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[]
Die
unſichtbare Loge
.


Eine Biographie
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Erſter Theil.
Mit einem Titelkupfer.


Mit Churf. Sächſ. Privilegio.

Berlin,: 1793.inKarl Matzdorffs Buchhandlung.
[][]

Mumien.

[][[I]]

Motto.


Der Menſch iſt der große Gedankenſtrich im Buche
der Natur.

Auswahl aus des Teufels Papieren.
[[II]][[III]]

Vorredner
in Form einer Reiſebeſchreibung.

Ich wollte den Vorredner Anfangs in Sichers¬
reuth — einen Sauerbrunnen bei Wonſiedel —
verfertigen, wo ich mich und die Meinigen des
Podagra wegen baden mußte, das ich mir bloß
durch gegenwaͤrtiges Buch in den Leib geſchrie¬
ben. Aber ich habe mir [meinen] Vorredner, auf
den ich mich ſchon ſeit einem Jahre freue, aus
einem recht vernuͤnftigen Grunde bis heute auf¬
geſpart. Der recht vernuͤnftige Grund iſt der
Fichtelberg, auf den ich jetzt fahre. — Ich muß
jetzt dieſe Vorrede ſchreiben, damit ich unter
dem Fahren nicht aus der Schreibtafel und Kut¬
ſche hinausſehe, ich meine damit ich die graͤn¬
zenloſe Ausſicht oben nicht wie einen Fruͤhling
nach Kubikruthen, die Stroͤme nach Ellen, die
a 2[IV] Waͤlder nach Klaftern, die Berge nach Schiff¬
pfunden, von meinen Pferden zugebroͤckelt be¬
komme, ſondern damit ich den großen Zirkus
und Paradeplatz der Natur mit allen ſeinen
Stroͤmen und Bergen auf einmal in die aufge¬
ſchloſſene Seele nehme. — Daher kann dieſer
Vorredner nirgends aufhoͤren als unweit des
Ochſenkopfs, auf dem Schneeberg.


Das noͤthigt mich aber, unterweges mich in
meinem Vorredner an eine Menge Leute ge¬
ſpraͤchsweiſe zu wenden, um nur mit ihm bis
auf den Ochſenkopf hinauf zu langen; ich muß
wenigſtens reden mit Rezenſenten — Weltleuten
— Hollaͤndern — Fuͤrſten — Buchbindern —
mit dem Einbein und der Stadt Hof — mit
Kunſtrichtern und mit ſchoͤnen Seelen, alſo mit
neun Partheien. Es wird mein Schade nicht
ſeyn, daß ich hier, wie es ſcheint, in den Kli¬
max meiner Pferde den Klimax der Poeten
flechte . . . .


Der Wagen ſtoͤßet den Verfaſſer dermaßen,
daß er mit Nro. I., den Rezenſenten nichts
[V] Vernuͤnftiges ſprechen, ſondern ihnen bloß erzaͤh¬
len will, was ſein guter grauer Schwiegervater
begeht — naͤmlich alle Tage ſeinen ordentlichen
Mord und Todtſchlag. Ich geb' es zu, viele
Schwiegervaͤter koͤnnen hektiſch ſeyn, aber weni¬
ge ſind dabei in dem Grade offizinel und arſe¬
nikaliſch als meiner, den ich in meinem Hauſe
— ich habs erſt aus Hallers Phyſiologie T. II.
erfahren, daß Schwindſuͤchtige mit ihrem Athem
Fliegen toͤdten koͤnnen — ſtatt eines giftigen
Fliegenſchwamms mit Nutzen verbrauche. Der
Hektiker wird nicht klein geſchnitten, ſondern er
giebt ſich bloß die kleine Muͤhe, den ganzen
Morgen ſtatt einer Seuche in meinen Stuben
zu graſſiren und mit dem Sirockowind ſeines
phlogiſtiſchen Athems aus ſeiner Lunge der Flie¬
gen ihre anzuwehen: die Rezenſenten koͤnnen
ſich leicht denken, ob ſo kleine Weſen und Na¬
ſen, die ſich keinen antimephitiſchen Reſpirator
vom H. Pilatre de Rozier appliciren koͤnnen,
einen ſolchen abſcheulichen Schwaden auszuhalten
faͤhig ſind. Die Fliegen ſterben hin wie — Fliegen
[VI] und ſtatt der bisherigen Muͤcken-Kotterien hab'
ich bloß den guten giftigen Schwiegervater zu be¬
koͤſtigen, der mit ihnen auf den Fuß eines Muͤk¬
ken-Freund Hains umgeht. Nun ſollen es die
Rezenſenten ſelber entſcheiden, ob man einem
Schwiegervater von ſo vielem Werth und Gift
zu viel ſchmeichelt, wenn man ihm die Fleuret¬
te ſagt, er gleiche ihnen, und wenn man ihn
bei der Hand anfaßt und zum Graſſiren an¬
feuert durch alles und durch die Frage: »ob er
»nicht ſaͤhe, daß er nicht zu verachten waͤre,
»ſondern daß er als ein Mann, der mit ſeinen
»Lungenfluͤgeln das feinſte Miaſma unter die
»Fliegen wehte, im Sommerhalbjahre daſſelbe
»edle Glied in der naturhiſtoriſchen Welt vor¬
»ſtellte, das ein guter Rezenſent in der littera¬
»riſchen macht, der gleichfals in der ganzen Ge¬
»lehrtenrepublik herumſchliche und tranſzendente
»Muͤcken mit ſeinem aͤtzenden Athem ſo geſchickt
»anhauchte, daß ſie aͤrger krepirten als Heu¬
»ſchrecken — und ob er nicht hofte, wollte man
»ihn hiemit gefragt haben, daß der Vorredner
[VII] zu den Mumien ſein Lob viel weitlaͤuftiger
haͤtte?“ —


Er hats aber natuͤrlicherweiſe viel kuͤrzer,
weil ich ſonſt auf den Ochſenkopf hinauf kaͤme
mitten in der Vorrede ohne nur der Weltleute
gedacht zu haben, geſchweige der andern.


Dieſe wollen nun die zweite Nummer und
Sproſſe meines Aufklimmers abgeben —
Campe wirft nicht ungeſchickt durch dieſes Wort
den Klimax aus ſeinen und meinen Buͤchern; —
allein ich werde wenig mehr bei ihnen anzubrin¬
gen haben als eine Rechtfertigung, daß ich
mich in meinem Werke zu oft anſtellte, als
macht' ich mir aus der Tugend etwas und aus
jener Schwaͤrmerei, die ſo oft den Namen En¬
thuſiaſmus traͤgt. Ich befahre wahrhaftig nicht,
daß vernuͤnftige Leute meine Anſtellung etwan fuͤr
Ernſt anſehen: ich hoffe, wir trauen beide einander
zu, daß wir das Laͤcherliche davon empfinden, ſtatt
der Namen der Tugenden dieſe ſelber haben zu
wollen — und heut zu Tage ſind die wenigſten von
uns zu den tollen Philoſophen zu Lagado (in
[VIII] Gullivers Reiſen) zu rechnen, die aus Achtung
fuͤr ihre Lunge die Dinge ſelber ſtatt ihrer Be¬
nennungen gebrauchten und allemal in Ta¬
ſchen und Saͤcken die Gegenſtaͤnde mitbrachten,
woruͤber ſie ſich unterhalten wollten. Aber ob
man mir nicht eben das verdenken wird, daß
ich Namen ſo oft brauche, die nicht viel moder¬
ner als die Sache ſelber ſind und deren man ſich
in Cercles von Ton, ſo wie der Namen »Gott,
Ewigkeit» ſtets enthaͤlt, daruͤber laͤſſet ſich diſ¬
putiren. Inzwiſchen ſeh' ich doch auf der an¬
dern Seite auch, daß es mit der Sprache der
Tugend wie mit der lateiniſchen iſt, die man
jetzt zwar nicht mehr geſprochen aber doch
geſchrieben duldet und die deswegen laͤngſt
aus dem Mund in die Feder zog. Ich berufe
mich uͤberhaupt auf einſichtige Rezenſenten, ob
wir aͤſthetiſche Autores ohne tugendhafte Geſin¬
nungen, die wir als poetiſche Maſchinen ge¬
brauchen ſo wie die fabelhafte Mythologie, nur
eine Stunde auszukommen vermoͤgen und ob wir
nicht zum Schreiben hinlaͤngliche Tugend haben
[IX] muͤſſen als Wagenwinde, Steigeiſen, Montgol¬
fiere und Springſtab unſrer (gedruckten) Karak¬
tere — widrigenfals gefallen wir keiner Katze;
und es ergeht den armen Schauſpielern auch
nicht anders. Freilich Autores die uͤber Poli¬
tik, Finanzen, Hoͤfe ſchreiben, intereſſiren gera¬
de durch die entgegengeſetzten Mittel — Eben
damit kann ſich ein Autor decken, der in ſeine
Karaktere das, was die Poeten und Weiber ihr
Herz nennen, eingeheftet: es muß d'rinnen haͤn¬
gen, (nicht nur in geſchilderten, auch in leben¬
den Menſchen), es mag Waͤrme haben oder
nicht; eben ſo verſieht der Buͤchſenmacher die
Windbuͤchſen ſo gut mit einer Zuͤndpfanne
wie Feuergeſchoß, ob gleich nur mit Wind ge¬
trieben wird .... Es kann wahrlich um den
ganzen Fichtelberg kein ſo kalter pfeifen als ge¬
rade im Holzweg, wo jetzt mein Wagen mitten
im Auguſt geht ....


Mit Nro. 3., den Hollaͤndern wollt' ich mich
in meinem Kaſten zanken wegen ihres Mangels
an poetiſchem Geſchmack: das war alles. Ich
[X] wollte ihnen vorwerfen, daß ihrem Herzen ein
Ballenbinder naͤher laͤge als ein Pſalmiſt, ein
Seelenverkaͤufer naͤher als ein Seelenmaler und
daß das oſtindiſche Haus keinem einzigen Poe¬
ten eine Penſion auswerfen wuͤrde als bloß dem
alten Orpheus, weil ſeine Verſe Fluͤſſe ins Stok¬
ken ſangen und man alſo ſein Haberrohr und
ſeine Muſe anſtart der belgiſchen Daͤmme brau¬
chen koͤnnte. Ich wollte den Niederlaͤndern den
merkantiliſchen Unterſchied zwiſchen Schoͤnheit
und Nutzen nehmen und ihnen es hinunterſchrei¬
ben, daß Armeen, Fabriken, Haus, Hof, Aek¬
ker, Vieh nur das Schreib- und Arbeitszeug der
Seele waͤren, womit ſie einige Gefuͤhle, wor¬
auf alle Menſchenthaͤtigkeit auslaufe, errege, er¬
hebe und aͤußere, daß den indiſchen Kompagnien
Schiffe und Inſeln dazu dienten, wozu den poe¬
tiſchen Reime und Federn dienten, und daß Phi¬
loſophie und Dichtkunſt die Fruͤchte und Bluͤten
am Baume des Erkenntniſſes waͤren, Oekonomie
hingegen, Kameral-philologiſche und aͤhnliche
Wiſſenſchaften bloß die einſaugenden Blaͤtter, der
[XI] Splint, der Wurzeln-Epheu und das unter dem
Baume treibende Aas. — Ich wollt' es ſagen;
ließ es aber bleiben, weil ich beſorgte, die deut¬
ſchen merkten's, daß ich darunter bloß — ſie
meine: denn wie kaͤm' ich ſonſt unter die mit
Thee ausgelaugten belgiſchen Schlafroͤcke? —
Ich hab' ohnehin wenig mehr zu fahren und
viel noch abzufertigen.


Ich unterſag' es den europaͤiſchen Landſtaͤn¬
den, mein Werk No. IV. einem Fuͤrſten zu ge¬
ben, weil er ſonſt dabei einſchlaͤft; welches
ich — da ein fuͤrſtlicher Schlaf nicht halb ſo
ſpaßet wie ein Homeriſcher — recht gern
geſchehen laſſe, ſobald die europaͤiſchen Land¬
ſtaͤnde das Geſetz wie ein [Arcuccio]*) ſo uͤber
die Landeskinder woͤlben, daß ſie der Landesva¬
[XII] ter im Schlafe nicht erdruͤcken kann, er mag
ſich darin werfen wie er will, auf die Seiten,
auf den Ruͤcken oder auch auf den Bauch.


Da hundert Buchbinder No[.]V. mich unter
den Arm und in die Haͤnde nehmen werden, um
mich ganze Wochen fruͤher zu leſen als zu be¬
ſchneiden
und zu preſſen — gute Rezenſenten
thaͤten gewiß das Widerſpiel: — ſo muͤſſen die guten
Rezenſenten auf die Buchbinder warten, die Leſer
auf die Rezenſenten und ich auf die Leſer und ſo
darf ein einziger Ungluͤcksvogel uns alle verhetzen
und in den Sumpf ziehen; aber wer kanns
den Buchbindern verbieten als ich, der ich in
dieſe Nachricht an Buchbinder mein Buch
fuͤr dergleichen Binder eigenhaͤndig konfisziere?


Mit dem Einbein, der ſechſten Nummer,
viel zu reden wie ich verhieß, verlohnt der
Muͤhe gar nicht, da ich das Ding ſelber bin
und noch uͤberdies der einbeinige Autor heiße.
Die Hoͤfer (die Einwohner der Stadt Hof, der
7ten N.) worunter ich hauſe, muſten mich mit
dieſem anti-epiſchen Namen belegen, weil mein
[XIII] linkes Bein bekanntlich anſehnlich kuͤrzer iſt als
das andre und weil noch dazu unten mehr ein
Quadrat- als Kubikfuß dran ſitzt. Es iſt mir
bekannt, Menſchen, die gleich den oſtindiſchen
Hummern eine kurze Scheere neben der langen
haben, koͤnnen allerdings ſich mit der chaussu¬
re
behelfen die ihre Kinder ablegen; aber es
iſt eben ſo unlaͤugbar, daß das Zipperlein ei¬
nem ſolchen Mann dennoch an beiden Fuͤßen
kneift und dieſen den verdammteſten ſpaniſchen
Stiefel anſchraubt, den je ein Inquiſit getra¬
gen.


Ich haͤtte gar nicht ſagen ſollen, daß ich
mit meinem lieben Hof in Voigtland ſchriftlich
am Fichtelberge ſprechen wollte, da ichs muͤnd¬
lich kann und mein eigner Kerl daraus her iſt.
Mein Wunſch und Zweck in einem ſolchen Wer¬
ke wie dieſem iſt und bleibt bloß der, daß dieſe
betagte und bejahrte Stadt den Schlaf, den ich
ihr darin mit den harten Federn einer Gans
einfloͤßen will, auf den weichen dieſes Thiers
genießen moͤge. . . . .


[XIV]

— Endlich hab, ich nun den Ochſenkopf. —

Dieſe Zeile iſt kein Vers, ſondern nur ein
Zeichen, daß ich droben war und da viel that:
meine Saͤnfte wurde abgeſchnallet und ich mit
geſchloſſenen Augen, hineingeſchaft, weil ich
erſt auf dem Schneeberg, der Kuppel des Fich¬
telgebirgs, mich umſehen will . . . Unter dem
Ausſteigen ſtroͤmte vor meinem Geſicht eine aͤthe¬
riſche Morgenluft voruͤber; ſie druͤckte mich nicht
mit dem ſchwuͤlen Weſt eines Trauerfaͤchers,
ſondern hob mich mit dem Wehen einer Frei¬
heitsfahne . . . Wahrhaftig ich wollte unter ei¬
nem Luftballon ganz andre Epopeen und unter
einer Taͤucherglocke ganz andre Feudalrechte ſchrei¬
ben als die Welt gegenwaͤrtig hat. . . .


Ich wuͤnſchte, No. VIII. die Kunſtrichter
wuͤrden in meiner Saͤnfte mitgetragen und ich
haͤtte ihre Haͤnde; ich wuͤrde ſie druͤcken und
ſagen: Kunſtrichter unterſchieden ſich von Re¬
zenſenten wie Richter von Nachrichtern — Ich
wuͤrde ihnen gratulieren zu ihrem Geſchmack,
daß er wie der eines Genies, dem eines Kos¬
[XV] mopoliten gleiche und nicht bloß Einer Schoͤn¬
heit raͤuchere — etwann der Feinheit, der
Staͤrke, dem Witze — ſondern daß er in ſei¬
nem Simultantempel und Pantheon fuͤr die
wunderlichſten Heiligen Altaͤre und Kerzen da
habe, fuͤr Klopſtock und Krebillon und Plato
und Hudibras. . . . Gewiſſe Schoͤnheiten, wie
gewiſſe Wahrheiten — wir Sterbliche halten
beide noch fuͤr zweierlei — zu erblicken, muß
man das Herz eben ſo ausgeweitet und ausge¬
reinigt haben wie den Kopf. . . . es haͤngt zwi¬
ſchen Himmel und Erde ein großer Spiegel von
Kryſtall, in den eine verborgne neue Welt ih¬
re großen Bilder wirft; aber nur ein unbefleck¬
tes Kindes-Auge nimmt ſie wahr darin, ein
beſudeltes Thier-Auge ſieht nicht einmal den
Spiegel. . . . Nur Einen oͤffentlichen Richter,
den mein Herz verehrt, ſchenke mir dieſes Jahr
und waͤr er auch wieder mich partheiiſch: denn
ein partheiiſcher dieſer Art faͤllet ein inſtruktive¬
res Urtheil als ein unpartheiiſcher aus der Wo¬
chentags-Kaſte.


[XVI]

Ueber den Plan eines Romans (aber nicht
uͤber die Karaktere) muß man ſchon aus dem
erſten Bande zu urtheilen Befugniß haben: al¬
le Schoͤnheit und Ruͤnde, mit der die folgen¬
den Baͤnde den Plan aufwickeln, nimmt ja die
Fehler und Spruͤnge nicht weg, die er im er¬
ſten hatte. Ich wuͤſte uͤberhaupt keinen Band
und kein Heft worin der Autor Recht haͤtte,
den Leſer zu aͤrgern. Die Naͤhe des Schneeber¬
ges hindert mich, es zu beweiſen, daß die
franzoͤſiſche Art zu erzaͤhlen (z. B. im Kandide)
die abſcheulichſte von der Welt und daß bloß die
umſtaͤndliche, dem Homer oder Voß oder ge¬
meinen Manne abgeſehene Art die intereſſante¬
ſte iſt. Ferner kaͤm' ich auf dem Schneeberg
an, eh' ichs mir halb hinans bewieſen haͤtte,
daß wir Bellettriſten (ein abſcheulicher Name!)
insgeſammt zwar den Ariſtoteles fuͤr unſern ma¬
gister ſententiarum
und ſeine Gebote fuͤr unſre
39 Artikel und 50 Deziſionen halten ſollten —
daß wir aber doch fuͤr nichts von ihm ſo viele
Achtung zu tragen haͤtten, als fuͤr ſeine drei
Ein¬[XVII] Einheiten, (die aͤſthetiſche Regel Detri) gegen
die nicht einmal Romane ſuͤndigen ſollten. Der
Menſch intereſſiert ſich bloß fuͤr Nachbarſchaft
und Gegenwart; der wichtigſte Vorfall, der
in Zeit oder Raum ſich von ihm entfernt, iſt
ihm gleichguͤltiger als der kleinſte neben ihm:
ſo iſt er, wenn er die Vorfaͤlle erlebt, und
mithin auch ſo, wenn er ſie lieſet. Darauf
beruht die Einheit der Zeit und des Orts. Al¬
ſo der Anfang in der Mitte einer Geſchichte,
um daraus zum anfangenden Anfang zuruͤck zu
ſpringen — das anachroniſtiſche Ineinanderſchuͤt¬
teln der Scenen — Epiſoden — ſo wie das
Knuͤpfen mehrerer Hauptknoten, ja wie ſogar
das Reiſen in Romanen, das den Maſchienen¬
goͤttern ein freies aber unintereſſantes Spiel er¬
laubt — — kurz alle Abweichungen vom Tom
Jones
und der Klariſſa ſind Sekunden und
Septimen im Ariſtoteliſchen Dreiklang. Das
Genie kann zwar alles Gutmachen: aber Gut¬
machen iſt nicht aufs Beſte machen und glaͤnzen¬
de verklaͤrte Wundenmaale ſind am Ende doch
h[XVIII] Loͤcher am verklaͤrten Leibe. Wenn manche Ge¬
nies die Kraft, die ſie aufs Gutmachen uͤber¬
tretner Regeln wenden muͤſſen, in der Befol¬
gung derſelben arbeiten ließen: ſie thaͤten mehr
Wunder als der H. Martin, der ihrer nicht
mehr bewerkſtelligte als zweihundert und ſechs
— G. in ſeiner Iphigenie und Kl. in ſeiner
Medea thuns vielleicht dem H. Marrin zuvor . . .


— — Gegenwaͤrtig traͤgt man das Einbein
(mich) uͤber den Fichtelſee und uͤber zwei Stan¬
gen, die ſtatt einer Bruͤcke uͤber dieſe bemoo¬
ſte Wuͤſte bringen. Zwei Fehltritte der Gonde¬
lierer, die mich aufgeladen, verſenken, wenn
ſie geſchehen, einen Mann in den Fichtelſumpf
der drinnen an ſeinem Vorredner arbeitet und
der mit 8 Nummern Menſchen geſprochen und
deſſen Werk zum Gluͤck ſchon in Berlin iſt. . .
Berge uͤber Berge werden jezt wie Goͤtter aus
der Erde ſteigen, die Gebirge werden ihre Ar¬
me laͤnger ausſtrecken und die Erde wird wie
eine Sonne aufgehen und dann wird ihre wei¬
ten Strahlen Ein Menſchen-Blick verknuͤpfen
[XIX] und meine Seele wird unter ihrem Fokus gluͤ¬
hen. . . . . Nach wenigen Schritten und Wor¬
ten iſt die Vorrede aus, auf die ich mich ſo lang ge¬
freuet, und der Schneeberg da, auf dem ich mich erſt
freuen ſoll. — Es iſt gut, wenn ein Menſch
ſeine Lebensfakta ſo wunderbar verflochten hat,
daß er ganz widerſprechende Wuͤnſche haben
kann, daß naͤmlich der Vorredner dauere und
der Schneeberg doch komme.


— — In dieſen Gegenden iſt alles ſtill,
wie in erhabnen Menſchen. Aber tiefer, in den
Thaͤlern, nahe an den Graͤbern der Menſchen
ſteht der ſchwere Dunſtkreis der Erde auf der
einſinkenden Bruſt, zu ihnen nieder ſchleichen
Wolken mit großen Tropfen und Blitzen und
drunten wohnt der Seufzer und der Schweiß.
Ich komme auch wieder hinunter und ich ſehne
mich zugleich hinab und hinauf. Denn der
irre Menſch — die aͤgyptiſche Gottheit, ein
Stuͤckwerk aus Thierkoͤpfen und Menſchen-Tor¬
ſos — ſtreckt ſeine Haͤnde nach entgegengeſetzten
Richtungen aus und nach dem erſten Leben und
b2[XX] nach dem zweiten: ſeinen Geiſt ziehen Gei¬
ſter und Koͤrper. So wird der Mond von
der Sonne und Erde zugleich gezogen, aber
die Erde legt ihm ihre Ketten an und die Son¬
ne zwingt ihn bloß zu Ausweichungen. Dieſen
Widerſtreit, den kein Sterblicher beilegt, wirſt
du, geliebter Leſer, auch in dieſen Blaͤt¬
tern finden; aber vergieb ihn mir wie ich dir.
Und eben ſo habe fuͤr unverhaͤltnismaͤßige Aus¬
bildung die Nachſicht des Menſchenkenners. Ei¬
ne unſichtbare Hand legt den Stimmhammer
an den Menſchen und ſeine Kraͤfte — ſie uͤber¬
ſchraubt, ſie erſchlaft Saiten — oft zerſprengt
ſie die feinſten am erſten — nicht oft nimmt ſie
einen eilenden Accord aus ihnen — endlich wenn
ſie alle Kraͤfte auf die Tonleiter der Melodie
gehoben: ſo traͤgt ſie die melodiſche Seele in
ein hoͤheres Konzert und dieſe hat dann hienie¬
den nur wenig getoͤnet. — — —


. . . . Ich ſchrieb jezt eine Stunde nicht:
ich bin nun auf dem Schneeberg, aber noch in
der Saͤnfte. Erhabne Paradieſe liegen um mich
[XXI] ungeſehen, wie um den eingemauerten Men¬
ſchengeiſt, zwiſchen dem und deſſen hoͤherem
Mutterland der dunkle Menſchenkoͤrper innen
ſteht; aber ich habe mich ſo traurig gemacht,
daß ich jezt in das ſchmetternde Trommeten-und
Laubhuͤttenfeſt, das die Natur von einem Ge¬
buͤrge zum andern begeht, nicht hineintreten
will: ſondern erſt wenn die Sonne tiefer in
den Himmel geſunken und wenn in ihren Licht¬
ſtrom der Schattenſtrom der Erde faͤllt, dann
wird unter die ſtummen Schatten noch ein neuer
begluͤckter ſtiller Schatten gehen. — — Auf¬
richtiger zu ſprechen, ich kann bloß von euch —
ihr ſchoͤnern Leſer, deren getraͤumte, zuweilen
erblickte Geſtalten ich wie Genien auf den Hoͤhen
des Schoͤnen und großen wandeln und winken
ſah — nicht Abſchied nehmen: ich bleibe noch
ein wenig bei euch, wer weiß, wenn, und
ob die Augenblicke wo unſre Seelen uͤber einem
zerſtiebenden Blatte ſich die Haͤnde geben, je
wiederkommen — vielleicht bin ich hin, vielleicht
du, bekannte oder unbekannte theuere Seele,
[XXM[XXII]] von der der Tod wenn er vorbeigeht und die un¬
ter Koͤrnern und Regentropfen gebuͤckte Aehre
erblickt, bemerkt: ſie iſt ſchon zeitig. — Und
gleich wohl was kann ich jenen Seelen in den
Augenblicken des Abſchieds, die man ſo gern mit
tauſend Worten uͤberladen moͤchte und eben des¬
wegen bloß mit Blicken ausfuͤllt, noch zu ſa¬
gen haben oder zu ſagen wiſſen als meine ewi¬
gen Wuͤnſche fuͤr ſie: findet auf dieſem (von
uns Erdball genannten) organiſchen Kuͤgel¬
gen
, das mehr begraſet als bebluͤmet iſt,
die wenigen Blumen im Nebel, der um ſie
haͤngt — ſeid mit euren elyſiſichen Traͤumen zu¬
frieden und begehret ihre Erfuͤllung und Verkoͤr¬
perung (d. h. Verknoͤcherung) nicht: denn auf
der Erde iſt ein erfuͤllter Traum ohne¬
hin bloß ein wiederholter
— von außen
ſeid wie euer Koͤrper, von Erde und bloß in¬
nen beſeelt und vom Himmel und haltet es fuͤr
ſchwerer und noͤthiger, die zu lieben, die euch
verachten, als die, die euch haſſen — und
wenn unſer Abend da iſt, ſo werfe die Sonne
[XXIII] unſers Lebens (wie heute die draußen) die Stra¬
len, die ſie vom irdiſchen Boden weghebt an
hohe goldne Wolken und (als wegweiſende Ar¬
me) an hoͤhere Sonnen; nach dem muͤden Ta¬
ge des Lebens ſei unſre Nacht geſtirnt, die
heißen Duͤnſte deſſelben ſchlagen ſich nieder, am
erkalteten hellen Horizont ziehe ſich die Abend¬
roͤthe langſam um Norden herum und bei
Nord-Oſten lodere fuͤr unſer Herz die neue
Morgenroͤthe auf. . . . . .


. . . . Nun tritt auch die Erdenſonne auf
die Erdengebirge und von dieſen Felſenſtufen in
ihr heiliges Grab: die unendliche Erde ruͤckt ih¬
re großen Glieder zum Schlafe zurecht und ſchlieſ¬
ſet ein tauſend ihrer Augen ums andre zu. Ach
welche Lichter und Schatten, Hoͤhen und Tie¬
fen, Farben und Wolken werden draußen kaͤm¬
pfen und ſpielen und den Himmel mit der Er¬
de verknuͤpfen — ſo bald ich hinaustrete (noch
Ein Augenblick ſteht zwiſchen mir und dem Ely¬
ſium,) ſo ſtehen alle Berge von der zerſchmol¬
zenen Goldſtufe, der Sonne uͤberfloſſen da —
[XXIV] Goldadern ſchwimmen auf den ſchwarzen Nacht-
Schlacken, unter denen Staͤdte und Thaͤler uͤber¬
goſſen liegen — Gebirge ſchauen mit ihren Gi¬
pfeln gen Himmel, legen ihre feſten Meilen-Ar¬
me um die bluͤhende Erde und Stroͤme tropfen
von ihnen, ſeit dem ſie ſich aufgerichtet aus
dem Uferloſen Meer — Laͤnder ſchlafen an Laͤn¬
dern, und unbewegliche Waͤlder an Waͤldern,
und uͤber der Schlafſtaͤtte der ruhenden Rieſen
ſpielet ein gaukelnder Nachtſchmetterling und ein
huͤpfendes Licht, und rund um die große Scene
zieht ſich wie um unſer Leben ein hoher Nebel
— — Ich gehe jezt hinaus und ſink' an die
ſterbende Sonne und an die entſchlafende Erde.


Ich trat hinaus — —


Auf dem Fichtelgebirg, im Erntemond 1792.


Jean Paul.


Erſter
[[1]]

Erſter Sektor.

Verlobungs-Schach — graduirter Rekrut — Kopulations-
Katze.


Meines Erachtens war der Obriſtforſtmeiſter von
Knoͤr bloß darum ſo unerhoͤrt aufs Schach erpicht,
weil er das ganze Jahr nichts zu thun hatte als
Einmal darin der Gaſt, die Santa Hermandad und
der theure Diſpenſationsbullen-Macher der Wild¬
meiſter zu ſeyn. Der Leſer wird freilich noch von
keiner ſo unbaͤndigen Liebhaberei gehoͤrt haben, als
ſeine war. Das Wenigſte iſt, daß er alle ſeine Bedien¬
te aus dem Dorfe Strehpenik verſchrieb, um (nach
Kato's Meinung) eben ſo viele Gegner als Diener
zu haben — oder daß er und ein Oberyſſelſcher
Edelmann in Zwoll mehr Poſtgeld verſchrieben als
verreiſeten, weil ſie Schach auf 250 Meilen nicht
mit Fingern ſondern Federn zogen — auch das kann
man ſich gefallen laſſen, daß er und die Kempel'ſche
Schachmaſchine Briefe mit einander wechſelten und
daß des hoͤlzernen Moslems Konviktoriſt und Adju¬
A[2] tant, Hr. v. Kempele, ihm in meinem Beiſeyn aus
der Leipziger Heuſtraße im Namen des Muſelmanns
zuruͤckſchrieb, dieſer rochiere — man wird ſeine Ge¬
danken daruͤber haben, daß er noch vor 2 Jahren
nach Paris abfuhr, um ins Palais Royal und in die
Société du Sallon des Echecs zu gehen und ſich dar¬
in als Schachgegner niederzuſetzen und als Schach¬
ſieger wieder aufzuſpringen; wiewohl er nachher in
einer demokratiſchen Gaſſe viel zu ſehr gepruͤgelt
wurde, da er im Schlafe ſchrie: gardéz la Reine
bloß frappiren kanns einen und den andern, daß
ſeine Tochter ihm nie einen neuen Hut oder ei¬
ne neue Soubrette, die ihn anſteckte, anders
abgewann als zugleich mit einem Schach —
— Aber daruͤber wundert und aͤrgert ſich alles was
mich lieſet, Leute von jedem Geſchlecht und jedem
Alter, daß der Obriſtforſtmeiſter geſchworen hatte,
ſeine Tochter keiner andern Kanaille in der ganzen
Ritterſchaft zu geben, als einer, die ihr auſſer dem
Herzen noch ein Schach abgewoͤnne — und zwar
in ſieben Wochen.


Sein Grund und Sorites war der: „ein guter
Mathematiker iſt ein guter Schachſpieler, alſo die¬
ſer jener — ein guter Mathematiker weiß die Dif¬
[3] ferenzialrechnung zehnmal beſſer als ein elender —
und ein guter Differenzialrechenmeiſter verſteht ſich
ſo gut als einer aufs Deployren und Schwenken *)
und kann mithin ſeine Kompagnie (und ſeine Frau
vollends) zu jeder Stunde kommandiren — und
warum ſollte man einem ſo geſchickten, ſo erfahr¬
nen Offizier ſeine einzige Tochter nicht geben?“ —
Der Leſer haͤtte ſich gewiß ſogleich ans Schachbrett
hingeſetzt und gedacht, der Zug einer ſolchen Quin¬
terne aus dem Brette wie die Tochter eines Obriſt¬
forſtmeiſters iſt, ſei ja auſſerordentlich leicht; aber
er iſt verdammt ſchwer, wenn der Vater ſelbſt hin¬
ter dem Stuhle paſſet und der Tochter jeden Zug
angiebt, womit ſie ihren Koͤnig und ihre Tugend
gegen den Leſer decken ſoll.


Wer's hoͤrte, begriff gar nicht warum die Frau
Obriſtforſtmeiſterin die lange Geſellſchaftsdame ei¬
A 2[4] ner Graͤfin von Ebersdorf geweſen, bei ihrem fei¬
nen Gefuͤhl und ihrer Froͤmmigkeit eine ſolche Jaͤ¬
gerlaune dulde; ſie hatte aber eine Hernhutiſche
durchzuſetzen, welche begehrte, daß das erſte Kind
ihrer Erneſtine fuͤr den Himmel ſollte groß gezogen
werden, naͤmlich, acht Jahre unter der Erde
„meinetwegen achtzig Jahre“ ſagte der Alte.


Ob man gleich in jedem Falle Teufelsnoth mit
einer Tochter hat, man mag Abonnenten an ſie an¬
zulocken oder abzutreiben haben: ſo hatte doch Knoͤr
bei der Sache ſeinen wahren Himmel auf Erden —
unter ſo vielen Schachrittern, die ſaͤmtlich ſeine Er¬
neſtine bekriegten und verſpielten. Denn mit einem
Kopfe, in den der Vater Licht, und mit einem Her¬
zen, in das die Mutter Tugend eingefuͤhrt hatte,
eroberte ſie leichter als ſie zu erobern war: daher
aͤrgerte und ſpielte ſich an ihr eine ganze Brigade
eheluſtiger Junker halb todt. Und doch waren un¬
ter ihnen Leute, die auf allen nahen Schloͤſſern den
Namen ſuͤßer Herren behaupteten, weil ſie kei¬
ne — Matroſenſitten hatten, wie man in Ver¬
gleichung mit dem Seewaſſer unſer ſchales ſuͤßes
nennt.


[5]

Aber ich und der Leſer wollen uͤber die ganze
ſpielende Kompagnie wegſpringen und uns neben
den Rittmeiſter von Falkenberg ſtellen, der bei
dem Vater ſteht und auch heirathen will. Dieſer
Offizier — ein Mann voll Muth und Gutherzigkeit,
ohne alle Grundſaͤtze, als die der Ehre, der um ſich
nichts hinter ſeine Ohren zu ſchreiben, die ſonſt
bei einiger Laͤnge das ſchwarze Brett und der
Kerbſtock empfangner Beleidigungen ſind, lieber
andre Chriſten hinter die ihrigen ſchlug, der feiner
handelte als er ſprach und deſſen Knieſtuͤck ich nicht
zwiſchen dieſen zwei Gedankenſtrichen ausbreiten
kann — warb in dieſer Gegend ſo lange Rekru¬
ten, bis er ſelber wollte angeworben ſeyn von Er¬
neſtinen. Er haßte nichts ſo ſehr als Schach und
Hernhutiſmus; indeſſen ſagte Knoͤr zu ihm, „Abends
um 12 Uhr fiengen, weil er wollte, die ſieben
Spiel-Turnierwochen an, und wenn er nach 7 Wo¬
chen um 12 Uhr die Spielerin nicht aus dem
Schlachtfelde ins Brautbette hineingeſchlagen haͤt¬
te: ſo thaͤt' es ihm von Herzen leid, und aus der
achtjaͤhrigen Erziehung brauchte dann ohnehin nichts
zu werden.“


[6]

Die erſten 14 Tage wurd' in der That zu nach¬
laͤßig geſpielt und — geliebt. Allein damals hatten
weder andre geſcheute Leute noch ich ſelber jene hi¬
tzige Romane geſchrieben, wodurch wir (wir habens
zu verantworten) die jungen Leute in kniſternde,
wehende Zirkuliroͤfen der Liebe umſetzen, welche
daruͤber zerſpringen und verkalken und nach der Ko¬
pulation nicht mehr zu heizen ſind. Erneſtine ge¬
hoͤrte unter die Toͤchter, die bei der Hand ſind,
wenn man ihnen befiehlt, „kuͤnftigen Sonntag, ſo
Gott will, werde um 4 Uhr in den Herrn A — Z,
wenn er koͤmmt — verliebt.“ Der Rittmeiſter, biß
im Artikel der Liebe uͤberhaupt, weder in den gaͤh¬
renden Pumpernickel der phyſiſchen — noch in das
weiſſe kraftloſe Waizenbrod der pariſiſchen — noch
in das Quitten- und Himmelsbrod der platoniſchen,
ſondern in einen huͤbſchen Schnitt Geſindebrod der
ehelichen Liebe: er war 37 Jahre alt.


Sechzehn Jahre fruͤher hatt' er ſich einen
Biſſen vom gedachten Pumpernickel abgeſchnitten:
ſeine Geliebte und ſein Sohn wurden nachher vom
ehrlichen Kommerzien-Agenten Roͤper geheirathet.


Wir Belletriſten hingegen koͤnnens recht ſehr
bei unſern Romanen brauchen, daß es unſerem Ma¬
[7] gen und unſerer Magenhaut gut thut, wenn wir
in Einem Nachmittage jene vier Brodſortiments
auf einmal anfreſſen; denn wir muͤſſen aller Hen¬
ker ſeyn, um allen Henker zu ſchildern: wie woll¬
ten wir's ſonſt machen, wenn wir im naͤmlichen
Monat aus dem naͤmlichen Herzen, wie aus dem
naͤmlichen Buchladen (ich aͤrgere hier Hr. Adelung
durchs Wort „naͤmlichen“) Satiren — Hymnen —
Nachtgedanken — Huren- und Sterbelieder liefern
ſollen, ſo daß man hinter und vor uns erſtaunt
uͤbers Pantheon und Pandaͤmonium unter Einem
Dache — mehr als uͤber des Galeerenſklaven Bazile
nachgelaſſenen Magen, in dem ein Mobiliarvermoͤ¬
gen von 35 Effekten hauſete, z. B. Pfeifenkoͤpfe,
Leder u. ſ. w.


Wenn die zwei jungen Leute am Schachbrett
ſaßen, das entweder ihre Scheidewand oder ihre
Bruͤcke werden ſollte: ſo ſtand der Vater allemal
als Marqueur dabei; es war aber wirklich nicht noͤ¬
thig — nicht bloß weil der Rittmeiſter ſo erbaͤrm¬
lich ſpielte und ſeine Gegenfuͤßlerin ſo philidoriſch,
auch darum nicht, weil ihr die weibliche Kleider¬
ordnung ohnehin verbot, matt oder verliebt zu wer¬
den (denn am Ende kehren Weiber und Ruderknech¬
[8] te allzeit eben den Ruͤcken dem Ufer zu, an das
ſie anzurudern ſtreben) — ſondern aus einem noch
ſonderbarern Grunde war der Auxiliarforſtmeiſter
zu entrathen: die Erneſtine wollte nemlich um alles
gern ſchachmatt werden und eben deswegen ſpiel¬
te ſie ſo gut. Denn aus Rache gegen das zoͤgernde
Schickſal arbeitet man gerade Dingen, die von ihm
abhaͤngen, abſichtlich entgegen und wuͤnſchet ſie
doch. Die zwei kriegenden Maͤchte wurden zwar
einander immer lieber, eben weil ſie einander ein¬
zubuͤßen fuͤrchteten; gleichwohl ſtands in den Kraͤf¬
ten der weiblichen nicht, nur Einen Zug zu unter¬
laſſen, der gegen ihre doppelſeitige Wuͤnſche ſtritt:
in fuͤnf Wochen konnte der Werbeoffizier nicht Ein¬
mal ſagen: Schach der Koͤnigin. Die Weiber ſpie¬
len ohnehin dieſes Koͤnigsſpiel (wie andre Koͤnigs¬
ſpiele) recht gut . . . Da aber das eine Digreſſion
der Natur zu ſeyn ſcheint und doch keine iſt: ſo
kann eine ſchriftſtelleriſche daraus gemacht werden,
aber erſt im 20ſten Sektor; weil ich erſt ein Paar
Monate geſchrieben haben muß, bis ich den Leſer
ſo eingeſponnen habe, daß ich ihn werfen kann wie
ich nur will.


[9]

Waͤre die Liebe des Rittmeiſters von der Art
der neuern gigantiſchen Liebe geweſen, die nicht wie
ein herumblaͤtternder Zephyr ſondern wie ein ſchuͤt¬
telnder Sturmwind die armen duͤnnen Bluͤmchen
umfaſſet, die ſich in den belletriſtiſchen Orkan gar
nicht ſchicken koͤnnen: ſo waͤre das Wenigſte was
er haͤtte thun koͤnnen, das geweſen, daß er auf
der Stelle des Teufels geworden waͤre; ſo aber
wurd' er bloß — boͤſe, nicht uͤber den Vater ſon¬
dern uͤber die Tochter, und nicht daruͤber daß ſie
das Schachbrett nicht zum Praͤſentierteller ihrer
Hand und ihres Herzens machte oder daß ſie gut
gegen ihn ſpielte, ſondern daruͤber, daß ſie ſogar
gut ſpielte. So iſt der Menſch! — und ich erſuche
den Menſchen, meinen Rittmeiſter nicht auszula¬
chen. Freilich — haͤtt' ich die weiblichen Reize und
die Rolle der Erneſtine gehabt und haͤtt' ich ihm
indeß er ſeine Kontraapproche ausſann, ins betret¬
ne Geſicht geſchauet, auf deſſen geruͤndetem [Mun¬
de]
der Schmerz uͤber unverdiente Kraͤnkung ſtand,
der ſo ruͤhrend an Maͤnnern von Muth ausſieht,
ſobald ihn nicht die Gichtknoten und Hautausſchlaͤ¬
ge der Rache verzerren: ſo waͤr' ich roth geworden
und waͤre wahrhaftig gerade zu mit der Koͤnigin
[10] (und mir darzu) ins Schach hineingefahren: denn
was haͤtt' ich da geliebt als ſtrenge Selbſtbuͤßung?


Beinahe haͤtte am 16. Junius Erneſtine dieſe
Buͤßung geliebt, wie man aus ihrem Briefe ſo¬
gleich erſehen ſoll. Denn allerdings iſt eine Frau
im Stande, zweimal 24 Stunden lang eine und
dieſelbe Geſinnung gegen einen Mann (aber auch
gegen weiter nichts) zu behaupten, ſobald ſie von
dieſem Manne nichts vor ſich hat als ſein Bild in
ihrem ſchoͤnen Koͤpfgen; allein, ſteht der Mann ſel¬
ber unkopirt 6 Fuß hoch vor ihr: ſo praͤſtirt ſie es
nicht mehr — ihre wie eine beſonnete Muͤckenkolon¬
ne ſpielende Empfindung treibt aus einander, wi¬
der einander und in einander; ein Fingerhut voll
Puder am beſagten Mann zuviel oder zu wenig —
eine Beugung ſeines Oberleibs — ein zu tief abge¬
ſchnittener Fingernagel — eine ſich abſchaͤlende ſchur¬
fichte Unterlippe — der Puder-Anſchrot und Spiel¬
raum des Zopfs hinten auf dem Rock — ein langer
Backenbart — alles. Aus hundert Gruͤnden ſchlag'
ich hier vor den Augen des indiſkreten Leſers Erne¬
ſtinens Brief an eine ausgediente Hofdame in
der Reſidenzſtadt Scheerau aus einander: ſie
mußte jede Woche an ſie ſchreiben, weil man ſie zu
[11] beerben gedachte und weil Erneſtine ſelber einmal
ſo lange bei ihr und in der Stadt geweſen war,
daß ſie recht gut eilftauſend Pfiffe mit wegbringen
konnte — drei Wochen naͤmlich.


„Die vorige Woche hatt' ich Ihnen wirklich
nichts zu ſchreiben als das alte Lied. Unſer Ge¬
ſpiele ennuirt mich unendlich und es dauert mich
nur der Rittmeiſter; es hilft aber bei meinem Va¬
ter kein Reden, ſobald er nur jemand haben kann,
den er ſpielen ſieht. Waͤrs nicht beſſer, der gute
Rittmeiſter ließe ſeinen Kutſcher, der den ganzen
Tag in unſerer Domeſtikenſtube ſchnarcht, aufwe¬
cken und anſpannen und fuͤhr' ab? Seit[ ]dem Sonn¬
tage martern wir uns nun an Einer Parthie her¬
um und ich habe mir ſchon den Ellenbogen wund
geſtuͤtzt — Abends ſoll ſie zu Ende.


Abends um 12 Uhr. Er verlierts allemal
mit ſeinen Springern und durch meine Koͤnigin.
Wenn er einmal geheirathet hat: ſo will ich ihm
ſeine Fehlgriffe und meine Kunſtgriffe zeigen. Ich
bin recht verdruͤßlich, gnaͤdige Tante.


Den 16. Jun. In vier Tagen bin ich von
meinem Spieler und Schachbrett los und ich will
dieſes nicht zuſiegeln bis ich Ihnen ſchreiben kann,
[12] wie er ſich gegen ſeine muͤde und unſchuldige Korb¬
flechterin benommen. Heute ſpielten wir oben im
ſineſiſchen Haͤuschen. Da die Abendroͤthe, die ge¬
rade in ſein Geſicht hineinfiel, verwirrte Schatten
unter die Figuren warf und da mich ſein rechter
Zeigefinger dauerte, der von einem Saͤbelhiebe ei¬
ne rothe Linie hat und der auf der Schachbande
auflag: ſo kam ich aus Zerſtreuung wahrhaftig
um meine Koͤnigin und das abſcheuliche Kindtaufs¬
gelaͤute des ſineſiſchen Glockenſpiels ließ mir faſt
kein Deſſein — zum Gluͤck kam mein Vater wieder
und half mir ein wenig ein. Ich fuͤhrte ihn nach¬
her in unſern neuen Anlagen im Waͤldgen herum
und er erzaͤhlte mir glaub' ich die Hiſtorie ſeines
linierten Fingers: er iſt gegen Seines gleichen ſehr
wild, aber dabei ungemein verbindlich gegen Frau¬
enzimmer.


Den 18. Jun. Seit geſtern ſind wir alle
etwas luſtiger. Abends brachten zwei Unteroffizie¬
re fuͤnf Rekruten und da man ſagte, es waͤr' ein
Menſch darunter, der eine ganze geſchlagene Ar¬
mee zum Lachen braͤchte, giengen wir alle mit hin¬
unter. Unten erzaͤhlte der Menſch gerade halb
laut einem andern Rekruten ins Ohr, er haͤtte
[13] lauter falſche Zaͤhne und falſche Lippen und kapere
blos das Handgeld weg. Er ſchraubte unſertwegen
den Hut vom Kopf ab, aber eine weiße Muͤtze,
die ſich bis uͤber die Augenbraunen hereinſenkte,
zerrete er noch tiefer nieder. „zoͤg' er ſie ab, ſagt'
er, ſo kaͤm' er in ſeinem Leben nicht zum Regi¬
ment.“ Der eine Unteroffizier fieng an zu lachen
und ſagte, er thuts blos weil er drei abſcheuliche
Muttermaͤler darunter hat, weiter nichts — und
ein Kamerad ſtreifte ihm heimlich die Muͤtze von
hinten herunter. Kaum war zu unſeren Erſtaunen
ein Kopf daraus vorgeſprungen, der an beiden
Schlaͤfen zwei brennende Muttermaͤler wieß, eine
Silhouette mit einem natuͤrlichen Haarzopf und
gegen uͤber zwei Iltis-Schwaͤnzgen: ſo faßte zu
unſerem noch groͤßerem Erſtaunen der Rittmeiſter
den bemalten Kopf an und kuͤßte ihn ſo heftig wie
ſeinen leiblichen Bruder und wollte ſich todt lachen
und todt freuen. „Du biſt und bleibſt doch der
Doktor Fenk!“ ſagt' er. Er muß ſehr vertraut
mit dem Rittmeiſter ſeyn und kommt unmittelbar
von Oberſcheerau. Kennen Sie ihn nicht? Der
Fuͤrſt laͤſſet ihn als Botaniker und Geſellſchafter
mit ſeinem natuͤrlichen Sohn, dem Kapitain von
[14]Ottomar nach der Schweiz und Italien reiſen,
wie Sie ſchon wiſſen werden. Er ſetzt tolle Strei¬
che durch, wenns wahr iſt was er ſchwoͤrt, daß
dieſes ſeine 21ſte Verkleidung ſei und daß er eben
ſo viele Jahre habe. Er ſieht uͤbel aus: er ſagt
ſelbſt, ſein breites Kinn ſtuͤlpe ſich wie ein Biber¬
ſchwanz empor und der Bader raſier' ihm im Grun¬
de die halbe Wuͤſte gratis, ſo viel wie zwei Baͤr¬
te — ſeine Lippen ſind bis zu den Stockzaͤhnen auf¬
geſchnitten und ſeine kleinen Augen funkeln den
ganzen Tag. Er ſpaßet auch fuͤr Leute, die nicht
ſeines Gleichen ſind, viel zu frei“ — —


— Erneſtine ſilhouettiert hier den aͤußern Men¬
ſchen des Doktors, der wie viele indiſche Baͤume un¬
ter aͤußern Stacheln und dornigtem Laub die weiche
koſtbare Frucht des menſchenfreundlichſten Herzens
verſteckte. Ich werd' ihn aber eben ſo gut zeichnen
koͤnnen wie die Briefſtellerin. Da Humoriſten wie
er ſelten ſchoͤn ſind und da mit ihrer Seele auch zu¬
gleich ihr Geſicht ſich traveſtiert: ſo wuͤrde ja, ſagt'
er ſelbſt, ſeine ſchoͤnſte Kleidung keinem Menſchen
etwas nuͤtzen — am allerwenigſten ihm ſelber und
Schoͤnen — als bloß den Schnitthaͤndlern. Daher
waren ſeine Montierungsſtuͤcke in zwei Faͤcher ſor¬
[15] tiert, in koſtbare (damit die Leute ſehen, daß er die
elenden nicht aus Armuth truͤge) und in eben dieſe
elende, die er allzeit mit jenen zugleich anhatte.
Stachen nicht die Klappen-Segel der ſchoͤnſten geſtick[¬]
ten Weſte allemal aus einem fuchsbraunen Ueberrock
heraus, der faſt in ſeiner Haar-Mauße verſchied?
Haͤtt' er nicht unter einem Hut fuͤr 2 Ld’or einen
ſchimpflichen Zopf aufgehangen, den er fuͤr nicht
mehr erſtanden als fuͤr drei hieſige Sechſer? Freilich
wars halb aus Erbitterung gegen dieſen ſo geſchmack¬
vollen ſchwarzen Krebsſchwanz des Kopfes, gegen
dieſes wie ein Tubus ſich verkuͤrzendes und verlaͤnge¬
rendes Nacken-Gehenk an der vierten gedankenvol¬
len Gehirnkammer. Sein Schreib-Service muſte
ſchoͤner als ſein Eß-Service und ſein Papier feiner
als ſeine Waͤſche ſein; er konnte nirgends ſchlechte
kleine Federn leiden als blos auf ſeinem Hute, den
ſein Bette — und ſeine den Eheloſen natuͤrliche Un¬
ordnung — ſo zu ſagen in einen adlichen Federhut
umbeſſerte; indeſſen ſetzte er ſeinen Bettfedern in
den Haaren gute Seekiele hinter den Ohren an die
Seite — der Prinzipalkommiſſarius haͤtte ſie auf dem
Reichstag mit Ehren hinter die ſeinigen ſtecken koͤn¬
nen! —


[16]

Um aber keinen Anzugs-Sonderling und Klei¬
der-Separatiſten zu machen, ließ er ſich von Jahr
zu Jahr nach den beſten Moden des Narrheits-Jour¬
nals abkonterfeien und ſchuͤtzte vor, er muͤſſe den
Leuten doch zeigen, daß er oder ſein Knieſtuͤck viel¬
leicht gleichen Schritt mit den neueſten Elegants zu
halten wuͤſten. — Der untere Saum ſeines Ueber¬
rocks war gleich dem Menſchen oft aus Erde ge[ ]
macht; allein er drang darauf, man ſollt' es ihm ſa¬
gen, was es verſchluͤge, wenn ers leibhaftig wie
der [Strumpfwuͤrker] triebe, deſſen Hiſtorie ich ſo¬
gleich erzaͤhlen will, um nur nicht ohne alle Mo¬
ral [zu] ſchreiben. Der Mann hatte naͤmlich das
Gute und Tolle an ſich, daß er den kothigen An¬
ſchroot, womit ſich ſein Ueberrock beſetzte, wenn
er ſeine Struͤmpfe in die Stadt auf ſeinem Ruͤcken
ablieferte, niemals heraus buͤrſtete oder ausrieb:
ſondern er grif[f] in eine breite Scheere und zwickte
damit den jedesmaligen Schmutzkragen und kothi¬
gen Horizont mit Einſicht herunter — je laͤnger
es nun regnete, deſto kuͤrzer ſchuͤrzte ſich ſein Frack
hinauf und am kuͤrzeſten Tage gieng der Epitoma¬
tor wegen des unerhoͤrten Wetters im kuͤrzeſten
Ueberrock herum, in einer niedlichen Sedez-Aus¬
gabe[17] gabe der vorigen lang Folio-Ausgabe. Die Mo¬
ral, die ich daraus holen kann, moͤchte die Fra¬
ge ſeyn: ſollte ein geſcheuter Staat, der doch
gewiß ſiebzigmal kluͤger iſt als alle Strumpfwuͤrker
zuſammengenommen, die ja ſelber nur Glieder
deſſelben ſind, den eingeſaͤumten Strumpfwuͤrker
nicht dadurch am beſten einholen, daß er auch ſei¬
ne ſchmutzigen Glieder (Diebe, Ehebrecher ꝛc.) ſtatt
lange an ihnen zu reiben und zu ſaubern, mit dem
Schwerdte oder ſonſt friſch herunter ſchnitte? . . .


Der Doktor zerſtreuete durch launigten Troſt
die einſamen Fluͤche die ſein Freund ſtatt der Seuf¬
zer that. Er ſagte, er hab' an ihr mehr als ein¬
mal uͤber einen beſonders guten Zug, den er ge¬
than, kein andres Erſchrecken bemerkt als ein freu¬
diges. Er wolle ſein Reiſegeld daran ſetzen, daß
ſie, da ſie ihn liebe, einen Pfif in ihrem Kopfe
großbruͤte, der die Treppe zum Brautbettezimmern
werde — er rieth ihn, ſich zerſtreuet und achtlos
anzuſtellen, damit er ſie nicht im Ausbruͤten des
Pfiffes ertappe und wegſtoͤhre — er fragte ihn,
„kennſt Du den kleinen Dienſt der Liebe voll¬
kommen?“ Kein Deutſcher verſtand Metaphern we¬
niger als er. „Ich meine, fuhr er fort, kannſt
B[18] Du denn nicht der liſtigſte Vokativus von Haus
aus ſeyn? — Kannſt Du nicht die Schachfigur, die
Du ziehen willſt, lang faſſen, um Deine Hand
lange uͤber Deiner Schachmilitz zu behalten und
die Generalliſſima mit der Hand irre und verliebt
zu machen? — Kannſt Du nicht Deine Poſitionen
jede Minute gegen dieſe Feindin wechſeln und be¬
ſonders Anhoͤhen ſuchen, weil ein ſtehender Mann
einem ſitzenden Weibe ſchoͤner vorkommt als einem
ſtehenden? Ich und ſie ſollten Dich bald auf den
Stuhl zuruͤckgebogen, bald vorwaͤrts, bald links,
bald rechts gerankt, bald im Schatten, bald ih¬
re Hand, bald ihren Mund fixirend erblicken im
Spiele. Ja Du ſollteſt drei oder vier Bauern ins
Zimmer herunter ſtoßen, bloß um Dich zum Auf¬
heben nachzubuͤcken, damit etwann Dein ſchwel¬
lendes Geſicht auf ihr Herz Eindruͤcke machte und
damit Du das Blut in Deinen und ihren Kopf
auf einmal empor triebeſt. Laſſ' deinen Zopf eine
Achtels Elle dem Hinterkopfe naͤher oder ferner
ſchnuͤren, falls etwann dieſe Schnuͤrung und dieſe
Elle ſich bisher eurer Ehe entgegengeſetzet haͤtte.“
Der arme Rittmeiſter begrif und that vom ganzen
Dienſtreglement kein Jota und dem Doktor wars
[19] eben ſo lieb: denn er redete aus Humor in nichts
lieber als in den Wind. Erneſtine ſchreibt in ih¬
rem Briefe fort[:]


„Morgen gehen gottlob meine Karwochen zu
Ende und es iſt ein Gluͤck fuͤr den Rittmeiſter, der
alle Tage empfindlicher wird, daß nur der Doktor
da iſt, der uͤber jede gezogne Figur einen Einfall
weiß.“ Sein Witz, ſagt er, beweiſe, daß er jaͤm¬
merlich ſpiele, weil gute Spieler uͤber und unter
ihrem Spielen niemals ein Bonmot haͤtten.


Den 20. Jun. um 3 Uhr. Heute Abends um
12 Uhr werd' ich endlich vom Schach-Fußblocke
loßgeſchloſſen. Er will an der Definitiv-Partie —
nennt's Fenk — den ganzen Tag ſpielen, er laͤſſet
aber, weil er aus ſeinen Tags-Kampagnen den Ab¬
lauf der naͤchtlichen erraͤth, zu Nachts den Kut¬
ſcher mit dem Wagen halten, um ſogleich wie ein
Leichnam traurig abzufahren. Er ſollte mir nur
nicht zumuthen, ſo ſchlecht zu ſpielen wie er. Er
iſt aber in allem ſo haſtig und haͤlt vor allen Vor¬
ſtellungen die Ohren zu.


Um12Uhr Nachts. Ich bin außer mir.
Wer haͤtt' es von meinem Vater geglaubt? Mein
Spiel konnte kaum beſſer ſtehen — es war auf
B 2[20] meines Vaters Sekundenuhr, die neben dem Schach¬
brett lag, ſchon viel uͤber halb zwoͤlf — er hatte
nur 3 Offiziere und ich noch alle meine — ohn'
ein Wunderwerk war er in 18 Minuten matt —
eine fliegende Roͤthe ſpannte einmal ums andre
ſein ganzes Geſicht — wir wurden zuletzt ordent¬
lich beklemmt und ſelbſt der Doktor ſagte kein lu¬
ſtiges Wort mehr — blos mein weißes Miezgen
marſchierte ſchnurrend auf dem Spieltiſch herum —
kein Menſch denkt natuͤrlicher Weiſe auf die Katze
und er bietet mir im Spiele das erſte Schach —
nun mocht' er (oder war ichs, denn ich ſchlage zu¬
weilen auch ſolche Pralltriller auf dem Tiſche) mit
den Fingern einen auf der Bande machen — wie
der Blitz faͤhrt die Beſtie, die es fuͤr eine Maus
halten muß, darauf hin und ſchmeißet uns das
ganze Spiel um und da ſitzen wir! Stellen Sie
ſich vor! Ich halb froh, daß ihm dieſe Mittels¬
perſon die Beſchaͤmung des foͤrmlichen Korbes ab¬
nimmt — Er mit einem Geſicht voll Troſtloſigkeit
und Zorn — mein Vater mit einem voll Verlegen¬
heit und Zorn — und der Doktor, der in der Stu¬
be mit den 10 Fingern herumſchnalzet und ſchwoͤrt:
”der Rittmeiſter haͤtt' es gewonnen, ſo gewiß wie
[21] Amen!” Kein Menſch wich mit ſeiner Fußſohle von
der Stelle, der Doktor blieb keine Minute auf der
ſeinigen und warf ſich endlich in einem Enthuſias¬
mus, den unſre verlegne Stille immer mehr er¬
hob, vor einer weißen Amorbuͤſte, vor einem Mi¬
niatuͤrportrait meines Vaters und vor ſeinem ei¬
gnen Bilde im Spiegel auf die Knie hin und bete¬
te: „Heiliger H. v. Knoͤr! heiliger Amor! heiliger
Fenk! bittet fuͤr den Rittmeiſter und ſchlagt die
Katze todt! Ach wuͤrdet ihr drei Bilder lebendig:
ſo wuͤrde Amor gewiß die Geſtallt des D. Fenks
annehmen und der lebendig gewordene Amor wuͤr¬
de die Hand des lebendig gewordnen Knoͤrs ergrei¬
fen und ihr die der Spielerin geben — ſeine gaͤbe
ihre dann vielleicht weiter. Ihr Heiligen! bittet
doch fuͤr den Rittmeiſter, der gewonnen haͤtte!“
Das iſt nicht wahr und zum Ungluͤck war der Ter¬
min zu einem neuen Spiele zu kurz. . . .


Da nun der Iltis Doktor (ich ſelber erzaͤhle
wieder) aufſtand und wirklich die Hand von Knoͤr
in Erneſtinens ihre legte und ſagte, er waͤre der
Amor — da uͤberhaupt jezt durch die Verſicherun¬
gen des Doktors und durch die Unentſchiedenheit
des Spiels die Ehre des empfindlichen von Men¬
[22] ſchen und Katzen geneckten Spielers eben ſo viel zu
verlieren hatte als die Liebe deſſelben. — Da ich
in einem ganzen Sektor zeige, daß Falkenberg
vom aͤlteſten Adel im ganzen Lande war — und da
zum Gluͤck im Obriſtforſtmeiſter die Sitten ſeiner
rohen Erziehung (wie bei mehreren Landedelleuten)
halb unter dem Firnis der Sitten ſeines feinern
Umgangs verborgen lagen wie ſeine alten Meublen
unter modiſchen: ſo gieng der elektriſche Enthuſiaſ¬
mus des Doktors in großen Funken in des Vaters
Buſen uͤber, und Knoͤr legte hingeriſſen die Hand
Erneſtinens, die zum Scheine erſtaunte, in des
Rittmeiſters ſeine, der's im Ernſte that — der
Braͤutigam draͤngte und warf ſich in einem Chok
von Dankbarkeit an den Hals des neugebornen
Schwiegervaters, eh' er, weil ſeine Ehre mehr
als ſeine Liebe triumphierte, etwas kaͤlter die ge¬
ſchickte Hand noch kuͤßte, ihm bisher dieſen dop¬
pelten Triumph entzogen. — — —


Das verdachte ihm die Inhaberin der Hand;
aber ich verdenke wieder ihr's; mit welchem Grund
will ſie dem Manne, der gar keine Seele, ſeine
eigne kaum und eine weibliche nie errieth, anſin¬
nen, ſeine Weisheitszaͤhne und ſeinen Bart ſoll er
[23] ſo außerordentlich lang gewachſen haben wie der
geneigte Leſer beide traͤgt, dem's freilich nicht erſt
jezt vorgedruckt zu werden braucht — er merkt' es
ſchon vor drei guten Stunden — daß hinter der
Kopulationskatze etwas ſtack oder ſteckte — Erneſti¬
ne naͤmlich ſelber.


Es war ſo . . . ich brauch' es aber dem Leſer
gar nicht zu referiren, ſondern er hat es ſchon
laͤngſt gewußt, daß Erneſtine die Kuͤt- und Heft¬
katze vier Abende vorher taͤglich privatiſſeme auf den
Tiſch ſtellte und ſie abrichtete, auf die Finger
loszufahren, wenn ſie trillerten — ich freue mich,
daß der Scharfſinn des Leſers kein gewoͤhnlicher
iſt, wenn er weiter muthmaßet: ſie ließ alſo auch
am letzten Abend das glutinans von Thierchen nach,
ſchleichen, verſenkte es bis um 11½ Uhr in ihren
Schoos und hob endlich mit dem Knie dieſen termi¬
nus medius
von einer Katze aus dem Schooße auf
den Spieltiſch und der terminus that nachher das
Seinige. — Armer Rittmeiſter!


Nachdenklich iſts aber. Denn wenn auf dieſe
Art, Weiber Anordnung fuͤr Zufall und Zufall fuͤr
Anordnung auszumuͤnzen wiſſen — wenn ſie ſchon
vor den Sponſalien (folglich nachher noch mehr)
[24] in die erſte Linie gegen die Maͤnner wie Kambyſes
gegen die Aegypter, *) Alliancekatzen ſtellen, die
wie Untergoͤtter ex machina das maͤnnliche Spiel
einwerfen und das weibliche aufſetzen — wenn un¬
ter hundert Menſchen nur fuͤnf Maͤnner ſind, die
phyſiſche und metaphoriſche Katzen leiden, und
nur fuͤnf Weiber die ſie haſſen koͤnnen — wenn al¬
ſo ganz offenbar die beſten Weiber entſetzliche Buͤn¬
del Maͤnnergarn unter den Armen halten, Haſen¬
garne, Steckgarne, Spiegelgarne, Nacht- und
Henggarne: was ſoll da das Einbein **) machen,
das am naͤmlichen Tag, wo es einen Roman zu
ſchreiben anfieng, zugleich einen zu ſpielen anhob
und ſo beide wie auf einem Doppelklavier nebenein¬
ander zu Ende fuͤhren wollte? Am vernuͤnftigſten,
[25] ſeh' ich, mach' ich wenn meine Frau den ganzen
Tag am Baͤrenfange ſteht und Zweige darauf
wirft, damit ich hineinſtolpern, nur durchaus kei¬
nen — Baͤren wie keinen Affen. Nein! ihr gefuͤgi¬
gen gedraͤngten Geſchoͤpfe! ich ſetze mirs noch ein¬
mal vor und gelob' es einer von euch hier oͤffent¬
lich im Druck. Geſchaͤh es doch daß ich euch nach
den Flitterwochen quaͤlen wollte: ſo leſ' ich blos
dieſen Sektor hinaus und ruͤhre mich mit dem
kommenden Gemaͤhlde eurer ehlichen Pilatuſſe, das
ich deswegen hieher trage — wie der duͤmſte Mann
ſich fuͤr kluͤger haͤlt als die kluͤgſte Ehefrau; wie
dieſe vor ihm, der vielleicht außer dem Haus vor
einer Goͤttin auf den Knieen liegt, um begluͤckt zu
werden, gleich dem Kameele auf die ihrigen ſinken
muß, um befrachtet zu werden; wie er ſeine
Reichskammergerichts-Erkenntniſſe und ſeine Ple¬
biszita und koͤnigliche Reſolutionen nach den ſanf¬
teſten Gegengruͤnden, nur mit zweifelhafter Stim¬
me wie verloren gewagt, mit nichts verſuͤßet als
mit einem „wenn ichs nun aber ſo haben will“;
wie eben die Thraͤne, die ihn bezauberte im freien
Auge der Braut, ihn entzaubert und ganz toll
macht, wenn ſie aus dem ankopulirten faͤllt, ſo
[26] wie in den arabiſchen Maͤhrchen alle Bezauberun¬
gen und Entzauberungen durch Beſprengen mit
Waſſer geſchehen — wahrhaftig das einzige Gute
iſt doch das, daß ihr ihn recht betruͤgt. Ach! und
wenn ich mir erſt denke, wie weit ein ſolcher Ehe-
Pez gegangen ſeyn muß, bis ihr ſo weit gienget,
daß ihr euch, um nicht von ihm gefreſſen zu wer¬
den (wie man es auch bei den Waldbaͤren thut)
gar ohnmaͤchtig anſtellet und der Petz gieng mit
ſeinen muͤßigen Tatzen um die Scheintodte her¬
um! . . . .


„In meinem Alter ſoll das Einbein anders
pfeifen!“ ſagte der verheirathete Leſer; allein ich
bin ſelber ſchon 9 Jahr aͤlter als er.


[27]

Zweiter Sektor oder Ausſchnitt,

Ahnen-Preiskourant, des Ahnen-Groſſirers — der Beſcheeler
und Adelsbrief.


Es giebt in der ganzen entdeckten Welt keine
verdammtere Arbeit als einen erſten Sektor zu
ſchreiben; und duͤrft' ich in meinem Leben keine
andere Sektors ſchreiben, keinen zweiten, achten ꝛc.
ſo wollt' ich lieber Logarithmen und publiziſtiſche
Kreisrelationen und Deduktionen machen als ein
Buch mit aͤſthetiſchen. Hingegen im zweiten Ka¬
pitel und Sektor koͤmmt ein Autor wieder zu ſich
und weis recht gut im vornehmſten Cercle den es
vielleicht giebt, (Knaͤſen ſitzen in meinem,) was er
mit ſeinen ſchreibenden Haͤnden anfangen ſoll und
mit ſeinem Hute, Kopfe, Witz, Tiefſinn und
mit allem.


Da ich durch das Ehepaar, von deſſen Ver¬
lobung wir ſaͤmmlich zuruͤckkommen, mir in 9
Monaten den Helden dieſes Buches abliefern laſſe
ſo muß ich vorher zeigen, daß ich nicht unbeſon¬
nen in den Tag hineinkaufe ſondern meine Waare
(d. i. meinen Helden) aus einem recht guten
[28] Hauſe, um merkantiliſch zu reden, oder aus ei¬
nem recht alten, um heraldiſch zu reden, aus¬
nehme. Denn der reichsfreien Ritterſchaft, den
Landſaſſen und den Patriziern muß es hier oder
nirgends geſagt, und bewieſen werden, daß mein
Heldenlieferant, H. von Falkenberg, von aͤlterm
Adel iſt wie ſie alle und zwar von unaͤchten.


Naͤmlich Anno 1625 war Mariaͤ Empfaͤngnis
wo ſein Urgrosvater ſich ungemein beſof und den¬
noch aus dem Gluͤckstopfe die volle Hand mit etwas
außerordentlichem herausbrachte, mit einem zwei¬
ten Adelsdiplom. Denn es trank mit ihm, aber
ſiebenmal aͤrger ein geſcheuter Roßtaͤuſcher aus
Weſtphalen, auch ein Herr von Falkenberg,
aber nur ein Namensvetter; ihre beiden Stamm¬
baͤume beſtreiften und anaſtomaſirten ſich weder
in Wurzelfaͤſergen noch in Blaͤttern. Ob nun
gleich der Sipſchaftsbaum des Weſtphaͤlingers ſo
alt und lang im Winde und Wetter des Lebens
dageſtanden war, daß er mit manchem Vetera¬
nen auf den Bergen Libanon und Aetna zugleich
aus der Erde vorgeſchoſſen zu ſeyn ſchien, kurz ob¬
gleich der Roßhaͤndler 64 ſchildig war, indeß der
Urgrosvater zu ſeiner groͤſten Schande und zu deſ¬
[29] ſen ſeiner, der ihn in ſeinen Roman mit hinein¬
nimmt, wirklich ſowohl Zaͤhne als Ahnen mehr
nicht hatte als 32 ſo wars doch noch zu machen.
Der alte Weſtphaͤlinger war nemlich der Stamm¬
halter und die Schlußvignette und das hogartiſche
Schwanzſtuͤck ſeines ganzen hiſtoriſchen Bilderſaals;
nicht einmal in beiden Indien, wo wir alle unſre
Vettern haben und erben, hatt' er noch einen.
Darauf fußte der Urgrosvater, der ihm ſein Adels¬
diplom abzufluchen und abzubetteln ſuchte, um es
fuͤr ſein eignes auszugeben: „Denn wer Teufel weiß
es, ſagte er, dir hilft es nichts und ich heft' es
an meines.“ Ja der Ahnen-Compilator, der Ur¬
grosvater, wollte chriſtlich handeln und bot dem
Roß- und Ahnentaͤuſcher fuͤr den Brief einen unna¬
tuͤrlich-ſchoͤnen Beſcheeler an, einen ſolchen Gro߬
ſultan und Ehevogt eines benachbarten Roß-Harems
wie ich noch wenige geſehen. Aber der Stammhal¬
ter drehte langſam den Kopf hin und her und
ſagte kalt, ich mag nicht und trank Zerbſter Fla¬
ſchenbier. Da er ein Paar Glaͤſer von Quedlinbur¬
ger Goſe blos verſucht hatte, fieng er ſchon an,
uͤber das Anſinnen zu fluchen und zu wettern;
was ſchon gut war. Da er etwas Koͤnigslutteri¬
[30] ſchen Duckſtein, denk ich, darauf geſetzt hatte
(denn Falkenberg hatte einen ganzen Meibomium
de cereviſiis
, naͤmlich ſeine Biere, auf dem Lager;
ſo gieng er gar mit einigen Gruͤnden ſeines Ab¬
ſchlagens hervor und die Hofnung wuchs ſehr.


Da er endlich den Breslauer Scheps im Glaſe
oder in ſeinen Kopfe ſo ſchoͤn milchen fand: ſo be¬
fahl er, das Luder von einem elenden Beſcheeler in
den Hof zu fuͤhren — — und da er ihn etwan
zwei oder dreimal mochte haben ſpringen ſehen: ſo
gab er dem Urgrosvater die Hand und die 128 Ah¬
nen darin. Mein Urgrosvater war viel zu dumm
zu ſo etwas, ſonſt haͤtt' er auch ſich und mich gea¬
delt. Da nun der Falkenbergiſche Urgrosvater das
erkaufte Adelspatent, das einige Ahnenfolgen tau¬
ſendſchildiger Motten faſt aufgekaͤuet hatten, mit
einem Pflaſterſpatel, weil es poroͤs, wie ein Schmet¬
terlingsſittich war, auf neues Pergament aufſtrich
und aufpapte, Buchbinderkleiſter aber vorher: ſo
that, kann man leicht denken, das Pergament ſei¬
ner ganzen adelichen Vorwelt den naͤmlichen Dienſt
der Veredlung, den der Beſcheeler in Weſtphalen
der Roßnachwelt leiſtete und uͤber hundert begrabene
Mann, an denen kein Tropfen Blut mehr adelich
[31] zu machen war, kamen wenigſtens zu adelichen Kno¬
chen. Alſo brauchen weder ich noch irgend eine
Stiftsdame uns zu ſchaͤmen, daß wir mit dem kuͤnf¬
tigen jungen Falkenberg ſo viel Verkehr haben als
man kuͤnftig finden wird. — Uebrigens moͤcht' ich[nicht]
gern, daß die Anekdote weiter auskaͤme, und einem
Leſepublikum von Verſtand braucht man das gar
nicht zu ſagen. — — —


Die Hochzeit-Luperkalien ſetz' ich ſamt ihrem
laͤngſten Tage und ihrer kuͤrzeſten Nacht niemals
herein — bloß den Einzug darauf wollt' ich beſchrei¬
ben. Allein da ich mich geſtern zum Ungluͤck mit
dem Vorſatze in's Bett legte, heute fruͤh das
Schach- und Ehepaar mit drei Federzuͤgen aus dem
Brautbette ins Ehebette zu ſchaffen, das 19 Stun¬
den davon ſteht, naͤmlich im Falkenbergiſchen Rit¬
terſitz Auenthal — und da ich ganz natuͤrlich nur
mit drei kleinen Winken das Wenige ſchildern wollte,
das wenige Pfeifen, Reiten und Pulver, womit die
guten Auenthaler ihre gnaͤdige Neuvermaͤhlten em¬
pfingen: ſo gieng die ganze Nacht in meinem Kopfe
der Traum auf und ab, ich waͤre ſelber ein heim¬
reiſender Reichsgraf und der Reichs-Erb-Kaſperl
und wuͤrde von meinen Unterthanen, weil ſie mich
[32] in 15 Jahren mit keinem Auge geſehen, vor Freu¬
den faſt erſchoſſen. In meiner Grafſchaft wurde
natuͤrlicher Weiſe tauſendmal mehr Bewillkom¬
mungslerm und Honneurs gemacht, als im Falken¬
bergiſchen Feudum; ich will deswegen die Honneurs
fuͤr den Rittmeiſter weglaſſen und bloß meine brin¬
gen.


Er¬[33]

Erſtes Extrablatt.

Ehrenbezeugungen die mir meine Grafſchaft nach meiner Heim¬
kehr von der grand tour anthat.


Wenn graͤfliche Unterthanen einem Grafen ſeine
ſechs nicht natuͤrlichen Dinge*) nehmen: ſo
weiß ich nicht, wie ſie ihn beſſer empfangen koͤn¬
nen. Nun lieſſen mir meine, kein einziges nicht na¬
tuͤrliches Ding.


Sie nahmen mir das erſte unnatuͤrliche Ding
ohnehin weg, den Schlaf. Da ich von Chalons
nach Strasburg, ſo watend langſam als waͤr' ich
ſchwanger, gefahren war, um von da aus ſo don¬
nernd, daß ich mehr huͤpfte als ſaß, meinen Laͤufer
umzufahren: ſo waͤr' ich um Floͤrzhuͤbel (den erſten
Marktflecken in meiner Grafſchaft) fuͤr mein Leben
gern ſchlafend (und kam ich im Grunde anders vor¬
bei?) voruͤbergeflogen; allein gerade an der Graͤn¬
ze und einer Bruͤcke, da ich die Augen bergunter
auf- und bergauf zumachte, wurd' ich uͤberfallen,
C[34] nicht moͤrderiſch ſondern muſikaliſch, von 16 Mann
beſoffnem Ausſchuß, der ſchon ſeit fruͤh 7 Uhr mit
dem muſikaliſchen Geruͤmpel und Ohrenbrechzeug
hier aufgepaſſet hatte, um mich und meine Pferde
zu rechter Zeit mit Trommeln und Pfeifen in die
Ohren zu bleſſiren. Gluͤcklicher Weiſe hatten die
kakophoniſchen Artiſten den ganzen Tag zum Spaſ¬
ſe oder aus Langerweile vorher mehr getrommelt
als aus Ernſt und Liebe nachher. Unter dem gan¬
zen Weg, waͤhrend Orcheſter und Kaſerne ne¬
ben meinen Pferden gieng, zankt' ich mich aus,
daß ich Floͤrzhuͤbel vor 17 Jahren zu einer Stadt
habilitirt und graduirt hatte, — „ich meine nicht
„deswegen, ſagt' ich zu mir, weil nachher das lan¬
„desherrliche Reſkript dem Floͤrzhuͤbel das Stadt¬
„recht und ſeiner Gens d'Armerie die Monturen
„wieder auszog, oder deswegen, weil wir die ſu¬
„pernumerairen Monturen in Kaſſel verauktioniren
„wollten — ſondern weil ſie mich jetzt nicht ſchla¬
[„]fen laſſen, welches doch das erſte nicht natuͤrliche
„Ding bleibt.“


Eſſen lieſſen ſie mich gar nicht, weils das
zweite unnatuͤrliche Ding eines regierenden Herrn
iſt. Sann mir nicht der Floͤrzhuͤbelſche Reſtaura¬
[35] teur, der fuͤr mich das ganze gekochte und geſotte¬
ne Mustheil meiner Grafſchaft ans Feuer geſe¬
tzet hatte, geradezu am Kutſchenfußtritt an, ich
ſollte anbeiſſen, und da ich ihn — wir Großen ſe¬
tzen nicht ungern den Poͤbel durch Verſchmaͤhen be¬
neideter Koſt in ein hungriges Erſtaunen — mit
eignem Munde nur um eine Bierſuppe anſprach:
machte da nicht der Reſtaurateur eine eitle Mine
und ſagte: „im ganzen Hotel haͤtt' er keine; und
„haͤtt' er ſie: ſo ſollten ihm doch die kuͤnftigen Traiteurs
„nicht nachſagen, er habe unter ſo vielen jus und
buillons ſeinem gnaͤdigſten Herrn nichts praͤſen¬
„tirt als einen Napf Bierſuppe.“


Um das dritte Ding, um die Bewegung und
Ruhe zugleich, haͤtte mich bei einem Haare die
Ehrenpforte meines Begraͤbnißdorfes gebracht, maſ¬
ſen ſie mich beinahe erſchlug, weil ſie und die mu¬
ſicirende Gallerie auf ihr, hart hinter meinem letz¬
ten Bedienten einpurzelte und zur Freude der Graf¬
ſchaft keinem Menſchen etwas zerbrachen als dem
Bader die Glas-Schroͤpfkoͤpfe, die er der Ehren¬
pforte angeſetzt und vorgeſtreckt hatte, damit doch
nur etwas daran hienge worein die nicht ſchlechte
Illumination zu ſtecken waͤre. Ich wollte ſchon an
C 2[36] und fuͤr ſich etwas toll werden uͤber die ſatyriſchen
Schroͤpfvaſen, die ich fuͤr ſatyriſche Typen und Nach¬
bilder meines graͤflichen Ausſchroͤpfens der vollen
Allodial- und Fendaladern nehmen wollte und ich
fragte den Schuldheiß, ob er daͤchte es fehle mir
aͤchter Witz: allein ſie thaten ſaͤmtlich Eide, an
Witz waͤre bei der ganzen Ehrenpforte gar nicht ge¬
dacht worden.


Luft, das vierte nicht natuͤrliche Ding eines
Reichs-Erb-Kaſperls, haͤtt' ich ſchon haben koͤnnen:
denn bloß des kurzen Mißbrauchs wegen, den die
Inſtrumente und Lungen meiner Vaſallen von einem
ſo herrlichen Elemente machten, haͤtt' ich wahrlich
nicht mich und den Luftſektor um mich, ſo feſt in
meinen Wagen eingeſperrt als ich wirklich that —
ich muß das ausdruͤcklich ſagen, damit nicht der gu¬
te Kelzheimer Kantor ſich einbilde, es habe mir
nicht gefallen, daß mir ſein muſikaliſches Feuerrohr
oder ſeine fallopiſche Trompete doppelt aus dem
Schallloch, ſowohl ſeines Kirchthurms als ſeines Koͤr¬
pers, dermaßen entgegen ſtach, daß die melodiſchen
Luftwellen aus beiden mir vier Aecker weit entgegen
giengen, indeß noch dazu unten im Thurm ſeine Frau
die Glocken melkte, als wuͤrd' ich begraben und nicht
[37] ſowohl empfangen als verabſchiedet — wie geſagt,
des muſikaliſchen Ehepaars wegen haͤtt' ich den Wa¬
gen gar nicht zugeſchloſſen; aber der Todesgefahr
wegen; denn ein freudiges Piquet Frohnbauern ſchoß
mir aus 17 Vogelflinten und einem Paar Taſchen¬
puffern ſowohl Ehrenſalven als einige Ladſtoͤcke ent¬
gegen.


Sitzt ein Graf einmal ohne vier nicht natuͤrli¬
che Dinge da: ſo darf er an das fuͤnfte gar nicht
denken, an Evacuation. Der Sphinkter aller,
ſelbſt der groͤßten Poren bleibt ſamt der Wagen¬
thuͤre zu; es war alſo kein Wunder, da ich gar
kein Hephate zu irgend einem Porus ſagen konnte,
daß ich auffuhr: „den Henker hab' ich davon von
„meinem Sitzen auf der Grafenbank in Regensburg,
„wenn ich hier auf dem Kutſchkiſſen hocken muß
„und nichts — verrichten kann, nicht einmal....”


Aechte Leidenſchaft, die das 6te nicht natuͤr¬
liche Ding des Menſchen iſt, wird von nichts ſo
leicht erſtickt als von einem atlaſſenen Hundekiſſen,
auf dem die Pfarrer, Schuldiener und Amtleute,
die ein Reichs-Erb-Kaſperl hat, ihm die Carmina
uͤberreichen, die ſie auf ihn haben fertigen laſſen:
denn daruͤber iſt weder zu lachen, noch zu grei¬
[38] nen noch zu zanken, noch zu loben, noch zu re¬
den.


Meine Lehnleute und Hinterſaſſen, die mir ſo
viel von meinen 6 unnaturlichen Dingen abfiſchten,
gaben mir eben dadurch die Haͤlfte des erſten wie¬
der, das Wachen — ſie hatten ſich aber meinet¬
wegen ſo in Schweiß geſetzt, daß ich ihrentwegen
auch darin lag. Da ich aufwachte: dacht' ich an¬
fangs, es waͤr' ein Traum; aber bei mehreren
Aufwachen merkt' ich, daß es, die Namen ausge¬
nommen, die geſtohlne Geſchichte meiner Nachbar¬
ſchaft war. Freilich aͤrgert michs ſo gut als wuͤrde
die Illumination und der muſikaliſche Laͤrm
meinetwegen gemacht, daß die Unterthanen beide
in der boshaften Abſicht machen, ihren großen oder
kleinen Regenten durch Ekel und Plage wieder auf
ſeine Reiſe zuruͤck zu jagen: denn ſie borgtens klar
den orientaliſchen Karavanen ab, die gleichfalls
durch Trommeln und Feuerſchlagen wilde
Thiere ſich vom Leibe halten.


[39]

Dritter[Sektor]oder Ausſchnitt.

Unterirrdiſches Pädagogium — der Hernhuter und
Pudel.


Jetzt geht erſt meine Geſchichte an; die Szene iſt
in Auenthal oder vielmehr auf dem Falkenbergiſchen
Bergſchloſſe, das einige Ackerlaͤngen davon lag.
Das erſte Kind der Schachamazone und des ſterben¬
den Fechters im Schach war Guſtav, der nicht
der erhabne ſchwediſche Held iſt, ſondern meiner.
Sei gegruͤßet, kleiner Schoͤner! auf dem Schau¬
platz dieſes Lumpenpapiers und dieſes Lumpenle¬
bens! Ich weiß dein ganzes Leben voraus, darum
beweget mich die klagende Stimme deiner erſten
Minute ſo ſehr; ich ſehe an allen Jahren deines
Lebens Thraͤnentropfen ſtehen, darum erbarmet
mich dein Auge ſo ſehr, das noch trocken iſt, weil
dich bloß dein Koͤrper ſchmerzet — ohne Laͤcheln
koͤmmt der Menſch, ohne Laͤcheln geht er, drei
fliegende Minuten lang war er froh. Ich habe
daher mit gutem Vorbedacht, lieber Guſtav, den
friſchen Mai deiner Jugend, von dem ich ein Land¬
[40] ſchaftsſtuͤck ins elende Fließpapier hineindruͤcken ſoll,
bis in den Mai des Wetters aufgehoben, um jetzt,
da alle Tage Schoͤpfungstage der Natur ſind, auch
meine Tage dazu zu machen, um jetzt, da jeder
Athemzug eine Stahlkur, jeder Schritt vier Zolle
weiter und das Auge weniger vom Augenlied ver¬
hangen iſt, mit fliegender Hand zu ſchreiben und
mit einer elaſtiſchen Bruſt voll Athem und Blut! —


Zum Gluͤck bleibt es vollends vom 2ten bis zum
27ſten Mai (laͤnger beſchreib' ich nicht daran) recht
huͤbſches Wetter: denn ich bin ein wenig ein me¬
teorologiſcher Clair voyant und mein kurzes Bein
und mein langes Geſicht ſind die beſten Wetterdarm¬
ſeiten in hieſiger Gegend.


Da Erziehung weit weniger am innern Men¬
ſchen (und weit mehr am aͤuſſern) aͤndern kann
als Hofmeiſter ſich einbilden: ſo wird man ſich
wundern, daß bei Guſtav gerade das Gegentheil
war — ſein ganzes Leben klang nach dem [Korton]
ſeiner uͤberirrdiſchen, d. h. unterirrdiſchen Erziehung.
Der Leſer muß nemlich aus ſeinem erſten Sektor
noch im Kopfe haben, daß es in den Ehepakten
klar der Schwiegermutter verſprochen wurde, das
erſte Kind acht Jahre unter der Erde zu laſſen,
[41] um ihm die Schoͤnheit der Natur und die Haͤßlich¬
keit der Menſchen aus gleichen Gruͤnden zu entzie¬
hen. Der Rittmeiſter ſtellte ſeiner Frau vergeblich
vor, „die Alte verzoͤg' ihm ja den Soldaten zu
„einer Schlafhaube und ſie ſollte nur warten, bis
„ein Maͤdchen kaͤme.” Er ließ auch wie mehrere
Maͤnner den Unmuth uͤber die Schwiegermutter
ganz am Weibe aus. Aber die Alte hatte ſchon vor
der Taufe einen himmliſchſchoͤnen Juͤngling aus
Barby verſchrieben. Der Rittmeiſter konnte wie
alle kraftvolle Leute das Hernhutiſche Diminuendo
nicht ausſtehen; am meiſten redete er daruͤber, daß
ſie ſo wenig redeten; ſogar das war nicht nach
ſeinem Sinne, daß die Hernhutiſche Wirthe ihn
nicht ſowohl uͤberſchnellten als zu ſehr uͤberſchnellten.


Allein der Genius — dieſen ſchoͤnen Namen ſoll
er vorjetzt auf allen Blaͤttern haben — lag nicht
an jenen das Herz einſchraubenden Kraͤmpfen des
Hernhutiſmus krank und er nahm blos das Sanfte
und Einfache von ihm. Ueber ſeinem ſchwaͤrmeri¬
ſchen trunknem [Auge] glaͤttete ſich eine ruhende
ſchuldloſe Stirne, die das vierzigſte Jahr eben ſo
unraſtriert und ungerunzelt ließ, wie das vier¬
zehnte. Er trug ein Herz, welches Laſter wie Gif¬
[42] te Edelſteine, zerbrochen haͤtten; ſchon eine frem¬
de ſuͤndigende Phyſiognomie klemmte ſeine Bruſt
ſchmerzhaft ein, wie der Saphyr am Finger des
Unkeuſchen erblaſſet. Dennoch iſt ſeine vieljaͤhrige
Aufopferung fuͤr Guſtav ſchwer und groß; „er habe
„aber Motiven dazu, ſagt' er, die er niemand ſa¬
„gen wuͤrde als einſt ſeinem Guſtav ſelber.“ Feine
Leſer, die weit denken, werden hoff' ich ſich anſtel¬
len als faͤnden ſie einen ſolchen paͤdagogiſchen He¬
roiſmus recht natuͤrlich. Die Tugend der meiſten
Menſchen iſt [nur] ein Extrablatt und Gelegenheits¬
gedicht in ihrem Altagsleben; allein zwei, drei Ge¬
nien ſind doch vorhanden, in deren epiſchem Leben
die Tugend die Heldin und alles Uebrige Neben¬
partie und Epiſode iſt, und deren Kulmination vom
Volk mehr angeſtaunet als bewundert werden
kann.


Die erſten dunkeln Jahre lebte Guſtav mit ſei¬
nem Schutzengel noch in einem uͤberirrdiſchen Zim¬
mer, er trennte ihn bloß von den ſchlimmſten Kip¬
perinnen und Wipperinnen der Menſchheit, denen
wir eben ſo viele lahme Beine, als lahme Herzen
zu danken haben — Maͤgden und Ammen. Ich
wollte lieber, dieſe Beſtien erzoͤgen uns im zweiten
Jahrzehend als im zweiten Jahr.


[43]

Der Genius zog darauf mit meinem Guſtav
unter eine alte ausgemauerte Hoͤhlung im Schlo߬
garten, von der es der Rittmeiſter bedauerte, daß
er ſie nicht laͤngſt verſchuͤtten laſſen. Eine Keller¬
treppe fuͤhrte links in den Felſenkeller, und rechts
in dieſe Woͤlbung, wo eine Karthauſe mit drei Kam¬
mern ſtand, die man wegen einer alten Sage die
Dreibruͤder-Karthauſe nennte: auf ihrem Fußboden
lagen drei ſteinerne Moͤnche, die die ausgehauenen
Haͤnde ewig uͤber einander legten; und vielleicht
ſchliefen unter den Kopien die ſtummen Originale
ſelber mit ihren untergegangne Seufzern uͤber die
vergehende Welt. Hier waltete bloß der ſchoͤne Ge¬
nius uͤber den Kleinen, und bog jeden knoſpenden
Zweig deſſelben zur hohen Menſchengeſtalt empor.


Elende Umſtaͤndlichkeit z. B. uͤber die Lieferan¬
ten der Waͤſche ꝛc. werden mir Frauenzimmer am
liebſten erlaſſen; aber ſie werden begieriger ſeyn,
wie der Genius erzog. Recht gut, ſag' ich er
befahl nicht, ſondern gewoͤhnte und erzaͤhlte
blos. er wiederſprach weder ſich noch dem
Kinde, ja er hatte das groͤſte Arkanum ihn gut zu
machen — er wars ſelbſt. Ohne dieſes Arkanum koͤnn¬
te man eben ſo gut den Teufel zum Informator
[44][dingen] als ſich ſelbſt, wie die Toͤchter ſchlimmer
Muͤtter zeigen. Der Genius glaubte uͤbrigens,
beim erſten Sakramente (der Taufe) gienge die Bil¬
dung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl)
die des Kopfes.


Von guten Menſchen hoͤren iſt ſo viel als un¬
ter ihnen leben und Plutarchs Biographien wirken
tiefer als die beſten Kompendien der Moralphiloſo¬
phie zum Gebrauche — akademiſcher Lehrer. Fuͤr
Kinder vollends giebts keine andere Moral als
Beiſpiel, erzaͤhltes oder ſichtbares; und es iſt paͤ¬
dagogiſche Narrheit, durch Gruͤnde Kindern nicht
dieſe Gruͤnde ſondern den Willen und die Kraft zu
geben meinen, dieſen Gruͤnden zu folgen. O tau¬
ſendmal gluͤcklicher als ich neben meinem Terzius
und Konrektor, lagſt du auf dem Schooße, an den
Armen und unter den Lippen deines theuern Ge¬
nius, wie eine trinkende Alpenblume an der rin¬
nenden Wolke, und [ſogeſt] Dein Herz an den Er¬
zaͤhlungen von guten Menſchen groß, die der Ge¬
nius ſaͤmmtlich Guſtave und Seelige nennten
von denen wir bald ſehen ſollen, warum ſie mit
Schwabacher gedruckt ſind! Da er gut zeichnete;
ſo gab' er ihm, wie Chodowiecky dem Romanen¬
[45] macher, die Zeichnung jeder Geſchichte und um¬
bauete den Kleinen mit dieſem orbis pictus guter
Menſchen wie der allmaͤchtige Genius uns mit der
großen Natur. Aber er gab ihm die Zeichnung
nie vor ſondern nach der Beſchreibung, weil Kin¬
der das Hoͤren zum Sehen ſtaͤrker zieht als das
Sehen zum Hoͤren. Ein anderer haͤtte zu dieſem
paͤdagogiſchen Hebebaum ſtatt der Reisfedern den
Fidelbogen oder die Klaviertaſten gewaͤhlt; aber
der Genius thats nicht: das Gefuͤhl fuͤr Malerei
entwickelt ſich wie der Geſchmack ſehr ſpaͤt und be¬
darf alſo der Nachhuͤlfe der Erziehung. Es iſt der
fruͤheſten Entwicklung werth, weil es das Gitter
wegnimmt, das uns von der ſchoͤnen Natur ab¬
ſondert, weil es die phantaſirende Seele wieder
unter die aͤußern Dinge hinaustreibt und weil es
das deutſche Auge zur ſchweren Kunſt abrichtet,
ſchoͤne Formen zu faſſen. Die Muſik hingegen
trift ſchon im juͤngſten Herzen (wie bei den wilde¬
ſten Voͤlkern) nachtoͤnende Saiten an; ja ihre All¬
macht buͤßet vielmehr durch Uebung und Jahre ein.
Guſtav lernte deswegen als Taubſtummer in ſeiner
taubſtummen Hoͤle ſo gut zeichnen, daß ihm ſchon
in ſeinem dreizehnten Jahre ſein Hofmeiſter ſaß.


[46]

Und ſo floß beiden ihr Leben ſanft in der Ka¬
takombe wie eine Quelle davon: der Kleine war
gluͤcklich: denn ſeine Wuͤnſche langten nicht uͤber
ſeine Kenntniſſe hinaus und weder Zank noch
Furcht riſſen ſeine ſtille Seele auseinander. Der
Genius war gluͤcklich: denn die Ausfuͤhrung die¬
ſes zehnjaͤhrigen Baues wurd' ihm leichter als der
Entſchluß deſſelben; der Entſchluß draͤngt alle
Schwierigkeiten und Entbehrungen auf einmal vor
die Seele. die Ausfuͤhrung aber ſtellet ſie weit aus¬
einander und giebt uns erſt das Intereſſe davon
durch die ſonderbare Freude, ohne die man's bei
tauſend Dingen nicht ausdauerte — etwas unter
ſeinen Haͤnden taͤglich wachſen ſehen.


Fuͤr beide Menſchen war es gut, daß unten
in [dieſem] moraliſchen Treibhaus ein Schulkamme¬
rad des Guſtavs mit wohnte, der zugleich ein hal¬
ber Kollaborator und Adjunktus des Genius war,
und der von der ganzen Erziehung wegen gewiſſen
Maͤngeln ſeines Herzens nur ſchlechten Vortheil
zog, ob er gleich ſo gut wie Guſtav zu den Thieren
mit zwei Herzkammern und mit warmen Blute
gehoͤrte — wenn ich ſage, daß der groͤſte Fehler
des Vikarius war, daß er keinen Branntewein
[47] trinken wollte, ſo ſieht man wohl, daß er klein,
wie Guſtav groß gezogen werden ſollte, weil
er der netteſte ſchwaͤrzeſte — Pudel war, der je¬
mals uͤber der Erde mit einer weißen Bruſt herum¬
geſprungen war. Dieſer verſtaͤndige Hund und Mit¬
arbeiter loͤſete den Oberlehrer oft in Spielen ab;
zweitens konnten die meiſten Tugenden nicht ſowol
von als an ihm durch Guſtav ausgeuͤbt werden
und er hielt dazu die noͤthigen ungleichnami¬
gen
Laſter bereit — im Schlaf biß der Schulkolle¬
ge leicht um ſich nach lebendigen Beinen im Wa¬
chen nach abgezauſeten.


In dieſem unterirrdiſchen Amerika hatten die
drei Antipoden ihren Tag, d. h. es war ein Licht an¬
gezuͤndet, wenns oben bei uns Nacht war — Nacht
d. h. Schlaf hatten ſie, wenn bei uns die Sonne
ſchien. Der ſchoͤne Genius hatte des aͤußern Laͤrms
und ſeiner Tagsausfluͤge wegen es ſo eingerichtet.
Der Kleine lag dann unten in ſeiner Karthauſe,
waͤhrend ſein Lehrer Luft und Menſchen genoß[,]
mit zugeſchnuͤrten Augen, weil dem Zufall
und der Kellerthuͤr nicht zu trauen war. Zuweilen
trug er den ſchlafenden verhuͤllten Engel in die fri¬
ſche Luft und in die beſeelten Sonnenſtrahlen her¬
[48] auf, wie Ameiſen ihre Puppen den Bruͤtfluͤgeln
der Sonne unterlegen. Warlich waͤr' ich der zwei¬
te oder dritte Chodowiecky: ſo ſtaͤnd' ich jezt auf
und ſtaͤche zu meinem eignen Buche die Szene in
ſchwediſches Kupfer, nicht blos wie unſer heraus¬
getragner blasrother Liebling unter ſeiner Binde
in einem gegitterten Roſenſchatten ſchlummert und
aͤhnlich einem geſtorbenen Engel, im unendlichen
Tempel der Natur ſtille mit kleinen Traͤumen ſei¬
ner kleinen Hoͤhle vor uns liegt — es giebt noch
etwas ſchoͤners, Du haſt Deine Eltern noch, Gu¬
ſtav, und ſiehſt ſie nicht: Deinen Vater, der
mit dem von der Liebe verdunkelten Auge neben
Dir ſteht, und ſich freuet uͤber den reinern Athen;
der die kleine Bruſt beweget, und daruͤber vergiſ¬
ſet, wie Du erzogen wirſt — und Deine Mutter,
die an Dein Angeſicht, deſſen Unſchuld vielleicht
kein anderes [w]ieder [ſieht], die liebhungrigen
Lippen preſſet, die ungeſaͤttigt bleiben, weil ſie
nicht reden und nicht ſchmeicheln duͤrfen . . . Aber
ſie druͤckt dich aus deinem Schlummer heraus
und du muſt nach einer kurzen Zeit wieder in deine
Platos Hoͤle hinunter.


Der[49]

Der Genius bereitete ihn auf dieſe Auferſte¬
hung aus ſeinem heiligen Grabe lange vor. Er ſag¬
te zu ihm: „wenn du recht gut biſt und nicht un¬
geduldig und mich und den Pudel recht lieb haſt:
ſo darfſt du ſterben. Wenn du geſtorben biſt: ſo
ſterb' ich auch mit und wir kommen in den Him¬
mel (womit er die Oberflaͤche der Erde meinte) —
da iſts recht huͤbſch und praͤchtig. Da brennt man
am Tage kein Licht an, ſondern eines ſo groß wie
mein Kopf ſteht in der Luft uͤber dir und geht al¬
le Tage ſchoͤn um dich herum — die Stubendecke
iſt blau und ſo hoch, daß ſie kein Menſch erlan¬
gen kann auf tauſend Leitern — und der Fußboden
iſt weich und gruͤn und noch ſchoͤner, die Pudel
ſind da ſo groß wie unſere Stube — im Himmel
iſt alles voll Seeliger und da ſind alle die guten
Leute, von denen ich dir ſo oft erzaͤhlet habe,
und deine Eltern, (deren Portraits er ihm lang
gegeben hatte) die dich ſo lieb haben, wie ich und
dir alles geben wollen. Aber recht ſchoͤn [mußt] du
ſeyn.“ — „Ach wenn ſterben wir denn einmal?“
ſagte der Kleine und ſeine gluͤhende Phantaſie ar¬
beitete in ihm und er lief unter jeden ſolchen
Schilderung zu einem Landſchaftsgemaͤlde, wovon
er jede Grasſpitze betaſtete und ausfragte.


D[50]

Auf Kinder wirkt nichts ſo ſchwach als eine Dro¬
hung und Hofnung, die nicht noch vor Abends in
Erfuͤllung geht — blos ſo lange man ihnen vom
kuͤnftigen Examen, oder von ihrem erwachſenen Al¬
ter vorredet, ſo lange hilfts; daher manche dieſes
Vorreden ſo oft wiederholen, daß es nicht einmal ei¬
nen augenblicklichen Eindruck mehr erzeugt. Der
Genius ſetzte daher den langen Weg zur groͤſten Be¬
lohnung aus kleinern zuſammen, die alle den Ein¬
druck und die Gewißheit der großen verſtaͤrkten und
die im folgenden Sektor ſtehen.


Apropos! Ich muß es nachholen, daß es unter
allen Uebeln fuͤr Erziehung und fuͤr Kinder, woge¬
gen das verſchrieene Buchſtabieren und Wixen golden
iſt, kein giftigeres, keinen ungeſundern Mispickel
und keinen mehr zehrenden paͤdagogiſchen Band¬
wurm giebt als eine — Hausfranzoͤſinn.


[51]

Vierter Sektor oder Ausſchnitt.

Lilien — Waldhörner — und eine Ausſicht ſind die Todes-
Anzeigen.


Auf allen meinen Gedaͤchtnißfiebern (dieſen Denk¬
faͤden und Blaͤttergerippen von ſo manchem ſchlech¬
ten Zeug) ſchlaͤft keine ſchoͤnere Idee als die aus dem
Kloſter Korbey — wenn der Todesengel daraus ei¬
nen Geiſtlichen abzuholen hatte; ſo legte er ihm als
Zeichen ſeiner Ankunft eine weiße Lilie in ſeinem
Chorſtuhl hin. Ich wollt' ich haͤtte dieſen Aberglau¬
ben. Unſer ſanfter Genius ahmte dem Todesengel
nach und ſagte dem Kleinen „wenn wir eine Lilie
finden: ſo ſterben wir bald.“ Wie der Himmelsluſti¬
ge, der noch keine geſehen, uͤberall darnach ſuchte!
Einmal da unſer Genius ihm den Genius des Uni¬
verſums nicht als ein metaphyſiſches Robinets Ve¬
xierbild ſondern als den groͤſten und beſten Menſchen
der Erde geſchildert hatte: zog ſich ein nie dargewe¬
ſener Wohlgeruch um ſie herum. Der Kleine fuͤhlt,
aber ſieht nicht; er tritt zur Klauſe hinaus und —
drei Lilien liegen da. Er kennt ſie nicht, dieſe weiſ¬
ſen Juniuskinder; aber der Genius nimmt ſie entzuͤckt
von ihm und ſagt; „das ſind Lilien, die kommen vom
D 2[52] Himmel, nun ſterben wir bald.“ Ewig zitterte die
Ruͤhrung nach ſpaͤtern Jahren noch vor jeder Lilie,
in Guſtavs Herzen fort und gewiß gaukelt einmal in
ſeiner wahren Todesſtunde, eine Lilie als das letzte
glaͤnzende Viertel der verloͤſchenden Mondserde vor
ihm.


Der Genius hatte vor, ihn am 1ſten Junius ſei¬
nem Geburtstage, aus der Erde zu laſſen. Aber
um ſeine Phantaſie noch hoͤher zu ſpannen, (vielleicht
zu hoch), erſchuf er in der letzten Woche noch zwei
Szenen, die die vorige uͤbertrafen. Denn da er ihm
die Seeligkeiten des Himmels d. h. der Erde mit
ſeiner Zunge und mit ſeinem Geſichte vorgemalet
hatte, beſonders die Herrlichkeiten der Himmels-
und Sphaͤrenmuſik: ſo beſchloß er mit der Nachricht,
daß ſogar oft zu Sterbenden, die noch nicht oben
waͤren, dieſes Echo des menſchlichen Herzens her¬
unter toͤnte und daß ſie denn eher ſtuͤrben, weil da¬
von das muͤde Herz zerfloͤße. In das Ohr des Klei¬
nen war Muſik, dieſe Poeſie der Luft, noch nie
gekommen. Sein Lehrer hatte nun ein ſogenanntes
Sterbelied gemacht, in dieſem zog natuͤrlicher Weiſe
Guſtav alles, was es vom zweiten Leben ſagte, auf
das erſte und ſie laſen es oft, ohne es zu ſingen.
[53] Da aber die gehoͤrige Anſtallt uͤber der Hoͤhle ge¬
troffen war: ſo fieng unten einmal der Genius
an, es vorzuſingen, indeß mit ihm oben ein be¬
gleitendes Waldhorn anfieng, (das an einem mei¬
ſterhaften Munde die Floͤte erreicht) und die zie¬
henden Adagio-Klagen ſanken durch die daͤmpfende
Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein warmer
Regen nieder. . . .


Guſtavs Auge ſtand in der erſten Freudenthraͤ¬
ne — ſein Herz drehte ſich um — er glaubte, nun
ſtuͤrb' es an den Toͤnen ſchon.


O Muſik! Nachklang aus einer entlegnen har¬
moniſchen Welt! Seufzer des Engels in uns!
Wenn das Wort ſprachlos iſt, und die Umarmung,
und das Auge, und das weinende, und wenn un¬
ſre ſtummen Herzen hinter dem Bruſt-Gitter ein¬
ſam liegen: o ſo biſt nur du es, wodurch ſie
ſich einander zurufen in ihren Kerkern und wo¬
durch ſie ihre entfernten Seufzer vereinigen in ih¬
rer Wuͤſte! —


Wie beim wahren Sterben naͤherte der Genius
ſeinen Zoͤgling bei dieſem nachgeahmten, auf der
Stufenleiter der fuͤnf Sinne dem Himmel. Er
ſchmuͤckte den ſcheinbaren Tod zum Vortheil des
[54] wahren mit allen Reizen aus und Guſtav ſtirbt
einmal entzuͤckter als einer von uns. Anſtatt daß
andere uns die Hoͤlle offen ſehen laſſen: verhieß
er ihn, er wuͤrde wie Stephanus, an ſeinem To¬
destage den Himmel offen ſehen. — Dies geſchah.
Ihr unterirrdiſches Joſaphats Thal hatte außer
der erwaͤhnten Kellertreppe noch einen langen wag¬
rechten Kreuzgang, der am Fuße des Bergs ins
Thal und ins Doͤrfgen darin offen ſtand, und den
zwei Thuͤren in verſchiedenen Zwiſchenraͤumen ver¬
ſperrten. Dieſe Thuͤren ließ er in der Nacht vor
dem erſten Junius, als blos das duͤnne lichte
Mondkomma in der blauen Nacht herumflimmerte,
mitten in einem Gebete unvermerkt aufziehen —
und nun ſiehſt du zum erſtenmale in deinem Le¬
ben und auf den Knieen, Guſtav, in das weite
9 Millionen Quadratmeilen große Theater des
menſchlichen Leidens und Thuns hinein, aber nur
ſo wie wir in den naͤchtlichen Kindheitsjahren und
unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen
Muͤcken uͤberhuͤllte, ſieheſt Du in das Nachtmeer
hinein, das vor Dir unermeslich hinaus ſteht mit
[ſchwankenden] Bluͤthen und ſchießenden Feuerkaͤ¬
fern, die ſich neben den Sternen zu bewegen ſchei¬
[55] nen und mit dem ganzen Gedraͤnge der Schoͤpfung.
— Er ſagte hernach, dieſes Nachtſtuͤck ſei noch
jezt in ſeiner Seele wie eine im Meere unterge¬
ſunkne gruͤne Inſel hinter tiefen Schatten gelagert
und ſehe ihn ſehnend an wie eine laͤngſt vergangne
frohe Ewigkeit. . . . Allein in wenig Minuten
ſchloß der Genius ihn an ſich und verhuͤllte die ſu¬
chenden Augen mit ſeinem Buſen und unvermerkt
liefen die Himmelsthuͤren wieder zu und nahmen
ihm den Fruͤhling.


In zwoͤlf Stunden ſteht er drinnen; aber ich
werde ordentlich beklemmt, je naͤher ich mich zu
dieſer großen Auferſtehungsſzene bringe. Es ruͤhrt
nicht blos daher, daß ich nur ein einzigesmal in
meinem Leben einen ſolchen, des Himmels werthen
Geburtstag wie Guſtavs ſeinen, in meinem Kopfe
auf- und untergehen laſſen kann, einen Tag, deſ¬
ſen Feuer ich an meinem Pulſe fuͤhle und von dem
nur der Widerſchein aufs Papier herfaͤllt — auch
nicht blos daher koͤmmts, daß nachher der ſchoͤne
Genius ungekannt von Autor und Leſer wegziehet —
ſondern daher am meiſten, daß ich meinen Guſtav
aus der ſtillen Demantgrube, wo ſich der Demant
ſeines Herzens ſo durchſichtig und ſo ſtrahlend und ſo
[56] ohne Flecken und Federn zuſammenſetzte, hinaus¬
werfe in die ſchmutzige Welt, in der ſehr bald Bocks¬
blut auf ihn tropfen wird, aus ſeiner Meerſtille der
Leidenſchaften heraus in den ſogenannten Himmel
hinein, wo neben den Seeligen eben ſo viele Ver¬
dammte gehen. — Aber, da er alsdann doch auch
der großen Natur ins Angeſicht ſchauen darf; ſo iſts
doch nicht ſein Schickſal allein, was mich beklemmt,
ſondern meines und fremdes, weil ich bedenke, durch
wie viel Koth unſere Lehrer unſern innern Menſchen
wie einen Miſſethaͤter ſchleifen, eh' er ſich aufrichten
darf — ach haͤtte ein Pythagoras, ſtatt des Latei¬
niſchen und der ſyriſchen Geſchichte, unſer Herz zu
einer ſanft erbebenden Aeolsharfe, auf der die
Natur ſpielet und ihre Empfindung ausdruͤckt, und
nicht zu einer laͤrmenden Feuertrommel aller
Leidenſchaften werden laſſen — wie weit — da das
Genie, aber nie die Tugend Graͤnzen hat und jeder
Reine und Gute noch reiner werden kann — koͤnn¬
ten wir nicht ſeyn!


Wie Guſtav eine Nacht wartet: ſo will ich auch
die Schilderung davon um eine verſchieben, um ſie
Morgen mit aller Wolluſt meiner Seele zu geben.


[57]

Fuͤnfter Sektor oder Ausſchnitt.

Auferſtehung.


Vier Prieſter ſtehen im weiten Dom der Natur
und beten an Gottes Altaͤren, den Bergen, — der
eisgraue Winter, mit dem ſchneeweiſſen Chorhemd —
der ſammelnde Herbſt, mit Erndten unter dem
Arm, die er Gott auf den Altar legt und die
der Menſch nehmen darf — der feurige Juͤngling, der
Sommer, der bis zu Nachts arbeitet, um zu op¬
fern — und endlich der kindliche Fruͤhling mit ſeinem
weiſſen Kirchenſchmuck von Lilien und von Bluͤten,
der wie ein Kind Blumen und Bluͤtenkelche um den
erhabenen Geiſt herumlegt und an deſſen Gebete al¬
les mitbetet was ihn beten hoͤrt. — Und fuͤr Men¬
ſchenkinder iſt ja der Fruͤhling der ſchoͤnſte Prieſter.


Dieſen Blumenprieſter ſah der kleine Guſtav
zuerſt am Altar. Vor Sonnenaufgang am erſten
Junius (drunten war's Abend) kniete ſich der Ge¬
nius ſchweigend hin und betete mit den Augen und
ſtummzitternden Lippen ein Gebet fuͤr Guſtav, das
uͤber ſein ganzes gefaͤhrliches Leben die Fluͤgel aus¬
[58] breitete. „In dieſer Minute gehen wir aus dem
„Grab in den Himmel“ — ſagte der tiefgeruͤhrte
Genius, da oben eine Floͤte (als Zeichen der auf¬
geſperrten Thuͤren) anfieng, ſie mit ſanfter Stim¬
me aus dem Grabe zu rufen. Der Kleine bebte
vor Freude und Angſt. Die Floͤte rufet fort, —
ſie gehen den Todesgang der Himmelsleiter hinauf,
— ihre zwei angſtlichen Herzen zerbrechen mit
ihren Schlaͤgen beinahe die Bruſt — der Ge¬
nius ſtoͤßet die Pforte auf, hinter der die Welt
war — und hebt ſeinen [Freund] in die Erde und
unter dem Himmel hinaus . . . . . . Nun ſchlagen
die hohen Wogen des lebendigen Meers uͤber ihn
zuſammen — mit ſtockendem Athem, mit erdruͤcktem
Auge, mit uͤberſchuͤtteter Seele ſteht er vor dem un¬
uͤberſehlichen Angeſicht der Natur und haͤlt ſich zit¬
ternd feſter an ſeinen Genius — als er aber nach
dem erſten Erſtarren ſeinen Geiſt weit aufgeſchloſſen
hatte fuͤr dieſe Stroͤme — als er die tauſend Arme
fuͤhlte, womit ihn die hohe Seele des Weltalls an
den Buſen druͤckte — als er zu ſehen vermochte das
gruͤne taumelnde Blumenleben um ſich und die ni¬
ckenden Lilien, die lebendiger ihm ſchienen als ſeine,
und als er die zitternde Blume todt zu treten fuͤrch¬
[59] tete — als ſein wieder aufwaͤrts geworfnes Auge
im tiefen Himmel, der Oefnung der Unendlichkeit,
verſank — und als er ſich ſcheuete vor dem Herun¬
terbrechen der herumziehenden ſchwarzrothen Wol¬
kengebuͤrge und der uͤber ſeinen Haupt ſchwimmen¬
den Laͤnder — als er die Berge wie neue Erden
auf dieſer liegen ſah — und als ihn umrang das un¬
endliche Leben, das gefiederte neben der Wolke flie¬
gende Leben, das ſummende Leben zu ſeinen Fuͤßen,
das goldne kriechende Leben auf allen Blaͤttern die
lebendigen auf ihn winkenden Arme und Haͤupter
der Rieſenbaͤume — und als der Morgenwind ihm
der große Athem eines kommenden Genius ſchien
und als die wehende Laube ſprach und der Apfel¬
baum ſeine Wange mit einem kalten Blatt bewarf
— als endlich ſein belaſtet gehendes Auge ſich auf
den weiſſen Fluͤgeln eines Sommervogels tragen
ließ, der ungehoͤrt und einſam uͤber bunte Blu¬
men wogte und ſich ans breite gruͤne Blatt wie ei¬
ne Ohrroſe verſilbernd hing . . . . . : So fieng der
Himmel an zu brennen, der entflohenen Nacht lo¬
derte der nachſchleifende Saum ihres Mantels weg
und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom
goͤttlichen Throne niedergeſunkene Krone Gottes
[60] die Sonne: Guſtav rief: „Gott ſteht dort“ und
ſtuͤrzte mit geblendetem Auge und Geiſte und mit
dem groͤßten Gebet, das noch ein kindlicher 10jaͤh¬
riger Buſen faßte, auf die Blumen hin . . . . .


Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber!
du ſieheſt nicht mehr in die gluͤhende Lavakugel hin¬
ein; du liegſt an der beſchattenden Bruſt deiner
Mutter, und ihr liebendes Herz darin iſt deine
Sonne und dein Gott — zum erſtenmal ſehe das
unnennbar holde, weibliche und muͤtterliche Laͤcheln,
zum erſtenmale hoͤre die elterliche Stimme; denn
die erſten zwei Seligen, die im Himmel dir entge¬
gen gehen, ſind deine Eltern. O himmliſche Sze¬
ne! die Sonne ſtrahlt, alle Thautropfen fun¬
keln unter ihr, acht Freudenthraͤnen fallen mit
dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Men¬
ſchen ſtehen ſelig und geruͤhrt auf einer Erde, die
ſo weit vom Himmel liegt! Verhuͤlltes Schickſal!
wird unſer Tod ſeyn wie Guſtavs ſeiner? Verhuͤll¬
tes Schickſal! das hinter unſrer Erde wie hinter
einer Larve ſitzet und das uns Zeit laͤſſet, zu ſeyn
— ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer
Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben
hat, wenn dann ſeine Sonnen und Freuden unſere
[61] Seele uͤberwaͤltigen, wirſt du uns da auch eine be¬
kannte Menſchenbruſt geben, an der wir das ſchwa¬
che Auge aufſchlagen? O Schickſal! giebſt du uns
wieder, was wir niemals hier vergeſſen koͤnnen?
Kein Auge wird ſich auf dieſes Blatt richten, das
hier nichts zu beweinen und nichts dort wiederzufin¬
den hat: ach wird es nach dieſem Leben voll Tod¬
ter, keiner bekannten Geſtalt begegnen, zu der wir
ſagen koͤnnen: willkommen?....


Das Schickſal ſteht ſtumm hinter der Larve;
die menſchliche Thraͤne ſteht truͤbe auf dem Grabe;
die Sonne leuchtet nicht in die Thraͤne.


[62]

Sechſter Sektor oder Ausſchnitt.

Gewaltſame Entführung des ſchönen Geſichts — wichtiges
Portrait.


Das Erſtaunen Guſtavs, zu dem ihn den ganzen
Tag ein Gegenſtand nach dem andern anſtrengte,
und die Entbehrung des Schlafs endigten ſeinen
erſten Himmelstag mit meinem Fieberabend, den
er verweint haͤtte, auch ohne einen Grund zu ha¬
ben. Aber er hatt' ihn: ſein Genius war waͤh¬
rend dem Tumulte im Garten, mit einem ſprachlo¬
ſen Kuſſe von dem Liebling fortgezogen. Er hatte
der Mutter etwas Sonderbares dagelaſſen. Er zer¬
ſchnitt ein Notenblatt in zwei Haͤlften; die eine
enthielt die Diſſonanzen der Melodie und die Fra¬
gen des Textes dazu, auf der andern ſtanden die
Aufloͤſungen und die Antworten. Die diſſonirende
Haͤlfte ſollte ſein Guſtav bekommen; die andere be¬
hielt er: „ich und mein Freund, ſagt er, erken¬
„nen einmal in der wuͤſten Welt einander daran,
„daß er Fragen hat zu denen ich Antworten habe.“
Auch den Pudel der immer groͤßer wurde nahm er
[63] mit. . . . . Wo werden wir dich wiederſehen, un¬
bekannter ſchoͤner Schwaͤrmer? Du erfaͤhrſt es
nicht, wie dein verwaiſeter Eleve Abends rufet und
ſchluchzet nach dir, und wie ihm der neue geſtirnte
Himmel nicht ſo gefaͤllet, als ſeine Stubendecke
mit dir, und wie ihm die Lichtkerzen jedes Zimmer
zur ſtillen Hoͤhle ummalen, in der er dich geliebt
hatte und du ihn. Eben ſo buͤcken wir uns am
Lebens-Abend an alten Graͤbern unſrer fruͤhen
Freunde, die niemand bedauert als wir; bis end¬
lich den letzten Greis aus dem liebenden Zirkel ein
Juͤngling beerdigt; aber keine einzige Seele erin¬
nert ſich der ſchoͤnen Jugend des letzten Greiſes! —


Am Morgen war er wieder geſund und froh;
die Sonne trocknete ſein Auge aus, und das Nebel¬
bild ſeines Genius zog in der Huͤlle der letzten
Nacht, ſich weit zuruͤck. Es thut mir leid, daß
ichs ſeinen Jahren und ſeinem Karakter beizumeſ¬
ſen habe, daß er, die Stunden der ſchmerzlichſten
Sehnſucht ausgenommen, ein wenig zu leicht das
Bild eines Freundes durch naͤhere Bilder in den
Hintergrund zuruͤckſchieben ließ. Alle Blumen wa¬
ren jetzt Spielzeug fuͤr ihn, jedes Thier ein Spiel¬
kamerad und jeder Menſch ein Phoͤnix: jede Him¬
[64] melsveraͤnderung, Sonnenuntergang, jede Minute
uͤberſchuͤttete ihn mit Neuigkeiten.


Es war ihm wie vornehmen Kindern, die aufs
Land hinaus kommen: alles begucken, betaſten,
beſpringen ſie in der neuen Erde und dem neuen
Himmel. Denn es iſt ein unbeſchreibliches Gluͤck
fuͤr ſtiftsfaͤhige Kinder, daß ihre Eltern, die ſonſt
aus der Natur ſich wenig machen, ſie dennoch zwi¬
ſchen hohen Zimmern und hohen Haͤuſern, die nicht
38 Quadratſchuhe vom Himmel ſichtbar laſſen, wie
in Treibgaͤrten mit hohen Mauern erziehen, damit
die Natur ihnen ſo wenig als ihre Eltern unter
die Augen komme: dadurch erhaͤlt ſich ihr Gefuͤhl
fuͤr beide eben ſo unverhaͤrtet uͤber der Erde als
wuͤrden ſie wirklich unter ihr erzogen; ja ſie ſehen
den Sonnenaufgang zum erſtenmale faſt noch ſpaͤ¬
ter als Guſtav, — auf der Poſtkaleſche oder in
Karlsbad. —


Seine Eltern lieſſen ihn als einen Neugebohrnen
ungern von der Seite, kaum in den Schloßgarten
und nicht zum Berg hinunter, wo ihm die Poſt¬
ſtraße gefaͤhrlich war. Auch hatt' er aus ſeiner
unterirrdiſchen Schulpforte eine gewiſſe Verlegen¬
heit mit heraufgebracht, die mittelmaͤßige Men¬
ſchen[65] ſchen, und faſt ſein Vater fuͤr Einfalt nehmen, die
aber hoͤhere Menſchen, ſo bald ſie in Geſellſchaft
eines nicht ſtieren ſondern uͤberfuͤllten ſchwaͤrmeri¬
ſchen Auges wie bei ihm erſcheint, fuͤr das Ordens¬
kreuz ihres Ordensbruders halten. Gleichwohl be¬
reuten es ſeine Eltern acht Tage darauf, nicht,
ihn eingeſperrt, ſondern ihn hinausgelaſſen zu
haben.


Die Obriſtforſtmeiſterin von Knoͤr und ein Faſ¬
zikel Hernhuter und Hernhuterinnen waren mit
ihr gekommen, den Eleven des Grabes zu hoͤren:
ein Grummetſchober alter Fraͤulein hatte ſchon vier
Wochen vorher eingeſprochen, und jetzt wieder, um
nur ein ſolches Wunderkind anſichtig zu werden.
Die hernhutiſchen Bruͤder waren lebhaft und frei
mit Anſtand; die Schweſtern mauerten ſich ſaͤmt¬
lich um eine Standuhr, deren Gehaͤuſe mit Engeln
als mit Horniſten bordiret war — ſie waren von
den Horniſten nicht wegzubringen. Beizubringen
war ihnen auch nichts; Maul und Augen machten
ſie auch nicht auf, und der Rittmeiſter wurde ſchwarz
vor verhaltenem Aerger. Endlich tipte die Lippe
Einer Schweſter an ein Weinglas, die andern tip¬
ten nach — ſo viel die eine vom Gebacknen abknick¬
E[66] te, ſo viel broͤckelten die andern ſich zu — Ein
Zuck regte die ganze obligate Kompagnie dieſer auf
zwei Fuͤße geſtellter Schaafe. Der Fraͤuleinſchober
hingegen hieb in alles ein; im Fluͤſſigem und Fe¬
ſtem war er wie Amphibium zu Hauſe, ſie hatten
in ihrem kauenden und klappernden Leben nie et¬
was gereget als die Zunge. — Als nun fuͤr ſo
viele Zuſchauer das Wunderthier her ſollte: war's
— weg. Alles wurde ausgeſtoͤbert, langverlohrne
Dinge wurden gefunden, in alles hineingeſchrien,
in jeden Winkel und Buſch — kein Guſtav! Der
Rittmeiſter, deſſen anfangende Betruͤbniß immer
eine Art Zorn war, ließ die ganze ſehluſtige Kom¬
pagnie ſitzen, die Rittmeiſterin aber, deren Betruͤb¬
niß noch weichere Theile angrif, ſetzte ſich koſend
zu ihnen. Als aber alle aͤngſtliche, fragende, lau¬
fende Geſichter immer troſtloſer zuruͤckkamen und
als man gar hinter dem offnen Schloßthor, wo der
Kleine abgerißne Blumen in kleine beſchattete Bee¬
te ſteckte, ſie noch naß von ſeinem Begieſſen fand:
ſo zerknirſchte die Verzweiflung die Geſichter der
Eltern, „ach der Engel iſt gewiß in den Rhein ge¬
ſtuͤrzt” ſagte ſie, er aber ſagte nichts dagegen.
Zu einer andern Zeit haͤtt' er einen ſolchen Syl¬
[67] logiſmus mit den Fuͤßen zerſtampft; denn der Rhein
floß eine halbe Stunde vom Schloſſe; aber hier
ſchloß in beiden die Angſt, die weit tollere Spruͤn¬
ge thut als die Hoffnung. Ich rede hier deswegen
von einer andern Zeit, weil mir bekannt iſt, wie
ſonſt der Rittmeiſter war: naͤmlich aus Mittlei¬
den aufgebracht gegen den Leidenden ſelber. Nie¬
mals z. B. fluchten ſeine Minen mehr gegen ſeine
Frau als wenn ſie krank war (und ein einziges
ſchnelles Blutkuͤgelchen ſtieß ſie um) — klagen ſoll¬
te ſie dabei gar nicht — war das, auch nicht ſeuf¬
zen — war auch das, nur keine leidende Mine ma¬
chen — gehorchte ſie, uͤberhaupt gar nicht krank
ſeyn. Er hatte die Thorheit der muͤßigen und vor¬
nehmen Leute, er wollte ſtets froͤhlich ſeyn.


Hier aber, da einmal ſein Gluͤckstopf in Scher¬
ben lag, verſuͤßete ein fremder Seufzer ſeinen eig¬
nen und ſeinen Zorn uͤber das unachtſame Haus¬
perſonale und uͤber den duͤrren Schweſtern- und
Grummetſchober.


Als das Kind die Nacht ausblieb und den gan¬
zen Vormittag und als man gar im Walde auf
der Chauſſee ſein Huͤtchen antraf: ſo verwandelten
ſich die Stiche der Angſt in das forteiternde Schmer¬
E 2[68] zen dieſer Stichwunden. Gegen keine Gemuͤthser¬
ſchuͤtterung iſt ein guter Gegenbeweis ſo ſchwer zu
fuͤhren als gegen die Angſt; ich fuͤhre daher gar
keinen ſeit Jahr und Tag, ſondern ich gebe ihr
das Aergſte, was ſie behauptet, ſofort gerne zu,
und falle dann bloß die andere Gemuͤthsbewegung,
die aus dem beſorgten Aergſten kommen kann, mit
der Frage an: „und wenn's waͤr?“


Jeder Fliegenſchwamm im Walde wurde breit
getreten und jeder Baumſpecht aufgejagt, um den
Kopf zum Hut zu finden — aber vergeblich — und
am dritten Tage gieng der Rittmeiſter, deſſen Ge¬
ſicht eine Aezplatte des Schmerzes war, ohne Ab¬
ſicht zu ſuchen ſo vertieft im Walde herum, daß er
einen mit Koffern und Bedienten, ausgelegten Rei¬
ſewagen durchs Gebuͤſch ſchwerlich haͤtte fliegen ſehen,
wenn nicht daraus wie ein Freuden-Donnerſchlag
die Stimme ſeines verlohrenen Sohnes ihn erſchuͤt¬
tert haͤtte. Er rennt nach, der Wagen ſchießet vor¬
aus und im Freien ſieht er ihn ſchon hinter ſeinem
Schloſſe ſtaͤuben. Außer ſich kommt er in Schloshof
angeſtuͤrmt, um nachzuſprengen und um es — blei¬
ben zu laſſen. Denn oben an der Hausthuͤre ſtand
die in einen Globus zuſammengelaufne Schlos-Ge¬
[69] noſſenſchaft ſchon um den Guſtav, die Schloshunde
bellten ohne einen geſcheuten Grund zu haben, und
alles ſprach und fragte ſo, daß man gar keine Ant¬
wort des Kleinen vernahm. Der vorbeifliegende
Wagen hatte ihn ausgeſetzt. Am Halſe hieng in ei¬
nem ſchwarzen Bande ſein Portrait. Seine Augen
waren roth und feucht von den Quaalen der Heim¬
ſucht. Er erzaͤhlte von langen langen Haͤuſern, wofuͤr
er Gaſſen hielt, und von ſeinem Schweſterchen, das
mit ihm geſpielet, und vom neuen Hute; es waͤr'
aber keine Seele daraus geſcheut geworden, haͤtte
nicht der Koch eine entfallne Karte zu ſeinen Fuͤßen
erblickt: dieſe las der Rittmeiſter und ſah, daß er
ſie nicht leſen ſollte ſondern ſeine Frau. Er vertiert'
es aus dem mit weiblicher Hand geſchriebenen Ita¬
lieniſchen ſo:


„Kann ſich denn eine Mutter bei einer Mutter
entſchuldigen, daß ſie ihr ihr Kind ſo lang entzo¬
gen? Wenn ſie mir auch meinen Fehler nicht verge¬
ben: ich kann ihn doch nicht bereuen. Ich traf Ih¬
ren lieben Kleinen vor drei Tagen im Walde irrend
an, wo ich ihn in meinen Wagen ſtahl, um ihn vor
ſchlimmern Dieben zu bewahren und um ſeine El¬
tern auszufinden. — Ach ich will es Ihnen nur
[70] ſagen: ich haͤtt' ihn auch mitgenommen, wenn
auch beides nicht geweſen waͤre. O nicht weil er
ſo himmliſch ſchoͤn, ſondern weil er ſo ganz, ſo¬
gar bis auf die Haare wie mein theuerer verlohr¬
ner Guido ausſieht, kann ich ihn kaum laſſen.
Ach es ſind ſchon viele Jahre, daß mir das Schick¬
ſal auf [eine] ſonderbare Art mein liebſtes Kind le¬
bendig aus dem Schoos genommen. Ihres koͤmmt
heute wieder, meines vielleicht nie! — Das Hals-
Gehenk vergeben Sie: das Portrait werden Sie
fuͤr ſeines halten, ſo aͤhnlich iſt er meinem Sohn;
aber es iſt das meines Guido. Sein eignes ließ
ich mir auch mahlen und behalt' es, um das
Ebenbild meines Guten doppelt zu haben. Sollt'
ich einmal Ihren Guſtav aufgebluͤht zu Geſicht be¬
kommen: ſo wuͤrd' ich ihn lange anſehen, ich wuͤr¬
de denken, ſo muß mein Guido jezt auch ausſe¬
hen, ſo viel Unſchuld wird er auch im Auge ha¬
ben, ſo ſehr wird er auch gefallen.“ — Ach
meine Kleine weint, daß ihr Spielgenoſſe wie¬
der wegfahren ſoll — und ich thu' es auch; ſie
giebt nur einen Bruder, aber ich, einen Sohn
zuruͤck. Moͤgen Sie und er gluͤcklicher ſeyn! —
Meinen Namen ſchenken Sie mir.“

[71]

Sie riethen alle uͤber die Verfaſſerin. Der
Rittmeiſter allein ſagte traurig nichts; ich weiß
nicht ob aus Kummer uͤber die Erinnerungen an
ſeinen erſten verlornen Sohn, oder weil er gar
wie ich uͤber die ganze Sache dachte. Ich vermu¬
the naͤmlich, der verlohrne Guido iſt eben ſein ei¬
gnes Kind; und die Briefſtellerin iſt die Geliebte,
die ihm der Kommerzien-Agent Roͤper aus den
Haͤnden gewunden hatte. Ich werde erſt nachher
ſagen warum.


Guſtavs Schoͤnheit kann man erſtlich aus der
Vernunft oder von vornen darthun, zweitens von
hinten. Sein Treibhaus, das ihn auferzog und
zudeckte, bleichte ganz natuͤrlich ſeine Lilienhaut
zu einem weißen Grund, auf den zwei blaſſe Wan¬
genroſen oder nur ihr Wiederſchein und die dunk¬
lere feſte Roſenknoſpe der Oberlippe geblaſen wa¬
ren. Sein Auge war der ofne Himmel, den ihr
in tauſend fuͤnfjaͤhrigen und nur in zehn funfzig¬
zaͤhrigen Augen antrift: dieſes Auge wurde noch
dazu von langen Augenwimpern und von etwas
Schwaͤrmeriſchen verſchleiert oder verſchoͤnert. End¬
lich hatten weder Anſtrengung noch Leidenſchaften
ihren Waldhammer und die ſcharfen Lettern deſſel¬
[72] ben in dieſes ſchoͤne Gewaͤchs geſchlagen und ihm
war noch kein Todesurtheil, das ſeinen Fall be¬
zeichnet, in ſeine Rinde eingeſchnitten. Alles
Schoͤne aber iſt ſanft; daher ſind die ſchoͤnſten
Voͤlker die ruhigſten, daher verzerret heftige Ar¬
beit arme Kinder und arme Voͤlker.


Es iſt aber noch kein Jahr, daß ich Guſtavs
Schoͤnheit von hinten beweiſen kann. Denn da der
Auktionsproklamator damals mein intimſter Freund
war: ſo begieng er mir zu Gefallen den kleinen
Schelmenſtreich; daß er die Gemaͤlde und Kupfer¬
ſtiche gerade an einem Tage verſteigerte, wo der
Redute wegen kein Menſch von der großen Welt
aus Unterſcheerau in die Auktion kam als ich —
ich erſtand fuͤr Suͤndengeld tauſend Dinge. Die
ganze Stadt und Vorſtadt hatte zu dieſem Schut¬
haufen von Meublen zugetragen und war Verkaͤu¬
ferin und Kaͤuferin zugleich. In dieſer Auktion
erſchienen alle europaͤiſche Potentaten, aber elend
gezeichnet und kolorirt; und ein Edelmann von
bon ſens hielt ſeine beiden Eltern feil und wollte
ſie als gute Knieſtuͤcke verſtechen — in Rom ver¬
handelten umgekehrt die Eltern die Kinder, aber
in natura. Der Edelmann hofte, ich wuͤrde auf
[73] ſeinen Papa und ſeine Mama bieten; aber ich war
bei nichts der Plus Lizitans als bei Guſtavs Por¬
trait, das er auch losſchlug. Der Edelmann hieß
— Roͤper, von dem ich oben geſagt, daß er an
Einem Tage Ehemann und Stiefvater geworden.


Und hier haͤngſt du ja, Guſtav, mir und mei¬
nem Schreibtiſch gegenuͤber und wenn ich uͤber et¬
was ſinne, ſo ſtoͤßet mein Auge immer auf dich.
Viele tadeln mich, mein kleiner Held, daß ich
dich hier zwiſchen Shakeſpear und Winkelmann
(von Bauſe) aufgenagelt; aber haſt du nicht —
das bedenken zu wenige — einen Naſen-Schwibbo¬
gen, auf dem ſchwere und hohe Gedanken ruhen
und der oft unter der Hand des Todes ſich noch
ſchoͤner woͤlbt, und haſt du nicht unter dem Kno¬
chen-Architrab ein weites Auge, durch das die
Natur wie durch eine Ehrenpforte in die Seele
zieht, und ein gewoͤlbtes Haus des Geiſtes und
alles, womit du deine in Kupfer geſtochne Nach¬
barſchaft verdieneſt und aushaͤltſt?


Der Leſer ſollte jezt wiſſen (es geſchieht aber
weiter hinten) was mich jezt noͤthigt, meinen Sek¬
tor ploͤtzlich auszumachen und einzuſperren. . . .


[74]

Zweites Extrablatt.

Strohkranzrede eines Konſiſtorial-Sekretairs, worin er und
ſie beweiſen, daß Ehebruch und Eheſcheidung zuzulaſſen ſind.


Ich geſteh' es hier, unſer aufgeklaͤrtes Jahrhun¬
dert ſollte man das ehebrechende nennen. Ich ſag¬
te allerdings einmal auf den Marktplatz zu Mar¬
ſeille, ich hielt den Bettel fuͤr recht, den Ehe¬
bruch — weit hinter Muͤnchen ſagt' ich, man ſoll¬
te an der Mutterkirche des Ehebettes noch ein Ehe¬
filial ſtoßen — im Oberſaͤchſiſchen ſagt' ich, wenn
jene Graͤfin ein ganzes Jahr fortgebahr, jeden
Tag etwas: ſo waͤre noch jezt bei Graͤfinnen we¬
nigſtens das vorhergegangene Jahr zu ha¬
ben — in den 10 deutſchen Kreiſen druͤckt' ich mich
gewiß auf 10 verſchiedene Arten aus: — — aber
es war damals nirgends der Ort, die Sache klar
aus der Phyſiologie darzuthun, als blos hier.


Sanktorius wars, *) der ſich auf einen del¬
phiſchen Nachtſtuhl ſezte und da die Wahrheit aus¬
[75] ſas, daß der Menſch alle 11 Jahre einen neuen Koͤr¬
per umbekomme — der alte wird wie das deutſche
Reichs Corpus ſtuͤckweiſe fluͤchtig und es bleibet von
der ganzen Mumie nicht ſo viel ſitzen als ein Apo¬
theker klein geſchabt in einem Theeloͤffel eingeben
will. Bernoulli widerſprach gar dieſem ganz
und rechnet' uns vor, es hinke, nicht in 11, ſon¬
dern in 3 Jahren dampfe der eine Zwillings-Bru¬
der weg und ſchieße der andere an. Kurz Ruſſen
und Franzoſen wechſeln den Koͤrper oͤfter als das
Hemd des Koͤrpers, und eine Provinz bekoͤmmt
allzeit neue Leiber und einen neuen Provinzial mit
einander, in 3 Jahren wie geſagt.


Die Sache iſt gar nicht gleichguͤltig. Denn es
iſt demnach unmoͤglich, daß ein Kahlkopf, der ſein
Ehejubilaͤum begeht, an ſeinem ganzen Leibe auf
ein Stuͤckgen Haut Hellers groß hinweiſe und an¬
merke: „mit dieſem Laͤpchen Haut ſtand ich vor
25 Jahren auch am Altar und wurde ſammt dem
uͤbrigen an meine jubilirende Frau hinan kopuliert.“
Das kann der Jubelkoͤnig unmoͤglich. Der Ehering
iſt zwar nicht herunter, aber der Ringfinger
laͤngſt, um welchen er ſas. Im Grunde iſts ein
Streich uͤber alle Streiche und ich berufe mich auf
[76] andre Konſiſtorial-Sekretairs. Denn die arme
Braut ſteigt freudig mit der Statua curulis von ei¬
nem Braͤutigamskoͤrper unter den Bethimmel und
denkt, — was weiß ſie von guter Phyſiologie, —
am Koͤrper habe ſie etwas Solides, ein eiſernes
Stuͤck, ein Immobiliargut, kurz einen Kopf mit
Haaren, von denen ſie einmal ſagen koͤnne, an
meinen und an meiner Haube ſind ſie grau gewor¬
den! das hoft ſie: indes ſchaft unter ihrem Hof¬
fen der Schelm von einem Koͤrper ſeine ſaͤmmtliche
Glieder wie ein Student ſein verſchuldetes Stu[¬]
dentengut, nach 3 Jahren infiniteſimaltheilgenweiſe
bei Nacht und Nebel fort — wendet ſie ſich am
Neujahrsabend um: ſo liegt im Ehebette blos ein
Gipsabguß und Nachdruck neben ihr, den der
vorige Koͤrper von ſich darin gelaſſen und in dem
kein altes Blatt der alten Ausgabe mehr iſt. Was
ſoll nun eine Frau, wenn der Kubik-Inhalt des
Brautbettes und der des Ehebettes ſo verſchieden
iſt, von der Sache denken? — ich meine, wenn
z. B. ein ganzes weibliches Konſiſtorium (z. B. die
Frau [Konſiſtorialpraͤſidentin], die Vicepraͤſidentin,
die Konſiſtorialſekretairin) nach 3 Jahren auf dem
Kopfkiſſen ein ganz anders maͤnnliches Konſiſtorium
[77] antrift als das Diſſolvierte war, das die Ehe ver¬
ſprach: was ſoll eine Frau da anſtellen, die wenns
eine Konſiſtorial-Haͤlfte iſt, recht gut weiß quid
juris
? Sie, ſag' ich, die es hundertmal uͤber
dem Eſſen gehoͤrt haben muß, daß eine ſolche Ent¬
weichung des maͤnnlichen Koͤrpers, eine verfluchte
boͤsliche Verlaſſung oder deſertio malitioſa iſt,
die ſie von ihren Ehepflichten ganz losknuͤpfet —
es kann vollends eine ſolche Strohwittwe gar Lu¬
therum de cauſis matrimonii geleſen haben und ſich
daraus entſinnen, daß er einer boͤslich Verlaſſenen
nach einem oder einem halben Jahre eine neue Ehe nicht
verbeut. . . . . Sich in beſagte neue Ehe zu be¬
geben, wird offenbar die erſte Pflicht und Abſicht
einer ſolchen Verlaſſenen ſein; da aber der neue re¬
ſtirende Ehemannskoͤrper nichts fuͤr den fortgeduͤnſte¬
ten kann: ſo wird ſie es, um ihn nicht zu kraͤnken, oh¬
ne ſein Wiſſen und ohne Rachſucht thun, wenn er et¬
wann auf der Boͤrſe iſt — oder auf dem Katheder
— oder auf der Meſſe — oder zu Schiffe — oder hin¬
ter dem Seſſionstiſch oder ſonſt aus.


Inzwiſchen iſt der Mann kein Narr, ſondern
ſoviel hat er von der Phyſiologie allemal innen,
daß auch die Frau ihren Koͤrper eben ſo oft als
[78] ihre Maͤgde tauſche: mithin braucht er auf nichts
zu paſſen. Nov. 22. c. 25 reicht ihm das Recht
der Eheſcheidung ſchon, wenn ſie auf eine Nacht
von ihm gelaufen; hier aber iſt die Konſiſtorialraͤ¬
thin gar auf immer weg geduͤnſtet und repetirt
noch dazu in jedem Triennio dieſe Wegduͤnſtung,
— ſie die doch nach „Langens geiſtlichen Recht“
mit dem Konſiſtorialrath, der's ſelber in ſeiner Buͤ¬
cherſammlung hat, ziehen muͤßte, wenn er Landes¬
verwieſen wuͤrde, geſetzt ſogar, in den Ehepakten
haͤtte ſie ſich ausbedungen, zu Hauſe zu bleiben.
So redet Lange mit den Maͤnnern aus der Sa¬
che. In der großen Welt, wo aͤchte Keuſchheit und
Polyhiſtorie und alſo auch Phyſiologie zu Hauſe iſt,
traktirte man den Punkt laͤngſt mit Anſtand und
Verſtand und trieb Gewiſſenhaftigkeit weit. Denn
da ein Mann allda an ſeiner Gemahlin 3 Jahre
nach dem Vermaͤhlungsfeſt nicht ein Apothekerloth
Blut, nicht eine duͤnne Vene, worin's iſt, mehr
von der alten auszuſpuͤren hofft, da er mithin die
weggewanderten Theile ſeiner guten Gemahlin an
jeder andern eher und ſicherer wiederzufinden glaubt
als an ihr ſelbſt, da er alſo vielmehr Liebe zur an¬
kopulirten fuͤr eigentlichen Ehebruch an ihr und
[79]mit ihr halten muß — und genau genommen, iſts
ſchon ſo —: ſo iſts ihm jetzt hauptſaͤchlich um rei¬
ne Sitten zu thun; er laͤſſet alſo zwar derjenigen
Sammlung von Arterien, Nervenknoten, Haaren,
und edlern Theilen, die man insgemein ſeine Frau
benennt, ſeinen Namen, ſeinen halben Kredit, und
ſeine halben Kinder, weil man uͤberhaupt in der gro¬
ßen Welt ungern oͤffentliche Verbindungen oͤffentlich
aufhebt und lieber am Ende an tauſend von Luft
geflochtenen Ketten geht: aber das geſtattet ihm
ſeine Achtung fuͤr Moral und Publikum nicht, eine
und dieſelbe Wohnung — Tafel — Geſellſchaft mit
einer Frau zu haben, die einen andern Koͤrper hat;
er erſcheint ſogar (welches vielleicht zu ſkrupuloͤs
iſt) ungern mit ihr oͤffentlich und enthaͤlt ſich we¬
nigſtens in ſeinem Hauſe alles deſſen, wozu er oder
Origenes ſich unfaͤhig machten.


Es ſind ſchlechte abgefaͤrbte Katheder, die mir
den Einwurf machen koͤnnen, die verehelichten See¬
len blieben ja doch wenn die Leiber verrauchten.
Denn mit der Seele, (alſo mit dem Gedaͤchtniß,
Abſtraktionsvermoͤgen ꝛc.) laͤſſet man ſich heut zu
Tage wenig oder nicht kopuliren, ſondern mit dem
was d'rum rum iſt. Zweitens iſts ja bei jedem
[80] Materialiſten auf der philoſophiſchen Boͤrſe zu er¬
fahren, daß die Seele nichts iſt als ein Fechſer und
Abſenker des Koͤrpers, der alſo bei Mann und [Frau]
mit dem Leib zugleich weggeht. Man brauchts aber
gar nicht, ſondern man darf nur Humen beifal¬
len, der ſchreibt, die Seele waͤre gar nichts, ſon¬
dern bloße Gedanken leimten ſich wie Kroͤtenlaich
an einander und kroͤchen ſo durch den Kopf und
daͤchten ſich ſelbſt: bei ſolchen Umſtaͤnden kann das
Brautpaar Gott danken, wenn ſein Paar kopulir¬
ter Seelen nur ſo lange halten will wie die zwei
Paar Tanz-Handſchuhe des Hochzeitballs: man
ſiehts auch am Vormittag nach den Flitterwochen.


Alſo, wie geſagt, alle Kanoniſten koͤnnen die
Woche, wo Mann und Frau zum Ehebrechen ſchrei¬
ten darf, nicht weiter hinausſchieben als ins vierte
Jahr nach der Verlobung; allein fuͤr Leute von
Welt und von Stand iſt das hart und zu rigoroͤs,
zumal wenn ſie aus ihrem „Keil“ (dem Anato¬
miker) wiſſen, daß ſchon in Einem Jahre. Der
ganze alte Koͤrper wegthauet, — bloß elende 16
Pfund Fleiſchgewicht ausgenommen. Daher wa¬
ren's oft meine Gedanken, daß ich, wenn ich mei¬
nen Ehebruch ſchon ins erſte Jahr verlegte (wie's
viele[81] viele thun), wirklich nur ſehr wenigen Pfunden
meiner Gattin, die 107 hat, untreu wuͤrde, den
16 Pfund naͤmlich, die noch reſtirten.


Auf den naͤmlichen Koͤrpertauſch, worauf man
ſeinen Ehebruch gruͤndet, muß das Konſiſtorium ſei¬
ne Scheidung gruͤnden. Denn wenn Leute oft 9,
18 Jahre nach der Kopulation offenbar noch in der
Ehe beiſammen bleiben, indeß alle Phyſiologen wiſ¬
ſen, daß zwei Ehekoͤrper neu und ohne prieſterliche
Einſegnung beiſammen ſind: ſo iſt jetzt das Konſi¬
ſtorium verbunden, drein zu ſehen und drein zu
ſchlagen und die zwei fremden Leiber zu ſcheiden,
durch ein Paar Dekrete. Daher wird man auch
niemals hoͤren, daß ein gewiſſenhaftes Konſiſtorium
Schwierigkeiten macht, Chriſten, die ſchon in der
Ehe ſind, zu trennen; man wird aber auch von
der andern Seite eben ſo wenig hoͤren, daß es ſol¬
che, die ſich die Ehe bloß verſprochen, ohne die groͤ߬
ten Schwierigkeiten ſcheide —: ganz natuͤrlich; denn
dort bei ber langen Ehe iſt wahrer Ehebruch
durch die Scheidungsbulle abzuwenden, weil unko¬
pulirte Leiber da ſind; hier aber bei der Verlo¬
bung ſind die Koͤrper, die den Kontrakt gemacht,
noch voͤllig da, und ſie muͤſſen erſt lange in der
F[82] Ehe leben bevor ſie zur Scheidung taugen. Das
iſt die wahre Aufloͤſung eines Scheinwiderſpruchs,
der ſo viele Dumme ſchon verleitet hat, uns ſaͤmt¬
lich im Konſiſtorio fuͤr ſportultuͤchtig, mich fuͤr den
Marqueur und unſre gruͤne Seſſionstiſche fuͤr gruͤ¬
ne Billards zu halten, um welche ſich Praͤſident
und Raͤthe mit langen Quees herumtreiben um die
Parthien auszuſpielen: ein Konſiſtorialſekretair
ſchneidet ohnehin mehr Federn als Geld.


Warum wird uns uͤberhaupt nicht von den Pa¬
ſtoren jedes eingepfarrte Ehepaar, das uͤber 3 Jah¬
re beiſammen geſchlafen, einberichtet, damit man's
ſcheide zu rechter Zeit? Eine ſolche Scheidung, wo¬
zu man keine weitern Gruͤnde braucht als den, daß
die zwei Leute lange beiſammen waren, hat in al¬
len Laͤndern ja keine andere Abſicht als die, daß ſie
nachher ſich wieder ordentlich kopuliren laſſen mit
den erneuerten Leibern. Das Konſiſtorium und ich
ſind dabei am fatalſten dran, falls die Sache ſich
nicht beſſert wenn der neue Miniſter den Thron be¬
ſteigt. Warlich ein ſolches hohes Landeskollegium
legte oft die lange Saͤge an und zerſaͤgte Ehebloͤ¬
cher oder Betten, in denen Ehepaare 21 Jahre lang
gehauſet hatten, die in ſo langer Zeit wenigſtens
[83] 7mal (alle drei Jahre ſind Ehebruch und Eheſchei¬
dung faͤllig) waͤren zu ſcheiden und zu kopuliren ge¬
weſen: was fuͤr Sportulneinbuße, da wir die Schei¬
dungskoſten, die wir haͤtten verſiebenfachen koͤnnen,
vervierfachen mußten! Es iſt ohnehin an einer ſol¬
chen Scheidungsliquidation wenig, weil ſie bekannt¬
lich moderirt wird und zwar vom Konſiſtorio ſelbſt.
Man braucht noch dazu im Konſiſtorialzimmer die
Vor- und Nachſicht, daß ich allemal den Sportuln¬
zettel, wenn ihn das geſchiedne Paar abgezahlt hat,
nach 15, 20 Jahren wieder extrahire und dem Kon¬
ſiſtorialboten und Pfennigmeiſter von neuem mitge¬
be, nicht ſowohl um die Sportuln zweimal einzu¬
kriegen (welches Nebenſache iſt) als um zweimal
daruͤber zu quittiren, falls das getrennte Paar die
erſte Quittung verloren haͤtte, und auch, um es
vor einer dritten Zahlung ſicher zu ſtellen. Man
will dem Paare alles leicht machen, wenn man es
in mehrerern und ſo großen Terminen zahlen laͤſſet.

. . . . Und heute vor drei Jahren kopulirte man
mich meines Orts auch. . . . aber die damalige
Strohkranzrede war zu ſchlecht. . . .


F 2[84]

Siebenter Sektor oder Ausſchnitt.

Robiſch — der Staar — Lamm ſtatt der obigen Katze.


Nach dieſer Entfuͤhrung ſchraͤnkte man Guſtavs
Spieltheater und Luſtlager auf den Wall des Schloſ¬
ſes ein: in die wogende Flur und ins Doͤrfchen
Auenthal, das wohl eine \frac{1}{17} deutſche Meile davon
ablag; durft er nur hinein — ſehen. Dieſes blu¬
michte Empor-Eiland umkreiſete er den ganzen
Tag, um jeden rothen Kaͤfer niederzuſchlagen, je¬
des marmorirte Schneckenhaͤuschen von ſeinem Blat¬
te abzudrehen und uͤberhaupt alles was auf ſechs
Fuͤßen zappelte, zu inhaftiren, wie ers ſelber war.
Auf Koſten ſeiner unerfahrnen Finger wollte er an¬
fangs auch die Biene aus ihrem Freudenkelche zie¬
hen. Dieſe bunten Arreſtanten draͤngte er — wie
Fuͤrſten alle Menſchenſorten in Eine Hauptſtadt —
ſaͤmtlich in einen ſchoͤnen Salomons-Tempel oder
in eine Silberſchlag-Noachitiſche Arche von Pap¬
pendeckel mit mehr Fenſtern als Mauer, zuſammen.
Der Architekt dieſes vierten ſalomoniſchen Tem¬
pels war nicht wie beim erſten der Teufel oder der
Wurm Lis*), ſondern ein Menſch der beiden glich, der
[85] ſogenannte Kammerjaͤger Robiſch. Dieſer Hin¬
terſaſſe des Rittmeiſters beſuchte jaͤhrlich die beſten
Zimmer und Gaͤrten des ganzen Landes, um beide
nicht ſowohl von ihren ſchlimmſten als von ih¬
ren kleinſten Bewohnern zu ſaͤubern von Maͤu¬
ſen und Maulwuͤrfen. Ich will die Gelehrten-Re¬
publik eben nicht bereden, daß dieſer Maͤuſeſchaͤch¬
ter ſo viele phyſiſche Maulwuͤrfe aus der Welt fort¬
ſchickte, als jaͤhrlich moraliſche hereinkommen, um
ſich auf die Hinterfuͤße zu ſetzen und dann mit den
Vorderfuͤßen, die an beiden Maulwurfsarten Men¬
ſchenhaͤnden gleichen, den — Meßkatalog und die
Buchlaͤden vollzuarbeiten; aber bezahlt wurde Ro¬
biſch gerade ſo als haͤtt' er's gethan: denn die
Leute glaubten, wenn man dieſen Kelchvergifter
der Nagethiere erboßete und nicht bezahlte: ſo
machte er Moſes Wunder nach und verdoppelte
durch dagelaſſene Kolonien das Ungeziefer, das man
ſeinem Koͤnigs- und Blutbann entzoͤge. Ich will
von dieſer moraſtigen Seele, die ſich nie meinem
Guſtav naͤher waͤlzen moͤge, mich wieder wegbege¬
ben, wenn ich geſchrieben habe, daß er oft im Fal¬
kenbergiſchen Hauſe war, daß er wenn Fremde da
waren, den Extra- und Kaſualbedienten und wenn
[86] Rekrutenwildpret zu fangen war, den Leithund
machte, und daß er ſich verdaͤchtig an den kleinen
Guſtav mit ſeinen Fabrikaten draͤngte. Ein ſolches
Anhaͤkeln an Kinder iſt immer zweideutig. Kinder
lieben Bediente beſonders; und vollends Guſtav,
der ſchlechterdings auch ſpaͤter nicht vermochte je¬
mand zu haſſen, den er in ſeiner Kindheit lieb ge¬
habt. Von allen Unthaten, die Robiſch an ihm
veruͤbt haͤtte, waͤre gleichwohl das Band der Dank¬
barkeit fuͤr das elende Inſektenſtockhaus, das den
Wall entvoͤlkerte, nicht entzwei gegangen.


Was in der ſalomoniſchen Schloßkirche war,
ſollte Zucker freſſen, weil Kinder ihn fuͤr das Uni¬
verſaleſſen anſehen; und es waͤren die ſchoͤnſten
Inhaftaten verhungert, wenn nicht ihr Frohnvogt,
Guſtav, vom Kammerjaͤger noch einen Staarmatz
zum Geſchenk bekommen haͤtte: denn den Matz ließ
er auch in das Pantheon hineinſpringen und der
fraß alles was nichts zu freſſen hatte.... Wenn
ich hier unter die Fluͤgeldecken der Inſekten und in
die Kehle des Matzens die richtigſten Reflexionen
und die kuͤhnſten Winke verſteckt habe: ſo hoff' ich
man finde ſich in dergleichen ſchoͤn.


[87]

Auſſer mir hatte wohl niemand Guſtavs Na¬
men ſo oft im Schnabel als der Staar, der gleich
Hofleuten nichts weiter im Kopfe hatte, als ein
nomen proprium. Der Kleine dachte, der Staar
daͤchte und waͤre ſo gut ein Menſch wie Robiſch
und liebte ihn fuͤr alles; daher konnt' er ſich nicht
ſatt daran hoͤren und lieben. Er konnte ſich an
nichts ſatt lieben und ſatt umarmen. Bloß leben¬
dige Geſchoͤpfe waren ſein Spielzeug. Der Pachter
hatte dazu noch ein ſchwarzes Lamm gethan, das
er mit einem rothen Band und mit Brod¬
rinden um den Wall herumlockte. Das Lamm
mußte wie ein Dorfkomoͤdiant alle Rollen machen,
bald mußt' es der Genius, bald der Pudel, bald
Guſtav, bald Robiſch ſeyn. So ſpielte alſo unſer
Freund ſeine erſten Erdenrollen Solo und war zu¬
gleich Regiſſeur, Soufleur und Theaterdichter. Sol¬
che Komoͤdien, die ſich Kinder machen, ſind tau¬
ſendmal nuͤtzlicher als die, die ſie ſpielen, und waͤ¬
ren ſie aus Weiße's Schreibetiſch: in unſern Ta¬
gen, wo ohnehin der ganze [Menſch-Figurant], ſeine
Tugend Gaſtrolle und ſeine Empfindung lyriſches
Gedicht wird, iſt dieſe Verrenkung der armen Kin¬
derſeelen vollends toll. Indeß iſts zuweilen auch
[88] nicht wahr: denn ich machte den vollſtaͤndigen Fi¬
lou bloß 1 2 oder 3mal in meinen Leben, aber
wirklich noch eh' ich zum erſtenmale gebeicht
hatte.


Das Reglement, das ihn nicht vom Schloßberg
herunterließ, unterſchied ſich von den Reglements
unſerer tranſzendenten Eltern, der Obrigkeit, da¬
durch ruͤhmlich, daß es erſtlich der Parthei promul¬
giert und zweitens daß es wenigſtens 14 Tage lang
gehalten wurde. Guſtav haͤtte fuͤr ſein Leben gern
ſich und das Lamm vom Walle herab an den Fuß
des Berges getrieben — da alſo der Rittmeiſter
aus Quiſtorps peinlichen Beitraͤgen wußte, daß
man an die Stelle der Verſtrickung oder Konfi¬
nation (Einſperrung auf den Wall) die Diſtrikts¬
oder Gebietsraͤumung ſetzen kann: ſo diktirte er
die letztere Strafe ſtatt der erſtern und ſagte: „kann
„man denn nicht das Lamm der Pachters Regel
„(Regina) mitgeben, ſo lang ſie da am Berge
„weidet? Meinetwegen kann der Junge mittrei¬
„ben, wenn ich ihn nur immer im Geſicht behalte.“
Ich muß es noch abwarten, was die Reichsritter¬
ſchaft dazu ſagen oder ſchreiben wird, daß ein Eh¬
renmitglied derſelben, mein Held, Nachmittags um
[89] 4 Uhr ſich allemal eine lange Haſelgerte abdrehte
und damit ein Ochſenjunge wurde und neben der
eilfjaͤhrigen Stroͤßners Regina die Schaaf- und
Rindsheerde und das Lamm am Band mit ſolchem
Stolze und mit ſolchen Jupiters Augenbraunen
austrieb, daß er leicht andeutete, er lenke den
ganzen Stall und die Reichsritterſchaft ſolle ihm
nur jezt kommen.


Nur im tauſendjaͤhrigen Reiche giebts ſolche
Nachmittage wie Guſtav an der Anhoͤhe gleichſam
auf dem Schooße der Erde hatte. Mein Vater
haͤtte mich in die Zeichenſchule ſenden ſollen: koͤnnt'
ich nicht jezt die ganze Landſchaft in meinem Far¬
benſtrom ſtatt im Dintenſtrom auffangen und hin¬
ausſpiegeln? Wahrhaftig ich koͤnnte jedes Ge¬
buͤſch mit dem hineinſchluͤpfenden Vogel dem Leſer
in die Augen reflektiren, jede lippenfarbige Roth¬
beere der Felſen-Abdachung jedes von Anflug uͤber¬
wachſene Schaaf und jeden Baum den das Eich¬
hoͤrngen mit zerbroͤckelten Tanzapfen umſaͤete. In¬
zwiſchen giebts Dinge an denen wieder die Iltis-
Haare des Pinſels vergeblich buͤrſten, die aber
ſchoͤn aus meinem Kiele rinnen — das auf Genuͤſ¬
ſen ſchwimmende Auge Guſtavs, [fließet] ſanft
[90] hinuͤber und heruͤber zwiſchen dem Lamme, dem
hellen Blumengrund mit der Schatten-Landſpitze
und zwiſchen dem magiſchen Geſichte der Regina
und braucht nirgends wegzublicken.


Warum ſagt' ich ein magiſches Geſicht, da
es ein altaͤgliches war? — weil mein kleiner Apollo
und Schaafhirt mit trinkenden Augen auf dieſes
Geſicht wie auf eine Blume flog. Unter einer
Hirnſchaale wie ſeiner, zu der den ganzen Tag
die weiße Flamme der Phantaſie, und kein blaues
Brandtewein-Flaͤmmgen des Phlegma, auffackelte,
muſte jedes weibliche Geſicht mit verguͤldeten Rei¬
zen in Goͤtterfarbe und nicht in Todtenfarbe da¬
ſtehen. Alle Schoͤnen hatten bei ihm den Vortheil
noch, daß er ſie nicht ſeit 10 Jahren ſondern ſeit
10 Tagen ſah. Indeſſen iſt das nicht ſeine erſte
Liebe, ſondern nur ein Praͤliminar-Rezeß, eine
Ouverture, ein Protevangelium irgend einer er¬
ſten Liebe, mehr nicht.


Zwei ganze Wochen trieb er ſein Lamm auf
die Weide, eh' ſein Muth ſo weit ſtieg, daß er
— nicht ſich neben ihr Strickzeug hinſetzte, das
uͤberſtieg Menſchenkraͤfte, ſondern nur daß er —
das Schaaf an ſeinem poſtillon d'amour feſt hielt,
[91] nicht um es zu Reginen hinzuziehen ſondern um
von ihm hingezogen zu werden: denn die beſte
Liebe iſt am bloͤdeſten, und die ſchlimmſte am kuͤhn¬
ſten. Wie ein ſtillender Mond legte ſich alsdann,
wenn ſie mehr in ſeinen Gedanken als in ſeinen
Augen war, ihr Bild an ſeine traͤumende Seele
und ſo viel war ihm genug. — Sein zweites Mit¬
tel, ihr Akzeſſiſt zu werden, war der runde Schat¬
ten eines tiefer unten ſchwankenden Lindenbaums,
hinter dem die Abendſonne wie hinter einem Ja¬
louſieladen ſich zerſplitterte. Mit dieſem Schatten
rutſcht' er nun der Regina immer naͤher; unter
dem Vorwand als mied' er die eine Sonne, ruͤckte
er einer andern roͤthern zu. Von ſolchen kleinen
Spitzbuͤbereien laͤuft die Liebe uͤber; ſie werden
aber alle [errathen] und alle verziehen; und ſie wer¬
den oft mehr vom Inſtinkt als vom Bewuſtſeyn in¬
ſpirirt. Wenn freilich der Abend langſam aus dem
Thal ſich in die Hoͤhe richtete — wenn die ein¬
ſchlummernde Natur in abgebrochenen Lauten des
zu Bette gegangnen Vogels gleichſam noch ein
Paar Worte im halben Schlafe ſagte — wenn das
Glockenſpiel am Halſe der Heerde, die unſchuldige
Blumen der Freude aus — Wieſen pfluͤckte, und
der uniſone Guckguck und das verwirrte Abendge¬
[92] raͤuſch die Taſten der verborgenſten Saiten ge¬
druͤckt hatten: ſo nahm ſein Muth und ſeine Lie¬
be um ein Namhaftes und nicht ſelten in dem
Grade zu, daß er den Kuchen, den er fuͤr ſie ein¬
geſteckt, oͤffentlich aus der Taſche holte und ohne
Bedenken — ins Gras legte, um ihr wirklich den
Antrag dieſes Backwerks zu machen, ſobald ſie in
der Daͤmmerung beim — Schlosthor auseinander
muſten: hier ſtieß er ihr die Schenkung mit haſti¬
ger Verwirrung zu und ſprang mit freudiger Be¬
ſchaͤmung davon. Gelang es ihm, ihr dieſes Abend¬
opfer zu inſinuiren: ſo war jede Pulsader ſeines
Arterienſyſtems ein entzuͤckt klopfendes Herz (denn
die Sprache und Freude ſeiner Liebe war Geben)
und unter ſeiner Bettdecke pflanzte er die ganze
Nacht kuͤhne Plane auf Morgen, die der Nach¬
mittags Glockenhammer mit vier Schlaͤgen ſaͤmmt¬
lich — bis auf ihre Herz-Wurzel — in die Erde
ſchlug. Sie that immer das breite Halſtuch ihrer
Mutter um; daraus muß es ein Philoſoph von
Verſtand ableiten, daß ihm ſpaͤter die großen Hals¬
tuͤcher der Damen gefielen, die ich ſelber den vo¬
rigen Taͤndelſchuͤrzen des Halſes vorziehe; aus dem
naͤmlichen Grunde gefielen ihm und mir auch breite
Kopfbinden und breite Schuͤrzen. Ich habe ſchon
[93] mit Philoſophen l'Hombre geſpielt, die es um¬
wandten und behaupteten, alles das gefalle ihm,
nicht weil das Zeug an der Schoͤnheit (Reginens)
war ſondern weil die Schoͤnheit am Zeuge war.


Im Grund ſchaͤm' ich mich, daß ich hier, waͤh¬
rend die zerriſſendſten Backalaureen eintunken und
den uͤbrigen Backalaureen die feinſten Sponſalien
von Koͤniginnen und Marquiſinnen ausmalen, mei¬
ne Schreibmaterialien auf das Weiden und Verlie¬
ben zweier Kinder verwende. Beides lief bis in den
Herbſt hinein fort und ich moͤchte es abſchildern;
aber wie geſagt die Schaam vor den Backalaureen!
— Und doch goͤnn' ich dir, winziger Traͤumer, ſo
ſehr dieſe weiße Sonnenſeite deines Lebens an dei¬
nem Berge und dein Lamm und dein Auge! Und
ich moͤchte ſo gern die Tage, die vor dir voruͤber¬
laufen und deinen kleinen Schoos mit Blumen
uͤberlegen, zum Stehen bringen, damit der Lei¬
chenzug der grimmigen Tage hinten halten muͤſte,
die deinen Schoos entlauben werden — dein Luſt¬
hoͤlzgen lichten — dein Lamm ſtechen — deiner Re¬
gina Dienſtgeld zur Magd geben!


Aber im Oktober faͤhrt alles nach Unterſchee¬
rau; und die Kinder wiſſen noch nicht einmal,
daß es Lippen und Kuͤſſe giebt!


[94]

O Wochen der vorerſten Liebe! warum ver¬
achten wir euch mehr als unſre ſpaͤtern Narrhei¬
ten? Ach an allen eueren ſieben Tagen, die an
euch wie ſieben Minuten ausſehen, waren wir un¬
ſchuldig, uneigennuͤtzig und voll Liebe: Ihr ſchoͤ¬
nen Wochen! ihr ſeid Schmetterlinge, die aus ei¬
nem unbekannten Jahre *) heruͤber lebten, um un¬
ſerem Lebens-Fruͤhlinge vorzuflattern! Ich wollte,
ich daͤchte von euch noch ſo enthuſiaſtiſch wie ſonſt,
von euch, wo weder Genuß nach Hofnung an
Graͤnzen ſtockten! — du armer Menſch! wenn der
zarte weiße die ganze Natur uͤberzaubernde Nebel
deiner Kinderjahre herunter iſt: ſo bleibſt du
doch [nicht] lange in deinem Sonnenlichte, ſondern
der gefallene Nebel kriecht wieder als dichtere
Gewitterwolke unten rings am Blauen herauf
und am Juͤnglings-Mittage ſteheſt du unter
den Blitzen und Schlaͤgen deiner Leidenſchaften!
— Und Abends regnet dein zerſchlitzter Himmel
noch fort! —


[95]

Achter Sektor.

Abreiſe — weibliche Launen — zerſchnittene Augen.


Da die Edelleute und Waldratten im Sommer
das Land, im Winter die Stadt bewohnen: ſo
thats der Rittmeiſter auch; denn die ſchoͤne Na¬
tur (meint' er und ſein Gerichtshalter) laͤuft am
Ende auf nichts als auf ein Inventarium von
Bauern hinaus, deren Ellbogen und Schenkel in
einer Scheide halb von Zwillich halb von aufge¬
flicktem Leder ſtecken, auf Sumpfwieſen, auf Brach¬
felder und auf Schweinvieh, und es giebt da nichts
zu empfinden als Geſtank — in der Stadt hinge¬
gen iſt doch ein Stuͤck Fleiſch zu haben, ein Spiel
fraͤnzoͤſiſcher Karten, einiger wahrer Spas und
ein Menſch. Es iſt jugendliche Intoleranz, einem,
der kein Gefuͤhl fuͤr Muſik und Gegenden hat, auch
das fuͤr fremde Noth und Ehre abzuſprechen, be¬
ſonders dem Rittmeiſter.


Noch viel wichtigere Gruͤnde trieben ihn nach
Scheerau; er ſuchte da 13000 Rthlr. eine Menge
Rekruten und einen Hofmeiſter. — Den letzten
zuerſt: ſeine Frau ſagte: „Guſtav muß jemand
[96] haben, es fehlt ihm noch an Lebensart!“ aber
Hofmeiſtern fehlts nicht daran — die Infanten aus
dem Alumneum, die nichts hebt als eine Kanzel¬
treppe, die ſo lange die Seelenhirten des jungen
Edelmanns ſind, bis ſie die Seelenhirten der Ge¬
meinde werden, welche ihr Eleve regiert, dieſe
paͤdagogiſchen Pouſſierer ſind im Stande nicht bloß
den Kopf des Junkers — wie der Vater hoft —
ſondern auch den Rumpf deſſelben — wie die Mut¬
ter hoft — recht gut zu formen und zu glaͤtten
erſtlich ohne eigne Glaͤtte, zweitens in Lehrſtun¬
den, drittens mit Worten, viertens ohne Wei¬
ber, fuͤnftens auf eine ſechste Art, dadurch,
daß der Hofmeiſter das weiteſte Loͤwenherz zu ei¬
nem ſchlaͤfrigen Dachsherzen einkrempt.


Der zweite metalliſche Sporn, der ihn nach
der Stadt forttrieb, war das Geld. Niemand
kam ſo leicht in den Fall, ein Glaͤubiger ſowohl
als ein Schuldner zu werden als er: die halbe
Nachbarſchaft hatt' er, weil er weder ſich noch
andern etwas abſchlug, zuletzt in ſeine Gaͤſte und
ſeine Schuldner verwandelt; aber jezt verwan¬
delte er daruͤber ſich beinahe ſelber in beides, wenn
nicht der Landesherr ſeinen zerrollenden Geldhau¬
fen[97] fen wieder aufbauete. Er muſte alſo nach Ober¬
ſcheerau, der Reſidenz, die mißliche Bitte mit¬
bringen, daß ihm dieſer 13000 Rthlr. nicht ſowohl
ſchenken oder leihen — das waͤre zu machen gewe¬
ſen — als bezahlen moͤchte, als ein Kapital
von 7 Jahren. Der Scheerauiſche Sophi hatte
naͤmlich die Gewohnheit, keine Geliebte abzudan¬
ken ohne ihr ein Landgut, oder ein Regiment,
oder einen geſtirnten Mann mitzugeben — er ließ
von einer Maitreſſe allzeit noch ſo viel uͤbrig, daß
noch eine Ehefrau fuͤr einen Ehetropfen daraus zu
machen war, wie der Adler und Loͤwe, (auch
Fuͤrſten der Thiere,) allemal ein Stuͤck vom Rau¬
be unverzehrt fuͤr anderes Vieh liegen laſſen. Mit¬
hin trennte er ſich auch von der Mutter ſeines na¬
tuͤrlichen Sohnes — des Kapitain von Ottomar —
auf dem Rittergut Ruheſtadt, das er an einem
Tage (mit Falkenbergs Gelde) kaufte und ver¬
ſchenkte.


Drittens wollte der Rittmeiſter in Scheerau
ſeinen Unteroffizieren, die meiſtens da lagen, ein
Paar Schritte erſparen: denn er ſchlug zwar mit
dem Stock ſo leicht wie eine Dame mit dem Faͤ¬
cher zu, aber er brach nicht gern einer Heuſchrek¬
G[98] ke das ſechſte Bein aus und daher ſchonte er die
ſeiner Leute, die viere weniger hatten, um ſo
mehr.


Endlich packen ſie ein, die Falkenbergiſchen:
wir wollen dabei ſeyn. Da deine Seele wie Uh¬
ren und Pferde nur unter dem Reiſen nicht ſtockte:
ſo war er am Abzugsmorgen am froheſten und ra¬
ſcheſten; liebte keine Fortſchreitung durch Sekun¬
den, ſondern durch [Nonen]; fluchte uͤber ſaͤmmt¬
liche Haͤnde und Fuͤße im Schloß, weil ſie nicht
flogen; druͤckte und ſtauchte das weibliche Schif
und Geſchirr mit ehernen Haͤnden in die naͤchſte
Schachtel hinein; und hatte keine andere abſuͤh¬
rende Haarſeile ſeiner ungeduldigen Langweile als
ſeine Fuͤße, die ſtampften, und ſeine Haͤnde, mit
denen er theils den Kutſcher aus ſolchen Gruͤnden
wie dieſer die Pferde, auswirte, theils die Re¬
ſtanten im Schloſſe ſaͤmmtlich recht gut beſchenkte.


Die Rittmeiſterin aber weiß alles ſo komplett
und vernuͤnftig zu thun, daß ſie mit nichts fertig
wird. Haͤtte ſie drei Spruͤnge zu thun, um dem
herunterplumpenden Monde auszuweichen: ſo ſtreif¬
te ſie doch, eh' ſie ſpraͤnge, noch eine Falte aus
der Fenſtergardine heraus — beim Plaͤtten waͤr's
[99] noch aͤrger. Gleich Gelehrten liegt ſie neben dem
Brodtſtudium noch einem Nebenſtudium und Bei¬
werk ob und thut mit jeder Sache die benachbar¬
ten mit. „Ich kann nun einmal nicht ſo luͤderlich
ſeyn wie andre Weiber“ ſagte ſie jezt zum knir¬
ſchenden Ehemann, der acht ſtumme Minuten ihr
zuſah. „Ich wollt' ins Teufels Namen lieber, Du
waͤreſt die luͤderlichſte in der ganzen ſchriftfaſſigen
Ritterſchaft“ — ſagt' er. Da ſie nun ſo oft ſie
Sturm und Unrecht hatte, bloß auf den zornigen
Hyperbeln des andern ankerte, wie ich als appel¬
latiſcher Sachwalter haͤufig muß: ſo bewieß ſie
auch dasmal geſchickt, daß an luͤderlichen Frauen
wenig waͤre — und da einen hitzigen Rittmeiſter
nichts noch mehr aufbringt als ein ſtolzer Beweiß
deſſen, was er gar nicht laͤugnet: ſo giengs wie
allemal loß — die Zungen-Streitflegel bewegten
ſich — ſeine Speicheldruͤſe, ihre Thraͤnendruͤſe, und
beider Gallenblaſen ſezernirten ſo viel als in chriſt¬
lichen Eheſtunden ſezerniret werden muß — aber
15 Minuten und 15 Packereien ſogen wie Venen
alle dieſe ehelichen Abſonderungen wieder ein. Beim
Abreiſen hat kein Menſch Zeit, ſich zu erboßen.


G 2[100]

— Sie war auf meine Ehre eine recht gute
Frau, aber nur nicht allemal, z. B. beim Abrei¬
ſen am wenigſten: ſie wollte erſtlich dableiben und
keifte in alle hoͤrende Weſen hinein, zweitens woll¬
te ſie fort. Niemals, wenn ihr Mann am Mor¬
gen ſich und ſeinem Hunde den Halsſchmuck um¬
legte, um Viſiten zu machen, begehrte ſie mit
(ſie muͤſte denn die voͤllige Unmoͤglichkeit mitzukom¬
men vorausgeſehen haben:) ſondern wenn er am
zweiten Tage nur ein Wort von einer Dame, die
mit da geweſen, ſchießen ließ, ſo klagte ſie ihm
ihre Noth: „unſer eine riecht nun den ganzen
Sommer nicht aus dem Hauſe hinaus.“ Wollt' er
ſie das naͤchſte Mal mitzwingen: ſo war entſetzlich
zu thun, es war zu bleichen, zu jaͤten, Fleiſch¬
faͤſſer und Serviettenpreſſen zuzuſchrauben Waͤſch¬
zettel und alles zu machen, oder das vorzuſchuͤtzen:
„ich bin am liebſten bei meinem Kleinen.“ Allein
ihre Abſicht, die wenige erriethen, war bloß, an
zwei Orten auf einmal zu ſeyn, in und außer
dem Hauſe — und es iſt fuͤr unſre Weiber ſchlimm,
wenn unſre Philoſophen und Maͤnner nicht ſo viel
einſehen wie die katholiſchen Philoſophen und Maͤn¬
ner, die kombriſchen, Ariaga, Bekanus laͤngſt
[101] einſahen, *) daß der naͤmliche Koͤrper leicht zur
naͤmlichen Sekunde an zwei Orten, oder mehre¬
rern nicht nur auf einmal ſitzen, reden, wachſen,
ſondern auch in der einen Stadt empfinden koͤnne,
in dem er in der andern denkt, — zu gleicher Zeit
in der Kirche lachen und in dem Theater weinen
koͤnne. — —


[102]

Extrablaͤttchen.

Sind die Weiber Päbſtinnen?


Alle Fragen dieſes Blaͤttgen that ich an eine Aeb¬
tiſſin, die lieber Muͤnzen als Fromme machen ließ.
Iſt nicht die dreifache Krone des Pabſtes jezt auf
den weiblichen Koͤpfen als eine vier-fuͤnffache da
und ſchoſſen nicht ihre Huͤthe in die Hoͤhe wie Sal¬
lat in den Hundstagen? — Iſts nicht den Weibern
ſelber ſchon bekannt, daß ſie ſo untruͤglich ſind
wie der Pabſt, und wenn dieſer es mehr in dog¬
matiſchen als in hiſtoriſchen Dingen iſt wie die
Janſeniſten glauben, iſts bei den Paͤbſtinnen nicht
umgekehrt? — Und wer hat den Muth eine zu
widerlegen, die er nicht geheirathet? Der Pabſt
iſt Gottes Vicekoͤnig oder gar Gott ſelbſt, wenn
dem Felinus*) zu glauben: ſind aber die Paͤb¬
ſtinnen nicht bekannte Goͤttinnen? — Allerdings
ſagt ein Pabſt ſelbſt, Klemens VI. daß er Engeln
befehlen koͤnne, jeden Kerl aus dem Fegefeuer in
[103] den Himmel zu ſpediren; *) brauchen aber unſre
Paͤbſtinnen Engel dazu? Blos eine Woche brauchen
ſie um uns ins Fegefeuer, und eine Stunde, um
uns zuruͤck in den Himmel zu werfen — Maria¬
nus Soccinus, der behauptet, **) daß ein Pabſt
aus Nichts Etwas; aus Unrecht Recht und aus
allem Henker allen Henker machen koͤnne, muß
nur nicht glauben, daß unſre Paͤbſtinnen es nicht
auch vermoͤgen und ſind ihm ihre Ohrenbeichten
nicht erinnerlich? — Wer exkommuniziert ſeine Ke¬
tzer: oder diſpenſiret ſeine Rechtglaͤubigen oͤfter,
Paͤbſte oder Paͤbſtinnen? — Und wer macht heut
zu tage, durchlauchtige Aebtiſſin? allmaͤchtigere
Augenbreven und Lippenbullen, wer kreiret mehr
Heilige, mehr Seelige, und mehr Nunzien a und
de latere? Petri Nachfolger oder Petri Nachfolge¬
rinnen? — Paͤbſte ſollen ſonſt immerhin Koͤnigrei¬
che weggeſchenkt oder abgenommen haben: beherr¬
ſchen nicht Paͤbſtinnen dieſe Koͤnigreiche? — Paͤbſte
konnten von Amerika nichts verſchenken als den
Namen: iſt aber nicht das, was einige Paͤbſtin¬
nen von dieſem Lande uns mittheilen, etwas viel
[104]reelleres? — Koͤnige, die ſonſt von Paͤbſten ge¬
quaͤlt wurden, werden jezt von Paͤbſtinnen begluͤckt;
und wenn jene hoͤchſtens einen oder ein Paar Koͤnige
ſchufen, werden nicht die Koͤnige unter den meiſten
europaͤiſchen Thronhimmeln von Paͤbſtinnen formirt,
und zwar in niedlichem Taſchenformat bis ſie aus der
Laufſchuͤſſel nach und nach heranwachſen, daß ſie ſo
lang ſind wie ich oder ihr Thron? — Kuͤſſen wir ih¬
nen nicht den Pantoffel oͤfter als dem ſeeligſten Va¬
ter, maßen die zwei Arme vom Profeſſor Moſkati
zu Padua laͤngſt, als zwei Vorderfuͤße befunden wor¬
den, auf deren lederne oder ſeidne Schuhe wir alle
Wochen unſre Lippen druͤcken? — Legen nicht Pabſt
und Paͤbſtin den alten Namen ab, wenn ſie den
Thron beſchreiten, den der eine durch Alter, die an¬
dre durch Jugend behauptet? — Und wenns wahr
waͤre, daß Pabſt und Paͤbſtin urſpruͤnglich nur Bi¬
ſchoͤffe einer Provinz (eines Mannes) ſeyn ſollen und
daß es weiter keine Paͤbſtin giebt als die gute Jo¬
hanna; wuͤrd' ich wohl gerade das Gegentheil oͤf¬
fentlich in einem Extrablaͤttgen oder heimlich zu Ih¬
nen zu ſagen wagen, durchlauchtige Aebtiſſin? —


Ende des Extrablatts.


[105]

Fortſetzung des vorigen Sektors.

Waͤhrend ich die Aebtiſſin befragte: kam ich von
der humoriſtiſchen Rittmeiſterin weg. Ich will ſe¬
tzen, ich oder der Leſer haͤtten ſie geheirathet: ſo
wuͤrden wir zwar dem Himmel danken, an ihren
Ringfinger unſern brillantirten Ring geſchraubt zu
haben — aber doch wuͤrden wir uns taͤglich wie
man ſieht, mit ihr herum zu beiſſen haben: ſo ge¬
wiß bleibts, daß nicht die weiblichen Laſter, ſondern
die weiblichen Launen ſo viel Pferdeſtaub und Dor¬
nen in das Ehelager ſaͤen, daß oft der Satan dar¬
auf liegen moͤchte. —


Ohne Guſtav, der ſoviel zuſchleppt, kaͤmen wir
vor zehn Minuten nicht aus dem Schloſſe. Mein
Leſer malt ſich ihn wider meine Erwartung ganz
falſch vor, traurig naͤmlich, weil er aus ſeiner Kind¬
heits-Erdenwiege, aus ſeinem Adamsgarten und
von ſeinem Abendberge weichen ſoll. So falſch! —
Ein anderer Leſer wuͤrde ſich ihn freudig denken,
weil fuͤr Kinder, denen noch jede andre Szene eine
neue iſt, Reiſen die Schoͤpfung eines neuen Him¬
mels und einer neuen Erde iſt und weil die Phan¬
[106] taſien eines Kindes noch keine kummerhaften ſind.
Scheerau mußte in ſeinen Vermuthungen durchaus
die Stadt mit langen Haͤuſern ſein, worin, er mit
ſeiner Schweſter geſpielt. Noch dazu wurde — was
allen Kindern eine Naturaliſationsakte iſt — ſein
Spielmagazin eingeſchifft; ſogar den Staarmatz,
der als geſchuͤttelter Hierarch in der ſalomoniſchen
Filialkirche auf und abſprang, hielt er auf den ſtau¬
chenden Knien. Jeden Winkel des Schloſſes bedau¬
erte er ſamt dem was drinnen war, daß es nicht
mit einſteigen duͤrfte: dieſes ganze Konchylienge¬
haͤus kam ihm ſo eng, ſo abgegriffen, ſo abgeſchoſ¬
ſen vor! Leute die wenig gereiſet, ſchauen ihre
Stube in den Augenblicken der Abreiſe — der An¬
kunft — und in den uͤbrigen mit drei verſchiedenen
Gefuͤhlen an: fuͤr Zugheuſchrecken und Zuggefluͤgel
ſind die Chauſſeen und Gaſſen nur die Korridore
zwiſchen den Zimmern.


Schon eine halbe Stunde ſaß er auf den nack¬
ten Kutſchenkaſten voraus, mit den Beinen in Ge¬
paͤck eingekeilt und in zappelnder Erwartung wenn
die Pferde den erſten Riß thaͤten. Endlich wurde
die Wagenthuͤre zugeworfen und alles rollte dahin,
den Berg hinab, den Gemeindeanger hinuͤber, auf
[107] welchem der weißgeſchaͤlte Baum, der zur Kirch¬
weih ſich mit geroͤthelter Fahne und Baͤnderwim¬
peln noch einmal in die Erde bohren ſollte, unſe¬
rem Guſtav ganz veraͤchtlich wurde, der jetzt in
Scheerau hundert ſchoͤnern Maienbaͤumen und Kirch¬
weihen entgegenfuhr. — Aber als er von der an
Freuden fruchtbaren Region ſeines Berges vor¬
uͤbergieng: ſo zog er vom Trauergeruͤſte der ge¬
ſtorbnen Nachmittage, vom klingelnden Vieh das
jetzt am Gipfel graſete, von einem Weidekollabora¬
tor, der ihm ſchlecht gefiel, vom zuſammengetra¬
genen Steinpferch, in den er ſein Laͤmmchen geſtellt,
das nun ohne Band und ohne Liebe droben ſtand,
und endlich vom Markſtein, auf dem ſonſt ſeine
Traute, ſeine Schoͤne ſtrickte, davon freilich zog er
die zuruͤckgewandten Blicke ſehnend langſam weg.
„Ach, dacht' er, wer wird dir Zitronenkuchen ge¬
„ben und meinem Laͤmmchen Brodrinden? Ich will
„euch aber ſchon alle Tage recht viel herſchicken!”


Es war ein reiner Oktobermorgen, der Nebel
lag zuſammengefaltet dem Himmel zu Fuͤßen, der
wegfliegende Sommer ſchwebte mit ſeinen blauen
Schwingen noch hoch uͤber den Aeſten und Blumen,
die ihn getragen und ſchauete mit dem weiten Stil
[108] erwaͤrmenden Sonnenauge den Menſchen an, von
dem er Abſchied nahm. Guſtav wollte aus dem
Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer
der zartgeſponnen wie ein Menſchenleben die Erde
uͤberzog, zuſammen zu wickeln und mitzunehmen.
Aber du Menſch! haͤngſt ſo oft als ſtinkende Peſt-
und Nebelwolke in die reine Natur herein!


Denn ſie mochten kaum eine Stunde gefahren
ſeyn, nach der er ſchon jedes Dorf fuͤr Scheerau
hielt . . . . Ich will aber erſt angeben, wo's war.
Bei Iſſig ſchrie der Kleine im Wald „o! jetzt wird
„der ſchwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬
„ziehen!“ Als ſich der Alte noch daruͤber wunder¬
te, woher der Kleine wuͤßte, daß jetzt eine Arm¬
ſaͤule kaͤme, die wirklich aus den Baͤumen heraus¬
wies: ſo fiengs auf einmal darhinter an zu ſchreien:
„ach meine Augen, meine Augen!“ Den Kleinen
und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber
der Rittmeiſter ſtuͤrzte ſich aus, oder durch den
Wagen, zerſtieß die Glaͤſer und prallte in den
Wald hinein — und an ein kniendes feines Kind
hinan, aus deſſen zerſchnittenen Augen Thraͤnen
und Waſſer liefen. „Ach thu mir nichts, ich kann
„nimmer ſehen!“ ſagt' es und griff mit den Haͤnd¬
[109] chen um ſich, um die Lanzette wegzuſchlagen, die zu
ſeinen Knien lag. „Wer hat dir denn gethan?“
ſagt' er mit der ſanfteſten vom heftigſten Mitleid
brechenden Stimme; aber eh' es ſprach, kam ein
altes verwuͤſtetes Bettelweib naͤher und ſagte, im
Gebuͤſch waͤr' ein Bettler hingeſchoſſen, der's Kind
blenden haͤtte wollen, um darauf zu betteln. Al¬
lein das Kind kruͤmmte ſich mit groͤßern Konvulſio¬
nen an ſeine Hand und ſagte: „o! ſie will mich
„wieder ſchneiden.“ Der Rittmeiſter errieth die
Spitzbuͤberei, ſchlitzte den naͤchſten Aſt herab, peitſch¬
te die Elende mit verfehlender Wuth ins Angeſicht
und lief mit dem Blinden auf dem Arm dem furcht¬
ſamen Wagen zu. Es war ein herzerdruͤckender
Anblick, der unſchuldige Wurm mit feinen Zuͤgen
und Bewegungen in Lumpen und mit roth einge¬
runzelten Augen! —


[110]

Neunter Sektor.

Eingeweide ohne Leib — Scheerau.


Nicht blos Luͤgner und L'hombreſpieler, ſondern
auch Romanenleſer muͤſſen ein gutes Gedaͤchtniß ha¬
ben, um die erſten 10 oder 12 Sektores gleichſam
als Deklinationen und Konjugationen auswendig
zu lernen, weil ſie ohne dieſe nicht im Exponiren
fortkommen. Bei mir ſteht kein Zug umſonſt da
in meinem Buche und in meinem Leib haͤngen Stuͤcke
Milz; aber der Nutzen dieſes Eingeweides wird
ſchon noch herausgebracht. — Da ein Roman¬
ſchreiber wie ein Hofmann blos darauf hinarbeiten
muß, daß er ſeinen Freund und Helden ſtuͤrze und
in geladen Gewitter fuͤhre: ſo formire ich ſeit ei¬
nem Quartale am Himmel hie ein graues Woͤlk¬
chen das ſchwindet, dort eines, das zerlaͤuft; aber
wenn ich endlich alle Zellen des Horizonts unſicht¬
bar elektriſirt habe: faſſ' ich den ganzen Teufel in
ein Donnerwetter zuſammen — nach dem Abdruck
von 14 Bogen kann der Setzer das Krachen ſchon
hoͤren und ſetzen. — — Im Grunde iſt freilich
[111] kein Wort wahr; aber da andre Autoren ihre Ro¬
mane gern fuͤr Biographien ausgeben: ſo wird es
mir verſtattet ſeyn, zuweilen meiner Biographie
den Schein eines Romans anzuſtreichen.


Das Kind gab ſtatt ſeiner Geſchichte blos die
Klagen uͤber ſeine Geſchichte. Es ſchien uͤber ſie¬
ben Jahre alt, akzentuirte das Deutſche italieniſch
und ſein kraͤnklich zarter, blaßrother Koͤrper legte
ſich um ſeine Seele wie ein bleiches Roſenblatt um
das Wuͤrmchen darin. Sein Vater hieß Doktor
Zoppo, kam aus Pavia, botaniſirte ſich aus Ita¬
lien nach Deutſchland, ließ die Kleinen unterwegs
gelbe Blumen reiſſen. Der blinde Amandus wollte
in dieſem Walde auch Kraͤuter pfluͤcken; aber die
teufliſche Okuliſſin traf ihn, half ihm gelbe Blumen
finden, und lokte ihn damit ſo tief in den Wald
hinein, daß ſie ihm Kleider und Augen rauben
konnte.


Guſtav fragte ihn jede Minute, ob er noch nicht
ſaͤhe, ſchenkte ihm ſein Dejeuner, damit er nicht mehr
weinen ſollte und konnte ſeine Blindheit, da ſeine Au¬
gen ſo offen waren, nicht faſſen. Im naͤchſten Land¬
ſtaͤdtchen ließ ſich Falkenberg raſiren und den Amandus
verbinden. Ich ſah einmal auf der letzten Station
[112] vor Leipzig eine ſo reizende Queerbinde uͤber der
Stirn und dem Auge eines Maͤdchens, daß ich
wuͤnſchte, meine Frau wuͤrde von Zeit zu Zeit dort¬
hin laͤdirt, weils nett ausfaͤllt: hingegen Amandus
Bandage uͤber zwei Augen machte ihn zu einem Kin¬
de des Jammers.


Da Amandus in beſſerer Einkleidung und mit
der traurigen Binde im Wagen ſaß: konnte Guſtav
gar nicht zu weinen aufhoͤren und wollte ihm ſeinen
Matz herauslangen und ſchenken: denn nicht die Groͤ¬
ße, ſondern die Geſtalt des Leidens beſtimmt das Mit¬
leiden.


Wenige Menſchen, die nach Scheerau fahren,
werden das naͤrriſche Gluͤck haben, daß ihnen zwei
Stunden davor ein [iſolierter] Magen ohne den Per¬
tinenz-Menſchen aufſtoͤßet: Falkenberg und ſeine Leu¬
te und Pferde hatten dieſes Gluͤck. Es kam angefah¬
ren der Magen, das duͤnne und dicke Gedaͤrm, die
Leber, worin die Fuͤrſten ihre Galle ſieden, die Lun¬
ge deren Luftblaͤschen die fuͤrſtliche Gallenblaſe ſind
wie die Luftroͤhre der Gallengang derſelben iſt, und
das Herz; aber kein Leichnam kam mit: denn der
Leichnam, der regierender Herr von Scheerau war,
lag ſchon in der Erbgruft. Dieſer Magen verdaute
ſoviel[113] ſoviel wie ſein Gewiſſen, naͤmlich ganze Hufen Lan¬
des; und beſſer als ſein duͤnner Kopf, dem Wahr¬
heiten und Gravamina eine ſchwere Speiſe waren;
die papinianiſche Magenmaſchine wirkte noch im
Alter, als ſchon alles andre kindiſch war. Er ritt,
kurz vor ſeinem Tode, Stundenlang einen — Kam¬
merherrn, den er wohl leiden konnte: gleichwol ſchob
er den Teller und das Glas weg, wenn nicht der
alte Inhalt in beiden war. Hinter dem Inteſti¬
nenſarge — dem Reliquienkaͤſtchen des Unterleibes
— fuhren der Obriſtkuͤchenmeiſter, einige Beikoͤche,
der Hofkellereiadjunkt und noch groͤßere Glieder des
Hofetats — z. B. der Medizinalrath Fenk. Die¬
ſer und Falkenberg bemerkten einander nicht: der
letztere ſtieß heute auf lauter Seltenheiten, den
Doktor, den er in Italien, und den Fuͤrſten,
den er noch auf der Erde ſuchte. Die gekroͤnten
inſolventen Eingeweide, die ihn ſo das Geld
nicht zahlten, verwickelten ihn nun mit dem
Kronerben in ein Kreditorengefecht.


Der Leichenzug des fuͤrſtlichen Gedaͤrms gieng
in der Abtei Hopf, wo das Erbbeggraͤbniß derer
fuͤrſtlichen Glieder war, die — wenn dem Plato
ein Wort zu glauben iſt — wahres Vieh ſind und
H[114] mit denen der Menſch, er uͤberſchnuͤre ſie mit Or¬
densbaͤndern oder Tragriemen, allemal ſeine Hoͤl¬
lennoth hat. Ich will der Inteſtinenkapſel nur drei
Schritte nachziehen, weil der Medizinalrath jetzt
— nach ſeiner humoriſtiſchen Sitte, an allen Or¬
ten, in Theater- und Kirchenlogen und Gaſthoͤfen,
nur in ſeinem Muſeum nicht, zu ſchreiben — in
der Begraͤbnißkirche der Inteſtinen ſeine Schreibta¬
fel aufwickelte und Sachen hineinſchrieb die wahr¬
haftig ſo lauten: „Da Fuͤrſten ſich an mehrerern
„Orten auf einmal beerdigen laſſen, wie ſie auch
„ſo leben, ſo moͤcht' ichs auch — allein nicht an¬
„ders als ſo: mein Magen muͤßte in die Epiſkopal¬
„kirche beigeſetzt werden — meine Leber mit ihrer
„bittern Blaſe in eine Hofkapelle — das dicke Ge¬
„daͤrm in ein juͤdiſches Bethaus — die Lunge in
„die Univerſitaͤtskirche — das Herz in die triumphi¬
„rende, und die Milz in ein Filial. Wenn ich
„aber erſter Leichenprediger eines gekroͤnten Un¬
„terleibes waͤre: ſo haͤtt' ich einen andern Gang;
„ich naͤhm' den Schlund zum Eingange des — Ser¬
„mons, und den Blinddarm zum Beſchluß! Koͤnnt'
„ich nicht in den edlern Theilen der Predigt die ed¬
„lern Theile durchgehen und die Galle hinein brin¬
[115] gen? — So ſcherzt man hienieden.“ Es giebt
einen poetiſchen Wahnſinn, aber auch einen humo¬
riſtiſchen, den Sterne hatte; aber nur Leſer von
vollendetem Geſchmack halten hoͤchſte Anſpannung
nicht fuͤr Ueberſpannung.


Der Falkenbergiſche Reiſezug kam in Scheerau
Abends an, Abends der ſchoͤnſten Zeit um anzulan¬
gen, daher ſo viele Abends in der andern Welt an¬
langen. Guſtav ſchien ſchon da geweſen zu ſeyn,
waͤhrend ſeiner Entfuͤhrung: da aber von meinen
Leſern die wenigſten der Schoͤnheit wegen nach
Scheerau ſind entfuͤhret worden und ſie alſo die
Stadt nicht kennen: ſo ſoll ſie ihnen der zehnte
Sektor zeigen.


H 2[116]

Zehnter Sektor.

Ober- Unterſcheerau — Hoppedizel — Kräuterbuch — Viſiten¬
bräune — Fürſtenfeder.


Es iſt noch keinem Geographen und Oberkonſiſto¬
rialrath das Ungluͤck begegnet, das H. Buͤſching
hatte, daß er in ſeinem topographiſchen Atlas ein
ganzes gutes Fuͤſtenthum ausließ, das auf der Wet¬
terauiſchen Grafenbank mit ſitzt und Scheerau heiſ¬
ſet — das nach dem Reichsmatrikularanſchlag \frac{8}{9} zu
Roß und 9⅔ zu Fuße und zum Kammerzieler 21 fl.
\frac{1}{19} Xr. giebt — das unter Karl den IV. gefuͤrſtet
wurde — das ſeine fuͤnf huͤbſchen Landesſtaͤnde hat,
die allerhand zu ſagen aber nichts zu thun haben,
naͤmlich den Kommenthur des deutſchen Ordens,
die Univerſitaͤt, die Ritterſchaft, die Staͤdte und
die Doͤrfer — und das unter andern Einwohnern
auch mich hat. Ich moͤchte nicht an der Stelle ei¬
nes ſolchen topograpbiſchen Mannes ſeyn, der
ſonſt in jede Sackgaſſe mit ſeinem geographiſchen
Spiegel kriecht, um ſie zuruͤckzuſpiegeln und der
jetzt ein ganzes Fuͤrſtenthum ſamt ſeinen fuͤnf para¬
[117] lytiſchen Landſtaͤnden rein uͤberſprungen hat: ich
weiß, wie es ihn kraͤnkt, aber nun, da ich mit der
Welt daruͤber geſprochen, iſt ihm nicht mehr zu
helfen.


Die Hauptſtadt Scheerau beſteht eigentlich aus
zwei Staͤdten, aus Neu- oder Oberſcheerau, wo
der Fuͤrſt reſidirt, und aus Alt- oder Unterſchee[¬]
rau, wo der Rittmeiſter logirt. Ich meines Orts
bin laͤngſt uͤberzeugt, daß die Sachſenhaͤuſer nicht
halb ſo weit von den Frankfurthern abſtehen als
die Altſcheerauer von den Neuſcheerauern, im Ton,
Geſicht, Koſt und allem. Der Neuſcheerauer hat
zu viel Hofton, um nicht Anſtand und Schulden
und Wuth zu auſſerhaͤuslichen Freuden zu haben,
und doch wieder zuviel Kurialton (weil alle hoͤchſte
Landeskollegien da ſind), um nicht uͤberall ſteife
Subordination entweder anzuerkennen oder abzufo¬
dern und um nicht aus dem Kammerherrn in den
Kanzeliſten und Rechnungsreviſor zuruͤckzufallen.
Das ſieht nun der Altſcheerauer ein. Der Neu¬
ſcheerauer hingegan ſieht ein, daß jener folgende
Zuͤge hat: wenn in Sina die Maͤuler der Tiſch¬
genoſſenſchaft ſich wie ein Doppelklavier zu gleicher
Zeit bewegen muͤſſen; wenn in Monomotapa das
[118] Land dem Kaiſer nachzunieſen pflegt: ſo gehe man
nach Altſcheerau, wo es noch viel beſſer iſt; um
die naͤmliche Minute muͤſſen alle Gaſſen weinen,
huſten, beten, laxiren, haſſen und piſſen — ihre
Konduitenliſte ſieht wie eine Partitur aus, aus der
alle das naͤmliche Stuͤck, nur mit verſchiednen In¬
ſtrumenten und Stimmen ſpielen — blos in der
Muſik regiert ſie einiger wahre Freiheitsgeiſt und
keiner bindet ſeinen Ellen- oder Fidelbogen oder
Tangenten ſklaviſch an ſeines Nachbars ſeinen —
ſie haſſen ſchoͤne Wiſſenſchaften ſo ſehr wie ſich un¬
ter einander — unfaͤhig, geſellſchaftliches Vergnuͤ¬
gen zu entbehren, zu veranſtalten, zu genieſſen,
unfaͤhig zu wagen, einander offen zu haſſen und
zu lieben und zu ertragen, bohren ſie ſich in ihre
Geldhuͤgel und achten oͤffentlich den Reichſten und
geheim den Verwandten oder gar niemand — ohne
Geſchmack und ohne Patriotiſmus und ohne Lek¬
tuͤre . . . .


Ich mach' es aber gar zu toll: kein Leſer wird
hinter dem Rittmeiſter einen Fuß nach Unterſchee¬
rau ſetzen wollen. Ihr groͤßter Fehler iſt, daß ſie
nichts taugen; aber ſonſt ſind ſie fleißig, voll lau¬
ter Kaufleute, frugal und fegen die Gaſſen und
[119] Geſichter huͤbſch. Reſidenzſtaͤdte haben wie Hoͤfe
Familienaͤhnlichkeit; aber Landſtaͤdte haben — je
nachdem mehr merkantiliſche, militairiſche, juriſti¬
ſche, bergmaͤnnniſche, ſeemaͤnniſche (die ſchlimmſten)
Saͤfte in ihnen rinnen — ein verſchiednes Vollge¬
ſicht und Halbgeſicht.


Vor der uͤberblechten Hausthuͤr des Profeſſor
Hoppedizels ſtieg die Falkenbergiſche Schifge¬
ſellſchaft aus ihrer fahrenden Arche: ſie hielt in
des Profeſſors zweitem Stockwerk gewoͤhnlich ihr
Winterquartier. Gleich hinter der Hausthuͤre ſtieß
der Rittmeiſter auf ein tolles Melodrama. Naͤm¬
lich der Floͤßinſpektor Peuſchel lehnte ſich an die
Wand und vomirte und ſchimpfte; und wechſelte
damit regelmaͤßig, wie mit Pentameter und Hexa¬
meter — Der Profeſſor der Moral ſchrieb mit ei¬
nem uneingetunkten Finger ruhig die Zuͤge folgen¬
der Worte an die Wand, die er unaufhoͤrlich ab¬
las: „ekelhaft war's wohl, verteufelt ekelhaft!“ —
Aus jedem andern haͤtte ein eintretender alter
Freund wie Falkenberg ſogleich die ganze Szene
weggewieſen; aber der Profeſſor war nicht aus ſei¬
nem Spas zu ziehen ſondern hob ſeine Umhalſung
in unveraͤndertem Tone mit dem Rapport des
[120] gegenwaͤrtigen Kaſus an: „gegenwaͤrtiger H. Floͤ߬
„inſpektor Peuſchel zeche gern, Wein aber — es
„habe nichts verfangen, daß die Frau Inſpektorin
„(— denn ſchonende Diſkretion war nie auf Hop¬
„pedizels Lippen —) ihn habe umbeſſern wollen
„durch einen lebendigen Froſch, den ſie in ſeinem
„Wein krepiren laſſen. Er ſelber habe daher heute
„Hand angelegt, ihm das Nippen zu verleiden.
„Denn er habe zum Gluͤck einen Blaſenſtein — ſo
„dick wie eine Muskatellerbirn — aus dem Univer¬
„ſitaͤtskadaver geſchnitten: den hab' er zu einer
„Trinkurne ausgebohret und Hr. Peuſcheln wei߬
„gemacht, aus Lawa ſei ſie — heute habe er ſei¬
„nen vomirenden Freund aͤchten ungariſchen Aus¬
„bruch daraus ſaugen laſſen — damit es ihn nun
„geekelt und zu einem andern Ausbruch genoͤthigt
„haͤtte, hab’ er’s vor einem Paar Minuten dem
„Patienten dargethan, daß das vulkaniſche Spitz¬
„glas wahrer Harn oder Nierenſtein geweſen. Und
„er hoffe, ſein Freund ſchlage ſich das urinoͤſe Stein¬
„gut eine Zeitlang nicht aus dem Kopf.“ Der
Profeſſor gieng den Inſpektor an, ihm den Gefal¬
len zu thun, und, ſobald der Ekel nachlieſſe, heute
Abends in der Geſellſchaft des Hrn. Rittmeiſters zu
einem Loͤffel voll Suppe da zu bleiben.


[121]

Man komme noch ſo oft in gewiſſe Haͤuſer, ſo
erblickt man alles revidirt und umgeſetzt und um¬
geſtuͤrzt; im Hoppedizelſchen am meiſten — des
Rittmeiſters Winterlager ſah ſtets aus wie ein Gar¬
tenhaus im Winter. Menſchen von feinem Gefuͤhl
bezaubern durch eine gewiſſe zaͤrtliche Aufmerkſam¬
keit auf kleine Beduͤrfniſſe des andern, durch ein
Errath ſeiner leiſeſten Wuͤnſche, durch eine ſtete
Aufopferung ihrer eignen, durch Gefaͤlligkeiten, de¬
ren ſeidenes Geflecht ſich feſter und ſanfter um un¬
ſer Herz herumlegt als das ſchneidende Liebesſeil ei¬
ner großen Wohlthat. — Hoppedizel bediente ſich
weder des Flechtens noch Seiles und fragte nach
Nichts. Es war nicht Abweſenheit des feinen Ge¬
fuͤhls ſondern Ungehorſam gegen daſſelbe, daß er —
wenn der Rittmeiſter die erſte Woche Logis und
Kommodator verfluchte — dazu lachte.


Der zarte Amandus bewohnte den ganzen
Abend das Siechbett und Guſtav kroch an ſeine
Seite, um mit ihm zu ſpielen. Wie heitern uns
im ſteinigten Arabien der haſſenden Welt Kinder
wieder auf, die einander lieben und deren gute
kleine Augen und kleine Lippen und kleine Haͤnde
noch keine Maſken ſind!


[122]

Am andern Tage nahm ſie ein ſonderbarer Zu¬
fall wieder auseinander. Der Rittmeiſter fuͤhrte
ſie durch alle Gaſſen der Stadt wie durch eine Bil¬
dergallerie und hielt endlich mit den zwei Herzens¬
milchbruͤdern vor ſeines Freundes, des D. Fenks
Hauſe ſtill, und ſah ſehnend das Gemaͤhlde deſſel¬
ben an — es bildete eine Doktors Kutſche vor mit
einem Arzt innen, mit dem Tode vorn, der in
die Gabel eingeſpannt war, und mit dem Teufel
oben, der auf dem Bock ſaß. — „Der gute Narr,
dacht' er, koͤnnt' auch einmal aus ſeinem Italien
abziehen und ſeinen Freunden eine Freude machen!”
Denn er wuſte von ſeiner Ankunft nichts. „Man¬
dus! Mandus! lauf' rauf!” ſchrie ploͤtzlich ein
zappelndes Maͤdgen oben und kam ſelber geſprun¬
gen und zerrte und guckte am Kleinen. Der gut¬
muͤthige Rittmeiſter wanderte gern aus dem groſ¬
ſen Parterre den Kindern nach ins vertraute Haus
und ſeine Verwunderung uͤber alle Zeichen der
Ruͤckkehr Fenks endigte nichts als der hereinbre¬
chende Doktor ſelbſt. Dieſer prallte vom halben
Wege zu ſeiner Umarmung auf den kleinen Blin¬
den zuruͤck und riß unter Thraͤnen und Kuͤſſen die
Bandage auf — beſah ſie lange am Fenſter — und
[123] ſagte nach einem tiefen Athemzug: „Gott Lob und
Dank! er wird nicht blind!“ Erſt jezt ſchlug der
Doktor ſeine Arme mit doppelter Waͤrme um den
Freund: „verzeih's: es iſt mein Kind!“ Gleich¬
wohl nahm er Amandus wieder ans Licht und be¬
ſchauete ihn noch laͤnger und ſagte mit hinaufge¬
zognen Augenbraunen: „Bloß die Selerotica ſcheint
laͤdiert; die Okuliſtin zapfte die waͤſſerige Feuchtig¬
keit heraus. In Pavia ſah ichs alle Wochen an
Hunden, denen die Zahnaͤrzte (unſre medizini¬
ſchen Lehnsvettern) die Augen aufſchnitten und ei¬
ne dumme Salbe darauf ſtrichen. Wenn nachher
die Feuchtigkeit und das Geſicht von ſelber wieder
kam: ſo hatt' es die Salbe gethan.“


Ich uͤbergehe jezt den Strom von geſpraͤchiger
und freudiger Ergießung, vor dem ſie kaum
mehr hoͤrten und ſahen, am wenigſten die Uhr —
„ach ſie kommen!“ ſagte Fenk, naͤmlich die Gaͤ¬
ſte. — Da meine Leſer Verſtand genug haben:
ſo koͤnnen ſie mich hoff' ich auserzaͤhlen laſſen, eh'
ſie ihre Zornruthe gegen den bildlichen Steis des
Doktors hinter dem Spiegel vorholen. —


Niemand als er haßte ſo brennend das Enge;
das Intolerante und Kleinſtaͤdtſche der Unterſchee¬
[124] rauer, womit ſie ſich ein ſo kurzes Leben verkuͤrz¬
ten und ein ſo ſaueres verſaͤuerten —, ‚mich eckelts
von ihnen gelobt zu werden', ſagt' er nicht bloß
ſondern er erboſte auch gern mit dem ſchlimmſten
Anſtrich ſeiner reinſten Sitten alles von [einem]
Thore zum andern: indeß vermocht' er aus Her¬
zens Weichheit mehr nicht zu aͤrgern als die ganze
Stadt in groſſo, einen allein nie. Deswegen
graſſierte er am zweiten Morgen ſeiner Ankunft
wie eine Influenza von einem Hauſe zum andern
und bat alle Muhmen, Baſen, Blutsfeinde,
Leute die ihn nichts angiengen als die liebe Chri¬
ſtenheit, z. B. den Floͤß-Inſpector Peuſchel, den
Lotto-Direktor Eckert mit ſeinen vier Spaͤtbirnen,
von Toͤchtern und was, nur Unterſcheerauſchen Athem
hatte, das bat er ſaͤmmtlich zuſammen auf den
Nachmittag, auf eine Reiſeſeltenheit naͤmlich auf
ein herbarium vivum, das er zeigen werde: „es
ſei kein lebendiges Kraͤuterbuch ſondern etwas ganz
beſondres und von den Gletſchern waͤr's meiſte her.“


Dieſe kamen eben jezt alle — nicht weil ſie
das geringſte nach einem Kraͤuterbuch fragten, ſon¬
dern weil ſie es doch ſehen wollten und die Haus¬
haltung des unbeweibten Doktors nebenbei. Ich muß
[125] den europaͤiſchen Hoͤfen ſo viel geſtehen, daß ſich
die Landsmannſchaft und Baſenſchaft mit Grazie
hineinhuſtete, hineinfegte und raͤuſperte; und den
vier Spaͤtbirnen fehlt' es nicht an Welt ſondern ſie
machten ſtatt der Verbeugung eine Vertiefung und
bewegten ſich vertikal ſtatt horizontal. Der Haus¬
wirth trug jezt zwei lange Kraͤuterfolianten herein
und ſagte freundlich, er wolle gern alles herwei¬
ſen — nun zuͤndete er die Hoͤlle an; in die er die
Geſellſchaft warf — er kroch mit Raupenfuͤßen und
Schneckenſchleim von Blatt zu Blatt des Buches
ſo wohl als des Krautes — er zeigte nichts ober¬
flaͤchlich — er gieng die Piſtillen, die Stigmen,
die Antheren eines jeden Gewaͤchſes genau durch —
er ſagte, er wuͤrde ſie ermuͤden, wenn er weit¬
laͤuftiger waͤre und beſchrieb alſo Namen, Land,
Naturgeſchichte eines jeden Graſes ganz kurz — —
alle Geſichter brannten, alle Ruͤcken bruͤhten ſich,
alle Fußzehen zuckten — vergeblich verſuchte eine
Baſe dem blinden Amandus mit den Augen nach¬
zulaufen, um nur etwas Animaliſches zu erſehen,
der Botaniker befeſtigte ſie an einen neuen Staub¬
beutel, den er gerade anprieß — ſchon bis an die
Pentandria hatte er ſeinen Klub geſchleift als er
[126] ſagte: „[De]r heutige Abend ſolt uns nahe um die
dodecandr[i]a finden; aber Schweiß und Fleiß ko¬
ſtets“ — er wurde beim allgemeinen Jammer uͤber
eine ſolchen Fegfeuer-Nachmittag, dergleichen noch
kein Scheerauer erlebt hatte, immer vergnuͤgter
und ſagte, ihre Aufmerkſamkeit feuer am meiſten
ihn an — gleichwohl ließen ſich die botaniſchen
Magiſtranden aus einem Blatte ins andere mar¬
tern und wolten verbindlich bleiben: — bis der
Rittmeiſter, ob er gleich den Scherz errieth, teu¬
felstoll wurde und fortwollte. Der Dokor ſagte
„den zweiten Folianten muͤſt' er ohnehin fuͤr eine
andre Stunde verſparen; aber er wuͤnſchte, ſie
kaͤmen bald wieder, das ſoll' ihm erſt ein Beweiß
ſeyn, daß es ihnen heute gefallen.“ Der bloße
Gedanke an den zweiten Torturfolianten — woge¬
gen der Thereſianiſche Kodex mit ſeinen Folter-
Projektionen nur ein Taſchenkalender mit Monats¬
kupfern iſt — fuͤhrte etwas von einem Fieberſchau¬
er bei ſich. So hatten ſie alſo einen ganzen hal¬
ben Tag ſchaͤndlich ohne eine Verlaͤumdung, ohne
eine Erzaͤhlung verloren, die haͤtte nach Haus
koͤnnen mitgebracht oder von Haus mitgenommen
werden. Die aͤltern Damen beſuchten Konzerte
[127] und Baͤlle gewoͤhnlich nur, um zu ſehen, nicht
um geſehen zu werden und um darin phyſiognomi¬
ſche Fragmente zur Befoͤrderung der Menſchen¬
kenntniß
, aber nicht der Menſchenliebe
auszuarbeiten — ja ſie beſuchten ihre erklaͤrten
Feindinnen, um uͤber eine abweſende Feindin lo߬
zufallen, wie Woͤlfe einander fliehen außer wenn
ſie ſich zum Tode eines andern Wolfs verbinden.
Ich habe immer gern bemerkt, daß ein Paar
Scheerauerinnen ſich einander am herzlichſten und
mit reiner Freundſchaft bloß dann mittheilen, wenn
ſie gerade das geheimſte Schlimme von einer drit¬
ten auszupacken haben: wenn zwei auf dem Ka¬
napee nicht mehr nebeneinander ſitzen ſondern ſich
die Geſichter ſtatt der Huͤften zuwenden, ſo mag
ich der nicht ſeyn, den ſie gerade handhaben.


[128]

Extrazeilen uͤber die Viſitenbraͤune, die alle
Scheerauerinnen befaͤllt beim Anblick einer
fremden Dame.

Maͤnnern ſchadet da der Anblick einer fremden Da¬
me wenig; bloß alle Friſeurs und Barbiere kom¬
men ſpaͤter als ſonſt, auf dem Billard zeichnen
die Quees oder die Tabackspfeifen ihre Geſtallt in
die Luft, und die Lehrer des loͤblichen Gymnaſiums
hoͤren gar nicht darauf — hingegen die Weiber! —


Auf der Inſel S. Hilda*) geſchieht, wenn
ein Fremder da aus dem Schif ausſteigt, ein Un¬
gluͤck, das noch kein Philoſoph erklaͤren konnte —
das ganze Land huſtet ſeinetwegen. Alle Doͤrfer,
alle Korporationen, alle Alter huſten — kauft ſich
der Paſſagier etwas ein, ſo umhuſtet ihn der
Naͤhrſtand — unter dem Thor thuts der Wehrſtand:
und der Lehrſtand huſtet in ſeine Lehren hinein.
Es hilft gar nichts, zum Arzt zu gehen — der
bilt[129] bilt ſelber aͤrger als ſeine Kunden und iſt ſein ei¬
gner Kunde. . . .


In Unterſcheerau iſt das naͤmliche Ungluͤck aber
groͤßer. Eine fremde Dame ſetze ihren netten Fuß
in das Poſthaus, in den Konzert- oder Tanzſaal,
in irgend ein Viſitenzimmer: ſogleich ſind alle
Scheerauerinnen genoͤthigt zu huſten und — was
allzeit vom boͤſen Hals herkoͤmmt — leiſer zu re¬
den — allen fliegt die Braͤune an, d. h. die [angui¬
na
]
vera. An den armen Damen erſcheinten alle
Zeichen der giftigſten Halſentzuͤndung, Hitze (da¬
her das Faͤchern) Schauer, Fieber, ſchweres Athem¬
holen, Phantaſien, aufgeblaͤhte Naſenfluͤgel,
ſteigender Buſen. Kuͤhlende Mittel, Waſſer,
Entledigung der Luftroͤhren thun den Patien¬
tinnen noch die beſten Dienſte. Iſt aber (welches
der Himmel abkehre) die eintretende Fremde die
ſchoͤnſte — die beſcheidenſte — die reichſte — die ge¬
ehrteſte — die am meiſten fetierte — die geſchmack¬
volleſte — ſo wird keine einzige Patientin im Kran¬
kenſaale kuriert; ein ſolcher Engel iſt ein wahrer
Todesengel und man ſollte am Thor gar keine
Fremde von Verdienſt einpaſſiren laſſen.


I[130]

Die Viſitenbraͤune graſſiert wie jede andre am
meiſten im Herbſte und Winter unter den Win¬
terluſtbarkeiten und Wintergaͤſten. — Die Vi¬
ſitenbraͤune ſchreibt der Witz zwei Gruͤnden zu:
erſtlich den aͤußern Schaalverdienſten (innern nie)
ſo glaubt auch Unzer, daß Schaalthiere auf
den Hals am meiſten wirken, daher z. B. Auſtern
ſchweres Schlucken, kalzinierte Krebſe gegen Waſ¬
ſerſcheu, Dunſt von Krebſen Stummheit, Skor¬
pion Zungenlaͤhmung wirken. — Der zweite Grund
iſt, daß Damen in einer Stadt wie auf einem
Iſolatorium wohnen und daß wenn eine Fremde,
die mit ihnen ſich nicht in Rapport geſetzt, die
manipulierten Klairvoyanten beruͤhrt, oder nur in
der Ferne von ihnen bleibt, dieſe lauter haͤßliche
Empfindungen in allen Gliedern ſpuͤren.


Ende der Extrazeilen.


Beim Weggehen merkte Fenk im Vorbeigehen
an: „die zwei Kinder haͤtten den Reiſewagen zur
Wiege gehabt — er ſei Peſtilenziarius und Medizi¬
nalrath geworden und kurire nur Weiber und ehe¬
liche mit der Zeit eines.“


Wenn die Unterſcheerauer etwas, das ſuͤß,
ſauer und toll zugleich ſcheint, vorbekommen: ſo
[131] horchen ſie erſtlich auf — dann laͤcheln ſie an —
dann ſinnen ſie nach — dann ſehen ſie es nicht ein
— dann muthmaßen ſie drei Tage darnach nichts
Gutes — und endlich werden ſie daruͤber recht auf¬
gebracht. Fenk fragte nichts darnach und ſagte
von Zeit zu Zeit etwas, was ſie nicht verſtanden
oder er ſelber nicht.


Er erklaͤrte alsdann dem Rittmeiſter, und
ich dem Leſer, alles. Die aufgeklebten Kraͤuter,
ſagt' er, hielten jezt alle Baſen, und Tropfen
und Viſitenameiſen von ſeiner Stube ab, wie um¬
zaͤunender Hanf die Raupen vom Krautfeld. — —
Seine Reiſegeſchichte und ein Paar Raͤthſel daraus
zeig' er nur halb, weil man ſich fuͤr die Menſchen
am meiſten intereſſire, an denen man noch etwas
zu errathen ſuche und die neugierigen Patientinnen
wuͤrden die ſeinigen ſeyn. — Ob er verheirathet
ſei, wiſſ' er ſelber nicht; und andere ſolltens auch
nicht wiſſen, weil man ihn in alle Haͤuſer, wo
ein Waarenlaager von Toͤchtern ſteht, als Arzt
hineinrufen wuͤrde, damit er als Braͤutigam wie¬
der herausgehe. — — Endlich nehm' er nur
weibliche Patienten an, weil das die haͤufigſten
waͤren; weil man zu ihm fuͤr dieſe ausſchließende
J 2[132] Praxis ein beſonderes Zutrauen faſſen wuͤrde; weil
dieſes Zutrauen das ganze Diſpenſatorium eines
Weiberdoktors ſei; weil die meiſten Krankheiten der
Weiber bloß in ſchwachen Nerven und deren ganze
Kur in Enthaltung von — Arzeneien beſtaͤnde; weil
Apotheken nur fuͤr Maͤnner, nicht fuͤr Weiber waͤren
und weil er ſie eben ſo gern anbetete als kurierte.


Ein anderer Punkt war der, wienach er
ſo geſchwind nach Scheerau und ſo geſchwind zum
Medizinalrath gekommen. Es iſt ſo: der Erb¬
prinz der jezt auf dem hohen Thronkutſcher¬
ſitz mit dem Staatswagen zum Teufel fahren wird,
liebt niemand; auf ſeiner Reiſe ſpottete er uͤber ſeine
Maitreſſen; ſeine Freundſchaft iſt nur ein geringe¬
rer Grad von Haß, ſeine Gleichguͤltigkeit iſt ein groͤſ¬
ſerer; den groͤſten aber, der ihn wie Sodbrennen
beißet, hegt er gegen ſeinen unehelichen Bruder,
den Kapitain von Ottomar, Fenks Freund, der
in Rom in der ſchoͤnſten natuͤrlichen Natur ſo¬
wohl als artiſtiſchen geblieben war, um im Ge¬
nuß und Nachahmen der roͤmiſchen Gegenden
und Antiken zu ſchwelgen. Ottomar iſt ein Ge¬
nie im guten Sinne und im boͤſen auch. Er und der
Erbprinz ertrugen einander kaum in Vorzimmern
[133] und waren dem’ Duelle oft nahe. Nun haſſet der
Scheerauiſche Großfuͤrſt auch den armen Fenk, erſt¬
lich weil der ein Freund ſeines Feindes iſt, zweitens
weil er dem dritten Bruder des Erbregenten einmal
das Leben und mithin die Apanagengelder wieder
gab, drittens weil der Fuͤrſt weit weniger (oder gar
keine) Gruͤnde brauchte um jemand zu haſſen als
um zu lieben. —


Nun waͤre der Doktor ſchon unter der vorigen
Regierung, deren Magen uns entgegen fuhr, gern
Medizinalrath geworden; unter der kuͤnftigen Re¬
gierung, deren Magen ſich noch in Italien fuͤllte,
war wenig zu machen. Der Doktor ſuchte alſo ſein
Gluͤck noch ein paar Wochen vor der neuen Kroͤnung
feſtzupflanzen. Er fand den alten Miniſter noch, der
ſein Goͤnner war und deſſen Goͤnner der Erbprinz
aus dem Grunde wenig war, aus welchem Erbprin¬
zen gewoͤhnlich glauben, daß ſie die Kreaturen des
verſtorbenen Vaters eben ſo wohl, nur delikater und
langſamer unter die Erde bringen muͤſſen als wilde
Voͤlker, die auf den Scheiterhaufen des Koͤnigs auch
ſeine Lieblinge und Diener legen. Als Fenk kam:
machte ihn der verſtorbene Regent zu allem was
er werden wollte; denn es war ſo:


[134]

Da der ſeelige Landesvater ein Landeskind im
phyſiologiſchen Sinne geworden war, d. h. ſo alt als
er war, da man ihm das erſte Ordensband ſtatt ei¬
nes Laufbandes umflocht, naͤmlich 6½ Jahr: ſo wur¬
de dem Fuͤrſten das ewige Unterſchreiben ſeiner Kabi¬
netsdekrete viel zu ſauer und zuletzt unmoͤglich —
da er indeſſen doch noch regieren konnte, als er nicht
mehr ſchreiben konnte: ſo ſtach der Hofpettſchierſte¬
cher ſeinen dekretirenden Namen ſo gut in Stein
aus, daß er den Stempel bloß einzutunken und naß
unters Edikt zu ſtoßen brauchte: ſo hatt' er ſein
Edikt. So regierte er um 15 Prozent leichter — der
Miniſter um 100 Prozent. Denn der muß doch Mit¬
tel gefunden haben, ein Pettſchaft, das er Michel
Angelo's ſeinem vorzog, einzutunken, weil der
alte Herr ein Paar Tage nach ſeinem eignen Tode
verſchiedene Vokationen und Reſkripte unterſchrieben
hatte — dieſer Pouſſiergriffel und Praͤgſtock der
Menſchen war der Legeſtachel und Vater der beſten
Regierungsbeamten und laichte zuletzt den Peſti¬
lenziarius


[135]

Extragedanken uͤber Regentendaumen.

Nicht die Krone ſondern das Dintenfaß druͤckt Fuͤr¬
ſten,[] Großmeiſter und Kommenthuren; nicht den
Szepter ſondern die Feder fuͤhren ſie mit ſo viel Be¬
ſchwerde, weil ſie mit jenem bloß befehlen aber mit
dieſer das Befohlne unterſchreiben muͤſſen. Ein Ka¬
binetsrath wuͤrde ſich nicht wundern, wenn ein ge¬
quaͤlter gekroͤnter Skribent ſich wie roͤmiſche Rekru¬
ten den Daumen amputierte, um nur vom ewigen
Namen Malen, wie dieſe vom Kriege loßzukommen.
Aber die regierenden und ſchreibenden Haͤupter be¬
halten den Daumen; ſie ſehen ein, daß das Landes¬
wohl ihr Eintunken begehrt, — das wenige Unleſer¬
liche auf Kabinetsordern, was man ihren Namen
nennt, macht wie eine Zauberformel Geldkaͤſten, Her¬
zen, Thore, Kauflaͤden, Haͤfen auf und zu; der
ſchwarze Tropfe ihrer Feder duͤnget und treibet oder
zerbaizet ganze Fluren. Der Profeſſor Hoppedizel
hatte, da er erſter Lehrer der Moral beim Schee¬
rauiſchen Infanten war, einen guten Gedanken,
aber erſt im letzten Monat: koͤnnte der Oberhofmei¬
ſter nicht dem Unterhofmeiſter befehlen, daß er den
[136] Kronabcſchuͤtzen, der doch einmal ſchreiben lernen
muͤſte, ſtatt unnuͤtzer Lehnbriefe lieber mitten auf
jedem leeren Bogen ſeinen Namen ſchmieren ließe?
— das Kind ſchriebe ohne Eckel ſeine Unterſchrift
auf ſo viele Bogen als es in ſeiner ganzen Regierung
nur beduͤrfe — die Bogen legte man bis zur Kroͤ¬
nung des Kindes zuruͤck — und dann, fuhr er fort,
wenn es genau uͤberſchlagen waͤre, wie oft ein Kol¬
legium ſeinen Namenszug jaͤhrlich haben muͤſte,
wenn folglich am Neujahrstag die noͤthig Zahl ſig¬
nirter Ries Papier zum Gebrauche aufs ganze Jahr
den Kollegien zugetheilt wuͤrde: was haͤtte nachher
das Kind unter ſeiner Regierung fuͤr Noth?


Ende der Extragedanken.


Noch ein Wort: nach 9 Wochen that dem Dok¬
tor die Rache mit dem Kraͤuterbuche, wie jedem gu¬
ten Menſchen die kleinſte, wieder wehe. „Das Her¬
barium, ſagte er, aͤrgert mich, ſo oft ich hineinklebe;
aber es iſt gewiß wahr, ein Mann ſei immerhin durch
alle Reſidenzſtaͤdte beſcheiden paſſiert; unter dem
Thor ſeiner Vaterſtadt faͤhrt der Hochmuthsteufel in
ihn und macht mit ihm die erſten Viſiten — ſeine gu¬
ten Landsleute, will er haben, ſollen waͤhrend ſeiner
Reiſe vernuͤnftig geworden ſeyn.“


[137]

Eilfter Sektor.

Amandus Augen — das Blindekuhſpiel.


Die Sympathie, die Erwachſene in der erſten
Viertelſtunde ablaktirt, fuͤgt auch oft Kinder
an einander. Unſer Paar lief einander taͤglich uͤber
40mal in die Arme und herzte ſich. Ihr guten
Kinder! ſeid froh, daß ihr eure Liebe noch ſtaͤrker
ausdruͤcken duͤrfet als durch Briefe. Denn die Kul¬
tur ſchneidet dem Ausdruck der Liebe das Gebiet des
Koͤrpers immer kleiner vor — dieſe hagere Gouver¬
nante nahm uns erſtlich den ganzen Koͤrper deſſen
weg, den wir lieben — dann die Hand, die wir
nicht mehr druͤcken duͤrfen — dann die Knoͤpfe und
die Achſeln, die wir nicht mehr beruͤhren duͤrfen —
und von einer ganzen Frau gab ſie uns nichts zum
Kuͤſſen zuruͤck als (wie ein Gewoͤlle) den Hand¬
ſchuh: — wir manipuliren einander jetzt alle von
ferne. — Amandus hieng mit ſeinem mehr weibli¬
chen Herzen an Guſtavs mehr maͤnnlichem mit al¬
ler der Liebe, die der Schwaͤchere dem Staͤrkern
reichlicher giebt als er ſie ihm abgewinnt. Daher
[138] liebt die Frau den Mann reiner; ſie liebt in ihm
den gegenwaͤrtigen Gegenſtand ihres Herzens, er
in ihr oͤfter das Gebilde ſeiner Phantaſie; daher
ſein Wanken koͤmmt. Dieſes Vorredchen ſoll
nur eine Anfurth zu einer kleinen Schlaͤgerei zwi¬
ſchen unſerem kleinen Kaſtor und Pollux ſeyn.


Sie waren naͤmlich ungern ſo lange aus [einan¬
der]
als die Augen auf- und zugebunden wurden.
So oft der Verband wegkam, ſtellte ſich Guſtav
vor ihn und verlangte durchaus, er ſollte ihn ſehen
und that ſeinen Finger ſich an die Naſe und ſagte:
„wo tipp' ich jetzt hin?“ aber er examinirte den
Blinden nicht ſehend. Nach einer woͤchentlichen Ab¬
weſenheit fuhr Amandus auf ihn zu: „ſchieb mein
„Band auf, ſagte er, ich kann dich gewiß auch ſe¬
„hen wie meinen Katzenheinz;“ da Guſtav es auf¬
geluͤftet hatte und da er wirklich in das Auge des
operirten Freundes eingieng ganz wie er war, mit
allem, mit Rock, Schuhen und Struͤmpfen: ſo
war er froher als ein Patriot, deſſen Fuͤrſt die Au¬
gen oder den Verband aufmacht und ihn ſieht. Er
inventirte ſein ganzes Bilderkabinet vor ſeinen Au¬
gen mit einem ewigen „Guck!“ bei jedem Stuͤck.
Aber weiter! Die Welt wird wenig davon wiſſen
[139] — die kleinen Partikelchen derſelben ausgenommen,
die Kinder, von denen eben ich reden will, — daß
dieſe bei Hoppedizel Blindekuh geſpielet. Ein fata¬
les Spiel! wenn Maͤdchen dabei ſind wie hier war,
zumal ſo ſchlimme wie des Profeſſors ſeine! Aman¬
dus ließ ſich in das Spiel ein und rannte hinter
ſeinem Schnupftuch, das weibliche Pfiffigkeit uͤber
ſeine Augen gefaltet hatte, im Zimmer umher,
nichts fangend als entkoͤrperte Kleider. Zum Un¬
gluͤck ſtieſſen die Maͤdchen unter dem Ofen, worun¬
ter ſie gegen alle gute Spielordnung geſchlichen wa¬
ren, auf die volle Milchſchuͤſſel des Spitzhundes.
Da ſie nun damals zu wenige Moralphiloſophen ge¬
leſen obgleich genug geſehen hatten: ſo ſchoben ſie,
aus Mangel an reiner praktiſcher Vernunft, die
Schuͤſſel ſo weit leiſe vor, daß der greifende Haͤ¬
ſcher ohne Muͤhe hineintrampelte und druͤberſchlug.
Guſtav mußte als Kind ein wenig lachen. Auf ihn
ſchoben es die Inkulpatinnen und riefen: „o du!
„wenn nun Amandus ein Ungluͤck genommen haͤt¬
„te!“ Er riß ſich von den naſſen Scherben auf
und puffte dem Guſtav, der ihn troͤſtend bei den
Haͤnden faßte, ein wenig hinten ans Schulterblatt,
da, wo nach den Kompendien der Milchſaft mit
[140] dem Blut zuſammenrinnt. „Ich hab's doch nicht
„hingeſtellt“ ſagt' er — „ja ja! und haſt mir nichts
„geſagt“ verſetzte der Blinde und ſtieß ihn wieder,
aber heftiger und doch weniger zornig — „ſchlag
„immer, ich hab' dir nichts gethan“ und die Stim¬
me brach meinem guten Helden — jener ſchlug
wieder nach und ſagte: „ich bin dir auch gar nim¬
„mer gut,“ aber ſo, als wuͤrd' er ſogleich zu wei¬
nen anfangen, — „ach du haſt dir gewiß was nein¬
„gefallen“ fragte Guſtav mit der mitleidigſten
Stimme — mitten im Verſuch zu einem neuen
Stoße glitt die duͤnne Eisrinde vom erwaͤrmten Her¬
zen Amandus herunter, er umfaßte den Unſchuldi¬
gen und ſagte unter hellen Zaͤhren: „du haſt's ja
nicht gethan und ich geb' dir all' meine Spielwaa¬
re: ſchlag mich doch recht“ und ſchlug ſich ſelbſt.
— — Blos die Empfindung der Liebe kaͤmpft mit
ſolchen bitterſuͤßen Sonderbarkeiten: Amandus ge¬
ſtand oft, noch jetzt wandle ihn, wenn er einen
Unrecht gethan, mitten in ſeiner Kraͤnkung daruͤ¬
ber die Neigung an, fort zu beleidigen, um ſich
ſelber ſo weit fort zu kraͤnken, daß er endlich vor
Schmerz ſich mit der heiſſeſten Liebe ans verſehrte
fremde Herz werfen muͤßte. Aber o lieber Aman¬
[141] dus! wenn gerade ein Paͤdagog in Geſtalt einer
Moral die Thuͤr aufgemacht haͤtte! —


Man muß niemals glauben, als wollt' ich hier
perſoͤnlichen Groll an ſaͤmtliche Hofmeiſter auslaſ¬
ſen: denn erſtlich hatt' ich gar niemals einen Hof¬
meiſter, zweitens war ich ſelber einer und ein
rechter.


[142]

Zwoͤlfter Sektor.

Konzert — der Held bekommt einen Hofmeiſter von Ton.


Ich habe mich in einen neuen Sektor begeben,
weil ich darin dem Leſer eine neue Perſon zu praͤ¬
ſentiren habe — den Hofmeiſter meines Helden.


Ich brauche keinen Menſchen daran zu erin¬
nern, daß der Rittmeiſter ein ſo naͤrriſches bald zu
gefuͤgiges bald zu ſproͤdes moraliſirendes muthloſes
Ding als ein Informator iſt in Scheerau ſuchte,
damit ſein Kind zu gleicher Zeit mit dem Lande ei¬
nen Regenten bekaͤme. Nun hatt' er eine Pathe
da, welche advozirte, muſizirte, badinirte, lorgnir¬
te und Welt hatte; aber er hatte nicht den Muth,
ihr in einem Paͤdagogium, deſſen Schuljugend auf
einem Mann belief, die Lehrſtelle anzutragen. Ich
will es nur herausſagen, daß ich ſelber dieſe Pathe
und dieſe neue Perſon bin; aber es wird meiner
Beſcheidenheit mehr zu ſtatten kommen, wenn ich
mich in einem Sektor, wo ich ſoviel zu meinem Lo¬
be vorbringen muß, aus der erſten Perſon in die drit¬
te umſetze und ſtatt ich blos ſage Pathe.


[143]

Dieſe Pathe blies im Unterſcheerauer-Konzert,
um mit der Floͤte in die Sphaͤrenſtimme eines ſehr
jungen Fraͤuleins von Roͤper zu ſpielen, deſſen Keh¬
le ſich oft kaum von der Floͤte ſcheiden ließ. Die
ganze Seele dieſes Maͤdgens iſt ein Nachtigallton
unter Bluͤtenuͤberhang; der Leib deſſelben iſt eine
fallende himmelreine Schneeflocke, die nur im Aether
dauert und auf dem Koth des Bodens zerlaͤuft. Dem
Floͤteniſten fiel waͤhrend den Pauſen ein ſchoͤnes in
phantaſirende Aufmerkſamkeit verlornes Kind in die
Augen und auf das Herz: Guſtav wars. Der erſte
Blick nach dem Akkompagnement war auf die Nach¬
barſchaft des Kindes, um den Eigner deſſelben zu
finden — der erſte Schritt, den die Pathe that,
war zur andern Pathe, zum Rittmeiſter, deſſen
Freundſchaft mit mir bekannt genug iſt. Das maͤnn¬
liche Geſchlecht iſt gluͤcklicher und neidloſer als das
weibliche, weil jenes im Stande iſt, zweierlei
Schoͤnheiten mit ganzer Seele zu faſſen, maͤnnliche
und weibliche; hingegen die Weiber lieben nur die
eines fremden Geſchlechts. Ich hab' aber vielleicht
zu viel Enthuſiasmus fuͤr die erhabne maͤnnliche
Schoͤnheit, ſo wie fuͤr poetiſche Schwaͤrmerei, un¬
geachtet ich wenigſtens die letztere ſelber nicht habe.
[144] Aus Guſtav wirkte die doppelte Zauberei auf mich,
ich vergaß alle Zauberinnen des Konzerts uͤber den
Zauberer; aber ich ward am Ende traurig, daß
ich dem Schoͤnen mehr Blicke als Worte abzuſchmei¬
cheln vermochte. Auf das Konzert gab' ich gleich an¬
dern Zuhoͤrern ohnehin nur ſo lange Acht als ich ſelbſt
ein Mitarbeiter war oder als eine meiner Schuͤlerin¬
nen [ſpielte]: denn die Scheerauer Konzerte ſind blos
in Muſik geſetzte Stadtgeſpraͤche und proſaiſche Me¬
lodramen, worin die Seſſelreden der Zuhoͤrer wie ge¬
druckter Text unter der Kompoſition hinſpringen.
Uebrigens ſubſkribiren wir auf unſere Konzerte mehr
unſerer Kinder als unſerer ſelber wegen: die muſika¬
liſche Schuljugend bekoͤmmt darin einen Tanz- und
Tummelplatz ihrer Finger und von meinen artiſti¬
ſchen Katechumenen kantſchuet woͤchentlich wenigſtens
einer den Fluͤgel. Ich friſche die Eltern dazu an und
ſage, in einem ſolchen Konzertſaal lernen die Klei¬
nen Takt, weil da nicht nur genug ſondern auch
uͤberfluͤßig Takt iſt, indem jeder daſige Muſikoffiziant
ſeinen eignen originellen pfeift, hackt, ſtreicht,
ſtampft, den erſtlich kein anderer neben ihm pfeift,
hackt, ſtreicht, ſtampft und den er zweitens ſelber
von Minute zu Minute umbeſſert. „Und wenn auch
das[145] das nicht waͤre, ſag' ich, ſo iſt doch da wahrer
muſikaliſcher Ausdruck im Ueberfluß: jeder druͤckt
darin ſeine Empfindungen, die der Verlegenheit,
des Erſtarrens auf ſeinem Inſtrumente aus; und
Bachs Regel, Diſſonanzen ſtark und Konſonan¬
zen ſchwach vorzutragen, weiß in einem Saale je¬
der, wo die Konſonanzen ſo ſanft eingeſchmolzen
werden, daß man [keine] hoͤrt und nur die Diſſo¬
nanzen zu vernehmen meint.


Am andern Morgen flog ich unfriſirt zum Ritt¬
meiſter und — da ich den guten Kleinen um keinen
niedern Preiß erhalten konnte — brachte ihn ganz
ans erſte Ziel ſeiner Reiſe hinan, naͤmlich das, einen
Hofmeiſter mitzubekommen. Man muß nicht den¬
ken, daß ich Informator geworden, um Biograph
zu werden, d. h. um pfiffiger Weiſe in meinen Gu¬
ſtav alles hinein zu erziehen was ich aus ihm wie¬
der ins Buch herauszuſchreiben trachtete: denn ich
brauchte es erſtlich ja nur wie ein Romanen-Ma¬
nufakturiſt mir blos zu erſinnen und andern vorzu¬
luͤgen; aber zweitens damals wurde an keine Bio¬
graphie gar nicht gedacht.


Mir iſt weit weniger daran gelegen, meine
Scheerauiſchen Verhaͤltniſſe bekannt zu ſehen, als
K[146] der Welt: denn ich kenne ſie ſchon, aber die Welt
nicht. Ich formirte eine Dreieinigkeit von Perſo¬
nen da: ich war Klaviermeiſter, Rechtskonſulent
und Weltmann. Drei naͤrriſche Rollen! — Ich ſtu¬
dirte in der Stadt, die ſonſt die groͤßten Juri¬
ſten
und jetzt die kleinſten Hunde liefert, in Bo¬
logna, zwei ganz entgegengeſetzte Speditionen,
wie Paris ſonſt die Univerſitaͤt aller europaͤiſchen
Theologen war, jetzt der Philoſophen. In
Paris war ich auch, haͤtte auch da ein geſchickter
Parlementsadvokat werden koͤnnen; ich wollt' aber
nicht und nahm nichts daraus mit (ſo wie aus Bo¬
logna und aus einigen deutſchen Reichsſtaͤdten) als
die ſchwarze juriſtiſche Kleidung, die ihren Grund
hat: denn da unſere Klienten uns ernaͤhren und
bezahlen und mehr Recht und Noth als Geld be¬
halten: ſo trauern wir Patronen um ſie ſchwarz;
hingegen bei den Roͤmern legten die Klienten,
die mehr bekamen als gaben, fuͤr den Patro¬
nus, wenn es ihm ſchlimm ergieng, Trauerkleider
an.


Zweitens war ich Klaviermeiſter, aber vielleicht
kein geſetzter: denn ich verliebte mich im erſten
Quartal in alle meine Schuͤlerinnen (fuͤr Schuͤler
[147] dankte ich) und richtete mich nach meinen Stun¬
den mit meinem Herzen. Ich hegte wahre Zaͤrt[¬]
lichkeit, erſtlich gegen eine Dame von Rang, die
ich nie kompromittiren werde — zweitens gegen ih¬
re Schweſter eine Aebtiſſin, weil ſie Generalbaß
bei mir lernte — drittens gegen *** — viertens
gegen die Hofkaplanin, die zwar hektiſch aber ge¬
ſchmackvoll iſt und die eher zu viel als zu wenig
Zierrathen an (nicht auf) dem Klaviere liebte und
es auf das ſchoͤnſte fournirte, uͤberzog, und auf¬
ſtellte — fuͤnftens in die Reſidentin von Vouſe,
die gar nicht einmal die Sache weiß und an deren
Huͤften und Reizen ich ordentlich vor Bewunderung
dumm wurde, bis ich zum Gluͤck ihre allgemeine
Koketterie und ihre Untreue gegen ihren Inkogni¬
to-Liebhaber verſpuͤrte — ſechſtens in den ganzen
Scheerauer Hof, wo ich nach dem Recht der tod¬
ten Hand den Empfang einer lebendigen Hand,
die eine Schuͤlerin der meinigen werden wollte, fuͤr
eine Inveſtitur zum ganzen Herzen und Vermoͤgen
anſah — ſiebentens ſogar in ein wahres Kind, in
Beata (die obgedachte Tochter von Roͤper) fuͤr
die ich alle Wochen einmal bei ſchlechtem Wetter
und eben ſo ſchlechtem Honorar aufs Land lief und
K 2[148] bei der an gar nichts anders zu denken war als an
Liebe — kurz in alles, in Laubknoſpen, Bluͤtknoſ¬
pen, Bluͤten und Fruͤchte verſchieſſet ſich ein Menſch,
der ein Klaviermeiſter iſt.


Nun koͤmmt der Weltmann. Ich kann mich
zwar meinen Leſern (wovon ich mir die Volksmen¬
ge und richtigere Tabellen wuͤnſchte) nicht perſoͤn¬
lich zeigen; aber die Scheerauer, denen dieſes Blatt
vorkoͤmmt, werden hier aufgefordert, ihre Ge¬
danken zu ſagen und abzuurtheln, ob ein Mann,
der der großen Welt taͤglich drei Klavierſtunden
giebt, mehr ihr Lehrer als ihr Schuͤler iſt. An¬
ſtand, Gang, geſchmackvoller Anzug, Attituͤden,
perpendikulare, horizontale und Diagonale ſind
zwar nicht die gefoderten Vorzuͤge des Autors, ob¬
wohl des feinen Geſellſchafters; und koͤnnen nicht
gedruckt werden; aber ich verfechte nur ſo viel,
blos an einem Hofe lernt man's, zumal bei eini¬
gem Einfluß und wenn man mitſpielt, es ſei am
l'Hombretiſch oder am Klaviertiſch*), der wie man¬
che Bruſt am Hofe, unter der ſtummen Holzplat¬
[149] te ein holdes Saitenſpiel verbirgt. Wenn man frei¬
lich wieder in ſeinem Muſeum auf und abgeht, un¬
ter großen Buͤchern und großen Maͤnnern, beglei¬
tet von der ganzen republikaniſchen Vergangenheit,
emporgerichtet zur tiefen Perſpektive der unendli¬
chen Welt hinter dem Grabe: ſo verachtet ſelber
der Inhaber ſeine Konchylien-Vorzuͤge; er fragt
ſich, giebt es nichts beſſers als uͤber ſeinen Koͤrper
(ſtatt uͤber Leidenſchaften) Herr zu ſeyn und ihn
ſo leicht zu tragen wie nach den drei erſten Glaͤſern
Champagner — ſeinen Ton in den allgemeinen Ton
hineinzuſtimmen, weil an Hoͤfen und Klavieren
keine Taſte uͤber die andre hinausklingen darf —
auf dem duͤnnen ſchaukelnden Brette der weiblichen
Launen ſo fliegend wegzueilen, daß unſere Tritte
die Schwankungen blos begleiten — ſchoͤn zu tan¬
zen und zu gehen ſo weit es mit Einem langen
Bein thulich iſt (denn freilich wenn ein Klaviermei¬
ſter mit einem Miniatuͤrbein zu kaͤmpfen hat: ſo
mag der Henker auf beiden ſo zierlich aufſtehen
wie der Prinz von Artois) — kurz allen Verſtand
zu Narrheit zu ſublimiren, alle Wahrheiten zu Ein¬
faͤllen, alle Kraftgefuͤhle zu pantomimiſchen Nach¬
[150] aͤffungen? — — Nichts beſſers, fragt der Laͤufer
im Muſeo, giebts?


— Etwas viel beſſers giebts: ein Informa¬
tor zu werden in Auenthal bei ſo einem Himmels-
Kinde wie Guſtav iſt und den ganzen Spuk druk¬
ken zu laſſen. —


[151]

Dreizehnter Sektor.

Landestrauer der Spitzbuben — Scheerauer Fürſt — fürſtliche
Schuld.


Der Kronprinz, auf deſſen Zahlen der Rittmei¬
ſter wartete, war noch auf der Chauſſee, von der
er auf den Thron wie auf einen Thurm hinauffuhr.
Drei arme Spitzbuben hielten ihren Einzug noch fruͤ¬
her als er. Es kann erzaͤhlet werden: Seit dem Tode
des Hoͤchſtſeligen — der Pabſt iſt der Allerſeligſte —
wurde eine Kirche um die andre im Scheerautſchen
nicht ausgeſtohlen ſondern ausgekleidet; die Kir¬
chendiebe ſchaͤlten blos das Landtrauertuch, das unſere
Kanzeln und Altaͤre anhatten, wieder ab. Die
Kirchner und Kantores fanden alle Morgen ſkalpir¬
te H. Staͤten und die Pfarrer mußten darin ſte¬
hen, in dem Fruͤhgottesdienſt. Nun hatte neu¬
lich der Geldgreifgeier Roͤper in der Mauſſenbacher
Kirche Altar und Kanzel am Bustage mit einem
Frack von ſchwarzem Tuch — buntes war ihm nicht
heilig und wohlfeil genug — uͤberſohlen laſſen. Die¬
ſe ſchwarze Emballage blieb daran als Landtrauer.
[152] Der alte Roͤper hatte mithin wenig Schlaf mehr,
weil er beſorgte, die Kirchen Greifgeier zoͤgen dem
Mauſſenbacher Altar das Ehrenkleid aus und naͤh¬
men den mit ſilbernen und ſeidnen Lettern aufs
Tuch genaͤhten Schuldſchein mit, der beſagt, wer's
hergeſchenkt. Sein Juſtitiarius Kolb, dem ein
Diebsfang Zobelfang und Perlenfiſcherei iſt, um¬
gab daher die Kirche mit allerlei Falkenaugen; es
waͤre aber nichts geweſen, wenn nicht der Falken¬
bergiſche Bediente Robiſch am Sonntage Abends
ſobald die Kirche zugeſchloſſen war, zum Schulmei¬
ſter geſagt haͤtte, „er ſolle ſie ſo laſſen, er haͤtte
die Kirchleute gezaͤhlet und drei waͤren nicht mit
heraus.“ Kurz man blockirte den Tempel bis
Nachts und — zog gluͤcklicher Weiſe drei verſteckte
Tuchkorſaren aus dem Andachtsorte heraus. Am
Morgen erſtaunt alles, die drei Kirchgaͤnger fahren
auf einen Leiterwagen zum Scheerauer Thor hin¬
ein und haben ſaͤmtlich ſchwarze Roͤcke und Un¬
terkleider an — Abends ſind ſie verſchwunden. Fuͤr
den Hof (wenn er [nicht] noch geſchlafen haͤtte) war's
ein haͤßlicher Proſpekt, daß eine Raͤuberbande ſo
gut wie er Hoftrauer angelegt und ſich deswegen
die Trauergarderobe aus Kirchen geſtohlen hatte.


[153]

„Henken ſollte man dich, ſagte der Rittmeiſter
zu ſeinem Kerl — arme Diebe ins Ungluͤck zu brin¬
gen, die keinem Menſchen etwas nehmen ſondern
nur Kirchen.“ — „Aber fuͤr ſolche Schuften (ſagt'
ich) gehoͤrt doch auch keine Hoftrauer, des Auf¬
wands wegen. Warum darf man uͤberhaupt nicht
ſeinen leiblichen Vater, aber wohl den Landesvater
betrauern? — Oder warum verſtattet die Kammer
den Landeskindern noch das Weinen, da doch das
die Thraͤnendruͤſen des Staats erſchoͤpft und da
die Thraͤnen noch ſteuerfrei ſind?“ —


„Sie greifen zu weit, ſagte der Rittmeiſter;
gerade ſo wie bisher muß die zeitige Regierung
bleiben, wenn ſie ſich von allen vorigen durch die
Sorgfalt auszeichnen ſoll, womit ſie uͤber unſern
Flor, uͤber alle unſere Pfennige und Pulsſchlaͤge
wacht.“


„Die Negermarketender (ſagte der Doktor, aber
unpaſſend genug) wachen noch mehr; einen Skla¬
venhandelsmann kuͤmmert die Unpaͤßlichkeit ſeines
ſolchen Stuͤck — Menſchen oder Sklaven mehr als
ſeine Frau ihre. Sogar Motion und Tanz ſoll
ſein menſchlicher Viehſtand haben und er pruͤgelt
ihn dazu.“

[154]

„Ackerbau (fuhr er fort,) Handel, Fabriken
Volksreichthum und Volkswohlleben ſogar, kurz
die Koͤrper der Unterthanen kann der ſchlimmſte
Deſpot erheben und naͤhren — aber fuͤr ihre See¬
len kann er nichts thun, ohne alles wider ſeine
zu thun,“


Ich bin oft auf den Gedanken gefallen, ob
nicht die Trauerordnungen oder Abordnungen ha¬
ben wollen, daß der pfiffige und traurige Staats¬
buͤrger die Erlaubniß der Landtrauer benuͤtze und
ſeine Haustrauer mit ihr zuſammenwerfe? Koͤnnt'
er nicht ſeinen Partialkummer uͤber die Sterblich¬
keit ſeiner Tanten, ſeiner Vettern, aufheben bis
ein univerſaler einfiele, und ſo, wenn das Land
den Kondolenzflor um Arm und Degen gewickelt
haͤtte, alles in Pauſch und Bogen wegtrauern
und ſich hinter dem naͤmlichen Flor uͤber eine
Landsmutter und eine Stiefmutter betruͤben? Hoͤ¬
fen waͤrs leicht. Ja koͤnnten dieſe nicht in der
Landestrauer ihre Sipſchaft gar voraus betrauern?
koͤnnte man uͤberhaupt nicht die ganze Narrheit
bleiben laſſen? —


Mein neuer Landesherr ſtieg endlich aus dem
Reiſewagen auf den Thron und verwechſelte den
[155] Kutſchenhimmel mit dem Thronhimmel. Der Ritt¬
meiſter hielt vor der Kroͤnung eine Supplik bereit,
worin er ſo trotzig wie ein Sattler ſein Geld ver¬
langte; nach der Kroͤnung hatte der Fuͤrſt wie ein
Demant ſo viel Feuerglanz aus ſeiner Krone und
ſeinem Szepter eingeſchluckt, daß ſein Glaͤubiger
vom Gerichtshalter ein neues Memoriale machen
ließ und bloß um die Intereſſen anhielt. Da er
nichts bekam, nicht einmal eine Reſolution: ſo
wollt' er mehr fordern. Denn er bedachte nicht,
daß unſere regierende Brodtherrn in Scheerau ſel¬
ten Geld haben. Wenn wir außerordentliche Ge¬
ſandſchaften bekommen oder ſenden, wenn wir tau¬
fen oder begraben laſſen, der Kriege gar nicht zu
erwaͤhnen: ſo haben wir wenig oder nichts als —
Extraſteuern, dieſe metalliſchen Stuͤtzen und Klam¬
mern des muͤrben Thrones. In dem [Kammerbeu¬
tel]
deuten wir wie in der Heraldik das Silber
durch leeren Raum an.


Aber dem Schuldner und Glaͤubiger war bald
geholfen. Letzterer der Rittmeiſter, marſchierte als
Zizerone mit ſeinem Guſtav durch das Kadetten¬
haus und zeigte ihm alles, um ihm alles zu lo¬
ben, weil er mit ſeinem Kopf einmal in einen
[156] Ringkragen hinein ſollte — als der junge Fuͤrſt
auch ankam und auch alle Gemaͤcher beſah, nicht
um alles wieder auf dem naͤchſten Sattel zu ver¬
geſſen ſondern um gar nichts zu bemerken. Es
that mir leid — denn ich war auch mitgekommen
— daß [jeder] Profeſſor ſich darauf verließ, der Re¬
gent zaͤhle wenn nicht jedes Haar auf ſeinem
Haupte, doch jede Locke an ſeiner Peruͤcke: denn
er wurde nicht einmal meiner und meines Anſtan¬
des anſichtig; aber ganz natuͤrlich, da ihm ein
ſolcher Anſtand in den feinſten Saͤlen aller Laͤnder
ſchon etwas Altes geworden war. Er trug — denn
wie lang' war er vom Reiſen heim? — den Fuͤr¬
ſtenhut mit der Ungezwungenheit eines Damenhu¬
tes; keine lange Regierung hatte noch die Krone
finſter hereingedruͤckt und die geraden Menſchen
brachen ſich in den Medien, Feuchtigkeiten und
Haͤuten ſeines Auges noch nicht zu krummen
Baugefangnen. Seine Worte bot er mit der Frei¬
gebigkeit eines Weltmanns noch wie Schnupftaback
herum. Endlich erhielt auch Falkenberg eine Priſe.
Ich ſehe meine zwei Prinzipale noch gegen einan¬
der ſtehen — meinen adelichen und verborgenden
Prinzipal mit dem feſten, aber ſubordinirten An¬
[157] ſtande eines Soldaten, in Embonpoint und auf¬
quellende Muſkeln gedruͤckt, und mit dem leicht¬
glaͤubigen Wohlwollen, das gutmuͤthige Menſchen
fuͤr jeden hegen, der gerade mit ihnen ſpricht —
den gekroͤnten und inſolventen Prinzipal aber mit
dem mahleriſchen Anſtand, worin jedes Glied ſich
in den andern hinein verbeugt und worin ſelbſt
die Stellung eine fortdauernde Schmeichelei iſt,
mit einem vielblaͤtterigen Faltenwurf im lahmge¬
ſpannten Geſicht, mit einer Gefaͤlligkeit die weder
verweigert noch haͤlt. Meine Pathe ſah die allge¬
meine Gefaͤlligkeit des Krontraͤgers fuͤr eine aus¬
ſchließende gegen ſich an; ſie dachte, er thue ſei¬
ne Fragen, um eine Antwort zu haben; und als
vollends mein gnaͤdigſter Fuͤrſt und Landesherr ge¬
aͤußert hatten, „Der kleine Guſtav ſei hier an
ſeiner Stelle, er intereſſire durch ſein air de reveur
ſtaͤrker als man ſich ſelber die Rechenſchaft zu ge¬
ben wiſſe, und man wuͤrde ihn, ſobald er fuͤr dieſe
Zimmer groß genug waͤre, dem Vater mit 13000
Rthlr Handgeld abkaufen:“ ſo war der Rittmei¬
ſter außer ſich, oder vielmehr aus ſeiner Bitte;
ſeine Suppliken wurden Dankadreſſen; ſein Wunſch
war, daß ich ſchon 8 Jahre Hofmeiſter bei ihm
[158] geweſen waͤre: ſeine Hofnung war, das Geld
kaͤme nach; und der wahre Vortheil war, daß
der Sohn ins beſte deutſche Kadettenhaus kaͤme.


Man thut mir keinen Gefallen, wenn man
ihn auslacht. Freilich ſchwur er auf ſeinem Schloſ¬
ſe, „Hofleuten traue er keine Hand breit und die
ganze Nation ſtink' ihn an;“ hingegen ſolchen Hof¬
leuten, mit denen er gerade zu thun hatte, traut'
er mehr — allein militairiſche Unwiſſenheit der
Rechte iſt bei ihm an vielen Schuld: wie ſoll er
als Soldat wiſſen, daß ein Fuͤrſt zu keiner Bezah¬
lung verbunden iſt? — vielleicht iſts nicht einmal
allen Leſern ſo bekannt als ſie vorgeben werden. Ein
Regent braucht aus drei Gruͤnden nicht einen Hel¬
ler zu bezahlen, den er ſeinen Landeskindern ab¬
geliehen (thats ſein Herr Vater: ſo weiß mans
ſo) Erſtlich: ein Geſandter, er ſei vom erſten
oder dritten Rang, ſtieße die aͤlteſten Publiziſten
vor den Kopf, wenn er ſeine Schulden abtruͤge;
nun kann er, der ja der bloße Repraͤſentant und
die abgedruͤckte Schwefelpaſte des Regenten iſt, un¬
moͤglich Rechte haben, die dem Original abgehen,
folglich ꝛc. Zweitens: der Fuͤrſt iſt — oder wir
duͤrfen unſern akademiſchen Nachmittagsſtunden
[159] kein Wort mehr glauben — der wahre ſummari¬
ſche Inbegrif und Repraͤſentant des Staates (wie
wieder der Envoyé ein Repraͤſentant des Repraͤſen¬
tanten iſt oder ein tragbarer Staat im Klei¬
nen) und ſtellet folglich jedes Staatsglied, das
ihm einen Kreuzer leihet, ſo vor als wenn ers
ſelber waͤre; mithin leihet er ſich im Grunde ſelbſt,
wenn ein ſolches zu ſeinem repraͤſentirenden Ich ge¬
hoͤriges Glied ihm leihet. Gut! man geſtehts; aber
dann geſtehe man auch, daß ein Fuͤrſt ſich ſo laͤ¬
cherlich machen wuͤrde wenn er ſeinen eignen Lan¬
deskindern wieder bezahlen wollte, als ſich der
Vater des Generals Sobouroff machte, der die
Kapitalien, die er ſich ſelber vorſtreckte, ſich ehr¬
lich mit den landesuͤblichen Intereſſen heimzahlte
und ſich nach dem Wechſelrecht beſtrafte. Woher
kaͤm' es denn als aus der Verwandſchaft mit dem
Throne und deſſen Rechten, daß ſogar Große im
Verhaͤltniß ihres Standes und ihrer Debitmaſſe
falliren duͤrfen? Warum iſt ein gerichtliches Kon¬
ſens- oder Hypothekenbuch der richtigſte Hofadres¬
kalender oder almanac royal? —


Drittens: der geflickteſte Unterthan kann von
ſich von ſeinem Fuͤrſten Anſtandsbriefe oder Mora¬
[160] torien verſchaffen; wer ſoll ſie aber dem Fuͤrſten
geben, wenn ers nicht ſelber thut? Und thut ers
Gewiſſenshalber nicht: ſo kann er ſich doch wenig¬
ſtens alle 5 Jahre ein erneuertes Quinquennel
bewilligen.


Einen vierten Grund wuͤſt' ich aber nicht.


Vier¬[161]

Vierzehnter Sektor.

Eheliche Ordalien — fünf betrogne Betrüger.


Einen Hofmeiſter hatte Falkenberg alſo jezt, die
Hofnung der 13000 Rthlr. eine Kadettenſtelle fuͤr
ſeinen Sohn — Rekruten braucht' er nur noch.
Auch dieſe fuͤhrte ihm und ſeinen Unteroffizieren
der Maulwurfs-Moloch Robiſch reichlich zu; ich weiß
aber nicht, was die Kerl wollten daß ſie wenn Ro¬
biſch ſeinen Kuppelpelz und ſie ihr militairiſches
Pathengeld hatten — mit letzterem meiſtens davon
giengen. Im Mauſſenbacher Wald fielen Diebe
den Tranſport an und nach dem Ende der Schlacht
war Feind und Tranſport vom Schlachtfelde geflo¬
hen. Den Rittmeiſter druͤckt' es ſehr, weil er, der
fuͤr ſich und ſeine Familie nicht die nuͤtzlichſte Un¬
gerechtigkeit begieng, zuweilen auf dem Werbplatz
kleine verſtattete.


Dem ſtillen Guſtav machte der laute Stadt¬
winter die laͤngſten Stunden. Er ſah keine weiße
Kopfbinde und kein ſchwarzes Lamm vorbeitragen,
ohne auf einem Seufzer hinuͤber zu ſeinem zaube¬
L[162] riſchen Wall und unter ſeine Sommerfreuden zu¬
ruͤck zu fliegen. Wenn ihn die ungezogne Nach¬
kommenſchaft Hoppedizels fuͤr dumm hielt, weil
er nicht liſtig, fuͤr ſtolz, weil er nicht laut war:
ſo ſtillte er das Bluten ſeines Innern, das ver¬
lacht und geneckt wurde, mit dem Gedanken an
die Menſchen, die ihn geliebt hatten, an ſeinen
Genius und an ſeine Schaͤferin. Um ſeinen Aman¬
dus haͤtt' er ſo gern eine andere als hoppedizeliſche
Nachbarſchaft gehabt, ſo[ ]gern die Fluren und den
freien Himmel ſeiner Heimath! — Er liebte das
Stille und Enge neben ſich und das Unermeßliche
in der Natur. O wenn du bei mir biſt, Trau¬
ter, wie will ich dich ſchonen und lieben! dein
Auge ſoll nie truͤbe neben meinem Lehrſtuhle wer¬
den, dein Herz nie ſchwer! du zarte Pflanze ſollſt
nicht mit einſchneidenden Bindfaden um mich als
eine richtende Hopfenſtange geſchnuͤret ſeyn, ſondern
mit lebendigen Epheuwurzeln ſollſt du ſelber mich
als etwas lebendiges umfaſſen!


Ueberhaupt hatte man im Hoppedizeliſchen
Hauſe ein verdammtes Hundsleben, wie ich ſelber
oft ſah wenn ich und der Hausherr einander uͤber
die erſten Prinzipien der Moral bloß moraliſch bei
[163] den Haaren hatten: denn alles hatte da einander
dabei, aber phyſiſch, ein Hund den andern —
die Knaben die Maͤdgen — die Dienerſchaft einan¬
der — die Herrſchaft die Dienerſchaft — der Pro¬
feſſor die Profeſſorin, wovon ein merkwuͤrdiges
Faktum abgedruckt werden ſoll — und alle dieſe
einander wechſelſeitig nach der Vermiſchungsrech¬
nung. — Zum Ungluͤck hatte Hoppedizel nie Ach¬
tung fuͤr irgend einen Menſchen (mithin Verach¬
tung auch nicht:) er borgte alles, beſudelte alles,
kompromittirte jeden, verzieh jedem und zuerſt
ſich. Im Winterquartier des Rittmeiſters waren
die oͤhlfarbigten Tapeten (Elle zu 24 Gr.) eine ſpa¬
niſche Wand zwiſchen des Rittmeiſters leeren
Raum und zwiſchen der Wanzen Wandſpalten; der
Ofen war gut, aber wie der babyloniſche Thurm
ohne Kuppel; die Zimmerdecke drohte (wie wohl
gleich gewiſſem Thronhimmel ſchon lange ohne
Schaden) hereinzubrechen und den groͤſten Philoſo¬
phen die Koͤpfe einzuſchlagen, die von Stein auf
dem Spiegeltiſche ſtanden. Er hatte oft darum
wenig Delikateſſe fuͤr die Leute, weil er ſich dar¬
auf verließ, daß ſie deren zu viele haͤtten, um
die Unſichtbarkeit der ſeinigen zu ruͤgen — in Un¬
L 2[164] terſcheerau machen wirs nicht anders. Aber jezt
koͤmmt der Zufall, der uns alle eher daraus weg¬
trieb.


Der Profeſſor hatte naͤmlich wie die meiſten
Leute keinen Geſchmack in Meublen; am liebſten
ſtellte er die beſten unter die elendeſten, die fein¬
ſte Pißwaſe unter ein Großvatersbett und gegen¬
uͤber einem ſandigen Waſchgefaͤß, eine geputzte
Livree ſeines Bedienten hinter verſaͤumtem Anzug
ſeiner Kinder u. ſ. w. Nun begieng er allemal ei¬
nen Friedensbruch an ſeiner Frau dadurch, daß
er nie leer heim kam; er hatte immer etwas erhan¬
delt, das nichts taugte: er hatte die Schwachheit
unzaͤhliger Maͤnner ſich weiß zu machen, er ver¬
ſtaͤnde die Hauhaltungskunſt ſo gut wie die Frau,
wenn er nur anfangen wollte — Sachen, die man
lange treiben ſieht, glanbt man zuletzt ſelber trei¬
ben zu koͤnnen — Sie hatte die Schwachheit un¬
zaͤhliger Weiber, ſich vorzuſchmeicheln, der Ehe¬
herr ſei ein wahrer Ignorant im Haushalten und
koͤnn' es nicht einmal erlernen wenn er auch woll¬
te. „Red' ich in deine Buͤcherſachen auch?” fragte
die ſehr grob verkoͤrperte Profeſſorin. Man konnt'
es alſo bei jeder Meublenauktion oder auf jeden
Jahrmarkt in einer Kalenderpraktika neben der
[165] Kriege der großen Herrn prophezeien, daß da ein
kleiner zwiſchen dem Ehepotentaten und der andern
feindlichen Macht ausbrechen werde; weil dieſe ſei¬
nen Kommerzientraktat nicht leiden konnte: das
Ehepaar feierte dann ſeine olympiſchen Spiele der
Zunge und Haͤnde und konnte die Zeitrechnung der
Ehe nach dieſen Olympiaden abtheilen.


Weiter! Unſer neue Regent ließ — da das
Volk in Italien den Pallaſt des verſtorbnen Pab¬
ſtes und Doge gratis erhaͤlt — die Meublen ſeines
Herrn Vaters um Weniges verſteigern: er thats
wie alle Kronprinzen aus Achtung gegen ihn, da¬
mit das Volk ein Andenken vom Seeligen, wie
das Roͤmiſche die Gaͤrten von Zaͤſar, erben koͤnn¬
te. Der Profeſſor wollte auch erben und erſtehen.
Er bot alſo zum Beſten des Rittmeiſters, in deſ¬
ſen Zimmer die Kommode, der Spiegel und die
Seſſel jaͤmmerlich waren, nicht auf dieſe drei Din¬
ge, ſondern auf drei benachbarte — auf zwei
ſchoͤne Bronze-Vaſen mit Ziegenkoͤpfen und Myr¬
tenblaͤttern fuͤr die elende Kommode, auf ſeinen
gerad – und ſpitzbeinigen Spiegeltiſch unter den
elenden Spiegel, auf eine praͤchtige Bergere zwi¬
ſchen die elenden Seſſel. Es wurd' ihm zugeſchla¬
[166] gen. Sein erſtes Wort, als er aus dem Auk¬
tionszimmer in ſeines trat, war an ſeine Frau:
„iſt der Rittmeiſter droben? — Ich hab' ſchoͤne
Dinge fuͤr ihn erſtanden.“ Jezt ſang ſie ſchon den
erſten Vers ihres Kriegsliedes, ohne ein Kaufſtuͤck
noch zu wiſſen. Er ſagt' ihr keines: denn er hat¬
te das groͤſte Ungluͤck eines Ehemannes, naͤmlich
Verachtung gegen ſeine Frau, ſo wie ſie hingegen ihm
gegen alle Menſchen, ſogar gegen die beſten beitrat,
außer gegen ſich nicht. Unter dem Abholen der
Kaufſtuͤcke antwortete er auf den erſten Vers des
Krieggeſanges und nannte doch keines; und ſo an¬
tiphonirten ſie bloß. Endlich wurden die Ziegenkoͤ¬
pfe und Spitzbeine ins Haus geſetzt. Jezt gieng
das Kriegsgeſchrei loß: „Das iſt dumm, dumm,
dumm! Ei du dummer Mann du! das Zeug!
den Bettel! wo waren heute deine fuͤnf Sinne?
Ich bezahl keinen Deut (ſie war ohnehin nie Kaſ¬
ſirer.) Und ſo theuer! aber wenn man Kinder
und Narren zu Markt ꝛc.“ Er ſagt ganz kalt.
„laſſe nur nichts hinan kommen und ſchafs hinauf
zum Rittmeiſter, mein Schatz!“ ſonderbar! ſie
gehorchte den Augenblick; gieng aber in ſeine Stu¬
be und oͤfnete alle Schleuſen ihres rauſchenden
[167] Zorns. Spaͤt unter dieſem Rauſchen ſagt' er end¬
lich drohend: „du weißt, Frau . . .“ Nun wur¬
de in ihrem Mund' aus dem Wind ein Sturm.
Er war kein Mann, den Zorn oder irgend eine
Leidenſchaft fortriſſen, ſondern ein aͤchter Stoi¬
ker war er und ſtets bei ſich; daraus laͤßet ſichs
erklaͤren, warum er, da Epiktet und Seneka Stoi¬
kern den verbotnen innern Zorn durch den aͤußern
Schein deſſelben zu erſetzen rathen, um die Leute
zu baͤndigen, ſich ſogar dieſes zornigen Scheins
befliß und gelaſſen ſeine Fauſt petrifizierte und die¬
ſen Knauf als eine Leuchtkugel auf diejenigen
Gliedmaßen ſeiner Gattin warf, die ohne Licht in
der Sache waren. Dieſer ſtumpfe Wilſon'ſche
Knopfableiter ihres Zorns zog erſt die groͤſten be¬
redten Funken aus ihr hervor; und in der That
iſts in der Ehe wie in den alten Republiken, die
(nach Homer's Bemerkung) nie groͤßere Redner
trugen als in [ſtuͤrmenden] kriegeriſchen Zeiten. Er
machte das Sinnliche bloß zum Vehikel des Geiſti¬
gen und begleitete ſeine Hand mit ausgewaͤhlten
Bruchſtuͤcken aus Epiktets Handbuch: „ich bin war¬
lich ganz bei mir (ſagt' er;) aber du ſchreieſt gar
zu ſehr, wenn ich mich nicht drein ſchlage.“ Sein
[168] weltlicher Arm bewegte ſich auf ihr fort. „Ich fah¬
re immer fort (fuhr er fort) — inzwiſchen danke
Gott, daß dein Mann ſo viel Gelaſſenheit hat, daß
er alles abwaͤgen kann, was er thut.“ Sie wur¬
de nicht eher kalt als bis er hitzig wurde; dieſes
merkte ſie daraus wenn er wie Sokrates ſtumm
wurde und ſeine Hand mit ſeiner herabgeriſſenen
Schlafmuͤtze bewafnete und befluͤgelte. So heiß
ihr vor ſeinem einſchlagenden Gewitter ſeine ſte¬
chende Sonnenfreundlichkeit vorkam: ſo unange¬
nehm kalt war ihr nach demſelben ſein Gewoͤlke;
kurz beide ſpielten vor und nach dem Kampfe um¬
gekehrte Rollen. Dieſesmal traf ihr Zorn eine
Wetterſcheide an und zog ſich ganz uͤber den, der
unter den ziegenkoͤpfigen Waſen auf der Bergere
ſaß, auf den Rittmeiſter. Dieſer ließ auf die er¬
ſte Zeitung dieſes eckelhaften Krieges ſein Winter¬
geraͤthe in Scheerau einpacken und das Sommerge¬
raͤthe in Auenthal auspacken, und gieng — zwar.


Aber er waͤre beinahe geblieben.


Beilaͤufig! ſo widrige Minuten mir die Erzaͤh¬
lung einer ſolchen empoͤrenden Handlung jezt ge¬
macht hat; und ſo ſehr jeder der feinern Ehewel[t]
gratulieren wird, daß ſie ſich niemals auspruͤgelt:
[169] ſo thu' ichs doch nicht ſonderlich; denn warlich die
aͤtzenden Giftworte, die das raffinirte Ehepaar ein¬
ander zutroͤpfelt, das verhaltene wie ein Veſikato¬
rium ziehende Kraͤnken, womit ſie einander wund
und heil machen wollen, reißet die Wunde bloß tiefer
unter der Haut und macht zwar nicht den Chirur¬
gus, aber wohl den Doktor noͤthig.


Jezt will ich berichten warum der Rittmeiſter
beinahe geblieben waͤre.


Hoppedizel hatte außer ihm an einem Nachmit¬
tag fuͤnf Leute bei ſich, den Gerichtshalter Kolb,
den Floͤßinſpektor Peuſchel, einen alten Karmenma¬
cher, einen Hofzimmerfrotteur und einen Hofjun¬
ker: denn was wird der Leſer nach Zunamen dieſes
Volks fragen? Er zog erſtlich den Gerichtshalter bei
Seite und ſagte zu ihm: „Heut' ſollt' er einen
Spaß machen und den vier andern Herren mit ge¬
faͤrbtem Waſſer, das ſie fuͤr Wein hielten zutrinken,
damit dieſe ſich in wahrem Wein beſoͤffen.“ — —
„Recht gut! ſagte der Gerichtshalter, ſie ſollen alle
an den Gerichtshalter gedenken.“ Das naͤmliche ſag¬
te der Profeſſor dem Floͤßinſpektor, dem Karmen¬
macher u. ſ. w.; alle antworteten: „Recht gut! ſie
ſollen alle an den Floͤßinſpektor, an dem Karmenma¬
[170] cher u. ſ. w. gedenken.“ Jeder wollte vier Mann
zum Narren haben; der Profeſſer wollte fuͤnf Mann
dazu haben — allen gelang es.


Abends wurden fuͤnf Feuillets illuminirtes Waſ¬
ſer ins Zimmer getragen; jeder ruͤckte hinter ſein
Schenktiſchgen und ſchraubte den Korkſtoͤpſel vom
Quaſi-Wein ab. Die erſten Flaſchen Bouteillenwaſ¬
ſer wurden ſtill von der Geſellſchaft eingeſogen:
wahre Pfiffigkeit mußte der Luft- und Waſſerpar¬
thie dieſen Schein ſtufenweiſer Berauſchung vor¬
ſchreiben.


Nun aber hob das Sonnenſyſtem ſein Waſſer¬
ziehen
an. „Der Wein koͤnnte ſtaͤrker ſeyn“ ſag¬
te jeder, und wollte jeden betruͤgen. Der Gerichts¬
halter mit roſenrother Naſenknoſpe ſpritzte ſeinen
Kadaver ſtatt des Spiritus mit mehr Waſſer aus
als er in ſeiner ganzen Ewigkeit a parte ante ſelbſt
getrunken oder gep...ſſ..t, oder aus fremden
Augen gedruͤckt. Ein Menſch, der ſo waſſerhaltig
wie er wird, daß er ſich ſchwer aufrecht erhaͤlt vor
Nuͤchternheit, macht andern Konfoͤderirten leicht
glaublich, es ſei vor Betrunkenheit: und alle laͤ¬
chelten ſehr, da er lachte.


[171]

Der Floͤßinſpektor Peuſchel leitete einen ganzen
Waſſerſchatz in den Magen und machte ſeine Blut¬
adern zu Waſſeradern; aber er aͤrgerte ſich halb,
daß er die andern mit ſeinen optiſchen Geſoͤff be¬
truͤgen mußte und ſehnte ſich heimlich ſtatt der ver¬
ſtellten Beſoffenheit nach aͤchter.


Der Zimmerfrotteur mazerirte und laugte ſich
im Grunde durch das taͤttowirte Waſſer aus und
erſaͤufte beinahe ſein galliſches Uebel — ſo ſchluckte
der Schadenfroh.


Dem Hofjunker, der ſich faſt den Magen ent¬
zwei ſof, ſchlugs ſchlechter zu: drei Tage ſchmolz
er an einer incontinentia urinae hin. — Blos durch
den zelluloͤſen Karmenmacher fuhr eine ganze kou¬
leurte Suͤndfluth ohne Schaden glatt hinein und
hinaus; er ſah aber munter und ſatyriſch herum
und lauerte darauf, wenn ſein Naͤchſter hinter
den vier Tiſchen beſoffen waͤre.


Etwan eine flammende Scheune waͤre mit ih¬
ren Walfiſch-Beſcheiden zu retten geweſen . . . .
Jezt kam die Zeit, da jeder betrunken ſcheinen
mußte, wer Spas verſtand — ſie diſkourirten wi¬
der einander mit uͤberſchweppender baͤumender Zun¬
ge — der Junker und Frotteur ſtreckten ſich gar
[172] in die Stube als zwei Lagerbaͤume hin und ihre
bauſchenden Unterleiber (ſollte die Welt denken)
laͤgen als Weinſchlaͤuche auf den Baͤumen — der
Amtmann machte die Augen zu, das Maul auf —
der Karmenmacher ſtellte ſich vor, am tollſten und
plauſibelſten wuͤrd' ers machen, wenn er erſtlich
gleich wahren Betrunknen vorſchwuͤre, er waͤre
nuͤchtern, und zweitens wenn er ſo gegen die
Bettpfoſte umſaͤnke, daß er ein wahres Loͤchelchen
kriegte. Er hatte ſich auch gluͤcklicher Weiſe eine
Wunde fabrizirt, die groͤßer war als ſeine Trun¬
kenheit und wollte aus Rache damit vorbrechen, er
haͤtte die Tetrarchie zum Narren und blos Waſſer
gehabt — der Profeſſor wollt' auch alles herausſa¬
gen — wie alles und der Wein waͤre — die andern
wolltens auch und lachten ſchon ſaͤmtlich voraus;
als zum Ungluͤck der laͤngſt ſaturirte Floͤßinſpektor
ſich zum Frotteur abgeſchlichen und diebiſch ſtatt
eines Gegengiftes und Konfortativs gegen ſeinen
nachgedruckten Wein die vorgebliche Originalaus¬
gabe deſſelben gekredenzt hatte, aus des Frotteurs
oder Reibers Kelch . . . . es war auch Waſſer darin
wie in ſeinem — blitzſchnell und halbnaͤrriſch kre¬
denzte er die Kelche aller Waſſergoͤtter — in allen
[173] war Waſſer — er fuhr mit allem heraus — die
ganze Marine kredenzte fliegend herum und jeder
ſollt' es im Ernſte ſagen, ob er toll und voll waͤ¬
re. — Leider war die ganze ſatyriſche Union nuͤch¬
tern. Der Rittmeiſter, dem ſolche Scherze lieber
waren als Faſtnachtshuͤhner, verwandelte aus Liebe
zur Moral die allgemeine Verſtellung der Betrun¬
kenheit in wahre Aufrichtigkeit und vollfuͤhrte es
durch aͤchten Wein. Als nachher das Fuͤnfeck nach
Hauſe huͤpfte und dieſe fuͤnf thoͤrigte Jungfrauen
als fuͤnf kluge, wiewol mit der Waſſer-Plethora,
heimzogen: ſo ſagt' er: „Bei meiner Seele! ſo
etwas ſollte man drucken laſſen.“ — — Und wahr¬
haftig, hier laͤſſet man es ja drucken. —


Ich moͤchte gern von dieſem Hoppedizel, eh ich
und der Leſer aus ſeinem Hauſe ziehen, ein Me¬
daillon, eine Abſchattung zum Andenken mit uns
nehmen; aber es grauet mir vor der Arbeit — lie¬
ber boſſir' ich alle Karaktere dieſes Werkchens in
Papier oder Wachs als dieſen Mann. Sein Karak¬
ter beſteht aus hundert kompilirten Karaktern, ſei¬
ne Kenntniſſe aus allen Kenntniſſen, ſein Scharf¬
ſinn aus Skeptiziſmus, ſeine Laſter aus Stoiziſ¬
mus, ſeine Tugend aus einem Syſtem uͤber die
[174] Tugend und ſeine Handlungen aus Schnurren,
Schnacken und Karakterzuͤgen.


Dennoch oder demnach liebte ihn der Rittmei¬
ſter, weil er ihn oft ſah (er war faſt jedem gram,
der ihn nicht beſuchte) und weil beide luſtig waren
und weil hundertmal Menſchen einander lieben oh¬
ne daß ein Henker weiß warum. Falkenberg haͤtte
ſich fuͤr jeden Freund, ſelbſt fuͤr den, der ihn erſt
beruͤckt haͤtte, mit dem Behemoth ſelber geſchoſſen
— aus Ehre und Gutherzigkeit; der Profeſſor hin¬
gegen zog reine Moral und reine Mathematik der an¬
gewandten weit vor und handelte ſelten: was that
er einmal in Auenthal, da zu Nacht um 12 Uhr
ſtatt des Rittmeiſters aus dem aufgethuͤrmten
Schnee blos ſein leerer Gaul heimkam? — Ein an¬
drer, z. B. der Rittmeiſter ſelbſt waͤre auf dem¬
ſelben Gaule aufgeſeſſen und hinausgeritten, um
den Reſtanten zu retten; allein der Profeſſor
ſchnaͤutzte nett das Talglicht und ſetzte ſich hart an
die jammernde Ehefrau, die ſich jede Nacht ab¬
aͤngſtigte und ſich jeden Morgen daruͤber tadelte,
und ſagte gefaßt zu ihr: „ein Paar Thraͤnen ver¬
boͤt' er ihr nicht zu weinen: ſie wuͤſchen uͤberhaupt
den Augapfel ab und braͤchen zu heftiges Licht;
[175] aber die uͤbrigen und meiſten muͤßten durch die Na¬
ſenhoͤle in den Schlund und Magen ſikern und ſich
ins Verdauen miſchen. Das Schlimmſte, was ih¬
rem Manne zugeſtoßen ſeyn koͤnnte, waͤre ohnehin
nur, daß er erfroren waͤre; er kenne aber halb
aus Erfahrung kein ſanfteres Sterben als das aus
Kaͤlte — es ſey im Grunde ſo viel als wuͤrde man
gehenkt oder erſaͤuft: denn man ſterbe am Schlag¬
fluß.“


Wie geſagt, der Rittmeiſter liebte und verließ
ihn doch.


[176]

Funfzehnter Sektor.

Der funfzehnte Sektor.


Vor der Abreiſe gab ich allen, beſonders der Re¬
ſidentin von Bouſe die geborgten Muſikalien zu¬
ruͤck; und dieſer, die mir ſo viel aus Italien ge¬
liehen, lieh' ich noch etwas beſſers aus Deutſch¬
land, meine Schweſter Philippine naͤmlich: dieſe
ſoll da die kleine Tochter der Reſidentin bilden hel¬
fen, aber ſie wird unter den zarten Fingern einer
ſolchen talentvollen Dame ſelber mehr gebildet wer¬
den als ſie bildet. Moͤge ſie da nur nie ihr raſches,
vibrirendes, ſcherzendes und doch fuͤhlendes Herz
zu einem koketten umſetzen! Moͤge ſie da ihrer
Laura (eben der Tochter) das Joch der koketten
Erziehung luͤften, da das arme Kind beſtaͤndig un¬
ter der Glasglocke des Fenſters ſchmachtet, den
Leib unter der Bettdecke in 4 Loth Fiſchbein ein¬
keilt, die Haͤndchen auch wieder zu Nachts in der
Handſchuh-Huͤlſen ſperret, das Koͤpfchen mit einem
Blei an Haaren ruͤckwaͤrts gewoͤhnt. Bekanntlich
lebt die Mutter eine halbe Stunde von der Stadt zu
Marienhof, im ſogenannten neuen Schloß, das
mit[177] mit einem alten zuſammenſtoͤßet, welches glaub'
ich vermiethet iſt.


. . . . . Aber zu meinem Gefolge in dieſer Bio¬
graphie ſtoßen mit jedem Bogen mehr Leute und
machen mir das Lenken und Schwenken ſauerer.
Ich wollte lieber, ich waͤr' ein Reichsſtand und
haͤtte Millionen zu regieren — und einzunehmen —
als hier dieſes fatale Menſchen-Siebeneck, das mit
Muͤhe in die rechten Sektores zu treiben iſt und
worunter ich ſelber der widerhaarigſte bin. Denn
mir als bloßen Biographen ſteht weder Reichskam¬
mergericht noch Exekutionstruppen wider mein Sie¬
beneck bei; aber als einem Reichsſtand thaͤten ſie
mir's ſchon.


Unſern Abſchiedswagen in Scheerau umgab die
fatale Kaͤlte des Profeſſors — das arbeitſame Ge¬
ſchrei der Stoikerin — das zaͤrtliche Laͤcheln des Pe¬
ſtilenziarii und deſſen Iltisſchwaͤnze — das gute
Herz ſeines Soͤhnchens, das kaum mit Luͤgen von
Guſtav abzuſchneiden war — und meine dankbaren
Erinnerungen an unſichtbare Stunden, an geliebte
Menſchen und an alle meine Schuͤlerinnen — —
O daß doch der Menſch hier ſo viel vergehen ſieht,
eh' er ſelber vergeht.


M[178]

Unterweges weinte Guſtav immerfort in unſere
Stille hinein: der Alte, dem doch ſelber das Herz ſo
leicht zerlaͤuft, wurde endlich toll und bat mich: „der
Hernhuter (der Genius) hat mir ihn voͤllig verhunzt!
Und wenn Sie ihm Hr. Pathe, nicht ein wenig flu¬
chen anlernen: ſo wird ein Soldat aus ihm werden,
daß den Himmel erbarm'.“


Den Hernhuter bracht' er im Kopfe nach dem
Staͤdtchen Iſſich, als der Monolog vor unſerem
Wagen vorbeigieng: „ich bin ein Eſel, ein Filou, ich
bin ein Schlingel. O ich Racker und bekannter
Schelm! Man ſollte mich gar entzweihacken und ko¬
chen, mich Satan, mich Matz!“ ſagte ein Schulkna¬
be, den alle Schulkameraden umliefen und beklatſch¬
ten.“ Er redet, ſagte mein Prinzipal, wie eine
Hernhutiſche Beſtie, die ſich herunterſetzt, um jeden
andern noch mehr herabzuſetzen.“ Aber nicht im
Geringſten: ein armer Teufel war's, der Hunger hat¬
te und Humor und fuͤr den die ganze Schule Kaͤſe
und Aepfel und Kiele zuſammengeſchoſſen hatte, wenn
er ihr den Gefallen thaͤte und auf ſich entſetzlich
ſchimpfte. . . .


— — Schoͤnes Auenthal! dein Schnee iſt ſchon
weg? —


[179]

Sechzehnter Sektor.

Erziehungsreglement.


Da ich meine Pretioſen (Manuſkripte waren's)
und meine Effekten (das Guͤterbuch derſelben war
nicht uͤber dreißig Zeilen dick) und mein Vaͤterli¬
ches und Muͤtterliches (das war ich ſelbſt) in mei¬
ner Wohn- und Schulſtube herumgeſtellet hatte;
da ich ſchon vorher mit drei langen Schritten an
meine Ausſicht und Fenſter getreten war, die in
einer Windmuͤhle, in der Abendſonne und einem
Staarenhaͤuschen an einer Birke beſtand: ſo koͤnnt'
ich ſogleich ein ausgemachter Hofmeiſter ſeyn, und
ich durfte nur anfangen — ich konnte jezt die gan¬
ze Woche ernſthaft ausſehen und meinen Eleven
auch dazu zwingen — alle meine Worte konnten
Reglements, alle meine Minen Wochenpredigten
ſeyn — ich hatte ſogar zwei Wege vor mir, ein
Narr zu ſeyn — ich konnte eine unſterbliche Seele
ſich halbtodt konjugiren, memoriren und analyſi¬
ren laſſen — ich konnte aber auch ſeine junge Zirbel¬
druͤſe in hoͤhere Wiſſenſchaften eintunken und ver¬
M2[180] ſenken, ſo ſehr, daß ſie ganz aufſchwoͤlle und ſich
groß anſchluckte von Logik, Politik und Statiſtik
— ich konnte mithin (wer wehrt' es) die Bein¬
waͤnde ſeines Kopfes zu einem duͤrren Buͤcherbrett
aushobeln, den lebendigen Kopf zu einem Silhou¬
ettenbrett, an dem ſich gelehrte Koͤpfe abſchatten,
entzweidruͤcken, ſein Herz hingegen war zu verar¬
beiten, aus einem Hochaltar der Natur zu einem
Drathgeſtell des A. Teſtaments, aus einer Him¬
melskugel zu einem engen Paternoſterkuͤgelchen der
Froͤmmelei, oder gar zu einer Schwimmblaſe der
Intrigue — wahrhaftig ich konnte ein Tropf ſeyn
und ihn zu einen noch groͤßern machen. . . .


Dich Trauten! Dich Argloſen, Freundlichen,
der du dich mit deinem ganzen Schickſal, mit dei¬
ner ganzen Zukunft in meine Arme warfſt! — O
es thut mir ſchon wehe, daß ſo viel von mir ab¬
haͤngt! —


Da aber vom Hofmeiſter meiner kuͤnftigen Kin¬
der eben ſo viel abhaͤngt: ſo will ich fuͤr ihn hier
folgendes paͤdagogiſche Regulativ drucken laſſen, das
er nicht uͤbel nehmen kann, weil ich den guten
Mann ja noch nicht kenne und nicht meine.


[181]

„Mein lieber Hr. Hofmeiſter!


„Waͤr' ich der Ihrige: ſo ſetzten Sie ſich ge¬
wißlich nieder und ſchrieben mir folgende recht gu¬
te Regeln auf:“


„Die Naturgeſchichte ſei das Zuckerbrod, das
der Schulmeiſter dem Kinde in der erſten Stunde
in die Taſche ſteckt, um es anzukoͤdern — ſo auch
Geſchichten aus der Geſchichte. — Aber nur nicht
die Geſchichte ſelbſt! Was koͤnnte nicht dieſe hohe
Goͤttin deren Tempel auf lauter Graͤbern ſteht, aus
uns machen, wenn ſie uns zum erſtenmale dann anre¬
dete, wo unſer Kopf und Herz ſchon offen waͤre und
beide die großen Woͤrter ihrer Ewigkeitsſprache —
Vaterland, Volk, Regierungsform, Geſetze, Rom,
Athen — verſtaͤnden? — Was Hr. Schroͤth an¬
langt, der noch ehrliche Gelehrtenhiſtorie und rei¬
ne Waiſenhaus-Moral mit beigeſchaltet, ſo ſchnei¬
den Sie mir, Hr. Hofmeiſter, nur nicht die Kup¬
ferblaͤtter mit heraus und am engliſchen Einband
iſt mir auch gelegen.“


„Geographie iſt ein geſundes Voreſſen der kind¬
lichen Seele; auch Rechnen und Geometrie gehoͤrt
zum fruͤhen wiſſenſchaftlichen Imbiß: nicht weil
ſie denken lehren, ſondern weil ſie es nicht lehren
[182] (die groͤßten Rechenmeiſter, und Differenzialiſten
und Mechaniker ſind oft die ſeichteſten Philoſophen)
und weil die Anſtrengung dabei die Nerven nicht
ſchwaͤcht, wie Rechnungsreviſoren und Algebraiſten
beweiſen.


„Philoſophie aber, oder Anſpannung des Tief¬
ſinns iſt Kindern toͤdlich oder knickt die zu duͤnne
Spitze des Tiefſinns auf immer ab. Tugend und
Religion in ihre erſten Grundſaͤtze bei Kindern zu¬
ruͤckzerſpalten, heiſſet, einem Menſchen die Bruſt
abheben und das Herz ſeziren, um ihm zu zeigen
wie es ſchlaͤgt. — Philoſophie iſt kein Brodſtudium
ſondern geiſtiges Brod ſelber und Beduͤrfniß; und
man kann weder ſie noch Liebe lehren; beide zu¬
fruͤh, entmannen Leib und Seele.”


„Es gefaͤllet mir, daß Sie ſelber erklaͤrten,
Sie wuͤrden das Franzoͤſiſche dem Lateiniſchen, das
Sprechen den grammatikaliſchen Regeln (d. h. den
Laufwagen den Theorien von der Muſkelbewegung)
vorausſchicken und die Sprachen ſpaͤter nehmen,
weil ſie mehr durch den Verſtand als durch das
Gedaͤchtniß gefaſſet werden. Lateiniſch iſt mit
darum ſo ſchwierig, weil es ſo fruͤhzeitig vor¬
koͤmmt: im 15. Jahre thut man darin mit einem
Finger wozu man fruͤher die Hand brauchte.


[183]

„Abſcheulich iſts, daß auch ſchon unſere Kin¬
der leſen und ſitzen und den Steis zur Unterlage
und Baſis ihrer Bildung machen ſollen. Das be¬
lehrende Buch erſetzt ihnen den Lehrer nicht, das
beluſtigende das geſuͤndere Spielen nicht; die
Poeſie iſt fuͤr ein unbaͤrtiges Alter noch zu un¬
verſtaͤndlich und ungeſund; der Lehrer, der vor¬
lieſet
, muß erbaͤrmlich ſeyn, wenn er nicht weit
nachdruͤcklicher ſpricht. Kurz keine Kinderbuͤ¬
cher!“


„In ein paͤdagogiſches Stammbuch wuͤrden wir
beide ſchreiben: Vergeblich tadeln iſt ſchlimmer als
gar nicht tadeln — Fehler, die das Alter nimmt,
nehme der Lehrer nicht, der dauerhaftere zu be¬
kaͤmpfen hat, u. ſ. w. Ihr Katechiſmus ſei Plu¬
tarch und Fedderſen (aber ohne ſeinen elenden
Styl); d. h. keine Moralen, ſondern Erzaͤhlun¬
gen darnach — und noch dazu in keiner beſondern
Stunde, ſondern zur rechten, damit der Kopf
meiner Kinder nicht ein Vokabelnſaal von Mo¬
ralen, ſondern ihr Herz eine durchgluͤhte Rotun¬
da der Tugend werde.“


„Da der bloͤde, enge, aͤngſtliche Anſtand der
duͤmmſte und unnatuͤrlichſte iſt: ſo lehren Sie die
[184] Kinder den beſten, wenn Sie ihnen keinen befeh¬
len
; von Natur achten ſie weder ſilberne Ster¬
ne noch ſilberne Koͤpfe — gewoͤhnen Sie ihnen's
nicht ab.“


„Meine groͤßte Bitte iſt — die ich viele Jahre
vorher drucken laſſen, — daß Sie der ſpashafteſte
Mann in meinem Hauſe ſind: Luſtigkeit macht
Kleinen alle wiſſenſchaftliche Felder zu Zuckerfeldern.
Meine muͤſſen bei Ihnen durchaus nach ihrem Wohl¬
gefallen
ſcherzen, reden, ſitzen duͤrfen. Wir Er¬
wachſene ſtaͤnden den abſcheulichen Schulzwang un¬
ſerer Deſzendenz keine Woche aus, ſo vernuͤnftig
wir ſind: gleichwohl muthen wirs ihren mit Amei¬
ſen gefuͤllten Adern zu. Ueberhaupt: iſt denn die
Kindheit nur der muͤhſelige Ruͤſttag zum genieſ¬
ſenden Sonntag des ſpaͤtern Alters, oder iſt ſie
nicht vielmehr ſelber eine Vigilie dazu, die ihre
eigne Freuden hat? Ach wenn wir in dieſem lee¬
ren niederregnenden Leben nicht jedes Mittel fuͤr
den naͤhern Zweck
(wie jeden Zweck fuͤr ein
entferntes Mittel) anſehen: was finden wir denn
hienieden? — Ihr Prinzipal (ein abſcheuliches
Wort!) hat ſich auf ſeine Verlobung eben ſo ſehr
gefreuet als auf ſeine Hochzeit.“

[185]

„Spielender Unterricht heiſſet nicht, dem Kin¬
de Anſtrengungen erſparen und abnehmen, ſondern
eine Leidenſchaft in ihm erwecken, die ihm die
ſtaͤrkſten aufnoͤthigt und leichter macht. Nun tau¬
gen dazu durchaus keine unluſtige Leidenſchaften —
Furcht vor Tadel, vor Strafe ꝛc. — ſondern freu¬
dige: ſpielend erlernten alle Maͤdchen von Schee¬
rau das Arabiſche, wenn ihre Liebhaber in keiner
andern Sprache an ſie ſchrieben als in dieſer ſyno¬
nimiſchen. Hoffnung des Lob's iſt's, das Kindern
(das Lob aͤuſſerer Vorzuͤge ausgenommen) weit we¬
niger ſchadet als Tadel und gegen das ſich keines,
am wenigſten das beſte verſtocken kann. Ich will
Ihnen ſagen, was mein Hofmeiſter fuͤr paͤdagogi¬
ſche Raͤnke anwandte: er naͤhte ſich ein Ziffern¬
buch; in dieſem gab er jedem Glied ſeines Ly¬
zeums (19 waren) fuͤr jede Arbeit eine große oder
kleine Zahl; dieſe Zahlen erwarben, wenn ſie auf
eine gewiſſe feſtgeſetzte Summe geſtiegen waren,
einen Adels- und Fleißbrief, worauf man ſein Lob
mit nach Hauſe nahm. Da Belohnungen kraftlos
werden, die zu oft oder erſt von weitem kom¬
men: ſo ſetzte er auf dieſe geſchickte Art den Weg
zur entfernten Belohnung aus taͤglichen kleinen
[186] zuſammen. Wir konnten ferner unſere Zahlen zu¬
ſammenſparen; und Kinder heftet nichts ſo ſehr
an Fleiß als ein wachſendes Eigenthum (von
Ziffern oder von Schreibbuͤchern.) Solche Zahlen
wegſtreichen war Strafe. Er machte uns alle da¬
durch ſo fleißig, beſonders mich, daß ich wenige
Jahre darauf im Stande war, eine Biographie
zu ſchreiben, die noch jetzt geleſen wird.”


„Reden Sie mit meinen Lieben nie kurz, nie
allgemein, ſondern ſinnlich und erzaͤhlen Sie
ganz wie Voß ſeine Idyllen
.”


„So hab' ich die Pouſſiergriffel und Formzeuge
an meinem Guſtav gebraucht, wahrhaftig nicht
um ihn ſeiner Biographie, die ich verfaſte, ſon¬
dern dem Leben anzupaſſen; ich wollt' aber, der
Henker holte das Menſchenherz, das fuͤr eigne
Kinder nicht thun will, was es fuͤr ein fremdes
that.”


„Meine Toͤchter hingegen, werther Herr Haus¬
lehrer, die aͤltern ſowohl als die juͤngern geb' ich
Ihnen nicht in die naͤmliche Schulſtunde — Maͤd¬
gen koͤnnten mit Knaben eben ſo gut Schlafzimmer
als Schulſtube theilen — und in gar keine. Ein
Hofmeiſter, der Maͤdgen zu erziehen wuͤſte (und
[187] Sie koͤnnens) muͤſte ſo viel Welt, ſo viel Weiber¬
kenntnis, ſo viel Witz, ſo viel launigte Gewandt¬
heit bei eben ſo vieler Feſtigkeit beſitzen — inzwi¬
ſchen erzieht eine recht geſcheute Gouvernante
die meinigen — haͤusliche Arbeit unter dem Auge
einer gebildeten Mutter.“


„Ehe ich dieſe Inſtruktion beſchließe, merk'
ich noch an, daß ſie ganz unnuͤtz iſt — erſtlich fuͤr
Sie weil ein Mann von Genie auch mit jeder an¬
dern Methode allmaͤchtig bleibt, zweitens fuͤr den
lahmen Kopf, weil er Kindern die Geiſteskraͤfte,
er mags machen wie er will, wie ein alter Schlaf¬
genoß einem jungen die koͤrperlichen, ſtets aus¬
zehren wird. Ich habe uͤberhaupt dieſen paͤdagogi¬
ſchen Schwabenſpiegel lange vor meinen Kindern
in die Welt vorausgeſchickt — mithin gar nicht
fuͤr Sie, ſondern fuͤr ein [Buch].“ —


Naͤmlich fuͤr dieſes.


Um meinem Prinzipal zu zeigen, was ich in
der Paͤdagogik gethan haͤtte, ſagt' ich ſo: Der
Superintendent in Oberſcheerau hat einen Wach¬
telhund, Hetz genannt, den er fuͤr keine Mena¬
gerie Schooshunde weggiebt. Nun ſollte man den¬
ken, der Mann, da er Beichtkinder, natuͤrliche
[188] Kinder und Weine und indianiſche Huͤhner genug
hat, waͤre gut daran; aber falſch: Hetz leidets
nicht. Denn ſobald die Suppe auf dem Tiſche
raucht: ſo umſchift Hetz den Tiſch, ſpringt in die
Hoͤhe, — ſeine Schnauze liegt dann waſſerpaß in
einer Ebene mit der Rehkeule — und bilt und ſto¬
chert mit dem Kopfe an jedes Knie ſo ſehr, beſon¬
ders ans ordinirte, daß der Mann ſeines Orts
wie in einem Fegefeuer fortſchlucket und haͤufig
nicht weiß, kaͤuet er Salz oder Zucker. Es rette¬
te ihn nicht, daß er oft den Hund ſelber anboll:
die Radikalkur dagegen waͤre bloß die, Hetzen nie
einen Biſſen zu geben. Er hielts auch oft Tage¬
lang; aber in der naͤchſten Mahlzeit bewarf er aus
Vergeſſen oder Unwillen den Plagegeiſt mit einem
Knochen. Dieſer einzige Knochen verhunzte
den ganzen Hund: dem Seelenhirten iſt beſorg'
ich ſo lange nicht zu helfen bis Hetz, der von
ſelbſt ſich nicht aͤndert, etwann verreckt. Mir hin¬
gegen begegnet Hetz mit Vernunft und Schonung:
warum? — ſo lang ich an jenem Tiſche aß: ſchenkt'
ich Hetzen keine Faſer, ohne Ausnahme. Auf Hetze
und Menſchen wirkt Feſtigkeit allmaͤchtig. Wer
keinen Hund erziehen kann, Herr Rittmeiſter, kann
[189] auch kein Kind erziehen, ich wuͤrde Informatores die
in mein Brodt wollten, an keinen Probierſtein ſtrei¬
chen als an den daß ſie mir Eichhoͤrngen oder Maͤu¬
ſe zaͤhmen muͤſten: wers am beſten verſtaͤnde, zoͤg
ein, z. B. Wildau wegen ſeiner Bienen. — —
Aber meine gnaͤdige Pathe lachte nie herzhaft
uͤber meine oder Fenkiſche Scherze; hingegen uͤber
einen Hoppedizelſchen lachte ſie ſehr und doch hat
ſie uns beide lieber.


Wenn ich noch zwei paͤdagogiſche Idiotiſmen
— wovon der eine iſt, daß ich den Witz meines
Eleven ſtaͤrker als ſeinen Verſtand uͤbte, der zwei¬
te, daß ich lauter Autores aus Zeitaltern von un¬
edlen Metallen mit ihm traktierte — in einem Er¬
trablatt werde gerettet haben: ſo gehen wir wei¬
ter in ſein Leben hinein.


[190]

Extrablatt.

Warum ich meinem Guſtav Witz und verdorbne Autores zu¬
laſſe und klaſſiſche verbiete, ich meine griechiſche und römiſche?


Ich muß vorher mit drei Worten oder Seiten be¬
weiſen, daß und warum das Studium der Alten
niederſinke und daß es zweitens wenig verſchlage.


Wir ſind bekanntlich jezt aus den Linguiſten-
Jahrhunderten heraus, wo nichts als die lateini¬
ſche Sprache an Altaͤren, auf Kanzeln, auf dem
Papier und im Kopfe war und wo ſie alle gelehrte
Schlafroͤcke und Schlafmuͤtzen von Ireland bis Si¬
zilien in einen Bund zuſammenknuͤpfte, wo ſie die
Staatsſprache und oft die Konverſationsſprache der
Großen war, wo man kein Gelehrter ſeyn konnte
ohne einen Auktionskatalog alles roͤmiſchen und
griechiſchen Hausraths und einen Kuͤchen- und
Waſchzettel dieſer klaſſiſchen Leute im Kopfe zu fuͤh¬
ren. Jezt iſt unſer Latein deutſch gegen das eines
Camerarius, ders alſo nicht noͤthig gehabt
haͤtte, ſeinen ſchmalkaldiſchen Krieg griechiſch abzu¬
faſſen; jezt wird ſelten eine Predigt lateiniſch, ge¬
[191] ſchweige wie ſonſt griechiſch geſchrieben und kann
alſo nicht wie ſonſt ins lateiniſche ſondern bloß ins
Deutſche uͤberſetzt werden. In unſern Tagen
draͤngt keine Frau mehr ihren eingepuderten infu¬
lierten Kopf durch das klaſſiſche enge Kummet,
wenns nicht Hermes Toͤchter thun. Dieſes war
meinem Leſer noch eher bekannt als mir, weil ich
juͤnger bin — ſo wie uns beiden auch das jezige
beſſere Kommentiren, Ediren und Ueberſetzen der
Alten bekannt genug iſt. Nur wuchs mit dem
Werthe ihrer Verehrer nicht die Zahl dieſer Ver¬
ehrer; alle andre Wiſſenſchaften theilen ſich jezt in
eine Univerſalmonarchie uͤber alle Leſer; aber die
Alten ſitzen mit ihren wenigen Edukations-Lehnleu¬
ten einſam auf einem S. Marino-Felſen. Es giebt
jezt nichts als Polyhiſtors, die alles geleſen ha¬
ben, bloß die Alten nicht.


Der Geſchmack am Geiſte der Alten muß
ſich ſo gut abſtumpfen als der an ihrer Sprache.
Ich behaupte nicht, daß man in den klaſſiſchen
[Papageyen-Saͤkuln] dieſen Geiſt beſſer fuͤhlte als
jezt: denn Voſſius hieng am Lukan, Lipſius am
Seneka, Kaſaubon am Perſius; ich ſage nicht,
daß damals ein Taſſo, eine Meſſiade, ein Damo¬
[192] kles geſchrieben wurden wie jezt. Allein ich rede
vom jezigen Geſchmack des Volks, nicht des Genies.


Wenn der Geiſt der Alten in ihrem geraden
feſten Gang zum Zweck beſtand, in ihrem Haſſe
des doppelten dreifachen Manſchetten-Schmucks, in
einer gewiſſen kindlichen Aufrichtigkeit: ſo muß es
uns immer leichter werden, dieſen Geiſt zu fuͤh¬
len, und immer ſchwerer, ihn in unſre Werke
zu hauchen: mit jedem Jahrhundert muͤſſen in
unſerem Style die Ein- Ueber- und Ruͤckſichten
mit unſerm Lernen ſchimmernd wachſen; die Fuͤlle
unſerer Kompoſition muß ihre Ruͤnde verwehren;
wir putzen den Putz an, binden den Einband ein
und ziehen ein Ueberkleid uͤber das Ueberkleid; wir
muͤſſen den weißen Sonnenſtrahl der Wahrheit, da
er uns nicht mehr zum erſtenmale trift, in Far¬
ben zerſetzen und anſtatt daß die Alten mit Wor¬
ten
und Gedanken freigebig waren, ſind wir
mit beiden ſparſam. Gleichwohl iſts beſſer ein
Inſtrument von 6 Oktaven zu ſeyn, deſſen Toͤne
leicht unrein und in einander klingen, als ein Mo¬
nochord, deſſen einzige Saite ſich ſchwerer ver¬
ſtimmt: und es waͤre eben ſo ſchlimm, wenn je¬
der als wenn niemand wie Monboddo ſchriebe.


[193]

Mit unſerer Unfruchtbarkeit an Werken im al¬
ten Styl nimmt zugleich der Geſchmack fuͤr dieſe
Werke zu. Die Alten fuͤhlten den Werth der Al¬
ten — nicht; und ihre Simplizitaͤt, wird bloß von
denen genoſſen, von denen ſie nicht erreicht wer¬
den, von uns. Ich denke, aus dieſem Grunde:
die griechiſche Einfachheit iſt von der Einfachheit
der Morgenlaͤnder, Wilden und Kinder *) nur im
Genie verſchieden, womit das heitere griechiſche
Klima jene Simplizitaͤt auszeichnete. Das iſt die
angeborne, nicht erworbene; Die kuͤnſtliche
erworbene Einfachheit iſt eine Wirkung der Kultur
und des Geſchmacks: die Menſchen des 18. Jahr¬
hunderts waten erſt durch Suͤmpfe und Gießbaͤche
zu dieſer Alpen-Quelle hinauf; wer aber droben
bei ihr iſt, verlaͤſſet ſie nie mehr und nur Voͤlker,
nicht Individuen koͤnnen von Monboddo's Geſchmack
zu Balzac's ſeinem herabfallen. Dieſer erworbne
N[194] Geſchmack, den das junge Genie immer antaſtet
und das bejahrte meiſtens bekennt, muß von Meſ¬
ſe zu Meſſe durch die Uebung an allem Schoͤnen,
bei Individuen empfindlicher und ſchaͤrfer werden:
die Voͤlker ſelber aber verlieren ſich jedes Jahrhun¬
dert weiter von den Grazien weg, die ſich wie die
homeriſchen Goͤtter, in Wolken verſtecken. Die
Alten [konnten] mithin die natuͤrliche Simplizitaͤt
ihrer Produkte ſo wenig empfinden als das Kind
oder der Wilde die der ſeinigen. Die reinen einfa¬
chen Sitten und Wendungen eines Aelplers oder
Tyrolers bewundert weder der eigne Beſitzer noch
ſein Landsmann, ſondern der gebildete Hof, der
ſie nicht erreichen kann! und wenn die roͤmiſchen
Großen ſich am Spielen nackter Kinder labten,
mit denen ſie ihre Zimmer putzten: ſo hatten die
Großen, aber nicht die Kinder, die Labung und
den Geſchmack. Die Alten ſchrieben alſo mit einem
unwillkuͤhrlichen Geſchmack, ohne damit zu leſen
— wie die jezigen genievollen Autoren, z. B. Ha¬
mann, mit weit mehr Geſchmack leſen als ſchrei¬
ben — daher jene Speckgeſchwuͤlſte und Hitzblat¬
tern an den ſonſt geſunden Kindern eines Plato,
Aeſchylus, Cicero; daher beklatſchten die Athener
[195] keine Redner mehr als die Anthiteſen-Boſſierer,
und die Roͤmer die Wortſpieler. Zur uͤbermaͤßigen
Bewunderung Shakeſpears fehlte ihnen nichts als
Shakeſpear ſelber. Eben deswegen konnten dieſe
Voͤlker wie das Kind, von der natuͤrlichen Ein¬
fachheit zum gleiſſenden, lackirten Witzeln herun¬
tergehen.


Zweitens verſprach ich auf drei Seiten zu be¬
haupten, daß die Vernachlaͤßigung der Alten we¬
nig ſchade. Denn was nutzet denn ihre Bearbei¬
tung? Sie werden wie die Tugend weit weniger
gefuͤhlt und genoſſen als man ſagt. *) Das Ver¬
gnuͤgen an ihnen iſt die richtigſte Neuner-Probe
des beſten Geſchmacks; aber dieſer beſte Geſchmack
ſetzt eine ſolche geiſtige Aufſchließung fuͤr alle Ar¬
ten von Schoͤnheiten, eine ſolche Eurythmie und
Menſur aller innern Kraͤfte voraus, daß nicht blos
Home Geſchmack unvereinbar mit einem boͤſen
Herzen findet, ſondern auch daß ich naͤchſt dem
Genie, das ihn nach Entladung ſeiner Spiritus¬
N 2[196] Plethora, immer bekoͤmmt, nichts ſeltners kenne
als ihn, den vollendeten Geſchmack. O ihr Kon¬
rektores und Gymnaſiarchen, die ihr uͤber die De¬
valvation der Alten winſelt und greint! wenn ſie
noch Augen haͤtten, ſie wuͤrden uͤber euere Val¬
vation weinen — o es gehoͤren andre Herzen und
Seelenfluͤgel (nicht ſolche Lungenfluͤgel) dazu als in
euren paͤdagogiſchen [Ruͤmpfen] ſtecken, um einzuſe¬
hen, warum die Alten Plato den Goͤttlichen nann¬
ten, warum Xenophon groß und die Anthologen
edel ſind! die Alten waren Menſchen, keine Ge¬
lehrten; was ſeid ihr? und was holt ihr aus
ihnen? . . .


Copiam vocabulorum — In mittlern Jahrhun¬
derten war auch jeder kleine Nutzen der Alten ein
großer; aber jezt im 18ten, wo alle Voͤlker gradus
ad parnaſſum
in den Muſen-[Granit] eingehauen,
koͤmmt es auf 2 Treppen mehr oder weniger nicht
an. Haben denn die jezigen Nationen nichts im
alten Geſchmacke geſchrieben? — Waͤr' es ſo: ſo
wuͤrden ohnehin Muſter, die ſich in keinen Eben¬
bildern vervielfaͤltigt haben, leicht zu entrathen
ſeyn; es iſt aber nicht einmal ſo und die Omar'¬
ſche Verbrennung aller Alten koͤnnte uns nur ein
[197] wenig mehr entreißen als wenn man den ganzen
noch ſtehenden Herbſtflor von einigen griechiſchen
Tempeln und andern Ruinen umbraͤche: wir wuͤrden
doch noch Haͤuſer im griechiſchen Geſchmack bekom¬
men. Die Muſter haben ja ſelber ohne Muſter ge¬
ſchrieben und Polyklets Bildſaͤule wurde nach keiner
Polyklets Bildſaͤule geregelt. Trotz dem Studium
der geſchriebnen Antiken lag ſonſt in Deutſchland
und liegt noch in Italien die dichtende Schoͤpfer¬
kraft auf dem Siechbett.


Wer wie Heyne die alten Sprachen zur for¬
malen
Ausbildung der Seele dingen will: der
vergiſſet, daß jede Sprache es kann; und daß
eine unaͤhnlichere wie die orientaliſchen es noch beſ¬
ſer kann und daß dieſe Ausbildung uns ſo theuer
zu ſtehen koͤmmt als manchem Baron ſein franzoͤſi¬
ſches. Die Griechen und Roͤmer wurden Griechen
und Roͤmer ohne die formale Bildung von griechi¬
ſchen und lateiniſchen Autoren — ſie wurdens durch
Regierungsform und Klima.


Es iſt ein Ungluͤck fuͤr das Schoͤnſte, was der
menſchliche Geiſt geboren hat, daß dieſes Schoͤn¬
ſte unter den Haͤnden der Primaner, Sekundaner
und Tertianer zerrieben wird — daß das Scholar¬
[198] chat glauben kann, die beſſere Edition oder die
beſſere Nominal- und Real-Erklaͤrungen ſetzen die
jungen Gymnaſiaſten, mehr in Stand, die erhabe¬
nen klaſſiſchen Ruinen zu faſſen, als eine beſſere von
Erratis geſauberte Edition des Shakeſpears und die
beigefuͤgten Novellen nebſt den Noten einem Schul¬
man in Stand ſetzen wuͤrden, die Augen vor dieſem
engliſchen Genius aufzuſchließen — daß ſonach das
Scholarchat ſich in den Kopf ſetzet, einen Haͤmling
oder Taͤufling erhalte nichts kalt gegen die Reize ei¬
ner Kleopatra als die Huͤllen dieſer Reize — und
daß die Scholarchate nicht mir und der Natur nach¬
gehen. — —


Die Natur erzieht naͤmlich unſern Geſchmack
durch vorragende Schoͤnheiten fuͤr feinere; der
Juͤngling zieht den Witz der Empfindung vor, den
Bombaſt dem Verſtand, den Lukan dem Virgil, die
Franzoſen den Alten. Im Grunde hat dieſer mino¬
renne Geſchmack nicht darin Unrecht, daß er gewiſſe
niedere Schoͤnheiten ſtaͤrker empfindet als wir ſon¬
dern daß er die damit verbundnen Flecken und hoͤhe¬
*)[199] re Reize ſchwaͤcher empfindet als wir alle; denn wir
wuͤrden nur deſto vollkommner ſeyn, wenn wir zu¬
gleich mit dem jezigen Gefuͤhl fuͤr das griechiſche Epi¬
gram das verlorne Jugend-Entzuͤcken uͤber das fran¬
zoͤſiſche verknuͤpfen koͤnnten. Man ſollte alſo den
Juͤngling ſich an dieſen Leckereien wie der Zuckerbaͤ¬
cker ſeinen Lehrjungen an andern, ſo lange ſaͤttigen
laſſen bis er ſich daran uͤberdruͤßig und fuͤr hoͤhere
Koſt hungrig genoſſen haͤtte — jezt aber exponirt er
ſich umgekehrt an den Alten ſatt und bildet und rei¬
zet damit ſeinen Geſchmack fuͤr die Neuern. In un¬
ſerer Autoren-Welt erſcheinen die traurigen Folgen
davon, daß Scholarchate den Anfang mit dem Ende
machen und von Autoren, die bloß dem zarteſten
beſten Geſchmacke die letzte Ruͤnde geben, den gym¬
naſiaſtiſchen aus dem Groben wollen hauen laſſen
und ſo weder der Natur folgen noch mir.


Die Scholarchate beſorgen freilich, „dadurch
kaͤme unter die jungen Leute mehr Witz als ſchicklich
iſt, wenn man den Seneka, Epigrammen und ver¬
dorbne Autores leſe.“ Meine erſte Antwort iſt, daß
die Konſtitution des Deutſchen robuſt und geſund ge¬
nug iſt, um dem Fleckfieber des Witzes weniger aus¬
geſetzt zu ſeyn als andre Voͤlker. Z. B. das witzige
[200] Buch „uͤber die Ehe“ oder Hamanns Schriften ma¬
chen wir durch tauſend reine Werke wieder gut, wo
der Witz nicht darin iſt. Ich habe daher oft gedacht,
ſo wie der Deutſche von ſeinen Vorzuͤgen wenig weiß,
ſo weiß er auch von dem nichts, daß er nicht uͤberfluͤſ¬
ſigen Witz hat, ob gleich die Rezenſenten mir und
den Verfaſſern der Romane dieſen Ueberfluß oft ge¬
nug vorwerfen; ich und dieſe Verfaſſer verlangen
unpartheiiſche Richter hieruͤber; ſogar dieſe ſonſt un¬
bedeutenden Rezenſenten ſind hierin einem Seneka
und Rouſſeau, die beide den witzigen Styl verdamm¬
ten, bekaͤmpften und doch haſchten, zu ihrem Ruhm
ſo wenig aͤhnlich, daß ſie den Fehler des Witzes
ſtrenge an andern ruͤgen und gluͤcklich ſelber ver¬
meiden.


Meine zweite Antwort iſt ernſthafter: eh der
Koͤrper des Menſchen entwickelt iſt, ſchadet ihm jede
kuͤnſtliche Entwicklung der Seele; philoſophiſche An¬
ſtrengung des Verſtandes, dichteriſche der Phantaſie
zerruͤtten die junge Kraft ſelber und andre dazu.
Bloß die Entwicklung des Witzes, an die man bei
Kindern ſo ſelten denkt, iſt die unſchaͤdlichſte — weil
er nur in leichten fluͤchtigen Anſtrengungen arbei¬
tet; — die nuͤtzlichſte — weil er das neue Ideen¬
[201] Raͤderwerk immer ſchneller zu gehen zwingt — weil
er durch Erfinden Liebe und Herrſchaft uͤber die
Ideen giebt — weil fremder und eigner uns in dieſen
fruͤhen Jahren am meiſten mit ſeinem Glanze ent¬
zuͤckt. Warum haben wir ſo wenig Erfinder und ſo
viele Gelehrte, in deren Kopfe lauter unbewegli¬
che
Guͤter liegen, in denen die Begriffe jeder Wiſ¬
ſenſchaft Klubweiſe auseinander geſperrt in Karthau¬
ſe wohnen ſo daß wenn der Mann uͤber eine Wiſſen¬
ſchaft ſchreibt, er ſich auf nichts beſinnt, was er in
der andern weiß? — bloß weil man die Kinder mehr
Ideen als die Handhabung der Ideen lehrt und weil
ihre Gedanken in der Schule ſo unbeweglich fixirt
ſeyn ſollen wie ihr Steis.


Man ſollte Schloͤtzers Hand in der Geſchichte
auch in andern Wiſſenſchaften nachahmen. Ich ge¬
woͤhnte meinen Guſtav an, die Aehnlichkeiten aus
entlegnen Wiſſenſchaften anzuhoͤren, zu verſtehen
und dadurch — ſelber zu erfinden. Z. B. alles
Große oder Wichtige bewegt ſich langſam: alſo gehen
gar nicht die orientaliſchen Fuͤrſten — der Dalai Lama
— die Sonne — der Seekrabben; weiſe Griechen
[giengen] (nach Winkelmann) langſam, ferner das
Stundenrad, der Ozean, die Wolken bei ſchoͤnem
[202] Wetter. — Oder: im Winter gehen Menſchen, die
Erde, und Pendule ſchneller. — Oder: verhehlt
wurde der Name Jehova's der orientaliſchen Fuͤrſten,
Roms und ſeines Schutzgottes, die ſibilliniſchen Buͤ¬
cher, die erſte altchriſtliche Bibel, die katholiſche, der
Vedam ꝛc. Es iſt unbeſchreiblich, welche Gelenkig¬
keit aller Ideen dadurch in die Kinderkoͤpfe koͤmmt.
Freilich muͤſſen die Kenntniſſe ſchon vorher da ſeyn,
die man miſchen will. Aber genug! der Pedant ver¬
ſteht und billigt mich nicht; und der beſſere Lehrer
ſagt eben: genug!


[203]

Siebzehnter Sektor.

Abendmahl — darauf Liebesmahl und Liebeskuß.


O geliebter Guſtav! die ausgewinterten Tage un¬
ſerer Liebe ſchlagen in meinem Dintenfaſſe wieder
in Bluͤten aus, indem ich ſie verzeichne! Haſt du,
Leſer, irgend einen Fruͤhling deines Lebens gehabt,
und haͤngt noch ſein Bild in dir: ſo leg' es im
Wintermonat des Lebens an deinen warmen Bu¬
ſen und gieb ſeinen Farben Leben, wie Erwaͤr¬
mung das unſichtbare Fruͤhlingsgemaͤlde des Ofens
enthuͤllt und belebt — denk' dir alsdann deine Blu¬
mentage, wenn ich unſere zeichne . . . . . Unſere
vier kleinen Waͤnde waren die Staketen eines rei¬
chern Paradieſes als ſich durch einen Augarten aus¬
ſtreckt, unſer Kirſchbaum am Fenſter war unſer
Deſſauiſches Philantropinwaͤldchen und zwei Men¬
ſchen waren gluͤcklich, ob ſie gleich befahlen und
gehorchten. Das Maſchinenwerk des Lobes, daß
ich in dem Regulativ meinem Informator ſo ſehr
anpries, legt' ich bei Seite, weil es nicht an ei¬
nen, ſondern an eine ganze Schule anzuſetzen iſt:
[204] mein Paternoſterwerk war ſeine Liebe zu mir; Kin¬
der lieben ſo leicht, ſo innig; wie ſchlimm muß
der's treiben, den ſie haſſen! Auch der Skala mei¬
ner Strafen-Karolina oder Thereſiana ſtanden —
ſtatt der paͤdagogiſchen Ehren- und Leibesſtrafen —
Kaͤlte, ein trauernder Blick, ein traurender Ver¬
weis und die hoͤchſte, das Drohen fortzugehen.
Kinder von zartem Herzen und von einer immer
durch den Wind aufgehobnen Phantaſie wie Gu¬
ſtav ſind am leichteſten zu wenden und zu drehen;
aber auch ein einziger falſcher Riß des Lenkſeils
verwirrt und verſtockt ſie auf immer. Beſonders
ſind die Flitterwochen einer ſolchen Erziehung ſo
gefaͤhrlich wie die in der Ehe mit einer feinfuͤhlen¬
den Frau, bei der ein einziger kakochymiſcher Nach¬
mittag durch keine kuͤnftigen Jahrs- und Tags¬
zeiten
wieder auszutilgen iſt. Ich wills nur be¬
kennen: eben einer ſolchen ſenſitiven Frau wegen
bin ich Informator geworden. Da die Weiber
(hieß es in mir) in einem frappanten Grade alle
Vollkommenheiten der Kinder haben — die Fehler
derſelben ſchon weniger: — ſo kann ein Menſch,
der an den ſo weit auseinander ſtehenden Aeſten
der Kinder ſein Geſpinnſte anzukleben und anzuzie¬
[205] hen weiß, d. h. der ſich in Kinder ſchicken kann,
ſo ſehr ſchlimm unmoͤglich fahren als andre, wenn
er — heirathet.


Da der Tadel allezeit das Ehrgefuͤhl des Kin¬
des verſehrt: ſo unterdruͤckt' ich ihn, um meine
Kollegen in der Runde durch das Beiſpiel zu leh¬
ren, daß das Ehrgefuͤhl, das unſere Tage nicht
genug erziehen, das Beſte im Menſchen ſei — daß
alle andre Gefuͤhle, ſelbſt die edelſten, ihn in Stun¬
den aus ihren Armen fallen laſſen, wo ihn das
Ehrgefuͤhl in ſeinen emporhaͤlt — daß unter den
Menſchen, deren Grundſaͤtze ſchweigen und deren
Leidenſchaften in einander ſchreien, bloß ihr Ehrge¬
fuͤhl dem Freunde, dem Glaͤubiger und der Gelieb¬
ten eine eiſerne Sicherheit verleihe.


Sieben Tage fruͤher als recht war, kommuni¬
cirte mein Guſtav: denn das Konſiſtorium — die
Nehme der Pfarrherrn, die Poͤnitenziaria der Ge¬
meinden und die Widerlage der Regierung — ſchick¬
te uns mit Vergnuͤgen als eine geiſtige Faſtendiſ¬
penſation oder venia aetatis dieſe ſieben Tage, um
die ſein Kommunion-Alter zu leicht war, fuͤr eben
ſo viel Gulden geſchenkt aufs Schloß heraus. Mein
Eleve mußte alſo — der geſchickteſte Religionsleh¬
[206] rer ſaß vergeblich zu Hauſe — woͤchentlich zweimal
zum dummen Senior Sezmann zu Auenthal ab¬
marſchiren, der zum Gluͤck kein Juriſt, wie ich
war und in deſſen Pfarrwohnung ein Rudel Kate¬
chumenen die Schnauzen in geronnene Katechiſmus-
Milch ſtecken mußten — Guſtav brachte ſtatt des
Thier-Ruͤſſels einen zu kurzen Mund mit.


Gleichwohl war der Senior Sezmann nicht
uͤbel: auf einen Parliaments-Wollenſack haͤtt' er
ſich zu einem Redner geſeſſen, d. h. zu einem Ding,
das unter den Perſonen, die ihm Anfangs nicht
glauben, zuerſt ſeine eigne uͤberredet — Ein Red¬
ner iſt ſo leicht zu uͤberreden als er uͤberredet —
Der Senior war jeden Sonntag in den erſten Stun¬
den nach der Predigt fromm genug: er kann zwar
verdammt werden, aber bloß Mangel an Predig¬
ten wuͤrd' es thun und der an Bier. Eine ver¬
nuͤnftige Betrunkenheit koͤmmt beides dem aſceti¬
ſchen und dem poetiſchen Enthuſiaſmus un¬
glaublich zu ſtatten. Die Leſer ſind meine Freun¬
de nicht, welche ſagen, aus bloßer Aergerniß —
daß mein Guſtav ſeine Stunden hoͤrte — ſchrieb'
ichs hier der Welt hin, daß der Keller die Pauls-
und Peterskirche des Seniors war — daß ſeine
[207] Seele wie gefluͤgelte Fiſche, nur ſo lange empor
flog als die Schwingen eingeoͤhlet waren — daß
er immer betrunken und geruͤhrt zugleich war und
eher nicht in den Himmel hineinbegehrte als bis
er ihn nicht mehr ſehen konnte. Hermes und Oem¬
ler ſagen, ich wuͤrde Aergerniß vermeiden — ob¬
gleich das Beiſpiel Sezmanns ein groͤſſeres ge¬
ben muß als der Spas daruͤber — wenn ichs la¬
teiniſch vortruͤge, daß die aquae ſupra coeleſtes ſei¬
ner Augen allemal ſeine zwei Schuh tiefern humo¬
res peccantes
begleiteten.


Guſtav gieng an wehenden Fruͤhlingsnachmit¬
tagen auf jungem Graſe zu ihm und freuete ſich
unterwegs auf zwei huͤbſche Dinge — Erſtlich auf
dieſen Miſſionar der heidniſchen Dorfjugend ſelber,
deſſen ſchwaͤrmeriſcher Athem Guſtavs Ideen, de¬
ren jede ein Segel war, wie ein Sturmwind be¬
wegte und der beſonders in der letzten ſechſten Wo¬
che, wo er die jungen Sechswoͤchner uͤber den
Leiſten des ſechſten Hauptſtuͤcks ſchlug, mei¬
nes Guſtavs Ohren ſo verlaͤngerte, daß zwei
Fluͤgel daraus wurden, die mit ſeinem Koͤpfchen
davon giengen. — Zweitens ſpitzt' er ſich auf eine
breite Binde uͤber einem breiten Halstuch und
[208] dergleichen Schuͤrze, welches alles noch dazu ſo
bluͤtenweiß war wie ich und am ſchoͤnſten Leibe in
der ganzen Pfarrei ſaß — an Reginens ihrem,
die oder der darin ſich auf das zweite Kommunizi¬
ren vorbereitete. So etwas, mein Guſtav, mach¬
te dich ganz natuͤrlich aufmerkſamer als zerſtreuet;
und wenn mir das Scholarchat nur eine halbe ſol¬
che Muſe ſtatt des Bauchkuͤſſens meines leken Kon¬
rektors auf den Katheder entgegengeſtellt haͤtte:
ich wuͤrde gelernt haben, ferner analyſirt, for¬
mirt, konſtruirt! — Deswegen wars zweitens kei¬
ne Hexerei, Guſtav — da bloß dein Ohr der Wind¬
ſeite vom Paſtor entgegenlag, das Aug' aber der
Sonnenſeite von Reginen — daß [du] wenig dir
aus der halben Stunde machteſt, die der Senior
druͤber gab, um ſein Gewiſſen zum Narren zu haben.
Er hielt, um dieſen Frais- und Zentherrn und
Reimer im Herzen, das Gewiſſen, ſtille zu machen,
ſeine Kinderlehren eine halbe und ſeine Predigten
dreiviertel Stunden laͤnger als die ganze Dioͤzes.
Der Menſch thut lieber mehr wie ſeine Pflicht als
ſeine Pflicht.


Da er nicht wußte, daß Maͤdchen nichts uͤberſe¬
hen und alles uͤberhoͤren: ſo war ihm der ganze Ka¬
techiſmus[209] techiſmus ein Liebesbrief, in dem er ſich mit ihr un¬
terredete. Wenn ſie dem Senior zu antworten hatte:
wurd' er roth, „der Senior, dacht' er, kann ſein
Fragen und Quaͤlen nicht verantworten“ und ſein
Sehnerve ruhte tief auf ihrem Geſichte.


Da die Falkenbergiſchen kein beſonderes Kommu¬
nizirzimmer mit ſammtnen Dielen hatten: ſo gieng
meine [Pathe an] der Spitze ihrer Lehnleute um den
Altar; alſo auch Guſtav.


Am Beichtſonnabend — O ihr ſtillen Tage mei¬
ner Religionsſchwaͤrmerei geht wieder vor mir vor¬
uͤber und gebt mir euere Kinderhand, damit ich euch
ſchoͤn und ſanft beſchreibe. — Am Sonnabend gieng
Guſtav nach dem Eſſen — ſchon unter demſelben
konnt' er vor Liebe und Ruͤhrung ſeine Eltern nicht
anſehen — die Treppe hinauf, um nach einer ſo ſchoͤ¬
nen Sitte den Seinigen ſeine Fehler abzubitten. Der
Menſch iſt nie ſo ſchoͤn als wenn er Verzeihung bit¬
tet oder ſelber verzeiht. Er gieng langſam hinauf,
damit ſeine Augen trocken und ſeine Stimme feſter
wuͤrde; aber als er vor die elterlichen kam, brach ihm
alles wieder, er hielt lange in ſeiner gluͤhenden Hand
die vaͤterliche, um etwas zu ſagen, um nur die drei
Worte zu ſagen: „Vater vergieb mir;“ aber er fand
O[210] keine Stimme, und Eltern und Kind verwandelten die
Worte in ſtille Umarmungen. Er kam auch zu mir
. . . in gewiſſen Verfaſſungen iſt man froh, daß der
andre in der naͤmlichen iſt und alſo unſre vergiebt. . .
Ich wollt', Guſtav, ich haͤtte dich jetzt in meiner
Stube. — Wenn Kinder ſich Gott — nicht wie Er¬
wachſene, als ihres Gleichen, als ein Kind, ſondern
— als einen Menſchen denken: ſo iſt das fuͤr ihr klei¬
nes Herz genug. Guſtav gieng nach dieſen Abbitten
wankend, zitternd, betaͤubt, wie wenn er das ſaͤhe
was er dachte — Gott, — in die verlaſſene Kind¬
heitshoͤhle hinab, wo er unter der Erdrinde erzogen
wurde und wo ſeine erſten Tage und erſten Spiele
und Wuͤnſche begraben lagen. Hier wollt' er knien
und in dieſer zerbrochnen Andachtsſtellung, worin
der Genius der Sonnen und Erden in jener vielleicht
froͤmmſten Zeit unſers Lebens alle gefuͤhlvolle Kin¬
der erblickt, ſeine ganze Seele in einen einzigen
Laut, in einen einzigen Seufzer verwandeln und ſie
opfern auf dem Dankaltar; aber dieſer groͤßte menſch¬
liche Gedanke riß ſich wie eine neue Seele von ſei¬
ner los und uͤberwaͤltigt ſie — Guſtav lag und ſo¬
gar ſeine Gedanken verſtummten . . . Aber die Stim¬
me wird gehoͤrt, die in der Bruſt bleibt, und der
[211] Gedanke geſehen, der zuruͤckſinkt unter den Stra¬
len des Genius; und in der andern Welt betet der
Menſch ſeine hieſigen verſtummten Gebete hin¬
aus. — — —


Am Abend dieſes ſchwaͤrmeriſchen Tages trug
eine wiegende Ruhe auf ihren feſten Haͤnden ſein
uͤberſpanntes Herz; er ſchlug nicht gewaltſam die
kurzen Kinder- und Menſchen-Arme um die Freu¬
de, ſondern dieſe ſchloß die Mutterarme leiſ' um
ihn. Dieſer Zephyr der Ruhe ſpielte — anſtatt
daß der Orkan des Jauchzens den Menſchen durch
und wider alles reiſſet — noch am Pfingſttage mit
ſeinen Ideen und erlag darauf wie auf einer Wol¬
ke, da er heiter in die Pfingſtſonne trat; aber als
der Blumengeruch der geſchmuͤckten Bruſt, daß Ge¬
fuͤhl des preſſenden, rauſchenden Anzugs, das Glok¬
kengelaͤute, deſſen fortlaufende Toͤne wie goldne
Faͤden um alle einzelne Auftritte liefen nnd ſie in
Einem verbanden, der Birkenduft und das gruͤne
Helldunkel der Kirche, ſogar das Faſten, als alles
das ſeine Ideen und ſeine Blutkuͤgelchen in fliegende
Kreiſe warf: ſo ſtand in ſeiner Bruſt eine an¬
gezuͤndete Sonne; das Bild eines tugendhaf¬
ten Menſchen brannte nie in ſo großen uͤber
O 2[212] die Wolken hinaustretenden Umriſſen vor ihm als
da! — —


Aber der Abend! — Die kleinen Kommunikan¬
ten ſpatzierten da mit leichterem Herzen und volle¬
rem Magen in ſittſamen Gruppen herum und fuͤhl¬
ten Eſſen und Putz. Guſtav — von deſſen Flammen
das Abendeſſen vieles uͤberleget hatte, wie eine her¬
abgeworfne Gans den brennenden Schorſtein erſtickt;
wiewohl ſich noch eine ſanfte Glut verhielt — wan¬
delte ſeinen Garten jetzt, da ſein Kopf kein Tanzplatz
ſondern eine Moosbank entzuͤckter Ideen war, lang¬
ſam auf und ab und zog die eingeſchlafnen Tulpen¬
blaͤtter auseinander, um aus dieſem Blumenkarzer
manches verſpaͤtete Bienchen zu befreien. Endlich
lehnt' er ſich an den Thuͤrſtock des hintern Garten¬
thuͤrchens und ſah ſehnend uͤber die Wieſen ins Doͤrf¬
chen hinab, wo die gruppirten Eltern zuſammen
plauderten und den Kindern eitel nachſchaueten, die
heute zum erſten- und wohl zum letztenmale ſpatzie¬
ren giengen, weil Bauern und Morgenlaͤnder nur
Sitzen lieben. Ein Kinderpiquet ruͤckte um die Gar¬
tenmauer herum, vielleicht weil es ſeinen Staar¬
matz, der heute in die friſche Luft mit ſeinem Bauer
gehangen war, ſatyriſiren hoͤrte. Kinder ſind in
[213] fremden Kleidern und Orten ſich fremd. Guſtav
kannte keinen andern Leitton, mit Kindern ins Ge¬
ſpraͤch uͤberzugehen, als den, in eines mit dem
Staarmatz zu gerathen. Die redenden Kuͤnſte des
befiederten Linguiſten machten bald die Konverſazion
allgemein. Guſtav fieng an Geſchichtchen zu erzaͤh¬
len, aber vor einem juͤngern und billigern Publikum
als ich: ſeine Geſchichtchen erdachte und erzaͤhlte er
im naͤmlichen Augenblick und ſeine Phantaſie ſtieß
mit ihren Fluͤgeln im unermeßlichen Tummelplatz an
nichts. Ueberhaupt erfindet man geſcheutere Contes
unter dem Sprechen als Schreiben und die Madame
d'Annoy, die ich lieber heirathen als leſen moͤchte,
wuͤrde uns großen Kindern beſſere Feenmaͤhrchen ge¬
geben haben, wenn ſie ſie vor den Ohren kleiner er¬
funden haͤtte.


Unter dem Vorwande des Niederſetzens invitirte
er ſein ganzes Publikum auf einen Altan, der um
einen Lindenbaum im Garten ſamt einer Treppe ge¬
flochten und gewoͤlbet war . . . . Ich laſſe ſo bald
meine Leſer nicht herunter: denn Bienen, Bild¬
ſchnitzer und Ich lieben Linden ſehr, jene des Honigs,
dieſe des weichen Holzes und ich des weichen Namens
und des Geruches wegen.


[214]

Aber hier iſt noch was ganz anders zu lieben
— Drei Kommunikantinnen horchten zur offnen
Gartenthuͤr herein und verdoppelten von weitem
das Auditorium: mit Einem Worte, Regina war
darunter und ihr Bruder mit droben; die Gallerie
oder Logen mußten endlich — da das heraufrufen
nichts half — das weibliche Parterre heraufzerren.
Ich erzaͤhle jetzt feuriger nach; kein Wunder, daß
ers that. Regina ſetzte ſich am weiteſten von ihm,
aber ihm gegenuͤber. Er fieng eine ganz neue Hi¬
ſtorie an, weil das bureau d'eſprit ſtaͤrker gewor¬
den. Ein elendes Maͤdchen — Kinder wollen in der
Geſchichte bloß Kinder — malt' er vor, ohne Abend¬
brod, ohne Eltern, ohne Bett, ohne Haube und
ohne Fehler die aber allemal ſo oft ein Stern ſich
putzte, unten einen huͤbſchen Thaler fand u. ſ. w.
Welche Flamme ſchlug aus ſeinen Worten heraus,
aus ſeinen Augen und Geſtus, in ſeine Zuhoͤrer¬
ſchaft hinein. Noch dazu ſtickte der Mond die Lin¬
dennacht auf dem Fußboden mit wankenden Silber-
Punkten — eine verſpaͤtete Biene kreutzte durch den
gluͤhenden Kreis und ein ſchnurrender Daͤmmerungs¬
vogel um einen weiſſen Kopf — auf dem Doppel-
Grund von Lindengruͤn und Himmelsblau zitterten
[215] Blaͤtter neben den Sternen — der Nachtwind wieg¬
te ſich auf duͤnnem Laube und auf Goldflittern der
geputzten Regina und beſpuͤhlt mit kuͤhlen Wellen
ihre Feuerwange und Guſtavs Flammenathem. . . .
Aber wahrhaftig ich behaupte, den Katheder brauch¬
te er nicht einmal, ſo herrlich waren Katheder und
Redner. Wie konnt' ihm dieſer noͤthig ſeyn, da
er der Braut Chriſti und ſeiner eignen erzaͤhlte;
da der ganze heutige Tag mit ſeinem blendenden
Nimbus wieder aufſtand; da er das Mitleid in
die Bruſt der unbefangnen Kinder einfuͤhrte und
aus ihren Auge es wieder vorpreßte; und da er
gewiſſe weibliche ſich benetzen ſah. . . . Seine eig¬
ne zergiengen in Wonne und er dehnte ſein Laͤcheln
immer weiter auseinander, um damit ſein Auge
zu bedecken, das ſich ſchon ſchoͤner bedecket hatte.
— — „Guſtav!” hatt' es ſchon zweimal vom
Schloſſe gerufen, aber in dieſer ſeligen Stunde
hoͤrt' es keiner: bis zum drittenmale die Stimme
nahe unten im Garten ertoͤnte. Die betaͤubte ge¬
heime Geſellſchaft rollte die Treppe hinab — neben
ihm verweilte noch Regina unter der magiſchen Lau¬
be, um mit ihrer Schuͤrze die Spuren der Erzaͤh¬
lung aus den Augen zu bringen und mit einer Na¬
[216] del ſich etwas hinaufzuſtecken — er ſtand am Ge¬
ſichte, auf dem ſo viele ſchoͤne Abendroͤthen ſeines
Lebens untergegangen waren, ſo nahe, und ſo
ſtumm und hielt ſie ein wenig als ſie nachwollte —
waͤre ſie ſtille geſtanden, ſo haͤtt' er ſie nicht hal¬
ten koͤnnen; aber da ſie riß: ſo umfaßte er ſie
feſter und im groͤßern Bogen — ihr Ringen verei¬
nigte beide, aber ſeiner trunknen Seele erſetzte die
Naͤhe den Kuß — das Straͤuben fuͤhrte ſeine zuk¬
kende Lippen an ihre — aber doch erſt als ſie ſeine
Bruſt von ihrer wegſtemmte und ſeine mit der Na¬
del zerritzte, dann erſt ſtrickte er ſie mit unaus¬
ſprechlicher vom eignen Blute berauſchter Liebe an
ſich und wollte ihren Lippen ihre Seele ausſaugen
und ſeine ganze eingieſſen — ſie ſtanden auf zwei
entfernten Himmeln, zu einander uͤber den Ab¬
grund heruͤbergelehnt und einander auf dem zittern¬
den Boden umklammernd, um nicht loslaſſend
zwiſchen die Himmel hinunter zu ſtuͤrzen . . . .


. . . . Koͤnnt' ich ſeinen erſten Kuß tauſendmal
brennender koloriren: ich thaͤt's; denn er gehoͤrt
unter die erſten Abdruͤcke der Seele, unter die
Maiblumen der Liebe, er iſt die beſte mir bekann¬
te Dephlegmation des erdigten Menſchen. Nur
[217] iſt's in dieſem deutſchen und belgiſchen Leben nicht
moͤglich zu machen, daß der Menſch uͤber 5 oder
6male zum erſtenmale kuͤſſe. Spaͤter ſieht er alle¬
zeit in ſeine Sachdefinition, die er von einem
Kuſſe im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitirt
den Paragraphen wo's ſteht; der ganze Inhalt des
dummen Paragraphen iſt aber der, das ganze Ding
ſei ein Zuſammenplaͤtten rother Haͤute. Warlich
ein ſentimentaliſcher Autor kann ſich nicht nieder¬
ſetzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den
wenigen Dingen iſt, die nur genoſſen werden wenn
unter dem Geiſtigen das Koͤrperliche nicht vorſchmeckt
— ohne daß ein ſolcher ſentimentaliſcher Autor (es iſt
niemand als ich) die ausfilzet, die nicht ſoviel Ver¬
ſtand haben wie er — er filzet nicht bloß die Her¬
ren Veit Weber und Kotzebue, in deren
Schriften zuviele Kuͤſſe ſtehen, ſondern auch andre
Leute aus, in deren Leben zuviele ſind, nament¬
lich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tiſch¬
gebet die Wangen mit den Lippen abbuͤrſten und
anſchroͤpfen. Koͤmmts gar ſo weit, daß dieſe ſchoͤ¬
ne Lippenbluͤte unſers Geſichts ſich an Haͤuten von
Schaafen und von Seidenraupen, an Handſanda¬
len zerknuͤllen muß: ſo will ein Autor von ſo viel
[218] Empfindung der paſſiven Parthei die Haͤnde und
der aktiven die Lippen wegſchneiden. . . .


Ich begieſſe den vom letzten Kuſſe erhitzten Le¬
ſer mit dieſer kalten Bruͤhe wirklich nicht[deswe¬
gen]
, um mit ihm ſo umzuſpringen wie das Schick¬
ſal mit mir: dieſes hat ſichs einmal zum Geſetz
gemacht, jedesmal wenn ich mitten im Freuden¬
oͤhl ſolcher Auftritte wie der Guſtaviſche — oder
auch nur der Beſchreibung ſolcher Auftritte — ſte¬
he, mich ſogleich in Bitterwaſſer und Schweerſchen
Eſſenzen und ſaure Extrakte unter zu tauchen. Son¬
dern ich wollte gerade umgekehrt die haͤßliche Em¬
pfindung uͤber den Tauſch entgegengeſetzter Szenen
dem Leſer halbiren, die der arme Guſtav ganz hat¬
te, als es unten rief:


„Wollt ihr gleich!“ Die Rittmeiſterin legte
in den Ton mehr Beleidigendes, als mein unſchul¬
diger Eleve noch zu fuͤhlen verſtand. Die Liebha¬
berin verliert in ſolchen Ueberraſchungen den Muth,
den der Liebhaber bekoͤmmt. Die erſten Verſikel
des abgefluchten Strafpſalms durchloͤcherten das
Ohr der ſchuldloſen Regina, die ſtumm und wei¬
nend aus dem Garten ſchlich und den freudigen
Tag truͤbe beſchloß. Die ſanftern Verſe erfaßten
[219] den Hiſtoriographen, der ſeine Contes moraux aͤſt¬
hetiſch und mit Pathos *) auszumachen vorhatte
und nun ſelber von einem fremden Pathos erwiſcht
wurde. Erneſtinens Herz, Lippen und Ohren wa¬
ren hinter den ſtrengſten Gittern erzogen; daher
wich ihre ſo melodiſche Seele (bei einem bloßen Kuß)
in eine fremde harte Tonart aus; ſie gab vom
ſchoͤnſten Maͤdchen nichts zu, als: „ein gutes
Maͤdchen iſts.“ Ueberhaupt iſt [mir] die Frau, die
gewiſſe Fehltritte einer andern ſchonend beurtheilt,
mit ihrer Toleranz verdaͤchtig; eine ganz reine
weibliche Seele erzwingt an ſich hoͤchſtens die Mine
dieſer Toleranz fuͤr eine weniger reine.


Auf jene Lippen druͤckte Guſtav den erſten und
letzten Kuß: denn in der Pfingſtwoche zog die Schaͤ¬
ferin nach Mauſſenbach als Schloß-Dienſtbote. Wir
werden nichts mehr von ihr hoͤren. — So wirds
[220] durch das ganze Buch gehen, das wie das Leben
voll Szenen iſt, die nicht wieder kommen. Nun
tritt ſchon die Sonne hoͤher an Guſtavs Lebensta¬
ge und faͤngt an zu ſtechen — eine Blume der
Freude um die andre buͤckt ſich ſchon Vormittags
zum Schlummer nieder, bis Nachts um 10 Uhr der
geſenkte Flor mit verſchwundnen Bluͤten ſchlaͤft. . . .


[221]

Achtzehnter Sektor.

Scheerauiſche Molucken — Röper — Beata — offizielle Wei¬
berkleider — Oefel —


Ich wuͤrde naͤrriſch handeln und ſchreiben, wenn
ich — da uns alle, Leſer ſowohl als Einwohner
dieſer Biographie, Scheerau ſo nahe angeht, da
Guſtav, der Held dahin als Kadet koͤmmt, da ich,
der Hofmeiſter, daraus komme, da Fenk, der Dok¬
tor, noch da iſt und da Fenk in dieſer Hiſtorie
noch wichtig werden kann — drei Papiere von D.
Fenk trotz aller dieſer Gruͤnde nicht einruͤckte. Die
Rede iſt von zwei Zeitungsartikeln und Einem
Brief, die der Peſtilenziar geſchrieben.


Ich weiß gewiß, daß es einigen hohen Frem¬
den, die durch die Scheerauiſchen hoͤhern Zirkel ge¬
reiſet, bekannt iſt, daß der Doktor eine Zeitung
ſchreibt, die nicht gedruckt wird, naͤmlich eine ge¬
ſchriebne Gazette oder nouvelles à la main wie alle
Reſidenzſtaͤdte ſie haben. Doͤrfer haben gedruckte
Neuigkeiten, kleine Staͤdte muͤndliche, Reſidenz¬
ſtaͤdte ſchriftliche. Das Papier iſt ſein Marforio
[222] und Paſquino, der ſeine ſatyriſchen Arzneien aus¬
theilt.


Seinen erſten Zeitungsartikel flecht' ich ein,
ſchon bloß des Journals fuͤr Deutſchland wegen.
Dieſes ſo platte und ſo wortreiche Journal — denn
ſonſt waͤr es weder von noch fuͤr Deutſchland ge¬
ſchrieben — ruͤckte eine gute Abhandlung von mir
nicht ein, die ich uͤber den auſſerordentlichen Handels¬
flor in Scheerau eingeſchickt, weil vielleicht keine Re¬
gierung in Deutſchland weniger bekannt iſt als die
Scheerauiſche. Wahrhaftig man ſollte denken, die¬
ſes Fuͤrſtenthum verſtecke ſich unter die Eisrinde der
Polarmeere, ſo unbekannt ſind die wichtigern Nach¬
richten von ihm, z. B. ſolche, wie die, daß wir
Scheerauer ſeit der neuen Regierung den ganzen oſt¬
indiſchen Handel und die Molucken an uns gezogen,
von denen wir jetzt unſere Gewuͤrze ſelber holen, die
die Regierung eigenhaͤndig dazu aus Amſterdam ver¬
ſchreibt. — — Aber das ſteht ja eben im erſten Zei¬
tungsartilel.


[223]

No. 16.

Gewürzinſeln und Molucken in Scheerau.


Der Brandenburger Weiher bei Baireuth iſt ein
ausgegrabner Landſee von 500 Tagwerken und vor
einigen Monaten ſaß ich eine Stunde darin: denn
man trocknet ihn jezt zum Beſten ſeiner bleichen
Kuͤſtenbewohner aus. Der Scheerauiſche Weiher an
dem vier Regenten weiter graben ließen, hat 129
Tagwerke mehr und iſt fuͤr Deutſchland wichtig:
denn durch ſeine aͤroſtatiſchen Duͤnſte wird er ſo
gut wie das mittellaͤndiſche Meer, das Wetter in
Deutſchland aͤndern, ſobald der Wind uͤber beide
geht. Die Ebbe und Fluth muß [genau] genommen
auf einer [Thraͤne], oder im Saufnaͤpfgen eines
Zeiſſigs ſtatt finden, wie viel mehr auf einem ſol¬
chen Waſſer: — die Dioͤzes von Inſel, die dieſen
Teich ſo putzt und fournirt, z. B. Banda, Su¬
matra, Zeylon, und das ſchoͤne Amboina, die
großen und kleinen Molucken traten erſt unter der
jezigen Regierung aus dem Waſſer — oder viel¬
mehr ins [Waſſer]. Herr Buͤffon wenn er noch lebte
und andre Naturforſcher muͤſt' es frappiren, daß
[224] die Inſeln auf dem Scheerauiſchen Ozean nicht
durch Aufthuͤrmungen von Korallen entſtanden —
auch nicht durch Erdbeben, die den Dromedar-Ruͤ¬
cken des Meersgrundes aus dem Waſſer aufkruͤmm¬
ten — ſelber durch keinen Vulkan in der Naͤhe,
der dieſe Berge ins Waſſer hineingeſaͤet haͤtte:
denn Summatra, die großen und die kleinen Mo¬
lucken wurden bloß in kleinen Partien auf unzaͤh¬
ligen Schubkarren und Leiterwagen an die Kuͤſten
herbei geſchoben, — und weil auf den Karren
Steine, Sand, Erde und alle Ingredienzien ei¬
ner huͤbſchen Inſel waren: ſo brachten die Frohn¬
bauern, landesherrliche ſo wohl als ritterſchaftli¬
che, die eben ſo viele (Taback-) rauchende und In¬
ſeln bildende Vulkane waren, in kurzem die Mo¬
lucken fertig, indeß die ritterſchaftlichen Bruͤcken
uͤber landesherrliche Waſſer noch nicht angefangen
ſind. Die Abſicht des Landesherrn iſt, den gan¬
zen oſtindiſchen Handel bei Aſien in Scheerau ſo
bei der Hand zu haben wie eine [Rappeemuͤhle]
und ich denke, wir haben ihn: nur mit dem Un¬
terſchiede, daß die Scheerauiſchen Gewuͤrzinſeln
noch beſſer ſind als die hollaͤndiſchen. Auf den letz¬
tern muß man erſt das Reifen des Pfeffers, der
Muſka¬[225] Muſkatnuͤſſe ꝛc. abpaſſen; aber auf unſern liegt
ſchon alles reif und trocken da und man darfs nur
ans Eſſen reiben: das macht, weil wir alle dieſe
Fruͤchte ſchon ganz zeitig aus — Amſterdam ver¬
ſchreiben. Es iſt naͤmlich ſo:


Entweder alles oder nichts iſt ein Regale. Der
Rechtskundige kann es nicht billigen, daß die Fuͤr¬
ſten, wie wohl ſie die koſtbarſten, aber ſeltenſten
Produkte zu ihren Regalien erheben, gleichwohl
die gemeinen, aber deſto ergiebern in den Haͤnden
der Landeskinder laſſen und dadurch den Fiſkus
ſchwaͤchen. Der Juriſt findet bei den ſuͤd-aſiati¬
ſchen Fuͤrſten, ſo deſpotiſch ſie ſonſt ſind, mehreren
Konſequenz, welche nicht das Wild, oder Salz,
oder Bernſtein oder Perlen ſondern das ganze Land
und den ganzen Handel nehmen und beide bloß
jaͤhrlich verpachten. Die deutſchen Fuͤrſten haben
hiezu mehrere Befugniß als alle andre: denn alle
europaͤiſche Reiche haben indiſche Beſitzungen, haben
ein Neu-England, Neu-Frankreich, Neu-Hol¬
land, aber ein Neu-Deutſchland hat das Alt-
Deutſchland nicht und das einzige Land, was ein
Fuͤrſt noch wegzunehmen hat, iſt ſein eignes, man
muͤſte denn aus Pohlen, oder der Tuͤrkei ein
P[226] Neu-Oeſterreich, Neu-Preußen ꝛc. zu machen
wiſſen.


Allein dieſes ſah bisher kein Regent als der
Scheerauiſche ein, der dieſe Grundſaͤtze ſeinem ge¬
heimen Kabinette vorlegte, aber ſchon vor dem
Votiren ſeinen Entſchluß gefaſſet hatte: daß nun
die Leute alles Gewuͤrz bei ihm nehmen ſollten.
Er ſelber ſchaft nun gleich der Natur, auf ſeinen
Molucken die Gewuͤrze, die ſein Land iſſet, indem
er durch den Kommerzien-Agenten von Roͤper den
Saamen dieſer Gewuͤrze — Pfeffer-Koͤrner, Nuͤſ¬
ſe ꝛc. aber nicht zum Pflanzen ſondern zum Kochen
aus Amſterdam ſpediren laͤſſet. Daher umſchnuͤret
(weil die Molucken bei der Gewuͤrz-Defraudation
litten) ein Pfeffer- und Zimmt-Kordon von Ka¬
detten und Huſaren das Land: niemand koͤnnte
eine Muſkatnuß einſchwaͤrzen als die Muſkattaube
in ihrem duͤnnen Gedaͤrm. Alles was meine ſchee¬
rauiſche Leſer aus den Laͤden nehmen, der Kauf¬
laden mag einem großen Hauſe gehoͤren, das mehr
Schiffe und Reiſediener, auf den Beinen erhaͤlt
als ich Setzer, oder er mag von einem armen
Hoͤcker gemiethet ſeyn, deſſen Schilderung mich
ſchon dauert, deſſen Stratza eine Schiefertafel
[227] und deſſen Kapitalbuch eine ſchmierige Stubenthuͤr
und deſſen Kaufmannsguͤter nicht zu Schiffe ſon¬
dern als Landfracht unter dem Arme, oder auf
der Achſe, d. h. an einem Stocke auf der Achſel
gebracht werden — in beiden Faͤllen kaͤuet der
ſcheerauiſche Leſer Produkte aus Molucken, die vor
ſeiner Naſe ſind. —


Einer, der das beurtheilen kann, faͤllet nach¬
her dem Gewuͤrz-Inſpektor von Herzen bei, der
im ſcheerauiſchen Intelligenzblatt ſchreibt, 1) das
jezt das Land Pfeffer und Ingwer um niedrigern
Preiß erhalten koͤnnte, weil bloß der Fiſkus im
Stande waͤre, ſie in groͤſſern, mithin in wohlfei¬
lern Parthien zu beziehen — 2) daß der Regent
jezt vermoͤgend waͤre, dieſe Leckereien, die unſern
Beutel uͤber Indien leeren, unter allen Deutſchen
zuerſt den Scheerauern abzugewoͤhnen, indem er
bloß den Preiß enorm zu ſteigern brauchte — 3)
daß eine neue Dienerſchaft jezt ihr Brodt haͤtte.


Ich brauch' es nicht zu vertheidigen, daß un¬
ſer Fuͤrſt — da die Ruſſiſche Kaiſerin Doͤrfern das
Stadtrecht giebt — Schutt-Huͤgeln das Inſelnrecht
ertheilt, oder daß er ihnen oſtindiſche Namen
ſchenkt, da jeder Tropf von Schiffer bei der groͤſ¬
P 2[228] ten Inſel, die er noch dazu mehr entdeckt als
macht, Pathenſtelle vertreten darf. Unſer Sum¬
matra iſt uͤber ½ Quadratviertelſtunde groß und
hat hauptſaͤchlich Pfeffer — die Inſel Java iſt noch
groͤßer aber noch nicht fertig — auf Banda, das
dreimal ſo groß als der Konzertſaal iſt, liefert die
Natur Muſkatnuͤſſe, auf Amboina Gewuͤrznelken
— auf Teidor ſteht ein artiges Landhaus eines be¬
kannten Scheerauers (des Doktors hier ſelber) —
die kleinen Molucken, die in den Weiher hinein¬
punktirt ſind, kann ich ſammt ihren Produkten in
die Weſtentaſche ſtecken, ſie haben aber ihr Gu¬
tes. — Wer noch in keiner Seeſtadt, in keinem
Hafen war: der kann hieher in den Scheerauer
reiſen und ſelber Nachmittags ein Zeuge davon
werden, was in unſern Tagen der Handel iſt, den
die verbundnen Haͤnde aller Voͤlker heben — hier
kann er ſich einen Begrif von Kauffartheiflotten
machen, von denen er ſo viel aber dumm geleſen
und die er hier uͤber unſern Teich ſeegeln ſieht —
bald kann er die ſogenannte Gewuͤrz-Flotte des H.
Kommerzien-Agenten von Roͤper ſehen, die gleich
einem hitzigen Klima die noͤthigen Gewuͤrze, die
er verſchrieben, unter alle Inſeln austheilt — er
[229] kann auch auf arme Teufel ſtoßen, die auf ein
wenig Floßholz ſich aus Oſtindien die wenigen
Kaufmannsguͤter abholen, die ſie kreuzerweiſe ab¬
ſetzen — am Hafen und Ufer, wo er ſelber ſteht,
kann er bemerken was der Kuͤſtenhandel iſt, den
da ſogenannte Fratſchler-Weiber mit Pfeffer- und
Welſchen-Nuͤſſen im Kleinen treiben.“


Ende von No. 16.


Das zweite Stuͤck des Fenkiſchen Zeitungs-
Manuſkriptes iſt eine Schilderung eben dieſes Kom¬
merzien-Agenten von Roͤper ohne ſeinen Namen.
Wenn der Leſer dieſe Digreſſion geleſen hat: ſo
wird er ſagen, es war gar keine.


[230]

No. 21.

Unvollkommner Karakter, ſo für Romanenſchreiber im Zei¬
tungskomptoir zu verkaufen ſteht[.]


Im Roman gefallen wie in der Welt keine voll¬
kommen-gute Menſchen: aber auch auf der an¬
dern Seite wird einer weder Leſern noch Neben-
Menſchen gefallen, der ganz und gar ein Schelm
iſt — bloß halb, oder dreiviertel muß ers ſeyn wie
alles in der großen Welt, Lob und Zote und
Wahrheit und Luͤge.


Im Zeitungskomptoir ſteht ein halber Schelm
und wird allen Romanſchreibern im Scheerauiſchen
um das Wenige, was ſie dafuͤr geben [koͤnnen],
verkaͤuflich erlaſſen. Ich verſichere die H. Schrei¬
ber, daß ich etwann nicht die Unvollkommenhei¬
ten dieſes Schelms uͤbertreibe, um ihn theuerer
abzuſetzen: der Innhaber nimmt den Schelm wie¬
der zuruͤck, wenn er nicht Bosheit genug hat.


Dieſer unvollkommne Karakter wurde im Kir¬
chenſtaat gezeugt und an der Graͤnze von Unter-
Italien geboren; und kaufte ſich, nach ſeiner Taufe
[231] und Muͤndigkeit, Hecheln und Mauſefallen. Die
wenigſten Deutſchen wiſſen, daß ſie die Italiener
bei denen dieſer Handelszweig bluͤhet, reich aus¬
kaufen. Dieſer Karakter ſchwang ſich bald von ei¬
nem Hecheln-Kommiſſionair zu einem Hecheln-Aſſo¬
cié empor: er verfertigte die Maͤuſefallen, die er
aus Italien bezog, in Deutſchland und die Maus¬
loͤcher waren ſein Ophir und die Flachsfelder ſeine
Muͤnzſtaͤdte. Die Hechel, die er vor dem Einkauf
ſeines Adelsdiplom an gegenwaͤrtigen Thiermahler
verkaufte, ſchlug er ihm fuͤr ſeckstehalb Gulden
loß.


Er muß ſchon vor ſeiner Geburt in der andern
Welt in einem großen Hauſe gehandelt haben:
denn er brachte eine merkantiliſche Seele ſchon fer¬
tig mit. Es iſt naͤmlich dumm von mir, daß ichs
nicht eher erzaͤhlet habe, daß er als Knabe von 9
Jahren in ſeiner Blatterkrankheit einen kleinen
Kaufladen aufſperrte — wenn man naͤmlich Pocken
von ihm zum Inokuliren nahm, litt' ers nicht,
ſondern ſagte: „ja! um Geld und gute Worte!
er waͤre ein Pocken-Saͤmereihaͤndler und noch ein
junger Anfaͤnger.“ Dieſen Handel mit eigner
Manufaktur legt' ihm bald der Arzt und die
[232] Natur und der Doktor ſagte, er ſei ſo theuer wie
ein Apotheker. Daher wollt' er gar einer werden.


Er wurd' auch einer, aber nach dem Mecklen¬
burgiſchen Idiodikon: denn in dieſem heißet jeder
Materialladen eine Apotheke. Naͤmlich in Unter¬
ſcheerau aͤnderte er die Religion und den Nah¬
rungszweig und bauete ſich einen Laden, der bloß
fuͤr Kaͤufer Hechel und Mauſefalle war. Hier hielt
er ſich einen Ladenjungen, ein Kuͤchenmenſch, ei¬
nen Friſeur, einen Barbier und einen Vorleſer des
Morgenſeegens — alle dieſe Perſonen machten nur
Eine Perſon aus, ſeine eigne, dieſe war und
that wie ein Enſoph alles.


Da bei unſerem Schelm als einem unvollkom¬
nen Karakter Tugenden in Fehler vererzt ſeyn
muͤſſen — ich wuͤrd' ihn ſonſt keinem Roman-Bau¬
herrn antragen: — ſo nehme man mirs nicht uͤbel,
daß ich auch ſeine weiſſe Seite neben ſeine ſchwar¬
ze bringe, wie man auf Boͤheimiſchen Tafeln im¬
mer weiſſe und ſchwarze Gerichte neben einander
ſtellet.


Er gieng damals Sonntags aus ſeinem Laden
bei aller erlaubter Sparſamkeit doch gut gekleidet
heraus. Seinen Hut, ſeine Ringfinger und ſeine
[233] Weſte bordirte aͤchtes Gold; ſeinen Magen und
ſeine Waden ſpann der Seidenwurm ein und ſeinen
Ruͤcken das engliſche Schaaf. Es iſt ganz der
menſchlichen Bosheit gemaͤß, das Verſchwendung
zu nennen, was hier wahre verheimlichte Wohl¬
thaͤtigkeit war: denn alles was der unvollkomm¬
ne Karakter anhatte waren — Pfaͤnder; um die
Leute vom Verpfaͤnden abzubringen, drohte er je¬
dem, jedes Pfand worauf er leihe, wuͤrd' er ſo
lange anziehen als es bei ihm ſtaͤnde. Auf dieſe
Art hielt er manchen ab und die Kleidung deſſen,
bei dem menſchenfreundliche Warnung nichts ver¬
fing, legte er wirklich Sonntags nach dem Eſſen
an. Es war daher weniger Mangel an Geſchmack
als an Geiz und Haͤrte, daß er, ſo wie mehrere
Perſonen, ſo auch mehrere Kleider vereinigte und
ſo bunt aufſchritt wie eine Kleidermotte, wie eine
Farben-Pyramide von Lambert, oder wie ein Far¬
ben-Klavier.


Da ich ſo gewiß weiß, daß Verſchwendung
ihn nicht verunzierte, ſo ſehr es den Anſchein
hat; ſo will ich allen Anſchein durch die Nachricht
wegnehmen, daß er jeden Sonnabend ſein Pfund
Fleiſch im Zoͤlibat kaufte — und — denn das be¬
[234] wieſe noch nichts — auch nicht aß. Er aß aller¬
dings eines und mit dem Loͤffel; aber es war vom
vorigem Sonnabend. Der unvollkommne Karakter
holte naͤmlich jeden Sonnabend ſein Andachtsfleiſch
aus der Bank und meliorierte und dekorierte damit
ſein Sonntags-Gemuͤß. Aber er nahm nichts zu
ſich als den vegetabiliſchen Vars. Am Montag
hatt' er den animaliſchen noch und wuͤrzte mit ihm
ein zweites Gemuͤß — am Dienſtag kochte das an¬
tike Fleiſch wie ein Kraftgenie in einer neuen Ein¬
faſſung — am Mittwoch war es wieder eine [Fett-
Broderie]
— kurz erſt am Sonntag ſtaͤrkte er ſich
ſelber oder ſein Blut ſtatt der Fleiſchbruͤhe und aß
das verdienſtvolle Pfund. Eben ſo kann man mit
einem Pfund Leibnitziſcher, Rouſſeauiſcher, Jako¬
biiſcher *) Gedanken ganze Schifskeſſel voll ſchrift¬
ſtelleriſchen Blaͤtterwerks kraͤftig kochen.


[235]

Dieſe Sparſamkeit legierte der unvollkommne
Karakter noch mit einigem Betrug. Er interpo¬
lierte die Guͤter, die er gut bekam und ſchrieb zu¬
ruͤck, er haͤtte ſie ſchlecht bekommen, ſie waͤren
ſo und ſo und koͤnnte ſie nur um den halben Preiß
brauchen. Ein Drittel des Preiſes ſpielt' er dann
meiſtens dem Kaufmann aus der entfernten Ta¬
ſche. Waaren, Faͤſſer, Saͤcke, die in ſeinem
Hauſe nur ein Abſteig-Quartier hatten und weiter
muſten, gaben ihm den Tranſito, und Rheinzoll
durch ein kleines Loch heraus, das er in ſie hin¬
einmachte, um das Wenige daraus ſich zu entrich¬
ten, was dem Fuhrmann aufgebuͤrdet werden
konnte wenns fehlte. — Er legte ein Muͤnzkabi¬
net oder Hoſpital fuͤr arme invalide amputierte
Goldſtuͤcke an; dieſen gab er den ehrlichen Namen,
den ſie verloren, wieder, und zwang ſeine Spinner
und Faktore, ſie als legitimiert anzunehmen: ein
*)[236] Goldſtuͤck mochte noch ſo ſchlecht in ſein Haus ge¬
kommen ſeyn, er dankte es wie einen Offizier nie
ohne Avancement ab. So decken ganz edle See¬
len ſogar die Maͤngel des Geldes mit dem Mantel
der Liebe zu.


Auf dieſe Art breiteten ſich ſeine Kaufmanns- und
Feldguͤter immer mehr aus, und in ſeinem von der
freundſchaftlichen Waͤrme des Publikums angebruͤte¬
ten Herzen regte ſich wie ein Ei-Infuſionsthierchen
ein federloſes durchſichtiges mattes Ding, das er Ehre
nannte. Der unvollkommne Karakter ließ ſich alſo
einen Karakter als Kommerzienrath kommen.


Jetzt da er die Ehre recht feſt und aufs Papier
fixirt hatte: ſo konnt' er ſie eher beleidigen als vor¬
her da er ſie noch nicht unter ſeinen Papieren hatte.
Er machte alſo ſeine Liebeserklaͤrung dem reichſten
und geitzigſten Vater einer ſchoͤnen Tochter, die die
Liebe gegen einen Offizier zum letzten Schritte hinge¬
riſſen hatte: die Tochter haßte ſeine Liebeserklaͤrung;
aber der Karakter und der Vater bemaͤchtigten ſich
ihrer ſtraͤubenden Hand, zogen ſie daran zum Al¬
tar, ſchraubten den Ring ihr an und pfaͤhlten ihre
Hand in ſeine. Ihr zweites Kind war ſein erſtes.


[237]

Da indeſſen ſeine Ehre ſich nach dieſem Blut¬
verluſt und dieſen Ausleerungen ſchlecht auf den
Fuͤßen erhalten konnte: ſo mußt' er daran denken,
ihr ein recht ſtaͤrkendes Amulet, ein Ignatius-
Blech, einen Lukas- und Agathazettel umzuhaͤn¬
gen — ein Adelsdiplom. Sie wurde aus der
Reichshofraths-Kanzlei von Wien aus gluͤcklich
kurirt.


Da er nicht mit ſeiner Frau, ſondern nur mit
ſeinen Glaͤubigern Guͤter Gemeinſchaft hatte:
beurlaubte er ſich vom Kaufmannsſtande mit einem
unſchuldigen Falliment und rettete ſich und ſein rei¬
nes Gewiſſen und die Guͤter ſeiner Frau und ſeine
eigne auf ſeinen Landguͤtern, um da ſeinem Gott
zu dienen.


Ich meine ſeinen Goͤttern. — Freunde hatte
uͤbrigens der unvollkommne Karakter nicht. Sei¬
ne Begriffe von Freundſchaft waren edel und hoch
und verlangten die reinſte uneigennuͤtzigſte Liebe
und Aufopferung vom Freunde; daher ekelten ihn
die niedrigen Tropfen um ihn an, die nicht ſein
Herz ſondern ſeinen Beutel verlangten und die ihn
bloß an ſich druͤckten, um etwas aus ihm heraus¬
zu druͤcken. Er konnte einen ſolchen Eigennutz nicht
[238] einmal vor ſich ſehen und ſein Haus litt daher wie
die menſchliche Luftroͤhre oder wie Sparta nichts
Fremdes in ſich. Er glaubte mit Montaigne,
man koͤnne nicht mehr als Einen Freund, ſo wie
Eine Geliebte, recht lieben; daher ſchenkt' er ſein
Herz einer einzigen Perſon, die er unter allen am
hoͤchſten ſchaͤtzte — ſeiner eignen naͤmlich — dieſe
hatt' er gepruͤft; ihre uneigennuͤtzige Liebe gegen
ihn vermochte ihn, daß er Cicero's Ideal er¬
reichte, welcher ſchrieb, daß man fuͤr den Freund
alles, ſogar das Schlimme thun koͤnne, was man
fuͤr ſich nicht thaͤte.


Er iſt der groͤßte Stoiker im Scheerauiſchen;
er ſagt nicht bloß, an allen Vergnuͤgungen ſey
nichts: ſondern er verachtet auch alle zeitliche Guͤ¬
ter, weil ſie ihn nicht gluͤcklich machen koͤnnen.
Dieſe Verachtung derſelben iſt vom heftigſten Be¬
ſtreben nach ihnen wohl nicht zu trennen, weil ein
Weiſer wie die Stoiker in der Note *) ſagen, ein
Leben, in deſſen Mobiliarvermoͤgen nur eine Kratz¬
[239] buͤrſte oder ein Stallbeſen druͤber iſt, einem Leben,
dem bloß dieſes Wenige fehlte, vorziehen wird,
ob [er gleich] nicht durch jenes gluͤcklicher wird. Da¬
her legt der unvollkommne Karakter auf die klein¬
ſten Effekten wie Schandy auf die kleinſten Wahr¬
heiten einen ſo großen Werth wie auf die groͤßten,
daher muß er mit den Nußſchalen heizen, mit ab¬
geloͤſeten Siegeln ſiegeln, auf fremde leere Brief¬
ſpatia eigne Briefe ſchreiben ꝛc. Der unvollkomm¬
ne Karakter hat hierin Aehnlichkeit mit dem Geizi¬
gen, der mit aͤhnlichen Kleinigkeiten wuchert und
den keine Gruͤnde widerlegen koͤnnen: denn wenn
ich einen Groſchen nicht wegwerfen darf, ſo darf
ich auch keinen Pfennig, keinen halben Pfennig,
keinen \frac{1}{10000} Pfennig: die Gruͤnde ſind die naͤm¬
lichen.


Im Menſchen liegt ein entſetzlicher Hang zum
Geiz: den groͤßten Verſchwender koͤnnte man zu
noch etwas ſchlimmern, zum groͤßten Knicker ma¬
chen, wenn man ihm ſo viel gaͤbe, daß er es fuͤr
viel und der Vermehrung werth hielte: und um¬
gekehrt. So will der Waſſerſuͤchtige deſto mehr
Waſſer, je hoͤher er davon geſchwollen iſt; mit
ſeinem Waſſer faͤllet zugleich der Durſt darnach.


[240]

Der unvollkommne Karakter dankt dem Him¬
mel fuͤr zweierlei, erſtlich daß er in keinen Geiz,
zweitens in keine Verſchwendung gefallen iſt — daß
er ſeiner Frau und ſeinem Kinde nichts verſagt,
alles giebt und bloß dummen Leuten, die Stof zur
Verſchwendung behalten wollen, dieſen Stof aus
den Haͤnden nimmt, wie die alten Deutſchen, Ara¬
ber und Otaheiter nur Fremde, nie aber Inlaͤnder
beſtehlen — daß er keuſch iſt und lieber die Geld¬
katze eines Kaufmanns als den Guͤrtel der Venus
loͤſet — daß er Armen ganz anders beiſpringen
wollte, wenn er ſo viel Pfennige haͤtte wie der und
der — daß er aber gleichwohl ſein Bischen ſich ſo
wenig wie der Traurige ſeinen Kummer nehmen
laſſe und daß er einmal am juͤngſten Tage werde
befragt werden, ob er mit ſeinen Pfunden (Ster¬
ling) gewuchert. — —


Dieſer verkaͤufliche Karakter im Zeitungskom¬
toir iſt wie ein engliſcher Miſſethaͤter Waare und
Verkaͤufer zugleich und will vom Romanſchreiber
nichts fuͤr ſein ganzes Weſen haben als gratis den
Roman, in den er geworfen wird.“


So weit Fenk, der alle Menſchen trug, aber
keinen Unmenſchen, keinen Filz. Ich habe dieſen
unvoll¬[241] unvollkommnen Karakter fuͤr meine Biographie an
mich gehandelt (denn er ſelber exiſtirt auch biogra¬
phiſch unter dem Namen Roͤper): es fehlet ihr
ohnehin an aͤchten Schelmen merklich; ja wenn ich
auch Roͤpern mit den Teufeln der epiſchen Dichtern
vergleiche und mich mit den Dichtern ſelber: ſo ſind
wir alle beide doch nicht ſehr groß.


Wenn die Leſer einen Brief vom Doktor Fenk
haͤtten der ſeine vorige Haͤrte entſchuldigte — der
uns an Scheerau, an den Doktor und an eine
mir ſo liebe Perſon erinnerte und der zum Ganzen
recht paßte: ſo wuͤrden ſie den Brief in die Bio¬
graphie mit einknuͤpfen. Ich habe den naͤmlichen
Brief und das naͤmliche Recht; und ſchicht' ihn
hier ein.


Fenk an mich.


„Nimm den armen Ueberbringer dieſes zum
Klienten an: der Mauſſenbacher hat ſeine Saug-
und Schoͤpfwerke dem armen Teufel eingeſchraubt
und zieht. Die ſaͤmtlichen Spitzbuben von Advoka¬
ten in Scheerau dienen ihm gegen keinen reichen
Edelmann zu Patronen, den ſie einmal zu ihrem
eignen zu bekommen wuͤnſchen.


Q[242]

Ich bin zwar ſelber taͤglich in Mauſſenbach und
advozire; aber der Knicker nimmt keine uneigen¬
nuͤtzige Gruͤnde an: und ſonſt hat Roͤper fuͤr al¬
les andre Gefuͤhl und Vernunft. Es wird einmal
eine Zeit kommen, wo man unſre vergangne Dumm¬
heit ſo wenig begreifen wird als wir kuͤnftige Weis¬
heit, ich meine wo man nicht bloß wie jetzt keine
Bettler ſondern auch keine Reichen dulden wird.


Vom Vater einer ſchoͤnen Tochter zwingt man
ſich gut zu denken. Ich noͤthige mich auch: an
deiner Klavierſchuͤlerin Beata ſaheſt du nur die gruͤ¬
nen Blaͤtter unter der Knoſpe; jetzt koͤnnteſt du
die aufbrechenden Roſenblaͤtter ſelber ſehen und den
Duft-Nimbus darum. Eine ſolche Tochter eines
ſolchen Vaters! d. h. die Roſe bluͤht auf einem
ſchwarzen ſtechenden den Schmutz ausſaugenden
Stengel.


Ich bin dort, ſie zu heilen, der Alte will
fuͤr ſein Geld was haben; aber in Mauſſenbach
bedenkt kein Menſch, daß der Abt Galliani, den man
vier Tage vor meiner Abreiſe begrub, geſagt hat,
daß die Weiber ewige Kranke ſind. Aber bloß an
Nerven: die Gefuͤhlvollſten ſind die Kraͤnklichſten;
die Vernuͤnftigſten oder Kaͤlteſten ſind die Geſuͤnde¬
[243] ſten. Wenn ich ein Fuͤrſt waͤre: ich reſolvirte fuͤrſt¬
lich und ſetzte in einem allerhoͤchſten Reſkript Haus¬
arreſt darauf, wenn eine Frau einen Loͤffel voll
einnaͤhme. Ihr armen gequaͤlten Geſchoͤpfe, war¬
um habt ihr ſo viel Zutrauen zu den Maͤnnern,
warum leidet ihr's, daß man den ganzen thera¬
pevtiſchen Curſus an euch repetirt und fuͤr euch
ein Arzneiglas ums andre, als haͤtten die Glaͤſer
eine Reiheſchank, verzapft?


Die einzigen Arzneien, die ihnen mehr nuͤtzen
als ſchaden, ſind Kleider. Nach vielen Naturfor¬
ſchern verlaͤngert das Mauſern das Leben der Voͤ¬
gel; aber auch der Weiber glaub' ich, die alle¬
mal ſo lange ſiechen bis ſie wieder ein neues Gefie¬
der anhaben. Aus der Therapevtik laͤſſet ſichs ſchlecht
erklaͤren; aber wahr iſts; und je vornehmer eine
iſt, mithin je kraͤnklicher, deſto oͤfter muß ſie ſich
mauſern, wie auch der Sumpfſalamander ſich alle
fuͤnf Tage haͤutet. Ein weiblicher Krebs, der auf
eine neue Schale wartet, hockt erbaͤrmlich in ſei¬
nem Loche. Jeder Gift kann ein Gegengift werden;
und da gewiß iſt, daß Kleider Krankheiten geben
koͤnnen, z. B. Hektik, Peſt ꝛc.; ſo muͤſſen ſie un¬
ter Anleitung eines vernuͤnftigen Arztes auch wel¬
O 2[244] che heben koͤnnen. Ein aufgeklaͤrter Medikus wird
meines Beduͤnkens, wenn die Haͤlliſche Hausapo¬
theke, d. i. die Kleiderkommode nichts hilft, aus
keiner Apotheke als aus dem Auerbachiſchen Hofe ꝛc.
receptiren. Da du mancher Preßhaſten damit bei¬
ſpringen kannſt: ſo will ich dir aus meiner weibli¬
chen materia medica folgende offizinelle Halstuͤcher,
Kleider ꝛc. herſetzen:


Stahlarzneien ſind Stahlroſetten und Stahl¬
ketten. Der Stahl- und Magenſchild des atlaſſe¬
nen Guͤrtels erwaͤrmt den Magen und andre inte¬
ſtina
ſehr.


Die Edelſteine, die ſonſt aus Apotheken gege¬
ben wurden, ſind noch jetzt nicht zu verachten.


Blumenbouquets, ſobald ſie von Seide ſind,
ſind probate Arzneipflanzen und ſtaͤrken durch den
Geruch das Gehirn.


Schauls ſind Bruſtarzneien und nicht ein rother
Faden (welches Aberglaube iſt) ſondern ein Hals¬
band mit einem Medaillon iſt nach neuern Aerzten
boͤſen Haͤlſen dienlich.


Mit der peruvianiſchen Rinde wird viel betrogen,
aber aͤchte iſt ein Rock à la peruvienne.


[245]

Da alle Wunden nach der neuern Chirurgie
durch bloße Bedeckung geheilet werden: ſo thut
ſtatt des engliſchen Taftpflaſters bloßer Taft an
Leibe die naͤmlichen Dienſte.


Ein neuer Viſitenfaͤcher iſt bei ſtarken Ohn¬
machten unentbehrlich; ob aber ein Muff unter
die erweichenden Mittel, falſche Touren unter die
Haarſeite, und ein Sonnenſchirm unter die
kuͤhlenden Mittel und eine Schuͤrzenfriſur unter die
Diuretica gehoͤre — das koͤnnen ein oder dreihun¬
dert Beiſpiele noch nicht erweiſen.


Wir halten uns lieber daran, daß ein Fri¬
ſierkamm ein Trepan gegen Kopfuͤbel, eine Repe¬
tiruhr gegen intermittirenden Puls und ein Ball¬
kleid ein Univerſale gegen alles ſei.


So iſt alſo ſcherzhaft zu reden der Damen¬
ſchneider ein Operateur, ſein Naͤhfinger ein Arz¬
neifinger, ſein Fingerhut ein Doktorhut . . . .


. . . Warum vergaß ich dich, edle Beata? Dich
heilt eine Paruͤre nicht und wenn kuͤnftig einmal
dein ſchoͤnes Herz erkrankte: ſo wuͤrde nichts es
heilen als das beſte Herz, oder es ſtuͤrbe. — —


Wundere dich uͤber meinen Enthuſiaſmus nicht[.]
Ich komme gerade von ihr und vergeſſe alle Fehler,
[246] die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Maͤd¬
chen, die oft krank ſind, gewoͤhnen ſich eine Mi¬
ne von geduldigem Ergeben an, die „zum Ster¬
ben ſchoͤn” iſt. Ich habe ihren Lieblingsaus¬
druck unterſtrichen, aber nur von ihrer Zunge kann
er im ſchoͤnſten ſterbenden ſinkenden Laute flieſſen.
Dieſe Geduld gewoͤhnet ihr auſſer ihren ewigen
Kopfſchmerzen auch ihr [Vat]er an, der ſie gleich
ſehr quaͤlt und liebt und [de]r ihr zu Gefallen (nach
dem Egoiſmus des Geizes) eine Welt abſchlachtete.
Wenn die Seele mancher Menſchen (ſicher auch
dieſe) zu zart und fein fuͤr dieſe Moraſt-Erde iſt:
ſo iſts auch oft der Koͤrper mancher Menſchen,
der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thaͤlern
und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Koͤrper
und ein zarter Geiſt reiben einander auf. Beata
haͤngt wie alle von dieſer Kryſtalliſation, ein wenig
zur Schwaͤrmerei, Empfindſamkeit und Dichtkunſt
hin; aber was ſie in meinen Augen hoch hinauf
ſtellt iſt ein Ehrgefuͤhl, eine demuͤthige Selbſtach¬
tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach)
ein Erbtheil nicht der Erziehung ſondern des guͤtig¬
ſten Schickſals iſt. Dieſe Wuͤrde ſichert ohne pruͤde
Aengſtlichkeit die weibliche Tugend: wenn man
[247] aber dieſes weibliche point d'honneur erſt einerzie¬
hen, einpredigen muß — ach wie leicht iſt nicht
eine Predigt beſiegt! — Frauenzimmer, die ſich
ſelber achten, umringt eine ſo volle Harmonie al¬
ler ihrer Bewegungen, Worte, Blicke.... Ich
kann ſie nicht ſchildern, aber die ſind zu ſchildern,
die der Roſe gleichen, welche unten wo man ſie
nicht bricht, die laͤngſten und haͤrteſten Dornen
hat, aber oben wo man ſie genieſſet, ſich nur mit
weichen und umgekruͤmmten verpanzert.


Ich weiß nicht ob's dir etwas Altes iſt, daß
Toͤchter ihre Muͤtter lieben, ihr die Wahrheit und
alle Geheimniſſe ſagen; mir iſt's etwas Neues und
nur die beſte Tochter wie dieſe kann es.


Vor vierzehn Tagen erinnerte ich mich eines
Fehlers von ihr nicht ſo ſchwach als heute, wel¬
cher der iſt, daß ſie zu wenig Freude an der —
Freude und zuviele an traurigen Phantaſien hat.
Es giebt zu weiche Seelen, die ſich nie freuen
koͤnnen (ſo wie beleidigt fuͤhlen) ohne zu weinen
und die ein großes Gluͤck, eine große Guͤte mit ei¬
nem ſeufzenden Buſen empfangen; wenn aber
dieſe vor rohern Seelen ſtehen, die den verborgnen
Dank und die ſtumme Freude nicht errathen koͤn¬
[248] nen: ſo werden ſie gezwungen, nicht Empfindung
aber den Ausdruck derſelben vorzuheucheln. Ihr
Vater will fuͤr jedes ſeiner Geſchenke, deren Werth
er bis zu Apothekergranen auswiegt, eine ſprin¬
gende Freude; ſie hingegen fuͤhlt hoͤchſtens ſpaͤter
eine: aber die Erſcheinung irgend eines Gluͤcks ſel¬
ber erhellet ihr auf einmal alle traurige Tage, die
wie Graͤber in ihrer Erinnerung liegen. Auch an
dieſer Beata ſeh' ichs wieder, daß der weibliche
Leib und Geiſt zu zart und zu wallend, zu fein
und zu feurig fuͤr geiſtige Anſtrengung und fuͤr Lek¬
tuͤre ſind und daß beide ſich nur durch die immer¬
waͤhrende Zerſtreuung der haͤuslichen Arbeit erhal¬
ten: die hoͤhern Weiber erkranken weniger an ih¬
rer Diaͤt als an ihren exzentriſchen Empfindungen,
die ihre Nerven wie den Silberdrath durch immer
engere Loͤcher treiben und ſie aus Fadennudeln in
geometriſche Linien zerdehnen. Eine Frau, wenn
ſie Klingers Genie haͤtte, ſtuͤrbe wenn ſie da¬
mit eines ſeiner Stuͤcke machte, im fuͤnften Akte
ſelber mit nach.


Ich verſtehe deine verliebte Fragartikel recht
gut: freilich ſteigt der geheime Legationsrath von
Oefel hier oft aus. Er ſcheint zwar keine zaͤrtli¬
[249] chern Geſchaͤfte hier zu haben als merkantiliſche
und vom Kommerzien-Agenten nichts verſchrieben
zu fodern als Pfeffer fuͤr Zeylon und Muſkatnuͤſſe
fuͤr Summatra, ſeine Tochter alſo und ihre Guͤ¬
ter am allerwenigſten — ferner die Miniſterin,
dieſer Zoll- und Almoſenſtock voll maͤnlicher Herzen,
iſt zwar mit da und hat Oefels angeoͤhrtes oder
gehenkeltes ſchon an ihren Reizen hangen; aber
der Teufel trau geheimen Legationsraͤthen, zumal
Oefeln. Ich ſage dir, er mag Beaten kapern
oder nicht, ſo wundert mich jedes. Du wirſt Dich
freilich damit troͤſten, lieber Jean Paul, daß Du
erſtlich groͤßere Reize haſt als er und zweitens gar
nicht weiſt, daß du die Reize haſt, welches in
der Konverſation viel thut. Es iſt wohl etwas
daran: Oefel will nicht ſowohl gefallen als bloß
zeigen, daß er gefallen koͤnnte wenn er nur wollte
und er erlaubt ſich daher alle Launen, bloß damit
man etwas zu tadeln und zu vergeben und er gut
zu machen habe: er iſt auch — weil ein Hofmann
und ein Demant außer der Haͤrte noch reine Far¬
benloſigkeit haben muͤſſen, um fremde Farben treu¬
er nachzuſtrahlen — ſogar zu einem Hofmann zu
eitel und kauft ſich mit fremder Gunſt nur ſeine
[250] eigne. Ich will Dich mit noch mehr „Zwar's“ troͤ¬
ſten, bis ich meine Aber hole. Beata ſieht zwar
aus als ob ſie ſich alle Minuten frage, warum
bewunder' ich ihn nicht; die Miniſterin ſieht aus
als ob ſie jene alle Minuten frage, „warum be¬
neideſt Du mich nicht, da mein Lehnmann ein For¬
te Piano mit hundert Zuͤgen und Tritten iſt wie
ich ſelber“ — denn er behaͤlt keine Stellung und
kann ſich in jede wagen; jede Bewegung ſcheint
aus der andern herzufließen; ſeine Seele aͤndert
eben ſo ſpielend wie der Koͤrper die Poſitionen und
biegt ſich wie eine Kaſkade in die entlegenſten Ma¬
terien heruͤber; ihn macht nichts irre, er jeden;
er weiß hundert Exordien zu einer Predigt, faͤngt
an, um anzufangen, bricht ab um abzubrechen
und weiß ſelber nicht eher als ſeine Zuhoͤrer was er
will — — kurz es iſt ein Nebenbuhler, lieber
Paul! — Ich kann jezt das verſprochene Aber nicht
recht hereinbringen.


Aber ob gleich meine ſchoͤne Patientin ihn ſo
kalt uͤberblickt wie einen der uns ein Kleid anpro¬
biert, ſo ſetzt er doch das Gegentheil voraus und
wirft Dampfkugeln und Pechkraͤnze in ſie und
ſchlaͤgt in Gedanken ſchon Eroberungs-Muͤnzen.
[251] Mannsperſonen wie Oefel haben einen ſolchen Ue¬
berfluß von Treue, daß ſie ihn nicht Einer, ſon¬
dern unter tauſend Weibern vertheilen muͤſſen;
Oefel will ein ganzes weibliches Sklavenſchif kom¬
mandieren: er f[ra]gt dabei nach Dir ſo wenig wie
nach der Miniſterin, die ihn liebt weil es ihr letz¬
ter Liebhaber iſt, und die er erſtlich liebt weil er
an ihrem Triumphwagen, vor den ſonſt mehrere
Tropfen eingeſpannt waren, gern als Gabelpferd
allein ziehen will, zweitens weil ſie mehr Liſt und
weniger Empfindung als er beſitzt und ihn beredet,
es ſei gerade umgekehrt.


Damit ich nun die Beata, die Du gern in
Dein Leben und in Dein Buch hinein haben moͤch¬
teſt, in das Leben und das Buch des Oefels (er
iſt auch uͤber einem) verflechte, ſo hab' ich, trau¬
ter Paul, dem alten Roͤper ſo viele Kabinets-Pre¬
digten daruͤber gehalten, daß die Kraͤnklichkeit ſei¬
ner Tochter nicht durch Einen, ſondern durch ein
Paar hundert Aerzte zu beſiegen ſei, d. h. durch
Geſellſchaft — daß der Alte ihr eine oder vielmehr
ſie einer geben will, ohne ſelber fuͤr eine die Ali¬
mentengelder auszugeben. Er will ſie auf irgend
ein Beet des Hofgartens verpflanzen: „ſie ſoll auch
[252] Welt mit kriegen“ ſagt er und hat ſelber keine.
Er wuͤrde wenn er duͤrfte die ganze weibliche Welt
von ihren Bergeren und Altaͤren und Poſtamenten
auf Werk- und Melkſtuͤhle herunterdruͤcken; gleich¬
wohl ſollen ſeiner Tochter durch Juden und Dia¬
manten-Pulver Facetten angeſchliffen werden, die
er ſelber haſſet. Iſt ſie am Hofe, ſo ſieht ſie
nachher der Legationsrath alle Tage — und Jean
Paul
hat nichts.


Dieſer Jean fragte mich auch pfiffiger Weiſe,
ob er nicht Gerichtshalter beim Vater der beſag¬
ten Tochter werden koͤnne, weil er der Jean, vom
Abdanken des jezigen gehoͤrt habe — Herr Kolb
(eben der Gerichtshalter) iſt aber noch da, zankt
ſich noch, ſagt jede Woche „wenn jeder die Strei¬
che von Roͤper wuͤſt', die ich,“ Roͤper ſagt jede
Woche „wenn jeder die Streiche von Kolb wuͤſte,
die ich“ und ſo ſind ſie an einander durch wechſel¬
ſeitige Beſorgniſſe geleimt — — Jezt iſt ohnehin
nicht daran zu denken: denn in 14 Tagen laͤſſet
ſich der alte Roͤper von ſeinem Rittergute huldi¬
gen. Ein Geiziger ſcheuet ſich, zu aͤndern und zu
wagen.


[253]

„Warum laͤſſeſt Du Deine gute Schweſter ſo
„lange im giftigen Huͤttenrauch des Hofes ſtehen?
„Iſt das, was ſie dort gewinnen kann, wohl ſo
„viel werth wie das, was ſie mitbringt und dort
„verlieren kann, ihr reines, weiches obgleich
„fluͤchtiges Herz? Auf meinen Reiſen dacht' ich
„anders, aber jezt in der Einſamkeit iſt mir ein
„kokettes Inſekt, eine kokette Krebſin, die bald
„vor-bald ruͤckwaͤrts kriecht, die ihre große und
„kleine Scheeren immer aufſperrt und ſie immer
„regeneriert, wenn man ſie abgeriſſen, die in der
„Bruſt ſtatt des Herzens einen Magen traͤgt und
„doch kaltbluͤtig iſt wie alle Inſekten, eine ſolche
„inkruſtirte Krebſin iſt mir widerlicher als eine
„ſchaalenloſe in der Mauße der Empfindſamkeit,
„die zu weich iſt und aus der ein Autor die em¬
„pfindſame Krebsbutter macht. Empfindelei beſſert ſich
„mit den Jahren, Koketterie verſchlimmert ſich mit den
„Jahren. — Warum ſchafſt Du Deine Philippine
„nicht nach Haus?“ Auf dieſe Fragen hat mir
Jean Paul nicht geantwortet; ich aber auf ſeine:
denn ich raͤche mich nicht; ich wuͤnſchte vielmehr
beſagter Paul druͤckte Beatens Finger heute an
unrechte Finger mehr als auf die rechten Taſten
[254] und jezt im Lenz-Alter ſahe ſie ſich neben dem
Klavier fragend nach Paulo um und uͤberleuchtete
ihn mit dem blauen Himmel ihres weiten ſaphyr¬
nen Auges: der arme Teufel, eben der Paul,
wuͤrde ſich nicht mehr kennen und dann ſagen:
„ohn' ein ſchoͤnes Auge geb' ich fuͤr alles andre
Schoͤne nicht einen Deut, geſchweige mich; aber
uͤber ein Himmels-Augenpaar vergeſſ' ich alle be¬
nachbarte Reize und alle benachbarte Fehler und
den ganzen Bach und Benda wie er iſt und
meine Mordanten und die falſchen Quinten
und weit mehr.“ Leb wohl, Vergeßlicher!


D. Fenk.


Wir verſtehen uns, herzlicher Freund; wer
ſelber einmal Satiren geſchrieben hat, vergiebt
alle Satiren auf ſich, zumal die boßhafteſten, bloß
die dummen nicht. Aber, obs der D. gleich im
Scherze verfochten hat, ſo muß ich doch ſolche Le¬
ſer, die weit von Scheerau wohnen, ohne Ruͤck¬
ſicht auf mich benachrichtigen, daß der beſagte
Legationsrath die unbedeutendſte Haut iſt, die wir
beide nur kennen, wie er denn bloß unter Wei¬
bern nicht, aber unter Maͤnnern allzeit verlegen
[255] iſt und im kleinen Zirkel vielmehr als im großen,
zu geſchweigen daß er immer die Aufmerkſamkeit
aufſucht und auch erjagt, die beſcheidne Leute ge¬
ſchickt vermeiden, die allgemeine naͤmlich: Wenn
ihm dieſe uͤberall gelingt: ſo ſoll er ſie doch nicht
in meinem Buche haben. . . Die folgende Sache
iſt freilich unmoͤglich — zumal meines verdammten
lang- und kurzbeinigen oder ſpondaͤiſchen Stel¬
lage und Konſole wegen, auf die mein uͤbrigens
von Kennern beurtheilter Torſo gelagert iſt — —
aber ausmahlen kann ſich doch ein Menſch die un¬
moͤgliche Sache, welche dieſe iſt, daß ich mich
einmal [Beaten] mit einer Liebeserklaͤrung zeigte
und ſo — wider eigne Erwartung — ſelber der
Held dieſer Biographie und ſie die Heldin wuͤrde
— — ich bin ordentlich verdutzt, denn ich wollte
wahrhaftig nur ſagen und ſetzen, daß ich bei Roͤ¬
per Gerichtshalter wuͤrde und hernach im Grunde
— weil ich jeden Gerichtstag zaͤrtlich waͤre, oder
eine zaͤrtliche Beſtie, wie eine Frau ſich ausdruͤckt,
die mehr zum ſchoͤnen als ſchwachen Geſchlecht
gehoͤrt — gar ſein Schwiegerſohn — Mit Freuden
wollt, ich dem ſo guten Leſer, der Mitfreude
fuͤhlt, alles biographiſch beſchreiben und ihn er¬
[256] goͤtzen. . . . . Aber wie geſagt, die Sache iſt fa¬
taler Weiſe wohl unmoͤglich, ſo viel ich in die Zu¬
kunft ſchauen kann; und das bloß eines verdamm¬
ten unſymmetriſchen Drathgeſtelles wegen, das
doch der, den ſein Ungluͤck darauf geheftet, durch
tauſend Glaſuren und Raſuren wieder gut machen
will und auf dem ja Epiktet gleichfalls lange ſtand.


Im Feuer bin ich ganz aus meinem biographi¬
ſchen Plan heraus gegangen: es ſollte bisher der
Leſewelt geſchickt verhalten werden (und gluͤckte
auch,) daß alle dieſe Avantuͤren noch nicht alt ſind
und daß in Kurzem das Leben dieſer Perſonen mit
meiner Lebensbeſchreibung davon Hand in Hand
gleich zeitig gehen werde — — Jezt aber hab' ich
alles loßgezuͤndet — Es muß nur uͤberhaupt ein
neuer Sektor angefangen, werden, worin Ver¬
nunft iſt. . .


Neun¬[257]

Neunzehnter Sektor.

Erbhuldigung — Ich, Beata, Oefel —


Vierzehn Tage nach Fenks Brief. . . . Iſt aber
auf Leſer zu bauen? — Ich weiß nicht, wohers
beim deutſchen Publikum koͤmmt, ob von einem
Splitter im Gehirn oder von ergoſſener Lympha
oder von toͤdtlichen Entkraͤftungen, daß es alles
vergiſſet was der Autor geſagt hat — oder es kann
auch von Infarktus oder von verſetzten Ausleerun¬
gen herruͤhren: genug der Autor hat davon die
Plackerei. So hab' ichs ſchon auf einer Menge Bo¬
gen dem Publikum durch Setzer und Drucker ſagen
laſſen (es hilft aber nichts,) daß wir 13000 Thaler
beim Fuͤrſten ſtehen haben, die kommen ſollen —
daß ich zwar keine Jura ſtudiert, aber doch waͤh¬
rend ich mich zum Advokaten examiniren laſſen,
manchen huͤbſchen juriſtiſchen Brocken weggefangen,
der mir jezt wohl thut — daß Guſtav Kadet wer¬
den ſoll und ich Gerichtshalter werden will — daß
Ottomar unſichtbar und ſogar unhoͤrbar iſt — und
daß mein Prinzipal zu viel verthut! — —


R[258]

Leider freilich: denn ſo lang' er noch ein Zimmer
oder einen Pferdeſtand ohne animaliſchen Kubik-In¬
halt weiß: ſo haͤngt er ſeine Angelruthe nach Gaͤ¬
ſten ein. Er iſt wie die jezigen Weiber nirgends
geſund als im geſellſchaftlichen Orkan und Viſiten-
Dickigt — er und dieſe Weiber ſteigen aus einem
ſolchen lebendigen Menſchen-Bad ſo verjuͤngt
und neugeboren wie aus einem Ameiſen- und
Schnecken-Bad. Er kann ſich nie ſchmeicheln,
hier nur die geringſte Aehnlichkeit, (geſchweige
mehr) mit dem Kommerzien-Agenten Roͤper zu
haben, der in der Einſamkeit eines Weiſen und
Rentierers ſtille denkt uͤber Hausprozeſſe und ruͤck¬
ſtaͤndige Zinſen und der es weiß, daß ſein Schloß
nur Schenk- und Kruggerechtigkeit beſitzt und alſo
niemand uͤber Nacht beherbergen darf. — Falken¬
berg! hoͤr' auf den Biographen! ziehe Deinen
Beutel, Dein Schloßthor und Dein Herz zuwei¬
len zu! glaube mir, das Schickſal wird Deine
großmuͤthige Seele nicht ſchonen, das rennende
Gluͤck wird Dein weiches Herz mit ſeinem Rade
uͤberfahren und zerſchneiden, um ſein Lottorad
hinter ſeiner Binde vor einem Roͤper auszuladen!
O Freund! es wird Dir alles nehmen was Du
[259] dem fremden Elend' oder der eignen Freude geben
willſt, nicht einmal den Muth wird es Dir laſſen,
Dein beſchaͤmtes Herz mit ſeinen Wunden an einem
Freunde zu verbergen! — und wie ſoll es dann
Deinem Sohn ergehen? —


Und doch! — ich tadle Dich nur vorher; aber
nachher wenn Du Dich einmal ungluͤcklich ge¬
macht haſt durch Gluͤcklich-Machen: ſo findeſt
Du Achtung in jedem guten Auge, Liebe an je¬
der guten Bruſt!


. . . Alſo 14 Tage nach Fenks Briefe, als
mein Eleve ſchon achtzehn Jahre, aber noch ohne
die Kadettenſtelle war, ſaß bei meinem Prinzipal
ein bureau d'eſprit boͤheimiſcher Edelleute und hat¬
te feurige Pfingſt-Zungen und Maͤrz-Bier. Ich
hatte nichts, war aber mit d'runter: ich konnt'
es meinem guten Rittmeiſter nie abſchlagen, ſon¬
dern vermehrte wenn nicht die Geſellſchafter — —
man ſchaͤtzet Menſchen von einer gewiſſen zu großen
Feinheit erſt dann am meiſten, wenn man von
ihnen weg iſt unter Menſchen von einer gewiſſen
Grobheit — doch die Leute. Manche Menſchen
ſind wie er Viſiten-Preßknechte und koͤnnen nicht
genug Leute zuſammenbitten, ohne zu wiſſen wes¬
R 2[260] wegen, ohne ſie zu lieben: Taubſtumme lude
Falkenberg ein. Es hat fuͤr die Leſer Folgen, daß
ich ſagte „heute laͤſſet ſich Roͤper huldigen.“ Fal¬
kenberg, der gern Boͤſes von andern ſprach und
ihnen nichts als Gutes that und der ſeinen abwe¬
ſenden Erbfeinden, z. B. d. h. Geizigen gern Erb¬
ſen auf den Weg ſtreuete und dieſe doch wieder
wegfegte wenn jene fallen wollten, dieſer war
froh uͤber meinen Gedanken und uͤber ſeinen: „Wir
ſollten, ſagt' er, ihm (Roͤper) zur Aergerniß heute
alle hinreiten.“ — In ſechs Minuten ſaß das
trinkende bureau d'eſprit und der Hofmeiſter auf
den Gaͤulen; Guſtav nicht: er war fuͤr ein ſchoͤ¬
neres Schwaͤrmen gemacht als fuͤr ein lautes. Da¬
her verwickelte Guſtavs inneres Leben mich oft
bei ſeinem Vater, der aͤußeres foderte, in den
verdruͤßlichen und vergeblichen Verſuch, daß ich
ihm beibringen wollte, worin eigentlich der hohe
Werth ſeines Sohnes laͤge — fuͤr einen Hofmeiſter,
der auf Ehre haͤlt, iſt dergleichen zu fatal.


Wir ſahen auf unſern Pferden Maußenbach,
das vor ſeinem adelichen Chan ſtand und ihm die
Feudal-Krone auf ſeinen italieniſchen Kopf ſetzte.
Neben dem gehuldigten Potiphar ſtand ſein Juſtitz¬
[261] Departement, ſein Accis-Kollegium, ſeine geheime
Landesregierung, ſein Departement der auswaͤrti¬
gen Angelegenheiten — naͤmlich H. Kolb, der Ge¬
richtshalter, der alle dieſe [Kollegien] vorſtellte. Die¬
ſes Miniatuͤr-Miniſterium des Miniatuͤr-Souve¬
rains hatte auf einer Wieſe — das konnten wir von
weitem ſehen — einen langen Brief in der Hand,
woraus es den Leuten alles vorlas was zu beſchwoͤren
war: die hundert Haͤnde der Eidgenoſſenſchaft zogen
ſich dann durch die Haͤrtenden zwei Haͤnde Roͤpers
und Kolbes hindurch [und] verſprachen dem Edelmann
gern zu gehorchen, falls er ſeines Orts verſprechen
wollte, zu befehlen.


Aber nach Freud' koͤmmt Leid, nach Erbhul¬
digung ein bureau d'eſprit. . . Im achtzehnten Jahr¬
hundert ſind allerdings viele Menſchen erſchrocken
und ſehr, z. B. die Jeſuiten, die Ariſtokraten, auch
Voltaire und andre große Autores erſchrecken ziem¬
lich — aber es erſchrack doch keiner im ganzen aufge¬
hellten Saͤkul ſo als der Kommerzien-Agent, da er
ſah was kam; da er ſah 15 Menſchenkoͤpfe und 15
Roßkoͤpfe zwiſchen einem Artillerietrain von Hunden
oben uͤber den Berg herunterziehen, die ſaͤmmtlich
in ſeinem Schloſſe nichts zu ſuchen hatten aber zu
[262] finden genug. Da aber auch zweitens niemand im
achtzehnten Jahrhundert ſeltner zu Hauſe war als
er — er wars wohl, hockte aber hinter Spiegelglaß-
Fenſtern wie hinter Brandtmauer und Schanzkorb,
weil ſie ihm wie ein Gyges-Ring die Sichtbarkeit be¬
nehmen — ſo haͤtt' er ſich helfen und fuͤr ſo viele
Saͤugthiere eben ſo viele Meilen entfernt ſeyn koͤn¬
nen; aber auf der Wieſe wars nicht zu machen. Ein
froͤhliger Menſch, und waͤrs ein Geiziger, will Froͤh¬
lige machen: Roͤper erſchrack — erſtaunte — reſig¬
nirte — und empfieng uns freudiger als wir errie¬
then. Er blieb im Geben heute, weil er einmal im
Geben war.


Denn ſeine Lehnleute, die heute den Verſtand
verſchworen hatten, ſollten ihn auch vertrinken,
denn einige ſauer erworbene und eben ſo ſauer ſchme¬
ckende zwei Eimer hatt' er als Gefangne aus ihrem
Souterain am Kroͤnungstage loßgelaſſen — er hatte
die Faͤſſer ihnen mit doppelter Kreide weniger an¬
geſchrieben
als getuͤnchet und leuteriert und
Fleckkugeln von Kreidenerde ſo lange in Haͤngbett¬
gen darein eingeſenkt gehabt, daß das Geſoͤf faſt
am Ende zu gut war, um verſchenkt zu werden.
Der Filz ſucht zu erſparen, ſogar in dem er ver¬
[263] ſchenkt. Uebrigens ſprang er mit ſeinen Lehn-Un¬
terthanen zutraulicher und freigebiger um als mit
uns geadelten Gaͤſten — „ſo handelt ein Mann
ſtets, der keinen Adelſtolz beſitzt“ ſagt der Rezen¬
ſent; „aber ſo handelt der Knicker ſtets, dem ge¬
ringere aber ſilberhaltige Leute lieber ſind als
ſtandsmaͤßige nehmende Gaͤſte und der einen eignen
Bedienten uͤber einen fremden Freund und uͤber
den Stand die Nutzbarkeit hinaufſetzt“ ſag' ich. —
Die Kommerzien-Agentin von Roͤper legte jeder
Bier-Arche ihres Mannes noch eine kleine Chaloup¬
pe zu; ſeine Geſchenke waren ihr allemal ein Vor¬
wand, geheime Zuſaͤtze dazu machen. Nur befahl
ſie dem Dorfrichter, ein waches Auge darauf zu
haben, daß ihr von der Bierhefe nichts verloren
gehe. Die Natur hatte ihr eine freie liebende
Seele gegeben; aber eben dieſe Liebe fuͤr ihren
Mann gab ihr von ſeinen [Fehlern] wenigſtens den
Schein.


Du treues Herz! laſſ' mich einige Zeilen bei
deiner ehelichen Uneigennuͤtzigkeit verweilen, die
alle eigne Wuͤnſche fuͤr Suͤnden und alle Wuͤnſche
ihres Mannes fuͤr Tugenden haͤlt, der kein Lob
gefaͤllet als eines auf den, den du uͤbertrifſt!
[264] Warum biſt du' nicht einer Seele zugefallen, die
dich nachahmt und kennt und belohnt? warum wa¬
ren dir fuͤr deine Aufopferungen, fuͤr deine Her¬
zensriſſe hienieden keine ſchmerzſtillenden Tropfen
als die beſchieden, die deinetwegen aus den ſchoͤ¬
nen Augen deiner Tochter fallen? — ach du erin¬
nerſt mich an alle deine Leidens-Mitſchweſtern —
ich weiß es zwar aus meiner Pſychologie recht gut,
ihr armen Weiber daß euere Leiden nicht ſo groß
ſind als ich mir ſie denke, eben weil ich ſie denke
und nicht fuͤhle, da der Blitz, der in der Ferne
der Vorſtellung zu einer Flammen-Schlange wird,
in der Wirklichkeit nur ein Funke iſt, der durch
mehrere Augenblicke ſchießet; aber kann ſich ein
Mann, ihr weiblichen Weſen, die Seelen-Kon¬
tuſionen und Frakturen denken, die ſein grober
von Waffen gehaͤrteter Finger in euere weiche Ner¬
ven druͤcken muß, da er nicht einmal ſo ſanft mit
euch umgeht wie ihr mit ihm oder er ſelber mit
ſaftvollen glatten Raupen, die er nur mit dem
ganzen Blatte worauf ſie liegen, wegzutragen
wagt?. . . Und vollends eine Louiſe und eine Bea¬
ta! — Aber waͤre Jean Paul nur euer Gerichtshal¬
ter, wie ihm der Alte zugeſagt, er wollt' euch,
troͤſten genug. . . .


[265]

Es iſt aber auf den Alten ſchlecht zu bauen:
ſchleicht er nicht in ganz [Unterſcheerau] umher und
voziert im Voraus alle Advokaten zu ſeiner Ge¬
richtshalterei, um uns Rechtsfreunde durch die
Hofnung unter ihm zu dienen, vom Entſchluſſe
wegzubringen, gegen ihn zu dienen? — Inzwi¬
ſchen muß ers doch mit Einem ehrlich meinen, der
ich wohl bin.


Als die boͤheimiſche Ritterſchaft und ich von
der Wieſe ins Schloß eintraten: ſo ſtieß ſie und
ich auf etwas ſehr Schoͤnes und auf etwas ſehr
Tolles. Das Tolle ſaß beim Schoͤnen. Das Tolle
hieß Oefel, das Schoͤne hieß Beata. Der Him¬
mel ſollte einem Autor eine Zeit geben, ſie zu
ſchildern, und eine Ewigkeit, ſie zu lieben;
Oefeln kann ich in drei Tertien ausmalen und aus¬
lieben. Es gereichte mir und ihr zur Ehre, daß
ſie in ihrem alten Klavier-Dozenten ſogleich den
Bekannten fand; aber es gereichte mir zu keiner
Freude, daß ſie am Bekannten nichts Unbekann¬
tes entdeckte und daß ſie bei meinem Anblick ſich
nicht erinnerte, aus einem Kind ein Frauenzimmer
geworden zu ſeyn. — Es giebt ein Alter, wo man
Schoͤnen doch verzeiht, wenn ſie uns auch nicht
[266] bemerken und nicht annehmen. O ich verzieh dir
alles, und der groͤßte Beweis iſt der, daß ich da¬
von ſpreche. — Der junge Juͤngling bewundert
und begehrt zugleich, der aͤltere Juͤngling iſt faͤ¬
hig, bloß zu bewundern. Beatens Empfindungen
und Worte ſind noch der blendendweiſſe und reine
friſche Schnee, wie ſie vom Himmel gefallen ſind:
noch kein Fußtritt und kein Alter hat dieſen Glanz
beſchmutzt. Sie wurde noch ſchoͤner, weil ſie heu¬
te thaͤtiger war als ſonſt und ihre ſchoͤnen Schul¬
tern der Laſt der Mutter lieh: die blaſſe Monds-
Aurora, die ſonſt auf ihren Wangen den ganzen
Himmel weiß ließ, uͤberfloß ihn mit einem Roſen-
Widerſchein: auch die fremde Freude, fuͤr die ſie
heute thaͤtig war, gab ihr das erhoͤhte Kolorit,
das ſie ſonſt durch eigne verlor. — Die Maͤdchen
wiſſen nicht, wie ſehr ſie Geſchaͤftigkeit verſchoͤne¬
re, wie ſehr an ihnen und den Taubenhaͤlſen das
Gefieder nur ſchillere und ſpiele, wenn ſie ſich be¬
wegen und wie ſehr wir Maͤnner den Raubthieren
gleichen, die keine Beute haben wollen die ſtille
ruht.


Ihre Mutter ſagte mir freudig die Urſache,
weswegen der Legationsrath da ſaͤße: er hatte Bea¬
[267] ten eine Invitation von der Reſidentin von Bouſe
gebracht, auf ihr Landgut zu kommen, wo mei¬
ne Schweſter auch iſt. Das neue Schloß Marien¬
hof liegt eine halbe Stunde von der Stadt; am
neuen hat Oefel das alte, das vielleicht durch ge¬
heime Thuͤren mit jenem kommunicirt. Er gab un¬
hoͤflicher Weiſe zu errathen, ohne ſein feines In¬
triguiren — d. h. er machte wie die Advokaten,
uͤber den ſchmalſten Bach eine Bruͤcke ſtatt eines
Sprunges — waͤr' es hinkend gegangen. Unmoͤg¬
lich kann ein ſolcher eitler Narr von ſeinem Herzen
einen Schiefer-Abdruck in einen ſo edlen Stein als
Beata iſt auspraͤgen: wenn ſie auch der Faſelhans
kuͤnftig alle Nachmittage im neuen Schloſſe um¬
lagert, wie er thun wird: ſo kann ich mich doch
darauf verlaſſen — ja ich wollte dafuͤr ſchwoͤren.
Ein Haſelant ſeiner Groͤße kann zwar ein Paar
eckige begraſete Landfraͤulein (wie heute geſchah)
zu einem verliebten Erſtaunen uͤber ſeine Glocken¬
polypen-Drehungen, uͤber ſeinen Muth, uͤber ſei¬
nen Verſtand (d. h. Witz) und ſeine Unverſchaͤmt¬
heit zwingen, ſtatt Damen und Schoͤnen bloß zu
ſagen Weiber: das kann er und mehr, ſag' ich;
aber von Beatens Herz werden ihn ewig alle ihre
[268] Tugenden trennen: ſie wird neben ſeiner Liebe zur
Miniſterin ſeine zu ihr ſelber gar nicht ſehen und
nicht glauben; ſie wird ihrer Seele keinen Oefel¬
ſchen ſentimentaliſchen Floſkeln oͤffnen, die wie das
falſche Geld bald zu groß bald zu klein ſind — Sie
wird vielmehr finden, an einem ehrlichen Jean Paul
iſt mehr dran; ſie wird hoff' ich beſagtem Paul die
Aehnlichkeit, die er mit Oefel in einigen Vorzuͤ¬
gen haben mag, gern verzeihen, weil er ohne
ſeine Fehler iſt, und mit einem treuen beſcheide¬
nen Herzen vor ihr ſteht, das kaum den Muth hat,
ihr das feinſte Goldblatt des Lobes leiſe aufzuhau¬
chen und welches ſchweigt auch mißverſtanden und
reſignirt auch ohne verſucht zu haben..... Sie
wird in ihrem Urtheile gerade ſo von den alten
Landfraͤulein abweichen wie ich von den jungen Land¬
junkern, die mit da ſaßen. Denn Oefels Erſchei¬
nung nahm ihnen allen vorigen Witz und Verſtand
und ſein queckſilberner Anſtand goß alle ihre Glie¬
der mit Blei aus; ſie zogen in einer Falkenbaize,
wo ein ſolcher Vogel die weiblichen Herzen ſtieß,
ihre plumpen Schwingen an ſich und bewunderten
vermoͤge der maͤnnlichen Aufrichtigkeit ſtatt der weib¬
liche Reize ſeine — Hingegen Jean Paul blieb wie
er war und ließ ſich nichts anhaben.


[269]

Ich wuͤrde manchen deutſchen Kreis auf die
Vermuthung einer heimlichen Eiferſucht bringen,
wenn ich gar nichts zum Lobe Oefels ſagte: er ver¬
ſprach am naͤmlichen Nachmittag meinem Eleven ei¬
nen großen Dienſt. Er hielt ſich naͤmlich, ob er
gleich das alte Schloß neben der Reſidentin zur
Miethe hatte, nicht darin ſondern im Scheerauer
Kadettenhauſe auf und ruͤckte von Zimmer zu Zim¬
mer, um — da ihm ſein hoher Stand verbot, ſich
ſonderbar zu kleiden — wenigſtens ſonderbar zu han¬
deln: er wollte da Menſchen ſtudiren, um ſie in Kup¬
fer ſtechen zu laſſen. Er ſetzte naͤmlich einen Ro¬
man als eine kurze Encyklopaͤdie fuͤr Erbprinzen
und Kronhofmeiſter auf und ſchrieb auf den Titel
„der Großſultan” — dieſer Fenelon machte den
Haram ſeines Telemachs zu einem Spiegelzimmer,
das den ganzen weiblichen Scheerauer Hof reflektir¬
te, ſein Werk war ein Herbarium vivum, eine
Flora von allem was auf und am Scheerauer Thro¬
ne waͤchſet, vom Fuͤrſten an, bis, wenn er ſich
noch erinnert, zu mir. Wenn's erſcheint, ver¬
ſchlingen wirs alle, weil er uns ſelber darin ver¬
verſchlungen; die Rezenſenten werden nichts darin fin¬
den und ſagen laͤngſt, „triviales Zeug!” — da er nichts
[270] that was er nicht vorher und nachher aller Welt
promulgirte: ſo hatt' es ſogar mein Rittmeiſter
gehoͤrt, daß er beim Kadettengeneral ſo lange und
ſo fein intriguirt hatte bis er ſtatt eines aufſehen¬
den Offiziers die Zimmer des Kadettenpaͤdagogiums
bewohnen und verwechſeln durfte; und ſo kam un¬
ſer Fuͤrſt dieſem Menſchen-Naturforſcher eben ſo
mit einer menſchlichen Menagerie zu Huͤlfe, wie
Alexander dem Ariſtoteles mit einer thieriſchen.
Der Rittmeiſter trat alſo mit ſeiner ſiegenden Men¬
ſchenfreundlichkeit zu ihm und bat ihn, ſich fuͤr un¬
ſern Guſtav beim Kadettengeneral geſchickt zu ver¬
wenden, damit er einmal unter deſſen Fahne kaͤ¬
me. Der Protektor Oefel ſagte, nunmehr ſey es
ſchon ſo gut als richtig; er enzuͤckte ſich ſelber mit
der Vorſtellung, einen unter der Erde erzognen
Sonderling zum Stubenkameraden und zum ſitzen¬
den Original zu bekommen.


Die Stralenbrechung zeigt Schiffern das Land
allezeit um etliche Hundert Meilen naͤher als es
liegt und ſtaͤrkt durch ſo einen unſchuldigen Betrug
ſie mit Hoffnung und Genuß. Aber auch in der
moraliſchen Welt iſt die wohlthaͤtige Einrichtung,
daß Fuͤrſten und ihre Miniſterien uns Bittſteller
[271] (ſo will Campe ſtatt Supplikant hoͤren) dadurch
froh und munter erhalten, daß ſie uns durch eine
optiſche Taͤuſchung die Hofſtellen, Aemter, Char¬
gen, die wir haben wollen, allzeit um einige Hun¬
dert Meilen oder Monate naͤher — wir koͤnnen ſie
erlangen, denken wir — ſehen laſſen als ſie wirk¬
lich ſind. Dieſe Taͤuſchung der Approximation iſt
auch alsdann nuͤtzlich und gewoͤhnlich, wenn die
geiſtliche oder weltliche Bank, die den Sitzern auf
der langen Expektantenbank naͤher gewieſen wird,
am Ende gar bloß eine — Nebelbank iſt.


„Der Kommerzien-Agent, ſagte unterwegs
der Rittmeiſter zu mir, iſt doch kein ſo uͤbler Mann
als ſie ihn machen — und der Legationsrath muß
nur in die Jahre kommen.“ —


[272]

Zwanzigſter Sektor.

Das zweite Lebens-Jahrzehend — Geſpenſtergeſchichte —
Nacht-Szene — Lebensregeln.


Oefel hielt Wort. Vierzehn Tage darauf ſchrieb
uns der Profeſſor Hoppedizel, er werde den neuen
Kadetten abholen. — — Nun wurde unſer bishe¬
riger Wunſch unſre Pein. Guſtavs und mein Bund
ſollte auseinander gedehnt und verrenkt werden:
jedes Buch das wir nun zuſammenlaſen, kraͤnkte
uns mit dem Gedanken, daß es jeder allein zu
Ende bringen wuͤrde; ich wollte meinen Guſtav
kaum etwas mehr lehren, deſſen Ausbau ich an
fremde Architekten uͤbergeben mußte und jeder ſchoͤ¬
ne Blumenplatz war uns die Gartenthuͤr des Edens,
die ein armirter Cherub abſchloß. Die Sturmmo¬
nate ſeines Herzens ruͤckten nun auch naͤher. Ich
hatte ohnehin den Fluͤgeln ſeiner Phantaſie nicht
Federn genug ausgeriſſen und ihn aus ſeiner Ein¬
ſamkeit nicht oft genug verjagt. In dieſer trieb
ſeine Phantaſie ihre Wurzeln in alle Fibern ſeiner
Natur hinein und verhieng mit den Bluͤten, die
ſeinen[273] ſeinen Kopf auslaubten, die Eingaͤnge des aͤuſſern
Lichts. —


Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch
ſeine Buͤcher, d. h. weder die Gartenſcheere noch
die Gießkanne ſaͤttigen und faͤrben die Blume, ſon¬
dern der Himmel und die Erde, zwiſchen denen ſie
ſteht — d. h. die Einſamkeit oder Geſellſchaft in
der das Kind ſeine erſten Knoſpen-Minuten durch¬
waͤchſet. Geſellſchaft treibt das Alltagskind, das
ſeine Funken nur an fremden Stoͤßen giebt. Aber
Einſamkeit zieht ſich am beſten uͤber die erhabnere
Seele, wie ein oͤder Platz einen Pallaſt erhebt:
hier erzieht ſie ſich unter befreundeten Bildern und
Traͤumen ſymmetriſcher als unter ungleichartigen
Nutzanwendungen. Um ſo mehr haben Generalac¬
ciskollegien darauf zu ſehen, daß große poetiſche
Genies — im Grunde taugt keines zu einem ge¬
ſcheuten Kammer- oder Kanzleiverwandten — vom
10ten Jahre bis zum 35ſten in lauter Viſiten-
Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden,
ohne in eine ſtille Minute zu kommen; ſonſt iſt
keines in einen Archivar, oder Regiſtrator umzu¬
ſetzen. Daher haͤlt auch das Marktgetoͤſe der groſ¬
ſen Welt allen Wuchs der Phantaſie ſo gluͤcklich
am Boden.


S[274]

Daran dacht' ich oft und warf mir manches
vor. Wuͤrde nicht, (hielt ich mir vor) ein gruͤnd¬
licherer Schulkollege deinen Guſtav, wenn er mit
dem Ruͤcken auf dem Graſe liegt und in den blauen
Himmelskrater hinaufzuſinken oder auf Fluͤgeln an
den Schulterblaͤttern durch das Univerſum zu ſchwim¬
men traͤumt, mit dem Spazierſtock an ein Buch
von Nutzen treiben? Und, ſagt' ich, wenn ich
zum gruͤndlichern Kollegen ſagte, es ſei einerlei,
woran eine kindliche Phantaſie ſich aufwinde, ob
an einem lackierten Staͤbchen, oder an einer le¬
bendigen Ulme, oder an einem ſchwarzen Raͤucher¬
ſtecken: wuͤrde der Kollege nicht witzig verſetzen,
eben alſo, es ſei alſo einerlei? —


Inzwiſchen beſaͤß' ich meines Orts auch Witz:
ich wuͤrde auf die Replik verfallen: „glauben Sie
denn, Hr. Konfrater, daß unter dem groͤßten
Spitzbuben und dem groͤßten komiſchen Dichter, den
ſie vertiren, ein Unterſchied iſt? — Allerdings:
ein guter Plan des Kartouche iſt von einem guten
Plan des Dichters Goldoni darin verſchieden, daß
der erſtere die Komoͤdie ſelber ausfuͤhret, die der
letztere von Schauſpielern ausfuͤhren laͤſſet.“

[275]

Guſtav war jetzt in der Mitte des ſchoͤnſten
und wichtigſten Jahrzehends der menſchlichen Flucht
ins Grab, im zweiten naͤmlich. Dieſes Jahrzehend
des Lebens beſteht aus den laͤngſten und heiſſeſten
Tagen; und — wie die heiſſe Zone zugleich die Groͤße
und den Gift der Thiere mehrt — ſo kocht ſich an
der Juͤnglingsglut zwar die Liebe reif, die Freund¬
ſchaft, der Wahrheits-Eifer, der Dichtergeiſt,
aber auch die Leidenſchaften mit ihren Giftzaͤhnen
und Giftblaſen. In dieſem Jahrzehend ſchleicht das
Maͤdchen aus ihren durchlachten Jahren weg und ver¬
birgt das truͤbere Auge unter derſelben haͤngenden
Trauerweide, worunter der ſtille Juͤngling ſeine Bruſt
und ihre Seufzer kuͤhlt, die fuͤr etwas naͤhers ſteigen
als fuͤr Mond und Nachtigal. Gluͤcklicher Juͤngling!
in dieſer Minute nehmen alle Grazien deine Hand,
die dichteriſchen, die weiblichen und die Natur ſelbſt
und legen ihre Unſichtbarkeit ab und ſchlieſſen dich
in einen Zauberkreis von Engeln ein. Ich ſagte,
ſelbſt die Natur: denn auf ihr gluͤhen noch hoͤhere
Reize als die maleriſchen; und der Menſch, fuͤr deſ¬
ſen Auge ſie ein meilenlanges Knieſtuͤck voll Zaube¬
reien war, kann ihr ein Herz mitbringen, das aus
ihr ein Pygmalions-Gebilde macht, welches tauſend
S 2[276] Seelen hat und mit allen eine umſchlingt . . . . O ſie
kehrt niemals, niemals wieder, die zweite Dekade
des armen Lebens, die mehr hat als drei hohe Feſt¬
tage: iſt ſie voruͤber, o ſo hat eine Todeshand unſre
Bruſt und unſer Auge beruͤhrt; was noch in dieſe
dringt, was noch aus ihnen dringt, hat den erſten
Morgenzauber verloren und[ ]das Auge des alten Men¬
ſchen oͤfnet ſich dann bloß gegen eine hoͤhere Welt, wo
er vielleicht wieder Juͤngling wird!


Drei Tage, eh der Profeſſor kam, war Geſpen¬
ſterlaͤrm im Schloß; zwei Tage vorher waͤhrte er noch
fort; einen Tag zuvor machte der Rittmeiſter Anſtal¬
ten zur Entdeckung der Schelmerei. Er hatte einen
Waſſerſcheu vor Geſpenſtergeſchichten und gab jedem
Bedienten, der eine wie Bokaz erzaͤhlte, als ein Ho¬
norar ſeiner Novelle nach der Bogenzahl Pruͤgel.
Die Rittmeiſterin aͤrgerte ihn durch ihren Leichtglau¬
ben und ſie bekam oft den Blick von ihm, den Maͤn¬
ner werfen, wenn die Hoffnungen oder Befuͤrchtun¬
gen ihrer Weiber Haſenſpruͤnge wie Erdhalbmeſſer
thun. — Sie hatte zu Nachts ein dreifuͤßiges Gehen
durch den Korridor gehoͤrt, ein Blitz war durch ihr
Schluͤſſelloch gefahren und eine andre Taſchenuhr als
ihre hatte 12 geſchlagen und alles war verflogen.


[277]

Er lud alſo ſeine Doppelpiſtolen, um dem Teu¬
fel mit dem Pulver, das er nach Milton fruͤher als die
Sineſer erfunden, anzufallen; ſein Guſtav mußte
mit dabei ſeyn, um muthig zu werden. Die Schlo߬
uhr ſchlug 11, es kam nichts — ſie ſchlug 12, wie¬
der nichts — ſie ſchlug 12 noch einmal ohne Huͤlfe
des Uhrwerks: jetzt wickelte ſich auf dem Schloßbo¬
den ein hieroglyphiſches Gepolter heran, drei Fuͤße
traten die vielen Treppen herab und erſchuͤttern den
Korridor. Er, der ſelten in Leiden, aber immer in
Gefahren muthig war, gieng langſam aus dem
Zimmer und ſah im langen Gange nichts als die
ausgeblaſene Hauslaterne an der Haupttreppe: et¬
was gieng im Finſtern auf ihn zu — und indem
er auf das ſtumme Weſen feuern wollte, rief er:
wer da? Ploͤtzlich blitzte fuͤnf Schritte von ihm —
und hier faßte der Tetanus der Angſt Guſtavs Ner¬
ven — das Licht einer Blendlaterne auf ein Ge¬
ſicht, das in der Luft hieng und das ſagte: „Hop¬
pedizel!” Der wars; warf ſein Stiefelholz und
andern Apperat dieſer Farze weg und niemand hat¬
te etwas darwider als der Rittmeiſter, weil er ſei¬
nen Muth nicht beweiſen konnte, und die Ritt¬
meiſterin, weil ſie keinen bewieſen hatte.


[278]

— Aber in Guſtavs Gehirn riß dieſes in der
Luft hangende Geſicht mit der Aeznadel ein ver¬
zerrtes Bild hinein, das ſeine Fieberphantaſien ihm
einmal wieder unter die ſterbenden Augen halten
werden. Bloß heftige Phantaſie, nicht Mangel an
Muth, ſchaft die Geiſterfurcht; und wer jene ein¬
mal in einem Kinde zum Erſchrecken aufwiegelte,
gewinnt nichts, wenn er ſie nachher widerlegt und
ſie belehrt „es war natuͤrlich.“ Daher fuͤrchten ſich
in der naͤmlichen Familie nur einige Kinder, d. h.
die mit gefluͤgelter Phantaſie — daher zieht Shakeſ¬
pear in ſeinen Geiſterſzenen die Haare des Freiden¬
kers in der Frontloge zu Berge, offenbar vermittelſt
ſeiner aufgewiegelten Phantaſie. — Die Geiſterfurcht
iſt ein auſſerordentliches Meteor unſerer Natur: erſt¬
lich wegen ihrer Herrſchaft uͤber alle Voͤlker; zwei¬
tens weil ſie nicht von der Erziehung koͤmmt; denn
in der Kindheit ſchauert man zugleich vor dem groſ¬
ſen Baͤren an der Thuͤre und vor einem Geiſte zu¬
ſammen, aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt
die andre? — Drittens: des Gegenſtandes wegen:
der Geiſterfurchtſame erſtarret nicht vor Schmerz oder
Tod, ſondern vor der bloßen Gegenwart eines
ganz fremdartigen Weſens; er wuͤrde einen Mond-
[279] Inſaſſen, einen Fixſtern-Reſidenten ſo leicht wie ein
neues Thier erblicken koͤnnen, aber in den Menſchen
wohnt ein Schauer gleichſam vor Uebeln, die die
Erde nicht kennt, vor einer ganz andern Welt als
um irgend eine Sonne haͤngt, vor Dingen, die
an unſer Ich naͤher graͤnzen . . . .


Ich mußte den einfaͤltigen Profeſſor-Spas auf¬
ſchreiben, weil er nach zwei Tagen um den flie¬
genden Guſtav folgende Szene erzeugte, die ihm
eben ſo gut das Herz zerquetſchen als erheben
konnte.


In der Friſt vor ſeiner Abreiſe trug er ſein
ſchweres Herz und ſchweres Auge an alle Orte, die
er liebte und verließ, in das H. Grab ſeiner Kin¬
derjahre, unter jeden Baum, der ihm die Son¬
ne genommen, auf jeden Huͤgel, der ſie ihm ge¬
zeigt hatte — er gieng zwiſchen lauter Ruinen des
ſanften Kinderlebens hindurch: uͤber ſeinem gan¬
zen Jugendparadies lag die Vergangenheit wie ei¬
ne Fluth; vor ihm, hinter ihm zog ſich das Marſch-
und Ackerland, worein das Schickſal ſo bald den
Menſchen treibt . . . . Das war die Minute, wo
ich vor der Sonne, die wie er von dannen gieng
und vor der ganzen großen Natur, die mit un¬
[280] ſichtbaren Haͤnden den blinden Menſchen in weite,
reine, unbekannte Regionen hebt, meinem gelieb¬
ten Schuͤler das Bild ſeines Guido *), das ich
ihm bisher entzog, ans Herz druͤckte; in ſol¬
chen Minuten ſind Worte nicht noͤthig, aber je¬
des, das man ſpricht, hat eine allmaͤchtige Hand:
„Hier, Guſtav, (ſagt' ich) hier vor dem Himmel
und der Erde, und vor allem Unſichtbaren um den
Menſchen, hier uͤbergeb' ich dir aus meinen be¬
wahrenden Haͤnden fuͤnf große Dinge in deine, —
ich uͤbergebe dir dein unſchuldiges Herz — ich uͤber¬
gebe dir deine Ehre — den Gedanken an das Un¬
endliche — dein Schickſal — und deine Geſtalt, die
auch um Guido's Seele liegt. Die großen Stun¬
den ſtehen nicht auf der Erde, die dich fragen wer¬
den, ob du dieſe fuͤnf großen Dinge erhalten oder
verloren haſt — aber ſie werden einmal deine kuͤnf¬
tige Seele mit deiner jetzigen vergleichen — —
ach! laß mich an mich nicht denken, wenn du al¬
les verloren haſt! . . .


[281]

Ich gieng und umarmte ihn nicht: die beſten
Gefuͤhle haften ſtaͤrker, wenn man ihnen nicht er¬
laubt, ſich auszudruͤcken. Er blieb und ſeine Ge¬
fuͤhle wendeten ſich an Guido's Bild; aber das
konnte ihn nicht an ſeine eigne Geſtalt erinnern
— denn eine Mannsperſon kann 20 Jahre alt wer¬
den, ohne ihre Zaͤhne, und 25 Jahre, ohne ih¬
re Augen-Wimpern zu kennen, indeß ein Maͤd¬
chen dahinter koͤmmt vor der Firmelung — Son¬
dern das Bild regte alles was in ihm vom Anden¬
ken und von der Liebe gegen ſeinen [Genius] ſchlum¬
merte, wieder auf; ja er fand am Portrait lau¬
ter Aehnlichkeiten mit ſeinem weggeflohenen Freun¬
de aus und ſah deſſen Geſtallt im gemalten Nichts
wie in einem Holſpiegel.


Sein Gehirn brannte wie eine glimmende
Steinkohlenmine im Traume auf dem Kopfkiſſen
fort. Ihm kams darin vor als zerlief' er in einen
reinen Thautropfen und ein blauer Blumenkelch
ſoͤg' ihn ein — dann ſtreckte ſich die ſchwankende
Blume mit ihm hoch empor und hoͤb' ihn in ein
hohes hohes Zimmer, wo ſein Freund der Genius
oder Guido mit deſſen Schweſter ſpielte, dem der
Arm, ſo oft er ihn nach Guſtav herausſtreckte,
[282] abfiel und dem die Schweſter ihn wieder reichte.
Auf einmal knickte die Blume zuſammen und nie¬
derfallend ſah er drei weiße Mondsſtrahlen ſeinen
Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke ab¬
waͤrts gegen den Gefallnen drehte. Er erwachte —
außer dem Bette am ofnen Fenſter lehnend, das
uͤber den Garten ins ſchlafende Auenthal ſah. Der
Himmel ſank in einem ſtummen Strahlen-Regen
nieder — am leuchtenden Univerſum regte ſich
nichts als die Strahlen-ſpitzen der Fixſterne — die
Haͤuſer ſtanden wie Grabmaͤhler, in denen die
Sterblichen ausſchließen — die Traͤume giengen in
den geſchloſſenen Sinnen der Sterblichen aus und
ein und der Tod trat zuweilen ein Haupt und
den Traum darin entzwei. Der Himmel ſchien
Guſtaven an ſein Fenſter geſunken. „O kehr' um,
komm' wieder, Geliebter! — (rief er, durch Traum
und Gegenwart dahin geriſſen) o du warſt da, du
ſucheſt mich! Erſcheine mir, toͤdte mich! — Ach
du tauſendfach Geliebter! ſende mir von deinem
Himmel wenigſtens deine Stimme!“ — Unverſe¬
hends ſchnitt etwas vor dem Fenſter die Luft ent¬
zwei und rief „Guſtav“ und im fernen Weiterflie¬
gen riefs zweimal hoͤher herab „Guſtav Guſtav.“
[283] Ein Eisberg fiel auf ſeine ſtarrende Haut in der
erſten Sekunde; aber in der zweiten gluͤhte er
wieder an, gab ſeine Arme dem Tode und dem
Freunde und ſchlug das Auge an Einer Luftſtelle
unter dem Monds-Blenden ein, um etwas zu
ſehen. — Die zwei Welten waren nun fuͤr ihn in
eine zuſammengefallen; gefaſt erwartete er den
Freund aus der Welt hinter den Sonnen und woll¬
te an ſeine Aetherbruſt ſtuͤrzen mit einer von Erde.
Er gluͤhte ſich ab und gieng endlich mit dem Schau¬
dern der Seele und der Haut ins Bett zuruͤck.
Aber lange werden von dieſer Stunde her, wie
von der Gegend eines Gewitters die Winde, die
Bewegungen ſeiner Seele wehen.


— — Der Staarmatz thats vermuthlich, der
ſo viel ich weiß aus dem Bauer entkommen war.
Guſtav erfuhrs nicht. Ob eine Seele Wellen gleich
einem Setzteich, ſo hoch wie Hemd-Jabots, oder
gleich dem Ozean ſolche wie Alpen ſchlage, das iſt
zweierlei; ob dieſe hohen Bewegungen ein Staar
erregt oder ein Seeliger, das iſt einerlei.


Der Profeſſor lehrte ihn unter meinen Ohren
guͤldne Brokardika der Menſchenkenntniß, die er
durch das Lehren ſelber uͤbertrat — z. B. Nicht
[284] bloß die Liebe, ſondern auch der Haß der Men¬
ſchen iſt veraͤnderlich und beide ſterben, wenn ſie
nicht wachſen — Die meiſten reden bloß gegen die
Laſter, die ſie ſelber haben — je groͤßer das Ge¬
nie, je ſchoͤner der Koͤrper iſt, deſto mehr ver¬
zeiht ihnen die Welt; je groͤßer die Tugend iſt,
deſto weniger verzeiht ſie ihr — Jeder Juͤngling
denkt, keiner gleiche ihm in Gefuͤhlen ꝛc. aber alle
Juͤnglinge gleichen ſich — Man muß ſich nie ent¬
ſchuldigen; denn nicht die Vernunft, ſondern die
Leidenſchaft des andern zuͤrnt auf uns und gegen
dieſe giebts keinen Grund als die Zeit — die Men¬
ſchen lieben ihre Freuden mehr als ihr Gluͤck, ei¬
nen guten Geſellſchafter mehr als den Wohlthaͤ¬
ter, Papagaien, Schooßhunde, Affen mehr als
nuͤtzliche Laſtthiere — Man erraͤth die Menſchen,
wenn man ihnen keine Grundſaͤtze zutraut; und der
Argwoͤhniſche hat allemal Recht, er erraͤth wenn
nicht die Handlungen des andern doch ſeine Ge¬
danken
; die Niederlagen des Schlimmen und
die Verſuchungen des Guten — die Suͤnde ge¬
gen den H. Geiſt, die dir keiner vergiebt, iſt die
gegen ſeinen Geiſt, d.h. gegen ſeine Eitelkeit; und
der Schmeichler gefaͤllet wenn nicht durch ſeine Ue¬
berzeugung doch durch ſeine Erniedrigung ꝛc.


[285]

Es giebt gewiſſe Regeln und Mittel der Men¬
ſchenkenntniß, die der beſſere hoͤhere Menſch ver¬
ſchmaͤht und verdammt, und die gerade dieſen nicht
errathen helfen und die ihn weder belehren noch er¬
forſchen. — Der Profeſſor rieth noch meinem Gu¬
ſtav, ſein Geſicht zu formen, Tugend auf demſelben
zu ſilhouettiren, es vor dem Spiegel auszuplaͤtten
und es mit keinen heftigen Regungen zu zerknuͤllen.
Ich weiß es ſelber, fuͤr Weltleute iſt der Spiegel
noch das einzige Gewiſſen, das ihnen ihre Fehler vor¬
haͤlt und das man wie das Gehirn ins große und klei¬
ne eintheilen muß: das große Gewiſſen ſind Wand-
und Pfeilerſpiegel, das kleine ſteckt in Etuis und
wird als Taſchenſpiegel herausgezogen; fuͤr die Welt¬
leute; aber fuͤr dich, Guſtav? — du, der du den
obigen Dekalogus fuͤr Spitzbuben nicht annehmen,
nicht einmal verſtehen oder nuͤtzen kannſt — denn
man nuͤtzt und verſteht nur ſolche Lebensregeln, von
denen man die Erfahrungen, worauf ſie ruhen, ſo
durchgemacht, daß man die Regeln haͤtte ſelber ge¬
ben koͤnnen — du, den ich gelehrt, daß Tugend
nichts ſei als Achtung fuͤr das fremde und fuͤr un¬
ſer Ich, daß es beſſer ſei an keine Laſter als an keine
Tugend zu glauben, daß die Schlimmſten nur ihre
[286] eigne Kaſte und die Beſten noch eine mehr kennen...
Wenn Guſtav nicht gegen jene Lehren, die meiſtens
Wahrheiten ſind, und gegen den Lehrer aufgefahren
waͤre; wenn er nicht geſchworen haͤtte[,] daß dieſe
eckelhafte Kanker-Philoſophie nie uͤber eine Ecke ſei¬
nes Herzens ſich ſpinnen und kleben ſollte: ſo haͤtt'
ich von ihm nicht einmal ſo gut gedacht als von der
Reſidentin von Bouſe, der das Syſtem des Helve¬
tius
ſo ſchoͤn wie ſein Geſicht vorkoͤmmt; denn in
ihrem Stande hat oft das beſte Herz die ſchlimmſte
Philoſophie.


Es wird kaum die Muͤhe verlohnen, daß ichs
herſetze, daß der Spitzbube Robiſch zum Henker
gejagt wurde, weil er einen entwiſchten Rekruten
fuͤr einen neuen ausgab und verrechnete. Wenn
ich ſagte, zum Henker gejagt: ſo ſatiriſiert' ich,
zum H. v. Roͤper wars, der keine Bediente an¬
nimmt als die welche Livré-Polyhiſtors wie Ro¬
biſch ſind, d. h. zugleich Jaͤger, Gaͤrtner, Schrei¬
ber, Bauern und Bediente. —


[287]

Ein und zwanzigſter oder Michaelis-Sektor.

Neues Paktum zwiſchen dem Leſer und Biographen — Gu¬
ſtavs Brief.


Ziehe hin, Geliebter, (ſagt' ich,) den das Welt-
Meer nimmt; das Sonnenbild deines verborgen fuͤh¬
lenden Herzens laͤchle aus dem Meersgrund und
ſchwimme mit dir! dein junges Herz bringeſt du nicht
mehr nach Auenthal! — o daß doch die Fruͤchte am
Menſchen ein andres Wetter haben muͤſſen als ſeine
Bluͤthen — ſtatt des Hauches des Lenzes den Stich
des Auguſts und den Sturm des Herbſtes!“ Ich
dacht' es, ſo lange ſein Wagen in meinen Augen
blieb; nachher gieng ich in die Gartenhoͤle hinunter
zu den zwei Moͤnchen, und als ich dachte: in euerer
kalten Stein-Bruſt wohnt kein Wunſch, kein Seh¬
nen, kein Schmerz, kein — Herz: „eben darum.“
ſagt' ich in anderem Sinn.


Heute iſt Michaelis und heute — ich kann mich
nicht laͤnger verſtellen — bejaͤhrt ſich ſeine Abreiſe.
Heute faͤngt zwiſchen mir und dem Leſer ein ganz
neues Leben an und wir wollen ruhig alles mit ein¬
ander vorher ausmachen.


[288]

Erſtlich bin ich zwar Ein Jahr hinter Guſtavs
Leben zuruͤck; aber in acht Wochen gedenk' ich ſolches
erſchrieben zu haben. Ich dachte freilich ſchon vor
einem halben Jahre; jezt kaͤm' ich ihm nach; aber
ein Leben iſt leichter zu fuͤhren als zu ſchildern zumal
gut ſtyliſirt. Ueberhaupt kann ein Autor — ein gu¬
ter — leichter die Sterne des Himmels zaͤhlen als
ſeine zukuͤnftigen Bogen, die auch Sterne ſind.
Schluͤßlich erwartet man, daß die Litteratur-Zei¬
tung wenigſtens ſo viel bedenke, daß ich ein Rechts¬
freund bin und unmoͤglich fuͤr ſie ſo viel zu ſchreiben
vermag wie fuͤr ganze Kollegien, Fakultaͤten und
hoͤchſte Reichsgerichte. Kennt die Litteratur-Zei¬
tung meine entſetzlichen Arbeiten? man muß meinen
Speiſeſchrank voll Manualakten geſehen haben, in
denen noch dazu kein Wort ſteht weil ich ſie erſt aus
der Papiermuͤhle holen ließ, oder man muß in mei¬
ner Gerichtshalterei in Schwenz, worin die 12 Un¬
terthanen und der Lehn- und Gerichtsherr ſelber
Bauern ſind, geweſen ſeyn, um von mir nicht mehr
zu fordern als jaͤhrlich ein Buch. Wer iſt um ganz
Scheerau derjenige Sachwalter, der in einem Pro¬
zeſſe dient, welcher mit Naͤchſtem — der Teufel muͤ¬
ſte ſein Spiel haben — zum Wetzlaer Thor unter die
Seſſions¬[289] Seſſionstiſche des Reichskammergerichts, das von
gutem Styl weiß, duͤrfte hingetrieben werden? Und
doch diente der Prozeß wie Peter der Große von un¬
ten auf und beſtieg wie die Styliten-Sekte immer
hoͤhere Stuͤhle.


Zweitens — oder das iſt noch erſtlich: ich kann
folglich gleich den Juden nur am Sabbat oder Sonn¬
tag auf die Plaſtik meines Seelen-Foͤtus denken:
an Wochentagen wird nichts geſchrieben — als zwar
auch Biographien, aber nur von Schelmen, man
meint Protokolle und Klaglibelle.


Zweitens oder drittens bin ich der Inſaß eines
Schulmeiſterthums. — Der gute Rittmeiſter wollte
mich, da ſein Sohn zur Thuͤr hinaus war, mit Per¬
ſonalarreſt belegen, der bei mir zugleich Realarreſt iſt,
weil mein Mobiliar-Vermoͤgen in meinem Koͤrper und
mein Immobiliar-Vermoͤgen in meiner Seele be¬
ſteht; ich ſollte auf ſeinem Schloſſe ſo lange advo¬
ziren und ſatiriſiren als ich wollte. Es waͤre zu wuͤn¬
ſchen, ſein alter Gerichtshalter verbliche: ſo wuͤrd'
ichs: denn abdanken kann ſein gutes Herz — dem
doch mein ſpitzbuͤbiſches an Hoffeinheiten verwoͤhntes
den Mangel der letztern nicht allemal vergeben mag —
keinen Menſchen. Behalte deinen geſunden Nord
T[290] Oſt-Athem, behalte deine Haͤnde mit dem pruͤ¬
gelnden Stab Wehe und deine Zunge mit ihrem
Paar Donnerwettern und tauſend Teufeln, mein
Falkenberg!


Ich blieb auch bei ihm im Winter; aber heuer
im Fruͤhjahr zog ich an den Ort herab, wo ich
dieſes ſchreibe — in die obere Stube des Auentha¬
ler Schulmeiſter Sebaſtian Wuz. *) Ich hatte
vielleicht die drei vernuͤnftigſten Gruͤnde von der
Welt dazu; ich ſchwind' erſtlich nirgends mehr ein
als in einem Vatikan voll oͤder Kluͤfte, in Sara
Wuͤſten von leeren Zimmern, ein Esſaal mit ſei¬
ner Meublen-Armuth iſt fuͤr mich ein Pathmos
und bloß in kleinen Stuͤbgen wird man groͤßer:
der Menſch ſollte von Jahr zu Jahr in immer klei¬
nere Zellen kriechen bis er in die kleinſte ſchluͤpfte,
d. h. ins engſte Loch dieſes gequetſchten Silber¬
[291] draths. — Der zweite Grund war H. Fortins
(in Morhof. Polyhiſt. L. II. c. 8.) welcher Gelehr¬
ten anraͤth, alle halbe Jahre die Staͤdte zu wech¬
ſeln, damit ſie beſſer ſchrieben — und in der
That ſchreibt man beſſer nach jeder Veraͤnderung
und waͤrs die des Schreibepults. Ohne ſolche auf¬
friſchende Luft ſchreibt ſich die Seele ſo tief in ih¬
ren Holweg hinein, daß ſie drinnen ſteckt ohne
Himmel und Erde zu ſehen. Aus gegenwaͤrtigem
Werke koͤnnte vielleicht etwas werden; aber jeden
Monat und jeden Sektor muß ich in einer andern
Kajuͤte ſchreiben. —


Der dritte und vernuͤnftigſte Grund iſt meine
Schweſter: ſie iſt wieder von der Reſidentin von
Bouſe zuruͤck, erſtlich meil ſie ihre Stelle einer
ſchoͤnen Buͤcherpatientin leer zu machen hatte der
guten Beata naͤmlich, die der Vater, der Dok¬
tor, der Liebhaber — der dumme Oefel, er wird
aber gar nicht beguͤnſtigt — endlich mitten in dieſe
Kulmination aller Freuden und Viſiten hinberede¬
ten — zweitens (iſt meine Schweſter da,) weil ichs
wollte: aber Schweſter, Schweſter, warum hab'
ich dich nicht eher aus dieſem inkruſtirenden Mine¬
ral-Strudel geriſſen? warum haſt du dich ſo ver
T 2[292] aͤndert? wer kann dich zuruͤck veraͤndern? wer
will dir aus dem Herzen ſcheuern deine Gedanken
an fremde Blicke, deine Gier, bewundert, aber
nicht geliebt zu werden, deine Koketterie, wel¬
che Liebe nur erregen nicht erwiedern will, und
alles das was dein Herz unterſcheidet von deinem
vorigen Herzen und von Beatens ewigen? — —
mit meiner Schweſter wollt' ich alſo nicht gern
das Schloß verengern, auf dem ſie uͤbrigens alle
Tage ein Paar Stunden verſitzet.


Jezt hab' ich dem Leſer beigebracht, woran
er iſt: wir wenden uns wieder zu Guſtavs Wagen
und ſind alle zufrieden, Leſer, Setzer und Schreiber.


Guſtav fuhr in einer Trunkenheit des Schmer¬
zes, die der ſchoͤne Himmel in Thraͤnen [aufloͤſete],
nach Scheerau und hielt jede Schwalbe und Biene,
die unſerem Schloſſe zuflogen, fuͤr gluͤcklich, die
naͤchſten zehn Jahre hiengen als zehn Vorhaͤnge
vor ihm duͤſter nieder „und liegen, fragt' er ſich,
Todtengerippe, Raubthiere oder Paradieſe hinter
den Vorhaͤngen?“ — was ohne Vorhang vor ihm
ſaß und dozierte, ſah er auch nicht, den Profeſ¬
ſor. Zwei Stunden vor Scheerau ſchrieb er mir
mit jener flammenden Dankbarkeit, die aus dem
[293] Menſchen nur in ſeinem zweiten Jahrzehend ſo
ſtrahlend bricht. Wie bei allen Seelen, die ſich
mehr von innen heraus als von außen hineinver¬
aͤndern, ſtand in ihm der Barometer ſeines Her¬
zens oft unbeweglich auf demſelben Grade. Die
Regenwolken und den Regenbogen an ſeinem in¬
nern Himmel bracht' er nach Scheerau mit: er
trug ſein uͤberhuͤltes Herz in das weite wiederhallende
Kadettenhaus und in deſſen Jahrmarkslaͤrm auf
den Treppen und in das Kadetten-Feldgeſchrei wie
unter die Schlaͤge einer Kupferſchmiede und Walk¬
muͤhle hinein — er wurde noch trauriger, aber mit
mehr Schmerzen.


Das merkwuͤrdige im Zimmer, das er betrat
und bewohnte, waren nicht drei Kadetten — denn
ſie waren Kurrent-Menſchen, Scheidemuͤnze und
proſaiſche Seelen, d. h. luſtig, witzig, ohne Ge¬
fuͤhl, ohne Intereſſe fuͤr hoͤhere Beduͤrfniſſe und
von maͤßigen Leidenſchaften — ſondern der Stuben-
Ephorus, H. v. Oefel, der mit dem Degen wie
eine geſpießte Fliege mit der Nadel lief. Oefel
fieng ihn ſogleich zu beobachten an, um ihn abends
zu beſchreiben — in Geſellſchaften beobachtete er
jeden, nicht um fremde Pfiffe zu erlauſchen,
[294] ſondern um ſeine vorzuweiſen. So lobte er auch
ohne zu achten, und mediſirte ohne zu haſſen:
brilliren wollt' er bloß.


Unter dieſem Sehnen, eh Guſtav den ſchwe¬
ren Gang uͤber Schmerzen zu Geſchaͤften that,
kam der Troſt in der Geſtallt der Erinnerung zu
ihm und Guſtav ſah was er nicht haͤtte vergeſſen
ſollen — ſeinen Amandus, ſeinen Kindheits¬
freund. Aber der gute Juͤngling trat vor ihn nicht
in der erſten Geſtalt eines Blinden, ſondern in
der letzten eines Sterbenden; er hatte die Ner¬
venſchwindſucht, die alles ſein Mark aus der noch
ſtehenden Rinde ausgezogen hatte — an der Rinde
gruͤnte nichts mehr als haͤngende Zweige mit fah¬
lem geſenktem Laub. Er bereitete ſich auf kein
Amt und kein Leben vor, ſondern er wartete und
wollte empfangen an der Schwelle des Erbbegraͤb¬
niſſes den Tod, der die Treppe herauf, ſtieg. —
Aber daß ſeine Seele in einer lebendigen Wunde
lag, daran kann uns nichts wundern als das Ge¬
ſchlecht: denn die armen weiblichen Seelen woh¬
nen ſelten anders; aber die Maͤnner ſchonen dieſe
Wunde nicht; es erweicht ſie gegen ein ſo wei¬
[295] ches Geſchlecht der Anblick nicht, daß die meiſten
nicht von einem Tage zum andern ſondern von ei¬
nem Schmerze zum andern leben und von einer
Thraͤne zur andern. . . .


In Guſtav wohnte das zweite Ich (der Freund)
faſt mit dem erſten unter Einem Dache, unter der
Hirnſchaal und Hirnhaut: ich meine, er liebte
am andern weniger was er ſah als was er ſich
dachte; ſeine Gefuͤhle waren uͤberhaupt naͤher und
dichter um ſeine Ideen als um ſeine Sinne: daher
wurde oft die Freundſchafts-Flamme, die ſo hoch
vor dem Bilde des Freundes empor gieng, durch
den Koͤrper deſſelben gebogen und abgetrieben. Da¬
her empfieng er ſeinen Amandus, weil uͤberhaupt
eine Ankunft weniger erwaͤrmt als ein Abſchied,
mit einer Waͤrme, die aus ſeinem Innern nicht
voͤllig bis zu ſeinem Aeußern reichte — aber Oefel
der beobachtete, hatte mit ſechs Blicken heraus,
der neue Kadet ſei adelſtolz[.]


Unter allen Kriegs-Katechumenen hatte Gu¬
ſtav die meiſte Noth. Aus einer ſtillen Karthauſe
war er in ein Polter-Zimmer verbannt, wo die
drei Kadetten ihm den ganzen Tag die Ohren mit
Rapierſtoͤßen, Kartenſchlaͤgen und Fluͤchen beſchoſ¬
[296] ſen — aus einer Dorfburg war er in ein Louvre
geworfen, wo die Trommel das Sprachorgan und
die Sprachmaſchine war, wodurch das Scholar¬
chat mit den Eleven ſprach, wie die Heuſchrecke
allen ihren Laͤrm mit einer angebornen Trommel
am Bauche macht: Zum Eſſen, zum Schlafen,
zum Wachen wurden ſie wie das Parterre eines Dorf¬
kommoͤdianten zuſammen getrommelt. Im Marſch¬
ſchritt und hinter dem Kommandowort erſtieg dieſe
Miliz den Speiſeſaal als ihren Wall und nahm
von der Feſtung nichts weg als die Portion auf ei¬
nen halben Tag; der Kommandozuck riß ſie von
ihren Stuͤhlen auf und lenkte ſie zur Zitadell wie¬
der hinaus. Man konnte zu Nachts die Schritte
eines einzigen Kadetten zaͤhlen und man wuſte die
aller uͤbrigen, weil der kommandirende Luftſtoß
dieſe Raͤder auf einmal trieb. — Eben deswegen,
ich meine weil der Dank vor dem Eſſen ordentlich
kommandiert wurde, hatte das ganze Korps die
gleiche Andacht, keine Sekunde ſprach einer laͤn¬
ger mit [Gott] als der andre. Ich weiß nicht, in
welchem Scheerauiſchen Regimente der Kerl ſtand,
der einmal bei der Kirchenparade, wo der Officier
die Seelen einmal zu Gott kommandierte, die er
[297] ſonſt zum Teufel gehen hieß, ſo ſehr wider ver
nuͤnftige Subordination verſtieß, daß er wenig¬
ſtens vier Minuten laͤnger dem Himmel auf ſeinem
frommen Knie dankte als der Fluͤgelmann — ich
ſag' es deswegen, weil ich nachher, als der Be¬
ter daruͤber Fuchtel bekam, oͤffentlich die Frage
that, ob nicht eben auf dieſe Weiſe den Kompag¬
nien die Logik beizubringen waͤre, die ihnen ſo noͤ¬
thig iſt wie die Schnurbaͤrte und nuͤtzlicher, da
man dieſe, aber nicht jene zu wichſen braucht.
Koͤnnte man nicht kommandieren und das Woͤrt¬
gen „macht“ weglaſſen: „macht den Vorderſatz —
macht den Hinterſatz — macht den Schluß. So
waͤr' ich nicht zu tadeln, wenn ich mir eine Kom¬
pagnie kaufte und ſie die drei Theile der Buße et¬
wann ſo durchmachen ließe: bereuet — glaubt —
beſſert — naͤmlich euch, oder ſonſt ſoll das liebe...
in euch fahren, wie juͤngere Officiere beiſetzen.


Der oͤſterreichſche Soldat hatte bis Anno 1756
zwei und ſiebzig Handgriffe zu lernen, nicht um
damit den Feind zu ſchlagen ſondern den — Satan.


In dieſer Stimmung, worin Guſtav gegen
Krieg und ſeine Kameraden war, ſchrieb er mir
einen Brief, deſſen Anfang hier wegbleibt, weil
[298] unſer Briefſteller dabei allemal ſo kalt wie beim
Empfang zu ſeyn pflegte.


„— — — Das Exerziren und Studiren ma¬
chen mich zu einem ganz andern Menſchen,
aber zu keinem gluͤcklichern. Ich aͤrgere mich oft
ſelbſt uͤber meine Weichheit, uͤber meine Augen,
aus denen ich die Spuren in Geheim wegzuwaſchen
ſuche, und uͤber mein Herz, das bei Beleidigun¬
gen, die ich jetzt ſehr haͤufig habe, nicht auf¬
ſchwillt ſondern ſich zuſammenpreßt und in das Au¬
ge ergießet. Meine Stubenkameraden, unter de¬
nen ich nichts hoͤre als Rappiere und Fluͤche, la¬
chen mich uͤber alles aus. Sogar dieſes Blatt
ſchreib' ich nicht unter ihnen, ſondern unter freiem
Himmel im ſtillen Lande*) zu den Fuͤßen und
auf dem Poſtement einer Blumengoͤttin, von der
[299] Arm und Blumenkorb abgebrochen ſind. Der gute
Hr. von Oefel iſt unterdeſſen im alten Schloſſe bei
der Reſidentin.


Sobald ich nicht arbeite, druͤckt jedes Zimmer,
jedes Haus, jedes Geſicht auf mich herein — Und
doch, wenn ichs wieder thue — zwar wenn truͤbes
Wetter iſt wie vorige Woche, mach' ich mein ma¬
thematiſches Reißzeug ſo gern wie ein Schmuckkaͤſt¬
chen auf; aber wenn ein Flammenmorgen unter
dem Geſchrei aller Voͤgel, ſogar der gefangnen,
von den Daͤchern in unſere Gaſſen niederſinkt,
wenn der Poſtillon mich mit ſeinem Horn erinnert,
daß er aus den eckigen, ſpitzigen, verwitternden,
unorganiſch zuſammengeleimten Schutthaufen der
getoͤdteten Natur, die eine Stadt heiſſen, jetzt
hinauskomme in das pulſirende, draͤngende, knoſ¬
pende Gewuͤhl der nicht ermordeten Natur, wo ei¬
ne Wurzel die andre umklammert, wo alles mit
und in einander waͤchſet und alle kleinere Leben ſich
zu Einem großen unendlichen Leben in einander
ſchlingen: ſo tritt jeder Blutstropfen meines Her¬
zens zuruͤck vor den Pechkraͤnzen, Trancheekatzen
und vor den Wiſchkolben, womit die Artillerie un¬
ſere blauen Morgenſtunden ausſtopfet — dennoch
[300] vergeſſ' ich die gruͤnende Natur und die Kontrami¬
nen, womit wir ſie in die Luft aufſchleudern ler¬
nen und ſehe bloß die langen Floͤre, die an den
Stangen aus dem Hauſe eines Faͤrbers gegenuͤber
in die Hoͤhe fliegen, ſchon wie Naͤchte uͤber den
Geſichtern armer Muͤtter haͤngen, damit der Thau
des Jammers im Dunkeln hinter den Leichen falle,
die wir am Morgen machen lernen. — — Ach!
ſeitdem es keinen Tod mehr fuͤr, ſondern nur wi¬
der das Vaterland giebt, ſeitdem ich, wenn ich
mein Leben preiß gebe, keines errette ſondern nur
eines binde, ſeitdem muß ich wuͤnſchen, daß man
mir, wenn mich der Krieg einmal ins Toͤdten hin¬
eintrommelt, vorher die Augen mit Pulver blind¬
brenne, damit ich in die Bruſt nicht ſteche, die
ich ſehe, und die ſchoͤne Geſtalt nicht bedaure, die
ich zerſchnitze und nur ſterbe aber nicht toͤdte. . . .
O da ich noch aus Karthauſen, noch aus Ihrem
Studierzimmer in die Welt hinausſah, da breite¬
te ſie ſich vor mir ſchoͤner und groͤßer aus mit wo¬
genden Waͤldern und flammenden Seen und tau¬
ſendfach kolorirten Auen — jetzt ſteh' ich daran und
ſehe das kahle Nadelholz mit kothigen Wurzeln,
den ſchwarzen Teich voll Sumpf und die einmaͤh¬
[301] tige Wieſe voll gelbes Gras und Abzugsgraͤ¬
ben. — —


Vielleicht koͤnnt' ich aber doch meine Traͤume,
den Menſchen zu nutzen, mehr realiſiren, wenn
ich eine andre Laufbahn gienge und ſtatt des
Schlachtfeldes den Seſſionstiſch waͤhlen und den
Zweck der Aufopferung veredeln duͤrfte *). . . .
Die rothe Sonne ſteht vor meiner Feder und be¬
wirft mein Papier mit laufenden Schatten: o du
wirkſt ſtehend, Himmelsdiamant, und machſt licht
wie der Blitz ohne ſeinen moͤrderiſchen Knall! Die
ganze Natur iſt ſtumm wenn ſie erſchafft, und laut,
wenn ſie zerreiſſet. Große, im Abendfeuer ſtehen¬
de Natur! der Menſch ſollte nur deine Stille nach¬
ahmen und bloß dein ſchwaches Kind ſeyn, das
deine Wohlthaten dem Armen hinaustraͤgt!


[302]

Wenn Sie jetzt von Auenthal zu den im Son¬
nengolde wogenden Fenſtern unſers Schloſſes auf¬
ſehen: ſo ſchauet jetzt meine Seele auch hinuͤber,
aber mit einem Seufzer mehr.“ ꝛc.


Die Offiziere ſehen, daß Guſtav keiner werden
will; aber er hat ſeinen ganzen Vater wider ſich,
der bloß den ſtuͤrmenden Krieger liebt und ruhigere
Geſchaͤftsmaͤnner eben ſo verachtet, wie dieſe den
noch ruhigern geſchaͤftsloſen Gelehrten verachten. —


[303]

Zwey u. zwanzigſter od. XVIIII. Trinitatis-Sekt.

Der ächte Kriminaliſt — meine Gerichtshalterei — ein Ge¬
burtstag und eine Korn-Defraudazion.


Als ich am Donnerſtag darauf meinen Guſtav be¬
ſuchen und ein wenig belehren will: hat ihn Hr.
von Oefel aus einer Urſache, die bloß ein ganzer
Sektor verwickeln kann, mit einigen Huſaren an
die Graͤnze verſchickt, wo ſie einen Frucht-Kordon
formirten, der kein Korn hinaus und keinen Pfef¬
fer herein ließ. Da die meiſten Bewegungen des
Volks ſich mit und von periſtaltiſchen anfan¬
gen: ſo wolltens manche feine Leute gerochen ha¬
ben, der Landesvater thaͤt' es, damit ſeine Lands¬
kinder etwas zu brocken und zu beiſſen haͤtten.


Ich bekam aber am Ende die groͤßte Teufelei
damit und man ſoll es jetzt hoͤren, aber nur von
vornen an.


Naͤmlich ſo: das große Rittergut Mauſſen¬
bach hat wie bekannt die Obergerichtsbarkeit, ob
gleich ich und der Rittergutsbeſitzer, Hr. Kommer¬
zienagent von Roͤper, daruͤber aus entgegengeſetz¬
[304] ten Gruͤnden aͤrgerlich ſind. Ich bin aͤrgerlich, weil
ich das Leben, wenigſtens die Ehre von einigen
hundert Menſchen nicht in den Haͤnden eines gan¬
zen roͤmiſchen Volks ſondern eines Amtmanns ꝛc.
ſehe — der Erb- Lehn- und Gerichtsherr iſt aͤrger¬
lich, weil der Blutbann nichts eintraͤgt, da es
mehr koſtet das Richtſchwerdt ſchleifen zu laſſen
als alles abwirft, was damit in den Beutel her¬
einzumaͤhen iſt. „Ehebruch iſt fuͤr eine malefiziſche
Obrigkeit noch das einzige!” ſagt der Erbherr. —
Ganz das Gegentheil ſagte ſein Gerichtshalter Kolb:
hohe Frais war ſeine hohe Oper, peinliche Akten
waren ihm Klopſtocks Geſaͤnge und ein Scherge ſein
Oreſt und Sancho Panſa — er haͤtte die Welt in
zwei Reihen zertheilet, in die aufhaͤngende und in
die aufgehangne Reihe und er waͤre Kriminaliſt ge¬
blieben — ein unraſirter Malefikant im Karzer war
ihm ein ſineſiſches Goldfiſchchen in einer glaͤſernen
Bowle, beide wurden Gaͤſten produzirt — freie
Spitzbuben-Puͤrſch nur in einem Paar Welttheilen
waͤre ſeine Sache und Luſt — mich haßte er auf
den Tod, weil ich ihm einmal einen vom Tode
ins Zuchthaus wegdefendiret hatte — er beſaß die
Mortalitaͤtsliſten aller Juſtifizirten und eine Matri¬
kul[305] kul oder ein genealogiſches Saatregiſter aller Raͤu¬
ber (Ehrenraͤuber ausgenommen), die in allen zehn
Kreiſen zu erndten ſtanden und wahre Spitzbuben
waren fuͤr ihn was fuͤr Fedderſen gutgeſinnte Men¬
ſchen ſind. Kurz er war ein aͤchter Kriminaliſt,
ganz wie ihn die alten Deutſchen oder neuen eng¬
liſchen Geſetze haben wollen: denn nach beiden ſoll
jeder bloß von ſeines Gleichen gerichtet und ver¬
dammt werden; Kolben aber mußte jeder Spitz¬
bube und Moͤrder fuͤr einen eben ſo großen halten
und Inkulpat konnte mithin ſagen, daß er die
Rechtswohlthat genoͤſſe, von einem ſeines Gleichen
gerichtet zu werden. Ich kenne nicht viele ebenbuͤr¬
tige Malefizraͤthe und Fakultiſten, auf die dieſes
anzuwenden waͤre.


Das verdroß Roͤpern ungemein: denn ſein Ma¬
lefizrath zog ihm alle Monate einen koſtenſplitteri¬
gen Fraisfall zu; und hohen Frais-Gerichtsherrn
iſt doch nicht ſo wohl mit der Einfangung als Be¬
erbung der Inquiſiten gedient. Kurz als der Amt¬
mann eine neue Galgenrekruten-Aushebung im
Mauſſenbacher Walde vorzunehmen gedachte — wor¬
an vielleicht Robiſch ſchuld war: — ſo ſtellte
Hr. v. Roͤper dieſe Diebe-Preßgaͤnge dadurch ab,
U[306] daß er ſeinem Malefizrath ſo viel Grobheiten an¬
that als dazu vonnoͤthen waren, daß der Amtmann
nichts thun konnte als abdanken.


Er that doch noch etwas, der Schelm, er
malte meine Wenigkeit ab: da er mein Defenſo¬
rat nicht vergeſſen konnte, ſo verwaltete er das
Fiſkalat und ſagte zu Roͤpern, ich taugte nichts,
ich waͤre ein Menſch, der ihn und mehrere Edel¬
leute haßte und der den feinſten Hofton haͤtte,
Paul naͤhme jeden Prozeß von Unterthanen gegen
ihre Lehnherrn an und haͤtte ſelber einmal gegen
den H. Kommerzienagenten die Feder gefuͤhret. —
Du elender Kolb! warum ſollen Einbeine das nicht
thun? — Meine wichtigſten Prozeſſe ſind noch
heute keine andern. — Und warum ſoll nicht gar
ein Vorſchlag wirklich werden, den ich ſogleich
thun will? der daß man nach dem Muſter der Ar¬
men-Advokaten Unterthanen-Advokaten einfuͤhrt,
die bloß gegen Patrimonialgerichte wie die Mal¬
theſerritter gegen Unglaͤubige fechten. —


Roͤper erzaͤhlte mirs aus ſeinem eignen Mun¬
de: denn kurz er inſtallirte mich doch zum Mauſ¬
ſenbacher — Amtmann, die Advozir- und Leſewelt
erſtaune wie ſie will. Die Kolbiſchen Invektiven
[307] waren eben meine Wendeltreppe zu dieſem Gericht¬
ſtuhl: mein Gerichtsprinzipal muß zu ſeinen ewi¬
gen Kaͤmpfen mit allen Inſtanzen und Edelleuten
einen juriſtiſchen Taureador, einen hitzigen Feder¬
meſſer-Harpunirer haben; Kolb ſagte aber, ich
waͤre einer. Zweitens praͤſentirte mir Hr. v. Roͤ¬
per den Gerichtsſtuhl, weil ich weder ritt (des kur¬
zen Beines wegen) noch fuhr (des ſeekranken Ma¬
gens wegen) und mithin zur Juſtitzpflege ohne den
Pferde-Nachtrab, den ſein Stall bisher zu appa¬
nagiren hatte, gegangen kam. Fuͤr Rezenſenten
und deren Redakteurs wird der Wink kein Schade
ſeyn, daß ſie bedenken moͤgen, daß ſie von nun
an Papier nehmen und einen Mann rezenſiren, der
nicht etwan wie ſie Nichts iſt, ſondern einen der
ſo gut richtet wie ſie, aber uͤber ein reelleres Le¬
ben als das litterariſche und der ſolche Rezenſenten
ſelber henken kann, wenn ſie in ſeinem Gerichts¬
ſprengel etwas anders ſtehlen als Ehre.


Jetzt koͤmmt die Hauptſache. Ich war zum er¬
ſtenmal als Praͤtor in Mauſſenbach und trat mei¬
ne Amtmannſchaft an. Es gieng alles recht gut,
ich und Unterthanen wurden einander praͤſentiret
und ich hatte an dieſem Tage uͤber tauſend Haͤnde
U 2[308] in meiner: freilich muß ich noch manches ſaure
Geſicht wegſcheuern, das ſie mir mit machen, weil
ſie es meinem weniggeliebten Prinzipal machen:
denn Volk und Adel lagen nicht bloß in Rom, ſon¬
dern auch in heutigen Doͤrfern ſtets einander in
Haaren und Zoͤpfen und fechten uͤber Schuldenſa¬
chen. Auſſer meiner Gerichtshalterei feierte heute
noch etwas ſeinen Geburtstag — der Verleiher
derſelben, Roͤper; wir aßen alſo recht gut zweier¬
lei Dingen zu Ehren, erſtlich weil das von ihm
diſſolvirte Parlament in mir heute wieder zuſam¬
menberufen und zweitens weil der Berufer vor vie¬
len Jahren geboren worden. Ich kann ſagen, mir
war wohl dabei trotz meiner Verſchiedenheit vom
Wiedergebornen — von dir iſt gar nicht die Rede,
Louiſe und Gerichtsprinzipalin! welches lahme
Herz ſchluͤge nicht mit deinem in ſympathetiſcher
Harmonie zuſammen, wenn es dein Auge uͤber
das Vergnuͤgen deines Mannes und von Wuͤnſchen
fuͤr ſein Leben glaͤnzen ſieht — ſondern von deinem
Eheherrn ſelbſt red' ich: er ſei nun wie er will,
mir iſts unmoͤglich, von einem Manne, mit dem
ich unter Einer Stubendecke ſitze, das Schlimme
zu denken das ich bisher von ihm gehoͤrt oder auch
[309] geglaubt und es iſt warlich nicht einerlei ob uns
ein Tiſch oder eine Chauſſee trennt — wenn du ei¬
nen von Hoͤrenſagen haſſeſt: ſo gehe in ſein Haus
und ſehe zu ob du, wenn du in ſeinen Geſpraͤchen
ſo manchen ſchoͤnen Zug, in ſeinem Betragen ge¬
gen das Kind oder Weib das er liebt, ſo manches
Zeichen der Liebe aufgefunden haſt, ob du da mit
dem hereingebrachten Haſſe wieder hinausgeheſt.
War gegenwaͤrtiger Verfaſſer in ſeinem Leben ge¬
gen etwas eingenommen, ſo warens die Großen;
ſeitdem er aber in ſeinen Klavierſtunden zu Schee¬
rau Gelegenheit gehabt, mit manchem Großen
unter einem Deckengemaͤlde zu ſtehen, ſeitdem er
ſelbſt unter dieſen Rieſen mit herumſpringt: ſo
ſieht er, daß ein Miniſter, der ein Volk druͤckt,
ſeine Kinder lieben und daß der Menſchenfeind am
Seſſionstiſch, ein Menſchenfreund am Naͤhpult ſei¬
nes Weibes ſeyn kann. So haben die Alpenſpitzen
in der Ferne ein kahles ſteiles Anſehen, in der
Naͤhe aber Platz und gute Kraͤuter genug.


Ich geſteh' es alſo, da nach altvaͤteriſcher Sit¬
te (an Geburtstagen bei Hofe ſpeiſt' ich dergleichen
nie) eine Biſcuit-Torte aufgetragen wurde, auf
der das Vivat und der Name Roͤper mit Typen
[310] von Mandeln aufgeſaͤet zu leſen und zu eſſen war
— da ferner der Inhaber des Namens zwar ſagte:
„ſolche dumme Streiche machſt du nun“, aber ſo¬
gleich das Auge voll bekam und beifuͤgte: „ſchneid'
unſern Leuten drauſſen auch einen Biſſen“ — ich
geſtehe ſagt' ich, ich wuͤnſchte alsdann manche Sa¬
ge von ihm aus meinem Gedaͤchtniß, die ſich mit
dem lapidariſchen Mandelſtyl nicht wohl vertrug
und ich haͤtte beſonders etwas darum gegeben, die
Krebſe am allerliebſten, wenn er, weniger um
das Steingut derſelben beſorgt, ſeine Louiſe nicht
angebrummt haͤtte, die in der Freude einige Bei¬
traͤge zu ſeiner Krebs-Daktyliothek verſchuͤttet hat¬
te. — Ich will nur aufrichtig ſeyn: der Henker
haͤtte mich holen muͤſſen, wenn ich hart wie ein
Krebsauge haͤtte bleiben wollen, da du, meine
Muſik-Elevin, geliebte Beata! die du aus der
Hofluft *) wie andre Blumen aus der mephitiſchen
nichts einzogeſt als zaͤrtere Reize und hoͤhern Schmelz,
da du, holde Schuͤlerin, mit dem weiblichen Ge¬
fuͤhl des vaͤterlichen Anſehens hingiengeſt und dem
Vater, mit dem Munde auf ſeiner Hand die auf¬
[311] richtigſten Wuͤnſche brachteſt und da du erſt am
Halſe deiner Mutter, die euch beide mit Blicken
der Liebe uͤberſchuͤttete, dein Herz in ein naͤheres
uͤbergoſſeſt . . . .


Erſt jetzt koͤmmt die verſprochne Hauptſache —
naͤmlich mein Guſtav. Ich wollt', er waͤr' ausge¬
blieben. Er ritt vor zwei Huſaren voraus, die ei¬
nen Kornwagen eſkortirten. Der Wagen wollte
ſich uͤber der Graͤnze — das Fuͤrſtenthum Scheerau
ſtoͤßet wie der menſchliche Verſtand uͤberall auf Graͤn¬
zen — abladen; die zwei Huſaren wollten ſich be¬
ſtechen laſſen, es war alles gut: aber Guſtav war's
nicht; der Kondukteur, der Pachter hatte die Kon¬
trebande fuͤr Roͤperiſches Gut ausgegeben — und
von Roͤper ſtraͤubte ſich der ganze Guſtav vom Va¬
ter her zuruͤck; zweitens lebte er jetzt mit der Tu¬
gend im Brautſtand, und in den Flitterwochen,
wo man gute Werke und moraliſche hors d'oeuvre
fuͤr einerlei nimmt und wo zugleich der Styl und
die Tugend zuviel Feuer hat. Kurz der Pachter
und Wagen mußten zuruͤck; und der Kadet war
ins Geburtstagszimmer getreten, um es mit uͤber¬
wallendem Haſſe gegen Roͤperiſche Betruͤgereien an¬
zuſagen. — Aber konnt' ers, als er mich nach vie¬
[312] len Wochen und meine Elevin zum erſtenmale ſah
und unter die froͤhlich geroͤtheten Geſichter trat,
aus denen er auf einmal Blut und Freude jagen
wollte? — Er konnte nichts als mich bei Seite
ziehen und mirs entdecken; aber das Belauſchen
und das anfahrende corpus delicti entdeckten dem
Kommerzienagenten das naͤmliche und brachten und
erhielten ihn in ſeiner ſchimpfenden Wuth gegen
den Kadetten den die Sache, ſagt' er, nichts an¬
gienge, ſo lange bis ihm ein Medikament gegen
den ganzen Handel beifiel: ich mußte mit Roͤper
vor die Hausthuͤre hinaus und er ſagte mir, ich
wuͤrde als ſein Amtmann leicht einſehen, daß man
das Getreide fuͤr das Getreide ſeiner Paͤchter ausge¬
ben muͤßte, weil der Fuͤrſt mit einem Beamten
kein Schonen haͤtte. Das letztere ſah ich als ſein
neuer Amtmann ein, daß der geizige Arſenikkoͤnig,
der den Aemter-Handel, Juſtitz-Unfug ꝛc. duldete,
doch auf Ungehorſame gegen ihn, wie ein giftiger
Wind zufaͤhret; aber das ſah ich nicht ein, daß
eine zweite Betruͤgerei der Verhack und Advokat
der erſten ſeyn muͤſſe. Zu unſerem Gebalge ſtieß
endlich der Gegenſtand deſſelben, der Pachter ſelbſt,
der mit zerruͤttetem Geſicht und mit der ſtottern¬
[313] den Bitte zulief, „Ihro Gnaden ſollten es nicht
ungnaͤdig vermerken, daß er in der Angſt ſein
Korn fuͤr Ihro Gnaden Ihres ausgegeben haͤtte.“
Nun war der Knoten auseinder: mein Prinzipal
hatte bisher bloß ſeine gluͤcklich uͤber die Graͤnze
ſpedirte Konterbande mit der ertappten fremden ver¬
mengt. Dem Pachter hielt er als geſunder Mora¬
liſt die Bosheit vor, auf einmal ihn, das Land
und den Fuͤrſten [zu betruͤgen] „und er wuͤnſchte, er
braͤche jetzt das Beſtallungsſchreiben auf, er wuͤr¬
de ihn heute ausliefern.“ Zu meinem Guſtav eilt'
er hinein und warf ihm mit der Hitze der verkannten
Unſchuld ſo viel Grobheiten entgegen als man von ei¬
nem beleidigten Millionaͤr erwarten kann, da Beſi¬
tzer des Goldes, wie Saiten von Gold am aller¬
groͤbſten
klingen. Mich dauerte mein lieber Gu¬
ſtav mit ſeiner Tugend-Plethora; ihn dauerte das
Ungluͤck des armen Pachters; und Beaten dauerte
unſere allſeitige Beſchaͤmung. Mit reiſſenden Gefuͤh¬
len floh Guſtav aus einem ſtummen Zimmer, wo er
vom weichſten Herzen, daß noch unter einem ſchoͤ¬
nen Geſicht gezittert, von Beatens ihrem die Blu¬
men kindlicher Freude weggebrochen und herunter
geſchlagen hatte.


[314]

Im Grund gieng jetzt der Henker erſt los —
naͤmlich das Roͤperiſche Gebelle gegen das Falken¬
bergiſche Haus und deſſen verdammte Verſchwen¬
dung und gegen den Kadetten. Beata ſchwieg;
aber ich nicht: ich waͤre ein Schelm geweſen (ein
groͤßerer mein' ich), wenn ich dem Rittmeiſter die
Verſchwendung in dem Sinne, worins der Geg¬
ner nahm, haͤtte beimeſſen laſſen — ich waͤre auch
dumm (oder duͤmmer) geweſen, wenn ich nicht in
meinem erſten Amtmanns-Aktus meinen Prinzipal
an Widerſtand zu gewoͤhnen getrachtet haͤtte, ſon¬
dern erſt im zehnten, zwanzigſten. — — — Aber
das Oel, das ich herumflieſſen ließ, um ſeine
Wellen zu glaͤtten, tropfte ſtatt ins Waſſer ins
Feuer. Es half uns beide wenig, daß uns meine
Elevin mit den ſilberhaltigſten Paſſagen aus Ben¬
da's Romeo anſpielte — der alte Spas war nim¬
mer zuruͤck zu bringen — wir zuckten und lenkten
vergeblich an unſern Geſichtern, Roͤper ſah wie
ein indianiſcher Hahn aus und ich wie ein euro¬
paͤiſcher — ich hatte vorgehabt, gegen Abend
nach Monds Aufgang etwas ſentimentaliſch zu
ſeyn in Beiſeyn von Beaten, da ſie mir ohne¬
hin der Hof entriß; ich weiß gewiß, ich haͤtte
[315] hinlaͤnglich empfunden und gefuͤhlt; ich wuͤrde un¬
ter einem Schatten oder Baum mein Herz her¬
vorgenommen und geſagt haben, prenés; ja ich
ſchien ſogar heute Beaten mir weit naͤher heran¬
zuziehen als ſonſt, welches bei allen Maͤdchen ge¬
lingt, mit deren Eltern man die Geſchaͤfte theilt,
— — Das war jetzt ſaͤmmtlich zum Teufel; ich
mußte kalt und zaͤhe davon gehen wie ein Kam¬
mergerichtsbote und empfand ſchlecht. War der
neue Amtmann verdruͤßlich, den man in ſein Amt
hineingeaͤrgert hatte, ſo war's ſein Prinzipal noch
mehr, der in ſein Jahr hineingezankt wurde. So
hinkt' ich davon und ſagte unter dem ganzen Weg
zu mir: „ſo und mit dem Geſicht und Ausſe¬
„hen zieheſt du alſo, gluͤcklicher Paul, von deiner
„Mauſſenbachiſchen Gerichtshalterei heim, von der
„du ſchon in deinen Sektoren voraus geplaudert
„— — Du brauchſt meinetwegen nicht aufzuge¬
„hen, Mond, ich brauche dein Puder-Geſicht
[„]heute nicht — der einzige verdammte Korn-Kar¬
[„]ren! und der Fuͤrſt! der Filz dazu! und auch
„die Juͤnglingſtugend! — ich wollt' daß ihr alle
„. . . . Waͤr' ich aber nur ſo geſcheut geweſen und
„haͤtte gleich Vormittags gefuͤhlt und haͤtte vor dem
[316] „Eſſen etwas von meinem Herzen vorgezeigt, nur
„ein Ohr, nur eine Faſer.”


„Ei! Herr Amtmann! (fuhr mir mein Wuz
entgegen) wieder da? Hat's huͤbſche Ehebruͤche ge¬
geben, Hurenfaͤlle, Raufereien, Injurien?”


„Bloß einige Injurien,” ſagt’ ich.


[317]

Drey und zwanzigſter oderXX. Trinitatis Sekt.

Anderer Zank — das ſtille Land — Beatens Brief — die Aus¬
ſöhnung — das Portrait Guidos.


Noch am heutigen Sonntag hab' ichs nicht her¬
aus warum Guſtav fuͤnf Tage ſpaͤter in Scheerau
eintraf als er konnte: er wich ſogar meinen Er¬
kundigungen aͤngſtlicher als liſtig aus. Oefel ließ
ſich alles rapportiren und machte ein Paar Sekto¬
res in ſeinem Roman daraus, den ich und der
Leſer hoffentlich noch zu ſehen bekommen: ich woll¬
te, [ſeiner] kaͤme eher als meiner heraus, ſo koͤnnt'
ich den Leſer darauf verweiſen oder vielleicht einige
Anekdoten daraus nehmen. Guſtav ſchien ein gei¬
ſtiges Wundfieber zu haben. Er trug ſein vom
bisherigen Bluten erkaltetes Herz zu Amandus, um
es an des Freundes heißer Bruſt wieder auszuwaͤr¬
men und anzubruͤten und um die Achtung gegen
ſich ſelbſt, die er nicht aus der erſten Hand be¬
kommen konnte, aus der zweiten zu erhalten.
Und dort erhielt er ſie ſtets — aus einem ſonder¬
baren Grunde: in ſeinem Karakter war ein Zug,
[318] der ihn, wenn er unter einer Bruͤdergemeinde
waͤre, laͤngſt als Wildenbekehrer aus ihr nach A¬
merika hinabgerollet haͤtte: er predigte gern. Ich
kann es anders ſagen: ſeine quellende Seele muſte
entweder ſtroͤmen oder ſtocken, aber tropfen konn¬
te ſie nicht — und wenn ſich ihr denn ein freund¬
ſchaftliches Ohr aufthat: ſo regnete ſie nieder im
Enthuſiaſmus uͤber Tugend, Natur und Zukunft. —
Dann wehte eine heitere friſche Luft durch ſeine
Ideenwelt — die niedergeſtuͤrzten Ergießungen deck¬
ten den ſchoͤnen lichten tiefblauen Himmel ſeines
Innern auf und Amandus ſtand unter dem ofnen
Himmel entzuͤckt. Dieſer, dem die Superioritaͤt
ſeines herzlich Geliebten ein Poſtement war, das
ihn nicht belaſtete ſondern emporhob, genoß im
fremden Werth ſeinen eignen; ja in ſeinem min¬
der ausgelichteten Kopf entſtand noch groͤßere
Waͤrme als im redenden war, wie etwann dun¬
kles Waſſer ſich unter der Sonne ſtaͤrker als hel¬
les erwaͤrmt. Guſtav erzaͤhlte ihm die Avantuͤre
und ſprach mit ihm ſo lange uͤber ihre Moralitaͤt
bis der Schmerz daruͤber weggeſprochen war: das
iſt das freundſchaftliche Beſprechen des innern
Schadenfeuers. Bloß Liebe und ein wenig Schwaͤ¬
[319] che wars, daß Amandus mit groͤßerer Theilnahme
eine heraus geweinte als eine hervorgelachte Thraͤ¬
ne aus dem geliebten fremden Auge wiſchte: er
kam deswegen, um ſich das Intereſſe an fremden
Kummer zu verlaͤngern, noch einmal auf die Sa¬
che und that die zufaͤllige Frage, wo mein Held
die uͤbrigen fuͤnf Tage war. Guſtav uͤberhoͤrt' es
aͤngſtlich und roth — jener drang heftiger an —
dieſer umfaßte ihn noch heftiger und ſagte: „fra¬
ge mich nicht, du quaͤleſt dich nur“ — Amandus,
deſſen hyſteriſches Gefuͤhl nicht ſo fein als konvulſi¬
viſch war, feuerte ſich erſt damit an — Guſtavs
Herz war innigſt bewegt und daraus kamen die
Worte: „o! Lieber, du kannſt es nie erfahren,
von mir nie“ — Amandus war wie alle Schwache
leicht zur Eiferſucht in Freundſchaft und Liebe ge¬
neigt und ſtellte ſich beleidigt ans Fenſter — Gu¬
ſtav, heute nachgiebiger und waͤrmer durch das
Bewuſtſeyn ſeiner neueſten Vergehung in der Korn-
Anklage, gieng hin zu ihm und ſagte mit naſſen
Augen:“ haͤtt, ich nur keinen Eid gethan, „nichts
zu ſagen“ — Aber an Amandus Seele waren nicht
alle Stellen mit jenem feinen Ehrgefuͤhl bekleidet,
an dem Wort- und Eidbruch freſſender Hoͤllenſtein
[320] iſt; ferner ſetzten in ihm wie in allen Schwachen
die Bewegungen ſeiner Seele! auch wenn die Ur¬
ſache dazu gehoben war, wie die Wellen des
Meers, wenn auf den langen Wind ein entgegen¬
blaſender folgt, noch die alte Richtung fort. — —
Er ſah alſo weiter durchs Fenſter und wollte
vergeben, muſt' aber die mechaniſch aufſpringen¬
den Wellen allmaͤhlig zuſammenfallen laſſen. Haͤt¬
te Guſtav ſich weniger um ſeine Vergebung bewor¬
ben: ſo haͤtt' er ſie fruͤher bekommen; beide
ſchwiegen und blieben; „Amandus!“ rief er end¬
lich im zaͤrtlichſten Ton. Keine Antwort und kein
Umkehren; auf einmal zog der einſame Gequaͤlte
das Portrait des verlohrnen und aͤhnlichen Guido,
das in ſeinen ſchoͤnen Kindheitstagen uͤber ſeine
Bruſt gehangen worden und das er ihm heute zu
zeigen willens geweſen, vom Schmerze uͤbermannt
hervor und ſagte mit zerſchmelzendem Herzen: „o
du gemahlter Freund, du geliebtes Farben-Nichts,
du traͤgſt unter deiner gemahlten Bruſt kein Herz,
du kennſt mich nicht, du vergiltſt mir nichts, —
und doch lieb' ich dich ſo ſehr. — Und meinem
Amandus waͤr' ich nicht treu?“ — — Er ſah ploͤtz¬
lich im Glaſe dieſes Portraits ſein eignes mit ſei¬
nem[321] nen Trauerzuͤgen nachgeſpiegelt: „o blicke her (ſag¬
te er in einem andern Tone;) ich ſoll dieſem ge¬
mahlten Fremden ſo aͤhnlich ſehen, ſein Geſicht
laͤchelt in Einem fort, ſchau aber in meines!“ —
und er richtete es auf und weit ofne aber in Thraͤ¬
nen ſchwimmende Augen und zuckende Lippen wa¬
ren darauf. — — Die Fluth der Liebe nahm bei¬
de in feſter Umfaſſung hinweg und hob ſie — und
als Amandus erſt darnach ſeine halbeiferſuͤchtige
Frage: „er habe geglaubt, das Portrait ſei Gu¬
ſtavs“ mit Nein und mit der ganzen Geſchichte be¬
antwortet erhielt; wars ohne allen Schaden: denn
die Bewegungen ſeiner zogen ſchon wieder im Bet¬
te der Freundſchaft hin.


Nach ſolchen Erweiterungen der Seele bietet
eine Stube keine angemeſſene Gegenſtaͤnde an; ſie
ſuchten ſie alſo unter dem Deckengemaͤhlde, von
dem nicht ein gemahlter ſondern ein lebendiger
Himmel, nicht Farbenkoͤrner ſondern brennende
und verkohlte Welten niederhaͤngen und giengen
hinaus ins ſtille Land, das keine halbe Stunde
von Scheerau liegt. Ach ſie haͤttens nicht thun
ſollen, wenn ſie ausgeſoͤhnet bleiben wolten!


X[322]

Willſt du hier beſchrieben ſeyn, du ſtilles Land,
uͤber das jezt meine Phantaſie ſo hoch vom Boden
und mit ſolchem Sehnen hinuͤber fliegt — oder du
ſtille Seele, die du es noch in der Deinigen be¬
wachſt und nur ein irrdiſches Bild davon auf die
Erde geworfen haſt? — keines von beiden kann ich;
aber den Weg will ich nachzeichnen, den unſre
Freunde dadurch nahmen und vorher theil ich
noch etwas mit, das den ſonderbaren Ausgang ih¬
res Spatziergangs gebar.


Ich wuſte ohnehin nicht recht, wohin ich den
Brief thun ſollte, dem Beata ſogleich nach meiner
und ihrer Ruͤckkehr von Mauſſenbach an meine
Schweſter ſchrieb. Sie war in den wenigen Tagen,
die ſie mit meiner Philippine bei der Reſidentin
zubrachte; ihre Freundin geworden. Die Freund¬
ſchaft der Maͤdgen beſteht oft darin, daß ſie ein¬
ander die Haͤnde halten oder einerlei Kleiderfar¬
ben tragen; aber dieſe hatten lieber einerlei
freundſchaftliche Geſinnungen: es war ein Gluͤck
fuͤr meine Schweſter, daß jene keine Gelegenheit
hatte, ihrem ſie halb beſtreiffenden Wiederſchein
von Koketterie zu begegnen; denn Maͤdgen erra¬
then nichts leichter als Koketterie und Eitelkeit,
zumal an ihrem Geſchlecht.


[323]

Liebe Philippine,


Ich habe bisher immer gezoͤgert, um Ihnen
einen recht muntern Brief zu ſchreiben — Aber
Philippine, hier mach' ich keinen. Mein Herz
liegt in meiner Bruſt wie in einer Eisgrube und
zittert den ganzen Tag; und doch waren Sie hier
ſo freudig und nirgends betruͤbt als bei unſerem
Abſchiede, der faſt ſo lange waͤhrte wie unſer
Beiſammenſein: ich bin wohl ſelber Schuld? Ich
glaub' es manchmal, wenn ich die lachenden Ge¬
ſichter um die Reſidentin ſehe oder wenn ſie ſelber
ſpricht und ich mir in ihrer Stelle denke, was ich
ihr mit meinem Schweigen und Reden ſcheinen
muß. Ich darf nicht mehr an die Hofnungen mei¬
ner Einſamkeit denken, ſo ſehr werd' ich von den
Vorzuͤgen fremder Geſellſchaft beſchaͤmt — Und
wenn mich eine Rolle, die fuͤr mich zu groß iſt,
freilich niederdruͤckt: ſo weiß ich mit nichts mich
aufzurichten als daß ich ins ſtille Land wegſchleiche
— da hab' ich ſuͤßere Minuten und mir gehen oft
die Augen ploͤtzlich uͤber, weil mich da alles zu lie¬
ben ſcheint und weil da die ſanfte Blume und der
ſchuldloſe Vogel mich nicht demuͤthigen ſondern
meine Liebe achten — dann ſeh' ich den Geiſt der
X 2[324] trauernden Fuͤrſtin einſam durch ſeine Werke wan¬
deln und ich gehe mit ihm und fuͤhle was er fuͤh¬
let und ich weine noch eher als er. — Wenn ich
unter dem ſchoͤnſten blaueſten Tage ſtehe: ſo ſchau'
ich ſehnend auf zur Sonne und nachher rings um
den Horizont herum und denke: „ach wenn du
deinen Bogen herunter gezogen biſt, ſo haſt du
doch auf keine Stelle der Erde geſchienen, auf der
ich ganz gluͤcklich ſeyn koͤnnte bis zu deinem Abend¬
roth; — wenn die Sonne hinunter und der Mond
herauf iſt: ſo findet er, daß ſie mir nicht viel
gegeben.“ . . . Theure Freundin! veruͤbeln Sie
mir dieſen Ton nicht; ſchreiben Sie ihn einer
Krankheit zu, die mich allemal hinter dieſem Vor¬
bothen anwandelt. O koͤnnt' ich Sie mit meinem
Arme an mich ketten: ſo waͤr' ich vielleicht auch
nicht ſo. Gluͤckliche Philippine! aus deren Munde
ſchon wieder der Witz laͤchelnd flattert, wenn noch
uͤber ihm das Aug' voll Waſſer ſteht, wie die ein¬
zige Balſampappel in unſerem Park Gewuͤrzduͤfte
ausathmet, indeß noch die warmen Regentro¬
pfen von ihr fallen. — Alles ziehet von mir weg,
Bilder ſogar; ein todtes ſtummes Farbenbild hin¬
ter einer Glaßthuͤr war der ganze Bruder, den
[225[325]] ich zu lieben hatte — Sie koͤnnen nicht fuͤhlen was
Sie haben oder ich entbehre — jezt ſcheidet ſogar
ſein Wiederſchein von mir und ich habe nichts mehr
vom geliebten Bruder, keine Hofnung, keinen
Brief, kein Bild. — Ich vermiſſe dieſes Portrait
zwar ſeit meiner Ruͤckkehr von Mauſſenbach; aber
vielleicht iſts ſchon laͤnger weg, denn ich hatte mich
bisher bloß einzurichten; vielleicht hab ichs ſelber
mit unter die Buͤcher, die ich Ihnen gab, ver¬
packt — Sie werden mich benachrichtigen. Ich
weiß gewiß, in unſerem Hauſe war noch ein zwei¬
tes etwas unaͤhlicheres Portrait meines Bruders;
aber ſeit langem iſts nicht mehr da.“ ꝛc.


Natuͤrlich! denn der alte Roͤper hatt' es pu¬
blice
verſteigert, weil es das von Guſtav war.
— Aber wir wollen wieder ins ſtille Land unſern
beiden Freunden nach.


Sie muſten vor dem alten Schloſſe vorbei, das
wie eine Adams Rippe das neue ausgeheckt, das
ſeinerſeits wieder neue Waſſeraͤſte, ein ſineſiſches
Haͤusgen, ein Badhaus, einen Gartenſaal, ein
Billard u. ſ. w. hervorgetrieben hatte. Im neuen
Schloſſe wohnte die Reſidentin von Bouſe, die die¬
[326] ſe architektoniſche Foͤtuſſe das ganze Jahr nicht
zweimal bewunderte. Hinter dem zweiten Ruͤcken
des Schloſſes fieng ſich der engliſche Garten mit ei¬
nem franzoͤſiſchen an, den die Fuͤrſtin ſtehen laſſen,
um den Kontraſt zu nuͤtzen oder um den zu ver¬
meiden, in dem ſich ein taͤttowirter brillantirter
dekorirter Pallaſt neben die patriarchaliſche Natur
im Schaͤferkleide poſtirt. Wer nicht vor den beiden
Schloͤſſern vorbei wollte: konnte durch ein Fichten¬
waͤldgen in den Park gelangen und vorher in eine
Klausnerei, deren Vaͤter der alte Fuͤrſt und ſein
Favorit-Kammerherr geweſen waren. Beide wa¬
ren in ihrem Leben nicht einen halben Tag allein
geweſen, außer wenn ſie ſich auf einer Jagd oder
ſonſt verirrten — daher wollten ſie doch allein
ſeyn und ſetzten deswegen (was fragten ſie dar¬
nach, daß ſie ein Plagiat und einen Nachdruck
der Bayreuthiſchen Eremitage veranſtallteten?)
neun Haͤuſergen aufs Papier, nachher auf den
Tiſch und endlich auf die Erde, oder vielmehr
neun bemooſte Klafter Holz: in dieſen ausgehoͤlten
Vexier-Klaftern ſteckte ſineſiſches Ameublement,
Gold und ein lebendiger Hofmann, wie man et¬
wann in lebendigen Baumſtaͤmmen mit dem groͤſten
[327] Erſtaunen auf eine lebendige Kroͤte ſtoͤßet, weil
man nicht ſieht wo ihr Loch iſt. Die Klafter um¬
rangen eine Klauſe, die man — weil am ganzen
Hof keine Seele zu einem lebendigen Einſiedler
Anſatz hatte — einem hoͤlzernen anvertrauete, der
ſtill und mit Verſtand drinnen ſaß und ſo viel me¬
ditirte als einem ſolchen Manne moͤglich iſt: man
hatte den Anachoreten aus der Scheerauiſchen
Schulbibliothek mit einigen aſzetiſchen Werken ver¬
ſehen, die fuͤr ihn paſten und ihn zu einer Abtoͤd¬
tung des Fleiſches ermahnten, die er ſchon hatte.
Die Großen werden entweder repraͤſentirt oder re¬
praͤſentiren ſelber, aber ſie ſind nie etwas: Frem¬
de muͤſſen fuͤr ſie eſſen, ſchreiben, genießen, lie¬
ben, ſiegen und ſie ſelber thuns wieder fuͤr andre;
daher iſts ein Gluͤck daß ſie, da ſie zum Genuß
einer Eremitage keine eigne Seele haben und keine
fremde finden, doch hoͤlzerne Chargés d'affaire, die
die Einſiedelei fuͤr ſie genieſſen, auftreiben und ich
wuͤnſchte, ſie ließen auch vor ihre Parks und vor
ihre Orcheſter, wozu ſie fuͤnf Sinne zu wenig ha¬
ben, ſolche unbelebte Genuß-Plenipotentiare und
Plaiſirs-Kuratores machen und ſtillen. —


[328]

In die Decke der Klauſe ſollte (wie in die De¬
cke der Grotte beim Kloſter S. Felicita) hinlaͤngli¬
che Baufaͤlligkeit, ſechs Ritzen und ein Paar Ei¬
dexen, die daraus fallen, eingemahlet werden:
Der Mahler war auch ſchon auf Reiſen, blieb aber
ſo lange darauf und aus, daß ſich die Sache zu¬
letzt ſelber hinauf mahlte und gleich ofnen Men¬
ſchen nichts war als was ſie ſchien. Allein da die
kuͤnſtliche Einſiedelei ſich zu einer natuͤrlichen ver¬
edlet hatte: war ſie laͤngſt von allen vergeſſen. Ich
halt' es daher mehr fuͤr Perſiflage als fuͤr reine
Wahrheit, daß der Kammerherr — wie ſo viele
Oberſcheerauer ſagten — Holzwuͤrmer haͤtte zuſam¬
men fangen und in den Stuhl des Eremiten im¬
pfen laſſen, damit die Thiere ſtatt der Haarſaͤgen
und Trennmeſſer daran arbeiteten und den Seſſel
fruͤher antik machten — wahrhaftig das Gewuͤrm
beißet jezt Stuhl und Moͤnch um! Noch laͤcherli¬
cher iſts, wenn man einem vernuͤnftigen Mann
weiß machen will, anfangs haͤtte der architekto¬
niſche Kammerherr ein kuͤnſtlich laufendes Raͤder¬
werk mit einem Mausfell kouvertiert und papillot¬
tirt, damit die Kunſt–Eidexe oben eine Korreſpon¬
denz – Maus unten haͤtte und ſo fuͤr Symmetrie hin¬
[329] ten und vorn geſorgt waͤre, hernach haͤtte der Herr
ſich der Natur genaͤhert und uͤber eine lebendige
rennende Maus ein kuͤnſtliches zweites Mausfell
als Ueberrock und Frak gezogen, damit Natur
und Kunſt in einander ſtecken — laͤcherlich! Maͤu¬
ſe fahren zwar jezt um den Einſiedler herum, aber
ſicher nur in Einer Unterzieh-Haut. . . .


Unſere zwei Freunde ſind weit von uns und
ſchon im ſogenannten langen Abendthal des Parks,
durch welches aus der untergehenden Sonne ein
ſchwebender Gold-Strom fiel. Am weſtlichen ſanft
erhoͤhten Ende des Thales ſchienen die zerſtreuten
Baͤume auf der zerrinnenden Sonne zu gruͤnen;
am oͤſtlichen ſah man uͤber die Fortſetzung des
Parks hinuͤber bis ans gluͤhende Schloß, auf deſſen
Scheiben ſich die Sonne und das Abend-Feuer¬
werk verdoppelten. Hier ſah die Fuͤrſtin allemal
den erſten Untergang der Sonne; dann hob ſie ein
ſanft aufgewundner Weg auf das hohe Geſtade
dieſes Thals, wo der Tag noch in ſeinem Sterben
war und noch einmal mit dem brechenden Sonnen-
Auge vaͤterlich den großen Kinderkreis anblickte bis
ihm ſeine Nacht das Auge zudruͤckte und ſie in ih¬
ren muͤtterlichen Schooß die verlaſſene Erde nahm.


[330]

Guſtav und Amandus! hier verſoͤhnet euch
noch einmal — der rothe Sonnenrand ſteht ſchon
auf dem Rande der Erde — das Waſſer und das
Leben rinnen fort und ſtocken unten im Grabe —
nehmet euch an den Haͤnden, wenn ihr auf das
zerſtoͤhrte Ruheſtatt*) hinuͤberſchauet und auf
ſeine ſtehende Kirche, das Bild der ungluͤcklichen
Tugend — oder wenn ihr auf die Blumenin¬
[331] ſeln
blickt, wo jede Blume auf ihrem gruͤnen
Welttheilgen einſam zittert und ihr kein Verwand¬
ter entgegen ſchwankt als ihr gemahlter Schatten
im Waſſer — druͤckt euch die Haͤnde, wenn euere
Augen fallen auf das Schattenreich, wo heu¬
te Licht und Schatten wie Leben und Schlafen ne¬
ben einander und in einander zitternd flatterten
bis die ſchwarze Schattenfluth jezt uͤber allem was
an der Erde blinket ſteht und den Tod nachſpielt
— und wenn ihr an des ſtummen Kabinets
dreifachen Gitter Alphoͤrner und Aeolsharfen lehnen
ſehet: ſo muͤſſen euere Seelen die Harmonien im
Einklang nachbeben. . . . Es iſt eine elende rheto¬
riſche Figur, die ich aufſtelle, daß ich hier ſo lan¬
ge an- und zugeredet habe: ſind denn nicht die
zwei Freunde in einem groͤßern Enthuſiaſmus als
ich ſelbſt? iſt nicht Amandus uͤber freundſchaftliche
Eiferſucht emporgehoben und haͤlt eigenhaͤndig das
heutige angeredete Portrait des unbekannten Gu¬
ſtaviſchen Freundes vor ſich hin und ſagt: „Du
koͤnnteſt der Dritte ſeyn? ja legt er nicht in der
Begeiſterung das Portrait ins Graß, um mit der
linken Hand Guſtaven zu faſſen und mit der rech¬
ten auf ein Zimmer des neuen Schloſſes zu deuten
[332] und geſteht er nicht, „haͤtt' ich auch in der rech¬
ten das was ich liebe: ſo waͤren meine Haͤnde,
mein Herz, und mein Himmel wohl und ich wol¬
te ſterben?“ und da man nur in der groͤſten Lie¬
be gegen einen Zweiten von der gegen einen Drit¬
ten ſprechen kann: koͤnnen wir unſerem Amandus
mehr anſinnen, der hier auf dem Berge ſeine Ver¬
liebung in Beaten bekennt? — —


Das Ungluͤck war, das ſie jezt ſelber herauf¬
ſtieg, um am Sterbebette der Sonne zu ſtehen —
unendlich ſchoͤner als die, die ihre Augenluſt war —
ſchwaͤrmeriſch, unregelmaͤßig gehend — mit einem
Auge, das erſt ſah nachdem ſie es einigemal ſchnell
auf- und zugezuckt — kein lebender europaͤiſcher
Autor koͤnnte Amandi Entzuͤckung vormahlen, wenn
es dabei geblieben waͤre' — aber ihr Erſtaunen uͤber
die zwei Gaͤſte des Berges floß ploͤtzlich in das uͤber
den dritten auf dem Graſe uͤber: eine konvulſiviſche
Bewegung gab ihr das bruͤderliche Bild und ſie
ſagte, mechaniſch zu Amandus gekehrt, „meines
Bruders Portrait! endlich find' ichs!“ — ſie konn¬
te nicht vorbeigehen ohne aus jenem weiblichen fei¬
nen Gefuͤhl, das in ſolchen Manual-Akten zehn
Bogen durch hat eh' unſers das erſte Blatt geleſen
[333] zu beiden zu ſagen: Sie dankte Ihnen, wenn
Sie das Bild gefunden haͤtten“ — Amandus buͤck¬
te ſich tief und erboßet, Guſtav war weg als ſtaͤn¬
de ſein Geiſt auf dem Berg Horeb und hier bloß
der Leib — ſie wandelte, als war's ihre Abſicht
geweſen, gerade uͤber den Berg hinuͤber, mit den
eignen Augen auf dem Bilde und mit den vier
fremden auf ihrem Ruͤcken. . .


„Jezt ſind ja deine fuͤnf Tage heraus, und oh¬
ne deinen Meineid“ ſagte Amandus erzuͤrnet und die
hohe Oper des Sonnen-Untergangs ruͤhrte ihn nicht
mehr; Guſtaven ruͤhrte ſie noch ſtaͤrker: denn das
Gefuͤhl, Unrecht zu leiden, floß mit dem falſchen Ge¬
fuͤhl, Unrecht angethan zu haben — feine Seelen
geben in ſolchen Faͤllen dem andern allzeit mehr
Recht als ſich — in Eine bittere Thraͤne zuſammen
und er konnte kein Wort ſagen. Amandus, der ſich
jezt uͤber ſeine Verſoͤhnung aͤrgerte, wurd' in ſeinem
eiferſuͤchtigen Verdacht noch dadurch befeſtigt, daß
Guſtav in der pragmatiſchen Relation, die er ihm
von der Mauſſenbacher Avantuͤre gemacht, Beaten
voͤllig ausgelaſſen; allein dieſe Eliſion hatte Guſtav
angebracht, weil ihn beim ganzen Vorfall gerade
Beatens Gegenwart am meiſten ſchmerzte und weil
[334] vielleicht in ſeinem waͤrmſten Innerſten eine Achtung
fuͤr ſie keimte, die zu zart und heilig war, in der
freien harten Luft des Geſpraͤchs auszudauern. „Und
ſie war natuͤrlich neulich mit in Mauſſenbach?“ ſagte
der Eiferſuͤchtige im fatalſten Tone — „Ja!“ aber
ſo viel vermochte Guſtav nicht beizufuͤgen, daß ſie da
kein Wort mit ihm geſprochen. Dieſes dennoch un¬
erwartete Ja zerſtuͤckte auf einmal des Fragers Ge¬
ſicht, der ſeinen Stumpf in die Hoͤhe gehalten (falls
die Hand waͤre abgeſchoſſen geweſen) und ge¬
ſchworen haͤtte, „es brauche weiter keines Beweiſes
— Guſtav halte Beaten ſichtlich in ſeinem magneti¬
ſchen Wirbel — ſchweig' er nicht jezt? ließ er ihr
das Bildniß nicht ſo gleich? wird ſie, da ſie die Ko¬
pien verwechſelte, nicht auch die Originale verwech¬
ſeln, da ſie ſich alle vier ſo gleichen u. ſ. w.“


Amandus liebte ſie und dachte, man lieb ihn
auch, und man merke wo er hinaus wolle. Er hatte
Delikateſſe genug in ſeinen eignen Handlungen,
aber nicht genug in den Vermuthungen, die er
von fremden hegte. Er hatte Beaten naͤmlich oft an
der mediziniſchen Seite ſeines Vaters als Patientin
in Mauſſenbach beſucht; er hatte von ihr jene frei¬
muͤthige Zutraulichkeit erfahren, die viele Maͤdgen
[335] in ſiechen Tagen immer aͤußern oder in geſunden ge¬
gen Juͤnglinge, die ihnen tugendhaft und gleichguͤl¬
tig auf einmal vorkommen: das gute Partizipium
in dus, Amandus, muthmaßte daher nach einigen
Nachdenken, daß der Brief, den Beata als ein Spe¬
zimen aus Rouſſeaus Heloiſe auf feinem Papier —
auf blaues ſchreibt keine — verdollmetſchet hatte
und der an den ſeeligen S. Preux geſchrieben war,
an das Partizipium gerichtet waͤre. Maͤdgen ſollten
daher nichts vertiren: Amandus war in einen Lieb¬
haber vertirt.


In Guſtavs wogendem Kopf brach jezt die
Nacht an, die außer ihm vortrat: Stuͤrme und
Mondſchein waren in ſeiner Nacht neben einander,
Freude und Trauer, er dachte an einen unſchuldigen
vom Verdacht angefreſſenen Freund, an das einge¬
buͤſte Portrait, an die Schweſter, mit der er einmal
in ſeiner Kindheit geſpielt hatte, an den unbekann¬
ten portraitirten Freund, der alſo der Bruder dieſes
ſchoͤnen Weſens ſei u.ſ.w. — Amandus brach ein¬
ſeitig auf; Guſtav folgte ihm ungebeten weil er heu¬
te nichts als verzeihen konnte — noch unter dem
Hinuntergehen rangen Haß und Freundſchaft mit
gleichen Kraͤften in Amandus und erſt ein Zufall
[336] war einem von beiden zum Siege vonnoͤthen —
der Haß errang ihn und der Auxiliar-Zufall war,
daß Guſtav parallel an Amandus Seite gieng —
er haͤtte voraus- (oder hoͤchſtens hintennach) ſchlei¬
chen ſollen, zumal mit ſeiner freundſchaftlich ge¬
beugten Seele: ſo haͤtte die Freundſchaft vermit¬
telſt ſeines Ruͤckens geſiegt, weil ein Menſchenruͤk¬
ken durch den Schein von Abweſenheit mehr Mit¬
leiden und weniger Haß mittheilt als Geſicht,
Bruſt und Bauch.... Man kann die Menſchen
gar nicht oft genug von hinten ſehen...


Ihr Buͤcherleſer! keift nicht mit den armen
Amandus, der ſein morſches Leben verkeift: ihr
ſolltet nur ſehen, wie in einem Nervenfabrikanten
der Sitz der Seele iſt, verteufelt hart, ausgepol¬
ſtert mit keinen drei Rindshaaren, einſchneidend
wie eine Schlittenpritſche, kurz alle mir bekannte
Ichs ſitzen weicher — — dennoch wird mein Mit¬
leiden gegen den wunden Schelm durch ganz andre
Dinge als durch ſeine harte ſteinigte Zirbeldruͤſe
der Seele erregt: es ſind Dinge die den Leſer
weich machen wuͤrden und zu denen ich mich trotz
meines Austunkens nur leider noch nicht habe hin¬
zuſchreiben vermocht! —


Ueber¬[337]

Ueberhaupt verſteck' ichs vergeblich, wie ſehr
es meiner Hiſtorie noch mangelt an wahrem Mord
und Todtſchlag, Peſtilenz und theuerer Zeit und
an der Pathologie der Litanei: ich und der Buͤ¬
cherverleiher finden hier das ganze weiche Publikum
im Laden, das aufpaſſet und ſchon das weiſſe
Schnupftuch — dieſes ſentimentaliſche Haarſeil —
heraus hat und das Seinige beweinen will und ab¬
wiſchen. . . und doch bringt keiner von uns viel
Ruͤhrendes und Todtes. . . . Von der andern Sei¬
te bleibt mir wieder die Schererei, daß das deut¬
ſche Publikum ſeinen Kopf aufſetzt und ſich nicht
von mir aͤngſtigen laſſen will: denn es bauet dar¬
auf, ich koͤnne als bloßer platter Biograph es zu
keinem Morde treiben, ohne den doch nichts zu
thun iſt. — Aber iſt denn nur der Romanen-Fa¬
brikant mit dem Blut- und Koͤnigsbann beliehen
und iſt nur ſein Druckpapier ein Greveplatz? —
Wahrhaftig Zeitungsſchreiber, die keine Romane
ſchreiben, haben doch von jeher eingetunkt und
niedergemacht was ſie wollten und mehr als rekru¬
tiret war — Geſchichtſchreiber ferner, dieſe Gro߬
kreuze unter den gedachten Kleinkreuzen (denn aus
100 Zeitungs-Annaliſten extrahir' ich nie mehr als
Y[338] einen Geſchichtſchreiber wie Abſud) ſind fortgefahren
und haben ſo viel umgebracht als der Plan ihrer
hiſtoriſchen Einleitung, ihrer Abrégés, ihrer Eſ¬
ſais
durchaus erfoderte.... Kurz ich bin nicht zu
entſchuldigen, wenn ich hier gar nichts todt und
intereſſant mache; und ich erſchlage am Ende aus
Noth einen oder ein Par Lakaien, die noch dazu
auſſer Scheerau kein Hund kennt.


Ich fahre aber in meiner Geſchichte fort und
ruͤcke aus des Peſtilenziarius Nouvelle à la main
folgenden Artikel in meine fuͤr mehrere Welttheile
geſchriebene nouvelle à la main herein:


„Es beſtaͤtigt ſich aus Mauſſenbach, daß der
„daſige Bediente Robiſch Todes verfahren iſt wie
„ſeine Maͤuſe: ſein Tod hat zwei mediziniſche Schu¬
„len geſtiftet, wovon die eine verficht, ſein ſtif¬
„tender Tod kaͤme von zu vielen Pruͤgeln, und
„andre, vielmehr von zu wenigem Eſſen.“


Es iſt nicht ein Wort daran wahr: der Menſch
hat zwar Striemen und Appetit, lebt aber noch
Dato und der Zeitungsartikel iſt erſt ſeit einer Mi¬
nute von mir ſelber gemacht worden; das kuͤhne
Publikum ziehe ſich aber daraus auf immer die Wi¬
tzigung, daß es keinem Biographen reize und auf¬
[339] bringe, weil auch der durch die Kelchvergiftung
ſeines Dintenfaſſes und durch das Rattenpulver ſei¬
ner Streuſandbuͤchſe Robiſche und Fuͤrſten und je¬
den umwerfen und auf den Gottesacker treiben
koͤnne; es lerne daraus, daß ein rechtſchaffenes
Publikum ſtets unter dem Leſen beben und fragen
muͤſſe: „wie wirds dem armen Narren (oder der
armen Naͤrrin) ergehen im naͤchſten Sektor?“ — —


Y 2[340]

Vier u. zwanzigſter oderXXI. Trinitatis-Sekt.

Oefels Intriguen — die Infammachung — der Abſchied.


Schlecht genug ergehts ihm, wenn das fragende
Deutſchland anders unſern Guſtav meint. Oefel
thuts. Ich will aber dem erſchrocknen Deutſchland
alles eroͤfnen: die wenigſten darin wiſſen, war¬
um dieſer ein Romanſchreiber und ein Legations¬
rath iſt.


Kein empfindſamer Offizier — im Kadetten¬
hauſe trug er Uniform — hat weniger Kugeln und
mehr Hemden und Briefe gewechſelt als Oefel.
Letztere wollt' er an alle Leute ſchreiben: denn ſei¬
ne Briefe lieſſen ſich leſen, weil er ſelber las und
zwar belletriſtiſche Sachen, die er noch dazu nach¬
machte. Er war naͤmlich ein ſchoͤner Geiſt, hatte
aber keinen. Saͤmtliche franzoͤſiſche Buchhaͤndler
ſollten eine naͤrriſche Dankadreſſe an ihn erlaſſen,
weil er ihr ſaͤmtliches Zeug einkaufte — ſelbſt ge¬
genwaͤrtige Biographie, worin er ſelbſt ſteht, wird
einmal wieder bei ihm ſtehen, wenn er von ihrer
Edition und von ihrer Ueberſetzung ins Franzoͤſiſche
[341] hoͤrt. Sich ſelber, Leib und Seele naͤmlich hatt'
er ſchon in alle Sprachen uͤberſetzt aus ſeinem fran¬
zoͤſiſchen Mutter-Patois. Die ſchoͤnen Geiſter in
Scheerau (vielleicht auch mich) und in Branden¬
burg verachtete der Narr, nicht bloß weil er aus
Wien war, wo zwar kein Erdbeben einen Parnas
aber doch die Maulwurfs-Schnaͤutzchen von hun¬
dert Broſchuͤriſten Duodez-Parnaͤschen aufſtieſſen
und wo die daraufſtehenden Wiener Buͤrger denken,
der Neid blicke hinauf, weil der Hochmuth herun¬
terguckt — ſondern er verachtete uns ſaͤmtlich, weil
er Geld, Welt, Verbindungen und Hofgeſchmack
hatte. Der Fuͤrſt Kauniz zog ihn einmal (wenn's
wahr iſt) zu einem Souper und Bail, wo es ſo
zahlreich und brillant zugieng, daß der Greis gar
nicht wußte, daß Oefel bei ihm geſpeiſet und ge¬
tanzt. Da ſein Bruder Oberhofmarſchall und er ſel¬
ber ſehr reich war: ſo hatte niemand in ganz Schee¬
rau Geſchmack genug, ſeine Verſe zu leſen als der
Hof; fuͤr den waren ſie, der konnte ſolche Verſe
wie die Grasparthien des Parks, ungehindert durch¬
laufen, ſo klein, weich und beſchoren war ihr
Wuchs — zweitens gab er ſie nicht auf Druck¬
papier ſondern auf ſeidnen Baͤndern, Strumpf¬
[342] baͤndern, Bracelets, Viſitenkarten und Ringen
heraus. Unter andern Floͤhen, die auf dem Oh¬
rentrommelfell des Publikums auf- und abſpringen
und ſich hoͤren laſſen, bin auch ich und donnere
mit; aber Oefel ahmte keinen von uns nach und
verachtete dich ſehr mein Publikum und ſetzte dich
Hoͤfen nach: „mich, ſagt' er, ſoll niemand le¬
ſen, wenn er nicht jaͤhrlich uͤber 70,000 Livres zu
verzehren hat.”


Kuͤnftigen Sommer reiſet er als Envoyé an
den **ſchen Hof ab, um die Unterhandlungen we¬
gen der Braut des Fuͤrſten, die ſchon neben ihrer
Wiege angeſponnen und abgeriſſen wurden, neben
ihrem D. Grahams Bette wieder anzuknuͤpfen: der
Fuͤrſt mußte ſich im Grunde mit ihr vermaͤhlen,
weil ein gewiſſer dritter Hof der nicht genennt wer¬
den darf, ſie dadurch einem vierten, den ich gern
nennen moͤchte, entziehen wollte. Man glaube
mir aber, es glaubt kein Menſch am ganzen Hofe
des Braͤutigams, daß er an den Hof der Braut
verſchickt werde, weil dort etwar ſchoͤne Geiſter
und ſchoͤne Koͤrper geſuchte Waare ſind: wahrhaftig
in beiden Schoͤnheiten war er von jedem zu uͤber¬
bieten; aber in einer dritten Schoͤnheit war ers
[343] nur leider nicht, die einem Envoyé noch noͤthiger
und lieber als die moraliſche iſt — im Geld. An
einem inſolventen Hof hat der Fuͤrſt die erſte, und
der Millionaͤr die zweite Krone. Ich habe oft den
verdammten Erbſchaden des ſcheerauiſchen Fuͤrſten¬
thums verflucht und beſehen, daß ſelten genug da
iſt: und wir haͤlfen uns gern durch einen Natio¬
nalbankerut, wenn wir nur vorher Nationalkredit
bekaͤmen. Aber auſſer dieſem Fuͤrſtenthum hab' ich
auf meinen Reiſen folgende vier Regionen nirgends
angetroffen als am Aetna ſelber: erſtlich die frucht¬
bare
und zweitens die waldige Region unten
am Throne wo Produkte und graſendes und jagd¬
bares Poͤbelwild zu haben iſt, drittens die Eis¬
region
des Hofes, die nichts giebt als Schim¬
mer, viertens die Feuerregion der Thronſpitze,
wo auſſer dem Krater wenig da iſt. Ein Thron-
Krater kann ſelber Goldberge einſchlucken, verkal¬
ken, auswerfen als Lava.


Zum Ungluͤck gefiel ihm Guſtav, weil er ſeine
jugendliche Menſchenfreundlichkeit fuͤr ausſchlieſſen¬
de Anhaͤnglichkeit an ihm anſah, ſeine Beſcheiden¬
heit fuͤr Demuͤthigung vor Oefelſcher Groͤße, ſeine
Tugenden fuͤr Schwachheiten. Er gefiel ihm, weil
[344] Guſtav fuͤr die Poeſie Geſchmack, und folglich,
ſchloß er, fuͤr die ſeinige den groͤßten hatte: denn
Oefels adeliches Blut lief wider die Natur in
einer duͤnnen poetiſchen Ader, und in einer
ſatyriſchen dazu, dacht' er. Vielleicht fand auch
Guſtav in ſeinen Jahren des Geſchmacks, wo einen
die poetiſchen kleinern Schoͤnheiten und Fehler ent¬
zuͤcken, zuweilen die Oefelſchen gut. Wie nun
ſchon Rouſſeau ſagt, er koͤnne nur den zum Freund
erwaͤhlen, dem ſeine Heloiſe gefalle: ſo koͤnnen
Belletriſten nur ſolchen Leuten ihr Herz verſchen¬
ken, die mit ihnen Aehnlichkeit des Herzens, Gei¬
ſtes und folglich des Geſchmackes haben und die mit¬
hin die Schoͤnheiten ihrer Produkte ſo lebhaft em
pfinden als ſie ſelber.


Was indeſſen Oefel an Guſtav am hoͤchten
ſchaͤtzte, war, daß er in ſeinen Roman zu pflan¬
zen war. Er hatte in der Kadetten-Arche ſieben
und ſechzig Exemplare ſtudiert, aber er konnte da¬
von keines zum Helden ſeines Buchs erheben, zum
Großſultan, als das acht und ſechzigſte, Gu¬
ſtav.


Und der iſt gerade mein Held auch. Das kann
aber unerhoͤrten Spas mit der Zeit geben, und ich
[345] ich wollt', ich laͤſe meine Sachen und ein andrer
ſchriebe ſie.


Er wollte meinen Guſtav zum kuͤnftigen Erben
des ottomanniſchen Throns ausbilden, ihm aber
kein Wort davon ſagen, daß er Großherr wuͤrde —
weder im Roman noch im Leben: — er wollte alle
Wirkungen ſeines paͤdagogiſchen Lenkſeils protokol¬
liren und uͤbertragen aus dem lebendigen Guſtav
in den abgedruckten. Aber jetzt ſetzte ſich dem [Bi¬
leam]
und ſeiner Eſelin ein verdammter Engel ent¬
gegen, Guſtav naͤmlich. Oefel wollte und mußte
aus dem Kadettenhauſe, wo ſeine Zwecke befrie¬
digt waren, ins alte Schloß zuruͤck, wo neue ſei¬
ner warteten: erſtlich aus dem alten Schloß konnt'
er leichter in die karteſianiſchen Wirbel des neuen,
der Viſiten und Freuden ſpringen und ſich von ih¬
nen drehen laſſen — zweitens konnt' er da mit ſei¬
ner Geliebten, der Miniſterin, beſſer zuſam¬
men leben, die alle Tage hinkam und die die Tu¬
gend der Liebe und die Liebe der Aſſembleen-Manie
aufopferte — drittens iſt die zweite Urſache nicht
wahr, ſondern er machte ſie der Miniſterin nur weiß,
weil er noch eine dritte hatte, welche Beata war,
die er in ihrem Schloſſe aus dem ſeinigen zu be¬
[346] zu beſchieſſen, wenigſtens zu blokiren vorhatte. —
— Fort mußt' er alſo; aber Guſtav ſollte auch
mit.


„Das iſt den Augenblick zu machen“ (dachte
Oefel) „er ſoll mich am Ende ſelber um das bitten,
um was ich ihn bitte.“ Ihm war nichts lieber
als eine Gelegenheit, jemand zu ſeinem Zweck zu
lenken — das Lenken war ihm noch lieber als das
Ziel, wie er in der Liebe die Kriegsoperationen
der Beute vorzog. Er haͤtte als Geſandter aus
Krieg Frieden und aus Frieden Krieg gemacht, um
nur zu unterhandeln. — Er zog, um Guſtaven
nahe zu kommen, ſeine erſte Parallele: d. h. er
ſtach ihm mit ſeiner ſpitzen Zunge ein ſchoͤnes Bild
der Hoͤfe aus — daß ſie allein das ſavoir vivre leh¬
ren, und das Sprechen (wie denn auch die Hun¬
de, je kultivirter ſie ſind, deſto mehr bellen, der
Schooßhund mehr als der Hirtenhund, der wilde
gar nicht) und alles — daß durch ſie ein Paradie¬
ſes-Strom von Freuden brauſe — daß man da an
der Quelle ſeines Gluͤcks, am Ohre des Fuͤrſten
und am Knoten der groͤßten Verbindungen ſtehe —
daß man intriguiren, erobern ꝛc. koͤnne. Es war
in Oefels Plan; dem kleinen Großſultan nicht ein¬
[347] mal die Moͤglichkeit, mit ins alte Schloß zu kom¬
men, zu verrathen: „um ſo mehr reiz' ich ihn“
ſagt' er. Es war aber nichts mit dem Rei¬
zen, weil Guſtav noch nicht aus den poetiſchen
Idyllen-Jahren, wo der aufrichtige Juͤngling Hoͤ¬
fe und Verſtellung haſſet, in die abgekuͤhlten hin¬
uͤber war, wo er ſie ſucht. Oefel ſtudierte, wie
Hofleute und Weiber, nur Individuen, nicht den
Menſchen.


Jetzt wurde die zweite Parallele gezogen und der
Feſtung ſchon naͤher geruͤckt. Er gieng einmal an
einem Vormittage mit ihm in den Park ſpatzieren,
da er gerade die Reſidentin darin wußte. Waͤh¬
rend er ſie unterhielt, beobachtete er Guſtavs Be¬
obachten oder erroͤthendes Staunen, der noch in
ſeinem Leben vor keiner ſolchen Frau geſtanden war,
um die ſich alle Reize herumſchlangen, verdoppel¬
ten, einander verloren wie dreifache Regenboͤgen
um den Himmel. Und du, Blumen-Seele, Bea¬
ta, deren Wurzeln auf dem irdiſchen Sandboden
ſo ſelten die rechte Blumenerde finden, ſtandeſt
auch dabei, mit einer Aufmerkſamkeit auf die Re¬
ſidentin, die eine unſchuldige Maske deiner kleinen
Verwirrung ſeyn ſollte. — Guſtav brachte fuͤr ſei¬
[348] ne große keine Maske zu Stande. Oefel ſchrieb die¬
ſe gegenſeitige Verwirrung nicht wie ich, der ge¬
genſeitigen Erinnerung an die Portrait-Affaire,
ſondern die Guſtaviſche der Reſidentin, und die
weibliche ſich ſelber zu.


„Jetzt hab' ich ihn, wo ich ihn haben will!“
ſagt' er und ließ ſich von ihm bis ins alte Schloß
begleiten. „Wenn wir nun beide da blieben!“ ſagt'
er. Die aus andern Gruͤnden herausgeſeufzete Ant¬
wort der Unmoͤglichkeit war was er begehrte.
„Gleich wohl! Sie werden mein Legationsſekretair!“
fuhr er mit einem ſeinen auf Ueberraſchung lauern¬
den Blicke fort.


Es fiel anders aus: Guſtav mochte gar nicht
— aus Furcht vor Hoͤfen, vor ſeinem Vater, aus
Schaam der Veraͤnderung, aus Liebe der Stille.
— Oefel ſtand dumm vor ſich ſelber da und ſah
den ſchwimmenden Truͤmmern ſeines geſcheiterten
Plans noch. Es iſt wahr, es blieb ihm allemal
der Nutzen daraus, daß er den ganzen Schifbruch
in ſeinen Roman thun konnte — aber der Sekre¬
tair war weg! — Er hatte ihn nicht unvernuͤnf¬
tig ſchon im voraus zum Legations-Sekretariat
voziert: denn an den Scheerauer Thron iſt eine
[349] Leiter mit den tiefſten und hoͤchſten Ehrenſproſſen
angelehnt, aber die Staffeln ſtehen ſich ſo nahe,
daß man mit dem linken Beine auf die unterſte
treten und doch die hoͤchſten noch mit dem rechten
erſpannen kann — wir haͤtten ja beinahe einmal
einen Oberfeldmarſchall kreiert. Zweitens haͤngt
und picht an Hoͤfen wie in der Natur alles zu¬
ſammen und Profeſſores ſolltens den kosmologiſchen
Nexus nennen, jeder iſt Laſt und Traͤger zugleich:
ſo klebt am Magnet das eiſerne Lineal an dieſem
ein Linealgen, an dieſem eine Nadel, an dieſer
Feilſtaub. Hoͤchſtens was auf dem Throne oben
ſitzt und was unter ihm unten liegt, hat nicht
Nexus genug mit der wirkſamen Kompagnie: ſo
werden in der franzoͤſiſchen Oper nur die fliegenden
Goͤtter und ſchiebenden Thiere von Savoyarden
gemacht, alles uͤbrige von der ordentlichen Truppe.


Alſo muſte Oefel die dritte Parallele ziehen
und daraus auf den Kadetten ſchießen. Er machte
ihm naͤmlich ſeine Uniform taͤglich um einen Dau¬
men ſpannender und knapper, um ihn aus ihr
hinaus zu aͤngſtigen. Er hatte ihn ſchon neulich
aus dieſer Abſicht zum Getraider-Kordon verſen¬
den helfen, wie wohl ers mehr that, weil der ver¬
[350] ſendete Großſultan in einer gewiſſen Scene im
Buch zu agiren hatte — aber jezt zerbrachen die
militairiſchen Uebungen beinahe ſeinen porzellainen
Leib und der Romancier ſchlepte ihn in die Geſell¬
ſchaft des Vaters aller Friedenstraktaten, naͤmlich
des Kriegs.


Vor Guſtav ſtand, ſeit ſeinem Zerfallen mit
ſeinem ſterbenden Liebling, jener Trauerabend
mit ſeinen Thraͤnen und wich nicht — auf ſein
verlaſſenes Herz ſchimmerte noch die blutrothe Son¬
ne und gieng nicht unter. — Der ſtumme Abſchied
des Amandus, der ihn und andre Wuͤnſche ver¬
lohr, die abnehmenden Decembertage ſeines Lebens
und die vorige Liebe druͤckten ſein Auge und Herz
zum Trauern zuſammen. Die Freundſchaft duldet
Mißhelligkeiten weniger als die Liebe; dieſe kitzelt
damit daß Herz, jene ſpaltet es damit. Aman¬
dus, der ihn ſo mißverſtanden und betruͤbet und
doch deſſen innigſte Liebe nicht verlohren hatte, ver¬
zieh ihm alles bis abends um 5 Uhr — dann hoͤrt' er
(oder es war ihm genug, wenn er ſichs nur dachte)
daß Gaſtav den Park (und mithin die Spatziergaͤn¬
gerin) beſucht hatte — denn nahm er ſeine Verſoͤh¬
nung bis auf 11 Uhr abends zuruͤck — dann legte die
[351] Nacht und der Traum wieder einen Mantel auf alle
Fehler der Menſchen und auf dieſen. Abends um 5 Uhr
fiengs von vornen an. Lacht ihn aus, aber ohne Stolz
und mich und euch auch, denn alle unſre Empfin¬
dungen ſind, — ohne ihre Loͤwen- und Narrenwaͤrte¬
rin, die Vernunft — eben ſo toll, wenn nicht in unſerem
Leben, doch in unſerem Herzen! — aber endlich hatte
er ſeine Verzeihung ſo oft zuruͤckgenommen, daß ers
bleiben laſſen wollte, falls nur Guſtav anklopfte und
von ihm alle die Beſchuldigungen anhoͤrte die er ihm
zu verzeihen vorhatte. Man ſchiebt oft das Verge¬
ben auf, weil man das Keifen aufzuſchieben gezwun¬
gen iſt — Aber, trauter Amandus, konnt' er denn
kommen, Guſtav und ließ ihn der Romancier? —


Letzterer triebs noch weiter und intriguirte es,
daß Guſtav, dieſer Großſultan, dieſer Held zweier
gut geſchriebner Buͤcher, an einem Abend wo der
Kadettengeneral großes Soupee gab, vor deſſen Haus
kam als — Schildwache. Beim Henker! wenn die
ſchoͤnſten Damen vorfahren, die bekannte Reſiden¬
tin — die mit einem zufaͤlligen Blick unſre gute
Schildwache ausbaͤlgte und ausgeſtopft unter ihrer
Hirnſchaale aufſtellte — und ihr Geſellſchaftsfraͤulein
Beata und wenn man vor ſolchen Geſichtern das Ge¬
[352] wehr praͤſentiren muß: ſo will mans viel lieber ſtrek¬
ken und uͤberhaupt ſtatt ſtehen knien, um nicht ſo¬
wohl den Feind zu verwunden als die Freundin. . . .
Beim Henker! ich werde hier mehr Witz gehabt ha¬
ben als wohl gern erlaubt wird; aber es verſuch' es
einmal ein geſcheuter Mann und ſchreib' uͤber die
Liebe und entſchlage ſich des Witzes! — es geht gar
nicht. — Ich behaupt' es nicht und wiederleg' es
nicht, daß Oefel vielleicht aus den Traͤumen Guſtavs,
die immer ſprechend und oft nach den Erwachen agi¬
rend waren, die Namen der gedachten weiblichen
Schoͤnheits-Ambe mag vernommen haben. Der Ro¬
mancier hat alſo einen Vortheil vor dem Biographen
(ich bins) voraus: er ſchlaͤft neben ſeinem Helden.


Er aͤnſtigte ſeinen und unſern Helden, ders aber
nur im aͤſthetiſchen, nicht im militairiſchen Sinne
war, mit der Herbſtrevuͤe; denn jeder kleine Fuͤrſt
ſpielt dem großen Soldatens auf der Gaſſe nach ne¬
ben noch kleinern Kindern; daher haben wir Schee¬
rauer eine niedliche Taſchen-Landmacht, eine trag¬
bare Artillerie und eine verjuͤngte Kavallerie. Jezt
macht ein Landesherr ohnehin einen Spaß, wenn er
einen Menſchen zu einem Rekruten macht: es wider¬
faͤhrt dem Kerl nichts, ſondern nur Motion ſoll er
haben,[353] haben, weil jezt unſre wichtigern Kriege wie ſonſt
die italiaͤniſchen in nichts beſtehen als in Marſchie¬
ren, aus Laͤndern in Laͤnder. So beſtehen auch
die Kampagnen auf dem Theater bloß in wieder¬
holten Maͤrſchen um das Theater, aber in kuͤr¬
zern. Ich gieng vor einem Jahre zum Spaße eine
½ Stunde neben einem Regimente her und machte
mir weiß: „jezt thueſt du im Grunde einen halb¬
ſtuͤndigen Feldzug gegen den Feind mit; aber die
Zeitungen gedenken deiner ſchwerlich, ob du und
das Regiment gleich durch dieſe kriegeriſche Vexier-
Prozeſſion eben ſo viel Landplagen abwenden als
die Kleriſei durch geiſtliche ſingende Prozeſſionen.“


Er aͤngſtigte ihn, ſagt' ich: er ſchilderte die
Revúe naͤmlich: „Friedrich II. that kleinere Wun¬
der als man da vom Kadetten-Korps fodern wird!
mehr Bleſſierte als Bleſſierende wird es geben!
unter allen Zelten und Kaſernen wird man reden
von der letzten Scheerauer Revúe!“ Guſtav hatt'
es im kleinen Dienſt laͤngſt ſo weit gebracht, daß
er im Stande war, mit der Fortifikation ſeines
Leibes wenigſtens Einen zu Bleſſieren, dieſen Leib
ſelber. — Ich werde die Angſt' des Publikums ſi¬
cher nicht vermindern, wenn ich noch erzaͤhle, daß
Z[354] Guſtav regelmaͤſſig alle ſieben Wochen auf fuͤnf
Tage verreiſet, woraus ſeine Freunde und der
Biograph ſelber gerade ſo klug werden als die aͤlte¬
ſten Leſer — daß Oefel ihm durch geheimes Intri¬
guiren ſeinen Urlaub ſo ſauer machte, daß er ihn
um dieſen Preiß kein zweitesmal begehren konn¬
te — daß Guſtav vom letzten Verreiſen an den D.
Fenk einen Brief von Ottomar heimbrachte, den
man zwar dem Leſer nicht vorenthalten wird, von
deſſen Ueberkommung man ihm aber nichts entdek¬
ken kann, weil man ſelber nichts davon weiß.


Aus allen dieſen Dornen und aus der bleſſie¬
renden Revuͤe rettete unſern Guſtav eine fremde In¬
famie. Nach der gedachten Ruͤckkehr wurde in
Oberſcheerau ein Officier, deſſen Namen und Re¬
giment man hier aus Schonung ſeiner vornehmen
Familie unterdruͤcken will, fuͤr infam erklaͤrt, weil
er mit Spitzbuben glaub' ich Verbindung gehabt.
Als der Profos ihm in der Mitte des Regiments,
das er entehret hatte, den Degen und das Wap¬
pen zerknickte und die Uniform abriß und ihm al¬
les nahm was den gebuͤckten Menſchen noch in die
Hoͤhe richtet im Ungluͤck: ſo ſtuͤrzte Guſtav, deſ¬
ſen Ehrgefuͤhl ſogar aus den Wunden eines frem¬
[355] ben blutet und der noch nie den ſchwarzen Anblick
einer oͤffentlichen Beſtrafung erlebt hatte, in [Ohn¬
macht]
zuſammen: ſein erſter Laut nach der Bele¬
bung war: „Soldat geweſen auf ewig! — Wenn
der arme Officier unſchuldig war oder wenn er beſ¬
ſer wird: wer giebt ihm die ermordete Ehre wie¬
der? — Nur der untruͤgliche Gott kann ſie neh¬
men; aber der Kriegsrath ſollte nichts nehmen
als das Leben! — die Bleikugel aber nicht die In¬
famie!“ beſchloß er mit einem konvulſiviſchen
Blick. Ich denke, er hat Recht. Zwei Tage war
er krank und ſeine Phantaſien ſchleiften ihn in die
Raͤuber-Katakomben des Infamierten hinein — —
zum neuen Beweis, daß die Fieberbilder der Ar¬
men aus dem Krankenbette ins Grab hineingefol¬
terten Menſchen nicht immer die Steckbriefe und
Denuntianten ihres Innern ſind! gemarterte Bruͤ¬
der! wie lieb' ich euch jezt und den ſanften Gu¬
ſtav in dieſer Minute, wo meine Phantaſie unter
euch alle hineinblickt, wie ihr vom Zickzack des
Schickſals herumgetrieben, mit eueren Wunden,
und Thraͤnen muͤde nebeneinander ſtehet, einander
umfaſſet, einander beklagt und einander — be¬
grabet! —


Z 3[356]

So lang' er krank war und phantaſierte: hieng
Amandus an ſeinen gluͤhenden Augen und litt eben
ſo viel und vergab ihm alles — als der Doktor
ſagte, fruͤh ſei er wieder auf: ſo kam Amandus
fruͤh nicht und wollte wieder hartherzig ſein.


Oefel genoß jezt den Sieg ſeines Plans. Er
trug ſich ſelber die Einlenkung des alten Falken¬
bergs auf und ſchrieb eigenhaͤndig an den Mann.
Da er mit Dinte den guten Vater auf den moſai¬
ſchen Berg ſtellete, hinter dem Berg den Proſpekt
des gelobten Landes der Geſandſchaft, und mitten
ins Kanaan den jungen Legationsſekretair: ſo
hatte der gute Mann die Freude vieler Eltern, die
ihre Kinder gern das werden ſehen was ſie ſelber
zu werden haſſeten oder nicht vermochten. Er kam
zu mir mit dem Brief ſelber und ritt unter mein
Fenſter. — Alles was Guſtav noch innerlich gegen
ſeine Verſetzung ins alte Schloß zu ſagen hatte,
war daß die ſchoͤne Beata im neuen wohnte, das
vom alten bloß durch eine halbierte Mauer abge¬
ſchieden war und daß er Amandus Verdacht be¬
waͤhrte. Aber zum Gluͤck verfiel er nach dem Ent¬
ſchluſſe auf das eigentliche Motiv, das ihm denſel¬
ben eingegeben hatte und das Veredlung und Er¬
[357] weiterung ſeines Wirkungskreiſes war: „er konnte
nach der Abloͤſung vom Geſandſchaftspoſten in einem
Kollegium angeſtellet werden und da dem liegenden
Lande aufhelfen u. ſ. w.“ Kurz die groͤſte Schoͤnheit
Beatens haͤtt' ihn nun nicht dahin bringen koͤnnen,
ſie zu — meiden.


Ueberhaupt ſchaͤlte ihn der Romanſchreiber ſo eif¬
rig aus ſeiner militairiſchen Huͤlſe, daß man da er,
wie Ehemaͤnner und Fuͤrſten, den Zuͤgel oͤfter im
paſſiven Munde als in den aktiven Haͤnden hatte
— haͤtte denken ſollen, er werde gelenkt, um zu len¬
ken; aber ich denk' es nicht.


Guſtav legte die Abſchiedsviſite bei Amandus
ab. Ein gutes Mittel, dem zu vergeben, den eine
eingebildete Beleidigung auf uns erbitterte, iſt ihm
eine wahre anzuthun — Guſtav dachte in den freiwil¬
ligen Umwegen von Gaſſen, durch die er zu ſeinem
gekraͤnkten Amandus gieng, an die Beata, die jezt
ſeine Wandnachbarin wurde, an die Liebe und den
Verdacht ſeines Freundes, an die Unmoͤglichkeit, den
Verdacht zu heben; und da gerade um 6 Uhr vom ei¬
ſernen Orcheſter um dem Stephans Thurm die abend¬
liche Sphaͤrenmuſik in die Gaſſen niederfloß: ſo ſank
ſein Herz in die Muſik hinein und er brachte ſeinem
[358] ſeinem Freunde das weichſte mit, das es außer der
Bruſt Beatens gab. Ich und der Leſer haben hier¬
uͤber unſre Gedanken: eben dieſe verſoͤhnliche Weich¬
heit ſchrieb ſich bloß vom verſteckten Bewuſtſein her,
daß er halb den Verdacht der Nebenbuhlerei verdie¬
ne; denn ſonſt haͤtt' er, von Stolz gehoben, dem
andern zwar auch vergeben, aber ihn darum nicht
ſtaͤrker geliebt. — Er fand ihn in der ſchlimmſten
Stimmung fuͤr ſeine Abſicht — in der freundſchaft¬
lichſten naͤmlich: denn in Zaͤrtlich-Kranken iſt jede
Empfindung ein gewiſſer Vorbothe der entgegenge¬
ſetzten und alle haben alternierende Stimmen.
Amandus war im Anatomier-Zimmer ſeines Vaters
— der Sonnenſtrahl fiel vor ſeinem Untergang in
die leere Augenhoͤle eines Todtenſchaͤdels — in Phio¬
len hiengen Menſchen-Bluͤthen, kleine Grundſtri¬
che, nach denen das Schickſal den Menſchen gar aus¬
ziehen wollte, Menſchgen mit vorhaͤngendem großen
Kopf und großen Herzen, aber mit einem großen
Kopfe ohne einen Irrthum und einem großen Her¬
zen ohne einen Schmerz — auf einer Tafel lag eine
ſchwarze Faͤrbers Hand, an deren Farbe der Doktor
Proben machen wollte. ... Welche Nachbarſchaft
fuͤr eine Ausſoͤhnung und einen Abſchied;
[359] drei Blicke machten und verſiegelten jene — ſchon
Blicke reden in dieſer nackten Entkoͤrperung der See¬
len eine zu ſchreiende Sprache — aber als Guſtav
dieſen, vom ſchoͤnſten Enthuſiaſmus uͤber Verdacht
und Furcht hinuͤbergehoben, ſeinem Freunde anſag¬
te; als er ihm, der noch nichts davon begrif, ſei¬
ne neue Wandnachbarſchaft und den Verluſt der
alten kund that: — zerflogen war der Freund und
ein ſchwarzer Feind ſprang aus ſeiner Aſche heraus
— dieſe Minute benuͤtzte der Tod und ſchlug die
letzten Wurzelfaſer ſeines wankenden Lebens gar
entzwei. . . . Guſtav ſtand zu hoch, um zu zuͤr¬
nen — aber er muſte ſich noch hoͤher ſtellen — er
fiel um ihn und ſagte mit entſchloſſener reiner
Stimme: „zuͤrne und haſſe, aber ich muß dir ver¬
geben und dich lieben — mein ganzes Herz mit al¬
lem ſeinem Blut bleibet deinem getreu und ſucht
es auf in deiner Bruſt — und wenn du mich auch
kuͤnftig verkenneſt: ſo will ich doch alle Wochen
kommen, ich will dich anſehen, ich will dir zuhoͤ¬
ren, wenn du mit einem Fremden redeſt und wenn
du mich dann mit Haß anblickſt: ſo will ich mit
einem Seufzer gehen, aber dich doch lieben — ach
ich werde alsdann daran denken daß deine Augen,
[360] da ſie noch zerſchnitten waren, mich ſchoͤner an¬
blickten und beſſer erkannten . . . . . o ſtoße mich
nicht ſo weg von dir gieb mir nur deine Hand und
blicke weg.“ —


„Da!“ ſagte der zertruͤmmerte Amandus und
gab ihm die kalte ſchwarze — Faͤrbers Fauſt . . .
Der Haß uͤberlief wie ein Schauer das liebreichſte
Herz, das ſich noch in einer menſchlichen Bruſt
verblutete — Guſtav zerſtampfte auf der Erde ſei¬
ne Liebe und ſeinen Haß und gieng verſtummt mit
erſtickten Empfindungen aus dem Hauſe und am
andern Tage aus Oberſcheerau.


Kaum hatte Amandus den gemißhandelten Ju¬
gendfreund uͤber die Gaſſe zittern ſehen: ſo gieng
er in ſein Zimmer, huͤlte ſich mit dem Kopfkuͤſſen
zu und ließ, ohne ſich anzuklagen oder zu ent¬
ſchuldigen, ſeine Augen ſo viel weinen als ſie konn¬
ten. Wir werden es hoͤren, ob er ſein krankes
Haupt wieder vom Kopfkuͤſſen erhob und wenn er
wieder von Guſtav ins ſtille Land begleitet wur¬
de, aus dem er ihn zuruͤck zu ſtoßen ſuchte. Ach
der Menſch! — warum will dein ſobald in Salz,
Waſſer und Erde zerbroͤckelndes Herz ein anderes
zerbroͤckelndes Herz zerſchlagen — ach eh' du mit
[361] deiner aufgehobnen Todtenhand zu ſchlaͤgſt: faͤllt
ſie ab in den Gottesacker hin — ach eh' du dem
feindlichen Buſen die Wunde gegeben, liegt er
um und fuͤhlt ſie nicht und dein Haß iſt tod oder
auch du.


[362]

Fuͤnf u. zwanzigſter oderXXII. Trinitatis-Sekt.

Ottomars Brief.


Wenn wir Ottomars Brief geleſen: ſo wollen wir
uns an Guſtavs neues Theater ſtellen und ihm zu¬
ſchauen. Im folgenden Briefe herrſcht und tobt
ein Geiſt, der wie ein Alp, alle Menſchen hoͤhe¬
rer und edler Art druͤckt und oft bewohnt und den
bloß — ſo viel er auch hollaͤndiſche Geiſter uͤberwie¬
ge — ein hoͤherer Geiſt uͤbertrift und hinaus¬
draͤngt: viele Menſchen leben in der Erdnaͤhe,
einige in der Erdferne, wenige in der Sonnen¬
naͤhe. — Fenk ſehnte ſich ſo oft nach ſeinem Ot¬
tomar, zumal nach ſeinem Stillſchweigen von ei¬
nigen Jahren, und er ſprach ſo oft von ihm ge¬
gen Guſtav, daß es gut war, daß die Adreſſe des
Briefes von fremder Hand und an Doktor Zoppo
in Pavia war: ſonſt haͤtt' er ſogleich gegen die er¬
ſte Zeile des Briefes geſuͤndigt.


„Nenne, ewiger Freund, meinen Namen dem
Ueberbringer nicht: ich muß es thun. Auf mei¬
[363] nem letzten Lebensjahre liegt ein großes ſchwarzes
Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangen¬
heit fuͤr die Zukunft — ich mache ſie zur Gegen¬
wart fuͤr dich, aber noch nicht — und wenn ich
ſtuͤrbe, ich traͤte vor dir und ſagte dir mein letz¬
tes Geheimniß der Erde.


Ich ſchreibe dir, damit du nur weißt, daß ich
lebe und daß ich im Herbſte komme. Mein Reiſe¬
durſt iſt mit Alpen-Eis und Seewaſſer geloͤſcht;
ich ziehe nun heim in meine Ruheſtatt und wenn
mich dann unter meiner Hausthuͤre wieder uͤber die
Berge hinuͤberverlangt: ſo denk' ich: in den Gua¬
diana- und in den Wolgaſtrom ſieht das naͤmliche
lechzende Menſchenherz hinein, das in dir neben
dem Rheine ſeufzet, und was auf die Alpen und
auf den Kaukaſus ſteigt, iſt was du biſt und wen¬
det ein ſehnendes Auge nach deiner Hausthuͤre her¬
uͤber. Wenn ich aber hier ſitze und alle Morgen
auf den Nachtſtuhl gehe und froh bin, daß ich
hungrig und nachher daß ich ſatt werde und wenn
ich alle Tage Hoſen und Haarnadeln ausziehe und
anſtecke: ach! was iſts denn da am Ende? Was
wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit
auf dem Stein meines Thorwegs ſaß und ſehnend
[364] dem Zug der langen Straße nachſah und dachte,
wie ſie fortliefe, uͤber Berge ſchoͤſſe, immer immer¬
fort . . .? und endlich?. . . . ach alle Straßen fuͤh¬
ren zu nichts und wo ſie abreiſſen, ſteht wieder
einer der ſich ruͤckwaͤrts heruͤber ſehnt. — Was
wollt' ich denn haben, wenn mein kleines Auge
ſonſt auf dem Rhein mit ſchwamm, damit er mich
hinnaͤhme in ein gelobtes Land, in das alle Stroͤ¬
me dacht' ich zoͤgen, ach ſonſt wo ich nicht wußte,
daß er wenn er manches ſchwere Herz getragen, ne¬
ben mancher zerquetſchten Geſtalt vorbeigebrauſet,
die er ach! von ihren Qualen erloͤſen mußte, daß
er dann wie der Menſch ſich zerſplittere und zer¬
truͤmmert einſikere in hollaͤndiſche Erde? —
Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen
neigte ſich ſonſt meine Seele wie Baͤume nach
Oſten — „ach wie muß es da ſeyn, wo die Son¬
ne aufgeht!“ dacht' ich; und als ich mit meiner
Mutter nach Pohlen reiſte und endlich in das nach
Morgen liegende Land und unter ſeine Edelleute,
Juden und Sklaven trat. . . . . Weiter giebts aber
auf dieſer optiſchen Kugel kein Morgen-Sonnen¬
land als das, das alle unſere Schritte weder ent¬
fernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der
[365] Erde alle, ihr ſaͤttigt die Bruſt bloß mit Seufzern
und das Auge mit Waſſer und in das arme Herz,
das ſich vor euerem Himmel aufthut, gieſſet ihr
eine Blutwelle mehr! Und doch laͤhmen uns dieſe
Paar elenden Freuden, wie Giftblumen Kindern,
die damit ſpielen, Arm' und Beine. Nur keine
Muſik, dieſe Spoͤtterin unſerer Wuͤnſche, ſollt'
es geben: flieſſen nicht auf ihren Ruf, alle Fi¬
bern meines Herzens auseinander und ſtrecken ſich
als ſo viele ſaugende Polypenarme aus und zittern vor
Sehnſucht und wollen umſchlingen wen? was?...
ein ungeſehenes in andern Welten ſtehendes Etwas.
Oft denk’ ich, vielleicht iſts gar Nichts, vielleicht
gehts nach dem Tode wieder ſo und du wirſt dich
aus einem Himmel in den andern ſehnen — und
dann zerdruͤcke ich unter dieſem phantaſtiſchen Un¬
ſinn die Klavierſaiten als wollt' ich aus ihnen eine
Quelle auspreſſen, als waͤr' es nicht genug, daß
der Druck dieſes Sehnens die duͤnnen Saiten meines
innern Tonſyſtems verſtimmt und abſprengt....


In Rom wohnte ein Maler, der Kirche von
S. Adriano gegenuͤber, der unter dem Regen ſich
allemal unter die Dachrinnen ſtellte und ſich toll
lachte: der ſagte oft zu mir: „keinen Hundstod
[366] giebts nicht, aber ein Hundsleben.“ Fenk! nimm
wenigſtens was der Menſch wird oder thut: ſo gar
gar wenig! Welche Kraft wird denn an uns ganz
ausgebildet, oder in Harmonie mit den andern?
Iſt's nicht ſchon ein Gluͤck, wenn nur Eine Kraft
wie ein Aſt ins Treibhaus eines Hoͤr- oder andern
Saals hineingezogen und mit partialer Waͤrme zu
Bluͤthen genoͤthigt wird, indeß der ganze Baum
drauſſen im Schnee mit ſchwarzen harten Zweigen
ſteht? Der Himmel ſchneiet ein Paar Flocken zu
unſerem innern Schneemann zuſammen, den wir
unſre Bildung nennen, die Erde ſchmiltzt oder be¬
ſudelt ein Viertel davon, der Wind wehet dem
Schneemann den Kopf weg — das iſt unſer gebil¬
deter innerer Menſch, ſo ein abſcheuliches Flickwerk
in allen unſerem Wiſſen und Wollen! Vom Indi¬
viduum auf die ganze Menſchheit mag ich gar nicht
uͤbergehen: ich mag nicht daran denken wie ein
Jahrhundert untergeegget und untergeackert wird,
zur Duͤngung des naͤchſten — wie nichts ſich zu et¬
was runden will, wie das ewige Buͤcherſchreiben
und Aufſchlichten des Scibile kein Ziel, kein Ende
hat und alle nach entgegengeſetzten Richtungen gra¬
ben und laufen! — Was thut der Menſch? Noch
[367] weniger als er weiß und wird. Sage mir, was
verrichten denn vor dem fuͤrſtlichen Portrait uͤber
dem Praͤſidentenſtuhl oder gar vor einem verſchnit¬
tenen regierenden Geſicht ſelbſt, dein Scharfſinn,
dein Herz, deine Energie? Die zuruͤckgepreßten
in einander ſich kruͤmmenden Zweige druͤcken das
Fenſter des Winterhauſes, der Regent laͤſſet in
der compotiére ihre Frucht vor ſeinem Teller vor¬
uͤbergehen, der blaue Himmel fehlet ihnen, das
Geſcheuteſte iſt noch daß ſie verfaulen! — Was
thun denn die edelſten Kraͤfte in dir, wenn Wo¬
chen und Monate verſtroͤmen, die ſie nicht brau¬
chen, nicht rufen, nicht uͤben? Wenn ich oft ſo der
Unmoͤglichkeit zuſah, in allen unſern monarchiſchen
Aemtern ein ganzer, ein edel thaͤtiger, ein all¬
gemein-nuͤtzlicher Menſch zu ſein — ſelbſt der Mo¬
narch kann nicht mit denen unendlich vielen ſchwar¬
zen ſubalternen Klauen und Haͤnden, die er erſt
als Finger oder Griffe an ſeine Haͤnde anſchienen
muß, etwas vollendet Gutes thun — ſo oft ich ſo
zuſah, ſo wuͤnſcht' ich, ich wuͤrde gehenkt mit
meinen Raͤubern, waͤr' aber vorher ihr Haupt¬
mann und rennte mit ihnen die alte Konſtitution
nieder! . . . . Geliebter Fenk! dein Herz reiſſet
[368] mir niemand aus meiner Bruſt, es treibet mein
beſtes Blut und nie kannſt du mich verkennen, ich
ſei ſo unkenntlich als ich wolle! Aber o Freund,
es kommen Zeiten heran, wo dir dieſes Verken¬
nen doch leichter werden kann!


Verhuͤllter Genius unſerer verſchatteten Kugel!
ach waͤr' ich nur etwas geweſen, haͤtte meine Ge¬
hirnkugel und mein Herz nur wie Luther mit ir¬
gend einer dauerhaften weit wurzelnden That das
Blut abverdient, das ſie roͤthet und naͤhrt: dann
wuͤrde mein hungriger Stolz ſatte Demuth,
vier niedrige Waͤnde waͤren fuͤr mich groß genug,
ich ſehnte mich nach nichts Großem mehr als nach
dem Tode und vorher nach dem Herbſt des Le¬
bens und Alters, wo der Menſch, wenn die Ju¬
gend-Voͤgel verſtummen, wenn uͤber der Erde
Nebel und fliegender Faden-Sommer liegt, wenn
der Himmel ausgeheitert, aber nicht brennend
uͤber allem ſteht, ſich ſterbend auf die welken Blaͤt¬
ter legt. — — — Leb' wohl, mein Freund, auf
einer Erde, wo man weiter nichts Gutes thun
kann als in ihr liegen; im naͤchſten Herbſt ſind
wir an einander!“


Zu[369]

Zu dieſem Briefe, der meine ganze Seele nimmt
und meine Irthuͤmer ſowohl als meine Wuͤnſche
erneuert, kann ich nichts mehr ſagen als daß heu¬
te der erſte Menſch in dieſer Geſchichte auf einem
Berg begraben worden iſt. Wenn ich nach vier oder
fuͤnf Sektoren von ſeinem abendroͤthlichen Tode re¬
de: ſo werden ſchon die Zuͤge ſeiner Geſtalt blei¬
cher und zerriſſen ſeyn, ſowohl im Sarge als im
Herzen der Freunde!


A a[370]

Extrablatt.

Von hohen Menſchen — und Beweis daß die Leidenſchaften
ins zweite Leben und Stoizismus in dieſes gehören.


Gewiſſe Menſchen nenn' ich hohe oder Feſttags¬
menſchen und in meiner Geſchichte gehoͤren Otto¬
mar, Guſtav, der Genius, der Doktor darunter,
weiter niemand.


Unter einem hohen Menſchen mein' ich nicht
den geraden ehrlichen feſten Mann, der wie ein
Weltkoͤrper ſeine Bahn ohne andere Aberrationen
geht als ſcheinbare — noch mein' ich die feine See¬
le, die mit weiſſagendem Gefuͤhl alles glaͤttet, je¬
den ſchont, jeden vergnuͤgt und ſich aufopfert aber
nicht wegwirft — noch den Mann von Ehre, deſ¬
ſen Wort ein Fels iſt und in deſſen von der Zen¬
tralſonne [der Ehre] brennenden und bewegten Bruſt
keine anderen Gedanken und Abſichten ſind als Tha¬
ten auſſer ihr — und endlich weder den kalten von
Grundſaͤtzen gelenkten Tugendhaften noch den Ge¬
fuͤhlvollen, deſſen Fuͤhlfaͤden ſich um alle Weſen
wickeln und in der fremden Wunde zucken und der
[371] die Tugend und eine Schoͤne mit gleichem Feuer
umfaſſet — auch den bloßen großen Menſchen von
Genie mein' ich nicht unter dem hohen und ſchon
die Metapher deutet dort horizontale und hier
perpendikulare Ausdehnung an.


Sondern den mein' ich, der zum groͤßern oder
geringern Grade aller dieſer Vorzuͤge noch etwas
ſetzt, was die Erde ſo ſelten hat — die Erhebung
uͤber die Erde, das Gefuͤhl der Geringfuͤgigkeit
alles irdiſchen Thuns und der Unfoͤrmlichkeit zwi¬
ſchen unſerem Herzen und unſerem Orte, das uͤber
das verwirrende Gebuͤſch und den ekelhaften Koͤder
unſers Fußbodens aufgerichtete Angeſicht, den
Wunſch des Todes und den Blick uͤber die Wolken.
Wenn ein Engel ſich uͤber unſere Atmoſphaͤre ſtellte
und durch dieſes truͤbe mit Wolkenſchaum und
ſchwimmendem Koth verfinſterte Meer hernieder
ſaͤhe auf den Meeresgrund, auf dem wir liegen
und kleben — wenn er die tauſend Augen und
Haͤnden ſaͤhe, die gerade aus horizontal nach
dem Inhalt der Luft nach Gepraͤnge, fangen und
ſtarren, wenn er die ſchlimmern ſaͤhe, die ſchief
niedergebuͤckt werden gegen den Fraß und Gold¬
glimmer im moraſtigen Boden, und endlich die
A a 2[372] ſchlimmſten, die liegend das edle Menſchengeſicht
durch den Koth durchziehen, wenn er aber unter
dieſen Seethieren einige aufrecht gehende hohe Men¬
ſchen zu ihm aufblicken ſaͤhe — wenn er ſaͤhe, wie
ſie, gedruͤckt von der Waſſerſaͤule uͤber ihrem Haup¬
te, umſtrickt vom Geniſte und Schlamm ihres Fu߬
bodens, ſich durch die Wellen draͤngten und lechze¬
ten nach einem Athemzuge aus dem weiten Aether
uͤber ihnen, wie ſie mehr liebten als geliebt wuͤr¬
den, das Leben mehr ertruͤgen als genoͤſſen, gleich
fern von ſtehendem Emporſtaunen und rennender
Geſchaͤftsleben Haͤnde und Fuͤße dem Meeresboden
und das aufwaͤrts ſteigende Herz und Haupt dem
Aether auſſer dem Meere gaͤben und auf nichts ſaͤ¬
hen als auf die Hand, die das Gewicht des Koͤr¬
pers, das den Taͤucher mit den Boden verbindet,
von ihm trennt und ihn aufſteigen laͤſſet in ſein Ele¬
ment . . . . o dieſer Engel koͤnnte dieſe Menſchen fuͤr
untergeſunkne Engel halten und ihre Tiefe bedauern
und ihre Thraͤnen im Meer . . . . Koͤnnte man die
Graͤber eines Pythagoras (der ſchoͤnſten Seele un¬
ter den Alten) — Plato's — Sokrates — Anto¬
nins (aber nicht ſo gut des großen Kato oder Epik¬
tets) — Shakeſpears (wenn ſein Leben wie ſein
[373] Schreiben war) — J. J. Rouſſeau's ꝛc. in Einen
Gottesacker zuſammenruͤcken: ſo haͤtte man die
wahre Fuͤrſtenbank des hohen Adels der Menſch¬
heit, die geweihte Erde unſerer Kugel, Gottes
Blumengarten im tiefen Norden. — — Aber war¬
um nehm' ich mein weiſſes Papier und durchſtech'
es und beſtreu' es mit Kohlenſtaub oder Din¬
tenpulver, um das Bild eines hohen Menſchen
hineinzuſtaͤuben; indeß vom Himmel herab das
große nie erblaſſende Gemaͤlde herunterhaͤngt, das
Plato in ſeiner Republik vom tugendhaften Manne
aus ſeinem Herzen auf die Leinwand trug.


Die groͤßten Boͤſewichter ſind einander am un¬
kenntlichſten! hohe Menſchen einander in der er¬
ſten Stunde kenntlich. Schriftſteller, die darun¬
ter gehoͤren, werden am meiſten getadelt und am
wenigſten geleſen, z. B. der ſeel. Haman. Eng¬
laͤnder und Morgenlaͤnder haben dieſen Sonnen¬
Stern oͤfter auf ihrer Bruſt als andre Nationen.


Ottomar fuͤhrte mich auf die Leidenſchaften:
ich weiß, daß er, wenigſtens ſonſt, nichts ſo haßte
als Koͤpfe und Herzen, die von der ſtoiſchen Stein-
Rinde inkruſtiert waren — daß er in ſeine Arte¬
rien Katarakten hinein wuͤnſchte und in ſeine Lun¬
[374] genfluͤgel Stuͤrme — daß er ſagte, ein Menſch
ohne Leidenſchaft waͤre noch ein groͤßerer Egoiſt als
einer mit heftigen; einen den das nahe Feuer der
ſinnlichen Welt nicht entzuͤnde, ſtamme das weite
Fixſternlicht der intellektuellen noch viel weniger an;
der Stoiker unterſcheide ſich vom abgenuͤtzten Hof¬
mann nur darin, daß die Erkaͤltung des erſtern
von innen nach auſſen fortgehe, die des andern
aber von auſſen nach innen . . . . Ich weiß nicht
obs bei dem innen brennenden, auſſen glatteiſen¬
den Hofmann ſo iſt; aber beim Glaſe iſts ſo, daß
es wenn es von auſſen und nach dem gluͤhenden
Kern zu erkaltet, hol und zerbrechlich wird: es
muß umgekehrt ſeyn . . .


Alle Leidenſchaften taͤuſchen ſich nicht uͤber die
Art, oder den Grad, ſondern uͤber den Gegen¬
ſtand
der Empfindung; naͤmlich ſo:


Darin irren unſere Leidenſchaften nicht, daß
ſie irgend einen Menſchen haſſen oder lieben: —
den ſonſt verfiele alle moraliſche Haͤßlichkeit und
Schoͤnheit; — auch darin nicht, daß ſie uͤber et¬
was jammern oder frolocken — denn ſonſt waͤr' auch
die kleinſte Freuden- oder Kummerthraͤne uͤber Gluͤck
und Ungluͤck unerlaubt und wir duͤrften nichts mehr
[375] wuͤnſchen, nicht einmal wollen, nicht einmal die
Tugend. — Auch irren die Leidenſchaften uͤber den
Grad dieſer Ab- und Zuneigung, dieſes Freuens
und Betruͤbens nicht: denn ſobald ihnen die Sin¬
ne und die Phantaſie den Gegenſtand mit tauſend¬
mal groͤßeren moraliſchen oder phyſiſchen Reizen
oder Flecken vorlegen als ſie andre ſehen: ſo muß
doch das Lieben und Haſſen nach Verhaͤltniß des
aͤuſſern Anlaſſes zunehmen, und ſobald irgend ein
aͤuſſerer Reiz den geringſten Grad von Liebe und
Haß rechtfertigt: ſo muß auch der vergroͤßerte Reiz
den vergroͤßerten Grad der Leidenſchaft rechtfertigen.
Die meiſten Gruͤnde gegen den Zorn beweiſen nur,
daß die vermeintliche moraliſche Haͤßlichkeit des Fein¬
des mangle, nicht, daß ſie da und er doch zu lie¬
ben ſei — die meiſten Gruͤnde gegen unſre Liebe
beweiſen nur, daß unſre Liebe weniger den Grad
als den Gegenſtand verfehle u. ſ. w. Nicht bloß
ein maͤßiger, ſondern der hoͤchſte Grad der Leiden¬
ſchaften wuͤrde zulaͤſſig ſeyn, ſobald ſich ihr Ge¬
genſtand vorfaͤnde, z. B. die hoͤchſte Liebe gegen
das hoͤchſte gute Weſen, den hoͤchſten Haß gegen
das hoͤchſte Boͤſe. Da aber alle Gegenſtaͤnde dieſer
[376] Erde die Beſchaffenheit nicht haben, die ſol¬
che Seelenſtuͤrme in uns verdienen kann; da al¬
ſo das Groͤßte, was uns zu ſich reiſſen, oder
von ſich ſtoßen kann, in andern Welten ſtehen
muß: ſo ſieht man, daß die groͤßten Bewegun¬
gen unſers Ichs nur vielleicht auſſerhalb des
Koͤrpers ihren vergoͤnnten geraͤumigern Spielraum
antreffen.


Ueberhaupt iſt Leidenſchaft ſubjektiv und re¬
lativ: die naͤmliche Willensbewegung iſt in der
ſtaͤrkern Seele unter groͤßern Wellen nur ein
Wollen und in der ſchwaͤchern auf der glattern
Flaͤche ein innerer Sturm. Unſer ewiges Wollen
flieſſet immerfort durch uns und in uns, wie ein
Strom und die Leidenſchaften ſind nur die Waſ¬
ſerfaͤlle
und Kaſkaden dieſes Stroms; ſind
wir aber zur Verdammung derſelben bloß durch
ihre Seltenheit befugt? Iſt nicht dem kleinen
Bach das Kaſkade, was dem Strom nur Welle
iſt? — Und wenn wir im Enthuſiasmus unſre Kaͤlte
und in der Kaͤlte unſern Enthuſiaſmus ſchelten:
wo haben wir Recht? und giebt die Dauer des
Scheltens das Recht? —


[377]

Ich fuͤhle Einwuͤrfe und Schwierigkeiten vor¬
aus, ja ich weiß es und fuͤhle, daß auf die¬
ſer umwoͤlkten Regen-Kugel uns nichts gegen
die aͤuſſern Stuͤrme einbauen und bedecken kann,
als das Beſaͤnftigen der innern — gleichwohl fuͤhl'
ich auch, daß alles vorige wahr iſt.


[378]

Sechs und zwanzigſter oder XX. Trinitatis Sekt.

Diner beim Schulmeiſter.


Wenn ein Autor wie ich ſo viele Wochen hinter
ſeiner Geſchichte zuruͤckgeblieben: ſo denkt er, mag
der Henker den heutigen Poſt-Trinitatis auch gar
holen — ich will alſo davon von nichts reden als
vom heutigen Poſt-Trinitatis von meiner Schwe¬
ſter, meiner Stube und von mir. Wenige Ge¬
ſchichtſchreiber werden heute hinter ihren Dinten¬
faͤſſern einen ſolchen guten Tag haben wie ihr
Zunftgenoß.


Ich ſitze jezt hier in des Schulmeiſter Wuzens
Empor-Stube und halte ſeit einem Vierteljahr
meinen Arm als Armleuchter zum Fenſter hinaus
mit einem langen Licht, um in die zehn deutſchen
Kreiſe hinein zu leuchten. Ich werde in jedem
Herbſt und Winter alle meine Sektores wie den
heutigen fruͤh um 4½ Uhr beim Licht zu machen
anfangen; denn wie die erhabne Finſterniß vor
Mitternacht, den Menſchen uͤber die Erde und
ihre Wolken hinaus hebt: ſo legt uns die nach
[379] Mitternacht, wieder in unſer Erd-Neſt herein —
ſchon nach 12 Uhr Nachts fuͤhl' ich neue Lebens¬
luſt, die ſo zunimmt wie das heruͤber gegoſſene
Morgenlicht die Finſterniß verduͤnt und durchſichtig
macht. Gerade die feinſten und unſichtbarſten
Fuͤhlfaͤden unſerer Seele laufen wie Wurzeln, un¬
ter der groben Sinnenwelt fort und werden von
der entfernteſten Erſchuͤtterung geſtoßen. Z. B.
wenn der Himmel gegen Oſten licht- und wolken¬
loß, gegen Weſten mit Wolkenſchlaͤuchen verhan¬
gen iſt: ſo kehr' ich mich ſcherzhafter Weiſe mehr
als zehnmal um — ſteh' ich gegen Oſten, ſo flie¬
gen alle pſychologiſchen Wolken aus meinem Geiſte
weg — fahr' ich gegen Weſten, ſo haͤngen ſie ſich
wieder um ihn herum — und auf dieſe Art zwing'
ich durch ſchnelles Umdrehen die entgegengeſetzteſten
Empfindungen, vor mir ab- und zuzulaufen.


An logiſche Ordnung iſt in dieſem Luft-Sektor
gar nicht zu gedenken; einige chronologiſche ſoll
zu finden ſeyn. Nur wird mancher Gedanke mit
tauſend Facetten von meiner Lichtſcheere erdruͤckt
werden, wenn ich das Licht ſchneuze, oder in mei¬
ner Taſſe erſaufen, wenn ich geſtrigen Kaffee dar¬
aus trinken. Dem Publikum iſt letzterer mehr an¬
[380] zurathen: unter allen warmen Getraͤnken iſt kalter
Kaffee zwar vom abſcheulichſten Geſchmack aber doch
von der geringſten Wirkung. Der ſchlafende Tag
wird ſchon wie eine ſchlafende Schoͤne, in der die
Morgentraͤume gluͤhen, roth und muß bald das
Aug' aufſchlagen. Sein erſtes wird — poetiſch zu
reden — ſeyn, daß er meine Schweſter weckt und
mit ihr als Schlafgenoß in meine Stube tritt.
Ich ſollte wie ein maͤhriſcher Bruder ein Paar tau¬
ſend Schweſtern haben, ſo lieb' ich ſie uͤberhaupt
alle. Wahrlich manchmal will ich mit den ſtoͤßigen
Satyrs-Bocksfuͤßen gegen das gute weibliche Ge¬
ſchlecht ausſchlagen und laß' es bleiben, weil ich
neben mir die kleinen Kirchenſchuhe meiner Philip¬
pine ſehe und mir die ſchmalen weiblichen Fuͤße
hinein denke, die in ſo manchem Dornenſpeer und
Waſſer ſtehen, weil beide durch ihre duͤnne Da¬
men– Lafetten ſo leicht dringen. Die leeren Klei¬
der eines Menſchen, zumal der Kinder, floͤßen
mir Wohlwollen und Trauern ein, weil ſie an
die Leiden erinnern, die das arme Inſerat darin
ſchon muß ausgeſtanden haben; und ich haͤtte mich
einmal in Karlsbad leicht mit einer Boͤhmin aus¬
geſoͤhnet, wenn ſie mich ihre Paruͤre, ohne daß
ſie d'rinnen war, haͤtte beſchauen laſſen.. ¬

[381]

Dieſe Punkte ſtellen verrollte Zeitpunkte vor.
Jezt ſind die Blinden heil, die Lahmen gehen,
die Tauben hoͤren — wach iſt naͤmlich alles: un¬
ter meinen Fuͤßen zerhaͤmmert der Schuhldiener
ſchon den Sonntagszucker, meine Schweſter hat
mich ſchon viermal ausgelacht, der Senior Setz¬
mann hat ſchon aus ſeinem Fenſter meinem Haus¬
herrn die noͤthigſten heutigen Religionsedikte zu¬
gepfiffen, die Uhr iſt wie Hiſkias Sonnenuhr, von
der Wunderkraft des dekretirenden Pfeifens eine
Stunde zuruͤckgegangen und ich kann eine laͤnger
ſchreiben, bin aber dadurch mit meinem Pinſel
aus meinem Morgen-Gemaͤhlde gekommen. Die
Sonne ſteht meinem Geſichte gegenuͤber und macht
mein biographiſches Papier zu einem blanken Mo¬
ſis Angeſicht; daher iſts mein Gluͤck, daß ich ein
Federmeſſer und Baiern oder Spanien oder das Je¬
ſuiter-Deutſchland nehme — naͤmlich Homanni¬
ſche Karten davon — und mit dem Meſſer dieſe
Laͤnder uͤber meinem Fenſter aufnagele und ein¬
pfaͤhle: ein ſolches Land haͤlt allemal die Mor¬
genſonne
ſo [gut] ab und wirft ſo viel Schat¬
ten
heruͤber als haͤtt' ich die Taͤndelſchuͤrze oder
das Pallium eines Fenſtervorhangs d'ran.


[382]

Meine Feder faͤhrt jezt im Erdſchatten des
Globus ſo fort: Wuz fuͤhrt in ſeinem Hauſe nicht
drei geſcheuete Stuͤhle, keine Fenſtervorhaͤnge und
Hauteliſſe-Tapeten. Indeß mein zu prunkendes
Ammeublement in Scheerau ſteht: letz' ich mich hier
an dem jaͤmmerlichſten und ſage, ein Fuͤrſt weiſet
kaum in einer artiſtiſchen Einſiedelei ein elenderes
vor. Sogar den Kalender ſchreiben wir uns, ich
und mein Hausherr, eigenhaͤndig wie Mitglieder der
Berliner Akademie — aber mit Kreide und an die
Stubenthuͤre; jede Woche ediren wir ein Heft oder
eine Woche von unſerem Almanach und wiſchen die
Vergangenheit aus. Auf dem vierſchroͤtigen Ofen
koͤnnen drei Paare tanzen, die er wie die jezigen
Tragoͤdien trotz dem unfoͤrmlichen Apparate ſchlecht
erwaͤrmen kann: es muß noch zu Hand- und Ta¬
ſchenoͤfen kommen, wenn man einmal aus den Berg¬
werken ſtatt der Metalle das Holz, womit man ſie
jezt ausfuͤttert, wird holen muͤſſen. . . .


Ein Schoͤps wird entſetzlich gepruͤgelt, naͤmlich
ſein todter Schenkel — die zinnernen Pathenteller
der zwei Wuziſchen Kinder werden abgestaͤubt — —
mein Silber-Beſteck wird abgeborgt — das Feuer
knackt — die Wuzin rennt — ihre Kinder und Voͤ¬
[383] gel ſchreien. — — Alle dieſe Zuruͤſtungen zu einem
viel zu großen Diner, das heute unten gegeben wird,
hoͤr' ich in mein Muſeum herauf: vielleicht ſind dieſe
Zuruͤſtungen dem Range der zwei Gaͤſte, die das
Traktement annehmen ſollen, angemeſſener als dem
Stande der beiden Schulleute, die es geben. Ge¬
genwaͤrtigen Geſchichtſchreiber und ſeine Schweſter
ſpeiſen ſie naͤmlich. Der Schuhldiener hatte ſich
nebſt ſeinem Ammeublement einige Wochen in meine
Stube eingepfarret, weil die ſeinige gleich der un¬
ſichtbaren Kirche reformieret wurde — das Konſiſto¬
rium ſieht beides Reparaturen der [ſichtbaren] und
der unſichtbaren Kirche ungern; — daher invitirte
er mich (aus Hofton) zum Dinieren. —


Ich werde den Sektor erſt abends ausſchreiben,
theils um mir nicht den Appetit weg zu denken,
theils um mir draußen noch einigen zu erhinken, wo
ich noch dazu ein Paar Emmerlinge und die Kir¬
chenleute ſingen hoͤren kann. Ueberhaupt, iſt der
Nachſommer, der heute mit ſeinem ſchoͤnſten him¬
melblauen Kleide und der Ordens-Sonne darauf,
auf den Feldern draußen ſteht, ein ſtiller Charfrei¬
tag der Natur und wenn wir Menſchen hoͤfliche
Leute waͤren: ſo giengen wir da oͤfter ins freie
[384] und begleiteten den verreiſenden Sommer hoͤflich
bis an die Thuͤre. Ich ſeh' es voraus, ich wuͤrde
mich heute an der milden Sonne die ein ſanft um
uns ſchleichender Mond geworden iſt, und die im
Nachſommer den weiblichen Artikel verdient, nicht
ſatt ſehen koͤnnen, wenn ich nicht mein Auge nach
Scheerau's Berge richten muͤſte, wo meine Guten
wohnen und von wannen heute mein Doktor mich
beſuchen wird. — —


Unter die Erde iſt der Tag und ſeine Sonne.
Komme gluͤcklich heim, geliebter Freund! auf den
Silber-Grund, den der Mond auf deinem Weg
anlegt, mahle deine Seele das verlohrne Eden der
Jugend und der ſchwarze Schatten, den du und
dein ſcheues Roß auf den Strahlenboden werfen,
muͤſſe euch nachſchwimmen, aber nicht voraus! —


Warum ſind die meiſten Einwohner dieſes
Buchs gerade Fenks Freunde? — aus zwei recht
vernuͤnftigen Gruͤnden. Erſtlich verquickt ſich das
humoriſtiſche Queckſilber, das aus ihm neben der
Waͤrme des Herzens glaͤnzt, mit allen Karakte¬
ren am leichteſten. Zweitens iſt er ein morali¬
ſcher Optimiſt
. Zehn metaphyſiſche Optimiſten
wuͤrd' ich fuͤr einen moraliſchen auszahlen, der
nicht[385] nicht ein Kraut wie die Raupe ſondern einen gan¬
zen Blumenflor von Freuden wie der Menſch zu
genießen weiß — der nicht fuͤnf Sinnen ſondern
tauſend hat fuͤr alles, fuͤr Weiber und Helden, fuͤr
Wiſſenſchaften und Luſtparthien, fuͤr Trauer- und
Luſtſpiele, fuͤr Natur und fuͤr Hoͤfe. — — Es
giebt eine gewiſſe hoͤhere Toleranz, die nicht die
Frucht des weſtphaͤliſchen Friedens noch des Ver¬
gleichs von 1705 ſondern die eines durch viele Jah¬
re und Beſſerungen geſichteten Lebens iſt — dieſe
Toleranz findet an jeder Meinung das Wahre, an
jeder Gattung des Schoͤnen das Schoͤne, an jeder
Laune das Komiſche und haͤlt an Menſchen, Voͤl¬
kern und Buͤchern die Verſchiedenheit und Indivi¬
dualitaͤt der Vollkommenheiten nicht fuͤr die Ab¬
weſenheit derſelben. Nicht bloß das Beſte muß
uns gefallen: auch das Gute und Alles. —


Als die Leute aus der kleinen und ich aus der
großen Kirche zuruͤck waren: fieng man im Wuzi¬
ſchen Hauſe das Dinieren an. Unſer Brodtherr
empfieng das Gaſt-Paar mit ſeiner gewoͤhnlichen
Freundlichkeit und mit einer ungewoͤhnlichen dazu:
denn er hatte heute aus ſeiner Kirchenkollekte —
er kroch nach dem Gottesdienſt in alle Stuͤhle und
B h[386] zog alle unter dem Einlegen niedergefallnen Pfen¬
nige magnetiſch an ſich — eine anſehnliche Silber¬
flotte von 18 Pfennigen mitgebracht. Die Pracht
des Mahls erdruͤckte in dieſer Stube das Vergnuͤ¬
gen nicht: Meſſer und Gabel waren wie ſchon ge¬
ſagt von Silber und von mir; aber wer ſollte
nicht damit mit Vergnuͤgen an einer Tafel agiren,
wo der Braten und die Sauce aus Einer — Pfan¬
ne geſpeiſet werden? — Unſere plats de menage
waren vielleicht fuͤr einen Kurfuͤrſten zu koſtbar:
denn ſie beſtanden nicht etwan aus Porzellain,
Wachs oder aus Alabaſter-Saͤmereien auf Spie¬
gelplatten und waren nicht etwan bloß wenige
Pfund ſchwer: ſondern die beiden Schaugerichte
wogen ſechzig und waren vom naͤmlichen Meiſter
und von der naͤmlichen Materie wie die Churfuͤr¬
ſtenbank, von Fleiſch und Blut, Wuzens Kin¬
der. Ein geiſtlicher Churfuͤrſt wuͤrde vor Vergnuͤ¬
gen keinen Biſſen eſſen koͤnnen, wenn er wie wir
neben ſeiner Rieſentafel ein Zwerg-Taͤfelgen mit
ſeinen Kleinen darum, ſtehen haͤtte. Ihr Tiſch
war nicht viel groͤßer als eine Heeringſchuͤſſel; ſie
ſahen aber auf Verhaͤltniß und ſpeiſeten auf dem
lilliputiſchen Tafel-Service, wovon ſie ſeit Weih¬
[387] nachten mehr ſpielenden als ernſthaften Gebrauch
gemacht hatten. Die Kleinen waren außer ſich, ihr
Fleiſch auf Oblaten von Tellern und mit Haarſaͤ¬
gen von Meſſern zu trenchieren — Spiel und Ernſt
floſſen hier wie bei eſſenden Akteurs in einander
und am Ende ſah' ich, daß es bei mir auch ſo
war und daß mein Vergnuͤgen von erkuͤnſtelter
Kleinheit und Armſeligkeit kaͤmen.


An der großen Tafel gieng — andere Tafeln
kehren es um — das individuelle Geſpraͤch bald ins
allgemeine uͤber; ich und der Kantor ſagten jeden
Augenblick, der Preuße, der Ruſſe, der Tuͤrk
und verſtanden (gleich dem Premierminiſter) unter
der Nation den Regenten derſelben. — Ich hatte
heute eine ſolche beſondre Freude an erbaͤrmlichen
Sitten, daß ich mir jeden Biſſen hinein predigen
ließ und daß ich uͤber zwanzig Geſundheiten trank.
Frauenzimmer von Stande koͤnnen ſonſt nicht ſo
leicht wie Maͤnner, ſich zu unfriſierten Leuten her¬
unterbuͤcken, am wenigſten zu denen von weibli¬
chen Geſchlecht; aber meine Schweſter verdienet,
daß ihr Bruder ihr in ſeinem Buche das Lob der
ſchoͤnſten liebreichſten Herablaſſung ertheilt. Je
weiblicher eine Frau iſt, deſto uneigennuͤtziger und
B b 2[388] menſchenfreundlicher iſt ſie; und die Maͤdgen be¬
ſonders, die das halbe menſchliche Geſchlecht lie¬
ben, lieben das ganze von Herzen. Z. B. von
der Reſidentin von Bouſe weiß man nicht, ſchenkt
ſie Armen oder Maͤnnern mehr. Alte Jungfern
ſind geizig und hart. — Mein Doktor und eine
Bouteille Wein kamen als Deſert. Da er im ge¬
genwaͤrtigen Buche alle Wochen lieſet: ſo will ich
ihn darin lieber ſchelten als preiſen. Am beſten iſts,
ich webe hier ein Zwitterding, was ihn bei man¬
chen weder lobt noch tadelt, ein — ſeine herzliche
Zuneigung gegen das weibliche Geſchlecht, die zwi¬
ſchen gefuͤhlloſer Galanterie und Feuer-Liebe mit¬
ten innen ſteht. Dieſe naͤmliche Zuneigung ſtehet
unſerem Geſchlechte gut, aber dem weiblichen nicht
und meine Schweſter iſt doch von dieſem. Die Sa¬
che kam bloß von ihrem linken Ohre her. Das
Ohrgehenk hatte ſich durch das Ohrlaͤpgen durchge¬
riſſen; ſie haͤtte aber fuͤglich bis auf den Montag
warten koͤnnen, wo ihr Bruder es ihr wie einem
juͤdiſchen Knecht auf die geſchickteſte Weiſe wuͤrde
durchloͤchert haben. Allein heute muſt' es ſeyn und
ſein Doktorhut war der Betſchirm ihrer Abſicht.
Es haͤtte gemahlet werden ſollen, wie der arme
[389] Peſtilenziarius das Ohrlaͤpgen zwiſchen den drei
Vorderfingern ſcheuerte und rieb — wie ein offizi¬
nelles Blatt, an das man riechen will, — um
es geſchwollen und unempfindlich zu machen. Nichts
iſt mir und dem Medizinalrath gefaͤhrlicher, als
wenn wir nur mit zwei, drei Fingern an ein
Frauenzimmer picken und anſtreichen — mit dem
ganzen Arm hinan zu kommen, iſt fuͤr uns ohne
alle Gefahr; ſo wie etwann die Neſſeln weit mehr
brennen, leiſe beſtreift als hart gefaſſet. Vielleicht
iſts mit dieſem Feuer wie mit dem elektriſchen, das
durch die Fingerſpitzen mit groͤßerem Strome in
den Menſchen faͤhrt als durch eine große Flaͤche. —
Meine Schweſter gieng weiter und brachte einen
Apfel; der Doktor muſte mit ſeinen Pulsfingern
das rothe Ohrlaͤpgen an den Apfel preſſen und
dann eine Zitternadel oder was es war durch die¬
ſes Organ, das die Maͤdgen weit ſeltner als das
naͤchſte ſpitzen, druͤcken — nun konnte hinange¬
ſchnallet und hineingeknoͤpfet werden was dazu
paßt. Der Stahl kettete beinahe den Operateur
ſelber an ihr Ohr: „mit nichts ſtrickt eine Schoͤne
uns mehr an ſich als wenn ſie uns Anlaß giebt,
ihr eine Gefaͤlligkeit zu thun” ſagte der Doktor
[390] ſelber und erfuhr es ſelber. Daher klagte der Ope¬
rateur und Ohren-Magnetiſeur, es ſei ſchwer,
eine Schoͤne zu kurieren und doch nicht zu lieben
und ſeine erſte Patientin hab' ihn beinahe zu ei¬
nem Patienten gemacht. Gegen den Doktor hab'
ich nichts; er ſei immer ein Kosmopolit in der
Liebe — aber, Schweſter, ich wollte, du waͤreſt
ſchon zu Bette, weil ich keine Minute, in der
ich nur drei Schritte auf- und abthue, ſicher bin,
daß du nicht in mein Manuſkript ſchieleſt und lie¬
ſeſt was ich an dir tadle? — ach ich tadle weni¬
ger als ich bedauere deine ſo niedlich um fremden
und eignen Kummer ſpielende Laune und dein aus
den weichſten Fiebern geſponnenes Herz, daß die
blanke Krone ſcheuer Weiblichkeit, die alle
dieſe Vorzuͤge erſt putzt und hebt, in den volkrei¬
chen Zimmern der Reſidentin ein wenig ſchwaͤrzlich
angelaufen iſt wie Silber im ſumpfigen Holland
und daß deiner Tugend, der nichts fehlet, die
Geſtallt der Tugend fehlt! — o Eltern! euere
Jungen machen ſich in der Hoͤlle kaum ſchwarz;
aber fuͤr euere Toͤchter und ihren ſchneeweißen
Anzug iſt kaum der Himmel geſcheuert und ſauber
genug!


[391]

Sie ſind ſelten ſchlechter als ihre Geſellſchaft,
aber auch ſelten beſſer. Dieſer geiſtige Wein zieht
den Obſtgeſchmack, der Eva's und Paris-Aepfel,
die um ihn liegen, ein; er ſchmeckt alsdann noch
gut, aber nur wie Wein nicht.


Der Doktor gab mir uͤber Guſtavs Lage viel
Licht, das zu ſeiner Zeit den Leſern wieder gege¬
ben werden ſoll. —


Eine gewiſſe Perſon, die faſt alle 14 Tage
nachlieſet was ich geſchrieben, iſt ſatiriſch und fragt
mich auf welchem Bogen, ob auf dem Bogen Aaa
oder Zzz, der fernere Liebeshandel zwiſchen Paul
und Beata bearbeitet werde — ſie fragt ferner,
obs dem Leſer ſchon erzaͤhlt iſt, daß der kokettiren¬
de Paul Verſe, Silhuetten, Bouquets und Ada¬
gios ſeitdem gemacht, um ſein Herz auf dieſen
Deſerttellern, auf dieſen durchbrochnen Compotie¬
ren, in dieſen Konfektkoͤrbgen zu bringen und zu
praͤſentiren — dieſe fatale mokante Perſonage fraͤgt
endlich, obs der Welt ſchon berichtet iſt, daß aber
Beata ſich nichts ausgebeten als das leere Koͤrb¬
chen und den leeren Deſertteller. . . . Im Grund'
aͤrgert mich dieſe Maliz niemals; aber der Doktor
Fenk und der Leſer haben offenbar die boshafteſte
[392] Geſchicklichkeit, Herzens-Sachen falſch zu ſtellen
und zu ſehen — Wahrhaftig es war bisher lauter
Scherz, meine vorgegebene Liebe; und wenn ſie
keiner war: ſo muͤſte ſie einer werden, weil ich
einen ſo ſchoͤnen und ſo verdienſtvollen Nebenbuh¬
ler als ich wie es ſcheint an Guſtav bekommen ſoll,
nicht einmal uͤberfluͤgeln und verdunkeln moͤchte,
wenn ich auch koͤnnte oder duͤrfte, wie doch hof¬
fentlich nicht iſt. . . .


Ende des erſten Theils.

[]

Appendix A Druckfehler.


Erſter Theil.


  • Seite Zeile.
  • III 8 lies meinen ſtatt einen
  • XI 7 von unten l. Arcuccio ſt. Arueoio
  • 10 14 l. einander ein ſt. einander; ein
  • 22 7 von unten l. nachkuͤßte ſt. noch kuͤßte
  • 31 6 l. nicht gern ſt. gern
  • 40 6 von unten l. Korton ſt. Karton
  • 48 6 von unten l. wieder ſt. nieder
  • 80 5 von unten. l. Jahre der ſt. Jahre. De[r]
  • 87 4 von unten l. Figurant ſt. figurant
  • 89 letzte Zeile l. fließet ſt. ſchießet
  • 91 10 von unten l. errathen ſt. erroͤthen
  • 98 9 l[.] Nonen ſt. Nonnen
  • 101 3 von unten l. fromm ſt. Frau
  • 112 15 l. iſolierter ſt. inſolirter
  • 129 9 l. anguina ſt. angina
  • 145 8 l. keine ſt. keinen
  • 163 10 l. borgte ſt. berate
  • 196 8 l. Ruͤmpfe ſt. Suͤmpfe
  • — 17 l. Granit ſt. Grammt
  • 197 6 l. keiner ſt. einer
  • 208 7 von unten l. Veimer ſt. Reimer
  • 218 4 l. nicht deswegen ſt. nicht. Deswegen,
  • 219 9 l. mir ſt. nur
  • 224 5 von unten l. Rappeemuͤhle ſt. Kapper¬
    muͤhle
  • 252 6 l. Facetten ſt. Jacetten
  • 261 4 l. Kollegien ſt. Kollegen
  • 281 11 l. Genius ſt. Genuß
  • 296 4 von unten l. Gott ſt. Art
  • 317 11 l. ſeiner ſt. keiner
  • 342 6 von unten l. mir aber, es ſt. mir,
    aber es
  • 370 6 von unten l. der Ehre ſt. Ehre der
  • 374 12 l. und ſt. um
  • 383 12 l. ſichtbaren ſt. unſichtbaren
[]

Appendix B

Die Ruinen und Truͤmmer vom genialiſchen
Geiſte und Karakter des einen jener hingeſchied¬
nen Menſchen, (Hermann) werd' ich naͤchſtens
dem Publikum uͤbergeben.

[][][]
Notes
*)

Das iſt ein Gehaͤuſe in Florenz — in Kruͤnitz
oͤkon. Encykl. 2. B. iſts abgebildet — worin
die Mutter bei Strafe das Kind unter dem
Saͤugen legen muß, um es nicht im Schlum¬
mer zu erquetſchen.
*)

Das wüßt' er nicht, wenn ers nicht aus den neuen Tak¬
tikern, Hrn. Hahn und Hrn. Müller hätte, die den
jungen Offizier die Differenzialrechnung lehren, damit es
ihm nicht ſchwer werde, mitten im Treffen beim Deploy¬
ren und Schwenken den Grundwinkel herauszurechnen. —
Eben ſo hab' ich hundertmal ein Buch ſchreiben und darin
die armen viſirenden Billardſpieler in den Stand ſetzen
wollen, bloß nach einigen Auflöſungen aus der Mechanik
und höheren Matheſis mit zugemachten Augen zu ſtoßen.
*)

Kambyſes eroberte Peluſium mit Sturm, weil er unter
ſeine Soldaten heilige Thiere, Katzen u. ſ. w. mengte,
auf die die ägyptiſche Garniſon nicht zu ſchießen wagte
und an die ſie ſtatt der Pfeile Gebete abſchickte.
**)

Das Einbein bin ich ſelbſt. Ich habe die Vorrede, die
man wird überſchlagen haben, und dieſe Note, die nicht
zu überſchlagen iſt, gemacht, damit es [einmal] bekannt
werde, daß ich nicht mehr habe als Ein Bein, wenn man
das zu kurze weg rechnet und daß ſie mich in meiner Ge¬
gend nicht anders nennen als das Einbein oder den einbei¬
nigen Autor, da ich doch Jean Paul heiße. Siehe das Tauf¬
zeugniß und die Vorrede.
*)
Darunter meinen die Aerzte 1) Wachen und Schlafen.
2) Eſſen und Trinken. 3) Bewegung. 4) Athmen. 5) Aus¬
leerungen. 6) Leidenſchaften.
*)

In Hallers großer Phyſiologie ſteht es, daß der Menſch
nach Sanktorius alle 11 Jahre den alten Körper fah¬
ren laſſe — nach Bernoulli und Blumenbach, alle
3 Jahre — nach dem Anatomiker Keil jedes Jahr.
*)

Nach den Rabbinen half der Teufel den Tempel mit bauen,
und der Wurm nagte die Steine zurecht.
*)

Die Schmetterlinge im Frühling haben ſich (im Zölibat)
aus dem vorigen Jahre hergefriſtet; die im Herbſt ſind
Kinder des gegenwärtigen Jahres.
*)
Affirmant idem corpus existens in duobus locis habere posse
ntrobique formas absolutas non dependentes — ita ut hie
moveatur locatiter, illic non, hic calidum sit, illic frigi¬
dum. etc. hic morlatur, illic vivat, hic eliceret actus vita¬
les tum sensitivos tum intellectivos, illic non
Voetiidisp.
theol. T. I. p. 632.
Bekanus ſchränket es mit philoſophi¬
ſchem Scharfſinn ſo weit ein, daß ein ſolcher Körper —
alſo eine Frau — nicht am einen Orte [fromm] und zugleich
am andern gottlos ſeyn könne; dieſes leuchtet mir auch
ein.
*)

Wolfii lect. memorab. Cent. XVI. p. 994. etc.
*)

Wolfii lect. memorab. Cent, XVI. p. 994 etc.
**)

loco cit.
*)
So gar Kinder im Mutterleibe. S. Allg. deutſche Bibl.
B. 67. S. 138.
*)

Ich meine ein in die Geſtalt eines Tiſches verſtecktes Kla¬
vier.
*)

In der Erzählung des Kindes iſt die nämliche Verſchmä¬
hung des Putzes, der Seitenblicke und der Kürze, die
nämliche Naivetät, die uns oft Laune zu ſeyn ſcheint und
keine iſt und das nämliche Vergeſſen des Erzählers über
die Erzählung, wie in den Erzählungen der Biebel, der
älter Griechen ꝛc.
*)

Was die Neuern im Geſchmack der Alten ſchreiben, wird
wenig verſtanden; und die Alten ſelber ſollen ſo häufig
verſtanden werden?
*)
Fühlen denn alle Deutſche die Meſſiade, der der deutſchen
Sprache und bibliſchen Geſchichte kundig ſind?
*)

Guſtavs Muth zum Kuß iſt natürlich. Unſer Geſchlecht
durchläuft drei Perioden des Muths gegen das Schöne —
die erſte iſt die kindliche, wo man beim weiblichen Ge¬
ſchlecht noch aus Mangel an Gefühl ꝛc. wagt — die zweite
iſt die ſchwärmeriſche, wo man dichtet aber nicht wagt —
die dritte iſt die letzte, wo man Welt genug hat, um frei¬
müthig zu ſeyn, und Gefühl genug, um das Geſchlecht zu
ſchonen und zu achten. Guſtav küßte in der erſten Periode.
*)
Friederich Jakobi in Düſſeldorf. Wer ſeinen Woldemar
— das Beſte was noch über und gegen die Encyklopädie
geſchrieben worden — oder ſeinen Allwill — wodurch er
die Stürme des Gefühls mit dem Sonnenſchein der Prin¬
zipien ausgleichet — oder ſeinen Spinoza und Hume —
das Beſte, womit die Kantiſche Philoſophie zu rechtferti¬
gen und zu ertragen iſt — nichts bewundert als die zu
große Gedrungenheit (die Wirkung der älteſten Bekannt¬
ſchaft mit allen Syſtemen) oder den Tiefſinn oder die
*)
Phantaſie oder gewiſſe Züge, die gewiſſe ſeltnere Men¬
ſchen heben: der verſäumt noch etwas größeres zu be¬
wundern — die Kälte, womit das deutſche Publikum al¬
le
Werke ſchätzt, die man mehr als einmal leſen muß.
Armer Hamann in Königsberg; deine Mardochais ha¬
ben dich nicht gehenkt, ſondern (was noch ſchlimmer in
den deutſchen Kreiſen iſt) geleſen.
*)

Si ad illam quae cum virtute degatur,ampulla aut stri¬
gilis
accedat, ſumturum ſapientem eam vitam potius qua
haec adjecta sint nec beatiorem tamen ob eam cauſam fore.
Cis. de finib. bonor. et mal. Lib. IV.
*)

Das Bild des verlornen Kleinen, das er an ſeinem Hal¬
ſe von der Entführerin mitbrachte, und das ihm ſo ähn¬
lich ſah.
*)

Den ganzen Lebenslauf ſeines Vaters, Maria Wuz
hab' ich dem Ende dieſes Buchs beigegeben. Allein ob er
gleich eine Epiſode iſt, die mit dem ganzen Werke durch
nichts zuſammen zu hängen iſt als durch die Heftnadel und
den Kleiſter des Buchbinders: ſo ſollte mir doch die Welt
den Gefallen erweiſen und ihn ſogleich leſen, nach die¬
ſer Note.
*)

So hieß der engliſche Garten um Marienhof, den die Ge¬
mahlin des verſtorbnen Fürſten mit einem romantiſchen,
gefühlvollen, uͤber Kunſtregeln hinausreichenden Geiſte
angelegt. Der Kummer gab ihr den Namen und die An¬
lage des ſtillen Landes ein. Jetzt iſt ihrer ſterbenden Seele
ſelbſt dieſes Land zu laut und ſie lebt verſchloſſen. Diejeni¬
gen Leſer, die nicht da waren, will ich mir durch eine
Beſchreibung des Gartens verbinden.
*)
Ich kann nichts dafür, daß mein Held ſo dumm iſt und
zu nützen hoft. Ich bins nicht, ſondern ich werde unten
zeigen, daß das Mediziniren eines kakochymiſchen Staats¬
körpers (z. B. beſſere Polizei- Schulanſtalten, einzelne De¬
krete ꝛc.) dem Mediziniren des Nerven-Schwächlings
gleicht, der gegen die Symptome, und nicht gegen
die Krankheitsmaterie
arbeitet und ſein Uebel bald
wegſchwitzen, bald wegklyſtiren, weglaxiren, wegtrepaniren
will.
*)

Der Leſer muß ſich erinnern, daß ſie von der [Reſiden¬
tinn]
von Bouſe blos zur Feyer des väterlichen Geburts¬
tags hergereiſet war.
*)

Dieſe wenigen Partien beſchreib' ich nur kurz: Ruhe¬
ſtatt
iſt ein abgebranntes Dorf mit ſtehender Kirche, die
beide bleiben mußten wie ſie waren nachdem die Fürſtin
den Einwohnern Platz und alles, eine Viertelſtunde da¬
von mit den größten Koſten und durch Hülfe des H. v.
O[t]tomars, dems gehört und der noch nicht da iſt, ver¬
gütet hatte. — Die Blumeninſeln ſind einzelne abge¬
ſonderte Raſenerhöhungen in einem Teiche, jede mit Ei¬
ner
andern Blume geputzt. — Dies Schattenreich
beſteht in unendlich verſchiednen Schatten-Gegitter und
Geniſte, durch großes und kleines Laubwerk, durch Aeſte
[und] Gitterwerk, durch Büſche und Bäume verſchieden
auf den Grund von Kieß, Graß oder Waſſer gemahlt;
ſie hatte die tiefſten und die hellſten Schattenparthien an¬
gelegt, einige für den abnehmenden Mond, andre für
das Abendroth. — Das ſtumme Kabinet war ein
ſchlechtes Häusgen mit zwei entgegengeſetzten Thüren, über
deren jeder ein Flohr hieng und die durchaus keine Hand
aufſchließen durfte als die der Fürſtin. Noch jezt weiß
man nicht, was darin iſt, aber die Flöhre ſind zerſtöhrt.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Anonymous. Die unsichtbare Loge. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn50.0