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Alexander von Humboldts
Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden
des neuen Kontinents.


Zweiter Band.

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Stuttgart.:
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung
Nachfolger.

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Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

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Reiſe in die Aequinoktial-Gegenden.


A. v. Humboldt, Reiſe. II. 1
[[2]][[3]]

Neuntes Kapitel.


Körperbeſchaffenheit und Sitten der Chaymas. — Ihre Sprachen.


Der Beſchreibung unſerer Reiſe nach den Miſſionen am
Caripe wollte ich keine allgemeinen Betrachtungen über die
Stämme der Eingeborenen, welche Neuandaluſien bewohnen,
über ihre Sitten, ihre Sprache und ihren gemeinſamen Ur-
ſprung einflechten. Jetzt, da wir wieder am Orte ſind, von
dem wir ausgegangen, möchte ich alles dies, das für die
Geſchichte des Menſchengeſchlechtes von ſo großer Bedeutung
iſt, unter einem Geſichtspunkt zuſammenfaſſen. Je weiter
wir von jetzt an ins Binnenland eindringen, deſto mehr wird
uns das Intereſſe für dieſe Gegenſtände, den Erſcheinungen
der phyſiſchen Natur gegenüber, in Anſpruch nehmen. Der
nordöſtliche Teil des tropiſchen Amerikas, Terra Firma und
die Ufer des Orinoko, gleichen hinſichtlich der Mannigfaltig-
keit der Völkerſchaften, die ſie bewohnen, den Thälern des
Kaukaſus, den Bergen des Hindu-khu, dem nördlichen Ende
Aſiens, jenſeits der Tunguſen und Tataren, die an der Mün-
dung des Lena hauſen. Die Barbarei, die in dieſen ver-
ſchiedenen Landſtrichen herrſcht, iſt vielleicht nicht ſowohl der
Ausdruck urſprünglicher völliger Kulturloſigkeit, als vielmehr
die Folge langer Verſunkenheit. Die meiſten der Horden,
die wir Wilde nennen, ſtammen wahrſcheinlich von Völkern,
die einſt auf bedeutend höherer Kulturſtufe ſtanden, und wie
ſoll man ein Stehenbleiben im Kindesalter der Menſchheit
(wenn ein ſolches überhaupt vorkommt) vom Zuſtand ſittlichen
Verfalles unterſcheiden, in dem Vereinzelung, die Not des
Lebens, gezwungene Wanderungen, oder ein grauſames Klima
jede Spur von Kultur ausgetilgt haben? Wenn alles, was
ſich auf die urſprünglichen Zuſtände des Menſchen und auf
die älteſte Bevölkerung eines Feſtlandes bezieht, an und für
[4] ſich der Geſchichte angehörte, ſo würden wir uns auf die
indiſchen Sagen berufen, auf die Anſicht, die in den Geſetzen
Manus und im Ramayana ſo oft ausgeſprochen wird, nach
der die Wilden aus der bürgerlichen Geſellſchaft ausgeſtoßene,
in die Wälder getriebene Stämme ſind. Das Wort Barbar,
das wir von Griechen und Römern angenommen, iſt vielleicht
nur der Name einer ſolchen verſunkenen Horde.


Zu Anfang der Eroberung Amerikas beſtanden große
geſellſchaftliche Vereine unter den Eingeborenen nur auf dem
Rücken der Kordilleren und auf den Aſien gegenüber liegenden
Küſten. Auf den mit Wald bedeckten, von Flüſſen durch-
ſchnittenen Ebenen, auf den endloſen Savannen, die ſich oft-
wärts ausbreiten und den Horizont begrenzen, traf man nur
umherziehende Völkerſchaften, getrennt durch Verſchiedenheit
der Sprache und der Sitten, zerſtreut gleich den Trümmern
eines Schiffbruchs. Wir wollen verſuchen, ob uns in Er-
mangelung aller anderen Denkmale die Verwandtſchaft der
Sprachen und die Beobachtung der Körperbildung dazu dienen
können, die verſchiedenen Stämme zu gruppieren, die Spuren
ihrer weiten Wanderungen zu verfolgen und ein paar jener
Familienzüge aufzufinden, durch die ſich die urſprüngliche
Einheit unſeres Geſchlechtes verrät.


Die Eingeborenen oder Ureinwohner bilden in den Län-
dern, deren Gebirge wir vor kurzem durchwandert, in den
beiden Provinzen Cumana und Nueva Barcelona, beinahe
noch die Hälfte der ſchwachen Bevölkerung. Ihre Kopfzahl
läßt ſich auf 60000 ſchätzen, wovon 24000 auf Neuanda-
luſien kommen. Dieſe Zahl iſt bedeutend gegenüber der
Stärke der Jägervölker in Nordamerika; ſie erſcheint klein,
wenn man die Teile von Neuſpanien dagegen hält, wo ſeit
mehr als acht Jahrhunderten der Ackerbau beſteht, z. B. die
Intendanz Oaxaca, in der die Mixteca und Tzapoteca des
alten mexikaniſchen Reiches liegen. Dieſe Intendanz iſt um
ein Dritteil kleiner als die zwei Provinzen Cumana und
Barcelona zuſammen, zählt aber über 400000 Einwohner von
der reinen kupferfarbigen Raſſe. Die Indianer in Cumana
leben nicht alle in den Miſſionsdörfern; man findet ſie zer-
ſtreut in der Umgegend der Städte, auf den Küſten, wohin
ſie des Fiſchfangs wegen ziehen, ſelbſt auf den kleinen Höfen
in den Llanos oder Savannen. In den Miſſionen der ara-
goneſiſchen Kapuziner, die wir beſucht, leben allein 15000
Indianer, die faſt ſämtlich dem Chaymasſtamm angehören.
[5] Indeſſen ſind die Dörfer dort nicht ſo ſtark bevölkert, wie
in der Provinz Barcelona. Die mittlere Seelenzahl iſt nur
500 bis 600, während man weiter nach Weſten in den
Miſſionen der Franziskaner von Piritu indianiſche Dörfer
mit 2000 bis 3000 Einwohnern trifft. Wenn ich die Zahl
der Eingeborenen in den Provinzen Cumana und Barcelona
auf 60000 ſchätzte, ſo meinte ich nur die in Terra Firma
lebenden, nicht die Guaikeri auf der Inſel Margarita und
die große Maſſe der Guaraunen, die auf den Inſeln im
Delta des Orinoko ihre Unabhängigkeit behauptet haben. Dieſe
ſchätzt man gemeiniglich auf 6000 bis 8000; dies ſcheint mir
aber zu viel. Außer den Guaraunenfamilien, die ſich hie
und da auf den ſumpfigen, mit Morichepalmen bewachſenen
Landſtrichen (zwiſchen dem Caño Manamo und dem Rio
Guarapiche), alſo auf dem Feſtlande ſelbſt blicken laſſen, gibt
es ſeit dreißig Jahren in Neuandaluſien keine wilden India-
ner mehr.


Ungern brauche ich das Wort wild, weil es zwiſchen
dem unterworfenen, in den Miſſionen lebenden, und dem
freien oder unabhängigen Indianer einen Unterſchied in der
Kultur vorausſetzt, dem die Erfahrung häufig widerſpricht.
In den Wäldern Südamerikas gibt es Stämme Eingeborener,
die unter Häuptlingen friedlich in Dörfern leben, auf ziemlich
ausgedehntem Gebiete Piſang, Maniok und Baumwolle bauen
und aus letzterer ihre Hängematten weben. Sie ſind um
nichts barbariſcher als die nackten Indianer in den Miſſionen,
die man das Kreuz hat ſchlagen lehren. Die irrige Meinung,
als wären ſämtliche nicht unterworfene Eingeborene umher-
ziehende Jägervölker, iſt in Europa ziemlich verbreitet. In
Terra Firma beſtand der Ackerbau lange vor Ankunft der
Europäer; er beſteht noch jetzt zwiſchen dem Orinoko und
dem Amazonenſtrome in den Lichtungen der Wälder, wohin nie
ein Miſſionär den Fuß geſetzt hat. Das verdankt man aller-
dings dem Regiment der Miſſionen, daß der Eingeborene
Anhänglichkeit an Grund und Boden bekommt, ſich an feſten
Wohnſitz gewöhnt und ein ruhigeres, friedlicheres Leben lieben
lernt. Aber der Fortſchritt in dieſer Beziehung iſt langſam,
oft unmerklich, weil man die Indianer völlig von allem Ver-
kehr abſchneidet, und man macht ſich ganz falſche Vorſtellungen
vom gegenwärtigen Zuſtande der Völker in Südamerika, wenn
man einerſeits chriſtlich, unterworfen und civiliſiert,
andererſeits heidniſch, wild und unabhängig für gleich-
[6] bedeutend hält. Der unterworfene Indianer iſt häufig ſo
wenig ein Chriſt als der unabhängige Götzendiener; beide
ſind völlig vom augenblicklichen Bedürfnis in Anſpruch ge-
nommen, und bei beiden zeigt ſich in gleichem Maße voll-
kommene Gleichgültigkeit gegen chriſtliche Vorſtellungen und
der geheime Hang, die Natur und ihre Kräfte göttlich zu
verehren. Ein ſolcher Gottesdienſt gehört dem Kindesalter
der Völker an; er kennt noch keine Götzen und keine heiligen
Orte außer Höhlen, Schluchten und Forſten.


Wenn die unabhängigen Indianer nördlich vom Orinoko
und Apure, d. h. von den Schneebergen von Merida bis
zum Vorgebirge Paria, ſeit einem Jahrhundert faſt ganz ver-
ſchwunden ſind, ſo darf man daraus nicht ſchließen daß es
jetzt in dieſen Ländern weniger Eingeborene gibt, als zur
Zeit des Biſchofs von Chiapa, Bartholomäus Las Caſas.
In meinem Werke über Mexiko habe ich dargethan, wie ſehr
man irrt, wenn man die Ausrottung der Indianer oder auch
nur die Abnahme ihrer Volkszahl in den ſpaniſchen Kolonieen
als eine allgemeine Thatſache hinſtellt. Die kupferfarbige
Raſſe iſt auf beiden Feſtländern Amerikas noch über ſechs
Millionen ſtark, und obgleich unzählige Stämme und Sprachen
ausgeſtorben ſind oder ſich verſchmolzen haben, ſo unterliegt
es doch keinem Zweifel, daß zwiſchen den Wendekreiſen, in
dem Teile der Neuen Welt, in den die Kultur erſt ſeit Chriſtoph
Kolumbus eingedrungen iſt, die Zahl der Eingeborenen be-
deutend zugenommen hat. Zwei karibiſche Dörfer in den
Miſſionen von Piritu oder am Carony zählen mehr Familien
als vier oder fünf Völkerſchaften am Orinoko. Die geſell-
ſchaftlichen Zuſtände der unabhängig gebliebenen Kariben an
den Quellen des Eſſequibo und ſüdlich von den Bergen von
Pacaraima thun zur Genüge dar, wie ſehr auch bei dieſem
ſchönen Menſchenſchlage die Bevölkerung der Miſſionen die
Maſſe der unabhängigen und verbündeten Kariben überſteigt.
Uebrigens verhält es ſich mit den Wilden im heißen Erd-
ſtrich ganz anders als mit denen am Miſſouri. Dieſe be-
dürfen eines weiten Gebietes, weil ſie nur von der Jagd
leben; die Indianer in ſpaniſch Guyana dagegen bauen
Maniok und Bananen, und ein kleines Stück Land reicht zu
ihrem Unterhalt hin. Sie ſcheuen nicht die Berührung mit
den Weißen, wie die Wilden in den Vereinigten Staaten,
die, nacheinander hinter die Alleghanies, hinter Ohio und
Miſſiſſippi zurückgedrängt, ſich den Lebensunterhalt in dem
[7] Maße abgeſchnitten ſehen, in dem man ihr Gebiet beſchränkt.
In den gemäßigten Zonen, in den provincias internas von
Mexiko ſo gut wie in Kentucky iſt die Berührung mit den
europäiſchen Anſiedlern den Eingeborenen verderblich geworden,
weil die Berührung dort eine unmittelbare iſt.


Im größten Teil von Südamerika fallen dieſe Urſachen
weg. Unter den Tropen bedarf der Ackerbau keiner weiten
Landſtrecken, und die Weißen breiten ſich langſam aus. Die
Mönchsorden haben ihre Niederlaſſungen zwiſchen den Be-
ſitzungen der Koloniſten und dem Gebiete der freien Indianer
gegründet. Die Miſſionen ſind als Zwiſchenſtaaten zu be-
trachten; ſie haben allerdings die Freiheit der Eingeborenen
beſchränkt, aber faſt allerorten iſt durch ſie eine Zunahme
der Bevölkerung herbeigeführt worden, wie ſie beim Nomaden-
leben der unabhängigen Indianer nicht möglich iſt.


Im Maße als die Ordensgeiſtlichen gegen die Wälder vor-
rücken und den Eingeborenen Land abgewinnen, ſuchen ihrer-
ſeits die weißen Anſiedler von der anderen Seite her das
Gebiet der Miſſionen in Beſitz zu bekommen. Dabei ſucht der
weltliche Arm fortwährend die unterworfenen Indianer dem
Mönchsregiment zu entziehen. Nach einem ungleichen Kampfe
treten allmählich Pfarrer an die Stelle der Miſſionäre.
Weiße und Miſchlinge laſſen ſich, begünſtigt von den Korregi-
doren, unter den Indianern nieder. Die Miſſionen werden
zu ſpaniſchen Dörfern und die Eingeborenen wiſſen bald gar
nicht mehr, daß ſie eine Volksſprache gehabt haben. So
rückt die Kultur von der Küſte ins Binnenland vor, lang-
ſam, durch menſchliche Leidenſchaften aufgehalten, aber ſicheren,
gleichmäßigen Schrittes.


Die Provinzen Neuandaluſien und Barcelona, die man
unter dem Namen Govierno de Cumana begreift, zählen in
ihrer gegenwärtigen Bevölkerung mehr als vierzehn Völker-
ſchaften; es ſind in Neuandaluſien die Chaymas, Guaikeri,
Pariagoten, Quaqua, Aruaken, Kariben und Guaraunen;
in der Provinz Barcelona die Cumanagoten, Palenques,
Kariben, Piritu, Tomuzen, Topocuaren, Chacopoten und
Guariven. Neun oder zehn unter dieſen vierzehn Völker-
ſchaften glauben ſelbſt, daß ſie ganz verſchiedener Abſtammung
ſind. Man weiß nicht genau, wie viele Guaraunen es gibt,
die ihre Hütten an der Mündung des Orinoko auf Bäumen
bauen; der Guaikeri in der Vorſtadt von Cumana und
auf der Halbinſel Araya ſind es 2000 Köpfe. Unter den
[8] übrigen Völkerſchaften ſind die Chaymas in den Bergen von
Caripe, die Kariben auf den ſüdlichen Savannen von Neu-
barcelona und die Cumanagoten in den Miſſionen von Piritu
die zahlreichſten. Einige Familien Guaraunen ſind auf dem
linken Ufer des Orinoko, da wo das Delta beginnt, der
Miſſionszucht unterworfen worden. Die Sprachen der Gua-
raunen, Kariben, Cumanagoten und Chaymas ſind die ver-
breitetſten. Wir werden bald ſehen, daß ſie demſelben Sprach-
ſtamme anzugehören ſcheinen und in ihren grammatiſchen For-
men ſo nahe verwandt ſind, wie, um bekanntere Sprachen
zur Vergleichung herbeizuziehen, das Griechiſche, Deutſche,
Perſiſche und Sanskrit.


Trotz dieſer Verwandtſchaft ſind die Chaymas, Guarau-
nen, Kariben, Quaqua, Aruaken und Cumanagoten als
verſchiedene Völker zu betrachten. Von den Guaikeri, Paria-
goten, Piritu, Tomuzen und Chacopoten wage ich nicht
das Gleiche zu behaupten. Die Guaikeri geben ſelbſt zu,
daß ihre Sprache und die der Guaraunen einander nahe
ſtehen. Beide ſind Küſtenvölker, wie die Malaien in der
Alten Welt. Was die Stämme betrifft, die gegenwärtig die
Mundarten der Cumanagoten, Kariben und Chaymas haben,
ſo läßt ſich über ihre urſprüngliche Abſtammung und ihr
Verhältnis zu anderen, ehemals mächtigeren Völkern ſchwer
etwas ausſagen. Der Geſchichtſchreiber der Eroberung, wie
die Geiſtlichen, welche die Entwickelung der Miſſionen be-
ſchrieben haben, verwechſeln, nach der Weiſe der Alten, immer
geographiſche Bezeichnungen mit Stammnamen. Sie ſprechen
von Indianern von Cumana und von der Küſte von Paria,
als ob die Nachbarſchaft der Wohnſitze gleiche Abſtammung
bewieſe. Meiſt benennen ſie ſogar die Stämme nach ihren
Häuptlingen, nach dem Berg oder dem Thale, die ſie bewohnen.
Dadurch häuft ſich die Zahl der Völkerſchaften ins Unend-
liche und werden alle Angaben der Miſſionäre über die un-
gleichartigen Elemente in der Bevölkerung ihrer Miſſionen
in hohem Grade ſchwankend. Wie will man jetzt ausmachen,
ob der Tomuze und der Piritu verſchiedener Abſtammung
ſind, da beide cumanagotiſch ſprechen, was im weſtlichen Teile
des Govierno de Cumana die herrſchende Sprache iſt, wie
die der Kariben und der Chaymas im ſüdlichen und öſtlichen?
Durch die große Uebereinſtimmung in der Körperbildung
werden Unterſuchungen derart ſehr ſchwierig. Die beiden
Kontinente verhalten ſich in dieſer Beziehung völlig verſchie-
[9] den; auf dem neuen findet man eine erſtaunliche Mannig-
faltigkeit von Sprachen bei Völkern desſelben Urſprungs, die
der Reiſende nach ihrer Körperlichkeit kaum zu unterſcheiden
vermag; in der Alten Welt dagegen ſprechen körperlich un-
gemein verſchiedene Völker, Lappen, Finnen und Eſthen, die
germaniſchen Völker und die Hindu, die Perſer und die Kurden
Sprachen, die im Bau und in den Wurzeln die größte Aehn-
lichkeit miteinander haben.


Die Indianer in den Miſſionen treiben ſämtlich Acker-
bau, und mit Ausnahme derer, die in den hohen Gebirgen
leben, bauen alle dieſelben Gewächſe; ihre Hütten ſtehen am
einen Orte in Reihen wie am anderen; die Einteilung ihres
Tagewerkes, ihre Arbeit im Gemeindeconuco, ihr Verhältnis
zu den Miſſionären und den aus ihrer Mitte gewählten Be-
amten, alles iſt nach Vorſchriften geordnet, die überall gelten.
Und dennoch — und dies iſt eine höchſt merkwürdige Beobach-
tung in der Geſchichte der Völker — war dieſe große Gleich-
förmigkeit der Lebensweiſe nicht imſtande die individuellen
Züge, die Schattierungen, durch welche ſich die amerikaniſchen
Völkerſchaften unterſcheiden, zu verwiſchen. Der Menſch mit
kupferfarbiger Haut zeigt eine geiſtige Starrheit, ein zähes
Feſthalten an den bei jedem Stamme wieder anders gefärbten
Sitten und Gebräuchen, das der ganzen Raſſe recht eigentlich
den Stempel aufdrückt. Dieſen Charakterzügen begegnet man
unter allen Himmelsſtrichen vom Aequator bis zur Hudſons-
bai und bis zur Magelhaensſchen Meerenge; ſie ſind bedingt
durch die phyſiſche Organiſation der Eingeborenen, aber die
mönchiſche Zucht leiſtet ihnen weſentlich Vorſchub.


Es gibt in den Miſſionen nur wenige Dörfer, wo die
Familien verſchiedenen Völkerſchaften angehören und nicht
dieſelbe Sprache reden. Aus ſo verſchiedenartigen Elementen
beſtehende Gemeinheiten ſind ſchwer zu regieren. Meiſt haben
die Mönche ganze Nationen oder doch bedeutende Stücke
derſelben Nation in nahe bei einander gelegenen Dörfern
untergebracht. Die Eingeborenen ſehen nur Leute ihres eigenen
Stammes; denn Hemmung des Verkehres, Vereinzelung, das
iſt ein Hauptartikel in der Staatskunſt der Miſſionäre. Bei
den unterworfenen Chaymas, Kariben, Tamanacas erhalten
ſich die nationalen Eigentümlichkeiten um ſo mehr, da ſie auch
noch ihre Sprachen beſitzen. Wenn ſich die Individualität
des Menſchen in den Mundarten gleichſam abſpiegelt, ſo
wirken dieſe wieder auf Gedanken und Empfindung zurück.
[10] Durch dieſen innigen Verband zwiſchen Sprache, Volkscharakter
und Körperbildung erhalten ſich die Völker einander gegenüber
in ihrer Verſchiedenheit und Eigentümlichkeit, und dies iſt
eine unerſchöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der
geiſtigen Welt.


Die Miſſionäre konnten den Indianern gewiſſe alte Ge-
bräuche bei der Geburt eines Kindes, beim Mannbarwerden,
bei der Beſtattung der Toten verbieten; ſie konnten es dahin
bringen, daß ſie ſich nicht mehr die Haut bemalten oder in
Kinn, Naſe und Wangen Einſchnitte machten; ſie konnten
beim großen Haufen die abergläubiſchen Vorſtellungen aus-
rotten, die in manchen Familien im geheimen ſich forterben;
aber es war leichter, Gebräuche abzuſtellen und Erinnerungen
zu verwiſchen, als die alten Vorſtellungen durch neue zu er-
ſetzen. In den Miſſionen iſt dem Indianer ſein Lebens-
unterhalt geſicherter als zuvor. Er liegt nicht mehr in be-
ſtändigem Kampfe mit feindlichen Gewalten, mit Menſchen
und Elementen, und führt ſo dem wilden, unabhängigen
Indianer gegenüber ein einförmigeres, unthätigeres, der Ent-
wickelung der Geiſtes- und Gemütskraft weniger günſtiges
Leben. Wenn er gutmütig iſt, ſo kommt dies nur daher,
weil er die Ruhe liebt, nicht weil er gefühlvoll iſt und ge-
mütlich. Wo er außer Verkehr mit den Weißen auch all
den Gegenſtänden fern geblieben iſt, welche die Kultur der
Neuen Welt zugebracht, hat ſich der Kreis ſeiner Vorſtellungen
nicht erweitert. Alle ſeine Handlungen ſcheinen nur durch
das augenblickliche Bedürfnis beſtimmt zu werden. Er iſt
ſchweigſam, verdroſſen, in ſich gekehrt, ſeine Miene iſt ernſt,
geheimnisvoll. Wer nicht lange in den Miſſionen gelebt hat
und an das Ausſehen der Eingeborenen nicht gewöhnt iſt,
hält ihre Trägheit und geiſtige Starrheit leicht für den Aus-
druck der Schwermut und des Tiefſinns.


Ich habe die Charakterzüge des Indianers und die Ver-
änderungen, die ſein Weſen unter der Zucht der Miſſionäre
erleidet, ſo ſcharf hervorgehoben, um den einzelnen Beobach-
tungen, die den Inhalt dieſes Abſchnittes bilden ſollen, mehr
Intereſſe zu geben. Ich beginne mit der Nation der Chay-
mas, deren über 15000 in den oben beſchriebenen Miſſionen
leben. Dieſe nicht ſehr kriegeriſche Nation, welche Pater
Francisco de Pamplona um die Mitte des 17. Jahrhunderts
in Zucht zu nehmen anfing, hat gegen Weſt die Cumana-
goten, gegen Oſt die Guaraunen, gegen Süd die Kariben zu
[11] Nachbarn. Sie wohnt entlang dem hohen Gebirge des Cocollar
und Guacharo an den Ufern des Guarapiche, des Rio Colo-
rado, des Areo und des Caño de Caripe. Nach der genauen
ſtatiſtiſchen Aufnahme des Paters Präfekten zählte man im
Jahre 1792 in den Miſſionen der aragoneſiſchen Kapuziner
in Cumana neunzehn Miſſionsdörfer; das jüngſte iſt von
1728, und ſie zählten 6433 Einwohner in 1465 Haushal-
tungen; ſechzehn Dörfer de doctrina; das älteſte iſt von 1660,
und ſie hatten 8170 Einwohner in 1766 Familien.


Dieſe Miſſionen hatten in den Jahren 1681, 1697 und
1720 viel zu leiden; die damals noch unabhängigen Kariben
machten Einfälle und brannten ganze Dörfer nieder. Zwiſchen
den Jahren 1730 und 1736 ging die Bevölkerung zurück in-
folge der Verheerungen durch die Blattern, die der kupfer-
farbigen Raſſe immer verderblicher ſind als den Weißen.
Viele Guaraunen, die bereits angeſiedelt waren, entliefen
wieder in ihre Sümpfe. Vierzehn alte Miſſionen blieben
wüſte liegen oder wurden nicht wieder aufgebaut.


Die Chaymas ſind meiſt von kleinem Wuchſe; dies fällt
namentlich auf, wenn man ſie nicht mit ihren Nachbarn, den
Kariben, oder den Payaguas und Guayquilit in Paraguay,
die ſich alle durch hohen Wuchs auszeichnen, ſondern nur mit
den Eingeborenen Amerikas im Durchſchnitt vergleicht. Die
Mittelgröße eines Chaymas beträgt 1 m 57 cm. Ihr Körper
iſt gedrungen, unterſetzt, die Schultern ſind ſehr breit, die
Bruſt flach, alle Glieder rund und fleiſchig. Ihre Hautfarbe
iſt die der ganzen amerikaniſchen Raſſe von den kalten Hoch-
ebenen Quitos und Neugranadas bis herab zu den heißen
Tiefländern am Amazonenſtrom. Die klimatiſchen Unterſchiede
äußern keinen Einfluß mehr auf dieſelbe; ſie iſt durch orga-
niſche Verhältniſſe bedingt, die ſich ſeit Jahrhunderten unab-
änderlich von Geſchlecht zu Geſchlecht fortpflanzen. Gegen
Nord wird die gleichförmige Hautfarbe röter, dem Kupfer
ähnlicher; bei dem Chaymas dagegen iſt ſie dunkelbraun und
nähert ſich dem Lohfarbigen. Der Ausdruck „kupferfarbige
Menſchen“ zur Bezeichnung der Eingeborenen wäre im tropiſchen
Amerika niemals aufgekommen.


Der Geſichtsausdruck der Chaymas iſt nicht eben hart
und wild, hat aber doch etwas Ernſtes, Finſteres. Die Stirn
iſt klein, wenig gewölbt; daher heißt es auch in mehreren
Sprachen dieſes Landſtriches von einem ſchönen Weibe, „ſie
ſei fett und habe eine ſchmale Stirne“. Die Augen der
[12] Chaymas ſind ſchwarz, tiefliegend und ſtark in die Länge
gezogen; ſie ſind weder ſo ſchief geſtellt noch ſo klein wie bei
den Völkern mongoliſcher Raſſe, von denen Jornandes ſagt,
ſie haben „vielmehr Punkte als Augen“, magis puncta quam
lumina.
Indeſſen iſt der Augenwinkel den Schläfen zu
dennoch merklich in die Höhe gezogen; die Augenbrauen ſind
ſchwarz oder dunkelbraun, dünn, wenig geſchweift; die Augen-
lider haben ſehr lange Wimpern, und die Gewohnheit, ſie
wie ſchläfrig niederzuſchlagen, gibt dem Blick der Weiber
etwas Sanftes und läßt das verſchleierte Auge kleiner er-
ſcheinen, als es wirklich iſt. Wenn die Chaymas, wie über-
haupt alle Eingeborenen Südamerikas und Neuſpaniens, durch
die Form der Augen, die vorſpringenden Backenknochen, das
ſtraffe, glatte Haar, den faſt gänzlich mangelnden Bart ſich
der mongoliſchen Raſſe nähern, ſo unterſcheiden ſie ſich von
derſelben auffallend durch die Form der Naſe, die ziemlich
lang iſt, der ganzen Länge nach vorſpringt und bei den
Naſenlöchern dicker wird, welch letztere nach unten gerichtet
ſind wie bei den Völkern kaukaſiſcher Raſſe. Der große
Mund mit breiten, aber nicht dicken Lippen hat häufig einen
gutmütigen Ausdruck. Zwiſchen Naſe und Mund laufen bei
beiden Geſchlechtern zwei Furchen von den Naſenlöchern gegen
die Mundwinkel. Das Kinn iſt ſehr kurz und rund; die
Kinnladen ſind auffallend ſtark und breit.


Die Zähne ſind bei den Chaymas ſchön und weiß wie
bei allen Menſchen von einfacher Lebensweiſe, aber lange
nicht ſo ſtark wie bei den Negern. Den erſten Reiſenden
war der Brauch aufgefallen, mit gewiſſen Pflanzenſäften und
Aetzkalk die Zähne ſchwarz zu färben; gegenwärtig weiß man
nichts mehr davon. Die Völkerſtämme in dieſem Landſtrich
ſind, namentlich ſeit den Einfällen der Spanier, welche Sklaven-
handel trieben, ſo hin und her geſchoben worden, daß die Ein-
wohner von Paria, die Chriſtoph Kolumbus und Ojeda ge-
ſehen, ohne Zweifel nicht vom ſelben Stamme waren wie die
Chaymas. Ich bezweifle ſehr, daß der Brauch des Schwärzens
der Zähne, wie Gomara behauptet, mit ſeltſamen Schönheits-
begriffen 1 zuſammenhängt, oder daß es ein Mittel gegen
[13] Zahnſchmerzen ſein ſollte. Von dieſem Uebel wiſſen die In-
dianer ſo gut wie nichts; auch die Weißen in den ſpaniſchen
Kolonieen, wenigſtens in den heißen Landſtrichen, wo die Tem-
peratur ſo gleichförmig iſt, leiden ſelten daran. Auf dem
Rücken der Kordilleren, in Santa Fé und Popayan ſind ſie
demſelben mehr ausgeſetzt.


Die Chaymas haben, wie faſt alle eingeborenen Völker,
die ich geſehen, kleine, ſchmale Hände. Ihre Füße aber ſind
groß, und die Zehen bleiben beweglicher als gewöhnlich. Alle
Chaymas ſehen einander ähnlich wie nahe Verwandte, und
dieſe gleichförmige Bildung, die von den Reiſenden ſo oft
hervorgehoben worden iſt, wird deſto auffallender, als ſich bei
ihnen zwiſchen dem zwanzigſten und fünfzigſten Jahre das Alter
nicht durch Hautrunzeln, durch graues Haar oder Hinfälligkeit
des Körpers verrät. Tritt man in eine Hütte, ſo kann man
oft unter den Erwachſenen kaum den Vater vom Sohn, die
eine Generation von der anderen unterſcheiden. Nach meiner
Anſicht beruht dieſer Familienzug auf zwei ſehr verſchiedenen
Momenten: auf den örtlichen Verhältniſſen der indianiſchen
Völkerſchaften und auf der niedrigen Stufe ihrer geiſtigen
Entwickelung. Die wilden Völker zerfallen in eine Unzahl
von Stämmen, die ſich tödlich haſſen und niemals Ehen unter-
einander ſchließen, ſelbſt wenn ihre Mundarten demſelben
Sprachſtamme angehören und nur ein kleiner Flußarm oder
eine Hügelkette ihre Wohnſitze trennt. Je weniger zahlreich
die Stämme ſind, deſto mehr muß ſich, wenn ſich jahrhunderte-
lang dieſelben Familien miteinander verbinden, eine gewiſſe
gleichförmige Bildung, ein organiſcher, recht eigentlich natio-
naler Typus feſtſetzen. 1 Dieſer Typus erhält ſich unter der
Zucht der Miſſionen, die nur eine Völkerſchaft unter der Ob-
hut haben. Die Vereinzelung iſt ſo ſtark wie früher; Ehen
werden nur unter Angehörigen derſelben Dorfſchaft geſchloſſen.
Für dieſe Blutsverwandtſchaft, welche ſo ziemlich um eine
1
[14] ganze Völkerſchaft ein Band ſchlingt, hat die Sprache der
Indianer, die in den Miſſionen geboren ſind oder erſt nach
ihrer Aufnahme aus den Wäldern ſpaniſch gelernt haben,
einen naiven Ausdruck. Wenn ſie von Leuten ſprechen, die
zum ſelben Stamme gehören, ſagen ſie mis parientes, meine
Verwandten.


Zu dieſen Urſachen, die ſich nur auf die Vereinzelung
beziehen, deren Einfluß ſich ja auch bei den europäiſchen Juden,
bei den indiſchen Kaſten und allen Gebirgsvölkern bemerklich
macht, kommen nun noch andere, bisher weniger beachtete.
Ich habe ſchon früher bemerkt, daß es vorzüglich die Geiſtes-
bildung iſt, was Menſchengeſichter voneinander verſchieden
macht. Barbariſche Nationen haben viel mehr eine Stamm-
oder Hordenphyſiognomie, als eine, die dieſem oder jenem
Individuum zukäme. Der wilde Menſch verhält ſich hierin
dem gebildeten gegenüber wie die Tiere einer und derſelben
Art, die zum Teil in der Wildnis leben, während die anderen
in der Umgebung des Menſchen gleichſam an den Segnungen
und den Uebeln der Kultur teilnehmen. Abweichungen in
Körperbau und Farbe kommen nur bei den Haustieren häufig
vor. Welcher Abſtand, was Beweglichkeit der Züge und mannig-
faltigen phyſiognomiſchen Ausdruck betrifft, zwiſchen den Hun-
den, die in der Neuen Welt wieder verwildert ſind, und den
Hunden in einem wohlhabenden Hauſe, deren geringſte Launen
man befriedigt! Beim Menſchen und bei den Tieren ſpiegeln
ſich die Regungen der Seele in den Zügen ab, und die Züge
werden deſto beweglicher, je häufiger, mannigfaltiger und an-
dauernder die Empfindungen ſind. Aber der Indianer in
den Miſſionen, von aller Kultur abgeſchnitten, wird allein
vom phyſiſchen Bedürfnis beſtimmt, und da er dieſes im herr-
lichen Klima faſt mühelos befriedigt, führt er ein träges, ein-
förmiges Leben. Unter den Gemeindegliedern herrſcht die
vollkommenſte Gleichheit, und dieſe Einförmigkeit, dieſe Starr-
heit der Verhältniſſe drückt ſich auch in den Geſichtszügen
der Indianer aus.


Unter der Zucht der Mönche wandeln heftige Leiden-
ſchaften, wie Groll und Zorn, den Eingeborenen ungleich
ſeltener an, als wenn er in den Wäldern lebt. Wenn der
wilde Menſch ſich raſchen, heftigen Gemütsbewegungen über-
läßt, ſo wird ſein bis dahin ruhiges, ſtarres Geſicht auf ein-
mal krampfhaft verzerrt; aber ſeine Aufregung geht um ſo
raſcher vorüber, je ſtärker ſie iſt. Beim Indianer in den
[15] Miſſionen dagegen iſt, wie ich am Orinoko oft beobachten
konnte, der Zorn nicht ſo heftig, nicht ſo offen, aber er hält
länger an. Uebrigens iſt es auf allen Stufen menſchlicher
Entwickelung nicht die Stärke oder die augenblickliche Ent-
feſſelung der Leidenſchaften, was den Zügen den eigentlichen
Ausdruck gibt, ſondern vielmehr jene Reizbarkeit der Seele,
die uns in beſtändiger Berührung mit der Außenwelt erhält,
Zahl und Maß unſerer Schmerzen und unſerer Freuden
ſteigert und auf Phyſiognomie, Sitten und Sprache zugleich
zurückwirkt. Wenn Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit der
Züge das belebte Naturreich verſchönern, ſo iſt auch nicht zu
leugnen, daß beide zwar nicht allein Produkte der Kultur
ſind, wohl aber mit ihr ſich ſteigern. In der großen Völker-
familie kommen dieſe Vorzüge keiner Raſſe in höherem Maße
zu als der kaukaſiſchen oder europäiſchen. Nur beim weißen
Menſchen tritt das Blut plötzlich in das Gewebe der Haut
und tritt damit jener leiſe Wechſel der Geſichtsfarbe ein, der
den Ausdruck der Gemütsbewegungen ſo bedeutend verſtärkt.
„Wie ſoll man Menſchen trauen, die nicht rot werden können?“
ſagt der Europäer in ſeinem eingewurzelten Haſſe gegen den
Neger und den Indianer. Man muß übrigens zugeben, daß
dieſe Starrheit der Züge nicht allen Raſſen mit ſehr dunkel
gefärbter Haut zukommt; ſie iſt beim Afrikaner lange nicht
ſo bedeutend wie bei den eingeborenen Amerikanern.


Dieſer phyſiſchen Schilderung der Chaymas laſſen wir
einige allgemeine Bemerkungen über ihre Lebensweiſe und
ihre Sitten folgen. Da ich die Sprache des Volkes nicht
verſtehe, kann ich keinen Anſpruch darauf machen, während
meines nicht ſehr langen Aufenthaltes in den Miſſionen ihren
Charakter durchgängig kennen gelernt zu haben. So oft im
folgenden von den Indianern die Rede iſt, ſtelle ich das,
was wir von den Miſſionären erfahren, neben das Wenige,
was wir ſelbſt beobachten konnten.


Die Chaymas haben, wie alle halbwilden Völker in ſehr
heißen Ländern, eine entſchiedene Abneigung gegen Kleider.
Von mittelalterlichen Schriftſtellern hören wir, daß im nörd-
lichen Europa die Hemden und Beinkleider, welche die Miſ-
ſionäre austeilten, nicht wenig zur Bekehrung der Heiden bei-
getragen haben. In der heißen Zone dagegen ſchämen ſich
die Eingeborenen, wie ſie ſagen, daß ſie Kleider tragen ſollen,
und ſie laufen in die Wälder, wenn man ſie zu frühe nötigt,
ihr Nacktgehen aufzugeben. Bei den Chaymas bleiben, trotz
[16] des Eiferns der Mönche, Männer und Weiber im Inneren
der Häuſer nackt. Wenn ſie durch das Dorf gehen, tragen
ſie eine Art Hemd aus Baumwollenzeug, das kaum bis zum
Knie reicht. Bei den Männern hat dasſelbe Aermel, bei den
Weibern und den Jungen bis zum zehnten, zwölften Jahre
bleiben Arme, Schultern und der obere Teil der Bruſt frei.
Das Hemd iſt ſo geſchnitten, daß Vorderſtück und Rückenſtück
durch zwei ſchmale Bänder auf der Schulter zuſammenhängen.
Es kam vor, daß wir Eingeborenen außerhalb der Miſſion
begegneten, die, namentlich bei Regenwetter, ihr Hemd aus-
gezogen hatten und es aufgerollt unter dem Arm trugen.
Sie wollten ſich lieber auf den bloßen Leib regnen als
ihre Kleider naß werden laſſen. Die älteſten Weiber
verſteckten ſich dabei hinter die Bäume und ſchlugen ein lautes
Gelächter auf, wenn wir an ihnen vorüber kamen. Die Miſ-
ſionäre klagen meiſt, daß Scham und Gefühl für das An-
ſtändige bei den jungen Mädchen nicht viel entwickelter ſeien
als bei den Männern. Schon Ferdinand Kolumbus erzählt,
ſein Vater habe im Jahr 1498 auf der Inſel Trinidad völlig
nackte Weiber angetroffen, während die Männer den Guayuco
trugen, der viel mehr eine ſchmale Binde iſt als eine Schürze.
Zur ſelben Zeit unterſchieden ſich auf der Küſte von Paria
die Mädchen von den verheirateten Weibern dadurch, daß ſie,
wie Kardinal Bembo behauptet, ganz nackt gingen, oder, nach
Gomara, dadurch, daß ſie einen anders gefärbten Guayuco
trugen. Dieſe Binde, die wir noch bei den Chaymas und
allen nackten Völkerſchaften am Orinoko angetroffen, iſt nur
5 bis 7 cm breit und wird mit beiden Enden an einer Schnur
befeſtigt, die mitten um den Leib gebunden iſt. Die Mädchen
heiraten häufig mit zwölf Jahren; bis zum neunten geſtatten
ihnen die Miſſionäre, nackt, das heißt ohne Hemd, zur Kirche
zu kommen. Ich brauche hier nicht daran zu erinnern, daß
bei den Chaymas, wie in allen ſpaniſchen Miſſionen und india-
niſchen Dörfern, die ich beſucht, Beinkleider, Schuhe und Hut
Luxusartikel ſind, von denen die Eingeborenen nichts wiſſen.
Ein Diener, der uns auf der Reiſe nach Charipe und an den
Orinoko begleitet, und den ich mit nach Frankreich gebracht,
konnte ſich, nachdem wir ans Land geſtiegen, nicht genug ver-
wundern, als er einen Bauern mit dem Hut auf dem Kopf
ackern ſah, und er glaubte „in einem armſeligen Lande zu
ſein, wo ſogar die Edelleute (los mismos caballeros) hinter
dem Pfluge gehen“.


[17]

Die Weiber der Chaymas ſind nach unſeren Schönheits-
begriffen nicht hübſch; indeſſen haben die jungen Mädchen
etwas Sanftes und Wehmütiges im Blick, das von dem ein
wenig harten und wilden Ausdruck des Mundes angenehm
abſticht. Die Haare tragen ſie in zwei lange Zöpfe geflochten.
Die Haut bemalen ſie ſich nicht und kennen in ihrer Armut
keinen anderen Schmuck als Hals- und Armbänder aus
Muſcheln, Vögelknochen und Fruchtkernen. Männer und
Weiber ſind ſehr muskulös, aber der Körper iſt fleiſchig mit
runden Formen. Ich brauche kaum zu ſagen, daß mir nie
ein Individuum mit einer natürlichen Mißbildung aufgeſtoßen
iſt; dasſelbe gilt von den vielen tauſend Kariben, Muyscas,
Mexikanern und Peruanern, die wir in fünf Jahren geſehen.
Dergleichen Mißbildungen ſind bei gewiſſen Raſſen ungemein
ſelten, beſonders aber bei Völkern, deren Hautgewebe ſtark
gefärbt iſt. Ich kann nicht glauben, daß ſie allein Folgen
höherer Kultur, einer weichlicheren Lebensweiſe und der Sitten-
verderbnis ſind. In Europa heiratet ein ſehr buckeliges oder
ſehr häßliches Mädchen, wenn ſie Vermögen hat, und die
Kinder erben häufig die Mißbildung der Mutter. Im wilden
Zuſtand, in dem zugleich vollkommene Gleichheit herrſcht,
kann nichts einen Mann vermögen, eine Mißbildete oder ſehr
Kränkliche zum Weibe zu nehmen. Hat eine ſolche das ſeltene
Glück, daß ſie das Alter der Reife erreicht, ſo ſtirbt ſie ſicher
kinderlos. Man möchte glauben, die Wilden ſeien alle ſo
wohlgebildet und ſo kräftig, weil die ſchwächlichen Kinder aus
Verwahrloſung frühe wegſterben und nur die kräftigen am
Leben bleiben; aber dies kann nicht von den Indianern in
den Miſſionen gelten, welche die Sitten unſerer Bauern haben,
noch auch von den Mexikanern in Cholula und Tlascala, die
in einem Wohlſtand leben, den ſie von civiliſierteren Vor-
fahren ererbt. Wenn die kupferfarbige Raſſe auf allen Kultur-
ſtufen dieſelbe Starrheit zeigt, dieſelbe Unfähigkeit, vom ur-
ſprünglichen Typus abzuweichen, ſo müſſen wir darin doch
wohl großenteils angeborene Anlage erblicken, das, worin eben
der eigentümliche Raſſencharakter beſteht. Ich ſage abſichtlich:
großenteils weil ich den Einfluß der Kultur nicht ganz aus-
ſchließen möchte. Beim kupferfarbigen Menſchen, wie beim
Weißen, wird der Körper durch Luxus und Weichlichkeit ge-
ſchwächt, und aus dieſem Grunde waren früher Mißbildungen
in Cuzco und Tenochtitlan häufiger; aber unter den heutigen
Mexikanern, die alle Landbauern ſind und in der größten
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 2
[18] Sitteneinfalt leben, hätte Montezuma nimmermehr die Zwerge
und Buckeligen aufgetrieben, die Bernal Diaz bei ſeiner
Mahlzeit erſcheinen ſah.


Die Sitte des frühzeitigen Heiratens iſt, wie die Ordens-
geiſtlichen bezeugen, der Zunahme der Bevölkerung durchaus
nicht nachteilig. Dieſe frühe Mannbarkeit iſt Raſſencharakter
und keineswegs Folge des heißen Klimas; ſie kommt ja auch
auf der Nordweſtküſte von Amerika, bei den Eskimo vor, ſo-
wie in Aſien bei den Kamtſchadalen und Korjäken, wo häufig
zehnjährige Mädchen Mütter ſind. Man kann ſich nur wundern,
daß die Tragezeit, die Dauer der Schwangerſchaft ſich im
geſunden Zuſtande bei keiner Raſſe und in keinem Klima
verändert.


Die Chaymas haben beinahe keinen Bart am Kinn, wie
die Tunguſen und andere Völker mongoliſcher Raſſe. Die
wenigen Haare, die ſproſſen, reißen ſie aus; aber im all-
gemeinen iſt es unrichtig, wenn man behauptet, ſie haben
nur deshalb keinen Bart, weil ſie denſelben ausraufen. Auch
ohne dieſen Brauch wären die Indianer größtenteils ziemlich
bartlos. Ich ſage größtenteils, denn es gibt Völkerſchaften,
die in dieſer Beziehung ganz vereinzelt neben den anderen
ſtehen und deshalb um ſo mehr Aufmerkſamkeit verdienen.
Hierher gehören in Nordamerika die Chipewyans, die Mackenzie
beſucht hat, und die Yabipais bei den toltekiſchen Ruinen
von Moqui, beide mit dichtem Bart, in Südamerika die Pata-
gonen und Guarani. Unter letzteren ſieht man einzelne ſogar
mit behaarter Bruſt. Wenn die Chaymas, ſtatt ſich den
dünnen Kinnbart auszuraufen, ſich häufig raſieren, ſo wächſt
der Bart ſtärker. Solches ſah ich mit Erfolg junge Indianer
thun, die als Meßdiener lebhaft wünſchten, den Vätern Kapu-
zinern, ihren Miſſionären und Meiſtern zu gleichen. Beim
Volk im ganzen aber iſt und bleibt der Bart in dem Maße
verhaßt, in dem er bei den Orientalen in Ehren ſteht. Dieſer
Widerwille fließt aus derſelben Quelle wie die Vorliebe für
abgeflachte Stirnen, die an den Bildniſſen aztekiſcher Gott-
heiten und Helden in ſo ſeltſamer Weiſe zu Tage kommt.
Den Völkern gilt immer für ſchön, was ihre eigene Körper-
bildung, ihre Nationalphyſiognomie beſonders auszeichnet. 1
[19] Da ihnen nun die Natur ſehr wenig Bart, eine ſchmale Stirn
und eine rotbraune Haut gegeben hat, ſo hält ſich jeder für
deſto ſchöner, je weniger ſein Körper behaart, je flacher ſein
Kopf, je lebhafter ſeine Haut mit Roucou, Chica oder
irgend einer kupferroten Farbe bemalt iſt.


Die Lebensweiſe der Chaymas iſt höchſt einförmig. Sie
legen ſich regelmäßig um ſieben Uhr abends nieder und ſtehen
lange vor Tag, um halb fünf Uhr morgens, auf. Jeder
Indianer hat ein Feuer bei ſeiner Hängematte. Die Weiber
ſind ſo froſtig, daß ich ſie in der Kirche vor Kälte zittern
ſah, wenn der hundertteilige Thermometer noch auf 18°
ſtand. Im Inneren ſind die Hütten der Indianer äußerſt
ſauber. Ihr Bettzeug, ihre Schilfmatten, ihre Töpfe mit
Maniok oder gegorenem Mais, ihre Bogen und Pfeile, alles
befindet ſich in der ſchönſten Ordnung. Männer und Weiber
baden täglich, und da ſie faſt immer nackt gehen, ſo kann bei
ihnen die Unreinlichkeit nicht aufkommen, die beim gemeinen
Volk in kalten Ländern vorzugsweiſe von den Kleidern her-
rührt. Außer dem Haus im Dorfe haben ſie meiſt auf ihren
Conucos, an einer Quelle oder am Eingang einer recht
einſamen Schlucht, eine mit Palm- und Bananenblättern ge-
deckte Hütte von geringem Umfang. Obgleich ſie auf dem
Conuco weniger bequem leben, halten ſie ſich doch dort auf,
ſo oft ſie nur können. Schon oben gedachten wir ihres un-
widerſtehlichen Triebes, die Geſellſchaft zu fliehen und zum
Leben in der Wildnis zurückzukehren. Die kleinſten Kinder
entlaufen nicht ſelten ihren Eltern und ziehen vier, fünf Tage
in den Wäldern herum, von Früchten, von Palmkohl und
Wurzeln ſich nährend. Wenn man in den Miſſionen reiſt,
ſieht man häufig die Dörfer faſt ganz leer ſtehen, weil die
Einwohner in ihren Gärten ſind oder auf der Jagd, al monte.
Bei den civiliſierten Völkern fließt wohl die Jagdluſt zum
Teil aus denſelben moraliſchen Quellen, aus dem Reiz der
Einſamkeit, dem angeborenen Unabhängigkeitstrieb, dem tiefen
Eindruck, den die Natur überall auf den Menſchen macht,
wo er ſich ihr allein gegenüberſieht.


Entbehrung und Leiden ſind auch bei den Chaymas, wie
bei allen halbbarbariſchen Völkern, das Los der Weiber. Die
ſchwerſte Arbeit fällt ihnen zu. Wenn wir die Chaymas
abends aus ihrem Garten heimkommen ſahen, trug der Mann
nichts als das Meſſer (Machete), mit dem er ſich einen Weg
durch das Geſträuch bahnt. Das Weib ging gebückt unter
[20] einer gewaltigen Laſt Bananen und trug ein Kind auf dem
Arm, und zwei andere ſaßen nicht ſelten oben auf dem Bündel.
Trotz dieſer geſellſchaftlichen Unterordnung ſchienen mir die
Weiber der ſüdamerikaniſchen Indianer glücklicher als die der
Wilden im Norden. Zwiſchen den Alleghanies und dem Miſſiſ-
ſippi werden überall, wo die Eingeborenen nicht größten-
teils von der Jagd leben, Mais, Bohnen und Kürbiſſe nur
von den Weibern gebaut; der Mann gibt ſich mit dem Acker-
bau gar nicht ab. In der heißen Zone gibt es nur ſehr
wenige Jägervölker, und in den Miſſionen arbeiten die Män-
ner im Felde ſo gut wie die Weiber.


Man macht ſich keinen Begriff davon, wie ſchwer die
Indianer Spaniſch lernen. Sie haben einen Abſcheu davor,
ſolange ſie mit den Weißen nicht in Berührung kommen und
ihnen der Ehrgeiz fremd bleibt, civiliſierte Indianer zu heißen,
oder, wie man ſich in den Miſſionen ausdrückt, latiniſierte
Indianer, Indios muy latinos. Was mir aber nicht allein
bei den Chaymas, ſondern in allen ſehr entlegenen Miſſionen,
die ich ſpäter beſucht, am meiſten auffiel, das iſt, daß es
den Indianern ſo ungemein ſchwer wird, die einfachſten Ge-
danken zuſammenzubringen und auf ſpaniſch auszudrücken,
ſelbſt wenn ſie die Bedeutung der Worte und den Satzbau
ganz gut kennen. Man ſollte ſie für noch einfältiger halten
als Kinder, wenn ein Weißer ſie über Gegenſtände befragt,
mit denen ſie von Kindesbeinen an vertraut ſind. Die Miſ-
ſionäre verſichern, dieſes Stocken ſei nicht Folge der Schüchtern-
heit; bei den Indianern, die täglich ins Haus des Miſſionärs
kommen und bei der öffentlichen Arbeit die Aufſicht führen,
ſei es keineswegs natürliche Beſchränktheit, ſondern nur Un-
vermögen, den Mechanismus einer von ihren Landesſprachen
abweichenden Sprache zu handhaben. Je unkultivierter der
Menſch iſt, deſto mehr moraliſche Starrheit und Unbiegſam-
keit kommt ihm zu. Es iſt alſo nicht zu verwundern, wenn
der Indianer, der vereinſamt in den Miſſionen lebt, Hemm-
niſſen begegnet, von denen diejenigen nichts wiſſen, die mit
Meſtizen, Mulatten und Weißen in der Nähe der Städte in
Pfarrdörfern wohnen. Ich war oft erſtaunt, mit welcher
Geläufigkeit in Caripe der Alkalde, der Governador,
der Sargento mayor ſtundenlang zu den vor der Kirche
verſammelten Indianern ſprachen; ſie verteilten die Arbeiten
für die Woche, ſchalten die Trägen, drohten den Unanſtel-
ligen. Dieſe Häuptlinge, die ſelbſt Chaymas ſind und die
[21] Befehle des Miſſionärs der Gemeinde zur Kenntnis bringen,
ſprechen dabei alle auf einmal, mit lauter Stimme, mit ſtarker
Betonung, faſt ohne Gebärdenſpiel. Ihre Züge bleiben dabei
unbeweglich, ihr Blick iſt ernſt gebieteriſch.


Dieſelben Menſchen, die ſo viel Geiſteslebendigkeit ver-
rieten und ziemlich gut Spaniſch verſtanden, konnten ihre Ge-
danken nicht mehr zuſammenbringen, wenn ſie uns auf unſeren
Ausflügen in der Nähe des Kloſters begleiteten und wir durch
die Mönche Fragen an ſie richten ließen. Man konnte ſie
ja oder nein ſagen laſſen, je nachdem man die Frage ſtellte,
und ihre Trägheit und nebenbei auch jene ſchlaue Höflichkeit,
die auch dem roheſten Indianer nicht ganz fremd iſt, ließ ſie
nicht ſelten ihren Antworten die Wendung geben, auf die
unſere Fragen zu deuten ſchienen. Wenn ſich Reiſende auf
die Ausſagen von Eingeborenen berufen wollen, können ſie
vor dieſem gefälligen Jaſagen ſich nicht genug in acht nehmen.
Ich wollte einmal einen indianiſchen Alkalden auf die Probe
ſtellen und fragte ihn, ob er nicht meine, der Bach Caripe,
der aus der Höhle des Guacharo herauskommt, laufe auf der
anderen Seite den Berg herauf und durch eine unbekannte
Oeffnung herein. Er ſchien ſich eine Weile zu beſinnen und
ſagte dann zur Unterſtützung meiner Annahme: „Freilich,
wie wäre auch ſonſt vorn in der Höhle immer Waſſer im
Bett?“


Alle Zahlenverhältniſſe faſſen die Chaymas außerordent-
lich ſchwer. Ich habe nicht einen geſehen, den man nicht
ſagen laſſen konnte, er ſei achtzehn oder aber ſechzig Jahre
alt. Marsden hat dieſelbe Beobachtung an den Malaien auf
Sumatra gemacht, die doch ſeit mehr als fünfhundert Jahren
civiliſiert ſind. Die Chaymasſprache hat Worte, die ziemlich
große Zahlen ausdrücken, aber wenige Indianer wiſſen damit
umzugehen, und da ſie im Verkehr mit den Miſſionären dazu
genötigt ſind, ſo zählen die fähigſten ſpaniſch, aber ſo, daß
man ihnen die geiſtige Anſtrengung anſieht, bis auf dreißig
oder fünfzig. In der Chaymasſprache zählen dieſelben Men-
ſchen nicht über fünf oder ſechs. Es iſt natürlich, daß ſie
ſich vorzugsweiſe der Worte einer Sprache bedienen, in der
ſie die Reihen der Einer und der Zehner kennen gelernt
haben. Seit die europäiſchen Gelehrten es der Mühe wert
halten, den Bau der amerikaniſchen Sprachen zu ſtudieren,
wie man den Bau der ſemitiſchen Sprachen, des Griechiſchen
und des Lateiniſchen ſtudiert, ſchreibt man nicht mehr der
[22] Mangelhaftigkeit der Sprachen zu, was nur auf Rechnung
der Roheit der Völker kommt. Man erkennt an, daß faſt
überall die Mundarten reicher ſind und feinere Wendungen
aufzuweiſen haben, als man nach der Kulturloſigkeit der
Völker, die ſie ſprechen, vermuten ſollte. Ich bin weit ent-
fernt, die Sprachen der Neuen Welt den ſchönſten Sprachen
Aſiens und Europas gleichſtellen zu wollen; aber keine von
dieſen hat ein klareres, regelmäßigeres und einfacheres Zahl-
ſyſtem als das Qquichua und das Aztekiſche, die in den
großen Reichen Cuzco und Anahuac geſprochen wurden.
Dürfte man nun ſagen, in dieſen Sprachen zähle man nicht
über vier, weil es in den Dörfern, wo ſich dieſelben unter
den armen Bauern von peruaniſchem oder mexikaniſchem
Stamm erhalten haben, Menſchen gibt, die nicht weiter zählen
können? Die ſeltſame Anſicht, nach der ſo viele Völker
Amerikas nur bis zu fünf, zehn oder zwanzig ſollen zählen
können, iſt durch Reiſende aufgekommen, die nicht wußten,
daß die Menſchen, je nach dem Geiſt der verſchiedenen Mund-
arten, in allen Himmelsſtrichen nach fünf, zehn oder zwanzig
Einheiten (das heißt nach den Fingern einer Hand, beider
Hände, der Hände und Füße zuſammen) einen Abſchnitt
machen, und daß ſechs, dreizehn oder zwanzig auf verſchiedene
Weiſe durch fünf eins, zehn drei und „Fuß zehn“ ausgedrückt
werden. Kann man ſagen, die Zahlen der Europäer gehen
nicht über zehn, weil wir Halt machen, wenn eine Gruppe
von zehn Einheiten beiſammen iſt?


Die amerikaniſchen Sprachen ſind ſo ganz anders gebaut,
als die Töchterſprachen des Lateiniſchen, daß die Jeſuiten,
welche alles, was ihre Anſtalten fördern konnte, aufs ſorg-
fältigſte in Betracht zogen, bei den Neubekehrten ſtatt des
Spaniſchen einige indianiſche ſehr reiche, ſehr regelmäßige und
weit verbreitete Sprachen, namentlich das Qquichua und das
Guarani, einführten. Sie ſuchten durch dieſe Sprachen die
ärmeren, plumperen, im Satzbau nicht ſo regelmäßigen Mund-
arten zu verdrängen. Und der Tauſch gelang ohne alle
Schwierigkeit; die Indianer verſchiedener Stämme ließen ſich
ganz gelehrig dazu herbei, und ſo wurden dieſe verallgemei-
nerten amerikaniſchen Sprachen zu einem bequemen Verkehrs-
mittel zwiſchen den Miſſionären und den Neubekehrten. Mit
Unrecht würde man glauben, der Sprache der Inka ſei nur
darum der Vorzug vor dem Spaniſchen gegeben worden, um
die Miſſionen zu iſolieren und ſie dem Einfluß zweier auf-
[23] einander eiferſüchtiger Gewalten, der Biſchöfe und der Statt-
halter, zu entziehen; abgeſehen von ihrer Politik hatten die
Jeſuiten noch andere Gründe, wenn ſie gewiſſe indianiſche
Sprachen zu verbreiten ſuchten. Dieſe Sprachen boten ihnen
ein bequemes Mittel, um ein Band um zahlreiche Horden zu
ſchlingen, die bis jetzt vereinzelt, einander feindlich geſinnt,
durch die Sprachverſchiedenheit geſchieden waren; denn in
unkultivierten Ländern bekommen die Dialekte nach mehreren
Jahrhunderten nicht ſelten die Form oder doch das Ausſehen
von Urſprachen.


Wenn es heißt, ein Däne lerne leichter Deutſch, ein
Spanier leichter Italieniſch oder Lateiniſch als jede andere
Sprache, ſo meint man zunächſt, dies rühre daher, daß alle
germaniſchen Sprachen oder alle Sprachen des lateiniſchen
Europas eine Menge Wurzeln miteinander gemein haben;
man vergißt, daß es neben dieſer Aehnlichkeit der Laute eine
andere gibt, die Völker von gemeinſamem Urſprung noch un-
gleich tiefer anregt. Die Sprache iſt keineswegs ein Ergebnis
willkürlicher Uebereinkunft; der Mechanismus der Flexionen,
die grammatiſchen Formen, die Möglichkeit der Inverſionen,
alles iſt ein Ausfluß unſeres Inneren, unſerer eigentümlichen
Organiſation. Im Menſchen lebt ein unbewußt thätiges und
ordnendes Prinzip, das bei Völkern von verſchiedener Raſſe
auch verſchieden angelegt iſt. Das mehr oder weniger rauhe
Klima, der Aufenthalt im Hochgebirge oder am Meeresufer,
die ganze Lebensweiſe mögen die Laute umwandeln, die
Gemeinſamkeit der Wurzeln unkenntlich machen und ihrer
neue erzeugen; aber alle dieſe Urſachen laſſen den Bau und
das innere Getriebe der Sprachen unberührt. Die Einflüſſe
des Klimas und aller äußeren Verhältniſſe ſind ein verſchwin-
dendes Moment dem gegenüber, was der Raſſencharakter
wirkt, die Geſamtheit der dem Menſchen eigentümlichen, ſich
vererbenden Anlagen.


In Amerika nun — und dieſes Ergebnis der neueſten
Forſchungen iſt für die Geſchichte unſerer Gattung von der
höchſten Bedeutung — in Amerika haben vom Lande der
Eskimo bis zum Orinoko, und von den heißen Ufern dieſes
Fluſſes bis zum Eiſe der Magelhaensſchen Meerenge den Wur-
zeln nach ganz verſchiedene Stammſprachen ſozuſagen die-
ſelbe Phyſiognomie. Nicht allein ausgebildete Sprachen, wie
die der Inka, das Aymara, Guarani, Cora und das Mexi-
kaniſche, ſondern auch ſehr rohe Sprachen zeigen in ihrem
[24] grammatiſchen Bau die überraſchendſten Aehnlichkeiten. Idiome,
deren Wurzeln einander um nichts ähnlicher ſind als die
Wurzeln des Slawiſchen und des Baskiſchen, gleichen einander
im inneren Mechanismus wie Sanskrit, Perſiſch, Griechiſch
und die germaniſchen Sprachen. So findet man faſt überall
in der Neuen Welt, daß die Zeitwörter eine ganze Menge
Formen und Tempora haben, ein künſtliches, ſehr verwickeltes
Verfahren, um entweder durch Flexion der perſönlichen Für-
wörter, welche die Wortendungen bilden, oder durch Ein-
ſchieben eines Suffixes zum voraus Weſen und Verhältniſſe
des Subjektes zu bezeichnen, um anzugeben, ob dasſelbe lebendig
iſt oder leblos, männlichen oder weiblichen Geſchlechtes, einfach
oder in vielfacher Zahl. Eben wegen dieſer allgemeinen Aehn-
lichkeit im Bau, und weil amerikaniſche Sprachen, die auch
nicht ein Wort miteinander gemein haben (z. B. das Mexi-
kaniſche und das Qquichua), in ihrer inneren Gliederung
übereinkommen und von den Töchterſprachen des Lateiniſchen
durchaus abweichen, lernt der Indianer in den Miſſionen
viel leichter eine amerikaniſche Sprache als die des europäi-
ſchen Mutterlandes. In den Wäldern am Orinoko habe ich
die roheſten Indianer zwei, drei Sprachen ſprechen hören.
Häufig verkehren Wilde verſchiedener Nationen in einem
anderen als ihrem eigenen Idiom miteinander.


Hätte man das Syſtem der Jeſuiten befolgt, ſo wären
bereits weit verbreitete Sprachen faſt allgemein geworden.
Auf Terra Firma und am Orinoko ſpräche man jetzt nur
karibiſch oder tamanakiſch, im Süden und Südweſten Qqui-
chua, Guarani, Omagua und araukaniſch. Die Miſſionäre
könnten ſich dieſe Sprachen zu eigen machen, denen gramma-
tiſche Formen höchſt regelmäßig und faſt ſo feſt ſind wie im
Griechiſchen und Sanskrit, und würden ſo den Eingeborenen,
über die ſie herrſchen, weit näher kommen. Die zahlloſen
Schwierigkeiten in der Verwaltung von Miſſionen, die aus
einem Dutzend Völkerſchaften beſtehen, verſchwänden mit der
Sprachverwirrung. Die wenig verbreiteten Mundarten würden
tote Sprachen; aber der Indianer behielte mit einer ameri-
kaniſchen Sprache auch ſeine Individualität und ſeine natio-
nale Phyſiognomie. Man erreichte ſo auf friedlichem Wege,
was die allzuſehr geprieſenen Inka, die den Fanatismus
in die Neue Welt eingeführt, mit Waffengewalt durchzuführen
begonnen.


Wie mag man ſich auch wundern, daß die Chaymas, die
[25] Kariben, die Saliven oder Otomaken im Spaniſchen ſo ge-
ringe Fortſchritte machen, wenn man bedenkt, daß fünf-, ſechs-
hundert Indianern ein Weißer, ein Miſſionär gegenüberſteht,
und daß dieſer alle Mühe hat, einen Governador, Alkaden
oder Fiskal zum Dolmetſcher heranzubilden! Könnte man
ſtatt der Zucht der Miſſionäre die Indianer auf anderem
Wege civiliſieren oder vielmehr ihre Sitten ſänftigen (denn
der unterworfene Indianer hat weniger rohe Sitten, ohne
deshalb gebildeter zu ſein), könnte man die Weißen, ſtatt ſie
fern zu halten, in neugebildeten Gemeinden unter den Ein-
geborenen leben laſſen, ſo wären die amerikaniſchen Sprachen
bald von den europäiſchen verdrängt, und die Eingeborenen
überkämen mit den letzteren die gewaltige Maſſe neuer Vor-
ſtellungen, welche die Früchte der Kultur ſind. Dann brauchte
man allerdings keine allgemeinen Sprachen, wie die der Inka
oder das Guarani, einzuführen. Aber nachdem ich mich in
den Miſſionen des ſüdlichen Amerikas ſo lange aufgehalten,
nachdem ich die Vorzüge und die Mißbräuche des Regimentes
der Miſſionäre kennen gelernt, darf ich wohl die Anſicht aus-
ſprechen, daß dieſes Regiment nicht ſo leicht abzuſchaffen ſein
wird, ein Syſtem, das ſich gar wohl bedeutend verbeſſern
läßt und das als Vorbereitung und Uebergang zu einem
unſeren Begriffen von bürgerlicher Freiheit entſprechenderen
erſcheint. Man wird mir einwenden, die Römer haben in
Gallien, in Bätika, in der Provinz Afrika mit ihrer Herr-
ſchaft ſchnell auch ihre Sprache eingeführt, aber die einge-
borenen Völker dieſer Länder waren keine Wilde. Sie wohnten
in Städten, ſie kannten den Gebrauch des Geldes, ſie hatten
bürgerliche Einrichtungen, die eine ziemlich hohe Stufe der
Kultur vorausſetzen. Durch die Lockungen des Warentauſches
und den langen Aufenthalt der Legionen waren ſie mit den
Eroberern in unmittelbare Berührung gekommen. Dagegen
ſehen wir der Einführung der Sprachen der Mutterländer
überall faſt unüberwindliche Hinderniſſe entgegentreten, wo
karthaginenſiſche, griechiſche oder römiſche Kolonieen auf wirk-
lich barbariſchen Küſten angelegt wurden. Zu allen Zeiten
und unter allen Himmelsſtrichen iſt Flucht der erſte Gedanke
des Wilden dem civiliſierten Menſchen gegenüber.


Die Sprache der Chaymas ſchien mir nicht ſo wohl-
klingend wie das Karibiſche, das Saliviſche und andere Orinoko-
ſprachen. Namentlich hat ſie weniger in accentuierten Vo-
kalen ausklingende Endungen. Silben wie guaz, ez, puic,
[26] pur
kommen auffallend oft vor. Wir werden bald ſehen,
daß dieſe Endungen zum Teil Flexionen des Zeitwortes ſein
ſind, oder aber Poſtpoſitionen, die nach dem Weſen der
amerikaniſchen Sprachen den Worten ſelbſt einverleibt ſind.
Mit Unrecht würde man dieſe Rauheit des Sprachtones dem
Leben der Chaymas im Gebirge zuſchreiben, denn ſie ſind
urſprünglich dieſem gemäßigten Klima fremd. Sie ſind erſt
durch die Miſſionäre dorthin verſetzt worden, und bekanntlich
war den Chaymas, wie allen Bewohnern heißer Landſtriche,
die Kälte in Caripe, wie ſie es nennen, anfangs ſehr zu-
wider. Während unſeres Aufenthaltes im Kapuzinerkloſter
haben Bonpland und ich ein kleines Verzeichnis von Chay-
masworten angelegt. Ich weiß wohl, daß der Bau und die
grammatiſchen Formen für die Sprachen weit bezeichnender
ſind als die Analogie der Laute und der Wurzeln, und daß
dieſe Analogie der Laute nicht ſelten in verſchiedenen Dia-
lekten derſelben Sprache völlig unkenntlich wird; denn die
Stämme, in welche eine Nation zerfällt, haben häufig für
dieſelben Gegenſtände völlig verſchiedene Benennungen. So
kommt es, daß man ſehr leicht irre geht, wenn man, die
Flexionen außer Augen laſſend, nur nach den Wurzeln, z. B.
nach den Worten für Mond, Himmel, Waſſer, Erde, zwei
Idiome allein wegen der Unähnlichkeit der Laute für völlig
verſchieden erklärt. Trotz dieſer Quelle des Irrtums thun,
denke ich, die Reiſenden gut, wenn ſie immer alles Material
ſammeln, das ihnen zugänglich iſt. Machen ſie auch nicht
mit der inneren Gliederung und dem allgemeinen Plane des
Baues bekannt, ſo lehren ſie doch wichtige Teile desſelben
für ſich kennen. Die Wörterverzeichniſſe ſind nicht zu ver-
nachläſſigen; ſie geben ſogar über den weſentlichen Charakter
einer Sprache einigen Aufſchluß, wenn der Reiſende Sätze
ſammelt, aus denen man erſieht, wie das Zeitwort flektiert
wird und, was in den verſchiedenen Sprachen in ſo abweichen-
der Weiſe geſchieht, die perſönlichen und poſſeſſiven Fürwörter
bezeichnet werden.


Die drei verbreitetſten Sprachen in den Provinzen Cu-
mana und Barcelona ſind gegenwärtig die der Chaymas, das
Cumanagotiſche und das Karibiſche. Sie haben im Lande
von jeher als verſchiedene Idiome gegolten; jede hat ihr
Wörterbuch, zum Gebrauch der Miſſionen verfaßt von den
Patres Tauſte, Ruiz-Blanco und Breton. Das Vocabulario
y arte de la lengua de los Indios Chaymas
iſt ſehr ſelten
[27] geworden. Die wenigen Exemplare der meiſt im 17. Jahr-
hundert gedruckten amerikaniſchen Sprachlehren ſind in die
Miſſionen gekommen und in den Wäldern zu Grunde ge-
gangen. Wegen der großen Feuchtigkeit und der Gefräßig-
keit der Inſekten laſſen ſich in dieſen heißen Ländern Bücher
faſt gar nicht aufbewahren. Trotz aller Vorſichtsmaßregeln
ſind ſie in kurzer Zeit gänzlich verdorben. Nur mit großer
Mühe konnte ich in den Miſſionen und Klöſtern die Gramma-
tiken amerikaniſcher Sprachen zuſammenbringen, die ich gleich
nach meiner Rückkehr nach Europa dem Profeſſor und Biblio-
thekar Severin Vater zu Königsberg übermacht habe; ſie
lieferten ihm gutes Material zu ſeinem ſchönen großen Werke
über die Sprachen der Neuen Welt. Ich hatte damals ver-
ſäumt, meine Notizen über die Chaymasſprache aus meinem
Tagebuche abzuſchreiben und dieſem Gelehrten mitzuteilen. Da
weder Pater Gili, noch der Abt Hervas dieſer Sprache erwäh-
nen, gebe ich hier kurz das Ergebnis meiner Unterſuchungen.


Auf dem rechten Ufer des Orinoko, ſüdöſtlich von der
Miſſion Encaramada, über hundert Meilen von den Chaymas,
wohnen die Tamanaken (Tamanacu), deren Sprache in mehrere
Dialekte zerfällt. Dieſe einſt ſehr mächtige Nation iſt auf
wenige Köpfe zuſammengeſchmolzen; ſie iſt von den Bergen
von Caripe durch den Orinoko, durch die großen Steppen von
Caracas und Cumana, und durch eine noch ſchwerer zu über-
ſteigende Schranke, durch Völker von karibiſchem Stamme
getrennt. Trotz dieſer Entfernung und der vielfachen ört-
lichen Hinderniſſe erkennt man in der Sprache der Chaymas
einen Zweig der Tamanakenſprache. Die älteſten Miſſionäre
in Caripe wiſſen nichts von dieſer intereſſanten Beobachtung,
weil die aragoneſiſchen Kapuziner faſt nie an das ſüdliche
Ufer des Orinoko kommen und von der Exiſtenz der Tama-
naken ſo gut wie nichts wiſſen. Die Verwandtſchaft zwiſchen
der Sprache dieſes Volkes und der der Chaymas habe ich erſt
lange nach meiner Rückkehr nach Europa aufgefunden, als
ich meine geſammelten Notizen mit einer Grammatik ver-
glich, die ein alter Miſſionär am Orinoko in Italien drucken
laſſen. Ohne die Sprache der Chaymas zu kennen, hatte
ſchon der Abt Gili vermutet, daß die Sprache der Ein-
wohner von Paria mit dem Tamanacu verwandt ſein müſſe.


Ich thue dieſe Verwandtſchaft auf dem doppelten Wege
dar, auf dem man die Analogie der Sprachen erkennt, durch
den grammatiſchen Bau und durch die Uebereinſtimmung der
[28] Worte oder Wurzeln. — Hier ſind zuerſt die perſönlichen
Fürwörter der Chaymas, die zugleich Poſſeſſiva ſind: u-re,
ich, cu-re, du, teu-re, er. Im Tamanacu: u-re, ich,
amare oder anja, du, iteu-ja, er. Die Wurzel der erſten
und der dritten Perſon iſt im Chaymas u und teu; die-
ſelben Wurzeln finden ſich im Tamanacu.


Chaymas.Tamanacu.
Ure, ich.Ure.
Tuna, Waſſer.Tuna.
Conopo, Regen.Canepo.
Poturu, Wiſſen.Puturo.
Apoto, Feuer.U-apto.
Nunu, Mond, Monat.Nuna.
Je, Baum.Jeje.
Ata, Haus.Aute.
Euya, dir.Auya.
Toya, ihm.Iteuya.
Guane, Honig.Uane.
Nacaramayre, er hat’s geſagt.Nacaramai.
Piache, Zauberer, Arzt.Psiache.
Tibin, eins.Obin.
Aco, zwei.Oco.
Oroa, drei.Orua.
Pun, Fleiſch.Punu.
Pra, nicht.Pra.

Sein heißt im Chaymas az; ſetzt man vor das Zeit-
wort das perſönliche Fürwort ich (u von u-re), ſo läßt man
des Wohlklangs wegen vor dem u ein g hören, alſo guaz,
ich bin
, eigentlich g-u-az. Wie die erſte Perſon durch ein u,
ſo wird die zweite durch ein m, die dritte durch ein i be-
zeichnet: du biſt, maz: „muerepuec araquapemaz, warum
biſt du traurig?“ wörtlich: „das für traurig du ſein?“ „pun-
puec topuchemaz,
du biſt fett von Körper“; wörtlich:
„Fleiſch (pun) für (puec) fett (topuche) du ſein (maz)“.
Die zueignenden Fürwörter kommen vor das Hauptwort zu
ſtehen: „upatay, in meinem Hauſe“; wörtlich: „ich Haus
in“. Alle Präpoſitionen wie die Negation pra werden nach-
geſetzt, wie im Tamanacu. Man ſagt im Chaymas: „ipuec,
mit ihm“; wörtlich: „er mit“; „euya, zu dir, oder dir zu“;
„epuec charpe guaz, ich bin luſtig mit dir“; wörtlich:
„du mit luſtig ich ſein“; „ucarepra, nicht wie ich“; wörtlich:
[29] „ich wie nicht“; „quenpotupra quoguaz, ich kenne ihn nicht“,
wörtlich: „ihn kennend nicht ich bin“; „quenepra quoguaz,
ich habe ihn nicht geſehen“, wörtlich: „ihn ſehend nicht ich
bin“. Im Tamanacu ſagt man: „acurivane, ſchön“, und
„acurivanepra, häßlich, nicht ſchön“; „uotopra, es gibt keinen
Fiſch“, wörtlich: „Fiſch nicht“; „uteripipra, ich will nicht
gehen“, wörtlich: „ich gehen wollen nicht“; und dies iſt zu-
ſammengeſetzt aus iteri, gehen, ipiri, wollen, und pra, nicht.
Bei den Kariben, deren Sprache auch Aehnlichkeit mit dem
Tamanacu hat, obgleich weit weniger als das Chaymas, wird
die Verneinung durch ein m vor dem Zeitworte ausgedrückt:
„amoyenlenganti, es iſt ſehr kalt“; „mamoyenlenganti, es
iſt nicht ſehr kalt“. In ähnlicher Weiſe gibt im Tamanacu
die Partikel mna, dem Zeitworte nicht angehängt, ſondern
eingeſchoben, demſelben einen verneinenden Sinn, z. B. taro,
ſagen, taromnar, nicht ſagen.


Das Hauptzeitwort ſein, das in allen Sprachen ſehr
unregelmäßig iſt, lautet im Chaymas az oder ats, im Ta-
manacu uochiri (in den Zuſammenſetzungen uac, uatscha).
Es dient nicht bloß zur Bildung des Paſſivs, ſondern wird
offenbar auch, wie durch Agglutination, in vielen Tempora
der Wurzel der attributiven Zeitwörter angehängt. Dieſe
Agglutinationen erinnern an den Gebrauch der Hilfszeitwörter
as und bhu im Sanskrit, des fu oder fuo im Lateiniſchen, 1
das izan, ucan und eguin im Baskiſchen. Es gibt gewiſſe
Punkte, in denen die einander unähnlichſten Sprachen zu-
ſammentreffen; das Gemeinſame in der geiſtigen Organiſation
des Menſchen ſpiegelt ſich ab im allgemeinen Bau der Sprachen,
und in jedem Idiom, auch dem ſcheinbar barbariſchſten, offen-
bart ſich ein regelndes Prinzip, das es geſchaffen.


Die Mehrzahl hat im Tamanacu ſiebenerlei Formen je
nach der Endung des Subſtantiv, oder je nachdem es etwas
Lebendes oder etwas Lebloſes bedeutet. 2 Im Chaymas wird
die Mehrzahl, wie im Karibiſchen, durch on bezeichnet: „teure,
er ſelbſt“; „teurecon, ſie ſelbſt“; „taronocon, die hier“;
[30]„montaonocon, die dort“, wenn der Sprechende einen Ort
meint, an dem er ſich ſelbſt befand; „myonocon, die dort“,
wenn er von einem Orte ſpricht, an dem er nicht war. Die
Chaymas haben auch die ſpaniſchen Adverbe aqui und alà
(allà)
, deren Sinn ſich in den Sprachen von germaniſcher
und lateiniſcher Abſtammung nur mittels Umſchreibung wieder-
geben läßt.


Manche Indianer, die Spaniſch verſtanden, verſicherten
uns, zis bedeute nicht nur Sonne, ſondern auch Gottheit.
Dies ſchien mir um ſo auffallender, da man bei allen anderen
amerikaniſchen Völkern beſondere Worte für Gott und für
Sonne findet. Der Karibe wirft „tamoussicabo, den Alten
des Himmels“, und „veyou, die Sonne“, nicht zuſammen.
Sogar der Peruaner, der die Sonne anbetet, erhebt ſich zur
Vorſtellung eines Weſens, das den Lauf der Sterne lenkt.
In der Sprache der Inkas heißt die Sonne, faſt wie im
Sanskrit, Inti,1 während Gott Vinay Huayna, der ewig
Junge, genannt wird.


Die Satzbildung iſt im Chaymas wie bei allen Sprachen
beider Kontinente, die ſich eine gewiſſe Jugendlichkeit bewahrt
haben. Das Regierte kommt vor das Zeitwort zu ſtehen,
das Zeitwort vor das perſönliche Fürwort. Der Gegenſtand,
auf den der Hauptnachdruck fällt, geht allem voran, was ſonſt
ausgeſagt wird. Der Amerikaner würde ſagen: „Freiheit
völlige lieben wir“ ſtatt: wir lieben völlige Freiheit; „dir
mit glücklich bin ich“ ſtatt: mit dir bin ich glücklich. Dieſe
Sätze haben eine gewiſſe Unmittelbarkeit, Beſtimmtheit, Bündig-
keit, und ſie erſcheinen deſto naiver, da der Artikel fehlt. Ob
wohl dieſe Völker, bei fortſchreitender Kultur und ſich ſelbſt
überlaſſen, mit der Zeit von dieſer Satzbildung abgegangen
wären? Man könnte es vermuten, wenn man bedenkt, wie
ſtark die Syntax der Römer in ihren beſtimmten, klaren, aber
etwas ſchüchternen Töchterſprachen umgewandelt worden iſt.


Im Chaymas wie im Tamanacu und den meiſten ameri-
kaniſchen Sprachen fehlen gewiſſe Buchſtaben ganz, ſo nament-
lich das f, b und d. Kein Wort beginnt mit einem 1. Das-
[31] ſelbe gilt von der mexikaniſchen Sprache, in der doch die
Silben tli, tla und itl als Endungen oder mitten in den
Worten ſo häufig vorkommen. Der Chaymasindianer ſpricht
r ſtatt l, weil er dieſes nicht ausſprechen kann, was ja in
allen Himmelsſtrichen vorkommt. Auf dieſe Weiſe wurden
aus den Kariben am Orinoko im franzöſiſchen Guayana
Galibi; an die Stelle des r trat l und das k erweichte ſich.
Aus dem ſpaniſchen Wort soldado hat das Tamanacu
choraro (solalo) gemacht. Wenn f und b in ſo vielen
amerikaniſchen Mundarten fehlen, ſo kommt dies vom innigen
Verwandtſchaftsverhältnis zwiſchen gewiſſen Lauten, wie es
ſich in allen Sprachen gleicher Abſtammung offenbart. Die
Buchſtaben f und v, b und p werden verwechſelt; z. B. perſiſch:
peder, pater, father, Vater; burader, frater, Bruder;
behar, ver; griechiſch: phorton (forton), Bürde; pous, Fuß.
Gerade ſo wird bei den Amerikanern f und b zu p, und
aus d wird t. Der Chaymasindianer ſpricht patre, Tios,
Atani, aracapucha,
ſtatt padre, Dios, Adan und arcabuz
(Büchſe).


Trotz der erwähnten Aehnlichkeiten glauben wir nicht,
daß das Chaymas als ein Dialekt des Tamanacu zu be-
trachten iſt, wie die drei Dialekte Maitano, Cuchivero und
Crataima. Der Abweichungen ſind viele und weſentliche, und
die beiden Sprachen ſcheinen mir höchſtens in dem Grade
verwandt, wie das Deutſche, Schwediſche und Engliſche. Sie
gehören derſelben Unterabteilung der großen Familie der tama-
nakiſchen, karibiſchen und aruakiſchen Sprachen an. Da es
für die Sprachverwandtſchaft kein abſolutes Maß gibt, ſo
laſſen ſich dergleichen Verwandtſchaftsgrade nur durch von
bekannten Sprachen hergenommene Beiſpiele bezeichnen. Wir
rechnen zur ſelben Familie Sprachen, die einander ſo nahe
ſtehen wie Griechiſch, Deutſch, Perſiſch und Sanskrit.


Die ſprachvergleichende Wiſſenſchaft glaubte gefunden zu
haben, daß alle Sprachen in zwei große Klaſſen zerfallen,
indem die einen, mit vollkommenerem Bau, freier, raſcher in
der Bewegung, eine innere Entwickelung durch Flexion be-
zeichnen, während die anderen, plumperen, weniger bildungs-
fähigen, nur kleine Formen oder agglutinierte Partikeln roh
nebeneinander ſtellen, die alle, wenn man ſie für ſich braucht,
ihre eigentümliche Phyſiognomie beibehalten. Dieſe höchſt
geiſtreiche Auffaſſung wäre unrichtig, wenn man annähme,
es gäbe vielſilbige Sprachen ohne alle Flexion, oder aber
[32] diejenigen, die ſich wie von innen heraus organiſch entwickeln,
kennen gar keinen äußerlichen Zuwachs durch Suffixe und
Affixe, welchen Zuwachs wir ſchon öfters als Agglutination
oder Inkorporation bezeichnet haben. Viele Formen, die wir
jetzt für Flexionen der Wurzel halten, waren vielleicht ur-
ſprünglich Affixe, von denen nur ein oder zwei Konſonanten
übrig geblieben ſind. Es iſt mit den Sprachen wie mit allem
Organiſchen in der Natur; nichts ſteht ganz für ſich, nichts
iſt dem anderen völlig unähnlich. Je weiter man in ihren
inneren Bau eindringt, deſto mehr ſchwinden die Kontraſte,
die auffallenden Eigentümlichkeiten. „Es iſt damit wie mit
den Wolken, die nur von weitem ſcharf umriſſen ſcheinen.“ 1


Laſſen wir aber auch für die Sprachen keinen durch-
greifenden Einteilungsgrund gelten, ſo iſt doch vollkommen
zuzugeben, daß im gegenwärtigen Zuſtande die einen mehr
Neigung haben zur Flexion, die anderen zur äußerlichen Aggre-
gation. Zu den erſteren gehören bekanntlich die Sprachen
des indiſchen, pelasgiſchen und germaniſchen Sprachſtammes,
zu den letzteren die amerikaniſchen Sprachen, das Koptiſche
oder Altägyptiſche und in gewiſſem Grade die ſemitiſchen
Sprachen und das Baskiſche. Schon das Wenige, das wir
vom Idiom der Chaymas oben mitgeteilt, zeigt deutlich die
durchgehende Neigung zur Inkorporation oder Aggregation
gewiſſer Formen, die ſich abtrennen laſſen, wobei aber ein
ziemlich entwickeltes Gefühl für Wohllaut ein paar Buchſtaben
wegwirft oder aber zuſetzt. Durch dieſe Affixe im Auslaut
der Worte werden die mannigfaltigſten Zahl-, Zeit- und
Raumverhältniſſe bezeichnet.


Betrachtet man den eigentümlichen Bau der amerikaniſchen
Sprachen näher, ſo glaubt man zu erraten, woher die alte,
in allen Miſſionen verbreitete Anſicht rührt, daß die ameri-
kaniſchen Sprachen Aehnlichkeit mit dem Hebräiſchen und dem
Baskiſchen haben. Ueberall, im Kloſter Caripe wie am Orinoko,
in Peru wie in Mexiko, hörte ich dieſen Gedanken äußern,
beſonders Geiſtliche, die vom Hebräiſchen und Baskiſchen einige
oberflächliche Kenntnis hatten. Liegen etwa religiöſe Rück-
ſichten einer ſo ſeltſamen Annahme zu Grunde? In Nord-
amerika, bei den Chokta und Chikaſa, haben etwas leicht-
gläubige Reiſende, das Hallelujah der Hebräer ſingen hören,
[33] wie, den Panditen zufolge, die drei heiligen Worte der eleu-
ſiniſchen Myſterien (konx om pax) noch heutzutage in Indien
ertönen. Ich will nicht glauben, daß die Völker des latei-
niſchen Europas alles hebräiſch oder baskiſch nennen, was ein
fremdartiges Ausſehen hat, wie man lange alles, was nicht
im griechiſchen oder römiſchen Stil gehalten war, ägyptiſche
Denkmäler nannte. Ich glaube vielmehr, daß das gram-
matiſche Syſtem der amerikaniſchen Sprachen die Miſſio-
näre des 16. Jahrhunderts in ihrer Annahme von der
aſiatiſchen Herkunft der Völker der Neuen Welt beſtärkt hat.
Einen Beweis hierfür liefert die langweilige Kompilation des
Paters Garcia: „Tratad del origen de los Indios“. Daß
die poſſeſſiven und perſönlichen Fürwörter hinter Subſtantiven
und Zeitwörtern ſtehen, und daß letztere ſo viele Tempora
haben, das ſind Eigentümlichkeiten des Hebräiſchen und der
anderen ſemitiſchen Sprachen. Manche Miſſionäre fanden es
nun ſehr merkwürdig, daß die amerikaniſchen Sprachen die-
ſelben Formen aufzuweiſen haben. Sie wußten nicht, daß
die Uebereinſtimmung in verſchiedenen einzelnen Zügen für
die gemeinſame Abſtammung der Sprachen nichts beweiſt.


Weniger zu verwundern iſt, wenn Leute, die nur zwei
voneinander ſehr verſchiedene Sprachen, Spaniſch und Baskiſch,
verſtehen, an letzterer eine Familienähnlichkeit mit den ameri-
kaniſchen Sprachen fanden. Die Wortbildung, die Leichtigkeit,
mit der ſich die einzelnen Elemente auffinden laſſen, die Formen
des Zeitwortes und die mannigfaltigen Geſtalten, die es je
nach dem Weſen des regierten Wortes annimmt, alles dies
konnte die Täuſchung erzeugen und unterhalten. Aber, wir
wiederholen es, mit der gleichen Neigung zur Aggregation
und Inkorporation iſt noch keineswegs gleiche Abſtammung
gegeben. Ich gebe einige Beiſpiele dieſer phyſiognomiſchen Ver-
wandtſchaft zwiſchen den amerikaniſchen Sprachen und dem Bas-
kiſchen, die in den Wurzeln durchgängig voneinander abweichen.


Chaymas: quenpotupra quoguaz, ich kenne nicht,
wörtlich: wiſſend nicht ich bin. Tamanacu: jarer-uacure,
tragend bin ich, ich trage; anarepna aichi, er wird nicht
tragen, wörtlich: tragend nicht wird ſein; patcurbe, gut,
patcutari, ſich gut machen; Tamanacu, ein Tamanake; Ta-
manacutari,
ſich zum Tamanaken machen; Pongheme, Spanier;
ponghemtari, ſich hiſpaniſieren; tenectschi, ich werde ſehen;
teneicre, ich werde wiederſehen; tecscha, ich gehe; tecschare,
ich kehre zurück; Maypur butkè, ein kleiner Maypure-Indianer;
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 3
[34]aicabutkè, ein kleines Weib; 1maypuritaje, ein böſer May-
pure-Indianer; aicataje, ein böſes Weib.


Baskiſch: maitetutendot, ich liebe ihn, wörtlich: ich
liebend ihn bin; beguia, Auge, und beguitsa, ſehen; aita-
gana,
zum Vater; durch den Zuſatz von tu entſteht das Wort
aitaganatu, zum Vater gehen; ume-tasuna, ſanftes, kindlich
offenes Benehmen; ume-queria, widriges kindiſches Benehmen. 2


Dieſen Beiſpielen mögen einige beſchreibende Kompoſita
folgen, die an die Kindheit des Menſchengeſchlechtes mahnen
und in den amerikaniſchen Sprachen wie im Baskiſchen durch
eine gewiſſe Naivität des Ausdruckes überraſchen. Tamanacu:
Weſpe, uane-imu, wörtlich: Vater (im-de) des Honigs (uane);
die Zehen, ptari-mucuru, wörtlich: die Söhne des Fußes; die
Finger, amgna-mucuru, die Söhne der Hand; die Schwämme,
jeje-panari, wörtlich: die Ohren des Baumes; die Adern der
Hand, amgna-mitti, wörtlich: veräſtete Wurzeln; die Blätter,
prutpe-jareri, wörtlich: die Haare des Baumwipfels; puirene-
veju,
wörtlich: gerade oder ſenkrechte Sonne; Blitz, kinemeru-
uaptori,
wörtlich: das Feuer des Donners oder des Ge-
witters. Baskiſch: becoquia, Stirne, wörtlich: was zum
Auge gehört; odotsa, das Getöſe der Wolke, der Donner;
arribicia, das Echo, wörtlich: der lebendige Stein.


Im Chaymas und Tamanacu haben die Zeitwörter eine
Unzahl Tempora, ein doppeltes Präſens, vier Präterita, drei
Futura. Dieſe Häufung iſt ſelbſt den roheſten amerikaniſchen
Sprachen eigen. In der Grammatik des Baskiſchen zählt
Aſtarloa gleichfalls zweihundertſechs Formen des Zeitwortes
auf. Die Sprachen, welche vorherrſchende Neigung zur Flexion
haben, reizen die gemeine Neugier weniger als ſolche, die
durch bloße Nebeneinanderſtellung von Elementen gebildet
erſcheinen. In den erſteren ſind die Elemente, aus denen
die Worte zuſammengeſetzt ſind und die meiſt aus wenigen
Buchſtaben beſtehen, nicht mehr kenntlich. Für ſich geben dieſe
Beſtandteile keinen Sinn; alles iſt verſchlungen und ver-
ſchmolzen. Die amerikaniſchen Sprachen dagegen gleichen einem
verwickelten Mechanismus mit offen zu Tage liegendem Räder-
[35] werk. Man erkennt die Künſtlichkeit, man kann ſagen den
ausgearbeiteten Mechanismus des Baues. Es iſt, als bildeten
ſie ſich erſt unter unſeren Augen, und man könnte ſie für
ſehr neuen Urſprungs halten, wenn man nicht bedächte, daß
der menſchliche Geiſt unverrückt einem einmal erhaltenen Anſtoße
folgt, daß die Völker nach einem urſprünglich angelegten Plane
den grammatiſchen Bau ihrer Sprachen erweitern, vervoll-
kommnen oder ausbeſſern, und daß es Länder gibt, wo Sprache,
Verfaſſung, Sitten und Künſte ſeit vielen Jahrhunderten wie
feſtgebannt ſind.


Die höchſte geiſtige Entwickelung hat bis jetzt bei den
Völkern ſtattgefunden, welche dem indiſchen und pelasgiſchen
Stamme angehören. Die hauptſächlich durch Aggregation ge-
bildeten Sprachen erſcheinen als ein natürliches Hindernis der
Kulturentwickelung; es geht ihnen großenteils die raſche Be-
wegung ab, das innerliche Leben, die die Flexion der Wurzeln
mit ſich bringt und die den Werken der Einbildungskraft den
Hauptreiz geben. Wir dürfen indeſſen nicht vergeſſen, daß
ein ſchon im hohen Altertum hochberühmtes Volk, dem ſelbſt
die Griechen einen Teil ihrer Bildung entlehnten, vielleicht
eine Sprache hatte, die in ihrem Bau unwillkürlich an die
amerikaniſchen Sprachen erinnert. Welche Maſſe ein- oder
zweiſilbiger Partikeln werden im Koptiſchen dem Zeitwort
oder Hauptwort angehängt! Das Chaymas und Tamanacu,
halb barbariſche Sprachen, haben kurze abſtrakte Benennungen
für Größe, Neid, Leichtſinn, cheictivate, uoite, uonde; aber
im Koptiſchen iſt das Wort Bosheit, metrepherpeton, aus
fünf leicht zu unterſcheidenden Elementen zuſammengeſetzt, und
bedeutet: die Eigenſchaft (met) eines Subjektes (reph), das
thut (er) das Ding (pet), (das iſt) böſe (on). Und dennoch
hatte die koptiſche Sprache ihre Litteratur ſo gut wie die
chineſiſche, in der die Wurzeln nicht einmal aggregiert, ſondern
kaum aneinander gerückt ſind und ſich gar nicht unmittelbar
berühren. So viel iſt gewiß, ſind einmal die Völker aus
ihrem Schlummer aufgerüttelt und auf die Bahn der Kultur
geworfen, ſo bietet ihnen die ſeltſamſte Sprache das Werkzeug,
um Gedanken beſtimmt auszudrücken und Seelenregungen zu
ſchildern. Ein achtungswerter Mann, der in der blutigen
Revolution von Quito das Leben verloren, Don Juan de la
Rea, hat ein paar Idyllen Theokrits in die Sprache der
Inka einfach und zierlich übertragen, und man hat mich ver-
ſichert, mit Ausnahme naturwiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher
[36] Werke, laſſe ſich ſo ziemlich jedes neuere Litteraturprodukt ins
Peruaniſche überſetzen.


Der ſtarke Verkehr zwiſchen den Eingeborenen und den
Spaniern ſeit der Eroberung hat zur natürlichen Folge ge-
habt, daß nicht wenige amerikaniſche Worte in die ſpaniſche
Sprache übergegangen ſind. Manche dieſer Worte bezeichnen
meiſt Dinge, die vor der Entdeckung der Neuen Welt unbe-
kannt waren, und wir denken jetzt kaum mehr an ihren bar-
bariſchen Urſprung (z. B. Savanne, Kannibale). Faſt alle ge-
hören der Sprache der Großen Antillen an, die früher die
Sprache von Hayti, Quizqueja oder Itis hieß. Ich nenne
nur die Worte Mais, Tabak, Kanoe, Batate, Kazike, Balſa,
Conuco u. ſ. w. Als die Spanier mit dem Jahre 1498 an-
fingen Terra Firma zu beſuchen, hatten ſie bereits Worte
für die nutzbarſten Gewächſe, die auf den Antillen, wie auf
den Küſten von Cumana und Paria vorkommen. Sie be-
hielten nicht nur dieſe von den Haytiern entlehnten Be-
nennungen bei, durch ſie wurden dieſelben über ganz Amerika
verbreitet, zu einer Zeit, wo die Sprache von Hayti bereits
eine tote Sprache war, und bei Völkern, die von der Exiſtenz
der Antillen gar nichts wußten. Manchen Worten, die in
den ſpaniſchen Kolonieen in täglichem Gebrauche ſind, ſchreibt
man indeſſen mit Unrecht haytiſchen Urſprung zu. Banana
iſt aus der Chacoſprache, Arepa (Maniokbrot von Jatropha
Manihot
) und Guayuco (Schürze, perizoma) ſind karibiſch,
Curiaca (ſehr langes Kanoe) iſt tamanakiſch, Chinchorro
(Hängematte) und Tutuma (die Frucht der Crescentia Cujete,
oder ein Gefäß für Flüſſigkeiten) ſind Chaymaswörter.


Ich habe lange bei Betrachtungen über die amerikaniſchen
Sprachen verweilt; ich glaubte, wenn ich ſie zum erſtenmal in
dieſem Werke beſpräche, anſchaulich zu machen, von welcher
Bedeutung Unterſuchungen derart ſind. Es verhält ſich da-
mit wie mit der Bedeutung, die den Denkmälern halb bar-
bariſcher Völker zukommt. Man beſchäftigt ſich mit ihnen
nicht, weil ſie für ſich auf den Rang von Kunſtwerken An-
ſpruch machen können, ſondern weil die Unterſuchung für die
Geſchichte unſeres Geſchlechtes und den Entwickelungsgang
unſerer Geiſteskräfte nicht ohne Belang iſt.


Ehe Cortez nach der Landung an der Küſte von Mexiko
ſeine Schiffe verbrannte, ehe er im Jahre 1521 in die Haupt-
ſtadt Montezumas einzog, war Europa auf die Länder, die
wir bisher durchzogen, aufmerkſam geworden. Mit der Be-
[37] ſchreibung der Sitten der Einwohner von Cumana und Paria
glaubte man die Sitten aller Eingeborenen der Neuen Welt
zu ſchildern. Dies fällt alsbald auf, wenn man die Ge-
ſchichtſchreiber der Eroberung lieſt, namentlich die Briefe Peter
Martyrs von Anghiera, die er am Hofe Ferdinands des
Katholiſchen geſchrieben, die reich ſind an geiſtreichen Be-
merkungen über Chriſtoph Kolumbus, Leo X. und Luther,
und aus denen edle Begeiſterung für die großen Entdeckungen
eines an außerordentlichen Ereigniſſen ſo reichen Jahrhunderts
ſpricht. Eine nähere Beſchreibung der Sitten der Völker,
die man lange unter der Geſamtbenennung Cumanier (Cu-
maneses
) zuſammengeworfen hat, liegt nicht in meiner Ab-
ſicht; dagegen ſcheint es mir von Belang, einen Punkt auf-
zuklären, den ich im ſpaniſchen Amerika häufig habe beſprechen
hören.


Die heutigen Pariagoten oder Paria ſind rotbraun wie
die Kariben, die Chaymas und faſt alle Eingeborenen der
Neuen Welt. Wie kommt es nun, daß die Geſchicht-
ſchreiber des 16. Jahrhunderts behaupten, die erſten Beſucher
haben am Vorgebirge Paria weiße Menſchen mit blonden
Haaren geſehen? Waren dies Indianer mit weniger dunkler
Haut, wie Bonpland und ich in Esmeralda an den Quellen
des Orinoko geſehen? Aber dieſe Indianer hatten ſo ſchwarzes
Haar wie die Otomaken und andere Stämme mit dunklerer
Hautfarbe. Waren es Albinos, dergleichen man früher auf
der Landenge von Panama gefunden? Aber Fälle dieſer
Mißbildung ſind bei der kupferfarbigen Raſſe ungemein ſelten,
und Anghiera wie auch Gomara ſprachen von den Einwohnern
von Paria überhaupt, nicht von einzelnen Individuen. Beide 1
beſchreiben ſie wie Völker germaniſchen Stammes, ſie ſeien
weiß mit blonden Haaren. Ferner ſollen ſie ähnlich wie
Türken gekleidet geweſen ſein. 2 Gomara und Anghiera ſchreiben
nach mündlichen Berichten, die ſie geſammelt.


[38]

Dieſe Wunderdinge verſchwinden, wenn wir den Bericht,
den Ferdinand Kolumbus den Papieren ſeines Vaters ent-
nommen, näher anſehen. Da heißt es bloß, „der Admiral
habe zu ſeiner Ueberraſchung die Einwohner von Paria und
der Inſel Trinidad wohlgebildeter, kultivierter (de buena
conversacion
) und weißer gefunden als die Eingeborenen,
die er bis dahin geſehen.“ Damit iſt doch wohl nicht geſagt,
daß die Pariagoten weiß geweſen. In der helleren Haut der
Eingeborenen und in den ſehr kühlen Morgen ſah der große
Mann eine Beſtätigung ſeiner ſeltſamen Hypotheſe von der
unregelmäßigen Krümmung der Erde und der hohen Lage
der Ebenen in dieſem Erdſtrich infolge einer gewaltigen
Anſchwellung der Erdkugel in der Richtung der Parallelen.
Amerigo Veſpucci (wenn man ſich auf ſeine angebliche erſte
Reiſe berufen darf, die vielleicht nach den Berichten anderer
Reiſenden zuſammengetragen iſt) vergleicht die Eingeborenen
mit den tatariſchen Völkern, nicht wegen der Hautfarbe,
ſondern wegen des breiten Geſichtes und wegen des ganzen
Ausdruckes desſelben.


Gab es aber zu Ende des 15. Jahrhunderts auf den
Küſten von Cumana ſo wenig als jetzt Menſchen mit weiß-
licher Haut, ſo darf man daraus deshalb nicht ſchließen,
daß bei den Eingeborenen der Neuen Welt das Hautſyſtem
durchgängig gleichförmig organiſiert ſei. Wenn man ſagt,
ſie ſeien alle kupferfarbig, ſo iſt dies ſo unrichtig, als wenn
man behauptet, ſie wären nicht ſo dunkel gefärbt, wenn ſie
ſich nicht der Sonnenglut ausſetzten oder nicht von der Luft
gebräunt würden. Man kann die Eingeborenen in zwei, der
Zahl nach ſehr ungleiche Gruppen teilen. Zur einen gehören
die Eskimo in Grönland, in Labrador und auf der Nordküſte
2
[39] der Hudſonsbai, die Bewohner der Beringsſtraße, der Halb-
inſel Alaska und des Prinz Williams-Sundes. Der öſtliche
und der weſtliche Zweig dieſer Polarraſſe, die Eskimo und
die Tſchugat, ſind trotz der ungeheuren Strecke von 1800 km,
die zwiſchen ihnen liegt, durch ſehr nahe Sprachverwandtſchaft
eng verbunden. Dieſe Verwandtſchaft erſtreckt ſich ſogar, wie
in neuerer Zeit außer Zweifel geſetzt worden iſt, noch weiter,
zu den Bewohnern des nordöſtlichen Aſiens; denn die Mundart
der Tſchuktſchen an der Mündung des Anadyr hat dieſelben
Wurzeln wie die Sprache der Eskimo auf der Europa gegen-
überliegenden Küſte von Amerika. Die Tſchuktſchen ſind die
aſiatiſchen Eskimo. Gleich den Malaien wohnt die hyper-
boräiſche Raſſe nur am Meeresufer. Sie nähren ſich von
Fiſchen, ſind faſt durchgängig von kleinerer Statur als die
anderen Amerikaner, ſind lebhaft, beweglich, geſchwätzig. Ihre
Haare ſind ſchlicht, glatt und ſchwarz; aber (und dies zeichnet
die Raſſe, die ich die eskimo-tſchugaſiſche nennen will, ganz
beſonders aus) ihre Haut iſt urſprünglich weißlich. Es iſt
gewiß, daß die Kinder der Grönländer weiß zur Welt kommen;
bei manchen erhält ſich dieſe Farbe, und auch bei den dunkelſten
(den von der Luft am meiſten gebräunten) ſieht man nicht
ſelten das Blut auf den Wangen rot durchſchimmern.


Die zweite Gruppe der Eingeborenen Amerikas umfaßt
alle Völker außer den Eskimo-Tſchugat, vom Cooksfluß bis
zur Magelhaensſchen Meerenge, von den Ugaljachmiut und
Kinai am St. Eliasberg bis zu den Puelchen und Tehuelhet
in der ſüdlichen Halbkugel. Die Völker dieſes zweiten Zweiges
ſind größer, ſtärker, kriegeriſcher und ſchweigſamer. Auch ſie
weichen hinſichtlich der Hautfarbe auffallend voneinander ab.
In Mexiko, in Peru, in Neugranada, in Quito, an den
Ufern des Orinoko und des Amazonenſtromes, im ganzen
Striche von Südamerika, den ich geſehen, im Tieflande wie auf
den ſehr kalten Hochebenen, ſind die indianiſchen Kinder im
Alter von zwei, drei Monaten ebenſo bronzefarbig als die
Erwachſenen. Daß die Eingeborenen nur von Luft und Sonne
gebräunte Weiße ſein möchten, iſt einem Spanier in Quito
oder an den Ufern des Orinoko nie in den Sinn gekommen.
Im nordweſtlichen Amerika dagegen gibt es Stämme, bei
denen die Kinder weiß ſind und erſt mit der Mannbarkeit ſo
bronzefarbig werden wie die Eingeborenen von Peru und
Mexiko. Bei dem Häuptling der Miami Michikinakua waren
die Arme und die der Sonne nicht ausgeſetzten Körperteile
[40] faſt weiß. Dieſer Unterſchied in der Farbe der bedeckten und
nicht bedeckten Teile wird bei den Eingeborenen von Peru
und Mexiko niemals beobachtet, ſelbſt nicht bei ſehr wohl-
habenden Familien, die ſich faſt beſtändig in ihren Häuſern
aufhalten. Weſtwärts von den Miami, auf der gegenüber-
liegenden aſiatiſchen Küſte, bei den Koljuſchen und Tlinkit
in der Norfolkbai, erſcheinen die erwachſenen Mädchen, wenn
ſie angehalten werden, ſich zu waſchen, ſo weiß wie Europäer.
Dieſe weiße Hautfarbe ſoll, nach einigen Reiſeberichten, auch
den Gebirgsvölkern in Chile zukommen. 1


Dies ſind ſehr bemerkenswerte Thatſachen, die der nur
zu ſehr verbreiteten Anſicht von der außerordentlichen Gleich-
förmigkeit der Körperbildung bei den Eingeborenen Amerikas
widerſprechen. Wenn wir dieſelben in Eskimo und Nicht-
Eskimo
teilen, ſo geben wir gerne zu, daß die Einteilung
um nichts philoſophiſcher iſt, als wenn die Alten in der
ganzen bewohnten Welt nur Kelten und Skythen, Griechen
und Barbaren ſahen. Handelt es ſich indeſſen davon, zahlloſe
Volksſtämme zu gruppieren, ſo gewinnt man immer doch etwas,
wenn man ausſchließend zu Werke geht. Wir wollten hier
darthun, daß, wenn man die Eskimo-Tſchugat ausſcheidet,
mitten unter den kupferbraunen Amerikanern Stämme vor-
kommen, bei denen die Kinder weiß zur Welt kommen, ohne
daß ſich, bis zur Zeit der Eroberung zurück, darthun ließe,
daß ſie ſich mit Europäern vermiſcht hätten. Dieſer Umſtand
verdient genauere Unterſuchung durch Reiſende, die bei phyſio-
logiſchen Kenntniſſen Gelegenheit finden, die braunen Kinder
der Mexikaner und die weißen der Miami im Alter von zwei
Jahren zu beobachten, ſowie die Horden am Orinoko, die im
heißeſten Erdſtrich ihr Leben lang und bei voller Kraft die
weißliche Hautfarbe der Meſtizen behalten. Der geringe Ver-
kehr, der bis jetzt zwiſchen Nordamerika und den ſpaniſchen
Kolonieen ſtattfindet, hat alle derartigen Unterſuchungen un-
möglich gemacht.


Beim Menſchen betreffen die Abweichungen vom ganzen
gemeinſamen Raſſentypus mehr den Wuchs, den Geſichts-
ausdruck, den Körperbau, als die Farbe. Bei den Tieren iſt
es anders; bei dieſen ſind Spielarten nach der Farbe häufiger
[41] als ſolche nach dem Körperbau. Das Haar der Säugetiere,
die Federn der Vögel, ſelbſt die Schuppen der Fiſche wechſeln
die Farbe, je nach dem vorherrſchenden Einfluſſe von Licht
oder von Dunkelheit, je nach den Hitze- und Kältegraden.
Beim Menſchen ſcheint ſich der Farbſtoff im Hautſyſtem durch
die Haarwurzeln oder Zwiebeln abzulagern, und aus allen
guten Beobachtungen geht hervor, daß ſich die Hautfarbe wohl
beim einzelnen infolge von Hautreizen, aber nicht erblich bei
einer ganzen Raſſe ändert. Die Eskimo in Grönland und
die Lappen ſind gebräunt durch den Einfluß der Luft, aber
ihre Kinder kommen weiß zur Welt. Ob und welche Ver-
änderungen die Natur in Zeiträumen hervorbringen mag,
gegen welche alle geſchichtliche Ueberlieferung verſchwindet,
darüber haben wir nichts zu ſagen. Bei Unterſuchungen der-
art macht der forſchende Gedanke Halt, ſobald er Erfahrung
und Analogie nicht mehr zu Führern hat.


Die Völker mit weißer Haut beginnen ihre Kosmogonie
mit weißen Menſchen; nach ihnen ſind die Neger und alle
dunkelfarbigen Völker durch die übermäßige Sonnenglut ge-
ſchwärzt oder gebräunt worden. Dieſe Anſicht, die ſchon bei
den Griechen herrſchte, 1 wenn auch nicht ohne Widerſpruch,
hat ſich bis auf unſere Zeit erhalten. Buffon wiederholt in
Proſa, was Theodektes zweitauſend Jahre früher poetiſch aus-
geſprochen: „Die Nationen tragen die Livree der Erdſtriche,
die ſie bewohnen.“ Wäre die Geſchichte von ſchwarzen Völkern
geſchrieben worden, ſie hätten behauptet, was neuerdings ſogar
von Europäern angenommen worden iſt, der Menſch ſei ur-
ſprünglich ſchwarz oder doch ſehr dunkelfarbig, und infolge
der Civiliſation und fortſchreitenden Verweichlichung haben ſich
manche Raſſen gebleicht, wie ja auch bei den Tieren im zahmen
Zuſtande die dunkle Färbung in eine hellere übergeht. Bei
Pflanzen und Tieren ſind Spielarten, die ſich durch Zufall
unter unſeren Augen gebildet, beſtändig geworden und haben
ſich unverändert fortgepflanzt; aber nichts weiſt darauf hin,
[42] daß, unter den gegenwärtigen Verhältniſſen der menſchlichen
Organiſation, die verſchiedenen Menſchenraſſen, die ſchwarze,
gelbe, kupferfarbige und weiße, ſolange ſie ſich unvermiſcht
erhalten, durch den Einfluß des Klimas, der Nahrung und
anderer äußerer Umſtände vom urſprünglichen Typus bedeutend
abweichen.


Ich werde Gelegenheit haben, auf dieſe allgemeinen Be-
trachtungen zurückzukommen, wenn wir die weiten Hochebenen
der Kordilleren beſteigen, die vier- und fünfmal höher liegen
als das Thal von Caripe. Ich berufe mich hier vorläufig
nur auf das Zeugnis Ulloas. 1 Dieſer Gelehrte ſah die In-
dianer in Chile, auf den Anden von Peru, an den heißen
Küſten von Panama, und wiederum in Louiſiana, im nörd-
lichen gemäßigten Erdſtrich. Er hatte den Vorteil, daß er
in einer Zeit lebte, wo der Anſichten noch nicht ſo vielerlei
waren, und es fiel ihm auf, wie mir, daß der Eingeborene
unter der Linie im kalten Klima der Kordilleren ſo bronze-
farbig, ſo braun iſt als auf den Ebenen. Bemerkt man Ab-
weichungen in der Farbe, ſo ſind es feſte Stammunterſchiede.
Wir werden bald an den heißen Ufern des Orinoko Indianern
weißlicher Haut begegnen: Est durans originis vis.


[[43]]

Zehntes Kapitel.


Zweiter Aufenthalt in Cumana. — Erdbeben. — Ungewöhnliche
Meteore.


Wir blieben wieder einen Monat in Cumana. Die be-
ſchloſſene Fahrt auf dem Orinoko und Rio Negro erforderte
Zurüſtungen aller Art. Wir mußten die Inſtrumente aus-
wählen, die ſich auf engen Kanoen am leichteſten fortbringen
ließen; wir mußten uns für eine zehnmonatliche Reiſe im
Binnenlande, das in keinem Verkehr mit den Küſten ſteht,
mit Geldmitteln verſehen. Da aſtronomiſche Ortsbeſtimmung
der Hauptzweck dieſer Reiſe war, ſo war es mir von großem
Belang, daß mir die Beobachtung einer Sonnenfinſternis nicht
entging, die Ende Oktobers eintreten ſollte. Ich blieb lieber
bis dahin in Cumana, wo der Himmel meiſt ſchön und heiter
iſt. An den Orinoko konnten wir nicht mehr kommen, und
das hohe Thal von Caracas war für meinen Zweck minder
günſtig wegen der Dünſte, welche die nahen Gebirge um-
ziehen. Wenn ich die Länge von Cumana genau beſtimmte,
ſo hatte ich einen Ausgangspunkt für die chronometriſchen
Beſtimmungen, auf die ich allein rechnen konnte, wenn ich
mich nicht lange genug aufhielt, um Mondsdiſtanzen zu nehmen
oder die Jupiterstrabanten zu beobachten.


Faſt hätte ein Unfall mich genötigt, die Reiſe an den
Orinoko aufzugeben oder doch lange hinauszuſchieben. Am
27. Oktober, dem Tag vor der Sonnenfinſternis, gingen wir
wie gewöhnlich am Ufer des Meerbuſens, um der Kühle zu
genießen und das Eintreten der Flut zu beobachten, die an
dieſem Seeſtrich nicht mehr als 32 bis 35 cm beträgt. Es
war acht Uhr abends und der Seewind hatte ſich noch nicht
aufgemacht. Der Himmel war bedeckt, und bei der Wind-
ſtille war es unerträglich heiß. Wir gingen über den Strand
[44] zwiſchen dem Landungsplatz und der Vorſtadt der Guaikeri.
Ich hörte hinter mir gehen, und wie ich mich umwandte,
ſah ich einen hochgewachſenen Mann von der Farbe der
Zambos, nackt bis zum Gürtel. Er hielt faſt über meinem
Kopf eine Macana, einen dicken, unten keulenförmig dicker
werdenden Stock aus Palmholz. Ich wich dem Schlage aus,
indem ich links zur Seite ſprang. Bonpland, der mir zur
Rechten ging, war nicht ſo glücklich; er hatte den Zambo
ſpäter bemerkt als ich, und erhielt über die Schläfe einen
Schlag, der ihn zu Boden ſtreckte. Wir waren allein, unbe-
waffnet, 2 Kilometer von jeder Wohnung auf einer weiten
Ebene an der See. Der Zambo kümmerte ſich nicht mehr
um mich, ſondern ging langſam davon und nahm Bonplands
Hut auf, der die Gewalt des Schlages etwas gebrochen hatte
und weit weggeflogen war. Aufs äußerſte erſchrocken, da
ich meinen Reiſegefährten zu Boden ſtürzen und eine Weile
bewußtlos daliegen ſah, dachte ich nur an ihn. Ich half
ihm aufſtehen; der Schmerz und der Zorn gaben ihm doppelte
Kraft. Wir ſtürzten auf den Zambo zu, der, ſei es aus
Feigheit, die bei dieſem Menſchenſchlag gemein iſt, oder weil
er von weitem Leute am Strande ſah, nicht auf uns wartete
und dem Tunal zulief, einem kleinen Buſchwerk aus Fackel-
diſteln und baumartigen Avicennien. Zufällig fiel er unter-
wegs, Bonpland, der zunächſt an ihm war, rang mit ihm
und ſetzte ſich dadurch der äußerſten Gefahr aus. Der Zambo
zog ein langes Meſſer aus ſeinem Beinkleid, und im un-
gleichen Kampfe wären wir ſicher verwundet worden, wären
nicht biscayiſche Handelsleute, die auf dem Strande Kühlung
ſuchten, uns zu Hilfe gekommen. Als der Zambo ſich um-
ringt ſah, gab er die Gegenwehr auf; er entſprang wieder,
und nachdem wir ihm lange durch die ſtachlichten Kaktus nach-
gelaufen, ſchlüpfte er in einen Viehſtall, aus dem er ſich ruhig
herausholen und ins Gefängnis führen ließ.


Bonpland hatte in der Nacht Fieber; aber als ein kräftiger
Mann, voll der Munterkeit, die eine der koſtbarſten Gaben
iſt, welche die Natur einem Reiſenden verleihen kann, ging
er ſchon des anderen Tages wieder ſeiner Arbeit nach. Der
Schlag der Macana hatte bis zum Scheitel die Haut ge-
quetſcht, und er ſpürte die Nachwehen mehrere Monate während
unſeres Aufenthaltes in Caracas. Beim Bücken, um Pflanzen
aufzunehmen, wurde er mehrere Male von einem Schwindel
befallen, der uns befürchten ließ, daß im Schädel etwas aus-
[45] getreten ſein möchte. Zum Glück war dieſe Beſorgnis unge-
gründet, und die Symptome, die uns anfangs beunruhigt,
verſchwanden nach und nach. Die Einwohner von Cumana
bewieſen uns die rührendſte Teilnahme. Wir hörten, der
Zambo ſei aus einem der indianiſchen Dörfer gebürtig, die
um den großen See Maracaybo liegen. Er hatte auf einem
Kaperſchiff von San Domingo gedient und war infolge eines
Streites mit dem Kapitän, als das Schiff aus dem Hafen
von Cumana auslief, an der Küſte zurückgelaſſen worden. Er
hatte das Signal bemerkt, das wir aufſtellen laſſen, um die
Höhe der Flut zu beobachten, und hatte gelauert, um uns
auf dem Strande anzufallen. Aber wie kam es, daß er,
nachdem er einen von uns niedergeſchlagen, ſich mit dem Raub
eines Hutes zu begnügen ſchien? Im Verhör waren ſeine
Antworten ſo verworren und albern, daß wir nicht klug aus
der Sache werden konnten; meiſt behauptete er, ſeine Abſicht
ſei nicht geweſen, uns zu berauben; aber in der Erbitterung
über die ſchlechte Behandlung am Bord des Kapers von
San Domingo, habe er dem Drang, uns eines zu verſetzen,
nicht widerſtehen können, ſobald er uns habe franzöſiſch ſprechen
hören. Da der Rechtsgang hierzulande ſo langſam iſt, daß
die Verhafteten, von denen die Gefängniſſe wimmeln, ſieben,
acht Jahre auf ihr Urteil warten müſſen, ſo hörten wir wenige
Tage nach unſerer Abreiſe von Cumana nicht ohne Befriedi-
gung, der Zambo ſei aus dem Schloſſe San Antonio ent-
ſprungen.


Trotz des Unfalls, der Bonpland betroffen, war ich
anderen Tags, am 28. Oktober um fünf Uhr morgens auf
dem Dach unſeres Hauſes, um mich zur Beobachtung der
Sonnenfinſternis zu rüſten. Der Himmel war klar und rein.
Die Sichel der Venus und das Sternbild des Schiffes, das
durch ſeine gewaltigen Nebelflecke nahe aneinander ſo ſtark
hervortritt, verſchwanden in den Strahlen der aufgehenden
Sonne. Ich hatte mir zu einem ſo ſchönen Tag um ſo mehr
Glück zu wünſchen, als ich ſeit mehreren Wochen wegen der
Gewitter, die regelmäßig zwei, drei Stunden nach dem Durch-
gang der Sonne durch den Meridian im Süden und Südoſten
aufzogen, die Uhren nicht nach korreſpondierenden Höhen hatte
richten können. Ein rötlicher Dunſt, der in den tiefen Luft-
ſchichten auf den Hygrometer faſt gar nicht wirkt, verſchleierte
bei Nacht die Sterne. Dieſe Erſcheinung war ſehr unge-
wöhnlich, da man in anderen Jahren oft drei, vier Monate
[46] lang keine Spur von Wolken und Nebel ſieht. Ich konnte
den Verlauf und das Ende der Sonnenfinſternis vollſtändig
beobachten. Das Ende der Finſternis war um 2 Uhr 14 Mi-
nuten 23,4 Sekunden mittlerer Zeit in Cumana. Das Er-
gebnis meiner Beobachtung wurde nach den alten Tafeln von
Ciccolini in Bologna und Triesnecker in Wien berechnet und
in der Connaissance des temps (im neunten Jahrgang) ver-
öffentlicht. Dieſes Ergebnis wich um nicht weniger als um
1 Minute 9 Sekunden Zeit von der Länge ab, die der
Chronometer mir ergeben; dasſelbe wurde aber von Oltmanns
nach den neuen Mondtafeln von Burg und den Sonnentafeln
von Delambre noch einmal berechnet, und jetzt ſtimmten
Sonnenfinſternis und Chronometer bis auf 10 Sekunden
überein. Ich führe dieſen merkwürdigen Fall, wo ein Fehler
durch die neuen Tafeln auf 1/7 reduziert wurde, an, um die
Reiſenden darauf aufmerkſam zu machen, wie ſehr es in ihrem
Intereſſe liegt, die kleinſten Umſtände bei ihren einzelnen
Beobachtungen aufzuzeichnen und bekannt zu machen. Die
vollkommene Uebereinſtimmung zwiſchen den Jupiterstrabanten
und den Angaben des Chronometers, von der ich mich an
Ort und Stelle überzeugt, hatten mir großes Zutrauen zu
Louis Berthouds Uhr gegeben, ſo oft ſie nicht auf den Maul-
tieren ſtarken Stößen ausgeſetzt war.


Die Tage vor und nach der Sonnenfinſternis boten ſehr
auffallende atmoſphäriſche Erſcheinungen. Wir waren im
hieſigen ſogenannten Winter, d. h. in der Jahreszeit des
bewölkten Himmels und der kurzen Gewitterregen. Vom
10. Oktober bis 3. November ſtieg mit Einbruch der Nacht
ein rötlicher Nebel am Horizont auf und zog in wenigen
Minuten einen mehr oder minder dichten Schleier über das
blaue Himmelsgewölbe. Der Sauſſureſche Hygrometer zeigte
keineswegs größere Feuchtigkeit an, ſondern ging vielmehr oft
von 90° auf 83° zurück. Die Hitze bei Tage war 28 bis 32°,
alſo für dieſen Strich der heißen Zone ſehr ſtark. Zuweilen
verſchwand der Nebel mitten in der Nacht auf einmal, und
im Augenblick, wo ich die Inſtrumente aufſtellte, bildeten ſich
blendend weiße Wolken im Zenith und dehnten ſich bis zum
Horizont aus. Am 18. Oktober waren dieſe Wolken ſo auf-
fallend durchſichtig, daß man noch Sterne der vierten Größe
dadurch ſehen konnte. Die Mondflecken ſah ich ſo deutlich,
daß es war, als ſtünde die Scheibe vor den Wolken. Dieſe
ſtanden ausnehmend hoch und bildeten Streifen, die, wie
[47] durch elektriſche Abſtoßung, in gleichen Abſtänden fortliefen.
Es ſind dies dieſelben kleinen weißen Dunſtmaſſen, die ich
auf den Gipfeln der höchſten Anden über mir geſehen, und
die in mehreren Sprachen Schäfchen, moutons heißen.
Wenn der rötliche Nebel den Himmel leicht überzog, ſo be-
hielten die Sterne der erſten Größen, die in Cumana über
20 bis 25° hoch faſt nie flimmern, nicht einmal im Zenith
ihr ruhiges, planetariſches Licht. Sie flimmerten in allen
Höhen, wie nach einem ſtarken Gewitterregen. Dieſe Wirkung
eines Nebels, der auf den Hygrometer an der Erdoberfläche
nicht wirkte, erſchien mir auffallend. Ich blieb einen Teil
der Nacht auf einem Balkon ſitzen, wo ich einen großen Teil
des Horizontes überſah. Unter allen Himmelsſtrichen hat es
viel Anziehendes für mich, bei heiterem Himmel ein großes
Sternbild ins Auge zu faſſen und zu ſehen, wie Haufen von
Dunſtbläschen ſich bilden, wie um einen Kern anſchießen, ver-
ſchwinden und ſich von neuem bilden.


Zwiſchen dem 28. Oktober und 3. November war der
rötliche Nebel dicker als je bisher; bei Nacht war die Hitze
erſtickend, obgleich der Thermometer nur auf 26° ſtand. Der
Seewind, der meiſt von 8 oder 9 Uhr abends die Luft
abkühlt, ließ ſich gar nicht ſpüren. Die Luft war wie in
Glut; der ſtaubige, ausgedörrte Boden bekam überall Riſſe.
Am 4. November gegen 2 Uhr nachmittags hüllten dicke,
ſehr ſchwarze Wolken die hohen Berge Brigantin und Tatara-
qual ein. Sie rückten allmählich bis in das Zenith. Gegen
4 Uhr fing es an über uns zu donnern, aber ungemein
hoch, ohne Rollen, trockene, oft kurz abgebrochene Schläge.
Im Moment, wo die ſtärkſte elektriſche Entladung ſtattfand,
um 4 Uhr 12 Minuten, erfolgten zwei Erdſtöße, 15 Sekun-
den hintereinander. Das Volk ſchrie laut auf der Straße.
Bonpland, der über einen Tiſch gebeugt Pflanzen unterſuchte,
wurde beinahe zu Boden geworfen. Ich ſelbſt ſpürte den
Stoß ſehr ſtark, obgleich ich in einer Hängematte lag. Die
Richtung des Stoßes war, was in Cumana ziemlich ſelten
vorkommt, von Nord nach Süd. Sklaven, die aus einem
6 bis 6,5 m tiefen Brunnen am Manzanares Waſſer ſchöpften,
hörten ein Getöſe wie einen ſtarken Kanonenſchuß. Das Ge-
töſe ſchien aus dem Brunnen heraufzukommen, eine auf-
fallende Erſcheinung, die übrigens in allen Ländern Amerikas,
die den Erdbeben ausgeſetzt ſind, häufig vorkommt.


Einige Minuten vor dem erſten Stoß trat ein heftiger
[48] Sturm ein, dem ein elektriſcher Regen mit großen Tropfen
folgte. Ich beobachtete ſogleich die Elektrizität der Luft mit
dem Voltaſchen Elektrometer. Die Kügelchen wichen 8,88 mm
auseinander; die Elektrizität wechſelte oft zwiſchen poſitiv und
negativ, wie immer bei Gewittern und im nördlichen Europa
zuweilen ſelbſt bei Schneefall. Der Himmel blieb bedeckt und
auf den Sturm folgte eine Windſtille, welche die ganze Nacht
anhielt. Der Sonnenuntergang bot ein Schauſpiel von ſeltener
Pracht. Der dicke Wolkenſchleier zerriß dicht am Horizont
wie zu Fetzen, und die Sonne erſchien 12° hoch auf indigo-
blauem Grunde. Ihre Scheibe war ungemein ſtark in die
Breite gezogen, verſchoben und am Rande ausgeſchweift. Die
Wolken waren vergoldet und Strahlenbündel in den ſchönſten
Regenbogenfarben liefen bis zur Mitte des Himmels aus-
einander. Auf dem großen Platze war viel Volk verſammelt.
Letztere Erſcheinung, das Erdbeben, der Donnerſchlag während
desſelben, der rote Nebel ſeit ſo vielen Tagen, alles wurde
der Sonnenfinſternis zugeſchrieben.


Gegen 9 Uhr abends erfolgte ein dritter Erdſtoß, weit
ſchwächer als die erſten, aber begleitet von einem deutlich
vernehmbaren unterirdiſchen Geräuſch. Der Barometer ſtand
ein klein wenig tiefer als gewöhnlich, aber der Gang der
ſtündlichen Schwankungen oder der kleinen atmoſphäriſchen
Ebbe und Flut wurde durchaus nicht unterbrochen. Das
Queckſilber ſtand im Moment, wo der Erdſtoß eintrat, eben
auf dem Minimum der Höhe; es ſtieg wieder bis 11 Uhr
abends und fiel dann wieder bis 4 ½ Uhr morgens, voll-
kommen entſprechend dem Geſetze der barometriſchen Schwan-
kungen. In der Nacht vom 3. zum 4. November war der
rötlichte Nebel ſo dick, daß ich den Ort, wo der Mond
ſtand, nur an einem ſchönen Hofe von 12° Durchmeſſer er-
kennen konnte.


Es waren kaum zweiundzwanzig Monate verfloſſen, ſeit
die Stadt Cumana durch ein Erdbeben faſt gänzlich zerſtört
worden. Das Volk ſieht die Nebel, welche den Horizont um-
ziehen, und das Ausbleiben des Seewindes bei Nacht für
ſichere ſchlimme Vorzeichen an. Wir erhielten viele Beſuche,
die ſich erkundigten, ob unſere Inſtrumente neue Stöße für
den anderen Tag anzeigten. Beſonders groß und allgemein
wurde die Unruhe, als am 5. November, zur ſelben Stunde
wie tags zuvor, ein heftiger Sturm eintrat, dem ein Donner-
ſchlag und ein paar Tropfen Regen folgten; aber es ließ ſich
[49] kein Stoß ſpüren. Sturm und Gewitter kamen fünf oder
ſechs Tage zur ſelben Stunde, ja faſt zur ſelben Minute
wieder. Schon ſeit langer Zeit haben die Einwohner von
Cumana und ſo vieler Orte unter den Tropen die Beob-
achtung gemacht, daß ſcheinbar ganz zufällige atmoſphäriſche
Veränderungen wochenlang mit erſtaunlicher Regelmäßigkeit
nach einem gewiſſen Typus eintreten. Dieſelbe Erſcheinung
kommt ſommers auch im gemäßigten Erdſtrich vor und iſt dem
Scharfblick der Aſtronomen nicht entgangen. Häufig ſieht
man nämlich bei heiterem Himmel drei, vier Tage hinterein-
ander an derſelben Stelle des Himmels ſich Wolken bilden,
nach derſelben Richtung fortziehen und ſich in derſelben Höhe
wieder auflöſen, bald vor, bald nach dem Durchgang eines
Sternes durch den Meridian, alſo bis auf wenige Minuten
zur ſelben wahren Zeit.


Das Erdbeben vom 4. November, das erſte, das ich
erlebt, machte einen um ſo ſtärkeren Eindruck auf mich, da
es, vielleicht zufällig, von ſo auffallenden meteoriſchen Er-
ſcheinungen begleitet war. Auch war es eine wirkliche Hebung
von unten nach oben, kein wellenförmiger Stoß. Ich hätte
damals nicht geglaubt, daß ich nach langem Aufenthalt auf
den Hochebenen von Quito und an den Küſten von Peru
mich ſelbſt an ziemlich ſtarke Bewegungen des Bodens ſo ſehr
gewöhnen würde, wie wir in Europa an das Donnern ge-
wöhnt ſind. In der Stadt Quito dachten wir gar nicht mehr
daran, bei Nacht aufzuſtehen, wenn ein unterirdiſches Gebrülle
(bramidos), das immer vom Vulkan Pichincha herzukommen
ſcheint (2 bis 3, zuweilen 7 bis 8 Minuten vorher) einen
Stoß ankündigte, deſſen Stärke nur ſelten mit dem Grade des
Getöſes im Verhältnis ſteht. Die Sorgloſigkeit der Ein-
wohner, die wiſſen, daß in dreihundert Jahren ihre Stadt
nicht zerſtört worden iſt, teilt ſich bald ſelbſt dem ängſtlichſten
Fremden mit. Ueberhaupt iſt es nicht ſowohl die Beſorgnis
vor Gefahr, als die eigentümliche Empfindung, was einen ſo
ſehr aufregt, wenn man zum erſtenmal auch nur einen ganz
leichten Erdſtoß empfindet.


Von Kindheit auf prägen ſich unſerer Vorſtellung gewiſſe
Kontraſte ein; das Waſſer gilt uns für ein bewegliches Ele-
ment, die Erde für eine unbewegliche träge Maſſe. Dieſe
Begriffe ſind das Produkt der täglichen Erfahrung und hängen
mit allen unſeren Sinneseindrücken zuſammen. Läßt ſich ein
Erdſtoß ſpüren, wankt die Erde in ihren alten Grundfeſten,
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 4
[50] die wir für unerſchütterlich gehalten, ſo iſt eine langjährige
Täuſchung in einem Augenblick zerſtört. Es iſt, als erwachte
man, aber es iſt kein angenehmes Erwachen; man fühlt, die
vorausgeſetzte Ruhe der Natur war nur eine ſcheinbare, man
lauſcht hinfort auf das leiſeſte Geräuſch, man mißtraut zum
erſtenmal einem Boden, auf den man ſo lange zuverſichtlich
den Fuß geſetzt. Wiederholen ſich die Stöße, treten ſie mehrere
Tage hintereinander häufig ein, ſo nimmt dieſes Zagen bald
ein Ende. Im Jahre 1784 waren die Einwohner von Mexiko
ſo ſehr daran gewöhnt, unter ihren Füßen donnern zu hören,
wie wir an den Donner in der Luft. Der Menſch faßt ſehr
ſchnell wieder Zutrauen, und an den Küſten von Peru ge-
wöhnt man ſich am Ende an die Schwankungen des Bodens,
wie der Schiffer an die Stöße, die das Fahrzeug von den
Wellen erhält.


Der rötlichte Dunſt, der kurz nach Sonnenuntergang den
Horizont umzog, hatte ſeit dem 7. November aufgehört. Die
Luft war wieder ſo rein wie ſonſt, und das Himmelsgewölbe
zeigte im Zenith das Dunkelblau, das den Klimaten eigen
iſt, wo die Wärme, das Licht und große Gleichförmigkeit der
elektriſchen Spannung miteinander die vollſtändigſte Auflöſung
des Waſſers in der Luft zu bewirken ſcheinen. In der Nacht
vom 7. zum 8. beobachtete ich die Immerſion des zweiten
Jupiterstrabanten. Die Streifen des Planeten waren deut-
licher, als ich ſie je zuvor geſehen.


Einen Teil der Nacht verwendete ich dazu, die Lichtſtärke
der ſchönen Sterne am ſüdlichen Himmel zu vergleichen. Ich
hatte ſchon zur See ſorgfältige Beobachtungen derart ange-
ſtellt und ſetzte ſie ſpäter bei meinem Aufenthalt in Lima,
Guayaquil und Mexiko in beiden Hemiſphären fort. Es war
über ein halbes Jahrhundert verfloſſen, ſeit Lacaille den Strich
des Himmels, der in Europa unſichtbar iſt, unterſucht hatte.
Die Sterne nahe am Südpol werden meiſt ſo oberflächlich
und ſo wenig anhaltend beobachtet, daß in ihrer Lichtſtärke
und in ihrer eigenen Bewegung die größten Veränderungen
eintreten können, ohne daß die Aſtronomen das Geringſte
davon erfahren. Ich glaube Veränderungen derart in den
Sternbildern des Kranichs und des Schiffes wahrgenommen
zu haben. Nach einem Mittel aus ſehr vielen Schätzungen
habe ich die relative Lichtſtärke der großen Sterne in nach-
ſtehender Reihenfolge abnehmen ſehen: Sirius, Canopus,
α des Centauren, Achernar, β des Centauren, Fomalhaut,
[51] Rigel, Procyon, Beteigeuze, ε des großen Hundes, δ des
großen Hundes, α des Kranichs, α des Pfauen. Dieſe Arbeit,
deren numeriſche Eingriffe ich anderswo veröffentlicht habe,
wird an Bedeutung gewinnen, wenn nach je fünfzig bis ſechzig
Jahren Reiſende die Lichtſtärke der Sterne von neuem be-
obachten und darin Wechſel wahrnehmen, die entweder von
Vorgängen an der Oberfläche der Himmelskörper oder von
ihrem veränderten Abſtande von unſerem Planetenſyſtem her-
rühren.


Hat man in unſeren nördlichen Himmelsſtrichen und in
der heißen Zone lange mit denſelben Fernröhren beobachtet,
ſo iſt man überraſcht, wie deutlich in letzterer, infolge der
Durchſichtigkeit der Luft und der geringeren Schwächung des
Lichtes, die Doppelſterne, die Trabanten des Jupiters und
gewiſſe Nebelſterne erſcheinen. Bei gleich heiterem Himmel
glaubt man beſſere Inſtrumente unter den Händen zu haben,
ſo viel deutlicher, ſo viel ſchärfer begrenzt zeigen ſich dieſe
Gegenſtände unter den Tropen. So viel iſt ſicher, wird einſt
Südamerika der Mittelpunkt einer ausgebreiteten Kultur, ſo
muß die phyſiſche Aſtronomie ungemeine Fortſchritte machen,
ſobald man einmal anfängt im trockenen, heißen Klima von
Cumana, Coro und der Inſel Margarita den Himmel mit
vorzüglichen Werkzeugen zu beobachten. Des Rückens der
Kordilleren erwähne ich dabei nicht, weil, einige ziemlich dürre
Hochebenen in Mexiko und Peru ausgenommen, auf ſehr
hohen Plateaus, auf ſolchen, wo der Luftdruck um 26 bis
29 cm geringer iſt als an der Meeresfläche, die Luft neblig
und die Witterung ſehr veränderlich iſt. Sehr reine Luft,
wie ſie in den Niederungen in der trockenen Jahreszeit faſt
beſtändig vorkommt, bietet vollen Erſatz für die hohe Lage
und die verdünnte Luft auf den Plateaus.


Die Nacht vom 11. zum 12. November war kühl und
ausnehmend ſchön. Gegen Morgen, von 2 ½ Uhr an, ſah
man gegen Oſt höchſt merkwürdige Feuermeteore. Bon-
pland, der aufgeſtanden war, um auf der Galerie der Kühle
zu genießen, bemerkte ſie zuerſt. Tauſende von Feuerkugeln
und Sternſchnuppen fielen hintereinander, vier Stunden
lang. Ihre Richtung war ſehr regelmäßig von Nord nach
Süd; ſie füllten ein Stück des Himmels, das vom wahren
Oſtpunkt 30° nach Nord und nach Süd reichte. Auf einer
Strecke von 60° ſah man die Meteore in Oſt-Nord-Oſt und Oſt
über den Horizont aufſteigen, größere oder kleinere Bogen
[52] beſchreiben und, nachdem ſie in der Richtung des Meridians
fortgelaufen, gegen Süd niederfallen. Manche ſtiegen 40°
hoch, alle höher als 25 bis 30°. Der Wind war in der
niederen Luftregion ſehr ſchwach und blies aus Oſt; von
Wolken war keine Spur zu ſehen. Nach Bonplands Ausſage
war gleich zu Anfang der Erſcheinung kein Stück am Himmel
ſo groß als drei Monddurchmeſſer, das nicht jeden Augenblick
von Feuerkugeln und Sternſchnuppen gewimmelt hätte. Der
erſteren waren wenigere; da man ihrer aber von verſchiedenen
Größen ſah, ſo war zwiſchen dieſen beiden Klaſſen von Er-
ſcheinungen unmöglich, eine Grenze zu ziehen. Alle Meteore
ließen 8 bis 10° lange Lichtſtreifen hinter ſich zurück, was
zwiſchen den Wendekreiſen häufig vorkommt. Die Phos-
phoreszenz dieſer Lichtſtreifen hielt 7 bis 8 Sekunden an.
Manche Sternſchnuppen hatten einen ſehr deutlichen Kern von
der Größe der Jupiterſcheibe, von dem ſehr ſtark leuchtende
Lichtfunken ausfuhren. Die Feuerkugeln ſchienen wie durch
Exploſion zu platzen; aber die größten, von 1 bis 1° 13′ Durch-
meſſer, verſchwanden ohne Funkenwerfen und ließen leuchtende,
15 bis 20 Minuten breite Streifen (trabes) hinter ſich. Das
Licht der Meteore war weiß, nicht rötlich, wahrſcheinlich weil
die Luft ganz dunſtfrei und ſehr durchſichtig war. Aus dem-
ſelben Grunde haben unter den Tropen die Sterne erſter
Größe beim Aufgehen ein auffallend weißeres Licht als in
Europa.


Faſt alle Einwohner von Cumana ſahen die Erſcheinung
mit an, weil ſie vor 4 Uhr aus den Häuſern gehen, um
die Frühmeſſe zu hören. Der Anblick der Feuerkugeln war
ihnen keineswegs gleichgültig; die älteſten erinnerten ſich, daß
dem großen Erdbeben des Jahres 1766 ein ganz ähnliches
Phänomen vorausgegangen war. In der indianiſchen Vor-
ſtadt waren die Guaikeri auf den Beinen; ſie behaupteten,
„das Feuerwerk habe um ein Uhr nachts begonnen, und als
ſie vom Fiſchfang im Meerbuſen zurückgekommen, haben ſie
ſchon Sternſchnuppen, aber ganz kleine, im Oſten aufſteigen
ſehen“. Sie verſicherten zugleich, auf dieſer Küſte ſeien nach
2 Uhr morgens Feuermeteore ſehr ſelten.


Von 4 Uhr an hörte die Erſcheinung allmählich auf;
Feuerkugeln und Sternſchnuppen wurden ſeltener, indeſſen
konnte man noch eine Viertelſtunde nach Sonnenaufgang
mehrere an ihrem weißen Lichte und dem raſchen Hinfahren
erkennen. Dies erſcheint nicht ſo auffallend, wenn ich daran
[53] erinnere, daß im Jahre 1788 in der Stadt Popayan am hellen
Tage das Innere der Häuſer durch einen ungeheuer großen
Meteorſtein ſtark erleuchtet wurde; er ging um 1 Uhr nach-
mittags bei hellem Sonnenſchein über die Stadt weg. Am
26. September 1800, während unſeres zweiten Aufenthalts
in Cumana, gelang es Bonpland und mir, nachdem wir die
Immerſion des erſten Jupiterstrabanten beobachtet, 18 Mi-
nuten, nachdem ſich die Sonnenſcheibe über den Horizont er-
hoben, den Planeten mit bloßem Auge deutlich zu ſehen.
Gegen Oſt war ſehr leichtes Gewölk, aber Jupiter ſtand auf
blauem Grunde. Dieſe Fälle beweiſen, wie rein und durch-
ſichtig die Luft zwiſchen den Wendekreiſen iſt. Die Maſſe
des zerſtreuten Lichtes iſt deſto kleiner, je vollſtändiger der
Waſſerdunſt aufgelöſt iſt. Dieſelbe Urſache, welche der Zer-
ſtreuung des Sonnenlichtes entgegenwirkt, vermindert auch die
Schwächung des Lichtes, das von den Feuerkugeln, vom Ju-
piter, vom Mond am zweiten Tag nach der Konjunktion
ausgeht.


Der 12. November war wieder ein ſehr heißer Tag und
der Hygrometer zeigte eine für dieſes Klima ſehr ſtarke
Trockenheit an. Auch zeigte ſich der rötliche, den Horizont
umſchleiernde Dunſt wieder und ſtieg 14° hoch herauf. Es
war das letzte Mal, daß man ihn in dieſem Jahre ſah. Ich
bemerke hier, daß derſelbe unter dem ſchönen Himmel von
Cumana im allgemeinen ſo ſelten iſt, als er in Acapulco auf
der Weſtküſte von Mexiko häufig vorkommt.


Da bei meinem Abgange von Europa die Phyſiker durch
Chladnis Unterſuchungen auf Feuerkugeln und Sternſchnuppen
beſonders aufmerkſam geworden waren, ſo verſäumten wir
auf unſerer Reiſe von Caracas nach dem Rio Negro nicht,
uns überall zu erkundigen, ob am 12. November die Meteore
geſehen worden ſeien. In einem wilden Lande, wo die Ein-
wohner größenteils im Freien ſchlafen, konnte eine ſo außer-
ordentliche Erſcheinung nur da unbemerkt bleiben, wo ſie ſich
durch bewölkten Himmel der Beobachtung entzog. Der Ka-
puziner in der Miſſion San Fernando de Apure, die mitten
in den Savannen der Provinz Varinas liegt, die Franziskaner
an den Fällen des Orinoko und in Maroa am Rio Negro
hatten zahlloſe Sternſchnuppen und Feuerkugeln das Himmels-
gewölbe beleuchten ſehen. Maroa liegt 780 km ſüdweſtlich
von Cumana. Alle dieſe Beobachter verglichen das Phänomen
mit einem ſchönen Feuerwerk, das von 3 bis 6 Uhr
[54] morgens gewährt. Einige Geiſtliche hatten dieſen Tag in
ihrem Ritual angemerkt, andere bezeichneten denſelben nach
den nächſten Kirchenfeſten, leider aber erinnerte ſich keiner der
Richtung der Meteore oder ihrer ſcheinbaren Höhe. Nach der
Lage der Berge und dichten Wälder, welche um die Miſſionen
an den Katarakten und um das kleine Dorf Maroa liegen,
mögen die Feuerkugeln noch 20° über dem Horizont ſichtbar
geweſen ſein. Am Südende von ſpaniſch Guyana, im kleinen
Fort San Carlos, traf ich Portugieſen, die von der Miſſion
San Joſe dos Maravitanos den Rio Negro herauf gefahren
waren. Sie verſicherten mich, in dieſem Teile Braſiliens ſei
die Erſcheinung zum wenigſten bis San Gabriel das Cachoeiras,
alſo bis zum Aequator, ſichtbar geweſen. 1


Ich wunderte mich ſehr über die ungeheure Höhe, in der
die Feuerkugeln geſtanden haben mußten, um zu gleicher Zeit in
Cumana und an der Grenze von Braſilien, auf einer Strecke
von 1035 km geſehen zu werden. Wie ſtaunte ich aber,
als ich bei meiner Rückkehr nach Europa erfuhr, dieſelbe Er-
ſcheinung ſei auf einem 64 Breiten- und 91 Längengrade großen
Stück des Erdballs, unter dem Aequator, in Südamerika, in
Labrador und in Deutſchland geſehen worden! Auf der Ueber-
fahrt von Philadelphia nach Bordeaux fand ich zufällig in
den Verhandlungen der Pennſylvaniſchen Geſellſchaft die be-
treffende Beobachtung des Aſtronomen der Vereinigten Staaten,
Ellicot (unter 30° 42′), und als ich von Neapel wieder nach
Berlin ging, auf der Göttinger Bibliothek den Bericht der
mähriſchen Miſſionäre bei den Eskimo. Bereits war damals
von mehreren Phyſikern die Frage beſprochen worden, ob die
Beobachtungen im Norden und die in Cumana, die Bonpland
und ich ſchon im Jahre 1800 bekannt gemacht, denſelben Gegen-
ſtand betreffen.


Ich gebe im folgenden eine gedrängte Zuſammenſtellung
der Beobachtungen: 1) Die Feuermeteore wurden gegen Oſt
und Oſt-Nord-Oſt, bis zu 40° über dem Horizont, von 2 bis
6 Uhr morgens geſehen in Cumana (Breite 10° 27′ 52″, Länge
66° 30′), in Porto Cabello (Breite 10° 6′ 52″, Länge 67° 5′)
[55] und an der Grenze von Braſilien in der Nähe des Aequators
unter 70° der Länge vom Pariſer Meridian. 2) In fran-
zöſiſch Guyana (Breite 40° 56′, Länge 54° 35′) „ſah man
den Himmel gegen Norden wie in Flammen ſtehen. Andert-
halb Stunden lang ſchoſſen unzählige Sternſchnuppen durch
der Himmel und verbreiteten ein ſo ſtarkes Licht, daß man
die Meteore mit den ſprühenden Funkengarben bei einem
Feuerwerk vergleichen konnte“. Für dieſe Thatſache liegt ein
höchſt achtungswertes Zeugnis vor, das des Grafen Marbois,
der damals als ein Opfer ſeines Rechtsſinns und ſeiner An-
hänglichkeit an verfaſſungsmäßige Freiheit als Deportierter in
Cayenne lebte. 3) Der Aſtronom der Vereinigten Staaten,
Ellicot, befand ſich, nachdem er trigonometriſche Vermeſſungen
zur Grenzberichtigung am Ohio vollendet hatte, am 12. No-
vember im Kanal von Bahama unter 25° der Breite und
81° 50′ der Länge. Er ſah am ganzen Himmel „ſo viel
Meteore als Sterne; ſie fuhren nach allen Richtungen dahin;
manche ſchienen ſenkrecht niederzufallen und man glaubte jeden
Augenblick, ſie werden aufs Schiff herabkommen“. Dasſelbe
wurde auf dem Feſtlande von Amerika bis zu 30° 43′ der
Breite beobachtet. 4) In Labrador zu Nain (Breite 56° 55′)
und Hoffenthal (Breite 58° 4′), in Grönland zu Lichtenau
(Breite 61° 5′) und Neu-Herrnhut (Breite 64° 14′, Länge
52° 20′) erſchraken die Eskimo über die ungeheure Menge
Feuerkugeln, die in der Dämmerung nach allen Himmels-
gegenden niederfielen, „und von denen manche einen Schuh
breit waren“. 5) In Deutſchland ſah der Pfarrer von
Itterſtädt bei Weimar, Zeiſing (Breite 50° 59′, öſtliche
Länge 9° 1′), am 12. November zwiſchen 6 und 7 Uhr
morgens (als es in Cumana 2½ Uhr war) einige Stern-
ſchnuppen mit ſehr weißem Licht. „Kurz darauf erſchienen
gegen Süd und Südweſt 1,3 bis 2 m lange, rötliche Licht-
ſtreifen, ähnlich denen einer Rakete. In der Morgendämmerung
zwiſchen 7 und 8 Uhr ſah man von Zeit zu Zeit den Himmel
durch weißliche, in Schlangenlinien am Horizont hinfahrende
Blitze ſtark beleuchtet. In der Nacht war es kälter geworden
und der Barometer war geſtiegen.“ Sehr wahrſcheinlich hätte
das Meteor noch weiter oſtwärts in Polen und Rußland ge-
ſehen werden können. Ohne die umſtändliche Angabe, die
Ritter den Papieren des Pfarrers von Itterſtädt entnommen,
hätten wir auch geglaubt, die Feuerkugeln ſeien außerhalb der
Grenzen der Neuen Welt nicht geſehen worden.


[56]

Von Weimar an den Rio Negro ſind es 3340 km, vom
Rio Negro nach Herrnhut in Grönland 5850 km. Sind an
ſo weit auseinander gelegenen Punkten dieſelben Meteore ge-
ſehen worden, ſo ſetzt dies für dieſelben eine Höhe von
1850 km voraus. Bei Weimar zeigten ſich die Lichtſtreifen
gegen Süd und Südweſt, in Cumana gegen Oſt und Oſt-
Nord-Oſt. Man könnte deshalb glauben, zahlloſe Aerolithen
müßten zwiſchen Afrika und Südamerika weſtwärts von den
Inſeln des Grünen Vorgebirges ins Meer gefallen ſein. Wie
kommt es aber, daß die Feuerkugeln, die in Labrader und
Cumana verſchiedene Richtungen hatten, am letzteren Orte
nicht gegen Nord geſehen wurden, wie in Cayenne? Man
kann nicht vorſichtig genug ſein mit einer Annahme, zu der
es noch an guten, an weit auseinander gelegenen Orten an-
geſtellten Beobachtungen fehlt. Ich möchte faſt glauben, daß
die Chaymas in Cumana nicht dieſelben Feuerkugeln geſehen
haben, wie die Portugieſen in Braſilien und die Miſſionäre
in Labrador; immer aber bleibt es unzweifelhaft (und dieſe
Thatſache ſcheint mir höchſt merkwürdig), daß in der Neuen
Welt zwiſchen 46° und 82° der Länge, vom Aequator bis
zu 64° der Breite in denſelben Stunden eine ungeheure
Menge Feuerkugeln und Sternſchnuppen geſehen worden iſt.
Auf einem Flächenraume von 18650000 qkm erſchienen die
Meteore überall gleich glänzend.


Die Phyſiker (Benzenberg und Brandes), welche in neuerer
Zeit über die Sternſchnuppen und ihre Parallaxen ſo müh-
ſame Unterſuchungen angeſtellt haben, betrachten ſie als Me-
teore, die der äußerſten Grenze unſeres Luftkreiſes, dem Raume
zwiſchen der Region des Nordlichtes und der der leichteſten
Wolken 1 angehören. Es ſind welche beobachtet worden, die
nur 27,3 km hoch waren, und die höchſten ſcheinen nicht über
164 km hoch zu ſein. Sie haben häufig über 32 m Durch-
meſſer und ihre Geſchwindigkeit iſt ſo bedeutend, daß ſie in
wenigen Sekunden 9 km zurücklegen. Man hat welche ge-
meſſen, die faſt ſenkrecht oder unter einem Winkel von 50°
von unten nach oben liefen. Aus dieſem ſehr merkwürdigen
Umſtande hat man geſchloſſen, daß die Sternſchnuppen keine
[57] Meteorſteine ſind, die, nachdem ſie lange gleich Himmels-
körpern durch den Raum gezogen, ſich entzünden, wenn ſie
zufällig in unſere Atmoſphäre geraten und zur Erde fallen.


Welchen Urſprung nun auch dieſe Feuermeteore haben
mögen, ſo hält es ſchwer, ſich in einer Region, wo die Luft
verdünnter iſt als im luftleeren Raume unſerer Luftpumpen,
wo (in 49 km Höhe) das Queckſilber im Barometer nicht
0,024 mm hoch ſtünde, ſich eine plötzliche Entzündung zu
denken. Allerdings kennen wir das bis auf 3/1000 gleich-
förmige Gemiſch der atmoſphäriſchen Luft nur bis zu 585 m
Höhe, folglich nicht über die höchſte Schichte der flockigen
Wolken hinauf. Man könnte annehmen, bei den früheſten
Umwälzungen des Erdballes ſeien Gaſe, die uns bis jetzt ganz
unbekannt geblieben, in die Luftregion aufgeſtiegen, in der
ſich die Sternſchnuppen bewegen; aber aus genauen Verſuchen
mit Gemiſchen von Gaſen von verſchiedenem ſpezifiſchem Ge-
wichte geht hervor, daß eine oberſte, von den unteren Schichten
ganz verſchiedene Luftſchicht undenkbar iſt. Die gasförmigen
Körper miſchen ſich und durchdringen einander bei der geringſten
Bewegung, und im Laufe der Jahrhunderte hätte ſich ein
gleichförmiges Gemiſch herſtellen müſſen, wenn man nicht eine
abſtoßende Kraft ins Spiel bringen will, von der an keinem
der uns bekannten Körper etwas zu bemerken iſt. Nimmt
man ferner in den uns unzugänglichen Regionen der Feuer-
meteore, der Sternſchnuppen, der Feuerkugeln und des Nord-
lichtes eigentümliche luftförmige Flüſſigkeiten an, wie will man
es erklären, daß ſich nicht die ganze Schicht dieſer Flüſſig-
keiten zumal entzündet, daß vielmehr Gasausſtrömungen, gleich
Wolken, einen begrenzten Raum einnehmen? Wie ſoll man
ſich ohne die Bildung von Dünſten, die einer ungleichen
Ladung fähig ſind, eine elektriſche Entladung denken, und das
in einer Luft, deren mittlere Temperatur vielleicht 250° unter
Null beträgt, und die ſo verdünnt iſt, daß die Kompreſſion
durch den elektriſchen Schlag ſo gut wie keine Wärme mehr
entbinden kann? Dieſe Schwierigkeiten würden großenteils
beſeitigt, wenn man die Sternſchnuppen nach der Richtung,
in der ſie ſich bewegen, als Körper mit feſtem Kern, als
kosmiſche (dem Himmelsraume außerhalb unſeres Luftkreiſes
angehörige), nicht als telluriſche (nur unſerem Planeten an-
gehörige) Erſcheinungen betrachten könnte.


Hatten die Meteore in Cumana nur die Höhe, in der
ſich die Sternſchnuppen gewöhnlich bewegen, ſo konnten die-
[58] ſelben Meteore an Punkten, die 1400 km auseinander liegen,
über dem Horizont geſehen werden. Wie außerordentlich muß
nun an jenem 12. November in den hohen Luftregionen die
Neigung zur Verbrennung geſteigert geweſen ſein, damit vier
Stunden lang Milliarden von Feuerkugeln und Sternſchnuppen
fallen konnten, die am Aequator, in Grönland und in Deutſch-
land geſehen wurden! Benzenberg macht die ſcharfſinnige
Bemerkung, daß dieſelbe Urſache, aus der das Phänomen
häufiger eintritt, auch auf die Größe der Meteore und ihre
Lichtſtärke Einfluß äußert. In Europa ſieht man in den
Nächten, in denen am meiſten Sternſchnuppen fallen, immer
auch ſehr ſtark leuchtende unter ganz kleinen. Durch das
Periodiſche daran wird die Erſcheinung noch intereſſanter. In
manchen Monaten zählte Brandes in unſerem gemäßigten
Erdſtrich nur 60 bis 80 Sternſchnuppen in der Nacht, in
anderen ſteigt die Zahl auf 2000. Sieht man eine vom
Durchmeſſer des Sirius oder des Jupiter, ſo kann man ſicher
darauf rechnen, daß hinter dieſem glänzenden Meteor viele
kleinere kommen. Fallen in einer Nacht ſehr viele Stern-
ſchnuppen, ſo iſt es höchſt wahrſcheinlich, daß dies mehrere
Wochen anhält. In den hohen Luftregionen, an der äußerſten
Grenze, wo Centrifugalkraft und Schwere ſich ausgleichen,
ſcheint periodiſch eine beſondere Dispoſition zur Bildung von
Feuerkugeln, Sternſchnuppen und Nordlichtern einzutreten.
Hängt die Periodizität dieſer wichtigen Erſcheinung vom Zu-
ſtande der Atmoſphäre ab, oder von etwas, das der Atmoſphäre
von auswärts zukommt, während die Erde in der Ekliptik
fortrückt? Von alledem wiſſen wir gerade ſo viel wie zur
Zeit des Anaxagoras.


Was die Sternſchnuppen für ſich betrifft, ſo ſcheinen ſie
mir, nach meiner eigenen Erfahrung, unter den Wendekreiſen
häufiger zu ſein als in gemäßigten Landſtrichen, über den
Feſtländern und an gewiſſen Küſten häufiger als auf offener
See. Ob wohl die ſtrahlende Oberfläche des Erdballs und
die elektriſche Ladung der tiefen Luftregionen, die nach der
Beſchaffenheit des Bodens und nach der Lage der Kontinente
und Meere ſich ändert, ihre Einflüſſe noch in Höhen äußern,
wo ewiger Winter herrſcht? Daß in gewiſſen Jahreszeiten
und über manchen dürren, pflanzenloſen Ebenen der Himmel
auch nicht die kleinſten Wolken zeigt, ſcheint darauf hinzu-
deuten, daß dieſer Einfluß ſich wenigſtens bis zur Höhe von
970 bis 1170 m geltend macht. In einem von Vulkanen
[59] ſtarrenden Lande, auf der Hochebene der Anden iſt vor dreißig
Jahren eine ähnliche Erſcheinung wie die am 12. November
beobachtet worden. Man ſah in der Stadt Quito nur an
einem Stück des Himmels, über dem Vulkan Cayambe, Stern-
ſchnuppen in ſolcher Menge aufſteigen, daß man meinte, der
ganze Berg ſtehe in Feuer. Dieſes außerordentliche Schau-
ſpiel dauerte über eine Stunde; das Volk lief auf der Ebene
von Exido zuſammen, wo man eine herrliche Ausſicht auf die
höchſten Gipfel der Kordilleren hat. Schon war eine Pro-
zeſſion im Begriffe, vom Kloſter San Francisco aufzubrechen,
als man gewahr wurde, daß das Feuer am Horizont von
Feuermeteoren herrührte, die bis zur Höhe von 12 bis 15°
nach allen Richtungen durch den Himmel ſchoſſen.


[[60]]

Elftes Kapitel.


Reiſe von Cumana nach Guayra. — Morro de Nueva Barcelona. —
Das Vorgebirge Codera. — Weg von Guayra nach Caracas.


Am 18. November um 8 Uhr abends waren wir unter
Segel, um längs der Küſte von Cumana nach dem Hafen
von Guayra zu fahren, aus dem die Einwohner von Vene-
zuela den größten Teil ihrer Produkte ausführen. Es ſind
nur 270 km und die Ueberfahrt währt meiſt nur 36 bis 40
Stunden. Den kleinen Küſtenfahrzeugen kommen Wind und
Strömungen zumal zu gute; letztere ſtreichen mehr oder minder
ſtark von Oſt nach Weſt längs den Küſten von Terra Firma
hin, beſonders zwiſchen den Vorgebirgen Paria und Chichi-
bacoa. Der Landweg von Cumana nach Neubarcelona und
von da nach Caracas iſt ſo ziemlich im ſelben Zuſtande wie
vor der Entdeckung von Amerika. Man hat mit allen Hin-
derniſſen eines moraſtigen Bodens, zerſtreuter Felsblöcke und
einer wuchernden Vegetation zu kämpfen; man muß unter
freiem Himmel ſchlafen, die Thäler des Unare, Tuy und Ca-
paya durchziehen und über Ströme ſetzen, die wegen der Nähe
des Gebirges raſch anſchwellen. Zu dieſen Hinderniſſen kommt
die Gefahr, die der Reiſende läuft, weil das Land ſehr un-
geſund iſt, beſonders die Niederungen zwiſchen der Küſtenkette
und dem Meeresufer, von der Bucht von Mochima bis Coro.
Letztere Stadt aber, die von einem ungeheuren Gehölz von
Fackeldiſteln und ſtachlichten Kaktus umgeben iſt, verdankt,
gleich Cumana, ihr geſundes Klima dem dürren Boden und
dem Mangel an Regen.


Man zieht zuweilen den Weg zu Lande dem zur See vor,
wenn man von Caracas nach Cumana zurückgeht und nicht
gerne gegen die Strömung fährt. Der Kurier von Caracas
braucht dazu neun Tage; wir ſahen häufig Leute, die ſich
[61] ihm angeſchloſſen, in Cumana krank an Typhus und mias-
matiſchen Fiebern ankommen. Der Baum, deſſen Rinde 1 ein
treffliches Heilmittel gegen dieſe Fieber iſt, wächſt in denſelben
Thälern, am Saume derſelben Wälder, deren Ausdünſtungen
ſo gefährlich ſind. Der kranke Reiſende macht Halt in einer
Hütte, deren Bewohner nichts davon wiſſen, daß die Bäume,
welche die Thalgründe umher beſchatten, das Fieber vertreiben.


Als wir zur See von Cumana nach Guayra gingen, war
unſer Plan der: wir wollten bis zum Ende der Regenzeit in
Caracas bleiben, von dort über die großen Ebenen oder Llanos
in die Miſſionen am Orinoko reiſen, dieſen ungeheuren Strom
ſüdlich von den Katarakten bis zum Rio Negro und zur Grenze
von Braſilien hinauffahren und über die Hauptſtadt des ſpa-
niſchen Guyana, gemeiniglich wegen ihrer Lage Angoſtura,
d. h. Engpaß geheißen, nach Cumana zurückkehren. Wie lange
wir zu dieſer Reiſe von 3150 km, wovon wir über zwei Dritt-
teile im Kanoe zu machen hatten, brauchen würden, ließ ſich
unmöglich beſtimmen. Auf den Küſten kennt man nur das
Stück des Orinoko nahe an ſeiner Mündung; mit den Miſ-
ſionen beſteht lediglich kein Handelsverkehr. Was jenſeits der
Llanos liegt, iſt für die Einwohner von Cumana und Ca-
racas unbekanntes Land. Die einen glauben, die mit Raſen
bedeckten Ebenen von Calabozo ziehen ſich 3600 km gegen
Süden fort und ſtehen mit den Steppen oder Pampas von
Buenos Ayres in Verbindung; andere halten wegen der großen
Sterblichkeit unter den Truppen Iturriagas und Solanos auf
ihrem Zuge an den Orinoko alles Land ſüdlich von den Kata-
rakten von Atures für äußerſt ungeſund. In einem Lande,
wo man ſo wenig reiſt, findet man Gefallen daran, den
Fremden gegenüber die Gefahren, die vom Klima, von wilden
Tieren und Menſchen drohen, zu übertreiben. Wir waren an
dieſe Abſchreckungsmittel, welche die Koloniſten mit naiver
und gutgemeinter Offenheit in Anwendung bringen, noch nicht
gewöhnt; trotzdem hielten wir an dem einmal gefaßten Ent-
ſchluſſe feſt. Wir konnten auf die Teilnahme und Unter-
ſtützung des Statthalters der Provinz, Don Vicente Emparan,
uns verlaſſen, ſowie auf die Empfehlungen der Franziskaner-
mönche, welche an den Ufern des Orinoko die eigentlichen
Herren ſind.


[62]

Zum Glück für uns war einer dieſer Geiſtlichen, Juan
Gonzales, eben in Cumana. Dieſer junge Mönch war nur
ein Laienbruder, aber ſehr verſtändig, gebildet, voll Leben und
Mut. Kurz nach ſeiner Ankunft auf der Küſte hatte er ſich
bei Gelegenheit der Wahl eines neuen Guardians der Miſ-
ſionen von Pritu, wobei im Kloſter zu Nueva Barcelona
immer große Aufregung herrſcht, das Mißfallen ſeiner Oberen
zugezogen. Die ſiegende Partei übte eine durchgreifende Re-
aktion, welcher der Laienbruder nicht entgehen konnte. Er wurde
nach Esmeralda geſchickt, in die letzte Miſſion am oberen
Orinoko, berüchtigt durch die Unzahl bösartiger Inſekten, welche
jahraus jahrein die Luft erfüllen. Fray Juan Gonzales war
mit den Wäldern zwiſchen den Katarakten und den Quellen
des Orinoko vollkommen bekannt. Eine andere Umwälzung
im republikaniſchen Regiment der Mönche hatte ihn ſeit einigen
Jahren wieder an die Küſte gebracht und er ſtand bei ſeinen
Oberen in verdienter Achtung. Er beſtärkte uns in unſerem
Verlangen, die vielbeſtrittene Gabelung des Orinoko zu unter-
ſuchen; er erteilte uns guten Rat für die Erhaltung der Ge-
ſundheit in einem Klima, in dem er ſelbſt ſo lange an Wechſel-
fiebern gelitten. Wir hatten das Vergnügen, auf der Rückreiſe
vom Rio Negro Frater Juan in Nueva Barcelona wieder
anzutreffen. Da er ſich in der Havana nach Cadiz ein-
ſchiffen wollte, übernahm er es gefällig, einen Teil unſerer
Pflanzenſammlungen und unſerer Inſekten vom Orinoko nach
Europa zu bringen, aber die Sammlungen gingen leider mit
ihm zur See zu Grunde. Der vortreffliche junge Mann, der
uns ſehr zugethan war, und deſſen mutvoller Eifer den Miſ-
ſionen ſeines Ordens große Dienſte hätte leiſten können, kam
im Jahre 1801 in einem Sturme an der afrikaniſchen Küſte
ums Leben.


Das Fahrzeug, in dem wir von Cumana nach Guayra 1
fuhren, war eines von denen, die zum Handel an den Küſten
und mit den Antillen gebraucht werden. Sie ſind 30 m lang
und haben mehr als 1 m Bord über Waſſer; ſie ſind ohne
Verdeck und laden gewöhnlich 100 bis 125 kg. Obgleich die
See vom Vorgebirge Codera bis Guayra ſehr unruhig iſt,
hat man ſeit 30 Jahren kein Beiſpiel, daß eines dieſer Fahr-
zeuge auf der Ueberfahrt von Cumana an die Küſte von
[63] Caracas geſunken wäre. Die indianiſchen Schiffer ſind ſo ge-
wandt, daß ſelbſt bei ihren häufigen Fahrten von Cumana
nach Guadeloupe oder den däniſchen Inſeln, die mit Klippen
umgeben ſind, ein Schiffbruch zu den Seltenheiten gehört.
Dieſe 540 bis 670 km weiten Fahrten auf offener See, wo
man keine Küſte mehr ſieht, werden auf offenen Fahrzeugen,
nach der Weiſe der Alten, ohne Beobachtung der Sonnenhöhe,
ohne Seekarten, faſt immer ohne Kompaß unternommen. Der
indianiſche Steuermann richtet ſich bei Nacht nach dem Polar-
ſtern, bei Tage nach dem Sonnenlauf und dem Winde, der,
wie er vorausſetzt, ſelten wechſelt. Ich habe Guaikeri und
Steuerleute vom Schlage der Zambos geſehen, die den Polar-
ſtern nach der Linie zwiſchen α und β des großen Bären zu
finden wußten, und es kam mir vor, als ſteuerten ſie nicht
ſowohl nach dem Polarſtern ſelbſt als nach jener Linie. Man
wundert ſich, wie ſie, ſobald Land zu Geſicht kommt, richtig
die Inſel Guadeloupe oder Santa Cruz oder Portorico fin-
den; aber im Ausgleichen der Abweichungen vom Kurs ſind
ſie nicht immer ebenſo glücklich. Wenn ſich die Fahrzeuge
unter dem Wind dem Lande nähern, kommen ſie gegen Oſten
gegen Winde und Strömung nur ſehr ſchwer weiter. In
Kriegszeiten haben nun die Schiffer ihre Unwiſſenheit und
ihre Unbekanntſchaft mit dem Gebrauche des Oktanten ſchwer
zu büßen; denn die Kaper kreuzen eben an den Vorgebirgen,
welche die Fahrzeuge von Terra Firma, wenn ſie von ihrem
Kurs abgekommen, in Sicht bekommen müſſen, um ihres
Weges gewiß zu ſein.


Wir fuhren raſch den kleinen Fluß Manzanares hinab.
deſſen Krümmungen Kokosbäume bezeichnen, wie Pappeln und
alte Weiden in unſeren Klimaten. Auf dem anſtoßenden
dürren Strande ſchimmerten auf den Dornbüſchen, die bei
Tage nur ſtaubige Blätter zeigen, da es noch Nacht war,
viele tauſend Lichtfunken. Die leuchtenden Inſekten ver-
mehren ſich in der Regenzeit. Man wird unter den Tropen
des Schauſpiels nicht müde, wenn dieſe hin und her zuckenden
rötlichen Lichter ſich im klaren Waſſer widerſpiegeln und ihre
Bilder und die der Sterne am Himmelsgewölbe unterein-
ander wimmeln.


Wir ſchieden vom Küſtenlande von Cumana, als hätten
wir lange da gelebt. Es war das erſte Land, das wir unter
einem Himmelsſtrich betreten, nach dem ich mich ſeit meiner
früheſten Jugend geſehnt hatte. Der Eindruck der Natur im
[64] indiſchen Klima iſt ſo mächtig und großartig, daß man ſchon
nach wenigen Monaten Aufenthalt lange Jahre darin ver-
bracht zu haben meint. In Europa hat der Nordländer und
der Bewohner der Niederung ſelbſt nach kurzem Beſuch eine
ähnliche Empfindung, wenn er vom Golf von Neapel, von der
köſtlichen Landſchaft zwiſchen Tivoli und dem See von Nemi
oder von der wilden, großartigen Szenerie der Hochalpen und
Pyrenäen ſcheidet. Ueberall in der gemäßigten Zone zeigt
die Phyſiognomie der Pflanzenwelt nur wenige Kontraſte.
Die Fichten und Eichen auf den Gebirgen Schwedens haben
Familienähnlichkeit mit denen, die unter dem ſchönen Himmel
Griechenlands und Italiens wachſen. Unter den Tropen da-
gegen, in den Tiefländern beider Indien erſcheint alles neu
und wunderbar in der Natur. Auf freiem Felde, im Waldes-
dickicht faſt nirgends ein Bild, das an Europa mahnt; denn
von der Vegetation hängt der Charakter einer Landſchaft ab;
ſie wirkt auf unſere Einbildungskraft durch ihre Maſſe, durch
den Kontraſt zwiſchen ihren Gebilden und den Glanz ihrer
Farben. Je neuer und mächtiger die Eindrücke ſind, deſto
mehr löſchen ſie frühere Eindrücke aus, und durch die Stärke
erhalten ſie den Anſchein der Zeitdauer. Ich berufe mich auf
alle, die mit mehr Sinn für die Schönheiten der Natur als
für die Reize des geſelligen Lebens lange in der heißen Zone
gelebt haben. Das erſte Land, das ihr Fuß betreten, wie
teuer und denkwürdig bleibt es ihnen ihr Leben lang! Oft,
und bis ins höchſte Alter, regt ſich in ihnen ein dunkles
Sehnſuchtsgefühl, es noch einmal zu ſehen. Cumana und ſein
ſtaubiger Boden ſtehen noch jetzt weit öfter vor meinem
inneren Auge als alle Wunder der Kordilleren. Unter dem
ſchönen ſüdlichen Himmel wird ſelbſt ein Land faſt ohne
Pflanzenwuchs reizend durch das Licht und die Magie der in
der Luft ſpielenden Farben. Die Sonne beleuchtet nicht allein,
ſie färbt die Gegenſtände, ſie umgibt ſie mit einem leichten
Duft, der, ohne die Durchſichtigkeit der Luft zu mindern, die
Farben harmoniſcher macht, die Lichteffekte mildert und über
die Natur eine Ruhe ausgießt, die ſich in unſerer Seele wider-
ſpiegelt. Um den gewaltigen Eindruck der Landſchaften beider
Indien, ſelbſt kärglich bewaldeter Küſtenſtriche zu begreifen, be-
denke man nur, daß von Neapel dem Aequator zu der Himmel
in dem Verhältnis immer ſchöner wird, wie von der Provence
nach Unteritalien.


Wir liefen während der Flut über die Barre, welche der
[65] kleine Manzanares an ſeiner Mündung gebildet hat. Der abend-
liche Seewind ſchwellte ſanft die Gewäſſer des Meerbuſens
von Cariaco. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber
der Teil der Milchſtraße zwiſchen den Füßen des Centauren
und dem Sternbilde des Schützen ſchien einen Silberſchimmer
auf die Meeresfläche zu werfen. Der weiße Fels, auf dem
das alte Schloß San Antonio ſteht, tauchte zuweilen zwiſchen
den hohen Wipfeln der Kokospalmen am Ufer auf. Nicht
lange, ſo erkannten wir die Küſte nur noch an den zerſtreuten
Lichtern fiſchender Guaikeri; da empfanden wir doppelt den
Neiz des Landes und das ſchmerzliche Gefühl, ſcheiden zu
müſſen. Vor fünf Monaten hatten wir dieſes Ufer betreten,
wie ein neu entdecktes Land, Fremdlinge in der ganzen Um-
gebung, in jeden Buſch, an jeden feuchten, ſchattigen Ort nur
mit Zagen den Fuß ſetzend. Jetzt, da dieſe Küſte unſeren
Blicken entſchwand, lebten Erinnerungen daran in uns, die
uns uralt dünkten. Boden, Gebirgsart, Gewächſe, Bewohner,
mit allem waren wir vertraut geworden.


Wir ſteuerten zuerſt nach Nord-Nord-Weſt, indem wir
auf die Halbinſel Araya zuhielten; dann fuhren wir 135 km
nach Weſt und Weſt-Süd-Weſt. In der Nähe der Bank,
die das Vorgebirge Arenas umgibt und bis zu den Bergöl-
quellen von Maniquarez fortſtreicht, hatten wir ein belebtes
Schauſpiel, dergleichen die ſtarke Phosphoreszenz der See in
dieſem Klima ſo häufig bietet. Schwärme von Tummlern
zogen unſerem Fahrzeuge nach. Ihrer 15 oder 16 ſchwammen
in gleichem Abſtand voneinander. Wenn ſie nun bei der
Wendung mit ihren breiten Floſſen auf die Waſſerfläche
ſchlugen, ſo gab es einen ſtarken Lichtſchimmer; es war, als
bräche Feuer aus der Meerestiefe. Jeder Schwarm ließ beim
Durchſchneiden der Wellen einen Lichtſtreif hinter ſich zurück.
Dies fiel uns um ſo mehr auf, da außerdem die Wellen
nicht leuchteten. Da der Schlag eines Ruders und der Stoß
des Schiffes in dieſer Nacht nur ſchwache Funken gaben, ſo
muß man wohl annehmen, daß der ſtarke Lichtſchein, der
von den Tummlern ausging, nicht allein vom Schlage ihrer
Floſſen herrührte, ſondern auch von der gallertartigen Materie,
die ihren Körper überzieht und vom Stoße der Wellen abge-
rieben wird.


Um Mitternacht befanden wir uns zwiſchen nackten Felſen-
inſeln, die wie Bollwerke aus dem Meere ſteigen; es iſt die
Gruppe der Caracas- und Chimanaseilande. Der Mond war
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 5
[66] aufgegangen und beſchien die zerklüfteten, kahlen, ſeltſam geſtal-
teten Felsmaſſen. Zwiſchen Cumana und Kap Codera bildet
das Meer jetzt eine Art Bucht, eine leichte Einbiegung in das
Land. Die Eilande Picua, Picuita, Caracas und Boracha
erſcheinen als Trümmer der alten Küſte, die von Bordones
in der gleichen Richtung von Oſt nach Weſt lief. Hinter
dieſen Inſeln liegen die Buſen Mochima und Santa Fé, die
ſicher eines Tages ſtark beſuchte Häfen werden. Das zer-
riſſene Land, die zerbrochenen, ſtark fallenden Schichten, alles
deutet hier auf eine große Umwälzung hin, vielleicht dieſelbe,
welche die Kette der Urgebirge geſprengt und die Glimmer-
ſchiefer von Araya und der Inſel Margarita vom Gneis des
Vorgebirges Codera losgeriſſen hat. Mehrere dieſer Inſeln
ſieht man in Cumana von den flachen Dächern, und dort
zeigen ſich an ihnen infolge der verſchiedenen Temperatur der
übereinander gelagerten Luftſchichten die ſonderbarſten Ver-
rückungen und Luftſpiegelungen. Dieſe Felſen ſind ſchwerlich
über 290 m hoch, aber nachts bei Mondlicht ſcheinen ſie von
ſehr bedeutender Höhe.


Man mag ſich wundern, Inſeln, die Caracas heißen, ſo
weit von der Stadt dieſes Namens, der Küſte der Cumana-
goten gegenüber zu finden; aber Caracas bedeutete in der erſten
Zeit nach der Eroberung keinen Ort, ſondern einen Indianer-
ſtamm. Die Gruppen der ſehr gebirgigen Eilande, an denen
wir nahe hinfuhren, entzogen uns den Wind, und mit Sonnen-
aufgang trieben uns ſchmale Waſſerfäden in der Strömung
auf Boracha zu, das größte der Eilande. Da die Felſen faſt
ſenkrecht aufſteigen, ſo fällt der Meeresgrund ſteil ab und auf
einer anderen Fahrt habe ich Fregatten hier ſo nahe ankern
ſehen, daß ſie beinahe ans Land ſtießen. Die Lufttemperatur
war bedeutend geſtiegen, ſeit wir zwiſchen den Inſeln des
kleinen Archipels hinfuhren. Das Geſtein erhitzt ſich am
Tage und gibt bei Nacht die abſorbierte Wärme durch Strah-
lung zum Teil wieder ab. Je mehr die Sonne über den
Horizont ſtieg, deſto weiter warfen die zerriſſenen Berge ihre
gewaltigen Schatten auf die Meeresfläche. Die Flamingo
begannen ihren Fiſchfang allenthalben, wo nur in einer Bucht
vor dem Kalkgeſtein ein ſchmaler Strand hinlief. Alle dieſe
Eilande ſind jetzt ganz unbewohnt; aber auf einer der Caracas
leben wilde, braune, ſehr große, ſchnellfüßige Ziegen mit —
wie unſer Steuermann verſicherte — ſehr wohlſchmeckendem
Fleiſche. Vor dreißig Jahren hatte ſich eine weiße Familie
[67] daſelbſt niedergelaſſen und Mais und Maniok gebaut. Der
Vater überlebte allein alle ſeine Kinder. Da ſich ſein Wohl-
ſtand gehoben hatte, kaufte er zwei ſchwarze Sklaven, und
dies ward ſein Verderben: er wurde von ſeinen Sklaven er-
ſchlagen. Die Ziegen verwilderten, nicht ſo die Kultur-
gewächſe. Der Mais in Amerika, wie der Weizen in Europa,
ſcheinen ſich nur durch die Pflege des Menſchen zu erhalten,
an den ſie ſeit ſeinen früheſten Wanderungen gekettet ſind.
Wohl wachſen dieſe nährenden Gräſer hin und wieder aus
verſtreuten Samen auf; wenn ſie ſich aber ſelbſt überlaſſen
bleiben, ſo gehen ſie ein, weil die Vögel die Samen aufzehren.
Die beiden Sklaven von der Inſel Caracas entgingen lange
dem Arm der Gerechtigkeit; für ein an ſo einſamem Orte be-
gangenes Verbrechen war es ſchwer, Beweiſe aufzubringen.
Der eine dieſer Schwarzen iſt jetzt in Cumana der Henker.
Er hatte ſeinen Genoſſen angegeben, und da es an einem
Nachrichter fehlte, ſo begnadigte man nach dem barbariſchen
Landesbrauch den Sklaven unter der Bedingung, daß er alle
Verhafteten aufknüpfte, gegen die längſt das Todesurteil ge-
fällt war. Man ſollte kaum glauben, daß es Menſchen gibt,
die roh genug ſind, um ihr Leben um ſolchen Preis zu er-
kaufen und mit ihren Händen diejenigen abzuthun, die ſie
tags zuvor verraten haben.


Wir verließen den Ort, an den ſich ſo traurige Erinne-
rungen knüpfen, und ankerten ein paar Stunden auf der
Reede von Nueva Barcelona an der Mündung des Fluſſes
Neveri, deſſen indianiſcher (cumanagotiſcher) Name Inipiricuar
lautet. Der Fluß wimmelt von Krokodilen, die ſich zuweilen
bis auf die hohe See hinauswagen, beſonders bei Windſtille.
Sie gehören zu der Art, die im Orinoko ſo häufig vorkommt
und dem ägyptiſchen Krokodil ſo ſehr gleicht, daß man ſie
lange zuſammengeworfen hat. Man ſieht leicht ein, daß ein
Tier, deſſen Körper in einer Art Panzer ſteckt, für die Schärfe
des Salzwaſſers nicht ſehr empfindlich ſein kann. Schon Piga-
fetta ſah, wie er in ſeinem kürzlich in Mailand erſchienenen
Tagebuche erzählt, auf der Küſte der Inſel Borneo Krokodile,
die ſo gut in der See wie am Lande leben. Dieſe Beob-
achtungen werden für die Geologie von Bedeutung, ſeit man
in dieſer Wiſſenſchaft die Süßwaſſerbildungen näher ins Auge
faßt, ſowie das auffallende Durcheinanderliegen von verſtei-
nerten See- und Süßwaſſertieren in manchen ſehr neuen Ab-
lagerungen.


[68]

Der Hafen von Barcelona, der auf unſeren Karten kaum
angegeben iſt, treibt ſeit 1795 einen ſehr lebhaften Handel.
Aus dieſem Hafen werden größtenteils die Produkte der weiten
Steppen ausgeführt, die ſich vom Südabhang der Küſtenkette
bis zum Orinoko ausbreiten und ſehr reich ſind an Vieh aller
Art, faſt ſo reich wie die Pampas von Buenos Ayres. Die
Handelsinduſtrie dieſer Länder gründet ſich auf den Bedarf
der Großen und Kleinen Antillen an geſalzenem Fleiſch, Rind-
vieh, Maultieren und Pferden. Da die Küſten von Terra
Firma der Inſel Cuba in einer Entfernung von 15 bis 18
Tagereiſen gegenüberliegen, ſo beziehen die Handelsleute in
der Havana, zumal im Frieden, ihren Bedarf lieber aus dem
Hafen von Barcelona, als daß ſie das Wagnis einer langen
Seefahrt in die andere Halbkugel zur Mündung des Rio de
la Plata übernähmen. Von der ſchwarzen Bevölkerung von
1300000 Köpfen, die der Archipel der Antillen ſchon jetzt
zählt, kommen auf Cuba allein über 230000 Sklaven, deren
Nahrung aus Gemüſen, geſalzenem Fleiſch und getrockneten
Fiſchen beſteht. Jedes Fahrzeug, das geſalzenes Fleiſch oder
Taſajo von Terra Firma führt, ladet 20000 bis 30000
Arrobas, deren Handelswert über 45000 Piaſter beträgt. Barce-
lona iſt beſonders für den Viehhandel gut gelegen. Die Tiere
kommen in drei Tagen aus den Llanos in den Hafen, während
ſie wegen der Gebirgskette des Brigantin und des Impoſible
nach Cumana acht bis neun brauchen. Nach den Angaben, die
ich mir verſchaffen konnte, wurden in den Jahren 1799 und 1800
in Barcelona 8000, in Porto Cabello 6000, in Carupano
3000 Maultiere nach den ſpaniſchen, engliſchen und franzöſi-
ſchen Inſeln eingeſchifft. Wie viele aus Burburata, Coro
und aus den Mündungen des Guarapiche und Orinoko aus-
geführt werden, weiß ich nicht genau; aber trotz der Einflüſſe,
durch welche die Zahl der Tiere in den Llanos von Cumana,
Barcelona und Caracas herabgebracht worden iſt, müſſen nach
meiner Schätzung dieſe unermeßlichen Steppen damals nicht
unter 30000 Maultieren jährlich in den Handel mit den An-
tillen gebracht haben. Jedes Maultier zu 26 Piaſter (Kauf-
preis) gerechnet, bringt alſo dieſer Handelszweig allein gegen
3700000 Franken ein, abgeſehen vom Gewinn durch die
Schiffsfracht. De Pons, der ſonſt in ſeinen ſtatiſtiſchen An-
gaben ſehr genau iſt, gibt kleinere Zahlen an. Da er nicht
ſelbſt die Llanos beſuchen konnte, und da er als Agent der
franzöſiſchen Regierung ſich fortwährend in der Stadt Caracas
[69] aufhalten mußte, ſo mögen die Beſitzer der Hatos bei den
Schätzungen, die ſie ihm mitteilten, zu niedrig gegriffen haben.


Wir gingen am rechten Ufer des Neveri ans Land und
beſtiegen ein kleines Fort, el Morro de Barcelona, das 115
bis 136 m über dem Meere liegt. Es iſt ein erſt ſeit kurzem
befeſtigter Kalkfels. Er wird gegen Süd von einem weit
höheren Berge beherrſcht, und Sachverſtändige behaupten, es
könnte dem Feinde, nachdem er zwiſchen der Mündung des
Fluſſes und dem Morro gelandet, nicht ſchwer werden, dieſen
zu umgehen und auf den umliegenden Höhen Batterien zu
errichten. Vergebens warteten wir auf Nachricht über die
engliſchen Kreuzer, die längs der Küſten ſtationiert waren.
Zwei unſerer Reiſegefährten, Brüder des Marquis del Toro
in Caracas, kamen aus Spanien, wo ſie in der königlichen
Garde gedient hatten. Es waren ſehr gebildete Offiziere,
und ſie kehrten jetzt nach langer Abweſenheit mit dem Brigade-
general de Caxigal und dem Grafen Tovar in ihr Heimat-
land zurück. Ihnen mußte noch mehr als uns davor bangen,
aufgebracht und nach Jamaika geführt zu werden. Ich hatte
keine Päſſe von der Admiralität; aber im Vertrauen auf
den Schutz, den die großbritanniſche Regierung Reiſenden
gewährt, die bloß wiſſenſchaftliche Zwecke verfolgen, hatte ich
gleich nach meiner Ankunft in Cumana an den Gouverneur
der Inſel Trinidad geſchrieben und ihm mitgeteilt, was ich
in dieſen Ländern ſuchte. Die Antwort, die mir über den
Meerbuſen von Paria zukam, war ſehr befriedigend.


Kurz bevor wir am 19. November mittags unter Segel
gingen, nahm ich Mondhöhen auf, um die Länge des Morro
zu beſtimmen. Die Meridiane von Cumana und von Barce-
lona, in welch letzterer Stadt ich im Jahre 1800 ſehr viele
aſtronomiſche Beobachtungen anſtellte, liegen 34 Minuten
48 Sekunden auseinander. Ich habe mich über dieſe Ent-
fernung, über die damals viele Zweifel herrſchten, anderswo
ausgeſprochen. Die Inklination der Magnetnadel fand ich
gleich 42,20°; 224 Schwingungen gaben die Intenſität der
magnetiſchen Kraft an.


Vom Morro de Barcelona bis zum Vorgebirge Codera
ſenkt ſich das Land und zieht ſich gegen Süden zurück; es
ſtreicht mit gleicher Waſſertiefe 5,5 km weit in das Meer
hinaus. Jenſeits dieſer Linie iſt das Waſſer 36—54 m tief.
Die Temperatur des Meeres an der Oberfläche war 25,9°,
als wir aber durch den ſchmalen Kanal zwiſchen den beiden
[70] Inſeln Piritu mit 5 m Tiefe liefen, zeigte der Thermometer
nur noch 24,5°. Der Unterſchied zeigte ſich beſtändig; er
wäre vielleicht bedeutender, wenn die Strömung, die raſch
nach Weſt zieht, tieferes Waſſer heraufbrächte, und wenn
nicht in einer ſo engen Durchfahrt das Land zur Erhöhung
der Meerestemperatur mitwirkte. Die Inſeln Piritu gleichen
den Bänken, die bei der Ebbe über Waſſer kommen. Sie
erheben ſich nur 21 bis 23 cm über den mittleren Waſſer-
ſtand. Ihre Oberfläche iſt völlig eben und mit Gras be-
wachſen, und man meint eine unſerer nordiſchen Wieſen vor
ſich zu haben. Die Scheibe der untergehenden Sonne ſchien
wie ein Feuerball über der Grasflur zu hängen. Ihre letzten,
die Erde ſtreifenden Strahlen beleuchteten die Grasſpitzen, die
der Abendwind ſtark hin und her wiegte. Wenn aber auch
in der heißen Zone an tiefen, feuchten Orten Gräſer und
Riedgräſer ſich wie eine Wieſe oder ein Raſen ausnehmen,
ſo fehlt dem Bilde doch immer eine Hauptzierde, ich meine
die mancherlei Wieſenblumen, die nur eben über die Gräſer
emporragen und ſich vom ebenen grünen Grunde abheben.
Bei der Kraft und Ueppigkeit der ganzen Vegetation iſt unter
den Tropen ein ſolcher Trieb in den Gewächſen, daß die
kleinſten dikotyledoniſchen Pflanzen gleich zu Sträuchern wer-
den. Man könnte ſagen, die Liliengewächſe, die unter den
Gräſern wachſen, vertreten unſere Wieſenblumen. Sie fallen
allerdings durch ihre Bildung ſtark ins Auge, ſie nehmen ſich
durch die Mannigfaltigkeit und den Glanz ihrer Farben ſehr
gut aus, aber ſie wachſen zu hoch und laſſen ſo das har-
moniſche Verhältnis nicht aufkommen, das zwiſchen den Ge-
wächſen beſteht, die bei uns den Raſen und die Wieſe bilden.
Die gütige Natur verleiht unter allen Zonen der Landſchaft
einen ihr eigentümlichen Reiz des Schönen.


Man darf ſich nicht wundern, daß fruchtbare Inſeln ſo
nahe der Küſte gegenwärtig unbewohnt ſind. Nur in der
erſten Zeit der Eroberung, als die Kariben, die Chaymas und
Cumanagoten noch Herren der Küſten waren, gründeten die
Spanier auf Cubagua und Margarita Niederlaſſungen. Sobald
die Eingeborenen unterworfen oder ſüdwärts den Savannen zu
gedrängt waren, ließ man ſich lieber auf dem Feſtlande nieder,
wo man die Wahl hatte unter Ländereien und Indianern, die
man wie Laſttiere behandeln konnte. Lägen die kleinen Ei-
lande Tortuga, Blanquilla und Orchilla mitten im Archipel
der Antillen, ſo wären ſie nicht unangebaut geblieben.


[71]

Schiffe mit bedeutendem Tiefgang fahren zwiſchen Terra
Firma und der ſüdlichſten der Pirituinſeln. Da dieſelben
ſehr niedrig ſind, ſo iſt ihre Nordſpitze von den Schiffern,
die in dieſen Strichen dem Lande zufahren, ſehr gefürchtet.
Als wir uns weſtlich vom Morro von Barcelona und der
Mündung des Rio Unare befanden, wurde das Meer, das
bisher ſehr ſtill geweſen, immer unruhiger, je näher wir Kap
Codera kamen. Der Einfluß dieſes großen Vorgebirges iſt
in dieſem Striche des Meeres der Antillen weithin fühlbar.
Die Dauer der Ueberfahrt von Cumana nach Guayra hängt
davon ab, ob man mehr oder weniger leicht um Cabo Codera
herumkommt. Jenſeits dieſes Kaps iſt die See beſtändig ſo
unruhig, daß man nicht mehr an der Küſte zu ſein glaubt,
wo man (von der Spitze von Paria bis zum Vorgebirge
San Romano) gar nichts von Stürmen weiß. Der Stoß
der Wellen wurde auf unſerem Fahrzeuge ſchwer empfunden.
Meine Reiſegefährten litten ſehr; ich aber ſchlief ganz ruhig,
da ich, ein ziemlich ſeltenes Glück, nie ſeekrank werde. Es
windete ſtark die Nacht über. Bei Sonnenaufgang am
20. November waren wir ſo weit, daß wir hoffen konnten,
das Kap in wenigen Stunden zu umſchiffen, und wir ge-
dachten noch am ſelben Tage nach Guayra zu kommen; aber
unſer Schiffer bekam wieder Angſt vor den Kapern, die dort
vor dem Hafen lagen. Es ſchien ihm geraten, ſich ans Land
zu machen, im kleinen Hafen Higuerote, über den wir ſchon
hinaus waren, vor Anker zu gehen und die Nacht abzuwarten,
um die Ueberfahrt fortzuſetzen. Wenn man Leuten, die ſee-
krank ſind, vom Landen ſpricht, ſo weiß man zum voraus,
wofür ſie ſtimmen. Alle Vorſtellungen halfen nichts, man
mußte nachgeben, und ſchon um 9 Uhr morgens am 20. No-
vember lagen wir auf der Reede in der Bucht von Higuerote,
weſtwärts von der Mündung des Rio Capaya.


Wir fanden daſelbſt weder Dorf noch Hof, nur zwei
oder drei von armen Fiſchern, Meſtizen, bewohnte Hütten.
Ihre gelbe Geſichtsfarbe und die auffallende Magerkeit der
Kinder mahnten daran, daß dieſe Gegend eine der ungeſün-
deſten, den Fiebern am meiſten unterworfenen auf der ganzen
Küſte iſt. Die See iſt hier ſo ſeicht, daß man in der kleinſten
Barke nicht landen kann, ohne durch das Waſſer zu gehen.
Die Wälder ziehen ſich bis zum Strande herunter, und dieſen
überzieht ein dichtes Buſchwerk von ſogenannten Wurzel-
trägern, Avicennien, Manſchenillbäumen und der neuen Art
[72] der Gattung Suriana, die bei den Eingeborenen Romero de
la mar
heißt. Dieſem Buſchwerke, beſonders aber den Aus-
dünſtungen der Wurzelträger oder Manglebäume, ſchreibt man
es hier, wie überall in beiden Indien, zu, daß die Luft ſo
ungeſund iſt. Beim Landen kam uns auf 30 bis 40 m ein
fader, ſüßlicher Geruch entgegen, ähnlich dem, den in ver-
laſſenen Bergwerksſtollen, wo die Lichter zu verlöſchen an-
fangen, das mit Schimmel überzogene Zimmerwerk verbreitet.
Die Lufttemperatur ſtieg auf 34° infolge der Reverberation
des weißen Sandes, der ſich zwiſchen dem Buſchwerke und
den hochgipfligen Waldbäumen hinzog. Da der Boden einen
ganz unbedeutenden Fall hat, ſo werden, ſo ſchwach auch
Ebbe und Flut hier ſind, dennoch die Wurzeln und ein Teil
des Stammes der Manglebäume bald unter Waſſer geſetzt,
bald trocken gelegt. Wenn nun die Sonne das naſſe Holz
erhitzt und den ſchlammigen Boden, die abgefallenen, zer-
ſetzten Blätter und die im angeſchwemmten Seetang hängen-
den Weichtiere gleichſam in Gärung verſetzt, da bilden ſich
wahrſcheinlich die ſchädlichen Gaſe, die ſich der chemiſchen
Unterſuchung entziehen. Auf der ganzen Küſte zeigt das
Seewaſſer da, wo es mit den Manglebäumen in Berührung
kommt, eine braungelbe Färbung.


Dieſer Umſtand fiel mir auf und ich ſammelte daher in
Higuerote ein ziemliches Quantum Wurzeln und Zweige, um
gleich nach der Ankunft in Caracas mit dem Aufguß des
Mangleholzes einige Verſuche anzuſtellen. Der Aufguß mit
heißem Waſſer war braun, hatte einen zuſammenziehenden
Geſchmack und enthielt ein Gemiſch von Extraktivſtoff und
Gerbſtoff. Die Rizophora, der Guy, der Kornelkirſchbaum,
alle Pflanzen aus den natürlichen Familien der Lorantheen
und Caprifoliaceen haben dieſelben Eigenſchaften. Der Auf-
guß des Manglebaums wurde unter einer Glocke zwölf Tage
lang mit atmoſphäriſcher Luft in Berührung gebracht; die
Reinheit derſelben ward dadurch nicht merkbar vermindert.
Es bildete ſich ein kleiner flockiger, ſchwärzlicher Bodenſatz,
aber eine merkbare Abſorption von Sauerſtoff fand nicht ſtatt.
Holz und Wurzeln des Manglebaums wurden unter Waſſer
der Sonne ausgeſetzt; ich wollte dabei nachahmen, was in
der Natur auf der Küſte bei ſteigender Flut täglich vorgeht.
Es entwickelten ſich Luftblaſen, die nach Verlauf von zehn
Tagen ein Volumen von 33 Kubikzoll bildeten. Es war ein
Gemiſch von Stickſtoff und Kohlenſäure; Salpetergas zeigte
[73] kaum eine Spur von Sauerſtoff an. Endlich ließ ich in einer
Flaſche mit eingeriebenem Stöpſel eine beſtimmte Menge ſtark
benetzter Manglewurzeln auf atmoſphäriſche Luft einwirken.
Aller Sauerſtoff verſchwand, und derſelbe war keineswegs
durch kohlenſaures Gas erſetzt, denn das Kalkwaſſer zeigte
von dieſem nur 0,02 an. Ja, die Verminderung des Volu-
mens war bedeutender, als dem abſorbirten Sauerſtoff ent-
ſprach. Nach dieſer nur noch flüchtigen Unterſuchung war
ich der Anſicht, daß die Luft in den Manglegebüſchen durch
das naſſe Holz und die Rinde zerſetzt wird, nicht durch die
ſtark gelb gefärbte Schichte Seewaſſer, die längs der Küſte
einen deutlichen Streif bildet. In allen Graden der Zer-
ſetzung der Holzfaſer habe ich nie, auch nur in Spuren,
Schwefelwaſſerſtoff ſich entwickeln ſehen, dem manche Reiſende
den eigentümlichen Geruch unter den Manglebäumen zu-
ſchreiben. Durch die Zerſetzung der ſchwefelſauren Erden
und Alkalien und ihren Uebergang in ſchwefligſaure Ver-
bindungen wird ohne Zweifel aus manchen Strand- und
Seegewächſen, wie aus den Tangen, Schwefelwaſſerſtoff ent-
bunden; ich glaube aber vielmehr, daß Rhizophora, Avicennia
und Conocarpus die Luft beſonders durch den tieriſchen Stoff
verderben, den ſie neben dem Gerbſtoff enthalten. Dieſe
Sträucher gehören zu den drei natürlichen Familien der Lo-
rantheen, Combrataceen und Pyrenaceen, die reich ſind an
adſtringierendem Stoff, und ich habe ſchon oben bemerkt, daß
dieſer Stoff ſelbſt in der Rinde unſerer Buchen, Erlen und
Nußbäume mit Gallerte verbunden iſt.


Uebrigens würde dichtes Buſchwerk auf ſchlammigem
Boden ſchädliche Ausdünſtungen verbreiten, wenn es auch
aus Bäumen beſtünde, die an ſich keine der Geſundheit nach-
teiligen Eigenſchaften haben. Ueberall wo Manglebäume am
Meeresufer wachſen, ziehen ſich zahlloſe Weichtiere und In-
ſekten an den Strand. Dieſe Tiere lieben Beſchattung und
Zwielicht, und im dicken, verſchlungenen Wurzelwerk, das wie
ein Gitter über dem Waſſer ſteht, finden ſie Schutz gegen
den Wellenſchlag. Die Schaltiere heften ſich an das Gitter,
die Krabben verkriechen ſich in die hohlen Stämme, der Tang,
den Wind und Flut an die Küſten treiben, bleibt an den
ſich zum Boden niederneigenden Zweigen hängen. Auf dieſe
Weiſe, indem ſich der Schlamm zwiſchen den Wurzeln an-
häuft, wird durch die Küſtenwälder das feſte Land allgemach
vergrößert; aber während ſie ſo der See Boden abgewinnen,
[74] nimmt dennoch ihre Breite faſt nicht zu. Im Maß, als ſie
vorrücken, gehen ſie auch zu Grunde. Die Manglebäume und
die anderen Gewächſe, die immer neben ihnen vorkommen,
gehen ein, ſobald der Boden trocken wird und ſie nicht mehr
im Salzwaſſer ſtehen. Ihre alten, mit Schaltieren bedeckten,
halb im Sande begrabenen Stämme bezeichnen nach Jahr-
hunderten den Weg, den ſie bei ihrer Wanderung einge-
ſchlagen, und die Grenze des Landſtriches, den ſie dem Meere
abgewonnen.


Die Bucht von Higuerote iſt ſehr günſtig gelegen, um
das Vorgebirge Codera, das 11 km weit in ſeiner ganzen
Breite vor einem daliegt, genau zu betrachten. Es imponiert
mehr durch ſeine Maſſe als durch ſeine Höhe, die mir nach
Höhenwinkeln, die ich am Strande gemeſſen, nicht über 390 m
zu betragen ſchien. Nach Nord, Oſt und Weſt fällt es ſteil
ab, und man meint an dieſen großen Profilen die fallenden
Schichten zu unterſcheiden. Die Schichten zunächſt bei der
Bucht ſtrichen Nord 60° Weſt und fielen unter 80° nach
Nordweſt. Am großen Berge Silla und öſtlich von Mani-
quarez auf der Landenge von Araya ſind Streichung und
Fall dieſelben, und daraus ſcheint hervorzugehen, daß die
Urgebirgskette dieſer Landenge, die auf eine Strecke von
157 km (zwiſchen den Meridianen von Maniquarez und
Higuerote) vom Meere zerriſſen oder verſchlungen worden, im
Kap Codera wieder auftritt und gegen Weſt als Küſtenkette
fortſtreicht.


Meinen Reiſegefährten war bei der hochgehenden See
vor dem Schlingern unſeres kleinen Schiffes ſo bange, daß
ſie beſchloſſen, den Landweg von Higuerote nach Caracas
einzuſchlagen; derſelbe führt durch ein wildes, feuchtes Land,
durch die Montaña de Capaya nördlich von Caugagua, durch
das Thal des Rio Guatire und des Guarenas. Es war mir
lieb, daß auch Bonpland dieſen Weg wählte, auf dem er trotz
des beſtändigen Regens und der ausgetretenen Flüſſe viele
neue Pflanzen zuſammenbrachte. Ich ſelbſt ging mit dem
indianiſchen Steuermann allein zur See weiter; es ſchien mir
zu gewagt, die Inſtrumente, die uns an den Orinoko begleiten
ſollten, aus den Augen zu laſſen.


Wir gingen mit Einbruch der Nacht unter Segel. Der
Wind war nicht ſehr günſtig und wir hatten viele Mühe, um
Kap Codera herum zu kommen; die Wellen waren kurz und
brachen ſich häufig ineinander; es gehörte die Erſchöpfung
[75] durch einen furchtbar heißen Tag dazu, um in einem kleinen,
dicht am Wind ſegelnden Fahrzeuge ſchlafen zu können. Die
See ging um ſo höher, als der Wind bis nach Mitternacht
der Strömung entgegenblies. Der zwiſchen den Wendekreiſen
überall bemerkliche Zug des Waſſers gegen Weſten iſt an
dieſen Küſten nur während zwei Dritteilen des Jahres deutlich
zu ſpüren; in den Monaten September, Oktober und No-
vember kommt es oft vor, daß die Strömung vierzehn Tage,
drei Wochen lang nach Oſten geht. Schon öfter konnten
Schiffe auf der Fahrt nach Guayra oder Porto Cabello die
Strömung, die von Weſt nach Oſt ging, nicht bewältigen,
obgleich ſie den Wind von hinten hatten. Die Urſache dieſer
Unregelmäßigkeiten iſt bis jetzt nicht bekannt; die Schiffer
ſchreiben ſie Stürmen aus Nordweſt im Golf von Mexiko
zu, aber dieſe Stürme ſind im Frühjahr weit ſtärker als im
Herbſt. Bemerkenswert iſt dabei auch, daß die Strömung
nach Oſten geht, bevor der Seewind ſich ändert; ſie tritt bei
Windſtille ein und erſt nach einigen Tagen geht auch der
Wind der Strömung nach und bläſt beſtändig aus Weſt.
Während dieſer Vorgänge bleiben die kleinen Schwankungen
des Barometers auf und ab in ihrer Regelmäßigkeit durch-
aus ungeſtört.


Mit Sonnenaufgang am 21. November befanden wir
uns weſtwärts vom Kap Codera dem Curuao gegenüber. Der
indianiſche Steuermann erſchrak nicht wenig, als ſich nord-
wärts in der Entfernung von kaum 2 km eine engliſche Fre-
gatte blicken ließ. Sie hielt uns wahrſcheinlich für eines der
Fahrzeuge, die mit den Antillen Schleichhandel trieben und
— denn alles organiſiert ſich mit der Zeit — vom Gou-
verneur von Trinidad unterzeichnete Lizenzſcheine führten.
Sie ließ uns durch das Boot, das auf uns zuzukommen
ſchien, nicht einmal anrufen. Vom Kap Codera an iſt die
Küſte felſig und ſehr hoch, und die Anſichten, die ſie bietet,
ſind zugleich wild und maleriſch. Wir waren ſo nahe am
Lande, daß wir die zerſtreuten, von Kokospalmen umgebenen
Hütten unterſchieden und die Maſſen von Grün ſich vom
braunen Grunde des Geſteines abheben ſahen. Ueberall fallen
die Berge, 970 bis 1300 m hoch, ſteil ab; ihre Flanken werfen
breite Schlagſchatten über das feuchte Land, das ſich bis zur
See ausbreitet und geſchmückt mit friſchem Grün daliegt.
Auf dieſem Uferſtriche wachſen großenteils die tropiſchen
Früchte, die man auf den Märkten von Caracas in ſo großer
[76] Menge ſieht. Zwiſchen dem Camburi und Niguatar ziehen
ſich mit Zuckerrohr und Mais beſtellte Felder in enge Thäler
hinauf, die Felsſpalten gleichen. Die Strahlen der noch nicht
hoch ſtehenden Sonne fielen hinein und bildeten die anziehend-
ſten Kontraſte von Licht und Schatten.


Der Niguatar und die Silla bei Caracas ſind die höchſten
Gipfel dieſer Küſtenkette. Erſterer iſt faſt ſo hoch als der
Canigou in den Pyrenäen; es iſt als ſtiegen die Pyrenäen
oder die Alpen, von ihrem Schnee entblößt, gerade aus dem
Waſſer empor, ſo gewaltig erſcheinen einem die Gebirgs-
maſſen, wenn man ſie zum erſtenmal von der See aus er-
blickt. Bei Caravalleda wird das bebaute Land breiter, Hügel
mit ſanftem Abhang erſcheinen und die Vegetation reicht ſehr
weit hinauf. Man baut hier viel Zuckerrohr und die barm-
herzigen Brüder haben daſelbſt eine Pflanzung und 200
Sklaven. Die Gegend war früher den Fiebern ſehr ausge-
ſetzt, und man behauptet, die Luft ſei geſünder geworden,
ſeit man um einen Teich, deſſen Ausdünſtungen man beſon-
ders fürchtete, Bäume gepflanzt hat, ſo daß das Waſſer
weniger dem Sonnenſtrahl ausgeſetzt iſt. Weſtlich von Cara-
valleda läuft wieder eine nackte Felsmauer bis an die See
vor, ſie iſt aber von geringer Ausdehnung. Nachdem wir
dieſelbe umſegelt, lag das hübſch gelegene Dorf Macuto vor
uns, weiterhin die ſchwarzen Felſen von Guayra mit ihren
Batterien in mehreren Stockwerken übereinander und in
duftiger Ferne ein langes Vorgebirge mit kegelförmigen,
blendend weißen Bergſpitzen, Cabo Blanco. Kokosnußbäume
ſäumen das Ufer und geben ihm unter dem glühenden Himmel
den Anſchein von Fruchtbarkeit.


Nach der Landung im Hafen von Guayra traf ich noch
am Abend Anſtalt, um meine Inſtrumente nach Caracas
ſchaffen zu laſſen. Die Perſonen, denen ich empfohlen war,
rieten mir, nicht in der Stadt zu ſchlafen, wo das gelbe
Fieber erſt ſeit wenigen Wochen aufgehört hatte, ſondern
über dem Dorfe Maiquetia in einem Hauſe auf einer kleinen
Anhöhe, das dem kühlen Luftzug mehr ausgeſetzt war als
Guayra. Am 21. abends kam ich in Caracas an, vier Tage
früher als meine Reiſegefährten, die auf dem Landwege zwiſchen
Capaya und Curiepe durch die ſtarken Regengüſſe und die
ausgetretenen Bergwaſſer viel auszuſtehen gehabt hatten. Um
nicht öfters auf dieſelben Gegenſtände zurückzukommen, ſchließe
ich der Beſchreibung der Stadt Guayra und des merkwürdigen
[77] Weges, der von dieſem Hafen nach Caracas führt, alle
Beobachtungen an, die Bonpland und ich auf einem Ausfluge
nach Cabo Blanco zu Ende Januars 1800 gemacht. Da De-
pons die Gegend nach mir beſucht hat, ſein lehrreiches Werk
aber vor dem meinen erſchienen iſt, ſo laſſe ich mich auf eine
nähere Beſchreibung der Gegenſtände, die er ausführlich be-
handelt hat, nicht ein.


Guayra iſt viel mehr eine Reede als ein Hafen; das
Meer iſt immer unruhig und die Schiffe werden vom Winde,
von den Sandbänken, vom ſchlechten Ankergrunde und den
Bohrwürmern 1 zumal gefährdet. Das Laden iſt mit großen
Schwierigkeiten verbunden und wegen des ſtarken Wellen-
ſchlages kann man hier nicht, wie in Nueva Barcelona und
Porto Cabello, Maultiere einſchiffen. Die freien Neger und
Mulatten, welche den Kakao an Bord der Schiffe bringen,
ſind ein Menſchenſchlag von ungemeiner Muskelkraft. Sie
waten bis zu halbem Leibe durch das Waſſer, und was ſehr
merkwürdig iſt, ſie haben von den Haifiſchen, die in dieſem
Hafen ſo häufig ſind, nichts zu fürchten. Dieſer Umſtand
ſcheint auf denſelben Momenten zu beruhen wie die Be-
obachtung, die ich unter den Tropen häufig an Tieren aus
anderen Klaſſen, die in Rudeln leben, wie an Affen und
Krokodilen, gemacht habe. In den Miſſionen am Orinoko
und am Amazonenſtrome wiſſen die Indianer, die Affen zum
Verkauf fangen, ganz gut, daß die von gewiſſen Inſeln leicht
zu zähmen ſind, während Affen derſelben Art, die auf dem
benachbarten Feſtlande gefangen werden, aus Zorn oder Angſt
zu Grunde gehen, ſobald ſie ſich in der Gewalt des Menſchen
ſehen. Die Krokodile aus der einen Lache in den Llanos
ſind feig und ergreifen ſogar im Waſſer die Flucht, während
die aus einer anderen Lache äußerſt unerſchrocken angreifen.
Aus den äußeren Verhältniſſen der Oertlichkeiten wäre dieſe
Verſchiedenheit in Gemütsart und Sitten nicht leicht zu er-
klären. Mit den Haifiſchen im Hafen von Guayra ſcheint es
ſich ähnlich zu verhalten. Bei den Inſeln gegenüber der
Küſte von Caracas, bei Roques, Bonayre und Curaçao, ſind
ſie gefährlich und blutgierig, während ſie Badende in den
Häfen von Guayra und Santa Marta nicht anfallen. Das
Volk greift, um die Erklärung der Naturerſcheinungen zu
[78] vereinfachen, überall zum Wunderbaren, und ſo glaubt es
denn, an den genannten zwei Orten habe ein Biſchof den
Haien den Segen erteilt.


Guayra iſt ganz eigentümlich gelegen; es läßt ſich nur
mit Santa Cruz auf Tenerifa vergleichen. Die Bergkette
zwiſchen dem Hafen und dem hochgelegenen Thale von Caracas
ſtürzt faſt unmittelbar in die See ab und die Häuſer der
Stadt lehnen ſich an eine ſchroffe Felswand. Zwiſchen dieſer
Wand und der See bleibt kaum ein 200 bis 270 m breiter
ebener Raum. Die Stadt hat 6000 bis 8000 Einwohner und
beſteht nur aus zwei Straßen, die nebeneinander von Oſt
nach Weſt laufen. Sie wird von der Batterie auf dem Cerro
Colorado beherrſcht und die Werke an der See ſind gut an-
gelegt und wohl erhalten. Der Anblick des Ortes hat etwas
Vereinſamtes, Trübſeliges; man meint nicht auf einem mit
ungeheuren Wäldern bedeckten Feſtlande zu ſein, ſondern auf
einer felſigen Inſel ohne Dammerde und Pflanzenwuchs.
Außer Cabo Blanco und den Kokosnußbäumen von Maiquetia
beſteht die ganze Landſchaft aus dem Meereshorizont und
dem blauen Himmelsgewölbe. Bei Tage iſt die Hitze er-
ſtickend, und meiſtens auch bei Nacht. Das Klima von
Guayra gilt mit Recht für heißer als das von Cumana,
Porto Cabello und Coro, weil der Seewind ſchwächer iſt und
durch die Wärme, welche nach Sonnenuntergang von den
ſenkrechten Felſen ausſtrahlt, die Luft erhitzt wird. Man
machte ſich übrigens von der Luftbeſchaffenheit dieſes Ortes
und des ganzen benachbarten Küſtenlandes eine unrichtige
Vorſtellung, wenn man nur die Temperaturen, wie der Ther-
mometer ſie angibt, vergleichen wollte. Eine ſtockende, in
einer Bergſchlucht eingeſchloſſene, mit nackten Felsmaſſen
in Berührung ſtehende Luft wirkt auf unſere Organe ganz
anders als eine gleich warme Luft in offener Gegend. Ich
bin weit entfernt, die phyſiſche Urſache dieſes Unterſchiedes
nur in der verſchiedenen elektriſchen Ladung der Luft zu
ſuchen, muß aber doch bemerken, daß ich etwas weſtlich von
Guayra gegen Macuto zu, weit weg von den Häuſern und
über 580 m von den Gneisfelſen, mehrere Tage lange kaum
ſchwache Spuren von poſitiver Elektrizität bemerken konnte,
während in Cumana in denſelben Nachmittagsſtunden und
am ſelben mit rauchendem Docht verſehenen Voltaſchen Elektro-
meter die Fliedermarkkügelchen 2 bis 4 mm auseinander ge-
gangen waren. Ich verbreite mich weiter unten über die
[79] regelmäßigen täglichen Schwankungen in der elektriſchen Span-
nung der Luft unter den Tropen, ein Verhältnis, das mit
den Schwankungen in der Temperatur und mit dem Sonnen-
ſtande in auffallendem Zuſammenhange ſteht.


Die von einem ausgezeichneten Arzte in Guayra neun
Monate lang angeſtellten thermometriſchen Beobachtungen,
von denen ich Einſicht bekam, ſetzten mich inſtand, das
Klima dieſes Hafens mit dem von Cumana, Havana und
Veracruz zu vergleichen. Dieſe Vergleichung erſcheint um
ſo intereſſanter, als der Gegenſtand in den ſpaniſchen Kolo-
nieen und unter den Seeleuten, die dieſe Länder beſuchen, ein
unerſchöpflicher Stoff der Unterhaltung iſt. Da in dieſem
Falle das Zeugnis der Sinne ungemein leicht täuſcht, ſo läßt
ſich über die Verſchiedenheit von Klimaten nur nach Zahlen-
verhältniſſen urteilen.


Die vier eben genannten Orte gelten für die heißeſten
auf dem Küſtenſtriche der Neuen Welt; ihre Vergleichung mag
dazu dienen, die ſchon öfters von uns gemachte Bemerkung
zu beſtätigen, daß im allgemeinen nur das lange Anhalten
einer hohen Temperatur, nicht die übermäßige Hitze oder
die abſolute Wärmemenge den Bewohnern der heißen Zone
läſtig wird.


Das Mittel aus den Beobachtungen um Mittag vom
27. Juni bis 16. November war in Guayra 31,6° des
hundertteiligen Thermometers, in Cumana 29,3°, in Vera-
cruz 28,7°, in der Havana 29,5°. Die täglichen Abwei-
chungen betrugen zur ſelben Stunde nicht leicht über 0,8°
bis 1,4°. Während dieſer ganzen Zeit regnete es nur vier-
mal und nur 7 bis 8 Minuten lang. Dies iſt der Zeit-
punkt, wo das gelbe Fieber herrſcht, das in Guayra wie in
Veracruz und auf der Inſel St. Vincent gemeiniglich auf-
hört, ſobald die Tagestemperatur auf 24 bis 25° herab-
geht. Die mittlere Temperatur des heißeſten Monats war in
Guayra etwa 29,3°, in Cumana 29,1°, in Veracruz 27,7°, in
Kairo, nach Nouet, 29,9°, in Rom 25,0°. Vom 16. No-
vember bis 19. Dezember war die mittlere Temperatur in
Guayra um Mittag nur 24,3°, bei Nacht 21,6°. Um dieſe
Zeit leidet man immer am wenigſten von der Hitze. Ich
glaube übrigens, daß man den Thermometer (kurz vor Sonnen-
aufgang) nicht unter 21° fallen ſieht; in Cumana fällt er
zuweilen auf 21,2°, in Veracruz auf 16°, in der Havana
(immer nur bei Nordwind) auf 8° und ſelbſt darunter. Die
[80] mittlere Temperatur des kälteſten Monats iſt an dieſen vier
Orten: 23,2°, 26,8°, 21°, 21,0°; in Kairo 13,4°. Das
Mittel der ganzen Jahrestemperatur iſt, nach guten,
ſorgfältig berechneten Beobachtungen, in Guayra ungefähr
28,1°, in Cumana 27,7°, in Veracruz 25,4°, in der Ha-
vana 25,6°, in Rio Janeiro 23,5°, in Santa Cruz auf
Tenerifa, unter 28° 28′ der Breite, aber wie Guayra an
eine Felswand gelehnt, 21,9°, in Kairo 22,4°, in Rom
15,8° 1.


Aus dieſen Beobachtungen geht hervor, daß Guayra
einer der heißeſten Orte der Erde iſt, daß die Summe der
Wärme, welche derſelbe im Laufe eines Jahres erhält, etwas
größer iſt als in Cumana, daß ſich aber in den Monaten
November, Dezember und Januar (bei gleichem Abſtand von
den zwei Durchgängen der Sonne durch den Zenith der
Stadt) die Luft in Guayra ſtärker abkühlt. Sollte dieſe
Abkühlung, die weit unbedeutender iſt als die faſt zur ſelben
Zeit in Veracruz und in der Havana eintretende, nicht von
der weſtlicheren Lage von Guayra herrühren? Das Luft-
meer, das für den oberflächlichen Blick nur eine Maſſe bildet,
wird durch Strömungen bewegt, deren Grenzen durch unab-
änderliche Geſetze beſtimmt ſind. Die Temperatur desſelben
ändert ſich in mannigfacher Weiſe nach der Geſtalt der Länder
und der Meere, auf denen es ruht. Man kann es in ver-
ſchiedene Becken abteilen, die ſich ineinander ergießen, und
wovon die unruhigſten (wie das über dem Golf von Mexiko
oder zwiſchen der Sierra Santa Marta und dem Meerbuſen
von Darien) merkbaren Einfluß auf Erkältung und Bewe-
gung der benachbarten Luftſäulen äußern. Die Nordwinde
verurſachen zuweilen im ſüdweſtlichen Striche des Meeres der
Antillen Stauungen und Gegenſtrömungen, die in gewiſſen
Monaten die Temperatur bis zu Terra Firma hin herab-
drücken.


Während meines Aufenthaltes in Guayra kannte man
die Geißel des gelben Fiebers, der Calentura amarilla, erſt
ſeit zwei Jahren; auch war die Sterblichkeit nicht bedeutend
geweſen, da die Küſte von Caracas weit weniger von Frem-
den beſucht war als die Havana und Veracruz. Man hatte
[81] hie und da Leute, ſelbſt Kreolen und Farbige, plötzlich an
gewiſſen unregelmäßig remittierenden Fiebern ſterben ſehen,
die durch gallige Komplikation, durch Blutungen und andere
gleich bedenkliche Symptome einige Aehnlichkeit mit dem gelben
Fieber zu haben ſchienen. Es waren meiſt Menſchen, die
das anſtrengende Geſchäft des Holzfällens trieben, zum Bei-
ſpiel in den Wäldern bei dem kleinen Hafen von Capurano
oder am Meerbuſen von Santa Fé, weſtlich von Cumana.
Ihr Tod ſetzte häufig in Städten, die für ſehr geſund galten,
nicht akklimatiſierte Europäer in Schrecken, aber die Keime
der Krankheit, von denen ſie ſporadiſch befallen worden,
pflanzten ſich nicht fort. Auf den Küſten von Terra Firma
war der eigentliche amerikaniſche Typhus, Vomito prieto
(ſchwarzes Erbrechen) und gelbes Fieber genannt, der als
eine Krankheitsform sui generis zu betrachten iſt, nur in
Porto Cabello, in Cartagena de las Indias und in Santa
Marta bekannt, wo ihn Caſtelbondo ſchon im Jahre 1729
beobachtet und beſchrieben hat. Die kürzlich gelandeten Spanier
und die Bewohner des Thales von Caracas ſcheuten damals
den Aufenthalt in Guayra nicht; man beklagte ſich nur über
die drückende Hitze, die einen großen Teil des Jahres herrſchte.
Setzte man ſich unmittelbar der Sonne aus, ſo hatte man
höchſtens die Haut- und Augenentzündungen zu befürchten,
die faſt überall in der heißen Zone vorkommen und die häufig
von Fieberbewegungen und Kongeſtionen gegen den Kopf be-
gleitet ſind. Viele zogen dem kühlen, aber äußerſt veränder-
lichen Klima von Caracas das heiße, aber beſtändige von
Guayra vor; von ungeſunder Luft in dieſem Hafen war faſt
gar nicht die Rede.


Seit dem Jahre 1797 iſt alles anders geworden. Der
Hafen wurde auch anderen Handelsfahrzeugen als denen des
Mutterlandes geöffnet. Matroſen aus kälteren Ländern als
Spanien, und daher empfindlicher für die klimatiſchen Ein-
flüſſe der heißen Zone, fingen an mit Guayra zu verkehren.
Da brach das gelbe Fieber aus; vom Typhus befallene Nord-
amerikaner wurden in den ſpaniſchen Spitälern aufgenommen;
man war raſch bei der Hand mit der Behauptung, ſie haben
die Seuche eingeſchleppt und ſie ſei an Bord einer aus Phila-
delphia kommenden Brigantine ausgebrochen geweſen, ehe dieſe
auf die Reede gekommen. Der Kapitän der Brigantine ſtellte
ſolches in Abrede und behauptete, ſeine Matroſen haben die
Krankheit keineswegs eingeſchleppt, ſondern erſt im Hafen
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 6
[82] bekommen. Nach den Vorgängen in Cadiz im Jahre 1800
weiß man, wie ſchwer es iſt, über Fälle ins reine zu kom-
men, die in ihrer Zweideutigkeit den entgegengeſetzteſten Theo-
rieen das Wort zu ſprechen ſchienen. Die gebildetſten Ein-
wohner von Caracas und Guayra waren über das Weſen
der Anſteckung beim gelben Fieber geteilter Meinung, ſo gut
wie die Aerzte in Europa und in den Vereinigten Staaten,
und beriefen ſich auf dasſelbe amerikaniſche Schiff, die einen,
um zu beweiſen, daß der Typhus von außen gekommen, die
anderen, daß er im Lande ſelbſt entſtanden. Die der letzteren
Anſicht waren, nahmen an, daß das Austreten des Rio de
la Guayra eine Veränderung der Luftbeſchaffenheit herbeige-
führt habe. Dieſes Waſſer, das meiſt nicht 26 cm tief iſt,
ſchwoll nach ſechzigſtündigem Regen im Gebirge ſo furchtbar
an, daß es Baumſtämme und anſehnliche Felsblöcke mit ſich
fortriß. Das Waſſer wurde 9 bis 13 m breit und 3 bis 4 m
tief. Man meinte, dasſelbe ſei aus einem unterirdiſchen
Becken ausgebrochen, das ſich mittels Einſickerung des Waſſers
durch loſes, neu urbar gemachtes Erdreich gebildet. Mehrere
Häuſer wurden von der Flut weggeriſſen und die Ueber-
ſchwemmung drohte den Magazinen um ſo mehr Gefahr, als
das Stadtthor, durch welches das Waſſer allein abfließen
konnte, ſich zufällig geſchloſſen hatte. Man mußte in die
Mauer der See zu ein Loch ſchießen; mehr als dreißig Men-
ſchen kamen ums Leben und der Schaden wurde auf eine
halbe Million Piaſter angeſchlagen. Das ſtehende Waſſer in
den Magazinen, den Kellern und den Gewölben des Gefäng-
niſſes mochte immerhin Miasmen in der Luft verbreiten, die
als prädisponierende Urſachen den Ausbruch des gelben Fie-
bers beſchleunigt haben können; indeſſen glaube ich, daß das
Austreten des Rio de la Guayra ſo wenig die erſte Urſache
desſelben war, als die Ueberſchwemmungen des Guadalquivir,
des Xenil und des Gual-Medina in den Jahren 1800 und 1804
die furchtbaren Epidemieen in Sevilla, Ecija und Malaga
herbeigeführt haben. Ich habe das Bett des Baches von
Guayra genau unterſucht und nichts gefunden als dürren
Boden und Blöcke von Glimmerſchiefer und Gneis mit ein-
geſprengtem Schwefelkies, die von der Sierra de Avila her-
unterkommen, aber nichts, was die Luft hätte verunreinigen
können.


Seit den Jahren 1797 und 1798 (denſelben, in denen
in Philadelphia, Santa Lucia und San Domingo die Sterb-
[83] lichkeit ſo ungemein groß war) hat das gelbe Fieber ſeine
Verheerungen in Guayra fortgeſetzt; es wütete nicht allein
unter den friſch aus Spanien angekommenen Truppen, ſondern
auch unter denen, die fern von der Küſte in den Llanos
zwiſchen Calabozo und Uritucu ausgehoben worden, alſo in
einem Lande, das faſt ſo heiß als Guayra, aber geſund iſt.
Letzterer Umſtand würde uns noch mehr auffallen, wenn wir
nicht wüßten, daß ſogar Eingeborene von Veracruz, die zu
Hauſe den Typhus nicht bekommen, nicht ſelten in Epidemieen
in der Havana oder in den Vereinigten Staaten Opfer des-
ſelben werden. Wie das ſchwarze Erbrechen am Abhange
der mexikaniſchen Gebirge auf dem Wege nach Xalapa beim
Encero (in 928 m Meereshöhe), wo mit den Eichen ein kühles,
köſtliches Klima beginnt, eine unüberſteigliche Grenze findet,
ſo geht das gelbe Fieber nicht leicht über den Bergkamm
zwiſchen Guayra und dem Thale von Caracas hinüber. Dieſes
Thal iſt lange Zeit davon verſchont geblieben, denn man darf
den Vomito, das gelbe Fieber, nicht mit den ataktiſchen und
den Gallenfiebern verwechſeln. Der Cumbre und der Cerro
de Avila ſind eine treffliche Schutzwehr für die Stadt Caracas,
die etwas höher liegt als der Encero, die aber eine höhere
mittlere Temperatur hat als Xalapa.


Bonplands und meine Beobachtungen über die phyſiſchen
Verhältniſſe der Städte, welche periodiſch von der Geißel des
gelben Fiebers heimgeſucht werden, ſind anderswo niedergelegt,
und es iſt hier nicht der Ort, neue Vermutungen über die
Veränderungen in der pathogoniſchen Konſtitution mancher
Städte zu äußern. Je mehr ich über dieſen Gegenſtand nach-
denke, deſto rätſelhafter erſcheint mir alles, was auf die gas-
förmigen Effluvien Bezug hat, die man mit einem ſo viel-
ſagenden Wort „Keime der Anſteckung“ nennt, und die ſich
in verdorbener Luft entwickeln, die durch die Kälte zerſtört
werden, ſich durch Kleider verſchleppen und an den Wänden
der Häuſer haften ſollen. Wie will man erklären, daß in
den achtzehn Jahren vor 1794 in Veracruz nicht ein einziger
Fall von „Vomito“ vorkam, obgleich der Verkehr mit nicht
akklimatiſierten Europäern und Mexikanern aus dem Inneren
ſehr ſtark war, die Matroſen ſich denſelben Ausſchweifungen
überließen, über die man noch jetzt klagt, und die Stadt
weniger reinlich war, als ſie ſeit dem Jahre 1800 iſt.


Die Reihenfolge pathologiſcher Thatſachen, auf ihren
einfachſten Ausdruck gebracht, iſt folgende. Wenn in einem
[84] Hafen des heißen Erdſtriches, der bis jetzt bei den Seeleuten
nicht als beſonders ungeſund verrufen war, viele in kälterem
Klima geborene Menſchen zugleich ankommen, ſo tritt der
amerikaniſche Typhus auf. Dieſe Menſchen wurden nicht auf
der Ueberfahrt vom Typhus befallen, er bricht erſt an Ort
und Stelle unter ihnen aus. Iſt hier eine Veränderung in
der Luftkonſtitution eingetreten, oder hat ſich in Individuen
mit ſehr geſteigerter Reizbarkeit eine neue Krankheitsform ent-
wickelt?


Nicht lange, ſo fordert der Typhus ſeine Opfer auch
unter anderen, in ſüdlicheren Ländern geborenen Europäern.
Teilt er ſich durch Anſteckung mit, ſo iſt es zu verwundern,
daß er in den Städten des tropiſchen Feſtlandes keineswegs
ſich an gewiſſe Straßen hält, und daß die unmittelbare Be-
rührung der Kranken die Gefahr ſo wenig ſteigert, als Ab-
ſperrung ſie vermindert. Kranke, welche weiter ins Land
hinein, namentlich an kühlere, höhere Orte geſchafft werden,
z. B. nach Xalapa, ſtecken die Bewohner dieſer Orte nicht an,
ſei es nun, weil die Krankheit an ſich nicht anſteckend iſt, ſei
es, weil die prädisponierenden Urſachen, die ſich an der Küſte
geltend machen, hier wegfallen. Nimmt die Temperatur be-
deutend ab, ſo hört die Seuche am Orte, wo ſie ausgebrochen,
gewöhnlich auf. Mit Eintritt der heißen Jahreszeit, zuweilen
weit früher, fängt ſie wieder an, obgleich ſeit mehreren
Monaten im Hafen kein Kranker geweſen und kein Schiff
eingelaufen iſt.


Der amerikaniſche Typhus ſcheint auf den Küſtenſtrich
beſchränkt, ſei es nun, weil die, welche ihn einſchleppen, hier
ans Land kommen und weil hier die Waren aufgehäuft werden,
an denen, wie man meint, giftige Miasmen haften, oder weil
ſich am Meeresufer eigentümliche gasförmige Effluvien bilden.
Das äußere Anſehen der Orte, wo der Typhus wütet, ſcheint
oft die Annahme eines örtlichen oder endemiſchen Urſprunges
völlig auszuſchließen. Man hat ihn auf den Kanariſchen
Inſeln, auf den Bermuden, auf den Kleinen Antillen herrſchen
ſehen, auf trockenem Boden, in Ländern, deren Klima früher
für ſehr geſund galt. Die Fälle von Verſchleppung des gelben
Fiebers ins Binnenland ſind in der heißen Zone ſehr zwei-
deutig; die Krankheit kann leicht mit den remittierenden Gallen-
fiebern verwechſelt worden ſein. In der gemäßigten Zone
dagegen, wo der amerikaniſche Typhus entſchiedener anſteckend
auftritt, hat ſich die Seuche unzweifelhaft weit vom Uferlande
[85] weg, ſogar an ſehr hochgelegene, friſchen, trockenen Winden
ausgeſetzte Orte verbreitet, ſo in Spanien nach Medina Si-
donia, nach Carlotta und in die Stadt Murcia. Dieſe Viel-
geſtaltigkeit derſelben Seuche nach den verſchiedenen Klimaten,
nach der Geſamtheit der prädisponierenden Urſachen, nach der
längeren oder kürzeren Dauer, nach den Graden der Bösartig-
keit muß uns ſehr vorſichtig machen, wenn es ſich davon
handelt, den geheimen Urſachen des amerikaniſchen Typhus
nachzugehen. Ein einſichtsvoller Beobachter, der in den ſchreck-
lichen Epidemieen der Jahre 1802 und 1803 Oberarzt in der
Kolonie San Domingo war und die Krankheit auf Cuba, in
den Vereinigten Staaten und in Spanien kennen gelernt hat,
iſt mit mir der Anſicht, daß der Typhus ſehr oft anſteckend
iſt, aber nicht immer.


Seit das gelbe Fieber in Guayra ſo furchtbare Ver-
heerungen angerichtet, hat man nicht verfehlt, die Unreinlich-
keit des kleinen Ortes zu übertreiben, wie man mit Vera-
cruz und den Quais oder Warfs von Philadelphia gethan.
An einem Orte, der auf ſehr trockenem Boden liegt, faſt keinen
Pflanzenwuchs hat, und wo in 7 bis 8 Monaten kaum ein
paar Tropfen Regen fallen, können der Urſachen der ſo-
genannten ſchädlichen Miasmen nicht eben ſehr viele ſein.
Die Straßen von Guayra ſchienen mir im allgemeinen ziem-
lich reinlich, ausgenommen den Stadtteil, wo die Schlacht-
bänke ſind. Auf der Reede iſt nirgends eine Strandſtrecke,
wo ſich zerſetzte Tange und Weichtiere anhäufen, aber die
benachbarte Küſte nach Oſten, dem Kap Codera zu, alſo unter
dem Winde von Guayra, iſt äußerſt ungeſund. Wechſelfieber,
Faul- und Gallenfieber kommen in Macuto und Caravalleda
häufig vor, und wenn von Zeit zu Zeit der Seewind dem
Weſtwinde Platz macht, ſo kommt aus der kleinen Bucht Catia,
deren wir in der Folge oft zu gedenken haben werden, trotz
der Schutzwehr des Cabo Blanco, eine mit faulen Dünſten
geſchwängerte Luft auf die Küſte von Guayra.


Da die Reizbarkeit der Organe bei den nördlichen Völkern
ſo viel ſtärker iſt als bei den ſüdlichen, ſo iſt nicht zu be-
zweifeln, daß bei größerer Handelsfreiheit und ſtärkerem und
innigerem Verkehr zwiſchen Ländern mit verſchiedenen Kli-
maten das gelbe Fieber ſich über die Neue Welt verbreiten
wird. Da hier ſo viele erregende Urſachen zuſammenwirken
und Individuen von ſo verſchiedener Organiſation denſelben
ausgeſetzt werden, können möglicherweiſe ſogar neue Krank-
[86] heitsformen, neue Verſtimmungen der Lebenskräfte ſich aus-
bilden. Es iſt dies eines der notwendigen Uebel im Gefolge
fortſchreitender Kultur; wer darauf hinweiſt, wünſcht darum
keineswegs die Barbarei zurück; ebenſowenig teilt er die An-
ſicht der Leute, die dem Verkehr unter den Völkern gern ein
Ende machten, nicht um die Häfen in den Kolonieen vom
Seuchengift zu reinigen, ſondern um dem Eindringen der
Aufklärung zu wehren und die Geiſtesentwickelung aufzuhalten.


Die Nordwinde, welche die kalte Luft von Kanada her
in den Mexikaniſchen Meerbuſen führen, machen periodiſch dem
gelben Fieber und ſchwarzen Erbrechen in der Havana und
in Veracruz ein Ende. Aber bei der großen Beſtändigkeit
der Temperatur, wie ſie in Porto Cabello, Guayra, Nueva
Barcelona und Cumana herrſcht, iſt zu befürchten, der Typhus
möchte dort einheimiſch werden, wenn er einmal infolge des
ſtarken Fremdenverkehres ſehr bösartig aufgetreten iſt. Glück-
licherweiſe hat ſich die Sterblichkeit vermindert, ſeit man ſich
in der Behandlung nach dem Charakter der Epidemieen in
verſchiedenen Jahren richtet, und ſeit man die verſchiedenen
Stadien der Krankheit, die Periode der entzündlichen Er-
ſcheinungen, und die der Ataxie oder Schwäche, beſſer kennt
und auseinander hält. Es wäre ſicher unrecht, in Abrede zu
ziehen, daß die neuere Medizin gegen dieſes ſchreckliche Uebel
ſchon Bedeutendes geleiſtet; aber der Glaube an dieſe Lei-
ſtungen iſt in den Kolonieen gar nicht weit verbreitet. Man
hört ziemlich allgemein die Aeußerung: „Die Aerzte wiſſen
jetzt den Hergang der Krankheit befriedigender zu erklären als
früher, ſie heilen ſie aber keineswegs beſſer; früher ſei man
langſam hingeſtorben, ohne alle Arznei, außer einem Tama-
rindenaufguß; gegenwärtig führe ein eingreifenderes Heil-
verfahren raſcher und unmittelbarer zum Tode.“


Wer ſo ſpricht, weiß nicht ganz, wie man früher auf
den Antillen zu Werke ging. Aus der Reiſe des Paters
Labat kann man erſehen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts
die Aerzte auf den Antillen den Kranken nicht ſo ruhig ſterben
ließen, als man meint. Man tötete damals nicht durch über-
triebene und unzeitige Anwendung von Brechmitteln, von
China und Opium, wohl aber durch wiederholte Aderläſſe
und übermäßiges Purgieren. Die Aerzte ſchienen auch mit
der Wirkung ihres Verfahrens ſo gut bekannt, daß ſie, ſehr
treuherzig, „gleich beim erſten Beſuch mit Beichtvater und
Notar am Krankenbett erſchienen“. Gegenwärtig bringt man
[87] es in reinlichen, gut gehaltenen Spitälern dahin, daß von
100 Kranken nur 15 bis 20 und ſelbſt etwas weniger ſterben;
aber überall, wo die Kranken zu ſehr aufeinander gehäuft
ſind, ſteigt die Sterblichkeit auf die Hälfte, wohl gar (wie
im Jahre 1802 bei der franzöſiſchen Armee auf San Domingo)
auf drei Vierteile der Kranken.


Ich fand die Breite von Guayra 10° 36′ 19″, die
Länge 69° 26′ 13″. Die Inklination der Magnetnadel war
am 24. Januar 1800 42,20°, die Deklination nach Nordoſt
4° 30′ 35″; die Intenſität der magnetiſchen Kraft = 237
Schwingungen.


Geht man an der aus Granit gebauten Küſte von Guayra
gegen Weſt, ſo kommt man zwiſchen dieſem Hafen, der nur
eine ſchlecht geſchützte Reede iſt, und dem Hafen von Porto
Cabello an mehrere Einbuchtungen des Landes, wo die Schiffe
vortrefflich ankern können. Es ſind die kleinen Buchten Catia,
Los Arecifes, Puerto la Cruz, Choroni, Sienega de Ocumare,
Turiamo, Burburata und Patanebo. Alle dieſe Häfen, mit
Ausnahme des von Burburata, aus dem man Maultiere nach
Jamaika ausführt, werden gegenwärtig nur von kleinen Küſten-
fahrzeugen beſucht, die Lebensmittel und Kakao von den be-
nachbarten Pflanzungen laden. Die Einwohner von Caracas,
wenigſtens die weiter blickenden, legen einen großen Wert auf
den Ankerplatz Catia, weſtlich von Cabo Blanco. Dieſen
Küſtenpunkt unterſuchten Bonpland und ich während unſeres
zweiten Aufenthaltes in Guayra. Eine Schlucht, unter dem
Namen Quebreda de Tipe bekannt, von der weiterhin die
Rede ſein wird, zieht ſich von der Hochebene von Caracas
gegen Catia herunter. Längſt geht man mit dem Plane um,
durch dieſe Schlucht einen Fahrweg anzulegen und die alte
Straße von Guayra, die beinahe dem Uebergang über den
St. Gotthard gleicht, aufzugeben. Nach dieſem Plane könnte
der Hafen von Catia, der ſo geräumig als ſicher iſt, an die
Stelle des von Guayra treten. Leider iſt dieſer ganze Küſten-
ſtrich unter dem Winde von Cabo Blanco mit Wurzelbäumen
bewachſen und höchſt ungeſund.


Faſt nirgends auf der Küſte iſt es ſo heiß als in der
Nähe von Cabo Blanco. Wir litten ſehr durch die Hitze,
die durch die Reverberation des dürren, ſtaubigen Bodens noch
geſteigert wurde; die übermäßige Einwirkung des Sonnen-
lichtes hatte indeſſen keine nachteiligen Folgen für uns. In
Guayra fürchtet man die Inſolation und ihren Einfluß auf
[88] die Gehirnfunktionen ungemein, beſonders zu einer Zeit, wo
das gelbe Fieber ſich zu zeigen anfängt. Ich ſtand eines
Tages auf dem Dache unſeres Hauſes, um den Mittagspunkt
und den Unterſchied zwiſchen dem Thermometerſtande in der
Sonne und im Schatten zu beobachten, da kam hinter mir
ein Mann gelaufen und wollte mir einen Trank aufdrängen,
den er fertig in der Hand trug. Es war ein Arzt, der mich
von ſeinem Fenſter aus ſeit einer halben Stunde in bloßem
Kopf hatte in der Sonne ſtehen ſehen. Er verſicherte mich,
da ich ein hoher Nordländer ſei, müſſe ich nach der Unvor-
ſichtigkeit, die ich eben begangen, unfehlbar noch dieſen Abend
einen Anfall vom gelben Fieber bekommen, wenn ich kein
Präſervativ nehme. Dieſe Prophezeiung, ſo ernſtlich ſie ge-
meint war, beunruhigte mich nicht, da ich mich längſt für
akklimatiſiert hielt; wie konnte ich aber eine Zumutung ab-
lehnen, die aus ſo herzlicher Teilnahme entſprang? Ich ver-
ſchluckte den Trank, und der Arzt mag mich zu den Kranken
geſchrieben haben, denen er im Laufe des Jahres das Leben
gerettet.


Nachdem wir Lage und Luftbeſchaffenheit von Guayra
beſchrieben, verlaſſen wir die Küſte des Antilliſchen Meeres,
um ſie bis zu unſerer Rückkehr von den Miſſionen am Orinoko
ſo gut wie nicht wieder zu ſehen. Der Weg aus dem
Hafen nach Caracas, der Hauptſtadt einer Statthalterei von
900000 Einwohnern, gleicht, wie ſchon oben bemerkt, den
Päſſen in den Alpen, dem Wege über den St. Gotthard oder
den Großen St. Bernhard. Vor meiner Ankunft in der Pro-
vinz Venezuela war derſelbe nie vermeſſen worden, und man
hatte nicht einmal eine beſtimmte Vorſtellung davon, wie hoch
das Thal von Caracas liegen möge. Man hatte längſt be-
merkt, daß es von der Cumbre und Las Vueltas, dem höchſten
Punkte der Straße nach Paſtora am Eingange des Thales von
Caracas nicht ſo weit hinab geht, als zum Hafen von Guayra;
da aber der Avila eine bedeutende Gebirgsmaſſe iſt, ſo ſieht
man die zu vergleichenden Punkte nicht zumal. Auch nach
dem Klima des Thales von Caracas kann man ſich von der
Höhe desſelben unmöglich einen richtigen Begriff machen.
Die Luft daſelbſt wird durch niedergehende Luftſtröme ab-
gekühlt, ſowie einen großen Teil des Jahres hindurch durch
die Nebel, welche den hohen Gipfel der Silla einhüllen. Ich
habe den Weg von Guayra nach Caracas mehreremal zu
Fuße gemacht und nach zwölf Punkten, deren Höhe mit dem
[89] Barometer beſtimmt wurde, ein Profil desſelben entworfen.
Ich hätte gern geſehen, daß meine Vermeſſung durch einen
unterrichteten Reiſenden, der nach mir dieſes maleriſche und
für den Naturforſcher ſo intereſſante Land beſuchte, wiederholt
und verbeſſert worden wäre; mein Wunſch iſt aber bis jetzt
nicht in Erfüllung gegangen.


Wenn man zur Zeit der ſtärkſten Hitze die glühende Luft
Guayras atmet und den Blick auf das Gebirge richtet, ſo
ſcheint es einem unbegreiflich, daß in gerader Entfernung
von 9,75 bis 11,7 km in einem engen Thale eine Bevölkerung
von 40000 Seelen einer Frühlingskühle genießen ſoll, einer
Temperatur, die bei Nacht auf 12° heruntergeht. Daß auf
dieſe Weiſe verſchiedene Klimate einander nahe gerückt ſind,
kommt in den ganzen Kordilleren der Anden häufig vor; aber
überall, in Mexiko, in Quito, in Peru, in Neugranada muß
man weit ins Binnenland reiſen, entweder über die Ebenen
oder auf Strömen hinauf, bis man in die Herde der Kultur,
in die großen Städte, gelangt. Caracas liegt nur ein Dritt-
teil ſo hoch als Mexiko, Quito und Santa Fé de Bogota;
aber von allen Hauptſtädten des ſpaniſchen Amerikas, die
mitten in der heißen Zone ein köſtlich kühles Klima haben,
liegt Caracas am nächſten an der Küſte. Nur 13,5 km in
einen Seehafen zu haben und im Gebirge zu liegen, auf einer
Hochebene, wo der Weizen gediehe, wenn man nicht lieber
Kaffee baute, das ſind bedeutende Vorteile.


Der Weg von Guayra in das Thal von Caracas iſt
weit ſchöner als der von Honda nach Santa Fé und von
Guayaquil nach Quito; er iſt ſogar beſſer unterhalten als
die alte Straße, die aus dem Hafen von Veracruz am Süd-
abhange der Gebirge von Neuſpanien nach Perote führt.
Man braucht mit guten Maultieren nur drei Stunden aus
dem Hafen von Guayra nach Caracas und zum Rückwege nur
zwei, mit Laſttieren oder zu Fuß vier bis fünf Stunden.
Man kommt zuerſt über einen ſehr ſteilen Felsabhang und
über die Stationen Torre Quemada, Curucuti und Salto
zu einem großen Wirtshauſe (La Venta), das 1170 m über
dem Meere liegt. Der Name „verbrannter Turm“ bezieht
ſich auf den ſtarken Eindruck, den man erhält, wenn man
nach Guayra hinuntergeht. Die Hitze, welche die Felswände
und vollends die dürre Ebene zu den Füßen ausſtrahlen, iſt
drückend zum Erſticken. Auf dieſem Wege und überall, wo
man auf ſtarken Abhängen in ein anderes Klima gelangt,
[90] ſchien mir das Gefühl von geſteigerter Muskelkraft und von
Wohlbehagen, das beim Eintritt in kühlere Luftſchichten über
einen kommt, nicht ſo ſtark als umgekehrt die läſtige Mattig-
keit und Erſchlaffung, die einen befällt, wenn man in die
heißen Küſtenebenen hinuntergeht. Der Menſch iſt einmal
ſo geſchaffen, daß der Genuß, wenn uns irgendwie leichter
wird, nicht ſo lebhaft iſt als der Eindruck eines neuen Un-
gemaches, und in der moraliſchen Welt iſt es ja ebenſo.


Von Curucuti zum Salto iſt der Weg etwas weniger
ſteil; durch die Windungen, die er macht, wird die Steigung
geringer, wie auf der alten Straße über den Mont Cenis.
Der Salto, „der Sprung“, iſt eine Spalte, über die eine
Zugbrücke führt. Auf der Höhe des Berges ſind förmliche
Werke angelegt. Bei der Venta ſtand der Thermometer um
Mittag auf 19,3°, in Guayra zur ſelben Zeit auf 26,2°.
Da, ſeit die Neutralen von Zeit zu Zeit in den ſpaniſchen
Häfen zugelaſſen wurden, Fremde häufiger nach Caracas gehen
durften als nach Mexiko, ſo iſt die Venta in Europa und in
den Vereinigten Staaten bereits wegen ihrer ſchönen Lage
berühmt. Und allerdings hat man hier bei unbewölktem
Himmel eine prachtvolle Ausſicht über die See und die nahen
Küſten. Man hat einen Horizont von mehr als 100 km
Halbmeſſer vor ſich; man wird geblendet von der Maſſe Licht,
die der weiße, dürre Strand zurückwirft; zu den Füßen liegen
Cabo Blanco, das Dorf Maiquetia mit ſeinen Kokospalmen,
Guayra und die Schiffe, die in den Hafen einlaufen. Ich
fand dieſen Anblick noch weit überraſchender, wenn der Himmel
nicht ganz rein iſt und Wolkenſtreifen, die oben ſtark beleuchtet
ſind, gleich ſchwimmenden Eilanden ſich von der unermeßlichen
Meeresfläche abheben. Nebelſchichten in verſchiedenen Höhen
bilden Mittelgründe zwiſchen dem Auge des Beobachters und
den Niederungen, und durch eine leicht erklärliche Täuſchung
wird dadurch die Szenerie großartiger, impoſanter. Von Zeit
zu Zeit kommen in den Riſſen der vom Winde gejagten und
ſich ballenden Wolken Bäume und Wohnungen zum Vorſchein,
und die Gegenſtände ſcheinen dann ungleich tiefer unten zu
liegen als bei reiner, nach allen Seiten durchſichtiger Luft.
Wenn man ſich am Abhange der mexikaniſchen Gebirge (zwiſchen
Las Trancas und Xalapa) in derſelben Höhe befindet, iſt man
noch 54 km von der See entfernt; man ſieht die Küſte nur
undeutlich, während man auf dem Wege von Guayra nach
Caracas das Tiefland (die Tierra caliente) wie auf einem
[91] Turme beherrſcht. Man denke ſich, welchen Eindruck dieſer
Anblick auf einen machen muß, der im Binnenlande zu Hauſe
iſt und an dieſer Stelle zum erſtenmal das Meer und
Schiffe ſieht.


Ich habe durch unmittelbare Beobachtungen die Breite
der Venta ermittelt, um die Entfernung derſelben von der
Küſte genauer angeben zu können. Die Breite iſt 10° 33′ 9″;
die Länge des Ortes ſchien mir nach dem Chronometer etwa
2′ 47″ im Bogen weſtlich von der Stadt Caracas. Ich fand
in dieſer Höhe die Inklination der Magnetnadel 41,75°, die
Intenſität der magnetiſchen Kraft = 234 Schwingungen.


Von der Venta, auch Venta grande genannt zum Unter-
ſchied von drei oder vier anderen kleinen Wirtshäuſern am
Wege, 1 geht es noch über 290 m hinauf zum Guayavo.
Dies iſt beinahe der höchſte Punkt der Straße, ich ging aber
mit dem Barometer noch weiter, etwas über die Cumbre
(Gipfel) hinauf, in die Schanze Cuchilla. Da ich keinen Paß
hatte (in fünf Jahren bedurfte ich desſelben nur bei der
Landung), ſo wäre ich beinahe von einem Artilleriepoſten
verhaftet worden. Um die alten Soldaten zu beſänftigen,
überſetzte ich ihnen in ſpaniſche Varas, wieviel Toiſen der
Poſten über dem Meere liegt. Daran ſchien ihnen ſehr wenig
gelegen, und wenn ſie mich gehen ließen, ſo verdanke ich es
einem Andaluſier, der gar freundlich wurde, als ich ihm ſagte,
die Berge ſeines Heimatlandes, die Sierra Nevada de Granada
ſeien viel höher als alle Berge in der Provinz Caracas.


Die Schanze Cuchilla liegt ſo hoch wie der Gipfel des
Puy de Dome und 290 m niedriger als die Poſt auf dem
Mont Cenis. Da die Stadt Caracas, die Venta del Guayavo
und der Hafen von Guayra ſo nahe bei einander liegen,
hätten Bonpland und ich gern ein paar Tage hintereinander
die kleinen Schwankungen des Barometers gleichzeitig in einem
ſchmalen Thale, auf einer dem Winde ausgeſetzten Hochebene
und an der Meeresküſte beobachtet; aber die Luft war wäh-
rend unſeres Aufenthaltes an dieſen Orten nicht ruhig genug
dazu. Ueberdem beſaß ich auch nicht den dreifachen meteoro-
logiſchen Apparat, der zu dieſer Beobachtung erforderlich iſt,
die ich Naturforſchern, die nach mir das Land beſuchen, em-
pfehlen möchte.


[92]

Als ich zum erſtenmal über dieſe Hochebene nach der
Hauptſtadt von Venezuela ging, traf ich vor dem kleinen
Wirtshauſe auf dem Guayavo viele Reiſende, die ihre Maul-
tiere ausruhen ließen. Es waren Einwohner von Caracas;
ſie ſtritten über den Aufſtand zur Befreiung des Landes, der
kurz zuvor ſtattgefunden. Joſeph España hatte auf dem
Schafott geendet; ſein Weib ſchmachtete im Gefängnis, weil
ſie ihren Mann auf der Flucht bei ſich aufgenommen und
nicht der Regierung angegeben hatte. Die Aufregung der
Gemüter, die Bitterkeit, mit der man über Fragen ſtritt, über
die Landsleute nie verſchiedener Meinung ſein ſollten, fielen
mir ungemein auf. Während man ein langes und breites
über den Haß der Mulatten gegen die freien Neger und die
Weißen, über den Reichtum der Mönche und die Mühe, die
man habe, die Sklaven in der Zucht zu halten, verhandelte,
hüllte uns ein kalter Wind, der vom hohen Gipfel der Silla
herabzukommen ſchien, in einen dicken Nebel und machte
der lebhaften Unterhaltung ein Ende; man ſuchte Schutz in
der Venta. In der Wirtsſtube machte ein bejahrter Mann,
der vorhin am ruhigſten geſprochen hatte, die anderen darauf
aufmerkſam, wie unvorſichtig es ſei, zu einer Zeit, wo überall
Angeber lauern, ſei es auf dem Berge oder in der Stadt,
über politiſche Gegenſtände zu verhandeln. Dieſe in der Berg-
einöde geſprochenen Worte machten einen tiefen Eindruck auf
mich, und ich ſollte denſelben auf unſeren Reiſen durch die
Anden von Neugranada und Peru noch oft erhalten. In
Europa, wo die Völker ihre Streitigkeiten in den Ebenen
ſchlichten, ſteigt man auf die Berge, um Einſamkeit und
Freiheit zu ſuchen; in der Neuen Welt aber ſind die Kordilleren
bis zu 3900 m Meereshöhe bewohnt. Die Menſchen tragen
ihre bürgerlichen Zwiſte wie ihre kleinlichen, gehäſſigen Leiden-
ſchaften mit hinauf. Auf dem Rücken der Anden, wo die
Entdeckung von Erzgängen zur Gründung von Städten ge-
führt hat, ſtehen Spielhäuſer, und in dieſen weiten Einöden,
faſt über der Region der Wolken, in einer Naturumgebung,
die dem Geiſte höheren Schwung geben ſollte, wird gar oft
durch die Kunde, daß der Hof ein Ordenszeichen oder einen
Titel nicht bewilligt habe, das Glück der Familien geſtört.


Ob man auf den weiten Meereshorizont hinausblickt
oder nach Südoſt, nach dem gezackten Felskamm, der ſchein-
bar die Cumbre mit der Silla verbindet, während die Schlucht
(Quebrada) Tocume dazwiſchen liegt, überall bewundert man
[93] den großartigen Charakter der Landſchaft. Von Guayavo
an geht man eine halbe Stunde über ein ebenes, mit Alp-
pflanzen bewachſenes Plateau. Dieſes Stück des Weges heißt
der vielen Krümmungen wegen Las Vueltas. Etwas weiter
oben liegen die Mehlmagazine, welche die Geſellſchaft von
Guipuzcoa, während der Handel und die Verſorgung von
Caracas mit Lebensmitteln ihr ausſchließliches Monopol war,
an einem ſehr kühlen Orte hatte errichten laſſen. Auf dem
Wege der Vueltas ſieht man zum erſtenmal die Hauptſtadt
580 m tiefer in einem mit Kaffeebäumen und europäiſchen
Obſtbäumen üppig bepflanzten Thale liegen. Die Reiſenden
machen gewöhnlich Halt bei einer ſchönen Quelle, genannt
Fuente de Sanchorquiz, die auf fallenden Gneisſchichten von
der Sierra herabkommt. Ich fand die Temperatur derſelben
16,4°, was für eine Höhe von 1415 m bedeutend kühl iſt.
Dieſes klare Waſſer müßte denen, die davon trinken, noch
kälter vorkommen, wenn die Quelle ſtatt zwiſchen der Cumbre
und dem gemäßigten Thale von Caracas auf dem Abhange
gegen Guayra hin entſpränge. Ich habe aber die Bemerkung
gemacht, daß an dieſem, dem Nordabhange des Berges die
Schichten (eine in dieſem Lande ſeltene Ausnahme) nicht nach
Nordweſt, ſondern nach Südoſt fallen, was ſchuld daran ſein
mag, daß die unterirdiſchen Gewäſſer dort keine Quellen bil-
den können. Von der kleinen Schlucht Sanchorquiz an geht
es beſtändig abwärts bis zum Kreuz von Guayra, das auf
einem offenen Platze 1232 m über dem Meere ſteht, und von
da an bei den Zollhäuſern vorbei und durch das Quartier
Paſtora in die Stadt Caracas.


[[94]]

Zwölftes Kapitel.


Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von Venezuela. —
Ihre verſchiedenen Intereſſen. — Die Stadt Caracas. — Ihr Klima.


Die Wichtigkeit einer Hauptſtadt hängt nicht allein von
ihrer Volkszahl, von ihrem Reichtum und ihrer Lage ab; um
dieſelbe einigermaßen richtig zu beurteilen, muß man den
Umfang des Gebietes, deſſen Mittelpunkt ſie iſt, die Menge
einheimiſcher Erzeugniſſe, mit denen ſie Handel treibt, die
Verhältniſſe, in denen ſie zu den ihrem politiſchen Einfluß
unterworfenen Provinzen ſteht, in Rechnung ziehen. Dieſe
verſchiedenen Umſtände modifizieren ſich durch die mehr oder
weniger gelockerten Bande zwiſchen den Kolonieen und dem
Mutterland; aber die Macht der Gewohnheit iſt ſo groß und
die Handelsintereſſen ſind ſo zäh, daß ſich vorausſagen läßt,
der Einfluß der Hauptſtädte auf das Land umher, auf die
unter den Namen Reinos, Capitanias generales, Presidencias,
Goviernos
verſchmolzenen Gruppen von Provinzen werden
auch die Kataſtrophe der Trennung der Provinzen vom Mutter-
lande überdauern. Man wird nur da Stücke losreißen und
anders verbinden, wo man, mit Mißachtung natürlicher
Grenzen, willkürlich Gebiete verbunden hatte, die nur ſchwer
miteinander verkehren. Ueberall, wo die Kultur nicht ſchon
vor der Eroberung in einem gewiſſen Grade beſtand (wie in
Mexiko, Guatemala, Quito und Peru), verbreitete ſie ſich von
den Küſten ins Binnenland, bald einem großen Flußthale,
bald einer Gebirgskette mit gemäßigtem Klima nach. Sie
ſetzte ſich zu gleicher Zeit in verſchiedenen Mittelpunkten feſt,
von denen ſie ſofort gleichſam ausſtrahlte. Die Vereinigung
zu Provinzen oder Königreichen erfolgte, ſobald ſich civiliſierte,
oder doch einem feſten, geregelten Regiment unterworfene
Gebiete unmittelbar berührten. Wüſt liegende oder von wil-
den Menſchen bewohnte Landſtriche umgeben jetzt die von der
[95] europäiſchen Kultur eroberten Länder. Sie trennen dieſe
Eroberungen voneinander, wie ſchwer zu überſetzende Meeres-
arme, und meiſt hängen benachbarte Staaten nur durch urbar
gemachte Landzungen zuſammen. Die Umriſſe der Seeküſten
ſind leichter aufzufaſſen als der krauſe Lauf dieſes Binnen-
geſtades, auf dem Barbarei und Civiliſation, undurchdring-
liche Wälder und bebautes Land aneinander ſtoßen und ein-
ander begrenzen. Weil ſie die Zuſtände der erſt in der
Bildung begriffenen Staaten der Neuen Welt außer acht laſſen,
liefern ſo viele Geographen ſo ſonderbar ungenaue Karten,
indem ſie die verſchiedenen Teile der ſpaniſchen und portu-
gieſiſchen Kolonieen ſo zeichnen, als ob ſie im Inneren durch-
aus zuſammenhingen. Die Lokalkenntnis, die ich mir aus
eigener Anſchauung von dieſen Grenzen verſchafft, ſetzt mich
inſtand, den Umfang der großen Gebietsabſchnitte mit einiger
Beſtimmtheit anzugeben, die wüſten und die bewohnten Striche
miteinander zu vergleichen und den mehr oder minder bedeu-
tenden politiſchen Einfluß, den ſie als Regierungs- und Han-
delsmittelpunkte äußern, zu ſchätzen.


Caracas iſt die Hauptſtadt eines Landes, das faſt zwei-
mal ſo groß iſt als das heutige Peru und an Flächengehalt
dem Königreich Neugranada wenig nachſteht. 1 Dieſes Land,
das im ſpaniſchen Regierungsſtil Capitania general de
Caracas
oder de las Provincias de Venezuela heißt, hat
gegen eine Million Einwohner, worunter 60000 Sklaven,
Es umfaßt längs den Küſten Neuandaluſien oder die Pro-
vinz Cumana (mit der Inſel Margarita), Barcelona, Vene-
zuela oder Caracas, Coro oder Maracaybo; im Inneren die
Provinzen Varinas und Guyana, erſtere längs den Flüſſen
San Domingo und Apure, letztere längs dem Orinoko, Caſſi-
quiare, Atabapo und Rio Negro. Ueberblickt man die ſieben
vereinigten Provinzen von Terra Firma, ſo ſieht man, daß
ſie drei geſonderte Zonen bilden, die von Oſt nach Weſt laufen.


Zuvorderſt liegt das bebaute Land am Meeresufer und
bei der Kette der Küſtengebirge; dann kommen Savannen oder
Weiden, und endlich jenſeits des Orinoko die dritte, die Wald-
[96] zone, die nur mittels der Ströme, die hindurchlaufen, zu-
gänglich iſt. Wenn die Eingeborenen in dieſen Wäldern ganz
von der Jagd lebten wie die am Miſſouri, ſo könnte man
ſagen, die drei Zonen, in welche wir das Gebiet von Vene-
zuela zerfallen laſſen, ſeien ein Bild der drei Zuſtände und
Stufen der menſchlichen Geſellſchaft: in den Wäldern am
Orinoko das rohe Jägerleben, auf den Savannen oder Llanos
das Hirtenleben, in den hohen Thälern und am Fuße der
Küſtengebirge das Leben des Landbauers. Die Miſſionäre
und eine Handvoll Soldaten beſetzen hier, wie in ganz Amerika,
vorgeſchobene Poſten an der braſilianiſchen Grenze. In dieſer
erſten Zone herrſcht das Recht des Stärkeren und der Mißbrauch
der Gewalt, der eine notwendige Folge davon iſt. Die Einge-
borenen liegen in beſtändigem blutigem Kriege miteinander
und freſſen nicht ſelten einander auf. Die Mönche ſuchen ſich
die Zwiſtigkeiten unter den Eingeborenen zu nutze zu machen
und ihre kleinen Miſſionsdörfer zu vergrößern. Das Militär,
das zum Schutz der Mönche daliegt, lebt im Zank mit ihnen.
Ueberall ein trauriges Bild von Not und Elend. Wir werden
bald Gelegenheit haben, dieſen Zuſtand, den die Städter als
Naturzuſtand preiſen, näher kennen zu lernen. In der zwei-
ten Region, auf den Ebenen und Weiden, iſt die Nahrung
einförmig, aber ſehr reichlich. Die Menſchen ſind ſchon
civiliſierter, leben aber, abgeſehen von ein paar weit aus-
einander liegenden Städten, immer noch vereinzelt. Sieht
man ihre zum Teil mit Häuten und Leder gedeckten Häuſer,
ſo meint man, ſie haben ſich auf den ungeheuren, bis zum
Horizont fortſtreichenden Grasebenen keineswegs niedergelaſſen,
ſondern kaum gelagert. Der Ackerbau, der allein die Grund-
lagen der Geſellſchaft befeſtigt und die Bande zwiſchen Menſch
und Menſch enger knüpft, herrſcht in der dritten Zone, im
Küſtenſtriche, beſonders in den warmen und gemäßigten Thä-
lern der Gebirge am Meere.


Man könnte einwenden, auch in anderen Teilen des
ſpaniſchen und portugieſiſchen Amerikas, überall, wo man die
allmähliche Entwickelung der Kultur verfolgen kann, ſehe man
jene drei Stufenalter der menſchlichen Geſellſchaft nebenein-
ander; es iſt aber zu bemerken, und dies iſt für alle, welche die
politiſchen Zuſtände der verſchiedenen Kolonieen genau kennen
lernen wollen, von großem Belang, daß die drei Zonen, die
Wälder, die Savannen und das bebaute Land, nicht überall
im ſelben Verhältnis zu einander ſtehen, daß ſie aber nirgends
[97] ſo regelmäßig verteilt ſind wie im Königreich Venezuela.
Bevölkerung, Induſtrie und Geiſtesbildung nehmen keines-
wegs überall von der Küſte dem Inneren zu ab. In Mexiko,
Peru und Quito findet man die ſtärkſte ackerbauende Be-
völkerung, die meiſten Städte, die älteſten bürgerlichen Ein-
richtungen auf den Hochebenen und in den Gebirgen des
Binnenlandes. Ja, im Königreich Buenos Ayres liegt die
Region der Weiden, der ſogenannten Pampas, zwiſchen dem
vereinzelten Hafen von Buenos Ayres und der großen Maſſe
ackerbauender Indianer, welche in den Kordilleren von Charras,
La Paz und Potoſi wohnen. Dieſer Umſtand macht, daß ſich
im ſelben Lande die gegenſeitigen Intereſſen der Bewohner
des Binnenlandes und der Küſten ſehr verſchiedenartig ge-
ſtalten.


Will man eine richtige Vorſtellung von dieſen gewaltigen
Provinzen erhalten, die ſeit Jahrhunderten faſt wie unab-
hängige Staaten von Vizekönigen oder Generalkapitänen re-
giert wurden, ſo muß man mehrere Punkte zumal ins Auge
faſſen. Man muß die Teile des ſpaniſchen Amerikas, die Aſien
gegenüber liegen, von denen trennen, die der Atlantiſche Ozean
beſpült; man muß, wie wir eben gethan, unterſuchen, wo ſich
die Hauptmaſſe der Bevölkerung befindet, ob in der Nähe der
Küſten, ob konzentriert im Inneren auf kalten und gemäßigten
Hochebenen der Kordilleren; man muß die numeriſchen Ver-
hältniſſe zwiſchen den Eingeborenen und den anderen Menſchen-
ſtämmen ermitteln, ſich nach der Herkunft der europäiſchen
Familien erkundigen, ausmachen, welchem Volksſtamme die
Mehrzahl der Weißen in jedem Teile der Provinzen angehört.
Die andaluſiſchen Kanarier in Venezuela, die „Montañeſes“ 1
und Biscayer in Mexiko, die Katalonier in Buenos Ayres
unterſcheiden ſich hinſichtlich des Geſchickes zum Ackerbau, zu
mechaniſchen Fertigkeiten, zum Handel und zu geiſtigen Be-
ſchäftigungen ſehr weſentlich voneinander. Alle dieſe Stämme
haben in der Neuen Welt den allgemeinen Charakter behalten,
der ihnen in der Alten zukommt, die rauhe oder ſanfte Ge-
mütsart, die Mäßigkeit oder die ungezügelte Habgier, die
leutſelige Gaſtlichkeit oder den Hang zum einſamen Leben.
In Ländern, deren Bevölkerung großenteils aus Indianern
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 7
[98] von gemiſchtem Blute beſteht, kann der Unterſchied zwiſchen
den Europäern und ihren Nachkommen allerdings nicht ſo
auffallend ſchroff ſein, wie einſt in den Kolonieen ioniſcher
und doriſcher Abkunft. Spanier, in die heiße Zone verſetzt,
unter einem neuen Himmelsſtrich der Erinnerung an das
Mutterland faſt entfremdet, mußten ſich ganz anders um-
wandeln, als die Griechen, welche ſich auf den Küſten von
Kleinaſien oder Italien niederließen, wo das Klima nicht viel
anders war als in Athen oder Korinth. Daß der Charakter
des amerikaniſchen Spaniers durch die phyſiſche Beſchaffenheit
des Landes, durch die einſame Lage der Hauptſtädte auf den
Hochebenen oder in der Nähe der Küſten, durch die Beſchäfti-
gung mit dem Landbau, durch den Bergbau, durch die Ge-
wöhnung an das Spekulieren im Handelsverkehr, in manchen
Beziehungen ſich verändert hat, iſt unleugbar; aber überall,
in Caracas, in Santa Fé, in Quito und Buenos Ayres macht
ſich dennoch etwas geltend, was auf die urſprüngliche Stammes-
eigenheit zurückweiſt.


Betrachtet man die Zuſtände der Kapitanerie von Caracas
nach den oben angegebenen Geſichtspunkten, ſo zeigt es ſich,
daß der Ackerbau, die Hauptmaſſe der Bevölkerung, die zahl-
reichen Städte, kurz alles, was durch höhere Kultur bedingt
iſt, ſich vorzugsweiſe in der Nähe der Küſte findet. Der
Küſtenſtrich iſt über 900 km lang und wird vom kleinen
Meer der Antillen beſpült, einer Art Mittelmeer, an deſſen
Ufern faſt alle europäiſchen Nationen Niederlaſſungen ge-
gründet haben, das an zahlreichen Stellen mit dem Atlan-
tiſchen Ozean in Verbindung ſteht und ſeit der Eroberung auf
den Fortſchritt der Bildung im öſtlichen Teile des tropiſchen
Amerikas ſehr bedeutenden Einfluß geäußert hat. Die König-
reiche Neugranada und Mexiko verkehren mit den fremden
Kolonieen und mittels dieſer mit dem nicht ſpaniſchen Europa
allein durch die Häfen von Cartagena und Santa Marta,
Veracruz und Campeche. Dieſe ungeheuren Länder kommen,
infolge der Beſchaffenheit ihrer Küſten und der Zuſammen-
drängung der Bevölkerung auf dem Rücken der Kordilleren,
mit Fremden wenig in Berührung. Der Meerbuſen von
Mexiko iſt auch einen Teil des Jahres wegen der gefährlichen
Nordſtürme wenig beſucht. Die Küſten von Venezuela da-
gegen ſind ſehr ausgedehnt, ſpringen weit gegen Oſten vor,
haben eine Menge Häfen, man kann allenthalben in jeder
Jahreszeit ſicher ans Land kommen, und ſo können ſie von
[99] allen Vorteilen, die das innere Meer der Antillen bietet,
Nutzen ziehen. Nirgends kann der Verkehr mit den großen
Inſeln und ſelbſt mit denen unter dem Winde ſtärker ſein als
durch die Häfen von Cumana, Barcelona, Guayra, Porto-
Cabello, Coro und Maracaybo, nirgends war der Schleich-
handel mit dem Auslande ſchwerer im Zaume zu halten. Iſt
es da zu verwundern, daß bei dieſem leichten Handelsverkehr
mit den freien Amerikanern und mit den Völkern des politiſch
aufgeregten Europas in den unter der Generalkapitanerie
Venezuela vereinigten Provinzen Wohlſtand, Bildung und
das unruhige Streben nach Selbſtregierung, in dem die Liebe
zur Freiheit und zu republikaniſchen Einrichtungen zur Aeuße-
rung kommt, gleichmäßig zugenommen haben?


Die kupferfarbigen Eingeborenen, die Indianer, bilden
nur da einen ſehr anſehnlichen Teil der ackerbauenden Be-
völkerung, wo die Spanier bei der Eroberung ordentliche
Regierungen, eine bürgerliche Geſellſchaft, alte, meiſt ſehr ver-
wickelte Inſtitutionen vorgefunden, wie in Neuſpanien ſüdlich
von Durango und in Peru von Cuzco bis Potoſi. In der
Generalkapitanerie Caracas iſt die indianiſche Bevölkerung des
bebauten Landſtrichs, wenigſtens außerhalb der Miſſionen,
unbeträchtlich. Zur Zeit großer politiſcher Zerwürfniſſe flößen
die Indianer den Weißen und Miſchlingen keine Beſorgniſſe
ein. Als ich im Jahre 1800 die Geſamtbevölkerung der ſieben
vereinigten Provinzen auf 900000 Seelen ſchätzte, nahm ich
die Indianer zu einem Neunteil an, während ſie in Mexiko
faſt die Hälfte ausmachen.


Unter den Raſſen, aus denen die Bevölkerung von Vene-
zuela beſteht, iſt die ſchwarze, auf die man zugleich mit Teil-
nahme wegen ihres Unglücks, und mit Furcht wegen einer
möglichen gewaltſamen Auflehnung blickt, nicht der Kopfzahl
nach, aber wegen der Zuſammendrängung auf einen kleinen
Flächenraum, von Belang. Wir werden bald ſehen, daß in
der ganzen Kapitanerie die Sklaven nur ein Fünfzehnteil der
ganzen Bevölkerung ausmachen; auf Cuba, wo unter allen
Antillen die Neger den Weißen gegenüber am wenigſten
zahlreich ſind, war im Jahre 1811 das Verhältnis wie 1 zu 3.
Die ſieben vereinigten Provinzen von Venezuela haben
60000 Sklaven; Cuba, das achtmal kleiner iſt, hat 212000.
Betrachtet man das Meer der Antillen, zu dem der Meer-
buſen von Mexiko gehört, als ein Binnenmeer mit mehreren
Ausgängen, ſo iſt es wichtig, die politiſchen Beziehungen ins
[100] Auge zu faſſen, die infolge dieſer ſeltſamen Geſtaltung des
neuen Kontinents zwiſchen Ländern entſtehen, die um das-
ſelbe Becken gelegen ſind. Wie ſehr auch die meiſten Mutter-
länder ihre Kolonieen abzuſperren ſuchen, ſie werden dennoch
in die Aufregung hineingezogen. Die Elemente der Zerwürf-
niſſe ſind die gleichen, und wie inſtinktmäßig bildet ſich ein
Einverſtändnis zwiſchen Menſchen derſelben Farbe, auch wenn
ſie verſchiedene Sprachen reden und auf weit entlegenen
Küſten wohnen. Dieſes amerikaniſche Mittelmeer, das durch
die Küſten von Venezuela, Neugranada, Mexiko, die der
Vereinigten Staaten und durch die Antillen gebildet wird,
zählt an ſeinen Ufern gegen anderthalb Millionen Neger,
Sklaven und Freie, und ſie ſind ſo ungleich verteilt, daß es
im Süden ſehr wenige, im Weſten faſt keine gibt; in großen
Maſſen finden ſie ſich nur auf den Nord- und Oſtküſten. Es
iſt dies gleichſam das afrikaniſche Stück dieſes Binnenmeeres.
Die Unruhen, die vom Jahre 1792 an auf San Domingo
ausgebrochen, haben ſich naturgemäß auf die Küſten von
Venezuela fortgepflanzt. Solange Spanien im ungeſtörten
Beſitz dieſer ſchönen Kolonieen war, wurden die kleinen Sklaven-
aufſtände leicht unterdrückt; aber ſobald ein Kampf anderer
Art, der für die Unabhängigkeit, entbrannte, machten ſich die
Schwarzen durch ihre drohende Haltung bald der einen, bald
der anderen der einander gegenüberſtehenden Parteien furchtbar,
und in verſchiedenen Ländern des ſpaniſchen Amerikas wurde die
allmähliche oder plötzliche Aufhebung der Sklaverei verkündigt,
nicht ſowohl aus Gefühlen der Gerechtigkeit oder Menſchlichkeit,
als weil man ſich des Beiſtandes eines unerſchrockenen, an Ent-
behrungen gewöhnten und für ſein eigenes Wohl kämpfenden
Menſchenſchlages verſichern wollte. Ich bin in der Reiſebe-
ſchreibung des Girolamo Benzoni auf eine merkwürdige Stelle
geſtoßen, aus der hervorgeht, wie alt ſchon die Beſorgniſſe ſind,
welche die Zunahme der ſchwarzen Bevölkerung einflößt. Dieſe
Beſorgniſſe werden nur da verſchwinden, wo die Regierungen
die Umwandlung zum Beſſern, welche durch mildere Sitten,
durch die öffentliche Meinung und durch religiöſe Anſichten
in der Hausſklaverei nach und nach vor ſich geht, ihrerſeits
durch die Geſetzgebung unterſtützen. „Die Neger,“ ſagt Ben-
zoni, „haben ſich auf San Domingo dergeſtalt vermehrt, daß
ich im Jahre 1545, als ich auf Terra Firma (an der Küſte
von Caracas) war, viele Spanier geſehen habe, die gar nicht
zweifelten, daß jene Inſel binnen kurzem Eigentum der
[101] Schwarzen ſein werde.“ Unſer Jahrhundert ſollte dieſe Pro-
phezeiung in Erfüllung gehen und eine europäiſche Kolonie
in Amerika ſich in einen afrikaniſchen Staat verwandeln
ſehen.


Die 60000 Sklaven in den vereinigten Provinzen von
Venezuela ſind ſo ungleich verteilt, daß auf die Provinz Ca-
racas allein 40000 kommen, worunter ein Fünfteil Mulatten,
auf Maracaybo 10000 bis 12000, auf Cumana und Barcelona
kaum 6000. Um den Einfluß zu würdigen, den die Neger
und die Farbigen auf die öffentliche Ruhe im allgemeinen
äußern, iſt es nicht genug, daß man ihre Kopfzahl kennt,
man muß auch ihre Zuſammendrängung an gewiſſen Punkten
und ihre Lebensweiſe als Ackerbauer oder Stadtbewohner in
Betracht ziehen. In der Provinz Venezuela ſind die Sklaven
faſt alle auf einem nicht ſehr ausgedehnten Landſtriche bei-
ſammen, innerhalb der Küſte und einer Linie, die (54 km
von der Küſte) über Panaquire, Yare, Sabana de Ocumare,
Villa de Cura und Nirgua läuft. Auf den Llanos, den weiten
Ebenen von Calabozo, San Carlos, Guanare und Barqui-
ſimeto zählt man nur 4000 bis 5000, die auf den Höfen zer-
ſtreut und mit der Hut des Viehes beſchäftigt ſind. Die Zahl
der Freigelaſſenen iſt ſehr beträchtlich, denn die ſpaniſche Ge-
ſetzgebung und die Sitten leiſten der Freilaſſung Vorſchub.
Der Herr darf dem Sklaven, der ihm dreihundert Piaſter
bietet, die Freiheit nicht verſagen, hätte der Sklave auch wegen
des beſonderen Geſchickes im Handwerk, das er treibt, doppelt
ſo viel gekoſtet. Die Fälle, daß jemand im letzten Willen
mehr oder weniger Sklaven die Freiheit ſchenkt, ſind in der
Provinz Venezuela häufiger als irgendwo. Kurz bevor wir
die fruchtbaren Thäler von Aragua und den See von Va-
lencia beſuchten, hatte eine Dame im großen Dorfe La Victoria
auf dem Totenbette ihren Kindern aufgegeben, ihre Sklaven,
dreißig an der Zahl, freizulaſſen. Mit Vergnügen ſpreche
ich von Handlungen, die den Charakter von Menſchen, die
Bonpland und mir ſo viel Zuneigung und Wohlwollen be-
wieſen, in ſo ſchönem Lichte zeigen.


Nach den Negern iſt es in den Kolonieen von beſonderem
Belang, die Zahl der weißen Kreolen, die ich Hiſpano-Ameri-
kaner 1 nenne, und der in Europa gebürtigen Weißen zu kennen.
[102] Es hält ſchwer, ſich über einen ſo kitzlichen Punkt genaue
Auskunft zu verſchaffen. Wie in der Alten Welt iſt auch in
der Neuen die Zählung dem Volke ein Greuel, weil es meint,
es ſei dabei auf Erhöhung der Abgaben abgeſehen. Anderer-
ſeits lieben die Verwaltungsbeamten, welche das Mutterland
in die Kolonieen ſchickt, ſtatiſtiſche Aufnahmen ſo wenig als
das Volk, und zwar aus Rückſichten einer argwöhniſchen
Staatsklugheit. Dieſe mühſam herzuſtellenden Aufnahmen
ſind ſchwer der Neugier der Koloniſten zu entziehen. Wenn
auch die Miniſter in Madrid richtige Begriffe vom wahren
Beſten des Landes hatten und von Zeit zu Zeit genaue Be-
richte über den zunehmenden Wohlſtand der Kolonieen ver-
langten, die Lokalbehörden haben dieſe guten Abſichten in den
ſeltenſten Fällen unterſtützt. Nur auf den ausdrücklichen
Befehl des ſpaniſchen Hofes wurden den Herausgebern des
„Peruaniſchen Merkurs“ die vortrefflichen volkswirtſchaftlichen
Notizen überlaſſen, die dieſes Blatt mitgeteilt hat. In Mexiko,
nicht in Madrid habe ich den Vizekönig Grafen Revillagigedo
tadeln hören, weil er ganz Neuſpanien kundgethan, daß die
Hauptſtadt eines Landes von faſt ſechs Millionen Einwohnern
im Jahre 1790 nur 2300 Europäer, dagegen über 50000
Hiſpano-Amerikaner zählte. Die Leute, die ſich darüber be-
klagten, betrachteten auch die ſchöne Poſteinrichtung, welche
Briefe von Buenos Ayres bis nach Neukalifornien befördert,
als eine der gefährlichſten Neuerungen des Grafen Florida
Blanca; ſie rieten (glücklicherweiſe ohne Erfolg), dem Handel
mit dem Mutterlande zulieb, die Reben in Neumexiko und
Chile auszureißen. Sonderbare Verblendung, zu meinen,
durch Volkszählungen wecke man in den Koloniſten das Be-
wußtſein ihrer Stärke! Nur in Zeiten des Unfriedens und
des Bürgerzwiſtes kann es ſcheinen, als ob man, indem man
die relative Stärke der Menſchenklaſſen ermittelt, die ein ge-
meinſames Intereſſe haben ſollten, zum voraus die Zahl der
Streiter ſchätzte.


Vergleicht man die ſieben vereinigten Provinzen von
Venezuela mit dem Königreich Mexiko und der Inſel Cuba,
ſo findet man annähernd die Zahl der weißen Kreolen, ſelbſt
die der Europäer. Erſtere, die Hiſpano-Amerikaner, ſind in
1
[103] Mexiko ein Fünfteil, auf Cuba, nach der genauen Zählung
von 1811, ein Dritteil der Geſamtbevölkerung. Bedenkt man,
daß in Mexiko dritthalb Millionen Menſchen von der roten
Raſſe wohnen, zieht man den Zuſtand der Küſten am Stillen
Meere in Betracht, und wie wenige Weiße im Verhältnis zu
den Eingeborenen in den Intendanzen Puebla und Oaxaca
wohnen, ſo läßt ſich nicht zweifeln, daß, wenn nicht in der
Capitania general, ſo doch in der Provinz Venezuela das
Verhältnis ſtärker iſt als 1 zu 5. Die Inſel Cuba, auf der
die Weißen ſogar zahlreicher ſind als in Chile, gibt uns für
die Capitania general von Caracas eine „Grenzzahl“, das
heißt das Maximum an die Hand. Ich glaube, man hat
200000 bis 210000 Hiſpano-Amerikaner auf eine Geſamt-
bevölkerung von 900000 Seelen anzunehmen. Innerhalb der
weißen Raſſe ſcheint die Zahl der Europäer (die Truppen
aus dem Mutterlande nicht gerechnet) nicht über 12000 bis
15000 zu betragen. In Mexiko ſind ihrer gewiß nicht über
60000, und nach mehreren Zuſammenſtellungen finde ich, daß,
ſämtliche ſpaniſche Kolonieen zu 14 bis 15 Millionen Ein-
wohnern angenommen, höchſtens 3 Millionen Kreolen und
200000 Europäer darunter ſind.


Als der junge Tupac-Amaru, der in ſich den rechtmäßigen
Erben des Reiches der Inka erblickte, an der Spitze von
40000 Indianern aus den Gebirgen mehrere Provinzen von
Oberperu eroberte, ruhten die Befürchtungen aller Weißen
auf demſelben Grunde. Die Hiſpano-Amerikaner fühlten ſo
gut wie die in Europa geborenen Spanier, daß der Kampf
ein Raſſenkampf zwiſchen dem roten und weißen Manne, zwi-
ſchen Barbarei und Kultur ſei. Tupac-Amaru, der ſelbſt nicht
ohne Bildung war, ſchmeichelte anfangs den Kreolen und der
europäiſchen Geiſtlichkeit, aber die Ereigniſſe und die Rach-
ſucht ſeines Neffen Andreas Condorcan riſſen ihn fort und
er änderte ſein Verfahren. Aus einem Aufſtande für die Un-
abhängigkeit wurde ein grauſamer Krieg zwiſchen den Raſſen;
die Weißen blieben Sieger, es kam ihnen zum Bewußtſein,
was ihr gemeinſames Intereſſe ſei, und von nun an faßten
ſie das Zahlenverhältnis zwiſchen der weißen und der india-
niſchen Bevölkerung in den verſchiedenen Provinzen ſehr ſcharf
ins Auge. Erſt in unſerer Zeit kam es nun dahin, daß die
Weißen dieſe Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt richteten und ſich
mißtrauiſch nach den Beſtandteilen ihrer eigenen Kaſte um-
ſahen. Jede Unternehmung zur Erringung der Unabhängigkeit
[104] und Freiheit trennt die nationale oder amerikaniſche Partei
und die aus dem Mutterlande Herübergekommenen in zwei
Lager. Als ich nach Caracas kam, waren letztere eben der
Gefahr entgangen, die ſie in dem von Eſpaña angezettelten
Aufſtande für ſich erblickt hatten. Dieſer kecke Anſchlag hatte
deſto ſchlimmere Folgen, da man, ſtatt den Urſachen des
herrſchenden Mißvergnügens auf den Grund zu gehen, die
Sache des Mutterlandes nur durch ſtrenge Maßregeln zu
retten glaubte. Jetzt, bei den Unruhen, die vom Ufer des
Rio de la Plata bis Neumexiko auf einer Strecke von 6300 km
ausgebrochen ſind, ſtehen Menſchen desſelben Stammes einander
gegenüber.


Man ſcheint ſich in Europa zu wundern, wie die Spanier
aus dem Mutterlande, deren, wie wir geſehen, ſo wenige
ſind, jahrhundertelang ſo ſtarken Widerſtand leiſten konnten,
und man vergißt, daß in allen Kolonieen die europäiſche Partei
notwendig durch eine große Menge Einheimiſcher verſtärkt
wird. Familienrückſichten, die Liebe zur ungeſtörten Ruhe,
die Scheu, ſich in ein Unternehmen einzulaſſen, das ſchlimm
ablaufen kann, halten dieſe ab, ſich der Sache der Unab-
hängigkeit anzuſchließen oder für die Einführung einer eigenen,
wenn auch vom Mutterlande abhängigen Repräſentativregierung
aufzutreten. Die einen ſcheuen alle gewaltſamen Mittel und
leben der Hoffnung, durch Reformen werde das Kolonial-
regiment allgemach weniger drückend werden; Revolution iſt
ihnen gleichbedeutend mit dem Verluſt ihrer Sklaven, mit der
Beraubung des Klerus und der Einführung einer religiöſen
Duldſamkeit, wobei, meinen ſie, der herrſchende Kultus ſich
unmöglich in ſeiner Reinheit erhalten könne. Andere gehören
den wenigen Familen an, die in jeder Gemeinde durch ererbten
Wohlſtand oder durch ſehr alten Beſtand in den Kolonieen
eine wahre Munizipalariſtokratie bilden. Sie wollen lieber
gewiſſe Rechte gar nicht bekommen, als ſie mit allen teilen;
ja eine Fremdherrſchaft wäre ihnen lieber als eine Regierung
in den Händen von Amerikanern, die im Range unter ihnen
ſtehen; ſie verabſcheuen jede auf Gleichheit der Rechte ge-
gründete Verfaſſung; vor allem fürchten ſie den Verluſt der
Ordenszeichen und Titel, die ſie ſich mit ſo ſaurer Mühe
erworben, und die, wie wir oben angedeutet, einen Haupt-
beſtandteil ihres häuslichen Glückes ausmachen. Noch andere,
und ihrer ſind ſehr viele, leben auf dem Lande vom Ertrage
ihrer Grundſtücke und genießen der Freiheit, deren ſich ein
[105] dünn bevölkertes Land unter dem Drucke der ſchlechteſten Re-
gierung zu erfreuen hat. Sie ſelbſt machen keine Anſprüche
auf Amt und Würden, und ſo fragen ſie nichts danach, wenn
Leute damit bekleidet werden, die ſie kaum dem Namen nach
kennen und deren Arm nicht zu ihnen reicht. Immerhin wäre
ihnen eine nationale Regierung und volle Handelsfreiheit lieber
als das alte Kolonialweſen, aber dieſe Wünſche ſind gegen-
über der Liebe zur Ruhe und der Gewöhnung an ein träges
Leben keineswegs ſo lebhaft, daß ſie ſich deshalb zu ſchweren,
langwierigen Opfern entſchließen ſollten.


Mit dieſer nach vielfachem Verkehr mit allen Ständen
entworfenen Skizze der verſchiedenen Färbung der politiſchen
Anſichten in den Kolonieen habe ich auch die Urſachen der
langen friedlichen Herrſchaft des Mutterlandes über Amerika
angegeben. Wenn die Ruhe erhalten blieb, ſo war dies die
Folge der Gewohnheit des großen Einfluſſes einer gewiſſen
Zahl mächtiger Familien, vor allem des Gleichgewichtes, das
ſich zwiſchen feindlichen Gewalten herſtellt. Eine auf Ent-
zweiung gegründete Sicherheit muß erſchüttert werden, ſobald
eine bedeutende Menſchenmaſſe ihren Privathaß eine Weile
ruhen läßt und im Gefühl eines gemeinſamen Intereſſes ſich
verbündet, ſobald dieſes Gefühl, einmal erwacht, am Wider-
ſtand erſtarkt und durch fortſchreitende Geiſtesentwickelung und
die Umwandlung der Sitten der Einfluß der Gewohnheit und
der alten Vorſtellungen ſich mindert.


Wir haben oben geſehen, daß die indianiſche Bevölkerung
in den vereinigten Provinzen von Venezuela nicht ſtark und
nicht altciviliſiert iſt; auch ſind alle Städte derſelben von den
ſpaniſchen Eroberern gegründet. Dieſe konnten hier nicht,
wie in Mexiko und Peru, in die Fußſtapfen der alten Kultur
der Eingeborenen treten. An Caracas, Maracaybo, Cumana
und Coro iſt nichts indianiſch als die Namen. Von den
Hauptſtädten des tropiſchen Amerika, 1 die im Gebirge liegen
und eines ſehr gemäßigten Klimas genießen, iſt Caracas die
am tiefſten gelegene. Da die Hauptmaſſe der Bevölkerung
von Venezuela den Küſten nahe gerückt iſt und der kultivier-
teſte Landſtrich von Oſt nach Weſt denſelben parallel läuft,
ſo iſt Caracas kein Mittelpunkt des Handels, wie Mexiko,
Santa Fé de Bogata und Quito. Jede der ſieben in eine
[106]Capitania general vereinigten Provinzen hat ihren eigenen
Hafen, durch den ihre Produkte abfließen. Man darf nur
die Lage der Provinzen, ihren mehr oder minder ſtarken Ver-
kehr mit den Inſeln unter dem Winde oder den Großen An-
tillen, die Richtung der Gebirge und den Lauf der großen
Flüſſe betrachten, um einzuſehen, daß Caracas auf die Länder,
deren Hauptſtadt es iſt, niemals einen bedeutenden politiſchen
Einfluß haben kann. Der Apure, der Meta, der Orinoko,
die von Weſt nach Oſt laufen, nehmen alle Gewäſſer aus den
Llanos oder der Region des Weidelandes auf. San Tomas
in Guyana muß notwendig einmal ein wichtiger Handelsplatz
werden, namentlich wenn einmal das Mehl aus Neugranada
oberhalb der Vereinigung des Rio Negro und des Umadea
eingeſchifft wird und auf dem Meta und dem Orinoko hinunter-
kommt und man dasſelbe in Cumana und Caracas dem Mehle
aus den Vereinigten Staaten vorzieht. Es iſt ein großer
Vorzug der Provinzen von Venezuela, daß nicht ihr ganzer
Bodenreichtum in einem Punkte zuſammenfließt, wie der
von Mexiko und Neugranada nach Veracruz und Cartagena,
ſondern daß ſie eine Menge ziemlich gleich bevölkerter Städte
haben, die eben ſo viele Mittelpunkte des Handels und der
Kultur bilden.


Caracas iſt der Sitz einer Audiencia (hoher Ge-
richtshof) und eines der acht Erzbistümer, in welche das ganze
ſpaniſche Amerika geteilt iſt. Die Bevölkerung war, nach
meinen Erkundigungen über die Zahl der Geburten, im
Jahre 1800 etwa 40000; die unterrichtetſten Einwohner
gaben ſie ſogar zu 45000 an, worunter 12000 Weiße und
27000 freie Farbige. Im Jahre 1778 hatte man bereits
30000 bis 32000 geſchätzt. Alle unmittelbaren Aufnahmen
blieben ein Vierteil und mehr unter der wirklichen Zahl. Im
Jahre 1766 hatte die Bevölkerung von Caracas und des
ſchönen Thales, in dem es liegt, durch eine bösartige Pocken-
epidemie ſehr ſtark gelitten. In der Stadt ſtarben 6000 bis
8000 Menſchen; ſeit dieſem denkwürdigen Zeitpunkte iſt die
Kuhpockenimpfung allgemein geworden, und ich habe ſie ohne
Arzt vornehmen ſehen. In der Provinz Cumana, die weniger
Verkehr mit Europa hat, war zu meiner Zeit ſeit fünfzehn
Jahren kein Pockenfall vorgekommen, während man in Caracas
vor dieſer ſchrecklichen Krankheit beſtändig bange hatte, weil
ſie immer an mehreren Punkten zugleich ſporadiſch auftrat;
ich ſage ſporadiſch, denn im tropiſchen Amerika, wo der Wechſel
[107] der atmoſphäriſchen Zuſtände und die Erſcheinungen des orga-
niſchen Lebens an eine auffallende Periodizität gebunden
ſcheinen, traten die Pocken (wenn man ſich auf einen weit-
verbreiteten Glauben verlaſſen kann) vor der Einführung der
ſegensreichen Kuhpockenimpfung nur alle 15 bis 18 Jahre ver-
heerend auf. Seit meiner Rückkehr nach Europa hat die Be-
völkerung von Caracas beſtändig zugenommen; ſie betrug
50000 Seelen, als das große Erdbeben am 26. März 1812
gegen 12000 Menſchen unter den Trümmern ihrer Häuſer
begrub. Durch die politiſchen Ereigniſſe, die dieſer Kataſtrophe
folgten, kam die Einwohnerzahl auf weniger als 20000 her-
unter; aber dieſe Verluſte werden bald wieder eingebracht ſein,
wenn das äußerſt fruchtbare und handelsthätige Land, deſſen
Mittelpunkt Caracas iſt, nur einiger Jahre Ruhe genießt und
verſtändig regiert wird.


Die Stadt liegt am Eingang der Ebene von Chacao, die
ſich 13 km nach Oſt gegen Caurimare und Cueſta d’Auyamas
ausdehnt und 11,25 km breit wird und durch die der Rio
Guayre fließt. Sie liegt 807 m über dem Meere. Der Boden,
auf dem Caracas liegt, iſt uneben und fällt ſtark von Nord-
Nord-Weſt nach Süd-Süd-Oſt ab. Um eine richtige Vor-
ſtellung von der Lage der Stadt zu bekommen, muß man
die Richtung der Küſtengebirge und der großen Längenthäler
zwiſchen denſelben ins Auge faſſen. Der Guayrefluß ent-
ſpringt im Urgebirge des Higuerote, das zwiſchen dem Thale
von Caracas und dem von Aragua liegt. Er erhält bei Las
Ayuntas nach der Vereinigung der Flüßchen San Pedro und
Macarao ſeinen Namen und läuft zuerſt nach Oſt bis zur
Cueſta d’Auyamas und dann nach Süd, um ſich oberhalb
Yare mit dem Rio Tuy zu vereinigen. Letzterer iſt der einzige
Fluß von Bedeutung im nördlichen, gebirgigen Teile der Pro-
vinz. Er läuft 135 km lang, von denen über drei Vierteile
ſchiffbar ſind, geradeaus von Weſt nach Oſt. Auf dieſem
Stromſtücke beträgt nach meinen barometriſchen Meſſungen der
Fall des Tuy von der Pflanzung Manterola bis zur Mün-
dung 575 m. Dieſer Fluß bildet in der Küſtenkette eine Art
Längenthal, während die Gewäſſer der Llanos, das heißt
von fünf Sechsteilen der Provinz Caracas, dem Abhang des
Bodens gegen Süden nach, ſich in den [Orinoko] ergießen. Nach
dieſer hydrographiſchen Skizze erklärt ſich die natürliche Nei-
gung der Bewohner derſelben Provinz, ihre Produkte auf
verſchiedenen Wegen auszuführen.


[108]

Das Thal von Caracas iſt zwar nur ein Seitenzweig
des Tuythals, dennoch laufen beide eine Strecke weit einander
parallel. Sie ſind durch einen Bergzug getrennt, über den
man auf dem Wege von Caracas nach den hohen Savannen
von Ocumare über Le Valle und Salamanca kommt. Dieſe
Savannen liegen ſchon jenſeits des Tuy, und da das Thal
dieſes Fluſſes weit tiefer liegt als das von Caracas, ſo geht
es von Nord nach Süd faſt beſtändig bergab. Wie das
Vorgebirge Codera, die Silla, der Cerro de Avila zwiſchen
Caracas und Guayra und die Berge von Mariara den nörd-
lichſten und höchſten Zug der Küſtenkette, ſo bilden die Berge
von Panaquire, Ocumare, Guiripa und Villa de Cura den
ſüdlichſten Zug. Wir haben ſchon öfter bemerkt, daß die
Schichten dieſes gewaltigen Küſtengebirges faſt durchgängig
von Südoſt nach Südweſt ſtreichen und gewöhnlich nach Nord-
weſt fallen. Es ergibt ſich daraus, daß die Richtung der
Schichten des Urgebirges von der Richtung der ganzen Kette
unabhängig iſt, und, was ſehr bemerkenswert iſt, verfolgt
man die Kette von Porto Cabello bis Maniquare und zum
Macanao auf der Inſel Margarita, ſo findet man von Weſt
nach Oſt zuerſt Granit, dann Gneis, Glimmerſchiefer und
Urſchiefer, endlich dichten Kalkſtein, Gips und Konglomerate
mit Seemuſcheln.


Es iſt zu bedauern, daß Caracas nicht weiter oſtwärts
liegt, unterhalb der Einmündung des Anauco in den Guayre,
da wo, Chacao zu, ſich das Thal breit, und wie durch ſtehendes
Gewäſſer geebnet, ausdehnt. Als Diego de Loſada die Stadt
gründete, 1 hielt er ſich ohne Zweifel an die Spuren der
erſten Niederlaſſung unter Faxardo. Der Ruf der Goldminen
von Los Teques und Baruta hatte damals die Spanier her-
gelockt, aber ſie waren noch nicht Herren des ganzen Thales
und blieben lieber nahe am Wege zur Küſte. Die Stadt
Quito liegt gleichfalls im engſten, unebenſten Teile eines
Thales zwiſchen zwei ſchönen Ebenen (Turupamba und Rumi-
pamba), wo man ſich hätte anbauen können, wenn man die
alten indianiſchen Bauten hätte wollen liegen laſſen.


Vom Zollhauſe La Paſtora über den Platz Trinidad und
die Plaza major nach Santa Roſalia und an den Rio Guayre
geht es immer abwärts. Nach meinen barometriſchen Meſſungen
[109] liegt das Zollhaus 76 m über dem Platze Trinidad, wo ich
meine aſtronomiſchen Beobachtungen gemacht habe, letzterer
15,6 m über dem Pflaſter vor der Hauptkirche auf dem großen
Platze, und dieſer 62 m über dem Guayrefluſſe bei La Noria.
Trotz des abſchüſſigen Bodens fahren Wagen in der Stadt,
man bedient ſich ihrer aber ſelten. Drei Bäche, die vom
Gebirge herabkommen, der Anauco, Catuche und Caraguata,
laufen von Nord nach Süd durch die Stadt; ſie haben ſehr
hohe Ufer, und mit den ausgetrockneten Betten von Gebirgs-
waſſern, welche darin auslaufen und das Terrain durchſchnei-
den, erinnern ſie im kleinen an die berühmten Guaicos in
Quito. Man trinkt in Caracas das Waſſer des Rio Catuche,
aber die Wohlhabenden laſſen das Waſſer aus Valle, einem
4,5 km weit ſüdwärts gelegenen Dorfe, kommen. Dieſes
Waſſer, ſowie das aus dem Gamboa gelten für ſehr geſund,
weil ſie über Saſſaparillwurzeln 1 laufen. Ich habe keine
Spur von Arom oder Extraktivſtoff darin finden können; das
Waſſer von Valle enthält keinen Kalk, aber etwas mehr
Kohlenſäure als das Waſſer aus dem Anauco. Die neue
Brücke über den letzteren Fluß iſt ſchön gebaut und belebt
von den Spaziergängern, welche gegen Candelaria zu die
Straße von Chacao und Petara aufſuchen. Man zählt in
Caracas acht Kirchen, fünf Klöſter und ein Theater, das 1500
bis 1800 Zuſchauer faßt. Zu meiner Zeit war das Parterre,
in dem Männer und Frauen geſonderte Sitze haben, nicht
bedeckt. Man ſah zugleich die Schauſpieler und die Sterne.
Da das neblige Wetter mich um viele Trabantenbeobach-
tungen brachte, konnte ich von einer Loge im Theater aus
bemerken, ob Jupiter in der Nacht ſichtbar ſein werde. Die
Straßen von Caracas ſind breit, gerade gezogen und ſchneiden
ſich unter rechten Winkeln, wie in allen Städten, welche die
Spanier in Amerika gegründet. Die Häuſer ſind geräumig
und höher, als ſie in einem Lande, das Erdbeben ausgeſetzt
iſt, ſein ſollten. Im Jahre 1800 waren die zwei Plätze
Alta Gracia und San Francisco ſehr hübſch: ich ſage im
Jahre 1800, denn die furchtbaren Erderſchütterungen am
26. März 1812 haben faſt die ganze Stadt zerſtört. Sie
[110] erſteht langſam aus ihren Trümmern; der Stadtteil La Trinidad,
in dem ich wohnte, ward über den Haufen geworfen, als ob
eine Mine darunter geſprungen wäre.


Durch das enge Thal und die Nähe der hohen Berge
Avila und Silla erhält die Gegend von Caracas einen ernſten,
düſteren Anſtrich, beſonders in der kühlſten Jahreszeit, in
den Monaten November und Dezember. Die Morgen ſind
dann ausnehmend ſchön; bei reinem klarem Himmel hat man
die beiden Dome oder abgerundeten Pyramiden der Silla
und den gezackten Kamm des Cerro de Avila vor ſich. Aber
gegen Abend trübt ſich die Luft; die Berge umziehen ſich,
Wolkenſtreifen hängen an ihren immergrünen Seiten und
teilen ſie gleichſam in übereinander liegende Zonen. Allmäh-
lich verſchmelzen dieſe Zonen, die kalte Luft, die von der
Silla herabkommt, ſtaut ſich im engen Thale und verdichtet
die leichten Dünſte zu großen flockigen Wolken. Dieſe Wolken
ſenken ſich oft bis über das Kreuz von Guayra herab und
man ſieht ſie dicht am Boden gegen La Paſtora und das
benachbarte Quartier Trinidad fortziehen. Beim Anblick dieſes
Wolkenhimmels meinte ich nicht in einem gemäßigten Thale
der heißen Zone, ſondern mitten in Deutſchland, auf den
mit Fichten und Lärchen bewachſenen Bergen des Harzes
zu ſein.


Aber dieſer düſtere, ſchwermütige Charakter der Land-
ſchaft, dieſer Kontraſt zwiſchen dem heiteren Morgen und dem
bedeckten Himmel am Abend iſt mitten im Sommer ver-
ſchwunden. Im Juni und Juli ſind die Nächte hell und
ausnehmend ſchön; die Luft behält faſt beſtändig die den
Hochebenen und hochgelegenen Thälern eigentümliche Reinheit
und Durchſichtigkeit, ſolange ſie ruhig bleibt und der Wind
nicht Schichten von verſchiedener Temperatur durcheinander-
wirft. In dieſer Sommerzeit prangt die Landſchaft, die ich
nur wenige Tage zu Ende Januars in ſchöner Beleuchtung
geſehen, in ihrer vollen Pracht. Die beiden runden Gipfel
der Silla erſcheinen in Caracas faſt unter demſelben Höhen-
winkel 1 wie der Pik von Tenerifa im Hafen von Orotava.
Die untere Hälfte des Berges iſt mit kurzem Raſen bedeckt;
dann kommt die Zone der immergrünen Sträucher, die zur
[111] Blütezeit der Befaria, der Alpenroſe des tropiſchen Amerikas,
purpurrot ſchimmert. Ueber dieſer Waldregion ſteigen zwei
Felsmaſſen in Kuppelform empor. Sie ſind völlig kahl und
dadurch erſcheint der Berg, der im gemäßigten Europa kaum
die Schneegrenze erreichte, höher, als er wirklich iſt. Mit
dieſem großartigen Proſpekt der Silla und der Bergſzenerie
im Norden der Stadt ſteht der angebaute Strich des Thales,
die lachende Ebene von Chacao, Petare und La Vega im
angenehmſten Kontraſt.


Man hört das Klima von Caracas oft einen ewigen
Frühling nennen, und dasſelbe findet ſich überall im tropiſchen
Amerika auf der halben Höhe der Kordilleren, zwiſchen 780
und 1750 m über dem Meere, wenn nicht ſehr breite Thäler
und Hochebenen und dürrer Boden die Intenſität der ſtrah-
lenden Wärme übermäßig ſteigern. Was läßt ſich auch Köſt-
licheres denken als eine Temperatur, die ſich bei Tage zwiſchen
20 und 26°, bei Nacht zwiſchen 16 und 18° hält, und in
der der Bananenbaum, der Orangenbaum, der Kaffeebaum,
der Apfelbaum, der Aprikoſenbaum und der Weizen neben-
einander gedeihen! Ein einheimiſcher Schriftſteller vergleicht
auch Caracas mit dem Paradieſe und findet im Anauco und
den benachbarten Bächen die vier Flüſſe desſelben.


Leider iſt in dieſem ſo gemäßigten Klima die Witterung
ſehr unbeſtändig. Die Einwohner von Caracas klagen dar-
über, daß ſie an einem Tage verſchiedene Jahreszeiten haben
und die Uebergänge von einer Jahreszeit zur anderen ſehr
ſchroff ſind. Häufig folgt z. B. im Januar auf eine Nacht
mit einer mittleren Temperatur von 16° ein Tag, an dem
der Thermometer im Schatten acht Stunden lang über 22°
ſteht. Am ſelben Tage kommen aber Wärmegrade von 24
und von 18° vor. Dergleichen Schwankungen ſind in den
gemäßigten Landſtrichen Europas ganz gewöhnlich, in der
heißen Zone aber ſind ſelbſt die Europäer ſo ſehr an die
Gleichförmigkeit der äußeren Reize gewöhnt, daß ein Tem-
peraturwechſel von 6° ihnen beſchwerlich wird. In Cumana
und überall in der Niederung ändert ſich die Temperatur
von 11 Uhr morgens bis 11 Uhr abends gewöhnlich nur
um 2 bis 3°. Zudem äußern dieſe atmoſphäriſchen Schwan-
kungen in Caracas auf den menſchlichen Organismus ſtärkeren
Einfluß, als man nach dem bloßen Thermometerſtande glauben
ſollte. Im engen Thale wird die Luft ſozuſagen im Gleich-
gewicht gehalten von zwei Winden, deren einer von Weſt,
[112] von der Seeſeite weht, während der andere von Oſt, aus
dem Binnenlande kommt. Erſterer heißt der „Wind von
Catia“, weil er von Catia, weſtwärts von Cabo Blanco,
durch die Schlucht Tipe heraufkommt, deren wir oben bei
Gelegenheit des Projektes einer neuen Straße und eines neuen
Hafens, ſtatt der Straße und des Hafens von Guayra, er-
wähnt haben. Der Wind von Catia iſt aber nur ſcheinbar
ein Weſtwind, meiſt iſt es der Seewind aus Oſt und Nordoſt,
der, wenn er ſtark bläſt, ſich in der Quebrada de Tipe fängt.
Von den hohen Bergen Aguas Negras zurückgeworfen, kommt
der Wind nach Caracas herauf auf der Seite des Kapuziner-
kloſters und des Rio Caraguata. Er iſt ſehr feucht und das
Waſſer ſchlägt ſich aus ihm nieder, im Maße als er ſich
abkühlt; der Gipfel der Silla umzieht ſich daher auch mit
Wolken, ſobald der Catia ins Thal dringt. Die Einwohner
von Caracas fürchten ſich ſehr vor ihm; Perſonen mit reiz-
barem Nervenſyſtem verurſacht er Kopfſchmerzen. Ich habe
welche gekannt, die, um ſich dem Winde nicht auszuſetzen,
nicht aus dem Hauſe gehen, wie man in Italien thut, wenn
der Sirokko weht. Ich glaubte während meines Aufenthaltes
in Caracas gefunden zu haben, daß der Wind von Catia
reiner (etwas reicher an Sauerſtoff) ſei als der Wind von
Petare; ich meinte auch, ſeine reizende Wirkung möchte eben
von dieſer Reinheit herrühren. Aber die Mittel, die ich an-
gewendet, ſind ſehr unzuverläſſig. Der Wind von Petare
kommt von Oſt und Südoſt, vom öſtlichen Ende des Guayre-
thales herein und führt die trockenere Luft des Gebirges und
des Binnenlandes herbei; er zerſtreut die Wolken und läßt
den Gipfel der Silla in ſeiner ganzen Pracht hervortreten.


Bekanntlich ſind die Veränderungen, welche die Miſchung
der Luft an einem gegebenen Orte durch die Winde erleidet,
auf eudiometriſchem Wege nicht zu ermitteln, da die genaueſten
Methoden nur 0,003 Sauerſtoff angeben. Die Chemie kennt
noch kein Mittel, um den Inhalt zweier Flaſchen zu unter-
ſcheiden, von denen die eine während des Sirokko oder des
Catia mit Luft gefüllt worden iſt, und die andere, bevor dieſe
Winde wehten. Es iſt mir jetzt wahrſcheinlich, daß der auf-
fallende Effekt des Catia und aller Luftſtrömungen, die im
gemeinen Glauben verrufen ſind, vielmehr dem Wechſel in
Feuchtigkeit und Temperatur als chemiſchen Miſchungsverän-
derungen zuzuſchreiben ſind. Man braucht keine Miasmen
von der ungeſunden Seeküſte nach Caracas heraufkommen zu
[113] laſſen; es iſt ſehr begreiflich, daß Menſchen, die an die trockenere
Gebirgsluft gewöhnt ſind, es ſehr unangenehm empfinden,
wenn die ſehr feuchte Seeluft durch die Tipeſchlucht wie ein
aufſteigender Strom in das hohe Thal von Caracas herauf-
kommt, hier durch die Ausdehnung, die ſie erleidet, und durch
die Berührung mit kälteren Schichten ſich abkühlt und einen
bedeutenden Teil ihres Waſſers niederſchlägt. Dieſe Unbe-
ſtändigkeit der Witterung, dieſe etwas ſchroffen Uebergänge
von trockener, heller zu feuchter, nebliger Luft ſind Uebel-
ſtände, die Caracas mit der ganzen gemäßigten Region unter
den Tropen, mit allen Orten gemein hat, die in einer Meeres-
höhe von 780 bis 1560 m entweder auf kleinen Hochebenen
oder am Abhange der Kordilleren liegen, wie Xalapa in Mexiko
und Guaduas in Neugranada. Beſtändig heiterer Himmel
einen großen Teil des Jahres hindurch kommt nur in den
Niederungen an der See vor, und wiederum in ſehr bedeu-
tenden Höhen, auf den weiten Hochebenen, wo die gleich-
förmige Strahlung des Bodens die Auflöſung der Dunſt-
bläschen zu befördern ſcheint. Die dazwiſchen liegende Zone
beginnt mit den erſten Wolkenſchichten, die ſich über der Erd-
oberfläche lagern. Unbeſtändigkeit und viele Nebel bei ſehr
milder Temperatur ſind der Witterungscharakter dieſer Region.


Trotz der hohen Lage iſt der Himmel in Caracas ge-
wöhnlich weniger blau als in Cumana. Der Waſſerdunſt iſt
dort nicht ſo vollkommen aufgelöſt, und wie in unſerem Klima
wird durch die ſtärkere Zerſtreuung des Lichtes die Farbe der
Luft geſchwächt, indem ſich Weiß dem Blau beimiſcht. Die
Intenſität des Himmelblau war auf dem Sauſſureſchen Kyano-
meter vom November bis Januar im Durchſchnitt 18, nie
über 20°, an den Küſten dagegen 22 bis 25°. Ich habe
im Thale von Caracas die Bemerkung gemacht, daß der Wind
von Petare das Himmelsgewölbe zuweilen auffallend blaß
färbt. Am 23. Januar war das Blau des Himmels um
Mittag im Zenith heller, als ich es je in der heißen Zone
geſehen. Es war gleich 12° des Kyanometers; die Luft war
dabei vollkommen durchſichtig, wolkenlos und auffallend trocken.
Sobald der ſtarke Wind von Petare nachließ, ſtieg das Blau
im Zenith auf 16°. Zur See habe ich häufig, wenn auch in
geringerem Grade, einen ähnlichen Einfluß des Windes auf
die Farbe der Luft beim heiterſten Himmel beobachtet.


Welches iſt die mittlere Temperatur von Caracas? Wir
kennen ſie nicht ſo genau wie die von Santa Fé de Bogota
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 8
[114] und Mexiko. Ich glaube indeſſen darthun zu können, daß
ſie nicht viel über oder unter 21 bis 22° beträgt. Nach eigenen
Beobachtungen fand ich für die drei ſehr kühlen Monate No-
vember, Dezember und Januar als Durchſchnitt des täglichen
Maximums und Minimums der Temperatur 20,2°, 20,1°, 20,2°.
Nach dem aber, was wir jetzt über die Verteilung der Wärme
in den verſchiedenen Jahreszeiten und in verſchiedenen Meeres-
höhen wiſſen, läßt ſich annähernd aus der mittleren Tempe-
ratur einiger Monate die mittlere Temperatur des ganzen
Jahres berechnen, ungefähr wie man auf die Höhe des Ge-
ſtirnes im Meridian aus Höhen, die außerhalb des Meridians
gemeſſen werden, einen Schluß zieht. Das Ergebnis, das ich
für richtig halte, iſt nun aber auf folgendem Wege gewonnen
worden. In Santa Fé de Bogota weicht nach Caldas der
Januar von der mittleren Jahrestemperatur nur um 0,2° ab;
in Mexiko, alſo der gemäßigten Zone ſchon ſehr nahe, beträgt
der Unterſchied im Maximum 3°. In Guayra bei Caracas
weicht der kälteſte Monat vom jährlichen Mittel um 4,9° ab;
aber wenn auch im Winter zuweilen die Luft von Guayra
(oder von Catia) durch die Quebrada de Tipe ins hohe Thal
von Caracas heraufkommt, ſo erhält dasſelbe dagegen einen
größeren Teil des Jahres hindurch die Oſt- und Südoſtwinde
von Caurimare her und aus dem Binnenlande. Wir wiſſen
nach unmittelbaren Beobachtungen, daß in Guayra und Ca-
racas die Temperatur der kälteſten Monate 23,2 und 20,1°
beträgt. Dieſe Unterſchiede ſind der Ausdruck einer Tempe-
raturabnahme, die im Thale von Caracas zugleich von der
hohen Lage (oder von der Ausdehnung der Luft im aufſtei-
genden Strome) und vom Konflikt der Winde von Catia und
von Petare herbeigeführt wird.


Nach einer kleinen Reihe von Beobachtungen, die ich in
drei Jahren teils in Caracas ſelbſt, teils in Chacao, ganz in
der Nähe der Hauptſtadt, angeſtellt, hielt ſich der hundert-
teilige Thermometer in der kalten Jahreszeit bei Tage meiſtens
zwiſchen 21 und 22°, bei Nacht zwiſchen 16 und 17°. 1 In
der heißen Jahreszeit, im Juli und Auguſt, ſteigt er bei Tage
auf 25 bis 26°, bei Nacht auf 22 bis 23°. Dies iſt der
gewöhnliche Zuſtand der Atmoſphäre, und dieſelben Beob-
achtungen, mit einem von mir berichtigten Inſtrument an-
[115] geſtellt, ergeben als mittlere Jahrestemperatur von
Caracas etwas mehr als 21,5°. Eine ſolche kommt aber im
Syſtem der cisatlantiſchen Klimate auf Ebenen unter dem
36. bis 37. Breitengrade vor. Es iſt wohl überflüſſig zu
bemerken, daß dieſer Vergleich ſich nur auf die Summe von
Wärme bezieht, die ſich an jedem Punkte im Laufe des ganzen
Jahres entwickelt, keineswegs aufs Klima, das heißt auf
die Verteilung der Wärme unter die verſchiedenen Jahres-
zeiten.


Sehr ſelten ſieht man in Caracas im Sommer die Tem-
peratur ein paar Stunden lang auf 29,2° ſteigen; ſie ſoll
im Winter unmittelbar nach Sonnenaufgang ſchon auf 11,3°
geſunken ſein. Solange ich mich in Caracas aufhielt, waren
das Maximum und das Minimum nur 25 und 12,5°. Die
Kälte bei Nacht iſt um ſo empfindlicher, da dabei meiſt neb-
lichtes Wetter iſt. Wochenlang konnte ich weder Sonnen-
noch Sternhöhen meſſen. Der Uebergang von herrlich durch-
ſichtiger Luft zur völligen Dunkelheit erfolgt ſo raſch, daß
nicht ſelten, wenn ich ſchon, eine Minute vor dem Eintritt
eines Trabanten, das Auge am Fernrohr hatte, mir der Planet
und meine nächſte Umgebung miteinander im Nebel ver-
ſchwanden. In Europa iſt in der gemäßigten Zone die Tem-
peratur auf den Gebirgen etwas gleichförmiger als in den
Niederungen. Beim Gotthardshoſpiz z. B. iſt der Unterſchied
zwiſchen den mittleren Temperaturen der wärmſten und der
kälteſten Monate 17,3°, während derſelbe unter der nämlichen
Breite beinahe am Meeresſpiegel 20 bis 21° beträgt. Die
Kälte nimmt auf unſeren Berge nicht ſo raſch zu, wie die
Wärme abnimmt. Wenn wir den Kordilleren näher kommen,
werden wir ſehen, daß in der heißen Zone das Klima in
den Niederungen gleichförmiger iſt als auf den Hochebenen.
In Cumana und Guayra (denn man darf keine Orte an-
führen, wo die Nordwinde einige Monate lang das Gleich-
gewicht der Atmoſphäre ſtören) ſteht der Thermometer das
ganze Jahr zwiſchen 21 und 35°; in Santa Fé und Quito
kommen Schwankungen zwiſchen 3 und 22° vor, wenn man
nicht die kälteſten und heißeſten Tage, ſondern Stunden des
Jahres vergleicht. In den Niederungen, wie in Cumana,
iſt der Unterſchied zwiſchen Tag und Nacht meiſt nur 3 bis 4°;
in Quito fand ich dieſen Unterſchied (ich zog dabei jeden Tag
und jede Nacht das Mittel aus 4 bis 5 Beobachtungen) gleich 7°.
In Caracas, das faſt dreimal weniger hoch und auf einer
[116] unbedeutenden Hochebene liegt, ſind die Tage im November
und Dezember noch um 5 bis 5,5° wärmer als die Nächte.
Dieſe Erſcheinungen von nächtlicher Abkühlung mögen auf
den erſten Anblick überraſchen; ſie modifizieren ſich durch die
Erwärmung der Hochebenen und Gebirge den Tag über, durch
das Spiel der niedergehenden Luftſtröme, beſonders aber durch
die nächtliche Wärmeſtrahlung in der reinen, trockenen Luft
der Kordilleren.


In den drei Monaten April, Mai und Juni regnet es
in Caracas ſehr viel. Die Gewitter kommen immer aus Oſt
und Südoſt, von Petare und Valle her. In den tief ge-
legenen Landſtrichen hagelt es nicht unter den Tropen; in
Caracas aber kommt es ſo ziemlich alle 4 bis 5 Jahre einmal
vor. Man hat ſogar in noch tieferen Thälern hageln ſehen,
und dieſe Erſcheinung macht dann einen ungemeinen Eindruck
auf das Volk. Ein Meteorſteinfall iſt bei uns nicht ſo ſelten
als im heißen Erdſtrich, trotz der häufigen Gewitter, Hagel
unter 600 m Meereshöhe.


Im kühlen, köſtlichen Klima, das wir eben geſchildert,
gedeihen noch die tropiſchen Gewächſe. Das Zuckerrohr wird
ſogar in noch höheren Landſtrichen als Caracas gebaut; man
pflanzt aber im Thale wegen der trockenen Lage und des
ſteinigen Bodens lieber den Kaffeebaum, der nicht viele, aber
ausgezeichnet gute Früchte gibt. In der Blütezeit des Strauches
gewährt die Ebene nach Chacao hin den lachendſten Anblick.
Der Bananenbaum in den Pflanzungen um die Stadt iſt
nicht der große Platano harton, ſondern die Varietäten
Camburi und Dominico, die weniger Wärme nötig haben.
Die großen Bananen auf dem Markte von Caracas kommen
aus den Hacienden von Turiamo an der Küſte zwiſchen Bur-
burata und Porto Cabello. Die ſchmackhafteſten Ananas ſind
die von Baruta, Empedrado und von den Höhen von Buena-
viſta auf dem Wege nach Victoria. Kommt ein Reiſender
zum erſtenmal in das Thal von Caracas herauf, ſo iſt er
angenehm überraſcht, neben dem Kaffeebaum und Bananen-
baum unſere Küchenkräuter, Erdbeeren, Weinreben und faſt
alle Obſtbäume der gemäßigten Zone zu finden. Die ge-
ſuchteſten Pfirſiche und Aepfel kommen von Macarao, am
weſtlichen Ausgange des Thales. Der Quittenbaum, deſſen
Stamm nur 1,3 bis 1,7 m hoch wird, iſt dort ſo gemein, daß
er faſt verwildert iſt. Eingemachtes von Aepfeln und be-
ſonders von Quitten iſt ſehr beliebt, da man hierzulande
[117] meint, ehe man Waſſer trinkt, müſſe man durch Süßigkeiten
den Durſt reizen. Je ſtärker man in der Umgebung der
Stadt Kaffee baute und je mehr mit den Pflanzungen, die
nicht älter ſind als 1793, die Zahl der Arbeitsneger ſtieg,
deſto mehr hat der Mais- und Gemüſebau die zerſtreuten
Apfel- und Quittenbäume auf den Savannen verdrängt. Der
Reisfelder, die man bewäſſert, waren früher in der Ebene
von Chacao mehr als jetzt. Ich habe in dieſer Provinz, wie
in Mexiko und in allen hochgelegenen Ländern der heißen
Zone, die Bemerkung gemacht, daß da, wo der Apfelbaum
vortrefflich gedeiht, der Birnbaum nur ſchwer fortzubringen
iſt. Man hat mich verſichert, die ausgezeichnet guten Aepfel,
die man auf dem Markte kauft, wachſen bei Caracas auf un-
geimpften Stämmen. Kirſchbäume gibt es nicht; die Oliven-
bäume, die ich im Hof des Kloſters San Felipe de Neri ge-
ſehen, ſind groß und ſchön; aber eben wegen des üppigen
Wachstums tragen ſie keine Früchte.


Wenn die Luftbeſchaffenheit des Thals allen landwirt-
ſchaftlichen Produkten, die in den Kolonieen gebaut werden,
ungemein günſtig iſt, ſo läßt ſich von der Geſundheit der
Einwohner und der in der Hauptſtadt von Venezuela lebenden
Fremden nicht dasſelbe ſagen. Das äußerſt unbeſtändige
Wetter und die häufige Unterdrückung der Hautausdünſtung
erzeugen katarrhaliſche Beſchwerden, die in den mannigfachſten
Formen auftreten. Hat ſich der Europäer einmal an die
ſtarke Hitze gewöhnt, ſo bleibt er in Cumana, in den Thälern
von Aragua, überall, wo die Niederung unter den Tropen
nicht zugleich ſehr feucht iſt, geſünder als in Caracas und
all den Gebirgsländern, wo der geprieſene beſtändige Frühling
herrſchen ſoll.


Als ich vom gelben Fieber in Guayra ſprach, gedachte
ich der allgemein verbreiteten Meinung, daß dieſe ſchreckliche
Krankheit faſt ebenſowenig von der Küſte von Venezuela
nach der Hauptſtadt wandere, als von der Küſte von Mexiko
nach Xalapa. Dieſe Meinung ſtützt ſich auf die Erfahrung
der letzten zwanzig Jahre. Von den Epidemieen, die im Hafen
von Guayra herrſchten, wurde in Caracas faſt nichts be-
merkt. Es ſollte mir leid tyun, wenn ich durch eingebildete
Beſorgniſſe die Bewohner der Hauptſtadt aus ihrer Sicher-
heit aufſchreckte; ich bin aber durchaus nicht überzeugt, daß
der amerikaniſche Typhus, wenn er durch den ſtarken Verkehr
im Hafen auf der Küſte einheimiſcher wird, nicht eines Tages,
[118] wenn beſondere klimatiſche Verhältniſſe ihm Vorſchub leiſten,
im Thale ſehr oft auftreten könnte. Denn die mittlere Tem-
peratur desſelben iſt immer noch ſo hoch, daß der Thermo-
meter ſich in den heißeſten Monaten zwiſchen 22 und 26° 1
hält. Wenn ſich nicht wohl bezweifeln läßt, daß dieſer Typhus
in der gemäßigten Zone durch Berührung anſteckend iſt, wie
ſollte man da ſicher ſein, daß er bei großer Bösartigkeit nicht
auch in der heißen Zone in einer Gegend anſteckend wird,
wo 18 km von der Küſte die Sommertemperatur die Dispo-
ſition des Körpers noch ſteigert? Die Lage von Xalapa am
Abhange der mexikaniſchen Gebirge bietet ungleich mehr Sicher-
heit, da die Stadt weniger volkreich und fünfmal weiter von
der See entfernt iſt als Caracas, da ſie um 450 m höher
liegt und ihre mittlere Temperatur 3° weniger beträgt. Im
Jahre 1696 weihte ein Biſchof von Venezuela, Diego de
Baños, eine Kirche (ermita) der heiligen Roſalia von Pa-
lermo, weil ſie die Hauptſtadt vom ſchwarzen Erbrechen,
Vomito negro, erlöſt, nachdem es ſechzehn Monate gewütet.
Ein Hochamt, das alle Jahre zu Anfang September in der
Hauptkirche begangen wird, iſt zum Andenken an dieſe Seuche
geſtiftet, wie denn in den ſpaniſchen Kolonieen auch die Tage,
an denen große Erdbeben ſtattgefunden, durch Prozeſſionen
im Gedächtnis erhalten werden. Das Jahr 1696 war wirk-
lich durch eine Gelbefieberepidemie ausgezeichnet, die auf allen
Antillen herrſchte, wo die Krankheit ſich erſt ſeit dem Jahre 1688
eigentlich feſtzuſetzen begonnen hatte; wie ſoll man aber in
Caracas an eine Epidemie des ſchwarzen Erbrechens glauben,
die ganze ſechzehn Monate gedauert, und alſo die ſehr kühle
Jahreszeit in der der Thermometer auf 12 oder 13° fällt,
überdauert hätte? Sollte der Typhus im hohen Thale von
Caracas älter ſein als in den beſuchteren Häfen von Terra
Firma? In dieſen war er, nach Ulloa, vor dem Jahre 1729
nicht bekannt, und ſo bezweifle ich, daß die Epidemie von
1697 das gelbe Fieber oder der echte amerikaniſche Typhus
war. Schwarze Ausleerungen kommen in remittierenden Gallen-
fiebern häufig vor und ſind an und für ſich ſo wenig als
das Blutſpeien für die ſchreckliche Krankheit charakteriſtiſch,
die man gegenwärtig in der Havana und in Veracruz unter
dem Namen Vomito kennt. Wenn aber keine genaue Be-
ſchreibung vorliegt, aus der hervorgeht, daß der amerikaniſche
[119] Typhus in Caracas ſchon zu Ende des 17. Jahrhunderts
geherrſcht habe, ſo iſt es leider nur zu gewiß, daß dieſe
Krankheit in dieſer Hauptſtadt im Jahre 1802 eine Menge
junger europäiſcher Soldaten weggerafft hat. Der Gedanke
iſt beunruhigend, daß mitten in der heißen Zone ein 870 m
hoch, aber ſehr nahe an der See gelegenes Plateau die Ein-
wohner keineswegs vor einer Seuche ſchützt, die, wie man
meint, nur in den Niederungen an der Küſte zu Hauſe iſt.


[[120]]

Dreizehntes Kapitel.


Aufenthalt in Caracas. — Berge um die Stadt. — Beſteigung
des Gipfels der Silla.


Ich blieb zwei Monate in Caracas. Bonpland und ich
wohnten in einem großen, faſt ganz frei ſtehenden Hauſe im
höchſten Teile der Stadt. Auf einer Galerie überſahen wir
mit einem Blick den Gipfel der Silla, den gezackten Kamm
des Galipano und das lachende Guayrethal, deſſen üppiger
Anbau von den finſteren Bergwänden umher abſticht. Es war
in der trockenen Jahreszeit. Um die Weide zu verbeſſern,
zündete man die Savannen und den Raſen an, der die ſteil-
ſten Felſen bedeckt. Dieſe großen Brände bringen, von weitem
geſehen, die überraſchendſten Lichteffekte hervor. Ueberall, wo
die Savannen längs der aus- und einſpringenden Felsgehänge
die von den Bergwaſſern eingeriſſenen Schluchten ausfüllen,
nehmen ſich die brennenden Bodenſtreifen bei dunkler Nacht
wie Lavaſtröme aus, die über dem Thale hängen. Ihr
ſtarkes, aber ruhiges Licht färbt ſich rötlich, wenn der Wind,
der von der Silla herunterkommt, Wolkenzüge ins Thal
niedertreibt. Andere Male, und dann iſt der Anblick am groß-
artigſten, ſind die Lichtſtreifen in dickes Gewölk gehüllt und
kommen nur da und dort durch Riſſe zum Vorſchein, und
wenn dann die Wolken ſteigen, zeigen ſich ihre Ränder glänzend
beleuchtet. Dieſe mannigfaltigen Erſcheinungen, wie ſie unter
den Tropen häufig vorkommen, werden noch anziehender durch
die Form der Berge, durch die Stellung der Abhänge und
die Höhe der mit Alpenkräutern bewachſenen Savannen. Den
Tag über jagt der Wind von Petare von Oſten her den
Rauch über die Stadt und macht die Luft weniger durch-
ſichtig.


Hatten wir Urſache, mit der Lage unſerer Wohnung zu-
frieden zu ſein, ſo waren wir es noch viel mehr mit der Auf-
[121] nahme, die uns von den Einwohnern aller Stände zu teil
wurde. Ich habe die Verpflichtung, der edlen Gaſtfreund-
ſchaft zu gedenken, die wir bei dem damaligen Generalkapitän
der Provinzen von Venezuela, Herrn von Guevara Vas-
conzelos, genoſſen. Es ward mir das Glück zu teil, das
nur wenige Spanier mit mir teilen, hintereinander Caracas,
Havana, Santa Fé de Bogota, Quito, Lima und Mexiko
zu beſuchen, und in dieſen ſechs Hauptſtädten des ſpaniſchen
Amerika brachten mich meine Verhältniſſe mit Leuten aller
Stände in Verbindung; dennoch erlaube ich mir nicht, mich
über die verſchiedenen Stufen der Kultur auszuſprechen, welche
die Geſellſchaft in jeder Kolonie bereits erſtiegen. Es iſt
leichter, die Schattierungen der Nationalkultur und die vor-
zugsweiſe Richtung der geiſtigen Entwickelung anzugeben, als
zu vergleichen und zu klaſſifizieren, was ſich nicht unter einen
Geſichtspunkt bringen läßt. In Mexiko und Santa Fé de
Bogota ſchien mir die Neigung zu ernſten wiſſenſchaftlichen
Studien vorherrſchend, in Quito und Lima fand ich mehr
Sinn für ſchöne Litteratur und alles, was eine lebendige,
feurige Einbildungskraft anſpricht, in der Havana und in
Caracas größere Bildung hinſichtlich der allgemeinen politiſchen
Verhältniſſe, umfaſſendere Anſichten über die Zuſtände der
Kolonieen und der Mutterländer. Der ſtarke Handelsverkehr
mit Europa und das Meer der Antillen, das wir oben als
ein Mittelmeer mit mehreren Ausgängen beſchrieben, haben
auf die geſellſchaftliche Entwickelung auf Cuba und in den
ſchönen Provinzen von Venezuela gewaltigen Einfluß geäußert.
Nirgends ſonſt im ſpaniſchen Amerika hat die Civiliſation eine
ſo europäiſche Färbung angenommen. Die Menge ackerbau-
treibender Indianer in Mexiko und im Inneren von Neu-
granada gibt dieſen großen Ländern einen eigentümlichen,
man könnte ſagen exotiſcheren Charakter. Trotz der Zunahme
der ſchwarzen Bevölkerung glaubt man ſich in der Havana und
in Caracas näher bei Cadiz und den Vereinigten Staaten als
in irgend einem Teile der Neuen Welt.


Da Caracas auf dem Feſtlande liegt und die Bevölkerung
nicht ſo beweglich iſt als auf den Inſeln, haben ſich die volks-
tümlichen Gebräuche mehr erhalten als in der Havana. Sehr
geräuſchvolle und ſehr mannigfaltige Zerſtreuungen bietet die
Geſellſchaft nicht, aber im Kreiſe der Familien empfindet man
das Behagen, das munteres Weſen und Herzlichkeit im Verein
mit feiner Sitte in uns erzeugen. Es gibt in Caracas, wie
[122] überall, wo eine große Umwälzung in den Vorſtellungen be-
vorſteht, zwei Menſchenklaſſen, man könnte ſagen zwei ſtreng
geſchiedene Generationen. Die eine, nicht mehr ſehr zahlreiche,
hält feſt an den alten Bräuchen und hat die alte Sitteneinfalt
und Mäßigung in Wünſchen und Begierden bewahrt. Sie
lebt nur in der Vorzeit; in ihrer Vorſtellung iſt Amerika
Eigentum ihrer Voreltern, die es erobert haben. Sie ver-
abſcheut die ſogenannte Aufklärung des Jahrhunderts und
hegt ſorgfältig, wie einen Teil ihres Erbgutes, die überlieferten
Vorurteile. Die andere lebt weniger in der Gegenwart als
in der Zukunft und hat eine nicht ſelten leichtfertige Vorliebe
für neue Sitten und Ideen. Kommt zu dieſer Neigung der
Trieb, ſich gründlich zu bilden, wird ſie von einem kräftigen,
hellblickenden Geiſte gezügelt und gelenkt, ſo wird ſie in ihren
Wirkungen der Geſellſchaft erſprießlich. Ich habe in Caracas
mehrere durch wiſſenſchaftlichen Sinn, angenehme Sitten und
großartige Geſinnung gleich ausgezeichnete Männer kennen
gelernt, die dieſer zweiten Generation angehörten; aber auch
andere, die auf alles Schöne und Achtungswürdige im ſpani-
ſchen Charakter, in der Litteratur und Kunſt dieſes Volkes
herabſahen und damit ihre eigene Nationalität einbüßten,
ohne im Verkehr mit den Fremden richtige Begriffe über die
wahren Grundlagen des öffentlichen Wohles und der geſell-
ſchaftlichen Ordnung einzutauſchen.


Da ſeit der Regierung Karls V. der Korporationsgeiſt
und der Munizipalhaß aus dem Mutterlande in die Kolonieen
übergegangen ſind, ſo findet man in Cumana und anderen
Handelsſtätten von Terra Firma Gefallen daran, die Adels-
anſprüche der vornehmſten Familien in Caracas, der ſogenannten
Mantuanos, mit Uebertreibung zu ſchildern. Wie ſich dieſe
Anſprüche früher geäußert, weiß ich nicht; es ſchien mir aber,
als ob die fortſchreitende Bildung und die in den Sitten ſich
vollziehende Umwandlung nach und nach und faſt durchgängig
den geſellſchaftlichen Unterſchieden im Verkehr unter Weißen
alles Verletzende benommen hätten. In allen Kolonien gibt
es zweierlei Adel. Der eine beſteht aus Kreolen, deren Vor-
fahren in jüngſter Zeit bedeutende Aemter in Amerika be-
kleidet haben; er gründet ſeine Vorrechte zum Teil auf das
Anſehen, in dem er im Mutterlande ſteht; er glaubt ſie auch
über dem Meere feſthalten zu können, gleichviel zu welcher
Zeit er ſich in den Kolonieen niedergelaſſen. Der andere Adel
haftet mehr am amerikaniſchen Boden; ſeine Glieder ſind
[123] Nachkommen der Konquiſtadoren, das heißt der Spanier,
die bei der erſten Eroberung im Heere gedient. Mehrere dieſer
Krieger, der Waffengenoſſen der Cortez, Loſada und Pizarro,
gehörten den vornehmſten Familien der pyrenäiſchen Halbinſel
an; andere aus den unteren Volksklaſſen haben ihren Namen
durch die ritterliche Tapferkeit, die ein bezeichnender Zug
des frühen 16. Jahrhunderts iſt, zu Ehren gebracht. Ich
habe oben daran erinnert, daß in der Geſchichte dieſer Zeit
der religiöſen und kriegeriſchen Begeiſterung im Gefolge der
großen Anführer mehrere redliche, ſchlichte, großmütige Männer
auftraten. Sie eiferten wider die Grauſamkeiten, welche
die Ehre des ſpaniſchen Namens befleckten; aber ſie ver-
ſchwanden in der Menge und konnten der allgemeinen
Aechtung nicht entgehen. Der Name „Konquiſtadores“ iſt
deſto verhaßter geblieben, als die wenigſten, nachdem ſie
friedliche Völker mißhandelt und im Schoße des Ueberfluſſes
geſchwelgt, dafür am Ende ihrer Laufbahn mit jenem ſchweren
Umſchlag des Glückes gebüßt haben, der den Haß der Men-
ſchen ſänftigt und nicht ſelten das harte Urteil der Geſchichte
mildert.


Aber nicht allein der Fortſchritt der Kultur und der
Konflikt zwiſchen zwei Adelsklaſſen von verſchiedenem Urſprung
nötigt die privilegierten Stände, ihre Anſprüche aufzugeben
oder doch aus Klugheit nicht merken zu laſſen. Die Ariſto-
kratie findet in den ſpaniſchen Kolonieen noch ein anderes
Gegengewicht, das ſich von Tag zu Tage mehr geltend macht.
Unter den Weißen hat ſich das Gefühl der Gleichheit aller
Gemüter bemächtigt. Ueberall, wo die Farbigen entweder als
Sklaven oder als Freigelaſſene angeſehen werden, iſt die an-
geſtammte Freiheit, das Bewußtſein, daß man nur Freie zu
Ahnen hat, der eigentliche Adel. In den Kolonieen iſt die
Hautfarbe das wahre äußere Abzeichen desſelben. In Mexiko
wie in Peru, in Caracas wie auf Cuba kann man alle Tage
einen Menſchen, der barfuß geht, ſagen hören: „Will der
reiche weiße Mann weißer ſein als ich?“ Da Europa ſo
große Menſchenmengen an Amerika abgeben kann, ſo iſt be-
greiflich, daß der Satz: Jeder Weiße iſt Ritter, todo blanco
es caballero,
den altadeligen europäiſchen Familien mit ihren
Anſprüchen ſehr unbequem iſt. Noch mehr: dieſer ſelbe Satz
iſt in Spanien bei einem wegen ſeiner Biederkeit, ſeines Fleißes
und ſeines Nationalgeiſtes mit Recht geachteten Volksſtamm
längſt anerkannt; jeder Biscayer nennt ſich adelig, und da
[124] es in Amerika und auf den Philippinen mehr Biscayer gibt
als zu Hauſe auf der Halbinſel, ſo haben die Weißen von
dieſem Volksſtamme nicht wenig dazu beigetragen, den Grundſatz
von der Gleichheit aller Menſchen, deren Blut nicht mit afri-
kaniſchem Blut vermiſcht iſt, in den Kolonieen zur Geltung
zu bringen.


Zudem ſind die Länder, wo man, auch ohne Repräſen-
tativregierung und ohne Pairſchaft, auf Stammbäume und
Geburtsvorzüge ſo ſehr viel hält, keineswegs immer die, wo
die Familienariſtokratie am verletzendſten auftritt. Vergebens
ſucht man bei den Völkern ſpaniſchen Urſprunges das kalte,
anſpruchsvolle Weſen, das durch den Charakter der modernen
Bildung im übrigen Europa nur noch allgemeiner zu werden
ſcheint. In den Kolonieen wie im Mutterlande knüpfen Herz-
lichkeit, Unbefangenheit und große Anſpruchsloſigkeit des Be-
nehmens ein Band zwiſchen allen Ständen. Ja, man kann
ſagen, Eitelkeit und Selbſtſucht verletzen um ſo weniger,
da ſie ſich mit einer gewiſſen Offenheit und Naivität aus-
ſprechen.


Ich fand in Caracas in mehreren Familien Sinn für
Bildung; man kennt die Hauptwerke der franzöſiſchen und
italieniſchen Litteratur, man liebt die Muſik, man treibt ſie
mit Erfolg, und ſie verknüpft, wie die Pflege aller ſchönen
Kunſt, die verſchiedenen Stufen der Geſellſchaft. Für Natur-
wiſſenſchaften und zeichnende Künſte beſtehen hier keine großen
Anſtalten, wie Mexiko und Santa Fé ſie der Freigebigkeit
der Regierung und dem patriotiſchen Eifer der ſpaniſchen Be-
völkerung verdanken. In einer ſo wundervollen, überſchwenglich
reichen Natur gab ſich kein Menſch an dieſer Küſte mit Bo-
tanik oder Mineralogie ab. Nur in einem Franziskanerkloſter
fand ich einen ehrwürdigen Alten, der für alle Provinzen von
Venezuela den Kalender berechnete und vom gegenwärtigen
Stande der Aſtronomie einige richtige Begriffe hatte. Unſere
Inſtrumente waren ihm höchſt merkwürdig, und eines Morgens
kamen uns ſämtliche Franziskaner ins Haus und verlangten
zu unſerer großen Ueberraſchung einen Inklinationskompaß
zu ſehen. In Ländern, die vom vulkaniſchen Feuer unter-
höhlt ſind, und in einem Himmelsſtrich, wo die Natur ſo
großartig und dabei ſo geheimnisvoll unruhig iſt, ſteigert ſich
von ſelbſt die Aufmerkſamkeit auf phyſikaliſche Erſcheinungen,
und damit die Neubegier.


Wenn man daran denkt, daß in den Vereinigten Staaten
[125] von Nordamerika in kleinen Städten von 3000 Einwohnern
Zeitungen erſcheinen, ſo wundert man ſich, wenn man hört, daß
Caracas mit einer Bevölkerung von 40000 bis 50000 Seelen
bis zum Jahre 1806 keine Druckerei hatte; denn ſo kann man
doch nicht wohl Preſſen nennen, auf denen man Jahr um Jahr
einen Kalender von ein paar Seiten oder ein biſchöfliches Aus-
ſchreiben zuſtande bringt. Der Perſonen, denen Leſen ein
Bedürfnis iſt, ſind nicht ſehr viele, ſelbſt in denjenigen ſpa-
niſchen Kolonieen, wo die Kultur am weiteſten fortgeſchritten
iſt; es wäre aber unbillig, den Koloniſten zur Laſt zu legen,
was das Werk einer argwöhniſchen Staatskunſt iſt. Ein
Franzoſe, Delpeche, der durch Heirat einer der geachtetſten
Familien des Landes angehört, hat ſich durch die Errichtung
der erſten guten Druckerei in Caracas verdient gemacht.
Es iſt in unſerer Zeit gewiß eine auffallende Erſcheinung,
daß das kräftigſte Mittel des Gedankenaustauſches nicht vor
einer politiſchen Umwälzung eingeführt wird, ſondern erſt
nachher.


In einem Lande mit ſo reizenden Fernſichten, zu einer
Zeit, wo trotz der Aufſtandsverſuche die große Mehrzahl der
Einwohner nur an materielle Intereſſen dachte, an die Frucht-
barkeit des Jahres, an die lange Dürre, an den Kampf zwi-
ſchen den Winden von Petare und Catia, glaubte ich viele
Leute zu finden, welche mit den hohen Bergen in der Um-
gegend genau bekannt wären; wir konnten aber in Caracas
nicht einen Menſchen auftreiben, der je auf dem Gipfel der
Silla geweſen wäre. Die Jäger kommen in den Bergen nicht
bis oben hinauf, und in dieſen Ländern geht kein Menſch
hinaus, um Alpenpflanzen zu ſammeln, um Gebirgsarten zu
unterſuchen und ein Barometer auf hohe Punkte zu bringen.
Man iſt an ein einförmiges Leben zwiſchen ſeinen vier Wänden
gewöhnt, man ſcheut die Anſtrengung und die raſchen Witte-
rungswechſel, und es iſt, als lebe man nicht, um des Lebens
zu genießen, ſondern eben nur, um fortzuleben.


Wir kamen auf unſeren Spaziergängen häufig auf zwei
Kaffeepflanzungen, deren Eigentümer angenehme Geſellſchafter
waren. Die Pflanzungen liegen der Silla von Caracas gegen-
über. Wir betrachteten mit dem Fernrohr die ſchroffen Ab-
hänge des Berges und ſeine beiden Spitzen, und konnten ſo
zum voraus ermeſſen, mit welchen Schwierigkeiten wir zu
kämpfen haben würden, um auf den Gipfel zu gelangen.
Nach den Höhenwinkeln, die ich auf unſerem Platze Trinidad
[126] aufgenommen, ſchien mir dieſer Gipfel nicht ſo hoch über dem
Meere zu liegen, als der große Platz in der Stadt Quito.
Dieſe Schätzung ſtimmte aber ſchlecht mit den Vorſtellungen
der Bewohner des Thales. Die Berge, welche über großen
Städten liegen, erhalten eben dadurch in beiden Kontinenten
einen ungemeinen Ruf. Lange bevor man ſie genau gemeſſen
hat, ſchreiben ihnen die Lokalgelehrten eine Höhe zu, die man
nicht in Zweifel ziehen kann, ohne gegen ein Nationalvor-
urteil zu verſtoßen.


Der Generalkapitän Guevara verſchaffte uns Führer durch
den Teniente von Chacao. Es waren Schwarze, denen der
Weg, der über den Bergkamm an der weſtlichen Spitze der
Silla vorbei zur Küſte führt, etwas bekannt war. Dieſer Weg
wird von den Schleichhändlern begangen; aber weder unſere
Führer, noch die erfahrenſten Leute in der Miliz, welche die
Schleichhändler in dieſen Wildniſſen verfolgen, waren je auf
der öſtlichen Spitze, dem eigentlichen Gipfel der Silla geweſen.
Während des ganzen Dezembers war der Berg, deſſen Höhen-
winkel mich das Spiel der irdiſchen Refraktion beobachten
ließen, nur fünfmal unumwölkt geweſen. Da in dieſer Jahres-
zeit ſelten zwei heitere Tage aufeinander folgen, hatte man
uns geraten, nicht bei hellem Wetter aufzubrechen, ſondern zu
einer Zeit, wo die Wolken nicht hoch ſtehen und man hoffen
darf, über der erſten gleichförmig verbreiteten Dunſtſchicht in
trockene, helle Luft zu gelangen. Wir brachten die Nacht des
2. Januars in der Eſtancia de Gallegos zu, einer Kaffee-
pflanzung, bei der in einer ſchattigen Schlucht der Bach Cha-
caito, der vom Gebirge herabkommt, ſchöne Fälle bildet. Die
Nacht war ziemlich hell, und obgleich wir am Vorabend eines
beſchwerlichen Marſches gern einiger Ruhe genoſſen hätten,
harrten wir, Bonpland und ich, die ganze Nacht auf drei
Bedeckungen der Jupiterstrabanten. Ich hatte die Zeitpunkte
der Beobachtungen zum voraus beſtimmt und doch verfehlten
wir alle, weil ſich in die Connaissance des temps Rechnungs-
fehler eingeſchlichen hatten. Ein böſer Stern waltete über
den Angaben hinſichtlich der Bedeckung für Dezember und
Januar: man hatte mittlere und wahre Zeit verwechſelt.


Dieſes Mißgeſchick machte mir großen Verdruß, und
nachdem ich vor Sonnenaufgang die Intenſität der magneti-
ſchen Kraft am Fuße des Berges beobachtet, brachen wir um
5 Uhr morgens mit den Sklaven, die unſere Inſtrumente
trugen, auf. Wir waren unſer 18 Perſonen und gingen auf
[127] ſchmalem Fußpfad in einer Reihe hintereinander. Dieſer Pfad
läuft über einen ſteilen, mit Raſen bedeckten Abhang. Man
ſucht zuerſt den Gipfel eines Hügels zu erreichen, der gegen
Südweſt hin eine Art Vorgebirge der Silla bildet. Der-
ſelbe hängt mit der Maſſe des Berges ſelbſt durch einen
ſchmalen Damm zuſammen, den die Hirten ſehr bezeichnend
„die Pforte“, Puerta de la Silla, nennen. Wir erreichten
ihn gegen 7 Uhr. Der Morgen war ſchön und kühl, und
der Himmel ſchien bis jetzt unſer Vorhaben zu begünſtigen.
Der Thermometer ſtand ein wenig unter 14°. Nach dem
Barometer waren wir bereits 1335 m über dem Meere, das
heißt gegen 156 m höher als die Venta, wo man die präch-
tige Ausſicht auf die Küſte hat. Unſere Führer meinten, wir
würden bis auf den Gipfel noch 6 Stunden brauchen.


Wir gingen auf einem ſchmalen, mit Raſen bedeckten
Felsdamm, und dieſer führte uns vom Vorgebirge der Puerta
auf den Gipfel des großen Berges. Man blickt zu beiden
Seiten in zwei Thäler nieder, die vielmehr dicht bewachſene
Spalten ſind. Zur Rechten ſieht man die Schlucht, die zwi-
ſchen beiden Gipfeln gegen den Hof Muñoz herabläuft; links
hat man unter ſich die Spalte des Chacaito, deren reiche
Gewäſſer am Hofe Gallego vorbeifließen. Man hört die
Waſſerfälle rauſchen, ohne den Bach zu ſehen, der im dichten
Schatten der Erythrina, Cluſia und der indiſchen Feigen-
bäume 1 fließt. Nichts maleriſcher in einem Erdſtrich, wo ſo
viele Gewächſe große, glänzende, lederartige Blätter haben,
als tief unter ſich die Baumwipfel von den faſt ſenkrechten
Sonnenſtrahlen beleuchtet zu ſehen.


Von der Puerta an wird der Berg immer ſteiler. Man
mußte ſich ſtark vornüber beugen, um vorwärts zu kommen.
Der Winkel beträgt häufig 30 bis 32°. Der Raſen iſt
dicht und er war durch die lange Trockenheit ſehr glatt ge-
worden. Gern hätten wir Fußeiſen und mit Eiſen beſchlagene
Stöcke gehabt. Das kurze Gras bedeckt die Gneisfelſen und
man kann ſich weder am Graſe halten, noch Stufen ein-
ſchneiden wie auf weicherem Boden. Dieſes mehr mühſame
als gefährliche Anſteigen wurde den Leuten aus der Stadt,
die uns begleitet hatten und das Bergſteigen nicht gewöhnt
waren, bald zu viel. Wir verloren viele Zeit, um auf ſie zu
warten, und wir entſchloſſen uns erſt, unſeren Weg allein
[128] fortzuſetzen, als wir alle den Berg wieder hinabgehen, ſtatt
weiter heraufkommen ſahen. Der Himmel fing an ſich zu be-
decken. Bereits ſtieg aus dem feuchten Buſchwalde, der über
uns die Region der Alpenſavannen begrenzte, der Nebel wie
Rauch in dünnen, geraden Streifen auf. Es war, als wäre
an mehreren Punkten des Waldes zugleich Feuer ausgebrochen.
Nach und nach ballten ſich dieſe Dunſtſtreifen zuſammen, löſten
ſich vom Boden ab und ſtreiften, vom Morgenwinde gejagt,
als leichtes Gewölk um den runden Gipfel des Gebirges.


Dies war für Bonpland und mich ein untrügliches Zeichen,
daß wir bald in dichten Nebel gehüllt ſein würden. Da wir
beſorgten, unſere Führer möchten ſich dieſen Umſtand zu nutze
machen, um uns im Stiche zu laſſen, ließen wir diejenigen,
welche die unentbehrlichſten Inſtrumente trugen, vor uns her-
gehen. Fortwährend ging es am Abhange, gegen die Spalte
des Chacaito zu, aufwärts. Das vertrauliche Geſchwätz der
ſchwarzen Kreolen ſtach merkwürdig ab vom ſchweigſamen Ernſt
der Indianer, die in den Miſſionen von Charipe unſere be-
ſtändigen Begleiter geweſen waren. Sie machten ſich über
die Leute luſtig, die ein Unternehmen, zu dem ſie ſich ſo lange
gerüſtet, ſo ſchnell aufgegeben hatten; am ſchlimmſten kam ein
junger Kapuziner weg, ein Profeſſor der Mathematik, der
immer wieder darauf kam, daß die europäiſchen Spanier aller
Stände an Körperkraft und Mut den Hiſpano-Amerikanern
denn doch weit überlegen ſeien. Er hatte ſich mit weißen
Papierſtreifen verſehen, die in der Savanne zerſchnitten und
ausgeworfen werden ſollten, um den Nachzüglern die einzu-
ſchlagende Richtung anzugeben. Der Profeſſor hatte ſogar
ſeinen Ordensbrüdern verſprochen, er wolle in der Nacht ein
paar Raketen ſteigen laſſen, um ganz Caracas zu verkünden,
daß ein Unternehmen glücklich zu Ende geführt worden, das
ihm, und ich muß ſagen, nur ihm, vom höchſten Belang ſchien.
Er hatte nicht bedacht, daß ſeine lange ſchwere Kleidung ihm
beim Bergſteigen hinderlich werden müſſe. Er hatte lange
vor den Kreolen den Mut verloren, und ſo blieb er den Tag
vollends in einer nahen Pflanzung und ſah uns durch ein auf
die Silla gerichtetes Fernrohr den Berg hinaufklettern. Zu
unſerem Unſtern hatte der Ordensmann, dem es nicht an
phyſikaliſchen Kenntniſſen fehlte, und der wenige Jahre darauf
von den wilden Indianern am Apure ermordet wurde, die
Beſorgung des bei einer Bergfahrt unentbehrlichen Waſſers
und der Mundvorräte übernommen. Die Sklaven, die zu uns
[129] ſtoßen ſollten, wurden von ihm ſo lange aufgehalten, daß ſie
erſt ſehr ſpät anlangten und wir zehn Stunden ohne Waſſer
und Brot zubrachten.


Von den zwei abgerundeten Spitzen, die den Gipfel des
Berges bilden, iſt die öſtliche die höchſte, und auf dieſe ſollten
wir mit unſeren Inſtrumenten hinaufkommen. Von der Ein-
ſenkung zwiſchen beiden Gipfeln hat der ganze Berg den ſpa-
niſchen Namen Silla, Sattel. Eine Schlucht, deren wir
bereits erwähnt, läuft von dieſer Einſenkung ins Thal von Caracas
hinab; bei ihrem Anfang oder am oberen Ende nähert ſie ſich der
weſtlichen Spitze. Man kann dem öſtlichen Gipfel nur ſo bei-
kommen, daß man zuerſt weſtlich von der Schlucht über das
Vorgebirge der Puerta gerade auf den niedrigeren Gipfel zu-
geht und ſich erſt nach Oſten wendet, wenn man den Kamm
oder die Einſattelung zwiſchen beiden Gipfeln beinahe erreicht
hat. Schon ein Blick auf den Berg zeigt dieſen Weg als den
von ſelbſt gegebenen, denn die Felſen öſtlich von der Schlucht
ſind ſo ſteil, daß es ſchwer halten dürfte, auf den Gipfel der
Silla zu gelangen, wenn man ſtatt über die Puerta gerade
auf den öſtlichen Gipfel zuginge.


Vom Fuße des Falles des Chacaito bis in 1950 m Höhe
fanden wir nur Savannen. Nur zwei kleine Liliengewächſe
mit gelben Blüten erheben ſich über den Gräſern, mit denen
das Geſtein bewachſen iſt. Hie und da erinnerte ein Him-
beerbuſch 1 an die europäiſchen Pflanzenformen. Vergebens
ſahen wir uns auf dieſen Bergen von Caracas, wie ſpäter
auf dem Rücken der Anden, neben den Himbeerbüſchen nach
einem Roſenſtrauche um. In ganz Südamerika haben wir
keine einheimiſche Roſenart gefunden, ſo nahe ſich auch das
Klima auf den hohen Bergen der heißen Zone und das un-
ſeres gemäßigten Erdſtriches ſtehen. Ja, dieſer liebliche Strauch
ſcheint der ganzen ſüdlichen Halbkugel diesſeits und jenſeits
des Wendekreiſes zu fehlen. Erſt auf den Bergen von Mexiko
waren wir ſo glücklich, unter dem 19. Grad der Breite einen
amerikaniſchen Roſenſtrauch zu entdecken.


Von Zeit zu Zeit wurden wir in Nebel gehüllt und fanden
uns dann über die Richtung unſeres Weges nur ſchwer zurecht,
denn in dieſer Höhe beſteht kein gebahnter Pfad mehr. Man
hilft mit den Händen nach, wenn einen auf dem ſteilen glit-
ſchigen Abhang die Beine im Stiche laſſen. Ein 1 m mäch-
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 9
[130] tiger Gang mit Porzellanerde erregte unſere Aufmerkſamkeit.
Die ſchneeweiße Erde iſt ohne Zweifel zerſetzter Feldſpat. Ich
übergab dem Intendanten der Provinz anſehnliche Proben
davon. In einem Lande, wo es nicht an Brennmaterial fehlt,
läßt ſich durch Beimiſchung feuerbeſtändiger Erden das Töpfer-
geſchirr, ſelbſt die Backſteine, verbeſſern. So oft die Wolken
uns umgaben, fiel der Thermometer auf 12°, bei hellem Himmel
ſtieg er auf 21°. Dieſe Beobachtungen wurden im Schatten
gemacht; aber auf ſo ſteilem, mit vertrocknetem, gelbem, glattem
Raſen bedeckten Abhange fällt es ſchwer, den Einfluß der
ſtrahlenden Wärme auszuſchließen. Wir waren in 1830 m
Höhe und dennoch ſahen wir in gleicher Höhe oſtwärts in
einer Schlucht nicht ein paar einzelne Palmen, ſondern ein
ganzes Palmenwäldchen. Es war die Palma real, vielleicht
zur Gattung Oreodoxa gehörig. Dieſe Gruppe von Palmen
in ſo bedeutender Höhe war eine ſeltſame Erſcheinung gegen-
über den Weiden, 1 die im gemäßigteren Thalgrunde von Ca-
racas hin und wieder wachſen; ſo ſieht man hier Gewächſe
mit europäiſchem Typus tiefer als ſolche der heißen Zone
vorkommen.


Nach vierſtündigem Marſch über die Savannen kamen
wir in ein Buſchwerk aus Sträuchern und niedrigen Bäumen,
el Pejual genannt, wahrſcheinlich wegen des vielen Pejoa
(Gaultheria odorata), eines Gewächſes mit wohlriechenden
Blättern. Der Abhang des Berges wurde ſanfter und mit
unſäglicher Luſt unterſuchten wir die Gewächſe dieſer Region.
Vielleicht nirgends findet man auf ſo beſchränktem Raume ſo
ſchöne und für die Pflanzengeographie bedeutſame Pflanzen
beiſammen. In 1950 m Meereshöhe ſtoßen die hohen Sa-
vannen der Silla an eine Zone von Sträuchern, die durch
den Habitus, die gekrümmten Aeſte, die harten Blätter, die
großen ſchönen Purpurblüten an die Vegetation der Paramos
oder Punas2 erinnern, wie man in der Kordillere der Anden
ſie nennt. Hier treten auf: die Familie der Alproſen, die
Thibaudien, die Andromeden, die Vaccinien (Heidelbeer-
arten) und die Befarien mit harzigen Blättern, die wir
ſchon öfters mit dem Rhododendron der europäiſchen Alpen
verglichen haben.


[131]

Wenn auch die Natur in ähnlichen Klimaten, ſei es nun
in Niederungen auf iſothermen Parallelen (von gleicher Wärme),
ſei es auf Hochebenen, deren Temperatur mit der Temperatur
weiter gegen die Pole gelegener Länder übereinkommt, nicht
dieſelben Pflanzenarten hervorbringt, ſo zeigt doch die Vege-
tation noch ſo weit entlegener Landſtriche im ganzen Habitus
die auffallendſte Aehnlichkeit. Dieſe Erſcheinung iſt eine der
merkwürdigſten in der Geſchichte der organiſchen Bildungen;
ich ſage in der Geſchichte, denn wenn auch die Vernunft dem
Menſchen ſagt, wie eitel Hypotheſen über den Urſprung der
Dinge ſind, das unlösbare Problem, wie ſich die Organismen
über die Erde verbreitet, läßt uns dennoch keine Ruhe. Eine
ſchweizeriſche Grasart 1 wächſt auf dem Granitfelſen der Magel-
haensſchen Meerenge. Neuholland hat über vierzig europäiſche
phanerogame Pflanzenarten aufzuweiſen, und die meiſten Ge-
wächſe, die den gemäßigten Zonen beider Halbkugeln gemein
ſind, fehlen gänzlich in dem dazwiſchen liegenden Landſtriche,
das heißt in der äquinoktialen Zone, ſowohl auf den Ebenen
als auf dem Rücken der Gebirge. Eine Veilchenart mit be-
haarten Blättern, mit der die Zone der Phanerogamen am
Vulkan von Tenerifa gleichſam abſchließt, und von der man
lange glaubte, ſie gehöre der Inſel eigentümlich an, 2 kommt
1350 km weiter nordwärts am beſchneiten Gipfel der Pyre-
näen vor. Gräſer und Riedgräſer, die in Deutſchland, in
Arabien und am Senegal wachſen, wurden unter den Pflanzen
gefunden, die Bonpland und ich auf den kalten mexikaniſchen
Hochebenen, an den heißen Ufern des Orinoko und in der
ſüdlichen Halbkugel auf dem Rücken der Anden von Quito
geſammelt. Wie will man begreiflich machen, daß Gewächſe
über Striche mit ganz verſchiedenem Klima, und die gegen-
wärtig vom Meere bedeckt ſind, gewandert ſein ſollen? Oder
[132] wie kommt es, daß die Keime von Organismen, die ſich im
Habitus und ſelbſt im inneren Bau gleichen, ſich in ungleichen
Abſtänden von den Polen und von der Meeresfläche überall
entwickeln, wo ſo weit entlegene Orte in der Temperatur
einigermaßen übereinkommen? Trotz des Einfluſſes des Luft-
druckes und der ſtärkeren oder geringeren Schwächung des
Lichtes auf die Lebensthätigkeit der Gewächſe iſt doch die un-
gleiche Verteilung der Wärme und die verſchiedenen Jahres-
zeiten als die Haupttriebkraft der Vegetation anzuſehen.


Der Arten, welche auf beiden Kontinenten und in beiden
Halbkugeln gleichmäßig vorkommen, ſind lange nicht ſo viele,
als man nach den Angaben der älteſten Reiſenden geglaubt
hatte. Auf den hohen Gebirgen des tropiſchen Amerikas kommen
allerdings Wegeriche, Baldriane, Sandkräuter, Ranunkeln,
Miſpeln, Eichen und Fichten vor, die man nach ihrer Phyſio-
gnomie mit den europäiſchen verwechſeln könnte; ſie ſind aber
alle ſpezifiſch von letzteren verſchieden. Bringt aber auch die
Natur nicht dieſelben Arten hervor, ſo wiederholt ſie doch die
Gattungen. Nahe verwandte Arten kommen oft in unge-
heuren Entfernungen voneinander vor, in den Niederungen
des gemäßigten Erdſtriches die einen, in den Alpenregionen
unter dem Aequator die anderen. Andere Male (und die
Silla von Caracas bietet ein auffallendes Beiſpiel hierfür) ſind
nicht Arten europäiſcher Gattungen wie Koloniſten auf die
Berge der heißen Zone herübergekommen, es treten vielmehr
hier wie dort Gattungen derſelben Zunft auf, die nach dem
Habitus nicht leicht zu unterſcheiden ſind und unter verſchie-
denen Breiten einander erſetzen.


Von den Bergen von Neugranada, welche die Hochebene
von Bogota umgeben, bis zu den Bergen von Caracas ſind
es über 900 km, und doch zeigt die Silla, der einzige hohe
Gipfel einer ziemlich niedrigen Bergkette, dieſelbe merkwürdige
Zuſammenſtellung von Befarien mit purpurroten Blüten, An-
dromeden, Gaultherien, Myrtillen, Uvas camaronas, Nertera
und Aralien mit wolligen Blättern, wie ſie für die Vegetation
der Paramos auf den hohen Kordilleren von Santa Fé
charakteriſtiſch iſt. Wir fanden dieſelbe Thibaudia glandulosa
am Eingang der Hochebene von Bogota und im Pejual auf
der Silla. Die Küſtenkette von Caracas hängt unzweifelhaft
(über den Torito, die Palomera, Tocuyo, die Paramos de
las Roſas, Bocono und Niquitao) mit den hohen Kordilleren
von Merida, Pamplona und Santa Fé zuſammen; aber von
[133] der Silla bis zum Tocuyo, 315 km weit, ſind die Berge von
Caracas ſo niedrig, daß für die oben erwähnten Sträucher
aus der Familie der Ericineen das Klima nicht kühl genug
iſt. Und wenn auch, wie wahrſcheinlich iſt, die Thibaudia
und die Alpenroſe der Anden oder die Befaria im Paramo
von Niquitao und in der mit ewigem Schnee bedeckten Sierra
de Merida vorkommen, ſo iſt doch auf eine weite Strecke kein
Felskamm, der hoch genug wäre, daß dieſe Gewächſe auf ihm
nach der Silla von Caracas hätten wandern können.


Je mehr man die Verteilung der organiſchen Bildungen
auf der Erdoberfläche kennen lernt, deſto geneigter wird man,
wenn auch nicht dieſe Vorſtellungen von einer Wanderung
aufzugeben, doch darin keinen ausreichenden Erklärungsgrund
mehr zu erblicken. Die Kette der Anden teilt der Länge nach
ganz Südamerika in zwei ungleiche Stücke. Am Fuße dieſer
Kette, oſtwärts und weſtwärts, fanden wir in großer Anzahl
dieſelben Pflanzenarten. All’ die verſchiedenen Uebergänge
der Kordilleren ſind aber derart, daß nirgends Gewächſe der
heißen Zone von den Küſten der Südſee an die Ufer des
Amazonenſtromes gelangt ſein können. Wenn, ſei es nun
im Tieflande oder in ganz niedrigen Bergen, ſei es inmitten
eines Archipels von durch unterirdiſches Feuer emporgehobenen
Inſeln, ein Berggipfel zu einer großen Höhe anſteigt, ſo iſt
ſein Gipfel mit Alpenkräutern bewachſen, die zum Teil in
ungeheuren Entfernungen auf anderen Bergen mit ähnlichem
Klima gleichfalls vorkommen. In dieſer Weiſe zeigen ſich im
allgemeinen die Gewächſe verteilt und man kann den Forſchern
die genauere Ermittelung dieſer Verhältniſſe nicht dringend
genug empfehlen. Wenn ich hier gegen voreilige Hypotheſen
ſpreche, ſo nehme ich es keineswegs über mich, befriedigendere
dafür aufzuſtellen. Ich halte vielmehr die Probleme, von
denen es ſich hier handelt, für unlösbar, und nach meiner
Anſchauung hat die Erfahrung geleiſtet, was ſie kann, wenn
ſie die Geſetze ermittelt, nach denen die Natur die Pflanzen-
gebilde verteilt hat.


Man ſagt, ein Berg ſei ſo hoch, daß er die Grenze des
Rhododendron und der Befaria erreiche, wie man ſchon lange
ſagt, ein Berg erreiche die Grenze des ewigen Schnees. Mit
dieſem Ausdruck ſetzt man ſtillſchweigend voraus, daß unter
dem Einfluſſe gewiſſer Wärmegrade ſich notwendig gewiſſe
vegetabiliſche Formen entwickeln müſſen. Streng genommen
iſt nun dieſe Vorausſetzung allerdings nicht richtig. Die
[134] Fichten Mexikos fehlen auf den Kordilleren von Peru; auf
der Silla von Caracas wachſen nicht die Eichen, die man in
Neugranada in derſelben Höhe findet. Die Uebereinſtimmung
in den Bildungen deutet auf analoges Klima; aber in ana-
logen Klimaten können die Arten bedeutend voneinander
abweichen.


Die herrliche Alpenroſe der Anden, die Befaria, wurde
zuerſt von Mutis beſchrieben, der ſie bei Pamplona und
Santa Fé de Bogota unter dem 4. bis 7. Grad nördlicher
Breite gefunden. Sie war vor unſerer Beſteigung der Silla
ſo wenig bekannt, daß ſie ſich faſt in keinem Herbarium in
Europa fand. Wie die Alpenroſen Lapplands, des Kau-
kaſus und der Alpen 1 voneinander abweichen, ſo ſind auch
die beiden Befariaarten, die wir von der Silla mitgebracht, 2
von denen bei Santa Fé de Bogota 3 ſpezifiſch verſchieden.
In der Nähe des Aequators bedecken die Alpenroſen der
Anden die Berge bis in die höchſten Paramos hinauf, in
3120 bis 3312 m Meereshöhe. Weiter gegen Norden, auf
der Silla von Caracas, findet man ſie weit tiefer, in etwas
über 1950 m Höhe; die kürzlich in Florida unter dem 30. Grade
der Breite entdeckte Befaria wächſt ſogar auf niedrigen Hügeln.
So rücken denn auf einer Strecke von 2700 km der Breite
dieſe Sträucher immer weiter gegen das Tiefland herab, je
weiter vom Aequator ſie vorkommen. Ebenſo wächſt die lapp-
ländiſche Alpenroſe 1560 bis 1750 m tiefer als die der Alpen
oder Pyrenäen. Wir wunderten uns, daß wir in den Ge-
birgen von Mexiko, zwiſchen den Alpenroſen von Santa Fé
und Caracas einerſeits und denen von Florida andererſeits,
keine Befariaart fanden.


Im kleinen Buſchwalde auf der Silla iſt die Befaria
ledifolia
nur 1 bis 1,3 m hoch. Der Stamm teilt ſich gleich
am Boden in viele zerbrechliche, faſt quirlförmig geſtellte Aeſte.
Die Blätter ſind eiförmig, zugeſpitzt, an der Unterfläche grau-
grün und an den Rändern aufgerollt. Die ganze Pflanze
iſt mit langen, klebrigen Haaren bedeckt und hat einen ſehr
angenehmen Harzgeruch. Die Bienen beſuchen ihre ſchönen,
purpurroten Blüten, die, wie bei allen Alpenpflanzen, un-
[135] gemein zahlreich und ganz entwickelt oft gegen einen Zoll
breit ſind.


Das Rhododendron der Schweiz wächſt, in 1560 bis
2140 m Meereshöhe, in einem Klima mit einer mittleren
Temperatur von + 2° und — 1°, alſo ähnlich dem Klima
der Ebenen Lapplands. In dieſer Zone haben die kälteſten
Monate — 4° und — 10°, die wärmſten Monate + 12° und 7°.
Nach thermometriſchen Beobachtungen in denſelben Höhen und
unter denſelben Parallelen beträgt im Pejual auf der Silla
die mittlere Temperatur der Luft ſehr wahrſcheinlich noch 17
bis 18° und ſteht der Thermometer in der kühlſten Jahreszeit
bei Tage zwiſchen 15 und 20°, bei Nacht zwiſchen 10 und 12°.
Beim St. Gotthardshoſpiz, nahe der oberen Grenze der hel-
vetiſchen Alpenroſe, iſt die größte Wärme im Auguſt um
Mittag (im Schatten) gewöhnlich 12 bis 13°; nachts kühlt
ſich in derſelben Jahreszeit die Luft infolge der Wärme-
ſtrahlung des Bodens auf + 1 oder — 1,5° ab. Unter dem-
ſelben barometriſchen Druck, alſo in derſelben Meereshöhe,
aber um 30 Breitengrade näher beim Aequator iſt die Befaria
auf der Silla um Mittag häufig einer Temperatur von 23
bis 24° ausgeſetzt und bei Nacht fällt dieſelbe wahrſcheinlich
niemals unter 8°. Wir haben hier genau die Klimate ver-
glichen, unter denen zwei derſelben Familie angehörende Pflanzen-
gruppen unter verſchiedenen Breiten in gleicher Meereshöhe
wachſen; das Ergebnis wäre ein ganz anderes, wenn wir
Zonen verglichen hätten, die gleich weit vom ewigen Schnee
oder von der iſothermen Linie liegen.


Im Pejual wachſen neben der Befaria mit purpurroten
Blüten eine Hedyotis mit Heidekrautblättern, die 2,6 m hoch
wird, die Caparosa, ein großes baumartiges Johanniskraut,
ein Lepidium, das mit dem virginiſchen identiſch ſcheint,
endlich Bärlappenpflanzen und Mooſe, welche Felſen und
Baumwurzeln überziehen. Am berühmteſten iſt aber dieſes
Buſchwerk im Lande wegen eines 3 bis 5 m hohen Strauches
aus der Familie der Corymbiferen. Die Kreolen nennen
denſelben Inciensoz, Weihrauch. Seine lederartigen, ge-
kerbten Blätter und die Spitzen der Zweige ſind mit einer
weißen Wolle bedeckt. Es iſt eine neue, ſehr harzreiche
Trixisart; die Blüten riechen angenehm nach Borax, ganz
anders als die der Trixis therebintinacea in den Bergen
von Jamaika, die denen von Caracas gegenüberliegen. Man
mengt zuweilen den „Weihrauch“ von der Silla mit den
[136] Blüten der Pevetera, gleichfalls einer Pflanze mit zuſammen-
geſetzter Blüte, deren Geruch dem des peruaniſchen Heliotrops
ähnelt. Die Pevetera geht aber in den Bergen nicht bis
zur Zone der Alpenroſen hinauf, ſie kommt im Thale von
Chacao vor und die Damen von Caracas verfertigen ein ſehr
angenehmes Riechwaſſer daraus.


Wir hielten uns im Pejual mit der Unterſuchung der
ſchönen harzigen und wohlriechenden Pflanzen lange auf.
Der Himmel wurde immer finſterer, der Thermometer ſank
unter 11°. Es iſt dies eine Temperatur, bei der man in
dieſem Himmelsſtrich zu frieren anfängt. Tritt man aus
dem Gebüſch von Alpenſträuchern, ſo iſt man wieder in einer
Savanne. Wir ſtiegen ein Stück am weſtlichen Gipfel hinauf,
um darauf in die Einſattelung, in das Thal zwiſchen beiden
Gipfeln der Silla hinabzugelangen. Hier war wegen des
üppigen Pflanzenwuchſes ſchwer durchzukommen. Ein Botaniker
riete nicht leicht darauf, daß das dichte Buſchwerk, das dieſen
Grund bedeckt, von einem Gewächs aus der Familie der
Muſaceen1 gebildet wird. Es iſt wahrſcheinlich eine Macanta
oder Heliconia; die Blätter ſind breit, glänzend; ſie wird
4,5 bis 5 m hoch und die ſaftigen Stengel ſtehen dicht bei-
ſammen wie das Schilfrohr auf feuchten Gründen im öſtlichen
Europa. Durch dieſen Wald von Muſaceen mußten wir uns
einen Weg bahnen. Die Neger gingen mit ihren Meſſern
oder Machetes vor uns her. Das Volk wirft dieſe Alpen-
banane und die baumartigen Gräſer unter dem Namen Carice
zuſammen; wir ſahen weder Blüte noch Frucht des Gewächſes.
Man iſt überraſcht, in 2140 m Höhe, weit über den Andro-
meden, Thibaudien und der Alpenroſe der Kordilleren, einer
Monokotyledonenfamilie zu begegnen, von der man meint, ſie
gehöre ausſchließlich den heißen Niederungen unter den Tropen
an. In einer ebenſo hohen und noch nördlicheren Gebirgs-
kette, in den blauen Bergen auf Jamaika, wachſen die Papa-
geien-Helikonia
und der Bichai auch vorzugsweiſe an
alpiniſchen ſchattigen Orten.


Wir arbeiteten uns durch das Dickicht von Muſaceen
oder baumartigen Kräutern immer dem öſtlichen Gipfel zu,
den wir erſteigen wollten. Von Zeit zu Zeit war er durch
einen Wolkenriß zu ſehen; auf einmal aber waren wir in
dicken Nebel gehüllt und wir konnten uns nur nach dem
[137] Kompaß richten; gingen wir aber weiter nordwärts, ſo liefen
wir bei jedem Schritt Gefahr, an den Rand der ungeheuren
Felswand zu gelangen, die faſt ſenkrecht 1950 m hoch zum
Meere abfällt. Wir mußten Halt machen; und wie ſo die
Wolken um uns her über den Boden wegzogen, fingen wir
an zu zweifeln, ob wir vor Einbruch der Nacht auf die öſt-
liche Spitze gelangen könnten. Glücklicherweiſe waren in-
zwiſchen die Neger, die das Waſſer und den Mundvorrat
trugen, eingetroffen, und wir beſchloſſen, etwas zu uns zu
nehmen; aber unſere Mahlzeit dauerte nicht lange. Sei es
nun, daß der Pater Kapuziner nicht an unſere vielen Begleiter
gedacht, oder daß die Sklaven ſich über den Vorrat hergemacht
hatten, wir fanden nichts als Oliven und faſt kein Brot.
Das Mahl, deſſen Lob Horaz in ſeinem Tibur ſingt,1 war
nicht leichter und frugaler; an Oliven mochte ſich aber immer-
hin ein ſtillſitzender, ſtudierender Poet ſättigen, für Berg-
ſteiger waren ſie eine kärgliche Koſt. Wir hatten die ver-
gangene Nacht faſt ganz durchwacht, und waren jetzt ſeit
neun Stunden auf den Beinen, ohne Waſſer angetroffen zu
haben. Unſere Führer hatten den Mut verloren, ſie wollten
durchaus umkehren, und Bonpland und ich hielten ſie nur
mit Mühe zurück.


Mitten im Nebel machte ich den Verſuch mit dem Volta-
ſchen Elektrometer. Obgleich ich ganz nahe an den dicht ge-
drängten Helikonien ſtand, erhielt ich deutliche Spuren von
Luftelektrizität. Sie wechſelte oft zwiſchen negativ und poſitiv
und ihre Intenſität war jeden Augenblick anders. Dieſe
Schwankungen und mehrere kleine entgegengeſetzte Luftſtrö-
mungen, die den Nebel zerteilten und zu ſcharf begrenzten
Wolken ballten, ſchienen mir untrügliche Zeichen, daß das
Wetter ſich ändern wollte. Es war erſt 2 Uhr Nachmittag.
Wir hofften immer noch vor Sonnenuntergang auf die öſtliche
Spitze der Silla gelangen und wieder in das Thal zwiſchen
beiden Gipfeln herabkommen zu können. Hier wollten wir
von den Negern aus den breiten dünnen Blättern der Heli-
konia eine Hütte bauen laſſen, ein großes Feuer anzünden
und die Nacht zubringen. Wir ſchickten die Hälfte unſerer
Leute fort, mit der Weiſung, uns am anderen Morgen
nicht mit Oliven, ſondern mit geſalzenem Fleiſche entgegen-
zukommen.


[138]

Kaum hatten wir ſolches angeordnet, ſo fing der Wind
an ſtark von der See her zu blaſen und der Thermometer
ſtieg auf 12,5°. Es war ohne Zweifel ein aufſteigender Luft-
ſtrom, der die Temperatur erhöhte und damit die Dünſte
auflöſte. Kaum zwei Minuten, ſo verſchwanden die Wolken
und die beiden Gipfel der Silla lagen ganz auffallend nahe
vor uns. Wir öffneten den Barometer am tiefſten Punkte
der Einſenkung zwiſchen den Gipfeln bei einer kleinen Lache
ſchlammigen Waſſers. Hier wie auf den Antillen findet man
ſumpfige Stellen in bedeutenden Höhen, nicht weil das be-
waldete Gebirge die Wolken anzieht, ſondern weil durch die
Abkühlung bei Nacht, infolge der Wärmeſtrahlung des Bodens
und des Parenchyms der Gewächſe, der Waſſerdunſt verdichtet
wird. Das Queckſilber ſtand auf 562 mm. Wir gingen jetzt
gerade auf den öſtlichen Gipfel zu. Der Pflanzenwuchs hielt
uns nachgerade weniger auf; zwar mußte man immer noch
Helikonien umhauen, aber dieſe baumartigen Kräuter waren
jetzt nicht mehr hoch und ſtanden nicht mehr ſo dicht. Die
Gipfel der Silla ſelbſt, wie ſchon öfter erwähnt, ſind nur
mit Gras und kleinen Befariaſträuchern bewachſen. Aber
nicht wegen ihrer Höhe ſind ſie ſo kahl; die Baumgrenze
liegt in dieſer Zone noch um 800 m höher; denn nach
anderen Gebirgen zu ſchließen, befände ſich dieſe Grenze hier
erſt in 3200 m Höhe. Große Bäume ſcheinen auf den
beiden Felsgipfeln der Silla nur deshalb zu fehlen, weil der
Boden ſo dürr und der Seewind ſo heftig iſt, und die
Oberfläche, wie auf allen Bergen unter den Tropen, ſo oft
abbrennt.


Um auf den höchſten, öſtlichen Gipfel zu kommen, muß
man ſo nahe als möglich an dem ungeheuren Abſturz Cara-
valleda und der Küſte zu hingehen. Der Gneis hatte bisher
ſein blätteriges Gefüge und ſeine urſprüngliche Streichung
behalten; jetzt, da wir am Gipfel hinaufſtiegen, ging er in
Granit über. Wir brauchten drei Viertelſtunden bis auf die
Spitze der Pyramide. Dieſes Stück des Weges iſt keineswegs
gefährlich, wenn man nur prüft, ob die Felsſtücke, auf die
man den Fuß ſetzt, feſt liegen. Der dem Gneis aufgelagerte
Granit iſt nicht regelmäßig geſchichtet, ſondern durch Spalten
geteilt, die ſich oft unter rechten Winkeln ſcheiden. Pris-
matiſche, 30 cm breite, 4 m lange Blöcke ragen ſchief aus
dem Boden hervor, und am Rande des Abſturzes ſieht es
aus, als ob ungeheure Balken über dem Abgrunde hingen.


[139]

Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten,
ganz klaren Himmel. Wir genoſſen einer ungemein weiten
Ausſicht; wir ſahen zugleich nach Norden über die See weg,
nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der
Barometer ſtand auf 550 mm, die Temperatur der Luft war
13,7°. Wir waren in 2630 m Meereshöhe. Man überblickt
eine Meeresſtrecke von 172 km Halbmeſſer. Wem beim Blick
in große Tiefen ſchwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen
Plateau bleiben. Durch ſeine Höhe iſt der Berg eben nicht
ausgezeichnet; iſt er doch gegen 195 m niedriger als der
Canigou in den Pyrenäen; aber er unterſcheidet ſich von allen
Bergen, die ich bereiſt, durch den ungeheuren Abſturz gegen
die See zu. Die Küſte bildet nur einen ſchmalen Saum,
und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuſer
von Caravalleda hinab, ſo meint man infolge einer öfter er-
wähnten optiſchen Täuſchung, die Felswand ſei beinahe ſenk-
recht. Nach einer genauen Berechnung ſchien mir der Neigungs-
winkel 53° 28′; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung
im Durchſchnitt kaum 12° 30′. Ein 1950 bis 2270 m hoher
Abſturz wie an der Silla von Caracas iſt eine weit ſeltenere
Erſcheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reiſt,
ohne ihre Höhen, ihre Maſſen und ihre Abhänge zu meſſen.
Seit man ſich in mehreren Ländern Europas von neuem mit
Verſuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung
gegen Südoſt beſchäftigt, hat man in den Schweizer Alpen
ſich überall vergeblich nach einer ſenkrechten, 490 m hohen
Felswand umgeſehen. Der Neigungswinkel des Montblanc
gegen die Allée blanche beträgt keine 45°, obgleich man in
den meiſten geologiſchen Werken lieſt, der Montblanc falle
gegen Süd ſenkrecht ab.


Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche
Abhang, trotz ſeiner großen Steilheit, zum Teil bewachſen.
Befaria- und Andromedabüſche hängen an der Felswand.
Das kleine ſüdwärts gelegene Thal zwiſchen den Gipfeln
zieht ſich der Meeresküſte zu fort: die Alpenpflanzen füllen dieſe
Einſenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor
und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter
dieſen friſchen Schatten müſſe Waſſer fließen, und die Ver-
teilung der Gewächſe, die Gruppierung ſo vieler unbeweglicher
Gegenſtände bringt Leben und Bewegung in die Landſchaft.


Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel
des Vulkans von Tenerifa geſtanden hatten, wo man eine
[140] Erdfläche überblickt, ſo groß als ein Vierteil von Frankreich.
Der ſcheinbare Meereshorizont liegt dort 27 km weiter ab
als auf der Silla, und doch ſahen wir dort den Horizont,
wenigſtens eine Zeitlang, ſehr deutlich. Er war ſcharf be-
grenzt und verſchwamm nicht mit den anſtoßenden Luftſchichten.
Auf der Silla, die um 1070 m niedriger iſt als der Pik von
Tenerifa, konnten wir den näher gerückten Horizont gegen
Nord und Nord-Nord-Oſt nicht ſehen. Blickten wir über die
Meeresfläche weg, die einem Spiegel glich, ſo fiel uns auf,
wie das reflektierte Licht in ſteigendem Verhältnis abnahm.
Wo die Geſichtslinie die äußerſte Grenze der Fläche ſtreift,
verſchwamm das Waſſer mit den darüber gelagerten Luft-
ſchichten. Dieſer Anblick hat etwas ſehr Auffallendes. Man
erwartet den Horizont im Niveau des Auges zu ſehen, und
ſtatt daß man in dieſer Höhe eine ſcharfe Grenze zwiſchen
den beiden Elementen bemerkte, ſchienen die fernſten Waſſer-
ſchichten ſich in Dunſt aufzulöſen und mit dem Luftozean zu
miſchen. Dasſelbe beobachtete ich, nicht an einem einzigen
Stück des Horizontes, ſondern auf einer Strecke von mehr als
160°, am Ufer der Südſee, als ich zum erſtenmal auf dem
ſpitzen Felſen über dem Krater der Pichincha ſtand, eines Vul-
kanes, der höher iſt als der Montblanc. Ob ein ſehr ferner
Horizont ſichtbar iſt oder nicht, das hängt von zwei ver-
ſchiedenen Momenten ab, von der Lichtmenge, welche der Teil
des Ozeans empfängt, auf den die Geſichtslinie zuläuft, und
von der Schwächung, die das reflektierte Licht bei ſeinem
Durchgange durch die dazwiſchen liegenden Luftſchichten erleidet.
Trotz des heiteren Himmels und der durchſichtigen Luft kann
die See in der Entfernung von 170 bis 180 km ſchwach
beleuchtet ſein, oder die Luftſchichten zunächſt der Oberfläche
können das Licht bedeutend ſchwächen, indem ſie die durch-
gehenden Strahlen abſorbieren.


Selbſt vorausgeſetzt, die Refraktion äußere gar keinen
Einfluß, ſollte man auf dem Gipfel der Silla bei ſchönem
Wetter die Inſeln Tortuga, Orchila, Roques und Aves ſehen,
von denen die nächſten 112,5 km entfernt ſind. Wir ſahen
keine derſelben, ſei es nun wegen des Zuſtandes der Luft,
oder weil die Zeit, die wir bei heiterem Himmel dazu ver-
wenden konnten, die Inſeln zu ſuchen, nicht lang genug war.
Ein unterrichteter Seemann, der den Berg mit uns hatte
beſteigen wollen, Don Miguel Areche, verſicherte uns, die
Silla bei den Salzklippen an der Roca de Fuera, unter
[141] 12° 1′ der Breite geſehen zu haben.1 Wenn die umgebenden
Gipfel die Ausſicht nicht beſchränkten, müßte man von der
Silla die Küſte oſtwärts bis zum Morro de Piritu, weſtwärts
bis zur Punta del Soldado, 45 km unter dem Winde von
Portobello, ſehen. Südwärts, dem inneren Lande zu, be-
grenzt die Bergkette, welche Yare und die Savanne von Ocu-
mare vom Thale von Caracas trennt, den Horizont wie ein
Wall, der in der Richtung eines Parallelkreiſes hinläuft.
Hätte dieſer Wall eine Oeffnung, eine Lücke, dergleichen in
den hohen Bergen des Salzburger Landes und der Schweiz
häufig vorkommen, ſo genöſſe man hier des merkwürdigſten
Schauſpieles. Man ſähe durch die Lücke die Llanos, die
weiten Steppen von Calabozo, und da dieſe Steppen in
gleiche Höhe mit dem Auge des Beobachters aufſtiegen, ſo
überſähe man vom ſelben Punkte zwei gleichartige Horizonte,
einen Waſſer- und einen Landhorizont.


Die weſtliche abgerundete Spitze der Silla entzog uns
die Ausſicht auf die Stadt Caracas; deutlich aber ſahen wir
die ihr zunächſtliegenden Häuſer, die Dörfer Chacao und
Petare, die Kaffeepflanzungen und den Lauf des Guayre,
einen ſilberglänzenden Waſſerfaden. Der ſchmale Streif be-
bauten Landes ſtach angenehm ab vom düſteren, wilden Aus-
ſehen der umliegenden Gebirge.


Ueberſieht man ſo mit einem Blick dieſe reiche Land-
ſchaft, ſo bedauert man kaum, daß kein Bild vergangener
Zeiten den Einöden der Neuen Welt höheren Reiz gibt.
Ueberall wo in der heißen Zone der von Gebirgen ſtarrende,
mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckte Boden ſein urſprüngliches
Gepräge behalten hat, erſcheint der Menſch nicht mehr als
Mittelpunkt der Schöpfung. Weit entfernt, die Elemente zu
bändigen, hat er vollauf zu thun, ſich ihrer Herrſchaft zu
entziehen. Die Umwandlungen, welche die Erdoberfläche ſeit
Jahrhunderten durch die Hand der Wilden erlitten, ver-
ſchwinden zu nichts gegen das, was das unterirdiſche Feuer,
die austretenden gewaltigen Ströme, die tobenden Stürme
in wenigen Stunden leiſten. Der Kampf der Elemente unter
ſich iſt das eigentlich Charakteriſtiſche der Naturſzenerie in der
Neuen Welt. Ein unbewohntes Land kommt dem Reiſenden
aus dem kultivierten Europa wie eine Stadt vor, aus der
die Einwohnerſchaft ausgezogen. Hat man einmal in Amerika
[142] ein paar Jahre in den Wäldern der Niederungen oder auf
dem Rücken der Kordilleren gelebt, hat man in Ländern ſo
groß wie Frankreich nur eine Handvoll zerſtreuter Hütten
ſtehen ſehen, ſo hat eine weite Einöde nichts Schreckendes
mehr für die Einbildungskraft. Man wird vertraut mit der
Vorſtellung einer Welt, in der nur Pflanzen und Tiere leben,
wo niemals der Menſch ſeinen Jubelſchrei oder die Klagelaute
ſeines Schmerzes hören ließ.


Wir konnten die günſtige Lage der Silla, die alle Gipfel
umher überragt, nicht lange für unſere Zwecke nutzen. Während
wir mit dem Fernrohr den Seeſtrich, wo der Horizont ſcharf
begrenzt war, und die Bergkette von Ocumare betrachteten,
hinter der die unbekannte Welt des Orinoko und des Ama-
zonenſtromes beginnt, zog ein dicker Nebel aus der Niederung
zu den Höhen herauf. Zuerſt füllte er den Thalgrund von
Caracas. Der von oben beleuchtete Waſſerdunſt war gleich-
förmig milchweiß gefärbt. Es ſah aus, als ſtünde das Thal
unter Waſſer, als bildeten die Berge umher die ſchroffen Ufer
eines Meeresarmes. Lange warteten wir vergeblich auf den
Sklaven, der den großen Ramsdenſchen Sextanten trug; ich
mußte den Zuſtand des Himmels benutzen und entſchloß mich,
einige Sonnenhöhen mit einem Troughtonſchen Sextanten von
53 mm Halbmeſſer aufzunehmen. Die Sonnenſcheibe war von
Nebel halb verſchleiert. Der Längenunterſchied zwiſchen dem
Quartier Trinidad in Caracas und dem öſtlichen Gipfel der
Silla ſcheint kaum größer als 0° 3′ 22″.


Während ich, auf dem Geſtein ſitzend, die Inklination
der Magnetnadel beobachtete, ſah ich, daß ſich eine Menge
haariger Bienen, etwas kleiner als die Honigbiene des nörd-
lichen Europas, auf meine Hände geſetzt hatten. Dieſe Bienen
niſten im Boden. Sie fliegen ſelten aus, und nach ihren
trägen Bewegungen konnte man glauben, ſie ſeien auf dem
Berge ſtarr vor Kälte. Man nennt ſie hierzulande Angelitos,
Engelchen, weil ſie nur ſehr ſelten ſtechen. Trotz der Be-
hauptung mehrerer Reiſenden iſt es nicht wahr, daß dieſe
dem neuen Kontinent eigentümlichen Bienen gar keine An-
griffswaffe haben. Ihr Stachel iſt nur ſchwächer und ſie
brauchen denſelben ſeltener. Solange man von der Harm-
loſigkeit dieſer Angelitos nicht vollkommen überzeugt iſt, kann
man ſich einiger Beſorgnis nicht erwehren. Ich geſtehe, daß
ich oft während aſtronomiſcher Beobachtungen beinahe die
Inſtrumente hätte fallen laſſen, wenn ich ſpürte, daß mir
[143] Geſicht und Hände voll dieſer haarigen Bienen ſaßen. Unſere
Führer verſicherten, ſie ſetzen ſich nur zur Wehr, wenn man
ſie durch Anfaſſen der Füße reize. Ich fühlte mich nicht
aufgelegt, den Verſuch an mir ſelbſt zu machen.


Die Lufttemperatur auf der Silla ſchwankte zwiſchen
11 und 14°, je nachdem die Luft ſtill war oder der Wind
blies. Bekanntlich iſt es ſehr ſchwer, auf Berggipfeln die
Temperatur zu beſtimmen, nach der man die Barometerhöhe
zu berechnen hat. Der Wind kam aus Oſt, und dies ſcheint
zu beweiſen, daß der Seewind oder die Paſſatwinde in dieſer
Breite weit über 2920 m hinaufreichen. Leopold von Buch
hat die Beobachtung gemacht, daß auf dem Pik von Tenerifa,
nahe an der nördlichen Grenze der Paſſatwinde, in 3700 m
Meereshöhe, meiſt ein Gegenwind (vent de remou), der
Weſtwind, herrſcht. Die Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften
hatte die Phyſiker, welche den unglücklichen La Peyrouſe be-
gleiteten, aufgefordert, zur See unter den Tropen mittels
kleiner Luftballons zu beobachten, wie weit die Paſſate hinauf-
reichen. Dergleichen Unterſuchungen ſind ſehr ſchwierig, wenn
der Beobachter an der Erdoberfläche bleibt. Die kleinen
Ballons ſteigen meiſt nicht ſo hoch als die Silla, und das leichte
Gewölk, das ſich zuweilen in 5850 bis 7800 m Höhe zeigt, wie
z. B. die ſogenannten Schäfchen, ſtehen ſtill oder rücken ſo
langſam fort, daß ſich ihre Richtung nicht beſtimmen läßt.


Während der kurzen Zeit, wo der Himmel im Zenith
klar war, fand ich das Blau der Luft um ein Bedeutendes
dunkler als an der Küſte. Es war gleich 26,5° des Sauſſure-
ſchen Kyanometers. In Caracas zeigte dasſelbe Inſtrument
bei hellem, trockenem Wetter meiſt nur 18°. Wahrſcheinlich
iſt in den Monaten Juli und Auguſt der Unterſchied in dieſer
Beziehung zwiſchen der Küſte und dem Gipfel der Silla noch
viel bedeutender. Was aber unter allen meteorologiſchen Er-
ſcheinungen in der Stunde, die wir auf dem Berge zubrach-
ten, Bonpland und mich am meiſten überraſchte, war die an-
ſcheinende Trockenheit der Luft, die mit der Entwickelung des
Nebels noch zuzunehmen ſchien. Als ich den (Delucſchen)
Fiſchbeinhygrometer aus dem Kaſten nahm, um damit zu
experimentieren, zeigte er 52° (87° nach Sauſſure). Der
Himmel war hell; aber Dunſtſtreifen mit deutlichen Umriſſen
zogen von Zeit zu Zeit zwiſchen uns durch am Boden weg. Der
Delucſche Hygrometer ging auf 49° (85° nach Sauſſure) zu-
rück. Eine halbe Stunde ſpäter hüllte eine dicke Wolke uns
[144] ein; wir konnten die nächſten Gegenſtände nicht mehr er-
kennen und ſahen mit Erſtaunen, daß das Inſtrument fort-
während dem Trockenpunkte zuging, bis 47° (84° Sauſſure).
Die Lufttemperatur war dabei 12 bis 13°. Obgleich beim
Fiſchbeinhygrometer der Sättigungspunkt in der Luft nicht
bei 100° iſt, ſondern bei 84,5° (99° S.), ſo ſchien mir doch
dieſer Einfluß einer Wolke auf den Gang des Inſtrumentes
im höchſten Grade auffallend. Der Nebel dauerte lange ge-
nug, daß der Fiſchbeinſtreifen durch Anziehung der Waſſer-
teilchen ſich hätte verlängern können. Unſere Kleider wurden
nicht feucht. Ein in dergleichen Beobachtungen geübter Rei-
ſender verſicherte mich kürzlich, er habe auf der Montagne
pelée
auf Martinique eine Wolke ähnlich auf den Haarhygro-
meter wirken ſehen. Der Phyſiker hat die Verpflichtung,
die Erſcheinungen zu berichten, wie die Natur ſie bietet, zu-
mal wenn er nichts verſäumt hat, um Fehler in der Be-
obachtung zu vermeiden. Sauſſure ſah während eines heftigen
Regenguſſes, wobei ſein Hygrometer nicht naß wurde, den-
ſelben (faſt wie auf der Silla in der Wolke) auf 84,7°
(48,6° Deluc) ſtehen bleiben; man begreift aber leichter, daß
die Luft zwiſchen den Regentropfen nicht vollſtändig geſättigt
wird, als daß der Waſſerdunſt, der den hygroſkopiſchen Körper
unmittelbar berührt, denſelben nicht dem Sättigungspunkte
zutreibt. In welchem Zuſtande befindet ſich Waſſerdunſt, der
nicht naß macht und doch ſichtbar iſt? Man muß, glaube ich,
annehmen, daß ſich eine trockenere Luft mit der, in der ſich
die Wolke gebildet, gemiſcht hat, und daß die Dunſtbläschen,
die ein weit geringeres Volumen haben als die dazwiſchen
befindliche Luft, die glatte Fläche des Fiſchbeinſtreifens nicht
naß gemacht haben. Die durchſichtige Luft vor einer Wolke
kann zuweilen feuchter ſein als der Luftſtrom, der mit der
Wolke zu uns gelangt.


Es wäre unvorſichtig geweſen, in dieſem dichten Nebel
am Rande eines 2270 bis 2600 m hohen Abhanges länger
zu verweilen. Wir gingen wieder vom Oſtgipfel der Silla
herunter und nahmen dabei eine Grasart auf, die nicht nur
eine neue, ſehr intereſſante Gattung bildet, ſondern die wir
auch, zu unſerer großen Ueberraſchung, ſpäter auf dem Gipfel
des Vulkanes Pichincha in der ſüdlichen Halbkugel, 1800 km
von der Silla, wieder fanden.1Lichen floridus, der im
[145] nördlichen Europa überall vorkommt, bedeckte die Zweige der
Befaria und der Gaultheria odorata, und hing bis zur
Wurzel der Geſträuche nieder. Während ich die Mooſe unter-
ſuchte, welche den Gneis im Grunde zwiſchen beiden Gipfeln
überziehen, fand ich zu meiner Ueberraſchung echte Geſchiebe,
gerollte Quarzſtücke. Man ſieht leicht ein, daß das Thal
von Caracas einmal ein Landſee ſein kann, ehe der Guayre-
fluß gegen Oſt bei Caurimare, am Fuße des Hügels Auyamas
durchbrach, und ehe die Tijeſchlucht ſich nach Weſt gegen Catia
und Cabo Blanco zu geöffnet hatte; aber wie könnte das
Waſſer je bis zum Fuße des Sillagipfels geſtiegen ſein, da
die dieſem Gipfel gegenüberliegenden Berge von Ocumare ſo
niedrig ſind, daß das Waſſer über ſie in die Llanos hätte
abfließen müſſen? Die Geſchiebe können nicht von höheren
Punkten hergeſchwemmt ſein, weil keine Höhe ringsum die
Silla überragt. Soll man annehmen, daß ſie mit der ganzen
Bergkette längs des Meeresufers emporgehoben worden ſind?


Es war 4½ Uhr abends, als wir mit unſeren Beob-
achtungen fertig waren. In der Freude über den glücklichen
Erfolg unſerer Reiſe dachten wir nicht daran, daß der Weg
abwärts im Finſtern über ſteile, mit kurzem glatten Raſen
bedeckte Abhänge gefährlich ſein könnte. Wegen des Nebels
konnten wir nicht in das Thal hinunterſehen; wir ſahen aber
deutlich den Doppelhügel der Puerta, und derſelbe erſchien,
wie immer die Gegenſtände, die faſt ſenkrecht unter einem
liegen, ganz auffallend nahe gerückt. Wir gaben den Ge-
danken auf, zwiſchen den beiden Gipfeln der Silla zu über-
nachten, und nachdem wir den Weg wieder gefunden, den wir
uns im Heraufſteigen durch den dichten Helikonienbuſch ge-
bahnt, kamen wir in den Pejual, in die Region der wohl-
riechenden und harzigen Sträucher. Die herrlichen Befarien,
ihre mit großen Purpurblüten bedeckten Zweige nahmen uns
wieder ganz in Anſpruch. Wenn man in dieſen Erdſtrichen
Pflanzen für Herbarien ſammelt, iſt man um ſo wähleriſcher,
je üppiger die Vegetation iſt. Man wirft Zweige, die man
eben abgeſchnitten, wieder weg, weil ſie einem nicht ſo ſchön
vorkommen als Zweige, die man nicht erreichen konnte. Wen-
det man endlich, mit Pflanzen beladen, dem Buſchwerk den
Rücken, ſo will es einen faſt reuen, daß man nicht noch mehr
mitgenommen. Wir hielten uns ſo lange im Pejual auf,
daß die Nacht uns überraſchte, ehe wir in 1750 m Höhe die
Savanne betraten.


A. v. Humboldt, Reiſe. II. 10
[146]

Da es zwiſchen den Wendekreiſen faſt keine Dämmerung
gibt, ſieht man ſich auf einmal aus dem hellſten Tageslicht
in Finſternis verſetzt. Der Mond ſtand über dem Horizont;
ſeine Scheibe ward zuweilen durch dicke Wolken bedeckt, die
ein heftiger kalter Wind über den Himmel jagte. Die ſteilen,
mit gelbem trockenem Graſe bewachſenen Abhänge lagen bald
im Schatten, bald wurden ſie auf einmal wieder beleuchtet
und erſchienen dann als Abgründe, in deren Tiefe man nieder-
ſah. Wir gingen in einer Reihe hintereinander; man ſuchte
ſich mit den Händen zu halten, um nicht zu fallen und den
Berg hinabzurollen. Von den Führern, welche unſere In-
ſtrumente trugen, fiel einer um den anderen ab, um auf dem
Berge zu übernachten. Unter denen, die bei uns blieben, war
ein Congoneger, deſſen Gewandtheit ich bewunderte; er trug
einen großen Inklinationskompaß auf dem Kopf und hielt
die Laſt trotz der ungemeinen Steilheit des Abhanges beſtändig
im Gleichgewicht. Der Nebel im Thale war nach und nach
verſchwunden. Die zerſtreuten Lichter, die wir tief unter uns
ſahen, täuſchten uns in doppelter Beziehung; einmal ſchien
der Abhang noch gefährlicher, als er wirklich war, und dann
meinten wir in den ſechs Stunden, in denen wir beſtändig
abwärts gingen, den Höfen am Fuße der Silla immer gleich
nahe zu ſein. Wir hörten ganz deutlich Menſchenſtimmen
und die ſchrillen Töne der Guitarren. Der Schall pflanzt
ſich von unten nach oben meiſt ſo gut fort, daß man in einem
Luftballon bisweilen in 5850 m Höhe die Hunde bellen hört.1


Erſt um 10 Uhr abends kamen wir äußerſt ermüdet und
durſtig im Thale an. Wir waren fünfzehn Stunden lang
faſt beſtändig auf den Beinen geweſen; der rauhe Felsboden
und die dürren harten Grasſtoppeln hatten uns die Fußſohlen
zerriſſen, denn wir hatten die Stiefeln ausziehen müſſen, weil
die Sohlen zu glatt geworden waren. An Abhängen, wo
weder Sträucher, noch holzige Kräuter wachſen, an denen man
ſich mit den Händen halten kann, kommt man barfuß ſicherer
herab. Um Weg abzuſchneiden, führte man uns von der
Puerta zum Hofe Gallegos über einen Fußpfad, der zu einem
Waſſerſtück, El Tanque genannt, führt. Man verfehlte den
Fußpfad, und auf dieſem letzten Wegſtück, wo es am aller-
ſteilſten abwärts ging, kamen wir in die Nähe der Schlucht
[147] Chacaito. Durch den Donner der Waſſerfälle erhielt das
nächtliche Bild einen wilden, großartigen Charakter.


Wir übernachteten am Fuße der Silla; unſere Freunde
in Caracas hatten uns durch Fernrohre auf dem öſtlichen
Berggipfel ſehen können. Mit Teilnahme hörte man unſere
beſchwerliche Bergfahrt beſchreiben, aber mit einer Meſſung,
nach der die Silla nicht einmal ſo hoch ſein ſollte als der
höchſte Pyrenäengipfel,1 war man ſehr ſchlecht zufrieden. Wer
möchte ſich über eine nationale Vorliebe aufhalten, die ſich
in einem Lande, wo von Denkmälern der Kunſt keine Rede
iſt, an Naturdenkmale hängt? Kann man ſich wundern, wenn
die Einwohner von Quito und Riobamba, deren Stolz ſeit
Jahrhunderten die Höhe ihres Chimborazo iſt, von Meſſungen
nichts wiſſen wollen, nach denen das Himalayagebirge in
Indien alle Koloſſe der Kordilleren überragt?


[[148]]

Vierzehntes Kapitel.


Erdbeben von Caracas. — Zuſammenhang zwiſchen dieſer Erſchei-
nung und den vulkaniſchen Ausbrüchen auf den Antillen.


Wir verließen Caracas am 7. Februar in der Abend-
kühle, um unſere Reiſe an den Orinoko anzutreten. Die Er-
innerung an dieſen Abſchied iſt uns heute ſchmerzlicher als
vor einigen Jahren. Unſere Freunde haben in den blutigen
Bürgerkriegen, die jenen fernen Ländern die Freiheit jetzt
brachten, jetzt wieder entriſſen, das Leben verloren. Das
Haus, in dem wir wohnten, iſt nur noch ein Schutthaufen.
Furchtbare Erdbeben haben die Bodenfläche umgewandelt; die
Stadt, die ich beſchrieben habe, iſt verſchwunden. An der-
ſelben Stelle, auf dieſem zerklüfteten Boden, erhebt ſich all-
mählich eine neue Stadt. Die Trümmerhaufen, die Gräber
einer zahlreichen Bevölkerung, dienen bereits wieder Menſchen
zur Wohnung.


Die großen Ereigniſſe, von denen ich hier ſpreche, und
welche die allgemeinſte Teilnahme erregt haben, fallen lange
nach meiner Rückkehr nach Europa. Ueber die politiſchen
Stürme, über die Veränderungen, welche in den geſellſchaft-
lichen Zuſtänden eingetreten, gehe ich hier weg. Die neueren
Völker ſind bedacht für ihren Ruf bei der Nachwelt und ver-
zeichnen ſorgfältig die Geſchichte der menſchlichen Umwälzungen,
und damit die Geſchichte ungezügelter Leidenſchaften und ein-
gewurzelten Haſſes. Mit den Umwälzungen in der äußeren
Natur iſt es anders; man kümmert ſich wenig darum, ſie
genau zu beſchreiben, vollends nicht, wenn ſie in die Zeiten
bürgerlicher Zwiſte fallen. Die Erdbeben, die vulkaniſchen
Ausbrüche wirken gewaltig auf die Einbildungskraft wegen
des Unheils, das notwendig ihre Folge iſt. Die Ueberlieferung
greift vorzugsweiſe nach allem Geſtaltloſen und Wunderbaren,
und bei großen allgemeinen Unfällen, wie beim Unglück des
[149] einzelnen, ſcheut der Menſch das Licht, das ihm die wahren
Urſachen des Geſchehenen zeigte und die begleitenden Um-
ſtände erkennen ließe. Ich glaubte, in dieſem Werke nieder-
legen zu ſollen, was ich an zuverläſſiger Kunde über die Erd-
ſtöße zuſammengebracht, die am 26. März 1812 die Stadt
Caracas zerſtört und in der Provinz Venezuela faſt in einem
Augenblick über zwanzigtauſend Menſchen das Leben gekoſtet
haben. Die Verbindungen, die ich fortwährend mit Leuten
aller Stände unterhalten, ſetzten mich in den Stand, die Be-
richte mehrerer Augenzeugen zu vergleichen und Fragen über
Punkte an ſie zu richten, an deren Aufklärung der Wiſſen-
ſchaft vorzugsweiſe gelegen iſt. Als Geſchichtſchreiber der
Natur hat der Reiſende die Zeit des Eintrittes großer Kata-
ſtrophen feſtzuſtellen, ihren Zuſammenhang und ihre gegen-
ſeitigen Verhältniſſe zu unterſuchen, und im raſchen Ablauf
der Zeit, im ununterbrochenen Zuge ſich drängender Ver-
wandlungen feſte Punkte zu bezeichnen, mit denen einſt andere
Kataſtrophen vergleichen werden mögen. In der unermeßlichen
Zeit, welche die Geſchichte der Natur umfaßt, rücken alle Zeit-
punkte des Geſchehenen nahe zuſammen; die verfloſſenen Jahre
erſcheinen wie Augenblicke, und wenn die phyſiſche Beſchrei-
bung eines Landes von keinem allgemeinen und überhaupt
von keinem großen Intereſſe iſt, ſo hat ſie zum wenigſten den
Vorteil, daß ſie nicht veraltet. Betrachtungen dieſer Art haben
La Condamine bewogen, die denkwürdigen Ausbrüche des
Vulkanes Cotopaxi,1 die lange nach ſeinem Abgange von Quito
ſtattgefunden, in ſeiner „Reiſe zum Aequator“ zu beſchreiben.
Ich glaube dem Beiſpiel des großen Gelehrten deſto unbe-
ſorgter vor irgend welchem Vorwurf folgen zu dürfen, da die
Ereigniſſe, die ich zu beſchreiben gedenke, für die Theorie von
den vulkaniſchen Reaktionen ſprechen, das heißt für den
Einfluß, den ein Syſtem von Vulkanen auf den weiten
Landſtrich umher ausübt.


Als Bonpland und ich in den Provinzen Neuandaluſien,
Nueva Barcelona und Caracas uns aufhielten, war die Mei-
nung allgemein verbreitet, daß die am weiteſten nach Oſten
gelegenen Striche dieſer Küſten den verheerenden Wirkungen
der Erdbeben am meiſten ausgeſetzt ſeien. Die Einwohner
von Cumana ſcheuten das Thal von Caracas wegen des
[150] feuchten, veränderlichen Klimas, wegen des umzogenen, trüb-
ſeligen Himmels. Die Bewohner dieſes kühlen Thales da-
gegen ſprachen von Cumana als von einer Stadt, wo man
jahraus, jahrein eine erſtickend heiße Luft atme und wo der
Boden von heftigen Erdſtößen erſchüttert werde. Selbſt Ge-
bildete dachten nicht an die Verwüſtung von Riobamba und
anderen hochgelegenen Städten; ſie wußten nicht, daß die
Erſchütterung des Kalkſteins an der Küſte von Cumana ſich
in die aus Glimmerſchiefer beſtehende Halbinſel Araya fort-
pflanzt, und ſo waren ſie der Meinung, daß Caracas ſo-
wohl wegen des Baues ſeines Urgebirges als wegen der
hohen Lage der Stadt nichts zu beſorgen habe. Feierliche
Gottesdienſte, die in Guayra und in der Hauptſtadt ſelbſt
bei nächtlicher Weile begangen wurden,1 mahnten ſie aller-
dings daran, daß von Zeit zu Zeit die Provinz Venezuela
von Erdbeben heimgeſucht worden war; aber Gefahren, die
ſelten wiederkehren, machen einem wenig bange. Im Jahre
1811 ſollte eine gräßliche Erfahrung eine ſchmeichelnde Theorie
und den Volksglauben über den Haufen werfen. Caracas,
3° weſtlich von Cumana und 5° weſtlich vom Meridian
der vulkaniſchen Karibiſchen Inſeln, erlitt heftigere Stöße,
als man je auf den Küſten von Paria und Neuandaluſien
geſpürt.


Gleich nach meiner Ankunft in Terra Firma war mir
der Zuſammenhang zwiſchen zwei Naturereigniſſen, zwiſchen
der Zerſtörung von Cumana am 14. Dezember 1797 und dem
Ausbruch der Vulkane auf den Kleinen Antillen, aufgefallen.
Etwas Aehnliches zeigte ſich nun auch bei der Verwüſtung
von Caracas am 26. März 1812. Im Jahre 1797 ſchien
der Vulkan der Inſel Guadeloupe auf die Küſte von Cumana
reagiert zu haben; 15 Jahre ſpäter wirkte, wie es ſcheint,
ein dem Feſtlande näher liegender Vulkan, der auf San Vin-
cent, in derſelben Weiſe bis nach Caracas und an den Apure
hin. Wahrſcheinlich lag beidemal der Herd des Ausbruches
in ungeheurer Tiefe, gleich weit von den Punkten der Erd-
oberfläche, bis zu welchen die Bewegung ſich fortpflanzte.


[151]

Von Anfang des Jahres 1811 bis 1813 wurde ein be-
trächtliches Stück der Erdfläche zwiſchen den Azoren und dem
Thale des Ohio, den Kordilleren von Neugranada, den Küſten
von Venezuela und den Vulkanen der Kleinen Antillen faſt
zu gleicher Zeit durch heftige Stöße erſchüttert, die man einem
unterirdiſchen Feuerherde zuſchreiben kann. Ich zähle hier
die Erſcheinungen auf, welche es wahrſcheinlich machen, daß
auf ungeheure Diſtanzen Verbindungen beſtehen. Am 30. Ja-
nuar 1811 brach bei einer der Azoriſchen Inſeln, bei San
Michael, ein unterſeeiſcher Vulkan aus. An einer Stelle, wo
die See 110 m tief iſt, hob ſich ein Fels über den Waſſer-
ſpiegel. Die erweichte Erdkruſte ſcheint emporgehoben worden
zu ſein, ehe die Flammen aus dem Krater hervorbrachen, wie
dies auch bei den Vulkanen von Jorullo in Mexiko und bei
der Bildung der Inſel Klein-Kameni bei Santorin beobachtet
wurde. Das neue Eiland bei den Azoren war anfangs nur
eine Klippe, aber am 15. Juli erfolgte ein ſechstägiger Aus-
bruch, durch den die Klippe immer größer und nach und nach
97 m über dem Meeresſpiegel hoch wurde. Dieſes neue Land,
das Kapitän Tillard alsbald im Namen der großbritanniſchen
Regierung in Beſitz nahm und Sabrina nannte, hatte 1750 m
Durchmeſſer. Das Meer ſcheint die Inſel wieder verſchlungen
zu haben. Es iſt dies das dritte Mal, daß bei der Inſel
San Michael unterſeeiſche Vulkane ſo außerordentliche Er-
ſcheinungen hervorbringen, und als wären die Ausbrüche dieſer
Vulkane an eine gewiſſe Periode gebunden, in der ſich jedes-
mal elaſtiſche Flüſſigkeiten bis zu einem beſtimmten Grade
angehäuft, kam das emporgehobene Eiland je nach 91 oder
92 Jahren wieder zum Vorſchein. Es iſt zu bedauern, daß
trotz der Nähe keine europäiſche Regierung, keine gelehrte
Geſellſchaft Phyſiker und Geologen nach den Azoren geſchickt
hat, um eine Erſcheinung näher unterſuchen zu laſſen, durch
welche für die Geſchichte der Vulkane und des Erdballes über-
haupt ſo viel gewonnen werden konnte.


Zur Zeit, als das neue Eiland Sabrina erſchien, wurden
die Kleinen Antillen, 3600 km ſüdweſtwärts von den Azoren
gelegen, häufig von Erdbeben heimgeſucht. Vom Mai 1811
bis April 1812 ſpürte man auf der Inſel San Vincent,
einer der drei Antillen mit thätigen Vulkanen, über 200 Erd-
ſtöße. Die Bewegungen beſchränkten ſich aber nicht auf das
Inſelgebiet von Südamerika. Vom 16. Dezember 1811 an
bebte die Erde in den Thälern des Miſſiſſippi, des Arkanſas
[152] und Ohio faſt unaufhörlich. Im Oſten der Alleghanies waren
die Schwingungen ſchwächer als im Weſten, in Tenneſſee und
Kentucky. Sie waren von einem ſtarken unterirdiſchen Getöſe
begleitet, das von Südweſt herkam. Auf einigen Punkten
zwiſchen Neumadrid und Little Prairie, wie beim Salzwerk
nördlich von Cincinnati unter 34° 45′ der Breite, ſpürte man
mehrere Monate lang täglich, ja faſt ſtündlich Erdſtöße. Sie
dauerten im ganzen vom 16. Dezember 1811 bis ins Jahr
1813. Die Stöße waren anfangs auf den Süden, auf das
untere Miſſiſſippithal beſchränkt, ſchienen ſich aber allmählich
gegen Norden fortzupflanzen.


Um dieſelbe Zeit nun, wo in den Staaten jenſeits der
Alleghanies dieſe lange Reihe von Erderſchütterungen anhob,
im Dezember 1811, ſpürte man in der Stadt Caracas den
erſten Erdſtoß bei ſtiller, heiterer Luft. Dieſes Zuſammen-
treffen war ſchwerlich ein zufälliges, denn man muß bedenken,
daß, ſo weit auch die betreffenden Länder auseinander liegen,
die Niederungen von Louiſiana und die Küſten von Venezuela
und Cumana demſelben Becken, dem Meere der Antillen,
angehören. Dieſes Mittelmeer mit mehreren Aus-
gängen
iſt von Südoſt nach Nordweſt gerichtet, und es
ſcheint ſich früher über die weiten, allmählich 58,95 und 156 m
über das Meer anſteigenden, aus ſekundären Gebirgsarten
beſtehenden, vom Ohio, Miſſouri, Arkanſas und Miſſiſſippi
durchſtrömten Ebenen forterſtreckt zu haben. Aus geologiſchem
Geſichtspunkte betrachtet, erſcheinen als Begrenzung des See-
beckens der Antillen und des Meerbuſens von Mexiko im
Süden die Küſtenbergkette von Venezuela und die Kordilleren
von Merida und Pamplona, im Oſten die Gebirge der An-
tillen und die Alleghanies, im Weſten die Anden von Mexiko
und die Rocky Mountains, im Norden die unbedeutenden
Höhenzüge zwiſchen den kanadiſchen Seen und den Neben-
flüſſen des Miſſiſſippi. Ueber zwei Dritteile dieſes Beckens
ſind mit Waſſer bedeckt. Zwei Reihen thätiger Vulkane faſſen
es ein: oſtwärts auf den Kleinen Antillen, zwiſchen dem 13.
und 16. Grad der Breite, weſtwärts in den Kordilleren von
Nicaragua, Guatemala und Mexiko, zwiſchen dem 11. und
20. Grad. Bedenkt man, daß das große Erdbeben von Liſſabon
am 1. November 1755 faſt im ſelben Augenblick an der Küſte
von Schweden, am Ontarioſee und auf Martinique geſpürt
wurde, ſo kann die Annahme nicht zu keck erſcheinen, daß das
ganze Becken der Antillen von Cumana und Caracas bis zu
[153] den Ebenen von Louiſiana zuweilen gleichzeitig durch Stöße
erſchüttert werden kann, die von einem gemeinſamen Herde
ausgehen.


Auf den Küſten von Terra Firma herrſcht allgemein der
Glaube, die Erdbeben werden häufiger, wenn ein paar Jahre
lang die elektriſchen Entladungen in der Luft auffallend ſelten
geweſen ſind. Man wollte in Cumana und Caracas die Beob-
achtung gemacht haben, daß ſeit dem Jahre 1792 die Regen-
güſſe nicht ſo oft als ſonſt von Blitz und Donner begleitet
geweſen, und man war ſchnell bei der Hand, ſowohl die gänz-
liche Zerſtörung von Cumana im Jahre 1799 als die Erd-
ſtöße, die man 1800, 1801 und 1802 in Maracaybo, Porto
Cabello und Caracas geſpürt, „einer Anhäufung der Elek-
trizität im Inneren der Erde“ zuzuſchreiben. Wenn man lange
in Neuandaluſien oder in den Niederungen von Peru gelebt
hat, kann man nicht wohl in Abrede ziehen, daß zu Anfang
der Regenzeit, alſo eben zur Zeit der Gewitter, das Auftreten
von Erdbeben am meiſten zu beſorgen iſt. Die Luft und die
Beſchaffenheit der Erdoberfläche ſcheinen auf eine uns noch
ganz unbekannte Weiſe auf die Vorgänge in großen Tiefen
Einfluß zu äußern, und wenn man einen Zuſammenhang
zwiſchen der Seltenheit der Gewitter und der Häufigkeit der
Erdbeben bemerkt haben will, ſo gründet ſich dies, meiner
Meinung nach, keineswegs auf lange Erfahrung, ſondern iſt
nur eine Hypotheſe der Halbgelehrten im Lande. Gewiſſe
Erſcheinungen können zufällig zuſammentreffen. Den auf-
fallend ſtarken Stößen, die man am Miſſiſſippi und Ohio
zwei Jahre lang faſt beſtändig ſpürte, und die im Jahre
1812 mit denen im Thale von Caracas zuſammentrafen,
ging in Louiſiana ein faſt gewitterloſes Jahr voran, und
dies fiel wieder allgemein auf. Es kann nicht wunder nehmen,
wenn man im Vaterlande Franklins zur Erklärung von
Erſcheinungen gar gern die Lehre von der Elektrizität her-
beizieht.


Der Stoß, den man im Dezember 1811 in Caracas ſpürte,
war der einzige, der der ſchrecklichen Kataſtrophe am 26. März
1812 voranging. Man wußte in Terra Firma nichts davon,
daß einerſeits der Vulkan auf San Vincent ſich rührte und
andererſeits am 7. und 8. Februar 1812 im Becken des Miſ-
ſiſſippi die Erde Tag und Nacht fortbebte. Um dieſe Zeit
herrſchte in der Provinz Venezuela große Trockenheit. In
Caracas und 400 km in der Runde war in den fünf Monaten
[154] vor dem Untergang der Hauptſtadt kein Tropfen Regen ge-
fallen. Der 26. März war ein ſehr heißer Tag; die Luft war
ſtill, der Himmel unbewölkt. Es war Gründonnerstag, und
ein großer Teil der Bevölkerung in den Kirchen. Nichts ver-
kündete die Schrecken dieſes Tages. Um 4 Uhr 7 Minuten
abends ſpürte man den erſten Erdſtoß. „Er war ſo ſtark,
daß die Kirchenglocken anſchlugen, und währte 5 bis 6 Se-
kunden. Unmittelbar darauf folgte ein anderer, 10 bis 12 Se-
kunden dauernder, währenddeſſen der Boden in beſtändiger
Wellenbewegung war wie eine kochende Flüſſigkeit. Schon
meinte man, die Gefahr ſei vorüber, als ſich unter dem Boden
ein furchtbares Getöſe hören ließ. Es glich dem Rollen des
Donners; es war aber ſtärker und dauerte länger als der
Donner in der Gewitterzeit unter den Tropen. Dieſem Ge-
töſe folgte eine ſenkrechte, etwa 3 bis 4 Sekunden anhaltende
Bewegung und dieſer wiederum eine etwas längere wellen-
förmige Bewegung. Die Stöße erfolgten in entgegegengeſetzter
Richtung, von Nord nach Süd und von Oſt nach Weſt.
Dieſer Bewegung von unten nach oben und dieſen ſich kreu-
zenden Schwingungen konnte nichts widerſtehen. Die Stadt
Caracas wurde völlig über den Haufen geworfen. Tauſende
von Menſchen (zwiſchen 9000 und 10000) wurden unter den
Trümmern der Kirchen und Häuſer begraben. Die Prozeſſion
war noch nicht ausgezogen, aber der Zudrang zu den Kirchen
war ſo groß, daß 3000 bis 4000 Menſchen von den ein-
ſtürzenden Gewölben erſchlagen wurden. Die Exploſion war
am ſtärkſten auf der Nordſeite, im Stadtteil, der dem Berge
Avila und der Silla am nächſten liegt. Die Kirchen della
Trinidad und Alta Gracia, die über 50 m hoch waren und
deren Schiff von 3 bis 4 m dicken Pfeilern getragen wurde,
lagen als kaum 1,5 bis 2 m hohe Trümmerhaufen da. Der
Schutt hat ſich ſo ſtark geſetzt, daß man jetzt faſt keine Spur
mehr von Pfeilern und Säulen findet. Die Kaſerne El Quartel
de San Carlos,
die nördlich von der Kirche Della Trinidad
auf dem Wege nach dem Zollhauſe Paſtora lag, verſchwand
faſt völlig. Ein Regiment Linientruppen ſtand unter den
Waffen, um ſich der Prozeſſion anzuſchließen; es wurde, wenige
Mann ausgenommen, unter den Trümmern des großen Ge-
bäudes begraben. Neun Zehnteile der ſchönen Stadt Caracas
wurden völlig verwüſtet. Die Häuſer, die nicht zuſammen-
ſtürzten, wie in der Straße San Juan beim Kapuzinerkloſter,
erhielten ſo ſtarke Riſſe, daß man nicht wagen konnte, darin
[155] zu bleiben. Im ſüdlichen und weſtlichen Teile der Stadt,
zwiſchen dem großen Platz und der Schlucht des Caraguata
waren die Wirkungen des Erdbebens etwas geringer. Hier
blieb die Hauptkirche mit ihren ungeheuren Strebepfeilern
ſtehen.“ 1


Bei der Angabe von 9000 bis 10000 Toten in Caracas
ſind die Unglücklichen nicht gerechnet, die, ſchwer verwundet,
erſt nach Monaten aus Mangel an Nahrung und Pflege zu
Grunde gingen. Die Nacht vom Donnerstag zum Karfreitag
bot ein Bild unſäglichen Jammers und Elends. Die dicke
Staubwolke, welche über den Trümmern ſchwebte und wie
ein Nebel die Luft verfinſterte, hatte ſich zu Boden geſchlagen.
Kein Erdſtoß war mehr zu ſpüren, es war die ſchönſte, ſtillſte
Nacht. Der faſt volle Mond beleuchtete die runden Gipfel
der Silla, und am Himmel ſah es ſo ganz anders aus als
auf der mit Trümmern und Leichen bedeckten Erde. Man
ſah Mütter mit den Leichen ihrer Kinder in den Armen, die
ſie wieder zum Leben zu bringen hofften; Familien liefen
jammernd durch die Stadt und ſuchten einen Bruder, einen
Gatten, einen Freund, von denen man nichts wußte und die
ſich in der Volksmenge verloren haben mochten. Man drängte
ſich durch die Straßen, die nur noch an den Reihen von
Schutthaufen kenntlich waren.


Alle Schrecken der großen Kataſtrophen von Liſſabon,
Meſſina, Lima und Riobamba wiederholten ſich am Unglücks-
tage des 26. März 1812. „Die unter den Trümmern be-
grabenen Verwundeten riefen die Vorübergehenden laut um
Hilfe an, und es wurden auch über 2000 hervorgezogen. Nie
hat ſich das Mitleid rührender, man kann ſagen ſinnreicher
beſtätigt als hier, wo es galt, zu den Unglücklichen zu dringen,
die man jammern hörte. Es fehlte völlig an Werkzeugen zum
Graben und Wegräumen des Schuttes; man mußte die noch
Lebenden mit den Händen ausgraben. Man brachte die Ver-
wundeten und die Kranken, die ſich aus den Spitälern ge-
rettet, am Ufer des Guayre unter, aber hier fanden ſie kein
Obdach als das Laub der Bäume. Betten, Leinwand zum
Verbinden der Wunden, chirurgiſche Inſtrumente, alles Un-
entbehrliche lag unter den Trümmern begraben. Es fehlte
an allem, in den erſten Tagen ſogar an Lebensmitteln, und
[156] im Inneren der Stadt ging vollends das Waſſer aus. Das
Erdbeben hatte die Leitungsröhren der Brunnen zertrümmert
und Erdſtürze hatten die Quellen verſchüttet. Um Waſſer zu
bekommen, mußte man zum Guayre hinunter, der bedeutend
angeſchwollen war, und es fehlte an Gefäßen.


„Den Toten die letzte Ehre zu erweiſen, war ſowohl
ein Werk der Pietät, als bei der Beſorgnis vor Verpeſtung
der Luft geboten. Da es geradezu unmöglich war, ſo viele
tauſend halb unter den Trümmern ſteckende Leichen zu be-
erdigen, ſo wurde eine Kommiſſion beauftragt, ſie zu ver-
brennen. Man errichtete zwiſchen den Trümmern Scheiter-
haufen, und die Leichenfeier dauerte mehrere Tage. Im all-
gemeinen Jammer flüchtete das Volk zur Andacht und zu
Ceremonien, mit denen es den Zorn des Himmels zu be-
ſchwichtigen hoffte. Die einen traten zu Bittgängen zu-
ſammen und ſangen Trauerchöre; andere halb ſinnlos, beich-
teten laut auf der Straße. Da geſchah auch hier, was in
der Provinz Quito nach dem furchtbaren Erdbeben vom
4. Februar 1797 vorgekommen war: viele Perſonen, die ſeit
langen Jahren nicht daran gedacht hatten, den Segen der
Kirche für ihre Verbindung zu ſuchen, ſchloſſen den Bund der
Ehe; Kinder fanden ihre Eltern, von denen ſie bis jetzt ver-
leugnet worden; Leute, die niemand eines Betruges beſchuldigt
hatte, gelobten Erſatz zu leiſten; Familien, die lange in Feind-
ſchaft gelebt, verſöhnten ſich im Gefühl des gemeinſamen Un-
glücks.“ Wenn dieſes Gefühl auf die einen verſittlichend
wirkte und das Herz für das Mitleid aufſchloß, wirkte es in
anderen das Gegenteil: ſie wurden nur noch hartherziger und
unmenſchlicher. In großen Unfällen geht in gemeinen Seelen
leichter der Edelmut verloren als die Kraft; denn es geht im
Unglück wie bei der wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung mit der
Natur: nur auf die wenigſten wirkt ſie veredelnd, gibt dem
Gefühl mehr Wärme, den Gedanken höheren Schwung, und
der ganzen Geſinnung mehr Milde.


„So heftige Stöße, welche in einer Minute 1 die Stadt
Caracas über den Haufen warfen, konnten ſich nicht auf einen
[157] kleinen Erdſtrich des Feſtlandes beſchränken. Ihre verheeren-
den Wirkungen verbreiteten ſich über die Provinzen Venezuela,
Varinas und Maracaybo, der Küſte entlang, beſonders aber
in die Gebirge im Inneren. Guayra, Mayquetia, Antimano,
Baruta, La Vega, San Felipe und Merida wurden faſt gänz-
lich zerſtört. In Guayra und in Villa de San Felipe bei
den Kupferminen von Aroa kamen wenigſtens 4000 bis 5000
Menſchen ums Leben. Auf einer Linie, die von Guayra und
Caracas von Oſt-Nord-Oſt nach Weſt-Süd-Weſt den hohen
Gebirgen von Niquitao und Merida zuläuft, ſcheint das Erd-
beben am ſtärkſten geweſen zu ſein. Man ſpürte es im König-
reich Neugranada von den Ausläufern der hohen Sierra de
Santa Marta bis Santa Fé de Bogota und Honda am
Magdalenenſtrom, 810 km von Caracas. Ueberall war es in
den Kordilleren aus Gneis und Glimmerſchiefer oder un-
mittelbar an ihrem Fuße ſtärker als in der Ebene. Dieſer
Unterſchied war beſonders auffallend in den Savannen von
Varinas und Caſanare. (In dem geologiſchen Syſtem, nach
dem alle vulkaniſchen und nicht vulkaniſchen Gebirge auf
Spalten emporgeſtiegen ſind, erklärt ſich dieſer Unterſchied
leicht.) In den Thälern von Aragua zwiſchen Caracas und
der Stadt San Felipe waren die Stöße ganz ſchwach. Vik-
toria, Maracay, Valencia, obgleich nahe bei der Hauptſtadt,
litten ſehr wenig. In Valecillo, einige Meilen von Valencia,
ſpie der geborſtene Boden ſolche Waſſermaſſen aus, daß ſich
ein neuer Bach bildete; dasſelbe ereignete ſich in Porto Ca-
bello. Dagegen nahm der See von Maracaybo merkwürdig
ab. In Coro fühlte man keine Erſchütterung, und doch liegt
die Stadt an der Küſte, zwiſchen Städten, die gelitten haben.“ —
Fiſcher, die den 26. März auf der Inſel Orchila, 135 km
öſtlich von Guayra, zugebracht hatten, ſpürten keine Stöße.
Dieſe Abweichungen in der Richtung und Fortpflanzung des
Stoßes rühren wahrſcheinlich von der eigentümlichen Lagerung
der Geſteinsſchichten her.


Wir haben im bisherigen die Wirkungen des Erdbebens
weſtlich von Caracas bis zu den Schneegebirgen von Santa
Marta und zu der Hochebene von Santa Fé de Bogota ver-
folgt. Wir wenden uns jetzt zum Landſtriche oſtwärts von der
Hauptſtadt. Jenſeits Caurimare, im Thale von Capaya,
waren die Erſchütterungen ſehr ſtark und reichten bis zum
Meridian vom Kap Codera; es iſt aber höchſt merkwürdig,
daß ſie an den Küſten von Nueva Barcelona, Cumana und
[158] Paria ſehr ſchwach waren, obgleich dieſe Küſten eine Fortſetzung
des Litorales von Guayra und von alters her dafür bekannt
ſind, daß ſie oft von unterirdiſchen Bebungen heimgeſucht
werden. Ließe ſich annehmen, die gänzliche Zerſtörung der
vier Städte Caracas, Guayra, San Felipe und Merida ſei
von einem vulkaniſchen Herde unter der Inſel San Vincent
oder in der Nähe ausgegangen, ſo würde begreiflich, wie die
Bewegung ſich von Nordoſt nach Südweſt auf einer Linie, die
über die Eilande Los Hermanos bei Blanquilla läuft, fort-
pflanzen konnte, ohne die Küſten von Araya, Cumana und
Nueva Barcelona zu berühren. Ja, der Stoß konnte ſich auf
dieſe Weiſe fortpflanzen, ohne daß die dazwiſchen liegenden
Punkte, z. B. die Eilande Hermanos, die geringſte Erſchütte-
rung empfanden. Dieſe Erſcheinung kommt in Peru und
Mexiko häufig bei Erdbeben vor, die ſeit Jahrhunderten eine
beſtimmte Richtung einhalten. Die Bewohner der Anden
haben einen naiven Ausdruck für einen Landſtrich, der an der
Bebung ringsum keinen Teil nimmt; ſie ſagen, „er macht
eine Brücke“ (que hace puente), wie um anzudeuten, daß
die Schwingungen ſich in ungeheurer Tiefe unter einer ruhig
bleibenden Gebirgsart fortpflanzen.


Fünfzehn bis achtzehn Stunden lang nach der großen
Kataſtrophe blieb der Boden ruhig. Die Nacht war, wie ſchon
oben geſagt, ſchön und ſtill, und erſt nach dem 27. fingen die
Stöße wieder an, und zwar begleitet von einem ſehr ſtarken
und ſehr anhaltenden unterirdiſchen Getöſe (bramido). Die
Einwohner von Caracas zerſtreuten ſich in der Umgegend; da
aber Dörfer und Höfe ſo ſtark gelitten hatten wie die Stadt,
fanden ſie erſt jenſeits der Berge Los Teques, in den Thälern
von Aragua und in den Llanos Obdach. Man ſpürte oft
15 Schwingungen an einem Tage. Am 5. April erfolgte
ein Erdbeben, faſt ſo ſtark wie das, in dem die Hauptſtadt
untergegangen. Der Boden bewegte ſich mehrere Stunden
lang wellenförmig auf und ab. In den Gebirgen gab es
große Erdfälle; ungeheure Felsmaſſen brachen von der Silla
los. Man behauptete ſogar — und dieſe Meinung iſt noch
jetzt im Lande weit verbreitet — die beiden Kuppeln der
Silla ſeien um 95 bis 115 m niedriger geworden; aber dieſe
Behauptung ſtützt ſich auf keine Meſſung. Wie ich gehört,
bildet man ſich auch in der Provinz Quito nach allen großen
Erſchütterungen ein, der Vulkan Tunguragua ſei niedriger
geworden.


[159]

In mehreren aus Anlaß der Zerſtörung von Caracas
veröffentlichten Nachrichten wird behauptet: „Die Silla ſei ein
erloſchener Vulkan, man finde viele vulkaniſche Produkte auf
dem Wege von Guayra nach Caracas, das Geſtein ſei dort
nirgends regelmäßig geſchichtet und zeige überall Spuren des
unterirdiſchen Feuers.“ Ja, es heißt weiter: „Zwölf Jahre
vor der großen Kataſtrophe haben Bonpland und ich nach
unſeren mineralogiſchen und phyſikaliſchen Unterſuchungen er-
klärt, die Silla ſei ein ſehr gefährlicher Nachbar für die Stadt,
weil der Berg viel Schwefel enthalte und die Stöße von
Nordoſt herkommen müßten.“ Es kommt ſelten vor, daß
Phyſiker ſich wegen einer eingetroffenen Prophezeiung zu
rechtfertigen haben; ich halte es aber für Pflicht, den Vor-
ſtellungen von lokalen Urſachen der Erdbeben, die nur zu
leicht Eingang finden, entgegenzutreten.


Ueberall, wo der Boden monatelang fortwährend er-
ſchüttert worden, wie auf Jamaika im Jahre 1693, in Liſſa-
bon 1755, in Cumana 1766, in Piemont 1808, iſt man
darauf gefaßt, einen Vulkan ſich öffnen zu ſehen. Man ver-
gißt, daß man die Herde oder Mittelpunkte der Bewegung
weit unter der Erdoberfläche zu ſuchen hat; daß, nach zuver-
läſſigen Ausſagen, die Schwingungen ſich faſt im ſelben Mo-
ment 4500 km weit über die tiefſten Meere weg fortpflanzen;
daß die größten Zerſtörungen nicht am Fuße thätiger Vulkane,
ſondern in aus den verſchiedenſten Felsarten aufgebauten Ge-
birgsketten vorgekommen ſind. Die Gneis-, Glimmerſchiefer-
und Urkalkſchichten in der Umgegend von Caracas ſind keines-
wegs ſtärker zerbrochen oder unregelmäßiger geneigt, als bei
Freiberg in Sachſen und überall, wo Urgebirge raſch zu be-
deutender Höhe anſteigen; ich habe daſelbſt weder Baſalt noch
Dolerit, nicht einmal Trachyte und Trapp-Porphyre gefunden,
kurz, keine Spur von erloſchenen Vulkanen. Es konnte mir
nie einfallen, zu äußern, die Silla und der Cerro de Avila
ſeien für die Hauptſtadt gefährliche Nachbarn, weil dieſe Berge
in untergeordneten Schichten von Urkalk viele Schwefelkieſe
enthalten; ich erinnere mich aber, während meines Aufent-
haltes in Caracas geſagt zu haben, ſeit dem großen Erdbeben
in Quito ſcheine am öſtlichen Ende von Terra Firma der
Boden ſo unruhig zu ſein, daß man befürchten müſſe, mit der
Zeit dürfte die Provinz Venezuela ſtarke Erderſchütterungen
erleiden. Ich bemerkte weiter, wenn ein Land lange von Erd-
ſtößen heimgeſucht worden ſei, ſo ſcheinen ſich in der Tiefe
[160] neue Verbindungen mit benachbarten Ländern herzuſtellen, und
die in der Richtung der Silla nordöſtlich von der Stadt ge-
legenen Vulkane der Antillen ſeien vielleicht Luftlöcher, durch
welche bei einem Ausbruch die elaſtiſchen Flüſſigkeiten ent-
weichen, welche die Erdbeben auf den Küſten des Feſtlandes
verurſachen. Zwiſchen ſolchen Betrachtungen, die ſich auf die
Kenntnis der Oertlichkeiten und auf bloße Analogieen grün-
den, und einer durch den Lauf der Naturereigniſſe beſtätigten
Vorherſagung iſt ein großer Unterſchied.


Während man im Thale des Miſſiſſippi, auf der Inſel
San Vincent und in der Provinz Venezuela gleichzeitig ſtarke
Erdſtöße ſpürte, wurde man am 30. April 1812 in Caracas,
in Calabozo mitten in den Steppen, und an den Ufern des
Rio Apure, auf einem Landſtrich von 81000 qkm, durch ein
unterirdiſches Getöſe erſchreckt, das wiederholten Salven aus
Geſchützen vom größten Kaliber glich. Es fing um 2 Uhr
morgens an; es war von keinen Stößen begleitet, und, was
ſehr merkwürdig iſt, es war auf der Küſte und 360 km weit
im Lande gleich ſtark. Ueberall meinte man, es komme durch
die Luft her, und man war ſo weit entfernt, dabei an einen
unterirdiſchen Donner zu denken, daß man in Caracas wie
in Calabozo militäriſche Maßregeln ergriff, um den Platz in
Verteidigungszuſtand zu ſetzen, da der Feind mit ſeinem
groben Geſchütz anzurücken ſchien. Beim Uebergang über
den Apure unterhalb Orivante, beim Einfluß des Rio Nula,
hörte Palacio aus dem Munde der Indianer, man habe die
„Kanonenſchüſſe“ ebenſogut am weſtlichen Ende der Provinz
Varinas als im Hafen von Guayra nördlich von der Küſten-
kette gehört.


Am Tage, an dem die Bewohner von Terra Firma durch
ein unterirdiſches Getöſe erſchreckt wurden, erfolgte ein großer
Ausbruch des Vulkans auf der Inſel San Vincent. Der Berg,
der gegen 970 m hoch iſt, hatte ſeit dem Jahre 1718 keine
Lava mehr ausgeworfen. Man ſah ihn kaum rauchen, als
im Mai 1811 häufige Erdſtöße verkündeten, daß ſich das
vulkaniſche Feuer entweder von neuem entzündet oder nach
dieſem Strich der Antillen gezogen habe. Der erſte Ausbruch
fand erſt am 27. April 1812 um Mittag ſtatt. Der Vulkan
warf dabei nur Aſche aus, aber unter furchtbarem Krachen.
Am 30. floß die Lava über den Kraterrand und erreichte
nach vier Stunden die See. Das Getöſe beim Ausbruch
glich „abwechſelnd Salven aus dem ſchwerſten Geſchütz und
[161] Kleingewehrfeuer, und, was ſehr beachtenswert iſt, dasſelbe
ſchien weit ſtärker auf offener See, weit weg von der Inſel,
als im Angeſicht des Landes, ganz in der Nähe des brennenden
Vulkanes.“


Vom Vulkan San Vincent bis zum Rio Apure beim
Einfluß des Nula ſind es in gerader Linie 390 km; die
Exploſionen wurden demnach in einer Entfernung gehört gleich
der vom Veſuv nach Paris. Dieſes Phänomen, dem ſich
viele Beobachtungen in der Kordillere der Anden anſchließen,
beweiſt, wieviel größer die unterirdiſche Wirkungsſphäre eines
Vulkanes iſt, als man nach den unbedeutenden Veränderungen,
die er an der Erdoberfläche hervorbringt, glauben ſollte. Die
Knalle, die man in der Neuen Welt tagelang 360, 450,
ja 900 km von einem Krater hört, gelangen nicht mittels der
Fortpflanzung des Schalles durch die Luft zu uns; der Ton
wird vielmehr durch die Erde geleitet, vielleicht am Punkte
ſelbſt, wo wir uns befinden. Wenn die Ausbrüche des Vul-
kanes von San Vincent, des Cotopaxi oder Tunguragua von
ſo weit herſchallten wie eine ungeheuer große Kanone, ſo
müßte der Schall im umgekehrten Verhältnis der Entfernung
ſtärker werden; aber die Beobachtung zeigt, daß dies nicht
der Fall iſt. Noch mehr: in der Südſee, auf der Fahrt von
Guayaquil an die Küſte von Mexiko, fuhren Bonpland und
ich über Striche, wo alle Matroſen an Bord über ein dumpfes
Geräuſch erſchraken, das aus der Tiefe des Meeres heraufkam
und uns durch das Waſſer mitgeteilt wurde. Eben fand
wieder ein Ausbruch des Colopaxi ſtatt, und wir waren ſo
weit von dieſem Vulkan entfernt, als der Aetna von der Stadt
Neapel. Vom Vulkan Cotopaxi zur kleinen Stadt Honda am
Ufer des Magdalenenſtromes ſind es nicht weniger als 650 km,
und doch hörte man während der großen Ausbrüche jenes
Vulkanes in Honda ein unterirdiſches Getöſe, das man für
Geſchützſalven hielt. Die Franziskaner verbreiteten das Ge-
rücht, Cartagena werde von den Engländern belagert und
beſchoſſen, und alle Einwohner glaubten daran. Der Coto-
paxi iſt nun aber ein Kegel, der 3500 m und mehr über dem
Becken von Honda liegt; er ſteigt aus einer Hochebene empor,
die ſelbſt noch 2920 m mehr Meereshöhe hat als das Thal
des Magdalenenſtromes. All’ die koloſſalen Berge von Quito,
der Provinz De los Paſtos und von Popayan, zahlloſe Thäler
und Erdſpalten liegen dazwiſchen. Unter dieſen Umſtänden
läßt ſich nicht annehmen, daß der Ton durch die Luft oder
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 11
[162] durch die oberſten Erdſchichten fortgepflanzt worden und daß
er von da ausgegangen ſei, wo der Kegel und der Krater
des Cotopaxi liegen. Man muß es wahrſcheinlich finden, daß
der hochgelegene Teil des Königreiches Quito und die benach-
barten Kordilleren keineswegs eine Gruppe einzelner Vulkane
ſind, ſondern eine einzige aufgetriebene Maſſe bilden, eine
ungeheure von Süd nach Nord laufende vulkaniſche Mauer,
deren Kamm über 12150 qkm Oberfläche hat. Auf dieſem
Gewölbe, auf dieſem aufgetriebenen Erdſtücke ſtehen nun der
Cotopaxi, der Tunguragua, der Antiſana, der Pichincha. Man
gibt jedem einen eigenen Namen, obgleich es im Grunde nur
verſchiedene Gipfel desſelben vulkaniſchen Gebirgsklumpens
ſind. Das Feuer bricht bald durch den einen, bald durch den
anderen dieſer Gipfel aus. Die ausgefüllten Krater erſcheinen
uns als erloſchene Vulkane; wenn aber auch der Cotopaxi
und der Tunguragua in hundert Jahren nur ein oder zweimal
auswerfen, ſo läßt ſich doch annehmen, daß das unterirdiſche
Feuer unter der Stadt Quito, unter Pichincha und Imbaburu
in beſtändiger Thätigkeit iſt.


Nordwärts finden wir zwiſchen dem Vulkan Cotopaxi
und der Stadt Honda zwei andere vulkaniſche Berg-
ſyſteme
, die Berge Los Paſtos und die von Popayan. Daß
dieſe Syſteme unter ſich zuſammenhängen, geht unzweifelhaft
aus einer Erſcheinung hervor, deren ich ſchon oben gedacht
habe, als von der gänzlichen Zerſtörung der Stadt Caracas
die Rede war. Vom November 1796 an ſtieß der Vulkan
bei Paſto, der weſtlich von der Stadt dieſes Namens am
Thale des Rio Guaytara liegt, eine dicke Rauchſäule aus. Die
Mündungen des Vulkanes liegen an der Seite des Berges,
auf ſeinem weſtlichen Abhange; dennoch ſtieg die Rauchſäule
drei Monate lang ſo hoch über den Gebirgskamm empor,
daß die Einwohner der Stadt Paſto ſie fortwährend ſahen.
Alle verſicherten uns, zu ihrer großen Ueberraſchung ſei am
4. Februar 1797 der Rauch auf einmal verſchwunden, ohne
daß man einen Erdſtoß ſpürte. Und im ſelben Augenblick
wurde 300 km weiter gegen Süd zwiſchen dem Chimborazo,
dem Tunguragua und dem Altar (Capac-Urcu) die Stadt
Riobamba durch ein Erdbeben zerſtört, furchtbarer als alle,
die im Andenken geblieben ſind. Die Gleichzeitigkeit dieſer
Ereigniſſe läßt wohl keinen Zweifel darüber, daß die Dämpfe,
welche der Vulkan von Paſto aus ſeinen kleinen Mündungen
oder ventanillas ausſtieß, am Drucke elaſtiſcher Flüſſigkeiten
[163] teilnahmen, welche den Boden des Königreiches Peru erſchütter-
ten und in wenigen Augenblicken 30000 bis 40000 Menſchen
das Leben koſteten.


Um dieſe gewaltigen Wirkungen der vulkaniſchen
Reaktionen
zu erklären, um darzuthun, daß die Vulkan-
gruppe oder das vulkaniſche Syſtem der Antillen von
Zeit zu Zeit Terra Firma erſchüttern kann, mußte ich mich
auf die Kordillere der Anden berufen. Nur auf die Analogie
friſcher und ſomit vollkommen beglaubigter Thatſachen laſſen
ſich geologiſche Schlüſſe bauen, und wo auf dem Erdball
fände man großartigere und mannigfaltigere vulkaniſche Er-
ſcheinungen als in jener doppelten vom Feuer emporgehobenen
Bergkette, in dem Lande, wo die Natur über jeden Berggipfel
und jedes Thal die Fülle ihrer Wunder ausgegoſſen hat?
Betrachtet man einen brennenden Krater als eine vereinzelte
Erſcheinung, bleibt man dabei ſtehen, die Maſſe des Geſteines,
das er ausgeworfen, abzuſchätzen, ſo ſtellt ſich die vulkaniſche
Wirkſamkeit an der gegenwärtigen Erdoberfläche weder als
ſehr gewaltig noch als ſehr ausgebreitet dar. Aber das Bild
dieſer Wirkſamkeit erweitert ſich vor unſerem inneren Blick
mehr und mehr, je näher wir den Zuſammenhang zwiſchen
den Vulkanen derſelben Gruppe kennen lernen — und der-
gleichen Gruppen ſind z. B. die Vulkane in Neapel und auf
Sizilien, die der Kanariſchen Inſeln, die der Azoren, die der
Kleinen Antillen, die in Mexiko, in Guatemala und auf der
Hochebene von Quito —, je genauer wir ſowohl die Reaktionen
dieſer verſchiedenen Vulkanſyſteme aufeinander als die Ent-
fernungen kennen lernen, in denen ſie vermöge ihres Zu-
ſammenhanges in den Erdtiefen den Boden zu gleicher Zeit
erſchüttern. Das Studium der Vulkane zerfällt in zwei ganz
geſonderte Teile. Der eine, rein mineralogiſche, beſchäftigt
ſich nur mit der Unterſuchung der durch das unterirdiſche
Feuer gebildeten oder umgewandelten Geſteine, von der Trachyt-
und Trapp-Porphyrformation, von den Baſalten, Phonolithen
und Doleriten herauf bis zu den neueſten Laven. Der andere,
nicht ſo zugängliche und auch mehr vernachläſſigte Teil, hat
es mit den gegenſeitigen phyſikaliſchen Verhältniſſen der Vul-
kane zu thun, mit dem Einfluß, den die Syſteme aufeinander
ausüben, mit dem Zuſammenhang zwiſchen den Wirkungen
der feuerſpeienden Berge und den Stößen, welche den Erd-
boden auf weite Strecken und lange fort in derſelben Richtung
erſchüttern. Dieſes Wiſſen kann nur dann fortſchreiten, wenn
[164] man die verſchiedenen Epochen der gleichzeitigen Thätigkeit
genau verzeichnet, ferner die Richtung, Ausdehnung und Stärke
der Erſchütterungen, ihr allmähliches Vorrücken in Landſtrichen,
die ſie früher nicht erreicht hatten, das Zuſammentreffen eines
fernen vulkaniſchen Ausbruches mit jenem unterirdiſchen Ge-
töſe, das ſo ſtark iſt, daß die Bewohner der Anden es aus-
drucksvoll unterirdiſches Gebrülle und unterirdiſchen
Donner
(bramidos y truenos subterraneos) nennen. Alle
dieſe Angaben gehören dem Gebiete der Naturgeſchichte
an, einer Wiſſenſchaft, der man nicht einmal ihren Namen
gelaſſen hat, und die wie alle Geſchichte mit Zeiten beginnt,
die uns fabelhaft erſcheinen, und mit Kataſtrophen, deren
Großartigkeit und Gewaltſamkeit weit über das Maß unſerer
Vorſtellungen hinausgeht.


Man hat ſich lange darauf beſchränkt, die Geſchichte der
Natur nach den alten, in den Eingeweiden der Erde be-
grabenen Denkmälern zu ſtudieren; aber wenn auch im engen
Kreiſe ſicherer Ueberlieferung nichts von ſo allgemeinen Um-
wälzungen vorkommt, wie die, durch welche die Kordilleren
emporgehoben und Myriaden von Seetieren begraben worden,
ſo gehen doch auch in der jetzigen Natur, unter unſeren Augen,
wenn auch auf beſchränktem Raume, ſtürmiſche Auftritte genug
vor ſich, die, wiſſenſchaftlich aufgefaßt, über die entlegenſten
Zeiten der Erdbildung Licht verbreiten können. Im Inneren
des Erdballes hauſen die geheimnisvollen Kräfte, deren Wir-
kungen an der Oberfläche zu Tage kommen, als Ausbrüche
von Dämpfen, glühenden Schlacken, neuen vulkaniſchen Ge-
ſteinen und heißen Quellen, als Auftreibungen zu Inſeln und
Bergen, als Erſchütterungen, die ſich ſo ſchnell wie der elek-
triſche Schlag fortpflanzen, endlich als unterirdiſcher Donner,
den man monatelang, und ohne Erſchütterung des Bodens,
in großen Entfernungen von thätigen Vulkanen hört.


Je mehr im tropiſchen Amerika Kultur und Bevölkerung
zunehmen werden, je fleißiger man die vulkaniſchen Syſteme
von Popayan, Los Paſtos, Quito, auf den Kleinen Antillen,
auf der Centralhochebene von Mexiko beobachten wird, deſto
mehr muß der Zuſammenhang zwiſchen Ausbrüchen und Erd-
beben, welche den Ausbrüchen vorangehen und zuweilen folgen,
allgemeine Anſchauung werden. Die genannten Vulkane, be-
ſonders aber die der Anden, welche die ungeheure Höhe von
4870 m und darüber erreichen, bieten dem Beobachter bedeu-
tende Vorteile. Die Epochen ihrer Ausbrüche ſind merkwürdig
[165] ſcharf bezeichnet. Dreißig, vierzig Jahre lang werfen ſie keine
Schlacken, keine Aſche aus, rauchen nicht einmal. In einer
ſolchen Periode habe ich keine Spur von Rauch auf dem Gipfel
des Tunguragua und des Cotopaxi geſehen. Wenn dagegen
dem Krater des Veſuvs eine Rauchwolke entſteigt, achten die
Neapolitaner kaum darauf; ſie ſind an die Bewegungen dieſes
kleinen Vulkanes gewöhnt, der oft in zwei, drei Jahren hinter-
einander Schlacken auswirft. Da iſt freilich ſchwer zu be-
urteilen, ob die Schlackenauswürfe im Moment, wo man im
Apennin einen Erdſtoß verſpürt, ſtärker geweſen ſind. Auf
dem Rücken der Kordilleren hat alles einen beſtimmteren Typus.
Auf einen Aſchenauswurf von ein paar Minuten folgt oft
zehnjährige Ruhe. Unter dieſen Umſtänden wird es leicht,
Epochen zu verzeichnen und auszumitteln, ob die Erſcheinungen
in der Zeit zuſammenfallen.


Die Zerſtörung von Cumana im Jahre 1797 und von
Caracas im Jahre 1812 weiſen darauf hin, daß die Vulkane
auf den Kleinen Antillen mit den Erſchütterungen, welche die
Küſten von Terra Firma erleiden, im Zuſammenhange ſtehen.
Trotzdem kommt es häufig vor, daß die Stöße, welche man
im vulkaniſchen Archipel ſpürt, ſich weder nach der Inſel
Trinidad, noch nach den Küſten von Cumana und Caracas
fortpflanzen. Dieſe Erſcheinung hat aber durchaus nichts
Auffallendes. Auf den Kleinen Antillen ſelbſt beſchränken ſich
die Erſchütterungen oft auf eine einzige Inſel. Der große
Ausbruch des Vulkanes auf San Vincent im Jahre 1812 hatte
in Martinique und Guadeloupe kein Erdbeben zur Folge.
Man hörte, wie in Venezuela, ſtarke Schläge, aber der Boden
blieb ruhig.


Dieſe Donnerſchläge, die nicht mit dem rollenden Ge-
räuſch zu verwechſeln ſind, das überall auch ganz ſchwachen
Erdſtößen vorausgeht, hört man an den Ufern des Orinoko
ziemlich oft, beſonders, wie man uns an Ort und Stelle ver-
ſichert hat, zwiſchen dem Rio Arauca und dem Cuchivero.
Pater Morello erzählt, in der Miſſion Cabruta habe das
unterirdiſche Getöſe zuweilen ſo ganz geklungen wie Salven
von Steinböllern (pedreros), daß es geweſen ſei, als würde
in der Ferne ein Gefecht geliefert. Am 21. Oktober 1766,
am Tage des ſchrecklichen Erdbebens, das die Provinz Neu-
andaluſien verheerte, erzitterte der Boden zu gleicher Zeit in
Cumana, in Caracas, in Maracaybo, an den Ufern des Ca-
ſanare, des Meta, des Orinoko und des Ventuario. Pater
[166] Gili hat dieſe Erderſchütterungen in einer ganz granitiſchen
Gebirgsgegend, in der Miſſion Encaramada beſchrieben, wo
ſie von heftigen Donnerſchlägen begleitet waren. Am Paurari
erfolgten große Bergſtürze und beim Felſen Aravacoto ver-
ſchwand eine Inſel im Orinoko. Die wellenförmigen Be-
wegungen dauerten eine ganze Stunde. Damit war gleichſam
das Zeichen gegeben zu den heftigen Erſchütterungen, welche
die Küſten von Cumana und Cariaco mehr als zehn Monate
lang erlitten. Man ſollte meinen, Menſchen, die zerſtreut in
Wäldern leben und kein anderes Obdach haben als Hütten
aus Rohr und Palmblättern, fürchten ſich nicht vor den Erd-
beben. Die Indianer am Erevato und Caura entſetzen ſich
aber darüber, da die Erſcheinung bei ihnen ſelten vorkommt,
und ſelbſt die Tiere im Walde erſchrecken ja dabei, und die
Krokodile eilen aus dem Waſſer ans Ufer. Näher bei der See,
wo die Erdſtöße ſehr häufig ſind, fürchten ſich die Indianer
nicht nur nicht davor, ſondern ſehen ſie gern als Vorboten
eines feuchten, fruchtbaren Jahres.


Alles weiſt darauf hin, daß im Inneren des Erdballes
nie ſchlummernde Kräfte walten, die miteinander ringen, ſich
das Gleichgewicht halten und ſich gegenſeitig ſtimmen. Je
mehr die Urſachen jener Wellenbewegungen des Bodens, jener
Entbindung von Hitze, jener Bildung elaſtiſcher Flüſſigkeiten
für uns in Dunkel gehüllt ſind, deſto größere Aufforderung
hat der Phyſiker, den Zuſammenhang näher zu beobachten, der
zwiſchen dieſen Erſcheinungen ſichtbar beſteht und auf weite
Entfernungen und in ſehr gleichförmiger Weiſe zu Tage kommt.
Nur wenn man die verſchiedenen Beziehungen und Verhält-
niſſe aus einem allgemeinen Geſichtspunkte betrachtet, wenn
man ſie über ein großes Stück der Erdoberfläche durch die
verſchiedenſten Gebirgsarten verfolgt, kommt man dazu, den
Gedanken aufzugeben, als ob die vulkaniſchen Erſcheinungen
und die Erdbeben kleine lokale Urſachen haben könnten wie
Schichten von Schwefelkieſen und brennende Steinkohlenflöze.


Wir haben uns in dieſem Kapitel mit den gewaltigen
Erſchütterungen beſchäftigt, welche die Steinkruſte des Erd-
balles von Zeit zu Zeit erleidet, und die unermeßlichen Jammer
über ein Land bringen, das die Natur mit ihren köſtlichſten
Gaben ausgeſtattet hat. Ununterbrochene Ruhe herrſcht in
der oberen Atmoſphäre, aber — um einen Ausdruck Franklins
zu brauchen, der mehr witzig iſt als richtig — in der unter-
irdiſchen Atmoſphäre
, in dieſem Gemiſch elaſtiſcher Flüſſig-
[167] keiten, deren gewaltſame Bewegungen wir an der Erdoberfläche
empfinden, rollt häufig der Donner. Wir haben von der
Zerſtörung ſo vieler volkreichen Städte erzählt und damit das
höchſte Maß menſchlichen Elendes geſchildert. Ein für ſeine
Unabhängigkeit kämpfendes Volk ſieht ſich auf einmal dem
Mangel an Nahrung und allen Lebensbedürfniſſen preis-
gegeben. Hungernd, obdachlos zerſtreut es ſich auf dem platten
Lande. Viele, die nicht unter den Trümmern ihrer Häuſer
begraben worden, werden von Seuchen weggerafft. Das Ge-
fühl des Jammers, weit entfernt, das Vertrauen unter den
Bürgern zu befeſtigen, untergräbt es vollends; die äußeren
Uebel ſteigern noch die Zwietracht, und der Anblick eines mit
Thränen und Blut getränkten Bodens beſchwichtigt nicht den
Grimm der ſiegreichen Partei.


Nachdem man bei ſolchen Greuelſzenen verweilt, läßt
man die Einbildungskraft mit Behagen bei freundlichen Er-
innerungen ausruhen. Als in den Vereinigten Staaten das
große Unglück von Caracas bekannt wurde, beſchloß der zu
Waſhington verſammelte Kongreß einſtimmig, fünf Schiffe
mit Mehl zur Verteilung unter die Dürftigſten an die Küſte
von Venezuela zu ſenden. Dieſe großmütige Unterſtützung
ward mit dem lebhafteſten Danke aufgenommen, und dieſer
feierliche Beſchluß eines freien Volkes, dieſer Beweis der
Teilnahme von Volk zu Volk, wovon die ſich ſteigernde Kultur
des alten Europas in jüngſter Zeit wenige Beiſpiele auf-
zuweiſen hat, erſchien als ein koſtbares Unterpfand des gegen-
ſeitigen Wohlwollens, das auf immer die Völker des ge-
doppelten Amerikas verknüpfen ſoll.


[[168]]

Fünfzehntes Kapitel.


Abreiſe von Cacacas. — Gebirge von San Pedro und Los Teques. —
Victoria. — Thäler von Aragua.


Der kürzeſte Weg von Caracas an die Ufer des Orinoko
hätte uns über die ſüdliche Kette der Berge zwiſchen Baruta,
Salamanca und den Savannen von Ocumare, und über die
Steppen oder Lanos von Orituco geführt, worauf wir uns
bei Cabruta, an der Einmündung des Rio Guarico, hätten
einſchiffen müſſen; aber auf dieſem geraden Wege hätten wir
unſere Abſicht nicht erreicht, die dahin ging, den ſchönſten
und kultivierteſten Teil der Provinz, die Thäler von Aragua,
zu beſuchen, einen intereſſanten Strich der Küſte mit dem
Barometer zu vermeſſen und den Rio Apure bis zu ſeinem
Einfluß in den Orinoko hinabzufahren. Ein Reiſender, der
ſich mit der Geſtaltung und den natürlichen Schätzen des
Bodens bekannt machen will, richtet ſich nicht nach den Ent-
fernungen, ſondern nach dem Intereſſe, das die zu bereiſenden
Länder bieten. Dieſe entſcheidende Rückſicht führte uns in
die Berge Los Teques, zu den warmen Quellen von Mariara,
an die fruchtbaren Ufer des Sees von Valencia und über die
ungeheuren Steppen von Calabozo nach San Fernando am
Apure im öſtlichen Teile der Provinz Varinas. Auf dieſem
Wege war unſere Richtung anfangs Weſt, dann Süd und
am Ende Oſt-Süd-Oſt, um auf dem Apure, unter dem Parallel
von 7° 36′ 23″ in den Orinoko zu gelangen.


Da auf einem Wege von 2700 bis 3150 km die Längen
durch Uebertragung der Zeit in Caracas und Cumana zu be-
ſtimmen waren, mußte notwendig die Lage beider Städte
genau und durch abſolute Beobachtungen ermittelt werden.
Oben iſt das Reſultat der am erſten Ausgangspunkte, in
Cumana, angeſtellten Beobachtungen angegeben; der zweite
Punkt, der nördliche Stadtteil von Caracas, liegt unter
[169] 10° 30′ 50″ der Breite und 69° 25′ 0″ der Länge. Die mag-
netiſche Deklination fand ich am 22. Januar 1800 außerhalb
der Stadt, am Thore bei der Paſtora, 4° 38′ 45″ gegen
Nordoſt, und am 30. Januar im Inneren der Stadt bei der
Univerſität 4° 39′ 15″, alſo um 26′ ſtärker als in Cumana.
Die Inklination der Nadel war 42,90°; die Zahl der Schwin-
gungen, welche die Intenſität der magnetiſchen Kraft angaben,
war in zehn Minuten Zeit in Caracas 232, in Cumana 229.
Dieſe Beobachtungen konnten nicht ſehr oft wiederholt werden;
ſie ſind das Ergebnis dreimonatlicher Arbeit.


Am Tage, wo wir die Hauptſtadt von Venezuela ver-
ließen, die ſeitdem durch ein furchtbares Erdbeben vernichtet
worden iſt, übernachteten wir am Fuße der bewaldeten Berge,
die das Thal gegen Südweſt ſchließen. Wir zogen am rechten
Ufer des Guayre bis zum Dorfe Antimano auf einer ſehr
ſchönen, zum Teil in den Fels gehauenen Straße. Man
kommt durch La Vega und Carapa. Die Kirche von La Vega
hebt ſich ſehr maleriſch von einem dicht bewachſenen Hügel-
zuge ab. Zerſtreute Häuſer, von Dattelbäumen umgeben,
deuten auf günſtige Verhältniſſe der Bewohner. Eine nicht
ſehr hohe Bergkette trennt den kleinen Guayrefluß vom Thale
De la Pascua, 1 das in der Geſchichte des Landes eine große
Rolle ſpielt, und von den alten Goldbergwerken von Baruta
und Oripoto. Auf dem Wege aufwärts nach Carapa hat
man noch einmal die Ausſicht auf die Silla, die ſich als eine
gewaltige, gegen das Meer jäh abſtürzende Kuppel darſtellt.
Dieſer runde Gipfel und der wie eine Mauerzinne gezackte
Kamm des Galipano ſind die einzigen Berggeſtalten in dieſem
Becken von Gneis und Glimmerſchiefer, die der Landſchaft
Charakter geben; die übrigen Höhen ſind ſehr einförmig und
langweilig.


Beim Dorfe Antimano waren alle Baumgärten voll
blühender Pfirſichbäume. Aus dieſem Dorfe, aus Valle und
von den Ufern des Macarao kommen eine Menge Pfirſiche,
Quitten und anderes europäiſches Obſt auf den Markt in
Caracas. Vom Antimano bis Las Ajuntas geht man ſieb-
[170] zehnmal über den Guayre. Der Weg iſt ſehr beſchwerlich;
ſtatt aber eine neue Straße zu bauen, thäte man vielleicht
beſſer, dem Fluſſe ein anderes Bett anzuweiſen, der durch
Einſickerung und Verdunſtung ſehr viel Waſſer verliert. Jede
Krümmung bildet eine größere oder kleinere Lache. Dieſe
Verluſte ſind nicht gleichgültig in einer Provinz, wo der
ganze bebaute Boden, mit Ausnahme des Striches zwiſchen
der See und der Küſtenbergkette von Mariara und Niguatar,
ſehr trocken iſt. Es regnet weit ſeltener und weniger als
im Inneren von Neuandaluſien, in Cumanacoa und an den
Ufern des Guarapiche. Viele Berge der Provinz Caracas
reichen in die Wolkenregion hinauf, aber die Schichten des
Urgebirges ſind unter einem Winkel von 70 bis 80° geneigt
und fallen meiſt nach Nordweſt, ſo daß die Waſſer entweder
im Gebirge verſinken oder nicht ſüdlich, ſondern nördlich an
den Küſtengebirgen von Niguatar, Avila und Mariara in
reichlichen Quellen zu Tage kommen. Daraus, daß die Gneis-
und Glimmerſchieferſchichten gegen Süd aufgerichtet ſind,
ſcheint ſich mir größtenteils die große Dürre des Küſten-
ſtriches zu erklären. Im Inneren der Provinz findet man
Strecken von 40 bis 60 qkm ohne alle Quellen. Das Zucker-
rohr, der Indigo und der Kaffeebaum können nur da gedeihen,
wo Waſſer fließt, mit dem man während der großen Dürre
künſtlich bewäſſern kann. Die erſten Anſiedler haben unvor-
ſichtigerweiſe die Wälder niedergeſchlagen. Auf einem ſteinigen
Boden, wo Felſen ringsum Wärme ſtrahlen, iſt die Ver-
dunſtung ungemein ſtark. Die Berge an der Küſte gleichen
einer Mauer, die von Oſt nach Weſt vom Kap Codera gegen
die Landſpitze Tucacas ſich hinzieht; ſie laſſen die feuchte
Küſtenluft, die unteren Luftſchichten, die unmittelbar auf der
See aufliegen und am meiſten Waſſer aufgelöſt haben, nicht
ins innere Land kommen. Es gibt wenige Lücken, wenige
Schluchten, die wie die Schlucht von Catia oder Tipe 1 vom
Meeresufer in die hochgelegenen Längenthäler hinaufführen.
Da iſt kein großes Flußbett, kein Meerbuſen, durch die der
Ozean in das Land einſchneidet und durch reichliche Ver-
dunſtung Feuchtigkeit verbreitet. Unter dem 8. und 10. Breite-
grade werfen da, wo die Wolken nicht nahe am Boden hin-
ziehen, die Bäume im Januar und Februar die Blätter ab,
[171] ſicher nicht, wie in Europa, weil die Temperatur zu niedrig
wird, ſondern weil in dieſen Monaten, die am weiteſten von
der Regenzeit entfernt ſind, die Luft dem Maximum von
Trockenheit ſich nähert. Nur die Gewächſe mit glänzenden,
ſtark lederartigen Blättern halten die Dürre aus. Unter dem
ſchönen tropiſchen Himmel befremdet den Reiſenden der faſt
winterliche Charakter des Landes; aber das friſcheſte Grün
erſcheint wieder, ſobald man an die Ufer des Orinoko gelangt.
Dort herrſcht ein anderes Klima und durch ihre Beſchattung
unterhalten die großen Wälder im Boden einen gewiſſen
Grad von Feuchtigkeit und ſchützen ihn vor der verzehrenden
Sonnenglut.


Jenſeits des kleinen Dorfes Antimano wird das Thal
bedeutend enger. Das Flußufer iſt mit Lata bewachſen, der
ſchönen Grasart mit zweizeiligen Blättern, die gegen 10 m
hoch wird und die wir unter dem Namen Gynerium (sac-
charoides
) beſchrieben haben. Um jede Hütte ſtehen unge-
heure Stämme von Perſea (Laurus Persea), an denen Ari-
ſtolochien, Paullinien und eine Menge anderer Schlingpflanzen
wachſen. Die benachbarten bewaldeten Berge ſcheinen dieſes
weſtliche Ende des Thales von Caracas feucht zu erhalten.
Die Nacht vor unſerer Ankunft in Las Ajuntas brachten wir
auf einer Zuckerpflanzung zu. In einem viereckigen Hauſe
lagen gegen 80 Neger auf Ochſenhäuten am Boden. In
jedem Gemach waren vier Sklaven, und das Ganze ſah aus
wie eine Kaſerne. Im Hofe brannten ein Dutzend Feuer,
an denen gekocht wurde. Auch hier fiel uns die lärmende
Luſtigkeit der Schwarzen auf und wir konnten kaum ſchlafen.
Wegen des bewölkten Himmels konnte ich keine Sternbeobach-
tungen machen; der Mond kam nur von Zeit zu Zeit zum
Vorſchein, die Landſchaft war trübſelig einförmig, alle Hügel
umher mit Maguey bewachſen. Man arbeitete an einem
kleinen Kanale, der über 23 m hoch das Waſſer des Rio San
Pedro in den Hof leiten ſollte. Nach einer barometriſchen
Beobachtung liegt der Boden der Hacienda nur 97 m über
dem Bett des Guayre bei Noria in der Nähe von Caracas.


Der Boden dieſes Landſtriches erwies ſich zum Bau des
Kaffeebaumes nicht ſehr geeignet; er gibt im allgemeinen im
Thale von Caracas einen geringeren Ertrag, als man anfangs
vermutet hatte, da man bei Chacao mit dem Anbau begann.
Um ſich von der Wichtigkeit dieſes Handelszweiges im all-
gemeinen einen Begriff zu machen, genügt die Angabe, daß
[172] die ganze Provinz Caracas zur Zeit ihrer höchſten Blüte vor
den Revolutionskriegen bereits 50000 bis 60000 Zentner
Kaffee erzeugte. Dieſer Ertrag, der den Ernten von Guade-
loupe und Martinique zuſammen faſt gleichkommt, muß deſto
bedeutender erſcheinen, da erſt im Jahre 1784 ein achtbarer
Bürger, Don Bartolomeo Blandin, die erſten Verſuche mit
dem Kaffeebau auf der Küſte von Terra Firma gemacht hatte.
Die ſchönſten Kaffeepflanzungen ſind jetzt in der Savanne
von Ocumare bei Salamanca und in Rincon, ſowie im bergigen
Lande los Mariches, San Antonio Hatillo und Los Budares.
Der Kaffee von den drei letztgenannten, oſtwärts von Caracas
gelegenen Orten iſt von vorzüglicher Güte; aber die Sträucher
tragen dort weniger, was man der hohen Lage und dem
kühlen Klima zuſchreibt. Die großen Pflanzungen in der
Provinz Venezuela, wie Aguacates bei Valencia und El Rincon,
geben in guten Jahren Ernten von 3000 Zentnern. Im
Jahre 1786 betrug die Geſamtausfuhr der Provinz nicht
mehr als 4800 Zentner, im Jahre 1804 10000 Zentner;
ſie hatte indeſſen ſchon im Jahre 1789 begonnen. Die Preiſe
ſchwankten zwiſchen 6 und 18 Piaſtern der Zentner. In der
Havana ſah man denſelben auf 3 Piaſter fallen; zu jener für
die Koloniſten ſo unheilvollen Zeit, in den Jahren 1810 und
1812, lagen aber auch über zwei Millionen Zentner Kaffee
(im Werte von zehn Millionen Pfund Sterling) in den eng-
liſchen Magazinen.


Die große Vorliebe, die man in dieſer Provinz für den
Kaffeebau hat, rührt zum Teil daher, daß die Bohne ſich
viele Jahre hält, während der Kakao, trotz aller Sorgfalt,
nach zehn Monaten oder einem Jahre in den Magazinen ver-
dirbt. Während der langen Kriege zwiſchen den europäiſchen
Mächten, wo das Mutterland zu ſchwach war, um den Handel
ſeiner Kolonieen zu ſchützen, mußte ſich die Induſtrie vorzugs-
weiſe auf ein Produkt werfen, das nicht ſchnell abgeſetzt
werden muß und bei dem man alle politiſchen und Handels-
konjunkturen abwarten kann. In den Kaffeepflanzungen von
Caracas nimmt man, wie ich geſehen, zum Verſetzen nicht
leicht die jungen Pflanzen, die zufällig unter den tragenden
Bäumen aufwachſen; man läßt vielmehr die Bohnen, getrennt
von der Beere, aber doch noch mit einem Teile des Fleiſches
daran, in Haufen zwiſchen Bananenblättern fünf Tage lang
keimen und ſteckt ſofort den gekeimten Samen. Die ſo ge-
zogenen Pflanzen widerſtehen der Sonnenhitze beſſer als die,
[173] welche in der Pflanzung ſelbſt im Schatten aufgewachſen
ſind. Man ſetzt hierzulande gewöhnlich 5300 Bäume auf die
Vanega, die gleich iſt 2,08 ha. Ein ſolches Grundſtück koſtet,
wenn es ſich bewäſſern läßt, im nördlichen Teile der Provinz
500 Piaſter. Der Kaffeebaum blüht erſt im zweiten Jahre
und die Blüte währt nur 24 Stunden. In dieſer Zeit nimmt
ſich der kleine Baum ſehr gut aus; von weitem meint man,
er ſei beſchneit. Im dritten Jahre iſt die Ernte bereits ſehr
reich. In gut gejäteten und bewäſſerten Pflanzungen auf
friſch umgebrochenem Boden gibt es ausgewachſene Bäume,
die 8, 9, ſogar 10 kg Kaffee tragen; indeſſen darf man nur
1 ½ bis 2 Pfund auf den Stamm rechnen, und dieſer durch-
ſchnittliche Ertrag iſt ſchon größer als auf den Antillen. Der
Regen, wenn er in die Blütezeit fällt, der Mangel an Waſſer
zum Ueberrieſeln und ein Schmarotzergewächs, eine neue Art
Loranthus, das ſich an den Zweigen anſetzt, richten großen
Schaden in den Kaffeepflanzungen an. Auf Pflanzungen von
8000 bis 10000 Stämmen gibt die fleiſchige Beere des Kaffee-
baumes eine ungeheure Maſſe organiſchen Stoffes, und man
muß ſich wundern, daß man nie verſucht hat, Alkohol daraus
zu gewinnen.


Wenn auch die Unruhen auf San Domingo, der augen-
blickliche Aufſchlag der Kolonialwaren und die Auswanderung
der franzöſiſchen Pflanzer den erſten Anlaß zum Bau des
Kaffees auf dem Feſtlande von Amerika, auf Cuba und Ja-
maika gaben, ſo hat doch, was ſie an Kaffee geliefert, keines-
wegs bloß das Defizit gedeckt, das dadurch entſtanden war,
daß die franzöſiſchen Antillen nichts mehr ausführten. Dieſer
Ertrag ſteigerte ſich, je mehr die Bevölkerung und bei ver-
änderter Lebensweiſe der Luxus bei den europäiſchen Völkern
zunahmen. Zu Neckers Zeit im Jahre 1780 führte San
Domingo gegen 38000000 kg Kaffee aus. Im Jahre 1817
und den drei folgenden Jahren war die Ausfuhr, nach Colqu-
houn, noch 18000000 kg. Der Kaffeebau iſt nicht ſo müh-
ſam und koſtſpielig als der Bau des Zuckerrohres und hat
unter dem Regiment der Schwarzen nicht ſo ſehr gelitten als
letzterer. Das ſich ergebende Defizit von 20000000 kg wird
nun von Jamaika, Cuba, Surinam, Demerary, Barbice,
Curaçao, Venezuela und der Inſel Java weit mehr als ge-
deckt, indem alle zuſammen 37950000 kg erzeugen.


Die Geſamteinfuhr von Kaffee aus Amerika nach Europa
überſteigt jetzt 53000000 kg franzöſiſchen Markgewichtes.
[174] Rechnet man dazu 2 bis 2,5 Millionen von Isle de France
und der Inſel Bourbon, und 15 Millionen aus Arabien und
Java, ſo ergibt ſich, daß der Geſamtverbrauch von Europa
im Jahre 1819 auf etwa 70000000 kg geſtiegen ſein
mag. Bei meinen Unterſuchungen über die Kolonialwaren im
Jahre 1810 1 habe ich eine geringere Zahl angenommen. Bei
dieſem ungeheuren Kaffeeverbrauche hat der Verbrauch von
Thee keineswegs abgenommen, vielmehr iſt die Ausfuhr aus
China in den letzten fünfzehn Jahren um mehr als ein Vier-
teil ſtärker geworden. Im gebirgigen Teile der Provinzen
Caracas und Cumana könnte Thee ſo gut gebaut werden als
Kaffee. Man findet dort alle Klimate wie in Stockwerken
übereinander, und dieſer neue Kulturzweig würde ebenſogut
gedeihen, wie in der ſüdlichen Halbkugel, wo in Braſilien
unter einer Regierung, die großſinnig die Induſtrie und die
religiöſe Duldung in ihren Schutz nimmt, der Thee, die
Chineſen und Fos Glaubensſätze zumal eingewandert ſind.
Noch ſind es nicht hundert Jahre her, ſeit in Surinam und
auf den Antillen die erſten Kaffeebäume gepflanzt wurden,
und bereits hat der Ertrag der amerikaniſchen Ernte einen
Wert von 15 Millionen Piaſtern, den Zentner Kaffee nur
zu 14 Piaſtern gerechnet.


Am 8. Februar bei Sonnenaufgang brachen wir auf, um
über den Higuerote zu gehen, einen hohen Gebirgszug zwiſchen
den beiden Längenthälern von Caracas und Aragua. Nach-
dem wir bei Las Ajuntas, wo die kleinen Flüſſe San Pedro
und Macarao ſich zum Guayre vereinigen, über das Waſſer
gegangen waren, ging es an ſteilem Berghange hinauf zur
Hochebene von Buenaviſta, wo ein paar einzelne Häuſer
ſtehen. Man ſieht hier gegen Nordoſt bis zur Stadt Caracas,
gegen Süd bis zum Dorfe Los Teques. Die Gegend iſt
wild und waldreich. Die Pflanzen des Thales von Caracas
waren nach und nach ausgeblieben. Wir befanden uns in
1627 m Meereshöhe, alſo faſt ſo hoch als Popayan, aber die
mittlere Temperatur iſt ſchwerlich höher als 17 bis 18°. Die
Straße über dieſe Berge iſt ſehr belebt; jeden Augenblick be-
gegnet man langen Zügen von Maultieren und Ochſen; es
iſt die große Straße von der Hauptſtadt nach Victoria und
[175] in die Thäler von Aragua. Der Weg iſt in einen talkigen,
zerſetzten Gneis gehauen. Ein mit Glimmerblättern gemengter
Thon bedeckt 1 m hoch das Geſtein. Im Winter leidet man
vom Staub und in der Regenzeit wird der Boden ein Moraſt.
Abwärts von der Ebene von Buenaviſta, etwa 100 m gegen
Südoſt, kommt man an eine ſtarke Quelle im Gneis, die
mehrere Fälle bildet, welche die üppigſte Vegetation umgibt.
Der Pfad zur Quelle hinunter iſt ſo ſteil, daß man die
Wipfel der Baumfarne, deren Stamm 8 m hoch wird, mit
der Hand berühren kann. Die Felſen ringsum ſind mit
Jungermannia und Mooſen aus der Familie Hypnum be-
kleidet. Der Bach ſchießt im Schatten von Helikonien hin
und entblößt die Wurzeln der Plumeria, des Cupey, der
Brownea und des Ficus gigantea. Dieſer feuchte, von
Schlangen heimgeſuchte Ort gewährt dem Botaniker die reichſte
Ausbeute. Die Brownea, von den Eingeborenen Rosa del
monte
oder Palo de Cruz genannt, trägt oft vier- bis fünf-
hundert purpurrote Blüten in einem einzigen Strauße. Jede
Blüte hat faſt immer 11 Staubfäden, und das prachtvolle
Gewächs, deſſen Stamm 15 bis 20 m hoch wächſt, wird ſelten,
weil ſein Holz eine ſehr geſuchte Kohle gibt. Den Boden
bedecken Ananas, Hemimeris, Polygala und Melaſtomen.
Eine kletternde Grasart ſchwebt in leichten Gewinden zwiſchen
Bäumen, deren Hierſein bekundet, wie kühl das Klima in
dieſen Bergen iſt. Dahin gehören die Aralia capitata, die
Vismia caparosa, die Clethra fagifolia. Mitten unter dieſen,
der ſchönen Region der Baumfarne (region de los helechos)
eigentümlichen Gewächſen erheben ſich in den Lichtungen hie
und da Palmbäume und Gruppen von Guarumo oder
Cekropia mit ſilberfarbigen Blättern, deren dünner Stamm
am Gipfel ſchwarz iſt, wie verbrannt vom Sauerſtoff der
Luft. Es iſt auffallend, daß ein ſo ſchöner Baum vom
Habitus der Theophraſta und der Palmen meiſt nur acht bis
zehn Kronblätter hat. Die Ameiſen, die im Stamme des
Guarumo hauſen und das Zellgewebe im Inneren zerſtören,
ſcheinen das Wachstum des Baumes zu hemmen. Wir hatten
in dieſen kühlen Bergen von Higuerote ſchon einmal botaniſiert,
im Dezember, als wir den Generalkapitän Guevara auf dem
Ausfluge begleiteten, den er mit dem Intendanten der Provinz
in die Valles de Aragua machte. Damals entdeckte Bon-
pland im dickſten Walde ein paar Stämme des Aguatire,
deſſen wegen ſeiner ſchönen Farbe berühmtes Holz einmal ein
[176] Ausfuhrartikel nach Europa werden kann. Es iſt die von
Bredemayer und Willdenow beſchriebene Sickingia erythro-
xylon.


Vom bewaldeten Berge Higuerote kommt man gegen Süd-
weſt zum kleinen Dorfe San Pedro herunter (Höhe 1138 m),
das in einem Becken liegt, wo mehrere kleine Thäler zu-
ſammenſtoßen, und faſt 584 m tiefer als die Ebene von Bue-
naviſta. Man baute hier nebeneinander Bananen, Kartoffeln
und Kaffee. Das Dorf iſt ſehr klein und die Kirche noch
nicht ausgebaut. Wir trafen in einer Schenke (pulperia)
mehrere bei der Tabakspacht angeſtellte Hiſpano-Europäer.
Ihre Stimmung war von der unſerigen ſehr verſchieden. Vom
Marſche ermüdet, brachen ſie in Klagen und Verwünſchungen
aus über das unſelige Land (estas tierras infelices), in dem
ſie leben müßten. Wir dagegen konnten die wilde Schönheit
der Gegend, die Fruchtbarkeit des Bodens, das angenehme
Klima nicht genug rühmen.


Das Thal von San Pedro mit dem Flüßchen dieſes
Namens trennt zwei große Bergmaſſen, die des Higuerote
und die von Las Cocuyzas. Es ging nun gegen Weſt wieder
aufwärts über die kleinen Höfe Las Lagunetas und Garavatos.
Es ſind dies nur einzelne Häuſer, die als Herbergen dienen;
die Maultiertreiber finden hier ihr Lieblingsgetränk, Gua-
rapo
, gegorenen Zuckerrohrſaft. Beſonders die Indianer,
die auf dieſer Straße hin und her ziehen, ſind dem Trunke
ſehr ergeben. Bei Garavatos ſteht ein ſonderbar geſtalteter
Glimmerſchieferfels, ein Kamm oder eine ſteile Wand, auf
der oben ein Turm ſteht. Ganz oben auf dem Berge Las
Cocuyzas öffneten wir den Barometer und fanden, daß wir
hier in derſelben Höhe waren wie auf Buenaviſta, kaum
20 m höher.


Die Ausſicht auf Las Lagunetas iſt ſehr weit, aber ziemlich
einförmig. Dieſer gebirgige, unbebaute Landſtrich zwiſchen
den Quellen des Guayre und des Tuy iſt über 500 qkm
groß. Es gibt darin ein einziges elendes Dorf, Los Teques,
ſüdöſtlich von San Pedro. Der Boden iſt wie durchfurcht
von unzähligen kleinen Thälern, und die kleinſten, neben-
einander herlaufenden münden unter rechtem Winkel in die
größeren aus. Die Berggipfel ſind ebenſo einförmig wie die
Thalſchluchten; nirgends eine pyramidaliſche Bildung oder eine
Auszackung, nirgends ein ſteiler Abhang. Nach meiner An-
ſicht rührt das faſt durchgängig flache, wellenförmige Relief
[177] dieſes Landſtriches nicht ſowohl von der Beſchaffenheit der
Gebirgsart her, etwa von der Zerſetzung des Gneiſes, als
vielmehr davon, daß das Waſſer lange darüber geſtanden
und die Strömungen ihre Wirkungen geäußert haben. Die
Kalkberge von Cumana, nördlich vom Turimiquiri, zeigen die-
ſelbe Bildung.


Von Las Lagunetas ging es in das Thal des Tuy hinunter.
Dieſer weſtliche Abhang der Berggruppe Los Teques heißt
Las Cocuyzas; er iſt mit zwei Pflanzen mit Agaveblättern,
mit dem Maguey de Cocuyza und dem Maguey de Co-
cuy
bewachſen. Letzterer gehört zur Gattung Yukka (unſere
Yucca acaulis); aus dem gegorenen, mit Zucker verſetzten
Saft wird Branntwein gebrannt, auch habe ich die jungen
Blätter eſſen ſehen. Aus den Faſern der ausgewachſenen
Blätter werden ungemein feſte Stricke verfertigt.1 Hat man
die Berge Higuerote und Los Teques hinter ſich, ſo betritt
man ein reich bebautes Land, bedeckt mit Weilern und Dörfern,
unter denen welche ſind, die in Europa Städte hießen. Von
Oſt nach Weſt, auf einer Strecke von 54 km, kommt man
durch Victoria, San Mateo, Turmero und Maracay, die
zuſammen über 28000 Einwohner haben. Die Ebenen am
Tuy ſind als der öſtliche Ausläufer der Thäler von Aragua
zu betrachten, die ſich von Guigue, am Ufer des Sees von
Valencia, bis an den Fuß der Berge Las Cocuyzas erſtrecken.
Durch barometriſche Meſſung fand ich das Tuythal beim Hofe
Manterola 575 m und den Spiegel des Sees 432 m über
dem Meere. Der Tuy, der in den Bergen Las Cocuyzas ent-
ſpringt, läuft anfangs gegen Weſt, wendet ſich dann nach
Süd und Oſt längs der hohen Savannen von Ocumare, nimmt
die Gewäſſer des Thales von Caracas auf und fällt unter
dem Winde des Kap Codera ins Meer.


Wir waren ſchon lange an eine mäßige Temperatur ge-
wöhnt, und ſo kamen uns die Ebenen am Tuy ſehr heiß vor,
und doch ſtand der Thermometer bei Tag zwiſchen 11 Uhr
morgens und 5 Uhr abends nur auf 23 bis 24°. Die Nächte
waren köſtlich kühl, da die Lufttemperatur bis auf 17,5° ſank.
Je mehr die Hitze abnahm, deſto ſtärker ſchienen die Wohl-
gerüche der Blumen die Luft zu erfüllen. Aus allen heraus
erkannten wir den köſtlichen Geruch des Lirio hermoso, einer
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 12
[178] neuen Art von Pancratium, deren Blüte 21 bis 23 cm lang
iſt und die am Ufer des Tuy wächſt. Wir verlebten zwei
höchſt angenehme Tage auf der Pflanzung Don Joſes de Man-
terola, der in der Jugend Mitglied der ſpaniſchen Geſandt-
ſchaft in Rußland geweſen war. Als Zögling und Günſt-
ling Xavedras, eines der einſichtsvollſten Intendanten von
Caracas, wollte er ſich, als der berühmte Staatsmann ins
Miniſterium getreten war, nach Europa einſchiffen. Der Gou-
verneur der Provinz fürchtete Manterolas Einfluß und ließ
ihn im Hafen verhaften, und als der Befehl von Hof an-
langte, der die eigenmächtige Verhaftung aufhob, war der
Miniſter bereits nicht mehr in Gunſt. Es hält ſchwer, auf
7300 km von der ſüdamerikaniſchen Küſte rechtzeitig einzu-
treffen, um von der Macht eines hochgeſtellten Mannes Nutzen
zu ziehen.


Der Hof, auf dem wir wohnten, iſt eine hübſche Zucker-
plantage. Der Boden iſt eben wie der Grund eines aus-
getrockneten Sees. Der Tuy ſchlängelt ſich durch Gründe,
die mit Bananen und einem kleinen Gehölz von Hura cre-
pitans, Erythrina corallodendron
und Feigenbäumen mit
Nymphäenblättern bewachſen ſind. Das Flußbett beſteht aus
Quarzgeſchieben, und ich wüßte nicht, wo man angenehmer
badete als im Tuy: das kriſtallhelle Waſſer behält ſelbſt bei
Tage die Temperatur von 18,6°. Das iſt ſehr kühl für dieſes
Klima und für eine Meereshöhe von 580 m, aber der Fluß
entſpringt in den benachbarten Bergen. Die Wohnung des
Eigentümers liegt auf einem 30 bis 40 m hohen Hügel und
ringsum ſtehen die Hütten der Neger. Die Verheirateten
ſorgen ſelbſt für ihren Unterhalt. Wie überall in den Thä-
lern von Aragua weiſt man ihnen ein kleines Grundſtück an,
das ſie bebauen. Sie verwenden dazu die einzigen freien
Tage in der Woche, Sonnabend und Sonntag. Sie halten
Hühner, zuweilen ſogar ein Schwein. Der Herr rühmt, wie
gut ſie es haben, wie im nördlichen Europa die gnädigen
Herren den Wohlſtand der leibeigenen Bauern rühmen. Am
Tage unſerer Ankunft ſahen wir drei entſprungene Neger ein-
bringen, vor kurzem gekaufte Sklaven. Ich fürchtete Zeuge
einer der Prügelſzenen ſein zu müſſen, die einem überall, wo
die Sklaverei herrſcht, das Landleben verbittern; glücklicher-
weiſe wurden die Schwarzen menſchlich behandelt.


Auf dieſer Pflanzung, wie überall in der Provinz Vene-
zuela, unterſcheidet man ſchon von weitem die drei Arten
[179] Zuckerrohr, die gebaut werden, das kreoliſche Rohr, das tahi-
tiſche und das bataviſche. Die erſtere Art hat ein dunkleres
Blatt, einen dünneren Stengel und die Knoten ſtehen näher
bei einander; es iſt dies das Zuckerrohr, das aus Indien
zuerſt auf Sizilien, auf den Kanarien und auf den Antillen
eingeführt wurde. Die zweite Art zeichnet ſich durch ein
helleres Grün aus; der Stengel iſt höher, dicker, ſaftreicher;
die ganze Pflanzung verrät üppigeres Wachstum. Man ver-
dankt ſie den Reiſen Bougainvilles, Cooks und Blighs. Bou-
gainville brachte ſie nach Cayenne, von wo ſie nach Martinique
und vom Jahre 1792 an auf die anderen Antillen kam. Das
tahitiſche Zuckerrohr, der To der Inſulaner, iſt eine der
wichtigſten Bereicherungen, welche die Landwirtſchaft in den
Kolonien ſeit einem Jahrhundert reiſenden Naturforſchern ver-
dankt. Es gibt nicht nur auf demſelben Areal ein Dritteil
mehr Vezou als das kreoliſche Zuckerrohr, ſein dicker Stengel
und ſeine feſte Holzfaſer liefern auch ungleich mehr Brennſtoff.
Letzteres iſt für die Antillen von großem Wert, da die Pflanzer
dort wegen der Ausrodung der Wälder ſchon lange die Keſſel
mit ausgepreßtem Rohr heizen müſſen. Ohne dieſes neue
Gewächs, ohne die Fortſchritte des Ackerbaues auf dem Feſt-
lande des ſpaniſchen Amerika und die Einführung des indiſchen
und Javazuckers hätten die Revolutionen auf San Domingo
und die Zerſtörung der dortigen großen Zuckerpflanzungen
einen noch weit bedeutenderen Einfluß auf die Preiſe der
Kolonialwaren in Europa geäußert. Nach Caracas kam das
tahitiſche Rohr von der Inſel Trinidad, von Caracas nach
Cucuta und San Gil im Königreiche Neugranada. Gegen-
wärtig, nach fünfundzwanzigjährigem Anbau, iſt die Beſorgnis
verſchwunden, die man anfangs gehegt, das nach Amerika
verpflanzte Rohr möchte allmählich ausarten und ſo dünn
werden wie das kreoliſche. Wenn es eine Spielart iſt, ſo iſt
es eine ſehr konſtante. Die dritte Art, das violette Zucker-
rohr, Caña de Batavia oder de Guinea genannt, iſt beſtimmt
auf Java zu Hauſe, wo man es vorzugsweiſe in den Diſtrikten
Japara und Paſuruan baut. Es hat purpurfarbige, ſehr
breite Blätter; in der Provinz Caracas verwendet man es
vorzugsweiſe zum Rumbrennen. Zwiſchen den Tablones
oder mit Zuckerrohr bepflanzten Grundſtücken laufen Hecken
aus einer gewaltig großen Grasart, der Latta oder dem
Gynerium mit zweizeiligen Blättern. Man war im Tuy
daran, ein Wehr auszubauen, durch das ein Wäſſerungskanal
[180] geſpeiſt werden ſollte. Der Eigentümer hatte für das Unter-
nehmen 7000 Piaſter an Baukoſten und 4000 für die Prozeſſe
mit ſeinen Nachbarn ausgegeben. Während die Sachwalter
ſich über einen Kanal ſtritten, der erſt zur Hälfte fertig war,
fing Manterola an zu bezweifeln, ob die Sache überhaupt
ausführbar ſei. Ich vermaß das Terrain mittels eines Pro-
bierglaſes auf einem künſtlichen Horizont und fand, daß das
Wehr 2,6 m zu tief angelegt war. Wieviel Geld habe ich
in den ſpaniſchen Kolonien für Bauten hinauswerfen ſehen,
die nach falſchen Meſſungen angelegt waren!


Das Tuythal hat ſein „Goldbergwerk“, wie faſt jeder
von Europäern bewohnte, im Urgebirge liegende Ort in Amerika.
Man verſicherte, im Jahre 1780 habe man hier fremde Gold-
wäſcher Goldkörner ſammeln ſehen, und die Leute haben ſofort
in der Goldſchlucht eine Wäſcherei angelegt. Der Verwalter
einer benachbarten Pflanzung hatte dieſe Spuren verfolgt, und
ſiehe, man fand in ſeinem Nachlaß ein Wams mit goldenen
Knöpfen, und nach der Volkslogik konnte dieſes Gold nur
aus einem Erzgange kommen, wo die Schürfung durch einen
Erdfall verſchüttet worden war. So beſtimmt ich auch erklärte,
nach dem bloßen Ausſehen des Bodens, ohne einen tiefen
Stollen in der Richtung des Ganges könne ich nicht wiſſen,
ob hier einmal gebaut worden ſei — es half nichts, ich mußte
den Bitten meiner Wirte nachgeben. Seit zwanzig Jahren
war das Wams des Verwalters im ganzen Bezirk tagtäglich
beſprochen worden. Das Gold, das man aus dem Schoße
der Erde gräbt, hat in den Augen des Volkes einen ganz
anderen Reiz, als das Gold, das der Fleiß des Landmannes
auf einem fruchtbaren, mit einem milden Klima geſegneten
Boden erntet.


Nordweſtlich von der Hacienda del Tuy, im nördlichen
Zuge der Küſtengebirgskette, befindet ſich eine tiefe Schlucht,
Quebrada seca genannt, weil der Bach, dem ſie ihre Ent-
ſtehung verdankt, in den Felsſpalten verſickert, ehe er das
Ende der Schlucht erreicht. Dieſes ganze Bergland iſt dicht
bewachſen; hier, wie überall, wo die Höhen in die Wolken-
region reichen und die Waſſerdünſte auf ihrem Zuge von der
See her freien Zutritt haben, fanden wir das herrliche friſche
Grün, das uns in den Bergen von Buenaviſta und Lagunetas
ſo wohl gethan hatte. In den Ebenen dagegen werfen, wie
ſchon oben bemerkt, die Bäume im Winter ihre Blätter zum
Teil ab, und ſobald man in das Thal des Tuy hinabkommt,
[181] fällt einem das faſt winterliche Ausſehen der Landſchaft auf.
Die Luft iſt ſo trocken, daß der Delucſche Hygrometer Tag
und Nacht auf 36 bis 40° ſteht. Weit ab vom Fluſſe ſieht
man kaum hie und da eine Hura oder ein baumartiges Pfeffer-
gewächs das entblätterte Buſchwerk beſchatten. Dieſe Erſchei-
nung iſt wohl eine Folge der Trockenheit der Luft, die im
Februar ihr Maximum erreicht; ſie rührt nicht, wie die Ko-
loniſten meinen, daher, daß die „Jahreszeiten, wie ſie in
Spanien ſind, bis in den heißen Erdſtrich herüber wirken“.
Nur die aus einer Halbkugel in die andere verſetzten Gewächſe
bleiben hinſichtlich ihrer Lebensverrichtungen, der Blätter- und
Blütenentwickelung an einen fernen Himmelsſtrich gebunden
und richten ſich, treu dem gewohnten Lebensgange, noch lange
an die periodiſchen Witterungswechſel desſelben. In der Pro-
vinz Venezuela fangen die kahlen Bäume faſt einen Monat
vor der Regenzeit wieder an friſches Laub zu treiben. Wahr-
ſcheinlich iſt um dieſe Zeit das elektriſche Gleichgewicht in der
Luft bereits aufgehoben und dieſelbe wird allmählich feuchter,
wenn ſie auch noch wolkenlos iſt. Das Himmelsblau wird
bläſſer und hoch oben in der Luft ſammeln ſich leichte, gleich-
förmig verbreitete Dünſte. In dieſe Jahreszeit fällt hier
eigentlich das Erwachen der Natur; es iſt ein Frühling, der,
nach dem Sprachgebrauch in den ſpaniſchen Kolonieen,1 Winters
Anfang verkündigt und auf die Sommerhitze folgt.


In der Quebrada seca wurde früher Indigo gebaut;
da aber der dichtbewachſene Boden nicht ſo viel Wärme ab-
geben kann, als die Niederungen oder der Thalgrund des
Tuy empfangen und durch Strahlung wieder von ſich geben,
ſo baut man jetzt ſtatt desſelben Kaffee. Je weiter man in
der Schlucht hinaufkommt, deſto feuchter wird ſie. Beim
Hato, am nördlichen Ende der Quebrada, kamen wir an
einen Bach, der über die fallenden Gneisſchichten niederſtürzt;
man arbeitete hier an einer Waſſerleitung, die das Waſſer in
die Ebene führen ſollte; ohne Bewäſſerung iſt in dieſem Land-
ſtriche kein Fortſchritt in der Landwirtſchaft möglich. Ein un-
geheuer dicker Baum (Hura crepitans) am Bergabhange, über
[182] dem Hauſe des Hato, fiel uns auf. Da er, wenn der Boden
im geringſten wich, hätte umfallen und das Haus, das in
ſeinem Schatten lag, zertrümmern müſſen, ſo hatte man ihn
unten am Stamm abgebrannt und ſo gefällt, daß er zwiſchen
ungeheure Feigenbäume zu liegen kam und nicht in die Schlucht
hinunterrollen konnte. Wir maßen den gefällten Baum: der
Wipfel war abgebrannt, und doch maß der Stamm noch 53 m;
er hatte an der Wurzel 2,6 m Durchmeſſer und am oberen
Ende 1,35 m.


Unſeren Führern war weit weniger als uns daran ge-
legen, wie dick die Bäume ſind, und ſie trieben uns vorwärts,
dem „Goldbergwerke“ zu. Wir wandten uns nach Weſt und
ſtanden endlich in der Quebrada del Oro. Da war nun am
Abhange eines Hügels kaum die Spur eines Quarzganges zu
bemerken. Durch den Regen war der Boden herabgerutſcht,
das Terrain war dadurch ganz verändert und von einer Unter-
ſuchung konnte keine Rede ſein. Bereits wuchſen große Bäume
auf dem Fleck, wo die Goldwäſcher vor zwanzig Jahren ge-
arbeitet hatten. Es iſt allerdings wahrſcheinlich, daß ſich hier
im Glimmerſchiefer, wie bei Goldkronach in Franken und im
Salzburgiſchen, goldhaltige Gänge finden; aber wie will man
wiſſen, ob die Lagerſtätte bauwürdig iſt, oder ob das Erz nur
in Neſtern vorkommt, und zwar deſto ſeltener, je reicher es iſt?
Um uns für unſere Anſtrengung zu entſchädigen, botaniſierten
wir lange im dichten Walde über dem Hato, wo Cedrela,
Brownea und Feigenbäume mit Nymphäenblättern in Menge
wachſen. Die Stämme der letzteren ſind mit ſehr ſtark rie-
chenden Vanillepflanzen bedeckt, die meiſt erſt im April blühen.
Auch hier fielen uns wieder die Holzauswüchſe auf, die in
der Geſtalt von Gräten oder Rippen den Stamm der ameri-
kaniſchen Feigenbäume bis 6,5 m über dem Boden ſo ungemein
dick machen. Ich habe Bäume geſehen, die über der Wurzel
7,3 m Durchmeſſer hatten. Dieſe Holzgräten trennen ſich zu-
weilen 2,6 m über dem Boden vom Stamm und verwandeln
ſich in walzenförmige, 60 cm dicke Wurzeln, und da ſieht es
aus, als würde der Baum von Strebepfeilern geſtützt. Dieſes
Gerüſtwerk dringt indeſſen nicht weit in den Boden ein. Die
Seitenwurzeln ſchlängeln ſich am Boden hin, und wenn man
6,5 m vom Stamm ſie mit einem Beil abhaut, ſieht man den
Milchſaft des Feigenbaumes hervorquellen und ſofort, da er
der Lebensthätigkeit der Organe entzogen iſt, ſich zerſetzen und
gerinnen. Welch wundervolle Verflechtung von Zellen und
[183] Gefäßen in dieſen vegetabiliſchen Maſſen, in dieſen Rieſen-
bäumen der heißen Zone, die vielleicht tauſend Jahre lang
in einem fort Nahrungsſaft bereiten, der bis zu 58 m hoch
aufſteigt und wieder zum Boden zurückfließt, und wo hinter
einer rauhen, harten Rinde, unter dicken Schichten lebloſer
Holzfaſern ſich alle Regungen organiſchen Lebens bergen!


Ich benutzte die hellen Nächte, um auf der Pflanzung
am Tuy zwei Austritte des erſten und dritten Jupitertra-
banten zu beobachten. Dieſe zwei Beobachtungen ergaben nach
den Tafeln von Delambre 4h 39′ 14″ Länge; nach dem Chro-
nometer fand ich 4h 39′ 10″. Dies waren die letzten Be-
deckungen, die ich bis zu meiner Rückkehr vom Orinoko beob-
achtet; mittels derſelben wurde das öſtliche Ende der Thäler
von Aragua und der Fuß der Berge Las Cocuyzas ziemlich
genau beſtimmt. Nach Meridianhöhen von Canopus fand ich
die Breite der Hacienda de Manterola am 9. Februar 10°
16′ 55″, am 10. Februar 10° 16′ 34″. Trotz der großen
Trockenheit der Luft flimmerten die Sterne bis zu 80° Höhe,
was unter dieſer Zone ſehr ſelten vorkommt und jetzt viel-
leicht das Ende der ſchönen Jahreszeit verkündete. Die In-
klination der Magnetnadel war 41° 60′, und 228 Schwingungen
in 10 Minuten Zeit gaben die Intenſität der magnetiſchen
Kraft an. Die Abweichung der Nadel war 4° 30′ gegen
Nordoſt.


Während meines Aufenthaltes in den Thälern des Tuy
und von Aragua zeigte ſich das Zodiakallicht faſt jede Nacht
in ungemeinem Glanze. Ich hatte es unter den Tropen zum
erſtenmal in Caracas am 18. Januar um 7 Uhr abends ge-
ſehen. Die Spitze der Pyramide ſtand 53° hoch. Der Schein
verſchwand faſt ganz um 9 Uhr 35 Minuten (wahre Zeit),
beinahe 3 Stunden 50 Minuten nach Sonnenuntergang, ohne
daß der klare Himmel ſich getrübt hätte. Schon La Caille
war auf ſeiner Reiſe nach Rio de Janeiro und dem Kap auf-
gefallen, wie ſchön ſich das Zodiakallicht unter den Tropen
ausnimmt, nicht ſowohl weil es weniger geneigt iſt, als wegen
der großen Reinheit der Luft. Man müßte es auch auffallend
finden, daß nicht lange vor Childrey und Dominik Caſſini
die Seefahrer, welche die Meere beider Indien beſuchten, die
gelehrte Welt Europas auf dieſen Lichtſchimmer von ſo be-
ſtimmter Form und Bewegung aufmerkſam gemacht haben,
wenn man nicht wüßte, wie wenig ſie bis zur Mitte des
18. Jahrhunderts ſich um alles kümmerten, was nicht un-
[184] mittelbar auf den Lauf des Schiffes und auf die Steuerung
Bezug hatte.


So glänzend das Zodiakallicht im trockenen Tuythale
war, ſo ſah ich es doch noch weit ſchöner auf dem Rücken der
Kordilleren von Mexiko, am Ufer des Sees von Tezcuco, in
2261 m Meereshöhe. Auf dieſer Hochebene geht der De-
lucſche Hygrometer auf 15° zurück, und bei einem Luftdruck
von 21 Zoll 8 Linien iſt die Schwächung des Lichtes 1/1006mal
geringer als auf den Niederungen. Im Januar 1804 reichte
die Helle zuweilen mehr als 60° über den Horizont herauf.
Die Milchſtraße erſchien blaß neben dem Glanz des Zo-
diakallichtes, und wenn bläuliche zerſtreute Wölkchen gegen
Weſt am Himmel ſchwebten, meinte man, der Mond ſei am
Aufgehen.


Ich muß hier einer ſehr auffallenden Beobachtung ge-
denken, die ſich in meinem an Ort und Stelle geführten Tage-
buche mehrmals verzeichnet findet. Am 18. Januar und am
15. Februar 1800 zeigte ſich das Zodiakallicht nach je zwei
Minuten ſehr merkbar jetzt ſchwächer, jetzt wieder ſtärker. Bald
war es ſehr ſchwach, bald heller als der Glanz der Milchſtraße
im Schützen. Der Wechſel erfolgte in der ganzen Pyramide,
beſonders aber im Inneren, weit von den Rändern. Wäh-
rend dieſer Schwankungen des Zodiakallichtes zeigte der Hygro-
meter große Trockenheit an. Die Sterne vierter und fünfter
Größe erſchienen dem bloßen Auge fortwährend in derſelben
Lichtſtärke. Nirgends war ein Wolkenſtreif am Himmel zu
ſehen, und nichts ſchien irgendwie die Reinheit der Luft zu
beeinträchtigen. In anderen Jahren, in der ſüdlichen Halb-
kugel, ſah ich das Licht eine halbe Stunde, ehe es verſchwand,
ſtärker werden. Nach Dominik Caſſini ſollte „das Zodiakal-
licht in manchen Jahren ſchwächer und dann wieder ſo ſtark
werden wie anfangs“. Er glaubte, dieſer allmähliche Licht-
wechſel „hänge mit denſelben Emanationen zuſammen, in deren
Folge auf der Sonnenſcheibe periodiſch Flecken und Fackeln
erſcheinen“, aber der ausgezeichnete Beobachter erwähnt nichts
von einem ſolchen raſchen, innerhalb weniger Minuten erfol-
genden Wechſel in der Stärke des Zodiakallichtes, wie ich
denſelben unter den Tropen öfters geſehen. Mairan behauptet,
in Frankreich ſehe man in den Monaten Februar und März
ziemlich oft mit dem Zodiakalſchein eine Art Nordlicht ſich
miſchen, das er das unbeſtimmte nennt, und deſſen Licht-
nebel ſich entweder um den ganzen Horizont verbreitet oder
[185] gegen Weſten erſcheint. Ich bezweifle, daß in den von mir
beobachteten Fällen dieſe beiderlei Lichtſcheine ſich gemengt
haben. Der Wechſel in der Lichtſtärke erfolgte in bedeutenden
Höhen, das Licht war weiß, nicht farbig, ruhig, nicht zitternd.
Zudem ſind Nordlichter unter den Tropen ſo ſelten ſichtbar,
daß ich in fünf Jahren, ſo oft ich auch im Freien lag und
das Himmelsgewölbe anhaltend und ſehr aufmerkſam betrachtete,
nie eine Spur davon bemerken konnte.


Ueberblicke ich, was ich in Bezug auf die Zu- und Ab-
nahme des Zodiakallichtes in meinen Notizen verzeichnet habe,
ſo möchte ich glauben, daß dieſe Veränderungen doch nicht alle
ſcheinbar ſind, noch von gewiſſen Vorgängen in der Atmoſphäre
abhängen. Zuweilen, in ganz heiteren Nächten, ſuchte ich das
Zodiakallicht vergebens, während es tags zuvor ſich im größten
Glanze gezeigt hatte.1 Soll man annehmen, daß Emanationen,
die das weiße Licht reflektieren, und die mit dem Schweif der
Kometen Aehnlichkeit zu haben ſcheinen, zu gewiſſen Zeiten
ſchwächer ſind? Die Unterſuchungen über den Zodiakalſchein
bekommen noch mehr Intereſſe, ſeit die Mathematiker uns
bewieſen haben, daß uns die wahre Urſache der Erſcheinung
unbekannt iſt. Der berühmte Verfaſſer der mécanique céleste
hat dargethan, daß die Sonnenatmoſphäre nicht einmal bis
zur Merkursbahn reichen kann, und daß ſie in keinem Fall
in der Linſenform erſcheinen könnte, die das Zodiakallicht
nach der Beobachtung haben muß. Es laſſen ſich zudem
über das Weſen dieſes Lichtes dieſelben Zweifel erheben, wie
über das der Kometenſchweife. Iſt es wirklich reflektiertes,
oder iſt es direktes Licht? Hoffentlich werden reiſende Natur-
forſcher, welche unter die Tropen kommen, ſich mit Polari-
ſationsapparaten verſehen, um dieſen wichtigen Punkt zu
erledigen.


Am 11. Februar mit Sonnenaufgang brachen wir von
der Pflanzung Manterola auf. Der Weg führt an den lachen-
den Ufern des Tuy hin, der Morgen war kühl und feucht
und die Luft durchwürzt vom köſtlichen Geruch des Pancra-
tium undulatum
und anderer großer Liliengewächſe. Man
kommt durch das hübſche Dorf Mamon oder Conſejo, das
in der Provinz wegen eines wunderthätigen Muttergottes-
bildes berühmt iſt. Kurz vor Mamon machten wir auf einem
Hofe der Familie Monteras Halt. Eine über 100 Jahre alte
[186] Negerin ſaß vor einer kleinen Hütte aus Rohr und Erde.
Man kannte ihr Alter, weil ſie eine Kreolinſklavin war. Sie
ſchien noch bei ganz guter Geſundheit. „Ich halte ſie an der
Sonne (la tingo al sol),“ ſagte ihr Enkel; „die Wärme er-
hält ſie am Leben.“ Das Mittel kam uns ſehr ſtark vor,
denn die Sonnenſtrahlen fielen faſt ſenkrecht nieder. Die
Völker mit dunkler Haut, die gut akklimatiſierten Schwarzen
und die Indianer erreichen in der heißen Zone ein hohes,
glückliches Alter. Ich habe anderswo von einem eingeborenen
Peruaner erzählt, der im Alter von 143 Jahren ſtarb und
90 Jahre verheiratet geweſen war.


Don Francisco Montera und ſein Bruder, ein junger,
ſehr gebildeter Geiſtlicher, begleiteten uns, um uns in ihr
Haus in Victoria zu bringen. Faſt alle Familien, mit denen
wir in Caracas befreundet geweſen waren, die Uſtariz, die
Tovars, die Toros, lebten beiſammen in den ſchönen Thälern
von Aragua, wo ſie die reichſten Pflanzungen beſaßen, und
ſie wetteiferten, uns den Aufenthalt angenehm zu machen.
Ehe wir in die Wälder am Orinoko drangen, erfreuten wir
uns noch einmal an allem, was hohe Kultur Schönes und
Gutes bietet.


Der Weg von Mamon nach Victoria läuft von Süd
nach Südweſt. Den Tuy, der am Fuße der hohen Berge
von Guayraima eine Biegung nach Oſt macht, verloren wir
bald aus dem Geſicht. Man meint im Haslithal im Berner
Oberland zu ſein. Die Kalktuffhügel ſind nicht mehr als
270 m hoch, fallen aber ſenkrecht ab und ſpringen wie Vor-
gebirge in die Ebene herein. Ihre Umriſſe deuten das
alte Seegeſtade an. Das öſtliche Ende des Thales iſt
dürr und nicht angebaut; man hat hier die waſſerreichen
Schluchten der benachbarten Gebirge nicht benutzt, aber in
der Nähe der Stadt betritt man ein gut bebautes Land. Ich
ſage Stadt, obgleich zu meiner Zeit Victoria nur für ein
Dorf (pueblo) galt.


Einen Ort mit 7000 Einwohnern, ſchönen Gebäuden,
einer Kirche mit doriſchen Säulen und dem ganzen Treiben
der Handelsinduſtrie kann man ſich nicht leicht als Dorf
denken. Längſt hatten die Einwohner von Victoria den
ſpaniſchen Hof um den Titel Villa angegangen und um das
Recht, einen Cabildo, einen Gemeinderat, wählen zu dürfen.
Das ſpaniſche Miniſterium willfahrte dem Geſuch nicht, und
doch hatte es bei der Expedition Iturriagas und Solanos an
[187] den Orinoko, auf das dringende Geſuch der Franziskaner, ein
paar Haufen indianiſcher Hütten den vornehmen Titel Ciudad
erteilt. Die Selbſtverwaltung der Gemeinden ſollte ihrem
Weſen nach eine der Hauptgrundlagen der Freiheit und Gleich-
heit der Bürger ſein; aber in den ſpaniſchen Kolonieen iſt ſie
in eine Gemeindeariſtokratie ausgeartet. Die Leute, welche
die unumſchränkte Gewalt in Händen haben, könnten ſo leicht
den Einfluß von ein paar mächtigen Familien ihren Zwecken
dienſtbar machen; ſtatt deſſen fürchten ſie den ſogenannten
Unabhängigkeitsgeiſt der kleinen Gemeinden. Lieber ſoll der
Staatskörper gelähmt und kraftlos bleiben, als daß ſie Mittel-
punkte der Regſamkeit aufkommen ließen, die ſich ihrem Ein-
fluß entziehen, als daß ſie der lokalen Lebensthätigkeit, welche
die ganze Maſſe beſeelt, Vorſchub leiſteten, nur weil dieſe
Thätigkeit vielmehr vom Volk als von der oberſten Gewalt
ausgeht. Zur Zeit Karls V. und Philipps II. wurde die
Munizipalverfaſſung vom Hofe klugerweiſe begünſtigt. Mächtige
Männer, die bei der Eroberung eine Rolle geſpielt, gründeten
Städte und bildeten die erſten Cabildos nach dem Muſter
der ſpaniſchen; zwiſchen den Angehörigen des Mutterlandes
und ihren Nachkommen in Amerika beſtand damals Rechts-
gleichheit. Die Politik war eben nicht freiſinnig, aber doch
nicht ſo argwöhniſch wie jetzt. Das vor kurzem eroberte und
verheerte Feſtland wurde als eine ferne Beſitzung Spaniens
angeſehen. Der Begriff einer Kolonie im heutigen Sinne ent-
wickelte ſich erſt mit dem modernen Syſtem der Handelspolitik,
und dieſe Politik ſah zwar ganz wohl die wahren Quellen
des Nationalreichtums, wurde aber nichtsdeſtoweniger bald
kleinlich, mißtrauiſch, ausſchließend. Sie arbeitete auf die
Zwietracht zwiſchen dem Mutterlande und den Kolonieen hin;
ſie brachte unter den Weißen eine Ungleichheit auf, von der
die erſte Geſetzgebung für Indien nichts gewußt hatte. All-
mählich wurde durch die Centraliſierung der Gewalt der Ein-
fluß der Gemeinden herabgedrückt, und dieſelben Cabildos,
denen im 16. und 17. Jahrhundert das Recht zuſtand, nach
dem Tode eines Statthalters das Land proviſoriſch zu re-
gieren, galten beim Madrider Hof für gefährliche Hemmniſſe
der königlichen Gewalt. Hinfort erhielten die reichſten Dörfer
trotz der Zunahme ihrer Bevölkerung nur ſehr ſchwer den
Stadttitel und das Recht der eigenen Verwaltung. Es ergibt
ſich hieraus, daß die neueren Aenderungen in der Kolonial-
politik keineswegs alle ſehr philoſophiſch ſind. Man ſieht
[188] ſolches ſehr deutlich, wenn man in den Leyes de Indias die
Artikel von den Verhältniſſen der nach Amerika überſiedelten
Spanier, von den Rechten der Gemeinden und der Einrichtung
der Gemeinderäte nachlieſt.


Durch die Art des Anbaues iſt der Anblick der Umgegend
von Victoria ein ganz eigentümlicher. Der bebaute Boden
liegt nur in 525 bis 580 m Meereshöhe, und doch ſieht man
Getreidefelder unter den Zucker-, Kaffee- und Bananenpflan-
zungen. Mit Ausnahme des Inneren von Cuba werden ſonſt
faſt nirgends im tropiſchen Teile der ſpaniſchen Kolonieen die
europäiſchen Getreidearten in einem ſo tief gelegenen Land-
ſtriche gebaut. In Mexiko wird nur zwiſchen 1170 und 2340 m
abſoluter Höhe der Weizenbau ſtark betrieben, und nur ſelten
geht er über 780 m herab. Wir werden bald ſehen, daß,
wenn man Lagen von verſchiedener Höhe miteinander ver-
gleicht, der Ertrag des Getreides von den hohen Breiten zum
Aequator mit der mittleren Temperatur des Ortes merkbar
zunimmt. Ob man mit Erfolg Getreide bauen kann, hängt
ab vom Grade der Trockenheit der Luft, davon, ob der Regen
auf mehrere Jahreszeiten verteilt iſt oder nur in der Winter-
zeit fällt, ob der Wind fortwährend aus Oſt bläſt oder von
Norden her kalte Luft in tiefe Breiten bringt (wie im Meer-
buſen von Mexiko), ob monatelang Nebel die Kraft der Sonnen-
ſtrahlen vermindern, kurz, von tauſend örtlichen Verhältniſſen,
die nicht ſowohl die mittlere Temperatur des ganzen Jahres
als die Verteilung derſelben Wärmemenge auf verſchiedene
Jahreszeiten bedingen. Es iſt eine merkwürdige Erſcheinung,
daß das europäiſche Getreide vom Aequator bis Lappland,
unter dem 69. Breitengrad, in Ländern mit einer mittleren
Wärme von + 22 bis — 2 Grad, allerorten gebaut wird,
wo die Sommertemperatur über 9 bis 10 Grad beträgt.
Man kennt das Minimum von Wärme, wobei Weizen,
Gerſte und Hafer noch reifen; über das Maximum, das
dieſe ſonſt ſo zähen Grasarten ertragen, iſt man weniger im
reinen. Wir wiſſen nicht einmal, welche Verhältniſſe zuſammen-
wirken, um unter den Tropen den Getreidebau in ſehr ge-
ringen Höhen möglich zu machen. Victoria und das benach-
barte Dorf San Mateo erzeugen 4000 Zentner Weizen.
Man ſät ihn im Dezember und erntet ihn am 70. oder
75. Tage. Das Korn iſt groß, weiß und ſehr reich an Kleber;
die Deckhaut iſt dünner, nicht ſo hart als beim Korn auf den
ſehr kalten mexikaniſchen Hochebenen. Bei Victoria erträgt
[189] der Morgen in der Regel 1500 bis 1600 kg Weizen, alſo,
wie in Buenos Ayres, zwei bis dreimal mehr als in den
nördlichen Ländern. Man erntet etwa das 16. Korn, während
der Boden von Frankreich, nach Lavoiſiers Unterſuchungen,
im Durchſchnitt nur das 5. bis 6., 500 bis 600 kg auf den
Morgen trägt. Trotz dieſer Fruchtbarkeit des Bodens und
des günſtigen Klimas iſt der Zuckerbau in den Thälern von
Aragua einträglicher als der Getreidebau.


Durch Victoria läuft der kleine Rio Calanchas, der ſich
nicht in den Tuy, ſondern in den Rio Aragua ergießt, wor-
aus hervorgeht, daß dieſes ſchöne Land, wo Zuckerrohr und
Weizen nebeneinander wachſen, bereits zum Becken des Sees
von Valencia gehört, zu einem Syſtem von Binnenflüſſen,
die mit der See nicht in Verbindung ſtehen. Der Stadtteil
weſtlich vom Rio Calanchas heißt La otra banda und iſt der
gewerbſamſte. Ueberall ſieht man Waren ausgeſtellt, und die
Straßen beſtehen aus Budenreihen. Zwei Handelsſtraßen
laufen durch Victoria, die von Valencia oder Porto Cabello
und die von Villa de Cura oder den Ebenen her, Camino de
los Llanos
genannt. Es ſind im Verhältnis mehr Weiße
hier als in Caracas. Wir beſuchten bei Sonnenuntergang
den Kalvarienberg, wo man eine weite, ſehr ſchöne Ausſicht
hat. Man ſieht gegen Weſt die lachenden Thäler von Aragua,
ein weites, mit Gärten, Bauland, Stücken Wald, Höfen und
Weilern bedecktes Gelände. Gegen Süd und Südoſt ziehen
ſich, ſo weit das Auge reicht, die hohen Gebirge von Palma,
Guayraima, Tiara und Guiripa hin, hinter denen die unge-
heuren Ebenen oder Steppen von Calabozo liegen. Dieſe
innere Bergkette ſtreicht nach Weſt längs des Sees von Va-
lencia fort bis Villa de Cura, Cueſta de Yusma und zu den
gezackten Bergen von Guigue. Sie iſt ſteil und fortwährend
in den leichten Dunſt gehüllt, der in heißen Ländern ferne
Gegenſtände ſtark blau färbt und die Umriſſe keineswegs ver-
wiſcht, ſondern ſie nur ſtärker hervortreten läßt. In dieſer
inneren Kette ſollen die Berge von Guayraima bis 2340 m
hoch ſein. In der Nacht des 11. Februar fand ich die Breite
von Victoria 10° 13′ 35″, die Inklination der Magnetnadel
40,80°, die Intenſität der magnetiſchen Kraft gleich 236
Schwingungen in 10 Zeitminuten und die Abweichung der
Nadel 4,40° nach Nordoſt.


Wir zogen langſam weiter über die Dörfer San Mateo,
Turmero und Maracay auf die Hacienda de Cura, eine ſchöne
[190] Pflanzung des Grafen Tovar, wo wir erſt am 14. Februar
abends ankamen. Das Thal wird allmählich weiter; zu beiden
Seiten desſelben ſtehen Hügel von Kalktuff, den man hierzu-
lande tierra blanca nennt. Die Gelehrten im Lande haben
verſchiedene Verſuche gemacht, dieſe Erde zu brennen; ſie ver-
wechſelten dieſelbe mit Porzellanerde, die ſich aus Schichten
verwitterten Feldſpats bildet. Wir verweilten ein paar Stunden
bei einer achtungswürdigen und gebildeten Familie, den Uſtariz
in Conceſion. Das Haus mit einer auserleſenen Bücher-
ſammlung ſteht auf einer Anhöhe und iſt mit Kaffee- und
Zuckerpflanzungen umgeben. Ein Gebüſch von Balſambäumen
(balsamo)1 gibt Kühlung und Schatten. Mit reger Teil-
nahme ſahen wir die vielen im Thale zerſtreuten Häuſer, die
von Freigelaſſenen bewohnt ſind. Geſetze, Einrichtungen,
Sitten begünſtigen in den ſpaniſchen Kolonieen die Frei-
heit der Neger ungleich mehr als bei den übrigen europäiſchen
Nationen.


San Mateo, Turmero und Maracay ſind reizende Dörfer,
wo alles den größten Wohlſtand verrät. Man glaubt ſich in
den gewerbſamſten Teil von Katalonien verſetzt. Bei San
Mateo ſahen wir die letzten Weizenfelder und die letzten
Mühlen mit wagerechten Waſſerrädern. Man rechnete bei
der bevorſtehenden Ernte auf die zwanzigfache Ausſaat, und
als wäre dies noch ein mäßiger Ertrag, fragte man mich, ob
man in Preußen und Polen mehr ernte. Unter den Tropen
iſt der Irrtum ziemlich verbreitet, das Getreide arte gegen
den Aequator zu aus und die Ernten ſeien im Norden reicher.
Seit man den Ertrag des Ackerbaues in verſchiedenen Erd-
ſtrichen und die Temperaturen, bei denen das Getreide ge-
deiht, berechnen kann, weiß man, daß nirgends jenſeits des
45. Breitengrades der Weizen ſo reiche Ernten gibt als auf den
Nordküſten von Afrika und auf den Hochebenen von Neu-
granada, Peru und Mexiko. Vergleicht man nicht die mitt-
lere Temperatur des ganzen Jahres, ſondern nur die mittleren
Temperaturen der Jahreszeit, in welche der „Vegetations-
cyklus“ des Getreides fällt, ſo findet2 man für drei Sommer-
[191] monate im nördlichen Europa 15 bis 19°, in der Berberei
und in Aegypten 27 bis 29°, unter den Tropen, zwiſchen
2725 und 580 m Höhe, 14 bis 25°.


Die herrlichen Ernten in Aegypten und Algerien, in den
Thälern von Aragua und im Inneren von Cuba beweiſen
zur Genüge, daß Zunahme der Wärme die Ernte des Weizens
und der anderen nährenden Gräſer nicht beeinträchtigt, wenn
nicht mit der hohen Temperatur übermäßige Trockenheit oder
Feuchtigkeit Hand in Hand geht. Letzterem Umſtande ſind
ohne Zweifel die ſcheinbaren Anomalieen zuzuſchreiben, die
unter den Tropen hie und da an der unteren Grenze des
Getreides
vorkommen. Man wundert ſich, daß oſtwärts
von der Havana, im vielgenannten Bezirk der Quatro Villas,
dieſe Grenze faſt bis zum Meeresſpiegel herabgeht, während
weſtlich von der Havana, am Abhange der mexikaniſchen Ge-
birge, bei Xalapa, in 1320 m Höhe, die Vegetation noch ſo
üppig iſt, daß der Weizen keine Aehren anſetzt. In der erſten
Zeit nach der Eroberung wurde das europäiſche Getreide mit
Erfolg an manchen Orten gebaut, die man jetzt für zu heiß
oder zu feucht dafür hält. Die eben erſt nach Amerika ver-
ſetzten Spanier waren noch nicht ſo an den Mais gewöhnt,
man hielt noch feſter an den europäiſchen Sitten, man be-
rechnete nicht, ob der Weizen weniger eintragen werde als
Kaffee oder Baumwolle; man machte Verſuche mit Sämereien
aller Art, man ſtellte keckere Fragen an die Natur, weil man
weniger nach falſchen Theorieen urteilte. Die Provinz Car-
tagena, durch welche die Gebirgsketten Maria und Guamoco
laufen, baute bis ins 16. Jahrhundert Getreide. In der
Provinz Caracas baut man es ſchon ſehr lange im Gebirgs-
2
[192] land von Tocuyo, Quibor und Barqueſimeto, das die Küſten-
bergkette mit der Sierra Nevada von Merida verbindet. Der
Getreidebau hat ſich dort ſehr gut erhalten, und allein aus
der Umgegend der Stadt Tocuyo werden jährlich gegen
5000 Zentner ausgezeichneten Mehls ausgeführt. Obgleich
aber auf dem weiten Gebiete der Provinz Caracas mehrere
Striche ſich ſehr gut zum Kornbau eignen, ſo glaube ich doch,
daß dieſer Zweig der Landwirtſchaft dort nie eine große Be-
deutung erlangen wird. Die gemäßigtſten Teile ſind nicht
breit genug; es ſind keine eigentlichen Hochebenen und ihre
mittlere Meereshöhe iſt nicht ſo bedeutend, daß die Einwohner
es nicht immer noch vorteilhafter fänden, Kaffee ſtatt Getreide
zu bauen. Gegenwärtig bezieht Caracas ſein Mehl entweder
aus Spanien oder aus den Vereinigten Staaten. Wenn ein-
mal mit der Herſtellung der öffentlichen Ruhe auch für den
Gewerbefleiß beſſere Zeiten kommen und von Santa Fé de
Bogota bis zum Landungsplatz am Pachaquiaro eine Straße
gebaut wird, ſo werden die Einwohner von Venezuela ihr
Mehl aus Neugranada auf dem Rio Meta und dem Orinoko
beziehen.


Achtzehn Kilometer von San Mateo liegt das Dorf
Turmero. Man kommt fortwährend durch Zucker-, Indigo-,
Baumwollen- und Kaffeepflanzungen. An der regelmäßigen
Bauart der Dörfer erkennt man, daß alle den Mönchen und
den Miſſionen den Urſprung verdanken. Die Straßen ſind
gerade, untereinander parallel und ſchneiden ſich unter rechten
Winkeln; auf dem großen viereckigen Platz in der Mitte ſteht
die Kirche. Die Kirche von Turmero iſt ein koſtbares, aber
mit archtiktoniſchen Zieraten überladenes Gebäude. Seit die
Miſſionäre den Pfarrern Platz gemacht, haben die Weißen
manches von den Sitten der Indianer angenommen. Die
letzteren verſchwinden nach und nach als beſondere Raſſe, das
heißt, ſie werden in der Geſamtmaſſe der Bevölkerung durch
die Meſtizen und die Zambos repräſentiert, deren Anzahl
fortwährend zunimmt. Indeſſen habe ich in den Thälern von
Aragua noch 4000 zinspflichtige Indianer angetroffen. In
Turmero und Guacara ſind ſie am zahlreichſten. Sie ſind
klein, aber nicht ſo unterſetzt wie die Chaymas; ihr Auge
verrät mehr Leben und Verſtand, was wohl weniger Folge
der Stammverſchiedenheit als der höheren Civiliſation iſt.
Sie arbeiten, wie die freien Leute, im Tagelohn; ſie ſind in
der kurzen Zeit, in der ſie arbeiten, rührig und fleißig; was
[193] ſie aber in zwei Monaten verdient, verſchwenden ſie in einer
Woche für geiſtige Getränke in den Schenken, deren leider
von Tag zu Tage mehr werden.


In Turmero ſahen wir ein Ueberbleibſel der Landmiliz
beiſammen. Man ſah es den Leuten an, daß dieſe Thäler
ſeit Jahrhunderten eines ununterbrochenen Friedens genoſſen
hatten. Der Generalkapitän wollte das Militärweſen wieder
in Schwung bringen und hatte große Uebungen angeordnet.
Da hatte in einem Scheingefecht das Bataillon von Turmero
auf das von Victoria Feuer gegeben. Unſer Wirt, ein Miliz-
lieutenant, wurde nicht müde, uns zu ſchildern, wie gefährlich
ein ſolches Manöver ſei. „Rings um ihn ſeien Gewehre ge-
weſen, die jeden Augenblick zerſpringen konnten; er habe vier
Stunden in der Sonne ſtehen müſſen, und ſeine Sklaven haben
ihm nicht einmal einen Sonnenſchirm über den Kopf halten
dürfen.“ Wie raſch doch die ſcheinbar friedfertigſten Völker
ſich an den Krieg gewöhnen! Ich lächelte damals über eine
Haſenfüßigkeit, die ſich mit ſo naiver Offenherzigkeit kundgab,
und zwölf Jahre darauf wurden dieſe ſelben Thäler von
Aragua, die friedlichen Ebenen bei Victoria und Turmero,
das Defilé von Cabrera und die fruchtbaren Ufer des Sees
von Valencia der Schauplatz der blutigſten, hartnäckigſten
Gefechte zwiſchen den Eingeborenen und den Truppen des
Mutterlandes.


Südlich von Turmero ſpringt ein Bergzug aus Kalkſtein
in die Ebene vor und trennt zwei ſchöne Zuckerpflanzungen,
die Guayavita und die Paja. Letztere gehört der Familie
des Grafen Tovar, der überall in der Provinz Beſitzungen
hat. Bei der Guayavita hat man braunes Eiſenerz entdeckt.
Nördlich von Turmero, in der Küſtenkordillere, erhebt ſich
ein Granitgipfel, der Chuao, auf dem man zugleich das
Meer und den See von Valencia ſieht. Ueber dieſen Fels-
kamm, der, ſo weit das Auge reicht, nach Weſt fortſtreicht, ge-
langt man auf ziemlich beſchwerlichen Wegen zu den reichen
Kakaopflanzungen auf dem Küſtenſtriche bei Choroni, Turiamo
und Ocumare, Orten, wohlbekannt wegen der Fruchtbar-
keit ihres Bodens und wegen ihrer Ungeſundheit. Turmero,
Maracay, Cura, Guacara, jeder Ort im Araguathal hat
ſeinen Bergpfad, der zu einem der kleinen Häfen an der
Küſte führt.


Hinter dem Dorfe Turmero, Maracay zu, bemerkt man
auf 4,5 km weit am Horizont einen Gegenſtand, der wie ein
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 13
[194] runder Hügel, wie ein grün bewachſener Tumulus ausſieht.
Es iſt aber weder ein Hügel, noch ein Klumpen dicht bei-
ſammenſtehender Bäume, ſondern ein einziger Baum, der be-
rühmte Zamang del Guayre, bekannt im ganzen Lande wegen
der ungeheuren Ausbreitung ſeiner Aeſte, die eine halbkugelige
Krone von 187 m im Umfang bilden. Der Zamang iſt eine
ſchöne Mimoſenart, deren gewundene Zweige ſich gabelig
teilen. Sein feines, zartes Laub hob ſich angenehm vom
blauen Himmel ab. Wir blieben lange unter dieſem vegeta-
biliſchen Gewölbe. Der Stamm iſt nur 20 m hoch und hat
3 m Durchmeſſer, ſeine Schönheit beſteht aber eigentlich in
der Form der Krone. Die Aeſte breiten ſich aus wie ein
gewaltiger Sonnenſchirm und neigen ſich überall dem Boden
zu, von dem ſie ringsum 4 bis 5 m abſtehen. Der Umriß
der Krone iſt ſo regelmäßig, daß ich verſchiedene Durchmeſſer,
die ich nahm, 62 und 60 m lang fand. Die eine Seite des
Baumes war infolge der Trockenheit ganz entblättert; an
einer anderen Stelle ſtanden noch Blätter und Blüten neben-
einander. Tillandſien, Lorantheen, die Pitahaya und andere
Schmarotzergewächſe bedecken die Zweige und durchbohren die
Rinde derſelben. Die Bewohner dieſer Thäler, beſonders die
Indianer, halten den Baum in hohen Ehren, den ſchon die
erſten Eroberer ſo ziemlich ſo gefunden haben mögen, wie er
jetzt vor uns ſteht. Seit man ihn genau beobachtet, iſt er
weder dicker geworden, noch hat ſich ſeine Geſtalt ſonſt ver-
ändert. Dieſer Zamang muß zum wenigſten ſo alt ſein wie
der Drachenbaum bei Orotava. Der Anblick alter Bäume
hat etwas Großartiges, Imponierendes; die Beſchädigung
dieſer Naturdenkmäler wird daher auch in Ländern, denen es
an Kunſtdenkmälern fehlt, ſtreng beſtraft. Wir hörten mit
Vergnügen, der gegenwärtige Eigentümer der Zamang habe
einen Pächter, der es gewagt, einen Zweig davon zu ſchnei-
den, gerichtlich verfolgt. Die Sache kam zur Verhandlung
und der Pächter wurde vom Gericht zur Strafe gezogen. Bei
Turmero und bei der Hacienda de Cura gibt es Zamang,
die einen dickeren Stamm haben als der am Guayre, aber
ihre halbkugelige Krone iſt nicht ſo groß.


Je näher man gegen Cura und Guacara am nördlichen
Ufer des Sees kommt, deſto beſſer angebaut und volkreicher
werden die Ebenen. Man zählt in den Thälern von Aragua
auf einem 58 km langen und 9 km breiten Landſtrich über
52000 Einwohner. Dies gibt auf den Quadratkilometer an
[195] 100 Seelen, alſo beinahe ſo viel wie in den bevölkertſten
Teilen Frankreichs. Das Dorf oder vielmehr der Flecken
Maracay war früher, als der Indigobau in höchſter Blüte
ſtand, der Hauptort für dieſen Zweig der Kolonialinduſtrie.
Im Jahre 1795 zählte man daſelbſt bei einer Bevölkerung
von 6000 Einwohnern 70 Kaufleute mit offenen Läden. Die
Häuſer ſind alle von Stein; in jedem Hofe ſtehen Kokosbäume,
deren Krone über die Gebäude emporragt. Der allgemeine
Wohlſtand macht ſich in Maracay noch bemerklicher als in
Turmero. Der hieſige Anil oder Indigo wurde im Handel
immer dem von Guatemala gleich, manchmal ſogar höher ge-
ſchätzt. Seit 1772 ſchloß ſich dieſer Kulturzweig dem Kakao-
bau an, und jener iſt wieder älter als der Baumwollen- und
Kaffeebau. Die Koloniſten warfen ſich auf jedes dieſer vier
Produkte der Reihe nach mit beſonderer Vorliebe, aber nur
Kakao und Kaffee ſind Artikel von Belang im Handelsverkehr
mit Europa geblieben. In den beſten Zeiten konnte ſich die
hieſige Indigofabrikation faſt mit der mexikaniſchen meſſen;
ſie ſtieg in Venezuela auf 40000 Arroben oder eine halbe
Million Kilogramm, im Werte von mehr als 1250000 Piaſtern.
Man bekommt einen Begriff von der außerordentlichen Er-
tragsfähigkeit des Bodens in den ſpaniſchen Kolonieen, wenn
wenn man einem ſagt, daß der Indigo aus Caracas, der im
Jahre 1794 einen Wert von mehr 6000000 Franken hatte,
auf 80 bis 100 qkm gebaut iſt. In den Jahren 1789 bis 1795
kamen jährlich 4000 bis 5000 Freie aus den Llanos in die
Thäler von Aragua, um beim Bau und der Bereitung des
Indigo zu helfen; ſie arbeiteten 2 Monate im Tagelohn.


Der Anil erſchöpft den Boden, auf dem man ihn viele
Jahre hintereinander baut, mehr als jede andere Pflanze. In
Maracay, Tapatapa und Turmero gilt der Boden für ausge-
ſogen; der Ertrag an Indigo hat auch fortwährend abgenom-
men. Die Seekriege haben den Handel ins Stocken gebracht
und durch die ſtarke Indigoeinfuhr aus Aſien ſind die Preiſe
geſunken. Die Oſtindiſche Compagnie verkauft jetzt in London
über 2750000 kg Indigo, während ſie im Jahre 1786 aus
ihren weiten Beſitzungen nur 125000 kg bezog. Je mehr
der Indigobau in den Araguathälern abnahm, einen deſto
größeren Aufſchwung nahm er in der Provinz Varinas und
auf den heißen Ebenen von Cucuta, wo der bis da unberührte
Boden am Rio Tachira ein äußerſt farbreiches Produkt in
Menge liefert.


[196]

Wir kamen ſehr ſpät nach Maracay. Die Perſonen, an
die wir Empfehlungen hatten, waren nicht zu Hauſe; kaum
bemerkten die Leute unſere Verlegenheit, ſo erbot man ſich
von allen Seiten, uns aufzunehmen, unſere Inſtrumente unter-
zubringen, unſere Maultiere zu verſorgen. Es iſt ſchon tauſend-
mal geſagt worden, aber der Reiſende fühlt immer wieder
das Bedürfnis, es zu wiederholen: die ſpaniſchen Kolonieen
ſind das wahre Land der Gaſtfreundſchaft, auch noch an Orten,
wo Gewerbfleiß und Handel Wohlſtand und eine gewiſſe Bil-
dung unter den Koloniſten verbreitet haben. Eine kanariſche
Familie nahm uns mit der liebenswürdigſten Herzlichkeit auf;
man bereitete uns ein treffliches Mahl, man vermied ſorgfältig
alles, was uns irgendwie einen Zwang auflegen konnte. Der
Hausherr, Don Alexandro Gonzales, war in Handelsgeſchäften
auf der Reiſe und ſeine junge Frau genoß ſeit kurzem der
Mutterfreude. Sie war außer ſich vor Vergnügen, als ſie
hörte, daß wir auf dem Rückweg vom Rio Negro an den
Orinoko nach Angoſtura kommen würden, wo ſich ihr Mann
befand. Von uns ſoll er erfahren, daß ihm ſein Erſtling
geboren worden. In dieſen Ländern gelten, wie bei den
Alten, wandernde Gäſte für die ſicherſten Boten. Es gibt
Poſtreiter, aber dieſe machen ſo weite Umwege, daß Privat-
leute durch ſie ſelten Briefe in die Llanos oder Savannen im
Inneren gehen laſſen. Als wir aufbrachen, trug man uns das
Kind zu. Wir hatten es am Abend im Schlaf geſehen, am
Morgen mußten wir es wachend ſehen. Wir verſprachen, es
dem Vater Zug für Zug zu beſchreiben; aber beim Anblick
unſerer Bücher und Inſtrumente wurde die junge Frau un-
ruhig. Sie meinte, „auf einer langen Reiſe und bei ſo vielen
anderweitigen Geſchäften könnten wir leicht vergeſſen, was
für Augen ihr Kind habe“. Wie liebenswürdig iſt ſolche
Gaſtfreundſchaft, wie köſtlich der naive Ausdruck eines Ver-
trauens, das ja auch ein Charakterzug früherer Menſchenalter
beim Morgenrot der Geſittung iſt!


Auf dem Wege von Maracay nach der Hacienda de
Cura hat man zuweilen einen Ausblick auf den See von
Valencia. Von der Granitbergkette an der Küſte läuft ein
Aſt ſüdwärts in die Ebene hinaus; es iſt dies das Vor-
gebirge Portachuelo, durch welches das Thal beinahe ganz
geſchloſſen würde, wenn nicht ein ſchmaler Paß zwiſchen dem
Vorgebirge und dem Felſen der Cabrera hinliefe. Dieſer Ort
hat in den letzten Revolutionskriegen in Caracas eine traurige
[197] Berühmtheit erhalten; alle Parteien ſtritten ſich hitzig um
dieſen Paß, weil der Weg nach Valencia und in die Llanos
hier durchführt. Die Cabrera iſt jetzt eine Halbinſel; noch
vor weniger als 60 Jahren war es ein Felſeneiland im See,
deſſen Waſſerſpiegel fortwährend ſinkt. Wir brachten auf der
Hacienda de Cura ſieben Tage äußerſt angenehm zu, und
zwar in einem kleinen Hauſe in einem Gebüſch, weil im Hauſe
auf der ſchönen Zuckerpflanzung die Bubas ausgebrochen
waren, eine unter den Sklaven in dieſen Thälern häufig vor-
kommende Hautkrankheit.


Wir lebten wie die wohlhabenden Leute hierzulande,
badeten zweimal, ſchliefen dreimal und aßen dreimal in
24 Stunden. Das Waſſer des Sees iſt ziemlich warm, 24
bis 25°; aber es gibt noch ein anderes, ſehr kühles, köſtliches
Bad im Schatten von Ceibabäumen und großen Zamang,
in der Toma, einem Bache, der aus den Granitbergen des
Rincon del Diablo kommt. Steigt man in dieſes Bad,
ſo hat man ſich nicht vor Inſektenſtichen zu fürchten, wohl
aber vor den kleinen rötlichen Haaren an den Schoten des
Dolichos pruriens, die in der Luft ſchweben und einem vom
Winde zugeführt werden. Wenn dieſe Haare, die man be-
zeichnend Picapica nennt, ſich an den Körper hängen, ſo ver-
urſachen ſie ein ſehr heftiges Jucken; man fühlt Stiche und
ſieht doch nicht, woher ſie rühren.


Bei Cura ſahen wir die ſämtliche Einwohnerſchaft daran,
den mit Mimoſen, Sterculia und Coccoloba excoriata be-
wachſenen Boden umzubrechen, um mehr Areal für den Baum-
wollenbau zu gewinnen. Dieſer, der zum Teil an die Stelle
des Indigobaues getreten iſt, gedeiht ſo gut, daß die Baum-
wollenſtaude am Ufer des Sees von Valencia wild wächſt.
Wir fanden 2,5 bis 3 m hohe Sträucher, mit Bignonien und
anderen holzigen Schlingpflanzen durchwachſen. Indeſſen iſt
die Baumwollenausfuhr aus Caracas noch unbedeutend; ſie
betrug in Guayra im Durchſchnitt jährlich kaum 150000 bis
200000 kg; aber in allen Häuſern der Capitania general
ſtieg ſie durch den ſtarken Anbau in Cariaco, Nueva Barce-
lona und Maracaybo auf mehr als 22000 Zentner. Es iſt
dies faſt die Hälfte deſſen, was der ganze Archipel der
Antillen erzeugt. Die Baumwolle aus den Thälern von Aragua
iſt von guter Qualität; ſie ſteht nur der braſiliſchen nach,
denn ſie gilt für beſſer als die von Cartagena, von Do-
mingo und den Kleinen Antillen. Die Baumwollenpflanzungen
[198] liegen auf der einen Seite des Sees zwiſchen Maracay und
Valencia, auf der anderen zwiſchen Guayra und Guigue. Die
großen Plantagen ertragen 30000 bis 35000 kg jährlich.
Bedenkt man, daß in den Vereinigten Staaten, alſo außer-
halb der Tropen, in einem unbeſtändigen, dem Gedeihen der
Pflanze nicht ſelten feindlichen Klima die Ausfuhr der ein-
heimiſchen Baumwolle in 18 Jahren (1797 bis 1815) von
1200000 auf 42500000 kg geſtiegen iſt, ſo kann man ſich
nicht leicht einen Begriff davon machen, in welch ungeheurem
Maßſtab dieſer Handelszweig ſich entwickeln muß, wenn ein-
mal in den vereinigten Provinzen von Venezuela, in Neu-
granada, in Mexiko und an den Ufern des La Plata der
Gewerbfleiß nicht mehr in Feſſeln geſchlagen iſt. Unter den
gegenwärtigen Verhältniſſen erzeugen nach Braſilien die Küſten
von holländiſch Guyana, der Meerbuſen von Cariaco, die
Thäler von Aragua und die Provinzen Maracaybo und Car-
tagena am meiſten Baumwolle in Südamerika.


Während unſeres Aufenthaltes in Cura machten wir
viele Ausflüge auf die Felſeninſeln im See von Valencia, zu
den heißen Quellen von Mariara und auf den hohen Granit-
berg Cucurucho del Coco. Ein ſchmaler, gefährlicher Pfad
führt an den Hafen Turiamo und zu den berühmten Kakao-
pflanzungen an der Küſte. Auf allen dieſen Ausflügen ſahen
wir uns angenehm überraſcht nicht nur durch die Fortſchritte
des Landbaus, ſondern auch durch das Wachstum einer freien
Bevölkerung, die fleißig, an Arbeit gewöhnt und zu arm iſt,
um Sklavenarbeit in Anſpruch nehmen zu können. Ueberall
hatten kleine Landbauer, Weiße und Mulatten, zerſtreute Höfe
angelegt. Unſer Wirt, deſſen Vater 40000 Piaſter Einkünfte
hat, beſaß mehr Land, als er urbar machen konnte; er ver-
teilte es in den Thälern von Aragua unter arme Leute, die
Baumwolle bauen wollten. Sein Streben ging dahin, daß
ſich um ſeine großen Pflanzungen freie Leute anſiedelten, die
nach freiem Ermeſſen bald für ſich, bald auf den benachbarten
Pflanzungen arbeiteten und in der Ernte ihm als Tagelöhner
dienten. Graf Tovar verfolgte eifrig das edle Ziel, die Neger-
ſklaverei im Lande allmählich auszurotten, und er hegte die dop-
pelte Hoffnung, einmal den Grundbeſitzern die Sklaven weniger
nötig zu machen, und dann die Freigelaſſenen in den Stand
zu ſetzen, Pächter zu werden. Bei ſeiner Abreiſe nach Europa
hatte er einen Teil ſeiner Ländereien bei Cura, weſtlich vom
Felſen Las Viruelas, in einzelne Grundſtücke zerſchlagen und
[199] verpachtet. Als er vier Jahre darauf wieder nach Amerika
kam, fand er daſelbſt ſchöne Baumwollenpflanzungen und einen
Weiler von 30 bis 40 Häuſern, Punta Zamuro genannt, den
wir oft mit ihm beſucht haben. Die Einwohner des Weilers
ſind faſt durchaus Mulatten, Zambos und freie Neger. Mehrere
große Grundbeſitzer haben nach dieſem Vorgange mit gleichem
Erfolg Land verpachtet. Der Pachtſchilling beträgt zehn Piaſter
auf die Vanega und wird in Geld oder in Baumwolle ent-
richtet. Die kleinen Pächter ſind oft in Bedrängnis und geben
ihre Baumwolle zu ſehr geringem Preiſe ab. Ja, ſie ver-
kaufen ſie vor der Ernte, und durch dieſe Vorſchüſſe reicher
Nachbarn gerät der Schuldner in eine Abhängigkeit, infolge
deren er ſeine Dienſte als Tagelöhner öfter anbieten muß.
Der Tagelohn iſt nicht ſo hoch als in Frankreich. Man be-
zahlt in den Thälern von Aragua und in den Llanos einem
freien Tagelöhner 4 bis 5 Piaſter monatlich, neben der Koſt,
die beim Ueberfluß an Fleiſch und Gemüſe ſehr wenig aus-
macht. Gern verbreite ich mich hier über den Landbau in
den Kolonieen, weil ſolche Angaben den Europäern darthun,
was aufgeklärten Koloniſten längſt nicht mehr zweifelhaft iſt,
daß das Feſtland des ſpaniſchen Amerikas durch freie Hände
Zucker, Baumwolle und Indigo erzeugen kann, und daß die
unglücklichen Sklaven Bauern, Pächter und Grundbeſitzer wer-
den können.


[[200]]

Sechzehntes Kapitel.


Der See von Valencia. — Die heißen Quellen von Mariara. —
Die Stadt Nueva Valencia de el Rey. — Weg zur Küſte von Porto
Cabello hinab.


Die Thäler von Aragua, deren reichen Anbau und er-
ſtaunliche Fruchtbarkeit wir im Obigen geſchildert, ſtellen ſich
als ein Becken dar, das zwiſchen Granit- und Kalkgebirgen
von ungleicher Höhe in der Mitte liegt. Nordwärts trennt
die Sierra Mariara ſie von der Meeresküſte, gegen Süden
dient ihnen die Bergkette des Guacimo und Yusma als
Schutzwehr gegen die glühende Luft der Steppen. Hügelzüge,
hoch genug, um den Lauf der Gewäſſer zu beſtimmen, ſchließen
das Becken gegen Oſt und Weſt wie Querdämme. Dieſe
Hügel liegen zwiſchen dem Tuy und Victoria, wie auf dem
Wege von Valencia nach Nirgua und in die Berge des Torito.
Infolge dieſer eigentümlichen Geſtaltung des Bodens bilden
die Gewäſſer der Thäler von Aragua ein Syſtem für ſich
und laufen einem von allen Seiten geſchloſſenen Becken zu;
ſie ergießen ſich nicht in den Ozean, ſie vereinigen ſich in
einem Binnenſee, unterliegen hier dem mächtigen Zuge der
Verdunſtung und verlieren ſich gleichſam in der Luft. Durch
dieſe Flüſſe und Seen wird die Fruchtbarkeit des Bodens und
der Ertrag des Landbaus in dieſen Thälern bedingt. Schon
der Augenſchein und eine halbhundertjährige Erfahrung zeigen,
daß der Waſſerſtand ſich nicht gleich bleibt, daß das Gleich-
gewicht zwiſchen der Summe der Verdunſtung und der des
Zufluſſes geſtört iſt. Da der See 324 m über den benach-
barten Steppen von Calabozo und 432 m über dem Meere
liegt, ſo vermutete man, das Waſſer habe einen unterirdiſchen
Abfluß oder verſickere. Da nun Eilande darin zu Tage
kommen und der Waſſerſpiegel fortwährend ſinkt, ſo meinte
man, der See könnte völlig eintrocknen. Das Zuſammen-
[201] treffen ſo auffallender Verhältniſſe mußte mich auf dieſe
Thäler aufmerkſam machen, in denen die wilden Reize der
Natur und der liebliche Eindruck fleißigen Anbaues und der
Künſte einer erwachenden Kultur ſich vereinigen.


Der See von Valencia, von den Indianern Tacarigua
genannt, iſt größer als der Neuenburger See in der Schweiz;
im Umriß aber hat er Aehnlichkeit mit dem Genfer See, der
auch faſt gleich hoch über dem Meere liegt. Da in den
Thälern von Aragua der Boden nach Süd und Weſt fällt,
ſo liegt der Teil des Beckens, der unter Waſſer geblieben iſt,
zunächſt der ſüdlichen Bergkette von Guigue, Yusma und dem
Guacimo, die den hohen Savannen von Ocumare zuſtreicht.
Die einander gegenüberliegenden Ufer des Sees ſtechen auf-
fallend voneinander ab. Das ſüdliche iſt wüſte, kahl, faſt
gar nicht bewohnt, eine hohe Gebirgswand gibt ihm ein
finſteres, einförmiges Anſehen; das nördliche dagegen iſt eine
liebliche Landſchaft mit reichen Zucker-, Kaffee- und Baum-
wollenpflanzungen. Mit Ceſtrum, Azedarac und anderen
immerblühenden Sträuchern eingefaßte Wege laufen über die
Ebene und verbinden die zerſtreuten Höfe. Jedes Haus iſt
von Bäumen umgeben. Der Ceiba mit großen gelben 1 und
die Erithryna mit purpurfarbigen Blüten, deren Aeſte ſich
verflechten, geben der Landſchaft einen eigentümlichen Cha-
rakter. Die Mannigfaltigkeit und der Glanz der vegetabili-
ſchen Farben ſticht wirkungsvoll vom eintönigen Blau des
wolkenloſen Himmels ab. In der trockenen Jahreszeit, wenn
ein wallender Dunſt über dem glühenden Boden ſchwebt,
wird das Grün und die Fruchtbarkeit durch künſtliche Be-
wäſſerung unterhalten. Hin und wieder kommt der Granit
im angebauten Land zu Tage; ungeheure Felsmaſſen ſteigen
mitten im Thale ſteil empor. An ihren nackten, zerklüfteten
Wänden wachſen einige Saftpflanzen und bilden Dammerde
für kommende Jahrhunderte. Häufig iſt oben auf dieſen ein-
zeln ſtehenden Hügeln ein Feigenbaum oder eine Cluſia mit
fleiſchigen Blättern aus den Felsritzen emporgewachſen und
beherrſcht die Landſchaft. Mit ihren dürren, abgeſtorbenen
Aeſten ſehen ſie aus wie Signalſtangen auf einer ſteilen Küſte.
An der Geſtaltung dieſer Höhen errät man, was ſie früher
waren; als noch das ganze Thal unter Waſſer ſtand und die
[202] Wellen den Fuß der Gipfel von Mariara, die Teufels-
mauer
(el Rincon del Diablo) und die Küſtenbergkette be-
ſpülten, waren dieſe Felshügel Untiefen oder Eilande.


Dieſe Züge eines reichen Gemäldes, dieſer Kontraſt zwiſchen
den beiden Ufern des Sees von Valencia erinnerten mich oft an
das Seegeſtade des Waadtlandes, wo der überall angebaute,
überall fruchtbare Boden dem Ackerbauer, dem Hirten, dem
Winzer ihre Mühen ſicher lohnt, während das ſavoyiſche
Ufer gegenüber ein gebirgiges, halb wüſtes Land iſt. In
jenen fernen Himmelsſtrichen, mitten unter den Gebilden einer
fremdartigen Natur, gedachte ich mit Luſt der hinreißenden
Beſchreibungen, zu denen der Genfer See und die Felſen von
Meillerie einen großen Schriftſteller begeiſtert haben. Wenn
ich jetzt mitten im civiliſierten Europa die Natur in der
Neuen Welt zu ſchildern verſuche, glaube ich durch die Ver-
gleichung unſerer heimiſchen und der tropiſchen Landſchaften
meinen Bildern mehr Schärfe und dem Leſer deutlichere Be-
griffe zu geben. Man kann es nicht oft genug ſagen: Unter
jedem Himmelsſtriche trägt die Natur, ſei ſie wild oder vom
Menſchen gezähmt, lieblich oder großartig, ihren eigenen
Stempel. Die Empfindungen, die ſie in uns hervorruft, ſind
unendlich mannigfaltig, gerade wie der Eindruck der Geiſtes-
werke je nach dem Zeitalter, das ſie hervorgebracht, und nach
den mancherlei Sprachen, von denen ſie ihren Reiz zum Teil
borgen, ſo ſehr verſchieden iſt. Nur Größe und äußere Form-
verhältniſſe können eigentlich vergleichen werden; man kann
den rieſigen Gipfel des Montblanc und das Himalayagebirge,
die Waſſerfälle der Pyrenäen und die der Kordilleren zu-
ſammenhalten; aber durch ſolche vergleichende Schilderungen,
ſo ſehr ſie wiſſenſchaftlich förderlich ſein mögen, erfährt man
wenig vom Naturcharakter des gemäßigten und des heißen
Erdſtriches. Am Geſtade eines Sees, in einem großen Walde,
am Fuße mit ewigem Eis bedeckter Berggipfel iſt es nicht die
materielle Größe, was uns mit dem heimlichen Gefühle der
Bewunderung erfüllt. Was zu unſerem Gemüte ſpricht, was
ſo tiefe und mannigfache Empfindungen in uns wachruft,
entzieht ſich der Meſſung wie den Sprachformen. Wenn man
Naturſchönheiten recht lebhaft empfindet, ſo mag man Land-
ſchaften von verſchiedenem Charakter gar nicht vergleichen;
man würde fürchten, ſich ſelbſt im Genuß zu ſtören.


Die Ufer des Sees von Valencia ſind aber nicht allein
wegen ihrer maleriſchen Reize im Lande berühmt; das Becken
[203] bietet verſchiedene Erſcheinungen, deren Aufklärung für die
Naturforſchung und für den Wohlſtand der Bevölkerung von
gleich großen Intereſſe iſt. Aus welchen Urſachen ſinkt der
Seeſpiegel? Sinkt er gegenwärtig raſcher als vor Jahrhun-
derten? Läßt ſich annehmen, daß das Gleichgewicht zwiſchen
dem Zufluß und dem Abgang ſich über kurz oder lang wieder
herſtellt, oder iſt zu beſorgen, daß der See ganz eingeht?


Nach den aſtronomiſchen Beobachtungen in Victoria, Ha-
cienda de Cura, Nueva Valencia und Guigue iſt der See
gegenwärtig von Cagua bis Guayos 45 km lang. Seine
Breite iſt ſehr ungleich; nach den Breiten an der Einmündung
des Rio Cura und beim Dorfe Guigue zu urteilen, beträgt ſie
nirgends über 9 bis 13 km, meiſt nur 8 bis 10 km. Die Maße,
die ſich aus meinen Beobachtungen ergeben, ſind weit geringer
als die bisherigen Annahmen der Eingeborenen. Man könnte
meinen, um das Verhältnis der Waſſerabnahme genau kennen
zu lernen, brauche man nur die gegenwärtige Größe des Sees
mit der zu vergleichen, welche alte Chronikſchreiber, z. B. Oviedo
in ſeiner ums Jahr 1723 veröffentlichen „Geſchichte der
Provinz Venezuela“, angeben. Dieſer Geſchichtſchreiber läßt
in ſeinem hochtrabenden Stil „dieſes Binnenmeer, dieſen
monstruoso cuerpo de la laguna de Valencia“, 63 km
lang und 27 breit ſein; er berichtet, in geringer Entfernung
vom Ufer finde das Senkblei keinen Grund mehr, und große
ſchwimmende Inſeln bedecken die Seefläche, die fortwährend
von den Winden aufgerührt werde. Unmöglich läßt ſich auf
Schätzungen Gewicht legen, die auf gar keiner Meſſung be-
ruhen und dazu in Leguas ausgedrückt ſind, auf die man
in den Kolonieen 3000, 5000 und 6550 Varas 1 rechnet. Nur
das verdient im Buche eines Mannes, der ſo oft durch die
Thäler von Aragua gekommen ſein muß, Beachtung, daß er
[204] behauptet, die Stadt Nueva Valencia de el Rey ſei im Jahre
1555 2,25 km vom See erbaut worden, und daß ſich bei
ihm die Länge des Sees zur Breite verhält wie 7 zu 3.
Gegenwärtig liegt zwiſchen dem See und der Stadt ein
ebener Landſtrich von mehr als 5260 m, den Oviedo ſicher
zu 7 km angeſchlagen hätte, und die Länge des Seebeckens
verhält ſich zur Breite wie 10 zu 2,3 oder wie 7 zu 1,6.
Schon das Ausſehen des Bodens zwiſchen Valencia und
Guigue, die Hügel, die auf der Ebene öſtlich vom Cano de
Cambury ſteil aufſteigen und zum Teil (el Islote und la Isla de
la Negra
oder Caratapona) ſogar noch jetzt Inſeln heißen,
beweiſen zur Genüge, daß ſeit Oviedos Zeit das Waſſer be-
deutend zurückgewichen iſt. Was die Veränderung des Um-
riſſes des Sees betrifft, ſo ſcheint es mir nicht ſehr wahr-
ſcheinlich, daß er im 17. Jahrhundert beinahe zur Hälfte ſo
breit als lang geweſen ſein ſollte. Die Lage der Granit-
berge von Mariara und Guigue und der Fall des Bodens,
der gegen Nord und Süd raſcher ſteigt als gegen Oſt und
Weſt, ſtreiten gleichermaßen gegen dieſe Annahme.


Wenn das ſo vielfach beſprochene Problem von der Ab-
nahme der Gewäſſer zur Sprache kommt, ſo hat man, denke
ich, zwei Epochen zu unterſcheiden, in welchen das Sinken
des Waſſerſpiegels ſtattgefunden.


Wenn man die Flußthäler und die Seebecken genau be-
trachtet, findet man überall das alte Ufer in bedeutender
Entfernung. Niemand leugnet wohl jetzt mehr, daß unſere
Flüſſe und Seen in ſehr bedeutendem Maße abgenommen
haben; aber zahlreiche geologiſche Thatſachen weiſen auch dar-
auf hin, daß dieſer große Wechſel in der Verteilung der
Gewäſſer vor aller Geſchichte eingetreten iſt, und daß ſich
ſeit mehreren Jahrtauſenden bei den meiſten Seen ein feſtes
Gleichgewicht zwiſchen dem Betrage der Zuflüſſe einerſeits,
und der Verdunſtung und Verſickerung andererſeits hergeſtellt
hat. So oft dieſes Gleichgewicht geſtört iſt, thut man gut,
ſich umzuſehen, ob ſolches nicht von rein örtlichen Verhältniſſen
und aus jüngſter Zeit herrührt, ehe man eine beſtändige Ab-
nahme des Waſſers annimmt. Ein ſolcher Gedankengang
entſpricht dem vorſichtigeren Verfahren der heutigen Wiſſen-
ſchaften. Zu einer Zeit, wo die phyſiſche Weltbeſchreibung
das freie Geiſteserzeugnis einiger beredten Schriftſteller war
und nur durch Phantaſiebilder wirkte, hätte man in der Er-
ſcheinung, von der es ſich hier handelt, einen neuen Beweis
[205][für] den Kontraſt zwiſchen beiden Kontinenten geſehen, den
man in allem herausfand. Um darzuthun, daß Amerika ſpäter
als Aſien und Europa aus dem Waſſer emporgeſtiegen, hätte
man wohl auch den See von Tacarigua angeführt als eines
der Becken im inneren Lande, die noch nicht Zeit gehabt, durch
unausgeſetzte allmähliche Verdunſtung auszutrocknen. Ich
zweifle nicht, daß in ſehr alter Zeit das ganze Thal vom
Fuße des Gebirges Cocuyſa bis zum Torito und den Bergen
von Nirgua, von der Sierra de Mariara bis zu der Bergkette
von Guigue, zum Guarimo und der Palma, unter Waſſer
ſtand. Ueberall läßt die Geſtalt der Vorberge und ihr ſteiler
Abfall das alte Ufer eines Alpſees, ähnlich den Steiermärker
und Tiroler Seen, erkennen. Kleine Helix- und Valvaarten,
die mit den jetzt im See lebenden identiſch ſind, kommen in
1 bis 1,3 m dicken Schichten tief im Lande, bis Turmero
und Conceſion bei Victoria vor. Dieſe Thatſachen beweiſen
nun allerdings, daß das Waſſer gefallen iſt; aber nirgends
liegt ein Beweis dafür vor, daß es ſeit jener weit entlegenen
Zeit fortwährend abgenommen habe. Die Thäler von Aragua
gehören zu den Strichen von Venezuela, die am früheſten
bevölkert worden, und doch ſpricht weder Oviedo, noch irgend
eine alte Chronik von einer merklichen Abnahme des Sees.
Soll man geradezu annehmen, die Erſcheinung ſei zu einer
Zeit, wo die indianiſche Bevölkerung die weiße noch weit
überwog und das Seeufer ſchwächer bewohnt war, eben nicht
bemerkt worden? Seit einem halben Jahrhunderte, beſonders
aber ſeit dreißig Jahren fällt es jedermann in die Augen,
daß dieſes große Waſſerbecken von ſelbſt eintrocknet. Weite
Strecken Landes, die früher unter Waſſer ſtanden, liegen jetzt
trocken und ſind bereits mit Bananen, Zuckerrohr und Baum-
wolle bepflanzt. Wo man am Geſtade des Sees eine Hütte
baut, ſieht man das Ufer von Jahr zu Jahr gleichſam fliehen.
Man ſieht Inſeln, die beim Sinken des Waſſerſpiegels eben
erſt mit dem Feſtlande zu verſchmelzen anfangen (wie die
Felſeninſel Culebra, Guigue zu); andere Inſeln bilden bereits
Vorgebirge (wie der Morro, zwiſchen Guigue und Nueva
Valencia, und die Cabrera ſüdöſtlich von Mariara); noch andere
ſtehen tief im Lande in Geſtalt zerſtreuter Hügel. Dieſe, die
man ſchon von weitem leicht erkennt, liegen eine Viertelſee-
meile bis eine Lieue vom jetzigen Ufer ab. Die merkwürdigſten
ſind drei 60 bis 80 m hohe Eilande aus Granit auf dem
Wege von der Hacienda de Cura nach Aguas calientes, und
[206] am Weſtende des Sees der Cerrito de San Pedro, der Islote
und der Caratapona. Wir beſuchten zwei noch ganz von
Waſſer umgebene Inſeln und fanden unter dem Geſträuche
auf kleinen Ebenen, 8 bis 12, ſogar 15 m über dem jetzigen
Seeſpiegel, feinen Sand mit Heliciten, den einſt die Wellen
hier abgeſetzt. Auf allen dieſen Inſeln begegnet man den
unzweideutigſten Spuren vom allmählichen Fallen des Waſſers.
Noch mehr, und dieſe Erſcheinung wird von der Bevölkerung
als ein Wunder angeſehen: im Jahre 1796 erſchienen drei
neue Inſeln öſtlich von der Inſel Caiguire, in derſelben Rich-
tung wie die Inſeln Burro, Otama und Zorro. Dieſe neuen
Inſeln, die beim Volke Los nuevos Peñones oder Las Apa-
recidas
heißen, bilden eine Art Untiefen mit völlig ebener
Oberfläche. Sie waren im Jahre 1800 bereits über 1 m
höher als der mittlere Waſſerſtand.


Wie wir zu Anfang dieſes Abſchnittes bemerkt, bildet
der See von Valencia, gleich den Seen im Thale von Mexiko,
den Mittelpunkt eines kleinen Syſtemes von Flüſſen, von
denen keiner mit dem Meere in Verbindung ſteht. Die meiſten
dieſer Gewäſſer können nur Bäche heißen; es ſind ihrer zwölf
bis vierzehn. Die Einwohner wiſſen wenig davon, was die
Verdunſtung leiſtet, und glauben daher ſchon lange, der See
habe einen unterirdiſchen Abzug, durch den ebenſoviel ab-
fließe, als die Bäche hereinbringen. Die einen laſſen dieſen
Abzug mit Höhlen, die in großer Tiefe liegen ſollen, in Ver-
bindung ſtehen; andere nehmen an, das Waſſer fließe durch
einen ſchiefen Kanal in das Meer. Dergleichen kühne Hypo-
theſen über den Zuſammenhang zwiſchen zwei benachbarten
Waſſerbecken hat die Einbildungskraft des Volkes wie die
der Phyſiker in allen Erdſtrichen ausgeheckt; denn letztere,
wenn ſie es ſich auch nicht eingeſtehen, ſetzen nicht ſelten nur
Volksmeinungen in die Sprache der Wiſſenſchaft um. In
der Neuen Welt wie am Ufer des Kaſpiſchen Meeres hört
man von unterirdiſchen Schlünden und Kanälen ſprechen, ob-
gleich der See von Tacarigua 412 m über und die Kaspiſche
See 105 m unter dem Meeresſpiegel liegt, und ſo gut man
auch weiß, daß Flüſſigkeiten, die ſeitlich miteinander in Ver-
bindung ſtehen, ſich in dasſelbe Niveau ſetzen.


Einerſeits die Verringerung der Maſſe der Zuflüſſe, die
ſeit einem halben Jahrhunderte infolge der Ausrodung der
Wälder, der Urbarmachung der Ebenen und des Indigobaues
eingetreten iſt, andererſeits die Verdunſtung des Bodens und
[207] die Trockenheit der Luft erſcheinen als Urſachen, welche die
Abnahme des Sees von Valencia zur Genüge erklären. Ich
teile nicht die Anſicht eines Reiſenden, der nach mir dieſe
Länder beſucht hat, 1 derzufolge man „zur Befriedigung der
Vernunft und zu Ehren der Phyſik“ einen unterirdiſchen Ab-
fluß ſoll annehmen müſſen. Fällt man die Bäume, welche
Gipfel und Abhänge der Gebirge bedecken, ſo ſchafft man
kommenden Geſchlechtern ein zweifaches Ungemach, Mangel
an Brennholz und Waſſermangel. Die Bäume ſind vermöge
des Weſens ihrer Ausdünſtung und der Strahlung ihrer
Blätter gegen einen wolkenloſen Himmel fortwährend mit
einer kühlen, dunſtigen Lufthülle umgeben; ſie äußern weſent-
lichen Einfluß auf die Fülle der Quellen, nicht weil ſie, wie
man ſo lange geglaubt hat, die in der Luft verbreiteten
Waſſerdünſte anziehen, ſondern weil ſie den Boden gegen die
unmittelbare Wirkung der Sonnenſtrahlen ſchützen und damit
die Verdunſtung des Regenwaſſers verringern. Zerſtört man die
Wälder, wie die europäiſchen Anſiedler allerorten in Amerika
mit unvorſichtiger Haſt thun, ſo verſiegen die Quellen oder
nehmen doch ſtark ab. Die Flußbetten liegen einen Teil des
Jahres über trocken und werden zu reißenden Strömen, ſo
oft im Gebirge ſtarker Regen fällt. Da mit dem Holzwuchs
auch Raſen und Moos auf den Bergkuppen verſchwinden,
wird das Regenwaſſer im Ablaufen nicht mehr aufgehalten;
ſtatt langſam durch allmähliche Sickerung die Bäche zu ſchwellen,
furcht es in der Jahreszeit der ſtarken Regenniederſchläge die
Bergſeiten, ſchwemmt das losgeriſſene Erdreich fort und ver-
urſacht plötzliches Austreten der Gewäſſer, welche nun die
Felder verwüſten. Daraus geht hervor, daß das Verheeren
der Wälder, der Mangel an fortwährend fließenden Quellen
und die Wildwaſſer drei Erſcheinungen ſind, die in urſächlichem
Zuſammenhange ſtehen. Länder in entgegengeſetzten Hemi-
ſphären, die Lombardei am Fuße der Alpenkette und Nieder-
peru zwiſchen dem Stillen Meere und den Kordilleren der
[208] Anden, liefern einleuchtende Beweiſe für die Richtigkeit dieſes
Satzes.


Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts waren die
Berge, in denen die Thäler von Aragua liegen, mit Wald
bewachſen. Große Bäume aus der Familie der Mimoſen,
Ceiba- und Feigenbäume beſchatteten die Ufer des Sees und
verbreiteten Kühlung. Die damals nur ſehr dünn bevölkerte
Ebene war voll Strauchwerk, bedeckt mit umgeſtürzten Baum-
ſtämmen und Schmarotzergewächſen, mit dichtem Raſenfilz
überzogen, und gab ſomit die ſtrahlende Wärme nicht ſo leicht
von ſich als der beackerte und eben deshalb gegen die Sonnen-
glut nicht geſchützte Boden. Mit der Ausrodung der Bäume,
mit der Ausdehnung des Zucker-, Indigo- und Baumwollen-
baues nahmen die Quellen und alle natürlichen Zuflüſſe des
Sees von Jahr zu Jahr ab. Man macht ſich nur ſchwer
einen Begriff davon, welch ungeheure Waſſermaſſen durch die
Verdunſtung in der heißen Zone aufgeſogen werden, und
vollends in einem Thale, das von ſteil abfallenden Bergen
umgeben iſt, wo gegen Abend der Seewind und die nieder-
gehenden Luftſtrömungen auftreten, und deſſen Boden ganz
flach, wie vom Waſſer geebnet iſt. Wir haben ſchon oben
erwähnt, daß die Wärme, welche das ganze Jahr in Cura,
Guacara, Nueva Valencia und an den Ufern des Sees herrſcht,
der ſtärkſten Sommerhitze in Neapel und Sizilien gleichkommt.
Die mittlere Temperatur der Luft in den Thälern von Aragua
iſt ungefähr 25,5°; die hygrometriſchen Beobachtungen er-
gaben mir für den Monat Februar im Durchſchnitte aus Tag
und Nacht 71,4° am Haarhygrometer. Da die Worte: große
Trockenheit oder große Feuchtigkeit keine Bedeutung an ſich
haben, und da eine Luft, die man in den Niederungen unter
den Tropen ſehr trocken nennt, in Europa für feucht gälte,
ſo kann man über dieſe klimatiſchen Verhältniſſe nur urteilen,
wenn man verſchiedene Orte in derſelben Zone vergleicht.
Nun iſt in Cumana, wo es oft ein ganzes Jahr lang nicht
regnet, und wo ich zu verſchiedenen Stunden bei Tage und
bei Nacht ſehr viele hygrometriſche Beobachtungen gemacht,
die mittlere Feuchtigkeit der Luft gleich 86°, entſprechend der
mittleren Temperatur von 27,7°. Rechnet man die Regen-
monate ein, das heißt ſchätzt man den Unterſchied zwiſchen
der mittleren Feuchtigkeit der trockenen Monate und der des
ganzen Jahres, wie man denſelben in anderen Teilen des
tropiſchen Amerikas beobachtet, ſo ergibt ſich für die Thäler
[209] von Aragua eine mittlere Feuchtigkeit von höchſtens 74°, bei
einer Temperatur von 25,5°. In dieſer warmen und doch
gar nicht ſehr feuchten Luft iſt nun aber eine ungeheure Menge
verdunſteten Waſſers. Nach der Daltonſchen Theorie berechnet
ſich die Dicke der Waſſerſchicht, die unter den oben erwähnten
Umſtänden in einer Stunde verdunſtet, auf 0,36 mm, oder
auf 8,3 mm in vierundzwanzig Stunden. Nimmt man in
der gemäßigten Zone, z. B. für Paris, die mittlere Tem-
peratur zu 10,6° und die mittlere Feuchtigkeit zu 82° an,
ſo ergibt ſich nach denſelben Formeln 0,10 mm in der Stunde
und 2,2 mm in vierundzwanzig Stunden. Will man ſich
ſtatt dieſes unzuverläſſigen theoretiſchen Kalküls an die Er-
gebniſſe unmittelbarer Beobachtung halten, ſo bedenke man,
daß in Paris und Montmorency von Sedileau und Cotte die
jährliche mittlere Verdunſtung gleich 855 mm und 1,015 m
gefunden wurde. Im ſüdlichen Frankreich haben zwei ge-
ſchickte Ingenieure, Clauſade und Pin, berechnet, daß der
Kanal von Languedoc und das Baſſin von Saint Ferréol,
über Abzug des Betrages der Verſickerung, jährlich 746 bis
780 mm verlieren. In den Pontiniſchen Sümpfen hat de Prony
ungefähr das gleiche Ergebnis erhalten. Aus allen dieſen
Beobachtungen unter dem 41. und 49. Grade der Breite und
bei einer mittleren Temperatur von 10,5 und 16° ergibt
ſich eine mittlere Verdunſtung von 2,2 bis 2,8 mm im Tage.
In der heißen Zone, z. B. auf den Antillen, iſt die Ver-
dunſtung nach Le Gaux dreimal, nach Caſſan zweimal ſtärker.
In Cumana, alſo an einem Orte, wo die Luft weit ſtärker
mit Feuchtigkeit geſchwängert iſt als in den Thälern von
Aragua, ſah ich oft in zwölf Stunden in der Sonne 8,8 mm,
im Schatten 3,4 mm Waſſer verdunſten. Verſuche dieſer Art
ſind ſehr fein und ſchwankend; aber das eben Angeführte reicht
hin, um zu zeigen, wie ungemein groß die Maſſe des Waſſer-
dunſtes ſein muß, der aus dem See von Valencia und auf
dem Gebiete aufſteigt, deſſen Gewäſſer ſich in den See er-
gießen. Ich werde Gelegenheit finden, anderswo auf den
Gegenſtand zurückzukommen; in einem Werke, das die großen
Geſetze der Natur in den verſchiedenen Erdſtrichen zur An-
ſchauung bringt, muß auch der Verſuch gemacht werden, das
Problem von der mittleren Spannung der in der Luft
enthaltenen Waſſerdämpfe unter verſchiedenen Breiten und in
verſchiedenen Meereshöhen zu löſen.


Das Maß der Verdunſtung hängt von einer Menge
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 14
[210] örtlicher Verhältniſſe ab: von der ſtärkeren oder geringeren
Beſchattung des Waſſerbeckens, von der Ruhe und der Be-
wegung des Waſſers, von der Tiefe desſelben, von der Be-
ſchaffenheit und Farbe des Grundes; im großen aber wird
die Verdunſtung nur durch drei Elemente bedingt, durch die
Temperatur, durch die Spannung der in der Luft enthaltenen
Dämpfe, durch den Widerſtand, den die Luft, je nachdem ſie
mehr oder minder dicht, mehr oder weniger bewegt iſt, der
Verbreitung der Dämpfe entgegenſetzt. Die Waſſermenge,
die an einem gegebenen Orte verdunſtet, iſt proportional dem
Unterſchiede zwiſchen der Maſſe des Dampfes, welche die
umgebende Luft im geſättigten Zuſtande aufnehmen kann,
und der Maſſe desſelben, welche ſie wirklich enthält. Es folgt
daraus, daß (wie ſchon d’Aubuiſſon bemerkt, der meine hygro-
metriſchen Beobachtungen berechnet hat) die Verdunſtung in
der heißen Zone nicht ſo ſtark iſt, als man nach der ungemein
hohen Temperatur glauben ſollte, weil in den heißen Himmels-
ſtrichen die Luft gewöhnlich ſehr feucht iſt.


Seit der Ausbreitung des Ackerbaues in den Thälern
von Aragua kommen die Flüßchen, die ſich in den See von
Valencia ergießen, in den ſechs Monaten nach Dezember als
Zuflüſſe nicht mehr in Betracht. Im unteren Stücke ihres
Laufes ſind ſie ausgetrocknet, weil die Indigo-, Zucker- und
Kaffeepflanzer ſie an vielen Punkten ableiten, um die Felder
zu bewäſſern. Noch mehr, ein ziemlich anſehnliches Waſſer,
der Rio Pao, der am Rande der Llanos, am Fuße des La
Galera genannten Hügelzuges entſpringt, ergoß ſich früher
in den See, nachdem er auf dem Wege von Nueva Valencia
nach Guigue den Caño de Cambury aufgenommen. Der Fluß
lief damals von Süd nach Nord. Zu Ende des 17. Jahr-
hunderts kam der Beſitzer einer anliegenden Pflanzung auf
den Gedanken, dem Rio Pao am Abhange eines Geländes
ein neues Bett zu graben. Er leitete den Fluß ab, benutzte
ihn zum Teil zur Bewäſſerung ſeines Grundſtückes und ließ
ihn dann gegen Süd, dem Abhange der Llanos nach, ſelbſt
ſeinen Weg ſuchen. Auf dieſem neuen Laufe nach Süd
nimmt der Rio Pao drei andere Bäche auf, den Tinaco, den
Guanarito und den Chilua, und ergießt ſich in die Portu-
gueſa, einen Zweig der Rio Apure. Es iſt eine nicht un-
intereſſante Erſcheinung, daß infolge der eigentümlichen Boden-
bildung und der Senkung der Waſſerſcheide nach Südweſt der
Rio Pao ſich vom kleinen inneren Flußſyſteme, dem er
[211] urſprünglich angehörte, trennte und nun ſeit hundert Jahren
durch den Apure und den Orinoko mit dem Meere in Ver-
bindung ſteht. Was hier im kleinen durch Menſchenhand
geſchah, thut die Natur häufig ſelbſt entweder durch allmäh-
liche Anſchwemmung oder durch die Zerrüttung des Bodens
infolge ſtarker Erdbeben. Wahrſcheinlich werden im Laufe
der Jahrhunderte manche Flüſſe im Sudan und in Neuholland,
die jetzt im Sande verſiegen oder in Binnenſeen laufen, ſich
einen Weg zur Meeresküſte bahnen. So viel iſt wenigſtens
ſicher, daß es auf beiden Kontinenten innere Flußſyſteme gibt,
die man als noch nicht ganz entwickelte1 betrachten kann,
und die entweder nur bei Hochgewäſſer oder beſtändig durch
Gabelung unter ſich zuſammenhängen.


Der Rio Pao hat ſich ein ſo tiefes und breites Bett
gegraben, daß, wenn in der Regenzeit der Caño grande de
Cambury das ganze Land nordweſtlich von Guigue über-
ſchwemmt, das Waſſer dieſes Caño und das des Sees von
Valencia in den Rio Pao ſelbſt zurücklaufen, ſo daß dieſes
Flüßchen, ſtatt dem See Waſſer zuzuführen, ihm vielmehr
welches abzapft. Wir ſehen etwas Aehnliches in Nordamerika,
da wo die Geographen auf ihren Karten zwiſchen den großen
Kanadiſchen Seen und dem Lande der Miami eine eingebildete
Bergkette angeben. Bei Hochgewäſſer ſtehen die Flüſſe, die
den Seen, und die, welche dem Miſſiſſippi zulaufen, mitein-
ander in Verbindung und man fährt im Kanoe von den
Quellen des Fluſſes Santa Maria in den Wabaſh, wie aus
dem Chicago in den Illinois. Dieſe analogen Fälle ſcheinen
mir von ſeiten der Hydrographen alle Aufmerkſamkeit zu
verdienen.


Da der Boden rings um den See von Valencia durchaus
flach und eben iſt, ſo wird, wie ich es auch an den Mexika-
niſchen Seen alle Tage beobachten konnte, wenn der Waſſer-
ſpiegel nur um wenige Zoll fällt, ein großer, mit fruchtbarem
Schlamme und organiſchen Reſten bedeckter Strich Landes
trocken gelegt. Im Maße, als der See ſich zurückzieht, rückt
der Landbau gegen das neue Ufer vor. Dieſe von der Natur
bewerkſtelligte, für die Landwirtſchaft der Kolonieen ſehr wich-
tige Austrocknung war in den letzten zehn Jahren, in denen
ganz Amerika an großer Trockenheit litt, ungewöhnlich ſtark.
[212] Ich riet den reichen Grundeigentümern im Lande, ſtatt die
jeweiligen Krümmungen des Seeufers zu bezeichnen, im Waſſer
ſelbſt Granitſäulen aufzuſtellen, an denen man von Jahr zu
Jahr den mittleren Waſſerſtand beobachten könnte. Der Mar-
ques del Toro will die Sache ausführen und auf Gneisgrund,
der im See häufig vorkommt, aus dem ſchönen Granit der
Sierra de Mariara Limnometer aufſtellen.


Unmöglich läßt ſich im voraus beſtimmen, in welchem
Maße dieſes Waſſerbecken zuſammengeſchrumpft ſein wird,
wenn einmal das Gleichgewicht zwiſchen dem Zufluſſe einer-
ſeits und der Verdunſtung und Einſickerung andererſeits völlig
hergeſtellt iſt. Die ſehr verbreitete Meinung, der See werde
ganz verſchwinden, ſcheint mir durchaus unbegründet. Wenn
infolge ſtarker Erdbeben oder aus anderen gleich unerklärten
Urſachen zehn naſſe Jahre auf ebenſo viele trockene folgten,
wenn ſich die Berge wieder mit Wald bedeckten, wenn große
Bäume das Seeufer und die Thäler beſchatteten, ſo würde
im Gegenteile das Waſſer ſteigen und den ſchönen Pflan-
zungen, die gegenwärtig das Seebecken ſäumen, gefährlich
werden.


Während in den Thälern von Aragua die einen Pflanzer
beſorgen, der See möchte ganz eingehen, die anderen, er möchte
wieder zum verlaſſenen Geſtade heraufkommen, hört man in
Caracas alles Ernſtes die Frage erörtern, ob man nicht, um
mehr Boden für den Landbau zu gewinnen, aus dem See
einen Kanal dem Rio Pao zu graben und ihn in die Llanos
ableiten ſollte. Es iſt nicht zu leugnen, daß ſolches möglich
wäre, namentlich wenn man Kanäle unter dem Boden, Stollen
anlegte. Dem allmählichen Rücktritte des Waſſers verdankt
das herrliche, reiche Bauland von Maracay, Cura, Mocundo,
Guigue und Santa Cruz del Escoval mit ſeinen Tabak-,
Zucker-, Kaffee-, Indigo- und Kakaopflanzungen ſeine Ent-
ſtehung; wie kann man aber nur einen Augenblick bezweifeln,
daß nur der See das Land ſo fruchtbar macht? Ohne die
ungeheure Dunſtmaſſe, welche Tag für Tag von der Waſſer-
fläche in die Luft aufſteigt, wären die Thäler von Aragua
ſo trocken und dürr wie die Berge umher.


Der See iſt im Durchſchnitt 23 bis 30 m, und an den
tiefſten Stellen nicht, wie man gemeiniglich annimmt, 155,
ſondern nur 68 bis 78 m tief. Dies iſt das Ergebnis der
ſorgfältigen Meſſungen Don Antonio Manzanos mit dem
Senkblei. Bedenkt man, wie ungemein tief alle Schweizer
[213] Seen ſind, ſo daß, obgleich ſie in hohen Thälern liegen, ihr
Grund faſt auf den Spiegel des Mittelmeeres hinabreicht, ſo
wundert man ſich, daß der Boden des Sees von Valencia,
der doch auch ein Alpſee iſt, keine bedeutenderen Tiefen hat.
Die tiefſten Stellen ſind zwiſchen der Felſeninſel Burro und
der Landſpitze Caña Fiſtula, ſowie den hohen Bergen von
Mariara gegenüber; im ganzen aber iſt der ſüdliche Teil des
Sees tiefer als der nördliche. Es iſt nicht zu vergeſſen, daß
jetzt zwar das ganze Ufer flach iſt, der ſüdliche Teil des Beckens
aber doch am nächſten bei einer ſteil abfallenden Gebirgskette
liegt. Wir wiſſen aber, daß auch das Meer bei einer hohen,
ſenkrechten Felsküſte meiſt am tiefſten iſt.


Die Temperatur des Sees an der Waſſerfläche war
während meines Aufenthaltes in den Thälern von Aragua
im Februar beſtändig 23 bis 23,7°, alſo etwas geringer als
die mittlere Lufttemperatur, ſei es nun infolge der Verdunſtung,
die dem Waſſer und der Luft Wärme entzieht, oder weil die
Schwankungen in der Temperatur der Luft ſich einer großen
Waſſermaſſe nicht gleich ſchnell mitteilen, und weil der See
Bäche aufnimmt, die aus kalten Quellen in den nahen Ge-
birgen entſpringen. Zu meinem Bedauern konnte ich trotz
der geringen Tiefe die Temperatur des Waſſers in 58 bis
78 m unter dem Waſſerſpiegel nicht beobachten. Ich hatte
das Senkblei mit dem Thermometer, das ich auf den Alpen-
ſeen Salzburgs und auf dem Meere der Antillen gebraucht,
nicht bei mir. Aus Sauſſures Verſuchen geht hervor, daß
zu beiden Seiten der Alpen Seen, die in einer Meereshöhe
von 370 bis 530 m liegen, im Hochſommer in 290 bis 195,
zuweilen ſogar ſchon in 48 m Tiefe beſtändig eine Temperatur
von 4,3 bis 6° zeigen; aber dieſe Verſuche ſind noch niemals
auf Seen in der heißen Zone wiederholt worden. In der
Schweiz ſind die Schichten kalten Waſſers ungeheuer mächtig.
Im Genfer und im Bieler See fand man ſie ſo nahe an der
Oberfläche, daß die Temperatur des Waſſers je mit 3 bis 5 m
Tiefe um 1° abnahm, alſo 8mal ſchneller als im Meere und
48mal ſchneller als in der Luft. In der gemäßigten Zone,
wo die Lufttemperatur auf den Gefrierpunkt und weit darunter
ſinkt, muß der Boden eines Sees, wäre er auch nicht von
Gletſchern und mit ewigem Schnee bedeckten Bergen umgeben,
Waſſerteilchen enthalten, die im Winter an der Oberfläche das
Maximum ihrer Dichtigkeit (zwiſchen 3,4 und 4,4°) erlangt
haben und alſo am tiefſten niedergeſunken ſind. Andere
[214] Teilchen mit der Temperatur von + 0,5° ſinken aber keines-
wegs unter die Schicht mit 4° Temperatur, ſondern finden
das hydroſtatiſche Gleichgewicht nur über derſelben. Sie gehen
nur dann weiter hinab, wenn ſich ihre Temperatur durch die
Berührung mit weniger kalten Schichten um 3 bis 4° erhöht
hat. Wenn das Waſſer beim Erkalten in derſelben Proportion
bis zum Nullpunkt immer dichter würde, ſo fände man in
ſehr tiefen Seen und in Waſſerbecken, die nicht miteinander
zuſammenhängen, welches auch die Breite des Ortes
ſein mag
, eine Waſſerſchicht, deren Temperatur dem Maxi-
mum der Erkaltung über dem Frierpunkt, der jährlich die
umgebenden niederen Luftregionen ausgeſetzt ſind, beinahe
gleich käme. Nach dieſer Betrachtung erſcheint es wahrſchein-
lich, daß auf den Ebenen der heißen Zone und in nicht hoch-
gelegenen Thälern, deren mittlere Wärme 25,5 bis 27°
beträgt, der Boden der Seen nie weniger als 21 bis 22°
Temperatur haben kann. Wenn in derſelben Zone das Meer
in der Tiefe von 1360 bis 1560 m Waſſer mit einer Tem-
peratur von nur 7°, das alſo um 12 bis 13° kälter iſt als
das Minimum der Luftwärme über dem Meere, ſo iſt
dieſe Erſcheinung, nach meiner Anſicht, ein direkter Beweis
dafür, daß eine Meeresſtrömung in der Tiefe die Gewäſſer
von den Polen zum Aequator führt. Wir laſſen hier das
ſchwierige Problem unerörtert, wie unter den Tropen und in
der gemäßigten Zone, z. B. im Meere der Antillen und in
den Schweizer Seen, dieſe tiefen, bis auf 4 oder 7° abge-
kühlten Waſſerſchichten auf die Temperatur der von ihnen
bedeckten Geſteinſchichten einwirken, und wie dieſe Schichten,
deren urſprüngliche Temperatur unter den Tropen 27°, am
Genfer See 10° beträgt, auf das dem Frierpunkt nahe Waſſer
auf dem Boden der Seen und des tropiſchen Ozeans zurück-
wirken? Dieſe Fragen ſind von der höchſten Wichtigkeit ſowohl
für die Lebensprozeſſe der Tiere, die gewöhnlich auf dem Boden
des ſüßen und des Salzwaſſers leben, als für die Theorie
von der Verteilung der Wärme in Ländern, die von großen,
tiefen Meeren umgeben ſind.


Der See von Valencia iſt ſehr reich an Inſeln, welche
durch die maleriſche Form der Felſen und den Pflanzenwuchs,
der ſie bedeckt, den Reiz der Landſchaft erhöhen. Dieſen
Vorzug hat dieſer tropiſche See vor den Alpenſeen voraus.
Es ſind wenigſtens fünfzehn Inſeln, die in drei Gruppen
zerfallen. Sie ſind zum Teil angebaut und infolge der Waſſer-
[215] dünſte, die aus dem See aufſteigen, ſehr fruchtbar. Die größte,
3900 m lange, der Burro, iſt ſogar von ein paar Meſtizen-
familien bewohnt, die Ziegen halten. Dieſe einfachen Menſchen
kommen ſelten an das Ufer bei Mocundo; der See dünkt
ihnen unermeßlich groß, ſie haben Bananen, Maniok, Milch
und etwas Fiſche. Eine Rohrhütte, ein paar Hängematten
aus Baumwolle, die nebenan wächſt, ein großer Stein, um
Feuer darauf zu machen, die holzige Frucht des Tutuma zum
Waſſerſchöpfen, das iſt ihr ganzer Hausrat. Der alte Meſtize,
der uns Ziegenmilch anbot, hatte eine ſehr hübſche Tochter.
Unſer Führer erzählte uns, das einſame Leben habe den Mann
ſo argwöhniſch gemacht, als er vielleicht im Verkehr mit
Menſchen geworden wäre. Tags zuvor waren Jäger auf der
Inſel geweſen; die Nacht überraſchte ſie und ſie wollten lieber
unter freiem Himmel ſchlafen, als nach Mocundo zurückfahren.
Darüber entſtand große Unruhe auf der Inſel. Der Vater
zwang die Tochter, auf eine ſehr hohe Akazie zu ſteigen, die
auf dem ebenen Boden nicht weit von der Hütte ſteht. Er
ſelbſt legte ſich unter den Baum und ließ die Tochter nicht
eher herunter, als bis die Jäger abgezogen waren. Nicht bei
allen Inſelbewohnern findet der Reiſende ſolch argwöhniſche
Vorſicht, ſolch gewaltige Sittenſtrenge.


Die See iſt meiſt ſehr fiſchreich; es kommen aber nur
drei Arten mit weichlichem, nicht ſehr ſchmackhaftem Fleiſche
darin vor, die Guavina, der Vagre und die Sardina. Die
beiden letzteren kommen aus den Bächen in den See. Die
Guavina, die ich an Ort und Stelle gezeichnet habe, iſt 53 cm
lang, 92 mm breit. Es iſt vielleicht eine neue Art der Gattung
Erythrina des Gronovius. Sie hat große, ſilberglänzende,
grün geränderte Schuppen; ſie iſt ſehr gefräßig und läßt andere
Arten nicht aufkommen. Die Fiſcher verſicherten uns, ein
kleines Krokodil, der Bava, der uns beim Baden oft nahe
kam, helfe auch die Fiſche ausrotten. Wir konnten dieſes
Reptils nie habhaft werden, um es näher zu unterſuchen. Es
wird meiſt nur 1 bis 1,3 m lang und gilt für unſchädlich,
aber in der Lebensweiſe wie in der Geſtalt kommt es dem
Kaiman oder Crocodilus acutus nahe. Beim Schwimmen
ſieht man von ihm nur die Spitze der Schnauze und das
Schwanzende. Bei Tage liegt es auf kahlen Uferſtellen. Es
iſt ſicher weder ein Monitor (die eigentlichen Monitor ge-
hören nur der Alten Welt an), noch Sebas Sauvegarde
(Lacerta Teguixin), die nur taucht und nicht ſchwimmt.
[216] Reiſende mögen nach uns darüber entſcheiden, ich bemerke nur
noch, als ziemlich auffallend, daß es im See von Valencia
und im ganzen kleinen Flußgebiet desſelben keine großen Kai-
man gibt, während dieſes gefährliche Tier wenige Kilometer
davon in den Gewäſſern, die in den Apure und Orinoko, oder
zwiſchen Porto Cabello und Guayra unmittelbar in das An-
tilliſche Meer laufen, ſehr häufig iſt.


Die Inſel Chamberg iſt durch ihre Höhe ausgezeichnet.
Es iſt ein 60 m hoher Gneisfels mit zwei ſattelförmig ver-
bundenen Gipfeln. Der Abhang des Felſens iſt kahl, kaum
daß ein paar Cluſiaſtämme mit großen weißen Blüten darauf
wachſen, aber die Ausſicht über den See und die üppigen
Fluren der anſtoßenden Thäler iſt herrlich, zumal wenn nach
Sonnenuntergang Tauſende von Waſſervögeln, Reiher, Fla-
mingos und Wildenten über den See ziehen, um auf den
Inſeln zu ſchlafen, und der weite Gebirgsgürtel am Horizont
in Feuer ſteht. Wie ſchon erwähnt, brennt das Landvolk die
Weiden ab, um ein friſcheres, feineres Gras als Nachwuchs
zu bekommen. Beſonders auf den Gipfeln der Bergkette
wächſt viel Gras, und dieſe gewaltigen Feuer, die öfters über
2000 m lange Strecken laufen, nehmen ſich aus, wie wenn
Lavaſtröme aus dem Bergkamme quöllen. Wenn man ſo an
einem herrlichen tropiſchen Abend am Seeufer ausruht und
der angenehmen Kühle genießt, betrachtet man mit Luſt in
den Wellen, die an das Geſtade ſchlagen, das Bild der roten
Feuer rings am Horizont.


Unter den Pflanzen, die auf den Felſeninſeln im See
von Valencia wachſen, kommen, wie man glaubt, mehrere
nur hier vor; wenigſtens hat man ſie ſonſt nirgends gefunden.
Hierher gehören die See-Melonenbäume (Papaya de la la-
guna)
und die Liebesäpfel der Inſel Cura. Letztere ſind von
unſerem Solanum Lycopersicum verſchieden; ihre Frucht iſt
rund, klein, aber ſehr ſchmackhaft; man baut ſie jetzt in Vic-
toria, Nueva Valencia, überall in den Thälern von Aragua.
Auch die Papaya de la laguna iſt auf der Inſel Cura und
auf Cabo Blanco ſehr häufig. Ihr Stamm iſt ſchlanker als
beim gemeinen Melonenbaum (Carica Papaya), aber die
Frucht iſt um die Hälfte kleiner und völlig kugelrund, ohne
vorſpringende Rippen, und hat 10 bis 13 cm im Durchmeſſer.
Beim Zerſchneiden zeigt ſie ſich voll Samen, ohne die leeren
Zwiſchenräume, die ſich beim gemeinen Melonenbaum immer
finden. Die Frucht, die ich oft gegeſſen, ſchmeckt ungemein
[217] ſüß; ich weiß nicht, ob es eine Spielart der Carica Micro-
carpa
iſt, die Jacquin beſchrieben hat.


Die Umgegend des Sees iſt nur in der trockenen Jahres-
zeit ungeſund, wenn bei fallendem Waſſer der ſchlammige
Boden der Sonnenhitze ausgeſetzt iſt. Das von Gebüſchen
der Coccoloba barbadensis beſchattete, mit herrlichen Lilien-
gewächſen geſchmückte Geſtade erinnert durch den Typus der
Waſſerpflanzen an die ſumpfigen Ufer unſerer europäiſchen
Seen. Man findet hier Laichkraut (Potamogeton), Chara
und 1 m hohe Teichkolben, die man von der Typha angusti-
folia
unſerer Sümpfe kaum unterſcheiden kann. Erſt bei ge-
nauer Unterſuchung erkennt man in allen dieſen Gewächſen
der Neuen Welt eigentümliche Arten. Wie viele Pflanzen
von der Magelhaensſchen Meerenge, aus Chile und den Kor-
dilleren von Quito ſind früher wegen der großen Ueberein-
ſtimmung in Bildung und Ausſehen mit Gewächſen der nörd-
lichen gemäßigten Zone zuſammengeworfen worden!


Die Bewohner der Thäler von Aragua fragen häufig,
warum das ſüdliche Ufer des Sees, beſonders aber der ſüd-
weſtliche Strich desſelben gegen Las Aguacates, im ganzen
ſtärker bewachſen iſt und ein friſcheres Grün hat als das
nördliche. Im Februar ſahen wir viele entblätterte Bäume
bei der Hacienda de Cura, bei Mocundo und Guacara, wäh-
rend ſüdöſtlich von Valencia alles bereits darauf deutete, daß
die Regenzeit bevorſtand. Nach meiner Anſicht werden im
erſten Abſchnitte des Jahres, wo die Sonne gegen Süden
abweicht, die Hügel um Valencia, Guacara und Cura von
der Sonnenhitze ausgebrannt, während dem ſüdlichen Ufer
durch den Seewind, ſobald er durch die Abra de Porto
Cabello
in das Thal kommt, eine Luft zugeführt wird, die
ſich über dem See mit Waſſerdunſt beladen hat. Auf dieſem
ſüdlichen Ufer, bei Guaruto, liegen auch die ſchönſten Tabaks-
felder in der ganzen Provinz. Man unterſcheidet welche der
primera, segunda und tercera fundacion. Nach dem drücken-
den Monopol der Tabakspacht, deren wir bei der Beſchreibung
der Stadt Cumanacoa gedacht haben, darf man in der Pro-
vinz Caracas nur in den Thälern von Aragua (bei Guaruto
und Tapatapa) und in den Llanos von Uritucu Tabak bauen.
Der Ertrag beläuft ſich auf 500000 bis 600000 Piaſter; aber
die Regie iſt ſo koſtſpielig, daß ſie gegen 230000 Piaſter im
Jahre verſchlingt. Die Capitania general von Caracas könnte
vermöge ihrer Größe und ihres vortrefflichen Bodens, ſo gut
[218] wie Cuba, ſämtliche europäiſche Märkte verſorgen; aber unter
den gegenwärtigen Verhältniſſen erhält ſie im Gegenteil durch
den Schleichhandel Tabak aus Braſilien auf dem Rio Negro,
Caſſiquiare und Orinoko, und aus der Provinz Pore auf dem
Caſanare, dem Ariporo und dem Rio Meta. Das ſind die
traurigen Folgen eines Prohibitivſyſtems, das den Fortſchritt
des Landbaues lähmt, den natürlichen Reichtum des Landes
ſchmälert und ſich vergeblich abmüht, Länder abzuſperren, durch
welche dieſelben Flüſſe laufen und deren Grenzen in unbe-
wohnten Landſtrichen ſich verwiſchen.


Unter den Zuflüſſen des Sees von Valencia entſpringen
einige aus heißen Quellen, und dieſe verdienen beſondere Auf-
merkſamkeit. Dieſe Quellen kommen an drei Punkten der
aus Granit beſtehenden Küſtenkordillere zu Tage, bei Onoto,
zwiſchen Turmero und Maracay, bei Mariara, nordöſtlich von
der Hacienda de Cura, und bei Las Trincheras, auf dem Wege
von Nueva Valencia nach Porto Cabello. Nur die heißen
Waſſer von Mariara und Las Trincheras konnte ich in phy-
ſikaliſcher und geologiſcher Beziehung genau unterſuchen. Geht
man am Bache Cura hinauf, ſeiner Quelle zu, ſo ſieht man
die Berge von Mariara in die Ebene vortreten in Geſtalt
eines weiten Amphitheaters, das aus ſenkrecht abfallenden
Felswänden beſteht, über denen ſich Bergkegel mit gezackten
Gipfeln erheben. Der Mittelpunkt des Amphitheaters führt
den ſeltſamen Namen Teufelsmauer(Rincon del Diablo).
Von den beiden Flügeln derſelben heißt der öſtliche El Cha-
parro
, der weſtliche Las Viruelas. Dieſe verwitterten
Felſen beherrſchen die Ebene; ſie beſtehen aus einem ſehr grob-
körnigen, faſt porphyrartigen Granit, in dem die gelblich-weißen
Feldſpatkriſtalle über 4 cm lang ſind; der Glimmer iſt ziemlich
ſelten darin und von ſchönem Silberglanz. Nichts maleriſcher
und großartiger als der Anblick dieſes halb grün gewachſenen
Gebirgſtockes. Den Gipfel der Calavera, welche die Teufels-
mauer mit dem Chaparro verbindet, ſieht man ſehr weit. Der
Granit iſt dort durch ſenkrechte Spalten in prismatiſche Maſſen
geteilt, und es ſieht aus, als ſtünden Baſaltſäulen auf dem
Urgebirge. In der Regenzeit ſtürzt eine bedeutende Waſſer-
maſſe über dieſe ſteilen Abhänge herunter. Die Berge, die
ſich öſtlich an die Teufelsmauer anſchließen, ſind lange nicht
ſo hoch und beſtehen, wie das Vorgebirge Cabrera, aus Gneis
und granithaltigem Glimmerſchiefer.


In dieſen niedrigeren Bergen, 3,5 bis 5,5 km nordöſtlich
[219] von Mariara, liegt die Schlucht der heißen Waſſer, Quebrada
de aguas calientes.
Sie ſtreicht nach Nord 75° Weſt und
enthält mehrere kleine Tümpel, von denen die zwei oberen,
die nicht zuſammenhängen, nur 21 cm, die drei unteren 60 bis
95 cm Durchmeſſer haben; ihre Tiefe beträgt zwiſchen 8 und
40 cm. Die Temperatur dieſer verſchiedenen Trichter (pozos)
iſt 56 bis 59°, und, was ziemlich auffallend iſt, die unteren
Trichter ſind heißer als die oberen, obgleich der Unterſchied
in der Bodenhöhe nicht mehr als 18 bis 21 cm beträgt. Die
heißen Waſſer laufen zu einem kleinen Bache zuſammen (Rio
de aguas calientes)
, der 10 m weiter unten nur 48° Tem-
peratur zeigt. Während der größten Trockenheit (in dieſer
Zeit beſuchten wir die Schlucht) hat die ganze Maſſe des
heißen Waſſers nur ein Profil von 184 qcm, in der Regenzeit
aber wird dasſelbe bedeutend größer. Der Bach wird dann
zum Bergſtrom und ſeine Wärme nimmt ab, denn die Tem-
peratur der heißen Quellen ſelbſt ſcheint nur unmerklich auf
und ab zu ſchwanken. Alle dieſe Quellen enthalten Schwefel-
waſſerſtoffgas in geringer Menge. Der dieſem Gaſe eigene
Geruch nach faulen Eiern läßt ſich nur ganz nahe bei den
Quellen ſpüren. Nur in einem der Tümpel, in dem mit
56,2° Temperatur, ſieht man Luftblaſen ſich entwickeln, und
zwar in ziemlich regelmäßigen Pauſen von 2 bis 3 Minuten.
Ich bemerkte, daß die Blaſen immer von denſelben Stellen
ausgingen, vier an der Zahl, und daß man den Ort, von
dem das Schwefelwaſſerſtoffgas aufſteigt, durch Umrühren des
Bodens mit einem Stock nicht merklich verändern kann. Dieſe
Stellen entſprechen ohne Zweifel ebenſo vielen Löchern oder
Spalten im Gneis; auch ſieht man, wenn über einem Loche
Blaſen erſcheinen, das Gas ſogleich auch über den drei anderen
ſich entwickeln. Es gelang mir nicht, das Gas anzuzünden,
weder die kleinen Mengen in den an der Fläche des heißen
Waſſers platzenden Blaſen, noch dasjenige, das ich in einer
Flaſche über den Quellen geſammelt, wobei mir übel wurde,
nicht ſowohl vom Geruche des Gaſes, als von der übermäßigen
Hitze in der Schlucht. Iſt das Schwefelwaſſerſtoffgas mit
vieler Kohlenſäure oder mit atmoſphäriſcher Luft gemengt?
Erſteres iſt mir nicht wahrſcheinlich, ſo häufig es auch bei
heißen Quellen vorkommt (Aachen, Enghien, Barège). Das
in der Röhre eines Fontanaſchen Eudiometers aufgefangene
Gas war lange mit Waſſer geſchüttelt worden. Auf den
kleinen Tümpeln ſchwimmt ein feines Schwefelhäutchen, das
[220] ſich durch die langſame Verbrennung des Schwefelwaſſerſtoffes
im Sauerſtoffe der Luft niederſchlägt. Hie und da iſt eine
Pflanze an den Quellen mit Schwefel inkruſtiert. Dieſer
Niederſchlag wird kaum bemerklich, wenn man das Waſſer
von Mariara in einem offenen Gefäße erkalten läßt, ohne
Zweifel, weil die Quantität des entwickelten Gaſes ſehr klein
iſt und es ſich nicht erneuert. Das erkaltete Waſſer macht
in der Auflöſung von ſalpeterſaurem Kupfer keinen Nieder-
ſchlag; es iſt geſchmacklos und ganz trinkbar. Wenn es je
einige Salze enthält, etwa ſchwefelſaures Natron oder ſchwefel-
ſaure Bittererde, ſo können ſie nur in ſehr geringer Quantität
darin ſein. Da wir faſt gar keine Reagenzien bei uns hatten,
ſo füllten wir nur zwei Flaſchen an der Quelle ſelbſt und
ſchickten ſie mit der nahrhaften Milch des ſogenannten Kuh-
baumes (Vaca) über Porto Cabello und Havana an Furcroy
und Vauquelin nach Paris. Daß Waſſer, die unmittelbar
aus dem Granitgebirge kommen, ſo rein ſind, iſt eine der
merkwürdigſten Erſcheinungen auf beiden Kontinenten. 1 Wo
ſoll man aber das Schwefelwaſſerſtoffgas herleiten? Von der
Zerſetzung von Schwefeleiſen oder Schwefelkiesſchichten kann
es nicht kommen. Rührt es von Schwefelcalcium, Schwefel-
magneſium oder anderen erdigen Halbmetallen her, die das
Innere unſeres Planeten unter der oxydierten Steinkruſte
enthält?


In der Schlucht der heißen Waſſer von Mariara, in den
kleinen Trichtern mit einer Temperatur von 56 bis 59°,
kommen zwei Waſſerpflanzen vor, eine häutige, die Luftblaſen
enthält, und eine mit parallelen Faſern. 2 Erſtere hat große
Aehnlichkeit mit der Ulva labyrinthiformis Vandellis, die
in den europäiſchen warmen Quellen vorkommt. Auf der
Inſel Amſterdam ſah Barrow 3 Büſche von Lykopodium und
Marchantia an Stellen, wo die Temperatur des Bodens noch
weit höher war. So wirkt ein gewohnter Reiz auf die
Organe der Gewächſe. Waſſerinſekten kommen im Waſſer
[221] von Mariara nicht vor. Man findet Fröſche darin, die, von
Schlangen verfolgt, hineingeſprungen ſind und den Tod ge-
funden haben.


Südlich von der Schlucht, in der Ebene, die ſich zum
Seeufer erſtreckt, kommt eine andere ſchwefelwaſſerſtoffhaltige,
nicht ſo warme und weniger Gas enthaltende Quelle zu Tage.
Die Spalte, aus der das Waſſer läuft, liegt 12 m höher als
die eben beſchriebenen Trichter. Der Thermometer ſtieg in
der Spalte nur auf 42°. Das Waſſer ſammelt ſich in einem
mit großen Bäumen umgebenen, faſt kreisrunden, 5 bis 6 m
weiten und 1 m tiefen Becken. In dieſes Bad werfen ſich
die unglücklichen Sklaven, wenn ſie gegen Sonnenuntergang,
mit Staub bedeckt, ihr Tagewerk auf den benachbarten Indigo-
und Zuckerfeldern vollbracht haben. Obgleich das Waſſer des
Baño gewöhnlich 10 bis 14° wärmer iſt als die Luft, nennen
es die Schwarzen doch erfriſchend, weil in der heißen Zone
alles ſo heißt, was die Kräfte herſtellt, die Nervenaufregung
beſchwichtigt oder überhaupt ein Gefühl von Wohlbehagen gibt.
Wir ſelbſt erprobten die heilſame Wirkung dieſes Bades. Wir
ließen unſere Hängematten an die Bäume, die das Waſſer-
becken beſchatten, binden und verweilten einen ganzen Tag an
dieſem herrlichen Platze, wo es ſehr viele Pflanzen gibt. In
der Nähe des Baño de Mariara fanden wir den Volador oder
Gyrocarpus. Die Flügelfrüchte dieſes großen Baumes fliegen
wie Federbälle, wenn ſie ſich vom Fruchtſtiele trennen. Wenn
wir die Aeſte des Volador ſchüttelten, wimmelte es in der
Luft von dieſen Früchten und ihr gleichzeitiges Niederfallen
gewährte den merkwürdigſten Anblick. Die zwei häutigen,
geſtreiften Flügel ſind ſo gebogen, daß die Luft beim Nieder-
fallen unter einem Winkel von 45° gegen ſie drückt. Glück-
licherweiſe waren die Früchte, die wir auflaſen, reif. Wir
ſchickten welche nach Europa und ſie keimten in den Gärten zu
Berlin, Paris und Malmaiſon. Die vielen Voladorpflanzen,
die man jetzt in den Gewächshäuſern ſieht, kommen alle von
dem einzigen Baume der Art, der bei Mariara ſteht. Die
geographiſche Verteilung der verſchiedenen Arten von Gyro-
carpus, den Brown zu den Laurineen rechnet, iſt eine ſehr
auffallende. Jacquin ſah eine Art bei Cartagena das Indias;
eine andere Art, die auf den Bergen an der Küſte von Koro-
mandel wächſt, hat Roxburgh beſchrieben; eine dritte und
vierte kommen in der ſüdlichen Halbkugel auf den Küſten von
Neuholland vor.


[222]

Während wir nach dem Bade uns, nach Landesſitte halb
in ein Tuch gewickelt, von der Sonne trocknen ließen, trat
ein kleiner Mulatte zu uns. Nachdem er uns freundlich ge-
grüßt, hielt er uns eine lange Rede über die Kraft der Waſſer
von Mariara, über die vielen Kranken, die ſie ſeit einigen
Jahren beſuchten, über die günſtige Lage der Quellen zwiſchen
zwei Städten, Valencia und Caracas, wo die Sittenverderbnis
mit jedem Tage ärger werde. Er zeigte uns ſein Haus, eine
kleine offene Hütte aus Palmblättern, in einer Einzäunung,
ganz nahebei, an einem Bache, der in das Bad läuft. Er
verſicherte uns, wir finden daſelbſt alle möglichen Bequem-
lichkeiten, Nägel, unſere Hängematten zu befeſtigen, Ochſen-
häute, um auf Rohrbänken zu ſchlafen, irdene Gefäße mit
immer friſchem Waſſer, und was uns nach dem Bade am
beſten bekommen werde, Iguanas, große Eidechſen, deren
Fleiſch für eine erfriſchende Speiſe gilt. Wir erſahen aus
dieſem Vortrage, daß der arme Mann uns für Kranke hielt,
die ſich an der Quelle einrichten wollten. Er nannte ſich
„Waſſerinſpektor und Pulpero1 des Platzes“. Auch hatte
ſeine Zuvorkommenheit gegen uns ein Ende, als er erfuhr,
daß wir bloß aus Neugierde da waren, oder, wie man in
den Kolonieen, dem wahren Schlaraffenlande, ſagt, „para ver,
no mas“
(um zu ſehen, weiter nichts).


Man gebraucht das Waſſer von Mariara mit Erfolg
gegen rheumatiſche Geſchwülſte, alte Geſchwüre und gegen die
ſchreckliche Hautkrankheit, Bubas genannt, die nicht immer
ſyphilitiſchen Urſprunges iſt. Da die Quellen nur ſehr wenig
Schwefelwaſſerſtoff enthalten, muß man da baden, wo ſie zu
Tage kommen. Weiterhin überrieſelt man mit dem Waſſer
die Indigofelder. Der reiche Beſitzer von Mariara, Don
Domingo Tovar, ging damit um, ein Badehaus zu bauen
und eine Anſtalt einzurichten, wo Wohlhabende etwas mehr
fänden als Eidechſenfleiſch zum Eſſen und Häute auf Bänken
zum Ruhen.


Am 21. Februar abends brachen wir von der ſchönen
Hacienda de Cura nach Guacara und Nueva Valencia auf.
Wegen der ſchrecklichen Hitze bei Tage reiſten wir lieber bei
Nacht. Wir kamen durch den Weiler Punta Zamuro am
[223] Fuße der hohen Berge Las Viruelas. Am Wege ſtehen große
Zamang oder Mimoſen, deren Stamm 20 m hoch wird. Die
faſt wagerechten Aeſte derſelben ſtoßen auf mehr als 48 m
Entfernung zuſammen. Nirgends habe ich ein ſchöneres,
dichteres Laubdach geſehen. Die Nacht war dunkel; die
Teufelsmauer und ihre gezackten Felſen tauchten zuweilen in
der Ferne auf, beleuchtet vom Scheine der brennenden Sa-
vannen oder in rötliche Rauchwolken gehüllt. Wo das Ge-
büſch am dichteſten war, ſcheuten unſere Pferde ob dem Ge-
ſchrei eines Tieres, das hinter uns herzukommen ſchien. Es
war ein großer Tiger, der ſich ſeit drei Jahren in dieſen
Bergen umtrieb und den Nachſtellungen der kühnſten Jäger
entgangen war. Er ſchleppte Pferde und Maultiere ſogar
aus Einzäunungen fort; da es ihm aber nicht an Nahrung
fehlte, hatte er noch nie Menſchen angefallen. Der Neger,
der uns führte, erhob ein wildes Geſchrei, um den Tiger zu
verſcheuchen, was natürlich nicht gelang. Der Jaguar ſtreicht,
wie der europäiſche Wolf, den Reiſenden nach, auch wenn er
ſie nicht anfallen will; der Wolf thut dies auf freiem Felde,
auf offenen Landſtrecken, der Jaguar ſchleicht am Wege hin
und zeigt ſich nur von Zeit zu Zeit im Gebüſche.


Den 23. Februar brachten wir im Hauſe des Marques
del Toro, im Dorfe Guacara, einer ſehr ſtarken indianiſchen
Gemeinde, zu. Die Eingeborenen, deren Korregidor, Don
Pedro Peñalver, ein ſehr gebildeter Mann war, ſind ziemlich
wohlhabend. Sie hatten eben bei der Audiencia einen Prozeß
gewonnen, der ihnen die Ländereien wieder zuſprach, welche
die Weißen ihnen ſtreitig gemacht. Eine Allee von Carolinea-
bäumen führt von Guacara nach Mocundo. Ich ſah hier
zum erſtenmal dieſes prachtvolle Gewächs, das eine der vor-
nehmſten Zierden der Gewächshäuſer in Schönbrunn iſt. 1
Mocundo iſt eine reiche Zuckerpflanzung der Familie Toro.
Man findet hier ſogar, was in dieſem Lande ſo ſelten iſt,
„den Luxus des Ackerbaues“, einen Garten, künſtliche Gehölze
und am Waſſer auf einem Gneisfelſen ein Luſthaus mit
einem Mirador oder Belvedere. Man hat da eine herrliche
Ausſicht auf das weſtliche Stück des Sees, auf die Gebirge
[224] ringsum und auf einen Palmenwald zwiſchen Guacara und
Nueva Valencia. Die Zuckerfelder mit dem lichten Grün des
jungen Rohres erſcheinen wie ein weiter Wieſengrund. Alles
trägt den Stempel des Ueberfluſſes, aber die das Land bauen,
müſſen ihre Freiheit daran ſetzen. In Mocundo baut man
mit 230 Negern 77 Tablones oder Stücke Zuckerrohr, deren
jedes 10000 Quadratvaras 1 mißt und jährlich einen Rein-
ertrag von 200 bis 240 Piaſtern gibt. Man ſetzt die Steck-
linge des kreoliſchen und des tahitiſchen Zuckerrohres im April,
bei erſterem je 1,3 m, bei letzterem 1,6 m voneinander. Das
Rohr braucht 14 Monate zur Reife. Es blüht im Oktober,
wenn der Setzling kräftig iſt, man kappt aber die Spitze, ehe
die Riſpe ſich entwickelt. Bei allen Monokotyledonen (beim
Maguey, der in Mexiko wegen des Pulque gebaut wird, bei
der Weinpalme und dem Zuckerrohr) erhalten die Säfte durch
die Blüte eine andere Miſchung. Die Zuckerfabrikation iſt in
Terra Firma ſehr mangelhaft, weil man nur für den Ver-
brauch im Lande fabriziert und man für den Abſatz im großen
ſich lieber an den ſogenannten Papelon als an raffinierten
und Rohzucker hält. Dieſer Papelon iſt ein unreiner, braun-
gelber Zucker in ganz kleinen Hüten. Er iſt mit Melaſſe und
ſchleimigen Stoffen verunreinigt. Der ärmſte Mann ißt Pa-
pelon, wie man in Europa Käſe ißt; man hält ihn allgemein
für nahrhaft. Mit Waſſer gegoren, gibt er den Guarapo,
das Lieblingsgetränk des Volkes. Zum Auslaugen des Rohr-
ſaftes bedient man ſich, ſtatt des Kalkes, des unterkohlenſauren
Kalis. Man nimmt dazu vorzugsweiſe die Aſche des Bucare,
der Erythrina corallodendron.


Das Zuckerrohr iſt ſehr ſpät, wahrſcheinlich erſt zu Ende
des 16. Jahrhunderts, von den Antillen in die Thäler von
Aragua gekommen. Man kannte es ſeit den älteſten Zeiten
in Indien, in China und auf allen Inſeln des Stillen Meeres;
in Choraſſan und in Perſien wurde es ſchon im 5. Jahrhundert
unſerer Zeitrechnung zur Gewinnung feſten Zuckers gebaut.
Die Araber brachten das Rohr, das für die Bewohner heißer
und gemäßigter Länder von ſo großem Werte iſt, an die Küſten
des Mittelmeeres. Im Jahre 1306 wurde es auf Sizilien
noch nicht gebaut, aber auf Cypern, Rhodus und in Morea
war es bereits verbreitet; 100 Jahre darauf war es ein wert-
[225] voller Beſitz Kalabriens, Siziliens und der ſpaniſchen Küſten.
Von Sizilien verpflanzte der Infant Henriquez das Zucker-
rohr nach Madeira, von Madeira kam es auf die Kanarien,
wo es ganz unbekannt war; denn die Ferulae, von denen Juba
ſpricht (quae expressae liquorem fundunt potui jucundum),
ſind Euphorbien, Tabayba dulce, und kein Zuckerrohr, wie
man neuerdings behauptet hat. Nicht lange, ſo waren zehn
Zuckermühlen (ingenios de azucar) auf der Großen Canaria,
auf Palma und auf Tenerifa zwiſchen Adexe, Icod und Ga-
rachico. Man brauchte Neger zum Bau, und ihre Nach-
kommen leben noch in den Höhlen von Tiaxana auf der
Großen Canaria. Seit das Zuckerrohr auf die Antillen ver-
pflanzt worden iſt, und ſeit die Neue Welt den glückſeligen
Inſeln den Mais geſchenkt, hat der Anbau dieſer Grasart
auf Tenerifa und der Großen Canaria den Zuckerbau ver-
drängt. Jetzt wird dieſer nur noch auf Palma bei Argual
und Taxacorte getrieben und liefert kaum 1000 Zentner
Zucker im Jahr. Das kanariſche Rohr, das Aiguilon nach
San Domingo brachte, wurde dort ſeit 1517 oder den ſechs,
ſieben folgenden Jahren unter der Herrſchaft der Hieronymiter
mönche gebaut. Von Anfang an wurden Neger dazu ver-
wendet, und ſchon 1519 ſtellte man, gerade wie heutzutage,
der Regierung vor, „die Antillen wären verloren und müßten
wüſte liegen bleiben, wenn man nicht alle Jahre Sklaven von
der Küſte von Guinea herüberbrächte“.


Seit einigen Jahren haben ſich der Anbau und die Fa-
brikation des Zuckers in Terra Firma bedeutend verbeſſert,
und da auf Jamaika das Raffinieren geſetzlich verboten iſt,
ſo glaubt man auf die Ausfuhr von raffiniertem Zucker in
die engliſchen Kolonieen auf dem Wege des Schleichhandels
rechnen zu können. Aber der Verbrauch in den Provinzen
von Venezuela an Papelon und an Rohzucker zu Schokolade
und Zuckerbäckerei (dulces) iſt ſo groß, daß die Ausfuhr bis
jetzt gar nicht in Betracht kam. Die ſchönſten Zuckerpflan-
zungen ſind in den Thälern von Aragua und des Tuy, bei
Pao de Zarete, zwiſchen Victoria und San Sebaſtiano, bei
Guatire, Guarenas und Caurimare. Wie das Zuckerrohr
zuerſt von den Kanarien in die Neue Welt kam, ſo ſtehen
noch jetzt meiſt Kanarier oder Isleños den großen Pflan-
zungen vor und geben beim Anbau und beim Raffinieren die
Anleitung.


Dieſer innige Verkehr mit den Kanariſchen Inſeln und
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 15
[226] ihren Bewohnern hat auch zur Einführung der Kamele in die
Provinzen von Venezuela Anlaß gegeben. Der Marques del
Toro ließ ihrer drei von Lanzerote kommen. Die Trans-
portkoſten waren ſehr bedeutend, weil die Tiere auf den Kauf-
fahrern ſehr viel Raum einnehmen und ſie ſehr viel ſüßes
Waſſer bedürfen, da die lange Ueberfahrt ſie ſtark angreift.
Ein Kamel, für das man nur 30 Piaſter bezahlt, hatte nach
der Ankunft auf der Küſte von Caracas 800 bis 900 Piaſter
gekoſtet. Wir ſahen dieſe Tiere in Mocundo; von vieren
waren ſchon drei in Amerika geworfen. Zwei waren vom
Biß des Coral, einer giftigen Schlange, die am See ſehr
häufig iſt, zu Grunde gegangen. Man braucht bis jetzt dieſe
Kamele nur, um das Zuckerrohr in die Mühlen zu ſchaffen.
Die männlichen Tiere, die ſtärker ſind als die weiblichen,
tragen 40 bis 50 Arroben. Ein reicher Gutsbeſitzer in der
Provinz Varinas wollte, aufgemuntert durch den Vorgang
des Marques del Toro, 15000 Piaſter aufwenden und auf
einmal 14 bis 15 Kamele von den Kanariſchen Inſeln kommen
laſſen. Solche Unternehmungen ſind um ſo lobenswerter, da
man dieſe Laſttiere zum Warentransport durch die glühend
heißen Ebenen am Caſanare, Apure und am Calobozo benutzen
will, die in der trockenen Jahreszeit den afrikaniſchen Wüſten
gleichen. Ich habe anderwärts bemerkt, 1 wie ſehr zu wün-
ſchen wäre, daß die Eroberer ſchon zu Anfang des 16. Jahr-
hunderts wie Rindvieh, Pferde und Maultiere ſo auch Kamele
nach Amerika verpflanzt hätten. Ueberall, wo in unbewohnten
Ländern ſehr große Strecken zurückzulegen ſind, wo ſich keine
Kanäle anlegen laſſen, weil ſie zu viele Schleuſen erforderten
(wie auf der Landenge von Panama, auf der Hochebene von
Mexiko, in den Wüſten zwiſchen dem Königreich Quito und
Peru, und zwiſchen Peru und Chile), wären Kamele für den
Handelsverkehr im Inneren von der höchſten Bedeutung. Man
muß ſich um ſo mehr wundern, daß die Regierung nicht gleich
nach der Eroberung die Einführung des Tieres aufgemuntert
hat, da noch lange nach der Unterwerfung von Granada das
Kamel, das Lieblingstier der Mauren, im ſüdlichen Spanien
ſehr häufig war. Ein Biscayer, Juan de Reinaga, hatte auf
ſeine Koſten einige Kamele nach Peru gebracht. Pater Acoſta
ſah ſie gegen das Ende des 16. Jahrhunderts am Fuße der
[227] Anden; da ſie aber ſchlecht gepflegt wurden, pflanzten ſie ſich
ſpärlich fort und ſtarben bald aus. In dieſen Zeiten der
Unterdrückung und des Elends, die man als die Zeiten des
ſpaniſchen Ruhmes ſchildert, vermieteten die Encomenderos
den Reiſenden Indianer wie Laſttiere. Man trieb ſie zu
Hunderten zuſammen, um Waren über die Kordilleren zu
ſchleppen oder um die Heere auf ihren Eroberungs- und
Raubzügen zu begleiten. Die Eingeborenen unterzogen ſich
dieſem Dienſte um ſo geduldiger, da ſie, beim faſt völligen
Mangel an Haustieren, ſchon ſeit langer Zeit von ihren eigenen
Häuptlingen, wenn auch nicht ſo unmenſchlich, dazu angehalten
worden waren. Die von Juan de Reinaga verſuchte Ein-
führung der Kamele brachte die Encomenderos, die nicht ge-
ſetzlich, aber faktiſch die Grundherren der indianiſchen Dörfer
waren, gewaltig in Aufruhr. Es iſt nicht zu verwundern,
daß der Hof den Beſchwerden dieſer Herren Gehör gab; aber
durch dieſe Maßregel ging Amerika eines Mittels verluſtig,
das mehr als irgend etwas den Verkehr im Inneren und den
Warenaustauſch erleichtern konnte. Jetzt, da ſeit Karls III.
Regierung die Indianer unter einem milderen Regimente
ſtehen, und alle Zweige des einheimiſchen Gewerbefleißes ſich
freier entwickeln können, ſollte die Einführung der Kamele
im großen und von der Regierung ſelbſt verſucht werden.
Würden einige hundert dieſer nützlichen Tiere auf dem un-
geheuren Areal von Amerika in heißen, trockenen Gegenden
angeſiedelt, ſo würde ſich der günſtige Einfluß auf den all-
gemeinen Wohlſtand ſchon in wenigen Jahren merkbar machen.
Provinzen, die durch Steppen getrennt ſind, wären von Stunde
an einander näher gerückt; manche Waren aus dem Inneren
würden an den Küſten wohlfeiler, und durch die Vermehrung
der Kamele, zumal der Hedjines, der Schiffe der Wüſte,
käme ein ganz anderes Leben in den Gewerbfleiß und den
Handel der Neuen Welt.


Am 22. abends brachen wir von der Mocundo auf und
gingen über Los Guayos nach Nueva Valencia. Man kommt
durch einen kleinen Palmenwald, deſſen Bäume nach dem
Habitus und der Bildung der fächerförmigen Blätter dem
Chamaerops humilis an der Küſte der Berberei gleichen.
Der Stamm wird indeſſen 6 m, zuweilen ſogar 10 m hoch.
Es iſt wahrſcheinlich eine neue Art der Gattung Corypha;
die Palme heißt im Lande Palma de Sombrero, weil
man aus den Blattſtielen Hüte, ähnlich unſeren Strohhüten
[228] flicht. Das Palmengehölz, wo die dürren Blätter beim ge-
ringſten Luftzug raſſeln, die auf der Ebene weidenden Kamele,
das Wallen der Dünſte auf einem vom Sonnenſtrahl glühen-
den Boden, geben der Landſchaft ein afrikaniſches Gepräge.
Je näher man der Stadt und über das weſtliche Ende des Sees
hinauskommt, deſto dürrer wird der Boden. Es iſt ein ganz
ebener, vom Waſſer verlaſſener Thonboden. Die benachbarten
Hügel, Morros de Valencia genannt, beſtehen aus weißem
Tuff, einer ganz neuen Bildung, die unmittelbar auf dem Gneis
aufliegt. Sie kommt bei Victoria und an verſchiedenen anderen
Punkten längs der Küſtengebirgskette wieder zum Vorſchein.
Die weiße Farbe dieſes Tuffs, von dem die Sonnenſtrahlen
abprallen, trägt viel zur drückenden Hitze bei, die hier herrſcht.
Alles iſt wüſt und öde, kaum ſieht man an den Ufern des Rio de
Valencia hie und da einen Kakaoſtamm; ſonſt iſt die Ebene kahl,
pflanzenlos. Dieſe anſcheinende Unfruchtbarkeit ſchreibt man
hier, wie überall in den Thälern von Aragua, dem Indigo-
bau zu, der den Boden ſtärker erſchöpft (cansa) als irgend
ein Gewächs. Es wäre intereſſant, ſich nach den wahren
phyſiſchen Urſachen dieſer Erſcheinung umzuſehen, über die
man, wie ja auch über die Wirkung der Brache und der Wechſel-
wirtſchaft, noch lange nicht im reinen iſt. Ich beſchränke mich
auf die allgemeine Bemerkung, daß man unter den Tropen
deſto häufiger über die zunehmende Unfruchtbarkeit des Bau-
landes klagen hört, je näher man ſich der Zeit der erſten
Urbarmachung befindet. In einem Erdſtriche, wo faſt kein
Gras wächſt, wo jedes Gewächs einen holzigen Stengel hat
und gleich zum Buſch aufſchießt, iſt der unangebrochene Boden
fortwährend von hohen Bäumen oder von Buſchwerk be-
ſchattet. Unter dieſen dichten Schatten erhält er ſich überall
friſch und feucht. So üppig der Pflanzenwuchs unter den
Tropen erſcheint, ſo iſt doch die Zahl der in die Erde drin-
genden Wurzeln auf einem nicht angebauten Boden geringer,
während auf dem mit Indigo, Zuckerrohr oder Maniok an-
gepflanzten Lande die Gewächſe weit dichter bei einander ſtehen.
Die Bäume und Gebüſche mit ihrer Fülle von Zweigen und
Laub ziehen ihre Nahrung zum großen Teil aus der um-
gebenden Luft, und die Fruchtbarkeit des jungfräulichen Bodens
nimmt zu durch die Zerſetzung des vegetabiliſchen Stoffes,
der ſich fortwährend auf demſelben aufhäuft. Ganz anders
bei den mit Indigo oder anderen krautartigen Gewächſen be-
pflanzten Feldern. Die Sonnenſtrahlen fallen frei auf den
[229] Boden und zerſtören durch die raſche Verbrennung der Kohlen-
waſſerſtoff- und anderen oxydierbaren Verbindungen die Keime
der Fruchtbarkeit. Dieſe Wirkungen fallen den Koloniſten
deſto mehr auf, da ſie in einem noch nicht lange bewohnten
Lande die Fruchtbarkeit eines ſeit Jahrtauſenden unberührten
Bodens mit dem Ertrag der bebauten Felder vergleichen können.
In Bezug auf den Ertrag des Ackerbaues ſind gegenwärtig
die ſpaniſchen Kolonieen auf dem Feſtland und die großen
Inſeln Portorico und Cuba gegen die Kleinen Antillen be-
deutend im Vorteil. Erſtere haben vermöge ihrer Größe, der
mannigfaltigen Bodenbildung und der verhältnismäßig geringen
Bevölkerung noch ganz den Typus eines unberührten Bodens,
während man auf Barbados, Tabago, Santa Lucia, auf den
Jungfraueninſeln und im franzöſiſchen Anteil von San Do-
mingo nachgerade ſpürt, daß lange fortgeſetzter Anbau den
Boden erſchöpft. Wenn man in den Thälern von Aragua
die Indigofelder, ſtatt ſie aufzugeben und brach liegen zu
laſſen, nicht mit Getreide, ſondern mit anderen nährenden und
Futterkräutern anpflanzte, wenn man dazu vorzugsweiſe Ge-
wächſe aus verſchiedenen Familien nähme, und ſolche, die mit
ihren breiten Blättern den Boden beſchatten, ſo würden all-
mählich die Felder verbeſſert und ihnen ihre frühere Frucht-
barkeit zum Teil wieder gegeben werden.


Die Stadt Nueva Valencia nimmt einen anſehnlichen
Flächenraum ein; aber die Bevölkerung iſt kaum 6000 bis
7000 Seelen ſtark. Die Straßen ſind ſehr breit, der Markt
(plaza mayor) iſt übermäßig groß, und da die Häuſer ſehr
niedrig ſind, iſt das Mißverhältnis zwiſchen der Bevölkerung
und der Ausdehnung der Stadt noch auffallender als in Ca-
racas. Viele Weiße von europäiſcher Abſtammung, beſonders
die ärmſten, ziehen aus ihren Häuſern und leben den größten
Teil des Jahres auf ihren kleinen Indigo- oder Baumwollen-
pflanzungen. Dort wagen ſie es, mit eigenen Händen zu
arbeiten, während ihnen dies, nach dem im Lande herrſchen-
den eingewurzelten Vorurteil, in der Stadt zur Schande ge-
reichte. Der Gewerbefleiß fängt im allgemeinen an ſich zu
regen, und der Baumwollenbau hat bedeutend zugenommen,
ſeit dem Handel von Porto Cabello neue Freiheiten erteilt
worden ſind und dieſer Hafen als Haupthafen, als puerto
mayor,
den unmittelbar aus dem Mutterlande kommenden
Schiffen offen ſteht.


Nueva Valencia wurde im Jahre 1555 unter Villacindas
[230] Statthalterſchaft von Alonzo Diaz Moreno gegründet, und iſt
alſo zwölf Jahre älter als Caracas. Wir haben ſchon früher
bemerkt, daß in Venezuela die ſpaniſche Bevölkerung von
Weſt nach Oſt vorgerückt iſt. Valencia war anfangs nur
eine zu Burburata gehörige Gemeinde, aber letztere Stadt iſt
jetzt nur noch ein Platz, wo Maultiere eingeſchifft werden.
Man bedauert, und vielleicht mit Recht, daß Valencia nicht
die Hauptſtadt des Landes geworden iſt. Ihre Lage auf einer
Ebene, am Ufer des Sees würde an die von Mexiko erinnern.
Wenn man bedenkt, wie bequem man durch die Thäler von
Aragua in die Lanos und an die Nebenflüſſe des Orinoko
gelangt, wenn man ſich überzeugt, daß ſich durch den Rio Pao
und die Portugueſa eine Schiffahrtsverbindung im inneren
Lande bis zur Mündung des Orinoko, zum Caſſiquiare und
dem Amazonenſtrom herſtellen ließe, ſo ſieht man ein, daß
die Hauptſtadt der ausgedehnten Provinzen von Venezuela
in der Nähe des prächtigen Hafens von Porto Cabello, unter
einem reinen, heiteren Himmel beſſer läge als bei der ſchlecht
geſchützten Reede von Guayra in einem gemäßigten, aber
das ganze Jahr nebeligen Thale. So nahe beim Königreich
Neugranada, mitten inne zwiſchen den getreidereichen Ge-
bieten von Victoria und Barqueſimeto hätte die Stadt
Valencia gedeihen müſſen; ſie konnte aber nicht gegen Ca-
racas aufkommen, das ihr zwei Jahrhunderte lang einen
bedeutenden Teil der Einwohner entzogen hat. Die Man-
tuanosfamilien lebten lieber in der Hauptſtadt als in einer
Provinzialſtadt.


Wer nicht weiß, von welcher Unmaſſe von Ameiſen alle
Länder in der heißen Zone heimgeſucht ſind, macht ſich keinen
Begriff von den Zerſtörungen dieſer Inſekten und von den
Bodenſenkungen, die von ihnen herrühren. Sie ſind im Boden,
auf dem Valencia ſteht, in ſo ungeheurer Menge, daß die
Gänge, die ſie graben, unterirdiſchen Kanälen gleichen, in der
Regenzeit ſich mit Waſſer füllen und den Gebäuden ſehr ge-
fährlich werden. Man hat hier nicht zu den ſonderbaren
Mitteln gegriffen, die man zu Anfang des 16. Jahrhunderts
auf San Domingo anwendete, als Ameiſenſchwärme die ſchönen
Ebenen von La Vega und die reichen Beſitzungen des Ordens
des heil. Franziskus verheerten. Nachdem die Mönche ver-
gebens die Ameiſenlarven verbrannt und es mit Räucherungen
verſucht hatten, gaben ſie den Leuten den Rat, einen Heiligen
herauszuloſen, der als Abagado contra las Hormigas dienen
[231] ſollte. Die Ehre ward dem heil. Saturnin zu teil, und als
man das erſte Mal das Feſt des Heiligen beging, verſchwan-
den die Ameiſen. Seit den Zeiten der Eroberung hat der
Unglauben gewaltige Fortſchritte gemacht, und nur auf dem
Rücken der Kordilleren fand ich eine kleine Kapelle, in der,
der Inſchrift zufolge, für die Vernichtung der Termiten ge-
gebetet werden ſollte.


Valencia hat einige geſchichtliche Erinnerungen aufzu-
weiſen, ſie ſind aber, wie alles, was die Kolonieen betrifft,
nicht ſehr alt und beziehen ſich entweder auf bürgerliche Zwiſte
oder auf blutige Gefechte mit den Wilden. Lopez de Aguirre,
deſſen Frevelthaten und Abenteuer eine der dramatiſchten
Epiſoden in der Geſchichte der Eroberung bilden, zog im
Jahre 1561 aus Peru über den Amazonenſtrom auf die Inſel
Margarita und von dort über den Hafen von Burburata in
die Thäler von Aragua. Als er in Valencia eingezogen, die
ſtolz den Namen einer königlichen Stadt, Villa de el
Rey,
führt, verkündigte er die Unabhängigkeit des Landes
und die Abſetzung Philipps II. Die Einwohner flüchteten
ſich auf die Inſeln im See und nahmen zu größerer Sicher-
heit alle Boote am Ufer mit. Infolge dieſer Kriegsliſt konnte
Aguirre ſeine Grauſamkeiten nur an ſeinen eigenen Leuten
verüben. In Valencia ſchrieb er den berüchtigten Brief an
den König von Spanien, der ein entſetzlich wahres Bild von
den Sitten des Kriegsvolkes im 16. Jahrhundert gibt. Der
Tyrann (ſo heißt Aguirre beim Volke noch jetzt) prahlt unter-
einander mit ſeinen Schandthaten und mit ſeiner Frömmigkeit;
er erteilt dem Könige Ratſchläge hinſichtlich der Regierung
der Kolonieen und der Einrichtung der Miſſionen. Mitten
unter wilden Indianern, auf der Fahrt auf einem großen
Süßwaſſermeer, wie er den Amazonenſtrom nennt, „fühlt er
große Beſorgnis ob der Ketzereien Martin Luthers und der
wachſenden Macht der Abtrünnigen in Europa“. Lopez de
Aguirre wurde, nachdem die Seinigen von ihm abgefallen, in
Barqueſimeto erſchlagen. Als es mit ihm zu Ende ging, ſtieß
er ſeiner einzigen Tochter den Dolch in die Bruſt, „um ihr die
Schande zu erſparen, bei den Spaniern die Tochter eines Ver-
räters zu heißen“. „Die Seele des Tyrannen“ — ſo glauben
die Eingeborenen — geht in den Savannen um in Geſtalt
einer Flamme, die entweicht, wenn ein Menſch auf ſie zugeht.


Das zweite geſchichtliche Ereignis, das ſich an Valencia
knüpft, iſt der Einfall der Kariben vom Orinoko her in den
[232] Jahren 1578 und 1580. Dieſe Horde von Menſchenfreſſern
zog am Guarico herauf und über die Llanos herüber. Sie
wurde vom tapferen Garci-Gonzalez, einem der Kapitäne,
deren Namen noch jetzt in dieſen Provinzen in hohen Ehren
ſteht, glücklich zurückgeſchlagen. Mit Befriedigung denkt man
daran, daß die Nachkommen derſelben Kariben jetzt als fried-
liche Ackerbauer in den Miſſionen leben, und daß kein wilder
Volksſtamm in Guyana es mehr wagt, über die Ebenen
zwiſchen der Waldregion und dem angebauten Lande herüber-
zukommen.


Die Küſtenkordillere iſt von mehreren Schluchten durch-
ſchnitten, die durchgängig von Südoſt nach Nordweſt ſtreichen.
Dies wiederholt ſich von der Quebrada de Tocume zwiſchen
Petarez und Caracas bis Porto Cabello. Es iſt als wäre
allerorten der Stoß von Südoſt gekommen, und die Erſchei-
nung iſt um ſo auffallender, da die Gneis- und Glimmer-
ſchieferſchichten in der Küſtenkordillere meiſt von Südweſt nach
Nordoſt ſtreichen. Die meiſten dieſer Schluchten ſchneiden in
den Südabhang der Berge ein, gehen aber nicht ganz durch;
nur im Meridian von Nueva Valencia befindet ſich eine Oeff-
nung (Abra), durch die man zur Küſte hinuntergelangt und
durch die jeden Abend ein ſehr erfriſchender Seewind in die
Thäler von Aragua heraufkommt. Der Wind ſtellt ſich regel-
mäßig zwei bis drei Stunden nach Sonnenuntergang ein.


Durch dieſe Abra, über den Hof Barbula und durch
einen öſtlichen Zweig der Schlucht baut man eine neue Straße
von Valencia nach Porto Cabello. Sie wird ſo kurz, daß
man nur vier Stunden in den Hafen braucht und man in
einem Tage vom Hafen in die Thäler von Aragua und
wieder zurück kann. Um dieſen Weg kennen zu lernen, gingen
wir am 26. Februar abends nach dem Hofe Barbula in
Geſellſchaft der Eigentümer, der liebenswürdigen Familie
Arambary.


Am 27. morgens beſuchten wir die heißen Quellen bei
der Trinchera, 13 km von Valencia. Die Schlucht iſt ſehr
breit und es geht vom Ufer des Sees bis zur Küſte faſt be-
ſtändig abwärts. Trinchera heißt der Ort nach den kleinen
Erdwerken, welche franzöſiſche Flibuſtiere angelegt, als ſie im
Jahre 1677 die Stadt Valencia plünderten. Die heißen
Quellen, und dies iſt geologiſch nicht unintereſſant, entſpringen
nicht ſüdlich von den Bergen, wie die von Mariara, Onoto
und am Brigantin, ſie kommen vielmehr in der Bergkette
[233] ſelbſt, faſt am Nordabhange, zu Tage. Sie ſind weit ſtärker
als alle, die wir bisher geſehen, und bilden einen Bach, der
in der trockenſten Jahreszeit 60 cm tief und 5,4 m breit iſt.
Die Temperatur des Waſſers war, ſehr genau gemeſſen, 90,3°.
Nach den Quellen von Urijino in Japan, die reines Waſſer
ſein und eine Temperatur von 100° haben ſollen, ſcheint das
Waſſer von La Trinchera de Porto Cabello das heißeſte, das
man überhaupt kennt. Wir frühſtückten bei der Quelle. Eier
waren im heißen Waſſer in weniger als vier Minuten gar.
Das ſtark ſchwefelwaſſerſtoffhaltige Waſſer entſpringt auf dem
Gipfel eines Hügels, der ſich 48 m über die Sohle der Schlucht
erhebt und von Süd-Süd-Oſt nach Nord-Nord-Weſt ſtreicht.
Das Geſtein, aus dem die Quelle kommt, iſt ein echter grob-
körniger Granit, ähnlich dem der Teufelsmauer in den Bergen
von Mariara. Ueberall wo das Waſſer an der Luft ver-
dunſtet, bildet es Niederſchläge und Inkruſtationen von kohlen-
ſaurem Kalk. Es geht vielleicht durch Schichten von Urkalk,
der im Glimmerſchiefer und Gneis an der Küſte von Caracas
ſo häufig vorkommt. Die Ueppigkeit der Vegetation um das
Becken überraſchte uns. Mimoſen mit zartem, gefiedertem
Laube, Kluſien und Feigenbäume haben ihre Wurzeln in den
Boden eines Waſſerſtückes getrieben, deſſen Temperatur 85°
betrug. Ihre Aeſte ſtehen nur 5 bis 7 cm über dem Waſſer-
ſpiegel. Obgleich das Laub der Mimoſen beſtändig vom heißen
Waſſerdampfe befeuchtet wird, iſt es doch ſehr ſchön grün.
Ein Arum mit holzigem Stengel und pfeilförmigen Blättern
wuchs ſogar mitten in einer Lache von 70° Temperatur. Die-
ſelben Pflanzenarten kommen anderswo in dieſem Gebirge an
Bächen vor, in denen der Thermometer nicht auf 18° ſteigt.
Noch mehr, 13 m von der Stelle, wo die 90° heißen Quellen
entſpringen, finden ſich auch ganz kalte. Beide Gewäſſer
laufen eine Strecke weit nebeneinander fort, und die Ein-
geborenen zeigten uns, wie man ſich, wenn man zwiſchen
beiden Bächen ein Loch in den Boden gräbt, ein Bad von
beliebiger Temperatur verſchaffen kann. Es iſt auffallend,
wie in den heißeſten und in den kälteſten Erdſtrichen der ge-
meine Mann gleich ſehr die Wärme liebt. Bei der Einführung
des Chriſtentums in Island wollte ſich das Volk nur in den
warmen Quellen am Hekla taufen laſſen, und in der heißen
Zone, im Tieflande und auf den Kordilleren, laufen die Ein-
geborenen von allen Seiten den warmen Quellen zu. Die
Kranken, die nach Trinchera kommen, um Dampfbäder zu
[234] brauchen, errichten über der Quelle eine Art Gitterwerk aus
Baumzweigen und ganz dünnem Rohr. Sie legen ſich nackt
auf dieſes Gitter, das, wie mir ſchien, nichts weniger als feſt
und nicht ohne Gefahr zu beſteigen iſt. Der Rio de Aguas
calientes läuft nach Nordoſt und wird in der Nähe der Küſte
zu einem ziemlich anſehnlichen Fluſſe, in dem große Krokodile
leben, und der durch ſein Austreten den Uferſtrich ungeſund
machen hilft.


Wir gingen immer rechts am warmen Waſſer nach Porto
Cabello hinunter. Der Weg iſt ungemein maleriſch. Das
Waſſer ſtürzt über die Felsbänke nieder, und es iſt als hätte
man die Fälle der Reuß vom Gotthard herab vor ſich; aber
welch ein Kontraſt, was die Kraft und Ueppigkeit des Pflanzen-
wuchſes betrifft! Zwiſchen blühenden Geſträuchen aus Big-
nonien und Melaſtomen erheben ſich majeſtätiſch die weißen
Stämme der Cecropia. Sie gehen erſt aus, wenn man nur
noch in 195 m Meereshöhe iſt. Bis hierher reicht auch eine
kleine ſtachelige Palme, deren zarte, gefiederte Blätter an den
Rändern wie gekräuſelt erſcheinen. Sie iſt in dieſem Gebirge
ſehr häufig; da wir aber weder Blüte noch Frucht geſehen
haben, wiſſen wir nicht, ob es die Piritupalme der Ka-
riben oder Jacquins Cocos aculeata iſt.


Je näher wir der Küſte kamen, deſto drückender wurde
die Hitze. Ein rötlicher Dunſt umzog den Horizont; die
Sonne war am Untergehen, aber der Seewind wehte noch
nicht. Wir ruhten in den einzeln ſtehenden Höfen aus, die
unter dem Namen Cambury und Haus des Kanariers
(Casa del Islengo) bekannt ſind. Der Rio de Aguas ca-
lientes, an dem wir hinzogen, wurde immer tiefer. Am Ufer
lag ein totes Krokodil; es war über 3 m lang. Wir hätten
gerne ſeine Zähne und ſeine Mundhöhle unterſucht, aber es
lag ſchon mehrere Wochen in der Sonne und ſtank ſo furcht-
bar, daß wir dieſes Vorhaben aufgeben und wieder zu Pferde
ſteigen mußten. Iſt man im Niveau des Meeres angelangt,
ſo wendet ſich der Weg oſtwärts und läuft über einen dürren
7 km breiten Strand, ähnlich dem bei Cumana. Man ſieht
hin und wieder eine Fackeldiſtel, ein Seſuvium, ein paar
Stämme Coccoloba uvifera, und längs der Küſte wachſen
Avicennien und Wurzelträger. Wir wateten durch den Guay-
guazo und den Rio Eſtevan, die, da ſie ſehr oft austreten,
große Lachen ſtehenden Waſſers bilden. Auf dieſer weiten
Ebene erheben ſich wie Klippen kleine Felſen aus Mäandriten,
[235] Madreporiten und anderen Korallen. Man könnte in den-
ſelben einen Beweis ſehen, daß ſich die See noch nicht ſehr
lange von hier zurückgezogen; aber dieſe Maſſen von Polypen-
gehäuſen ſind nur Bruchſtücke, in eine Breccie mit kalkigem
Bindemittel eingebacken. Ich ſage in eine Breccie, denn man
darf die weißen friſchen Koralliten dieſer ſehr jungen Forma-
tion an der Küſte nicht mit den Koralliten verwechſeln, die
im Uebergangsgebirge, in der Grauwacke und im ſchwarzen
Kalkſtein eingeſchloſſen vorkommen. Wir wunderten uns nicht
wenig, daß wir an dieſem völlig unbewohnten Orte einen
ſtarken, in voller Blüte ſtehenden Stamm der Parkinsonia
aculeata
antrafen. Nach unſeren botaniſchen Werken gehört
der Baum der Neuen Welt an; aber in fünf Jahren haben
wir ihn nur zweimal wild geſehen, hier auf der Ebene am
Rio Guayguazo und in den Llanos von Cumana, 135 km
von der Küſte, bei Villa del Pao. Letzterer Ort könnte noch
dazu leicht ein alter Conuco oder eingehegtes Baufeld ſein.
Sonſt überall auf dem Feſtlande von Amerika ſahen wir die
Parkinſonia wie die Plumeria nur in den Gärten der In-
dianer.


Ich kam zu rechter Zeit nach Porto Cabello, um einige
Höhen des Canopus nahe am Meridian aufnehmen zu können;
aber dieſe Beobachtungen, wie die am 28. Februar aufge-
nommenen korreſpondierenden Sonnenhöhen, ſind nicht ſehr
zuverläſſig. Ich bemerkte zu ſpät, daß ſich das Diopterlineal
eines Troughtonſchen Sextanten ein wenig verſchoben hatte.
Es war ein Doſenſextant von 5 cm Halbmeſſer, deſſen Ge-
brauch übrigens den Reiſenden ſehr zu empfehlen iſt. Ich
brauchte denſelben ſonſt meiſt nur zu geodätiſchen Aufnahmen
im Kanoe auf Flüſſen. In Porto Cabello wie in Guayra
ſtreitet man darüber, ob der Hafen oſtwärts oder weſtwärts
von der Stadt liegt, mit der derſelbe den ſtärkſten Verkehr
hat. Die Einwohner glauben, Porto Cabello liege Nord-
Nord-Weſt von Nueva Valencia. Aus meinen Beobachtungen
ergibt ſich allerdings für jenen Ort eine Länge von 3 bis
4 Minuten im Bogen weiter nach Weſt. Nach Fidalgo läge
er oſtwärts.


Wir wurden im Hauſe eines franzöſiſchen Arztes, Juliac,
der ſich in Montpellier tüchtig gebildet hatte, mit größter
Zuvorkommenheit aufgenommen. In ſeinem kleinen Hauſe
befanden ſich Sammlungen mancherlei Art, die aber alle den
Reiſenden intereſſieren konnten: ſchönwiſſenſchaftliche und
[236] naturgeſchichtliche Bücher, meteorologiſche Notizen, Bälge von
Jaguaren und großen Waſſerſchlangen, lebendige Tiere, Affen,
Gürteltiere, Vögel. Unſer Hausherr war Oberwundarzt am
königlichen Hoſpital in Porto Cabello und im Lande wegen
ſeiner tiefeingehenden Beobachtungen über das gelbe Fieber
vorteilhaft bekannt. Er hatte in ſieben Jahren 600 bis 800
von dieſer ſchrecklichen Krankheit Befallene in das Spital
aufnehmen ſehen; er war Zeuge der Verheerungen, welche die
Seuche im Jahre 1793 auf der Flotte des Admirals Arizti-
zabal angerichtet. Die Flotte verlor faſt ein Dritteil ihrer
Bemannung, weil die Matroſen faſt ſämtlich nicht akklimati-
ſierte Europäer waren und frei mit dem Lande verkehrten.
Juliac hatte früher, wie in Terra Firma und auf den Inſeln
gebräuchlich iſt, die Kranken mit Blutlaſſen, gelinde abführen-
den Mitteln und ſäuerlichen Getränken behandelt. Bei dieſem
Verfahren denkt man nicht daran, die Kräfte durch Reizmittel
zu heben; man will beruhigen und ſteigert nur die Schwäche
und Entkräftung. In den Spitälern, wo die Kranken dicht
beiſammen lagen, ſtarben damals von den weißen Kreolen
33 Prozent, von den friſch angekommenen Europäern 63 Prozent.
Seit man das alte herabſtimmende Verfahren aufgegeben hatte
und Reizmittel anwendete, Opium, Benzoe, weingeiſtige Ge-
tränke, hatte die Sterblichkeit bedeutend abgenommen. Man
glaubte, ſie betrage nunmehr nur 20 Prozent bei Europäern
und 10 Prozent bei Kreolen, ſelbſt dann, wenn ſich ſchwarzes
Erbrechen und Blutungen aus der Naſe, den Ohren und dem
Zahnfleiſch einſtellen und ſo die Krankheit in hohem Grade
bösartig erſcheint. Ich berichte genau, was mir damals als
allgemeines Ergebnis der Beobachtungen mitgeteilt wurde; man
darf aber, denke ich, bei ſolchen Zahlenzuſammenſtellungen nicht
vergeſſen, daß, trotz der ſcheinbaren Uebereinſtimmung, die
Epidemieen mehrerer aufeinanderfolgenden Jahre voneinander
abweichen, und daß man bei der Wahl zwiſchen ſtärkenden
und herabſtimmenden Mitteln (wenn je ein abſoluter Unter-
ſchied zwiſchen beiden beſteht) die verſchiedenen Stadien der
Krankheit zu unterſcheiden hat.


Die Hitze iſt in Porto Cabello nicht ſo ſtark als in
Guayra. Der Seewind iſt ſtärker, häufiger, regelmäßiger;
auch lehnen ſich die Häuſer nicht an Felſen, die bei Tag die
Sonnenſtrahlen abſorbieren und bei Nacht die Wärme wieder
von ſich geben. Die Luft kann zwiſchen der Küſte und den
Bergen von Ilaria freier zirkulieren. Der Grund der Un-
[237] geſundheit der Luft iſt im Strande zu ſuchen, der ſich weſt-
wärts, ſo weit das Auge reicht, gegen die Punta de Tucacos
beim ſchönen Hafen von Chichiribiche fortzieht. Dort befinden
ſich die Salzwerke und dort herrſchen bei Eintritt der Regen-
zeit die dreitägigen Wechſelfieber, die leicht in ataktiſche Fieber
übergehen. Man hat die intereſſante Bemerkung gemacht, daß
die Meſtizen, die in den Salzwerken arbeiten, dunkelfarbiger
ſind und eine gelbere Haut bekommen, wenn ſie mehrere Jahre
hintereinander an dieſen Fiebern gelitten haben, welche die
Küſtenkrankheit heißen. Die Bewohner dieſes Strandes,
arme Fiſcher, behaupten, nicht daher, daß das Seewaſſer das
Land überſchwemme und wieder abfließe, ſei der mit Wurzel-
trägern bewachſene Boden ſo ungeſund, das Verderbnis der
Luft rühre vielmehr vom ſüßen Waſſer her, von den Ueber-
ſchwemmungen des Rio Guayguazo und des Rio Eſtevan, die
in den Monaten Oktober und November ſo plötzlich und ſo
ſtark austreten. Die Ufer des Rio Eſtevan ſind bewohnbarer
geworden, ſeit man daſelbſt kleine Mais- und Piſangpflan-
zungen angelegt und durch Erhöhung und Befeſtigung des
Bodens dem Fluß ein engeres Bett angewieſen hat. Man
geht damit um, dem Eſtevan eine andere Mündung zu graben
und dadurch die Umgegend von Porto Cabello geſunder zu
machen. Ein Kanal ſoll das Waſſer an den Küſtenſtrich leiten,
der der Inſel Guayguaza gegenüberliegt.


Die Salzwerke von Porto Cabello gleichen ſo ziemlich
denen auf der Halbinſel Araya bei Cumana. Indeſſen iſt
die Erde, die man auslaugt, indem man das Regenwaſſer in
kleinen Becken ſammelt, nicht ſo ſalzhaltig. Man fragt hier
wie in Cumana, ob der Boden mit Salzteilchen geſchwängert
ſei, weil er ſeit Jahrhunderten zeitweiſe unter Meerwaſſer
geſtanden, das an der Sonne verdunſtet, oder ob das Salz
im Boden enthalten ſei wie in einem ſehr armen Steinſalz-
werk. Ich hatte nicht Zeit, den Strand hier ſo genau zu
unterſuchen wie die Halbinſel Araya; läuft übrigens der Streit
nicht auf die höchſt einfache Frage hinaus, ob das Salz von
neuen oder aber von uralten Ueberſchwemmungen herrührt?
Da die Arbeit in den Salzwerken von Porto Cabello ſehr
ungeſund iſt, geben ſich nur die ärmſten Leute dazu her. Sie
bringen das Salz an Ort und Stelle in kleine Magazine und
verkaufen es dann in den Niederlagen der Stadt.


Während unſeres Aufenthaltes in Porto Cabello lief die
Strömung an der Küſte, die ſonſt gewöhnlich nach Weſt geht,
[238] von Weſt nach Oſt. Dieſe Strömung nach oben(corriente
por arriba)
, von der bereits die Rede war, kommt zwei bis
drei Monate im Jahr, vom September bis November, häufig
vor. Man glaubt, ſie trete ein, wenn zwiſchen Jamaika und
dem Kap San Antonio auf Cuba Nordweſtwinde geweht
haben.


Die militäriſche Verteidigung der Küſten von Terra Firma
ſtützt ſich auf ſechs Punkte, das Schloß San Antonio bei Cu-
mana, den Morro bei Nueva Barcelona, die Werke (mit 134
Geſchützen) bei Guayra, Porto Cabello, das Fort San Carlos
an der Ausmündung des Sees Maracaybo und Cartagena.
Nach Cartagena iſt Porto Cabello der wichtigſte feſte Platz;
die Stadt iſt ganz neu und der Hafen einer der ſchönſten in
beiden Welten. Die Lage iſt ſo günſtig, daß die Kunſt faſt
nichts hinzuzuthun hatte. Eine Erdzunge läuft anfangs gegen
Nord und dann nach Weſt. Die weſtliche Spitze derſelben
liegt einer Reihe von Inſeln gegenüber, die durch Brücken
verbunden und ſo nahe bei einander ſind, daß man ſie für
eine zweite Landzunge halten kann. Dieſe Inſeln beſtehen
ſämtlich aus Kalkbreccien von ſehr neuer Bildung, ähnlich der
an der Küſte von Cumana und am Schloß Araya. Es iſt
ein Konglomerat von Madreporen und anderen Korallenbruch-
ſtücken, die durch ein kalkiges Bindemittel und Sandkörner
verkittet ſind. Wir hatten dasſelbe Konglomerat bereits am
Rio Guayguazo geſehen. Infolge der eigentümlichen Bildung
des Landes ſtellt ſich der Hafen als ein Becken oder als eine
innere Lagune dar, an deren ſüdlichem Ende eine Menge mit
Manglebäumen bewachſener Eilande liegen. Daß der Hafen-
eingang gegen Weſt liegt, trägt viel zur Ruhe des Waſſers
bei. Es kann nur ein Fahrzeug auf einmal einlaufen, aber
die größten Linienſchiffe können dicht am Lande ankern, um
Waſſer einzunehmen. Die einzige Gefahr beim Einlaufen
bieten die Riffe bei Punta Brava, denen gegenüber eine Bat-
terie von acht Geſchützen ſteht. Gegen Weſt und Südweſt
erblickt man das Fort, ein regelmäßiges Fünfeck mit fünf Ba-
ſtionen, die Batterie beim Riff und die Werke um die alte
Stadt, welche auf einer Inſel liegt, die ein verſchobenes Viereck
bildet. Ueber eine Brücke und das befeſtigte Thor der Eſta-
cada gelangt man aus der alten Stadt in die neue, welche
bereits größer iſt als jene, aber dennoch nur als Vorſtadt gilt.
Zuhinterſt läuft das Hafenbecken oder die Lagune um dieſe
Vorſtadt herum gegen Südweſt, und hier iſt der Boden ſumpfig,
[239] voll ſtehenden, ſtinkenden Waſſers. Die Stadt hat gegen-
wärtig gegen 9000 Einwohner. Sie verdankt ihre Entſtehung
dem Schleichhandel, der ſich hier einniſtete, weil die im Jahre
1549 gegründete Stadt Burburata in der Nähe lag. Erſt
unter dem Regiment der Biscayer und der Compagnie von
Guipuzcoa wurde Porto Cabello, das bis dahin ein Weiler
geweſen, eine wohlbefeſtigte Stadt. Von Guayra, das nicht
ſowohl ein Hafen als eine ſchlechte offene Reede iſt, bringt
man die Schiffe nach Porto Cabello, um ſie ausbeſſern und
kalfatern zu laſſen.


Der Hafen wird vorzugsweiſe durch die tiefgelegenen
Batterieen auf der Landzunge Punta Brava und auf dem
Riff verteidigt, und dieſe Wahrheit wurde verkannt, als man
auf den Bergen, welche die Vorſtadt gegen Süd beherrſchen,
mit großen Koſten ein neues Fort, den Mirador (Belvedere)
de Solano baute. Dieſes Werk, eine Viertelſtunde vom Hafen,
liegt 130 bis 160 m über dem Meere. Die Baukoſten be-
trugen jährlich und viele Jahre lang 20000 bis 30000 Piaſter.
Der Generalkapitän von Caracas, Guevara Vasconzelos, war
mit den beſten ſpaniſchen Ingenieuren der Anſicht, der Mirador,
auf dem zu meiner Zeit erſt 16 Geſchütze ſtanden, ſei für die
Verteidigung des Platzes nur von geringer Bedeutung und
ließ den Bau einſtellen. Eine lange Erfahrung hat bewieſen,
daß ſehr hochgelegene Batterieen, wenn auch ſehr ſchwere Stücke
darin ſtehen, die Reede lange nicht ſo wirkſam beſtreichen, als
tief am Strande oder auf Dämmen halb im Waſſer liegende
Batterieen mit Geſchützen von geringerem Kaliber. Wir fan-
den den Platz Porto Cabello in einem keineswegs befriedigen-
den Verteidigungszuſtand. Die Werke am Hafen und der
Stadtwall mit etwa 60 Geſchützen erfordern eine Beſatzung
von 1800 bis 2000 Mann, und es waren nicht 600 da. Es
war auch eine königliche Fregatte, die an der Einfahrt des
Hafens vor Anker lag, bei Nacht von den Kanonierſchaluppen
eines engliſchen Kriegsſchiffes angegriffen und weggenommen
worden. Die Blockade begünſtigte vielmehr den Schleichhandel,
als daß ſie ihn hinderte, und man ſah deutlich, daß in Porto
Cabello die Bevölkerung in der Zunahme, der Gewerbefleiß
im Aufſchwung begriffen waren. Am ſtärkſten iſt der geſetz-
widrige Verkehr mit den Inſeln Curaçao und Jamaika. Man
führt über 10000 Maultiere jährlich aus. Es iſt nicht un-
intereſſant, die Tiere einſchiffen zu ſehen. Man wirft ſie mit
der Schlinge nieder und zieht ſie an Bord mittels einer Vor-
[240] richtung gleich einem Krahn. Auf dem Schiffe ſtehen ſie in
zwei Reihen und können ſich beim Schlingern und Stampfen
kaum auf den Beinen halten. Um ſie zu ſchrecken und füg-
ſamer zu machen, wird faſt fortwährend Tag und Nacht die
Trommel gerührt. Man kann ſich denken, wie ſanft ein Paſ-
ſagier ruht, der den Mut hat, ſich auf einer ſolchen mit Maul-
tieren beladenen Goelette nach Jamaika einzuſchiffen.


Wir verließen Porto Cabello am 1. März mit Sonnen-
aufgang. Mit Verwunderung ſahen wir die Maſſe von Kähnen,
welche Früchte zu Markte brachten. Es mahnte mich an einen
ſchönen Morgen in Venedig. Vom Meere aus geſehen, liegt
die Stadt im ganzen freundlich und angenehm da. Dicht be-
wachſene Berge, über denen Gipfel aufſteigen, die man nach
ihren Umriſſen der Trappformation zuſchreiben könnte, bilden
den Hintergrund der Landſchaft. In der Nähe der Küſte iſt
alles nackt, weiß, ſtark beleuchtet, die Bergwand dagegen mit
dicht belaubten Bäumen bedeckt, die ihre gewaltigen Schatten
über braunes ſteiniges Erdreich werfen. Vor der Stadt be-
ſahen wir die eben fertig gewordene Waſſerleitung. Sie iſt
4180 m lang und führt in einer Rinne das Waſſer des Rio
Eſtevan in die Stadt. Dieſes Werk hat 30000 Piaſter ge-
koſtet, das Waſſer ſpringt aber auch in allen Straßen.


Wir gingen von Porto Cabello in die Thäler von Aragua
zurück und hielten wieder auf der Pflanzung von Barbula an,
über welche die neue Straße nach Valencia geführt wird.
Wir hatten ſchon ſeit mehreren Wochen von einem Baume
ſprechen hören, deſſen Saft eine nährende Milch iſt. Man
nennt ihn den Kuhbaum, und man verſicherte uns, die Neger
auf dem Hofe trinken viel von dieſer vegetabiliſchen Milch
und halten ſie für ein geſundes Nahrungsmittel. Da alle
milchigen Pflanzenſäfte ſcharf, bitter und mehr oder weniger
giftig ſind, ſo ſchien uns dieſe Behauptung ſehr ſonder-
bar; aber die Erfahrung lehrte uns während unſeres Aufent-
haltes in Barbula, daß, was man uns von den Eigenſchaften
des Palo de Vaca erzählt hatte, nicht übertrieben war. Der
ſchöne Baum hat den Habitus des Chrysophyllum Cainito
oder Sternapfelbaumes; die länglichen, zugeſpitzten, lederartigen,
abwechſelnden Blätter haben unten vorſpringende, parallele
Seitenrippen und werden 26 cm lang. Die Blüte bekamen
wir nicht zu ſehen; die Frucht hat wenig Fleiſch und enthält
eine, bisweilen zwei Nüſſe. Macht man Einſchnitte in den
Stamm des Kuhbaumes, ſo fließt ſehr reichlich eine klebrige
[241] ziemlich dicke Milch aus, die durchaus nichts Scharfes hat
und ſehr angenehm wie Balſam riecht. Man reichte uns
welche in den Früchten des Tutumo oder Flaſchenbaumes.
Wir tranken abends vor Schlafengehen und frühmorgens
viel davon, ohne irgend eine nachteilige Wirkung. Nur die
Klebrigkeit macht dieſe Milch etwas unangenehm. Die Neger
und die Freien, die auf den Pflanzungen arbeiten, tunken ſie
mit Mais- und Maniokbrot, Arepa und Caſſave aus.
Der Verwalter des Hofes verſicherte uns, die Neger legen in
der Zeit, wo der Palo de Vaca ihnen am meiſten Milch gibt,
ſichtbar zu. Bei freiem Zutritt der Luft zieht der Saft an
der Oberfläche, vielleicht durch Abſorption des Sauerſtoffes
der Luft, Häute einer ſtark animaliſierten, gelblichen, faſerigen,
dem Käſeſtoff ähnlichen Subſtanz. Nimmt man dieſe Häute
von der übrigen wäſſerigen Flüſſigkeit ab, ſo zeigen ſie ſich
elaſtiſch wie Kautſchuk, in der Folge aber faulen ſie unter
denſelben Erſcheinungen wie die Gallerte. Das Volk nennt den
Klumpen, der ſich an der Luft abſetzt, Käſe; der Klumpen
wird nach fünf, ſechs Tagen ſauer, wie ich an den kleinen
Stücken bemerkte, die ich nach Nueva Valencia mitgebracht.
In einer verſchloſſenen Flaſche ſetzte ſich in der Milch etwas
Gerinnſel zu Boden, und ſie wurde keineswegs übelriechend,
ſondern behielt ihren Balſamgeruch. Mit kaltem Waſſer ver-
miſcht, gerann der friſche Saft nur ſehr wenig, aber die klebri-
gen Häute ſetzten ſich ab, ſobald ich denſelben mit Salpeter-
ſäure in Berührung brachte. Wir ſchickten Fourcroy in Paris
zwei Flaſchen dieſer Milch. In der einen war ſie im natür-
lichen Zuſtande, in der anderen mit einer gewiſſen Menge
kohlenſauren Natrons verſetzt. Der franzöſiſche Konſul auf der
Inſel St. Thomas übernahm die Beförderung.


Dieſer merkwürdige Baum ſcheint der Küſtenkordillere,
beſonders von Barbula bis zum See Maracaybo, eigentümlich.
Beim Dorfe San Mateo und nach Bredemeyer, deſſen Reiſen
die ſchönen Gewächshäuſer von Schönbrunn und Wien ſo ſehr
bereichert haben, im Thale von Caucagua, 13,5 km von Ca-
racas, ſtehen auch einige Stämme. Dieſer Naturforſcher fand,
wie wir, die vegetabiliſche Milch des Palo de Vaca angenehm
von Geſchmack und von aromatiſchem Geruch. In Caucagua
nennen die Eingeborenen den Baum, der den nährenden Saft
gibt, Milchbaum, Arbol de leche. Sie wollen an der
Dicke und Farbe des Laubes die Bäume erkennen, die am
meiſten Saft geben, wie der Hirte nach äußeren Merkmalen
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 16
[242] eine gute Milchkuh herausfindet. Kein Botaniker kannte bis
jetzt dieſes Gewächs, deſſen Fruktifikationsorgane man ſich
leicht wird verſchaffen können. Nach Kunth ſcheint der Baum
zu der Familie der Sapoteen zu gehören. Erſt lange nach
meiner Rückkehr nach Europa fand ich in des Holländers Laet
Beſchreibung von Weſtindien eine Stelle, die ſich auf den
Kuhbaum zu beziehen ſcheint. „In der Provinz Cumana,“
ſagt Laet, „gibt es Bäume, deren Saft geronnener Milch
gleicht und ein geſundes Nahrungsmittel abgibt.“


Ich geſtehe, von den vielen merkwürdigen Erſcheinungen,
die mir im Verlaufe meiner Reiſe zu Geſicht gekommen, haben
wenige auf meine Einbildungskraft einen ſtärkeren Eindruck
gemacht als der Anblick des Kuhbaumes. Alles, was ſich auf
die Milch oder auf die Getreidearten bezieht, hat ein Intereſſe
für uns, das ſich nicht auf die phyſikaliſche Kenntnis der
Gegenſtände beſchränkt, ſondern einem anderen Kreiſe von
Vorſtellungen und Empfindungen angehört. Wir vermögen
uns kaum vorzuſtellen, wie das Menſchengeſchlecht beſtehen
könnte ohne mehlige Stoffe, ohne den nährenden Saft in
der Mutterbruſt, der auf den langen Schwächezuſtand des
Kindes berechnet iſt. Das Stärkemehl des Getreides, das
bei ſo vielen alten und neueren Völkern ein Gegenſtand reli-
giöſer Verehrung iſt, kommt in den Samen und den Wurzeln
der Gewächſe vor; die nährende Milch dagegen erſcheint uns
als ein ausſchließliches Produkt der tieriſchen Organiſation.
Dieſen Eindruck erhalten wir von Kindheit auf, und daher
denn auch das Erſtaunen, womit wir den eben beſchriebenen
Baum betrachten. Was uns hier ſo gewaltig ergreift, ſind
nicht prachtvolle Wälderſchatten, majeſtätiſch dahinziehende
Ströme, von ewigem Eis ſtarrende Gebirge; ein paar Tropfen
Pflanzenſaft führen uns die ganze Macht und Fülle der Natur
vor das innere Auge. An der kahlen Felswand wächſt ein
Baum mit trockenen, lederartigen Blättern; ſeine dicken hol-
zigen Wurzeln dringen kaum in das Geſtein. Mehrere Monate
im Jahre netzt kein Regen ſein Laub; die Zweige ſcheinen
vertrocknet, abgeſtorben; bohrt man aber den Stamm an, ſo
fließt eine ſüße, nahrhafte Milch heraus. Bei Sonnenaufgang
ſtrömt die vegetabiliſche Quelle am reichlichſten; dann kommen
von allen Seiten die Schwarzen und die Eingeborenen mit
großen Näpfen herbei und fangen die Milch auf, die ſofort
an der Oberfläche gelb und dick wird. Die einen trinken die
Näpfe unter dem Baume ſelbſt aus, andere bringen ſie ihren
[243] Kindern. Es iſt, als ſähe man einen Hirten, der die Milch
ſeiner Herde unter die Seinigen verteilt.


Ich habe den Eindruck geſchildert, den der Kuhbaum auf
die Einbildungskraft des Reiſenden macht, wenn er ihn zum
erſtenmal ſieht. Die wiſſenſchaftliche Unterſuchung zeigt, daß
die phyſiſchen Eigenſchaften der tieriſchen und der vegetabi-
liſchen Stoffe im engſten Zuſammenhange ſtehen; aber ſie
benimmt dem Gegenſtande, der uns in Erſtaunen ſetzte, den
Anſtrich des Wunderbaren, ſie entkleidet ihn wohl auch zum
Teil ſeines Reizes. Nichts ſteht für ſich allein da; chemiſche
Grundſtoffe, die, wie man glaubte, nur den Tieren zukommen,
finden ſich in den Gewächſen gleichfalls. Ein gemeinſames
Band umſchlingt die ganze organiſche Natur.


Lange bevor die Chemie im Blütenſtaube, im Eiweiß der
Blätter und im weißlichen Anfluge unſerer Pflaumen und
Trauben kleine Wachsteilchen entdeckte, verfertigten die Be-
wohner der Anden von Quindiu Kerzen aus der dicken Wachs-
ſchicht, welche den Stamm einer Palme überzieht. 1 Vor
wenigen Jahren wurde in Europa das Caſeum, der Grund-
ſtoff des Käſes, in der Mandelmilch entdeckt; aber ſeit Jahr-
hunderten gilt in den Gebirgen an der Küſte von Venezuela
die Milch eines Baumes und der Käſe, der ſich in dieſer
vegetabiliſchen Milch abſondert, für ein geſundes Nahrungs-
mittel. Woher rührt dieſer ſeltſame Gang in der Entwicke-
lung unſerer Kenntniſſe? Wie konnte das Volk in der einen
Halbkugel auf etwas kommen, was in der anderen dem Scharf-
blick der Scheidekünſtler, die doch gewöhnt ſind, die Natur
zu befragen und ſie auf ihrem geheimnisvollen Gange zu be-
lauſchen, ſo lange entgangen iſt? Daher, daß einige wenige
Elemente und verſchiedenartig zuſammengeſetzte Grundſtoffe
in mehreren Pflanzenfamilien vorkommen; daher, daß die
Gattungen und Arten dieſer natürlichen Familien nicht über
die tropiſchen und die kalten und gemäßigten Himmelsſtriche
gleich verteilt ſind; daher, daß Völker, die faſt ganz von
Pflanzenſtoffen leben, vom Bedürfnis getrieben, mehlige näh-
rende Stoffe überall finden, wo ſie nur die Natur im Pflan-
zenſaft, in Rinden, Wurzeln oder Früchten niedergelegt hat.
Das Stärkemehl, das ſich am reinſten in den Getreidekörnern
findet, iſt in den Wurzeln der Arumarten, der Tacca pinna-
tifida
und der Jatropha Manihot mit einem ſcharfen, zu-
[244] weilen ſelbſt giftigen Safte verbunden. Der amerikaniſche
Wilde wie der auf den Inſeln der Südſee hat das Satzmehl
durch Auspreſſen und Trennen vom Safte ausſüßen gelernt.
In der Pflanzenmilch und den milchigen Emulſionen ſind
äußerſt nahrhafte Stoffe, Eiweiß, Käſeſtoff und Zucker mit
Kautſchuk und ätzenden ſchädlichen Materien, wie Morphium
und Blauſäure, verbunden. Dergleichen Miſchungen ſind
nicht nur nach den Familien, ſondern ſogar bei den Arten
derſelben Gattung verſchieden. Bald iſt es das Morphium
oder der narkotiſche Grundſtoff, was der Pflanzenmilch ihre
vorwiegende Eigenſchaft gibt, wie bei manchen Mohnarten,
bald das Kautſchuk, wie bei der Hevea und Castilloa, bald
Eiweiß und Käſeſtoff, wie beim Melonenbaum und Kuhbaum.


Die milchigen Gewächſe gehören vorzugsweiſe den drei
Familien der Euphorbien, der Urticeen und der Apocyneen
an, und da ein Blick auf die Verteilung der Pflanzenbildungen
über den Erdball zeigt, daß dieſe drei Familien 1 in den Nie-
derungen der Tropenländer durch die zahlreichſten Arten ver-
treten ſind, ſo müſſen wir daraus ſchließen, daß eine ſehr hohe
Temperatur zur Bildung von Kautſchuk, Eiweiß und Käſe-
ſtoff beiträgt. Der Saft des Palo de Vaca iſt ohne Zweifel
das auffallendſte Beiſpiel, daß nicht immer ein ſcharfer, ſchäd-
licher Stoff mit dem Eiweiß, dem Käſeſtoff und dem Kaut-
ſchuk verbunden iſt; indeſſen kannte man in den Gattungen
Euphorbia und Asklepias, die ſonſt durch ihre ätzenden Eigen-
ſchaften bekannt ſind, Arten, die einen milden, unſchädlichen
Saft haben. Hierher gehört der Tubayba dulce der Kana-
riſchen Inſeln, von dem ſchon oben die Rede war, 2 und As-
clepias lactifera
auf Ceylon. Wie Burmann erzählt, bedient
man ſich dort, in Ermangelung der Kuhmilch, der Milch der
letztgenannten Pflanze und kocht mit den Blättern derſelben
die Speiſen, die man ſonſt mit tieriſcher Milch zubereitet.
Es iſt zu erwarten, daß ein Reiſender, dem die gründlichſten
[245] Kenntniſſe in der Chemie zu Gebote ſtehen, John Davy, bei
ſeinem Aufenthalt auf Ceylon dieſen Punkt ins reine bringen
wird; denn, wie De Candolle richtig bemerkt, es wäre möglich,
daß die Eingeborenen nur den Saft der jungen Pflanze be-
nutzten, ſolange der ſcharfe Stoff noch nicht entwickelt iſt.
Wirklich werden in manchen Ländern die jungen Sproſſen
der Apocyneen gegeſſen.


Ich habe mit dieſer Zuſammenſtellung den Verſuch ge-
macht, die Milchſäfte der Gewächſe und der milchigen Emul-
ſionen, welche die Früchte der Mandelarten und der Palmen
geben, unter einen allgemeinen Geſichtspunkt zu bringen. Es
möge mir geſtattet ſein, dieſen Betrachtungen die Ergebniſſe
einiger Verſuche anzureihen, die ich während meines Aufent-
haltes in den Thälern von Aragua mit dem Safte der Carica
Papaya
angeſtellt, obgleich es mir faſt ganz an Reagenzien
fehlte. Derſelbe Saft iſt ſeitdem von Vauquelin unterſucht
worden. Der berühmte Chemiker hat darin richtig das Ei-
weiß und den käſeartigen Stoff erkannt; er vergleicht den
Milchſaft mit einem ſtark animaliſierten Stoffe, mit dem tieri-
ſchen Blut; es ſtand ihm aber nur gegorener Saft und ein
übelriechendes Gerinnſel zu Gebote, das ſich auf der Ueber-
fahrt von Isle de France nach Havre gebildet hatte. Er
ſpricht den Wunſch aus, ein Reiſender möchte den Saft des
Melonenbaumes friſch, wie er aus dem Stengel oder der
Frucht fließt, unterſuchen können.


Je jünger die Frucht des Melonenbaumes iſt, deſto mehr
Milch gibt ſie; man findet ſie bereits im kaum befruchteten
Keime. Je reifer die Frucht wird, deſto mehr nimmt die Milch
ab und deſto wäſſeriger wird ſie; man findet dann weniger
vom tieriſchen Stoff darin, der durch Säuren und durch Ab-
ſorption des Sauerſtoffes der Luft gerinnt. Da die ganze
Frucht klebrig 1 iſt, ſo könnte man annehmen, je mehr ſie
wachſe, deſto mehr lagere ſich der gerinnbare Stoff in den
Organen ab und bilde zum Teil das Mark oder die fleiſchige
[246] Subſtanz. Tröpfelt man mit vier Teilen Waſſer verdünnte
Salpeterſäure in die ausgepreßte Milch einer ganz jungen
Frucht, ſo zeigt ſich eine höchſt merkwürdige Erſcheinung. In
der Mitte eines jeden Tropfens bildet ſich ein gallertartiges,
grau geſtreiftes Häutchen. Dieſe Streifen ſind nichts anderes
als der Stoff, der wäſſeriger geworden, weil die Säure ihm
den Eiweißſtoff entzogen hat. Zu gleicher Zeit werden die
Häutchen in der Mitte undurchſichtig und eigelb. Sie ver-
größern ſich, indem divergierende Faſern ſich zu verlängern
ſcheinen. Die Flüſſigkeit ſieht anfangs aus wie ein Achat mit
milchigen Wolken, und man meint, organiſche Häute unter
ſeinen Augen ſich bilden zu ſehen. Wenn ſich das Gerinnſel
über die ganze Maſſe verbreitet, verſchwinden die gelben Flecke
wieder. Rührt man ſie um, ſo wird ſie krümelig wie weicher
Käſe. Die gelbe Farbe erſcheint wieder, wenn man ein paar
Tropfen Salpeterſäure zuſetzt. Die Säure wirkt hier wie die
Berührung des Sauerſtoffes der Luft bei 27 bis 35°; denn
das weiße Gerinnſel wird in ein paar Minuten gelb, wenn
man es der Sonne ausſetzt. Nach einigen Stunden geht das
Gelb in Braun über, ohne Zweifel, weil der Kohlenſtoff frei
wird im Verhältnis, als der Waſſerſtoff, an den er gebunden
war, verbrennt. Das durch die Säure gebildete Gerinnſel
wird klebrig und nimmt den Wachsgeruch an, den ich gleich-
falls bemerkte, als ich Muskelfleiſch und Pilze (Morcheln)
mit Salpeterſäure behandelte. Nach Hatchetts ſchönen Ver-
ſuchen kann man annehmen, daß das Eiweiß zum Teil in
Gallerte übergeht. Wirft man das friſch bereitete Gerinnſel
vom Melonenbaum in Waſſer, ſo wird es weich, löſt ſich teil-
weiſe auf und färbt das Waſſer gelblich. Alsbald ſchlägt ſich
eine zitternde Gallerte, ähnlich dem Stärkemehl, daraus nieder.
Dies iſt beſonders auffallend, wenn das Waſſer, das man
dazu nimmt, auf 40 bis 60° erwärmt iſt. Je mehr man
Waſſer zugießt, deſto feſter wird die Gallerte. Sie bleibt
lange weiß und wird nur gelb, wenn man etwas Salpeter-
ſäure darauf tröpfelt. Nach dem Vorgange Fourcroys und
Vauquelins bei ihren Verſuchen mit dem Safte der Hevea,
ſetzte ich der Milch des Melonenbaumes eine Auflöſung von
kohlenſaurem Natron bei. Es bildet ſich kein Klumpen, auch
wenn man reines Waſſer dem Gemiſch von Milch und alka-
liſcher Auflöſung zugießt. Die Häute kommen erſt zum Vor-
ſchein, wenn man durch Zuſatz einer Säure das Alkali neu-
traliſiert und die Säure im Ueberſchuß iſt. Ebenſo ſah ich
[247] das durch Salpeterſäure, Zitronenſaft oder heißes Waſſer ge-
bildete Gerinnſel verſchwinden, wenn ich eine Löſung von
kohlenſaurem Natron zugoß. Der Saft wird wieder milchig
und flüſſig, wie er urſprünglich war. Dieſer Verſuch gelingt
aber nur mit friſch gebildetem Gerinnſel.


Vergleicht man die Milchſäfte des Melonenbaumes, des
Kuhbaumes und der Hevea, ſo zeigt ſich eine auffallende
Achnlichkeit zwiſchen den Säften, die viel Käſeſtoff enthalten,
und denen, in welchen das Kautſchuk vorherrſcht. Alles weiße,
friſch bereitete Kautſchuk, ſowie die waſſerdichten Mäntel, die
man im ſpaniſchen Amerika fabriziert und die aus einer Schicht
des Milchſaftes der Hevea zwiſchen zwei Leinwandſtücken
beſtehen, haben einen tieriſchen, ekligen Geruch, der darauf
hinzuweiſen ſcheint, daß das Kautſchuk beim Gerinnen den
Käſeſtoff an ſich reißt, der vielleicht nur ein modifizierter Ei-
weißſtoff iſt.


Die Frucht des Brotfruchtbaumes iſt ſo wenig Brot als
die Bananen vor ihrer Reife oder die ſtärkemehlreichen Wurzel-
knollen der Dioscorea, des Convolvulus Batatas und der
Kartoffel. Die Milch des Kuhbaumes dagegen enthält den
Käſeſtoff gerade wie die Milch der Säugetiere. Aus allge-
meinem Geſichtspunkte können wir mit Guy-Luſſac das Kaut-
ſchuk als den öligen Teil, als die Butter der vegetabiliſchen
Milch betrachten. Die beiden Grundſtoffe Eiweiß und Fett
ſind in den Organen der verſchiedenen Tierarten und in den
Pflanzen mit Milchſaft in verſchiedenen Verhältniſſen ent-
halten. Bei letzteren ſind ſie meiſt mit anderen, beim Genuß
ſchädlichen Stoffen verbunden, die ſich aber vielleicht auf
chemiſchem Wege trennen ließen. Eine Pflanzenmilch wird
nahrhaft, wenn keine ſcharfen, narkotiſchen Stoffe mehr darin
ſind und ſtatt des Kautſchuks der Käſeſtoff darin überwiegt.


Iſt der Palo de Vaca für uns ein Bild der unermeß-
lichen Segensfülle der Natur im heißen Erdſtrich, ſo mahnt
er uns auch an die zahlreichen Quellen, aus denen unter
dieſem herrlichen Himmel die träge Sorgloſigkeit des Men-
ſchen fließt. Mungo Park hat uns mit dem Butterbaume
in Bambarra bekannt gemacht, der, wie De Candolle vermutet,
zu der Familie der Sapoteen gehört wie unſer Kuhbaum.
Die Bananenbäume, die Sagobäume, die Mauritien am Ori-
noko ſind Brotbäume ſo gut wie die Rima der Südſee.
Die Früchte der Crescentia und Lecythis dienen zu Gefäßen;
die Blumenſcheiden mancher Palmen und Baumrinden geben
[248] Kopfbedeckungen und Kleider ohne Naht. Die Knoten oder
vielmehr die inneren Fächer im Stamme der Bambu geben
Leitern und erleichtern auf tauſenderlei Art den Bau einer
Hütte, die Herſtellung von Stühlen, Bettſtellen und anderem
Geräte, das die wertvolle Habe des Wilden bildet. Bei einer
üppigen Vegetation mit ſo unendlich mannigfaltigen Pro-
dukten bedarf es dringender Beweggründe, ſoll der Menſch
ſich der Arbeit ergeben, ſich aus ſeinem Halbſchlummer auf-
rütteln, ſeine Geiſtesfähigkeiten entwickeln.


In Barbula baut man Kakao und Baumwolle. Wir
fanden daſelbſt, eine Seltenheit in dieſem Lande, zwei große
Maſchinen mit Cylindern zum Trennen der Baumwolle von
den Samen; die eine wird von einem Waſſerrade, die andere
durch einen Göpel und durch Maultiere getrieben. Der Ver-
walter des Hofes, der dieſelben gebaut, war aus Merida. Er
kannte den Weg von Nueva Valencia über Guanare und
Miſagual nach Varinas, und von dort durch die Schlucht
Callejones zum Paramo der Mucuchies und den mit ewigem
Schnee bedeckten Gebirgen von Merida. Seine Angaben, wie
viel Zeit wir von Valencia über Varinas in die Sierra Ne-
vada, und von da über den Hafen von Torunos und den Rio
Santo Domingo nach San Fernando am Apure brauchen
würden, wurden uns vom größten Nutzen. Man hat in
Europa keinen Begriff davon, wie ſchwer es hält, genaue Er-
kundigung in einem Lande einzuziehen, wo der Verkehr ſo
gering iſt, und man die Entfernungen gern zu gering an-
gibt oder übertreibt, je nachdem man den Reiſenden auf-
muntern oder von ſeinem Vorhaben abbringen möchte. Bei
der Abreiſe von Caracas hatte ich dem Intendanten der
Provinz Gelder übergeben, die mir von den königlichen Schatz-
beamten in Varinas ausbezahlt werden ſollten. Ich hatte
beſchloſſen, das weſtliche Ende der Kordilleren von Neu-
granada, wo ſie in die Paramos von Timotes und Niquitao
auslaufen, zu beſuchen. Ich hörte nun in Barbula, bei dieſem
Abſtecher würden wir 35 Tage ſpäter an den Orinoko ge-
langen. Dieſe Verzögerung erſchien uns um ſo bedeutender,
da man vermutete, die Regenzeit werde früher als gewöhn-
lich eintreten. Wir durften hoffen, in der Folge ſehr viele
mit ewigem Schnee bedeckte Gebirge in Quito, Peru und
Mexiko beſuchen zu können, und es ſchien mir deſto geratener,
den Ausflug in die Gebirge von Merida aufzugeben, da wir
beſorgen mußten, dabei unſeren eigentlichen Reiſezweck zu ver-
[249] fehlen, der darin beſtand, den Punkt, wo ſich der Orinoko mit
dem Rio Negro und dem Amazonenſtrom verbindet, durch
aſtronomiſche Beobachtungen feſtzuſtellen. Wir gingen daher
von Barbula nach Guacara zurück, um uns von der achtungs-
würdigen Familie des Marques del Toro zu verabſchieden
und noch drei Tage am Ufer des Sees zu verweilen.


Es war Faſtnacht und der Jubel allgemein. Die Luſtbar-
keiten, de carnes tollendas genannt, arteten zuweilen ein wenig
ins Rohe aus. Die einen führen einen mit Waſſer beladenen
Eſel herum, und wo ein Fenſter offen iſt, begießen ſie das
Zimmer mit einer Spritze; andere haben Tüten voll Haare
der Picapica oder Dolichos pruriens in der Hand und blaſen
das Haar, das auf der Haut ein heftiges Jucken verurſacht,
den Vorübergehenden ins Geſicht.


Von Guacara gingen wir nach Nueva Valencia zurück.
Wir trafen da einige franzöſiſche Ausgewanderte, die einzigen,
die wir in fünf Jahren in den ſpaniſchen Kolonieen geſehen.
Trotz der Blutsverwandtſchaft zwiſchen den königlichen Fa-
milien von Frankreich und Spanien durften ſich nicht einmal
die franzöſiſchen Prieſter in dieſen Teil der Neuen Welt flüchten,
wo der Menſch ſo leicht Unterhalt und Obdach findet. Jen-
ſeits des Ozeans boten allein die Vereinigten Staaten dem
Unglück eine Zufluchtsſtätte. Eine Regierung, die ſtark, weil
frei, und vertrauensvoll, weil gerecht iſt, brauchte ſich nicht zu
ſcheuen, die Verbannten aufzunehmen.


Wir haben früher verſucht, über den Zuſtand des Indigo-,
des Baumwollen- und Zuckerbaues in der Provinz Caracas
einige beſtimmte Angaben zu machen. Ehe wir die Thäler
von Aragua und die benachbarten Küſten verlaſſen, haben
wir uns nur noch mit den Kakaopflanzungen zu beſchäftigen,
die von jeher für die Hauptquelle des Wohlſtandes dieſer
Gegenden galten. Die Provinz Caracas (nicht die Capitania
general, alſo mit Ausſchluß der Pflanzungen von Cumana,
in der Provinz Barcelona, in Maracaybo, in Varinas und
im ſpaniſchen Guyana) erzeugte am Schluſſe des 18. Jahr-
hunderts jährlich 150000 Fanegas, von den 30000 in der
Provinz und 10000 in Spanien verzehrt wurden. Nimmt
man die Fanega, nach dem Marktpreiſe zu Cadiz, nur zu
25 Piaſtern an, ſo beträgt der Geſamtwert der Kakaoausfuhr
aus den ſechs Häfen der Capitania general von Caracas
800000 Piaſter.


Der Kakaobaum wächſt gegenwärtig in den Wäldern von
[250] Terra Firma nördlich vom Orinoko nirgends wild; erſt jen-
ſeits der Fälle von Atures und Maypures trafen wir ihn
nach und nach an. Beſonders häufig wächſt er an den Ufern
des Ventuari und am oberen Orinoko zwiſchen dem Padamo
und dem Gehette. Daß der Kakaobaum in Südamerika nord-
wärts vom 6. Breitengrad ſo ſelten wild vorkommt, iſt für
die Pflanzengeographie ſehr intereſſant und war bisher wenig
bekannt. Die Erſcheinung iſt um ſo auffallender, da man
nach dem jährlichen Ertrag der Ernten auf den Kakaopflanzungen
in Cumana, Nueva Barcelona, Venezuela, Varinas und Mara-
caybo über 16 Millionen Bäume in vollem Ertrag rechnet.
Der wilde Kakaobaum hat ſehr viele Aeſte und ſein Laub iſt
dicht und dunkel. Er trägt eine ſehr kleine Frucht, ähnlich
der Spielart, welche die alten Mexikaner Tlalcacahuatl
nannten. In die Conucos der Indianer am Caſſiquiare und
Rio Negro verſetzt, behält der wilde Baum mehrere Genera-
tionen die Kraft des vegetativen Lebens, die ihn vom vierten
Jahre an tragbar macht, während in der Provinz Caracas die
Ernten erſt mit dem ſechſten, ſiebenten oder achten Jahre be-
ginnen. Sie treten im Binnenlande ſpäter ein als an den
Küſten und im Thale von Guapo. Wir fanden am Orinoko
keinen Volksſtamm, der aus der Bohne des Kakaobaumes ein
Getränk bereitete. Die Wilden ſaugen das Mark der Hülſe
aus und werfen die Samen weg, daher man dieſelben oft in
Menge auf ihren Lagerplätzen findet. Wenn auch an der
Küſte der Chorote, ein ganz ſchwacher Kakaoaufguß, für ein
uraltes Getränk gilt, ſo gibt es doch keinen geſchichtlichen
Beweis dafür, daß die Eingeborenen von Venezuela vor der
Ankunft der Spanier die Schokolade oder irgend eine Zuberei-
tung des Kakao gekannt haben. Wahrſcheinlicher ſcheint mir,
daß man in Caracas den Kakaobaum nach dem Vorbilde von
Mexiko und Guatemala angebaut hat, und daß die in Terra
Firma angeſiedelten Spanier die Behandlung des Baumes, der
jung im Schatten der Erythrina und des Bananenbaumes auf-
wächſt, die Bereitung der Schokoladetafeln und den Gebrauch
des Getränkes dieſes Namens durch den Verkehr mit Mexiko,
Guatemala und Nicaragua gelernt haben, drei Länder, deren
Einwohner von toltekiſchem und aztekiſchem Stamme ſind.


Bis zum 16. Jahrhundert weichen die Reiſenden in ihren
Urteilen über die Schokolade ſehr voneinander ab. Benzoni
ſagt in ſeiner derben Sprache, es ſei ein Getränk vielmehr
„da porci, che da huomini“. Der Jeſuit Acoſta verſichert,
[251] die Spanier in Amerika lieben die Schokolade mit närriſcher
Leidenſchaft, man müſſe aber an „das ſchwarze Gebräue“ ge-
wöhnt ſein, wenn einem nicht ſchon beim Anblick des Schaumes,
der wie die Hefe über einer gärenden Flüſſigkeit ſtehe, übel
werden ſolle. Er bemerkt weiter: „Der Kakao iſt ein Aber-
glaube der Mexikaner, wie der Coca ein Aberglaube der Peru-
aner.“ Dieſe Urteile erinnern an die Prophezeiung der Frau
von Sevigné hinſichtlich des Gebrauches des Kaffees. Hernan
Cortez und ſein Page, der gentilhombre del gran Con-
quistador,
deſſen Denkwürdigkeiten Ramuſio bekannt gemacht
hat, rühmen dagegen die Schokolade nicht nur als ein ange-
nehmes Getränk, ſelbſt wenn ſie kalt bereitet wird, 1 ſondern
beſonders als nahrhaft. „Wer eine Taſſe davon getrunken
hat,“ ſagt der Page des Hernan Cortez, „kann ohne weitere
Nahrung eine ganze Tagereiſe machen, beſonders in ſehr heißen
Ländern; denn die Schokolade iſt ihrem Weſen nach kalt und
erfriſchend.“ Letztere Behauptung möchten wir nicht unter-
ſchreiben; wir werden aber bei unſerer Fahrt auf dem Orinoko
und bei unſeren Reiſen hoch an den Kordilleren hinauf bald
Gelegenheit finden, die vortrefflichen Eigenſchaften der Schokolade
zu rühmen. Sie iſt gleich leicht mit ſich zu führen und als
Nahrungsmittel zu verwenden und enthält in kleinem Raume
viel nährenden und reizenden Stoff. Man ſagt mit Recht, in
Afrika helfen Reis, Gummi und Sheabutter dem Menſchen
durch die Wüſten. In der Neuen Welt haben Schokolade und
Maismehl ihm die Hochebenen der Anden und ungeheure un-
bewohnte Wälder zugänglich gemacht.


Die Kakaoernte iſt ungemein veränderlich. Der Baum
treibt mit ſolcher Kraft, daß ſogar aus den holzigen Wurzeln,
wo die Erde ſie nicht bedeckt, Blüten ſprießen. Er leidet von
den Nordoſtwinden, wenn ſie auch die Temperatur nur um
wenige Grade herabdrücken. Auch die Regen, welche nach der
Regenzeit in den Wintermonaten vom Dezember bis März
unregelmäßig eintreten, ſchaden dem Kakaobaume bedeutend.
Es kommt nicht ſelten vor, daß der Eigentümer einer Pflanzung
von 50000 Stämmen in einer Stunde für 4000 bis 5000
Piaſter Kakao einbüßt. Große Feuchtigkeit iſt dem Baume nur
[252] förderlich, wenn ſie allmählich zunimmt und lange ohne Unter-
brechung anhält. Wenn in der trockenen Jahreszeit die Blätter
und die unreife Frucht in einen ſtarken Regenguß kommen,
ſo löſt ſich die Frucht vom Stiele. Die Gefäße, welche das
Waſſer einſaugen, ſcheinen durch Ueberſchwellung zu berſten.
Iſt nun die Kakaoernte äußerſt unſicher, weil der Baum gegen
ſchlimme Witterung ſo empfindlich iſt und ſo viele Würmer,
Inſekten, Vögel, Säugetiere 1 die Schote freſſen, hat dieſer
Kulturzweig den Nachteil, daß dabei der neue Pflanzer die
Früchte ſeiner Arbeit erſt nach 8 bis 10 Jahren genießt und
daß das Produkt ſchwer aufzubewahren iſt, ſo iſt dagegen nicht
zu überſehen, daß die Kakaopflanzungen weniger Sklaven erfor-
dern als die meiſten anderen Kulturen. Dieſer Umſtand iſt
von großer Bedeutung in einem Zeitpunkte, wo ſämtliche Völker
Europas den großherzigen Entſchluß gefaßt haben, dem Neger-
handel ein Ende zu machen. Ein Sklave verſieht 1000 Stämme,
die im jährlichen Durchſchnitt 12 Fanegas Kakao tragen können.
Auf Cuba gibt allerdings eine große Zuckerpflanzung mit
300 Schwarzen im Jahre durchſchnittlich 40000 Arrobas Zucker,
welche, die Kiſte 2 zu 40 Piaſtern, 100000 Piaſter wert ſind,
und in den Provinzen von Venezuela produziert man für
100000 Piaſter oder 4000 Fanegas Kakao, die Fanega zu
25 Piaſtern, auch nur mit 300 bis 350 Sklaven. Die
200000 Kiſten Zucker mit 3200000 Arroben, welche Cuba
von 1812 bis 1814 jährlich ausgeführt hat, haben einen Wert
von 8 Millionen Piaſtern und könnten mit 24000 Sklaven
hergeſtellt werden, wenn die Inſel lauter große Pflan-
zungen hätte
; aber dieſer Annahme widerſpricht der Zu-
ſtand der Kolonie und die Natur der Dinge. Die Inſel Cuba
verwendete im Jahre 1811 nur zur Feldarbeit 143000 Sklaven,
während die Capitania general von Caracas, die jährlich
200000 Fanegas Kakao oder für 5 Millionen Piaſter pro-
duziert, wenn auch nicht ausführt, in Stadt und Land nicht
mehr als 60000 Sklaven hat. Es braucht kaum bemerkt zu
werden, daß dieſe Verhältniſſe ſich mit den Zucker- und Kakao-
preiſen ändern.


Die ſchönſten Kakaopflanzungen in der Provinz Caracas
ſind an der Küſte zwiſchen Caravalleda und der Mündung
[253] des Rio Tocuyo, in den Thälern von Caucagua, Capaya,
Curiepe und Guapo; ferner in den Thälern von Cupira,
zwiſchen Kap Codera und Kap Unare, bei Aroa, Barqueſimeto,
Guigue und Uritucu. Der Kakao, der an den Ufern des
Uritucu am Rande der Llanos, im Gerichtsbezirk San Se-
baſtiano de los Reyos wächſt, gilt für den beſten; dann kom-
men die von Guigue, Caucagua, Capaya und Cupira. Auf
dem Handelsplatze Cadiz hat der Kakao von Caracas den erſten
Rang gleich nach dem von Soconusco. Er ſteht meiſt um
30 bis 40 Prozent höher im Preiſe als der Kakao von Guayaquil.


Erſt ſeit der Mitte des 17. Jahrhunderts munterten die
Holländer, im ruhigen Beſitz der Inſel Curaçao, durch den
Schleichhandel den Landbau an den benachbarten Küſten auf,
und erſt ſeitdem wurde der Kakao für die Provinz Caracas
ein Ausfuhrartikel. Was in dieſer Gegend vorging, ehe im
Jahre 1728 die Geſellſchaft der Biscayer aus Guipuzcoa ſich
daſelbſt niederließ, wiſſen wir nicht. Wir beſitzen lediglich
keine genauen ſtatiſtiſchen Angaben und wiſſen nur, daß zu
Anfang des 18. Jahrhunderts aus Caracas kaum 30000 Fane-
gas jährlich ausgeführt wurden. Im Jahre 1797 war die
Ausfuhr, nach den Zollregiſtern von Guayra, den Schleich-
handel nicht gerechnet, 70832 Fanegas. Wegen des Schmug-
gels nach Trinidad und den anderen Antillen darf man kecklich
ein Vierteil oder Fünfteil weiter rechnen. Ich glaube an-
nehmen zu können, daß von 1800 bis 1806, alſo im letzten
Zeitpunkte, wo in den ſpaniſchen Kolonieen noch innere Ruhe
herrſchte, der jährliche Ertrag der Kakaopflanzungen in der
ganzen Capitania general von Caracas ſich wenigſtens auf
193000 Fanegas belief.


Die Ernten, deren jährlich zwei ſtattfinden, im Juni und
im Dezember, fallen ſehr verſchieden aus, doch nicht in dem
Maße wie die Oliven- und Weinernten in Europa. Von
jenen 193000 Fanegas fließen 145000 teils über die Häfen
der Halbinſel, teils durch den Schleichhandel nach Europa ab.


Ich glaube beweiſen zu können (und dieſe Schätzungen
beruhen auf zahlreichen einzelnen Angaben), daß Europa beim
gegenwärtigen Stande ſeiner Civiliſation verzehrt:


  • 11,5 Mill. kg Kakao zu 120 Fr. den Ztr. 27600000 Fr.
  • 16 Mill. kg Thee zu 4 Fr. das Pfund 128000000 „
  • 70 Mill. kg Kaffee zu 114 Fr. den Ztr. 159600000 „
  • 225 Mill. kg Zucker zu 54 Fr. den Ztr. 243000000 „
  • 558200000 Fr

[254]

Von dieſen vier Erzeugniſſen, die ſeit zwei bis drei Jahr-
hunderten die vornehmſten Artikel im Handel und der Pro-
duktion der Kolonieen geworden ſind, gehört der erſte aus-
ſchließlich Amerika, der zweite ausſchließlich Aſien an. Ich
ſage ausſchließlich, denn die Kakaoausfuhr der Philippinen iſt
jetzt ſo unbedeutend wie die Verſuche, die man in Braſilien,
auf Trinidad und Jamaika mit dem Theebau gemacht hat.
Die vereinigten Provinzen von Caracas liefern zwei Dritt-
teile des Kakaos, der im weſtlichen und ſüdlichen Europa ver-
zehrt wird. Dies iſt um ſo bemerkenswerter, als es der ge-
meinen Annahme widerſpricht; aber die Kakaoſorten von
Caracas, Maracaybo und Cumana ſind nicht alle von der-
ſelben Qualität. Der Graf Caſa-Valencia ſchätzt den Ver-
brauch Spaniens nur auf 3 bis 3,5 Millionen kg, der Abbé
Hervas auf 9 Millionen. Wer lange in Spanien, Italien
und Frankreich gelebt hat, muß die Bemerkung gemacht haben,
daß nur im erſteren Lande Schokolade auch von den unterſten
Volksklaſſen getrunken wird, und wird es ſchwerlich glaublich
finden, daß Spanien nur ein Dritteil des in Europa ein-
geführten Kakaos verzehren ſoll.


Die letzten Kriege haben für den Kakaohandel in Caracas
weit verderblichere Folgen gehabt als in Guayaquil. Wegen
des Preisaufſchlages iſt in Europa weniger Kakao von der
teuerſten Sorte verzehrt worden. Früher machte man in
Spanien die gewöhnliche Schokolade aus einem Vierteil Kakao
von Caracas und drei Vierteilen Kakao von Guayaquil; jetzt
nahm man letzteren allein. Dabei iſt zu bemerken, daß viel
geringer Kakao, wie der vom Marañon, vom Rio Negro, von
Honduras und von der Inſel Santa Lucia, im Handel Kakao
von Guayaquil heißt. Aus letzterem Hafen werden nicht über
60000 Fanegas ausgeführt, zwei Dritteile weniger als aus
den Häfen der Capitania general von Caracas.


Wenn auch die Kakaopflanzungen in den Provinzen Cu-
mana, Barcelona und Maracaybo ſich in dem Maße vermehrt
haben, in dem ſie in der Provinz Caracas eingegangen ſind,
ſo glaubt man doch, daß dieſer alte Kulturzweig im ganzen
allmählich abnimmt. In vielen Fällen verdrängen der Kaffee-
baum und die Baumwollenſtaude den Kakaobaum, der für die
Ungeduld des Landbauers viel zu ſpät trägt. Man behauptet
auch, die neuen Pflanzungen geben weniger Ertrag als die
alten. Die Bäume werden nicht mehr ſo kräftig und tragen
ſpäter und nicht ſo reichlich Früchte. Auch ſoll der Boden erſchöpft
[255] ſein; aber nach unſerer Anſicht iſt vielmehr durch die Entwicke-
lung des Landbaues und das Urbarmachen des Landes die Luft-
beſchaffenheit eine andere geworden. Ueber einem unberührten,
mit Wald bewachſenen Boden ſchwängert ſich die Luft mit
Feuchtigkeit und den Gasgemengen, die den Pflanzenwuchs
befördern und ſich bei der Zerſetzung organiſcher Stoffe bilden.
Iſt ein Land lange Zeit angebaut geweſen, ſo wird das Ver-
hältnis zwiſchen Sauerſtoff und Stickſtoff durchaus kein anderes;
die Grundbeſtandteile der Luft bleiben dieſelben; aber jene
binären und tertiären Verbindungen von Kohlenſtoff, Stick-
ſtoff und Waſſerſtoff, die ſich aus einem unberührten Boden
entwickeln und für eine Hauptquelle der Fruchtbarkeit gelten,
ſind ihr nicht mehr beigemiſcht. Die reinere, weniger mit
Miasmen und fremdartigen Effluvien beladene Luft wird zu-
gleich trockener und die Spannung des Waſſerdampfes nimmt
merkbar ab. Auf längſt urbar gemachten und ſomit zum
Kakaobau wenig geeignetem Boden, z. B. auf den Antillen,
iſt die Frucht beinahe ſo klein wie beim wilden Kakaobaume.
An den Ufern des oberen Orinoko, wenn man über die Llanos
hinüber iſt, betritt man, wie ſchon bemerkt, die wahre Heimat
des Kakaobaumes, und hier findet man dichte Wälder, wo auf
unberührtem Boden, in beſtändig feuchter Luft die Stämme
mit dem vierten Jahre reiche Ernten geben. Auf nicht er-
ſchöpftem Boden iſt die Frucht durch die Kultur überall größer
und weniger bitter geworden, ſie reift aber auch ſpäter.


Sieht man nun den Ertrag an Kakao in Terra Firma
allmählich abnehmen, ſo fragt man ſich, ob in Spanien, in
Italien und im übrigen Europa auch der Verbrauch im ſelben
Verhältnis abnimmt, oder ob nicht vielmehr infolge des Ein-
gehens der Kakaopflanzungen die Preiſe ſo hoch ſteigen werden,
daß der Landbauer zu neuen Anſtrengungen aufgemuntert
wird? Letzteres iſt die herrſchende Anſicht bei allen, die in
Caracas die Abnahme eines ſo alten und ſo einträglichen
Handelszweiges bedauern. Wenn einmal die Kultur weiter
gegen die feuchten Wälder im Binnenlande vorrückt, an die
Ufer des Orinoko und des Amazonenſtromes, oder in die
Thäler am Oſtabhange der Anden, ſo finden die neuen An-
ſiedler einen Boden und eine Luft, wie ſie beide dem Kakao-
bau angemeſſen ſind.


Bekanntlich ſcheuen die Spanier im allgemeinen den Zu-
ſatz von Vanille zum Kakao, weil dieſelbe die Nerven reize.
Daher wird auch die Frucht dieſer ſchönen Orchisart in der
[256] Provinz Caracas faſt gar nicht beachtet. Man könnte ſie auf
der feuchten, fieberreichen Küſte zwiſchen Porto Cabello und
Ocumare in Menge ſammeln, beſonders aber in Turiamo, wo
die Früchte des Epidendrum Vanilla 29 bis 32 cm lang
werden. Die Engländer und Angloamerikaner ſuchen häufig
im Hafen von Guayra Vanille zu kaufen, und die Handels-
leute können ſie nur mit Mühe in kleinen Quantitäten auf-
treiben. In den Thälern, die ſich von der Küſtenbergkette zum
Meere der Antillen herabziehen, in der Provinz Truxillo, wie in
den Miſſionen in Guyana bei den Fällen des Orinoko könnte
man ſehr viel Vanille ſammeln, und der Ertrag wäre noch reich-
licher, wenn man, wie die Mexikaner thun, die Pflanze von Zeit
zu Zeit von den Lianen ſäuberte, die ſie umſchlingen und erſticken.


Bei der Schilderung des gegenwärtigen Zuſtandes der
Kakaopflanzungen in den Provinzen von Venezuela, bei den
Bemerkungen über den Zuſammenhang zwiſchen dem Ertrag
der Pflanzungen und der Feuchtigkeit und Geſundheit der
Luft, haben wir der warmen, fruchtbaren Thäler der Küſten-
kordilleren erwähnt. In ſeiner weſtlichen Erſtreckung, dem
See Maracaybo zu, zeigt dieſer Landſtrich eine ſehr intereſſante
mannigfaltige Terrainbildung. Ich ſtelle am Ende dieſes
Kapitels zuſammen, was ich über die Beſchaffenheit des Bodens
und den Metallreichtum in den Bezirken Aroa, Barqueſimeto
und Carora habe in Erfahrung bringen können.


Von der Sierra Nevada von Merida und den Paramos
von Niquitao, Bocono und Las Roſas an, 1 wo der koſtbare
Chinabaum wächſt, ſenkt ſich die öſtliche Kordillere von Neu-
granada ſo raſch, daß ſie zwiſchen dem 9. und 10. Breitengrade
nur noch eine Kette kleiner Berge bildet, an die ſich im Nordoſt
der Altar und der Torito anſchließen und die die Nebenflüſſe
des Rio Apure und des Orinoko von den zahlreichen Ge-
wäſſern ſcheiden, die entweder in das Meer der Antillen oder
[257] in den See Maracaybo fallen. Auf dieſer Waſſerſcheide ſtehen
die Städte Nirgua, San Felipe el Fuerte, Barqueſimeto und
Tocuyo. In den drei erſteren iſt es ſehr heiß, in Tocuyo
dagegen bedeutend kühl, und man hört mit Ueberraſchung,
daß unter einem ſo herrlichen Himmel die Menſchen große
Neigung zum Selbſtmord haben. Gegen Süden erhebt ſich
der Boden, denn Truxillo, der See Urao, aus dem man
kohlenſaures Natron gewinnt, und La Grita, oſtwärts von der
Kordillere, liegen ſchon in 780 bis 1170 m Höhe.


Beobachtet man, in welchem konſtanten Verhältniſſe die
Urgebirgsſchichten der Küſtenkordillere fallen, ſo ſieht man ſich
auf eine der Urſachen hingewieſen, welche den Landſtrich
zwiſchen der Kordillere und dem Meere ſo ungemein feucht
machen. Die Schichten fallen meiſt nach Nordweſt, ſo daß
die Gewäſſer nach dieſer Richtung über die Geſteinsbänke
laufen und, wie ſchon oben bemerkt, die Menge Bäche und
Flüſſe bilden, deren Ueberſchwemmungen vom Kap Codera bis
zum See Maracaybo das Land ſo ungeſund machen.


Neben den Gewäſſern, die in der Richtung nach Nordoſt
an die Küſte von Porto Cabello und zur Punta de Hicacos
herabkommen, ſind die bedeutendſten der Tocuyo, der Aroa
und der Yaracuy. Ohne die Miasmen, welche die Luft ver-
peſten, wären die Thäler des Aroa und des Yaracuy vielleicht
ſtärker bevölkert als die Thäler von Aragua. Durch die ſchiff-
baren Flüſſe hätten jene ſogar den Vorteil, daß ſie ihre eigenen
Zucker- und Kakaoernten, wie die Produkte der benachbarten
Bezirke, den Weizen von Quibor, das Vieh von Monaï und
das Kupfer von Aroa, leichter ausführen könnten. Die
Gruben, wo man dieſes Kupfer gewinnt, liegen in einem
Seitenthale, das in das Aroathal mündet und nicht ſo heiß
und ungeſund iſt als die Thalſchluchten näher am Meere. In
dieſen letzteren haben die Indianer Goldwäſchereien, und im
Gebirge kommen dort reiche Kupfererze vor, die man noch
nicht auszubeuten verſucht hat. Die alten, längſt in Abgang
gekommenen Gruben von Aroa wurden auf den Betrieb Don
Antonios Henriquez, den wir in San Fernando am Apure
trafen, wieder aufgenommen. Nach den Notizen, die er mir
gegeben, ſcheint die Lagerſtätte des Erzes eine Art Stockwerk
zu ſein, das aus mehreren kleinen Gängen beſteht, die ſich
nach allen Richtungen kreuzen. Das Stockwerk iſt ſtellenweiſe
4 bis 6 m dick. Der Gruben ſind drei, und in allen wird
von Sklaven gearbeitet. Die größte, die Biscayna, hat nur
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 17
[258] 30 Bergleute, und die Geſamtzahl der mit der Förderung
und dem Schmelzen des Erzes beſchäftigten Sklaven beträgt
nur 60 bis 70. Da der Schacht nur 58 m tief iſt, ſo können,
der Waſſer wegen, die reichſten Strecken des Stockwerkes, die
darunter liegen, nicht abgebaut werden. Man hat bis jetzt
nicht daran gedacht, Schöpfräder aufzuſtellen. Die Geſamt-
ausbeute an gediegenem Kupfer beträgt jährlich 1200 bis
1500 Zentner. Das Kupfer, in Cadiz als Caracaskupfer
bekannt, iſt ausgezeichnet gut; man zieht es ſogar dem ſchwe-
diſchen und dem Kupfer von Coquimbo in Chile vor. Das
Kupfer von Aroa wird zum Teil an Ort und Stelle zum
Glockenguß verwendet. In neueſter Zeit iſt zwiſchen Aroa
und Nirgua bei Guanita im Berge San Pablo einiges Silbererz
entdeckt worden. Goldkörner kommen überall im Gebirgslande
zwiſchen dem Rio Yaracuy, der Stadt San Felipe, Nirgua
und Barqueſimeto vor, beſonders aber im Fluſſe Santa Cruz,
in dem die indianiſchen Goldwäſcher zuweilen Geſchiebe von
4 bis 5 Piaſtern Wert finden. Kommen im anſtehenden
Glimmerſchiefer- und Gneisgeſtein wirkliche Gänge vor, oder
iſt das Gold auch hier, wie im Granit von Guadarama in
Spanien oder im Fichtelgebirge in Franken, durch die ganze
Gebirgsart zerſtreut? Das durchſickernde Waſſer mag die zer-
ſtreuten Goldblättchen zuſammenſchwemmen, und in dieſem
Fall wären alle Bergbauverſuche fruchtlos. In der Savana
de la Miel
bei der Stadt Barqueſimeto hat man im ſchwarzen,
glänzenden, dem Bergpech (Ampélite) ähnlichen Schiefer einen
Schacht niedergetrieben. Die Mineralien, die man daraus zu
Tage gefördert, und die man mir nach Caracas geſchickt,
waren Quarz, nicht goldhaltige Schwefelkieſe und in Nadeln
mit Seidenglanz kriſtalliſiertes kohlenſaures Blei.


In der erſten Zeit nach der Eroberung begann man trotz
der Einfälle des kriegeriſchen Stammes der Girahara die
Gruben von Nirgua und Buria auszubeuten. Im ſelben
Bezirk veranlaßte im Jahre 1553 die Menge der Negerſklaven
einen Vorfall, der, ſo wenig er an ſich zu bedeuten hatte,
dadurch intereſſant wird, daß er mit den Ereigniſſen, die ſich
unter unſeren Augen auf San Domingo begeben haben, Aehn-
lichkeit hat. Ein Negerſklave ſtiftete unter den Grubenarbeitern
von San Felipe de Buria einen Aufſtand an, zog ſich in die
Wälder und gründete mit 200 Genoſſen einen Flecken, in dem
er zum König ausgerufen wurde. Miguel, der neue König,
liebte Prunk und Feierlichkeit; ſein Weib Guiomar ließ er
[259] Königin nennen; er ernannte, wie Oviedo erzählt, Miniſter,
Staatsräte, Beamte der Casa real, ſogar einen ſchwarzen
Biſchof. Nicht lange, ſo war er keck genug, die benachbarte
Stadt Nueva Segovia de Barqueſimeto anzugreifen; er wurde
aber von Diego de Loſada zurückgeſchlagen und kam im Hand-
gemenge um. Dieſem afrikaniſchen Königreiche folgte in Nirgua
ein Freiſtaat der Zambos, daß heißt der Abkömmlinge von
Negern und Indianern. Der ganze Gemeinderat, der Ca-
bildo
, beſteht aus Farbigen, die der König von Spanien
als ſeine „lieben und getreuen Unterthanen, die Zambos von
Nirgua“ anredete. Nur wenige weiße Familien mögen in
einem Lande leben, wo ein mit ihren Anſprüchen ſo wenig
verträgliches Regiment herrſcht, und die kleine Stadt heißt
ſpottweiſe La republica de Zambos y Mulatos. Es iſt ebenſo
unklug, die Regierung einer einzelnen Kaſte zu überlaſſen, als
ſie ihrer natürlichen Rechte zu berauben und ihr dadurch eine
Einzelſtellung zu geben.


Wenn in den wegen ihres vortrefflichen Bauholzes be-
rühmten Thälern des Aroa; Yaracuy und Tocuyo der üppige
Pflanzenwuchs und die große Feuchtigkeit der Luft ſo viele
Fieber erzeugen, ſo verhält es ſich mit den Savannen oder
Llanos von Monaï und Carora ganz anders. Dieſe Llanos
ſind durch das Gebirgsland von Tocuyo und Nirgua von
den großen Ebenen an der Portugueza und bei Cala-
bozo
getrennt. Dürre Savannen, auf denen Miasmen herr-
ſchen, ſind eine ſehr auffallende Erſcheinung. Sumpfboden
kommt daſelbſt keiner vor, wohl aber mehrere Erſcheinungen,
die auf die Entbindung von Waſſerſtoffgas hindeuten. 1 Wenn
[260] man Reiſende, welche mit den brennbaren Schwaden unbekannt
ſind, in die Höhle Del Serrito de Monaï führt, ſo erſchreckt
man ſie durch Anzünden des Gasgemenges, das ſich im oberen
Teile der Höhle fortwährend anſammelt. Soll man annehmen,
daß die ungeſunde Luft hier dieſelbe Quelle hat, wie auf der
Ebene zwiſchen Tivoli und Rom, Entwickelung von Schwefel-
waſſerſtoff? 1 Vielleicht äußert auch das Gebirgsland neben
den Llanos von Monaï einen ungünſtigen Einfluß auf die
anſtoßenden Ebenen. Südoſtwinde mögen die faulen Efflu-
vien herführen, die ſich aus der Schlucht Villegas und Sienega
de Cabra zwiſchen Carora und Carache entwickeln. Ich ſtelle
abſichtlich alles zuſammen, was auf die Ungeſundheit der Luft
Bezug haben mag; denn auf einem ſo dunkeln Gebiete kann
man nur durch Vergleichung zahlreicher Beobachtungen hoffen,
das wahre Sachverhältnis zu ermitteln.


Die dürren und doch ſo fieberreichen Savannen zwiſchen
Barqueſimeto und dem öſtlichen Ufer des Sees Maracaybo
ſind zum Teil mit Fackeldiſteln bewachſen; aber die gute
Bergkochenille, die unter dem unbeſtimmten Namen Grana
de Carora
bekannt iſt, kommt aus einem gemäßigteren Land-
ſtriche zwiſchen Carora und Truxillo, beſonders aber aus dem
Thale des Rio Mucuju, öſtlich von Merida. Die Einwohner
geben ſich mit dieſem im Handel ſo ſtark geſuchten Produkte
gar nicht ab.



[[261]]

Siebzehntes Kapitel.


Gebirge zwiſchen den Thälern von Aragua und den Llanos von
Caracas. — Villa de Cara. — Parapara. — Llanos oder Steppen. —
Calabozo.


Die Bergkette, welche den See von Tacarigua oder Va-
lencia im Süden begrenzt, bildet gleichſam das nördliche Ufer
des großen Beckens der Llanos oder Savannen von Caracas.
Aus den Thälern von Aragua kommt man in die Savannen
über die Berge von Guigue und Tucutunemo. Aus einer
bevölkerten, durch Anbau geſchmückten Landſchaft gelangt man
in eine weite Einöde. An Felſen und ſchattige Thäler ge-
wöhnt, ſieht der Reiſende mit Befremden dieſe baumloſen
Savannen vor ſich, dieſe unermeßlichen Ebenen, die gegen den
Horizont aufzuſteigen ſcheinen.


Ehe ich die Llanos oder die Region der Weiden ſchildere,
beſchreibe ich kürzlich unſeren Weg von Nueva Valencia durch
Villa de Cura und San Juan zum kleinen, am Eingang der
Steppen gelegenen Dorfe Ortiz. Am 6. März, vor Sonnen-
aufgang, verließen wir die Thäler von Aragua. Wir zogen
durch eine gut angebaute Ebene, längs dem ſüdweſtlichen Ge-
ſtade des Sees von Valencia, über einen Boden, von dem
ſich die Gewäſſer des Sees zurückgezogen. Die Fruchtbarkeit
des mit Kalebaſſen, Waſſermelonen und Bananen bedeckten
Landes ſetzte uns in Erſtaunen. Den Aufgang der Sonne
verkündete der ferne Lärm der Brüllaffen. Vor einer Baum-
gruppe, mitten in der Ebene zwiſchen den ehemaligen Eilanden
Don Pedro und Negra, gewahrten wir zahlreiche Banden der
ſchon oben beſchriebenen Simia ursina (Araguate), die wie
in Prozeſſion äußerſt langſam von Baum zu Baum zogen.
Hinter einem männlichen Tiere kamen viele weibliche, deren
mehrere ihre Jungen auf den Schultern trugen. Die Brüll-
affen, welche in verſchiedenen Strichen Amerikas in großen
[262] Geſellſchaften leben, ſind vielfach beſchrieben. In der Lebens-
weiſe kommen ſie alle überein, es ſind aber nicht überall die-
ſelben Arten. Wahrhaft erſtaunlich iſt die Einförmigkeit in
den Bewegungen dieſer Affen. So oft die Zweige benach-
barter Bäume nicht zuſammenreichen, hängt ſich das Männchen
an der Spitze des Trupps mit dem zum Faſſen beſtimmten
ſchwieligen Teile ſeines Schwanzes auf, läßt den Körper frei
ſchweben und ſchwingt denſelben hin und her, bis er den
nächſten Aſt packen kann. Der ganze Zug macht ſofort an
derſelben Stelle dieſelbe Bewegung. Ulloa und viele gut
unterrichtete Reiſende behaupten, die Marimondas, 1 Araguaten
und andere Affen mit Wickelſchwänzen bilden eine Art Kette,
wenn ſie von einem Flußufer zum anderen gelangen wollen;
ich brauche kaum zu bemerken, daß eine ſolche Behauptung
ſehr weit geht. Wir haben in fünf Jahren Gelegenheit ge-
habt, Tauſende dieſer Tiere zu beobachten, und eben deshalb
glaubten wir nicht an Geſchichten, die vielleicht nur von
Europäern erfunden ſind, wenn auch die Indianer in den
Miſſionen ſie nachſagen, als ob es Ueberlieferungen ihrer
Väter wären. Auch der roheſte Menſch findet einen Genuß
darin, durch Berichte von den Wundern ſeines Landes den
Fremden in Erſtaunen zu ſetzen. Er will ſelbſt geſehen haben,
was nach ſeiner Vorſtellung andere geſehen haben könnten.
Jeder Wilde iſt ein Jäger, und die Geſchichten der Jäger
werden deſto phantaſtiſcher, je höher die Tiere, von deren
Liſten ſie zu erzählen wiſſen, in geiſtiger Beziehung wirklich
ſtehen. Dies iſt die Quelle der Märchen, welche in beiden
Hemiſphären vom Fuchs und vom Affen, vom Raben und
vom Kondor der Anden im Schwange gehen.


Die Araguaten ſollen, wenn ſie von indianiſchen Jägern
verfolgt werden, zuweilen ihre Jungen im Stiche laſſen, um
ſich auf der Flucht zu erleichtern. Man will geſehen haben,
wie Affenmütter das Junge von der Schulter riſſen und es
vom Baume warfen. Ich glaube aber, man hat hier eine
rein zufällige Bewegung für eine abſichtliche genommen. Die
Indianer ſehen gewiſſe Affengeſchlechter mit Abneigung oder
mit Vorliebe an; den Viuditas, den Titi, überhaupt allen
kleinen Sagoinen ſind ſie gewogen, während die Araguaten
wegen ihres trübſeligen Aeußeren und ihres einförmigen Ge-
brülles gehaßt und dazu verleumdet werden. Wenn ich darüber
[263] nachdachte, durch welche Urſachen die Fortpflanzung des Schalles
durch die Luft zur Nachtzeit befördert werden mag, ſchien es
mir nicht unwichtig, genau zu beſtimmen, in welchem Abſtande,
namentlich bei naſſer, ſtürmiſcher Witterung, das Geheul eines
Trupps Araguaten zu vernehmen iſt. Ich glaube gefunden
zu haben, daß man es noch in 1560 m Entfernung hört.
Die Affen mit ihren vier Händen können keine Streifzüge in
die Llanos machen, und mitten auf den weiten, mit Gras
bewachſenen Ebenen unterſcheidet man leicht eine vereinzelte
Baumgruppe, die von Brüllaffen bewohnt iſt und von welcher
der Schall herkommt. Wenn man nun auf dieſe Baumgruppe
zugeht oder ſich davon entfernt, ſo mißt man das Maximum
des Abſtandes, in dem das Geheul noch vernehmbar iſt. Dieſe
Abſtände ſchienen mir einigemal bei Nacht um ein Dritteil
größer, namentlich bei bedecktem Himmel und ſehr warmem,
feuchtem Wetter.


Die Indianer verſichern, wenn die Araguaten den Wald
mit ihrem Geheule erfüllen, ſo haben ſie immer einen Vor-
ſänger. Die Bemerkung iſt nicht unrichtig. Man hört meiſtens,
lange fort, eine einzelne ſtärkere Stimme, worauf eine andere
von verſchiedenem Tonfall ſie ablöſt. Denſelben Nachahmungs-
trieb bemerken wir zuweilen auch bei uns bei den Fröſchen
und faſt bei allen Tieren, die in Geſellſchaft leben und ſich
hören laſſen. Noch mehr, die Miſſionäre verſichern, wenn bei
den Araguaten ein Weibchen im Begriffe ſei zu werfen, ſo
unterbreche der Chor ſein Geheul, bis das Junge zur Welt
gekommen ſei. Ob etwas Wahres hieran iſt, habe ich nicht
ſelbſt ausmachen können, ganz grundlos ſcheint es aber aller-
dings nicht zu ſein. Ich habe beobachtet, daß das Geheul
einige Minuten aufhört, ſo oft ein ungewöhnlicher Vorfall,
zum Beiſpiel das Aechzen eines verwundeten Araguate, die
Aufmerkſamkeit des Trupps in Anſpruch nimmt. Unſere
Führer verſicherten uns allen Ernſtes, ein bewährtes Heilmittel
gegen kurzen Atem ſei, aus der knöchernen Trommel am
Zungenbeine des Araguate zu trinken. „Da dieſes Tier eine
ſo außerordentlich ſtarke Stimme hat, ſo muß dem Waſſer,
das man in ſeinen Kehlkopf gießt, notwendig die Kraft zu-
kommen, Krankheiten der Lungen zu heilen.“ Dies iſt Volks-
phyſik, die nicht ſelten an die der Alten erinnert.


Wir übernachteten im Dorfe Guigue, deſſen Breite ich
durch Beobachtungen des Canopus gleich 10° 4′ 11″ fand.
Dieſes Dorf auf trefflich angebautem Boden liegt nur 1950 m
[264] vom See Tacarigua. Wir wohnten bei einem alten Sergeanten,
aus Murcia gebürtig, einem höchſt originellen Manne. Um
uns zu beweiſen, daß er bei den Jeſuiten erzogen worden,
ſagte er uns die Geſchichte von der Erſchaffung der Welt
lateiniſch her. Er nannte die Namen Auguſt, Tiber und
Diokletian. Bei der angenehmen Nachtkühle in einem Ba-
nanengehege beſchäftigte er ſich lebhaft mit allem, was am
Hofe der römiſchen Kaiſer vorgefallen war. Er bat uns
dringend um Mittel gegen die Gicht, die ihn grauſam plagte.
„Ich weiß wohl,“ ſagte er, „daß ein Zambo aus Valencia,
ein gewaltiger ‚Curioſo‘, mich heilen kann; aber der Zambo
macht auf eine Behandlung Anſpruch, die einem Menſchen
von ſeiner Farbe nicht gebührt, und ſo bleibe ich lieber, wie
ich bin.“


Von Guigue an führt der Weg aufwärts zur Bergkette,
welche im Süden des Sees gegen Guacimo und La Palma
hinſtreicht. Von einem Plateau herab, das 624 m hoch liegt,
ſahen wir zum letztenmal die Thäler von Aragua. Der Gneis
kam zu Tage; er zeigte dieſelbe Streichung der Schichten,
denſelben Fall nach Nordweſt. Quarzadern im Gneis ſind
goldhaltig; eine benachbarte Schlucht heißt daher Quebrada
del Oro. Seltſamerweiſe begegnet man auf jedem Schritte dem
vornehmen Namen „Goldſchlucht“ in einem Lande, wo ein
einziges Kupferbergwerk im Betriebe iſt. Wir legten 22,5 km
bis zum Dorfe Maria Magdalena zurück, und weitere 9 zur
Villa de Cura. Es war Sonntag. Im Dorfe Maria Mag-
dalena waren die Einwohner vor der Kirche verſammelt. Man
wollte unſere Maultiertreiber zwingen, anzuhalten und die
Meſſe zu hören. Wir ergaben uns darein; aber nach langem
Wortwechſel ſetzten die Maultiertreiber ihren Weg fort. Ich
bemerke hier, daß dies das einzige Mal war, wo wir einen
Streit ſolcher Art bekamen. Man macht ſich in Europa ganz
falſche Begriffe von der Unduldſamkeit und ſelbſt vom Glaubens-
eifer der ſpaniſchen Koloniſten.


San Luis de Cura, oder, wie es gemeiniglich heißt, Villa
de Cura, liegt in einem ſehr dürren Thale, das von Nordweſt
nach Südoſt ſtreicht und nach meinen barometriſchen Beob-
achtungen eine Meereshöhe von 518 m hat. Außer einigen
Fruchtbäumen hat das Land faſt gar keinen Pflanzenwuchs.
Das Plateau iſt deſto dürrer, da mehrere Gewäſſer — ein
ziemlich ſeltener Fall im Urgebirge — ſich auf Spalten im
Boden verlieren. Der Rio de las Minas, nordwärts von
[265] Villa de Cura, verſchwindet im Geſtein, kommt wieder zu Tage
und wird noch einmal unterirdiſch, ohne den See von Valencia
zu erreichen, auf den er zuläuft. Cura gleicht viel mehr einem
Dorfe als einer Stadt. Die Bevölkerung beträgt nicht mehr
als 4000 Seelen, aber wir fanden daſelbſt mehrere Leute von
bedeutender geiſtiger Bildung. Wir wohnten bei einer Familie,
welche nach der Revolution von Caracas im Jahre 1797 von
der Regierung verfolgt worden war. Einer der Söhne war
nach langer Gefangenſchaft nach der Havana gebracht worden,
wo er in einem feſten Schloſſe ſaß. Wie freute ſich die
Mutter, als ſie hörte, daß wir auf dem Rückwege vom Ori-
noko nach der Havana kommen würden! Sie übergab mir
fünf Piaſter, „all ihr Erſpartes“. Gerne hätte ich ſie ihr
zurückgegeben, aber wie hätte ich mich nicht ſcheuen ſollen, ihr
Zartgefühl zu verletzen, einer Mutter wehe zu thun, die in
den Entbehrungen, die ſie ſich auferlegt, ſich glücklich fühlt!
Die ganze Geſellſchaft der Stadt fand ſich abends zuſammen,
um in einem Guckkaſten die Anſichten der großen europäiſchen
Städte zu bewundern. Wir bekamen die Tuilerien zu ſehen
und das Standbild des großen Kurfürſten in Berlin. Es iſt
ein eigenes Gefühl, ſeine Vaterſtadt, 9000 km von ihr ent-
fernt, in einem Guckkaſten zu erblicken.


Ein Apotheker, der durch den unſeligen Hang zu berg-
männiſchen Unternehmungen heruntergekommen war, begleitete
uns zum Serro de Chacao, der an goldhaltigen Kieſen ſehr
reich iſt. Der Weg läuft immer am ſüdlichen Abhange der
Küſtenkordillere hinab, in welcher die Ebenen von Aragua ein
Längenthal bilden. Die Nacht des 11. brachten wir zum
Teil im Dorfe San Juan zu, bekannt wegen ſeiner warmen
Quellen und der ſonderbaren Geſtalt zweier benachbarten
Berge, der ſogenannten Morros de San Juan. Dieſe
Kuppen bilden ſteile Gipfel, die ſich auf einer Felsmauer von
ſehr breiter Baſis erheben. Die Mauer fällt ſteil ab und
gleicht der Teufelsmauer, die um einen Strich des Harz-
gebirges herläuft. Dieſe Kuppen ſieht man ſehr weit in den
Llanos, ſie machen ſtarken Eindruck auf die Einbildungskraft
der Bewohner der Ebenen, die an gar keine Unebenheit des
Bodens gewöhnt ſind, und ſo kommt es, daß ihre Höhe im
Lande gewaltig überſchätzt wird. Sie ſollten, wie man uns
geſagt, mitten in den Steppen liegen, während ſie ſich am
nördlichen Saume derſelben befinden, weit jenſeits einer Hügel-
kette, die La Galera heißt. Nach Winkeln, die im Abſtande
[266] von 3,9 km genommen wurden, erheben ſich die Kuppen nicht
mehr als 304 m über dem Dorfe San Juan und 682 m über
dem Meere. Die warmen Quellen entſpringen am Fuße der
Kuppen, die aus Uebergangskalkſtein beſtehen; ſie ſind mit
Schwefelwaſſerſtoff geſchwängert, wie die Waſſer von Mariara,
und bilden einen kleinen Teich oder eine Lagune, in der ich
den Thermometer nur auf 31,3° ſteigen ſah.


In der Nacht vom 9. zum 10. März fand ich durch
ſehr befriedigende Sternbeobachtungen die Breite von Villa
de Cura 10° 2′ 47″. Die ſpaniſchen Offiziere, welche im
Jahre 1755 bei der Grenzexpedition mit aſtronomiſchen In-
ſtrumenten an den Orinoko gekommen ſind, können zu Cura
nicht beobachtet haben, denn die Karte von Caulin und die
von Cruz Olmedilla ſetzen dieſe Stadt einen Viertelsgrad zu
weit ſüdwärts.


Villa de Cura iſt im Lande berühmt wegen eines wunder-
thätigen Marienbildes, das Nueſtra Señora de los Valencianos
genannt wird. Dieſes Bild, das um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts von einem Indianer in einer Schlucht gefunden
wurde, gab Anlaß zu einem Rechtshandel zwiſchen den Städten
Cura und San Sebaſtiano de los Reyes. Die Geiſtlichen
der letzteren Stadt behaupteten, die heil. Jungfrau ſei zuerſt
in ihrem Sprengel erſchienen. Der Biſchof von Caracas, dem
langen ärgerlichen Streite ein Ende zu machen, ließ das Bild
in das biſchöfliche Archiv ſchaffen und behielt es daſelbſt dreißig
Jahre unter Siegel; es wurde den Einwohnern von Cura erſt
im Jahre 1802 zurückgegeben. Depons gibt umſtändliche Nach-
richt von dieſem ſeltſamen Handel.


Nachdem wir im kleinen Fluſſe San Juan auf einem Bette
von baſaltiſchem Grünſtein, in friſchem, klarem Waſſer ge-
badet, ſetzten wir um 2 Uhr in der Nacht unſeren Weg über
Ortiz und Parapara nach Meſa de Paja fort. Die Llanos
waren damals durch Raubgeſindel unſicher, weshalb ſich mehrere
Reiſende an uns anſchloſſen, ſo daß wir eine Art Karawane
bildeten. Sechs bis ſieben Stunden lang ging es fortwährend
abwärts; wir kamen am Cerro de Flores vorbei, wo die
Straße zum großen Dorfe San Joſé de Tisnao abgeht. An
den Höfen Luque und Juncalito vorüber gelangt man in die
Gründe, die wegen des ſchlechten Weges und der blauen Farbe
der Schiefer Malpaſo und Piedras Azules heißen. Wir
ſtanden hier auf dem alten Geſtade des großen Beckens der
Steppen, auf einem geologiſch intereſſanten Boden.


[267]

Der ſüdliche Abhang der Küſtenkordillere iſt ziemlich ſteil
da die Steppen nach meinen barometriſchen Meſſungen 324 m
tiefer liegen als der Boden des Beckens von Aragua. Vom
weiten Plateau von Villa de Cura kamen wir herab an das
Ufer des Rio Tucutunemo, der ſich ins Serpentingeſtein ein
von Oſt nach Weſt ſtreichendes Längenthal gegraben hat, un-
gefähr im Niveau von La Victoria. Von da führte uns ein
Querthal über die Dörfer Parapara und Ortiz in die Llanos.
Dieſes Thal ſtreicht im ganzen von Nord nach Süd und ver-
engt ſich an mehreren Stellen. Becken mit völlig wage-
rechtem Boden ſtehen durch ſchmale, abſchüſſige Schluchten mit-
einander in Verbindung. Es waren dies einſt ohne Zweifel
kleine Seen, und durch Aufſtauung der Gewäſſer oder durch
eine noch gewaltſamere Kataſtrophe ſind die Dämme zwiſchen
den Waſſerbecken durchbrochen worden. Dieſe Erſcheinung
kommt gleichzeitig in beiden Kontinenten vor, überall, wo
Längenthäler Päſſe über die Anden, die Alpen, die Pyrenäen
bilden. 1 Wahrſcheinlich rührt die ruinenhafte Geſtalt der
Kuppen von San Juan und San Sebaſtiano von den ge-
waltigen Schwemmungen her, die beim Ausbruch der Ge-
wäſſer gegen die Llanos erfolgten.


Bei der Meſa de Paja, unter dem 9. Grade der
Breite, betraten wir das Becken der Llanos. Die Sonne
ſtand beinahe im Zenith; der Boden zeigte überall, wo er von
Vegetation entblößt war, eine Temperatur von 48 bis 50°.
In der Höhe, in der wir uns auf unſeren Maultieren be-
fanden, war kein Lufthauch zu ſpüren; aber in dieſer ſchein-
baren Ruhe erhoben ſich fortwährend kleine Staubwirbel in-
folge der Luftſtrömungen, die dicht am Boden durch die
Temperaturunterſchiede zwiſchen dem nackten Sande und den
mit Gras bewachſenen Flecken hervorgebracht werden. Dieſe
„Sandwinde“ ſteigern die erſtickende Hitze der Luft. Jedes
Quarzkorn, weil es wärmer iſt als die umgebende Luft, ſtrahlt
ringsum Wärme aus, und es hält ſchwer, die Lufttemperatur
zu beobachten, ohne daß Sandteilchen gegen die Kugel des
Thermometers getrieben werden. Die Ebenen ringsum ſchienen
zum Himmel anzuſteigen, und die weite unermeßliche Einöde
ſtellte ſich unſeren Blicken als eine mit Tang und Meeralgen
[268] bedeckte See dar. Da die Dunſtmaſſen in der Luft ungleich
verteilt waren, und die Temperaturabnahme in den überein-
andergelagerten Luftſchichten keine gleichförmige iſt, ſo zeigte
ſich der Horizont in gewiſſen Richtungen hell und ſcharf be-
grenzt, in anderen wellenförmig auf und ab gebogen und wie
geſtreift. Erde und Himmel ſchmolzen dort ineinander. Durch
den trockenen Nebel und die Dunſtſchichten gewahrte man in
der Ferne Stämme von Palmbäumen. Ihrer grünenden
Wipfel beraubt, erſchienen dieſe Stämme wie Schiffsmaſten,
die am Horizont auftauchten.


Der einförmige Anblick dieſer Steppen hat etwas Groß-
artiges, aber auch etwas Trauriges und Niederſchlagendes.
Es iſt als ob die ganze Natur erſtarrt wäre; kaum daß hin
und wieder der Schatten einer kleinen Wolke, die durch den
Zenith eilend die nahende Regenzeit verkündet, auf die Sa-
vanne fällt. Der erſte Anblick der Llanos überraſcht vielleicht
nicht weniger als der der Andeskette. Alle Gebirgsländer,
welches auch die abſolute Höhe ihrer höchſten Gipfel ſein
mag, haben eine gemeinſame Phyſiognomie; aber nur ſchwer
gewöhnt man ſich an den Anblick der Llanos von Venezuela
und Caſanare, der Pampas von Buenos Ayres und Chaco,
die beſtändig, 20, 30 Tagereiſen lang, ein Bild der Meeres-
fläche bieten. Ich kannte die Ebenen oder Llanos der ſpani-
ſchen Mancha und die Heiden (ericeta), die ſich von den
Grenzen Jütlands durch Lüneburg und Weſtfalen bis nach
Belgien hinein erſtrecken. Letztere ſind wahre Steppen, von
denen der Menſch ſeit Jahrhunderten nur kleine Strecken
kulturfähig zu machen imſtande war; aber die Ebenen im
Weſten und Norden von Europa geben nur ein ſchwaches
Bild von den unermeßlichen Llanos in Südamerika. Im
Südoſten unſeres Kontinentes, in Ungarn zwiſchen der
Donau und der Theiß, in Rußland zwiſchen dem Dnjepr,
dem Don und der Wolga treten die ausgedehnten Weide-
länder auf, die durch langen Aufenthalt der Waſſer geebnet
ſcheinen und ringsum den Horizont begrenzen. Wo ich die
ungariſchen Ebenen bereiſt habe, an den Grenzen Deutſchlands
zwiſchen Preßburg und Oedenburg, beſchäftigen ſie die Ein-
bildungskraft des Reiſenden durch das fortwährende Spiel
der Luftſpiegelung; aber ihre weiteſte Erſtreckung iſt oſtwärts
zwiſchen Czegled, Debreczin und Tittel. Es iſt ein grünes
Meer mit zwei Ausgängen, dem einen bei Gran und Waitzen,
dem anderen zwiſchen Belgrad und Widdin.


[269]

Man glaubte die verſchiedenen Weltteile zu charakteri-
ſieren, indem man ſagte, Europa habe Heiden, Aſien Steppen,
Afrika Wüſten, Amerika Savannen; aber man ſtellt damit
Gegenſätze auf, die weder in der Natur der Sache, noch im
Geiſte der Sprachen gegründet ſind. Die aſiatiſchen Steppen
ſind keineswegs überall mit Salzpflanzen bedeckt; in den Sa-
vannen von Venezuela kommen neben den Gräſern kleine kraut-
artige Mimoſen, Schotengewächſe und andere Dikotyledonen
vor. Die Ebenen der Dſungarei, die zwiſchen Don und Wolga,
die ungariſchen Pußten ſind wahre Savannen, Weideländer
mit reichem Graswuchs, während auf den Savannen oſt- und
weſtwärts von den Rocky Mountains und von Neumexiko
Chenopodien mit einem Gehalt von kohlenſaurem und ſalz-
ſaurem Natron vorkommen. Aſien hat echte pflanzenloſe Wüſten,
in Arabien, in der Gobi, in Perſien. Seit man die Wüſten
im Inneren Afrikas, was man ſo lange unter dem allge-
meinen Namen Sahara begriffen, näher kennen gelernt hat,
weiß man, daß es im Oſten dieſes Kontinents, wie in Ara-
bien, Savannen und Weideländer gibt, die von nackten, dürren
Landſtrichen umgeben ſind. Letztere, mit loſem Geſtein bedeckte,
ganz pflanzenloſe Wüſten, fehlen nun aber der Neuen Welt
faſt ganz. Ich habe dergleichen nur im niederen Striche von
Peru, zwiſchen Amotape und Coquimbo, am Geſtade der Süd-
ſee geſehen. Die Spanier nennen ſie nicht Llanos, ſondern
Deſiertos von Sechura und Atacamez. Dieſe Einöde iſt nicht
breit, aber 1980 km lang. Die Gebirgsart kommt überall
durch den Flugſand zu Tage. Es fällt niemals ein Tropfen
Regen, und wie in der Sahara nördlich von Timbuktu findet
ſich in der peruaniſchen Wüſte bei Huaura eine reiche Stein-
ſalzgrube. Ueberall ſonſt in der Neuen Welt gibt es öde,
weil unbewohnte Flächen, aber keine eigentlichen Wüſten.


Dieſelben Erſcheinungen wiederholen ſich in den ent-
legenſten Landſtrichen, und ſtatt dieſe weiten baumloſen Ebenen
nach den Pflanzen zu unterſcheiden, die auf ihnen vorkommen,
unterſcheidet man wohl am einfachſten zwiſchen Wüſten und
Steppen oder Savannen, zwiſchen nackten Landſtrichen
ohne Spur von Pflanzenwuchs und Landſtrichen, die mit
Gräſern oder kleinen Gewächſen aus der Klaſſe der Dikotyle-
donen bedeckt ſind. In manchen Werken heißen die ameri-
kaniſchen Savannen, namentlich die der gemäßigten Zone,
Wieſen (Prärien); aber dieſe Bezeichnung paßt, wie mir
dünkt, ſchlecht auf Weiden, die oft ſehr dürr, wenn auch mit
[270] 1,3 bis 1,6 m hohen Kräutern bedeckt ſind. Die amerikani-
ſchen Llanos oder Pampas ſind wahre Steppen. Sie ſind
in der Regenzeit ſchön begrünt, aber in der trockenſten Jahres-
zeit bekommen ſie das Anſehen von Wüſten. Das Kraut zer-
fällt zu Staub, der Boden berſtet, das Krokodil und die
großen Schlangen liegen begraben im ausgedörrten Schlamm,
bis die erſten Regengüſſe im Frühjahr ſie aus der langen
Erſtarrung wecken. Dieſe Erſcheinungen kommen auf dürren
Landſtrichen von 1000 bis 1200 qkm überall vor, wo keine
Gewäſſer durch die Savanne ſtrömen; denn am Ufer der Bäche
und der kleinen Stücke ſtehenden Waſſers ſtößt der Reiſende
von Zeit zu Zeit ſelbſt in der dürrſten Jahreszeit auf Ge-
büſche der Mauritia, einer Palmenart, deren fächerförmige
Blätter beſtändig glänzend grün ſind.


Die aſiatiſchen Steppen liegen alle außerhalb der Wende-
kreiſe und bilden ſehr hohe Plateaus. Auch Amerika hat auf
dem Rücken der Gebirge von Mexiko, Peru und Quito Sa-
vannen von bedeutender Ausdehnung, aber ſeine ausgedehn-
teſten Steppen, die Llanos von Cumana, Caracas und Meta,
erheben ſich nur ſehr wenig über dem Meeresſpiegel und fallen
alle in die Aequinoktialzone. Dieſe Umſtände erteilen ihnen
einen eigentümlichen Charakter. Die Seen ohne Abfluß, die
kleinen Flußſyſteme, die ſich im Sande verlieren oder durch
die Gebirgsart durchſeigen, wie ſie den Steppen im öſt-
lichen Aſien und den perſiſchen Wüſten eigen ſind, kommen
hier nicht vor. Die amerikaniſchen Llanos fallen gegen
Oſt und Süd und ihre ſtrömenden Gewäſſer laufen in den
Orinoko.


Nach dem Laufe dieſer Flüſſe hatte ich früher geglaubt,
daß die Ebenen Plateaus bilden müßten, die mindeſtens 195
bis 290 m über dem Meere gelegen wären. Ich dachte mir,
auch die Wüſten im inneren Afrika müßten beträchtlich hoch
liegen und ſtufenweiſe von den Küſten bis ins Innere des
großen Kontinents übereinander aufſteigen. Bis jetzt iſt noch
kein Barometer in die Sahara gekommen. Was aber die
amerikaniſchen Llanos betrifft, ſo zeigen die Barometerhöhen,
die ich zu Calabozo, zu Villa del Pao und an der Mündung
des Meta beobachtet, daß ſie nicht mehr als 78 bis 97 m
über dem Meeresſpiegel liegen. Die Flüſſe haben einen ſehr
ſchwachen, oft kaum merklichen Fall. So kommt es, daß beim
geringſten Winde, und wenn der Orinoko anſchwillt, die Flüſſe,
die in ihn fallen, rückwärts gedrängt werden. Im Rio Arauca
[271] bemerkt man häufig die Strömung nach oben. Die In-
dianer glauben einen ganzen Tag lang abwärts zu ſchiffen,
während ſie von der Mündung gegen die Quellen fahren.
Zwiſchen den abwärtsſtrömenden und den aufwärtsſtrömenden
Gewäſſern bleibt eine bedeutende Waſſermaſſe ſtillſtehen, in
der ſich durch Gleichgewichtsſtörung Wirbel bilden, die den
Fahrzeugen gefährlich werden.


Der eigentümlichſte Zug der Savannen oder Steppen
Südamerikas iſt die völlige Abweſenheit aller Erhöhungen,
die vollkommen wagerechte Lage des ganzen Bodens. Die
ſpaniſchen Eroberer, die zuerſt von Coro her an die Ufer des
Apure vordrangen, haben ſie daher auch weder Wüſten, noch
Savannen, noch Prärien genannt, ſondern Ebenen, los Llanos.
Auf 600 qkm zeigt der Boden oft keine fußhohe Unebenheit.
Dieſe Aehnlichkeit mit der Meeresfläche drängt ſich der Ein-
bildungskraft beſonders da auf, wo die Ebenen gar keine
Palmen tragen, und wo man von den Bergen an der Küſte
und vom Orinoko ſo weit weg iſt, daß man dieſelben nicht
ſieht, wie in der Meſa de Pavones. Dort könnte man ſich
verſucht fühlen, mit einem Reflexionsinſtrument Sonnenhöhen
aufzunehmen, wenn nicht der Landhorizont infolge des
wechſelnden Spieles der Refraktionen, beſtändig in Nebel ge-
hüllt wäre. Dieſe Ebenheit des Bodens iſt noch vollſtändiger
unter dem Meridian von Calabozo als gegen Oſt zwiſchen
Cari, Villa del Pao und Nueva Barcelona; aber ſie herrſcht
ohne Unterbrechung von den Mündungen des Orinoko bis zur
Villa de Araure und Oſpinos, auf einer Parallele von
810 km, und von San Carlos bis zu den Savannen am
Caqueta auf einem Meridian von 900 km. Sie vor allem
iſt charakteriſtiſch für den neuen Kontinent, ſowie für die aſia-
tiſchen Steppen zwiſchen dem Dnjepr und der Wolga, zwi-
ſchen dem Irtyſch und dem Ob. Dagegen zeigen die Wüſten
im inneren Afrika, in Arabien, Syrien und Perſien, die Gobi
und die Gasna viele Bodenunebenheiten, Hügelreihen, waſſer-
loſe Schluchten und feſtes Geſtein, das aus dem Sande her-
vorragt.


Trotz der ſcheinbaren Gleichförmigkeit ihrer Fläche finden
ſich indeſſen in den Llanos zweierlei Unebenheiten, die dem
aufmerkſamen Beobachter nicht entgehen. Die erſte Art nennt
man Bancos; es ſind wahre Bänke, Untiefen im Steppen-
becken, zerbrochene Schichten von feſtem Sandſtein oder Kalk-
ſtein, die 1,3 bis 1,6 m höher liegen als die übrige Ebene.
[272] Dieſe Bänke ſind zuweilen 13 bis 18 km lang; ſie ſind voll-
kommen eben und wagerecht und man bemerkt ihr Vorhanden-
ſein überhaupt nur dann, wenn man ihre Ränder vor ſich
hat. Die zweite Unebenheit läßt ſich nur durch geodätiſche
oder barometriſche Meſſungen oder am Laufe der Flüſſe er-
kennen; ſie heißt Meſa. Es ſind dies kleine Plateaus, oder
vielmehr konvexe Erhöhungen, die unmerklich zu einigen Metern
Höhe anſteigen. Dergleichen ſind oſtwärts in der Provinz
Cumana, im Norden von Villa de la Merced und Candelaria,
die Meſas Amana, Guanipa und Jonoro, die von
Südweſt nach Nordoſt ſtreichen und trotz ihrer unbedeutenden
Höhe die Waſſer zwiſchen dem Orinoko und der Nordküſte
von Terra Firma ſcheiden. Nur die ſanfte Wölbung der
Savanne bildet die Waſſerſcheide; hier ſind die Divortia
aquarum,
1 wie in Polen, wo fern von den Karpathen die
Waſſerſcheide zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen
Meere in der Ebene ſelbſt liegt. Die Geographen ſetzen da,
wo eine Waſſerſcheide iſt, immer Bergzüge voraus, und ſo ſieht
man denn auch auf den Karten dergleichen um die Quellen
des Rio Neveri, des Unare, des Guarapiche und des Pao
eingezeichnet. Dies erinnert an die mongoliſchen Prieſter, die
nach einem alten abergläubiſchen Brauche an allen Stellen,
wo die Waſſer nach entgegengeſetzten Seiten fließen, Obos
oder kleine Steinhaufen errichten.


Das ewige Einerlei der Llanos, die große Seltenheit
von bewohnten Plätzen, die Beſchwerden der Reiſe unter einem
glühenden Himmel und bei ſtauberfüllter Luft, die Ausſicht
auf den Horizont, der beſtändig vor einem zurückzuweichen
ſcheint, die vereinzelten Palmſtämme, deren einer ausſieht wie
der andere, und die man gar nicht erreichen zu können meint,
weil man ſie mit anderen Stämmen verwechſelt, die nacheinander
am Geſichtskreiſe auftauchen — all dies zuſammen macht, daß
einem die Steppen noch weit größer vorkommen, als ſie wirklich
ſind. Die Pflanzer am Südabhange des Küſtengebirges ſehen
die Steppen grenzenlos, gleich einem grünen Ozean gegen
Süd ſich ausdehnen. Sie wiſſen, daß man vom Delta des
Orinoko bis in die Provinz Varinas und von dort über die
Flüſſe Meta, Guaviare und Caguan, anfangs von Oſt nach
Weſt, ſodann von Nordoſt nach Nordweſt, 1700 km weit in
[273] den Steppen fortziehen kann, bis über den Aequator hinaus
an den Fuß der Anden von Paſto. Sie kennen nach den
Berichten der Reiſenden die Pampas von Buenos Ayres, die
gleichfalls mit feinem Gras bewachſene, baumloſe Llanos ſind
und von verwilderten Rindern und Pferden wimmeln. Sie
ſind, nach Anleitung unſerer meiſten Karten von Amerika,
der Meinung, der Kontinent habe nur eine Bergkette, die
der Anden, die von Süd nach Nord läuft, und nach einem
unbeſtimmten ſyſtematiſchen Begriffe laſſen ſie alle Ebenen
vom Orinoko und vom Apure an bis zum Rio de la Plata
und der Magelhaensſchen Meerenge untereinander zuſammen-
hängen.


Ich entwerfe im folgenden ein möglichſt klares und ge-
drängtes Bild vom allgemeinen Bau eines Feſtlandes, deſſen
Endpunkte, unter ſo verſchiedenen Klimaten ſie auch liegen,
in mehreren Zügen miteinander übereinkommen. Um den
Umriß und die Grenzen der Ebenen richtig aufzufaſſen, muß
man die Bergketten kennen, welche den Uferrand derſelben
bilden. Von der Küſtenkordillere, deren höchſter Gipfel die
Silla bei Caracas iſt, und die durch den Paramo de las Roſas
mit dem Nevado von Merida und den Anden von Neugranada
zuſammenhängt, haben wir bereits geſprochen. Eine zweite
Bergkette, oder vielmehr ein minder hoher, aber weit breiterer
Bergſtock läuft zwiſchen dem 3. und 7. Parallelkreiſe von den
Mündungen des Guaviare und Meta zu den Quellen des
Orinoko, Marony und Eſſequibo, gegen das holländiſche und
franzöſiſche Guyana zu. Ich nenne dieſe Kette die Kor-
dillere der Parime
oder der großen Fälle des Orinoko;
man kann ſie 1125 km weit verfolgen, es iſt aber nicht ſowohl
eine Kette, als ein Haufen granitiſcher Berge, zwiſchen denen
kleine Ebenen liegen und die nicht überall Reihen bilden. Der
Bergſtock der Parime verſchmälert ſich bedeutend zwiſchen den
Quellen des Orinoko und den Bergen von Demerara zu den
Sierren von Quimiropaca und Pacaraimo, welche die Waſſer-
ſcheide bilden zwiſchen dem Carony und dem Rio Parime oder
Rio de Aguas blancas. Dies iſt der Schauplatz der Unter-
nehmungen, um den Dorado aufzuſuchen und die große Stadt
Manoa, das Timbuktu der Neuen Welt. Die Kordillere der
Parime hängt mit den Anden von Neugranada nicht zuſammen;
ſie ſind durch einen 360 km breiten Zwiſchenraum getrennt.
Dächte man ſich, dieſelbe ſie hier durch eine große Erdum-
wälzung zerſtört worden, was übrigens gar nicht wahrſcheinlich
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 18
[274] iſt, ſo müßte man annehmen, ſie ſei einſt von den Anden
zwiſchen Santa Fé de Bogota und Pamplona abgegangen.
Dieſe Bemerkung mag dazu dienen, die geographiſche Lage
dieſer Kordillere, die bis jetzt ſehr wenig bekannt geworden,
dem Leſer beſſer einzuprägen. — Eine dritte Bergkette ver-
bindet unter dem 16. und 18. Grad ſüdlicher Breite (über Santa
Cruz de la Sierra, die Serranias von Aguapehy und die
vielberufenen Campos dos Parecis) die peruaniſchen Anden
mit den Gebirgen Braſiliens. Dies iſt die Kordillere von
Chiquitos
, die in der Capitania von Minas Geraes breiter
wird und die Waſſerſcheide zwiſchen dem Amazonenſtrome und
dem La Plata bildet, nicht nur im inneren Lande, im Meridian
von Villa Boa, ſondern bis wenige Meilen von der Küſte,
zwiſchen Rio de Janeiro und Bahia.


Dieſe drei Querketten oder vielmehr dieſe drei Berg-
ſtöcke
, welche innerhalb der Grenzen der heißen Zone von
Weſt nach Oſt ſtreichen, ſind durch völlig ebene Landſtriche
getrennt, die Ebenen von Caracas oder am unteren Ori-
noko, die Ebenen des Amazonenſtromes und des Rio
Negro, die Ebenen von Buenos Ayres oder des La Plata.
Ich brauche nicht den Ausdruck Thäler, weil der untere
Orinoko und der Amazonenſtrom keineswegs in einem Thale
fließen, ſondern nur in einer weiten Ebene eine kleine Rinne
bilden. Die beiden Becken an den beiden Enden Südamerikas
ſind Savannen oder Steppen, baumloſe Weiden; das mittlere
Becken, in welches das ganze Jahr die tropiſchen Regen
fallen, iſt faſt durchgängig ein ungeheurer Wald, in dem es
keinen anderen Pfad gibt als die Flüſſe. Wegen des kräftigen
Pflanzenwuchſes, der den Boden überzieht, fällt hier die Eben-
heit desſelben weniger auf, und nur die Becken von Caracas
und La Plata nennt man Ebenen. In der Sprache der
Koloniſten heißen die drei eben beſchriebenen Becken: die
Llanos von Varinas und Caracas, die Bosques oder
Selvas (Wälder) des Amazonenſtromes, und die Pampas
von Buenos Ayres. Der Wald bedeckt nicht nur größtenteils
die Ebenen des Amazonenſtromes von der Kordillere
von Chiquitos bis zu der der Parime, er überzieht auch dieſe
beiden Bergketten, welche ſelten die Höhe der Pyrenäen
erreichen. Deshalb ſind die weiten Ebenen des Amazonen-
ſtromes, des Madeira und Rio Negro nicht ſo ſcharf begrenzt
wie die Llanos von Caracas und die Pampas von Buenos
Ayres. Da die Waldregion Ebenen und Gebirge zugleich
[275] begreift, ſo erſtreckt ſie ſich vom 18. Grad ſüdlicher bis zum
7. und 8. Grad nördlicher Breite und umfaßt gegen 2430000 qkm.
Dieſer Wald des ſüdlichen Amerika, denn im Grunde iſt es
nur einer, iſt ſechsmal größer als Frankreich; die Europäer
kennen ihn nur an den Ufern einiger Flüſſe, die ihn durch-
ſtrömen, und er hat Lichtungen, deren Umfang mit dem des
Forſtes im Verhältnis ſteht. Wir werden bald an ſumpfigen
Savannen zwiſchen dem oberen Orinoko, dem Conorichite
und Caſſiquiare, unter dem 3. und 4. Grad der Breite, vor-
überkommen. Unter demſelben Parallelkreiſe liegen andere
Lichtungen oder Savanas limpias 1 zwiſchen den Quellen
des Mao und des Rio de Aguas blancas, ſüdlich von der
Sierra Pacaraima. Dieſe letzteren Savannen ſind von Ka-
riben und nomadiſchen Macuſi bewohnt; ſie ziehen ſich
bis nahe an die Grenzen des holländiſchen und franzöſiſchen
Guyana fort.


Wir haben die geologiſchen Verhältniſſe von Südamerika
geſchildert; heben wir jetzt die Hauptzüge heraus. Den Weſt-
küſten entlang läuft eine ungeheure Gebirgsmauer, reich an
edlen Metallen überall, wo das vulkaniſche Feuer ſich nicht
durch den ewigen Schnee Bahn gebrochen: dies iſt die Kor-
dillere der Anden
. Gipfel von Trappporphyr ſteigen hier
zu mehr als 6430 m Höhe auf, und die mittlere Höhe der
Kette beträgt 3595 m. Sie ſtreicht in der Richtung eines
Meridians fort und ſchickt in jeder Halbkugel, unter dem
10. Grad nördlicher und unter dem 16. und 18. Grad ſüd-
licher Breite einen Seitenzweig ab. Der erſtere dieſer Zweige,
die Küſtenkordillere von Caracas, iſt minder breit und bildet
eine eigentliche Kette. Der zweite, die Kordillere von Chi-
quitos und an den Quellen des Guapore, iſt ſehr reich an
Gold und breitet ſich oſtwärts, in Braſilien, zu weiten Plateaus
mit gemäßigtem Klima aus. Zwiſchen dieſen beiden mit den
Anden zuſammenhängenden Querketten liegt vom 3. zum 7. Grad
nördlicher Breite eine abgeſonderte Gruppe granitiſcher Berge,
die gleichfalls parallel mit dem Aequator, jedoch nicht über
den 71. Grad der Länge fortſtreicht, dort gegen Weſten raſch
abbricht und mit den Anden von Neugranada nicht zuſammen-
hängt. Dieſe drei Querketten haben keine thätigen Vulkane;
wir wiſſen aber nicht, ob auch die ſüdlichſte, gleich den beiden
[276] anderen, keinen Trachyt oder Trappporphyr hat. Keiner ihrer
Gipfel erreicht die Grenze des ewigen Schnees, und die mittlere
Höhe der Kordillere der Parime und der Küſtenkordillere von
Caracas beträgt nicht ganz 1170 m, wobei übrigens manche
Gipfel ſich doch 2730 m über das Meer erheben. Zwiſchen
den drei Querketten liegen Ebenen, die ſämtlich gegen Weſt
geſchloſſen, gegen Oſt und Südoſt offen ſind. Bedenkt man
ihre ſo unbedeutende Höhe über dem Meere, ſo fühlt man
ſich verſucht, ſie als Golfe zu betrachten, die in der Richtung
des Rotationsſtromes fortſtreichen. Wenn infolge einer un-
gewöhnlichen Anziehung die Gewäſſer des Atlantiſchen Meeres
an der Mündung des Orinoko um 100 m, an der Mündung
des Amazonenſtromes um 390 m ſtiegen, ſo würde die Flut
mehr als die Hälfte von Südamerika bedecken. Der Oſtabhang
oder der Fuß der Anden, der jetzt 2700 km von den Küſten
Braſiliens abliegt, wäre ein von der See beſpültes Ufer.
Dieſe Betrachtung gründet ſich auf eine barometriſche Meſſung
in der Provinz Jaen de Bracamoros, wo der Amazonenſtrom
aus den Kordilleren herauskommt. Ich habe gefunden, daß
dort der ungeheure Strom bei mittlerem Waſſerſtande nur
378 m über dem gegenwärtigen Spiegel des Atlantiſchen
Meeres liegt. Und dieſe in der Mitte gelegenen waldbedeckten
Ebenen liegen noch fünfmal höher als die grasbewachſenen
Pampas von Buenos Ayres und die Llanos von Caracas
und am Meta.


Dieſe Llanos, welche das Becken des unteren Orinoko
bilden und die wir zweimal im ſelben Jahre, in den Monaten
März und Juli, durchzogen haben, hängen zuſammen mit
dem Becken des Amazonenſtromes und des Rio Negro, das
einerſeits durch die Kordillere von Chiquitos, andererſeits
durch die Gebirge der Parime begrenzt iſt. Dieſer Zuſammen-
hang vermittelt ſich durch die Lücke zwiſchen den letzteren und
den Anden von Neugranada. Der Boden in ſeinem Anblick
erinnert hier, nur daß der Maßſtab ein weit größerer iſt,
an die lombardiſchen Ebenen, die ſich auch nur 100 bis 120 m
über das Meer erheben und einmal von der Brenta nach
Turin von Oſt nach Weſt, dann von Turin nach Coni von
Nord nach Süd ſtreichen. Wenn andere geologiſche That-
ſachen uns berechtigten, die drei großen Ebenen am unteren
Orinoko, am Amazonenſtrom und am Rio de la Plata als
alte Seebecken zu betrachten, ſo ließen ſich die Ebenen am
Rio Vichada und am Meta als ein Kanal anſehen, durch den
[277] die Waſſer des oberen Sees, des auf den Ebenen des Ama-
zonenſtromes, in das tiefere Becken, in die Llanos von Caracas,
durchgebrochen wären und dabei die Kordillere der Parime
von der der Anden getrennt hätten. Dieſer Kanal iſt eine
Art Land-Meerenge (détroit terrestre). Der durchaus ebene
Boden zwiſchen dem Guaviare, dem Meta und Apure zeigt
keine Spur von gewaltſamem Einbruch der Gewäſſer; aber am
Rande der Kordillere der Parime, zwiſchen dem 4. und 7. Grad
der Breite, hat ſich der Orinoko, der von ſeiner Quelle bis
zur Einmündung des Guaviare weſtwärts fließt, auf ſeinem
Laufe von Süd nach Nord durch das Geſtein einen Weg ge-
brochen. Alle großen Katarakte liegen, wie wir bald ſehen
werden, auf dieſer Strecke. Aber mit der Einmündung des
Apure, dort, wo im ſo niedrig gelegenen Lande der Abhang
gegen Nord mit dem Gegenhang nach Südoſt zuſammentrifft,
das heißt mit der Böſchung der Ebenen, die unmerklich gegen
die Gebirge von Caracas anſteigen, macht der Fluß wieder
eine Biegung und ſtrömt ſofort oſtwärts. Ich glaubte den
Leſer ſchon hier auf dieſe ſonderbaren Windungen des Ori-
noko aufmerkſam machen zu müſſen, weil er mit ſeinem
Laufe, als zwei Becken zumal angehörend, ſelbſt auf den
mangelhafteſten Karten gewiſſermaßen die Richtung des Teiles
der Ebenen bezeichnet, der zwiſchen die Anden von Neu-
granada und den weſtlichen Saum der Gebirge der Parime
eingeſchoben iſt.


Die Llanos oder Steppen am unteren Orinoko und am
Meta führen, gleich den afrikaniſchen Wüſten, in ihren ver-
ſchiedenen Strichen verſchiedene Namen. Von den Bocas
del Dragon an folgen von Oſt nach Weſt aufeinander: die
Llanos von Cumana, von Barcelona und von Caracas oder
Venezuela. Wo die Steppen vom 8. Breitengrade an, zwiſchen
dem 70. und 73. Grad der Länge, ſich nach Süd und Süd-
Süd-Weſt wenden, kommen von Nord nach Süd die Llanos
von Varinas, Caſanare, Meta, Guaviare, Caguan und Ca-
queta. In den Ebenen von Varinas kommen einige nicht
ſehr bedeutende Denkmäler vor, die auf ein nicht mehr
vorhandenes Volk deuten. Man findet zwiſchen Mijagual
und dem Caño de la Hacha wahre Grabhügel, dortzulande
Serrillos de los Indios genannt. Es ſind kegelförmige Er-
höhungen, aus Erde von Menſchenhand aufgeführt, und ſie
bergen ohne Zweifel menſchliche Gebeine, wie die Grabhügel
in den aſiatiſchen Steppen. Ferner beim Hato de la Calzada,
[278] zwiſchen Varinas und Caragua, ſieht man eine hübſche Straße,
22,5 km lang, vor der Eroberung, in ſehr alter Zeit von
den Eingeborenen angelegt. Es iſt ein Erddamm, 5 m hoch,
der über eine häufig überſchwemmte Ebene führt. Hatten ſich
etwa civiliſiertere Völker von den Gebirgen von Truxillo und
Merida über die Ebenen am Rio Apure verbreitet? Die heu-
tigen Indianer zwiſchen dieſem Fluß und dem Meta ſind viel
zu verſunken, um an die Errichtung von Kunſtſtraßen oder
Grabhügeln zu denken.


Ich habe den Flächenraum dieſer Llanos von der Caqueta
bis zum Apure und vom Apure zum Delta des Orinoko auf
345000 qkm berechnet. Der von Nord nach Süd ſich er-
ſtreckende Teil iſt beinahe doppelt ſo groß als der von Oſt
nach Weſt zwiſchen dem unteren Orinoko und der Küſten-
kordillere von Caracas ſtreichende. Die Pampas nord- und
nordweſtwärts von Buenos Ayres, zwiſchen dieſer Stadt
und Cordova, Jujuy und Tucuman, ſind ungefähr ebenſo
groß als die Llanos; aber die Pampas ſetzen ſich noch 18°
weiter nach Süd fort, und ſie erſtrecken ſich über einen ſo
weiten Landſtrich, daß am einen Saume Palmen wachſen,
während der andere, ebenſo niedrig gelegene und ebene, mit
ewigem Eis bedeckt iſt.


Die amerikaniſchen Llanos ſind da, wo ſie parallel mit
dem Aequator ſtreichen, viermal ſchmäler als die große afri-
kaniſche Wüſte. Dieſer Umſtand iſt von großer Bedeutung
in einem Landſtrich, wo die Richtung der Winde beſtändig
von Oſt nach Weſt geht. Je weiter Ebenen in dieſer Richtung
ſich erſtrecken, deſto heißer iſt ihr Klima. Das große afri-
kaniſche Sandmeer hängt über Yemen mit Gedroſia und Be-
ludſchiſtan bis ans rechte Ufer des Indus zuſammen, und
infolge der Winde, die über die oſtwärts gelegenen Wüſten
weggegangen ſind, iſt das Becken des Roten Meeres, in der
Mitte von Ebenen, welche auf allen Punkten Wärme ſtrahlen,
eine der heißeſten Gegenden des Erdballs. Der unglückliche
Kapitän Tuckey berichtet, daß der hundertteilige Thermo-
meter ſich dort faſt immer bei Nacht auf 34°, bei Tag auf
40 bis 44° hält. Wie wir bald ſehen werden, haben wir
ſelbſt im weſtlichen Teile der Steppen von Caracas die Tem-
peratur der Luft, im Schatten und vom Boden entfernt, ſelten
über 37° gefunden.


An dieſe phyſikaliſchen Betrachtungen über die Steppen
der Neuen Welt knüpfen ſich andere, höhere, ſolche, die ſich
[279] auf die Geſchichte unſerer Gattung beziehen. Das große
afrikaniſche Sandmeer, die waſſerloſen Wüſten ſind nur von
Karawanen beſucht, die bis zu 50 Tagen brauchen, ſie zu
durchziehen. Die Sahara trennt die Völker von Negerbildung
von den Stämmen der Araber und Berbern und iſt nur in
den Oaſen bewohnt. Weiden hat ſie nur im öſtlichen Striche,
wo als Wirkung der Paſſatwinde die Sandſchicht weniger
dick iſt, ſo daß die Quellen zu Tage brechen können. Die
Steppen Amerikas ſind nicht ſo breit, nicht ſo glühend heiß,
ſie werden von herrlichen Strömen befruchtet und ſind ſo dem
Verkehr der Völker weit weniger hinderlich. Die Llanos
trennen die Küſtenkordillere von Caracas und die Anden von
Neugranada von der Waldregion, von jener Hyläa 1 des Ori-
noko, die ſchon bei der Entdeckung Amerikas von Völkern
bewohnt war, welche auf einer weit tieferen Stufe der Kultur
ſtanden, als die Bewohner der Küſten und vor allen des Ge-
birgslandes der Kordilleren. Indeſſen waren die Steppen
einſt ſo wenig eine Schutzmauer der Kultur, als ſie gegen-
wärtig für die in den Wäldern lebenden Horden eine Schutz-
mauer der Freiheit ſind. Sie haben die Völker am unteren
Orinoko nicht abgehalten, die kleinen Flüſſe hinaufzufahren
und nach Nord und Weſt Einfälle ins Land zu machen. Hätte
es die mannigfaltige Verbreitung der Geſchlechter über die
Erde mit ſich gebracht, daß das Hirtenleben in der Neuen
Welt beſtehen konnte; hätten vor der Ankunft der Spanier
auf den Llanos und Pampas ſo zahlreiche Herden von Rindern
und Pferden geweidet wie jetzt, ſo wäre Kolumbus das Men-
ſchengeſchlecht hier in ganz anderer Verfaſſung entgegengetreten.
Hirtenvölker, die von Milch und Käſe leben, wahre Nomaden
hätten dieſe weiten, miteinander zuſammenhängenden Ebenen
durchzogen. In der trockenen Jahreszeit und ſelbſt zur Zeit
der Ueberſchwemmungen hätten ſie den Beſitz der Weiden
einander ſtreitig gemacht, ſie hätten einander unterjocht und,
vereint durch das gemeinſame Band der Sitten, der Sprache
und der Gottesverehrung, ſich zu der Stufe von Halbkultur
erhoben, die uns bei den Völkern mongoliſchen und tatariſchen
Stammes überraſchend entgegentritt. Dann hätte Amerika,
gleich dem mittleren Aſien, ſeine Eroberer gehabt, welche aus
den Ebenen zum Plateau der Kordilleren hinaufſtiegen, dem
[280] umherſchweifenden Leben entſagten, die kultivierten Völker
von Peru und Neugranada unterjochten, den Thron der Inka
und des Zaque 1 umſtürzten und an die Stelle des Deſpo-
tismus, wie er aus der Theokratie fließt, den Deſpotismus
ſetzten, wie ihn das patriarchaliſche Regiment der Hirtenvölker
mit ſich bringt. Die Menſchheit der Neuen Welt hat dieſe
großen moraliſchen und politiſchen Wechſel nicht durchgemacht,
und zwar weil die Steppen, obgleich fruchtbarer als die
aſiatiſchen, ohne Herden waren, weil keines der Tiere, die
reichliche Milch geben, den Ebenen Südamerikas eigentümlich
iſt, und weil in der Entwickelung amerikaniſcher Kultur das
Mittelglied zwiſchen Jägervölkern und ackerbauenden Völkern
fehlte.


Die hier mitgeteilten allgemeinen Bemerkungen über die
Ebenen des neuen Kontinentes und ihre Eigentümlichkeiten
gegenüber den Wüſten Afrikas und den fruchtbaren Steppen
Aſiens ſchienen mir geeignet, den Bericht einer Reiſe durch
ſo einförmige Landſtriche anziehender zu machen. Jetzt aber
mag mich der Leſer auf unſerem Wege von den vulkani-
ſchen Bergen von Parapara und dem nördlichen Saum der
Llanos zu den Ufern des Apure in der Provinz Varinas
begleiten.


Nachdem wir zwei Nächte zu Pferde geweſen und ver-
geblich unter Gebüſch von Murichipalmen Schutz gegen die
Sonnenglut geſucht hatten, kamen wir vor Nacht zum kleinen
Hofe „El Cayman“, auch la Guadelupe genannt. Es iſt dies
ein Hato de Ganado, das heißt ein einſames Haus in der
Steppe, umher ein paar kleine mit Rohr und Häuten bedeckte
Hütten. Das Vieh, Rinder, Pferde, Maultiere, iſt nicht ein-
gepfercht; es läuft frei auf einem Flächenraum von mehreren
Quadratmeilen. Nirgends iſt eine Umzäunung. Männer, bis
zum Gürtel nackt und mit einer Lanze bewaffnet, ſtreifen zu
Pferd über die Savannen, um die Herden im Auge zu be-
halten, zurückzutreiben, was ſich zu weit von den Weiden des
Hofes verläuft, mit dem glühenden Eiſen zu zeichnen, was
noch nicht den Stempel des Eigentümers trägt. Dieſe Far-
bigen, Peones Llaneros genannt, ſind zum Teil Freie oder
[281] Freigelaſſene, zum Teil Sklaven. Nirgends iſt der Menſch ſo
anhaltend dem ſengenden Strahl der tropiſchen Sonne aus-
geſetzt. Sie nähren ſich von luftdürrem, ſchwach geſalzenem
Fleiſch; ſelbſt ihre Pferde freſſen es zuweilen. Sie ſind be-
ſtändig im Sattel und meinen nicht, den unbedeutendſten Gang
zu Fuß machen zu können. Wir trafen im Hof einen alten
Negerſklaven, der in der Abweſenheit des Herrn das Regiment
führte. Herden von mehreren tauſend Kühen ſollten in der
Steppe weiden; trotzdem baten wir vergeblich um einen Topf
Milch. Man reichte uns in Tutumofrüchten gelbes, ſchlam-
miges, ſtinkendes Waſſer: es war aus einem Sumpf in der
Nähe geſchöpft. Die Bewohner der Llanos ſind ſo träg, daß
ſie gar keine Brunnen graben, obgleich man wohl weiß, daß
ſich faſt allenthalben in 3 m Tiefe gute Quellen in einer
Schicht von Konglomerat oder rotem Sandſtein finden. Nach-
dem man die eine Hälfte des Jahres durch die Ueberſchwem-
mungen gelitten, erträgt man in der anderen geduldig den
peinlichſten Waſſermangel. Der alte Neger riet uns, das
Gefäß mit einem Stück Leinwand zu bedecken und ſo gleich-
ſam durch ein Filtrum zu trinken, damit uns der üble Geruch
nicht beläſtigte und wir vom feinen, gelblichen Thon, der im
Waſſer ſuſpendiert iſt, nicht ſo viel zu verſchlucken hätten.
Wir ahnten nicht, daß wir von nun an monatelang auf dieſes
Hilfsmittel angewieſen ſein würden. Auch das Waſſer des
Orinoko hat ſehr viele erdige Beſtandteile; es iſt ſogar
ſtinkend, wo in Flußſchlingen tote Krokodile auf den Sand-
bänken liegen oder halb im Schlamm ſtecken.


Kaum war abgepackt und unſere Inſtrumente aufgeſtellt,
ſo ließ man unſere Maultiere laufen und, wie es dort heißt,
„Waſſer in der Savanne ſuchen“. Rings um den Hof ſind
kleine Teiche; die Tiere finden ſie, geleitet von ihrem Inſtinkt,
von den Mauritiagebüſchen, die hie und da zu ſehen ſind,
und von der feuchten Kühlung, die ihnen in einer Atmoſphäre,
die uns ganz ſtill und regungslos erſcheint, von kleinen Luft-
ſtrömen zugeführt wird. Sind die Waſſerlachen zu weit ent-
fernt und die Knechte im Hof zu faul, um die Tiere zu dieſen
natürlichen Tränken zu führen, ſo ſperrt man ſie 5, 6 Stun-
den lang in einen recht heißen Stall, bevor man ſie laufen
läßt. Der heftige Durſt ſteigert dann ihren Scharfſinn, in-
dem er gleichſam ihre Sinne und ihren Inſtinkt ſchärft. So-
wie man den Stall öffnet, ſieht man Pferde und Maultiere,
die letzteren beſonders, vor deren Spürkraft die Intelligenz
[282] der Pferde zurückſtehen muß, in die Savanne hinausjagen.
Den Schwanz hoch gehoben, den Kopf zurückgeworfen, laufen
ſie gegen den Wind und halten zuweilen an, wie um den
Raum auszukundſchaften; ſie richten ſich dabei weniger nach
den Eindrücken des Geſichts als nach denen des Geruchs,
und endlich verkündet anhaltendes Wiehern, daß ſich in der
Richtung ihres Laufs Waſſer findet. In den Llanos geborene
Pferde, die ſich lange in umherſchweifenden Rudeln frei ge-
tummelt haben, ſind in allen dieſen Bewegungen raſcher und
kommen dabei leichter zum Ziele als ſolche, die von der Küſte
herkommen und von zahmen Pferden abſtammen. Bei den
meiſten Tieren, wie beim Menſchen, vermindert ſich die Schärfe
der Sinne durch lange Unterwürfigkeit und durch die Gewöh-
nungen, wie feſte Wohnſitze und die Fortſchritte der Kultur
ſie mit ſich bringen.


Wir gingen unſeren Maultieren nach, um zu einer der
Lachen zu gelangen, aus denen man das trübe Waſſer ſchöpft,
das unſeren Durſt ſo übel gelöſcht hatte. Wir waren mit
Staub bedeckt, verbrannt vom Sandwind, der die Haut noch
mehr angreift als die Sonnenſtrahlen. Wir ſehnten uns nach
einem Bad, fanden aber nur ein großes Stück ſtehenden
Waſſers, mit Palmen umgeben. Das Waſſer war trüb, aber
zu unſerer großen Verwunderung etwas kühler als die Luft.
Auf unſerer langen Reiſe gewöhnt, zu baden, ſo oft ſich Ge-
legenheit dazu bot, oft mehrmals des Tages, beſannen wir
uns nicht lange und ſprangen in den Teich. Kaum war das
behagliche Gefühl der Kühlung über uns gekommen, als ein
Geräuſch am entgegengeſetzten Ufer uns ſchnell wieder aus
dem Waſſer trieb. Es war ein Krokodil, das ſich in den
Schlamm grub. Es wäre unvorſichtig geweſen, zur Nachtzeit
an dieſem ſumpfigen Ort zu verweilen.


Wir waren nur etwas über 1 km vom Hof entfernt, wir
gingen aber über eine Stunde und kamen nicht hin. Wir
wurden zu ſpät gewahr, daß wir eine falſche Richtung ein-
geſchlagen. Wir hatten bei Anbruch der Nacht, noch ehe die
Sterne ſichtbar wurden, den Hof verlaſſen und waren aufs
Geratewohl in der Ebene fortgegangen. Wir hatten, wie
immer, einen Kompaß bei uns; auch konnten wir uns nach
der Stellung des Canopus und des ſüdlichen Kreuzes leicht
orientieren; aber all dies half uns nichts, weil wir nicht ge-
wiß wußten, ob wir vom Hof weg nach Oſt oder nach Süd
gegangen waren. Wir wollten an unſeren Badeplatz zurück
[283] und gingen wieder drei Viertelſtunden, ohne den Teich zu finden.
Oft meinten wir, Feuer am Horizont zu ſehen; es waren auf-
gehende Sterne, deren Bild durch die Dünſte vergrößert wurde.
Nachdem wir lange in der Savanne umhergeirrt, beſchloſſen
wir, unter einem Palmbaume, an einem recht trockenen, mit
kurzem Gras bewachſenen Ort uns niederzuſetzen; denn friſch
angekommene Europäer fürchten ſich immer mehr vor den
Waſſerſchlangen als vor den Jaguaren. Wir durften nicht
hoffen, daß unſere Führer, deren träge Gleichgültigkeit uns
wohl bekannt war, uns in der Savanne ſuchen würden, bevor
ſie ihre Lebensmittel zubereitet und abgeſpeiſt hätten. Je
bedenklicher unſere Lage war, deſto freudiger überraſchte uns
ferner Hufſchlag, der auf uns zukam. Es war ein mit einer
Lanze bewaffneter Indianer, der vom „Rodeo“ zurückkam, das
heißt von der Streife, durch die man das Vieh auf einen be-
ſtimmten Raum zuſammentreibt. Beim Anblick zweier Weißen,
die verirrt ſein wollten, dachte er zuerſt an irgend eine böſe
Liſt von unſerer Seite, und es koſtete uns Mühe, ihm Ver-
trauen einzuflößen. Endlich ließ er ſich willig finden, uns
zum Hof zu führen, ritt aber dabei in einem kurzen Trott
weiter. Unſere Führer verſicherten, „ſie hätten bereits ange-
fangen, beſorgt um uns zu werden“, und dieſe Beſorgnis zu
rechtfertigen, zählten ſie eine Menge Leute her, die, in den
Llanos verirrt, im Zuſtand völliger Erſchöpfung gefunden
worden. Die Gefahr kann begreiflich nur dann ſehr groß
ſein, wenn man weit von jedem Wohnplatz abkommt, oder
wenn man, wie es in den letzten Jahren vorgekommen iſt,
von Räubern geplündert und an Leib und Händen an einen
Palmſtamm gebunden wird.


Um von der Hitze am Tage weniger zu leiden, brachen
wir ſchon um 2 Uhr in der Nacht auf und hofften vor Mittag
Calabozo zu erreichen, eine kleine Stadt mit lebhaftem
Handel, die mitten in den Llanos liegt. Das Bild der Land-
ſchaft iſt immer dasſelbe. Der Mond ſchien nicht, aber die
großen Haufen von Nebelſternen, die den ſüdlichen Himmel
ſchmücken, beleuchteten im Niedergang einen Teil des Land-
horizonts. Das erhabene Schauſpiel des Sternengewölbes in
ſeiner unermeßlichen Ausdehnung, der friſche Luftzug, der bei
Nacht über die Ebene ſtreicht, das Wogen des Graſes, überall
wo es eine gewiſſe Höhe erreicht — alles erinnert uns an
die hohe See. Vollends ſtark wurde die Täuſchung (man
kann es nicht oft genug ſagen), als die Sonnenſcheibe am
[284] Horizont erſchien, ihr Bild durch die Strahlenbrechung ſich
verdoppelte, ihre Abplattung nach kurzer Friſt verſchwand,
und ſie nun raſch gerade zum Zenith aufſtieg.


Sonnenaufgang iſt auch in den Ebenen der kühlſte Zeit-
punkt am Tage; aber dieſer Temperaturwechſel macht keinen
bedeutenden Eindruck auf die Organe. Wir ſahen den Thermo-
meter meiſt nicht unter 27,5° 1 fallen, während bei Acapulco
in Mexiko auf gleichfalls ſehr tiefem Boden die Temperatur
um Mittag oft 32°, bei Sonnenaufgang 17 bis 18° beträgt.
In den Llanos abſorbiert die ebene, bei Tag niemals be-
ſchattete Fläche ſo viel Wärme, daß Erde und Luft, trotz der
nächtlichen Strahlung gegen einen wolkenloſen Himmel, von
Mitternacht bis zu Sonnenaufgang ſich nicht merkbar ab-
kühlen können. In Calabozo war im März die Temperatur
bei Tag 31 bis 32,5°, bei Nacht 28 bis 29°. Die mittlere
Temperatur dieſes Monates, der nicht der heißeſte im Jahre
iſt, mag etwa 30,6° ſein, eine ungeheure Hitze für ein Land
unter den Tropen, wo Tage und Nächte faſt immer gleich
lang ſind. In Kairo iſt die mittlere Temperatur des heißeſten
Monats nur 29,9°, in Madras 31,8°, und zu Abuſchär im
perſiſchen Meerbuſen, von wo Reihen von Beobachtungen vor-
liegen, 34°; aber die mittleren Temperaturen des ganzen
Jahres ſind in Madras und Abuſchär niedriger als in Cala-
bozo. Obgleich ein Teil der Llanos, gleich den fruchtbaren
Steppen Sibiriens, von kleinen Flüſſen durchſtrömt wird, und
ganz dürre Striche von Land umgeben ſind, das in der Regen-
zeit unter Waſſer ſteht, ſo iſt die Luft dennoch im allgemeinen
äußerſt trocken. Delucs Hygrometer zeigte bei Tag 34°, bei
Nacht 36°.


Wie die Sonne zum Zenith aufſtieg und die Erde und
die übereinander gelagerten Luftſchichten verſchiedene Tempera-
turen annahmen, zeigte ſich das Phänomen der Luftſpiege-
lung
mit ſeinen mannigfaltigen Abänderungen. Es iſt dies
in allen Zonen eine ganz gewöhnliche Erſcheinung, und ich
erwähne hier derſelben nur, weil wir Halt machten, um die
Breite des Luftraumes zwiſchen dem Horizonte und dem auf-
gezogenen Bilde mit einiger Genauigkeit zu meſſen. Das Bild
war immer hinaufgezogen, aber nicht verkehrt. Die kleinen,
über die Bodenfläche wegſtreichenden Luftſtröme hatten eine ſo
[285] veränderliche Temperatur, daß in einer Herde wilder Ochſen
manche mit den Beinen in der Luft zu ſchweben ſchienen,
während andere auf dem Boden ſtanden. Der Luftſtrich war,
je nach der Entfernung des Tieres, 3 bis 4 Minuten breit.
Wo Gebüſche der Mauritiapalme in langen Streifen hinliefen,
ſchwebten die Enden dieſer grünen Streifen in der Luft, wie
die Vorgebirge, die zu Cumana lange Gegenſtand meiner
Beobachtungen geweſen. Ein unterrichteter Mann verſicherte
uns, er habe zwiſchen Calabozo und Uritucu das verkehrte
Bild eines Tieres geſehen, ohne direktes Bild. Niebuhr hat
in Arabien etwas Aehnliches beobachtet. Oefters meinten wir
am Horizont Grabhügel und Türme zu erblicken, die von
Zeit zu Zeit verſchwanden, ohne daß wir die wahre Geſtalt
der Gegenſtände auszumitteln vermochten. Es waren wohl
Erdhaufen, kleine Erhöhungen, jenſeits des gewöhnlichen Ge-
ſichtskreiſes gelegen. Ich ſpreche nicht von den pflanzenloſen
Flächen, die ſich als weite Seen mit wogender Oberfläche dar-
ſtellten. Wegen dieſer Erſcheinung, die am früheſten beobachtet
worden iſt, heißt die Luftſpiegelung im Sanskrit ausdrucks-
voll die Sehnſucht (der Durſt) der Antilope. Die häu-
figen Anſpielungen der indiſchen, perſiſchen und arabiſchen
Dichter auf dieſe magiſchen Wirkungen der irdiſchen Strahlen-
brechung ſprechen uns ungemein an. Die Griechen und Römer
waren faſt gar nicht bekannt damit. Stolz begnügt mit dem
Reichtum ihres Bodens und der Milde ihres Klimas hatten
ſie wenig Sinn für eine ſolche Poeſie der Wüſte. Die Ge-
burtsſtätte derſelben iſt Aſien; den Dichtern des Orientes wurde
ſie durch die natürliche Beſchaffenheit ihrer Länder an die
Hand gegeben; der Anblick der weiten Einöden, die ſich gleich
Meeresarmen und Buchten zwiſchen Länder eindrängen, welche
die Natur mit überſchwenglicher Fruchtbarkeit geſchmückt, wurde
für ſie zu einer Quelle der Begeiſterung.


Mit Sonnenaufgang ward die Ebene belebter. Das Vieh,
das ſich bei Nacht längs der Teiche oder unter Murichi- und
Rhopalabüſchen gelagert hatte, ſammelte ſich zu Herden, und
die Einöde bevölkerte ſich mit Pferden, Maultieren und Rin-
dern, die hier nicht gerade als wilde, wohl aber als freie
Tiere leben, ohne feſten Wohnplatz, der Pflege und des
Schutzes der Menſchen leicht entbehrend. In dieſen heißen
Landſtrichen ſind die Stiere, obgleich von ſpaniſcher Raſſe wie
die auf den kalten Plateaus von Quito, von ſanfterem Tem-
perament. Der Reiſende läuft nie Gefahr, angefallen und
[286] verfolgt zu werden, was uns bei unſeren Wanderungen auf
dem Rücken der Kordilleren oft begegnet iſt. Dort iſt das
Klima rauh, zu heftigen Stürmen geneigt, die Landſchaft hat
einen wilderen Charakter und das Futter iſt nicht ſo reichlich.
In der Nähe von Calabozo ſahen wir Herden von Rehen
friedlich unter Pferden und Rindern weiden. Sie heißen
Matacani; ihr Fleiſch iſt ſehr gut. Sie ſind etwas größer
als unſere Rehe und gleichen Damhirſchen mit ſehr glattem,
fahlbraunem, weiß getupftem Fell. Ihre Geweihe ſchienen
mir einfache Spieße. Sie waren faſt gar nicht ſcheu und in
Rudeln von 30 bis 40 Stück bemerkten wir mehrere ganz
weiße. Dieſe Spielart kommt bei den großen Hirſchen in
den kalten Landſtrichen der Anden häufig vor; in dieſen tiefen,
heißen Ebenen mußten wir ſie auffallend finden. Ich habe
ſeitdem gehört, daß ſelbſt beim Jaguar in den heißen Land-
ſtrichen von Paraguay zuweilen Albinos vorkommen, mit
ſo gleichförmig weißem Fell, daß man die Flecke oder Ringe
nur im Reflex der Sonne bemerkt. Die Matacani oder
kleinen Damhirſche ſind ſo häufig in den Llanos, daß ihre
Häute einen Handelsartikel abgeben könnten. Ein gewandter
Jäger könnte über zwanzig im Tage ſchießen. Aber die
Einwohner ſind ſo träge, daß man ſich oft gar nicht die
Mühe nimmt, dem Tiere die Haut abzuziehen. Ebenſo
iſt es mit der Jagd auf den Jaguar oder großen ameri-
kaniſchen Tiger. Ein Jaguarfell, für das man in den
Steppen von Varinas nur 1 Piaſter bezahlt, koſtet in Cadiz
4 bis 5 Piaſter.


Die Steppen, die wir durchzogen, ſind haupſächlich mit
Gräſern bewachſen, mit Killingia, Cenchrus, Paspalum. Dieſe
Gräſer waren in dieſer Jahreszeit bei Calabozo und San Ge-
ronimo del Pirital kaum 23 bis 26 cm hoch. An den Flüſſen
Apure und Portugueſa wachſen ſie bis 1,3 m hoch, ſo daß
der Jaguar ſich darin verſtecken und die Pferde und Maul-
tiere in der Ebene überfallen kann. Unter die Gräſer miſchen
ſich einige Dikotyledonen, wie Turnera, Malvenarten und,
was ſehr auffallend iſt, kleine Mimoſen mit reizbaren Blättern
von den Spaniern Dormideras genannt. Derſelbe Rinder-
ſtamm, der in Spanien mit Klee und Eſpen gemäſtet wird,
findet hier ein treffliches Futter an den krautartigen Senſi-
tiven. Die Weiden, wo dieſe Senſitiven beſonders häufig
vorkommen, werden teurer als andere verkauft. Im Oſt,
in den Llanos von Cari und Barcelona, ſieht man Cypura
[287] und Craniolaria mit der ſchönen weißen 16 bis 21 cm langen
Blüte ſich einzeln über die Gräſer erheben. Am fetteſten
ſind die Weiden nicht nur an den Flüſſen, welche häufig aus-
treten, ſondern überall, wo die Palmen dichter ſtehen. Ganz
baumloſe Flecke ſind die unfruchtbarſten, und es wäre wohl
vergebliche Mühe, ſie anbauen zu wollen. Dieſer Unterſchied
kann nicht daher rühren, daß die Palmen Schatten geben und
den Boden von der Sonne weniger ausdörren laſſen. In
den Wäldern am Orinoko habe ich allerdings Bäume aus
dieſer Familie mit dicht belaubten Kronen geſehen; aber am
Palmbaum der Llanos, der Palma de Cobija, 1 iſt der Schatten
eben nicht ſehr zu rühmen. Dieſe Palme hat ſehr kleine,
gefaltete, handförmige Blätter, gleich denen des Chamärops,
und die unteren ſind immer vertrocknet. Es befremdete uns,
daß faſt alle dieſe Coryphaſtämme gleich groß waren, 7 bis 8 m
hoch, bei 21 bis 26 cm Durchmeſſer unten am Stamm. Nur
wenige Palmarten bringt die Natur in ſo ungeheuren Mengen
hervor. Unter Tauſenden mit olivenförmigen Früchten be-
ladenen Stämmen fanden wir etwa ein Hundert ohne Früchte.
Sollten unter den Stämmen mit hermaphroditiſcher Blüte
einige mit einhäuſigen Blüten vorkommen? Die Llaneros,
die Bewohner der Ebenen, ſchreiben allen dieſen Bäumen von
unbedeutender Höhe ein Alter von mehreren Jahrhunderten
zu. Ihr Wachstum iſt faſt unmerklich, nach 20 bis 30
Jahren fällt es kaum auf. Die Palma de Cobija liefert
übrigens ein treffliches Bauholz. Es iſt ſo hart, daß man
nur mit Mühe einen Nagel einſchlägt. Die fächerförmig
gefalteten Blätter dienen zum Decken der zerſtreuten Hütten
in den Llanos, und dieſe Dächer halten über 20 Jahre
aus. Man befeſtigt die Blätter dadurch, daß man die
Enden der Blattſtiele umbiegt, nachdem man dieſelben zwi-
ſchen zwei Steinen geſchlagen, damit ſie ſich biegen, ohne
zu brechen.


Außer den einzelnen Stämmen dieſer Palme findet man
hie und da in der Steppe Gruppen von Palmen, wahre Ge-
büſche (Palmares), wo ſich zur Corypha ein Baum aus der
Familie der Proteaceen geſellt, den die Eingeborenen Cha-
parro nennen, eine neue Art Rhopala, mit harten, raſſelnden
Blättern. Die kleineren Rhopalagebüſche heißen Chaparrales,
[288] und man kann ſich leicht denken, daß in einer weiten Ebene,
wo nur zwei oder drei Baumarten wachſen, der Chaparro, der
Schatten gibt, für ein ſehr wertvolles Gewächs gilt. Der
Corypha iſt in den Llanos von Caracas von der Meſa de
Paja bis an den Guayaval verbreitet; weiter nach Nord und
Nordweſt, am Guanare und San Carlos, tritt eine andere
Art derſelben Gattung mit gleichfalls handförmigen, aber
größeren Blättern an ſeine Stelle. Sie heißt Palma real
de los Llanos. Südlich vom Guayaval herrſchen andere
Palmen, namentlich der Piritu mit gefiederten Blättern und
der Murichi (Moriche), den Pater Gumilla als arbol de
la vida
ſo hoch preiſt. Es iſt dies der Sagobaum Amerikas;
er liefert „victum et amictum“,1 Mehl, Wein, Faden zum
Verfertigen der Hängematten, Körbe, Netze und Kleider. Seine
tannenzapfenförmigen, mit Schuppen bedeckten Früchte gleichen
ganz denen des Calamus Rotang; ſie ſchmecken etwas wie
Aepfel; reif ſind ſie innen gelb, außen rot. Die Brüllaffen
ſind ſehr lüſtern danach, und die Völkerſchaft der Guaraunen,
deren Exiſtenz faſt ganz an die Murichipalme geknüpft iſt,
bereitet daraus ein gegorenes, ſäuerliches, ſehr erfriſchendes
Getränk. Dieſe Palme mit großen, glänzenden, fächerförmig
gefalteten Blättern bleibt auch in der dürrſten Jahreszeit leb-
haft grün. Schon ihr Anblick gibt das Gefühl angenehmer
Kühlung, und die mit ihren ſchuppigen Früchten behangene
Murichipalme bildet einen auffallenden Kontraſt mit der trüb-
ſeligen Palma de Cobija, deren Laub immer grau und mit
Staub bedeckt iſt. Die Llaneros glauben, erſterer Baum ziehe
die Feuchtigkeit der Luft an ſich, und deshalb finde man in
einer gewiſſen Tiefe immer Waſſer um ſeinen Stamm, wenn
man den Boden aufgräbt. Man verwechſelt hier Wirkung
und Urſache. Der Murichi wächſt vorzugsweiſe an feuchten
Stellen, und richtiger ſagte man, das Waſſer ziehe den Baum
an. Es iſt eine ähnliche Schlußfolge, wenn die Eingeborenen
am Orinoko behaupten, die großen Schlangen helfen einen
Landſtrich feucht erhalten. Ein alter Indianer in Javita ſagte
uns mit großer Wichtigkeit: „Vergeblich ſuche man Waſſer-
ſchlangen, wo es keine Sümpfe gibt; denn es ſammelt ſich
kein Waſſer, wenn man die Schlangen, die es anziehen, un-
vorſichtigerweiſe umbringt.“


[289]

Auf dem Wege über die Meſa bei Calabozo litten wir
ſehr von der Hitze. Die Temperatur der Luft ſtieg merkbar,
ſo oft der Wind zu wehen anfing. Die Luft war voll Staub,
und während der Windſtöße ſtieg der Thermometer auf 40
bis 41°. Wir kamen nur langſam vorwärts, denn es wäre
gefährlich geweſen, die Maultiere, die unſere Inſtrumente
trugen, dahinten zu laſſen. Unſere Führer gaben uns den
Rat, Rhopalablätter in unſere Hüte zu ſtecken, um die Wir-
kung der Sonnenſtrahlen auf Haare und Scheitel zu mildern.
Wir fühlten uns durch dieſes Mittel erleichtert, und wir
fanden es beſonders dann ausgezeichnet, wenn man Blätter
von Pothos oder einer anderen Arumart haben kann.


Bei der Wanderung durch dieſe glühenden Ebenen drängt
ſich einem von ſelbſt die Frage auf, ob ſie von jeher in dieſem
Zuſtand dagelegen, oder ob ſie durch eine Naturumwälzung
ihres Pflanzenwuchſes beraubt worden? Die gegenwärtige
Humusſchicht iſt allerdings ſehr dünn. Die Eingeborenen ſind
der Meinung, die Palmares und Chaparrales (die kleinen
Gebüſche von Palmen und Rhopala) ſeien vor der Ankunft
der Spanier häufiger und größer geweſen. Seit die Llanos
bewohnt und mit verwilderten Haustieren bevölkert ſind,
zündet man häufig die Savanne an, um die Weide zu ver-
beſſern. Mit den Gräſern werden dabei zufällig auch die
zerſtreuten Baumgruppen zerſtört. Die Ebenen waren ohne
Zweifel im 15. Jahrhundert nicht ſo kahl wie gegenwärtig;
indeſſen ſchon die erſten Eroberer, die von Coro herkamen,
beſchreiben ſie als Savannen, in denen man nichts ſieht als
Himmel und Raſen, im allgemeinen baumlos und beſchwer-
lich zu durchziehen wegen der Wärmeſtrahlung des Bodens.
Warum erſtreckt ſich der mächtige Wald am Orinoko nicht
weiter nordwärts auf dem linken Ufer des Fluſſes? Warum
überzieht er nicht den weiten Landſtrich bis zur Küſtenkordillere,
da dieſer doch von zahlreichen Gewäſſern befruchtet wird?
Dieſe Frage hängt genau zuſammen mit der ganzen Geſchichte
unſeres Planeten. Ueberläßt man ſich geologiſchen Träumen,
denkt man ſich, die amerikaniſchen Steppen und die Wüſte
Sahara ſeien durch einen Einbruch des Meeres ihres ganzen
Pflanzenwuchſes beraubt worden, oder aber, ſie ſeien urſprüng-
lich der Boden von Binnenſeeen geweſen, ſo leuchtet ein, daß
ſogar in Jahrtauſenden Bäume und Gebüſche vom Saume
der Wälder, vom Uferrand der kahlen oder mit Raſen be-
deckten Ebenen nicht bis zur Mitte derſelben vordringen und
A. v. Humboldt, Reiſe. II. 19
[290] einen ſo ungeheuren Landſtrich mit ihrem Schattendach über-
wölben konnten. Der Urſprung kahler, von Wäldern um-
ſchloſſener Savannen iſt noch ſchwerer zu erklären, als die
Thatſache, daß Wälder und Savannen, gerade wie Feſtländer
und Meere, in ihren alten Grenzen verharren.


In Calabozo wurden wir im Hauſe des Verwalters
der Real Hacienda Don Miguel Couſin, aufs gaſtfreund-
lichſte aufgenommen. Die Stadt, zwiſchen den Flüſſen Guarico
und Uritucu gelegen, hatte damals nur 5000 Einwohner, aber
ihr Wohlſtand war ſichtbar im Steigen. Der Reichtum der
meiſten Einwohner beſteht in Herden, die von Pächtern be-
ſorgt werden, von ſogenannten Hateros, von Hato, was im
Spaniſchen ein Haus oder einen Hof im Weideland bedeutet.
Die über die Llanos zerſtreute Bevölkerung drängt ſich an
gewiſſen Punkten, namentlich in der Nähe der Städte, enger
zuſammen, und ſo hat Calabozo in ſeiner Umgebung bereits
fünf Dörfer oder Miſſionen. Man berechnet das Vieh, das auf
den Weiden in der Nähe der Stadt läuft, auf 98000 Stücke.
Die Herden auf den Llanos von Caracas, Barcelona, Cu-
mana und des ſpaniſchen Guyana ſind ſehr ſchwer genau zu
ſchätzen. Depons, der ſich länger als ich in Caracas aufge-
halten hat, und deſſen ſtatiſtiſche Angaben im ganzen genau
ſind, rechnet auf den weiten Ebenen von den Mündungen
des Orinoko bis zum See Maracaybo 1200000 Rinder,
180000 Pferde und 90000 Maultiere. Den Ertrag der
Herden ſchätzt er auf 5 Millionen Franken, wobei neben der
Ausfuhr auch der Wert der im Lande konſumierten Häute in
Anſchlag gebracht iſt. In den Pampas von Buenos Ayres
ſollen 12 Millionen Rinder und 3 Millionen Pferde laufen,
ungeachtet das Vieh, das für herrenlos gilt.


Ich laſſe mich nicht auf ſolche allgemeine Schätzungen
ein, die der Natur der Sache nach ſehr unzuverläſſig ſind; ich
bemerke nur, daß die Beſitzer der großen Hatos in den Llanos
von Caracas ſelbſt gar nicht wiſſen, wie viel Stücke Vieh ſie
beſitzen. Sie wiſſen nur, wie viele junge Tiere jährlich mit
dem Buchſtaben oder der Figur, wodurch die Herden ſich
unterſcheiden, gezeichnet werden. Die reichſten Viehbeſitzer
zeichnen gegen 14000 im Jahr und verkaufen 5000 bis 6000.
Nach den offiziellen Angaben belief ſich die Ausfuhr an Häuten
aus der ganzen Capitania general jährlich nur nach den An-
tillen auf 174000 Rindshäute und 11500 Ziegenhäute. Be-
denkt man nun, daß dieſe Angaben ſich nur auf die Zoll-
[291] regiſter gründen, in denen vom Schleichhandel mit Häuten
keine Rede iſt, ſo möchte man glauben, daß das Hornvieh
auf den Llanos vom Carony und dem Guarapiche bis zum
See Maracaybo zu 1200000 Stück viel zu niedrig ange-
ſchlagen iſt. Der einzige Hafen von Guayra hat nach den
Zollregiſtern von 1789 bis 1792 jährlich 70000 bis 80000
Häute ausgeführt, wovon kaum ein Fünftel nach Spanien.
Am Ende des 18. Jahrhunderts belief ſich nach Don Felix
d’Azarra die Ausfuhr von Buenos Ayres auf 800000 Häute.
Man zieht in der Halbinſel die Häute von Caracas denen
von Buenos Ayres vor, weil letztere infolge des weiteren
Transportes beim Gerben 12 Prozent Abgang haben. Der
ſüdliche Strich der Savannen, gemeiniglich Llanos de Arriba
genannt, iſt ausnehmend reich an Maultieren und Rindvieh;
da aber die Weiden dort im ganzen minder gut ſind, muß
man die Tiere auf andere Ebenen treiben, um ſie vor dem
Verkauf fett zu machen. Die Llanos von Monaï und alle
Llanos de Abaxo haben weniger Herden, aber die Weiden
ſind dort ſo fett, daß ſie vortreffliches Fleiſch für den Bedarf
der Küſte liefern. Die Maultiere, die erſt im fünften Jahre
zum Dienſte taugen, und dann Mulas de Saca heißen, werden
ſchon an Ort und Stelle für 14 bis 18 Piaſter verkauft.
Im Ausfuhrhafen gelten ſie 25 Piaſter, und auf den Antillen
ſteigt ihr Preis oft auf 60 bis 80 Piaſter. Die Pferde der
Llanos ſtammen von der ſchönen ſpaniſchen Raſſe und ſind
nicht groß. Sie ſind meiſt einfarbig, dunkelbraun, wie die
meiſten wilden Tiere. Bald dem Waſſermangel, bald Ueber-
ſchwemmungen, dem Stich der Inſekten, dem Biß großer
Fledermäuſe ausgeſetzt, führen ſie ein geplagtes, ruheloſes
Leben. Wenn ſie einige Monate unter menſchlicher Pflege
geweſen ſind, entwickeln ſich ihre guten Eigenſchaften und
kommen zu Tag. Ein wildes Pferd gilt in den Pampas von
Buenos Ayres ½ bis 1 Piaſter, in den Llanos von Caracas
2 bis 3 Piaſter; aber der Preis des Pferdes ſteigt, ſobald
es gezähmt und zum Ackerbau tüchtig iſt. Schafe gibt es
keine; Schafherden haben wir nur auf dem Plateau der Pro-
vinz Quito geſehen.


Die Rindviehhatos haben in den letzten Jahren viel zu
leiden gehabt durch Banden von Landſtreichern, die durch die
Steppen ſtreifen und das Vieh töten, nur um die Haut zu
verkaufen. Dieſe Räuberei hat um ſich gegriffen, ſeit der
Handel mit dem unteren Orinoko blühender geworden iſt.
[292] Ein halbes Jahrhundert lang waren die Ufer dieſes großen
Stromes von der Einmündung des Apure bis Angoſtura nur
den Miſſionären bekannt. Vieh wurde nur aus den Häfen
der Nordküſte, aus Cumana, Barcelona, Burburata und Porto
Cabello ausgeführt. In neueſter Zeit iſt dieſe Abhängigkeit
von der Küſte weit geringer geworden. Der ſüdliche Strich
der Ebenen iſt in ſtarken Verkehr mit dem unteren Orinoko
getreten, und dieſer Handel iſt deſto lebhafter, da ſich die
Verbote dabei leicht umgehen laſſen.


Die größten Herden in den Llanos beſitzen die Hatos
Merecure, La Cruz, Belen, Alta Gracia und Pavon. Das
ſpaniſche Vieh iſt von Coro und Tocuyo in die Ebenen ge-
kommen. Die Geſchichte bewahrt den Namen des Koloniſten,
der zuerſt den glücklichen Gedanken hatte, dieſe Grasfluren zu
bevölkern, auf denen damals nur Damhirſche und eine große
Aguti-Art, Cavia Capybara, im Lande Chiguire genannt,
weideten. Chriſtoval Rodriguez ſchickte ums Jahr 1548 das
erſte Hornvieh in die Llanos. Er wohnte in der Stadt Tocuyo
und hatte lange in Neugranada gelebt.


Wenn man von der „unzählbaren Menge“ von Horn-
vieh, Pferden und Maultieren auf den amerikaniſchen Ebenen
ſprechen hört, ſo vergißt man gewöhnlich, daß es im civili-
ſierten Europa bei ackerbauenden Völkern auf viel kleinerer
Bodenfläche gleich ungeheure Mengen gibt. Frankreich hat
nach Peuchet 6 Millionen Stück Hornvieh, wovon 3500000
Ochſen zum Ackerbau verwendet werden. In der öſterreichi-
ſchen Monarchie ſchätzt Lichtenſtern 13400000 Ochſen, Kühe
und Kälber. Paris allein verzehrt jährlich 155000 Stück
Rindvieh; nach Deutſchland werden alle Jahre aus Ungarn
150000 Ochſen eingeführt. Die Haustiere in nicht ſtarken
Herden gelten bei ackerbauenden Völkern als ein untergeord-
neter Gegenſtand des Nationalreichtums. Sie wirken auch
weit weniger auf die Einbildungskraft als die umherſchwei-
fenden Rudel von Rindern und Pferden, die einzige Bevöl-
kerung der neuangebauten Steppen der Neuen Welt. Kultur
und bürgerliche Ordnung wirken in gleichem Maße auf die
Vermehrung der menſchlichen Bevölkerung und auf die Ver-
vielfältigung der dem Menſchen nützlichen Tiere.


Wir fanden in Calabozo, mitten in den Llanos, eine
Elektriſiermaſchine mit großen Scheiben, Elektrophoren, Bat-
terieen, Elektrometern, kurz einen Apparat faſt ſo vollſtändig,
als unſere Phyſiker in Europa ſie beſitzen. Und all dies war
[293] nicht in den Vereinigten Staaten gekauft, es war das Werk
eines Mannes, der nie ein Inſtrument geſehen, der niemand
zu Rate ziehen konnte, der die elektriſchen Erſcheinungen nur
aus der Schrift des Sigaud de la Fond und aus Franklins
Denkwürdigkeiten kannte. Carlos del Pozo — ſo heißt der
achtungswürdige, ſinnreiche Mann — hatte zuerſt aus großen
Glasgefäßen, an denen er die Hälſe abſchnitt, Cylinder-
maſchinen gebaut. Erſt ſeit einigen Jahren hatte er ſich aus
Philadelphia zwei Glasplatten verſchafft, um eine Scheiben-
maſchine bauen und ſomit bedeutendere elektriſche Wirkungen
hervorbringen zu können. Man kann ſich vorſtellen, mit
welchen Schwierigkeiten Pozo zu kämpfen hatte, ſeit die erſten
Schriften über Elektrizität ihm in die Hände gefallen waren,
und er den kühnen Entſchluß faßte, alles, was er in den
Büchern beſchrieben fand, mit Kopf und Hand nachzumachen
und herzuſtellen. Bisher hatte er ſich bei ſeinen Experimen-
ten nur am Erſtaunen und der Bewunderung von ganz rohen
Menſchen ergötzt, die nie über die Wüſte der Llanos hinaus-
gekommen waren. Unſer Aufenthalt in Calabozo verſchaffte
ihm einen ganz neuen Genuß. Er mußte natürlich Wert auf
das Urteil zweier Reiſenden legen, die ſeine Apparate mit
den europäiſchen vergleichen konnten. Ich hatte verſchiedene
Elektrometer bei mir, mit Stroh, mit Korkkügelchen, mit
Goldplättchen, auch eine kleine Leidner Flaſche, die nach der
Methode von Ingenhouß durch Reibung geladen wurde und
mir zu phyſiologiſchen Verſuchen diente. Pozo war außer
ſich vor Freude, als er zum erſtenmal Inſtrumente ſah, die
er nicht ſelbſt verfertigt, und die den ſeinigen nachgemacht
ſchienen. Wir zeigten ihm auch die Wirkungen des Kontaktes
heterogener Metalle auf die Nerven des Froſches. Die Namen
Galvani und Volta waren in dieſen weiten Einöden noch
nicht gehört worden.


Was nach den elektriſchen Apparaten von der gewandten
Hand eines ſinnreichen Einwohners der Llanos uns in Cala-
bozo am meiſten beſchäftigte, das waren die Zitteraale, die
lebendige elektriſche Apparate ſind. Mit der Begeiſterung, die
zum Forſchen treibt, aber der richtigen Auffaſſung des Er-
forſchten hinderlich wird, hatte ich mich ſeit Jahren täglich
mit den Erſcheinungen der galvaniſchen Elektrizität beſchäftigt;
ich hatte, indem ich Metallſcheiben aufeinander legte und
Stücke Muskelfleiſch, oder andere feuchte Subſtanzen da-
zwiſchen brachte, mir unbewußt, echte Säulen aufgebaut,
[294] und ſo war es natürlich, daß ich mich ſeit unſerer Ankunft
in Cumana eifrig nach elektriſchen Aalen umſah. Man hatte
uns mehrmals welche verſprochen, wir hatten uns aber immer
getäuſcht geſehen. Je weiter von der Küſte weg, deſto wert-
loſer wird das Geld, und wie ſoll man über das unerſchüt-
terliche Phlegma des Volkes Herr werden, wo der Stachel
der Gewinnſucht fehlt?


Die Spanier begreifen unter dem Namen Tembladores
(Zitterer) alle elektriſchen Fiſche. Es gibt welche im Antilli-
ſchen Meer an den Küſten von Cumana. Die Guaykeri,
die gewandteſten und fleißigſten Fiſcher in jener Gegend,
brachten uns einen Fiſch, der, wie ſie ſagten, ihnen die Hände
ſtarr machte. Dieſer Fiſch geht im kleinen Fluſſe Manzanares
aufwärts. Es war eine neue Art Raja mit kaum ſichtbaren
Seitenflecken, dem Zitterrochen Galvanis ziemlich ähnlich.
Die Zitterrochen haben ein elektriſches Organ, das wegen der
Durchſichtigkeit der Haut ſchon außen ſichtbar iſt, und bilden
eine eigene Geſtaltung oder doch eine Untergattung der eigent-
lichen Rochen. Der cumaniſche Zitterrochen war ſehr munter,
ſeine Muskelbewegungen ſehr kräftig, dennoch waren die elek-
triſchen Schläge, die wir von ihm erhielten, äußerſt ſchwach.
Sie wurden ſtärker, wenn wir das Tier mittels der Berüh-
rung von Zink und Gold galvaniſierten. Andere Tembla-
dores, echte Gymnoten oder Zitteraale, kommen im Rio Co-
lorado, im Guarapiche und verſchiedenen kleinen Bächen in
den Miſſionen der Chaymasindianer vor. Auch in den
großen amerikaniſchen Flüſſen, im Orinoko, im Amazonen-
ſtrom, im Meta ſind ſie häufig, aber wegen der ſtarken
Strömung und des tiefen Waſſers ſchwer zu fangen. Die
Indianer fühlen weit häufiger ihre elektriſchen Schläge beim
Schwimmen und Baden im Fluß, als daß ſie dieſelben zu
ſehen bekommen. In den Llanos, beſonders in der Nähe von
Calabozo, zwiſchen den Höfen Morichal und den Miſſionen
de Arriba und de Abaxo, ſind die Gymnoten in den Stücken
ſtehenden Waſſers und in den Zuflüſſen des Orinoko (im
Rio Guarico, in den Caños Raſtro, Berito und Paloma)
ſehr häufig. Wir wollten zuerſt in unſerem Hauſe zu Cala-
bozo unſere Verſuche anſtellen; aber die Furcht vor den
Schlägen des Gymnotus iſt im Volk ſo übertrieben, daß wir
in den erſten drei Tagen keinen bekommen konnten, obgleich
ſie ſehr leicht zu fangen ſind und wir den Indianern zwei
Piaſter für jeden recht großen und ſtarken Fiſch verſprochen
[295] hatten. Dieſe Scheu der Indianer iſt um ſo ſonderbarer, als
ſie von einem nach ihrer Behauptung ganz zuverläſſigen Mittel
gar keinen Gebrauch machen. Sie verſichern die Weißen, ſo
oft man ſie über die Schläge der Tembladores befragt, man
könne ſie ungeſtraft berühren, wenn man dabei Tabak kaue.
Dieſes Märchen vom Einfluß des Tabakes auf die tieriſche
Elektrizität iſt auf dem Kontinent von Südamerika ſo weit
verbreitet, als unter den Matroſen der Glaube, daß Knoblauch
und Unſchlitt auf die Magnetnadel wirken.


Des langen Wartens müde, und nachdem ein lebender,
aber ſehr erſchöpfter Gymnotus, den wir bekommen, uns ſehr
zweifelhafte Reſultate geliefert, gingen wir nach dem Caño
de Bera, um unſere Verſuche im Freien, unmittelbar am
Waſſer anzuſtellen. Wir brachen am 19. März in der Frühe
nach dem kleinen Dorfe Raſtro de Abaxo auf, und von dort
führten uns Indianer zu einem Bache, der in der dürren
Jahreszeit ein ſchlammiges Waſſerbecken bildet, um das ſchöne
Bäume ſtehen, Cluſia, Amyris, Mimoſen mit wohlriechenden
Blüten. Mit Netzen ſind die Gymnoten ſehr ſchwer zu fangen,
weil der ausnehmend bewegliche Fiſch ſich gleich den Schlangen
in den Schlamm eingräbt. Die Wurzeln der Piscidia Eri-
thryna,
der Jacquinia armillaris und einiger Arten von
Phyllanthus haben die Eigenſchaft, daß ſie, in einen Teich
geworfen, die Tiere darin berauſchen oder betäuben: dieſes
Mittel, den ſogenannten Barbasco, wollten wir nicht an-
wenden, da die Gymnoten dadurch geſchwächt worden wären.
Da ſagten die Indianer, ſie wollen mit Pferden fiſchen,
embarbascar con cavallos.1 Wir hatten keinen Begriff von
einer ſo ſeltſamen Fiſcherei; aber nicht lange, ſo kamen unſere
Führer aus der Savanne zurück, wo ſie ungezähmte Pferde
und Maultiere zuſammengetrieben. Sie brachten ihrer etwa
30 und jagten ſie ins Waſſer.


Der ungewohnte Lärm vom Stampfen der Roſſe treibt
die Fiſche aus dem Schlamm hervor und reizt ſie zum An-
griff. Die ſchwärzlich und gelb gefärbten, großen Waſſer-
ſchlangen gleichenden Aale ſchwimmen auf der Waſſerfläche
hin und drängen ſich unter den Bauch der Pferde und Maul-
tiere. Der Kampf zwiſchen ſo ganz verſchieden organiſierten
Tieren gibt das maleriſcheſte Bild. Die Indianer mit Har-
[296] punen und langen, dünnen Rohrſtäben ſtellen ſich in dichter
Reihe um den Teich; einige beſteigen die Bäume, deren
Zweige ſich wagerecht über die Waſſerfläche breiten. Durch
ihr wildes Geſchrei und mit ihren langen Rohren ſcheuchen
ſie die Pferde zurück, wenn ſie ſich aufs Ufer flüchten wollen.
Die Aale, betäubt vom Lärm, verteidigen ſich durch wieder-
holte Schläge ihrer elektriſchen Batterieen. Lange ſcheint es,
als ſolle ihnen der Sieg verbleiben. Mehrere Pferde erliegen
den unſichtbaren Streichen, von denen die weſentlichſten Or-
gane allerwärts getroffen werden; betäubt von den ſtarken,
unaufhörlichen Schlägen, ſinken ſie unter. Andere, ſchnaubend,
mit geſträubter Mähne, wilde Angſt im ſtarren Auge, raffen
ſich wieder auf und ſuchen dem um ſie tobenden Ungewitter
zu entkommen; ſie werden von den Indianern ins Waſſer zu-
rückgetrieben. Einige aber entgehen der regen Wachſamkeit
der Fiſcher; ſie gewinnen das Ufer, ſtraucheln aber bei jedem
Schritt und werfen ſich in den Sand, zum Tode erſchöpft,
mit von den elektriſchen Schlägen der Gymnoten erſtarrten
Gliedern.


Ehe fünf Minuten vergingen, waren zwei Pferde ertrunken.
Der 1,6 m lange Aal drängt ſich dem Pferde an den Bauch
und gibt ihm nach der ganzen Länge ſeines elektriſchen Organes
einen Schlag; das Herz, die Eingeweide und der plexus
coeliacus
der Abdominalnerven werden dadurch zumal be-
troffen. Derſelbe Fiſch wirkt ſo begreiflicherweiſe weit ſtärker
auf ein Pferd als auf den Menſchen, wenn dieſer ihn nur
mit einer Extremität berührt. Die Pferde werden ohne Zweifel
nicht totgeſchlagen, ſondern nur betäubt; ſie ertrinken, weil
ſie ſich nicht aufraffen können, ſo lange der Kampf zwiſchen
den anderen Pferden und den Gymnoten fortdauert.


Wir meinten nicht anders, als alle Tiere, die man zu
dieſer Fiſcherei gebraucht, müßten nacheinander zu Grunde
gehen. Aber allmählich nimmt die Hitze des ungleichen Kampfes
ab und die erſchöpften Gymnoten zerſtreuen ſich. Sie bedürfen
jetzt langer Ruhe 1 und reichlicher Nahrung, um den erlittenen
Verluſt an galvaniſcher Kraft wieder zu erſetzen. Maultiere
und Pferde verrieten weniger Angſt, ihre Mähne ſträubte ſich
nicht mehr, ihr Auge blickte ruhiger. Die Gymnoten kamen
[297] ſcheu ans Ufer des Teiches geſchwommen, und hier fing man
ſie mit kleinen, an langen Stricken befeſtigten Harpunen.
Wenn die Stricke recht trocken ſind, ſo fühlen die Indianer
beim Herausziehen des Fiſches an die Luft keine Schläge. In
wenigen Minuten hatten wir fünf große Aale, die meiſten
nur leicht verletzt. Auf dieſelbe Weiſe wurden abends noch
andere gefangen.


Die Gewäſſer, in denen ſich die Zitteraale gewöhnlich
aufhalten, haben eine Temperatur von 26 bis 27°. Ihre
elektriſche Kraft ſoll in kälterem Waſſer abnehmen, und es iſt,
wie bereits ein berühmter Phyſiker bemerkt hat, überhaupt
merkwürdig, daß die Tiere mit elektriſchen Organen, deren
Wirkungen dem Menſchen fühlbar werden, nicht in der Luft
leben, ſondern in einer die Elektrizität leitenden Flüſſigkeit.
Der Gymnotus iſt der größte elektriſche Fiſch; ich habe welche
gemeſſen, die 1,7 m und 1,62 m lang waren; die Indianer
wollten noch größere geſehen haben. Ein 1,23 m langer Fiſch
wog 5 kg. Der Querdurchmeſſer des Körpers (die kahnförmig
verlängerte Afterfloſſe abgerechnet) betrug 9 cm. Die Gym-
noten aus dem Cerro de Bera ſind hübſch olivengrün. Der
Unterteil des Kopfes iſt rötlichgelb. Zwei Reihen kleiner
gelber Flecken laufen ſymmetriſch über den Rücken vom Kopf
bis zum Schwanzende. Jeder Fleck umſchließt einen Aus-
führungskanal; die Haut des Tieres iſt auch beſtändig mit
einem Schleim bedeckt, der, wie Volta gezeigt hat, die Elek-
trizität 20 bis 30mal beſſer leitet als reines Waſſer. Es
iſt überhaupt merkwürdig, daß keiner der elektriſchen Fiſche,
die bis jetzt in verſchiedenen Weltteilen entdeckt worden, mit
Schuppen bedeckt iſt.


Den erſten Schlägen eines ſehr großen, ſtark gereizten
Gymnotus würde man ſich nicht ohne Gefahr ausſetzen. Be-
kommt man zufällig einen Schlag, bevor der Fiſch verwundet
oder durch lange Verfolgung erſchöpft iſt, ſo ſind Schmerz
und Betäubung ſo heftig, daß man ſich von der Art der
Empfindung gar keine Rechenſchaft geben kann. Ich erinnere
mich nicht, je durch die Entladung einer großen Leidner Flaſche
eine ſo furchtbare Erſchütterung erlitten zu haben wie die,
als ich unvorſichtigerweiſe beide Füße auf einen Gymnotus
ſetzte, der eben aus dem Waſſer gezogen worden war. Ich
empfand den ganzen Tag heftigen Schmerz in den Knieen und
faſt in allen Gelenken. Will man den ziemlich auffallenden
Unterſchied zwiſchen der Wirkung der Voltaſchen Säule und
[298] der elektriſchen Fiſche genau beobachten, ſo muß man dieſe
berühren, wenn ſie ſehr erſchöpft ſind. Die Zitterrochen und
die Zitteraale verurſachen dann ein Sehnenhüpfen vom Glied
an, das die elektriſchen Organe berührt, bis zum Ellbogen.
Man glaubt bei jedem Schlage [innerlich] eine Schwingung
zu empfinden, die zwei, drei Sekunden anhält und der eine
ſchmerzhafte Betäubung folgt. In der ausdrucksvollen Sprache
der Tamanaken heißt daher der Temblador Arimna, das
heißt, „der die Bewegung raubt“.


Die Empfindung bei ſchwachen Schlägen des Gymnotus
ſchien mir große Aehnlichkeit zu haben mit dem ſchmerzlichen
Zucken, das ich fühlte, wenn auf den wunden Stellen, die
ich auf meinem Rücken durch ſpaniſche Fliegen hervorgebracht,
zwei heterogene Metalle ſich berührten. 1 Dieſer Unterſchied
zwiſchen der Empfindung, welche der Schlag des elektriſchen
Fiſches, und der, welche eine Säule oder ſchwach geladene
Leidner Flaſche hervorbringt, iſt allen Beobachtern aufgefallen;
derſelbe widerſpricht indeſſen keineswegs der Annahme, daß
die Elektrizität und die galvaniſche Wirkung der Fiſche dem
Weſen nach eins ſind. Die Elektrizität kann beidemal dieſelbe
ſein, ſie mag ſich aber verſchieden äußern infolge des Baues
der elektriſchen Organe, der Intenſität des elektriſchen Flui-
dums, der Schnelligkeit des Stromes oder einer eigentümlichen
Wirkungsweiſe. In holländiſch Guyana, zum Beiſpiel zu
Demerary, galten früher die Zitteraale als ein Heilmittel
gegen Lähmungen. Zur Zeit, wo die europäiſchen Aerzte von
der Anwendung der Elektrizität Großes erwarteten, gab ein
Wundarzt in Eſſequibo, Namens van der Lott, in Holland
eine Abhandlung über die Heilkräfte des Zitteraales heraus.
Solche „elektriſche Kuren“ kommen bei den Wilden Amerikas
wie bei den Griechen vor. Scribonius Largus, Galenus und
Dioscorides berichten uns, daß der Zitterrochen Kopfweh,
Migräne und Gicht heile. In den ſpaniſchen Kolonieen, die
ich durchreiſt, habe ich von dieſer Heilmethode nichts gehört;
aber ſo viel iſt gewiß, daß Bonpland und ich, nachdem wir
vier Stunden lang an Gymnoten experimentiert, bis zum
anderen Tage Muskelſchwäche, Schmerz in den Gelenken, all-
gemeine Ueblichkeit empfanden, eine Folge der heftigen Reizung
des Nervenſyſtems.


[299]

Während die Gymnoten für die europäiſchen Naturforſcher
Gegenſtände der Vorliebe und des lebhafteſten Intereſſes ſind,
werden ſie von den Eingeborenen gefürchtet und gehaßt. Ihr
Muskelfleiſch ſchmeckt allerdings nicht übel, aber der Körper
beſteht zum größten Teil aus dem elektriſchen Organ, und
dieſes iſt ſchmierig und von unangenehmem Geſchmack; man
ſondert es daher auch ſorgfältig vom übrigen ab. Zudem
ſchreibt man es vorzüglich den Gymnoten zu, daß die Fiſche
in den Sümpfen und Teichen der Llanos ſo ſelten ſind. Sie
töten ihrer viel mehr, als ſie verzehren, und die Indianer
erzählten uns, wenn man in ſehr ſtarken Netzen junge Kro-
kodile und Zitteraale zugleich fange, ſo ſei an letzteren nie
eine Verletzung zu bemerken, weil ſie die jungen Krokodile
lähmen, bevor dieſe ihnen etwas anhaben können. Alle Be-
wohner des Waſſers fliehen die Gemeinſchaft der Zitteraale.
Eidechſen, Schildkröten und Fröſche ſuchen Sümpfe auf, wo
ſie vor jenen ſicher ſind. Bei Uritucu mußte man einer
Straße eine andere Richtung geben, weil die Zitteraale ſich
in einem Fluſſe ſo vermehrt hatten, daß ſie alle Jahre eine
Menge Maultiere, die belaſtet durch den Fluß wateten, um-
brachten.


Am 24. März verließen wir die Stadt Calabozo, ſehr
befriedigt von unſerem Aufenthalt und unſeren Verſuchen über
einen ſo wichtigen phyſiologiſchen Gegenſtand. Ich hatte über-
dies gute Sternbeobachtungen machen können und zu meiner
Ueberraſchung gefunden, daß die Angaben der Karten auch
hier um einen Viertelsgrad in der Breite unrichtig ſind. Vor
mir hatte niemand an dieſem Orte beobachtet, und wie denn
die Geographen gewöhnlich die Diſtanzen von der Küſte dem
Binnenlande zu zu groß annehmen, ſo hatten ſie auch hier
alle Punkte zu weit nach Süden gerückt.


Auf dem Wege durch den ſüdlichen Strich der Llanos
fanden wir den Boden ſtaubiger, pflanzenloſer, durch die lange
Dürre zerriſſener. Die Palmen verſchwanden nach und nach
ganz. Der Thermometer ſtand von 11 Uhr bis zu Sonnen-
untergang auf 34 bis 35°. Je ruhiger die Luft in 2,6 bis
2,9 m Höhe ſchien, deſto dichter wurden wir von den Staub-
wirbeln eingehüllt, welche von den kleinen, am Boden hin-
ſtreichenden Luftſtrömungen erzeugt werden. Gegen 4 Uhr
abends fanden wir in der Savanne ein junges indianiſches
Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, war ganz nackt und
ſchien nicht über 12 bis 13 Jahre alt. Sie war von
[300] Ermüdung und Durſt erſchöpft, Augen, Naſe, Mund voll Staub,
der Atem röchelnd; ſie konnte uns keine Antwort geben. Neben
ihr lag ein umgeworfener Krug, halb voll Sand. Zum Glück
hatten wir ein Maultier bei uns, das Waſſer trug. Wir
brachten das Mädchen zu ſich, indem wir ihr das Geſicht
wuſchen und ihr einige Tropfen Wein aufdrangen. Sie war
anfangs erſchrocken über die vielen Leute um ſie her, aber ſie
beruhigte ſich nach und nach und ſprach mit unſeren Führern.
Sie meinte, dem Stand der Sonne nach müſſe ſie mehrere
Stunden betäubt dagelegen haben. Sie war nicht dazu zu
bringen, eines unſerer Laſttiere zu beſteigen. Sie wollte nicht
nach Uritucu zurück; ſie hatte in einem Hofe in der Nähe
gedient und war von ihrer Herrſchaft verſtoßen worden, weil
ſie infolge einer langen Krankheit nicht mehr ſo viel leiſten
konnte als zuvor. Unſere Drohungen und Bitten fruchteten
nichts; für Leiden unempfindlich, wie ihre ganze Raſſe, in
die Gegenwart verſunken ohne Bangen vor künftiger Ge-
fahr, beharrte ſie auf ihrem Entſchluß, in eine der indiani-
ſchen Miſſionen um die Stadt Calabozo her zu gehen. Wir
ſchütteten den Sand aus ihrem Kruge und füllten ihn mit
Waſſer. Noch ehe wir wieder zu Pferde waren, ſetzte ſie
ihren Weg in der Steppe fort. Bald entzog ſie eine Staub-
wolke unſeren Blicken.


In der Nacht durchwateten wir den Rio Uritucu, in
dem zahlreiche, auffallend wilde Krokodile hauſen. Man warnte
uns, unſere Hunde nicht am Fluß ſaufen zu laſſen, weil es
gar nicht ſelten vorkomme, daß die Krokodile im Uritucu aus
dem Waſſer gehen und die Hunde aufs Ufer verfolgen. Solche
Keckheit fällt deſto mehr auf, da 27 km von da, im Rio
Tisnao, die Krokodile ziemlich ſchüchtern und unſchädlich ſind.
Die Sitten der Tiere einer und derſelben Art zeigen Ab-
weichungen nach örtlichen Einflüſſen, die ſchwer aufzuklären
ſind. Man zeigte uns eine Hütte oder vielmehr eine Art
Schuppen, wo unſer Wirt in Calabozo, Don Miguel Couſin,
einen höchſt merkwürdigen Auftritt erlebt hatte. Er ſchlief
mit einem Freunde auf einer mit Leder überzogenen Bank,
da wird er frühmorgens durch heftige Stöße und einen
furchtbaren Lärm aufgeſchreckt. Erdſchollen werden in die
Hütte geſchleudert. Nicht lange, ſo kommt ein junges 60 bis
90 cm langes Krokodil unter der Schlafſtätte hervor, fährt
auf einen Hund los, der auf der Thürſchwelle lag, verfehlt
ihn im ungeſtümen Lauf, eilt dem Ufer zu und entkommt in
[301] den Fluß. Man unterſuchte den Boden unter der Barbacoa
oder Lagerſtätte, und da war denn der Hergang des ſeltſamen
Abenteuers bald klar. Man fand die Erde weit hinab auf-
gewühlt; es war vertrockneter Schlamm, in dem das Krokodil
im Sommerſchlaf gelegen hatte, in welchen Zuſtand manche
Individuen dieſer Tierart während der dürren Jahreszeit in
den Llanos verfallen. Der Lärm von Menſchen und Pferden,
vielleicht auch der Geruch des Hundes hatten es aufgeweckt.
Die Hütte lag an einem Teich und ſtand einen Teil des Jahres
unter Waſſer; ſo war das Krokodil ohne Zweifel, als die
Savanne überſchwemmt wurde, durch dasſelbe Loch hineinge-
kommen, durch das es Don Miguel herauskommen ſah. Häufig
finden die Indianer ungeheure Boas, von ihnen Uji oder
Waſſerſchlangen genannt, im ſelben Zuſtand der Erſtarrung.
Man muß ſie, ſagt man, reizen oder mit Waſſer begießen,
um ſie zu erwecken. Man tötet die Boas und hängt ſie in
einen Bach, um durch die Fäulnis die ſehnigten Teile der
Rückenmuskeln zu gewinnen, aus denen man in Calabozo vor-
treffliche Guitarrenſaiten macht, die weit beſſer ſind als die
aus den Därmen der Brüllaffen.


Wir ſehen ſomit, daß in den Llanos Trockenheit und
Hitze auf Tiere und Gewächſe gleich dem Froſt wirken. Außer-
halb der Tropen werfen die Bäume in ſehr trockener Luft
ihre Blätter ab. Die Reptilien, beſonders Krokodile und Boas,
verlaſſen vermöge ihres trägen Naturells die Lachen, wo ſie
beim Austreten der Flüſſe Waſſer gefunden haben, nicht leicht
wieder. Je mehr nun dieſe Waſſerſtücke eintrocknen, deſto
tiefer graben ſich die Tiere in den Schlamm ein, der Feuch-
tigkeit nach, die bei ihnen Haut und Decken ſchmiegſam er-
hält. In dieſem Zuſtand der Ruhe kommt die Erſtarrung
über ſie; ſie werden wohl dabei von der äußeren Luft nicht
ganz abgeſperrt, und ſo gering auch der Zutritt derſelben ſein
mag, er reicht hin, den Atmungsprozeß bei einer Eidechſe zu
unterhalten, die ausnehmend große Lungenſäcke hat, die keine
Muskelbewegungen vornimmt und bei der faſt alle Lebens-
verrichtungen ſtocken. Die Temperatur des vertrockneten, dem
Sonnenſtrahl ausgeſetzten Schlammes beträgt im Mittel wahr-
ſcheinlich mehr als 40°. Als es im nördlichen Aegypten, wo
im kühlſten Monat die Temperatur nicht unter 13,4° ſinkt,
noch Krokodile gab, wurden dieſe häufig von der Kälte be-
täubt. Sie waren einem Winterſchlaf unterworfen gleich
unſeren Fröſchen, Salamandern, Uferſchwalben und Murmel-
[302] tieren. Wenn die Erſtarrung im Winter bei Tieren mit
warmem Blut, wie bei ſolchen mit kaltem vorkommt, ſo kann
man ſich eben nicht wundern, daß in beiden Klaſſen oft Fälle
von Sommerſchlaf vorkommen. Gleich den Krokodilen in
Südamerika liegen die Tenrek oder Igel auf Madagaskar
mitten in der heißen Zone drei Monate des Jahres in Er-
ſtarrung.


Am 25. März kamen wir über den ebenſten Strich der
Steppen von Caracas, die Meſa de Pavones. Die Co-
rypha- und Murichepalme fehlen hier ganz. So weit das Auge
reicht, gewahrt man keinen Gegenſtand, der auch nur 40 cm
hoch wäre. Die Luft war rein und der Himmel tief blau,
aber den Horizont ſäumte ein blaſſer, gelblicher Schein, der
ohne Zweifel von der Menge des in der Luft ſchwebenden
Sandes herrührte. Wir trafen große Herden und bei ihnen
Scharen ſchwarzer Vögel mit olivenfarbigem Glanz von der
Gattung Crotophaga, die dem Vieh nachgehen. Wir ſahen
ſie häufig den Kühen auf den Rücken ſitzen und Bremſen und
andere Inſekten ſuchen. Gleich mehreren Vögeln dieſer Einöde
ſcheuen ſie ſo wenig vor dem Menſchen, daß ſie Kinder oft
mit der Hand fangen. In den Thälern von Aragua, wo ſie
ſehr häufig ſind, ſetzten ſie ſich am hellen Tag auf unſere
Hängematten, während wir darin lagen.


Zwiſchen Calabozo, Uritucu und der Meſa de Pavones
kann man überall, wo der Boden von Menſchenhand wenige
Fuß tief aufgegraben iſt, die geologiſchen Verhältniſſe der
Llanos beobachten. Ein roter Sandſtein 1 (altes Konglomerat)
ſtreicht über mehrere tauſend Quadratmeilen weg. Wir fanden
ihn ſpäter wieder in den weiten Ebenen des Amazonenſtromes,
am öſtlichen Saum der Provinz Jaen de Bracamoros. Dieſe
ungeheure Verbreitung des roten Sandſteines auf den tief-
gelegenen Landſtrichen oſtwärts von den Anden iſt eine der
auffallendſten geologiſchen Erſcheinungen, die ich unter den
Tropen beobachtet.


Nachdem wir in den öden Savannen der Meſa de Pa-
vones lange ohne die Spur eines Pfades umhergeirrt, ſahen
wir zu unſerer freudigen Ueberraſchung einen einſamen Hof
vor uns, den Hato de alta Gracia, der von Gärten und
[303] kleinen Teichen mit klarem Waſſer umgeben iſt. Hecken von
Azedarac liefen um Gruppen von Icaquesbäumen, die
voll Früchten hingen. Eine Strecke weiter übernachteten wir
beim kleinen Dorfe San Geronimo del Guayaval, das Miſ-
ſionäre vom Kapuzinerorden gegründet haben. Es liegt am
Ufer des Rio Guarico, der in den Apure fällt. Ich beſuchte
den Geiſtlichen, der in der Kirche wohnen mußte, weil noch
kein Prieſterhaus gebaut war. Der junge Mann nahm uns
aufs zuvorkommendſte auf und gab uns über alles die ver-
langte Auskunft. Sein Dorf, oder, um den offiziellen Aus-
druck der Mönche zu gebrauchen, ſeine Miſſion, war nicht
leicht zu regieren. Der Stifter, der keinen Anſtand genommen,
auf ſeine Rechnung eine Pulperia zu errichten, das heißt ſo-
gar in der Kirche Bananen und Guarapo zu verkaufen, war
auch bei Aufnahme der Koloniſten nicht ekel geweſen. Viele
Landſtreicher aus den Llanos hatten ſich in Guayaval nieder-
gelaſſen, weil die Einwohner einer Miſſion dem weltlichen
Arm entrückt ſind. Hier wie in Neuholland kann man erſt
in der zweiten oder dritten Generation auf gute Koloniſten
rechnen.


Wir ſetzten über den Rio Guarico und übernachteten
in den Savannen ſüdlich vom Guayaval. Ungeheure Fleder-
mäuſe, wahrſcheinlich von der Sippe der Phylloſtomen, flat-
terten, wie gewöhnlich, einen guten Teil der Nacht über unſeren
Hängematten. Man meint jeden Augenblick, ſie wollen ſich
einem ins Geſicht einkrallen. Am frühen Morgen ſetzten wir
unſeren Weg über tiefe, häufig unter Waſſer ſtehende Land-
ſtriche fort. In der Regenzeit kann man zwiſchen dem Guarico
und dem Apure im Kahn fahren wie auf einem See. Es
begleitete uns ein Mann, der alle Höfe (Hatos) in den Llanos
beſucht hatte, um Pferde zu kaufen. Er hatte für 1000 Pferde
2200 Piaſter gegeben. 1 Man bezahlt natürlich deſto weniger,
[304] je bedeutender der Kauf iſt. Am 27. März langten wir in
der Villa de San Fernando, dem Hauptort der Miſ-
ſionen der Kapuziner in der Provinz Varinas, an. Damit
waren wir am Ziel unſerer Reiſe über die Ebenen, denn
die drei Monate April, Mai und Juni brachten wir auf den
Strömen zu.


[][][]
Notes
1.
Die Völker, welche die Spanier auf der Küſte von Paria
antrafen, hatten wahrſcheinlich den Gebrauch, die Geſchmacksorgane
mit Aetzkalk zu reizen, wozu andere Tabak, Chimo, Kakaoblätter
oder Betel brauchen. Dieſe Sitte herrſcht noch jetzt auf derſelben
1.
S. Tacitus Germania. Kap. 4.
1.
Küſte, nur weiter oſtwärts, bei den Goajiros an der Mündung
des Rio la Hacha. Dieſe Indianer, die wild geblieben ſind, führen
das Pulver von kleinen calcinierten Muſchelſchalen in einer Frucht,
die als Kapſel dient, am Gürtel. Dieſes Pulver des Goajiros iſt
ein Handelsartikel, wie früher, nach Gomara, das der Indianer in
Paria. In Europa werden die Zähne vom übermäßigen Tabak-
rauchen gleichfalls gelb und ſchwarz. Wäre der Schluß richtig, man
rauche bei uns, weil man gelbe Zähne ſchöner finde als weiße?
1.
So übertrieben die Griechen bei ihren ſchönſten Statuen die
Stirnbildung, indem ſie den Geſichtswinkel zu groß annahmen.
1.
Daher fu-ero, amav-issem, amav-eram, post-sum (pot-sum).
2.
Tamanacu hat in der Mehrzahl Tamanakemi; Pongheme
heißt ein Spanier, wörtlich ein bekleideter Menſch; Pongamo, die
Spanier oder die Bekleideten. Der Pluralis auf ene kommt leb-
loſen Gegenſtänden zu; z. B. cene, Ding, cenecne, Dinge, jeje,
Baum, jejecne, Bäume.
1.
In der Sprache der Inka heißt Sonne inti, Liebe munay,
groß veypul; im Sanskrit: Sonne indre, Liebe manya, groß
vipulo. Es ſind dies die einzigen Fälle von Lautähnlichkeit, die
man bis jetzt aufgefunden. Im grammatiſchen Bau ſind die beiden
Sprachen völlig verſchieden.
1.
Wilhelm v. Humboldt.
1.
Das Diminutiv von Frau oder von Maypure-Indianer wird
dadurch gebildet, daß man butkè, das Ende des Wortes cujuputkè,
klein, beiſetzt. Taje entſpricht dem italieniſchen accio.
2.
Die Endung tasuna bedeutet eine gute Eigenſchaft, queria
eine ſchlimme und kommt her von eria, Krankheit.
1.
Aethiopes nigri, crispi lanati, Pariae incolae albi, ca-
pillis oblongis protensis flavis. Utriusque sexus indigenae
albi veluti nostrates, praeter eos, qui sub sole ver-
santur
.
Gomara ſagt von den Eingeborenen, die Kolumbus an
der Mündung des Fluſſes Cumana geſehen: „Las donzellas eran
amorosas, desundas y blancas (las de la casa); los Indios
que van al campo, estan negros del sol.“
2.
Sie trugen nach Ferdinand Kolumbus ein Tuch von ge-
ſtreiftem Baumwollenzeug um den Kopf. Hat man etwa dieſen
2.
Kopfputz für einen Turban angeſehen? Daß ein Volk unter dieſem
Himmelsſtrich den Kopf bedeckt haben ſollte, iſt auffallend; aber was
noch weit merkwürdiger iſt, Pinzon will auf einer Fahrt, die er allein
an die Küſte von Paria unternommen und die wir bei Peter
Martyr d’Anghiera beſchrieben finden, bekleidete Eingeborene geſehen
haben: „Incolas omnes, genu tenus mares, foeminas surarum
tenus, gossampinis vestibus amictos simplicibus repererunt,
sed viros, more Turcarum, insuto minutim gossipio ad belli
usum, duplicibus.“
Was ſoll man aus dieſen Völkern machen,
die civiliſierter geweſen und Mäntel getragen, wie man auf dem
Rücken der Anden trägt, und auf einer Küſte gelebt, wo man vor
und nach Pinzon nur nackte Menſchen geſehen.
1.
Darf man an die blauen Augen der Borroa in Chile und
der Guayana am Uruguay glauben, die wie Völker vom Stamme
Odins geſchildert werden? (Azzara, Reiſe.)
1.
Oneſicritus, bei Strabo, Lib. XV. Die Züge Alexanders
ſcheinen viel dazu beigetragen zu haben, die Griechen auf die große
Frage nach dem Einfluß des Klimas aufmerkſam zu machen. Sie
hatten von Reiſenden vernommen, daß in Hinduſtan die Völker
im Süden dunkelfarbiger ſeien als im Norden in der Nähe der
Gebirge, und ſie ſetzten voraus, daß beide derſelben Raſſe an-
gehören.
1.
„Die Indianer ſind kupferrot, und dieſe Farbe wird durch
den Einfluß von Sonne und Luſt dunkler. Ich muß darauf auf-
merkſam machen, daß weder die Hitze noch ein kaltes Klima die
Farbe merkbar verändern, ſo daß man die Indianer auf den Kor-
dilleren von Peru und die auf den heißeſten Ebenen leicht ver-
wechſelt, und man diejenigen, die unter der Linie leben und die
unter dem 40. nördlichen und ſüdlichen Breitengrade nicht unter-
ſcheiden kann.“ Noticias americanas, cap. 17. — Kein alter
Schriftſteller hat die beiden Anſchauungsweiſen, nach denen man
ſich noch gegenwärtig von der Verſchiedenheit benachbarter Völker
nach Farbe und Geſichtszügen Rechenſchaft gibt, klarer angedeutet,
als Tacitus im Leben des Agricola. Er unterſcheidet zwiſchen der
erblichen Anlage und dem Einfluß des Klima, und thut keinen
Ausſpruch, als ein Philoſoph, der gewiß weiß, daß wir von den
erſten Urſachen der Dinge nichts wiſſen. „Habitus corporum varii
atque ex eo argumenta. Seu durante originis vi, seu procur-
rentibus in diversa terris, positio coeli corporibus habitum
dedit.“ Agricola, cap.
11.
1.
In Santa Fé de Bogota, in Popayan und in der ſüdlichen
Halbkugel in Quito und Peru habe ich niemand getroffen, der die
Meteore geſehen hätte. Vielleicht war nur der Zuſtand der Atmo-
ſphäre, der in dieſen weſtlichen Ländern ſehr veränderlich iſt, daran
ſchuld.
1.
Nach meinen Beobachtungen auf dem Rücken der Anden in
mehr als 5260 m Meereshöhe über die Schäfchen oder kleinen
weißen, gekräuſelten Wolken ſchätzte ich die Höhe derſelben zuweilen
auf mehr als 11700 m über der Küſte.
1.
Die Cortex Angosturae unſerer Pharmakopöen, die Rinde
der Bonplandia trifoliata.
1.
Man bezahlt 120 Piaſter für die Ueberfahrt, wenn man das
ganze Boot zu Verfügung hat.
1.
La broma; teredo navalis, Linné.
1.
In Paris iſt das Mittel des heißeſten Monats 19 bis 20°,
demnach um 3 bis 4° niedriger als die mittlere Temperatur des
kälteſten Monats in Guayra.
1.
Damals, jetzt ſind faſt alle zerſtört.
1.
Die Capitania general von Caracas hat 972000 qkm Um-
fang, Peru 607000 qkm, Neugranada 1316000 qkm. Es iſt dies
das Ergebnis von Oltmanns Berechnung, wobei die Veränderungen
zu Grunde gelegt ſind, welche die Karten von Amerika durch meine
aſtronomiſchen Beſtimmungen erlitten haben.
1.
So heißen in Spanien die Bewohner der Gebirge von San-
tander.
1.
Nach dem Vorgang von Anglo-Amerikaner, welcher Aus-
druck in alle europäiſchen Sprachen übergegangen iſt. In den
1.
ſpaniſchen Kolonieen heißen die in Amerika geborenen Weißen
Spanier, die wirklichen Spanier aus dem Mutterlande Euro-
päer, Gachupinos
oder Chapetones.
1.
Mexiko, Santa Fé de Bogota und Quito.
1.
1567, ſpäter als Cumana, Coro, Nueva Barcelona und Car-
valleda.
1.
In ganz Amerika glaubt man, das Waſſer nehme die Eigen-
ſchaften der Gewächſe an, in deren Schatten es fließt. So rühmt
man an der Magelhaensſchen Meerenge das Waſſer, das mit den
Wurzeln der Winterana Canella in Berührung kommt.
1.
Ich fand auf dem Platze Trinidad die ſcheinbare Höhe der
Silla 11° 12′ 49″. Ihr Abſtand beträgt etwa 8,7 km.
1.
Nach Reaumur bei Tage 16,8 bis 18°, bei Nacht 12,8
bis 13,6°.
1.
17 bis 20° R.
1.
Ficus nymphaeifolia, Erythrina mitis.
1.
Rubus jamaicensis.
1.
Wildenows Salix Humboldtiana.
2.
Dieſe Worte wurden ſchon im erſten Bande erklärt.
1.
Phleum alpinum, von Brown unterſucht. Nach den Beob-
achtungen dieſes großen Botanikers unterliegt es keinem Zweifel,
daß mehrere Pflanzen beiden Kontinenten und den gemäßigten
Zonen beider Halbkugeln zugleich angehören. Potentilla anserina,
Prunella vulgaris, Scirpus mucronatus
und Panicum Crus Galli
wachſen in Deutſchland, in Neuholland und in Pennſylvanien.
2.
Viola chiranthifolia, die Bonpland und ich beſchrieben
haben, iſt von Kunth und Leopold von Buch unter den Alpen-
pflanzen gefunden worden, die Joſeph de Juſſieu aus den Pyrenäen
mitgebracht hat.
1.
Rhododendrum laponicum, R. caucasicum, R. ferrugi-
neum, R. hirsutum.
2.
Befaria glauca, B. ledifolia.
3.
B. aestuans, B. resinosa.
1.
Scitamineen oder Bananengewächſe.
1.
Oden, Buch I, 31.
1.
Die Silla liegt unter 10° 31′ 5″ der Breite.
1.
Aegopogon cenchroides.
1.
So Gay-Luſſac bei ſeiner Luftfahrt am 16. September 1803.
1.
Man glaubte früher, die Silla von Caracas ſei ſo ziemlich
ſo hoch als der Pik von Tenerifa.
1.
Am 30. November 1744 und 3. September 1750.
1.
Z. B. die nächtliche Prozeſſion am 21. Oktober zum An-
denken an das große Erdbeben an dieſem Tage um 1 Uhr nach
Mitternacht im Jahre 1778. Andere ſehr ſtarke Erdſtöße kamen vor
in den Jahren 1641, 1703 und 1802.
1.
Delpeche, Sur le tremblement de terre de Venezuela,
en
1812 (Manuſkript).
1.
Die Dauer des Erdbebens, d. h. all der wellenförmigen und
ſtoßenden Bewegungen (undulacion y trepidacion), welche die
furchtbare Kataſtrophe vom 26. März 1812 herbeiführten, wurde
von den einen auf 50 Sekunden, von anderen auf 1 Minute 12 Se-
kunden geſchätzt.
1.
Thal des Cortez oder Oſterthal, ſo genannt, weil Diego
de Loſada, nachdem er die Tequesindianer und ihren Kaziken Guay-
caypuro in den Bergen von San Pedro geſchlagen, im Jahre 1567
die Oſtertage daſelbſt zubrachte, ehe er in das Thal San Francisco
drang, wo er die Stadt Caracas gründete.
1.
S. Bd. II, Seite 112.
1.
S. Humboldt, Essay politique sur le Mexique. T. II,
p.
435.
1.
An der Uhr in der Hauptkirche von Caracas trug ein 1 cm
dicker Magueyſtrick ſeit 15 Jahren ein Gewicht von 175 kg.
1.
Winter heißt die Zeit im Jahre, wo es am meiſten regnet,
daher in Terra Firma die mit der Winter-Tag- und Nachtgleiche
beginnende Jahreszeit Sommer genannt wird und man alle Tage
ſagen hört, im Gebirge ſei es Winter, während es in den benach-
barten Niederungen Sommer iſt.
1.
Mairan iſt dieſelbe Erſcheinung in Europa aufgefallen.
1.
Amyris elata.
2.
Die mittlere Sommertemperatur iſt in Schottland (bei
Edinburg unter dem 56. Grad der Breite) dieſelbe wie auf den
Hochebenen von Neugranada, wo in 2725 m Meereshöhe und unter
dem 4. Grad der Breite ſo viel Getreide gebaut wird. Auf der
2.
anderen Seite entſpricht die mittlere Temperatur der Thäler von
Aragua (10° 15′ der Breite) und aller nicht ſehr hochgelegenen
Ebenen in der heißen Zone der Sommertemperatur von Neapel
und Sizilien (39° 40′ der Breite). Die obigen Zahlen bezeichnen
die Lage der iſotheren (der Linien der gleichen Sommerwärme),
nicht der iſothermen Linien (der Linien der gleichen Jahres-
wärme). Hinſichtlich der Wärmemenge, welche ein Punkt der Erd-
oberfläche im Laufe eines ganzen Jahres empfängt, entſprechen die
mittleren Temperaturen der Thäler von Aragua und der Hoch-
ebenen von Neugranada in 580 bis 2725 m Meereshöhe den mitt-
leren Temperaturen der Küſten unter dem 23. bis 45. Grad der
Breite.
1.
Carnes tollendas; Bombax hibiscifolius.
1.
Da einigermaßen richtige Begriffe über die aſtronomiſche
Lage und die Entfernungen der Orte in den ſpaniſchen Kolonieen
zuerſt und lange Zeit allein durch Seeleute ſich verbreiteten, ſo wurde
in Mexiko und in Südamerika urſprünglich die Legua nautica von
6650 Varas oder 5559 m eingeführt; aber dieſe „Seemeile“ wurde
allmählich um die Hälfte oder um ein Dritteil verkürzt, weil man
in den Hochgebirgen wie auf den dürren heißen Ebenen ſehr lang-
ſam reiſt. Das Volk rechnet unmittelbar nur nach der Zeit und
ſchließt aus der Zeit, nach willkürlichen Vorausſetzungen, auf die
Länge der zurückgelegten Strecke.
1.
Depons, in ſeiner „Reiſe nach Terra Firma“: „Bei der
unbedeutenden Oberfläche des Sees (er mißt übrigens 4037 ha) läßt
ſich unmöglich annehmen, daß die Verdunſtung allein, ſo ſtark ſie
auch unter den Tropen ſein mag, ſo viel Waſſer wegſchaffen kann,
als die Flüſſe hereinbringen.“ In der Folge ſcheint aber der Ver-
faſſer ſelbſt wieder „dieſe geheime Urſache, die Hypotheſe von einem
Abzugsloch“ aufzugeben.
1.
Karl Ritter, Erdkunde Bd. I.
1.
Auf dem alten Kontinent kommen in Portugal und am
Cantal in den Pyrenäen ebenſo reine Waſſer aus dem Granit.
Die Pisciarelli des Agnanoſees in Italien ſind 93° heiß. Sind
etwa dieſe reinen Waſſer verdichtete Dämpfe?
2.
Converfa?
3.
Reiſe nach Cochinchina.
1.
Eigentümer einer Pulperia, einer kleinen Bude, in der
man Eßwaren und Getränke feil hat.
1.
Sämtliche Carolinea princeps in Schönbrunn ſtammen aus
Samen, die Boſe und Bredemeyer von einem ungeheuer dicken
Baume bei Chacao, öſtlich von Caracas, genommen.
1.
Ein Tablon, gleich 7026 qm, entſpricht etwa 1⅕ Morgen.
1.
Essay politique sur la nouvelle Espagne T. I, p. 23,
T. II, p.
689.
1.
Ceroxylon andicola.
1.
Nach dieſen drei großen Familien kommen die Papaveraceae,
Chicoraceae, Lobeliaceae, Campanulaceae, Sapoteae
und Cucur-
bitaceae.
Die Blauſäure iſt der Gruppe der Rosaceae amygda-
laceae
eigentümlich. Bei den Monokotyledonen kommt ein Milchſaft
vor, aber die Fruchthülle der Palmen, die ſo ſüße und angenehme
Emulſionen gibt, enthält ohne Zweifel Käſeſtoff. Was iſt die
Milch der Pilze?
2.
Euphorbia balsamifera.
1.
Dieſe Klebrigkeit bemerkt man auch an der friſchen Milch
des Kuhbaumes. Sie rührt ohne Zweifel daher, daß das Kaut-
ſchuk ſich noch nicht abgeſetzt hat und eine Maſſe mit dem Eiweiß
und dem Käſeſtoff bildet, wie in der tieriſchen Milch die Butter
und der Käſeſtoff. Der Saft eines Gewächſes aus der Familie
der Euphorbien, des Sapium aucuparia, der auch Kautſchuk ent-
hält, iſt ſo klebrig, daß man Papageien damit fängt.
1.
Der Pater Gili hat aus zwei Stellen bei Torquemada (Mo-
narquia Indiana)
bündig dargethan, daß die Mexikaner den Auf-
guß kalt machten, und daß erſt die Spanier den Brauch einführten,
die Kakaomaſſe im Waſſer zu ſieden.
1.
Papageien, Affen, Aguti, Eichhörner, Hirſche.
2.
Eine Kiſte (caxa) wiegt 15½ bis 16 Arroben, die Arroba
zu 23 ſpaniſchen Pfunden.
1.
Wir wiſſen aus dem Munde vieler reiſenden Mönche, daß
der kleine Paramo de las Roſas, der in mehr als 3120 m
Meereshöhe zu liegen ſcheint, mit Rosmarin und roten und weißen
europäiſchen Roſen, die hier verwildert ſind, bewachſen iſt. Man
pflückt die Roſen, um bei Kirchenfeſten die Altäre in den benach-
barten Dörfern damit zu ſchmücken. Durch welchen Zufall iſt unſere
hundertblätterige Roſe hier verwildert, da wir ſie doch in den An-
den von Quito und Peru nirgends angetroffen haben? Iſt es auch
wirklich unſere Gartenroſe?
1.
Was iſt die unter dem Namen Farol (Laterne) de Maracaybo
bekannte Lichterſcheinung, die man jede Nacht auf der See wie im
inneren Lande ſieht, z. B. in Merida, wo Palacios dieſelbe zwei
Jahre lang beobachtet hat? Der Umſtand, daß man das Licht über
180 km weit ſieht, hat zu der Vermutung geführt, es könnte daher
rühren, daß in einer Bergſchlucht ſich jeden Tag ein Gewitter ent-
lade. Man ſoll auch donnern hören, wenn man dem Farol nahe
kommt. Andere ſprechen in unbeſtimmtem Ausdruck von einem
Luftvulkan; aus asphalthaltigem Erdreich, ähnlich dem bei Mena,
ſollen brennbare Dünſte aufſteigen und daher beſtändig ſichtbar ſein.
Der Ort, wo ſich die Erſcheinung zeigt, iſt ein unbewohntes Ge-
birgsland am Rio Catatumbo, nicht weit von ſeiner Vereinigung
mit dem Rio Sulia. Der Farol liegt faſt ganz im Meridian der
1.
Don Carlos de Pozo fand in dieſem Bezirke, in der Que-
brada de Moroturo, eine Schicht ſchwarzer Thonerde, welche ſtark
abfärbt, ſtark nach Schwefel riecht und ſich von ſelbſt entzündet,
wenn man ſie, leicht befeuchtet, lange den Strahlen der tropiſchen
Sonne ausſetzt; dieſe ſchleimige Materie verpufft ſehr heftig.
1.
Einfahrt (boca) in den See von Maracaybo, ſo daß die Steuerleute
ſich nach ihm richten wie nach einem Leuchtfeuer.
1.
Simia Belzebuth.
1.
Ich erinnere die Reiſenden an den Weg vom Urſernthal zum
Gotthardshoſpiz und von da nach Airolo.
1.
Livius L. 38, c. 75.
1.
Offene baumloſe Savannen, limpias de arboles.
1.
῾ϒλαίη. Herodot, Melpomene.
1.
Der Zaque war das weltliche Oberhaupt von Cundinamarca.
Er teilte die oberſte Gewalt mit dem Hohenprieſter (Lama) von
Iraca.
1.
22° R.
1.
Dachpalme, Corypha tectorum.
1.
Plinius L. XII, c. VII.
1.
Wörtlich: mit Pferden die Fiſche einſchläfern und betäuben.
1.
Die Indianer verſichern, wenn man Pferde zwei Tage hinter-
einander in einer Lache laufen laſſe, in der es ſehr viele Gymnoten
gibt, gehe am zweiten Tage kein Pferd mehr zu Grunde.
1.
Humboldts Verſuche über die gereizte Muskelfaſer.
Bd. I, S. 323—329.
1.
Rotes Totliegendes, oder älteſter Flözſandſtein der Frei-
berger Schule.
1.
In den Llanos von Calabozo und am Guayaval koſtet ein
junger Stier von 2 bis 3 Jahren 1 Piaſter. Iſt er verſchnitten,
(in ſehr heißen Ländern eine ziemlich gefährliche Operation), ſo iſt
er 5 bis 6 Piaſter wert. Eine an der Sonne getrocknete Ochſen-
haut gilt 2½ Silberrealen (1 Peſo = 8 Realen); ein Huhn 2 Realen;
ein Schaf, in Barqueſimeto und Truxillo, denn oſtwärts von dieſen
Städten gibt es keine, 3 Realen. Da dieſe Preiſe ſich notwendig
verändern werden, je mehr die Bevölkerung in den ſpaniſchen
Kolonieen zunimmt, ſo ſchien es mir nicht unwichtig, hier Angaben
1.
niederzulegen, die künftig bei nationalökonomiſchen Unterſuchungen
als Anhaltspunkte dienen können.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn37.0