Cogitat, ut speciosa dehine miracula promat,
Antiphatem, Seyllamque et cum Cyclope Charybdim.’
(Horatius.)
Verlag von J. E. Schaub.
1839.
[[II]][[III]]
Inhalt
des erſten und zweiten Theils.
Erſter Theil.
Erſtes Buch.
Muͤnchhauſen’s Debuͤt.
Eilftes Capitel.
- Seite
- Worin der Freiherr ſeinen Abſcheu vor dem Laſter
des Lügens nicht allein ausſpricht, ſondern
auch bethätigt 3 - Zwölftes Capitel.
Der Freiherr bringt zwar die angefangene Ge-
ſchichte nicht zu Ende, handelt aber von andern
außerordentlichen Dingen 16 - Dreizehntes Capitel.
Der Freiherr beginnt eine hiſtoriſche Novelle von
ſechs verbundenen Kurheſſiſchen Zöpfen zu er-
zählen, wird aber von dem Ausbruche der Ver-
zweiflung bei dem Schulmeiſter Ageſilaus unter-
brochen und verſpricht geordnetere Mittheilungen 26 - Vierzehntes Capitel.
Die angefangene hiſtoriſche Novelle kommt glück-
lich, wenn auch auf unerwartete Weiſe zu Ende 41 - Seite
- Fünfzehntes Capitel.
Zwei Zuhörer ſind in ihren Erwartungen ſo ge-
täuſcht, wie die Leſer, der dritte Zuhörer fühlt
ſich dagegen höchſt befriedigt. Der Freiherr
theilt einige dürftige Familiennachrichten mit 67 - Eine Correſpondenz des Herausgebers mit ſeinem
Buchbinder 86 - Erſtes Capitel.
Von dem Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr und
ſeinen Bewohnern 98 - Zweites Capitel.[figure]118
- Drittes Capitel.
Weitere Nachrichten von dem alten Baron und
ſeinen Angehörigen 124 - Viertes Capitel.
Die blonde Lisbeth 129 - Fünftes Capitel.
Der alte Baron wird Mitglied eines Journal-
Leſecirkels 137 - Sechstes Capitel.
Wie der Dorfſchulmeiſter Ageſel durch eine deut-
ſche Sprachlehre um ſeinen Verſtand gebracht
wurde und ſich ſeitdem Ageſilaus nannte 145 - Seite
- Siebentes Capitel.
Der Freiherr von Münchhauſen wird auf den
Boden dieſer Geſchichten geſchleudert 161 - Achtes Capitel.
Handelt von dem Bedienten Karl Buttervogel,
und von der freundlichen und ehrenvollen Auf-
nahme, welche der Freiherr von Münchhauſen
im Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr fand 182 - Neuntes Capitel.
Verſtändniſſe und Mißverſtändniſſe, Sehnſucht,
Orden, Geſinnungen und Ehrenſtellen; Görres
und Strauß; die Pücelle d’Orleans, Zeichen,
Wunder und neue Geheimniſſe 190 - Zehntes Capitel.
Das kürzeſte Capitel dieſes Buches nebſt einer
Anmerkung des Herausgebers 221 - Sechszehntes Capitel.
Warum der Freiherr von Münchhauſen grün an-
lief, wenn er ſich ſchämte oder in Zorn gerieth 216 - Siebenzehntes Capitel.
Die drei Schloßbewohner ertheilen dem Freiherrn
von Münchhauſen vernünftigen Rath; er aber
bleibt auch für den Bedienten Karl Buttervogel
theilweiſe ein Räthſel 239
[VI]
Zweites Buch.
Der wilde Jaͤger.
Erſtes Capitel.
- Seite
- Der Hofſchulze 253
- Zweites Capitel.
Rath und Antheil 267 - Drittes Capitel.
Der Oberhof 289 - Viertes Capitel.
Worin der Jäger einem Menſchen, Namens
Schrimbs oder Peppel ſeinen Begleiter nachſen-
ſendet und ſelbſt auf den Oberhof kommt 299 - Fünftes Capitel.
Der Jäger verdingt ſich zum Wildſchützen, und des
Abends erzählen Knechte und Mägde die Ergeb-
niſſe ihres Nachdenkens über die moraliſchen
Sprüche 311 - Sechstes Capitel.
Der Jäger ſchreibt an ſeinen Freund Ernſt im
Schwarzwalde 323 - Seite
- Siebentes Capitel.
Worin der Jäger dem Hofſchulzen eine alte Ge-
ſchichte von ſeinen Eltern erzählt 348 - Achtes Capitel.
Worin der Hofſchulze eine dreifache Moral aus
der Geſchichte des Jägers zieht 366 - Neuntes Capitel.
Der Jäger erneuert eine alte Bekanntſchaft 375 - Zehntes Capitel.
Von dem Volke und von den höheren Ständen 395 - Eilftes Capitel.
Die fremde Blume und das ſchöne Mädchen. Die
gelehrte Geſellſchaft 409 - Zwölftes Capitel.
Brief und Antwort 432 - Dreizehntes Capitel.
Der Jäger ſchießt und trifft 441
[VIII]
Zweiter Theil.
Drittes Buch.
Acta Schnickschnackschnurriana.
- Seite
- Erſtes Capitel.
Gegenſeitige Offenheiten 3 - Zweites Capitel.
Der Autor giebt einige nothwendige Erklärungen 13 - Drittes Capitel.
Blätter aus Emerentia’s Tagebuche 19 - Viertes Capitel.
Blätter aus dem Tagebuche eines Bedienten 37 - Fünftes Capitel.
Der Autor fährt fort einige nothwendige Erklä-
rungen zu geben 45 - Sechstes Capitel.
Die Ereigniſſe eines Abends und einer Nacht 59 - Siebentes Capitel.
Warum der Schulmeiſter ſägte und warum der
alte Baron rumorte 82 - Achtes Capitel.
Rechtsfälle und Auseinanderſetzungen 91 - Seite
- Neuntes Capitel.
Der Freiherr von Münchhauſen beginnt einen
Heroismus im Erzählen zu entfalten 104 - Ich.
Fragment einer Bildungsgeſchichte 111 - Zehntes Capitel.
Die Geſellſchaft des Schloſſes beginnt ſich in ihre
Elemente aufzulöſen 218
Viertes Buch.
Poltergeiſter in und um Weinsberg.
- I. Das Juliusſpital und die beiden alten Weiber 235
- II. Erſte Ankündigungen einer höheren Welt 241
- III. Der magiſche Schneider 249
- IV. Der Gergeſener. Die innere Sprache. Das
Examen rigoroſum 254 - V. Himmel und Hölle zögern anfangs zu Weins-
berg in Conflict zu gerathen 265 - VI. Die engbrüſtige Nätherin 273
- VII. Grobſchmidt oder Magiſter? — Eine Frage
an Euch, Ihr himmliſchen Mächte 279 - VIII. Der Geiſt eines Grobſchmidts mit den Er-
innerungen eines Magiſters 295 - IX. Thatſache: Die Erlöſung eines Dämons
hängt von tauſend Zufälligkeiten ab 303 - Seite
- X. Thatſache: In Gegenwart der Polizei er-
ſcheint weder Engel noch Dämon 316 - XI. Bekenntniſſe einer Sterbenden 324
- XII. Das Teſtament des Magiſters Schnotterbaum 330
Anmerkung 1. Die mir bis jetzt bekannt ge-
wordenen Leſer dieſes Werkes theilen ſich in ſolche,
welche den Münchhauſen, und in ſolche, welche den
Hofſchulzen mögen. Für die Anhänger des Letzteren,
welche im zweiten Theile leer ausgehen, die tröſtliche
Nachricht, daß wir im dritten wieder auf den Oberhof
gelangen und faſt immer darauf bleiben.
Anmerkung 2. Wo im Buche von Görres die
Rede iſt, muß geleſen werden: Herr v. Görres.
[XI]
Druckfehler des erſten Theils.
- Seite 15 Zeile 4 lies: langem ſtatt: langen.
- ‒ 24 ‒ 10 fällt das - hinter: plattirten weg.
- ‒ 36 ‒ 8 lies: Mama ſtatt: Manna.
- ‒ 83 ‒ 15 ‒ dann ſt. denn.
- ‒ 141 letzte Zeile fällt das Wort: Boan Upas weg.
- ‒ 158 Zeile 7 lies: Eurotas ſt. Eurotos.
- ‒ 174 ‒ 9 ‒ mehreren ſt. mehrere.
- ‒ 179 ‒ 4 ‒ καϑαίρω ſt. καϑείρω.
- ‒ 198 ‒ 13 ‒ dem ſt. den.
- ‒ 206 ‒ 23 ‒ Steudel ſt. Stäudel
- ‒ 247 ‒ 1 ‒ vorgaukelt ſt. vergaukelt.
- ‒ 324 ‒ 1 ‒ an der ſt. an die.
- ‒ 340 ‒ 5 ‒ Norden ſt. Norden.
- ‒ 344 ‒ 4 ‒ im ſt. des.
- ‒ 381 ‒ 5 ſetze nach ließ: ein,
- ‒ 383 ‒ 2 lies: runder ſt. runde.
- ‒ 392 ‒ 13 ſetze nach: davon ein?
- ‒ 395 ‒ 8 lies: der ſt. edr.
- ‒ 402 ‒ 19 ‒ eine ſt. einer.
Druckfehler des zweiten Theils.
- Seite 14 Zeile 15 lies: niederen ſtatt niedere.
- ‒ 31 ‒ 21 ‒ bequemen ſchriftlichen ſt. bequeme
ſchriftliche. - ‒ 37 ‒ 17 ‒ gemalte ſt. bemalte.
- ‒ 88 ‒ 23 ‒ müßiger ſt. müßige.
- ‒ 110 ‒ 4 ſetze nach: gewiſſen ein,
- ‒ 183 ‒ 9 lies: dieſen ſt. dieſem.
- ‒ 209 ‒ 24 ‒ lieben ſt. liebe.
- ‒ 262 ‒ 13 ‒ unſerer ſt. unſere.
- ‒ 321 ‒ 10 ‒ in ſt. in.
Drittes Buch.
Acta Schnickschnackschnurriana.
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 1
[[2]][[3]]
Erſtes Capitel.
Gegenſeitige Offenheiten.
Dieſe Ziegen am Helikon —
Oeta wollt Ihr ſagen —
Nein, Helikon will ich ſagen, ich habe mich
früher verſprochen. — Dieſe Ziegen am Helikon,
unter welche ich als Knäblein gerieth, hatten ehe-
dem einen Bund zur Verfeinerung ihrer Wolle ge-
ſtiftet; äußerte Münchhauſen.
Es freut mich, rief der alte Baron, daß wir
jetzt unter das Vieh kommen! Auf dieſen Punct
in Euren Hiſtorien war ich immer noch einiger-
maßen geſpannt, denn das Andere, was Ihr ſeither
vortrugt, wollte mir nicht mehr recht unterhaltend
ſcheinen — nehmt mir’s nicht übel, Mann, aber
Offenheit muß unter Freunden ſeyn.
Verſteht ſich am Rande, ſprach Münchhauſen
feierlich. Die Ziegen alſo …
Guter Meiſter, kannſt Du mir zuſichern, daß
in der Geſchichte nichts vorkommt, was mein Zart-
1*
[4] gefühl beleidiget? fiel das Fräulein ein. Sie
nannte Münchhauſen ſeit einer erhebenden Scene,
die ſich zwiſchen ihnen vor einigen Tagen zuge-
tragen hatte, Du.
Nicht das Geringſte, Diotima-Emerentia, ant-
wortete der Freiherr. Zu jener Viehart gehören
zwar der Ordnung der Natur gemäß Böcke, auch
kommen dieſe in meiner Geſchichte vor, ich werde
aber delicat ſeyn und ſie die Gatten der Ziegen
nennen. Ferner tritt ein Miſtkäfer auf, der ſoll
das Roß des Trygäos heißen; eine Schmeißfliege
flicht ſich ein — du wirſt mich faſſen, wenn ich
von der blauen Schwärmerin ſpreche.
Ich werde dich ganz faſſen, mein Meiſter,
antwortete das Fräulein mit einem ihrer unbe-
ſchreiblichen Blicke. — Ja, ſagte Münchhauſen,
darin biſt du, du, und deinen Schweſtern gleich.
Wenn nur der Bock der Gatte der Ziegen heißt,
ſo können ſie Alles anhören.
Hört, Kinder, rief der alte Baron halb ſcher-
zend, halb ärgerlich, dieſes du und du, und du du
klingt ein wenig, als wenn der Kuhhirt dutet. Ich
dächte, Ihr bliebet bei’m Sie, es iſt ein feinerer,
ſpitzerer Laut. Ich liebe dich, Renzel, und ich
[5] ſchätze Euch, Münchhauſen, deßhalb will ich für
Euch Beide klug ſeyn. Eine Mariage wäre nichts
mehr in Euren Jahren.
Mariage! rief das Fräulein und erröthete. O
wie verſtehen Sie, mein Vater, mich einmal
wieder recht gründlich miß! Sie ging aus dem
Zimmer.
Mariage! rief der Freiherr und ergrünte. Nein,
mein würdiger Altvater, befürchten Sie keine Ma-
riage. Ich könnte Ihre unſchätzbare Tochter tauſend
Jahre lang du nennen und dächte nicht an Ma-
riage. Zur Mariage gehört Amour; ich ſpüre
keinerlei Amour für meine Diotima-Emerentia.
Es iſt der Ort und iſt die Stunde, Ihnen eine
wichtige Entdeckung zu machen. Ich fühle eine
Achtung für jenes reine weibliche Weſen, die in
das Unermeßliche geht, ſie läßt ſich nur mit der
Begeiſterung Kühne’s für Theodor Mundt verglei-
chen. Wenn Emerentia nieſet, ſo iſt das für mich
ein Gedicht; aber meine Empfindungen ſtehen zu
derſelben Zeit abgeſondert, gleichſam geronnen, für
ſich, ſie haben keinen Verkehr mit der Achtung, ſie
führen ihren eigenen Haushalt; kurz, denn Offen-
heit muß ja, wie Sie ſelbſt herzlich und bieder
[6] ausſprachen, unter Freunden ſeyn — Ihre göttliche
Tochter iſt mir trotz aller Werthſchätzung, die ich
für ſie empfinde, durchaus zuwider.
Eigentlich ſollte ich das übel nehmen, ich als
Vater, ſagte der alte Baron. Aber mir liegt
hauptſächlich nur daran, daß zwiſchen Euch keine
Mariage zu Stande kommt, und deßhalb iſt es mir
lieb, daß Ihr Renzel’n nicht leiden könnt. Nennt
ſie denn alſo in Gottes Namen du. Unter uns,
heißt das, nicht vor dem Schulmeiſter. Anfangs
wärt Ihr mir als Schwiegerſohn wie eine er-
wünſchte Stütze meines Alters vorgekommen, aber
ſeit Ihr ſo manches Naturſpiel an Euch entfaltet,
hat ſich die Sache geändert. Zwar erſchrecke ich
vor nichts mehr an Euch. Wenn Ihr nach Euren
geheimen Experimenten oft verteufelt mineraliſch
riecht, wie Nenndorf, Pouhon und Aachen durch-
einander, pflege ich zu ſprechen: Thut nichts,
große Männer haben ihre Eigenheiten, und nehme
eine ſtärkere Priſe Doppelmops. Ich halte Euch
wirklich für einen großen Mann, aber — zum
drittenmale ſei es geſagt: Unter Freunden muß
Offenheit ſeyn — obſchon ich Eure Qualitäten
wahrhaft anerkenne — Ihr ſeid nach gerade für
[7] mich ein Kerl geworden, vor dem ich eine ſtille
Averſion verſpüre.
Münchhauſen’s Wangen nahmen die Farbe des
Smaragds an, die doppelfarbigen Augen zwinker-
ten zum Theil, zum Theil leuchteten ſie von Thrä-
nen. Er griff in hoher Bewegung nach der Hand
ſeines Wirthes, führte ſie an ſein Herz und rief:
Wie danke ich Ihnen für dieſes rückhaltsloſe Ge-
ſtändniß! Iſt das nicht eine andere und männ-
lichere Geſinnung, frei heraus zu ſagen, was Einer
auf dem Herzen hat, als jene altbackene Empfind-
ſamkeit und höfliche Scheu, die Schlangen im
Buſen nährt und auf die Lippen Nachtigallen ſchickt?
Kann denn nicht der deutſche Mann zum deut-
ſchen Manne ſagen: Du biſt ein Schafskopf —
und dennoch mit ihm in Ruhe und Frieden leben?
rief der alte Baron eifrig.
Kann ich Sie denn nicht für einen alten Ein-
faltspinſel halten, und nichtsdeſtoweniger Sie herz-
lich lieben? ſchrie Münchhauſen.
Bruder! ſchluchzte der alte Baron und fiel
ſeinem Gaſte um den Hals, Gott ſoll mich ver-
dammen, wenn deine Geſellſchaft mir nicht von
Herzen abſchmeckend zu werden anfängt. Ich meinte,
[8] du würdeſt mir die Journale erſetzen, aber du
kommſt mir nach und nach alberner vor als irgend
ein Journal.
Glaubſt du denn, Bruder, verſetzte der Frei-
herr und gab ſeinem Wirthe einen Kuß, daß ich
eine Stunde länger bei dir und bei deiner ſchrumpf-
lichten Tochter vergähnen würde, wenn ich nur
irgendwo anders Obdach und etwas zu beißen und
zu brechen hätte?
Die bewegten beiden Männer lagen einander
lange ſprachlos in den Armen. Zuerſt erhielt der
Wirth nothdürftig ſeine Faſſung wieder und ſtam-
melte: Mein Bruder alſo?
Dein Bruder! flüſterte der Gaſt —
Und in des Worts verwegenſter Bedeutung!
Der Schulmeiſter trat ein. Die neuen Freunde
wiſchten ihre Augen, der Schulmeiſter aber ſagte:
Das gnädige Fräulein läßt anfragen, ob, wenn ſie
wiederkomme, keine Anſpielungen, die ihr unan-
genehm wären, weiter vorfallen würden? Ihr
Vater ſandte den Boten mit der beruhigendſten
Erklärung hinaus, welcher die Nachricht hinzuge-
fügt wurde, daß nichts als die größte gegenſeitige
Offenheit im Zimmer herrſche.
[9]
Als das Fräulein, noch eine leichte Röthe auf den
Wangen, erſchien, ging ihr Münchhauſen entgegen,
küßte, wie er pflegte, ihr die Hand und ſagte
ernſt: Keine Mariage, meine Diotima-Emerentia!
Keine Mariage, mein Meiſter, erwiederte das
Fräulein in würdiger Haltung.
So ſtanden die beiden jungen Leute ohne Liebes-
und Heirathsgedanken einander gegenüber; ihre
Hände blieben verbunden. Der Vater trat zwi-
ſchen ſie, legte ſeine Rechte, wie ſegnend auf die
verbundenen Hände, blickte gen Himmel und rief:
Nie in dieſem Leben eine Mariage!
Die Rührung des Abends war groß. Der
Ziegen am Helikon wurde nicht weiter gedacht.
Keine der drei Perſonen, welche auf dem Wege
der Offenheit einander ſo nahe gerückt waren,
mochte einen Biſſen in den Mund nehmen. Der
Schulmeiſter, welcher nichts von dem ganzen Her-
gange begriff, aß Alles auf.
Von den tiefſinnigen Bemerkungen, welche Münch-
hauſen an dieſem Abende mittheilte, hat die Ge-
ſchichte folgende bewahrt.
Die Zeit verlangt Wahrheit, die ganze Wahr-
heit, nichts als die Wahrheit. Es muß noch dahin
[10] kommen, daß Keiner dem Andern eine Ohrfeige
übel nehmen darf, wofern Letztere nur aus einer
theuren Ueberzeugung entſprang. Kein Briefge-
heimniß, kein Hausgeheimniß! Alle dieſe obſoleten
Begriffe müſſen fallen! Alles muß öffentlich ſeyn!
Die Spalten der Zeitungen dürfen ſich ſelbſt den
Beobachtungen über die Vorgänge des Orts, wohin
Niemand ſchicken zu können Kaiſer Karl der Fünfte
bedauerte, nicht verſchließen.
Was für ein Ort iſt dieſer, mein Meiſter?
fragte das Fräulein.
Er heißet auf Ebräiſch Gehenna, verſetzte der
Freiherr.
Ah ſo, ſagte das Fräulein und that, als ob
ſie Münchhauſen verſtehe.
Dieſer fuhr fort: Alles muß öffentlich ſeyn für
das neue prieſterliche Geſchlecht der Wahrheit!
Gott der Herr hat zwar Herz und Hirn unter
Hüllen von Knochen, Häuten und Fleiſch geſetzt,
und deßhalb meinte die Menſchheit lange Zeit, ſie
dürfe Manches, was Herz und Hirn ihr beſchäf-
tige, unter Hüllen verwahren, aber ſie hat im
Irrthum geſtanden, es iſt ein Verſehen bei der
Schöpfung vorgefallen. Bruſt und Kopf ſollten
[11] eigentlich mit Glasſchiebern erſchaffen werden, was
nur damals im Drange der Geſchäfte überſehen
worden iſt. Ich weiß dieſes von Noſtradamus,
den ich kürzlich ſprach, und der es von Gott un-
mittelbar hat.
Wer iſt Noſtradamus? fragte der alte Baron.
Ein emeritirter Profeſſor der Naturgeſchichte
zu Leyden, antwortete der Freiherr, nahm ein Licht
und empfahl ſich.
Nach Münchhauſen’s Abgange ſagte das Fräulein
zu ihrem Vater: Damit nie wieder eine Anſpielung
der Art, wodurch ich heute aus dem Zimmer ge-
ſcheucht ward, verlaute, bin ich im Begriff, Ihnen,
mein Vater, ſobald der Herr Schulmeiſter ſich ent-
fernt haben wird, eine große Eröffnung zu thun.
Der Schulmeiſter ging und murmelte: Ich werde
heute meinen Entſchluß faſſen. Der alte Baron,
welcher eigenen Gedanken nachhing, hörte auf ſeine
Tochter nicht hin, ſondern verließ mit den Worten:
Es iſt eine Scheidewand gefallen und ich werde
mir nun Licht ſchaffen; das Zimmer.
Emerentia hatte ſich — wie ſie ſagte, aus weib-
licher Schamhaftigkeit, und um den Blick des Vaters
zu meiden — mit dem Antlitze der Wand zugekehrt,
[12] als ſie ſich anſchickte, die große Eröffnung zu thun.
Sie bemerkte daher den Abgang ihres Vaters nicht
und ſprach eine geraume Zeit die tiefſten Herzens-
angelegenheiten der tauben Wand gegenüber aus,
bis ſie, hingeriſſen von ihrem Feuer, ſich plötzlich
umwendete und ſah, daß es ihr an einem Hörer
fehle und, wie ſie nun vermuthen mußte, immer
gefehlt habe. Da blieb ihr das Wort zwiſchen den
Lippen haften und der Reſt ihrer Eröffnung im
Herzen ſtocken; ſtumm und verdrießlich ſuchte ſie
ihr Lager auf.
[13]
Zweites Capitel.
Der Autor giebt einige nothwendige
Erklärungen.
Die Geheimniſſe des Schloſſes, welches ich auch
wohl fernerhin Schnickſchnackſchnurr nennen muß,
weil ich ihm, wie Vielem, was in dieſer Geſchichte
vorkommt, leider nicht den rechten Namen geben
darf — die Geheimniſſe des beſagten Schloſſes,
ſage ich, nicht über die Gebühr undurchdringlich zu
machen, muß hier theilweiſe berichtet werden, was
die drei handelnden Perſonen mit ihren Reden ge-
meint hatten.
Münchhauſen war nicht ſobald auf der Stamm-
burg derer von Schnuck-Puckelig Erbſenſcheucher in
der Boccage zum Warzentroſt warm geworden, als
ſeine Anweſenheit in dem Gemüthe des Barons,
ſeiner Tochter und des Schulmeiſters große und
verſchiedenartige Bewegungen hervorbrachte, wie denn
[14] ein bedeutender Menſch niemals in einen Kreis
tritt, ohne daß von ihm in den Verhältniſſen des
Kreiſes Umwandelungen ausgehen. Der Kreis
unſeres Schloſſes hatte ſich bis zu Münchhauſen’s
Ankunft von ſeinen leidenſchaftsloſen Einbildungen
ſtill ernährt, es fehlte aber viel, daß dieſer idylli-
ſche Zuſtand ſeitdem noch fortdauerte, vielmehr
wurden die drei Akademiker von Schnickſchnackſchnurr
in entzücktem Herzklopfen, brennender Neugier und
ernſter Selbſtbetrachtung umgetrieben.
Emerentien war das entzückte Herzklopfen zu-
gefallen.
Sie hatte Rucciopuccio’n, den Birmanen aus
Siena, der eigentlich der Prätendent von Hechel-
kram war, durch alle niedere Hüllen hindurch,
welche Laune oder tiefberechnete Abſicht ihn anzu-
legen getrieben, erkannt. Das Herz der Frauen
iſt in ſolchen Dingen ein ſicherer Wegweiſer; Da-
majanti ſah dem Wagenlenker des Königs Ritu-
parna ſofort an, daß in ihm ihr Gatte Nala die
Peitſche ſchwinge, Theodolinde von Baiern merkte
gar bald, als ſie dem angeblichen Freiwerber den
Becher kredenzte, daß er ihr beſtimmter Bräutigam
Autharit, König von Lombardien ſei, und es währte
[15] nicht lange, ſo wußte Emerentia, woran ſie mit
— dem Bedienten Karl Buttervogel war.
Erſchreckt nicht, meine Theuren! Die Sache hatte
ſich ganz natürlich zugetragen, nämlich folgendermaßen.
Anfangs war die Geſtalt des ſo ſehnlich zurückerwar-
teten Geliebten wie ein Traumbild vor ihr auf und
nieder gewallt, nach und nach hatte das Traumbild
beſtimmte Züge angenommen, endlich wich jeder Zwei-
fel und machte der gewiſſeſten Gewißheit Raum.
Denkt an Emerentien’s Bewegung, als die bei-
den Fremdlinge die Burg ihrer Väter betraten, als
aus dem Munde des Dieners die verhängnißvollen
Worte: Blumenhut und Lauferſchurz, erklangen, als
der Diener ſelbſt mit dem improviſirten Blumen-
hute und Lauferſchurze vor ihr ſtand! War ihrem
Geiſte nicht ſeit ſo vielen Jahren der Laufer als
Vorläufer des Fürſten von Hechelkram erſchienen?
Da ſtand nun ein Laufer vor ihr, das bunte Ta-
ſchentuch als Schurz um die Hüfte gewunden, den
Strauß von Feldblumen am Hute, kein gewöhn-
licher gemachter Laufer, nein, ein unwillkührlich
zuſammengefügter, ein Schickſalslaufer!
Es durchzuckte ihr Herz. Wenn ſie in dieſem
Augenblicke den Wink der himmliſchen Mächte nicht
[16] begriffen hätte, ſo würde ſie ſich ſelbſt haben ver-
achten müſſen. Aber vorſichtig, Emerentia, flüſterte
ſie dem pochenden Herzen zu, vorſichtig, daß die
letzte Täuſchung nicht die ſchlimmſte werde!
Sie richtete jene tiefſinnig prüfenden Fragen
an Münchhauſen, welche er ſo wenig verſtand, als
die unglücklichen Leſer des erſten Theils dieſer Ge-
ſchichten ſie werden verſtanden haben. Münchhauſen
aber gab ihr darauf die befriedigendſten Antworten.
Jetzt war ſie verſichert, daß ihr durch Blumenhut
und Schurz die Erſcheinung des Fürſten von Hechel-
kram angekündiget worden ſei. Aber wo, wo weileſt
du? fragte ihre ſehnſüchtige Seele.
Münchhauſen begann zu erzählen, ein Tag nach
dem andern verſtrich, Rucciopuccio blieb unſichtbar.
Ihr Gemüth litt unter der unruhigen Erwartung.
Endlich faßte ſie ſich ein Herz (was wagt nicht ein
liebendes Weib?) und ſchüchtern ſagte ſie zu dem
Diener Karl Buttervogel eines Tages, gerade als
ſie ihn den Rock Münchhauſen’s ausklopfend fand:
Karl, ſein Sie wahr gegen mich! Wo weilt der
Größere, in deſſen Dienſte Sie eigentlich ſtehen?
Karl Buttervogel ließ den Klopfſtock ſinken,
riß die Augen auf, ſpuckte, wie gemeine Leute bei
[17] Verlegenheiten zu thun pflegen, aus, und ſagte:
Mich ſoll der Teufel holen, wenn mein Herr größer
iſt, als ich, und ich kenne keinen Größeren, und
mit meinem Dienen hat es zum längſten gewährt.
Wie? fragte das Fräulein in höchſter Spannung.
Denn dieſe Condition gefällt mir nicht, und ich
werde mich bald auf meine eigene Hand ſetzen,
fuhr Karl Buttervogel fort.
Was? rief das Fräulein, von einem überwäl-
tigenden Gedanken erſchreckt. Sie wankte und war
einer Ohnmacht nahe. Münchhauſen, dem der Die-
ner mit dem Rocke zu lange machte, kam in Hemd-
ärmeln die Treppe heruntergeſtolpert und fing die
Freundin auf. Schlingel, was trödelſt du wieder?
Lauf jetzt und hole Eſſig für das gnädige Fräulein!
rief er Karl’n zu. Dieſer verſetzte trotzig: Ich
bin kein Schlingel, denn Sie geben mir keinen
Lohn, aber Eſſig thue ich holen aus Barmherzig-
keit. — Münchhauſen, flüſterte Emerentia in den
Armen des Freiherrn, Sie ſehen mich in meinem
Schmerz und zeigen mir ein menſchlich Herz. Schmerz
nenne ich dieſe Stimmung, denn auch das Ueber-
maaß der Freude kann wehe thun. Ich bin in
einer unausſprechlichen Verfaſſung und beſchwöre
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 2
[18] Sie, mir zu ſagen: Sind Sie und Ihr Karl die
Vorläufer Jemandes, oder ſind Sie … Münchhau-
ſen fuhr ſeltſam zuſammen, zitterte mit den Naſen-
flügeln, ſah ſich ſcheu um, ließ Emerentien nicht
ausreden, ſondern ſtotterte haſtig: Was Vorläufer?
Laſſen Sie ſich doch nichts in den Kopf ſetzen,
meine Diotima. Gott verdamme mich, wenn uns
Jemand nachgelaufen kommt. Wir ſind da, ich und
mein Taugenichts von Bedienten, und man muß
uns nehmen, wie wir ſind, und nicht wähnen, daß
noch ein Anderer uns folge und hier auf dem Schloſſe
ankommen könne.
Alſo iſt es klar und entſchieden, mein Glück!
rief das Fräulein. Der Bediente Karl Buttervogel
kam mit Eſſig. Emerentia ſpreche ſich und ihr
Glück jetzt ſelbſt aus.
[19]
Drittes Capitel.
Blätter aus Emerentia’s Tagebuche.
„Was Vorläufer! Es kommt uns Niemand
nachgelaufen“ — und: „Ich kenne keinen Größeren,
dieſe Condition gefällt mir nicht, ich ſetze mich auf
meine eigene Hand.“ — So hat denn alſo des Schick-
ſals Zeichen Recht. Blumenhut und Lauferſchurz
deuten nicht in die ungewiſſe Ferne, nein, in der
nächſten Nähe hält ſich, den meine Seele ewig lie-
ben wird, mein Fürſt, mein Freund, der Birmane
von Nizza! Nach langen Prüfungsjahren ſchlägt die
Stunde der Wiedervereinigung, die Augen meines
Freundes ſuchen mich unter den Töchtern von Zion,
und Sulamith ſchläft nicht, die Taube. Niemanden
ſendet er voraus, „gleich kommt er ſelbſt, er iſt im
Schloſſe, denn es läuft ihm ja Niemand nach“ —
er iſt da, denn „er kennt ja keinen Größeren.“ —
Glückliche Emerentia!“
2*
[20]
Aber welcher von Beiden iſt’s? — Iſt’s der
Freiherr, oder biſt du es, Karl? Hier prüfe, hier
ſei bedachtſam, hier zeige deinen ganzen Scharfſinn,
Herz! —
Ach, das Herz iſt ſtumm. Münchhauſen und
Karl ſind mir beide gleichgültig. Das iſt nun
herrlich für die ferneren Beſchlüſſe des Geſchicks,
da ich dem Fürſten nur Freundin im reinſten Sinne
des Worts ſeyn will, aber übel für den Augenblick.
Denn ich erkenne den Plan des Prätendenten
von Hechelkram. Unter der Verkleidung will er
ſeine Emerentia erforſchen, und wie herrlich würde
ſie ihre Aufgabe löſen, wenn ſie plötzlich vor den
Wahren träte und ſpräche: Fürſt, ſie ſind erkannt;
Liebe ſieht mit Adlersblicken, Treue hält, was ſie
gefaßt, theuren Hauptes leiſeſtes Nicken kündet
den erſehnten Gaſt!
Daß mir Beide ſo gleichgültig ſind! — Eigen-
artige Qual, ſeltſame Verwirrung, feſtgeſchürzter
Knoten!
[21]
Ich glaube, der Freiherr iſt’s. Wir ſtanden
heute am Entenpfuhl, friedlich fiſchte das Gefieder
nach dem grünen Flott zu unſern Füßen, ein er-
quickender Landregen fiel ſanft vom grauen Him-
mel, der Freiherr erzählte mir eine ſeiner ſinnigen
Geſchichten, wie er vorlängſt durch ein Senfpflaſter,
auf das Haupt gelegt, und deſſen Ziehkraft ſich
ein ausgefallenes Bein wieder eingerenkt habe —
mein Buſen wurde ſo weit, mir wurde ſo wohl
und ſo weh, ſo — ſo —
Dumme Störung! Da werde ich gerufen, um
Speck auszugeben. Wo die Lisbeth nur bleibt, die
Landſtreicherin, das unnütze Geſchöpf? Kommt ſie
wieder, ſoll ſie es entgelten.
Nein! Nein! Nein! Das Geheimniß ward
offenbar, Karl iſt Rucciopuccio! Da ſitze ich in
der tiefen Stille der Mitternacht auf meiner ein-
ſamen Kammer und vertraue Euch ſtummen Blättern
die wunderſame Poſt. Ja, wunderſam muß ich
wohl dieſe Fügung nennen, welche zum zweitenmale
den Nußknacker entſcheidend in mein Leben blicken
läßt.
[22]
Ich ſtand heute in der Frühe ſchon mit einer
Fülle von Ahnungen von meinem Lager auf. Die
Strümpfe ſahen mich ſo bedeutend an, in den
Pantoffeln war ein ſtilles Weſen und Weben, die
lange Schnuppe des Nachtlichts, welches herabge-
brannt war, wies tiefſinnige Figuren. Iſt es mir
doch einmal beſtimmt, daß nichts gewöhnlich um
mich ſeyn kann, bin ich doch in allen meinen Tagen
das Spielwerk dunkler, hoher Mächte geweſen!
Mein Haupt war wirr und wüſt! Ich ſtieß
das Fenſter auf, die glühende Wange im Morgen-
winde zu kühlen. Von Nizza hatte ich in der Nacht
geträumt, vom Meer, von den Alpen. Die beiden
Juden hatte ich auf dem höchſten Gipfel geſehen,
die mich nach der ſchrecklichen Kataſtrophe den El-
tern brachten. Sie ſtanden in einer Glorie von
Sonnenſtrahlen, hatten Schmerz in den Zügen,
und ich hörte den Einen zum Andern ſagen: Daß
man uns gemacht hat zu guten Staatsbürgern, das
iſt die Trauer von unſren Leuten in der Gegen-
wart, woraus ſie malen Bilder und ſchreiben Verſe.
Die alte Zeit, die alte Zeit war beſſer, Jakob,
wo wir ’rum liefen, wie unſre Väter in der Wüſte
Sin, die da lieget zwiſchen Elim und Sinai.
[23]
Ein bedeutender Traum, ein prophetiſcher Traum!
Was weiß ich von der Wüſte Sin, die da lieget
zwiſchen Elim und Sinai? Im Traume lernte ich
dieſe ebräiſchen Namen; die höhere Hand wollte
mir einen Wink geben: Siehe, ich bin da und
werde wirken ein Wunder in deiner Nähe.
Ich ſah zum Fenſter hinaus.
Karl trat unten in den Hof. Himmeltauſend
Sacrament! rief er, kriege ich heute wieder nichts
zu freſſen? — Entſetzliche Ausdrücke für das Ta-
gebuch eines zarten Mädchens! aber ich muß ja
Alles treu mit den kleinſten Zügen berichten.
Der Laut jener Worte brachte mir alte Erin-
nerungen zugetragen. Wie aus weiter Ferne drang
es, gleich der Stimme, die mir einſt lieb war, in
das Ohr! Dieſe ſonderbare Aehnlichkeit der Töne,
das Fluchen — der Fürſt pflegte auch bisweilen
zu fluchen, doch bediente er ſich mehr der ſoge-
nannten ſchweren Angſt — mein Traum von Nizza,
die trauernden Juden, die Wüſte Sin, die Zeichen
am Nachtlicht, das Pantoffelweſen, die bedeutenden
Strümpfe — — —
Karl ſetzte ſich auf einen Stein im Hofe, ſagte:
Ich muß ’mal in den Taſchen ſuchen — ſuchte in der
[24] linken Jackentaſche, rief: Na, wenigſtens noch ein
Paar alter, überjähriger Nüſſe gegen das Verhun-
gern — griff in die andere Taſche, zog daraus
hervor — — —
Ich hielt mein Herz mit bebender Hand, ging
in die Speiſekammer und ſchnitt für Karl’n ein
Butterbrod — — —
Ich kann nicht weiter ſchreiben — die Erinne-
rung überwältigt mich — meine Pulſe fliegen — —
Ich bin ruhiger. Geſtern ſchwamm der Segen,
der mir geworden, ein buntverwirrender Farben-
ſchimmer vor meinen Augen, heute hat er ſich zum
entzückenden Landſchaftsbilde auseinandergeſetzt, in
welchem jeder Baum ſpricht: Mein Schatten gehört
dir, und die gemalte Quelle flüſtert: Schweſter,
ruhe an meinem Borde!
Ich trat mit dem Butterbrode leiſe hinter Karl
Buttervogel. Zum letztenmale ſtehe der Name in
den Blättern! Er hatte mich nicht kommen hören
und knackte ruhig mit dem Inſtrumente, welches
er aus der rechten Jackentaſche gezogen hatte, ſeine
Nüſſe auf.
[25]
Ich ſah ihm über die Schulter. Aber ach! da
wankten meine Kniee, ich ließ das Butterbrod fal-
len, Karl ließ den Nußknacker fallen, ich hob den
Nußknacker auf und Karl hob das Butterbrod auf!
Ich drückte den Nußknacker an meine Lippen. Er
war es, er war es! — Der alte, treue Knacker,
die erſte, auf Rucciopuccio hindeutende Liebe! O
ihn, ihn hatte ich gleich erkannt. Und hätte ich
ihn denn auch verkennen können? des Menſchen
Antlitz und Geſtalt wandelt ſich leider mit den Jah-
ren, ein Nußknacker bleibt, was er war.
Ach, bitter-ſchmerzlich war dennoch dieſes Wie-
derſehen! Das theure Heiligthum meiner Jugend
ſah mich an, wie eine Ruine. Von dem Roth der
Uniform war der brennende Glanz gewichen, die
Farbe der Unterkleider ließ ſich kaum noch erkennen,
erloſchen waren die ſchönen, grellblauen Augen, der
Mund hatte durch das beſtändige Knacken ſeine beſte
Kraft verloren, einen Hut trug er kaum noch, nur den
Schnurrbart hatte die Mißgunſt der Zeiten verſchont;
er hing ſchwarz und voll wie in jenen goldenen
Tagen über den alt und müde gewordenen Lippen.
Ein Strom von Thränen befreite die Bruſt.
Dann faßte ich mich und dachte an mich und mein
[26] Geſchick. Karl hatte das Butterbrod verzehrt und
ſah mich groß an. Gelt, rief er (ich muß ja ſeine
eigenen Worte brauchen) das iſt ein närriſcher
Kerl? — Ich habe den Schurken einmal vor vielen
Jahren in einem italiäniſchen Badeneſt auf’m Keh-
richt hinter’m Hauſe gefunden. Ich ſteckte ihn zu
mir und brauche ihn ſeitdem fortwährend, und der
Racker (ich erliege faſt der Qual ſolche Worte zu
ſchreiben) iſt immer noch ganz. Dazumal diente
ich bei vierzehn Berliner Edelleuten, die das Bad
brauchten und ſich zuſammen einen Bedienten hielten.
Fürſt, ſagte ich ernſt und gehalten, ver-
ſtellen Sie ſich nicht länger. Weder Ihre Bedien-
tenjacke noch die ſcheußlichen Ausdrücke, zu denen
Sie Ihre edeln Lippen zwingen, um unerkannt zu
bleiben, täuſchen mich ferner. — „Was Vorläufer!
Es kommt uns Niemand nachgelaufen,“ und: „Ich
kenne keinen Größeren,“ die bedeutenden Strümpfe,
das Pantoffelweſen, die Zeichen an der Schnuppe
des Nachtlichts, mein Traum von Nizza, die trau-
ernden Juden, die Wüſte Sin, die da lieget zwi-
ſchen Elim und Sinai, das waren ſchon Symbole,
welche nicht trügen konnten. Nun die Melodie
Ihrer Stimme, Ihr Fluch, jetzt gar der geliebte
[27] Nußknacker in Ihrer Hand, und endlich, daß Sie
von dem Kehricht wiſſen und von der finſtern That
meiner verklärten Mutter, welche Nußknacker’n in
jenes Elend verſtieß — — alles Das — — mein
Gott, läugnen Sie doch nicht weiter, häufen Sie
nicht unnütze Qual auf ein armes Mädchen, die
immer Ihrer werth geblieben iſt! Sein Sie gut
und liebevoll, laſſen Sie die Maske fallen und
ſprechen Sie: Emerentia, ja, ich bin es.
Was ſoll ich denn ſeyn? rief er. Ich bin kein
es. Ich bin, was ich bin — Donnerwetter!
Seine rauhe Feſtigkeit machte mich doch einen
Augenblick wieder zweifelhaft. Wenn Sie es nicht
ſind, ſagte ich entſchloſſen, ſo iſt es Ihr Herr, denn
Einer von Ihnen Beiden muß es ſeyn.
Ich wollte gehn. Karl hielt mich aber am
Kleide zurück. Mein Mittel hatte gewirkt. Ich
ſehe wohl, ſagte er, daß es Ihnen ein Ernſt iſt,
wenn ich es bin. Alſo wollte ich Sie nur fragen,
was daraus wird, wenn ich es bin?
Wenn Sie es ſind, verſetzte ich, ſo bin ich Ihre
Freundin im reinſten Sinne des Worts. Mein
ganzes bisheriges Leben war eine Vorbereitung auf
dieſen großen Moment. Gnädigſter Herr! In den
[28] Blüthentagen der Jugend opferten wir der Leiden-
ſchaft auf dem Altare unſerer Herzen! Für dieſes
Opfer iſt uns der Weihrauch ausgegangen. Aber
der Altar blieb ſtehen; laſſen Sie uns auf dem-
ſelben der Freundſchaft ein Opfer entzünden, für wel-
ches ich ewig, Ihnen gegenüber Vorrath beſitzen werde.
Karl kratzte ſich im Kopfe (der Ungeheure! ſo
that er) und ſagte: Ich denke nur immer noch,
Sie haben mich bloß zum Beſten. Indeſſen aber
will ich’s verſuchen, und wer mich anführt, den
ſoll der Teufel holen. Das heißt alſo, Sie ſind
meine Freundin, heißt nämlich, wenn Sie meine
Freundin ſind, ſo müſſen Sie auch dafür ſorgen,
daß ich mehr zu eſſen und zu trinken kriege. Wenn
Sie auf dieſe Manier meine Freundin ſind, ſo will
ich’s ſeyn. Dann ſehen Sie nur gleich heute zu,
daß ich einmal ein rechtſchaffen Stück Fleiſch kriege.
Er ſpielte fürchterlich mit mir. Daß er ſeinen
wilden Humor ſelbſt in dieſem großen Momente
nicht ablegte! O Männer, Männer, wie geht Ihr
mit uns um! — Eine Luſtigkeit der Verzweiflung
ergriff mich, und in den Bahnen ſeiner ausſchwei-
fenden Laune ihm folgend, rief ich: Sie ſollen heute
zwei Pfund Rindfleiſch haben!
[29]
Das erſchütterte ihn. Er ſah mein Leiden,
welches durch den Scherz ſchauerte. Thränen traten
in ſein Auge, er ſagte: Sie ſind doch ſehr gut,
und ich bin’s denn alſo. Er ging, übermannt
von edler, menſchlicher Rührung.
In ſeinen Thränen fand ihn mein Gefühl, wie
mein Verſtand ihn ſchon früher erkannt hatte. Sei-
ner Rolle blieb er ſonſt treu. Mittags meldete
er ſich um die zwei Pfund Rindfleiſch. Ich gab
ſie ihm und bereitete für uns einen Pfannkuchen,
den Vater täuſchend mit der Nachricht, die Katze
habe das Fleiſch gefreſſen. Er hat es rein auf-
gegeſſen; ſeine Verſtellung muß ihm doch ſchwer
gefallen ſeyn.
Wo die alberne Lisbeth nur bleiben mag, der
Aſchenbrödel? Mit dieſer Welt im Buſen muß ich
nun jetzt am Feuerheerde ſtehen! Auch war der
Pfannkuchen verſalzen und ungenießbar.
Heute iſt es zu einer vollſtändigen Erklärung
zwiſchen uns gekommen. Ich erinnerte ihn an
unſere Spaziergänge bei Nizza, an die Wechſelver-
fertigung, an die ſechſte Elephantencompagnie und
an die Cabale des Kaiſers aller Birmanen. Ich
[30] erinnerte ihn an Hechelkram und an ſeine Rechte
darauf. Ich nannte ihm den ſüßen Namen jener
Zeit: Rucciopuccio. Ich fragte ihn, ob er wohl
an alles Das noch denke? Er ſagte zu Allem ja.
Auch in dieſer vertrauten hingebungsvollen
Stunde blieb er Bedienter in Wort, Gebärde, Hal-
tung. Ich bat ihn herzlich, er möge doch mir ge-
genüber dieſe häßliche Hülle aufgeben und der
Fürſt ſeyn. Er verſetzte, es gehe nicht an, ich
möchte ihn um Gotteswillen zufrieden laſſen. — Ich
will nicht weiter in ihn dringen, er fürchtet ver-
muthlich, daß, wenn er ſich vor mir demasquirt,
er ſich auch ſonſt vergeſſen könne, denn welche un-
endliche Mühe muß den Hohen dieſes angelegte
niedere Weſen koſten!
Sein Incognito hat vermuthlich einen Doppel-
zweck. Mich wollte er unerkannt prüfen, und dann
will er auch im Verborgenen abwarten, welchen
Erfolg ſeine Verwendungen an einige Mächtige des
Hofes um Hechelkram haben werden. Ich ſagte
ihm dieſe meine Vermuthungen in das Antlitz, und
er antwortete: Es ſei Alles ſo, wie ich meine.
Wie es ihm nur möglich geweſen iſt, mich zu
finden, da ich in Nizza Marcebille von Schnurren-
[31] burg-Mixpickel hieß? Darüber werde ich ihn doch
nächſtens befragen.
Die Entwickelung unſerer Angelegenheit muß
in Geduld abgewartet werden. Erfolgt ſeine An-
erkennung als Fürſt, ſo wird ſich auch für mich
das Stift finden. Ich erfülle mein Schickſal und
bin ruhig.
Eins geht mir aber im Kopfe umher. Er hat
keine Gemahlin. Das wird meiner Stellung eine
ihrer Blüthen abſtreifen. Ich wollte ja der ſeg-
nende Schutzgeiſt ſeines Hauſes ſeyn, die Gatten
mit einander verſöhnen. Das fällt nun weg. So
hält uns das Leben doch nie ganz Wort.
Daß er ſo gar nicht Rucciopuccio’n ähnlich
ſieht! — Vergebens mühe ich mich ab, einen Zug
der Vorzeit in ſeinem Geſichte zu erſpähen. Aber
freilich iſt es denn auch einige Jahre her, daß wir
auseinander kamen —
— Die dumme Lisbeth hat mir vor ihrem Abzuge
mein Schreibzeug verkramt, ich muß mich mit Federn
behelfen, die alle bequeme ſchriftliche Ergießun-
gen unmöglich machen. Sie iſt ein abſcheuliches
Geſchöpf —
[32]
— und dann hat er viel auszuſtehen gehabt. Er
bekam ſelbſt hin und wieder von ſeinen Herrn
Schläge. Natürlich! Die indiſchen Fürſten ſind
Barbaren.
Auch Münchhauſen iſt mir nun entziffert. Die-
ſer hohe Geiſt, dieſer neue Prophet der Natur und
Geſchichte wird der Kammerherr des Fürſten ſeyn,
oder ſein Adjutant, oder ſein Hofſtaatsſecretair,
oder eine andre dieſer reinen, idealen Geſtalten.
Auch ihm wird ſeine Rolle ſchwer, ich ſehe es
wohl. Sein ſchmerzliches Zucken, wenn er den
Gebieter zum Scheine anfahren muß! Neulich that
er ſo, als ob er den Stock gegen ihn brauche, und
der Fürſt that, als ſchreie er.
Münchhauſen’s Geſchichten werden mir jetzt klar.
Der Vater nimmt ſie wörtlich und glaubt daran
zum Theil. Ich ahnete gleich eine geheime Bedeu-
tung — und habe mich nicht getäuſcht. Die ſma-
ragdgrüne Bergebene Apapurin … u. ſ. w. iſt
unſere Jugend, goldgelbe Kälber der Empfindung
graſen auf ihr, die Gedanken der Jungfrau ſind
phirſichroth und alle Aeußerungen ihres Weſens
[33] herb und keuſch, wie Schlippermilch. Nachher
ſpaltet ſich die Welt ihres Inneren, dieſe Spal-
tungen und Unterſpaltungen werden durch die ſechs
Gebrüder Piepmeyer angedeutet, einander zum Ver-
wechſeln ähnlich, wie unſere Spaltungen, dann
kommt die Proſa des Lebens unter dem Bilde des
Wachtfriſeurs Hirſewenzel und flicht den großen
Knoten widerſtrebender Verhältniſſe, den Ratten-
könig gemiſchter Empfindungen.
Manches Einzelne bleibt mir freilich in jener
Symbolik noch dunkel. Welcher Moment des weib-
lichen Lebens wird z. B. durch die Folgen der
einzigen Lüge Münchhauſen’s dargeſtellt?
Ein köſtlicher Genuß iſt es, zu ſehen, wie das
Hohe, das Göttliche unter der Knechtsgeſtalt, in
welcher es hin und wieder erſcheinen muß, ſiegreich
für den Kundigen hervorblitzt. Wiewohl mein er-
lauchter Freund den Bedienten zum Erſchrecken
natürlich ſpielt, ſo läßt ſich Fürſtenblut dennoch
nicht verläugnen, und davon wurde mir heute die
Erfahrung.
Der Prätendent von Hechelkram putzte die Stie-
feln ſeines ſogenannten Herrn. Ich habe nun wohl
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 3
[34] ſonſt bemerkt, wenn ich die Diener dieſes Geſchäft
verrichten ſah, daß ſie es in unedler gebückter Stel-
lung, mit widerlich kurzen, ſchnellen, heftigen Be-
wegungen ausführten — ein unerfreulicher Anblick!
Ganz anders, was ich heute ſah.
Karl ſaß. Er hielt ſich vornehm nachläſſig zu-
rückgebeugt, er ſah kaum den Stiefel an, langſam
fuhr ſeine Hand mit der Bürſte über dieſen, der
ſo tief unter ſeiner Würde war, hin und her —
und berührte das gemeine Leder obenhin, nur zum
Schein.
Freilich wurde der Stiefel nicht ganz blank,
und Münchhauſen ſchalt Karl’n, ſich verſtellend,
Faulpelz. — Das iſt eine der ſchwerſten Prüfun-
gen, welche mir dieſes Verhältniß auflegt, daß ich,
um es in ſeiner ganzen Wahrheit zu zeichnen, ſo
viele gemeine Fluch- und Schimpfwörter, Euch,
o Ihr meine reinen Blätter, aufdrängen muß!
Der Fürſt hat einen unglaublichen Appetit.
Heute verzehrte er wieder eine ganze Bratwurſt,
und ſie gehörte zu den größeren im Kreiſe ihrer
Schweſtern! Das indiſche Klima wird ſo an ihm
gezehrt haben. Wenn ſie ihm nur bekommt!
[35]
Vor meinen Ohren ſummt ein altes Lied:
So weit kann ich’s, aber die folgenden Verſe
wollen mir nicht beifallen, wie oft ich’s auch für
mich hin ſinge. Dabei uns zu erkennen war in
der fürchterlichen Stunde, wo uns die Juden ſchie-
den, das heilige Gelöbniß. Ich habe den Fürſten
daran erinnert, aber auch er kann die folgenden
Verſe nicht finden.
Mir iſt es unmöglich geworden, dem wilden
Humor, der in dem Namen: Karl Buttervogel
flattert, mich ferner zu fügen. — Bin ich denn
nicht ein Weib, d. h. ein Weſen ohne allen Sinn
für Ironie; tiefem, ſchlichtem Ernſte einzig hin-
gegeben? Um mich nicht aus dem Bilderkreiſe,
den der Fürſt gewählt, zu entfernen, nenne ich ihn
vor den Andern Karlos den Schmetterling. Der
Vater lachte, als er dieſe Bezeichnung zum erſten
male von mir hörte. Er verſteht mich nie. Münch-
hauſen begriff mich wieder ganz, begriff mich, ohne
daß ein Wort der Erklärung zwiſchen uns gewech-
ſelt wurde.
3*
[36]
Er ſagte: Wenn der Eſel (o Gott, wie leide
ich!) nur dadurch nicht ſtolz wird! Ja freilich
wird, wenn ſo nach und nach über ihm das Licht
verklärender Beziehungen und Bezeichnungen auf-
geht, der angeſtammte Stolz ſich herrlich zeigen.
O Münchhauſen, Münchhauſen, großer Herzens-
kündiger!“
[37]
Viertes Capitel.
Blätter aus dem Tagebuche eines
Bedienten.
Auch Karl Buttervogel führte ein Tagebuch.
Da er ſich viel in der Welt umhergetrieben und
bei hundert Herrſchaften gedient hatte, ſo war es
ihm zur Gewohnheit geworden, kleine kurze Notizen
in ſeine Brieftaſche einzutragen, die ſich denn dort
vermiſcht mit Anzeichnungen ſeiner Auslagen fan-
den. Die Brieftaſche hatte Decken von ehemals
rothem Schafsleder. Denn ihre Farbe war durch
die rauhe Fauſt der Zeit allgemach ausgetilgt wor-
den; ſie ſahen jetzt faſt aſchgräulich aus. Vier
Blätter gelben, oftbenutzten Pergamentes, auf wel-
chem der Bleiſtift kaum noch eine Spur nach ſich
laſſen wollte, waren eingeheftet; die Seitentaſche
enthielt eine bemalte Blume, mit einem Reime
[38] darunter, einen kleinen immerwährenden Kalender
und einen Kamm.
Dieſes ehrwürdige Alterthum ſchloß folgende Her-
zensergießungen Karlos des Schmetterlings in ſich:
Erſtes Blatt.
- Den ſechszehnten Juni: Ausgeriſſen von Stuttgart.
- Hab’ mein Putzzeug im Wirthshaus ſtehen laſſen.
- Von der Rieke keinen Abſchied nicht genommen.
- Ging zu raſch.
- Den zwei und zwanzigſten Juni: Angekommen
auf’m Schloß durch Pferdſturz. - Sehr viel Hunger und Durſt gelitten. Flöh’,
Wanzen und ſonſtiges Ungemach. - Gefallt mir hier gar nicht.
- Vor Wachs _ _ 3 Stüber
- Vor blauen Zwirn _ _ 1 Stüber
- Vor Sachen aus der Apotheke _ _ 18 Stüber
- Vor einen Brief _ _ 12 Stüber
- Vor waſchen zu laſſen _ _ 8 Stüber
- Vor meinen Herrn vor eine ge-
meinnützliche Collecte _ _ 3 Heller
was mir Alles mein Herr noch zahlen muß.
[39]
Seit Lichtmeß keinen Lohn nicht gekriegt. Thut
drei Gulden ſechs Kreuzer per Monat, zuſammen
zwölf Gulden vier und zwanzig Kreuzer.
Den ſechs und zwanzigſten Juni: Seit drei
Tagen nichts zu freſſen gehabt. An mein’ Rieken
continuirlich immerwährend gedacht. Iſt kaum noch
auszuſtehen. Sichtlich mager geworden.
Vorſtehenden Spruch gemacht geſtern Nacht als
den acht und zwanzigſten Juni, da ich nicht ſchla-
fen konnt’ von wegen Hunger und Flöh’.
Zweites Blatt.
Den fünften Juli: Lange nichts eingeſchrieben
in die Brieftafel. War zu beſchäftigt die Zeit her.
Außerordentlich mich verbeſſert in meiner ganzen
Lag’ und Condition. Fräulein verliebt in mich.
[40]
Durchaus nicht gewißt und erfahren, wie ſich’s
zugetragen. Gefragt und getribelirt und endlich
auf den Kopf mir zugeſchworen, ich ſei’s.
Nicht ausweichen gekonnt und endlich zugeſichert,
ich wollt’s ſeyn, wenn und wofern ich meine ge-
hörige Verköſtigung erlange.
Meinen alten Nußkracher mir fortgenommen und
dazu geweint. Glaub’, ſie iſt verrückt.
Sogleich am nämlichen Tag zwei Pfund Rind-
fleiſch gegeſſen. Sehr ſchönes Gefühl danach gehabt.
Zum erſtenmal wieder in Ruh’ an mei’ Rieken
gedacht.
Den ſiebenten Juli: Ueber Alles und Jedes
befragt, als zum Exempel von Fürſt und Hechel-
kram und ſeligen Spaziergängen in Nitze und von
Rutſcheputſche. Kein Wort verſtanden, indeſſen aber
mir Alles gefallen gelaſſen und immerdar Ja geſagt.
Den achten Juli: Große Gewiſſensbiſſe gehabt
um mei’ Rieken. Bratwurſt geſſen, wornach ſich
die Beängſtigung gemindert.
Nicht dafür gekonnt, daß ich in dies Malheur
verfallen.
[41]
Drittes Blatt.
Den neunten Juli: Schönes Gefühl empfun-
den durch die neue Lieb. Sehr geſchmeichelt gefühlt
von der Lieb vornehmer Perſon. Gar nicht mehr
den Bedienten gefühlt in der neuen Lieb. Stiefeln
in dieſem Gefühl geputzt. Angeſchnauzt von mei-
nem Herrn und abgeſchwartet *) in der Still’, weil
Stiefeln nicht blank geweſt. Alles verſchmerzt im
Gefühl der Lieb.
Abends zwölf harte Eier geſſen. Aeußerſt ſelig
zu Bette gangen.
Vor Flecke aus dem Tuch zu bringen nimmt
man Toback, kocht ihn ab und ſchmiert’s Tuch mit
ein. Dann gebürſtet und am Sonnenſchein ge-
trocknet, iſt Alles ’raus.
Viertes Blatt.
Den zwölften Juli: Heut meinen Entſchluß
gefaßt nach langem Kampf. Mich riſalfirt, Rieken
ewig zu lieben und das Fräulein zu heirathen,
wofern mir mei fernere gute Verköſtigung zugeſagt
wird.
[42]
Alle Andenken verbrannt von Rieken, um nicht
wieder Kampf zu leiden.
Dennoch äußerſt viel Furcht gehabt vor dem
alten Baron, von wegen zum Hausnausſchmeißen’s,
wenn’s ’raus kommt.
Vier Stüber vom Fräulein geſchenkt gekriegt,
um mir ein’ Erholung zu machen.
Angeſpielt heute von ferne auf fernerweite gute
Verköſtigung, wofern geheirathet werden ſoll. Miß-
verſtanden geworden. Mich entſchloſſen, nächſtes-
mal mich deutlicher zu machen.
Den vierzehnten Juli: Künftigem Schwieger-
vater’n heute vor Plaiſir die Stiefeln ausgezogen.
Ihn dabei bedeutſam angeblickt, um die Entdeckung
vorzuſpielen. Auch nicht verſtanden geworden. Nach
gerade bänglicht.
Gar keine Luſt mehr zum Dienen bei Münch-
hauſen. Gar zu viel gewißt von ſeinen Geheim-
niſſen und ſeit jeher keinen rechten Reſpect nicht
vor einem chemiſch-präparirten Menſchen gehabt.
Durch die neue Lieb’ vollends ganz ſtolz geworden.
Mich erniedrigt gefühlt durch die einförmigen Rock-
[43] ausklopfereien und ſonſtigen Amtsverrichtungen. Will
Fürſt von Hechelkram werden, wann’s nicht anders
iſt und das Fräulein darauf beſteht. Soll mir
ſagen, wo’s Fürſtenthum liegt, damit ich drum
einkommen kann.
Am ſelbigen Tag, Nachts: Mein Herr von
Münchhauſen heute abermals ſeine Schmierereien
vorgenommen und mir dadurch ganz widerwärtig
geworden. Mir vorgenommen, bei erſter Gelegen-
heit grob zu werden, um auf eine feine Manier
aus dieſer Sclaverei zu kommen.
Gefallt mir jetzt recht wohl hier. Uebrigens
doch eigne Lag’, und weiß der Schinder, was draus
werden ſoll.
In ein ſo wunderbares Verhältniß war Fräulein
Emerentia mit ihren Gedanken, Träumen und
Empfindungen gerathen. Man kann ſich daher
vorſtellen, wie es ihr Bewußtſeyn verletzen mußte,
als der Vater die Beſorgniß vor einer Mariage
zwiſchen ihr und Münchhauſen äußerte.
[44]
Uebrigens wußte ſie kaum noch, ob ſie auf
der Erde wandelte. Sie dachte und ſah nur den
Prätendenten von Hechelkram, den Altar der Freund-
ſchaft und das ihr winkende Stiftskreuz. Der kleine
Haushalt litt freilich ſehr unter dieſer glücklichen
Entwirrung ſchwieriger Verhältniſſe. Auf die Suppe
mußte nach und nach ganz verzichtet werden, da ſie
niemals zu genießen ſtand, oder der Schulmeiſter
hatte mit ſeiner ſchwarzen auszuhelfen. Alles
Fleiſch aber ſtahl regelmäßig die Katze, weil der
masquirte Fürſt unerſättlich war. Der alte Baron
wünſchte ſich hundertmal des Tages über verdrieß-
lich ſeine Lisbeth zurück. Wo er die Katze, die
vermeintliche Räuberin der Speiſen ſah, ſchlug er
nach ihr; ach, er wußte nicht, daß Karlos der
Schmetterling die Schlange war, die er am Buſen
nährte. Nannte nun gar ſeine Tochter dieſen Na-
men (und ſie nannte ſeit der großen Entdeckung
Buttervogel’n nie anders) ſo wollte er, nachdem er
einigemale über den blühenden Tropus gelacht hatte,
ſchier verzweifeln, denn er begann zu fürchten, daß
ſein armes Kind ſich mit ſtarken Schritten einer
unglückſeligen Verwandlung nahe.
[45]
Fuͤnftes Capitel.
Der Autor fährt fort nothwendige
Erklärungen zu geben.
Aber der alte Mann hatte noch andern Ver-
druß. Es iſt eine bewährte Erfahrung, daß der
Menſch Leckerbiſſen, wie Caviar und Gansleber-
paſteten ſchleunig müde wird und nur die einfachſte
Speiſe, das Brod, immer eſſen mag. So geht
es auch mit den Nerven des geiſtigen Gaumens.
Sie ſtumpfen ſich raſch gegen den wollüſtigſten
Kitzel ab; Erſchütterung und Staunen werden
ihnen bald trivial. Wer Mährchen hörte, ſehnt
ſich doch wieder bei Gelegenheit nach der trockenſten
Zeitung; woraus abzunehmen, daß Alle, welche
mit Wundern auf die Menſchen wirken wollen,
mit Wundern ſparſam ſeyn müſſen.
Wie groß war dem alten Schloßherrn ſein Gaſt
im Anfang vorgekommen, wie hatte ſeine Seele
[46] ſich in deſſen Erzählungen ſo ganz befriedigt gefühlt,
und wie bald erloſch dieſer Genuß! Es liefen
nicht vierzehn Tage in’s Land, ſo fühlte ſich der
Baron von Schnuck-Puckelig-Erbſenſcheucher in der
Boccage zum Warzentroſt unmuſtern, wie damals,
als er ſeiner Erwartungen müde zu den Journalen
griff, und damals, als er der Journale müde, ſich
nach einem gleichgeſtimmten Freunde ſehnte, und
damals, als er des gleichgeſtimmten Freundes,
nämlich des Schulmeiſters müde, heftig nach, er
wußte ſelbſt nicht wem? verlangte. Zuerſt glaubte
er, es liege ihm im Unterleibe und nahm ein
Brechmittel ein. Das Mittel wirkte, ſein Zuſtand
blieb aber derſelbe. Allgemach erkannte er die
wahre Urſache — Münchhauſen war ihm langweilig
geworden, wie ſeine Erwartungen, die Journale,
der Schulmeiſter.
Seine Geſchichten klangen ihm jetzt lange nicht
ſeltſam genug, die ausſchweifendſten Abentheuer
kamen ihm ſchaal vor. Er pflegte nunmehr, wenn
Münchhauſen einen Bericht vollendet hatte, zu ver-
ſetzen: Iſt noch gar nichts, Liebſter, Beſter, mir
iſt einmal ganz etwas Anderes widerfahren. Wor-
auf er ſeinerſeits ſich bemühte, Ueberbietendes vor-
[47] zutragen, freilich ſelten über den erſten Anlauf
hinausgelangte.
Der Freiherr hatte nach der Novelle von ſeinen
ſechs Geliebten viel und mancherlei hören laſſen,
was leider durch das Sieb der Geſchichte gefallen
iſt. Einiges iſt indeſſen aufbehalten geblieben.
Münchhauſen erzählte von dem Fürſtenthume
Sprenkel, worin er einſtmals, da man nach Stän-
den verlangend geweſen, Stände aus Blätterteig
verfertiget habe. Dieſe Repräſentanten von Blät-
terteig hätten allen verfaſſungsmäßigen Nutzen ge-
bracht, bis der Nachfolger gekommen wäre und ſie
aufgegeſſen hätte, weil er Willens ſei, neue von
Spritzkuchenteig backen zu laſſen.
Der alte Baron verſetzte: Das ſei gar nichts,
Blätterteig könne ein Jeder eſſen. Er habe ein-
mal geſehen — — —
Münchhauſen erzählte von dem Kaiſerthume
Kleinchina, rechts von Großchina im ſtillen Welt-
meere über Formoſa hinaus belegen, worin der
Patriotismus im Frieden ſo ſtark geworden ſei,
daß alle Jahre am Geburtstage des großen Gold-
fiſches (ſo heiße nach orientaliſcher Sprechſitte der
Kaiſer von Kleinchina) die Mandarinen der erſten
[48] drei Rangelaſſen in den Thronfarben anliefen, näm-
lich braun und blau.
Der alte Baron verſetzte: Das ſei gar nichts;
die Färbung der Haut möge wohl von einem Aus-
ſchlage, von einer Art Neſſelſucht herrühren; der-
gleichen pflege ſich raſch wieder zu verlieren. Er
habe einmal geſehen — — —
Münchhauſen erzählte vom tiefſinnigen polniſchen
Staroſten, der ein tiefſinniges Buch über die Kunſt
der Gegenwart geſchrieben, und ſelber aus Kunſt-
enthuſiasmus in Tiefſinn verfallen ſei, worin er
ſich für einen Pinſel gehalten habe und zwar für
den Pinſel ſeines Lieblingsmalers. Die Geſchichte
war wirklich anmuthig und lieblich anzuhören, denn
ſie lehrte weiter, daß der tiefſinnige Pole oder
polniſche Tiefſinn als Pinſel gerade ſo ſich be-
nommen und ausgedrückt habe, wie früherhin, ſo
daß zwiſchen dem ehemaligen Staroſten und nach-
maligen Pinſel durchaus kein Unterſchied bemerk-
bar geweſen ſei. Er folge, ſagte Münchhauſen,
in dieſen Angaben nur dem Kammerdiener des Po-
lacken, dem grimmen Hagen aus Nibelungenland,
welcher für eine Zulage von ſechs polniſchen Gul-
den zum Jahresliedlohn das tiefſinnige Buch
[49] ſeines Brodherrn den Deutſchen zugänglich gemacht
habe.
Der alte Baron verſetzte: Es ſei gar nichts,
daß ein Menſch ſich für einen Pinſel halte, da ſo
viele Pinſel überzeugt ſeien, Menſchen zu bedeuten.
Er habe einmal geſehen — — —
Münchhauſen ſagte, wenn ihm dieſe Geſchichte
keine Verwunderung abzwinge, ſo werde ihn doch
ein Beweis ſeines eigenen Genies in Erſtaunen
ſetzen. Er habe nämlich bei dem jetzigen Auf-
ſchwunge künſtleriſcher Begabung auch in ſich das
plaſtiſche Element gefühlt und ſei deßhalb Discipel
einer berühmten Academie geworden. Die Methode
und Influenz habe ſich zum Erſtaunen an ihm be-
währt, denn er ſei in der erſten Woche ſchon Le-
nardo da Vinci, in der zweiten Michel Angelo, in
der dritten Rafael geweſen — öffentlichen gedruckten
Nachrichten zu Folge. In der vierten ſei aus ihm
eine Complication von Vinci — Angelo — Rafael ge-
worden. Späterhin habe er ſich auf das Nieder-
ländiſche geworfen und nach vier und zwanzig
Stunden der kleine Rembrandt geheißen.
Mich ennuyirte aber die Malerei, fuhr Münch-
hauſen fort, beſchloß Bildhauer zu werden und
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 4
[50] zwar für’s Erſte Phidias. Natürlich auch durch
höhere Richtung, Vorſatz und Erleuchtung von Oben.
Ich ſchlief eines Abends mit dieſem Gedanken in
einem Butterkeller ein. Wie ich hinein gekommen,
gehört nicht zur Sache; genug, ich ſchlief im But-
terkeller. In der Nacht hatte ich Träume von
Gotter- und Heldengeſchichten, merkte wohl, daß
ich mit den Fäuſten umherhandthierte, wußte aber
doch nicht, was ich eigentlich machte, weil ich immer
halb im Schlaf blieb. Am andern Morgen kam
der Butterhändler in den Keller, mit der Lampe,
leuchtete umher und ſchrie: Herr Jemine, was iſt
aus der Butter geworden! — Ich wachte nun auf,
ſah mich um und erſtaunt’ ein wenig, denn ſiehe
da, ich hatte im Schlaf, bloß mit der Hand die
Gruppe der Centauren und Lapithen gebildet aus
Butter, im erſten, ſtrengen, erhabenen Styl. Die
Topfe waren alle leer, ſo hatte ich in der Butter
gewirthſchaftet. Mein Butterhändler wollt’ anfangs
keifen, nachher beruhigte er ſich, weil er merkte,
daß mit dem Werke ein gut Stück Geld zu ver-
dienen ſei. Wir trugen die Buttergruppe vorſichtig
die Treppe hinauf und ſetzten ſie in die Sonne,
um ihr die rechte Beleuchtung zu geben. Das war
[51] aber nicht wohl bedacht, denn in der Sonne ſchmol-
zen die Figuren, erſt die Lapithen und dann die
Centauren. War das nicht wunderſam?
Was? Daß Sie Centauren und Lapithen aus
Butter machten, oder daß dieſes Gebilde, als Sie
ihm die rechte Beleuchtung gaben, ſchmolz? fragte
der alte Baron. — Letzteres, erwiederte Münchhauſen.
Um ein ſolches Kunſtwerk hätte der Himmel ſchon
einmal den Gang der Naturgeſetze unterbrechen
können. Daß die Butter in der Sonne zerging,
daß kein Wunder geſchah, finde ich wunderſam.
Der alte Baron verſetzte: Das iſt vollends
nichts, denn es lautet zu ſubtil.
So wollte keine Erzählung vor dem Sinne des
Schloßherrn mehr Stich halten. Münchhauſen’s
Genie hatte ſich in der Meinung ſeines Wirthes
raſcher abgebraucht, als ein Miniſterium des Juli-
throns verwittert. Kann er mir denn nicht ächte
Merkwürdigkeiten erzählen? rief der alte Mann
oft bitterböſe, wenn ihn ſein Gaſt verlaſſen hatte,
ſo etwas — ſo etwas — — was ſich gar nicht
erzählen läßt?
Nur zwei Abentheuer waren es, auf welche die
Wißbegierde des alten Barons ſich noch einiger-
4*
[52] maßen geſpannt hielt: Münchhauſen’s Fata unter
dem Vieh, insbeſondere unter einer Ziegenheerde
am Helikon, und dann, wie er unlängſt in Schwa-
ben Poltergeiſter und Dämonen kennen gelernt.
Auf beide hatte der Freiherr zu öfterem im Vor-
aus hingewieſen, immer aber war die Erzählung
durch zufällige Ereigniſſe verſchoben worden, wie
denn noch jüngſt das erſte Capitel dieſes Buches
nicht halten konnte, was ſeine erſten Worte ver-
ſprachen.
In ſeiner gelangweilten Stimmung warf der
alte Baron ein Auge forſchender Verdrießlichkeit,
oder verdrießlichen Forſchens auf die Perſon des
Freiherrn, und da wurde ihm nun ſo Manches
Gegenſtand der Verwunderung. Die ergrünenden
Wangen und die doppelfarbigen Augen mußten frei-
lich durch die Erläuterungen Münchhauſen’s für
vorläufig bei Seite geſtellt gelten, dagegen hatten
ſich an dem außerordentlichen Manne neue geheim-
nißvolle Phänomene in Menge aufgethan. Schon
daß der Freiherr ſtäts traurig und dunkel ſprach,
wenn er im Allgemeinen der Umſtände bei ſeiner
Erzeugung gedachte, war ein ſeltſames Ding,
hiezu kam aber noch das ungewöhnliche Verhältniß
[53] zwiſchen Herrn und Diener, welches ſich bald im
Schloſſe bemerklich machte.
Es iſt eine weitverbreitete Klage der Zeit,
daß ihre Fortſchritte auch den Uebermuth der
Dienſtboten geſteigert haben. Unter den vielen
ſchlechten Bedienten aber, welche die Gegenwart
gebiert, war Karl Buttervogel (denn für uns behält
er dieſen Namen) ſicherlich einer der ſchlechteſten.
Wenn ihm ſein Herr etwas befahl, ſo that er es
auf das erſte Geheiß gar nicht, auf das zweite
auch noch nicht, und auf das dritte that er es
zwar, aber ſo, als thue er es um Gotteswillen.
Den Rock klopfte er dem Gebieter aus, wenn er
Luſt hatte, und alles Uebrige, was zu ſeinem
Dienſte gehörte, verrichtete er, inſofern er dazu
Belieben trug. Fuhr ihn aber ſein Herr an, oder
drohte er, ihn zu ſchlagen, ſo warf der Burſche
mit ſo ſpitzigen, frechen und ſonderbaren Reden um
ſich, daß auch der Argloſeſte darüber erſtaunen
mußte.
Einſtmals ſagte der alte Baron, als er Zeuge
eines derartigen Auftritts geworden war, bei wel-
chem Karl Buttervogel ausgerufen hatte, Münch-
hauſen ſolle ſich hüten, er wiſſe ja wohl, daß — —
[54] zum Freiherrn: An Eurer Stelle, Freund, jagte
ich den Unverſchämten fort. — Ich darf nicht,
verſetzte Münchhauſen, ſchmerzlich gen Himmel
blickend, weil — —
Daß? — — Weil? — — Was für ein Daß?
Was für ein Weil? murmelte der alte Baron.
An einem andern Tage hatte Münchhauſen im
Zorn wirklich den Rücken des Widerſpänſtigen be-
ſtrichen. Karl Buttervogel lief fort, ſchimpfte wie
ein Rohrſperling und wiederholte unaufhörlich: Mich
prügeln? So ein Munkel?
Munkel? fragte der alte Baron. Was iſt ein
Munkel? — Es lag am Tage, dieſer Bediente
wußte etwas von ſeinem Herrn, was nicht für
Jedermanns Ohr taugte.
Die Geheimniſſe Münchhauſen’s fanden ihren
Gipfel in ſeinen heimlichen Experimenten. Er
ſchickte nämlich wöchentlich Karl’n in die Apotheke
der nächſten Stadt, darauf nahm er ihm die Spe-
cies ab, verſchloß ſich in ſeiner Stube, verhing die
Fenſter, und dort hinter Schloß und Riegel und
neſſeltuchnen Vorhängen that er Dinge, welche nur
das Auge Gottes ſah. Es verbreitete ſich, wenn er
ſo experimentirte, durch das Schlüſſelloch ein feiner
[55] mineraliſcher Dunſt im Hauſe; daß Münchhauſen
ſelbſt hernach wie eine ſtarke Schwefelquelle duf-
tete, haben wir ſchon aus dem Munde des alten
Barons gehört. Einſt hatten die Bewohner des
Schloſſes während eines ſolchen geheimen Experi-
ments einen großen Schrecken. Es geſchah nämlich
in der Stube ein ſtarker Knall, Münchhauſen ſtieß
heftig die Thüre auf, Dampf quoll heraus, Dampf
erfüllte die Stube, im Dampfe aber ſtand Münch-
hauſen bleich und entſetzt. Allerhand Flaſchen-
und ſonſtiges Geräthe, mit ſeltſam ſchillernden
Feuchtigkeiten erfüllt, ſtand auf dem Tiſche umher.
Münchhauſen räumte es eilig und verſtört hinweg,
als er nach einigen Augenblicken ſich wieder zu
ſammeln wußte.
Dieſer Auftritt vollendete die Spannung des
alten Barons. Alles Intereſſe, welches er früher
an den Erzählungen ſeines Gaſtes gehabt hatte,
übertrug ſich nun auf deſſen Perſon. Und ſo ge-
wann der Held durch die Grobheit ſeines Bedien-
ten, durch mineraliſchen Geruch, durch Dampf und
Knall den Antheil, welchen er auf dem einen Felde
eingebüßt hatte, auf dem andern ſich zurück. Ein
langweiliger Erzähler, aber eine merkwürdige hiſto-
[56] riſche Perſon, vielleicht das einzige Exemplar ſeiner
Gattung! ſagte der alte Schloßherr.
Leider blieb ſeine brennende Neugier ohne Be-
friedigung, denn Niemand konnte ihm ein Licht
über den Mann anzünden, der unter den Menſchen
kaum ſeines Gleichen zu haben ſchien. Münch-
hauſen wich mit ſiegreicher Gewandtheit allen Ver-
ſuchen, ihn bis über einen gewiſſen Punct hin zu
erforſchen, aus. Den Bedienten aber über den
Herrn zu verhören — dieſen Gedanken hatte er,
als er flüchtig in ihm einſtmals emporgeſtiegen war,
weit von ſich hinweggewieſen. Trotz aller ſeiner
Narrheiten war der Baron von Schnuck ein Mann
von altdeutſcher Sitte und Höflichkeit. Noch nie-
mals hatte er vergeſſen, was er ſeinem Gaſte
ſchuldig war. So, zwiſchen Verlangen und Un-
möglichkeit, den Schleier zu heben, umgetrieben,
wurde ſein Herz bis zum Rande voll von Unruhe
und Verdrießlichkeit.
Der Schulmeiſter endlich war in den Zuſtand
ernſter Selbſtbetrachtung hineingerathen. Er be-
gann ſich noch mehr, als früher, von den Zuſam-
menkünften der Schloßbewohner fern zu halten,
und ſaß Tagelang einſam auf dem Gebirge Taygetus,
[57] wie ein indiſcher Büßer ſeine Naſenſpitze betrach-
tend.
Kam er dann doch wieder einmal zu den Uebri-
gen, ſo zog er ſich immer bald wieder zurück, denn
Niemand achtete ſeiner, Münchhauſen nicht, weil er
den Abkömmling des Königs Ageſilaus nicht be-
durfte, das Fräulein nicht, weil ſie, wie wir wiſſen,
allem Irdiſchen überhaupt bereits entrückt war,
der alte Baron nicht, weil er über den Munkel
nachſann.
Was Münchhauſen betrifft, ſo erhielt ſich dieſer
wunderbare Charakter zwar äußerlich die Faſſung,
in welcher er ſo ſtark war; durch ſeinen Buſen
aber ſtürmten auch manche Sorgen. Daß er den
alten Schloßherrn mit ſeinen Erzählungen langweile,
hatte er ſchon ſeit geraumer Zeit bemerkt, daß
ſich ein gefährliches Grübeln an ſeine Perſon zu
heften beginne, mußte er nun gewahr werden.
Dieſes war ihm unangenehm. Ihm lag daran,
noch eine Zeitlang als ruhiger, wenn auch höchſt
geiſtreicher und vielerfahrener Privatmann das Ob-
dach und die Speiſe des Schloſſes zu genießen. —
Er nahm ſich daher vor, einen wahren Heroismus
im Erzählen zu entfalten und den Baron dadurch
[58] wo möglich abzulenken, ſolchergeſtalt aber dem Schick-
ſal die freie und männliche Stirn zu weiſen, welche
von keinem Schlage bisher zu zerſchmettern gewe-
ſen war.
Während auf dieſe Weiſe die Bewohner des
Schloſſes ſich entſcheidenden Begebenheiten näherten
und ihre Charaktere zu reifen begannen, war Karl
Buttervogel der einzige Glückliche. Er aß Rind-
fleiſch, Bratwurſt und Eier, ſo viel ihm das Fräu-
lein von dieſen Nahrungsmitteln zuſtecken konnte,
bediente ſeinen Herrn mit der Ueberzeugung, daß
es nur von ihm abhange, denſelben zu ſtürzen, und
empfand alle Zauber einer geheimen, hohen Liebe.
[59]
Sechſtes Capitel.
Die Ereigniſſe eines Abends und einer
Nacht.
An jenem Abende, an welchem Münchhauſen
und der Schloßherr gegenſeitig offen geworden wa-
ren, ließ ſich Karl Buttervogel fünfmal rufen, bevor
er zu ſeinem Herrn kam, der ſich entkleiden wollte.
Als er endlich erſchien, holte der Herr mit den
Worten: Du Gauch! Du Beſtie! nach ihm aus,
der Diener aber ergriff einen Stuhl, hielt ihn zu
ſeiner Vertheidigung vor ſich hin und ſchrie, als
ob er am Spieß ſtäke. Auf dieſes Geſchrei eilte
der alte Baron im Nachtkleide die Treppe hinauf,
Emerentia aber, tief in ihre Welt verſunken, hörte
davon nichts, ſondern fuhr in ihren Eröffnungen
gegen die Wand fort, in welchen ſie noch begriffen
war. Der alte Baron, das Nachtlicht in der Hand,
fragte: Was giebt es denn hier ſchon wieder?
[60] Münchhauſen verſetzte: Mit dieſem Racker iſt nichts
mehr anzufangen, jeden Tag wird er fauler, ich
weiß nicht, was dem Ungeheuer im Kopfe ſteckt!
Liebe ſteckt dem Ungeheuer im Kopfe! ſchrie der
Menſch erboſt; Liebe von einer ganz vorneh-
men Perſon, und es giebt Schwiegerväter, die
noch von nichts wiſſen und ſich ſehr verwundern
werden, wofern fernerweite gute Verköſtigung aus-
gemacht wird.
Iſt der Kerl verrückt? ſagte der alte Baron.
Und am Dienſt habe ich keinen Geſchmack mehr,
und am allerwenigſten mag ich ſo einem Munkel
noch ferner dienen, der mich noch überdem prügeln
will! rief Karl Buttervogel. Und ich begehr’
meinen Lohn, zwölf Gulden, vier und zwanzig Kreu-
zer ſeit vier Monaten, und was ich ausgelegt
habe, thut auch zwei und vierzig Stüber, drei Hel-
ler, und das begehre ich und fordre ich, und dann
gehe ich gleich fort, denn ich kriege doch außerdem
mein gutes Eſſen und Trinken durch meine Con-
nexionen, und wenn mir noch ein Wort zu nahe
geſagt wird, ſo gebe ich Alles an bei meinem
Schwiegervater von der unnatürlichen Erzeugung
und den chemiſchen Schmierereien —
[61]
Münchhauſen ſetzte ſich erſchöpft auf ſein Bett.
Er zitterte, wie gewöhnlich, mit den Naſenflügeln,
ſeine Miene war äußerſt leidend. Schreckliches
Verhängniß, welches mich in die Hand eines Buben
giebt! ſtöhnte er. O warum ſchwieg ich nicht auch
gegen dich, Unmenſch, wie ich gegen Jeden ſonſt
geſchwiegen habe? Ich öffnete dir mein Herz, ich
bedurfte einer Seele, die ich in die Apotheke
ſchicken konnte, und du wirſt hingehen und mich
verrathen.
Alterire dich nicht, Bruder, ſagte der Schloß-
herr. Dieſes Individuum bleibt ewig ein Bedien-
ter; über ſolches Pack müſſen ſich Männer unſerer
Extraction nicht ärgern. Freilich, was die un-
natürliche Erzeugung und das Chemiſche angeht,
da wäre ich äußerſt verlangend —
Münchhauſen’s Gebärde wurde groß. Verlange
nicht danach, ſagte er erhaben. Ich kenne dich, du
biſt ſchwach, Baron Schnuck, du kannſt Offenheit
ertragen, du kannſt ertragen, daß der deutſche
Mann zum deutſchen Manne ſagt: Schafskopf!
aber das würdeſt du nicht ertragen. Du hängſt
an Ideen, die du mit der Ammenmilch eingeſogen
haſt, du willſt den Menſchen menſchlich gezeugt.
[62] Die Entdeckung, welcher dein unſeliger Fürwitz
zuſteuert, würde dich deinen Freund koſten! Er
warf mit leidenſchaftlicher Heftigkeit ſeine Klei-
dungsſtücke ab und ſah im Hemde zum Fenſter
hinaus, den Anweſenden den Rücken kehrend.
Karl Buttervogel rief, ohne ſich ſtören zu laſſen,
in dieſes Concert: Und es iſt ſchändlich von ſo
einem Herrn, wenn ſo ein Herr immer lügen thut.
Das Lügen iſt für uns geringe Leute, wir können
oft nicht darüber hin, und der liebe Gott vergiebt
es uns, weil wir ſonſt unſer Brod nicht haben,
und wenn ich erſt meinen gnädigen Schwiegervater
beſitze und auf meine fernerweite gehörige Beköſti-
gung rechnen darf, ſo will ich’s auch laſſen, und
von ſo einem Herrn, wie von meinem Herrn von
Münchhauſen iſt es ſehr unrecht, und allen Leuten
lügt er etwas vor, und aller Orten hat er gelogen,
und ſie ſind ſo dumm und glauben ihm auch immer,
obgleich kein wahres Wort aus ſeinem Munde geht.
Es iſt gut, Karl, bringe das Andere draußen
an, ſagte Münchhauſen, ſich umwendend. Der Ton
ſeiner Stimme war ſanft aber feſt geworden. Er
band einen roth und gelbſeidnen Tuch mützenartig
um den Kopf, ſo, daß die Zipfel an ſeinen Ohren
[63] herunterfielen. Gute Nacht, Bruder Schnuck, du
haſt Recht, man muß ſich über dergleichen Leute
nicht ärgern. Ich werde mich ohne Diener zu be-
helfen wiſſen. Du kannſt gehen, Karl, ich brauche
dich nicht weiter, deine zwölf Gulden vier und
zwanzig Kreuzer ſollſt du morgen ausgezahlt erhal-
ten. Geh, Karl, folge deinen höheren Sternen, du
kannſt nun gut und gern deinen Antheil an der
Luftverdichtungsactiencompagnie, den ich dir zuge-
dacht hatte, entbehren.
Karl Buttervogel machte ein langes Geſicht,
ließ den Stuhl, den er bis jetzt noch immer vor
ſich hin gehalten hatte, ſinken, und ſagte, ſo klein-
laut, als er vorher trotzig geſprochen hatte: Wie,
mein Herr von Münchhauſen?
Luftverdichtungsactiencompagnie? fragte der alte
Baron.
Ja, antwortete Münchhauſen und ſtreifte den
Strumpf vom linken Beine, in Paris haben ſie ein
Mittel gefunden, die neueren Chemiker, Luft kör-
perlich zu machen, ſie in feſter Geſtalt darzuſtellen.
Körperlich? In feſter Geſtalt?
In einer Maſſe zwiſchen Schnee und Eis,
ungefähr wie ſteifer Brei. Als ich von der Sache
[64] hörte, ließ ich mich näher in ſie ein und über-
zeugte mich ſehr bald, daß die alſo körperlich und
feſt gemachte Luft, vermöge Präcipitirens, Calci-
nirens, Oxydirens und gewiſſer anderer Mittel, die
vor der Hand mein Geheimniß bleiben, in eine
ſolche Dichtigkeit, Härte und Schwere zu treiben
ſei, daß ſie ſich vom Steine nicht unterſcheide.
Vom Steine nicht unterſcheide?
Nein. Warum erſtaunſt du, Schnuck? Was
Brei iſt, kann doch auch Stein werden. Willſt du
die Probe? Karl, erzeige mir die Freundſchaft, denn
befehlen darf ich dir nichts mehr, und bringe aus der
Reiſetaſche mir die grüne Capſel Nummer vierzehn.
Karl Buttervogel, deſſen ganzes Benehmen ſich,
ſeitdem von der Luftverdichtungsactiencompagnie
die Rede war, in die fügſamſte Demuth verwan-
delt hatte, lief befliſſentlich nach der Reiſetaſche
und holte die grüne Capſel Nummer vierzehn, aus
welcher Münchhauſen einen fauſtgroßen Stein nahm.
Er zeigte dem alten Baron den Stein und fragte
ihn, was er wohl glaube zu ſehen?
Der alte Baron verſetzte, indem er den Stein
gegen das Nachtlicht hielt und ihn blinzelnd be-
ſchaute: Meines Erachtens iſt das ein Feldquarz.
[65]
Feſtgemachte, präcipitirte, calcinirte, oxydirte
und durch gewiſſe andere geheime Mittel verſteinerte
Luft iſt es, ſagte Münchhauſen gähnend und that
den Stein wieder an ſeinen Ort. Er ſtreifte den
Strumpf auch vom rechten Beine und fuhr fort:
Du ſiehſt nun mit deinen Augen; haue mit Stahl
dagegen, ſo giebt der Luftſtein Feuer, ſolche Fe-
ſtigkeit hat derſelbe.
Das iſt ja eine ganz ungeheure, unermeßliche,
unberechenbare Erfindung! rief der alte Baron.
Ziemlich wichtig iſt ſie allerdings, ſagte Münch-
hauſen kalt. Gebaut wird allenthalben jetzo zu
Friedenszeiten, Häuſer, Brücken, Straßen, Pal-
läſte, Narrenhäuſer, Monumente. Das Material
iſt nur in manchen Gegenden zu theuer. Das will
ich denn für ſolche ſteinarme Landſtriche liefern,
nämlich verſteinerte Luft. Luft iſt überall zu haben.
Die Bereitungskoſten ſind ſo gar groß eben nicht,
es kommt hauptſächlich bei dem ganzen Proceſſe
auf die Beſchaffenheit der Luft ſelbſt an, und der
rechten Steinluft glaube ich hier auf der Spur zu
ſeyn. Deßhalb rieche ich und ſchnüffle ich ſo viel
im Winde umher. Hier wollte ich die Fabrik
anlegen; die Mutterfabrik, von der dann gelegenen
Immermann’s Münchhauſen 2. Th. 5
[66] Orts die Tochterfabriken ausgehen ſollen, quantum
satis. Das Unternehmen wird auf Actien ge-
gründet, die Beſtätigung des Statuts habe ich in
der Taſche. Es muß, wenn das Geſchäft einiger-
maßen ſchwunghaft getrieben wird, ſchon nach einem
Jahre, ſchlecht gerechnet, eine Dividende von Ein-
hundert ſechs und dreißig drei Achtel Procent ge-
ben. Dieſes iſt denn die Luftverdichtungsactien-
compagnie, nach welcher du fragteſt. Zwei Direc-
toren werden angeſtellt mit offenem Credit, zwölf
beſoldete Verwaltungsräthe; die Zahl der Secretaire
und der übrigen Unterbeamten iſt vorläufig auf
einige und vierzig beſtimmt. Karl’n da, meinen
ehemaligen Diener, wollte ich zum techniſchen Mit-
director machen — nun, das geht denn nun jetzt
nicht mehr an, und ich muß mich nach einem An-
dern umſehen.
Hier ſtieß Karl Buttervogel einen ſolchen Seuf-
zer aus, daß die Stube widerhallte. Der alte Baron
aber blies die Backen auf, warf ſeine Nachtmütze
gegen die Decke und that einen Schritt, den man
einen Satz nennen konnte, ſo daß ſeine Kerze wild
aufflackerte. Haſt du noch Actien? fragte er
Münchhauſen, der ſich gleichgültig zu Bette legte.
[67]
Alle untergebracht, verſetzte dieſer, die Decke
über ſich ziehend, ſtehen ſchon höher als Pari.
Ich will dir aber doch deine Gaſtfreundſchaft ver-
gelten, Schnuck. Dein Schloß iſt etwas baufällig;
ſobald meine Fabrik und die Actiencompagnie in’s
Leben getreten iſt, baue ich dir ein neues aus
meinem Material.
Der alte Schloßherr ſetzte heftig ſein Licht
weg, ſchoß auf Den im Bette zu, nahm ihn mit
beiden Händen bei’m Kopfe und rief: So werde
ich ja künftighin gleichſam in einem Luftſchloſſe
wohnen, du Mordkerl!
Meinetwegen kannſt du es ſo nennen, alter
Junge, antwortete Münchhauſen. Reiße mir nur
die Ohren nicht ab. Siehſt du, das iſt ja eben
das Große in der Gegenwart, daß ſo Vieles, was
lange nur als uraltes Mährchen, Bild oder Gleich-
niß galt, aufgebracht durch die Kinderphantaſie der
Anfangszeiten, nunmehr durch die [Forſchungen] der
Wiſſenſchaft ſich als hiſtoriſche Realität ausweiſet.
Und ſo kommt denn auch das verjährte Sprich-
wort von Luftſchlöſſern durch meine Actiencompagnie
zur Würde wahrer Exiſtenz. Luftbauten werden
nicht mehr phraſeologiſch gemeint ſeyn, ſondern die
5*
[68] Menſchen werden wirklich ihr Geld hineinſtecken.
Aber geh zu Bette, Schatz, ich bin müde und will
ſchlafen.
Münchhauſen wendete ſich um und ſchlief ein.
Der alte Baron murmelte: Das gewinnt denn
freilich jetzt eine andere Geſtalt, wir kommen in’s
Practiſche. Er muß — Er muß — — der Alte
ging in ſo tiefen Gedanken fort, daß er ſelbſt ſein
Nachtlicht mitzunehmen vergaß.
Von dem Scheine dieſer Kerze düſter beleuchtet,
blieb Karl Buttervogel neben dem Bette ſtehen.
Sein Geſicht war von Beſtürzung ganz aufgelau-
fen, bisweilen ſchlich eine dicke Thräne die Naſe
entlang, regungslos ſtand er da, wie eine Bild-
ſäule, und ließ die Thränen, ohne ſie abzuwiſchen,
ſtill fließen. Der Urheber der Betrübniß ſchnarchte
dazu. Nachdem der traurige Diener über eine
Stunde alſo geſtanden, gab er ſich daran, die Klei-
dungsſtücke des Freiherrn, welche am Boden und
auf den Stühlen zerſtreut umherlagen, ſacht zu er-
heben. Er legte ſie ſorgfältig geordnet an die
ihnen beſtimmte Stelle, nahte ſich auf den Zehen
dem Bette, zupfte den Freiherrn am Hemde und
flüſterte: Gnädiger Herr!
[69]
Münchhauſen fuhr auf, rieb ſich die Augen
und ſagte: Warum weckſt du mich, Impertinenter?
Ich wollte Sie nicht wecken, erwiederte Karl
Buttervogel ſchüchtern, ſondern nur fragen, wann
Sie morgen früh befehlen, geweckt zu werden?
So! rief Münchhauſen. Willſt wieder bei mir
im Dienſt bleiben, du Vieh? Nein, mein Sohn,
halte feſt an deinem Entſchluſſe, geh, geh von dem
Lügner, ſei nicht ſo dumm, ihm zu glauben, ihm,
dem kein wahres Wort aus dem Munde kommt,
mit einem Worte; pack dich, du Schuft!
Karl Buttervogel ſank am Bette auf ſeine
Kniee, ergriff die Hand des Freiherrn, küßte ſie,
heulte und ſchluchzte, daß es einen Stein hätte
erbarmen mögen, ſelbſt einen aus Luft, und rief:
Gnädiger Herr, ich weiß ja, daß ich ein Schuft
geweſen bin. Aber ich will es in meinem ganzen
Leben nicht mehr thun. Ach, vergeben Sie mir
doch nur dieſes eine Mal, damit ich techniſcher
Mitdirector bleibe, ich habe ſchon ſo ſehr auf dieſen
Poſten und auf dieſes gute Brod gerechnet, und
wäre ein geſchlagener Mann, wenn mir’s entginge,
denn mit dem Herrn Schwiegervater kann es noch
im weiten Felde ſtehen, und wer weiß auch, ob
[70] mir die fernerweite gute Verköſtigung ausgemacht
wird, wofür ich’s allein thue, und ich will nimmer
wieder von der unnatürlichen Erzeugung plappern
und vom Munkel und von den chemiſchen Schmie-
rereien, weil ich ſehe, daß es Sie kränkt, und von
Lohn, und was ich ausgelegt, ſoll gar keine Rede
mehr ſeyn, nein, Alles gratis, Aus- und Anziehen
und Waſſerholen und ſonſt, und ich wollte doch ſo
gern Ihr Bedienter bleiben.
Dein ſcheußlicher Eigennutz läßt dich ſo eifrig
dieſe Bitte ausſprechen, ſagte Münchhauſen ernſt.
Die techniſche Mitdirectorſchaft iſt es allein, welche
dir im Sinne liegt. Aber tröſte dich, mein Freund,
du wirſt nichts verſcherzen, wenn du von mir gehſt.
Wie ſollte ein Lügner jemals Wahrheit ſagen?
Auch die Luftverdichtungsactiencompagnie habe ich
nur vorgeſpiegelt.
O nein, nein, nein! rief Karl Buttervogel laut
und begeiſtert. Ich laſſ’ mich nicht irre machen.
Nein, wenn der gnädige Herr auch ſonſt jezuwei-
len aus Liebhaberei ’n biſſel flunkern, damit
hat es ſeine volle Richtigkeit. Ach, ich ſehe wohl,
der gnädige Herr prüfen mich nur noch und ſpaßen
ſchon; und ich bleibe bei Ihnen.
[71]
Nun denn, ſagte Münchhauſen, für dieſesmal
will ich dir verzeihen; es iſt aber das letztemal.
Ob du indeſſen techniſcher Mitdirector wirſt, hängt
lediglich von deiner ferneren Aufführung ab. Und
nun hole mir den Stock da her, du Spitzbube, denn
der neue Contract, welchen wir Beide abſchließen,
will ſeine Bekräftigung und Draufgabe haben.
Karl Buttervogel brachte den Stock, welcher
in der Nähe des Bettes ſtand, getragen, ſein Herr
zog ihm damit einige ſogenannte Jagdhiebe über
den Buckel; der Diener ächzte zwar unter der Laſt
dieſer Streiche, ſchüttelte ſich aber nachher und
ſagte getröſtet: Es wird Einem doch gleich wieder
ſo wohl, wenn man wieder ſeine feſte Anſtel-
lung hat.
Nach ſeinem Abgange blieb der Freiherr im
Bette emporgerichtet ſitzen und ſprach: Erſtaunlich,
was für eine Gewalt ich über meine Umgebungen
ausübe! Er warf ſich auf ſein Kiſſen nieder,
wandte ſich um und ſchlief abermals ein. In-
deſſen ſollte ihm noch keine dauernde Nachtruhe
gegönnt ſeyn. Denn nachdem er etwa eine halbe
Stunde geſchlummert haben mochte, erwachte er
wieder von einem Geräuſche am Fenſter. Im erſten
[72] Augenblicke meinte er, daß Diebe ſich zum Ein-
ſteigen rüſteten; halb ſchlaftrunken fuhr er aus den
Federn und an das Fenſter, ſah aber, nun durch
den kühlen Nachtwind völlig geweckt, unten im
Hofe eine dunkle Geſtalt, mit einer überlangen
Stange in der Hand. Wer iſt da? Und was ſoll
das? rief Münchhauſen die Geſtalt an.
Dieſer erwiederte: Ich bin es, der Schul-
meiſter, auch Ageſilaus geheißen, und dieſe aus
mehreren Bohnenſtiefeln zuſammengefügte große
Stange klopfte an Ihr Fenſter, um Ihre Auf-
merkſamkeit mir zuzuwenden, Herr von Münchhau-
ſen, da mein leiſes und beſcheidenes Rufen Ihres
werthen Namens nicht verfangen wollte. Noch Licht
in Ihrem Zimmer ſehend, hielt ich es nicht für
unhöflich, eine Zwieſprach mit Ihnen zu begehren,
welche ich denn hiemit begehrt haben will. Mich
verlangt ſehnlichſt nach einer Unterredung über einen
mir hochwichtigen Gegenſtand. Wollen Sie mir
wohl leiſe, auf daß die Hausbewohner nicht er-
wachen, die Thüre öffnen und den Zutritt in Ihr
Gemach verſtatten?
Zum Teufel, Herr, das werde ich bleiben laſ-
ſen! rief Münchhauſen ärgerlich. Wer erlaubt Ihnen,
[73] die Leute aus dem Schlafe zu ſtören? Was Sie
mir zu ſagen haben, können Sie mir von da
unten ſagen.
Auch dieſes, verſetzte ruhig Der unten mit der
Stange. Die Unterredung aber muß vor ſich ge-
hen, damit ich heute noch meinen Entſchluß faſſen
kann. Kürze, die körnige Kürze der Sparter ſei
mein Muſter, denn es zieht hier etwas ſtark an
der Ecke. — Herr von Münchhauſen, der Menſch,
welcher überhaupt dieſen Namen verdient, hat Ge-
danken. Dieſe Gedanken haben einen Inhalt und
dieſer Inhalt kann wahr oder falſch ſeyn. Falſch
iſt er, wenn er der Wirklichkeit wider-wahr, wenn
er ihr entſpricht. Was nun die Wirklichkeit ſei,
iſt zwar ſchwer zu ſagen, indeſſen, bis dieſes große
Geheimniß entdeckt wird, müſſen wir mit dem,
was andere Menſchen über unſere Gedanken denken,
uns behelfen. Deßhalb iſt es ſo überaus wichtig,
Letzteres zu erfahren, weil wir dadurch zwar noch
nicht die Wirklichkeit ſelbſt, aber doch gleichſam
eine Anweiſung auf ſie in die Hände bekommen.
Eine ſolche Anweiſung wünſchte ich gegenwärtig
von Ihnen zu empfangen, Herr von Münch-
hauſen.
[74]
Herr, kommen Sie zur Sache! Nennen Sie
dieſe Umſchweife Kürze? rief Münchhauſen zornig,
denn es fror ihn am Fenſter.
Zur Sache denn! Ich begehre Ihre Gedanken
über meine Gedanken. Ich denke mir noch immer,
daß ich meine Abkunft von den Lacedämoniern und
inſonderheit von jenem ihrem großen Könige her-
leiten darf. Was aber denken Sie über dieſe
meine Gedanken?
Münchhauſen riß die Geduld. Ich denke, daß Sie
ein Narr ſind! rief er und wollte das Fenſter zuſchlagen.
Einen Augenblick erbitte ich mir noch Gehör.
Ihre Aeußerung macht mir klar, daß Sie meine
mir bis jetzt theuerſte Ueberzeugung für unrichtig
halten. Wären Sie wohl ſo gefällig, mir den
Beweis der Unrichtigkeit zu führen, mir auseinan-
derzuſetzen, warum die Ageſels nicht von jenem
griechiſchen Volke abſtammen können?
Nein. Sein Sie, was Sie wollen, Athener
oder Sparter, mir gilt es gleich! — Münchhauſen
ſchlug das Fenſter zu, murrte: Das iſt ja heute
eine verhenkerte Nacht! ſprang wieder in ſein Bette,
wandte ſich zum drittenmale um und ſchlief zum
drittenmale ein.
[75]
Jetzt aber ließ ihn der Geiſt, welcher heute
ſpuken ging, kaum eine Viertelſtunde raſten. Er
war kaum wieder eingeſchlummert, als er ſich derb
am Arme gerüttelt fühlte. Auffahrend mit den
Worten: Sackerlot, was giebt es nun ſchon wie-
der? ſah er zu ſeinem großen Erſtaunen bei dem
Schimmer der Nachtkerze den alten Baron aber-
mals vor dem Bette ſtehen, noch gekleidet, wie
früher, nämlich an den Füßen gelbe Pantoffeln und
den Leib in einen rothen kattunenen Schlafrock mit
grünen Weinblättern eingehüllt. — Bruder Münch-
hauſen, ſagte der Schloßherr und ſetzte ſich auf den
Stuhl vor dem Bette, nimm es nicht übel, daß ich
dich ſtöre, aber ich kann kein Auge ſchließen. Du
haſt mir mit deiner Luftentrepriſe eine Unruhe in
das Blut geworfen, daß ich in meiner Kammer
nicht zu bleiben vermag. Sieh mir einmal recht
ſteif in’s Geſicht, und ſage mir dann, Cavalier
gegen Cavalier: Haſt du mir nichts vorgelogen?
Schnuck …
Ich bitte dich, habe mir nichts vorgelogen!
Ich glaube dir gern; es wäre ſchrecklich, wenn du
gelogen hätteſt, denn meine ganze Seele iſt ſchon
bei dem Unternehmen, die Freude meines Alters
[76] wäre dahin, wenn nichts aus der Sache würde.
Und an und für ſich iſt ſie auch nicht unglaublich,
da ſo viele andere ſtaunenswerthe Erfindungen
neuerdings gemacht worden ſind, als zum Beiſpiel:
Licht aus Unrath zu ziehen, und Eſſig aus Holz,
Citronenſäure aus Kartoffeln und Zucker aus Urin.
Warum ſollen ſie alſo nicht Steine aus Luft machen
können? Fällt ſie uns doch oft ſchwer genug auf
die Bruſt! Dein Wort wird mir daher genügen,
dein Manneswort: Haſt du mir nichts vorgelogen?
Der im Hemde mit dem Zipfeltuche um das
Haupt ſah ſeinen Wirth ſtarr an und ſagte feier-
lich: So wahr du geborener Geheimerrath im höchſten
Gericht wirſt, ſo wahr tritt die Luftverdichtungs-
actiencompagnie in’s Leben.
Wohl, verſetzte Der im rothen kattunenen
Schlafrock mit den grünen Weinblättern, nun bin
ich beruhigt.
Der Freiherr bat ſeinen Wirth um Gottes-
willen, ihn denn auch ruhen zu laſſen, der Alte
aber war außer aller Faſſung und blieb unter er-
hitzten Reden auf dem Stuhle ſitzen. Du mußt
mir einen Gefallen thun, Münchhauſen, rief er.
Abweiſen laſſe ich mich nicht von deiner Compagnie,
[77] denn die Zeiten ſind ſchmal und Einhundert ſechs
und dreißig drei Achtel Procent nach dem erſten
Jahre ſtehen nicht zu verachten. Wenn mir Lis-
beth die Zinſen bringt, kriege ich eine runde Summe,
eine Actie zu bezahlen — ich will und will und
will eine haben.
Verfluchter Actienſchwindel! rief der Freiherr.
Ich habe dir ja geſagt, daß keine mehr zu kaufen
iſt. Geh doch um aller Heiligen willen zu Bette!
Und zu Bette gehe ich nicht! kreiſchte der auf-
geregte Alte. Verſagſt du mir die Luftactie, ſo
laß’ ich dich morgen zum Hauſe ’naus werfen!
Das iſt ja eine ſchöne Erfahrung, die ich an
dir mache! ſagte Münchhauſen und lehnte ſich matt
zurück. Seit wir einander Du nennen, kommen
nichts als Grobheiten zwiſchen uns zum Vorſchein.
Es bleibt alſo doch wahr, daß manche Freund-
ſchaften durchaus nur auf: Sie eingerichtet ſind
und dieſen Terminus ohne Gefährde nicht verlaſſen
dürfen.
Der alte Baron, der von ſeiner Aufregung
zurückgekommen war, bat ſeinen Gaſt um Ver-
zeihung, und es ſei nicht ſo übel gemeint geweſen,
ſagte er. Dann erſuchte er ihn, ihm wenigſtens
[78] eine beſoldete Anſtellung bei der Compagnie zu
geben, damit er doch einigen Vortheil von der
Unternehmung ziehe. — Ja, was ſoll ich aus dir
machen? fragte Münchhauſen. Das Directorium
iſt beſetzt, der Verwaltungsrath vollzählig, Secre-
tariats- und Botengeſchäfte paſſen nicht für dich;
das einzige Syndicat, das Richteramt für die Strei-
tigkeiten unter den Luftactionairen, iſt noch offen
— willſt du das haben?
Ei! rief der alte Baron, dieſes würde mich
ganz trefflich kleiden. Es wäre eine Zwiſchenbe-
ſchäftigung, eine gute Vorübung auf die Zeit, da
die alten Verhältniſſe wieder hergeſtellt werden,
und ich meinen geborenen Geheimerrathspoſten im
höchſten Gericht antrete. Ja, das nehme ich mit
Freuden an.
Topp! rief Münchhauſen. Du ſollſt Richter
unter den Luftverdichtern werden und einen Gehalt
von ſechsmalhunderttauſend Pfund Luftſteinen jährlich
beziehen. Denn wir haben, wie man in China
mit Reis, als dem gangbarſten Producte der Lan-
descultur bezahlt, die Verfügung getroffen, nur in
unſerem Producte, nämlich in verſteinerter Luft
alle Beſoldungen zu entrichten.
[79]
Sehr vernünftig, verſetzte der alte Baron. So
ſpart Ihr baar Geld. Ich bin damit zufrieden.
Nur bitte ich mir probemäßige Luftſteine aus und
verwahre mich gegen allen Müll und Abfall.
Münchhauſen mußte hierauf dem neuen Syn-
dicus noch ein Langes und Breites von der Be-
reitung der Luft erzählen, wobei er ſich freilich die
eigentlichen Fabrikgeheimniſſe vorbehielt.
Damit aber war ſein Zuhörer noch nicht zu-
frieden, ſondern er forſchte auch gründlich nach der
Verfaſſung der Compagnie, nach den ſtimmfähigen
und ſtimmloſen Mitgliedern, nach dem Geſellſchafts-
capital, nach der Geſchäftsführung, nach den Uni-
verſal-, General-, Particular- und Specialver-
ſammlungen, damit er, wie er ſagte, bei Zeiten
Alles erfahre, was zu ſeinem Amte ihm zu wiſſen
Noth thue.
Münchhauſen gab ihm über jeden dieſer Puncte,
obgleich er lieber geſchlafen hätte, nothgedrungen
die bündigſte Auskunft, ſo daß er ſich ganz heiſer
ſprechen mußte. Endlich ging der Alte.
Die Nacht war über dieſen Vorfällen und Ge-
ſprächen verſtrichen. Phöbus mit dem goldenen
Haar ſah in das Fenſter. Erſchöpft legte ſich
[80] Münchhauſen abermals zurück, um wenigſtens noch
eine Stunde Morgenruhe zu genießen. Es iſt
doch übel, wenn man bei den Leuten allzuviel
Ideen anregt, ſagte er vor dem Einſchlafen.
Aber bald erhob ſich unter ſeinem Fenſter das
Getöſe einer eifrig arbeitenden Säge; der Ton,
welcher vom erſchrecklichſten Schrillen in einem
unausgebildeten Sopran zum ſchauderhafteſten
Schnurren in einem verdorbenen Alt regelmäßig
ſich ſenkend, bekanntlich auch den Taubſten erwecken
kann. Münchhauſen ſagte anfangs zu ſich ſelbſt:
Es iſt nur Täuſchung, und ſtopfte ſich tief in die
Kiſſen hinein: dann ſagte er: Es iſt zwar keine
Täuſchung, aber ich will dieſen ſinnlichen Eindruck
durch Abſtraction überwinden. — Er begann daher
von dem Schrillen und Schnurren ſeine Gedanken
mit Macht ſeitwärts zu führen, und würde viel-
leicht bei der großen geiſtigen Kraft, die ihm bei-
wohnte, des Sinneneindrucks Meiſter geworden
ſeyn, wenn ſich nicht plötzlich mit dem Sägege-
räuſche ein heftiges Rumoren über ſeinem Haupte
verbündet hätte. Es ließ ſich nämlich ein Gepol-
ter über ſeiner Stube vernehmen, als ob der ganze
Söller umgekehrt würde. Zwiſchen Sägegeräuſch
[81] und Söllergepolter eingeklemmt, konnte er es nicht
länger aushalten. Er rief: So iſt es und bleibt
es demnach unmöglich, heute zu einem leidlichen
Schlafe zu gelangen! und ſprang mit beiden Füßen
aus dem ruheloſen Bette. Er ſchellte und ließ
ſich von ſeinem techniſchen Mitdirector, der zugleich
Prätendent von Hechelkram und Karlos der Schmet-
terling war, ankleiden.
Von der durchwachten Nacht ſah er ſehr gelb-
grünlich aus, und die Augen ſtanden ihm wüſt im
Kopfe. Das Sägen aber rührte vom Schulmeiſter
und das Rumoren vom alten Baron her.
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 6
[82]
Siebentes Capitel.
Warum der Schulmeiſter ſägte und warum
der alte Baron rumorte.
Der Schulmeiſter war, nachdem der Freiherr
das Fenſter zugeworfen hatte, mit einem Seufzer
und dem Ausrufe: Nicht einmal eine Widerlegung!
in ſeine Wohnung auf dem Taygetus gegangen.
Dort blieb er, kopfſchüttelnd und ſinnend, die kleine
Blendlaterne vor ſich auf den Tiſch geſtellt, einige
Stunden lang ſitzen. Er blickte unverwandt in
das Licht der Laterne und hatte ſeine beiden Arme
auf die Kniee geſtemmt. Nachdem er ſo längere
Zeit geſeſſen, erhob er ſich, ſtrich mit der Hand
langſam über ſein Kinn und ſagte: Ja, es iſt ſo,
ich bin darüber nun im Klaren und habe meinen
Entſchluß gefaßt. — Er ging in die Ecke, worin ſein
Lager aufgeſchüttet war, und ſprach, es mit unter-
[83] geſchlagenen Armen betrachtend: Dieſes iſt Stroh,
und zwar krummes, keinesweges aber Schilf. — Er
nahm die Laterne, begab ſich mit ihr hinaus, leuch-
tete auf dem Platze vor dem Gartenhäuschen umher
und ſprach: Ein gewöhnlicher Schneckenberg, und
was da unten murmelt, iſt ein Wäſſerlein ohne
Namen. — Er holte den Becher oder Kothon, das
heißt, den alten irdenen Topf aus dem Garten-
häuschen und zerſchmetterte ihn mit den Worten:
Du ſollſt mich nicht mehr verführen! durch einen
heftigen Wurf. Dann ſank er auf ſein Strohlager
zu einem feſten und erquicklichen Schlummer nieder.
Nach wenigen Stunden, als das Frühlicht ange-
glommen war, (denn er brauchte wenig Schlaf)
erhob er ſich wieder, rückte ein altes Schreibzeug
zurecht, fand glücklicherweiſe einen Bogen Papier
und ſchrieb an den Schulrath Thomaſius.
Mit dieſem Briefe in der Hand trat er hinaus
in das Morgenroth. Er freute ſich der aufſteigen-
den Sonne und rief: Es iſt denn doch ein anderes
Ding, die liebe Gottesſonne, als der längſt begra-
bene Heidengötze Helios. — Guten Morgen, Ageſel!
rief eine Stimme von unten ihm zu. O glückliche
Vorbedeutung! ſagte der Schulmeiſter, ich werde
6*
[84] wieder bei meinem Taufnamen genannt, ja, den
Ageſilaus hätten wir wohl hinter uns. Hinab-
blickend ſah er den Kreisboten, welcher, ſeinen
braunen Stecken in der Hand und die ſchwarz-
lederne Scripturentaſche über den Rücken gehängt,
längſt des Gartens durch die Dornen ſeinen Dienſt-
weg ſchritt. Halt! rief der Schulmeiſter und warf
den Brief hinunter, nehmt das an den Herrn Schul-
rath mit, Ritterſporn, aus Gefälligkeit.
Er ging nach dem Schloſſe, wo er das Fräu-
lein, welche auch wenig geſchlafen hatte, ſchon
munter fand. Könnte ich nicht eine nützliche Be-
ſchäftigung erhalten? fragte er ſie. O ja, war die
Antwort, es iſt Holz zu ſägen und klein zu machen. —
Fröhlich ging der Schulmeiſter nach dem Holzſtall,
ſtellte den Sägebock unter dem Fenſter des Freiherrn
auf und begann nun jene geräuſchvolle Arbeit, von
welcher im vorigen Capitel die Rede geweſen iſt,
emſig und unverdroſſen, ſich ſchon freuend auf das
Hacken, wenn das Sägen vorbei ſeyn möchte.
Letzteres wäre ſonach erklärt, mit dem Rumoren
aber hatte es folgende Bewandniß. In den alten
Baron war durch die induſtriellen Entwürfe der
Nacht ein unausloſchliches Feuer gedrungen. Vor
[85] ſeinen Augen erhoben ſich Brücken, Kunſtſtraßen,
Palläſte, ja ganze Städte aus verſteinerter Luft.
Er hatte ſich zwar, nachdem er Münchhauſen ver-
laſſen, abermals niedergelegt, konnte jedoch jetzt
eben ſo wenig ſchlafen, als vorher, ſondern wälzte
ſich, die Luftbauten vor den brennenden Augen,
ſchlaflos von einer Seite zur andern. Nicht lange
währte es, ſo wurde er bei ſeiner Lebhaftigkeit des
unangenehmen Bettes müde, ſprang auf und ging,
einen närriſchen aber feſten Plan im Buſen, auf
den Söller.
Es war ihm nämlich eingefallen, daß die Strei-
tigkeiten unter den Luftactionairen häklicht und
ſpitzig ausfallen könnten, und daß es daher, um
das Syndicat mit Auszeichnung zu verwalten,
räthlich ſeyn dürfte, im Voraus den Scharfſinn
auf gerechte Urtheilsfällungen einzuüben. Er be-
ſchloß daher, ſich eine vorläufige Gerichtsſtube ein-
zurichten, und zwar fern von ſtörendem Geräuſche,
oben auf dem Söller in der ſogenannten Polter-
kammer, in welcher Lisbeth die Notizen über die Zins-
rückſtände gefunden hatte. Münchhauſen ſollte, das
war ſein Entwurf, ihm erdichtete Rechtsfälle, wie ſie
die jungen Studenten im Practico nach den Pandec-
[86] ten ausklauben, vorlegen, und er wollte ſie dann nach
der ratio nunquam ſcripta des Luftrechtes entſcheiden.
Er ſchloß die Polterkammer im erſten Dämmer
auf. An der ſchrägen Dachwandung, wo gebrochene
Lichter ſich zwiſchen den Ritzen der Ziegeln und
Schindeln hindurch ſtahlen, ſtand ein ehemaliger
L’hombretiſch mit eingelegten Holzfiguren auf drei
Beinen, den ernannte er zur Gerichtstafel. Er
mußte, um zu ihm zu gelangen, einige Reihen leerer
Champagnerflaſchen, drei alte zerbrochene japaniſche
Vaſen, ein meſſingnes Papageienbauer und ein ver-
bogenes Jagdhorn wegräumen; Zeugen und Denk-
mäler einſtiger glücklicher Tage. Hierauf ließ ſich
der Tiſch bequem in die Mitte der Polterkammer
bringen und mit Hülfe eines Gueridons von ver-
gilbtem Alabaſter, der ſich dort auch irgendwo fand,
auf einen ſicheren vierten Fuß ſtellen. In einer
andern Ecke ſtand ein orangeplüſchener Großvater-
ſtuhl, den ſchob er als Richterſtuhl hinter die Ge-
richtstafel. Nun fehlten nur noch die Acten, die
Bücher und das Richtercoſtüm, um dem Ganzen
das gehörige ehrwürdige Anſehen zu geben. Acten
und Bücher fanden ſich leicht, denn es lagen da
ganze Bündel alter Papiere und Haufen ſchweins-
[87] lederner Bände auf dem Boden umher. Er nahm
verſchiedene Convolute unbeantwortet gebliebener
Mahnbriefe auf und bedeckte damit die Gerichts-
tafel. An deren Rändern rings herum ſtellte er
den Abbé de la Plüche, Schelmufsky’s Reiſen, das
curieuſe Welttheater und die aſiatiſche Baniſe ſammt
dem Leben der weltberüchtigten Frau Neuberin als
richterliche Hand- und Hülfsbibliothek auf. Das
Coſtume ließ ſich ſchwerer entdecken, doch war er
auch in dieſer Beziehung zuletzt glücklich. Denn
als er von der der Dachwand entgegengeſetzten
einen Bettſchirm mit Schäfern aus Geßners Idyl-
len hinweggethan hatte, ſah er eine Reihe alter
Kleidungsſtücke an den Nägeln hangen. Unter
dieſen erblickte er einen ſchwarzen Domino, von
dem er ſich erinnerte, ihn auf der Vermählungs-
redoute des letzten Fürſten von Hechelkram getragen
zu haben, eine Sammettoque, in der ſeine Gemahlin
einſt einen engliſchen Herzog bezaubert hatte, und
eine abgelegte Spitzenfraiſe, deren Geſchichte ihm
entfallen war. Er nahm dieſe drei Stücke, welche
ihm Richtermantel, Barett und Kragen bedeuten
mußten, und hing ſie an einem Pflocke der Gerichts-
tafel gegenüber auf.
[88]
Nachdem der Schloßherr, alſo rumorend, die
Gerichtsſtube eingerichtet hatte, ſetzte er ſich in den
orangeplüſchenen Großvaterſtuhl, legte die Hände
auf die Gerichtstafel und freute ſich über ſein zu
Stande gebrachtes Werk.
Das hat mir gefehlt! rief er. Eine feſte
practiſche Beſchäftigung mangelte mir! Darum
fühlte ich ungeachtet aller Studien bisher eine ſo
peinigende Leere. Denn wie gefüllte Blumen zwar
die ſchöneren zu ſeyn ſcheinen, eigentlich aber krän-
keln und früher abſterben, als die einfachen, ſo iſt
ein unbeſchäftigter Menſch, wenn er ſeinen Geiſt
auch noch ſo herrlich ſchmückt, im beſten Falle doch
nur einer gefüllten Blume gleich. Die Kräfte
ſeiner Seele vergeuden ſich in eitler Blätterfülle
und abgeſehen davon, daß nach ihm keine Frucht
bleibt, ſo erſtickt er auch ſelbſt bald an dem Ueber-
maaße mißgewandter Säfte. Dagegen leitet ein
thätiger Beruf die Geiſter, welche das Leben näh-
ren, in die rechten Röhren und Canäle, von denen
ſie dann in geſunden und gottgefälligen Bildungen
als ſchlanke Stengel, friſche Blätter, duftige Blüthen
ausgehen. Alle müßige Menſchen, und ſeien ſie
die beſtgearteten, haben oder bekommen eine Neigung,
[89] Andern wehe zu thun, nur um doch mit etwas
ihre Tage auszufüllen, während der Fleiß, der
durch Geſchick oder durch Vorſatz auferlegte, auch
geringere Seelen zu veredeln pflegt. Nicht mit
Unrecht kann man ſagen, daß er wie ein Magnet
durch fortgeſetztes Tragen unglaublicher Laſten
mächtig wird, während die Trägheit ein Stahl in
der Scheide iſt, den zuletzt doch der Roſt zernagt.
Auch iſt ferner zu ſagen, daß die emſigen Bienen,
obzwar ihnen die Natur einen ſcharfen Giftſtachel
gegeben hat, nur gereizt ſtechen, und den Nicht-
beleidiger unbeleidigt durch ihren Schwarm hin-
durchgehen laſſen, wogegen die nicht ſammelnden
Wespen Jeden, auch den Ruhigſten muthwillig an-
zufallen pflegen. Weßhalb der Fleiß ein Freund
ſeiner ſelbſt und Anderer genannt werden darf, die
Faulheit aber als Feindin an ſich und Jedermann
handelt. Und darum iſt es mir ſo lieb, daß meine
letzten Tage nunmehr aus dem müßigen Schwär-
men, welches mich ganz aushöhlte und vernichtigte,
in eine rühmliche Thätigkeit ſich retten, bei welcher
ich mit gutem Gewiſſen und ſtarkem Bewußtſeyn
geduldig die Rückkehr der alten Verhältniſſe und
meinen Eintritt in das höchſte Gericht erwarten
[90] kann. Auch daß der Wohlſtand ſich wieder hebt,
iſt keinesweges gering zu ſchätzen. Sechsmalhun-
derrtauſend Luftſteine ſind ein ſchönes Einkommen,
denn wenn ich das Tauſend Steine auch nur auf
zehn Thaler anſchlage, ſo giebt das eine jährliche
Revenue von ſechstauſend Thalern. Von dieſen
will ich viertauſend verzehren, und den Reſt zurück-
legen, halb für meine Tochter und halb für mein
Pflegekind Lisbeth zu einer Ausſteuer.
[91]
Achtes Capitel.
Rechtsfälle und Auseinanderſetzungen.
Als der Syndicus und Luftverdichter dieſe Rede
vollendet hatte, hörte er Jemand auf den Söller
kommen, rief ihn an und ſah, daß es Karl But-
tervogel war, der, wie er ſeinen Namen rufen
hörte, ein Stück Wurſt, welches ihm zum Früh-
ſtück dienen ſollte, ſchnell in die Jackentaſche ſteckte.
Der begünſtigte Diener pflegte nämlich auf dem
Söller ſeine heimlichen Mahlzeiten zu halten, weil
ihm das Fräulein dieſes ausdrücklich vorgeſchrieben
hatte, ſo lange ſein verlarvter Zuſtand dauern
würde.
Sieh, ſieh, mein Freund! rief der alte Baron,
der für Eßwaaren ein ſcharfes Auge bekommen
hatte, ſeitdem er ſich ſo überaus mager behelfen
mußte, was hat Er da? Schmecken Ihm ſo früh
ſchon die fetten Biſſen? Ja, verſetzte Buttervogel,
[92] ich hab’ die Wurſt der Katz’ abgejagt, die damit
aus der Küche ſprang. — Nun, dann ſei Ihm
dieſelbe gegönnt, antwortete der alte Baron, es
iſt mir lieb, daß das Ungeheuer auch einmal
merkt, wie es thut, wenn Einem der Brocken vor
dem Munde weggeſchnappt wird.
Karl’n war es gar nicht recht, daß der Söller
ſeine Einſamkeit verlieren ſollte. Er ſtand, kratzte
ſich im Kopfe, ſeufzte und ſagte endlich: Werden
der gnädige Herr von nun an hier öfters ſitzen?
Auf die bejahende Antwort des Alten ſeufzte der
bisher wohlverköſtigte Prätendent noch lauter, ſo
daß der Schloßherr neugierig wurde die Urſache
dieſes Grams zu erfahren, jedoch aus dem Bedien-
ten nur eine Rede von ſtiller Beſchäftigung, gegen-
ſeitiger Störung, gutem Brode, vornehmer Liebe
und Heirathserbieten, wenn fernerweite Verköſti-
gung zugeſagt werde, bringen konnte — ein Ge-
mengſel, in welchem er ſich nicht zurechtzufinden
wußte. — Was will Er eigentlich und warum ſieht
Er mich immer ſo ſonderbar an? fragte er Karl’n,
der keinen Blick von ihm verwandte.
Gnädiger Herr, ſagte der Schmetterling mit
der Wurſt in der Taſche, es geht nun und nimmer
[93] mit zwei Verrichtungen an einem Orte! Wo ein
Webſtuhl ſteht, kann keine Hobelbank ſtehen. Wo-
fern Sie hier ſitzen bleiben, iſt’s aus mit all
meiner Freude auf Schnick-Schnack-Schnurr, und
Schwiegerväter haben ſonſt auf Schwiegerſöhne
einige Rückſicht genommen und ihnen nicht ihr Brod
verdorben, beſonders wenn Schwiegerſöhne mit dem
gehörigen Reſpect ſich betragen, und ich kann ſagen,
daß noch kein unrechter Gedanke gegen Sie in
dieſes mein Herz gekommen iſt, und neulich ver-
ſtanden Sie mich nicht, als ich Ihnen die Stiefeln
auszog und Sie bedeutſam anblickte, und heute
wird’s auch wohl noch dunkel bleiben zwiſchen uns,
das thut aber nichts, wenn das Herz nur was
taugt, und Gott ſieht nicht den Rock an, ſondern
den Mann, und ich wollte Sie ſo gern ſchon ein-
mal vorläufig kindlich verehren, und deßhalb bitte
ich, reichen Sie mir Ihre Hand zum Kuſſe und
dann thun Sie mir den Gefallen, vom Söller
zu gehen!
Von allem Seinem Gewäſche verſtehe ich bloß,
daß Er mich gern von hier fort haben will, von
welchem Verlangen ich nun aber wieder den Grund
nicht einſehe, ſagte der Baron. Hier hat Er
[94] indeſſen meine Hand. Er ſcheint mir dennoch ein
guter Kerl zu ſeyn, und ſpricht vermuthlich ſo
dummes Zeug, weil Er auch nicht geſchlafen hat,
denn die Nacht war unruhig. Der Alte reichte
dem Bedienten die Hand zum Kuß, dieſer ergriff
ſie ſeufzend und drückte mit den halblauten Wor-
ten: Was hilft mir die Hand, wenn ich den Söller
nicht behalte? einen Kuß darauf, worüber der
Schloßherr gerührt wurde und einige Thränen
vergoß. Er befahl hierauf ſeinem Verehrer, den
Herrn zu ihm zu rufen, da er nothwendig mit
dieſem ſprechen müſſe, und er ſolle auch wieder
mitkommen. Karl Buttervogel ging die Söller-
treppe hinab und murrte: Das weiß ich ſchon,
auf all mein Glück legt der Teufel ſeinen Schwanz;
wo ſoll ich nun in Zukunft meine ſtillen Mahlzeiten
halten?
Er ſuchte ſeinen Herrn in der Stube, im Hofe;
endlich fand er ihn im Garten in der Taxuslaube
hinter dem Genius des Schweigens. Dort hatte
Münchhauſen, um dem unermüdlichen Sägen des
Schulmeiſters zu entrinnen, ſeinen Kaffee getrunken,
und war dann auf der Moosbank etwas eingenickt.
Abermals erweckt, machte er ein erbarmenswürdiges
[95] Geſicht und hatte nicht einmal mehr die Kraft, den
Diener auszuſchelten. Denn er konnte keine Nacht-
wachen vertragen; der Schlaf war ſein einziges
Bedürfniß, außer dieſem hatte er faſt keins. Als
er die Beſtellung gehört, rief er: Iſt denn der
Alte ganz des Teufels? und machte ſich mit dem
verdrießlichen Bedienten verdrießlich auf den Weg
zu ſeinem Wirthe. Unterweges gingen ſie an dem
Sägebocke des Schulmeiſters vorbei, an welchem
dieſer im Schweiße ſeines Antlitzes handthierte.
Er warf dem Freiherrn einen gerührten Blick zu,
hielt einen Augenblick mit ſeiner Arbeit inne und
ſagte: Obgleich Sie mich nicht lieben, Herr von
Münchhauſen, ſo haben Sie mir doch die größte
Wohlthat heut zu Nacht erwieſen. Ich verdanke
Ihnen mein Leben! — Daß ich nicht wüßte, ant-
wortete Münchhauſen betroffen. Im Hausflur
ſchnitt das Fräulein Bohnen. Sie ließ das Meſſer
ruhn und ſagte zu Münchhauſen: Verſtehſt du mich
in dieſem Augenblicke, Meiſter? — Nein! fuhr
Münchhauſen unwillkührlich heraus. — Wie!? rief
Emerentia überlaut und ließ vor Schreck die Boh-
nenſchüſſel auf den Boden fallen, daß das Geſchirr
zerbrach.
[96]
Auf dem Abſatze der Söllertreppe lehnte ſich
der Freiherr erſchöpft an ſeinen Bedienten und
ſagte: Karl, ich fürchte eine Kataſtrophe. Der
Eine verdankt mir ſein Leben, dem ich über Nacht
geſagt habe, er ſei ein Narr; die Andere hat es
nun weg, daß ich ſie nicht immer verſtehe, und in
den Dritten iſt der Teufel der Induſtrie gefahren.
Die Fäden beginnen mir aus der Hand zu ſchlüpfen.
Sie ſind etwas herunter, mein Herr von
Münchhauſen, erwiederte Karl Buttervogel, Sie
haben ſich lange nicht chemiſch geſchmiert, ich muß
bald in die Apotheke gehen. Uebrigens iſt mir
Alles gleich, wenn ich nur techniſcher Mitdirector
werde.
Niedergeſetzt, Münchhauſen, mir gegenüber, und
gleich einige Rechtsfälle aus der Luftmaterie mir
vorgelegt, und Er, Buttervogel, kann als Actuarius
das Protocoll führen! rief der alte Baron den
Eintretenden entgegen. Der Freiherr ſah mit
Verwunderung die Anſtalten in der Polterkammer
und nunmehrigen Gerichtsſtube. Er wollte ſich ein
Anſehen geben und ſagte ernſthaft zu ſeinem Wir-
the, derartiges Stürmen liebe er nicht, Fabrikan-
lagen ſeien mit der größten Beſonnenheit zu gründen,
[97] Haſt und Leidenſchaft ſtürze dabei in dasjenige
Verderben, welches Deficit heiße. Karl Butter-
vogel aber, der endlich gern ſeines Stückes Wurſt
froh geworden wäre, wandte beſcheidentlich ein,
er verſtehe nicht ſo flüſſig zu ſchreiben, um dem
von ihm erforderten Dienſte gewachſen zu ſeyn.
Der alte Baron ließ ſich aber nicht abweiſen.
Was! rief er in ſeinem Fieber; erlahmſt du Grün-
ſpecht eher als ich Graukopf? Schäme dich! Allons!
Munter geblieben, die Augen aufgehalten! Und
was Ihn betrifft, Buttervogel, ſo thue Er bloß
ſo, als ſchreibe Er, wenn Er mit der Feder nicht
raſch fertig werden kann. Er ſitzt nur der Voll-
ſtändigkeit wegen mit da.
Münchhauſen mußte ſich fügen und an der an-
dern Seite der Gerichtstafel dem alten Baron
gegenüber auf einem hölzernen Schemel Platz neh-
men. Der Bediente ſetzte ſich mit einer Feder in
der Hand zur ſchmalen Seite der Tafel. Münch-
hauſen ſchüttelte den Reſt ſeiner Geiſteskräfte
zuſammen und legte dem alten Baron folgende
Rechtsfälle vor:
„Die Luftverdichtungsactiencompagnie kommt
wegen widriger Umſtände nicht zu Stande.
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 7
[98]Frage: Was geſchieht mit den gezahlten Ein-
ſchüſſen?“
Urtheil des alten Barons.
In Betracht; daß widrige Umſtände widrige
Umſtände ſind, wofür Niemand kann:
In Betracht; daß vor allen Dingen gehabte
Mühe und Anſtrengung zu belohnen iſt, damit Nie-
mand den Muth verliere, abermalen gemeinnützige
Plane zu entwerfen:
behalten Directoren, Verwaltungsräthe und
Syndicus die Einſchüſſe und theilen ſich darin
ratirlich. Syndicus mit doppelter Portion.
V. R. W.
Vortrefflich! rief Münchhauſen, du dringſt zum
Erſtaunen ſchnell in die Geheimniſſe der Praxis
ein. Es bleibt eine ewige Wahrheit, Amt giebt
Verſtand.
Mit dieſem Beſcheide bin ich als techniſcher Mitdi-
rector ebenfalls zufrieden, ſagte Karl Buttervogel.
Nun ein zweiter etwas verwickelterer Fall,
ſprach Münchhauſen.
Her damit! rief der alte Baron. Mir wird
keine Nuß zu hart ſeyn.
[99]
„Trebaz ſoll Mäven ein Haus bauen. Auf
Steine lautet der Pact. Trebaz baut ein re-
gelrechtes Haus aus Steinen, im Bruche ge-
hauen. Mäv weigert Bezahlung, weil er Luft-
ſteine gemeint. Frage: Wer hat Recht?“
Urtheil des alten Barons.
Mäv. Der Ausdruck: Steine iſt zweifelhaft.
In dubiis res ad minimum redigenda est. Mini-
mum iſt Luft. Darum ſoll in Zukunft bei Baucon-
tracten allezeit die Vermuthung pro interpretatione
aeriori, für die luftigere Auslegung ſtreiten, und
wer das bisher bräuchlich geweſene ſogenannte
ſolide Material genommen, den Schaden haben.
Trebaz unterliegt, bekommt kein Geld und zahlt
Koſten. V. R. W.
Deine Weisheit ſetzt mich in Erſtaunen, Bru-
der Schnuck, ſagte Münchhauſen. Jetzt aber nimm
dich zuſammen, denn der dritte Fall ſpielt einiger-
maßen in das Geſellſchafts- und Strafrecht.
„Zwei Luftactionaire bekommen mit einan-
der Streit und der Eine ſchilt den Andern:
Windbeutel. Frage: Iſt darin eine Injurie
enthalten?“
7*
[100]
Urtheil des alten Barons.
Da Wind Luft iſt, nur Luft in Bewegung;
Da Luft, mithin auch Wind, recht eigentlich
den Stoff darſtellt, welcher zum Metier der Ac-
tiencompagnie gehört;
Da Niemand durch etwas, was zu ſeinem Metier
gehört, beſchimpft werden kann, der Ausdruck:
Beutel aber ganz unverfänglich iſt;
ergehet Sentenz, daß die Actionaire einander
Windbeutel nennen dürfen, ohne dafür Ge-
nugthuung begehren zu können. V. R. W.
Das finde ich ungerecht, ſagte Karl Butter-
vogel, und wer mich als techniſchen Mitdirector ſo
nennt, dem gebe ich eine Ohrfeige.
Der Actuarius macht ſich zu laut, ſagte der
alte Baron. Gehe Er hinaus, Buttervogel, ich
habe überdieß an ſeinen Herrn eine Frage zu rich-
ten, bei welcher ich Seine Anweſenheit nicht wün-
ſche. Karl entfernte ſich eiligſt.
Der Schloßherr holte aus einem Winkel drei
alte beſtäubte Familienbildniſſe hervor, nämlich
einen Mann im Harniſch mit Treſſenhut und Com-
mandoſtab, einen im ſchwarzen Mantel und weißen
Halskragen und einen im lichtblauen Hofkleide;
[101] ſtellte ſie vor Münchhauſen auf und ſagte: Dieſe
ſind meine Ahnen: Athelſtan, Floreſtan und Nere-
ſtan von Schnuck-Puckelig. Athelſtan war Gene-
ralfeldmarſchall, Floreſtan Kanzler, Nereſtan Ober-
ceremonienmeiſter. Kann ich es nun vor ihnen
verantworten, daß ich, als Edelmann von alter
Familie mich thätig bei einer Unternehmung be-
zeige, welche denn doch am Lichte beſehen, keinen
andern Zweck hat als Handel und Wandel und
Geldprofit, und an welcher allerhand Leute geringer
Herkunft Theil nehmen werden, ja, der ſogar ein
Bedienter als techniſcher Mitdirector vorſtehen ſoll?
Leiden die Standesbegriffe nicht dabei, welche ſonſt
erheiſchten, daß der Adel keine Handelſchaft und
kein Gewerbe treibe? Sieh, der Zweifel iſt
mir in währender Verhandlung aufgeſtoßen.
Münchhauſen verſetzte, daß in gedachter Bezie-
hung der Adel mit der Zeit fortgeſchritten ſei, es
marchandire heut zu Tage Jedermann, Graf, Frei-
herr und Fürſt, wie die geringſte Krämerſeele,
unbeſchadet der Standesbegriffe. Der Stand ſei
wie der geweihte Charakter der Prieſterſchaft ein
unauslöſchlicher, ein Graf dürfe an der Börſe wu-
chern und den Juden das Brod vor dem Munde
[102] wegnehmen und bleibe nichts deſto weniger ein ſo
unverſehrter chriſtlicher Graf, wie Einer, und wenn
etwa noch ein Kreuzzug nach Jeruſalem zu Stande
kommen ſollte, werde ihn keiner der Seinigen von
der Entrepriſe zurückweiſen. — Indeſſen, ſetzte er
hinzu, wenn du darin zu delicat biſt, ſo folge die-
ſem ſchönen Gefühle, denn wir haben freilich bei
unſerem Luftverdichtungsgeſchäfte mit unterſchied-
lichem Pack zu thun, und zarter iſt immer zarter.
Nein, rief der alte Baron, was Andere ſich
erlauben, das iſt mir unverboten! Ich habe in
ſolchen Dingen gar kein Privat- ſondern nur ein
Standesgewiſſen. So wäre denn Alles in Ord-
nung; nun wollen wir aber auch auf nichts denken
und ſinnen, als wie wir dem Geſchäfte den ſchwung-
hafteſten Betrieb geben. — Er nahm die drei
Familienbildniſſe und trug ſie wieder in ihren Win-
kel. Dieſen Augenblick, als der alte Actienſchwär-
mer den Rücken wendete, benutzte Münchhauſen
und entwiſchte. Er eilte die Treppe hinunter in
ſein Zimmer, ſtülpte haſtig den Strohhelm auf das
überwachte, glühende Haupt, lief über den Flur
zur Thüre, über den Hof zwiſchen den beiden
Wappenlöwen, dem ſtehenden und dem liegenden
[103] hindurch in das Freie, und ſuchte irgend eine ein-
ſame Bauerhütte, oder auch nur einen abgelegenen
Platz in Wald oder Feld, um endlich Ruhe zu
finden fern von dem Schloſſe, in welchem er un-
vorſichtigerweiſe die induſtrielle Begeiſterung ent-
zündet hatte.
[104]
Neuntes Capitel.
Der Freiherr von Münchhauſen beginnt
einen Heroismus im Erzählen zu
entfalten.
Einige Zeit wartete der Schloßherr auf die
Rückkunft ſeines Freundes, da dieſe aber nicht
erfolgte, ſo begab er ſich in ſein Zimmer, legte
die Nachtkleidung ab und ſeine gewöhnlichen Ta-
geskleider an, welche in einem kurzen polniſchen
Schnürrocke von grünem Sommerzeuge, in ſtroh-
farbenen kurzen Hoſen und ſchwarzen Kamaſchen
beſtanden. Er ſetzte dazu ſeine gelb und ſchwarz
gefleckte Seehundsmütze auf, und ging, ein ſpani-
ſches Rohr mit porzellanenem Knopf in der Hand,
da ihn die Unruhe daheim nicht leiden wollte, in
das Freie, um allerhand Fabrikanlagen vorläufig
an Ort und Stelle zu überdenken.
[105]
Draußen roch ihm die Luft natürlich ganz an-
ders, als früherhin, wo er über ihre ſteinernen
Beſtandtheile noch nicht aufgeklärt geweſen war.
Ihr Geruch, den er durch vielfaches Riechen und
Schnüffeln ausprüfte, kam ihm ſo kalkicht und gyp-
ſern vor; er wußte nicht, wo er früher ſeine Naſe
gehabt hatte, ſolches nicht zu merken. Ein Bauer,
der am Schloßhofe vorüberging und den alten Baron
bei dem einen Wappenlöwen ſtehen ſah, die Naſe
ſpürend gegen die Wolken erhoben, grüßte ihn
höflich und ſagte: Es ſtinkt verflucht. — Merkt
Ihr auch etwas? fragte der alte Baron freudig.
— Wer ſollte das nicht merken? rief der Bauer;
ſie brennen drüben Kalk in der Grube, der Stank
zieht im Winde weit umher.
Der Syndicus der Luftverdichtungsactiencom-
pagnie verachtete herzlich die dürftige Auslegung
dieſes armſeligen Bauern und ging quer durch die
Dornen über Gras und Anger nach einem freien
Platze, der ihm zur Anlegung der Fabrik beſonders
tauglich zu ſeyn ſchien, weil dort weit und breit
umher die friſcheſte Luft wehte. Er maß den
Platz in der Länge und in der Quere durch Schrei-
ten ab, notirte die Raummaaße in ſeiner Brieftaſche,
[106] erwog, wo das Laboratorium ſtehen ſollte, wo das
Magazin für die Luftſteine und wo das Comptoir.
Hierauf brachte er eine flüchtige Handzeichnung
mit Bleiſtift zu Papiere, die ihm ſehr wohl aus-
zuſehen däuchte, und worin das Magazin die Form
einer Null hatte. Er war recht zufrieden mit
dieſen Vorarbeiten und ärgerte ſich nur darüber,
daß ihn Münchhauſen bei denſelben im Stiche ließ.
Indem er zufällig nach der Abdachung des Platzes,
welche von einigen wilden Kaſtanien und Zwerg-
eichen beſtanden war, hinunterſah, bemerkte er, daß
ein Menſch von ſeiner Raſtſtätte unter einem der
Bäume aufſprang und dann fortlief. Dieſer Flücht-
ling kam ihm, obgleich er ihn nur von hinten ſah,
wie Münchhauſen vor. Er rief ihm nach; der
Läufer hörte aber nicht, ſondern rannte querfeldein.
Wirklich war es Münchhauſen, dem auch dort
das erzürnte Geſchick noch keinen Frieden gönnen
wollte. Ich verſpreche aber den Leſern, ihn nun
ruhig irgendwo anders ausſchlafen und ihn vor
Abend nicht wieder erſcheinen zu laſſen.
Der alte Baron hatte noch viel an jenem Tage
zu thun und lief im Freien hin und her. Am
meiſten machte ihm die Ermittelung eines Weges
[107] zu ſchaffen, auf dem die Luftſteine zur nächſten
großen Handelsſtraße geſchafft werden könnten,
denn das Land war ringsumher überaus uneben
und höckricht. Nachdem er die Pfade, die der
großen Straße zuliefen, gründlich an mehreren
Stellen unterſucht hatte, entſchied er ſich kurzweg
für Anlegung einer Eiſenbahn mit etwa zwölf Tun-
nels und fünfzehn gewölbten Brücken. Denn,
ſagte er, wer gewinnen will, muß ſich vor den
erſten Auslagen nicht ſcheuen. Er überſchlug, daß
der Perſonentransport die Koſten mit einbringen
helfen werde, denn natürlich kommen, ſagte er,
Jahraus Jahrein viele tauſend Reiſende, um dieſe
ſo ſehr merkwürdige Fabrik zu beſuchen, die Sehens-
würdigkeiten meines Schloſſes gar nicht einmal in
Anſchlag gebracht.
Nichts war ihm verdrießlicher, als daß die
Fabrik nicht bereits ſtand. Erſt gegen Abend kam
er in die Burg ſeiner Väter zurück, ermüdet, ſchweiß-
triefend, aber im Herzen fröhlich. Den ganzen
Tag über hatte er an Speiſe und Trank nicht
gedacht, und nun mußte er mit einem ziemlich
oberflächlich behandelten Rührei nebſt einem ver-
ſottenen halben Grashechte fürlieb nehmen. — Wer
[108] mich zwiſchen dieſen kahlen Wänden, an dem ſchlech-
ten kiefernen Tiſche, dem ausgekochten Fiſchlein und
der brenzlichten Eierſpeiſe gegenüber ſitzen ſähe,
müßte mich für einen verlorenen Mann und Hun-
gerleider halten, ſchmunzelte er. Wo iſt da,
menſchlichem Gedenken nach die Hoffnung irgend
einiges Glückes erſichtlich? Und doch ſteht das
Glück nahe, ganz nahe, denn ſechsmalhunderttau-
ſend Luftſteine hat noch nie ein Schnuck zu beziehen
gehabt. Wahrlich, es iſt ein eigenes Ding um
das Geſchick des Menſchen. Der Menſch kann
durch Unmuth zur Verzweiflung gebracht, in ſeinem
Zimmer die Piſtole laden, ſich zu erſchießen, wäh-
rend unten an der Thüre ſchon der Poſtbote klopft,
ihm den Brief mit der Nachricht von der reichen
Erbſchaft des unbekannten Vetters aus Surinam zu
bringen. In gegenwärtiger Zeit iſt nun der erfin-
dende Geiſt des Menſchen, der in einem Augenblicke
Leid in Freude, Klage in Jauchzen verwandeln kann,
der reiche Vetter aus Surinam; unterdeſſen freilich
ſchmeckt dieſer Grashecht ſehr zähe und faſt wie Leder.
Etwas ſpäter kehrte Münchhauſen heim, aus-
geſchlafen, neugeſtärkt, mit hellen, grellen Augen.
Er fühlte in ſich Kraft und Muth, dem Alten die
[109] Spitze zu bieten, und war entſchloſſen, ihn heute
Abend nicht zu Worte kommen zu laſſen, ſondern
ihn, ſo zu ſagen, danieder zu erzählen. Es freute
ihn, als er hörte, das Fräulein ſei unpaß und
werde deßhalb nicht von der Geſellſchaft ſeyn; ſo
durfte er ſich auch vor ihren Fragen und Bemer-
kungen ſicher halten. Weil aber ein Vorleſer den
Faden ununterbrochener in ſeiner Hand zu behalten
vermag, als ein Erzähler, ſtopfte er auf ſeinem
Zimmer ſich einige geſchriebene Hefte voll der un-
gereimteſten Erzählungen in die Bruſttaſche ſeines
Rocks, und trat ſo gerüſtet zu ſeinem Wirthe ein,
der eben von Karl Buttervogel den halben Gras-
hecht abräumen ließ, von dem er nur ein Weniges
hatte genießen können.
Aha, rief der Alte Münchhauſen entgegen,
kommt der Ausreißer endlich? Ich habe mit Ihm
noch ein Hühnchen zu pflücken. Läßt da Seinen
Vertrauten und Compagnon in der Sonnenhitze
allein die Arbeit thun! Wenn Ruhe zn dergleichen
Unternehmungen gehört, ſo können ſie doch auch
ohne Betriebſamkeit nimmer gerathen. Vergönne
mir, dich daran zu erinnern. Und nun ſetze dich
her, ſieh hier den Grundriß, den ich entworfen, und
[110] laß uns darüber in eine umſtändliche Berathung
treten, damit der Bau begonnen werden kann.
Längſt hatte Münchhauſen ein Heft aus ſei-
nem Buſen geriſſen es entfaltet, und auf ſeinen
Augenblick gewartet. Jetzt, als der alte Baron
eine Pauſe machte, um Athem zu ſchöpfen, ſetzte
er rund und raſch ein und las mit unhemmbarer
Schnelligkeit, wie folgt.
[111]
Ich.
Fragment einer Bildungsgeſchichte.
Mein ſogenannter Vater, welcher den häusli-
lichen Unfrieden, von dem ich die unſchuldige Ur-
ſache war, nicht länger ertragen konnte, ſagte zu
meiner angeblichen Mutter: Desdemona, es muß
geſchieden ſeyn. Ich habe es geduldet, daß du mir
täglich einige und dreißigmal ſagteſt, du ſeieſt meine
Gattin nicht aus Liebe zu mir, ſondern aus Achtung
für meinen ſeligen Vater, den Lügner, geworden;
geduldet ſechszehn Jahre und neun Monate lang, aber
daß du dieſen armen Wurm, den ich mir habe ſauer
genug werden laſſen, beſtändig knuffſt, wo du ihn
ſiehſt, verletzt mein Gefühl allzuſehr. Lebe wohl,
Desdemona, wir wollen einander nicht fluchen, wir
wollen an einander ſchreiben, aber mit einander
leben können wir nicht länger.
[112]
Er lockte mich mit einem Zuckerplatz zu ſich,
ſteckte mich, da ich noch nicht gehen und ſtehen
konnte, obgleich ich übrigens bereits klüger war als
mancher Dreißiger, in ſeine linke Rocktaſche und
ſtürzte ab, während die verlaſſene Gattin ſich im
Gefühle weiblicher Würde an das Fortepiano ſetzte
und: Nach ſo viel Leiden u. ſ. w. ſang.
Mein Vater ſtürzte die Dorfſtraße hindurch, er
ſtürzte auf die Straße nach Braunſchweig. Ich
bat ihn langſamer zu gehen, die heftige Bewegung
mache mir Schmerzen, und wirklich zerſchlug ich
mir beinahe die Naſe an ſeinem Beine, gegen wel-
ches die linke Rocktaſche flog. Er aber hörte nicht
auf mich, ſondern ſtürzte immer heftiger fort, unter
Thränen rufend: Du ſollteſt ein Opfer jenes böſen
Weibes werden, du ſauer zubereiteter Wurm? Dem
ſei nicht alſo. Du biſt das Product meiner tiefſten
Studien, mein liebſtes Kleinod, mein theuerſter Schatz!
— Ich litt unausſprechlich bei den Ausbrüchen dieſer
heftigen Zärtlichkeit und bei den durch ſie hervorge-
brachten ſtürmiſchen Bewegungen der Rocktaſche. Da-
mals ſchöpfte ich die erſte Erfahrung von dem Satze,
daß die Menſchen, wenn ihre Liebe recht heiß iſt, dem
Gegenſtande derſelben hundsübel machen können.
[113]
Zum Glück kam ein Poſtillion halben Weges
mit einer leeren Extrachaiſe von Braunſchweig
retour gefahren; den beſtach mein ſogenannter Va-
ter, der Schwager verrieth für einen Species ſeine
heiligſten Pflichten, nahm uns auf, kehrte um und
ſetzte uns vor Braunſchweig ab. Dort miethete mein
Vater einen Hauderer, der uns über Scheppenſtedt,
Magdeburg, die Wallachei hindurch nach Theſſalonich
fuhr. In Scheppenſtedt ſollte gerade damals eine
allgemeine deutſche Academie errichtet werden, in
Magdeburg war Landestrauer, weil die Klöße in
dem Jahre nicht gerathen wollten, in der Wallachei
werden lauter Wallachen gezogen, bei Theſſalonich
kommt man ſchon in das Türkiſche.
Wenn ich nur nicht immer in der Rocktaſche
hätte ſitzen müſſen! Ich hatte den brennendſten
Drang nach Selbſtſtändigkeit, nach unumſchränkter
Beobachtung, und mußte da immer zwiſchen Schin-
ken und Semmel und Sauerbraten verächtlich zu-
bringen, denn mein Vater pflegte auch ſein Frühſtück
in die linke Rocktaſche zu ſenken, und ich durfte
nur ſo eben aus der Schlitze gucken. Ich ſagte
zu meinem Vater in jedem Nachtquartiere: Papa,
die Taſche ſteht mir nicht mehr an, laſſen Sie mich
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 8
[114] neben Ihnen ſitzen. Er aber gab mir dann jeder-
zeit einen väterlichen Kuß und ſchlug mir meine
Bitte ab, weil ich ihm, wie er ſagte, außer der
Taſche verloren gehen könne. Mein jugendlicher
Frohſinn ſchwand in der Taſche, ich fühlte, daß ich
mich ſelbſt mündig ſprechen müſſe, und wartete auf
die erſte günſtige Gelegenheit, dieſen Entſchluß
auszuführen.
In Theſſalonich machten wir Halt und bezahl-
ten unſern Hauderer. Der Hauderer erhielt gute
Rückfracht, nämlich einen gefühlvollen, liberalen
Ruſſen mit ſeinen vier friſch angekauften circaſſiſchen
Sclavinnen. Bei Theſſalonich geht wie geſagt,
ſchon das Türkiſche an. Mein Vater wollte dort
ein Mittel gegen die Emancipation der Frauen
ausfindig machen, und ich ſollte Cadett bei den
Janitſcharen werden, ſobald ich gehen und ſtehen
könne. Wir hatten Empfehlungsbriefe nach der
Türkei von Hannover mitgenommen. Indeſſen
wendete das Schickſal Alles gar anders.
Mein Vater (ich mag nicht immer das Beiwort:
Sogenannt, hinzufügen, verſteht ſich alſo in Zukunft
von ſelbſt) ging viel ſpazieren, hauptſächlich um
meinetwillen, um, ſo ſagte er, mir früh Empfindung
[115] für die ſchöne Natur beizubringen, überlegte nur
nicht, daß ich in der linken Rocktaſche von der
ſchönen Natur wenig zu ſehen bekam und ihm
daher in meiner Finſterniß auf das Wort glauben
mußte, wenn er ſtillſtehend, oder zwiſchen ſeinen
Beinen durchguckend, in welcher Poſitur die Land-
ſchaft immer am reizendſten ausſieht, von der gött-
lichen Ausſicht, von der blauen duftigen Ferne und
dem goldenen Morgen- oder Abendrothe laut
ſchwärmte. Eine recht verkehrte Erziehung! Ich
bat ihn flehentlich, er möge mich doch wenigſtens
in einen ſeiner Stiefeln ſtecken, wie die Samojeden
ihre Kinder bei ſich führen — er trug weite Schlapp-
ſtiefeln mit ſeidenen Troddeln vorn — jedoch ver-
gebens. Auch aus den Stiefeln fürchtete er mich
zu verlieren. Meine Lage wurde allgemach uner-
träglich und ich weinte oft die linke Rocktaſche
ganz naß.
Eines Tages ſaß mein Vater mit dem Rücken
gegen einen Oelbaum gelehnt, ſah die Sonne
untergehen und war außer ſich über ihren purpurnen
Widerſchein im Meerbuſen von Theſſalonich. Sonſt
pflegte er bei allem Enthuſiasmus die Hände in
der Taſche zu halten, ſo daß kein Entrinnen ge-
8*
[116] denkbar war. Dieſesmal übermannte ihn aber ſeine
Begeiſterung, er ſchlug unter Interjectionen die
Hände über dem Kopfe zuſammen, und ich benutzte
den Augenblick, um aus der Taſche zu ſchlüpfen.
Da ſah ich um mich, da athmete ich, da ward mir
wohl nach langer Kerkerhaft. Ich kroch, ging,
ſtolperte, lief ein wenig, wie es eben glücken wollte,
während mein Vater ſeine Rede an Sonne und
Meer fortſetzte. Ich war eben in der Furcht vor
Schlägen auf dem Rückwege nach der Taſche —
denn mein Vater züchtigte mich ungeachtet aller
Liebe ſehr oft in der empfindlichſten Art — als das
Verhängniß mit mir die wunderlichen Spiele begann,
welche ſich ſo lange fortſetzen und mir die eigen-
thümlichſten Erfahrungen geben ſollten.
Plötzlich fühle ich mich nämlich von einem gro-
ßen, dunkeln Etwas überſchattet, höre einen Lärmen,
wie wenn ein Baum knattert und fällt, fühle ein
rauhes Gefieder und zwei ſcharfe Krallen an meinem
Leibe, ſehe mich pfeilſchnell erfaßt, in die Lüfte
geführt, wolkenhoch emporgetragen. Mit Entſetzen
erkenne ich mein Loos, und rufe mir zu: Du biſt
in den Fängen eines Lämmergeiers, du armer,
deinem Vater ſo ſauer gewordener Wurm! Warum,
[117] Unglücklicher, verließeſt du die Taſche? — Die
Lage des Kindes war ſchaudervoll! Ueber mir der
goldgelbe Bauch und die corallenroth glühenden
Augen des Ungeheuers, um mich Luft und Wolken
oder Schwärme folgenden und krächzenden Gefieders,
welches dem Geier ſeine Beute mißgönnt, tief,
ſchwindlicht tief unten Land und Meer wechſelnd
als dunkele und blanke Streifen! — Der Geier
fliegt und fliegt; er iſt ein Geier, der auf Reiſen
geht und ſich ſeinen Mundproviant hat mitnehmen
wollen. Das Ungeheuer ſchreit beſtändig: Pfy!
Pfy! — Da rufe ich mit dem Witze der Ver-
zweiflung: O, wenn du Pfy! ſchreien kannſt, ſo
rufe doch zuerſt über dich Pfy! aus, abſcheulicher
Franz Moor der Lüfte; Pfy! über deine mehr
als unredliche Handlungsweiſe! Nach der Natur-
geſchichte fällſt du zuweilen ausnahmsweiſe Hirten-
knaben an. Bin ich denn ein Hirtenknabe? Bin ich
nicht das gebildete Kind gebildeter Eltern? Haſt
du nicht ſelbſt Kinder, Barbar? Jammert dich der
Vater nicht, der drunten mit dem Rücken gegen
den Oelbaum gelehnt ſitzt, vermuthlich noch immer
die Sonne ſinken ſieht, und an den Sohn in der
Taſche glaubt?
[118]
Ich war, man ſieht es hieraus, über meine
Jahre gereift. Der Geier kehrte ſich aber an meine
Reden nicht, ſondern flog und flog.
Ein Blitz, ein Knall, ein Fall! Aus unermeß-
licher Höhe ſtürze ich hinab; mir vergeht Hören
und Sehen. Als ich von meiner Betäubung er-
wache, liege ich weich gebettet, und ohne daß mich
eines meiner Glieder ſchmerzt. Ich ſehe mich auf
dieſer Lagerſtätte um; ſie iſt ein Carbonaro-Mantel
von blauem Tuch, ausgeſpannt zwiſchen zwei Ta-
marisken. Ein langer, bleicher Mann ſteht neben
den Bäumen, die abgeſchoſſene Percuſſionsflinte in
der Hand, der fürchterliche Geier liegt einige Schritte
davon blutig am Boden, ſchlägt mit den Flügeln
und zuckt und ſchnappt in letzten Zügen. Etwas
weiterhin graſet, abgezäumt, ein Reitpferd.
I killed the vulture, ſagte der großmüthige
Britte nachdenklich, hob mich vom Carbonaroman-
tel herunter, hielt mir ſeine Hand zum Kuſſe hin
und fuhr gleichgültig fort: Yon shall stand in-
debted for it all your life, Sir. Adieu.
Er zäumte ſein Pferd auf, ſchlug den Carbo-
naro maleriſch um die Schultern, beſtieg den Klep-
per und ritt fort. Um Gotteswillen, Mylord,
[119] habt Ihr mich darum gerettet, um mich in dieſer
Einöde dem Hunger, dem Durſt, den wilden Thie-
ren Preis zu geben? rief ich. Bei der Gnade des
Himmels! nehmt mich auf der Kruppe Eures Pferdes
mit. You would deprive me of my comfort,
verſetzte der großmüthige Engländer kalt und ritt
wirklich fort, ſo daß ich ihn bald aus dem Geſichte
verloren hatte. — Elender, ſagte ich dumpf, iſt dieſes
die Großmuth Albion’s? Du dachteſt an dein Jagd-
vergnügen und nicht an das gebildete Kind gebil-
deter Eltern, an den ſauer zubereiteten Wurm
ſeines Vaters, als du ſchoſſeſt. Geh, falſcher,
heuchleriſcher Britte, wir ſind quitt! Bewaffne dich
mit dem ganzen Stolze deines Englands, ich, ein
deutſcher Knabe, verwerfe dich!
Durch dieſen Monolog fühlte ſich meine Seele
erhoben und gekräftigt. Ich empfand zugleich, was
ich meiner Ehre gegen den verruchten Geier ſchul-
dig war, der noch immer ſchnappte und jappte,
trat daher zu ihm und ſagte: Ein anderesmal
ſehen Sie beſſer zu, wen Sie vor ſich haben,
Federvieh! Die Naturgeſchichte erlaubt Ihnen,
ausnahmsweiſe auf Hirtenknaben zu ſtoßen, nicht
aber auf gebildete Kinder gebildeter Eltern. —
[120] Der Geier drehte ſeinen borſtigen Schnabel matt
nach mir um und verſchied ſodann, wie es mir
vorkam, mit einiger Reue in den Augen.
Ich betrachtete mir die Gegend. Nichts als
Felſen und Klippen, eine über der andern, und
in der Ferne noch höhere Kuppen! Flechten, Mooſe
und Haiden bedeckten den Stein, Alpenröslein
zeigten die rothen Kronen, wilder Lorbeer, Tama-
risken, Johannisbrodſtauden ſtanden in leichten,
dünnen, maleriſchen Gruppen umher. Ich war auf
einer bedeutenden Höhe, denn die Luft zog ſcharf
und kühl, allem Vermuthen nach auf einem der
berühmten griechiſchen Berge, denn der Geier war
mit mir ſüdweſtlich geflogen, aber auf welchem?
Ich befand mich in der peinigendſten Ungewißheit
über dieſen Punct, weil ich einſah, daß es vor
allen Dingen nöthig ſei, mich örtlich zurecht zu
finden, um den richtigen Weg nach Theſſalonich
und der linken Rocktaſche einzuſchlagen, die mir
bei den ſchweren Erfahrungen, welche ich in ſo
kurzer Zeit über Geier und Engländer gemacht hatte,
ſchon jetzt wie ein verlorenes Paradies vorkam.
Aber wie dieſe Kenntniß erlangen? Die Ge-
gend ſchien ſo einſam, daß kein Thier, geſchweige
[121] denn ein Menſch ſich erblicken ließ. Ich wollte
anfangs das Geſchick befragen und an meinen Ja-
ckenknöpfen abzählen, ob ich auf dem Oeta, Par-
naß, Olymp, Pindus oder Helikon ſtehe? veewarf
aber dieſes Auskunftsmittel als zu kindiſch und
meiner nicht würdig.
Das Dunkel nahte ſich, die Kuppen der Berge
wurden violett, Hunger und Durſt begannen mich
zu peinigen, und ich ſtand noch immer allein da
droben, ich und der todte Geier die einzigen leben-
den Weſen in jener Einöde! Mich fror in meiner
leichten türkiſchen Janitſcharencadettenuniform, die
mir mein Vater ſchon hatte machen laſſen! Sie
beſtand in weißen Pumphöschen, in einem auf
europäiſche Art zugeſchnittenen rothen Collet mit
gelben Litzen und in dem Turban, der damals
noch nicht abgeſchafft war. Ein kleiner blecherner
Säbel klirrte an meiner Seite und einen Schnurr-
bart trug ich auch, vorläufig einen mit Kohle ge-
zeichneten.
Um wenigſtens meinen Durſt zu löſchen —
denn gegen den Hunger gab es da freilich nichts,
als Stengel, Blätter und Alpenroſen — kroch ich
zu einer Quelle, welche zwiſchen grünlichen Klippen
[122] hervorſprudelte und an dieſem ihrem Urſprunge
von einigen der ſchönſten Lorbeern überſtanden war.
Ich ahnete, daß es mit dieſem Waſſer eine eigene
Bewandniß haben müſſe, denn Gewalt und Klar-
heit wohnten in ihm ſo nahe bei einander, daß es
kein gewöhnlicher Spring ſeyn konnte. Ziſchend
und ſchäumend drang der Strahl unter dem moo-
ſigen bekräuterten Steine an das Licht, als koche er,
und einen Schritt weiter floß ſchon das klarſte
beryllgrünſte Naß ohne Unruhe, Schaumblaſen,
Wirbel in ſeinem Rinnſaale.
Ich bückte mich zur Quelle und netzte meine
Lippen, aber wie wurde mir da! In meinen Ein-
geweiden that es ein Grimmen, in meinem Blute
ein Wallen, in meinen Gliedern ein Glühen, in
meinem Herzen ein Klopfen, in meinem Haupte
ein Schwärmen! Die wunderſamſten Phantaſtereien
begannen mir vor den Sinnen umherzugehen. Meine
rothe Janitſcharencadettenuniform kam mir vor
wie das rothe Meer, meine weißen Pumphöschen
leuchteten mir wie der Schnee der Alpen und mein
kleiner blecherner Säbel gemahnte mich wie das
Schwert des Alexander. Ich öffnete die Lippen,
und ſie ſprachen unwillkührlich:
[123]
Ja, ich hatte unverſehens aus der Hippokrene
getrunken und war ſonach am Helikon! Mein
Lippen öffneten ſich abermals und ſcandirten un-
willkührlich:
Wirklich warf ich Säbel, Collet, Turban,
Pumphöschen, kurz Alles und Jedes ab, wälzte
und kugelte mich wie toll umher, unwillkührlich,
von dem Muſenwaſſer getrieben. Schon hatten
ſich wieder neue Bilder in meine Seele und Weiſen
auf meine Lippen gedrängt; ich ſang:
[124]
Ich hatte raſch den Entſchluß gefaßt, einen
Muſenalmanach zu ſchreiben, ganz allein ich ſelbſt;
um mir mein Brod zu verdienen, denn — rief ich —
[125]
Damit war meine Begeiſterung noch nicht er-
ſchöpft. Formen und Verſe, Weiſen und Reime,
Laiche, Stollen, Stanzen, Aſſonanzen, Diſſonanzen,
Decimen, Canzonen, Terzinen, Handwerksburſchen-
lieder, Sprichwörtlich, Africaniſches, Madecaſſiſches,
an Perſonen, Gelegenheit, Denk- und Sendeblätter,
Runenſtäbe, Gepanzertes und Geharniſchtes, Blät-
ter und Blüthen, Schutt — alles Dieſes und noch
unendlich viel mehr entquoll meinen unermüdlich
vom Waſſer bewegten Lippen, ſo daß ich glaube;
ich armes nacktes Kind habe da droben auf dem
Helikon an jenem Abende in wenigſtens ſechs Dut-
zenden der verſchiedenſten Arten und Weiſen meine
Kindlichkeit lyriſch ausgeſprochen. Ich weiß nicht,
ob ich mich nicht todt geſchrieen haben würde und
ein lyriſches Opfer geworden wäre, hätte nicht das
Schickſal, welches mich ſchon aus den Fängen des
Geiers rettete, nunmehr mich auch von den Folgen
jenes hippokreniſchen Sauerbrunnens befreit.
[126]
Auf einmal nämlich, als ich eben anſetzte,
meine Empfindungen im Geiſte eines enthaupteten
Hottentotten auszuſtrömen, fühlte ich mich von allen
Seiten angerannt, übergerannt, beſchnoppert, be-
leckt, befühlt, beſtoßen, betrampelt. Zu Boden ge-
worfen, ſah ich nichts über mir und um mich als
gelbe Augen, dürre Beine, rauche bärtige Geſichter.
Eine Heerde wilder Ziegen war mit ihren Zicklein
znm Orte gekommen und übte an mir dieſe etwas
ſtürmiſche Bewillkommung aus. Mein anfängli-
cher Schreck dauerte indeſſen nur wenige Augen-
blicke; ich erkannte ſehr bald, daß ich gutmüthigen
Weſen in die Pfoten gefallen war, die nur durch
ihre Individualität beſtimmt wurden, ſo unbequem
ihre Freude über den Fund des kleinen Lyrikers
zu äußern. Das waren keine blutdürſtige Läm-
mergeier, es waren ſanfte, milde Ziegen mit den
beſten Herzen. Sie riefen alle im Chore: Ach,
der arme Kleine! der Verlaſſene! Da liegen ſeine
Häute, er muß eine fürchterliche Krankheit gehabt
haben, wovon ſie ſich abgeſchält haben, nun ſieht
er wie geſchunden aus. Laßt uns ſeine Wunden
lecken! der Jammervolle! Ich mußte im Stillen
über dieſe unerfahrenen Ziegen lächeln, welche meine
[127] Janitſcharencadettenuniform für einen abgeſtreiften
Balg und meine heile, weiße Haut für geſchunden
anſahen, beſchloß indeſſen Achtung vor dieſer Volks-
meinung zu haben und nicht übereilt mir durch
Eröffnung einer höheren Wahrheit bei den Ziegen
zu ſchaden. Indeſſen war ich doch bald genöthigt,
Einſpruch zu thun, denn alle Ziegen leckten in
ihrer wohlthätigen Abſicht ſo eifrig an mir umher,
daß ich es vor Kitzel nicht länger aushalten konnte.
Ich ergriff daher das rechte Vorderbein derjenigen
Ziege, welche mir die älteſte und verſtändigſte zu
ſeyn ſchien, mit meinen kindlichen Händen, drückte
es an mein Herz und ſagte: Ehrwürdige Mutter,
ich danke Ihnen. Genug nun des Leckens! Ver-
trauen Sie der Natur, und überlaſſen Sie ihr die
Nachheilung meiner Ihrer Anſicht zu Folge wunden
und geſchundenen Haut! — Wirklich ließen die gut-
müthigen Ziegen, ſobald ſie meinen Wunſch ver-
nommen hatten, von ihrer Leckkur ab.
Die Zicklein, welche bisher dieſe Scene der
Barmherzigkeit mit poſſirlichen Mienen und Ge-
bärden umſtanden hatten, drängten ſich jetzt, entſetzt
ſeitwärts blickend, den Müttern ſo innig an, wie
die jüngſte der Niobiden dem Schooße, der ſie doch
[128] nicht vor den ſchrecklichen Pfeilen zu bergen im
Stande war. Sie ſchrieen meckernd: Der Geier!
der böſe Geier! und zitterten und bebten, als ob
jener todte Böſewicht ſie noch freſſen könnte. An-
fangs ſchauerten auch die Mütter bei ſeinem An-
blicke zuſammen, indeſſen faßten ſie ſich bald und
beruhigten die Zicklein mit verſtändigem Meckern.
O, rief eine der Ziegen, wie vielen Dank ſind wir
dieſem armen kleinen Findlinge ſchuldig! Ohne ihn
würden wir wahrſcheinlich den Verluſt eines von
Euch, Ihr theuren Kinder, zu beweinen haben!
Der Lämmergeier ſah aber ihn und nahm ihn an
Eurer Statt in die Lüfte! — Hier erwachte mein
ganzer Stolz, und auf die Gefahr hin, es mit
dieſem Ziegenvolke auf der Schwelle unſerer neuen
Bekanntſchaft zu verderben, ſprach ich: Meine
Damen, Sie ſind im Irrthum. Daß jener Räuber
mich für einen Hirtenknaben hielt, den er nach
der Naturgeſchichte ausnahmsweiſe zuweilen anfallen
darf, war ſchon unverzeihlich von ihm, daß er mich
aber gar für ein Ziegenlamm hätte halten ſollen,
dazu traue ich ihm denn doch zu viel Verſtand zu.
— Das Wundfieber phantaſirt aus ihm, riefen
alle Ziegen, er weiß nicht, was er ſpricht. — Meine
[129] Schweſtern, hob die älteſte der Ziegen an; uns
dieſes kleinen verlaſſenen Weſens anzunehmen er-
fordert unſere Ziegenpflicht; um ſo mehr, da es
ein Opfer für eines unſerer Kinder geworden iſt.
Bringen wir denn es vor Allem unter Obdach,
und ſpäterhin wollen wir überlegen, was von uns
für ihn geſchehen kann!
Die Heerde ſetzte ſich in Bewegung, die Müt-
ter voran, die Zicklein folgend. Die Mütter ſtießen
mich mit ihren Köpfen vorwärts; ich weinte und
ſchrie, daß ich erſt meine Janitſcharencadettenuni-
form wieder anziehen wolle, denn die claſſiſche
Nacktheit beginne mir froſtig zu werden, davon
aber wollten die Ziegen nichts wiſſen, ſondern hielten
es für eine neue Fieberphantaſie, daß ich in jene
kranken Hüllen kriechen wolle. Ich mußte mich daher
fügen, klammerte mich zwiſchen zweien der Geſetzteſten
mit den Händen an deren Zottelpelzen an, und
konnte ſo nothdürftig mit der Heerde mich fortbewegen.
An Abgründen vorbei, auf rauhen Pfaden, über
welche meine thieriſche Geſellſchaft ſicher ging, ge-
langten wir zu einer großen Felſenhöhle, dem von
der Natur gebildeten Stalle dieſer wilden Ziegen.
Räumlich und wohnlich war die Höhle, ein warmer
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 9
[130] Hauch ſchlug aus der tiefen Wölbung meinem
frierenden Körper wohlthuend entgegen, der Boden
und die Seitenwände waren mit weichem Mooſe
ausgepolſtert, das ertaſtete ich, als wir hineingin-
gen. Der ſüße, aromatiſche Duft des Thymians,
welcher auf jenem Gebirge überall blüht, drang in
die Höhle, kurz, dieſer Aufenthaltsort konnte nicht
tröſtlicher gedacht werden, wenn man einmal von der
linken Rocktaſche ſeines Vaters verbannt ſeyn ſollte.
Die Ziegen ſtreckten ſich auf dem weichen Mooſe
nieder und begannen ihr Wiederkäuungsgeſchäft, die
Zicklein legten ſich ihnen an die Euter, und ſogen,
aber was wurde aus mir, dem Fremdlinge ohne
Familienverbindungen in dieſem Kreiſe? Traurig
ſaß ich in einer Ecke auf meinem Moosklumpen,
hungerte und durſtete. Endlich erſuchte ich be-
ſcheiden auch um einige Milchnahrung, wenn die
Kinder des Hauſes geſättigt ſeyn möchten. Glaubſt
du denn, rief die älteſte der Ziegen, welche die
Andern Siſi nannten, daß wir dich nicht längſt
auch zu unſern Nahrungsquellen herbeigelaſſen ha-
ben würden, wenn wir nicht wüßten, daß dein
Wundfieber jede Ueberladung des Magens tödtlich
machen kann? — Ich bat ſie bei den Häuptern ihrer
[131] hoffnungsvollen Lämmer, es darauf zu wagen, ich
verſchmachte ſonſt, worauf ſich unter der Heerde
eine ziemlich lebhafte Verhandlung über die Zuläſ-
ſigkeit oder Nichtzuläſſigkeit des Säugens in meinem
Zuſtande ergab, welche in den Beſchluß auslief,
daß mir ein Weniges an Milch wohl verſtattet
werden möge. Froh über dieſe Entſcheidung kroch
ich zur barmherzigen Siſi und ſog die erſehnte,
heilſame Nahrung in mich. Als ich aber im beſten
Saugen war, wurde ich ſchon wieder abgeſtoßen,
weil ein Mehreres, wie die um mich beſorgten Zie-
gen ängſtlich ausrieſen, mir ſicherlich ſchaden würde.
Ich war daher nur halbſatt geworden, indeſſen doch
vor dem Hungertode nunmehr geſchützt.
Ueber meine Nachtruhe entſtand darauf eine
zweite Verhandlung, welche ein Streit zu werden
drohte, denn die Ziegen waren gegen mich ſo liebevoll
geſinnt, daß Jede mich in ihren Pfoten erwärmen
und Keine mich der Andern gönnen wollte. Ich
mußte vorausſehen bei dieſem Liebesfeuer die ganze
Nacht über ungewärmt zu bleiben, rief daher:
Wohlthätige und rechtſchaffene Ziegen, theilt Euch
in Euren kleinen Lyriker, laßt ihn bei Jeder von
Euch eine halbe Stunde liegen! — Dieſer Vorſchlag
9*
[132] fand Beifall, zuerſt nahm mich die alte Siſi in
ihre Pfoten, dann die Riri, dann die Quiqui, dann
die Nini, dann die Mimi, dann die Lili, dann die
Pipi, dann die Fifi, dann die Bibi, dann die
Didi, dann die Wiwi, dann die Kiki, endlich und
zuletzt Morgens gegen vier Uhr die Zizi, die jüngſte
dieſer meckernden Grazien. Denn dieſe Namen,
alle in i endigend, führten die zwölf Ziegen, aus
denen die Heerde beſtand. Ich hatte ſie durch ihre
Geſpräche zufällig erkundet. Was meine Nacht be-
traf, ſo war ſie freilich unruhig, denn ich hatte faſt
nichts zu thun, als mich niederzulegen und wieder
aufzuſtehen, indeſſen erfror ich doch nicht.
Wundert Ihr Euch, daß ich das Gemecker
der Ziegen ſo bald verſtehen lernte? Ihr hättet
Euch eher darüber verwundern ſollen, daß ich den
Engländer verſtehen konnte.
Betrachtungen über mein ſonderbares Schickſal
raubten mir den wenigen Schlaf, den mir der
Wechſel meiner zwölf Wohlthäterinnen allenfalls
noch hätte verſtatten mögen. So biſt du denn,
dachte ich, indem du deine Selbſtſtändigkeit er-
ringen wollteſt, in die Klauen eines Uſurpators
und darauf nach kurzem lyriſchem Taumel unter
[133] das Vieh gerathen, von welchem du nicht einmal
für voll angeſehen wirſt.
„Erlaube mir,“ rief hier der alte Baron, da
Münchhauſen einen Augenblick inne hielt, „dieſe
hirnloſen Geſchichten zu unterbrechen und mit dir
von unſerer Fabrik“ —
Sogleich, verſetzte Münchhauſen, meine Erzäh-
lung geht zu Ende.
In den nächſten Tagen beſuchte ich mit den
helikoniſchen Ziegen und ihren Zicklein die Weide.
Ich muß ihnen das Zeugniß ertheilen, daß ſich
die Ziegenmütter gegen mich immer gütig und
liebevoll betrugen, und daß auch ihre Kinder nicht
allzuarg mit mir umgingen, obſchon dieſe freilich,
muthwillig, wie die Jugend einmal iſt, allerhand
neckende Poſſen trieben, welche auf mich Bezug
hatten, z. B. ſich gegen mich bäumten, mir über
den Kopf wegſprangen, nach mir ſtießen, und was
dergleichen Schalksthorheiten mehr waren, die ich
als gebildetes Kind gebildeter Eltern nur verachten
konnte. Du biſt unter Ziegen, ſagte ich zu mir
ſelbſt, wenn der Grimm in mir überwallen wollte,
[134] vergiß das nie, kleiner Münchhauſen, du ſauer zu-
bereiteter Wurm deines Vaters. Ich fühlte, daß
ich mich dem Zuſtande, in den mich nun einmal
die Fänge des Geiers und die Kugel des groß-
müthigen Engländers geworfen hatten, anbequemen
müſſe, verſuchte alſo zuvörderſt auf allen Vieren zu
laufen, da ich ohnehin auf meinen beiden kleinen
menſchlichen Füßen noch nicht recht fortkommen
konnte, und beſtrebte mich außerdem, auf jene
bäumenden, ſpringenden, ſtoßenden Scherze einzu-
gehen, freilich nicht ahnend, wohin dieſes Anbe-
quemungsſyſtem führen ſollte.
Wenn die gütigen und liebevollen Ziegenmütter
ſich nur nicht von vorgefaßten Ideen ſo ſehr hätten
leiten laſſen! Aber es war meinen Bitten unmög-
lich, ſie zu bewegen, daß ſie mir meine Janitſcha-
rencadettenuniform zukommen ließen; ſie blieben
ſteif und feſt dabei, daß dieſes Collet, dieſe Hoſen,
dieſer Turban Ueberbleibſel krankhafter Häutungen
ſeien. Nackt war ich alſo, und nackt blieb ich, ſo
daß mich in den erſten Tagen meines ziegenhaften
Lebens entſetzlich fror, bis die Haut eine Gegen-
wirkung zu entwickeln begann, welche den erkälten-
den Einfluß der Luft allgemach aufhob. Auch von
[135] der Milch bekam ich immer nur halbe Portionen
aus Sorge um mein angebliches Wundfieber. Oft
knurrten meine Eingeweide vor Hunger. Bei allem
dem war ich der Liebling der ganzen Heerde und
ſämmtliche zwölf Ziegen auf i nannten mich nur
ihren herzigen Jungen. Ich hatte meine Verwun-
derung darüber, ſo viel Menſchliches unter dem
Volke zu finden, welches doch, wie ich aus allen
Reden und Aeußerungen, die ich hörte, abnahm,
in einer völligen Einſamkeit und Abſonderung von
der übrigen Welt auf dieſen helikoniſchen Höhen
erwachſen war, und gegen die Menſchen, von denen
es nur durch Hörenſagen wußte, eine ſo tiefe
Verachtung hegte, wie die tugendhaften Houyhnhnms
des Dechanten Jonathan Swift gegen die ſünd-
lichen Yahoos.
Das Leben einer Ziege, inſonderheit einer wil-
den, hat ſonſt viel Schönes. Der erſte Frühſtrahl
drang golden, wie ihn die Ebene nicht kennt, in
unſere Höhle und beleuchtete ihre mooſigen Klüfte,
vor denen nach dem Tage zu leichte Geflechte wil-
den Weines und bunter Winden hingen. Rothe
Lichter und farbige Schatten umſpielten die Heerde,
die umher an den Steinen und Mooswülſten noch
[136] lag und ſchlummerte, bald aber ſich erhob und die
Glieder dehnend in den Morgenwind hinausſchritt,
der die Waldreben und Winden ſäuſelnd bewegte.
Wie herrlich glänzte dann der hohe Gebirgsrücken
mit ſeinen tauſend Zacken und Klippen vor uns,
wie nagte geſchäftig der ſcharfe Zahn an den wür-
zigen Kräutern, die ihn bedeckten, wie leckmäulerig
wurde, wenn dieſe Koſt genoſſen war, emporſtrebend
die aromatiſche Rinde der Stauden und Bäume
abgeſchält, wie labte nach ſolcher Speiſe die ſüße
Kühle der göttlichen Quelle! Die Lüfte wehten
erquicklich und labend über dieſe Gipfel hin. Sie
waren mit keinem Dunſte der Ebene befrachtet und
erzählten die Sagen der alten ſchönen Götterwelt. Tief
drunten in weiter Ferne lagen die Städte der
Menſchen mit dem gemeinen Wuſte ihres Weſens;
zu dieſen ſeligen Höhen drang der Schrei des Be-
dürfniſſes nicht und nicht der Seufzer der Sorge.
Bisweilen erklang aus dem Geſtein, umſproßt von
wilden Roſen und Feigen, der melodiſche Schall
der Steindroſſel oder tönte aus den Haiden und
Thymusbüſchen der goldene Laut der Cicade. Alles
klang hier voller, reiner, unſchuldiger in der Nähe
des Bornes, den der Huf des heiligen Roſſes aufriß,
[137] denn Alles hatte aus ihm getrunken; ſelbſt die
Gräſer, Blumen, Büſche, Bäume, welche das
ſchäumende und doch ſo ruhige Naß benetzte, oder
auch nur mit ſeinem feinem Dufte erreichte, ſtan-
den ſtolzer und vornehmer da, als die Gewächſe der
Fläche. Wenn der Alpenhauch ihre Spitzen und
Kronen rührte, beſchrieben die Stengel und Zweige
ſchöne, dem Auge wohlthuende Linien in den Lüften.
So war Jegliches da droben verfeinert, abgeklärt
und ſelbſt im Kräftigen zart; Scheltworte, zu denen
etwa einmal Eines gegen das Andere ſich vergaß,
adelten die Winde des Helikon in zierliche Epi-
gramme um; dieſes war, was die Nähe bot, die
Ferne aber zeigte auch nur Erhabenes: Die göttli-
chen Häupter des Pindus, Parnaſſus und Kithäron.
Mittags raſteten wir gewöhnlich auf einer ſon-
nigen Halde. Dann kamen die Gatten der Ziegen
zu einem kurzen, aber traulichen Beſuche. Sie be-
wohnten eine andere Felſengrotte an der entgegen-
geſetzten Seite des Berges und führten eine abge-
ſonderte Wirthſchaft, denn zwiſchen beiden Geſchlech-
tern beſtanden hier die edelſten und keuſcheſten
Verhältniſſe. Dann begannen die gymniſchen
Spiele der Jugend, welchen nur in dem niedern
[138] Zuſtande gemeiner zahmer Ziegen die herabwürdigende
Bezeichnung von Bocksſprüngen zukommen kann.
Hier war in dieſen Spielen feurige Kraft und die
Blume der komiſchen Grazie zu ſchauen. Rings
im Kreiſe gelagert freuten ſich die ſanften Mütter
und die ernſten, ehrwürdigen, bebarteten Väter der
herrlichen überquellenden Luſt und dachten ihrer
einſtigen Zeit. Meldete ſich nun wieder der Gläu-
biger unter dem Zwerchfell, der nie die Schuld ein-
zufordern vergißt, d. h. wollten die Ziegen und
ihre Gatten noch etwas freſſen, ſo ſchied man mit
herzlichem Gruße und dem frohen, getroſten Worte:
Auf Wiederſehen! Beide Geſchlechter gingen zu
ihren Weideplätzen, und nun wurde noch ein leich-
tes Vesperfutter abgerupft. Wenn aber die däm-
mernde Eos mit Roſenfingern herabſank, und
der Abendthau den claſſiſchen Boden zu netzen be-
gann, ſchritten wir lieblich meckernd heimwärts,
erreichten vor der völligen Finſterniß die bergende
Höhle und ſtreckten uns ſaugend oder wiederkäuend
in ihrer behaglichen Wärme auf dem ſammetnen
Mooſe aus. Bald goß ein leichter, träumeloſer
Schlummer ſeinen Balſam auf uns nieder, machte
unſerem Saugen und Wiederkäuen ein Ende.
[139]
Ich ſage: Wir, ich ſage: Uns, ich ſage: Unſerem.
Mit mir war nämlich eine wunderbare Veränderung
vorgegangen. Ich lernte von Tage zu Tage flinker
auf allen Vieren laufen, ich nahm an den gymni-
ſchen Spielen der Jugend, bei welchen ich mich
anfangs höchſt ungeſchickt betragen hatte, allgemach
immer dreiſter Theil und rannte eines Tages er-
hobenen Leibes, Kopf gegen Kopf mit einem Böcklein,
welches mich zu dieſem Stoßkampfe herausgefordert
hatte, ſo tapfer zuſammen, daß das Böcklein ſtürzte,
ich aber ſtehen blieb, worüber alle Ziegen und ihre
Gatten ein herzlich meckerndes Gelächter aufſchlu-
gen. Ich hatte, da mir die Milchnahrung nicht
genügte, mich an das Nagen von Gräſern und
Knabbern von Baumrinde gegeben, zuerſt den hef-
tigſten Widerwillen gegen dieſe Speiſe verſpürt,
allmählig aber ihn ſchwinden ſehen und gefunden,
oder zu finden gewähnt, daß Gras wie grüner
Kohl und Rinde wie Krautſallat ſchmecke — alles
Das war in mir vorgegangen, aber ich hatte deſſen
nicht geachtet, weil ich nicht über mich nachdachte.
Ein unvorhergeſehener Vorfall entzündete endlich in
mir die Fackel der Selbſterkenntniß und lehrte mich
meinen umgeſtalteten Zuſtand verſtehen.
[140]
Eines Abends liege ich in der Höhle neben der
Ziege Quiqui. Die Zicklein ſind von den Eutern
abgegangen und ſchlafen ſchon, die Mütter käuen
wieder und unterhalten ſich von Freiheit und Noth-
wendigkeit. Ich ſchlafe noch nicht. Es geht mir
etwas im Kopfe umher, was ich nicht zu nennen
weiß, es iſt ein formloſes Etwas, was ſich nach
und nach durch die Kehle in die unteren Regionen
hinabſenkt und dort ein losgebundenes Leben für
ſich anfängt. Meine Kinnbacken beginnen ſich kreuz
und quer übereinander zu ſchieben, und ein ſonder-
bares Nach-Schroten ohne Gegenſtand auszuführen;
bald ergreift die angrenzenden und dann die unteren
Theile die Mitleidenſchaft, mir wird ſehr übel, Dinge,
die ich für immer abgethan glaubte, ſteigen in mir
auf, ich weiß nicht, was das bedeuten ſoll, ich
befürchte, einen gefährlichen Magenkrampf zu haben,
ich ächze, ich ſtöhne. Theilnehmend rutſcht die
Quiqui herzu und fragt, was mir fehle? So gut
ich unter dem unaufhaltſamen Schieben und Schro-
ten der Kinnbacken es vermag, ſchildere ich ihr den
Zuſtand; und wer beſchreibt meinen Schreck, als
die ſanfte Quiqui, Thränen vergießend und mich
zärtlich an ſich drückend, ausruft: Heil dir und
[141] Segen, herziger Junge! Du biſt nun ganz der
Unſere, du käuſt wieder! — Ihr Götter! rufe ich
(denn auf dem Helikon ſpricht man nur mytholo-
giſch) was iſt aus mir geworden? Ich habe aber
nicht Zeit, dieſe Ausrufungen fortzuſetzen, denn alle
eilf andern Ziegen, welche den Freudenſchrei der
Quiqui vernommen haben, drängen ſich um mich,
und ſind wie außer ſich, die Lili leckt mich, die
Pipi neckt mich, die Riri ſchmiegt ſich an, die Fifi
riecht mich an, die Titi will mich küſſen, die Wiwi
hätte vor Liebe mich faſt gebiſſen, Bibi, Didi, Kiki
ſcherzen, Mimi, Nini herzen; von dem Jubel erwachen
die Zicklein und Böcklein, hören halb ſchlaftrunken,
was vorfiel, und nun erbrauſet erſt der rechte ba-
chiſche Taumel. Das ſpringt, bockt, bäumt, ſtößt,
rennt um mich her, das ſchüttelt ſich, rüttelt ſich, tänzelt,
ſchwänzelt, hänſelt, daß keine Phantaſie, und wäre ſie
die kühnſte und leichtfertigſte, dieſe tolle Scene, be-
leuchtet von einem zweifelhaften Mondſchein, ſich vor-
zuſtellen vermöchte. Nur die ehrwürdige Siſi behielt
einigermaßen ihre Faſſung, legte, als ſie durch das
Gewirre zu mir dringen konnte, ihre mütterliche Pfote
ſegnend auf mein Haupt und ſprach: Mögen dich Pan
und alle Faunen beſchützen, du junger Geretteter!
[142]
Endlich legt ſich der Sturm und Alles lagert
ſich wieder zum Schlummer. Ich aber liege, halb
todt von allen den Pfoten, Schnauzen, Köpfen,
Bäuchen, die mir Liebe hatten erzeigen wollen. Der
Schreck war freilich das Meiſte geweſen, denn keines
der gutmüthigen Thiere hatte mir wehe gethan,
ſie hatten ſich vor jeglicher Rohheit zu hüten gewußt.
Nur das Schieben und Schroten der Kinnbacken
wollte nicht wieder geläufig in Gang kommen,
dieſer ganze Hergang war durch die Heftigkeit der
Neigungen, die ich erdulden müſſen, gehemmt wor-
den, ich empfand einige Störungen im Verdauungs-
geſchäfte.
Aber wie wenig bedeuteten dieſe Unbequemlich-
keiten gegen den Seelenſchmerz und die geiſtige
Unruhe, die ich in jener Nacht durchzudulden
hatte! Iſt es möglich, daß du unter Ziegen auf-
gehört haben ſollteſt, ein Menſch zu ſeyn? ſprach
ich zu mir ſelber. — Warum haſt du dich gehen
laſſen, warum deine angeborene Würde nicht im
Auge behalten, nicht treu und feſt im Auge behal-
ten die ſchreckliche Gefahr herabziehenden Umgangs
und erſchlaffender Gewohnheit? Noch zitterte in
mir ein ſchwacher Strahl der Hoffnung, daß Alles
[143] nur Täuſchung ſeyn möge. Ungeduldig wachte ich
dem Tage entgegen, der mir Gewißheit bringen
mußte, wenn auch vielleicht eine ſchreckliche. Bei
dem erſten Schimmer der Morgenröthe ſchlüpfte ich,
während die Heerde noch ruhte, aus der Höhle,
rief: Bedenke, daß du Menſch biſt! und wollte auf-
recht einherſchreiten, aber, o Ihr Himmliſchen, es
ging damit nicht; ich war genöthigt, auf allen
Vieren zu laufen, auf allen Vieren zur Quelle
Hippokrene, welche mir die Wahrheit zeigen ſollte.
Ueber ihren klaren und göttlichen Spiegel ge-
beugt, ſah ich nunmehr, daß alle ſchwarzen Ahnun-
gen Recht hatten, daß das Entſetzliche geſchehen
war. Ich ſah aus ihrer Fluth einen mit zottigem
Vließ bedeckten Leib mir abſchreckend entgegenſtarren,
dünn und knöchern gewordene Gliedmaaßen, die,
als ob ſie Schaam empfänden, ſich in Fell hüllten,
ich ſah ſpitz und ſteifgewordene Ohren und ach!
jene von meinem Umgange mit der Heerde mir ſo
bekannte Phyſiognomie, in welcher der Mund ſich
zum breiten Maule verzogen, die Naſe die lächerliche
Streckung nach vorn angenommen hatte, die Augen
aber, erſchreckt von dieſen Verwandlungen, nach
den Seitenbeinen des Schädels auseinander gewichen
[144] waren; mit einem Worte, denn wozu ſo viele?
Im Spiegel der Poeſie ſah ich mich als jungen,
wenigſtens werdenden Bock.
Dahin alſo iſt es gekommen! rief ich, und
ſuchte zu verzweifeln. Biſt du’ darum deinem
Vater ſo ſauer geworden, darum aus ſeiner Taſche
gekrochen, um als Gehörnter und Beſchweifter zu
enden? — Denn die Muſenquelle hatte mir außer
Allem, was ich beſchrieben, auch an Stirn und
Rückgrat Keime gewieſen, welche mit den Jahren,
wenn das Wetter günſtig war, zu Horn und Schweif
erblühen konnten.
Ich war ſehr angegriffen und bedurfte der Stär-
kung, oder that es die Nüchternheit des Morgens?
genug, ich mußte freſſen, und ſchälte einen der
Lorbeerbäume über der Hippokrene ab. Die bitter-
lich-herbe Rinde bekam mir wohl. Ich ſuchte jetzt
abermals zu verzweifeln, oder, da dieſes nicht ge-
lingen wollte, mindeſtens mein Loos zu bejammern.
Auch das glückte nur zum Theil. Wie verſtehe ich
das? fragte ich mich. Du haſt deine Menſchheit
zum größeren Theile eingebüßt und kannſt keine
Verzweiflung, ja nicht einmal einen recht tüchtigen
Jammer zu Wege bringen?
[145]
Da machte ich eine Entdeckung in meinem In-
neren, die noch ſchlimmer war, als die äußeren
Wahrnehmungen, welche mir die Quelle gegeben
hatte. Ich merkte nämlich, als ich mich ſcharf
prüfte, daß ich den Verluſt meiner Humanität
eigentlich nur der Form wegen und Ehrenhalber
betrauere, im Grunde aber mit dem Fell an Leib
und Gliedern, mit dem breiten Maule, der nach
vorn geſtreckten Naſe, den ſeitwärts abgewichenen
Augen, mit den Keimen an Stirn und Rück-
grat wohl zufrieden ſei. Meine Seele war, das
empfand ich, auch bereits in der Verbockung be-
griffen. — O Menſchen! Menſchen! Menſchen! nehmt
an dieſer Thatſache ein warnendes Beiſpiel. Wahr-
lich, das Thier kommt raſch genug in Euch zum
Vorſchein, wenn Ihr nicht unabläſſig auf Euch
achtet.
Ich graſte und hing Betrachtungen dieſer tief-
ſinnigen Art nach, als die Ankunft der Heerde
mich in denſelben ſtörte. Die guten Ziegen waren
ſchon beſorgt um mich geweſen und zeigten, als
ſie mich bei der Hippokrene denkend und graſend
fanden, die unverſtellteſte Freude, ſo daß nicht
viel an einer Wiederholung der nächtlichen Auf-
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 10
[146] tritte gefehlt haben würde, wenn ich nicht Rüh-
rung und Erſchütterung über mein neues Glück
vorgeſchützt und ſie erſucht hätte, meine durch das
Wiederkäuen etwas angegriffene Geſundheit zu
ſchonen. Ja, er bedarf der Ruhe, riefen die edeln
Ziegen und entfernten ihre Pfoten und Mäuler
von mir. Der Platz an der Hippokrene wurde
für heute zur Weideſtelle erſehen, und ich hörte ſie
lange, während ſie fraßen, in erhöhter Stimmung
und in einem ſogenannten ſchönen Style mein
Glück preiſen, daß ich endlich vernünftig und einer
der Ihrigen geworden ſei.
So geht denn alſo durch das ganze Reich der
Weſen derjenige Zug, von welchem ich glaubte,
daß er nur meinen ehemaligen Cameraden, den
Menſchen, angehöre! dachte ich bei dieſen Geſprä-
chen. — Erſt wenn ſie Jemand zu ſich herunterge-
zogen und ihn in ſeiner beſten Eigenart vernichtet
haben, glauben ſie, daß er vernünftig geworden
ſei, und einer der Ihrigen zu heißen verdiene. So
zerklopft der Wegewärter an der Chauſſee die
großen Steine und pflaſtert dann mit den kleinen
Bröckelchen die gemeine Heerſtraße des täglichen
[147] Verkehrs zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, mit-
unter auch zu Eſel.
„Erlaube mir,“ rief der alte Baron hier aber-
mals dazwiſchen, „dieſe hirnloſen Geſchichten nun-
mehr zu unterbrechen, und laß uns von unſerer
Fabrik“ —
Sogleich, verſetzte Münchhauſen. Meine Er-
zählung dauert kaum noch eine Viertelſtunde.
Ich war nun gleichſam Hahn im Korbe bei den
guten und edlen Ziegen am Helikon. Sie liebten
mich faſt mehr, als ihre eigenen Kinder; natür-
lich, ich war ja das Kind ihrer Wahl und hatte
für ſie außerdem das beſondere Intereſſe, daß noch
einige Reſte der Menſchheit in mir ſtaken, welche
ihre fernere Erziehung ebenfalls auszutilgen berufen
ſchien und hoffen durfte. Sie bildeten nnd beſſer-
ten unaufhörlich an mir, d. h. ſie leckten und putz-
ten mich beſtändig, um den vollkommenen Bock aus
mir herauszulecken und zu putzen, und jedes Fünk-
chen widerſtrebender Menſchheit mir abzulecken.
Ich mußte mir das gefallen laſſen, obgleich ich es
gern geſehen hätte, ein Stückchen Menſch zu blei-
10*
[148] ben, der möglichen Fälle halber, in welchen ein
zweites Metier von großem Nutzen ſeyn kann.
Auch meine Sprache war ihnen noch nicht academiſch
genug; ſie meinten, es ſei nicht das reine tosca-
niſche Meckern. Ich muß hier einſchalten, daß ich
mich deßhalb ſo raſch mit meinen Wohlthäterinnen
hatte verſtändigen können, weil meine erſte Kind-
heit mir theilweiſe unter deutſchen Kanzelrednern
hingegangen war, und ich daher nur bekannte Töne
hörte, als ich zu den Ziegen kam, nur bekannte Töne
im Geſpräch mit ihnen zu wiederholen brauchte.
Indeſſen, wie geſagt, mein Meckern ſollte doch noch
nicht ganz rein ſeyn, es mochte wohl noch in etwa
den Kanzelredner verrathen. Die gelehrte Ziege
Pipi gab ſich daher an das Werk und unterwies
mich im Meckern nach den Regeln der Grammatik.
Ich lernte raſch und fand, daß das Ziegen-Idiom
einen großen Reichthum an eigenthümlichen Wen-
dungen für unklare Vorſtellungen habe, weßhalb
es manchen Zeiten zu empfehlen ſeyn dürfte, um darin
die Geſchäfte des öffentlichen Lebens abzuhandeln.
Tage kamen und Tage gingen, daraus wurden
Wochen und aus den Wochen ſtellten ſich Monate
zuſammen, ohne daß unſer idylliſches Leben auf
[149] dem Helikon irgend eine bedeutende Störung er-
litten hätte, außer daß wir Zicklein mitunter von
den Müttern zu ſehr allein gelaſſen wurden und
in einer dieſer Verlaſſenheiten zwei junge Böcke
einbüßten, welche, den Erſten ein Steinadler, den
Andern ein Goldadler auffraß. Unſer Gefühl
wurde von dieſen Verluſten ſchmerzlich berührt,
obſchon die Ziegen Fifi und Riri durch glückliche
Entbindungen für den Erſatz ſorgten. Jenes nicht
ſelten vorkommende Alleinſeyn und die Einbuße
der beiden Bocklein machte die Reſte der Menſch-
heit in mir nachdenken. Ich fragte, wenn wir ſo
uns ſelbſt überlaſſen umherirrten, kein gutes Futter
finden konnten, oder uns durch unüberlegte Sprünge
die Füße verſtauchten, oder auch wohl vom richti-
gen Pfade gänzlich abgekommen waren, wo denn
die Mütter ſeien? und erhielt zur Antwort, daß
ſie ihre Sitzungen hielten. Fragte ich nun weiter,
aus was Grund und zu was Ende dieſe Sitzungen
ſtattfänden? ſo erwiederten mir meine Altersgenoſſen,
es ſeien die Sitzungen des Wohlthätigkeitsvereins.
Freilich blieb ich durch ſolche Antworten ſo klug
als vorher; ich ſchärfte indeſſen das Auge der Be-
obachtung und kam auch binnen Kurzem der Sache
[150] auf den Grund. Leider entdeckten da meine For-
ſchungen gewiſſe Schattenſeiten an dem ſonſt ſo
liebenswürdigen und vollkommenen Zuſtande der
helikoniſchen Ziegenheerde.
Die wohlthätigen und rechtſchaffenen Mütter
hatten nämlich einen Verein „zur Linderung des
Elendes leidender Naturweſen“ geſtiftet. Dieſer
Verein war aus den Trümmern eines früheren,
untergegangenen entſtanden, welcher auf die Ver-
feinerung ihrer Pelze abgezielt hatte. Ein reiſen-
der Waldeſel war nämlich einſtmals über den He-
likon gekommen, hatte aus der Hippokrene geſoffen
und darauf von dem wundervollen Geſpinnſte der
Tübetziege phantaſirt, aus welchem in Kaſchmir
die herrlichen und koſtbaren Shals gewebt werden.
Der phantaſirende Eſel hatte weder Tübetziegen
noch Kaſchmirſhals ſelbſt geſehen, ſondern im Walde
einen armeniſchen Kaufmann davon reden hören,
der zwar mit den Shals bekannt war, die Ziegen
aber auch nie in Augenſchein genommen hatte,
ſondern nur von ſeinem verſtorbenen Bruder gehört
haben wollte, es gebe dergleichen. Die Phantaſie
des Eſels entzündete aber die Phantaſie der Müt-
ter und befruchtete ihren Geiſt mit dem Ideale
[151] einer Tübetiſchen Hochgebirgsziege. Dieſes ferne
hohe Bild brachte in ihnen den Trieb der Nach-
eiferung hervor, ihre Pelze dünkten ihnen ſeit dem
Tage roh und gemein, ſie verbanden ſich, durch ein
Leben im höheren Sinne des Worts ihre Wolle
zu verfeinern und es wo möglich bis zu Kaſchmir-
wolle zu bringen, denn der Pelz iſt einer Ziege
das, was ſchönen Seelen ihr Gemüth iſt.
Das Leben im höheren Sinne des Worts
konnte aber nur dadurch in das Werk gerichtet
werden, daß ſie alle Gemeinſchaft mit ihren Gatten
abbrachen und die Milch bei ſich behielten. Dieſe
Schritte bedrohten nun die ganze Heerde mit dem
Untergange, und als die Seufzer der Gatten und
das Wimmern der Zicklein ihnen die Gefahr ein-
leuchtend gemacht hatten, ſo mußten ſich die hoch-
herzigen Ziegen entſchließen, dem ſchönen Unter-
nehmen zu entſagen; ſchmerzlich ergriffen, denn wie
es ihnen vorkam, war während der wenigen Tage,
wa Gatten und Kinder darbten, ihr Pelz ſchon
merklich feiner geworden.
Aus dieſem Wolleverbeſſerungsvereine war der
Verein zur Linderung des Elendes leidender Na-
turweſen hervorgegangen, weil das höhere Selbſt
[152] der helikoniſchen Ziegen Befriedigung wollte und
für die Einbuße Erſatz heiſchte. Der neue Verein
bekümmerte ſich um jedes Unglück und half allen
Inſecten, Vögeln und kleinen Säugethieren, die in
Noth ſtaken. Er hielt wöchentlich ſeine regel-
mäßigen Sitzungen; ich habe mehreren derſelben
beigewohnt, da man mich als Böcklein von guten
Anlagen für würdig hielt, ſo edle und gemein-
nützige Thathandlungen kennen zu lernen. Die
Ziegen pflegten an einer beſchatteten Stelle des
Berges im Kreiſe umherzuliegen und wiederzu-
käuen; die verſtändige tugendhafte Siſi aber, welche
auf einem erhöhten Steine in der Mitte des Krei-
ſes ruhte, führte in dieſen Conferenzen das Prä-
ſidium. Während des Wiederkäuens wurden denn
nun Nothfälle der verſchiedenſten Art in barmher-
zige Erwägung gezogen, als z. B. wie einer Hum-
mel zu helfen ſei, welche die Ziege Riri hatte in
das Waſſer fallen ſehen? ob man nicht einer er-
lahmten und erſtummten Grille eine Art Hackbrett-
lein aus Blättchen und Dörnchen zurichten laſſen
könne, um ihr die Ausübung ihrer Kunſt für die
Zukunft wenigſtens einigermaßen möglich zu machen?
oder in welcher Art einer in ihrem Loche darbenden
[153] Maus Futter für ſich und ihre Jungen geſchafft
werden möge, von der die Ziegen wußten, daß ſie
ohne Verſchulden in ſolche Nahrungsloſigkeit gerathen
war, und was dergleichen wohlthätige Maaßnahmen
mehr waren, welche den helikoniſchen Ziegen und
ihrem Vereine einen faſt göttlichen Namen bei allem
nothleidenden Geſchmeiße zu Wege gebracht hatten.
Ich ſage: Bei dem Geſchmeiße, denn was die edleren
Geſchöpfe betrifft, ſo wollten dieſe von dem Ver-
eine und ſeinen Thaten nichts wiſſen. Die Stein-
droſſel hörte auf zu ſingen, wenn die Ziegen in
der Nähe ihres Buſches rathzuſchlagen begannen,
eine weiße Hinde, welche zuweilen Beſucheshalber
auf den Berg kam, wies, als die Ziegen ihr den
Antrag machten, in den Wohlthätigkeitsverein zu
treten, ſtatt aller Antwort nur den ſtolzen Rücken,
und die Lorbeerbäume, unter welchen die Sitzungen
vor ſich gingen, habe ich oft die Kronen hochmüthig
ſchütteln ſehen, wenn die Reden der Ziegen im
tönendſten Schwunge und ergiebigſten Fluſſe waren.
Ja, einer jener geweihten Bäume mußte die Nähe
der barmherzigen Ziegen ſelbſt körperlich nicht ver-
tragen können. Er bekam ein krankes Anſehen und
ging endlich ganz aus.
[154]
Auch erreichten die Mütter nicht in allen Fäl-
len ihre tugendhaften Zwecke. Es war ſtreng ver-
boten, daß von irgend einer Ziege privatim, ohne
Aufſehen, aus dem Stegreife, wie ſie ſie fand,
Noth gelindert werden durfte; nein, alle Wohl-
thätigkeit ſollte ſeit der Stiftung des Vereins im
Geſchäftswege verwaltet werden, und die Einzel-
ziege war ſtreng angewieſen, dem leidenden Weſen,
welches ſie traf, vorüberzugehen und über den
Fund nur dem Vereine zu berichten. Auf dieſe
Weiſe wollten die helikoniſchen Mütter die gemeine,
inſtinctartige Milde ausrotten und an deren Statt
die höhere, ſelbſtbewußte, die adminiſtrirende Milde
pflanzen. Da es nun aber immer mit einiger Weit-
läuftigkeit verknüpft war, eine Sitzung zu Stande
zu bringen, die Sitzungen ſelbſt jedoch das Weit-
läuftigſte bei der ganzen Sache wurden, indem die
Ziegen meckernd und wieder-meckernd gleichſam
außer ihrem Futter auch die Barmherzigkeit wie-
derkäuten, ſo kam oft alle Hülfe zu ſpät. Die
Hummel, welcher ein auf der Stelle zugeworfenes
Blatt das Leben gerettet hätte, war während der
Reden über die Pflicht, ſie zu retten, untergegan-
gen, und die Maus, der die vorübergehende Einzel-
[155] ziege ein Paar Körner hätte zuſcharren können,
bis es zum Geſammtwirken für ſie kam, Hungers
geſtorben.
Mitunter war etwas unternommen worden,
was gegen die Natur anging. So konnte faſt keine
der lahmen Grillen mit den Kunſthackbrettchen fer-
tig werden. Am ſchlimmſten waren, wie ich ſchon
angedeutet habe, die langen und weitläuftigen Sit-
zungen des helikoniſchen Ziegenvereins für uns
Zicklein und Böcklein. Wenn wir während derſel-
ben ohne Weg und Steg und oft ohne Futter
umherliefen, wenn Gefahren und Raubthiere uns
außer Acht Gelaſſenen drohten, da konnten wir
armen Schluckerchen nicht ſelten unſere bitteren
Thränen darüber vergießen, daß die Mütter an
ertrinkende Hummeln, lahme Grillen und hungernde
Mäuſe dachten und uns vergaßen. Indeſſen waren
ſolche Thränen und jene Mißglückungen im Ganzen
unwichtig. Die Helikonierinnen lernten ſich durch
den Verein in ihrer Vortrefflichkeit immer mehr
fühlen und an ihrer eigenen Tugend begeiſtern, und
darauf kam es doch hauptſächlich vor Allem an.
Ich habe lange nicht gewußt, auf was Art
dieſe Stimmung, welche die eigene Familie um
[156] Geſchmeiß hin und wieder vernachläſſigen lehrte,
und eine ſchlichte und unſcheinbare Barmherzigkeit
zu einem glänzenden Geſchäfte aufzublaſen antrieb,
bei den Helikonierinnen entſtanden war. Endlich
konnte ich mir das Räthſel erklären. Die heliko-
niſche Heerde ſoff nämlich, wie wir wiſſen, aus
der Hippokrene. Dieſe Quelle wirkt nun bei
Allen, welche ſie trinken, die gewaltigſten Dinge,
jedoch nur bei den durch das Schickſal dazu Vor-
beſtimmten jenen reizenden Wahnſinn, den wir
kennen, bei Vielen dagegen verſetzt ſich das Waſſer
und ſchafft entweder die abſcheulichſten Würfel-
reime, wie bei mir der Fall war, ſo oft ich trank,
oder einen ſo zu ſagen erhitzten und geſchwollenen
Zuſtand im Handeln und Empfinden, den man
die blühende Proſa des Lebens nennen könnte.
Die helikoniſchen Ziegen gehörten nicht in die
Reihe der zum reizenden Wahnſinn Vorbeſtimmten.
Bei ihnen wirkte die Quelle den Drang zu unnö-
thigen Tugenden und überflüſſigen Wohlthätigkeiten.
Ihr Zuſtand war blühende Proſa. Dieſer Zuſtand
rührte von verſetzter Hippokrene her.
Wie oft mußte ich, als ich nachmals mehr
unter Menſchen kam, und ihre geſchmackloſen Herr-
[157] lichkeiten, ihre Aufſpannungen für und um das
Erbärmliche kennen lernte, ſtill für mich ausrufen:
Verſetzte Hippokrene! — Wo dieſe mit der blühen-
den Proſa in ihrem Gefolge auftritt, da ſtirbt das
melodiſche Getön der Steindroſſel, da weiſet die
ſtolze weiße Hinde vornehm den Rücken, da ſchüttelt
der Lorbeer zornig die Krone, oder geht aus.
Auch die Gatten der Ziegen ſoffen für ge-
wöhnlich aus der Hippokrene und wollten hinter
den Gattinnen nicht zurückbleiben. Sie gehörten
ebenfalls nicht in die Reihe der zum reizenden
Wahnſinn Vorbeſtimmten, was mir gewiß Jeder,
der einmal einen ſolchen Gatten geſehen hat, auf
mein Wort glaubt. Da nun die Gattinnen ihnen
ſchon das Elend des Geſchmeißes weggenommen
hatten, ſo waren ſie auf deſſen Laſter beſchränkt
und ſtifteten unter ſich einen Verein „zur Rettung
ſittlich verwahrloſeter Naturweſen.“ Der Zweck
deſſelben war, durch moraliſche Einwirkung, durch
tugendhafte Anrede und herzliche Aufmunterung
zum Guten alle die Thierlein, welche ihrer Natur
nach ſtechen, beißen, kratzen, ſtehlen, oder ſich von
[158] ſchmutzigen Dingen nähren, zu einem unſchädlicheren
und reineren Leben anzuführen. Nach der Abſicht
der Stifter ſollte, wenn der Verein wirklich durch-
griffe, die Mücke ihrem Stachel und der Floh
ſeinem Blutdurſt entſagen lernen, die Elſter auf
den Diebſtahl verzichten, Würmer und Maden aber
von Unrath und Aas ſich entwöhnen.
Da ich mich allein bei den Ziegen aufhielt, ſo
kann ich nicht ſagen, wie weit der Beſſerungsverein
mit ſeiner Thätigkeit gediehen war, als ich auf
den Helikon kam. Ich weiß nur, daß allerhand
Geziefer auch auf dieſem heiligen Berge ſtach, biß,
kratzte, ſtahl und Unausſprechbares fraß, weiß aber
nicht, ob es gebeſſertes oder ungebeſſertes war.
Einer einzigen Verſittlichungsgeſchichte Augen- und
Ohrenzeuge bin ich geworden, von ihr will ich be-
richten, muß ich ſogar berichten, da ſich eine Ka-
taſtrophe mit ihr verband, welche zu weiteren
Schickſalen Münchhauſen’s des Kindes, damals
Böckchens, führte.
Die vereinigten Böcke … oder vielmehr die
ſittlichen Gatten der wohlthätigen Ziegen waren an
dem Tage, der meiner Auffindung folgte, an den
Ort gekommen, wo der großmüthige Engländer ſein
[159] Pferd hatte graſen laſſen und der todte Lämmer-
geier lag. Wo das Pferd geſtanden, fanden ſie
einen Käfer mit ſchwarz-glänzenden Flügeldecken,
einen der Art, welche bei Ariſtophanes die Knechte
des Trygäos dem Herrn für den Ritt zu Zeus
auffüttern, und die Deutſchen Miſtkäfer nennen.
An dem Halſe des Geiers aber bemerkten ſie die
ſtahlblaue Fliege, Schmeißfliege geheißen. — Ich
will, Bruder Schnuck, ungeachtet deine göttliche
Tochter nicht zugegen iſt, dennoch den Käfer aus
Rückſicht auf deine Delicateſſe nur das Roß des
Trygäos und die Fliege die blaue Schwärmerin
nennen, ſagte Münchhauſen, vom Manuſcripte auf-
ſehend.
„Erlaube“ — rief der alte Baron faſt wüthend.
Erlaube mir, ſagte Münchhauſen, dir die Ge-
ſchichte von dem Käfer und der Fliege vorzutragen. —
Dreht ſich Einem nicht das reine Herz im
Leibe um, rief einer der Gatten, zwei Mitweſen in
ſolcher Niedertracht zu ſehen? O Brüder, laßt
uns hier helfend einſchreiten, laßt uns dieſen Ge-
fallenen die rettende Klaue reichen, entwöhnen wir
den Käfer von ſeinen üblen Neigungen, die Fliege
von der Leidenſchaft, ſelbſt die ungeborene Zukunft
[160] ihres Stammes einem verdorbenen Elemente ein-
zupflanzen, machen wir Käfer und Fliege zu an-
ſtändigen Leuten, die in der guten Geſellſchaft
fortkommen können!
Allgemeiner Beifall folgte dieſer Rede. Ein-
ſtimmig beſchloß man, das Roß des Trygäos und
die blaue Schwärmerin ſollten ſittlich und anſtän-
dig werden, ſie möchten wollen oder nicht. Vor-
ſichtig ſcharrte der Redner, der Ziegengatte Solon
(ſie hatten ſich lauter Namen von weiſen und
erhabenen Männern des Alterthums beigelegt;)
den Käfer von ſeinem Mahle mit der Klaue hin-
weg und trieb ihn in eine Felsritze, die ſofort
durch einen vorgewälzten Kieſel zum Beſſerungs-
gemache erſchaffen wurde. Dieſe Unternehmung
hatte wenig Schwierigkeiten gehabt, denn ehe ein
Käfer zum Fliegen gelangt, dauert es einige Zeit
mit Bauchdehnen und Halsrecken. Schlauer mußte
man mit der Fliege zu Werke gehen, der wohl-
beſchwingten Schwärmerin. Indeſſen gelang es
dem jungen Plato, einem Ziegengatten von der
unerreichbarſten Hoheit der Gedanken, die zu Beſ-
ſernde zu beſchleichen, ſie mit ſeinen Lippen zu er-
ſchnappen und zwiſchen denſelben nach dem Aſtloche
[161] eines Feigenbaumes zu tragen, worin ſie durch
einen vorgeſtopften Pflock verſpündet wurde. Man
theilte das freudige Ereigniß bei der nächſten Zu-
ſammenkunft den Gattinnen mit, welche nicht ver-
fehlten, an den Hoffnungen des Vereins den leben-
digſten Antheil zu nehmen. Auf dieſe Weiſe erhielt
ich von der Sache Kunde. Wir Zicklein und Böck-
lein mußten nun den Ort, wo das Pferd des
großmüthigen Engländers geſtanden, rein ſcharren,
die erwachſene Heerde ſtürzte aber den Leichnam
des todten Geiers in einen tiefen Abgrund, um
von den beiden eingeſperrten Zöglingen der Sitt-
lichkeit alle Anreizungen zum Laſter zu entfernen.
In den folgenden Tagen begannen nun Solon
und Plato, unterſtützt jezuweilen von den übrigen
Mitgliedern des Vereins, ihre Reden und Ermah-
nungen an das Trygäosroß und die blaue Schwär-
merin. Solon lag vor der Felsritze und hielt
ſeine Schnauze an ein federſpulenkleines Löchlein,
welches der Kieſel unbedeckt ließ; Plato ſtellte ſich
an dem Feigenbaume auf die Hinterfüße, hielt ſich
mit den Vorderfüßen am Stamme feſt und legte
das Honigmaul gegen das Aſtloch, um ſich ver-
ſtändlich zu machen. In dieſer Stellung oder Lage
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 11
[162] hielten die beiden Bocke ihre Beſſerungsreden, wenn
ſie nicht fraßen, der Eine die Feigen des Baumes,
der Andere das junge Laubgeſproß, welches an der
Felsritze gerade in der wucherndſten und ſaftigſten
Fülle wuchs.
Iſt es denn nicht beſſer, ſich an reiner und
reinlicher Nahrung zu ſättigen? ſprach Solon zum
Käfer, wenn er von dem Genuſſe des Laubes aus-
ruhte. — Fühlſt du denn nicht, du armer Geſunkener,
daß uns Alle, Ziegen, Käfer und Fliegen, Zeus
der Vater in die Furchen der brütenden Mutter
ausſäte, die Speiſe aus der Hand der Götter,
nicht aber ſie aus der Pforte, die da ſtäts nur
ausläßt und nimmer ein, zu empfangen? Schreck-
liche, unbegreifliche Verirrung, das, was Trift
und Gefilde heilſam in das Reich der blonden De-
meter emporſchickt, zu verachten, und erſt dann
danach zu ſtreben, wenn es, in den Hades geſtoßen,
dem geſtaltenloſen Schattengebiete der traurigen
Perſephoneia angehört! Liebſt du des Hafers gol-
denes Korn, warum friſſeſt du nicht Hafer? Ge-
lüſtet dich nach dem Sproß des Graſes, weßhalb
beißeſt du nicht in Gras? Was reizt, was verführt
dich, das Alles erſt umgeſtimmt, entmiſcht, abgenützt
[163] zu mögen? Höre dieſes freudige Knirſchen und
Rauſchen vor deinem Kerker, vernimm, wie ich in
dem ſaftigen, fetten Portulak, in der wilden
bittern Kreſſe, in dem erfriſchenden Sauerklee
ſchmauſe. Könnteſt du denn nicht, wenn du frei
wäreſt, neben mir brüderlich ſitzen und dieſer von
der Oreas uns verliehenen Blätter dich erfreuen,
als einige Schritte weiter zurück, ein Helot und
Barbar, zu harren, ob dir ein von der Harpye
beſudeltes Mahl werde? Oder ſagſt du: Ich bin
Käfer, du biſt ein Ziegengatte? Nun ſo blicke auf
deines Gleichen, ſieh, wie der kleine rothe zirpende
Schelm das ſüßduftende Blatt der Lilie nagt, wie
der Runde mit kupferbraunen Flügeln und grünem
Schilde im Schooße der Roſe ſchwelgt! Denen
folge, denen ſchließe dich an, bei ihnen iſt deine
Stelle! Friß Lilien, wenn du nicht Hafer, friß
Roſen, wenn du nicht Portulak, Kreſſe und Sauer-
klee freſſen willſt!
Nach dieſen Reden fühlte ſich der edle Solon
immer mit neuem Appetite verſehen und war zu
erhöhter Thätigkeit an den Bergkräutern aufgelegt.
Plato, wenn er vom Feigenfraß raſtete, hielt Er-
mahnungen ungefähr des nämlichen Inhalts an
11*
[164] ſeine Schülerin. Auch er rieth der Fliege auf
das Eindringlichſte, verdorbenes Fleiſch zu laſſen,
in Zukunft Feigen zu freſſen und auf Feigen ihre
Eier zu legen. Er ſuchte beſonders auf das Mut-
tergefühl zu wirken und in glänzenden Bildern ihr
vorzuſtellen, welch ein begabteres Geſchlecht ihre
Brut werden würde, wenn ſie ſtatt in Duſt und
Dunſt, da droben auf ſonnebeſchienenem, lüftege-
gewiegtem Zweige auskäme. Auch er verzehrte
nach ſeinen Reden immer wieder Feigen, ſo lange
dergleichen noch am Baume hingen, dann nagte er
die Zweige ab, ſo daß der Baum ein ziemlich ver-
wüſtetes Anſehen zu bekommen anfing.
Das Roß des Trygäos und die blaue Schwär-
merin lebten bei dieſen Ermahnungen in ihren
Beſſerungslöchern ein trauriges Leben. Sie waren
Beide ſchlichte, rohe Naturweſen ohne alle Theorie,
practiſchen Trieben ergeben. Anfangs raſ’ten ſie
wie wahnwitzig brummend und ſchnurrend in den
Kerkern umher, da ihnen dieſes aber nichts half,
ſo wurden ſie ſtill und hörten den Reden ihrer
Verbeſſerer zu. Von denen verſtanden ſie nun aber
nicht das Mindeſte, als, daß der Käfer Lilien und
Roſen freſſen, die Fliege ſich zu Feigen wenden
[165] ſolle — Zumuthungen, die Roß und Schwärmerin
außer ſich ſetzten, weil ſie ihnen das Beleidigendſte
dünkten, was ihnen nur geſagt werden konnte.
Seelenverkäufer! Seelenverkäufer! brummte der Kä-
fer. — Warum ſoll denn Unſereins nicht freſſen, was
Unſereinem ſchmeckt? — Ich ſuch’, ſuch’, ſuch’ Ge-
ruch! ſummte die Fliege. Am meiſten ärgerte es
die beiden Candidaten der Sittlichkeit, daß ſie ihre
Beſſerer draußen behaglich in Laub und Feigen
knarpen hörten, und daß denen die tugendhaften
ermahnenden Reden gleichſam nur dienten, ſich der
Verdauung halber nach dem Eſſen eine Bewegung
zu machen. Indeſſen nahmen die Dinge für Beide
eine ſehr ernſte Geſtalt an, denn ſie bekamen na-
türlich nicht das Allergeringſte zu eſſen und fielen
daher während ihrer Bearbeitung zu einem reine-
ren Leben jämmerlich ab. Das Trygäosroß wurde
ſo matt, daß es kaum noch auf den Füßen ſtehen
konnte; die blaue Schwärmerin ließ kraftlos die
Flügel hängen.
In dieſer traurigen Verfaſſung überkam ſie der
den Thieren eingepflanzte ſchlaue Trieb der Selbſt-
erhaltung. Sie ſetzten ſich vor zu heucheln, und
gaben klägliche und melancholiſche Tone von ſich.
[166] Höre! rief Solon dem Plato zu (denn Felsritze
und Feigenbaum waren einander nahe;) das Laſter
ſchlägt in ſich, die erſten Kennzeichen der Reue ſind
zu ſpüren. — Meine arme Gefallene ächzt auch
ſchon über ihr Unheil, verſetzte Plato. Nach eini-
ger Zeit prüften die beiden ehrwürdigen Ziegen-
gatten den Sinn der Bekehrten, indem Plato ein
Stückchen Feige, welches noch am Baume gehangen
hatte, vorſichtig in das Aſtloch ſchob, Solon aber
ein Lilien- und Roſenblättchen unter den Kieſel in
die Felsritze zu bringen wußte.
Roß und Schwärmerin erbebten vor Grimm
bei dieſer Darlegung abſcheulicher Anträge, wie ſie
ihnen vorkommen mußten. Die Schwärmerin wich
entſetzt vor dem Feigenſtücklein in die letzte Ecke
des Aſtloches zurück, das Roß ſtieß die Blätter,
deren Geruch ihm den Athem raubte und die Luft
ſeines Wohnortes ihm zu verpeſten ſchien, mit den
kurzen, kräftigen Beinen von ſich ab. — Nieder-
trächtiger Geſtank! brummte es. — Sollte man’s
glauben, daß es Narren giebt, die an dem gräulichen
Zeuge Behagen finden? Ich erſticke! O meine Am-
broſia! — Feigen! Feigen! Feigen! Kinderpapp!
Kinderpapp! toſete die Schwärmerinn.
[167]
Aber ihre Lage war zum Aeußerſten gediehen.
Die Beſſerer draußen, das begriffen die Opfer der
Sittlichkeit drinnen, konnten es bei guter Nahrung
mit anſehen, wenn ſich das Geſchäft auch noch ſo
ſehr in die Länge zog. Hunger thut weh, Ver-
ſtellung that Noth, die draußen zu täuſchen. Der
Käfer überwand ſich und fraß unter Verwünſchun-
gen und Zuckungen etwas Lilien und Roſen, wel-
ches er aber alſobald wieder von ſich gab, ſo übel
bekam ihm der höhere und reinere Lebensgenuß!
Die Fliege bezwang ihr ſchauderndes Gemüth und
verrichtete über der Feige einigermaßen und gleich-
ſam zur Probe das, was von ihr im Namen der
Tugend gefordert wurde. Plato und Solon hat-
ten gelauſcht und an dem Geräuſche, welches
drinnen entſtanden, abgenommen, daß etwas Ent-
ſcheidendes vorgefallen ſeyn müſſe. Oeffnend jetzt
die beiden Verließe, ſahen ſie Lilien und Roſen
angenagt, das Feigenſtücklein beſchmeißt, Roß und
Schwärmerin aber halbohnmächtig auf dem Rücken
liegen. Solon und Plato umarmten einander mit
den Vorderbeinen und riefen: Triumph! die Tugend
hat geſiegt! Das Laſter iſt aus dem Buſen dieſer
ſittlich Verwahrloſeten gewichen, ſie werden nie
[168] wieder in ihre ſchimpflichen Angewöhnungen zurück-
fallen!
Der Jubel drang zu den übrigen Ziegengatten,
welche ungeachtet ihrer Ehrwürdigkeit den frohen
Fall mit einem herrlichen Reigentanze in den kühn-
ſten Sprüngen feierten. Auch die Mütter und
uns Zicklein und Böcklein zog das Getöſe herbei.
Die Mütter wurden mit wenigen freudigmeckernden
Worten von dem Gelingen der Verſittlichung in
Kenntniß geſetzt, ſahen Roß und Schwärmerin die
Füße von ſich ſtrecken und vergoſſen Thränen der
Rührung. Wie die Frauen denn immer mit blitz-
ſchneller Ahnung das Höchſte, Richtigſte treffen, ſo
ging auch in den helikoniſchen Ziegen damals die
Blüthe des verſittlichenden Wirkens auf. — Laßt
uns aus dieſen beiden der Tugend gewonnenen
Weſen ein Paar machen! riefen die Ziegen be-
geiſtert. Verheirathen wir ſie mit einander, und
als Ausſteuer geben wir ihnen ſo viele Lilien, Roſen
und Feigen, als ſie am Helikon finden können!
Ein unglaublicher Sturm des Entzückens folgte
dieſem Vorſchlage. Zwar wollte der ehrwürdige
Moſchus den Zweifel erheben, ob ſelbiges Ehebünd-
niß wohl fruchtbar ausfallen möchte, und der kritiſche
[169] Bion erſt die Neigungen von Braut und Bräuti-
gam prüfen; aber die erwähnten Bedenken fanden
keinen Anklang, vielmehr rief der Chorus der
Uebrigen einhällig: Wo die Tugend zuſammenführt,
kommt es auf Neigung und Fruchtbarkeit nicht an!
Man wollte ſogleich zu dieſen Hymenäen im
Namen der Sittlichkeit ſchreiten. Plato und Solon
nahmen das Trygäosroß und die blaue Schwär-
merin auf ihren Rücken. Sie ſchritten voran, die
ehrwürdigen Gatten folgten ihnen Paarweiſe, denen
folgten die rechtſchaffenen und wohlthätigen Mütter,
hinter den Müttern ſprangen wir Zicklein und
Böcklein, und ſo ſetzte ſich der Zug nach dem Platze
an der Hippokrene in Bewegung, wo die Hochzeit
gefeiert werden ſollte.
Dort angekommen, nahm die alte verſtändige
Siſi das Roß zwiſchen ihre Lippen, die gute
Quiqui aber that desgleichen mit der Schwärme-
rin. Sie trugen demnächſt das Brautpaar zu
einem hohen Steine, ſtellten die beiden jungen
Leute, welche von der freien Luft erfriſcht, wieder
ſtehen konnten und überhaupt mit jedem Augen-
blicke munterer zu werden ſchienen, auf den Stein
neben einander, und darauf ſchloſſen wir Alle, Jung
[170] und Alt einen weiten Kreis um das Paar. Das
in der Eile entworfene Programm der Feſtlich-
keiten ordnete dieſe Reihenfolge derſelben an:
Strophe; Reden von Solon und Plato; Gegen-
ſtrophe; Ceremonie, Schlußgeſang, gymniſches
Spiel, Reigentanz, Feſtmahl.
Eine der kleinen lahmen Grillen, die einzige,
welche mit dem Kunſthackebrettlein aus Blättchen
und Dörnchen hatte fertig werden können, war zur
Feſtſängerin ernannt worden. Als daher der Kreis
ſich gebildet hatte, ſchritt oder hüpfelte vielmehr
dieſe Dichterin des Wohlthätigkeitsvereins zur hei-
ligen Quelle, netzte darin ihre Freßzangen ein We-
niges, verdrehte darauf die goldgelben Aeugelein
im Kopfe, erreichte mit einem lahmen Sprunge das
Gezweig einer Tamariske, nach vergeblichen Bemü-
hungen, auf einen der Lorbeerbäume, den niedrig-
ſten unter Allen, zu gelangen, ſtimmte das Hacke-
brettlein, putzte die Freßzangen an demſelben ab,
und ſang nun, das Kunſtinſtrumentlein ſchlagend,
begeiſtert folgende:
[171]
Herrliche Poeſie! Nahrung für Gemüth und
Gefühl! meckerten die Ziegen. — Reines Gefühl,
mit keinem Gedanken belaſtet! Echt lyriſch! mur-
melten die Böcke. — Solon und Plato traten in
den Kreis vor das Brautpaar und redeten nach
einander. Sie hielten ihm in eindringlichen Wor-
ten die Schändlichkeit ſeines früheren Lebenswan-
dels vor, dann führten ſie aus, daß die Göttin
der Tugend eine gute alte Mama ſei, immer zum
Verzeihen bereit, dann kamen ſie auf Lilien und
Roſen, Feigen, Felsritzen und Aſtlöcher. Im
erſten Theile machten ſie das Brautpaar herunter,
im zweiten erhoben ſie es, in der Nutzanwendung
wußten ſie ſelbſt nicht mehr, was ſie wollten —
ihre Sermone hätten gleich als Muſter von Ca-
ſualreden abgedruckt werden können.
Ich glaubte zu bemerken, daß das Brautpaar
auf die Reden nicht achte, ſondern nur Leib und
Flügel einzuüben ſcheine, theilte dieſe Beobachtung
[172] meinen Nachbarn mit, die jedoch, ganz in die Würde
des Feſtes verſenkt, meiner Worte nicht achteten.
Nach den Reden ſang die Grille folgende
Indem es aber nun zur Ceremonie kommen
ſollte, und die Ziegen Siſi und Quiqui das Paar
erſuchten einander die Füße zu geben, nahm die
Feierlichkeit eine plötzliche unerwartete und unglück-
liche Wendung. Denn zur Rechten wurde in der
Entfernung der Hufſchlag eines Pferdes hörbar,
und zur Linken kroch unten durch einen Bergſpalt
ein Fuchs, oder ein Wolf oder ein anderes Raub-
thier. Ich weiß nicht, was dem Pferde begegnen
mochte, das aber ſah ich, weil ich auf der äußer-
ſten Linie des Kreiſes ſtand, daß das Raubthier
ein Stück Fleiſch im Rachen trug. Alſobald drang
in die beiden jungen Leute auf dem Steine eine
convulſiviſche Bewegung, ihren ſcharfen Sinnen
[173] brachten die Lüfte von weitem verführeriſche Bot-
ſchaft zu, Roß und Schwärmerin ſammelten ihre letz-
ten von der Sittlichkeit verſchont gebliebenen Kräfte,
ſpreiteten die Flügel aus, und mit dem Gebrumm:
Miſt! Miſt! Miſt! und mit dem Geſumm: Luder!
Luder! Luder! flog der Bräutigam rechts, die
Braut links davon, ungerührt von Beſſerungsverſu-
chen, Reden, Rührumgen, Strophen und Gegen-
ſtrophen das alte Laſterleben von vorn zu beginnen.
Die entſetzte Ueberraſchung der Freier, als
Odyſſeus plötzlich aus Bettlerlumpen mit ſieghafter
Hoheit hervorleuchtete und die tödtenden Pfeile
vor ſich hingoß, kann nicht größer geweſen ſeyn,
als der Schreck der Mütter und ihrer Gatten bei
dieſem Anblicke, welcher ebenfalls ſo zu ſagen die
Hoheit der Natur aus Lumpen hervorſcheinen
machte. Anfangs ſtanden ſie da, ſtumm, ſtarr,
regungslos, gleichſam ein großes Viehſtück aus
Stein, dann aber ergriff ſie der haltungsloſeſte
Taumel, und ſie rannten nach allen Richtungen
ebenfalls auseinander, entweder, weil ſie die ſitt-
lich Verwahrloſeten wieder einfangen wollten, oder
auch nur überſchattet von dem Dämon, welcher ſich
[174] ungeheurer Augenblicke zu bemächtigen pflegt. Die
Zicklein und Böcklein folgten, ſo daß die den
Gipfel hinan und hinunter rennenden, ſpringenden,
ſtolpernden, ſtürzenden Thiere demſelben ein Anſehen
gaben, wodurch er mehr der Kuppe eines theſſaliſchen
Zauberberges, als der heiteren muſiſchen Höhe glich.
Was mich betrifft, ſo war ich an der Quelle
zurückgeblieben. Warum ſollte ich hinter Käfer und
Fliege herlaufen? Mein eigenes Schickſal machte
mir bange. Ich fürchtete die Rückkehr der Heerde.
Die Mütter hatten mir nämlich ſchon vor eini-
gen Tagen angekündigt, daß, um auch die letzten
Reſte der verhaßten Menſchlichkeit in mir auszu-
tilgen, ich nächſtens aus der weiblichen Erziehung
entlaſſen und den Händen der Gatten übergeben
werden ſolle. Dagegen ſträubten ſich nun aber
jene Reſte mit aller Macht und vielleicht eben ſo
heftig, wie die Neigungen des Trygäosroſſes gegen
Lilien und Roſen. Denn mir blieb ein phyſiſcher
Abſcheu gegen die Gatten beiwohnen, ſo ſehr ich
ihre ehrwürdigen Eigenſchaften achtete. Aber letz-
tere hatten gewiſſe natürliche Begabungen an ihnen
nicht zu tilgen vermocht, und ich empfand das
innigſte Grauen vor dem Augenblicke, der mich
[175] ihrer Atmosphäre ſo nahe bringen ſollte. Indeſſen
ſtanden ganz andere Dinge in den Sternen geſchrieben.
Der Hufſchlag des Pferdes näherte ſich, und
es kam ein ältlicher, dicker Mann, dem ein Dün-
ner folgte, nach der Stelle zu geritten, wo ich ſtand.
Der Mann trug einen gelben Hut, einen gelben
Rock, eine gelbe Hoſe und eine gelbe Weſte, ſah
ſehr blaß und aufgedunſen und äußerſt verdrießlich
aus. Schon ſein Anſehen und der völlig gleich-
gültige Blick, mit dem er die Gegend überſchaute,
würde mich gelehrt haben, von welchem Volke die-
ſer Fremdling ſei, wenn ich ihn auch nicht ſo-
bald hätte reden hören. Der Diener half ſei-
nem Herrn vom Pferde, führte ihn zu dem
Steine, auf welchem das Brautpaar geſtanden
hatte, ließ ihn niederſitzen, gab ihm ein ſpaniſches
Rohr in die Hand, ſchob deſſen Knopf unter ſein
Kinn, und richtete auf diefe Weiſe gleichſam die
Statue eines gefühlloſen Naturbeſchauers zu. Der
Herr ließ nämlich Alles phlegmatiſch mit ſich vor-
nehmen und antwortete nur ſpärlich auf die Reden
des Dieners, welcher ziemlich geſprächig war.
Aus ihrer Unterhaltung erfuhr ich, daß der
gelbe Dicke ein reicher, vom Geſchäfte zurückgezo-
[176] gener Rentenierer war, welcher unweit Amſterdam
und eine Stunde von Harlem auf ſeinem Land-
hauſe gelebt hatte. Da ſich die Anfälle des
Podagra’s bei ihm mehrten und gewiſſe Vorboten
der Waſſerſucht erſchienen, ſo war ihm von ſeinem
Arzte eine Reiſe in die ſüdlichen Länder verordnet
worden. Dazu wollte ſich denn auch Myn Heer
van Streef verſtehen und erklärte ſeine Bereit-
willigkeit, bis in den Reichswald bei Cleve zu
reiſen. Der Arzt erklärte aber dagegen, er ſei
mißverſtanden worden und nannte ihm die unge-
heure Meilenzahl, welche er wenigſtens abzureiſen
habe. Der Holländer war hierüber anfangs, ſo
weit ſein Naturell dies zuließ, in einige Verzweif-
lung gerathen, jedoch endlich, weil der Arzt eben-
falls ein ruhiger hartnäckiger Altniederländer war,
und ſeinem Patienten mit größter Faſſung Todes-
tag, ja Todesſtunde vorausgeſagt hatte, wenn er
nicht Folge leiſte, genöthigt geweſen, ſich zu fügen,
und an die Reiſe zu denken, die er in ſüdöſtlicher
Richtung vornehmen mußte, da er ſüdlich auf der
Karte die verordnete Meilenzahl nicht vor ſich ſah.
Um dies zu verſtehen, muß geſagt werden, was
ich aus den Geſprächen heraushörte, daß nämlich
[177] Myn Heer van Streef durchaus nur ſeine Mei-
len in gerader Richtung, ohne durch Umwege und
Abſprünge ihre Zahl zu erfüllen, verreiſen wollte.
Denn da ihm die Reiſe äußerſt zuwider war, ſo
haßte er Alles, was ihr den Schein einer Wande-
rung zum Vergnügen hätte geben können. Er zog
deßhalb auf ſeiner Karte von Europa nach dem
Lineal mit Bleiſtift einen Strich von Amſterdam
nach Südoſten, maß daran die Meilen, fand, daß
ihre Zahl ſich genau auf dem Gipfel des Helikon
vollende, und war ſo, immer ſtreng dem Striche
nachreiſend, und weder rechts noch links abwei-
chend, allgemach auf den geheiligten Berg gekommen.
Hier tröſtete ihn nun der Diener, nachdem er
ihm Vorſtehendes in einzelnen Bemerkungen erin-
nerlich gemacht hatte, um ihn durch den Gedanken
an die Nothwendigkeit der Reiſe und ihre ſtrenge
Conſequenz aufzurichten, mit dem Ausrufe: Myn
Heer, wir ſind am Ziel, und morgen geht es nach
unſerem ſchönen Welgelegen zurück.
Gottlob, ſagte der Holländer, der ſich bei dem
Gedanken an ſein Landhaus ein wenig erheitert
fühlte, und ich will, wenn wir nach Hauſe gekom-
men ſind, ein Luſthaus anbauen und das ſoll hei-
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 12
[178] ßen: Vreugde en Ruſt. Und aus der Ruhe will
ich nicht wieder gehen, möchte auch meine Waſſer-
ſucht ſo überhand nehmen, daß alle Deiche von
Seeland bedroht wären. Ich kenne gar nichts
Wahnſchaffneres, als dieſe griechiſchen Gegenden,
in denen ein beſchwerlicher Berg nach dem andern
kommt, wo man keine Ausſicht auf Canäle und
Wieſen hat, und der Himmel die unnatürliche blaue
Farbe nicht los wird.
Es kann nicht überall Altniederland ſeyn, ver-
ſetzte der Diener und ſtopfte ſich eine kleine thö-
nerne Pfeife; es muß auch ſolche nichtsnutzige
Striche Landes geben.
Wenn ich da mein Landhaus Welgelegen be-
trachte, fuhr Myn Heer van Streef fort, der jetzt
etwas geſprächiger wurde, obgleich ſein Geſicht ſo
verdrießlich blieb, wie früher, was für eine andere
Gegend iſt das! Neben an liegt Myn Heer de
Jonghe’s Schoone Zicht und auf der andern Seite
Myn Heer van Toll’s Vrouw Elizabeth, und mit-
ten inne liegt Welgelegen. Ich will nun gar
nicht reden von meinen innerlichen Schönheiten und
bequemen Dingen, von der Menagerie, von mei-
nem mit bunten Steinen gepflaſterten Hofe, vom
[179] Muſchelhäuschen, von der Voliere, von den Gold-
faſanen und den Miſtbeeten voll Hyacinthen, die
hier elend wild wachſen — aber Sebulon, denke nur
an die ſchöne Ausſicht auf den Canal, über den alle
Tage die ſechs braun angeſtrichenen Treckſchuiten von
den Jägerchen gezogen werden und auf die unabſeh-
liche Wieſe dahinter, in der dann doch auch nicht eine
einzige Erhabenheit, ſo groß wie ein Maulwurfshü-
gel iſt, und den Hintergrund von zwölf Windmühlen
im Gange! Und dann ſieht man das nicht alle Tage,
nein, einen um den andern Tag nebelt oder regnet
es, ſo daß die Entbehrung das Glück, um ſich
blicken zu können, erhöht, und der Himmel bleibt
immer, auch wenn es helles Wetter iſt, beſcheiden,
mäßig und grau. Wie wird dir denn Sebulon,
wenn du an alles das denkſt?
Abſcheulich wird mir zu Muthe, rief Sebulon
und warf zornig ſeine Pfeife an den Boden, daß
ſie zerbrach. Hole der böſe Feind dieſe verdamm-
ten griechiſchen Wüſten!
Ereifre dich nicht, Sebulon, ſagte der Herr
ſchläfrig, mit verdroſſenem Mundhängen. Ein Hol-
länder ereifert ſich nicht, oder er prügelt wenig-
ſtens Jemanden dabei, auf daß der Eifer einen
12*
[180] Nutzen habe. Mache mir jetzt Thee, das Waſſer
dort ſcheint noch ſo ziemlich klar zu ſeyn, wie es
in dieſem vermaledeiten Lande ſeyn kann, denn
freilich, Waſſer von Utrecht iſt es nicht. Ich will
unterdeſſen in der Elektra unſeres großen Vondel
leſen. Er nahm ein Buch aus der Taſche, ſchlug
es auf, und las halblaut mit ſonderbarem Pathos
die Anfangsverſe der Vondelſchen Elektra:
Ja, ja, unterbrach ſich Myn Heer van Streef,
das iſt denn freilich etwas Griechiſcher, als dieſe
helikoniſche Knüppeldammwirthſchaft. Er ſummte
ſacht in ſeinem Vondel weiter.
Sebulon hatte unterdeſſen die Reiſetheema-
ſchine, welche ſein Herr überall mit hinnahm, aus
dem Mantelſacke hervorgeholt, Feuer angezündet,
Waſſer aus der Hippokrene geſchöpft, es gekocht
und grünen Thee aufgeſchüttet. Als das unent-
[181] behrliche Getränk bereitet war, reichte er ſeinem
Herrn eine Taſſe.
Myn Heer van Streef führte ſie ſo langſam
und mürriſch zum Munde, wie er in allen ſeinen
Bewegungen bisher geweſen war. Er koſtete und
koſtete, die ſchlaffen Lippen zogen ſich ein wenig
zuſammen, dann ſchluckte er bedächtig den Inhalt
der Taſſe hinunter, und ſagte: Sebulon noch eine.
— Sebulon ſah ſeinen Herrn bedenklich an und
ſchüttelte den Kopf. Die zweite Taſſe trank Myn
Heer van Streef, ohne zu koſten, aus. Seine
Augen bekamen während des Trinkens eine Art
von Glanz und er ſagte: Sebulon noch eine. —
Sebulon reichte ihm zitternd und eine große Un-
ruhe in ſeinen Zügen die dritte Taſſe. Dieſe
ſtürzte Myn Heer van Streef beinahe haſtig hin-
unter und darauf ſah er faſt gen Himmel.
Ach, Myn Heer! rief der Diener beſorgt, was
iſt Euch wiederfahren? Sonſt braucht Ihr ja auf
drei Taſſen Thee drei Viertelſtunden, und hier geht
es wie mit Extrapoſt in den Magen.
Der alte Holländer ſah ſehr nachdenklich aus
und ſagte endlich nach langem Schweigen: Sebulon,
dieſer Thee hier ſchmeckt mir beſſer als der auf meinem
Landhauſe Welgelegen eine Stunde von Amſterdam.
[182]
Da raufte der treue Diener ſein Haar,
weinte und ſchrie: O wehe mir, wehe! Myn
Heer van Streef iſt auf dieſem nichtswürdigen
Berge toll geworden; ſein Thee ſchmeckt ihm dahau-
ßen beſſer als daheim; er lobt die Fremde auf
Koſten von Altniederland, er iſt abgefallen von
Oranjeboven und Altniederland.
Sebulon erhitze dich nicht, ſagte der Herr
gleichmüthig und freundlich. Ich habe meinen Ver-
ſtand nicht verloren. Weißt du, was Schwärmerei
bedeutet? Es iſt der Zuſtand, worin ſich der
Hanswurſt von Franzoſen, und der Bull von Eng-
länder oft befindet, und der deutſche Muff faſt
immer, Altniederland aber niemals. Die Sache
ſollte aber zur Probe auch einmal an uns kom-
men, denn bei Gott iſt kein Ding unmöglich. Ich
liefere die Probe. Ich ſchwärme, Sebulon, das
iſt das Ganze. In dem Thee muß etwas ſeyn;
ich bin von dem Thee ein Schwärmer geworden,
denn ich muß es noch einmal ſagen; er ſchmeckt
wahrhaftig beſſer, als der auf meinem Landgute
Welgelegen. Es wird aber ſchon wieder vergehen.
Nur mit Mühe gelang es dem ſchwärmeriſchen
Holländer, ſeinen Diener zu beruhigen. Am mei-
[183] ſten wirkte dazu die Verſicherung, daß aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach dieſer exaltirte Zuſtand eine ret-
tende Criſe ſeines Uebels ſei, daß die Waſſerſucht
durch die Schwärmerei eine Stopfung erhalten
habe. Der alte Schwärmer ſtand auf und ſchickte
ſich zum Rückwege an, Sebulon packte das Thee-
geräth zuſammen. Myn Heer van Streef ſah ſich
um und ſagte: Ich möchte wohl ein Angedenken
an dieſem ziemlich erträglichen Platz und an die
ſchöne Stunde, in welcher mir der Thee ſo wohl
ſchmeckte, mitnehmen, ein Erinnerungszeichen an die
hieſige Schwärmerei. — Was ſollen wir mitneh-
men? verſetzte Sebulon noch immer ziemlich klein-
laut, wir können doch nicht die Boompges (er
meinte die Lorbeeren) oder die großen Klinker (er
meinte die Klippen) einpacken. — In dieſem Au-
genblicke ſah er mich, der ich hinter einem Felſen
den ſchwärmeriſchen Auftritt belauſcht hatte, zog
mich hervor und rief: Was für eine Creatur iſt
das? Der ſchwärmeriſche Holländer beſah mich,
und ſagte dann langſam: Wirf dem Vieh einen
Strick um den Hals, Sebulon. Das will ich
mitnehmen als Angedenken an dieſe ſchöne Stunde.
Es ſcheint zu einer unbekannten Thierart zu ge-
[184] hören; Myn Heer de Jonghe, der in Batavia ge-
weſen iſt, ſoll mir ſagen, ob ſie auch auf Java
vorkommt.
Was ſollte ich machen? Ein Entrinnen war
nicht möglich, auch muß ich bekennen, daß die Reſte
der Menſchheit in mir einige Freude darüber
empfanden, wieder unter ihres Gleichen zu kom-
men; obgleich eine geheime düſtere Ahnung mir
zuflüſterte, daß die Schwärmerei des Holländers mir
drückend werden könne. — Ich ließ mir das Fang-
ſeil geduldig um den Hals ſchlingen und verließ
mit meinem neuen Herrn, der ſacht voranritt,
und Sebulon, der mich am Stricke hinter ſich her
führte, den Berg, auf welchem mir ſo Vieles be-
gegnet war. Vor unſerem Abmarſche hatte Sebu-
lon die Kantinen, die zu beiden Seiten des Pfer-
des hingen, mit Waſſer der Hippokrene füllen müſ-
ſen zu einem nochmaligen Thee auf dem Landhauſe
Welgelegen.
Am Fuße des Berges war Myn Heer van
Streef ſchon wieder eben ſo verdrießlich, wie vor-
her, und dieſe Stimmung blieb ihm auch während
der ganzen Reiſe. Wir ſetzten dieſelbe, nachdem
wir in ebnere Gegenden gekommen waren, zu Wa-
[185] gen fort, d. h. Herr und Diener ſaßen im Wagen,
und ich lief neben her — Ihr mögt mir es glauben
oder nicht, es liegt mir nichts daran, aber wahr
muß wahr bleiben — ich habe die Paar hundert
Meilen zu Fuß zurückgelegt, ausgenommen eine kurze
Strecke des adriatiſchen Meers, die wir auf einer ſcla-
voniſchen Schebecke durchſchnitten. Ja, neben hollän-
diſchen Schwärmern läßt ſich ſchon zu Fuß fortkommen!
Bald genug aber ſehnte ich mich auf den He-
likon zurück. Denn die Herrſchaft von Altnie-
derland iſt die härteſte, die es giebt. Ich wurde
behandelt wie eine Colonie, für mein Futter
mußte ich ſelbſt ſorgen, auf der ſclavoniſchen
Schebecke bekam ich, Gott verdamme mich, nichts
zu genießen als den Duft von Hyacinthenzwie-
beln, die Myn Heer van Streef gekauft hatte,
und welche neben meinem Verſchlage lagen. Dazu
die Einſeitigkeit einer Reiſe nach dem Bleiſtift-
ſtrich! Denn nach dieſem machte mein Herr
auch ſeine Rückfahrt. Die meiſten Merkwürdig-
keiten der Oerter lernt man oft nur zur Hälfte
kennen. So z. B. habe ich in Frankfurt das
Incompetenzgebäude nicht zu ſehen bekommen, weil
unſer Strich durch die Judengaſſe ging.
[186]
Nun, dieſe Unannehmlichkeiten hatten zuletzt
auch ein Ende. Wir trafen in Amſterdam und
eine Stunde ſpäter auf dem Landhauſe Welge-
legen ein. Bei dem Anblicke des Canals, der
ebenen Wieſe, der zwölf Windmühlen, endlich bei
dem Anblicke ſeines ſtillen Hauſes mit den herab-
gelaſſenen Fenſtervorhängen, mit dem buntgepfla-
ſterten Hofe, mit der Voliere aus vergoldetem
Drath und mit dem grünen, eingezäunten Flecke,
auf welchem Gold- und Silberfaſanen nebſt an-
derem Gethier ſpazieren gingen, vergoß Myn Heer
van Streef zwei runde Thränen und ſagte zu
Sebulon: O Welgelegen! weiter aber nichts.
Sebulon ſchluchzte, beugte ſich vor dem Thore
zur Erde, gleichſam um ſie zu küſſen und ver-
ſetzte: Welgelegen iſt Welgelegen, Myn Heer van
Streef. In der Pforte ſtanden ſechs nordhollän-
diſche Mägde mit goldenen Blechen in den Haa-
ren, alle weiß und rund und ſauber gekleidet, daß
ſie glänzten. Sie machten einen Knicks, küßten
ihrem Herrn die Hand und ſagten: Viel Glück
und Heil zur Rückkunft, Myn Heer. Ihren Kreis
trennte ein kleiner Mann, rothen Antlitzes, aber
ganz weiß und ehrwürdig eingepudert, ſchüttelte
[187] dem Heimkehrenden die Hand und ſprach: Ich
habe davon erfahren, daß Ihr heute kommen wür-
det, da wollte ich gleich zuſehen, ob die Kur an-
geſchlagen habe. — Doctor, ich ſchwärmte auf
dem Helikon, danach wurde mir beſſer, und ich
bin völlig hergeſtellt, verſetzte der Patient. Der
Doctor hatte ihn inzwiſchen prüfend beſchaut und
erwiederte kaltblütig: Nein, Myn Heer van Streef,
ihr ſeid noch eben ſo krank, als da Ihr abreiſ’tet,
Ihr müßt deßhalb von Neuem auf Reiſen gehen,
ſonſt ſterbt Ihr dann und dann. Er nannte den
Todestag.
Hier aber ſah und hörte ich, wenn ich früher
holländiſche Schwärmerei kennen gelernt hatte,
was holländiſche Wuth heißen wolle. Denn das
Geſicht von Myn Heer van Streef wurde grau-
braun, die Stirnadern ſchwollen an, daß ſie Baum-
wurzeln glichen, und er goß über den Doctor eine
ſolche Fluth von Scheltreden aus, daß ich über
den Reichthum der Landesſprache in derartigen
Wendungen erſtaunen mußte. Der Doctor ſeiner-
ſeits fühlte auch in ſich eine niederländiſche Begei-
ſterung erwachen und ſchimpfte den Patienten aus,
Sebulon ſchimpfte auf den Doctor, die erſte Nord-
[188] holländerin ſchimpfte auf Sebulon, daß er ſich in
den Streit der Herren miſche, die Zweite auf die
Erſte, daß ſie auf Sebulon ſchimpfe, die Dritte auf
die Zweite, daß ſie auf die Erſte ſchimpfe, die
Vierte auf die Dritte, daß ſie auf die Zweite
ſchimpfe, die Fünfte auf Sebulon, die Erſte, Zweite
Dritte und Vierte insgeſammt, die Sechste ſchimpfte
auf Niemand insbeſondere, ſondern im Allgemeinen.
Es erinnerte mich dieſes verwickelte Schimpfge-
mälde durchaus an den gegenwärtigen Zuſtand der
deutſchen Tagesliteratur.
Auf ſo laute und ſtürmiſche Weiſe ging der
Empfang des ſchwärmeriſchen Holländers in der
Hofespforte ſeines ſtillen Landhauſes vor ſich. Die
Goldfaſanen, die Silberfaſanen und einige india-
niſche Raben der Voliere ſchrieen in das allgemeine
Geſchrei auch hinein, und Gott weiß, ob nicht noch
Thätlichkeiten das Feſt gekrönt haben würden, wenn
nicht plötzlich in der Entfernung das reitende Jä-
gerchen, und hinter ihm am Seile vom Pferde ge-
zogen, das braune Nationalfahrzeug ſichtbar gewor-
den wäre. Bei dieſem Anblicke ebneten ſich die
zornigen Wellen, Aller Antlitz begann friedlich und
freundlich zu leuchten, und wie aus einem Munde
[189] riefen Doctor, Patient, Sebulon und ſechs Nord-
holländerinnen: Die fünfte Schuite! — Kommt
aber heute zwei Minuten zu ſpät, ſetzte Myn Heer
van Streef hinzu, indem er auf ſeine Uhr ſah. —
Er ging freundlich in ſein Landhaus; der Doctor
beſtieg beſänftiget die Schuite nach Amſterdam.
So ſchlichtete der Anblick der fünften Schuite
von Harlem dieſe niederländiſchen Wirren. Ich
war, als gehöre ich zur Familie, meinem Herrn
bis auf den Hausflur gefolgt, aber eine Magd
trieb mich ziemlich unſanft von den Stiegen und
fing ſogleich an, heftig nachzuſcheuern, wo ich ge-
ſtanden hatte, obgleich ich mir ſelbſt das Zeugniß
geben muß, daß ich mich ſehr anſtändig auf dem
Flure von Welgelegen benommen habe. Sebu-
lon ſperrte mich auf einem der grünen Plätze zu
den Gold- und Silberfaſanen ein, d. h. ich kam
nicht zu dieſem Gefieder unmittelbar, ſondern er-
hielt einen eigenen kleinen Abſchlag, wie denn auch
jeder Goldfaſan und jeder Silberfaſan ſeinen be-
ſonders abgeſteckten und eingefriedigten Platz hatte,
vermuthlich, weil Myn Heer van Streef ſelbſt bei
den Thieren holländiſche Neigungen vorausſetzte.
Ich fand ziemlich gute Weide, wenn auch nicht ſo
[190] aromatiſche Kräuter, wie am Helikon, fraß mich
endlich einmal in Muße wieder ſatt und verſchlief
den meiſten Theil der folgenden Tage aus über-
großer Ermüdung von dem langen Reiſewege.
Erſt etwa eine Woche ſpäter bekam ich ſonach die
Fähigkeit wieder, aufzumerken, über meine Umge-
bung und mich nachzudenken.
Als dieſer Zeitpunkt eingetreten war, habe ich
die Lebensweiſe eines holländiſchen Rentenierers,
der ſich vom Geſchäft zurückgezogen hat, gründlich
kennen lernen. Denn mein Weide- und Wohnplatz
lag hart unter den Fenſtern des Luſthäuschens,
welches durch den Hof von dem Haupthauſe ge-
trennt, dem Herrn des Landhauſes zu ſeinem täg-
lichen Vergnügungsorte diente, es mochte Son-
nenſchein oder Nebel, Sturm oder Regen ſeyn.
Sebulon hatte mir einen Felſen von Klinkern
etwa vier Fuß hoch aufgebaut, welcher Klein-He-
likon genannt wurde. Auf dieſen kletterte ich häu-
fig und konnte von ihm aus Alles ſehen, was in
dem Luſthäuschen vorging, das Meiſte auch hören,
was darin geſprochen wurde, da die Fenſter, wenn
das Wetter nicht gar zu ſchlecht war, nach der
Menagerieſeite zu, offen zu ſtehen pflegten. Nach
[191] der Canalſeite aber waren ſie ſtäts geſchloſſen und
auch verhängt bis auf eine kleine, zur Beobachtung
der Treckſchuiten nothwendige Oeffnung.
Des Morgens um acht Uhr kam Myn Heer
van Streef regelmäßig in ſein Luſthaus gegangen.
Er trug dann ſeinen Frühanzug von zeiſiggrünem
Camelot und eine rothe Mappe unter dem Arme.
Mit der Pfeife und dem Theegeräthe folgte ihm
die erſte Magd, denn zu Hauſe ließ er ſich nur
von den Frauenzimmern bedienen, Sebulon war
nur auf der Reiſe zum Diener erhöht worden, in
dem Landhauſe Welgelegen hatte er ſeine Stel-
lung als Haus- oder Gartenknecht wieder ein-
genommen. Myn Heer van Streef trank nun
ſeinen Thee, nicht raſch, wie auf dem Helikon,
ſondern wirklich, wie Sebulon geſagt hatte, die
Taſſe in einer Viertelſtunde, wozu er langſam den
Rauch aus der angezündeten Pfeife blies und in
geregelten Zeitabſchnitten wechſelsweiſe mit ſtar-
rem Blicke nach dem Canal und nach uns, ſeiner
Menagerie, ausſah. Sonſt nahm er während die-
ſer Zeit nichts vor, denn er war der Meinung,
daß jedes Geſchäft für ſich betrieben werden müſſe.
Nach dem Frühſtücksgeſchäfte ſchickte er ſich zu
[192] dem Zweiten an, nämlich den Text ſeiner Kans-
billets, die er in der rothen Mappe verwahrte,
Stück vor Stück, obgleich derartige Schriftwerke
bekanntlich gleich lauten, nachzuleſen. An den Zins-
tagen geſellte ſich dazu die Arbeit, die Coupons
abzuſchneiden. Dieſe Mühen pflegten die zwölfte
Tagesſtunde heranzubringen. Dann erſchien ein
Diener aus dem Landhauſe Schoone Zicht und Einer
aus der Vrouw Elizabeth, brachte einen höflichen
Gruß von Myn Heer de Jonghe und Myn Heer van
Toll und die Anfrage ihrer Herrn: Wie Myn
Heer van Streef geſchlafen habe und ſich befinde?
Myn Heer van Streef antwortete nach langer
Ueberlegung jeden Tag daſſelbe; daß die Nacht
ziemlich ruhig geweſen ſei, und das Befinden, Gott
ſei Dank, ſich leidlich verhalte. Wenn dieſe Boten
abgefertigt waren, wurde Sebulon geklingelt und
nach der Schoonen Zicht und der Vrouw Elizabeth
entſendet mit höflichem Gruße von Myn Heer
van Streef an Myn Heer de Jonghe und Myn
Heer van Toll und ſeinerſeitiger Anfrage, wie dieſe
beiden Herren geſchlafen hätten und ſich befänden?
Nach vorgedachten Anſtrengungen wurde zur
Herſtellung der erſchöpften Lebenskraft wieder Thee
[193] getrunken, geraucht und die Meldung des zurück-
kehrenden Sebulon entgegen genommen. Darauf
ging Myn Heer van Streef in das Haupthaus,
kam angekleidet zurück in den Hof, ſtellte ſich vor
die Voliere und demnächſt vor jeden Abſchlag der
Menagerie, ſah die Einwohnerſchaft der Voliere und
dann Jedes von uns eine geraume Zeit lang be-
dächtig an, ſchüttelte auf jeder dieſer Stationen
das Haupt und ſagte, ſo oft er ſchüttelte: Un-
vernünftige Thiere! — Dieſes that er jeden Tag, auch
wenn es regnete, Sebulon hielt ihm dann nur
während dieſer geringſchätzigen Betrachtungen den
Regenſchirm über.
Waren die Allocutionen an die Voliere und
Menagerie geendiget, ſo ging er wieder in das
Haupthaus und ſpeiſte, es mochte dann etwa vier
Uhr Nachmittags ſeyn, zu Mittag; hielt darauf
ſeine Mittagsruhe und kehrte, abermals eine Mappe
unter dem Arme, jetzt aber eine grüne, ſechs Uhr
Abends in das Luſthaus zurück. Er trank nun-
mehr ſeinen dritten Thee, rauchte, wie ſich von
ſelbſt verſteht, abermals dazu und las dann Am-
ſterdamer Stadtobligationen, die er in der grünen
Mappe verwahrte. Darüber pflegte es dunkel zu
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 13
[194] werden; Myn Heer van Streef klappte gähnend
die Mappe zu, ſah noch einmal nach dem Canal,
verließ hierauf das Luſthaus und zog ſich in das
Haupthaus zurück. Sobald es völlig dunkel war,
ſchloß Sebulon die Pforte; die Lichter, welche in
den Fenſtern des Hauſes eine kurze Zeit lang
leuchteten, erloſchen allgemach — ein Zeichen, daß
Herr und Dienerſchaft in ihren Betten von den
Anſtrengungen des Tages ausruhten. Das tiefſte
Schweigen und die lautloſeſte Stille ſenkten ſich
auf Welgelegen herab.
Ich habe unter den Beſchäftigungen des Tages
anzumerken vergeſſen, daß Myn Heer van Streef
auch den Ankunftsaugenblick jeder der ſechs Schuiten,
welche täglich von Harlem nach Amſterdam vor-
überfuhren, auf einer ſchwarzen Tafel, welche im
Luſthäuschen hing, zu notiren pflegte, und aus den
Unterſchieden wöchentlich eine mittlere Zeit heraus-
rechnete. Ich hörte ihn zuweilen ſagen, es ſei ſein
großter Kummer, daß dieſe Mittelzeiten nie ſtim-
men wollten, auch wenn er ſie auf Monate, ja
ſelbſt Jahre ſchlüge, und daß daher die rechte
mittlere Ankunftszeit einer Treckſchuite noch immer
ein unlosbares Räthſel wäre.
[195]
So ging ein Tag wie der Andere hin.
O Herr! ſeufzte ich bei dieſem niederländiſchen
Leben in Freude und Raſt oft (denn ich bediente
mich bei meinen Ausrufungen nun nicht mehr der
Mythologie) was für eine Langeweile! Steht denn
mein Herr nur eine Stufe über dem Faulthier
und nicht tief unter dem Elephanten, dem ſtolz-
empfindlichen Roſſe, dem rührigen Hunde, obſchon
er Kans Billets und Amſterdamer Stadtobligatio-
nen lieſt? Und doch dünkt er ſich was Rechtes,
glaubt eine unſterbliche Seele zu beſitzen, und doch
behandelt der ſchwärmeriſche Barbar uns Thiere
mit Verachtung! — Es war natürlich, daß ſich auf
ſolchem Wege kein Verhältniß der Zuneigung zwi-
ſchen mir und ihm entfalten konnte; dieſer Hollän-
der war nicht geeignet, Liebe zu erwecken. Ich
drehte ihm daher auch immer den Rücken zu, wenn
er vor meinen Verſchlag trat. Um der Laſt der
ſchrecklichen Langeweile von Welgelegen mich zu
entziehen, ſuchte ich mit meinen Nachbarn in der
Menagerie Umgang anzuknüpfen. Ich hatte recht
leidliche Leute zu Nachbarn, links einen Goldfaſan
und rechts einen Silberfaſan, hinter mir ein Paar
Schildkröten in einem großen Sandkaſten und einen
13*
[196] jungen Biber, deſſen Schwanz in Waſſer hing. Es
wäre mir intereſſant geweſen, mit Vögeln, Amphi-
bien und amphibienartigen Geſchöpfen auch einmal
meine Ideen auszutauſchen, aber dazu wollte ſich
hier keine Gelegenheit finden. Dieſe Particuliers
waren von dem geiſtigen Drucke, der über Welge-
legen laſtete, ſo gebeugt, daß alle meine Verſuche,
ihnen näher zu treten, mein herzliches Meckern und
ſo mancher treugemeinte Bocksſprung keinen Anklang
fanden. Die Faſanen lagen meiſtens, den Kopf
unter die Flügel geſteckt, dumpf hinbrütend da, die
Schildkröten zogen ſich, ſobald ſie ſich an ihrem
Kohle ſatt geknabbert hatten, unter ihr Schild zu-
rück, der Biber hatte für nichts Sinn als für das
kalte Waſſer um ſeinen Schweif.
Meine Pein zu ſchärfen diente die berufene
holländiſche Reinlichkeit. Es wurde nämlich auf
uns Thiere eine beſondere Kehrmagd gehalten,
welche bei ihrem Mitgeſinde Dreck-Griete hieß,
weil ihr anbefohlen war, die äußerſte Sauberkeit
unſerer Wohnſtätten in Obacht zu nehmen. Sie
brachte den Tag über in einer Art von Portier-
häuschen am Eingange des Haupthauſes zu und
lugte beſtändig auf die Menagerie hinaus. Ließ
[197] nun ein Faſan eine Feder fallen, oder fiel ſonſt
etwas vor, was nicht zu vermeiden ſtand — lieber
Gott, man bleibt denn doch Thier! — alſobald
ſchoß dieſe ihrem Berufe fanatiſch ergebene Reini-
gungsperſon, bewaffnet mit einem langen Borſtbeſen
hervor, riß den betreffenden Verſchlag auf und
ſäuberte vermöge des Beſens die Stelle. Meine
Collegen waren zu ſehr Vieh, um ſich hieraus etwas
zu machen, aber in mir hatte der Menſch Theil
an dergleichen Vorkommenheiten, in mir ſchämte
ſich der Menſch vor einer ſolchen Ueberwachung
ſeiner eigenſten und innerſten Angelegenheiten. Ich
war oft in der größten Verlegenheit zwiſchen Müſſen
und nicht Mögen, zwiſchen natürlichen Wünſchen
und der Furcht vor der auflauernden und ſchon
zum conventionellen Borſtbeſen greifenden Dreck-
Griete!
Die Langeweile — die Iſolirung — die ewig
drohende Kehrmagd — meine Lage wurde von Tage
zu Tage fürchterlicher! Münchhauſen war damals
unglücklich, ganz unglücklich! Das Schickſal hatte
mich zu hart angefaßt, ich war ein Opfer kalter
Schwärmerei geworden; das iſt das Schrecklichſte,
was es zwiſchen Himmel und Erde giebt.
[198]
Eine tragiſche Verzweiflung bemächtigte ſich
meiner. Ich ſann auf Selbſtmord. Ich wollte die
Natur zwingen; wie Andere ſich der Speiſe ent-
halten, wollte ich dem Borſtbeſen der Reinigungs-
perſon ſein Opfer unterſchlagen — lange — für immer!
— — Denn ich fühlte, daß, mit Heldenmuth den
Entſchluß durchgeführt, der Organismus untergehen
müſſe. Dieſe Weiſe, zu enden, dünkte mich die
erhabenſte, reinſte, ſie kam mir neu und unnach-
ahmlich vor.
Ich hielt mich ſtill für mich. Zwei Tage lang
raſtete das Thürſchloß meines Verſchlages. Die
Reinigungsperſon umſchlich mich unheimlich ſpähend.
Ich dachte: Schleich du; ich ſterbe!
Am dritten Tage ließ Myn Heer van Streef die
Späherin rufen und fragte ſie, was mir fehle? ich
ſtehe ja ſo verdroſſen und ohrhängerig da? Griete
berichtete dem Herrn, was ſie wußte. — So muß man
abwarten, ob es ſich bis morgen mit ihm beſſert,
ſprach mein fühlloſer Gebieter, und wenn das nicht
geſchieht, ſo gebt ihm — — Er verordnete das
ſchnelle und unwiderſtehliche Mittel, gegen welches
in ſolchen Fällen ſelbſt der Heldenmuth eines Cato
ſich fruchtlos ſtemmen würde.
[199]
Nein, es iſt zu viel! meckerte ich ingrimmig
und traurig zugleich; indem ich am Felſen Klein-
Helikon niederſank und meine heiße Stirn wider
dieſe Klinker ſtieß. Nicht leben können, und nicht
ſterben dürfen! — Ich ſah ſchon im Geiſte den
Augenblick, der meinen Entſchluß gewaltſam brechen
würde, und das furchtbare Inſtrument in Grieten’s
Hand, ich ſah mich ſchon wieder ſchamroth, ent-
würdigt, in die alten Conflicte zurückgeworfen,
denen meine freie Seele ſich entronnen wähnte.
Ach, der nämliche Tag ſollte mich noch etwas
ganz Anderes ſehen laſſen! Wie ſchwach ſteht es
um die ſogenannten großen Vorſätze! Bittere und
demüthigende Erfahrung, die ich an mir ſelber
machte!
Myn Heer van Streef empfing an dieſem Tage
einen Beſuch von ſeinen Nachbarn de Jonghe und
van Toll. Die Beſitzer der drei Landhäuſer Wel-
gelegen, Schoone Zicht und Vrouw Elizaheth pfleg-
ten einander nur einmal im Jahre gegenſeitig zu
beſuchen. Die Tage waren ein für allemal feſtge-
ſtellt, und ſonſt ſahen einander die drei Holländer
nicht, obgleich die Landhäuſer kaum fünfhundert
Schritte von einander entfernt waren. Wenn ſie
[200] zuſammenkamen, ſo zeigte der Wirth ſeinen Gäſten
den Zuwachs vom letzten Jahre in dem, woran
ſeine Seele hing. Myn Heer van Toll hielt auf
ein reiches Porcellancabinet, Myn Heer de Jonghe
auf eine Sammlung von Naturalien und Myn
Heer van Streef auf ſeine Menagerie am meiſten.
Nachdem die drei Freunde im Luſthäuschen
Thee getrunken hatten, führte mein Gebieter ſeinen
Beſuch zu unſern Verſchlägen und fragte de Jonghe’n,
der, wie wir wiſſen, in Oſtindien geweſen war, ob
er eine Thierſorte, wie die meinige, auf Java
kennen gelernt habe. Schon bei dem erſten flüch-
tigen Ueberblicke, den mir der Naturalienſammler
widmete, fingen ſeine Augen an zu glänzen, und ſeine
farbloſen Wangen wurden von einer leichten Röthe
überflogen. Ich mußte mich erheben, Myn Heer de
Jonghe betrachtete mich von allen Seiten, hob meine
Pfoten, die noch nicht ganz vergeſſen hatten, Men-
ſchenarme zu bedeuten, auf, unterſuchte mein Vließ,
guckte mir in den Rachen, befühlte meinen Schädel.
Myn Heer van Streef ſah dieſer Analyſe mit
dem ruhigen Stolze eines glücklichen Beſitzers zu.
Nach vielfältigem Anſchauen und Taſten war Myn
Heer de Jonghe zu dem Bekenntniſſe gedrungen:
[201] Nein, dieſe Thierſorte kommt nicht auf Java vor.
Ich glaubte Anfangs, es ſei der kleine gefleckte
Hirſch, Moose-deer, welchen man auf Ceylon fin-
det, aber der Bau des Schädels widerſpricht dieſer
Annahme. Der Schädel hat etwas vom Affen,
der ganze übrige Leib gehört in das Ziegengeſchlecht.
Es hilft keine Menſchenmacht dawider, wir müſſen
eine neue Species ernennen. Dieſes Geſchöpf,
woran Ihr, Myn Heer van Streef, eine gar
große Seltenheit beſitzt, muß der Bockaffe, capra
simiae proxima, heißen.
Ich fand ihn, verſetzte Myn Heer van Streef,
auf einem griechiſchen Platze, in einer unvergeß-
lichen Stunde. Sebulon, ſage zur Gertruid, daß
wir heute von dem Waſſer, welches du in den
Kantinen mitbrachteſt, den dritten Thee trinken
wollen, wofern es ſich friſch gehalten hat. Ich
möchte ſehen, wie es auf Myn Heer van Toll und
Myn Heer de Jonghe wirkt.
Er ging mit dem Erſteren zu ſeinen Hyacinthen,
welche die zweite Stelle in ſeinem Herzen einnah-
men. Myn Heer de Jonghe bat um die Erlaub-
niß, bei dem Bockaffen zurückbleiben zu dürfen. Als
er ſich mir gegenüber allein ſah, ſagte er: Daß
[202] Myn Heer van Streef dich, du einziges Exemplar,
mir abläßt, iſt nicht zu denken, die Dienerſchaft
wird nicht zu beſtechen ſeyn, folglich muß ich dich
ſtehlen laſſen.
Nach dieſen unzweideutigen Worten kehrte mein
Gebieter mit ſeinem zweiten Freunde von den
Hyacinthen zurück. — Wie ich Euch ſagte, Myn
Heer van Streef, ſprach Myn Heer van Toll, es
hält ſich auf Vrouw Elizabeth ſeit einigen Tagen
ein fremder Maler und Chemicus auf, der eine
beſondere Miſchung der Farben entdeckt hat, wo-
durch auch auf dem Porcellan das vollkommene
Helldunkel von Rembrandt ſich erzielen läßt. Ich
wollte durch ihn eine große Vaſe in dieſer Manier
malen laſſen, und alle Anſtalten des Glühens und
Einbrennens ſind auch ſchon gemacht, nur war ich
über den Gegenſtand noch verlegen, weil ich einen
ganz neuen für die neue Manier zu haben wünſchte.
Gar gerne möchte ich nun den ſogenannten Bock-
affen in Helldunkel auf meiner Vaſe ſehen, weil
den gewiß noch Niemand hat, und ich bitte Euch
daher, daß Ihr mir die nachbarliche Gefälligkeit
erzeigen wollet, meinem Chemicus dieſe Nacht den
Zugang zur Menagerie zu verſtatten. Er ſoll an
[203] dem Thiere bei Laternenlicht ſeine Studien machen
und in dieſer Beleuchtung eine Farbenſkizze von
ihm entwerfen.
Nein, Myn Heer van Toll, das geht nicht an,
verſetzte der Hausherr. Die nächtliche Ruhe von
Welgelegen darf unter keiner Bedingung geſtört
werden. Ihr könnet bei Tage dieſes fremde Thier
durch Euren Chemicus in Helldunkel abzeichnen
laſſen. — Gertruid ging mit dem Theegeräthe nach
dem Luſthäuschen. — Kommt hinein, fuhr Myn
Heer van Streef fort, ich will Euch, meine Freunde
und Nachbarn eine neue Sorte Thee zu koſten
geben.
Wieder alſo ſollſt du geſtohlen werden! dachte
ich für mich. Biſt du denn ſo koſtbar? — In-
zwiſchen war es im Luſthäuschen ſehr luſtig gewor-
den, freilich nur auf niederländiſche Weiſe. Offenbar
hatte das Waſſer der Hippokrene durch die Reiſe
ſeine Kraft nicht verloren. Die drei Freunde
waren nach der erſten Taſſe vom Theetiſche auf-
geſtanden und gingen, phantaſtiſch erregt, ohne ſich
um einander zu bekümmern, im Stübchen auf und
nieder. De Jonghe verſuchte, während er ging,
einen Pas aus der Menuet a la Reine zu bewerk-
[204] ſtelligen, van Toll ſang in einem ſonderbaren Falſett
das Nationallied, van Streef zog den Vorhang
des Canalfenſters auf, öffnete Letzteres ſelbſt und
vergaß, die eben vorbeifahrende ſechſte Schuite am
ſchwarzen Brette zu notiren.
Statt eines drei holländiſche Schwärmer!
Wunderbares Waſſer! Selbſt eine Stunde von
Amſterdam wirkteſt du Zeichen, obſchon zu Thee
verkocht! — Bald ſollte die Schwärmerei wieder
mich in ihre Kreiſe reißen, mich, den ſchickſalbe-
zeichneten Helden der abentheuerlichſten Bildungs-
geſchichte, welche jemals die Erde ſah. Van Toll
trat an das Menageriefenſter des Luſthäuschens
und flüſterte hinunter: Nach Mitternacht ſchicke ich
den Chemicus mit einem Nachſchlüſſel her, dich
abzureißen. Du ſollſt, und du ſollſt mir auf die
Vaſe in Rembrandtſchem Helldunkel. — Er trat
zurück, de Jonghe näherte ſich hierauf dem Fenſter
und rief, mit einem ſehnſüchtigen Blicke auf mich,
halblaut hinaus: Stehlen laß’ ich dich noch vor
Mitternacht und dann auf der Stelle ausſtopfen!
Ausſtopfen!? — — Nein, nein, das geht in
das Ungeheure! Du sublime au ridicule — —
Meine Sinne ſchwanden.
[205]
Als ich wieder zu mir ſelbſt kam, ſtand Myn
Heer van Streef allein vor meinem Verſchlage
und Sebulon neben ihm. — Sebulon, ſagte mein
Gebieter, der Beſuch iſt nun fort, und da kann
alſo etwas geſchehen, was ſich vor Fremden nicht
ziemt. Ich bin durch das Theetrinken wieder in
die helikoniſche Stimmung gekommen. Ich möchte
der ganzen Welt helfen und raſch! Sage der Griete,
ſie könne auf der Stelle mit dem fremden Thiere
hier verrichten, was nach meinem früheren Befehle
erſt morgen vorgenommen werden ſollte.
Wird wohl nicht mehr nöthig thun, verſetzte
Sebulon trocken. Es ſcheint wieder munter zu
ſeyn, ſeht nur, Myn Heer, welche luſtige Sprünge
es macht.
Ach nein, es war nicht mehr nöthig! — Die
gräßliche Perſpective, ausgeſtopft zu werden, hatte
mit einem Schlage alle ſelbſtmörderiſchen Gedanken
in mir vernichtet, mich dem Leben in jeder Be-
ziehung wiedergegeben und die gewaltigſte Lebens-
luſt in mir angefacht. Ich ſprang wie unſinnig
im Verſchlage umher, das nannte jener holländiſche
Hausknecht Luſtigkeit, ich ſtieß entſetzliche Töne
aus, mich verſtändlich zu machen, meinem Gebieter
[206] den Verluſt ſeines Theuerſten anzukündigen, darüber
lachten die Blinden!
Sie gingen, es wurde dunkel, Sebulon ſchloß
die Pforte. Unglücklicher, lege auf die Mauer,
über welche Myn Heer de Jonghe ſeine Mordknechte
ſteigen laſſen wird, Selbſtſchüſſe und Fußangeln!
Durch die Pforte kommt höchſtens der unſchuldige
Chemicus, Euren armen kleinen Bockaffen im Hell-
dunkel ſeiner harmloſen Laterne abzureißen! ſchluchzte
ich. Wie wird er ſich betrüben, der Getäuſchte,
wenn er ſtatt ſeines Studienobjectes nur die leere
Stätte findet! Jammer über dich Welgelegen, wenn
du morgen erwacheſt, und dein Kleinod dir geſtoh-
len ſiehſt! Traure, traure, Vrouw Elizabeth, deine
Vaſe bleibt unbemalt!
Warum kann der Chemicus nicht vor Mitter-
nacht kommen, und die Bande de Jonghe’s nach
Mitternacht? So würde der Chemicus noch bei
Laternenlicht zeichnen, wenn die Bande anlangte,
ſie verſcheuchen, und dieſe Nacht wäre wenigſtens
gewonnen. Zufall, Zufall, du betrunkener Würfel-
ſpieler! Tolles Räthſel des Daſeyns, grimmiger
Wuſt chaotiſcher Verwirrung! O mein Vater, mein
Vater, wo weileſt du? Eile herbei, deinen dir ſo
[207] ſauer gewordenen Wurm vor dem Letzten, Schreck-
lichſten zu erretten! Du biſt wißbegierig und reiſeſt
viel, mein guter Vater, vielleicht beſuchſt du einmal
auch das Cabinet von Myn Heer de Jonghe, und
welch ein Augenblick wird es dann ſeyn, wenn du
deinen unglücklichen Sohn vielleicht zwiſchen einer
Fiſchotter und einem ſibiriſchen Eichhorn ſiehſt! —
Zwar ich vergeſſe, wer ich bin, ich rede irre — du
wirſt mich nicht erkennen!
Ausgeſtopft zu werden! — Gedanke, der das
Hirn ſieden macht, und alle Sehnen krachen! Nichts
als Balg zu ſeyn und Werg! Aus gläſernen Augen
dumm und ſtarr zu ſchauen, und ewig den Drath
in Rücken und Beinen zu fühlen, als einzigen hal-
tenden Grundſatz! Neben ſich nur Bälge zu haben,
und dieſe ganze trockene Unſterblichkeit lediglich auf
Kampher und Spiekoel gegründet!
In ſolchen jämmerlichen Betrachtungen ging
mir ein Theil jener merkwürdigſten Nacht meines
Lebens hin. Ich fühlte zugleich, daß die äußerſte
Beängſtigung in meinem Körper Folgen hervor-
brachte, denn ich konnte, da ich im Verlauf meines
Kummers als Menſch mir vor die Stirn ſchlagen
wollte, wunderbar genug, dieß mit meinen Vorder-
[208] beinen bewerkſtelligen, ich konnte an mein Fell
faſſen, und die Haare fielen ab, ſo wie ich ſie nur
berührte, endlich ſchien in meinem Antlitze ein
förmliches Umziehen und Quartierverändern von
Maul, Naſe und Augen vor ſich zu gehen, ſo rück-
ten und knackten dort die Knochen. Aber auf
alles Dieſes hatte ich weiter nicht Acht, ganz ver-
loren in die Furcht vor dem Ausſtopfen.
Gegen Mitternacht Geräuſch draußen vor der
Mauer, Klimmen, Herabwerfen einer Strickleiter!
Ein Kerl ſteigt an ihr nieder, tappt zwiſchen Biber
und Schildkröte vorſichtig hindurch — — Ich ſitze
(denn ich vermochte auch ſchon wieder zu ſitzen;)
ſtumm da, und raufe mir vollends alles Fell ab;
ſeine rauhe Tatze ergreift mich — hui und davon mit
mir über die Mauer! Ich hange ſchlotternd und
an allen Gliedern gebrochen in ſeinen Armen. —
Was, zum Teufel, habe ich denn da gefaßt? Das
iſt ja kein — murrt er, während er einige Schritte
längſt des Canals nach dem Landhauſe Schoone
Zicht zu macht. Ehe er zu Ende geſprochen, ſtürzt
ihm ein Mann entgegen, ruft mit einer von der
Tugend ſelbſt gebildeten Stimme heftig: Steh du
Dieb, ich ſah dich über die Mauer ſteigen! und
[209] haut auf ihn mit einem Degen ein. Der Dieb —
Sünde giebt keinen Muth — läßt mich fallen und
läuft davon. Ich falle in den Canal, jener unbe-
zahlbare Retter ſpringt, immer den Degen in der
Fauſt, mir nach, holt mich heraus, ruft: Wie,
ein nacktes Kind? und trägt mich, dem von dieſen
jähen Abwechſelungen das Haupt ſchwindelt, zu
einer Laterne hin, die etwa hundert Schritte von
der Stelle am Canale brannte. Bei dem Schim-
mer dieſer Blendlaterne ſehe ich meinem Retter
in das Antlitz, und — wer faßt’s, wer glaubt’s,
wer ſagt’s, was ich empfinde? — Es iſt — —
mein Vater, mein ſogenannter Vater!
Was die Furcht und der Jammer nicht ge-
konnt, die Freude vollbringt es. Ich finde die
Sprache wieder, und, zwar noch immer etwas
meckernd, aber doch verſtändlich, iſt: Vater! Vater!
Dein Kind! mein erſtes Wort. Mit heißen Thrä-
nen ſtürze ich an ſeine Bruſt, er erkennt mich, wie
ich ihn erkannt, und — doch ſchweige, Lippe! falle,
Vorhang über dieſe unbeſchreibliche Scene!
Stumm vor Rührung ſteckt er mich ohne Wei-
teres wieder in ſeine linke Rocktaſche. Darin finde
ich ihn ganz. Alle liebe Erinnerungen gehen mir
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 14
[210] in jener Taſche auf; es iſt noch ein Reſt Frühſtück
darin; ich verſuche, es zu eſſen. Es gelingt; ich
kann wieder Brod und Wurſt eſſen! Ich bin ein
Menſch wieder, das gebildete Kind gebildeter El-
tern! Aber wie ging das zu? Mein Vater trägt
mich in das Luſthaus Vrouw Elizabeth. Er iſt’s
ja, er iſt der gute Chemicus, der ſich dort auf-
gehalten, der mit dem Nachſchlüſſel zu mir kommen,
mich nach Mitternacht bei Laternenlicht abreißen
wollte, aber von einer unerklärlichen Unruhe ge-
trieben, (ſein Vaterherz war’s, das ſo ſtürmiſch ge-
klopft hatte!) vor Mitternacht ſich aufmachte, einen
Degen zu ſich ſteckte, weil das Abentheuer immer
einige Gefahr hatte, und ſo am Canal Zeuge des
Diebſtahls wurde.
Wie ich dieſe erſten Erklärungen der wunder-
baren Geſchichte empfangen, ich weiß es nicht mehr
zu ſagen. Mein Vater ſtammelte nach der Taſche
hinunter, worin ich ſaß, ich ſtammelte hinauf, wir
begriffen uns durch Naturlaute. — Aber warum
machteſt du nicht Lärmen, mein Vater, als du den
Dieb über die Mauer ſteigen ſahſt? fragte ich in
einem ruhigen Augenblicke. — O Sohn, verſetzte
er, um einen Menſchen zu retten, haben ſich wohl
[211] ſchon größere Unwahrſcheinlichkeiten begeben müſſen,
als daß man einen Dieb erſt einſteigen und dann
wieder herauskommen läßt. — Du konnteſt nur ge-
rettet werden, wenn dieſe Unwahrſcheinlichkeit vor-
fiel, denn machte ich früher Lärmen, ſo erwachte
das Landhaus Welgelegen, die Pforte wurde beſetzt,
du bliebſt mir unſichtbar und in den Händen von
Myn Heer van Streef. — Dieſe Antwort ſtellte
mich vollkommen zufrieden.
Wir waren unter ſolchen und ähnlichen Geſprächen
vor Brouw Elizabeth angekommen; mein Vater
zog die Klingel und weckte dadurch den Portier,
der ihm ſein Zimmer aufthat. In der Hellig-
keit, welche durch Wachskerzen und Alabaſterlampen
hervorgebracht wurde, umarmten wir uns nun erſt
bei voller Muße. Vater, wie ſehe ich aus? war
meine erſte Frage.
Abſcheulich, mein Sohn, verſetzte er. Deine
Züge ſind in einer wunderbaren Unordnung, es iſt,
als wären Naſe, Mund und Augen bei dir berauſcht
geweſen und erwachten nun in Winkeln, wohin ſie
nicht gehören. Die Ohren müſſen wir vor allen
Dingen ſtutzen, ſie haben ſich etwas zu üppig gen
Himmel erhoben, an den Extremitäten ſind dir
14*
[212] überflüſſige Haarbüſchel gewachſen, auch deine Spra-
che ſchmettert ſonderbar; warſt du etwa bei einem
Trompeter in der Lehre? Du kommſt mir vor wie
eine durcheinander geworfene Bibliothek oder Gar-
derobe, die einzelnen Beſtandtheile deiner Totalität
ſind richtig vorhanden, aber es fehlt die Harmonie.
Alles nichts, mein Vater, ſagte ich, nachdem ich
vor den Spiegel getreten war, und mich wieder ſo
ziemlich menſchlich geſehen hatte. — Er brannte, meine
Geſchichte zu vernehmen. Ich gab ſie ihm in großen
Umriſſen. Er glaubte, ich habe geträumt. Sieh
mich an, verſetzte ich, und ſage dann noch einmal,
daß dies Träume geweſen ſeien. Das letzte Wun-
der, ſo ſchloß ich meinen Bericht, war das größte.
Hat man auch nur noch ein Fünkchen Humanität
in ſich, und ſoll man ausgeſtopft werden, ſo nimmt
ſich bei dieſem Gedanken jenes Fünkchen zuſammen
und man reſtaurirt ſich von innen heraus. In den
Tiefen von Angſt, Grauen, Verzweiflung habe ich
mich ſo zu ſagen als Menſchen zum zweitenmale
geboren und die Thierhülle durch Seelenkämpfe
abgeſtreift.
Streife jetzt nur auch eine anſtändige Hülle
über! rief mein Vater, ging zu einer Commode
[213] und holte daraus die weißen Pumphöschen, das
rothe Collet, den kleinen blechernen Säbel und
den Turban hervor. Großer Gott! die Janitſcha-
rencadettenuniform war auch da! Wo fandeſt du
ſie? fragte ich ihn. Im griechiſchen Gebirge, wel-
ches ich nach dir verzweiflungsvoll, wie Ceres
Proſerpinen ſuchte, durchrannte, antwortete er. Ich
fand die Stücke auf einem Felſenabhange und
glaubte, daß dich ein Raubthier gefreſſen habe. —
Aber mein Vater, ſagte ich, indem ich die Hoſen
anzog, an den Kleidungsſtücken war ja kein Blut,
woher alſo dieſer Glaube? — Konnte dich das
Raubthier nicht rein herausgefreſſen haben? erwie-
derte er, etwas verſtimmt über meine kritiſchen
Zweifel. — Er mußte mir nun auch ſeine Geſchichte
erzählen. Sie war einfach. Aus Schmerz über
meinen Verluſt hatte er, nachdem er jede Hoffnung
aufgegeben, mich wiederzufinden, ſich noch eifriger
den chemiſchen und phyſikaliſchen Studien ergeben,
wie früherhin, und unter anderem auch jenes Far-
benbereitungsgeheimniß entdeckt, welches ihn dem
Holländer van Toll ſo werth machte. In der
Heimath litt ihn der Kummer nicht, er reiſte durch
die Lande Europa’s als düſterer, zerriſſener Por-
[214] cellanmaler. Unterweges traf er mehrere Collegen.
Durch die allerſeltſamſte Fügung brachte uns das
Schickſal wieder zuſammen. Er ging bei Nacht
aus, einen Bock zu zeichnen und traf ſeinen Sohn.
Wir machten uns noch vor Tagesanbruch von
Vrouw Elizabeth fort, denn mein Vater fühlte
wohl, daß, da er dem Eigenthümer das fremde
Thier nicht auf die Vaſe liefern könne, ſeine Rolle
im Landhauſe ausgeſpielt ſei. Wir benutzten die
erſte Schuite nach Amſterdam, und dort die erſte
Gelegenheit nach Bodenwerder. Als wir im Wagen
ſaßen, ich wie in den erſten Zeiten in der Taſche,
fiel mir der Gedanke an Frau von Münchhauſen,
die Gemahlin meines Vaters, ſchwer auf das Herz.
Ich theilte ihm die Beſorgniß mit und ſetzte hinzu:
Wird es uns nicht gehen, wie Myn Heer van
Streef, der in der Pforte ſeines Landhauſes zum
zweitenmale auf Reiſen geſchickt werden ſollte?
Nein, mein Sohn, erwiederte er, die vortreffliche
Frau iſt bereits vor ſechs Monden geſtorben, von mir
begraben und hinlänglich beweint worden. — Ich zollte
ihrem Andenken ebenfalls einige nachträgliche Zähren.
Auf Bodenwerder widmete ſich mein Vater nun
ganz dem Werke meiner Ausbildung. Denn ob-
[215] gleich ich, wie aus dem Verlaufe dieſer Ge-
ſchichte erhellt, ſchon als kleines Kind wie ein
Buch ſprach, ſo fehlte es doch meinem Wiſſen an
Zuſammenhang, der jetzt erzielt werden mußte.
Einen Augenblick dachten wir daran — denn ich
gab zu meinem Bildungswerke auch jederzeit meine
Stimme — mich nach Lorinſer’s Ideen ohne Grie-
chiſch und Lateiniſch bloß durch Haus- und Wirth-
ſchaftskenntniſſe zum Manne zu machen, allein es
entſtand die Beſorgniß, daß ich bei dieſer Methode
leicht wieder in meinen früheren Zuſtand verſinken
könnte, und es dann vielleicht nicht einmal bis zum
Bock, ſondern nur bis zum Schöps brächte. Wir
ließen alſo Lorinſer Lorinſer ſeyn und mein Unter-
richt wurde in der Art geregelt, welche ich in
einer meiner früheren Erzählungen zu ſchildern ver-
ſucht habe.
Noch oft unterredeten wir uns über die Ein-
zelheiten meiner außerordentlichen Geſchichte. — Sage
mir nur, mein Sohn, ſprach mein Vater eines
Tages, welche hiſtoriſche Lehre ziehſt du aus allen
dieſen unglaublichen Vorfällen? — Vater, verſetzte
Münchhauſen das Kind, die Geſchichte iſt erhaben
über alle Lehren. Willſt du aber aus der meinigen
[216] durchaus einen Satz ziehen, ſo iſt es die einfache
Wahrheit, welche jeder Student fühlt — daß die
Söhne auf die Taſchen ihrer Väter angewieſen ſind.
Hier machte der alte Baron noch einen letzten
Verſuch, den Strom Münchhauſen’s zu hemmen,
denn ſeine Kräfte waren ſchon halb gebrochen.
Der Freiherr hatte aber auch jetzt Rath und
Stärke, ihm zu begegnen, denn ehe der Schloßherr
ſeinen Spruch vorbringen konnte, war bereits das
zweite Manuſcript entfaltet und die Geſchichte
„von den Poltergeiſtern in und um Weinsberg“
angefangen.
Als der Freiherr auch dieſe zu Ende geleſen
hatte, ſchlief der alte Baron, erſchöpft von den
Anſtrengungen der letzten vier und zwanzig Stunden
und den ausgezeichnet albernen Erzählungen ſeines
Gaſtes einen feſten und geſunden Schlummer. Der
Freiherr ſtellte ſich triumphirend neben den Seſſel
des Schlafenden und rief mit gedämpfter Stimme:
Habe ich dich endlich unter mir, du alter Nacht-
ſchwärmer und Ruheſtorer?
[217]
Uebrigens iſt meine Lage auf dieſem Schloſſe
bedenklich geworden, fuhr er ernſthaft fort. — Theo-
retiſch darf man den Leuten ſo viele Dinge, welche
der Pöbel Lügen nennt, vorſagen, als man will,
aber wehe dem, der ihnen etwas in den Kopf ſetzt,
woran ſich ihr Eigennutz heften kann! Sie glauben’s,
ſie glauben’s, und die Schüler treiben den Meiſter
in die Enge. Ich fürchte, daß ich einen Fehler
begangen habe, als ich die Luftverdichtungsactien-
compagnie hier zur Sprache brachte, und der würde
ſchlimmer ſeyn, als ein Verbrechen.
[218]
Zehntes Capitel.
Die Geſellſchaft des Schloſſes beginnt ſich
in ihre Elemente aufzulöſen.
Während des ganzen Tages, an welchem der
alte Baron ruhelos umhergetrieben, und das Fräu-
lein unpaß geworden war, hatte der Schulmeiſter
Holz geſägt und darauf geſpalten. Am folgenden
Morgen empfing er durch den Kreisboten, welcher
ihn in aller Frühe auf ſeinem Strohlager weckte,
eine Antwort von dem Schulrathe Thomaſius, die
ihn ſehr froh machte. Er warf ſogleich ſeinen
braunen Mantelkragen um, ſäuberte das Gemach
des Gartenhäuschens von allen Spuren der Be-
wohnung, ſtellte den ſchlechten Tiſch und den höl-
zernen Schemel, welche Stücke die einzigen Meubles
dieſes Gelaſſes waren, in Ordnung, den Tiſch näm-
lich an die Wand und den Schemel mit dem Sitze
[219] unter den Tiſch, und ſchrieb darauf mit Bleiſtift
nicht ohne Mühe und Nachdenken folgende Zeilen
an die Wand:
Allhier habe ich, Chriſtoph Ageſel, weiland
Schulmeiſter auf und zu Hackelpfiffelsberg neun
Monate lang in ſchwerer Krankheit zugebracht,
welche mir durch eine unverſtändliche Sprachlehre
angethan worden war. Nachdem der grundgütige
Gott mir meine Geſundheit wieder verliehen,
ſcheide ich von dieſem Orte, an welchem ich manche
ſchöne Stunde verlebte, mit Dank für die Ver-
gangenheit und mit Hoffnungen für die Zukunft.
Nach dieſer Schäferſtunde ſeiner Muſe ſchritt
der Schulmeiſter hinaus in den Garten, wo über
allen Verwilderungen und Trümmern der wolken-
loſe blaue Himmel leuchtete, warf einen dankenden
und abſchiednehmenden Blick den ausgewachſenen
Taxusfiguren, dem Genius des Schweigens, dem
Flötenbläſer ohne Flöte und dem Delphin ohne
[220] Waſſerſtrahl zu, und ging dann in das Schloß, um
dem Herrn deſſelben ſeine veränderten Entſchlüſſe
kund zu thun.
Dem alten Baron ſchmerzte noch von den phan-
taſtiſchen Erzählungen Münchhauſen’s das Haupt.
Um von dieſen weſenloſen Dingen ſeine Vorſtellun-
gen zu befreien, war er, ohne vorher den gewohnten
Frühgang durch den Garten zu machen, ſogleich nach
dem Verlaſſen des Bettes zur Gerichtsſtube hinauf-
geſtiegen. Dort ſich an die Tafel ſetzend, gelang
es ihm auch, ſeine Gedanken zu ſammeln.
Er ſtützte den Arm auf die Tafel, legte das
Haupt in die Hand und ſagte: Ich merke recht
wohl, wo dieſes hinaus will. Es reut ihn, ſein
Luftverdichtungsgeheimniß in einem unvorſichtigen
Augenblicke dahingegeben zu haben, darum ſucht er
mir durch die unſinnigſten Faxen zu entſchlüpfen.
Nein, mein kluger Freund, das ſoll dir nicht ge-
lingen. Zum Glück kennen wir deine ſchwache
Seite, und gegen dieſe habe ich bereits meinen
Operationsplan entworfen. Unter Freunden ſoll
Offenheit herrſchen, nach dieſem Grundſatze werde
ich verfahren und hinter deine Heimlichkeiten zu
kommen ſuchen, du unaufhaltſamer Schnurrenerzähler!
[221] Unbegreiflich, woher der Menſch alles das Zeug
nimmt! Er muß ein ſonderbares Leben geführt
haben; mitunter iſt es mir, als habe ich ihn ſchon
irgendwo geſehen, ich weiß nur nicht, wo?
Der Schulmeiſter betrat den Söller, bot ſeinem
bisherigen Beſchützer einen ehrerbietigen guten Mor-
gen und erſuchte ihn dann ohne weitere Vorrede um
einen ſeiner alten, abgelegten Röcke. Auf die ver-
wunderte Frage des alten Barons, wie er gerade
jetzt auf dieſes Verlangen falle, da er ſich ſo lange
mit dem braunen Mantelkragen beholfen habe,
erwiederte der Andere, daß letztere Bekleidung ihm
als Menſchen in ſeiner Zurückgezogenheit wohl er-
laubt geweſen ſei, ſich aber nicht mehr ziemen
wolle, wenn er, wie jetzt der Fall, in das öffent-
liche Leben wieder einzutreten gedenke. In dieſem
werde nur der Rock anerkannt. Ich habe, fuhr
er fort, indem er einen Brief hervorzog, geſtern an
meinen verehrten Vorgeſetzten, den Herrn Schul-
rath Thomaſius unter unumwundener Darlegung
meiner früheren und jetzigen Gemüthsverfaſſung
geſchrieben und ihn erſucht, mir einen Lehrpoſten
von Neuem anzuvertrauen, da ich mich vollkommen
fähig fühle, denſelben zu bekleiden, nur nicht auf
[222] einem Dorfe, wo jene furchtbare Sprachlehre ein-
geführt ſei, ſondern etwa weit hinten im Ge-
birge, wohin dieſe Geißel Gottes noch nicht Zugang
gefunden habe. Darauf antwortet mir nun der
würdige Mann mit dem rückgehenden Boten, daß
ich, wenn er bei einer perſönlichen Zuſammenkunft
ſich von der Wahrheit meiner Behauptungen über-
zeuge, ſogleich nach Hackelpfiffelsberg heimkehren
könne, indem mein Nachfahr im Amte mit vorbe-
rührter Sprachlehre auszukommen gleichfalls unver-
mögend, vor Kurzem habe abgeſetzt werden müſſen,
weil er aus Kummer und Unruhe, zwar nicht wie
ich in Einbildungen, jedoch in Trunk und unduld-
bare Ausſchweifungen verſunken ſei. Unvonnöthen
ſei es aber, mich vor der Sprachlehre ſelbſt noch
zu fürchten, da ſie neuerdings bei einer abermaligen
Umgeſtaltung des Schulplanes auch ſchon wieder
abgeſchafft worden ſei. So bin ich denn alſo hier,
mein gütiger Gönner und Schirmherr, Ihnen für
alle mir erwieſene Großmuth den empfundenſten
Dank zu ſagen, Sie um die von mir erwähnte
letzte Gabe anzuſprechen, und mich Ihnen hierauf,
jedoch hoffentlich nicht für ewig, gehorſamſt zu
empfehlen.
[223]
Der alte Baron war vom Kopf bis zu den
Füßen Erſtaunen und ſagte: Seid Ihr denn, Herr
Ageſilaus —
Völlig bei mir, allerdings, fiel der geheilte
Schulmeiſter ein. — Ich bitte Sie aber inſtändigſt,
mich fortan Ageſel zu nennen, denn ein Ageſel war
ich, ein Ageſel bin ich, und ein Ageſel werde
ich ſeyn, und geweſen ſeyn, dahier und in jener
Ewigkeit.
Nein, das iſt aber nicht auszuhalten! rief der
alte Baron und ſchlug zornig auf die Gerichtstafel.
Geſtern lügt mir Münchhauſen vor, er ſei ein Bock
geweſen und aus Verzweiflung wieder Menſch ge-
worden, und heute wird in Wahrheit und vor
meinen ſichtlichen Augen ein Verrückter vernünftig.
So darf man denn auf Niemand ſich verlaſſen und
könnte über ſolche Streiche ſelbſt närriſch werden,
hätte man nicht ſo viele Geſchäfte im Kopf.
Es ſchmerzt mich, daß ich meinem Gönner
Kummer bereite, ſagte der Schulmeiſter ſanft. Das
in Ihren Augen unangenehme Ereigniß iſt auf ganz
natürlichem Wege herbeigeführt worden, und alle hoch-
ſchätzbaren Bewohner dieſes Schloſſes haben daran
ihren Theil.
[224]
— Wie? Natürlich? — Es iſt unrecht von Euch,
Schulmeiſter, wiederhole ich. Konntet Ihr nicht
bleiben, was Ihr wart? Warum wollt Ihr nun
fortlaufen? Wir lebten hier ſo einträchtiglich zu-
ſammen, man hatte ſich an einander gewöhnt, Eines
lehnte ſich an das Andere; nun kommt ein Riß in
den ſchönen Kreis.
Wenn etwas meine Freude über mich und mein
hergeſtelltes Selbſt zu trüben vermag, ſo iſt es
das Gefühl, Sie verlaſſen zu müſſen, antwortete
der Schulmeiſter. — Gnädiger Herr, ich kann nicht
dafür, daß ich meinen Verſtand wieder bekommen
habe. Mangel an Anerkennung iſt daran Schuld.
Ich bin nie unter Ihnen anerkannt worden. Gleich
zu Anfang, als ich die Ehre hatte, bei Ihnen zu
ſeyn, fand ich für meine Idee von ſpartaniſcher
Abſtammung und Lebensweiſe weder bei Ihnen noch
bei dem gnädigen Fräulein Anklang oder Widerſpruch,
ſondern man ließ mich und meinen Wurm gehen,
als völlig unſchädlich und keiner Beachtung würdig.
Dieſe Kälte ſteigerte ſich aber zur verletzendſten
Gleichgültigkeit, als der Freiherr von Münchhauſen,
welchen Gott Ihnen geſegnen möge, Gaſt des
Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr wurde. Während
[225] er der Empfindſamkeit des Fräuleins ſchmeichelte,
Ihren Geheimenrathsbegriff abwechſelnd hochſtellte
oder reizte, und während Sie Beide fortfuhren,
von Ihren ungewöhnlichen Gedanken gegenſeitig
aufmerkende Kunde zu nehmen, bekümmerten weder
Sie noch der Freiherr ſich um die Vorſtellungen
eines armen Dorfſchulmeiſters —
Ihr werdet ausfallend, Schulmeiſter! rief der
alte Baron. Nach Eurer Folgerung wäre ich alſo
ſelbſt —
Mein Gönner verſtehe mich, unterbrach ihn der
Andere. Die Sprache führt in ihrem Eigenſinne
derartige verfängliche Wendungen herbei, welche
der Sprechende keinesweges beabſichtigte. Ich fol-
gere nicht; meine einzige Abſicht iſt, mich Ihnen
aufzuſchließen. — Weder durch eingehendes Lob
gehoben, noch durch Widerſpruch gekräftigt, ent-
behrte ſonach die Pflanze meines Wahnwitzes (um
bildlich zu reden) des befruchtenden Regens ſowohl,
als des Sturmes, der ihre Wurzeln im Boden
befeſtiget hätte. Sie mußte alſo nach und nach
in ſolcher Dürre vertrocknen, welken und abſterben.
Dieß ſchlich lange in mir umher; Sie würden,
wenn Sie mich näher zu beobachten nicht unter
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 15
[226] Ihrer Würde gehalten hätten, geſehen haben, daß
ich ſchon ſeit geraumer Zeit ſtill und nachdenklich
einherging. Ich fühlte die ſpartaniſche Idee in
mir von Tage zu Tage bleicher und farbloſer
werden. Durch eine unumwundene Erklärung des
Freiherrn von Münchhauſen in vorgeſtriger Nacht
wurde ihr völliges Verſcheiden hervorgebracht, und
ſeitdem bin ich der Dorfſchulmeiſter Ageſel von
niederer deutſcher Herkunft.
Anerkennung, mein Gönner, braucht Jedermann.
Der größte Held und der höchſte Dichter bleiben
ohne ſie — und zeigte ſie ſich auch nur durch wüthende
Feindſeligkeit — gewiß nicht Held und Dichter. Es
iſt thöricht, wenn kalte Menſchen einen in dieſer
Beziehung Darbenden auf ſein eigenes Bewußtſeyn
verweiſen, weil gerade die beſten und tüchtigſten
Seelen immerdar an ſich zweifeln, und von Andern
eine ſo große Meinung haben, daß ſie in deren
Schätzung ihr Gericht finden. Alle Eigenſchaften
können durch todte Gleichgültigkeit der Umgebungen
zu Grunde gerichtet werden.
Anerkennung, Herr Baron, braucht auch der
Narr, wenn er Narr bleiben ſoll. Er will entweder
gebunden und in die Zwangsjacke geſteckt, oder in
[227] ſeiner eigenthümlichen närriſchen Vorſtellungsart
angeſprochen ſeyn. Läßt man ihn aber laufen, ſo
wird er bald vernünftig, er mag wollen oder nicht.
Schulmeiſter, rief der alte Baron, Ihr ſprecht
da große Dinge aus. Demnach wäre alle Unver-
nunft —
… ſehr bald zu heilen, ja vielleicht ſchon ganz
in der Welt ausgegangen, wenn nicht darauf ge-
achtet würde, ſagte der Schulmeiſter. — Ein Satz,
der nicht nur im Privatleben ernſtlich erwogen,
ſondern auch Fürſten und Gewalthabern zum Nach-
denken anempfohlen zu werden verdient. — Der
Lärmen und das Geſchrei um widerſinnige Vorſtel-
lungen und Handlungen rührt auch meiſtentheils
nicht aus einem Widerwillen gegen ſie, ſondern
daher, daß jeder Menſch in ſich den Narren fühlt,
und ihn liebt und zu erhalten wünſcht. Er macht
daher über den Narren ſeines Nächſten ſo großes
Aufheben, oder richtiger zu reden; Er widmet ihm
Anerkennung, weil er bei ſich denkt: Was du willſt,
daß dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen zuerſt.
Der alte Baron verwunderte ſich jetzt wie ſchon
früher einmal über die Weisheit des Schulmeiſters,
die ihm geblieben war, obgleich er wieder den Sinn
15*
[228] eines gewöhnlichen Menſchen angelegt hatte. Als
er etwas der Art ausſprach, meinte der Schul-
meiſter, dieſer Tiefſinn, der ihm allerdings nicht
recht eigne, möge ihm wohl noch als Nachübel
ſeines Zuſtandes anhaften, indeſſen hoffe er auch
davon bald befreit und gewöhnlicher Menſch in der
vollſten Bedeutung des Wortes zu werden.
Da der Schloßherr ſah, daß es ſeinem Gaſte
voller Ernſt war, zu ſcheiden, ſo erlaubte er ihm,
von mehreren abgelegten Röcken, welche an den
Pflöcken in der Gerichtsſtube umherhingen, ſich
einen auszuwählen. Der Schulmeiſter war lange
unſchlüſſig, ob er einen leberfarbenen Frack oder
eine veilchenblaue Pekeſche mit Sammetvorſtößen
nehmen ſollte, entſchied ſich aber endlich doch für
die Pekeſche, weil ſie den Regen beſſer abhielt, als
der Frack.
Als er ſie eben vom Pflocke nahm, trat Karl
Buttervogel mit einer ängſtlichen Miene in die
Gerichtsſtube. Gnädiger Herr, ſagte er, wie ich
jetzt unten durch die Stube linker Hand, worin
Sie Ihre Familenurkunden aufbewahren, ging, ſah
ich, daß die Wand gegenüber der Giebelwand einen
großen Spalt und Riß bekommen hat, woraus ich
[229] abnehme, daß die Giebelwand noch weiter ausge-
wichen iſt, als früher, und wahrſcheinlich anfängt,
das Dach mitzunehmen.
Ganz wohl, verſetzte der alte Baron. Ich wollte
nur, ein Theil des Hauſes ſtürzte ein, ohne daß
eine merkliche Gefahr für uns Andere daraus ent-
ſtände, denn dann wäre dein Herr gezwungen,
Ernſt zu machen, und vorläufig für die hieſigen
nothwendigſten Reparaturen zu ſorgen.
Ja, aber bis daß die Sache zu Stande kommt,
möchte ich wohl ausziehen, ſprach der Bediente.
Und ich wollte den gnädigen Herrn gebeten haben,
mir das Logis auf dem Schneckenberge zu geben,
da der Herr Schulmeiſter es nun geleert hat, und
es wäre doch Schade, wenn die angenehme Som-
merwohnung nicht benutzt würde, und mein bisheri-
ges Loch liegt dicht neben der Wand mit dem
Sprunge, und außerdem liebe ich die freie Luft und
eine Ausſicht in’s Grüne, und mag gerne mitunter vor
mich ſeyn, und auch das gnädige Fräulein kann mich
dort ungeſtörter ſprechen, und wenn man ſeine Wurſt
nicht mehr in Ruhe eſſen darf, ſo iſt alles häusliche
Vergnügen zum Henker, und hier oben haben nun der
gnädige Herr Ihr Gerichtsregiment und —
[230]
Schweige, ſchweige! rief der alte Baron. Bei
dir wachſen wirklich; wie ich in einer engliſchen
Comödie las, die Gründe gemein wie die Brom-
beeren; die Hälfte von dem, was du ſagteſt, genügt.
Du biſt ein Poltron, und denkſt nur, wie Ihr
geringen Leute Alle zu thun pflegt, an dein theures
Leben. Schlafe ich nicht auch in der Nähe jener
geborſtenen Wand? Aber ziehe nur auf den Schnecken-
berg, es iſt mir ſelbſt lieb, wenn Jemand dort
wohnen bleibt, der doch wenigſtens halb und halb
zu uns gehört. Du ſollſt mir ein Troſt für den
Schulmeiſter ſeyn.
Dieſer bereitete ſich zum Abgehen. Der alte
Schloßherr reichte ihm nicht ohne Rührung die Hand,
welche der Schulmeiſter mit dankbaren Thränen
küßte. Gott lohne Ihnen alles Gute, was Sie
mir erzeigt haben! rief er. Er ſegne Ihre Tage
und ſchenke Gedeihen Allem, was Sie vornehmen!
Schulmeiſter, ſagte der Alte und legte ihm
feierlich die Hand auf die Schulter; wenn ich mir
es reiflich überlege, ſo geht Ihr im rechten Augen-
blicke. Große Umgeſtaltungen der Lebensverhält-
niſſe ſind immer zerſtöreriſch für den bisherigen
Umgang. Das Schloß wird der Schauplatz wichtiger
[231] Unternehmungen werden, in denen Ihr keine Stelle
fändet und Angeſichts derer Ihr Euch unbehaglich
fühlen würdet.
Unter uns — behaltet es aber bei Euch: An
dem Geheimerathspoſten liegt mir ſo viel nicht
mehr. Wißt Ihr, was Luft iſt? — Wenn Euer
Schulhaus baufällig werden ſollte, ſo eröffnet mir
die Sache vertrauensvoll, es ſoll Rath geſchafft
werden für Material zum ſelbſtkoſtenden Preiſe.
Unglaublich iſt, was wir hier vorhaben, und den-
noch iſt es wahr, denn ein Cavalier hat es dem
Andern zugeſichert, und aus Unrath machen ſie jetzt
Licht und aus dem, was man ſonſt weggoß, Zucker.
— Noch Eins; Euer Weg führt Euch nahe am
Oberhofe vorbei, erkundigt Euch doch dort, ob ſie
etwas von der Lisbeth wiſſen, ſie wollte bei dem
Hofſchulzen vorſprechen. Mich verlangt von Herzen
nach dem Kinde, beſonders jetzt, wo ich ihr die
Freude machen kann, ihr eine geſicherte Zukunft zu
verſprechen.
[[232]][[233]]
Viertes Buch.
Poltergeiſter
in und um Weinsberg.
[[234]][235]
I.
Das Juliusſpital und die beiden alten
Weiber.
In Würzburg angekommen, war mein erſter
Gang nach dem Juliusſpitale. Das prächtige Ge-
bäude, die Reinlichkeit und Stille der großen Höfe,
Gänge und Säle, das zufriedene Ausſehen der Alten
und Reconvalescenten, welche im freundlichen Garten
ihren Sonnenſchein genoſſen — alles das machte einen
wohlthuenden Eindruck auf mich. Ich ließ mich in
die Kellerei führen, pries die werkthätige Menſchen-
liebe Julius Echter’s von Meſſelbaum und leerte
auf ſein Andenken eine Flaſche Leiſten, eigenes
Wachsthum des Spitals. Ich wurde geſprächig,
der Kellermeiſter, welcher mir trinken helfen mußte,
wurde es auch, ein Wort gab das Andere, und
im Laufe dieſer Geſpräche ſagte ich zu ihm: Es
iſt hier bei Ihnen ſo anmuthig, daß man wünſchen
könnte, zu Ihren Alten und Siechen zu gehören.
[236]
Ja, es läßt ſich ſchon im Juliusſpital leben,
verſetzte der Kellermeiſter behaglich und ſtrich ſeinen
Bauch. — Wir haben die ſchönſten Lagen und davon
erhält Jeder, der zu ſeiner Geſundheit ſchweren,
feurigen Weines bedarf ohnentgeltlich, die Flaſche
mag fünf oder ſechs Gulden koſten. Auch für ge-
wöhnlich bekommt Mann und Weib ſein Maaß Land-
wein täglich und Brod, Fleiſch und Zugemüſe, ſo
viel bewältiget werden mag. Die Leute werden
daher auch, ſobald ſie die Pfründnerſchaft hier er-
langt haben, geſund, ſtill und fröhlich, wenn ſie
vorher noch ſo kränklich und verdroſſen geweſen ſind.
Zank und Hader fällt kaum unter uns vor, und daß gar
Einer aus dem Juliusſpital ſich wieder in die Welt
geſehnt hätte, iſt unerhört geblieben, bis auf einen
Fall, von dem aber auch noch immer geſprochen
wird, obgleich ſeitdem manches Jahr verſtrichen iſt.
Ich erkundigte mich näher nach dieſem unerhör-
ten Falle und erfuhr „a simple story,“ daß vor
längerer Zeit ein Paar alter Weiber, die immer
zuſammengehockt und ein Ziſcheln und Plaudern
mit einander gehabt hätten, aus dem Spitale fort-
gelaufen und nicht wieder entdeckt worden wären.
Man habe weder im Main noch weiterhin in der
[237] Tauber oder im Kocher damals Leichname aufge-
funden, die alten Weiber ſeien auch nicht in ihrer
Heimath geſehen und alle Nachforſchungen vergeblich
geweſen, ſo daß es ihnen Allen gedäucht, die Erde
müſſe ſie verſchluckt haben. Ich fragte, ob an dieſen
beiden alten Weibern irgend etwas merkwürdig
geweſen ſei? worauf mir der Kellermeiſter ver-
neinend antwortete und hinzufügte, es ſeien eben
nur zwei gewöhnliche alte Weiber geweſen.
Nichtsdeſtoweniger war das Ereigniß in dieſem
Kreiſe von ſolcher Schwere und Bedeutung, daß
ſich ein Gehülfe und ein Aufſeher, welche während
unſerer Unterredung die Kellerei betraten, ſobald
ſie den Gegenſtand, worüber wir ſprachen, vernah-
men, auch in ihrer Weiſe darüber äußerten. Ich
hörte alſo noch zweimal die Geſchichte von den
zwei weggelaufenen alten Weibern mit verſchiedenen
Nebenumſtänden, die der Gehülfe und der Aufſeher
wußten. So erzählte der Aufſeher, das Ziſcheln
und Plaudern der Mutter Urſel und Mutter Beth’
habe ſich um lauter Rockenſtubengeſchichten gedreht,
in denen ſie unerſchöpflich geweſen ſeien.
In der Zerſtreuung ſchlug ich ein Buch auf,
welches auf dem Tiſche lag und fand die berühmte
[238] Seherin von Prevorſt. Mein Erſtaunen war nicht
gering. Denn daſſelbe Werk hatte ich ſchon in
zwei andern Gelaſſen des Spitals liegen ſehen.
Ei, ſagte ich zum Gehülfen, beſchäftigen Sie ſich
hier auch mit dieſen Dingen? Das wäre mir lieb;
da könnten wir heute Abend, wenn Ihre Geſchäfte
vorbei ſind, und Sie mir die Ehre erzeigen woll-
ten, im Wirthshauſe mein Gaſt zu ſeyn, ein
Stündchen in Handwerksgeſprächen verplaudern.
Ich bin halber Doctor; da es aber (weiß der
Himmel, wie es zuging?) mit meinen Recepten
nicht recht klecken wollte, verfiel ich auf die ge-
heimen, heiligen und myſtiſchen Behandlungen, um
es wo möglich bis zur Production einer in die
unſere hereinragenden höheren Welt zu bringen.
Ein Paar Lichtſchimmer, hie und da ein Stückchen
ſphäriſcher Muſik, oder ein unmotivirter Knall ge-
lang mir auch glücklich unterweilen, der kleinen
Lappalien von Briefleſen mit dem Nabel und Gucken
durch dicke Bretter natürlich zu geſchweigen. Aber
die recht großen Sachen, die eigentlich zuſammen-
hangenden Darſtellungen aus dem Mittelreiche habe
ich noch nicht zu Stande bringen können, und deß-
halb wollte ich denn jetzt vor die rechte Schmiede
[239] gehen, nämlich nach Weinsberg, um die Sache
aus dem Grunde zu erlernen. Wie würde es mich
freuen, wenn ich ſchon unterweges in Würzburg
einen Mann gefunden hätte, von dem ich Licht
und Belehrung in dieſer ſchwierigen Materie mir
erhoffen dürfte!
Sie irren ſich in mir, mein Herr, verſetzte der
Gehülfe. Ich beſchäftige mich nicht mit Geiſter-
und Seherſachen. Wenn man den ganzen Tag
acute und chroniſche Uebel unter Händen hat;
greifliche Leiden, wie Gicht, Hektik und Kachektik,
ſo will ſich keine Zeit für die höhere Welt und
das Mittelreich finden, auch muß ich geſtehen, daß
Erſtere noch nie in unſere Krankenſtationen herein-
geragt hat, und daß wir mit Chinin, Isländiſchem
Moos, Merkur, und was dieſer Potenzenreihe
anhängig iſt, ausreichen. Die mehreren Exemplare
des Prevorſtiſchen Werkes, über welche Sie viel-
leicht bei Ihrem Gange durch unſere Anſtalt ſich
verwundert haben, rühren von einer auffallenden
Zuſendung her. Es wurde nämlich unbegehrt auf
einmal wohl ein Dutzend ohne Begleitungsſchreiben
in das Juliusſpital geſchickt, und wir haben durch-
aus nicht ermitteln können, wer uns dieſes ſonderbare
[240] Geſchenk (denn niemals hat Jemand dafür Be-
zahlung verlangt) gemacht hat. Ein Unbekannter
hatte das Packet dem Thürwärter in die Hand
geſchoben und war dann verſchwunden.
Ohne mir etwas dabei zu denken, fuhr mir
die alberne Frage zwiſchen die Lippen: Waren die
beiden Ihnen ſo theuren alten Weiber damals noch
im Spital, als dieſes Werk Ihnen von anonymer
Hand zuging?
Der Kellermeiſter, der Gehülfe und der Auf-
ſeher ſannen nach und verſetzten dann einhällig:
Nein, es war weit ſpäter; die alten Weiber waren
ſchon mehrere Jahre zuvor entſprungen.
[241]
II.
Erſte Ankündigungen einer höheren Welt.
Am andern Tage fuhr ich über Mergentheim,
Künzelsau, Oehringen nach Heilbronn. Es war
bereits etwas dunkel, als ich ankam. Wie weit
iſt Weinsberg von hier? fragte ich einen Fuhrmann,
der auf der Straße ſeine Karre trieb. Zwei Stun-
den, war die Antwort. Oho, dachte ich, da wäre
es wunderſam, wenn mir nicht hier ſchon etwas
begegnen ſollte. Die letzten ſchwächſten Wir-
kungen des Weinsberger Pandämoniums müſſen
mindeſtens bis hieher ſich erſtrecken. Alſo paß
auf, Münchhauſen. — Münchhauſen war damals kein
gebildetes Kind gebildeter Eltern mehr, er war
Jüngling, ſchwärmeriſcher Jüngling voll Ahnung
und Sehnſucht nach dem Jenſeits.
Ich paßte auf und — erlebte etwas. Neben
der Kilianskirche fließt in einer Vertiefung der
Brunnen, von welchem Heilbronn den Namen er-
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 16
[242] halten hat, weil durch ſein Waſſer einſt ein alter
Schwabenherzog geheilt worden ſeyn ſoll. Ich ſtieg
zwiſchen der ſteinernen Umfaſſung die Stufen hin-
unter, und ſetzte mich den Röhren, aus welchen die
Quelle ſprudelt, gegenüber auf einen Stein. Bald
fühlte ich in den unteren Theilen meines Körpers
eine Kälte und auch oben wehte es mich kühl an.
Nun, da haben wir es! ſagte ich zu mir. Seid
Ihr ſchon da, Ihr anhauchenden Geiſter? Ich blieb
noch eine Weile ſitzen und merkte, daß Kälte und
Wehen immer ſtärker wurde. Sie machten zuletzt
einen förmlichen Wind. Als ich den Stein be-
fühlte, auf dem ich geſeſſen, fand ich ihn feucht,
woraus zu entnehmen iſt, daß die abgeſchiedenen
Seelen ſich auch durch Näſſe ankündigen. — Ich ging
in’s Wirthshaus, wo ſchon die Lichter angezündet
waren. Unterweges hatte das Wehen und Blaſen
und das Naſſe noch ſtäts zugenommen, und ein in
der Thüre ſeines Ladens ſtehender, in den Schran-
ken des Cerebralſyſtems befangener heilbronner
Speditionshändler ſagte: ’S iſt a wüſt Wetter. —
Du armer Blinder
Im Wirthshauſe aß ich Feldhuhn und Kraut-
ſallat. Die Feldhühner tragen ſie dort allerliebſt
[243] auf mit dem unberupften Kopfe und um den Hals
ein papiernes Krägelchen. Den Oberkellner, der
mir ein ſinniger Menſch zu ſeyn ſchien, forſchte ich
nach Weinsberg aus, und erfuhr zu meiner Freude,
daß es jetzt recht lebhaft dort ſei, und das Zwi-
ſchenreich ſich im vollen Gange befinde.
Haben Sie nicht hier im Gaſthofe ein Zimmer,
worin etwas erſcheint? fragte ich ihn im Vertrauen.
Der Oberkellner verſetzte, er habe ſeinem Herrn
ſchon längſt gerathen, ſich für die immer ſtärker
werdende Nachfrage von Liebhabern unter den
Reiſenden ein Geiſterzimmer einzurichten, allein der
wolle ſich nicht darauf einlaſſen, weil er die Sache
für eine vorübergehende Mode halte und ſage,
ſein Haus könne durch eine Stube mit Zwiſchen-
reich in Verruf kommen.
Ich halte mir aber für meine eigene Rechnung
ein Gemach, worin es bei Nacht wenigſtens etwas
poltert oder ſchnurrt, und wenn Sie einen Gulden
auf die Rechnung zulegen, ſteht es Ihnen zu Dienſt;
flüſterte er mir zu. Mit Freuden ſchlug ich ein, mußte
ihm aber das Geheimniß über die Sache verſprechen,
denn, ſagte er, wenn ſie auskommt, ſo bin ich um
meinen Poſten, oder muß von der Geiſterſtube Abgaben
16*
[244] entrichten, welche ſie nicht einbringt. Sonſt trieb
ich einen kleinen Handel mit Seifenkugeln, Zahn-
bürſten, wohlriechenden Waſſern und Patentraſir-
meſſern, wie das in Wirthshäuſern ſo gebräuchlich
iſt, aber die Steuern waren zu ſchwer, und deßhalb
ließ ich das Geſchäft eingehen und etablirte als
ſtillen Nebenverdienſt die Stube mit Geiſtergepolter.
Wir gingen vorſichtig zum Hinterhauſe hinaus
und durch einen finſtern Gang, worin allerhand
Geräthſchaften und Weintonnen ſtanden, nach einem
kleinen Seitengebäude, welches vermuthlich das
Waſchgelaß in ſich faßte, denn es roch nach Seife
aus deſſen offenſtehenden Fenſtern. Darin ſchloß
mir der Oberkellner eine Kammer auf, in der eine
herrlich verdorbene Luft brütete. Er wollte dieſe
Atmosphäre entſchuldigen, ich aber unterbrach ihn
und fragte, ob er ſich nicht beſſer auf das Metier
verſtehe? Gerade ein ſolcher müffiger Dunſt und
Schwaden ſei der rechte Geiſterbrodem.
Es war ganz darin, wie es da ſein muß, wo
das Kernbeißer-Eſchenmichel’ſche Wunderweſen ſein
Quartier aufſchlagen ſoll; die Wände ſahen wie
verwitterte Dämonen aus, und von der Decke hat-
ten die Poltergeiſter den Kalk abgetrampelt. Ich
[245] ließ den Oberkellner gehen, hing meine Kleidungs-
ſtücke an den Nagel, merkte, daß nach der guten
Abendmahlzeit, die ich eingenommen hatte, die
heilige Thätigkeit meiner Unterleibsnerven beginne,
war ſonach reif zum höheren Schauen, blies deß-
halb die Kerze aus und rannte im Dunkel auch
gleich gegen einen recht groben Geiſt an, der ſich
wie eine Tiſchecke anfühlte. Darnach legte ich mich
zu Bette, und es blieb eine Zeitlang ſtill. Nur
war mir’s ſonderbar, daß mein Kopf immer tiefer
ſank und meine Füße immer höher zu liegen kamen.
Aha, dachte ich, Ihr zieht die Federn weg, wohin
ſie gehören, und ſtopft ſie dorten hin, wo ſie nicht
am Platze ſind, Ihr unruhiges, ſündhaftes Geſindel!
Ich konnte über dieſe Thätigkeit der Dämonen nicht
lange nachdenken, denn mit einemmale verbreitete
ſich durch eine Ritze in der Thüre ein Lichtſchimmer
im Gemache, es war, als ob Jemand draußen gehe,
die Stiege neben meiner Kammer emporwandle,
und ſich über mir zur Ruhe begebe. Ich rief mit
lauter Stimme: Wenn das da draußen kein weins-
berger Geiſt, ſondern ein Hausknecht iſt, ſo ant-
worte es! Es antwortete aber Niemand, und bald
darauf hörte ich den Geiſt fürchterlich ſchnarchen.
[246] Nun trat wieder ein Schweigen von wohl einer
Stunde ein, während welcher Zeit ich die Augen
und Ohren offen hielt, wie ein Haſe. Da auf
einmal hörte ich ein bröckelndes Geräuſch an der
Wand, wo ich meine Kleider aufgehängt hatte,
und ein Fallen. Zugleich ſpürte ich das Aufſteigen
von Staub. Jetzt ſeid ſtill, Dämonen! rief ich,
ich habe nun genug neue Erfahrungen eingeſammelt.
Ihr könnt Euch wie Regentropfen ankündigen, Ihr
zieht Einem die Federn unter’m Kopfe weg, Ihr
trampt wie ein Hausknecht und rührt Staub auf —
ich bitte mir nun Ruhe aus, Kerls, denn ich will
ſchlafen.
Wirklich ſchlief ich, nachdem die Geiſter auf
dieſe Anrede muckmauſeſtill geworden waren, ein.
Allein noch vor Tagwerden erwachte ich wieder
von unendlichen Beklemmungen, welche der dämo-
niſche Brodem in der Kammer und dann auch meine
unnatürliche Lage mit dem Kopfe unten, mit den
Füßen oben, mir verurſachte. Das Blut war mir
ſo zu Kopfe geſtiegen, daß ich zu erſticken meinte,
ich hielt mich aber ganz ſtill und dachte: Stickſt
du, ſo ſtickſt du als Opfer für die Ausbreitung
höherer Erkenntniß. — Endlich wurde es denn
[247] doch Tag, ohne daß ich erſtickt wäre, und da ſah
ich ein noch viel größeres Wunder, als dasjenige
geweſen wäre, wenn die Geiſter mir die Federn
unter’m Kopfe weggezogen hätten. Ganz umge-
kehrt hatten ſie mich; vermuthlich während des
Schlafes. Ich lag mit dem Kopfe drunten am
Fußende, und die Beine ruhten droben auf dem
Kopfkiſſen; ein in den Schranken des Cerebral-
ſyſtems Befangener würde geſagt haben, daß
ich am Abend zuvor mich verkehrt niedergelegt
habe. Ich ſtand auf und ſah, daß das fallende
Geräuſch von meinen Kleidungsſtücken entſtanden
war, welche die Geiſter mit dem Nagel von der
Wand herabgeworfen hatten. Deſſen Ausziehen
konnte ihnen freilich keine große Mühe verurſacht
haben von wegen der bröcklichten Umſtände, worin
ſich, wie ſchon angeführt worden iſt, die Wand
befand.
Ich trank meinen Caffee, dann zum zweiten
Frühſtück eine Flaſche Affenthaler, fühlte meine
Glaubenskraft hierauf in der gehörigen Verfaſſung,
gab dem Oberkellner ſeinen Gulden, erklärte mich
mit ſeiner Bedienung vollkommen zufrieden, verſprach
[248] die Kammer neben dem Waſchgelaſſe allen Höhe-
rerwelthereinragungsmännern meiner Bekanntſchaft
beſtens zuempfehlen, und rollte dann den blauen
Bergen zu, zwiſchen denen Weinsberg liegt.
[249]
III.
Der magiſche Schneider.
Nicht weit vom Orte in einem engen Thalwege,
von wo ich bereits deutlich die Weibertreue ragen
ſah, bemerkte ich, daß ein ſpindeldürrer Menſch
vor meinem Wagen auf der Landſtraße hin und
her wankte, der nach gemeinen Begriffen für be-
trunken gelten konnte, denn er taumelte in der
That außerordentlich und fiel nach einigen Ver-
ſuchen, Grund und Boden dennoch feſt unter den
Füßen zu halten, nebenan in den Graben. Seine
Lage da unten zwiſchen Wegerich, Neſſeln und Vo-
gelkraut war nicht die eines gewöhnlichen Menſchen,
denn ganz ſymmetriſch war er gefallen, mit dem
Rücken und Kopfe genau in die Mitte des Stra-
ßengrabens, die Arme und Füße aber rechts und
links auf die Ränder des Grabens geſtreckt, ſo daß
der Meridian gerade durch ſein Centrum ging.
Dieſes außerordentliche Schauſpiel regte meine be-
[250] beſondere Theilnahme an, ich ſtieg vom Wagen,
hob mit Hülfe meines Fuhrmannes den Sinnloſen
hinauf, und dachte, in Weinsberg werde ſich wohl
ein Ort finden, wo er ausſchlafen könne.
Endlich waren wir angelangt, und Doctor
Kernbeißer, dem ich ſchon empfohlen worden war,
empfing mich recht freundlich. — ’S iſt gut, ſagte
er, daß Sie kommen. Für zwei Mann wird der
Sache zu viel, wir brauchen junge Kräfte, um die
Geiſterwelt gehörig beſtreiten zu können. ’S iſt
heute einmal wieder ein tolles Getreibe hier und
das Zwiſchenreich ganz des Henkers. Das iſt ein
Gerutſche, Gebrumme, Gepoltre, Geduſele, Gedu-
dele, Geſchreite, Gewinſele und ein Gerumore
durch einander, daß man nicht weiß, wo man zuerſt
anfaſſen ſoll. Ich helf’ herzlich gern meinen Ne-
benmenſchen in der unſichtbaren Welt, aber es kann
Einem auch zu viel werden. Der Eine will erlöſt
ſeyn, der Andere hat ’n Schatz vergraben, der ein
Geheimbuch über die Seite gebracht, dazwiſchen
fallen die Sonnenkreiſe ab, wie reife Maulbeeren,
dem ſoll man was vorbeten, dem auf’m Clavier
was vorſpielen, wir wiſſen Beide nicht, ich und mein
Freund Eſchenmichel, wo uns der Kopf ſteht.
[251]
Ich bat ihn, ſich zu beruhigen, was an mir
ſei, werde geſchehen, ihnen Aushülfe zu geben. —
Wir gingen in das Haus, welches mit ſeinem
freundlichen Garten an die Stadtmauer ſtieß.
Drinnen rief uns Eſchenmichel, der eben eine Som-
nambüle beſtrich und vor Eifer mich gar nicht be-
grüßte, an: Kommt der Dürr? — Nein, verſetzte
Kernbeißer, vor der Hand bring’ ich nur den Münch-
hauſen. — Wer iſt der Dürr? fragte ich. — Der
magiſche Schneider, verſetzte Kernbeißer, den wir
uns zum Succurs verſchrieben haben. Ein Satan
von Kerl! (O Gott, verzeihe mir meine Sünde
und dieſes Fluchwort!) Er hat mehr Gewalt über
die Dämonen, als wir Beide zuſammengenommen,
er ſchnauzt ſie an, daß es nur ſo eine Art hat und
bringt ſie zur Raiſon. Er ſollte uns beiſtehen
und hatte auch ſagen laſſen, daß er heute kommen
wolle. Gott hat ihm den Sinn wunderbarlich
aufgeſchloſſen und mit herrlichen Kräften gerüſtet;
er ſteht im Centro der Dinge und ſieht von da
die Radien ausſtrahlen in die Peripherie, wo ſie
die Schaale und die Kruſte und die Figur der
ſogenannten äußeren Welt bilden, über welcher dann
die himmliſchen Wolken wie ſuchende und liebende
[252] Mütter ſchweben. Dieſe ſtreben mildregnend bis
zum Centro einzudringen, daß Himmel und Creatur
eins werde in ewiger Löſung und Bindung, und —
Schwätz nit ſo viel, Kernbeißer! rief hier
Eſchenmichel dazwiſchen; ich kann vor deinem Getöſ’
die Strunz hier nicht vernehmen, welche ſo eben
beginnt mit der inneren Sprach’ mir das Geheim-
niß des jüngſten Tages auseinanderzuſetzen.
Ich muß doch dem Münchhauſen den Dürr be-
ſchreiben! rief Kernbeißer zugleich zornig und er-
mattet. — Immer ſtörſt du mich im Aufſchwung.
Nun iſt meine Anſchauung zerbrochen, meine Kraft
dahin, und ich bin für den Reſt des Tages nur
noch ein Lump. — Haben Sie den Dürr nicht
unterweges erſchaut?
Ich wollte eben verneinend antworten, als der
Fuhrmann eintrat und fragte, was denn mit dem
todten Menſchen auf dem Wagen werden ſolle.
Ich bat Kernbeißer’n um einen Aufbewahrungsort
für meinen Schützling. Er ſagte ihn gern zu, ging
mit hinaus, um den Menſchen vom Wagen heben
zu laſſen, ſchlug aber wie außer ſich die Hände
über dem Kopfe zuſammen, als er ihn, der wirk-
lich wie todt auf dem Grunde des Fahrzeuges lag,
[253] anſichtig wurde, und rief: Das iſt ja der Dürr!
das iſt ja der Dürr! das iſt ja der magiſche Schnei-
der! O Himmel, muß ich dich wieder in dieſem
Zuſtande ſehen, Dürr? — Schauen Sie, ſagte er
zu mir, dieſes iſt die einzige Schwäche des außer-
ordentlichen Menſchen; er beſäuft ſich einen um den
andern Tag, woran aber freilich ſein reizbares
Nervenſyſtem Schuld iſt. In dieſer Verfaſſung
kann er nun von allen ſeinen ſchönen magiſchen
Gaben keinen Gebrauch machen, und ſo geht die
Hälfte ſeines Lebens für die höhere Welt verloren.
O Dürr! Dürr! Dürr! — Aber, was kann’s
helfen? Nehmt ihn ſäuberlich herunter und legt ihn
auf Stroh, daß er ausſchlafe.
Der magiſche Schneider, den ich ſo unwiſſend
aus dem Straßengraben in das Hauptquartier des
Geiſterreiches befördert hatte, wurde in einen Stall
gethan, ich aber zog nunmehr bei den Thaumatur-
gen ein. Bald nachher ſetzten wir uns ohne vor-
gängiges Wunder zu Tiſch.
[254]
IV.
Der Gergeſener — die innere Sprache —
das Examen rigoroſum.
An dieſer erſten Mittagstafel nahm außer den
Hausgenoſſen ein Menſch mit wilden Blicken Theil,
von dem ich ſchon gehört hatte, daß er ſeines Zei-
chens ein Beſeſſener ſei und hin und wieder grunze.
Dieſes war natürlich, denn es ſaß in ihm der
Teufel Einer, welche einſtmals in die Gergeſener
Säue gefahren waren. Auf dem kurzen Wege,
welchen er in einer ſolchen Behauſung bis zum
Teiche machte, wohinein ſich die Heerde damals
ſtürzte, hatte er das ſchweiniſche Leben ſo lieb ge-
wonnen, daß er noch immer von Zeit zu Zeit jene
Töne hören ließ. Ueberdieß verlangte er mitunter
nach Schweinefutter, insbeſondere nach Gerſtenſchrot.
Wir geben’s ihm aber nicht, er muß Hausmanns-
koſt eſſen, wobei er oft jämmerlich brüllt und zuckt,
ſagte Kernbeißer. — Ich habe von ihm die wunder-
[255] barſten Aufſchlüſſe erhalten, ſprach Eſchenmichel im
Seherton. Die Zeit iſt aber für ſolche Mitthei-
lungen noch nicht reif.
Wie ſteht’s heut, Pochhammer? fragte er den
Beſeſſenen. — Bis jetzt noch ſo ziemlich, Herr
Doctor, verſetzte dieſer ſehr höflich und in der
Sprache eines gewöhnlichen Menſchen, aber es wird
leider nicht lange dauern, er kullert ſchon etwas
unter’m Zwerchfell, es iſt ihm wieder eine Ratz’
durch den Kopf gelaufen, o weh — da ſteigt er
auf — da ſitzt er in der Kehle ſchon — da — da
— oih! oih! oih! — So fing er an zu grunzen,
und dazwiſchen ſchrie er unaufhörlich mit rauher
Stimme: Kleien! Schrot! Kleien! Schrot! Eſchen-
michel betete, Kernbeißer ſagte tolle Knittelreime
auf den Gergeſener her, und die übrigen Tiſchge-
noſſen aßen ruhig fort, denn dergleichen gehörte
hier zu den alltäglichen Dingen, aus welchen Nie-
mand mehr ein Aufhebens machte.
Während dem trat der Knecht, den ich im
Hofe geſehen hatte, ein, und ſagte: Der Dürr iſt
erwacht und begehrt zu trinken. — Ei, was hat
der Schliffel ein Gefäll, rief Kernbeißer. Er ſoll
ſich hereinſcheeren und hier erſt ſeine Arbeit verrichten,
[256] und dann wollen wir weiter ſehen. — Ja, ſchicke
den Magiſchen zu uns, ſage ihm, der Gergeſener
grunze heute ausnehmend; fügte Eſchenmichel hinzu.
— O Ihr himmliſchen Kräfte, welche Finſterniß
muß doch da drunten in der Hölle ſeyn! Gott
bewahre uns Alle vor dem Abgrunde, darin Aſta-
roth heult, und Beelzebul einen feurigen Reif
ſchlägt!
Der magiſche Schneider trat ein, noch unſicheren
Ganges, mit rothen Augen, die Zunge zwiſchen den
trockenen Lippen hin und her bewegend. Kernbeißer
und Eſchenmichel gaben ihm zum Willkomm die
Hand und forderten ihn auf, den Gergeſener zu
beſchworen. Den wollen wir bald zahm kriegen,
ſagte der Schneider, und trank ein großes Glas
Neuen aus. Er krämpelte die Rockärmel auf,
reckte ſeine ſpindeldürren Glieder, vor den Beſeſſenen
tretend, aus, hielt ihm die geballte Fauſt vor den
grunzenden Mund und rief: Biſt gleich ruhig!
Ich, der Dürr, befehl’s dir, kraft meiner magiſchen
Gewalt. Was für Sitten ſind das, du Schwein-
teufel? Kannſt du nicht ſprechen, wie die Andern,
oder haſt auf dem Weg nach dem Waſſer deinen
teufliſchen Dialect vergeſſen? Ich an deiner Stelle
[257] würde mich doch ſchämen, den Schweinen nachzuah-
men. Biſt gleich ruhig, ich befehl’s dir! Haſt du
keine Dankbarkeit nicht, daß dir einſtmals vergönnt
ward, dein Logis nach deinem Gefallen zu wählen?
Kreuch ’nunter auf der Stell’, oder ich haue den
Pochhammer ſo lang’, bis daß du’s fühlen ſollſt.
Auf dieſe Anrede und beſonders auf die letzte
Drohung wurde der Gergeſener Teufel ſtiller, das
Grunzen ging in ein Gequiek, wie das eines Fer-
kels über, und verlor ſich hierauf nebſt dem Geſchrei
um Kleien und Schrot allmählig ganz. Pochham-
mer wiſchte ſich den Schweiß von der Stirne, gab
dem magiſchen Schneider die Hand und ſagte:
Ich danke Ihnen gehorſamſt, Herr Dürr, er ſitzt
nun ganz verzagt unten und ſchluchzt, wie ein
Kind. — So ſind ſie All’, ſprach der Magiſche, hoch-
müthig und obenaus, aber wenn man ſie brav
kuranzt, fallen ſie zuſammen, wie eine aufgeſtochene
Fiſchblas’. Gebt mir zu trinken.
Pochhammer verlangte nachträglich vom Braten,
der während der dämoniſchen Scene ihm vorüber-
gegangen war, und aß wacker. — Bekommt nun
davon der Gergeſener etwas ab? fragte ich. —
Behüte, verſetzte Eſchenmichel, die Teufel nehmen
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 17
[258] keine irdiſche Speiſe zu ſich, ich zweifle ſelbſt, daß
dieſes Geſchrei um Kleien und Schrot anders als
ſymboliſch gemeint iſt, wenigſtens würde, wenn
Pochhammer dergleichen hinunterwürgte, nur der
Geiſt, ſo zu ſagen, des Schweinfutters an den
Dämon in ihm gelangen.
Inzwiſchen hatte Kernbeißer dem magiſchen
Schneider zärtliche Vorwürfe gemacht. O Dürr,
ſagte er, was für ein wüſter Kerl biſt du außer-
ordentlicher Menſch! In welche Tiefe warſt du
wieder heute verfallen! — Ich weiß nicht, ob es
ein Graben, oder eine Lehmgrube war, worein ich
verfallen geweſen, rief der Magiſche. — Ein Gra-
ben, verehrteſter Meiſter, ſagte ich. Ich freue mich
außerordentlich, Ihre Bekanntſchaft zu machen, und
daß ich ſo glücklich geweſen bin, Ihnen gleich eine
kleine Gefälligkeit haben erweiſen zu dürfen.
Ihr Narren denkt immer, Unſer Einer könne
halt ſtäts nüchtern und leer ſeyn, und dabei doch
die großen Ding’ verrichten, ſprach der magiſche
Schneider. Das geht ſo nicht. Die Teufelsban-
nungen und Beſchwörereien ziehen Einem gräulich
den Nervengeiſt ab, und wenn man nicht nachgießt,
würde man bald fertig ſeyn. Ich hatt’ im Dorf
[259] über’m Wald heut eine Dienſtmagd zu beſprechen,
in der ein mordbrenneriſcher Schwed’ aus dem
dreißigjährigen Krieg’ ſitzt; der Gauch wollt’ durch-
aus wiſſen, ob in dem von ihm angezündeten Hauſe,
was er mir ſelbſt nicht nennen konnte, ſeine lederne
Feldflaſch’ mit verbrannt ſei, die er ſeitdem ver-
miſſe; eher könne er nicht zur Ruhe kommen. Das
Geſchäft hatte mich ſtark angegriffen, denn der
Schwed’ ließ ſich erſt gar nicht bedeuten. Hernach
mußte ich mich ſtärken, und von der Stärk’ gerieth
ich darauf in einige Schwachheit.
Nach Tiſche beſah ich mit Kernbeißer das ganze
Etabliſſement. In den Stuben umher ſaßen und
ſchliefen ſechs bis ſieben Hellſeherinnen, ich wurde
mit ihnen in Rapport geſetzt und erhielt die wich-
tigſten Aufklärungen über die geheimſten Dinge,
als zum Beiſpiel, wann ich die erſte Uhr geſchenkt
bekommen habe, welchen Namen mein großer Hund
führe, den ich zu Hauſe gelaſſen, wie viel ich dem
Wirth in Ulm ſchuldig verblieben ſei? — Bei
einigen rutſchte, klöpfelte, täppelte, klatſchte, polterte
es in den Stuben, dazu war ein Regen an den
Fenſtervorhängen und hin und wieder ein bischen
Lichtſchimmer, auch das Geräuſch, wie wenn man
17*
[260] Papier oder Kalk an die Erde wirft. Im Ganzen
waren damals drei Geiſter und zwei Geiſtinnen
auf den Beinen, doch ich irre mich; ein Kind ge-
hörte auch noch dazu, welches einmal im Leben
ſein Butterbrod hatte fallen laſſen, und ſich dar-
über in jener Ewigkeit nicht zufrieden geben konnte.
Der eine Geiſt trug einen ſchwarzen Rock, der
Andere eine Art von Schanzlooper, der Dritte hatte
Stiefeln an; von dem kam das Poltern. Wie
die Geiſtinnen gingen, iſt mir entfallen, das Kind
aber hatte das Zeichen im Geſicht, ungeachtet wel-
ches Werther vor Zeiten Lottens jüngſten Pflege-
befohlenen küßte. So natürlich geht es im Zwi-
ſchenreiche zu. Wer hienieden Stiefeln trug, zieht
jenſeits keine Schuhe an, und ſo weiter. Thaten
uns übrigens Alle nichts, die Geiſter, nur die
Hellſeherinnen litten von ihnen, denn die ſollten
ihnen helfen. Das ging bis zu dem Kinde hinab,
welches ſein hienieden fallen gelaſſenes Butterbrod
jämmerlich ſchreiend verlangte.
Als wir in den Hof kamen, hörte ich den
Knecht zur Magd ſagen: Schnuckli buckli koramſi
quitſch, dendroſto perialta bump, firdeiſinu mimfei-
ſtragon und hauk lauk ſchnapropap? — Die Magd
[261] verſetzte: Freſſaunidum ſchlinglauſibeeſt, pimple,
timple, ſimple, feriauke, meriaukemau.
Ich hatte Ziegen und Engländer verſtanden,
aber dieſe Mundart war mir dunkel. Auf Befragen
erfuhr ich, daß es die innere Sprache der Seherin
von Prevorſt ſei, die Urſprache der Menſchheit, die
ſie in ihren Verzückungen gefunden. Wir bedienen
uns ihrer ſeitdem, wenn wir innig werden über
Angelegenheiten, die uns beſonders zu Herzen ge-
hen. — Und was ſagte der Knecht zur Magd? —
Er fragte ſie: haſt mir Knödel aufgehoben? und
ſie verſetzte: Ja.
Ich ſollte mein Gutachten über dieſe Sprache
abgeben, und erklärte, ſie komme mir in manchen
Wurzeln verwandt mit derjenigen vor, worin
Asmus ſeine Audienz bei dem Kaiſer von Ja-
pan gehabt habe. Uebrigens ſcheine ſie mir ein
wenig weitſchweifig zu ſeyn. — Ja, ſie könnt’ halt
kürzer ſeyn, erwiederte Kernbeißer. Dafür iſt
aber die innere Schrift, oder die Urſchrift der
Menſchheit, welche die Seherin auch gefunden hat,
deſto präciſer. Kennen ſie dieſelbe? — Ich kenne
ſie, ſie iſt ja mit abgedruckt, verſetzte ich. Ich
ſchreibe gegenwärtig an einem Aufſatze, worin ich
[262] ſie gegen den Einwurf der Spötter, daß ſie aus-
ſehe, als hätten die Hühner auf dem Papiere
gekratzt, vertheidige, und die feinen, jedoch kennt-
lichen Unterſchiede zwiſchen dem Sanskrit von
Prevorſt und den Hühnercharakteren an den Tag
bringe.
Kernbeißer umarmte mich und ſagte: An Ihnen
haben wir einen wahren Freund und Bruder ge-
wonnen. Eſchenmichel aber, der uns nachgeſchlichen
war, zog ihn bei Seite, und ich hörte ihn die halb-
lauten Worte zu Jenem ſprechen: Du biſt immer
zu raſch, wir wollen ihn erſt prüfen, bevor wir
ihn in unſere Gemeinſchaft aufnehmen. — Kern-
beißer ſchüttelte den Kopf über Eſchenmichel’s Zwei-
felſucht, doch mußte er ſich fügen, und die beiden
Doctoren nahmen mich nun nach dem Garten mit.
Dort ſetzten wir uns in die Laube, und das Examen
rigoroſum nahm ſeinen Anfang.
Vor dieſer Prüfung hatte ich einige Scheu ge-
tragen, denn ich traute mir die rechten Kenntniſſe
in der Geiſterlehre noch nicht zu. Indeſſen lief
ſie glimpflich genug ab. Zwar auf Eſchenmichel’s
Fragen, wie hoch der Himmel und wie tief die
Hölle ſei, wie viele Himmel und wie viele Quar-
[263] tiere in der Hölle es gebe, welches die verſchiede-
nen Klaſſen der Dämonen ſeien, und wie eine jede
ausſehe, konnte ich nur nothdürftige Antworten
geben, weil ich alle die Dinge erſt hier lernen
wollte. Deſto beſſer beſtand ich bei Kernbeißer.
Denn dieſer fragte mich, woher jegliches Böſe, die
ſchlechten Leidenſchaften, der Hochmuth, die falſchen
Begriffe und die oberflächlichen Kenntniſſe unter
den Menſchen rührten? Darauf antwortete ich
herzhaft: Aus dem Kopfe. — Weitere Frage:
Wodurch dringen wir in das Seyn und Weſen der
Dinge ein, erfahren, was im Himmel und auf
Erden vorgeht, und heiligen uns zu Gefäßen Got-
tes? Antwort: Durch den Unterleib.
Die Examinatoren erklärten hierauf, es ſeien
zwar in meinen Kenntniſſen noch Lücken bemerklich
geworden, aber den Glauben habe ich, und der
ſei die Hauptſache. Ich wurde ſonach auf das
Ganglienſyſtem in Eid und Pflicht genommen und
dann zum Mitgliede des weinsberger Geiſterbundes
ernannt. Eſchenmichel ſagte, man habe eine wich-
tige Unternehmung vor, wovon ich den nächſten
Tag mehr hören ſolle. In der Freude meines
Herzens erzählte ich, da das Geiſterweſen etwas
[264] ſtill geworden zu ſeyn ſchien, von allerhand profanen
Dingen, die mir während der Reiſe begegnet waren,
kam dann auch auf Würzburg, das Juliusſpital
und die beiden entlaufenen alten Weiber. Davon
aber wollten meine Meiſter nichts wiſſen, ſie unter-
brachen mich heftig und riefen, über Würzburg
ſolle ich nun und immerdar ſchweigen, der Ort
ſei ihnen unangenehm und rege ihnen widrige Er-
innerungen auf.
[265]
V.
Himmel und Hölle zögern anfangs zu
Weinsberg in Conflict zu gerathen.
In den nächſten Tagen lernte ich nun die Sin-
nesart der beiden Doctoren genauer kennen. Kern-
beißer war ein gemüthlicher alter Knabe, der ſich
hin und wieder ſelbſt über die Dämonen luſtig
machte, Einem fleißig vom Alten und Neuen ein-
ſchenkte und dabei komiſche Schnurren erzählte, wie
ſich das Geiſterpack mitunter ſo hundstoll betrage.
Darüber konnte er lachen, daß ihm der Athem
verging. Er gefiel mir ſehr wohl — in der höheren
Welt muß Alles vorräthig ſeyn, auch ein Schwänk-
lein und Späßlein.
Eſchenmichel dagegen hielt ſich mehr zurück und
hatte etwas Lauerndes in ſeinem Weſen, er ſah
nicht gerade aus, ſondern ſeitwärts, oder ſchielte
von unten empor. Er war immer in Ekſtaſe, ich
habe ihn den Biſſen nicht in das Salz tauchen
[266] ſehen, ohne daß ihm die Augen verzückt im Kopfe
umherrollten. Wäre er kein Prophet geweſen,
man hätte ihn leicht für einen Schelm halten kön-
nen, da er aber ein Prophet war, ſo konnte er,
wie ſich von ſelbſt verſteht, kein Schelm ſeyn.
Bald theilte er mir den Plan mit, auf welchen
er früher hingewieſen hatte, und dieſer beſtand in
nichts Geringerem, als darin, einen Poltergeiſt zu
bekehren. Das iſt noch größer, rief ich, als ein
Trygäosroß und eine blaue Schwärmerin verſittlichen
zu wollen!
Es hat jede Kenntniß und Beſchäftigung ihre
Stufen, verſetzte er. Für den Anfang war das
bloße Geiſterſehen, und daß man erfuhr, wie es
im Zwiſchenreiche zugeht, hinreichend. Nach dieſem
trat der Magiſche mit ſeinen gewaltigen Kräften
in unſer Werk ein, der hat nun ſchon Macht über
den Spuk, beſchwört ihn und bringt ihn zur Ruhe,
aber dabei darf die Sache auch nicht ſtehen bleiben.
Wir müſſen, wie geſagt, eine der Creaturen, die
um uns her ſchwärmen, wie die Mücken um’s Licht,
fromm machen; auf dieſe Weiſe ſetzen wir Fuß in
Bügel, und können darauf in dieſem dritten Stadio
der Thaumaturgie weiter kommen.
[267]
Nämlich, rief ich, hingeriſſen von dem Gedanken
aus, wenn wir die Poltergeiſter in den Himmel
gebracht haben, ſo machen wir uns ſacht an die
läßlichſten Verdammten, zu denen vom Zwiſchen-
reiche aus doch wohl auch eine Hinterthüre ſich
entdecken laſſen wird, beginnen bei denen unſere
Miſſionsgeſchäfte, und ſo immer weiter und weiter
hinunter, hinunter!
Wir werden es nicht erleben, ſprach Eſchen-
michel mit verdrehten Augen, aber unſeren Nach-
kommen iſt es vorbehalten, ſelbſt den Teufel zum
Chriſten zu machen.
Kernbeißer lachte, daß er ſich nicht zufrieden
geben konnte und rief: ’S iſt Schad’, daß du dann
nicht mehr auf Erden weileſt, Bruder Eſchenmichel,
denn wenn der Teufel erſt von Gottes Gnaden
ſeyn wird, ſo würdeſt du gewiß Leibarzt von des
Teufes Gnade werden. — Er hatte überhaupt
Mancherlei gegen dieſen Fortſchritt der Thauma-
turgie einzuwenden, meinte, es möchte nicht gut
ſeyn, ſo tief die Hände in das Geiſterreich zu
ſtecken, man wiſſe nicht, was man aufwühle, Pol-
tergeiſter ſeien Poltergeiſter — bis ihn Eſchen-
michel anfuhr und gewaltig bedräute.
[268]
So biſt du immer, erwiederte Kernbeißer ſchmol-
lend, wenn es nach dir ginge, würde Jedermann,
der ſich einen Einwurf gegen dich erlaubte, gehängt
oder gerädert! — Du irrſt dich gänzlich in mir,
ſprach Eſchenmichel, ich bin die Sanftmuth ſelbſt.
— Ja, im Geiſt der Inquiſition, flüſterte Kern-
beißer.
Indeſſen fügte er ſich, wie immer, wenn ſein
College den Kopf aufſetzte. Er war überhaupt ſo
ſanft, gutmüthig und inconſequent, als der Andere
den Eifer, die Härte und Folgerichtigkeit beſaß,
welche zum Seher- und Feuergeiſte gehören.
Es wurde alſo nun von uns Dreien der Plan
des Bekehrungsgeſchäftes feſtgeſtellt. Die erſte
Sorge mußte ſeyn, das Object herbeizuſchaffen,
nämlich den zu bekehrenden Geiſt. Leider war unter
dem Vorrathe des Etabliſſements nichts Taugliches.
Mit dem Gergeſener, als einem eigentlichen dick-
häutigen Teufel zu beginnen, erſchien mißlich, die
Sache konnte durch den erſten Verſuch, wenn er
nicht gelang, zu ſehr bloß geſtellt werden. Die An-
deren aber, die drei Geiſter, zwei Geiſtinnen und
das Kind ließen ſich auch ſchwerlich verwenden,
denn erſtens ſtanden ſie nur auf einem höflichen
[269] Beſuchsfuße mit den Hellſeherinnen, hatten ſich
bei ihnen nicht eigentlich einquartirt, und zweitens
war nichts ſchlimm-Dämonenhaftes in ihnen; ſie
hatten nur Dinge von dem Belang der ſchwediſchen
Feldflaſche oder der Butterbemme im Kopfe.
Wir dachten hin und her, wie wir Rath ſchaf-
fen und eines handfeſten, vom Höllenfeuer min-
deſtens aus einiger Entfernung angeſengten Ben-
gels habhaft werden ſollten.
Unendlich bedauerten Eſchenmichel und ich, daß
wir des magiſchen Schneiders und ſeiner Hülfe
in ſolcher Noth entbehren mußten. Aber dieſer
große Menſch lag faſt immer im Stalle auf Stroh
wegen des einzigen Fehlers, womit die Natur ihn
belaſtet hatte. Was Kernbeißer angeht, ſo hatte
er ſein Vergnügen an ihm, tröſtete uns auch, wenn
wir klagten und ſagte: Laßt’s gut ſeyn. Der
Dürr gehört, wie der Tell, nicht in den Rath, er
iſt der Mann der That. Haben wir den Heiden
von Dämon erſt, ſo wird Keiner kräftig ſeyn im
Werke, gleich der nimmerſatten Gurgel.
Ich dachte im Stillen: Dieſe ſchwäbiſchen Kinds-
köpfe ſind gut zum Erfinden, aber dann die Sache
gehörig einzurichten, ihr eine Regel, Ordnung und
[270] Form zu geben, dazu bedarf es eines norddeutſchen
Verſtandes. Iſt’s genug, daß in und um Weins-
berg die Geiſter wild wachſen wie Wegerich? Hätte
man ſie nicht in Cultur legen können? Das Ter-
rain in Schläge vertheilen? Nach den Regeln von
der Spargelzucht ſie in Beeten ziehen, daß wenn
man Einen braucht, man ihn ſtäche? — Gott ſegne
mir doch meine heimathlichen Gefilde an der Elbe,
Oder und Weſer! Dieſe Süddeutſchen werden nie
klug werden.
Du mußt hier die Ehre Norddeutſchlands ret-
ten und das Ding zum Ende führen, dachte ich.
Klebte und pappte mir alſo aus den prevorſtiſchen
Blättern, der Seherin von Großglattbach und an-
deren Sachen dieſes Schlages eine Art von Geiſter-
falle zuſammen, in Form einer gewöhnlichen Mauſe-
falle und ging damit an alle entlegene Orte der
Gegend, auf Kirchhöfe, hinter alte Mauern, in
verfallene Keller, ja ſelbſt in heimliche Gemächer,
ſtellte meine Falle auf und murmelte dazu fol-
genden Spruch in der inneren oder Urſprache:
Rummel debummel defimmel depippel dehuſſel debuſſel de-
kimmeldelümmelde — ſchwips! was ſich auf deutſch
nicht genau wiedergeben läßt, aber in der Umſchrei-
[271] bung ungefähr ſo viel bedeutet, wie: Iſt’s gefällig?
Ich ſaß Stundenlang bei der Falle, es wollte ſich
aber nichts fangen.
Weil alle Beſtrebungen der Vorſteher auf die-
ſen einen Punct gerichtet waren, ſo begann das
Etabliſſement zu verfallen. Das Grunzen des
Gergeſeners wurde ſeltener, mehrere der Hell-
ſeherinnen ſchlichen ſich im Stillen weg, da ſie
keine regelmäßige Behandlung mehr fanden, mit
ihnen verloren ſich die drei Geiſter, die zwei
Geiſtinnen und die Hälfte vom Kinde, denn im
Zwiſchenreiche kann auch ein halber Geiſt für ſich
beſtehen. Das Geräuſch, Poltern und Schlurfen
verklang, und nur die dem Hauſe treugebliebene
andere Hälfte des Kindsgeiſtes wimmerte noch ein
wenig; es ließ ſich aber der Tag vorherſehen, wo
auch dieſer Laut erſterben und das weinsberger
Etabliſſement ohne allen Geiſt ſeyn würde.
Während dieſer Verlegenheit hörte ich eines
Tages aus Kernbeißer’s Munde ſonderbare Worte.
Ich ſaß, verſteckt von einem Hollunderbaume hinter
einem Vorſprunge der Stadtmauer lauernd bei
meiner Geiſterfalle. Kernbeißer kam in den Gar-
ten, ſah mich nicht, ging heftig auf und nieder
[272] und rief endlich: Ich ſag’s und hab’ es ſtäts ge-
ſagt, ſie ſtürzt uns in’s Verderben. Sie ſtellt die
Ding’ allzuſehr auf die Spitz’. Hier wurde er
meiner anſichtig, erſchrak heftig und fragte mich,
ob ich ſeine Worte verſtanden habe. Als ich ver-
neinte, ſchöpfte er Athem und erklärte ſie für die
Reminiscenz aus einem Schwanke.
[273]
VI.
Die engbrüſtige Nätherin.
Wenn ich, die Geiſterfalle in der Taſche, durch
die Straße nach dem Thore zu wanderte, war mir
vor einem kleinen Häuschen hinter Rebſtöcken eine
Frauensperſon aufgefallen, welche regelmäßig, ſofern
das Wetter nur einigermaßen hell war, draußen
neben der Thüre ſaß und im Freien nähte. Sie
ſah ſehr blaß aus, und hielt ſich zuſammengekrümmt,
auch wenn ſie von ihrer Arbeit emporblickte. Ihre
Augen ſtrahlten von einer eigenen Bläue, und in
ihrem ganzen Weſen bleichte etwas, was an die
Blumen erinnerte, welche eigentlich für Sonnenſchein
beſtimmt, zufällig im Schatten aufbrechen mußten.
Ich hatte mich mit ihr in das Geſpräch gelaſſen
und von ihr erfahren, daß ſie eine arme Nätherin
ſei, von Jugend auf an Krämpfen gelitten habe,
und ſchon ſeit längerer Zeit von fortwährender
Engbrüſtigkeit geplagt werde, weßhalb ſie denn
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 18
[274] auch, ſo oft es nur angehe, ihr Tagwerk im Freien
verrichte, weil die Stubenluft ſie bedrücke.
In den Antworten dieſer Perſon zitterte hin
und wieder eine Aengſtlichkeit, zu welcher kein
äußerer Grund vorhanden war. Als ich einſt in
ſie drang, mir zu ſagen, warum ſie ſo häufig ohne
Veranlaſſung ſeufze und in gewöhnliche Worte
einen ſchmerzlichen Ton lege, wollte ſie anfangs
mit der Sprache nicht heraus, entdeckte mir aber
endlich, daß ſie, ſeitdem in dem Kernbeißer’ſchen
Hauſe das Weſen ſo mächtig geworden ſei, gar
keine Ruhe mehr habe. Durch alle die Dinge,
welche ſie von Freunden und Gevattern über die
dortigen Ereigniſſe vernommen, ſei ſie in die größte
Furcht geſetzt worden, daß ſie, wie ſie ſich aus-
druckte, auch einmal ſo werden könne, was ſie nach
ihrer Sinnesart für das ſchrecklichſte Unglück halten
müſſe. Der Gedanke daran laſſe ihr Tag und Nacht
keinen Frieden, und ſie bete unabläſſig, daß der
Herr ſie damit verſchonen wolle. — Haben Sie denn
irgend ſchon Anwandlungen in ſich geſpürt? fragte
ich ſie. — Ach nein, verſetzte ſie, es iſt bei mir bis
auf meine kränklichen Umſtände Alles wohl in Ord-
nung, ich weiß, wohin der Hohlſaum gehört und
[275] wohin die Doppelnath. Aber es wird ſo viel von
den Sachen geſprochen, und ſie ſollen hier überall
in der Luft umherſchweben, und wie leicht iſt es
da möglich, daß ſich auch einmal Etwas auf eine
arme Nätherin ſetzt, beſonders wenn ſie viel ſich
draußen aufhalten muß. Es kann Einen anfliegen,
man weiß ſelbſt nicht wie, beſonders wenn man
einen Vater gehabt hat, der nicht viel auf Gottes
Wort hielt. Ich thue daher auch, wenn ich irgend
Muße habe, in der Bibel leſen, um mich zu be-
wahren. Hätte ich nur Geld und an einem andern
Orte Arbeit zu gewärtigen, da reiſt’ ich nach Reut-
lingen zu meiner Baaſ’ und zöge ganz weg aus
der hieſigen Gegend.
Um die Zeit, da die Engbrüſtige mir dieſes
Vertrauen ſchenkte, kam ich eines Tages zum ma-
giſchen Schneider in ſeinen Stall. Er war gerade
nüchtern und ſaß auf dem Stroh emporgerichtet.
Meiſter, ſagte ich zu ihm, wäre es Euch wirklich
ſo gar unmöglich, einmal mehrere Tage hindurch
in der leeren Verfaſſung zu bleiben? — Das heißt
ohne Strich? fragte er. — Ihr trefft meine Mei-
nung, verſetzte ich. — Wenn es um das Himmel-
reich ginge, wollte ich verſuchen, mich zu zwingen,
18*
[276] vorausgeſetzt, daß ich dann geraume Zeit lang
gänzlich zufrieden gelaſſen würde, ſagte er.
Ich ſtellte ihm die Noth vor, worin wir uns
befänden, und daß er allein uns helfen könne.
Sein Ehrgeiz war erregt. Er ſtand auf, konnte
ſich ſo ziemlich auf den Füßen halten, reckte mit
heftiger Gebärde die Fauſt aus und rief: Das
müßt’ ja mit dem Henker zugehen, wenn ich nicht
ſo einen Cujon auftriebe! Ich will’s Zechen ver-
ſchwören, bis wir Einen haben und wiſſen, wo
die Bekehrung anzugreifen ſteht. Für das Him-
melreich kann ich Alles, nur beding’ ich mir aus,
ſo viel unterweilen zu kriegen, als nöthig thut,
die Kräft’ zuſammenzuhalten und in die Säft’ keine
Stockung zu bringen. Gebt mir ein Nößel Alten,
Herr von Münchhauſen.
Ich lief in das Haus, ſagte Kernbeißer’n und
Eſchenmichel’n, daß uns ein Stern der Hoffnung
zu leuchten beginne, man ſolle mich nun aber ganz
allein mit dem Magiſchen ſchaffen laſſen. Dann
brachte ich Letzterem das begehrte Nößel, welches
er auf einen Zug leerte.
Nach dieſem war er ſeiner Kräfte mächtig
worden. Folge mir nun Keiner! rief er; vor der
[277] Hand werde ich Weinſperg abſuchen, und ſehen, ob
ſich hier noch ein unbekannter Dämon verkrochen
hat. — Kernbeißer und Eſchenmichel traten in
den Stall. — Gebt mir Zechgeld mit, rief der ma-
giſche Schneider. Kernbeißer gab ihm einen Gulden
und ſprach: O Dürr, du außerordentlicher Menſch,
beſauf dich aber nicht, und verabſaume darüber
das große Werk, da es denn einmal nach meines
Freundes Willen zu Stand kommen ſoll! Was
denkt Ihr von mir? ſchrie der Magiſche ergrimmt.
Ich ſchwör’, um das Himmelreich an mich zu hal-
ten. Ihr ſeht mich entweder gar nicht, oder mit
einem Dämon wiederkommen. Er wollte gehen.
Eſchenmichel ſchickte ſich an, ihm einen Segen voll
Salbung zu ertheilen. Laßt’s Geſchwätz weg! rief
der magiſche Schneider. Hier braucht’s Fäuſt’,
und keiner Redensarten.
Nach ſeiner Entfernung blieben wir Drei im
Stalle zu innigem Gebete vereiniget für den glück-
lichen Erfolg dieſer Sendung. Ich betete in der
Urſprache, Eſchenmichel miſchte in ſein Gebet einige
Verwünſchungen der Gegner, Kernbeißer ſagte zum
Schluß des ſeinigen: ’S iſt ’ne verwünſchte G’ſchicht’,
daß die ganze Hoffnung der höheren Welt gegen-
[178] wärtig auf einem Schneider beruht! — Dein
Humor, dein unheiliger Humor wird uns zu Grund
richten, fuhr ihn Eſchenmichel an. — Was uns
zu Grund richten wird, lehrt die Folge, verſetzte
Kernbeißer. Ich ſag’s und bleib’ dabei, man muß
nichts übertreiben. Das Zwiſchenreich war in ge-
höriger Ordnung und Verwaltung, nun ſoll es
über die Gebühr angeſtrengt werden; wir wollen
ſehen, was dabei herauskommt und wer zuletzt
das Bad bezahlt.
Schweig! rief Eſchenmichel. Ich ſchweig’ ſchon,
verſetzte Kernbeißer.
[179]
VII.
Grobſchmidt oder Magiſter? — Eine Frage
an Euch, Ihr himmliſchen Mächte.
Drei Tage vergingen, ohne daß wir vom Ma-
giſchen etwas Anderes hörten, als was uns Leute
zubrachten, die hin und wieder von Ungefähr in
das Etabliſſement kamen. Sie erzählten uns, daß
er in alle Löcher und Spelunken krieche, nach kur-
zem Verweilen aber daraus wieder hervorkomme
und zuweilen murre: Es ſitzt nichts d’rin.
Am vierten Tage war er aus Weinsberg ver-
ſchwunden und zu Folge der Ausſage eines Ehinger
Spitzenkrämers, der durch die Stadt hauſiren ging,
nach dem Gebirg wandernd geſehen worden. Wir
mußten nun dem Himmel das Weitere anheimſtel-
len, und ich ſchlenderte häufig durch die Gaſſen
des Städtleins, da ich bei erloſchenem Geiſter-
weſen ſonſt dort nichts zu beginnen wußte.
[280]
Auf einem dieſer Gänge fiel es mir auf, daß
die engbrüſtige Nätherin nicht mehr vor ihrem
Hauſe ſaß. Iſt die Jungfer Schnotterbaum krank?
fragte ich einen Nachbar. O nein, verſetzte der
Mann, aber ſie muß Betrübniß haben, denn wir
hören ſie den ganzen Tag über in ihrer Stube
ſeufzen und mit ſich ſelbſt reden. — Ei, ſagte ich,
da will ich zu ihr gehen und ſie tröſten. — ’S geht
nicht, erwiederte der Nachbar, ſie hält ſich einge-
ſchloſſen und hat ſogar das Schlüſſelloch verſtopft.
In dieſem Augenblicke fuhr die Nätherin von
innen an ihr Fenſter, ſah nach uns mit unheim-
lichen Augen und ſchoß dann wieder in die hin-
terſte Ecke ihres Zimmers. — Der Perſon fehlt
etwas, ſagte ich, man muß doch ſuchen, ihr zu
helfen. — Ich ging in’s Haus. — Jungfer Schnotter-
baum, thun Sie auf, ſagte ich, nachdem ich vergebens
an der Thüre geklinkt hatte. Nein! rief ſie, er
kommt ſonſt mit und ſetzt ſich auf mich. — Wer
denn? fragte ich. — Mein Vater, der Magiſter,
verſetzte ſie. Jetzt kann er nicht hereindringen,
denn Fenſter und Thüren ſind verſchloſſen, und im
Schlüſſelloche ſtickt ein Pfropfen. Aber ſobald ich
nur ein Weniges öffne, kreucht er ein. — Haben
[281] Sie ihn denn geſehen? fragte ich. — Nein, rief
ſie, aber der Dürr hat ihn geſehen. Der garſtige
Balg that, ſo oft er dieſer Tage hier vorbeikam,
nach mir ein gräulich Blicken, daß es mir durch
die Seele fuhr, und geſtern brüllt’ er mich an:
Dir ſteht’s nah’! Wahr dich! — Das, und meine
Angſt zuvor — es iſt gewiß, er geht um und
wird ſich auf mich ſetzen, und dann können die
Geheimniſſe an den Tag kommen, die mich Zeit-
lebens unglücklich machen werden! O du arme
Anna Katharina Schnotterbaum, womit haſt du das
verſchuldet?
Da alle meine Verſuche, Einlaß zu bekommen,
umſonſt waren, wandte ich mich zu dem Nachbarn
zurück, und bat ihn um Aufklärung über dieſe dunklen
Reden. Er verſetzte, er wiſſe nicht, was der Schnei-
der mit der Nätherin vorgenommen habe, übrigens
könne der magiſche Kerl, wie er ihn nannte, den
Menſchen anſchauen, daß ihm Hören und Sehen
vergehe. Es iſt ein Unglück, fuhr dieſer Mann
fort, daß der Polterkram ſich hier etablirt hat.
Man iſt gar nicht mehr ſicher, daß man nicht auch
einen Geiſt in der Familie beſitzt, der bei Gele-
genheit Sachen ausſchwätzt, die nicht vor’s Publicum
[282] gehören. Iſt man einmal begraben, ſo muß die
Sach’ für hienieden vorbei ſeyn, wenn aber darnach
alte Geſchichten herfürgeplappert werden, ſo giebt’s
nichts als Prozeß’ und Unruh’ und Verfeindungen.
Als zum Beiſpiel, ich bin Specereihändler, habe
in meinem Geſchäft den erlaubten kaufmänniſchen
Vortheil genommen. Nun fahren mir aber da drüben
Scrupel in den Sinn, weil man jenſeits nichts zu
thun hat, fange an, zu rumoren im Gewölb und
im Laden, werfe die Käſten durch einander, ſtoße die
Läden am Magazin auf, daß das Salz vom Ein-
regnen feucht wird, errege meinen Erben Beſchwer
und Gewiſſenszweifel — was kommt dabei heraus?
Ich wünſchte wahrhaftig, daß die Regierung ein
Einſehen thäte, und daß durch Höchſte Entſchließung
das geſammte Zwiſchenreich Landes verwieſen würde.
Mir waren dieſe aus der einſeitigen Thätigkeit
des Cerebralſyſtems entſpringenden Plaudereien
ſehr langweilig, ich drang daher in den Nachbar,
mehr von der Schnotterbaum, ihrem Vater und
ihren Geheimniſſen mir zu ſagen, auf welche ſie
auch ſchon bei früheren Geſprächen mit mir ange-
ſpielt hatte. — Ihr Vater, ſagte er, war ein Magi-
ſter, der noch ſeine fuchsrothe Perücke trug, ſie
[283] iſt, daß ich es Ihnen nur entdecke, ein Jungfern-
kind; der Alte hatte ſich mit der Aufwärterin ein-
gelaſſen, da er Präceptor im Stift war. Ein
verwetterter, leichtfertiger Camerad, der ſeine
Schraubereien über Alles hatte und ſelbſt Gottes-
wort nicht verſchonte, weßhalb ihn die Leute für
einen Atheiſten hielten und ihn mieden. Er wurde
auch ſeiner Präceptorſchaft entſetzt wegen des Aerger-
niſſes mit der Aufwärterin und wegen der gottloſen
Reden. Nach dem ſtrich er viel umher, hatte die
Nas’ hier und anderer Orten in jedem Kohl und
ſuchte ſich von ſeinen Schreibereien kümmerlich zu
ernähren. An der Anna Katharina hat er aber
doch rechtſchaffen gehandelt, er nahm ſie auf ſeine
alten Tage zu ſich, daß ſie ihm waſche und koche.
Da ſie aber von Jugend auf ſehr fromm geweſen,
ſo mögen ihr die läſterlichen Reden, die der Alt’
auch noch in ſeinen letzten Jahren nicht laſſen konnte,
eine große Trübſal erſchaffen haben, und dazu kommt,
daß er einige Zeit vor ſeinem Ende in eine große
Unruhe verfallen iſt, wie dieſe ſich immer bei den
böſen Chriſten zu begeben pflegt, wenn der Tod
anfängt, die Senſ’ zu ſchleifen. Er iſt ohne Nacht-
mahl verſtorben. Das Alles hat ſich die Anna
[284] Katharina, ſeine Tochter, zu Gemüth geführt, und
meinte ſie gleich nach ſeinem Abſcheiden, er könne
nicht ſelig geworden ſeyn. Ueberdieß hat er ſie
mit einem Geheimniß belaſtet, und das iſt’s, wor-
auf die Schnotterbaum zielt. Was es iſt, weiß
Niemand aus ihr herauszuholen, ſie ſagt nur, es
ſei der Art, daß kein Menſch ſich deſſen verſehe,
und ganz Schwabenland erſtaunen werde, wenn es
an den Tag komme. Ihr Vater habe den einen
Theil ſeiner Entdeckung auf einer ſeiner Streife-
reien, den andern aber hier zu Weinſperg im
Kernbeißer’ſchen Etabliſſement gemacht. Das Ge-
heimniß ſei auch von ihm niedergeſchrieben worden
in einer verſiegelten Schrift, die er ſein Teſtament
genannt, und die hinterlegt worden, wo? will ſie
oder kann ſie nicht ſagen. Gegen uns war ſie
überhaupt in der letzteren Zeit ſchweigſam gewor-
den, vermuthlich weil ſie die vielen Fragen äng-
ſtigten.
Hier wurden unſere Unterredungen von einem
dritten Manne unterbrochen, der vom Thore herkam
und uns eifrig zurief: Wißt’s was Neues? Wißt’s
was Neues? Ja, wann die Ehinger nicht wären,
Ihr erführt Euer Lebtage hier nichts Neues. Der
[285] Dürr iſt droben in der Teufelsſchmied’ und häm-
mert, als ſollten heut’ noch zwölf Paar Hufeiſen
fertig werden. Und dazwiſchen fährt er grimmig
auf den Geiſt ein, den er auf dem Amboſſe hat.
— Was iſt das, und was bedeutet die Teufels-
ſchmiede? fragte ich. — Eine alte verfallene Schmie-
dewerkſtatt, verſetzte der Nachbar, die ſchon ſeit hun-
dert Jahren wüſt lag, weil Niemand drin arbeiten
mochte. Sie ſagen, dieſe Werkſtatt habe einem
Grobſchmidt zugehört, der in Unthaten hingefahren
ſei. Der Letzte, welcher ſich an die Geſpräche nicht
kehren wollte und das Gemäuer bezog, ſoll einen
ſolchen Schrecken darin bekommen haben, daß er
ſelbſt ſein Schmiedewerkzeug in Stich und darin
ließ.
Nun, dem Himmel ſei Dank, rief ich, jetzt wird
der Magiſche wohl Rath geſchafft haben! Wollt
Ihr mich, meine Freunde, hinauf in die Teufels-
ſchmiede begleiten? — Der Ehinger ſchützte Ver-
hinderung in Spitzengeſchäften vor, der Nachbar
aber erklärte ſich zum Mitgehen bereit. So machten
wir uns auf die Wanderung. Unterweges ſchloſſen
ſich, als ſie hörten, wovon die Rede war, noch
ſechs bis ſieben Straßenjungen uns an.
[286]
Wir ſtiegen bergauf, kamen, nachdem die Reb-
hügel in unſerem Rücken lagen, in eine wilde,
einſame Gegend, wo ſich nach einem beſchwerlichen
Klimmen über Fels und Steingeröll ein Trupp
ärmlicher Hütten zeigte, der ein Dorf hieß. Etwas
abſeitig wies mir mein Begleiter einen Kamp von
Schwarztannen und ſagte, darunter liege die Teu-
felsſchmiede. Unter den Bäumen war es ſehr
finſter, ein dunkler Tümpel ſtehenden Waſſers, der
in der Mitte des Platzes zwiſchen hochaufgewehten
Haufen gelber Tannennadeln ſtockte, ſpiegelte Nichts
zurück, hinter demſelben ſah ich die vier Brand-
mauern eines Gebäudes ragen, aus welchen der
Hals des Schlotes wie ein Zeigefinger emporwies;
denn das Dach war eingeſtürzt. In dieſen Trüm-
mern hörten wir heftige Schläge auf den Amboß.
Wir traten hinein und ſahen den Magiſchen in
voller Arbeit. Er hatte den Rock abgeworfen, die
Hemdärmel zurückgeſtreift und ſchlug mit einem
roſtigen Hammer unaufhörlich auf den Amboß.
Sein Geſicht war von Ruß, der ſich hier herum
noch Stellenweiſe an den Wänden erhalten hatte,
geſchwärzt, aus dieſer Finſterniß brannten ſeine
rothen Augen, die weit aufgeriſſen, ihm wild im
[287] Kopfe rollten, die dürren Glieder flogen während
des Hämmerns wie die Theile des Kinderſpiel-
zeuges, welches Hampelmann genannt wird. Unſere
Begleiter, die Jungen, lachten, als ſie ihn ſahen,
der Nachbar nannte den Anblick ſcheußlich, ich fand
ihn erhaben.
Zwiſchen dem Hämmern rief er jezuweilen:
Biſt endlich mürb, du Mordgeiſt? — Anfangs ſah
er uns, in ſeine Arbeit vertieft, gar nicht, als
er uns aber erblickte, ließ er den Hammer ſinken
und ſagte: Nun haſt’u genug, nun biſt’u zahm!
Wie ſehr im Irrthum waret Ihr, Herr von Münch-
hauſen, mir von meiner gewohnten Lebensweiſe
abzurathen! In jener elendigen Nüchternheit konn-
ten meine abgeſchwächten Kräfte durchaus keinen
Geiſt entdecken, ſobald ich mich aber, wie geſtern
Abend geſchah, einmal wieder tapfer anfüllte, war
auch meine Begabung in ihrem vollen Flor wieder
beiſammen. Ich weiß nicht, wie ich in dieſe wüſte
Gegend, und zwiſchen dieſe Trümmer gerathen bin,
außer, daß es mir wahrſcheinlich iſt, durch über-
natürliche Führung hinein befördert zu ſeyn. Heute
in der Frühe nun, ſobald ich die Augen aufſchlug,
ſtand er vor mir dort an der Eſſe, ruſſig, das
[288] Schurzfell vorgebunden, wollte grob ſeyn, fragte,
was ich in ſeiner Schmiede thät’, ich ſollte mich
’naus ſcheeren —
Wer? fragten wir Alle.
Wer? Wer ſonſt, als der Grobſchmidt, der hier
umgehen thut? — Aber ich nahm ihn wacker zu-
ſammen, ſagt’, ob er nicht wiß’, daß ich der Dürr
ſei? ſchmiß ihn auf ſeinen eigenen Amboß, und
arbeitet’ ihm mit dem Hammer ſo lange auf die
luftigen Knochen los, bis er klein beigab, zu win-
ſeln begann, mir ſeine verborgene Miſſethat be-
kannte und auch ſchon einige Luſt, erlöſet zu werden,
ſpüren läßt. Nur ſei hier der rechte Ort nicht,
den Heilsweg zu betreten, es ſei hier oben zu
einſam, er müſſe mehr unter Menſchen, ſagte er.
Wo iſt er? fragten die Straßenjungen. Ich
will ihn Euch zeigen, rief der Magiſche, packte den
größten Jungen bei den Haaren, ſtieß ihn mit der
Naſe auf den Amboß und rief: Siehſt ihn nun?
Ja, ja, ſchrie der Knabe, dem das Blut aus
der Naſe drang, ich ſehe ihn. Die andern Jungen
verſicherten zitternd, ſie ſähen ihn ebenfalls, ich hatte
ihn von Anfang an geſehen, ſobald der Magiſche
ihn nur genannt hatte, ob der Nachbar ihn geſehen,
[289] weiß ich nicht. — Mit der Naſ’ muß man dieſe
ahitophelſchen, antichriſtiſchen Zeiten auf die Geiſter
ſtoßen, ſonſt ſind ſie blind bei ſehenden Augen!
rief der Magiſche.
Er horchte nach dem Amboſſe hin, rief dann:
Willſt wandern und dir Quartier ſuchen? Wohl,
voran! Sa ſa, nur voran! Immer voran! Darin
muß man Euch freie Hand laſſen. — Er ſchritt,
die Glieder ekſtatiſch reckend und ſchüttelnd, zur
Trümmerſchmiede hinaus, mit ſtarren Blicken dem
Grobſchmidt folgend, der durch die Lüfte voranflog.
Es war ſo dunkel geworden, daß man keine Hand
vor Augen ſehen konnte, dennoch erblickte ich ihn
ganz deutlich, als ich mit der Stirn gegen einen
Baum fuhr, denn da ſprühten die hellen Schmiede-
funken mir vor dem Geſicht umher.
Es ging immer bergunter nach Weinsberg zu,
die Jungen waren vorangeſprungen, die Erſten der
Glaubigen. Wegen der Finſterniß waren zum Glück
nicht viele Leute mehr auf den Straßen, ſonſt hätte
es gewiß einen Auflauf gegeben. Unweit des
Hauſes der Nätherin rief der magiſche Schneider
überlaut: Aha! Schlupfſt da hinein? ſprang in
das Haus, ſprengte mit einem heftigen Fußtritte
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 19
[290] die Thüre und war ſchon in Zeichen und Wundern
mitten inne, als ich etwas ſpäter die Stube be-
trat. Der Nachbar hatte ſich voll Furcht und
Zittern entfernt.
Die Schnotterbaum lag an der Erde, verdrehte
ihren Körper, ächzte und ſtöhnte. Der Magiſche
kniete über ihr, hielt ihr die Fauſt geballt vor den
Mund und polterte: Hab’ ich’s Euch nicht ange-
ſagt? Iſt er nicht eben in Euch hineingefahren?
— Ach wohl, winſelte die Nätherin, es mußte ja
ſo kommen! Als Ihr die Thüre ſprengtet, fuhr er
mir wie ein kuhler Wind in den offenen Mund.
Thut mir die Gnade, und befreiet mich von ihm,
er ſtößt mir faſt das Herz ab.
Das werde ich wohl bleiben laſſen, verſetzte der
Magiſche, es iſt mir ſauer genug geworden, den
Hund für die beiden Herren zu erwiſchen, nun ſoll
er ſich erſt in Euch zum Glauben bekehren.
Das thue ich mein Tage nicht, rief der Dämon
aus der Schnotterbaum, ich bin ein gottloſer Ma-
giſter, und ein ſolcher will ich leben und ſterben!
Dieſe Antwort ſetzte mich in das größte Er-
ſtaunen. Meiſter, ſagte ich zum Schneider, iſt uns
denn etwa der Grobſchmidt unterweges abhänden
[291] gekommen? Dieſe Jungfer Schnotterbaum ſcheint
anſtatt ſeiner ihren verſtorbenen Herrn Vater zur
Einquartierung empfangen zu haben.
Nichts als Winkelzüg’! rief der Magiſche. Sol-
che Höllenbrut wechſelt in einem Augenblicke ſechs-
zigmal die Farb’, um nur ein Schnippchen zu
ſchlagen. Ein Grobſchmidt und kein Magiſter ſitzet
und wohnet in der Schnotterbaum, und zwar’n
der Grobſchmidt oben aus der Teufelsſchmiede, der
ſeinen Knecht mit dem Hammer erſchlagen und dann
in den grundloſen Tümpel geſtürzt hat, allwo ſeine
Knochen noch tief unter Schlamm und Moder liegen.
Weinend und ſchluchzend ſagte die Nätherin:
O Gott, muß ich einen ſo furchtbarlichen Geiſt in
mir beherbergen? Ich glaubte zum wenigſten, mit
meinem ſeligen Herrn Vater davon zu kommen. —
Ja, Jungfer, ſprach der Schneider und half ihr
vom Boden auf, dawider hilft nun nichts. Wem
ein Dämon beſchieden iſt, der bekommt ihn. Uebri-
gens werdet Ihr wohl einſehen, daß fortan Eure
Stelle nur in dem Etabliſſement der Herren
Doctoren Kernbeißer und Eſchenmichel ſeyn kann.
Traurig und erſchöpft antwortete die Schnot-
terbaum: Dem iſt ſo. Die Schickungen müſſen
19*
[292] nun ihren Gang gehen. — Sie packte ein Bündel-
chen Wäſche zuſammen und gab ihrem Hänfling
Futter auf acht Tage. Dann legte ſie ihre Näh-
ſachen in ſaubergefaltete Packete, reichte dieſe einem
Jungen und hieß ihm, ſie den Leuten zurückzubrin-
gen, mit der Beſtellung, ſie könne nicht mehr ar-
beiten, denn ſie habe einen Dämon im Leibe.
Während dieſer kleinen Beſchäftigungen kamen
Kernbeißer und Eſchenmichel, denen ſchon etwas
angeſagt worden war. Dürr, welcher, als die bei-
den Doctoren eintraten, mitten in der Stube
ſtand, ſagte groß und ruhig, wie Falſtaff, als er
den Percy bringt: Da habt Ihr den Dämon!
Wir führten die Schnotterbaum im Triumph
nach dem Etabliſſement und gaben ihr ein kleines
Familienfeſt aus dem Stegereif. Dürr ging oder
taumelte vielmehr bald nach ſeinem Stalle, worin
er ein für allemal ſeine Wohnung aufgeſchlagen
hatte, der außerordentliche Menſch. Kernbeißer
ließ zur Ehre der Magie den Stall mit bunten
Lampen erleuchten.
Sehr glücklich ſanken wir Alle auf unſer Lager.
Wir glaubten über alle Berge zu ſeyn. Eſchen-
michel ſtand nur in Zweifel, ob er den Dämon
[293] katholiſch oder evangeliſch machen ſolle. Die
Schnotterbaum lag die Nacht durch in wüthenden
Krämpfen, was uns weiter nichts anging, denn
wir hatten es nicht mit ihr, ſondern mit ihrem
Miethsmanne.
Die folgenden Tage und Wochen waren freilich
ſtürmiſch, und wir ſahen, daß wir noch nicht ein-
mal die Vorhügel des Berges, geſchweige den
Berg erſtiegen hatten. Der magiſche Schneider
blieb dabei, daß der Grobſchmidt aus der Teufels-
ſchmiede in die Schnotterbaum gefahren ſei, und
kämpfte wie ein Held für dieſe Wahrheit, die er,
ſo oft er nüchtern war, dem Dämon unter fürch-
terlichen Bedräuungen in das Antlitz ſagte, oder
vielmehr in den Mund der Beſeſſenen hinein. Da-
gegen verſicherte der Dämon, er ſei kein Grob-
ſchmidt, ſondern ein Magiſter, habe keinen Knecht
mit dem Hammer erſchlagen, ſondern nur über
dies und das frei gedacht.
Es war wohl das erſtemal, daß das Zwi-
ſchenreich ſo mit ſich ſelbſt in Conflict gerieth.
Denn Einer von Beiden konnte doch nur Recht
haben, der Seher Dürr, oder der Dämon. Die
Schnotterbaum verhielt ſich dabei leidend. Sie
[294] pflegte zu ſagen: Ich bin dermaßen herunter, daß
mir’s gleich iſt, wen ich in mir trage, den Grob-
ſchmidt oder den Magiſter, meinen Vater. Iſt’s
der Letztere, dann haben ſich die Herren eine
Ruthe gebunden, als ſie mich in’s Haus nahmen,
denn der Magiſter wird eine Bosheit auslaufen
laſſen, von welcher ihnen nichts träumet.
[295]
VIII.
Der Geiſt eines Grobſchmidts mit den Er-
innerungen eines Magiſters.
Endlich nach unabläſſiger Bedräuung, vielem
und oftmaligem Anſchreien, Beſchwören in dem
Idiome der inneren oder Urſprache, ſchrecklichem
Gebärden und Einwirken durch Augenrollen brachte
es der magiſche Schneider dahin, daß der Dämon
in ſich ſchlug und anfing der Wahrheit, wenn auch
noch nicht Gotte die Ehre zu geben.
Eſchenmichel hatte dazu durch fleißige Vorhal-
tungen in ſeiner logiſch-ſcharfen Manier wacker mit-
geholfen. So zum Beiſpiel ſagte er eines Tages
zum Dämon: Wenn wir ſehen, daß du ein Grob-
ſchmidt biſt, ſo kannſt du doch kein Magiſter ſeyn,
begreifſt du das nicht, Verworfener? — Dämon
wurde dazumal ganz ſtill und ſchämte ſich vermuth-
lich ſeiner Dummheit.
[296]
Am vierzehnten September Abends ſieben Uhr
erfolgte die erſte offene Beichte. Das Leibliche
der Jungfer Schnotterbaum lag damals, von den
unaufhörlichen Krämpfen und Anſpannungen be-
ſtürmt, faſt im Zuſtande der Auflöſung. Der
Dämon aber ſprach aus ihr, zwar mit ſchwacher
jedoch mit vernehmlicher Stimme, ja, er wolle es
nur geſtehen, er ſei der Grobſchmidt Bumpfinger
aus der Teufelsſchmiede und nicht der Magiſter
Schnotterbaum, von Hall bürtig. Geſtand hier-
auf auch Alles ein, was wir bereits von ihm
wußten.
Die folgenden Tage wurden nun verwendet, den
Dämon in ſeiner wahren Geſtalt recht feſt werden
zu laſſen. Denn, ſagte Dürr, ſchlägt er wieder in
den Magiſter zurück, ſo geht die Arbeit von vorn
an. Er mußte deßhalb wohl zwanzigmal ſeine
Grobſchmidtsgeſchichte vom ermordeten Knecht wie-
derholen, dergeſtalt, daß die Schnotterbaum von
dieſen Anſtrengungen ungeduldig wurde und einſt-
mals ausrief: Liebe Herren, laßt es nun gut
ſeyn, er hat es ja ſchon ſo oft dargelegt, und im
Uebrigen wird er doch nicht mehr ſagen, als ihm
mein Vater eingiebt.
[297]
Dieſe Rede klang dunkel, wir ſollten aber bald
die Aufklärung empfangen. Denn nächſter Tages
wurde auf Eſchenmichels Antreiben ein ſcharfes
Verhör mit dem Dämon erhoben, deſſen Zweck
dahin ging, allerhand nähere Auskünfte über hölli-
ſche Dinge und über Eigenthümlichkeiten des Zwi-
ſchenreichs zu erlangen. Ich will die Hauptfragen
und die darauf gegebenen Antworten hieher ver-
zeichnen.
Wie biſt du in das Zwiſchenreich gelangt?
Wie man vom Fleck kommt. Guckt’ erſt ein
wenig in die Höll’, konnten mich aber da nicht
brauchen, weil ich nicht an ſie glaubt’, die Höll’
überhaupt dummes Zeug iſt.
Dummes Zeug?
Ja, dummes Zeug.
Wie ſieht die Höll’ aus?
Sie ſieht gar nicht aus.
[298]
Gar nicht aus?
Nein, gar nicht aus.
Hier machte das Verhör eine Pauſe. Wir
ſahen einander voll Erſtaunen an. Kernbeißer rief:
All mein Lebtage macht Ihr dieſen Dämon nicht
zu einem regelmäßigen und aufrichtigen Grob-
ſchmidt! Kein Grobſchmidt wird ſagen, die Hölle
ſei dummes Zeug und ſehe gar nicht aus. Für
ſolche Zweifel handthiert er ſelbſt zu viel im Feuer.
— Nur ſtill, ſagte Eſchenmichel, man muß nicht
verzagen. — Das Verhör nahm folgendermaßen
ſeinen Fortgang.
Haſt’u was vom Teufel erfahren?
O ja, die ganze Wahrheit.
Wie ſieht der Teufel aus?
Er hat auch kein Ausſehen nit.
Wie denn ſo?
[299]
Er iſt auch nix. Er iſt auch dummes Zeug.
Biſt’u denn kein Grobſchmidt nit?
Ach wohl bin ich der, aber von Höll’ und
Teufel denk’ ich juſt wie der Magiſter Schnotter-
baum.
’S iſt klar! ’S iſt klar! rief Kernbeißer, der
Grobſchmidt kann ſich von den Erinnerungen, Ge-
danken und Zweifeln des Magiſters noch nicht los-
reißen! — Dürr fluchte und wetterte, daß man
die Nücken des Zwiſchenreiches nie auslerne. —
Das iſt ja eben das Erhabene und Göttliche,
ſprach Eſchenmichel mit Salbung, daß in dieſem
Gebiete ſich immer tiefere Tiefen austiefen, und
unter dem Abgrunde der Abgrund gründet. Aller
Wahrſcheinlichkeit nach ſind zu gleicher Zeit zwei
Geiſter in die Schnotterbaum gefahren, der Grob-
ſchmidt und der Magiſter; dieſe haben ſich nun in
ihr unauflöslich mit einander verwickelt und ver-
ſchlungen und verknotiget, ſo daß man nicht mehr
weiß, wo der Schmidt anfängt und der Magiſter
[300] aufhört. Demnach tritt denn der großen und merk-
würdigen Erfahrung, die wir an dem halben Kinds-
geiſte haben, diejenige nicht kleinere und un-
merkwürdigere Thatſache ſymmetriſch entgegen,
welche wir hier erleben, nämlich, daß im Zwiſchen-
reiche auch eine völlige Confuſion der Geiſter mög-
lich iſt.
Nach dieſer tiefſinnigen Bemerkung bat ich um
die Erlaubniß, allein mit der Schnotterbaum reden
zu dürfen, welche mir auch gegeben wurde, da
Niemand Luſt bezeigte, das Verhör jetzt fortzu-
ſetzen, und der Dämon daher, ſeines Zwanges ent-
ledigt, aus dem Halſe wieder in die Magengegend
hinabſank, wie unſere Kranke ſagte. Als die An-
dern das Zimmer verlaſſen hatten, befragte ich ſie,
ob ſie mir nicht den wunderbaren Vorgang erklären
könne. Ach, verſetzte ſie weinend, ich lebe in
großer Qual. Ich werde von Tag zu Tag ſchwä-
cher, und ſehne mich inbrünſtig nach meiner Näh-
ſtub’, und nach meinem ſonnigen Platz unter den
Rebſtöcken, da meine ich, würde mir gleich wieder
wohl werden bei Hohlſaum und Doppelnath. Nun
weiß ich freilich wohl, denn die Herren und der
Dürr ſagen es mir ja täglich, daß dieſes ſchwache
[301] und ſündliche Gedanken ſind. Wer einmal ein
Gefäß der Wunder iſt, muß aushalten, und ſo
will ich denn auch, ich armer, elendiger Menſch.
Ich denk’ den ganzen Tag über an die Gott-
loſigkeiten (der Himmel verzeihe mir, daß ich ſo
ſprechen muß!) meines ſeligen Herren Vaters, und
da ich ein ſehr gutes Gedächtniß von jeher gehabt,
und daher nichts vergeſſen habe, was mir von
demſelben zu Ohren gekommen iſt an läſterlich-
leichtfertigen Sachen über Bibel und Chriſtenthum,
ſo drängt ſich das Alles nun jetzt zu Hauf in mir
empor, und die Sachen werden laut in mir, die
ich ſo ſehr verabſcheue. Und da der Grobſchmidt,
den ich bei mir führen ſoll, von nichts weiter in
mir hört, als von dieſen Magiſterſünden, ſo mag
es wohl daher kommen, daß in den ſchrecklichen
Abendſtunden, wo der Dürr und die beiden Herren
ihr ſchweres Werk mit mir beginnen, wo ich zwi-
ſchen Beten, Singen, Ausfragen, Fauſtdrohen, An-
ſchnarchen und Anbrällen nicht weiß, wo mir der
Kopf ſteht, wo es mir grün und gelb vor den
Augen wird, meine Sinne ſich verwirren und ich
wie im hitzigen Fieber rede —
Wie? Jungfer Schnotterbaum?
[302]
Ach, ich bitte Sie, mir das unbedachte Wort
nicht übel zu nehmen und es ja nicht den andern
Herren zu verrathen. Nein, ich wollte vielmehr
ſagen, wo, während ich im hitzigen Fieber liege,
das Ding in mir zu reden anfängt, daß dann, ſage
ich, der Grobſchmidt auch nur Magiſterſachen zu
ſagen weiß, und der Affe des Magiſters iſt. Eine
andere Erklärung kann ich Ihnen nicht geben. —
Was war damit erklärt? Die Auslegung er-
ſchien doch gar zu dürftig. Und ſo blieb dieſes
große Räthſel der Geiſterwelt ungeloſt.
Wurde ſogar mit jedem Tage dunkler. Be-
fragten wir nämlich den Grobſchmidtsdämon, ob
er ſich der Vorfälle aus ſeinem Erdenleben wohl
noch erinnere, ſo antwortete er: O ja, er wiſſe
die Stunde noch ganz genau, da er im Stift zum
erſtenmale lateiniſche Stunde gegeben. Erkundigte
man ſich, was ihm in gegenwärtiger Zurückgezogen-
heit am leideſten thue? verſetzte er, daß er ſeinen
Juvenal nicht bei ſich habe.
[303]
IX.
Thatſache: Die Erlöſung eines Dämons
hängt von tauſend Zufälligkeiten ab.
Obiger Satz iſt aus Eſchenmichel’s Diario ab-
geſchrieben, der gleich mir ſeit dem erſten Tage
dieſer magiſchen Behandlung genau Buch führte.
Wir hatten uns in die Schriftverfaſſung getheilt.
Ich brachte die hiſtoriſchen Thatumſtände zu Papier,
und er zog aus denſelben die übernatürlichen Fol-
gerungen. Nun merket das neue Wunder! Ohne
daß wir vor dem Schreiben uns beſprachen, paßte
jederzeit ſeine Folgerung auf mein Factiſches wie
ein Handſchuh auf den Andern. Daraus iſt zu
ſchließen, daß Diejenigen, welche von der höheren
Welt berichten, unter dem Flügelſchlage der Inſpi-
ration ſchreiben, erhaben über alle Kritik.
Eſchenmichel ſagte am dreißigſten October:
Laßt uns, da mit dieſem halbſchlächtigen Geiſte
ſonſt nichts zu beginnen iſt, jetzunder an ſeine
[304] Bekehrung gehen. Kernbeißer entgegnete: Wollteſt
du, Bruder, mich nicht lieber die Schnotterbaum
curiren laſſen? die Perſon verfällt ſichtlich. — Nein,
rief Eſchenmichel, auf den Dämon kommt es an,
nicht auf die Schnotterbaum!
Am folgenden Tage, den erſten November ſpuckte
der magiſche Schneider in ſeine Hände, wie er zu
thun pflegte, wenn er Schwieriges vorhatte, und
nachdem er durch kräftige Formeln den Dämon
von der Magengegend in den Hals hinaufgebracht,
redete er ihm in’s Gewiſſen, ſagte ihm, er ſolle
ſich ſchämen, ob ihm nicht das lauſige, lumpichte
Zwiſchenreich zum Verdruß ſei? ſchilderte ihm die
himmliſchen Freuden, malte dieſe mit Paſtoral-
klugheit etwas doppelfarbig, ſo daß ſie den Grob-
ſchmidt wie den Magiſter anziehen konnten, ſagte
unter Anderem, da droben bleibe das Eiſen immer
warm, was geſchmiedet werden ſolle, und für jede
lateiniſche Stunde gebe es drei Kreuzer mehr, als
auf Erden, ſprach endlich geradezu davon, daß hier
nicht gefackelt werden dürfe, ſondern der Dämon
ſich erlöſen laſſen müſſe.
Auf dieſe Bußpredigt war Dämon anfangs ſehr
grob. Sagte, wir ſollten uns Alle packen, wir
[305] beſäßen nicht ſo viel Verſtand im ganzen Leibe,
wie er im kleinen Finger. Was uns ſein Heil
angehe? Er ſei mit dem Quartier in der Schnot-
terbaum zufrieden. Glaubt Ihr auch in den Him-
mel zu kommen? fragte er. — Ja, riefen wir
einhällig. — Nun, dann iſt das ſchon ein hin-
reichender Grund für mich, haußen zu bleiben,
verſetzte er. Denn ſolche Tröpfe, wie Ihr ſeid,
würden mir die ewige Seeligkeit verleiden. Be-
kümmert Euch um Eure Siebenſachen, laßt mich
ungeſchoren, ich will platterdings nicht erlöſt ſeyn.
Er fügte noch allerhand Spöttereien hinzu, die
ich nicht nachſchreiben mag. Aber ſie waren wirklich,
cerebraliter genommen, das Geſcheidteſte, was
hier ſeit Monaten ſich laut gemacht hatte. Eſchen-
michel, Kernbeißer und ich konnten dagegen nichts
aufbringen, hüllten uns folglich ſchweigend in unſer
höheres Bewußtſeyn. Aber der Schneider war der
Mann nicht, ſich von einem tückiſchen Geiſte ein-
ſchüchtern zu laſſen. Zeigte ſich der Dämon grob,
ſo wurde der Schneider gröber, auf ein Schimpf-
wort hatte dieſer zehn ſtärkere, und mit Gründen,
die der Dämon hinterliſtigerweiſe brauchen wollte,
ließ er ſich gar nicht ein; er ſagte nur, wenn ſolche
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 20
[306] Sophismen ſich in die Unterredung einſchleichen
wollten mit donnerndem Ton: Halt’s Maul!
Nachdem Schneider und Dämon einander wohl
eine Stunde lang wie die Rohrſperlinge ausge-
ſchimpft hatten, wurde der Dämon wirklich klein-
laut und brummte: Der Vernünftigſte giebt nach.
Mit ſolchem verwetterten Bügeleiſen iſt ja gar nicht
auszukommen. Gut, ich will mich erlöſen laſſen,
aber wie ſoll ich’s anfangen? Ich hab’ ja keine
Händ’ und Füß’, etwas Gutes zu ſchaffen. — Du
dummer Dämon! rief der Magiſche, was braucht’s
da Händ’ und Füß’? Du wirſt erlöſt, damit gut.
— Nur nicht immer ſo ungeſchliffen! erwiederte
der Dämon. Ihr könnt doch mit Geiſtern manier-
lich umgehen, beſonders wenn man in einer Frauens-
perſon ſitzt.
Siehſt’u deinen guten Engel neben dir ſtehen?
fuhr ihn der Schneider an, da ein Lichtſtrahl durch
das dunkle Zimmer ſchoß. Nachher hörten wir,
der Knecht ſei zur nämlichen Zeit unten mit der
Stalllaterne über den Hof gegangen. Wie wun-
derbar, daß der himmliſche Bote gerade dieſen na-
türlichen Vorfall wählte, ſeine Erſcheinung ein-
dringlicher zu machen! — Ich ſeh’ Alles, was
[307] Ihr ſeht; Ihr habt mich ſchon faſt eben ſo ver-
ſtutzt und verdutzt gemacht, wie die Schnotter-
baum, antwortete der Dämon auf die Frage des
Schneiders.
Letzterer fragte den Dämon, wie der Engel
ausſehe? und erhielt zum Beſcheide: So, wie ein
Engel ſich trägt; ein Habit, weiß, von Neſſel,
blaue Flügel mit Gold verbrämt. — Dämon gab
dieſe und mehrere dergleichen Nachrichten mit mur-
render, unwilliger Stimme; offenbar beläſtigte ihn
der himmliſche Geſchäftsträger. Im Verlaufe der
deßfalls gepflogenen Unterredungen ſagte er ein-
mal: ’S iſt doch grauſam, daß ich nun noch gar
einen Engel auf den Pelz krieg’, da ich nimmer
an Engel geglaubt habe! — Hier aber brachte
ihm Kernbeißer, der ſich ſonſt in der ganzen Sache
als handelnde Perſon zweiten Ranges darſtellte,
einen Kernſchuß bei. Er warf ihm nämlich raſch
ein, daß Dämon ſeiner Denkungsart zu Folge ja
auch nicht an ein Leben nach dem Tode geglaubt
haben könne, und nun ſtecke er doch ſelbſt mit Haut
und Haar mitten drin. — Dieſer Grund traf den
Dämon, machte ihn zahm, und von jetzt an ließ
er den Engel über ſich ergehen.
20*
[308]
Letzterer wurde nun beauftragt, ſich gehörigen
Orts zu erkundigen, wann die Erlöſung des Grob-
ſchmidt-Magiſters zu gewärtigen ſtehe? Er ver-
ſprach, gleich dieſerhalb abzureiſen, und, da die
Wege noch ſo ziemlich ſeien, nach dreien Tagen
Abends ſieben Uhr wieder einzutreffen mit hoffent-
lich günſtiger Reſolution.
Die drei Tage gingen in ſtiller Erwartung hin.
Der Engel bildete, das begriff Jeder, eine neue
Kataſtrophe in dieſem Wunderdrama. Eſchenmichel
ſchlug Alles nach, was er in der Kabbala, bei den
Gnoſtikern und bei Emanuel von Swedenborg
über Engel finden konnte, Kernbeißer ſah mit thrä-
nenden Blicken in die Wolken und dichtete ſchöne
Lieder, in deren Einem er den ſeelenvollen Aus-
druck eines Kalbsauges pries. Die Schnotterbaum,
welche kaum noch vom Lager aufzuſtehen vermochte,
zupfte ſtill an der Bettdecke, ſchaute ſeltſam vor
ſich hin, und ich hörte ſie zuweilen wie unwillkühr-
lich ſagen: Was der Dämon verſchwieg, der Engel
bringt’s an Tag.
Wer aber am dritten Tage Abends ſieben Uhr
ausblieb, war der Engel. Dämon kam, wie ge-
wöhnlich, folgſam aus der Magengegend herauf-
[309] geſtiegen, wußte auf Befragen nicht das Mindeſte
über den Ausgebliebenen zu vermelden, hielt ſich
etwas kurz und faſt ſpöttiſch in ſeinen Antworten
und äußerte, da ſehe man, daß auf ſolche Leute
kein Verlaß ſei. — Der Magiſche ergoß hierauf
einen Regen von Fluch-, Beſchwörungs- und
Schimpfworten über den Nichterſcheinenden, in der
Meinung, ihn dadurch herbeizuzwingen. Es war
aber Alles vergebens. Bis nach Mitternacht wurde
jegliche thaumaturgiſche Kunſt fruchtlos angewendet;
der nichtsnutzige Dämon lachte und ſchrie unauf-
hörlich: Ich bleib’ unerlöſt! Ich bleib’ unerlöſt!
Juchheiraſſaſa! Juchheiraſſaſa! — Endlich wurde
die Schnotterbaum von dieſen Dingen ſchwach und
drohte, für todt liegen zu bleiben. Da fing Kern-
beißer des Magiſchen aufgehobenen Arm, welcher
ſchon wieder eine Himmelszwangsgebärde ausführen
wollte und rief: Du biſt zu heftig, du außer-
ordentlicher Menſch; deine Gaben und Kräfte ſind
für die verworfenen Geiſter eingerichtet, aber dieſe
ſüßen, ſeligen, roſigen Flügelknaben wollen mit
Zartheit behandelt ſeyn. Deßhalb iſt mein Vor-
ſchlag: Du behältſt den Dämon, und überläßeſt
mir und meinem Bruder Eſchenmichel, der mich
[310] mit ſeinen Kenntniſſen unterſtützen wird, den
Engel.
Dieſe Geſchäftseintheilung fand den Beifall des
Magiſchen und wurde auch ſogleich ausgeführt.
Kernbeißer ſetzte ſich vor die Beſeſſene hin und
ſang mit ſanfter Stimme:
Die Kranke ſchluchzte, und der Engel war ſo-
gleich da. Er entſchuldigte ſein ſpätes Erſcheinen
und ſagte, ſein allzugroßer Eifer trage die Schuld.
[311] Er ſei nämlich, wie eine in unaufhaltſamem Fluge
begriffene Kugel über das Ziel, den himmliſchen
Raum, hinausgeſchoſſen immer weiter und weiter
in das ſogenannte große Nichts, habe freilich,
ſobald er des Irrthums inne geworden ſei, Kehrt
gemacht, indeſſen doch durch ſeinen übermäßigen
Schuß Zeit und Weg verloren. Was die Erlöſung
betreffe, ſo werde dieſe am dreizehnten December
Schlag acht Uhr erfolgen. — Engel empfahl ſich darauf.
Dämon lachte und ſagte: Wenn ich am dreizehnten
December erlöſet werde, ſo will ich Hans heißen.
Ich habe noch etwas auf dem Herzen und ehe das
nicht herunter iſt, kein Gedanke an Erlöſung.
Was haſt du auf dem Herzen? fragte Kern-
beißer. Herr, fraget nicht danach, antwortete der
Dämon, es iſt ein verfängliches Ding, Keinem
nütz, Zweien zu großem Schaden! Eſchenmichel
wurde verlegen und bat Kernbeißer’n, von weite-
rem Eindringen abzuſtehen, man müſſe auch gegen
Dämonen discret ſeyn. Nein, ſagte Kernbeißer,
wenn er etwas auf dem Herzen hat, da wird nicht
eher Ruhe, als bis es herunter iſt.
Ach, der Dämon hatte wohl Recht gehabt!
Am dreizehnten December Abends acht Uhr keine
[312] Erlöſung! Er kam bis auf die Lippen, da fiel ihm
auf einmal wieder ein blasphemiſcher Gedanke ein,
und alſobald rutſchte er auch wieder hinunter, ſo
daß ein Jeder von uns das Geräuſch hörte. Es
war, wie wenn ein Sack auf den Fußboden fiel.
Der magiſche Schneider rief: Sein guter Engel
muß es doch aber wiſſen, muß auch den blasphe-
miſchen Gedanken vorherſehen, wie darf er denn
die Leut’ ſo anführen? Der Engel, durch Kern-
beißer’s ſanften Geſang berufen, kam, bat um Ver-
gebung, er müſſe ſich im Datum geirrt haben, es
ſei droben gar zu viel zu thun, und ſetzte nun den
Termin der Erlöſung auf den fünften Januar,
dann, als auch dieſer fruchtlos verſtrich, auf den
dritten Februar, und ſo, bei immer wiederkehren-
den Fehlſchlagungen der Erlöſung nach einander
auf ſechs verſchiedene Tage in den Monaten März,
April, Mai.
Der Dämon blieb feſt in der Schnotterbaum
ſitzen, die nun ſchon Anfälle von Bewußtloſigkeiten
hatte. Ja, was iſt das? ſagte Eſchenmichel, wir
müſſen denn doch den Engel darüber ernſthaft zur
Rede ſtellen. — Wie kannſt’u uns ſo oft täuſchen?
fragte Kernbeißer ſanft und freundlich den Engel.
[313] — Dieſer erwiederte mit holder, ſüßer Stimme
aus der Schnotterbaum auf Engliſch, d. h. in der
Engelsſprache nichts weiter als: Pöpöbelö.
Es war das erſtemal, daß er ſich dieſes Idioms
bediente; vorher hatte er immer deutſch mit uns
geſprochen. Kernbeißer und Eſchenmichel mühten
ſich vergebens um den Sinn jenes Wortes ab.
Da überkam mich plötzlich die Inſpiration und ich
verdeutſchte ihnen „Pöpöbelö“ folgendermaßen:
Meine Herren, ich kann fürwahr nicht dafür, daß
ſo viel Irrthum in dieſer Geſchichte vorgeht. Die
Erlöſung eines Dämons hängt von tauſend Zu-
fälligkeiten ab, die ſich nicht berechnen laſſen. Seit
Sie das Zwiſchenreich ſo ſehr in Erregung gebracht
haben, und aller Orten und Enden die höhere
Welt in die niedere hereinragt, kann man ſich auf
nichts mehr verlaſſen, und alle Naturgeſetze ſind
durchlöchert. Die ganze Atmosphäre iſt voll von
Wirkungen in die Ferne und Blicken in die Weite,
Luft und Licht wiſſen nicht mehr, wo aus oder
ein? die Schwere hat ſich auf den Fuß der Leich-
tigkeit geſetzt und die Materie iſt unter die Huſa-
ren gegangen. Centripetal- und Centrifugalkraft
ſpielen mit einander Kämmerchen vermiethen, die
[314] Farben klingen und die Töne leuchten, der Ner-
vengeiſt aber fließt wie eine große Brühe überall
umher. In einer ſo durcheinander geworfenen Na-
tur hält kein Element mehr Stich. Der Dämon
beſitzt alſo gar kein ſicheres Transportmittel mehr
zu ſeiner Beförderung, dazu rappelt es, rutſcht es,
quietſcht es ihm beſtändig vor ſeinen Augen von
andern Poltergeiſtern, ſo geräth er denn in Aerger,
wird in ſeinem Aerger wieder gottlos, und die
Vorſehung ſelbſt kann an ihm ihr Exempel nicht
löſen.
Nach dieſer meiner Rede in gutem Deutſch
blieben die beiden Thaumaturgen lange ſtumm,
ernſten Betrachtungen hingegeben. Engel hatte
ſich gleich nach dem „Pöpöbelö“ entfernt. Endlich
ſagte Eſchenmichel: So könnte es alſo dahin kom-
men, daß die Magie ſich ſelbſt aufhöbe. — Thun
wir nicht beſſer, innezuhalten und die Sache bei
dem Bisherigen bewenden zu laſſen?
Nein vorwärts! rief der Schneider. Vorwärts!
wiederholte Kernbeißer, der mit Eſchenmichel die
Rolle getauſcht zu haben ſchien und ſeit dem Ein-
greifen des Engels eben ſo kühn und leidenſchaftlich
ſich bezeigte, als er früher bedenklich geweſen war.
[315]
Vorwärts! ſprach zu unſerer Aller Erſtaunen
auch der Dämon aus der Schnotterbaum mit dum-
pfer Stimme. Ich werd’ der Sach’ ein End’
machen und mich ſelbſt erlöſen. Nächſtkünftigen
Mittwoch ſoll’s geſchehen.
[316]
X.
Thatſache: In Gegenwart der Polizei er-
ſcheint weder Dämon noch Engel.
Ein Zwiſchenfall, der ſich an einem der fol-
genden Tage ereignete, wandte auf einen Augenblick
unſre geſpannten Erwartungen von dem nächſtkünf-
tigen Mittwoch ab. Mit dem wachſenden Flor
der Schnotterbaum’ſchen Wunder hatte ſich nämlich
das Etabliſſement nach und nach wieder zu bevöl-
kern angefangen. Zuerſt war der Gergeſener auf’s
Neue grunzend geworden, dann kehrten mit den
Hellſeherinnen die drei Geiſter und zwei Geiſtinnen
zurück, nur die zweite Hälfte des Kindsgeiſtes
mußte ſich verirrt haben, denn ſie blieb aus. Unſer
Lager war demnach wieder vollſtändig aſſortirt und
wir thaten uns nicht wenig auf unſern Reichthum
zu Gute.
Aber nicht bloß bei uns herrſchten die beſten
dämoniſchen Umſtände, auch über das ganze Städt-
[317] chen hatte ſich der Segen ergoſſen. Es gab in
ganz Weinsberg faſt kein Haus mehr, worin es
nicht ſpükte; ein Poltergeiſt begann, ſo zu ſagen,
zur Einrichtung einer ordentlichen Wirthſchaft zu
gehören. Darüber kamen nun freilich manche Ge-
ſchäfte in Stockung, denn zur Dämmerungsſtunde
wollte Niemand mehr gern allein wohin gehen,
weil trotz des Gewöhnlichen, welches die Sache
erhielt, die Furcht noch immer den Sinn der
Menſchen befing. Außerordentliche Dinge erzählte
man ſich; ſo ſollte zum Beiſpiel in der Teufels-
ſchmiede den glaubwürdigſten Nachrichten zu Folge
der Hammer, womit der Schneider den Dämon
zuerſt auf dem Amboſſe bearbeitet hatte, noch im-
mer im Hämmern begriffen ſeyn ohne Arm, der
ihn regierte, recht wie der Hegel’ſche Gott in der
Geſchichte.
Wie nun das Heilige ſtäts, bevor es ſelbſt zu
weltlicher Macht gelangt, dem Arme der weltlichen
Obrigkeit verfällt, ſo geſchah es auch hier. Die
Behörden nannten in ihrer rohen Weiſe das Her-
einragen der höheren Welt in die Gaſſen von
Weinsberg einen läſterlichen Unfug, und ihre Hand
begann drückend über dem Wirken und Weben der
[318] zarten Sphäre zu laſten. Bei zehn Gulden Strafe
wurde verboten, einen Geiſt zu ſehen, geringere
Leute, die ſich deſſen unterfingen, ſollten mit bür-
gerlichem Arreſt gebüßt werden. Hart lag der
Druck über Ginniſtan; der Hammer hämmerte nur
noch bei Nacht, wo Niemand ihn hörte.
Auch dem Etabliſſement war ein Beſuch der
Polizei angekündigt worden und nicht lange dauerte
es, ſo erſchien der Beamte. Der Schneider hatte
uns Allen aber Muth eingeſprochen, wir erwarteten
daher gefaßt jenen Boten der Gewalt. Auch war
deſſen Perſönlichkeit ganz geeignet unſere Zuverſicht
zu ſteigern. Wir ſahen in ihm einen noch nicht
bejahrten Mann von gefälligem Aeußeren erſcheinen,
der ſein Kommen ſo zu ſagen entſchuldigte und
um Verzeihung bat, daß er den Befehl der Oberen
ausführen müſſe. Glauben Sie mir, meine Her-
ren, daß ich den Kreis Ihrer verehrungswürdigen
Beſtrebungen aus eigenem Antriebe nie ſtören
würde, ſagte der höfliche Beamte. Die Polizei
darf keine Feindin der Wunder ſeyn, ſie muß ſelbſt
jezuweilen Wunder thun, muß Dinge ſehen, die
Niemand ſonſt ſieht, zum Beiſpiel Verſchwörungen
gegen Thron und Altar und was dergleichen mehr
[319] iſt. Alſo nur ein weniges Uebernatürliches, meine
Herren, während ich anweſend bin, und ich will
zufrieden ſeyn und weit mehr glauben.
Die Schnotterbaum lag entkräftet auf dem
Bette, warf dem Beamten aus ihren matten Augen
einen ſonderbar lächelnden Blick zu und ſagte: Ich
kenne Sie recht wohl. — Und ich Sie auch, Jung-
fer Schnotterbaum, verſetzte der Beamte. Ich habe
mich hin und wieder mit Ihrem ſeligen Herrn
Vater ſehr angenehm unterhalten, obgleich ſeine
Grundſätze nicht in allewege die meinigen ſein
durften. Wenn ich nicht irre, ſo beruht auch noch
in unſerem Archive —
Hier unterbrach ihn der Magiſche, welcher die
Zeit kaum erwarten konnte, eine Probe ſeiner Ga-
ben abzulegen, rief: Jetzt wollen wir einmal dem
Herrn den Glauben in die Hand geben! That
das, was ich von ihm ſchon mehreremale berichtet
habe, ſich mit Kraft zu ſalben, und begann das
thaumaturgiſche Werk. Aber die Schnotterbaum
blieb ruhig liegen, ſagte mit ihrer natürlichen, nicht
mit der dämoniſchen Stimme hin und wieder: Was
für Seitenſtiche, die ich verſpür’, ſie ſind mein Letz-
tes; weiter aber nichts. Der Dämon kam nicht.
[320] Der Schneider, auf dem der Beamte ſein Auge
ſtill und höflich ruhen ließ, griff ſich noch ſtärker
an, warf die gräßlichſten Blicke, deren er mächtig
werden konnte, umher, und gebärdete ſich wie ein
ſchaumbedeckter Schamane. Aber die Schnotter-
baum blieb ruhig liegen und kein Dämon erſchien.
Plötzlich ſchnappte der Magiſche in einer ungeheu-
ren Formel, die er unvollendet ließ, kurz ab, rief,
den Beamten zornig anblickend: Wenn ich immer
beguckt werde, dann weichen die beiden Geiſter
der Stärk’, welche mir helfen! und rannte aus der
Stube.
Der Beamte ſprach jetzt noch höflicher als zu-
vor: O meine Herren, ich ſehe wohl, daß Sie
mich für meine Zudringlichkeit beſtrafen wollen.
Dürfte ich nichtsdeſtoweniger Sie Herr Doctor
Eſchenmichel wohl erſuchen, mir gefälligſt den Dä-
mon vorzuſtellen, der hier ſo oft ſeine Aufwartung
gemacht hat? — Eſchenmichel zog die Achſeln in
die Höhe, ging gleichwohl zur Schnotterbaum und
ſprach mit dem Dämon auf Kabbaliſtiſch und
Swedenborgiſch. Aber die Schnotterbaum blieb
ruhig liegen und der Dämon kam nicht. Eſchen-
michel folgte darauf dem Schneider, indem er ſagte,
[321] daß Geſchäfte ihn abriefen. Ich bin untröſtlich,
ſagte der Beamte, daß ich dieſe Störungen in
Ihren Geſchäftsbetrieb bringe. Wäre es nicht zu
vermeſſen, ſo würde ich mich gleichwohl ermüſſiget
ſehen, auch Sie Herr Doctor Kernbeißer zu bitten —
Doch nicht, daß ich den Dämon herbeiſchaffe?
rief Kernbeißer, der durch alle Verlegenheit hin-
durch ein Lächeln hatte blicken laſſen. Sein Humor
verließ ihn auch in dieſer drangvollen Lage nicht.
Er fuhr fort: Der muß nunmehr in contumaciam
zum Tode verurtheilt werden. Aber, ſprach er
weinend (denn die Uebergänge von Lachen zu Thrä-
nen waren bei ihm unglaublich raſch;) das liebe
Englein wird kommen, der zarte Bub’, er thut
mir ſchon den Gefallen, er läßt ſeinen alten Kern-
beißer nicht im Stich.
Er ſetzte ſich zum Bette, nahm die Hand
der Kranken in die ſeinige und ſang mit ſanfter
Stimme:
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 21
[322]
Es blieb aber Alles ſtill in der Schnotterbaum.
Nach einer Pauſe ſagte ſie, nämlich die irdiſche
Perſon Schnotterbaum: Gebt Euch keine Mühe,
lieber Herr, auch er kommt heute nicht.
Kernbeißer ſtand auf und ſah ſehr verwirrt
aus. Vielleicht ein anderesmal, Herr Doctor, wird
es beſſer gelingen, ſagte der Beamte in der mil-
deſten, tröſtendſten Art. Laſſen Sie ſich darüber
keine grauen Haare wachſen. Aber Ihr Herr
College wird nach Ihnen verlangen. — Kernbeißer
ging.
Sollten Sie vielleicht ein Mittel beſitzen, Herr
von Münchhauſen? fragte mich jener humane Offi-
ciant. — Nein, mein Herr, erwiederte ich, ich bin
hier nur Lehrling und Handlanger. — Nun dann
… Es war deutlich, er wollte mit der Schnotter-
baum allein ſeyn. Ich fügte mich ſeinem Winke.
Der Beamte blieb über eine Stunde bei der
Kranken. Ich kam, weil ich nicht annehmen konnte,
daß er noch bei ihr ſei, und weil ich mich nach ihrem
[323] Befinden erkundigen wollte, unverſehens zu der
Unterredung, von welcher ich noch die letzten
Worte hörte. Die Schnotterbaum fragte den Be-
amten: Iſt es auch keine Sünde? und er erwie-
derte: Nein, gewiß nicht; Sie thun vielmehr ein
gutes Werk damit.
Herr von Münchhauſen (mit dieſen Worten
wandte er ſich an mich) Sie ſind hier Zeuge einer
merkwürdigen Thatſache auf dem Gebiete der höhe-
ren Welt geworden. — Ja wohl, verſetzte ich, es
iſt die Thatſache:
„In Gegenwart der Polizei erſcheint
weder Dämon noch Engel.“
Ich werde nicht ermangeln, dem Herrn Doctor
Eſchenmichel ſie bemerkbar zu machen.
Wirklich ſchrieb Eſchenmichel, als ich davon zu
ihm redete, ſie in ſeinem Diario nieder. Er hatte
ſchon wieder Muth gefaßt.
21*
[324]
XI.
Bekenntniſſe einer Sterbenden.
Kernbeißer war zerbrochen und vernichtet. Dürr
ſchlief. Ich war ſtark im Glauben und hoffte auf
den nächſtkünftigen Mittwoch.
Aber die Entſcheidung ſollte noch raſcher her-
anrücken. Gegen zehn Uhr Abends ließ uns die
Schnotterbaum rufen. Wir fanden ſie völlig ent-
kräftet und kaum noch fähig zu reden. Die Magd
wurde herbeigeholt, unterſtützte ſie mit ihren Ar-
men, und ſo halb emporgerichtet, gab ſie uns, oft
unterbrochen von ihrer Schwäche, Folgendes zu
vernehmen:
Ihr Herren, es geht mit mir zu Ende. Die
Geiſterſachen haben mich zu ſehr mitgenommen.
Vielleicht hätt’ einige irdiſche Arznei meinen
ſchwachen und gebrechlichen Leib länger hingehalten;
indeſſen ſei es fern’ von mir, an den Pforten der
Ewigkeit Jemand anzuklagen.
[325]
Ich werd’ den nächſtkünftigen Mittwoch ſchwer-
lich erleben. Ob der Grobſchmidt oder der Ma-
giſter, mein ſeliger Herr Vater in mir geſeſſen,
ich weiß es nit, nehm’ auch keinen Antheil mehr
daran. Ich muß ohne ſie oder einen von Beiden
vor Gott. Der Magiſter hat mir etwas anver-
traut, worüber er auf einer ſeiner Wanderungen
Licht erhalten, und welches der Art iſt, daß kein
Menſch ſich dergleichen denken kann. Es hat mich
überaus ſehr gequält, iſt aber nicht über meine
Lippen gekommen. Ich hielt’s auch meiſtentheils
für eine Schnurr’, darin der Magiſter von jeher
ſtark war. Weiß auch noch nit, ob etwas Wahres
daran iſt.
Nun aber höret und vernehmet, Ihr Herrn.
Der Magiſter hat mir auch erzählt, daß er dieſe
verborgene Sache zu Papier gebracht, und das
verſchloſſene Papier ſein Teſtament benamſet habe.
Bisher wußte ich nun deſſen Aufbewahrungsort
nicht. Vor Kurzem jedoch iſt mir offenbart wor-
den, daß es im hieſigen Polizeiarchive und zwar in
dem Gefach S unter verſchiedenen nicht mehr brauch-
baren und ſtaubigen Papieren hinterlegt worden
ſei, und dorten allerdings noch beruhe.
[326]
Nun aber Ihr Herren thut mit meiner Ent-
deckung und in Betreff des bisher unbekannt ge-
bliebenen Teſtamentes, was Euch gut dünkt. Mich
laßt mit mir allein und ſchickt mir, wenn ich bitten
darf, geiſtlichen Beiſtand.
Die Magd mußte ſie zurücklegen, und ihre
Bruſt begann zu röcheln. Wir verließen das Zim-
mer und ſandten nach dem Geiſtlichen. Keiner von
uns legte ſich nieder. Gegen Mitternacht kam die
Magd und ſagte, daß ſie verſchieden ſei. Kurz
vor ihrem Ende habe ſie geäußert: Es ſteht kein
Engel bei mir, aber ich bin dennoch getroſt. Das
Unheil iſt ohne meinen Willen über mich gekom-
men; es wird mir vergeben werden.
Alſo wieder Eine, die in die Stricke des Cere-
bralſyſtems zurückfiel! rief Eſchenmichel. Dieſer
Umſtand, meine Herren, bleibt vor der Hand
unter uns.
Alle unſere Gedanken wendeten ſich mit Macht
gegen das Teſtament des Magiſters Schnotter-
baum. Nach kurzer Verfinſterung durch den dunkeln
Körper der Polizei ſchien die Sonne der höheren
Welt nur um ſo ſieghafter leuchten zu ſollen. Denn
Eſchenmichel ſchrieb auf der Stelle an den Beamten,
[327] theilte ihm die Entdeckung mit, und bat ihn um
die Erlaubniß für die Etabliſſementsgenoſſen, an
dem bezeichneten Orte nach dem Teſtamente ſuchen
zu dürfen. An dem Rande des Grabes, ſo ſchloß
der Brief, in dem Augenblicke, wo der ſcheinbare
Tag weicht und die heiligen Finſterniſſe ihre Lichter
anzünden, trat die Welt der Geiſter wieder in
ihre unzerſtörlichen, urewigen Rechte ein. Aus
ihr erſcholl die Stimme, welche einen Moment lang
zum Schweigen gebracht worden war, um den
Glauben am Zweifel zu prüfen. Hat ſie Wahr-
heit geſprochen, ſo müſſen alle Staubwirbel, welche
die Geſchäftigkeit des modernen Unglaubens auf-
wühlt, ſich zerſtreuen und verſchwinden.
Eigentlich iſt’s nicht ganz richtig, ſagte Kern-
beißer, als er den Brief überleſen hatte. Denn
der Magiſter hatte ihr bei Lebzeiten vom Teſtament
geſagt, ſo weit ich die gute Schnotterbaum ver-
ſtanden habe. — Schweig! rief Eſchenmichel, und
ſiegelte den Brief.
Zwiſchen der Leiche im Hauſe und dem ver-
hängnißſchwangern Polizeiarchiv eingeklemmt ver-
brachten wir den Reſt der Nacht in einer wild-
unruhigen, verworrenen Stimmung. Wir wollten
[328] Dieſes ſagen, und unſere Lippen ſprachen Jenes.
Wir wollten jubelnde und triumphirende Reden
über den Sieg der Thaumaturgie halten, und ehe
wir uns deſſen verſahen, ſchlugen ſie in Klagelieder
um. Wir wollten lachen und mußten heiße,
ſchmerzhafte Thränen von den Wangen wiſchen.
Ein Geiſt, vielleicht mächtiger, als alle bisherigen
Poltergeiſter in und um Weinsberg ging durch das
Etabliſſement.
Frühmorgens ſandte Eſchenmichel ſeinen Brief
an den Beamten. Sehr bald kam eine Antwort
von dieſem, worin er auf die allerverbindlichſte
Weiſe ſeine Freude über die hergeſtellte Thätigkeit
der Wunder ausdruckte und meldete, daß er, um
allen Unterſchleif zu vermeiden, ſofort das Polizei-
archiv habe unter Siegel legen laſſen. Er be-
ſtimmte die Stunde der Nachſuchung und ſchloß
damit, daß er, um dem ganzen Einhergange die
größtmögliche Offenkundigkeit und feierlichſte Würde
zu geben, mehrere Honoratioren des Städtchens
und einige Fremde von Auszeichnung dazu einladen
laſſen werde.
Eſchenmichel mühte ſeinen Geiſt in Vermuthun-
gen ab, was das myſtiſche Teſtament enthalten
[329] werde. Vielleicht die Entdeckung, wo er die Klei-
der des erſchlagenen Knechts gelaſſen, ſagte er
unter Anderem. — Du vergiſſeſt, erwiederte Kern-
beißer, daß es ja nicht der Grobſchmidt, ſondern
der Magiſter geſchrieben hat. — Mir iſt hoch zu
Muth! rief Eſchenmichel. — Mir angſt, ſagte
Kernbeißer.
Dürr ſchlief noch immer. Ich packte im Stillen
meinen Koffer. Warum? weiß ich nicht. Mir
war, als müſſe ich packen. Gewiß auch noch ein
dämoniſcher Einfluß zu guter Letzt.
[330]
XII.
Das Teſtament des Magiſters Schnotter-
baum.
Als die Stunde gekommen war, gingen wir
nach dem Rathhauſe. Vor demſelben hatte ſich
eine große Menge Volks verſammelt, welches ſich
ehrerbietigſt verneigte und uns Platz machte, als
wir uns näherten. Auf dem Vorſaale erwartete
uns der Beamte, welcher zur Feier des Tages ſich
in ſeine Staatsuniform geworfen hatte, mit meh-
reren Honoratioren, unter denen ich den Specerei-
händler bemerkte. Von ausgezeichneten Fremden
ſah ich freilich Niemand als den Ehinger Spitzen-
krämer. Es mochten wohl an fünfzig Menſchen
aller Art oben verſammelt ſeyn, in deren Geſichtern
Neugier, Befremden, Spannung ſich auf die man-
nichfaltigſte Weiſe kund gaben. So weit wie heute
hatte ſich die Thaumaturgie noch nicht in die Kreiſe
des profanen Lebens gewagt; ſchon das mußte alle
[331] Erwartungen entfeſſeln, dazu aber kam noch der
Tod der Jungfer Schnotterbaum. Dieſer ſetzte
ſelbſt die Leidenſchaften in Bewegung.
Der Beamte empfing die beiden Geſchäftsträger
der höheren Welt mit einer Artigkeit, die faſt an
Demuth grenzte, und ſagte zu einem ſeiner Die-
nenden leiſe: Achten Sie auf Dürr. — Irgend eine
Auszeichnung, wahrſcheinlich das Ehrenbürgerrecht
der Stadt, wird wohl die Folge der Sache ſeyn,
dachte ich. Vielleicht bekommſt du auch etwas ab.
Ueber dem Schlüſſelloche der Archivſtube lagen
Papierſtreifen mit Siegeln, dieſe wurden für un-
verletzt erkannt und ſodann hinweggenommen. Der
Beamte ließ die Stube öffnen; wir nahmen den
ſtaubigen Schränken und Repoſitorien gegenüber
Platz. Für Kernbeißer und Eſchenmichel waren
auf einer Erhöhung in der Mitte des Gemachs
zwei eilig herbeigeſchaffte Ehrenſeſſel hingeſtellt
worden. So ſaßen ſie denn, allen Blicken ſichtbar,
über uns Andere erhöht, da.
Indem ich mich zufällig während dieſer vorbe-
reitenden Handlungen umwandte, ſah ich Jemand
in unſerem Rücken durch die offene Thüre herein
und hinter eine ſpaniſche Wand ſchlüpfen, welche
[332] zunächſt der Thüre ſtand. Da ich etwas neugierig
bin, benutzte ich einen Augenblick, in welchem ich
mich für unbeachtet halten durfte, um mich auch
hinter der ſpaniſchen Wand umzuſehen. Zu meinem
allergrößten Erſtaunen aber fand ich hinter der-
ſelben einen Bekannten, den ich auf der Stelle mir
erinnerlich zu machen wußte, nämlich — den Ge-
hülfen aus dem Würzburger Juliusſpital, mit dem
ich mich über die Seherin von Prevorſt und die
beiden entlaufenen alten Weiber unterhalten hatte.
Ich wollte meiner Verwunderung durch einen Aus-
ruf Luft machen, der Gehülfe hielt mir aber den
Mund zu und ſagte: Erregen Sie kein Aufſehen,
die vorſeiende heilige Handlung darf nicht geſtört
werden, ein Zufall führt mich auf dieſer meiner
Reiſe durch Weinſperg, und es war wohl natür-
lich, daß ich ein Zeuge des merkwürdigen Ereig-
niſſes zu werden wünſchte, von welchem ich, ſobald
ich im Wirthshauſe abgetreten war, zu hören be-
kam. Was den Umſtand betrifft, daß ich hier
hinter der ſpaniſchen Wand zuzuſehen, oder vielmehr
zuzuhören wünſche, ſo iſt dieſes Letztere eine Lieb-
haberei von mir, die ſonder Zweifel zu den völlig
unſchuldigen gehört.
[333]
Ich weiß nicht, welcher abermalige geheime
Einfluß mich trieb, nach dieſer Entdeckung thür-
wärts zu ſchleichen, um in das Freie zu entgleiten.
Der Menſch iſt dunkeln, unerklärlichen Anſtößen ſo
häufig unterworfen. Aber zwei Thürſteher wieſen
mich zurück und ſagten: Niemand darf das Gemach
verlaſſen, bis die Handlung vorbei iſt. — Ei! Ei!
dachte ich, werden die Geiſterſachen nun mit ſolcher
polizeilichen Strenge behandelt?
Der Beamte hatte inzwiſchen der Verſammlung
ihren Anlaß in einer bündigen Rede auseinander-
geſetzt, und forderte eben, als ich zu dem erhöhten
Sitze der beiden Doctoren der Geiſterwelt zurück-
kehrte, dieſe auf, das Fach zu bezeichnen, worin
das Teſtament des ſeligen Magiſters Schnotter-
baum nach deſſen Angabe liegen ſolle. Eſchenmichel
gab mit herzhafter Stimme das Fach an. Nun
merket wohl auf, meine Mitbürger, ſprach der
Beamte. Liegt das Teſtament des verſtorbenen
Magiſters, ſo wie behauptet wird, in dem Fache S
unter verſchiedenen nicht mehr brauchbaren und
ſtaubigen Papieren, ſo habt Ihr ein Wunder, mit
Händen zu greifen. Denn ſelbſt ſeine Tochter,
die tugendſame, durch die beiden Herren ſo zweck-
[334] mäßig behandelte und nun in der Ewigkeit ver-
ſirende Jungfer Anna Katharina Schnotterbaum
wußte von dem Aufbewahrungsorte nichts, weil
ihr ſeliger Vater ihr denſelben keinesweges entdeckt
hatte. Er war vielmehr nur zweien Menſchen auf
Erden bekannt, dem Teſtator und mir, dem der
alte Schäker einſtmals in einer Weinlaune das
verſiegelte Papier eingehändiget hatte, ohne gleich-
wohl deſſen Inhalt mir zu offenbaren. Es ſind
alſo nur zwei Fälle möglich. Entweder muß ich
mit den beiden Herren unter der Decke geſpielt,
und ihnen den Ort verrathen haben, oder er iſt
durch den Geiſt des Magiſters aus jener Welt
heraus kund gethan. Der dritte Fall läßt ſich
nicht gedenken —
Wenn ich reden dürfte — ſagte ich, von Neuem
durch geheimen Anſtoß hingeriſſen.
Nein, Herr von Münchhauſen, ſprach der Beamte
mit Anſehen, Sie dürfen hier nicht reden. Sie
ſind ein Ausländer und haben bei uns keine
Stimme. Er warf einen ſo bezeichnenden Blick
auf ſein Dienſtperſonal, daß der innere Impuls,
weiter zu ſprechen, plötzlich in mir verſchwand.
Wiſſen Sie einen dritten Fall, meine Herrn? fragte
[335] er Kernbeißer und Eſchenmtchel. Ich bin über-
zeugt, daß es Ihnen nur um Wahrheit zu thun iſt.
Nein, verſetzte Eſchenmichel muthig. Nein,
erwiederte Kernbeißer ſchüchtern.
Wißt Ihr einen dritten Fall, verſammelte
Schwaben? rief der Beamte in das Publicum
hinein. — Nein! war die einſtimmige Antwort der
Menge. — Glaubt Ihr, daß ich den beiden Herrn
Doctoren die Sache geſteckt habe, daß die Polizei
ein falſches Wunder hier verfertigen hilft? —
Abermaliges ſtürmiſches Nein.
So wäre alſo der Thatbeſtand mit völliger
Gewißheit hergeſtellt, und nur der Geiſt des Ma-
giſters kann den beiden erleuchteten Männern die
Notiz haben zufließen laſſen, ſagte der Beamte.
Wir werden aber unter ſolchen Umſtänden, und da
noch im Jenſeits, in dem Lande, wo alle Täuſchung
ſchwindet, von dem Teſtamente Rede geweſen iſt,
ſeinem Inhalte die allerernſteſte Beachtung zu wid-
men haben. Gewiß erlebt die Thaumaturgie heute
einen hohen Triumph. Wie beklage ich, daß ich
für ihre würdigſten Prieſter die Ehrenſeſſel bei
dieſer erhabenen Feier nur auf dasjenige Gerüſt
ſtellen laſſen konnte, von welchem herab wir leider
[336] mitunter auf dem Markte andere Perſonen dem
Volke zeigen müſſen. Der Herr Doctor Eſchen-
michel brachte uns aber die Dämonophanie zu raſch
über das Haupt, und ſo mußten wir in der Haſt
zu jener allerdings ſtandeswidrigen Vorrichtung
greifen, weil keine andere im Augenblick zu er-
mitteln war.
Er gab einem Schreiber den Befehl, im Fache S
nachzuſuchen. Aller Herzen pochten vor Unruhe.
Der Schreiber ging, ſuchte, warf erſt einige ge-
bräunte Hefte aus dem Fache, daß eine Wolke
Staubes aufſtieg, zog dann ein vergilbtes Couvert
hervor, und las mit vernehmlicher Stimme deſſen
Aufſchrift ab, welche alſo lautete:
„Hierin iſt enthalten der letzte Wille Jodoci
Zebedäi Schnotterbaum’s, lebzeitig Magiſters
der freien Künſte, aus Hall in Schwaben
bürtig.
Dem ernannten Executor, dem Zufall,
wird die Publication übertragen.“
Ein allgemeines: Ah! der befriedigten Erwar-
tung wurde hörbar. Eſchenmichel ſaß wie ein
Triumphator auf ſeiner Bühne, Kernbeißer wurde
[337] immer bleicher, je deutlicher ſich der Sieg auf die
Seite des Wunders neigte.
Ein großer ſchwarzer Rabe kam in dieſem
Augenblicke in das Archiv gehüpft und auf den
Tiſch, an welchem der Beamte ſaß. Er ſetzte ſich
zutraulich vor ihn hin und blickte wie ein Einge-
weihter nach den Thaumaturgen. Sieh! Sieh!
mein alter Claus, du Unglücksvogel, was willſt du
hier? ſagte der Beamte und ſtreichelte den Rücken
des zahmen Thieres, welches ſeinem Herrn über-
allhin folgte.
Die Siegel des Teſtaments wurden gleichfalls
als unverletzt anerkannt, der Schreiber brach ſie
auf Befehl und hob, deutlich, daß Niemandem ein
Laut entging, folgendermaßen zu leſen an:
Zwiſchenbetrachtung des Erzählers.
— O Menſchenſchickſal! Menſchenſchickſal! An
welchen jähen Abgründen taumelſt du wie ein
Nachtwandler hin! Durch das goldene Thor von
Byzanz träumſt du, zu ſchreiten, dem Pfauenthrone
des Moguls in Delhi wähnſt du, dich zu nähern,
da tönt der weckende Ruf, und du liegſt zerſchmet-
tert unten, herabgeſtürzt von der Firſte des Dachs,
Immermann’s Münchhauſen. 2. Th. 22
[338] über welche du bewußtlos kletterteſt! Wie hatte
Kernbeißer’s Bläſſe Recht, wie hatte der ſchwarze
Rabe Recht, wie hatte ich Recht, als ich von der
Möglichkeit eines dritten Falls reden wollte!
Das Teſtament des Magiſters Schnotterbaum
enthielt folgende Beſtimmungen und Aufſchlüſſe.
„Da der Tod eine gewiſſe, Zeit und Stunde
deſſelben aber eine ungewiſſe Sache iſt, ſo habe ich
mich entſchloſſen, bei allbereits merklicher Abnahme
meiner Kräfte, jedoch völlig geſundem Verſtande
meinen letzten Willen aufzurichten. Ich habe im-
mer zu den Leuten gehört, welche auf Erden ihren
Willen nicht haben ſollten, aber meinen letzten will
ich haben und durchſetzen.
Blutarm bin ich in die Welt gekommen, blut-
arm bin ich auf derſelben gewallt und blutarm
werde ich ſie aller Wahrſcheinlichkeit nach verlaſſen.
Aber ein Teſtament darf auch der Aermſte machen,
und daran kann ihn kein Tyrann verhindern. Ich
hoffe nicht mißverſtanden zu werden, wenn ich
daran erinnere, daß des Menſchen Sohn, welcher
nicht hatte, da er ſein Haupt hinlegen ſollte, ein
Teſtament errichtete, aus welchem die Geſchlechter
zweier Jahrtauſende Erbgenahmen worden ſind.
[339] Dieſen Menſchenſohn, genannt Jeſus der Chriſt,
habe ich Zeitlebens lieb gehabt, aber ganz in der
Stille; nicht wie Regan und Goneril ihren Vater
liebten, ſondern gleichſam à la Cordelia, oder da
ich generis masculini bin, à la Cordelius. Ich
wurde deßhalb für einen böſen Chriſten und Atheiſten
gehalten, welches ich mir wohl gefallen laſſen konnte,
da ich die Liebe der Regan’s, Goneril’s, der Edmunde
und Cornwall’s an ihren Früchten erkannte.
Ich beſitze an zeitlichen Gütern drei Stücke,
nämlich meinen ſterblichen Leichnam, eine natürliche
Tochter und einen alten von mir durchaus zerleſenen
Juvenal, Göttinger Ausgabe von Vandenhoeck vom
Jahre 1742. Ueber meinen Leichnam eröffne ich
die Succeſſion der Aſcendenten, vermache ihn näm-
lich der Mutter Erde, und mag er zuſehen, wie
er darin zu ſeiner Auferſtehung kommen will; vor
der Hand wünſche ich, zu ſchlummern. Meine
natürliche Tochter vermache ich ihrer Nätherei, wel-
che ich ſie habe mit allen Feinheiten dieſer Kunſt
erlernen laſſen. Um meinen Juvenal ſollen die
Hauptſtädte der Welt würfeln, und welche die
niedrigſten Augen wirft, ihn haben und behalten
als immerwährendes Fideicommiß.
22*
[340]
An ewigen und unzeitlichen Gütern beſitze ich
eine große Wahrheit und deren Beſtätigung durch
ein eminentes Exempel, welches wieder mit einem
unglaublichen Geheimniſſe zuſammenhängt. Dieſen
Zuſammenhang von Wahrheit, Exempel und Ge-
heimniß verlaſſe und vermache ich allen Leuten
von geſunder Vernunft. Da die genaue Bezeich-
nung des Erben zu den Hauptſtücken eines gültigen
Teſtaments gehört, ſo merke ich hier an, daß unter
den titulo honorifico Bedachten nicht gemeint ſind:
- 1. die ſogenannten großen Köpfe
- 2. die edeln Charaktere
- 3. die bedeutenden Menſchen
- 4. die gefühlvollen Seelen
- 5. diejenigen, welche man
- a. die Hochverdienten, oder
- b. die Allverehrten und Allgeliebten nennt;
ſondern meine Erben ſollen ſeyn die Leute von
geſunder Vernunft, eine leider neuerdings nur zu
ſehr herabgekommene und unſcheinbar gewordene
Secte.
Denn die Vernunft, welche ich meine, bietet
ihren Anhängern nur Armuth und Nichtachtung,
ſie ſelber geht auch nicht in Sammet und Seide,
[341] ſondern in einem ſchlichten weißen Gewande. Puf-
fen, Bänder und Schmelz fehlen ihrem Anzuge
ganz, auf den Wangen brennt ihr nicht die bei den
Meiſten beliebte hektiſche Röthe, ſondern die reine
Farbe der Geſundheit ſteht auf denſelben, die für
den verwöhnten Geſchmack zu derb und friſch iſt;
kurz, ſie hat nichts, was reizen und verführen kann.
Die große Wahrheit, welche ich beſitze, iſt; daß
es keine Tollheit, keinen noch ſo verrückten Spar-
ren und keine Einfaltspinſelei giebt, welche jemals
wirklich ſtürbe unter den Menſchen. Vielmehr iſt
das Abthun der allergräulichſten Irrthümer immer
nur eine Scheintödtung und ſie leben zu gehöriger
Zeit ſtäts wieder auf, nicht etwa mit gewechſelter
Garderobe, o nein! in ſolche Unkoſten ſetzt ſich
ihr König und Oberfeldherr nicht, ſondern, wie ſie
waren, erſtehen ſie wieder und in der alten, elen-
digen, bettelhaften Geſtalt. Wenn ein Reich durch
die Dummen und Memmen geſtürzt und durch die
Klugen und Tapfern gerettet worden, ſo beginnt
einige Tage nach der Rettungsſtunde ganz ſicherlich
die Herrſchaft der Dummen und Memmen wieder.
Wenn es Millionenmale vorkam, daß die Sclaven
ihre Herren beraubten und ermordeten und nur die
[342] Treue des Freien fromm-ſchützend die Hand über
Gut und Haupt des Gebieters hielt, ſo ſtellt ſich
die alte Liebhaberei für Sclaven jederzeit wieder
ein, und wenn der menſchliche Geiſt endlich auf den
Punct gediehen zu ſeyn ſchien, die Geiſterwelt im
Geiſt zu erfaſſen, ſo ragt unverſehens das ver-
jährte, jämmerliche, krüpplichte Zeichen-, Wunder-
und Geſpenſterweſen, der müffigſte myſtiſche Trödel
in die nur ſcheinbar befreit geweſene Welt herein.
Empfanget in der Erläuterung dieſer letzten
Worte, meine theuren Erben, die Beſtätigung durch
das eminente Exempel. Wir haben die Reforma-
tion gehabt und demnächſt eine große Philoſophie
und Literatur. Wir glaubten, endlich dahin ge-
kommen zu ſeyn, Fetiſche, Amulete, Poltergeiſter und
andern Polterkram für abgeſchafft erachten zu dürfen.
Endlich meinten wir, dahin wenigſtens gekommen zu
ſeyn, das Empyräum ſowohl als den Hades nur
in der adäquaten Sphäre des aufgeſchloſſenen
menſchlichen Bewußtſeyns wirkend zu erblicken und
in deſſen äußerem Leibe, in der Geſchichte. Aber
mit nichten. Im neunzehnten Jahrhundert rühret
ſich plötzlich wieder das erſtunkene, erlogene,
ſichtbar-unſichtbare Gelichter; die geſpenſtiſchen
[343] Weinſchrötter, Kelleraſſeln und Grabwürmer krie-
chen aus ihren Löchern, der heilige Name Gottes
und des Menſchenſohns wird in dieſen ekelhaften
Stank und Dampf hineingerufen, die Myſten und
Epopten, den Narren oder den Schalk im Buſen,
verdrehen die Augen und entblöden ſich nicht,
Worte des ewigen Lebens ihren Faſeleien an die
zerrüttete Stirn zu ſetzen. Der Bauch der Vetteln
ſoll plötzlich mehr wiſſen, als das Haupt und das
Herz der Weiſen, und alles dieſes Zeug, dieſer
Waſch und Klatſch, wofür man ebenſowohl Prätorii
Wünſchelruthe, Erasmi Francisci hölliſchen Proteus
und „den vielförmigen Hinzelmann“ als Gewährs-
leute anführen könnte, wird von einem nicht un-
zahlreichen Pöbel aller Stände geglaubt und ſanft-
ſelig weiter verbreitet.
Ei, werdet Ihr, meine Erben, ſagen, was für
ein ſchlechtes Legat hinterläſſeſt du uns? So ſtehen
ja die Hexenproceſſe vor der Thüre. Geduld, Ihr
Theuren! Es iſt allerdings ſehr möglich, daß unſere
Enkel abermals Hexenproceſſe erleben, indeſſen ganz
nahe ſtehen ſie doch noch nicht bevor, und zwar
von wegen des unglaublichen Geheimniſſes, welches
mit dem eminenten Exempel verbunden iſt. Ihr
[344] wißt, liebe Erbgenahmen, daß die Herren Doctoren
Eſchenmichel und Kernbeißer, welche hauptſächlich
den Geiſtertrödel in ſchwunghaften Betrieb gebracht
haben, von der Welt für gelehrte und würdige
Männer gehalten werden, und für Männer hal-
tet auch Ihr ſie wahrſcheinlich. Wenn es nun
aber an den Tag kommt, was mir bekannt iſt,
daß dem nicht ſo ſei, ſo kann es kaum fehlen,
daß die dämoniſchen Geſchäfte in einigen Verruf
gerathen, die Sache, bildlich zu reden, eine Poſſe
wird, und unſere Nachkommen vielleicht doch in
den nächſten dreißig Jahren noch vor der Rückkehr
der Hexenproceſſe bewahrt bleiben.
Meine theuren Erben, die Herren Doctoren
Kernbeißer und Eſchenmichel ſind nicht männlichen
Geſchlechts.
Auf einer meiner Streifereien, die ich unter-
nahm, um mir mein Bettelbrod zu verſchaffen, kam
ich durch eine Stadt, worin ſich ein weltberühmtes
Spital für Alte und Sieche befindet. Es iſt eine
geraume Reihe von Jahren her. Ich ließ mir die
Anſtalt zeigen und durchwanderte die langen Rei-
hen der alten Männer und Frauen, welche ihre
letzten Tage da zubrachten. Wie es nun wohl
[345] zufällig kommen kann, daß ſich unſerem Geiſte die
Geſtalt eines Baumes, Felſens, Hauſes untilgbar
einprägt, ſo wollte es der Zufall, (denn es ſei
ferne von mir, dieſe Geſchichte irgend romantiſch
aufzuſchmücken;) daß mir zwei alte Frauen, welche
von den Andern ſich geſondert hielten und ſehr
eifrig mit einander verkehrten, beſonders auffielen.
Es war weiter gar nichts Merkwürdiges an den
beiden Alten. Gewöhnliche alte Weiber, wie es
deren Tauſende giebt, aber ihre Statur und Phy-
ſiognomie machte dennoch einen unauslöſchlichen
Eindruck auf mich, ſo daß mir gleich damals klar
wurde, ich würde ſie wiedererkennen, wo und wann
ich ſie jemals ſähe.
Nach einigen Jahren und mehreren Schickſalen
gelangte ich in dieſes unſer Städtlein, entſchloſſen,
hier nunmehr für Lebenszeit zu raſten. Ich hörte
ſogleich von der Anlage und von dem Fortgange des
Kernbeißer’ſchen Etabliſſements und erbat mir na-
türlich unverweilt Zutritt zu dieſer größten Se-
henswürdigkeit des Ortes. Allein wie wurde mir,
geliebte Erben, als mir der Herr der Anlage mit
ſeinem Freunde entgegentrat! Ich meinte, der
Boden ſchwanke unter meinen Füßen und das
[346] Haus tanze mir vor den Augen, denn man mag
auf Alles gefaßt ſeyn, wenn man zu frommen
Wunderthätern geht (ſie haben uns an Vieles ge-
wöhnt;) allein darauf iſt man nicht gefaßt, in
zwei Männern der höheren Welt zwei alte Weiber
wiederzuerkennen.
Ja, meine Erben, es iſt ausgeſprochen, das
große Wort des Räthſels. Wenn die Natur nicht
das nur von Comödienſchreibern erfundene Spiel
der Menächmen nachahmt, wenn ſie, die unerſchöpf-
lich erfindende Göttin jedem [Exemplare], welches
ſie aus der Form wirft, einen Zug beſonderer
Ausſtattung mitgiebt, ſo habe ich mich nicht
irren können, lebe vielmehr und will ſterben in
der Ueberzeugung: Die Herren Doctoren Kern-
beißer und Eſchenmichel ſind zwei alte Weiber, die
ich vor längerer Zeit im Juliusſpitale zu Würz-
burg geſehen habe.
Wie und wann ſie aus demſelben entkommen,
auf welche Weiſe ihnen der Gedanke an das unter
ihren Händen erblühte Etabliſſement geworden,
das habe ich nicht erfahren können. Nur ſo viel
läßt ſich einſehen, daß ſie, wenn ſie ihre Rocken-
ſtubengeſchichten für Wahrheiten verkaufen wollten,
[347] genöthigt waren, Mannskleider anzulegen, ihren
Discant zum Baß zu verſtellen, und überhaupt das
zu ſcheinen, was ſie nie waren.
Das Geheimniß wäre ſonach gegenwärtig hier
deponirt, und damit hätte das ganze Legat ſeine
vollſtändige Stiftung erhalten. Die frommen und
ſüßen Seelen werden es ein läſterliches nennen;
in meinem Sinne jedoch iſt es recht eigentlich eins
zu frommen Zwecken.
Den Zufall aber ernenne ich zum Teſtaments-
vollſtrecker, und ſoll es von ihm abhangen, ob und
wann dieſer letzte Wille eröffnet und die Erbfolge
nach demſelben angetreten wird. Ich halte ſehr
viel vom Zufall, ſeit ich geſehen, welche erbärm-
liche Fratze die Menſchen aus der Vorſehung ma-
chen. Es beſtimmt mich auch noch ein anderer
Grund. Ich weiß, daß im Rachen des Löwen
Erbarmen wohnen kann und aus den Krallen des
Tigers Rettung gefunden werden mag, daß aber
keine Gnade iſt bei den Propheten. Bei meinem
Leben kommt es daher nicht heraus. Aber, wie
ich meiner Nachwelt die Wiſſenſchaft nicht unter-
ſchlagen darf, ſo will ich doch auch die Kunde nicht
beſchleunigen. Der Zufall verwalte Alles und gebe
[348] das Zeichen, wann es an der Zeit iſt. Denn die
Propheten werden auch meinen todten Staub nicht
ungerührt laſſen, wenn ſie erfahren, daß ich ihr
Geſchlecht entdeckt habe. Von Einem derſelben
weiß ich es wenigſtens gewiß.
Die größten Verfolgungen, geliebte Erben, ſind
von jeher über Diejenigen ergangen, welche im
Lehrſtuhl, auf der Kanzel, im Staatsrath und im
Heerbefehl die alten Weiber ausfindig machten!
Ich bete dich an, Vernunft, Tochter Gottes,
Schirmherrin der Männer, Athem der Seele! Ich
bete dich an im Geiſt und in der Wahrheit. Du
erſchütterſt mir Herz und Nieren; führe mich, bleibe
bei mir bis an das Ende meiner Tage! — Ein
ſchlichtes, farbloſes Gebet, ein Gebet in Knechts-
geſtalt! Ich will damit auszukommen ſuchen.
Vorſtehendes iſt mein letzter Wille ohne Ort
und Datum, denn ich wünſchte, daß er aller Orten
und zu jeder Zeit gälte.
Jodocus Zebedäus Schnotterbaum.
A. A. L. L. M.
Requiescat anima mea in pace!“
[349]
Nachſchrift.
(Mehrere Jahre ſpäter.)
Ich erlebte das Ende der Scene nicht. Als
bei den bezüglichen Worten des Teſtaments zuerſt
ein athemloſes Schweigen des Todes im Archive
eintrat, dann aber Jubel, Hohn, Schreck, Unwille,
Entſetzen, Spott, Schimpf, kurz jeglicher Affect
ſich in Blick, Miene, Schrei Luft machte, und die
Doctoren, wie von einem Kernſchuſſe vernichtet,
in die Seſſel zurückſanken, benutzte ich dieſen Mo-
ment und entwiſchte. Mit drei Sprüngen war ich
im Etabliſſement, empfahl dem Knechte mein ge-
packtes Köfferchen zur Nachſendung, die er auch
redlich bewerkſtelligt hat, und lief ſpornſtreichs zum
Thore hinaus, denn die Sache, das fühlte ich
wohl, war hier aus, rein aus. — Auf der Straße
rannte ich an dem Magiſchen vorbei, den eine
finſtere Macht fortbewegte. Der gemeine Mann
nennt ſie den Schub. Er wußte aber noch von
ſeinen Sinnen nichts und hat daher nachmals mit
Recht behaupten können, er ſei aufgehoben und von
dannen geführt worden in der Entzückung.
[350]
Später erfuhr ich den weiteren Verlauf der
Dinge. Freilich gingen mir darüber zwei ganz
verſchiedene Berichte zu. Der Eine lautete fol-
gendermaßen: Sobald nämlich der Magiſter Schnot-
terbaum von Jenſeits zu Ende geſprochen, ſei der
Gehülfe hinter der ſpaniſchen Wand hervorgetreten
und dem Teſtamente mit den Worten: Ei Mutter
Urſel und Beth’, ſieht man Euch ſo unerwartet
hier wieder? ein gewichtiger Beſtätiger geworden.
Der Beamte habe hierauf mit ſeiner immerfort
noch ſteigenden teufliſchen Sanftmuth und Höflich-
keit zu den Propheten geſagt, er für ſeine Perſon
halte das Schnotterbaum’ſche Teſtament für einen
ſarkaſtiſchen Scherz des alten böſen Magiſters und
glaube, daß der fremde Herr Doctor, getäuſcht
von einer flüchtigen Aehnlichkeit ſich irre, indeſſen
gebiete ihm freilich in der Sache allein ſeine Pflicht,
da er zu gemeſſene Befehle habe, das Ereigniß in
jeder Richtung feſtzuſtellen. Es liege auf der Hand,
daß ſelbſt in Betreff der Wunder viel darauf an-
komme, ob ſie ein Mann, oder ob ſie ein altes
Weib erzähle, und da zufälliger Weiſe gerade ein
Sachverſtändiger anweſend ſei, ſo müſſe er —
zwar mit blutendem Herzen und die beiden Herren
[351] inniglich verehrend — ſie dennoch erſuchen, ſich mit
dem fremden Doctor behufs weiterer Veranlaſſung
gefälligſt hinter die ſpaniſche Wand zu begeben.
Der Beamte habe alles wüthenden Widerſtan-
des ungeachtet ſeinen Willen durchzuſetzen gewußt
und nach einer Viertelſtunde ſei von dem Gehülfen
aus Würzburg auf deſſen Ehre und Gewiſſen das
Gutachten abgeſtattet worden, daß der Magiſter
Schnotterbaum mit keiner Lüge belaſtet das Zeit-
liche geſegnet habe.
Nach dem zweiten Berichte war Alles mit der
Publication des Teſtaments vorbei. Die aufge-
regten Affecte gingen in ein ſchallendes Geläch-
ter über; der Gehülfe trat lachend hervor und
konnte vor Lachen kein beſtimmtes Wort über die
Anerkennung oder Nichtanerkennung der Helden
dieſes Tages ausſprechen. Das Gelächter war ſo
anſteckend, daß der alte drollige Kernbeißer endlich
ſelbſt mit einſtimmte und rief: ’S iſt der ausbün-
digſte Schwank, der zu erdenken geweſen, beweiſ’t
aber nichts gegen das Zwiſchenreich. — Dieſe
allgemeine Heiterkeit des Ausgangs ſoll um ſo
anmuthiger geweſen ſeyn, als, wie verſichert wird,
der Beamte auch in dieſen Momenten ſeinen wahren
[352] oder angelegten unzerſtörlichen Ernſt beibehalten
hat. Von Unterſuchung hinter der ſpaniſchen Wand
keine Rede.
Indeſſen verfehlte das Teſtament des Magiſters
nicht, ſeine Wirkung nachhaltig zu äußern. Denn
wohin ich ſeitdem kam, überall hatte ſich die Volks-
meinung gebildet, daß der alte Schnotterbaum das
Geſchlecht der Coryphäen des Geiſterglaubens wirk-
lich entdeckt habe.
Dadurch aber hatte in der That, wie ſich
deutlich ſpüren ließ, die höhere Welt, nämlich die
Kernbeißer-Eſchenmichel’ſche, einen Stoß erlitten.
Die Erben des Magiſters aber traten die Erbſchaft
nach ſeinem Teſtamente ohne Vorbehalt an.
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Immermann, Karl Leberecht. Münchhausen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bn3g.0