[]
Ueber
die neuere

Deutſche Litteratur
.

[figure]

Zwote Sammlung
von Fragmenten.


Eine Beilage zu den Briefen, die neueſte
Litteratur betreffend
.


1767.

[][]

Vorrede.


Dieſe Fragmente ſollen nichts min-
der, als eine Fortſezzung der Lit-
teraturbri
efe ſeyn: man darf al-
ſo uͤber ihren Titel nicht erſchrecken. Es
ſind Beitraͤge, Beilagen zu denſelben,
nach dem Schluß aller ihrer 24 Theile.


Ein Werk von 24 Theilen, das die
Litteratur eines ganzen Volkes zu beur-
theilen ſich uͤbernahm, das in dieſem Ur-
theile, wie Cato, bey den Großen zu-
erſt anfing; das die Augen von ganz
Deutſchland auf ſich richtete, und was
noch mehr iſt, auch bis an ſein Ende
auf ſich erhielt; das den Geſchmack
beſſern wollte, und ihn auch merklich
* 2ge-
[] gebeſſert hat: ein ſolches Werk verdient
ja nach ſeiner Vollendung vorzuͤglich
ein Denkmal ſeiner Verdienſte.


Jch ſezze mich alſo, da ich 24 Baͤn-
de durchlaufen bin, auf den lezten
Graͤnzſtein * nieder, der mit Zahlen
von Verdienſten, und Bemuͤhungen;
hie und da aber auch mit einigen Nullen
menſchlicher Fehler pranget: hier ſitze
ich wie Marius auf den Truͤmmern Car-
thagos, da er die Schickſale Roms und
Phoͤniciens uͤberdachte, oder wie ein
alter ehrlicher Markgraf, der uͤber ſein
Deutſches Vaterland denkt.


Jch ſehe eine Geſellſchaft Reiſende,
mit unausſprechlichen Namen, mit
großen Berichten aus dem Laͤndchen:
Deutſche Litteratur! mit Memoirs, die
ich gerne in eine Geſchichte der Littera-
tur verwandelt wiſſen wollte. Meine
Zweifel- Frag- und Erklaͤrungsſucht —
oder ruͤhmlicher zu reden, meine Pa-
triotiſche Neugierde legt mir Fragen
an
[] an ſie in den Mund — vielleicht Fra-
gen, wie jene eines Deutſchen Arabers,
die hier und da nicht ſollten, und nicht
werden beantwortet werden.


Jch werfe mich indeſſen nicht zu ei-
nem Richter im Namen des Publikum
auf, ein Amt, wozu ich mir nicht Be-
ruf genug zutraue. Unpartheiiſch koͤnn-
te ich ſeyn, weil ich ſelbſt weder unter
ihrem Buchſtaben des Lebens A. noch
unter dem Zeichen des Todes K. geſtan-
den: allein das beſte fehlt mir: das
Milchhaar kann mich nicht mehr begei-
ſtern, ein Daniel fuͤr die Suſanne ge-
gen abgelebte Hypokritiſche Richter zu
ſeyn? — Wirklich ein Beruf, der
heut zu Tage im Reiche der Litteratur
ſo Canoniſch geworden iſt, als er uns in
der Bibel Apokryphiſch duͤnkt.


Daher ſtrecke ich meine Faſces, und
ſchleiche zu den Privaturtheilern, um
nichts mehr,als meine Stimme, zu ge-
ben. Aber warum denn am Ende
der Briefe? Es iſt immer mißlich,
* 3einen
[] einen beruͤhmten Kunſtrichter uͤber ein
Volk von Schriftſtellern in der Rede
zu ſtoͤren. Wie gieng es jenem Ther-
ſites, da er dem Koͤnige der Voͤlker ent-
gegen redete? Der goͤttliche Ulyſſes ſah
ihn grimmig an, und brachte ihn durch
die Staͤrke ſeines Koͤniglichen Scepters
und ſeiner Drohungen zum Stillſchwei-
gen: „da kruͤmmte er ſeinen Ruͤcken,
„und eine heiße Thraͤne entfloß ſeinem
„Auge; aber von dem goldnen Scepter
„entſtand eine blutige Strieme auf der
„Schulter: niedergeſchlagen ſaß er,
„mit feigem Antlitz, und trocknete ſeine
„Thraͤne; aber die Griechen, mitten in
„ihrem Mißvergnuͤgen, fingen herzlich
„uͤber ihn an zu lachen.„ So ſchildert
Homer * den Therſites; wer wollte auch
nur von weitem ſich zum Heer unſrer
Therſite in Deutſchland geſellen?


Aber nach geendigtem Werke ur-
theile man; alsdenn tritt der unum-
ſchraͤnkte Diktator ſelbſt vor die Schran-
ken als Buͤrger; alsdenn miſcht ſich der
Schau-
[] Schauſpieler unter die Zuſchauer, und
hoͤrt das Urtheil derer am liebſten, die
waͤhrend der Rolle weder klatſchen noch
pfeifen mochten; alsdenn iſt das Aegy-
ptiſche Todtenurtheil gerecht, und fuͤr
die Wahrheit der Geſchichte nuͤzzlich,
inſonderheit wenn muͤndige Verwand-
te leben, die ſich vertheidigen koͤnnen;
alsdenn kan man fuͤglich zu 24 Theilen
Litteraturbriefe einige kleine Beilagen
machen.


Aber keinen bloßen Auszug! Dieſer
iſt fuͤr die leicht, die aus dem Realre-
giſter ſich ein Collektaneenbuch machen
wollen; aber fuͤr mich wirklich ſchwer,
und in der That auch nachtheilig.
Juſtinus ſpielte den Trogus und Ori-
genes
den Celſus durch Auszuͤge in den
Fluß der Vergeſſenheit, und unſer
Deutſches Publikum braucht die Litte-
raturbriefe noch recht ſehr, ſo wie ſie
da ſind.


Jch will mich blos, nach ihrem Leit-
faden, von der Litteratur meines Va-
* 4ter-
[] terlandes unterrichten, und ein Gemaͤl-
de derſelben in den lezten 6 Jahren, im
Schatten entwerfen. Jch weiß, dies
Gemaͤlde wird einigen kleinlich, andern
dunkel, den uͤbrigen ſo ungeheuer vor-
kommen, als jene Statue der Minerve,
die Phidias fuͤr die Hoͤhe des Altars
gemacht hatte, dem Athenienſiſchen
Volke unten am Boden vorkam. Jhn
wollte man ſteinigen, und das unerfahr-
ne, aber reizende Bild des Alkamenes
behielt den Preis, blos weil es ihnen
beſſer in die Augen fiel.


Jch ſammle die Anmerkungen der
Briefe, und erweitere bald ihre Aus-
ſichten, bald ziehe ich ſie zuruͤck, oder
lenke ſie ſeitwaͤrts. Jch zerſtuͤcke und
naͤhe zuſammen, um vielleicht das be-
wegliche Ganze eines Pantins zu ver-
fertigen. Dazu habe ich Freiheit, wie
ich glaube: denn wenn die Briefe ſich
durch das Fruchtland anderer Wege
bahnten, ſo kann ich ja zum Vortheil des
Beſitzers dieſen Weg wieder uͤberpfluͤ-
gen.
[] gen. Wenn ſie in manche Wuͤſten
Stroͤme leiteten, ſo kann ich ja dieſe
Stroͤme beſchiffen. Wenn ſie hie und
dort im Meere Jnſeln entdeckten: ſo
kann ich ja nach dem veſten Lande um-
herſchauen. Jmmer aber ſage ich mit
jenem Alten, der uͤber die Litteratur
ſeiner Zeit um Rath gefragt wurde:
„Kaum wagte ichs, eine ſo ſchwere Fra-
„ge zu uͤbernehmen: ob es an unſern
„Faͤhigkeiten liege, daß wir nicht koͤn-
„nen — oder an unſerm Geſchmack, daß
„wir die Alten nicht erreichen wollen?
„Jch wagte es kaum, meine Meinung
„zu ſagen, wenn ich nicht die Beobach-
„tungen der groͤßten Maͤnner unſrer
„Zeit blos aus dem Gedaͤchtniß anzu-
„fuͤhren haͤtte; fein ausgedachte, und
„ſchoͤn geſagte Gedanken, die ich ſchon
„als Juͤngling von ihnen lernte. *


Und dieſen Schuzzengeln der Littera-
tur widme ich auch meine vier Fragmen-
te: ein kleiner Lorbeerkranz, der dem
Olym-
[] Olympiſchen Sieger unbemerkt von
einem Fremden zufliegt, der ſich aus
Stolz und Beſcheidenheit unter das
Volk verſteckt. Moͤchte dieſer Kranz
jener Roſe Anakreons gleichen, welcher
er ſein ſchoͤnſtes Lied * geweiht hat. Als
das Meer die Goͤttin der Schoͤnheit
und Jupiters Haupt die Pallas erzeug-
te: rang auch die Erde zu gebaͤren, und
es erſchien die Roſe:


Πολυδαιδαλον λοχευμα.
Μακαρων Θεων δ’ ομιλος,
Ροδον ως γενοιτο, νεκταρ
Επιτεγξας, ανετειλεν
Αγερωχον εξ ακανϑης
Φυτον αμβροτον Λυαιου.




[]

Jnhalt der zweiten Sammlung.


  • I. Vorlaͤufiger Diſcours: von dem Urſprunge der
    Kunſtrichter, und den Geſichtspunkten, in denen
    er erſcheint: Pruͤfung der Litteraturbriefe hier-
    nach S. 183
  • II. Einleitung in die Fragmente: uͤber die Mittel zur
    Erweckung der Genies in Deutſchland. 200
  • III. Vergleichung unſrer Orientaliſchen Dichtkunſt mit
    ihren Originalen;
    • 1. in der ſchoͤnen Natur, die beide ſchildern: Ur-
      theil uͤber die Juͤdiſchen Schaͤfergedichte. 207
    • 2. in der Vaterlandsgeſchichte der Morgenlaͤnder:
      Von einigen Dankpſalmen. 212
    • 3. in ihren Nationalmythologien: Von dem Ge-
      brauch Orient. Machinen und Fiktionen. 215
    • 4. in dem Geiſte ihrer Religion: Von chriſtlichen
      Liedern in Orient. Geſchmack. 223
    • 5. in ihrer ganzen Poetiſchen Sphaͤre. 229
    • 6. Sprache und Poetiſchem Sinne. Von der Nach-
      ahmung der Choͤre, und Bilder.  231
    • 7. daher die elende Nachahmungen widerrathen,
      und Erklaͤrungen zuerſt angerathen werden. 236
    • Geſpraͤch zwiſchen einem Rabbi und Chriſten uͤber
      Klopſtocks Meßias. 243
  • IIII. Von der Griechiſchen Litteratur in Deutſch-
    land.
    • A. Wie weit wir die Griechiſchen Dichter kennen!
      Plan aus ihnen eine Aeſthetik zu ſammlen:
      Vorſchlaͤge zur Ueberſezzung Homers: Ein Ur-
      theil des Geſchmacks uͤber Steinbruͤchels Ue-
      berſezzungen: Entwurf zu einer Winkelmanni-
      ſchen
      Geſchichte der Griechiſchen Poeſie: 258
    • B. Wie weit haben wir ſie nachgebildet?
      • 1. Klopſtock mit Homer verglichen: war Ho-
        mer ſo unbekannt unter den Griechen, als K.
        unter den Deutſchen? Hat Wieland oder ſein
        Gegner bei καλος κ’ αγαϑος Recht? 276
      • 2. Pindar und der Dithyrambiſt: Ueber daß
        Urtheil der Litteraturbriefe von den Dithyram-
        ben: Hypotheſe von dem Antiken Geiſt der Di-
        thyramben: Pruͤfung der neuern Gedichte dieſes
        Namens: Ein Trinklied daruͤber.  S. 298
      • 3. Anakreon und Gleim: Ein Liedchen an Ana-
        kreons Taube 338
      • 4. Tyrtaͤus und der Grenadier: er iſt mehr als
        Tyrtaͤus 345
      • 5. Theokrit und Geßner: Von der beliebten
        Unterſcheidung zwiſchen Ekloge und Jdylle.
        Hat Theokrit ein hoͤchſtverſchoͤnertes Jdeal?
        Großer Unterſchied zwiſchen Theokrit und
        Geßner. 349
      • 6. Alciphron und Gerſtenberg. 369
      • 7. Sappho und Karſchin: zwo Antipoden:
        Ob Sappho und Corinna wegen ihrer Buh-
        lerei verloren gegangen? ein Urtheil der Litte-
        raturbriefe 370
  • Nachſchrift an Leſer, Schriftſteller und Kunſtrich-
    ter 378


[]

Ueber
die neuere deutſche
Litteratur.

Zweite Sammlung.


N
[][]

Vorlaͤufiger Diſcours.



(Von dem Urſprunge, und den Geſichtspunkten,
in denen der Kunſtrichter erſcheinet: Pruͤfung
der Litteraturbriefe hiernach.)



Der erſte Kunſtrichter, war nichts mehr,
als ein Leſer von Empfindung, und
Geſchmack. Er weidete ſich an den Schoͤn-
heiten und den Erfindungen ſeiner Vorgaͤn-
ger, den Bienen aͤhnlich, die den Saft und
das Blut der Blumen trinken, ohne doch
wie die Raupen, und Heuſchrecken, kunſt-
richteriſche Gerippe der Pflanzen zuruͤckzulaſ-
ſen. Er war jenem unſchuldigen Paare gleich,
dem ſich im Garten des Vergnuͤgens jede
Frucht des Schoͤnen und Guten darbot, ehe
es vom Philoſophiſchen Erkaͤnntnißbaum ge-
naſcht hatte. Es hat in der Litteratur auch
ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht
Wiſſenſchaft, und Schriftſtellerei; die Wahr-
heiten noch nicht Syſteme; die Erfahrungen
noch nicht Verſuche waren: ſtatt zu lernen,
was andre gedacht, erhob man ſich ſelbſt zum
N 2Den-
[184] Denken — vielleicht verdient dies auch den
Namen eines goldenen Zeitalters.


Ein andrer dachte dem Gefallen und dem
Eindruck nach, den Schoͤnheit und Wahr-
heit auf ihn machte; und fing an die Wahr-
heit ſeines Schriftſtellers in den Leib ihrer
Mutter, Erfahrung, und die Schoͤnheit in
die Lenden ihres Vaters, des Vergnuͤgens,
und Gefuͤhls zuruͤckzuleiten. Vielleicht fuͤhl-
te er ſich ſelbſt zu unfruchtbar, um Vater zu
ſeyn, daß er alſo wie die Tuͤrkiſche Verſchnit-
tene ein Kenner und Beobachter der feinen
Reize zu werden ſuchte, die jezt blos fuͤr ſein
Auge, nicht fuͤr den Genuß waren. So
ward aus dem Mann von Gefuͤhl ein Phi-
loſoph.


Der Philoſoph hatte bald das Ungluͤck,
Werke zu ſehen, die die Erſtgeburt ihrer Ori-
ginale nicht erreichten; er muſte alſo auf die
Urſachen dieſer Unfruchtbarkeit denken. Bald
das noch groͤßere Ungluͤck, voͤllig ſchlechte
Werke zu ſehen; und jezt fieng er an, die
Vorzuͤge der erſten auf dieſe anzuwenden:
er pruͤfte, lehrte und beſſerte. Das war
der eigentliche Kunſtrichter. Jſt es nicht
bei-
[185] beinahe wahr, daß er ſo entſtanden iſt, als
ſich nach der aͤlteſten und neueſten Philoſophie
das Lebendige gebiert, aus einer gaͤhrenden
Fettigkeit: es ſei dieſe der Nilſchlamm, oder
Chaldaͤens rothe Erde, das Chaos des Epi-
kurs, oder Needhams faulender Tropfen.


Das bleibt noch immer ein Plan fuͤrs Den-
ken: „wie aus dem, der bisher blos empfand,
„ein Denker; und aus dem Genie ein Wei-
„ſer wurde? wie weit jedes von dieſen dem
„andern entgegen geſezt ſey, und wie weit
„dieſe ſich einander ſchwaͤchenden Kraͤfte zu-
„ſammen kommen muͤſſen, um die Tempe-
„ratur des Virtuoſen auszumachen? wie
„aus der Natur Kunſt, aus der Kunſt Kuͤn-
„ſtelei, und aus dieſer wieder Barbarey hat
„entſtehen koͤnnen?„ Die allgemeinen Phi-
loſophiſchen Beobachtungen hieruͤber wuͤrden
ein Maͤrchen von Kritiſchen Troglodyten,
nach Art des Montesquieu hervorbringen,
und dies Maͤrchen koͤnnte man denn in Ge-
ſchichte verwandeln und aus Voͤlkern und
Sprachen beſtaͤtigen.


Nun erſcheint der eigentliche Kunſtrich-
ter — in welchem Geſichtspunkt? Gegen
N 3Le-
[186]Leſer, gegen Schriftſteller, und gegen das
ganze Reich der Litteratur uͤberhaupt.


Dem Leſer erſt Diener, denn Vertrauter,
denn Arzt. Dem Schriftſteller erſt Diener,
denn Freund, denn Richter; und der ganzen
Litteratur entweder als Schmelzer, oder als
Handlanger, oder als Baumeiſter ſelbſt.


Dem Leſer ſezzet er die Speiſen in ihrer
Luͤſternheit und Anmuth vor, und ſucht durch
ſeinen eigenen Appetit ihren Geſchmack zu
erregen: dies ſind die Auszuͤge, die gemei-
nen Tagebuͤcher. Der Leſer iſt ſchwach im
Verdauen; er gibt ihm Wein zur Staͤrkung;
er hat einen verdorbnen Geſchmack; daher
braucht er jezt ordentliche Cur. Dies ſind
die Kritiſchen Anmerkungen, die dem Leſer
Geſichtspunkte (im Leſen darlegen, die ihm)
Erlaͤuterungen, Pruͤfungen, Anwendungen
darlegen — und dieſes Talent gehoͤrt immer
nothwendig zum wahren Kritiſchen Geiſt.
Du ſchreibſt, als wenn du fuͤr dich ſchriebeſt:
nein! Kunſtrichter! du ſchreibſt fuͤr Leſer:
dieſe nie aus den Augen zu laſſen, dich nach
ihren Schwaͤchen, nicht aber Fehlern zu be-
quemen, dich nach der Verſchiedenheit ihrer Få-
hig-
[187] higkeit, Luſt und Abſicht zu richten; die Stum-
men ſprechen, die Blinden ſehen, und die
Tauben verſtehen zu lehren; die Seuche eines
falſchen Geſchmacks mit Gegengift zu heilen,
oder ihr zuvorzukommen; kurz! Leute von rich-
tigem Gefuͤhl, von Einſicht, von Geſchmack
zu bilden — das iſt dein großer Zweck.


Dem Schriftſteller, was ſoll der Kunſt-
richter ſeyn? Sein Diener, ſein Freund, ſein
unpartheiiſcher Richter! Suche ihn kennen
zu lernen, und als deinen Herrn auszuſtudi-
ren; nicht aber dein eigner Herr ſeyn zu wol-
len. * „Unſer Geiſt nimmt oft eine gewiſſe
„Unbiegſamkeit an, die uns hindert, in die
„Gedanken andrer uns gleichſam hineinden-
„ken zu wollen, und folglich ſehr oft die unſere
„dadurch zu verbeſſern. Man bemerkt die-
„ſes nicht an ſich ſelbſt, wenn man einen an-
„dern uͤber eine Materie lieſet, uͤber die man
„ſelbſt noch nicht gedacht hat. Jſt aber dies
„leztere geſchehen: ſo faͤngt die Steifigkeit
„an, ſich zu zeigen, die vermuthlich aus eben
„dieſer Urſache, auch außer andern, bei alten
N 4„Leu-
[188] „Leuten haͤufiger angetroffen wird, als bei
„jungen. Es gehoͤrt entweder eine beſondre
„Gabe des Himmels, oder eine anhaltende
„Kreuzigung des Fleiſches dazu, um weich
„und beugſam gnug zu bleiben, und wenn vol-
„lends der, welcher Buͤcher lieſet, um ſie zu be-
„urtheilen, unverdorben bleibt: ſo hat er ge-
„wiß eben ſo viel Lob verdient, als der heil.
„Aldhelmus, der ſich nackt und blos zu jun-
„gen Maͤdchen ins Bette legte, und doch der
„Empoͤrung der Sinne ſiegreich widerſtand.„
Es iſt ſchwer, aber billig, daß der Kunſtrich-
ter ſich in den Gedankenkreis ſeines Schrift-
ſtellers verſezze, und aus ſeinem Geiſt leſe;
allein wie wenige Schriftſteller haben den
Stab des Popilius, um uns in dieſen Kreis
einzuſchließen. — Jſt der Verfaſſer von
der Art, daß wir ihm nachdenken muͤſſen;
ſo vergißt der Kritikus immer, daß er mit
dem Griffel in der Hand lieſet; laͤßt er uns
aber die Freiheit, mit ihm zur Seite zu den-
ken; ſo fuͤhlt der Kunſtrichter, er habe einer-
lei Polhoͤhe; und wird alſo ſein Rathgeber
und Beurtheiler. Wenn endlich, wie in den
meiſten Deutſchen Buͤchern, die Vorreden
Ent-
[189] Entſchuldigungen und demuͤthige Komplimente
enthalten; ſo wird der Kritikus Richter und
Geſezgeber. Er darf nicht den Autor einho-
len; mit ihm in einer R[eih]e gehen, will er
nicht; er geht alſo zuv[or] und commandiret.


Endlich hat der Kunſtrichter eine Bezie-
hung auf das Reich der Wiſſenſchaften, als
Mitbuͤrger. Gemeiniglich hat er ſchon als
Schriftſteller geleſen, und zeichnet bei den Re-
cenſtonen die Schattenlaͤnge ſeiner unterge-
henden Autorſchaft. Oft reißet er nieder,
um die Ausſicht zu verbeſſern; oft ſpringt er,
wie Remus uͤber die Mauer ſeines Bruders,
um ſeine Eiferſucht zu verewigen: oft laͤuft
er mit ihm in die Wette, um zuerſt vom
Ziele den Kranz zu erwiſchen; oft wuͤhlet er
in Truͤmmern verfallner und hingeworfner
Arbeit, um ſelbſt einen Tempel zu errichten:
und kann er dieſen Bau zu Ende bringen und
mit dem Kranze eines vollkommenen Syſtems,
ſo wird er auf Rechnung vieler das Orakel.
Nicht Kolom, der hier eine Jnſel und dort
eine erfand, ſondern der ans veſte Land trat,
gab der neuen Welt ſeinen Namen.


N 5Ein
[190]

Ein Kritiſches Werk, das in allen dieſen
drei Abſichten groß bliebe: was waͤre das
fuͤr ein Schazz einer Nation! Die reichſte
Abwechſelung ſtatt der gewoͤhnlichen Kriti-
ſchen Monotonie m[uͤſ]te entſtehen, wenn der
Kunſtrichter allen dieſen Geſichtspunkten auf-
lauerte; bald Leſer von verdorbnem Ge-
ſchmack, bald ſolche, die nicht zu leſen wiſ-
ſen, erwiſchte und ſie zu denen fuͤhrte, die
mit ihm leſen; wenn er nicht als Deſpot,
ſondern als Freund und Gehuͤlfe des Verfaſ-
ſers lieſet, mit ihm, oder ihm nach, oder
ihm vordenket, und alles mit der Sorgfalt
lieſet, als wenn er es ſelbſt ſchriebe. — Jch
glaube, es iſt Shaftesburi in einer ſeiner
leider! noch unuͤberſezten Abhandlungen,
der von ſich ſchreibt, daß ihm beſtaͤndig ein
Freund, oder ein Bild der Einbildungskraft
vor Augen ſchweben, und ihn als Muſe be-
geiſtern muͤſſe — Dieſe Dulcinea hat ein
Kunſtrichter mehr als irgend jemand noͤthig.


Aber es ſchleicht dem Kritikus ein Gauk-
ler nach, der ſeinen Charakter parodirt: er
gibt uns, an ſtatt ein Buch bis auf Herz und
Nieren zu zergliedern, kruͤppelhafte und todte
Ge-
[191] Gerippe von Auszuͤgen: ſtatt ein Pygmalion
ſeines Autors zu werden, ſchlaͤgt er ihm, wie
Claudius den Statuen Roms, das Haupt ab,
und ſezzt das ſeinige darauf: als ein zweiter
Pluto bewacht er altes angeerbtes Geraͤth,
und ehrwuͤrdigen Auskehricht der Litteratur:
er eifert in den petites maiſons der Gelehr-
ſamkeit gegen elende Ueberſezzer: die Brille
eines Compendiums oder das Fernglas eines
Syſtems in der Hand, naͤhert er jezt dieſe
Wahrheit, jezt entfernt er jene, um das Schat-
tenſpiel ſeiner Lieblingsbegriffe nur beſtaͤndig
zu erblicken; und eben dies iſt ein Kunſtrich-
ter [n]ach dem gewoͤhnlichen Geſchmack: er
wird ſeinen Leſern ſo unentbehrlich, als die
Zeichen und Wetterprophezeiungen im Kalen-
der den Tagewaͤhlerinnen ſind: er wird gele-
ſen, gelobt und vergeſſen: ſeine Ephemeriden,
gleich den Jnſekten dieſes Namens, haben ei-
ne Woche, einen Monat, eine Meſſe, ein
Jahr zu ihrem Lebenslauf.


Leſer! mit dem ich jezt ſpreche, folge dieſen
Winken, die nicht Einfaͤlle ſondern oft und
leider! bei den beſten Werken gemachte Beob-
achtungen ſind. Jch laſſe dich los, um die
viele
[192] viele Deutſche Journaͤle, die die Modekrankheit
unſrer Zeit ſind, in dieſen Ausſichten zu betrach-
ten, und wie du es fuͤr gut findeſt, in der
Stille zu ordnen. Jn der Stille! denn alle
unſre Kritici ſind Richter; jedes Journal
reimt ſich mit Tribunal: hierinn iſt die Deut-
ſche Litteratur ihrem Vaterlande aͤhnlich;
viele Fuͤrſten und kein gebietender Oberherr!
Man muß alſo noch ſo lange in der Stille ur-
theilen, bis man die Kunſtrichter auch als
Schriftſteller anſehen lernt. — — Jch re-
de von den Litteraturbriefen, und thue mir
darauf zu gut, daß ich von ihnen als von
Muſtern meiſtens reden kann!



„Beinahe ein Gemaͤlde der Deutſchen Lit-
„teratur in den lezten fuͤnf Jahren!„ * Bei-
nahe! nur was lohnt es mir omiſſa anzu-
bringen. Haͤtten ſich die Berfaſſer weniger
durch Streitigkeiten hinreißen laſſen; haͤtten
ſie es nicht oͤfters vergeſſen, daß ſie mit dem
Publikum ſpraͤchen: ſo waͤre dies Gemaͤlde
voll-
[193] vollſtaͤndiger und gleichmaͤßiger in ſeinen Thei-
len gerathen. Und uͤberhaupt hat ſich im
ganzen Werk der Geiſt zu ſehr geaͤndert. Jm
Anfange Nachrichten an einen kranken Offi-
cier — Zuͤchtigungen der Ueberſezzer —
Urtheile uͤber die vornehmſten Deutſchen
Schriftſteller, die in Poſitur ſtanden — Jezt
Ausſichten uͤber verſchiedne Felder der Littera-
tur — endlich Diktatoriſche Urtheile:


— — amphora co[e]pit

Inſtitui, currente rota cur vrceus exit.

Feurig ſtieß Fll. an; der Philoſophiſche
D. griff ins Rad, um es im Schwunge zu
maͤßigen; der Planenvolle B. brachte es nach
einigem Stocken hin und wieder aufs neue
in den Lauf; bis es, wie es mir vorkommt,
in den drei lezten Theilen ſchon ablaufen will.
Das Urtheil geraͤth oſt einſeitig; Schreib-
art faͤllt oft nachlaͤßig zu Boden; der Ton
verliert bisweilen Anſtand und Staͤrke —
die lezte Wallungen eines Lichts, das erloͤ-
ſchen will.


„Vorzuͤglich Kunſtrichter fuͤr die Schrift-
„ſteller!„ * Und nach welchen Geſezzen?
Die
[194] Die beſte Art, einen Autor zu beurtheilen, iſt
ſein eigner Plan: dieſer iſt zu pruͤfen, zu beſ-
ſern und auszumalen. Dieſe Arbeit cha-
rakteriſirt und bildet Genies; ſchwer und
nuͤtzlich zugleich! So beurtheilten die Littera-
turbriefe Suͤßmilchs Ordnung, Haugens
Zuſtand von Schwaben; Meiers Gedan-
ken uͤber die gelehrte Sprache u. ſ. w.


Pruͤft man blos den Plan allgemein, und
ſagt ſeine Gedanken druͤber, ohne den V. nach
ſeinem Plan zu pruͤfen: ſo thut man weder
dem Ehrgeiz, noch der Demuth deſſelben
Gnuͤge. Man haͤlt ihn zu ſehr fuͤr Kind,
wenn man ſein Ganzes verwirft, und zu we-
nig fuͤr Kind, wenn man ſein Probſtuͤck nicht
anſehen will: corrige ſodes! hieß es bei den
Schulhandlungen, und Dithyramben.


Bei mittelmaͤßigen V. deren freilich die
meiſte ſind, verſtehe man die Kunſt, die So-
krat bei Heraklits Schriften anwandte: ein
Taͤucher zu ſeyn, um Perlen heraufzuholen.
So machten es die Litteraturbriefe nach Ros-
kommons Rathe, bei dem Sonderling, den
Zerſtreuungen und andern ſehr mittelmaͤßi-
gen
[195] gen Schriften; bei ſchlechten haͤtten ſie es
mehr thun ſollen und koͤnnen.


Die entgegen geſezte Straße iſt, Stellen
herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu
werden: Oerter zu ſuchen, wo man ſeine
Lieblingsgedanken ausſchuͤttet. Dies unter-
haͤlt; aber oft auf Koſten des Autors. War-
um gab aber der Nordiſche Aufſeher z. E.
Bloͤßen, wo man ihn angreifen konnte? So
wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta-
ſtete, fragen.


Man muß mehr Kunſtrichter uͤber Fehler,
als Schoͤnheiten ſeyn! inſonderheit Schrift-
ſteller auszubilden. So lange man nicht
Werke liefert, bei denen es ſelbſt ſchwer war,
zwei Fehler zu erwiſchen, bei denen wenigſtens
die Schoͤnheiten uͤberwiegend ſind, bei denen
kein falſcher Geſchmack zu merken oder zu
fuͤrchten iſt: ſo kann der Kunſtrichter immer
ſich die leichtere Arbeit waͤhlen, Fehler zu be-
merken: eine Arbeit, die ihm uͤberdem Wuͤr-
de gibt. — Und das ſelbſt bei guten Ver-
faſſern! Wo viele Schoͤnheiten ſind, muß ich
auch die kleinſten Fehler ruͤgen: die Schoͤn-
heiten findet das Genie ſelbſt, und der Kunſt-
rich-
[196] richter entfaltet nur die feinſten, die dem Au-
ge ſelbſt des Genies entwiſchen koͤnnten; die
Fehler muß man auch an Cramers ruͤgen,
wenn nicht ihrer, doch der Baſedows * we-
gen; damit wer nicht Genie iſt, gewarnt
werde:


Ne ſumat maculas, quas aut incuria fudit

Aut humana parum cauit natura — —

Je mehr der Kritikus ſich vertheidigen
muß, deſto minder wird ſeine Gerechtigkeit
unwiderſprechlich. Der alte Syrus hat
wohl nicht Unrecht: „Lobe die Freunde oͤf-
„fentlich und tadle ſie insgeheim!„ man
gab dies auch den Litteraturbriefen Schuld;
aber wie? wenn ihre Freunde wirklich den
Koͤnigl. Mittelweg zwiſchen Schweizern und
Gottſchedianern gegangen waͤren? — Und
denn! haben ſie nicht bloße Nachahmer und
knechtiſche Anbeter eben aus Liebe recht merk-
lich gezuͤchtigt?


Und wer wird bei der Wahrheit Frei-
heit
tadeln? Eine Freiheit, bald im Engli-
ſchen; bald im Franzoͤſiſchen Geſchmack?
We-
[197] Wenigſtens ſticht ſie doch immer in den Litte-
raturbriefen vom Magiſterton Akademiſcher
Zeitungen * ab, und es laͤßt dem Kunſtrichter
ſo anſehnlich, wenn er uns daran erinnert,
als wenn die alten Koͤnige bei Scepter und
Bart ſchwuren. — Allein wenn die Kri-
tik, Wieland den Menſchen** beurtheilt,
ich meine nicht, Wieland den Schriftſtel-
ler,
(ſo wie man dieſem Manne in mehrern
Journaͤlen in Abſicht der Metamorphoſe ſei-
ner Denkart zu nahe getreten iſt:) wenn ſie
einige Schriftſteller nicht blos zu Boden
wirft, ſondern auch wie Achilles den Hektor
im Staube ſchleifet, wie vielleicht Duſch,
Pauli, Lindner, Treſcho
und der Verfaſ-
ſer der Lyriſchen und Epiſchen Gedichte ſich
beklagen koͤnnten: ſo muß man beinahe an
das Wort Deutſch, oder an die Titelvignette
denken — wie ſehr wird aber ein Schul-
meiſter nicht betreten, wenn ſein Homer ſich
manchmal vergißt und ſchnarcht!


Frei-
O
[198]

Freilich richtet ſich die Echo nach der
Stimme, die ſie aufrief; und das Kriegs-
recht erlaubet — „aber die Antwort des
Plato an den baͤuriſchen Xenokrates hat
„immer mehr Wuͤrde: bringe den Gratien ein
„Opfer!„ Doch „wenn der Verfaſſer der
„Anmerkungen zum Gebrauche Deut-
„ſcher Kunſtrichter
* mich nicht ſo verſteht,
„wie Xenokrates den Plato?„ — Wohl! ſo
hoͤrt und verſtehet ihn auch nicht das Attiſche
Publikum, und wer wird ſich unter Boͤotier
miſchen?


Hi modo quid tentent dicere, furfur erit!

Ueberhaupt ſchlechten Schmierern von
Nachtgedanken, Schilderungen, hoͤhern
Weltweisheiten
ꝛc. ihre Fehler weit-
laͤuftig ſagen, iſt ihnen unnuͤtz, und Leſern
verdrießlich: man lege den heiligen Fluch der
Muſe auf ſie:


Tu cuncta invita dicas faciasue Minerua!

Was Jſokrates ſich zum Muſter nahm:
„ſtumpfes Eiſen zu wezzen!„ das iſt auch der
Zweck
[199] Zweck der Kunſtrichter gegen Schriftſteller, und
das Verdienſt der Litteraturbr. Haben ſie nicht
das Fuͤllhorn der Gratie ganz ausgeſchuͤttet:
vnde parentur opes; ſo haben ſie doch Blu-
men geſtreuet um den Altar der Goͤttin Litte-
ratur — falls nicht ſchlechte Schriftſtellet
in gute umſchaffen koͤnnen; doch die elenden
etwas zur Furcht und Behutſamkeit gebracht.
Die Quelle des guten Geſchmacks iſt geoͤfnet:
man komme und trinke!



O 2Ein-
[200]

Einleitung.


Seitdem der Nationalſtolz einer gewiſſen,
Schule in Deutſchland ſich etwas ge-
beuget hat: „unſer Deutſchland doͤrfe kei-
„nem Volk, es ſey alt oder neu, wenn es nur
„Undeutſch iſt, an Werken der Einbildungs-
„kraft etwas nachgeben„ — ſeitdem die Nach-
ahmungsſucht einer andern Sekte auch etwas
kalt geworden: man muͤſſe, was nur Orien-
taliſch, Griechiſch und Brittiſch hieße, durch
rauhe Kopien auf Halbdeutſchen Boden ver-
pflanzen; ſeitdem Kunſtrichter, durch bei-
de Abwege gewarnt, die Mittelſtraße waͤhl-
ten, und auf den Truͤmmern Gottſchediſcher
Originalwerke und Schweizeriſcher Nachah-
mungen, die Deutſche Litteratur uͤberſahen:
ſeit der Zeit iſt keine Klage lauter, und haͤu-
figer, * als uͤber den Mangel von Origina-
len,
von Genies, von Erfindern — Be-
ſchwerden uͤber die Nachahmungs- und gedan-
kenloſe Schreibſucht der Deutſchen.


Die Litteraturbriefe unterſchieden ſich
gleich vom Anfange durch den eifernden Ton
hier-
[201] hieruͤber; man konnte es merken, daß ſie
uͤber jedes Feld der Deutſchen Litteratur ihre
Ausſichten ausbreiten wollten; und da ſchon
das Cirkelrad von Fehlern beinahe herumge-
trieben war: da Schweizer und Gottſchedia-
ner einander moͤglichſt widerſtanden, und
gleichſam durch ihre gegenſeitige Kraͤfte, die
in einander wirkten, eine gewiſſe ruhige
Denkart hervorbringen muſten: ſo foderte
es die Zeit, daß Kunſtrichter, die beider Par-
theien Ausſchweifung ſahen, eine mittlere
Schwaͤche
inne werden muſten: und auf
dieſen Zeitpunkt trafen die Briefe.


Bloßer Tadel macht kleinmuͤthig; beſtaͤn-
dige Klagen endlich verdroſſen, und ewige
Vorſchriften matt und gezwungen: kommt
es nun noch dazu, daß der Tadel nicht immer
gruͤndlich, die Klagen wiederholt, und die
Vorſchriften zu einſchraͤnkend ſind: ſo ſieht
man den Schulmeiſter, der nach der bekannten
Fabel, dem Kinde im Waſſer eine Strafpre-
digt haͤlt, den Philoſophen dem Hungrigen vor-
predigen: ſey nicht hungrig! und den Arzt
dem Kranken zurufen: ſey geſund!


O 3Um
[202]

Um alſo mehr zu thun, als zu klagen:
kann man dreierlei verſuchen. Zuerſt als
Weltweiſer, das Genie, und Original-
geiſt,
und Erfindung zergliedern, ſeine Jn-
gredienzien aufloͤſen und bis auf den feinſten
Grund zu dringen ſuchen. Jch wuͤnſche
unſrer Zeit zu dieſen feinen Unterſuchungen
Gluͤck; ſie ſind ein neuer Begrif unſerer
Weltweisheit: ſie ſind von großem Nuzzen in
der Geiſterlehre, und es iſt ein Vergnuͤgen,
viele Deutſche gemeinſchaftlich in einerlei
Goldader, aber an verſchiednen Oertern gra-
ben zu ſehen. Sulzers* Abhandlung in
den Schriften der Berlinſchen Akademie: die
Unterſuchungen zweier Ungenannten in der
Sammlung vermiſchter Schriften, und in
den Breslauer Sammlungen wetteifern,
um dieſen Begrif ins Licht der Sonne zu
ſtellen.


Allein zur Erweckung der Genies traͤgt
dies Zergliedern nichts bei: bei aller Muͤhe
bleibt die viuida vis animi ſo unangetaſtet,
als der rector Archaeus bei den Scheide-
kuͤnſt-
[203] kuͤnſtlern: Erde und Waſſer bleibt ihnen;
die Flamme verflog, und der Geiſt blieb un-
ſichtbar; allen ihren Chymiſchen Zuſammen-
ſezzungen koͤnnen ſie nach dem, was ſie bei der
Scheidekunſt gewahr wurden, zwar Farbe,
Geruch und Geſchmack, nie aber die Kraft der
Natur geben. Je mehr Seelenkraͤfte der
Weltweiſe herzaͤhlet, die zum Genie gehoͤren;
je mehr Jngredienzien er in dieſem Salboͤl der
Geiſter antrift, je mehr kann ich zweiflen, ob
mir nicht eine davon entging: und niemand
war groß, der an ſeiner Groͤße zweifelte, und
jemand hoͤher, als ſich, ſchaͤzzte. Je feiner
die Regeln ſind, die du aus der Natur des
Genies herleiteſt: deſto furchtſamer wird der
Berſuch, der ſich endlich nichts hoͤhers vorſezzt,
als Fehlerlos zu ſeyn.


Jener Baumeiſter im Plutarch, fagte
hinter den praͤchtigen Entwuͤrfen ſeines Vor-
gaͤngers: alles, was er geſagt hat, will
ich thun!
— Und der kann zuerſt ein Mei-
ſter in Jſrael werden, der andern vorarbei-
tet:
die armen Stuͤmper, quibus peiore
ex luto finxit praecordia Titan,
werden
ihm gern nachfolgen. Woher gluͤhet uns bel
O 4der
[204] der Youngiſchen Schrift uͤber die Origi-
nale,
ein gewiſſes Feuer an, das wir bei
blos gruͤndlichen Unterſuchungen nicht ſpuͤren?
Weil der Youngiſche Geiſt drinn herrſcht,
der aus ſeinem Herzen gleichſam ins Herz;
aus dem Genie in das Genie ſpricht; der
wie der Elektriſche Funke ſich mittheilt.


Man kann ſagen, daß hiezu mehr Beob-
achtung, und zu dem erſten mehr Spekulation
erfodert wird: bei dieſer ſchraͤnket man ſich
mehr ein, bei der Beobachtung breitet man
ſich mehr aus. Jſt man ſelbſt Genie, ſo kann
man durch Proben die meiſte Aufmunterung
geben, und den ſchlafenden Funken tief aus
der Aſche herausholen, wo ihn der andre
nicht ſucht. Man wird auch eher auf die
Hinderniſſe dringen, di[e] das Genie und den
Erfindungsgeiſt aufhalten, weil man ſie aus
eigner Erfahrung kennet. Und endlich wird
man den Thoren am beſten die Originalſucht
ausreden koͤnnen: wenn man mit der großen
Stimme des Beiſpiels ſie zuruͤckſcheucht.
Durch feine Spekulationen iſt nie der Geiſt
einer Nation geaͤndert: aber durch große
Bei-
[205] Beiſpiele allemal; und neben dieſer Hoheit,
ein Muſter werden zu koͤnnen, braucht man
blos ein gutes Auge, andre zu ſehen, und
einen guten Willen, ſich mittheilen zu wollen.


Weil es aber gefaͤhrlich iſt, als ein zwei-
ter Prometheus, den Elektriſchen Funken vom
Himmel ſelbſt zu holen; weil es ſchwerer iſt,
Kuͤnſtler, als ein Sophiſt uͤber die Kunſt zu
ſeyn; weil das Kunſtrichteranſehen immer
Verminderung befuͤrchtet, wenn es ſich ſelbſt
der Beurtheilung unterziehen ſoll: ſo iſt der
Mittelweg die gewoͤhnliche Straße: man be-
trachtet die Werke der Andern,
um
durch ſie aufzumuntern. Und dies iſt die drit-
te und uͤblichſte Art, zu der ein gutes Auge
zu ſehen und zu vergleichen, Aehnlichkeit und
Unterſchied zu bemerken, und ein guter Ver-
ſtand gehoͤrt, rathen zu koͤnnen.


Jch will alſo die Deutſchen Nachahmun-
gen mit ihren Originalen vergleichen; ihren
Werth gegen einander abwaͤgen, und fragen:
warum Apoll den Deutſchen noch immer ſa-
gen kann, was er dort durchs Orakel den
O 5Aegi-
[206] Aegiaͤern ſagte: υμεις Αιγυιες, ουτε τριτοι,
ουτε τεταρτοι. Jch ſelbſt bin zwar nicht
ein Vertrauter des Apollo; allein Homer
fuͤhrt den Achill dort redend ein: „Wohlan!
„laßt uns einen Wahrſager, oder Prieſter,
„oder Traumdeuter fragen: warum Phoͤbus
„Apollo auf uns ſo ſehr zuͤrne? denn wahr-
„lich, auch der Traum kommt vom Jupiter!„
Kalchas ſagte die Wahrheit, und fand
folglich den Widerſpruch, auf den er ſich ge-
faßt machte. Agamemnon hieß ihn einen
Wahrſager des Ungluͤcks; aber Luͤgenprophet
getraute ſich ſelbſt Agamemnon nicht
zu ſagen. *




[207]

Von den Deutſch - Orientaliſchen
Dichtern.



1.


Ein Theil unſrer beſten Gedichte iſt halb
Morgenlaͤndiſch: ihr Muſter iſt die ſchoͤne
Natur des Orients: ſie borgen den Mor-
genlaͤndern Sitten und Geſchmack ab —
und ſo werden ſie Originale. Wenn nicht
neue; ſo liefern ſie doch wenigſtens fremde
Bilder, Geſinnungen und Erdichtungen.
Darf man ſie pruͤfen? Es iſt mißlich; denn
wie oft vermengt man aus Dummheit oder
Bosheit, das, was man an Dichtern tadelt,
mit dem, was man in andern Geſichtspunkten
gern annehmen will: das, was wir nachah-
men,
mit demjenigen, was wir glauben.
Jndeß wage ichs; und kann es wagen, da
inſonderheit ein großer Mann in Deutſchland,
der Morgenlaͤndiſche Philologie und dichte-
riſchen Geſchmack genug beſitzt, um hievon
zu urtheilen, in einigen Stuͤcken oͤffentlich
Bahn gebrochen hat.


Koͤ[n]-
[208]

Koͤnnen wir die Morgenlaͤnder nachahmen?
Koͤnnen wir ihnen in der Dichtkunſt gleich-
kommen? So frage ich, und leite blos den
Leſer auf Wege, die er ſelbſt fortſezzen, oder
nach Belieben vorbeigehen kann.


Die ſchoͤne Natur des Orients iſt nicht
voͤllig die unſrige. Wenn David von den
brauſenden Tiefen des Jordans nahe an ſei-
nen Ufern ein Trauerlied ſinget: ſo wird ſo
ein karakteriſtiſches Ganze draus, als Michae-
lis im 42ſten Pſalm zeiget. Wenn die bibli-
ſchen Dichter von den Schneeguͤſſen des Li-
banon;
vom Thau des Hermon; von den
Eichen Baſans; vom praͤchtigen Libanon,
und angenehmen Carmel reden; ſo geben ſie
Bilder, die ihnen die Natur ſelbſt vorgelegt
hat: wenn unſre Dichter ihnen dieſe Bilder
entwenden, ſo zeichnen ſie nicht unſre Natur,
ſondern reden ihren Originalen einige Worte
nach, die wir kaum nur halb verſtehen.
Das vortrefliche Buch Hiob! woher nimmt
es alle ſeine Schaͤzze der Schoͤnheit? Aus
inlaͤndiſchen, aus Egyptiſchen Bildern, Er-
dichtungen und Gegenſtaͤnden! Nun ſage
man, wie einer unſrer Dichter, der Egy-
pten
[209] pten oft nicht einmal aus Reiſebeſchreibungen
kennt, vom Leviathan und Behemoth
ſingen darf? Wie manches Lob Gottes
in Deutſchen Gedichten koͤnnte ich anfuͤhren,
wo die groͤßten Bilder ſo uͤbel zuſammenge-
ſezt ſind, das ein praͤchtiges, neues, unge-
woͤhnliches — Unding herauskommt: o uͤber-
ließen doch unſre Dichter dergleichen einigen
Kanzelrednern, die es ſehr gut zu brauchen
wiſſen.


Und wenn wir dieſe Bilder auch endlich
verſtehen — erklaͤren, und aus den lebhaf-
teſten hiſtoriſchen und geographiſchen Be-
ſchreibungen ihre Schoͤnheiten ganz fuͤhlen
lernen; nie haben dieſe hiſtoriſche Beſchrei-
bungen, Auslegungen, Erklaͤrungen ſo viel
Eindruck in uns, als die ſinnliche Gegen-
wart dieſer Oerter; nie das Leben der An-
ſchauung, als wenn wir ſie ſelbſt ſaͤhen; als
wenn unſere Seele durchs Auge brennende
Pfeile empfaͤnde, als wenn uns die Muſe
wirklich ergriffe und weckte; als wenn wir
μουσοληπτοι oder μουσοπατακτοι wuͤrden;
und ſo waren es die Poeten des Orients:
„Jch bin der Nede ſo voll, daß mich der
„Othem
[210] „Othem in meinem Bauch aͤngſtiget: ich muß
„reden, daß ich Othem hole: ich muß meine
„Lippen aufthun und antworten!„ So muß
es jeder großer Dichter ſeyn:


— — — Poſcere fata

Tempus erit. Deus! ecce Deus!

Nie iſt die geſunde Einbildungskraft ſo
lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale
Gegenwart der ſinnlichen gleich.


Der Verfaſſer der Juͤdiſchen Schaͤfer-
gedichte,
dem ſonſt Anlage zur Dichtkunſt
nicht fehlt, hat meine Warnung durch ſeinen
ungluͤcklichen Flug beſtaͤtigt. Dieſe ſowohl,
als ſeine Schilderungen beruͤhmter Ge-
genden des Alterthums,
haben lange nicht
die Gewalt, uns in dieſe Gegenden zu verſezzen:
ſeine Einbildungskraft kaͤmpft, um — lauter
alte Zuͤge zu wiederholen, Norden nach Orient
zu verpflanzen; alles, was er geſehen und ge-
leſen, aufzubieten; alle vier Welttheile zu
vereinigen, um — etwas Unbeſtimmtes, und
Schlechtes zu liefern. Seine Einbildungs-
kraft und ſeine Sprache — alles ſichert ihn
vor dem Verdachte, beſchnitten zu ſeyn: er
verlaͤßt ſein Land, um in der Fremde zu bet-
teln.
[211] teln. Die Poetiſchen Gemaͤlde aus der
heiligen Geſchichte
* verlieren in dieſem
Betracht immer viel von dem ungeheuren Bei-
fall, den ihnen einige gegeben: indeſſen ziehen
ſie ſich unter Poetiſche Empfindungen zuruͤck,
und als ſolche mag ich ſie nicht betrachten.


Singen wir uͤberdem Occidentaliſche Ge-
genſtaͤnde, und mit Toͤnen dem Morgenlande
entwandt: ſo wird ein ſolch Gemiſch daraus,
als jeder in Horazens Bilde auslachet —
Und doch lachen wenige, wenn der Jordan
und Hermon, und Cherubs u. d. gl. neben
dem Rhein und dem Harz ſtehen: wenn
ſich die Orientaliſchen Tiger mit unſern
Laͤmmern gatten. — „Wir koͤnnen Ver-
„gleichungen
mit dieſen Gegenſtaͤnden aller-
„dings untzen!„ Wir koͤnnen Bilder borgen,
um ſie fuͤr uns anzuwenden, aber uns nicht
durchgaͤngig ihnen uͤberlaſſen, nicht in dieſer
fremden Bilderſprache durchgaͤngig reden:
nicht ſie mit der unſern ungeſchickt vermi-
ſchen: nicht uns den Glanz der Mittagsſonne
rauben, um den Schein einer Lampe zu genieſ-
ſen; oder dieſe gar in das Sonnenlicht tragen.


Kaͤme
[212]

Kaͤme es nur erſt ſo weit, daß niemand
ſchriebe, was er nicht verſtuͤnde: befleißigten
wir uns mehr, den Orient zu beſchauen, die
heiligen Gedichte zu verſtehen, und wirklich
erklaͤren zu koͤnnen: ſo wuͤrden wir es gewiß
verlernen, mit Orientaliſchen Maſtkaͤlbern zu
pfluͤgen; wir wuͤrden uns, wenn wir ihre Kunſt
nur ganz einſehen, zu Schilderern unſrer eige-
nen Natur au[s]bilden. Nicht Armuth, ſon-
dern Unſchicklichkeit oder Bequemlichkeit hin-
dern uns daran, unſere Schaͤzze zu brauchen,
und lieber, wie Caͤſar ſagt, pauperes noſtro
in aere
zu ſeyn.



2.


Auch die Vaterlandsgeſchichte der Mor-
genlaͤnder iſt nicht unſere. So ſehr ſich im-
mer Voltaire, und die ſeines Theils ſind,
beklagen, daß wir ein eckles dummes Volk
aus einem Winkel der Erde, ſo ſehr erheben;
ſo wahr es iſt, daß ihre Geſchichte allerdings
mehr Plazz in unſerer Hiſtorie und Aufmerk-
[ſ]a[m]keit einnimmt, als ſie an ſich verdienen
moͤch-
[213] moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu
viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei-
ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen.
Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei-
nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen
ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn-
heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem
Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter
ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien-
taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An-
ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden,
auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret-
tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w.
nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch-
ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie
ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung
ſelbſt zu uͤbernehmen — das thut nur der, ſo
das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah-
mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den
Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als
Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen,
nach der weiſen Horaziſchen Regel:


Si quae deſperas tractata niteſcere poſſe
- - - relinque.
()

PKoͤnn-
[214]

Koͤnnten wir doch nur erſt ihre Gedichte
aus ihrer Nationalgeſchichte ganz erklaͤren;
alsdenn uͤberſezzt und ahmt nach! Was iſt
z. E. der 68ſte Pſalm, wenn ihn der Ausle-
ger des Lowth erklaͤrt, und was iſt er bei
Cramer?


Geſezt, wir koͤnnten alles dies wiſſen; ſin-
gen wir denn fuͤr Juden? die ſich fuͤr das ein-
zige Volk Gottes hielten? die von dem feu-
rigſten Nationalſtolz belebt wurden? Jedem
Volk gießet bei ſeiner erſten Bildung der Pa-
triotismus Flammen in die Adern — bei kei-
nem aber hat er dies gaͤhrende Blut laͤnger er-
halten, als bei dieſem. Von allen Voͤlkern der
Erde abgeſondert, brachte es ſeinem Schus-
gott Nationalgeſaͤnge; erloͤſet von Feinden,
die ſie anſpieen, ſangen [ſi]e Triumphslieder, die
ihr Patriotiſcher Geiſt belebte: entfernt von
Fremden, die ihnen unrein waren, ſangen ſie
bei Nationalfeſten — wer kann ihnen nach-
ſingen? Unſer GOtt iſt ein Vater der Men-
ſchen, nicht eines Volks, ein GOtt der Chri-
ſten, nicht einer chriſtlichen Religion! —
„Aber werden einem Juden dieſe Gegenſtaͤn-
„de nicht eben ſo alt geworden ſeyn, als
„uns?
[215] „uns?„ Jch gebe es zu: und habe doch
nicht meine Parallele verlohren. Jhnen ward
es mit der Zeit gleichguͤltiger; aber uns noch
ungleich eher und ſtaͤrker; weil alle dieſe Ge-
ſchichte fuͤr uns fremder und entfernter ſind.
Man ſey unpartheiiſch; wer kann wohl bei
uns den beſten Crameriſchen Dankpſalm mit
der Entzuͤckung ſingen, wenn er National-
wohlthaten betrift, als Jſrael in ſeinem Hei-
ligthum? Wer ſingt die Cantate des Za-
chariaͤ
mit eben der Theilnehmung, als Mir-
jam
und Moſes die ihrige am rothen Meere?
Es kann immer ſeyn, daß „ein Genie im
„Talmud ſeine voͤllige Nahrung finden koͤnne,
„als in einer Wiſſenſchaft* aber ein Poe-
tiſches
Genie, das nach Materialien zur
Dichtkunſt graͤbt? Schwerlich! wenn es un-
ſerm National- oder Seculargeiſt ſich beque-
men will.



3.


Mit dieſem Nationalgeiſt ſind auch die Na-
tionalvorurtheile
ſehr genau verbunden;
P 2Mei-
[216] Meinungen des Volks, uͤber gewiſſe ihnen un-
erklaͤrliche Dinge: Fabeln, die ſie ſogleich mit
dem Stammlen der Sprache von ihren Er-
ziehern lernen, die ſich alſo aus den aͤlteſten
Zeiten von den Stammvaͤtern herunter erben:
die ſich bei einem ſinnlichen Volk, das ſich
ſtatt der Weisheit und Wiſſenſchaften, mit
dem Hirtenleben, dem Ackerbau, und den Kuͤn-
ſten abgiebt, ſehr lange Zeit erhalten koͤnnen,
und dem Dichter alſo vielen Stoff darreichen,
zu Erdichtungen, die das Herz des ſinnlichen
Volks ſinnlich ruͤhren koͤnnen. Er weckt das
auf, was in ihnen ſchlaͤft, er greift ihre Seele
bei der ſchwaͤchſten Seite an, und erinnert ſie
an ihre Begriffe der Erziehung, mit denen ſich
ihre Einbildungskraft gleichſam zuſammen ge-
formt hat: an die Traditionen ihrer Vaͤter,
die alſo auch ihre Lieblingsvorurtheile gewor-
den ſind, weil ſie ſich nach dem Naturell ih-
res Denkens, ihres Clima und ihrer Sprache
richten. Daraus entſtehet alsdenn fuͤr die
Dichter eine heilige Mythologie: die Na-
tional iſt, und ihnen jederzeit eine Zauberquel-
le war, um Fiktionen zu ſchoͤpfen, und Bil-
der zu erheben, in die ſie, die zu den erſten
Zeiten
[217] Zeiten des Volks, auch Propheten und Rich-
ter waren, ihre ſinnreiche Weltweisheit, Tu-
gend- und Lobſpruͤche einkleideten.


Alle Morgenlaͤnder haben an dieſen geerb-
ten Maͤhrchen einen ſehr reichen Ueberfluß,
wie alle Reiſebeſchreibungen zeigen; ihre Dich-
ter bedienen ſich deſſelben alſo ſo ſorgfaͤltig,
als Homer und Virgil ſich bekanntermaßen
auf alte Sagen und Ueberlieferungen gruͤnde-
ten. Die Juden, ein ſinnliches Volk, hatten
auch keinen Mangel daran, und warum ſoll-
ten ſich ihre Dichter nicht dieſer unſchuldigen
Kunſt bedienen, um uͤber ſie zu ſiegen? Ein
großer Glaube uͤber Traͤume, Zaubereien, Er-
ſch[e]i[n]ungen und Beſizzungen iſt dem Dichter
ſo vortheilhaft, als er dem Weltweiſen ein
Dorn im Auge iſt; und mit welcher Muͤhe
ſuchte GOtt dieſen in Judaͤa auszurotten?
Beſchwoͤrungen, Zaubereien durch Schlangen;
dieſe Meinung hatten ſie mit den Morgen-
laͤndiſchen Voͤlkern gemein, wie die oͤftern
Stellen ihrer Dichter bezeigen. Aus Aegy-
pten hatten ſie einen ganzen Schatz dieſerNa-
tionalmeinungen heruͤbergeholt: von denen
Michaelis einige, wie aus einem Herkuleum,
gezogen hat.


P 3Fuͤr
[218]

Fuͤr uns ſind dieſe Fabeln halbverloren,
oder fremde, oder todt; da unſere mehr
wiſſenſchaftliche und denkende Lebensart
ſie ausgetilget, oder gelaͤutert hat. Die
ſchrecklichen Donnerwetter, die an dem Mee-
re aufſtiegen, und uͤber ihr Land nach Ara-
bien hinzogen, waren in ihren Augen Don-
nerpferde, die den Wagen Jehovahs durch
die Wolken zogen; ihnen hat David alſo ſo
viel große Bilder, und inſonderheit den vor-
treflichen 29ſten Pſalm geweihet. Bei uns
ſind die Cherubim nicht eigentlich mehr leben-
de
Jdole der Phantaſie; noch glauben zwar
Kinder und Weiber das, was unſer Dichter
ſingt: „GOtt faͤhrt in den Wolken, um Don-
„nerkeule zu ſchleudern;„ der Weltweiſe aber
und ſein Bruder, der Philoſophiſche Dichter,
wird, ſeitdem Prometheus den Elektriſchen
Funken vom Himmel ſtahl, eher den Elektri-
ſchen Blitzfunken, als ſo oft wiederholte Bil-
der ſingen. Wo iſt bei uns der Engel des
Todes,
mit ſeinem flammenden Schwert,
deſſen Gefolge und Verrichtungen jene ſo gut
kannten? Er iſt entweder ein Unding, oder
nach den Jdolen unſers Poͤbels ein Gerippe!
Wo
[219] Wo ſind die Engel des Herrn, auf Fluͤgeln
der Winde, und auf den Flammen des Feuers?
Es ſind Diener der Natur, die unſere Ein-
bildungskraft ſelten perſonificirt! Was iſt die
Veſte des Himmels, wo der Thron Gottes
ruhet? Luft! Was der Regenbogen, der ſich
zu ſeinen Fuͤßen woͤlbet? Bei den alten Skal-
dern die Bruͤcke, auf der die Rieſen den Him-
mel ſtuͤrmen wollten, die noch jetzt, ein flam-
mender Weg, zum Schrecken erſcheint; aber
fuͤr unſern Dichter, ein Farbenſpiel. Sol-
cher Nationalvorurtheile koͤnnte ich eine große
Menge anfuͤhren; und die meiſten haben ſich
entweder in unſerer erleuchtetern Zeit ſchon
verlohren, oder verfeinert, oder ſind nach
dem Unterſchiede unſers Klima und unſrer
Denkart ganz anders. Die Religion der
Skalder, * die Odin aus den Morgenlaͤn-
dern brachte; wie ſehr veraͤnderte ſie ſich auf
dem rauhen Scandinaviſchen Grund und Bo-
den? Jhr Himmel und ihre Hoͤlle, ihre Welt-
entſtehung durch Froſt, und ihre Rieſen, ihr
großer Wolf, und der Baͤndiger deſſelben, ih-
re Zaubereien und Heldenthaten ſind mit ſol-
P 4chen
[220] chen Localfarben aus Norden gemahlet, als
in verſchiedenen andern Gegenden hier Dra-
chen und dort Elephanten, das Paradies und
die Hoͤlle der Araber, die Bruͤcke Poul-Serra
der Perſer, und die Schildkroͤtengeſchichten
der Amerikaner gezeichnet ſind. Es waͤre
ein angenehmer und nuͤtzlicher Verſuch, dieſe
Nationalvorurtheile vieler Voͤlker zu ſammlen,
zu vergleichen, und zu erklaͤren.


Fuͤr den Dichter ſind dieſes Nationalvor-
theile, die ihm nicht immer entwandt wer-
den koͤnnen, ohne ungereimt, oder laͤcherlich
zu werden. Miltons Bruͤcke uͤber das Chaos
mag freilich im Munde eines Arabers, des
Sadi, beſſer klingen, als in dem ſeinigen:
Klopſtocks Oefnungen am Nordpol, ſeine aͤthe-
riſchen Wege, ſeine Sonnen im Mittelpunkte
der Erde doͤrften vielleicht zu ſehr die Wir-
belwelt der Leſer verruͤcken, ſie moͤgen ehrlich
Ptolomaͤiſch, oder Copernikaniſch denken; die-
ſe Erdichtungen ſcheinen ſelbſt einer ſinnlichen
Denkart entgegen. Und uͤberſiebt man uͤber-
dem die Erdichtungen, die die Schweizer in
ihre Morgenlaͤndiſche Gedichte eingewebet;
(vom Blute des unſchuldigen Abels, bis auf
das
[221] das Blut des Zacharias, Baraͤchiaͤ Sohn) ſo
kann man ſich bei ihren Engeln und Teufeln,
und Schlangen und Ungeheuern oft, wenn
man gleich nicht als Philoſoph leſen will,
kaum jener Frage erwehren, die der Cardinal
von Eſte
an ſeinen Arioſt that: mein lie-
ber Ludwig, wo habt ihr alle das naͤr-
riſche Zeug herbekommen?


Moͤchte man doch bedenken, daß der Ge-
ſchmack der Voͤlker, und unter einem Vol-
ke der Geſchmack der Zeiten ſehr genau ſeinen
Fortgang mit Denkart und Sitten ha-
be: daß alſo, um ſich dem Geſchmack ſeines
Volks zu bequemen, man ihren Wahn und
die Sagen der Vorfahren ſtudiren muͤſſe; und
um auch dem Gott der Zeit ein Opfer zu brin-
gen, man dieſe und fremde Meinungen nach
der herrſchenden Hoͤhe des ſinnlichen Verſtan-
des paſſen muͤſſe. Von beiden gebe ich ein
Exempel. Der Romaniſche Geſchmack der
Spanier und Jtaliaͤner iſt ein Zweig von
dem Aberglauben der Morgenlaͤnder, den man
ziemlich genau dort aus der Mauriſchen und
hier aus der Saraceniſchen Ueberſchwem-
mung herleiten kann. Er ward in beiden
P 5Laͤn-
[222] Laͤndern gemein: in beiden vermiſchte er
ſich mit dem Gothiſchen Ritter- und Rieſen-
geſchmack: nachher miſchte ſich der Katholi-
ſche Hang zu Kreuzzuͤgen, und heiligen Aben-
theuren dazu! — und nun ſehet! wie ſehr
Lopez di Vega, Pulci, Arioſt und Taſſo
dieſes Gemiſch zu brauchen gewuſt; aber
freilich zu nichts mehr, und minder, als Na-
tionalſtuͤcken. Wer es alſo beklagen moͤchte,
daß keine ſolche Morgenlaͤndiſche Jnvaſion
nicht auch bei uns den Saamen Poetiſcher Fa-
beln geſtreut; dem rathe ich, dieſe dichteri-
ſche Schweißtropfen der Cultur ſeines Bo-
dens zu widmen. Er durchreiſe als ein
Prophet in Ziegenfellen, die Mythologien
der alten Skalder und Barden ſowohl, als
ſeiner eignen ehrlichen Landsleute. Unter
Scythen und Slaven, Wenden und Boͤhmen,
Ruſſen, Schweden und Polen gibt es noch
Spuren von dieſen Fußſtapfen der Vorfah-
ren. Wuͤrde man, jeder nach ſeinen Kraͤf-
ten, ſorgſam ſeyn, ſich nach alten National-
liedern zu erkundigen; ſo wuͤrde man nicht
blos tief in die Poetiſche Denkart der Vor-
fahren dringen, ſondern auch Stuͤcke bekom-
men,
[223] men, die, wie die beide Lettiſche Dainos,
die die Litteraturbriefe * anfuͤhrten, den oft ſo
vortreflichen Ballads der Britten, den Chan-
ſons
der Troubadoren, den Romanzen der
Spanier, oder gar den feierlichen Sago-
liuds
der alten Skalder beikaͤmen; es mo̊ch-
ten nun dieſe Nationalgeſaͤnge Lettiſche Dai-
nos,
oder Coſakiſche Dummi, oder Peru-
aniſche, oder Amerikaniſche Lieder ſeyn. Will
aber jemand dies nicht thun, wohl! der beque-
me ſich nach ſeiner Zeit, da das Licht der Phi-
loſophie die heiligen Schatten der Dichterei ver-
trieben, und ſinge fuͤr unſern reinen Verſtand.



4.


Der Geiſt der Religion hat ſich veraͤn-
dert. Jn den Zeiten, da die Dichtkunſt bluͤ-
hete, herrſchte noch eine gewiſſe wilde Ein-
falt, nach der Gott auch die Religion einrich-
tete, die die Baͤndigerin der damaligen Zeiten
war. Jch zeige hiezu nur drei Geſichtspunkte.
Sie begriff mehr unter ſich, ſie hatte einen
andern
[224] andern Zweck, ſie gieng einen andern Weg,
als unſere.


Sie begriff mehr unter ſich:) Es iſt be-
kannt gnug, daß ſie ſich ins Detail dev klein-
ſten Geſezze, Veranſtaltungen und Ceremonien
einließ: daß ſie eben ſowohl auf den Maͤrkten,
als in dem Heiligthum die Theokratie eines
Schutzgottes regierte, der Propheten und
Dichter und Richter in einer Perſon auf-
weckte, und begeiſterte. Daher waren
alle ihre Poeſien heilig; ſie mochten Puophe-
tiſche Geſaͤnge, oder Laſten von Fluͤchen, oder
Troſtlieder, oder Geſezze und Spruͤche ent-
halten. Unſere Religion hingegen ſondert
ſich von der Politiſchen Regierung und den
Richterſtuͤhlen ab: ſie iſt nichts minder, als
Theokratiſch, und der Prophetiſche Geiſt
ſchweigt.


Jene hatte einen andern Zweck:) ein wildes
ungebildetes Volk im Zaum zu halten, das uͤber
den Acker und Landweiden wenig ſeinen Geiſt er-
hob. Hier war eine ſinnliche Dichtkunſt das
Mittel, ihre Seele etwas auf merkſam zu machen.
Geſaͤnge von zeitlichem Gluͤck und Ungluͤck ſchall-
ten von jenen Bergen Griſim und Ebal: der
groͤßte
[225] groͤßte Theil der Pſalmen beſchaͤftigt ſich mit
dem zeitlichen Zuſtande des Volks und kann mei-
ſtens blos durch erbauliche Accommodationen
und Katachreſen etwas geiſtliches bedeuten. —
Unſere Religion hingegen iſt geiſtig, und mit
den erhabenſten Zwecken auf eine gluͤckliche
Ewigkeit.


Jene war ſinnlich und lange nicht ſo mo-
raliſch, als die unſere.) Das Volk war noch
nicht zu der feinen Moralitaͤt tuͤchtig, die un-
ſere Religion fodert; es muſte alſo mit ſinn-
lichen Gebraͤuchen unterhalten werden. Rei-
nigungen
und Opfer, Gebraͤuche und
Sazzungen, Prieſter
und Tempel; al-
les beſchaͤftigte ihr Auge, alles fuͤllete ihre
Gedichte mit Anſpielungen, die ſie darauf zie-
hen ſollten. Die ganze Sprache hat ſich alſo
veraͤndert, und beinahe auch die ganze Reihe
von Begriffen. Jhr Engel des Todes war
nicht unſer Teufel: es war ein unmoraliſches
Weſen, das GOtt ſandte; die andern Engel
hatten nicht ſo unabtrennbar einen Begriff
der Moraliſchen Guͤte mit ſich: ihr GOtt ſelbſt
muſte ihnen in den ſtaͤrkſten Leidenſchaften ge-
ſchildert werden, damit er ſie ruͤhrte; ſie ſa-
hen
[226] hen auch bei ihren heiligen Gedichten nicht
immer darauf, ob jedes Gleichniß tugendhaft
und wohlanſtandig waͤre; wenn es nur ſchil-
derte — Unſere Religion hingegen iſt keine
Tochter der Einbildungskraft, ſondern eine
Schweſter der Vernunft und Moraliſchen
Guͤte. —


Und nun! ſind alle Gedichte, die bei ihnen
Stuͤcke der Religion waren, es auch fuͤr uns?
Jch glaube nicht! Und wenn man ſie alſo
nachahmen wollte? So muͤſte es ſeyn, „als
„wenn David z. E. chriſtliche Pſalmen ſchrei-
„ben wuͤrde„ Freilich iſt dies der Zweck, der
bei Klopſtocks Liedern in der Vorrede ſteht,
den aber im Gauzen ſeine Lieder nicht errei-
chen moͤchten. Wirklich etwas zu viel Orienta-
liſcher Schaum, und chriſtliche Gegenſtaͤnde
Orientaliſch behandelt — Und worinn denn?
Jch ſchaͤzze dieſe Lieder ſehr, denn ſie wirken
mehr auf das Herz, als einige andere. Und dar-
nach beurtheile ich den Werth eines Liedes.
Aber zu viel Morgenlaͤndiſche, Bibliſche Spra-
che, als daß ſie immer nach unſern Jdeen be-
ſtimmt
gnug ſeyn ſollte: gewiſſe Morgen-
laͤndiſche Wiederholungen, die ſtatt zu ſeufzen
jaͤhnen
[227] jaͤhnen machen: und denn nicht die gehoͤrigen
Beweggruͤnde und Reizungen zu den Em-
pfindungen, die ſie erwecken ſollen. Klop-
ſtock,
der ſelbſt eine Empfindungsvolle See-
le zeigt, hat ſich gewiſſe Gegenſtaͤnde der Re-
ligion, inſonderheit bei den Martern des Er-
loͤſers einige Nuancen ſo eingedruͤckt, daß,
wenn er auf ſie geraͤth, er ſich verweilt, und
in Empfindungen ausbricht, die er bei dem
Leſer nicht gnug vorbereitet hat: und bei
denen alſo mancher nichts empfindet. Wenn
unſre ganze Einbildungskraft in Arbeit iſt:
ſo kann ſich aus dem ganzen ruͤhrenden Ge-
maͤlde ein Zug (nicht immer der bedeutendſte)
am tiefſten eindrucken, der nachher jedesmal
das ganze Gemaͤlde zuruͤckbringt, und alſo auch
durch die Einbildungskraft die ganze Em-
pfindung wieder aufregt — aber dies lezte
geſchieht bei einem fremden Leſer, nicht durch
den einzelnen Zug, ſondern durch das treue
Ganze, das man ihm alſo vormalen muß. Um
dies mit einem Beiſpiel zu beweiſen: ſo ha-
be ich einen frommen redlichen Greis ge-
kannt, der in ſeinen lezten ſchwachen Jah-
ren bei ſeinem Unterricht und Gebeten nie ſo
ſehr
[228] ſehr bewegt wurde, als wenn er auf den Zug
im Leiden Jeſu ſtieß: er hieng (nach ſeinen
Provinzialismen) Mutter-Faden-nackt am
Kreuz: bei dieſem an ſich unwichtigen Um-
ſtande, der ſich aber ſeiner Phantaſie in den
erſten Jahren vorzuͤglich eingedruckt hatte,
ſtand er ſtille, ergoͤtzte und beruhigte er ſich,
da ſein Zuhoͤrer indeſſen jaͤhnte. — Uebrigens
weiß Klopſtock die menſchliche Seele genau
zu treffen; manche Geſaͤnge ſind Muſter einer
ſtillen andaͤchtigen Empfindung, inſonderheit
wenn ſie zu den ſanften gehoͤrt, und nichts
gluͤckt ihm mehr, als ſeine Todesbetrach-
tungen.


Es iſt mir lieb, daß ich uͤber viele aͤltere
bibliſche Gedichte nicht urtheilen darf; was
hat man nicht aus vielen Charakteren gemacht?
Em voͤlliges laͤcherliches Unding, das dem
Charakter ſeines Volks, ſeiner Zeit, und ſei-
ner Religion widerſpricht. Gerade, wie
diejenigen, die eine ganze Straße niederreiſſen,
um darauf einen einzigen Pallaſt zu bauen;
die nichts darnach fragen, wie viel andre ſie
umbringen; zufrieden, wenn ſie ohne alle Ruͤck-
ſicht auf Muͤtter, Weiber und Kinder, auf
Nation
[229] Nation, Zeit, und Geſchmack einen Menſchen
darſtellen koͤnnen.


Compos’d of many ingredient Valours
Juſt like the Manhood of nine Taylors,

wie Hudibras ſingt.



5.


Ueberhaupt hat ſich die ganze Poetiſche
Sphaͤre
bei beiden Nationen geaͤndert. Die
geſittete Freiheit, in der wir leben, laͤßt
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bluͤhen; die et-
was rauhere, die mit Gaͤhrungen des
Staats, und mit Unterdruͤckungen kaͤmpft,
laͤßt, wie bei den Roͤmern und Griechen, die
Beredſamkeit ihre Wunder thun; aber
wilde Einfalt iſt das Feld der Dichter.
Jn dieſer haben die Hebraͤer ſehr lange gelebt,
beſtaͤndig treu dem Ackerbau und der Vieh-
zucht, den ſinnlichen Begriffen, und ihrem
Vaterlande: nie hat alſo die Zeit der Be-
redſamkeit
ihre Bluͤthe erreichen; ja die
Periode der Weltweisheit kaum anbrechen
koͤnnen.


QDaß
[230]

Daß die Hebraͤer nie große Redner ge-
habt haben, beweiſet der Herausgeber des
Lowth in ſeiner Vorrede; der uͤberhaupt
durch ſeine Roten und Epimetre mehr als
Lowth ſelbſt geworden, und viele Dinge hin-
geworfen hat, die durchaus verdienen ange-
wandt, erklaͤrt und fruchtbarer gemacht zu
werden. Wir koͤnnen alſo nach einem Je-
ſaias
ohnmo̊glich unſre große Redner bilden.


Nie haben ſie alſo auch einen voͤllig
ausgebildeten Rednerperioden gehabt; ihre
Poeſie hat einen Rhythmus, den die Choͤre
und Jubelſpruͤnge gebohren haben, der von
zu ſtarker Declamation war, als ein Syl-
benmaas zu halten, der durch Muſik und Tanz
belebt wurde. Welch ein Unterſchied iſt es nun,
in einer durchaus Proſaiſchen und Philoſophi-
ſchen Sprache, deren Accente lange nicht ſo toͤ-
nend ſind, wo man ſchreibt, geleſen zu wer-
den, wo, wenn die Muſik ſich mit der Poeſie
verbindet, jene die herrſchende wird, in die-
ſer Sprache eine Orientaliſche Poeſie durch
Poetiſche Proſe nachzuahmen; die unſrer
Sprache Gewalt anthut. Inter mulierum
ſaltantium choros adoleuit poeſis orienta-

lis:
[231]lis: çarmina rarius ſcribebantur, recita-
bantur cantabanturque frequentius. — —
Inter ſaltantium choros, non ſemper pios,
natam poeſin Hebraicam dixerim, cum
motum corporis canticis haecque illi ac-
comodarent: cui poeſis origini verſuum
parallelismos acceptos fero.
Nun bleibt
es doch wohl immer unnatuͤrlich, Lieder, die
dort nach lermenden Choͤren eingerichtet wa-
ren, wie ſie ſind, nachahmen zu wollen, und
ſein eigues Chor zu ſeyn.



6.


Jn der Poeſie wird vieles von der Spra-
che
beſtimmt: und ich glaube, aus dieſem
Unperiodiſchen Melodiſchen der Hebraͤiſchen
Gedichte zum Theil den kurzen Paraboliſchen
Ton erklaͤren zu koͤnnen, der Weisheit in ein
Bild kleidet, ohne dies Bild auszupuzzen,
und Periodiſch ordnen zu wollen. Nein!
kuͤhne Vergleichungen, und wenig ausgefuͤhr-
te Gleichniſſe; aber deſto oͤftere Wiederho-
lung deſſelben Bildes, deſſelben Gleichniſſes.
Q 2Jn
[232] Jn keiner hohen Ebraͤiſchen Ode findet man
den abgemeßnen Schwung, der eine Griechi-
ſche, und noch mehr eine Roͤmiſche charakte-
riſirt: in keiner die ausgemalten Pindariſchen
Bilder, die hier immer Stuͤckweiſe erſcheinen,
abbrechen und wieder kommen: in keiner Ele-
gie, die daͤmmernde Stimme, die durch ihren
ſterbenden Fall, und anhaltendes Wimmern,
allmaͤhlich ruͤhrt: — uͤberall mehr der wie-
derholte Schlag, der eine Saite des Herzens
nach der andern plo̊zlich trift, und eilt, um
eine andre zu treffen. — Man hat dieſen
innern Charakter aus ihrer Hizze der Einbil-
dungskraft herleiten wollen; allein ein Hu-
rone in einer unperiodiſchen Sprache muß ſo,
wie ſie, ſingen.


Wir aber, in einer Periodiſchen Sprache.
Wir muͤſſen alſo jene zerſtuͤckte Bilder, die
ſich wiederholen, zu einem Ganzen ordnen,
und ſie in einem gebildeten Poetiſchen Perio-
den mehr in der Perſpektiv eines Gleichniſſes
zeichnen; der uns eigne Poetiſche Ton malt
uͤberdem ſonſt mehr Begriffe als Bilder, und
unſre ſelbſt Dichteriſche Gleichniſſe zeigen ſich,
nach jenen zu rechnen, mehr in dem Licht ei-
nes
[233] nes Beweiſes. Ein Muſter der Nachahmung
hierinn iſt der Klopſtockiſche Pſalm auf den
Koͤnig von Daͤnnemark. Wirklich die Hebraͤi-
ſche Zerſtuͤckung der Sprache, und doch die
Griechiſche Zuſammenſezzung der Bilder; hie
und da kleine Waſſerfaͤlle; doch aber bleibts
immer ein ſanfter Strom, der uͤber klare
Steine rollet. Ein Gemaͤlde, ein Wort ent-
wickelt ſich aus dem andern, und macht es
vollkommner; — Vielleicht Klopſtocks ſchaͤz-
barſtes Lyriſches Stuͤck! Eben ſo weiß er,
in ſeinen Kirchenliedern oft den Orientaliſchen
Parenthyrſus zu Kirchencadenzen herunter zu
ſtimmen, und im Meßias iſt ſein Wechſelge-
ſang zwiſchen Mirjam und Debora ſchoͤn;
Orientaliſch in Sprache und Bildern; und
Deutſch in der Anordnung derſelben.


Man erinnere ſich aus meinem vorigen
Fragmente, daß der Reichthum einer Spra-
che ſich gleichſam mit der Haushaltung der
Menſchen veraͤndere, daß uns unſer Wohl-
[ſtand] viele Freiheiten entzogen, die jene ge-
[noſſen]; daß unſer Stadtleben es nothwendig
verhindert, daß unſre Poeſie nicht Botaniſch
ſeyn kann, wie Michaelis die Morgenlaͤndiſche
Q 3nen-
[234] nennet, daß unſere Politiſche Woͤrterbuͤcher
unſerer ſinnlichen Sprache Wuͤrde entzogen
haben u. ſ. w. man erinnere ſich deſſen, und
vergleiche den Charakter unſrer Sitten und
Zeiten mit jenen, ſo wird man finden:


Der Poetiſche Sinn iſt nicht mehr derſelbe.
Jener wirkte ſchnell und heftig; nicht aber
eben zart und dauerhaft. Die Saite ihrer
Empfindung des Poetiſch Schoͤnen (ich will
nicht wie Montesquieu bis auf ihr Faſern-
gewebe, und auf das Temperament ihres Kli-
ma zuruͤckgehen) wird ihren Sitten und Zeit
gemaͤß heftig getroffen, und bald verlaſſen.
Unſer Poetiſcher Sinn iſt mehr langſam und
uͤberlegend, als brauſend. Selbſt das ſanfte
Griechiſche Gefuͤhl wird unter unſerm Him-
mel nicht reif; wie ſollte er denn die uͤber-
maͤßig fruͤhzeitigen Fruͤchte der Morgenlaͤn-
der reifen? Unſre Saite der Poetiſchen Em-
pfindung giebt nach: wir bleiben kaͤ[l]ter, als
die Griechen mit zarten, oder die Morgen-
laͤnder mit heftigen Sinnen: wir bleiben
ſelbſt im Poetiſchen Fluge, wie die Strauße
dem Boden des Wahren treuer, und kommen
zur
[235] zur Ruͤhrung oft durch den Weg der Ueber-
legung.


Ahmen wir alſo nach, wie es uns gefaͤllt:
ſo wird vielleicht ein unpartheiſcher Frem-
der, der den Orient kennet, ohne ihn von
Jugend auf, blos als ein Erbſtuͤck der Reli-
gion zu kennen, der Geſchmack gnug hat,
um unſre Nachahmungen mit jenen Origina-
len zu vergleichen, vielleicht folgenden Cha-
rakter angeben:


„Die Morgenlaͤndiſchen Werke des Genies
„zeichnen ſich aus, durch den hohen Ausdruck
„einer Einbildung, die Erdichtungen liebt,
„Sittenſpruͤche in Figuren, Bilder und Schat-
„ten einhuͤllet, die nicht blos auf Fluͤgeln der
„Morgenroͤthe bis an die Graͤnzen der Natur
„aufſchwinget, ſondern ſich oft uͤber dieſe
„Graͤnzen wagt, und im Reich des Unnatuͤr-
„lichen, aber wunderbaren Chaos umherirret.
„Die kaͤltern vernuͤnftigen Deutſchen haben
„dieſer brennenden Phantaſie ſich nachſchwin-
„gen wollen, mit Fluͤgeln, die ihnen die Na-
„tur nicht gab, wie Horaz vom Daͤdalus ſin-
„get: ſie zeichnen fremde, oft unverſtandne,
„und wenigſtens zu entfernte Bilder: ihre
Q 4„ge-
[236] „geborgte Erdichtungen ſind Geſchoͤpfe ohne
„Erde: ihre nachgeahmte Empfindungen keine
„Empfindungen: der Ausdruck erreicht ſein
„Original oft nur, wo es ſich dem Uebertriebe-
„nen naͤhert.„ Jch habe viel geſagt; den Be-
weis uͤberlaſſe ich einem jeden, der Morgen-
laͤndiſche Gedichte zu leſen weiß.



7.


Elend nachahmen ſollen wir alſo gar nicht,
und ein Hudemann iſt in ſeinem Lucifer
und in ſeinem Tode Abels der Bemerkung
und der Aergerniß unwuͤrdig — aber wie
koͤnnen wir uns von ſolchen Hudemanns
befreien? Wenn wir uns aufmuntern, die
Morgenlaͤndiſchen Gedichte, als Gedichte zu
ſtudiren, erklaͤren zu lernen und bekannt zu
machen. Unmoͤglich koͤnnen wir ſie uͤberſez-
zen, und nachahmen, ehe wir ſie verſtehen,
und die Morgenlaͤndiſche Philologie, die in
unſerm Deutſchlande ſeit einiger Zeit bluͤhet,
wird, wenn ſie ſich mit Geſchmack vereinigt,
ſchlechte und dumme Nachahmer zerſtreuen.


Der
[237]

Der beſte Ueberſezzer muß der beſte Erklaͤ-
rer ſeyn; waͤre dieſer Sazz auch umgekehrt
wahr: und waͤren beide verbunden: ſo wuͤr-
den wir bald ein Buch hoffen koͤnnen, das ſo
hieße: „Poetiſche Ueberſezzung der Morgen-
„laͤndiſchen Gedichte; da dieſe aus dem Lan-
„de, der Geſchichte, den Meinungen, der Re-
„ligion, dem Zuſtande, den Sitten, und der
„Sprache ihrer Nation erklaͤrt, und in das
„Genie unſrer Zeit, Denkart und Sprache
„verpflanzt werden.„ Jn der Vorrede wuͤr-
de man mit Recht ſagen koͤnnen: „Dieſe
„Ueberſezzung hat nothwendig das ſchwerſte
„und muͤhſamſte Werk ſeyn muͤſſen, zu dem
„in der Erklaͤrung, die Bemerkungen einiger
„wenigen Philologen von Geſchmack, und in
„der Ueberſezzung die Cramerſchen Pſalmen
„nichts als kleine Beitraͤge haben ſeyn koͤn-
„nen, oft um uns zu helfen, Geſichtspunkte
„zu zeigen und behutſam zu machen. Allein
„wir halten es auch fuͤr eine Originalarbeit,
„die mehr Einfluß auf unſere Litteratur ha-
„ben kann, als zehn Originalwerke. Sie
„unterſcheidet die Graͤnzen fremder Voͤlker
„von den unſrigen, ſo verwirrt ſie auch laufen
Q 5„moͤ-
[238] „moͤgen: ſie macht uns mit den Schoͤnhei-
„ten und dem Genie einer Nation bekannter,
„die wir ſehr ſchief anſahen, und doch von
„Geſicht kennen ſollten: ſie iſt ein Muſter
„einer Nachahmung, die Original bleibt.
„Sollte ſie alſo auch nicht das Gluͤck haben,
„neue und wirklich neue Genies zu erwecken:
„ſo wird ſie doch wenigſtens den Nach - und
„Nebenbuhlern auslaͤndiſcher Goͤtzen eine
„Wand von Dornen vorziehen, daß ſie ih-
„ren Steig nicht finden. Sie wird ſie er-
„greifen, zuruͤckreißen, und ſagen: Siehe
„hier deine Natur, und Geſchichte, deine
„Goͤtzen und Welt, deine Denkart und Spra-
„che: nach dieſem bilde dich, um der Nach-
„ahmer dein ſelbſt zu werden. Und willſt du
„von einer der vorzuͤglichſten Nationen ihre
„Schaͤzze nuͤzzen: ſiehe hieher! Jch ſuche
„dich mit der Kunſt bekannt zu machen, wie
„ſie Geſchichte und Religion in Gedichte zu
„wandeln wuſten; raube ihnen nicht das Er-
„fundne, ſondern die Kunſt zu erfinden, zu
„erdichten, und einzukleiden!„


Wo iſt ein Ueberſezzer, der zugleich Philo-
ſoph, Dichter und Philolog iſt: er ſoll der
Mor-
[239] Morgenſtern einer neuen Epoche in unſrer
Litteratur ſeyn! Aber leider! Arabiſche Wur-
zeln wachſen gern auf duͤrrem Grund und
Boden: ich werde vielleicht ein pium deſide-
rium
hingeſchrieben haben. Es ſey! Vor-
theil gnug, wenn dies mein Fragment nur ei-
nem einzigen Schriftſteller die Feder aus den
Haͤnden windet, wenn er uns neue Heldenge-
dichte im Orientaliſchen Geſchmack liefern will!
Vortheil gnug, wenn es einen einzigen Hexa-
metriſten vermoͤchte, ſein Gedicht nach den
vorgelegten Geſichtspunkten zu verbeſſern;
Auch ſchon Vortheils gnug, wenn es einen
Kunſtrichter bildete, uͤber Werke dieſer Art
beſſer zu urtheilen.


Jch kann nicht wichtiger ſchließen, als
wenn ich das erhabenſte Orientaliſch - Deut-
ſche Werk: den Meßias, Kritiſch pruͤfe,
uͤber den man, wie ich glaube, noch nicht eine
ſo genaue Unterſuchung hat, als es dieſes
große Stuͤck verdient. Einige haben nicht
uͤber ein Fragment * urtheilen wollen, weil
es noch kein Ganzes waͤre! Wunderbar!
Kann
[240] Kann ich denn nicht uͤber den Geiſt der Theile,
uͤber jede Erdichtung in demſelben, als uͤber
ein Ganzes urtheilen, ohne ein Prophet ſeyn
zu duͤrfen, oder dem Verfaſſer Unrecht zu thun?


Ueber Fragmente, denke ich, ſoll man am
erſten urtheilen, um dem Verfaſſer zu helfen,
oder wenigſtens ſeine Stimme auch zu geben;
dadurch, und dadurch allein arbeitet ein Kuͤnſt-
ler vor den Augen des Publikum: er hat ein
unvollendetes Tagewerk hingeſtellt, und ſteht
hinter demſelben, um nach den Urtheilen der
Kenner begangene Fehler zu verbeſſern, und
kuͤnftigen zuvorzukommen. Haͤtte Klopſtock,
gleich im Anfange, ſtatt eines poſaunenden
Lobredners, einen Kritiſchen Freund gefun-
den: haͤtte er nicht gleich ſo viel blinden Bei-
fall, und noch blindere Nachahmung geſehen:
vielleicht wuͤrde manches in ſeinem vortrefli-
chen Gedicht noch vortreflicher ſeyn.


Aber ſo gehts! Ueber kleine Geiſter, uͤber
Lehrlinge und Geſellen, die Verſuche machen,
ſind Kunſtrichter gleich in Menge da; ſie ſind
Fliegengoͤtter, auf die auch immer die Va-
riante dieſes Namens (Beelzebub und Beel-
zebul
) paſſen mag! Aber es tritt ein Genie
auf,
[241] auf, wie Pallas aus dem Gehirn des Jupi-
ters! „Sogleich erbebt von ihrem maͤchtigen
„Geſchrei der Himmel und die Mutter Erde:
„Apoll, der Erleuchter der Menſchen, be-
„fielt ihnen das nuͤtzliche Geſchaͤft an, der
„Goͤttin zuerſt einen Altar zu bauen, und
„durch ein heiliges Opfer den Vater Zevs
„und ſeine gewafnete Tochter zu ergoͤtzen!„


Freilich urtheilten auch viele, wie jener
Schuſter am Bilde Apelles: allein die rechne
ich nicht: ſie haͤtten ſchweigen ſollen: auch
Klopſtock hat ſie nicht gerechnet. — „Und
„wird er deine Anmerkungen rechnen?„ Das
weiß ich nicht: aber menſchlich und billig
aufnehmen, das wird er. Jeder urtheilt,
was ſeine Augen ſehen. * Die meiſten
aber ſehen doch einerlei. Sollte alſo auch
mancher Klopſtockianer mir entgegen ru-
fen, was Nicomachus dort zu jenem
ſagte, der das Bild der Helena, von
Zevxes gemalt, tadelte: „Nimm meine
„Augen: und ſie wird dir eine Goͤttin ſchei-
„nen!„ Jch ſchreibe doch, vielleicht, was
viele bei ſich gedacht, oder gar ein Genie,
das
[242] das ſich bei Klopſtocks Meßias ſo findet, als
Alexander am Bilde Achills, was dies Genie
ſchon dunkel in ſeiner Seele fuͤhlet.


Wer koͤnnte die Juͤdiſche Seite dieſes Ge-
dichts am beſten beurtheilen? Ein Rabbi,
der fuͤr ſein Volk Patriotismus, Kaͤnntniß
ſeiner Gebraͤuche, und eine Morgenlaͤndiſche
Einbildungskraft haͤtte! Und wer die Chriſt-
liche Seite? Ohne Zweifel ein Chriſt, der
fuͤr ſeine Religion Patriotismus, Kaͤnntniß
ihres Umfanges, und Chriſtliche warme
Empfindungen beſaͤße! Beide koͤnnen ſich
widerſprechen, von entgegengeſetzten Seiten
die Sache betrachten, um das Urtheil einiger-
maſſen vollſtaͤndig zu machen. Jch laſſe ſie
ſprechen!




[243]

Geſpraͤch
zwiſchen einem Rabbi und einem
Chriſten

uͤber Klopſtocks Meßias.



Der Rabbi.


Jch habe Jhr Verlangen erfuͤllt, und Klop-
ſtock geleſen! Jch habe ihn zweimal und
mit neuem Vergnuͤgen geleſen. Kaum haͤtte
ich einem Noͤrdlichen Deutſchen die reiche
Morgenlaͤndiſche Einbildungskraft zugetrauet,
die er bewieſen.


Der Chriſt. Nun! habe ich alſo nicht
Recht, daß er auf Deutſcher Erde ein Ori-
entaliſches Denkmal gebauet hat, das die
Ehre unſerer Nation waͤre, wenn es vollen-
det wuͤrde?


Rabbi. Allerdings: und daß er ſich uͤber
die Mythologie der Griechen ſo gluͤcklich zu
ſchwingen gewußt: fodert viel Genie!


Chriſt. Und daß er uͤberall aus ſich ſelbſt
die Luͤcken hat ausfuͤllen koͤnnen, um aus ei-
ner kurzen Geſchichte, Gedicht, Epopee, und
eine
[244] eine chriſtliche Epopee zu machen — fodert
noch mehr!


Rabbi. Nicht ganz aus ſich hat er ſie
ausgefuͤllet: die Heilige Geſchichte liefert ja
dazu Stof gnug; ich wuͤnſchte alſo, daß er
dieſen Stof mehr gebraucht haͤtte; auch ei-
nige Rabbiniſche Zuͤge hat er gluͤcklich anzu-
wenden gewußt und —


Chriſt. Nur nicht, daß dieſe Anwendung
auf Koſten ſeiner Originalerfindung gehe.
Auch aus Milton hat er Zuͤge genommen:
wer ſie aber ſo gluͤcklich wie er nimmt, und
anwendet, hat ſie ſelbſt erfunden.


Rabbi. Wir ſcheinen ohngeachtet unſers
verſchiedenen Geſichtpunktes ſo ziemlich aͤhn-
lich zu ſehen; einmal haben ſie ſchon mein:
ich wuͤnſchte! gehoͤrt, das zweitemal es
unterbrochen — wollen wir uns nicht naͤher
unſre Zweifel ſagen?


Chriſt. Eben das habe ich von Jhnen er-
wartet: bei einem Meßias muß man ſich
nicht blos vergnuͤgen, ſondern auch unter-
richten. Dazu hat der Verfaſſer ſeine Ab-
handlung von der heiligen Poeſie voraus-
geſchickt.


Rabbi.
[245]

Rabbi. Nicht voͤllig dazu! wenn wir ſie
zum Maasſtabe des Meßias annehmen muͤß-
ten, ſo haͤtten wir die Richtigkeit dieſes Maas-
ſtabes vorher ſelbſt zu pruͤfen. Klopſtock
ſagt ſo hier, als in allen ſeinen Proſaiſchen
Diſcourſen viel; aber immer bleiben auch
Unterſcheidungen, Beſtimmungen, Zuſaͤzze
fuͤr den Leſer uͤbrig.


Chriſt. Gut! ſo wollen wir die Pruͤfung
frei vornehmen: begegnen wir uns mit dem
Verfaſſer manchmal: um ſo viel beſſer! ha-
ben wir etwas gegen ihn, den Kritiker: ſo
wollen wirs auch nicht verſchweigen.



Rabbi. Nun dann! Kommt Jhnen ein
Meßias, wie der ſeinige, wohl als ein recht-
behandeltes Sujet zur Tragiſchen Epopee vor?
Mir nicht! Die Wuth ſeiner Feinde waͤre
ein Unding, wenn er in dem Glanze voͤllig
gewandelt haͤtte, in dem ihn K. erblicket.
Haͤtte er ihn nicht in Umſtaͤnde ſezzen ſollen,
wo man ſein Verhalten gegen die Feinde ſelbſt
ſaͤhe? aus dem ſie, ſeiner Unſchuld unbe-
ſchadet, einigen Schein zur Wuth gegen ihn,
Rum
[246] um das ganze Volk anfzubringen, ziehen
koͤnnten. Was Jeſus ihnen aͤrgerliches ge-
than hat, wird erzaͤhlt, nicht aber im An-
fange des Gedichts handelnd zum Grunde ge-
legt: ſo ſehen wir Effekt, ohne die Urſache
ſelbſt geſehen zu haben: der Epopee entgeht
etwas an Poetiſcher Wahrſcheinlichkeit.


Chriſt. Jch gebe Jhnen einigen Beifall,
aber aus andern Gruͤnden. Der Meßias
erſcheint nach den Weißagungen des A. und
den Erzaͤlungen des N. Teſtaments viel
menſchlicher, als ihn K. malet. Die
Epopee fodert nicht ein Jdeal, was uͤber-
menſchlich waͤre, ſondern was die hoͤchſte
Ruͤhrung verurſacht: nun entgeht aber dem
Gedichte des K. viel von dieſem Leben, weil
wir den Heiland zu wenig menſchlich ſehen;
und es bleibt doch immer wahr; nichts be-
wegt eine menſchliche Seele, als was ſelbſt
in ihr vorgehen kann. Saͤhen wir oͤfter
unſern Bruder, den groͤſten Menſchenfreund:
ſo wuͤrde dies eher das Ziel erreichen, „die
„ganze Seele zu bewegen und jede Saite der
„Empfindung zu treffen.„


Rabbi.
[247]

Rabbi. Wie? wenn unſer Jeſaias den
Meßias geſungen haͤtte? — Warum hat
K. nicht mehr den erhabnen Propheti-
ſchen Ton
ins Epiſche umgeſtimmt? Hat
er wohl durchgaͤngig den Geiſt, der die
Haushaltung des ganzen A. Teſtaments
belebte,
angewandt, da Jeſus doch einem
Volke erſchien, das ihn unter dieſen Bildern
erwartete? Geſezt, ſein Meßias waͤre der
Vorausverkuͤndigte; ſo zeige ihn auch K. in
dieſem ganzen Lichte.


Chriſt. Haͤtte unſer Johannes, der ihn
biſ an ſeinen Tod begleitete, und ſein Plato
ward, mit dem feurigen Pinſel der Apoka-
lypſe ihn ſchildern wollen; ſo haͤtte er ihm
ſo viel individuale Beſtimmung gegeben,
daß jeder ruffen muͤſte: „das iſt er! Johan-
„nes hat ihn geſehen!„ Nun hat ihn freilich
K. nicht geſehen; aber als Schoͤpfer haͤtte er
ihm Weſen und Leben geben ſollen: „Der
„Dichter ſtudirt den Grundriß ſeiner Ge-
„ſchichte, malt ihn nach den Hauptzuͤgen
„aus, die er in ihm gefunden zu haben
„glaubt, und muß uns durch ſeine maͤchti-
„gen Kuͤnſte dahin bringen, daß ich zu der
R 2„Zeit,
[248] „Zeit, da ich ihn leſe, und auch noch laͤn-
„ger, vergeſſe, daß es ein Gedicht iſt.„


Rabbi. Wenn der Schauplatz und die
meiſten Auftritte in einem Chriſtlichen Ge-
dichte nicht recht Juͤdiſch ſind: ſo wundere
ich mich nicht eben; ein Chriſt, wie die
meiſten ſind, halten unſern Staat, Sitten
und Gebraͤuche fuͤr zu niedrig, als ſie zu ſtu-
diren, und ſie muͤſſen doch ſtudirt werden,
weil ſie von dem Geiſt der heutigen Zeit ſich
ſo weit entfernen. Aber Klopſtock, der wi-
der dies Juͤdiſche Coſtume nie offenbar han-
delt, und der es oft in feinen Zuͤgen bemerkt,
dieſem wuͤnſchte ich, daß er Nationalgeiſt
und Juͤdiſche Laune durchgaͤngig in ſein
Ganzes
gebracht haͤtte. Dazu gehoͤrt viel,
aber das zeigt von Genie und zaubert uns
mitten unter andre Voͤlker.


Chriſt. Mir iſt eure Puͤnktlichkeit und
euer Talmudiſcher Stolz in Cerimonien zu
fremde, um daruͤber urtheilen zu koͤnnen;
aber was ſollte ſein Meßias eher und wuͤr-
diger ſeyn: als ein Lied des Urſprunges
unſrer Religion.
Jeder Chriſt fodert es,
und kann es fodern, daß ſein Meßias als
ein
[249] ein Geſandter Gottes erſcheine, der ganz und
gar mit dem großen Gedanken ſich beſchaͤftigt,
uͤber die Voͤlker zu herrſchen; daß ſein Er-
loͤſer als ein Prophet erſcheine, der der Welt
Licht und Freiheit und Seligkeit gebracht hat,
der jetzt ſeine angefeindete Lehre mit Maͤr-
tirerblut beſiegelt, und mit dieſem Blut des
neuen Bundes in den Himmel geht, um Koͤ-
nig uͤber ein neues Reich der Gnade zu ſeyn.
Bei ſeinen lezten Augenblicken ſollte es ihm
mehr am Herzen liegen: „was ſeine Heerde,
„ſeine Bruͤder, ſeine Familie um ihn und
„fuͤr ihn leiden wuͤrden!„ Wenn der heilige
Dichter in ſeiner Art das thut, „was ein
„andrer thut, der aus den nicht hiſtoriſchen
„Wahrheiten der Religion, Folgen herleitet;„
wenn „unſre Lehrbuͤcher aus der Religion
„ein Gerippe gemacht haben: * ſo ſollte jener
„der Offenbarung folgen, um ſie in einem
„geſunden maͤnnlichen Koͤrper darzuſtellen.„
Alsdenn muß Klopſtocks Meßias die Pflan-
zung der Kirche, mit ihren Schickſalen und
Wanderungen mehr im Auge behalten, als
R 3Vir-
[250]Virgil die Gruͤndung des Roͤmiſchen Volks
und Kaiſerthrones behalten konnte: dadurch
eben bekam es bei einem Roͤmer, bei einem
Auguſt und Oktavia Jntereſſe.


Rabbi. Und denn haͤtte K. ſeine Apoſtel
nicht ſowohl nath ſeinem weichen Herzen, als
liebe gute Juͤnglinge malen ſollen: ſondern
ihnen mehr mit großen Fehlern auch das
Große goͤttlicher Propheten geben —


Chriſt. Oder ſie wenigſtens als Schwa-
che
malen ſollen, die einſt zu Saͤulen der
Kirche
beſtimmt ſind, und bei denen er we-
nigſtens die Anlage zu ihrer kuͤnftigen Groͤße
im Vorgrunde zeichnen ſollte.


Rabbi. Aber uͤberhaupt! iſt in ſeiner
Evopee zu viel Geruͤſt und zu wenig Ge-
baͤude;
zu viel Rede und zu wenig Hand-
lung.
Wie vieles davon kann man weg-
nehmen, ohne Schaden, ja vielleicht zur
Schoͤnheit des Ganzen. Euer Jeſus wird
entweder uͤber der Menſchheit geſchildert,
oder mit dem vollen weichen Herzen, das
da ſpricht, und duldet, aber zu wenig han-
delt.
Wer ihn nicht zum Voraus aus den
Evangeliſten kennet: wird ihn aus dieſem
Gedicht
[251] Gedicht nicht in ſeiner ganzen Groͤße ken-
nen lernen.


Chriſt. Vielleicht haben Sie noch zu viel
Geſchmack an dem Parenthyrſus in Bildern,
den man Jhrer Nation vorwirft; vielleicht iſt
die Hoheit Jeſu mehr eine ſtille Groͤße!
Nur freilich doͤrfte ſich dieſe mehr im Antlitz,
in Minen und Geſpraͤchen, als in den menſch-
lichen charakteriſtiſchen Handlungen zeigen,
die eben nicht Wunder ſeyn doͤrfen.


Rabbi. Sind nicht ſeine Engel groͤſten-
theils das im Gedichte, was ſie in den Ku-
pfern ſind: weibiſche, zarte, liebe Knaben,
die ſchweben, und umherflattern, ohne recht
in den Kerninhalt des Stuͤcks eingeflochten
zu ſeyn: Maſchinen, die ihr Poetiſcher Schoͤ-
pfer nicht zu brauchen weiß. Wenig von dem
Hohen, was ein E[n]gel hat, wenn er nach
dem A. T. auch nur der Fuͤrſt eines
Elements, der Regent eines Landes,

und der Statthalter Gottes in einem
wichtigen Auftrage
iſt.


Chriſt. Freilich macht K. zwar einen Un-
terſcheid, „zwiſchen einem Gedicht, das aus
„gewiſſen Geſchichten des erſten Bundes ge-
R 4„nom-
[252] „nommen wuͤrde, und einem, ſo das Jnnre
„der Religion naͤher angeht, und zwar einen
„Unterſchied in Abſicht auf die Weltlichkeit,
„wie ers nennet:„ allein dem unbeſchadet
kommt es mir vor, daß er bei dem Jnnern
zu ſehr das Aeußere vergeſſen, und da er ſein
Hauptaugenmerk nur immer auf Moralitaͤt
gerichtet, es mit ſeinen Engeln manchmal
vergißt, was er ſelbſt ſagt: *Ein Engel
„ſoll mehr als ein Jupiter ſeyn, der eben
„gedonnert hat.


Rabbi. Ueberhaupt hat K. das Syſtem
des alten Bundes
bei ſeinen Engeln bei-
nahe ganz veraͤndert, und wirklich zum Scha-
den eines ſinnlichen Gedichts, das ſich dem
Orientaliſchen Geſchmack bequemen ſoll.
Er meint, „man muͤſſe der Religion, nicht
„aber der Schreibart der Offenbarung nach-
„ahmen; es ſei denn die Propheten, ſo
„fern ihre Werke Meiſterſtuͤcke der Bered-
„ſamkeit
ſind.„ Sind ihre Werke Bered-
ſamkeit
ſo ſind ſie gewiß nicht Meiſter-
ſtuͤcke;
als Meiſterſtuͤcken alter Orientali-
ſcher Gedichte haͤtte er ihnen nachahmen ſol-
len,
[253] len, ſonſt iſt ſein Geſichtspunkt ganz ver-
werflich.


Chriſt. Und ſeine Hoͤlle! — Jmmer wird
es mir ſchwer, blos reine Geiſter zu gedenken
(die wenigſtens nicht ſo ſinnlich als wir ſind),
die aus einem innern giftigen Principio des
Neides, gegen einen Gott, den ſie zu ſehr
kennen, und gegen einen Meßias, von dem
ſie zu wenig wiſſen, aus Grundſaͤzzen, ſo
unvernuͤnftig und ohne wahrſcheinlich ge-
machte Triebfedern ſo boshaft handeln wer-
den. Alles, wozu er jetzt die Teufel braucht,
haͤtte er aus der menſchlichen Seele und das
mit mehrerer ſinnlichen Ruͤhrung hervor-
wickeln koͤnnen.


Rabbi. Aber er wird ſie brauchen, um
den Triumph Jeſu uͤber ſie zu zeigen. Aber
um eben dieſen zu zeigen, haͤtte er ſie mehr
ſollen unternehmen laſſen. Zu der Poeti-
ſchen Bosheit, die er ihnen beilegt, gehoͤrt-
auch mehr Klugheit und Sphaͤre zu wirken;
Und die legt ihnen unſer Geſez auch immer
bei. Das waͤre ein Triumph, wenn der
Teufel mehr der Gott dieſer Welt, der
Herr der Elemente, der Gewalthaber
R 5uͤber
[254]uͤber Tod und Ungluͤck waͤre (wie ihn doch
das A. T. und ſelbſt die Meinungen des da-
maligen Zeitpunkts darſtellen), den nachher
Jeſus uͤberwaͤnde.


Chriſt. Hier haͤtte kein Milton vor K.
ſeyn ſollen; ſo waͤre die ganze Hoͤlle nach
andrer Bauart angerichtet; nicht im Anfan-
ge ſo praͤchtig eroͤfnet, um immer Epiſode
zu bleiben; nicht ſo viel Himmel und Ge-
ſandſchaften. K. zeigt gegen den Britten
was ein Philoſoph mit Grunde behauptet:
„Wenn ein Englaͤnder und Deutſcher das
„Erhabne ſchildert; wird jener es furchtbar
„und ſchreckhaft zeichnen; dieſer aber auf die
Pracht verfallen.„


Rabbi. Ueberhaupt haͤtte Klopſtock ſich
mehr nach Nationalmeinungen, dem
Poetiſchen Sinn des A. T. und dem Ge-
ſchmack der damaligen Zeit Muͤhe geben ſol-
len. Befriedigen hat er eure Orthodoxie
doch nicht koͤnnen, und warum hat er ſich
denn nicht einige Schritte weiter von ihr ent-
fernen wollen, der Poeſie wegen. Sagen
Sie mir es, Chriſt! mit einem Worte: „wozu
„leidet K. Meßias?„ mit einem Worte?
Sie
[255] Sie ſind wirklich in Verlegenheit! — Sein
Leiden vor Gott
* iſt mir nicht ſinnlich
begreiflich gnug; und dies iſt doch der Mit-
telpunkt ſeines Gedichts.


Chriſt. Das war freilich auf gut Juͤdiſch!
Aber mein Heterodoxer Rabbi erinnern Sie
ſich an jenes: Ne vltra! — Es mag im-
mer wahr ſeyn, daß K. oft das Erhabene
und Moraliſche auf Koſten des Epiſch
ruͤhrenden treibt; aber das iſt ſchon theils
die Schwaͤche, theils die Mode unſrer Zeit,
[o]der beides zuſammen. Wer kann davor,
daß K. es fuͤr den lezten Endzweck der hoͤ-
hern Poeſie haͤlt, nicht „alle unſre ſinnliche
„Kraͤfte zu bewegen,„ ſondern „die mora-
„liſche Schoͤnheit.„ Sie ſey das wahre
Kennzeichen des Werths von jener.


Rabbi. Ja! des ſittlichen Praktiſchen,
nicht aber des dichteriſchen Werths; ein
Kennzeichen der Guͤte freilich; nicht aber
der Schoͤnheit und der hoͤchſten Schoͤnheit.
Ueberhaupt verdient in vielen Stuͤcken die
Klopſtockiſche Abhandlung von der heiligen
Poeſie
[256] Poeſie gruͤndlich gepruͤft zu werden; und viel-
leicht ſage ich Jhnen ein andermal meine Ge-
danken daruͤber!


Chriſt. Und vielleicht zeige ich Jhnen kuͤnf-
tig den Grundriß, den ich bei dem dritten Le-
ſen des Meßias entworfen. Jezt haben
wir nur immer Abwege oder Luͤcken, Fehler
oder Schwaͤchen gezeigt; mehr kann die Kri-
tik nicht; aber das Genie iſts, was jene
Abwege und Fehler vermeiden, und auch Luͤ-
cken und Schwaͤchen vollfuͤllen muß.


Rabbi. Deſto lieber fuͤr mich, wenn ich
Jhren Embryon vom Plan ſehe! Vielleicht
hat er mit den Fehlern auch die Schoͤnheiten
K. vermieden, unter denen ſeine Fehler ganz
verſchwinden. Nirgends iſt K. groͤßer, als
wenn er, ein Kenner des menſchlichen Geiſtes,
jezt einen Sturm von Gedanken und Empfin-
dungen aus der Tiefe der Seele holt und ihn
bis zum Himmel brauſen laͤßt: wenn er ei-
nen Strudel von Zweifeln, Bekuͤmmerniſſen,
und Aengſten erregt; wie Philo, der verzwei-
felnde Jſcharioth, Petrus und inſonderheit
das große Geſchoͤpf ſeiner Phantaſie Aban-
donna zeigt.


Chriſt.
[257]

Chriſt. Und im Zaͤrtlichen ſieht man K.
immer ſein Herz ſchildern: Benoni, La-
zarus
und Cidli, Maria und Porcia;
Mirjam
und Debora; alles vortrefliche
und liebenswuͤrdige Scenen. Ueberhaupt wuͤr-
de unſer Geſpraͤch, wenn es die Schoͤnheiten
aus einander ſezzen wollte, ſehr ſpaͤt zu Ende
kommen; alles, alles iſt bei K. in Theilen
ſchoͤn ſehr ſchoͤn, nur im Ganzen nicht der
rechte Epiſche Geiſt.


Rabbi. Mir ging es eben ſo! So lange ich
las, hatte ich ſehr ſelten eine Kleinigkeit wi-
der K. Haͤtten Sie mich damals um mein Ur-
theil gefragt; ſo wuͤrde ich ſchwerlich haben
richten koͤnnen, weil ich mich ergoͤzte, weil ich
empfand. Freilich aber kam mir nach[h]er
das Ganze —


Chriſt. Wir vergeſſen aber, daß dies
Ganze nur noch Fragment iſt.


Rabbi. Nun dann! ſo wuͤnſche ih ihm
eine ſolche Vollendung, als der So[h]ar vom
Liede der Lieder ſagt: „an dem T[a]g, da es
„vollendet iſt, iſt die Vollkomm[en]heit und
„Schoͤnheit ſelhſt geboren!„



Von
[258]

Von der Griechiſchen Litteratur
in Deutſchland.



1.
(Wie weit kennen wir die Griechen?)


Die Griechen, die Lieblinge der Minerva,
haben ſowohl in der Kunſt, als in den ſchoͤ-
nen Wiſſenſchaften mit ſolchem Gluͤck gear-
beitet, daß das Jdeal ihrer Werke und die
ſchoͤne Natur ſelbſt, beinahe ein Bild ausma-
chen ſollen. Wie Thucydides die Stadt
Athen, das Muſeum und Prytaneum der
Griechen nannte: ſo iſt aus Griechenland
der Tempel und Hein der ſchoͤnen Natur ge-
worden, aus dem die meiſten Nationen Eu-
rope[n]s, die nicht Barbarn geblieben, Geſezze
und Auſter bekommen haben.


Hier floß der Pieriſche Quell, aus dem
Homer trank, und der Ungeweihten einen
bloßen Shauder einjagt: hier rauſchten die
Thyrſusſtche Dithyrambiſche Begeiſterung in
die Vertra[u]ten des Dionyſius: hier tan-
zen
[259] zen Nymphen und Gratien um ihren Ana-
kreon: Olympiſche Kraͤnze fliegen um die
Scheitel der Sieger, und ihr Laub huͤpfet
nach dem Doriſchen Saitenſpiel Pindars:
hier wetteifern Theokrits Schaͤfer, und
lauſchend entkleidet die ganze Natur ihre
Schoͤnheit: hier tanzen die Choͤre des So-
phokles: hier das Odeum, die Gefilde der
Muſen —


Odi profanum vulgus et arceo
Fauete linguis! Carmina non prius
Audita Muſarum ſacerdos
Virginibus puerisque cantat!
()

Ja ſie ſind der Nachahmung werth, die
Griechen mit ihrem feinen Poetiſchen Sinne:
ſie, deren ſchoͤnes Jdeal ein Abglanz der Na-
tur iſt, wie die Sonne ſich im klaren Bache
ſpiegelt; deren dichteriſcher Grundriß von
der Goͤttin Evnomia gezeichnet, und von
ihrer Tochter, der himmliſchen Gratie, ausge-
malet worden: deren Bilder ſich in den
Glanz der Morgenroͤthe huͤllen: deren Mund
Melodie ſpricht, und deren ſtolzes Ohr Bil-
der ſiehet — ſie ſind der Nachahmung
werth.


Aber
[260]

Aber ehe wir ſie nachahmen, muͤſſen wir
ſie erſt kennen. Wo ſind die Lieblinge der
Muſe, die die Griechiſchen Blumen und Fruͤchte
auf den Boden Deutſchlands zu verpflanzen
ſuchen? Welches ſind die Schutzengel der
Griechiſchen Philologie? — Der unſterbli-
che Geßner: Erneſti: und Klozz: ich will
nur dieſe drei nennen, die viele Verdienſte
haben, die Griechen unter uns bekannter zu
machen; aber meiſtens fuͤr das Große in
Deutſchland, blos durch Ausgaben. Der
erſte iſt Deutſchland leider entriſſen: der-
zweite hat ſich nach den Fußſtapfen des er-
ſtern, den Weg Kritiſcher Genauigkeit ge-
waͤhlt; und arbeitet in andern Bezirken:
der dritte, von dem Deutſchland noch weit
mehr erwartet, als er geliefert hat, iſt ein fei-
ner Kenner der Griechen, ein genauer Kunſt-
richter, er hat Verdienſte durch ſeine Ausga-
ben, und durch ſeine Urtheile; aber wie
gerne wuͤnſchet man mehr eigne Arbeiten
von ihm, uͤber die Griechen.


Wo iſt ein Schuzengel der Griechiſchen Lit-
teratur in Deutſchland, der an der Spizze
von allen, zeige, wie die Griechen von Deut-
ſchen
[261] ſchen zu ſtudiren ſind? Studiren heißt
freilich zuerſt den Wortverſtand erforſchen,
und das ſo gruͤndlich, als es zu folgenden
Stuͤcken gehoͤrt: man ſuche aber auch mit
dem Auge der Philoſophie in ihren Geiſt
zu blicken: mit dem Auge der Aeſthetik die
feinen Schoͤnheiten zu zergliedern, die den
Kritikern ſonſt gemeiniglich nur im Uebermaas
erſcheinen, und denn ſuche man mit dem Au-
ge der Geſchichte Zeit gegen Zeit, Land ge-
gen Land und Genie gegen Genie zu halten.


Diderot erdichtet ſich eine Geſellſchaft
Menſchen, jedweder mit einem Sinn: und
jeder iſt ein Narr des andern: ein Bild deſ-
ſen, ſagt er, was taͤglich in der Welt ge-
ſchieht! — und am meiſten, kann ich dazu
ſezzen, in der Kritiſchen Welt: jeder hat ei-
nen Sinn und urtheilt vom Ganzen. Der
Franzoſe zergliedert hoͤchſtens einige Schoͤn-
heiten fluͤchtig, bildet ſeinen Autor nach dem
Geſchmack ſeines Landes, und glaubt ſich als-
denn ſchon als den beſten Kunſtrichter: den
Wuſt Lateiniſcher Wortkritiken ſieht er fuͤr
Schlamm an, wobei er ſich verekelt. Wie-
derum der Hollaͤndiſche und Deutſche Wort-
Sgelehr-
[262] gelehrte ſieht jenes ſeine Franzoͤſirenden
Anmerkungen fuͤr noch etwas aͤrgers als
Schlamm an; der Franzoſe ſagt: ja, davon
wuchſen Blumen und Fruͤchte! und der Deut-
ſche: das meinige iſt nicht fruchtbar, aber rei-
nigend! Jeder ſchließt nach ſeinem einzigen
Sinn.


Aber warum hat man denn nur einen?
Wie? wenn viele Wortrichter ſchon vorgear-
beitet — wenn die Franzoſen ihre Aeſtheti-
ſche
Bon-Mots nun denn oft genug wieder-
holt, und durchgearbeitet — wenn die Brit-
ten
die hiſtoriſche Seite in Erklaͤrung der
Alten noch mehr werden erleuchtet haben;
wird alsdenn nicht ein Zeitpunkt fuͤr die Phi-
loſophiſchen
Deutſchen kommen, die Vor-
arbeiten aller dieſer zu nuzzen, und ein gan-
zes Philoſophiſches Gemaͤlde uͤber ſie zu
entwerfen? Jene haben ſchon viel vorgear-
beitet; wir auf unſerm Geſchaͤfte, bleiben et-
was nach: und vielleicht doͤrften folgende
drei Bemuͤhungen uns naͤher bringen.


Wie? wenn uns jemand das Geheimniß
der ſchoͤnen Wiſſenſchaften,
ſo aus den
Griechen aufſchloͤſſe, als Baumgarten es
aus
[263] aus den Lateinern zu eroͤfnen anfing, und
Home es aus ſeinen Englaͤndern gethan?
Nicht blos die Veraͤnderung und Neuheit des
Geſichtspunktes wuͤrde der Aeſthetik gewaltig
nuͤzzen: ſondern der Verfaſſer wuͤrde auch,
wenn dies Buch, in welchem die Baumgarten-
ſche Aeſthetik ſehr genuͤzt werden koͤnnte, auf
Akademien zum Grunde laͤge, viel zur Um-
bildung des Geſchmacks beitragen: es wuͤrde
die Lehrbuͤcher verbannen, die die Franzoͤſi-
ſche oder Deutſche Scribenten zu ihren Grund-
faden waͤhlen, durch die ſie Anmerkungen
nach der Mode durchſchlagen: es wuͤrde eine
Liebe zur Philologie einfloͤßen, auf den Grie-
chiſchen Parnaß voͤllig aufzuklimmen, an
deſſen Fuß man ſchon ſo ſchoͤne Blumen fin-
det: es wuͤrde zu einem Philoſophiſchen Ge-
ſchmack gewoͤhnen, der in Leſung der Alten
ſehr nuͤzlich und nothwendig iſt.


Eine zweite hoͤhere Stuffe: wenn ſich Ue-
berſezzer faͤnden, die nicht blos ihren Autor
ſtudirten, um den Sinn der Urſchrift in unſre
Sprache zu uͤbertragen: ſondern auch ſeinen
„unterſcheidenden Ton faͤnden, die ſich in den
„Charakter ſeiner Schreibart ſezzten, und
S 2„uns
[264] „uns die wahren unterſcheidenden Zuͤge, den
„A[u]sdruck und den Farbenton des fremden
„Originals, ſeinen herrſchenden Charakter,
„ſein Genie und die Natur ſeiner Dichtungs-
„art richtig ausdruͤckten.„ * — Dies iſt
freilich ſehr viel; aber fuͤr mein Jdeal eines
Ueberſezzers noch nicht gnug. Die meiſten
Ueberſezzer wollen doch gern ein Wort mitre-
den, in der Vorrede, in Kritiſchen Noten, oder
im Leben ihres Autors, und die meiſten reden
in der Vorrede Complimente, oder von den
Ausgaben ihres Autors: in den Noten aber
oft langweilige Erklaͤrungen, die dem Leſer
keinen guten geſunden Hausverſtand zutrauen;
oder Zaͤnkereien, die ihn noch weit weniger
angehen, oder ein Kram von Philologiſcher
Gelehrſamkeit. Endlich wird das Leben des
Autors dazu uͤberſezzt: und ſo iſt ein Buch
fertig: fuͤr den Ueberſezzer Tagelohn, fuͤr den
Verleger Meßgut, fuͤr den Kaͤufer ein Buch
in ſeine Bibliothek: fuͤr die Litteratur? nichts!
oder Schade! Null oder negative Groͤße.
Aber —


Wenn
[265]

Wenn uns jemand den Vater der Dicht-
kunſt Homer uͤberſezzte: ein ewiges Werk
fuͤr die Deutſche Litteratur, ein ſehr nuͤzli-
ches Werk fuͤr Genies, ein ſchaͤzzbares Werk
fuͤr die Muſe des Alterthums, und unſre
Sprache, ja ſo wie Homer lange Zeit die
Quelle aller goͤttlichen und menſchlichen
Weisheit geweſen, ſo wie er der Mittelpunkt
der Griechiſchen und Roͤmiſchen Litteratur
wurde, auch das groͤſte Original fuͤr die un-
ſere —— alles dies kann eine Homeriſche
Ueberſezzung werden, wenn ſie ſich uͤber Ver-
ſuche
erhebt, gleichſam das ganze Leben ei-
nes Gelehrten
wird, und uns Homer zeigt, wie
er iſt, und was er fuͤr uns ſeyn kann. Wie
ſehr haben uns die Englaͤnder hier ſchon vor-
gearbeitet? Thomas Blackwells Unter-
ſuchung
uͤber das Leben und die Schriſten
Homers
(und leider! iſt dies ſchaͤzzbare
Buch, das in England ſo hoch aufgenommen
ward, kaum halb ins Deutſche uͤberſezzt); eine
Unterſuchung, die ſich den hohen Sazz auf-
gibt: „ welch ein Zuſammenfluß von natuͤrli-
„chen Urſachen konnte den einzigen Homer her-
„vorbringen?„ die dieſen Sazz aus den Ge-
S 3heim-
[266] heimniſſen der Griechiſchen Litteratur und
Geſchichte mit wahrem Kritiſchen Geiſt erklaͤrt,
und zum Homer ein Schluͤſſel iſt — Dieſe
Abhandlung ſollte ſtatt Einleitung ſeyn: eine
Einleitung, die faſt nie ſo nothwendig iſt,
als wenn wir uns dem aͤlteſten, dem goͤttlich-
ſten, dem unuͤberſezzbaren Homer naͤhern.
Nun folgen die wichtigſten Unterſuchungen
der Alten uͤber den Homer: und was er bei
ihnen alles geworden iſt? Was er bei uns
ſeyn kann und ſoll? Wie wir ihn, ohne Miß-
brauch nuzzen muͤſſen, ohne doch jemals Ho-
mere
werden zu koͤnnen?


Dies iſt der Eingang und die Ueberſez-
zung? Beileibe muß ſie nicht verſchoͤnert
ſeyn, wie noch jezt die neue Bitaubéſche
als ein Greuel der Verwuͤſtung daſtehet. Die
Franzoſen, zu ſtolz auf ihren Nationalge-
ſchmack, naͤhern demſelben alles, ſtatt ſich
dem Geſchmack einer andern Zeit zu beque-
men. Homer muß als Beſiegter nach Frank-
reich kommen, ſich nach ihrer Mode kleiden,
um ihr Auge nicht zu aͤrgern: ſich ſeinen ehr-
wuͤrdigen Bart, und alte einfaͤltige Tracht
abnehmen laſſen: Franzoͤſiſche Sitten ſoll er
an
[267] an ſich nehmen, und wo ſeine baͤuriſche Ho-
heit noch hervorblickt, da verlacht man ihn,
als einen Barbaren. — Wir armen Deut-
ſchen
hingegen, noch ohne Publikum beinahe
und ohne Vaterland, noch ohne Tyrannen
eines Nationalgeſchmacks, wollen ihn ſehen,
wie er iſt.


Und die beſte Ueberſezzung kann dies bei
Homer nicht erreichen, wenn nicht Anmer-
kungen und Erlaͤuterungen in hohem Kritiſchen
Geiſt dazu kommen. Wir wollen gern mit
dem Ueberſezzer dieſe Reiſe thun, wenn er
uns nach Griechenland mitnaͤhme, und die
Schaͤzze zeigte, die er ſelbſt gefunden. Als
Leute, die dieſes Reiſens nicht ſehr gewohnt,
zum Theil dran vereckelt ſind, mache er uns
aufmerkſam, fuͤhre uns als Kundſchafter um-
her, die ſich nicht um Schulgeſchichten und
Wortklaubereien, ſondern um das ganze große
Staatsgeheimniß der Griechiſchen Litteratur
bemuͤhen. Man weiß, was Franzoͤſiſche An-
merkungen des Geſchmacks uͤber die Alten
ſind: meiſtens Zergliederungen einzelner, und
oft unweſentlicher Schoͤnheiten, die ihrem
Publikum zur Zerſtreuung, Erholung und Er-
S 4goͤz-
[268] goͤzzung geſchrieben ſind. Man weiß, wie
Schulmaͤnner die Alten erlaͤutern. Man
kennet die Grimmiſchen Noten zum Ana-
kreon;
und die Ebertſchen zu Young; man
kann alſo aus einer Morgenroͤthe auf den voͤl-
ligen Sonnenanbruch ſchließen, wie durch Ho-
mer
ein Publikum koͤnnte gebildet werden,
nach Griechiſchem Geſchmack. Jch wuͤrde
nicht gern Poeſie und Hexameter bei dieſer
Ueberſezzung vermiſſen; aber Hexameter und
Poeſie im Griechiſchen Geſchmack; ſollte es
auch nur Gelegenheit geben, uns immer auf-
merkſam zu machen, wie weit unſre Sprache,
und Poeſie hinten bleibe. — Es iſt viel,
was ich aufgebe, aber durch alles dieſes wer-
den die Schoͤnheiten kaum einigermaaßen er-
ſezt, die im Homer unuͤberſezbar bleiben.


Um dies mehr ins Licht zu ſezzen, fuͤge ich
ein Urtheil des Geſchmacks uͤber Stein-
bruͤchels
Ueberſezzung des Sophokles und
Euripides dazu; ein Urtheil des Ge-
ſchmacks,
ein Urtheil nach der Gramma-
tik * haben ſchon die Litteraturbriefe ge-
faͤllt!
[269] faͤllt! Jch kann ſie nehmlich, um vollſtaͤndig
davon zu urtheilen, jungen Tragiſchen Genies,
Liebhabern der Griechen,
und Deutſchen
Sprachrichtern
in die Haͤnde geben; was
werden dieſe daruͤber urtheilen?


Den Genies, die blos Aetheriſch leſen,
iſt ſie eine ſichere Handleiterin zu einer klaren
Quelle. Sie ſehen den Tragiſchen Geiſt der
Griechen, lernen das Eigenthuͤmliche ihrer
Denkart und ihrer Ruͤhrung: koͤnnen ihre
Einfalt und ihre Zuſammenſezzung, ihre An-
lage und Fortleitung bis zur Erreichung des
Zwecks verfolgen; aber wo wird in ihnen der
Griechiſche Geiſt der Tragoͤdie aus ihren
Patronymiſchen und Mythologiſchen Ge-
ſchichten
entwickelt? und wo iſt dies mehr
noͤthig, als in den Choͤren, die ganz in die
Griechiſche Laune verwebt ſind? Bei allem
Schweizeriſchen Schwulſt hoͤrt ein Genie
wohl die wahre Sprache des Griechiſchen
Kothurns, in ihrer ganzen Schreibart,
und in den Bindungen, die dem Poetiſchen
Ohr im Griechiſchen ſo ſtark toͤnen, als ſie
ſich im Deutſchen in die Proſe verlieren?
Entgeht uns bei den Choͤren nicht das Colorit,
S 5der
[270] der Schwung, der Theatraliſche Tritt, die
Muſikaliſche Harmonie ihrer Originalſprache
voͤllig, von denen ſich noch eins und das
andre durch das Klopſtockſche freie Sylben-
maas haͤtte retten laſſen? Ein Deutſches Ge-
nie verſuche es nach Steinbruͤchel, Tra-
giſche Choͤre nachzubilden, werden ſie wohl
im Griechiſchen Geiſt ſeyn? Jndeſſen gebe
ichs zu, daß St. durch ſeine Ueberſezzung
weit mehr Original iſt, da er Deutſchland
mit den groͤßeſten Tragiſchen Poeten bekannt
macht, als wenn er uns zehn mitleidige
Schweizertragoͤdien nach Griechiſcher Manier
gegeben haͤtte. Von den Griechen hat unſer
Theater noch am wenigſten, oder lieber gar
nichts gelernt.


Die Liebhaber der Griechiſchen Litte-
ratur
legen ihn aus der Hand! Man ſucht
vergebens etwas, das uns das Genie der
Griechen, ihres Theaters, und den Charak-
ter ſeines Autors koſtet, und zu ſchmecken
giebt.


Und die Sprache? iſt freilich in ihrem
Dialekt unangenehm; nicht blos die Schwei-
zerwoͤrter werden unausſtehlich: ſondern [d]as
Colo-
[271] Colorit der Griechiſchen Einfalt ſoll durch
eine uͤbermaͤßige Farbengebung, die oft den
Perioden verzerrt, erſezzt werden: da bleibt
Sophokles gewiß nicht mehr die Syrene
Griechenlands, wie ihn das Orakel nannte.
— Aber die Kuͤhnheit des Ueberſezzers ver-
dient Aufmunterung, „die Griechiſche Wort-
„fuͤgungen unſrer Sprache anpaßt;„ nur
muß ſie keine blinde Nachfolger haben, die
ein Exempel ſogleich zur erlaubten Gewohn-
heit machen; und gerechte Richter muͤſſen
ſeyn, die das Claßiſche Anſehen ſolcher Ver-
ſuche beurtheilen.


St. fahre alſo in ſeinen Bemuͤhungen fort,
und laſſe ſich die Kritiken blos zur Huͤlfe dienen.
Auch Pindar — ein fuͤr die Deutſchen ſo
verſchloßnes Buch, der den Griechiſchen Na-
tionalgeiſt ſo ſehr in ſeiner Staͤrke zeigt, und
fuͤr unſre Doriſche Sprache und Genies bildend
gnug ſeyn koͤnnte — auch Pindar* muntre
ihn auf, ein großer Ueberſezzer, aber auch
zugleich
[272] zugleich im Griechiſchen Verſtande, ein Doll-
metſcher deſſelben zu werden. In tantis vo-
luiſſe, laboraſſe, ſudaſſe, ſat eſt.
Ruͤhmlich
kuͤhn iſt die Muſe,


Pindaricae fontis, quae non expalluit hauſtus. ()

Statt daß ich jetzt ein Verzeichniß hin-
ſezzen ſollte: „welche Griechen und aus wel-
„chen Gruͤnden ſie zu uͤberſezzen waͤren„ will
ich lieber die Ueberſezzung des Tyrtaͤus,*
und noch mehr Daphnis und Chloe aus
dem Longus mit dem verdienten Lobe nen-
nen. Auch mir thut es Leid, „daß die un-
„genannten Ueberſezzer nicht darauf gefallen
„ſind, den Griechiſchen Text beidrucken zu
„laſſen. Man ſollte wirklich alle Gelegen-
„heit ergreifen, bei unſrer Nation, die faſt
„verloſchene Liebe zur Griechiſchen Sprache,
„deren Schriftſteller die reinſten Quellen des
„Geſchmacks ſind, in etwas wieder anzu-
„fachen. Wie ruͤhmlich waͤre es auf alle
„Art, wenn wir die Engliſche Nation lieber
„in dem Studio der Griechiſchen Sprache,
„als
[273] „als in gewiſſen andern Dingen nachahmen
„wollten.„*


Wo iſt aber noch ein Deutſcher Winkel-
mann,
der uns den Tempel der Griechiſchen
Weisheit und Dichtkunſt ſo eroͤfne, als er den
Kuͤnſtlern das Geheimniß der Griechen von
ferne gezeigt? Ein Winkelmann in Ab-
ſicht auf die Kunſt konnte blos in Rom auf-
bluͤhen; aber ein Winkelmann in Abſicht
der Dichter kann in Deutſchland auch her-
vortreten, mit ſeinem Roͤmiſchen Vorgaͤnger
einen großen Weg zuſammen thun.


Dieſe Geſchichte der Griechiſchen Dicht-
kunſt und Weisheit, zwei Schweſtern, die
nie bei ihnen getrennt geweſen, ſoll den Ur-
ſprung, das Wachsthum, die Veraͤnderun-
gen und den Fall derſelben nebſt dem ver-
ſchiedenen Stil der Gegenden, Zeiten und
Dichter lehren, und dieſes aus den uͤbrig
gebliebnen Werken des Alterthums durch
Proben und Zeugniſſe beweiſen. Sie ſei
keine bloße Erzaͤhlung der Zeitfolge, und
der Veraͤnderungen in derſelben, ſondern
das Wort Geſchichte behalte ſeine weitere
Grie-
[274] Griechiſche Bedeutung, um einen Verſuch
eines Lehrgebaͤudes liefern zu wollen. Man
unterſuche nach ihrem Weſen die Dichtkunſt
der Griechen: ihren Unterſchied von den uͤbri-
gen Voͤlkern: und die Gruͤnde ihres Vorzugs
in Griechenland: hier wuͤrde ſich ein Ocean
von Betrachtungen darbieten, wie fern ihr
Himmel, ihre Verfaſſung, Freiheit, Leiden-
ſchaften, Regierungs- Denk - und Lebensart,
die Achtung ihrer Dichter und Weiſen, die
Anwendung, das verſchiedne Alter, ihre
Religion und ihre Muſik, ihre Kunſt, ihre
Sprache, Spiele und Taͤnze u. ſ. w. ſie zu
der hohen Stuffe erhoben haben, auf der
wir ſie bewundern. Man zeige uns das
wahre Jdeal der Griechen in jeder ihrer
Dichtarten zur Nachbildung, und ihre Jn-
dividuelle, National - und Localſchoͤnheiten,
um uns von ſolchen Nachahmungen zu ent-
woͤhnen, und uns zur Nachahmung unſrer
ſelbſt aufzumuntern. Der Ausdruck, die
Proportion, das Aeußere ihrer Werke werde
erklaͤrt, und mit unſerm Stil verglichen.
Alsdenn von den verſchiednen Zeiten der
Griechiſchen Poeſie; wiederum mit einer
Prag-
[275] Pragmatiſchen Anwendung auf unſre Zeit:
wie die Roͤmer von den Griechen gelernt ha-
ben, und wie wir von ihnen lernen ſollen. —
Ein Ocean von Betrachtungen, in den ſich
blos ein Kenner der Alten, ein Weltweiſer,
ein Geſchmackvoller Kunſtrichter, und ich
moͤchte beinahe ſagen, ſelbſt ein Dichter wa-
gen kann: ein Ocean, aus dem die meiſte
unſrer Weiſen nur Tropfen koſten; an dem
die meiſten Dichter nur ſo trinken, als die
zum Siege beſtimmte Streiter Gileads; und
die Kunſtrichter? — bringen dem Goͤtzen
ihres Aeons mit demuͤthigem Stolze eine
Handvoll Waſſer aus demſelben dar, wie je-
ner Bettler dem Perſiſchen Monarchen.


Ein Werk von dieſer Art muß die Grie-
chen unter uns bekannter machen, die wir ſo
wenig kennen; es muß den Quell des guten
Geſchmacks oͤfnen, und uns von elenden
Nachahmern der Griechen befreyen: den gan-
zen Knoten muß es entwickeln, wie weit ka-
men ſie? und warum ſo weit? — wie weit
ſind wir ihnen nach? wie viel weiter koͤnnen
und ſollen wir? — was werden wir nie er-
reichen? und warum nicht? —


Zufolge
[276]

Zufolge der Bemerkungen der Litteratur-
briefe uͤber das Jdeal,* und die vollkom-
menen Dramatiſchen und Epiſchen Charaktere,
(Bemerkungen, die ich ſehr ſchaͤzze) hatte ich
hier eine Abhandlung uͤber das Jdeal der
Griechen in jeder Dichtart
eingeruͤckt,
und mit dem Jdeal unſrer ausgearteten Zeit
verglichen: bei der zweiten Umarbeitung mei-
ner Fragmente vermehrte ich ſie; allein bei
der dritten — ließ ich ſie aus, weil ſie mir
noch ſelbſt auf Seiten der Griechen zu wenig
gnug that, und auf Seiten unſrer, nothwen-
dig hie und da frei werden muſte. Jch fahre
alſo lieber im Ton meiner Fragmente fort und
frage:



2.
(Wie weit haben wir ſie nachgebildet?)


Wie weit ſind wir denn im Nachbilden der
Griechen? Vielleicht haben einige Deutſche
Genies
[277] Genies in der Stille blos unter dem Angeſicht
ihrer Muſe die Alten ſtudirt, vielleicht in der
Stille ihnen Werke nachgebildet, die fuͤr uns
Griechiſche Schoͤnheiten enthalten. Viel-
leicht* iſt Bodmer unſer Homer, Gleim
unſer Anakreon, Geßner unſer Theokrit,
der Grenadier unſer Tyrtaͤus, Gerſtenberg
ein Alciphron, Karſchin unſre Sappho,
der Dithyrambenſaͤnger unſer Pindar! Se-
het da! ein glaͤnzendes Siebengeſtirn, viel-
leicht vortreflicher, als jenes am Hofe des
Philadelphus.**


Bodmer und Homer! Nein ich wage
es nicht, uͤber zwei ſo ehrwuͤrdige Greiſe zu
urtheilen; Noah mag heiliger ſeyn, er mag
moraliſcher ſeyn; ich finde doch nicht Antrieb,
ihn in irgend etwas mit Homer zu vergleichen;
und zum Gluͤck beſinne ich mich, daß er aͤlter
ſey, als der Zeitpunkt, uͤber den ich ſchreibe.


Aber Homer und Klopſtock! Wo hat
K. ein Homer ſeyn wollen? Nach ſeiner
Abhandlung von der heiligen Poeſie, ſcheint
er
T
[278] er mehr vom Virgil zu machen, und iſt
auch eher Virgilianiſch als Homeriſch.
Vielleicht beſingt er, als ein heiliger Virgil,
die Gegenſtaͤnde des Orients; und vielleicht
reizt eben dieſes Virgilianſche mehr, als das
Seltene in ſeinem Gedichte. — Aber Ho-
mer? Ja! wenn ich Klopſtocks Jnhalt der
Geſaͤnge laͤſe; ſo denke ich (wer wird dies
nicht fuͤr wunderlich halten) bei den Summa-
rien denke ich noch an den Rhapſodiſten; aber
bei dem Gedichte ſelbſt nicht mehr. Der
große Reichthum von Worten, von ſchoͤnem
Ausdruck, von Malereien auf der Oberflaͤche;
von ausgefuͤhrten Gleichniſſen, reißt mich
fort, daß ich nicht Auffodrung gnug habe,
jenen Griechiſchen Saͤnger in ihm zu ſuchen,
der arm an Worten und reich an Handlung
war; der jede Schoͤnheit ſeiner Bildung tief
eindruͤckt, und ſeine Jdeen nicht malt, ſon-
dern mit lebendigen Koͤrpern umhuͤllet, die
von Morgenroͤthe ſtralen. Vielleicht iſt es
fuͤr K. die groͤſte Ehre, wie ich deßhalb an
das Zeugniß eines Franzoſen mich erinnere,
gar kein Homeriſches Bild gebraucht zu ha-
ben: vielleicht iſt es unſrer geiſtigern Zeit
gemaͤßer,
[279] gemaͤßer, daß er ſeine Bilder, gleichſam un-
ſichtbar in die Seele malet, ſo wie die ſinn-
lichen Griechen ſich an ihrem ſinnlichen Ho-
mer ergoͤtzten; vielleicht uͤbertrift das Mo-
raliſche
im K. alles ſchoͤne Sinnliche im
Homer; ja vielleicht iſt ſein großes Talent,
die Seele zu ſchildern, mehr werth, als alles
im alten Griechen — alles dieſes vielleicht
ſey meinethalben gewiß; eine ſo nuͤzliche Un-
terſuchung mag eine Poetiſche Bibliothek
zur Chre der Deutſchen
anſtellen.*


Jch ſchweife hier lieber auf den Macht-
ſpruch eines Kunſtrichters aus: „Homer ward
„eben ſo wenig von allen Griechen verſtanden,
„als K. von allen Deutſchen!** Die wahren
„Kenner der Dichtkunſt ſind zu allen Zeiten in
„allen Laͤndern eben ſo rar, als die Dicht[er]
„ſelbſt geweſen! So iſt es wirklich!„ Ohn-
geachtet dieſes Wirklich hier als ein Amen
ſtehet; ſo will ich doch eben nicht im zweiten
Chor antworten: Amen! ſondern etwas
ausnehmen.


Daß alle Griechen den Homer verſtanden,
wer wird dies behaupten, der jemals die Grie-
T 2chen
[280] chen auch nur von ferne geſehen? der da weiß,
daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte
ſich merklich veraͤndert, und der die Zeit des
Homers kennt, wo die Griechiſchen Staa-
ten ſich erſt zu bilden anſiengen, und alſo
nothwendig mehr und wichtigere Veraͤnde-
rungen in der Sprache erfuhren, als wir in
einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen
Staat. Man muß alſo nothwendig eine Zeit
feſtſezzen, wenn wurde der Homer ſo und ſo
wenig verſtanden? Wie er ſang? Nun! da
ſang er als αοιδος, und nothwendig alſo, wenn
es damals καλους κ’αγαϑους gab, die gute
huͤbſche Leute
bedeuteten, dieſen verſtaͤndlich.
Jſt das Leben Homers wahr, das man dem
Herodot zuſchreibt: ſo zog er umher; fand
in einigen Staͤdten Beifall auf den Maͤrkten,
und Ehre in den Staaten: ſeine Sprache
war goͤttlich, neu; aber im Ganzen verſtaͤnd-
lich; weil damals noch nicht ein Unterſchied
zwiſchen der Sprache der Weiſen und des
Volks, zwiſchen der Denkart der Vornehmen
und Geringen war; was Homer ſang, war
die Sprache der Goͤtter und zugleich eine ver-
edelte Sprache des Poͤbels. Nur in einigen
Republi-
[281] Republiken, wo die Mundart ſchon mehr Po-
litiſch geworden war, da war ſeine Sprache
fremde, ungewoͤhnlich, und in Athen, wo
er nachher ſo viel galt, koſtete ihm ſeine Ra-
ſerei 50 Drachmen. Jn dieſer Poetiſchen
Zeit betrachtet, mo̊chte alſo das eben ſo we-
nig,
das der Kunſtrichter behauptet, nicht ge-
nau eintreffen: damals war ſeine Sprache
eben die Sprache des Volks, die Kenner der
Dichtkunſt waren haͤufiger, und die Dichter
ſelbſt — wer die Dichterei der alten ραψω-
δων und αοιδων kennet, wird ihre Dichtkunſt
unmoͤglich mit der unſrigen vergleichen.


Meint aber der Kunſtrichter, die Zeit, da
Homer geleſen wurde: ſo trift es eben ſo we-
nig ein. Die Glieder des Dichters wurden
erſt in der 61. Olympiade geſamlet, da er doch
nach der gemeinſten Rechnung immer vor den
Olympiaden gelebt hat. Hier muß man nun
ausmachen, wer waren die alle, die den Ho-
mer verſtehen ſollten? Jch nehme eine mitle-
re Groͤße an: laß es gute huͤbſche Leute ge-
weſen ſeyn (καλοι κ’αγαϑοι)! Nun! weiß
ja aber, wer im Plato auch nur bis in die
Mitte ſeines erſten Geſpraͤchs gekommen, daß
T 3Hip-
[282]Hipparchus, der Sohn des Piſiſtratus, u[n]-
ter vielen andern Proben der Wetsheit, auch
des Homers Buͤcher zuerſt nach Athen ge-
bracht, und die Rhapſodiſten angetrleben, ſie
bei den oͤffentlichen Spielen zu leſen; eine Ge-
wohnheit, die bis an Platons Zeiten relchte.
Wo ſind nun die Panathenaͤa, wo unſer Ho-
mer unſerm Volk vorgeleſen und erklaͤret
wird? — Jch ſage: erklaͤrt ward: benn
dies zeigt Platons ganzes Geſpraͤch: Jo —
eine Unterredung, deren Name ſchon gnug iſt,
daß jeder, der ſie geleſen, das vorige eben ſo
wenig
einſchraͤnken wird. Mit welchem
Enthuſiaſmus ſprach Jo, im Namen aller
Rhapſodiſten vom Homer? Konnte er ihn
nicht bis auf ein Wort auswendig? War es
nicht alle ſeine Arbeit, ſein ganzer Lebenslauf
vor dem Tode, und auf dem Leichenſteine, die-
ſer hat den Homer auswendig gewuſt, am
beſten deklamiren, am gruͤndlichſten erklaͤren
koͤnnen! Was richtete nicht ſeine Rhapſodie
bei dem Volke aus? — Und das alles, oh-
ne Homer mehr zu verſtehen, als unſer Volk
den Klopſtock? Jch glaube, die Parallelli-
[n]ien neigen ſich von einander; und ſie ent-
fernen
[283] fernen ſich merklicher. Daß Homer in den
Schulen bei den Griechen geleſen wurde: ſagt
Xenophon, — doch nein! hier ftoße ich auf ei-
ne Stelle, die vielleicht zwiſchen Wieland und
Fll. Gelegenheit zum Streit uͤber καλος κ’α-
γαϑος gegeben; ich ſezze alſo lieber das Zeug-
niß eines Griechiſchen Rammlers hin, des
ſorgfaͤltigen Jſokrates: οιμαι δε και την
Ομηρȣ ποι03B7;σιν μειζω λαϐειν δοξαν, οτι
καλως τους πολεμησαντας τοις ϐαρϐαροις
ενεκωμιασε. Και δια τουτο ϐουληϑηναι τους
προγονους ημων εντιμον αυτου ποιησαι την
τεχνην, εντε τοις της μουσικης αϑλοις, και
τη παιδευσει των νεωτερων. Ινα πολλα-
κις ακουοντες των επων εκμανϑανωμεν την
εχϑραν την προς αυτους υπαρχουσαν. *


Wo wird nun in unſern Schulen unſer
Homer in dieſent Zwecke geleſen? Das Ge-
ſchichtchen vom alten Homer weiß ein Kna-
be wohl aus ſeinen hiſtoriis ſelectis, daß
Alcibiades jenem Schulmeiſter eine Ohrfei-
ge gab, der nicht den Homer in der Schu-
le hatte: Dummkopf, ſagte er, auch deine
T 4Schuͤ-
[284] Schuͤler willſt du zu Dummkoͤpfen machen?*
Dies Geſchichtchen, hat nun wohl eln Knabe
geleſen, aber Deutſche Homere? Viel eher, ſa-
ge ich, in der Angſt, den Griechiſchen ſelbſt.
Und noch weniger gilt der Einwurf, den der
Kunſtrichter wider die Bekanntſchaft Homers
aus dem Xenophon macht, und wie ich faſt
dazuſezzen kann, Myopiſch macht. Man warf
dem Sokrates vor: er habe Stellen aus dem
Homer angefuͤhrt, nicht die an ſich gefaͤhr-
liche Lehren enthielten, ſondern die er in ei-
nem fuͤr den damaligen Athenienſiſchen Staat
gefaͤhrlichen Zweck angefuͤhrt. Nicht, als haͤtte
ihn Sokrates Grammatiſch oder Poetiſch miß-
gedeutet; ſondern Politiſch uͤbel angewendet.
Daß ich nicht nach meinem lieben Eigenſinn
deute; ſondern daß es Xenophon ſelbſt ſagt,
zeigen ſeine Worte augenſcheinlich: „Sokra-
„tes,
ſo ſagte ſein Anklaͤger, pflegt auch oft
Homers Gedichte anzufuͤhren: daß z. E.
„Ulyſſes den Vornehmern mit freundlichen
„Worten zugeſprochen, wenn ſich aber ein
„Geringerer unnuͤtz machte: ſo ſchlug er ihn
„mit ſeinem Scepter und befahl ihm ruhig
„zu
[285] „zu ſeyn. Dies hat er ſo ausgelegt, als
„wollte der Poet, man ſollte die Geringern blos
„mit Schlaͤgen ziehen; allein ſezt Xenophon
„dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet:
„ſondern ꝛc.„* Und was folgt hieraus?
Daß Homer Lehren wider den Staat enthiel-
te? Gar nicht! ſondern daß Sokrates ſeine
Lehren wider den Staat aus einem bei dem
Volk ſo viel geltenden Dichter zu beſtaͤtigen
ſuche? Sagt der Anklaͤger, daß Homer die
geringern und aͤrmern Leute zu ſchlagen ra-
the? Nicht! ſondern Homer mache dieſes
den geringern und armen Leuten glaubend!


Dieſen geringern und aͤrmern Leuten
konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend
machen, und Melitus muſte als ein Vereh-
rer des Homers eben dagegen am meiſten
eifern, daß Sokrates, ſeine Lieblinge, die
Dichter ſo mißbrauchte. Die aufgebrachten
Richter verurtheilten, ohne daß ſie im Homer
nachſahen, ob dies der wahre Verſtand ſey
(das that hier ja nichts zur Sache); ſondern
weil er den Staat ſtoͤrte: wenn ſie auch Leu-
te geweſen waͤren, mit denen man in der Ju-
T 5gend
[286] gend den Homer geleſen, ſo betraf es ja hier
keine Moraliſche Lehre, und noch weniger
Poetiſche Schoͤnheit; ſondern eine Politiſche
Situation. Und ich kann noch weiter gehen,
wenn ich den fruchtbaren Folgerungen, die
diefer Fll. bei ſeinen Kritiſchen Streitigkeiten
ſonſt reichlich bewieſen hat, nachahme: eben
weil die Richter den Lieblingsdichter ihrer
Jugend in Sokrates Munde ſo gemißhandelt
ſahen; eben weil ſie viel von dem Anſehen
eines Poeten zu befuͤrchten hatten, den jeder
fuͤr goͤttlich hielt, den die καλοι κ’αγαϑοι
auswendig wuſten — ſo nahmen ſie die Sa-
che ſo ernſthaft.


Ueberhaupt zeigt dieſer ganze Proreß, daß
wir keinen Homer mehr haben koͤnnen,
dem die Ehrennamen: Vater der Weis-
heit, der Tapferkeit, der Dichtkunſt,
im
hohen Griechiſchen Sinne zukommen koͤnn-
ten; keinen Homer, der fuͤr uns ſo ein Ori-
ginal nach Sprache, Sitten, Geſchichte, Fa-
beln und Melodie ſeyn kann, als es jener fuͤr
die Griechen war: jene liebten Heldenerzaͤh-
lungen von ihren Vorfahren aus einer alten
Sage: Mythologien von Goͤttern, die ihre
Vaͤter,
[287] Vaͤter, die Haͤupter ihrer Familien, die Stif-
ter ihrer Staaten, und die Ueberwinder ih-
rer Erbfeinde waren — Unſere Leſer der
Deutſchen Homere gehen vermuthlich in Bein-
kleidern oder langen Roͤcken nach Franzoͤſi-
ſchem Schnitt: ſie leſen ſtatt Mythologien
Gellertſche Fabeln, und ſtatt Hexameter und
Rhapſodien ſingen ſie Kirchenlieder. Nach
der Bekanntſchaft und Bildung des Geſchmacks
iſt entweder Gellert unſer Homer; oder
er ſoll noch geboren werden. Denen, die
daruͤber ſtaunen, wie Gellert und Homer
zuſammen kommt, ſchreibe ich eine Stelle
ab, die richtig gnug iſt: *


„Fuͤr ganz Deutſchland iſt es ohne Wider-
„ſpruch Gellert, deſſen Fabeln wirklich dem
„Geſchmack der ganzen Nation eine neue
„Huͤlfe gegeben haben. (Fragt die erſte, die
„beſte Landpredigertochter nach Gellerts Fa-
„beln? die kennt ſie — nach den Werken andrer
„unſrer beruͤhmten Dichter? kein Wort.) —
„Nach und nach haben ſie ſich in die Haͤuſer
„eingeſchlichen. Dadurch iſt das Gute in
„der Dichtkunſt in Exempeln und nicht in Re-
„geln
[288] „geln bekannt, und das Schlechte veraͤchtlich
„gemacht worden. Denn der Geiſt und der
„Geſchmack einer Nation ſind nicht unter
„ihren Gelehrten und Leuten von vornehmer
„Erziehung zu ſuchen. Dieſe beiden Ge-
„ſchlechter gehoͤren gleichſam keinem Lande
„eigen. Aber unter dem Theile der Nation lie-
„gen ſie, der von fremden Sitten und Gebraͤu-
„chen und Kenntniſſen noch nichts zur Nach-
„ahmung ſich bekannt gemacht hat.„ Das
iſt nun Gellert in Abſicht des Geſchmacks —
aber was war Homer in Abſicht der Religion,
der Kuͤnſtler, der Dichter, der Redner,
der Weiſen, der Sprache, der Sitten,
der Erziehung, fuͤr die καλους κ’αγαϑους
der Griechen?


Dies boͤſe Griechiſche Wort verfolgt mich,
ſo ſehr ich vor ihm fliehe, und mein Knoten
iſt nicht eher aufgeloͤſet, bis es beſtimmt iſt.
Denn ſo fragt der Kunſtrichter:* „Jſt es wahr,
„daß die alten Griechen ihre Jugend aus
„dem Homer Weisheit lehrten? Und wurde
„Homer auch nur von allen denen verſtan-
„den, welchen das Beiwort καλοι κ’αγαϑοι
„zukam?
[289] „zukam?„ — Seine Frage iſt ſo viel als
Nein! meine Antwort aber Ja! Aemilius
Scaurus
leugnet; Valerius bejahet; wem
von beiden glaubt ihr Roͤmer?


Auſſer dem, was ich ſchon angefuͤhrt,
kann ich mein erſtes Ja mit folgender Stelle
aus Xenophons Schmauſe guͤltig machen:
„Mein Vater, ſagt Niceratus, der mich
„zum tuͤchtigen redlichen Mann (αγαϑος)
„machen wollte, hielt mich an, alle Gedichte
„Homers auswendig zu lernen, ſo daß ich
„noch jetzt die ganze Jliade und Odyſſee her-
„ſagen kann.„ — Hier war ein guter huͤbſcher
Mann, der ſeinen Sohn auch dazu machen
wollte, und ließ ihn alſo Homer lernen: ſo
wurde alſo Homer mit der Jugend getrieben:
ſo wurde er gewiß von denen verſtanden, die
gute huͤbſche Leute waren, denn ſie waren
durch ihn dazu gebildet.


Aber heißt καλος κ’αγαϑος ein guter
huͤbſcher Mann, oder iſt es ein Schweizer-
Virtuoſe? Beide Partheien koͤnnen Recht
behalten, wenn ſie ſich anhoͤren wollen, und
wenn ſie Staub unter die Augen ſtreuen,*
hat
[290] hat es vielleicht keiner von beiden. Mehr als
ein guter huͤbſcher Mann, und weit weniger als
ein Shaftsburiſcher Virtuoſo, nach dem ho-
hen Geſchmack unſrer Zeit. Jch erinnere
mich die Abhandlung eines Grammatikers
uͤber dies Wort geſehen zu haben; und weil
ich nicht gern thun mag, was ein andrer vor
mir gethan, ſo will ich nicht ein Regiſter von
den Stellen machen, wo dies Wort vor-
kommt. Jch ſchreibe aus dem Gedaͤchtniß.


Jn jeder Sprache muͤſſen ſich alle Woͤrter
veraͤndern, die den eigentlichen Charakter des
Zeitalters ausdruͤcken, und eben dies duͤnkt
mich von καλος κ’αγαϑος. Jn den aͤlteſten
Griechen erinnere ich mich nicht, es geleſen
zu haben: es iſt ein Wort aus dem Zeitalter
der ſchoͤnen Proſe und der feinen Politiſchen
Sitten. Jn den Zeiten, da αρετη, Tugend,
noch allein Tapferkeit des Koͤrpers und Gei-
ſtes bedeutete: galt blos ein braver Mann
αγαϑος. So wiſſen im Homer die Helden
kein beſſer Wort ihrer Wuͤrde, als wenn ſein
Agamemnon oft gnug ſagt: αγαϑος γαρ ει-
μι. So wenig hier das αγαϑος eine Mo-
raliſche Guͤte
bedeutet, zu einer Zeit, wo
Tapfer-
[291] Tapferkeit uͤber alles galt: ſo wenig litte die-
ſes Zeitalter καλους κ’αγαϑους im feinen Ver-
ſtande des Shaftesbury. Auch das Wort
καλος hat dieſen Urſprung gehabt: und wur-
de von den ανδρασιν αγαϑοις geſagt, die
in der Schlacht ευ und καλως (tapfer) ſtrit-
ten: Aber mit der Zeit verfeinerte ſich der
Geiſt der Sitten: das Wort αρετη hieß
Brauchbarkeit: das Wort αγαϑος und κα-
λος hieß ein tuͤchtiger Mann in Geſchaͤften,
und ſelbſt der Ehrenname ανηρ verlor etwas
von ſeiner Mannheit. Weil in der damali-
gen Zeit die Weisheit auch noch allein eine
Dienerin des Staats war: ſo uͤbernahmen
es ſich alſo die Weiſen, ſolche brauchbare Maͤn-
ner zu bilden, die redliche Menſchen und
tuͤchtige Buͤrger waren: ſo fraͤgt Xeno-
phon
den Sokrates im Diogenes Laer-
tius:
ſage mir, wie kann man ein καλος
κ’αγαϑος werden? und dieſer fuͤhrt ihn in
ſeinen Unterricht. So ſagt Nicerat in der
angefuͤhrten Stelle: mein Vater, der mich
zum tuͤchtigen Mann (αγαϑος) machen
wollte; ließ mich den Homer lernen. So
trugen es die Athenienſer, die vorzuͤglich nach
dieſer
[292] dieſer Politiſchen Cultur ſtrebten, beſtaͤndig im
Munde (καλος κ’αγαϑος); und es war bei ih-
nen, wie ein Scholiaſt ſagt: ſumma omnis
laudationis!
Und alſo gewiß nothwendig
mehr, als ein guter huͤbſcher Mann bei uns.


Der Recenſent will auch nur einen einzigen
Beweis, daß καλος κ’αγαϑος etwas mehr
als dies bedeute? Wohl! es ſei eben die
Stelle, * in der er nichts als den guten huͤbſchen
Mann finden will; Schade, daß ich mehr dar-
inn finde, und eben die Beſchreibung des κα-
λου κ’αγαϑου. Sokrates fraͤgt den jungen
Theages im Plato: τι ουν; ουκ εδιδαξατο
σε ο πατηρ και επαιδευσεν απερενϑαδε οι
αλλοι παιδευονται, οι των καλων κᾳγα-
ϑων πατερων υιεες; οιον γραμματα τε,
και κιϑαριζειν, και παλαιειν, και την αλ-
λην αγωνιαν; Koͤnnen hier καλοι κᾳγαϑοι
fuͤglich gute huͤbſche Leute bedeuten, wie
wir dies Wort brauchen? Nein! ſie ließen
ihre Soͤhne, um ſie auch zu καλοις κᾳγα-
ϑοις zu machen, Wiſſenſchaften (nicht blos
das A B C leſen und ſchreiben), die Muſik,
die nach der Griechiſchen Denkart weit mehr
ſchoͤ-
[293] ſchoͤne Kunſt, als bei uns, und von der Dicht-
kunſt unzertrennlich war: und ſchoͤne Leibes-
uͤbungen erlernen. Wer alſo ſeinen Verſtand,
ſeinen ſchoͤnen Geſchmack und ſeinen Koͤr-
per
ausgebildet hatte: der war ein Attiſcher
καλοκᾳγαϑος: er war weder ein Weiſer,
noch Dichter, noch Fechter; aber Anlage
hatte er, Weiſer, Dichter und Olympiſcher
Sieger zu werden. Wer einen Griechiſchen
καλος κ’αγαϑος in ſeinem ganzen Glanze
ſehen will: der leſe, obgleich nicht das Wort
ſelbſt als Ueberſchrift druͤber ſtehet, einige
Pindariſche Oden auf ſeine Griechiſche Juͤng-
linge, die doch mehr als gute huͤbſche Jun-
gens waren.


Aber freilich auch nicht Virtuoſen im Wie-
landiſchen hohen Guſto! oder lieber gleich im
Geſchmack des Shaftersbury: dem Wie-
land nicht blos den Begrif des Virtuoſen, ſon-
dern auch die Analogie mit καλος κ’αγαϑος
abborgt. Dieſer Weltweiſe, der den Plato-
nismus nach dem Modegeſchmack ſeiner Zeit
einkleidet, und endlich auch in Griechenland die-
ſen Lieblingsgeſchmack findet, beſtimmt ſeine
UVir-
[294] Virtuoſen ſo: *the real fine Gentlemen, the
Lovers of Art and Ingenuity; ſuch as
have ſeen the World, and informed them-
ſelves of the Manners and Cuſtoms of
the ſeveral Nations of Europe, ſearch’d in-
to their Antiquitys and Records; conſider’d
their Police, Laws and Conſtitutions, ob-
ſerv’d the Situation, Strength and Orna-
ments of their Citys, their principal Arts,
Studys and Amuſements; their Architectu-
re, Sculpture, Painting, Muſick, and their
Faſte in Poetry, Learning, Language and
Converſation.
Mit dieſem Begriffe ver-
gleicht er nachher das honeſtum, pulcrum,
καλον der Alten, und philoſophirt in ſeiner
liebenswuͤrdigen Laune Seiten fort. — Ob
es nun gleich in Athen freilich auch ein Zeit-
alter gab, da die Liebhaberei der Kuͤnſte, der
Geſchmack an Dichtkunſt, und den ſchoͤnen
Wiſſenſchaften, der feine Ton im Umgange, und
der Urtheilsgeiſt uͤber Policey und Alterthů-
mer, die herrſchende Mode war: ſo kann
ich mich doch nie uͤberreden, daß die καλο [...]
κ’αγαϑοι in dem weiten Verſtande des Shaf-
tesbury
[295] tesbury damals gebluͤhet. Es ſcheint viel-
mehr dieſer Philoſoph ſich ſelbſt zu malen,
und den Geſchmack, der damals am Hofe
Carls des zweiten galt, bis zu einem gewiſſen
Jdeal zu erhoͤhen und verfeinern, das immer
in den neuen Zeiten ein Muſter eines brauch-
baren, geſchickten, angenehmen Mannes ſeyn
kann, aber den Begrif des Griechiſchen Worts
immer umbilden muß, ſelbſt wie es Plutarch
und die neuern Griechen brauchen. Shaf-
tesbury
fodert zu ſeinem Virtuoſen, wenn
er in Griechenland exſiſtirte, freilich das
Leſen des Homers, und das zwar als das er-
ſte A B C; aber ein Moraliſches Leſen des
Homers? Ein Him melweiter Unterſchied!


Wozu aber ſo viel uͤber ein Wort? Ueber
ein Wort, das immer der Ausdruck ihres
Charakters, und der Gipfel ihrer Lobſpruͤche
war, kann man nie zu viel ſagen: die Er-
klårung ſolcher Woͤrter ſchließt uns Denkart
und Policey, Laune und Sitten, kurz das Na-
tionalgeheimniß auf, ohne das wir immer
von einem Volke, ſchief urtheilen, ſchief lernen,
und unleidlich nachahmen. Jch wuͤrde es
als einen Beitrag zur Griechiſchen und Roͤ-
U 2miſchen
[296] miſchen Geſchichte der Litteratur einem Mann
von Philologie, Geſchichtkaͤnntniß und Ge-
ſchmack empfehlen, der Metamorphoſe genau
nachzuſpuͤren, die im Griechiſchen die Worte:
ανηρ, ανϑρωπος, αγαϑος, καλος, φιλο-
καλος, καλοκᾳγαϑος, κακος, επιχειραγα-
ϑος: im Lateiniſchen: vir, homo, bonus
und melior und optimus, honeſtus, pulcher
und liberalis, ſtrenuus und dergleichen Na-
tionalnamen erlitten haben, die die Ehre oder
Schande ihres Zeitalters waren, und ſich
mit demſelben aͤnderten — So lernt man
Voͤlker kennen, und nuzzen.


Jch will es hier nicht unterſuchen, wie weit
einige Schweizer z. E. Wieland, Jſelin,
Wegelin, Mably,
uns wirklich Griechen
zeichnen; * wenn ſie ihre Erziehung und Po-
litik uns anpreiſen. Beinahe vom Diogenes
dem Laertier an, findet man in den Griechen,
was man in ihnen finden will: verſchoͤnerte
Geſichter, unertraͤgliche Jdole, halb Jdeal, halb
Griechiſch, halb nach neuerer Form. Freilich
Ko̊nnen wir den Griechen vieles ablernen; freilich
ſie
[297] ſie zum Muſter nehmen; aber Nachbildungen
unſrer Zeit gemaͤß machen: ſonſt wird alles
Carikatur! — Schon Plato und Xeno-
phon
malen uns den Sokrates verſchieden;
aber man muß beinahe ausſpeien, wenn
Wieland* auftritt und ſagt: „Seht! den
„Kopf des Sokrates!„ Hier kann man
wie Marcell dreuſt antworten: Wie? das
iſt Sokrates? jener liebenswuͤrdige Wider-
ſprecher, jener ehrwuͤrdige Unwiſſende, jener
feine Jroniſche Geiſt, und der redlichſte Buͤr-
ger, kurz! der Weiſeſte unter den Weiſen
Griechenlands — das ſollte ihr Sokrates
ſeyn? Nein! mein Herr! dieſer unausſtehli-
che Diſputirer mit vollem Munde, dieſer laͤ-
cherliche Weisheit- und Tugendkraͤmer, dieſer
grobe Zaͤnker, und Miſanthropiſche Schim-
pfer iſt ein Geſchoͤpf neuerer Zeit, ein Weiſer
aus Schweizeriſchen Republiken. — Und
doch hat W. ja wirklich die Griechen gele-
ſen? — quid fures faciant, audeant cum
talia domini?
— So ſehr die Griechen
ihren Homer nuzten, ſo wenig brauchten ſie
U 3ihn
[298] ihn auf Wielandſche Art: denn Shaftes-
buris
Geiſt und Schriften herrſchten damals
wahrſcheinlich noch nicht bei der Moraliſchen
Bildung der Jugend; und die Art, wie
Sokrates aus dem Homer lehrt, und man
ihn bei der Bildung der Helden und brauch-
baren Juͤnglinge anwandte, iſt ja augen-
ſcheinlich ganz was anders! und in vielen
Stuͤcken was anders, als wir heut nach-
ahmen koͤnnen, wenn wir auch Homere
haͤtten?



2.
Pindar und der Dithyrambenſaͤnger.


Homere do̊rften wir alſo nicht eben haben,
aber einen Pindar? Die Zeit hat dem Pin-
dar ſeine beſten Kronen, und unter andern
auch den ſiebenfachen Epheukranz der Dithy-
ramben geraubt — einer von unſern Dich-
tern ſezt ſich ſelbſt dies Siegeszeichen auf, und
ruft: Macht Raum, Mo̊naden! Jſt er der
Vater Bacchus, oder traͤgr er blos den
Thyrſusſtab, um es zu ſeyn?


Zum
[299]

Zum Voraus ein Wort in einer Pa-
rentheſe. Jch glaube, wenige Beurtheilun-
gen der Litteraturbriefe ſind ſo ſchielend, und
gebrechlich, als dieſe, * die einem Lehrmei-
ſtertone ſich naͤhert: die bei dem Geraͤuſche
arm, bei aller Pracht von Beleſenheit und
Kritiſcher Einſicht kurzſichtig, und bei allen
Planen und Vorſchlaͤgen duͤrre ſeyn moͤchte.
Die angebohrne Lebhaftigkeit des Recenſ. ver-
ſpricht dem Dithyrambendichter ſcharf zuzu-
ſezzen, und zuckt jedesmal zuruͤck, um ſich in
Praͤceptorpredigten zu verlieren. Was ſoll
die Frage heiſſen: Kann man Deutſche Di-
thyramben machen? Kann man nicht Deut-
ſche,
ſo kann man auch keine Malabariſche
Dithyramben machen, was die Sprache be-
trifft; und bei Dithyramben doͤrfte dieſe nur
zulezt in Betracht kommen. Was darf es
der Recenſ. mit ſo vieler Gelehrſamkeit be-
weiſen, daß wir keine Dithyramben uͤbrig ha-
ben? der Verfaſſer doͤrfte dieſes ja aus dem
lieben E. Schmid allenfalls wiſſen! Und
womit beweiſet es der Kunſtrichter denn,
U 4daß
[300] daß wir nach den uͤberbliebenen Nachrichten
keine Dithyramben machen koͤnnen;
hoͤchſtens! daß der Verfaſſer keine gemacht.
Womit behauptet er es, daß jeder neue Ge-
ſchmack verkehrt ſeyn muß, der von den Re-
geln des weiſen Alterthums abgeht? Warum
iſt ein Deutſches Heldengedicht, eine Ode,
eine Dithyrambe ohne Griechiſche und Latei-
niſche Muſter denn an ſich unmoͤglich? Was
thun die Pindariſchen Oden des Leipziger Pro-
feſſors hier zur Sache? Auf welcher Claſſe
muß denn der Dithyrambiſt ſizzen, wenn er den
Pindar intus et in cute kennen lernen, den gan-
zen Poeten in ſuccum et ſanguinem verti-
ren, und abſolut erſt nach 20 Jahren Jmi-
tationen nach der Pindariſchen Digreßion uͤber
den Berg Aetna machen ſoll? Welch ein
Schulton herrſcht ſo durchgaͤngig, ſo inſonder-
heit S. 59 - 61. Welche Sammlung von
Pindariſchen Beiwoͤrtern ſoll man (p. 70.)
Friedrich geben? Wie lange muß noch der
Dithyrambiſt Mythologie lernen, um nicht
ihr Syſtem niederreiſſen zu wollen? Jſt es
wahr, daß Pindar ſich keine Jnverſionen des
Fabelſyſtems erlaubt, und alles ſo ſtehen laͤßt,
wie
[301] wie es ihm vom Praͤceptor diktirt worden iſt?
— Und nun endlich die beſte und geiſtigſte
Anmerkung wider die windichten, eitlen, jun-
gen Menſchen, die ihrem Maͤdchen zu gut Ge-
dichte herausgeben — wobei freilich der Be-
weis mangelt, daß der Verfaſſer der Dithy-
ramben ſo ein windichter, eitler, junger Menſch
ſey, der eine Strafpredigt uͤber ſein Maͤdchen 6
Seiten lang anhoͤren muß. Womit kann es der
Recenſ. beweiſen, daß Pindar in ſeinen verlohr-
nen Hyporchematen und Dithyramben in einem
ernſthaften Philoſophiſchen Ton trunken gera-
ſet? Wie mag ein Compliment laſſen, das man
nicht aus freiem Willen, ſondern aus Muß
im Vorbeigehen macht? Und wie viel nimmt
der Recenſent fuͤr ein Collegium, darinn er
zeigt, wie man Pindars ganze Manier zu
malen bis auf ſeinen Adler lernen ſoll, da-
mit unſer Deutſcher Horaz auch fuͤr den Di-
thyrambiſten eine Ode weihen muͤſte? —
Meine Parentheſe wird lang; aber dem Re-
cenſenten wuͤrde die Antwort auf meine Fragen
noch laͤnger ſeyn, die ich auch, „aus einer mir
„angebohrnen Lebhaftigkeit, thue; nicht als
„Kritiken, ſondern als eine kleine Huͤlfe, mich
U 5„ſelbſt
[302] „ſelbſt auf den Weg zu bringen, und was ich
„denke, zu ſagen.„


Jch bin nichts minder, als der Verfaſſer
oder der Vertheidiger der Dithyramben; ich
habe ſelbſt mehr wider ſie, als die Litteratur-
briefe, aber wie ich hoffe, aus andern Gruͤn-
den, und mit weniger Schulton. Ohnmoͤg-
lich kann dieſe Beurtheilung von einem Ver-
faſſer der Litteraturbriefe ſeyn; vermuthlich
iſt ſie eingeſchickt; weil ihr Ton gewiß zu
merklich abweicht. — Aber gnug! meine
Parentheſe iſt zu Ende.) Koͤnnen wir Di-
thyramben machen, Griechiſche Dithyram-
ben im Deutſchen machen? Originaldithyram-
den machen?


Woher mag der Dithyrambe bei den Grie-
chen entſtanden ſeyn? Darf ich eine Hypo-
theſe verſuchen? — Hypotheſen muß man
verſuchen, wo man keine Nachrichten hat:
waͤre Demoſthenes περι διϑυραβοποιων,
oder Ariſtotels groͤßter Theil der Dichtkunſt
nicht verloren, ſo wuͤrden wir wiſſen, ſtatt
zu rathen.


Ein
[303]

Ein Volk in ſeiner Wildheit iſt in Spra-
che, Bildern und Laſtern ſtark: Trunkenheit
und Gewaltthaͤtigkeit ſind die Lieblingslaſter
einer Nation, die noch Mannheit (αρετη)
fuͤr Tugend, und trunkne Raſerei fuͤr Vergnuͤ-
gen haͤlt. Alle die feine Schwachheiten wa-
ren damals noch nicht, die heut zu Tage un-
ſere Guͤte und Fehler, unſer Gluͤck und Un-
gluͤck bilden, die uns fromm und feige, liſtig
und zahm, gelehrt und muͤßig, mitleidig und
uͤppig machen. Dieſe Trunkenheit ge-
bar wilde Vergnuͤgen, den ungezaͤhmten Tanz,
eine rohe Muſik, und nach der damaligen un-
gebildeten Sprache auch einen rohen Ge-
ſang.


Nicht an Altaͤren, ſondern in wilden Freu-
dentaͤnzen entſprang alſo die Dichtkunſt, und
ſo wie man die Gewaltthaͤtigkeit mit den ſchaͤrf-
ſten Geſetzen baͤndigte, ſo ſuchte man die
trunknen Neigungen der Menſchen, die jenen
entwiſchten, durch Religion zu erhaſchen. Jh-
re Goͤtter trugen damals Keulen und Blitze:
die ſanften Gratien waren noch nicht gebo-
ren; man verehrte die Kraͤfte der Natur:
rauh war ihr Gottesdienſt, wie ihre Natur,
durch
[304] durch Opfer und Trunkenheit — und unter
den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno-
trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man
wolle.


Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an
die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier
befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein
und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte
ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war
voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des
Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu
einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra-
che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop-
peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich
Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio-
nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich
zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen
ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck
des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe
und Vergnuͤgen das Volk lenkten.


Linus, den wir im fernſten Schatten als den
Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit
Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac-
chus. Anthes
der Boͤotier ſang Bacchiſche
Hymnen: Orpheus, der Bezaͤhmer der Grie-
chen
[305] chen durch Geſezze und Gottesdienſt, weihte die
Trunkenheit in ſeine Eleuſiniſchen Heilig-
thuͤmer ein, um ſie zu bezaͤhmen, daher er
auch ihr Opfer wurde. Muſaͤus und ſein
Sohn Eumolpus ſangen ebenfalls den Bac-
chus — Kurz die aͤlteſten Namen der Dich-
ter, die beynahe ſelbſt Fabeln ſind, alle ha-
ben ſich mit Bacchus beſchaͤftigt.


Wozu ſage ich alles dieſes? Um zu zeigen,
daß der Dithyrambe aus den Zeiten der
Wildheit und Trunkenheit
ſeinen Ur-
ſprung
und Leben ziehe, daß wir alſo von
ihm auch nach Beſchaffenheit dieſes Zeit-
alters
urtheilen muͤſſen. Entſprungen unter
berauſchten Taͤnzen des Volks fuͤhrte man ihn
in die Tempel, um ihn zu zaͤhmen. Sein
Jnhalt,
ſeine Sprache, Sylbenmaas,
Bearbeitung, Muſik, Deklamation,

alles zeigt von der Zeit, die ihn hervorge-
bracht hat: er mag nun in Thebe, oder
dem wolluͤſtigen Korinth von einem oder dem
andern erfunden ſeyn: gnug, es war noch
eine Zeit, da ſich die Delphine von dem Arion,
dem angegebenen * Erfinder, bezaubern lieſ-
ſen.
[306] ſen. Jch ſage: ſein Jnhalt: denn da er
den Vater des Weins, von ſeinem Blitzſtrale
getroffen, mir brauſendem Munde ſang, und
in einer ehrwuͤrdigen heiligen Trunkenheit
ſang: ſo paßt er am meiſten auf den Abgrund
der Zeiten, da man aus Aberglauben die Kraft
einer goͤttlichen Gegenwart fuͤhlte, da man
mit ſtarken ſinnlichen Empfindungen begabt,
den Eindruck der Jugendlehren und Rational-
ſagen beinahe zu einer wirklichen Anſchauung
erhob, da man aus Unwiſſenheit nicht blos
die Fabelgeſchichten als Wahrheiten glaubte,
ſondern mit der Einbildungskraft ſie bis zum
Leben ausmalte, und alſo die Begeiſterung
ſchmeckte, die Apoll uͤber die Pythiſſe, Ju-
piter uͤber die Sibyllen, Cybele uͤber die Gal-
[l]er,
und Bacchus uͤber die Dithyramben-
ſaͤnger ausgoß. Daher naheten ſich die lez-
tern der Entzuͤckung, die einer Raſerei glich,
Διονυσοιο ανακτος καλον εξαρξαι μελος
οιδα διϑυραμβον, οινω συνκεραυνωϑεις
φρενας: daher fing er gemeiniglich mit dem
begeiſterten: αμφι μοι αναξ, an: daher je-
ne Ausbreitung der Seele, die im Parenthyr-
ſus der Trunkenheit und der Beſchauung himm-
liſcher Dinge ausrief:


Auditis
[307]Auditis an me ludit amabilis
Infania? Audire et videor pios
Errare per lucos:
()

daher iene goͤttliche Wuth:


— — — immanis in antro
Bacchatur vates, mag num ſi pectore poſſit
Excuſſiſſe Deum: tanto magis illa fatigat
Os rabidum, fera corda domans, fingitque
premendo.
()

Und von dieſer ſinnlichen Begeiſterung wurde
die ganze Bearbeitung ſo belebt, daß Pla-
to dem Dithyramben ſogar die Nachah-
mung
abſprechen will. Voll kuͤhner Bilder
und großer Anſpielungen folgte er keinem wei-
tern Plan, als den innerlich die Einbildungs-
kraft malte, aͤußerlich zum Theil das Auge
ſahe, und der Tanz foderte: und ſo ward er
ein Gemaͤlde der Einbildungskraft aus der
Bacchiſchen Geſchichte, des Bacchiſchen Got-
tesdienſtes, und des Tanzes: wo nuͤchterne
Seelen wenig Verbindung, viel Uebertriebenes,
und alles Ungeheur finden muſten. Und die-
ſe Bearbeitung, welcher Zeit war ſie am ange-
meſſenſten? Vermuthlich jener, da die Saty-
ren
[308] ren Poſſenſtuͤcke, die Komoͤdien Satyren, und
Oden und Tragoͤdien noch nicht geboren wa-
ren. Vor den regelmaͤßigen Stuͤcken im ſchoͤ-
nen Stil muſte das große wuͤſte Unregel-
maͤßige
voran gehen.


Und eben dieſem Zeitalter iſt auch die Di-
thyrambiſche Sprache gemaͤß, die in Worten
neu, kuͤhn und unfoͤrmlich; in Conſtru-
ctionen verflochten und unregelmaͤßig war:
eine Sprache, wie ſie vor ihrer Ausbildung
iſt. Alsdenn hat noch jeder Saͤnger das
Recht, neue Worte zu machen, weil man von
ihnen noch keine gehoͤrige Anzahl hat; ſie koͤn-
nen kuͤhn zuſammengeſezt ſeyn, weil Form
und Lenkung nicht gnug beſtimmt iſt. Hin-
gegen eine voͤllig gebildete Sprache iſt nicht
Dithyrambiſch, ſondern vernuͤnftig und mit
Geſezzen umſchraͤnkt.


So auch das Sylbenmaas: Geſezlos, wie
ihr Tanz und die Toͤne der Sprache; aber
nothwendig deſto Polymetriſcher, toͤnender
und abwechſelnder.


So auch die Muſik: Die Phrygiſche Mu-
ſik, die raſend machte, die Steine belebte,
zum
[309] zum Treffen und Siege reif, und Empoͤrun-
gen in der Bruſt anrichtete; die nachher ab-
geſchafft wurde, weil ſie die Muſik verdarb,
die Plato aus ſeinem Staat und Ariſtoteles
aus ſeiner Entziehung verbannte — Kurz!
die aͤlteſte und roheſte Tonkunſt.


Alles alſo, was zum Διϑυραμβωδες ge-
hoͤrte, Jnhalt und Form, und Sprache und
Muſik und Sylbenmans traͤgt Spuren des
ſinnlichen Zeitalters mit ſich, wo alles dies,
und dies allein bey dem rohen Volke ſeinen
Zweck erreichte, und hier iſt die Erklaͤrung
des Proklus: Διϑυραμβος εστι κεκυννημενοι
και πολυ του εουσιωδες μελα χορειας εμ-
φαιναν, εις παϑη κατας κυαζωμενος, τα
μαλιστα οικεια τω Θεου.


So war der Dithyrambe, ehe er voͤllig
Nachahmung wurde. Als aber die Griechen
in ein geſittetes Zeitalter uͤbergiengen; ſo ward
ihre Religion uͤber das Sinnliche mehr erho-
ben: ihre Begeiſterung ſank: ihre mehr ge-
bildete Sprache entfernte ſich von Dithyram-
biſchen Freiheiten: ihr Sylbenmaas ward
beſtimmter und gebundener: ihre Muſik Do-
Xriſch.
[310] riſch. Das wahre Διϑυραμϐωδες war alſo
vorbei, und man ſuchte es nachzuahmen.
Daher kann Ariſtoteles den Dithyramben un-
ter die Nachahmende Poeſie ſezzen, ohne
doch dem Plato zu widerſprechen, der das Ge-
gentheil, wiewohl in ganz andrer Verbindung,
ſagt. Es blieb noch immer ein feſtliches
Vergnuͤgen, ſich in ihre Vaͤterzeiten zuruͤck-
zuſezzen, und die Sprache, das Sylbenmaas,
die Muſik, die Denkart eines oder einiger er-
lebten Zeitalter zu gebrauchen.


Jn dieſer mittlern Zeit, da ſich das Di-
thyrambiſche gemildert hatte, mag es alſo
die beſten Gedichte dieſer Art gegeben haben,
die daher die Anfangsſtuͤcke verdraͤngten.
Nachher aber trieben die folgenden die Kuͤhn-
heit immer hoͤher, um ihre Vorgaͤnger uͤber-
treffen zu koͤnnen; ſie miſchten, (nach Pla-
tons
Zeugniß in ſeiner Republik), alles un-
ter einander: und gingen verloren, weil die
damaligen Zeitalter zu ſehr den Geſchmack
der Dichtkunſt, den Geiſt der Religion, die
Stuffe der Sitten und Sprache veraͤndert
hatten.


Da-
[311]

Daher legten ſich auch, nach der wahr-
ſcheinlichſten Lesart im Cicero, die Roͤmer
weit minder (minus) auf die Dithyramben;
bei denen der Atys des Catulls nur ein weit-
laͤuftiger Verwandte der Dithyrambenkuͤhn-
heit iſt. Der Himmel der Roͤmer war nicht
eigentlich mehr fuͤr dieſe Dichtungsart: ihre
Religion war geiſtiger und Politiſcher: ihr
Bacchus lange nicht der maͤchtige Koͤnig der
Griechen: ja ſelbſt ihre k[aͤlt]ere Adern fuͤhlten
nicht mehr ſo ſtark den Blizſtral des Weins:
ſie ließen alſo die Reſte der Dithyramben un-
tergehen. Ariſtoteles beſtaͤtigt meine ganze
Hypotheſe, durch die wenigen Worte, die er
in ſeiner Dichtkunſt vom Dithyramben ein-
miſcht, in deſſen Stelle die Tragoͤdien getre-
ten ſeyn ſollen.


Sollen wir alſo die Dithyramben zuruͤck-
finden? Erſt beantworte man die kleine Fra-
ge: Koͤnnten wir denn Dithyramben machen,
wenn wir die Griechiſchen noch haͤtten?
Von dieſer Kleinigkeit haͤngt, wie ich glaube,
alles ab; und ein Kenner der Griechen wuͤr-
de daruͤber den Kopf noch ziemlich ſchuͤtteln.
Wo iſt bei uns eine Religion, die Bacchus
X 2zum
[312] zum Gott und ſeine Geſaͤnge ehrwuͤrdig, hei-
lig, goͤttlich macht? Der Griechiſche Diony-
ſius wuͤrde die Trauben unſres Landes, und
unſre Dithyramben wegwerfen, und ausru-
fen: procul profani! Wo iſt bei uns der
Geiſt eines Zeitalters,
da eine Bacchiſche
Begeiſterung durch Wein und Aberglauben
ſinnlich gewiß, oder wenigſtens wahrſchein-
lich wuͤrde? Die Begeiſterung der Muſe konnte
bei einem Griechen ſo maͤchtig ſeyn, als ſie
bei uns oft ſo laͤcherlich wird, than Jugglers
talking to Familiar.
— Wo ſind unſere
Bacchiſche Gegenſtaͤnde,
die Heldenge-
ſchichten, die bei den Griechen von Jugend
an, durch Unterricht, und Gedichte und Ge-
ſaͤnge und Denkmale ihre Seele belebten?
Unſere Trinker wird der Rauſch auf ganz
andre Gegenſtaͤnde fuͤhren, als auf eine My-
thologie vom Bacchus, die fuͤr uns das Große,
das Poetiſchwahre, das dem Nationalgeiſt
eigne, und darf ich dazu ſezzen, faſt ganz das
Licht der Anſchauung verlohren hat! Wo iſt
die Bilderwelt, die Welt, voll Leidenſchaften,
die Griechenland in ſeiner Jugend um ſich
ſahe? Wir wandeln in einer Politiſchen
Wuͤ-
[313]Wuͤſte. Wo iſt die Dithyrambenſpra-
che?
Die unſre iſt viel zu Philoſophiſch alt-
klug, zu eingeſchraͤnkt unter Geſezze, und zu
abgemeſſen, als daß ſie jene neue, unregel-
maͤßige, vielſagende Sprache wagen koͤnnte.
Wo die Dithyrambiſchen Sylbenmaaße? da
unſre Sprache und alle neuere ſelbſt zum He-
xameter, noch minder zu den Sylbenmaaßen
des Pindars und der Choͤre vieltrittig gnug
iſt, und gegen Griechifche Dithyramben voͤl-
lig ungelenkig laſſen muͤſte. Wo ſind denn
bei uns die Taͤnze, die trunknen Bacchus-
ſpruͤnge, an Frendenfeſten? Der Dithyrambe
gehoͤrte ja ſo wohl zur Mimiſchen als Lyriſchen
Poeſie: und wie koͤnnten wir ihn alſo nach-
machen, da wir die hohe Tanzkunſt der Alten
nicht haben, nicht kennen, und ſo gar ſelbſt
bei allen Nachrichten der Alten, nicht durch-
gehends begreifen koͤnnen
— Und von
ihr bekam er doch Geiſt und Leben.


Aber wenn wir ihn alsdenn blos als eine
Sache der Nachahmung betrachteten, bei
der wir zwar nicht eben die Urſache, Zwecke,
und Huͤlfsmittel des Originals haͤtten, aber
doch eine neue, eine beſſere Art der Gedichte
X 3be-
[314] bekaͤmen? — Kaum! Dithyramben, nach
dem Griechiſchen Geſchmack nachgeahmt, blei-
ben fuͤr uns fremde. Das trunkne Sinn-
liche,
was bei ihnen entzuͤckte, waͤre viel-
leicht fuͤr unſre feine und artige Welt ein Aer-
gerniß; das Raſende in ihnen waͤre uns al-
lerdings dunkel, verworren und oft unſinnig,
weil der Dithyrambiſt, der Weißager und
Unſinnige mit zuſammengeſchlungenen Haͤn-
den zu gehen ſcheinen, und ein Elektriſcher
Funke nach ihren verſchiednen Koͤrpern auch
unterſchiedne Wirkungen hervorbringt. Jhre
Ungebundenheit wuͤrde fuͤr unſere Gram-
matiſche, und Aeſthetiſche Geſezgeber Verbre-
chen wider die Regeln ſcheinen: die Einbil-
dungskraft wuͤrde der geſunden Vernunft und
dem Sens - commun unſres lieben Zeitalters
Eintrag thun — Vielleicht trug alles dies
dazu bei, daß die Dithyramben verloren gin-
gen; und gaͤbe es Dithyrambenſaͤnger zu
unſrer Zeit — wir wuͤrden ihnen einen Stier
geben, um ihre ϐοηλαταν zu bezahlen und
ſie reiſen zu laſſen. Weß aber ſollte der
Stier ſeyn, den wir ihm geben? — Des
Volks nicht, denn er ſchriebe ja Dithyram-
ben
[315] ben nicht zu Tanzen und Mimiſiren; ſon-
dern zu leſen! Der Grammatiker auch nicht;
die wuͤrden vielmehr wider ihn ſchreyen! Der
ſchoͤnen Geiſter auch nicht; deren ſchoͤnes
Jdeal moͤchte dadurch verlezt werden! Der
ernſthaften Kunſtrichter auch nicht — Er
mache ſich alſo fertig, ohne Stier nach Hauſe
zu reiſen.


Aber wie? er ſinge nach dem Geſchmack
ſeiner Zeit, mit einem kaͤltern Feuer, ohne
Gott Bacchus, ohne die Dithyrambiſche
Kuͤhnheit und Sprache, Deutſche Dithyram-
ben? Deutſche Dithyramben ſind ein Unding,
gegen die Griechen betrachtet; und gegen
unſre ſchon bekannte Dichtarten nichts neues!
Ein ſolcher Dithyrambe nach dem richtigen
Geſchmack unſrer Zeit, ohne Bacchus, ohne
Tanz, ohne Begeiſterung, ohne Dithyrambi-
ſche Sprache, in eingezognen Sylbenmaaßen
gehoͤrt ſo wenig in den Bacchustempel, als
jene Geſchenke in den Tempel des Mars nach
einem Griechiſchen Sinngedicht: * „Wer
„hing dieſe glaͤnzende Schilde, dieſe Blutloſe
X 4„Waf-
[316] „Waffen, dieſe unverſehrte Helme hier auf?
„Dem Menſchenwuͤrger Mars ſolchen haͤßli-
„chen Schmuck? Will ihn nicht jemand aus
„meinem Tempel werfen? Jch erro̊the ganz!
„Solche Verzierung gehoͤrt in eine Braut-
„kammer, an den Hof, in die Trinkſaͤle fei-
„ger Saͤufer; nicht an den Altar des Mars!
„Blutige Waffen, zerbrochne Schilde, durch-
„ſtochne Helme, die ſind mein Vergnuͤgen!„
Alsdenn ſind ſolche Deutſche Dithyramben
nach einem feinen Jdeal unſrer Zeit — ent-
weder hohe Oden der Einbildungskraft —
oder begeiſterte Trinklieder; ſie mo̊gen ſeyn,
wie ſie wollen. Alsdenn ſind Uz, Leßing,
Weiße, Gerſtenberg
in ſeinem Gedicht:
Cypern: Schmid in ſeinem Noah, dem
Weinerfinder: der Verfaſſer der erſten
Cantate zum Scherz und Vergnuͤgen

unſre Dithyrambendichter; oder vielmehr
unſre alte Trinkbruͤder, die ſich einen will-
kuͤhrlichen Namen geben.


Jch verzweifle alſo beinahe an Dithyram-
ben, ſelbſt wenn wir die Griechiſche haͤtten —
nun aber iſt alles bis auf die wenigen Nach-
richten verloren, die nicht einmal einen unter-
ſchei-
[317] ſcheidenden Begrif von ihnen beſtimmen. Ein
Scholiaſt hat den andern ausgeſchrieben, denn
je weniger man weiß, deſto mehr wiederholt
man das wenige und ertappet vielleicht den
Dithyrambendichter, ſo wie den Cometen,
blos in ſeiner groͤſten Eccentricitaͤt. Horaz
in ſeiner Ode uͤber Pindar hat ja keine De-
finition geben wollen, und gewiß daran gar
nicht gedacht, daß jemand einmal jedes von
ſeinen Worten auffaͤdeln, und ſich aus ſeiner
Strophe einen Plan abzirkeln, einen Grund-
riß abzaͤunen wuͤrde, um in ihm kuͤnſtlich zu
raſen, nuͤchtern zu taumeln, bei Waſſer
ein regelmaͤßiges Evan! zu rufen. Die
meiſten Poetikenſchreiber halten ſich bei der
πολυπλοκια der Worte auf, gleich als wenn
dies ein Hauptſtuͤck und nicht eine nothwendi-
ge Folge des Dithyrambengeiſtes waͤre.


Und uͤberhaupt, da es ſchou eine kalte Be-
geiſterung iſt, die blos aus Beiſpielen auf-
gewaͤrmt wird: ſo iſts laͤcherlich, ſich ohne
Beiſpiele, durch Regeln;
oder vielmehr
ohne Regeln durch kleine Nachrichten,
entzuͤcken zu wollen; uͤber Flicknachrichten
ſich einen Weg zur Begeiſterung bahnen, aus
X 5Lapp-
[318] Lappland uͤber Zembla nach dem Pindus rei-
ſen: da hat der Dithyrambiſche Hegeſan-
der
recht:


μειρακιεξαπαται, και συλλαϐοπευσελαϐηται
Δοξοματαιοσοφοι, ζηταρετησιαδαι.



Gnug von dieſen Dithyrambiſchen Anmer-
kungen. Jch muß hier den Plan eines Freun-
des verrathen, der zu Chriſtlichen und Deut-
ſchen Dithyramben Riſſe und Verſuche ge-
macht hatte, die er aus dem Jnnern unſrer
Religion und Nation gezogen, die trunkne
Geſaͤnge einer heiligen Religions- und
Staatsbegeiſterung ſeyn ſollten. Es er-
ſchienen unvermuthet Dithyramben: die
zwar gar nicht in ſeinen Plan fallen: die ihm
aber doch Gelegenheit zur Pruͤfung gaben,
und ihm bei ſeinen Arbeiten das nonum
prematur in annum
riethen. Jch liefere
alſo von dieſem Freunde nicht ſeine parado-
xen
Dithyramben: ſondern ſein Urtheil uͤber
die erſchienenen eines Ungenannten: es iſt
frei, aber nirgends hinterhaltend.


Das
[319]

Das Titelblatt verſpricht uns Dithyram-
ben: die Vorrede verſpricht ſie nur halb: und
das Buch ſelbſt liefert gar keine.


Zuerſt: Der Kunſtgrif, uns ſeine Samm-
lung von Liedern, als ein Ganzes in die
Haͤnde zu ſpielen, geht von der Einfalt der
alten Dithyrambiſten voͤllig ab. Und von
der Wahrheit ſelbſt: denn ſind dieſe Stů-
cke Theile zum Ganzen, weil ſie auf einander
folgen? So iſt ja alles, was ich in einen
Band binden laſſe, auch ein Ganzes; aber
kein Oden ganzes. Jch glaube doch nicht,
daß um einen Sprung zu thun, Sicilien
mit Johann Sobieski und dieſer mit Pe-
ter
graͤnzet. Der ſoll mein großer Apoll
ſeyn, der mir zwiſchen dieſen Stuͤcken Zuſam-
menhang nach Zeit, oder Ort, oder Jnhalt,
oder nach den Geſezzen der Einbildungskraft,
findet. Vermuthlich aber nach den Geſezzen
der Einbildungskraft — denn die erſte Di-
thyrambe ſoll die Begeiſterung wohrſcheinlich
machen. Nun! ſo haͤtte ſie auch an die Jung-
fer Maria gerichtet ſeyn koͤnnen, um (alles
zugegeben,) die folgenden Gegenſtaͤnde zu be-
ſingen. Dies waͤre noch wenigſtens ein er-
bau-
[320] baulicher Standpunkt geweſen, um nachher
Kirchenſeufzer, an die heilige Mutter zu ſchi-
cken — aber jezt iſt es widerſinnig, daß eine
trunkne Moͤnade an dem Wagen Bacchus
jezt Erdbeben, jezt eine Entſezzung der Ve-
ſtung, jezt die Schoͤpfung eines Reichs, jezt
Krieg, jezt Frieden finget, 9 Uhrwerke ab-
laufen laͤßt, und alsdenn vom Bacchus hoͤf-
lich Abſchied nimmt. Folgt es wohl, aus
der Begeiſterung des Bacchus, Krieg und
Helden, bald dies, bald jenes zu ſingen, was
oft gar nicht in den Mund eines Saͤufers ge-
hoͤrt? Die Moͤnade wird abentheuerlich, die
ſich jezt an den Wagen des Bacchus draͤnget,
den Augenblick am Hebrus und Rhodope,
den Augenblick drauf bei Naxos iſt, wo ſie,
(die Weitſehende!) Tokay und den Rhein
ſieht, wo ſie ſchwaͤrmt, wo ſie ſingen will
hochfahrend, wie die Schwingen der Winds-
braut, wo ſie vom Bacchus begeiſtert, aus-
ruft: hoͤrt! und an ihren Begeiſterer und an
ſeinen Wagen nachher niemals denkt, kaum
an ihn einmal im Vorbeigehen denkt, da er
durch einen Zufall eben uͤber Meißens Ge-
buͤrge ſpazieren faͤhrt, bis ſie ſich ihm endlich
em-
[321] empfielt, und mit ihrer Daphne forteilt: nun
Vater! Bacchus hilf! — eine Moͤnade mit
der Daphne! eine Liebe zwiſchen zwei Maͤd-
chen! — die gute Moͤnade muß ſich ovr dem
Namen eines Bacchanten ſchaͤmen.


Kein Ganzes alſo! und noch weniger ein
Bacchiſches Ganzes! Das begeiſterte αμφι
μοι αναξ der alten Dithyramben, ſchallt nie
in unſern Ohren; nie ſingt die Mo̊nade, als
waͤre ſie am Wagen des Weingotts: gar kein
Standpunkt, den die erſte Dithyrambe ange-
ben will, in allen Stuͤcken. Jſt es Bacchus,
der da begeiſtert, oder biſt du liebe Muſe,


Thou that with Ale, or viler Liquors
Didſt inſpire Wythers, Pryn and Vickars
And force them, tho it was in ſpite
Of Nature, and their Stars, to write
Who, as we find in ſullen Writs
And croſſ-grain’d Works of modern Wits
With Vanity, Opinion, Want
The Wonder of the Ignorant
The Praiſes of the Author, penn’d
B’ himſelf, or Wit inſuring Friend
Canſt make a Poet, ſpite of Fate — —
()

Der Bacchus dieſer Mo̊nade, iſt nicht der
wahre Bacchus; nicht jener ſchoͤne Griechi-
ſche
[322] ſche Knabe * „der die Graͤnzen des Lebens
„betritt, bei dem die Regung der Wolluſt, wie
„eine zarte Spizze der Pflanze, zu keimen an-
„faͤngt, der, wie zwiſchen Schlummer und
„Wachen, in einen entzuͤckenden Traum halb
„verſenkt, die Bilder deſſelben zu ſammlen
„und ſich wahr zu machen anfaͤngt, deſſen
„Zuͤge voll Suͤßigkeit ſind, dem aber die
„froͤliche Seele nicht ins Geſicht tritt — —„
Dieſer ſchwindelt im Wagen: ihm gluͤht die
Wange: er verſchuͤttet den Becher: er lacht:
er ſchlurft Tropfen! — Ein beſoffner Sa-
tyr kann das ſeyn, nicht aber der Griechiſche
Bacchus! Jch rathe der Moͤnade, ihm nicht
zu folgen, damit es ihr nicht wie der Rhea
gehe, die einen Kriegsknecht ſtatt des Mars
umarmte. — Und daß das gute Maͤdchen ihn
wirklich verkannt habe: ſehen wir aus der
Dithyrambe: die Himmelsſtuͤrmer! hier,
hofften wir, hier wird im Streit Dionyſius
eine Hauptperſon machen: wir werden ihn
im ganzen Lichte ſehen:


— — Διο-
[323]

— — Διονυσον εριϐρουον, ευαςηρα
Πρωτογονον, διφυη, τριγονον, Βακχειον ανακτα
Αγριον, αρρητον, κρυφιον, δικερωτα, διμορφον
Κιϐσοϐρυον, ταυρωπον, αρηιον, ευιον, αγνον
Ωμαδιον, τριετη, ϐοτρυφορον, ερνεσιπεπλον.


Hier werden wir, wenn wir ihn mitten
im Kampf erblicken, wie ihn die Alten ma-
len, nicht ausrufen doͤrfen, wie jener Schif-
fer im Homer, * da er ihn anſahe: „Ent-
„weder Zevs iſt er, oder der Apoll mit dem
„ſilbernen Bogen, oder Neptun: denn den
„ſterblichen Menſchen iſt er nicht aͤhnlich,
„ſondern den Goͤttern im Olymp!„ ſondern
als den Allmaͤchtigen, als den Baͤndiger der
Rieſen und Ungeheuer, werden wir ihn ſehen,
oder wenn alles mißgluͤckt: ſo kennen wir we-
nigſtens ſeinen tapfern Eſel, deſſen Geſchrei
diesmal Siegbringend iſt. — So hofften
wir, aber alles vergebens! Die Rieſen ſind
im Himmel; ſeine Zofe ſieht zu: und ruft
endlich mit offnem Munde:


Welch ein Streit, o Liber!
Sind Goͤtter im Kampf mit Goͤttern!


Bac-
[324]

Bacchus ermuntert ſich aus ſeiner Schlaf-
trunkenheit: reibt ſich die Augen, will nicht
ins Feuer: endlich ſehen wir ihn im Loͤwen-
panzer, (den er vermuthlich lange geſucht ha-
ben muß) — aber dem ſchlaͤfrigen Helden
zum Gluͤck redet Zevs Gewitter, und Evan
erſcheint nicht eher, bis die Feinde weg
ſind! — So unnuͤz iſt er durchgaͤngig: da-
her fraͤgt die Moͤnade auch ſo wenig nach
ihm, es ſey denn, wenn er einmal Friedrich
begegnet, und ausruft: das iſt er, das iſt er!
daher gibt ſie ihm auch den Abſchied:


Fahr hin, fahre hin, du Loͤwenbezwinger,
Fahr hin, ich folge nicht mehr!


Nichts ſchlaͤgt mehr fehl, als wenn man
die Bilderreihe, die Folge von Auftritten
verfolgt, die innerlich die Begeiſterung und
aͤußerlich das Auge leiten, die das voll-
kommene Dichteriſche Ganze bilden, was
ein Gemaͤlde weit uͤbertrift, was vom
Tonkuͤnſtler Melodie borgt, um ſich zu be-
leben, was vom hohen Mimiſchen Taͤnzer
gleichſam Bewegung annimmt: kurz, was
Handlung heißt, das wahre Kennzeichen
des Bacchiſchen Propheten!


Jch
[325]

Jch nehme das beſte und einzige Dithy-
rambiſche Sujet in dieſer Sammlung: die
Himmelsſtuͤrmer! um dies fortgehende Ge-
maͤlde aufzuſuchen. Jm Anfange gar kein
Standort, und kein Geſichtspunkt, den Pin-
dar doch ſeinen verworrenſten Oden ſo ſorg-
faͤltig, und wenigſtens am Anfange und
Ende einwebt, aus dem er ſie berfuͤhrt, eini-
ge mal zuruͤckleitet und auf dem er ſie kroͤnet.


Mit guͤldenen Saͤulen wollen wir,
wie am praͤchtigen Pallaſte,
den veſterrichteten Eingang ſtuͤzzen:
Denn wer ein Werk beginnet,
der mache vortreflich den Anblick. *


Machen alle Dithyramben ein Ganzes
aus: ſo taumelt die Moͤnade, nach dem Ende
der vorigen Dithyrambe an Bacchus Wa-
gen: und


o Wunder!
ſie taumelt zuruͤck in die Kindheit der Welt!
entſchlafne Aeonen vorbei.


So fiel jener Gaſcogner aus dem Fenſter
ein Maas von drei Jahren herunter! Jn
die
Y
[326] die Kindheit der Welt zuruͤcktaumeln! Ob
Bacchus mit ſeinem Gefolge nicht ſelbſt in die
Kindheit der Welt
gehoͤrt? Jſt das
Standort? Bachcus ſoll ja ſelbſt im Treffen
ſeyn: die Mo̊nade ſoll ja den Sturm ſelbſt
ſehen,
nicht in Gedanken bis in die Kind-
heit der Welt zuruͤcktaumeln: ſoll uns nicht
etwas aus alten Aeonen erzaͤlen, ſondern
vormalen, ſo vormalen, daß wir nicht
ihr Gemaͤlde, ſondern die Handlung ſelbſt ſe-
hen.
So macht es ſchon Pindar der Oden-
dichter — und Pindar der Dithyrambiſt? —


Die Handlung geht an: die Mo̊nade
ſieht den Aetna rauchen; beſinnet ſich aber
geruhig, daß vormals ein Himmelsſturm
geweſen: ſie macht uns alſo davon eine Er-
zaͤhlung nuͤchtern, ohne Feuer und Gleich-
maas: taumelt zwiſchen dem Praͤſens und
Jmperfectum: malt bald gegenwaͤrtig, bald
aus weiten Aeonen: ganz undithyrambiſch
ſchwankt ſie zwiſchen der Jdealiſchen und ſinn-
lichen Gegenwart. Jezt ſieht ſie: der wur-
zelt
den Caucaſus aus; den Augenblick
vorher: ich ſah die Himmelsſtuͤrmer! den
Augen-
[327] Augenblick brauf: ſie erthuͤrmten ſich Stuf-
fen, ſie keichten, ſie ſchnoben — und ploͤzzlich:


„Welch ein Streit, o Liber!„
Sind Goͤtter im Kampf mit Goͤttern?
Die Aegis klingt
Und du Lyaͤus im Loͤwenpanzer!


Nun kommen wir endlich ins Feld, aber
Schade! der Bacchante beſinnt ſich, daß
Zevs Gewitter geredet habe, daß die Gebuͤr-
ge gekracht! Ploͤzzlich befaͤllt ihn wieder der
Paroxismus: „und ihr, und ihr? wo ſey[d]
„ihr? — Antwort: ſie heulen ihm tief im
„Bauche.„ Elend! wie kann der Bacchante ſei-
nem Bacchus Triumph zuruffen, deſſen große
Thaten er gar nicht geſehen? Hat er das denn
in ſeinem Geſange gezeigt, was er nachher auf-
kreiſcht: Sie waren, ſie kriegten, ſie
ſind nicht mehr!


Und dies iſt noch in Abſicht auf die Oeko-
nomie des μυϑος der beſte Geſang: Leſer!
ich bereite dich blos, ſie auch in andern zu
ſuchen, und du wirſt ſie ſelten durchgefuͤhrt
finden zu einem lebenden Ganzen. Sieht
wohl die Mo̊nade die Abreiſſung Siciliens?
„Silen lehrte es ihr: jezt (im Jahr 1766.)
Y 2„liegt
[328] „liegt Trinakrien auf ihnen„ mit einem ſolchen
Worte verliert die ganze Dithyrambe. Pin-
dar
iſt ſeiner Sache gewiſſer: er will darauf
vor allen Muſen einen großen Eid thun. *


Ου φιλονεικος εων
ουτ’ ων δυσερις τις αγαν
και μεγαν ὁρκον ομοσσας
τουτογε οι σαφεως μαρτωρη-
σω: μελιφϑογγοι δ’ επιτρεψοντι Μοισαι.


Und hat der Bacchante wirklich die edle
Begeiſterung
gefuͤhlt, die ſtets nach der
hoͤchſten Bluͤte greift, doch ohne Verzerrung
des Arms. So wie ſein Bacchus im Pa-
renthyrſus der Trunkenheit ſich als den Lerm-
macher
zeigt: ſo ahmt ſein Prieſter ihm nach,
und macht uͤberall ein Geſchrey, das die
Kaͤlte erzeugt, die es verjagen ſoll.


Welche Trunkenheit!
Eleleu! welche Trunkenheit!


Jſt dies je die Sprache des Gefuͤhls, der
Trunkenheit, die ſich nicht trunken fuͤhlt!


Heiliger Schauer!
Schauer durchwuͤhlet die Bruſt.
Wie ſie ſchwillt!


Wer
[329]

Wer bricht je in dieſe Worte aus, der,
ſich ſelbſt entriſſen, empfindet und ſieht! —
Wenn man eine Sammlung unnatuͤrlicher
Ausrufungen leſen will: ſo hat man ſie hier
zuſammen: bei Krieg und Frieden, bei Hel-
den und Geſchichten! — Nein! immer bleibt
es doch wahr: das Feuer der Alten brennt:
der Glanz der Neuern blendet hoͤchſtens, oder
betriegt im Dunkeln, wie kaltes todtes, aber
leuchtendes Holz.


„Alle vortrefliche Dichter ſingen nicht
„durch Kuͤnſteley: ſondern durch goͤttliche
„Begeiſterung; wie die Corybanten nicht mit
„kalter Seele tanzen: ſo ſingen ſie auch nicht
„mit kalter Seele; ſondern ſo bald ſie in
„die verſchlungenen Labyrinthe der Harmonie
„gerathen: ſo raſen ſie, ſchwaͤrmen gleich
„den unſinnigen Bacchanten, die in ihrer Be-
„geiſterung Milch und Honig aus Baͤchen
„trinken — Auch die Dichter ſchoͤpfen aus
„Honigquellen, und brechen, wie die Bienen
„ihren Honig aus Blumen ſaugen, ihre Ge-
„ſaͤnge von den gruͤnenden Huͤgeln der Muſen.
„Wahrlich, ein Dichter iſt ein fluͤchtiges, ein
„heiliges Geſchoͤpf, das nicht eher ſingen
Y 3„kann,
[330] „kann, bis es von einem Gott ergriffen,
„außer ſich geſezt wird. Alsdenn ſingt je-
„ner Lobgeſånge, dieſer Dithyramben.*„ —
Jn der That! ich wollte lieber dieſe wenige
Worte gefuͤhlt, als alle zehn Dithyramben
geſungen haben: und doch fand der ſo begei-
ſterte Sokrates, ſich blos tuͤchtig — Aeſo-
piſche Fabeln zu ſchreiben: alſo mo̊chte man-
cher Dithyrambiſt auch in das Feld geho̊ren,
mittelmaͤßige Dialogiſche Fabeln zu ſchreiben,
aber „vom Verfaſſer der Dithyramben.„


Aus der Vereinigung der beiden beruͤhr-
ten Stuͤcke, der Begeiſterung, die eine Fol-
ge von Gemaͤlden leitet, entſpringt das, was
man im Pindar, als Unordnung bewundert,
was man zu ſeinem Schwunge, und den
Spruͤngen ſeiner Ode rechnet. Es iſt im-
mer ein beſonderer Einfall, ** den Einfall des
großen Youngs von ſeiner Hoͤhe abzubrechen,
und im Pindar eine Ariſtoteliſche Logik zu
ſuchen. Pindars Gang iſt der Schritt der
begeiſterten Einbildungskraft, die, was ſie
ſiehet,
[331] ſiehet, und wie ſie es ſieht, ſingt; aber die
Ordnung der Philoſophiſchen Methode, oder
der Vernunft, iſt der entgegengeſezte Weg,
da man, was man denkt, aus dem, was
man ſieht, beweiſet. Dieſe lezte im Pin-
dar
zu finden, iſt noch wunderbarer, als die
Ordnung, die Ruͤckersfelder und E. Schmid
in ihm fanden; ſie aber, wenn ſie auch in
Pindariſchen Oden waͤre, auf Dithyramben
anwenden zu wollen, verunziert viele Stuͤcke,
wo das hiſtoriſche Thema viel zu ſehr
durchſchimmert, als das ſtattliche Gebaͤude
zu ſeyn, womit Pindar ſeinen Odenplan
vergleicht. Wer auch nur von einigen Pin-
dariſchen Oden ſich ſelbſt voͤllige Rechenſchaſt
zu geben weiß: wird das beſtaͤndige Hůpfen
und ruͤckweiſe Fliegen unſers Dithyramben-
ſaͤngers doch nicht mit dem gewaltigen Zuge
des Pindariſchen Adlers vergleichen, der ſich
nicht auf Noten und Phraſes ſtuͤzzt, der nicht
zuruͤckſieht, ob man ihn auch erreiche: ſondern


— — er gluͤht, er gluͤht,
wenn er zur Sonne zielt, und in ihr Feuer ſieht
mit ſtarkem unverwandten hellen Blicke,
bis er am Thron des Zevs die ſiebenſache Laſt
der Donner maͤchtig faßt. —


Y 4Wenn
[332]

Wenn Pindar ſich von ſeinem Punkte in
der Einbildungskraft zu verlieren ſcheint: ſo
findet er ſich mit deſto groͤßerem Pomp, hier
mit einem allgemeinen hohen Spruche, dort
mit einer Anrufung an die Muſe ꝛc. zuruͤck:
So fließt ein majeſtaͤtiſcher Strom, reich
um Arme auszulaſſen, und ſparſam, ſie wie-
der an ſich zu ziehen, in ſeinem breiten Bette
fort, und waͤlzt ſich mit hundert Haͤnden
brauſend vom Felſen herab, um ſich im Thale
zuſammen zu finden: ein großer gewaltiger
Strom, der Name ſeiner Gegend; — aber ein
Regenguß, der ſich aus den Wolken auf Sand
ergoß, zerfließt mit hundert Aeſten ohne Stamm
im Sande: er verliert ſich Namenlos und
iſt nicht mehr.


Und wo iſt des Dithyramben Sylbenmaas?
Er ſpielt auf einer Pfeife mit zwei und einem
halben Ton: wo iſt die Sprache? Wo ver-
raͤth er die Freudentoͤne, die ein allmaͤchti-
ger Griechiſcher Tanz belebte, der dem Bac-
chus nacheiferte, der die hoͤchſte Muſik, die
ſtaͤrkſte Deklamation, die groͤßte Dichterei
vereinigte? — dazu ſind gar keine Gegen-
ſtaͤnde
[333] ſtaͤnde und Anlagen, und dem einzigen Jo-
hann Sobieski
ſchenken wir ſeinen Tanz.


O Marſyas! ſo rief die Dithyrambiſche
Floͤte vom Munde, die dich wie den Alcibi-
ades verunziert: erſt lerne von den Griechen
Bacchiſche Gegenſtaͤnde waͤhlen, draͤnge dich
zu ihren Choͤren, Feſten und Taͤnzen: lerne
den Vater des Weins, in ſeiner ganzen
γενεσι und in ſeinen Thaten kennen: koſte,
aus den Dichtern, und aus dem Dichteri-
ſchen Plato etwas von dem heiligen Trank
der Corybanten; ſtatt dich bey elenden Com-
mentatoren aufzuhalten, die einander ausge-
ſchrieben, lerne vom Pindar nichts ſterbli-
ches zu ſagen, und pruͤfe deine Verſuche
nachher nach dem, was uns Lucian noch zu
guter lezt von den Griechen verrathen hat.


Το διδαξασϑαι δε τοι
ειδοτι ραϊτερον. Αγνω-
μον δε, το μη προμαϑειν.
Κουφοτεραι γαρ. απειρατων φρενες.*


Jch rufe dies unverdeutſcht dem Verf. zu,
dem ich aus vielen Urſachen wuͤnſche, Pin-
Y 5dar
[334] dar zu ſeyn: theils weil wir ein gemeinſchaft-
liches verſchrieenes Boͤotien haben: theils
weil in ihm allerdings Genie hervorleuch-
tet — zwei Urſachen, weswegen Pindar ſei-
nem Landsmanne zurief: *


Δοξαν εχω τιν’ επι
Γλοσσᾳ ακονας λιγυρας,
α μ’ εϑελοντα προσελκει
καλλιροοισι πνοαις. Ματρομα-
τωρ εμα Στυμφαλις ευανϑης Μεετωπα.
Οτρυνον νυν εταιρους
γνωναι τ’ επȣιτ’, αρχειον ονειδος αλα-
ϑεσι λογοις ει φευγωμεν, Βοιωτιαν
υν. Εσσι γαρ αγγελος ορϑος
ηυκομων σκυταλα Μοισαν, γλυκυς
κρητηρ αγαφδεγκτων αοιδαν.


Wuͤrde ich die Himmelsſtuͤrmer ſingen:
ſo finge ich an, wo jezt die Dithyrambe
aufho̊rt, bey dem Triumphsliede nach der
Schlacht. Hier wuͤrde ich als Bacchante,
mit meinen Schweſtern, den Moͤnaden, alle
Thaten unſers Ko̊niges und ſeines Silens,
den Siegbecher in der Hand, ſo herjauchzen,
als Gerſtenberg in ſeinen Proſaiſchen Ge-
dichten
[335] dichten bey einem Mahl im Himmel die Goͤt-
ter ſingen laͤßt. Alles muͤſte Bacchiſch ſeyn:
der Nektar die Urſache des Anfalls, und
der Nektar die Folge und der Nuzze des
Siegs. Den großen Peter wuͤrden Moͤna-
den ſingen, die bei dem erſten Bacchusfeſte
zu Aſtrakan, die Thaten dieſes Noah, und
alsdenn auch die ganze Schoͤpfung Rußlands
mit einer vergnuͤgten Redſeligkeit preiſen.
Meine Dithyrambe auf den Krieg wuͤrde
einen Weinberg zum Standort haben: in
der Naͤhe eine Schlacht: Bacchus erſcheint:
die Schwerter werden Thyrſusſtaͤbe, die
Berge voll Blut, Huͤgel mit Stroͤmen von
Blut der Trauben. — Die Friedensdithy-
rambe wuͤrde auch anders: und Peter
Feodorowitz und Sobieski und Friedrich
auch: Sicilien fiele weg — und im Detail
muͤſte ſich alles aͤndern, wenn nicht der Titel
ſine vitulo, ohne den Preis der Dithyram-
ben bleiben ſoll.


Jch beſchließe, da meine Beurtheilung
ſchon eine Rhapſodie Pindariſcher Stellen
geweſen, fuͤr die Leſer, die ſich an ſo viel
Griechiſchen Worten geaͤrgert, mit einem
Didakti-
[336] Didaktiſchen Trinkliede, das freilich nicht ſo
ſehr vom Trinkliede abweichen moͤchte, als
die Dithyramben von ihren Originalen.
Es hat zwar * „immer eine Schwachheit an
„ſich, der die mehreſten unſrer Poeten unter-
„worfen ſind (daher ſind ſie auch windichte,
„eitle, junge Menſchen. Es vertauſcht offen-
„bar den maͤnnlichen ernſthaf[t]en Lehrton ge-
„gen einen taͤndelnden;)„ aber wer kann ſich
helfen, es ſagt doch die Dithyrambiſche Mei-
nung eines Freundes ůber Griechiſche Dithy-
ramben.


Dithyramben ſoll ich ſingen,

hier bei Deutſchem Wein?

Nein! hier ſoll kein Griechiſch Lied erklingen,

Deutſcher Vater Bacchus! Nein!

Haben dieſe Trinkpokaͤle

Dith[y]rambenmaas?

Und daß ich Geſang des Bacchus waͤhle,

reichſt du wohl, mein kleines Glas?

Um mich tanzt wohl eine Schoͤne

Dithyrambentanz?

Und erſaͤngen mir Epodentoͤne

dieſen Kuß und dieſen Kranz?

O ſo
[337]
O ſo moͤgen Epheukronen

und ein hagrer Stier,

Alter Pindar! dir Geſaͤnge lohnen;

doch nicht Weiße, Uz und mir.

Deine Dithyrambenkraͤnze

hat die Zeit geraubt.

Sieh! Entkraͤnzter! ſieh! wie friſch ich glaͤnze

ganz mit Roſenduft umlaubt.

Denn was gehn mich Tuͤrkenkrieger — 1)

Himmelsſtuͤrmer 2) an?

Peter 3) pflanzte Wein!—ha! nicht der Sieger,

Er als Noah iſt mein Mann!

Daß der Krieg4) die Hoͤlle mehre

ſeufzt ein Kirchenlied!

Nur daß er auch Berge Wein verheere,

Darauf flucht mein heilig Lied!

Jmmer ſinge Friedrichs 5) Thaten,

braver Grenadier!

Eins nur! den Regierer ſeiner Staaten,

den Champagner, laß er mir.

Jmmer raſ’ auf Pindars Leyer

hohe Dichterwuth!

Mich — mich hizzt des Rheinweins edles Feuer

bis zu eines Trinklieds Glut.

Wenn denn dies mir von den Sproͤden

Kuß und mehr erzwingt;

Wenns denn den vom Wein entſchwornen Bloͤden

zitterndkuͤhn zum Kelchglas bringt:

O ſo
[338]
O ſo koͤnnt ihr raſend machen,

die ihr raſend ſingt —

Laßt uns, Bruͤder! trinken, ſingen, lachen!

Da mein Lied den Becher ſchwingt!


3.
Anakreon und Gleim.


Zwei Vergleichungen ſind mißlungen; aber
der Tejiſche Saͤnger, milder und herab-
laſſender, macht mich kuͤhn, ihn mit unſerm
Anakreon, dem lieblichen Gleim, zu ver-
gleichen. Wir haben mehr Anakreontiſche
Dichter, als ihn, wenn wir das Anakreontiſch
nennen, was von Liebe und Wein ſinget:
wenn wir aber das μελος des Anakreons
im Auge behalten, das meiſtens ein klein Ge-
maͤlde von Liebe und Schoͤnheit enthaͤlt:
ſo wird man gleich die Liebes - und Weinlie-
der des Leßings, Weiße, Uz, Hagedorns
und ſelbſt einige Gleimiſche als eine beſon-
dere Claſſe Anakreontiſcher Gedichte anſehen.
Jch nehme alſo nur von Gleim ſeine zwo
erſte Sammlungen, und die ſieben Ge-
dichte
[339] dichte nach Anakreons Manier zur Ver-
gleichung. Es iſt eine feine Kritik noͤthig,
um bei ſolchen liebenswuͤrdigen Kleinigkeiten
den Charakter des Saͤngers zu ertappen; und
eine noch feinere, zwei aus ſo verſchiednen Ge-
genden und Altern zu vergleichen — einigen
wird meine Parallele kindiſch vorkommen;
aber dieſe einige ſind meiſtens ſolche, die es
zu ihrer Beruhigung gar fuͤr unnuͤz halten,
uͤber Poſſen zu denken.


Anakreons Bilderchen naͤhern ſich meiſtens
einem kleinen Jdeal von Schoͤnheit und Lie-
be; und wenn ſie dies nicht erreichen wollen,
ſo ſieht man ein feines Portraͤt, nach dem
ſchoͤnen Eigenſinn eines Vorfalles, oder Ge-
genſtandes gebildet: ein allerliebſtes Griechi-
ſches Liedchen, das die Gelegenheit charakte-
riſirt, die es gebar. Die erſte Gattung
ſchwingt ſich auf zur feinen Jdee der Wohl-
luſt uͤberhaupt; die zweite, die in die Um-
ſtaͤnde eines Jndividualfalls graͤbt, naͤhert ſich
der erſten, und wo ſie ihr nachbleibt, giebt ſie
ſich eine Art von Beſtimmtheit, Spuren
der Menſchlichkeit, die wie ein Gruͤbchen im
Kinn, der Eindruck des Fingers der Liebe,
wie
[340] wie das Liſpeln des Alcib[i]ades ſelbſt mit
zur Schoͤnheit wird —


Unſere gemeine Anakreontiſten ſind Fleder-
maͤuſe, die in der mitlern Region vleiben,
das Jdeal nicht erreichen, nd bei Andeu-
tung des Vorfalls niedrig werden. Aber
Gleim iſt hier der Vergleichung werth: er
verſchoͤnert mehr, als die Franzoͤſiſchen Ana-
kreontiſten, weil er die Rei e der Natur blos
zu erheben ſucht; nur ſteht er dem Tejer
nach. Ein Drittheil ſeiner Liederchen ſind
ſchoͤne Portraͤte, bei denen der Vorfall durch-
blikt; zwei Drittheile aber kaͤmpfen zwiſchen
dem eignen Ton und der Annaͤherung zum
Griechen: erhaben uͤber die Aehnlichkeit, und
noch entfernt vom Allgemeinen. Nun weiß
man aber, daß die Griechen ihre gute Urſa-
chen hatten, bei ihren Olympiſchen Saͤulen
lieber auf Schoͤnheit, als Aehnlichkeit, zu ſehen.


Daher iſt im Alten mehr Einfalt: Ein-
falt, die ſein Ganzes gebildet hat, und die ich
an Theilen nicht bemerken durf. Jm Neuen
herrſcht ſie mehr im Detail, und im Ganzen
iſt oft ſtatt der ſchoͤnen Einfalt, Kunſt bemerk-
bar. Man vergleiche Anakreons Taube
und
[341] und Gleims Moͤpschen, Gleims Maler
und Anakreons Maler, Anakreons Chryſos
und Gleims Suͤnde u. ſ. w. bei nachgebil-
deten
Stuͤcken faͤllt der Geiſt beider Kuͤnſt-
ler in ſeinem Unterſcheide am erſten in die
Augen. Der Alte kennet ſich gleichſam min-
der; der Neuere laͤßt uns ſein Scho̊nes durch
Vorbereitungen und Folgerungen empfinden,
und ſchließt oft ein Lied voll Griechiſcher Ein-
falt,
mit einem Franzo̊ſiſchwizzigen Ein-
fall, der ein Opfer fuͤr unſern wizzigen Ge-
ſchmack iſt.


Beide Dichter ſind Soͤhne der Grazie,
und Gleims Bild ſteht nicht ohne Bedeu-
tung vor der Winkelmannſchen Abhandlung
uͤber die Grazie; allein der Grieche malet
uns doch mehr eigentlichen Reiz; dieſer oͤfter
Schoͤnheit: jener zeigt den Reiz in Hand-
lung,
und die Empfindung in Wirkung;
dieſer aber alles mehr in Worten, und Be-
ſchreibung. Daher ruͤhrt bei dem Deutſchen
der Reichthum an Worten und Wendungen,
die die Oberflaͤche verſchoͤnern; das Erlaͤu-
ternde, das dem Leſer gleichſam helfen will,
daruͤber oft die Kuͤrze verliert, und aus dem
ZCon-
[342] Contour weichet. Das ſchoͤne Stuͤck: der
Tod einer Nachtigall,
doͤrfte in allem
dieſem leiden; und durchgaͤngig mehr todte
Kunſt,
als lebende Natur in unſerm Lands-
mann anzutreffen ſeyn.


So wie Anakreon fuͤr einen Griechen
durch ſeine kleine Umſtaͤnde, Neuheit gnug
hatte: ſo unterſcheidet ſich der unſrige am
meiſten durch einen gewiſſen geiſtigen Reiz,
den er vor dem Griechen ſeinen Liedern er-
theilet. * Da dieſer Unterſchied nun feiner
iſt: ſo faͤllt auch die Mannichfaltigkeit min-
der in die Augen, und ſeine gemeinen Nach-
ahmer werden daher ſo bald einfoͤrmig, daß
man von ihren Stuͤcken ſagen kanm, was je-
ner von den Franzoſen behauptet: wer drei
kennet, hat ſie alle geſehen.


Jch habe in allgemeinen Beobachtungen
geredt, und erwarte von Gleim bei der
neuen
[343] neuen Ausgabe ſeiner Gedichte vielleicht eine
weit beſſere Praktiſche Beſtaͤtigung, als ich
habe zeigen koͤnnen: um ihn Anakreon zu
nennen. Jch habe dieſen Namen von der
Taube des alten Griechen gehoͤrt, die ich unver-
muthet antraf.


Anakreons Taube.

Woher du, liebe Taube?

Woher ſo reich an Salben,

in, deren Duft du ſchwimmeſt

und ſanft die Fluͤgel ſchlaͤgſt —

Wohin gilt deine Reiſe?

„Du kennſt mich nicht, mehr, Alter!

„Anakreons Geſpielin,

die mit ihm trank und lachte

und ſich aus ſeinen Haͤnden

die goldnen Koͤrner raubte

und ſchlief auf ſeiner Leyer

und vor der Morgenſonne

ihn in den ſchoͤnſten Traͤumen

mit ihren Fluͤgeln deckte —

Kennſt du mich noch nicht, Alter?

Ach! ich hab ihn verloren!

um deſſen Grab die Amors

und Grazien einen Hain

Z 2von
[344]
von Roſ’ und Myrth gepflanzet;

hier hab ich lang und immer

vergebens! meinen Herren

beſeufzet — und gegirret!

Zwar ſchenkte mich Cythere

ſtatt ſeines ſchoͤnen Sperlings

bald einem ihrer Knaben: *

der gab mir viel zu fliegen,

zu eſſen und zu trinken

und doch muſt’ ich entfliehen! —

Und habe lang auf Bergen,

auf Feld und Baum gewohnet,

und mich ſchon alt gendhret,

bis mich fuͤr meine Treue

Cythere einem zweiten

Anakreon jezt ſchenket,

Dem hat ſie mich geſchmuͤcket,

dem wieder jung geſalbet,

dem ſchickt ſie dieſes Kraͤnzchen,

der wird mich willig pflegen.

Nun Wandrer, weiſt du alles

von deiner alten Freundin.

Faſt iſt mein Duft verflogen,

faſt machteſt du mich ſchwazzhaft,

wie S. * und P. * * Spazzen.


4. Tyr-
[345]

4.
Tyrtaͤus und der Grenadier.


Aber Gleim gilt bei mir in einem andern
Geſichtspunkt noch mehr — er iſt unſer
Grenadier.*Tyrtaͤus und der Grena-
dier
— ich glaube bei dieſer Vergleichung
eine zuverſichtliche Mine annehmen zu koͤnnen.
Jener war das Geſchenk des Orakels fuͤr
Sparta, wie dieſer fuͤr den Ruhm Deutſch-
lands: ich ſage nicht, fuͤr den Ruhm ſeines
Heers, weil dieſes vielleicht einen Tyrtaͤus
nicht ſo noͤthig hatte, als das muthloſe Spar-
ta. Daß der Deutſche nicht durch ſeine Lie-
der eben daſſelbe Verdienſt, und eben denſel-
ben Lohn hat erlangen koͤnnen: liegt nicht an
ſeinen Geſaͤngen, ſondern an unſrer unpoeti-
ſchen Zeit, in der man nicht mehr, wie in
Griechenland den Muſen, vor der Schlacht
opfert. Dort waͤren ſeine Lieder unter Pau-
ken- und Trompetenſchall erklungen: ſie haͤtten
die Fahnen voll Muth empor geſchwungen, die
Schwerter entbloͤßt, dem Feinde Paniſches
Z 3Schre-
[346] Schrecken zugetoͤnt: ſie waͤren, wie Juſtin es
vom Tyrtaͤus ſagt, hortamenta virtutis,
damnorum ſolatia, belli conſilia
geweſen:
tantum ardorem militibus inieciſſent, vt
non de ſalute, ſed de ſepultura ſolliciti,
teſſeras inſculptis ſuis et patrum nomini-
bus, dextro bracchio deligerunt, vt ſi omnes
aduerſum proelium conſumſiſſet, et tem-
poris ſpatio confuſa corporum lineamen-
ta eſſent, ex indicio titulorum tradi ſepul-
turae poſſent.
— Sie haͤtten Sparta den
Sieg, dem Saͤnger das ſtolze Buͤrgerrecht
in Sparta, und das noch ſtolzere Geſchenk:
die Unſterblichkeit, gegeben. „Wenn Gleim
„es haͤtte dahin bringen koͤnnen, daß die
Kriegeslieder des Preußiſchen Grena-
„diers
in des gemeinen Soldaten Haͤnde ge-
„kommen waͤren: ſo muͤſte er in den Preußi-
„ſchen Staaten unter den Dichtern den er-
„ſten Rang nach den erbaulichen haben.„ *
Jn Abſicht auf ſein Verdienſt; jezt hat er
wenigſtens das Verdienſt um die Ehre ſei-
ner Nation, daß er Nationalgeſaͤnge ge-
ſungen,
[347] ſungen, die keiner unſrer Nachbarn hat,
keiner unſrer Nachbarn uns entwenden
kann,
und die vielleicht mehr als Tyrtaͤiſch
ſind.


Sie ſind Nationalgeſaͤnge: voll des
Preußiſchen Patriotiſmus, ſtuͤzzen ſie ſich auf
die jedesmaligen Umſtaͤnde ihrer Gelegenheit.
Der Grenadier redet von großen bekannten
Begebenheiten, die jedermann aufmerkſam
machen: die Heroiſchen Geſinnungen, der Geiz
nach Gefahren, der Stolz fuͤr das Vater-
land zu ſterben, iſt ſeine einzige Begeiſterung:
hier hat einmal ein Deutſcher Dichter uͤber
ſein Deutſches Vaterland aͤcht und brav
Deutſch geſungen: ohne an andre Nationen
ſein Genie zu verpachten.


Und ſolchen Grenadier hat vielleicht kei-
ne Ration von unſern Nachbarn. Jch habe
viele Franzoͤſiſche Gedichte im vorigen Kriege
geleſen, die auch den Ton des Patriotiſmus
gegen die Englaͤnder angeſtimmet haben: al-
lein wenn wir viele Grenadiers haͤtten, —


So ſchlagen wir ſie mit Geſang
Wie Friedrich mit dem Schwert.


Z 4Das
[348]

Das Geſpraͤch mit der Deutſchen Muſe
redet hier an meiner ſtatt gegen die Franzo-
ſen; und von den Engliſchen Dichtern iſt mir
in den neuern Zeiten kein Stuͤck bekannt, das
ſo viel als die Kriegslieder wiegen ſollte;
die alten Ballads nehme ich aus, mit denen
wir uns freilich nicht meſſen koͤnnen.


Und die beſte ſeiner Schoͤnheiten ſind dazu
unuͤberſezbar.* Die edle Einfalt, die
Deutſche rauhe Staͤrke, die Hoheit und Kuͤr-
ze ſeiner Bilder, Schwung und Kolorit, alles
iſt ſo ſehr in die Laune, und in den Wohllaut
unſrer Sprache eingetaucht, daß dieſe wenige
Stuͤcke gleichſam ein Graͤnzſtein ſeyn koͤnnen,
wo unſre Dichtkunſt an Franzoſen und Eng-
laͤnder graͤnzt. Die Sprache des Grenadiers
kann, ohne zu verlieren, weder in Franzoͤ-
ſiſche Proſe noch Poeſie uͤbergerragen werden,
und von der Engliſchen Poeſie, die von Bei-
woͤrtern und Bildern ſtrozzet, ** unterſcheidet
ſie ſich eben ſo gluͤcklich. Dieſe Sprache iſt
die wahre Deutſche Nationallaune; ihr Deut-
ſche!
[349] ſche! muͤßt ihr ſchon nachahmen, ſo ahmt
lieber eure Landesleute nach, als fremde
Nationen, um laͤcherlich oder veraͤchtlich zu
werden.


Wir haben alſo wirklich einen Tyrtaͤus,
und wenn wir den Plan der Stuͤcke, und ein-
zelne Theile betrachten, noch mehr, als ihn.
Plato wuͤrde unſerm Landsmann den Titel ei-
nes Goͤttlichen nicht abgeſchlagen haben, und
wenn die unwiſſende Zeit ſeine Werke ſo un-
gerecht verzehren ſollte, als die meiſten des
Tyrtaͤus: ſeine eilf Kriegslieder haben mehr
Anrecht auf die Unſterblichkeit, als die Grie-
chiſchen viere.



5.
Theokrit und Geßner.


Von allen Werken des Schweizeriſchen Geß-
ners
liebe ich ſeine Jdyllen am meiſten, und
will ſie mit den Jdyllen des Theokrits ver-
gleichen: ſie verdienen dies mehr, als die
Jdyllen des Fontenelle und Pope. Jch
Z 5will
[350] will den feinen Bemerkungen des Kunſtrich-
ters * folgen, ſo fern ſie zu meiner Verglei-
chung gehoͤren, und ſo fern ich ihnen beiſtim-
men kann.


„Man kann entweder die Beſchaͤftigun-
„gen
und die Lebensart, oder die Empfin-
„dungen
und Leidenſchaften der kleinen
„Geſellſchaften
betrachten. Sowohl die
„Lebensart, als die Empfindungen, koͤnnen
„entweder der Natur gemaͤß, gleichſam
portraͤtirt, oder nach dem Jdeal ver-
„ſchoͤnert
werden. Hier iſt in wenig Wor-
„ten die Beſchreibung von viererlei Arten von
„Gedichten, die alle zu einer Hanptklaſſe, den
Landgedichten uͤberhaupt, gehoͤren. 1) Die
„Beſchaͤftigungen von kleinern Geſellſchaften
„nach der Natur. 2) Eben dieſelbe nach dem
„Jdeal. 3) Die Empfindungen und Leiden-
„fchaften der kleinern Geſellſchaften nach der
„Natur. 4) Eben dieſelbe nach dem Jdeal.
„Die erſte iſt das eigentliche Landgedicht:
„die zweite kommt mit der Beſchreibung des
„goldnen Weltalters uͤberein: die dritte iſt ei-
„ne
[351] „ne Art von Landekloge, die nicht ganz zu
„verwerfen iſt: die vierte iſt die wahre Jdylle
Theokrits, Virgils und Geßners. Was
„iſt nunmehr die Jdylle? Nichts als der
ſinnlichſte Ausdruck der hoͤchſt verſchoͤ-
„nerten Leidenſchaften
und Empfindun-
„gen ſolcher Menſchen, die in kleinern
„Gefellſchaften zuſammen leben.
*
Der ſinnreiche D. mag als Beobachter Recht
haben, in der Anwendung finde ich einige
Bedenklichkeiten.


Zuerſt: Landgedicht, Ekloge und Jdyl-
le:
der Sache nach mag ihr Unterſchied
weſentlich und nothwendig ſeyn; wer aber
gibt den Worten den allgemeinen Werth:
du ſollſt eben das bedeuten! Unſer Kunſt-
richter glaubt mit Schlegel einerlei unter
Landgedicht zu verſtehen, und es iſt zwi-
ſchen ihnen doch ein Unterſchied. Schlegel
verſteht darunter blos ein Landſchafts-
ſtuͤck,
eine Schilderung der Gegenſtaͤn-
de der Natur; D. meint ja ſchon Beſchaͤf-
tigungen
darunter, und alſo wirklich Hand-
lung,
[352]lung, was jener doch ſchon zur Ekloge rech-
net: der Franzoſe verſteht wieder was er
will, unter Jdylle und Ekloge: wenn auch
nur 10 Stuͤcke von Theokrit und Virgil als-
denn noch Eklogen ſeyn koͤnnten; gnug wenn
er nur ſeinen Fontenelle behaͤlt; ein Deut-
ſcher wirft den Fontenelle. heraus, wenn er
nur ſeinen Geßner behaͤlt — So beſtimmt
ein jeder willkuͤhrlich, und weil kein geſezge-
beriſcher Ariſtoteles vorgearbeitet hat, ohne
Einheit.



Was iſt zu thun? Theokrit, Moſchus
und Bion haben Jdyllen geliefert: aus ih-
nen abſtrahire man alſo den Begriff der Jdylle.
Virgil hat ſeine: Eklogen: genannt; um den
Unterſchied der Namen zu beſtimmen, be-
ſtimme man den Unterſchied der Werke. Nun
vergleiche man die Neuern mit den Alten: wie
ſind ſie von ihnen unterſchieden, um neue
Klaſſen zu formiren? wie viel Gattungen gaͤ-
be es, die noch ungebraucht ſind? Und was
iſt endlich das Landgedicht uͤberhaupt?


Zuerſt alſo! Wenn es vier Arten von Land-
gedicht gibt, welche iſt die aͤlteſte? Portraͤte,
und
[353] und ſchlechte Portraͤte ſind eher, als Jdeale,
als ho̊chſt verſcho̊nerte Jdeale; ſo muͤſſen auch
die erſte Landgedichte geweſen ſeyn. Koͤnnte
dies nicht eine Urſache ſeyn, (wenn gegen den
Eigenſinn der Zeit noch muthmaßliche Urſa-
chen gelten,) warum vor Theokrit alle Land-
dichter verloren gegangen ſind, warum ſelbſt
die meiſten Gedichte ſeines Lehrers, Bions,
verloren gegangen ſind: weil ſie vielleicht die
Natur noch zu gemein portraͤtirt haben? Nur
Theokrit, ein ſpaͤter Dichter, wurde der er-
ſte Anfaͤnger einer goldnen Epoche, weil er
eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er-
reichte, daß ſeine verſchoͤnerte Natur auch fei-
nen Zeitaltern gefallen konnte.


Aber welche Natur hat er verſcho̊nert?
Beſchaͤftigungen? Oder Empfindungen
und Leidenſchaften? Der Anfang der Dicht-
kunſt iſt wahrſcheinlich eher von Leidenſchaf-
ten, als bloßen Beſchaͤftigungen geweſen;
dieſe waren theils nicht werth, theils nicht hin-
reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin-
gen. Dies beſtaͤtigen die aͤlteſten Beiſpiele,
und die Kaͤnntniß der erſten Zeiten noch mehr.
Erſt
[354] Erſt Leidenſchaft, denn Empfindung, denn
Beſchaͤftigungen, und endlich todte Malerey:
ſo iſt der Gegenſtand der Dichtkunſt nach ver-
ſchiedenen Zeitaltern geſunken. Eben derſel-
be Schritt, wie aus der Jdylle, der Schaͤ-
ferdichterei, eine Ekloge, ein Landgemaͤlde
entſtanden, hat eine andere Veraͤnderung zur Pa-
rallele, wie aus der Homeriſchen Jliade, eine
Aeneide, aus dem ειδος des Pindars, eine
Ode des Horaz, aus dem μελος des Ana-
kreons, eine Taͤndelei Catulls geworden: je-
ne redeten durch Ausdruck und Handlung,
dieſe redeten durch Worte und Schilderungen:
jene bewegten durch das, was ſie zeigten,
durch Empfindung; bei dieſen kam es ſehr
in Betracht, auf was Art ſie es vorzeig-
ten — Kurz! wenn Jdylle das Landge-
dicht iſt, das Leidenſchaften und Empfindun-
gen kleiner Geſellſchaften auf die ſinnlichſte
Art ausdruͤckt, ſo iſt Theokrit ein Jdyllen-
dichter, und zwar der vollkommenſte unter
allen, die ich kenne.


Aber Empfindungen und Leidenſchaften
nach dem Jdeal?*Hoͤchſtverſchoͤnerte
Leiden-
[355] Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei-
denſchaft,
eine Empfindung hoͤchſt ver-
ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin-
dung
zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn-
lichen
Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat
kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen
ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten
Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er
wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr
ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der
Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be-
ſchaͤftigt
ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße
zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein
Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der
goldnen Zeit. — Und profitirt der Dichter
dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was
nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht
menſchlich werden, bewundern wir hoͤch-
ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk
dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch
mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha-
raktere.
Wenn ich immer die hoͤchſt ver-
ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich
die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts-
zuͤge: dem Dichter entgehen zehn Situatio-
nen;
[356]nen; dem Leſer zehnerlei Vergnuͤgen. Kurz!
aus eben den Urſachen, warum derſelbe Kunſt-
richter von der Buͤhne und aus der Epopee *
das Jdeal der Vollkommenheit verbannen will,
verbanne ichs aus Arkadien; es ſchafft Un-
fruchtbarkeit, Einfoͤrmigkeit,
und ſchraͤnkt
die Erfindung
ein.


Jch will aber keine Abhandlung uͤber das
Schaͤfergedicht ſchreiben: ſondern nur den
Charakter der Theokritſchen und Geßner-
ſchen
Jdyllen beſtimmen, und eben dies hat
mich ſo weit gefuͤhrt. Der Kunſtrichter ſagt,
Empfindung und Leidenſchaften nach
„dem Jdeal: das iſt die wahre Jdylle
Theokrits, Virgils und Geßners.
Wie? dachte ich, alle drei nach einem Jdeal?
alle drei hoͤchſt verſchoͤnert? Der Kunſtrichter
raubt mir mit ſeiner Eintheilung allen Un-
terſchied,
den ich ſo oft zwiſchen allen dreien
empfunden, und Empfindung laͤßt ſich nicht
ſogleich rauben.


Die Leidenſchaften, die Theokrit ſeinen
Schaͤfern gibt, ſind durchaus menſchlich,
und
[357] und nach ihren kleinen Geſellſchaften, nach
ihrem Zuſtande, nicht aber Moraliſch un-
ſchuldig: Daphnis
und ſein Maͤdchen
faͤllt jedem hiebei zuerſt ein: iſt die Liebe der
Zauberin zu ihrem Geliebten wohl hoͤchſt ver-
ſchoͤnert? Platoniſch vollkommen denkt, em-
pfindet und liebt kein Schaͤfer in ihm. Er
uͤberlaͤßt ſie ihrer Natur, die nach ihrem Zeit-
alter und nach ihrer Geſellſchaft unſchuldig
iſt. Seine Schaͤferhelden ſind nicht jenem
Philoſophiſchen Helden gleich,


Qui metus omnes et inexorabile fatum
Subiecit pedibus — —
()

alsdenn waͤren ſie unertraͤglich. Seine Liebe
wird ſtuͤrmiſch, wird Raſerei bis zum Tode:
ſelbſt ſeine Grazien ſind nichts weniger als
hoͤchſt verſchoͤnerte Jdeale. Aus jeder
Jdylle muß ich Proben hiervon anfuͤhren koͤn-
nen, weil ich dies eben fuͤr das Charakter.
ſtuͤck derſelben halte.


Der Kunſtrichter verwirret ſich ſelbſt in
ſeinem eigenen Gewebe, wenn er auf die nie-
drigen Zuͤge
ſtoͤßt, die die Franzoſen im
A aTheo-
[358]Theokrit nicht ausſtehen koͤnnen; und loͤſet
dies Raͤthſel ſo auf: „weil in der Jdylle Lei-
„denſchaften
und Empfindungen bis auf
„den hoͤchſten Grad veredelt werden, ſo thue
„der Dichter wohl, daß er ihre Lebensart
„nicht zugleich mit idealiſiret.*„ Jch glaube,
der Dichter thut nicht gar zu wohl dran, denn
je hoͤher das eine veredelt wird, deſto mehr
muß das andre verekelt werden. Die
Lebensart, ſagt er, gehoͤret nicht mit zu ſei-
ner Abſicht;
allerdings! hat er nicht kurz
vorher ſelbſt eine Eklogenart fuͤr die Landbe-
ſchaͤftigungen ausgemacht: und was ja ei-
ne ganze Ekloge abgeben kann, ſollte das als
Theil bei dem andern ſo unbetraͤchtlich ſeyn?
Aber durch dieſen Kunſtgrif wird der Leſer
aus der Jrre der Jdealiſchen Welt auf die
Natur zuruͤckgefuͤhrt? leider! ja, aber auch
zu dem Seufzer gebracht: warum hat mich
der Dichter in die aͤrgerliche Jrre gefuͤhrt?
haͤtte er nicht dieſen Jdealiſchen Traum ge-
habt; alsdenn haͤtten ſeine Charaktere an
Mannichfaltigkeit und Beſtimmtheit gewon-
nen?
[359] nen? Der Kunſtrichter ſiehet ſich nach Bei-
ſpielen um, ſeinen Gedanken zu erlaͤutern, und
ich — zu widerlegen. Theokrit iſt Bei-
ſpiel genug! Man flechte in irgend eine Geß-
nerſche Jdylle einen Theokritſchen niedrigen
Zug
ein; er wird unausſtehlich: im Theokrit
aber ohne verwoͤhnte Ohren nicht. Wie
kommt das? „Geßners groͤſtes Verdienſt iſt,
„daß er die Schranken der Veredelung ſo ge-
„nau zu treffen gewuſt.„ Und Theokrit nicht
ſo genau? Und hat doch ſein Jdeal hoͤchſt
verſchoͤnert?
Gehorſamer Diener! Der
Kunſtrichter hat ſich blos in das Jdeal ſeiner
Eintheilung und Erklaͤrung wegen verliebt;
ſo bald er ſein Deſtniren vergißt, bekennt er
ſelbſt: * „Man hat die Empfindungen des Land-
„mannes verſchoͤnert, dem Jdeal naͤher ge-
„bracht, doch ſo daß ſie ihre Natur nicht ab-
„legen!„ Nun ſind wir ſchon mehr Freunde,
doch nicht voͤllig: wenn das Jdeal die hoͤchſte
Schoͤnheit bleibt: ſo ſteht Virgil uͤber Theo-
krit, Geßner
uͤber Virgil, und Fontenelle
uͤber Geßner; und ich rangire umgekehrt.


A a 2Das
[360]

Das Jdeal des Schaͤfergedichts iſt: wenn
man Empfindungen und Leidenſchaften
der Menſchen in kleinen Geſellſchaften
ſo ſinnlich zeigt, daß wir auf den Augen-
blick mit ihnen Schaͤfer werden, und ſo
weit verſchoͤnert zeigt,
daß wir es den Au-
genblick werden wollen;
kurz bis zur Jl-
luſion
und zum hoͤchſten Wohlgefallen
erhebt ſich der Zweck der Jdylle, nicht aber
bis zum Ausdruck der Vollkommenheit,
oder zur Moraliſchen Beſſerung.


Aus dieſer Bemerkung, die ich anderswo
beweiſen will, folgt vieles zu meiner Paral-
lele: je naͤher ich der Natur bleiben kann,
um doch dieſe Jlluſion und dies Wohlgefallen
zu erreichen; je ſchoͤner iſt meine Jdylle: Je
mehr ich mich uͤber ſie erheben muß, deſto
Moraliſcher, deſto feiner, deſto artiger kann
ſie werden, aber deſto mehr verliert ſie an
Poetiſcher Jdyllenſchoͤnheit. Dies iſt der
Unterſchied zwiſchen Theokrits und Geß-
ners
Charakter.


Theokrit ſchildert durchgaͤngig Leiden-
ſchaft; Geßner,
um nicht ſeinem Jdeal zu
nahe
[361] nahe zu treten, iſt hierinn weit bloͤder. So
wie uns unſer Wohlſtand zu einer Schwaͤche
gebildet, die nur fuͤr uns ſchoͤn laͤßt, ſo ſchmeck-
te vieles dem Geſchmack der Griechen, was
uns zu ſtark iſt. Seine Schaͤferleidenſchaft
bleibt immer mehr ſchleichende Neigung: die
weiche, zaͤrtliche Liebe, zu druͤcken, zu herzen,
zu kuͤſſen; dies iſt die Farbe, die man uͤber-
all ſieht. Amyntas, ein Schaͤfer, der ſich
des Baums erbarmte, laͤßt uns, wie Ram-
ler
* ſagt, ſchließen „was wird nicht ein
„groͤßerer Vorfall bei ihm wuͤrken?„ ſo
ſchlieſſen, glaube ich, kann wan im Geßner
oft; aber es ſehen? — ſelten!


Theokrit ſchildert kleinere menſchliche Ge-
ſellſchaften, nicht „wie ſie der Weltweiſe in
„der Oekonomik Moraliſch betrachtet **
ſondern wie er ſie als Dichter von ſeiner Zeit
abſtrahiren konnte, um finnlich zu reizen und
zu uͤberreden. Seine Sittlichkeit iſt alſo
auch nichts minder als Moraliſch, ſondern
A a 3Poli-
[362]Politiſch, dieſen kleinen Geſellſchaften ſo fern
angemeſſen, damit ſie reizen und illudiren.
Das ganze goldene Weltalter, in welches die
Schweizer die alten Schaͤfer ſezzen, iſt alſo ei-
ne ſchoͤne Grille: Die Griechiſchen Jdyllen-
dichter wiſſen von einer vollkommen goldnen
Zeit nur im ſeligen Elyſium der Goͤtter, und
in der Jugend der Welt, wo die Helden leb-
ten: da ſchoͤpften die Corybanten aus Milch-
ſtroͤmen ihre Begeiſterung; aber Theokrits
Schaͤfer ſchoͤpfen klares Waſſer: ja auch da
nicht einmal waren die Helden den ſeligen
Goͤttern gleich: und Theokrits Schaͤfer ſollten
es ſeyn? Jſt Alcimadure, iſt Battus, iſt
Polyphem, iſt der arme Fiſcher, denn in
dem gluͤcklichen, reizenden Alter, wie man das
goldne mahlt? Aber was gewinnt Theokrit
dabei? Er kann wirkliche Sitten ſchildern.
Da er ſein Gemaͤlde aus dem Leben portraͤ-
tirte, und bis auf einen gewiſſen Grad erboͤ-
hete; ſo konnte er auch Leben in daſſelbe
bringen.


Aber Geßner und die Neuern? Wir, die
von dieſem Zeitalter der Natur ſo weit ent-
fernt
[363] fernt ſind, daß wir faſt niemals wahre
menſchliche
Sitten, ſondern Politiſche Le-
bensart
erblicken, muͤſſen entweder einem
ganz abgezogenen Jdeal folgen, oder wenn
wir unſre Lebensart verfeinern wollen, Artig-
keit
malen. Das lezte that Fontenelle; er,
der in ſeiner Nation nichts erblickte, nichts
anders erblicken wollte, und endlich ſelbſt an
alten Schaͤfern nichts anders erblicken konnte,
ſchilderte, was er ſahe und ſehen wollte: Ge-
wohnheiten
und Umgang und Artigkeit
und Hofmanieren, die endlich einem Franzo-
ſen gefallen koͤnnen, aber einem Griechen
veraͤchtlich und ekelhaft ſeyn muͤſſen. Geß-
ner,
der von den Griechen ſeine Weisheit er-
lernt hat und ſeiner Zeit ſie bequemte, nahm
ſich alſo ein gewiſſes Moraliſches Jdeal,
und was verliert er dabei? —


Erſtlich die Beſtimmtheit der Charak-
tere. Seine Schaͤfer ſind alle unſchuldig,
nicht weil die Unſchuld aus ihrer Bildung
folgt: ſondern weil ſie im Stande der Un-
ſchuld leben: lauter Schaͤferlarven, keine
Geſichter: Schaͤfer, nicht Menſchen. Statt
A a 4zu
[364] zu handeln, beſchaͤftigen ſie ſich, ſingen und
kuͤſſen, trinken und pflanzen Gaͤrten.
Worinn iſt Geßner gluͤcklicher, als in die-
ſen Kuͤchen- und Landſchaftsſtuͤcken, wo
er die Natur oft als eine Nymphe an ihrem
Nachtſchleyer unvermuthet erhaſcht. Geß-
ner
iſt hierinn noch vortreflich, und miſcht
dieſe Schilderungen nur ein; aber wenn
ſeine Nachfolger mittelmaͤßige Schilderun-
gen
zum Hauptwerk, * zu ihrem ganzen Ge-
ſchaͤfte machen; ſo weicht dies ja ganz von
den Alten ab. Sie malen das, worinn ih-
nen der Maler es zuvor thun kann, nur ſelten,
nur als ein Nebenwerk, nur kurz: wenn aber
Breitenbauchs Juͤdiſche Schaͤfergedichte
nichts als malen: ſo — koͤnnen ſie blos
durch die Kunſt des Malers ſchaͤzzbar werden,
und ſchlaͤgt die fehl — ſo iſt alles verloren.


Die Mannichfaltigkeit leidet bei dieſem
Jdeal noch mehr. Nicht von innen aus der
Seele, ſondern meiſtens nach Umſtaͤnden wird
ſie beſtimmt. Geßners Jdyllen ſind oft al-
ler-
[365] lerliebſte Schaͤfertaͤndeleien, hier uͤber ein
fliegendes Roſenblatt, dort uͤber einen zerbro-
chenen Krug, hier uͤber einen Baum, dort
uͤber das Schnaͤbeln der Tauben; hier redet
der Vater Menalkas, hier der Sohn Myrtill
uͤber ſeinen ſchlummernden Vater; hier der
neunzigjaͤhrige Palaͤmon: hier der Liebhaber,
dort die Schoͤne; immer aber derſelbe Schaͤ-
fer, nur in einer andern Situation.


So moͤchte Geßner gegen Theokrit ſeyn.
Jch weiß nicht, ob ich mit Rammler ſa-
gen kann: „er hat im wahren Geiſt des
Theokrits gedichtet. Man findet hier glei-
„che
Suͤßigkeit, gleiche Naivete, gleiche Un-
„ſchuld
in Sitten.„ Die Suͤßigkeit des Grie-
chen iſt noch ein klarer Waſſertrank aus dem
Pieriſchen Quell der Muſen; der Trank des
Deutſchen iſt verzuckert. Jenes Naivete
iſt eine Tochter der einſaͤltigen Natur; die
Naivete im Geßner iſt von der Jdealiſchen
Kunſt geboren; jenes Unſchuld redet in Sit-
ten des Zeitalters; die Unſchuld des lezren
erſtreckt ſich bis auf die Geſinnungen, Nei-
gungen, und Worte. Kurz! Theokrit malt
A a 5Leiden-
[366]Leidenſchaften und Empfindungen nach
einer verſchoͤnerten Natur: Geßner Em-
pfindungen
und Beſchaͤftigungen nach ei-
nem ganzverſchoͤnerten Jdeal: Natur-
ſcenen
kann ich noch dazu ſezzen; nur Lei-
denſchaften?
nicht ſo leicht. Wo er ſie
ſchildern muß z. E. in ſeinem Tode Abels,
und in ſeinem Daphnis mißrathen ſie oft:
Abel zu fromm: Cain zu uͤbertrieben, und
unwahrſcheinlich: Daphnis fuͤr die Erde zu
himmliſch und fuͤr das Reich der Hebe zu
irrdiſch. Seine Schaͤferſpiele — man fuͤh-
re ſie auf: und man wird Puppen ſehen:
man leſe ſie, und es ſind ergoͤzzende Puppen.
Aber ein Schaͤferſpiel wirklich in Theokrit-
ſchem Geiſt, das muß, eben ſo wohl ruͤhren,
als ein Griechiſches Heldenſpiel.


Jch entziehe Geßner hiemit nichts von
ſeinen gerechten Lobſpruͤchen: ich kann aus
Rammlers Batteux mit willigen Fingern
hinzuſezzen: „Seine Erfindungen ſind (im
„Detail) mannichfaltig: ſeine Plane regel-
„maͤßig: nichts iſt ſchoͤner als ſein Colorit:
„ſeine Proſe iſt ſo wohlklingend, daß wir den
„Theo-
[367] „Theokritſchen Vers nur ſehr wenig ver-
„miſſen.„ Jch preiſe ihn allen Dentſchen
an, von ihm Weisheit im Plan, Schoͤnheit
in der Auszierung, die leichteſte Staͤrke im
Ausdruck, und die ſchoͤne Nachlaͤßigkeit zu ler-
nen, womit er die Natur malet.


Aber Theokrit kann er uns nicht ſeyn.
Jm Geiſt der Jdyllen muß er nicht unſer
Lehrer, unſer Original, und noch weniger un-
ſer einziges Original ſeyn! Und das aus drei
Gruͤnden: Zuerſt wuͤrden dadurch blos arme
trockne
Nachahmungen erzeugt, an ſtatt daß
aus Theokrit noch neben ihm Originale gebil-
det werden koͤnnen, die eine neue und eigenthuͤm-
liche Art der Verſchoͤnerung nach dem Ge-
ſchmack unſrer Zeit haben koͤnnen, wenn ſie
Genies ſind. Die Natur, der Theokrit
naͤher iſt, kann als eine Mutter mit vielen
Bruͤſten, noch viele Geiſter traͤnken, und wer
trinkt nicht lieber aus der Quelle, als aus ei-
nem Bach?


Zweitens: was ein Genie bildet, iſt
vorzuͤglicher im Theokrit: Leidenſchaft, und
Empfindung; was uns Geßner zeigen
kann,
[368] kann, iſt mehr Kunſt und Feinheit: Schil-
derung und Sprache. Ahmen wir nun blos
dem leztern nach, ſo entſtehet ein peior pro-
genies
von Landdichtern, die ewig ſchildern
und langweilig ſchwazzen: wie Geßner vie-
le ſolche ſchon hervorgebracht.


Drittens: Da unſere Laune mehr das
Denken, als Beobachten iſt: ſo verſaͤumen
wir bei der bloßen Nachahmung der Neuern
ſehr leicht das lezte, und vertiefen uns in
Jdealiſche Traͤume, ſtatt wie der Griechiſche
Zevxes wirkliche Naturbilder zu ſtudiren. Zu
ſchwach alsdenn, das hoͤchſte zu erfliegen,
und zufrieden, wenn wir ſtatt eines Griechi-
ſchen Gefuͤhls lieber Franzoͤſiſchen leichten
Geſchmack haben: bringen wir Misge-
burten zur Welt, die ausſchweifend auf der
einen, und ohne Jntereſſe auf der andern
Seite ſind: unbeſtimmte Mittelarten zwiſchen
Engeln und ſinnlichen Geſchoͤpfen. Aber de-
ſto mehr Liebhaber finden ſie oft: weil ein
frommer lieber Leſer, und ein unreifer
feuriger Juͤngling ſie beide umarmen, ob ſie
gleich der Kenner verwirft.


End-
[369]

Endlich ſchreibt Geßner zwar, gegen ei-
nen Athenienſer Doriſch, aber gegen ande-
re Schweizer, wie Theokrit gegen Pindar:
er iſt ein Sohn derſelben Grazie, die den
Theokrit ſalbete, und kann ſich in Deutſchland
das Lob geben, was ſich der beſcheidene Theo-
krit gab: ich habe mich nie fremder Muſen
bedienet!



6.
Alciphron und Gerſtenberg.


Zwiſchen Alciphron und Gerſtenberg*
kann ich ſagen: ſiehe! hier iſt mehr, als
Alciphron. Seine Taͤndeleien ſind artige
Spiele der Liebe: dieſes ſchoͤn wie ein Kuß,
jenes wie ein duftender Blumenſtraus: ein
andres, wie das ſchalkhafte Laͤcheln eines Maͤd-
chens: dies, wie ein freundſchaftlicher Haͤnde-
druck; jenes, wie ein ſuͤſſer Schauder bei der
Thraͤne eines andern: ſie ſchwimmen auf dem
Meere des Wohllauts. Wir wollen dieſe
Gedichte
[370] Gedichte der Grazie weihen, wie Orpheus
ſein 59ſtes ϑυμιαμα; und ihm die Ode des
Pindars zueignen, die er dem Aſopichus
ſang, einem jungen olympiſchen Saͤnger,
der mit den Charitinnen am ſilbernen Ce-
pheus
geboren war.



7.
Sappho und Karſchin.


Die Muſe will, daß ich mit einer Dichte-
rin beſchließen ſoll, die ſich oft und manch-
mal am unrechten Ort den Namen Sappho
gibt. Jch wuͤrde dieſen Frauenzimmereinfall
nicht zur maͤnnlichen Wahrheit machen: wenn
nicht die Beſtimmtheit, mit der ſie auf ſich
zeigt, es verriethe; einige ihrer Verehrer
haben vielleicht ihre Beſcheidenheit in dieſen
ſuͤßen Traum gewieget.


Wenn man die Gedichte der Mad. Kar-
ſchin
auch nur als Gemaͤlde der Einbildungs-
kraft betrachtet: ſo haben ſie wegen ihrer vie-
len Originalen Zuͤge mehr Verdienſt um die
Erwe-
[371] Erweckung Deutſcher Genies, als viele Oden
nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr
auch ſo gar mehr einraͤumen, als ihr die Lit-
teraturbriefe geſtatten; * dem ohngeachtet
aber kann ich doch fragen: iſt ſie Sappho?


Nach den zwei Fragmenten, die uns von
der Griechin uͤbrig geblieben, wuͤrde ich ihren
Charakter ohngefaͤhr beſtimmen: „eine Saͤn-
„gerin, die in der Anordnung ihrer Geſaͤnge,
„ihrer Bilder und Worte; in der zarten
„Glut,
die alles fortſchmilzt und in einer fei-
„nen Wahl der wohlklingendſten Aus-
„druͤcke
eine zehnte Muſe geworden.„


Sollte auch in der Anordnung ihrer
Geſaͤnge Dionyſius aus Halikarnaſſus
mehr gefunden haben, als ſie hineingelegt:
ſo ſind doch die Karſchiſchen Gedichte damit
nicht zu vergleichen, die ohne Plan im
Ganzen, ohne Oekonomie der Bilder, oh-
ne Kaͤnntniß des Lyriſchen Perioden, hin-
geworfene Geburten einer reichen dichteriſchen
Einbildungskraft ſind.


Von
[372]

Von dem ſanften Sapphiſchen Feuer iſt
Longin, Catull und alle ihre Erklaͤrer, nur
nicht der boͤſe Phaon, durchdrungen gewe-
ſen; und Longin, der Erhalter dieſes Stuͤcks,
hat das Kunſtſtuͤck des Baumgartens vor-
treflich gewuſt. ſeine Regeln vom hohen Em-
pfindungsvollen in ſein Beiſpiel ſelbſt einzu-
weben; allein die Deutſche Sappho, in ihrem
Feuer mehr wild als ſanft, mehr ſtuͤrmiſch
als ſchmelzend, doͤrfte eher in ihren Werken
Androgyne ſeyn, als eine zaͤrtliche Freundin
der Venus, wie die Griechin war.


Endlich die Wahl ihres Wohlklanges hat
den Horaz zum Nachfolger erweckt, aber
weit hinter ſich gelaſſen: werden aber wohl
Deutſche Horaze unſre Karſchin zum Mu-
ſter nehmen wollen? Doͤrfte die Griechiſche
Sappho nicht zu ihr ſagen, was ſie nach ei-
nem ihrer Fragmente ihrem Maͤdchen ſagt:
„Du haſt ja nie Roſen gepfluͤckt, auf den
„Pieriſchen Bergen, wo die Muſen und Gra-
„zien wohnen.„


Jch wuͤnſche unſrer Dichterin indeſſen
nichts ſo ſehr, als nicht das Gegenbild der
Sappho
[373] Sappho zu ſeyn, in Anordnung, Feuer und
Wohlklang; wie es beinahe jezt iſt: und
nichts wuͤnſche ich ihren Gedichten minder,
als das Schickſal, das die Sapphiſchen hat-
ten: ſie giengen unter, oder geriethen unter
die unerbittliche Verſtuͤmmelung Kritiſcher
Kipper und Wipper; wie leicht koͤnnten ſich
Kunſtrichter des lezten bei den Karſchiſchen Ge-
dichten anmaßen, wenn es die Verfaſſerin
nicht ſelbſt thun will?



Wie mag es aber gekommen ſeyn, daß Sap-
pho
unterging? Du wirſt vielleicht ſagen:
wer kann wider Gott und Novogrod? Allein!
ein Kunſtrichter, der vermuthlich - Offenba-
rung gehabt, wird dir dieſen Jrrthum beneh-
men: * „Korinna und Sappho, die unmaͤſ-
„ſig und ausgelaſſen waren, muſten dafuͤr
„buͤßen: ihre Verſe gingen unter, und ihr
„Name blieb zwar, doch mit dem ſchandba-
„ren Nachklange, daß ſie verbuhlte Dirnen
„geweſen.„


So
B b
[374]

So wenig ich mich daruͤber einlaſſen will,
warum faſt keine Griechiſche Oden zu uns ge-
kommen: ſo wenig wird der Verfaſſer dieſes
Urtheils eine Apologie unter folgendem Titel
ſchreiben:


„Vertheidigung des gerechten Avto da
„Fe,
das die Griechiſchen Pfaffen an den
„ſchandbaren Liebesliedern des Menan-
„ders, Diphilus, Apollodors, Phile-
„mons, Alexis,
der Sappho, Korin-
„na, Anakreons
(den man aber aus Gna-
„de noch verſchonte, weil er weiſe gelebt hat-
„te,) Minermus, Bions, Alcmanns,
„Alcaͤus
u. ſ. w. heilſam und gottſelig
„veruͤbet, weil die meiſten von ihnen un-
„maͤßig und ausgelaſſen gelebt, und den
„ſchaͤndlichen Nachklang gelaſſen, daß ſie
„verbuhlt geweſen; wogegen man aber
„die Gedichte des gottſeligen Nazian-
„zenus
chriſtlich und wohlbedaͤchtig einge-
„fuͤhrt.„


Hat der Verfaſſer dazu Luſt, ſo wird er dies
Verfahren noch mit vielen Beiſpielen rechtfer-
tigen koͤnnen:


1) Wie
[375]
  • 1) Wie chriſtlichfromm jener Eifer ge-
    weſen, der alle ſchwarze Statuen zer-
    ſchlug, weil ſie Werke des leidigen
    Teufels waren.
  • 2) Aus welch heilſamen Abſichten die Go-
    then aus Rom die Heidniſchen Buͤcher
    wegſchleppten.
  • 3) Welch einen buͤndigen zweihoͤrnichten
    Vernunftſchluß jener Kaliphe Omar
    machte, da er die Alexandriniſche Bi-
    bliothek in Brand ſtecken ließ: entwe-
    der ſagſt du, was im Koran ſteht,
    oder — —
  • 4) Und welche feine und genaue Auswahl
    der Pfarrer zu Mancha mit dem Bar-
    bier Niklas anſtellte, ehe die Haus-
    haͤlterin ihres gnaͤdigen Herrn Biblio-
    thek zum Fenſter herausſchickte.
  • 5) Wird um einige kleine Antworten ge-
    beten: ob Livius wegen ſeiner vielen
    aberglaͤubiſchen Geſchichte meiſtens un-
    tergegangen, dahingegen die Priapeia
    gerettet worden, weil ſie der keuſche
    B b 2Virgil
    [376] Virgil geſammlet hatte? ob der from-
    me Treſcho mehr Gewalt gegen die
    Zeit haben wird, als die ſchandbaren
    Dichter, die von Liebe und Wein ſin-
    gen?

Jch wuͤnſche in der That, aus Liebe zu den
Litteraturbriefen, daß dieſe und einige andre
Hypochondriſche Einfaͤlle morgen aus meinem
Exemplar verſchwunden waͤren. Hat ſich
nicht der Kunſtrichter erinnert, daß man der
ſchandbaren Sapphyo zu Ehren Muͤnzen ge-
ſchlagen?



Jch ſchließe meine Parallele: 7 Statuen
habe ich auf Deutſchem Grund und Boden
gefunden, als ein ehrlicher Deutſcher ſie ge-
gen die Griechiſchen Antiken geſtellt: Wan-
drer! urtheile ſelbſt, oder ſchaffe ſelbſt mehre-
re Bildſaͤulen her, oder arbeite ſelbſt welche
aus. Jch gehe fort, und mit einem zuruͤck-
geworfenen Liebesblick ſeufze ich: O ihr Deut-
ſche Griechen, wenn das Schickſal eurer Ur-
bilder auf euch kommen ſollte: wie viel wer-
den eurer nach 2000 Jahren uͤbrig ſeyn?
Wird
[377] Wird alsdenn noch ein Volk von Deutſchen
Antiken wiſſen? wird ein Richter ſie alsdenn
noch mit den Griechen vergleichen? Warum
will man der lebenden Welt das Urtheil verbie-
ten, da die Nachwelt deſto ſchaͤrfer richten
wird?




[378]

Beſchluß.


Nachſchrift an den Leſer.) Wer die Fort-
ſezzung dieſer Parallele wuͤnſcht; der erwar-
te im dritten Theil etwas von unſern Roͤ-
mern, Englaͤndern und Franzoſen: und
nachdem alle Schulden abgetragen ſind, wol-
len wir unſer eignes Kapital berechnen, und
fragen: wozu wirs anwenden koͤnnten. Der
4te Theil ſoll von der Aeſthetik, Geſchichte
und Weltweisheit reden, wenn dieſe weite
Materie nicht das Maas eines Theils uͤber-
geht. Obgleich meine Fragmente kein Ge-
baͤude, ſondern blos Materialien ſind: ſo
muß man doch auch die Anfuͤhrung derſelben
zu vollenden ſuchen.


An die Schriftſteller, uͤber die ich gere-
det.) Ob man gleich in Deutſchland noch
immer uͤber ſeine Urtheile das Sentiment des
Pindars ſezzt: „Wer es wagt von Goͤttern
„zu reden, der thue es mit Ehrfurcht; denn
„der Seligen einen zu tadeln iſt Unſinn:„ ſo
habe ich doch das Zutrauen zu denen, die ſich
nicht uͤber Mitbuͤrger der Litteratur erhe-
ben
[379] ben wollen; ſie werden auch ein freies Ur-
theil auf dem Markte uͤber ſich nicht ungern
ſehen. Jch ſage mit dem Achilles im Ho-
mer: „mir haben die Trojaner nichts ge-
„than; nie mein Vieh weggetrieben, nie auf
„dem fetten und volkreichen Pthya meine
„Fruͤchte beſchaͤdigt; denn viel ſchattichte
„Berge ſind zwiſchen uns, und das wiederſchal-
„lende Meer.„ Der ganze Plan meiner
Fragmente zeigt, daß ich blos von den Haupt-
geſtirnen unſrer neuern Litteratur reden woll-
te; die Sterne der 5ten Groͤße moͤgen eben ſo
große Sonnen ſeyn; fuͤr uns Erdbewohner
aber nicht.


An die Kunſtrichter.) Darf ein Verfaſ-
ſer ſelbſt den Geſichtspunkt angeben, aus dem
er betrachtet ſeyn will: ſo bin ich zufrieden;
wenn ich das Genie unſrer Sprache, ihren
Zuſtand, die Febler und Schoͤnheiten unſrer
Schriftſteller, und die Mittel, von einan-
der zu lernen gezeigt; wenn ich zur Kaͤnntniß
und Nachbildung der Griechen angemuntert;
wenn ich die Graͤnzen der Morgenlaͤndiſchen
Nachahmung beſtimmt, und fuͤr Schriftſtel-
ler,
[380] ler, Leſer und Kunſtrichter nur etwas nuͤz-
lich geweſen bin. Zweitens! Darf ein Verfaſ-
ſer die Kunſtrichter angeben, mit denen er
ſich uͤber ſeine Schriften, wie durch ein oͤf-
fentlich Commerz, gern beſprechen moͤchte; ſo
wuͤnſchte er ſich, ohne andern zu nahe zu tre-
ten, vorzuͤglich das Urtheil eines Michaelis,
Moſes, Abbt, Klozz
und Ramlers, in
der allgemeinen und Neuen Bibl. in den
Actis litterar. und Goͤtting. Zeitungen, oder
anderswo.


Notes
*
Der 24. Theil der Briefe, der das Regiſter iſt.
*
Homers Jliade.
*
De oratorib. dialog.
*
Anakr. μελ. 53.
*
Litt. Br. Th. 17. p. 107.
*
ſ. Schluß der Litt. Br.
*
Litt. Br. Th. 1. p. 92.
*
Litt. Br. Th. 5. p. 289.
*
Th. 6. p. 241.
**
Th. 1. p. 35.
*
Th. 13. und 18.
*
Litt. Br. Th. 1-24.
*
Litt. Br. Th. 6. und 22.
*
Jliade B. 1. V. 64. ꝛc.
*
Th. 6. p. 247.
*
Litter. Br. Th. 2. p. 256.
*
Mallet Geſchichte v. Daͤnnem. Th. 1.
*
ſ. Litt. Br. Th. 2.
*
Th. 19. p. 155 ꝛc.
*
Th. 1. 10. 13. 16. 17.
*
ſ. Klopſt. Abhandl. von der heil. Poeſie.
*
Nord. Auſſeh. Th. 3. St. 110.
*
ſ. Meßiade 5. Geſ.
*
Litt. Br. Th. 18.
*
Litt. Br. Th. 20. p. 157. u. Th. 21. p. 3. 13. 81.
*
Litt. Br.! Th. 2.
*
Litt. Br. Th. 17. p. 11.
*
p. 16.
*
Litt. Br. Th. 7. p. 124. 125. Th. 9. p. 49. Th.
14. p. 258.
*
Litt. Br. Th. 1. p. 34.
**
Bit[a]ube in ſeiner Ueberſ. Home[rs].
*
Littr. Br. Th. 19. p. 155. 156.
**
Litter. Br. Th. 1. p. 49.
*
Iſocrates in Panegyr.
*
Plutarch. in vit. Alcibiad.
*
Jm erſt. Buch der Denkio. Reden.
*
Abbt vom Verdienſt p. 367. 77.
*
Litter. Br. Th. 1. p. 46.
*
Litt. Br. Th. 1. p. 52.
*
Litter, Br. Th. 1. p. 52.
*
Characteriſtiks Vol. 3. Miſcell. Reflex. p. 156, 182.
*
Litter. Br. Th. 1. p. 44. 50.
*
Litter, Br. Th. 7.
*
Litt. Br. Th. 21. p. 37.
*
Wie Herodot anfuͤhrt, den ich fuͤr mehr, als
Fabelſchreiber halte.
*
ſ. Anthol. 1. B.
*
Winkelm. Geſch. der Kunſt Th. 2.
*
Hymne auf Bacchus.
*
Pindar. ειδ 6. Olymp.
*
Pind. Od. 6. Olymp.
*
Platons Jo.
**
de logica Pindari: ein Programm von eben
dem Verf.
*
Olymp. Od. [...] 8. p. 216. nach der Schmid.
Ausgabe.
*
Od. 6. Olymp. p. 160. 61.
*
ſ. Litt. Br. Th. 21. p. 79.
1).
ſ. die Dithyramben.
2).
ſ. die Dithyramben.
3).
ſ. die Dithyramben.
4).
ſ. die Dithyramben.
5).
ſ. die Dithyramben.
*
Die Lieder nach dem Anakreon von Gleim
ſind, nachdem ich dies geſchrieben, erſchienen;
ich glaube aber, ſie beſtaͤtigen meine ganze
Parallele ſehr augenſcheinlich, wenn ich ſie
als Nachbildungen, nicht Ueberſezzungen,
betrachte.
*
Catull.
*
Catull.
*
Litt. Br. Th. 17. p. 6. 7.
*
Abbt vom Verdienſt p. 367.
*
Litter. Br. Th. 16. p. 50.
**
Kleiſts Werke: 2ter Th. Proſ. Aufſaͤtze.
*
Litter. Br. Th. 16. p. 113.
*
p. 124. 125.
*
p. 124. 125.
*
Litter. Br. Th. 7. und 9.
*
Litter. Br. Th. s. p. 134. 135.
*
p. 134.
*
ſ. ſeinen Batteux.
**
ſ. Litter. Br. im angef. Theil.
*
ſ. Juͤd. Schaͤferged.
*
Litter. Br. Th. 2. p. 228.
*
Litter. Br. Th. 17. p. 123.
*
Litter. Br. Th. 21. p. 75.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn4v.0