſetzt in der Samm-
lung vermiſchter Schriften Th. I.
Berl. 1759.) in des Abbt Du Bos Betrach-
tungen uͤber Poeſie und Malerei, in Mura-
tori Abhandlung de rhythmica Veterum
poeſi (Antiqu. Ital. med. aevi T. III. p.
664.) ſonſt aber auch in Klopſtocks u. a.
grammatiſchen Schriften vorgetragen, wie er
denn zur Prosodie jeder neueren Sprache ge-
hoͤret.
lange gefuͤhrte Streit uͤber den Antheil, den
an der Bildung unſres Geſchmacks und unſrer
Literatur haben, noch nichts weniger als bei-
gelegt iſt. Warton z. B. in der Geſchichte
der Engliſchen Dichtkunſt, Thyrwitt in
ſeinen Anmerkungen zu Chaucer, Artea-
ga in der Geſchichte der Italiaͤniſchen Oper,
Andrès in der ſtoria d'ogni literatura u.
f. ſind noch weit aus einander; und doch
liegt alles Material ſo nahe beiſammen vor
uns. A. d. H.
finden ſich in Herbelots morgenlaͤndiſcher
Aſiat.,Richardſons Vorrede zu ſeinem
Perſiſchen Woͤrterbuch (uͤberſetzt Leipz. 1779.)
Andrès ſtoria d'ogni letteratura aus Ca-
ſiri, ja in der Geſchichte der Araber ſelbſt.
A. d. H.
de Poeſi Aſiat. und alle von ihm und andern
bekannt gemachten Poeſieen der Araber. An
Leidenſchaft und Bildern ſind ſie reich; ihr
Geſchmack aber in Compoſition dieſer Bilder
iſt von dem unſrigen ganz verſchieden.
aures Arabum. In florilegio hoc (Elnawa-
big vel Ennawawig, quod vocabulum de-
ſignat ſcaturientes partim poëtas, partim
verſus vel rhythmos nobiliore quadam ve-
na ſe commendantes) linguae Arabicae ge-
nius egregie relucet, nativumque illum
mos et alliterationes mera vibrat acumina.
Schultens in der Vorrede zu Erpenius
Arabiſcher Grammatik. Mich duͤnkt, weder
unſre Sprache noch unſre Nation habe die-
ſen angebohrnen Witzſprudelnden Reimcharak-
ter. A. d. V.
The one verſe for the other's ſake;
For one for ſenſe and one for rhyme
I think ſufficient for a time.
Buttler's Hudibras P. II. C. I.
With which, like ſhips, they ſteer their
courſes.
Buttler.
ſchichte der ſogenannten Waldenſer, Albigen-
ſer, bons hommes, u. f. deren verſchiedne Na-
men ſowohl als erlittene grauſame Verfolgun-
gen bekannt ſind. In Legers Geſchichte der
Waldenſer ſind ihre in der Provenzalſprache
geſchriebene Schriften angefuͤhrt; ausfuͤhrli-
chere Nachricht giebt die hiſt. generale de
Languedoc, T. III. Des Wiklif, mithin
auch Huß und Luthers Reformation han-
gen mit dieſer erſten Inſurrection gegen den
herrſchenden Clerus zuſammen, wie die feine-
re Cultur in Europa mit den erſten Verſu-
chen der provenzaliſchen Dichtkunſt.
A. d. V.
Zimmer, eine Kammer bedeutet.
A. d. H.
ſtaͤndniß dieſer Fragmente und Briefe eine
Kaͤnntniß nicht nur der Geſchichte, ſondern
auch der Dichtungen aller mittleren Jahr-
hunderte gehoͤrt, und ich ſtand lange bei mir
an, ob ich nicht hie und da, ſo wie von
chriſtlichen Hymnen, ſo auch von Arabern,
Provenzalen, Italiaͤnern, Franzoſen und Spa-
niern Proben einruͤcken ſollte. Das Buch
haͤtte ſich vergroͤßert; ich fuͤrchte aber nicht
der innere Verſtand deſſen, was hier vorge-
tragen iſt: denn die Producte des Geiſtes,
worauf ſich das Vorgetragene beziehet, muͤſ-
ſen im Zuſammenhange erwogen, und nach
ſo vielen National- und Zeitumſtaͤnden un-
terſchieden werden, daß der Commentar hier-
uͤber ein neues, ſiebenfach groͤßeres Buch ge-
worden waͤre. Entweder muß der Leſer alſo
den Verfaſſern dieſer Fragmente und Briefe
glauben, oder er muß die Fruͤchte genannter
Zeiten ſelbſt koſten, zu denen ihm I. A. Fa-
dii aevi,Hamberger im 3. und 4. Theil
ſeiner zuverlaͤßigen Nachrichten von
den vornehmſten Schriftſtellern, und die Ge-
ſchichte jeder National-Dichtkunſt dieſer
Voͤlker das Verzeichniß liefert. Beides, ſo-
wohl Briefe als Fragmente, ſind Reſultate
von ſo mancherlei Unterſuchungen und Zuſam-
menſtellungen, daß nur der ein Urtheil dar-
uͤber haben kann, der denſelben weiten Weg
gegangen, den die Verfaſſer dieſer Aufſaͤtze
genommen zu haben ſcheinen.
A. d. H.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn53.0