zur Befoͤrderung
der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe,
Bey Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie.
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An
Herrn
Carl Friederich
Marggrafen zu Baaden.
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Sie muͤſſen in den mir unvergeßlichen Stunden, da ich die hohe Ehre hat-
te, mich mit Hochdenſelben uͤber die wichtigſten Dinge zu unterhal-
ten — wahrgenommen und empfunden haben, daß es nicht Schmeicheley,
nicht irgend eine Art von niedrigem Eigennutz, ſondern bloße, innige Vereh-
A 3rung,
[VI] rung, Zutrauen, Hinwallung und Liebe eines bewegten Herzens ſeyn mußte,
die mich drang, Sie, wuͤrdigſter Fuͤrſt, um die Erlaubniß zu bitten,
Hochdenſelben dieſe erſten ſchwachen phyſiognomiſchen Fragmente zueignen
zu duͤrfen.
Aber das konnte Jhnen, beſter Fuͤrſt, die edle unverſtellte Beſcheiden-
heit, die ich an Jhnen ſo ſehr bewundern mußte, nicht ſagen, daß ich dieſe
Bitte zugleich deswegen that, um auch fuͤr meine geringe Perſon eine Gele-
genheit zu haben, es oͤffentlich — und o daß ichs nur ſtark genug koͤnnte —
zu ſagen; daß es eine meiner angenehmſten Erinnerungen, meiner froheſten
Gedanken einer iſt und ſeyn wird: „So viel Weisheit und Menſchlich-
keit, ſo viel Religion und Tugend in der Perſon eines regierenden Fuͤr-
ſten lebendig und wirkſam zu ſehen.“
Die Welt weiß es ſchon, aber ſie weiß es nicht genug — Solche Seiten
Jhres edlen, großen und wahrhaft Fuͤrſtlichen Charakters, ſolche Gemuͤths-
verfaſſun-
[VII] verfaſſungen, wie ich wahrzunehmen das Gluͤck hatte, wird ſie ſchwerlich zu
bemerken Gelegenheit gehabt haben.
Jhr Bild, wuͤrdigſter Fuͤrſt, — ach! wie ſchwach, wie unvollſtaͤndig
ausgedruͤckt auf dieſem Blatte — wie tief hat es ſich ohne Jhr Wiſſen und
Beſtreben in meine Seele gegraben! Wie ſchlaͤgt mir mein Herz, wenn ich
Jhren Namen, den Namen Jhrer großen, in ſo mancher Abſicht unver-
gleichbaren Gemahlin, Jhrer edlen und hoffnungsvollen Prinzen — wenn
ich nur Carlsruhe nennen hoͤre — —
Wie gluͤcklich bin ich, wenn dieſe, freylich weit unter Jhrer allzuguͤti-
gen Erwartung, unreife Arbeit, Sie, wuͤrdigſter Fuͤrſt, bisweilen an die
ehrfurchtsvolle Liebe erinnert, — welche Jhre Weisheit und Guͤte mir
einfloͤßen mußten; — wenn ſie Jhnen einen Menſchen ins Gedaͤchtniß
zuruͤck zu rufen vermag, der gewiß bey jeder Nachricht von Jhrem hohen
Wohlbefinden, und Jhrem maͤnnlichen feſten Fortgang in der Erkenntniß
und
[VIII] und Liebe der heilſamen Wahrheit — Freudenthraͤnen vergießen, und bis in
die letzten Stunden ſeines Lebens ſich freuen wird, daß Sie — ſind, und
ſeyn werden; und daß er mit Jhnen iſt, und ewig ſeyn wird
Zuͤrich,
den 2. November 1774.
Jhr Mitanbeter Gottes
Johann Caſpar Lavater.
[]
Vorrede,
Oder Fragment einer Vorrede; — denn ein Buch wuͤrde die Vorrede werden,
wenn ich alles ſagen wollte, was ſich zur Wegraͤumung aller Vorurtheile,
und zur Warnung vor allen ſchiefen Geſichtspunkten, aus welchen dieß Werk be-
urtheilt werden wird, ſagen ließe, und was, wenn's meine Muße erlaubte, um
ſo vieler Schwacher willen geſagt werden ſollte.
Alſo nur Fragment einer Vorrede.
Jch weiß nicht, welche von beyden Thorheiten die groͤßere iſt; „die Wahr-
„heit der menſchlichen Geſichtsbildung zu laͤugnen“ — oder: „Einem, der ſie laͤu-
„gnen kann, ſie beweiſen zu wollen?“ —
Der erſtern von dieſen Thorheiten macht ſich ein großer Theil der heutigen
Welt ſchuldig; und die andere begeh' ich.
Jch Thor, der ich weiß, wie unuͤberzeugbar unter tauſenden wenigſtens
neunhundert und neunzig ſind; haben ſie ſich einmal vorher, mehr oder weniger
oͤffentlich, wider die Sache erklaͤrt, wovon man ſie uͤberzeugen will!
Aber — nenn es nun Stolz oder Blindheit — ich ſchreibe nicht blos,
ſchreibe nicht ſowohl fuͤr mein Zeitalter — Nicht dieß, das folgende Jahrhundert
ſoll urtheilen; denn ich weiß, daß ich bey dem gegenwaͤrtigen, wenige Weiſe aus-
agenom-
[]Vorrede.
genommen, verlieren werde; verlieren wuͤrde, wenn ich auch nichts, als Worte
Gottes ſchreiben koͤnnte ... „weil man einmal und zehenmal gelacht hat“ —
Der Feind der Wahrheit hat in jedem Falle ſo viel als gewonnen, wenn er zu lachen
machen konnte; — alſo —
Erwart' ich bey der Herausgabe dieſes zum Theil ungewoͤhnlichen Wer-
kes mit feſter Ruhe eine unzaͤhlige Menge der demuͤthigendſten Urtheile!
Jch erwarte Spoͤttereyen, Satyren, Hiebe, falſche zerſtuͤmmelte Alle-
gationen, Chikanen, Anekdotenkuͤnſteleyen aller Arten — von beruͤhmten und
unberuͤhmten Namen.
Auch treffliche, wichtige Belehrungen, ſcharfſinnige Einwendungen, und
auch wichtige Beytraͤge und Ergaͤnzungen von manchen verſtaͤndigen, billigen, un-
partheyiſchen Wahrheitsfreunden — Beyfall ſelber von ſolchen, die bisher wider
mich und meine Meynungen, ehe ſie Gelegenheit hatten, dieſelben deutlich und
vollſtaͤndig genug zu hoͤren, und ruhig genug zu pruͤfen, eingenommen wa-
ren — aber weit mehr unbruͤderliche, feindſelige, abgeſchmackte Urtheile —
erwart' ich.
Jch mache mich darauf gefaßt. Data fuͤr meine Erwartung liegen haͤufig
vor meinen Augen, toͤnen mir alle Tage um die Ohren — unter hundert Leſern
wird nicht Einer meine Gruͤnde unpartheyiſch pruͤfen! — Lachen und Wehkla-
gen! Seufzen und Spotten! das werden die Gruͤnde ſeyn, welche die meiſten mir
entgegen ſetzen werden. Der leichteſte Weg! von hundert tauſenden betreten!
die Heerſtraße der Dummheit, und der Geiſtesſclaverey!
Beobachtung aber wird Beobachtung, Erfahrung Erfahrung, und
Wahrheit Wahrheit bleiben, was man immer fuͤr elende Kunſtgriffe ausdenken
mag, ſie erſt mit Koth zu beſpritzen, ihre Glorie zu verdunkeln, und ſpottend dann
auszurufen: „Wo iſt die Heilige?“
Jch
[]Vorrede.
Jch will alles erwarten, und in allem auf den ſehen, auf den ſo wenige
bey ihren Arbeiten und bey ihrem Urtheilen ihr Augenmerk richten — den Va-
ter der Wahrheit. —
Unzaͤhlige male hab ich mich geirrt; unzaͤhlige male vermuthlich werd ich
auch auf dieſer, zumal ſo wenig betretenen, Bahn, ſtraucheln; niemals aber hart-
naͤckig bey einer Meynung bleiben, wenn man mir, bruͤderlich oder unbruͤderlich —
uͤberwiegende Gegengruͤnde vorlegt.
Aber — Gruͤnde ſag' ich — alles andre, wie's auch Namen haben mag,
iſt Staub in die Augen, fuͤr Thoren oder Knechte!
Man ſag' uͤber meine phyſiognomiſchen Verſuche, was man will; man
kann ſchwerlich ſo viel Schlimmes davon ſagen, als ich ſelber davon denke. Es iſt
nicht auszuſprechen, wie viel in allen Betrachtungen mir fehlt, um in irgend einem
ertraͤglichen Sinn ein Wiederherſteller dieſer menſchlichſten und goͤttlichſten Wiſ-
ſenſchaft zu werden.
Aber man verwechsle das Objekt nicht mit dem Subjekte! den Phyſiogno-
miſten nicht mit der Phyſiognomik!
Jch kann ſchlecht und ſchwach uͤber die Phyſiognomik ſchreiben, und Sie
kann dennoch eine wahre, in der Natur gegruͤndete Wiſſenſchaft ſeyn.
Wer dieſe Fragmente alle geleſen hat, und dann an dieſem letztern noch
zweifelt — der wird an allem in der Welt, was er nicht ſelbſt ausgedacht hat —
zweifeln, oder zu zweifeln vorgeben.
„Aber daß ich von dieſer Sache ſchreibe? Ein Geiſtlicher und Phyſiogno-
„mik!“ „welch ein Kontraſt!“ — Jn den Worten, oder in der That? — Lie-
ber Leſer! wenn du dieß Werk geleſen haſt — (ich appellire auf nichts, als dein
ruhiges, unpartheyiſches Leſen!) — ſo antworte du fuͤr mich.
a 2Jtzt
[]Vorrede.
Jtzt nur dieß Wort: „Wenn Gott dem Pferd' eine Lobrede haͤlt, darf ich
„dem Menſchen keine halten? wenn Chriſtus die Herrlichkeit der Lilie aufdeckt;
„iſt's mir, dem Schuͤler, unanſtaͤndig, die Huͤlle uͤber Gottes Herrlichkeit in dem
„Antlitz und der Bildung des Menſchen mit beſcheidener Hand wegzuziehen? Was?
„das Gras des Feldes, das nicht arbeiten, nichts ſchaffen, und nichts ſprechen kann,
„das heute ſteht, und morgen in den Ofen geworfen, oder zertreten wird, fand
„an dem Herrn aller Welten einen Lobredner, und mir ſoll's Suͤnde, meiner un-
„wuͤrdige Beſchaͤfftigung ſeyn, den Herrn des Erdbodens, das lebendigſte, ſpre-
„chendſte, wirkſamſte, erhabenſte, ſchaffendſte Geſchoͤpf, das unmittelbarſte Bild
„der Gottheit zur Ehre des unerreichbaren Urbildes zu preiſen? Urtheile, wer
„urtheilen kann!“
Wie ich uͤbrigens zu dieſer Arbeit veranlaſſet, oder vielmehr in dieſelbe
hineingeriſſen worden ſey, wird dir bald geſagt werden.
Und endlich glaub ich, daß der Urheber aller Talente ſich nicht widerſpre-
che, und daß ein jeder Menſch verbunden ſey, gerade die Talente anzubauen,
zu uͤben und zu nutzen, die er hat, und daß wer zween Talente hat, nicht blos
anderthalbe auf Wucher legen darf. Was mir Gott giebt, warum ſollt' ich's
den Menſchen nicht wieder geben duͤrfen, wenn's ihnen Nutzen bringt, und dem
Urheber aller Kraͤfte Ehre macht!
„Aber ich habe verſprochen — nichts mehr Phyſiognomiſches zu ſchreiben?“
Zum Theil wahr! aber anſtatt aller andern Antwort nur dieſes: Die allermei-
ſten meiner froͤmmſten und meiner philoſophiſchſten Freunde und Leſer gaben
mir dieſes Verſprechen zuruͤck, und wollten mir's ſchlechterdings nicht abnehmen.
Jch will Beweiſe davon vorlegen, wann man will, und wem man will.
„Aber dieſes Werk iſt ſehr koſtbar und prachtreich?“ Antwort: Es iſt
durchaus nicht fuͤr den großen Haufen geſchrieben. Es ſoll von dem gemeinen
Manne nicht geleſen und nicht gekauft werden. Es iſt koſtbar ſeiner Natur nach;
koſtba-
[]Vorrede.
koſtbarer als andere Werke mit Kupfern, weil ſehr viele Zeichnungen und Ku-
pferplatten fehlgeſchlagen ſind — uͤbrigens, koͤnnen's verſchiedene zuſammenkaufen
und gemeinſchaftlich beſitzen. —
Jch ſparte nichts, das Werk nach dem Geſchmacke der Leſer, fuͤr die
ich es beſtimmt hatte, einzurichten. Wenn ich zu einem Fuͤrſten gehe, ſo zieh
ich mein beſtes Kleid an. Wenn Pracht nicht Zweck, ſondern nur Mittel zu
einem weit wichtigern Zweck iſt, ſollte ſie dann unerlaubt ſeyn?
Dieß wirſt du verſtehen, haſt du dieß Werk mit Nachdenken geleſen —
und am Ende, wenn dich die Auslage gereut; wenn wegen des Ankaufs deſ-
ſelben dir dein Gewiſſen Vorwuͤrfe der Verſchwendung macht; wenn's der Ar-
me, Nothleidende entgelten muß; wenn dieß Werk nichts dazu beytraͤgt, dich
fuͤr die Zukunft, zum Beſten duͤrftiger Nebenmenſchen ſparſamer zu machen;
o ſo hab ich Unrecht gethan, ein ſo koſtbares Werk heraus zu geben, welches je-
doch ſo manchem Kuͤnſtler in und außer meinem Vaterlande huͤbſchen Verdienſt
und Anlaß, ſich in ſeinem Studium zu vervollkommnen, darbot.
Alſo, Leſer! nimm dieſe Fragmente, die mehr als alle Fragmente in
der Welt dieſen Namen verdienen — nimm ſie und lies ſie, nicht fluͤchtig! lies
ſie mit ſtillem, pruͤfendem Nachdenken. Lies ſie im Geiſte an meiner Seite —
Laß dir ſeyn, ich unterhalte dich perſoͤnlich mit meinen Beobachtungen, theile
dir meine Empfindungen einfaͤltig mit — Kalte Beobachtungen, wenn ich kalt
beobachte, warme Empfindungen, wenn ich warm empfinde, ohne allemal erſt
meine Beobachtung, Empfindung, oder meinen Ausdruck, irgend einem gefuͤhllo-
ſen Journaliſten in die Cenſur zu ſenden — Lies, Bruder, als ein Bruder — lies
und beurtheile mich ſo, wie du's thun wuͤrdeſt, wenn wir dieſelben neben ein-
ander laͤſen — Lies ſie, willſt du ſie fuͤr dich richtig beurtheilen, wo immer dei-
ne Geſchaͤffte es erlauben, zweymal; und willſt du ſie oͤffentlich widerlegen, we-
nigſtens — Einmal.
a 3Lies,
[]Vorrede.
Lies, ich will nicht ſagen, ohne Vorurtheil fuͤr oder wider mich, fuͤr
oder wider die Phyſiognomik; beydes waͤre zu viel! — Aber lies mit ſo ru-
higer Pruͤfung, und ſo feſter Ueberlegung, als es dir moͤglich iſt; und wenn
du mit dieſer Gemuͤthsverfaſſung aus dieſer Schrift nicht gelernt haſt —
- Dich und deinen Nebenmenſcheu, und den Schoͤpfer von beyden beſ-
ſer zu kennen;
„Nicht gelernt haſt, dich zu freuen, daß du biſt, und daß ſolche und
„ſolche Menſchen neben dir ſind; dich zu freuen,
„Daß dir eine neue Quelle von edlen, menſchlichen Vergnuͤgungen
„aufgeſchloſſen iſt; —
„Wenn du nicht mehr Achtung fuͤr die menſchliche Natur, mehr heilſa-
„mes Mitleiden mit ihrem Verfalle, mehr Liebe zu einzelnen Menſchen, mehr
„ehrfurchtsvolle Freude an dem Urheber und Urbilde aller Vollkommenheit
„in dir zu erwecken gelernt haſt;
„Wenn du am Ende in ſehr nuͤtzlicher Menſchenkenntniß nicht weiter
„gekommen biſt;„
O ſo hab ich umſonſt geſchrieben; ſo hat die laͤcherlichſte Thorheit mich
blind gemacht; ſo ſage, wie, und wann und wo du willſt, daß ich dich betrogen
habe — ſo verbrenne dieß Werk, oder ſend' es mir zu, und ich will dir — deine
Auslage erſtatten. —
Jch verſpreche nicht (denn ſolches zu verſprechen waͤre Thorheit und Un-
ſinn) das tauſendbuchſtaͤbige Alphabeth zur Entzieferung der unwillkuͤhrlichen Na-
turſprache im Antlitze, und dem ganzen Aeußerlichen des Menſchen, oder auch nur
der Schoͤnheiten und Vollkommenheiten des menſchlichen Geſichtes zu liefern; aber
doch einige Buchſtaben dieſes goͤttlichen Alphabeths ſo leſerlich vorzuzeichnen, daß
jedes geſunde Auge dieſelbe wird finden und erkennen koͤnnen, wo ſie ihm wieder
vorkommen.
Zugabe
[]
Zugabe zur Vorrede.
Etwas uͤber den Plan und Jnnhalt dieſes Werkes.
Man weiß es ſchon, daß ich weder Luſt, noch Kraft habe, eine Phyſiogno-
mik, oder irgend eine Art von phyſiognomiſchem Syſtem zu ſchreiben; — daß
ich nur Fragmente zu liefern gedenke, die unter ſich eben keine Verbindung
haben, und kein Ganzes ausmachen werden. Um alle Erwartung von ir-
gend etwas Ganzem, Zuſammenhaͤngendem, ganz zu zernichten, und mir zu-
gleich die oft ſo beſchwerliche Muͤhe einer leicht uͤberſchaubaren Rangordnung
der Materien zu erſparen — war mein erſter Gedanke, dieß Werk in Form
eines Wochenblattes herauszugeben. Es fanden ſich aber nachher Schwierig-
keiten, wobey der Verleger und der Leſer allein eingebuͤßt haͤtten; ich allein ge-
wonnen haͤtte, ſo, daß ich dieſen Gedanken fahren ließ. Jch fuͤhr ihn aber doch
an, um meine Leſer in Abſicht auf die Ordnung des Werkes nichts Vollſtaͤn-
diges erwarten zu laſſen. Der Plan, den ich mir ſeither oft vorzeichnete, hat
ſich durch immer neue unvorgeſehene Ereigniſſe ſo oft veraͤndert, daß ich vor
Vollendung des Werkes dem Leſer kaum etwas vorlegen darf, das als Plan
angeſehen werden koͤnnte. Auch kann ich nicht einmal alle die Materien be-
ſtimmt genug nennen, womit ich meine Leſer unterhalten werde. Was und wie
viel in jeden Band kommen, wie viel Baͤnde das Werk ausmachen werde,
das laͤßt ſich itzo ſchlechterdings nicht beſtimmen. Je nach dem mir Geſundheit,
Muße, Kraft und Luſt vergoͤnnt werden wird; je nach dem meine Verſuche dem
Publikum gefaͤllig und nuͤtzlich ſeyn werden, werd ich mich ausbreiten, oder ein-
ſchraͤnken. Sehr vermuthlich aber werden vier Baͤnde das Wenigſte ſeyn, was
ich verſprechen oder draͤuen kann. —
Jch werde mit einigen vorbereitenden Abhandlungen den Anfang ma-
chen; und Verſchiedenes, das in denſelben behauptet werden wird, mit Zeich-
nun-
[]Zugabe zur Vorrede.
nungen belegen. Dieſe vorbereitenden Abhandlungen ſollten verſchiedene allge-
meine Vorurtheile gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt wegraͤumen, den Scha-
den, der daher beſorgt, den Nutzen, der gehofft werden kann, die Leichtigkeit
und Schwierigkeit der Phyſiognomik, den Character und die Eigenſchaften des Men-
ſchenbeobachters — beleuchten.
Jn jedem Bande werden einige allgemeine Betrachtungen und ſehr viele
beſondere Wahrnehmungen und mehr oder weniger wichtige Anmerkungen und
phyſiognomiſche Uebungen, das Reſultat haͤufiger entwickelter und unentwickel-
ter Beobachtungen vorkommen.
Jch werde erſt vieles nur gelegentlich ſagen; — nachher zuſammen faſ-
ſen, und, wenn der Leſer genug vorbereitet iſt, und einiges Zutrauen gewon-
nen hat — zu foͤrmlichen Schluͤſſen und Entſcheidungen fortſchreiten.
Jch werde, obgleich ich nicht die mindeſte Vollſtaͤndigkeit verheiſſen kann,
dennoch ſchwerlich einen wichtigen Punkt ganz uͤbergehen, wenn mir Gott Zeit
und Kraft dazu ſchenket.
Mannichfaltigkeit und Reichthum der Bemerkungen; Deutlichkeit, Be-
ſtimmtheit und uneinſchlaͤfernde Staͤrke im Vortrage, darf ich, mit einander
zu vereinigen, nicht immer verſprechen; aber verſprechen, immer darnach zu
ſtreben.
Von allen Nationen, allen Gattungen der Menſchen, allen Kraͤften der
menſchlichen Natur ſollt' ich reden. Jch will's nicht verſprechen; aber mich be-
eifern, mehr zu leiſten, als ich verſprechen darf.
Daß das Jntereſſe des Werkes immer ſteige, daß beſonders das Ende —
die Abſtractionen aus allen zerſtreuten Beyſpielen — reif werden, und die ſchaͤrfſte
Pruͤfung der Menſchenerforſcher aushalten moͤge; daß die Wahrheit deſſen, was
ich,
[]Zugabe zur Vorrede.
ich, obgleich nicht immer, obgleich ſelten im Docententon ſagen werde, dem
offnen Auge und Herzen — des Weiſen in der Natur begegne; daß er oft mit
geheimer Freude ausrufe — „da iſt ſie! da koͤmmt ſie! Jch kenne ſie!“ Wie
wuͤnſch ich mir das! wie mach ich mir's zum Ziel — aber! — wer fuͤhlt's,
wie ſchwer es iſt, dieß allemal zu erreichen! Es bisweilen zu erreichen, dieß
darf ich hoffen; ſonſt waͤr's unverantwortlich, wenn ich ein phyſiognomiſches
Wort ſchriebe. Ueberhaupt aber wird das ganze Werk durchaus zeigen, daß
es mir unmoͤglich war, irgend etwas Ganzes, oder im eingeſchraͤnkteſten Sinne
etwas Vollkommenes zu liefern.
Jn dieſer Abſicht ſind den Fragmenten ſehr oft Zugaben beygefuͤgt, wor-
inn groͤßtentheils was nachgeholt, oder geſagt wird, das einige Beziehung aufs
Hauptbruchſtuͤck hat; oft auch etwas nur einigermaßen dazugehoͤriges, ohne Ruͤck-
ſicht aufs Vorhergehende, beleuchtet wird. Anders konnt ich mir oft nicht hel-
fen, wenn ich bey meinem Hauptgeſichtspunkt, wo ich ſchlechterdings nothwen-
dig ſtehen bleiben muß — nur Fragmente zu liefern, bleiben — und es doch
dem Leſer einigermaßen erleichtern wollte, — den Weg, um nicht zu ſagen, den
Plan des Werkes zu uͤberſchauen; und dieß und jenes zu ſuchen und zu finden.
Hauptkupfertafeln und Vignetten werden ſehr ſelten bloße Zierde, groͤß-
tentheils Hauptſache, Fundament, Urkunde ſeyn.
Es war unmoͤglich, daß alles von Meiſterhaͤnden gemacht wurde. Das
Werk waͤre nie zu Stande gekommen, kein Verleger haͤtt' es uͤbernehmen, und
kein Publikum bezahlen koͤnnen.
Das glaub ich behaupten zu duͤrfen, daß ſehr viele nicht nur in Abſicht
des Ausdruckes, worauf doch eigentlich am meiſten geſehen werden ſollte, ſon-
dern auch der mahleriſchen Ausfuͤhrung, ſich Kennern duͤrfen ſehen laſſen. Haͤrte
iſt's wohl, was man manchen Tafeln vorwerfen kann und wird; aber da es
bvornehm-
[]Zugabe zur Vorrede.
vornehmlich um Beſtimmtheit des Ausdruckes zu thun war, und da die Tafeln
eine betraͤchtliche Anzahl Abdruͤcke aushalten muͤſſen, wenn das Werk dem Ver-
leger nicht zum groͤßten Schaden gereichen ſoll, ſo war wohl eine gewiſſe Haͤrte und
Schaͤrfe bisweilen ſchlechterdings unausweichlich. Doch darf man Hoffnung ma-
chen, daß jeglicher Theil auch in dieſer Abſicht vollkommner und fehlerloſer her-
auskommen werde.
Wie vieles ſollte noch geſagt werden — aber wer kann, wer mag al-
les ſagen! da es doch ſchlechterdings unmoͤglich iſt, ſich gegen jeden Vorwurf
zu rechtfertigen, und Thorheit, zu erwarten, daß nicht tauſend Menſchen aus
den verſchiedendſten Jntereſſen ſtatt zu nutzen, was ihnen vorgelegt wird, und zu
genießen, was da iſt, lieber tadeln, und herzaͤhlen werden, was nicht da iſt.
Schriebs Oberried, den 7. Maͤrz 1775.
[]
Jnnhalt
des erſten Verſuchs.
- Zueignung an Herrn Friedrich Carl, Marg-
grafen zu Baden. - Vorrede.
- Zugabe zur Vorrede.
- Einleitung. Wuͤrde der menſchlichen Na-
tur. Seite 1 - I.Fragment. Geringheit der phyſiognomi-
ſchen Kenntniſſe des Verfaſſers. 7 - II.Fragment. Von der Phyſiognomik. 13
- Zugabe. 15
- III.Fragment. Einige Gruͤnde der Verach-
tung und Verſpottung der Phyſiognomik. 17 - Zugabe. 21
- IV.Fragment. Einige Zeugniſſe fuͤr die
Phyſiognomik. 23 - V.Fragment. Ueber die menſchliche Na-
tur. 33 - VI.Fragment. Von dem Bemerken der
Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
uͤberhaupt. 38 - VII.Fragment. Von der Wahrheit der
Phyſiognomik. 44 - VIII.Fragment. Die Phyſiognomik, eine
Wiſſenſchaft. 52 - IX.Fragment. Von der Harmonie der mo-
raliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. 57 - 1. Zugabe. Ueber fuͤnf Koͤpfe einer Vignette.
78 - 2. Zugabe. Judas nach Holbein. 79
- 3. Zugabe. Chriſtus nach Holbein. 83
- 4. Zugabe. Ueber ein Rembrandſches Ecce
Homo. S. 85 - 5. Zugabe. Demokritus nach Rubens. 92
- 6. Zugabe. Greuel der Trunkenheit nach Ho-
garth. 96 - 7. Zugabe. Ein Hogarthſches Blatt voll le-
bendiger Laſter. 98 - 8. Zugabe. Der tiefſte Grad der menſchlichen
Laſterhaftigkeit, nach Hogarth. 100 - 9. Zugabe. Drey idealiſche Koͤpfe. Umriſſe.
102 - 10. Zugabe. Drey Profile nach Poſſi und Cho-
dowiecki. 103 - 11. Zugabe. Ueber einige Umriſſe aus Weſts
Pylades und Oreſt. 110 - 12. Zugabe. Ueber die Adieux de Calas von
Chodowiecki. 112 - 13. Zugabe. Thomas nach Raphael, von Pi-
kart. 114 - 14. Zugabe. Vier Portraͤte von Raphael.
117 - 15. Zugabe. Knipperdolling und Storzenbe-
cher. 118 - 16. Zugabe. Judas und Compagnie nach
Rembrand. ebend. - 17. Zugabe. Ein Kopf nach Raphael. 120
- 18. Zugabe. Drey Karrikaturen. 122
- 19. Zugabe. Acht Umriſſe. 124
- 20. Zugabe. Herkules zwiſchen der Tugend
und Wolluſt nach Ponſſin. 125 - 21. Zugabe. Ueber den vatikaniſchen Apoll.
131
b 2X.Fragment.
[]Jnnhalt des erſten Verſuchs.
- X.Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten. S. 136 - Zugabe. 140
- XI.Fragment. Von einigen Schwierigkei-
ten bey der Phyſiognomik. 142 - Zugabe. 148
- XII.Fragment. Von der Leichtigkeit der
Phyſiognomik. 152 - XIII.Fragment. Vom Nutzen der Phy-
ſiognomik. 156 - XIV.Fragment. Vom Schaden der Phy-
ſiognomik. 163 - XV.Fragment. Der Phyſiognomiſt. 170
- XVI.Fragment. Von einigen Phyſiogno-
miſten. 180 - XVII.Fragment. Phyſiognomiſche Uebun-
gen zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Ge-
nies. 185 - A. Sechs Wayſenknaben. 186
- B. Sechs Silhouetten von Wayſenknaben. 188
- C. Sechs maͤnnliche Umriſſe von Silhouetten.
191 - D. Sechs weibliche Silhouetten. 192
- E. Vier weibliche Silhouetten. 194
- F. Ein maͤnnlicher Kopf H ... e 196
- G. Ein Kopf nach Raphael. 198
- H. Ein zweyter Kopf nach Raphael. 200
- I. Zwey Koͤpfe nach Le Bruͤn. 202
- K. Dieſelbe. 202
- L. Ein Kopf nach Piazetta. 204
- M. Ein Kopf nach Le Bruͤn. 205
- N. Ein Kopf nach Le Bruͤn. 206
- O. Vier Profilumriſſe. 207
- P. Eine Tafel mit kleinen Chodowieckiſchen Koͤ-
pfen nebſt kurzen Urtheilen daruͤber. S. 209 - Q. Noch eine. 211
- R. Ein ausgearbeitetes Profilportraͤt. 213
- S. Giorgione oder Georgius Barbarelli. 219
- T. Eine große maͤnnliche Silhouette. 219
- U. Neun erdichtete Silhouetten. 222
- V. Neun andere. 224
- W. Neun andere, groͤßtentheils Karrikatur.
226 - X. Zwey ganz erdichtete maͤnnliche Silhouetten.
227 - Y. Eine Gruppe imaginirter Koͤpfe. 228
- Z. Michel Schuͤppach. 230
- AA. Drey Profilkoͤpfe. 232
- BB. Kleinjogg. 234
- CC. Ein zuͤricheriſcher Landmann B. 239
- DD. Vier Silhouetten von trefflichen Maͤnnern.
241 - EE. Homer nach einem in Conſtantinopel gefun-
denen Bruchſtuͤck. 245 - FF. Anſon. Derſelbe im Umriß. 247
- GG. Ein Paar Knaben. 249
- HH. Ein maͤnnliches Profilportraͤt. 251
- II. Einige Umriſſe von Kuͤnſtlern. 253
- KK. Machaon Wepfer. 255
- LL. Acht Paar Augen. 256
- MM. Ein Profilportraͤt eines jungen Genies.
258 - NN. Ein Religioſe. 260
- OO. Heinrich Blatter. 263
- PP. Rameau. 266
- XVIII.Fragment. Vermiſchtes. 267
- Lied eines phyſiognomiſchen Zeichners. 272
Fragmente[]
Fragmente
zur
Einleitung.
‘Gott ſchuf den Menſchen ſich zum Bilde.’ ()
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. B
[]
[]
Einleitung.
Wuͤrde der menſchlichen Natur.
„Und Gott ſprach:
„Wie hier die Schoͤpfung ſtilleſteht und wartet — Waſſer und Luft und Erde und
„Staub — alles erfuͤllt, belebt, wimmelnd und wogend! aber, wo iſt ſinnlicher Zweck deß
„Allen? Einheit? — Jedes fuͤr ſich eine Jnſel! Jedes ein genießendes Geſchoͤpf auf Ei-
„nem Punkte! wo Etwas, das gewiſſermaßen alle genieße? Blick, der ſie alle ſammle?
„Herz, das ſie alle fuͤhle? Die ganze Schoͤpfung ſcheint zu trauern, zwecklos zu genießen, und
„nicht genoſſen zu werden! Wuͤſte! Oedes Gewimmel! Der Puls der Schoͤpfung harret!
„Jſt's moͤglich, ein ſolches Geſchoͤpf, die Krone, die hoͤchſte ſinnliche Einheit alles
„Sichtbaren! Waͤr's — Es waͤr gleichſam ein Nachbild, ein Repraͤſentant der Gott-
B 2„heit
[4]Einleitung.
„heit in ſichtbarer Geſtalt .... ein Untergott, ein Statthalter, ein Herrſcher — die Gottheit
„in ſeinem Bilde! — Welch Geſchoͤpf!
„Die Gottheit berathſchlaget — noch ſchlafen die Kraͤfte dieſer neuen Schoͤpfung! —
„Dieſe Geſtalt im Bilde waͤre ſo dann innig, unendlich ſchoͤner, und lebender, als Fluren,
„Hayn und Gebuͤrg und Elyſium! Jnnig ſchoͤner und lebender, als Fiſch und Voͤgel, Ge-
„wuͤrm und Thier aller Gattungen und Arten! Jn ihn gleichſam der Gedanke, die Schoͤ-
„pfers- und Herrſchungsgabe des Unſichtbaren geſenkt! Wie wuͤrde ſein Blick! wie That,
„Leben, Geſtalt! Was waͤre die ganze Natur gegen dieſe menſchliche Seele! — Was waͤre
„rathſchlagend, wie Er! Schaffend, herrſchend, das ſichtbare Ebenbild der Gottheit —
„Der Rathſchlag iſt vollendet.
„Konnte in aller Welt mehr das Menſchengeſchoͤpf geehrt, und gleichſam vergoͤttert
„werden, als durch dieſe Pauſe, durch dieſen Rathſchlag Gottes? Durch Praͤgung zum Bil-
„de Seiner.
„Einfaͤltig, edel und aufſchließend fuͤr die Natur des Menſchen!
„Siehe da ſeinen Koͤrper! die aufgerichtete, ſchoͤne, erhabne Geſtalt — Nur
„Huͤlle und Bild der Seele! Schleyer und Werkzeug der abgebildeten Gottheit! wie ſpricht
„ſie von dieſem menſchlichen Antlitz in tauſend Sprachen herunter! offenbart ſich mit tauſend
„Winken, Regungen und Trieben nicht darinn, wie in einem Zauberſpiegel, die gegenwaͤr-
„dige, aber verborgne Gottheit? — So ein unnennbares Himmliſches im menſchlichen Auge:
„das Zuſammengeſetzte aller Zuͤgen und Mienen — So zeichnet ſich die unanſchaubare Sonne
„im kleinen truͤben Waſſertropfen! Die Gottheit in eine grobe Erdgeſtalt verſchattet! —
„Gottheit wie kraͤftig und freundlich haſt du dich im Menſchen offenbart! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
„Siehe
[5]Wuͤrde der menſchlichen Natur.
„Siehe das ſchoͤnſte Vorbild von Einkleidung und Schoͤnheit! — den menſchlichen
„Koͤrper! Einheit im Mannichfaltigen! Mannichfaltiges in Einem! — Wie er da
„ſteht in ſeinem hohen Eins! — Wohlgeſtalt, Ebenmaße, Symmetrien durch alle Formen
„und Glieder! und welch ein Mannichfaltes! Jmmer Eins und immer, wie ſanft wie bieg-
„ſam veraͤndert ....
„Betrachte dieß goͤttliche Seelenvolle Menſchenantlitz! Mannichfaltigkeit und Ein-
„heit! Einheit und Mannichfaltigkeit! Der Gedanke dieſer Stirn, Blick des Auges, Hauch
„des Mundes, Miene der Wange! wie alles ſpricht, und zuſammenfließt! Einklang! alle
„Farben in Einem Stral der Sonne! .... Gemaͤlde des ſanfteſten unermeßlichſten
„Jnnhaltes!
„Da ſteht Er! Jn all ſeinem Goͤttlichen! Gleichniß Gottes und der Natur! Jnn-
„begriff aller Rege, Schoͤpferskraft und Wirkung! Studirt ihn; zeichnet ſeine Geſtalt,
„wie die Sonn' im Waſſertropfen — all Euere Goͤtter, Helden und Goͤttinnen, weß Alters,
„Zeichens, Stellung, Bedeutung ſie ſeyn moͤgen — disjecti membra Poëtae! und das
„hoͤchſte aus aller Welt geſammelte Engelsideal, wie's etwa Plato Winkelmann traͤumen,
„und Appelles-Raphael mit einem zitternden Zuge ſchaffen kann — Venus Anadyomene
„und Apollo wirds nimmer werden: Nur ſchoͤne Schattenbilder, dieſe in Einer Geſtalt oft
„tiefgeneigte Schatten am Untergange der Sonne — Laſſet Kuͤnſtler und Dichter, wie Bie-
„nen, den Reichthum, und Kraft und Suͤßigkeit und Fuͤlle aus der ganzen ſichtbaren Natur
„ſammeln: Bild Gottes, Jnnbegriff der Schoͤpfung, Gemaͤchte voll Rege und Be-
„deutung nach hohem Gottesrathſchluß — Es wird Jdeal der Kunſt ſeyn und bleiben! ‒ ‒ ‒
„Menſchheit! — Heiliges und entweihetes Bild Gottes! geſchwaͤchter und zerrißner
„Jnnbegriff aller Schoͤpfung! Tempel, in dem und an dem ſich die Gottheit zuerſt, und
„nach Wunderzeichen und Propheten, zuletzt, zu offenbaren wuͤrdigte — durch den Sohn!
„den Abglanz der Herrlichkeit Gottes! den Ein und Erſtgebornen! durch den, und in
B 3dem
[6]Einleitung. Wuͤrde der menſchlichen Natur.
„dem Welten verfaſſet worden! den zweyten Adam! — o Menſchheit! was ſollteſt du
„ſeyn, und was biſt du geworden!“*)
Waͤre die große Wahrheit, die in dieſer Stelle liegt, mir immer gegenwaͤrtig,
inniglebendig in mir, welch ein Buch wuͤrd' ich ſchreiben! Sobald ich ſie vergeſſe, wie
unertraͤglich werd' ich dir ſeyn, dir — fuͤr den ich eigentlich allein ſchreibe, — Glaͤubiger
an die Wuͤrde und Gottaͤhnlichkeit der menſchlichen Natur.
[7]
Erſtes Fragment.
Von der Geringheit meiner phyſiognomiſchen Kenntniſſe.
Es liegt mir gar ſehr viel dran, meine Leſer nicht mehr von mir erwarten zu laſſen, als ich
ihnen wirklich zu geben im Stande bin. Wer ein großes phyſiognomiſches Werk herausgiebt,
der ſcheint zu verſtehen zu geben, daß er unendlich viel mehr uͤber die Phyſiognomie zu ſagen wiſſe,
als ſeine Zeitgenoſſen. Er ſetzt ſich dem beißendſten Spott aus, wenn ihm einmal ein Fehlur-
theil entrinnt; — und macht ſich wenigſtens bey denen, die ihn nicht leſen, bloß um ſeiner ihm
vielleicht nur angedichteten Praͤtenſionen willen — laͤcherlich.
Von ganzer Seele veracht' ich, (Gott und alle, die mich kennen, wiſſens,) alle Char-
latanerie, alle die laͤcherlichen Praͤtenſionen — von Allwiſſenheit und Unfehlbarkeit, die ſo man-
che Schriftſteller unter tauſend Geſtalten blicken laſſen, und ihren Leſern inſinuiren wollen.
Vor allen Dingen alſo ſag' ich, was ich ſchon oft, was ich bey allen Gelegenheiten geſagt
habe; ob gleich es alle, die uͤber mich und mein Unternehmen urtheilen, ſich und andern zu verheh-
len belieben: „daß ich ſehr wenige phyſiognomiſche Kenntniß beſitze; daß ich mich unzaͤh-
lige male in meinen Urtheilen geirret habe, und noch taͤglich irre“ — Daß aber gerade
eben dieſe Jrrthuͤmer und Fehlſchluͤſſe das natuͤrlichſte und ſicherſte Mittel waren, meine Kennt-
niſſe zu berichtigen, zu befeſtigen, und zu erweitern.
Vielleicht wird es manchem meiner Leſer nicht ganz unangenehm ſeyn, etwas von dem
Gange meines Geiſtes in dieſer Sache zu wiſſen.
An alles in der Welt dacht' ich wol vor meinem fuͤnf und zwanzigſten Jahr eher, als
daran, daß ich je ein Wort uͤber die Phyſiognomie ſchreiben, daß ich nur die mindeſte Nachfor-
ſchung druͤber anſtellen wollte. Es fiel mir gar nicht ein, nur ein phyſiognomiſches Buch zu le-
ſen, oder die mindeſten Beobachtungen zu machen, vielweniger zu ſammeln. — Die aͤußerſte Em-
pfindlichkeit meiner Nerven ward indeß bisweilen von gewiſſen Menſchengeſichtern das erſtemal,
da ich ſie ſahe, ſolchergeſtalt in Bewegung geſetzt, daß die Erſchuͤtterung lange noch fortdauerte,
nachdem ſie weg waren, ohne daß ich wußte, warum? Ohne daß ich auch nur weiter an ihre
Phy-
[8]I. Fragment. Von der Geringheit
Phyſiognomie dachte. Jch urtheilte einige male, ohne urtheilen zu wollen, dieſen erſten Ein-
druͤcken gemaͤß, und ward — ausgelacht, erroͤthete, und wurde — behutſam. — — Jahre
giengen vorbey, eh ich's wieder wagte, ein ſchnelles, durch den erſten Eindruck gleichſam abgenoͤ-
thigtes, Urtheil zu faͤllen — Unterdeß zeichnet' ich etwa einen Freund, auf deſſen Geſicht mein
Auge einige Minuten vorher ſtillbetrachtend verweilt hatte. — Denn von meiner fruͤh'ſten Jugend
an hatt' ich einen ſehr ſtarken Hang zum Zeichnen und beſonders zum Portraͤtzeichnen, ob wol ich
wenig Fertigkeit und wenig Geduld dazu hatte. Durchs Zeichnen fieng mein dunkels Gefuͤhl an,
nach und nach ſich einigermaßen zu entwickeln, die Proportion, die Zuͤge, die Aehnlichkeit und
Unaͤhnlichkeit der menſchlichen Geſichter wurden mir merkbarer — Es fuͤgte ſich, daß ich etwa
zween Tage nach einander ein paar Geſichter zeichnete, die gewiſſe ſehr aͤhnliche Zuͤge hatten; dieß
fiel mir auf — und ich erſtaunte noch mehr, da ich aus andern Datis zuverlaͤßig wußte, daß die
Perſonen ſich durch etwas ganz beſonderes in ihrem Character auszeichneten.
Jch will eine der erſten Veranlaſſungen dieſer Art, und was ſollte mich davon abhalten?
noch umſtaͤndlicher erzaͤhlen — Die Phyſiognomie des beruͤhmten Herrn Lambert,*) der ſich
vor mehr als zwoͤlf Jahren in Zuͤrich aufgehalten, und den ich nachher wieder in Berlin zu finden
das Vergnuͤgen hatte, war eine von den erſten, die mich durch ihre ganz außerordentliche Bil-
dung frappirte, meine innerſten Nerven zittern machte — und mir ein Jch weiß nicht was —
von Ehrfurcht inſpirirte — — Dieſe Eindruͤcke wurden aber bald von andern verdraͤngt; ich
vergaß Lamberten und ſeine Geſichtsbildung — Wol drey Jahre nachher zeichnet' ich, um noch
wenigſtens ſein Bild zu retten, meinen toͤdtlich kranken Herzensfreund Felix Heßen.**) Tau-
ſend-
[9]der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers.
ſendmal hatt' ich ihn angeſehen, ohn einmal ſeine Phyſiognomie mit Lamberts zu vergleichen; Jch
hatt' ihn in Lamberts Geſellſchaft geſehen, mit Lamberten controvertiren gehoͤrt und, — wol
ein unwiderleglicher Beweis meines, wenigſtens damals, ſtumpfen Beobachtungsgeiſtes — und
beobachtete nicht die mindeſte Aehnlichkeit.
Aber indem ich zeichnete, fiel's mir ſo gleich auf — ſtand ſo gleich Lamberts erwecktes
Bild vor mir — „Du haſt Lamberts Naſe!“ ſagt' ich meinem Freunde. Je mehr ich dran
zeichnete, deſto ſpuͤrbarer wurde mir die Aehnlichkeit. Jch will Heßen nicht mit Lamberten ver-
gleichen; — nicht ſagen, was Heß haͤtte werden koͤnnen, wenn es Gott gefallen haͤtte, ihm meh-
rere Jahre zu ſchenken. — Heß hatte keine Ader zur Mathematik; hatte gewiß nicht das tiefdrin-
gende Genie dieſes ſo einzigen Mannes; ſein Temperamentscharacter iſt von Lamberts ſehr ver-
ſchieden, ſo verſchieden, als ihre Augen und Stirnen — Aber in der Feinheit, in der Art ihrer
Naſen, waren ſie ſich ziemlich aͤhnlich — und beyde zeichnen ſich in ungleichem Grade durch groſ-
ſen, hellen, vielfaſſenden Verſtand aus. Dieſes wußt' ich ohne alle Ruͤckſicht auf ihre Phyſiogno-
mien: — Aber dieſe Aehnlichkeit der Naſen ſchien mir ſo ſonderbar, daß ich auf dergleichen Aehn-
lichkeiten wenigſtens beym Zeichnen aufmerkſamer zu werden begann.
Dieß Zuſammentreffen verſchiedener Geſichter, die ich zufaͤlliger Weiſe, oft in Einem Ta-
ge zeichnete, und die ſich mir gleichſam aufdringende Aehnlichkeit wenigſtens gewiſſer Seiten des
Characters der Urbilder — ward mir immer wichtiger, machte mich immer aufmerkſamer. —
Doch bey dem allen war mir noch nicht in Sinn gekommen, auf Beobachtungen gleichſam aus-
zugehen, vielweniger die Phyſiognomie zu ſtudiren. Selber das Wort Phyſiognomie war mir
noch eins meiner ungebrauchteſten Woͤrter.
Von
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. C
[10]I. Fragment. Von der Geringheit
Von ungefaͤhr fuͤgt' es ſich, daß ich einmal neben Herrn Zimmermann, itzigem koͤniglich-
großbrittanniſchen Leibarzt in Hannover, da er noch in Brugg war, am Fenſter ſtand, einem
militaͤriſchen Zuge zuſahe — und durch eine, mir voͤllig unbekannte, Phyſiognomie, meines kur-
zen Geſichts ungeachtet, von der Gaſſe herauf gedrungen wurde, ohne die mindeſte Ueberlegung,
ohne den mindeſten Gedanken, daß ich etwas Merkwuͤrdiges ſagte, ein ſehr entſcheidendes Urtheil
zu faͤllen. Herr Zimmermann fragte mich mit einigem Erſtaunen — „worauf ſich mein Ur-
„theil gruͤnde?“ — „Jch las es aus dem Halſe,“ war meine Antwort. Dieſes war eigentlich
die Geburtsſtunde meines phyſiognomiſchen Studiums. Herr Zimmermann verſuchte alles,
mich aufzumuntern; er zwang mir Urtheile ab. Erbaͤrmlich waren die meiſten, eben deswegen,
weil ſie nicht ſchneller Ausdruck ſchnellen unſtudirten Gefuͤhls waren — und ich kann bis auf den
heutigen Tag nicht begreifen, wie dieſer große Geiſt ſich dadurch nicht abſchrecken ließ, mich immer
fort zu noͤthigen, meine Beobachtungen aufzuſchreiben. Jch fieng an, mit ihm Briefe zu wech-
ſeln; Geſichter aus der Jmagination zu zeichnen, u. ſ. w. Aber bald ließ ich es wieder, ließ es
Jahre lang liegen, lachte uͤber alle dieſe Verſuche — las nichts, und ſchrieb nicht ein Wort mehr
druͤber. — Auf einmal, da die Reihe mich traf, der naturforſchenden Geſellſchaft in Zuͤrich eine
Vorleſung zu halten, und ich nicht wußte, woruͤber? — fiel ich wieder auf die Phyſiognomik,
und ſchrieb, Gott weiß, mit welcher Fluͤchtigkeit, dieſe Vorleſung; Herr Klockenbring von
Hannover bat mich drum fuͤr Zimmermannen. Jch gab ſie ihm in aller der Unvollkommenheit ei-
nes unbrauchbaren Manuſcripts. Herr Zimmermann ließ ſie ohne mein mindeſtes Wiſſen dru-
cken — Und ſo ſah' ich mich auf einmal als Vertheidiger der Phyſiognomik in die offne Welt
hineingeſtellt. Jch ließ die zweyte Vorleſung dazu drucken, und glaubte nun, auf einmal — aller
weitern oͤffentlichen Bemuͤhungen in dieſer Sachelos zu ſeyn. Allein — zwo entgegengeſetzte Maͤch-
te reizten mich aufs neue — noch einmal Hand anzulegen. — Die erbaͤrmlichen Urtheile, die man,
nicht uͤber meine bisherigen Verſuche, denn die erkenne ich fuͤr aͤußerſt unvollkommen, und ihre
Unvollkommenheit iſt in keiner, mir zu Geſichte gekommnen, Recenſion geruͤget worden: — Son-
dern die erbaͤrmlichen Urtheile, die man uͤber die Sache ſelber faͤllte, bey meinem taͤglichen Wachs-
thum im Glauben an die Wahrheit der Geſichtsbildung. — Dieſe Urtheile auf der einen — und
auf der andern Seite, die unzaͤhligen Aufforderungen der weiſeſten, redlichſten, froͤmmſten Maͤnner in
und
[11]der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers.
und außer meinem Vaterlande — — Dieß und meine taͤgliche Freude an neuen Beobach-
tungen — und noch einige andre Gruͤnde — bewogen mich, einige meiner Beobachtungen,
Empfindungen, Radotages, Traͤumereyen, Schwaͤrmereyen — wie man's nennen will, be-
kannt zu machen.
Seit dieſem Entſchluſſe, den ich vor ungefaͤhr anderthalb Jahren gefaßt hatte, und in deſ-
ſen Ausfuͤhrung ich freylich taͤglich hundert unvorgeſehne Schwierigkeiten antraf, hab ich dennoch
beynahe taͤglich neue Beobachtungen gemacht, die mich in den Stand ſetzten, wenigſtens etwas
zu verſprechen.
Jch ließ rechts und links Verſuche von Zeichnungen aller Art machen; Jch betrachtete
und verglich unzaͤhlige Menſchen und allerley Arten menſchlicher Bildniſſe. Jch bat Freunde,
mir behuͤlflich zu ſeyn. Die haͤufigen taͤglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferſtecher waren
die kraͤftigſten Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe. Jch mußte mich uͤber vieles ausdruͤcken,
vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu ſehr nur uͤberhaupt bemerkt hatte. —
Mein Beruf fuͤhrte mich zu den merkwuͤrdigſten Menſchen aller Arten, fuͤhrte die ſonderbarſten
Menſchen aller Arten zu mir. Eine Reiſe, die ich meiner Geſundheit wegen, und aus inniger
Sehnſucht nach vielen mir von Perſon unbekannten Freunden — vornahm, — fuͤhrte meinem
mit der großen Welt ganz unbekannten — uͤbrigens nicht ganz uͤbungsloſen Aug' ein unzaͤhliges
Heer neuer Geſtalten zu: Ohne allemal beobachten zu wollen, mußt' ich bisweilen beobachten.
So beveſtigte, berichtigte, erweiterte ſich meine Einſicht — Jch wollt' oft alle Schriftſteller
von der Phyſiognomie durchgehen, fieng an hier und dort zu leſen, konnte aber das Gewaͤſche der
meiſten, die alle den Ariſtoteles ausſchrieben, kaum ausſtehen. Dann ſchmiß ich ſie ſogleich
wieder weg — und hielt mich, wie zuvor an die bloße Natur und an Bilder — gewoͤhnte mich
aber beſonders ſeit langem, immer nur das Schoͤne, das Edle, das Gute und Vollkommne
aufzuſpuͤren, zu beſtimmen, mein Geſicht daran zu gewoͤhnen, mein Gefuͤhl daran zu waͤr-
men, — fand taͤglich neue Schwierigkeiten und neue Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe —
irrte mich taͤglich, und wurde taͤglich ſicherer; ließ mich loben und ſchelten, auslachen und er-
heben: — lachte uͤber beydes, weil ich beydes gleich wenig zu verdienen glaubte; freute mich
immer mehr, des Nutzens, der Menſchenfreude, die ich durch meine Schrift zu veranlaſſen
C 2hoffte,
[12]I. Fragment. Von der Geringheit der phyſigonom. Kenntniſſe des Verfaſſers.
hoffte, und troͤſtete mich damit gegen die Beſchwerlichkeiten und Laſten, die ich mir dadurch
ſelbſt aufgelegt hatte.
Bey dem allem fuͤhl' ich unaufhoͤrlich, daß ich Lebenslang zu ſchwach ſeyn werde, et-
was nur ertraͤglich Ganzes zu liefern; zu ſchwach, nur ein einziges Feld hinlaͤnglich zu bear-
beiten. Es wird hin und wieder noch Gelegenheit geben, meine Duͤrftigkeit ſolcher Kenntniſſe
zu bekennen, ohne die es unmoͤglich iſt, die Phyſiognomik mit feſtem Blicke und ſicherm Fort-
ſchritt zu ſtudiren. Jtzt will ich zum Beſchluſſe dieſes Fragments nur dieß noch beyfuͤgen, und in
den Schooß wahrheitliebender Leſer deponiren:
Daß ich von den ſchwaͤchſten Menſchen phyſiognomiſche Urtheile gehoͤrt habe, die richti-
ger waren als die meinigen, Urtheile, wodurch die meinigen beſchaͤmt wurden —
Daß ich glaube, wenn manche andre ihre Beobachtungen zeichnen und aufſchreiben woll-
ten, wuͤrden viele von den meinigen in kurzer Zeit ziemlich entbehrlich werden —
Daß ich taͤglich hundert Geſichter ſehe, uͤber die ich kein Urtheil zu faͤllen im Stande
waͤre — —
Daß ſich keine Menſchenſeele vor meinem Blicke zu fuͤrchten hat, weil ich bey allen Men-
ſchen auf das Gute ſehe, und an allen Menſchen Gutes finde. —
Daß ſeit der Zeit meiner eigentlichen Menſchenbeobachtung meine Menſchenliebe gewiß
nichts verloren, ich darf wol ſagen gewonnen hat.
[13]
Zweytes Fragment.
Von der Phyſiognomik.
Da dieſes Wort ſo oft in dieſer Schrift vorkoͤmmt, ſo muß ich vor allen Dingen ſagen, was ich
darunter verſtehe: Naͤmlich — die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menſchen ſein
Jnnres zu erkennen; das, was nicht unmittelbar in die Sinne faͤllt, vermittelſt irgend eines
natuͤrlichen Ausdrucks wahrzunehmen. Jn ſo fern ich von der Phyſiognomik als einer Wiſſen-
ſchaft rede — begreif' ich unter Phyſiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menſchen.
Alle Zuͤge, Umriſſe, alle paſſive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menſch-
lichen Koͤrpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Menſch unmittelbar bemerkt werden
kann, wodurch er ſeine Perſon zeigt — iſt der Gegenſtand der Phyſiognomik.
Jm weiteſten Verſtand iſt mir menſchliche Phyſiognomie — das Aeußere, die Ober-
flaͤche des Menſchen in Ruhe oder Bewegung, ſey's nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde.
Phyſiognomik, das Wiſſen, die Kenntniſſe des Verhaͤltniſſes des Aeußern mit dem Jnnern;
der ſichtbaren Oberflaͤche mit dem unſichtbaren Jnnhalt; deſſen was ſichtbar und wahrnehmlich
belebt wird, mit dem, was unſichtbar und unwahrnehmlich belebt; der ſichtbaren Wirkung
zu der unſichtbaren Kraft.
Jm engern Verſtand iſt Phyſiognomie die Geſichtsbildung, und Phyſiognomik
Kenntniß der Geſichtszuͤge und ihrer Bedeutung.
Da nun der Menſch ſo verſchiedene Seiten hat, deren jede ſich beſonders beobach-
ten und beurtheilen laͤßt, ſo entſtehen daher ſo vielerley Phyſiognomien — ſo mancherley
Phyſiognomik.
Man kann zum Exempel die Bildung des Menſchen insbeſondere betrachten — die
Proportion, den Umriß, die Harmonie ſeiner Gliedmaßen, ſeine Geſtalt — nach einem gewiſſen
Jdeal von Ebenmaß, Schoͤnheit, Vollkommenheit — Und die Fertigkeit, dieſe richtig zu beur-
theilen, und mit dieſem Urtheil das Urtheil uͤber ſeinen Hauptcharacter zu verbinden — Funda-
C 3mental-
[14]II.Fragment.
mental-Phyſiognomik heißen; oder, wenns nicht mißtoͤnend und ungeſchickt ausgedruͤckt waͤre,
die phyſiologiſche.
Man kann durch die Zergliederung Theile des Menſchen zu Oberflaͤchen machen — ge-
wiſſe innere Theile koͤnnen beſonders beobachtet werden, entweder durch aͤußere Endungen, oder
durch Aufſchließung der Koͤrper. Die Fertigkeit von dieſen Aeußerlichkeiten auf gewiſſe innere
Beſchaffenheiten zu ſchließen, waͤre die anatomiſche Phyſiognomik; dieſe beſchaͤfftigt ſich mit der
Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muſkeln, der Eingeweyde; der
Druͤſen, der Adern und Gefaͤße, der Nerven; der Banden der Gebeine.
Man kann die Blutmiſchung, die Conſtitution, die Waͤrme, die Kaͤlte, die Plumpheit oder
Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Biegſamkeit, Reizbarkeit eines Menſchen wiederum ins-
beſondere betrachten: Und die Fertigkeit in ſolchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urthei-
len uͤber ſeinen Character — koͤnnte man Temperamentsphyſiognomik heißen.
Mediciniſche Phyſiognomik diejenige, die ſich mit Erforſchung der Zeichen der Ge-
ſundheit und Krankheit des menſchlichen Koͤrpers beſchaͤfftigt.
Die moraliſche, die die Geſinnungen und Kraͤfte des Menſchen Gutes oder Boͤſes zu
wirken, oder — zu leiden, aus aͤußern Zeichen erforſcht.
Die intellectuelle, die ſich mit den Geiſteskraͤften des Menſchen, in ſo fern ſie durch ſeine
Bildung, Geſtalt, Farbe, Bewegungen, kurz durch ſein ganzes Aeußeres, erkennbar ſind,
beſchaͤfftigt.
Und ſo verſchiedene beſondere Seiten der Menſch haben mag, ſo vielerley Arten der Phy-
ſiognomik ſind moͤglich.
Wer bloß nach den erſten Eindruͤcken, welche das Aeußere eines Menſchen auf uns
macht, richtig von ſeinem Character urtheilt — iſt ein natuͤrlicher Phyſiognomiſt; — wer
beſtimmt die Zuͤge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm Character ſind,
ein wiſſenſchaftlicher; und ein philoſophiſcher der, der die Gruͤnde von dieſen ſo und ſo be-
ſtimmten Zuͤgen und Ausdruͤcken, die innern Urſachen dieſer aͤußern Wirkungen zu beſtim-
men im Stande iſt.
Aus
[15]Von der Phyſiognomik uͤberhaupt.
Aus dem wenigen, was bisher geſagt iſt, erhellet, wie unendlich weitlaͤuftig die Phy-
ſiognomik, und wie ſchwer es iſt — ein ganzer Phyſiognomiſte zu ſeyn.
Jch glaube, es iſt unmoͤglich, daß Einer es werden koͤnne. Wol dem, der nur Eine
Seite des Menſchen ſo kennt, wie es ihm und der menſchlichen Geſellſchaft nuͤtzlich iſt, ſie zu
kennen.
Es iſt keines Menſchen, keiner Akademie, keines Jahrhunderts Werk eine Phyſiogno-
mik zu ſchreiben.
Zugabe.
Man wird ſich oͤfters nicht enthalten koͤnnen, die Worte Phyſiognomie, Phyſiognomik
in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Dieſe Wiſſenſchaft ſchließt vom Aeußern aufs Jn-
nere. Aber was iſt das Aeußere am Menſchen? Warlich nicht ſeine nackte Geſtalt, unbedach-
te Geberden, die ſeine innern Kraͤfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Be-
ſitzthuͤmer, Kleider, alles modificirt, alles verhuͤllt ihn. Durch alle dieſe Huͤllen bis auf ſein
Jnnerſtes zu dringen, ſelbſt in dieſen fremden Beſtimmungen feſte Punkte zu finden, von de-
nen ſich auf ſein Weſen ſicher ſchließen laͤßt, ſcheint aͤußerſt ſchwer, ja unmoͤglich zu ſeyn.
Nur getroſt! Was den Menſchen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder
zuruͤck auf ſelbiges, und indem er ſich modificiren laͤßt, modificirt er wieder rings um ſich
her. So laſſen Kleider und Hausrath eines Mannes ſicher auf deſſen Character ſchließen.
Die Natur bildet den Menſchen, er bildet ſich um, und dieſe Umbildung iſt doch wieder na-
tuͤrlich; er, der ſich in die große weite Welt geſetzt ſieht, umzaͤunt, ummauert ſich eine kleine
drein, und ſtaffirt ſie aus nach ſeinem Bilde.
Stand und Umſtaͤnde moͤgen immer das, was den Menſchen umgeben muß, beſtimmen,
aber die Art, womit er ſich beſtimmen laͤßt, iſt hoͤchſt bedeutend. Er kann ſich gleichguͤltig
einrichten wie andere ſeines gleichen, weil es ſich nun einmal ſo ſchickt; dieſe Gleichguͤltigkeit
kann bis zur Nachlaͤßigkeit gehen. Eben ſo kann man Puͤnktlichkeit und Eifer darinnen be-
merken,
[16]II. Fragment. Von der Phyſiognomik uͤberhaupt.
merken, auch ob er vorgreift, und ſich der naͤchſten Stufe uͤber ihm gleichzuſtellen ſucht, oder
ob er, welches freylich hoͤchſt ſelten iſt, eine Stufe zuruͤck zu weichen ſcheint. Jch hoffe, es
wird niemand ſeyn, der mir verdenken wird, daß ich das Gebiet des Phyſiognomiſten alſo er-
weitere. Theils geht ihn jedes Verhaͤltniß des Menſchen an, theils iſt auch ſein Unternehmen
ſo ſchwer, daß man ihm nicht verargen muß, wenn er alles ergreift, was ihn ſchneller und
leichter zu ſeinem großen Zwecke fuͤhren kann.
[17]
Drittes Fragment.
Einige Gruͤnde der Verachtung und Verſpottung
der Phyſiognomik.
Eh' ich fortgehen kann, zu beweiſen, daß die Phyſiognomik eine wahre, in der Natur gegruͤn-
dete Wiſſenſchaft ſey; eh' ich von ihrem ausgebreiteten Nutzen rede — eh' ich meine Leſer auf die
menſchliche Natur uͤberhaupt aufmerkſam machen kann, finde ich noͤthig, einige Urſachen anzufuͤh-
ren, warum man ſo ſehr wider die Phyſiognomik, beſonders die moraliſche und intellectuelle
eingenommen iſt, warum man ſo ſehr dagegen eifert, oder ſo laut daruͤber lachet.
Daß dieß geſchieht — das wird wol keines Beweiſes beduͤrfen? Unter hunderten, die
daruͤber urtheilen, werden immer uͤber neunzig ſeyn, die, obgleich ſie insgeheim, wenigſtens bis
auf einen gewiſſen Grad, an die Phyſiognomik glauben, oͤffentlich darwider ſich erklaͤren, und dar-
uͤber lachen. Einige thun es auch von ganzem Herzen. Die Urſachen dieſes Betragens ſind nicht
alle zu ergruͤnden; und wenn ſie's waͤre, wer waͤre kuͤhn genug, ſie alle aus der Tiefe des menſch-
lichen Herzens herauszuholen, und dem hellen Lichte des Mittags vorzulegen?
Aber es iſt dennoch moͤglich und wichtig, einige der unlaͤugbarſten anzuzeigen, warum der
Spott und der feindſchaftliche Eifer wider dieſe Wiſſenſchaft ſo allgemein, ſo heftig, ſo unverſoͤhn-
lich iſt — Jch glaube, man wird folgende Urſachen nicht ganz verwerfen koͤnnen.
1. Man hat erbaͤrmliche Dinge uͤber die Geſichtsdeutung geſchrieben. Man
hat die Herrlichkeit dieſer Wiſſenſchaft in die unvernuͤnftigſte und abgeſchmackteſte Charlatanerie
verwandelt; man hat ſie mit der weißagenden Stirndeutung und Chiromantie, oder Handwahr-
ſagerey vermiſcht; Es kann nichts ſeichters, grundloſeres, allen Menſchenverſtand empoͤrenderes
gedacht werden, als was von Ariſtoteles Zeiten her daruͤber geſchrieben worden. Und dagegen,
was hatte man Gutes, das dafuͤr geſchrieben war? Welcher Mann von Verſtand und Geſchmacke,
welches Genie hat die Unpartheylichkeit, die Geiſtesſtaͤrke, die Wahrheitsliebe bey der Unterſu-
chung dieſer Sache angewandt, die ſie, ſie moͤchte gegruͤndet oder ungegruͤndet ſeyn, allemal des-
wegen zu verdienen ſcheint, weil wenigſtens vierzig bis funfzig Schriftſteller aus allen Natio-
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Dnen
[18]III.Fragment. Urſachen
nen davon und dafuͤr geſchrieben haben. Wie leiſe und ſchwach iſt die Stimme aller Maͤnner, von
entſcheidendem Anſehen, fuͤr die Wahrheit und Wuͤrde dieſer Wiſſenſchaft! *)
Wer iſt maͤnnlich, feſt und ſelbſtſtaͤndig genug, etwas fuͤr heilig zu halten, was durch
Entheiligung ganzer Jahrhunderte laͤcherlich und abgeſchmackt geworden iſt? — Jſts nicht der
alltaͤgliche Gang aller menſchlichen Dinge? Erſt zu ſehr vergoͤttert, dann zu tief erniedrigt zu wer-
den? Mit ſchlechten Gruͤnden vergoͤttert; dann mit ſchlechten Gruͤnden mißhandelt? Durch die
ekelhafte Weiſe, wie dieſe Wiſſenſchaft mißhandelt worden, wurde ſie ſelber ekelhaft. Welcher
Wahrheit, welcher erhabnen Religionslehre iſts anders ergangen? Welche gute Sache in der
Welt kann nicht durch ſchlechte Gruͤnde und ſchlechte Sachwalter wenigſtens eine Zeitlang zur
ſchlechteſten gemacht werden? Wie viel tauſende haben ſich deswegen von dem Glauben an die
evangeliſche Wahrheit entfernt, weil man ihnen dieſe Wahrheit mit den elendeſten Gruͤnden ver-
theidigt, die Wahrheit ſelbſt in einem verfaͤlſchenden Lichte vorgetragen hat?
2. Andre eifern wider die Phyſiognomik mit dem beſten, menſchenfreundlich-
ſten Herzen. Sie glauben, und nicht ganz ohne Gruͤnde, daß die meiſten Menſchen ſie zum
Nachtheil ihrer Nebenmenſchen mißbrauchen wuͤrden. Sie ſehen die vielen erbaͤrmlichen und belei-
digenden Urtheile voraus, die unwiſſende und boͤsherzige Menſchen uͤber andre faͤllen wuͤrden.
Die Verlaͤumdungsſucht, die keine Thaten erzaͤhlen kann, wird die Abſichten — und um dieß
zu koͤnnen, die Geſichtsbildung verdaͤchtig machen. Dieſe liebenswuͤrdigen Seelen, um deren
willen allein ſchon die Phyſiognomik wahr zu ſeyn verdiente, weil ſie gewiß bey ihrem Lichte in
neuer Schoͤnheit erſcheinen wuͤrden — muͤſſen darwider eifern, weil nicht ſie, ſondern ſo manche
Menſchen, die ſie fuͤr viel beſſer halten, als ihre Geſichter, verlieren wuͤrden, wenn die Geſichts-
deutung eine wahre Wiſſenſchaft werden ſollte. **)
3. Sollten nicht auch ſehr viele aus Schwachheit des Verſtandes darwider ei-
fern? — Wie wenige haben beobachtet? koͤnnen beobachten? wie wenige ſelbſt von denen, denen
nicht
[19]der Verachtung der Phyſiognomik.
nicht alle Beobachtungsgabe abgeſprochen werden kann, koͤnnen ihre Beobachtungen feſt genug hal-
ten? Genug zuſammenfaſſen? ‒ ‒ ‒ und ſind unter hunderten zween, die ſich nicht vom Strom
allherrſchender Vorurtheile mit fortreiſſen laſſen? Wie wenige haben Staͤrke oder Ehrbegierde ge-
nug, eine neueroͤffnete Bahn zu betreten? — Die alles umfaſſende, allbezaubernde Traͤgheit —
o wie ſtumpft dieſe den menſchlichen Verſtand ab! Wie iſt ſie maͤchtigwirkende Urſache unverſoͤhn-
licher Feindſeeligkeiten gegen die ſchoͤnſten und nuͤtzlichſten Wiſſenſchaften?
4. Es mag auch ſolche geben, die aus Beſcheidenheit und Demuth darwider
eifern. Man hat ihnen, wegen ihrer Geſichtsbildung Complimente gemacht, die ſie nicht wollen
an ſich kommen laſſen. Sie halten ſich in ihrem Herzen, geheimen demuͤthigenden Erfahrungen
zufolge, fuͤr ſchlimmer, als ſie, nach ihrer Phyſiognomie geſchaͤtzt werden, und darum halten ſie die
Phyſiognomik fuͤr eine betruͤgliche, grundloſe Sache.
5. Die meiſten aber — traurige, aber Gott weiß, wahre Beobachtung! — Die mei-
ſten eifern wider die Phyſiognomik, weil ſie das Licht derſelben ſcheuen. Feyerlich er-
klaͤr' ich mich, wie's aus dem bishergeſagten bereits erhellet: „Nicht alle, die wider die Phy-
ſiognomik eifern, ſind boͤſe Menſchen“ — Jch habe die verſtaͤndigſten, die liebenswuͤrdigſten
Menſchen darwider eifern gehoͤrt. Aber das darf ich behaupten: „Beynahe alle boͤſe, ſchlim-
me Menſchen eifern darwider“ und, wenn ein boͤſer Menſch ſie in ſeinen Schutz nimmt, ſo
hat er vermuthlich ſeine beſondern Urſachen dazu, die leicht zu begreifen ſind.
Und warum eifern die meiſten boͤſen Menſchen oͤffentlich darwider? — — weil ſie heim-
lich daran glauben; weil ſie bey ſich empfinden, daß ſie nicht ſo ausſehen, wie ſie ausſehen wuͤrden,
wenn ſie gut waͤren, und ein frohes heiteres Gewiſſen haͤtten.
Es iſt ihr groͤßtes Jntereſſe, dieſe Wiſſenſchaft als eine Chimaͤre zu verwerfen und laͤcher-
lich zu machen.
Je ſtaͤrker ein Zeuge wider uns zeuget, je wichtiger und unverwerflicher uns ſein Zeugniß
vorkommt; — deſto unertraͤglicher iſt er uns; deſto mehr werden wir allen unſern Witz auf bie-
ten, ihn von irgend einer andern Seite laͤcherlich zu machen.
Der Geizige, der ſeinen Geiz zwar auf alle moͤgliche Weiſe zu befriedigen, aber zugleich
auch auf alle moͤgliche Weiſe zu verbergen ſucht, ſollte der nicht die groͤßte Urſache haben, die
D 2Phy-
[20]III.Fragment. Urſachen
Phyſiognomik, die ihn in ſeiner Bloͤße wahrnehmen koͤnnte, laͤcherlich zu machen? und wuͤrde er's
thun, wenn er nicht heimlich wenigſtens zum Theil glaubte, und beſorgte, daß doch etwas an der
Sache ſeyn moͤchte? Wenn der Geiz keine verraͤtheriſche Merkmale hat, warum wird ihm ſo
aͤngſtlich, wenn man von erkennbaren Merkmalen des Geizes redet? — Wer ſich noch
nicht als den Sklaven einer heftigen unedeln Leidenſchaft bekannt gemacht hat; — wem alles
dran liegt, daß dieſe ſeine ſchwache Seite nicht bekannt werde; — der wird, je feſter er an die
Wahrheit der Phyſiognomie glaubt, um ſo viel mehr dagegen einzuwenden wiſſen.
Und gerade dieſen heftigen Eifer der Laſterhaften wider die Phyſiognomik ſeh' ich als einen
merkwuͤrdigen Beweis ihres geheimen Glaubens an dieſelbe an. Sie ſehen an andern Menſchen
die Wahrheit derſelben, und fuͤrchten um ſo viel mehr, daß andre an ihnen nicht weniger Beweiſe
fuͤr ihre Wahrheit finden duͤrften. Dieß wird um ſo viel wahrſcheinlicher, weil ich ſicherlich weiß,
daß eben die Leute, die oͤffentlich am meiſten druͤber ſpotten, dennoch groͤßtentheils von einer un-
uͤberwindlichen Neugier getrieben werden, phyſiognomiſche Urtheile zu leſen, und zu hoͤren; und
ich darf mich ſicherlich auf jeden Leſer, der wider die Phyſiognomik eingenommen iſt, oder es
zu ſeyn affektirt — berufen, ob er nicht heimlich wuͤnſche, daß jemand, der ihn nicht perſonlich
kennte, und ſeinen Namen nicht wuͤßte, ſondern nur etwa ein Bild von ihm haͤtte, ihm den Com-
mentar uͤber ſeine Phyſiognomie machte? Und, fragen moͤcht' ich, ob irgend einer, der vorgiebt,
„er halte die ganze Sache fuͤr eine Grille, die keiner Aufmerkſamkeit werth ſey“ — deswegen
dieſe Fragmente nicht leſen werde? — O ich weiß — ich weißage es, ohn' ein Prophet zu ſeyn: —
Jhr, heftigſten Eiferer wider die Phyſiognomik, ihr werdet mich leſen und ſtudiren, mir oft bey-
ſtimmen — euch oft freuen, Bemerkungen ausgeſprochen zu finden, die ihr bey euch ſelbſt, ohne
ſie in Worte zu faſſen, gemacht habet — und dennoch — mich oͤffentlich widerlegen! Mir in
euerm Cabinette bisweilen bruͤderlich Beyfall zulaͤcheln, und dann uͤber eben das ſpotten, — was
ihr als Wahrheit fuͤhltet; — Jhr werdet von nun an mehrere Beobachtungen machen; fuͤr euch
ſelbſt ſicherer werden, und dennoch immer fortfahren, alle Beobachtungen laͤcherlich zu machen;
denn es gehoͤrt auch mit zu dem reſpektablen philoſophiſchen Bonton des Jahrhunderts — „oͤffent-
lich das mit Hohngelaͤchter anzufallen, was man heimlich glaubt, und glauben muß.“
Zugabe.
[21]der Verachtung der Phyſiognomik.
Zugabe.
Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und
nicht ſo wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meiſten Menſchen antreffen. Es iſt ein
Gluͤck fuͤr die Welt, daß die wenigſten Menſchen zu Beobachtern gebohren ſind. Die guͤtige Vorſe-
hung hat jedem einen gewiſſen Trieb gegeben, ſo oder anders zu handeln, der denn auch einem je-
den durch die Welt hilft. Eben dieſer innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah-
rungen, die der Menſch macht, ohne daß er ſich deſſen gewiſſermaßen ſelbſt bewußt iſt. Jeder hat
ſeinen eigenen Kreis von Wirkſamkeit, jeder ſeine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine
gewiſſe Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog iſt, und ſo wird er nach und nach im
Lieben und Haſſen auf das feſteſte beſtaͤtigt. Und ſo iſt ſein Beduͤrfniß erfuͤllt, er empfindet auf
das deutlichſte, was die Dinge fuͤr ein Verhaͤltniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley
ſeyn, was fuͤr ein Verhaͤltniß ſie unter einander haben moͤgen. Er fuͤhlt, daß dieß und jenes ſo
oder ſo auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es ſo auf ihn wirkt, vielmehr laͤßt er ſich dadurch
auf ein oder die andre Weiſe beſtimmen. Und ſo begierig der Menſch zu ſeyn ſcheint, die wahre
Beſchaffenheit eines Dings, und die Urſachen ſeiner Wirkungen zu erkennen, ſo ſelten wird's doch
bey ihm unuͤberwindliches Beduͤrfniß. Wie viel tauſend Menſchen, ſelbſt die ſich einbilden, zu
denken und zu unterſuchen, beruhigen ſich mit einem qui pro quo auf einem ganz beſchraͤnkten
Gemeinplatze. Alſo wie der Menſch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen
Magen hat, alſo ſieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet ſeine Erfahrungen, ohne ſich
deſſen eigentlich bewußt zu ſeyn. Eben ſo wirken auch die Zuͤge und das Betragen anderer
auf ihn, er fuͤhlt, wo er ſich naͤhern oder entfernen ſoll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder ſtoͤßt
ihn weg, und ſo bedarf er keiner Unterſuchung, keiner Erklaͤrung.
Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol-
len Wiſſenſchaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hoͤren von einem wunderbaren Phyſiognomiſten
mit eben ſo viel Vergnuͤgen erzaͤhlen, als von einem Zauberer oder Tauſendkuͤnſtler, und obgleich
mancher an der Untruͤglichkeit ſeiner Kenntniſſe zweifeln mag, ſo iſt doch nicht leicht einer, der nicht
was dran wendete, um ſich von ſo einem moraliſchen Zigeuner die gute Wahrheit ſagen zu laſſen.
D 3Laſſen
[22]III. Fragment. Urſachen der Verachtung der Phyſiognomik.
Laſſen wir nun Haͤſſer, Veraͤchter und Gleichguͤltige, jeden in ſeiner Art und Weſen, wie
viele ſind nicht wieder, denen dieſes Buch als das was es iſt, willkommen ſeyn wird. Es waͤre ein
thoͤrichtes Beginnen, alle Menſchen auf einen Punkt, und wenn dieſer Punkt die Menſchheit ſelbſt
waͤre, aufmerkſam machen zu wollen. Wem es ein Beduͤrfniß iſt, taͤglich an der menſchlichen Na-
tur naͤhern und innigern Antheil zu nehmen, wer nicht Noth hat, ſich in eine kalte Beſchraͤnkt-
heit zu verſtecken, nicht durch eine anhaltende Verachtung anderer ſich empor zu halten noͤthig
hat, der wird mit viel Freude ſeinen eigenen Geſinnungen begegnen und ſeine innern Gefuͤhle
manchmal in Worte ausgebildet ſehen.
[23]
Viertes Fragment.
Einige Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik.
Daß Zeugniſſe und Authoritaͤten ſelbſt in Sachen des Verſtandes bey den meiſten mehr gel-
ten als Gruͤnde, — iſt gewiß. Jch fuͤhre alſo, um die ſchwaͤchern meiner Leſer einigermaßen
aufmerkſam zu machen, und um den ſtaͤrkern einige Populargruͤnde fuͤr die ſchwaͤchern an die Hand
zu geben, einige mehr und minder wichtige Zeugniſſe weiſer und gelehrter Maͤnner an, in deren
Geſellſchaft ausgelacht zu werden — ich mir zur Ehre rechne. Wenige unvollſtaͤndige Zeugniſſe, —
die aber dennoch nicht von allen Gruͤnden entbloͤßt, vielleicht manchem unerwartet und wichtig
ſeyn duͤrften.
1.
Salomo.
„Ein ſchalkhafter falſcher Menſch gehet daher mit einem verkehrten Munde: Mit ſeinen
„Augen winkt er: Er ſcharret mit ſeinen Fuͤßen. Er zeigets mit ſeinen Fingern. Er blinzelt mit
„ſeinen Augen, verkehrte Dinge zu denken, und wenn er ſeine Lefzen zuſammen beißet, ſo voll-
„bringt er Boͤſes. Spruͤchw.VI. 12. 13.
„Das Angeſicht des Weiſen zeiget Weisheit an, aber die Augen des Thoren ſchweifen
„durch alle Lande. XVI. 30.
„Wo Hoffart der Augen iſt, da iſt Stolzheit des Herzens. XVII. 24.
„Wenn ſich ſchon der Gottloſe in ſeinem Angeſicht feſt haͤlt, ſo verſtehet doch der Fromme
„ſein Vornehmen wohl. XXI. 4. 29.
„Es iſt eine Art, die ihre Augen erhoͤhet, und ihre Augenbraunen hoch aufwirft. XXX. 13.
2.
Jeſus, Sirachs Sohn.
„Das Herz des Menſchen aͤndert das Angeſicht, es ſey gut oder boͤſe. Ein froͤliches An-
„geſicht zeiget ein gut Herz an. Aus dem Angeſicht erkennt man den Mann und ein vernuͤnftiger
merket
[24]IV.Fragment. Einige Zeugniſſe
„merket den Mann an ſeinen Gebaͤrden. Die Kleidung des Menſchen, das Gelaͤchter, und das
„Weiſen ſeiner Zaͤhne, auch ſein Gang zeigen an, was in ihm ſey. c. XIII. 29. 30. XIX. 26. 27.
„XXV. 28.“
3.
Galenus.
‘„Natura membra componit, prout moribus animae convenit.“’ ()
4.
Plinius.
‘„Fronsque hominis triſtitiae, hilaritatis, clementiae, ſeveritatis index eſt“’ ()
5.
Cicero.
‘„Figuram corporis habilem \& aptam ingenio humano dedit natura; nam cum
„caeteras animantes abjeciſſet ad paſtum, ſolum hominem erexit, ad coelique quaſi cogna-
„tionis domiciliique priſtini conſpectum excitavit. Tum ſpeciem ita formavit oris, ut in
„ea penitus reconditos mores effingeret; nam \& oculi nimis arguti, quemadmodum ani-
„mo affecti ſimus, loquuntur; et is qui appellatur vultus, qui nullo in animante eſſe
„praeter hominem, poteſt, indicat mores: cujus vim Graeci norunt, nomen omnino
„non habent. Omitto opportunitates habilitatesque reliqui corporis, moderationem
„vocis, orationis vim, etc.“ De Legib. 1. 9.’ ()
6.
Montagne.
‘„Il n'eſt plus rien vrayſemblable que la conformité \& relation du corps à l'eſprit.
„Il n'eſt pas à croire, que quelque diſſonance advienne ſans quelque accident, qui a in-
„terrompu le cours ordinaire ... Je ne puis dire aſſez ſouvent, combien j'éſtime la beauté,
„qualité puiſſante \& avantageuſe ... Non ſeulement aux hommes, qui me ſervent,
„mais aux bêtes auſſi; je la conſidere à deux doigts près de la bonté.“ Liv. III. C. XII.’ ()
7. Bacon.
[25]fuͤr die Phyſiognomik.
7.
Bacon.
‘„Deſcriptio, qualis poſſit haberi notitia de anima ex habitu corporis, aut de cor-
„pore ex accidentibus animae duas nobis peperit artes, vtramque praedictionis: in-
„quiſitionibus alteram Ariſtotelis, alteram Hippocratis decoratam. Quanquam au-
„tem tempora recentiora has artes ſuperſtitioſis et phantaſticis mixturis polluerint, re-
„purgatae tamen ac in integrum reſtitutae, et fundamentum habent in natura ſolidum,
„et fructum edunt ad vitam communem vtilem. Prima eſt Phyſiognomia, quae per
„corporis lineamenta animi indicat propenſiones; altera ſomniorum naturalium in-
„terpretatio, quae corporis ſtatum et dispoſitionem ex animi agitationibus detegit.“
De Augm. L. IV. 1.’ ()
8.
Erneſti.
‘„Ex eo etiam animi corporisque cernitur conſpiratio, quod fere ſolet naturalis
„corporis habitus cum habilitatibus propenſionibusque animi conſentire, vt ex oratione,
„inceſſu, colore de animi ingeniique ratione conjectura fieri poſſit. lidem enim corpo-
„ris animique celeres habere motus ſolent; qui ſermone contra et inceſſu natura lento,
„ingenio etiam hebetiore eſſe ſolent et tardiores animi impetus plerumque habent; nihil
„vt de eo dicam, quod quidam ex oris vultusque lineamentis, totius capitis conforma-
„tione de animi natura et indole judicari poſſe exiſtimant, in quo quidem experientiam
„minime illi habent repugnantem. Quamquam enim accidit interdum, vt animi homi-
„num conformationi oris non reſpondeant ſatis; non tamen propterea negandum eſt,
„naturalem animorum indolem talem fuiſſe, qualem vultus prodit; cum opera et ſtudio
„propenſiones naturales ita infringi et dejici, vitiaque ingenii emendari poſſint, vt eorum
„nullum pene veſtigium relinquatur. Quam in rem inſigne eſt Socratis exemplum. etc.
Init. Solid. Doctr. p. 170.’ ()
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. E9. Haller.
[26]IV.Fragment. Einige Zeugniſſe
9.
Haller.
„Deus omnis Societatis Auctor voluit, vt adfectus animi in ipſa voce, in geſtu,
„in vultu potiſſimum ſe efferrent, adeoque homini lingua infallibili et ab omnibus intel-
„lecta amorem ſuum et iram et reliquos animi adfectus proderet. Sed neque brutis
„animalibus ejusmodi lingua negata eſt, qua amorem venereum, amicitiam ſocialem,
„pietatem maternam, iras, gaudium, dolorem, metum, praecipuos omnino affectus,
„exprimerent. Haec lingua omnibus quadrupedibus \& auibus communis eſt, vt
„omnino et ſe inuicem intelligant, et hominem, et ab homine intelligantur. Iras
„enim hominis canis adprime ex facie legit, exque voce colligit: iras tauri homo ex
„mugitu adgnoſcit; leonis rugitum omnia quadrupeda horrent. De ſonis quidem
„brevis ero, quos tamen certum eſt in omni affectu ſingulares edi. Sed in vultu
„potiſſimum characteres adfectuum ſedent, adeo faciles lectu, vt pictores omnes ani-
„mi motus ſolo vultu et a latere ſpectato, adprime exprimant. Elegans eſt ſpeculatio,
„cujus primas lineas deſcribamus.
„Amor, admiratio, adgnoſcuntur fronte ſurſum ducta, exporrecta, oculis
„elevatis, vnaque palpebris. Occipitalis et rectus ſuperior oculi agit, et palpebrae
„levator.
„Curioſitas, admiratio dicentis oratoris, os vna aperit, vt aër ſonorus ad tubam
„poſſit venire.
„Laetitia et riſus oculos habent pene clauſos, angulum oris ſurſum ductum,
„cutem narium corrugatam, os diſtractum per buccinatorios et riſorios muſculos. In
„multis hominibus fouea tunc in gena naſcitur, et gratiam addit inter, puto, tumentes
„faſciculos zygomaticos.
„In fletu et triſti adfectu, labium inferius detrahitur, vt facies longior vi-
„deatur; anguli labiorum diſtrahuntur a triangularibus. Oculus clauditur, et pupilla
„ſe ſub palpebram ſuperiorem recipit.
„In
[27]fuͤr die Phyſiognomik.
„In ira et odio labium inferius ſuper ſuperius eleuatur; frons deſcendit ad-
„tracta et rugis caperatur.
„Contemtus inaequalem habet vultum, vt alter oculus pene claudatur, alter
„deſpiciat.
„In terrore muſculi validiſſime os et oculos aperiunt, manusque eleuantur.
„Hinc naſcitur Phyſiognomia.
„Recte perſpectum eſt non dudum, plerosque quidem dominantes adfectus in
„vultu inſpecto legi, vt laetum hominem et jocoſum: triſtem et ſeuerum: ſuper-
„bum: mitem et benignum: inuidum: innocentem et pudicum, humilem, vno ver-
„bo fere omnes etiam compoſitos adfectus aut ſuborta vitia, indeque natas virtutes
„manifeſtis in vultu et vniuerſo corpore ſignis ſe prodentes diſtinguas. Id fit, quia muſcu-
„li, qui ſunt adfectus alicuius characteriſtici, in eo homine, in quo is adfectus dominatur,
„frequentius agunt, vt neceſſe eſt frequentius contrahi irae muſculos in homine irato.
„Ita fit denique repetito vſu, vt ii muſculi inualeſcant et reliquis in eo temperamento
„otiantibus potentius ſe eſſerant, ideoque etiam, poſtquam adfectus animi ſe remiſit,
„tamen aliqua pars characteris regnantis adfectus in facie ſuperſit.“ Elementa Phy-
ſiologiae Tom. V. p. 590. 591.
10.
Sulzer.
„Es iſt eine nicht erkannte aber gewiſſe Wahrheit, daß unter allen Gegenſtaͤnden, die
„das Auge reizen, der Menſch in allen Abſichten der intereſſanteſte iſt. Er iſt das hoͤchſte, und
„unbegreiflichſte Wunder der Natur, die einen Klumpen todter Materie ſo zu bilden gewußt hat,
„daß er Leben, Thaͤtigkeit, Gedanken, Empfindungen und einen ſittlichen Character ſehen laͤßt.
„Daß wir nicht beym Anblick eines Menſchen voll Bewunderung und Erſtaunen ſtille ſtehen,
„kommt bloß daher, daß die unablaͤßige Gewohnheit den groͤßten Wundern ihre Merkwuͤrdig-
„keit*) benimmt. Daher hat die menſchliche Geſtalt, und das Angeſicht des Menſchen ſelbſt
E 2„fuͤr
[28]IV.Fragment. Einige Zeugniſſe
„fuͤr gemeine, unachtſame Menſchen nichts, das ſie zur Aufmerkſamkeit reizet. Wer aber uͤber
„das Vorurtheil der Gewohnheit ſich nur einigermaßen wegſetzen, und beſtaͤndig vorkommende
„Gegenſtaͤnde noch mit Aufmerkſamkeit und Nachdenken anſehen kann, dem iſt jede Phyſiognomie
„ein merkwuͤrdiger Gegenſtand. Wie ungegruͤndet den meiſten Menſchen die Phyſiognomik, oder
„die Wiſſenſchaft aus dem Geſichte und der Geſtalt des Menſchen ſeinen Character zu erkennen,
„vorkommen mag: ſo iſt doch nichts gewiſſers, als daß jeder aufmerkſame und nur einigermaßen
„fuͤhlende Menſch etwas von dieſer Wiſſenſchaft beſitzt; indem er aus dem Geſicht und der uͤbri-
„gen Geſtalt des Menſchen etwas von ihrem in demſelben Augenblick vorhandenen Gemuͤthszu-
„ſtand mit Gewißheit erkennt. Wir ſagen oft mit der groͤßten Zuverſicht, ein Menſch ſey traurig,
„froͤhlich, nachdenkend, unruhig, furchtſam u. ſ. f. auf das bloße Zeugniß ſeines Geſichtes, und
„wuͤrden uns ſehr druͤber verwundern, wenn jemand uns darinn widerſprechen wollte. Nichts
„iſt alſo gewiſſer, als dieſes, daß wir aus der Geſtalt der Menſchen, vorzuͤglich aus ihrer Geſichts-
„bildung, etwas von dem erkennen, was in ihrer Seele vorgeht. Wir ſehen die Seele in
„dem Koͤrper. Aus dieſem Grunde koͤnnen wir ſagen: Der Koͤrper ſey das Bild der
„Seele, oder die Seele ſelbſt ſichtbar gemacht“ — Allgemeine Theorie der ſchoͤnen Kuͤn-
ſte.II.Th. Art. Portraͤt.
11.
Wolf.
„Wir wiſſen, daß nichts in der Seele vorgehet, dem nicht eine Veraͤnderung im Leibe
„zutraͤfe, abſonderlich aber keine Begierden in der Seele hervorkommen, auch kein Wollen in ihr
„entſteht, wo nicht zugleich eine ihnen gemaͤße Bewegung in dem Leibe zu gleicher Zeit erfolgte.
„Weil nun alle Veraͤnderungen des Leibes aus ſeinem Weſen herkommen, das Weſen aber des
„Koͤrpers in der Art der Zuſammenſetzung beſtehet; ſo muß die Zuſammenſetzung des Leibes, fol-
„gends ſeine Geſtalt, und die Geſtalt der Gliedmaßen mit dem Weſen der Seele uͤbereinkommen.
„Und ſolchergeſtalt muß ſich der Unterſchied der Gemuͤther durch den Unterſchied der Leiber zeigen.
„Naͤmlich der Leib muß etwas in ſich haben, ſowohl in ſeiner Geſtalt, als in der Geſtalt ſeiner
„Theile, daraus man die Beſchaffenheit des Gemuͤthes von Natur abnehmen kann. Jch ſage
„mit
[29]fuͤr die Phyſiognomik.
„mit Fleiß von Natur; denn hier iſt nicht die Rede von dem, was durch die Auferziehung, den
„Umgang mit andern, guten Unterricht u. ſ. w. kommt. Solchergeſtalt hat die Kunſt, der Men-
„ſchen Gemuͤther aus der Geſtalt der Gliedmaßen und des ganzen Leibes zu erkennen, welche man
„die Phyſiognomie zu nennen pflegt, wohl einen richtigen Grund: Ob man aber bisher es ge-
„troffen, wenn man beſondre Auslegungen von dieſer Verwandſchaft des Leibs mit dem Gemuͤthe
„machen wollen, laß ich vor dießmal an ſeinen Ort geſtellt ſeyn. Wenn ich hier von der Ge-
„ſtalt des Leibes und ſeiner Gliedmaßen rede; ſo verſteh' ich dadurch alles, was ſich davon deut-
„lich erkennen laͤßt, als da ſind die Figur, die Verhaͤltniß ihrer Theile gegen andre, und ihre ei-
„gentliche Lage.
„Unterdeſſen, da der Menſch durch die Auferziehung, Geſellſchaften, guten Unterricht
„und geſchickte Uebungen ſeine natuͤrlichen Neigungen aͤndern kann, welches ich als eine aus der
„taͤglichen Erfahrung bekannte Sache annehme, ſo kann man aus der Beſchaffenheit der Glied-
„maßen des Leibes nur erkennen, wozu der Menſch von Natur geneigt iſt, nicht aber, was er er-
„greifen wird, indem er durch die Vernunft, oder eingewurzelte Gewohnheit ſeinen natuͤrlichen
„Neigungen widerſteht. Es iſt wohl wahr, daß ſich in der Seele keine Aenderungen ereignen
„koͤnnen, es muß auch eine mit ihnen uͤbereinſtimmende im Leibe geſchehen. Allein gleichwie man
„befindet, daß die natuͤrlichen Neigungen ſich noch beſtaͤndig wider die Vernunft und Gewohnhei-
„ten, ja auch, wenn ſie gut ſind, wider die boͤſen Gewohnheiten regen; ſo iſt auch daher zu ſchlieſ-
„ſen, daß die im Leibe vorgegangene Veraͤnderung, die mit ihnen uͤbereinſtimmende Geſtalt der
„Gliedmaßen nicht voͤllig aufheben kann. Die Sache iſt delicat, und ich fuͤrchte gar ſehr, die
„Phyſiognomie erfordere mehr Einſicht, als zu der Zeit in der Welt geweſen, da man ſie in Re-
„geln zu bringen, ſich unterfangen — —
„Da die Lineamente des Angeſichts hauptſaͤchlich zu den Mienen dienen; die Mienen
„aber eine Anzeige der natuͤrlichen Neigungen geben, wenn ſie ungezwungen ſind, ſo dienen
„auch die Lineamente zur Erkenntniß der natuͤrlichen Neigungen, wenn man ſie in ihrer rech-
„ten Lage betrachtet.“ Vernuͤnftige Gedanken von der Menſchen Thun und Laſſen —
§. 213. 14. 16. 19.
E 312. Gellert.
[30]IV.Fragment. Einige Zeugniſſe
12.
Gellert.
„Auf den Mienen beruht (in Anſehung der Wohlanſtaͤndigkeit) unglaublich viel — —
„Das, was ſich der Welt in der Miene am meiſten empfiehlt, oder beſchwerlich macht, iſt der
„Character des Geiſtes und Herzens, der durch das Aug' und Geſichte redet. Ein heiteres, be-
„ſcheidenes, ſorgenfreyes, edles, ſanftmuͤthiges, großdenkendes Herz, ein Herz voll von Leutſe-
„ligkeit, Aufrichtigkeit, und gutem Gewiſſen, voll von Herrſchaft uͤber ſeine Sinne und Leiden-
„ſchaften; dieß Herz bildet ſich gern in den Gebaͤrden des Geſichtes, und in den Wendungen des
„Koͤrpers ab; dieß Herz erzeugt meiſtens die beſcheidne, gefallende, einnehmende und bezaubernde
„Miene, die geſetzte, edle, erhabne und majeſtaͤtiſche Stirne, das Sanfte und Leutſelige der Ge-
„ſichtszuͤge, das Aufrichtige und Treuherzige des Auges, den Ernſt der Stirne mit Heiterkeit ge-
„mildert, das Freundſchaftliche des Blickes mit Schaamhaftigkeit verbunden; und die beſte Far-
„be der Geſichter oder die beſte Miene iſt die gute Farbe des Herzens und Verſtandes. Die
„Miene truͤgt, werden ſie ſagen? Ja, — man kann ſie nachaͤffen; aber ſelten, daß man die
„Nachaͤffung nicht durch den Zwang verraͤth; und die Wahrheit in der Miene laͤßt ſich eben ſo
„leicht unterſcheiden, als die Wahrheit eines richtigen und eines bloß ſchimmernden ſchoͤnen Ge-
„danken. Die Schminke wird nie die Haut ſelbſt, ſo fein ſie auch aufgetragen iſt. Ferner irrt
„mich auch dieſes nicht, daß Geſichter mit guten Mienen oft ungeſittete Herzen haben. Jch
„ſchließe vielmehr daraus, daß dieſe Perſonen viel natuͤrliche Anlage zu denen Eigenſchaften ge-
„habt, deren Merkmaale in ihrer Bildung anzutreffen ſind. Endlich mag es wahr ſeyn, daß
„oft unter einer finſtern Miene ein ſanftes und frohes Herz, und unter einem drohenden und
„trotzigen Auge ein liebreicher Character verborgen iſt. Dieſe Mißhelligkeit kann entweder
„von uͤbel angenommnen Gewohnheiten der Miene, und einem ſchlechten Umgange, oder
„daher entſtehen, daß der Character, den ſie verkuͤndigt, Naturſchuld iſt, oder von den er-
„ſten Jahren an unſer eignes boͤſes Werk auf lange Zeit geweſen iſt, ob wir es gleich nach-
„her unterdruͤckt haben.
„Daß
[31]fuͤr die Phyſiognomik.
„Daß boͤſe und laſterhafte Neigungen aus dem Herzen gern in die Miene uͤbergehen,
„deſſen verſichert uns eine untruͤgliche Erfahrung; wenigſtens von gewiſſen Laſtern. Und was
„iſt die ſchoͤnſte Bildung des Geſichtes, in die ſich die gehaͤßigen Zuͤge der Wolluſt, des Zorns,
„der Falſchheit, des Neides, des Geizes, des Stolzes und der Unzufriedenheit eingedruͤckt ha-
„ben? Was iſt aller aͤußerlicher Anſtand, wenn ein unedles, oder leichtſinniges Herz durch die
„Miene hervorblickt? Das ſicherſte Mittel, ſein Geſicht, ſo viel in unſerer Gewalt ſteht, zu
„verſchoͤnern, iſt alſo dieſes, daß man ſein Herz verſchoͤnere, und keine boͤſe Leidenſchaften dar-
„inn herrſchen laſſe. Das beſte Mittel, keine leere und einfaͤltige Miene zu haben, iſt, daß
„man richtig und fein denken lerne. Das beſte Mittel, einen edeln Reiz uͤber ſein Geſicht aus-
„zubreiten, iſt, daß man ein Herz voll Religion und Tugend habe, welche Hoheit und Zufrie-
„denheit in demſelben ausbreitet. Der große Young ſagt an einem Orte, daß er ſich keinen
„goͤttlichern Anblick denken koͤnnte, als ein ſchoͤnes Frauenzimmer auf ihren Knieen in der
„Stunde ihrer Andacht, die ſie unbemerkt verrichtete, und auf deren Stirne die Demuth und
„Unſchuld einer frommen Seele ſich vereinigten. Und in der That muͤßte das liebreiche und
„dienſtfertige Weſen, das wir in dem aͤußerlichen Betragen ſo ſehr ſchaͤtzen, uns nicht frey-
„willig und uͤberall folgen, wenn wir immer die liebreichen und dienſtfertigen Menſchen waͤ-
„ren, die wir zu ſcheinen, uns ſo viele Muͤhe geben? Eine Muͤhe, die wir kaum noͤthig
„haͤtten, um es wirklich zu ſeyn. Man nehme zween Miniſter von gleichen Naturgaben,
„und gleichen aͤußerlichen Vortheilen an. Der eine ſoll ein gebildeter Chriſt, der andere nur
„ein gebildeter Weltmann ſeyn. Welcher wird am meiſten durch ſein aͤußerliches Betragen
„gefallen? Jener, deſſen Herz voll edler und dienſtfertiger Menſchenliebe wallt: oder dieſer,
„den die Selbſtliebe gefaͤllig macht? — —
„Auch die Stimme iſt oft der freywillige Ausdruck unſers Characters, und ſie wird
„alſo auch das Gute und Fehlerhafte deſſelben an ſich nehmen. Es giebt einen gewiſſen Ton,
„der das Leere des Verſtandes verraͤth; man wuͤrde ihn verlieren, wenn man denken lernte — —
„Das Leben der Stimme bleibt allezeit das Herz mit ſeinen guten Neigungen und Empfin-
„dungen.“ Moraliſche Vorleſungen S. 303—307.
Genug,
[32]IV. Fragment. Einige Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik.
Genug, und vielleicht mehr als genug — vorgegriffen vielleicht! — Jch unterſchreibe
nicht durchaus alles in dieſen angefuͤhrten Zeugniſſen, und ich werde Gelegenheit haben, das eine
und andre wieder aufzunehmen, zu beſtaͤtigen, naͤher zu beſtimmen, und ich hoffe, bisweilen —
zu berichtigen. Jndeſſen enthalten dieſe Zeugniſſe immer ſo viel Lehrreiches, und ſo viel Licht,
obgleich nach meinem Beduͤnken, keins tief genug geht, daß ſie den Verdacht der Charlatanerie, in
welchem bisher die Phyſiognomik bey ſo vielen Menſchen geſtanden hat, vorlaͤufig einigermaßen ſoll-
ten ſchwaͤchen koͤnnen! — — Sollten beſchaͤmen koͤnnen, die erbaͤrmliche Seichtigkeit, — die ſich
erdreiſtet, dieſelbe mit dem veraͤchtlichen Namen Zigeunerkunſt zu Boden treten zu wollen.
[33]
Fuͤnftes Fragment.
Ueber die menſchliche Natur.
Das allerwichtigſte und bemerkenswuͤrdigſte Weſen, das ſich auf Erden unſerer Beobachtung
darſtellt — — iſt der Menſch. Auf jeder Seite moͤcht' ich dieſes ſagen: — welchem Menſchen
der Menſch, wem ſeine Menſchheit nicht das Wichtigſte iſt — der hoͤrt auf, ein Menſch
zu ſeyn. Vollkommneres, Hoͤheres hat die Natur nichts aufzuweiſen — Der wuͤrdigſte Ge-
genſtand der Beobachtung — und der einzige Beobachter — iſt der Menſch.
So wie ſich der Menſch uns darſtellt, iſt er ein in die Sinne fallendes, ein phyſiſches
Weſen. So wie er nur durch die Sinne erkennt, ſo kann er nur durch die Sinne erkannt
werden.
Der Menſch hat das mit allen Dingen in der Welt gemein — daß gewiſſe Seiten, ge-
wiſſe Theile an ihm zum Vorſchein kommen, gewiſſe nicht; daß man etwas von ihm vermittelſt
der Sinne wahrnimmt, und etwas anderes, das auch zu ſeiner Natur gehoͤrt, nicht unmittel-
bar, vermittelſt der Sinne wahrnehmen kann. Er beſteht aus Oberflaͤche und Jnnhalt. Etwas
an ihm iſt aͤußerlich, und etwas innerlich.
Dieß Aeußerliche und Jnnere ſtehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zuſam-
menhange. Das Aeußerliche iſt nichts, als die Endung, die Graͤnzen des Jnnern — und das
Jnnre eine unmittelbare Fortſetzung des Aeußern.
Es iſt alſo ein weſentliches Verhaͤltniß zwiſchen ſeiner Außenſeite, und ſeinem Jnn-
wendigen.
Der Menſch iſt das vollkommenſte aller, unſern Sinnen bekannten, organiſchen Weſen;
das lebendigſte unter allen. Es ſind in keinem einzigen organiſchen Weſen ſo mannichfaltige
Leben vereinigt, wie in dem Menſchen. Er hat ein phyſiſches, ein intellectuelles, ein mo-
raliſches Leben. Er hat Verſtand, Willen, Kraft. Er kann erkennen, das Erkannte wuͤn-
ſchen und verlangen — und ſich wenigſtens einen großen Theil davon verſchaffen. Dieß drey-
fache Leben im Menſchen iſt — zwar aufs genauſte, vereinigt, und vielleicht im Grunde nur
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. FEins;
[34]V.Fragment.
Eins; aber es laͤßt ſich dennoch nicht nur in Gedanken unterſcheiden, ſondern es iſt wirklich in
dem Menſchen ſelbſt verſchieden. So verſchieden, als ein Glied vom andern iſt. Jedes dieſer
Leben hat ſeinen eigenthuͤmlichen Sitz, ſeine beſondern Werkzeuge und Vehikuln. Keine Sache
in der Welt iſt gewiſſer, und keine ſcheint mehrerm Streit ausgeſetzt, oder weniger ausdruͤck-
lich zugeſtanden zu ſeyn, als dieſe. Eine gewiſſe, — wills Gott — ihrem Untergang nahe
Afterphiloſophie, die Feindinn der Natur — die alles ſahe, was — nicht war, und nur das
nicht, was war; — die viel zu ſtolz war, den gemeinen Menſchenverſtand auf das anzuwen-
den, was in die Sinne fiel, und lieber Syſteme baute, mit denen weder die Sinne noch die
Erfahrung zu thun hatte — Dieſe Afterphiloſophie, ſag' ich — hat uns uns ſelbſt und unſern
natuͤrlichen Wahrnehmungen und Empfindungen ſo weit entfuͤhrt, daß wir kaum glauben zu
ſehen, was wir ſehen, und zu empfinden, was wir empfinden. Wenn uns dieſe Philoſophie
nicht blendet — wenn wir bloße Beobachter unſerer Natur ſind, ſo werden wir finden, daß der
Sitz der Denkenskraft in unſerm Haupte und zwar innerhalb der Stirne, der Sitz der Begier-
de, des Verlangens, mithin des Willens im Herzen, und der Sitz unſerer Kraft im ganzen Koͤr-
per und vornehmlich in der Hand und im Mund iſt. Noch kein geſunder vernuͤnftiger Menſch
hat behaupten duͤrfen, daß das moraliſche Gefuͤhl ſeinen Sitz im Haupte, und der Verſtand im
Herzen habe, oder, daß wir mit dem Verſtand und Herzen ohne Koͤrper, wirken, das iſt, auſ-
ſer uns Veraͤnderungen hervorbringen koͤnnen — und dennoch, ſo abgeſchmackt es waͤre, ſo etwas
zu behaupten, ſo getraut ſich dennoch beynahe niemand, dem andern ausdruͤcklich zu geſtehen:
mein denkendes Jch iſt im Kopfe; mein empfindſames, begehrendes, wollendes oder moraliſches
Jch im Herzen; mein wirkendes Jch im ganzen Koͤrper, beſonders im Munde und in der Hand;
mithin iſt das, was man meine Seele, den unſichtbaren, herrſchenden, belebenden Theil meiner
Natur nennt — im ganzen Koͤrper; ſondern man will, weils einmal eine gewiſſe Modephilo-
ſophie ſo will, lieber behaupten — trotz aller Unmoͤglichkeit, es zu beweiſen, trotz aller widerſpre-
chenden Erfahrungen — behaupten; „meine Seele iſt eine einfache Subſtanz, (dieß behauptet
ein unbekannter, ſonſt ſehr verdienſtvoller Schriftſteller) iſt, „ſo wie eine Stunde, nicht in mei-
„nem Koͤrper — und nicht außer demſelben — und dennoch etwas Wirkliches“ — oder: „Sie
„hat ihren Sitz in irgend einem atomiſchen Punkte des Koͤrpers — und zwar ausſchließender
„Weiſe
[35]Ueber die menſchliche Natur.
„Weiſe im Haupte,“ oder: „ſie iſt nirgends und iſt doch“ u. ſ. w. — und alles iſt bloß Vorſtel-
„lungskraft in ihr; „ſie iſt eine einfache Subſtanz — folglich hat ſie nur — Eine Kraft, folg-
„lich nur die Vorſtellungskraft, folglich iſt moraliſch Gefuͤhl und koͤrperliche Wirkſamkeit nichts
„als leidſame Vorſtellungskraft — folglich iſt alles im Menſchen nur Gedanke“ — Jch will
auch noch ein Folglich beyſetzen, und folglich, antwort' ich — ſind alle deine Schluͤſſe falſch,
weil ſie die unmittelbare taͤgliche Empfindung und Erfahrung aller Menſchen umſtoßen. —
Dreyfach alſo, ſag' ich, iſt das Leben der Menſchen, und jedes dieſer Leben iſt von dem
andern abhaͤngig und unabhaͤngig. Man kann animaliſch leben, animaliſch geſund, und mora-
liſch krank oder todt, moraliſch geſund und lebendig, und phyſiſch krank ſeyn — Man kann ſehr
ſcharfſinnnige Schluͤſſe machen, und moraliſch und phyſiſch krank ſeyn. Die wirkliche Verſchieden-
heit dieſer Leben erhellet nirgends her mehr, als aus der Verſchiedenheit der Nahrung, die ſie zu
ihrer Unterhaltung beduͤrfen. Erkenntniß, Wahrheit, Wiſſenſchaft in Worten und ſymboliſchen
Zeichen iſt Nahrung fuͤr das Leben des Verſtandes; ruͤhrende Beyſpiele, ſinnliche Darſtellung
der Beduͤrfniſſe anderer, und entſprechender Huͤlfsbegierde und Huͤlfskraft, Nahrung fuͤr das
Herz; Speiſe und Trank, oder — Fleiſch und Blut anderer organiſcher Koͤrper, die Nahrung
fuͤr das phyſiſche Leben. Man kann einen Thoren mit Brod und Wein nicht zu einem Weiſen
machen; alle mathematiſche Demonſtrationen werden das moraliſche Gefuͤhl nicht beleben; und
alles Moraliſiren wird uns nicht beym Leben und bey Kraͤften erhalten. —
Die Verſchiedenheit, und wenn ich ſo ſagen darf, die Dreyfachheit des Lebens im Men-
ſchen iſt alſo offenbar. So dreyfach indeß das menſchliche Leben iſt, ſo iſt es dennoch im Grunde
nur Eines. Eben daſſelbe einzige Jch denkt im Kopfe, empfindet im Herzen, leidet und handelt
durch die Sinne. Jeder Zweig dieſes Lebens ruͤhrt von Einem Geiſte her — Und damit ich
wieder auf die Hauptſache einlenke, — jede Art des Lebens haftet in koͤrperlichen Organen. Es
iſt uns kein Leben in der ganzen Natur bekannt, das nicht in einem organiſchen Koͤrper hafte;
nicht nach der Verſchiedenheit dieſes organiſchen Koͤrpers verſchieden ſey, nicht mit demſelben ent-
ſtehe, und mit demſelben zu Grunde gehe. Und ſo iſt es auch mit dem intellectuellen, moraliſchen
und animaliſchen Leben der Menſchen. Jedes hat ſein koͤrperliches Organum. Jedes iſt nach der
Verſchiedenheit dieſes Organons verſchieden. Jedes entſteht und vergeht mit dem ihm angewieſe-
F 2nen
[36]V.Fragment.
nen Organum — (ſo weit naͤmlich unſere bisherigen Beobachtungen reichen; ich ſage Beob-
achtungen, denn was philoſophiſche Vermuthungen oder goͤttliche Offenbarungen uns weiter hier-
uͤber mehr oder weniger klar und beſtimmt ſagen, das laͤßt der bloß beobachtende Naturforſcher,
als ſolcher, auf der Seite) Alles alſo an dem Menſchen iſt, bloßen klaren Beobachtungen zufol-
ge — phyſiſch. Der Menſch iſt im Ganzen, iſt in allen ſeinen Theilen, nach allen ſeinen Kraͤf-
ten und Eigenſchaften, in ſo fern er beobachtet werden kann, bloß ein phyſiſches Weſen. Sein
Verſtand iſt nichts mehr, ſein intellectuelles Leben iſt hin, wenn gewiſſe Gegenden und Fibern ſei-
nes Gehirns verletzt, oder gekraͤnkt werden. Er wird animaliſch leben koͤnnen, geſund ſeyn koͤn-
nen — und ſein intellectuelles Leben wird ihn ſeyn — Der allermoraliſchte Menſch wird der un-
moraliſchte werden koͤnnen, das heißt, alle Begehrungskraͤfte des Menſchen werden zum Scha-
den, zur Zerruͤttung anderer geſchaͤfftig ſeyn, oder ſein moraliſches Gefuͤhl wird gleichſam ſtocken,
wenn gewiſſe Unordnungen in ſeinem Unterleibe oder ſeinem Kopfe herrſchen. Man haue einem
Menſchen die Hand, man ſtoße ihm die Fuͤße ab — man verſtuͤmmle ihn von außen, und verwun-
de viele Theile ſeines Koͤrpers — ſein animaliſches Leben wird ſich vermindern, ſeine phyſiſche
Wirkſamkeit ſich einſchraͤnken — — aber ſein intellectuelles und moraliſches wird daſſelbe bleiben
koͤnnen. Jedennoch iſt wiederum wahr, daß ungeachtet jedes gewiſſermaßen fuͤr ſich allein zu be-
ſtehen, und von dem andern unabhaͤngig zu ſeyn ſcheint, dennoch der genauſte Zuſammenhang un-
ter ihnen iſt, und Eins mit dem andern in Eins zuſammen fließt; daß Speiſe und Trank, Schlaf
und Erhohlung alle drey ſtaͤrken und erfriſchen; Unmaͤßigkeit, Schlaf, Ohnmacht alle drey zu-
gleich — beynahe ausloͤſchen koͤnnen. Es iſt gewiß, daß daſſelbe Blut aus dem Herzen in den
Kopf ſteigt, und aus dem Kopfe ins Herz zuruͤck kehrt. Gewiß, daß die Nerven und Fibern
des Herzens und des Kopfes in der genaueſten Verbindung ſtehen, einen analogiſchen Character
haben — mithin, daß ſich vom Gebluͤte im Haupte auf das Gebluͤt im Herzen, von dem Cha-
racter der Nerven und Muſkeln des Angeſichts auf das Jnnere der Bruſt des Menſchen ſchließen
laͤßt. Dieſe gewiſſe Erfahrungswahrheit iſt in Abſicht auf die Kenntniß des Menſchen aus ſeinem
Aeußern von der groͤßten und augenſcheinlichſten Wichtigkeit, und uͤberhaupt alles, was wir bis
dahin geſagt haben, leitet uns in dieſer Abſicht zu wichtigen Grundſaͤtzen.
Wer
[37]Ueber die menſchliche Natur.
Wer den Menſchen, das wuͤrdigſte Weſen auf Erden, kennen will — der muß das
Phyſiſche, das an ihm kennen, was von ihm in die Sinne faͤllt.
Er muß das dreyfache Leben der Menſchen wohl unterſcheiden — das animaliſche, das
intellectuelle, das moraliſche; oder mit andern Worten, ſeine Kraft, ſeine Erkenntniß, ſeinen
Willen.
Er muß jedes erſt einzeln beſonders an denen Orten, und in denen Aeußerungen die das
naͤchſte, das unmittelbarſte Verhaͤltniß damit haben, unterſuchen.
Er muß ſodann dieſe drey Leben in ihrem Zuſammenhang, ihrer Vermiſchung, ihrer Ein-
fachheit, Simultanitaͤt, Verwebtheit, oder wie man es nennen will, betrachten. Das heißt —
er muß die Phyſiognomie des Koͤrpers, der Wirkungskraͤfte, oder die phyſiologiſche; die des
Verſtands, der Erkenntnißkraͤfte, oder die intellectuelle; die des Herzens, der Empfindungs-
kraͤfte, der Begierden und Leidenſchaften, oder die moraliſche beſonders — und ſodann die drey
Character in Einem als ein Ganzes erforſchen lernen.
Ob es nun, muß ich abermal fragen, eine laͤcherliche, eines Naturforſchers, eines Wei-
ſen, eines Menſchen, Chriſten, oder Theologen unwuͤrdige Beſchaͤfftigung ſey, den Menſchen,
das Schoͤnſte und Goͤttlichſte, was ſich uns auf Erden darſtellen kann, zu erkennen, und zu erfor-
ſchen — und durch die Mittel und Wege, die Merkmaale zu erforſchen, durch welche allein er
am naͤchſten und unmittelbarſten erforſcht werden kann — wird wohl keine Frage mehr ſeyn?
Jeder, der dieß ins Gelaͤchter ziehen kann, zeigt, daß er nicht die mindeſte Kenntniß von ſeiner
eignen Natur habe, und daß er ſelbſt im hoͤchſten Grade belachenswuͤrdig ſey.
[38]VI.Fragment. Von dem Bemerken
Sechſtes Fragment.
Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
uͤberhaupt.
Die menſchliche Natur iſt zugleich vollkommen und unvollkommen; ſie iſt noch nicht,
was ſie werden kann, und was ſie ſeyn wird — aber ſie iſt, was ſie in ihrer gegenwaͤrtigen Lage
(alle und jede Beſtimmungsgruͤnde zuſammengenommen) ſeyn kann. Wir koͤnnen ſie nicht rich-
tig — oder vielmehr, wir koͤnnen ſie richtig, aber nur von Einer Seite, nur aus unſerer Lage
und unſerm Geſichtspunkt — der wahrlich nichts als Punkt iſt, beurtheilen. Aus dieſem Ge-
ſichtspunkt erblicken wir an jedem Menſchen Vollkommenheiten und Fehler. Gehen wir auf
Fehler aus; ſo finden wir unzaͤhlige. Suchen wir Vollkommenheiten, ſo finden wir (ſo unbe-
greiflich es manchem vorkommen wird, dreiſte behaupt ichs) an jedem, auch dem fehlervollſten
Menſchen, — ebenfalls unzaͤhlige; — die es vermuthlich in den Augen aller vernuͤnftigen We-
ſen ſind — da ich hingegen zum Theil zweifele — ob alles, was uns fehlerhaft und unvollkom-
men vorkommt, hoͤhern Weſen, die mehrere Verhaͤltniſſe und Verbindungen der menſchlichen Na-
tur wahrnehmen und uͤberſchauen koͤnnen — nicht ganz anders vorkommen muͤſſe. Je mehr
wir die Natur erforſchen (und gehoͤrt der Menſch nicht auch zur Natur? iſt er nicht das vollkom-
menſte, ich mag nicht ſagen: Werk der Natur? Jſt er er nicht die vollkommenſte aller uns durch
die Sinne bekannten Naturen? ‒ ‒ ‒) Je mehr wir die Natur erforſchen, deſtomehr bemerken
wir, Ordnung, Verhaͤltniß, Zweck, wohlthaͤtige Abſicht: und wo das iſt, iſt da nicht
Vollkommenheit? und wo wirs noch nicht ſehen, duͤrfen wirs nicht auf das, was wir ſehen,
glauben? und kann der, der das nicht glaubt, eine Gottheit glauben? Kann die hoͤchſte
Weisheit das geringſte uͤberfluͤßig machen? Die hoͤchſte Macht das geringſte un-
zureichend laſſen? Die hoͤchſte Guͤte die geringſte Disharmonie in dem dulden, was
da iſt?
Unvollkommenheit bleibt indeſſen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom-
menheit bleibt immer in Vergleichung hoͤherer Vollkommenheit — Mangel. Ein Kind iſt ein
vollkom-
[39]der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.
vollkommenes Kind — aber kein vollkommener Mann. Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es
fehlt ihm zur Vollkommenheit eines Mannes noch dieß oder jenes.“ Der Laſterhafte iſt ein voll-
kommener Laſterhafter — und im Zuſammenhange aller Dinge, im Plan des hoͤchſtweiſen —
ein ſehr weſentlicher Ring in der großen Kette der Weſen — denn — Er iſt; und was iſt,
iſt nach dem Plane des Hoͤchſtweiſen. Aber der Laſterhafte iſt kein Tugendhafter. Der Boͤſe iſt
nicht gut, obgleich es gut iſt, daß der Boͤſe ſey — Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es fehlt
ihm zur Vollkommenheit eines Tugendhaften ſehr vieles.“ —
Oder: ein Weſen iſt nicht das, was ein anderes ſeiner Art iſt. Das thoͤrichte Kind iſt
nicht das weiſe; das tugendhafte nicht laſterhaft. Jegliches aus ſeinem Zuſammenhange heraus-
genommen — in welchem es ganz anders, als außer demſelben beurtheilt werden muͤßte — aus
dem Zuſammenhange, in dem es das iſt, was es nach der Abſicht des Vaters aller — der auf Mil-
lionen Wegen — alles zur Vollkommenheit leitet — ſeyn ſoll — Jegliches, aus ſeinem Zuſam-
menhange herausgenommen, ſag' ich, und — beyde neben einander geſtellt, laͤßt ſich ſagen —
das eine iſt ſchoͤn, das andere heßlich — das eine iſt vollkommener oder unvollkommener, als das
andere, das eine liebenswuͤrdig, das andere abſcheulich.
Aber, wie nun? Soll der Naturforſcher, der Menſchenbeobachter — ſich mit den Voll-
kommenheiten, oder Unvollkommenheiten der menſchlichen Natur oder mit beyden zugleich beſchaͤff-
tigen? Mich duͤnkt — Er ſoll alles beobachten, was ihm vorkommt, das Schoͤne wie das
Schlechte, das Schlechte wie das Schoͤne; — aber — er ſoll ſich bey dem Schoͤnen und Voll-
kommenen lieber verweilen — das Schoͤne und Vollkommene ſich und andern lieber vorzeichnen
und analyſiren. Wer das Schoͤne kennt — wird von ſelbſt das Schlechte kennen lernen: aber
nicht allemal wird der, der das Schlechte kennt, deswegen wiſſen, was ſchoͤn iſt. Wer immer nur
die beſten und niedlichſten Speiſen genießt, wird wenig Geſchmack an den ſchlechten finden. Wer
ſich aber an rohe ſtarke Speiſen gewoͤhnt hat, wird nicht ſo leicht an delikaten Geſchmack finden.
Es iſt freylich leichter, Schwachheiten, Unvollkommenheiten, Fehler und Laſter an ſeinen Neben-
geſchoͤpfen zu entdecken, als Schoͤnheiten, Vollkommenheiten, Ebenmaß und Tugenden.
Jede
[40]VI.Fragment. Von dem Bemerken
Jede Unvollkommenheit iſt auffallender, als die Vollkommenheiten. Tauſend Gutes wird
gemeiniglich an einem Menſchen nicht bemerkt, dahingegen ein einziger Fehler oder Fehltritt leicht
alles wider ihn in Bewegung ſetzen kann.
Freylich hat's auch etwas Reizendes, da Unvollkommenheiten zu bemerken, wo der an-
dere nichts Mangelhaftes; vielleicht gar Vollkommenheiten ſieht — und es iſt fuͤr den Witz eine
ſehr unterhaltende Beſchaͤfftigung — ſich durch Herzehlung und Ausmahlung der Unvollkommenhei-
ten des andern weit weit uͤber ihn wegzuſetzen. Wenn dieß mit einiger Zuverſicht, welche die Miene
der Beſcheidenheit annimmt, geſchieht, ſo kann man ſich dadurch von andern das ſtille Lob erſchlei-
chen: „was das fuͤr ein Menſch ſeyn muß, der mit dieſer Zuverſicht und Beſcheidenheit dieſe Fehler
dadurch von ſich weglehnen darf, daß er ſie ſo aͤußerſt fein — laͤcherlich machen kann.“ Aber ich
geſtehe aufrichtig, daß ich mich vor nichts ſo ſehr, als vor meinem eigenen Herzen fuͤrchten wuͤrde,
wenn ich einen ſtaͤrkern, oder auch nur eben ſo einen ſtarken Hang in mir fuͤhlte, Fehler und Un-
vollkommmenheiten an meinen Nebengeſchoͤpfen aufzuſuchen, als Schoͤnheiten und Vollkommenhei-
ten. Wer nur auf Fehler, oder mehr auf Fehler, oder lieber auf Fehler ausgeht, als auf
Schoͤnheiten und Vollkommenheiten, der wird weder ein guter Phyſiognomiſt, noch ein guter
Menſch werden. Kein guter Menſch; — denn die Guͤte des Menſchen mißt ſich nach
ſeiner Luſt an Schoͤnheit, Freyheit, Vollkommenheit anderer — Willſt du wiſſen, ob
dein Herz boͤſe ſey — frage dich nur: ſuch ich an andern lieber Vollkommenheiten, als Fehler —
oder lieber Fehler, als Vollkommenheiten auf? — Kein guter Phyſiognomiſt, denn er wird das
entgegengeſetzte Eine Schoͤne deswegen nicht finden, weil er tauſend Abweichungen davon wahr-
genommen hat. Da er hingegen, wenn er das Eine Schoͤne gefunden hat, weiß, daß alles,
was nicht dieß eine iſt, Abweichung, Minderſchoͤnheit, Unvollkommenheit, Fehler iſt. Die
Kenntniß Einer Schoͤnheit und Vollkommenheit iſt fuͤr den Phyſiognomiſten unend-
lich wichtiger und fruchtbarer, als die Kenntniß von Millionen Fehlern, aber auch
weit ſchwerer.
Oder iſt es nicht viel leichter, tauſendmal das Ziel, auf welches du den Pfeil richteſt,
nicht zu treffen: als es iſt, das Ziel einmal zu treffen? So viel leichter iſts, Unvollkommenheiten
als Vollkommenheiten zu finden, zu zeichnen, zu beſchreiben und zu entwickeln.
Jede
[41]der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.
Jede Art von Vollkommenheit iſt nur Eine, aber die Abweichungen davon ſind
unzaͤhlig. So wie nur Eine Wahrheit iſt, aber die ihr entgegenſtehenden Jrrthuͤmer ſind un-
zaͤhlig. Tauſend Jrrthuͤmer ſind leichter geſagt, als Eine Wahrheit.
Ein mittelmaͤßiger Zeichner entwirft in einem Tage hundert Geſichter von Thoren und
Boͤſewichter, und der geſchickteſte zeichnet in dieſer Zeit vielleicht kaum Ein rechtſchaffen weiſes,
edles, oder erhabenes Geſicht.
Es erfordert alſo bey der Menge von Unvollkommenheiten, mit denen wir umringt ſind,
und bey der Leichtigkeit, womit man dieſe herzeichnen, beſchreiben und entwickeln kann, — und
bey dem offnen Felde, das ſich dem Witze zu den luſtigſten Bemerkungen und unterhaltendſten Ein-
faͤllen darbeut; es erfordert, ſage ich, anfangs viel Selbſtverlaͤugnung, oder ein großes Maas
bruͤderlicher Menſchenliebe — das ſtolze Verlangen, Unvollkommenheiten an andern zu bemerken,
und daruͤber zu triumphiren — bey ſich zu unterdruͤcken und im Zaum zu halten, und vornehm-
lich nur das viel ſeltnere Schoͤne, Edle, Erhabene, Vollkommene, das um ſo viel ſchwerer
wahrzunehmen und zu beſchreiben iſt, zum naͤheren und erſten Gegenſtande ſeiner Beobachtungen
und Beſchreibungen zu machen. — Aber dieſe Verlaͤugnung fuͤhrt, je ſchwerer ſie iſt, um ſo
viel groͤßere Belohnung mit ſich.
Wer in der Welt Freude genießen und andern Menſchen weiſe Freude machen will, der
geh auf Vollkommenheiten aus, und gewoͤhne ſein Auge, Schoͤnheiten zu ſuchen und zu finden,
laſſe ſich den ſchrecklichen Verfall der ſchoͤnen menſchlichen Natur (die doch ja nur deswegen ſo tief
gefallen iſt, damit ſie ihr unerforſchlicher Urheber himmelhoch erhebe) nicht abhalten, immerfort
Schoͤnheiten zu ſuchen, ſo weit er ſie immer ſuchen kann.
Nichts wird geſchickter ſeyn, ſeinen Verſtand, ſeine Schauenskraft zu uͤben und zu ſchaͤr-
fen, ſeinen Geſchmack zu verfeinern, und ſein Herz zu verbeſſern und zu erweitern. Nichts iſt
geſchickter den Menſchen menſchlicher zu machen, als die Entdeckung und Beobach-
tung der Schoͤnheiten und Vollkommenheiten der menſchlichen Natur. Und allent-
halben wo er iſt, werden ſich ſeinen offenen Augen Schaͤtze darbieten, die unſchaͤtzbar ſind —
wenn gleich beynahe niemand ihren Werth kennt, wenn gleich unzaͤhlige es ſich zur Religion
machen, die menſchliche Natur, die doch warlich, ſo ſehr wie alle Geſchoͤpfe Gottes, gut und
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Gunver-
[42]VI.Fragment. Von dem Bemerken
unverwerflich iſt, zu erniedrigen. — Lerne erſt die Vollkommenheiten der menſchlichen Natur
kennen, und dann, wenn du willſt, magſt du auch ihre Unvollkommenheiten kennen ler-
nen. — — Jch denke aber, wenn ich eine Goldgrube finde, ſo laß ich dieſe nicht ungenutzt
liegen, um tauſend Kothpfuͤtzen nachzugehen.
Jſt das Auge geuͤbt, Vollkommenheiten zu bemerken, ſo iſt es auch geuͤbt, Voll-
kommenheiten zu ſuchen. Schaͤrft ſich freylich mit der Empfindſamkeit fuͤrs Schoͤne und
Vollkommene zugleich auch Ekel und Widerwillen vor allem Schlechten und Unvollkomme-
nen — ſo ſchaͤrft ſich dennoch das Auge, oft da die liebenswuͤrdigſten Vollkommenheiten zu
entdecken, wo das fluͤchtige Auge vielleicht nichts als Truͤmmern und Geſtraͤuche wahrzuneh-
men faͤhig iſt. Allenthalben, wo andere Nichts ſehen, oder Langeweile haben, oder nur Un-
vollkommenheiten ſehen, ſieht das Schoͤnheit ſuchende Auge, Schoͤnheit, Ordnung, Spuren
des Ebenbilds der Gottheit, und ſchoͤpft Freude, die unerſchoͤpflich iſt; allenthalben findet es
ſeinen Gott, allenthalben den Einzigen, allenthalben denſelben, der es beſeelt und erleuch-
tet, allenthalben unter allen Ruinen der Menſchheit noch Fleiſch von ſeinem Fleiſch und Ge-
bein von ſeinen Gebeinen. Der weiſe Beobachter wird zwar das Schwache, das Unedle, das
Unvollkommene nicht uͤberſehen; wird nicht ſogleich die Augen davor zuſchließen, wird ſich auch
die Charactere der Dummheit und des Laſters einzupraͤgen ſuchen, aber dieſer Beobachter wird
den Menſchen nie von dem Beobachter trennen, ſein Herz wird dabey ein Menſchenherz, ein
Bruderherz bleiben. Er wird ſich mit den wirklichen Vollkommenheiten, und mit den noch
unentwickelten Anlagen zu mehreren Vollkommenheiten, die er mit der Begierde eines Durſten-
den aufſuchen wird, troͤſten und ſtaͤrken. Er wird ſich durch die oͤftere Beobachtung des Un-
edlen und Unvollkommenen deſto beſſer in den Stand ſetzen, die entgegenſtehenden Schoͤnheiten
leichter aufzuſuchen, ſtaͤrker und lebendiger zu empfinden; — und, was mehr iſt als alles
dieß, — ſich nach und nach der groͤßten aller Kuͤnſte, der Verbeſſerung der menſchlichen Natur,
mit jedem Schritte naͤhern, um welchen er der Kenntniß ihrer Unvollkommenheiten naͤher
koͤmmt. Der weiſe Arzt, wie viel hat der ſchon gewonnen, wenn er die Kennzeichen der Krank-
heit aufgefunden, und nun eigentlich weiß, wogegen er zu kaͤmpfen hat.
Aber
[43]der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.
Aber ja, wie Geheimniſſe, die ihm eine Gottheit anvertrauet hat, und wie Suͤnden,
die man ihm unter dem heiligſten Siegel der Verſchwiegenheit gebeichtet hat, wird er, in beſon-
dern Faͤllen, ſeine unangenehmen Beobachtungen bey ſich bewahren, und keinem, der ſie zum
Schaden der menſchlichen Geſellſchaft mißbrauchen koͤnnte, mittheilen.
Der Menſchenfreund (der allerverſchwendeteſte Namen und die groͤßte Seltenheit un-
ter den Menſchen) wird immer lieber die Schoͤnheiten, die Vollkommenheiten der menſchlichen
Natur aufſuchen, wahrnehmen, entwickeln, bekannt machen, anpreiſen, und die Aufmerkſam-
keit der Menſchen darauf lenken, als — ihre Unvollkommenheiten.
Jſt es gleich ſchwerer, Vollkommenheiten zu ſehen, und zu entwickeln, ſo iſt es doch
beſſer. Es iſt beſſer, wenig Gutes und Nuͤtzliches, als viel Schlimmes und Schaͤdliches zu
ſagen. Und in einer Welt, wie die unſrige iſt — guter Gott, wer kann Unvollkommenhei-
ten bekannt machen, ohne mehr zu ſchaden, als zu nutzen? *)
G 2Siebentes
[44]VII.Fragment.
Siebentes Fragment.
Von der Wahrheit der Phyſiognomie.
Einer der vornehmſten Zwecke meines Werkes iſt, zu beweiſen, darzuthun, fuͤhlbar zu ma-
chen, daß es eine Phyſiognomie giebt; daß die Phyſiognomie Wahrheit, das iſt, daß ſie wah-
rer ſichtbarer Ausdruck innerer an ſich ſelbſt unſichtbarer Eigenſchaften iſt. Da nun jede Zeile
des ganzen Buches dieſen Zweck mittelbar oder unmittelbar erreichen hilft, ſo werde ich alſo
keine beſondere ausfuhrliche Abhandlung uͤber die Wahrheit, und die innere objectiviſche Zu-
verlaͤßigkeit der Phyſiognomieen voranſetzen. Jch wuͤrde darinn beynah alles das ſagen muͤſ-
ſen,
[45]Von der Wahrheit der Phyſiognomie.
ſen, was ich in den folgenden Bruchſtuͤcken, bey verſchiedenen Beyſpielen ſchicklicher, verſtaͤnd-
licher und einleuchtender zu ſagen Gelegenheit haben werde.
Alſo hier nur einige vorlaͤufige, vorbereitende — Gedanken.
Alle Geſichter der Menſchen, alle Geſtalten, alle Geſchoͤpfe ſind nicht nur nach ihren
Klaſſen, Geſchlechtern, Arten, ſondern auch nach ihrer Jndividualitaͤt verſchieden.
Jede Einzelheit iſt von jeder Einzelheit ihrer Art verſchieden. Es iſt die bekannteſte,
aber fuͤr unſere Abſicht die wichtigſte, die entſcheidendſte Sache, die geſagt werden kann: „Es
„iſt keine Roſe einer Roſe, kein Ey einem Ey, kein Aal einem Aale, kein Loͤwe einem Loͤ-
„wen, kein Adler einem Adler, kein Menſch einem andern Menſchen vollkommen aͤhnlich.“
Es iſt dieß, (damit wir nun bey dem Menſchen ſtille ſtehn,) der erſte, tiefſte, ſicher-
ſte, unzerſtoͤrbarſte Grundſtein der Phyſiognomik, daß bey aller Analogie und Gleichfoͤrmig-
keit der unzaͤhligen menſchlichen Geſtalten, nicht zwo gefunden werden koͤnnen, die, neben ein-
ander geſtellt und genau verglichen, nicht merkbar unterſchieden waͤren.
Nicht weniger unwiderſprechlich iſts, daß eben ſo wenig zween vollkommen aͤhnliche
Gemuͤthscharacter, als zwey vollkommen aͤhnliche Geſichter zu finden ſind.
Mehr ſollte man nicht wiſſen duͤrfen, als dieß — um es als eine keines weitern Be-
weiſes beduͤrfende Wahrheit anzunehmen — „daß dieſe aͤußere Verſchiedenheit des Geſichtes
„und der Geſtalt mit der innern Verſchiedenheit des Geiſtes und Herzens in einem gewiſſen
„Verhaͤltniſſe, einer natuͤrlichen Analogie ſtehen muͤſſe“ — Was? die innere zugeſtandne Ver-
ſchiedenheit des Gemuͤths aller Menſchen, dieſe — ſollte von der, abermals zugeſtandnen,
Verſchiedenheit aller menſchlichen Geſichter und Geſtalten, dieſe von jener kein Grund ſeyn?
Nicht von innen heraus ſoll der Geiſt auf den Koͤrper, nicht von außen herein ſoll der
Koͤrper auf den Geiſt wirken?
Zorn ſchwillt zwar die Muſkeln auf, aber aufgeſchwollne Muſkeln und ein zorniges
Gemuͤthe ſollen nicht als Wirkung und Urſache angeſehen werden duͤrfen?
Feuer, ſchnelle blitzaͤhnliche Bewegung des Auges — und ein durchdringender Ver-
ſtand und ſchneller Witz ſollen zwar hundertmal beyſammen gefunden werden; aber keine Be-
ziehung auf einander haben? Sollen zufaͤlliger Weiſe zuſammen treffen? Zufall — ſoll's
G 3ſeyn,
[46]VII.Fragment.
ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in dem
Augenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be-
wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert?
Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres,
uns entgegen wallendes Herz ſollen ſich bey tauſend Menſchen zufaͤlliger Weiſe beyſammen fin-
den, und keines des andern Wirkung und Urſache ſeyn?
Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich
Urſachen und Wirkungen entſprechen — allenthalben ſoll man nichts ſicherer wahrnehmen, als
dieß unaufhoͤrliche Verhaͤltniß von Wirkungen und Urſachen — Und in dem ſchoͤnſten, edel-
ſten, was die Natur hervorgebracht hat — ſoll ſie willkuͤhrlich, ohne Ordnung, ohne Geſetze
handeln? Da, im menſchlichen Angeſichte, dieſem Spiegel der Gottheit, dem herrlichſten aller
ihrer uns bekannten Werke, — da ſoll nicht Wirkung und Urſache, da nicht Verhaͤltniß
zwiſchen dem Aeußern und Jnnern, zwiſchen Sichtbarem und Unſichtbarem, zwiſchen Urſach
und Wirkung ſtatt haben? —
Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde
behaupten.
Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung
zur willkuͤhrlichſten Taſchenſpielerinn, die immer etwas anders zeigt, als ſie ſehen laſſen will.
Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be-
haupten kann: daß Neuton und Leibnitz allenfalls ausgeſehen haben koͤnnten, wie ein Menſch
im Tollhauſe, der keinen feſten Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver-
moͤgend iſt, den gemeinſten abſtrakten Satz zu begreifen, oder mit Verſtand auszuſprechen;
daß der eine von ihnen im Schaͤdel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im
Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf ſechſe zaͤhlen kann, und was druͤber geht,
unzaͤhlbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtſtral geſpaltet haͤtte?
Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar-
ker Menſch koͤnn' ausſehen, wie ein ſchwacher; ein vollkommen geſunder, wie ein vollkommen
ſchwindſuͤchtiger; ein feuriger, wie ein ſanfter und kaltbluͤtiger. Er empoͤrt ſich gegen die
Behau-
[47]Von der Wahrheit der Phyſiognomie.
Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wolluſt und Schmerz, Liebe und Haß, haͤtten dieſel-
ben, das iſt, gar keine Kennzeichen im Aeußerlichen des Menſchen; und das behauptet der,
der die Phyſiognomik ins Reich der Traͤumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und
Verknuͤpfung der Dinge, wodurch ſich die ewige Weisheit dem Verſtande ſo preiswuͤrdig macht.
Man kann es nicht genug ſagen, die Willkuͤhrlichkeit iſt die Philoſophie der Tho-
ren, die Peſt fuͤr die geſunde Naturlehre, Philoſophie und Religion. Dieſe allenthalben zu
verbannen, iſt das Werk des aͤchten Naturforſchers, des aͤchten Weltweiſen, und des aͤchten
Theologen.
Jch habe ſchon geſagt, daß ich mir in dieſem Fragmente nicht ſelber vorgreifen wolle;
aber folgendes muß ich noch ſagen.
Alle Menſchen, (ſo viel iſt unwiderſprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen — Din-
gen nach ihrer Phyſiognomie, ihrer Aeußerlichkeit, ihrer jedesmaligen Oberflaͤche. Von dieſer
ſchließen ſie durchgehends, taͤglich, augenblicklich auf ihre innere Beſchaffenheit. Jch muß die
allertaͤglichſten Dinge ſagen, um eine Sache zu beweiſen, die ſo wenig Beweiſe beduͤrfen ſollte,
als unſere Exiſtenz. Aber, ich muß den Schwachen ſchwach, faſt moͤcht' ich ſagen, den Tho-
ren ein Thor werden, um der Wahrheit willen.
Welcher Kaufmann in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er ſei-
nen Mann noch nicht kennt, anders, als nach ihrer Phyſiognomie? Anders, als nach dieſer,
wenn er ſie auf den Mann hin gekauft hat, und ſeiner Erwartung gemaͤß, oder anders, als
ſeine Erwartung findet? Beurtheilt er ſie anders, als nach ihrer Farbe? Jhrer Feinheit?
Jhrer Oberflaͤche? Jhrer Aeußerlichkeit? Jhrer Phyſiognomie? Alles Geld nach ſeiner Phy-
ſiognomie? Warum nimmt er den Einen Louisd'or an, wirft den andern weg? Warum
wiegt er den dritten auf der Hand? Um ſeiner bleichern oder roͤthern Farbe, ſeines Gepraͤges,
ſeiner Aeußerlichkeit, ſeiner Phyſiognomie willen? — Kommt ein Unbekannter, der ihm et-
was verkaufen, oder abkaufen will, auf ſein Comtoir, wird er ihn nicht anſehen? Nichts auf
ſein Geſicht rechnen? Wird er nicht, kaum mag er weg ſeyn, ein Urtheil uͤber ihn faͤllen?
„Der Mann hat ein ehrliches Geſicht;“ oder: „Er hat ein ſchlimmes Paar Augen;“ oder:
„Er hat was Widriges oder Einnehmendes?“ Urtheil' er richtig, oder unrichtig, was thuts
zur
[48]VII.Fragment.
zur Sache? Er urtheilt. Er urtheilt nicht ganz, aber doch zum Theil von dem Aeußern des
Menſchen. Er macht daraus einen Schluß auf ſein Jnneres.
Der Bauer, der durch ſeine Felder, oder durch ſeinen Weinberg geht, beſtimmt ſeine
Hoffnung, wornach? Nach der Farbe, Groͤße, Stellung, Aeußerlichkeit — nach der Phy-
ſiognomie des bluͤhenden Saamens, der Halmen, der Aehren, des Weinſtocks, der Reben:
„Dieſe Kornaͤhre iſt krank, dieß Holz geſund. Dieß wird gedeyhn, jenes nicht,“ ſagt er auf
den erſten oder zweyten Blick; ſagt bisweilen — „wie ſchoͤn dieſe Weinrebe ſcheine — ſie wird
„wenig Trauben bringen“ — Warum? Er bemerkt, wie der Phyſiognomiſt am ſchoͤnen leeren
Menſchengeſicht, — Leerheit des Triebes — Und wie? Abermal an irgend einer Aeußerlichkeit?
Der Arzt, ſieht er oft nicht mehr aus der Phyſiognomie des Kranken, als aus allen
Nachrichten, die man ihm von ſeinem Patienten bringt? Wie erſtaunlich weit es hierinn gewiſſe
Aerzte bringen — kann Zimmermann unter manchen lebenden, und unter vielen verſtorbnen
Kaͤmpf, deſſen Sohn von den Temperamenten geſchrieben hat, Beyſpiel ſeyn.
Der Mahler. Doch von dem will ich nicht reden, die Sache redet, redet allzubeſchaͤ-
mend fuͤr den bey manchem eben ſo kindiſchen als ſtolzen Eigenſinn der angeblichen Unglaͤubigen
an die Phyſiognomie. —
Der Reiſende, der Menſchenfreund, der Menſchenfeind, der Verliebte — und
wer nicht? Alle handeln nach ihrem wahren oder falſchen, klaren oder konfuſen phyſiognomiſchen
Urtheil und Gefuͤhle. Dieß Urtheil, dieß Gefuͤhl erweckt Mitleiden oder Schadenfreude, Lie-
be oder Haß, Mißtrauen oder Zuverſicht, Zuruͤckhaltung, oder Offenherzigkeit.
Und wird der Himmel nicht taͤglich nach ſeiner Phyſiognomie beurtheilt?
Keine Speiſe, kein Glas Wein oder Bier, keine Schale Koffee oder Thee koͤmmt auf
unſern Tiſch, von deren Phyſiognomie, deren Aeußerlichkeit, wir nicht ſogleich auf ihre innere
Guͤte oder Schlechtigkeit einen Schluß machen.
Man bringt uns ein Koͤrbgen mit Birnen oder Aepfeln; warum ſuchen wir aus?
Warum waͤhlen wir die einen, und laſſen die andern liegen? Warum ruft uns, wenn wir
aus Beſcheidenheit ein ſchlechteres Stuͤck waͤhlen, die gefaͤllige Hoͤflichkeit zu: „Laſſen Sie
„dieſes liegen! Nehmen Sie das beſſere!“ Warum? Um der Phyſiognomie willen!
Jſt
[49]Von der Wahrheit der Phyſiognomik.
Jſt nicht die ganze Natur Phyſiognomie? Oberflaͤche und Jnnhalt? Leib und Geiſt?
Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unſichtbarer Anfang; ſichtbare Endung?
Welche Kenntniß, die der Menſch immer beſitzen mag, gruͤndet ſich nicht auf Aeußer-
lichkeit, auf Character, auf Verhaͤltniß des Sichtbaren zum Unſichtbaren, des Wahrnehmli-
chen zum Unwahrnehmlichen? —
Die Phyſiognomik in weiterm und engerm Verſtande iſt die Seele aller menſch-
lichen Urtheile, Beſtrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange-
nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranlaſſet werden.
Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Staͤnden und Altern, bey allen
Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der ſterben wird, vom Wurm an, den wir zer-
treten, bis auf den erhabenſten Weiſen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis
auf Jeſum Chriſtum? — iſt die Phyſiognomie der Grund von allem, was wir thun und laſſen.
Jedes Jnſekt kennt ſeinen Freund und ſeinen Feind; jedes Kind liebet oder fuͤrchtet,
ohne zu wiſſen warum, durch die Phyſiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Menſch,
der ſich nicht taͤglich durch die Phyſiognomie leiten laͤßt; kein Menſch, dem ſich nicht ein Ge-
ſicht vorzeichnen ließe, das ihm entweder aͤußerſt liebenswuͤrdig, oder aͤußerſt abſcheulich vor-
kommen muͤßte; kein Menſch, der nicht jeden Menſchen, der das erſtemal zu ihm kommt, mehr
oder minder anſchaut, mißt, vergleicht, und phyſiognomiſch beurtheilt, wenn er auch das
Wort Phyſiognomie in ſeinem Leben nie gehoͤret hat; kein Menſch, der nicht alle Sachen,
die ihm durch die Haͤnde gehen, phyſiognomiſch, das iſt, den innern Werth derſelben nach ih-
rem Aeußerlichen beurtheilt.
Selbſt die ſo ſehr der Phyſiognomik entgegengeworfne Verſtellungskunſt gruͤndet ſich
bloß auf die Phyſiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er,
und, wenn's noch ſo leiſe, noch ſo wenig herausgedacht waͤre, weil er denkt, aller Augen be-
merken den Character der Redlichkeit? —
Welcher Richter — von Verſtand und Unverſtand — er mag's ſagen oder nicht, da-
wider proteſtiren oder nicht, — richtet in dieſem Sinne nie nach dem Anſehen der Perſon?
Welcher kann, darf, ſoll ganz gleichguͤltig ſeyn, in Anſehung des Aeußerlichen der Perſonen,
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Hdie
[50]VII.Fragment.
die ihm vorgeſtellt werden? *) — Welcher Regent erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſein
Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey
ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der Officier waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches —
die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher Hausvater waͤhlt einen Bedienten, welche
Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un-
richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An-
ſchlag komme?
Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das
allgemeine ſtillſchweigende Eingeſtaͤndniß aller Menſchen, daß ſie ganz von der Phyſiognomie
geleitet werden, unwiderſprechlich beſtaͤtigen, ermuͤdet mich, und Widerwillen ergreift mich,
daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu uͤberzeugen, Dinge ſchreiben muß, die jedes Kind
weiß, oder wiſſen kann.
Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten,
toll macht, der mag mit der Fauſt drein ſchlagen, und ſich die Finger dran verbrennen. Jch
rede nicht gern dieſe Sprache; aber ich darf, ich muß dreiſte reden, weil ich deſſen, was ich
ſage und ſagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu ſeyn glaube, mich der Ueberzeu-
gung aller redlichen und aufmerkſamen Freunde der Wahrheit durch Gruͤnde, die ſchwerlich zu
widerlegen ſeyn duͤrften, bemaͤchtigen zu koͤnnen, und weil ich es nicht fuͤr unwichtig halte, den
muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur beſcheidenen Zuruͤckhaltung ihrer deſpotiſchen Ur-
theile herabzuſtimmen. Es bleibt alſo dabey, nicht deswegen, weil ich es ſage, ſondern, weil's
auffallend wahr iſt — weil's wahr ſeyn wuͤrde, wenn's nicht geſagt wuͤrde — Es bleibt alſo
dabey, daß die Phyſiognomie alle Menſchen, ſie moͤgen's wiſſen, oder nicht, taͤglich leitet —
daß, wie Sulzer ſagt, jeder Menſch, er mag's wiſſen, oder nicht, etwas von der Phyſiogno-
mik verſteht; daß nicht ein lebendiges Weſen iſt, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das
Jnnere,
[51]Von der Wahrheit der Phyſiognomik.
Jnnere, wenigſtens nach ſeiner Art, Schluͤſſe macht, nicht von dem, was in die Sinne faͤllt,
das beurtheilt, was an ſich nicht in die Sinne fallen kann.
Dieſe Allgemeintheit des, wenigſtens ſtillſchweigenden, Eingeſtaͤndniſſes, daß das Aeußere,
das Sichtbare, die Oberflaͤche der Sache, das Jnnere, die Eigenſchaft deſſelben anzeige; daß
alles Aeußere Ausdruck von der Beſchaffenheit des Jnwendigen ſey, iſt, deucht mich, in Abſicht
auf die menſchliche Phyſiognomie von der aͤußerſten Wichtigkeit und einer entſcheidenden
Klarheit.
Wenn jede Birne, muß ich wieder ſagen, wenn jeder Apfel eine eigenthuͤmliche Phy-
ſiognomie hat, ſollte der Herr der Erde keine haben? Das Allereinfachſte und Lebloſeſte hat
ſein characteriſtiſches Aeußerliches, wodurch es ſich von allem, ſelbſt von allem Seines gleichen,
unterſcheidet — und das ſchoͤnſte, edelſte, zuſammengeſetzteſte, belebteſte ſoll keine haben? —
Was man alſo auch immer und immer, von beruͤhmten Akademien an bis zum bloͤdſich-
tigſten Poͤbel herunter, wider die innere Zuverlaͤßigkeit und Wahrheit der Menſchenphyſiogno-
mie ſagen mag, und ſagen wird, ſo ſehr man auch immer auf jeden, der ſich merken laͤßt,
daß er an die Allbedeutſamkeit des menſchlichen Koͤrpers glaube, mit dem beleidigenden Blicke
des philoſophiſchen Stolzes oder Mitleidens herablaͤcheln mag; ſo iſt und bleibt dennoch auch
in dieſer Abſicht keine intereſſantere, naͤhere, beobachtungswuͤrdigere Sache, als der Menſch,
und es kann uͤberhaupt kein intereſſanteres Werk geben, als eines, das dem Menſchen die
Schoͤnheiten und Vollkommenheiten der menſchlichen Natur aufdeckt.
[52]VIII.Fragment.
Achtes Fragment.
Die Phyſiognomik, eine Wiſſenſchaft.
„Aber nie, und wenn wirklich auch etwas Wahres dran ſeyn ſollte, nie wird die Phy-
„ſiognomik eine Wiſſenſchaft werden.“ *) — Das iſt's, was tauſend Leſer und Nichtleſer
dieſer Schrift ſagen, — und vermuthlich, ſo leicht und klar ſich auch dieſe Einwendung beant-
worten, und ſo wenig ſich auch wider die Antwort ſagen laͤßt, als wenn nichts drauf geſagt
worden waͤre, fortbehaupten werden.
Und was laͤßt ſich darauf antworten?
„Die Phyſiognomik kann eine Wiſſenſchaft werden, ſo gut als alle unmathematiſche
„Wiſſenſchaften!“
So gut als die Phyſik; — denn ſie iſt Phyſik! So gut, als die Arzneykunſt,
denn ſie iſt ein Theil der Arzneykunſt! So gut als die Theologie, denn ſie iſt Theologie! **)
So gut als die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, denn ſie gehoͤrt zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften.
So wie dieſe alle kann ſie bis auf einen gewiſſen Grad unter beſtimmte Regeln ge-
bracht werden; hat ſie ihre beſtimmbaren Charactere — die ſich lehren und lernen, mittheilen,
empfangen und fortpflanzen laſſen. So wie dieſe alle muß ſie ſehr vieles dem Genie, dem
Gefuͤhl uͤberlaſſen; hat ſie fuͤr vieles noch keine beſtimmte, oder beſtimmbare Zeichen und
Regeln.
Wer die leichte, jedem Kinde moͤgliche, Muͤhe nehmen mag, das nicht aus den Augen
zu ſetzen, was alle, wenigſtens unmathematiſche, und nicht rein mathematiſche Wiſſenſchafteu
gemein haben — der ſollte ſein Lebtag nichts mehr gegen die Wiſſenſchaftlichkeit der Phyſiogno-
mik
[53]Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft.
mik einwenden. Entweder wird er allen Wiſſenſchaften dieſen Namen abſprechen, oder ihn der
Phyſiognomik ſo gut als einer andern geben muͤſſen.
So bald eine Wahrheit oder eine Erkenntniß Zeichen hat, ſo bald iſt ſie wiſſenſchaftlich,
und ſie iſt es ſo weit, ſo weit ſie ſich durch Worte, Bilder, Regeln, Beſtimmungen mitthei-
len laͤßt. Es wird alſo blos darauf ankommen, ob ſich der auffallende unlaͤugbare Unterſchied
der menſchlichen Geſichtsbildungen und Geſtalten — nicht nur dunkel wahrnehmen, ſondern
unter beſtimmte Charactere, Zeichen, Ausdruͤcke bringen laſſe? Ob gewiſſe Zeichen der Staͤrke
und der Schwaͤche, der Geſundheit und der Krankheit des Koͤrpers, der Dummheit und des
Verſtandes, der Großmuth und Niedertraͤchtigkeit, der Tugend und des Laſters, u. ſ. f. ſich
angeben und mittheilen laſſen? — Dieß iſt bey der gegenwaͤrtigen Frage der einzige Unterſu-
chungspunkt. — Dem muß es entweder an Logik, oder an Wahrheitsliebe fehlen, der ſtatt
dieß zu unterſuchen, wider die Phyſiognomik deklamirt; den Verfaſſer laͤcherlich macht, oder —
ſtatt der Antwort auf die lichthellſte Frage — eine irgendwo aufgehaſchte Luͤge wider ihn —
erzaͤhlt, niederſchreibt, drucken laͤßt, — gemaͤß dem Geiſte des Muthwillens, der in un-
ſerm Jahrhunderte ſo maͤchtig arbeitet, die getriebenſten Bahnen durch Staubaufwuͤhlung zu
bedecken! —
Was wuͤrdeſt du ſagen, lieber Leſer, wenn jemand Naturforſchung, Arzneywiſſen-
ſchaft, Gottesgelehrſamkeit, Schoͤnewiſſenſchaft, — u. ſ. w. außer das Gebiet der Wiſſenſchaf-
ten verbannte — deswegen, weil in jeder ſo viele unbearbeitete Felder voll Daͤmmerung,
Unſicherheit, Unbeſtimmtheit ſind?
Nicht wahr, mein Freund, bis auf einen gewiſſen Grad kann der Phyſiker ſeine
klaren Wahrnehmungen verfolgen, ſie zerlegen, ſie in Worte kleiden und fortpflanzen; ſagen:
„So und ſo hab ich geforſcht! dieß und jenes beobachtet! ſo viel Beobachtungen geſammelt;
„ſo geſchloſſen — den Weg bin ich gegangen, den gehe auch du!“ — Aber wird er das im-
merhin ſagen koͤnnen? Wird der feine Beobachtungsgeiſt nie zu ſolchen Beobachtungen vor-
„fliegen, die ſich nicht mittheilen laſſen? nie weiter ſehen, als er dem, der ihm nachſtrebt,
oder nachkriecht, zeigen und vorbuchſtabieren kann? — und iſt deswegen die Phyſik weniger
Wiſſenſchaft? — — Wie viel Vorempfindung der Wahrheit hatte Leibnitz, ehe Wolf die
H 3Kreiſe,
[54]VIII.Fragment.
Kreiſe, die ſein Genius durchflog, zu Bahnen machte, die nun jeder kalte Logiker betreten
und ruhig wandeln kann? Mit welcher Wiſſenſchaft iſt's anders? Faͤngt's je bey der Wiſ-
ſenſchaft an? Jſts nicht tauſendmal Adlerflug oder Adlerblick, der Jahrhunderten voreilt?
Wie lang waͤhrt's, bis dann Wolfe kommen, und zu jeder erfundenen, vorhergefuͤhlten, vor-
hererblickten oder erhaſchten Wahrheit — den Hin- und Herweg finden, betreten, bahnen? —
Welcher der neuern Weiſen iſt wiſſenſchaftlicher, als Bonnet? Wer verbindet ſo gluͤcklich
Leibnitzens Genie und Wolfens Kaltbluͤtigkeit und Deutlichkeit? Wer iſt mehr Beob-
achter, als Er? Wer unterſcheidet mehr das Wahrſcheinliche vom Wahren? die Beobachtung
von der Folgerung? Wer fuͤhrt euch mehr, wer ſanfter und anmuthiger an der Hand — —
aber, wem wird er alle ſein vorauseilendes Wahrheitsgefuͤhl, dieß Reſultat und dieſe Quelle
von vielen kleinen unbeſtimmbaren, ſchnellen, tiefdringenden Beobachtungen — wem dieß mit-
theilen, wem in Zeichen, Toͤnen, Bildern und Regeln aufloͤſen koͤnnen? — und iſt's anders
mit der Arzneywiſſenſchaft? mit der Gottesgelehrſamkeit? mit welcher Wiſſenſchaft, welcher
Kunſt anders? —
Mahlerkunſt, die Mutter und Tochter der Phyſiognomik — Jſt ſie nicht Wiſſen-
ſchaft, und wie wenig iſt ſie's? „Das iſt Ebenmaaß, jenes Mißverhaͤltniß — dieß Natur,
„Wahrheit, Leben, athmende Kraft, jenes Zwang, falſchbeleuchtet, unedel, heßlich“ — Das
kannſt du ſagen, mit Gruͤnden beweiſen, die jeder Schuͤler faſſen, behalten und wiedererzaͤh-
len kann — aber kannſt du mit allen Collegien uͤber Mahlerey — einem Mahlergenie geben —
ſo wenig, als durch alle Lehrbuͤcher und Lehrmeiſter der Schoͤnenwiſſenſchaften — Dichtergenie
einhauchen? Wie unermeßlich weit fliegt der Mahler, der Dichter, den Gott ſchafft — uͤber
alles hinauf, was ſich in woͤrtliche Regeln faſſen laͤßt? Jſt aber deswegen, weil ſich ſein
Großgefuͤhl, ſeine Blicke und Triebe und Kraͤfte nicht in Gemeinformen gießen, nicht in Re-
geln bringen laſſen, nichts Wiſſenſchaftliches, nichts Beſtimmbares in dieſer Kunſt?
So nun auch in der Phyſiognomik. Bis auf einen gewiſſen Grad laͤßt ſich phy-
ſiognomiſche Wahrheit beſtimmen — in Zeichen und Worte faſſen, mittheilen — ſagen:
„das iſt Character hohen Verſtandes — dieſer Zug iſt der Sanftmuth, dieſer dem wilden
„Zorn eigen! So blickt die Verachtung! So die Unſchuld! wo dieß Zeichen iſt — da iſt
„dieſe
[55]Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft.
„dieſe Eigenſchaft!“ — Laͤßt ſich ſagen: „So mußt du beobachten! den Weg mußt du ge-
„hen, dann wirſt du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewißheit kommen!“ —
Aber ſoll der geuͤbte Beobachter der Feinergebaute auch hier, wie in allen andern Dingen, die
Wiſſenſchaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer ſehen? nicht weiter fliegen?
nicht haͤufig Anmerkungen machen, die ſich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen
laſſen? und ſollte deswegen das, was ſich in Zeichen ausdruͤcken, und in Regeln mittheilen
laͤßt, weniger Wiſſenſchaft heißen? Hat die Phyſiognomik dieß nicht mit allen Wiſſenſchaf-
ten gemein? Oder, nochmals, wo iſt die Wiſſenſchaft, wo alles beſtimmbar — nichts dem
Geſchmacke, dem Gefuͤhle, dem Genius uͤbrig gelaſſen ſey? — Wehe der Wiſſenſchaft, wenn
eine ſolche waͤre! —
Albrecht Duͤrer maß; Raphael maß und fuͤhlte den Menſchen. Jener zeichnete
Wahrheit, wiſſenſchaftlich; dieſer gemeſſene, idealiſirte — und doch nicht weniger wahre
Natur.
Der blos wiſſenſchaftliche Phyſiognomiſt mißt wie Duͤrer; das phyſiognomiſche Ge-
nie mißt und fuͤhlt, wie Raphael. Je mehr indeß die Beobachtung ſich verſchaͤrft; die
Sprache ſich bereichert; die Zeichnungskunſt fortſchreitet; — der Menſch, das Naͤchſte und
Beſte dieſer Erden, den Menſchen ſtudirt — deſto wiſſenſchaftlicher, das iſt, deſto beſtimmter,
deſto lernbarer, und lehrbarer wird die Phyſiognomik. — Sie wird werden die Wiſſenſchaft
der Wiſſenſchaften, und dann keine Wiſſenſchaft mehr ſeyn — ſondern Empfindung, ſchnelles
Menſchengefuͤhl! denn — Thorheit, ſie zur Wiſſenſchaft zu machen, damit man druͤber reden,
ſchreiben, Collegia halten und hoͤren koͤnne! dann wuͤrde ſie nicht mehr ſeyn, was ſie ſeyn
ſoll. — „Wie viel Wiſſenſchaften und Regeln haben den Genies, wie viel Genies den Wiſ-
ſenſchaften und Regeln ihr Daſeyn zu danken? — Alſo — Was ſoll ich ſagen? was ſoll
ich thun? — Phyſiognomik wiſſenſchaftlich machen? — oder nur, den Augen rufen zu fe-
hen? die Herzen wecken, zu empfinden? — und dann hier und dort, einem muͤßigen Zu-
ſchauer, daß er mich nicht fuͤr einen Thoren halte, in's Ohr ſagen: „Hier iſt was, das auch du
ſehen kannſt. Begreif nun, daß andere mehr ſehen!“ —
Das
[56]VIII. Fragment. Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft.
Das letzte, was ich dieſem Fragmente noch beyſetze — ſey, wiewohl es in anderer
Abſicht geſagt worden ſeyn mag, einem großen Manne nachgeſtammelt, der nebſt vielen tieſen
und ſeltenen Kenntniſſen auch die Gabe der Geiſterpruͤfung hatte, vermittelſt welcher er blos durch
den aͤußerlichen Blick entſchied, ob einer, den keine Arzneykunſt heilen konnte, den Glauben hat-
te — geſund zu werden — „Jetzt erkennen wir noch Stuͤckweiſe — und unſer Auslegen und
„Commentiren iſt Stuͤckwerk! weg mit dieſen Fragmenten, wenn die Vollkommenheit koͤmmt!
„Noch iſt's Stammlen eines Kindes, was ich ſchreibe! Kindiſche Einfaͤlle und Bemuͤ-
„hungen werden ſie mir einſt ſcheinen, wenn ich Mann ſeyn werde! Denn jetzt ſehn wir die
„Herrlichkeit des Menſchen nur durch ein duͤſter Glas — bald von Angeſicht zu Ange-
„ſicht — Jtzt fragmentsweiſe; dann werd ich's durch und durch erkennen — wie ich — von
„dem erkennt bin, aus dem und durch den und in dem alle Dinge ſind! Ehr' ſey ihm in Ewig-
„keit! Amen!“
[57]
Neuntes Fragment.
Von der Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen
Schoͤnheit.
Es fragt ſich: „Jſt eine ſichtbare, erweisliche Harmonie und Zuſammenſtimmung der mo-
„raliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit? Eine Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher
„Haͤßlichkeit? und eine weſentliche Disharmonie zwiſchen moraliſcher Schoͤnheit und koͤrper-
„licher Haͤßlichkeit; zwiſchen moraliſcher Haͤßlichkeit und koͤrperlicher Schoͤnheit?“
Von Millionen Stimmen der Natur wird dieſe Frage laut bejahet; wie koͤnnt' ich ſie
verneinen? — —
Es wird auf Beweiſe ankommen. Moͤchte der Leſer mit der Geduld ſie hoͤren
und pruͤfen — mit welcher ich ſie vorlegen will. Es wird eine Zeit kommen, hoffe ich,
faſt moͤcht' ich ſagen, ich verheiß es, eine beſſere Zeit, wo mich jedes Kind auslachen
wird, daß ich dieſes noch erſt bewieſen habe — vielleicht auch das Zeitalter ausla-
chen — oder edler beweinen wird, wo es Menſchen gab, denen man dieſes noch beweiſen
mußte!
Hoͤre die Stimme der Wahrheit, wer will, ich kann nur etwas von dem nachſtam-
meln, was ich aus ihrem Munde vernehme.
Wahrheit iſt Wahrheit, werde ſie angenommen oder nicht! Mein Ausſpruch macht
nicht wahr, was wahr iſt; aber weil's wahr iſt, will ich reden!
Voraus geſetzt! — daß wir das Werk einer hoͤchſten Weisheit — ſeyn — faͤllt's
nicht ſogleich auf, daß es unendlich ſchicklicher iſt — daß zwiſchen phyſiſcher und moraliſcher
Schoͤnheit Harmonie ſey — als daß keine ſey? daß es ſchicklicher ſey — der Urheber aller
moraliſchen Vollkommenheit druͤcke ſein hoͤchſtes Wohlgefallen daran — durch eine natuͤrliche
Uebereinſtimmung der phyſiſchen mit der moraliſchen aus? Man ſetze doch nur das Gegen-
theil — wer wird an eine unendliche Weisheit und Guͤte glauben — und den Gedanken er-
tragen koͤnnen. — „Nicht etwa nur zufaͤlliger Weiſe, nur unter gewiſſen Umſtaͤnden geſchiehet
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. J„es —
[58]IX.Fragment. Von der Harmonie
„es — ſondern es iſt ſo die allgemeine Einrichtung und Natur der Dinge — daß, wo die
„hoͤchſte moraliſche Vollkommenheit iſt, die hoͤchſte phyſiſche Unvollkommenheit zum Vorſchein
„komme, daß der tugendhafteſte Menſch der haͤßlichſte; der erhabenſte, edelſte, großmuͤthigſte
„Wohlthaͤter des menſchlichen Geſchlechts — das ekelhafteſte Geſchoͤpf ſey — daß Gott der
„Tugend alle Schoͤnheit verſage, um ſie ja nicht zu empfehlen, daß die ganze Natur darauf
„eingerichtet ſey, das, was der Gottheit das Liebſte, und an ſich das Liebenswuͤrdigſte iſt, gleich-
„ſam mit dem Siegel ſeines Mißfallens zu ſtempeln.“ — Wer, Bruͤder, Freunde der Tu-
gend, Mitanbeter der hoͤchſten Weisheit, die lauter Guͤte iſt — wer kann dieſen — beynah'
haͤtt' ich geſagt, gotteslaͤſterlichen Gedanken ertragen? —
Setzet den aͤhnlichen Fall mit dem Verhaͤltniß der Erkenntnißfaͤhigkeiten zu der koͤr-
perlichen Feinheit. Koͤnnt ihr's ſchicklich, der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden — in dem
Maße Plumpheit zum Vorſchein kommen zu laſſen, in welchem die innere Verſtandskraft da
iſt, und ſich entwickelt? Saget, was ihr wollt, nimmermehr koͤnnt ihr es — und wie un-
endlich viel weniger liegt doch an dieſer, als an jener Harmonie? Wie unendlich viel mehr iſt
dem Urheber unſerer Natur um die Entwicklung und Vervollkommnung des moraliſchen Theils
unſerer Natur zu thun, als des intellectuellen? —
Weiter — wer wird es ſchicklich, und der hoͤchſten Weisheit angemeſſen finden koͤn-
nen, daß ſie dem ſchwaͤchſten Koͤrper die Form und den Schein des ſtaͤrkſten, und dem ſtaͤrk-
ſten die Form und den Schein des ſchwaͤchſten gebe? (Jch rede nicht von Zufaͤlligkeiten und
Ausnahmen, ich rede von durchgaͤngig allgemeiner Einrichtung der Natur —) — Und doch
waͤre dieſe Vorſtellung, dieſe unwuͤrdige Spielſucht noch Weisheit und Wuͤrde — in Verglei-
chung mit dem Betragen — zwiſchen moraliſcher und phyſiſcher Schoͤnheit eine ſichtbare Dis-
harmonie in der ganzen Natur zu veranſtalten.
Doch ich will es zugeben: dergleichen metaphyſiſche Praͤſumtionen, ſo einleuchtend ſie
ſcheinen, und ſo viel ſie wenigſtens bey gewiſſen Leuten gelten ſollten, ſind nicht beweiſend ge-
nug. Es kommt auf die Wirklichkeit der Sache in der Natur, mithin auf ſichere Beobach-
tungen und Erfahrungen an.
Jch
[59]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Jch ſetze zum voraus, was auch der ſchlechteſte Beobachter ſeines eigenen oder anderer
Angeſichter nicht mehr laͤugnen kann: Jeder Gedankenzuſtand, jeder Empfindungszuſtand der
Seele hat ſeinen Ausdruck auf dem Geſicht. Unaͤhnliche Zuſtaͤnde der Seele haben nicht
aͤhnliche Ausdruͤcke des Angeſichts, und aͤhnliche Zuſtaͤnde nicht unaͤhnliche Ausdruͤcke.
Jch ſetze voraus, was auch kein Moraliſt laͤugnen wird; daß gewiſſe Zuſtaͤnde der
Seele, gewiſſe Empfindungen, Empfindungsweiſen, Neigungen, ſchoͤn, anmuthig, edel, groß
ſind, und jedem empfindſamen Herzen Wohlgefallen, Achtung, Liebe, Freude gleichſam abnoͤ-
thigen; daß andere hingegen ganz das Gegentheil ſeyn, und wirken; haͤßlich, widrig, unan-
genehm, abſchreckend, ekelerregend ſeyn!
Jch ſetze voraus, was jedem geſunden, auch ungeuͤbten Auge einleuchtend iſt: daß es
Schoͤnheiten und Haͤßlichkeiten der Zuͤge des Angeſichts gebe, (wir reden vors erſte auch nur
von dieſem, *) was man auch fuͤr ſeltſame Einwendungen gegen eine weſentliche Schoͤnheit
des Koͤrpers uͤberhaupt, gegen ewig wahre, ſtaͤndige Principien koͤrperlicher Schoͤnheit ausge-
heckt hat: Jch ſtelle den ſchoͤnſten Menſchen neben den haͤßlichſten, und kein Menſch wird aus-
rufen: „Jener wie haͤßlich! Dieſer wie ſo reizend ſchoͤn!“ Und eben derſelbe ſchoͤne Menſch
ſchneide allerley Geſichter: Zuſchauer aus allen Nationen des Erdballes werden immer mit einer
Stimme rufen: „Das war ein haͤßliches — das ein ſcheußliches, das ein ekelhaftes — dieß nun
„wieder ein ordentliches, ein anmuthiges, ein ſchoͤnes Geſicht!“ u. ſ. f. Die meiſten Einwendun-
gen gegen eine weſentliche Schoͤnheit, die nicht in dem willkuͤhrlichen Geſchmacke des Zu-
ſchauers beſtuͤnde, waren immer von dem verſchiedenen oft ſeltſamen Urtheile der Nationen
uͤber die Schoͤnheit des menſchlichen Koͤrpers hergenommen; allein daß alle, die zu der Nation
gehoͤren, gerade alle die, und dann weiter keiner mehr, ein gegebenes Ding, ſo ſeltſamer Weiſe
fuͤr ſchoͤn oder fuͤr haͤßlich halten: — daß gerade alle Hottentotten, und ſonſt dann niemand
J 2weiter,
[60]IX.Fragment. Von der Harmonie
weiter, die unflaͤtige Hautrinde fuͤr Zierde; gerade nur der Mohr die Stumpfnaſe fuͤr ſchoͤn
haͤlt, und ſonſt niemand; — nur ein Voͤlkchen die Kropfhaͤlſe liebt: — zeigt ja klar,
daß das nur die Tyranney eines hochhinabgeerbten Nationalvorurtheils war, die das na-
tuͤrliche Gefuͤhl des Schoͤnen in ſolchen Faͤllen zu tilgen oder zu kruͤmmen vermochte! Und
gerade dieſe alle werden uͤber den Punkt der Schoͤnheit und Haͤßlichkeit in allen großen ſtarken
in die Augen fallenden Faͤllen — mit allen Einwohnern der Erden wieder gleich urtheilen,
werden das gleiche Gefuͤhl des Schoͤnen und Haͤßlichen verrathen, wenn ihr die Faͤlle aus-
nehmt, wo ein Nationalvorurtheil im Wege ſteht. Jch ſage naͤmlich mit Vorbedacht in
großen Faͤllen; in ſtark abſtechenden Extremen von Schoͤnheit und Haͤßlichkeit. Denn je nach
dem die Gegenſtaͤnde vom haͤßlichſten und ſchoͤnſten Punkte einander naͤher ruͤcken, ein deſto fei-
neres geuͤbteres Auge wird wiederum erfordert, es zu unterſcheiden — was man denn nun frey-
lich bey groben Menſchen nicht erwarten darf. Und tauſend Jrrthuͤmer im Punkte der Unter-
ſcheidung und des Gefuͤhls feinerer Grade von Schoͤnheiten koͤnnen ſo wenig eine Einwen-
dung gegen die immer weſentlichen Unterſchiede der Schoͤnheiten abgeben; ſo wenig als zwanzig
Linien um deßwillen nicht wahrhaftig an Groͤße verſchieden ſind, weil jede nur um einen
Punkt groͤßer iſt, und alſo die Unterſchiede zu fein ſind, als daß ſie gemeinen Augen ſicht-
bar wuͤrden.
Wir faſſen zuſammen:
Was in der Seele vorgeht, hat ſeinen Ausdruck auf dem Angeſichte.
Es giebt moraliſche Schoͤnheiten und Haͤßlichkeiten.
Es giebt koͤrperliche Schoͤnheiten und Haͤßlichkeiten der Zuͤge im menſchlichen Angeſichte.
Nun iſt's noch um den vierten Satz zu thun: Sind die Ausdruͤcke der moraliſchen
Schoͤnheiten auch koͤrperlich ſchoͤn? die Ausdruͤcke der moraliſchen Haͤßlichkeiten auch koͤrperlich
haͤßlich? Oder iſt hingegen der Ausdruck moraliſcher Schoͤnheiten, Haͤßlichkeit, und der mora-
liſchen Haͤßlichkeiten, Schoͤnheit? Oder ſind die Ausdruͤcke moraliſcher Beſchaffenheiten und
Zuſtaͤnde weder ſchoͤn noch haͤßlich? Oder ohne zureichenden Grund bald ſchoͤn bald haͤßlich?
Wir wollen nun ſehen. Man nehme zum Beyſpiel nur den unmittelbaren Ausdruck
von mancherley leidenſchaftlichen Zuſtaͤnden der Seele! — Man zeichne einem Kinde, einem
Bauren,
[]
[][]
[][61]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Bauren, einem Kenner, einem jeden andern, das Geſicht eines Guͤtigen und eines Nieder-
traͤchtigen, eines Aufrichtigen, und eines Falſchen. — Man zeichne ihm daſſelbe Geſicht
in einem Augenblicke edler begegnender Guͤte, in einem Augenblicke verachtender Eiferſucht —
und frage: „welche dieſer Geſichter haͤltſt du fuͤr ſchoͤn, — fuͤr die ſchoͤnſten? und welche fuͤr
„die haͤßlichſten?“ Und ſiehe da! Kind und Bauer und Kenner, werden dieſelben Geſichter
fuͤr die ſchoͤnſten halten und alle dieſelben fuͤr die haͤßlichſten. (Dem Kenner nur werd' ich
meine Frage um etwas naͤher beſtimmen muͤſſen; ich werde ihm ſagen muͤſſen: „Jch frage nicht,
„welche ſind am beſten gemacht, welcher Ausdruck iſt am wahrſten getroffen, welches iſt der
„Kunſt halber das ſchoͤnſte? ſondern welche Geſichter ſind an ſich, ohne Ruͤckſicht auf die
„Kunſt des Zeichners, ſchoͤn und welche haͤßlich?“)
Jch frage weiter: von welchen Leidenſchaften, welchen Gemuͤthszuſtaͤnden, dieſe haͤßli-
chen, jene ſchoͤnen Geſichter der Ausdruck ſeyn? Und ſiehe! Es findet ſich, daß gerade die haͤß-
lichſten Ausdruͤcke auch die haͤßlichſten Gemuͤthszuſtaͤnde bezeichnen.
Man vergleiche auf der naͤchſten Tafel die Geſichter der Gemuͤthsruhe,I.Tafel.
und der Verachtung und des Haſſes; der Liebe, Freude, Hochachtung und
des Zorns — und urtheile.
Man vergleiche dann auch nur einzelne Zuͤge, Mund und Mund; Aug' und Aug';
Naſe und Naſe, Stirn und Stirn — Wo ſind die ſanftfließenden, allmaͤhlig weichgebogenen,
gleichern, geordnetern Linien — die ſchoͤnern Linien? an ſich ſchoͤnern Linien, auch ohne
Ruͤckſicht auf Ausdruck? — Und wo ſind die haͤrtern, ſchiefern, ungleichern Linien? die
ſchlechtern, an ſich weniger ſchoͤnen, an ſich haͤßlichen Linien? — Welches Kind, welcher
Bauer wird fehl rathen! Man kann zum Beyſpiel, von dem hoͤchſten Grade der edlen Guͤte,
bis zu dem hoͤchſten Grade von Bosheit, Schalkheit, Grauſamkeit, auch nur die Umriß-
linien der Lippen zeichnen, und man wird finden, daß man ordentlich von der weichſten, ſchoͤn-
ſten Linie, zu ſteifern, flaͤchern, plumpern, dann zu ſchiefern, haͤrtern, krummern, ver-
zogenern kommt; und daß ordentlich mit zunehmender Haͤßlichkeit der Leidenſchaft auch die
Schoͤnheit der Linie abnimmt. Dieß wird ſich nachher in einigen Zugaben nochII.Tafel.
auffallender zeigen.
J 3Daſſelbe
[62]IX.Fragment. Von der Harmonie.
Daſſelbe gilt nun auch bey allen den tauſendfaͤltigen Vermiſchungen und Zuſammenſe-
tzungen aller moraliſch ſchoͤnen, und moraliſch haͤßlichen Gemuͤthszuſtaͤnde und ihrer Ausdruͤcke!
Bis hieher, denk' ich, hat die Sache wenig Schwierigkeit. Ja vielleicht moͤchten mich
manche ſchon einer entbehrlichen Weitlaͤufigkeit beſchuldigen.
Allein der naͤchſte Schritt iſt eben ſo wenig mit Schwierigkeit umfangen.
Ein jeder vielmals wiederholter Zug, eine jede oftmalige Lage, Veraͤnderung des Ge-
ſichts, macht endlich einen bleibenden Eindruck auf den weichen Theilen des Angeſichts. Je
ſtaͤrker der Zug, und je oͤfter er wiederholet wird, deſto ſtaͤrkern, tiefern, unvertilgbarern
Eindruck (und wie unten wird erwieſen werden, ſelbſt auf die knochigten Theile von fruͤher
Jugend an) macht er.
Ein tauſendmal wiederholter angenehmer Zug druͤckt ſich ein, und giebt einen bleiben-
den ſchoͤnen Zug des Angeſichts.
Ein tauſendmal wiederholter haͤßlicher Zug druͤckt ſich ein, und giebt einen bleibenden
haͤßlichen Zug des Angeſichts.
Viele ſolche ſchoͤne Eindruͤcke auf die Phyſiognomie eines Menſchen geben zuſammen
(bey uͤbrigens gleichen Umſtaͤnden,) ein ſchoͤnes; viel ſolcher haͤßlichen, ein haͤßliches Angeſicht.
Moraliſch-ſchoͤne Zuſtaͤnde nun, haben zu folge deſſen, was wir oben geſagt haben,
ſchoͤnen Ausdruck.
Dieſelben Zuſtaͤnde, tauſendmal wiederholt, machen alſo bleibende ſchoͤne Eindruͤcke auf
das Angeſicht.
Moraliſch-haͤßliche Seelenzuſtaͤnde haben haͤßlichen Ausdruck. Kommen ſie nun oft
und immer wieder, ſo machen ſie bleibende haͤßliche Eindruͤcke.
Und zwar verhaͤltnißmaͤßig ſtaͤrkere und tiefere, je oͤfter und ſtaͤrker die einzelnen Aus-
druͤcke des oft wiederkommenden Zuſtandes der Seele geſchehen.
Ferner: Es giebt keinen Gemuͤthszuſtand, der nur in einem einzelnen Gliede, oder
Theile des Angeſichts, ſchlechterdings ausſchließungsweiſe, ſeinen Ausdruck habe. Wenn ſchon
der eine Zuſtand der Seele, ſich mehr in dieſem, als jenem Theile des Angeſichts ausdruͤckt,
in
[63]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
in dem einen ſehr ſtarke, in dem andern beynah unmerkliche Veraͤnderungen macht; ſo wird
doch eine genauere Beobachtung lehren: daß bey keiner Bewegung der Seele, kein weicher
Theil des Angeſichts unveraͤndert bleibt. — Was nun von einem Ausdrucke auf einem Gliede
oder Theile des Angeſichts wahr iſt, das iſt von allen wahr; Alle veraͤndern ſich bey ſchlech-
ten Zuſtaͤnden der Seele ins ſchlechtere; alle bey ſchoͤnen ins ſchoͤnere. So, daß das ganze
Angeſicht jedesmal ein harmonirender Hauptausdruck eines gegenwaͤrtigen regierenden Gemuͤths-
zuſtandes iſt.
Jn allen Theilen des Angeſichts geben alſo verhaͤltnißmaͤßig, oft wiederholte Gemuͤths-
zuſtaͤnde, haͤßliche oder ſchoͤne bleibende Eindruͤcke.
Oft wiederholte Gemuͤthszuſtaͤnde geben Fertigkeiten; Gewohnheiten kommen von vor-
handenen Neigungen, und geben Leidenſchaften.
Alſo faß' ich dieſe Saͤtze zuſammen, und ſie lauten in einem Satze alſo:
„Die Schoͤnheit und Haͤßlichkeit des Angeſichts, hat ein richtiges und genaues Ver-
„haͤltniß zur Schoͤnheit und Haͤßlichkeit der moraliſchen Beſchaffenheit des Menſchen.“
— Nun brechen Einwendungen hervor, wie Waldwaſſer. Jch hoͤre ſie rauſchen.
Mit furchtbarem Sturze ſtuͤrzen ſie daher, pfeilgrade gegen das arme Huͤttgen, das ich mir
gebaut hatte, und worinn mir ſo wohl war. — Nicht ſo veraͤchtlich lieben Leute! Etwas
Geduld! Nicht ein armes Strohhuͤttchen auf ein Sandbaͤnkchen — ein maſſiver Pallaſt auf
Felſen erbaut! Und die furchtbaren Waldſtroͤme zerſchaͤumen, und ihre Wuth wird ſich le-
gen am Fuße des Felſen! — Oder ſie moͤgen auch fortrauſchen, der Fels ſteht und der Pal-
laſt! Man mag's mir verzeihen, wenn ich zuverſichtlich ſpreche! Zuverſicht iſt nicht Stolz.
Jch will mich demuͤthigen laſſen, wenn ich Unrecht habe. Man ſpricht hoch und laut: „daß
„dieß tauſend taͤglichen Erfahrungen zuwiderlaufe; wie viele haͤßliche Tugendhafte, und ſchoͤne
„Laſterhafte es nicht gebe!“ Schoͤne Laſterhafte? Laſterhafte mit ſchoͤnen Farben? Schoͤnem
Fleiſche, oder ſchoͤnen Dingen? — Doch ich will nicht vorgreifen. Man hoͤre Antwort!
1. Fuͤr's
[64]IX.Fragment. Von der Harmonie
1. Fuͤr's erſte trifft dieſe Einwendung meinen Satz nicht recht. Jch ſage nur: Tu-
gend verſchoͤnert; Laſter macht haͤßlich: — Jch behaupte wohl nicht: Tugend allein iſt's,
von der alle Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts gewirkt wird, Laſter allein iſt's, das
haͤßlich macht. Wer wollte das behaupten? Wer laͤugnen, daß es nicht noch andere, naͤhe-
re, unmittelbare Urſachen der Verſchoͤnerung und Entſtaltung des menſchlichen Angeſichts gebe?
Es liegt am Tage! Wer doͤrft's, wer wollt's laͤugnen, daß Verſtandeseigenſchaften, daß am
allermeiſten urſpruͤngliche Bildung aus Mutterleibe; ferner die von dem Zoͤglinge ſelbſt unab-
haͤngige Erziehung, Lebensumſtaͤnde, Krankheiten, Zufaͤlle, Beruf, Klima u. ſ. f. ſo viele
naͤchſte Urſachen der Schoͤnheit und Haͤßlichkeit der Menſchen ſind, und abgeben koͤnnen? Voͤl-
lig analogiſch iſt meine Behauptung mit dem unlaͤugbaren Satze: „Tugend befoͤrdert die aͤußere
„Wohlfahrt des Menſchen, und Laſter zerſtoͤrt ſie.“ Wird's nun Einwendung gegen dieſen
Satz ſeyn: „Es giebt doch viele hundert Tugendhafte, die ungluͤcklich, und Laſterhafte, die
„gluͤcklich ſind?“ Will man mit der erſten allgemeinen Behauptung mehr ſagen, als etwa:
„zum Gluͤcke oder Ungluͤcke des Menſchen ſind zwar viele andere weſentlich mitwirkende Ur-
„ſachen, als nur ſeine Tugend oder Laſterhaftigkeit; ſeine Moralitaͤt aber iſt dennoch neben
„vielen andern auch eine der wichtigſten und weſentlichſten Urſachen und Mittel.“ Gerade ſo
nun auch mit unſerm Gegenſtande: Tugend verſchoͤnert; Laſter macht haͤßlich; aber ſie ſind es
nicht allein, die auf Schoͤnheit und Haͤßlichkeit Einfluß haben.
2. Fuͤr's zweyte; von der Erfahrung, die man uns entgegen ſetzen will, geht, wenn
wir's naͤher betrachten, auch noch was ab! Ja, ſie fuͤhrt, glaub' ich, was mit ſich, das
wohl eher noch unſere Behauptung beſtaͤtigen hilft. Erfahren wir nicht oft, und rufen aus:
„Ein ſchoͤnes Frauenzimmer, ich laß' es gelten: aber mich nimmt ſie gar nicht ein!“ Oder
wohl gar: „Jch koͤnnte ſie nicht ausſtehen!“ Und hingegen, wie oft: „Ein haͤßlicher Menſch,
„doch hat er, trotz aller ſeiner Haͤßlichkeit, im erſten Augenblick einen angenehmen Eindruck
„auf mich gemacht; ich fuͤhlte gleich, daß mir recht wohl um ihn ſeyn koͤnnte“ u. ſ. w. Und
bey der Unterſuchung findt ſich's, daß gerade jene Schoͤne, die wir nicht ausſtehen koͤnnen,
und jene Haͤßlichkeit, die wir lieben muͤſſen, durch die haͤßlichen oder liebenswuͤrdigen Eigenſchaf-
ten, die ſich auf ihrem Antlitze ausdruͤcken, dieſe Antipathie und Sympathie erwecken.
Und
[65]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Und da dieſe guten Zuͤge mitten aus einem haͤßlichen Geſichte, und die haͤßlichen Zuͤ-
ge, mitten aus einem ſchoͤnen — ſo ſehr hervorſtechen, daß ſie kraͤftiger auf uns wirken, als
das andere alle; beweiſt das nicht eben mit, daß dieſe Schoͤnheitslinien feiner, edler, ſprechen-
der ſind, als die uͤbrigen mehr koͤrperlichen?
Man ſage nicht: „daß dieſe Sympathie, und Antipathie, erſt durch Umgang, wo ſich
„Haͤßlichkeiten, oder Schoͤnheiten der Seele aufdecken, erzeuget werde.“ Jm erſten Augen-
blicke geſchieht dieß, wie oft! Man ſage auch nicht: „daß dieß durch einen Schluß auf die
„Gemuͤthsart der Perſon geſchehe; weil wir vorher etwa in aͤhnlichen Faͤllen, oft erfahren
„haben, daß Perſonen, die bey ihrer Haͤßlichkeit noch ſolche Zuͤge haben, liebenswuͤrdige, oder
„die bey ihrer Schoͤnheit, noch ſolche unangenehme Zuͤge haben, ſchlechte Seelen ſeyn.“
Freylich geſchieht dieß ſehr oft; aber dadurch wird die Wahrheit unſerer Behauptung nicht
aufgehoben. Beydes kann neben einander ſtehen. Die Kinder zeigen, wie wenig dieſe Ein-
wendung zu bedeuten habe. Kinder, die, noch vor aller ſolcher Erfahrung, mit ihren Augen
wonnevoll an einem Geſichte hangen bleiben, das nichts minder als fleiſchlich ſchoͤn, als
huͤbſch iſt, das aber eine ſchoͤne Seele ausdruͤckt; und hingegen im umgekehrten Falle, ſo oft
herzlich zu ſchreyen anfangen.
An einem jaͤhrigen Kinde hab ich von beyden in einer halben Stunde den frappan-
teſten Beweis geſehen.
Ein Bauergreis, eingefallenen Angeſichts, krumm und dabey wohl toͤlpiſch in Schritt und
Manier, — ſeine grauen glatten Haare fielen ihm unordentlich uͤber die Stirne herunter, und deckten
ihm oft das halbe Geſicht: — der tritt herein. Kaum ſieht er das Kind an, naͤhert's ſich ihm,
ſtammelt ſehr geſpraͤchig, was es im Vermoͤgen hatte, thut freundlich und legt ſich mit ſeinem Arme
uͤber ſeine Kniee. Es war, wie ich ihn ſchon lange gekannt hatte, ein guter, frommer Alter. Jn
derſelben halben Stunde tritt ein junger, herriſcher Muͤllers- oder Schulzenſohn herein — wohl ge-
putzt, mit rothem Camiſol und ſilbernen Knoͤpfchen — ein huͤbſch Geſicht und gute Geſtalt. Das
Kind wirft einen Blick auf dieſen Kerl — recht ſo mitten im Angeſicht, kehrt ſich ſachte um und
entfernt ſich. Man mußte ihm befehlen: geh hin, biet ihm das Haͤndchen. Es geht langſam
thut's kurz, und kehrt ſchnell zuruͤck, und ein Seufzer verrieth zuruͤckgehaltenes Weinen.
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. K— Der
[66]IX.Fragment. Von der Harmonie
— Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol-
zer, harter, hitziger, frecher Mann, und ſein Geſicht ein zu treuer Ausdruck davon. — Der-
gleichen Wirkungen menſchlicher Angeſichter, beobachtete ich ſchon eine Menge an dem Kinde,
viel fruͤher als dieß geſchehen war; und an welchem Kinde nicht? *)
3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen.
Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte
„iſt ſchoͤn, der Laſterhafte koͤrperlich haͤßlich:“ ſo giebt's auch beynahe eben ſo viele Einwen-
dungen als verſchiedene Begriffe von tugendhaft und laſterhaft! moraliſch gut und ſchlimm!
Die hoͤfliche Welt, die jeden Menſchen, von dem ſie nicht geradezu ſagen darf, er ſey laſter-
haft, einen tugendhaften nennt; und der ſchwache Religioſe, dem jeder, den er nicht nach ſei-
nem Jdeale tugendhaft nennen kann, laſterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre,
und den Soldaten, der gut in ſeinen Dienſt taugt, tugendhaft — der Poͤbel; der niemanden, als
wer wider den Buchſtaben des ſechſten, ſiebenten, achten und neunten Gebots ſuͤndigt, laſter-
haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, ſo lang er nicht in des Landvoigts Ge-
richt faͤllt; der eingeſchraͤnkte Moraliſt, der nichts moraliſch gut heißt, als was durch Wider-
ſtand und aͤngſtliche Verlaͤugnungen erworben iſt, oder dem Tugend gar Stoicismus iſt: —
dieſe alle werden, ein jeder nach ſeinen Begriffen, gegen dieſen ſo ſchwebenden, unbeſtimmten, para-
dox-vorgetragenen Satz aufſtehen, und zeugen! Allein man hat ja ſchon von oben herunter
merken koͤnnen, daß ich hier die Woͤrter Tugend und Laſter im allerweiteſten Umfang, in
der groͤßten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur uͤberhaupt von moraliſcher Schoͤnheit
und Haͤßlichkeit rede! Zu jener rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken
ſich Regende und Wirkſame, wie's immer in die Seele gekommen ſeyn mag; zu dieſer alles
Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen ſey.
So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat,
auch lange Zeit dieſes Gute angebaut hat, aber ſpaͤter einer Leidenſchaft den Zuͤgel laͤßt — in
einem
[67]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
einem Grade, daß ihn alle Welt, nach dem Sprachgebrauch vollkommen richtig, als laſterhaft
verurtheilt. Will man nun ſagen: „Siehe da deinen laſterhaften Schoͤnen! was will denn
„deine Harmonie der Tugend und Schoͤnheit!“
Aber wir haben ja angenommen, daß der Mann „vortreffliche Anlagen, viel Gutes“
hatte? daß er ſeinen natuͤrlich guten Character eine Zeitlang weiter fortgebaut und befeſtigt?
Er hatte alſo und hat noch Gutes, nachahmens- anſtrebenswuͤrdiges Gutes? und je
natuͤrlicher *) es ihm iſt, je tiefern Grund es in ſeinen erſten Anlagen hat, deſto tiefern und
feſtern Eindruck ſchoͤner Zuͤge hat's auf ſein Angeſicht gepflanzt. Die Wurzeln und der
Stamm koͤnnen noch ſichtbar ſeyn, obgleich wilde Zweige eingeimpft worden; der Acker, der
gute Grund noch merkbar, obgleich Unkraut unter den guten Waizen geſaͤet ward! So, wer
kann's nicht begreifen, wie das noch ein ſchoͤn Geſicht iſt, ungeachtet der Laſterhaftigkeit der
Perſon! deſto wahrer bleibt unſer Satz.
Und dann warlich braucht's kaum ein wenig geuͤbte Augen, ſo wird man finden und
geſtehen muͤſſen, daß eben das Geſichte, wovon wir reden, vor der Herrſchaft dieſer Leiden-
ſchaft noch ſchoͤner war? und nun wenigſtens haͤßlicher ſey, als ehedem! Ach wie viel unange-
nehmer, groͤber, haͤßlicher, ſey als ehedem — wenn's auch lange noch nicht auf den Grad
kommt, den Gellerts Lied bezeichnet:
Jch habe recht ſchoͤne und gute Juͤnglinge geſehen, die ſich in wenig Jahren durch Geilheit und
Unmaͤßigkeit ſehr verhaͤßlicht haben; man nannte ſie uͤberhaupt noch immer ſchoͤn; ſie waren's
auch; aber guter Gott! wie tief unter der vormahligen Schoͤnheit!
K 2So
[68]IX.Fragment. Von der Harmonie
So kann auf der andern Seite ein Menſch mit beſonderer Diſpoſition zu unedlen Lei-
denſchaften, denen eine verderbte Erziehung noch auf den Thron geholfen hat — und die alſo
Jahre lang uͤber ihn geherrſcht haben, der alſo auch ziemlich haͤßlich drein ſieht — von einer ge-
wiſſen Zeit an ſich ſeine Vervollkommnung aͤußerſt angelegen ſeyn laſſen — gegen ſeine niedri-
gen Leidenſchaften zu Felde ziehen, auch bisweilen nicht geringe Siege uͤber ſie erhalten: Er
kann wenigſtens viele grobe Ausbruͤche derſelben vermeiden, und aus den edelſten Abſichten ſie
ſchwaͤchen. Dieß heißt alſo in einem ſehr richtigen Sinne ein eigentlich tugendhafter Menſch; —
und es giebt einen moraliſchen Richter, deſſen Urtheil uns uͤber alles gilt, der in ihm wirklich
groͤßere Tugend ſieht, als in keinem natuͤrlich guten Geſchoͤpfe; und den wird man alſo als
ein Beyſpiel anfuͤhren wollen, von einem haͤßlichen Tugendhaften? Freylich! Seine Haͤßlich-
keiten aber ſind jedennoch ein treuer Ausdruck von allem dem moraliſchen Unflath, der doch in
ihm lag und lange wirkte, und deſſen ſchwere Menge das Verdienſt ſeiner Tugend, ja eben um
ſo mehr erhoͤhet. Und abermal, ehe dieſe Beſtrebungen der Tugend anfiengen, wie viel haͤßlicher
war die Haͤßlichkeit des Geſichtes! und ſeither, man beobachte! wie hat es ſich verſchoͤnert!
Sokrates von allen Phyſiognomiſten und Antiphyſiognomiſten tauſendmal angefuͤhrtes Bey-
ſpiel gehoͤrt ganz hieher.
Ein ſehr geſcheuter, aber dabey, ich ſag' es ungern, ſehr unbilliger *) Recenſent mei-
nes erſten unreifen phyſiognomiſchen Verſuchs, den ich nennen koͤnnte, aber nicht nennen mag,
hat mit der Miene des triumphirenden Spottes gefragt: „ob Conſtantinus nach ſeiner Be-
„kehrung andere Geſichtszuͤge gehabt haben werde, als vor derſelben?“ — Jch wuͤrde glauben,
einen Menſchen auf keine Weiſe tiefer erniedrigen und beſchaͤmen zu koͤnnen, als wenn ich ihm alles
ſagen wollte, was ſich auf dieſe Frage antworten ließe, und gewiß wuͤrde ſeine Phyſiognomie nach
dieſen Beantwortungen eine ganz andere ſeyn, als vor denſelben! — Doch von der Verſchoͤnerung
und Verſchlimmerung der Phyſiognomie ein eigenes Fragment.
Man
[69]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Man erwege ferner:
Es giebt eine unzaͤhlbare Menge mannichfaltiger, kleiner, niedriger, unangenehmer
Denkarten, Manieren, Grobheiten, Launen, Unmaͤßigkeiten, Haͤnge, kleinlicher Begierden,
Unflaͤtereyen, Narrheiten, Schiefen, Kruͤmmen des Herzens, die man einzeln, und auch hau-
fenweiſe beyſammen, doch noch lange nicht Laſter heißt; — deren viele zuſammen aber einen
Menſchen haͤßlich erniedrigen, verderben, verekeln koͤnnen. Behaͤlt er ſeine Treue im Handel
und Wandel, hat keine Hauptlaſter und noch oben drein ein wenig von einer gewiſſen buͤrger-
lichen Froͤmmigkeit — ſo nennt man ihn einen braven, einen recht braven Menſchen, wider
den man nichts haben kann. Freylich ſo giebt's eine Menge braver und doch haͤßlicher Leute. —
Jch hoffe, mich hieruͤber beſtimmt genug erklaͤrt zu haben.
4. Und viertens muͤſſen wir den Standpunkt, aus dem wir die Harmonie der morali-
ſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit betrachten, nur etwas entfernter nehmen, ſo werden einerſeits
noch viele Einwendungen wegfallen, und anderſeits wird nur die Sache um ſo viel wichtiger
werden.
Wir betrachten naͤmlich nicht nur die unmittelbarſten Wirkungen der Moralitaͤt und
Jmmoralitaͤt auf die Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts; ſondern auch mittelbare Fol-
gen derſelben zur koͤrperlichen Verſchoͤnerung oder Verunzierung des menſchlichen Geſchlechtes.
Jch geh' unter eine Menge Volks — ich ſehe den Poͤbel — ich wandle durch Doͤrfer — klei-
ne Staͤdte, große Staͤdte — ſehe die Schlechteſten jedes Orts — vornehmen und gemeinen
Poͤbel! und eine traurige Verwuͤſtung, eine traurige Menge haͤßlicher, verzogener Geſichter —
Carikaturen aller Arten treff ich an. — Die Bemerkung entgeht mir nie, daß der Poͤbel zu-
ſammengenommen ordentlich die groͤbſte Carikatur des National-Stadt-Dorfcharacters iſt. —
Aber ſo entſetzlich viel Haͤßlichkeit, daß meine Seele tief bedruͤckt und verwundet umherwan-
delt, und meine Augen ſich wenden, wenn mich das Bild eines mittelmaͤßig ſchoͤnen Men-
ſchen — das auch gewiß nicht uͤberſpannte Jdeal einer Menſchenfigur, verfolgt. Es iſt wohl
eine Verfolgung, das ſpaͤte Vorſchweben des Gluͤckbildes, was man beſitzen koͤnnte, und von
dem man ach ſo entfernt iſt!
K 3Einen
[70]IX.Fragment. Von der Harmonie
Einen Augenblick vergeß ich beſonders in meinem Leben nicht; denn er hat zu tief ein-
geſchnitten in mein Herz. Jn einem Garten war's im ſchoͤnſten Monate, als ich vor einem
Beete, voll der herrlichſten Blumen, wonnevoll ſtand. Mit luſttrunkenem Blicke hieng ich
eine Weile auf dieſen ſchoͤnen Kindern Gottes, und in dieſem ſuͤßen Gefuͤhl ſtieg ich in meinen
Gedanken zu lebendigern Thierſchoͤnheiten, und ſo fort zum Menſchen empor, zu dem hoͤchſten,
das ich durch meine Sinnen erkennen kann! zu ihm, der ſo viel perfektibler iſt, als alle Blu-
men! ſtand, und ein herrlich Menſchenbild war vor meiner Stirn — das mein Herz mit ho-
her Wonne umfieng; — ein Geraͤuſch Vorbeygehender unterbrach mich. Jch blickte auf —
Gott! mit welchem Wehmuthsſchrecken mich das Bild traf — Jch ſahe drey, gerade die aller-
verſunkenſten, haͤßlichſten, ekelhafteſten Kerls, drey Jdeale von Landſtreichern! —
Auch ſeitdem denk' ich oft nach, warum doch das, in ſeinen Anlagen ſo herrliche, das
ſchoͤnſte Geſchlecht von Erdegeſchoͤpfen, am tiefſten in ſo mannichfaltige Geſtalten der Haͤßlich-
keit und Ekelhaftigkeit, und des Abſcheues verſunken ſey. —
Und je mehr ich nachdenke, deſto mehr find' ich, daß doch immer der Menſch —
das Geſchlecht ſelbſt, und hiemit jedes Jndividuum an ſeinem Orte hieran Schuld iſt; deſto
mehr find' ich, daß auch dieß in dem Kreiſe der menſchlichen Perfektibilitaͤt liegt: — deſto mehr
werd' ich uͤberzeugt, daß dieß gerade nur wieder Tugend und Laſter in allen Nuͤancen, und
in ihren und entferntern Folgen iſt: Naͤmlich auf folgende doppelte Weiſe:
Einmal: moraliſche Erſchlaffung zieht in tauſend kleinern und groͤßern Dingen Ver-
fall, Verunedlung, Vergroͤberung — Verderbniß nach ſich; und moraliſche Kraft, Ener-
gie, Thaͤtigkeit, Leidensſtaͤrke, zieht von dieſem allen zuruͤck, — und bildet allerley Anlagen
zu Schoͤnem und Gutem, mithin auch den Ausdruck deſſelben, Schoͤnheit aller Art, aus.
Jn kleinen Schritten geht immer eine Verſchlimmerung vor ſich, die ſich bis in tau-
ſendfaͤltige Carikaturen nach den mannichfaltigſten determinirenden Gruͤnden hinaus modificirt —
wenn kein recht warmer Trieb zur Vervollkommnung dagegen wirkt.
Und hingegen wo z. B. und vornehmlich der Trieb der Menſchenliebe — der Guͤte
im Menſchenherzen herrſcht, auch ohne Ruͤckſicht auf den unmittelbaren liebenswuͤrdigſten Aus-
druck derſelben; — welche feine, welche feſte Bildung giebt ſie nicht! welch' angenehme Ver-
ſchoͤne-
[71]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ſchoͤnerungen! — Wen ſie belebet, der iſt hurtig, hoͤflich, ſanft, nicht ungeberdig, nicht ſchlaͤferig,
nicht plump, nicht zur Erde gebuͤckt, nicht launiſch, nicht — und ſo hat er noch hundert negative
und poſitive Eigenſchaften, die des Menſchen Angeſicht verſchoͤnern, je fruͤher dieſe Haupttu-
gend aller Tugenden, dieſe Seele aller, — in dem Menſchen geweckt, genaͤhrt, geſchonet, ge-
ſtaͤrkt wird — wenn auch nur ein wenig gearbeitet und Bahn gemacht wird — zu den man-
nichfaltigen ſchoͤnen Wirkungen, die ſie haben kann.
b) Und dennoch — was in unſerer Materie am allermeiſten Aufſchluß giebt, und die
mehreſten Einwendungen weglenkt: — Tugend und Laſter, Moralitaͤt und Jmmoralitaͤt, im
weiteſten Sinne, haben viel mittelbare Folgen auf die ſchoͤne oder haͤßliche Bildung der
Kinder! Wie richtig beantworten ſich da ſo viele Faͤlle, wo man etwa fragen kann; „War-
„um dieſes von der erſten Jugend an mit ſo viel Fleiß erzogene, wirklich auch ſo lenkſame, ſo
„tugendhaft gewordne Kind — dieſes ſo viel beſſere Kind als etwa ſein fruͤh geſtorbener Va-
„ter — dennoch ſo viel Widriges, ſo viel Haͤßliches in ſeiner Geſichtsbildung habe?“ — be-
„halten habe“ muß man ſagen. Und „geerbt, oder aus Mutterleib empfangen ha-
„be“ ſetz ich hinzu.
Jch kenne wenig groͤbere handgreiflichere Jrrthuͤmer, die doch von ſo großen Koͤpfen,
noch bis jetzt gehegt und unterſtuͤtzt werden, als den: „Es komme alles bey dem Menſchen
„von der Erziehung, Bildung, Beyſpielen her — nichts von der Organiſation und der ur-
„ſpruͤnglichen Bildung des Menſchen, dieſe ſey bey allen gleich.“
Helvetius hat bekanntermaßen in ſeinem liebenswuͤrdigen Enthuſiasmus fuͤr die Ver-
beſſerung des Menſchengeſchlechts, mithin der Erziehung ꝛc. die Sache gegen alle handgreifliche
Erfahrung ſo weit getrieben, daß ich im Leſen meinen Augen kaum mehr getraut habe.
Es wird noch hin und wieder in dieſen Fragmenten Gelegenheit zu mehrerer Ausfuͤh-
rung des einen und andern dahin gehoͤrenden Satzes geben.
Jtzt nur ſo viel fuͤr unſern Zweck:
So wenig ein erwachſener Menſch einem andern voͤllig gleich ſieht — ſo wenig iſt ein
Kind zu finden, das in der allererſten Stunde ſeines Lebens irgend einem andern neugebohr-
nen Kinde ganz gleich ſaͤhe.
Man
[72]IX.Fragment. Von der Harmonie
Man nehme einer nicht unempfindſamen Mutter ihr Kind weg, wenn ſie es nach
der Geburt nur zwo Minuten mit einiger Aufmerkſamkeit angeſehen hat, und leg es un-
ter hundert neugebohrne Kinder derſelben Stadt oder Gegend (wo hiemit die Menſchen ein-
ander noch aͤhnlicher ſind, als ſonſt nirgends in der Welt) ſie wird es gewiß bald aus allen
hunderten hervorfinden.
Nun iſt's ferner weltkundige Erfahrung, daß neugebohrne Kinder ſowohl, als aͤltere
Kinder, ihrem Vater oder ihrer Mutter, bisweilen beyden, ſo wohl in Anſehung der Bil-
dung, als einzelner Zuͤge auffallend aͤhnlich ſind.
Wie ſich Phyſiognomien durch viele Geſchlechter herunter erhalten, und ſo kenntlich
immer wieder hervorkommen, daß du aus einer Menge ſolcher Familienportraite, die unter
einer Menge anderer gemiſcht wuͤrden, gar viele zur Familie gehoͤrige wieder zuſammenfinden
koͤnnteſt, verdiente wohl in einem eigenen Fragmente von Familienphyſiognomien beleuchtet zu
werden.
Es iſt ferner die ausgemachteſte Erfahrungsſache, daß man in der Gemuͤthsart beſon-
ders der juͤngſten Kinder frappante Aehnlichkeiten mit der Gemuͤthsart ihres Vaters, ihrer
Mutter, oder beyder zugleich wahrnimmt.
Jn wie manchem Sohne haben wir den leibhaften Character des Vaters, des Vaters
Temperament und ſeine meiſten moraliſchen Eigenſchaften! Jn wie mancher Tochter den Chara-
cter der Mutter vollkommen wieder, oder auch den Character der Mutter im Sohne, den des
Vaters in der Tochter.
Und zum Beweiſe, daß dieß nicht von Erziehung und Umſtaͤnden herruͤhre, dient ge-
rade das, daß Geſchwiſter von gleichen Umſtaͤnden und gleicher Erziehung ganz verſchiedenen
Characters ſind. Und der groͤßte Erziehungskuͤnſtler, der den urſpruͤnglichen Anlagen und Be-
ſchaffenheiten des Kindes am allerwenigſten zuſchreibt, giebt ja gerade durch ſeine Erziehungs-
regeln, durch ſeine Kunſtgriffe, dieſer und jener ſich fruͤh aͤußernden Gemuͤthsart ſo und ſo
zu begegnen, den fehlerhaften die beſte Wendung zu geben, und gute wohl zu gebrauchen und
anzubauen; gerade dadurch giebt er ja zu: „die moraliſchen Anlagen ſeyn ganz verſchieden, ja
„bey jedem Kinde verſchieden.“
Und
[73]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Und wie ſehr auch immer eine ſolche urſpruͤngliche Beſchaffenheit des Gebluͤtes und des
Temperamentes, ſolche moraliſche Diſpoſitionen *) durch Erziehung zu leiten ſind, und obgleich von
dem ſchlimmſten auch noch einiger guter Gebrauch gemacht werden kann; ſo iſt doch offenbar die
eine urſpruͤngliche Anlage beſſer, die andere ſchlechter, die eine unter eben denſelben vorhandenen
Umſtaͤnden verbeſſerlicher und lenkſamer, die andere haͤrter, unbiegſamer, unverbeſſerlicher. Von
Schuld oder Unſchuld des Kinds hiebey iſt ja gar nicht einmal die Frage; — Es behauptet ja
kein vernuͤnftiger Menſch, daß ein Kind bey der ſchlimmſten Diſpoſition die mindeſte moraliſche
Schuld deshalben auf ſich habe. ꝛc. ꝛc.
Nun ſind wir ja da, wohin wir ſollten.
Es werden Zuͤge und Bildungen geerbt.
Es werden moraliſche Diſpoſitionen geerbt.
Wer wird nun nach den bisher ausgemachten Saͤtzen daran zweifeln koͤnnen, daß Harmonie
zwiſchen den geerbten Zuͤgen und Bildungen — und den geerbten moraliſchen Diſpoſitionen ſey? —
Jch kenne (und wie viele Menſchen von dieſer Art ſind zu kennen! —) ein Ehepaar; der
Mann iſt furchtbar hitzig, zur Entruͤſtung geneigt, tief in der groͤbſten Wolluſt verſunken; und in
ſeiner Geſichtsfarbe iſt auch wirklich dieſe Miſchung von Heftigkeit und Wolluſt ſichtbar; ſeine
Geſichtszuͤge ſind aufgeſchwollen, vergroͤbert, in beſtaͤndigem Zittern, unruhigem Hin- und Herſtre-
ben — Es zappelt alles an ihm nach etwas außer ihm. Sein Weib hingegen, eine feine, etwas
ſanguiniſch-melancholiſche Perſon — edlen Herzens, mit mancherley feinen weiblichen Tugenden
geziert, und ihre Bildung wirklich fein weiß, ihre Zuͤge edel und angenehm; ihre Miene hei-
ter, gefaͤllig, ruhig, voll beſcheidenen Gefuͤhles ihrer innern Seelenruhe — Dieſe Aeltern ha-
ben zween minderjaͤhrige Soͤhne, einen, der beynahe ganz des Vaters, einen andern, der bey-
nahe ſeiner Mutter Art an ſich hat. Man hat hievon ſchon die haͤufigſten Proben. Das ſagt
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Lman
[74]IX.Fragment. Von der Harmonie
man dir voraus; und du bekommſt dieſe zween Knaben zu Geſichte — ſiehſt an dem einen wil-
den Blick, groͤbere Geſichtszuͤge, ſtaͤrkere Augenbraunen, trotzigen Mund, braunroͤthere Ge-
ſichtsfarbe; — der andere hat ſanften Blick, weißre Farbe, kurz dieſer ſieht ſeiner Mutter
aͤhnlich, wie jener dem Vater, und nun! was raͤthſt du? „Der dem Vater ſo aͤhnlich ſieht,
„der hat den Character der Mutter? der der Mutter ſo aͤhnlich ſieht, des Vaters Character?“
Oder wirſt du ſagen: „Jch weiß es nicht zu errathen; doch kann der dem Vater aͤhnliche Kna-
„be, ſo gut der Mutter Character haben, als jener ꝛc. ꝛc.“ Wer wuͤrde hier nicht Ungereimt-
heit fuͤhlen? Wer nicht die Wahrheit des Gegentheils?
Wenn das nun richtig iſt; wenn ſich Haͤßlichkeiten der Seele und hiemit auch des Lei-
bes — des Leibes und hiemit auch der Seele, forterben koͤnnen; ſo haben wir da den beſten
Aufſchluß, warum ſo viele ſchoͤne, ſchoͤngebohrne Menſchen ſind, die ſich verſchlimmern, und
doch bey weitem nicht ſo auffallend haͤßlich, als manche andere ausſehen? warum ſo viele haͤß-
lich gebohrne Menſchen ſind, die ſich ſehr beſſern und tugendhaft werden, und bey weitem
nicht ſo auffallend ſchoͤn und einnehmend ſind, als manche andere, die um ein namhaftes we-
niger gut ſind?
Aber ſehet, wie ewig feſt die Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit
da ſteht! wie ſie ſich durch dieß alles beſtaͤtigt!
Nehmet die ſchoͤnſten herrlichſten Menſchen; ſetzet, daß ſie und ihre Kinder ſich mora-
liſch verſchlimmern, unbaͤndigen Leidenſchaften ſich uͤberlaſſen, und folglich auch in mancherley
Suͤmpfe und Pfuͤtzen von Jmmoralitaͤt und Niedrigkeit nach und nach immer tiefer verſinken:
o wie ſich dieſe Menſchen, wenigſtens ihre Phyſiognomien, von Geſchlecht zu Geſchlecht ver-
unſtalten werden! welche aufgeſchwollene, tiefgedruͤckte, verfleiſchichte, verplumpte, verzogene,
neidhagere, rohe Geſichter! welche tauſendfaͤltige groͤbere, und weniger grobe, poͤbelhafte Car-
rikaturen nach und nach entſtehen! von Geſchlecht zu Geſchlecht immer haͤßlichere Figuren!
wie viel tauſend Kinder, voͤllige Ebenbilder ſchon ganz ſchlimmer Aeltern, und durch Erzie-
hung noch ſchlimmer als ihre Aeltern! noch weniger Gutes in ihnen entwickelt, noch mehr
Schlimmes hervorgelockt, noch fruͤher genaͤhrt! — Gott! wie tief ſinkt der Menſch von der
Schoͤnheit, die deine vaͤterliche Milde ihm ſo reichlich anſchuf; dein Ebenbild! wie tief ſinkt
es
[75]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
es in Sumpf der Haͤßlichkeit, verwandelt ſich gar bisweilen in Teufelsgeſtalten — daß der
Menſchenfreund nicht aufſehen darf vor Wehmuth! — Laſter, Leidenſchaft, Unbaͤndigkeit,
Sinnlichkeit, Unmaͤßigkeit, Habſucht, Faulheit, Schalkheit, Laſter, Leidenſchaft! welche
Graͤßlichkeiten bringſt du vor mein Geſicht! wie verunſtalteſt du meine Bruͤder! — —
Nehmen wir noch dazu, was damit weſentlich verbunden iſt, was aber, wenn's moͤg-
lich iſt, an beſondern Orten weitlaͤufiger wird erwieſen werden; daß nicht nur das Angeſicht,
nicht nur die weichen Theile deſſelben, nicht nur die feſtern, ſondern daß das ganze Knochen-
ſyſtem ſammt ſeiner Befleiſchung — daß alles, alles — Figur und Geſichtsfarbe, und Stim-
me, und Gang, und Geruch — alles am Menſchen, im Verhaͤltniß mit dem Angeſichte —
verekelt, verſchlimmert, oder verſchoͤnert werden kann; nehmen wir dieß dazu, machen wir un-
ſerer Einbildung hievon Gemaͤlde; — oder leider! gehen wir hin, Wirklichkeit zu ſchauen —
gehen hin, vergleichen ein Armenhaus, ein Zuchthaus, das eine Verſammlung liederlicher,
vertrunkener, verlumpter Muͤßiggaͤnger iſt — mit irgend einer beſſerdenkenden Bruͤderſchaft —
ſo unvollkommen ſie ſey, ſo viel Menſchliches auch noch an ihr ſichtbar ſeyn mag — mit einer
Verſammlung von maͤhriſchen Bruͤdern, oder Mennoniten, oder — nur mit einer
Zunft arbeitſamer Handwerksleute, welche lebendige Ueberzeugung wird uns das von unſerer
Behauptung geben! Und dann mehr noch als nur hievon lebendige Ueberzeugung — Es wird
Gefuͤhle fuͤr uns und andere in uns erwecken, die, ſo traurig ſie ſeyn moͤgen, ſo heilſam doch
ſind; — und dieſe ſind mein Zweck.
Allein der Menſch iſt nicht nur gemacht, daß er fallen kann; — er kann auch wieder
zuruͤckſteigen; er kann auch wohl hoͤher ſteigen, als wovon er gefallen iſt. Nehmt den haͤßlich-
ſten Menſchen diejenigen Kinder, die auch wirklich ſchon ausgedruͤcktes Ebenbild ihrer Aeltern
ſind — entreißt ſie ihnen, und erzieht ſie in einer oͤffentlichen wohleingerichteten und gut
exequirten Anſtalt. Der Schritt, den auch die Schlimmſten zu ihrer Verſchoͤnerung gethan ha-
ben, wird in die Augen fallen. Setzet dieſe, wenn ſie erwachſen ſind, in Umſtaͤnde, die ihnen
die Tugend wenigſtens nicht zu ſchwer machen, wo ſie keine außerordentliche Reizungen zum
Laſter haben; und laßt ſie ſich unter einander heurathen; ſetzet den Fall, daß in allen wenig-
ſtens einiger Trieb nach Verbeſſerung fortwirke; daß nur einige Sorgfalt und Fleiß, eben nicht
L 2der
[76]IX.Fragment. Von der Harmonie
kunſtmaͤßigſte, auf die Erziehung gewandt werde; daß die Kinder von dieſen ſich auch nur wie-
der unter ſich verheurathen, u. ſ. w. Jn der fuͤnften, ſechſten Generation, welche immer ſchoͤne-
re Menſchen werdet ihr haben, (wofern ſich nicht ganz ſonderbare Vorfaͤlle dazwiſchen gedraͤngt)
nicht nur in ihren Angeſichtszuͤgen, in der feſten Knochenbildung des Haupts, in der ganzen
Figur; in allem! Denn wahrlich in Geſellſchaft der andern Tugenden und der Gemuͤthsruhe,
erzeugt ordentliche Arbeitſamkeit, Maͤßigkeit, Reinlichkeit; — und einige Sorgfalt fuͤr dieſe
Dinge bey der Erziehung, wirklich Schoͤnheit des Fleiſches, der Farbe; Wohlgeſtalt, Frey-
heit, Heiterkeit — und diejenigen Haͤßlichkeiten, die von Krankheiten, Kraͤnklichkeit u. ſ. f. her-
kommen, muͤſſen ja auch abnehmen, weil alle dieſe Tugenden Geſundheit und freyen Glieder-
wuchs mit ſich bringen und befoͤrdern. Kurz; „Es iſt keine Art koͤrperlicher Schoͤnheit —
„an keinem Theile des Menſchen, wohin guter oder ſchlimmer Eindruck der Tugend und des
„Laſters im weiteſten Sinne, — nicht hinreiche.“
Welchem Menſchenfreunde wallet bey dieſen Ausſichten das Herz nicht! Hat doch Gott
der Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts und der menſchlichen Geſtalt eine ſo hohe Kraft auf das
menſchliche Herz gegeben! — Was fuͤhleſt du empfindſamer Menſchenfreund? wenn du vor des
Alterthums herrlichen Jdealen — wenn du vor Raphaels, Guidos, Weſts, Mengs,
Fuͤeßlins — herrlichen Menſchen- und Engelsgeſchoͤpfen — ſtehſt! Sprich, o welche Triebe, wel-
che Reize — welche Sehnſucht nach der Veredlung und Verſchoͤnerung unſerer geſunkenen Na-
tur wandeln dich an, und bringen deine Seele in Bewegung?
O ihr Erfinder, Befoͤrderer und Liebhaber der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, der edelſten
Kuͤnſte, vom ſchoͤpfriſchen Genie, bis zu dem Reichen, der ſich mit dem Ankauf eurer Werke
verdient macht — hoͤret die wichtige Lehre: — Jhr wollet alles verſchoͤnern? Gut, dieß
danken wir euch! und das Schoͤnſte unter allen, den Menſchen wollet ihr haͤßlich machen? —
das wollet ihr doch nicht? — ſo hindert es nicht, daß er gut werde; ſo ſeyd nicht gleichguͤltig,
ob ers ſey oder werde! ſo braucht die goͤttlichen Kraͤfte, die in euren Kuͤnſten liegen, den
Menſchen gut zu machen, und er wird auch ſchoͤn werden!
Die Harmonie des Guten und Schoͤnen, des Boͤſen und Haͤßlichen, iſt ein großes
allweites, herrliches Feld fuͤr eure Kuͤnſte! Denket nicht den Menſchen zu verſchoͤnern, ohne
ihn
[77]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ihn zu verbeſſern. So bald ihr ihn verſchoͤnern wollt, ohne auf ſeine moraliſche Guͤte Ruͤck-
ſicht zu nehmen: ſo bald ihr den Geſchmack bilden wollt auf Unkoſten des Herzens: — ſo
wird er verſchlimmert; und dann macht, was ihr wollt, er wird gewiß auch verhaͤßlichet, und
der Sohn und der Enkel, wenn's ſo fortgeht, wird's noch mehr; und wie ſehr habt ihr denn
gegen euren Zweck gearbeitet!
Taͤndelt ihr ewig mit den Menſchen ihr ſchoͤnen Kuͤnſtler? Was heißt das? Es
heißt: Jhr wollt ein praͤchtiges Haus bauen, und wollt den Bau durch den Rahmenſchnitzler
und Vergolder ausfuͤhren!
Jhr hofft, mit Wolluſt reizenden Stuͤcken ſeinen Geſchmack zu bilden? Was heißt dieß?
Es heißt: Jhr wollt einem Sohne die Weisheit Gottes in der Einrichtung des menſchlichen
Koͤrpers lehren, und geht hin, ihm die verborgenen Theile eines Cadavers zu anatomiren.
Doch hievon noch manches. —
Jch ende mit einem hohen Troſtworte fuͤr mich und alle, die wir noch Urſache genug
haben, uͤber manches Stuͤck unſerer Phyſiognomie und Bildung, die vielleicht hienieden nicht
mehr zu tilgen ſind, unzufrieden zu ſeyn, — und die dennoch emporſtreben nach Vervollkomm-
nung des innern Menſchen:
Es wird in Unehre geſaͤet und herrlich auferweckt.
am 2ten Jenner 1775.
L 3Erſte
[78]IX.Fragment. 1. Zugabe. Von der Harmonie
Erſte Zugabe.
Man verweile einige Augenblicke bey der Vignette, die dieſer Zugabe vorgeſetzt iſt, ſie wird
Mitzeugniß der Wahrheit der Phyſiognomie und zugleich Beſtaͤtigung der bisher behaupteten
Harmonie ſeyn.
Fuͤrs erſte: Wer ſiehet nicht, wer kennt nicht die Verſchiedenheit dieſer fuͤnf Geſich-
ter? Welches Kind wird nicht wenigſtens alsdenn die Wahrheit der Phyſiognomie empfinden,
wenn man ihm den Character derſelben nennt? Man mache den Verſuch mit einem Kinde,
das nur faͤhig iſt, die Bedeutung der Worte zu faſſen; man geb ihm folgende fuͤnf Namen
in die Hand, und heiß es zu jedem Geſichte denjenigen legen, der ihm zukommt. — Man
ſage ihm; „Unter dieſen fuͤnfen iſt ein leichtſinniger ſuͤßer Geck! Ein ſtolzer Windbeutel!
Ein Trunkener! Ein Geizhals! Ein geiler Bock! — Es wird ſchwerlich irren, und dieſe
Namen unrecht vertheilen. —
Aber zweytens: — Macht nicht gerade das Unehrwuͤrdige, Haͤßliche dieſer Character —
dieſe Geſichter haͤßlich? Jſt es nicht jedes in dem Grade, in welchem ſeine Laſterhaftigkeit vor-
ausgeſetzt wird? — Wie viel angenehmer wuͤrde jedes dieſer Geſichter ausſehen, wenn die
Seele frey von Leidenſchaft waͤre! — Wenn der erſte ſeinen Mund ſchloͤſſe, und ſeinem
Blicke mehr Aufmerkſamkeit gaͤbe? Der zweyte den Kopf nicht ſo hoch truͤge, und der Un-
tertheil
[]
[][79]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
tertheil ſeines Geſichts nicht ſo aufgeblaſen waͤre? Wenn der dritte nuͤchtern waͤre? der vierte
ein frohes, offenes, wohlthaͤtiges Herz haͤtte? der fuͤnfte nicht ſeine ganze Bocksſeele ins Geſicht
jagte — u. ſ. f. Man vergleiche dieſe Geſichter mit unzaͤhligen aus den Gemaͤlden und Ku-
pferſtichen eines Laireſſe, Le Bruͤns — u. ſ. f. Man vergleiche Rembrands, Duͤrers,
Golzius, Holbeins, Hoheprieſter und Phariſaͤer in der Leidensgeſchichte — mit den apoſto-
liſchen Geſichtern eines Titians, eines Vandyks, mit Weſtens Pylades und Oreſt — Wie
bald waͤr ein Band voll der frappanteſten Vergleichungen dieſer Art zuſammengeſchrieben? — —
Doch, was muß ich Dinge ſagen, die Millionen Menſchen taͤglich eingeſtehen — und wovon
die ganze Welt uͤberall voller Beyſpiele iſt. —
Aber nun noch eins, lieber Leſer! deute nicht auf Veranlaſſung der oben ſtehenden
Geſichter — auf dieſen oder jenen wirklichen Menſchen. Es ſind keine Portraite: — — lauter
Jdeale, — die hingeſetzt ſind — dich durch den Anblick der Verunſtaltung, welche Leichtſum und
Laſter wirken, von Leichtſinn und Laſter abzuſchrecken. —
Zweyte Zugabe.
Judas nach Holbein.
Der naͤchſte Kopf iſt ein genau durchgezeichneter Umriß von Judas aus einem Nachtmal-
ſtuͤck von Holbein, das ſich auf der Bibliothek zu Baſel befindet, die durch einige unſchaͤtz-
bare Meiſterſtuͤcke dieſes großen Mannes, und durch unzaͤhlige Handriſſe der beruͤhmteſten
Kuͤnſtler ſich zu einer betraͤchtlichen Gallerie erhebt.
Als großen Mahler und trefflichen Zeichner, wer kennt Holbeinen nicht? Aber dieſe
Wahrheit des Ausdrucks in erdichteten Perſonen hab' ich ihm nie zugetraut. Jch will ihn
Raphaeln nicht vergleichen — noch weniger an die Seite ſetzen, ſo nah' er ihm auch bis-
weilen in der Zeichnung und im Colorite gekommen ſeyn mag. Seine Chriſtuskoͤpfe ſind mehr
wahre Natur, in Abſicht auf Zeichnung und Faͤrbung, und — auf den Ausdruck — gewiſ-
ſermaßen Modekoͤpfe — und nichts weniger als hohe Jdeale. Wiewohl mir auch noch keiner
von Raphael zu Geſichte gekommen, an dem nicht verſchiedenes auszuſetzen waͤre. Von
Holbeinen habe indeß nichts geſehen, das den reichhaltigen, den unerſchoͤpflichen Ausdruck des
Jtalie-
[80]IX.Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie
Jtalieners haͤtte. Sein todter Chriſtus, dieß Meiſterſtuͤck von Zeichnung und Natur, hat kei-
nen Zug von Raphaels hohem Sinne. Auch der Chriſtus in demſelben Nachtmalſtuͤcke, den
ich auch beyfuͤge, um die Wahrheit meiner Behauptungen ſichtbarer zu machen, iſt, bey aller
Simplicitaͤt und Wuͤrde, dennoch unter allen Jdealen des unvergleichbaren Genies. Aber den-
noch zum Erſtaunen weit, unbegreiflich weit, bracht's das ſich ſelbſt uͤberlaſſene Genie des
Schweizers, das vielleicht Grundkraft genug gehabt haͤtte, jenem nachzufliegen, wenn's ihm
vergoͤnnt worden waͤre, durch's Anſchaun erhabener Werke, ſich Nahrung und Freyheit genug
zu verſchaffen. Viele phyſiognomiſche Einſicht leuchtet gewiß aus allen ſeinen Werken heraus.
Es iſt nicht nur Phyſiognomie in ſeinen Geſichtern, ſondern Geiſt der Phyſiognomie. Nicht
nur einzele Zuͤge ſind weislich beſtimmt und gluͤcklich zuſammengeſetzt: Es iſt im Ganzen ſeiner
Geſichter ein ſanfter, lebendiger, uns entgegenkommender Geiſt, der tiefes inneres Gefuͤhl ver-
raͤth. Seine Erasmus alle, die er auf mancherley Weiſe mahlte, ſeine Pelikans, Ho-
wards, Morus u. ſ. f. haben durchaus dieß unerreichbare, unbeſchreiblich geiſtige, was ſo
vielen tauſend glaͤnzenden Portraiten der beruͤhmteſten Mahler fehlt. — Jch glaube nicht, we-
nigſtens laͤßt mich's ſeine, in allen ſeinen Bildniſſen, mehr kraftvolle und gewaltſame, als er-
habene Phyſiognomie — nicht glauben, daß er jemals, ſelbſt, wenn er Raphaels Schuͤler ge-
weſen waͤre, ſeinen hohen Ausdruck erreicht haben wuͤrde; aber Wahrheit ergriff er mit gewal-
tiger Hand, und wirkte ſie reichlich in ſeine Geſichter, und ſeine Stellungen. Von beyden
dieſen Bemerkungen ſey der nachſtehende Judas ein Beyſpiel. Es iſt erſtaunlich viel Wahr-
heit darinn, aber keine Erhabenheit. Die wahre Phyſiognomie eines Geizigen; aber nicht ei-
nes geizigen Apoſtels; eines Niedertraͤchtigen — aber nicht einer großen Seele, die von einer
Leidenſchaft maͤchtig ergriffen — zwar ein Satan wird, aber immer noch große Seele bleibt.
Man lache nicht zu fruͤh uͤber dieſe ſeltſamen Zuſammenſetzungen. Sie ſind nicht aus
der Luft herabgegriffen. Judas iſt der niedertraͤchtigſte und dennoch ein großer Mann, auch
in ſeinen Unthaten ſcheint noch der Apoſtel durch.
Wenn Judas ſo ausgeſehen haͤtte, wie Holbein ihn zeichnet, ſo haͤtte Chriſtus ihn
gewiß nicht zum Apoſtel gewaͤhlt. — So ein Geſicht kann's keine Woche in Chriſtus Geſell-
ſchaft aushalten. Jſts gleich das niedertraͤchtigſte, das ſich gedenken laͤßt; fehlt gleich noch ſehr
vieles
[81]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
vieles zum vollen Ausdruck der Falſchheit, und ſchmeichelnden Schlauigkeit, ſo iſts doch fuͤr die
gute Seite und die großen Anlagen dieſes apoſtoliſchen Mannes lange nicht gut genug.
Holbeins Judas iſt ein Dieb, der tief in der Seele daruͤber zuͤrnet, daß von den hundert
Pfennigen ihm nichts wird, die die Salbe, am Herrn verſchwendet, werth ſeyn mag. Er
iſt faͤhig, den beſten Menſchen, ſeinen ergrimmteſten Feinden, um einen geringen Preis feil
zu bieten. Er lauert [auf] die Tritte der wohlthaͤtigen Unſchuld; er forſcht mit ſchlauer Un-
ruhe das Vorhaben ſeines Meiſters aus. Er fraͤgt mit einer unbeſchreiblichen Kaͤlte: Bin ichs?
Er bleibt ungeruͤhrt, ſcheint's wenigſtens bey der treffendſten Warnung, die je in zehn oder
zwoͤlf Worten gegeben worden. Er geht, vom Satan beſeſſen, ſich an die Spitze der Verfolger
ſeines Herrn zu ſtellen — giebt den verfluchteſten Kuß — aller dieſer Niedertraͤchtigkeiten iſt der
Mann faͤhig, der bey den letzten herzdurchdringendſten Reden des goͤttlichſten Menſchen ſo gefuͤhl-
los da liegt, und mit dieſer Stirn, dieſem Blicke, dieſer Lippe dem Herrn ins Angeſicht ſchaut; —
aber dieſer Stirn, der ſo manche Niedertraͤchtigkeit moͤglich iſt — Es iſt ihr nicht moͤglich,
ſich ſo ſchnell und ſo hoch wieder zu erheben, und dem tauſendfachen Strome zermalmender Ge-
danken mit dieſer edlen Kraft entgegen zu arbeiten — Judas hat gehandelt wie ein Satan,
aber wie ein Satan, der Anlage hatte, ein Apoſtel zu ſeyn.
Jn dem Holbeiniſchen Geſichte ſind wenig Spuren von der mir noch immer ehrwuͤrdigen
Groͤße ſeiner Seele — Nichts von der furchtbaren Elaſticitaͤt, die in dem einen Augenblicke an
die Pforten der Hoͤlle, in dem andern uͤber die Wolken treibt. Eine abgehaͤrtete, verjaͤhrte
Bosheit, die ſich von Abgrund zu Abgrund fortgewaͤlzt hat: Ein Geiz, der jedes Menſchen Em-
pfindung gelaſſen Hohn ſpricht, das iſts, was uns vornehmlich in dieſem Geſicht aufſtoͤßt: aber
wenige Stunden nach der ſchrecklichſten That geht dieſer Judas nicht hin die ernſthafteſten Ueber-
legungen uͤber ſein Herz und ſein Betragen zu machen! dieſer ſchaut nicht mit nagender Sorgſam-
keit: „Wie gehts meinem Herrn! wie der Unſchuld, die ich verrathen habe?“ umher! Er zittert
nicht in allen Grundfeſten ſeiner Natur bey dem Gedanken: „dießmal entgeht er ſeinen Feinden
„nicht wie mehrmals! Es iſt, iſt's moͤglich, o weh mir! es iſt um ihn geſchehen!“ — Dieſer eilt
nicht hin, der noch lebenden Unſchuld gegen die Stimmen vieler tauſend, das entſcheidendſte Zeugniß
zu geben! opfert nicht ſein liebſtes, vermuthlich die groͤßte Summe, die er in ſeinem Leben beyſam-
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Mmen
[82]IX.Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie
men hatte — der Stimme ſeines Gewiſſens auf! bringt's nicht denen zuruͤck, die es nie wieder
zuruͤckgefordert haͤtten, die in die groͤßte Verlegenheit kamen, daß er's ihnen zuruͤckbrachte —
Nein! dieſer wird ſich aus Geiz, aber nicht deswegen erhaͤngen, weil er den Gedanken — ſich ſo
vergangen zu haben, nicht ertragen kann; Nicht, daß er nicht mehr Geld bekommen — Nein, daß
er unſchuldiges Blut verrathen hatte! daß er ſahe, daß uͤber den gehofften Meſſias das Todesur-
theil gefaͤllt war — — Wehe dem Herzen, das in Judas Betragen nicht die ſchrecklichſte Nieder-
traͤchtigkeit, aber weh' auch dem, das nicht noch apoſtoliſche Groͤße darinn fuͤhlt! Holbein zeigt
uns nur den Verraͤther. Raphael wuͤrd' uns zugleich den Apoſtel gezeigt haben.
Und nun noch ein paar Worte, lieber Leſer, von dem allgemeinen Urtheil aller Menſchen
uͤber die Phyſiognomie, die wir vor uns haben! — und damit abermal ein Beweis, wie wahr die
Phyſiognomie ſey! abermal ein Beweis von der Harmonie moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit!
Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn man unter dieß Bild, ich will nicht ſagen, den Namen
Chriſtus, ſondern — Petrus, Paulus, Johannes — ſchreiben wuͤrde? wie wuͤrde dir des
Mahlers Seele vorkommen, deſſen Apoſtelsideal ſo ein Geſicht waͤr'! Kaͤm's dir nicht laͤcherlich
vor, wenn ich dies Geſicht alſo commentiren wollte: „Schau! welch ein offenes, edles, großmuͤ-
„thiges Herz! Hat die Stirn nicht das entſcheidende Gepraͤge von einer reinen ſich mittheilenden
„Seele, die ihr Gluͤck in dem Gluͤck anderer ſucht! welch ein offenes, menſchenfreundliches Aug'!
„welch eine maͤnnliche hohe Augenbraune! Jſt nicht dieſe Naſe die Naſe eines Erhabenen! wer er-
„blickt nicht in der Mittellinie der Lefze, eine liebliche Guͤte, die nur bey unmittelbaren Schuͤlern
„Jeſus zu ſuchen iſt! Stellung, Bart, Haare, alles iſt edel, gefaͤllig — alles ſpricht von
„Groͤße und Wuͤrde des Characters.“
Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn ich nun ſo uͤber dieß Geſicht urtheilte? — Weiter will ich
nun nichts ſagen. Haſt du Augen zu ſehen, ſo wirſt du ſehen. Haſt du keine, ſo kann dir mein
Wink keine geben.
Aber nun noch eine entſetzliche Frage: — „Wenn der Menſch mit dieſer Stirn, dieſer
„Bildung geboren wird, ſo waͤre ihm ja beſſer, daß er nie geboren waͤre?“ — „und daß er ſo gebo-
„ren wird, iſt es ſeine Schuld?“ — Nein, mein Freund! Er iſt nicht ſeine Schuld, wenn er ſo ge-
boren wuͤrde; aber er wird nicht ſo geboren — Dieſe Falten der Stirn, dieſer Blick des rechnenden
Geizes
[]
[][83]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Geizes iſt nicht Natur, ſo wenig der Geiz eine natuͤrliche Anlage iſt. Der Geiz und ſein Ausdruck
ſind — Folgen der Angewoͤhnung. „Aber dieſe Stirn? dieſer Umriß des Oberhauptes?“ — auch
dieß kommt ſo nicht unmittelbar aus der Hand der Natur — und Stirnen, die zu dieſer Form die
Grundlage mit auf die Welt zu bringen ſcheinen, haben ſich, durch das ganze Maaß aͤußerlicher Ein-
druͤcke, zu den Edelſten, oder doch zu den Heldenhafteſten geformt. Doch — wenn's auch moͤglich
waͤre, daß Judas ſo ausgeſehen haͤtte, als Holbein ihn zeichnet; ja wenn's moͤglich waͤre, daß er
ſchon bey ſeiner Geburt, den Hauptzuͤgen nach ſo ausgeſehen haͤtte; — auch alsdann waͤr's dem, der
die große Hoffnung giebt: Siehe ich mache alles neu; auch dann noch moͤglich, aus dieſem Ge-
faͤße ſeines Zorns ein Gefaͤß der Ehre zuzubereiten. Denn, o Tiefe des Reichthums der Weis-
heit! wie unergruͤndlich ſind ſeine Wege! wie unerforſchlich ſeine Gerichte! — denn, —
er hat alle unter den Ungehorſam beſchloſſen — daß er ſich aller erbarmte.
Dritte Zugabe.
Chriſtus nach Holbein.
Den Chriſtus-Jdealen will ich ein eigen Fragment wiedmen. Die Sache verdient in mehr als
einer Abſicht umſtaͤndliche Beleuchtung.
Jetzt nur ein Woͤrtchen uͤber dieſen Holbeiniſchen Chriſtus, das zu unſerm Zweck dienen kann.
Der Unterſchied iſt auffallend. Man frage wieder, wen man will, ohne daß man dieſen
beyden Koͤpfen Namen gebe: „Welcher iſt ſchoͤn? welcher tugendhaft? welcher haͤßlich? welcher
„laſterhaft? welcher gefaͤllt dir beſſer? mit welchem willſt du lieber umgehen?“
Keine Frage in der Welt wird ſchneller beantwortet werden koͤnnen, wie dieſe.
Vergleichet Stirn und Stirn, Mund und Mund, Geſicht und Geſicht — Wer wird anſtehn?
Nimmermehr wuͤrde dieſe Stirn ſo offen, ſo runzellos, ſo heiter und edel ſeyn, wenn die
Unruhe des gierigen Geizes, ſie oft in drohende, verdruͤßliche Falten gelegt haͤtte.
Ein offenes, abſichtloſes, ſich jedem Herzen gern mittheilendes Herz, das nicht leichtſinnig,
ſondern groß iſt — (zwey Dinge, die ſo oft mit einander verwechſelt werden) wird ſeinen Augen-
braunen ſelten Wendungen geben, die — die Anlagen zu widrigen Runzeln der Stirne wuͤrden.
M 2Wenn
[84]IX.Fragment. 3. Zugabe. Von der Harmonie
Wenn das Aug' dieſes Kopfes offen waͤre (dieſe Art des Niederſehns iſt fuͤr die Schoͤnheit
die fatalſte Lage) welch eine Guͤte und Redlichkeit wuͤrde dir entgegen leuchten!
Der Mund ernſt zwar und nachdenkend — und durch den zu harten und unbeſtimmten
Umriß der Unterlippe etwas fade, und ſonſt in mancher Abſicht mangelhaft — wie viel ſchoͤner
deſſen allen ungeachtet, als des Judas! und wie viel edlern Gemuͤths! wer kann's ausſtehen,
dieſen von jenem gekuͤßt zu ſehen?
Jch wuͤrde den fuͤr den groͤßten Mahler halten, der den Kuß des Judas, die beyden Ge-
ſichter, in ihrem wahren Kontraſte, ohne Uebertriebenheit und Affektation, aber doch jedes in ſei-
ner unvergleichbaren Jndividualitaͤt, zeichnen und mahlen koͤnnte.
Die nachſtehende Vignette — hat ſehr wenig von dem, was ich fordern wuͤrde.
Vierte
[]
Vierte Zugabe.
Ueber ein Rembrandſches Ecce Homo.
Rembrand und Hogarth ſind wohl unter die groͤßten Meiſter in Geſichtern von ſchlechten
und zerruͤtteten Menſchen zu rechnen! Schlechte verunſtaltete Geſichter kann jeder auch der
ſchlechteſte Mahler leicht entwerfen; ja der ſchlechte Mahler kann keine andere, als ſchlechte Ge-
ſichter zeichnen! aber wenige wiſſen, ihren ſchlechten Geſichtern einen beſtimmten Character zu ge-
ben, wiſſen den Grad des moraliſchen Verfalls gehoͤrig auszudruͤcken; haben Gefuͤhl fuͤr die
beſtimmte Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen Schlechtigkeit — — Hogarth und Rem-
brand ſcheinen dieſe Carrikaturen der Menſchheit entweder tief ſtudirt, oder tief gefuͤhlt zu
haben.
„Uebertrieben aber, immer uͤbertrieben?“ wird man ſagen — Ja und Nein! —
Hogarth offenbar mehr, als Rembrand; und doch moͤcht' ich faſt behaupten, daß die Na-
tur in allen Abſichten hoͤher und tiefer iſt, als die Kunſt; daß die Kunſt nie, oder ſehr ſelten
zu der hoͤchſten Hoͤhe der ſchoͤnen Natur emporfliegen, oder zur tiefſten Tiefe der gefallenen
Natur herabſinken kann. Jch glaube kaum, daß ein Mahler den Menſchen je ſo ſchoͤn oder ſo
ſchlecht gemacht, oder ein Dichter ihn ſo gut oder ſo ſchlecht gedichtet habe, als er iſt. Der
Menſch iſt, meines Ermeſſens, unendlich beſſer, als eine gewiſſe theologiſche Beſcheidenheit,
und unendlich ſchlimmer, als eine gewiſſe philoſophiſche Unbeſcheidenheit ihn haben will. Man
hat noch nie von dem Menſchen ſo viel Gutes durch Gebote und Vorſchriften fordern duͤrfen,
als ein guter Menſch zu leiſten im Stande und Willens iſt; noch nie alle das Boͤſe ausdruͤck-
lich nennen und verbieten duͤrfen, das ein boͤſer Menſch zu thun und zu wollen im Stande iſt.
Jch moͤchte noch mehr behaupten: Jch glaube, der beſte Menſch hat, wenigſtens verſchloſſen in
der Tiefe ſeines Herzens, mehr Boͤſes in ſich, als man nie von dem Schlimmſten, und der
Schlimmſte mehr Gutes, als man nie von dem Beſten geſagt hat. Wer ſein Herz genau be-
obachtet, wird immer die Hoͤlle und den Himmel drinn finden; Liebe, die alles außer ſich zu
beleben — Eigenliebe, die alles außer ſich zu zerſtoͤren arbeitet — Guͤte, die ſich allem unter-
wirft; Eigenliebe, die uͤber alles herrſchen will — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchweifung,
M 3derglei-
[86]IX.Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
dergleichen es noch manche geben duͤrfte, weil ich unter dem Nachdenken: wo etwa jedes, was ge-
ſagt werden ſollte, hingehoͤren moͤchte, nur allzuleicht dieſen oder jenen mir wichtig ſcheinenden
Gedanken gaͤnzlich vergeſſen koͤnnte.
Alſo wieder auf Rembranden zuruͤck. Jch denke nicht, daß ſeine Geſichter in dem
Stuͤcke, das wir vor uns haben, unter der Menſchlichkeit und Wahrheit ſeyn. Jch glaube,
daß wenn es Menſchen gaͤbe, die noch ſchlimmer waͤren, als die wider Jeſum raſenden Pha-
riſaͤer und Sadducaͤer, daß ſie noch weit ſchlimmer, als dieſe ausſehen wuͤrden; und ich ſe-
he mich leider! genoͤthiget, zu glauben, daß es heut zu Tage noch wenigſtens eben ſo ſchlimme
Menſchen giebt, die eben das, vielleicht noch etwas aͤrgers als das zu thun im Stande waͤren,
was dieſe gethan haben.
Aber auch dieß nun bey Seite geſetzt — Schau nun, lieber Leſer, die Geſichter dieſes
Stuͤcks an! Sie moͤgen vielleicht in der Copie gewonnen oder verlohren haben. — Schau die
an, die hier vor dir liegen, und empfind und urtheile! — Nicht uͤber das Chriſtus-Geſicht —
das wollen wir nun unbeurtheilt laſſen; ſo trefflich uns zu unſerer Abſicht ein gluͤcklicher Kon-
traſt zu ſtatten gekommen waͤre — Raphaelen gelang kein Chriſtus-Geſicht ganz, was wird
in dieſem Stuͤcke von Rembranden zu erwarten ſeyn? — Alſo nur die uͤbrigen Geſichter!
Welches unter allen gefaͤllt dir? welchem willſt du dich anvertrauen? welches um ſeine
Freundſchaft bitten? welches empfiehlt ſich dem beſten oder ſchlechteſten Menſchen durch ſprechen-
de Redlichkeit — empfindſame Guͤte? welches iſt nicht verwildert? welches nicht in dem Gra-
de koͤrperlich haͤßlich, in welchem ſein Character moraliſch haͤßlich zu ſeyn vermuthet wird?
Oder mit andern Worten: von welchem wirſt du nicht nach dem Grade ſeiner Haͤßlichkeit,
Verdorbenheit ſeines Herzens vermuthen? —
Da wir keine lebendige Seele durch Commentirung ſchlechter Geſichter nach der Na-
tur zu beleidigen gedenken, und es doch theils zur Belehrung des Leſers, theils zur Veredlung
des Menſchengeſchlechts nicht ganz gleichguͤltig ſeyn duͤrfte, die Zeichen des Verfalls der
menſchlichen Geſtalt erkennbar zu machen, ſo will ichs verſuchen, uͤber dieſe und einige andere
Tafeln gottloſer und laſterhafter Jdeale meine Gedanken etwas ausfuͤhrlicher mitzutheilen.
Man
[87]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Man bemerke vor allen Dingen uͤberhaupt auffallende Aehnlichkeit und Unaͤhnlichkeit
dieſer auf ſo verſchiedene Art verruchten Geſichter!
Der Mann, der den Heiland vorfuͤhrt, iſt mehr roher, wilder, abgehaͤrteter Soldat; ein
Mann, der gewohnt iſt, mit ſteinerner Unempfindlichkeit einen Menſchen, er ſey ſchuldig, oder
unſchuldig, auf den Tod geißeln zu ſehen — Er iſt blos Soldat — blos rohe, grauſam, und
dabey ſehr leichtſinnig.
Wie ganz anders niedertraͤchtig und veraͤchtlich iſt das hoͤchſtſtehende Phariſaͤer-Geſicht
am Mantel des Heilandes! hier nicht die offne drohende, barbariſche, planloſe Grauſamkeit!
Aber Fuͤlle des Neides! aber die allerweichlichſte und niedertraͤchtigſte Bosheit, voll gleichſam
herabtriefender Ueppigkeit! Gefuͤhllos durch langſitzendes Verpraſſen des fetten Wittwen- und
Wayſenraubes! Augen voller Ehbruch! den Mund voll der ſpottendſten Verachtung! Hier
keine hohe ſich fuͤhlende, herabgebietende Staͤrke! Drohung zwar! wehmuͤthige, klaͤgliche, hell-
heulende Stimme des Heuchlers, der den Kopf nicht mehr aufrecht tragen kann — aber in-
wendig keine Kraft der Beredung! Ein leeres toͤnendes Faß! — Stimme, der man ge-
horcht, weil man alles von ihrer niedertraͤchtigen Seele zu befuͤrchten hat. Aber nicht Stim-
me, der man glaubt! — Nicht Philo, der ruft:
Nicht Kajaphas:
So ſpricht das Geſicht nicht. Es iſt das Geſicht eines offenbaren Schurken! Ha! Wie's
ſo einen Kerl aufgebracht, wie eine Weſpe tief gereizt haben muß, wenn die Machtſtimme der
geraden
[88]IX.Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
geraden einfaͤltigen Wahrheit ihn ſo kurz und ſo treffend zeichnete — „Auswendig weiße Tod-
„tengraͤber! Jnwendig Verweſung!“ — Wie das Volk dieſes gefuͤhlt haben muß! wie's auf der
Stirne der Boͤswichter zu leſen, wie's ihre Schalkheit im Geſichte zu entziefern erweckt wor-
den ſeyn muß! Larve ward abgeriſſen! Schimmer, Lichtdunſt der Kleidung, der Wuͤrde, der
Amtsmiene, des breiten Denkzettels — Murmeln des Gebeths — Ernſter Tritt! Vorhaͤngen
des Kopfs! Bedenkliche Gebaͤrde! Hoͤrbare Seufzer: „Jch danke dir o Gott! daß ich nicht
„bin — wie dieſer Zoͤllner — ich gebe den Zehenden von allem“ — wie leicht das alles den
Poͤbel blenden, das alles Dunſt um ein Teufelsgeſicht herweben kann, daß man ihm zwar
nicht glaubt — aber ſich der Suͤnde drum fuͤrchtete — ein Urtheil druͤber auszuſprechen, oder
auch nur heraus zu denken! — aber wie's dann auch der roheſte Poͤbel fuͤhlt, wie's ihm dann
doch, ſo ſehr er's ſich verbergen wollte, aus dem Herzen heraus geſprochen ward — wenn mit
offnem unverwirrtem Angeſicht, wenn mit aufgerichteter Bruſt, wenn mit dem abſichtloſen
Blicke der feſten Tugend, wenn mit dem allmaͤchtigen Tone der ſich fuͤhlenden Redlichkeit und
der entbrannten Menſchenliebe Johannes rief: „Nattergezuͤchte! wer unterweiſt euch, dem
„kuͤnftigen Zorn zu entrinnen!“ — Wenn die noch erhabnere, noch ſanftere Unſchuld, deren
Zorn um ſo viel furchtbarer, um ſo viel ihre Guͤte noch menſchlicher und goͤttlicher war, wenn
dieſe unerſchuͤttert, dieſe nicht niedergeblendet von dem tiefgefuͤhlten, und dennoch ohnmaͤchtigen,
unertraͤglichfrechen, und dennoch kriechenden Blicke dieſer Verworfnen — ihnen ſo ins gebrannd-
markte Angeſicht rief: „Heuchler! Weh Euch! Blinde Fuͤhrer! alles thun ſie, um von den
„Leuten geſehen zu werden! Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht! Jnwendig ſeyd
„ihr voll Gleißnerey und Ungerechtigkeit“ — —
Aber nun das raſende Geſicht mit der Pelzmuͤtze, dem grimmigen falſchen Aug' und
offenem Mund! Wie's unſinnig ſich zerarbeitet, dem Poͤbel Verbrechen der Unſchuld an den
Fingern vorzuzaͤhlen! oder den volkaufwiegelnden Phariſaͤer noch mehr aufzuwiegeln, und ihn,
wie ein Satan zu inſpiriren! wie's nur keine Spur mehr von Religion zeigt! Nicht mehr
heucheln will und kann! wozu heucheln? Er heult, wie ein Hund und duͤrſtet nach Blut! nach
Blut vom Creuze des Nazareners! —
Neben
[89]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Neben ihm, in der flachen Muͤtze, mit erhobner Seelenloſer Hand, ein Kerl voll grau-
ſamer zaͤher, lederner Dummheit! Dummheit in den Falten ſeiner Stirn! Falſchheit und Wol-
luſt im Blick ſeiner Augen, Bosheit in ſeinem Munde, beſonders in ſeinen Zaͤhnen!
Ob das aͤußerſte Geſicht neben ihm, mit der hohen Muͤtze und dem wilden Bart, noch
verruchter ſey, — wer will's beſtimmen? Feſter gewiß! Maͤchtiger — heulender vielleicht!
Vermiſchung von Grimm und Furcht! Unfeſtigkeit, boͤſes Gewiſſen, in der Haltung der Hand!
uͤbrigens ohne Gewiſſen! voll Teufeley — zwar nicht
Mit vernichtendem Stolz im hohen Auge geruͤſtet,
aber
Jn Meere verruchter Gedanken, in ſich verloren,
Derer ſich, waͤr er ein Menſch, ſelbſt Adramelech nicht ſchaͤmte.
Aber der untere noch mit der Stange! Wer will da Worte finden, den Graͤuel der
Niedertraͤchtigkeit zu zeichnen! wie fehlt da aller Stolz! aller Schatten von Wuͤrde des Cha-
racters oder Amtes! Wie ſcheint da alle Menſchlichkeit ein Ende zu haben! wie iſt da unerbitt-
liche Schmerzensfreude, uͤber das breite gevierte Geſicht, entſetzliche Gefuͤhlloſigkeit, beſon-
ders uͤber Mund und Backen, und Kinn und Naſe verbreitet! — und auch dieſe Hand! —
wie verſchieden von einer wohlthaͤtigen Hand, die arbeitet, um einen Armen zu naͤhren, und
die vom errungenen Brodte, der vergeßnen Duͤrftigkeit den halben Biſſen, von Gott nur ge-
ſehen, darreicht!
Kann man ſich wahrere Bildniſſe von menſchlicher Schlangen-Brut gedenken, als
wir vor uns haben? Wer kann's ausſtehen, die Unſchuld in den Haͤnden ſolcher Verruchten zu
ſehen? wer fuͤhlt die Groͤße des goͤttlichen Schweigens nicht? „die das verbirgt, was Welten
„erſchuf.“ Ein Wort, und als Todtengerippe waͤren ſie dagelegen! Ein Blick — und zu Aſche
zerblitzt ſtaͤubt' er ſie in die Luft — aber — Sie uͤberlaͤßt ſich dem, der da recht richtet —
die himmliſche Unſchuld! Sie iſt nicht gekommen, die Seelen der Menſchen zu verder-
ben, ſondern ſelig zu machen! — die ewige Erbarmung! Bring ihr eine Thraͤne danken-
der Anbethung dar, kannſt du die gewiſſeſte aller Geſchichte glauben — Jeſus auf Gabba-
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Ntha!
[90]IX.Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
tha! .... Ach! unter allen kein Blick des Mitleidens! der zuruͤckgehaltenen uͤbertaͤubten
Schaam! Kein Kampf mehr zwiſchen Tugend und Laſter! Kein Zweifel: — Thun wir
recht oder unrecht? Keine Furcht: was wird erfolgen? Keine vielleicht mehr — vielleicht
der Heilige Gottes! Ueber das alles ſind die eiſernen Seelen weit weg! was kuͤmmert ſie dieß?
Nicht einer ſchaut an den Leidenden empor, deß Anblick auch den ungerechten Richter, deſſen
Auge Grauſamkeiten zu ſehen vermuthlich, und zu gebieten gewiß gewohnt war, dennoch ruͤhr-
te; — auch nicht gleichguͤltig einer! alle in Bewegung, und alle in Bewegung wider ihn!
Aufwiegler alle des wankenden Poͤbels. —
Wer iſt faͤhig, ſie wuͤrdig zu beſchreiben, als jene Meiſterhand des unſterblichen Dich-
ters — deſſen Phariſaͤer und Sadducaͤer alle ſo verrucht da ſtehen wie Rembrands — aber frey-
lich immer mit weit mehr Staͤrke, mehr Wuͤrde, denn dieſe, wenn anders noch ein Schim-
mer, ein Schatten von Wuͤrde in eine Seele kommen kann, die fuͤr die goͤttlichſten Reden
und Thaten und fuͤr die unmenſchlichſten Martern des edelſten und beſten Menſchen kein Ge-
fuͤhl mehr zu haben faͤhig iſt. —
„Wenn
[91]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Hier zu einiger Erhohlung ein ſehr unvollkommenes aber dennoch nicht ganz leeres und unedles
Heilandsgeſicht nach Werner. Solche Naſe, Aug', und Mund wirſt du gewiß bey kei-
nem ſchlechten, unedeln Menſchen finden! Verlaſſe dich drauf, und findeſt du wo ein Geſich-
te, das dieſem aͤhnlich iſt, ſo freue dich, und ſuche ſeine Freundſchaft, und du wirſt mir's
noch in der zukuͤnftigen Welt danken, oder nicht mir — ſondern dem, der alles durch alle
thut —
[92]IX.Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
Fuͤnfte Zugabe.
Demokrit nach Rubens.
Wir haben hier nicht den weiſen Demokrit vor uns, den uns Bayle und Wieland zeich-
nen; nicht den Mann, von dem uns der letztere verſichert — „Demokritus haͤtte ſich unter
„andern auch mit der Phyſiognomie abgegeben, und theils aus ſeinen eigenen Beobachtun-
„gen, theils aus dem, was ihm andere von den ihrigen mitgetheilt, ſich eine Theorie davon
„gemacht, von deren Gebrauch er (ſehr vernuͤnftig, wie uns deucht) urtheilte, daß es damit
„eben ſo, wie mit der Theorie der poetiſchen Kunſt beſchaffen ſey. Denn ſo wie noch keiner
„durch die bloße Wiſſenſchaft der Regeln ein guter Dichter geworden ſey,*) und nur derjenige,
„welchen Natur, Begeiſterung und lange Uebung dazu gemacht habe, geſchickt ſey, ſolche
„recht zu verſtehen und anzuwenden; ſo ſey auch die Theorie der Kunſt aus dem Aeußerlichen
„des Menſchen auf das Jnnerliche zu ſchließen, nur fuͤr Leute von großer Fertigkeit im Be-
„obachten und Unterſcheiden brauchbar, fuͤr jeden andern hingegen eine hoͤchſtungewiſſe und
„betruͤgliche Wiſſenſchaft, und eben darum muͤſſe ſie als eine von den geheimen Wiſſenſchaf-
„ten oder großen Myſterien der Philoſophie immer nur der kleinen Zahl der aͤchten Epopten
„vorbehalten bleiben.“ **)
Nicht dieſen weiſen Mann, (deſſen Jdeen wir gewiß folgen, obgleich wir phyſiogno-
miſche Fragmente ſchreiben —) ſehen wir hier vor uns — Nicht einen ſchoͤnen Genius, einen
reichen durchdringenden Geiſt, der zu allem faͤhig waͤre, ein Erfinder alles Unerfundenen, ein
Vervollkommener alles Erfundenen! Nicht den Mann, der ſich die Augen ausſticht oder aus-
brennt, um das Gemuͤth von allen Zerſtreuungen abzuziehen und den abgezogenſten Betrach-
tungen obzuliegen! Nicht den Feind aller Wolluſt und aller fleiſchlichen Vermiſchung! ***)
Nicht
[]
[][93]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Nicht dieſen Mann ſehen wir in dem Bilde, das wir vor uns haben! — wir ſehen
blos Demokritus, den Lacher, der
‘Ridebat quoties a limine mouerat vnum
Protuleratque pedem.’ ()
Wer uͤber alles und alle lacht, iſt nicht nur ein Thor, ſondern ein Boͤſewicht; ſo wie
der, der uͤber alles und uͤber alle weint, ſehr wahrſcheinlich ein Kind, ein Narr, oder ein
Heuchler iſt.
Das Geſichte des ewigen Lachens wird unausſtehlich, und muß ſich verunedlen und
Carrikatur werden.
Das Geſicht unſers Demokrits iſt nichts weniger, als das Geſicht eines Dummkopfs
in ſeiner Anlage! Der Bau des Hauptes hat zwar nichts Erhabenes; aber Demokrit mit
ſolchem Kopfbau waͤre dem Sokrates nahe gekommen. Aber das unaufhoͤrliche Spottlachen,
ſo weit verſchieden von dem menſchlichen und goͤttlichen Laͤcheln des Mitleidens, und der flehen-
den oder warnenden Zaͤrtlichkeit, ach! ſo weit verſchieden von dem Laͤcheln der Menſchenfreude,
der Unſchuld, dem Laͤcheln des Bruderherzens — das unaufhoͤrliche Spottlachen muß das
ſchoͤnſte, wie viel mehr ein ſonderbares Geſicht? verunſtalten. Alle Zuͤge der Guͤte, die ſelbſt in
dem ſchlimmſten Geſicht, das aus den Haͤnden der Natur kommt, eben ſo wenig vergeſſen wor-
den, als die Augen ſelbſt bey dem bloͤdſichtigſten Geſchoͤpfe! — verziehen ſich nach und nach ſo
ſtark, daß ſie ein fatales Gemiſche von Menſchlichkeit und Unmenſchlichkeit, Freude und Schalk-
heit werden! —
Was iſt Spott eigentlich, als Freude an Fehlern, an Disharmonie, an Schaden des
Nebenmenſchen? Kann dadurch ein Geſicht veredelt, verſchoͤnert werden?
Der Spott druͤckt die Augen zuſammen, und faltet die Haut um die Augen herum
auf eine aͤhnliche Weiſe, wie wir's an den meiſten Wahnſinnigen bemerken. — Wahnſinnige,
was ſind ſie groͤßtentheils anders, als Larven von lachenden Demokrits? — Spott treibt
die Wangen kugelfoͤrmig auf, wie auch zum Theil an Lamettrie in der unten ſtehenden Vi-
gnette zu ſehen. Und, was das Vornehmſte iſt: er giebt dem Munde, dem herrlichſten, ſpre-
N 3chend-
[94]IX.Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
chendſten Theile des Angeſichts eine ſolche Schiefheit und Disproportion, daß er ſich kaum
mehr in einen Stand edler Ruhe und Symmetrie zuruͤck arbeiten kann.
Wer kann unſers Demokrits Mund ſchoͤn finden? Wer ſieht nicht, daß er vor-
nehmlich durch den Spott haͤßlich iſt? So nuͤtzlich der Spott fuͤr den halben Thoren ſeyn
mag, oder fuͤr den, der in Gefahr iſt, ein Thor zu werden — ſo ſehr Montagne recht
haben mag, wenn er deswegen den Spott dem Weinen vorzieht, „weil er demuͤthigen-
„der, und unſerm Verdienſt angemeßner“ iſt, *) als das Weinen; ſo iſt dennoch der
Spott einem Menſchen unanſtaͤndig, und ich moͤchte deswegen, weil der Spott oft ſo ſehr
nuͤtzlich iſt, ſo wenig uͤber Menſchen mir Spott erlauben, als ich deswegen Scharfrichter
ſeyn moͤchte, weil's doch in der Welt kaum etwas Nuͤtzlicheres giebt, als den Scharfrichter.
Es kommt mir eben ſo ungereimt und widerſinnig vor, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll,
uͤber einen andern Menſchen, ſo belachenswerth er ſeyn mag, zu ſpotten, als es mir unge-
reimt und widerſinnig vorkommt, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll, einen andern Menſchen
zu toͤdten, und ſo wie ich glaube, daß die Phyſiognomie eines Scharfrichters, und wenn
er ſonſt der ſanfteſte und edelſte Menſch waͤre, ſich ſchon dadurch verunedle, daß er in der
Befugniß zu ſeyn glaubt, gegen andere Menſchen bisweilen ein Unmenſch zu ſeyn, ſo glaub
ich, daß kein Spoͤttergeſicht in der Welt zu finden ſey, welches nicht gerade durch den Spott
ſich verhaͤßliche.
Jch habe ein moquantes Geſicht im Schatten gezeichnet; kaum ſah es das Origi-
nal, wollt's noch einmal ſitzen, fuͤhlte den Mißzug im Geſichte, und ſucht ihn zu ver-
beſſern.
Was Leßing in einer andern Abſicht von dem Portraͤt der Vignette dieſes Blattes
ſagt, moͤcht' ich von dem Urbilde, moͤcht' ich von jedem Spoͤtter ſagen: „La Mettrie, der
„ſich als einen zweyten Demokrit mahlen und ſtechen laſſen, lacht nur die erſtenmale, die
„man ihn ſieht. Betrachtet ihn oͤfter, und er wird aus einem Philoſophen ein Geck: aus
„ſeinem Lachen wird ein Grinſen.“ **)
Jch
[95]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Jch beſchließe dieſe Zugabe mit einer andern Anmerkung dieſes vortrefflichen Gelehrten,
der uns in unſern Unterſuchungen noch oft begegnen, oft die Hand reichen wird, und bis-
weilen auch vielleicht mit einigen Fragen des Zweifels beunruhigt, nein, nicht beunruhigt,
zu unſrer Belehrung ehrerbietig aufgefordert werden duͤrfte: „Es giebt Leidenſchaften,“ ſagt
Er, „und Grade von Leidenſchaften, die ſich in dem Geſichte durch die haͤßlichſten Verzerrun-
„gen aͤußern, und den ganzen Koͤrper in ſo gewaltſame Stellungen ſetzen, daß alle die ſchoͤ-
„nen Linien, die ihn in einem ruhigem Stande umſchreiben, verlohren gehen.“ Und ich
thue hinzu: Verloren bleiben, wenn der Menſch ſich zu tief in dieſe Leidenſchaft herunter ge-
arbeitet hat.
[96]IX.Fragment. 6. Zugabe. Von der Harmonie
Sechſte Zugabe.
Greuel der Trunkenheit nach Hogarth.
VII.Tafel.
„Wo heulet man? wo ſchreyet man? wo iſt Gezaͤnke? wo iſt Klage? wo Wunden und
„rothe Augen? Bey denen, die ſich bey dem Wein aufhalten, und kommen dem, was einge-
„ſchenkt iſt, nachzufragen. Beſchau den Wein nicht, wie er roth-ſey, und ſeine Farbe in dem
„Becher ſpiele: Er gehet wohl glatt hinein; aber ſein Letztes wird beißen, wie eine Schlange,
„und ſtechen, wie ein Baſilisk. Alsdann werden deine Augen nach fremden Weibern ſehen,
„und dein Herz wird verkehrte Dinge reden; und du wirſt ſeyn, als wenn du mitten auf dem
„Meere ſchliefeſt, und oben auf dem Maſtbaum laͤgeſt.“ *)
Roußeau fuͤhrt ſeinen Aemil, — und der vorige Koͤnig in Preußen ſeinen Kronprinzen
in ein Siechenhaus, um durch die ſichtbaren Folgen der Unzucht vor Unzucht zu warnen —
Ein Staat, wo man alle Jahre einmal die vertrunkenen Mißgeſtalten von Menſchen
in Proceßion mit einem Gemaͤlde nach Hogarth, wie das nachſtehende iſt, herumfuͤhrte — ſollte
dieß nicht mehr als alle Predigten gegen die Trunkenheit wirken?
Nichts verunſtaltet den Menſchen ſo ſehr, als das Laſter! Feſte, donnernde
Wahrheit! Nichts verſchoͤnert den Menſchen ſo ſehr, als die Tugend! Feſte, herrliche
Wahrheit! — Der Hauptinnhalt, die Seele meines Werks! wenn dieß nicht empfunden wird,
dieſe Empfindung nichts wirkt, ſo wuͤnſcht' ich, keine phyſiognomiſche Zeile geſchrieben zu haben.
Siehe das Blatt an — und laß deiner Empfindung den Lauf! — wie tief ſinkt der
Menſch unter die Menſchen, der ein Held iſt, Wein zu ſaufen! wie erniedrigt er ſich zum Tho-
ren! zum Boͤſewicht, zum Hunde! wie ſchief, wie ekelhaft, wie laͤcherlich nnd abſcheulich, wie
leichtſinnig und frech! wie raſend und ohnmaͤchtig wird er zugleich! welche allgemeine Erſchlaffung
und Nervenloſigkeit! welcher ſeichte Spott und Schwindelgeiſt! welche allgenugſame Leerheit be-
maͤchtiget ſich ſeiner! — welche Hoͤlle von Geſellſchaft erblickſt du hier — Siehe! empfind! urthei-
le! — wie, wie koͤnnten ſolche Geſtalten Buͤrger des Reichs Gottes ſeyn! — wie unertraͤglich muͤß-
ten ſie einem Menſchen, wie unertraͤglich ihnen ein Menſch ſeyn, der auch nur wie der Wernerſche
Chriſtus in der Vignette eines vorgehenden Blattes ausſaͤhe!
Wie
[]
[][97]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Wie hat der fette Tabaksſchmaucher oben an der Tafel alle ſeinen Geiſt in Fleiſch verwandelt!
welches Sattſeyn ohne Genuß! welch unbewegliche Traͤgheit! und der, der neben ihm das Glas
in die Hoͤhe haͤlt — wie erniedrigt ihn kleingeiſtiger Spott! Tolles Geſchrey! Bosheit ohne Kraft!
Und der ſich mit der Tabakspfeife anlehnt, in welcher ſtierigen gedankenloſen Genuͤgſamkeit! Er
ſchaut hin, ohne was zu ſehen! Er horcht, ohne zu hoͤren! — Wie niedrig der neben und unter
ihm mit der ſchiefen Parucke, mit dem ſchiefen liebaͤugelnden Geſichte! und der neben dieſem mit
der Pfeife in der einen, mit der andern Hand auf ſich deutend, mit dem eingekerbten Kinn, dem
etwas uͤber ſich ſchauenden Auge, unvermoͤgend, einen Menſchen zu intereßiren, oder etwas hervor-
zubringen — uͤberhaupt, in allen dieſen ſchaͤndlichen Geſichtern die Zerſtreuung, die Nichttheil-
nehmung, die Atonie, die der Ueppigkeit eigen iſt —
Die Vignette dieſes Blattes iſt ein Portraͤt eines durch Brandtewein entnervten gichti-
ſchen unbekannten Menſchen, der in einem Hoſpitale vermuthlich ſich ſelbſt und der menſchlichen Ge-
ſellſchaft zur Laſt war. Jch haͤtte gewuͤnſcht, daß der Zeichner ihn nicht verſchoͤnert haͤtte, welches
ich wenigſtens aus dem Auge zu vermuthen Urſach habe! der Mann muß ſonſt gewiß nicht der
ſchlechteſte in ſeinen Anlagen geweſen ſeyn! — und wenn er nicht Verſtand im Handeln gezeigt
hat, ſo hat er doch ſicherlich in die Claſſe derer gehoͤrt, die Talente hatten, die ſie ſehr gut haͤtten
nutzen koͤnnen.
[98]IX.Fragment. 7. Zugabe. Von der Harmonie
Siebente Zugabe.
Ein Hogarthſches Blatt voll lebendiger
Laſter.
Wie das Laſter verunſtaltet, erblicke hier von neuem! Ermanne dich, den abſcheuerwecken-
den Anblick zu ertragen, und beweine mit mir den Verfall der menſchlichen Natur.
Sieh hier alles vereinigt, was Leichtſinn und Bosheit und Niedertraͤchtigkeit Schreck-
liches und Abſcheuliches haben!
Verachtenden Zorn eines Entſchloßnen und Maͤchtigen.
Die ſeelenloſeſte Bosheit der faͤlſcheſten und ſpottendſten und teufliſchſten Hurenge-
ſichter.
Wehgeheul des verzweifelnden Laſters!
Dumme Wuth und betaͤubtes Staunen des betrogenen Betrugs.
Die abgeſchmackteſte Coketerie;
Wahnſinn eines arm gewordenen Verſchwenders!
Den allerkriechendſten Geiz —
Voͤllige Entkraͤftung der Menſchheit durch Leichtſinn und Thorheit.
Unten — eine Gruppe aus dem Stuͤcke: Paullus vor Felix.
Felix horchend, mißtrauiſch, erſchrocken, planvoll, drohend, — da er das erſte-
mal vielleicht in ſeinem Leben von Gerechtigkeit, und Maͤßigkeit, und dem zukuͤnftigen Ge-
richt mit dem Ernſte des Wahrheitsgefuͤhls reden hoͤrt — drey in ungleichem Grade veraͤcht-
liche Horcher um ihn! der naͤchſte an ihm eine weichliche Vettel mit aufgeſperrten Augen und
voll Schrecken. — Der neben ihm, ſich mit der Hand auf ein Tiſchchen lehnend, das verach-
tende
[]
[][99]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
tende Horchen einer unempfindlichen Seele, die eine empfindliche deconcertiren will. Aber —
aber — der Hoheprieſter in der Ecke ſich auf die eine Hand lehnend, die andere aufs Knie
pflanzend, wie vereinigt der alles, alles, was Verachtung, was Neid, was wolluͤſtiger Witz,
was Abhaͤrtung gegen die Stimme der Wahrheit heißen kann —
Erhole dich, lieber Leſer, an dieſem jungfraͤulichen Geſichte voll Einfalt und
Unſchuld.
[100]IX.Fragment. 8. Zugabe. Von der Harmonie
Achte Zugabe.
Der tiefſte Grad der menſchlichen Laſterhaftigkeit,
nach Hogarth.
VIIII.Tafel.
Faſſe dich, Leſer! Und du, weiſer Vater oder du fromme Mutter, nimm deinen Sohn,
oder deine Tochter bey der Hand, und ſchau, und wenn eine Zaͤhre dir ins Auge zit-
tert — und ſie dich fragen: warum weineſt du? — ſo zeig ihnen dieß Blatt — und
ſprich —
„Siehe! dieſe haben ihre Leiber durch ſich ſelber geſchaͤndet, und die Herrlichkeit
„des anbethenswuͤrdigen Schoͤpfers unter die Geſtalt der Beſtien erniedrigt“ —
Das der Vervollkommnung faͤhigſte aller Geſchoͤpfe kann das allerunvollkommenſte,
kann das herrlichſte und kann das ſchrecklichſte werden. Alle Creatur Gottes iſt gut,
und nichts verwerflich! Gott macht den Menſchen ſchlecht und recht; Er aber ſucht
Betrug und Argliſt!
Soll ich von oben herab, ſoll ich von unten heraufſteigen — etwas von dem
Greuel zu bemerken, der aus allen dieſen Geſichtern, wie Blut aus der Wunde des Er-
mordeten, hervorquillt!
Rachgrimm! Hohngelaͤchter der kraftloſeſten Schadenfreude! oder hochverachtender,
Blut, wie Wein, duͤrſtender Wuth! Gebrandmarkte Unzucht! Raubſucht, und Entſetzen
vor dem Gedanken, entdeckt zu werden! Doch ich uͤbergehe die Verruchtheiten alle, und
bemerke nur noch mit Entſetzen den allerhoͤchſten Grad — der Teufeley in dem Geſicht,
das einer flehenden Mutter mit einer namenloſen grimmighoͤniſchen Verachtung entgegen
trutzt! Wenn Hogarth dieß Geſichte geſehen und dieſe Stellung copirt hat, ſo iſt das
Original — ein Jnnbegriff von Teufeln! Hat er's erſchaffen — ſo iſt Hogarth —
nein! Er hat's zuſammengedichtet aus vorhandenen Geſichtern, und ſo iſt er und das
Menſchengeſchlecht gerettet — Doch! ach, Gott! ich habe ſchon Geſichter, Gebehrden
und
[]
[][101]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
und Stellungen gegen Muͤtter geſehen — die zwar nicht ſo waren, aber ſo haͤtten werden koͤn-
nen! Jch wende mich von dem Gedanken weg, aber wenn eine Geſellſchaft aus 16. oder 18.
ſolcher Hunde, wenn eine ſolche Geſellſchaft nur acht Tage deine einzige Geſellſchaft ſeyn
ſollte — welcher Menſch wuͤrde Unmenſch genug ſeyn, nicht alles zu thun, nicht alles zu lei-
den, was Tugend und Religion thun und leiden heißen koͤnnen — um dieſer Geſellſchaft zu
entrinnen ....
Jch kehre zu einem Menſchengeſichte zuruͤck, das wenigſtens im Original Demuth und
Einfalt, Froͤmmigkeit und Guͤte, Weisheit und Geiſt vereinigt, weit mehr Geiſt, als der Mund
hier blicken laͤßt.
[102]IX.Fragment. 9. Zugabe. Von der Harmonie
Neunte Zugabe.
Drey idealiſche Koͤpfe. Umriſſe.
X.Tafel.
Keiner apoſtoliſch erhaben, und doch in allen was Edles und Schoͤnes! Jmmer Erholung fuͤr
das ermuͤdete Auge des Leſers, und fuͤr ſein beklommenes Herz beym Anblicke der unmenſchlichen
Menſchengeſtalten, die wir ſo eben betrachtet! Horchende Guͤte, die herabſchaut etwa nach einem
Kinde, das ehrfurchtsvoll an den heiligen Mann heraufſtaunt, erblick ich im ganzen Profile zur
Linken! Das Haar von Drat abgerechnet, welches zarten menſchlichen Seelen niemals weder mit
dem Pinſel noch mit dem Grabſtichel angedichtet werden ſollte — ſpricht der Bau des Hauptes,
die Stellung und der Mund — Bonhomie und Menſchenfreundlichkeit. Das Naßloch taugt
nichts! Das Aug' iſt vornen zu weit geſchloſſen, und zu unbeſtimmt gezeichnet.
Das zweyte Geſicht zur Rechten, ebenfalls ganz Profil, iſt andaͤchtige Sehnſucht! weni-
ger dumme Bigotterie, als wirklich redliche Froͤmmigkeit! Wie verſchieden vom Phariſaͤerblicke!
Nicht die erhabenſte Andacht — aber dennoch unnachahmbar dem Heuchler!
Das dritte Vollgeſicht leuchtet mir durch ſeine Offenheit, ſeine Paralelisme, die Perpen-
dikularitaͤt der zwar nicht ſchoͤnen Naſe — und durch dieſe Art von hoher Stirn ein — (wir wer-
den an andern Arten ſehen, welche hohe Stirnen und welche kurze vortrefflich ſind) Schade, daß
der Mund vom Barte mehr als halb bedeckt uns nur ſeinen Paralelisme mit den Augen ſehen laͤßt.
Mich duͤnkt auch, daß dieſe Falten der Wange nicht ganz vortheilhaft ſind. —
Zehnte
[]
Zehnte Zugabe.
Drey Profile nach Poſſi und Chodowieki.
XI.Tafel.
„Es ſind, ſagt Winkelmann, viele wahrhaftig ſchoͤne Kinderkoͤpfe aus dem Alterthume uͤbrig.
„Das allerſchoͤnſte Kind aber, welches ſich, wiewohl verſtuͤmmelt, aus dem Alterthum erhalten
„hat, iſt ein kindlicher Satyr, ungefaͤhr von einem Jahr' in Lebensgroͤße, in der Villa Al-
„bani. Dieſes Kind iſt mit Epheu bekraͤnzet, und trinket, vermuthlich aus einem Schlauche,
„welcher aber mangelt, mit ſolcher Begierde und Wolluſt, daß die Augaͤpfel ganz aufwaͤrts
„gedrehet ſind, und nur eine Spur von dem tiefgearbeiteten Stern zu ſehen iſt. Ein bekann-
„tes Vorurtheil, welches ſich gleichſam, ich weiß nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die
„alten Kuͤnſtler, in Bildung der Kinder, weit unter den neuern ſind, wuͤrde alſo dadurch
„widerlegt.“ *)
Jch glaube, daß die zwey obern von Pfenningern nach Poſſi geaͤzten Profile eben
das Koͤpfchen vorſtellen, wovon Winkelmann ſpricht.
Aber ich geſtehe aufrichtig, daß ſie mir nicht gefallen. Jch rede von den Copien, die
jedoch richtig und getreu zu ſeyn ſcheinen.
Es iſt wahr, Kinderkoͤpfe haben ſelten zuruͤckgehende Stirnen; haben ſie nie ſo, wie
dieſelben Koͤpfe, wenn ſie aͤlter und feſter ſind. Aber dieſe hohe, ſo perpendikulaͤre, ſo in der
Mitte eingebogne Stirn iſt an einem Kinde unertraͤglich, iſt ein unverzeihlicher Fehler wider
die Natur, und wider die Schoͤnheit, um ſo viel unverzeihlicher, weil das Hinterhaupt des
Kindes ſo ſtark vorgewoͤlbt iſt. Dieſe ſtarke Vorwoͤlbung des Hinterhauptes iſt, wie wir
noch oft zu bemerken Gelegenheit haben werden, groͤßtentheils feingebauten, zarten, furchtſa-
men, bis zur Bloͤdigkeit guͤtigen, eigen. Solche Stirnen hingegen, wie die ſind, die wir vor
uns haben, ſind durchaus der Character der Hartnaͤckigſten, Unbiegſamſten, Eigenſinnigſten,
Unerbittlichſten. Sie ſind das Werk der Natur! Aber zugleich auch der Leidenſchaft! Eine
ſolche Stirne hat die Natur keinem Kinde dieſes Alters angeformt! Eine ſolche Stirne konnte
bey
[104]IX.Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie
bey einem Kinde dieſes Alters keine Leidenſchaft und keine Gewohnheit bilden! Am allerwenig-
ſten kann ein Kind mit dieſem Hinterhaupte eine ſolche Stirne haben! — Von der Disharmo-
nie dieſes Geſichtes ließe ſich noch manches ſagen. Die meiſten Zeichner ſcheinen von dieſer
von der Natur ſo heilig beobachteten Harmonie und Homogeneitaͤt der menſchlichen Bildung, be-
ſonders des Geſichtes, nicht nur nicht den mindeſten Begriff, ſondern auch nicht einmal die
geringſte Ahndung zu haben. Wir werden uns mehrmals noch naͤher daruͤber erklaͤren. Jtzt
noch ein Woͤrtchen von unſern Profilen.
Dieß Profil iſt nicht ſchoͤn! und dieß Profil iſt das Profil eines boͤſen verwilderten Kin-
des. Der Mund im zweyten iſt fatal. Das einzige Gute im Geſicht iſt das Auge!
Nun vergleiche man beide! den bloßen unſchattirten Umriß mit dem ſchattirten; und
bemerke die kleinen Unterſchiede in der Zeichnung und im Effecte dieſer Zeichnung.
Der Einſchnitt im bloßen Umriß unten an der Stirn iſt etwas ſchaͤrfer — dadurch
wird das Kind noch unkindlicher. Dieſe Schaͤrfe ſchickt ſich auch gar nicht zu dem ruhigern,
natuͤrlichern, genußfrohen Umriſſe des Mundes, der viel angenehmer iſt, als der im ſchat-
tirten. Warum? weil er guͤtiger, kindlicher, unſchuldiger iſt! — Die kaum merkbare kleine
Beugung im Umriß giebt dieß Angenehmre, dieß Kindlichere, Unſchuldigere. Das Zu-
ruͤckſtehen der Unterlippe, das mehrere Vorſtehen der Oberlippe im bloßen Umriſſe iſt mit ein
Grund dieſer mehrern Schoͤnheit und dieſer mehrern Liebenswuͤrdigkeit. Das Auge hingegen
im erſten iſt viel ſchwaͤcher als das im zweyten, zugleich aber ſo unrichtig gezeichnet, daß ſich
nichts druͤber ſagen laͤßt.
Das dritte Profil nach einem Chodowiekiſchen Handriſſe. Es iſt ſchoͤner und edler,
als die obern Profile. Es iſt, meines Beduͤnkens, das Geſicht einer klugen, edeldenkenden,
großmuͤthigen Seele. Und doch fehlt — wie viel, daß es ganz ſchoͤn, ganz edel und groß-
muͤthig ſey.
Der Umriß der Stirn und der Naſe bis auf die Oberlippe des Mundes iſt ſchoͤn und
edel. Auch das Kinn iſt ganz leidlich. Aber was nimmt nun dem Geſichte ſeine Schoͤn-
heit, und was nimmt ihm zugleich Adel und Liebenswuͤrdigkeit? Jſts nicht offenbar —
der Mangel an Augenbraunen? Die Unbeſtimmtheit, Unlauterkeit des Augſterns? Die Unbe-
ſtimmt-
[]
[][105]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ſtimmtheit, Unvollendung des Naslaͤppchens? Die Unbeſtimmtheit, Leerheit der Lippen? Je
mehr ich beobachte, je mehr ich forſche, deſto mehr find ich Harmonie zwiſchen koͤrperlicher und
moraliſcher Schoͤnheit, koͤrperlicher und moraliſcher Haͤßlichkeit; deſto mehr find ich, daß keine
Verunſtaltung und Verſchoͤnerung der Seele ohne Verunſtaltung und Verſchoͤnerung des Koͤr-
pers vorgehen kann.
Jndem ich dieſes ſchreibe, faͤllt mir aus Herrn Sulzers Theorie der ſchoͤnen Kuͤn-
ſte, der Artikel ſchoͤn und Schoͤnheit zu Geſichte. Jch kann mich nicht enthalten, einen Aus-
zug daraus meinen Fragmenten einzuverleiben. Seine Gedanken ſtimmen ſo ſehr mit den mei-
nigen uͤberein, und gehoͤren ſo eigentlich und genau zu dieſer Materie, daß ich keinen Augen-
blick zweifle, meinen Leſern durch Herſetzung derſelben ein wahres Vergnuͤgen zu machen.
„Daß die menſchliche Geſtalt der Schoͤnſte aller ſichtbaren Gegenſtaͤnde ſey, darf nicht er-
„wieſen werden; der Vorzug, den dieſe Schoͤnheit uͤber andre Gattungen behauptet, zeigt ſich
„deutlich genug aus ihrer Wirkung, der in dieſer Art nichts zu vergleichen iſt. Die ſtaͤrkſten,
„die edelſten und die ſeligſten Empfindungen, deren das menſchliche Gemuͤth faͤhig iſt, ſind
„Wirkungen dieſer Schoͤnheit. Dieſes berechtiget uns, ſie zum Bild oder Muſter zu nehmen,
„an dem wir das Weſen und die Eigenſchaften des hoͤchſten und vollkommenſten Schoͤnen an-
„ſchauend erkennen koͤnnen.“
„Bey der großen Verſchiedenheit des Geſchmacks und allen Widerſpruͤchen, die ſich in
„den Urtheilen ganzer Voͤlker und einzeler Menſchen zeigen, wird man nach genauerer Unter-
„ſuchung der Sache finden, daß jeder Menſch den fuͤr den Schoͤnſten haͤlt, deſſen Geſtalt dem
„Auge des Beurtheilers den vollkommenſten und beſten Menſchen ankuͤndiget. Koͤnnen wir
„dieſes außer Zweifel ſetzen, ſo werden wir auch was Gewiſſes von der abſoluten Schoͤnheit
„der menſchlichen Geſtalt anzugeben im Stande ſeyn!“
„Ueberhaupt alſo — wird nach der allgemeinen Empfindung dieſes nothwendig zur
„Schoͤnheit erfordet, daß die Form des Koͤrpers, die Tuͤchtigkeit, ſowohl des Koͤrpers uͤber-
„haupt, als der beſondern Glieder, zu den Verrichtungen, die jedem Geſchlecht und Alter na-
„tuͤrlich ſind, ankuͤndige. Alles, was ein Geſchlecht von dem andern, als der Natur gemaͤß
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. P„erwar-
[106]IX.Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie
„erwartet, muß durch das Anſehen des Koͤrpers verſprochen werden, und die Geſtalt iſt die
„ſchoͤnſte, die hieruͤber am meiſten verſpricht.“
„Aber dieſe Anforderungen beruhen nicht blos auf aͤußerlichen Verrichtungen und koͤr-
„perlichen Beduͤrfniſſen. Je weiter die Menſchen in der Vervollkommnung ihres Characters ge-
„kommen ſind, je hoͤher treiben ſie auch die Forderungen deſſen, was ſie erwarten. Verſtand,
„Scharfſinn, und ein Gemuͤthscharacter, wie jeder Menſch glaubt, daß ein vollkommener
„Menſch ihn haben muͤſſe, ſind Eigenſchaften, die das Auge auch in der aͤußern Form zur
„Schoͤnheit fordert. Ein weibliches Bild, das Wolluſt athmet, deſſen Geſtalt und ganzes We-
„ſen Leichtſinn und Muthwillen verraͤth, iſt fuͤr den leichtſinnigen Wolluͤſtling die hoͤchſte
„Schoͤnheit, an der aber der Geſetztere und in dem Beſitz ſeiner Geliebten mehr als muthwil-
„ge Wolluſt erwartende Juͤngling noch viel ausſetzen wuͤrde.“
„Auch die Urtheile uͤber die Haͤßlichkeit beſtaͤtigen unſern angenommenen Grundſatz.
„Was alle Menſchen fuͤr haͤßlich halten, leitet unfehlbar auf die Vermuthung, daß in dem
„Menſchen, in deſſen Geſtalt es iſt, auch irgend ein innerer Fehler gegen die Menſchlichkeit
„liege, der durch aͤußere Mißgeſtalt angezeiget wird. Wir wollen der verwachſenen und ganz
„ungeſtalten Gliedmaßen, die jedermann fuͤr haͤßlich haͤlt, nicht erwaͤhnen; weil es zu offenbar
„iſt, daß ſie uͤberhaupt eine Untuͤchtigkeit zu nothwendigen Verrichtungen deutlich anzeigen;
„ſondern nur von weniger merklichen Fehlern der Form ſprechen.“
„Die Bildung eines Menſchen ſey im uͤbrigen wie ſie wolle, ſo wird jedermann etwas
„Haͤßliches darinn finden, wenn ſie einen zornigen Menſchen verraͤth: oder wenn man irgend
„eine andere herrſchende Leidenſchaft von finſterer uͤbelthaͤtiger Art darinn bemerkt, und keine
„Geſtalt iſt haͤßlicher, als die, die einen ganz widerſinnigen, muͤrriſchen, jeder verkehrten Hand-
„lung faͤhigen Character anzeiget. Aber auch darinn richtet ſich das Urtheil, oder der Ge-
„ſchmack nach dem Grad der Vervollkommnung, auf den man gekommen iſt. Unter einer
„Nation, die ſchon zu Empfindungen der wahren Ehre und zu einem gewiſſen Adel des Chara-
„cters gelangt iſt, iſt das Gepraͤg der Niedertraͤchtigkeit, das man bisweilen tief in die Phy-
„ſiognomie eingedruͤckt ſieht, etwas ſehr Haͤßliches; aber es wird nur von denen bemerkt, die
„jenes Gefuͤhl der Wuͤrde und Hoheit beſitzen.“
„Jede
[107]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„Jede Schoͤnheit iſt eine gefaͤllige Geſtalt irgend einer wirklichen Materie, das iſt, ſie
„haftet in einem in der Natur vorhandenen Stoff. Dieſer, wenn er auch leblos iſt, hat ſeine
„Kraft, das iſt, er traͤgt das Seinige zu den in der Natur beſtaͤndig abwechſelnden Veraͤnde-
„rungen bey, und hat ſeinen Antheil an dem, was in der Welt Gutes oder Boͤſes geſchie-
„het, kann folglich nach der beſondern Art ſeiner Wirkſamkeit, (nach den eingeſchraͤnkten
„menſchlichen Begriffen zu reden) unter gute oder boͤſe Dinge gehoͤren. Jch getraue mir die
„kuͤhne Vermuthung zu wagen, daß jede Art der Schoͤnheit in dem Stoff, darinn ſie haftet,
„etwas von Vollkommenheit oder Guͤte anzeige.“
„Aber wir wollen, ohne uns auf Hypotheſen und Spekulationen zu verlaſſen, den an-
„gefuͤhrten Zweifel, ob innere Vortrefflichkeit und Verderbniß, ſich durch aͤußere Schoͤnheit
„und Haͤßlichkeit ankuͤndigen, aus unzweifelhaften Erfahrungen, aufzuloͤſen ſuchen.“
„Es kann gar nicht gelaͤugnet werden, daß es verſtaͤndige und unverſtaͤndige, ſcharf-
„ſinnige und einfaͤltige, gutherzige und boshaftige, edle, hochachtungswuͤrdige und niedri-
„ge, recht verworfene Phyſiognomien gebe, und daß das, was man aus der aͤußerlichen Ge-
„ſtalt von dem Character der Menſchen urtheilet, nicht blos aus den Geſichtszuͤgen, ſondern
„aus der ganzen Geſtalt geſchloſſen werde. Die unleugbaren Beyſpiele, da entſcheidende
„Zuͤge des Characters ſich von außen zeigen, ſind voͤllig hinlaͤnglich, die Moͤglichkeit zu be-
„weiſen, daß die Seele im Koͤrper ſichtbar gemacht werde. Eben ſo unleugbar iſt auch die-
„ſes, daß das, was in der aͤußern Geſtalt gefaͤllt, niemals etwas von dem Jnnern des
„Menſchen anzeiget, was Mißfallen erweckte, es ſey denn, daß dieſes aus Jrrthum oder
„Vorurtheil entſtehe, wie wenn z. B. einer zaͤrtlichen aber etwas ſchwachen Mutter die edle
„Kuͤhnheit im Character ihres Sohnes mißfiele, ob ſie gleich den Ausdruck derſelben in der
„Geſtalt mit großem Wohlgefallen ſieht. Dergleichen Ausnahmen ſchraͤnken die Allgemein-
„heit des Satzes, daß hier auch das Zeichen gefalle, ſo oft die bezeichnete Sache gefaͤllt,
„nicht ein.“
„Alſo kann die aͤußere Geſtalt den innern Character des Menſchen ausdruͤcken, und
„wenn es geſchieht, ſo hat das Wohlgefallen, das wir an dem innern Werth des Menſchen
P 2„haben
[108]IX.Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie
„haben, den ſtaͤrkſten Antheil an der gefaͤlligen Wirkung, die die aͤußere Form auf uns
„thut; wir ſchaͤtzen das an der aͤußern Geſtalt, was uns in der innern Beſchaffenheit
„gefaͤllt. Wir ſehen in dem Koͤrper die Seele, den Grad ihrer Staͤrke und Wirkſam-
„keit, und
‘„Unter dem Licht der Augen und unter den Roſen der Wangen
„Seh'n wir ein hoͤheres Licht, ein helleres Schoͤnes hervorgehn.“*)’ ()
„Noch ehe ſich der Mund oͤffnet, ehe ein Glied ſich bewegt, ſehen wir ſchon, ob eine
„ſanftere oder lebhaftere Empfindung jenen oͤffnen, und dieſe bewegen wird. Jn der vollkom-
„menſten Ruhe aller Glieder, bemerken wir zum voraus, ob ſie ſich geſchwind oder langſam,
„mit Verſtand, oder ungeſchickt bewegen werden.“
„Hier koͤnnen wir von der bloßen Moͤglichkeit der Sache auf ihre Wirklichkeit ſchlieſ-
„ſen; weil ſie allen uͤbrigen wohlthaͤtigen Veranſtaltungen der Natur vollkommen gemaͤß iſt.
„Es war nothwendig, wenigſtens heilſam, dem Menſchen ein Mittel zu geben, Weſen ſeiner
„Art, mit denen er nothwendig in Verbindung kommen mußte, und die ſo ſehr kraͤftig auf
„ſeine Gluͤckſeligkeit wirken, ſchnell kennen zu lernen. Die Seelen der Menſchen ſind es, die
„unſer Gluͤck oder Ungluͤck machen, nicht ihre Koͤrper. Alſo mußten wir ein Mittel haben,
„dieſe ſchnell zu erkennen, zu lieben, oder zu ſcheuen. Schneller als durch das Anſchauen
„der ſichtbaren Geſtalt, konnte es nicht geſchehen. Da dieſes moͤglich war, warum ſollten
„wir laͤnger daran zweifeln, daß der Koͤrper nichts anders, als die ſichtbar gemachte Seele,
„der ganze ſichtbare Menſch ſey? Kann es einem verſtaͤndigen Menſchen zweifelhaft ſeyn,
„daß die Natur durch die hoͤchſtliebliche und einnehmende Geſtalt, die der Kindheit eigen
„iſt, Wohlwollen gegen dieſes huͤlf- und gunſtbeduͤrftige Alter habe erwecken wollen?
„Hat ſie nicht ſo gar in die ſichtbare Geſtalt der Thiere etwas gelegt, das den Verſtaͤndigen
„vor ihnen warnet, oder ſie ſuchen macht?“
„Aus
[109]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„Aus dieſem allem (und mehr noch, das wir hier uͤbergehen, und das in andren Stel-
„len unſrer Fragmente ſeinen Platz finden wird,) wird der Schluß gezogen: daß derjenige der
„ſchoͤnſte Menſch ſey, deſſen Geſtalt den, in Ruͤckſicht auf ſeine ganze Beſtimmung, vollkom-
„menſten und beſten Menſchen ankuͤndiget.“ —
Mich duͤnkt, dieſe Stelle iſt ein angenehmer Ruheplatz fuͤr den Leſer und fuͤr mich
auf der Mitte eines Spazierwegs — wo ſchoͤne und haͤßliche Statuen abwechſeln.
[110]IX.Fragment. 11. Zugabe. Von der Harmonie
Eilfte Zugabe.
Ueber einige Umriſſe aus Weſts Pylades und Oreſt.
XII.Tafel.
Das Original, wornach dieſe Umriſſe getreu, jedoch etwas hart, durchgezeichnet ſind, iſt eins
der ſchoͤnſten Stuͤcke, die ich kenne.
Jch werde vielleicht noch an einem andern Orte davon reden, jetzt ſag ich nur ſo viel,
dieſe Koͤpfe alle ſind eine neue Beſtaͤtigung, unſerer ſchon oft geaͤußerten Behauptung — Es
iſt Harmonie zwiſchen koͤrperlicher und moraliſcher Schoͤnheit.
Zuerſt denn die 4 weiblichen Koͤpfe. Wie herrlich der Kopf der Jphigenie, obgleich das
große tiefe Gefuͤhl des herannahenden Menſchenopfers gaͤnzlich darinne vermißt wird. Dieſes
truͤbfreundliche Auge, dieſer freundlich athmend geoͤffnete Mund, kuͤndigt keiner Taube den Tod an,
geſchweige zweyen maͤnnlichen kraͤftigen Figuren, deren Gegenwart auf mehr als eine Weiſe maͤch-
tig auf die weibliche Seele wirken ſollte. Sie ſcheint eine Jungfrau zu ſeyn, die einer Braut oder
einer jungen Frau Gluͤck wuͤnſcht. Ein Grad des unbekannten geheimnißvollen Gefuͤhls iſt vor-
trefflich ausgedruͤckt, nur das Gefuͤhl der Juͤnglingeopfernden Prieſterinn gewiß nicht.
Von dem treuen Maͤgdeſinn der vor ihr ſtehenden geſchleierten iſt nichts zu ſagen, ihr Be-
ruf fuͤhrt ſie hierher, Seelenantheil an irgend einer That wird ſie nie nehmen, aber auch niemand
wird bey ihr verweilen, ſie iſt ſelbſt hier nach dem Willen des Kuͤnſtlers wegweiſende Hand, die
uns auf Jphigenien zuruͤckgehen heißt. Ausgeweinte Trauer ohne Troſt, Hinſtaunen auf den Ge-
genſtand ſeines Schmerzens, Theilnehmung, Hoffnung ſchweben auf dem Geſichte der naͤchſten
hinter Jphigenien. Die hinterſte Figur mit dem aufgebundenen Haarzopf hat viel Ausdruck, ſie
ſcheint zu ſagen: Soll es denn ſeyn! — nein, es kann nicht ſeyn!
Wie viel iſt gewiß nun hier verlohren gegangen, da es Copie von Copie iſt. Das mehr
und weniger aller Linien, die wahren Ausdruck umfaſſen ſollen, ſind nur dem Genie desjenigen, der
ſie ſelbſt hervorbringt, unterſcheidbar. Sie wollen in einem Augenblick aus der Seele fließen und
koͤnnen nicht nachgebildet werden. Hier ſind die Naſen bey allen etwas zu fleiſchig und nicht delikat
genug. Man vergleiche ſie mit den Naſen der Meduſe, der Minerva Aſpaſia auf Gemmen. Es iſt
wahr, auch die Haͤrte, womit die aͤußerſten Umriſſe derſelben gezeichnet ſind, iſt mit Schuld, daß ſie
weniger ſchoͤn, und weniger edel ſind. Bey ſolchen und andern Maͤngeln dieſer Geſichter, wird
man ſie jedoch immer noch ſchoͤn genug finden, um ſie nicht fuͤr laſterhaft erklaͤren zu duͤrfen. Es iſt
in denſelben doch uͤberhaupt nichts Verzogenes, nichts durch den Geiſt der Jntrigue Verworrenes,
keine
[]
[][111]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
keine Spur irgend einer gewaltſamen zerſtoͤrenden Leidenſchaft. Sie ſind nicht erhabene, nicht ent-
ſchloſſene Heldinnen, nicht einmal Maͤnninnen, aber edle, gute, jungfraͤuliche, unſchuldvolle Seelen,
nicht aus einem Himmel voll Jdealen herab, aber noch weniger aus dem Poͤbel heraufgeholt.
Nun die maͤnnlichen Koͤpfe im untern Oval. Oreſt in der Mitte. Hier iſt der Ausdruck
ſelbſtgelaſſener feſter Wehmuth um einen Wink verfehlt. Aber auch ſo, noch immer edel, groß, und
gut. Wie wahr das Ganze, die abſinkende Lippe, das geneigte Haupt, die leiſe abwallenden Locken;
und wie contraſtirend dagegen der duldende Nacken des kraushaarigen, friſchbaͤrtigen Freundes,
deſſen angedraͤngtes Kinn, geſchloſſener Mund, aufgezogenes Naslaͤppchen, alles, Feſtigkeit, Selbſt-
gelaſſenheit, ruhige Erwartung des Schickſals bezeichnet. Das Auge ſagt zu wenig, wie war
aber auch ſo ein Blick zu copieren?
Der grimmige Soldat iſt nichts mehr und weniger als eine akademiſche theatraliſche Flick-
geſtalt, doch iſt Trutz und Haͤrte ganz gut ausgedruͤckt, ob mir gleich bey Erblickung eines ſol-
chen Kopfes immer iſt, als wenn ich eine wohl ausgeſprochene alltaͤgliche Sentenz laͤſe.
[112]IX.Fragment. 12. Zugabe. Von der Harmonie
Zwoͤlfte Zugabe.
Ueber die Adieux de Calas von Chodowiecki.
Zuerſt ein Wort uͤber den Kunſtcharacter des Herrn Daniel Chodowiecki in Berlin. Dieſer
treffliche Kuͤnſtler, dem ich ſo vieles zu danken habe, iſt einer der treuſten und aufmerkſamſten
Schuͤler der Natur. Seine Zeichnungen alle, ſchmeicheln ſich durch ihre leichte athmende Na-
tuͤrlichkeit jedem Auge ein. Unter ſo vielen bekannten Mahlern iſt er beynahe der einzige, der
nie blos akademiſche Figuren liefert; nie unhandelnde Repraͤſentanten handelnder Weſen!
Bildſaͤulen in der Situation eines lebenden oder handelnden Weſens! Hiſtoriſche Stuͤcke, im
Grunde nur eine Bildſaͤulengallerie, ein Cabinet von guten Statuen; beynah iſt er der ein-
zige, der faſt allen ſeinen Figuren die volle ungehemmte Freyheit, die dem Leben eigen iſt,
einzuhauchen weiß.
Jch halte die adieux de Calas von Chodowiecki, fuͤr eines der herrlichſten, natuͤrlich-
ſten, kraͤftigſten Stuͤcke, das ich in meinem Leben geſehen. Welche alles beherrſchende Wahr-
heit! welche Natuͤrlichkeit! welche Zuſammenſetzung! welche Feſtigkeit ohne Schaͤrfe! welche
Zartheit ohne Kleinmeiſterey! welche Bedeutung im Ganzen und in einzelnen Theilen! welcher
Contraſt in den Charactern, und welche Einheit und Harmonie im Ganzen! und immer und im-
mer Wahrheit — und immer Natur, und ſolche Wahrheit, ſolche Natur, daß man ſich nicht ei-
nen Augenblick kann einfallen laſſen, daß der Auftritt, daß die Zuſammenſetzung, irgend eine
einzige Perſon, oder der geringſte Umſtand erdichtet ſey — Nichts uͤbertrieben! alles Poeſie,
und nicht ein Schimmer von Poeſie — Jhr vergeßt das Bild, und ſeht, und ſeht nicht:
Jhr ſeyd da — im Gefaͤngniß der leidenden Unſchuld! Jhr weint mit; ihr moͤchtet ihr um den
Hals fallen: Jhr moͤchtet mit ihr, ihr moͤchtet fuͤr ſie ſterben! Aber unter allen Trefflichkeiten
dieſes trefflichen Stuͤckes iſt doch nichts, wie der Greis, und die ohnmaͤchtig und ſprachlos an
ihn ſich lehnende Tochter! Jch habe dieſe Parthey beſonders copieren, vergroͤßern, und ſtechen
laſſen — um mit einigen meiner Leſer — einige Augenblicke wehmuͤthiger Wolluſt zu theilen —
Aber die Copie — hat zum Theil verloren! zum Theil gewonnen! Sehet ſie, dieſe herzdurch-
dringende Gruppe! Auch die Copie zeigt uns immer noch genug im Angeſichte des Greiſes von
der
[]
[][113]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
der Redlichkeit und edlen Einfalt, von dem Gott umfaſſenden Vertrauen, das nur der Unſchuld
eigen ſeyn kann! Spricht noch ſtaͤrker vielleicht, als das Original, von heiterer Ruhe der See-
le, von vaͤterlicher Guͤte, der es unmoͤglich iſt, — guter Gott! ich will nicht ſagen, einen Sohn
zu erwuͤrgen — unmoͤglich, ihn nicht mit eigenem Blute vom Tode zu retten! — — zeigt uns eine
herzgute, empfindungsvolle, gerade, redliche Tochter und Schweſter. Haſt du jemals Betruͤb-
niß, die ſchmachtet, die hart an Ohnmacht graͤnzt, doch nicht vollkommen Ohnmacht, je Betruͤb-
niß, die lauter huͤlfloſe Liebe iſt, geſehen, wie die auf den Vater ſich lehnende troſtloſe Tochter —
Augenbraunen, Augen, der offne Mund, die Lage des Geſichts, der Haͤnde — Alles, alles ſagt,
ruft: „Jch bin elender, als alle Menſchen! Jſt auch ein Schmerz, der meinem Schmerzen zu ver-
„gleichen ſey?“ — Aber — nun vergleiche mit dieſem jammervollen ſchmachtenden Geſichte, des
ehrwuͤrdigen Alten noch zehenmal redenderes Geſicht. Dort iſt Weib — hier Mann; dort Toch-
ter, hier Vater; Troſt blickt noch aus dem muͤden, zerdruͤckten Herzen, herauf durch Aug' und
Mund in das truͤbe, nicht mehr ſehende Aug' der untroͤſtbaren Tochter. Abgearbeitet, ausge-
weint, — beynahe bis zur Gefuͤhlloſigkeit durchjammert — iſt das Geſicht. Aber noch tiefe Ruhe,
unter Laſten von Leiden — „Jch fuͤrchte Gott, und weiß von keiner andern Furcht — Jch hebe meine
„Augen in die Hoͤhe — woher mir Huͤlfe kommen wird! Meine Huͤlfe kommt vom Herrn, der den
„Himmel und die Erde gemacht hat. — Laß die Feſſeln mir loͤſen — achte das Geklirr — und das
„Tod verkuͤndende Geraͤuſch um uns her nicht! — Jch hoͤr' es nicht — ich bin unſchuldig! — Du
„weißts; Jch weiß es; Gott weiß es. — Sey ſtark! der ſtaͤrkt mich, der mich kennt, und der mir
„den bitterſten Kelch mit der Linken reicht — reicht mit der Rechten mir unausſprechliche Kraft.“
Mir iſt, ich leſe dieſes alles hell und klar auf dem huld- und unſchuld- kraft- und laſtvollen Geſichte
des ehrlichen Alten. Jch ſehe den Vater, der immer Vater war — ich ſehe den Mann, deſſen letz-
tes Wort auf dem Rade ſeyn kann: „O Gott! vergieb meinen Richtern. Jch bin unſchuldig.“
Den Mann, der es werth war, die ſchrecklichſten Leiden unſchuldig zu tragen und fuͤr viele tauſend
kuͤnftig Unſchuldige das Opfer zu werden; — ein Opfer — das uns, in jener Welt, herrlich ge-
ſchmuͤckt entgegen kommen wird — in einer ſchoͤnern Geſtalt, als kein Pinſel der Erde mahlen, kein
Genius des Dichters beſchreiben kann.
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. QDreyzehnte
[114]IX.Fragment. 13. Zugabe. Von der Harmonie
Dreyzehnte Zugabe.
Thomas nach Raphael, von Pikart.
XIV.Tafel.
Daß alle alle Copeyen von Raphael verlieren; alle — geiſtloſer, unedler, roher ſind, als
die Originale, wenn ſie auch von den geſchickteſten Meiſterhaͤnden herruͤhren — iſt a priori und
poſteriori unwiderſprechlich darzuthun. Wer ein Original von ihm geſehen hat, wird die beſte
Copey kaum mehr ertraͤglich finden — und dennoch hat die ſchlechteſte Copey von ihm groͤßten-
theils noch große Vorzuͤge vor den beſten Originalen.
Seine Zeichnung und ſeine Expreſſion — (vom Colorite, das erbaͤrmlich mißkennt, und
ſo partheyiſch herabgewuͤrdiget wird, nichts zu ſagen) ſind uͤber alle Nachahmung, und alle Be-
ſchreibung erhaben. Mengs, der ihn wohl am richtigſten beurtheilen kann: Er: „der als ein
„Phoͤnix gleichſam aus der Aſche des erſten Raphaels erwecket worden, um die Welt in der
„Kunſt die Schoͤnheit zu lehren, und den hoͤchſten Flug menſchlicher Kraͤfte in derſelben zu er-
„reichen“ *) — Mengs, wie richtig ſagt er: — „Raphael, wenn er anfieng auf die Figu-
„ren insbeſondere zu denken, ſo dachte er nicht, wie die andern, erſtlich an die ſchoͤne Stellung,
„und betrachtete hernach, ob die Figur zu der Geſchichte taugen koͤnnte, ſondern er dachte
„gleich, wie ſich die Seele des Menſchen befinden wuͤrde, wenn er wirklich das fuͤhlte, was
„die Geſchichte erzaͤhlet, alsdann fieng Raphael an zu denken, wie der Menſch ſich koͤnnte
„vor dieſer Regung befunden haben, und wie ſich dieſe, worinnen er ihn vorgeſtellt, zeige, was
„vor Glieder er zur Ausfuͤhrung ſeines Willens braucht — dieſen gab er alsdann die meiſte
„Bewegung, die andern aber, welche dazu unnuͤtze waren, ließ er ſtille, daher koͤmmt es, daß
„man in Raphael oft ganz gerade und faſt einfaͤltige Stellungen ſiehet, die doch eben ſo ſchoͤn
„an ihrem Orte, als die ſehr ruͤhrenden in einem andern Stuͤcke ſind, weil die einfaͤltige Geſtalt
„vielleicht eine Bedeutung hat, ſo den innern Menſchen, naͤmlich die Seele angehet, und die
„andre, ſtark geregte, eine geaͤußerte Regung vorſtellen ſoll: auf dieſe Weiſe gedachte Raphael in
„jedem Werke, in jeder Gruppe, Figur, Gliede, und Gliedes Gliede; bis auf die Haare und Ge-
„waͤnder: Er zeigete in den Geſchichten die innern Regungen; redet bey ihm jemand, ſo ſieht man,
„ob
[]
[][115]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„ob er mit Stille der Seele oder wallend und mit Zorn rede auch an dem Geſichte; der Denkende
„zeiget, wie ſtark er denke; in allen Leidenſchaften, ſo ſtarke Bedeutungen haben, ſiehet man, ob es
„der Anfang, Mittel oder Ende der Regung ſey: Es waͤre allein ein Buch von der Bedeutung
„Raphaels zu ſchreiben.“*) Wir werden noch oft Gelegenheit haben, das Urtheil zu beſtaͤtigen. —
Das Stuͤck, das wir vor uns haben, muß in der Copey ſchrecklich verloren haben; das
heißt mit andern Worten: die Character unſrer Perſonen erſcheinen uns um ſo viel ſchlechter, un-
edler, niedriger, als die Umriſſe groͤber, roher und tiefer unter der vermuthlichen unerreichbaren
Simplicitaͤt des Originals ſind. Unſre Copey iſt nur von einer Copey, die ſehr wahrſcheinlich auch
nur wieder Copey iſt; und obgleich auch unſer Original uͤberhaupt zaͤrter iſt, als unſre Copey, ſo
hat es dennoch viel zu viel Unbeſtimmtes, Rohes, Zweyfaches, Unfeſtes, — mithin mit dem Cha-
racter Raphaeliſcher Zeichnungen hoͤchſt contraſtirendes, als daß man aus dieſer auf jene vollkom-
men ſicher ſchließen koͤnnte. Bey allem dem zeigt ſie uns noch genug großen Geiſt, und erhabene
Wahrheit. Ein Stuͤck, das fuͤr das erhabenſte Genie nicht erhabener ſeyn koͤnnte, iſt Tho-
mas und Chriſtus — beym erſten Wiederſehn nach der Auferſtehung! So manche Apoſtel —
alle erhaben, und alle auf verſchiedene Weiſe! Jeder ein großer Character! und dennoch je-
der vom andern ſo verſchieden wie Aug und Ohr! alle erhaben — und alle niedrig in der Ge-
genwart des Erhabenſten! — Welch ein unſchaͤtzbares Stuͤck waͤre ein Gemaͤlde von dieſer Sce-
ne! — dann wuͤrde freylich das Gegenwaͤrtige bey allen ſeinen Vorzuͤgen — verſchwinden.
Die Schoͤnheit eines großen Characters hat vier verſchiedene, aber wohlzuſammenſtim-
mende Expreßionen — Die ganze Geſtalt, den Umriß des Geſichtes, die Miene, die
Stellung — das Laſter wird durch alle dieſe Ausdruͤcke verlieren, durch alle dieſe Ausdruͤ-
cke die Tugend gewinnen, und gerade in dieſen vier Expreßionen und, was das Wichtigſte iſt,
in der Zuſammenſtimmung, Harmonie, Homogeneitaͤt dieſer verſchiedenen Ausdruͤcke — iſt
Raphael ein großer Meiſter. Betracht einmal die ganzen Geſtalten in unſerm Stuͤcke! wie
edel! laͤnglicht ohne Johann v. Leukens Hagerkeit; maͤnnlich ohne Glozens Gewaltſamkeit
und Ueberſpanntheit, oder Berninis Rauhigkeit — welche Proportion ohne Aengſtlichkeit!
welche Leichtigkeit ohne Unbeſtimmtheit! Welche Zaͤrte ohne Weichlichkeit! — und ſeiner Ge-
Q 2ſichter
[116]IX.Fragment. 13. Zugabe. Von der Harmonie
ſichter Umriß — (den Zuſtand der Leidenſchaft oder Gemuͤthsbewegung abſtrahirt —) wie
iſt er auch noch im groͤbſten Nachriß — edel! wie einfach! wie ununterbrochen! wie ſanft ab-
weichend! wie ohne Catarrakte! wie ohne ſtarke Falten, und dennoch nicht von fader leerer
Flaͤche! Wie viele Groͤße liegt z. E. bloß in der Stirn des Heilandes! Jn der Naſe — zu
viel Menſchlichkeit, die ich aber nicht auf Raphaels, ſondern der Copiſten Rechnung ſetzen
will. Daß dieß Geſicht im Ganzen ſo ſchoͤn, ſo ſchoͤn beſonders auch durch Bart und Haare,
worinn Raphael ſo ein großer Meiſter, ſo ein trefflicher Zeichner, ſo ein tiefſehender Phy-
ſiognomiſt war, daß dieß Geſichte, ſag ich, bey aller dieſer unlaͤugbaren Schoͤnheit, im Gan-
zen dennoch zu alt ſcheine, iſt nicht zu laͤugnen, und ſcheint der allgemeine Fehler aller Ra-
phaeliſchen Chriſtuskoͤpfe zu ſeyn. — Die Umriſſe aller uͤbrigen Figuren, Geſtalten, Gebaͤrd
und Miene abgerechnet, haben ſo viel Edles, moraliſch und phyſiſch Geſundes, Offnes, Freyes,
von Argliſt und Schlauigkeit Reines, daß ſich jeder nicht ganz ſeelenloſer Menſch von ganzem
Herzen Gluͤck wuͤnſchen muͤßte, Mitglied einer ſolchen Geſellſchaft zu ſeyn, oder derſelben nur
beyzuwohnen. Man vergleiche dieſe mit einer von den Hogartſchen oder Rembrandſchen; wer
wird einen Augenblick anſtehen, die Raphaeliſche vor dieſen zu waͤhlen? — und — man ver-
geſſe dabey nicht die Mannichfaltigkeit dieſer Umriſſe, auch wenn man ſie ſich alle in demſelben
Zuſtande der Ruhe gedaͤchte, zu bemerken! Es iſt in allen Kraft und Einfalt — und welche
Mienen der Aufmerkſamkeit, voll Zweifel und Glauben, voll Furcht und Hoffnung! voll
Neugier und Ehrfurcht! Schrecken und Andacht! — und das alles ſo ſtill, ſo geraͤuſchlos, ſo
in Eins zuſammenfließend! Auch in dieſer ſchlechten Copey — wie redend iſt Thomas Miene!
wie ſchamvoll, ehrfurchtsvoll, ſtaunend — — und nun zuletzt noch ein Wort von der Stellung!
wie expreſſif iſt dieſe bey jedem — wie einfaͤltig — und wie verſchieden! wie edel ſteht Chriſtus!
wie iſt Bewegung und Ruhe allenthalben ſo gluͤcklich vereinigt! wie iſt nirgends akademiſche
Steifigkeit! wie durchaus Freyheit, und Freyheit voll Bedeutung! — Alle die ſchon be-
merkte Gemuͤthszuſtaͤnde — wie richtig und beſtimmt ſind ſie wiederum auch bloß in der
Stellung ausgedruͤckt! —
Obgleich nun, aller dieſer unlaͤugbaren Trefflichkeiten ungeachtet, dieſe herrliche Scene,
die ſchoͤnſte vermuthlich, die jemals auf unſerm Erdball vorgefallen ſeyn mag, nicht in allen vier
ange-
[]
[][117]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
angefuͤhrten Abſichten die moͤglichſte Vollkommenheit erreicht hat; ſo bleibt mir dennoch immer
gewiß, daß Raphael die Harmonie koͤrperlicher und moraliſcher Schoͤnheiten mehr als keiner
von allen mir bekannten Mahlern gefuͤhlt und ſtudirt zu haben ſcheint.
Vierzehnte Zugabe.
Vier Portraͤte von Raphael.
XV.Tafel.
Wir haben Raphaelen ſchon ſo oft genannt, daß es nicht fremde ſcheinen wird, wenn wir
nun auch ein paar Worte uͤber ſein Geſichte ſagen.
„Seine Gemaͤlde ſind wie ſein Geſicht“ erinnere ich mich irgendwo geleſen zu haben;
oder: „Es brauchte auch ein ſolch Geſicht, um ſo zu mahlen!“ welche Harmonie moraliſcher
und koͤrperlicher Schoͤnheit! — Jch werde hier nicht Raphaelen commentiren. Die Folge
wird uns noch ein weit beſſeres und herrlicheres Geſichte dieſes großen Mannes vorlegen. Dann
ſoll mehr von ihm geſagt werden.
Alle dieſe vier Koͤpfe, wovon drey offenbar nach Einem Original copirt ſind, druͤcken
doch, bey aller ihrer Unvollkommenheit — die edle ſtille hohe Einfalt ſeines Geiſtes aus. Jene
ſo ſeltne Einfalt, die durch keine Leerheit entnervt, durch kein geheimes Feuer verbrannt wird.
Ruhe mit verborgner Kraft! Blick voll Licht und ſanfter Waͤrme — voll tiefer Ueberlegung,
die aber — nicht gelernt, nicht angewoͤhnt, die Natur und innere Kraft iſt!
Das erſte ſcheint mir das ſchwaͤchſte; ſtaͤrker das zweyte; das dritte noch geiſtiger —
und das vierte apoſtoliſch erhaben zu ſeyn. Blick, Stellung, Naſe, Mund und Haar —
Beſonders aber die Wendung der Augbraunenlinie gegen die Naſe — zeigt mir das Erhabne.
Waͤre dieſer Kopf 4 beſſer gezeichnet und ſchattiert, wollt' ich mehr daruͤber ſagen. Das linke
Naßloch iſt fatal. Dem Kinne und der Stirne fehlt viel zur Harmonie des Ganzen — aber,
ich habe dennoch ach — unter den Sterblichen keinen ſolchen Kopf gefunden — ſo wenig ich
irgend ein einziges Stuͤck geſehen, das ſeinen Arbeiten beykoͤmmt. Eine Figur von Raphael,
eine Strophe von Klopſtock, eine Arie von Pergoleſe — wenn ich mein Aug' und Ohr und
Herz erheben und mit Wolluſt traͤnken will, was will ich mehr! — —
Q 3Funfzehnte
[118]IX.Fragment. 15. Zugabe. Von der Harmonie
Funfzehnte Zugabe.
Knipperdolling und Stortzenbecher.
XVI.Tafel.
Uebergewicht von Kraft — umgeben mit Schwachheit zeugt Boͤſewichter! — vergleiche dieſe
Geſichter mit den vorhergehenden, und urtheile.
Nicht umſonſt — ward er mit Catilina verglichen, der gewaltreiche, uͤbermaͤchtige,
eiſerne Knipperdolling!
Schau doch die Felſenſeele in den ſtuͤrmenden Wellen des Gluͤckes und Ungluͤckes. Schau
den zermalmenden Ernſt — die Seele, geſchaffen, zu richten, zu herrſchen, und zu toͤdten!
Und den Pendant, den Seeraͤuber, vergleiche Blick, Stirn, Naſe, Bart — mit
Knipperdolling — und laͤugne, kannſt du — daß Phyſiognomie Wahrheit ſpreche, und
daß Harmonie ſey zwiſchen Geiſt und Koͤrper, Herz und Angeſicht.
Sechzehnte Zugabe.
Judas und Compagnie nach Rembrand.
XVII.Tafel.
Nach dem Thomas von Raphaels Schoͤpfung, iſt hoͤchſt merkwuͤrdig zu ſehn, wie Rembrand
den gerad entgegengeſetzten Vorwurf in ſeiner Laune behandelt hat. Auch dieſes Blatt beſtaͤtigt
die Wahrheit: daß moraliſche Zerruͤttung, Zerruͤttung der Phyſiognomie iſt. Wie lebhaft iſt die-
ſes
[]
[][]
[][119]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ſes Stuͤck, und beſonders die drey Hauptfiguren empfunden. Der voͤrderſte gekruͤmmtſtehende iſt
der Urheber und Ausfuͤhrer der ganzen That. Nicht widrig ſind an ihm Mund und Auge, aber
dieſes Verhaͤltniß von Stirn und Naſe, das tuͤckiſche Beugen, das durch die uͤberſtrebenden Fal-
ten noch vermehrt wird, bezeichnen ihn hinlaͤnglich. Er winkt dem gegen ihm uͤber Sitzenden die
Hoffnung der wohl zu vollendenden That zu, der ihm mit innigfreudigem Blicke antwortet. Stirn
und Naſe dieſes Sitzenden ſind edel, aber in dem Auge liegt Tuͤcke und Kleinmuth, aus der Wan-
ge laͤchelt niedrige Gefaͤlligkeit, und eine kindiſche Hoffnung ſchwebt auf der Unterlippe. Judas
bemerkt nicht, daß dieſe beyde ſich uͤber ihn beſchaͤfftigen. Der Ausdruck der niedrigſten Haab-
ſucht iſt ſeinem Geſichte eingepraͤgt. Vergangene Niedertraͤchtigkeit und zukuͤnftige macht ihm
bange, und der Anblick des Geldes iſt ihm nur ein Moment aͤngſtlicher Erholung. Der mit der
großen Muͤtze ſcheint mir allein unbedeutend. Der letzte ſteht in der ſchaͤndlichſten Selbſtgenug-
ſamkeit da, und ſcheint ſich uͤber die Bettelgeſtalt des Judas innerlich aufzuhalten. Jn dem Auge
welche Kleinheit der Seele, die eingedruͤckte Stirn halb Wahnſinn, die oben vorſpringende Naſe
ſtumpfe Thierheit, und dann der Spott, die trutzige Schwaͤche, das Wohlbehagen, von dem
Naßlaͤppchen bis zum Hals herab. Es iſt eine der ſcheußlichſten und bedeutendſten Carrikaturen.
[120]IX.Fragment. 17. Zugabe. Von der Harmonie
Siebzehnte Zugabe.
Ein Kopf nach Raphael.
XVIII.Tafel.
O! du edler Schoͤpfer edler Geſtalten, wie oft haſt du ſchon mein Aug erquickt, und mein
Herz erweitert und erhoben! — Du einziger unter Tauſenden, deſſen unſterbliche Werke meine
Seele umfaſſen, als wenn ein unſichtbarer himmliſcher Geiſt ſich mir naͤherte, oder in die Ath-
mosphaͤre meines Koͤrpers traͤte! — Wie lange kann mein Blick auf deinen Schoͤpfungen ru-
hen — und wie oft wird er zuruͤckkehren, um neue Hoͤhen und Tiefen in dir zu entdecken!
o du einziger! ‒ ‒ ‒ ‒
„Aber, wozu dieſe Schwaͤrmerey? Wir erwarten wiſſenſchaftliche Belehrungen; kalte
„Beobachtungen — nicht Deklamationen und Beredſamkeit“ — hoͤr ich Leſer mir entgegen
rufen; Leſer, fuͤr die ich nicht geſchrieben habe — doch — hoͤrt ein paar Worte —
O wer ſagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Phyſiognomik Wiſſenſchaft
werden koͤnne, ein wiſſenſchaftliches Syſtem liefern wolle?
Laß mich, lieber Leſer! reden, wie ich reden kann; das heißt: laß mich meine Seele,
meine Gefuͤhle darlegen, wie jeder wahre Kuͤnſtler, deſſen Kunſt Menſchheit war — ſeinen
Geiſt ſeinem Werk einſchuf, — ohne ſich um des Zuſchauers hin- und herwallenden Geſchmack
zu bekuͤmmern! darlegen, wie der erhabne Raphael ſeine Goͤtter und Helden — O des er-
baͤrmlichen Geſchreibs, das nur der Leſer, das Publikum, — der Recenſent — dem Verfaſſer
gleichſam anlarvte — das nicht aus ſeiner Seele floß, wie Licht aus der Sonne, — das uͤber
Gute und Boͤſe, Sehende und Blinde, Fuͤhlende und Gefuͤhlloſe ſich ausgießt, .... und
es ſicherlich nicht achtet, und ſich gleichfort ergießt, ob einige Bloͤdaͤugige ſich beklagen — oder
Laſterhafte uͤber das Saͤumen der Nacht zuͤrnen. Geh aus der Sonn an den Schatten, eil in
die Winkel — wenn dir das Licht und die Waͤrme der Sonne unertraͤglich iſt .... Wer
umarmt nicht zuerſt den uͤberraſchenden Freund, ehe er ihn von oben bis unten beſichtiget —
und ſich hinſetzt, ihn abzuzeichnen?
O Leſer!
[]
[][121]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
O Leſer! — glaub mir's, du wirſt's erfahren und empfinden: ich vergeſſe dich am
wenigſten, wenn ich dich am meiſten zu vergeſſen ſcheine; und am Ende — wenn wir Rech-
nung mit einander halten, wirſt du finden — daß manche kalte Beobachtung dir uͤbrig bleibt, die
ich dir allenfalls mit Waͤrme vorgetragen — denn wirklich, bruͤderlicher Leſer, die Forderung waͤ-
re doch unbillig — „Sey warm und ſprich kalt“ — unbillig die Forderung. „Jch bin kalt, ſey
„du's auch.“ — Ein Goldſtuͤck, das in meiner Hand warm worden iſt, und in der deinigen kalt
wird — bleibt immer daſſelbe Goldſtuͤck, und ich ſehe nicht, mit welchem Recht du's ihm vorwer-
fen koͤnnteſt — „Warum biſt du waͤrmer in ſeiner, als in meiner Hand“ — Alſo ſind wir nun
ein fuͤr allemal hieruͤber einverſtanden. Jch ſchreibe, wie ich denk' und empfinde, und du lieſeſts,
wie du's leſen kannſt. — Und nun auf unſern Raphaeliſchen Kopf zuruͤck!
Es iſt kein Erhabener uͤber die Sphaͤre der Menſchheit; aber es iſt eine uͤberaus edle, freye,
maͤnnliche große Seele, voll Geſundheit und Ruhe: durch keine verſengende oder erſchlappende
Leidenſchaft entſtellt; voll Leben ohne Ueppigkeit; voll Klugheit, ohne flammende Einbildungskraft,
vielleicht nicht Allmacht des Genies; — aber weit erhaben uͤber alle Dummheit und Niedertraͤch-
tigkeit — Schon die Wendung iſt keiner ſtuͤpiden oder kriechenden Seele natuͤrlicher Weiſe moͤglich.
Keiner Falſchheit faͤhig, — verachtet dieß edle Geſicht jede Verfuͤhrung zur Ungerechtigkeit. Es
koͤnnte allenfalls ein Joſeph ſeyn, der ohne Grimmaſſe affectirter oder in der Schule gelernter
Froͤmmigkeit mehr daͤcht' als ſpraͤche: „Wie ſollt ich ein ſolch Uebel thun, und wider Gott ſuͤndi-
„gen?“ Solch einen Ernſt ohne alle Verzerrung, ſolch eine offne Entſchloſſenheit gegen das La-
ſter; ſolch eine Kraft ohne Steifigkeit; ſolch eine Feſtigkeit mit dieſer Schlankheit; — ſolch eine
Freyheit mit dieſer Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt; ſolch eine unbewoͤlkte Stirn; ſolch eine Einfachheit
des Characters — O Gott! wie wuͤnſch ich mir dieſe umſonſt! — Umſonſt? Ja, ich ſoll mir
vielleicht dieſe nicht wuͤnſchen! — Soll nicht wuͤnſchen, ein anderer zu werden, als ich bin; —
nur das zu werden, was ich werden kann! Jch will keine andere Augen, als ich habe; keine
andre Stirn; keinen andern Mund — Nur dieſe Stirn, dieſe Augen und dieſen Mund durch
die Weisheit und die Tugend, deren ich in dieſen Gliedern faͤhig bin, ſo zu formen, ſo zu veredeln
ſuchen, daß Gottes Ebenbild in mir nicht verkennt werde.
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. RAchtzehnte
[122]IX.Fragment. 18. Zugabe. Von der Harmonie
Achtzehnte Zugabe.
Drey Carrikaturen.
Jch ſollte uͤber dieſe drey Carrikaturen nichts ſagen. Sie ſprechen fuͤr ſich ſelbſt. Verzogenheit,
Verworrenheit — Bosheit, Falſchheit und Schalkheit — koͤnnen wohl nicht ſprechender auftre-
ten, als hier.
Was macht dieſe Geſichter haͤßlich? — Disharmonie! Schiefheit — Vielfachheit! —
und was bewirkt dieſes — Falſchheit und Niedertraͤchtigkeit.
Solche Geſichter ſchafft die Natur nicht; aber — Erziehung, Angewoͤhnung, Bey-
ſpiele — Flammen auf den Zunder eines Herzens voll Stolz und Wolluſt! dieſe ſind's, die
das Angeſicht des Menſchen zu einer Satanslarve verkruͤmmen. —
Wer da ſtehet, der ſehe zu, daß er nicht falle — Sey nicht ſtolz, ſondern fuͤrchte dich!
der Menſch iſt das Perfektibelſte, und Korruptibelſte aller Geſchoͤpfe Gottes.
Du kannſt deine Geſtalt durch Tugend zum Engel erhoͤhn, durch Laſter zum Satan
erniedrigen!
So ein Geſicht, wie du vor dir ſiehſt, iſt Speiſe fuͤr die Raben; gebrandmarkt —
dahingegeben in einen verkehrten Sinn — zu thun, was ſich nicht geziemt — So iſt kein
Menſch auf Gottes Erdboden, der, ſo lang er noch beten kann, und betet, ſo ausſehen
kann! — Gottes Vergeſſenheit — du haſt ſie mit Tollheit trunken gemacht die Menſchen,
die ſo unmenſchlich ausſehen — Sie fahren hoch daher in alle ihrem Thun immerdar; Gottes
Gerichte ſind ferne von ihnen —
Sie
[]
[][123]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Sie ſind ſo ſtolz und zornig, daß ſie nach niemand fragen. Jn allen ihren Ge-
danken iſt kein Gott. Meine Seele komme nicht in ihre Geheimniſſe, und mein Geiſt tre-
te nicht in ihren Rath — Schlangen und Ottergezuͤchte! wer will ſie lehren dem kuͤnftigen
Zorn entrinnen!
[124]IX.Fragment. 19. Zugabe. Von der Harmonie
Neunzehnte Zugabe.
Acht Umriſſe.
Dieſe acht Umriſſe ſind unvollkommne Nachriſſe von ſogenannten Propheten, Apoſteln, Heili-
gen ꝛc. zu denen ſich unten ein ſchwacher und ein verzerrter Kopf geſellt. Ganz eigentlich Loci
communes, doch immer noch gut genug, um ein und die andre belehrende Anmerkung an die
Hand zu geben.
Die erſte Anmerkung betrifft die Stirnen.
Sie ſind uͤberhaupt alle von ſonderbarer Hoͤhe.
Da die Stirne, nach der Natur des Menſchen, und nach unzaͤhligen Beobachtungen,
die jeder alle Augenblicke machen kann, das unverſtellbarſte, ſicherſte Monument, die Feſtung,
die Reſidenz, die Graͤnze des menſchlichen Geiſtes iſt, ſo werd ich alle Gelegenheit ergreifen,
einzelne, allgemeine und beſondere Anmerkungen druͤber darzulegen.
Jch kanns nicht genug wiederholen, daß ich nichts, in keinem Fache nichts Vollſtaͤndi-
ges liefern kann, daß uͤber jedes Glied ein Buch zu ſchreiben waͤre; daß dieſe Arbeit nur Neben-
geſchaͤfft fuͤr mich iſt; daß ich alſo aus meinem kleinen Vorrathe von Beobachtungen hier oder
da, wo es die Gelegenheit mit ſich bringt, was hervorbringen werde. Uebrigens werd ich dem
Leſer durch ein ausfuͤhrliches Regiſter leicht machen, alles zu finden, woran ihm irgend etwas
gelegen ſeyn kann.
Dieſe Stirnen ſind alſo von beſonderer Hoͤhe; — alle zeugen von Staͤrke; aber nicht
alle ſind edel.
Die Stirne des erſten iſt nichts Außerordentliches; Aug und Augenbraunen, nicht
dumm, aber nicht edel; Haar und Bart ziemlich gut — Naſe ſehr gemein — die Entfernung
der Unterlippe von der Naſe und ihr Umriß ſicherlich — unedel. —
Die zweyte Stirne fuͤr Moſes und den langen Bart ebenfalls zu alltaͤglich, wie denn
uͤberhaupt dieß zweyte Geſicht ſehr gemein, die Naſe ohn allen großen Character, das Auge ſchlecht
iſt, und die Augbraunen erbaͤrmlich ſind.
Die
[]
[][]
[][125]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Die Stirne des dritten iſt beynahe die Stirne eines großen Mannes; aber die Lage des
Barts contraſtirt ſehr mit dem Eindruck, den dieſe Stirne macht.
Die Stirne des vierten iſt die Stirne eines wahrhaftig großen, aber nicht erhabnen
Mannes, dieſe Hoͤhe, dieſen Umriß und dieſe Lage der Stirne zuſammen — (Dieß iſt nun
kalte Beobachtung,) wirſt du ſelten bey einem gemeinen Menſchen, der ſich nicht ſehr auszeich-
net, antreffen. Aber der Untertheil des Geſichtes iſt ſchlecht.
Der fuͤnfte Kopf, das Aug' abgerechnet, iſt eines Apoſtels nicht ganz unwuͤrdig.
Stirne, Naſe und Bart des ſechſten zeigt mir einen Mann voll Klugheit, großer
Kraft, und unbeweglicher Feſtigkeit.
Der ſiebente iſt ſchwaͤcher, als die andern alle, und eigenſinnig ohne Schnellkraft,
waͤr' auch des Geizes und der Niedertraͤchtigkeit faͤhig.
Der achte iſt ein Gemiſch von Kraft und Schwaͤche, Niedertraͤchtigkeit und Rauhig-
keit, die man aber nicht ſehr zu fuͤrchten hat. —
Zwanzigſte Zugabe.
Herkules zwiſchen der Tugend und Wolluſt nach Pouſſin.
Dieß Stuͤck iſt mit einigen Veraͤnderungen nach Strange's Kupferſtich copirt. Der engere
Raum unſerer Blaͤtter machte eine naͤhere Zuſammenruͤckung der Perſonen nothwendig; aus eben
dieſer Urſache mußten die einen Fuͤße der beyden weiblichen Figuren abgeſchnitten werden. Auch
will ich nicht wiederholen, was ich bey allen Copeyen beſonders ſchoͤner Figuren zu ſagen habe.
Jch will das beurtheilen, was ich vor mir habe. Aufmerkſame und nachdenkende Leſer werden
dadurch auf Bemerkungen gefuͤhrt werden, die weder in Abſicht auf die Mahlerey und Zeich-
nungskunſt, noch in Abſicht auf die Menſchenkenntniß vollkommen gleichguͤltig ſeyn duͤrften.
Bey dieſem Auftritte, deucht es mir, waͤr's eines unſterblichen Meiſters wuͤrdig gewe-
ſen — den Unterſchied blos wolluͤſtiger — und moraliſcher Schoͤnheit auffallend und contraſti-
rend genug zu zeichnen; die Vortrefflichkeit der ſimpelſten Tugendſchoͤne — vor aller Pracht
bloßer Fleiſchlichkeit ins Licht zu ſetzen. Es iſt in dieſem Stuͤcke zum Theil geſchehen — aber
R 3mich
[126]IX.Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
mich duͤnkt, daß es weit beſſer haͤtte geſchehen koͤnnen. Wir haben hier verſchiedene Perſonen
vor uns — die Tugend, die Wolluſt, Herkules, und Cupido. Kann man ſich einen
treffendern Kontraſt, eine mahleriſchere Gruppe wuͤnſchen, als dieſe vier Perſonen?
Laßt uns nun ſehen, was unſer Mahler geleiſtet hat, und was er haͤtte leiſten koͤnnen,
oder ſollen? Herkules in der Mitte! Jn dieſer Stellung, dieſem Wuchs, dieſer vollen, un-
ermuͤdlichen, immer neuen maͤnnlichen Kraft — wahrhaftig eine treffliche Figur! Wie ſchick-
lich haͤlt er die eine Hand aufm Ruͤcken, ſtuͤtzt ſich mit der andern auf die Keule! welch einen
gluͤcklichen Mittelzuſtand von Arbeit und Ruhe druͤckt dieſe ganze Figur aus. Welche Feſtig-
keit ohne Anſtrengung! Welche Kraft ohne drohende Furchtbarkeit! Die ganze Stellung iſt
eines Mannes, der ſich nicht leichterdinge zu der großen Wahl entſchließen, und des innern
Leidens ungeachtet, lieber ausdauern, als ſich uͤbereilen will. Wie viele Wuͤrde, Ausdruck
und Vollkommenheit vereinigt ſich in dem mit Lorbeern zu dem Gedanken kuͤnftiger edler Tha-
ten eingeweihten Haupte, und in dem horchenden Vorhaͤngen deſſelben! Welche Klugheit,
Staͤrke und Entſchloſſenheit ſitzt auf der Stirne! wie ſanft miſcht ſich Unſchluͤßigkeit, Sehn-
ſucht, Furcht, Staunen unter die Aufmerkſamkeit, die ihm die Tugend abzugewinnen ſcheint.
Die Naſe harmonirt mit der Stirne! Solche Stirnen: ſolche Naſen! — Jn dem ein wenig
zu weit links gezogenen Munde allein erſcheint ein Keim von Unzufriedenheit uͤber die unerbitt-
lichen Forderungen der Tugend; ſolche Offenheit uͤbrigens iſt des Horchenden, der zugleich
uͤberlegt. Die Augen ſtaunen den großen Jdeen nach, welche die Tugend in ſeiner Seele er-
weckt hat! Aber ihr erloſchener Glanz und beſonders ihre ſtarre unbeſtimmte Richtung zeigt den
noch unvollendeten Kampf an. Er darf der Tugend niemals ins Geſicht ſehen, um ſeinet und
um ihret willen, bis ihr Sieg uͤber ihn vollkommen iſt. Jndeſſen wendet er ſich auch nicht ein-
mal mit einer unruhigen Regung gegen die Nebenbuhlerinn: das kleinliche Kinn allein be-
nimmt dem Geſichte von ſeiner Maͤnnlichkeit, und ließe etwas Guͤnſtiges fuͤr die Wolluſt hoffen.
Und, wie, mein Leſer, gefaͤllt dir die Tugend zur Rechten des Helden? die edle von
keiner Begierde beunruhigte junge Frau, vom ſchoͤnſten, nicht zu ſchlanken Ebenmaß: ſo anſtaͤndig,
und ſo ſimpel gekleidet in dem reinlichen Stoff des ſeligen Mittelſtandes! So ohne allen Schmuck?
Ohne
[127]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Ohne allen erborgten Reiz und Affektation? So ſanft und doch ſo leicht fortgehend, ſo an den mit
Dornen beſaͤeten Felſen hinan, Himmel deutend?
Es iſt Schade, daß uns der Platz nicht geſtattete, die ganze Figur, mithin auch den gan-
zen halb aufgehobnen Fuß anzubringen. Man weiß, daß Pouſſin Raphaeln und die Alten
mit Fleiß ſtudirt, und ſich beſonders auch die Simplicitaͤt in den Gebaͤhrden und der Stellung
ſeiner Figuren eigen zu machen geſucht. Winkelmann beklagt es mit Recht, daß die neuern
Kuͤnſtler, ſonderlich Bildhauer, nach entgegengeſetzten ſelbſt entworfnen Regeln arbeiten. „Die-
„ſe, ſagt er, haben mit ſolchen Grundſaͤtzen, die Kunſt zu verbeſſern in ſolcher guten Zuverſicht
„geglaubet, und haben ſich eingebildet, daß dieſelbe in der Aktion nicht zu ihrer voͤlligen Fein-
„heit gelanget ſey. Eben daher ſind die Nachfolger des Raphaels von demſelben abgegangen,
„und die Einfalt, in welcher er die Alten nachgeahmt, iſt eine marmorne Manier, das iſt ein
„ſteinernes todtes Weſen genannt worden — Einer der beruͤhmteſten itzo lebenden Mahler hat
„in ſeinem Herkules zwiſchen der Tugend und zwiſchen der Wolluſt, welches Stuͤck vor Kur-
„zem nach Rußland abgegangen iſt, die Tugend in der Geſtalt der Pallas nicht ſchoͤn zu ma-
„chen geglaubet, ohne den rechten vorwaͤrts geſetzten Fuß auf den Zehen allein ruhen zu laſſen,
„als wenn ſie eine Nuß zertreten wollte. Ein auf ſolche Weiſe erhobner Fuß wuͤrde bey den
„Alten ein Zeichen des Stolzes, oder nach dem Petronius der Unverſchaͤmtheit ſeyn; nach
„dem Euripides war dieſes der Stand der Bacchanten.“ *)
Aber nun wieder auf unſere Tugend zuruͤck zu kommen; ſollte ſie mir ganz gefallen? —
Sollte ſie mich ganz, und blos durch ſich ſelber einnehmen? Nein — dazu fehlt ihr noch viel.
Der Muͤßigkeit der einen Hand nicht zu gedenken. Sie iſt fuͤr die Tugend nicht ſchoͤn, bey
weitem nicht ſchoͤn genug, und verglichen mit der gegenuͤberſtehenden Wolluſt — wie wenig hat
ſie von dem allmaͤchtigen, uͤber ſie triumphirenden Goͤtterblick? Jhr Profil, obgleich von dem
Profile der Wolluſt etwas verſchieden, iſt dennoch von eben derſelben Art, und im Grunde
von demſelben Character: ſie iſt blos die aͤltere verheirathete Schweſter des maͤnnerſuͤchtigen
Maͤdchens. Jhr ganzes Geſicht iſt vielleicht blos durch die Simplicitaͤt, durch das ſichtbare
Profil des Kinns und des Halſes — durch das zuruͤckfliegende Haar gefaͤllig! Aber die Tu-
gend
[128]IX.Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
gend ſollte nicht nur gefaͤllig ſeyn, ſie ſollte ſchoͤn, nicht nur ſimpel, ſie ſollte zugleich auch er-
haben ſeyn. Action, Stellung, Haar u. ſ. f. ſollten freylich ihre Schoͤnheit vermehren — aber
nicht ihre ganze Schoͤnheit ausmachen. Sie ſoll ohne Action, ſoll in jeglicher Stellung, ſoll
an ſich in ihren Zuͤgen, ihrem Umriſſe ſchoͤn ſeyn, und ſchoͤner als die reizendſte Wolluſt, ob-
gleich ihre Schoͤnheit weniger auffallen und mehr geſucht, mehr gefunden werden ſoll, als daß
ſie ſich aufdringen duͤrfte; ſie ſoll (wer die Meiſterſtuͤcke der alten Kunſt im Urbilde geſehen
hat, wird mich verſtehen) gegen die Wolluſt das ſeyn, was Niobe gegen die Medicaͤiſche
Venus iſt. Und, was Winkelmann von andern Werken der Kunſt ſagt, wie viel mehr
gilt's von der Tugend, und allegoriſchen Bildern derſelben: „Es iſt nicht genug, daß ſie gefal-
„len: ſie muͤſſen beſtaͤndig gefallen.“ Das Bild der Tugend ſollte gefallen, und immer
mehr gefallen, was ſag' ich gefallen? anziehen, umfaſſen, verſchlingen, bezaubern, je mehr es
angeſehen wird. Und nun gerad umgekehrt. Es gefaͤllt anfangs nicht genug, und gefaͤllt
immer weniger, je mehr es betrachtet wird. Es ſoll ein griechiſches Profil ſeyn; mich duͤnkt's
immer ein ziemlich gemeines. Die Schoͤnheit des Profils beruhet doch nicht auf dieſer geraden
Linie! beruhet auf der ſanften Wellenlinie von Stirn und Naſe, und auf der Proportion der-
ſelben zum Untertheile des Geſichtes: und was hilft dieß alles, wenn die einzelnen Theile des
Geſichtes beynahe unbedeutend und ſeelenlos ſind? Die Stirne iſt ſo gemein, wie moͤglich; die
Augbraunen iſt zu hoch uͤber dem Auge, zu unbeſtimmt, zu kurz; drey Fehler, deren jeder fuͤr
ſich einem Bilde Schoͤnheit und Character raubt; Character der Tugend! die Tugend, (virtus,
ἀρετη) was iſt ſie im Grund anders, als Kraft gegen Widerſtand? Guͤte ohne Kraft, De-
muth ohne Muth, Keuſchheit ohne feine Empfindlichkeit wird nie Tugend ſeyn! Jhr Weſen
iſt Kraft gegen andre Kraft! Uebergewicht, Sieg nuͤtzlicher Kraft uͤber ſchaͤdliche. Man kann
fromm ſeyn, man kann die zaͤrtlichſten Empfindungen haben, ohne deswegen im mindeſten tu-
gendhaft zu ſeyn. Es giebt immer zehen Fromme, und zwanzig Sentimentaliſten ohne Tugend
gegen Einen wirklich Tugendhaften. Tugend iſt moraliſche Kraft gegen ſinnliche; Feſthalten un-
ſichtbarer Pflicht beym Reize ſichtbarer Schaͤdlichkeiten. — Nun, um wieder einzulenken, wo druͤckt
ſich die Kraft eines Menſchen ſo beſtimmt und unverſtellbar aus, als in den Augenbraunen?
Wer dieſe in einem Gemaͤhlde oder einer Zeichnung vernachlaͤßigt, hat weder Auge, noch Beob-
achtungs-
[129]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
achtungsgeiſt. Es waͤre noch verſchiedenes uͤber dieſe Augbraunen unſers Tugendbildes anzu-
merken; da wir aber von dieſem Stuͤcke des menſchlichen Geſichtes bisher uͤberall noch nichts ge-
ſagt haben, ſo wuͤrden mehrere Anmerkungen noch nicht vorbereitet genug angebracht werden.
Ueber das Auge ſelbſt — wie vieles waͤr auch hier anzumerken? Warum muß es
gerade ſo geſtellt ſeyn, daß es ins Dunkle koͤmmt? Daß das Schoͤnſte, die Seele des Geſich-
tes — nicht mit dem ganzen Geſichte dem Herkules ans Herz ſpricht? Wie unbeſtimmt, wie
kraftlos iſt das obere Augenlied? es ſollte wenigſtens etwas weiter uͤber den Stern des Auges
vorſtehen. —
Die Naſe iſt beynahe ſo gemein wie moͤglich. Die Spitze iſt zu rund, zu ſehr Sektion
von einem Circul, um, zumal wenn ſie von vornen geſehen wuͤrde, nicht etwas fade zu ſchei-
nen. Dieſe Anmerkung wird in einem kuͤnftigen Fragment von den Naſen, woruͤber mancher
Leſer zum voraus ſich ſatt lachen, nachher erſtaunen mag, ihr Licht und ihre Beſtaͤtigung
finden. —
Der Mund iſt grob, und ohne alle ſichre uͤberlegte Zeichnung, ohne alle Lieblichkeit,
ohne alle Kraft der Beredung, ohne allen Ausdruck, den geuͤbte Geduld, unterdruͤckter Schmerz,
Triumph uͤber ſich ſelbſt, oder durch mancherley Aufopferungen bewaͤhrte Guͤte, den Lippen
einpraͤgen ſollte.
Auch das Kinn iſt weder ſchoͤn noch expreſſif; und uͤberhaupt die ganze untere Haͤlfte
des Kopfes fuͤr Temperanz zu wohlgenaͤhrt. Jch uͤbergehe das zu unbeſtimmte Ohr, und noch
mehr — und wende mich zum Bilde der Wolluſt auf der andern Seiten unſers horchenden
Helden.
Jhre Kleidung, ihr Schmuck und ihre Stellung ſind freylich weder ſo einfach und
kunſtlos, noch ſo anſtaͤndig, wie der Tugend; die niedergekraͤußte Bake iſt fuͤr den Juͤngling
ausgehaͤngt. Das entbloͤßte Knie kontraſtirt freylich mit der Schamhaftigkeit der gegenuͤberſte-
henden Tugend. Aber dennoch find ich verſchiedenes an ihr auszuſetzen. Sie ſcheint mir fuͤr
das, was ſie ſeyn ſoll, weder reizend noch intrigant genug. Auch denk ich, ihre Hand wuͤrde,
verfuͤhreriſcher, nachlaͤßig auf Herkules Schultern liegen. Jhre Augen ſind ſchoͤn, und ſchoͤner,
als das Auge der Tugend! Aber ſie reden nicht mit Herkules: noch vielweniger bereden ſie
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Sihn.
[130]IX.Fragment. 20. Zugabe. Von der Harmonie
ihn. Kein offenbares zuruͤckgehaltenes Schmachten; kein Jntereſſe zu gewinnen! Keine Ver-
liebtheit in den nackten Helden! Beynah ein gedungenes und bezahltes Modell! Eine Akademie
ohne Seele! ohne Schnellkraft, ohne Plan. Das ganze Profil koͤnnte kaum gemeiner und
alltaͤglicher ſeyn. Auch ſchickt ſich dieß Vorhaͤngen des Kopfes zu dem Character nicht, den
dieſe Figur vorſtellen ſoll. Jhr Geſicht lockt weder durch froͤhliche Heiterkeit, noch durch zu-
ruͤckſinkende, oder zuruͤckſtrebende Verliebtheit oder Schwaͤrmerey. Sie iſt nicht fleiſchig ge-
nug, um das Fleiſch zu reizen, noch geiſtig genug, um den Geiſt zu verfuͤhren — Oder,
(wenn wir noch dem Kuͤnſtler das Wort reden wollen) nimmt etwa hier die Wolluſt mit ei-
ner Coquetterie, die kaum ihres Gleichen hat, ploͤtzlich die Farbe, den Ton und die Gebaͤhr-
den der Tugend an; welche in ihrem Siege uͤber den Helden augenſcheinlich fortſchreitet? Aber
ein Mißtrauen in ſolchem Grade ſetzt wohl die eitele Schoͤnheit in ihre eigenthuͤmlichen gepruͤf-
ten Reize nie!
Und nun noch ein Wort von dem Cupido, der vor ihr ſteht und den Herkules mit
Blumen gewinnen will. Der Knab iſt in keiner Abſicht ſonderlich ſchoͤn. Am wenigſten ſchoͤn
aber iſt ſein Geſicht. Jch ſeh auch gar nichts Reizendes drinn; nichts, das kraftvollen Be-
zug auf die Verfuͤhrung des Helden haben koͤnnte! Wolluͤſtig genug ſieht freylich der Junge
aus, und durch die Wolluſt merklich vergroͤbert! Dieſe Art von offenem Munde mag der
ſchmachtenden Wolluſt eigen ſeyn; kein, auch nur ein wenig geuͤbtes Auge wird ihn edel fin-
den. Die Naſe iſt ſo ſchlecht und ſo gut als ſie ſeyn kann. Fuͤr den Ausdruck niedriger
Wolluſt mag ſie ſich ganz gut ſchicken; aber ſchoͤn und reizend iſt ſie gewiß nicht. Das
Aug iſt das Beſte — im Ganzen aber fehlt abermal das Liebkoſende und Einſchmeichelnde.
Die empor gehaltene Roſe zeigt mehr die Allegorienkenntniß, als das Genie des Kuͤnſtlers an.
Mit einer Blume kann man ein Kind auf einige Augenblicke locken; aber einem geſetzten
Manne wie Herkules muß auch ein Kind durch andere Wege beykommen.
Aus dieſen wenigen Bemerkungen mags klar ſeyn, wie oft auch die beſten Stuͤcke bey
einiger genauern Unterſuchung verlieren, und wie viel phyſiognomiſcher Character den beruͤhm-
teſten Meiſtern fehlt. Je mehr ich Natur und Kunſt in dieſer Abſicht beobachte und vergleiche;
deſto mehr muß ich oft zu meinem aͤußerſten Erſtaunen davon uͤberzeugt werden, daß den groͤß-
ten
[]
[][131]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ten Mahlern und Kupferſtechern oft alle Theorie von dem menſchlichen Geſichte, von dem Grund-
character, und den Zufaͤlligkeiten eines Geſichtes fehlt. Man vergleicht ſich immer mit andern;
und nie oder ſelten, mit der Wahrheit und Natur. Man iſt zufrieden, wenn mans weit beſ-
ſer gemacht hat, als andre, und fraͤgt ſich nicht genug: „Koͤnnt ichs nicht noch beſſer machen?
„Hab ich mir die Sache, die Perſon, die Leidenſchaft, die Kraft, die ich vorſtellen will, ge-
„nug vergegenwaͤrtigt? Kenn ich beſtimmt und zuverlaͤßig die eigentlichen feſten Kennzeichen
„der Leidenſchaft in Ruhe und in Bewegung? Such ich meinem Bilde nicht nur Gefaͤlligkeit,
„ſondern unſterblichen Reiz, Schoͤnheit, einzuhauchen?“ —
Doch ich ſchreibe Fragmente — und dieß iſt nur eine Zugabe zu einem Fragmente,
und ſchon die zwanzigſte. ....
Ein und zwanzigſte Zugabe.
Ueber den vatikaniſchen Apoll.
Ἐχει συγγενης
Δ᾽ὀφϑαλμος ἀιδοιεσατον
Γερας, τεᾳ τουτο μι-
γνυμενον φρενι
ΠϒΘ. V.
‘Le Charactere auguſte de tes Penſées
Se peint dans la Majeſté de tes regards.
Chabanon.’ ()
Nach allem, was ſchon uͤber dieſen Apoll geſagt worden, kann vielleicht nichts mehr geſagt
werden. — Jch citire ungern, was ſchon zehnmal citirt worden, was alle Kenner und Liebha-
ber der Schoͤnheit ſchon oft geleſen und wieder citirt gefunden haben. Und dennoch kann ich
nicht umhin, die beruͤhmte Stelle uͤber den Apoll, aus Winkelmanns Geſchichte der Kunſt
hieher zu ſetzen. Sie kann doch nirgends ſo ſchicklich hingehoͤren, als in ein phyſiognomiſches
Werk. Vielleicht verſuch ichs, einige Scherflein eigner Empfindung zuzulegen.
S 2„Die
[132]IX.Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie
„Die Statue des Apollo iſt das hoͤchſte Jdeal der Kunſt unter allen Werken des Al-
„terthums, welche der Zerſtoͤrung derſelben entgangen ſind. Der Kuͤnſtler derſelben hat dieſes
„Werk gaͤnzlich auf das Jdeal gebaut, und er hat nur eben ſo viel von der Materie dazu ge-
„nommen, als noͤthig war, ſeine Abſicht auszufuͤhren und ſichtbar zu machen. Dieſer Apollo
„uͤbertrifft alle andere Bilder deſſelben ſo weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die
„folgenden Dichter mahlen. Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewaͤchs, und ſein Stand
„zeuget von der ihn erfuͤllenden Groͤße. Ein ewiger Fruͤhling wie in dem gluͤcklichen Elyſium
„bekleidet die reizende Maͤnnlichkeit vollkommener Jahre mit gefaͤlliger Jugend, und ſpielet mit
„ſanften Zaͤrtlichkeiten auf dem ſtolzen Gebaͤude ſeiner Glieder. Gehe mit dieſem Geiſt in das
„Reich unkoͤrperlicher Schoͤnheiten, *) und verſuche, ein Schoͤpfer einer himmliſchen Natur zu
„werden, und den Geiſt mit Schoͤnheiten, die ſich uͤber die Natur erheben, zu erfuͤllen. Denn
„hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche Duͤrftigkeit erfordert. Keine Adern
„noch Sehnen erhitzen und regen dieſen Koͤrper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich, wie
„ein ſanfter Strom ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfuͤllet. Er
„hat den Python, wider welchen er zuerſt ſeinen Bogen gebraucht, verfolget, **) und ſein
„maͤchtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Hoͤhe ſeiner Genugſamkeit geht ſein
„erhabner
[133]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
„erhabner Blick, wie ins Unendliche, weit uͤber ſeinen Sieg hinaus. Verachtung ſitzt auf
„ſeinen Lippen, *) und der Unmuth, welchen er in ſich zieht, blaͤhet ſich in den Nuͤſſen ſeiner
„Naſe, und tritt bis in die ſtolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer ſeligen
„Stille auf derſelben ſchwebet, bleibt ungeſtoͤrt, und ſein Aug' iſt voll Suͤßigkeit, wie unter
„den Muſen, die ihn zu umarmen ſuchen. Jn allen uns uͤbrigen Bildern des Vaters der
„Goͤtter, welche die Kunſt verehret, naͤhert er ſich nicht der Groͤße, in welcher er ſich dem
„Verſtande des goͤttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Geſichte des Sohnes, und die
„einzelnen Schoͤnheiten der uͤbrigen Goͤtter treten hier, wie bey der Pandore, in Gemeinſchaft
„zuſammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Goͤttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und
„Augenbraunen, die durch ihr Winken ihren Willen erklaͤren. Augen der Koͤniginn der Goͤt-
„tinnen mit Großheit gewoͤlbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten
„Bacchus die Wolluͤſte einfloͤßet. Sein weiches Haar ſpielet, wie die harten und fluͤßigen
„Schlingen edler Weinreben, gleichſam von einer ſanften Luft bewegt, um dieſes goͤttliche Haupt.
„Es ſcheint geſalbet mit dem Oele der Goͤtter, und von den Grazien mit holder Pracht auf
„ſeinen Scheitel gebunden. Jch vergeſſe alles andre uͤber dem Anblick dieſes Wunderwerks der
„Kunſt, und ich nehme ſelbſt einen erhabenern Stand an, um mit Wuͤrdigkeit anzuſchauen.
„Mit Verehrung ſcheint ſich meine Bruſt zu erweitern, und zu erheben, wie diejenige, die ich,
„wie vom Geiſte der Weiſſagung aufgeſchwellt ſehe, und ich fuͤhle mich weggeruͤckt nach De-
„los und in die Liciſchen Hayne, Orte, welche Apollo mit ſeiner Gegenwart beehrte; denn
S 3„mein
[134]IX.Fragment. 21. Zugabe. Von der Harmonie
„mein Bild ſcheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schoͤnheit.
„Wie iſt es moͤglich, es zu mahlen und zu beſchreiben? Die Kunſt ſelbſt muͤßte mir rathen,
„und die Hand leiten, die erſten Zuͤge, welche ich hier entworfen habe, kraͤftig auszufuͤhren.
„Jch lege den Begriff, welchen ich von dieſem Bilde gegeben habe, zu deſſen Fuͤßen, wie die
„Kraͤnze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche ſie kroͤnen wollten, nicht erreichen
„konnten. Der Begriff eines Apollo auf der Jagd, welchen Herr Spence in dieſer Statue
„finden will, reimet ſich nicht mit dem Ausdrucke des Geſichts.“
Jch habe dieſen Kopf des Apollo zweymal nach dem Schatten und hernach vermittelſt
des Storchſchnabels ins Kleine gezeichnet, und ich glaube dadurch etwas zur Beſtaͤtigung
des Winkelmanniſchen Gefuͤhls beytragen zu koͤnnen. Man kann ſich wirklich an dieſem bloßen
Umriſſe kaum ſatt ſehen. — Man will was druͤber ſagen, zittert — und was man ſagt, iſt uner-
traͤglich. Aus allem dieſem verworrenen Gedraͤnge kann indeſſen dieſes heraus gehoben werden —
Die Erhabenheit beruhet auf der Stirne —
Auf dem Verhaͤltniß der Stirne zum ganzen Geſicht;
Auf der Schiefheit der Stirne — Gegen den Untertheil des Geſichts betrachtet.
Auf dem Fortgange der Stirn in die Naſe —
- Auf dem nicht harten und nicht weichlichen Kinn, das ſich ſo maͤnnlich hervorhebt —
und auf dem Fortgange des Kinns zum Halſe. - Jch glaube, daß wenn der Umriß der Naſe eine vollkommen gerade Linie waͤre, noch mehr
edle Staͤrke, goͤttliche Staͤrke aus dieſem Profile ſprechen wuͤrde. Jede Conca-
vitaͤt der Naſe im Profilumriß iſt immer Zeichen irgend einer Schwaͤche, wenigſtens
phyſiſcher. Convexitaͤt wuͤrde dem Adel, der jugendlichen Maͤnnlichkeit, der Erha-
benheit ſchaden.
Der untere Umriß der Naſe, gegen die Oberlippe hat mehr Guͤte, als Groͤße. Wer
die Muͤhe nehmen mag, dieſe zwey Profile zu vergleichen, der wird ſich uͤberzeugen, daß die
geringſten Zuͤge, die kaum merkbarſte Kruͤmmung oder Biegung, die Phyſiognomie veraͤn-
dern; — wie klein iſt der Unterſchied des Umriſſes der obern und untern Naſe — und dieſer
kleine Unterſchied, wie ſehr veraͤndert er den Eindruck! Wie klein der Unterſchied des Umriſſes
von
[135]der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
von der Spitze der Naſe bis zum Anfang der Oberlippe! und wie viel edler macht dieſer ge-
ringe Unterſchied den obern Kopf, als den untern! Wie wenig betraͤgts, daß die Oberlippe
und Unterlippe des obern innwendig runder iſt, als des untern — und dennoch wie viel re-
dender iſt bloß durch dieſen geringſcheinenden Unterſchied der obere als der untere? Wie viel plat-
ter, fader iſt blos durch dieſe kleine Verſchiedenheit der Mund des untern, als des obern! —
Wer dieß nicht ſieht, dem kann ich nicht helfen! — „Weſſen Geiſt, ſagt Sulzer, nach oͤfterer
„Betrachtung der beſten Antiken, nicht in Entzuͤckung geraͤth; wer nicht in dem Sichtbaren
„derſelben unſichtbare Vollkommenheit fuͤhlt, der lege die Reisfeder weg; ihm hilft die Antike
„nicht.“ — Und wer den Unterſchied dieſer beyden Koͤpfe nicht ſieht; in dieſem Unterſchied kei-
nen Unterſchied des Characters fuͤhlt — der lege mein Buch weg! Meine Erklaͤrung hilft
ihm nichts.
[136]X.Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
Zehentes Fragment.
Von den oft nur ſcheinbaren Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
Eine der ſtaͤrkſten Einwendungen gegen die Zuverlaͤßigkeit der Phyſiognomik iſt — die be-
ſten Phyſiognomiſten urtheilen oft aͤußerſt unrichtig.
Es iſt der Muͤhe werth, dieſer Einwendung einige Anmerkungen entgegen zu ſetzen.
Jch ſetze voraus, daß in derſelben viel Wahres ſey, aber ich werde verſuchen, mit
Wenigem zu zeigen, daß der Phyſiognomiſt ſehr oft zu fehlen ſcheinen kann, und je beſſer er
iſt — ſcheinen muß — obgleich er ſehr richtig urtheilt.
„Zugegeben alſo — der Phyſiognomiſt fehlt ſehr oft — das iſt — ſeine unvollkom-
„mene ſubjective Einſicht betruͤgt ihn, nicht aber die objective Phyſiognomie“ — Von den haͤu-
figen Fehlſchluͤſſen und unrichtigen Urtheilen des Phyſiognomiſten gegen die Zuverlaͤßigkeit der
Phyſiognomik uͤberhaupt ſchließen, heißt behaupten: „Es giebt keine Vernunft, weil jeder
„Vernuͤnftige oft unvernuͤnftig handelt.“
Aus einigen Fehlſchluͤſſen auch nur gegen die Einſicht des Phyſiognomiſten ſchließen,
heißt ſo ſchließen: „Der Mann hat einige Gedaͤchtnißfehler gemacht — folglich hat er kein
„Gedaͤchtniß, oder doch gewiß ein ſchwaches?“ — Nicht ſo gewiß! Erſt muͤßt ihr wiſſen,
wie oft ihm ſein Gedaͤchtniß getreu geweſen? und in welchem Verhaͤltniſſe ſeine zehen Fehler
gegen die Treffer ſind, ſonſt koͤnnet ihr ihm groß Unrecht thun. Der Geizige giebt wohl auch
zehnmal. Jſt er darum ſchon großmuͤthig? fragt erſt: „Wie vielmehr haͤtte er geben ſollen
„und koͤnnen, und hat nicht gegeben?“ „Der Tugendhafte kann ſich wohl zehnmal uͤberei-
„len — fragt erſt, eh ihr ihn verurtheilt: Jn wie viel hundert Faͤllen hat er rechtſchaffen
„gehandelt?“
Wer oft ſpielt, wird freylich oͤfter verliehren, als der nie ſpielt. Wer gewohnt iſt, auf
dem Eiſe zu gehen, wird dennoch manchmal fallen, und dem ruhig von dem Geſtade her Zu-
ſehenden Stoff zum Lachen genug geben. Wer vielen Armen Gutes thut, der wird leicht
auch ſolchen Gutes thun, die man durchaus zur Claſſe der Unwuͤrdigen rechnen wird. —
Freylich
[137]Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
Freylich giebt der keinem Unwuͤrdigen, der uͤberall Keinem giebt — und freylich kann der dann
auch mit Grunde viel von ſeiner Klugheit ſagen, die ſich ſo leicht nicht betruͤgen laͤßt. Wer nie
urtheilt, wird freylich auch niemals falſch urtheilen. Der Phyſiognomiſt urtheilt oͤfter als der,
ſo die Phyſiognomik verlacht — und darum fehlt er auch oͤfter, als der, der gar kein phy-
ſiognomiſches Urtheil faͤllt.
Wie der Geizige den Großmuͤthigen beurtheilt, ſo der Spoͤtter der Phyſiognomik den
Phyſiognomiſten. „Alle Wohlthaten des Großmuͤthigen, ſagt der Geizige, ſind uͤbel ange-
„wandt“ — und der Antiphyſiognomiſt — „alle Urtheile des Phyſiognomiſten ſind falſch.“
Und welches guͤnſtige Urtheil des gutherzigen Phyſiognomiſten kann nicht als falſch er-
klaͤret werden? Es iſt nicht ein einziger Menſch, ſo weiſe, ſo klug, ſo rechtſchaffen, ſo großmuͤ-
thig und erhaben er immer ſeyn mag, der nicht in ſich die Wurzel aller moͤglichen Fehler und
Unvollkommenheiten und Laſter habe — oder mit andern Worten, — deſſen edle Triebe, deſ-
ſen Faͤhigkeiten, deſſen Anlage — nicht bisweilen ausgleiten, uͤberwachſen, oder auf eine un-
rechte Weiſe angewandt werden koͤnnen. —
Jhr ſehet einen ſanften Mann — der zehenmal ſchweigt, wenn er zehenmal zum Zorne
gereizt wird, der vielleicht gar nie fuͤr ſich, nie deswegen zuͤrnt, weil Er beleidigt wird —
Der Phyſiognomiſt durchſchaut ſein ganzes edles ſtarkes Herz — Er ſagt euch auf den erſten
Blick — „Die liebenswuͤrdigſte die unuͤberwindlichſte Sanftmuth“ — Jhr ſchweigt — oder
lacht — oder geht hin und ſagt: „Welch ein Phyſiognomiſt! Wie hab ich den Mann im
„Zorne geſehen!“ Wenn haſt du ihn im Zorne geſehen? Als man einen ſeiner Freunde miß-
kannte? — „Ja! Er war außer ſich, ſeinen Freund zu vertheidigen. — Beweiſes genug, daß
die Phyſiognomik ein Traum, und der Phyſiognomiſt ein Traͤumer ſey“ — Und wer hat denn
Recht? und wer macht den Fehlſchluß? — Der weiſeſte Mann kann etwa eine Thorheit ſa-
gen — Der Phyſiognomiſt achtet deſſen nicht, weiß es und ſpricht mit Ehrfurcht; „Welch
„ein außerordentlich kluger Mann!“ — Und ihr lacht uͤber ihn, denn ihr habt den Klugen
eine Thorheit ſagen gehoͤrt? — Wer macht den Fehlſchluß? Der Phyſiognomiſt urtheilt nicht
blos aus einzelnen, oft auch nicht einmal aus mehreren Handlungen — Er beurtheilt auch als
Phyſiognomiſt — nicht die Handlungen, er beobachtet die Anlagen, den Character, die
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. TGrund-
[138]X.Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
Grundkraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft einzelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre-
chen ſcheinen.
Ferner — Es iſt kein Menſch ſo thoͤricht, keiner ſo laſterhaft, der nicht Anlagen des
Verſtandes — Anlagen, vielleicht zu allen und jeden Tugenden habe. — Erblickt das Voll-
kommenheit ſuchende Auge des gutherzigen Phyſiognomiſten etwas von dieſen — und ſpricht's
aus — ſpricht nur nicht entſcheidend und unbedingt wider den — Menſchen; — ſo iſt er
abermal das Geſpoͤtte. — Und wie oft koͤnnen Anlagen zu Heldentugenden da ſeyn, Glut
des Genius tief unter der Aſche liegen! — und was braucht's, als auf die Aſche zuzueilen,
mit tiefer Ahndung hineinzuhauchen — „Hier iſt Gluth“ — zu rufen, wo auf den erſten und
zweyten und dritten und vierten Hauch vielleicht — dem Phyſiognomiſten und Zuſchauer —
nur Aſche in die Augen ſtaͤubt - - - der Zuſchauer geht weg und lacht — und erzaͤhlt und
macht zu lachen! Der andere mag warten, und waͤrmt ſich an der heraufgehauchten Flamme. —
Tauſend und tauſendmal tauſendmal ſind die trefflichſten Anlagen (die Zukunft wird
uns ſagen, warum, wird uns ſagen, „nicht umſonſt“) auf die ſchrecklichſte Weiſe uͤberwach-
ſen. Das gemeine ungeuͤbte Auge ſieht nur Schutt und Verwuͤſtung. Erziehung, Umſtaͤnde,
Beduͤrfniſſe erſtickten jedes Beſtreben nach Vollkommenheit. Der Phyſiognomiſt ſieht, ſchaut,
ſteht — ſieht und hoͤrt Widerſpruch — hoͤrt tauſend ſchreyende Menſchenſtimmen — Seht
welch ein Menſch! — und eine Gottesſtimme — Seht welch ein Menſch! und
betet an, wo der andre laͤſtert, und nie begreifen kann, und koͤnnt' ers, nicht will — daß da in
der Geſtalt, vor der man das Angeſicht verbirgt — Schoͤnheit, Kraft, Weisheit, Guͤte —
Gottes iſt.
Noch mehr, der Phyſiognomiſt, oder Menſchenbeobachter, der Menſch — der Chriſt,
das iſt, ein weiſer und guter Menſch iſt, wird tauſendmal wider ſein eigenes phyſiognomiſches
Gefuͤhl handeln — Jch druͤcke mich unrecht aus; — Er ſcheint ſeinem innern Urtheil von ei-
nem Menſchen nicht gemaͤß zu handeln. Er richtet nicht, wie er urtheilt — Ein neuer Grund,
warum der Phyſiognomiſt oft zu fehlen ſcheint, warum der wahre Beobachter, die Beob-
achtung und die Wahrheit, ſo oft in ihm miskennt, oder verlacht wird. Er ſieht den Boͤſe-
wicht in dem Angeſichte des Armen, der vor ſeine Thuͤre koͤmmt, und weiſet ihn nicht ab, re-
det
[139]Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
det herzlich mit ihm, blickt ihm tief in ſeine Seele und — ſieht — Gott was ſieht er? —
Abgruͤnde von Laſtern und Zerruͤttung ohne Maas — Aber ſieht er nur dieß in ihm? Nichts
Gutes? — Geſetzt! Nichts Gutes, ſo ſieht er doch Thon, der zum Toͤpfer nicht ſagen darf,
und kann: „Warum haſt du mich alſo gemacht?“ Sieht's, betet an und wendet ſein Ange-
ſicht, und verbirgt eine Zaͤhre, die — unausſprechlich viel — nicht Menſchen, dir Gott allein
ſagt — und giebt ihm mit bruͤderlicher Hand — nicht nur um ſeines, durch ihn ungluͤcklichen
Weibes, nicht nur um ſeiner huͤlfloſen, unſchuldigen Kinder — um ſeiner ſelbſt willen — um
des Gottes Willen, der alles und auch den Gottloſen gemacht hat zu ſeines Nahmens Ehre —
giebt, um vielleicht noch einen Funken, den er wahrnimmt, anzuflammen, was ſein Herz ihn
geben heißt — Nun der Unwuͤrdige misbraucht die Gabe — oder misbraucht ſie nicht —
Gleich viel! Wem er's ſagt, ſagt wieder: „Wie ſich der gute Mann abermal betruͤgen
„ließ!“
Der Menſch iſt nicht Richter der Menſchen! O wie weis das der Phyſiogno-
miſt, der Menſch iſt! — Der maͤchtigſte Menſch, der Herr der Menſchen, war nicht in der
Welt zu richten, ſondern ſelig zu machen. — Nicht ſahe Er die Laſter der Laſterhaften
nicht; nicht verhehlte Er ſie ſich oder andern, wo es Menſchenliebe war, ſie zu beobachten, und
aufzudecken; — aber Er richtete nicht, ſtrafte nicht, vergab: — Gehe hin! Suͤndige
kuͤnftig nicht mehr! — Nimmt auch einen Judas auf, behaͤlt ihn, umarmt ihn, Jhn, in
dem er lange vorher ſeinen Verraͤther erblickte!
Gute Menſchen ſehen auf den beſten — Jch will dein Auge nicht Chriſtus, wenn du
mir dein Herz nicht giebſt. Weisheit ohne Guͤte iſt Thorheit. Jch will gerecht urthei-
len und guͤtig handeln. — Noch ein Fall. Ein verrufener Mann, eine luͤderliche Dirne,
dieweil ſie zehnmal unrecht hatten, da ſie recht zu haben vorgaben, auch das eilftemal verfaͤllt
werden, wann ſie Recht haben, — wenden ſich an den Menſchenbeobachter. Er macht alle
Verſuche und findet ſie diesmal unſchuldig, gegen alle Stimmen der Menge, gegen alle Wahr-
ſcheinlichkeit unſchuldig. Die Klugheit ſagt ihm laut, daß er ausgeziſcht werde, wenn er nur mer-
ken laſſe, daß er in dieſem Falle Unſchuld vermuthe — Aber nicht weniger laut ſagt ihm ſein Herz
— „Rede! Zeuge fuͤr die diesmalige Unſchuld der Allerverworfenſten“ — Er laͤßt ein Wort fal-
T 2len
[140]X.Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
len und tauſend Zungen ziſchen ihm entgegen — „Dieß Urtheil haͤtte dem Phyſiognomiſten nicht
„entfahren ſollen;“ abermal, wer macht da den Fehlſchluß? —
Dieß ſind einige Winke fuͤr die Verſtaͤndigen — ſo behutſam uͤber den Phyſiognomiſten
zu urtheilen, als ſie wuͤnſchen, daß er uͤber andere, uͤber ſie ſelbſt urtheilen moͤge.
Zugabe.
Mit phyſiognomiſchen Gefuͤhlen und Urtheilen geht es wie mit allen Gefuͤhlen und Urtheilen.
Wenn man Misverſtand verhuͤten, keinen Widerſpruch dulden wollte, muͤßte man damit ſich gar
nicht an Laden legen.
Keinem Menſchen kann die Allgemeinheit zugeſtanden werden, ſie wird keinem zugeſtan-
den. Das, was ein Theil Menſchen als goͤttlich, herrlich, uͤberſchwaͤnglich anbeten, wird von
andern als kalt, als abgeſchmackt verworfen. Nicht aber, daß ich dadurch wieder in die alte Nacht
mich ſchlafen legen, und ſo eindaͤmmernd hinlallen wollte: alſo haͤlt einer das vor ſchoͤn und gut,
der andere das; alſo iſt alles unbeſtimmt, alſo packt ein mit eurer Phyſiognomik. Nicht ſo! Wie
die Sachen eine Phyſiognomie haben, ſo haben auch die Urtheile die ihrige, und eben daß die
Urtheile verſchieden ſind, beweiſt noch nicht, daß ein Ding bald ſo, bald ſo iſt. Nehmen wir zum
Beyſpiel ein Buch, das die Freuden und das Elend der Liebe mit den lebhafteſten Farben ſchildert.
Alle junge Leute fallen druͤber her, erheben, verzehren, verſchlingen es; und ein Alter, dem's unter
die Haͤnde kommt, macht's gelaſſen oder unwillig zu, und ſagt: „Das verliebte Zeug! Leider,
„daß es in der Welt ſo iſt, was braucht man's noch zu ſchreiben?“
Laſſen Sie nun von jeder Seite einen Kaͤmpfer auftreten! Der eine wird beweiſen, daß
das Buch vortrefflich iſt, der andere, daß es elend iſt! Und welcher hat Recht? Wer ſoll's ent-
ſcheiden? Niemand, denn der Phyſiognomiſt. Der tritt dazwiſchen und ſagt: begebt euch zur
Ruh, euer ganzer Streit naͤhrt ſich mit den Worten fuͤrtrefflich und elend. Das Buch iſt we-
der fuͤrtrefflich noch elend. Es hat nur deine ganze Geſtalt, guter Juͤngling, es enthaͤlt alles, was
ſie bezeichnet: dieſe bluͤhende Wange, dieſen hoffenden Blick, dieſe vordringende Stirn; und
weil dir's gleich ſieht, weil es vor dir ſteht, wie du vor dir ſelbſt oder deinem Spiegel, ſo nennſt
du's deines Gleichen, oder welches eins iſt, deinen Freund, oder welches eins iſt, fuͤrtrefflich. Du
Alter
[141]Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
Alter hingegen wuͤrdeſt ein Gleiches thun, wenn dieſe Blaͤtter ſo viel Erfahrung, Klugheit, prakti-
ſchen Sinn enthielten.
Sind Sie nun wohl uͤberzeugt, daß, wie das Buch ſeine Phyſiognomie hatte, alſo haben
auch die Urtheile die ihrige, und daß hier nur durch den dritten Ruhigen jedem ſein Platz angewie-
ſen werden konnte.
Nun aber iſt der Dritte immer ruhig? Neigt er ſich nicht auch oft nach ſeines Gleichen?
Gut! dafuͤr iſt auch er Menſch, und darum geben wir hier nur Beytraͤge, nur Fragmente, die
auch ihre Phyſiognomie haben, und wenn die, ſo daruͤber urtheilen werden, ſich auch treu bleiben;
ſo wird jedes Urtheil ein Beytrag zu unſern Fragmenten ſeyn.
Alles wirkt verhaͤltnißmaͤßig in der Welt, das werden wir noch oft zu wiederholen haben.
Das allgemeine Verhaͤltniß erkennet nur Gott; deswegen alles menſchliche, philoſophiſche und ſo
auch phyſiognomiſche Sinnen und Trachten am Ende auf ein bloßes Stottern hinauslauft. Und
wenn zugeſtanden iſt: daß in der Dinge Reihe viel mislingt, warum ſollte man von einer Reihe
dargeſtellter Beobachtungen viel harmoniſche Conſiſtenz erwarten?
[142]XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Eilftes Fragment.
Von einigen Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik.
Dieß Fragment ſollte wohl das weitlaͤuftigſte in meinem ganzen Werke, und deſſen ungeachtet
wirds eines der kuͤrzeſten ſeyn. Kein ganzer Band, auch nicht der ſtaͤrkſte, wuͤrde hinrei-
chend ſeyn, alle die unzaͤhlichen Schwierigkeiten, womit die Pyſiognomik umgeben iſt, darzuſtellen
und zu entwickeln.
Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge-
macht werden koͤnnten) ſind, wenn ſie auch noch ſo wenig Grund haben — und wie viele ſind doch
wirklich gegruͤndet? immer wenigſtens ein Beweis von dem allgemeinen Gefuͤhle der Schwierig-
keit, womit dieſe Kenntniß und Erforſchung der Natur umgeben zu ſeyn ſcheint.
Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phyſiognomik ſo viele Schwierigkeiten aufhaͤufen
koͤnnen, als ein philoſophiſcher Phyſiognomiſte bald genug erfahren wird. Tauſendmal bin ich
durch die Menge und Mannichfaltigkeit derſelben beſtuͤrzt, und von allen weitern Erforſchungen bey-
nahe zuruͤckgeſchreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewiſſe, Feſte, Zuverlaͤßige, das
ich einmal geſammelt hatte, und das durch tauſend Erfahrungen beſtaͤtigt, und durch keine einzige
Erfahrung umgeſtoßen ward, ſo weit aufgerichtet und geſtaͤrkt, daß ich wieder Muth faßte, mich
durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuſchlagen, und wo ich mich nicht durchſchlagen konn-
te, dieſelben ruhig auf der Seite zu laſſen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder ſich ein Verei-
nigungspunkt ſo mancher ſcheinbarer Widerſpruͤche zeigen moͤchte.
Es iſt uͤberhaupt ſo eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe — bey
allen, auch den leichteſten und flaͤchſten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken — zu
ſehen, zu erſchaffen, oder zu erdichten! Jch koͤnnte eine Menge Geſichter nach einander vorfuͤhren,
die dieſe Gabe in einem ausnehmenden Grade beſitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be-
ſtimmten Character. Uebrigens ſind ſie ganz treffliche Leute! Salz aller Geſellſchaften — aber
nicht Speiſe! — Jch bewundere ihre Talente; aber verbaͤte mir ihre Freundſchaft, wenns je
moͤglich
[143]bey der Phyſiognomik.
moͤglich waͤre, daß ſie mich um die meinige bitten koͤnnten — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchwei-
fung. Jch kehre zu den Schwierigkeiten zuruͤck, womit die Phyſiognomik umgeben iſt. Und bey
aller Unzaͤhlbarkeit derſelben, kann ich dennoch kurz ſeyn, weil ich hier nicht die Einwendungen,
die man gegen die Phyſiognomik macht, anzufuͤhren gedenke. Nach und nach werden die wichtig-
ſten derſelben ihre Stelle und ihre Beantwortung in dieſem Werke finden. Jch kann kurz ſeyn,
weil kaum ein Fragment dieſes Werkes wird geliefert werden koͤnnen, wobey Verfaſſer und Leſer
nicht Gelegenheit haben werden, Schwierigkeiten wahrzunehmen. Jch kann kurz ſeyn, weil das
Fragment von dem Character des Phyſiognomiſten, das bald folget, noch an manches erinnern
wird; kurz ſeyn endlich, weil die meiſten Schwierigkeiten groͤßtentheils auf Einem Punkte
beruhen —
Auf der unbeſchreiblichen Feinheit unzaͤhlbarer Zuͤge und Character — oder, auf
der Unmoͤglichkeit, gewiſſe Empfindungen und Beobachtungen feſtzuhalten, auszudruͤcken, zu
analyſiren.
Gewiſſers kann wohl nichts ſeyn, als dieß; daß die kleinſten, tauſend ungeuͤbten Augen
kaum merkbaren, Verſchiedenheiten oft den verſchiedenſten Character anzeigen. Man wird dieß faſt
bey jeglichem Blatte in der Folge dieſes Werkes zu bemerken Gelegenheit haben. Eine kleine
Biegung oder Schaͤrfe, eine Verlaͤngerung oder Verkuͤrzung, oft auch nur um die Breite eines
Fadens, eines Haares; die mindeſte Verruͤckung oder Schiefheit — wie merklich kann dadurch ein
Geſicht, der Ausdruck eines Characters, veraͤndert werden! Wer ſich ſelbſt auf der Stelle hievon
uͤberzeugen will, darf nur daſſelbe Geſicht, vier oder ſechsmal mit aller moͤglichen Genauigkeit
nach dem Schatten zeichnen, und dieſe Silhouettes, wenn ſie ebenfalls mit aller moͤglichen Geſchick-
lichkeit ins Kleine gebracht ſind, unter ſich vergleichen.
Wie ſchwer alſo, wie unmoͤglich wird, durch dieſe unausweichliche Verſchiedenheit deſſel-
ben Geſichtes, bey der ſicherſten Nachahmungskunſt, die Praͤciſion? und wie wichtig iſt, um
eben angefuͤhrter Urſachen willen, dieſe Praͤciſion bey der Phyſiognomik?
O ſo oft kann der Sitz des Characters ſo verſteckt, ſo verborgen und verwickelt ſeyn, daß
ihr ihn nur in gewiſſen, vielleicht ſeltenen, Lagen des Geſichtes bemerken koͤnnet, und daß dieſe Be-
merk-
[144]XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
merkbarkeit wieder verſchwindet, ehe ſie den gehoͤrigen Eindruck auf euch gemacht hat; und,
wenn auch dieß geſchehen iſt, ſo kann dieſer Zug ſo ſchwer zu faſſen, und ganz unmoͤglich mit
dem Pinſel, geſchweige mit dem Grabſtichel und mit Worten, auszudruͤcken ſeyn.
Dieß kann oft ſo gar mit den bleibendſten und gewiſſermaßen entſcheidendſten und zuver-
laͤßigſten Merkmalen geſchehen. Unzaͤhlige dieſer Art, laſſen ſich weder beſchreiben, noch nachma-
chen, und ſehr viele nicht einmal mit der Einbildungskraft ſich feſthalten. Jhr fuͤhlet ſie mehr,
als daß ihr ſie ſehet. Den ſanfterleuchtenden, den waͤrmenden Lichtſtral, wer will ihn beſchrei-
ben? wer zeichnen? — Wer ſieht ihn nur? und wer, wer kann z. E. den Blick der Liebe —
das ſanfte Zittern des wohlwollenden ſegnenden Auges, wer das Licht oder die Daͤmmerung
der Sehnſucht und Hoffnung, wer die feinen Zuͤge der uneigennuͤtzigen, ruhigen Zaͤrtlichkeit,
wer das innige, maͤchtige, in Demuth und Sanftmuth gehuͤllte Dringen des Geiſtes, um ſich
her Gutes zu wirken, des Elendes weniger, und der Freuden in der Welt und Nachwelt mehr
zu machen; wer — alle die geheimen in einen Blick zuſammenfließenden Triebe und Kraͤfte
eines Vertheidigers, oder eines Feindes der Wahrheit; eines rettenden Menſchenfreundes oder
eines ſchlauen Antipatrioten, wer — den auf und niederſchauenden, maͤchtigumfaſſenden, tief-
dringenden Blitzblick des Genies, der weit und ſchnell um ſich her erhellt, blendet, zittern macht,
und tiefe Nacht hinter ſich zuruͤcklaͤßt, wer kann dieſes alles beſchreiben oder zeichnen? — Wer
Feuer mit der Kohle, Licht mit Bleyſtift, mit Erde und Oel Leben, darſtellen?
Es iſt mit der Phyſiognomie, wie mit allen Gegenſtaͤnden des menſchlichen Geſchma-
ckes, vom craſſeſten an bis auf den geiſtigſten; vom Speiſegeſchmack bis zum Geſchmack an
der goͤttlichſten Wahrheit! Man kann empfinden, aber nicht ausdruͤcken — Das Weſen jedes
organiſchen Koͤrpers iſt an ſich ſelbſt unſichtbare Kraft! Das iſt Geiſt! Ohne dieß unerforſchliche
Belebende iſt alles todt und ohne Bedeutung, Kraft, Einwirkung. Und den Geiſt ſiehet die
Welt nicht und kennet ihn nicht. O wie wahr iſt dieß, wie's nun immer kalt oder warm,
in Paragraphen oder Deklamationen ausgedruͤckt werden mag, wie wahr iſt dieß, vom erhaben-
ſten goͤttlichen Geiſt an in der Perſon, den Juͤngern und dem Evangelio, unſers großen Herrn
bis auf den Geiſt des gemeinſten Objectes: die Welt ſiehet Jhn nicht, und kennet Jhn
nicht. Es iſt dieß der allgemeinſte Satz, der ausgeſprochen werden kann. Der große Haufe
der
[145]bey der Phyſiognomik.
der Menſchen weidet und ſaͤttiget ſich unaufhoͤrlich an Worten ohne Sinn, Aeußerlichkeiten oh-
ne Kraft, Koͤrper ohne Geiſt, Geſtalt und Form ohne beſeelendes Weſen — (das Eigentliche
der Abgoͤtterey, ſo wie das Eigentliche der Schwaͤrmerey Verliebtheit in Geiſtigkeit ohne
Koͤrper iſt.) — und doch iſts wiederum der allgemeinſt wahre Satz, der von allen Buch-
ſtaͤblern, die ſich niemals zum großen allgemeinen Sinne goͤttlicher Reden erheben koͤnnen, ſo
ſehr uͤberſehen und blos auf einen oder zween gelegentliche Faͤlle eingeſchraͤnkt wird, und der
doch Schluͤſſel der ganzen Natur und Offenbarung, Seele alles Wiſſens, Geheimniß aller
Geheimniſſe, Offenbarung aller Offenbarungen iſt — der Geiſt iſts, der da lebendig
macht; das Fleiſch iſt gar nichts nuͤtze.
Und wenn nun hiemit, (und wer will's, wer kanns laͤugnen?) wenn nun alles Fleiſch
blos durch den Geiſt, der in ihm iſt, Werth hat; wenn ders iſt, der Geiſt, den allein der
Phyſiognomiſt ſucht, kennen, erforſchen, empfinden, offenbaren, beſchreiben will; — wie
ſchwer muß es ihm werden, das Feinſte, Beſte, Geiſtigſte, in Bild und Wort zu faſſen,
zumal in Bild und Wort fuͤr Leute, die oft ohne Aug und Ohr vor uns ſtehen! Jn Bild
und Wort, die doch im Grunde wieder anders nichts ſind, als groͤber Fleiſch und Geiſt?
Was ich hier ſage, duͤrfte wenigen Leſern ganz verſtaͤndlich und einleuchtend ſeyn; die
wenigen aber, die's ganz begreifen werden, duͤrften hiebey vieles zu denken finden.
Doch wir lenken wieder ein.
Wie viel tauſend kleinere und groͤßere, phyſiſche oder moraliſche, Zufaͤlle, geheime
Begegniſſe, Alterationen, Leidenſchaften, wie oft auch nur Kleidung, Lage, Verhaͤltniß
gegen Licht und Schatten, Unbehaglichkeiten von unzaͤhliger Art, koͤnnen Euch ein Geſicht ſo
unrichtig zeigen, oder beſſer zu ſagen, koͤnnen Euch verfuͤhren, uͤber die wahre Beſchaffenheit
dieſes Geſichtes und ſeines Characters ein falſches Urtheil zu faͤllen; koͤnnen Euch, o wie leicht!
verleiten, das Weſentliche des Characters zu uͤberſehen, und etwas blos Zufaͤlliges zum Haupt-
grunde Eurer Beurtheilung zu machen?
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. U„Der
[146]XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
„Der weiſeſte Mann ſieht gerade ſo aus, wie ein Dummkopf, wenn er Langeweile
„hat.“ — ſagt Zimmermann, und er mag recht haben, wenn er ſein Augenmerk blos auf
die actuelle Lage der beweglichen und muskuloͤſen Theile ſeines Angeſichts richtet —
Und wie erſtaunlich koͤnnen, um aus hundert Beyſpielen ein ſehr gemeines anzufuͤh-
ren, die Blattern ein Geſicht vielleicht auf Lebenslang verunſtalten? wie die feinſten, entſchei-
dendſten Zuͤge verziehen, verwickeln und unkenntlich machen?
Von den Schwierigkeiten, womit die feine Verſtellungskunſt den geuͤbteſten Beobach-
ter umringt, will ich nichts ſagen; ein beſonders Fragment wird vielleicht ein Woͤrtchen da-
von melden.
Aber, noch eins darf nicht verſchwiegen werden.
Der beſte, der ſtaͤrkſte, der philoſophiſchſte Phyſiognomiſt iſt immer Menſch; das
heißt hier nicht nur uͤberhaupt: er fehlt, und kann nicht anders, als fehlen; ſondern, es heißt:
Es iſt ein partheyiſcher Menſch, und er ſollte unpartheyiſch, wie Gott ſeyn?
Er kann ſich, wie ſelten erwehren, alles, was er anſieht, in einer gewiſſen Beziehung
auf ſich ſelbſt, ſeine Lieblingsneigung, oder Abneigung anzuſehen, und zu beurtheilen. Dunkle
Erinnerungen an dieß oder jenes Vergnuͤgen oder Mißvergnuͤgen, welche dieſe oder jene Phy-
ſiognomie durch dieſe oder jene Nebenumſtaͤnde und Zufaͤlligkeiten in ſeinem Gemuͤthe erweckt;
Eindruͤcke, die ein Gegenſtand ſeiner Liebe oder ſeines Haſſes in ſeiner Einbildungskraft zuruͤck-
gelaſſen haben mag — wie leicht koͤnnen dieſe, wie nothwendig muͤſſen dieſe auf ſeine Beob-
achtungen und Urtheile Einfluß haben! Und wie viele Schwierigkeiten muͤſſen daher fuͤr die
Phyſiognomik erwachſen — ſo lange die Phyſiognomik von Menſchen, und nicht von Engeln
gelehrt wird!
Alſo wollen wir hier dem Zweifler an der Phyſiognomik ſo viel zugeben, als er will —
aber dennoch hoffen wir, daß ſich in der Folge manche Schwierigkeit aufloͤſen werde, die An-
fangs dem Leſer, und vielleicht auch dem Verfaſſer, unaufloͤslich ſcheinen mußte.
Wie kann ich uͤbrigens dieß Fragment beſchließen, ohne noch die mir ſchwer auf dem
Herzen liegende Beſorgniß, wovon ich vielleicht auch ſchon etwas zu verſtehen gegeben habe,
abzuladen —
„Daß
[147]bey der Phyſiognomik.
„Daß viele ſchwache und unphiloſophiſche Koͤpfe, die in ihrem Leben niemals beob-
„achtet haben, niemals beobachten werden, ſich nun vielleicht durch dieſe Schrift aufs neue ver-
„anlaßt und vielleicht gar berechtigt glauben werden, den Phyſiognomiſten zu machen!“ —
O! wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre!
Jhr werdet ſo wenig deswegen Phyſiognomiſten werden, weil ihr mein Buch leſet,
wuͤrdets nicht werden, wenns auch noch zehenmal gruͤndlicher, und hundertmal vollſtaͤndiger
waͤre; ſo wenig ihr große Mahler zu werden, deswegen hoffen koͤnnt, weil ihr Preyslers Zeich-
nungsbuch copirt, und Hagedorn von der Mahlerey geleſen habt; ſo wenig ihr deswegen große
Aerzte werdet, weil ihr Boerhave gehoͤrt; oder große Staatsmaͤnner, weil ihr Grotius und
Puffendorf geleſen habt, und Montesquieu beynah auswendig koͤnnet!
U 2Zugabe.
[148]XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Zugabe.
Eine Einwendung beruͤhr ich noch in dieſer Zugabe, wodurch man vermuthlich die Schwierigkeit
der Phyſiognomik ſehr vergroͤßern, und die gewiß ſehr oft wiederholt werden wird.
„Jeder Menſch, ſagt man, iſt ſo ſehr von dem andern verſchieden, daß nicht nur kein Ge-
„ſicht dem andern, ſondern ſelbſt kein Theil deſſelben, keine Naſe, kein Ohr, kein Auge dem an-
„dern voͤllig gleich gefunden wird; mithin ſey alle Klaſſifikation unmoͤglich. Es giebt in den
„Claſſen die groͤßte Unbeſtimmtheit, Verworrenheit, Unzuverlaͤßigkeit — Hiemit iſt's nichts mit
„der Phyſiognomik.“
Dieſe Einwendung haͤlt man fuͤr ſehr wichtig — und wie unbedeutend wird ſie, ſo bald
man bedenkt: „daß eben dieſelbe Einwendung alle und jede menſchliche Wiſſenſchaften, alles Wiß-
„bare trifft, mithin durch alle andere Wiſſenſchaften ſchon beantwortet iſt.“ — Hat es nicht eben
dieſelbe Bewandniß mit allen und jeden Dingen, und mit allen Praͤdikaten aller Dinge? Jſt
nicht jedes Ding, ja jegliches Praͤdikat eines jeden Dinges von dem andern Dinge, ja von demſel-
ben Praͤdikate des andern Dinges wieder verſchieden?
Das allerhandgreiflichſte und ſimpelſte Beyſpiel iſt ja die koͤrperliche Groͤße oder Lei-
beslaͤnge.
Offenbar iſt kein Menſch genau ſo groß, wie der andere.
Wer wird dieß aber nun als eine Einwendung gegen alle brauchbare und wahre Claſſifi-
kation der Menſchen nach ihrer Groͤße anſehen? — Wer wird z. B. um deswillen die Wahrheit
und Brauchbarkeit der Eintheilung in die fuͤnf Claſſen der Zwerge, der Kleinen, der Mittlern,
der Großen, der Rieſen — laͤugnen?
Wer hat ſich je aus dieſen Gruͤnden gegen die Arzneywiſſenſchaft auflehnen duͤrfen? oder
wider die Lehre von der Verſchiedenheit der Krankheiten? Und es verhaͤlt ſich ja auch mit den
Krankheiten eben ſo, wie mit allen Dingen! Keine einzige in keinem Jndividuum iſt genau ſo be-
ſchaffen, wie in dem andern. Und wehe dem Arzte, der, ohne ſeine phyſiologiſche, oder pathologiſche
Phyſiognomik zu brauchen, ich meyne, ohne in jedem Falle ſein feines phyſiognomiſches Gefuͤhl zu
Rathe zu ziehen, ſeinen Beobachtungsgeiſt walten zu laſſen, jede Krankheit blos nach der Klaſſe
behan-
[149]bey der Phyſiognomik.
behandelt, ohne ſeine Behandelnsart nach den Modifikationen der Krankheit im gegebenen Patien-
ten zu modificiren. Soll denn aber deswegen gar keine Klaſſifikation der Krankheiten gemacht
werden? Giebt es um deswillen nicht Krankheiten, die einander aͤhnlicher ſind, als andere? die
hiemit naͤher zuſammengehoͤren? Mithin in Eine Klaſſe gethan werden? Folglich auch klaſſifiſche
Vorſchriften ihrer Behandlung empfangen moͤgen? ꝛc.
Ganz Recht haben die, und ich fuͤhle die Gerechtigkeit ihrer Klage tief in der Seele, die
da ſagen, daß das Abſtrahiren und Klaſſificiren, und das Bauen und Thuͤrmen auf dieſe klaſſifi-
cirten und abſtrahirten Begriffe und daraus geformten Saͤtze in allen Wiſſenſchaften den groͤßten
Schaden anrichte, und den menſchlichen Geiſt hemme und beſchraͤnke, ihn tauſendmal irre fuͤhre,
ihn von der unendlich wichtigen Beobachtung der durchaus, in allem und jedem, individuellen
Natur, der einzigen Quelle aller Wahrheit, und der wahren Nahrung alles Genies abfuͤhre, weit,
weit abfuͤhre —
Alles wahr! Alles recht! Nur damit nicht alle Abſtraktion, nicht alle Klaſſifikation fuͤr
unrichtig und unwahr, fuͤr ſchaͤdlich ausgeſchrien! Wer denn auch nicht ſieht, daß die Wahrheit
auch hier abermals in der Mitte liegt; wer denn auch nicht ſieht, daß unſer Abſtrahiren und Klaſ-
ſificiren, mit aller der Portion unvermeidlichen Nachtheils, den es mit ſich fuͤhren mag, doch hin-
wiederum das unentbehrlichſte Ding von der Welt iſt — und das nuͤtzlichſte — dem mag ichs
hier nicht beweiſen. Die Materie beduͤrfte einer eignen philoſophiſchen Behandlung, in unſrer Zeit
beſonders. Nur dieſe einzige, ſchon mit einem Wink angeregte, hoͤchſtwichtigſte allgemeine philoſo-
phiſche Anmerkung moͤcht' ich bey dieſer Gelegenheit allen nachdenkenden Leſern wichtig machen.
„Daß eigentlich alle, alle, alle unſre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klaſ-
„ſifikationen, nichts als Zuſammenhaltung und Vorweiſung der Aehnlichkeit einer unbekanntern
„Sache mit einer bekanntern ſind.“
So viel iſt alſo doch wenigſtens gewiß und ſonnenklar, daß der Phyſiognomik um kein Haͤr-
chen eher vorgeworfen werden kann: „Man koͤnne wegen individueller Verſchiedenheit nicht klaſſifi-
„ciren, nicht abſtrahiren, mithin die Sache gar nicht wiſſenſchaftlich behandlen“ — dieß, ſag' ich,
kann der Phyſiognomik mit dem geringſten Recht, um kein Haͤrchen mehr vorgeworfen werden, als
allen andern Wiſſenſchaften in der Welt.
U 3Man
[150]XI.Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Man vergißt alſo ſehr, zu bedenken, daß, wenn dieſe Einwendung gegruͤndet waͤre, oder
wenn das, in voller Kraft, daraus folgte, was man erſt damit ſagen wollte, mit eben denſelben
Gruͤnden bewieſen werden koͤnnte; „daß wir nicht mehr den Mund aufthun ſollten.“ Jch will
mich erklaͤren.
Was iſt alle Sprache anders, woraus beſteht ſie anders, als aus Woͤrtern, die allgemeine
Begriffe bezeichnen?
Die Eigenthumsnamen der Menſchen, Haͤuſer, Staͤdte, Plaͤtze, bisweilen auch einige
Thiere ausgenommen.
Was iſt aber ein jedes Wort, das einen allgemeinen Begriff bezeichnet, anders als der
Name einer Klaſſe von Dingen oder Eigenſchaften, Beſchaffenheiten, die ſich einander aͤhnlich ſind,
und in manchem noch unaͤhnlich? Tugend und Laſter ſind zwo Klaſſen von Handlungen und
Fertigkeiten; iſt aber nicht eine jede ſogenannte tugendhafte Handlung wieder von der andern ver-
ſchieden, und bis auf den Punkt, wo das Laſter angeht, ſo auf unzaͤhlige Weiſe verſchieden, daß
dieſe Klaſſifikation — ſo oft auch nichts taugt?
„Sie haben ſich alle ſehr gefreut“ — was iſt nun dieß Freuen wieder anders, als der
Namen einer Klaſſe von Empfindungen, die in jedem Jndividuum, in jedem individuellen Zuſtande
deſſelben Jndividuums wieder ganz anders modificirt iſt? Jhr habt die Woͤrter Freude, Mun-
terkeit, Aufgeraͤumtheit, Luſtigkeit, Froͤhlichkeit, Heiterkeit, frohes Weſen, Ent-
zuͤcken, Wonne, — Muthwill — thut noch zwanzig Woͤrter hinzu: Wie viele Millionen
Nuͤancen und Grade gehoͤren dazwiſchen hinein? wie viele tauſend Faͤlle, die unter keine dieſer Klaſ-
ſen ganz gehoͤren? Jſts nicht alſo ſo gar mit den Buchſtaben — werden nicht eine Menge Buchſta-
ben ausgeſprochen, die nicht geſchrieben werden koͤnnen? die kein Zeichen haben, als die Zeichen
ihrer Klaſſe? Soll man denn um dieſer Unvollkommenheit willen entweder fuͤr jede individuelle
Situation, jede Veraͤnderung, jede Nuͤance, jeden Hauch, jede Regung — ein eigenes mit-
theilbares Zeichen haben, ein Wort ſchaffen — das heißt — Gott ſeyn? oder ſoll man nicht
mehr ſprechen, weil alles Reden ein ewiges Klaſſificiren, alles Klaſſificiren aber — ein unvoll-
kommenes mangelhaftes Ding iſt? ....
Beylage
[151]bey der Phyſiognomik.
Beylage
aus einem Briefe von Herrn Zimmermann an einen
Antiphyſiognomiker.
„Si vous prétendés des regles ſures et qui mettent (comme on l'entend communément)
„tout homme en état de connoître la phyſiognomie de tout autre homme, vous de-
„mandés un art, par lequel on puiſſe donner du génie à chaque ſot.
Quoique vous diſiés très bien: que le phyſicien, qui prétend lire dans le grand
„livre de la nature, ſe trompe ſouvent; je ſçai que vous ne defendés pas pour cela au
„phyſicien de feuilleter ce grand livre. Mais de graçe, pourquoi, n'êtes vous donc ſi
„intolerant qu'à l'egard de celui, qui veut lire ſur le viſage humain? Une ame auſſi
„belle, que la vôtre n'a rien à craindre d'un phyſiognomiſte.“
Jamais un philoſophe, tel que Vous, ne devroit dire: Sil y avoit des regles
ſures, pour juger des Phyſiognomies, il y a long-tems qu'elles ſeroient connues!
Je ne vous pardonne pas même, d'avoir ajouté, que puisqu'il n'y a pas dans
le monde deux nez, ni à plus forte raiſon, deux Viſages, qui ſoyent parfaitement ſemblables;
on auroit beſoin d'autant de regles, qu'il y a d'hommes; \& que ce qui n' a lieu que dans un
ſeul cas, n'eſt pas une regle. Je vois par-là avec étonnement, que vous n'avés jamais
obſervé des Phyſiognomies. Perſonne p. e. ne nie la varieté des nez: Mais en les
obſervant, tant ſoit peu, vous trouverés dans les nez, qui paroiſſent les plus diffé-
rents, des traits de reſſemblance, qui vous ſerviront, à les claſſifier, \& qui excitéront
peut-être bientot votre Eſprit vif \& pénétrant, d'imaginer une Naſologie.
Un médecin peu habile verra dans dix hommes la même maladie, \& il ſera inti-
mement perſuadé, qu'il voit dix maladies différentes, \& toutes les regles, poſées en
forme de lunettes ſur le nez de ce Médecin, ne l'empêcheront jamais, de voir dix
maladies, là, où il n'y en a qu'une.“ — etc.
Zwoͤlftes
[152]XII.Fragment. Von der Leichtigkeit
Zwoͤlftes Fragment.
Von der Leichtigkeit der Phyſiognomik.
Die geringſte, gemeinſte Kenntniß ſcheint ſchwer, wenn ſie neu iſt, wenn ſie blos in Worten
vorgetragen, blos ſchriftlich oder muͤndlich gelehret wird; ſo lange ſie noch keine praktiſche
Erfahrungsſache oder taͤgliche Uebung iſt. Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen alles
in der Welt machen, was dennoch da iſt, was taͤglich durch Menſchen geſchieht, und mit einer Leich-
tigkeit durch ſie geſchieht, die kaum glaublich ſeyn wuͤrde, wenn ſie nicht eben ſo unlaͤugbar waͤre?
Was ließe ſich gegen die Moͤglichkeit der Schiffahrt auf dem offnen weiten Weltmeere —
was gegen die Moͤglichkeit einer Taſchenuhr, einer Ringuhr, was gegen unzaͤhlige Kunſtwerke,
Kunſtſtuͤcke, Kunſtſtreiche — ſagen und einwenden, wenn wir nicht taͤglich Gelegenheit haͤtten,
ſie mit Augen zu ſehen? Welche unzaͤhlige Schwierigkeiten laſſen ſich gegen die Arzneywiſſenſchaft
machen? Und dennoch iſts moͤglich, wo nicht hundert tauſend, doch zehen tauſend Schwierigkeiten,
die man dagegen machen koͤnnte, und gemacht hat, zu uͤberwinden und zu zernichten.
Was man nicht verſucht hat, uͤber deſſen Moͤglichkeit, Leichtigkeit oder Schwerheit ſoll
man nicht zu ſchnell, nicht zu voreilig entſcheiden. — Das Leichteſte kann dem ſchwer ſeyn, ders
nicht oft verſucht hat. Wer oͤftere Verſuche macht, kann ſich das Schwerſte leicht machen.
„Der gemeinſte Gemeinplatz!“ wird man ſagen: und doch beruht darauf der Beweis
von der Leichtigkeit, Phyſiognomik zu ſtudiren — und von der intoleranten Seichtigkeit desjeni-
gen Kopfes, der lieber die Moͤglichkeit dieſer Kunſt beſtreiten, als ihre Wirklichkeit betaſten will.
Du haſts vielleicht noch nicht verſucht, und kannſt alſo nicht davon reden. Jch hab es
verſucht, und kann wenigſtens etwas druͤber ſagen. Jch, der ich von zwanzig Eigenſchaften, die
ich an einem Phyſiognomiſten fuͤr noͤthig halte, kaum Eine mir beymeſſen kann. Ein aͤußerſt kur-
zes Geſicht; durchaus keine Zeit; keine Geduld; keine Feſtigkeit zu zeichnen; unendlich wenig
Weltkenntniß; ein Beruf, der alles eigentliche fortgeſetzte Studium mir unmoͤglich macht; Man-
gel an anatomiſcher Kenntniß; Mangel an Sprachreichthum und Sicherheit des Ausdrucks, die
nur eine weitlaͤufige wohlverdaute Lektuͤre der beſten Schriftſteller, beſonders der epiſchen und dra-
mati-
[153]der Phyſiognomik.
matiſchen, aller Nationen und Zeitalter geben kann — welche Nachtheile! — Und dennoch iſt bey-
nahe kein Tag, der mir nicht alte Beobachtungen beſtaͤtigt oder neue zufuͤhrt.
Wer nur die mindeſte Fertigkeit hat, zu beobachten und zu vergleichen, wer nur einmal
auf einem Wege iſt, den die Natur ſelbſt ihm vorzeichnet, der wird, wenn ihm auch noch meh-
rere Kenntniſſe fehlen ſollten als mir, jeden Tag mitten unter alle dem Heere von Schwierigkei-
ten, womit er ſich freylich unaufhoͤrlich umringt ſehen wird, dennoch ſehr leicht einige Schritte
weiter gehen koͤnnen.
Die Menſchen ſind doch immer vor unſern Augen — auch in der kleinſten Reichsſtadt ein
ſteter Ab- und Zufluß von unzaͤhligen; Menſchen des verſchiedenſten, des entgegengeſetzteſten Cha-
racters; unter dieſen viele, deren Character uns, ohne Ruͤckſicht auf die Phyſiognomie, bekannt
ſind; von denen wir gewiß wiſſen: ſie ſind guͤtig, ſind hart; ſind leichtſinnig, ſind argwoͤhniſch;
ſind verſtaͤndig, ſind dumm; ſind mittelmaͤßig, ſind ſchwach: Menſchen, deren Geſichter eben ſo
verſchieden ſind, als ihre Character, und deren Geſichtsverſchiedenheiten ſich eben ſo wohl beſtimmen,
angeben, beſchreiben, oder zeichnen laſſen, als die Verſchiedenheit ihrer uns ſonſt bekannten Cha-
racter ſich angeben und beſtimmen laͤßt.
Taͤglich erfahren wir die Menſchen in der Naͤhe: Jhre Angelegenheiten verweben und ſtoſ-
ſen ſich mit den unſrigen. Wie ſie immer ſich verſtellen moͤgen; die Leidenſchaft ſtoͤßt ihnen nur
allzuoft die Larve vom Geſicht, und zeigt uns, wenigſtens blitzweiſe, ihre wahre Geſtalt, oder doch
eine Seite derſelben.
Und dann, ſollte die Natur ihre Sprache dem Ohr und Auge des Menſchen ſo ganz un-
verſtaͤndlich, oder ſo gar ſchwer gemacht haben? Jhm Aug und Ohr, Gefuͤhl, Nerven, innern
Sinn gegeben haben, und ſelbſt die Sprache der Oberflaͤchen ihm ſo unverſtehbar, ſo kaum erforſch-
bar gemacht haben? Sie, die die Toͤne fuͤrs Ohr, das Ohr fuͤr die Toͤne gemacht hat? Sie, die
den Menſchen ſo bald ſprechen, und die Sprache verſtehen lehrt? Sie, die Licht fuͤrs Auge, und
das Auge fuͤrs Licht ſchuf, ſollte unzaͤhlige verſchiedene Geſtalten und Ausdruͤcke unſichtbarer Anla-
gen, Kraͤfte, Neigungen, Leidenſchaften, gebildet haben — dem Menſchen Sinn und Trieb und
Gefuͤhl, die ſich offenbar darauf beziehen, gegeben — und bey allen dieſen ihren maͤchtigen Rei-
zungen — es ihm unmoͤglich gemacht haben, ſeinen Wiſſensdurſt auch in dieſer Abſicht zu
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. Xbefrie-
[154]XII.Fragment. Von der Leichtigkeit
befriedigen? Sie, die dem Menſchen noch wohl tiefere, und doch weniger brauchbare, der Geſell-
ſchaft viel gleichguͤltigere Geheimniſſe darbot, und ſeinem forſchenden Blick aufſchloß? — Sie,
die ihm Wege zeigte, die Bahn der Cometen auszuſpaͤhen und ihre Kruͤmmung zu meſſen? —
Sie, die dem Menſchen das Fernglas in die Haͤnde gab, die Trabanten der Planeten auszuſpuͤ-
ren, und Verſtand in ſeine Stirne, die Finſterniſſe derſelben auf Jahrhunderte zu berechnen? Dieſe
zaͤrtliche Mutter ſollt's ihren Kindern, ihren Wahrheit ſuchenden Schuͤlern, den edlen menſchen-
freundlichen Seelen, die ſich ſo gern der Herrlichkeit des Allherrlichen in ſeinem Meiſterſtuͤcke
freuen moͤchten — ſo ſchwer machen, in dem immer offnen, immer nahen — Antlitze des Men-
ſchen zu leſen? des Menſchen, des Schoͤnſten aller ihrer Werke? des Menſchen, dieſes Jnnbe-
griffs aller Dinge — dieſes Spiegels der Gottheit, dieſes Wiederſcheins von Himmel und Erde —
des Menſchen, der uns in allen Abſichten das Wichtigſte — und in ſo mancher Abſicht unſer
Bruder iſt?
O! Menſch mit geſundem Verſtande, kannſt du ſolches glauben? dieſes der beſten, der
zaͤrtlichſten aller Muͤtter zutrauen? O Menſch — dir ſollt' alles leicht werden koͤnnen, was du ent-
behren kannſt; und nur das ſchwer bleiben, was dir am naͤchſten und wichtigſten iſt?
O — erwache, die dir tauſendfach begegnende Menſchheit anzuſchauen! Du kannſt hier
unendlich vieles lernen! Entſchuͤtte dich deiner Traͤgheit! Komm und ſiehe! Du kannſt dir das
Schwerſte leicht machen, wenns dir wichtig wird, und wenn du Muth haſt.
Fuͤhle das Beduͤrfniß ſichrer Menſchenkenntniß; und glaube, daß ein großer Theil die-
ſes Beduͤrfniſſes befriediget werden koͤnne — durch dieß doppelte Gefuͤhl wirſt du dir das Schwer-
ſte leicht machen.
Das große Geheimniß, ſich alles leicht zu machen, beſteht in der Analyſirung, (Zerglie-
derung) der Dinge. Nimm Eins nach dem andern vor dich, und fange beym Leichteſten an —
am Ende wirſt du Wunder gethan haben! Die hoͤchſte Stufe, wenn ſie je erreicht werden kann,
kann's auf keine andere Weiſe, als wenn du erſt die unterſte, ſodann die zweyte und dritte zu be-
treten anfaͤngſt, und beſonders keine uͤberſpringen willſt.
Welche
[155]der Phyſiognomik.
Welche Wiſſenſchaft, ſo ſehr ſie mit Schwierigkeiten umgeben geweſen ſeyn mag (und
welche war's nicht?) welche hat in dem menſchlichen Beobachten, Nachdenken und Fleiß nicht
maͤchtige Erleichterung und Aufheiterung gefunden?
Wenn ich von der Methode rede, wie vielleicht die Phyſiognomik ſtudirt werden ſollte,
ſo wird der nachdenkende Leſer urtheilen koͤnnen, obs ſo gar ſchwer und unmoͤglich ſey, in die-
ſem Studium Land zu gewinnen und feſten Fuß zu ſetzen, als ſo viele, aus ſo ganz verſchie-
denen Gruͤnden, behaupten wollen.
[156]XIII.Fragment.
Dreyzehntes Fragment.
Vom Nutzen der Phyſiognomik.
Ob deulichere, beſtimmtere, richtigere, ausgedehntere — hiemit vollkommenere Menſchen-
kenntniß an ſich nuͤtzlich ſey oder nicht — ob hiemit auch die Kenntniß innerer Eigenſchaf-
ten aus aͤußerlicher Bildung und Zuͤgen Nutzen haben koͤnne oder nicht? das iſt eine Frage, de-
ren Beantwortung in dieſen Fragmenten eine der erſten Stellen verdient. Waͤre die Antwort auf
dieſelbe bey mir nicht vor allem andern die ausgemachteſte Sache geweſen, dieſe Fragmente wuͤrden
wohl niemals das Licht der Welt erblickt haben. Es iſt aber auch eine Frage, die fuͤr mich
nicht ſchwer zu beantworten war, und es mir auch nicht fuͤr andre ſcheint.
Fuͤrs erſte gehoͤrt ſie unter die allgemeinere Frage, ob uͤberhaupt Kenntniſſe, und ihre
Vermehrung und Verbeſſerung den Menſchen nuͤtzen? Mich duͤnkt, jedem uneingenommenen Men-
ſchen ſollt's zum voraus lebhaft ahnden, wie dieſe Frage zu beantworten iſt. Man muß in der That
die Natur des Menſchen und der Dinge oder das Verhaͤltniß der menſchlichen Gluͤckſeligkeit zu ſei-
nen Kraͤften und Trieben, das ſo ſehr in die Augen ſpringt, ganz verkennen; man muß durch ſehr
einſeitige Urtheile ſehr geblendet ſeyn, wenn man nicht einſieht, daß der proportionirte Ge-
brauch jeder Kraft und die proportionirte Befriedigung jedes Triebes, — die im Men-
ſchen liegen, gut, nuͤtzlich, zur menſchlichen Wohlfahrt unentbehrlich ſey. So gewiß
der Menſch koͤrperliche Kraͤfte und einen Trieb hat, zu wirken, zu ſchaffen, ſeine Kraͤfte zu brau-
chen — ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich, daß er ſeine koͤrperlichen Kraͤfte brauche. So gewiß
er Faͤhigkeit und Kraft zum lieben hat, und Trieb zum lieben, ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich,
daß er liebe. Und eben ſo nun auch: ſo gewiß der Menſch Erkenntniß, Vermoͤgen und Wißtrieb
hat, ſo gewiß iſt es gut, nuͤtzlich, nothwendig, daß er in gehoͤrigem Maaße auch dieſen Trieb be-
friedige, auch dieſe Kraft brauche! Wie gekuͤnſtelt kommen alle Beweiſe heraus, daß die Wiſſen-
ſchaften, daß Kenntniſſe dem Menſchen mehr ſchaͤdlich ſeyn, und ein Zuſtand der Unwiſſenheit dem
allen vorzuziehen ſey?
Jch
[157]Vom Nutzen der Phyſiognomik.
Jch kann es, und muß es an dieſem Orte vorausſetzen, daß Phyſiognomik fuͤrs erſte wenig-
ſtens den Anſpruch auf innere Nutzbarkeit habe, den man vernuͤnftiger Weiſe allen menſch-
lichen Wiſſenſchaften und Kenntniſſen uͤberhaupt zugeſtehen muß.
Welch ein Vorzug der Wichtigkeit und Nutzbarkeit iſt nun aber billig der Menſchenkennt-
niß von je her gegeben worden? Was geht den Menſchen mehr an, als der Menſch? welche
Kenntniß kann mehrern Einfluß auf ſeine Wohlfahrt haben, als die Kenntniß ſeiner ſelbſt?
Phyſiognomik iſt es alſo auch da wieder, die ſich dieß beſondre Verdienſt von Nutzbarkeit zu-
eignen darf.
Noch mehr: von allem dem, was ſich immer vom Menſchen wiſſen laͤßt, von allem, was
ſich immer uͤber ihn, und zwar uͤber ſeinen Geiſt raiſonniren laͤßt, iſt das, was aus Zeichen, die
in die Sinne fallen, erkannt wird, was hiemit Erfahrungserkenntniß giebt, immer das Zuver-
laͤßigſte und Brauchbarſte, und der Nutzen deſſelben hiemit um ſo viel ſichrer; welcher Philoſoph
wird nicht den empyriſchen Theil der Pſychologie allem uͤbrigen vorziehen?
Als Kenntniß uͤberhaupt, als Menſchenkenntniß demnach, und endlich als empyriſche
Menſchenkenntniß hat auch ſchon ohne weiters die Phyſiognomik das dreyfache Verdienſt der
Nutzbarkeit.
Wer ſich nun noch eigentlicher von dem Nutzen der Phyſiognomik uͤberzeugen will, der laſſe
ſich einen Augenblick ſeyn, daß alle, auch die undeutlichen phyſiognomiſchen Kenntniſſe, aller phy-
ſiognomiſche Sinn aus der Welt heraus gehoben wuͤrden; welche Verwirrung, welche Unzuver-
laͤſſigkeit und Unſicherheit, welche Ungereimtheit wuͤrden nicht in tauſend und Millionen menſchli-
chen Handlungen entſtehen? Was iſt die ewige Unſicherheit im Handeln fuͤr eine immerwaͤhrende
Plage und ein ſchreckliches Hinderniß in allem, was wir unmittelbar mit den Menſchen zu thun
haben; und wie unendlich wuͤrde alsdann die Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder
blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrſcheinlichkeiten beruht, ge-
ſchwaͤcht! Wie viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menſchheit
ſind, wuͤrden unterlaſſen werden!
Der Umgang mit den Menſchen iſt ja das erſte, was uns in der Welt aufſtoͤßt; der
Menſch iſt berufen, mit Menſchen umzugehen. Kenntniß des Menſchen iſt ja die Seele des Um-
X 3gangs,
[158]XIII.Fragment.
gangs, das was den Umgang lebendig, angenehm und nuͤtzlich macht; Kenntniß des Menſchen iſt
etwas, das auf einen gewiſſen Grad einem jeden Menſchen ſchlechterdings unentbehrlich iſt. Wie
nun aber den Menſchen leichter, beſſer, ſichrer kennen lernen, als durch Phyſiognomik (im wei-
tern Sinne des Worts) da man ſie in ſo vielen tauſend und tauſend Faͤllen nicht aus den Hand-
lungen kennen lernen kann?
Man bedenke nur, wie mancherley Eigenſchaften eines Menſchen ich in ſo manchen Faͤllen,
wo ich etwas mit ihm zu thun habe, wo ich ihn zu etwas brauchen, ihm etwas auftragen ꝛc. ſoll,
kennen muß. Mit den unbeſtimmten Woͤrtern gut und boͤſe, verſtaͤndig oder ſchwach — wie
wenig iſt noch mit dieſem geſagt, wenn es drum zu thun iſt, einen Menſchen zu kennen!
Du ſagſt; das iſt ein guter und verſtaͤndiger Menſch: — allein ich habe den Menſchen
noch nie geſehen. Wie wenig weiß ich noch mit dieſen zwey Praͤdicaten — und was wollen die
ſagen bey den Millionen Arten und Graden der Guͤte, und den Millionen Arten und Graden des
Verſtandes, welche meynſt du? — Ja wenn du mir noch ſo viel Praͤdikate von ihm herzaͤhlſt —
die Woͤrter alle, wie unbeſtimmt iſt ihr Sinn und Grad? wie unſicher bin ich bey deiner Beob-
achtung, deiner Art zu ſchließen u. ſ. f. — Hingegen: Jch ſehe den Menſchen, ſeh ihn in ſeinen
Bewegungen und Gebaͤrden! hoͤr ihn reden — welche Beſtimmtheit fuͤr mich bekommen ploͤtzlich
alle die Praͤdikate, die du mir von ihm herſagteſt — wie ſchnell modificiren und bekraͤftigen ſie ſich
mir, oder widerlegen deine Urtheile, oder ſetzen mich in Zweifel? Und wie vieles weiß ich, — fuͤhl
ich von dieſem Menſchen, ſeit dem ich ihn geſehen habe, wie viel Convenienzen oder Jnconvenienzen
an ihm, die du mir nicht beſchrieben haſt, nicht haͤtteſt beſchreiben koͤnnen, anders als eben auch
wieder aus ſeinem Aeußerlichen? Als Phyſiognomiſt hiemit — und ſo beweiſeſt du alſo gleich
wiederum den Nutzen der Phyſiognomik? — Jch hoffe, ihr ſehet, fuͤhlet doch etwas von dem
unausſprechlichen Werthe der Phyſiognomik? —
Laßt nun den Phyſiognomiſten — Beobachtungen machen, Mannichfaltigkeiten und Er-
fahrungen feinere Unterſchiede bemerken, Kennzeichen angeben, immer neue Woͤrter zu neuen
Bemerkungen machen, allgemeinere Saͤtze abſtrahiren, phyſiognomiſche Wiſſenſchaft, Sprache
und Sinn vermehren, verfeinern und vervollkommnern — ſo ſteigt und waͤchſet alſo auch mit die-
ſem die Brauchbarkeit und der Nutzen der Phyſiognomik.
Man
[159]Vom Nutzen der Phyſiognomik.
Man denke ſich in die Sphaͤren eines Staatsmanns, Seelſorgers, Predigers, Hofmei-
ſters, Arztes, Kaufmanns, Freundes, Hausvaters, Ehegenoſſen — hinein, und ſchnell wird
man empfinden, wie mannichfaltigen, wichtigen Gebrauch jeder in ſeine Sphaͤre von phyſiognomi-
ſchen Kenntniſſen machen kann. Man koͤnnte fuͤr jeden dieſer Staͤnde eine beſondere Phyſiognomik
ſchreiben. *) (Von dem Character des Phyſiognomiſten, und von den Behutſamkeiten im Urthei-
len — werden wir auch noch zu reden Gelegenheit haben, und ich muß meine Leſer zum voraus
bitten, die Fragmente uͤber dieſe Stuͤcke mit doppelter Aufmerkſamkeit zu leſen und durchzudenken.)
Ferner. Man muß, wenn man von dem Nutzen der Phyſiognomik redet, nie blos auf
das ſehen, was im ſtrengern Sinne wiſſenſchaftlich heißen kann, und was in dieſer Abſicht gelei-
ſtet wird, vielmehr muß man dieſes in Verbindung mit einer unmittelbaren Folge betrachten, die
alle oͤffentliche Beytraͤge zur Phyſiognomik ohne Zweifel haben; ich meyne die Erweckung und
Veranlaſſung zur Verfeinerung der Beobachtung und des phyſiognomiſchen Sinnes.
Wenn nun aber dieſer phyſiognomiſche Sinn je mit der Empfindung des Schoͤnen und
Haͤßlichen, mit Gefuͤhl der Vollkommenheit und Unvollkommenheit gepaart geht — (und welcher
wohldenkende phyſiognomiſche Schriftſteller wird nicht immer beyde zugleich uͤben und reizen wol-
len?) welchen wichtigen ausgebreiteten Nutzen kann nicht da die Phyſiognomik haben? wie er-
hebt ſich meine Bruſt bey der Ahndung — daß ſo viel Gefuͤhl fuͤrs Edle und Schoͤne, ſo viel Ab-
ſcheu vor dem Niedrigen und Unedlen erweckt wird — daß ſo viele Reize zum Guten auf jeden
Menſchen, der ſeine Auge phyſiognomiſch uͤbt, wirken muͤſſen; daß der Menſch, der nun mehr im
Anſchaun und unmittelbaren Gefuͤhl von der Schoͤnheit der Tugend und Haͤßlichkeit des Laſters
wandelt, ſo maͤchtig, ſo ſanft, ſo mannichfaltig und unaufhoͤrlich angereizt wird, und erweckt
zur Vervollkommnung ſeiner Natur.
Die Phyſiognomik iſt eine Quelle der feinſten und erhabenſten Empfindungen; ein neues
Auge, die tauſendfaͤltigen Ausdruͤcke der goͤttlichen Weisheit und Guͤte zu bemerken, um den an-
betens-
[160]XIII.Fragment.
betenswuͤrdigen Urheber der menſchlichen Natur, der ſo unausſprechlich viel Wahrheit und Har-
monie in dieſelbige gelegt hat, in neuen Liebenswuͤrdigkeiten zu erblicken. Wo das ſtumpfe, das
ungeuͤbte Auge des Unaufmerkſamen nichts vermuthet, da entdeckt das geuͤbte des Geſichtkenners,
unerſchoͤpfliche Quellen des geiſtigſten, ſittlichſten und zaͤrtlichſten Vergnuͤgens. Nur er verſteht
die ſchoͤnſte, beredteſte, richtigſte, unwillkuͤhrlichſte und bedeutungsvolleſte aller Sprachen, die
Naturſprache des moraliſchen und intellectuellen Genies; die Naturſprache der Weisheit und Tu-
gend. Er verſteht ſie im Geſichte derjenigen, die ſelbſt nicht wiſſen, daß ſie dieſelbe ſprechen. Er
kennet die Tugend, ſo verſteckt ſie immer ſeyn mag. Mit geheimer Entzuͤckung durchdringt der
menſchenfreundliche Phyſiognomiſt das Jnnere eines Menſchen, und erblickt da die erhabenſten
Anlagen, die ſich vielleicht erſt in der zukuͤnftigen Welt entwickeln werden. Er trennt das Feſte
in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufaͤlligen. Mithin beurtheilt
er den Menſchen richtiger: er beurtheilt ihn blos nach ſich ſelbſt.
Jch kann das Vergnuͤgen nicht beſchreiben, das ich ſo oft, das ich beynahe taͤglich em-
pfinde, wenn ich unter einem Haufen unbekannter Menſchen — Geſichter erblicke, die, wenn ich
ſo ſagen darf, das Siegel Gottes auf ihrer Stirne tragen! wenn ein Fremder in mein Zimmer
tritt, deſſen Geſicht mich durch ſeine leuchtende Redlichkeit, ſeinen triumphirenden Verſtand ſogleich
ergreift! — Wie da Menſchenſeligkeit gefuͤhlt, Sinn und Geiſt und Herz aufgeſchloſſen —
wie da Kraft gegen Kraft rege wird! wie da die Seele emporgetragen, begeiſtert, um einige
Stufen hoͤher gefuͤhrt wird! — — O — du Menſchen durch Menſchen ſegnender Gott! — Jn
einer ſolchen Stunde ſollt ich vom Nutzen der Phyſiognomik ſchreiben!
Die Phyſiognomik reißt Herzen zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlich-
ſten Freundſchaften. Auf keinem unumſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen, kann die
Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriß
eines Mundes, dem Blick eines Auges! —
Die Phyſiognomik iſt die Seele aller Klugheit. Jndem ſie das Vergnuͤgen des Umgangs
uͤber allen Ausdruck erhoͤhet, ſagt ſie zugleich dem Herzen, wo es reden und ſchweigen, warnen
und ermuntern, troͤſten und ſtrafen ſoll.
Furcht-
[161]Vom Nutzen der Phyſiognomik.
Furchtbar iſt die Phyſiognomik dem Laſter! Laßt phyſiognomiſchen Sinn erwachen, und
wirken in den Menſchen, und da ſtehen ſie gebrandmarkt die Kammern und Conſiſtoria und Kloͤ-
ſter und Kirchen voll heuchleriſcher Tyranney, Geizhaͤlſe, Schmeerbaͤuche und Schaͤlke u. ſ. f. die
unter der Larve der Religion ihre Schande, und Vergifter der menſchlichen Wohlfahrt waren.
Abfallen, wie welkes Herbſtlaub, wird alle Ehrfurcht, Hochachtung und Zuneigung, die
das betrogene Volk zu ihnen hatte. Man wird empfinden lernen, daß es Laͤſterung ſey, ſolche be-
daurungswuͤrdige Figuren fuͤr Heilige, fuͤr Saͤulen der Kirche und des Staats, fuͤr Menſchen-
freunde und Religionslehrer zu halten.
Jndem ich dieſes ſchreibe, erhielt ich ein Theil meines Manuſcriptes aus den Haͤnden des
Cenſors zuruͤck. Dieſer uͤberaus ſcharfſichtige Mann hat die Guͤtigkeit, ſich unter ſeine Wuͤrde
gegen mich herabzulaſſen, und mir einige ſehr feine Einwendungen und wichtige Anmerkungen mit-
zutheilen, die ich, mit ſeiner Erlaubniß, an gehoͤrigen Orten, groͤßtentheils anzufuͤhren, mir die
Freyheit nehmen werde. — Unter dieſen Anmerkungen befindet ſich eine, die gerade hieher gehoͤrt:
„wenn es moͤglich waͤre,“ ſagt dieſer eben ſo kluge als philoſophiſche Kopf, „dieſe Wiſſenſchaft zu
„ihrer Evidenz und Staͤrke durchzufuͤhren, ſo wuͤrde ich einen erſtaunlichen Nutzen daraus prophe-
„zeyen. Jch ſage von dem erhabenen Nutzen nichts, von welchem Sie reden. — Jch vermuthe; es
„wuͤrde ein thaͤtiges Mittel ſeyn, das Laſter auszurotten, oder doch einzuſchraͤnken und zu vermindern.
„Wenn wir einmal die Characteriſtik kennten, einmal den uͤberwiegenden moraliſchen Hang eines
„Menſchen in ſeinen Geſichtszuͤgen eingepraͤgt ſehen koͤnnten; ja wenn es unter das gemeine Volk
„kaͤme, daß man das Laſter im Geſicht erkennen koͤnne; daß in einer jeden Stadt nur zwo Perſo-
„nen, nur zween Gelehrte ſeyn, die dieſes koͤnnen; wie ſehr wuͤrde das Laſter erſchrecken? Auch
„der determinirte Boͤſewicht will nicht laſterhaft ſcheinen, zum wenigſten, nicht heißen. Wie
„viele blos zufaͤllig, blos aus Unbedachtſamkeit und Leichtſinn Laſterhafte, die ſich vor Gott,
„und den Jdeen von Gott nicht ſcheuen, wuͤrden ſich vor dem Auge des Beobachters ſcheuen;
„wuͤrden in ſich ſelbſt gehen, ihre Unarten beſiegen; — um mit einem tugendhaftern Geſichte
„zu erſcheinen?“ —
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. YEs
[162]XIII.Fragment. Vom Nutzen der Phyſiognomik.
Es waͤre blos vom Nutzen der Phyſiognomik ein ganzes großes Buch zu ſchreiben; eine
Menge Buͤcher — der gewiſſeſte aber geringſte Nutzen iſt fuͤr die Mahler, deren ganze
Kunſt nichts iſt, wenn ſie nicht Phyſiognomik iſt — und der groͤſſeſte iſt — die Bildung,
Leitung und Beſſerung der menſchlichen Herzen. Jch werde haͤufige Gelegenheit
haben, einzelne Anmerkungen anzubringen, die dieſen Nutzen fuͤhlbar genug machen werden. So
viel will ich nur noch zum Beſchluß dieſes — ach! wie unvollkommenen Fragmentes ſagen — was
ich zum Theil auch ſchon habe ſagen muͤſſen — „das Bischen phyſiognomiſche Kenntniß, das ich mir
„erworben — und die Erweiterung meines phyſiognomiſchen Gefuͤhls — iſt mir nicht nur taͤglich
„unbeſchreiblich nuͤtzlich, ſondern — ich darf ſagen, beynahe unentbehrlich, und ich darf, aus
„Furcht vor dem Vorwurfe des Enthuſiasmus, den man jedem Liebhaber einer Sache ſogleich zu
„machen pflegt, nicht den zehenten Theil von dem Nutzen bekannt machen, den ich fuͤr meine Per-
„ſon, theils daraus geſchoͤpft habe, theils fuͤr mich und andere Menſchen daraus zu ſchoͤpfen mir
„noch verſprechen darf — und deſſen Ueberdenkung allein mich nicht nur unter der Laſt dieſer
„gleichſam verſtohlener Weiſe erfochtenen Arbeit unterſtuͤtzt, ſondern auch oft Freudenthraͤnen
„entlockt.“
[163]
Vierzehntes Fragment.
Vom Schaden der Phyſiognomik.
„Odu, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich
mir eine redliche Seele entgegen rufen! — „O wie viel Unheil wirſt du ſtiften mit deiner
„Phyſiognomik? Du willſt den Menſchen die unſelige Kunſt lehren, ſeinen Bruder auch aus jeder
„zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelſucht, des Auflaurens auf anderer
„Mistritte ſoll noch nicht genug ſeyn? Du willſt die Menſchen auch noch lehren auflauren auf des
„Herzens Geheimniſſe, die tiefſten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? — Sieh von nun an,
„mit ſcharfem Blick — mit bewaffnetem Auge uͤberall nur Beobachter! Nur Phyſiognomienbeob-
„achter in Geſellſchaften — bey Leichenbegaͤngniſſen — in der Kirche — wo ſie hin kommen, dieſe
„Beobachter, ſie hoͤren nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; ſie beobachten
„nur Phyſiognomien, belauſchen nur Herzen; dieſe alle haſt du, hat dein Werk entzuͤndet — und
„es flammt und wuͤtet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelſucht, und verzehrt jeden
„Reſt von Tugend und Menſchenliebe in ihrem Herzen!“
„O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des
„Ausdrucks der Tugend, und der Haͤßlichkeit des Laſters erkennen und fuͤhlen lehreſt, und ſie ſo
„zur Tugend reizeſt? ſie mit Abſcheu vor dem Laſter auch durch das Gefuͤhl ſeiner aͤußerlichen
„Haͤßlichkeit erfuͤlleſt? — Dieß kaͤme alſo, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Menſch
„ſoll lernen gut werden, damit er gut ſcheine? daß das ſo ſchon eitle Geſchoͤpf, das gern immer nur
„um Lob handelt, gern immer nur ſcheint, was es ſeyn ſollte, noch eitler werde — nicht nur
„mit jeder That und jedem Worte, ſondern ſelbſt noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach-
„tung und Liebe — und Lob der Menſchen — buhle? Statt dieſe nur allzumaͤchtige Trieb-
„feder menſchlicher Handlungen zu ſchwaͤchen, und eine beſſere zu ſtaͤrken; ſtatt den Menſchen
„in ſich zu weiſen — ſein Jnnwendiges zu beſſern, ihn zu lehren, in Stille gut ſeyn, und
„unſchuldig — ohne uͤber den ſchoͤnen Ausdruck des Guten, des Haͤßlichen, des Boͤſen mit ihm
„zu raͤſonniren.“ — —
Y 2Jch
[164]XIV.Fragment.
Jch bin ſchwer angeklagt, und die Klage hat großen Schein der Wahrheit. Aber wie
leicht iſt mir die Vertheidigung, wie angenehm gegen jeden, der dieſe Klage aus Menſchen lieben-
dem Kummer hervorbringt, und nicht aus Sentimentsprahlerey.
Die Klage iſt gedoppelt. „Jch befoͤrdere die Menſchenrichterey und die Eitelkeit; ich
„lehre den Menſchen mehr richten und tadeln, und ich mache ihn eitel und ſcheingut?“
Jch will auf jede antworten, und es denke ja niemand, daß ich das, was Wahres an
dieſen Vorwuͤrfen ſeyn mag, mir ſelbſt nicht ſchon oft geſagt, nicht ſehr oft in aller Staͤrke ge-
fuͤhlt habe.
Der erſte Vorwurf betrifft einen zu erwartenden moͤglichen Mißbrauch dieſer Wiſſenſchaft.
Freylich kann eine gute Sache nicht gemißbraucht werden, bis ſie da iſt: und wenn ſie
da iſt, ſo faͤngt ſie an, dieſen Schaden zu ſtiften, weil ſie unſchuldiger Weiſe von nun an Ge-
legenheit giebt, gemißbraucht zu werden. — Deswegen nun ſollte eine gute Sache nicht ſeyn?
Alle wehmuͤthige Klage uͤber den moͤglichen, ſehr wahrſcheinlichen, und, wenn man will,
unvermeidlichen Mißbrauch dieſer Sache, hat am Ende doch nur ihr beſtimmtes Gewicht: denn
wer billig ſeyn will, laͤßt ſich durch kein Deklamiren uͤber den Schaden allein, einnehmen.
Er wiegt den Nutzen dagegen, und wenn das Uebergewicht deſſelben augenſcheinlich iſt, ſo
beruhigt er ſich und ſucht den Schaden, ſo gut wie moͤglich, abzuwenden und zu vermindern.
Wer kann dieſe heldenmuͤthige Standhaftigkeit bey etwas Gutem, das auch Boͤſes mit
ſich fuͤhrt, beſſer in uns naͤhren: wer uns mehr heilen von jener kleinmuͤthigen Aengſtlichkeit, die
ſich durch jede unvermeidliche boͤſe Nebenfolge vom Guten abſchrecken laͤßt — als der große Unter-
nehmer und Stifter des groͤßten Guten, der bey aller ſeiner zaͤrtlichen Menſchlichkeit, bey aller
ſeiner Geraͤuſch haſſenden Friedfertigkeit ſo kuͤhn ſprach! „Jch bin nicht gekommen, Friede auf
„Erden zu ſenden, ſondern das Schwerdt?“
Leid um jede ſchlimme Folge ſeines Thuns iſt's ihm geweſen; aber ruhig war er doch bey
allem, was an ſich gut war, was uͤberwiegend gut in ſeinen Folgen ſeyn mußte.
Leid will ich mir's ſeyn laſſen um jede beylaͤufige ſchlimme Folge dieſes Buchs, aber ru-
hig will ich ſeyn bey dem großen Uebergewichte des Guten, das es wirken wird. — Jch ſehe
ſie deutlich und beſtimmt voraus: ich verberge ſie mir nicht, alle die ſchaͤdlichen Wirkungen, die un-
fehlbar,
[165]Vom Schaden der Phyſiognomik.
fehlbar, oder doch ſehr wahrſcheinlich, beſonders in den erſten Monaten oder Jahren — und bey
denen, welche ſich mit dem leves guſtus in goͤttlichem und menſchlichem Wiſſen begnuͤgen, durch
dieſe Schrift werden veranlaſſet werden; ich vergegenwaͤrtige ſie mir ſo ſehr, wie moͤglich, um mich
beſtaͤndig im maͤchtigen Triebe zu erhalten, alle meine Kraͤfte aufzubieten, es ſo unſchaͤdlich, es ſo
nuͤtzlich, wie moͤglich, zu machen. Dieſe beſtaͤndige Vergegenwaͤrtigung aller ſchlimmen Wirkungen,
die es, wie jede gute, jede rein goͤttliche Sache ſo gar, haben muß, iſt indeſſen nicht vermoͤgend, mich
muthlos zu machen, da ich bey jedem Fortſchritte meiner Arbeit in der Ueberzeugung feſter werde —
„daß ich etwas Gutes ſchaffe, und daß jeder, jeder Menſch, der mich mit einiger Aufmerkſamkeit
„lieſet, und nicht das verdorbenſte Herz hat, eher beſſer, als ſchlimmer werden muß?“ —
Dieß uͤberhaupt. Und nun noch naͤhere Antwort, auf den erſten Vorwurf!
I.
1) Jch lehre nicht eine ſchwarze Kunſt, ein Arkanum, das ich haͤtte fuͤr mich behalten moͤ-
gen, das tauſendmal ſchadet und einmal nuͤtzt, und eben darum ein ſo ſelten entdeckbares Arkanum
iſt. Jch lehre nur — oder lieber: ich theile Empfindungen, Beobachtungen und Schlußfolgen
mit, in einer Kenntniß oder Wiſſenſchaft, die die allgemeinſte, die alleroffenſte, die das Loos und
Theil jedes Menſchen iſt.
Man vergeſſe ja nie, daß aͤußerer Ausdruck ja eben deswegen da iſt, daß das Jnnere
draus erkannt werde! Man vergeſſe ja nicht, daß der Menſch gar nichts mehr wiſſen muͤßte noch
duͤrfte, wenn er nicht aus Aeußerm Jnners ſollte erkennen lernen! Man vergeſſe nicht, daß jeder,
jeder, jeder Menſch, wer er auch ſey, mit einem gewiſſen Grade des phyſiognomiſchen Sinnes ge-
boren ſey; ſo gewiß jeder, der keine Mißgeburt iſt, zwey Augen im Kopfe hat. Man vergeſſe ja
nicht, daß immer und immer in allen Zuſammenkuͤnften, in allem Verkehr und Umgang der Men-
ſchen mit einander phyſiognomiſch — — nach dunkeln Gefuͤhlen oder klaͤrern Bemerkungen phy-
ſiognomiſch geurtheilt werde! — Daß alſo bekanntlich — — wenn auch phyſiognomiſche Wiſſen-
ſchaft niemals in ein Syſtem gebracht wuͤrde — — faſt ein jeder, nach dem Maaße, daß er mit vielen
und mancherley Menſchen im Verkehr ſteht, ſich auf ſeine Menſchenkenntniß aus dem erſten Anblick
wirklich etwas zu gute thun wuͤrde — und es laͤngſtens gethan hat, ehe ich dieſen Verſuch wagte.
Y 3Obs
[166]XIV.Fragment.
Obs nun hierinn ſo viel ſchaden koͤnne, wenn man die Menſchen, anſtatt dunkler, etwas klaͤrer und
deutlicher urtheilen lehrt; anſtatt ſie mit grobem Gefuͤhl unrichtig und verworren urtheilen zu laſſen,
ſie mit verfeinertem Gefuͤhl richtig urtheilen lehrt; anſtatt ſie derb hinein tappen, und mit phyſiogno-
miſchen Urtheilen um ſich hauen zu laſſen, ſie durch das Beyſpiel erfahrner Phyſiognomiſten und
durch Regeln der Klugheit und Behutſamkeit, und durch die erhobene Stimme der Menſchenliebe,
wo ſie Boͤſes zu ſehen vermeynt, mißtrauiſch in ihre Phyſiognomik, und behutſam im Urtheilen
zu machen ſtrebt — ob dieß alles ſo ſehr ſchaden koͤnne? laß ich jedem zu beurtheilen uͤber!
Das ſag ich laut und feyerlich auch bey dieſer Gelegenheit; „wer aller meiner Warnungen
„nicht achtet; nicht achtet aller angefuͤhrten Gruͤnde und Beyſpiele von der leichten Moͤglichkeit,
„ſich noch zu irren; nicht achtet alles dringenden Zurufs der Menſchenfreundlichkeit — und hingeht
„und wie mit einem Meſſer in der Hand umher wuͤtet und ſeiner Bruͤder Redlichkeit und guten
„Namen damit ermordet, — der thue es auf ſeinen Kopf; und meine Seele ſey rein von ſeiner
„Schuld, wenn einſt alles Boͤſe ans Licht kommen und ſeine Strafe empfangen wird, und unter
„allem die ſchaͤrfſte das unbruͤderliche Richten.“
2) Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß ſehr wenige Menſchen um deswillen von neuem
anfangen werden, andere Menſchen unbruͤderlich zu belauren, zu beobachten und zu richten, die es
ſonſt nicht gethan haben.
Leider, auch ohne daß die Phyſiognomik Anlaß dazu giebt, wiſſen viele ihren Geiſt und ihr
Herz, fuͤr ſich allein und im Umgange, mit nichts anderm zu naͤhren und zu unterhalten, als mit
Beurtheilung anderer, und was andre thun und laſſen, was anderen begegnet und warum es ihnen
begegnet; was ſie ſeyn und nicht ſeyn; was ſie im Schilde fuͤhren, und was von ihnen zu erwar-
ten ſtehe, was ihr Character, ihr Herz werth ſey u. ſ. f. — Ja das alles wird beobachtet, belau-
ret, erzaͤhlt, gewogen, beurtheilt, behauptet — herum getraͤtſcht von ſolchen Leuten.
Und was iſts denn, was in tauſend Faͤllen das Fundament der kuͤhnſten und entſcheidend-
ſten Urtheile uͤber den Geiſt und vornehmlich uͤber das Herz und den Character eines Menſchen ab-
giebt? Eine Handlung, ein Wort — eine Anekdote, die herum geboten wird — vielleicht etliche
Handlungen, etliche Anekdoͤtchen — die aber ganz gewiß wahr ſeyn ſollen? Nun, wir wollen's ſeyn
laſſen; wollen ſehen, was dann das fuͤr ein ſichres Fundament der Beurtheilung der Character ſey?
„Dieſe
[167]Vom Schaden der Phyſiognomik.
„Dieſe ſchlimme Handlung, und hier eine unrechte, und dort eine zweydeutige!“ ſagt ihr.
Nun gut; aber iſt ſie auch puͤnktlich erzaͤhlt? wie ſchwer iſt dieß! und in welchen Umſtaͤnden allen?
Jn welcher Verbindung? Mit welchen dabey vorgegangenen Gemuͤthsbewegungen, mit welchen
dabey erregten Trieben und Empfindungen? „Das wiſſen wir freylich nicht alles ſo genau?“ Das
glaub ich wahrlich! Jhr wißt das eben nicht alles ſo genau! und das ſoll nun das ſichre Funda-
ment der Beurtheilung — des entſcheidenden Urtheils uͤber den Character, uͤber das Herz eines
Menſchen ſeyn? —
O wie lob ich mir da das weit ſichrere Fundament der Beurtheilung eines Menſchen —
die Phyſiognomie ſeines Angeſichts, ſeiner ganzen Geſtalt und Gebehrden, als einige Handlungen,
außer ihrem Zuſammenhange mit allen Umſtaͤnden heraus geſchnitten!
Jch hoͤre K ... iſt ein hitziger gaͤhzorniger Mann? woher weiß man das? Aus Hand-
lungen. Gut: ich bekomm' ihn zu ſehen, und erſtaune uͤber den Ausdruck der Sanftmuth und
des beſcheidenen Weſens, den ich in ſeinem Angeſicht und ſeinem ganzen Weſen erblicke. Jch ſeh'
in ihm einen ſanften aber geiſtreichen Mann, der allenfalls zuͤrnen kann, (wer's nicht kann, iſt kein
Mann; wer's nicht kann, deſſen Sanftmuth iſt keine aͤchte Tugend;) ich ſeh' ihn — aber gar
nicht den hitzigen, den gaͤhzornigen Cholerikus! Nun ruh ich nicht, bis ich die Anekdoten, die ihn
als einen hitzigen Mann taxirten, bis auf den Grund weiß. Und ſiehe da! der Mann hat ſich ei-
nigemale in unbeſcheidenen Ausdruͤcken vergangen; und warum? — ach, ein ſtolzer vornehmer
Herr — reizt' ihn durch die ungerechteſte Zumuthung!
Ein anderer — er ſoll ſehr große Einkuͤnfte haben; und dennoch ſeine Tafel, ſein Hausge-
raͤthe und ſeine Kleider — wie eingeſchraͤnkt! — Dieſe Maͤßigkeit gefaͤllt mir; ich lobe ſie — und
gleich faͤhrt man zu: „Was ſie ſagen! Sie ſind an den Rechten gekommen! der Knicker mag ſich das
„Eßen kaum goͤnnen!“ Jch zucke die Achſeln und denk' und ſage: „dieß weiß ich mit dem edeln,
„guͤtigen Weſen ſeines Angeſichts, der offnen Natuͤrlichkeit ſeines Betragens nicht zuſammen zu
„reimen.“ Und nach kurzer Zeit werd ich inne, daß dieſer Edle, den die ganze Stadt fuͤr einen
Knicker ausſchreyt, alles moͤgliche aufhebt, und ſeinem angeſehenen, aber ehemals verſchwenderi-
ſchen Vater zuſendet, um ihn von einer druͤckenden Schuldenlaſt zu befreyen!
„Dieſer
[168]XIV.Fragment.
„Dieſer Jude hat nicht den mindeſten Reſpect fuͤr ſeine Obrigkeit und ſeine Lehrer — Er
„peitſcht die Leute mit Stricken, die ihm wohl nie was zu Leide gethan! Er geht zu Gaſte,
„wo man ihn nur haben will, und laͤßt ſichs wohl ſeyn. Er iſt ein rechter Haͤndelſtifter! Neuer-
„lich ſagte er ſelbſt zu ſeinen Conſorten: Jch bin nicht gekommen Friede zu ſenden, ſondern
„das Schwerdt!“ — — Welch ein Urtheil werdet ihr hier aus etlichen Handlungen faͤllen? —
Stellet hingegen den Mann vor euch hin, nur wie ihn — nicht Raphael, nicht der groͤßte Mah-
ler, nur wie ihn etwa ein Holbein ſich gezeichnet hat; habt nur ein wenig phyſiognomiſches Ge-
fuͤhl; o mit welcher uͤberſchwenglichen Sicherheit und Richtigkeit werdet ihr gerade das Gegentheil
aus ſeinem Anblick urtheilen? —
Kurz: man uͤberlege das wohl: wie vielmehr die Phyſiognomie einen ganzen Menſchen
einem geuͤbten Auge zeigt und darſtellt; wie lautſprechend und wie richtig ſprechend, welch ein le-
bendiger tauſendzuͤngiger Ausdruck des ganzen Jnnwendigen der Menſch iſt, der vor Euch — da
ſteht; — So wird man gewiß des unbeſonnenen und unrichtigen Richtens und Urtheilens halber
gewiß nicht mehr, wohl aber weit weniger von der Phyſiognomik zu beſorgen haben, wenn dieſe
das Gluͤck haben ſollte, allgemein zu werden und das Gefuͤhl der Menſchen mehr zu ſchaͤrfen.
II.
Der andere Vorwurf, den man der Phyſiognomik macht, iſt dieſer: „Sie vereitle den
„Menſchen noch mehr, indem ſie ihn reize, nur deswegen gut zu werden, um ſchoͤn zu ſeyn.“
Wie du dieß oben ſagteſt, Beſchuͤtzer der Unſchuld, o wie war's ſo hinreiſſend geſagt! aber,
wie leid es mir auch thue, ich muß dir ſagen: „daß dein Jdeal aus einer Unſchuldswelt herabge-
„griffen iſt, und nicht in unſere Welt paßt.“
Die Menſchen, die du beſſern willſt, ſind nicht Kinder, die gut ſind und nicht wiſſen, daß
ſie's ſind. Es ſind Menſchen, die Gutes und Boͤſes durch Erfahrung unterſcheiden lernen ſollen;
Menſchen, die, um vollkommen zu werden, nothwendig ihr Boͤſes, und hiemit ganz gewiß auch
ihr Gutes kennen muͤſſen. Laß neben dem Triebe edler Guͤte, das Verlangen nach dem Wohlge-
fallen der Guten immer auch mitwirken, immer eine Stuͤtze — wenn du willſt, eine Kruͤcke menſch-
licher Tugend ſeyn; laß den Menſchen immerhin erkennen und fuͤhlen, daß Gott das Laſter mit
Haͤßlich-
[169]Vom Schaden der Phyſiognomik.
Haͤßlichkeit brandmarkt, und der Tugend unnachahmliche Schoͤnheit zum Gepraͤge giebt — Laß
ihn — ſich des immerhin freuen, wenn er die Verſchoͤnerung ſeiner Zuͤge mit der Veredlung ſei-
nes Herzens zugleich fortgehen ſieht; nur ſag ihm dabey: „daß Guͤte aus Eitelkeit nie lautere
„Guͤte, ſondern Eitelkeit ſey; daß Eitelkeit ewig ihr eignes unedles Gepraͤge habe, und wahre
„Tugendſchoͤne gerade durch nichts anders und ewig nichts anders, als durch Tugend ſelbſt, hie-
„mit auch durch Reinigung von Eitelkeit — erlangt werde.“
Siehſt du die Thraͤne im Auge des Juͤnglings, der von der Tugendbahn wich, und dem
ſein Spiegel oder der beſtuͤrzte traurig verweilende Blick eines phyſiognomiſchen, das iſt, eines fein-
fuͤhlenden Freundes, ſeinen Verfall, und jedes edle Jdeal eines edlen Mahlers die Wuͤrde der
menſchlichen Natur zeigt; — Laß ihn — Es flammt von nun an ein Entſchluß in ſeiner Bruſt,
eine wuͤrdigere Zierde der ſchoͤnen Gottesſchoͤpfung zu werden, als er's bisher war! ....
[170]XV.Fragment.
Funfzehntes Fragment.
Der Phyſiognomiſt.
Jeder Menſch hat Anlage zu allem; und dennoch laͤßt ſich ſicherlich behaupten, daß er zu ſehr
wenigem beſondere Anlage habe.
Alle Menſchen haben Anlagen zur Zeichnungskunſt, denn alle koͤnnen gut oder ſchlecht
ſchreiben lernen. Aber unter zehentauſenden wird nicht Einer ein guter Zeichner. So mit der
Beredtſamkeit und Dichtkunſt. So mit der Phyſiognomik.
Alle Menſchen in der Welt, die Augen und Ohren haben, haben Anlagen zur Phyſiogno-
mik. Aber unter zehentauſenden wird nicht Einer ein guter Phyſiognomiſt werden.
Es wird alſo wohl einiger Unterſuchung werth ſeyn — „wer keine, wer große Anla-
„gen habe, Phyſiognomiſt zu werden, — mithin ein Bild des wahren Phyſiognomiſten zu
„entwerfen.“ —
Jch wuͤnſchte ſehr, daß mir dieſes Fragment vor allen andern gelingen moͤchte, weil mir
unendlich viel daran liegt, jeden von dem eigentlichen Studium der Phyſiognomik wegzuſchrecken,
der nicht vorzuͤgliche Anlagen und Talente dazu hat. Ein Afterphyſiognomiſt mit ſchlechtem Kopf
und ſchlimmen Herzen, iſt wohl das veraͤchtlichſte und ſchaͤdlichſte Geſchoͤpfe, das auf Gottes
Erdboden kriecht.
Keiner ohne gute Bildung wird ein guter Phyſiognomiſte werden. Die ſchoͤnſten Mah-
ler wurden die groͤßten Mahler. Rubens, Vandyk, Raphael, drey Stufen von Maͤnner-
ſchoͤnheit! drey Stufen mahleriſchen Genies! Die wohlgebildetſten Phyſiognomiſten — die be-
ſten. So wie die Tugendhafteſten am beſten uͤber Tugend, die Gerechten am beſten uͤber Ge-
rechtigkeit urtheilen koͤnnen, ſo die beſten Geſichter am beſten uͤber das Gute, Schoͤne, und Edle
der menſchlichen Geſichter, mithin auch, wie ſchon bemerkt worden, uͤber das Unedle und Man-
gelhafte. Die Seltenheit wohlgebildeter Menſchen iſt ſicherlich ein Grund, warum die Phy-
ſiognomik in einem ſo uͤbeln Rufe ſteht, und ſo vielen Bezweifelungen ausgeſetzt iſt.
Wie
[171]Der Phyſiognomiſt.
Wie waren die Alten hierinn ſo uͤberlegend und ſcharfpruͤfend! wie koͤnnens ach! ſo weni-
ge unter uns ſeyn, — „in unſern lauen polizirten lieben Verfaſſungen und Himmelsſtrichen —
„denn was noch von phyſiſcher Kraft aus den Lenden unſerer Vaͤter zu uns uͤbergedunſtet ſeyn
„mag, iſt durch ſchoͤne Wiſſenſchaften und warme Stuben, und die elende Speiſe, und den toͤdtli-
„chen Genuß unſerer neuweltiſchen Getraͤnke ſo verduͤnnet, oder verſaͤuert, daß ich gar nichts da-
„von reden oder hoͤren mag.“ *)
„Wer einen Leibesmangel hatte; blind oder lahm war, oder eine eingedruͤckte Naſe hatte,
„oder Glieder, die ſich nicht ſchicken; oder hoͤckericht, oder unnatuͤrlich duͤnne war; der durfte ſich
„nicht hinzunahen zum Altar des Herrn, **) “ — und ins Heiligthum der Phyſiognomik ſoll ſich
keiner wagen, der eine krumme Seele, eine verworrene Stirn, ein ſchiefes Auge, einen verzoge-
nen Mund hat. —
„Das Aug' iſt des Leibes Licht: wenn nun dein Aug' einfaͤltig iſt, ſo iſt auch dein
„ganzer Leib heiter. Wenn es aber boͤs iſt, ſo iſt auch dein Leib finſter. So ſiehe nun, ob
„nicht das Licht, das in dir iſt, Finſterniß ſey. Denn, wenn das Licht, das in dir iſt, Fin-
„ſterniß iſt, wie groß wird dann die Finſterniß ſeyn? Wenn aber dein ganzer Leib heiter iſt, alſo
„daß er keinen finſtern Theil hat, ſo wird's eben ſo viel ſeyn, als ob ein Licht dich mit Glanz er-
„leuchtete?“ ***)
Dieſe Worte kann der nicht genug erwaͤgen, nicht tief genug erforſchen, der Phyſiognomiſt
werden will.
Einfaͤltiges Auge, und das alles ſieht, wie's iſt, nichts hineinſehen, nichts uͤberſehen, nichts
ſchief ſehen, alles nur gerade ſehen will, was und wie es ſich ihm darſtellt — O du vollkommen-
ſtes Bild der Vernunft und Weisheit! Was ſag ich: Bild? Du einzige wahre Vernunft und
Weisheit — ohne dich, helles Licht, wird alles in und um den Phyſiognomiſten herum dunkel ſeyn.
Wer dieß nicht verſteht — nie unterſtehe ſich der ein Wort uͤber Phyſiognomie oder Phy-
ſiognomik zu faſeln? Hier fluͤchtige Leſer und ſeichte Beurtheiler — ohn' Augen und ohne Licht —
hier ein Zielpunkt eures Spottes, und ein Ruheplatz ſeelenloſen Gelaͤchters ....
Z 2Wer
[172]XV.Fragment.
Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen — „Es gilt mir
„gleichviel, wie der Menſch ausſehe! Jch geh auf ſeine Thaten, und nicht auf ſein Geſicht;“
einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen: „Mir ſcheinen alle Stirnen gleich; ich kann an
„den Ohren keinen Unterſchied bemerken,“ oder ſo was; der unterſtehe ſich nie uͤber die Phy-
ſiognomie ein Wort zu reden.
Wer nicht ſehr oft beym erſten Anblick einzelner Menſchen, die ſich ihm naͤhern, um etwas
von ihm zu verlangen, oder etwas mit ihm zu behandeln, eine geheime Bewegung, Zu- oder Ab-
neigung, Anziehung oder Widerſtand fuͤhlt, der wird in ſeinem Leben nie Phyſiognomiſt werden.
Wer einmal ein Wort davon fallen laſſen, daß er Kunſt mehr ſuche, als Wahrheit; mahleri-
ſche Manier hoͤher ſchaͤtze als Sicherheit der Zeichnung; wen der uͤbermenſchliche Fleiß im Bander-
werf und ſein poliertes elfenbeinernes Fleiſch mehr ruͤhrt, als ein Kopf von Titian: wer ſich nicht
gern in Geßners Landſchaften hineintraͤumt; in Bodmers Arche keinen Ort findet, wo ſein Fuß
ruhen kann; in Klopſtocks Apoſteln nicht die edelſte Menſchheit, in ſeinem Eloa nicht den Erzen-
gel, in ſeinem Chriſtus bey Samma nicht den Gottmenſch fuͤhlt; wem Goethe nur witzig, Her-
der nur dunkel, Haller nur hart iſt; weſſen Herz nicht ſtill und innig zittert vor dem Kopf des
Antinous; wen Apollos Erhabenheit nicht erhebt; wer ſie Winkelmannen nicht wenigſtens
nachfuͤhlt; wer beym erſten Anblick dieſer Truͤmmer alter idealiſcher Menſchheit nicht uͤber Verfall
der Menſchheit und ihrer Nachahmerinn, der Kunſt, beynahe Thraͤnen vergießt; wer auf den er-
ſten Anblick in den trefflichſten antiken Gemmen, im Cicero nicht den offnen Kopf, im Caͤſar nicht
den unternehmenden Muth, im Solon nicht tiefe Klugheit, im Brutus nicht unuͤberwindliche
Feſtigkeit, im Plato nicht goͤttliche Weisheit; und in den neuern Medaillen eines Montesquieu
nicht die hoͤchſte menſchliche Sagacitaͤt, in Hallern nicht den heitern Blick voll Ueberlegung, und
den untadelhaften Geſchmack, in Locken nicht den tiefen Denker, in Voltairen nicht den witzrei-
chen Satyr, auf den erſten Blick entdeckt — wird in ſeinem Leben kein ertraͤglicher Phyſiogno-
miſte werden.
Wer nicht verweilt beym Anblick und anbetendem Betrachten eines unbemerkt ſich glau-
benden — Wohlthaͤters: wen die Stimme der Unſchuld, und der unerfahrne Blick unentheilig-
ter Keuſchheit; wen der Anblick eines ſchlafenden hoffnungsvollen Kindes im Arm der auf ſeinen
Odem
[173]Der Phyſiognomiſt.
Odem niederhorchenden Mutter — wen der Haͤndedruck eines treuen Freundes, und ſein Blick,
der in einer zerfloßnen Zaͤhre ſchwimmt — wen das nicht ruͤhrt, wer druͤber weghuͤpfen kann,
ſich dem Anblick entreißt — und ſpottlaͤchelt, der wird eher ſeinen Vater erwuͤrgen, als ein Phy-
ſiognomiſt werden.
Und was fordern wir denn von einem Phyſiognomiſten? — welches werden denn ſeine
Anlagen, Talente, Eigenſchaften und Fertigkeiten ſeyn muͤſſen?
Vor allen Dingen, wie zum Theil ſchon bemerkt worden, ſoll der Phyſiognomiſt, einen
wohlgebauten, wohlgeſtalten und fein organiſirten Koͤrper und ſcharfe Sinne haben, welche der
geringſten Eindruͤcke von außen faͤhig, und geſchickt ſind, dieſelben getreu und unveraͤndert bis zum
Gedaͤchtniß, oder, wie ich lieber ſagen wollte, zur Jmagination fortzufuͤhren, und den Fibern
des Gehirns einzupraͤgen. Jnſonderheit muß ſein Auge vorzuͤglich fein, hell, ſcharf, ſchnell und
feſte ſeyn.
Dieſe feinen Sinne muͤſſen ſeinen Beobachtungsgeiſt bilden, und hinwiederum durch den
Beobachtungsgeiſt ausgebildet und zum Beobachten geuͤbt werden. Der Beobachtungsgeiſt muß
Herr uͤber ſie ſeyn.
Die ſchaͤrfſten Augen ſind nicht allemal, ſind ſelten bey dem beſten Beobachter. Die ge-
meinſten Koͤpfe haben ſehr oft das beſte Geſicht; und der blinde Sanderſon wuͤrde beym ſchwaͤch-
ſten Geſicht ein trefflicher Beobachter geworden ſeyn. —
Beobachten oder wahrnehmen mit Unterſcheiden, iſt die Seele der Phyſiognomik. Es
iſt alles. Der Phyſiognomiſt muß den feinſten, ſchnelleſten, ſicherſten, ausgebreitetſten Beob-
achtungsgeiſt haben. Beobachten iſt Aufmerken. Aufmerken iſt Richtung der Seele auf etwas
beſonders, das ſie ſich aus einer Menge Gegenſtaͤnde, die ſie umgeben, oder die ſie zu ihrer
Betrachtung waͤhlen koͤnnte, ausnimmt; Aufmerken iſt, etwas mit Beyſeitſetzung alles andern
abſonderlich betrachten, und die Merkmale und Beſonderheiten davon zergliedern; folglich unter-
ſcheiden. Beobachten, Aufmerken, Unterſcheiden, Aehnlichkeiten und Unaͤhnlichkeiten, Verhaͤlt-
niß und Mißverhaͤltniß entdecken, iſt das Werk des Verſtandes. Ohne einen ſcharfen, hohen,
Z 3vorzuͤg-
[174]XV.Fragment.
vorzuͤglichen Verſtand wird alſo der Phyſiognomiſt weder richtig beobachten, noch ſeine Beobach-
tungen reihen, und vergleichen, noch vielweniger die gehoͤrigen Folgen daraus herleiten koͤnnen.
Die Phyſiognomik iſt die groͤßte Uebung des Verſtandes; die Logik der koͤrperlichen Verſchieden-
heiten! — Welch eine Feſtigkeit, Sicherheit, Reife des Verſtandes erforderts — recht zu ſe-
hen? Nicht mehr, und nicht weniger zu ſehen, als ſich der Beobachtung darſtellt? Nicht mehr
und nicht weniger zu ſchließen, als richtige Beobachtungen und Praͤmiſſen in ſich faſſen? Welche
Uebung des Verſtandes, den Punkt zu wiſſen, wo man der ſichern, zuverlaͤßigen, beſtimmten Be-
obachtungen genug hat; die verſchiedenen Wege zur phyſiognomiſchen Wahrheit zu entdecken,
ihren verhaͤltnißmaͤßigen Werth zu ſchaͤtzen; und jeden brauchbar zu machen?
Mit dem helleſten und tiefſten Verſtande verbindet der wahre Phyſiognomiſt eine lebhafte,
ſtarke, vielfaſſende Jmagination, und einen feinen und ſchnellen Witz. Jmagination, um ſich
alle Zuͤge, nett und ohne Muͤhe einzupraͤgen, und ſich, ſo oft er will, mit Leichtigkeit zu erneuern:
in ſeinem Kopfe die Bilder, wie er will, zu reihen; als ob ſie ihm vorm Auge ſtuͤnden, als ob
er ſie mit ſeinen Haͤnden hin und her verſetzen koͤnnte, ſo muß er's mit der Jmagination zu thun
im Stande ſeyn.
Witz iſt ihm eben ſo unentbehrlich, um die Aehnlichkeit gefundener Merkmale mit andern
Dingen leicht zu finden. Er ſieht, zum Exempel, einen ſolchen oder ſolchen Kopf, ſolch oder ſolche
Stirne, die etwas Characteriſtiſches haben. Dieß Characteriſtiſche praͤgt ſich ſeine Jmagination
ſogleich ein, und ſein Witz fuͤhrt ihm Aehnlichkeiten herbey — die ſeinen Bildern mehr Beſtim-
mung, Feſtigkeit, Zeichen und Ausdruck leihen koͤnnen. Er muß die Fertigkeit beſitzen, Approxi-
mationen zu jedem bemerkten characteriſtiſchen Zuge zu bemerken — und die Grade dieſer Appro-
ximationen vermittelſt des Witzes zu bezeichnen. Ohne einen großen Grad von geuͤbteſtem Witze
wird es ihm unmoͤglich ſeyn, ſeine Beobachtungen auch nur einigermaßen ertraͤglich auszudruͤcken.
Der Witz allein bildet und erſchafft die phyſiognomiſche, itzt noch ſo unausſprechlich arme, Sprache.
Ohne einen unerſchoͤpflichen Reichthum der Sprache wird keiner ein großer Phyſiognomiſt wer-
den koͤnnen. Der hoͤchſtmoͤgliche Reichthum der Sprache iſt Armuth gegen das Beduͤrfniß der
Phyſiognomik. — Der Phyſiognomiſt muß die Sprache vollkommen in ſeiner Gewalt haben. Er
muß
[175]Der Phyſiognomiſt.
muß ein Schoͤpfer einer neuen Sprache ſeyn, die eben ſo beſtimmt als angenehm, natuͤrlich und
verſtaͤndlich iſt. Alle Reiche der Natur, alle Nationen, alle Werke des Geiſtes, der Kunſt
und des Geſchmackes, alle Magazine der Woͤrter muͤſſen ihm zu Gebote ſtehen, und ihm darlei-
hen, was er bedarf.
Unentbehrlich iſt ihm, wenn er in ſeinen Urtheilen ſicher, und in ſeinen Beſtimmun-
gen feſt ſeyn will, die Zeichnungskunſt. Ein Mahler von beſtimmter Theorie — der zu-
gleich Uebung hat; ein Arzt von beſtimmter Theorie, dem zugleich die wichtigſten Krankhei-
ten ſchon durch die Haͤnde gegangen — wie unendlich richtiger und ſicherer werden die von
Mahlerey und Arzneykunſt ſprechen oder ſchreiben koͤnnen, als gleich große, vielleicht als viel
groͤßere Theoriſten ohne Uebung? Zeichnung iſt die erſte, die natuͤrlichſte, die ſicherſte Spra-
che der Phyſiognomik; das beſte Huͤlfsmittel fuͤr die Jmagination; das einzige Mittel un-
zaͤhlige Merkmale, Ausdruͤcke und Nuͤances zu ſichern, zu bezeichnen, mittheilbar zu machen,
die nicht mit Worten, die ſonſt auf keine Weiſe zu beſchreiben ſind. Der Phyſiognomiſt,
der nicht zeichnen kann, ſchnell, richtig, beſtimmt, characteriſtiſch zeichnen — wird unzaͤh-
lige Beobachtungen nicht einmal zu machen, geſchweige zu behalten und mitzutheilen, im
Stande ſeyn.
Auch ſoll er die Anatomie des menſchlichen Koͤrpers und nicht nur derjenigen Theile,
welche ſich dem Geſichte darſtellen, richtig verſtehen; er muß die Verbindung und den Gang,
auch die Aeußerung der Muskeln kennen; genau kennen die Proportion und den Zuſammen-
hang aller menſchlichen Gefaͤße und Gliedmaßen; das hoͤchſte Jdeal eines vollkommenen menſch-
lichen Koͤrpers wohl inne haben; nicht nur, um jede Unregelmaͤßigkeit, ſo wohl in den feſten
als in den muskuloͤſen Theilen, ſogleich zu bemerken, ſondern auch um alle dieſe Theile ſo-
gleich nennen zu koͤnnen, und alſo in ſeiner phyſiognomiſchen Sprache feſt zu ſeyn. Eben ſo
unentbehrlich iſt ihm die Phyſiologie oder die Lehre von der Vollkommenheit des menſchlichen
geſunden Koͤrpers. Er muß ferner die Temperamente genau kennen; nicht nur die aͤußer-
lich durch die verſchiedenen Blutmiſchungen beſtimmten Farben des Koͤrpers, ſein Air u. ſ. f.
ſondern auch die Beſtandtheile des Gebluͤtes, und die verſchiedene Proportion derſelben; vor-
zuͤglich
[176]XV.Fragment.
zuͤglich aber die aͤußerlichen Zeichen der Beſchaffenheit des ganzen Nervenſyſtems wiſſen, wor-
auf bey Erforſchung der Temperamente ſo viel mehr ankoͤmmt, als auf die Kenntniß des
Blutes.
Aber welch ein geuͤbter tiefer Kenner des menſchlichen Herzens und der Welt ſollt' er
ſeyn? Wie tief ſich ſelbſt durchzuſchauen, zu beobachten, zu ertappen gewohnt! — Dieſe ſchwer-
ſte, dieſe noͤthigſte, dieſe wichtigſte aller Kenntniſſe ſollte der Phyſiognomiſt auf die vollkom-
menſte Weiſe beſitzen, wie's nur moͤglich iſt. Nur nach dem Maaße als er ſich kennt, wird er
andere zu kennen faͤhig ſeyn. Nicht nur uͤberhaupt iſt ihm dieſe Selbſtkenntniß, dieſes Stu-
dium des menſchlichen, und beſonders ſeines eignen Herzens, der Genealogie und Verſchwiſte-
rung der Neigungen und Leidenſchaften, der Symptomen und Verwandlungen derſelben un-
entbehrlich. Dieſe genauſte Selbſterkenntniß iſt ihm auch noch um eines andern Grundes wil-
len aͤußerſt noͤthig. „Die beſondern Nuͤancen“ (ich bediene mich hier der Worte eines Recenſen-
ten meiner erſten kleinen Verſuche, von denen ich das wenige Brauchbare nun dem gegenwaͤr-
tigen Werke einſchmelze; des einzigen Recenſenten, der ſich die Muͤhe genommen, und die Bil-
ligkeit gehabt hat, in den Koͤrper und Geiſt dieſer Brochuͤren einzudringen, und mich gegen
die unbeſonnenen Verurtheilungen ſo mancher Witzlinge, ohne mit mir in dem geringſten
Verhaͤltniſſe zu ſtehen, in Schutz genommen hat, wiewohl er ſonſt in hundert andern Dingen
ſo verſchieden, wie moͤglich, von mir denket; dieſes Mannes Worte will ich hier anfuͤhren:)
„die beſondern Nuͤancen in den Empfindungen, die der Beobachter an dem Objecte vorzuͤglich
„wahrnimmt, beziehen ſich oft auf ſeine eigne Seele, und werden ihm nur durch die Art,
„mit der ſeine eigene Geiſteskraͤfte gemiſcht ſind, durch die beſondere Art, mit der er alle Ge-
„genſtaͤnde in der phyſikaliſchen und moraliſchen Welt betrachtet, vorzuͤglich vor andern ſicht-
„bar, und erſcheinen ihm auch unter einem beſondern Augpunkte. Daher ſind eine Menge
„ſolcher Beobachtungen nur blos fuͤr den Beobachter ſelbſt, und ſo lebhaft ſie auch von ihm
„empfunden werden, koͤnnen ſie von ihm doch nicht leicht andern mitgetheilt werden. Gleich-
„wohl haben dieſe feinen Beobachtungen ſicherlich einen Einfluß in das Urtheil. Der Phy-
„ſiognomiſt muß alſo, wenn er ſich ſelbſt kennt (und dieß ſollte man billig, ehe man andere
„wollte kennen lernen) das Reſultat ſeiner Beobachtungen wieder mit ſeiner eigenen Denkens-
„art
[177]Der Phyſiognomiſt.
„art vergleichen, und dasjenige, was allgemein zugegeben iſt, von demjenigen abſondern, was
„aus ſeiner individuellen Beobachtungsart entſtehet.“ *) — Jch laſſe dieſe wichtige Anmer-
kung itzt unberuͤhrt. Jch habe oben ſchon in dem Stuͤcke von den Schwierigkeiten, die Phy-
ſiognomik zu ſtudiren, und noch fruͤher ſchon eine aͤhnliche Anmerkung gemacht.
Alſo, will ich itzt nur noch bekraͤftigen, daß Kenntniß, genaue tiefe Kenntniß ſei-
nes eignen Herzens eines der trefflichſten Jngredienzien zu dem Character des Phyſiognomi-
ſten iſt ....
O — wie merk ich's mir an, wie ahnd' ich's mir in meinem Geſichte, wie muß ich
die Augen niederſchlagen und das Angeſicht wegwenden, — wie Menſchenaug und Spiegel
fliehen, wenn ich eine unedle Regung in mir wahrnehme! wie fuͤrcht' ich mich vor meinem ei-
gnen pruͤfenden Blicke, oder dem beobachtenden Blicke anderer, wenn ich mein Herz uͤber einem
unredlichen Kunſtgriffe gegen ſich ſelber oder andere ertappe — — O! Leſer, wenn du nicht
oft uͤber dir ſelber erroͤtheſt — wenn dich, und waͤreſt du auch der Beſte aller Menſchen, denn
auch der Beſte aller Menſchen iſt Menſch! — wenn dich dieſe Schaam nicht ſehr oft durch-
wandelt; wenn du nicht oft deine Augen vor dir und andern um deinet willen niederſchlagen
mußt; wenn du nicht dir und deinem Freunde geſtehen kannſt, daß du die Wurzel aller La-
ſter in deinem Herzen fuͤhleſt; wenn du dich nicht tauſendmal in der Einſamkeit, wo niemand
als Gott dich ſahe, niemand als dein Herz mit dir ſprach, vor dir ſelber tief geſchaͤmt haſt —
wenn du nicht Staͤrke genug haſt, dem Gange deiner Leidenſchaften bis auf den erſten Fuß-
tritt nachzuſpuͤren, und den erſten Stoß zu deinen guten und ſchlimmen Handlungen zu erfor-
ſchen — und dir zu geſtehen, Gott und einem Freunde zu geſtehen; wenn du keinen Freund
haſt, dem du's geſtehen darfſt — keinen Freund, dem du dich ganz zeigen darfſt, der dir
ſich ganz zeigen darf, dem du Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts, und der Gottheit biſt; der
dir Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts und der Gottheit iſt; — in dem du dich erſpiegeln kannſt,
der ſich in dir erſpiegeln kann; — wenn du nicht ein guter edler Menſch biſt — ſo wirſt du kein
guter, wuͤrdiger Menſchenbeobachter, Menſchenkenner, Phyſiognomiſt werden!
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. A aSoll
[178]XV.Fragment.
Soll dir deine Beobachtungskunſt nicht zur Quaal, und deinem Nebenmenſchen nicht
zum Nachtheil gereichen; wie gut, wie ſanft, unſchuldig und liebreich muß dein Herz ſeyn!
Wie willſt du Liebe ſehen, ohne Liebe zu haben? Wenn Liebe dir die Augen nicht ſchaͤrft, die
Zuͤge der Tugend, die Ausdruͤcke edler Geſinnungen ſogleich zu bemerken, wie viel tauſend-
mal wirſt du ſie in einem durch dieſen oder jenen Zufall, dieſe oder jene Aeußerlichkeit verun-
ſtalteten Geſicht uͤberſehen? Wenn niedrige Leidenſchaften, wie eine Leibwache um deine See-
le herumſtehen, — wie viele falſche Nachrichten, wie ſchiefe Beobachtungen werden ſie dir
hinterbringen! Feindſchaft, Stolz, Neid, Eigennutz ſeyn fern von dir — oder dein Auge
wird boͤſe, und dein ganzer Leib finſter ſeyn! du wirſt Laſter auf der Stirne leſen, wo Tu-
gend geſchrieben ſteht, und dem andern die Fehler andichten, deren dein eigen Herz dich an-
ſchuldiget! Wer eine Aehnlichkeit mit deinem Feinde hat, der wird alle die Fehler und Laſter
an ſich haben muͤſſen, die deine gekraͤnkte Eigenliebe dem Feinde ſelbſt aufbuͤrdet! die ſchoͤnen
Zuͤge wirſt du uͤberſehen; die ſchlechtern verſtaͤrken, und allenthalben Carrikatur und Unregel-
maͤßigkeit wahrnehmen. —
Haͤtt' ich etwas vom Geiſte jener erhabnen Menſchenkenner, die mit Gottes Gewißheit
Geiſter pruͤften und die Gedanken der Menſchen laſen — ſo wuͤrd' ich, ach! wie viel mehr noch
von dem Herzen der Phyſiognomiſten fordern duͤrfen! Jch eile zum Beſchluß. —
Daß der Phyſiognomiſt Kenner der Welt ſeyn, mit den verſchiedendſten Menſchen in
den verſchiedendſten Angelegenheiten und Verhaͤltniſſen Umgang haben muͤſſe; daß er nicht in
einem Winkel ſeines Hauſes eingeſperrt leben, oder nur ſelten des Umgangs mit den Men-
ſchen, und nur mit gemeinen, nur immer mit einerley Menſchen, pflegen muͤſſe; daß be-
ſonders Reiſen und weitlaͤuftige mannichfaltige Bekanntſchaften, — daß genauer Umgang mit
Kuͤnſtlern, Menſchenkennern, ſehr laſterhaften und ſehr tugendhaften, ſehr weiſen und ſehr
dummen Perſonen, am meiſten aber mit Kindern — daß Literatur und Geſchmack an Mah-
lerey und allen Werken bildender Kuͤnſte, daß dieß und noch vieles andere ihm unentbehr-
lich ſey — wird dieſes eines Beweiſes beduͤrfen? Jch faſſe zuſammen: Der Phyſiognomiſt
verbindet mit einem wohlgebildeten und wohl organiſirten Koͤrper, mit einem feinen Beob-
achtungs-
[179]Der Phyſiognomiſt.
achtungsgeiſte, mit einer lebhaften Einbildungskraft, mit vorzuͤglichem Witze und mit man-
chen andern Kunſtfertigkeiten und Kenntniſſen, ein ſtarkes, ſanftes, heiteres, unſchuldiges
von menſchenfeindlichen Leidenſchaften freyes mit ſich ſelbſt wohl vertrautes Herz. Gewiß ver-
ſteht niemand die Blicke der Großmuth und die Zuͤge erhabner Eigenſchaften, als wer ſelber
großmuͤthig, edel und erhaben denket, und großer Thaten faͤhig iſt.
[180]XVI.Fragment.
Sechzehntes Fragment.
Von einigen Phyſiognomiſten.
Wenn ich ſo gelehrt waͤre, als ich ſeyn ſollte, um ein phyſiognomiſches Werk zu ſchreiben, ſo
koͤnnt' ich, ſollt' ich hier ein Verzeichniß einiger beruͤhmter — warum eben beruͤhmter? —
nur guter, geuͤbter Phyſiognomiſten liefern; ſollte Nachrichten von ihnen mittheilen, und uͤber
ihre Schriften, Bemuͤhungen oder Urtheile — meine Achſeln zucken. Allein, ich bekenne meine
große Unwiſſenheit in dieſem Stuͤcke, und danke auch dafuͤr dem guten Geber beßrer Gaben!
So viel iſt zum voraus wahrſcheinlich, und wird bey der Unterſuchung gewiß — daß
nicht alle, die uͤber die Phyſiognomie geſchrieben haben, gute Phyſiognomiſten ſind. So we-
nig alle, die, wenn auch nicht ſchlecht, von der Arzneykunſt, oder uͤber die Sittenlehre ge-
ſchrieben haben, gute Aerzte, oder große Tugendhelden ſind. Doch von phyſiognomiſchen
Schriftſtellern ein andermal.
Jtzt nur etwas Weniges von ehmaligen und noch lebenden großen Phyſiognomiſten.
Plato, Pythagoras, — und Zopyrus ſcheinen dieſes feine Menſchengefuͤhl in einem
hohen Grade beſeſſen zu haben.
Von Demokritus werden feine Bemerkungen erzaͤhlt, deren Zuverlaͤßigkeit ich aber
blos deswegen, weil ſie mir nicht unmoͤglich ſcheinen, nicht behaupten darf.
Von Julius Caͤſar Scaliger leſ' ich, „daß er eine bewunderungswuͤrdige Feinſichtig-
„keit zur Erkenntniß der Sitten und der Neigungen der Menſchen aus ihren Mienen und Geſichts-
„zuͤgen gehabt, und daß er ſich in ſeinen Urtheilen hieruͤber ſehr ſehr ſelten geirrt habe.“ *)
Herr Pernetty fuͤhrt den Matthaͤus Taſurius von Soleto an, „daß er in dieſer Kennt-
„niß ſo ſtark geweſen, daß er das Schrecken der einen, die Bewunderung und das Erſtaunen der
„andern geworden.“
Jn ſeiner Abhandlung **) wird ein Beyſpiel angefuͤhrt, welches ich hier auszuſchreiben
mir erlauben will. „J'ai vu un exemple ſemblable à Paris: Un étranger, qui ſe nom-
„moit Kubiſſe, \& ſe diſoit ſujet du heros monarque, qui gouverne cet-état-ci, avec
„tant de ſageſſe \& de gloire, paſſant dans une ſalle chez Mſr. de Langes, fût tellement
„frappé
[181]Von einigen Phyſiognomiſten.
„frappé à la vûe d'un portrait, qui y etoit avec pluſieurs autres, qu'il oublia de nous
„ſuivre; il s'arréta à conſiderer ce tableau. Environ un quart d'heure après, ne
„voyant pas venir Mr. Kubiſſe, nous fumes à lui, \& le trouvames les yeux encore fixés
„ſur le portrait. Que penſés-vous de ce portrait, lui dit Mr. de Langes? n'eſt-ce pas ce-
„lui d'une belle femme? Oui, répondit Mr. Kubiſſe. Mais ſi ce Portrait eſt bien reſſem-
„blant, la perſonne, qu'il répréſente, a l'ame la plus noire: ce doit être une mechante
„diableſſe. C'étoit le portrait de la Brinvilliers, cèlebre empoiſonneuſe, prèsqu'auſſi
„connu par ſa beauté, que par-ſes forfaits, qui l'ont conduite ſur le bucher.“
Von dem verſtorbenen Herrn Doctor Kaͤmpf hat mir ſein wuͤrdiger Sohn, Herr Hofrath
und Medicus Kaͤmpf, der die Schrift von den Temperamenten herausgegeben, die glaubwuͤrdig-
ſten und erſtaunlichſten Dinge erzaͤhlt. Und wo ich nicht irre, ſind noch lebende Zeugen ſeiner bey-
nahe unglaublichen Geſchicklichkeit in dergleichen Beurtheilungen vorhanden. Unter dieſen ſoll ein
großer Monarch ſeyn, der aber ſelbſt, wie man mich zuverlaͤßig verſichert, einer der groͤßten Phy-
ſiognomiſten ſeyn ſoll, ob gleich ich vermuthe, daß er uͤber dieſe Verſuche, wenn ſie ihm je zu Ge-
ſichte kommen ſollten — herzlich laͤcheln wuͤrde.
Von einem gewiſſen Herrn Fielding in England, (wofern ich mich in dem Namen nicht
irre) ward mir von einem glaubwuͤrdigen Reiſenden erzaͤhlt, daß er, ungeachtet ſeiner voͤlligen
Blindheit, die Schuldigen und Unſchuldigen, blos an dem Ton und Character ihrer Stimme ſehr
oft ſo ſicher unterſchieden, daß die nachherigen Beſtaͤtigungen der Schuldigen dieſes ſein ſeines Ge-
fuͤhl dergeſtalt rechtfertigten, daß er fuͤr ein Orakel angeſehen ward.
Wie weit es ein Guarrik in der Phyſiognomik gebracht habe, iſt weltbekannt; ſo weit,
daß er den Character beynahe von jeder Phyſiognomie durch ſeine eigne ausdruͤcken kann! So ein
Geſicht, wie ſeines, muß es aber auch ſeyn, um ſo fein, und ſo tief zu ſehen! Jch vermuthe, das
Bild von ihm in der nachgeſetzten Vignette ſey aͤußerſt vergroͤbert, und dennoch, wer kann unbeob-
achtend genug ſeyn, um nicht noch in dieſem unvollkommenen Nachriſſe, dieſem ſcharfen Blicke, die-
ſer Falte am Vorbug, dieſer ſo kurzen, ſo ſchiefen, ſo umriſſenen Stirne, dieſer weder ſtumpfen
noch ſpitzigen, weder aufgedumpften, noch niederwaͤrts haͤngenden Naſe, dieſem horizontalen Nas-
loche dieſen von Geiſt und Empfindungskraft beynahe zitternden Lippen, dieſem — Kinn und dieſer
A a 3Kinn-
[182]XVI.Fragment.
Kinnlade, — dieſen Zuͤgen allen zuſammen — den feinen, tiefſehenden, ſchnellbeobachtenden Men-
ſchenkenner zu entdecken?
Unter dieſe großen Phyſiognomiſten wird auch Roußeau gezaͤhlt.
Winkelmann war's vermuthlich in einem außerordentlichen Grade, obgleich er's ſeinem
Moͤrder nicht anſah.
Anton Raphael Mengs muß es, ſo viel ich vermuthe, in einem hohen Grade ſeyn. Eine
Handſchrift uͤber die Geſichtszuͤge, die ich aber nicht zu ſehen bekommen konnte, iſt in den Haͤnden
eines ſeiner Freunde, eines feinen Kunſtkenners, des Herrn Baron von Edelsheim in Carlsruh.
Wie viel Phyſiognomik ſcheint hin und wieder hervor in ſeinen Gedanken uͤber die Schoͤnheit
und den Geſchmack in der Mahlerey — Er ſagt z. E. von Raphael: „Sein hoher Geiſt
„fuͤhrte ihn weiter bis zur Unterſuchung der Bedeutung jeder Form. Er erkannte dadurch, daß
„gewiſſe Geſichtsſtriche auch gewiſſe Bedeutungen hatten, und insgemein ein gewiſſes Temperament
„mit ſich fuͤhren, ſo auch, daß zu einem ſolchen Geſichte, eine gewiſſe Art Glieder, Haͤnde und Fuͤße
„gehoͤren, dieſe fuͤgte er mit der groͤßten Beſcheidenheit zuſammen.“ *) Dieſe Bemerkung — von
der Homogeneitaͤt des menſchlichen Koͤrpers, wovon wir auch ſchon ein Wort geſprochen, iſt
eine gute Grundlage phyſiognomiſcher Einſicht. Wie viel Phyſiognomik liegt aber in den wenigen
Zeilen in eben dieſem Verſuche: „die gemahlten Menſchen koͤnnen leicht ſchoͤner, als die wahrhafti-
„gen ſeyn. Wo werden wir in einem Menſchen zugleich, die Groͤße der Seele, die Uebereinſtim-
„mung des Leibes, ein tugendhaftes Gemuͤth, und gleichgeuͤbte Glieder finden? Ja nur die voll-
„kommenere Geſundheit und Geneſung, da alle Aemter und Verrichtungen der Menſchen ihn belaͤ-
„ſtigen? Hingegen in der Mahlerey kann dieſes leicht bedeutet werden, wenn man die Einfoͤrmig-
„keit in Umriſſen; die Groͤße in der Geſtalt; die Freyheit in der Stellung; die Schoͤn-
„heit in den Gliedern; die Macht in der Bruſt; die Leichtigkeit in Beinen; die Staͤrke
„in Schultern und Armen bezeichnet. Die Aufrichtigkeit in der Stirn und Augbrau-
„nen; die Vernunft zwiſchen den Augen, die Geſundheit in den Backen, die Lieblich-
„keit in dem Munde bedeutet.“ **) So viel noch uͤber dieſe Stelle anzumerken, hie und da zu
berichtigen, wenigſtens naͤher zu beſtimmen waͤre; ſie zeigt immer deutlich genug einen großen
Phyſiognomiſten.
Unter denen mir bekannten trefflichen Phyſiognomiſten iſt einer der erſten, ſcharfſichtig-
ſten — und dabey menſchenfreundlichſten, der vortreffliche Prinz Ludwig Eugen von Wuͤr-
temberg. Mit einer kaum begreiflichen Sicherheit entdeckt dieſer große Menſchenkenner auf
den
[183]Von einigen Phyſiognomiſten.
den erſten Blick das Gute, das Treffliche, das ſich Auszeichnende in jedem ihm vorkommenden,
ihm vorher ganz unbekannten Character.
Von Zimmermann ſag ich nichts. So ſehr er's ſich, und der Welt verbergen, und
mir ablaͤugnen will; es iſt nichts gewiſſers, als daß er's in der Menſchenkenntniß vermittelſt der
Phyſiognomie auf einen erſtaunlich hohen Grad gebracht, und daß ich ihm allein ſehr viel mehr
hierinn zu danken habe, als keinem andern weder muͤndlichen noch ſchriftlichen Unterrichte der be-
ſten Menſchenkenner.
Nach ihm iſt der Verfaſſer des philoſophiſchen Bauers, Herr Doctor Hirzel, mir als
ein ſehr gluͤcklicher Beurtheiler menſchlicher Geſichter bekannt.
Jch habe unter meinen Freunden, ſo gar unter ſolchen, die nichts weniger, als Phy-
ſiognomiſten ſeyn wollen, die voll Vorurtheile gegen die Phyſiognomik ſind, die nichts daruͤber
geleſen, keine eigentliche analyſirte Beobachtungen daruͤber angeſtellt haben, keine einzige Regel
zu geben im Stande waͤren, natuͤrliche Phyſiognomiſten, die mich ſehr oft beſchaͤmen, die zu mei-
nem Erſtaunen uͤber jedes ihnen vorkommende Geſicht, wenn ſie am wenigſten darauf denken, mit
einer Richtigkeit und Gruͤndlichkeit urtheilen, die vermuthen laͤßt, daß ſie die groͤßten Phyſiogno-
miſten haͤtten abgeben koͤnnen, wenn ſie ſich Muͤhe gaͤben, ihre Begriffe oder vielmehr ihre Empfin-
dungen mehr feſt zu halten und zu entwickeln.
Wer mehr in der Welt lebt, wie ich; wer mit mehr Arten von Menſchen Umgang hat,
dem muͤſſen ohne Zweifel Leute genug bekannt ſeyn, welche dieß Talent in einem hohen Grade
beſitzen.
Eine Bemerkung, die hieher zu gehoͤren ſcheint, kann ich nicht vorbeygehen. Einfaͤltige,
nicht dumme, aber redliche, wohlgebaute und nicht ganz unerfahrne Landleute — faſt alle
fein organiſirte Kinder — am allermeiſten aber das ſchoͤne Geſchlecht — ſcheinen mir weit
aus die beſten Phyſiognomiſten zu ſeyn.
Meine Frau, die an allen meinen phyſiognomiſchen Arbeiten nicht den mindeſten wiſſen-
ſchaftlichen Antheil nimmt, hat ſich meines Wiſſens, in dieſer Sache noch niemals geirrt; — ſo oft
urtheilte ſie von fremden, ihr ſchlechterdings unbekannten, Perſonen, die ich mit andern Augen anſa-
he, erſt zu meiner Befremdung, nachher zu meinem Erſtaunen ſo richtig, daß ich kaum mehr vor ihr
urtheilen wollte, obgleich ſie, die Augen ausgenommen, kein beſondres Kennzeichen, das ſie vorzuͤg-
lich bemerkt haͤtte, angeben konnte. Bey dem voͤlligſten Mangel aller Literatur, ohn alles, was man
Cultur des Geiſtes, Uebung der Logik oder ſo etwas heißen kann, durchs bloße Gefuͤhl, welches ſie
auch gar nicht durch meine phyſiognomiſchen Schriften zu berichtigen, zu ſchaͤrfen oder zu verderben
ſucht —
[184]XVI.Fragment. Von einigen Phyſiognomiſten.
ſucht — hat ſie's ſo weit gebracht, daß ich mich nie im mindeſten vor ihr verſtellen, weder die ge-
ringſte Freude, noch den mindeſten Verdruß vor ihr verbergen kann.
Dergleichen Beyſpiele ſind ohne Zweifel unzaͤhlig, und ſie beweiſen zum wenigſten, daß in
ſehr vielen Menſchen der natuͤrliche phyſiognomiſche Sinn ſo weit empfindend und lebendig werden
kann, daß ſie als wirkliche Zeugen von der Wahrheit der Phyſiognomik angeſehen werden koͤnnen.
Es muß alſo, fuͤg' ich hiezu, (ich glaube Baco ſagt's irgendwo) es muß eine kuͤnſtliche Phy-
ſiognomik geben, weil es unſtreitig eine natuͤrliche giebt.
Noch einen der groͤßten Phyſiognomiſten will ich nicht ſo wohl nennen, als anfuͤhren, der
mir viele wichtige allgemeine und beſondere Bemerkungen mitgetheilt hat. Ein Mann, deſſen ein-
fachſter, ſchnellſter Blick den ſchnellſten und verworrenſten Blick anderer ergreift, feſthaͤlt, ent-
wickelt, mit wenigen aber ſehr zeichnenden Worten ausdruͤckt.
[185]
Siebzehntes Fragment.
Phyſiognomiſche Uebungen zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen
Genies.
Laß dir, lieber Leſer, einige Stuͤcke und mit denſelben einige Fragen und Urtheile vorlegen, und
pruͤfe daran dein phyſiognomiſches Genie, oder vielleicht noch unerwecktes, unentwickeltes
phyſiognomiſches Talent!
Wenn du alle dieſe Fragen leicht und richtig beantworten kannſt, ſo darfſt du deines phy-
ſiognomiſchen Genies ſicher ſeyn.
Wenn man dir Antworten oder Urtheile vorleget, und du empfindeſt beym Nachdenken
die Wahrheit und Richtigkeit derſelben, oder kannſt ſie noch beſſer beſtimmen, berichtigen, verbeſ-
ſern, ſo kannſt du gewiß ſeyn, daß es dir an Anlagen zu phyſiognomiſchen Erforſchungen nicht fehlt.
Findeſt du aber in dieſen dir vorgelegten und zu dieſer Abſicht beſonders ausgeſuchten Stuͤ-
cken die phyſiognomiſche Wahrheit nicht, fuͤhlſt du ſie weder vor noch nach der Beantwortung der
Fragen, weder vor noch nach dem angehoͤrten Urtheile, ſo ſey ebenfalls ſicher, daß dir das phyſiogno-
miſche Talent verſagt iſt. Bleibe dann ſonſt, was du biſt, gehe nicht uͤber den Zirkel deines Berufes
und deiner Talente hinaus, und laß uns unbekuͤmmert und unangefochten unſern Weg fortgehen.
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. B bA. Setze
[186]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
A.
Setze dich hin, lieber Leſer, und ſag oder ſchreibe dein Urtheil uͤber folgende Tafel, oder
beantworte die folgenden Fragen.
Du ſieheſt hier 6 Profile von Wayſenknaben, die ziemlich gut getroffen und alle mir ſehr
wohl bekannt ſind.
Ohne alle Phyſiognomik alſo kann ich wiſſen ihre Anlage, Talente, Geſchicklichkeit,
Kraͤfte, Geſinnungen u. ſ. w.
Auf meine hernach folgenden Antworten kannſt du dich alſo verlaſſen.
Fragen.
- 1) Jſt unter dieſen Profilen ein dummes oder
am Verſtande ſchwaches? - 2) Welches iſt wohl das verſtaͤndigſte?
- 3) Welches das empfindſamſte?
- 4) Welches iſt das ſchnellſte Genie?
- 5) Welches das langſamſte?
- 6) Welches das feinſte?
- 7) Welches das ehrlichſte Geſicht?
- 8) Welches iſt das bildſamſte?
- 9) Welcher von dieſen Knaben iſt der luſtigſte?
- 10) Welcher der ſtillſte, ruhigſte?
- 11) Welchem wuͤrdeſt du die meiſte Feſtigkeit
zutrauen? - 12) Welcher iſt der verfuͤhrbarſte?
- 13) Welcher der witzreichſte?
- 14) Welcher der ordentlichſte und fleißigſte?
- 15) Welcher der entſchloſſenſte und beherzteſte?
- 16) Welcher der geſchickteſte, gelehrigſte?
Und was ſagſt du zu dem Geſicht in der Vignette der vornaͤchſten 185 Seite? was zu
dem Geſicht in der nachſtehenden Vignette?
A.Antworten.
[]
A.
Antworten.
- 1) Unter allen dieſen ſechs Profilen iſt kein
dummes. Alle dieſe Knaben haben Ver-
ſtand und zeichnen ſich durch gute Faͤhigkei-
ten aus. - 2) Jch ſtehe an zu entſcheiden; doch geb ich dem
letzten, oder Sechſten den Vorzug. Es iſt
Schade, daß ſein Mund nicht vollkommen ge-
troffen iſt. Die Naſe aber iſt fuͤr den guten
Verſtand, beſonders an einem ſolchen Geſicht,
ziemlich entſcheidend. - 3) Der Erſte und der Dritte kaͤmpfen um die-
ſen Preis. Theilnehmend an allem, was der
Menſchheit intereſſant iſt, iſt der Dritte in
vorzuͤglichem Grade. - 4) Der Dritte.
- 5) Jch fuͤhl' es erſt, daß ich Fragen vorgelegt ha-
be, die mir ſelbſt ſchwer zu beantworten ſind.
Doch denk ich — der Erſte. - 6) Der Dritte.
- 7) Der Erſte und der Fuͤnfte ſtreiten mit ein-
ander um den Vorzug. Faſt geb ich ihn
dem Fuͤnften. - 8) Der Dritte. 9) Der Zweyte.
- 10) Der Erſte und der Fuͤnfte kaͤmpfen wieder
mit einander. - 11) Jch dem Vierten und Fuͤnften.
- 12) Der Zweyte, Dritte, und Sechſte. Am
meiſten vielleicht der Dritte. - 13) Der Zweyte, noch etwas mehr der Dritte.
- 14) Der Fuͤnfte.
- 15) Der Vierte.
- 16) Der Fuͤnfte.
Die Vignette auf der vordern 185 Seite zeigt viel Verſtand, und Plan, eine große Be-
gierde zu befriedigen.
Die Vignette auf der naͤchſtgegenuͤberſtehenden 186 Seite zeigt außerordentliche Klugheit,
kalte ruhige Ueberlegung und Feſtigkeit im Plan und in der Ausfuͤhrung.
[188]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
B.
Sechs Knabenſilhouetten.
Sechs Silhouetten von andern Wayſenknaben. Unter dieſen ſechſen iſt einer außerordent-
lich ſchwach am Verſtand und Fertigkeit.
- 1) Welches iſt dieſer?
- 2) Ein anderer iſt ſehr ſchlaͤferig und bedarf be-
ſtaͤndiger Ermunterung, dabey aber ein ganz
guter Junge; welcher mag dieſer ſeyn? - 3) Ein dritter hat wenig Scharfſinn und Nach-
denken, iſt luſtig, munter, und hat ganz be-
ſondere Geſchicklichkeiten in Leibsuͤbungen
und im Zielſchießen.
- 4) Ein vierter hat guten Verſtand, iſt aber
nichts Beſondres von ihm zu erwarten. - 5) Ein fuͤnfter hat das beſte Herz, iſt leitſam,
heiter, aufmerkſam, verſtaͤndig, aber unun-
ternehmend und duldſam. - 6) Noch einer iſt ſehr verſtaͤndig, beſcheiden,
edel, und in allen Abſichten ein trefflicher
Junge von der beſten Hoffnung.
Wir werden dieſe Profile vielleicht noch anderswo zu citiren und nachzuſchlagen Anlaß ha-
ben, und das eine und andere in denſelben etwas naͤher betrachten.
Und was ſagt die nachſtehende Vignette?
B.Antworten.
[]
[][189]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
B.
Antworten.
- 1) Der Sechſte iſt der ſchwaͤchſte.
- 2) Der Vierte iſt der ſchlaͤfrigſte.
- 3) Der Zweyte hat mehr Geſchicklichkeit, als
Scharfſinn. - 4) Der Erſte iſt verſtaͤndig ohne Kraft.
- 5) Der Dritte iſt das beſte Herz, aber unun-
ternehmend. - 6) Der Fuͤnfte iſt ein in allen Abſichten treffli-
cher Junge.
Die Vignette zeigt einen feſten, kraftvollen, guten, rechtſchaffnen, aber dabey etwas ſinn-
lichen und traͤgen Mann.
Und die Vignette, die hier folgt, zeigt noch mehr Muth, und mehr Leichtigkeit, Frey-
heit und Geſchicklichkeit zu Geſchaͤfften.
[190]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
C.
Sechs maͤnnliche Silhouetten.
- 1) Unter dieſen ſechs Silhouetten iſt eine von den
beſten, dienſtfertigſten Seelen; voll Redlich-
keit und Guͤte; voll guten Verſtandes ohne
Genie! voll Rechtſchaffenheit ohne Helden-
muth! Leicht beweglich — ſtuͤrzt oft von Hei-
terkeit in Dunkelheit, von dieſer in jene zu-
ruͤck. Welche? - 2) Ein unausſprechlich ordentlicher, trock-
ner, verſtaͤndiger, uͤberlegter — vor-
ſichtiger Mann von vielen Kenntniſſen.
Welcher? - 3) Ein ſehr gerechter Mann, wackerer Hausva-
ter, verſtaͤndig ohne Aufklaͤrung, Cultur
und Geſchmack — zur Hypochondrie geneigt.
Welcher? - 4) Ein verſtaͤndiger, witziger, heiterer, gerader
Mann. Welcher? - 5) Ein aͤhnlicher Character. Welcher?
- 6) Und was haͤltſt du von dem Knaben 5?
Und die nachſtehende Vignette?
C.Antworten.
[]
[][191]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
C.
Antworten.
- 1) Der Dritte iſt die dienſtfertigſte, treuſte
Seele ꝛc. - 2) Der Erſte iſt Fleiß und Ordnung ſelbſt.
- 3) Der Vierte iſt der gerechte und verſtaͤndige
ohne Cultur. - 4) Der Sechſte iſt der witzige, heitere, gerade.
- 5) Der Zweyte iſt dieſem im Profile und Cha-
racter ziemlich aͤhnlich.
- 6) Der Fuͤnfte iſt ein hoffnungsvolles Genie,
von vielem Verſtand, lebhafter Einbildungs-
kraft, dem beſten Herzen und vieler Geſchick-
lichkeit. Unter guter Aufſicht und in guten
Haͤnden kann er einer der geſchaͤfftigſten,
fruchtbarſten und gemeinnuͤtzigſten Menſchen
werden. Beſonders hat er große Anlagen
zur Poeſie.
Die Vignette des naͤchſtvorhergehenden Blattes hat ein abſcheuliches Auge, das wenig
Gutes verſpricht. Die Naſe, der Mund zuſammen, und das Kinn zuſammen — laſſen ver-
muthen, daß ſie Wolluſt mehr liebe, als Weisheit.
Die Vignette hier unten iſt von einer ſehr verſtaͤndigen, gelehrten und frommen Frau.
[192]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
D.
Sechs weibliche Silhouettes. Fragen.
- 1) Sind alle dieſe ſechs Koͤpfe von guten Seelen?
- 2) Welche iſt die lebhafteſte?
- 3) Welche die ſittſamſte?
- 4) Welche die offenſte?
- 5) Die verſchloſſenſte?
- 6) Die naifſte?
- 7) Welche iſt aͤußerſt fein gebildet, ohne alle
Schoͤnheit einnehmend, faſt nur einfaches,
feines, kaltes Gefuͤhl, ohne raiſonnirenden
Scharfſinn?
- 8) Welche iſt die politiſch-feinſte?
- 9) Welche die am wenigſten ſchwazhafte?
- 10) Welche die witzreichſte?
- 11) Welche die verſtaͤndigſte?
- 12) Welche die beſcheidenſte?
- 13) Jſt eine drunter, die mit Witz, mit Gelehr-
ſamkeit Coquetterie treibt? - 14) Eine die vorzuͤglich eitel iſt?
- 15) Welche iſt die einfaͤltig froͤmmſte?
Und was lieſeſt du in nachſtehender Vignette?
D.Antworten.
[]
[][193]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
D.
Antworten.
- 1) Ja alles mehr und minder trefflich gute
Seelen. - 2) Die Sechſte.
- 3) Die Dritte.
- 4) Die Sechſte.
- 5) Die Fuͤnfte.
- 6) Die Sechſte und Zweyte.
- 7) Die Dritte.
- 8) Die Fuͤnfte.
- 9) Die Dritte.
- 10) Die Sechſte.
- 11) Die Vierte.
- 12) Die Dritte.
- 13) Nein.
- 14) Nein.
- 15) Die Dritte.
So erſt bemerke ich, daß bey den Antworten aller Fragen die erſte Silhouette allein leer
ausgegangen iſt; ich bitte den Leſer aufzumerken, ob bey ihm ein Gleiches geſchehen? und auch
dadurch beſtimmt ſich der Character derſelben, bezeichnet ein reines, ruhiges, in ſich zufriednes
Daſeyn.
Die Vignette ſtellet eine mir perſoͤnlich unbekannte, aber, wie mich alles verſichert, eine
außerordentlich zarte, edle, feine, aufgeklaͤrte, und ausgebildete Seele vor! Ein weiblicher En-
gel! — Forſch ihrem Namen nicht nach: du wirſt ihn nicht entdecken, und du wuͤrdeſt ihre Be-
ſcheidenheit ſchrecklich beleidigen.
Phyſ. Fragm.IVerſuch. C cE.Vier
[194]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
E.
Vier Silhouetten.
Alle dieſe vier Silhouetten ſind von ganz außerordentlichen Menſchen. Drey davon ſind beyna-
he ohne Cultur. Die vierte kennen wir ſchon, denn es iſt eben dieſelbe mit der in der letztvorher-
gehenden Vignette.
Die erſte hat etwas Unbiegſames und bisweilen Trotziges. Nicht im Munde ſollſt du's
ſuchen, denn der iſt im Kupfer zu ſehr beſchnitten worden. Wo mag der Ausdruck dieſer Unbieg-
ſamkeit ſeyn? Sie hat dabey ausnehmenden Verſtand, und ein recht gefaͤlliges, gutes, dankbares
Herz. Entſetzliche Kraft und Ohnmacht in beſtaͤndigem Streit — iſt ihr wahrer Character.
Ausdruck der erſtern glaub' ich in der Stirne, der letztern im Untertheil des Geſichtes zu bemerken.
Die zweyte Silhouette — iſt eine zur Schwermuth, und eingezogenſten Stille ver-
woͤhnte, unbekannte, ſehr guͤtige, fromme Seele von großem Verſtande, erſtaunlicher Empfind-
lichkeit, und die all' ihre Kraft zu innerm Leiden, wie eine duͤrftige Wittwe Holz zu Flam-
men, zuſammenrafft. Noch nie hab ich ſie heiter, noch nie — ſich in ihrer unausſprechlichen
Guͤte fuͤhlend geſehen. Sehr verſchloſſen, — und dennoch die aufrichtigſte Seele. O koͤnnte
ich ihr Ruh ins Herz — predigen; denn das iſt noch die Sprache, die ſie am meiſten ver-
ſteht; am liebſten hoͤrt — So ſehr ſie ganz Ohr iſt; ſie hoͤrt nur, was wider ſie, nicht was
fuͤr ſie iſt. Sie wuͤrde ihr Leben fuͤr den unbekannteſten Menſchen aufopfern, und klagt immer
uͤber Mangel der Liebe. Sie hat kein Leiden, als wenn ihr Anlaß und Kraft fehlt, Gutes zu
thun — Sie thut's, wo ſie's kann, und dennoch waͤhnt ſie nichts zu thun. Kennte ſie mehr die
menſchliche Natur; haͤtte ſie mehr Umgang mit Menſchen; — wuͤrde ſie Staͤrke des Geiſtes genug
haben, zu ſehen, daß die alleredelſten Seelen ſchwach, und die unſchuldigſten Menſchen — Men-
ſchen ſind. Bis aufs Unterkinn halt ich das fuͤr ein treffliches Profil. Das Unterkinn zeigt in
dieſem Geſicht einigen Hang zur Traͤgheit.
Von der dritten waͤr' ein Buch zu ſchreiben. Die allerſtillſte, erhabenſte und freyſte Seele!
So ſtillerhaben und erhabener noch, als die vorige, aber ſo frey und ſtark wie moͤglich! Jn der
aͤußerſten Demuth ſich dennoch ganz fuͤhlend. Voll des kuͤhnſten Muths in der Tiefe der Seele!
Feſt in ſich verſchloſſen, nur blitzweiſe hervorleuchtend. Ohne Cultur voll des ſicherſten unbeſtech-
lichſten Geſchmacks! unerſaͤttlich im ſtillen Forſchen! Feindinn alles Geraͤuſches und dennoch in der
unbegreiflichſten Aktivitaͤt. Verachtend alles, was nicht das Edelſte, Schoͤnſte, Goͤttlichſte iſt,
und im Kleinſten, Veraͤchtlichſten — Gott erblickend, Gott findend, Gott anbethend —
Die
[]
[][195]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Die beygeſtochnen Linien ſollen fuͤrs erſte nur aufmerkſam machen; nur Wink zur
Uebung ſeyn. Wir werden wieder drauf zuruͤckkommen.
Die nachſtehende Vignette iſt das Bild einer kraͤnkelnden, ſchwachen aber im Leiden ge-
uͤbten Frau, die ſich in ſtillen Gedanken uͤber Mann und Kinder, die ſie vielleicht bald verlaſſen ſoll,
zu verlieren ſcheint.
[196]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
F.
Ein maͤnnliches Portraͤt. H .... e.
Ein unaͤhnliches Bild, das jedoch noch Character des Urbilds genug hat.
Kein großer, kein philoſophiſcher Kopf; aber ein maͤchtiger, leichter, fertiger Geſchaͤffts-
mann, von vieler Feinheit, Klugheit und Wohlanſtelligkeit.
Dieſe Stirn iſt, die Schaͤrfe am Augenknochen ausgenommen, aͤußerſt gemein. Jn der
Natur hat ſie einen viel ſprechendern Character.
Der Raum zwiſchen den Augenbraunen bis auf die Naſenwurzel faͤngt an mehr zu
verſprechen.
Die Augen ſind ſicherlich keines Dummkopfes, ſind eines klugen, beobachtenden, erfahr-
nen Weltkenners.
Die Naſe hat vieles, das ſie dem Auge des Kenners ſehr empfehlen wird.
Der Mund macht durch ſeine Unbeſtimmtheit dieſes Bild am unkenntlichſten. Bey allem
dem hat er nichts Craßes, Dummes, Schiefes — oder wider den Mann Zeugendes.
Jch wuͤrde dieſen Mann zu meinem Homme d'affaire waͤhlen; er muͤßte meine Correſpon-
denz, meine Rechnungen fuͤhren. Er muͤßte fuͤr mich kaufen und verkaufen. Jch glaube nicht,
daß er mir leicht etwas verderben wuͤrde. Auch duͤrft ich mich, wenn er einmal ein Herz zu
mir gefaßt, und recht bey mir zu leben haͤtte, auf ſeine Treu und Redlichkeit verlaſſen. — Aber
Vorwuͤrfe wuͤrd' er mir machen, wenn ich was Dummes ſagte, oder was Unuͤberlegtes thaͤte.
Allenfalls koͤnnte ſeine Klugheit, aus Liebe zu mir, und aus Eifer fuͤr mein Jntereſſe bis zur
Feinheit, bis zur Argliſtigkeit gehen; und ſein ernſthafter Blick wuͤrde wohl nie herzlicher laͤcheln,
als wenn er einen, der ihn oder mich haͤtte betruͤgen wollen, gluͤcklich erwiſcht und ſeinen Betrug
auf ſeinen eignen Kopf zuruͤck gewendet haͤtte.
Freue dich, einen ſolchen Mann in deinem Hauſe oder uͤber deine Geſchaͤffte geſetzt zu ha-
ben; aber fuͤrchte dich vor ſeinem Blicke, wenn du ihm unrecht thuſt, und ſey deiner Sache
ſehr ſicher, deiner Worte ſehr maͤchtig, wenn du ihn bereden willſt, ſeinen Sinn nach dem deini-
gen zu aͤndern.
Es
[]
[][197]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Es iſt ein geheimes Feuer in dieſem Geſichte, das lange in ſich brennen, und biswei-
len fuͤrchterlich losbrennen kann. — Dieß Feuer kann, wie alles Feuer in der Welt — Tod
und Leben wirken; Seegen und Fluch werden! —
Die nachſtehende Vignette — Carrikatur von einem trefflichen hoffnungsvollen Juͤng-
linge, von dem wir auch noch reden wollen.
[198]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
G.
Ein Kopf nach Raphael.
Wer den Ausdruck dieſes Kopfs vollkommen richtig, das iſt, ſo beſtimmen kann, daß es jeder
Fuͤhlende fuͤhlt: das iſt Wahrheit! der darf ſich auf die Feinheit und Schaͤrfe ſeines phyſigno-
miſchen Gefuͤhls etwas zu gute thun.
Jſt's pruͤfende Aufmerkſamkeit, oder iſt's mehr aberglaͤubiſche Andacht, oder ein Gemiſch
von beyden, was dieſen Kopf ſo characteriſtiſch macht? oder iſt's Sehnſucht mit Hoffnung
vermiſcht? —
Jn großer inniger Bewegung iſt die Seele gewiß! Und dieſe Seele hat Kraft! Kraft
bildet dieſe Augbraune; Kraft treibt die Stirne bey dieſen Augbraunen ſo ſtark heraus; Kraft
iſt's, die dem Auge dieſen feſten ſcharfen Umriß giebt, dieſes Feuer in den Blick treibt; Kraft,
die den aͤußern Umriß der Naſe, beſonders der Spitze, ſo formt, ſo beſchneidet; Kraft iſt im Um-
riſſe des Kinns und der ganzen Kinnlade. —
Aber widerſprechende Schwachheit in der allzutiefen Hoͤhlung der Naſenwurzel beym Aug,
und kraftlos iſt das Ohr. —
Aber dann wiederum, die Stellung, wie ſeelevoll! wie harmonirend mit dem
Blicke! —
Mir ſcheint es am meiſten einen gefuͤhlvollen Denker zu bezeichnen, deſſen Herz lan-
ge ſchon einer Wahrheit ahndend entgegen ſchlug, und woruͤber ſich in ſeiner Stirne Glau-
ben und Zweifel wechſelsweiſe bewegten — und auf einmal ſteht vor ihm die ſinnliche Ge-
wißheit deſſen, was er ahndete, hoffte. Sein Aug und Augbraunen heben ſich in freudig
ſchauendem Triumph, in ſeiner Stirne gruͤndet ſich ewige Beſtaͤtigung, und ſein nun ganz
frey ſchlagendes Herz draͤngt ſich auf der liebenden Lippe dem erſehnten Gegenſtande zu. Kurz,
mir
[]
[][199]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
mir iſt es der Mann, der durch ein ſinnliches Wunder fuͤr viel Lieben, Sinnen und Drang
belohnt wird.
Der Kopf hier unten iſt auch nach Raphael, aus der XIV Tafel dieſes Theils ver-
groͤßert .... Hinſchauendes, ſcharfpruͤfendes Zweifeln — mit Sehnſucht nach Gewiß-
heit vermiſcht.
[200]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
H.
Ein zweyter Kopf nach Raphael.
Stiller, nicht fluͤchtiger — Leſer — was ſagt dir und mir — ſtille Beobachtung dieſes Ra-
phaeliſchen Kopfes! — Wird er wohl beſtimmt genug gezeichnet ſeyn — um leicht erklaͤrbar
zu ſeyn? —
Mir liegt drinne, mittheilende Verſicherung auf das reinſte ausgedruͤckt. Die beyge-
zeichnete aufdeutende Hand, die Stellung des Ruͤckens laͤßt keinen Zweifel uͤbrig. — „Siehſt
„du den, der helfen kann, der hilft!“ ſcheint ſie mit fliegender Eile zu ſagen. Nur iſt ein
Fehler der Zeichnung zu bemerken, wodurch der Kopf ein ſchiefes Anſehn bekommt. Er ſoll nach
der Jntention des Erfinders nicht allein ſich vorbiegen, ſondern auch gegen den Zuſchauer
heruͤberhaͤngen. Daher ſieht man eben auf den Scheitel; die Stirne macht mit der Naſenwur-
zel einen ſanften Winkel, der Stirnknochen bedeckt das Augenlied, das Naslaͤppchen das Nas-
loch, die Oberlippe die Unterlippe, und darum ſieht man zwiſchen der Unterlippe und dem
Kinn ſo einen wunderbaren Raum, und ſo weit iſts noch ziemlich richtig, nur das Kinn geht
nicht genug ins Blatt hinein, und der Einſchnitt unten verdirbt alle Wirkung, indem er nach
der obern Lage des Kopfs von der Runde des Backen bedeckt ſeyn muͤßte. Dadurch bekommt
der Kopf ein falſches Anſehn, und man weis nicht, wodurch der reine feſte Eindruck geſtoͤrt
wird. Freylich iſt auch das Auge zu graß. Doch iſt die gepackte Stirne, der parallele Ruͤcken
der Naſe, die Fuͤlle der Wange ganz trefflich; und die uͤbermaͤßig vorſtehende Oberlippe ein
Beyſpiel zur Bemerkung, wie Raphael, um Wahrheit, Bedeutung und Wirkung hervorzu-
bringen, ſelbſt die Wahrheit geopfert. Schau einen Augenblick hinweg und dann wieder hin!
ſcheint ſie nicht zu ſprechen? Zwar ſpricht die ganze Stellung, in ihrer kleinſten Linie. Aber wo
concentrirt ſich alles? — Auf der Oberlippe! Jndem dein Aug' eine wahre proportionirte Lippe
erwartet, wird es hervorgefuͤhrt, die verlaͤngerte Lippe ſcheint ſich zu bewegen, und indem du
dich bemuͤhſt, ſie in Gedanken zuruͤck zu bringen, bewegt ſie ſich immer aufs neue vorwaͤrts;
auch ruht wirklich die ganze Kraft der Geſtalt auf dieſer Oberlippe.
Vielleicht
[]
[][201]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Vielleicht kommt manchem dieſes wie Geiſterſehen vor, was ich ahndungsvoll nach dem
Original, durch den Schleyer dieſer harten Copie kommentire.
Die Vignette hier unten hat etwas von dem furchtſam erſtaunten Thomas nach Ra-
phael. Beſcheidenheit, Scham, Zweifel und Hoffnung, ſcheinen ſich in dieſem Geſichte zu
vereinigen.
[202]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
I.
Zween Koͤpfe nach Le Bruͤn.
Daß beyde die allertiefſte devoteſte Ehrfurcht ausdruͤcken, iſt jedem auch dem gemeinſten Be-
obachter ſichtbar. Veneration druͤckt zu wenig aus. Es iſt auch nicht ganz Anbetung; aber
es iſt ſchamvolles Gefuͤhl der Unwuͤrdigkeit vor einer gegenwaͤrtigen Gottheit, oder der Stimme
ihrer Boten. Verſtummen, das laut ſpricht: „Siehe die Magd des Herrn! Mir geſchehe nach
„ſeinem Willen.“
Auf der Stirne der erſtaunten, frommen, keuſchen Seele — ruht eine tiefe reine Stille!
Die Hoͤhlung in der Mitte der Augbraunen iſt dem Herauswoͤlben des Stolzes entgegengeſetzt,
und zeigt Beſcheidenheit und Scham an, die nah an geheimen edlen Schmerz graͤnzt.
Sonſt iſt dieſe Augenbraune nicht weiblich genug ....
Schade, daß das verſchloßne Aug ſo ſchlecht, ſo hart gezeichnet iſt! ....
Die Naſe iſt ſicherlich einer keuſchen, edlen, jungfraͤulichen Seele wuͤrdig.
Sehr expreſſif iſt der aͤußerſte Umriß der Oberlippe, bis wo er ſich im Schatten verliert.
Aber die Unterlippe — dieſes ſo oft und ſo ſehr vernachlaͤßigte, und dennoch ſo betraͤcht-
liche Stuͤck des menſchlichen Angeſichts, iſt ſo bloß rund, ſo geiſt- und bedeutungslos, und der
Uebergang zum Kinne vollends ſo ſchlecht, daß er gar keine Achtung verdienet.
K.
Die zweyte Tafel iſt nach demſelben Lebruͤn-audraniſchen Originale copiert, und es ſoll da-
zu dienen, durch Aufſuchung der kleinen Verſchiedenheiten das phyſiognomiſche Gefuͤhl zu
ſchaͤrfen.
Der Unterſchied iſt leichter uͤberhaupt zu bemerken, als beſonders anzugeben, und mit
Worten genau zu beſtimmen.
Die Augenbraun ſcheint mir hier merklich weniger expreſſif. Sie geht nicht voͤllig ſo
weit gegen den aͤußerſten Umriß der Stirne vor. Die dadurch bewirkte geringe Erweiterung des
Feldes zwiſchen den Augenbraunen, giebt der Stirn etwas mehr Groͤße.
Der
[]
[][]
[][203]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Der untere Umriß des verſchloſſenen Auges iſt noch etwas ſchlechter, als in der erſten Fi-
gur, weil er haͤrter und hinten weniger gebogen iſt.
Der etwas breitere, ununterbrochene Schatten unter dem Auge, der weniger hart iſt, als
in der erſten Figur, ſcheint mir um etwas vorzuͤglich.
Der aͤußerſte Umriß der Spitze der Naſe iſt hier etwas weniger ſtumpf, und ſcheint noch
etwas mehr Verſtand und Gemuͤthsfeſtigkeit auszudruͤcken.
Die Oberlippe hingegen iſt weniger wellenfoͤrmig und beſtimmt, und verliert daher im
Ausdrucke merklich.
Der Mund iſt etwas kuͤrzer, mithin von vorne anzuſehen ſchmaͤler, zugleich iſt die Ober-
lippe weniger hart; dieß giebt ihm mehr Jungfraͤulichkeit.
Allein die durch die Gewalt des Aezwaſſers gewirkte Haͤrte und Schwaͤrze zwiſchen
beyden Lippen benimmt ihm alle Anmuth.
Etwas weniger hart und abgeſchnitten iſt die untere Kinnlade — aber der ganze Un-
tertheil des Geſichtes iſt deswegen weder merklich ſchoͤner, noch bedeutſamer.
[204]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
L.
Ein Kopf nach Piazetta.
Zieh erſt die fatale Haͤrte des linken Auges und der einen Seite der Naſen ab, und dann frage
dich: Jſt dieſe Stirne ganz gemein? Das Licht auf der Woͤlbung der Stirne, der ſcharfe Augkno-
chen — zeigt mir viel feinen Verſtand; nicht einen offnen heitern philoſophiſchen Kopf; weder einen
Erſinder des Schoͤnen, noch einen Schoͤpfer des Guten! Aber einen tiefklugen, allenfalls kunſt-
und fleißreichen Mann. Dieß beſtaͤtigt mir auch, nebſt der Stellung, der ganze untere Theil des
Geſichts von der Naſe an, beſonders der Queereinſchnitt mitten, und der Eindruck unten am Kinne.
Nachſtehende Vignette iſt etwas von dem Portraͤt des Franz Antonius Pagi, deſſen
Geſicht einen ſehr feinen, verſtaͤndigen, planvollen Mann zeigt.
M.Ein
[]
[][]
M.
Ein Kopf nach Le Bruͤn.
Was ſieheſt du in dieſem Geſichte? was iſt dieſer ſcharfhinſchauende Blick? dieſe Tiefe des Au-
ges, dieſe Runzeln der Stirne, dieſe Offenheit des Mundes, dieß Vorhaͤngen des Hauptes? Sie-
heſt du nicht — mitleidreiches Schrecken? ſcharfes Betrachten und mitleidendes Erforſchen
fremder Noth? Wie ſprechend iſt der aͤußerſte Umriß der Stirn! und welches Menſchen iſt die
Stirn und die Naſe! So ſchauen, kann's eine kleine gedankenloſe leere Seele? welche Kraft iſt in
jedem Aufmerken! im Aufmerken theilnehmender Liebe! wie wenigen iſt ſie gegeben! — Dieſe
Stirn iſt nicht des Guten aus Schwachheit! der wuͤrde ſich wenden vom Anblicke des Elendes,
laut jammern, ſich verhuͤllen und — verſchmachten! — Dieſer Kopf koͤnnt' allenfalls Copie eines
raphaeliſchen ſeyn? — Wie entſetzlich muß der Schmerz ſeyn, der auf dieſes kraftvolle Geſicht die-
ſen Eindruck, dieſe Furchen auf Stirn' und Wange pflanzt? —
Nachſtehende Vignette ſtellt den Kopf Saullus vor, da er vernommen den Donner der
Stimme: Jch bin Jeſus, den du verfolgeſt! Ach! wie's ihm ſo ſchwer wird, wider den Sta-
chel auszuſchlagen!
[206]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
N.Ein Kopf nach Le Bruͤn.
War der vordere Kopf raphaeliſch, ſo iſt's dieſer noch mehr. Welch einfache Expreſſion! wie viel
mit Wenigem ausgedruͤckt! wie ganz Aug' und Ohr iſt Er! wie ganz Ohr im Aug'! Sein Blick
iſt nicht des Menſchen betrachtenden, iſt des Wort aufhorchenden, Gedanken verſchlingenden. Es
iſt unendlich wichtig, was dieſer Horchende vernimmt; — Er ahndet daraus die wichtigſten Revolu-
tionen in und außer ſich; aber noch verſchließt Aufmerkſamkeit und Beſtreben nach Sicherheit, daß
er's recht verſtehe, der Empfindung der Freude oder des Schreckens, die mit der vollen Gewißheit,
wie ein Waldſtrom, hereinbrechen werden, den Durchbruch.
Bis auf die Unterlippe hat das Geſicht viel Großes. Aber der untere Theil iſt zu kleinlich
und zu gemein.
O.Vier
[]
[][]
O.
Vier Profilumriſſe.
Freund und Forſcher der Menſchen, wuͤrdeſt du gern in der Geſellſchaft der vier Maͤnner ſeyn, von
deren Geſichtern hier ziemlich aͤhnliche Umriſſe dir vor Augen liegen? Was du von ihnen urthei-
len werdeſt, weiß ich nicht; ſo viel aber weiß ich, daß du dich in ihrer Geſellſchaft ganz gewiß
nicht uͤbel befinden wuͤrdeſt.
Es ſind vier Menſchen von dem verſchiedenſten Character, die ſich aber alle durch Guͤte
und außerordentliche Redlichkeit auszeichnen. Von denen ſeltenen Menſchen ſind's, denen du in
der erſten halben Stunde gern viel von deinem Herzen mittheileſt, denen du ihre Fragen gern ein-
faͤltig, ohne Furcht und ohne Mißtrauen beantworteſt.
Es iſt ein Gelehrter, ein Officier, ein Mediciner, und ein Fuͤrſt — Verſuch es,
ſie auszufinden. Alle vier haben ziemlich viel Verſtand. Furchtſam und hypochondriſch ſind we-
nigſtens zwey wo nicht drey davon. —
Der Gelehrte iſt mehr heiter als tief in ſeinen Gedanken und aͤußerſt nett in ſeinem
Ausdrucke — und in ſeiner Handſchrift. Er hat ein zartes, wohlthaͤtiges, und bey aller ſeiner
Schuͤchternheit ein durch Tugenduͤbung ſtark gewordenes Herz, das den Freund, und den Mit-
arbeiter, und Untergebenen warnen und zurecht weiſen darf.
Jch halte ſeine Stirne fuͤr den Sitz eines guten Gedaͤchtniſſes und eines maͤßigen Witzes.
Solche Stirnen ſind mehr der helle, als der tiefſehenden Menſchen.
Den Officier (ſuch ihn nicht im Kleide) lieb ich, ohne viel von ſeinem Geiſte zu wiſſen,
der weder zu den Schwachen noch den Starken gehoͤren mag, herzlich um ſeiner redlichen Men-
ſchenfreude willen! Schade, daß der Ausdruck davon in der Zeichnung zu ſchwach iſt!
Du kannſt ihm keine groͤßre Freude machen, als wenn du ihm einen unerwarteten
Freund zufuͤhrſt! Blos der Anblick wuͤrd' ihn erfreuen, wenn er auch nicht den mindeſten Nutzen
von ſeiner Gegenwart haben; wenn er auch kein belehrendes oder unterhaltendes Wort von ihm
hoͤren
[208]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
hoͤren ſollte, ſo freudig er's auffaßt, wenn er ſo was hoͤrt, ohne daß es ihm in den Sinn
koͤmmt, ſich damit an einem andern Orte zu bruͤſten. Er hat ein ſanftes pockennarbigtes Weib-
chen, das ſich durch keine blendende Reize — aber durch die ſanfteſte Leidensdemuth empfiehlt,
und deren Wahl, wenn er ſie, wie ich glaube, aus Geſchmack und eigenem Gefuͤhle ge-
waͤhlet hat, einen großen Begriff von der, vielleicht ſonſt nicht genug entwickelten, Feinheit ſeiner
Seele giebt. Er iſt aufrichtig beſcheiden, und ich weiß, daß er an alles in der Welt eher denken
mag, als daß von ihm in dieſem Buche geſprochen wird. Sollt's ihm einmal zu Geſichte kom-
men? Die Miene moͤcht' ich ſehen! das liebe Ehepaar neben einander an dem Tiſchgen, wo es of-
fen vor ihnen laͤge — ſie auf einmal dieſes Bild erblickten — und laͤſen. Koͤmmt dieſe Stunde,
liebes Paar, das ich in meinem Leben vielleicht nimmer ſehen werde — ich weiß, ſie iſt nicht die
unſeligſte Eures Lebens, ob ihr gleich erroͤthet oder erblaſſet — Jch weiß eure ganz reine unei-
gennuͤtzige Guͤte wird uͤber Eure Beſcheidenheit ſiegen. Jhr werdet am Ende laͤcheln — und
mir verzeihen.
Der Fuͤrſt auf dieſem Blatte, (errath ihn; haſt du phyſiognomiſch Gefuͤhl oder nur
maͤßige Weltkenntniß, du wirſt ihn errathen;) iſt die guͤtigſte, die beſcheidenſte Seele — Spar-
ſam an Worten; ſanft in allen ſeinen Aeußerungen, und dennoch nicht ſchleichend. Ein geſundes
Urtheil — das ſich nur nicht genug fuͤhlt, nicht heraus wagt — ſiehſt du immer auf ſeinem
Blick, auf jedem halbausgeſprochnem Worte ſchweben. Seine Stirne zeigt Uebergewicht der
Guͤte, aber keine Duͤrftigkeit des Verſtandes. Der Umriß von der Naſenwurzel bis zur Ober-
lippe verſprechen noch mehr, als ſeine zu große Schuͤchternheit in ſeinen Worten bemerken laͤßt ...
Ha! wie ſehnt ſich mein Herz, ihm Gefuͤhl ſeiner ſelbſt in ſeine edle Seele zu athmen! Kann ich's
nicht, kann's die unvergleichliche Fuͤrſtinn, von der jedes, auch das beſte, Portraͤt Carrikatur,
jede, auch die ſchlechteſte, Carrikatur aber nicht vermoͤgend waͤre, alle Guͤte auszuloͤſchen, die
mit dieſer Fuͤlle auf ein Menſchengeſicht, auf eine ganze Menſchengeſtalt ausgegoſſen iſt!
Aber noch hab ich nichts von der Nathanaelsſeele des Mediciners geſagt, von dem
du auf dieſem Blatte ein ſchwaches Bild findeſt. —
Sein Blick iſt nicht eines tief aufgrabenden Erforſchers! Aber Blick dennoch eines
gluͤcklichen freyen Genies! die gerade, freye, unverſtellte, und dennoch uͤberlegungsreiche Seele;
dieß
[]
[][209]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
dieß ſeltene Gemiſch von Kindereinfalt, Kinderbiegſamkeit, reizbarem Enthuſiasmus — und
immer Herzensfeſtigkeit; dieſe Treue im Berufe; dieſe wahre tiefe unſchwatzhafte Gottesfurcht;
dieſer Fleiß, dieſe Ruhe, dieſe plane, hellfortfließende Stille der Seele — Siehſt du nichts da-
von in dieſen Linien? Siehſt du nichts davon im Urbilde — o Freund, ſo iſt jedes Wort die-
ſer Schrift dir unertraͤgliches, dir unverſtehbares Gewaͤſch in einer fremden Sprache.*)
P.
Einige kurze Urtheile uͤber kleine chodowiekiſche Koͤpfe.
Die Kleinheit und die damit verbundne Unbeſtimmtheit der folgenden 48 chodowiekiſchen Koͤpf-
chen macht es zwar unmoͤglich, ſie alle mit hinlaͤnglicher Zuverlaͤßigkeit zu beurtheilen. Doch ſey
mir der Verſuch vergoͤnnet, uͤber jeden wenigſtens ein allgemeines Woͤrtchen zu ſagen. Wir
wollen, Leſer, unſer Licht zuſammen tragen, und unſer Menſchengefuͤhl an einander zu waͤrmen
ſuchen.
I.Tafel.
- 1) Das erſte Geſicht hat was Edles, das ſich mit ſehr weniger Verſtaͤrkung oder Beſtimmung
bis zur Groͤße erhoͤhen ließe. Die horizontale Lage der Augenbraunen, die kurze ſanftzu-
ruͤckgehende Stirne, (wobey zwar der Augknochen oben ſchaͤrfer hervorgehend, gegen den
Augwinkel tiefer eingeſchnitten ſeyn ſollte,) und die Einfalt des Ganzen — hat fuͤr mein
Gefuͤhl was ungemein Einnehmendes. - 2) Das zweyte ſcheint mir nicht wahr genug gezeichnet zu ſeyn. Die Naſe verdirbt das
Geſichte. - 3) Ein edles, verſtaͤndiges, feinfuͤhlendes Koͤpfchen.
- 4) Das vierte etwas ſchwach und kindiſch.
- 5) Das fuͤnfte — weiſe, theilnehmende, mit Mitleiden vermiſchte Aufmerkſamkeit.
6) Ein
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. E e
[210]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
- 6) Ein herrlich verſtaͤndiger, kluger, rechtſchaffner Mann.
- 7) Ein witziger Kopf in guter Laune.
- 8) Ein trockner, zaghafter, nicht unkluger Mann.
- 9) Der neunte, melancholiſch und argwoͤhniſch.
- 10) Der zehnte, geſcheut, weibiſch und ſchlau.
- 11) Ein ehrliches, liebes, verſtaͤndiges Geſichtchen.
- 12) Ein ehrliches, aber untenher ziemlich ſchwaches Geſicht.
- 13) Geſcheut und entſchloſſen.
- 14) Verſtaͤndig zum Argwohn, und zur Grauſamkeit — und, aller Wahrſcheinlichkeit nach,
wolluͤſtig. - 15) Ein vollſtaͤndiger Soldat! Ein entſchloßnes feſtes, choleriſch-melancholiſches Geſichte. Nur
iſt die Naſe fuͤr die Entſchloſſenheit des Ganzen zu ſchwach, zu wenig hervorſtehend. - 16) Etwas geſcheuter und feiner, als der vorhergehende.
- 17) Das completeſte Moͤnchsgeſicht. Ununternehmend, wohllebiſch, phlegmatiſch, ohne
Theilnehmung. - 18) Ein Mohrengeſicht, deſſen Stirne vielleicht was hoffen ließe, wenn beſonders die Naſe hin-
ten nicht ſo ferne vom Munde, und dem zu kleinen Auge zu nahe waͤre. - 19) Ein guter Mann, mit wenig Scharfſinn, doch nicht ganz unfaͤhig des moͤnchiſchen
Witzes. - 20) Ungefaͤhr derſelbe, doch etwas verſchlagner.
- 21) Ein nicht unverſtaͤndiges, kaltes, ordentliches, bedaͤchtliches Geſicht.
- 22) Jeſuitiſcher Blick. Etwas Bigotterie, und untenher ſeelenlos.
- 23) Etwas verdruͤßlich, mißtrauiſch, eigenſinnig.
- 24) Verſtaͤndig; vermoͤge des Umriſſes der Augenknochen und der Naſe gut; aber nicht groß
nach dem Munde und dem Kinne.
II.Tafel.
[]
Q.
II.Tafel.
Chodowiekiſcher Koͤpfe.
- 1) Jn dem erſten iſt ein Gemiſche von Großem und Kleinem; der obere Theil mit dem Auge
laͤßt Großes hoffen; der untere benimmt, oder ſchwaͤcht dieſe Hoffnung. - 2) Ein herrlich Geſicht eines verſtaͤndigen, und herzguten Menſchen.
- 3) Ein ſehr verſtaͤndiger Mann von vieler Erfahrung, doch unentſchloſſen, und ſtolz!
- 4) Liebenswuͤrdiges Geſicht eines edlen, unſchuldigen, ruhigen, leidenſchaftloſen, geſunden
Menſchen. - 5) Ein ſehr kluger, feſter, tapferer Mann.
- 6) Hochachtung erwerbende, und Zutrauen verdienende Klugheit.
- 7) Derſelbe Character, nur etwas weniger erhaben.
- 8) Ein herrliches Mannsgeſicht voll Weisheit, und Ruhe und Feſtigkeit.
- 9) Welch ein ploͤtzlicher Abfall das neunte Geſicht! wie kleinlich, unedel, unmaͤnnlich, ſchwach
in Vergleichung mit dem vorigen! - 10) Jch getraue mir nicht, mit genug Sicherheit zu entſcheiden, wie viel Ehrlichkeit ſich zu
dem muntern Witze geſelle, der in dieſem Geſichte die Oberhand zu haben ſcheint. - 11) Ein ordentlicher, mit Fleiß arbeitender, tiefſehender, etwas melancholiſcher Kopf, der des
Neides und Geizes nicht unfaͤhig waͤre. - 12) Ein nicht von aller Feinheit und Kraft leeres Staatsgeſicht.
- 13) Aufmerkſamkeit eines guten Beobachters ohne ſonderliche Klugheit.
- 14) Hoͤherer Grad der Aufmerkſamkeit mit Zweifel und Urtheil vermiſcht.
- 15) Sollten Kaͤlte und Melancholie, Aberglauben und Groͤße ſich zuſammen finden koͤnnen, ſo
glaubt' ich ſie in dieſem Geſichte vereinigt zu ſehen. - 16) Faſt ſollt' ich dieſem Geſichte keinen Namen geben! aber willkuͤhrliche niedertraͤchtige Miß-
gunſt, verbunden mit dieſem Grade der Dummheit, verdient doch, bezeichnet zu werden. - 17) Ein ganz guter, ertraͤglicher Mann, deſſen nicht verſtandleeres Auge eine ſchaͤrfre Naſe zur
Geſellſchafterinn verdiente.
E e 218) Jch
[212]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
- 18) Jch kann mich nicht erwehren, zu ſagen, daß dieß Geſicht zwar nicht ganz dumm, aber
gefuͤhllos iſt. - 19) Ruhighorchende, nicht ganz untheilnehmende Aufmerkſamkeit.
- 20) Die Kleinheit der Naſe verdirbt vieles in dieſem ſonſt nicht ſchlimmen Geſichte. Die Aug-
braunen zeugen von Verſtand, von Guͤte der Mund. - 21) Ein uncultivirtes etwas eigenſinniges Capucinergeſichtchen, nicht ohne merkbare Anlagen.
- 22) Ein außerordentlich geſcheutes Geſicht, das viel Großes hat, dem aber das hervorſtehende
Kinn, und der ſteife Bart wehe thun. - 23) Dieß Geſicht wird ſich, das weiß ich gewiß, wenige Freunde machen. Wer iſt, der es
nicht eher fuͤr das Geſicht eines guten Eſſers, als eines großmuͤthigen Mannes erklaͤ-
ren wird? - 24) Ruhige, vorſichtige, oder vielmehr bedaͤchtliche, uͤbrigens ziemlich alltaͤgliche Amtsmiene!
Jch wuͤnſchte, daß einer meiner Leſer, der, wie's gewiß hundert geben wird, mehr Welt-
und Menſchenkenntniß beſitzt, als ich — alle dieſe Geſichter, gleich als ſtuͤnd oder ſaͤß er mir
bruͤderlich zur Seite, durchgehen, und meine Urtheile, eins nach dem andern, verbeſſern moͤchte.
R.Ein
[]
R.
Ein ausgearbeitetes Profilportraͤt.
Das vorſtehende Bild iſt dem Urbilde ſehr aͤhnlich; dennoch hat es von der Anmuth und Lieb-
lichkeit des Originals merklich verloren. Aus Furcht, ins Harte zu fallen, wollte es der Zeich-
ner, Herr Heinrich Pfenninger, nicht wagen, einige ſehr bedeutſame Zuͤge etwas beſtimmter
und feſter zu zeichnen. Es iſt indeß hinlaͤnglich kennbar, um uns zu einigen Beobachtungen die
gehoͤrigen Dienſte zu leiſten. Wir werden aber auch das nicht unbemerkt laſſen, was das Bley-
ſtift und die Nadel zuruͤck gelaſſen haben moͤgen, und ſo werden wir ſo gar noch die, auch bey
der groͤßten Sorgfalt, beynahe unausweichbaren Fehler benutzen koͤnnen.
So viel ich aus dem Umgange mit dieſem Manne, und aus dem mit dem meinigen voll-
kommen uͤbereinſtimmenden Urtheile andrer, die ihn genau kennen, — mit voͤlliger Zuverlaͤßigkeit
ſchließen kann, hat er folgenden —
Character.
Ueberaus ſanft, zaͤrtlich, guͤtig, empfindſam, aufrichtig, beſcheiden, und von Herzen de-
muͤthig — frey von heftigen und ſtuͤrmiſchen Leidenſchaften; immer heiter, ruhig, guten Muths;
aufgeweckt, ohne luſtig, ernſthaft, ohne traurig und niedergeſchlagen zu ſeyn; unbeſchreiblich
billig in allen ſeinen Urtheilen, und vorſichtig, durch ſein Betragen, und ſeine Reden keinen Men-
ſchen zu beleidigen — Ein angenehmer, unterhaltender, theilnehmender Geſellſchafter — Einfach
und geſchmackvoll in ſeinem Aeußern und ſeiner Kleidung — reinlich, maͤßig, zufrieden, froͤhlich
andaͤchtig, fromm, voll einer nicht lauen und nicht ſchwaͤrmeriſchen Liebe zum — Heiland —
Eines der weiſeſten und angeſehenſten Mitglieder der maͤhriſchen Bruͤderſchaft; aber ein, nicht blos
andre duldender, ein zaͤrtlichliebender allgemeiner Menſchenfreund; fern von allem ausſchließen-
den Partheygeiſte; — billig genug, die Fehler ſeiner Parthey zu geſtehen, und das Gute ihrer
Gegner hervorzuziehen, und bekannt zu machen — Ein weiſer — nein nicht Vater, ein Bruder,
ein Freund aller Kinder; — eine Freude aller, die ihn kennen; — ein Kind voll Guͤte und Un-
ſchuld; — klug, wie eine Schlange, und einfaͤltig, wie eine Taube; fein, aber nur durch Liebe;
von der delicateſten Diſcretion — ſchwerhoͤrend, aber mit der ganzen Seele aufmerkſam; Meiſter
E e 3ſeiner
[214]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
ſeiner Zunge — und Herr ſeiner Geberden; gehorſam — in einem weit ausgedehntern Sinne,
als eine woͤrtliche Sittenlehre fordern darf — gegen jeden Wink der Fuͤrſehung, und jeglichen
Wink eines jeglichen, der nichts Unrechtes will — Freymuͤthig, ohne alles rohe, trotzige We-
ſen; — demuͤthig uͤber alle Vergleichung; ruhiger, wenn man ihn tadelt, als wenn man ihn ruͤhmt;
dankbarer, (nicht mit ſchmeichelndeln Worten) dankbarer fuͤr die Beſtrafung, als fuͤr das Lob —
gegen keinen Menſchen ſo ſtreng, als gegen ſich ſelber — und dennoch von aller Aengſtlichkeit, al-
lem jammerhaften Weſen unendlich entfernt .... Voll geſunden heitern Verſtandes; — kein
tiefdringendes, kuͤhnes, ſchoͤpferiſches Genie; aber ein uͤberlegender, nicht langſamer, feinſichtiger
Geiſt — — Von Diſputirſucht, Rechthaberey, Prahlerey — weit entfernt, dennoch feſt ge-
nug, ſeine Sache mit Weisheit und Standhaftigkeit zu behaupten. ....
So weit koͤnnt' ich fuͤr ſeinen Character ziemlich gut ſtehen — — und wie viel Gutes
ließe ſich noch ſagen, wenn die Sprache Zeichen genug haͤtte, noch ſo manche feine Schattirung
ſeines edlen, reinen, oft an Erhabenheit graͤnzenden Characters auszudruͤcken. —
Uebrigens, — und dieſe Beobachtung iſt fuͤr den Phyſiognomiſten nicht gleichguͤltig —
hat alles an ihm, nicht nur Stimm und Geberde, ſo gar auch alle Zuͤge ſeines Geſichtes ein
entſcheidendes Gepraͤge der Gemeine, zu welcher er gehoͤrt. Veredelt, verfeinert ſcheint das Ei-
genthuͤmliche der Bruͤderphyſiognomie allenthalben durch — Alles an ihm hat, wenn ich
ſagen darf, die Tinktur — oder, wenn ich es ohne Beleidigung ſagen koͤnnte — alles an ihm iſt
Melodie der Bruͤderſchaft.*) — So viel von dem wirklichen Character. Nun wollen wir
zu einigen phyſiognomiſchen Beobachtungen fortgehen.
Phyſiognomiſche Bemerkungen.
Jch zweifle nicht, daß das voruͤberſtehende Profil jedem geſunden Auge nicht ſogleich einen
Mann von der aͤußerſten Sanftmuth, Guͤte, Beſcheidenheit und Ruhe darſtellen werde.
Man frage jeden Menſchen, dem man dieß Bild vorlegt: „Jſt dieß ein wilder — oder
„ſanfter Character? Jſt das Herrſchende ſeines Characters Wildheit oder Sanftheit? “
Vom Aufgange bis zum Niedergange wird keine vernuͤnftige Menſchenſeele ſagen: „Wildheit!“
Nein! Sanftmuth und Guͤte wird jeder, der ungeuͤbteſte, wie der geuͤbte, darinn finden.
Ferner:
[215]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Ferner: Nicht alle werden es ſo gleich ſagen koͤnnen, wenn ſie nicht gefragt werden; aber
alle werden es bejahen muͤſſen, wenn man es ihnen zuerſt ſagt: — was in dieſer Phyſiogno-
mie nicht iſt.
Nimm, mein Leſer, dieß Bild vor dich, und ſiehe, ob du mir nicht geſtehen muͤſſeſt, daß
das alles nicht in dieſer Phyſiognomie iſt, wovon ich nun ſagen werde, daß es nicht darinn ſey. —
So koͤnnen wir einander leicht bey der Hand fuͤhren.
Jn dieſer Phyſiognomie ſag ich, z. E.
- Jſt nichts Rohes, Wildes, Barbariſches, Grauſames;
- Nichts Zorniges, Rachſuͤchtiges, Neidiſches, Trotziges, Spoͤttiſches, Kriechendes,
Unedles; - Nichts Hartnaͤckiges, Eigenſinniges, Eiſernes;
- Nichts — von hoher, unternehmender Kuͤhnheit, und durchſetzender Dreiſtigkeit;
- Nichts von ſchlauer, zweyzuͤngiger Argliſtigkeit;
- Nichts von jenem thaͤtigen Heldenfeuer, das weit leuchtet, erhitzet, entflammt;
- Nichts von dummer, ſeelenloſer Schlaffheit;
- Nichts von zaͤher, nervenloſer Unempfindlichkeit;
- Nichts von jovialiſcher Fluͤchtigkeit, Leichtſinn und Etourderie; —
- Nichts von tieftrauriger, aͤngſtlicher Truͤbſinnigkeit u. ſ. w.
Jch glaube nicht, daß jemand ſey, der von dieſem allen eine merkbare Spur in der Phy-
ſiognomie dieſes liebenswuͤrdigen Menſchenfreundes entdecken werde.
Was aber eigentlich Poſitives an derſelben wahrzunehmen ſey, und welches der Sitz,
der Character dieſes Poſitiven ſey, dieß iſt ſchon weit ſchwerer zu beſtimmen, und ſetzt feinere Be-
obachtungen, und mehrere Menſchenkenntniß voraus, als man von jedem gemeinen Menſchen for-
dern duͤrfte.
Aber geuͤbtere Beobachter werden mir ſogleich geſtehen, daß z. E. die zuruͤckgehende, ſo
gewoͤlbte Stirne (wie ſie ſich inſonderheit durch den von dem Schlafe heraufgehenden, zu ſchwa-
chen Schatten beſtimmt) daß der etwas tiefe Einbug bey der Naſenwurzel, die etwas ſtarken, haa-
rigten, ſo gebrochnen Augenbraunen, das ſanfteckigte im ganzen aͤußerſten Umriſſe, beſon-
ders
[216]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
ders der, beynahe noch zu ſchwach ausgedruͤckte, Einſchnitt mitten am Kinne, welches untenher in
der Natur wohl noch etwas runder ſeyn mag, die Lage und Sichtbarkeit der Muskeln an der
Backe, die Diſtanz der, leider! verdeckten — Ohren von der Naſe, die horizontale Lage
des Mundes, die Verſchloſſenheit deſſelben, die Proportion, Zeichnung und Lage der Lip-
pen — daß das alles zuſammen genommen entſcheidende Merkmale von Verſtand, Klugheit und
edler Feinheit und Heiterkeit des Kopfes ſeyn. So entſcheiden wenigſtens meine bisherigen Be-
obachtungen. — Guͤte iſt allenthalben ausgegoſſen, oder eigentlicher zu reden: Aus der Fuͤlle
der Guͤte des Originalgeſichtes ſind nur einige Tropfen auf dieſes Nachbild gefallen, und auf dem-
ſelben zerfloſſen. Kein Menſch wird dieſes Bild anſehen, ohne Guͤte zu vermuthen, oder wenig-
ſtens ſogleich einzuſtimmen, wenn man ihm ſagt: „Siehe hier ein Bild eines Guͤtigen.“
Um das, was ich bisher geſagt, noch gewiſſer und anſchaubarer zu machen; — um den
aufmerkſamen Leſer noch einige Schritte weiter zu fuͤhren, oder vielmehr, um ihn auf einer Bahn
ſtehen zu laſſen, auf welcher er, ohne mich, vielleicht gluͤcklicher wird fortgehen koͤnnen, will ich
noch einige Vermuthungen wagen, und einige Bemerkungen beyfuͤgen. —
Bemerkungen.
Das Aug und der Mund ſind in dem Urbilde noch viel guͤtiger und liebreicher, als ſie es
in dieſem Nachbilde ſind. Warum ſcheint nun dieſes Nachbild weniger liebreich, als das Original
in derſelben Lage und Verfaſſung? — Ohne Zwefel ſind folgende Maͤngel und Schwaͤchen der
Zeichnung Schuld daran.
Das Auge hinten in dem Winkel iſt zu abgebrochen, zu ſtumpf — Die Linie, an welcher
die Auglippenhaare (cilia) ſtehen, und die druͤber, welche hinten mit der untern in einen Win-
kel zuſammenlaͤuft, ſollten weiter fortgehen, ſollten zu einigen kleinen nach und nach ſich verlieren-
den Falten werden, und wieder aus einander gehen. —
Ferner: Die mittlere Linie im Munde wuͤrde ungleich mehr Leutſeligkeit darſtellen, wenn
ſie vornen nicht ſo ſcharf verſchloſſen, oder nur wo die Mittellinie ſich bricht, und dann zwiſchen
dem aͤußerſten Ende durch einige Druͤcke des Grabſtichels belebter worden waͤre. Noch mehr,
wenn
[217]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
wenn von dem hintern Ende des Mundes theils an dem Rande der Oberlippe ein bis zur Haͤlfte
vorwaͤrtsgehender, zarter, ſich verlierender Schatten, und hinten an der Unterlippe von der Mit-
tellinie an ebenfalls ein kuͤrzerer feſterer Schatten angebracht waͤre. Denn wirklich hat hierinn
der Zeichner gefehlt.
Vermuthungen.
Man ſetze, daß die Stirne nicht ſo zuruͤckgienge, daß ſie mit dem Contour des Unter-
theils des Geſichtes unter der Naſe perpendiculaͤrer liefe, — daß die Endung der Stirne bey
der Naſe weniger ſtumpf und gewoͤlbt, ſondern ſpitziger, ſchaͤrfer, knochigter waͤre — wuͤrde
die Guͤte, die Sanftheit des Characters, die Schwaͤche, wenn ihr wollt, nicht verlieren — und
Eigenſinn und Staͤrke gewinnen? — wuͤrdet ihr, wenn dann beyde Geſichter, das itzige, und
das alſo veraͤnderte, neben einander geſtellt wuͤrden, nicht das itzige dem veraͤnderten, in Anſehung
der Guͤte vorziehen? Kuͤnftige Tafeln werden dieſe Anmerkung beſtaͤtigen.
Setzet weiter, daß die untere Lippe weit unter der obern vorgienge — ſchief vorgienge —
daß der Einſchnitt mitten am Kinn ſich in ein Stuͤck von einem Zirkel verwandelte — oder daß
die horizontale Lage des Mundes ſo veraͤndert wuͤrde, daß das Ende hoͤher, oder tiefer ſtuͤnde,
als der Punkt, wo ſich vornen die Lippen ſchließen — wuͤrdet ihr auch noch denſelben ſanften, gu-
ten und heitern Mann vor Euch ſehen? —
Nehmt alle die ſichtbaren Muskeln an der Backe weg, ſpannt die Haut an; laßt ſie zaͤ-
her, feſter, einfacher, platter ins Auge fallen — wird nicht dieſes ſchon wieder einen haͤrtern, fe-
ſtern, weniger empfindſamen Character darſtellen?
Setzet das Auge nur ein wenig tiefer gegen die Schlaͤfe zuruͤck; nur eine wenig tiefere
Hoͤhlung gegen die Naſe, laßt die gegen das Ende herabgehende Linie, an welcher die Haare
ſtehn, horizontaler laufen — werdet ihr nicht ſo gleich einen tiefer denkenden, ſcharfſichtigern, feu-
rigern, kuͤhnern Mann, ein mehr ſchoͤpferiſches Genie vor Euch ſehn?
Jch koͤnnte dieſe Vermuthungen, auch nur in Ruͤckſicht auf das gegenwaͤrtige Bild ſehr
vermehren; — aber ich will lieber wenig ſagen, und meinen Leſer viel denken laſſen — Jch
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. F fheiße
[218]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
heiße es Vermuthungen, blos um der Schwachen willen; denn eigentlich ſind es Bemerkun-
gen — denen ich aber lieber den beſcheidenſten Namen geben moͤchte. Wer denken kann, der
denke weiter.
Zur Vignette ſetz' ich hier Couplets, eines chineſiſchen Miſſionairs, Bild. Jch ver-
gleiche nicht. Der Leſer mag's thun. Nur bleibe das Auge nicht unbemerkt.
S.Giorgione
[]
S.
Giorgione oder Georgius Barbarelli.
Viele, die dieſen Kopf geſehn, haben ihn bey dem erſten Anblicke fuͤr einen Chriſtus Kopf gehal-
ten. Das iſt dem erſten Anblicke zu verzeihen, aber nicht dem zweyten.
Ein offnes, gerades Geſicht eines großen Mannes iſt's gewiß, iſt's im ſchattirten Origi-
nale nach Titian weit mehr noch, als in dieſem duͤrftigen Umriſſe.
Ein Geſicht, das die Kuͤhnheit, die unerreichbare Freyheit ſeines geiſtvollen Pinſels
trefflich ausdruͤckt.
Es iſt nicht das Geſicht eines langſamen, profonden Denkers; auch nicht eines muͤhſa-
men, langſamgeduldigen, jeden Strich auspolierenden Kuͤnſtlers.
Obgleich, vermuthlich durch die zu große, ſchattenloſe Unterlippe, der Mund etwas Ver-
achtendes hat, welches jedoch dem feuervollen Kuͤnſtler ſehr natuͤrlich haͤtte geweſen ſeyn koͤnnen,
ſo iſt dennoch in der Mittellinie des Mundes (das iſt, der Linie, welche aus der Zuſammenfuͤgung
beyder Lippen entſteht) obgleich auch dieſe mit zu dem Eindrucke der Verachtung hilft, etwas, das
uns Ehrfurcht einfloͤßt, weil es Kraft zeigt.
Die Naſe iſt in dieſem Geſichte unſtreitig eins der beſten Empfehlungsmittel! So iſt
ſicherlich keine Naſe eines Menſchen, der kein ſchoͤpferiſches Genie, keinen fruchtbaren Geiſt hat.
Bemerke beſonders an dieſer Naſe die Hoͤhlung unten am ſichtbaren Knorpel. —
Auch der Wuchs des Bartes zeigt von dem Feuer ſeines Pinſels, und von der Fruchtbar-
keit ſeiner Geſtalten.
T.
Große Silhouette.
Unter ſo vielen hundert Silhouetten, die ich ſammelte und ſahe, zeichnet ſich dieſe gerade ſo aus,
wie das Urbild derſelben unter den Gelehrten.
Mich duͤnkt, die Sache iſt ſo auffallend, wie moͤglich.
F f 2Jch
[220]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß kein natuͤrlicher Dummkopf, kein eingeſchraͤnkter
Geiſt, ſo ein Profil, eine ſolche Stirne, eine ſolche Naſe haben wird!
Und dennoch hat, ſo viel ich weiß, aller dieſer entſcheidenden kraftvollen Zuͤge ungeachtet,
kein Mahler, kein Zeichner, weder das Vollgeſicht, noch das Proſil dieſes außerordentlichen Man-
nes gut und characteriſtiſch getroffen.
Obgleich ſein Lebensgeſchichtſchreiber ſagt, daß er in ſeinen fruͤhſten Jahren aͤußerſt
ſchwaͤchlich, unbeleibt und rachitiſch geweſen; und obgleich eben dieſer Verfaſſer ſo erſtaunlich viel
auf die unverſtellten Kinderphyſiognomien rechnet, ſo glaub ich dennoch, daß der Hauptbau, und
die Grundlage dieſes Koͤrpers auf große Kraft und Staͤrke angelegt geweſen. Wenigſtens
ſcheint ſich dieſes Profil in jedem Sinne durch Kraft auszuzeichnen, aber nicht plumpe, nicht
wilde Kraft.
Außerordentliche Verſtandeshelle; die moͤglichſte Beſtimmtheit, Nettigkeit und Ordnung
der Begriffe; Kraft, ſie ins angenehmſte ſinnliche Licht darzuſtellen; unerſchoͤpflicher Reichthum
der Jdeen, vereint mit der aͤußerſten Sparſamkeit der Worte; ein allumfaſſendes heiteres Ge-
daͤchtniß; der reinſte Geſchmack; Kraft in allem, und ruhiges Empfinden ſeiner Kraft; eine
allen Glauben uͤberſteigende, tiefe, feſte Gelehrſamkeit; ein Fleiß ohne Beyſpiel, gleichweit
entfernt von Aengſtlichkeit und Stuͤrmerey; Klugheit und Fertigkeit in allen Unternehmungen;
unaufhoͤrliche, freye, unpedantiſche Calculation — und bey allem dem ſo viel feine Empfind-
ſamkeit, ſo viele Theilnehmung am Schoͤnen, Guten, Edlen, Wahren, Goͤttlichen —
Dieß ſind einige bekannte, unlaͤugbare Zuͤge aus dem Character des Mannes, von deſſen
halben Geſichte wir hier die aͤußerſte Graͤnzlinie vor uns haben.
Wie wenig und wie viel ſagt uns blos dieſe Linie! wie ſtark und entſcheidend druͤckt ſie
mannichfaltige Kraft aus!
Jch bitte aber vor allen Dingen, auf die Naſe, dieſen entſcheidenden Zug der verſtandrei-
chen Seele, den Blick zu werfen.
Hundert ſehr verſtaͤndige ſind's ohne dieſen Ausdruck.
Aber, wer ihn hat, auf deſſen Verſtand und Klugheit, wenn ſie nicht durch gaͤnzliche Ver-
nachlaͤßigung, oder durch gewaltſame Zufaͤlle gekraͤnkt und erſtickt worden, duͤrft ihr ſo ſicher
zaͤhlen,
[]
[][221]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
zaͤhlen, als darauf, daß unter tauſend Menſchen nicht Einer iſt, der die Naſe nicht zwiſchen den
Augen hat.
Wenn ich in den menſchlichen Geſichtern nicht die mindeſte Entdeckung gemacht, wenn
ich mich ſonſt in allen meinen Beobachtungen geirrt haͤtte, ſo weiß ich, daß ich mich hierinn
nicht irre.
Eine ſolche Naſe, in ſolch einem Geſichte, wirſt du vom Aufgange zum Niedergange ſchwer-
lich bey einem finden, der nicht Anlage hat, ein großer Mann zu werden; ſo wenig du ſolche Stir-
ne, ſolche Augen, Augenbraunen, bey einer ſolchen Naſe, wie in der nachſtehenden Vignette, an
einem Dummkopfe finden wirſt.
[222]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
U.
Neun erdichtete Silhouetten.
Es iſt keine von allen dieſen Silhouetten nach der Wahrheit und Symmetrie der Natur gezeichnet.
Es ſind dem Zeichner nur gewiſſe Geſichtspunkte und allgemeine Jdeen vorgehalten wor-
den, die ihn leiten ſollten. Es ſollten Uebungen des phyſiognomiſchen Gefuͤhles ſeyn, dunkle
Wahrnehmungen in beſtimmtere Bilder verfaßt — Zeichen, wodurch dem Leſer manche ſonſt un-
ausdruͤckbare Jdee anſchaulich gemacht; Gelegenheiten, wobey ihm auf einmal vieles geſagt,
worauf er in der Folge mehrmals verwieſen werden kann.
Setze dich alſo neben mich, freundſchaftlicher Leſer, und laß dir etwas von dem Reſultat
bisheriger Beobachtungen mittheilen, und antworte mir im Geiſte mit den deinigen.
- 1.
Solche ſcharfe eckigte Geſichter hab ich immer vorzuͤglich verſtandreich und tiefſchauend
gefunden. Das Kinn ſcheint mir zu dieſem eckigten Umriſſe zu glatt. - 2.
Die Stirne gut; je tiefer herab, deſto ſchwaͤcher. - 3.
Ein ſehr mittelmaͤßiges Geſichte, die untere Haͤlfte der Naſe ausgenommen. - 4.
Die Naſe ſicherlich edel und verſtaͤndig, das Uebrige gemein, zaghaft, leer; ſolche Stirne
hab ich noch nie bey ſolcher Naſe geſehen, auch nicht ein ſo bloͤdes Untergeſicht. - 5.
Die Stirne ziemlich gemein. Unter der Stirne viel Nachdenken, Ueberlegung, Klugheit
und Ruhe. Aber keine Erhabenheit der Seele, und keine ſiegende Schnellkraft. - 6.
Bis zur Oberlippe forſchender, ſyſtematiſcher Verſtand. Untenher weibliche Bonvivanterey. - 7.
Ein ziemlich leeres, zaghaftes, kraftloſes, trocknes Geſicht, das in der Welt gewiß nie
was Großes wirken wird. - 8.
Bis unter die Naſe ausnehmend viel feſter maͤnnlicher Verſtand — Bemerke das Schiefe,
und das Eckigte. — Auch bis zum Unterkinn iſt Verſtand. Das Unterkinn harmonirt nicht mit
dem ganzen Obertheile des Geſichtes.
9. Ein
[]
[][223]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
- 9.
Ein Gemiſch von Verſtand und Etourderie; die Laͤnge des Untertheils des Geſichtes,
und die Beugung der Linie der Oberlippe von der Naſe an zeigt Etourderie an. - Von den Hintertheilen des Geſichtes, die groͤßtentheils ſchlecht ſind, will itzt nichts ſagen.
- Die nachſtehende Silhouette iſt nicht vollkommen, aber dennoch bis auf den etwas ver-
ſchnittenen Mund, der getreue Umriß von einem der groͤßten und reichſten Genies, die ich in mei-
nem Leben geſehen.
[224]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
V.
Neun erdichtete Silhouetten.
- 1.
Ein guter brauchbarer Geſchaͤfftsmann, von gemeinem Verſtande, ohne ſtarke Leidenſchaft. - 2.
Tiefer, forſchender, feſter Verſtand! Beynahe nur Verſtand! Langſam und feſt in ſeinen
Ueberlegungen und Entſchluͤſſen! Wenig Jmagination, wenig Witz! Mehr eigenſinnige Hart-
naͤckigkeit, als freyer unternehmender Heldenmuth. - 3.
Ein herzguter, kalter — zufriedener, treuer, abſichtloſer Mann. - 4.
Trefflich bis unter die Naſe! allenthalben Verſtand, nur nicht in der Unterlippe und der
zu langen und zu geraden Linie, welche zum Kinn fuͤhrt. - 5.
Verſtand, Eigenſinn, Geſchmackloſigkeit. - 6.
Kontraſt des Ober- und Untertheils des Geſichtes. Bis an die Spitze der Naſe ziem-
lich, nicht außerordentlich Verſtand; unten viel Schwaͤche, Guͤte, Etourderie. - 7.
Etwas Witz; viel Guͤte! Etwas Geſchmack; wenig Scharfſinn. - 8.
Ungeachtet die beynahe gerade Linie des Obertheils des Geſichtes nicht eine von den
ſchoͤnen und vielbedeutenden iſt, ſo kontraſtirt dennoch der untere Theil des Geſichtes, von der
Spitze der Naſe an, damit. Solche Stirne kann nicht dieſen flachen unmaͤnnlichen Umriß des
Mundes und des Kinns haben.
9. Ziemlich
[]
[][225]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
- 9.
Ziemlich gute Anlage, vernachlaͤßigt. Die Anlage bemerk' im Umriß der Stirn und
Naſe; die Vernachlaͤßigung im Untertheil des Geſichtes.
Nachſtehende Vignette iſt der vollkommenſte Umriß eines herzguten, feingebildeten, furcht-
ſamen, zaͤrtlichen, aͤußerſtfleißigen und reinlichen Miniaturmahlers, der vielen Antheil an den
beſten Zeichnungen und Tafeln dieſes Werkes hat. —
[226]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
W.
Neun erdichtete Silhouetten, groͤßtentheils Carrikatur.
- 1.
Eigenſinn, Furchtſamkeit, Schwaͤche, Traͤgheit, Argwohn und Gleichguͤltigkeit — - 2.
Die Stirne ziemlich gemein; die Naſe nicht viel beſſer; die Entfernung des Mundes von
der Naſe zeigt wenig tiefen Verſtand; der untere Theil des Geſichtes nicht ſo uͤbel. - 3.
So ein flaches perpendikulaͤres Geſicht hat gewiß keine noch ſo gute Naſe. - 4.
Aus der Carrikatur kannſt du leicht auf die Wahrheit ſchließen. Carrikatur iſt ein
Vergroͤßerungsglas fuͤr bloͤdere Augen. Du kannſt dieß Geſichte ſelbſt beurtheilen. Daß es
in der Welt nicht viel Boͤſes ſtiften wird, ſieheſt du ſelber. - 5.
Dieß Geſicht iſt das beſte unter dieſen neunen. Es laͤßt ſich mit dieſem noch was an-
fangen, allenfalls noch in eine Unterhandlung treten. Er wuͤrde langſam, und uͤberlegend,
dabey treu und ohne Falſch handeln. - 6.
Ohne Scharfſinn, und Waͤrme ſtaunt er in die weite Welt hinein, und auf einmal
bricht der platteſte Einfall hervor, uͤber den niemand lacht, als er ſelber, welches ihm auch voll-
kommen genug iſt. - 7. 8. 9.
Drey poͤbelhafte, grobe, freudenloſe, nieder- vorſich- uͤberſichſchauende Dummkoͤpfe; die
beyden erſten werden immer muͤrriſch, der letzte allein bisweilen guter Laune ſeyn, alle ſehr
dumpfe, breite Stimmen haben.
X.Zwo
[]
[][]
X.
Zwo ganze erdichtete maͤnnliche Silhouetten.
Die ganze Geſtalt dieſer beyden Maͤnner wird Euch keinen uͤbeln Begriff von ihrem Cha-
racter geben.
Jhre Geſtalt, ihre Stellung, ihre Gebehrden, und ihre Mienen haben viel Em-
pfehlendes.
Der erſte ſcheint mir ſcharfſinniger, als der zweyte zu ſeyn; nur kann ich den Philoſo-
phen, der einem andern was vordemonſtrirt, nicht in der unuͤberlegten, und unuͤberlegenden
Oberlippe finden.
Der zweyte hat das Profil eines klugen, geſetzten, ernſthaften Mannes. Die Naſe nur
iſt vorne zu abgeſchliffen, die Stirne zu gemein.
Entweder redet er im Fortgehen mit ſich ſelber, oder er hat einen kleinern Menſchen vor
ſich, dem er was erzaͤhlt — Das Vorhaͤngen des Hauptes gefaͤllt mir zu dieſer aufrichtigen Mie-
ne nicht ganz.
Nachſtehende Vignette, eine Carrikatur eines herkuliſchen Geſichtes, deſſen offne Augen un-
ter den horizontalen Augenbraunen und der feſten Stirnmauer eiſernen Muth flammen.
[228]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Y.
Eine Gruppe immaginirter Koͤpfe.
Findeſt du unter dieſen Geſichtern allen eines, dem du dich gern und mit voͤlliger Sicherheit anver-
trauen wuͤrdeſt? Jch finde keines. Wo viel Leidenſchaft, wenig Verſtand und kein Gefuͤhl fuͤr
andere außer ſich iſt, da flieht mein Herz; wendet ſich weg meine Seele.
Das allerunterſte Moͤnchsgeſicht iſt das ekelhafteſte Gemiſche von Bocksgeilheit, Unwiſ-
ſenheit und Niedertraͤchtigkeit.
Das maͤnnliche neben dieſem hat alle Merkmale der Grauſamkeit und der ſpottenden
Verachtung.
Das aͤußerſte maͤnnliche Profil uͤber dieſem haͤtt' einige gute Anlagen, iſt aber jaͤmmer-
lich durch weichliche, weibiſche Furcht verzerrt.
Das weibliche Vollgeſicht neben dieſem ſcheint mehr leer als dumm; mehr gefuͤhllos,
als boshaft; mehr kalt als wolluͤſtig.
Das weibliche Profil in der Mitte hat unter der Stirne gleich wenig Verſtand und
Gefuͤhl.
Das uͤber ſich ſchauende weibliche Profil unter dieſem hat gewiß viel Schalkheit und
wenig Verſtand.
Das gerad uͤber dieſem hochherabſchauende, hinhorchende, iſt frech, ſchamlos, und
wolluͤſtig.
Das aͤußerſte Geſicht iſt Mann und Weib; die ſeelenloſeſte Wolluſt, obgleich das rechte
Auge ſo gar dumm nicht waͤre.
Das jammerhafte, oberſte, weibliche Geſicht kann von einer ſehr gemeinen Kuͤchen-
magd ſeyn.
Das maͤnnliche Profil neben dieſem hat Verſtand bis auf die Naſe: iſt von da an
dumm, geſchmacklos, poͤbelhaft.
Das
[]
[][229]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Das emporſchauende oberſte Mannsgeſicht hat Verſtand und Kraft, horcht racheſchnau-
bend, und toͤdtet den Redenden, den es hoͤrt, mit dem Blicke.
Nachſtehende Vignette — zwo Carrikaturen, die eine zeigt einen ſatten, wohl ſich
naͤhrenden, guten, eigenſinnigen Mann; die andere verdirbt die Ehrlichkeit des Originals!
[230]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Z.
Michel Schuͤppach.
Einen Mann, von dem ſo viel Sagens im Land iſt, oͤffentlich zu beurtheilen, iſt wohl das
ſchwerſte Unternehmen von der Welt. Doch, ich beurtheile nicht den Mann, denn ich kenn ihn
nicht, ſondern ſein Bild; und dieß ſoll nicht ſeinen ganzen Geiſt ausdruͤcken; doch, welches
Bild thut's? Des geiſtreichſten Mannes geiſtreichſtes Bild, wie viel unaͤhnlicher immer, als des
Thoren thoͤrichtes — alſo ein Woͤrtchen uͤber das Bild, das wir vor uns haben.
Der Mann, den wir hier ſehen, hat gewiß nie keinen Plan entworfen, das zu werden,
was er worden iſt; der hat gewiß nicht gedacht — beruͤhmt, und durch ſeinen Ruhm reich zu wer-
den. Kleinſuͤchtiges, aͤngſtlich Geiziges iſt nichts in dieſem Geſichte! Nichts Verzogenes, Schie-
fes, das Euch Argwohn in ſeine Abſichten einfloͤßte — auch ſieht der Euch gewiß nicht, wie ein
Dummkopf an. Dieſes gerade, offne, leicht und ungezwungen vor ſich hinſchauende, helle, ruhige
Auge — lieſt — in euerm Geſichte mehr, als in eurem — Waſſer! Feinheit ohne krumme
Argliſt — ſpricht aus dem Auge, das ſo ganz Aug iſt! Keine Vielfachheit in dieſem Blicke!
Kein ſtreitendes Jntereſſe! Es iſt auch nicht das Auge eines tiefen Forſchers, eines heiſſen hart-
naͤckigen Verfolgers ſeiner Jdeen! Es ſchaut ſo in ſeiner Einfalt hin — ſchaut einen halben Zoll
tief unter die Oberflaͤche — und ſieht nur Eins —
Die Augenbraunen ſind nicht haarreich, und nicht angeſtrengt! Dieß harmonirt ſehr mit
der betrachtenden Ruhe, des in ſich ſatten, in ſich unerſchuͤtterlichen Beobachters.
Dieſe ganze Miene ſucht nicht; ſie nimmt nur mit ſtiller Ruh an!
Die Stirne, ſo wie ſie hier zum Vorſchein koͤmmt, iſt ſo gemein, ſo uncharacteriſtiſch,
wie moͤglich. Das einzige, was mir daran gefaͤllt, mit dem ganzen Geſichte harmonirt, iſt ihre
Ruhe und Heiterkeit.
Mir gefaͤllt auch der breitliche, beynahe parallele Ruͤcken der ſonſt nichts weniger als
großſprechenden, unternehmenden, Naſe.
Die beynahe horizontale Mittellinie des Mundes zeigt mehr Redlichkeit als Schalkheit an.
Die Ober- und Unterlippe ſind zu unbeſtimmt, als daß ſich vieles druͤber ſagen ließe.
Doch ſind ſie weder dumm noch boͤſe.
Der
[]
[][231]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Der untere Theil des Geſichtes zeigt den ſatten, phlegmatiſchen Mann, der einen gan-
zen Tag auf Einem Flecke ſitzt, und mit derſelben Unbeweglichkeit und Einfalt dem Fuͤrſten und
dem Bettler Audienz giebt. Zugleich laͤßt ſie weder Hunger, noch Durſt, noch magere Lebens-
art vermuthen.
Die nachſtehende Vignette, die vermuthlich nicht ſo richtig iſt, zeigt im Auge einen feinen,
und im Untertheile des Geſichtes einen kalten, gut ſich naͤhrenden Mann.
[232]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
AA.
Drey Profilkoͤpfe.
Die obern zwey Profile ſtellen, wie man leicht ſehen wird, daſſelbe Geſicht vor — einen un-
beſchreiblich originalen Gaſkonier, den heiterſten, froͤhlichſten, witzreichſten und dabey determinir-
teſten Kopf, den ich in meinem Leben geſehen! Der leichteſte, frohmuͤthigſte Avanturier; heut
ein Soldat; morgen ein Schiffmann, uͤbermorgen ein Sklave, dann ein Verurtheilter — nun
ein Sprachmeiſter, dann ein Cammerdiener, am meiſten und gewoͤhnlichſten aber ein gewaltiger
Jaͤger, ders ſo frey vom Herzen weg geſteht, daß er keine Viertelſtunde ſitzen koͤnne; daß hin-
und herlaufen, und alles pruͤfen, und alles leiden, und alles ſeyn, und nichts bleiben, ſeine
hoͤchſte Freude ſey. —
Leute mit ſo zuruͤckgehenden Stirnen und ſolchen Augenbraunen hab ich großentheils
witzreich, lebhaft, jovialiſch gefunden, und dieſe Laͤnge des Palliums der Zaͤhne, der Oberlippe,
noch an keinem Menſchen wahrgenommen, der mehr kalten Verſtand, als Einbildungskraft hatte.
Und nun noch ein Wort von der Verſchiedenheit dieſer beyden Geſichter.
Das weniger hervordringende Auge des erſten iſt wahrer, weiſer, edler und aufrichtiger,
als des zweyten.
Die dritte Figur iſt ebenfalls eines beſonderen Mannes, — eines Verſeſchoͤpfers, der
unaufhoͤrlich empfaͤngt, und unaufhoͤrlich gebiert; eines aͤhnlichen Avanturiers, wie der obige iſt.
Und ſo ein fruchtbarer Poet, ſo ein Jnpromptuͤ Dichter wuͤrde er ſchwerlich ſeyn,
wenn ſeine Stirne perpendiculaͤr waͤre.
Eine gewiſſe Art unvergleichbaren Genies hat er gewiß, und zugleich jenen Leichtſinn
und jenen Muth, der ſich durch alles durchſchlaͤgt, jenen Reichthum der Jdeen, der nie er-
ſchoͤpft wird, und jene Aufgeſchloſſenheit, die ſich immer ergießt, und ſobald ſie ſich ergoſſen, faßt
er ganze vermiſchte Haufen ihm begegnender, oder vorbeyfliehender, oder in der Fern erblickter
Jdeen wieder auf.
Ein Mann, der immer erblickt, ſelten ſieht, nie beobachtet.
Alle
[]
[][233]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Alle ſeine und anderer Jdeen in Geſtalt franzoͤſiſcher Reime erblickt, oder in ſolche ſie
umgeſtaltet; dem jeder Fußtritt, jede Umwendung des Auges, jedes Wort, das er ſpricht, oder
hoͤrt, neue Bilder, aber nie [nack]te Bilder, Bilder immer in Reimen gekleidet, herfuͤhrt.
Die nachſtehende Vignette iſt eines vielwiſſenden, bisweilen tiefblickenden, von wenigen
zu hoch erhabnen, von vielen zu tief verachteten, dunklen Schriftſtellers, der ſich's vermuthlich zum
Verdienſt anrechnet, — ohn allen Schatten von heiterm Witz zu ſchreiben, obgleich ſeine Einbil-
dungskraft bey aller Trockenheit ſeines Geiſtes und ſeiner Schreibart die originellſte von der Welt
iſt; ein Mann, in deſſen Schriften allen nicht die mindeſte Spur einer heitern Laune anzutreffen
iſt, ungeachtet er hier ein bischen laͤchelt, und wenig Unbehaglichkeit mit ſich ſelbſt verraͤth; un-
geachtet man glauben ſollte, daß es in einer ernſthaften Laune nicht moͤglich ſey, den Philoſo-
phen von Sansſoucy neben den Propheten zu citiren.
[234]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
BB.
Kleinjogg.
Sollte nicht auch ein Portraͤt von einer ganz ſchoͤnen, ganz edlen Seele unter die Uebungen
in dieſem Fragmente gehoͤren? Ja waͤr's nicht am beſten geweſen, ſtatt aller Jdeale bloße
Portraͤte im ganzen Buche vorzulegen, um die Harmonie phyſiſcher und moraliſcher Schoͤnheit
und Schlechtigkeit außer allen Zweifel zu ſetzen? — um alle phyſiognomiſche Kenntniſſe blos
auf unmittelbare Erfahrungen zu gruͤnden? ... Ja, mein Freund, aber Portraͤte von ſchlech-
ten Menſchen wuͤrden beleidigen — und Portraͤte von guten, ſtolz machen? Das will ich eben
nicht ſagen! — aber — man kann ſie nicht machen. Das Schoͤnſte wird ſchlecht auf dem Pa-
pier! Welch ein Unterſchied, das bewegſamſte Fleiſch und das harte und zaͤhe Kupfer! Welch
ein Unterſchied, die Woͤlbung eines Muskels, der aus wallendem Licht und Schatten zuſammen-
ſchmelzende Zug der Augen oder der Lippen — und eine, wie mit einer Pflugſchaar gezogene,
oder mit einſchneidendem Aezwaſſer ausgefreſſene Furche! — und dann noch Leben und — Leb-
loſigkeit! Ein Punkt, und Millionen ſich fortwaͤlzende Punkte. —
Daß man eigentlich gar kein Menſchengeſicht ganz richtig zeichnen kann, ſo wenig
ſich der Character eines Menſchen von irgend einem Menſchen richtig beſchreiben laͤßt — das iſt
bey mir die ausgemachteſte Sache von der Welt.
Je originaler ein Menſch iſt, deſto weniger iſt ſein Geſicht zu zeichnen; ſein Character
zu beſchreiben; obgleich ſich vielmehr von ihm zeichnen, gewiß mehr von ihm erzaͤhlen laͤßt, als
von tauſend Alltagsgeſichtern und gemeinen Charactern.
Man koͤnnte es faſt als eine Regel annehmen: Je mehr von einem Menſchen ge-
ſagt werden kann, deſto weniger kann von ihm geſagt werden. So, wie's, bey mir
wenigſtens, ausgemachte Wahrheit iſt — Je mehr du Gott kenneſt, deſto mehr weißt
du, daß du Jhn noch nicht kenneſt. — Je mehr man von deinem Herzen Gutes zu
erzaͤhlen weiß, deſto mehr Gutes iſt unerzaͤhlbar und — deſto mehr Boͤſes! — Je
herrlicher ein Menſchengeſicht, deſto unnachahmlicher.
Und nun auf Kleinjogg, oder den philoſophiſchen Bauer! Gerade ſo ein Geſicht!
Gerad ein ſolcher Character!
Wenn Herr Hirzel kein Verdienſt haͤtte (und er hat ſo viele erkannte und unerkannte!)
als daß er den philoſophiſchen Bauren geſchrieben, oder wie ich lieber ſagen will, dieſen
Mann ſaiſirt und emfindbar gemacht hat, der ſo ganz Menſch iſt, ſo wuͤrde ſein Verdienſt
ſchon
[]
[][235]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
ſchon ſehr groß ſeyn. So oft ich Kleinjoggen ſehe, ſo oft dank' ich's Hirzeln aufs neue, daß
er ihn aus der Dunkelheit hervorgezogen hat.
Wenige Menſchen hab ich ſo ſcharf gepruͤft, von ſo manchen Seiten, in ſo verſchiedenen
Situationen beobachtet, und keinen, nicht einen durchaus ſich ſo gleich, ſo feſt, ſo zuverlaͤßig, ſo
lauter, ſo rein, ſo unbeſtechlich, ſo ſelbſtſtaͤndig, ſo in ſich lebend, ſo einfach, ſo ganz nur das,
was er iſt, nur das was er ſeyn will, — ſo einzig in ſeiner Art gefunden, wie dieſen in meinen
Augen ganz unvergleichbaren Mann.
Jch lege die neuſte Ausgabe ſeiner Lebensbeſchreibung dieſen Augenblick weg, und mußte
oft laͤcheln, wenn ſein Xenophon ſich mehrmals in eine Schwaͤrmerey dahin geriſſen glaubt, wenn
er von gewiſſen ſchoͤnen Situationen ſpricht, in denen er ſeinen Sokrates geſehen. Entſchuldi-
gung wird's doch wohl nicht beduͤrfen, wenn man mit einiger Waͤrme von dieſem Manne ſpricht.
Kein Menſch, der Kleinjoggen genau kennt, keiner wird ſagen, daß zu viel von ihm geſagt wor-
den, und verzeihen wird man mir, wenn ich eher das Gegentheil glaube; das iſt, wenn ich glaube:
Kleinjogg kann mit der Feder ſo wenig beſchrieben, als mit dem Bleyſtift gezeichnet oder mit dem
Pinſel gemahlt werden.
Schon ſo oft hab ich ihn beredet, zu ſitzen; drey ſehr geſchickte und im Treffen gluͤckliche
Portraͤtmahler haben ihre Kraͤfte an ihm verſucht. Jch hab alles aufgeboten, daß er erreicht
werde. Alle Zeichnungen waren kennbar; aber vollkommen aͤhnlich keine! Alle mehr oder weniger
Karrikatur. Jch gebe alle Hoffnung auf, daß ſein herrliches Geſicht jemals vollkommen abgebil-
det, und der Welt und Nachwelt uͤberliefert werden koͤnne.
Wie es den Mahlern mit Kleinjoggs Geſicht gieng, ſo glaub' ich, duͤrft' es den Beſchrei-
bern ſeines Characters gehen. Alles, was Hirzel von ihm ſagt, iſt reine Wahrheit. Dieſer, —
jener Zug vollkommen! aber das ganze Gemaͤlde — ja es iſt Kleinjogg, wenn's nicht neben ihn
geſtellt wird! Wird's neben ihn geſtellt; wer muß nicht geſtehen: Kleinjogg kann nicht gezeichnet
werden. So wenig ich die Schuld auf die Mahler werfen will, ſo wenig auf ſeinen Geſchicht-
ſchreiber. Es kann ſchwerlich jemand fuͤr ſeine Talente und ſeine Verdienſte mehr Hochachtung
haben, wie ich; ſchwerlich jemand ſein Buch mit mehr Vergnuͤgen leſen, wie ich, und ich darf
hinzuthun, ſchwerlich jemand die Wahrheit ſeiner Beſchreibung tiefer empfinden — und dennoch
muß ich geſtehen, das Original iſt mir uͤber die Copie! oder mit andern Worten: es iſt keine Co-
pie von einem ſolchen Originale moͤglich — und dann muß ich auch das nicht vergeſſen — Hirzel
wollte nur Geſchichtſchreiber nicht Panegyriſt ſeyn.
H h 2Wenn
[236]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Wenn ich's verſuche, auch eine Copie zu ſkitziren, unvermerkt kommen mir eben die Zuͤge,
die Ausdruͤcke alle nach einander wieder, womit ſein wuͤrdiger Biograph ihn zeichnete — und den-
noch will auch ich einen Verſuch wagen.
So oft ich bey Kleinjogg war, ſo oft rufte ſeine Gegenwart und ſeine Wirkſamkeit in
mir eine Art von Gefuͤhl auf, das noch in keines Menſchen Gegenwart in meinem Herzen rege
wurde! Nicht ein warmes enthuſiaſtiſches Gefuͤhl! Es war, wie wenn ein dunkles Menſchenideal
in meiner Seele lebendig — und beleuchtet werden wollte! So was Einfaches, Zartes, Unaus-
druͤckbares regte ſich ſanft in mir. Es war nicht Ehrfurcht, nicht Liebe, nicht Freundſchaft. Es
war eine ſtille Erweiterung meiner Seele! Ein ſanftes Ahnden der unverdorbenen Menſchheit,
die vor mir ſtuͤnde.
Dieſe ganze wahre Menſchengeſtalt vor mir! der ganze Menſch Bauer! der ganze Bauer —
Menſch! — So ohne Sorgen! ohne Anſtrengung! ohne Plan! Ein Licht ohne Blendung!
Waͤrme ohne Hitze! So inniges Gefuͤhl ſeiner ſelbſt — ohne Selbſtſucht! Solch ein Glaube an
ſich ohne Stolz! Nicht glaͤnzender, nicht tiefer Verſtand, aber — ſo geſund, ſo unanſteckbar vom
Hauche des Vorurtheils. So unbeſtechlich — ſo durch keine Labyrinthe verfuͤhrbar! Jmmer in
Arbeit und Ruhe! Voll edler Betriebſamkeit und einfaͤltiger Gelaſſenheit! So immer in ſeinem
Kreiſe! So eine Sonne in ſeiner Welt! So ſchoͤn in ſeiner Thaͤtigkeit! Jn ſeiner Unangeſtrengt-
heit, ſeiner Offenheit ſo herrlich! So ſeine ganze Seele herausgebend! und ohn' es zu fuͤhlen, ohne
daran zn denken, daß er giebt! So treffend alles, was er ſagt — Jmmer Gold und Erdenklos!
oft Diamante aufm Miſt! Jmmer ſo ein Ganzes! Alles ſo fließend aus ſeiner Ganzheit! ſo ruͤck-
fließend in ſie! daß Gemeinſte, das Trivialſte, was er ſagt, wie iſts in ihm, und aus ihm! Wie
hat's das Gepraͤge ſeiner Jndividualitaͤt! — Was ich ihm immer, und wenn auch noch ſo getreu,
nacherzaͤhlte, wie war's nie das, was ich erzaͤhlen wollte! Jmmer Schaum, abgeſchoͤpft von der
ſprudelnden Quelle! Koͤrper ohne Seele! Alltagsgeſchwaͤtze — was in ihm ſo ruhiges Anſchaun,
ſo — uugelerntes, unnachgeſprochnes Urgefuͤhl iſt! — — Wie iſt er mir ſo ſichrer Thermometer
des Verſtandes, der Redlichkeit, des Menſchengefuͤhles, aller derer, die mit ihm umgehen! *)
Wie iſt er mir ſo ſehr — Statthalter der ſchoͤpfenden Gottheit!**) und wie vollkommen
wahr iſt's, und was laͤßt ſich Ganzeres, Vollſtaͤndigeres von Kleinjogg, und was mehr von ei-
nem Menſchen ſagen, als: „denken, reden und handeln ſind bey ihm immer in der groͤßten Har-
„monie.“ ***). Ein Zug der alles zeichnet und Meiſterhand verraͤth.
Und
[237]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Und nun auch ein paar Worte uͤber ſeine Phyſiognomie und ſein Portraͤt! Hirzel ſagt
von ihm: „Seine feurigen Augen lachen beſtaͤndig aus ſeinem roͤthlichen geſunden Geſichte, und
„entdecken jeden Kenner der Geſichtszuͤge bey dem erſten Anblicke die Schoͤnheit ſeiner Seele!“ *)
Blos feurige Augen ſind eigentlich niemals ein Zeichen einer ſchoͤnen Seele; lichtvolle, leuchten-
de Augen, ſollt's ohne Zweifel heißen. Und ſolche hat Kleinjogg. Nicht tief, nicht hervorſte-
hend, nicht halb verſchloſſen, nicht aufgeſperret, — ſo aufgeſperrt nicht, wie in unſerm Portraͤt. —
Seine ſchwarzen gebognen Augenbraunen unter einer weder geraden, noch ſchiefen, noch zu ſtark
gebognen, weder hohen noch niedern Stirne kleiden ihn trefflich! — Seine Naſe iſt aͤußerſt fein,
und vergroͤbert ſich in allen Zeichnungen. Sie ſcheint mir im Originale etwas ſpitzer und zaͤrter.
Die wahrhaftig fuͤrſtlichen Prinzeſſinnen vom Darmſtadt, die von der heitern, offnen Natuͤrlich-
keit unſers lieben Mannes aͤußerſt geruͤhrt waren, verſicherten, daß ſie der Naſe ihrer verſtorbnen
hochſeligen Frau Mutter aͤhnlich waͤre — und ich weiß nicht, ob das der trefflichen Prinzeſſinn oder
dem Kleinjogg mehr Ehre macht. Bey dieſer Gelegenheit muß ich meinen Leſern zum voraus ſa-
gen, daß, man mag ſagen, was man will, und lachen, wie man will — unzaͤhligen Beobachtun-
gen zufolge, die Naſe auch an ſich betrachtet, und ohne alle Ruͤckſicht auf den uͤbrigen Theil des
Geſichtes eines der wichtigſten, der entſcheidendſten, ſenſibelſten, und zugleich unverſtellbarſten
Theile des menſchlichen Angeſichts iſt. —
Jch komm auf Kleinjoggen zuruͤck. Sein unnachahmlicher Mund auch in dieſem ziem-
lich harten Portraͤt, — wie ſprechend iſt er dennoch in ſeiner edlen Ruhe! Wie iſt Unſchuld und
Guͤte, Klugheit und Entſchloſſenheit ſo gluͤcklich darinn ausgedruͤckt!
Ausnehmend gefaͤllt mir auch das Kinn. So viel Maͤnnlichkeit ohne Haͤrte! So viel
Verſtand ohne Schlauigkeit! So nichts von Weichlichkeit und Verzaͤrtelung — — Nur ge-
winnen, nicht verlieren kann Kleinjogg bey einem geſunden phyſiognomiſchen Auge! Alle Falten
und Schattierungen ſeiner Backen geben ſeinem Geſichte den zuſammenſtimmenden Ausdruck der
Geſetztheit, Maͤßigkeit, Feſtigkeit, Gemuͤthsruhe!
Auch ſtimmt das Ohr mit ſeiner beſtimmten Zeichnung, ſeiner Rundung, ſeinen Umriſ-
ſen allen mit ein.
Ein Fehler in dieſem Bilde, der ſchwer zu finden, und dennoch wichtig iſt, muß wohl
im aͤußerſten Umriſſe des Profils liegen. Jch denke, der Umriß unſers Bildes iſt im Ganzen
genommen, zu perpendikulaͤr, zu wenig gebogen, und um etwas zu gedehnt, oder zu geſpannt.
H h 3Auch
[238]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Auch ſcheint mir der Vorbug am Stirnbeine zu flach zu ſeyn. Dadurch verliert das Bild etwas
Weſentliches vom Original — die hoͤchſte, behaglichſte Natuͤrlichkeit. —
Jch will itzt weiter nichts ſagen, vielleicht aber noch einmal auf dieß Geſichte zuruͤckkom-
men, und eines und anderes nachholen.
Nachſtehende Vignette hat im obern Theile des aͤußern Umriſſes ſehr viel Wahres, und
Characteriſtiſches; um den Mund etwas Fremdes, Eitles, Suͤßes; Haar und Kinn hinge-
gen gut.
CC.Ein
[]
B.
[][239]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
CC.
Ein zuͤricheriſcher Landmann B.
Jch komme von Kleinjoggen auf einen andern Landmann aus meinem Vaterlande, der in
dieſem Bilde außerordentlich kenntbar iſt.
Ein Mann von der lebendigſten Thaͤtigkeit; ein unternehmender, ſchnell, leicht und ſicher
ausfuͤhrender Geiſt — der ſeinen Plan immer in der Ausfuͤhrung verbeſſert, immer wegſchafft,
herbeyſchafft — fortſchafft — den Kopf voll, die Hand voll — hat; rechts und links wirkt,
winkt, gebietet, vorgeht, angreift, aus dem Wege raͤumt; es ſo — dann ſo wendet, bis es iſt,
was es ſeyn ſoll — bis es da ſteht, vollendet auf den letzten Punkt, vom erſten tiefſten Funda-
mentſtein an bis zur Wetterfahne des Thurms! — Sieh! Er laͤchelt der Schwierigkeiten, und
liebaͤugelt den Hinderniſſen — ohne veraͤchtelnd herabzuſehn: „Bin ich denn ein Hund, daß du
„mit Stecken zu mir kommſt“ — weiß er's doch, fuͤhlt's und darf's im Blick, in der erroͤ-
thenden Wange ſagen: Jch kann's — Ha! wie ſein ſchlagender Puls den ganzen Mann immer
bewegt — wie er ſchnell und leicht herum ſchaut, wittert — und ſich wapnet: — Jmmer ge-
genwaͤrtig, und immer im Wirbel zerreiſſender Geſchaͤffte — Jmmer planmachend und planaus-
fuͤhrend! Rath gebend! ordnend! darſtellend!
Und nun bemerke den Umriß der offnen, freyen, heitern Stirne! den Vorbug derſelben
voll Kraft und Lebensfuͤlle! das tiefe denkende, rathſchlagende Auge! —
Die Klugheit und das Feuer der Naſe — was Klugheit? wo ſeh ich die in der
Naſe? — Eh ich dir antworte, ſuch erſt ein halb Dutzend aͤhnliche Naſen und pruͤfe die, an de-
nen du ſie findeſt, und findeſt du ſie nicht klug, aber vergleiche wohl, und beobachte wohl, ob kein
widerſprechender Zug, kein Zufall den Eindruck ausloͤſche! — Dann wiederhole deine Frage,
und ich will dir antworten; aber merke wohl — Jch ſage nicht: „Suche ſechs Kluge — und ſchau,
„ob ſie nicht ſolche Naſen haben?“ — ſondern ich ſage: „Suche ſechs ſolche Naſen und forſch,
„ob ſie nicht an Klugen ſind.“
Auch lieb ich dieſe gefalteten, gekraͤuſelten Backen; dieſe Falten an Mund und Kinne!
dieß Laͤcheln, das ſo gar nichts Suͤßes, Fades, Kraftleeres hat!
Bemerk'
[240]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Bemerk' auch das Vorſtehen der Unterlippe, und huͤte dich, den Mann zu beleidigen,
denn er kann zoͤrnen.
Der Schatten am Ohr herunter ſey dir auch nicht unbemerkt! und das leicht ſanft
und natuͤrlich vom Kahlkopfe herunter ſich kraͤuſelnde Haar, das gewiß keinen kalten langſamen
Mann zeigt. —
Es iſt noch vieles in dieſem Geſichte! Betracht es oft und dein Gefuͤhl wird ſich daran
uͤben koͤnnen, ſchaͤrfen koͤnnen, es ſchneller zu bemerken, wenn dir verſtaͤndige unternehmende Thaͤ-
tigkeit begegnet, wo nicht — iſt's mir leid fuͤr dich, obgleich du auch ohne dieß ein ganz guter
brauchbarer Menſch ſeyn kannſt.
Hier iſt das Schattenbild dieſes rechtſchaffenen Mannes.
DD.Vier
[]
DD.
Vier Silhouetten von trefflichen Maͤnnern.
Siehe hier vier wohlgerathene Silhouetten von feinen, trefflichen Maͤnnern, die, ſo ſehr ſie
verſchieden ſind, durch Feinheit des Geiſtes und durch Geſchmack ſich aͤhnlich ſind. Hier kannſt
du feſten Fuß faſſen! Dieſe Maͤnner ſind, (ſey ihre Phyſiognomie, welche man will,) ohne Wider-
rede, von den Verſtaͤndigſten, Geſchmackvolleſten, Geniereichſten, die Teutſchland hervorgebracht
hat. Blos durchs Anſchauen, Betrachten, Vergleichen ſolcher Geſichter, kannſt du nach und
nach, wo nicht zur Kenntniß, doch zum ſichern Gefuͤhle des phyſiognomiſchen Ausdrucks gelan-
gen, wo nicht — biſt du nicht beſtimmt, zu phyſiognomiſiren ....
1.
Der erhabenſte, muthigſte, ſanfteſte und kuͤhnſte Dichter des Jahrhunderts. Ein Mann
von unverfuͤhrbarer Geſchmacksfeſtigkeit.
Ein ſcharfſinniger Beobachter hat uͤber dieſe Silhouette folgende Anmerkung gemacht:
„Dieſe ſanftabgehende Stirne bezeichnet reinen Menſchenverſtand; ihre Hoͤhe uͤber dem Auge Ei-
„genheit und Feinheit; es iſt die Naſe eines Bemerkers; in dem Munde liegt Lieblichkeit,
„Praͤciſion, und in der Verbindung mit dem Kinne, Gewißheit. Ueber dem Ganzen ruht ein
„unbeſchreiblicher Friede, Reinheit und Maͤßigkeit,“ — — Trefflich! —
Der obere Theil des Geſichtes iſt des Verſtandes, der untere der Einbildungskraft.
Jch will ſagen: Saͤh' ich den obern Theil allein, wuͤrd' ich feinen Verſtand, ſaͤh' ich allein
den untern, wuͤrde ich wenig Verſtand, noch weniger Klugheit, aber leicht entflammte
Einbildungskraft vermuthen.
Eben dieſe Eigenſchaften, mehr und weniger, verbunden mit beſonderer Leichtigkeit und
Freyheit, findeſt du in nachſtehender Vignette, welche ein anderer Schattenriß dieſes Mannes
iſt. Durch die Stellung des Kopfs verbreitet ſich uͤber das Ganze eine theilnehmende Kommu-
nikabilitaͤt, die das auf der großen Platte nicht hat.
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. J iDas
[242]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Das Auge des Poeten liegt ſelten ſehr tief. Die Knochen um die Augen ſind ſelten
ſehr ſcharf und hervorſtehend. Ein Gelehrter ſagt mir, daß ein Engellaͤnder bemerkt habe, daß
die Poeten mehrentheils etwas fad' ausſehen. Ein Beyſpiel hievon iſt Homer in der folgenden
Platte. Je mehr poetiſche Genies oder Schriftſteller die Augen tief und die Stirne knochigt
haben, deſto verſtandreicher ſind ihre Gedichte, und deſto weniger fliegend.
Die Einbildungskraft ſchaͤrft nicht, ſie ſchwaͤcht und diluirt Nerven, Muskeln
Knochen. —
2.
Der zweyte Kopf iſt von Einem der feinſten Menſchen, und der feinſten Phyſiogno-
miſten. Jch brauche das Wort fein gerad in dem unbeſtimmten Sinne, in dem es gemeini-
glich genommen wird. Jch rede von der Anlage, der Fertigkeit, nicht von der Anwen-
dung derſelben. Dieſe Feinheit kann einen Paullus zum groͤßten Apoſtel, und einen Boßuet
zum aͤrgſten Verfolger Fenelons machen.
Der Mann, deſſen Bild wir vor uns haben, iſt einer der feinſten Beobachter, der fein-
ſten Menſchenkenner, der feinſten Kritiker! — weniger ſchoͤpfriſche Kraft, als feine, viel und
tief auffaſſende Empfindſamkeit! — Jch hab ihn in herrlichen Augenblicken geſehen, die mich
innig davon uͤberzeugten, daß eben ſo viel Herz in ſeiner Bruſt, als Hirn in ſeinem Kopfe ſey. —
Sein Blick und der Umriß ſeines Augliedes, wie es ſich in der Natur auf dem Apfel zeich-
net, wenn er unbeobachtet beobachtet — zeigt unwiderſprechlich einen außerordentlich feinen
Verſtand.
Ein feiner Verſtand iſt das Mittel zwiſchen hellem und tiefem Verſtande; iſt eine
Vermiſchung von beyden.
3.
Von dem dritten Kopfe, den ich nicht perſoͤnlich kenne, ſchreibt mir ein ſehr zuver-
laͤßiger Freund: „Ein großer Mathematiker und Phyſiker, der beydes, ohne die geringſte An-
„leitung
[243]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
„leitung und ohne einen Schatten von gelehrter Erziehung geworden iſt. Die redlichſte
„Seele unter der Sonne; zum Erſtaunen einfaͤltig, in Dingen des gemeinen Lebens: Sanft
„gegen ſeine Beleidiger; ſanft wie ein Engel gegen alle Menſchen, die ihn betrogen, auch ge-
„gen die unausſprechlich ſanft, die ihn beſtohlen haben. Ruhig und heiter an eben dem Tage,
„da ihm alle ſein Silber aus dem Hauſe geraubt worden; zu ehrlich, um ſein Handwerk
„ohne Schaden ferner treiben zu koͤnnen; und itzt allein beſchaͤfftigt, junge Leute beyderley Ge-
„ſchlechtes auf die edelſte, uneigennuͤtzigſte Weiſe in der Phyſik und Mathematik zu unter-
„richten.“
Und nun, edler Leſer, deſſen Herz ſich erweitert, wenn du unter dem betruͤglichen
und verkehrten Geſchlechte der Menſchen von einem ehrlichen uneigennuͤtzigen Manne hoͤreſt,
nun komm und ſiehe dieß Schattenbild an! Siehſt du den tiefen, forſchenden, geduldigen,
hellen, feſten Verſtand nicht in dieſer a) ſo zuruͤckgehenden — b) ſo gebogenen c) uͤber
den Augen ſo ſcharf hervorſtehenden Stirne? — und die Heiterkeit und Redlichkeit der
Seele, ſiehſt du ſie nicht ſchweben um die ſanft verſchloßnen Lippen, die ſo gar nichts
praͤtendiren?
Jch bitte dich — praͤge dieß Bild in deine Einbildungskraft ein, und vergleiche dein
Schattenbild oft mit dieſem ſcharfdenkenden, dieſem edelbeſcheidnen Umriſſe — und der Stolz
wird dir vergehen oder wenigſtens in dieſem Augenblick unertraͤglich vorkommen.
4.
Vermuthlich kennſt du dieſe Silhouette? Jch kann dir's kaum verhelen! Sie iſt mir
gar zu lieb! gar zu ſprechend! .... Kannſt du ſagen, kannſt du einen Augenblick anſtehen,
ob du ſagen wolleſt: „Vielleicht ein Dummkopf! Eine rohe geſchmackloſe Seele!“ Der ſo
was ſagen koͤnnte, ertragen koͤnnte, daß ein anderer es ſagte, der ſchließe mein Buch zu, werf'
es von ſich — und erlaube mir, meinen Gedanken zu verwehren, daß ich nicht uͤber ihn ur-
theile! Jch weide mich an dieſem Umriſſe! Mein Blick waͤlzt ſich von dieſem herrlichen Bogen
der Stirne auf den ſcharfen Knochen des Auges herab .... Jn dieſer Tiefe des Auges ſitzt
J i 2eine
[244]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
eine Sokratiſche Seele! Die Beſtimmtheit der Naſe; — der herrliche Uebergang von der Naſe
zur Oberlippe — die Hoͤhe beyder Lippen, ohne daß eine uͤber die andere hervorragt, o wie
alles dieß zuſammenſtimmt, mir die goͤttliche Wahrheit der Phyſiognomie fuͤhlbar und anſchau-
lich zu machen. Ja, ich ſeh ihn, den Sohn Abrahams, der einſt noch mit Plato und Mo-
ſes — erkennen und anbeten wird, den gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit!
EE.Homer
[]
EE.
Homer nach einem in Conſtantinopel gefundnen Bruchſtuͤck.
Ein gutes, vaͤterliches, vertrauliches Geſicht, voll Bonhomie und Treuherzigkeit! Solche
Stirne — vergleiche ſie mit der forſchenden, entwickelnden Kraft, die Mendelſohns Stirne oben
ſo woͤlbt, unten ſo ſchaͤrft — — Solche Stirne iſt des Sehers; nicht des Forſchers. Die
Naſe iſt des Feinfuͤhlenden — keines Suͤßzaͤrtlichen und und keines Rohen. Voll Guͤte und Weis-
heit iſt der Uebergang von der Naſe zur Oberlippe.
Der Homer in der nachſtehenden Vignette iſt mehr Mann, ohne alle Rohigkeit! Auch
ſanfter, fuͤhlender Beobachter — Nein! Seher, Hoͤrer! Ein gerades, redliches, liebes Geſicht,
dem jede gerade, redliche Seele herzlich wohl will.
Alſo in beyden nicht Homer! Drum ſey mir erlaubt, die Gefuͤhle uͤber deſſen Buſte, die in
Gyps Abguß vor mir ſteht, und die jeder Liebhaber ſo oft zu ſehen Gelegenheit hat, hier niederzule-
gen, bis etwa in folgenden Theilen eine gluͤckliche Nachbildung deſſelben aufgeſtellt werden kann.
Tret ich unbelehrt vor dieſe Geſtalt; ſo ſag ich: Der Mann ſieht nicht, hoͤrt nicht, fragt
nicht, ſtrebt nicht, wirkt nicht. Der Mittelpunkt aller Sinne dieſes Haupts iſt in der obern,
flach gewoͤlbten Hoͤhlung der Stirne, dem Sitze des Gedaͤchtniſſes. Jn ihr iſt alles Bild geblieben,
und alle ihre Muskeln ziehen ſich hinauf, um die lebendigen Geſtalten zur ſprechenden Wange herab-
zuleiten. Niemals haben ſich dieſe Augbraunen niedergedraͤngt, um Verhaͤltniſſe zu durchforſchen,
ſie von ihren Geſtalten abgeſondert zu faſſen, hier wohnt alles Leben willig mit und neben einander.
Es iſt Homer!
Dieß iſt der Schaͤdel, in dem die ungeheuren Goͤtter und Helden ſo viel Raum haben, als
im weiten Himmel und der graͤnzloſen Erde. Hier iſt's, wo Achill
‘μεγας μεγαλωςι τανυσϑεις
Κειτο!’ ()
Dieß iſt der Olymp, den dieſe rein erhabne Naſe wie ein andrer Atlas traͤgt, und uͤber
das ganze Geſicht ſolche Feſtigkeit, ſolch eine ſichere Ruhe verbreitet.
Dieſe eingeſunkne Blindheit, die einwaͤrts gekehrte Sehkraft, ſtrengt das innere Leben
immer ſtaͤrker und ſtaͤrker an, und vollendet den Vater der Dichter.
J i 3Vom
[246]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Vom ewigen Sprechen durchgearbeitet ſind dieſe Wangen, dieſe Redemuskeln, die betret-
nen Wege, auf denen Goͤtter und Heroen zu den Sterblichen herabſteigen; der willige Mund,
der nur die Pforte ſolcher Erſcheinungen iſt, ſcheint kindiſch zu lallen, hat alle Naivetaͤt der
erſten Unſchuld; und die Huͤlle der Haare und des Barts, verbirgt und verehrwuͤrdiget den Um-
fang des Haupts.
Zwecklos, leidenſchaftlos ruht dieſer Mann dahin, er iſt um ſein ſelbſt willen da, und
die Welt, die ihn erfuͤllt, iſt ihm Beſchaͤfftigung und Belohnung.
FF.Anſon.
[]
[][]
FF.
Anſon.
Ein vermuthlich ſehr aͤhnliches und ſehr unaͤhnliches Portraͤt dieſes Mannes! Eins von denen
Geſichtern, die man immer kenntlich, nie aͤhnlich zeichnet. Auch dieſe Copey iſt unter dem
Originale, beſonders die ſpaͤtern retouchirten Abdruͤcke. Jmmer aber iſt auch noch die unvoll-
kommenſte Copey hinreichend, uns einen großen Mann zu zeigen.
Sein Blick iſt immer Adlersblick des Forſchers, und wenn uns nichts uͤbrig bliebe,
als ſeine Augbraunen uͤber einem ſolchen Auge; — ſo wuͤrde mir immer ſein großer, edler, for-
ſchender, maͤnnlicher Verſtand unzweifelhaft ſeyn.
Jn den beyden erbaͤrmlichen Carrikaturumriſſen dieſes herrlichen Geſichtes war doch der
Verſtand nicht zu vertilgen.
Man kann die Stirne ruͤmpfen, daß man einem Dummkopf aͤhnlich ſieht, aber die
Knochen bleiben immer eben dieſelben. Man kann ein Geſicht erbaͤrmlich verunſtalten, ſo lange
man aber nur noch etwas vom Umriſſe der Stirne, der Augenbraunen und des Auges uͤbrig laͤßt,
wird immer noch Character uͤbrig bleiben.
Die Stirne in allen drey Portraͤten, beſonders im Umriß 1. wirſt du ſchwerlich jemals
bey einem natuͤrlichen Dummkopf antreffen.
Aber kann ein Mann mit dieſem Auge, dieſen Augbraunen, dieſer Stirne nicht ein Narr
werden? und was wird dann deine Phyſiognomik dazu ſagen?
Wenn er ein Narr wird, und das kann der weiſeſte werden — ſo wird der Umriß ſeiner
Stirne ganz, ſeiner Augenbraunen, ſeiner Augen vielleicht groͤßtentheils bleiben; aber das Feuer,
der Blick, die Schnellkraft ſeiner Augen wird nachlaſſen; — ſeine Lippen werden ſchief werden,
der Mund ſich nicht mehr feſt ſchließen — die Elaſticitaͤt der Muskeln wird nachlaſſen. Das
Feſte wird bleiben, das Weiche wird ſich nach Maaße der Schwachheit aͤndern, dann wird
der weiſe Phyſiognomiſt ſagen: „die treffliche Anlage hat ein Zufall zerruͤttet.“ Doch davon
einmal ein beſonderes Fragment — und eine Jnduction zur Beylage!
Du
[248]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Du wirſt in dieſem Geſicht auch feſten Muth und Entſchloſſenheit, keinen Schwaͤtzer
und luftigen Knaben, ſondern einen Mann erblicken, der ſagen duͤrfte, ich will, ich kann,
der's aber vielleicht nicht ſagt, ſondern nur ſo will und kann.
Nachſtehende Vignette iſt eines ſehr klugen, planvollen, gelehrten Staatsmanns. Der
Blick bedarf keiner Anregung — Er ſpricht fuͤr ſich. Aber dieſe Naſe iſt vielleicht noch nicht
genug als Zeichen der Klugheit bekannt.
GG.Ein
[]
GG.
Ein paar Knaben.
1.
Ein ſchwaches Bild eines unvergleichlich hoffnungsvollen Knaben; eines Sohnes zweyer ver-
ſtand- und geſchmack- und herzreichen Aeltern.
Augen und Mund ſind um etwas zu kleinlich. Das Aug' im Original verkuͤndigt
einen unſterblichen Mann.
Die Stirne, ſo wie ſie auch nur hier erſcheint, zeigt eine herrlich offne, denkende
Seele! Auch die Sanftheit, Entſchloſſenheit und Unſchuld der Stellung gefaͤllt mir ausneh-
mend wohl.
Welcher Verſtand in ſeinem Blick und ſeinem Munde!
Jch glaube, die Augenbraune ſteh ein wenig zu hoch uͤber dem Auge, wodurch die
Schaͤrfe des Blickes um etwas geſchwaͤcht wird.
2.
Das untere Geſicht will auch was in der Welt werden! So fein, wie das obere, iſt's
freylich lange nicht! Doch hat's auch einen feſten Blick und viel Entſchloſſenheit.
Stirne mit Stirne verglichen, verliert's gegen das obere.
Es hat nicht das Sanfte, Beſcheidene, Edle. Doch iſt's herzgut, und verſpricht große
Wirkſamkeit.
Es iſt der Sohn des nicht gar kenntlichen Mannes, von dem wir in F. dieſes Frag-
ments geſprochen haben.
Phyſ. Fragm.IVerſuch. K kDie
[250]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Die aufgeworfene Naſe iſt zwar uͤberhaupt den niederwaͤrtsgehenden Staats- und
Klugheitsnaſen, wenn ich ſo ſagen darf, entgegen geſetzt; allein, vielfaͤltige Beobachtungen
lehren, daß ſie an ſich nie kein entſcheidendes Merkmal der Dummheit ſey.
Nachſtehende Vignette iſt das getreue Portraͤt eines ſehr geſcheuten Mannes. Ein
mehr heller und reicher, als tieferforſchender Geiſt; — gefaͤllig, dienſtfertig, nachgebend
und klug!
HH.Ein
[]
HH.
Ein Profilportraͤt.
Man findet dieß Portraͤt aͤhnlich. Es iſt's zum Theil; und doch wie viel hat's in Kraft
und Blick verloren!
Die Stirne zeigt viel Verſtand, Feſtigkeit und Verſchloſſenheit.
Die Naſe, (die durch den unbeſtimmten hoͤckerigten Umriß vom Character verliert) ver-
kuͤndigt Staͤrke, Muth, Entſchloſſenheit.
Klugheit und Witz ſchweben uͤber den Lippen.
Ueber's Auge getrau ich mir, weil's nicht beſtimmt genug gezeichnet iſt, wenig zu ſagen.
So unfeſt es aber gezeichnet iſt, zeigt es doch durchſchauende Kraft, und Heiterkeit.
Der Kopf iſt nicht planlos. Er will, und kann und wird ſich hervordraͤngen ohne
Geraͤuſch, ſtill und ſicher.
Geuͤbt und leicht in Geſchaͤfften, fertig mit der Feder, beredt und ſich wendend nach
dem Gegenſtande, den er vor ſich hat: den Menſchen kennend und nicht mehr und nicht weni-
ger, als er will, ſich ihm mittheilend — wird er Zwecke erreichen, die niemand, als Er, ab-
ſieht; keine boͤſe Zwecke! Er wird viel Gutes thun; der Vorwurf, unedel gehandelt zu ha-
ben, wuͤrd' ihm toͤdtend unertraͤglich ſeyn.
Jch wuͤnſcht' ihm einen Freund, der ſo viel Verſtand als Er, ſeine Beredtſamkeit,
und Groͤße genug haͤtte, ihm unentbehrlich zu ſeyn.
K k 2Die
[252]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Die Phyſiognomie des Freundes, muͤßte von der Art des nachſtehenden ſeyn! Sie
iſt eines Tiefverſtaͤndigen, eines vollkommen Graden — ehrlich Offnen und ehrlich Verſchloß-
nen — Wahrheitſuchenden, findenden! Wahrheitfuͤhlenden, Wahrheitahndenden!
II.Einige
[]
[][]
[][]
[][]
[][]
II.
Einige Umriſſe von Kuͤnſtlern.
Der Umriß auf dem naͤchſten Blatte iſt von einem Augsburgiſchen Mahler Schaupp, der
zweyte von Blendinger, der erſte auf dem folgenden dritten Blatte von Frey, einem trefflichen
Kupferſtecher, der zweyte und dritte auf demſelben Blatte von Ridinger, einem uͤberausgeſchick-
ten Thiermahler — das vierte Blatt enthaͤlt zween Dinglinger und zween Kupezky; das
fuͤnfte zween Umriſſe von Wreen, dem Erbauer der Paullus- und der Steffanskirche in London.
Fleiß und Bemerkenskraft — beſeelt das Auge der ſechs erſten Kuͤnſtler; Genie das
Auge des letzten.
Es ſind ſelten vordringende, erhabne Seelen, die mit dieſen tiefen Augen; dieſem
zuruͤckgeſchobnen obern Augenliede! Es ſind nicht dumme, nicht ſchwache, es ſind großen-
theils gluͤckliche, aber keine große ſchoͤpfriſche Genies! Selten Maͤnner vom feinſten, ſicher-
ſten, edelſten, erhabenſten Geſchmack! aber treffliche Kuͤnſtler, treffliche Aerzte, Buͤrgermeiſter
allenfalls! —
Jch moͤchte dieß Auge, das ſo tief, ſo verſchoben iſt — das Kuͤnſtlerauge nennen, weil
ich's an ſo vielen, vielen Kuͤnſtlern wahrgenommen — und ich moͤchte Knaben von zwoͤlf bis vier-
zehn Jahren, die ſo ein Aug auszeichnet, zu Kunſtprofeſſionen wiedmen. Sie wuͤrden gewiß
gluͤcklich ſeyn. So viel ich hieruͤber beobachtet; alle Beobachtungen waren uͤbereinſtimmend.
Aber Wreens Geſicht zeigt mehr als den Kuͤnſtler; zeigt den großen Mann! alles an
ihm — das Einzele, wie das Geſammte — Jn dem fadeſten Umriſſe, wie viel Geiſt und ſtille
Kraft, und Feinheit immer noch!
Dieß rechte halb zugeſchloßne Auge, dieſe Linie, die den Stern des Auges zerſchneidet
und halb deckt — iſt ſicherlich Blick des originellen feinen Geiſtes.
Wo ich dieſen auch bey wirklich ſonſt gemeinen Geſichtern, ſo gar unter breternen Stir-
nen bemerkt, war immer noch ungewoͤhnliche Feinheit des Geiſtes.
Wie viel entſcheidender oder beredtſamer wird dann dieſer Zug in einem Geſichte mit
dieſer gewoͤlbten Stirne, dieſer kraftvollen Naſe, dieſem herrlichen Munde ſeyn?
K k 3Sonſt
[254]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Sonſt iſt noch dieß zu bemerken: Frey ſcheint unter den Umriſſen mit dem Kuͤnſtlerauge
am meiſten Geſchmack und Edles zu haben, obgleich er beſonders am Munde im Umriſſe verloren.
Die Stirne des Schaupps oder des erſten ſcheint die unſanfteſte, gemeinſte; edler und
offner Blendingers, weniger edel Ridingers; Freyens aber die edelſte, geſcheuteſte zu ſeyn.
Vollkommen die idealſte Phyſiognomie eines wohlbeobachtenden, fertigen, fleißigen, witz-
reichen, fruchtbaren Zeichnergenies, und auch das Kuͤnſtlerauge (das freylich viele Kuͤnſtler
nicht haben,) ſcheint das nachſtehende Portraͤt des um mein Werk ſo verdienten Kuͤnſtlers zu ſeyn.
[255]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
KK.
Machaon Wepfer.
Sieh hier unten das Bild eines tieffehenden, geſchickten, trefflichen Arztes! Sein Auge iſt von
derſelben Art, wie Blendingers und das Kuͤnſtlerauge. Es iſt das Auge der tiefen, brauch-
baren, fertigen Koͤpfe.
Auch lieb ich dieſe, zwar nicht erhaben umrißne, nicht genievolle, aber dennoch tieffor-
ſchende Stirne! Jhr offnes geraͤumiges Anſehen! dieſe horizontale Lage der Augbraunen! die-
ſen Parallelismus des Geſichts, dieſe Munterkeit ohne Leichtſinn, dieſe Liebe der Ordnung —
die mir aus dieſem vertraulichen Geſichte, das ſo viele gluͤckliche Stunden zu trefflichen Einfaͤl-
len hat, entgegenleuchten, lieb ich.
[256]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
LL.
Acht Paar Augen.
Dieſe acht Paar Augen ſind aus Kupferſtichen vergroͤßert, mithin haben ſie merklich verlieren
muͤſſen. Sie ſind aber zu unſerm Zwecke immer noch characteriſtiſch genug.
Alle achte ſind von Kuͤnſtlern, Baumeiſtern, Mahlern, Kupferſtechern, Medailleurs.
So verſchieden ſie alle ſind (und ſie muͤſſens ſeyn, wenn's eine Phyſiognomie giebt, weil die ſich
aͤhnlichſten Genies immer noch ſehr verſchieden ſind) ſo kommen doch die meiſten darinn uͤberein,
daß das obere Augenlied mehr oder weniger unter den Augenknochen eingeſchoben iſt; daß die Au-
genbraunen ſtark behaart ſind.
Das oberſte Paar der zweyten Tafel (die zweyte iſt die, wo die Augen naͤher beyſammen
ſtehen) hat dieſes am ſtaͤrkſten. Es ſind des beruͤhmten Dinglingers, eines praͤchtigen Sil-
berarbeiters, Augen.
Ganz entgegengeſetzter Art iſt das zweyte Paar! Hier iſt nicht kleinlicher, geduldiger
Fleiß, der aus microſcopiſchem Anſchauen und ſcharfem Betrachten entſteht! Hier iſt tiefere
Ueberlegung, innigeres Gefuͤhl, und viel mehr Feinheit, Geſchmack, und Groͤße! Obgleich es
eine ſehr ſchlechte Copey von Wreens Augen ſeyn mag, iſts ſicherlich noch Character genug
von Genie.
Nachſtehendes
[]
[][]
[][257]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Nachſtehendes Auge iſt keines fleißigausarbeitenden, langſamgeduldigen, aber eines vol-
len, fruchtbaren, maͤchtigen, muſikaliſchen Genies! Eines halbrieſenmaͤßigen Mannes, von dem
an ſeinem Orte auch noch ein Woͤrtchen geſagt werden wird.
[258]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
MM.
Ein Profilportraͤt eines jungen Genies.
Verzeihe mir — mein Lieber, daß ich dein ſo unvollkommnes Bild meinen Verſuchen einver-
leibe! Fuͤrchte dich nicht, daß ich dem Originale nicht werde Gerechtigkeit wiederfahren laſſen. —
So tief unfreundlich, ſo duͤrr verachtend, ſo unerbittlich ſiehſt du gewiß nie, oder aͤußerſt ſel-
ten aus! —
So viel Leben, und Witz, und Feuer und Geiſt und Kraft des Originals kann dieſe
furchtbare Trockenheit des Mundes nicht geſtatten!
So unvollkommen indeß dieß Bild ſeyn mag, ſo wenig es von der morgenroͤthlichen Farbe,
dem witzreichen feſten Laͤcheln, dem leichtſchoͤpferiſchen fertigen Geiſte des Originals hat; — ſo
viel Aehnlichkeit hat's doch immer noch — große, feſte, unbewegliche Kraft, eiſernen Muth, ſtolze
Verachtung des Unſinns und der Bloͤdigkeit anderer, edle Hartnaͤckigkeit, Gefuͤhl ſeiner Selbſt
tiefdringendes, feſthaltendes Genie auszudruͤcken.
So ein Geſicht laͤßt ſich ſo leicht nichts angeben; nimmt nichts Abgefallenes auf; ſpricht
nicht ehrfurchtsvoll nach, was ein Gebieter vorſpricht; es ſteht und geht und wirkt fuͤr ſich ſelber!
Jn und durch ſich ſelber! Dringt zur Rechten! zur Linken! vorwaͤrts — laͤßt ſich nie zuruͤckdraͤngen!
Weh dem, der dieſe Kraft beleidigt! wohl dem, den ſie in ihren Schutz nimmt! Sie laͤchelt
unausſprechlich anmuthig, wenn die heitere Laune koͤmmt; und ſie koͤmmt, ſo oft ſie vollendet hat
und anſchaut das Werk ihrer ſelbſt, das ſie herausgeſtellt ins Licht der Bewunderung.
Dieſes Auge! o du ſollteſt's in der Natur ſehn! Stern des Genies! ſchneidende Kraft des
Blitzes! nicht des langſamen operoſen Forſchers!
Solch eine Naſe mit dieſer durch die Schatten ziemlich gut ausgedruͤckten eckigten Be-
ſtimmtheit wirſt du eher — an Menſchen, die verachten koͤnnen, als die ſich durch Dummheit
veraͤchtlich machen, finden.
Das Ohr mit dieſem eckigten Ausſchnitt zeigt einen ſtarken, entſchloßnen, feſten, muthigen,
athletiſchen Mann, der den ſeichten Bewundrer oder Tadler zertruͤmmern kann.
Das folgende Blatt zeigt eben den Mann im Umriß und in der Silhouette.
Allenthalben derſelbe Muth, dieſelbe Feſtigkeit in der ungebognen Felſenſtirne!
Der Umriß zeigt erſtaunlich viel Genie! Er hat mehr Eckigtes, als das ſchattirte Portraͤt.
Jn beyden iſt zu viel Sattheit ausgedruͤckt.
Die Silhouette, mithin der wahrheitreichſte Umriß, hat mehr Edles und Liebliches, als
die beyden andern Zeichnungen.
Die
[]
[][]
[][259]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
Die kleine Beugung der Stirne, weit davon daß ſie dem Eindrucke des Verſtandes ſchaden
ſollte, benimmt ihm was von der Rauhigkeit. Noch laͤßt ſich viel von dem Juͤnglinge verſprechen,
wenn er im Umgange mit Maͤnnern ſeine und ihre Vorzuͤge zugleich fuͤhlt; und wenn eine jung-
fraͤuliche Seele die zarte Empfindſamkeit der Seinigen, die in harter Schaale noch verſchloſſen, aber
gewiß da iſt — herauszurufen ſich bemuͤht.
Wir wollen ihm hier einen außerordentlich geſchickten jungen Mann zur Geſellſchaft geben,
der mit erſtaunlicher Gelehrſamkeit ein maͤchtiges Genie verbindet, und die groͤßte Hoffnung, einer
der geſchickteſten und philoſophiſchten Aerzte zu werden, von ſich giebt!
[260]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
NN.
Ein Religioſe.
Um die Bilder ſo mannichfaltig, wie moͤglich zu machen; um aus allen, allen Claſſen, allen
Staͤnden der Menſchen, einige meinen Leſern vorzulegen — waͤhlt ich auch einen mir genau be-
kannten Moͤnchen.
Aehnliche Portraͤte, zumal ſo bloße, deren ganzer Umriß ſo leicht nachgeahmt werden kann,
von Menſchen, deren Character uns ohn' ihr Geſicht vollkommen bekannt iſt, werden wohl jeder-
zeit der wichtigſte Beytrag zur Phyſiognomik ſeyn.
Jch kann nicht ſagen, daß das Bild, ſo wir vor Augen haben, ohne Fehler ſey; ſo viel
aber iſt gewiß, daß es außerordentlich kennbar iſt, und daß es in mancher Abſicht unſere Aufmerk-
ſamkeit verdient.
Dieſer Mann iſt eine der redlichſten, freymuͤthigſten, heiterſten, dienſtfertigſten Seelen!
Ein gutes, nichts weniger als dummes, nein ein heiteres geſunddenkendes Kind; aber Kind, in
einem liebenswuͤrdigen Grade! — Erzogen inner Mauren eines weitberuͤhmten Cloſters — kennt
es, dieß gute Kind, keine Welt als die ſiebenzig oder achtzig geiſtlichen Uniformen, unter einem gnaͤ-
digſtgebietenden Oberhaupte, dem es gehorcht, wie ein Sclav, und den es liebet, wie einen Herzens-
freund — und woruͤber ihr erſtaunen werdet, dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet — die freyſte, offen-
ſte, weiteſte Seele, die Euch mit aller ihrer Liebe entgegen wallt — obgleich ihre Religion ſie Euch
verdammen lehrt. Nein — ſie verdammt Euch nicht; ſie ſeufzet nicht heimlich: „Schade fuͤr die
„ſchoͤne Seele!“ und doch — welch ein Glaube an ihre Religion! — Wie der Verſtand ge-
arbeitet hat, ſich alles heiter und ſrey zu denken, was jedem andern undenkbar ſcheint! wie ſie
Standpunkte gefunden hat, wo ſie feſt auf ihrem Glauben ruhen — und dennoch mit heiterer
unverdammender Freyheit in die herrliche Welt Gottes, voll Gottes lieber Menſchen hinaus-
ſchauen kann — — Wie ich ſie liebe, dieſe ſtarke fromme Unſchuld! dieſes Moͤnchsideal! dieſen
ganzen Menſchen in ſeinem ſo trefflich ihm ſtehenden Ordenskleide! wie ich mich ihm ſo gern
vertraue! wie ſo ohne Zwang, ohne Widerſpruch ich mich ihm mittheilen, ich ihm beichten
wuͤrde!
— Wie ſein Verſtand, ſeine Wiſſenſchaft und ſein Herz in der beſten gemeinnuͤtzigſten
Harmonie ſind!
Seine, in dieſem Bilde nicht vollkommen ausgedruͤckte Stirn, iſt vorneherum merkwuͤr-
dig gewoͤlbt, daß ſie von oben herab betrachtet im Grunde nicht hohl, nicht platt, ſondern bey-
nahe
[]
[][261]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
nahe zirkelbogigt iſt — So weit meine Erfahrungen reichen, ein ſicheres Zeichen von heiterem
feſtem Verſtande und Standhaftigkeit, ohne kleingeiſtigen Eigenſinn! —
Sein Auge iſt offen! hell! ſtark gewoͤlbt, kurzſichtig und ſteht im Urbild tiefer unter
der Stirne, als in der Copey! —
Sein Blick iſt ſcharf, nicht anziehend, nicht zuruͤckſtoßend; aber treuherzig und er-
heiternd.
Seine Naſe iſt mehr des Redlichen, als des Klugen; ſein Mund, unzufrieden mit dem
Zeichner, der ihn zu lang aufhielt, (denn ſeine Augenblicke ſind abgemeſſen, und mehr aus
Freude als Pflicht verſaͤumt er nichts befohlenes und unbefohlenes Gutes) zeugt dennoch auch
in dieſem unvollkommenen Nachriſſe von Guͤte, und leidenſchaftloſer Ruhe, um die ich ihn be-
neiden moͤchte, wenn's was nuͤtzte, und wenn's nicht anbetenswuͤrdige Gottesweisheit waͤre,
dem einen zur Entwicklung ſeiner Selbſt Leidenſchaft, dem andern triebſame ſanfte Thaͤtigkeit zu
geben; — wenn's nicht Schoͤnheit waͤre, daß hier ein ſanftrieſelnder Bach, dort ein fortreiſ-
ſender Strom ſey. —
Eigentliche Zaͤrtlichkeit, zitterndes Gefuͤhl, ſchmachtende Sympathie — iſt nicht in
ſeinem Geſichte, und ſeinem Character; aber dafuͤr iſt er auch ein Kloſtermann; aber eine treuere
Bruderſeele findeſt du nicht.
Auch bildet und reiniget ſich ſein Geiſt und ſein Geſchmack noch mit jedem Tage, und
unertraͤglicher mit jedem Tage wird ihm alles leere ſeelenloſe Gewaͤſche, alle Sophiſtereyen, die
mehr Zank, als Erbauung ſtiften.
Jch glaube, daß er an der Seite eines kritiſchen Freundes ein großer Liederdichter ge-
worden waͤre, deutlicher, als Klopſtock, und waͤrmer, als Gellert. Bekannt mit alter und
neuer Literatur, ohn' aus der Gelehrſamkeit Hauptſache zu machen, kann er noch ein gemein-
nuͤtziger Schriftſteller, beſonders fuͤr ſein Gotteshaus werden. Er ſchreibt einen natuͤrlich unge-
kuͤnſtelt treuherzigen Brief, mit ſo viel Salz, Laune und Kraft, wie man's von wenigen ſo welt-
loſen Moͤnchen erwarten darf. — Ein Troſtbrief von ihm an meine Frau, da ihm einmal ein Ge-
ruͤchte ſagte, daß ich geſtorben waͤre, wird mir ein bleibendes Denkmal ſeiner treuen, frommen
und liebenswuͤrdigen Seele ſeyn.
Waͤr ich noch ſo gluͤcklich, ein Bild ſeines fuͤrſtlichen Abtes, publicieren zu duͤrfen, ſo haͤtt'
ich Gelegenheit noch mehr zu ſagen; wie gluͤcklich ein Kloſter iſt, das ſo treffliche Maͤnner vereinigt.
Hier iſt noch das Schattenbild des lieben planloſen Mannes, das ſein Portraͤt berichtigen
und zeigen kann, daß die geringſte uͤble Laune das menſchenfreundlichſte Geſicht ſo rauh machen
L l 3kann,
[262]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
kann, daß man es ſehr leicht ganz unrichtig beurtheilen koͤnnte, wenn man dieſe voruͤbergehenden
Launen zu Grundfeſten des Characters, und der Beurtheilung deſſelben machen wollte.
Bey dieſer Gelegenheit moͤcht' ich nur den Wunſch aͤußern, daß man aus vielen Kloͤ-
ſtern genaue Schattenriſſe aller Religioſen ſammelte, um beſonders die Beobachtungen des
Ober- und Hintertheils des Hauptes benutzen zu koͤnnen.
Der Umriß, den wir vor uns haben, zeigt ein gemaͤßigtes Temperament; ſtarke
ſind gemeiniglich hinten perpendiculaͤrer, ſchwache gewoͤlbter.
OO.Heinrich
[]
OO.
Heinrich Blatter.
Eins der ſprechendſten und ſogleich ſich in ihrer ganzen Wahrheit darſtellenden Geſichter iſt
das vorliegende von Heinrich Blatter von Krynau, das zwar ſehr kenntlich, aber dennoch in
einigen Stuͤcken hinter dem Urbilde zuruͤck iſt!
Der muß den Menſchen wenig kennen, der die feſte Aufmerkſamkeit, die dieſem
Geſichte eigen zu ſeyn ſcheint, keiner Aufmerkſamkeit wuͤrdigt; der die Kaͤlte, die Feſtigkeit,
den unermuͤdlichen Fleiß, die bis zum Eigenſinne gehende Standhaftigkeit, — und bey dieſem
allem die bey ſo viel Scharfſinn ſeltne Ruhe und Beſcheidenheit, nicht alsdann wenigſtens
wahrnimmt, wenn man ihm das von dieſem Geſichte geſagt hat.
Bemerket Theil fuͤr Theil, und dann uͤberſchaut wieder das Ganze.
Jhr werdet dieſe Stirne, bey dieſem oben ſo zirkelrunden Schaͤdel, wohl nie bey ei-
nem natuͤrlichen Dummkopfe antreffen. Nie dieſe Augenbraune! Nie, gewiß nie, verlaßt
euch ſicher drauf, nie dieß herrliche Auge mit dieſem Profilumriſſe des obern Augenliedes! Mit
dieſer Sichtbarkeit des innern Augenſterns im Profile! Jch will nicht ſagen: Nie, aber ſehr
ſelten dieſe gerade beſtimmte Naſe zuſammt dem Mund und Kinne, die, wer ſieht's nicht, ohne
mein Sagen, freylich nicht die zaͤrtlichſte, empfindſamſte, aber eine verſtaͤndige Seele vermu-
then laſſen.
Jſt's nicht, uͤberſchaut es nun wieder ganz, iſt's nicht offenbar das Geſicht eines Kuͤnſt-
lers, eines mechaniſchen und mathematiſchen Genies? Nicht eines ſchnell und hochemporfliegen-
den! Nein — durchaus nicht, aber einer mit kalter Langſamkeit fortſchreitenden, fortarbeiten-
den, tief, tief durchgrabenden, mit gleicher Vorſichtigkeit und Unverdroſſenheit bis zum
Ziele, zum Ziele ſtrebenden — das Ziel erſt umfaſſenden — dann uͤbers Ziel zu neuen entdeck-
ten Zielen fortſpekulirenden, und im Spekuliren hinausgehenden — Kraft — Kraft, nicht,
wie die, die den Pfeil vom Bogen ſchnellen laͤßt; aber Kraft, wie umſchloßne Federkraft
einer Uhr.
Lieber!
[264]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
Lieber! Schau doch noch einmal die lautſprechende ſchattigte Tiefe unter den vordach-
aͤhnlichen Augenbraunen an! Noch einmal dieß von aller Fluͤchtigkeit reine, feſte, offne, gerade,
ſchauende Auge! Es ſchaut, uͤberſchaut, durchſchaut, mißt, waͤgt, macht Entwurf, langſam,
aber ſicher! Feſt, aber nicht vermeſſen! Noch einmal wandle, oder klimme von dem geraden
Pfade der Naſe die feſte Vorwoͤlbung der eiſernen Stirne herauf, die gerade durch dieſen Vor-
bug ſanften, beſcheidenen Muth zeigt. Gienge die Stirne in derſelben Richtung von oben herab
fort; des Mannes Eigenſinn waͤre furchtbar; waͤr oft unerbittlich; ſeine Kaͤlte — wuͤrde leicht
in ſtolze Verachtung uͤbergehen. Dieſer Vorbug aber vermenſchlicht, beſaͤnftiget die Kraft der
Stirne, und macht elaſtiſch, was ſonſt unbiegſam hart waͤre. — Und was ſoll ich uͤber den
Mund ſagen? du findeſt ihn nicht fein? du findeſt ihn grob, plump, und nicht vielverſpre-
chend? Fuͤrs erſte wiſſe, daß er im Kupfer verloren hat, und je beſtimmter man ihn machen
will, immer um ſo viel mehr verlieren muß — beſonders verlor ſich zum Theil die menſchen-
freundliche Beſcheidenheit, die den großen Geiſt ſo liebenswuͤrdig macht — aber dennoch ſage
nicht, daß dieſer Mund eines Dummkopfs, oder eines gemeinen Menſchen ſey! So wenig,
als dieſe Art von Einſchnitt oben am Kinne! Uebrigens muß man wiſſen, daß dieſer Mann aus
einer Weltgegend, und einer Nation iſt, die wenige cultivirte, verfeinerte Menſchen aufzu-
weiſen hat.
Als eine Nachſchrift zu dieſem Fragmente fuͤg' ich zwey Worte uͤber ein Geſichte bey,
das dem vorigen ungefaͤhr eben ſo aͤhnlich iſt, als das Urbild, ſeinen Faͤhigkeiten nach, dem
Blatter iſt. Auf den erſten Augenblick frappirte mich dieß Geſicht, und im Nachzeichnen
erſtaunte ich uͤber die Aehnlichkeit, oder vielmehr die Gleichartigkeit dieſes Geſichts mit dem
Blatterſchen — Noch mehr erſtaunt' ich, als er mir die Frage: „was iſt Euer Thun?“ —
beantwortete: Ein Uhrmacher! — Jch will nichts drauf bauen, nichts draus ſchließen! aber —
es ſoll mich aufmerkſam machen!
So viel ich in den Augenblicken, da ich den Mann vor mir ſahe, bemerken konnte,
hat er nicht, bey weitem nicht das Geſetzte, Beſtimmte, Feſte — des Blatters; nicht, bey
weitem
[265]zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
weitem nicht das Tiefdurchdringende. Dieſe Verſchiedenheit wird das auch nur ein wenig ge-
uͤbte Auge des Beobachters leicht, auch in den leichten Zuͤgen dieſes ſchwachgezeichneten Profils
bemerken. Die Schiefheit der Stirne iſt ungefaͤhr dieſelbe. Aber die letztere hat meines Er-
meſſens mehr Eigenſinn als Muth, mehr Rohigkeit, als Staͤrke. Augenbraunen und Auge
ſind ohngefaͤhr von derſelben Art. Doch iſt das Auge von Blatter im Originale feſter, nach-
denkender, und hat bey weitem nicht das Fluͤchtige, welches das Original des letzten zu haben
ſcheint. Der Mund und das Kinn ſind etwas weiblicher, und nicht ſo determinirt und ent-
ſchloſſen als Blatters. — Jtzt will ich weiter nichts druͤber ſagen; — aber ich werde noch
Gelegenheit finden, mich auf dieß Stuͤck zu beziehen.
[266]XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen ꝛc.
PP.
Rameau.
Sieh dieſen reinen Verſtand! — ich moͤchte nicht das Wort Verſtand brauchen — Sieh
dieſen reinen, richtigen, gefuͤhlvollen Sinn, der's iſt, ohne Anſtrengung, ohne muͤhſeliges For-
ſchen! Und ſieh dabey dieſe himmliſche Guͤte!
Die vollkommenſte, liebevollſte Harmonie hat dieſe Geſtalt ausgebildet. Nichts Schar-
fes, nichts Eckigtes an dem ganzen Umriſſe, alles wallt, alles ſchwebt ohne zu ſchwanken, ohne
unbeſtimmt zu ſeyn. Dieſe Gegenwart wirkt auf die Seele, wie ein genialiſches Tonſtuͤck, un-
ſer Herz wird dahingeriſſen, ausgefuͤllt durch deſſen Liebenswuͤrdigkeit, und wird zugleich feſt-
gehalten, in ſich ſelbſt gekraͤftigt, und weiß nicht warum? — Es iſt die Wahrheit, die
Richtigkeit, das ewige Geſetz der ſtimmenden Natur, die unter der Annehmlichkeit verbor-
gen liegt.
Sieh dieſe Stirne! dieſe Schlaͤfe! in ihnen wohnen die reinſten Tonverhaͤltniſſe. Sieh
dieſes Auge! es ſchaut nicht, bemerkt nicht, es iſt ganz Ohr, ganz Aufmerkſamkeit auf innres
Gefuͤhl. Dieſe Naſe! Wie frey! wie feſt! ohne ſtarr zu ſeyn — und dann, wie die Wange
von einem genuͤglichen Gefallen an ſich ſelbſt belebt wird, und den lieben Mund nach ſich zieht!
und wie die freundlichſte Beſtimmtheit ſich in dem Kinne rundet! Dieſes Wohlbefinden in ſich
ſelbſt, von umherblickender Eitelkeit, und von verſinkender Albernheit gleichweit entfernt, zeugt
von dem innern Leben dieſes trefflichen Menſchen.
Achtzehntes
[]
Achtzehntes Fragment.
Vermiſchtes.
Jch eile zum Beſchluſſe dieſes erſten Bandes, obgleich ich noch eine unzaͤhlige Menge von
Sachen zu ſagen haͤtte, die ich kaum einem zweyten Verſuche aufſparen darf.
Jch habe in dieſem ganzen Bande noch wenig oder keine Regeln, keine Schluͤſſel ge-
geben; noch nichts von dem Wichtigſten, (freylich nicht fuͤr blos neugierige Leſer Wichtig-
ſten,) von der Methode Phyſiognomie zu ſtudiren geſagt; noch wenige Einwendungen
angefuͤhrt und beantwortet; — ich hoff' aber, nicht das, was ich noch nicht geſagt, ſondern
das, was ich geſagt, ſey der Pruͤfung des menſchlichen Leſers nicht unwuͤrdig!
Jch verachte keine Einwendung; ich werde gewiß manche, werde nach und nach alle
beantworten, die mir von einiger Erheblichkeit zu ſeyn duͤnken und bekannt werden. Ueber-
haupt aber duͤnkt mich, daß es beſſer ſey, ein Gebaͤude, oder wenigſtens einige Hauptbruch-
ſtuͤcke des Gebaͤudes darzuſtellen, als mit Worten die Einwendung zu beſtreiten, „daß es un-
„moͤglich ſey, ſo ein Gebaͤude aufzufuͤhren.“
Es verhaͤlt ſich mit den Einwendungen gegen die Phyſiognomik ſehr oft, wie mit
Diſpuͤten uͤber die Pflichtmaͤßigkeit und Moralitaͤt gewiſſer Handlungen. Man kann tauſend
Sophiſtereyen dagegen ſagen, die ſich nicht ſogleich mit Worten beantworten laſſen. Der Tu-
gendhafte, dem nichts unertraͤglicher iſt, als Geſchwaͤtz und Gezaͤnk uͤber Tugend, hoͤrt's,
ſpricht, ſpricht umſonſt, ſchweigt, zuͤrnt oder laͤchelt, und geht ſtille hin und thut, woruͤber an-
dere einen ganzen Tag geſtritten haben: „Ob's recht, ob's gut, ob's moͤglich ſey?“ Und wenn's
dann Schwaͤtzer ſehen, ſo ſagen freylich nicht alle, aber alle empfinden's: Recht! Schoͤn!
Vortrefflich!
Hunderte werden ſich Tage lang uͤber die Phyſiognomik zanken, Einwendungen ma-
chen, die ſich nicht ſogleich beantworten laſſen, der Phyſiognomiſt hoͤrt's, ſchweigt, laͤchelt der
Lacher, und geht, und umfaßt aus der Menge einen mißkennten Menſchen, freut ſich und ruft:
„Mein Bruder! Mein Bruder,“ und fuͤhlt im neugefundenen Menſchen Gewißheit und Ge-
M m 2nuß,
[268]XVIII.Fragment.
nuß, eine Wonne, die ſich ſo wenig, als das Bewußtſeyn, „recht und großmuͤthig gehandelt
„zu haben,“ wegſophiſtiſiren laͤßt.
„Kann auch aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Was laͤßt ſich drauf ant-
worten, als: „Komm und ſiehe!“
Aber, wer ſieht's, wer fuͤhlt's? — Ein „rechtſchaffner Jſraelite, in welchem kein
„Falſch iſt!“
„Die Sympathie und Antipathie jedes einzelnen Menſchen gegen die Geſtalten, die
„ihn umgeben, machen den Hauptgrund aus, warum es keine allgemeine Phyſiognomik ge-
„ben kann. Auf jedes Jndividuum machen die Gegenſtaͤnde einen eigenen Eindruck, durch
„den es regiert wird; denn Liebe, Freundſchaft, Haß werden gar ſehr, doch in wunderbarer
„Verbindung mit dem Jnnern, durch das Aeußere angezuͤndet und unterhalten.“ — Unwider-
ſprechlich! und dennoch wird dadurch die abſtrakte Beſtimmtbarkeit gewiſſer Kraͤfte und Triebe
durch aͤußerliche ſichtbare Zeichen nicht aufgehoben.
Das phyſiognomiſche Gefuͤhl moͤcht' ich eigentlich einen warmen Antheil an einem
ſichtlichen Gegenſtande nennen, wodurch ich das ganze Verhaͤltniß ſeiner Exiſtenz erkenne.
Wie viele unter tauſenden werden nun Phyſiognomiſten werden?
Die Schoͤnheit zieht uns an; die Haͤßlichkeit ſtoͤßt uns weg, und Verlangen und Ekel
hindern uns beydes zu erkennen.
Aber muͤſſen wir denn erkennen? Jmmer oder nur erkennen?
Jch halte dafuͤr, daß jedem Menſchen ſein Theil Phyſiognomik zugetheilt iſt, womit er
zu ſeiner Nothdurft auskommt.
Jch fuͤhle an mir, daß die ſinnlichen Gegenſtaͤnde ganz anders auf mich wirken, als
vor Jahren; und doch koͤnnt's ſeyn, daß dieſe Veraͤnderung nicht eben wachſende Erkenntniß
waͤre. Die Veraͤnderung meiner ſelbſt kann andere Verhaͤltniſſe der uͤbrigen Dinge gegen mich
hervorgebracht haben.
Phyſiogno-
[269]Vermiſchtes.
Phyſiognomik iſt ein dichteriſches Gefuͤhl, das die Urſach in der Wirkung erkennt.
Die meiſten Menſchen ergoͤtzen ſich am Gemaͤhlde, wie am Gedichte; an Schoͤnheit oder Aehn-
lichkeit, oder Karrikatur.
Der Kritiker vergleicht die Verhaͤltniſſe unter ſich ſelber und mit dem Original, aber
beyde ſtehen vor der Schoͤpfung des Dichters, wie vor der Schoͤpfung Gottes. Von der
Kraft, die es hervorbringt, haben ſie keine Ahndung.
Aus den Urtheilen uͤber dieſe Verſuche werden wir Beytraͤge zur Phyſiognomik ſelbſt
uͤberfluͤßig gewinnen. Bayards Wahlſpruchſans peur \& ſans reproche, kann nicht leben-
diger mit ſeinem herrlichen Geſicht uͤbereinſtimmen, als die Recenſionen ſo mancher jungen
Magiſters mit ihrem Kinn und ihren Halsbinden — uͤbereinſtimmen werden.
Freylich wuͤnſcht' ich, wenn Wuͤnſchen was huͤlfe, daß noch kein Wort weder Gutes
noch Boͤſes druͤber geſprochen wuͤrde, bis ich dahin gekommen waͤre, durch Jnduktionen Ein-
wendungen zu beantworten, die unbeantwortlich ſchienen.
So viel kann ich nur vorlaͤufig verſichern, daß ich noch keine Einwendung von jeman-
den gehoͤrt habe, die nicht durch den Unterſchied der feſtern und weichern Theile — der An-
lage und der Uebung der Kraͤfte auf die ſimpelſte Weiſe gehoben werden koͤnnte.
Es iſt alles am Menſchen, wenn ich ſo ſagen darf, Zettel und Eintrag! Wurzel
und Zweige! Anlage und Uebung! Bein und Fleiſch!
Entwickle dieſen Gedanken! Verfolg ihn ſo tief du kannſt — und er wird dir Schluͤſſel
zur ganzen Phyſiognomik ſeyn!
Von Sokrates, und was daher fuͤr und wider die Phyſiognomik folgt;
Von der Aehnlichkeit des Menſchen mit den Thieren, und wie daher Licht und
wie viel Licht auf die Phyſiognomik falle;
M m 3Von
[270]XVIII.Fragment.
Von der menſchlichen Bildung uͤberhaupt, von der Empfaͤngniß an bis zum Tode; —
Von den verſchiedenen Temperamenten, von den Einfluͤſſen der Erziehung, der Lebens-
art, des Clima u. ſ. f.
Von National- Familien- Sektenphyſiognomien;
Von der Verſtellung und Aufrichtigkeit;
Von der Veraͤnderung der Phyſiognomien durch Zufaͤlle und Natur;
Von der Verſchoͤnerung und Veredlung der menſchlichen Bildung und Geſichtszuͤge; —
Von dieſen und noch ſo manchen wichtigen hiehergehoͤrenden Dingen — gedenken wir un-
ſere Leſer, wenn Gott Leben, Kraͤfte und Muße goͤnnt, in den folgenden Baͤnden zu unterhalten.
Fuͤr alle, mir ſchwer aufliegenden Unvollkommenheiten dieſes Verſuches ſoll und darf
ich den billigen Leſer um Nachſicht und Verzeihung bitten.
Ein anderer, der mehr Muße haͤtte, als ich, wuͤrde dieſe Nachſicht nicht fordern duͤrfen!
Wenn einmal die Sorge fuͤr die Tafeln und den Detail, die nun, hoff' ich, bald zum
Ende geht, mir abgenommen iſt, ſo werd ich die Zeit und Kraft, die mir daher zu gute kommen
wird, mit auf die Vervollkommnung und Ausarbeitung des Textes zu verwenden ſuchen.
Uebrigens wenn nun alles, was ich in dieſem Bande geleiſtet, weiter nichts waͤre, als
Characteriſtik von einigen wirklichen Menſchen; wenn's nichts waͤre, als eine kleine Gallerie von
Menſchengeſichtern, Menſchencharactern, die Harmonie von beyden mit nichts angedeutet, nirgends
fuͤhlbar gemacht waͤre, wuͤrd' ich ſchon nichts Unnuͤtzes gethan zu haben glauben. Jch bin
aber feſt uͤberzeugt, daß jeder Nachdenkende, der dieſes Werk nicht blos als einen kindiſchen Zeit-
vertreib betrachten und leſen will, aus dem Wenigen, was ihm vorgelegt worden (unendlich
wenig gegen das, was ihm vorgelegt werden koͤnnte) ſein phyſiognomiſches Auge und Gefuͤhl zu
uͤben Gelegenheit genug gehabt haben und in den Stand geſetzt ſeyn wird, ſich bereits einige zuver-
laͤßige und feſte Zeichen zu abſtrahiren, oder wenigſtens auf den Weg geſtellt ſeyn wird, daß er
nun ſelbſt weiter gehen, und meine Beobachtungen — oder Empfindungen pruͤfen kann.
Nur noch Eins: Herzlichaufrichtig und ſo dringend es mir moͤglich iſt, verbitt' ich mir
von allen nahen und fernen, bekannten und unbekannten Freunden und Feinden, alle muͤndliche
und
[271]Vermiſchtes.
und ſchriftliche Fragen uͤber dieß oder jenes Geſicht, ſo herzlich, innig und dringend ich jedem dan-
ken werde, der mir von außerordentlich trefflichen Perſonen getreue, ins Kleine gezeichnete Sil-
houetten zukommen laſſen wird, ohne ſchriftliche Antwort oder Dank zu erwarten.
Es iſt Zeit zu ſchließen; und billig, dir auch ein ertraͤglich kenntliches Bild zu deiner
freyen Beurtheilung von demjenigen vorzulegen, der ſo viel uͤber andere Geſichter geurtheilet hat; —
ich will dir nicht vorgreifen, doch darf ich hoffen, daß dieſes Geſicht nicht ſo beſchaffen ſey, daß
es oft erroͤthen duͤrfte vor dem „Richtet nicht, daß ihr nicht gerichtet werdet!“
[272]
Beſchluß.
Regiſter[[273]]
Appendix A Regiſter.
Appendix A.1 A.
- Abgoͤtterey. Seite 145
- Abſtrahiren, allgem. Anmerkungen daruͤber. 149
- Adieux, (les) de Calas.112
- Afterphiloſophie. 34
- Alles wird phyſiognomiſch beurtheilt. 47-49
- Anatomie. 175
- Anlagen, uͤberwachſene. 138
- Anmerkung uͤber Kunſt. 131
- Anſon. 247
- Apoll, vaticaniſcher. 131-135
- Ariſtoteles. 11-25
- Arzt. 48
- Avanturier. 232
- Aufmerkſamkeit, feſte, Ausdruck derſelben. 263
- Auge, geuͤbtes. 42
- Augen, acht Paar 256
Appendix A.2 B.
- Bacon. 25
- Barbarelli, Georgius. 219
- Bauer, philoſophiſcher. 234
- Bauer, urtheilt phyſiognomiſch. 48
- Bemerken der Vollkommenheiten, und Unvollkommen-
heiten. 38-43 - Beobachten, die Seele der Phyſiognomik. 173
- Bernini. 115
- Beſorgniß und Erinnerung des Verfaſſers. 146. 147
- Beurtheilung der Menſchen aus einzelnen Handlungen,
wie unſicher. 166 - Bildung, gute, gehoͤret zum guten Phyſiognomiſten. 170
- Blatter, Heinrich. 263
- Blattern. 146
- Blendinger. 253
- Bonet. 54
- Bonton, philoſophiſcher, des Jahrhunderts. 20
- Brandteweinſaͤufer. 97
- Bruͤderphyſiognomie, maͤhriſche. 214
- Le Bruͤn. 202. 205. 206
Appendix A.3 C.
- Chabanon. 131
- Character. 115. 116
- Chodowiecki. 80. 103. 209. 211
- — ſein mahleriſcher Character. 112
- Chriſtus, nach Holbein. 83. 84
- Cicero Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 24
- Concavitaͤt der Naſe. 134
- Convexitaͤt der Naſe. 134
- Couplet, ſein Bild. 218
- Cupido. 130
Appendix A.4 D.
- Demokrit nach Rubens. S. 92. 180
- Denker, gefuͤhlvoller. 198
- Dinglinger. 253
- Dreyfaches Leben der Menſchen. 33-37
- Duͤrer, Albrecht. 55
Appendix A.5 E.
- Ecce Homo von Rembrand. 85-91
- Eifer wider die Phyſiognomik aus gutem Herzen. 18
- — aus Schwachheit. ebendaſ.
- — aus Beſcheidenheit und Demuth. 19
- — aus Lichtſcheue. ebendaſ.
- Eigenſinn und Staͤrke, Merkmale derſelben. 217
- Eindruck, bleibender. 62. 63
- Einfaͤltiges Auge, was? 171
- Einwendungen gegen die Phyſiognomik, Anmerkungen
daruͤber. 142. 267 - Eitelkeit, ob dieſelbe durch die Phyſiognomik befoͤrdert
werde? 168 - Erasmus. 80
- Erneſti Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 25
- Euripides. 127
Appendix A.6 F.
- Fehlſchluͤſſe, oft nur ſcheinbare des Phyſiognomiſten. 136
- Feiner Verſtand. 242
- Fielding. 181
- Forſcher, ſein Blick. 247
- Fragmentwerk. 56
- Frauenzimmer, gute Phyſiognomiſten. 183
- Freude haben und machen. 41
- Freude, Arten derſelben. 150
- Freudigkeit, ihr Character. 26. 61
- Frey. 253
- Fruchtbarkeit des Geiſtes. 219
- Fuͤrſt, Profil von einem. 208
- Fuͤeßlin (der Mahler.) 8. 9
Appendix A.7 G.
- Galenus. 24
- Gang aller menſchlichen Dinge. 18
- Gaskonier. 232
- Gefuͤhl, phyſiognomiſches. 268
- Geiſt, machet lebendig. 145
- — ihn ſieht die Welt nicht. 144. 145
- Geiz. 80
- Geiziger und Antiphyſiognomiſt. 137
- Gelehrter, Profil. 207
- Gellert, Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 12-14
- Gemuͤthsruhe. 61
- Genie, ſchoͤpferiſches. 219
- — Profilportraͤt eines jungen Genies. 258
Phyſ. Fragm.I.Verſuch. N nGiorgione.
[[274]]Regiſter.
- Giorgione. S. 219
- Gleichguͤltigkeit fuͤr die Phyſiognomik. 21
- Golz. 115
- Greuel der Trunkenheit. 96
- Großer Character. Vier Expreſſionen. 115
- Gruͤnde der Verachtung der Phyſiognomik. 17-22
- Guarrik. 181
- Guͤte. 216
- Guter Menſch, Guͤte des Herzens. 40
Appendix A.8 H.
- Haͤßlichkeit der Menſchengeſtalten. 106
- Haller, Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 26. 27
- Harmonie koͤrperlicher und moraliſcher Schoͤnheit. 57
- Haß. 27. 61
- Hausvater, Phyſiognomiſt. 30
- Herder, weitlaͤufige Stelle aus ſeiner aͤlteſten Urkunde. 3-6
- Herkules zwiſchen Tugend und Laſter. 125-131
- Herz des Phyſiognomiſten, muß gut ſeyn. 178
- Herz, heiteres. 30
- Heß, Felix. 8. 9
- Hirzel, D.183. 234
- Hochachtung, ihr Character. 61
- Hogarth. 85
- Hogarths Meynung vom vatikaniſchen Apoll 132. 133
- Holbeins Judas, ſein Character. 81
- Homer. 245
- Homme d' affaire, Bild deſſelben. 196
- Horchender, Ausdruck deſſelben. 206
Appendix A.9 J.
- Jdealiſche Koͤpfe, drey. 102
- Jeſus Sirachs Sohn. 23. 24
- Jmagination des Phyſiognomiſten. 174
- Jntellektuelle Phyſiognomik. 14
- Jntellektuelles Leben der Menſchen. 33-37
- Jphigenie. 110
- Judas. 79-83
- Judas, theologiſche Anmerkung uͤber ſeine Phyſiogno-
mie. 82. 83 - Judas Kuß. 84
- Judas und Compagnie. 118. 119
Appendix A.10 K.
- Kaͤlte und Waͤrme der Schreibart. 121
- Kaͤmpf, D.181
- Karrikaturen. 122. 226
- Kaufmann, beurtheilt phyſiognomiſch. 47
- Kinderkoͤpfe. 107
- Klaſſification. 148. 149
- Kleinjogg, Bild und Character. 234
- Klockenbring. 10
- Klopſtock. 117
- Klugheit und Feinheit, Merkmale davon. 216
- Knipperdolling. 118
- Koͤpfe. 198. 200. 202-206. 209. 211. 219. 228. 232
- Koͤrper, ſichtbar gemachte Seele. S. 108
- Kraft, Ausdruck derſelben. 220
- Kraft und Ohnmacht im Streite. 194
- Kuͤnſtlerauge. 253. 254
- Kunſtgriffe des Jahrhunderts. 53
- Kupezky. 253
Appendix A.11 L.
- Labradorier. 46
- Lambert. 8-9
- La Mettrie.93. 94. 95
- Landmann, ein zuͤrcheriſcher. 239
- Laſter verhaͤßlicht. 62
- Leben, dreyfaches im Menſchen. 33-37
- Leibniz. 46. 54
- Leichtigkeit der Phyſiognomik. 152
- Leidenſchaften verzerren die Mienen. 95
- Leſer, dieſer Fragmente — werden einige heimlich den-
ſelben Beyfall geben, oͤffentlich druͤber ſpotten. 20 - Leßing. 94
- Leuken, v. Joh. 115
- Liebe, ihr Character. 26-61
Appendix A.12 M.
- Maͤhriſche Bruͤderſchaft, Bild eines wuͤrdigen Mitglie-
des derſelben. 213 - Mahler. 48
- Mahlerkunſt. 54
- Medeciner. 208
- Mendelsſohn. 243. 245
- Mengs. 114. 182
- Menſch — Bild Gottes. 4
- — ein phyſiſches Weſen fuͤr den Beobachter. 33
- — der intereſſanteſte Gegenſtand. 27-33
- — beſſer und ſchlimmer als mancher mahlt. 85
- — nicht Richter der Menſchen. 139
- — iſt der Phyſiognomiſt, alſo partheyiſch. 146
- Menſchenfreund. 43
- Menſchengeſicht, je herrlicher deſto unnachahmlicher. 234
- — wie ſchwer zu zeichnen. 234
- Menſchenkenntniß, ihre Wichtigkeit. 157
- Menſchenrichterey, ob ſie durch die Phyſiognomik be-
foͤrdert werde? 162 - Menſchliche Geſtalt. 105
- Menſchliche Natur. 33-37
- Meßiade. Stellen daraus. 87. 88. 90. 91
- Mienen. 29. 30
- Mittel, ſich alles leicht zu machen. 154
- Moͤnch, wuͤrdiger, Bild und Character deſſelben. 260
- Montagne. 24
- Moquantes Geſicht. 94
- Moraliſches Leben der Menſchen. 33-37
- Morus. 80
- Mund, ein Bild der Tugend. 129
N. Nahrung
[[275]]Regiſter.
Appendix A.13 N.
- Nahrung des animaliſchen, intellektuellen, moraliſchen
Lebens. S. 35 - Naſe. 110. 237. 239. 248
- — ein Bild der Tugend. 129
- Naſologie. 151
- Neugier, ihre Bewegungen. 26
- Neuton. 46
- Niobe. 120
- Nutzen der Phyſiognomik. 156
Appendix A.14 O.
- Officier, Profil. 207
- Oreſt. 111
Appendix A.15 P.
- Pagi, F. A. 204
- Pelikan. 80
- Pernetty. 180
- Petronius. 127
- Pfenninger. 213
- Phariſaͤer Geſichter. 87-91
- Phyſiognomie, es verhaͤlt ſich damit wie mit allen Ge-
genſtaͤnden des Geſchmackes. 144 - Phyſiognomik — was? 13
- — phyſiologiſche. 13. 14
- — anatomiſche. ebendaſ.
- — des Temperaments. ebendaſ.
- — moraliſche. ebendaſ.
- — intellektuelle. ebendaſ.
- — wird oft in weitlaͤuftigem Verſtande gebraucht. 15
- — wuͤrdige Beſchaͤfftigung des Menſchen. 37
- — Wiſſenſchaft. 52-56
- — Demokrits-Wielands Gedanken davon. 92
- — ihr Nutzen. 156
- — Quelle der feinſten und erhabenſten Empfindun-
gen. 159 - — Stifterinn der dauerhafteſten Freundſchaften.
160 - — furchtbar dem Laſter. 161
- — ihr Schaden. 163
- Phyſiognomik und Moral. 92
- Phyſiognomiſche Uebungen. 185. u. f.
- Phyſiognomiſche Gefuͤhle und Urtheile. 140. 141. 268
- Phyſiognomiſt — natuͤrlicher, wiſſenſchaftlicher, phi-
loſophiſcher. 14 - — Bild deſſelben. 170. 267
- Phyſiognomiſten, vorzuͤgliche, Verzeichniß derſelben.
180 - Phyſiſches Leben. 33-36
- Piazetta. 204
- Plato. 180
- Plinius. 24
- Poeten. 241. 242
- Portraͤte. 196. 213. 251. 258
- Pouſſin. S. 127
- Profilumriſſe. 207. 232. 251. 253
- Profilſchoͤnheit. 128
- Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. 185
- Pythagoras. 180
Appendix A.16 Q.
- Quintilian. 89
Appendix A.17 R.
- Rameau. 266
- Raphael. 55. 198. 200. 201
- Raphael, wie er den Judas gezeichnet. 82. 114. 120.
- Raphaels Nachfolger. 127
- Raphael, Portraͤt von ihm. 117
- Religioſe, Bild. 260
- Rembrand. 85
- Richter, phyſiognomiſirt. 49
- Ridinger. 253
- Rouſſean. 182
Appendix A.18 S.
- Salomo, Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 23
- Sanfter Mann zuͤrnet. 137
- Sanftes edles Menſchengeſicht. 101
- Saullus. 205
- Scaliger, J. C. 180
- Schaden der Phyſiognomik. 163
- Schalkhafter Menſch. 23
- Scharfrichter. 94
- Schaupp. 253
- Schoͤnheit, Kenntniß derſelben wichtig. 40
- Schoͤnheit der Menſchengeſtalt. 101
- Schoͤnheit, Zeichen der Guͤte. 107
- Schrecken. 27
- Schreibart des Verfaſſers. 120
- Schuͤppach, Michel, Bild deſſelben. 230
- Schwaͤrmerey. 145
- Schwermuth, fromme, Ausdruck derſelben. 194
- Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik. 142
- Seele. 34
- Seele dieſes Werks. 96
- Seher, Stirne eines Sehers. 245
- Selbſterkenntniß des Phyſiognomiſten. 176
- Semiothick. 52
- Seneca.50
- Silhouetten. 186. 188. 190. 192. 194. 209. 222. 224.
226. 227. 241 - Sinn, phyſiognomiſcher. 159. 165. 184
- Sitz des Characters, oft verſteckt. 143
- Sokrates. 25
- Soleto. 180
- Spence. 134
- Sprache der Natur, nicht ſchwer zu verſtehen. 153
- Sprache, phyſiognomiſche. 174
- Staturen, Eintheilung derſelben. 148
N n 2Stille
[[276]]Regiſter.
- Stille Erhabenheit und Freyheit, Ausdruck davon.
S. 194 - Stirnen. 124. 245
- Strange. 125
- Stunde und Seele, ungeſchickte Vergleichung. 34
- Sulzer, Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 27. 50. 135
Appendix A.19 T.
- Thaͤtigkeit, Ausdruck derſelben. 239
- Thomas und Chriſtus. 115
- Tiefklug, Ausdruck davon. 204
- Traurigkeit. 26
- Tugend verſchoͤnert. 59. u. ſ. f.
- — in Herkules. 126. 127. 128
- — iſt moraliſche Kraft gegen ſinnliche. 128
Appendix A.20 V.
- Uebungen, phyſiognomiſche. 185
- Veneration. 202
- Venus. 128
- Verachtung der Phyſiognomik ruͤhrt her von ſchlechten
Buͤchern druͤber. 17 - — ihre Aeußerungen. 27. 61
- Verfaſſer — Geringheit ſeiner phyſiognomiſchen
Kenntniſſe. 7-12 - — hat ſich unzaͤhlige male in ſeinen Urtheilen geirrt
und irrt ſich taͤglich. ebendaſ. - — vor ſeinem Blicke hat ſich niemand zu fuͤrchten.
12 - Verſchiedenheit menſchlicher Geſichter. 45
- Verſeſchoͤpfer. 232
- Verſtand, Merkmale deſſelben. 216. 220
- Verſtellungskunſt. 49. 146
- Verwunderung. 26
- Umriſſe. S. 124
- Unbiegſamkeit, Ausdruck derſelben. 194
- Unkoͤrperliche Schoͤnheit. 132
- Vollkommenheit und Unvollkommenheit der menſchlichen
Natur. 38. u. ſ. f. - Vultus. 24
Appendix A.21 W.
- Wahrheit der Phyſiognomik. 44-51
- Weltkenntniß des Phyſiognomiſten. 178
- Wepfer, Machaon. 155
- Werner. 91
- Weſentliche Schoͤnheit. 59
- Wieland. 92
- Willkuͤhrlichkeit, Philoſophie der Thoren. 47
- Winkelmann. 103. 114. 127. 128. 131. 182
- Winkelmanniſcher Enthuſiasmus. 132
- Witz des Phyſiognomiſten. 174
- Wolf. 53. 54
- Wolf, Zeugniß fuͤr die Phyſiognomik. 28
- Wreen. 253. 256
- Wuͤrde der menſchlichen Natur, — aus Herders aͤlteſter
Urkunde des Menſchengeſchlechts. 3-6 - Wuͤrtemberg, Prinz Ludw. Eugen v. 182
Appendix A.22 Y.
- Young. 31
Appendix A.23 Z.
- Zeichnungskunſt. 175
- Zeugniſſe fuͤr die Phyſiognomik. 23-32
- Zimmermann, koͤniglicher großbrittaniſcher Leibarzt.
10. 146. 183 - Deſſelben Brief an einen Antiphyſiognomiſten. 151
- Zopyrus. 180
Appendix B [Druckfehler].
- S. 250. Z. 1. lies aufgeſtutzte anſtatt aufgeworfene.
- S. 115. Z. 3. von unten lies Golzens anſtatt Glozens.
Verzeichniß
[[277]]
Appendix C Verzeichniß
dererjenigen, welche auf dieſes Werk unterzeichnet haben.
Appendix C.1 Regierende Herren und Fuͤrſten.
- Seine Majeſtaͤt, der Koͤnig von Daͤnnemark.
(Auf ein deutſches und auf ein franzoͤſiſches
Exemplar.) - Jhro Majeſtaͤt die verwittwete Koͤniginn Juliana
Maria von Daͤnnemark. (Auf ein franzoͤſiſches
Exemplar.) - Seine Koͤnigliche Hoheit der Erbprinz Friedrich von
Daͤnnemark. (Auf ein franzoͤſiſches Exemplar.) - Seine Durchlaucht der regierende Fuͤrſt von Anhalt-
Bernburg in Ballenſtadt. - Seine Durchlaucht der Churfuͤrſt von Bayern.
- Seine Durchlaucht, der regierende Herzog von
Braunſchweig. (Auf ein deutſches und auf ein
franzoͤſiſches Exemplar.) - Seine Durchlaucht, der Herzog Ferdinand von
Braunſchweig. - Seine Durchlaucht, der Churfuͤrſt von Coͤlln.
- Seine Hochfuͤrſtliche Gnaden, der Biſchof zu
Fulda. - Seine Durchlaucht, der Landgraf von Heſſen-
Caſſel. - Seine Durchlaucht, der Landgraf von Heſſen-Hom-
burg.
- Seine Durchlaucht, der regierende Herzog von Hol-
ſtein, Biſchof von Luͤbeck in Eutin. - Jhre Durchlaucht, die regierende Herzoginn von
Holſtein in Eutin. - Seine Durchlaucht, der regierende Fuͤrſt zu Jſen-
burg-Bierſtein. - Seine Erlaucht, der regierende Graf zu Lippe-Dett-
mold. - Seine Durchlaucht, der Prinz Carl von Mecklenburg
Strelitz in Hannover. - Seine Durchlaucht, der regierende Herzog zu Sach-
ſen-Gotha und Altenburg. - Seine Durchlaucht, der Prinz Auguſt von Sachſen-
Gotha und Altenburg. - Seine Erlaucht, der regierende Graf von Stollberg-
Wernigerode. - Seine Durchlaucht, der regierende Fuͤrſt von Wal-
deck in Arolſen. - Jhre Durchlaucht, die verwittwete Fuͤrſtinn von
Waldeck in Arolſen. - Jhre Durchlaucht, die Herzoginn von Weimar.
- Seine Durchlaucht, der Erbprinz Carl Auguſt von
Weimar.
Appendix C.2 Andere Subſcribenten.
- Die Herren Ammann und Gaupp in Schafhau-
ſen. (Auf drey Exemplare.) - Herr von Arnim von Boitzenburg.
- Fraͤulein Sophia von Bennigſen in Zelle.
- Freyherr von Berlepſch, Churhannoͤveriſcher Re-
gierungsrath in Ratzeburg.
- Seine Excellenz, der Koͤniglich Daͤniſche geheime
Conferenzrath und Staasminiſter Graf von
Bernstorf in Koppenhagen. - Seine Excellenz der Churhannoͤveriſche geheime
Rath Graf [von]Bernstorf zu Gartau im Luͤne-
burgiſchen.
N n 3Herr
[[278]]
- Herr Domherr Franz Baron von Beroldingen,
fuͤr die Bibliothek in Hildesheim. - Die Koͤnigliche Bibliothek in Koppenhagen.
- Die Graͤfliche Bibliothek zu Wernigerode.
- Seine Excellenz, der Koͤniglich Daͤniſche Herr ge-
heime Rath von Blome, in Hollſtein. - Herr Baron von Blome, Koͤniglich Daͤniſcher
Cammerherr, zu Hagan in Hollſtein. - Herr von Bluͤcher, Koͤniglich Daͤniſcher Cammer-
herr in Hollſtein. - Jhre Excellenz, die Frau geheime Raͤthinn von
Bodenhauſen, in Stade. - Herr von Born, Ritter und K. K. Bergrath.
- Jhre Excellenz, die Frau Staatsminiſterinn Baro-
neſſe von Bramer, in Hannover. - Die Frau Marquiſe Branconi,, in Braunſchweig.
- Herr Hofrath Brandes, in Hannover.
- Seine Excellenz, der Koͤniglich Preußiſche Cammer-
praͤſident, Herr von Breitenbauch, in Minden. - Frau Graͤfinn von Buͤnau auf Puͤchen, gebohrne
Baroneſſe von Hohenthal. - Jhre Excellenz, die Frau Staatsminiſterinn Baro-
neſſe von dem Bußche, in Hannover. - Herr Cammerherr Baron von dem Bußche, in
Hannover. - Herr Baron von dem Bußche, Obriſter bey der
hannoͤveriſchen Garde zu Pferde, in Hannover. - Frau Amtmaͤnninn Bußmann, in Springe bey
Hannover. - Der Marquis de Chaſteler, in Bruͤßel. (Auf ein
franzoͤſiſches Exemplar.) - Herr Crayen in Leipzig.
- Herr Carl Abraham Oßwald Freyherr von Czettritz
und Neuhauß auf Schwarz und Conradswalde
in Fuͤrſtenthum Schweidnitz in Schleſien. - Herr von Dalberg, Statthalter von Erfurt.
- Herr Joh. Georg Daller, in Biſchofzell.
- Herr Hofrath Deiner, in Frankfurt.
- Seine Excellenz, der Freyherr von Diede, Koͤniglich
Daͤniſcher Geſandter in London. - Herr Legationsrath von Doͤring, in Braunſchweig.
- Das Domkapitel in Muͤnſter.
- Demoiſelle Eversmann, in Emmerich.
- Herr Frey in Regenſpurg.
- Herr General von Freytag in Hannover, fuͤr das
Dragonerregiment des Prinzen. - Herr Frommann in Zuͤllichau. (Auf zwey Exem-
plare.) - Seine Excellenz, der Churcoͤllniſche Staatsminiſter
und Domherr, Baron von Fuͤrſtenberg, in
Muͤnſter. - Seine Excellenz, der Staatsminiſter Freyherr von
Gemmingen, in Hannover. - Herr Gerken, Studioſus am Carolino in Braun-
ſchweig. - Eine Geſellſchaft in Winterthur. (Auf vier
Exemplare.) - Eine Geſellſchaft in Zuͤrich. (Auf ſechs Exemplare.)
- Der Herr Graf von Goͤrtz in Weimar.
- Herr Juſtizrath Gondela, Herzoglich Hollſteini-
ſcher Leibarzt in Eutin. - Herr Grimmel, Regiſtrator bey der Fuͤrſtlich Heſ-
ſiſchen Kriegs- und Domainenkammer in Caſſel. - Herr Baron von Hahn zu Neuhaus in Hollſtein.
- Frau Generalinn Baroneſſe von Hardenberg, in
Hannover. - Herr Cammerrath Baron von Hardenberg-Re-
ventlow, in Hannover. - Herr Prof. Hartmann in Mietau.
- Herr Amtſchreiber Hausmann zu Brackenberg im
Fuͤrſtenthum Goͤttingen. - Herr Heinſius in Leipzig.
- Herr Hofrath von Heller in Matzikus in Ehſtland.
- Herr D.Hensler in Altona, fuͤr die Altonaiſche
Gymnaſienbibliothek. - Herr Paſtor Herold in Petersburg.
Herrn
[[279]]
- Herrn Herolds Wittwe in Hamburg. (Auf ſechs
Exemplare.) - Herr Hinuͤber, Hannoͤveriſcher Poſtcommiſſarius
und Amtmann in Wildeshauſen bey Bremen. - Seine Excellenz, Herr Hans Heinrich Graf von
Hochburg und Fuͤrſtenſtein zu Fuͤrſtenſtein in
Schleſien. - Seine Excellenz, der Herzoglich-Hollſtein-Olden-
burgiſche Miniſter Freyherr von Holmer. - Seine Excellenz, der Herr Graf von Hollſtein zu
Hollſteinburg, in Hollſtein. - Seine Excellenz, der Herr Miniſter von der Horſt,
in Berlin. - Herr D.Hoze in Richterſchwyl.
- Herr Cammerrath Jacobi.
- Herr Hofrath Jung, fuͤr die Koͤnigliche Bibliothek
in Hannover. - Herr Kunth in Leipzig.
- Herr Baron von Landsberg, Domherr in Pa-
derborn. - Frau Baroneſſe von Langwerth, gebohrne von
Loͤw, in Marburg. - Frau Landdroſtinn Baroneſſe von Lanthe, in Han-
nover. - Herr Droſt von Lanthe in Zelle.
- Herr Major Baron von Lanthe in Hannover.
- Die loͤbliche Leſegeſellſchaft in Muͤnſter.
- Herr Superintendent Lieſegang in Ebſtorf, im
Fuͤrſtenthum Luͤneburg. - Herr Commerzienrath Linke in Leipzig.
- Frau Obercammerherrinn Baroneſſe von Loͤw in
Hannover. - Herr Maurer, franzoͤſiſcher Prediger in Schaf-
hauſen. - Herr Joh. Georg Mayr in Arbon.
- Herr Cammerſecretair Meyer in Hannover.
- Seine Excellenz, der Koͤniglich Daͤniſche geheime
Rath Graf von Moltke in Koppenhagen. (Auf
ein franzoͤſiſches Exemplar.) - Jhre Excellenz, die Frau Premierminiſterinn Ba-
roneſſe von Muͤnchhauſen, in Hannover. - Herr Kriegsrath Baron von Muͤnchhauſen, in
Hannover. - Herr Nicolai in Berlin. (Auf ſechzehen Exem-
plare.) - Herr geheimder Rath Pracke in Wuͤrzburg.
- Herr Paſtor Pralle zu Haimar bey Hannover.
- Herr Praͤlat von Rautenſtrauch in Wien.
- Herr Hof- und Canzleyrath von Reiche, in Han-
nover. - Frau Cammerherrinn von der Rock in Mietau.
- Seine Excellenz, der Großſuͤrſtlich Schleswig-Holl-
ſteiniſche wirkliche geheime Rath von Rumohr
in Hollſtein. - Seine Excellenz, der Rußiſch-Kayſerliche wirkliche
geheime Rath Freyherr von Saldern in Kiel.
(Auf ſechs Exemplare.) - Seine Excellenz, der Graf von Saldern-Guͤn-
deroth in Hollſtein. - Herr Johann Friedrich Schiller in London. (Auf
zwey deutſche und auf ein franzoͤſiſches Exemplar.) - Jhre Excellenz, die Daͤniſche Frau Staatsminiſte-
rinn Baroneſſe von Schimmelmann, in Ham-
burg. - Herr Hofrath Schlaͤger in Gotha, fuͤr die Herzogl.
Friedenſteiniſche Bibliothok. - Herr Prof. Schroͤder in Marburg.
- Herr Kaufmann Johann Schuback, Koniglich
Portugieſiſcher Chargé d' Affaires in Ham-
burg. - Fraͤulein von Schulz in Luͤneburg.
- Herr Chriſtian Friedrich Schwan in Mannheim.
Herr
[[280]]
- Herr Selchop und Huart in Amſterdam.
- Herr geheime Rath und Landshauptmann Graf zu
Solms in Sachſenfeld. - Seine Excellenz, der Koͤniglich Daͤniſche geheime
Rath, Herr von Stampe, in Koppenhagen.
(Auf ein franzoͤſiſches Exemplar.) - Frau Baroneſſe von Stein, in Naſſau.
- Herr D.Stein in Leipzig.
- Der Herr Graf von Stollberg-Wernigerode,
in Jlſenburg. - Herr Cammerherr und Conferenzrath von Suhm,
in Koppenhagen. (Auf ein franzoͤſiſches Exem-
plar.) - Herr Berghauptmann von Trebra in Freyberg.
- Herr Appellationsrath Trier in Leipzig.
- Ein Ungenannter in Buͤckeburg.
- Herr von Valtravers, Eſq. in London.
- Herr Cammerherr von Veltheim, in Oſtrau.
- Herr Domdechant Freyherr von Vinke, in Min-
den.
- Herr Amtmann Voigt, zu Friedland im Fuͤrſten-
thum Goͤttingen. - Herr Voigt, Churhannoͤveriſcher geheimer Canzley-
ſecretair in Eisleben. - Herr Cammerſecretair Voigt in Hannover.
- Herr Commiſſarius Vollbrecht in Luͤneburg.
- Herr D.Waͤchter in Stuttgardt.
- Herr Walther in Dresden. (Auf zwey Exem-
plare.) - Herr Baron von Wegers, Churmaynziſcher Cam-
merherr, zu Großfeld bey Fulda. (Auf ein
franzoͤſiſches Exemplar.) - Seine Excellenz, der Großfuͤrſtlich Schleßwig-Holl-
ſteiniſche wirkliche geheime Rath Baron von
Wolf, in Kiel. - Herr von Wuͤllen, Hannoͤveriſcher Amtmann zu
Jlfeld. - Herr Aſſeſſor von Wuͤllen in Hannover.
- Herr Leibmedicus Zimmermann in Hannover.
(Auf zwey Exemplare.) - Diejenigen reſp. Subſcribenten, deren Namen wir erſt nach vollendetem Druck dieſes
1ſten Theils erhalten, werden uns verzeihen, daß Sie ſolche hier nicht finden;
ſie ſollen aber dem bald zu erwartenden 2ten Theile beygefuͤget, und alſo das, was
itzt hier nicht geſchehen koͤnnen, dort nachgeholet werden.
dieſes großen Geiſtes mein Werk zu zieren. Aber alle
Verſuche, es zu erhalten, waren vergeblich.
und wuͤrd' es ihnen mit großem Vergnuͤgen mittheilen,
aber ich bin es nicht im Stande: Es war das beſte,
das fleißigſte, das ich je gezeichnet, weit unterm Ori-
ginal — aber doch nicht unaͤhnlich! Jch ſandt es
nach dem Tode des Seligen an unſern gemeinſchaftlichen
Freund Herrn Fuͤeßlin nach London, daß er es male-
riſch ausfuͤhren, und in einer allegoriſchen Dekoration
radiren ſollte! Aber es gefiel der Fuͤrſehung nicht, daß
ich das, zwar kraͤnkelnde, Bild meines nun verklaͤrten
Bruders behalten, viel weniger gemein machen ſollte.
Jn
les, was er hatte, ein Schatz der koſtbarſten Zeichnun-
gen, ſieben uͤber Leben große Apoſtel, die er fuͤr eine
Kirche in England fertig hatte, und hundert gedanken-
reiche Skizen, handſchriftliche Poeſien — und unter
dieſen allen auch das Bild meines Freundes, brannten
zu Aſche. — Wer etwas von Fuͤeßlin weiß, wird die-
ſe Anekdote nicht fuͤr geringfuͤgig halten; Fuͤeßlin, der
ſo manche Talente von Klopſtock, Raphael und Mi-
chelange in ſich vereinigt.
Nutzen und Schaden der Phyſiognomik und ver-
hoffentlich durch die Art, wie ich von dieſer Sache
ſchreiben werde, dieſe guten Herzen ſehr zu beruhi-
gen ſuchen.
genſatz ſichtbarer zu machen, genoͤthiget ſehen, theils
auf Haupttafeln, theils in Vignetten einige ſchwaͤ-
chere und zerfallene Geſichter zu charakteriſiren. Jm
Ganzen aber wird jedem nicht blinden Leſer, auf-
fallen muͤſſen, daß dieß Werk mehr Vollkommenhei-
ten und Schoͤnheiten aufſucht, als Haͤßlichkeit und
Fehler.
argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna,
manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum
multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-
nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban-
tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt
non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. Cicero.
Conſcientia eminet in vultu. Seneca.
gartenſchen Schule werd' ich dieſen Einwurf nicht zu
beſorgen haben. Man kennt ſeine idealiſche Defini-
tion von Scientia, und dennoch macht er ſich kein
Bedenken, die Semiotik unter die Wiſſenſchaf-
ten zu ſetzen. Eſt Scientia Signorum. Metaph.
§. 349.
Quintilian mit, die ich hier, als Anmerkung, ein-
ſchalten will: man koͤnnte ſie noch den obenangefuͤhr-
ten Zeugniſſen beyfuͤgen: Dominatur maxime vultus.
Hoc ſupplices, hoc minaces, hoc blandi, hoc tri-
ſtes, hoc hilares, hoc erecti, hoc ſubmiſſi ſumus.
Hoc pendent homines, hunc intuentur, hunc ſpe-
ctant, etiam antequam dicamus. Hoc quosdam
amamus, hoc odimus, hoc plura intelligimus. Hic
eſt ſaepe pro omnibus verbis.
wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl
eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen
Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen?
ſter, ſo auch Vernunft, Verſtand, Genie, Einſicht,
natuͤrliche Anlage, Erwerb, u. ſ. w. heißen koͤnne,
davon werden wir haͤufig zu reden Gelegenheit ha-
ben. Naͤhere Beſtimmungen werden bey unſern Un-
terſuchungen unentbehrlich ſeyn.
ein Recenſent von 3 oder 4 Gruͤnden, die ein Schrift-
ſteller fuͤr ſeine Meynung oder zur Rechtfertigung der
Herausgabe ſeiner Schrift anfuͤhrt, 2 oder 3 unter-
druͤckt, den ſchwaͤchſten heraushebt, noch falſch aus-
ſchreibt, und ſich druͤber mit dem Publikum uͤber den
Verfaſſer luſtig macht. Wie wuͤrde man in Rechts-
ſachen, einen ſolchen falſchen Richter anſehn? Welche
Namen ihm geben?
mich naͤher zu erklaͤren, dieſen nicht ganz richtigen,
wenigſtens dem Mißverſtand ausgeſetzten Ausdruck,
und andere von dieſer Art, mehr fortzugebrauchen. So
viel aber ſey nur vorausgeſetzt, daß eigentlich der
Menſch weder moraliſch gut noch boͤſe auf die Welt
kommt, ungeachtet keiner iſt, der nicht gut werden
kann, und keiner, der nicht boͤſe wird.
zu einem Tugendhelden geworden — und doch, denk'
ich, iſts nicht ganz vergeblich, Sittenlehren zu ſchrei-
ben — welche Wiſſenſchaft in der Welt hat nicht
ihre Myſterien? hat's die Moral nicht ſo gut, als
die Phyſiognomik?
homo alius exſiliret ex homine. Plinius Lib.
XXVIII.
che Schoͤnheiten! vielleicht eben ſo ein Unding, wie
Geiſtloſe Lebendigkeit. Weisheit, Tugend, Kraft,
iſt nirgends abſtract, exiſtirt nirgends, als in weiſen,
tugendhaften, maͤchtigen Subſtanzen! nirgends, als
in ſichtbaren, ſpuͤrbaren, vermittelſt koͤrperlicher Werk-
zeuge, wenigſtens nicht ohne dieſelben, erkennbaren
Weſen. Wie viel weniger Schoͤnheit!
„koͤnnte wohl, ſagt er, den Gott des Tages ſowohl
„ſo ſtark, als auch ſo ſchoͤn characteriſiren, daß es
„in einer Bildſaͤule ausgedruͤckt werden koͤnnte, als
„eine vorzuͤgliche Geſchwindigkeit, und eine edle
„Schoͤnheit? und wie poetiſch bezeichnet nicht die
„Handlung, in welcher er vorgeſtellet iſt, wie er
„naͤmlich fluͤchtig vorwaͤrts tritt und ſeinen Pfeil ab-
„zuſchießen ſcheinet, wenn anders der Pfeil die Son-
„nenſtralen bedeuten kann, die Geſchwindigkeit. Dieſe
„kann wenigſtens eben ſowohl vorausgeſetzt werden,
„als die gemeine Meynung, daß er den Drachen Py-
„thon toͤdtet, welches ſich gewiß ſehr uͤbel zu ſo einer
„aufgerichteten Stellung, und zu einem ſo guͤtigen
„Anſehen ſchicket. — — Die von dieſer Bildſaͤule
„gegebenen Nachrichten machen es ſo ſehr wahrſchein-
„lich, daß ſie den großen Delphiſchen Apollo vorſtel-
„let, daß ich fuͤr meinen Theil nicht dran zweifle, daß
„es ſo iſt.“ Hogarths Zergliederung der Schoͤn-
heit. S. 71.
daß es beſſer ausgedruͤckt waͤre: „Verachtung ſchwebt
„zwiſchen ſeinen Lippen.“ Die mittlere Linie, die
aus der Lage und dem Verhaͤltniß bey den Lippen ent-
ſteht, druͤckt, wie ich ſicher bemerkt habe, hohe goͤtt-
liche Verachtung aus. Mithin iſt das Urtheil Ho-
garths, der weder das Original geſehen hat, noch ei-
nen Abguß geſehen zu haben ſcheint, nicht richtig.
Es iſt wahr: Verachtung iſt nur zwiſchen den Lippen,
wenn ſie von vorne unter hochherabfallendem Lichte
angeſehen werden. Sonſt iſt im ganzen uͤbrigen Ge-
ſichte keine Spur von Verachtung, — weil dieß der
Schoͤnheit wuͤrde geſchadet haben, und dieſer opferten
die Alten alles auf. „Kein Ausdruck iſt bey den Al-
„ten ſo ſtark, daß er der Schoͤnheit ſchadet. Sie ſind
„uͤberhaupt nicht der Natur, ſondern dem Jdeal ge-
„folget. Alles, was einen beſondern Menſchen anzei-
„get, wurde von ihnen verworfen.“ Sulzers allgem.
Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte. Art. Antik.
eine de Phyſiognomia, die verſchiedenes Leſenswuͤr-
diges enthaͤlt, obgleich ſie ſehr mangelhaft iſt. Es
iſt die XIII. S. 461. T. V.
\& 458. 59.
nem entfernten Ort iſts geſchehen, daß zu etwa 10 Ta-
feln dieſes Werkes ſchlechter Papier genommen worden.
Es geſchahe zum groͤßten Verdruſſe des unſchuldigen
Verfaſſers und Verlegers. Man bittet deswegen um
Nachſicht und Vergebung.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Lavater, Johann Caspar. Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn49.0