Biographie
in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1804.
Nro. 18.
Echinit.
Der Schmolgeiſt.
Es braucht keinen groſſen diplomatiſchen Ver¬
ſtand, um zu errathen, daß der Notar in der
SonntagsNacht nicht zu Hauſe blieb, ſondern
noch ſpaͤt zu dem TheaterSchneider Purzel gehen
wollte, wo ſein Bruder wohnte, um bey ihm
mehr uͤber den blauen Juͤngling zu hoͤren. Aber
dieſer empfieng herunter eilend ihn auf der Gaſſe,
die er als Saal und Corso des Volks in Feier-
Naͤchten erhob und zum Spaziergange vorſchlug.
Ziemlich entzuͤckt nahms Walt an. So Sonn¬
tags in der Nacht unter den Sternen mit Hun¬
derten auf- und abzugehen, ſagt' er, das zeig'
ihm, was Italien ſei; zumal da man den Hut
aufbehalten und ungeſtoͤrt zu Fuſſe traͤumen koͤnne.
Er wollte ſofort viel reden und fragen, aber
Vult bat ihn, bis in andere, einſamere Gaſſen
zu ſchweigen und nicht Du zu ſagen. „Wie ſo
gern!“ ſagte Walt. Unbemerkt war ihm in der
Daͤmmerung die Bruſt voll Liebe gelaufen wie
Flegeljahre II. Bd. 1[2] eine Blume voll Thau — ſo oft er durfte, ſtreift'
er mit der Hand ein wenig an eine jede blutfrem¬
de vorbeigehende an, weil er nicht wiſſen koͤnne,
dacht' er, ob er ſie je wieder beruͤhre — ja er
wagt' es in ſchattigern Stellen der Nacht ſogar,
zu Erkern und Balkons, wo deutlich die vor¬
nehmſten Maͤdchen ſtanden, aufzuſehen und ſich
von der Gaſſe hinauf zu denken mitten darunter
mit einer an der Hand als Braͤutigam, den ſein
Himmel halb erſtickt.
Endlich ſpannt' er vor dem Floͤtenſpieler in
einer ſchicklichen Sackgaſſe das glaͤnzende hiſtori¬
ſche Blatt von ſeinem innern Banquet und Freu¬
den Gewuͤhle eines Nachmittages auf, der darin
beſtand — als Vult neugierig naͤher nachſah, —
daß er drauſſen hin und her gegangen, und den
Blaurock getroffen. „Man ſollte geſchworen ha¬
ben, verſezte Vult, Sie kaͤmen eben aus Glad¬
heim *) ſtatt aus dem Roſenthale her, und haͤt¬
ten ſich entweder die Freya oder die Sidfna, oder
die Gunnur, oder die Gierskogul, oder die Mißa,
[3] oder ſonſt eine Goͤttin zur Ehe abgeholt, und ein
paar Taſchen voll Weltkugeln als Brautgabe
dazu. — Doch iſts zu ruͤhmen, wenn ein Mann
das Gallakleid der Luſt noch ſo wenig abgetragen —
die Faͤden zaͤhl' ich auf meinem, — ausgenom¬
men wenn der Mann nicht bedenkt, daß Zau¬
berſchloͤſſer leicht die Vorzimmer von Raubſchloͤſ¬
ſern ſind.“
Aber jezt wies ihm Walt den Berg der heu¬
tigen Weinleſe, den blauen Juͤngling, und frag¬
te nach deſſen Namen und Wohnung. Der
Bruder erwiederte gelaſſen, es ſei der Graf Klo¬
thar, ein ſehr reicher ſtolzer, ſonderbarer Philo¬
ſoph, der faſt den Britten ſpiele, ſonſt gut genug.
Dem Notar wollte der Ton nicht gefallen, er
legte Vulten Klothars reiche Worte und Kennt¬
niſſe vor. Vult erwiederte, darin ſeh' er faſt ei¬
nige merkliche Eitelkeit des Stolzes. „Ich
koͤnnt' es nicht ertragen, verſezte Walt, wenn
Menſchen gewiſſer Groͤße demuͤthig waͤren.“ —
„Und ich kann, verſezte Vult, es nicht erdulden,
wenn der engliſche Stolz, oder der irlaͤndiſche
oder der ſchottiſche, der ſich ſehr gut in Buͤcher¬
[4] Darſtellungen ausnimmt, in der Wirklichkeit auf¬
tritt und puſthet. In Romanen gefaͤllt uns
fremde Liebe und Stolziererei und Empfindelei; —
aber druͤber hinaus ſchlecht.“
Nein, Nein, (ſagte Walt) wie mir denn
dein eigener Stolz gefaͤllt. Wenn wir uns recht
fragen, ſo erzuͤrnt uns nie der Stolz ſelber,
ſondern nur ſein Mangel an Grund — daher
kann uns oft Demuth eben ſo gut quaͤlen; —
daher iſt unſer Haß des Stolzes kein Neid ge¬
gen Vorzuͤge; denn indeß wir allzeit groͤßere uͤber
uns anerkennen und nur erſtohlne, vorgeſpiegel¬
te haſſen: ſo iſt unſer Haß nicht Liebe gegen
uns, ſondern eine gegen die Gerechtigkeit. —
„Sie philoſophieren ja wie ein Graf, ſagte Vult.
Hier wohnt der Graf.“ Mit unſaͤglicher Freude
ſah Walt an die leuchtenden Fenſter-Reihen einer
Garten-Villa hinauf, die der Gaſſe den glaͤnzen¬
den Ruͤcken zeigte und in welche ein langer Gar¬
ten durch eine breite Vorhalle von Baͤumen-Ord¬
nungen fuͤhrte. Izt lies Walt vor dem Bruder
eine durſtige Seele in alle ihre Gedichte und Hof¬
nungen der Liebe ausbrechen. Der Floͤtenſpieler
[5] ſagte (eine gewoͤhnliche Ergieſſung ſeines Zorns):
„freilich in gewiſſen Stuͤcken — indeſſen — zu¬
mal ſo — in ſofern ja freilich, o Himmel!“
und fuͤgte bei, ſeines ſchwachen Beduͤnkens ſei
Klothar vielleicht nicht weit von dem entfernt,
was man im gemeinen Sprachgebrauch einen
Egoiſten nennt.
Walt hielt es jezt ſchon fuͤr Freundes Pflicht,
den unbekannten Grafen hieruͤber heftig zu beſchuͤ¬
zen und berief ſich auf deſſen edle Phyſiognomie,
die gewis darum, vermuthete er, ſo truͤbe be¬
ſchattet ſei, weil er fruchtlos nach einer Sonne
ſehe, die ihm auf irgend einem Altare voll Op¬
fer-Aſche den alten Phoͤnix der Freundſchaft er¬
wecke; und ganz reiner Liebe ſchlieſſe gewis kein
Herz ſich zu. „Wenigſtens ſezen Sie vorher,
ſagte Vult, eh' Sie vor ſeinen Kammerdiener
treten, einen Fuͤrſtenhut auf, ziehen einen Stern
an, binden ein blaues Hoſenband um: — dann
moͤgen Sie bei ihm zur Cour vorfahren; ſo
nicht wohl. Ich ja ſelber, der ich von einem ſo
eisgrauen Adel bin, daß er vor Alters-Maraſmus
faſt erloſchen iſt, mußte vorher bei ihm eigne Ver¬
[6] dienſte vorſchuͤzen —. Und wie wollen Sie ihm
Ihre Freundſchaft promulgieren? Denn bloſſes
Hegen derſelben thuts nicht.“ —
„Von morgen an, ſagte Walt unſchuldig,
ſuch' ich ihm ſo nahe zu kommen, daß er alles
deutlich leſen kann in meinem Herzen und Geſicht,
was die Liebe an ihn hineingeſchrieben, Vult!“
— „Van der Harniſch zum Henker! Was iſt zu
Vulten? Sie bauen demnach auf Ihren Diſkurs
und deſſen Gewalt?“ — verſezte Vult. „Ja
wohl, ſagte Walt, was hat denn der Menſch
auſſer ſo ſeltnen Thaten noch anderes?“ — Aber
den Floͤtenſpieler uͤberraſchte an einem ſo beſchei¬
denen Weſen, das hoͤhere Staͤnde vergoͤtterte,
dieſes ſtille feſte Vertrauen auf Sieg ausnehmend.
Die Sache war indeß, daß der Notar ſchon ſeit
geraumen Jahren, wo er Petrarkas Leben geleſen,
ſich fuͤr den zweiten Petrarka ſtill anſah, nicht
blos in der aͤhnlichen Zeugungskraft kleiner Ge¬
dichte — oder darin, daß der Welſche von ſei¬
nem Vater nach Montpellier geſchickt wurde, um
das Jus zu ſtudieren, das er gegen Verſe ſpaͤter
fahren lies — ſondern auch — und hauptſaͤchlich —
[7] darin mit, daß der erſte Petrarka ein gewand¬
ter zierlicher Staatsmann war. Der Notarius
glaubte, er duͤrfe, nach den Reden zu ſchlieſſen,
die er mehrmals ſiegend an Goldinen und die
Mutter gehalten, ohne Unbeſcheidenheit auf eini¬
ge Aehnlichkeit mit dem Italiener rechnen, falls
man ihn nur in die rechten Lagen braͤchte. So
geht eigentlich in dieſer Minute kein Juͤngling in
ganz Jena, Weimar, Berlin u. ſ. w. uͤber den
Markt, der nicht glauben muͤßte als Schrein —
Sakramenthaͤusgen — Heiligen-Haus — Rin¬
denhaus — oder Mumienkaſten irgend eines jezt
oder ſonſt lebenden GeiſterRieſen heimlich herum
zu laufen, ſo daß wenn man beſagten Schrein
und Mumienkaſten aufſchluͤge, der gedachte Rieſe
deutlich ausgeſtreckt darin laͤge und munter blick¬
te. Ja Schreiber dieſes war fruͤher fuͤnf bis ſechs
große Maͤnner ſchnell nach einander, ſo wie er
ſie eben gerade nachahmte. Kommt man frei¬
lich zu Jahren, naͤmlich zu Einſichten, beſon¬
ders zu den groͤſten, ſo iſt man nichts.
„Wir wollen doch in Einem fort hier auf-
und abgehen“ ſagte Walt, der in Vults Repli¬
[8] ken, zumal von ſeiner Himmelsluft berauſcht,
nichts ſpuͤrte als deſſen Manier. „Ins Bette
lieber; — wir ſtoͤhren vielleicht Klotharn, der
ſchon darin liegt, denn ich hoͤre, morgen ver¬
reiſet er auf einige Tage ſehr fruͤhe“ — berichtete
Vult, als woll' er ordentlich ſich ſelber zur Pein,
aus Walts vollem Herzen recht viel Liebe vor¬
preſſen.
„So ruhe ſanft, Geliebter!“ ſagte Walt
und ſchied gern von der lieben Stelle und dann
vom verdruͤßlichen Bruder. Voll Freude und
Friede zog der Notar nach Hauſe — in die ſtil¬
len Gaſſen ſchaueten nur die hohen Sterne —
er ſah im Marktwaſſer einer nach Norden ofnen
Straſſe die Mitternachts-Noͤthe abgeſpiegelt —
im Himmel zogen helle Woͤlkgen wie verſpaͤtet
aus dem Tage heim und trugen vielleicht oben
die Genien, die den Menſchentag reich beſchenket
hatten — und Walt konnte, als er ſo gluͤcklich
in ſein einſames daͤmmerndes Stuͤbgen zuruͤck
kam, ſich ſo wohl des Weinens als des Dankens
nicht enthalten.
Sehr fruͤh bekam er am Morgen von Vulten
[9] ein Briefgen, mit einer verſiegelten Inlage, uͤber¬
ſchrieben tempori!
Jenes lautete:
„Freund, ich fodere nichts von Euch als
eine kurze Unſichtbarkeit, bis mein Blinden- und
Floͤtenkonzert gegeben iſt, zumal da ich dazu Gruͤn¬
de habe, die Ihr ſelber habt. Schreiben koͤnnen
wir uns ſehr. Waͤchſt mein Erblinden ſo haſtig
fort wie bisher: ſo blaſ' ich den vierzehnten, ob¬
gleich als ſtokblinder Duͤlon, blos um nur das
arme Ohren-Publikum nicht laͤnger aus einem
Wochentagsblatt ins andere zu ſchleppen —. Ich
bitt' Euch, macht kein Inſtrument, ohne mirs
zu ſchreiben —. Ich hoffe, daß Ihr Familien-
Ehre ſchonet, wenn Ihr in den Webſtuhl tretet,
um das bewußte Freundſchafts-Band zu weben,
und daß Ihr darauf rechnet, daß ich noͤthigſten
Falls auch ein Paar Fußſtoͤſſe im Stuhle mit zu
thun bereit waͤre. Auf Beilage ſezt Euer Siegel
neben meines und ſchickt ſie zuruͤck; zu gehoͤriger
Stunde wird ſie vor Euch einſt erbrochen. Adio!
v. D. H.
Flegeljahre II. Bd. 2[10]
N. S. Man muß jezt meiner Augen wegen
mit ellenlangen Buchſtaben an mich ſchreiben wie
dieſe da.
Lezteres that Walt in ſeiner Antwort gern,
aber der Blindheit gedacht' er nicht, aus Wahr¬
heitsliebe. Er verſprach alles Verlangte und be¬
klagte leidend die Trennung einer ſo kurzen Ver¬
einigung; betheuerte aber, daß Vult jeden Schritt,
und jedes Gluͤck bei dem Grafen mit ihm ſchrift¬
lich theilen ſolle —. Uebrigens erkannte Walt in
dieſer Unſichtbarkeit den Bruder nur als einen
rechten Weltluchs, der ſich auch gegen das klein¬
ſte Wetter-Leuchten des Zufalls einbauet, das
den Menſchen oft mitten in ſeiner beſten Dun¬
kelheit vom Scheitel bis zur Sohle aufrecht
erhellet.
Das geheime Paquet haͤtte man dem Notar
eben ſo gut unverſiegelt geben koͤnnen, ſo ſehr er¬
freute er ſich, eine Gelegenheit der Treue gegen
andere und ſich zu erleben.
Das verſiegelte Blatt lautete ſo:
„Da es ungewis iſt, ob du je dieſen Brief
[11] an dich leſen darfſt: ſo kan ich offen genug ſchrei¬
ben. Es hat mich ungemein und dieſe ganze Nacht
durch gekraͤnkt, lieber Bruder — wer weis, ob
wir uns noch ſo anreden bei dem Erbruche die¬
ſes Blattes, der entweder im ſchlimmſten oder im
beſten Falle geſchieht, — daß du von der Freund¬
ſchaft deines Bruders nicht ſo, wie er von deiner,
befriediget wirſt, ſondern ſchon eine neue ſuchſt.
Daß ich deinetwegen im dummen Haslau blei¬
be, oder daß ich fuͤr Dich mit Wuͤrg-Engeln
und Scharf- und Hoͤllenrichtern mich herum¬
ſchlagen wuͤrde — daraus kann nicht viel gemacht
werden; aber daß ein Menſch, dem auf ſeinem
Reiſewagen das Herz halb ausgefahren, geraͤdert,
ja abgeſchnitten worden, doch fuͤr dich allein ei¬
nes mitbringt, das darf er anrechnen, zumal
in einem Tauſche gegen deines, das zwar unbe¬
ſchreiblich rein und heis, aber auch ſehr offen —
der Windroſe aller Weltgegenden — daſteht. Und
nun wirds gar einem Grafen aufgemacht, der
als Freund den Thron beſteigt, indeß ich auf
dem Geſchwiſter-Baͤnkgen oder Kinder-Stuͤhl¬
gen ſize — o Bruder, das durchbrennt mich.
[12] So Rotten-Weiſe, ſo in der Landsmannſchaft
aller Menſchen auch mit geliebt zu werden, und
um ein Herz ſich mit ſeinem ſammt hundert an¬
dern Herzen wie ein Archipelagus von Zirkel-In¬
ſeln herum zu lagern — — Freund, das iſt mein
Geſchmack nicht. Ich muß wiſſen und halten,
was ich habe.
Wollt' ich dir freilich meinen ſchwuͤlen Gift¬
baum, worunter ich dieſe Nacht geſchlafen, auf¬
blaͤttern: ſo kenn' ich dein ſchoͤnes ſanftes opfern¬
des Gemuͤth, — aber lieber wollt' ich ihn ganz
abernten, eh' ich ſo demuͤthig waͤre. Es verdrieſ¬
ſet mich ſchon, daß ich vor dir nur ſo viel ſchon
am Grafen getadelt. Sieh ſelber — waͤhle ſelber
— nur deine Empfindung treibe dich, hinzu
oder hinweg — Umgekehrt vielmehr werd' ich
dir alle moͤgliche Flugwerke, Strickleitern und
Schneckentreppen zum hohen Grafen machen und
leihen, dem ich ſo gram bin; aber dann, wann
du entweder ganz bezaubert, oder ganz entzaubert
biſt, loͤs' ich das Siegel von folgender Schilde¬
rung dieſes Herrn:
Er iſt nicht zum Ausſtehen. Eitelkeit des
[13] Stolzes, und Egoiſmus ſind die beiden Brenn-
oder Froſtpunkte ſeiner Ellipſe. Mir misfaͤllt
ein junger elender Fant gar nicht — denn ich ſeh'
ihn nicht, — der ein Narr iſt, ein Bilderdiener
ſeines Spiegelbilds, ein Spiegel ſeiner Pfauen¬
ſpiegel; und ſo gern ich in effigie jedem maͤnn¬
lichen Frazen, der ſich hinſezen und als Elegant
einem Mode-Journaliſten ſizen kan, einen tapfern
Fustritt gaͤbe: ſo bekuͤmmern mich doch die Nar¬
ren zu wenig, ja ich koͤnnte einem, der frei ſeine
Eitelkeit erklaͤrte, ſolche nachſehen . . . Hingegen
einem, der ſie laͤugnet — der den Pfauenſchweif
hinter den Adlersfluͤgeln einheften will — der
nur an Sonntagen ſchwarz gehet, weil da der
Schornſteinfeger weis gehet — der ſehr ernſt ſich
blos die Glaze auskaͤmmt — der wie eine Spinne
naͤchtlich das Gewebe, womit er die Sums-
Muͤke, Lob einfaͤngt, wieder verſchlukt und dann
wieder ausſpannt — und der die Anſpruͤche des
Philoſophen und Narren gern verbaͤnde — und
der natuͤrlich noch dabei vollends ſo egoiſtiſch iſt . . .
Ich ſage egoiſtiſch.
Macht ſich ein Menſch, Bruder, aus den
[14] Menſchen nicht viel, ſo bin ich ſtiller als einer
dazu; nur mach' er ſich auch nicht mehr aus
ſich, und im Streit-Fall ſeines und fremden
Gluͤks, waͤhl' er großmuͤthig. Hingegen ein
aͤchter, recht frecher Selbſtſuͤchtling, der ganz un¬
verſchaͤmt gerade die Liebe begehrt, die er ver¬
weigert, der die Welt in einer Kochenille-Muͤhle
mahlen koͤnnte, um ſich Weſte und Wangen roth
zu faͤrben, der ſich fuͤr das Herz der Allheit an¬
ſieht, deren Geaͤder ihm Blut zu- und abfuͤhrt,
und der den Schoͤpfer und Teufel und Engel und
die geweſenen Jahrtauſende blos fuͤr die Schaffner
und ſtummen Knechte, die Weltkugeln fuͤr die
Dienerhaͤuſer eines einzigen erbaͤrmlichen Ichs
nimmt: — Walt, es iſt bekannt, einen ſolchen
koͤnnt' ich gelaſſen und ohne Vorreden todt ſchla¬
gen und verſcharren. Die Leidenſchaften ſind doch
wenigſtens keke, grosmuͤthige, obwohl zerreiſſende
Loͤwen; der Egoiſmus aber iſt eine ſtille ſich ein¬
beiſſende fortſaugende Wanze. Der Menſch hat
2 Herzkammern, in der einen ſein Ich; in der
andern das fremde, die er aber lieber leer ſtehen
laſſe, als falſch beſeze. Der Egoiſt hat, wie Wuͤr¬
[15] mer und Inſekten, nur eine. Du, glaub' ich,
vermietheſt deine rechte an Weiber, die linke an
Maͤnner und behilfſt dich, ſo gut kannſt, im Herz¬
ohr oder Herzbeutel. Vom Grafen will ich dir
nichts ſagen, als daß er als proteſtantiſcher Phi¬
loſoph eine liebliche aber katholiſche Braut, —
dir frappant aͤhnlich in der Liebe gegen jeden
Athem des Lebens — ſchlechterdings aus ihrer
Religion in ſeine ſchleppen will, blos aus egoiſti¬
ſcher ſtolzer Unduldſamkeit gegen einen ſtillen
Glauben in der Ehe, der ſeinen als einen fal¬
ſchen ſchoͤlte.
Und dieſes Menſchen Kebs-Braut wollteſt
du werden? — Es ſchmerzet mich jezt, wo ich
mich ins Kuͤhle geſchrieben, recht ins Herz hin¬
ein, daß du Sanfter bis dahin, bis zur Eroͤfnung
dieſes Teſtaments dieſes Briefs ſo manche
Plage von zwei Spizbuben erdulden wirſt, wo¬
von der zweite ich ſelber bin. Denn wie ich bis
dahin ſchmollen, dich auf harte Proben ſtellen,
— z. B. auf die, ob meine Unſichtbarkeit, Er¬
grimmung und Ungerechtigkeit dir genug ans Herz
gehe — und wie ich uͤberhaupt des Teufels ge¬
[16] gen dich ſein werde, iſt Gott und mir am beſten
bekannt; denn ich kenne meine Schmol-Natur,
welche — ſo ſehr ich mir auf dieſer Zeile das Gegen¬
theil vornehme — ſo wenig, als ein ſchwimmen¬
der Kork in einem Gefaͤß Waſſer, in der Mitte
bleiben kann. Ach, auf jedem friſchen Drukbogen
des Lebens kommt immer unten der Haupttitel
des Werks wieder vor.
Mein Uebel aber eben iſt der Schmolgeiſt,
esprit de dépit d'amour, den mir eine der
vermaledeiteſten Feen muß in die Naſenloͤcher ein¬
geblaſen haben. Eine ſchlimmere Beſtie von Pol¬
ter- und Plagegeiſt iſt mir in allen Daͤmonologien
und Geiſter-inſeln noch nicht aufgeſtoſſen —.
Ordentlich als ſei das Lieben nur zum Haſſen da,
erboſſet man ſich den ganzen Tag auf das ſuͤſſeſte
Herz, ſucht es ſehr zu peinigen, breit zu druͤcken,
einzuquetſchen, zu viertheilen, zu baizen — —
aber wozu? — Um es halbtod an die Bruſt zu
nehmen und zu ſchreien: o ich Hoͤllenhund! So
gottlos hielt' ich mit Freunden Haus, noch gott¬
loſer freilich mit Freundinnen —. Drei tauſend
zwei hundert und fuͤnf mal ſoͤhnt' ich mich mit
[17] einer thuͤringiſchen Geliebten in dem kurzen Won¬
nemonde unſerer Liebe aus; — mit andern aber
oͤfter — und kuͤndigte doch gleich darauf, wie
ein kopulierter Fuͤrſt, die Seelen-Trauung wie¬
der durch Kanonen-Schuͤſſe und Mord-Knaͤlle
an, weil ich wieder den kleinſten ſchoͤnſten aller¬
liebſten Reif der Liebe fuͤr Schnee anſah —.
Bei ſolchen Umſtaͤnden, das ſchwur ich feierlich,
heirathe der Teufel oder ein Gott; denn iſt die
Perſon nicht abweſend, die man zu lieben hat (ab¬
weſend gehts ſehr; auch brieflich) oder was eben
ſo gut iſt, abgegangen mit Tod (Liebe und Teſta¬
ment werden durch Sterben erſt ewig): ſo hat
man nach den bekannten wenigen Flitter-Sekun¬
den ſeine Blei-Jahre, bringt ſein Leben wie an
einem Kamin hin, halb den Steis im Feuer,
halb den Bauch im Froſt oder wie ein Stuͤk Eis
im Waſſer, oben von der ſchoͤnen Sonne, unten
durch die Wellen zerflieſſend —. Und da ſchaue
Gott den Jammer! Jeder huͤte ſich, lehr' ich
oft genug, vor dem ſauern Schmol- und Salz¬
geiſt, weil's keinen ſchlimmern giebt —. Daß
ich immer abreiſete von alten Menſchen zu neuen,
[18] muß ich eben thun, um nicht zu zanken, ſon¬
dern noch zu lieben. Der Himmel weiß, wie
ich dich peinigen werde. Aber vorausgeſagt hab'
ichs hier in beſter Laune; und dann ſei dieſes
Blatt, wenn es aufgemacht wird, mein Schirm¬
mein Feigen- mein Oelblatt.
Q. H.
Nro. 19. Mergelſtein.
Sommers-Zeit — Klothars Jagd.
Izt fieng das Notariat des Notarius ordent¬
lich erſt recht an. Er wurde der allgemeine In¬
ſtrumenten-Macher der neugierigen Stadt. Ge¬
richtlich bei den Teſtamentsexekutoren ſind die
Schuldverſchreibungen, die Protokolle uͤber ver¬
dorbne Waarenfaͤſſer, Pachtbriefe uͤber Handels¬
gewoͤlbe, Kontrakte uͤber zu reparierende Stadt-
Uhren u. dergleichen niederlegt, die er in ſo kur¬
zer Zeit ausfertigte, daß ein alter hinkender No¬
tarius nicht wuſte, was er dazu ſagen ſollte aus
Grimm, ſondern zu Gott hofte, der Amtsbru¬
[19] der werde, was er da einbrocke, ſchon einmal
auszueſſen haben, wenn ihn einſt die 7 Erben
und die geheimen Teſtamentsartikel fuͤr jedes
Notariats-Verbrechen bei den Haaren nehmen,
wie ja das ſein taͤgliches Gebet zum Himmel ſei.
Walt fand nichts dabei unbegreiflich, als daß er
— freilich mehr ſein Petſchaft — im Stande
ſein ſollte, die wichtigſten Dinge zu beſtaͤtigen,
da er kaum begriff, wie er einſt einen Ehemann
oder Staatsbuͤrger abgeben koͤnnte ſtatt einem
leeren Juͤngling.
Seinem Bruder ſchrieb er, wie er mitten
unter den Inſtrumenten den Roman weiter webe,
indem er ſo lange, bis eine Kopie abtrokne, un¬
gehindert dichten koͤnne — ſo wie D' Agueſſeau
behauptete, er habe viele ſeiner Werke im Zwi¬
ſchenraume gemacht‚ wo er ſagte, qu'on ſerve,
und wo man meldete‚ qu'il etoit ſervi. Aber
Vult ſchrieb ihm Bitten und Gebote zuruͤck, ums
Himmelswillen bei ſich zu ſein, ſich nie zu ir¬
ren, kein Stunden-Datum und andere Beiwer¬
ke der Kontrakte zu vergeſſen, nie zu abbrevieren
mit Zeichen oder notis, obgleich notarius da¬
[20] von herſtamme; — da er zumal ſicher wiſſe,
daß man jedem Federzug auflaure und daß ihm
nur deshalb, der Hoffiſkal das Kunden-Heer
zuweiſe.
Einſt ſchrieb ihm etwas Aehnliches ſein Va¬
ter Lukas — nachdem er bisher jeden dritten
Tag muͤndlich deswegen gekommen war, — in
einem kalligraphiſchen, kopierten Briefe, worin
er ihn bei der Erbſchaft beſchwor, in ſeinen In¬
ſtrumenten nichts zu radieren, noch zweierlei
Dinte zu nehmen, und darauf befragte, ob es
auſſer Treibers Spazenrecht, Klubers Hunds¬
recht und Muͤllers Bienenrecht nicht noch Weſpen¬
rechte, Huͤhnerrechte und Rabenrechte gebe, und
was das Bienenrecht ſtatuire, wenn einer nur
eine Biene todt mache oder ein Paar. Der Sohn
ſchickte eine hoͤfliche und ernſte Antwort mit ei¬
ner Spielkarte, worein er einen Maxd'or als
einen Ehrenſold fuͤr den Rath geſteckt. Er hatte
das Goldſtuͤck gegen uͤbermaͤßiges Agio von
Neupetern erwechſelt, um ſeine Eltern durch das
Gold (den Phoͤnix und Meſſias des Landvolks,)
in den dritten Himmel zu werfen. Die Botenfrau
[21] muſt' ihm aber die Viertelſtunde ihrer Ankunft
beſtimmen und betheuern, damit er erſtlich bis
dahin in den ſeeligſten Traͤumen des nahen elter¬
lichen Gluͤckes ſchwimmen und zweitens doch
noch die Viertelſtunde koſten koͤnne, wo er ent¬
ſchieden wuſte, das ganze Haus in Elterlein ſei
nun auſſer ſich vor Jubel uͤber den Maxd'or und
laſſe Schomakern aus dem Schul- und die Gold¬
wage aus dem Pfarrhauſe darzu holen. So
viel ſuͤſſer wirds, lieber durch Boten als mit der
Hand, lieber fernen Leuten als einem daſizenden
Mann zu ſchenken, der alles ausmacht, wenn
er einſteckt und ſich bedanckt.
Seine alte Seelen-Schweſter Goldine er¬
hielt jezt einen Brief. Vorn herein ſchrieb er:
„er uͤbertreib' es nicht, wenn er ſowohl in Ruͤck¬
ſicht ſeiner jezigen Bekanntſchaften als ſeiner
kuͤnftigen Hoffnungen ſich fuͤr ein Gluͤckskind des
guͤtigſten Schickſals erklaͤre; und nur mit grie¬
chiſcher Furcht vor der Nemeſis bekenn' er, daß
ſein erſter Ausflug faſt zu gluͤcklich, ſeine erſte
Ziel-Palme ſchon voll Fruͤchte ſei und ſeine
Abende einen Abendſtern beſaͤßen, und die Mor¬
gen den Morgenſtern.“
[22] Darauf gieng er weiter zur Mahlerei des Som¬
merlebens, an welche er ſich ohne Furcht mit fol¬
genden Farben machte:
„Schon der Sommer allein erhoͤbe! Gott,
welche Jahres-Zeit! Warlich ich weis oft nicht,
bleib' ich in der Stadt oder geh' ich aufs Feld,
ſo ſehr iſts einerlei und huͤbſch. Geht man zum
Thor hinaus: ſo erfreuen einen die Bettler, die
jezt nicht frieren und die Poſtreiter, die mit vie¬
ler Luſt die ganze Nacht zu Pferde ſizen koͤnnen,
und die Schaͤfer ſchlafen im Freien. Man braucht
kein dumpfes Haus; jede Staude macht man
zur Stube und hat dabei gar meine guten aͤmſi¬
gen Bienen vor ſich und die praͤchtigſten Zweifal¬
ter. In Gaͤrten auf Bergen ſizen Gymnaſia¬
ſten und ziehen im Freien Vokabeln aus Lexizis.
Wegen des Jagdverbotes wird nichts geſchoſſen,
und alles Leben in Buͤſchen und Furchen und
auf Aeſten kann ſich ſo recht ſicher ergoͤtzen.
Ueberall kommen Reiſende auf allen Wegen da¬
her, haben die Wagen meiſt zuruͤck geſchlagen,
den Pferden ſtecken Zweige im Sattel und den
Fuhrleuten Roſen im Mund. Die Schatten der
[23] Wolken laufen, die Voͤgel fliegen darzwiſchen
auf und ab, Handwerkspurſche wandern leicht
mit ihren Buͤndeln und brauchen keine Arbeit.
Sogar im Regenwetter ſteht man ſehr gern drauſ¬
ſen und riecht die Erquickung, und es ſchadet
den Viehhirten weiter nichts, die Naͤſſe. Und
iſts Nacht, ſo ſizt man nur in einem kuͤhlern
Schatten, von wo aus man den Tag deutlich
ſieht am noͤrdlichen Horizont, und an den ſuͤſ¬
ſen warmen Himmels-Sternen. Wohin ich nur
blicke, ſo find' ich mein liebes Blau, am Flachs
in der Bluͤthe, an den Kornblumen und am goͤtt¬
lichen unendlichen Himmel, in den ich gleich
hineinſpringen moͤchte wie in eine Fluth. —
Kommt man nun wieder nach Hauſe, ſo findet
ſich in der That friſche Wonne. Die Gaſſe iſt eine
wahre Kinder-Stube, ſogar Abends nach dem
Eſſen werden die Kleinen, ob ſie gleich ſehr we¬
nig anhaben, wieder ins Freie gelaſſen, und
nicht wie im Winter unter die Bett-Decke ge¬
jagt. Man iſſet am Tage und weis kaum, wo
der Leuchter ſteht. Im Schlafzimmer ſind die
Fenſter Tag und Nacht offen, auch die meiſten
[24] Thuͤren, ohne Schaden. Die aͤlteſten Weiber
ſtehen ohne Froſt am offnen Fenſter und naͤhen.
Ueberall liegen Blumen, neben dem Dintenfaß,
auf den Akten, auf den Seſſions- und Ladenti¬
ſchen. Die Kinder laͤrmen ſehr und man hoͤrt
das Rollen der Kegelbahnen. Die halbe Nacht
geht man in den Gaſſen auf und ab und ſpricht
laut, und ſieht die Sterne am hohen Himmel
ſchießen. Selber die Fuͤrſtin geht noch Abends
vor dem Eſſen im Park ſpazieren. Die fremden
Virtuoſen, die gegen Mitternacht nach Hauſe
gehen, geigen noch auf der Gaſſe fort bis in ihr
Quartier und die Nachbarſchaft faͤhrt an die
Fenſter. Die Extrapoſten kommen ſpaͤter und
die Pferde wiehern. Man liegt im Laͤrm am
Fenſter und ſchlaͤft ein, man erwacht von Poſt¬
hoͤrnern, und der ganze geſtirnte Himmel hat ſich
aufgethan. O Gott, welches Freuden-Leben
auf dieſer kleinen Erde! Und doch iſt das erſt
Deutſchland! Denck' ich vollends an Welſch¬
land! — Goldine, dabei hab' ich noch die troͤſ¬
tende Ausſicht, daß ich dieſen Erntetanz der
Zeit, den ich Ihnen hier in matter Proſa ge¬
[25] ſchildert, weil ich Ihre Liebe, Ihr Vergeben
kenne, mit ganz anderem poetiſchen Farben-
Schmelze mahlen kann. — — Freundin, ich
ſchreibe einen Roman. — Genug, genug! was
ich ſonſt noch gefunden, was ich vielleicht nach
anderthalb Stunden finde — Goldine, duͤrfte ich
dieſe Freuden in Ihr Herz ausgießen! O muͤſt'
ich nicht vor die glaͤnzenden Sonnen-Wolken
verhuͤllende Erdenwolken ziehen! — Adio, Ca¬
riſſima!“
Aber hier ſprang er auf, ließ unabgeſchrie¬
ben den Kaufbrief liegen, unter deſſen Abfaſſung
er heute eben vernommen, daß Klothar zuruͤck
und der Himmel in der Naͤhe ſei, und lief in des
Grafen Garten. Im Schreiben war Walt
Befehlshaber ſeiner Phantaſie betraͤchtlich, aber
im Leben nur Diener derſelben; wenn jene ſpie¬
lend ihm ihre Blumen und Fruͤchte wechſelnd in
den Schoos hinein und uͤber den Kopf hinuͤber
warf: ſo drang unaufhaltſam ſein ernſters Herz
ſeinen Gaͤrten, ſeinem Gipfel zu und ſuchte den
Zweig.
In Klothars Park hoft' er auf ein ſchoͤnes
Flegeljahre II. Bd. 3[26] Begegnen. Alle Fenſter der Villa ſtanden offen,
aber kein Kopf darinn. Der Gaͤrtner, der ihn
fuͤr einen Gartenfreund nahm, gieng ihm nach
der Sitte mit einem Blumenſtraus in der Hoff¬
nung entgegen, er werde dieſe Gaͤrtners-Blumen-
Schwabacher und Fernſchreiberei leſen koͤnnen,
und ihm dafuͤr ein paar Groſchen ſchencken. Der
Notar weigerte ſich hoͤflich vor dem bluͤhenden
Geſchenke, nahm es endlich mit den dankbar¬
ſten Minen an, und druͤckte den aufrichtigſten
Dank noch muͤndlich vor dem Gaͤrtner aus, der
ſich mit den finſterſten uͤberwebte, weil er keinen
Heller bekam. Seelig ſtrich der Notar durch die
Gaͤnge, in die dunkeln Buſch-Niſchen, an be¬
titelte Felſen und Mauern, vor gruͤne Baͤnke
der Ausſichten — und uͤberall flog ihm ein Blu¬
menkranz auf den Kopf oder ein Sommervogel
ans Herz, naͤhmlich wahre Freuden, weil er
uͤberall ein Beet erblickte, woraus, wie er dachte,
ſein kuͤnftiger Freund ſich einige Blumen oder
Fruͤchte des ſchnellen Lebens-Fruͤhlings ausge¬
zogen. „Der edle Juͤngling kann — ſagte Gott¬
walt an den verſchiedenen Plaͤzen — wohl auf
[27] dieſer Bank lang der Abendroͤthe nachgeſehen ha¬
ben — in dieſem Bluͤthendickig daͤmmernde Her¬
zens-Traͤume ausgeſponnen — auf dem Huͤgel
wird er an Gott gedacht haben voll Ruͤhrung —
Hier neben der Statue, o wenn er hier koͤnnte
die ſanfte Hand ſeiner Geliebten genommen haben,
falls er eine hat — wenn er betet, that ers ge¬
wiß in dieſem maͤchtigen Hain.“
Es gab wenige Baͤnke im Park, worauf er
ſich nicht niederſezte, vorausſezend, Klothar habe
fruͤher da geſeſſen. — „Der engliſche Garten iſt
goͤttlich — ſagt' er abgehend zum ſtillen Gaͤrtner
an der Pforte — Abends erſchein' ich gewiß wie¬
der, liebſter Mann.“
Er machte auch zur verſprochnen Zeit die
Gartenthuͤre auf. In der Villa war Muſik.
Er verbarg ſich und ſeine Wuͤnſche in die ſchoͤnſte
Grotte des Parks. Aus der Felſenwand hinter
ihm drangen Quellen und uͤberhaͤngende Baͤume.
Vor ihm goß der glatte Fluß ſeinen langen Spie¬
gel durch ein Auen-Land. Windmuͤhlen kreiſe¬
ten ungehoͤrt auf den fernen Hoͤhen um. Ein
ſanfter Abendwind wehte das rothe Sonnengold
[28] aus den Blumen hoͤher um die Huͤgel. Eine
weibliche Statue, die Haͤnde in ein Veſtalinnen-
Gewand gehuͤllt, ſtand mit geſenktem Haupte
neben ihm. Die Toͤne der Villa hiengen ſich wie
helle Sterne ins Quellen-Rauſchen und blizten
durch. Da Gottwalt nicht wuſte, welches In¬
ſtrument Klothar ſpiele: ſo gab er ihm lieber
alle in die Hand; denn jedes ſprach einen hohen,
tiefen Gedancken aus, den er dem Herzen des
Juͤnglings leihen muſte.
Er entwarf ſich unter den ſuͤſſen Klaͤngen
mehrmals den Umriß von der unerhoͤrten Seelig¬
keit, wenn der Juͤngling auf einmal in die Grot¬
te traͤte und ſagte: „Gottwalt, warum ſteheſt du
ſo allein? Komme zu mir, denn ich bin dein
Freund.“
Er half ſich durch einige Strekverſe an Jo¬
nathan (ſo wollt' er im Haslauer Wochenblatte
den Grafen verziffern) die ihm aber ſchlecht ge¬
langen, weil ſein innerer Menſch viel zu rege und
zitternd war, um den poetiſchen Pinſel zu hal¬
ten. Zwei andere Strekgedichte, unter welche er
jene abſichtlich im Wochenblatte zum Scheine
[29] miſchen wollte als ſei alles Dichtung, waren
viel beſſer und hießen ſo:
Bei einem Waſſerfalle mit dem
Regenbogen.
O wie ſchwebt auf dem grimmigen Waſſer¬
ſturm der Bogen des Friedens ſo feſt. So ſteht
Gott am Himmel und die Stroͤme der Zeiten
ſtuͤrzen und reiſſen, und auf allen Wellen ſchwe¬
bet der Bogen ſeines Friedens.
Die Liebe als Sphinx.
Freundlich blickt die fremde Geſtalt dich an,
und ihr ſchoͤnes Angeſicht laͤchelt. Aber verſtehſt
du ſie nicht: ſo erhebt ſie die Tazen.
Eben kam der Gaͤrtner und befahl ihm an,
ſich weg zu machen, weil man den Garten
ſchließe. Er dankte und gieng willig. Aber zu
ſeinem Erſtaunen fuhr er in der Theaterſchneiders
Gaſſe nahe vor einem ſechsſpaͤnnigen Fackel-
Wagen vorbei, worinn Klothar ſaß nebſt andern,
ſo daß er im Garten manches, ſah er, vergeblich
empfunden. Er gieng noch eine halbe Stunde
vor Vults Fenſtern auf und nieder zwar ohne
dieſen zu ſehen, der ihn ſah, aber doch um ihn
ſich nahe zu denken.
[30]
Tags darauf hatt' er das Gluͤck, den Gra¬
fen, der mit einer alten krummen Dame engliſch
ſprach, auf einem Garten-Gange zu treffen und
vor deſſen ernſtem ſchoͤnen Geſicht den Hut mit
Liebes-Augen zu ziehen. Er ſuchte ihm noch
ſechs oder ſiebenmale aufzuſtoßen, und zog eben
ſo oft — aus Unbekanntſchaft mit der Garten-
Kleiderordnung — den Salutier-Hut, was zu¬
lezt dem Grafen ſo verdruͤßlich fiel, daß er un¬
ter Dach und Fach auswich. Auch der Gaͤrt¬
ner, der laͤngſt uͤber ihn und ſeine ſcharfen Beo¬
bachtungen des Land-Hauſes ſeine eignen ange¬
ſtellt, wurde konfus und glaubte, etwas zu ver¬
muthen.
Noch ſpaͤt Abends kam ein Laͤufer vom pol¬
niſchen General Zablocki — der in Elterlein
das bekannte Ritterſchloß hatte — mit dem Be¬
fehle, ſich morgen ganz fruͤh punkt 11 Uhr ein¬
zuſtellen, um etwas zu machen. „O lieber,
wenn doch mein Klothar ein Inſtrument bei mir
beſtellte! Gaͤb' es denn eine holdere Gelegen¬
heit?“ dacht' er. Punkt 11 Uhr kam derſelbe
Laͤufer und beſtellt' ihn ab. Aber an der Wirths¬
[31] tafel vernahm er, welche Himmelskugel nahe
vor ihm ſeitwaͤrts weggezogen war.
Die Tiſch-Genoſſenſchaft vereinigte ſich
naͤmlich, das goͤttliche Gemuͤth einer gewiſſen
„Generals Wina.” zu erheben. .. Es giebt
vielerlei Ewigkeiten in der armen zeitlichen Men¬
ſchenbruſt, ewige Wuͤnſche, ewige Schrecken,
ewige Bilder — ſo auch ewige Toͤne. Der Laut
Wina, ja nur der verwandte Win'gen, Wien,
Mine, Muͤnchen, er faſte den Notar eben ſo ſehr,
als wenn er an — Aurikeln roch, auf deren
Duft-Wolken er ſich ſo lange in neue auslaͤn¬
diſche Welten verſchwamm, bis er entdeckte, daß
er nur die fruͤheſten ſeines Lebens thauig aus¬
gebreitet ſehe. Und die Urſache war eben Eine.
In ſeiner Kindheit war naͤmlich, da er an den
Blattern blind da lag, ein Fraͤulein Wina, die
die Tochter des General Zablocki, dem das
halbe Dorf oder die ſogenannten Linken gehoͤrte,
mit der Mutter zum Schultheiß gekommen. In
der Familie hatte ſich erhalten, daß das kleine
Maͤdgen geſagt, der arme Kleine ſei ja ſehr todt, und
ſie woll' ihm alle ihre Aurikeln geben, weil ſie
[32] ihm keine Hand geben duͤrfte. Der Notar be¬
theuerte, daß er ſich es noch klar und ſuͤß erin¬
nere, wie ihn Blinden der Aurikeln-Geruch durch¬
drungen und ordentlich berauſcht und aufgeloͤſet
habe, und wie er ein peinliches Schmachten ge¬
fuͤhlt, nur eine Fingerſpize des Kindes, deſſen
ſuͤſſes Stimm'gen ihm fern, fern herzukommen
ſchien, anzuruͤhren. Und wie er die kuͤhlen Blu¬
menblaͤtter an ſeinen heiſſen Lippen todtgedruͤckt.
Dieſe Blumen-Geſchichte muſt' ihm, erzaͤhlt'
er, in der Krankheit und nachher in der Geſund¬
heit unzaͤhlige male erzaͤhlt werden, er habe aber
Wina nie aus ſeiner Kindheits-Daͤmmerung ge¬
laſſen und ſie ſpaͤter nie angeſehen, weil er es
fuͤr Suͤnde gegen dieſes fuͤr das Tageslicht or¬
dentlich zu heilige zarte Weſen gehalten. Wenn
anſehnliche Dichter ihre Arme und Fluͤgel zu¬
ſammenſtellen, um wie auf einem Minervens
Schilde eine Schoͤnheit empor zu heben durch
Wolken hindurch, uͤber ſchwache Monde, mit¬
ten unter die Nacht-Sonnen hinein: ſo hob
doch Walt die ungeſehene ſuͤß ſprechende Wina
viel hoͤher naͤmlich in das dunkle tiefſte Sternen¬
[33] blau, wo das Hoͤchſte und das Schoͤnſte gluͤht
und ſtrahlt, ohne Strahlen fuͤr uns Tiefe; gleich
den großen Zentral-Sonnen Herſchels, welche
durch ihre unendliche Groͤße ihren unendlichen
Glanz wieder an ſich ziehen und ungeſehen in
ihrem Feuer ſchweben.
Gottwalt fragte, ob dieſe Wina die Toch¬
ter Zablocki's ſei. Er hoͤrte, es ſei dieſe eben die
Braut — Klothars. Welche Ueberraſchung,
ſich einen maͤnnlichen, markigen ſcharfen Geiſt
und Freund mit der ſanften Liebe zu denken, mit
dem Daͤmpfer, der das Schmettern zu Nach-
und Wiederklaͤngen erweicht, einen Heros neben
einer heiligen Jungfrau — und auf der andern
Seite ſich die Braut eines Freundes zu denken,
dieſe hoͤhere geiſtige Schweſter, dieſe Gott geweih¬
te Nonne im Tempel der Freundſchaft, (denn
fuͤr eine ſchoͤne Seele giebt es keine ſchoͤnere als
des Freundes Geliebte) — — mehr Liebe und
Freuden-Traͤume konnte eine einzige Nachricht
ſchwerlich einem Menſchen zuwerfen, als die
neue dem Notar die neueſte ausgenommen, daß
heute beim General die Ehepakten aufgeſezet wor¬
[34] den oder doch wuͤrden. Der Notar, der aus
ſeiner Abbeſtellung das Widerſpiel wuſte, fuhr
ordentlich vor der aufgeſchobenen Herzens-Szene
zuſammen, die ihm entgangen war, „ich glaube,
ich ſterbe — dacht' er, — vor Liebe gegen zwei
ſolche Menſchen, die ich auf einmal in ihrer faͤn¬
de, den Kontrakt wuͤrd' ich ohnehin mit zehn¬
tauſend Fehlern aufſetzen, und ſtaͤnde mein Kopf
darauf.“
Er hoͤrte aber noch mehr. „Der Graf, ſag¬
te die Wirthstafel, heirathe ſie bei ſeinem Reich¬
thum nur der Schoͤnheit und Ausbildung we¬
gen, denn er habe zehnmal mehr Geld als der
General Schulden. „Was thuts, ſagt ein un¬
beweibter Komoͤdiant, der Vaͤter machte,
die Hehre ſoll die Liebe und Charis ſelber ſein.“
— „Zwar die Mutter in Leipzig glaub' ich —
verſezte ein Konſiſtorial-Sekretair — konſentiert
bequem, da ſie lutheriſcher Konfeſſion iſt, ſo gut,
wie der Braͤutigam; aber der Vater“ — —
Wie ſo? fragte der Komoͤdiant. „Tochter und
Vater ſind naͤmlich Katholiken“ antwortete der
Sekretair. — „Wird ſie die Religion changieren?“
[35] fragte ein Offizier. „Das weis man eben
nicht.” (ſagte der Sekretair;) bleibt ſie inzwiſchen
bei ihrer, ſo ſind ſehr viele Dinge vorher auszuma¬
chen; und beide muͤſſen durchaus zweimal kopuliert
werden, einmal von einem lutheriſchen Geiſtli¬
chen, hernach von einem katholiſchen.” — „Ihr
Konſiſtorien, ſagte der Offizier, bleibt doch bei
Gott ein ganzer wahrer diffiziler, nichts nuͤzi¬
ger, langweiliger Schnikſchnak, der mich ordent¬
lich revoltiert; wie ſtecht ihr ab gegen einen
Feldprediger!” —
So beklommen als (nach der mediziniſchen
Geſchichte) Leute erwachen, die in ihrem Schlaf¬
zimmer einen Pomeranzenbaum hatten, der in
der Nacht die Bluͤthen aufthat, und ſie mit ſei¬
nem Duft-Fruͤhling uͤberfiel: ſo ſtand Walt,
mit der ſuͤß-nagenden Geſchichte am liebewunden
Herzen, vom Tiſche auf. Er wollte, er muſte
die Brautleute ſehen. Wina, die er fruͤher als
der Graf, wenigſtens gehoͤrt, konnt' er ordent¬
lich bitten, ihn dem Braͤutigam, und dieſen,
den er laͤngſt geſehen und geſucht, ihn der Braut
vorzuſtellen. Sehr hatt' ihm an der Wirthstafel
[36] die Bemerkung gefallen, daß Wina eine Katholi¬
kin ſei, weil er ſich darunter immer eine Nonne
und eine welſche Huldin zugleich vorſtellte. Auch
daß ſie eine Polin war, ſah er fuͤr eine neue Schoͤn¬
heit an; nicht als haͤtt' er etwa irgend einem
Volke den Blumenkranz der Schoͤnheit zugeſpro¬
chen, ſondern weil er ſo oft in ſeinen Phantaſien
gedacht: Gott, wie koͤſtlich muß es ſein, eine
Polin zu lieben — oder eine Brittin — oder
Pariſerin — oder eine Roͤmerin — eine Berlinerin
— eine Griechin — Schwedin — Schwabin —
Koburgerin — oder eine aus dem 13 Saͤkul —
oder aus den Jahrhunderten der Chevalerie —
oder aus dem Buche der Richter — oder aus
dem Kaſten Noaͤ — oder Eva's juͤngſte Tochter
— oder das gute arme Maͤdgen, das am lezten
auf der Erde lebt gleich vor dem juͤngſten Tage.
So waren ſeine Gedanken.
Den ganzen Tag gieng er in neuer Stim¬
mung herum, ſo kuͤhn und leicht — als lieb'
er ſelber, war ihm — und doch war ihm wieder,
als wenn er zwar alle habe, aber keine — er
wollte Winen eine Brautfuͤhrerin zufuͤhren, in
[37] die er ſelber ſterblich verliebt waͤre — er lechzete
nach dem Bruder, nicht um ihn daruͤber zu be¬
lehren oder zu vernehmen, ſondern um eine liebe
Menſchenbruſt zum Druk an ſeine zu haben —
ein groſſer Regenbogen Abends in Oſten ſpannt'
ihn noch hoͤher. Der leichte ſchwebende Bogen
ſchien ihm ein ofnes Farben-Thor fuͤr ein unbe¬
kanntes Paradies — es war der alte glaͤnzende
Siegesbogen der Sonne, durch welchen ſchon oft
ſo viele ſchoͤne, tapfere Tage gegangen, ſo viele
ſehnſuͤchtige Augen geſehen. Auf einmal fiel ihm
ein gutes Mittel ein, drei Wuͤnſche zu befriedigen,
zwei laute und einen ſtillen.
Nro. 20. Zeder von Libanon.
Das Klavierſtimmen.
Es iſt bekannt, daß nach der ſechsten Klau¬
ſel des Teſtamentes der Notar auch einen Tag
lang ſtimmen muß, um zu erben. Laͤngſt hatt'
ihn auſſer Vult noch ſein Vater, der nicht erwar¬
ten konnte, wie der ſogenannte Regulier-Tarif
[38] oder die geheimen Artikel Fehler ſezen und ſtrafen
wuͤrden, um Verwaltung dieſes Erb-Amts als
des kuͤrzeſten angelegen, um hinter die Ehrlich¬
keit des ſeel. Teſtators zu kommen; aber Walt
hatte beiden ſtets das Unrecht entgegengeſezt, den
alten gebenden Mann fuͤr einen Schelm zu hal¬
ten. Aus ſchoͤnern Gruͤnden hingegen konnt' er
jezt ſtimmen, wenn er wollte; dieſe waren die
dreifache Hofnung, er werde, da ſein Stimm-Amt
vorher im Wochenblatt dem Publikum muſte an¬
geboten werden, in die vornehmſten Haͤuſer und
Zimmer kommen — die ſchoͤnſten Toͤchter vor¬
finden (denn Toͤchter und Inſtrumente ſind nicht
weit auseinander) — und wohl auch die koͤſtli¬
chen Mahagony-Piano von Schiedmaier auf¬
decken, auf deren Taſten Klothar und Wina die
beringten Finger gehabt.
Walt betrieb feurig die Sache ohne alles
Rathfragen. Er zeigte ſeinen Willen den Teſta¬
ment Exekutoren oder dem regierenden Buͤrgermei¬
ſter Kuhnold an. Dieſer eroͤfnete ihm, daß er
nach dem geheimen Regulier-Tarief 4 Louis aus
der Erbſchaftskaſſe erhalte, weil der Teſtator ihn
[39] keiner Verbindlichkeit fremder Bezahlung ausſe¬
zen wollen. Wie ein Vater ermahnte er ihn,
ſein Ohr unter dem Stimmen nicht zu zerſtreuen
und er wuͤrde ihm deutlicher rathen, ſagt' er, wenn
es ſeine Pflicht erlaubte. „Auch ich geb' Ihnen
ein Inſtrument“ ſezt' er mit einem wohlwollen¬
den Laͤcheln dazu. Walt — in die Liebe ver¬
liebt — erinnerte ſich mit Vergnuͤgen an Kuh¬
nolds bekannte fruchttragende Ehe voll Toͤchter.
Die Sache wurde ins Wochenblatt geſezt.
Der einſylbige Vult ſchrieb nach der Er¬
ſcheinung deſſelben einen ganzen faſt ernſthaften
Kautelar-Bogen voll Predigten uͤber Saiten-
Nummern, Seiten-Sprengen und falſche Tem¬
peraturen, ſamt dem Flehen, doch nur einen
Tag lang kein Dichter zu ſeyn. „Sondern In¬
ſtrumente ſtatt zu machen wie ein Notar, zu
ſtimmen wie ein ordentlicher Regenſpurger Ko¬
mizial-Menſch.“
Am Abend vor dem Stimm-Tag erhielt
Walt die Liſte der Stimmhaͤuſer; aber darunter
war weder ſein Wohnhaus — Neupeter war
zu ſtolz dazu — noch Klothars und Zablockis
ihre, doch ſonſt hohe genug.
[40]
Als er am Morgen zuerſt bei Kuhnold —
nach der ancienneté des Meldens hatt' er zu
hauſieren — als Stimmer ankam: fand er im
netten, glatten Klavier-Zimmer ſtatt der dlles
Kuhnold den oben gedachten hinkenden graͤmlichen
Notar, den der Fiſkal Knol als der Kardinal¬
protektor der 7 Erben, hergeſchickt zum Zeugen
aller Fehler, weil ein Notar, wie Deutſchland
weis, zwei Zeugen ſchwer wiegt, folglich fuͤr das
Jus gerade jener nervus probandi, und erſter
Grundſaz der Widerſpruchs, jene geiſtige toni¬
ca dominante oder Primzahl iſt, wornach ſo
lange ſchon die Weltweiſen wettrennen, um ſol¬
che nur zu ſehen; daher der Juriſt in Minuten
mehr beweiſet, als der Philoſoph in Saͤkuln. —
Auch war Knol weitlaͤuftig ſchriftlich darauf
beſtanden, den Stimm-Tag durchaus nicht
zu Walts Notariats-Zeit zu ſchlagen —
was ſich, replizierte Kuhnold, ja von ſelber ver¬
ſtanden haͤtte.
Das heiter-geordnete Zimmer ohne Toͤchter
trug indes uͤberall die Farben-Aſche weiblicher
Schmetterlings-Fluͤgel, bunte Arbeiten und Ar¬
[41] beitszeug ſchoͤner Finger. Das Pianoforte war
faſt wie geſtimmt, nur zu hoch um einen Ton
— eine Stimmgabel lag dabei — auf den Taſten
waren die Nummern der Seiten, auf dem Sang¬
boden neben den Stiften das Taſten-Abc mit
ſchwaͤrzerer Dinte retouchiert — fuͤr Stille war
in der Nachbarſchaft geſorgt — und Kuhnold
kam zuweilen nachſchauend, aber ohne ein Wort
zu ſagen. Er bot den Notarien ein Fruͤhſtuͤck
an. „Wollte Gott, dachte Walt, eine oder
die andere Tochter truͤg' es herein!“ Eine runz¬
liche ehrliche maͤnnliche Haut von mehr Jahren
als Haaren bracht' es ſo freundlich als ſei ſie
in der That der Wirth. — —
Redlicher Buͤrgermeiſter van Haslau, laſſe
mich in dieſer Minute wo ich eben die folgende
Nummer und Naturalie Grosmaul oder
Wydmonder ſammt Dokumenten von dir
und der Poſt erhalte, die Geſchichte mit der Ver¬
ſicherung ſtoͤren, daß ich wiſſen wuͤrde, wie hoch
ich dich zu ſtellen habe — waͤreſt du auch weni¬
ger der Schirmherr des ewig in Schlingen gehen¬
den Notars —, ſchon daraus mein' ich, daß du
Flegeljahre II. Bd. 4[42] erſtlich einen ganz alten (wahrſcheinlich beweib¬
ten) Bedienten haſt, und daß er zweitens noch
vergnuͤgt ausſieht.
Beide Notarien fruͤhſtuͤkten und der Exekutor
ſprach, waͤhrend die Wachparade gleichſam mit
ihrem Rauſchgold und Knallſilber auf den Uni¬
formen, mit einem Geſchrei auf der Trommel,
das nicht blos an die Haut des ſie uͤberziehen¬
den Thiers erinnerte, vorbei marſchirte und nie¬
manden ſonderlich die Stimme und das Stim¬
men zulies. Da hinter der Parade noch Muſik
engliſcher Bereiter zog: ſo verſicherte Kuhnold,
jezt hoͤre niemand ſein Wort, geſchweige den
zaͤrteſten Miston.
So gieng der ganze Vormittag unter fehler-
und toͤchter-loſem Stimmen voruͤber und beide
Notarien zum Eſſen, jeder ganz verdruͤßlich, der
hinkende daruͤber, daß er wie ein Narr dageſeſſen
ohne das geringſte moͤgliche Niederſchreiben, der
ſtimmende, daß er niemand geſehen. In gewiſ¬
ſen Jahren verſteht das maͤnnliche — und das
weibliche Geſchlecht unter Niemand das eigne,
und unter Jemand das andere.
[43]
Zu Buchhaͤndler Pasvogel zogen darauf bei¬
de Notars. Dem Fluͤgel des Stimm-Hauſes
fehlte nicht ſo ſehr die Stimmung als Saiten
dazu. Statt des Stimmhammers muſte Walt
mit einem Gewoͤlb-Schluͤſſel drehen und arbeiten
fuͤr Muſikſchluͤſſel. Ein geſchmuͤktes ſchoͤnes Maͤd¬
gen von 15 Jahren, Pasvogels Nichte, fuͤhrte ei¬
nen Knaben von 5, deſſen Sohn, in ſeinem Hem¬
de herum und ſuchte leiſe-ſingend, eine leiſe Tanz-
Muſik aus den zufaͤlligen Stimm-Toͤnen zuſam¬
men zu weben fuͤr den jungen Satan. Der Kon¬
traſt des kleinen Hemdes und der langen Chemi¬
ſe war artig genug. Ploͤzlich ſprangen die drei
Saiten a, c, h, nach Haslauer offiziellen Be¬
richten, welche gleichwohl nicht feſtſezen, in wel¬
chen geſtrichnen Oktaven. „Ja lauter Lettern
aus ihrem Namen, G. Harniſch Pasvos
gel.“ Sie wiſſen doch die muſikaliſche Aneckdo¬
te von Bach. Es fehlt ihnen nur mein p! —
„Ich ſtimme am b, ſagte Walt, aber fuͤr das
Springen kann ich nicht.“ — Da der hinkende
Notar ſo viel Verſtand beſaß, um einzuſehen,
daß ein Stimm-Schluͤſſel nicht drei Saiten auf
[44] einmal ſprenge: ſo ſtand er auf und ſah nach
und fands. „Aus dem Ach, wird ja ein Bach,
(ſcherzte der Buchhaͤndler ablenkend). Was macht
der Zufall fuͤr Wortſpiele, die gewis keine Biblio¬
thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften unterſchriebe oder
ſchriebe“! Allein der hinkende Notar verſicherte,
die Sache ſei ſonderbar und protokoll-maͤſſig;
und als er noch einmal den Sangboden beſah,
gukte gar hinter der Papier-Spirale aus dem
Reſonanz-Loche eine — Maus heraus. „Die
hats gemacht“ ſagt' er, ſchrieb es nieder und
ſchuͤttelte ſo, als ob er vermuthe, der Buchhaͤndler
habe ſie aus Abſichten in den Sangboden ſchieſ¬
ſen laſſen. Walt fragte auf einmal ſich beſin¬
nend: „ſtimm' ich denn fort? Ich ſehe uͤberall
die Mausſpuren und alles ſpringt.“ Er legte
den Gewoͤlb-Schuͤſſel ſanft hin. Pasvogel woll¬
te als hiziger Mann ausfallen. Aber Walt ent¬
kraͤftete ihn durch die Erklaͤrung, er wolle in der
Stadt herumſtimmen und zu ihm zulezt, aber
bei andern Saiten kommen.
Sie giengen zu H. van der Harniſch, der ſich
auch auf die Liſte geſezt. Er ſagte, er erwartete
[45] jede Stunde ſein Mieth-Pantalon, und lies bei¬
de faſt eine ganze lauern. Es verſchnupfte or¬
dentlich den hinkenden Notar, der noch dazu nicht
faſte, wie der ſtimmende den Edelmann ſo lieb¬
reich anſchauen konnte. Walt ſchrieb alles dem
bruͤderlichen Sehnen nach Wiederſehen zu, indeß
Vult dabei die Abſicht hatte, dem Tage und
Band-Wurm, der an der Erbſchaft fras, ein
Stuͤck abzureiſſen. Endlich lies er beide unver¬
richteter Sache abziehen, nachdem er ſie ein Paar¬
mal gefragt, ob ſie noch da waͤren, weil er ſie
nicht hoͤre in ſeiner Blindheit.
Sie kamen zu einer verwittibten ſchoͤnen Stik¬
junkerin, die ſich mit ihrem Stikrahmen (eine
Paukendecke ſtikte ſie) ſehr nahe an das gleiſſend¬
gebohnte Klavier ſezte, das ſie ihn vielleicht ſtim¬
men lies, um ihn fuͤr ſich zu ſtimmen. Er
horchte ſo vergnuͤgt auf ihre Anreden, daß er ein¬
mal den Stimmhammer auf den Sangboden
fallen lies und ein Paar Seiten abdrehte. Am
Ende des Geſchaͤfts zeigte ſie ihm das muſikali¬
ſche Wuͤrfelſpiel und bat ihn, damit zur Probe
zu komponiren. Er thats und ſpielte ſeine erſte
Kompoſizion vom Blatte; er wollte noch laͤn¬
[46] ger Vorſpielen — denn nie ſpielt der Menſch lieber
als nach dem Stimmen —; aber der hinkende Notar
ſezt' ihm die Teſtaments-Klauſel entgegen. Die
Stuͤkjunkerin machte ſelber einige pruͤfende Grif¬
fe — der Schoos-Hund ſprang empor und gieng
mit vier dergleichen uͤber die Taſtatur und ver¬
ſtimmte ein wenig. Walt wollte nachhelfen; aber
der hinkende Notar trieb ihn mit der Klauſel von
dannen. Er gieng ungern. Sie war eine blon¬
de Wittwe von 30 Jahren, alſo um 5 oder 7
Jahre juͤnger als eine Jungfrau von 30. Es
freuete ihn, daß die Saite doch einmal der her¬
rufende Klingeldrath der Schoͤnheit geworden;
„aber Himmel, dacht' er, ein Stimmen kann ich
ja im Doppelroman zur Einkleidung aller Zufaͤlle
gebrauchen!“ —
Er muſte zum Polizeiinſpektor Harprecht,
der, wie ſein Protokolliſt ſagte, mit einer Heerde
Toͤchter geſchoren ſei. Harprecht empfieng ihn ſehr
verbindlich, ſtaͤubte ein altes Hakbret eilig weiter
ab und ſchob ihm daſſelbe freundlich zum Stimmen
vor. Toͤchter waren nicht zu ſehen. Walt ſtuzte
und ſagte mit langer ſanfter Hoͤflichkeit Nein; er ſezte
auseinander, daß er, da in der 6 Klauſel nur von Kla¬
[47] vieren die Rede ſei, durch heutiges Stimmen —
morgendes verſprach' er ihm gern — gegen die
vielen noch reſtirenden Stimm-Haͤuſer auf der
Liſte (er wies ſie vor) verſtoſſen wuͤrde, die alle
ein gleiches Recht auf ſein Stimmen ohne Geld
beſaͤſſen. Auch der hinkende Notar ſagte, unter
Klavier koͤnne nicht wohl ein Hakbrett begriffen
werden.
„Oft doch, — verſezte mit alter Liebreichig¬
keit Harprecht, laͤchelnd blos mit einem Mund¬
winkel, ſo wie er nur eine gerade Stirnfalte run¬
zelte —; allein er ſei vielleicht ſo billig als einer;
und da er mit dem Hoffiſkal Knol Ein Inſtru¬
ment gemeinſchaftlich gemiethet fuͤr ihre Kinder,
ſo begleit' er ihn zum Stimmen deſſelben hin,
um ſich das Vergnuͤgen ſeiner Geſellſchaft etwas
zu verlaͤngern, duͤrf' aber gewis bei der Teſta¬
ments-Exekuzion darauf antragen, daß das
Compagnie-Inſtrument und alſo jeder Stimm-
Fehler fuͤr zwei gelte, wobei ja H. Harniſch ge¬
nug an Zeit und Muͤhe erſpare und gewinne“ —
„Wahrlich, verſezte Walt, ich wollt' es waͤre Recht,
ich fragte nichts darnach.“ Harprecht druͤkte ihm
[48] die Hand, und ſagte, einen ſolchen jungen Mann
haͤtt' er laͤngſt zu finden gewuͤnſcht; und alle
giengen. „Eben jezt, ſagte Harprecht unter¬
wegs, Tanz- und Klavierſchule bei Knol und
alle meine Toͤchter.“
Es wird nicht unter der Wuͤrde der Geſchich¬
te ſein, hier anzumerken, daß Harprecht und
Knol ſich ein einziges Spinet als eine Finger-
Tenne und Palaͤſtra fuͤr ihre Jugend und deren
parzielle Gymnaſtik, ein paſſives Hammerwerk
fuͤr ihr aktives, gemeinſchaftlich beſtanden von
einem alten Kanzelliſten, und daß das Spinet
alternirend von einem Semeſter zum andern in
den Haͤuſern beider Dioſkuren ſtand. Harprecht
hatte ſogar den Curas und Meidinger aus der
Gymnaſiumsbibliothek fuͤr die galliſchen Stunden
ſeiner Toͤchter geborgt, und ſagte, er ſchaͤme ſich
deſſen gar nicht.
Der kuͤrzere Weg zum Fiſkal gieng durch
gruͤne, rothe, blaue, bunte Gaͤrten, denen der
Vor-Herbſt ſchon die Fruͤchte faͤrbte vor den
Blaͤttern; und Walt, dem die Veſper-Son¬
ne ſo warmfreundlich ins Angeſicht fiel, ſehnte
[49] ſich in den Abend-Glanz hinaus. „Waͤren Sie
im Stande, ſagte Harprecht, ſo auf der Stelle
ein Gedicht in Ihrer neuen Gattung, die man
ſo lobt, auf was man will, zu machen —? Et¬
wa ein Gedicht uͤber die Dichter ſelber, z. B.,
wie ſie gluͤcklicher Weiſe ſo hoch ſtehen auf ihrer
fernen idealiſchen Welt, daß ſie von der kleinen
wirklichen wenig oder gar nichts ſehen und alſo
verſtehen?“ — Er ſann lange nach; und ſah
gen Himmel; endlich ſchlug aus dieſem der ſchoͤne
Bliz eines Gedichtes in ſein Herz. Er ſagte, er
hab' etwas; und bitt' ihn blos ſich zu deſſen Ver¬
ſtaͤndnis an die aſtronomiſche Meinung zu erinnern,
daß das, womit die Sonne leuchtet, nicht ihr
Koͤrper ſei, ſondern ihr Gewoͤlke. Er fieng an und
deklamirte in die Sonne ſchauend:
Die Taͤuſchungen des Dichters.
Schoͤn ſind und reizend die Irrthuͤmer des
Dichters alle, ſie erleuchten die Welt, die die ge¬
meinen verfinſtern. So ſteht Phoͤbus am Him¬
mel; dunkel wird die Erde unter ihrem kalten
Gewoͤlke, aber verherrlicht wird der Sonnengott
durch ſeine Wolken, ſie reichen allein das Licht
[50] herab und waͤrmen die kalten Welten; und ohne
Wolken iſt er auch Erde.
„Huͤbſch und ſpizig genug“ ſagte der In¬
ſpektor mit aufrichtigem Lob einer Ironie, die er
im Strekvers fand, die aber nicht der Dichter, ſon¬
dern das Schikſal hineingelegt. — In ſolcher
Eile — verſezte Walt — kann man zwar wohl
den Gedanken ſchaffen — denn jeder Gedanke
des Menſchen iſt doch ein Impromptuͤ — aber
gar zu ſchwer den rechten Versbau; ich gaͤbe ein
ſolches Gedicht nie oͤffentlich.
Sie traten ins laute Knolliſche Zimmer ein,
wo auſſer dem Kompagnie-Spinet und dem Com¬
pagnie-Muſik- und Tanzmeiſterlein noch der Zu¬
ſammenwurf beider Neſter war, die mit Fuͤſſen
und mit Haͤnden ſauſen und brauſen wollten —
lauter hagere, ſchmalleibige, haͤnghaͤutige,
mokante, ſcharfe Maͤdgen-Figuren von jedem
Alter, worunter zwei Knaben mit turnirten.
Saͤmmtliche Tanzſchule harrete auf ihre Klavier¬
ſchule, die wieder auf das Stimmen des Spiners
wartete.
[51]
Der Muſikmeiſterlein ſchwur, heute ſei da¬
ran nichts zu brauchen, ſo toll klinge das Spi¬
net. Gleichwohl hatte ſich den Abend vorher
der Polizei-Inſpektor uͤber das Spinet gemacht,
um, wie er ſagte zum Fiſkal, der ihn vertrauend
machen lies, dem jungen Univerſal-Erben etwas
vorzuarbeiten — hatte aber die meiſten Saiten
zu tief herabgelaſſen — ferner im Eifer der
Vorarbeit zu dicke Nummern auf dreimal ge¬
ſtrichne Noten oder Taſten geſpannt — und in
der That genug gefehlt.
Walt fieng an. Er ſprengte eine Saite
nach der andern entzwei. Harprecht kegelte
mit Saiten-Rollen aus der einen Hand in die
andere, und trachtete ſehr, wie er ſagte, ſeinem
jungen Freunde ein ziemlich langweiliges Ge¬
ſchaͤft zu verſuͤſſen durch Diſkurſe; auch reicht'
er ihm die Saiten-Knaͤule, die er brauchte.
Anfangs hielt der Notar den Tanz bei dem Klavier¬
ſtimmen ſo gut aus, daß er ſogar, da ihm
keines Menſchen Freudenſtunde gleichguͤltig war,
theils in das ſtimmende Oktaven- und Quinten-
Probiren eine Art leichtern Tanz-Takt zu le¬
[52] gen verſuchte, theils ins Einhaͤmmern der Stif¬
te, ſo unangenehm ihm auch die ſaͤmmtlichen
Maͤdgen erſchienen, die ſogleich in den juͤngſten
Jahren die venia aetatis*), die einem Frei¬
herrn uͤber 300 fl. in Wien koſtet, auf dem Ge¬
ſicht als Brautſchaz mit gebracht.
Da aber jede Saite zerſprang — und bei¬
nahe ſein eignes Trommelfell, das er und an¬
dere ſpannten und aufſchraubten —: ſo erſuchte
er um erforderliche Stille. Man ſchwieg all¬
gemein — er ſtimmte fort und laͤrmte allein —
die Tanzſchule ſamt dem Tanz- und Muſikmei¬
ſterlein ſah jede Minute dem Anfange der Kla¬
vierſtunde entgegen — Walt durchſchwizte die
Wind- und Meerſtille — die Saiten ſprangen
jezt ſtatt der Taͤnzer — das Stimmen verſtimm¬
te ſein Herz und Spinet — er hatte die annahende
Nacht und die reſtirenden Stimmhaͤuſer voll
ſchoͤnſter Toͤchter und Zimmer im Kopfe — ver¬
dumpft hatt' er ſich ſchon laͤngſt, weil keine An¬
ſpannung ſo hart ins Gehirn druͤckt als die des
Ohrs — an ſieben und zwanzig Saiten-Spruͤnge
[53] hatte der hinkende Referent ſchon zu Papier ge¬
bracht — und nun laͤutete die Abendglocke. — Mit
Wuth warf der Notar den Stimmhammer ins
Zimmer und rief: „der Donner unds . . . . . .
Was iſt das? — Doch der buͤrgerliche und der
kanoniſche Tag iſt jezt zu Ende, Herr Inſpektor,
und alles; die Saiten zahl' ich.“
Am Morgen darauf wurde ihm von Hrn.
Kuhnold der geheime Artikel des Regulier-Ta¬
rifs eroͤfnet, welcher beſtimmt verordnete, daß
ihn jede Saite, die er im Erb-Amte des Stim¬
mens zerriſſen haͤtte, ein Beet der Erb-Aecker
koſten ſollte, ſo daß er jezt, nach dem Protokoll
des Hinck-Notars, um zwei und dreißig Saiten
oder Beete aͤrmer war. Walt erſchrack ungemein
ſeines Vaters wegen. Aber als er dem regieren¬
den redlichen Burgermeiſter in das traurige Ge¬
ſicht recht ſah, errieth er etwas, naͤmlich deſſen
ganze geſtrige Guͤte, die ihm durch ein hoch ge¬
ſpanntes Inſtrument und durch jede andere Er¬
leichterung und durch die Entfernung der ſchoͤ¬
nen Toͤchter ſo wohl die Gelegenheit zu Saiten-
Riſſen im eignen Hauſe abſchnitt, als auch ein
[54] großes Stuͤck Zeit zu mehreren in einem frem¬
den. Dieſer erquickende Gewinn einer ſchoͤnen
warmen Erfahrung erſtattete ihm den metalli¬
ſchen Verluſt ſo reichlich, daß er den Abſchied
vom Buͤrgermeiſter mit einer frohen dankenden
Ruͤhrung nahm, die jener nur halb zu verſtehen
ſcheinen muſte.
Nro. 21. Das Großmaul oderWyd¬
monder. Ausſichten.
Gottwalt ſchwur beim Eintritt in ſein Haus,
er finde darinn nach einem ſolchen Stein-Plaz-
und Maͤuſe-Regen des Schickſals ein ſehr
huͤbſches Stuͤck Sonnenſchein. Und Flora brach¬
te das Stuͤck, naͤmlich eine muͤndliche Einla¬
dungskarte — weil man ihn einer ſchriftlichen
nicht werth halten konnte, ſo lieb ihm auch ein
Expektanzdekret eines Himmels, ein Wechſelbrief
auf Luſt geweſen waͤre, — naͤmlich morgen
Sonntags Mittags zu Neupeters Geburtstags-
Diner auf einen Loͤffel Suppe zu erſcheinen.
Auf den Diner-Loͤffel und das Souper-Butter¬
[55] brod, auf dieſe Es-Pole laden die Deutſchen ein,
nie auf die Mitte, auf Hechte, Haſen, Saͤue
und dergleichen. Flora ſagte, des Grafen Klo¬
thars wegen feiere man die Geburt ſchon um 2
Uhr. Walt betheuerte, er komme gewiß.
Ihn wiegte darauf ein zweiter warmer Gluͤks¬
wind, das Wochenblatt mit Vults Nachricht
ans Publikum, er floͤte lieber Sonntags Abends
um 7 Uhr oͤffentlich, ſo ſtockblind er jezt ſei, als
daß er laͤnger ein verehrtes Publikum fort taͤu¬
ſche und herum zerre in großen Erwartungen.
Dem Zeitungs-Blatte lag ein Billet an Walten
bei, worinn ihn Vult um einen Vorſchuß von 2
Louis fuͤr die Konzert-Dienerſchaft erſuchte und
um das Protokoll des Stimm-Tags, und um
ein paar Ohren fuͤr Morgen und um das Oh¬
ren-Gehenk, das Herz.
Es hat nicht den Anſchein, daß einen ſo
ſchoͤnen und ſchweren Terzentriller der Luſt
jene Goͤttin, die immer ploͤzlich ins arme von
rauhen Wirklichkeiten zerriſſene Menſchen-Ohr
mit linden Melodien herabfaͤhrt, je vor dem No¬
tar geſchlagen als eben den mitgetheilten. Er
[56] war ſeelig und alles und redſeelig und ſchrieb
erſtlich: hier das begehrte Darlehn doppelt, was
geſtern von Kabel fuͤr das Stimmen eingelaufen
— dann ſchrieb er die koͤſtlichen Hoffnungen auf
Klothar — zugleich die Strekverſe auf den Gra¬
fen — die bisherigen Presgaͤnge und Keſſeljag¬
den nach dieſem — die Traͤume vom morgen¬
den Floͤtengetakt und von der Zukunft eines frei¬
ern Bruder-Lebens ohne Blindheit — und den
Verluſt von 32 Beeten.
Es fuͤrchte doch immer der Menſch die in¬
nerſte Entzuͤckung, er glaube nur nie ganz toll,
es werde jemals ein ſo leiſer ſanfter Himmels-
Thau wie ſie iſt, auf der ſtuͤrmiſchen Erde und
in ihren Windkluͤften die ſeltenen Windſtillen fin¬
den, worinn allein er ſich in feſte ofne Blumen¬
kelche einſenkt, gleichſam die helle gediegne Perle
aus dem grauen Wolken-Meer. Sondern der
Menſch erwarte, daß er den zweiten Brief ſo¬
gleich erhalten werde, den Vult an Walt in fol¬
gender Stimmung ſchrieb:
Vult hatte ſich naͤmlich ſeit dem geſtrigen
Anblicke des Bruders mit ganz friſcher Liebe fuͤr
[57] denſelben verſorgt, und ſich beſonders heimlich
mit ihm befreunden wollen durch die Bitte, ihm
vorzuſchießen — er hatte ſich gute Plane voll
jauchzender Hoffnungen auf die Zeit nach dem
Sonn- und Konzert-Tag entworfen und ſich
geſagt: „ſobald ich nur ſehe, was ich gleich nach
dem Konzerte thue, ſo fallen lauter Bundes-
Feſte des Zuſammenlebens und -ſchreibens vor
und mein verſiegelter Brief an ihn wird taͤglich
duͤmmer“ — er war, wie oft, aus ſeinem eig¬
nen Himmels- ſein Hoͤllenſtuͤrmer gewor¬
den — er hatt' es recht tapfer gefuͤhlt, daß ei¬
nige fliegende Winter des Herzens, den fliegenden
Sommern ſo aͤhnlich, deſſen freudige Waͤrme
nicht mehr wegnehmen als Eisſtuͤcke an den
Ufern den Lenz.
So bekam er Walts obiges Freudengeſchrei
und Schreiben an einen Bruder, der ſo lange als
blinder Mann zu Hauſe geſeſſen — gegen deſſen
Unſichtbarkeit der andere ſich noch ſo wenig ge¬
ſtraͤubt — auf welchen dieſer noch kein einziges
Strek-Gedicht gemacht, obwohl auf den frem¬
den Narren zwei oder drei — kurz an einen
Flegeljahre II. Bd. 5[58] Mann, der den allliebenden Notar dreitauſend
mal mehr liebe und allein. . . .
Folgendes ſezte der Mann an Walten auf:
„Anbei folgen 2 Plus Louis retour; mehr war
ich nicht benoͤthigt, obgleich kein Menſch ſo viel
Geld bedarf als einer, ders verachtet. — Das
hole der Teufel, daß 32 Beete jezt vom Feinde
mit Unkraut angeſaͤet werden. Solche Tonlei¬
tern ſind mehr Hoͤllen- als Himmelsleitern fuͤr
mich. Bei Gott, ein anderer als der eine von
uns haͤtte vorher zu ſich geſagt: paß' auf! Kato
ſchrieb ein Kochbuch; ein Strekdichter koͤnnte
warlich ſtimmen, wenn er wollte; nur umge¬
kehrt gehts nicht, daß ein Koch einen Kato
ſchreibt, ſondern hoͤchſtens ein Zizero, dieſer Zi¬
zerone alter Roͤmer. Boͤſe Traͤume, die aͤchten
Seelen-Wanzen des armen Schlafs, gegen wel¬
che mein Kopf nicht ſo viel verfangen will als
ein Pferde-Kopf gegen Leibes-Wanzen, hatten
mir manches vorgepredigt, was ich jezt nach¬
predige vor Denenſelben, mein Herr!
Noch zeigen Sie mir faſt verwundert an,
daß Ihnen nach der Marſch-Ordre vom und
[59] zum General Zablocki dahier um 11 Uhr, gerade
um dieſelbe Stunde Kontre-Ordre zum Kontre-
Marſch zugekommen, ohne daß Sie zu erwaͤgen
ſcheinen, daß er ſich einen ganzen Tag Zeit ge¬
nommen, um ſich zu aͤndern. Herr, ſind denn
die Großen nicht eben das einzige aͤchte Queckſil¬
ber der Geiſterwelt? — Die erſte Aehnlichkeit
damit bleibt ſtets ihre Verſchiebbarkeit — ihr
Rinnen — Rollen — Durchſeigern — Einſickern
— Verdammt! Die rechten Gleichheiten dringen
nach, und ſind nicht zu zaͤhlen. Wie beſagtes
Queckſilber ſo kalt und doch nicht zu feſtem ſtoi¬
ſchem Eis zu bringen — glaͤnzend ohne Licht —
weiß ohne Reinheit — in leichter Kugelform und
doch ſchwer druͤckend — rein und ſogleich zu aͤzen¬
dem Gift ſublimirt — zuſammenfließend, ohne
den geringſten Zuſammenhang — recht zu Fo¬
lien und Spiegeln unterzulegen — ſich mit
nichts ſo eng verquickend als mit edlen Metal¬
len — und noch, aus wahrer Wahl-Anzie¬
hung etwan mit Queckſilber ſelber — Maͤnner,
die ſich mit ihnen befaſſen, ſehr zum Aus¬
ſpucken reizend — — Herr, das wollt' ich
[60] die große Welt nennen, deren goldnes Alter im¬
mer das queckſilberne iſt. Aber auf ſolchen glat¬
ten, blanken Welthuͤgelgen ſiedle ſich nur nie¬
mand an! — Uebrigens folgen auch Einla߬
billets fuͤr das Floͤtenkonzert; à révoir, Mon¬
ſieur!
v. d. H.
Walten thaten indeß nur die Retour-Louis
ſo weh als waͤren ſie von Louis XVIII gepraͤgt;
ſonſt nahm er Vults Stampfen aus Zorn fuͤr
Tanzen aus Luſt und fuͤr Takt-Treten. Haͤtt'
er ahnen koͤnnen, mit welchen Peinigungen der
Liebe er den Schmolgeiſt Vults wechſelnd weg-
und herbannte: er haͤtte in ſeiner ganzen Gegen¬
wart wenige Hoffnungen gefunden. Izt ſchlief
er mit der ſchoͤnſten auf morgen ein.
Nro. 22. Saſſafras.
Peter Neupeters Wiegenfeſt.
Der Notarius konnte den ganzen Morgen
nichts Geſcheutes machen als Plane, an einem
[61] ſolchen Ehrentage ein neuerer Petrarka zu ſein,
oder ein in einem Dorfe gebrochner Juwel, der
ſich auf der Edelſteinmuͤhle der Stadt ſchon ſehr
ausgeſchliffen. Er hielt ſich vor, das ſei das
erſtemal, daß er in den ſchimmernden Thier-
Kreis des feinſten Cercle oder Kraͤnzgens ruͤcke.
„Gott, wie fein werden ſie alles drehen, ſagte
er ſich, und vor Tournuͤre kaum reden! Ma¬
dam — kann der Graf ſagen — ich bin zu gluͤck¬
lich, um es zu ſein. H. Graf, kann ſie ver¬
ſetzen, Ihr Verdienſt und Ihre Schuld — Darf
man das Errathen errathen, fragt er — Sollte
Fragen mehr erlaubt ſein als Antworten — frag¬
te Sie — Das eine erſpart das andere, verſezt
er. Oh Graf ſagt ſie — Aber Madam, ſagt
er; denn nun koͤnnen ſie vor Feinheit nichts mehr
vorbringen, und wenn ſie toll wuͤrden. Ich
fuͤr meine Perſon ſeze vieles in den Hoppelpoppel
oder das Herz.“
Walt goß ſich bei Zeiten ſeinen Sonntags-
Beſchlag, den Nanking, als ſein eigner Gelb¬
gießer uͤber und ſezte ſtatt des braunflammigen
Hutes — den wollt' er in der Hand tragen —
[62] mehr Puder als gewoͤhnlich auf. Er gieng ge¬
puzt ein paar Stunden leicht auf und ab. Er
hoͤrte vergnuͤgt einen Wagen nach dem andern
vordonnern; „nur abgeladen, ſprach er, lauter
Fracht und Meßgut fuͤr den Roman, in dem
ich Leute von Stande ſo noͤthig habe als Dinte.
Und wie wird ſich uns allen mein Klothar von
ſo mannichfachen Seiten zeigen muͤſſen; der alte
treue Freund! Gott wird mir ſchon dazu ver¬
helfen, daß ich auch etwas ſagen kann zu
ihm.”
Da er endlich bei einem neuen Rollen es
fuͤr Zeit hielt, ſich hinab zu machen, und den
Cercle zu ſchließen und zu runden mit ſeinem
eignen Bogen und Buͤckling: ſo ſtellt' er ſich
oben, mit ſeinem Hute in der Hand, ans
Treppengelaͤnder und ſchauete ſo lange hiedurch
hinab, bis er dem neuen Nachſchuß ſich zuſchieſ¬
ſen konnte, um ſo unbemerkt und ohne ſonderli¬
che Kurvaturen im Saale einzutreffen. Er glaͤnz¬
te ſehr, der Saal, die vergoldeten Schloͤſſer wa¬
ren aus den Papier-Wikeln herausgelaſſen, dem
Luͤſtre der Staub- und Busſack ausgezogen, die
[63] Seiden-Stuͤhle hatten hoͤflich vor jedem Steis
die Kappen abgenommen, und auf den getaͤfel¬
ten Fußboden war die Leinwand ganz von den
Papiertapeten weggezogen, welche die oſtindiſche
Decke ſo zudeckten, daß dieſe ſowohl ſich als den
getaͤfelten Fußboden an einigen Winkeln leicht
zeigten. Den Sallon ſelber hatte der Kaufmann,
weil lebendige Sachen zulezt jeden kroͤnen, mit
Gaͤſten-Gefuͤlſel ordentlich wie ein hohes Paſ¬
teten-Gewoͤlb ſaturiert, namentlich mit Aigret¬
ten, — Chemiſen — Schmink-Backen — Roth¬
naſen — feinſten Tuchroͤcken — ſpaniſchen Roͤh¬
ren — Patentwaaren und franzoͤſiſchen Uhren,
ſo daß vom Kirchenrath Glanz an bis zu netten
Reiſedienern und ernſten Buchhaltern ſich alles
miſchen muſte. Der große Kaufmann ſucht wei¬
ter in keine hoͤchſte Klaſſe zu kommen als in die
der Glaͤubiger, wenn ſeine hohen Schuldner fal¬
liren. Er als kalter ſtiller Juſtirer des Ver¬
dienſtes, ſchaͤzt gleich ſehr den niedrigſten Buͤr¬
ger, wenn er Geld hat, und den hoͤchſten Adel,
wenn deſſen altes Blut in ſilbernen und goldnen
Adern laͤuft und deſſen Stammbaum Nahrungs¬
[64] und Handelszweige treibt. Freilich — ſo wie
dem Pater Hardouin die Muͤnzen der Alten mehr
hiſtoriſche Glaubwuͤrdigkeit hatten, als alles
Schriftliche derſelben, — ſo kann der abwaͤgende
Kaufmann Adels-Pergament und ſonſtige Ehren-
Punktierkunſt nie ſo hoch ſtellen, als deſſen Muͤnzen,
inſofern er von fremder Zuverlaͤſſigkeit ſprechen ſoll.
Schon die Anfurth des Ehrentages fand
der Notar viel luſtiger und leichter als er nur
hoffen wollen; denn er bemerkte bald, daß er
nicht bemerkt wurde, ſondern ſich auf jeden Sei¬
denſtuhl ſezen konnte, und ihn zum Weberſtuhl
ſeiner Traͤume machen. Noch hatte er nichts vom
Grafen, noch vom Wiegenfeſt, und den beiden
Toͤchtern geſehen — als endlich Klothar, der
Eskoͤnig, zu ſeiner Freude bluͤhend hereintrat,
obwohl in Stiefeln und Ueberrock, als hab' er
ſich mehr auf parlamentariſche Wollen-Saͤcke
zu ſezen als auf ſeidne Agenten-Stuͤhle. „Hr.
Hofagent, ſagt' er ohne die Verſammlung zu
pruͤfen, wenn Sie wollen, mich hungert ver¬
dammt.” Der Hofagent befahl Suppe und
Toͤchter; denn er ſchaͤzte den Grafen laͤngſt und
[65] innigſt, weil er als der Agioteur von deſſen
Renten am beſten wuſte, wie viel er war, beſon¬
ders ihm ſelber; und er behauptete oft, einem
Manne von ſo vielen jaͤhrlichen Einkuͤnften ſolle
doch jede vernuͤnftige Seele es zu gute halten,
wenn er ſeine eignen Meinungen habe oder leſe
was er wolle.
Ploͤzlich kam Muſik — mit ihr die Sup¬
penterrine mit gedruckten Geburtsfeſtliedern —
dann die beiden Toͤchter mit einer langen Blu¬
men-Guirlande, die ſie Neupeter ſo geſchickt
uͤber den Koͤrper wanden, daß er in einem bluͤ¬
henden Ordensband da ſtand — die Komtoriſten
liefen und theilten die Gedichte aus — und zu¬
erſt ihrem Prinzipal ein vergoldetes — Nun
fieng andere Inſtrumentalmuſik an, um das
Karmen, oder vielmehr den Geſang deſſelben zu
begleiten — die Geſellſchaft mit ihren Papieren
in den Haͤnden ſtimmte ihn an als ein laͤngeres
Tiſchgebet — und ſelber Neupeter ſah ſingend in
ſein Blatt. Vult haͤtte nicht unter die gehoͤrt,
die dabei am ernſthafteſten geblieben waren, zu¬
mal als der blumige Ordens-Mann ſich ſelber
[66] anſang; aber wohl Gottwalt war dazu gemacht.
Ein Menſch, ſo bald er an ſeine Geburt denkt,
iſt ſo wenig laͤcherlich als es ein Todter ſein kann;
da wir, wie ſineſiſche Bilder, zwiſchen zwei
langen Schatten oder langen Schlummern lau¬
fen, ſo iſt der Unterſchied nicht groß, an wel¬
chen Schatten man denke. Walt quaͤlte ſich mit
leiſem Singen bei ſchlechter Stimme; und als
es vorbei und der Alte ſehr geruͤhrt war, uͤber
das fremde Gedaͤchtnis fuͤr ſein Wiegenfeſt bei
eigner Vergeßlichkeit und die Seinigen ihm fruͤ¬
her gratulirten als die Fremden: ſo war kein
Gluͤckwunſch ſo aufrichtig in irgend einem Her¬
zen als Gottwalts ferner und ſtiller; aber es be¬
klemmte ihn, daß der Menſch — „beſonders,
ſeh' ich, an Hoͤfen” dacht' er — gerade den hei¬
ligen Tag, wo er ſein erneuertes Leben uͤberrech¬
nen und ebnen ſollte, im Ranſchen fremder Wel¬
len verhoͤrt — daß er das neue Daſein mit der
laͤrmenden Wiederholung des alten feiert, anſtatt
mit neuen Entſchluͤſſen — daß er ſtatt der ein¬
ſamen Ruͤhrung mit den Seinigen, deren Wie¬
gen oder Graͤber ſeinen ja am naͤchſten ſtehen,
[67] den undankbaren Prunk und trockne Augen ſucht.
Der Notar ſezte ſich vor, ſeinen erſten Geburts¬
tag, an den ihn ein guter Menſch erinnerte —
denn noch hatt' er in ſeiner harten Armuth keinen
einzigen erlebt — ganz anders zu begehen, naͤm¬
lich ſehr weich, ſtill und fromm. — —
Man ſezte ſich zu Tiſch. Walt wurde ne¬
ben den zweiten armen Teufel — Flitten — als
der erſte poſtirt und rechts neben den juͤngſten
Buchhalter. Ihm verſchlugs wenig; ihm gegen¬
uͤber ſaß der Graf. Rund wie Geld, das wie
der Tod alles gleich macht, war die Tafel,
gleichſam ein groͤßerer Kompagnie-Teller. Der
Notar, ganz geblendet von der Neuheit des Ge¬
ſchirres und deſſen Inhalts ſtreckte ſtatt ſeiner
ſonſtigen zwei linken Haͤnde zwei rechte aus
und ſuchte mit wahrem Anſtand zu eſſen und
den Ehren-Saͤbel des Meſſers zu fuͤhren; bele¬
ſen genug, um mit der Breite des Loͤffels zu eſ¬
ſen, nicht mit der Spize, erhielt er ſich blos bei
bedencklichen Vorfaͤllen durch die alte Vorſicht im
Sattel, nicht eher anzuſpießen, bis ihm andere
das Speiſen vorgemacht; wiewohl er ſie bei den
[68] Artiſchocken ſo wenig fuͤr noͤthig erachtete, daß
er, Beweiſen nach, deren bittern Stuhl und die
Spizblaͤtter aufkaͤuete, die er haͤtte in die hollaͤn¬
diſche Sauce getunckt ablecken koͤnnen und ſollen.
Was ihm indeß weit beſſer ſchmeckte als alles,
was darinn lag, waren die Senfdoſen, Deſſert¬
loͤffel, Eierbrecher, Eistaſſen, goldne Obſtmeſ¬
ſer, weil er das neue Geſchirr in ſeinen Doppel¬
roman als in einen Kuͤchenſchrank abliefern konn¬
te: „eſſet ihr in Gottesnamen, dacht' er, die
Kybizen Eier, die Mainzer Schinken, und Rauch-
Laͤchſe; ſobald ich nur die Namen richtig uͤber¬
komme durch meinen guten Nachbar Flitte, ſo
hab' ich alles, was ich fuͤr meinen Roman
brauche, und kann auftiſchen.“
In die hoͤchſte Schule der Lebensart gien¬
gen ſeine Augen bei dem Grafen, der keine Um¬
ſtaͤnde machte — geradezu weiſſen Portwein for¬
derte — und einen Kapaunenfluͤgel mit nichts
abſchaͤlte als mit dem Gebiß, — des Geback'nen
nicht zu gedencken, das er mit den Fingern an¬
nahm. Dieſe ſchoͤne Freiheit — eingekleidet noch
in Stiefeln und Ueberrock — ſpornte Walten an,
[69] daß er, als mehrere Herrn Konfekt einſteckten
fuͤr ihre Kinder, ſich es zur Pflicht und Welt
rechnete, auch einige ſuͤſſe Papierchen oder Suͤ߬
briefgen, die ihm ganz gleichguͤltig waren, in
die Taſche zu ſchaffen. Auch ſein Nachbar Flit¬
te, der ungemein fraß und foderte, zeigte deut¬
lich, wie man zu leben habe — beſonders
wovon.
Indes war ſein ewiger Wunſch der, etwas
zu ſagen und von Klothar vernommen, wenn
nicht gar angeredet zu werden. Aber es gieng
gar nicht. Dem Grafen war aus Achtung ein
philoſophiſcher Nachbar, der Kirchenrath Glanz,
an die linke Seite gebeten — an die rechte die
Agentin geſezt; — aber er aß blos. Walt ſann
ſcharf nach, in wie weit die vorſizende Vorſchrift
feinſter Sitten zu kopiren ſei, kein Wort zu
ſagen zur Hausfrau. Er behalf ſich, wie, ein
Verliebter, mit optiſcher Gegenwart auf Koſten
der Zukunft. Es war ihm doch einige Erqui¬
ckung, wenn der ſchoͤne graͤfliche Juͤngling etwas
vom Teller nahm — oder die Flaſche — oder
froh umher ſah — oder traͤumend in den Him¬
[70] mel hinter dem Fenſter — oder in den auf ei¬
nem lieblichen Geſicht. Aber bitterboͤſe wurd' er
auf den Kirchenrath, der einer ſo fruchttragen¬
den Nachbarſchaft anſizen konnte, ohne den ge¬
ringſten ſchoͤnſten Gebrauch von derſelben, da
er doch ſo leicht, dachte Walt, uͤber Klothars
Hand zufaͤllig mit ſeiner hinſtreichen koͤnnte, und
vollends ihn ins Reden locken. Allein Glanz
glaͤnzte lieber — er war vergoͤtterter Kanzelred¬
ner und Kanzelſchreiber — auf ſeinem Geſicht
ſtand wie auf den Bologneſer-Muͤnzen gepraͤgt:
Bononia docet*) — wie andere Redner die
Augen, ſo ſchloß er die Ohren unter dem Fluſſe
der Zunge — — Mit einer ſolchen Autors-Ei¬
telkeit ſchloß er Klothars ſtolzen Mund. Dar¬
uͤber aber machte auch Walt ſeinen nicht auf.
Er hielt es fuͤr Tiſch-Pflicht, jedem Geſicht ei¬
ne Freuden-Blume uͤber die Tafel hinuͤber zu
werfen — die Artigkeit in Perſon zu ſein — und
immer ein wenig zu ſprechen. Wie gern haͤtt' er
ſich oͤffentlich ausgedruͤckt und ausgeſprochen!
[71] Leider wie Moſes ſaß er mit leuchtendem Antliz
und mit ſchwerer Zunge da, weil er ſchon zu
lange mit dem Vorſatze gepaſſet, in das aufge¬
tiſchte Zungen- und Lippen-Gehaͤcke, das er faſt
roh und unbedeutend fand, etwas bedeutendes
ſeiner Seits zu werfen, da es ihm unmoͤglich
war, etwas Rohes wie der Kaufmann zu ſagen:
ein Weſtphale, der einen feinen Faden ſpinnt, iſt
gar nicht vermoͤgend einen groben zu ziehen. Je
laͤnger ein Menſch ſeinen ſonnigen Aufgang ver¬
ſchob, deſto glaͤnzender, glaubt er, muͤſt' er
aufgehen und ſinnet auf eine Sonne dazu; koͤnnt'
er endlich mit einer Sonne einfallen, ſo fehlt
ihm wieder der ſchickliche Oſten zum Aufgang
und in Weſten will er nicht gern zuerſt em¬
por. Auf dieſe Weiſe ſagen nun die Menſchen
hienieden nichts.
Walt legte ſich indes auf Thaten. Die bei¬
den Toͤchter Neupeters hatten unter allen ſchoͤnen
Geſichtern, die er je geſehen, die haͤslichſten.
Nicht einmal der Notarius, der wie alle Dich¬
ter zu den weiblichen Schoͤnheits-Mitteln gehoͤr¬
te, und nur wenige Wochen und Empfindun¬
[72] gen brauchte, um ein Wuͤſten-Geſicht mit Rei¬
zen anzuſaͤen, haͤtte ſich darauf einlaſſen koͤnnen,
eine und die andere Phantaſie-Blumen in Jah¬
ren auf beide Stengel fertig zu ſticken. Es war
zu ſchwer. Da er nun gegen nichts ſo viel Mit¬
leiden trug als gegen eine weibliche Haͤslichkeit,
die er fuͤr einen lebenslangen Schmerz hielt: ſo
ſah er die Blonde, (Raphaele hies ſie), die ihm
zum Gluͤcke Blickſchuß-recht ſaß, in einem
fort mit unbeſchreiblicher Liebe an, um ihr da¬
durch zu verrathen, hoft' er, wie wenig er ſich
von ihren Geſichts-Ecken abſtoßen laſſe. Auch
auf die Bruͤnette, Namens Engelberta, lies er
von Zeit zu Zeit einen ſanften ruhenden Seiten¬
blick anfallen, wiewohl er ſie wegen ihrer Luſtig¬
keit nur eines mattern Mitleids wuͤrdigte. Es
ſtaͤrkte und erquickte ihn ordentlich bei ſeinem Mit¬
leiden, daß beide Maͤdgen mit Puz und Pracht
jeden weiblichen Neid auf ſich zogen; — als
vergoldete Wirthſchaftsbirnen, geſchminkte Blat¬
ternarben, in herrlichen Franz gebundene Leber¬
reime muſte man ſie anerkennen. Hoch muſt' er
bei dieſer Denkungsart den ſympathetiſchen Nach¬
[73] bar Flitte ſtellen, der mit ihm in Aufmerkſamkeit
und Achtung fuͤr dieſelbe haͤsliche Raphaela wett¬
eiferte! Er druͤckte Flitten — der als armer Teu¬
fel nichts weiter von der verhaſten Schoͤnheit
wollte, als die Hand mit dem Heirathsgut —
unter der Serviette die ſeinige; und ſagte nach
dem dritten Glas Wein: auch ich wuͤrde mit ei¬
ner Haͤslichen zuerſt ſprechen und tanzen unter
vielen Schoͤnen — „Sehr galant! (ſagte der El¬
ſaſſer) Sahen Sie aber je eine ſuperbere Tail¬
le?“ — Dieſe nahm jezt erſt der Notar an bei¬
den Toͤchtern auf Erinnern wahr; wer ſie koͤpf¬
te, machte jede zur Venus, ja mit dem Kopfe
ſogar konnte jede ſich fuͤr eine Grazie halten, aber
in doppelten Spiegeln. Gelehrte kennen keine
Schoͤnheiten, als phyſiognomiſche; Walt war
majorenn geworden, ohne zu wiſſen, daß er zwei
Backenbaͤrte habe, oder andere Leute Taillen,
ſchoͤne Finger, haͤsliche Finger u. ſ. w. —
„Wahrhaftig, antwortete der Notar dem El¬
ſaſſer, ich wollte wohl einer Haͤslichen ohne al¬
len Gewiſſensbiß die ſchoͤne Taille ins Geſicht ſa¬
gen, und loben, um die Arme damit bekannt
Flegeljahre II. Bd. 6[74] und darauf ſtolz zu machen.“ Wenn Flitte
etwas gar nicht begriff, ſo fragte er nichts
darnach, ſondern ſagte ſchnell Ja. Walt
heftete jezt in Einem fort recht ſichtbar die Augen
auf Raphaelens Taille, um ſie damit bekannt zu
machen. Die Blonde ſchielte von ſeinen Bli¬
cken zuruͤck und ſuchte ſich tugendhaft zu be¬
unruhigen uͤber die Frechheit des jungen Har¬
niſch.
„Wer mir lieber, Herr? Die Blonde oder
Braune?“ (ſagte der Hofagent vom Weine lu¬
ſtig) — Auf jeden Fall die Blonde, ſag' ich;
denn ſie koſtet vierteljaͤhrlich der Kaſſa zwoͤlf
Groſchen weniger. Fuͤr 3. thlr. 12 gr. gutes Geld
verkauft der Mundkoch Goullon in Weimar ſei¬
ne Flaſche rothen Schminckeſſig (vinaigre de
rouge) nota bene fuͤr Blonde; fuͤr Braune
hingegen jede um nette 4 thlr.; hat ſie vollends
ſchwarzes Haar, ſo muß ich gar die Flaſche zu
4 thlr. 12 gr. verſchreiben. Raphel! Du ſollſt
leben!“ — Cher père verſezte ſie, nenuen Sie
mich doch nur Raphaela. — „Er verdients,
(dachte Walt betroffen uͤber Neupeters Unſchick¬
[75] lichkeit,) daß ſie ſagte: Scheer-Baͤr?“ Denn
ſo hatt' er verſtanden.
„Heute giebt der arme blinde Baron ſein
Floͤten-Konzert, ſagte ſchnell Raphaela; ach! ich
weiß noch, wie ich uͤber Duͤlon geweint.“ —
„Ich weiß des Menſchen Namen nicht — ſagte
die brillantirte Mutter, Namens Pulcheria,
aus Leipzig, wohin ſie beide Toͤchter mehrmals
abgefuͤhrt, als in eine hohe Schule beſter Sit¬
ten — der Habenichts iſt aber ein grober Knoll
und dabei ein Flauſenmacher.“ — Walt arbeite¬
te in ſich, weingluͤhend, an der ſchnellſten Ver¬
theidigung. — „So bald ein poweres Edelmaͤnn¬
gen, ſagte Engelberta ſpoͤttiſch, nur etwas lernt
und verſteht, ſo nehm' ichs nicht ſo genau.“ —
„Wer weiß es denn, ſagte die Mutter, was er
auf der Floͤte kann fuͤr Leute, die ſchon was ge¬
hoͤrt haben?“ — „Er iſt, fuhr Walt in groͤſter
Kuͤrze los, nicht grob, nicht duͤrftig, nicht un¬
geſchickt, nicht manches andere, ſondern wahr¬
lich ein koͤniglicher Menſch.“ Hinterher merkt'
er ſelber die unabſichtliche Hize in ſeiner Stimme
und Kuͤrze; aber ſeinen ſanften Geiſt hatte die
[76] abſprechende Kauffrau uͤberrumpelt, die zwar
in den Zeiten huͤbſch geweſen, wo ſie Gellerten
reiten ſehen, die aber jezt — aus ihren eignen
Relikten beſtehend — als ihr eignes Gebeinhaus
— als ihre eigne bunte Toilettenſchachtel, —
ihren koſtbaren Anzug zum bemalten metalli¬
ſchen mit Samt ausgeſchlagenen, mit vergolde¬
ten Handheben beſchlagenen Prunkſarg ihrer gepu¬
derten Leiche machte. Walt hatte gar nicht wild
ſein wollen, nur gerecht. Man hoͤrte ſeine vor¬
laute Phraſis mit kurzem Erſtaunen und Ver¬
achten an. Neupeter aber nahm ſofort den
Faden auf: „Bulgen, ſagte er zur Frau in an¬
getrunkener Barmherzigkeit, ich will, weils doch
eine arme Haut ſein ſoll und noch dazu blind,
drei Billette fuͤr euch Weibſen holen laſſen vom
povern Wicht.”
„Die ganze Stadt geht hin, ſagte Raphae¬
la, auch meine theuerſte Wina. O! Dank, cher
père! Wenn ich den Ungluͤcklichen hoͤre, zu¬
mahl im Adagio, ich freue mich darauf, ich
weis, da „ſammlen ſich alle gefangnen Thraͤnen
[77] um mein Herz“ *) ich denke an den blinden
Julius im Heſperus und Thraͤnen begießen die
Freuden-Blumen.“
Darauf ſah ſie nicht nur der Vater entzuͤckt
uͤber ihren Sprechſtil an — ob er gleich als ein
alter Mann den ſeinigen fortackerte — desglei¬
chen Flitte begeiſtert, ſondern auch der Notar
begab ſich mit innigſtem Beifall wieder in ihr
Geſicht herauf, voll kurzer Wuͤnſche, lezteres
waͤre auszuſtehen oder doch zu heben durch Liebe,
da er unter einem Dache mit ihr lebte. Aber
ihm wurde durch Winas Ankuͤndigung ein
Sturm in die Seele geſchickt — ſein beſeeltes
Auge hieng ſich an ihren Braͤutigam — als
ploͤzlich wieder Raphaela die groͤßten Revoluzio¬
nen an dem Tiſche anſtiftete durch die Frage an
Glanz: „wie kommts, Hr. Kirchenrath, um auf
Sehende zu kommen, daß alle Bilder im Auge
verkehrt ſind, und wir doch nichts verkehrt er¬
blicken?“
Dann als der Kirchenrath langſam und
[78] langweilig die Sache aus ſeiner Lektuͤre ſo gut
auseinanderſezte, daß die Tafel bewundern mu¬
ſte: ſo fieng der Graf Feuer. Es ſei, daß er
ſatt war des Eſſens — oder ſatt des Hoͤrens —
oder uͤberſatt der Glanziſchen theologiſchen Halb¬
wiſſerei und lingua franca, jener ſchaalen Kan¬
zel-Philoſophie, wovon ¼ moraliſch, ¼ unmora¬
lich, ¼ verſtaͤndig, ¼ ſchief iſt und das Ganze
geſtohlen — genug, der Graf begann und un¬
terhielt ein ſo langes heftiges Feuern gegen den
Kirchenrath — wozu die nahe Nummer Con¬
geries von Maͤuſefahlen Kazen¬
ſchwaͤnzen aus- und eingeraͤumt wird — daß
er ordentlich nicht mehr Haß gegen das Mat¬
geld der theologiſchen Moraliſten und Autoren
haͤtte zeigen koͤnnen, wenn er auch der Floͤten¬
ſpieler Quod deus vult ſelber geweſen waͤre,
der ſich allerdings ſo ausſprach: „von alten
Schimmelwaͤldgen der Philoſophen klauben ſich
die Theologen die abgefallnen Leſe-Fruͤchte auf
und ſaͤen damit an. — Dieſe groͤſten engſten Egoi¬
ſten machen Gott zum frère ſervant der Poͤni¬
tenzpfarren, wohin ſie vozirt worden, und auf
[79] dem Wege nach dem Filial glauben ſie, die Son¬
nenfinſterniß ſei gekommen, damit ſie weniger
ſchwitzen und ſchattiger reiten — und ſo fegen
ſie die Herzen und Koͤpfe, wie in Irland die
Bedienten die Treppen, mit ihren Peruͤcken.“
Nro. 23.Congeriesvon maͤuſefahlen
Kazenſchwaͤnzen.
Tiſchreden Klothars und Glanzens.
Nachdem alſo Glanz geaͤuſſert hatte: „daß
eben, da ſich im Auge alle Gegenſtaͤnde umwen¬
den, alſo wir uns auch mit, wir mithin nichts
von einem Umkehren ſpuͤren koͤnnten. —
So entgegnete der Graf: „warum wird denn
das einzige Bild im Auge nicht mit umgekehrt?
— Warum greifen operirte Blinde nichts ver¬
kehrt? — Was hat denn das Hautbildgen mit
dem innern Bilde zu thun? Warum fragt man
nicht auch, warum uns nicht alles eben ſo klein
als jenes Bildgen erſcheine?“ —
„Glanz aͤuſſerte nach Garve: unſere Vor¬
[80] zuͤge ſeien am Ende keine und daher De¬
muth unſere Pflicht.“
Der Graf entgegnete: „ſo ſeh' ich wenig¬
ſtens nicht, warum ich Bettler demuͤthig gegen
den zweiten Bettler ſein ſoll; — und iſt er gar
ſtolz, ſo hab' ich ja einen zweiten Vorzug vor
ihm, die Demuth.“
Es wurde ein ſchoͤner Saz aus Glanzens
gedruckten Reden angefuͤhrt: daß die Kinder fuͤr
Geringſchaͤzung des Alters die vergeltende Stra¬
fe gewiß von ihren eigenen Kindern empfangen
wuͤrden.
Klothar entgegnete: „folglich hat das ge¬
ring geſchaͤzte Alter auch einmal gering geſchaͤzt;
und es geht ins Unendliche, oder man kann die
Strafe erhalten ohne die Suͤnde.“
Glanz aͤuſſerte, wie leicht das Gedaͤchtnis
zu uͤberladen ſei.
Klothar entgegnete: „das iſt blos unmoͤg¬
lich. Iſt denn etwas zu behalten, eine Beſchwer¬
de fuͤr Gehirn oder Geiſt! Verſpuͤrt ein Mann
den Schaz, den zwanzig Jahre Leben in ihm
niederlegten, wohl an ſeinem Gedaͤchtnis als
[81] waͤre dieſes belaſteter als in der Jugend? — Aber
ferner: der Bauer traͤgt eben ſo viele Ideen in
ſeinem Gedaͤchtnis als der Gelehrte, nur ande¬
re, Sachen, Baͤume, Aecker, Menſchen. Ueber¬
ladung des Gedaͤchtniſſes kann alſo nichts heißen
als verſaͤumte Kultur anderer Kraͤfte.“
Glanz aͤuſſerte, man koͤnne bei den End¬
abſichten leicht ſich Voltairens Spotte ausſe¬
zen, daß die Naſe fuͤr die Brille geſchaffen ſei.
Klothar verſezte: „Und das iſt die Naſe
auch: ſobald alle Kraͤfte einer Welt berechnet
wurden, muſte auch die Kraft in Anſchlag kom¬
men, Glaͤſer zu ſchleifen.“
Glanz aͤuſſerte: er ſei ja dafuͤr und finde in
allen ſeinen gedruckten Reden in der kuͤnſtlichen
Weltordnung einen unendlichen Verſtand.
Klothar fragte: Was ſoll gedachter Ver¬
ſtand dabei ſein?
Glanz aͤuſſerte: „die Urſache.“
Jener entgegnete: „jede kuͤnſtliche Ordnung,
z. B. im Koͤrperbau, erklaͤren Sie doch jezt
aus blinden Kraͤften, nicht aus einer fremden
Schoͤpfung, dieſe Kraͤfte wieder aus blinden,
[82] und wo wollen Sie denn in der durchaus mecha¬
niſchen Endlichkeit mit dem Blize der Geiſtigkeit
einſchlagen?“ —
Glanz auſſerte ſpaͤt darauf: eine huͤbſche
eingeſchraͤnkte Monarchie wie in England ſei
wohl am beſten fuͤr jeden.
Klothar verſezte: „nur nicht fuͤr die Frei¬
heit. Warum hatten nur meine Voreltern die
Freiheit, ſich Geſeze zu waͤhlen, und ich nicht?
Wohin ich fliehe, find' ich ſchon Geſetze. Das
Ideal eines Staats waͤre, daß die kleinſten Foͤ¬
derativſtaaten, die ſich immer freie Geſetze gaͤben,
ſich in Foͤderativ-Doͤrfer — dann in Foͤderativ-
Haͤuſer — und zulezt in Foͤderativ-Individuen
zerfaͤlleten, die in jeder Minute ſich ein neues
Geſetzbuch geben koͤnnten.“
Glanz aͤuſſerte, durch kleinere Staaten wuͤr¬
den freilich eher die Kriege aufhoͤren.
Klothar verſezte: „gerade umgekehrt. An
mehreren Orten zugleich und haͤufiger in der Zeit
entſtaͤnden ſie. Soll auf der ganzen Erde der
Krieg aufhoͤren: ſo muß ſie in zwei ungeheure
Staaten ſich getheilt haben; davon muß der
[83] eine den andern verſchlingen, und dann bleibt
im einzigen Staate auf der Kugel Friede,
und die Vaterlandsliebe iſt Menſchenliebe ge¬
worden.
Glanz glaubte beim Deſſert wenigſtens ſo
viel aͤuſſern zu duͤrfen, daß es gut ſei, daß die
Aufklaͤrung den Hexenglauben vertrieben.
Klothar entgegnete: „noch nicht einmal un¬
terſucht hat ſie ihn.” Glanz ſchuͤttelte leicht.
„Ich weiß nicht, fuhr jener fort, welche von
zwei Meinungen Sie haben, aber da Sie nur
eine von beiden hegen koͤnnen, — entweder die,
daß alles Trug des Zeitalters, oder die, daß
etwas Wunderbares bei der Sache iſt: ſo muͤſſen
Sie in beiden Faͤllen irren.”
Glanz ſchuͤttelte ſehr, aͤuſſerte aber, er ſei
wie jeder Vernuͤnftige der erſten Meinung.
Klothar verſezte: „die Wundergeſchichte der
Hexen iſt eben ſo hiſtoriſch bewieſen, als die
der griechiſchen Orakel im Herodot; und dieſe iſts
gerade ſo ſehr als uͤberhaupt alle Geſchichte.
Auch Herodot unterſcheidet ſehr die wahren von
den beſtochenen Orakeln. In jedem Falle war
[84] es eine große Zeit, wo noch Goͤtter die Weltge¬
ſchichte lenkten, und darinn mitſpielten, daher
iſt Herodot ſo poetiſch wie Homer. — Gemeine
Seelen machen in der Hexen-Geſchichte alles
zum Werk der Einbildung. Wer aber viele Hexen¬
prozeſſe geleſen, findet es unmoͤglich. Eine durch
Voͤlker und Zeiten reichende Einbildung feſtge¬
haltener, nuanzirter Thatſachen iſt ſo unmoͤglich
als die Einbildung einer Nazion, daß ſie einen
Krieg oder Koͤnig habe, der nicht iſt. Will
man die Einbildung als Kopie einer ſolchen all¬
gemeinen Einbildung erklaͤren, ſo hat man das
Urbild vorher zu deduziren. Meiſt waren alte,
duͤrftige, einfaͤltige Frauen die Aktrizen des
Trauerſpiels, mithin gerade am wenigſten faͤhig
der Phantaſie; auch mahlt die Phantaſie mehr
ins Große und Verſchiedene zugleich. Hier fin¬
det man nur erbaͤrmliche wiederhohlte Geſchich¬
ten der Nachbarſchaft — der Buhle, der Teufel,
begleitet in gemeiner Kleidung die Frau zu Fuße
auf irgend einen benachbarten Berg, wo ſie
Tanz, bekannte Spielleute, elendes Eſſen und
Trinken, lauter Bekannte aus dem Dorfe an¬
[85] trift, und nach dem Tanze mit dem Buhlen
wieder heimgeht. Die Verſammlungen auf dem
Blocksberge koͤnnen blos fuͤr deſſen naͤchſte An¬
wohnerinnen gelten; aber in andern Laͤndern
wurde nur der nachbarliche Berg zum Tanzplaz
gewaͤhlt. Will man alle Bekenntniſſe fuͤr Luͤgen¬
geburten der Folter erklaͤren: ſo bedenkt man
nicht, daß man in den Prozeſſen findet, daß
ſie oft nach der Tortur zwei, drei unbedeutende
Bekenntniſſe, die ihnen den Tod nicht erſparten,
feierlich und aͤngſtlich widerriefen; und daß
alſo der halbe Widerruf das halbe Geſtaͤndnis —
beſiegelt, um ſo mehr da man in damaligen
Zeiten zu religioͤs dachte, um mit Luͤgen auf der
Zunge zu ſterben.”
„Die berauſchenden Getraͤnke und Salben,
womit ſie ſich ſollen in den Traum vom Blocks¬
berg und dergleichen gezaubert haben, ſind nir¬
gends aus den Akten erweislich oder nach der
Phyſiologie moͤglich — da es kein Getraͤnk
giebt, das faktiſch beſtimmte Viſionen erſchuͤfe,
— und dann, um nur beide zu brauchen, muſten
ſie ſich ja ſchon fuͤr Hexen halten.
[86]
Glanz aͤuſſerte: „warum giebt es aber jezt
keine mehr? Und warum iſt alles ſo natuͤrlich
und alltaͤglich dabei zugegangen, wie Sie vorhin
ſelber einraͤumten. Doch mach' ich dieſe Ein¬
wuͤrfe gar nicht, Hr. Graf, als wenn ich
glaubte, daß Sie im Ernſte jener Meinung
waͤren.“
Hudo verſezte: „dann verkennen Sie meine
Denkweiſe. Wie? Kann man aus dem Aus¬
ſetzen oder Wegbleiben einer Erfahrung, z. B.
einer elektriſchen, einer ſomnabuliſtiſchen auf ihre
Unmoͤglichkeit ſchließen? Nur aus poſitiven Er¬
ſcheinungen iſt zu beweiſen; negative ſind ein
logiſcher Widerſpruch: Kennen wir die Bedin¬
gungen einer Erſcheinung? So viele Menſchen
und Jahre gehen voruͤber, kein Genie iſt darun¬
ter; — und doch giebts Genies; — koͤnnt' es
nicht eben ſo mit den Sonntags-Kindern ſein,
die Augen und Verhaͤltniſſe fuͤr Geiſter haben? —
Was Ihre Alltaͤglichkeit, die Sie einwenden,
anlangt, ſo gilt dieſe auch fuͤr jede poſitive Re¬
ligion, die ſich in die Alltaͤglichkeit ihrer erſten
Apoſtel verſteckt; alles Geiſtige ſchmiegt ſich ſo
[87] ſcheinbar an das Natuͤrliche an, wie unſere
Freiheit an die Naturnothwendig¬
keit.
Glanz aͤuſſerte: er wuͤnſche nun doch ſehr
zu erfahren, was die zweite Meinung fuͤr ſich
habe.
Klothar verſezte: „zuerſt die damaligen
Zeugen fuͤr die Erſte. Um eine Frau zu ver¬
urtheilen, brauchte man ſtatt der Thatſachen
nur Zeugenſchluͤſſe; meiſtens aus drei ganz
fremden Thatſachen, aus dem Alpdruck, dem
Drachen-Einflug und einem ſchnellen Ungluͤck,
z. B. Tod des Viehes, der Kinder ꝛc. ſchloſ¬
ſen die Zeugen und ihre Schluͤſſe waren ihre
Zeugniſſe.“
Zweitens lief der ganze Zauber-Erfolg auf
ein Raupen- oder Schnecken- oder anderes Scha¬
denpulver hinaus, das der Buhle, der Teufel,
dem getaͤuſchten Weibe nebſt einem Antritts¬
oder Werbe-Thaler gab, den ſie zu Hauſe oft
als eine Scherbe befand. Die Macht des Teu¬
fels gab ihr weder Reichthum, noch einen
Schuzbrief gegen den Scheiterhaufen. Ich ſchlieſ¬
[88] ſe aus allem, daß damals die Maͤnner ſich des
Zauberglaubens bedienten, um unter der leicht¬
ten Verkleidung eines teufeliſchen Buhlen die
Weiber ſchnoͤde zu misbrauchen; ja daß vielleicht
irgend eine geheime Geſellſchaft ihren Landtag
unter die Huͤlle eines Hexen-Tanzes verbarg.
Immer machten Maͤnner in den Hexenprozeſſen
den Teufel gegen die Weiber, ſelten umgekehrt —
Nur unbegreiflich bleibts, daß die Weiber bei
dem damaligen Schauder vor dem Teufel, ſo wie
vor der Hoͤlle, ſich nicht vor ſeiner Erſcheinung
und vor der hoͤlliſchen Umtaufe *) und Apoſtaſie
entſezet haben.“
Glanz laͤchelte, aͤuſſerte aber, jezt traͤfen
ſie beide ja vielleicht zuſammen —
Hudo verſezte ſehr ernſt: „kaum! denn eine
Nachſpielerei hebt ein Urbild nicht auf, ſie ſezt
eben eines voraus. Noch mangelt eine rechte
Geſchichte des Wunder-Glaubens oder vielmehr
des Glaubens-Wunders — von den Orakeln,
Geſpenſtern an bis zu den Hexen und ſympa¬
[89] thetiſchen Kuren; — aber kein engſichtiger und
engſuͤchtiger Aufklaͤrer koͤnnte ſie geben, ſondern
eine heilige dichteriſche Seele, welche die hoͤchſten
Erſcheinungen der Menſchheit rein in ſich und in
ihr anſchauet, nicht auſſer ihr in materiellen Zu¬
faͤlligkeiten ſucht und findet — welche das erſte
Wunder aller Wunder verſteht, naͤmlich Gott
ſelber, dieſe erſte Geiſtererſcheinung in uns vor
allen Geiſtererſcheinungen auf dem engen Boden
eines endlichen Menſchen.“ . . .
Hier konnte ſich der Notar nicht laͤnger hal¬
ten, eine ſolche ſchoͤne Seelenwanderung ſeiner
Gedanken hatt' er in dem hohen Juͤngling nicht
geſucht: „auch im Weltall, hob er an, war Poe¬
ſie fruͤher als Proſa, und der Unendliche muͤſte
vielen engen proſaiſchen Menſchen, wenn ſie es
ſagen wollten, nicht proſaiſch genug denken.“
„Was wir uns als hoͤhere Weſen denken,
ſind wir ſelber, eben weil wir ſie denken; wo
unſer Denken aufhoͤrt, faͤngt das Weſen an“
ſagte Klothar feurig, ohne auf den Notarius
ſonderlich hinzuſehen.
„Wir ziehen immer nur einen Theater-Vor¬
Flegeljahre II. Bd. 7[90] hang von einem zweiten weg und ſehen nur die
gemahlte Buͤhne der Natur“ ſagte Walt, der
ſo gut wie Klothar etwas getrunken. Keiner ant¬
wortete mehr recht dem andern.
„Gaͤb' es nichts Unerklaͤrliches mehr, ſo
moͤcht' ich nicht mehr leben, weder hier noch
dort. Ahnung iſt ſpaͤter als ihr Gegenſtand;
ein ewiger Durſt iſt ein Widerſpruch, aber
auch ein ewiges Trinken iſt einer. Es muß
ein drittes geben, ſo wie die Muſik die Mittlerin
iſt zwiſchen Gegenwart und Zukunft,“ ſagte
der Graf.
„Der heilige, der geiſtliche Ton wird von
Geſtalten geſchaffen, aber er ſchaft wieder Ge¬
ſtalten“ *) ſagte Walt, den die Fuͤlle der Wahr¬
heit allein fortzog, nicht einmal mehr der Wunſch
der Freundſchaft.
„Eine geiſtige Kraft bildet den Koͤrper, dann
bildet der Koͤrper ſie, dann aber bewegt ſie am
maͤchtigſten auf der Erde die Koͤrper“ ſagte
Klothar.
[91]
„O die unterirdiſchen Waſſer der tiefen zwei¬
ten Welt, die den gemeinen weltweiſen Berg-
Knappen in ſeinem Bergbau ſtoͤren und erſaͤufen,
ihn, der Hoͤhen nur zum Durchbohren und
Vertiefen haben will — dieſe ſind eben fuͤr den
rechten Geiſt der große Todesfluß, der ihn in
den Mittelpunkt zieht” ... ſagte Walt; er
ſtand laͤngſt aufrecht am Tiſch, und hoͤrt' und
ſah nicht mehr.
„Aechte Spekulazion” — — fieng der
Graf an.
„Mr. Vogtlaͤnder — unterbrach Neupeter,
ſich zum Buchhalter wendend und Klotharn am
Arm haltend, da er gelehrten Diskurſen eben
ſo gern zuhoͤrte, als entſprang — die 23 Ellen
Spekulazion haben Sie doch heute gebu¬
chet*)? Nun aber weiter, Hr. Philo¬
ſoph!” —
[92]
Der Graf hoͤrte den Miston des Misgrifs,
und ſchwieg und ſtand gern auf, die vergeſſene
laͤngſt wartende Geſellſchaft noch lieber. Des
Notars Kekheit und Rede-Narrheit hatte am
meiſten ſie unterhalten. Der Kirchenrath Glanz
hatt' es ſeinen Nachbarn leiſe zu verſtehen gege¬
ben, was ſie von den graͤflichen Saͤtzen zu hal¬
ten haͤtten, und daß dergleichen ihn nicht weni¬
ger langweilte und anekelte als jeden.
Walt war in den dritten Himmel gefahren,
und behielt zwei uͤbrig in der Hand, um ſie weg¬
zuſchenken. Er und der Graf trugen nun —
nach ſeinem Gefuͤhl — die Ritterkette des Freund¬
ſchafts-Ordens mit einander; nicht etwan, weil
er mit ihm geſprochen — der Notar dachte gar
nicht mehr an ſich und ſeinen Wunſch der Au¬
dienz — ſondern weil Klothar ihm als eine große,
freie, auf einem weiten Meere ſpielende Seele
erſchien, die alle ihre Ruderringe abgebrochen,
und in die Wellen geworfen; weil ihm ſein kecker
Geiſtes-Gang groß vorkam, der weniger einen
weiten Weg als weite Schritte machte, und
weil der Notar unter die wenigen Menſchen ge¬
[93] hoͤrte, die mit unaͤhnlichem Werthe ſympathi¬
ſiren, wie das Klavier von fremden Blas- und
Bogen-Toͤnen anklingt.
So lieben Juͤnglinge; und aller ihrer Feh¬
ler ungeachtet iſt ihnen, wie den Titanen, noch
der Himmel ihr Vater, die Erde nur ihre
Mutter; aber ſpaͤter ſtirbt ihnen der Vater und
die Mutter kann die Waiſen ſchwer ernaͤhren.
Wie ganz anders — naͤmlich viel weniger
ſchleichend, weniger ſtillgiftig, vipernkalt und
vipernglatt — ſtehen die Menſchen von Tafeln,
ſelber an Hoͤfen, auf, als ſie ſich davor niederge¬
ſezt! Wie gefluͤgelt, ſingend, das Herz federleicht
und federwarm! — Neupeter bot leicht ſeinen
Park dem Grafen an — der ſchlug ein — Walt
drang nach. Unterwegs riß der Agent ſein blu¬
miges Ordens-Band entzwei und ſteckt' es ein,
weil er, ſagt' er, nicht wie ein Narr ausſehen
wolle.
Nro. 24. Glanzkohle.
Der Park — der Brief.
Der Graf gieng zwiſchen ſeinen Brautfuͤh¬
[94] rern, wovon der linke im Gehen das Spinnrad
drehte zu einem Faden der Rede, und Seile der
Liebe; doch hielts oft ſchwer, in den engſten
Gaͤngen drei Mann hoch aufzumarſchiren. Ein
Markthelfer hielt ſich hinter ihnen, um aus dem
Sande alle 6 Fußſtapfen auszubuͤgeln. Der
Agent fuͤhrte Klotharn vor die Glanz-Partieen
des Parks in der Abſicht, Ehrenflinten und Saͤ¬
bel da von Grafenhand zu empfangen — vor
Kinderſtatuen unter Thurm-Baͤumen — vor
Herkules-Wuͤrggruppen unter Blumen; aber
den Grafen grif nichts an. Neupeter zaͤhlte
das „ſchoͤne Geld“ aufs Rechenbret hin, das
ihm die Bildſaͤulen ſchon gefreſſen, beſonders ei¬
nige der feinſten, die er gegen Regenwetter in
ordentliche waſſerdichte Ueber- oder Reitersroͤcke
eingewindelt und bracht' ihn vor eine eingeklei¬
dete Venus im Wachtrock. Klothar ſchwieg.
Neupeter gieng weiter im Verſuche und Garten,
er ſezte eigenhaͤndig ſeinen Park herunter gegen
einen in England und erhob z. B. Hagley's ſei¬
nen daruͤber, „aber, ſagt' er, die Englaͤnder
haben auch die Bazen dazu.“ Der Graf wider¬
[95] legte nichts. Blos Walt bemerkte: „am Ende
werde doch jeder Garten, ſei er noch ſo groß,
kurz jede kuͤnſtliche Eingraͤnzung klein und ein
Kindergaͤrtgen in der unermeßlichen Natur; nur
das Herz baue den Garten, der noch zehnmal
kleiner ſein koͤnne als dieſer.“
Darauf fragte der Kaufmann den Grafen,
warum er nicht aufgucke, z. B. an die Baͤume,
wo manches haͤnge. Dieſer ſah auf; weiſſe
Zolltafeln der Empfindung waren von Raphae¬
len daran geſchlagen zum Ueberleſen: „bei Gott,
meine Tochter hat ſie ohne fremde Huͤlfe erſon¬
nen, ſagte der Vater, und ſie ſind ſehr neu und
hochtragend geſchrieben, ſo glaub' ich.“ Der
Graf ſtand vor den naͤchſten Gefuͤhls-Brettern,
und Herz-Blaͤttern poetiſcher Blumen feſt; auch
der Notar las den an die Welt wie an Arznei-
Glaͤsgen gebundnen Gebrauchzettel herab, wel¬
cher verordnete, wie man ſchoͤne Natur einzu¬
nehmen habe, in welchen Loͤffeln und Stunden.
Walten gefiel die Gefuͤhls-Anſtalt, es waren
doch Antritts- oder Oſter-Programmen der Fruͤh¬
lings-Natur, Frachtbriefe der Jahrs-Zeiten,
[96] zweite heimlich abgedruckte Titelblaͤtter der Na¬
tur-Bilderbibel.
Dennoch ſtrich Klothar ſtumm darunter hin¬
weg. Aber Walt ſagte begeiſtert von den Baum-
Noth- und Huͤlfs-Taͤfelgen:“ alles iſt hier ſchoͤn,
die Partieen, die Baͤume und die Tafeln. Wahr¬
haftig man ſollte die Poeſie verehren, auch bis
ins Streben darnach. Freilich wird nur die hoͤchſte,
die griechiſche, gleich den Schachten der Erdkugel
immer waͤrmer, je tiefer man dringt, ob ſie
gleich auf der Flaͤche kalt erſcheint; indeß andere
Gedichte nur oben waͤrmen.“ — „Mein Mieths¬
mann, H. Notar Harniſch“ — ſagte ſchnell der
uͤber deſſen Naͤhe und Kecke verdruͤsliche Neupe¬
ter, als der Graf ihn bedeutend anſah — „Der
Lac da um Ermenonville herum — ſo laͤſſet
meine Frau den Teich nennen, weil ſie ſich auf
Gaͤrten verſteht, da ſie aus Leipzig iſt — der
Teich, ſag' ich, iſt blos um die Inſel herum ge¬
fuͤhrt, die ich um meinen ſeeligen Vater, einen
Kaufmann wie wenige, aufſchuͤtten laſſen. Die
Statue drinnen das iſt er ſelber nun.“ — Auf
der Teich-Inſel ſah unter Trauer- und Pappel¬
[97] Baͤumen allein gleichſam wie ein Robinſon der
alte ſeel. Chriſthelf Neupeter in Stein gebracht
heruͤber, uͤbrigens in ſeinem Boͤrſen-Habit aus¬
gehauen, wiewohl die in Marmor uͤberſezte Beu¬
telperuͤcke, und die petrifizirten Wickelſtruͤmpfe und
Rockſchoͤſſe dem magern Manne nicht das leichte
Anſehen gaben, das er nackt haͤtte haben koͤnnen.
„Sagen Sie nur heraus wie Ihnen der
ganze Park und Quark vorkommt?“ fragte Neu¬
peter der Sohn. „Was bedeutet noch die hoͤl¬
zerne wunderbare Pyramide, (fragte der, die
Inſel und den See umkreiſende Graf,) die mit der
Baſis halb uͤber dem Waſſer ſchwebt?“ Dem
Hofagenten gefiel die Frage; er verſezte ſchel¬
miſch: „in die Pyramide kann man ordentlich
hinein gehen durch eine Thuͤre.“ — „Ceſtius Py¬
ramide?“ ſagte Walt halblaut — Der Graf
verſtand den merkantiliſchen Schelm nicht. „Nun,
es dient nun ſo, erlaͤuterte er weiter, froh uͤber
die Einkleidung jener Verkleidung, bei der oder
jener Gelegenheit — wenn mans eben braucht —
ein Menſch trinkt Mittags viel, beſieht ſich den
Garten, und nun natuͤrlich.“ . . .
[98]
„God d —, ſagte der verſtaͤndigte Graf, im
Feuer, ich muß in die Pyramide“ und gab,
des Agenten ſatt, das Zeichen des Zuruͤckblei¬
bens. Ein Regenbogen — darein war die Holz-
Bruͤcke durch Farben verkleidet — fuͤhrte an die
Pyramide. Der unſchuldige Notar dachte zu
zart, um alles zu verſtehen. Der ſtolze Kauf¬
mann, der hier das Stehen-laſſen aͤuſſerſt un¬
hoͤflich fand, murmelte halb fuͤr ſich, halb fuͤr
Walten: ein hoͤflicher, eigner Herr! Er blieb
nun nicht ſo lange, daß der Notar, der ein
Rieſen-Knieſtuͤck vom Klothar anlegen wollte,
ſolches haͤtte aufſpannen koͤnnen; ſondern ließ
wieder dieſen ſtehen, mit dem Pinſel voll Flam¬
men in der Hand.
Ein zarter Genius war es, der den einſa¬
men Gottwalt vom Betreten des Regen- und
Bruͤcken-Bogens zuruͤcklenkte durch die Eroͤf¬
nung der — Wahrheit. Anderthalb Garten-
Gaͤnge prallte davor der Juͤngling zuruͤck, den
ſchon der vornehme Tafel-Zynismus mit den
nakt gezognen Zahnſtochern geaͤrgert; — ohne
doch auf den Agenten zu zuͤrnen, daß er auf
[99] die vaͤterliche Pappel-Inſel eine ſolche Spiz¬
ſaͤule pflanzen koͤnnen; Er hatte oft zu viel Lie¬
be, um Geſchmack zu haben, wie andere um¬
gekehrt.
Als der Graf von Ermenonville zuruͤckge¬
kommen: ſchlug Walt mehrere ſchmale Radien-
Gaͤnge ein, um ihm zufaͤllig aufzuſtoßen und ſo,
verſchmolzen mit ihm, zu gehen. Aber der
Graf, der allein bleiben wollte, merkte das ſtete
Nachſtreichen, und bog ihm verdruͤßlich aus.
Auch dem Notar ſelber wurde am Ende das
freundſchaftliche Ballet verſalzen, weil der
Markthelfer mit ſeinem Verwaſchpinſel, als
Schrittzaͤhler hinter ihm blieb und ihm jeden
Schritt dadurch vorrechnete, daß er ihn aus¬
ſtrich.
„Welch ein ganz anderes Gluͤck waͤre es,
traͤumt' er, fiel' ich ins Lac — Waſſer, und mein
Juͤngling ſchleppte mich heraus und ich laͤg' ihm
mit tropfenden Augen zu Fuͤſſen. Das denk' ich
mir gar nicht, — weil es zu groß waͤre, das
Gluͤck, — wenn etwan gar er ſelber hineinſtuͤrz¬
te und ich der Seelige wuͤrde, der ſein ſtolzes
[100] Leben rettete und ihn an der Bruſt ins Daſein
truͤge.“
Indeß fand er jezt etwas beſſeres auf ſei¬
nem Wege, einen verlohrnen Brief an Klothar.
Indem er ſich umſah, ihn zu uͤbergeben, war
der Graf unter die ins Haus gehende Geſellſchaft
zuruͤckgetreten. Er lief nach. Jener war ſchon
davon geritten auf ein Dorf. Es war ihm nicht
ſonderlich bitter, daß er durch den Brief ein Recht
in die Haͤnde bekam, den Grafen morgen auf
ſeinem eignen Zimmer aufzuſuchen.
Er erſtieg eilig das ſeinige — nicht ohne
Freude, daß er als der einzige Gaſt im Hauſe
verbleibe, indeß alle andere daraus fort muſten;
— und beſah und las ruhig droben den ſchon er¬
brochnen Brief — auſſen. Denn innen ihn zu
leſen, auch irgend einen andern fremden lag auſ¬
ſer ſeiner Macht. Sein Lehrer Schomaker —
der, wie Vult ſagte, fuͤr Schimmelwaͤldgen Wald¬
ordnungen entwuͤrfe — behauptete, nicht einmal
gedruckte duͤrfe man leſen, wenn ſie wider des
Verfaſſers Wunſch erſchienen, da die Leichtigkeit
und die Theilhaber einer Suͤnde an dieſer nichts
[101] aͤnderten. Eine Taube mit einem Oelzweig im
Schnabel und in den Fuͤſſen flog auf dem Sie¬
gel. Der Umſchlag roch anmuthig. Er zog den
Brief daraus hervor, faltete ihn auf von wei¬
tem und las frei den Namen — Wina, und
legt' ihn eiligſt weg. . . „Ich will ihm alle
meine Aurikeln geben“ hatte ſie einſt in der tie¬
fen Kindheit geſagt, aus deren dunkeln uͤber¬
bluͤhten Tempe unaufhoͤrlich jene Toͤne wie be¬
deckte Nachtigallen herauf ſangen. Jezt aber
beruͤhrte die zitternde Saite — deren Klaͤnge bis¬
her ſuͤß-druͤckend ſein Herz umrungen hatten —
ſeine Finger; er hatte ordentlich die Vergangen¬
heit, die Kindheit in der Hand — Und heute
trat vollends die Unſichtbare im Konzertſaale
endlich aus der blinden Wolke —
Sein Bewegung bedarf keines Gemaͤldes,
da jede auf jedem erſtarrt.
Er hielt ſich jezt den ofnen Brief nahe un¬
ter die Augen, obwohl umgekehrt — Das
Papier war ſo blau-weiß-zart, wie eine feinſte
Haut voll Geaͤder. — Die umgeſtuͤrzte Hand¬
ſchrift ſo zierlich und gleich — Blumengewinde
[102] waren den vier Papier-Raͤndern eingepreſſet —
er beſah jeden — und gieng auf Aurikeln aus —
als er aber auf dem untern ſuchte, fuhr ihm
die lezte Zeile ins Auge, mit 7 lezten Worten.
Da ſtekt' er das Blatt erſchrocken in die Huͤlle
zuruͤck.
Es lautete aber das Schreiben an Klo¬
thar ſo:
„Wozu meine laͤngern Kaͤmpfe, die vielleicht
ſchon ſelber Suͤnden ſind? Ich kann nun nach
Ihrem geſtrigen entſcheidenden Worte nicht die
Ihrige werden; denn ich koͤnnte Ihnen wohl ſo
leicht und ſo gern Gluͤck und Leben und Ruhe
opfern, aber meine Religion nicht. Ich ſchau¬
dere vor dem Bilde eines erklaͤrten Abfalls. Ih¬
re religioͤſe Philoſophie kann mich quaͤlen, aber
nicht aͤndern. Die Kirche iſt meine Mutter; und
nie koͤnnen mich alle Beweiſe, daß es beſſere Muͤt¬
ter gebe, von dem Buſen der meinigen reiſſen.
Wenn meine Religion, wie Sie ſagen, nur aus
Zeremonien beſteht: ſo laſſen Sie mir die weni¬
gen, die meine mehr hat als Ihre. Denn am
[103] Ende iſt doch alles, was nicht Gedanke iſt, Ze¬
remonie. Geb' ich Eine auf, ſo weiß ich nicht,
warum ich noch irgend eine bewahre. Halten
Sie ja, wie ich, vor meinem Vater Ihre ſcharfe
Foderung des Abfalls geheim, ich weiß, wie es
ihn kraͤnken muͤſte. — Ach lieber Jonathan, was
koͤnnt' ich noch ſagen; jene Stille, die Sie oft
ruͤgen, iſt nicht Laune noch Kaͤlte, ſondern die
Trauer uͤber meine Ungleichheit gegen Ihren
großen Werth. O Freund, iſt dieſer Anfang
unſers Bundes wohl der rechte? Mein Herz iſt
nur feſt, aber wund.
Wina.
Er beſchloß im erſten Feuer, das Schrei¬
ben ihr ſelber im Konzerte zuzuſtellen. Jezt
uͤbrigens, da er ein wenig ſeine heutige ſchwelge¬
riſche Lage uͤberſchlug — Diner Mittags —
Konzert Abends — Sonntag den ganzen Tag —:
ſo konnt' er ſich weiter nicht bergen, wie ſehr er
ſich gleich einem Großen, ſchwindelnd auf dem
Gluͤcksrad umſchwinge, oder eine wahre Nacht
der Ergoͤzlichkeiten durchtraͤume, in der ein
Sternbild voll freudiger Strahlen aufgeht, wenn
[104] ein anderes niedergeht, indeß arme Teufel nichts
haben, als einen blau-dunkeln Tag mit beige¬
fuͤgter Sonne.
So macht' er ſich denn — Kopf und Bruſt
voll floͤtender Vulte, heiliger Aurikelnbraͤute,
feinſter ihnen zu uͤbergebender Briefe — auf den
Weg zum erſten Konzert in ſeinem Leben. Denn
fuͤr die Leipziger Konzerte im Gewandhauſe hatt'
er nie den dazu gehoͤrigen Eintritts- und Thor¬
groſchen erſchwingen koͤnnen, bekanntlich 16
Groſchen ſchwer Geld.
Nro. 25. Smaragdfluß.
Muſik der Muſik.
Die Einlaßkarte feſt druͤckend, langte er in
der langen Prozeſſion mit an, die ſeine Fluͤgel¬
maͤnnin und Wegweiſerin war. Das Einrau¬
ſchen des glaͤnzenden Stroms, der hohe Saal,
das Stimmen der Inſtrumente, das Schickſal
ſeines Bruders machten ihn zu einem Betrunke¬
nen, der Herzklopfen hat. Dem Lauf des gold¬
fuͤhrenden Stroms ſah er mit Freude uͤber die
[105] Goldwaͤſche ſeines Bruders zu, er haͤtte die
Wellen zaͤhlen moͤgen. Vergeblich ſah er nach
ihm ſich um. Auch Wina ſucht' er, aber wie
ſollt' er einen Juwel in einer Ebene voll Thau-
Glanz ausfinden? Nach ſeiner Schaͤzung und
Vermeſſung mochten unter den ihm zugekehrten
Maͤdgen an 47 wahre Anadyomenen, Uranien,
Cytheren und Charitinnen ſizen in Pracht; un¬
ter den abgewandten Ruͤcken konnten ſie ſich
noch hoͤher belaufen.
Er legte ſich die Frage vor, wenn dieſe gan¬
ze Kette von 47 Paradiesvoͤgeln aufſtiege, und
er ſich einen darunter herabſchieſſen ſollte mit
dem Amors-Pfeil, welchen er wohl naͤhme? —
— Er brachte keine andere Antwort aus ſich her¬
aus als die: jede, die mir die Hand recht druͤck¬
te und etwas bei der Natur und fuͤr mich em¬
pfaͤnde. Da nun unter dieſem ſchoͤnen, Honde¬
koeters *) fliegenden Corps unzaͤhlige Raubvoͤ¬
gel, Harpyen und dergleichen gewiß ſteckten: ſo
ermeſſe doch aus dieſem Selbſtgeſpraͤch ein ganz
Flegeljahre II. Bd. 8[106] junger Menſch, der ſeine erſte Liebe zur erſten
Ehe machen will, in was er rennen koͤnne.
Eben ſtellte ſich der Buchhaͤndler Pasvogel
gruͤßend neben den Notar, als Haydn die Streit¬
roſſe ſeiner unbaͤndigen Toͤne losfahren lies in die
enharmoniſche Schlacht ſeiner Kraͤfte. Ein
Sturm wehte in den andern, dann fuhren war¬
me naſſe Sonnenblicke dazwiſchen, dann ſchlepp¬
te er wieder hinter ſich einen ſchweren Wolken-
Himmel nach, und riß ihn ploͤzlich hinweg wie
einen Schleier und ein einziger Ton weinte in ei¬
nem Fruͤhling, wie eine ſchoͤne Geſtalt.
Walt — den ſchon ein elender Geſang der
Kinderwaͤrterinnen wiegte und der zwar wenige
Kenntniſſe und Augen, aber Kopf und Ohren
und Herzohren fuͤr die Tonkunſt hatte — wurde
durch das ihm neue Wechſelſpiel von Fortiſſimo
und Pianiſſimo, gleichſam wie von Menſchen¬
luſt und Weh, von Gebeten und Fluͤchen in un¬
ſerer Bruſt, in einen Strom geſtuͤrzt, und da¬
von gezogen, gehoben, untergetaucht, uͤberhuͤllt,
uͤbertaͤubt, umſchlungen und doch — frei mit
allen Gliedern. Als ein Epos ſtroͤmte das Leben
[107] unten vor ihm hin, alle Inſeln und Klippen
und Abgruͤnde deſſelben waren Eine Flaͤche — es
vergiengen an den Toͤnen die Alter, — das Wie¬
genlied und der Jubelhochzeit-Geſang klangen
in einander, Eine Glocke laͤutete das Leben und
das Sterben ein — er regte die Arme, nicht die
Fuͤße, zum Fliegen, nicht zum Tanzen — er
vergoß Thraͤnen, aber nur feurige, wie wenn er
maͤchtige Thaten hoͤrte — und gegen ſeine Na¬
tur war er jezt ganz wild. Ihn aͤrgerte, daß
man Pſt rief, wenn jemand kam, und daß vie¬
le Muſiker, gleich ihrem Notenpapier, dick wa¬
ren, und daß ſie in Pauſen Schnupftuͤcher vor¬
holten, und daß Pasvogel den Takt mit den
Zaͤhnen ſchlug, und daß dieſer zu ihm ſagte:
„ein wahrer ganzer Ohrenſchmaus“: fuͤr ihn ein
ſo widriges Bild, wie im Fuͤrſtenthum Krain
der Name der Nachtigall: Schlauz.
„Und doch muß nun erſt das Adagio und
mein Bruder kommen“ ſagte ſich Walt.
„Den einer dort herfuͤhrt — ſagte Pasvo¬
gel zu ihm — das iſt der blinde Flautotraverſiſt
und der Fuͤhrer iſt unſer blinder Hof-Pauker,
[108] der aber das Terrain beſſer kennt. Das Paar
gruppirt ſich indes ganz artig.“ — Da der
ſchwarzhaarige Vult jezt langſam kam, das ei¬
ne Auge unter einem ſchwarzen Band, mit dem
andern ſtarrblickend, den Kopf wie ein Blinder
ein wenig hoch und die Floͤte am Munde hal¬
tend, — mehr um ſein Lachen zu bedecken; —
da er ſich vom Pauker verbeugungs-recht ſtellen
ließ — und da alle Schwaͤzereien ſtumm wurden
und weich, ſo konnte Walt ſich der Thraͤnen gar
nicht mehr enthalten, ſowohl wegen der vorher¬
gehenden als ſchon uͤber das blaſſe Gemaͤhlde
eines blinden Bruders und uͤber den Gedancken,
das Verhaͤngniß koͤnne den Spastreiber beim
Worte faſſen; und zulezt braucht' er wenig, um
mit dem ganzen Saale zu glauben, Vult ſei
erblindet.
Dieſer gab wie eine Monatsſchrift ſtets das
beſte Stuͤck zuerſt, und fuͤhrte an, er gehe mit
Einſicht von den allmaͤhlig ſteigenden Virtuoſen
ab, weil die Menſchen einander nach der Erſtge¬
burt, und nicht nach der Nachgeburt ſchaͤzten
und den ſchlimmen, mithin auch den guten Erſt¬
[109] lings-Eindruck feſthielten — und weil man den
Weibern, die von nichts ſo leicht taub wuͤrden,
als von langer Muſik, das Beſte geben muͤſte,
wenn ſie noch hoͤrten.
Wie eine Luna gieng das Adagio nach dem
vorigen Titan auf — die Mondnacht der Floͤ¬
te zeigte eine blaſſe ſchimmernde Welt, die beglei¬
tende Muſik zog den Mondregenbogen darein.
Walt ließ auf ſeinen Augen die Tropfen ſtehen,
die ihm etwas von der Nacht des Blinden mit¬
theilten. Er hoͤrte das Toͤnen — dieſes ewige
Sterben — gar nicht mehr aus der Naͤhe, ſon¬
dern aus der Ferne kommen, und der Herrnhuti¬
ſche Gottesacker mit ſeinen Abend-Klaͤngen lag
vor ihm in ferner Abendroͤthe. Als er das Auge
trocken und hell machte: fiel es auf die gluͤhen¬
den Streifen, welche die ſinkende Sonne in die
Bogen der Saalfenſter zog; — und es war ihm,
als ſeh' er die Sonne auf fernen Gebuͤrgen ſte¬
hen — und das alte Heimweh in der Menſchen¬
bruſt vernahm von vaterlaͤndiſchen Alpen ein
altes Toͤnen und Rufen und weinend flog
der Menſch durch heiteres Blau den duften¬
[110] den Gebuͤrgen zu und flog immer und erreichte
die Gebuͤrge nie — — O ihr unbefleckten Toͤne,
wie ſo heilig iſt euere Freude und euer Schmerz!
Denn ihr frohlockt und wehklagt nicht uͤber ir¬
gend eine Begebenheit, ſondern uͤber das Leben
und Sein und eurer Thraͤnen iſt nur die Ewig¬
keit wuͤrdig, deren Tantalus der Menſch iſt.
Wie koͤnntet ihr denn, ihr Reinen, im Men¬
ſchenbuſen, den ſo lange die erdige Welt beſezte,
euch eine heilige Staͤtte bereiten, oder ſie reini¬
gen vom irdiſchen Leben, waͤret ihr nicht fruͤ¬
her in uns als der treuloſe Schall des Lebens
und wuͤrde uns euer Himmel nicht angebohren
vor der Erde?
Wie ein geiſtiges Blendwerk verſchwand
jezt das Adagio, das rohe Klatſchen wurde der
Leitton zum Preſto. Aber fuͤr den Notar wurde
dieſes nur zu einer wildern Fortſetzung des Ada¬
gio's, das ſich ſelber loͤſet, nicht zu einer engli¬
ſchen Farce hinter dem engliſchen Trauerſpiel.
Noch ſah er Wina nicht; ſie konnte es vielleicht
im langen himmelblauen Kleide ſein, das neben
dem ihm zugewandten Ruͤcken ſaß, der nach
[111] den Kopffedern und nach der nahen Stimme zu
ſchlieſſen — die in Einem fort, unter der Muſik,
die Muſik laut pries — Raphaelen zukam;
aber wer wuſt' es? Gottwalt ſah bei ſolcher
Mehrheit ſchoͤner Welten unter dem Preſtiſſimo
an dem weiblichen Sternenkegel hinauf und hin¬
ab, und druͤckte mit ſeinen Augen die meiſten ans
Herz, vorzuͤglich die ſchwarzen Habite, dann
die weiſſen, dann die ſonſtigen. Unglaublich
ſteigerte die Muſik ſeine Zuneigung zu unverhei¬
ratheten, er hoͤrte die Huldigungsmuͤnzen klin¬
gen, die er unter die Lieben warf. „Koͤnnt'
ich doch dich, gute Blaſſe — dacht' er ohne
Scheu — mit Freudenthraͤnen und Himmel
ſchmuͤcken. Mit dir aber, du Roſengluth,
moͤgt' ich tanzen nach dieſem Preſto — Und du
blaues Auge, ſollteſt, wenn ich koͤnnte, auf der
Stelle vor Wonne uͤberfließen und du muͤſteſt
aus den weiſſen Roſen der Schwermuth
Honig ſchoͤpfen — Dich, Milde, moͤcht' ich vor
den Heſperus ſtellen, und vor den Mond und
dann wollt' ich dich ruͤhren durch mich oder durch
ſonſt wen — Und ihr kleinen hellaͤugigen Spiel¬
[112] dinger von 14. 15. Jahren, ein paar Tanzſaͤle
voll Kleiderſchraͤnke moͤcht' ich euch ſchenken —
O ihr ſanften, ſanften Maͤdgen, waͤr' ich ein
wenig das Geſchick, wie wollt' ich euch lieben
und laben! Und wie kann die grobe Zeit ſolche
ſuͤße Wangen und Aeuglein einſt peinigen, naß
und alt machen, und halb ausloͤſchen?“ — —
Dieſen Text legte Walt dem Preſtiſſimo
unter.
Da er ſchon ſeit Jahren herzlich gewuͤnſcht,
in einem ſchoͤnen weiblichen Auge von Stand und
Kleidung einer Thraͤne anſichtig zu werden — —
weil er ſich ein ſchoͤneres Waſſer in dieſen har¬
ten Demanten, einen goldnern Regen oder ſchoͤ¬
nere Vergroͤſſerungslinſen des Herzens
nie zu denken vermocht: — ſo ſah er nach die¬
ſen fallenden Licht- und Himmelskuͤgelgen, die¬
ſen Augen der Augen, unter den Maͤdgen-Baͤn¬
ken umher; er fand aber — weil Maͤdgen ſchwer
im Putze weinen — nichts als die ausgehan¬
genen Weinzeichen, die Tuͤcher. Indes fuͤr
den Notar war ein Schnupftuch ſchon eine Zaͤhre
und er ganz zufrieden.
[113]
Endlich fiengen die in allen Konzerten ein¬
gefuͤhrten Hoͤr-Ferien an, die Sprech-Minu¬
ten, in denen man erſt weiß, daß man in einem
Konzert iſt, weil man doch ſeinen Schritt thun
und ſein Wort ſagen und Herzen und Gefrornes
auf der Zunge ſchmelzen kann. Wer Henker,
ſagt Vult ſehr gut, in einem Extrablatt ſeines
Hoppelpoppels oder das Herz uͤberſchrieben
Vox humana— Konzert.
„Wer Henker wollte Ton- wie Dicht-Kunſt
lang' aushalten ohne das Haltbare, das nach¬
haͤlt? Beider Schoͤnheiten ſind die herrlichſten
Blumen, aber doch auf einem Schinken, den
man anbeiſſen will. Kunſt und Manna — ſonſt
Speiſen — ſind jezt Abfuͤhrungsmittel, wenn
man ſich durch Luſt und Laſt verdorben. Ein
Konzertſaal iſt ſeiner Beſtimmung nach ein
Sprachzimmer; fuͤr den leiſen Ton der Feindin
und Freundin, nicht fuͤr den lauten der Inſtru¬
mente, hat das Weib das Ohr; wie aͤhnlicher
Weiſe nicht fuͤr Wohlgeruch, ſondern nur fuͤr
Geruch feindlicher und bekannter Menſchen nach
Bechſtein die Naſe der Hund hat. Bei Gott
[114] man will doch etwas ſagen im Saal, wenn
nicht etwas tanzen. (Denn in kleinen Staͤdtgen iſt
ein Konzert ein Ball, und keine Muſik ohne Sphaͤ¬
rentanz himmliſcher Koͤrper.) Dahero ſollte das
Pfeifen und Geigen mehr Nebenſache ſein, und
wie das Klingeln der Muͤhle, nur eintreten, wenn
zwei Steine oder Koͤpfe nichts mehr klein zu
machen haben. Aber gerade umgekehrt deh¬
nen — muß ich klagen, ſo gern ich auch aller¬
dings einige Muſik in jedem Konzerte verſtatte,
wie Glocken und Kirchenmuſik, vorher, eh Kan¬
zeln beſtiegen werden — ſich die Spielzeiten weit
uͤber die Sprechzeiten hinaus und mancher ſizt
da und wird taub und darauf ſtumm, indeß es
doch durch nichts leichter waͤre als durch Muſi¬
ziren, Menſchen, ſo wie Kanarienvoͤgel, zum
Sprechen zu reizen, wie ſie daher nie laͤnger und
lauter reden, als unter Tafelmuſiken. — Nimmt
man vollends die Sache auf der wichtigern Sei¬
te, wo es darauf ankommt, daß Menſchen im
Konzert etwas genießen, es ſei Bier oder Thee
oder Kuchen: ſo muß man, wenn man erfaͤhrt,
daß das Muſiziren laͤnger dauert als das Trin¬
[115] ken, gleichſam das Blaſen zur Hoftafel laͤnger
als die Tafel ſelber, oder das Muͤhlen-Geklin¬
gel laͤnger als das Zaͤhne-Mahlen“ — — — und
ſo weiter; denn der Hoppelpoppel gehoͤrt in ſein
eignes Buch und nicht in dieſes.
Jezt da ſich die ganze neue Welt und He¬
miſphaͤre der Schoͤnheiten vordrehte und aufſtell¬
te, muſte Wina zu finden ſein. Raphaela ſtand
ſchon herwaͤrts gekehrt, aber die himmelsblaue
Nachbarin ſaß noch vor ihr. Der Notar erkun¬
digte ſich zulezt geradezu bei Pasvogeln nach ihr.
„Die, verſezte der Hofbuchhaͤndler, neben der aͤl¬
tern dlle Neupeter — in Himmelblau mit Sil¬
ber — mit den Perlenſchnuͤren im Haar — ſie
war bei Hof — Jezt ſteht ſie auf — ſie wendet
ſich warlich um. — Aber giebts denn ſchwaͤrzere
Augen und ein ovaleres Geſicht — ob ich gleich
ſehr wohl weiß, daß ſie nicht regelmaͤſig ſchoͤn
iſt, z. B. ſcharfe Naſe und die ausgeſchweifte
Schlangenlinie des entſchiedenen Mundes, aber
ſonſt, Himmel!“ —
Als Walt die Jungfrau erblickte, ſagte die
Gewalt uͤber der Erde: „ſie ſei ſeine erſte, und
[116] ſeine lezte Liebe, leid' er wie er will.“ Der Arme
fuͤhlte den Stich der fliegenden Schlange, des
Amors, und ſchauerte, brannte, zitterte, und
das vergiftete Herz ſchwoll. Es fiel ihm nicht
ein, daß ſie ſchoͤn ſei, oder von Stand, oder
die Aurikeln-Braut der Kindheit, oder die des
Grafen; es war ihm nur als ſei die geliebte ewi¬
ge Goͤttin, die ſich bisher feſt in ſein Herz zu
ihm eingeſchloſſen und die ſeinem Geiſte Seelig¬
keit, und Heiligkeit und Schoͤnheit gegeben, als
ſei dieſe jezt aus ſeiner Bruſt durch Wunden her¬
ausgetreten und ſtehe jezt, wie der Himmel auſ¬
ſer ihm, weit von ihm (o! alles iſt Ferne, je¬
de Naͤhe) und bluͤhe glaͤnzend, uͤberirdiſch vor
dem einſamen wunden Geiſte, den ſie verlaſſen
hat, und der ſie nicht entbehren kann.
Jezt kam Wina an der angeklammerten Ra¬
phaela, die aus eitler Vertraulichkeit ſich neben
ihr unter die Menge draͤngen wollte, den Weg
zu Walten daher. Als ſie ganz dicht vor ihm
vorbei gieng, und er das geſenkte ſchwarze Zau¬
ber-Auge nahe ſah, das nur Juͤdinnen ſo ſchoͤn
haben, aber nicht ſo ſtill, ein ſanft ſtroͤmende
[117] Mond, kein zuͤckender Stern und woruͤber noch
verſchaͤmte Liebe das Augenlied als eine Amors-
Binde halb hereingezogen: ſo trat Walt unwill¬
kuͤhrlich zuruͤck und ein koͤrperlicher Schmerz druͤck¬
te in ſeinem Herzen als werd' es uͤberfuͤllt.
Da auf der Erde alles ſo erbaͤrmlich lang¬
ſam geht, ſie ſelber ausgenommen, und da
ſogar der Himmel ſeine Rheinfaͤlle in hundert
kleine Regenſchauer zerſezt: ſo iſt ein Menſch wie
Walt ein Seeliger, dem ſtatt der von hundert
Altaͤren auffliegenden Phoͤnix-Aſche der Liebe
und Schoͤnheit ganz ploͤzlich der ausgeſpannte
goldne Vogel farbegluͤhend am Geſicht voruͤber¬
ſtreicht. Den Zeitungsſchreiber, den ploͤzlich
Bonaparte, den kritiſchen Magiſter, den ploͤz¬
lich Kant anſpraͤche, wuͤrde der Schlag des Gluͤcks
nicht ſtaͤrker ruͤhren.
Die Menge verhuͤllte Wina bald, ſo wie
den Weg auf der fernen Seite, den ſie an ihre
alte Stelle zuruͤck genommen. Walt ſah ſie da
wieder mit dem himmelblauen Kleide; und er
ſchalt ſich, daß er vom verſchwundenen Geſicht
nichts behalten als die Augen voll Traum und
[118] voll Guͤte. Aber beides allein war ihm ein gei¬
ſtiges All. Das maͤnnliche Geſchlecht will den
Stern der Liebe gerade wie die Venus am Him¬
mel, anfangs als traͤumriſchen Heſperus oder
Abendſtern finden, der die Welt der Traͤume und
Daͤmmerungen voll Bluͤthen und Nachtigallen
anſagt, — ſpaͤter hingegen als den Morgenſtern,
der die Helle und Kraft des Tags verkuͤndiget;
und es iſt zu vereinigen, da beide Sterne Einer
ſind, nur durch die Zeit der Erſcheinung ver¬
ſchieden.
Obgleich Walt die andere Maͤdgen jezt in
ſein Auge einlaſſen muſte, ſo warf er doch ein
mildes auf ſie; alle wurden Winas Schweſtern
oder Stiefſchweſtern und dieſe untergegangene
Sonne bekleidete jede Luna — jede Zeres — Pal¬
las — Venus mit lieblichem Licht, desgleichen
andere Menſchen, naͤmlich die maͤnnlichen, den
Mars, den Jupiter, den Merkur, — und ſehr
den Saturn mit zwei Ringen, den Grafen.
Dieſer war Walten ploͤzlich naͤher gezogen
— als ſei der Freundſchafts-Bund ſchon muͤnd¬
lich beſchworen; — aber Wina ihm ferner ent¬
[119] ruͤckt — als ſtehe die Braut zur Freundin zu
hoch. Ihren Brief ihr zu uͤbergeben, dazu wa¬
ren ihm jezt Kraft und Recht entgangen, weil
er beſſer uͤberdacht, daß eine bloße Unterſchrift
des weiblichen Taufnamens nicht berechtigte, ei¬
ne Jungfrau fuͤr die Korreſpondentin eines Juͤng¬
lings durch Zuruͤckgabe beſtimmt zu erklaͤren.
Die Muſik fieng wieder an. Wenn Toͤne
ſchon ein ruhendes Herz erſchuͤttern, wie weit
mehr ein tief bewegtes! Als der volle Baum der
Harmonie mit allen Zweigen uͤber ihm rauſchte:
ſo ſtieg daraus ein neuer ſeltſamer Geiſt zu ihm
herab, der weiter nichts zu ihm ſagte als: wei¬
ne! — Und er gehorchte, ohne zu wiſſen wem —
es war als wenn ſein Himmel ſich von einem
druͤckenden Gewoͤlke ploͤzlich abregnete, daß
dann das Leben luftig-leicht, himmelblau und
ſonnenglaͤnzend und heiß da ſtaͤnde wie ein Tag
— die Toͤne bekamen Stimmen und Geſichte —
dieſe Goͤtterkinder muſten Wina die ſuͤſſeſten Na¬
men geben, — ſie muſten die geſchmuͤckte Braut
im Kriegsſchiff des Lebens ans Ufer einer Schaͤ¬
ferwelt fuͤhren und wehen — hier muſte ſie ihr
[120] Geliebter, Walts Freund, empfangen unter frem¬
den Hirtenliedern und ihr rund umher bis an
den Horizont die griechiſchen Haine, die Sen¬
nenhuͤtten, die Villen zeigen und die Steige da¬
hin voll wacher und ſchlafender Blumen — Er
noͤthigte jezt Cherube von Toͤnen, die auf Flam¬
men flogen, Morgenroͤthe und Bluͤthenſtaub-
Wolken zu bringen, und damit Wina's erſten
Kuß daͤmmernd einzuſchleiern und dann weit da¬
von zu fliegen, um den ſtummen Himmel des
erſten Kuſſes nur leiſe auszuſprechen.
Auf einmal als unter dieſen harmoniſchen
Traͤumen der Bruder lang auf zwei hohen Toͤnen
ſchwebte und zitterte, die den Seufzer ſuchen und
ſaugen: ſo wuͤnſchte Gottwalt mitzitternd, am
Traum des fremden Gluͤcks zu ſterben. Da
empfieng der Bruder ein mißtoͤniges rauhes Lob;
aber Walten war bei ſeiner heftigen Bewegung
die aͤuſſere gar nicht zuwider.
Es war alles vorbei. Er ſtrebte — und
nicht ohne Gluͤck — am naͤchſten hinter Wina
zu gehen; nicht um etwa ihr Gewand zu beſtrei¬
fen, ſondern um ſich in gewiſſer Ferne von ihr
[121] zu halten, mithin jeden andern auch und ſo als
eine nachruͤckende Mauer von ihr das Gedraͤnge
abzuwehren. Doch druͤckte er unter dem Nach¬
gange ſehr innig ihre Hand im — Brief an
Klothar.
Zu Hauſe ſezt' er im Feuer, das fortbrann¬
te, dieſen Strekvers auf:
Die Unwiſſende.
Wie die Erde die weichen Blumen vor die
Sonne traͤgt und ihre harten Wurzeln in ihre
Bruſt verſchließ't — wie die Sonne den Mond
beſtrahlt, aber niemals ſeinen zarten Schein auf
der Erde erblickt — wie die Sterne die Fruͤh¬
lingsnacht mit Thau begießen, aber fruͤh hinun¬
terziehen, eh' er morgenſonnig entbrennt: ſo du,
du Unwiſſende, ſo traͤgſt und giebſt du die Blu¬
men und den Schimmer und den Thau, aber
du ſieh'ſt es nicht. Nur dich glaubſt du zu er¬
freuen, wenn du die Welt erquickſt. O fliege
zu ihr, du Gluͤcklichſter, den ſie liebt, und ſag'
es ihr, daß du der Gluͤcklichſte biſt, aber nur
durch ſie; und glaubt ſie nicht, ſo zeig' ihr an¬
dere Menſchen, der Unwiſſenden.
Flegeljahre II. Bd. 9[122]
Beim lezten Worte ſtuͤrmte Vult ohne Bin¬
de ungewoͤhnlich luſtig herein.
Nro. 26. Ein feiner Pektunkulus und
Turkinite.
Das zertirende Konzert.
„Ich ſehe!“ — rief der Floͤtenſpieler mit
einer Luſtigkeit, worein ſich Walt nicht ſchnell
genug hinuͤberſchaffen konnte. Er bat ihn, nur
erſt ſeine Augen-Kur anzuhoͤren; und dann zu
ſprechen, wovon er wolle. Walt war es am
meiſten zufrieden. „Es wird dir nicht bekannt
ſein — fieng Vult an — daß heute des Kapell¬
meiſters Wiegenfeſt war; ob dir gleich aus dem
guten Spiel aller Konzertiſten bekannt werden
konnte, daß ſie ſich noch fruͤher als den Zuhoͤrer
berauſchet. Die Konzertiſten ſind von Hunden,
die vom Herrn nur kleine Stuͤcke, aber aus
Furcht nie große annehmen, das Widerſpiel —
Der Wein des Kapellmeiſters war ihr Antihy¬
pochondriakus geworden und ſie hatten ſo viele
Brunnenbeluſtigungen an dieſem Wahrheitsbrun¬
[123] nen getrieben, daß der Violoncelliſt ſeine Ba߬
geige fuͤr einen Himmel anſah; und die andern
umgekehrt. Nun glomm ein ſchwacher Funke
zum nachherigen Kriegsfeuer ſchon unter dem
Eſſen durch das einzige Wort an, daß ein Deut¬
ſcher von einem deutſchen großen Dreiklang ſprach,
worinn Haydn, ſagt er, den Aeſchylus, Gluk
den Sophokles, Mozart den Euripides vorſtel¬
le. Ein anderer ſagte, von Gluk geb' ers zu,
aber Mozart ſei der Shakeſpear. Jezt mengten
ſich die Italier darein, zu Ehren des Kapellmei¬
ſters, und ſagten, in Neapel geige man dem Mo¬
zart was. In der kurzen Zeit, wo ich mir die
Kaſſe in die Hand legen laſſe — 60 Thaler hab'
ich uͤbrig und hier haſt du deine 10 — brach
der Krieg wider die Unglaͤubigen in voͤllige Flam¬
men aus, und als ich hinſah, fochten beide Na¬
zionen ſchon auf Hieb und Stoß.
Der Baßgeiger, ein Welſcher, mochte zu¬
erſt mit ſeinem Fidelbogen den Ellenbogen des
Floͤtabec-Pfeifers im Feuer angeſtrichen, oder
vielleicht auch auf ſolchen, wie auf eine Baß-
Saite, piccicato geſchlagen haben — um wohl
[124] Harmonie der Meinungen vorzulocken: — kurz,
als ichs ſah, hatt' der Pfeifer den Bogen von
ihm entlehnt und an ihm ſolchen — das eigne
Inſtrument ſollte ganz bleiben — bald wie einen
Stechheber, bald wie eine Streichnadel ver¬
ſucht. Behend kehrte aber der Geiger den Baß
um und rannte damit — er hielt ihn am Gei¬
genhals — wie mit einem Mauerbock auf
den Pfeifer loß, wahrſcheinlich um ihn um zu¬
rennen, der Fluͤte — a — bec ciſt lag denn
auch nieder, nahm ſich aber auf dem Boden erſt
der Nazion hitzig an, und fuhr dem Feinde mit
der Flûte à bec ins Geſicht und Maul, um ihn
vielleicht ſo mit dem Schnabel der Floͤte mehr
an ſich zu ziehen am eignen.
Der erſte Violiniſt und der zweite fochten
eine kurze Zeit mit Pariſer Bogen, nahmen aber
bald die Geigen bei den Wirbeln als Streitkol¬
ben, als Faͤuſtel in die rechte Hand, um ent¬
weder Deutſch- oder Welſchland hinauf zu brin¬
gen; das Reſoniren der Geigenbaͤuche ſollte ein
Raiſonniren der Koͤpfe vorſtellen, aber es war
wohl mehr Wort- und Ton-Spiel.
[125]
Du weiſt, H. Huͤschen zu Frankfurt am
Main hebt einen koſtbaren Buͤſchel Haare von
Albrecht Duͤrer auf *); ein Amateur hielt ein
Paar aͤhnliche herrliche Reliquien mit beiden
Haͤnden in die Hoͤhe, in der einen die Peruͤcke,
die er einem Saͤnger ausgerauft, in der andern
das natuͤrliche Haar, was er darunter ange¬
troffen.
Um den liegenden Schnabelpfeifer haͤufte
ſich das Hand-Gemenge dichter; der Violon¬
celliſt ſuchte den Baß von weitem tief in ihn zu
druͤcken, naͤherte ſich aber dadurch dem heftigen
Floͤtabek, womit ſich der Deutſche wie mit einem
Kopulirreiß, mit einer Fall- und Eſelsbruͤcke
an den Welſchen anzuſchlieſſen ſtrebte.
Den ſtehenden Sieger grif von hinten mit
einem faulen Trommelbaß ein deutſcher Zug¬
trompeter an — zur Schande der Deutſchen; —
den aber wieder ein welſcher Baſſethorniſt von
hinten angrif — zur Schande der Welſchen; —
worauf ſich der Deutſche gegen den Welſchen
[126] umkehrte, ſo daß nun beide in kurzem ſo gluͤcklich
waren, einander den Bruch, den ſie ſich ſonſt
blieſen, jezt — um einen Bruch der Nazionen
zu heilen — mit den Inſtrumenten zu ſtoßen,
wenn ich recht ſah.
Ein feiger Stadtpfeifer grif in die Taſche
und zog Mittelſtuͤcke heraus, die er als Feld¬
ſtuͤcke von ferne auf die beſten Koͤpfe warf, wor¬
auf ihm der Hofballetmeiſter mit dem Serpent,
den er ſonſt blaͤſet, zu Ohren kam.
O Zwillingsbruder! wie wuͤnſcht' ich ſaͤmmt¬
lichen Spizbuben zu ihrem Mord und Todtſchlag
Gluͤck! — Nur ein Virtuoſe, der den Gyges-
Ring ſcheinbarer Blindheit anhat, kann ſehen,
wie ihn Orcheſter auslachen und auskeltern vom
Kapelldiener an bis zum Kapellmeiſter, und wie
ſie, wenn er ſie muͤhſam zum Spielen gewon¬
nen und gepreſſet, wieder ihrer Seits von ihm
gewinnen und preſſen. Meine einzige Angſt un¬
ter dem Waffentanz war, man moͤge mein La¬
chen und Sehen ſehen; ich krazte mir daher in
einem fort als Deckmantel das Kinn.
„Ich glaube warlich gar“ fieng der blinde
[127] Hofpauker neben mir an. „Freilich, freilich, mein
Pauker! verſezt' ich. Und zwar ſehr wird mei¬
nes Wiſſens und Hoͤrens zugepruͤgelt — es ſoll
eine ſchoͤne differtatiuncula pro loco zweier
friedlichen guten Nazionen vorſtellen, wenn nicht
eine Sonate à quarante mains — Aber Him¬
mel warum ſchenkte das Gluͤck zu ſolchem rei¬
chen Ein- und Vielklang, zu ſolcher muſikali¬
ſchen Exekuzion und Stangenharmonie nicht noch
mehr Gewehr — Stangenharmonikas — Poſt¬
hoͤrner — Schulterviolen — d'Amour-Vio¬
len — gerade Zinken — krumme Zinken — Fla¬
geolettes — Tubas — Zittern — Lauten —
Orphikas von Rollig — Coͤleſtinen vom Kon¬
rektor Zink — und Klavizylinder von Chladni —
ſammt deren beigefuͤgten gehoͤrigen Spielern? —
Wie koͤnnten dieſe nicht damit ſich ſchlagen und
jeden? Wie koͤnnte nicht gehaͤmmert, geſtaucht,
geſaͤgt, gepaukt werden, mein beſter ſtiller
Pauker?“ —
Izt hatte die Pruͤgel-Partie ihre Bluͤthe er¬
reicht. Mehrere Stadtmuſikanten und der Bratſchift
faſten, weil ſie friedlich dachten, Notenpulte
[128] an und hielten ſie umgekehrt vor, um ſich blos zu
zu decken, eh' ſie damit rannten — ein Trom¬
peter ſprang mit dem Inſtrument auf eine Fen¬
ſterbruͤſtung und ſtieß und blies auſſer ſich dar¬
ein, und in die Kriegsflamme, und ſchmetterte,
herunter ſpringend, fort, als ein Kerl ihn an
der Quaſte niederzog — Paukenſchlaͤgel flogen
auf Kopf- und andere Haͤute — ein Welſcher
band, weil der Bogen entzwei war, einem deut¬
ſchen Spielmann die Roßhaare von hinten wie
eine Vogelſchneuß um den Kahlkopf — der Fa¬
gotiſt und der Hoboiſt hatten einander an den
linken Haͤnden, ſo daß ſie tanzend in dieſer be¬
quemen wie verabredeten Richtung, jeder des an¬
dern Ruͤckgrath und Mark darinn vor ſich ſahen
und ſich gegenſeitig, wie Lauten, mit ihren In¬
ſtrumenten, wie mit Faͤchern, ſchlagen konnten,
die ſonſt blieſen — In die haͤrteſten Koͤpfe wur¬
de mehr Feuer hinein geſchlagen, als heraus —
Wer einen Kamm und einen Delta-Muſkel be¬
ſaß, ließ beide ſchwellen, ohne naͤhere Ruͤckſicht
auf Religion — Es kam eine betraͤchtliche Ver¬
einigung des Organiſchen und Mechaniſchen zu
[129] Stande, Ruͤckenwirbel und Geigenwirbel ver¬
knuͤpften ſich, ſo Geigen- und ſonſtige Haͤlſe,
die Kunſtwoͤrter Vor- und Nachſchlag,
Dreimalgeſtrichen, Haͤmmerwerk,
Kalkant bekamen lebendige organiſche Bezie¬
hung, die ohne dieſes ſonſt als flaches Wortſpiel
gaͤnzlich zu verwerfen waͤre — jede Hand wollte
der Geigen-Froſch ſein, der fremde Haare zu
Toͤnen anziehet und ſpannt — —
Ich wuͤnſchte nicht, daß du lachteſt; denn
ganz furioͤs fuhr der ernſtere Kapellmeiſter aus
Neapel umher und herum — rief fanto Gen¬
naro — ſchrie fragend, ob das ſein Wiegenfeſt
ſei oder ordentliche Ordnung — bewafnete ſich,
weil man ihm nichts darauf verſezte, obwohl
jedem etwas, mit einer Armgeige links, mit
einem Waldhorn rechts — ſezte und ſtauchte das
Horn mit der weiten Oefnung ſiegenden Koͤpfen
wie einen Stechhelm mit Feder-Bogen auf, doch
ſo, daß er halb ſtieß — ſchlug aber fort mit der
Armgeige nach Knie- und allen Scheiben, die
er traf.
Das muſte zulezt den Klavizembaliſten, de[n]
[130] Stadtterzius, ein Maͤnnlein, daß ſich ſelber
nicht einmal an die Knie geht, geſchweige laͤn¬
gern Perſonen, dermaßen auſſer Faſſung ſetzen,
Bruder, da der Mann auf Sitten drang, aber
auf mildere, daß er halb des Teufels hinter ſei¬
nem Fluͤgel mit einem Streit- und Stimmham¬
mer auf- und niederlief, und jeden verfluchte und
Welſch- und Deutſchland abkanzelte ganz frei.
„„Was, Ihr dummer Teufel, Ihr Dampfhans,
Ihr Schwengelgalgen! rief der Kapellmeiſter,
habt Ihr Euch dazu beſoffen bei mir?““ und
wollte dem Terzius das Waldhorn aufſetzen,
weil er geringen Unterſchied darinn fand, ob er
ihn damit anblies wie einen jagdgerechten Hirſch
oder damit halb erſtieß; aber mit Stimm-
und Geſetzes-Hammer in den Haͤnden behaupte¬
te der Terzius den rechten Fluͤgel des Fluͤgels
und der welſche Napler muſte dieſen erobern als
einen Bruͤckenkopf. — —
„Was bedeutet denn auf einmal das Lachen
im Saal“ ſagte der Pauker zu mir. „Herr,
verſezt' ich im Taumel, der Kapellmeiſter hat
den kleinen Terzius unter dem Fluͤgel beim Fluͤ¬
[131] gel erwiſcht und vorgezogen und haͤngt ihn jezt,
wie ein paar Lederhoſen, die ein Berliner trock¬
net, an den Beinen in die Luft.“ —
„Was Donner, Herr,“ ſagte zu meinem
Schrecken der Pauker, „Sie ſehen ja alles.“ —
„Eben dieſen Augenblik“, verſezt' ich, raͤumte
aber eiligſt das Schlag- und Schlachtfeld, um
nicht ſelber darauf angeſtellt zu werden. — —
Und ſo hab' ich denn ganz unerwartet mein vo¬
riges Geſicht, obwohl noch ein aͤuſſerſt kurzes,
fuͤr Stadt und Land wieder erhalten durch galva¬
niſche Schlaͤge von weitem.
Aber, mein Waͤltlein, eine ſo koͤſtliche Nun¬
ziaturſtreitigkeit enharmoniſcher Konkordaten be¬
denk'! Iſt es nicht, als habe einer meiner beſten
Genien uns die Schlaͤgerei als eine fertige Mauer
mit Freſkobildern fuͤr unſern Hoppelpoppel oder
das Herz abſichtlich ſo vor die Naſe hingeſcho¬
ben, daß wir unſer romantiſches Odeon nur dar¬
auf hinzumauern brauchen, bis ſich die Mauer
gerade da einfuͤgt, wo es krumm laͤuft, Bru¬
der?“
„Wenn alle Perſonalitaͤten dabei auszutil¬
[132] gen ſind, — verſezte Walt, — gut! Froher iſts
auch zu leſen als zu ſehen. Gottlob, daß du
nur ſiehſt! — Ach was haben wir heute nicht
zu reden, was gewiß in keiner Roman gehoͤrt
und kommt?“
„Nicht? ſagte Vult. Daruͤber ließe ſich
noch reden, Walt.“
Nro. 27. Spathdruͤſe von Schneeberg.
Geſpraͤch.
Walt kam am erſten aus dem Lachen zu ſich,
und zur ernſten Frage, wie Vult vor der Stadt
ſeine Augen-Rolle jezt hinausſpiele. „Ich ha¬
be, ſagte Vult, — ſchon einigen Schimmer, dann
beſſert ſichs zuſehends, zulezt komm' ich mit ei¬
ner großen Kurzſichtigkeit davon.“ Der Notar
bezeugte, wie er ſich auf eine leichtere Zukunft
freue, worinn ſich das Leben wie eine bunte
Blume weit aufthun wuͤrde. Er uͤbergoß den
Virtuoſen, in der Hoffnung ihn zu uͤberraſchen,
mit einem Fruͤhlings-Regen von wohlriechenden
Waſſern des Lobs auf die Floͤte. Allein fahren¬
[133] de Ton-Meiſter, die man ſtets laut beklatſcht,
und nur hinter ihrem Ruͤcken auspfeift, ſind faſt
noch eitler als Schauſpieler, welche doch zuwei¬
len eine gute Monathsſchrift kneipt und aͤrgert.
„Ich darf mich — verſezte Vult — wohl, ohne
die Beſcheidenheit zu verletzen, einiger Beſchei¬
denheit ruͤhmen. Aber wie hoͤrteſt du? Voraus
und zuruͤck, oder nur ſo vor dich hin? Das
Volck hoͤrt wie das Vieh nur Gegenwart, nicht
die beiden Polar-Zeiten, nur muſikaliſche Syl¬
ben, keine Syntax. Ein guter Hoͤrer des Worts
praͤgt ſich den Vorderſaz eines muſikaliſchen Pe¬
rioden ein, um den Nachſaz ſchoͤn zu faſſen.“
Der Notar erklaͤrte ſich daruͤber ganz ver¬
gnuͤgt; er theilte dem Flautiſten die gewaltige
Verſtaͤrckung des Eindrucks mit, die er ſelber
der Floͤte durch die Szenen-Traͤume, durch die
Maͤdgen und durch Wina zugeſchickt, ohne zu
errathen, daß Vultens ganzes Geſicht an die¬
ſem Lorbeer verzogen kaͤue, weil er den Unmuth
ſeinem mangelhaften Strekvers zuſchrieb, worinn
der Virtuoſe las. Dieſer hatte das Gedicht in
der Hoffnung aufgenommen, es lobe keine an¬
[134] dern Schoͤnheiten als muſikaliſche. „Es iſt,
ſagte der Notar ſtockend, an die Braut des
Grafen; ich bin auch nicht zufrieden mit man¬
chem harten Fuß darinn, ich meine der Ditro¬
cheus (υ—υ—); (υυ—υ) dritten Paͤon
und den Jonikus mit dem langen Anfang
(——υυ); aber im Feuer wird man leicht
hart.“
„Wie Pruͤgel, z. B., und Eier ſagte Vult.
Aber, o Gott, wie hoͤren deine Menſchen! Sollte
man nicht lieber ſeine Floͤte zum Blasrohr, oder
zur Kinder-Klyſtierſpruͤtze anſetzen oder zu Ho¬
belſpaͤhnen fuͤr einen Sarg verſchneiden, wenn
man ſo die graͤßliche Beſprizung des einzigen
Himmliſchen erfaͤhrt, das noch uͤber die Lebens-
Spiesbuͤrgerei oben voruͤberfliegt: —
Ich ziele nicht auf dich, Notar; aber du
bringſt mich darauf. Denn wie beſonders Mu¬
ſik entheiligt wird — obgleich jede Kunſt uͤber¬
haupt, — das hoͤre. Tafelmuſik laſſ' ich noch
gelten, weil ſie ſo ſchlecht iſt wie Tafelpredigten,
die man in Kloͤſtern ins Kaͤuen hinein haͤlt; von
verfluchten, verruchten Hofkonzerten, wo der
[135] heilige Ton wie ein Billardſack am Spieltiſche
zum Spielen ſpielen und klingeln muß, red' ich
gar nicht vor Grimm, da ein Ball in einem
Bilderkabinet nicht toller waͤre; aber das iſt
Jammer, daß ich in Konzertſaͤlen, wo doch je¬
der bezahlt, mit ſolchem Rechte erwarte, er
werde fuͤr ſein Geld etwas empfinden wollen,
allein ganz umſonſt. Sondern damit das Klin¬
gen aufhoͤre ein paarmal und endlich ganz, —
deswegen geht der Narr hinein. Hebt noch et¬
was den Spiesbuͤrger empor am Ohr, ſo iſts
zwei-hoͤchſtens dreierlei, 1) wenn aus einem
halbtodten Pianiſſimo ploͤzlich ein Fortiſſimo wie
ein Rebhuhn aufknattert, 2) wenn einer, beſon¬
ders mit dem Geigenbogen, auf dem hoͤchſten
Seile der hoͤchſten Toͤne lange tanzt und ruſcht
und nun kopf-unter in die tiefſten herunter¬
klatſcht, 3) wenn gar beides vorfaͤllt. In ſol¬
chen Punkten iſt der Buͤrger ſeiner nicht mehr
maͤchtig, ſondern ſchwizt vor Lob.
Freilich bleiben Herzen uͤbrig, Walt, die
delikater fuͤhlen und eigennuͤtziger. Ich habe
aber Stunden, wo ich aufbrauſen kann gegen
[136] ein Paar verliebte Baͤlge, die, wenn ſie etwas
Hohes in der Poeſie oder Muſik oder Natur vor¬
bekommen, ſo fort glauben, das ſei ihnen ſo
recht auf den Leib gemacht, an ihren fluͤchtigen
Erbaͤrmlichkeiten, die ihnen ſelber nach einem
Jahr bei noch groͤſſerer als ſolche erſcheinen, ha¬
be der Kuͤnſtler ſein Maas genommen und kom¬
me mit dem geſtickten Kroͤnungsmantel und Iſis¬
ſchleier auf dem Aermel zuruͤck, fuͤr die Kunden.
Ein Affocié von Neupeter ſieht bei ſolcher Ge¬
legenheit Nachts gen Himmel an die Milch¬
ſtraße und ſagt zur Kauffrau: Edle, ſo em¬
pfange jenen Kreis als einen ſchlechten Ring von
mir zum Zeichen und Braut-Guͤrtel unſeres
himmliſchen Bunds.
„Ei, Bruder, ſagte Walt, du biſt ſo hart:
was kann denn ein Menſch fuͤr eine Empfindung
oder gegen ſie, es ſei in der Kunſt oder großen
Natur? — Und wo wohnen denn beide, ſo
groß ſie auch ſind, als nur in einzelnen Men¬
ſchen? — Wohl mag er ſie ſich daher zueignen,
als waͤren ſie fuͤr ihn allein. Die Sonne geht
vor Schlachtfeldern voll Helden — vor dem Gar¬
[137] ten der Brautleute — vor dem Bette eines Ster¬
benden zugleich auf, ja in derſelben Minute vor
andern unter; und doch darf jeder nach ihr ſehen
und ſie an ſich heranziehen, als beleuchte ſie
ſeine Buͤhne nur allein und ſtimme ein in ſein
Leid oder in ſeine Luſt; und ich moͤgte ſagen, ge¬
rade ſo, wie man Gott ſo anruft als den ſeini¬
gen, indeß doch ein Weltall vor ihm betet. Ach
ſonſt waͤr' es ja ſchlimm, wir ſind ja alle ein¬
zelne.“
„Gut, ſo nehmt die Sonne hin, ſagte
Vult, aber nur der Paradieſesfluß der Kunſt
treib' eure Muͤhlen nicht. Darfſt du Thraͤnen
und Stimmungen in die Muſik einmengen: ſo
iſt ſie nur die Dienerin derſelben, nicht ihre
Schoͤpferin. Eine elende Pfeiferei, die dich am
Todestage eines geliebten Menſchen aus den An¬
geln hoͤbe, waͤre dann eine gute. Und was waͤ¬
re das fuͤr ein Kunſt-Eindruck, der wie die Neſ¬
ſelſucht ſogleich verſchwindet, ſobald man in die
kalte Luft wieder kommt? Die Muſik iſt un¬
ter allen Kuͤnſten die rein-menſchlichſte, die all¬
gemeinſte.“ — —
Flegeljahre II. Bd. 10[138]
„Deſto mehr beſonderes geht hinein, verſez¬
te Walt; irgend eine Stimmung muß man doch
mitbringen, warum nicht die guͤnſtigſte, die
weichſte, da das Herz ja ihr wahrer Sangbo¬
den iſt? — Aber deine Lehre will ich nicht ver¬
geſſen, naͤmlich voraus- und zuruͤckzuhoͤren.
„Wie giengs dir ſonſt? fragte Vult muͤr¬
riſch? Denn ich bleibe dabei, Wirklichkeit in die
Kunſt zu knaͤten zum Effekt iſt ſo eine Miſchung
wie an manchen Deckengemaͤlden, in welche der
Perſpektive wegen noch wirkliche Gyps-Figuren
geklebet ſind. Erzaͤhle!“ Walt — der Vults
Murrſinn blos ſeiner unkuͤnſtleriſchen Hoͤrkunſt zu¬
ſchrieb und uͤber welchen ohnehin die Liebe ihren
Traghimmel hielt — erzaͤhlte ſanft und gern,
wie eifrig er bisher den Grafen geſucht, wie er
ihm bei Neupeter, deſſen Diner er beſchrieb, ge¬
genuͤber geſeſſen — mit ihm geſprochen und an
ihm gefunden, daß er durch die ſtolze Gewandt¬
heit ſeines Geiſtes und durch den philoſophiſchen
Schwung uͤber enge Blicke und Winke dem Floͤ¬
tenſpieler ſo ungemein aͤhnlich ſei. „Du liebſt
Doubletten, doch warlich hier ſind keine, Freund,
[139] aber nur weiter!“ verſezte Vult, dem, wie
Frauen, kein Lob der Aehnlichkeit gefiel.
Darauf zeigt' er Winas Brief-Umſchlag
her als Einlaßkarte in Klothars Zimmer und
Ohr. „Ja, ja, ganz natuͤrlich — uͤberhaupt
(fieng Vult an); aber nenne nur ins Henkers
Namen nicht Spies- und Pfahlbuͤrgerinnen wie
die Dlles Neupeter Damen; in groſſen Staͤdten,
an Hoͤfen giebts Damen, aber in Haslau nicht.
Dein hoͤlliſches Preiſen! Ich will gehangen ſein,
ſprichſt du mehreren Mamſellen auf der Welt
den Verſtand ab als fuͤnfen, den 5 thoͤrigten
im neuen Teſtamente. — Und was haͤltſt du
von der weiblichen Tugend dieſer charmanten
Weſen, der 5 klugen, der Roſenmaͤdgen, der
Wickel- und Freifrauen und der erſten Saͤnge¬
rinnen? Aber ich weiß es ſchon.“
„Nun, ich ſcheue mich nicht — verſezte der
Notar — wenigſtens dir meinem leiblichen Bru¬
der zu bekennen, daß ich bis dieſe Stunde keinen
Begrif habe, daß ein vornehm gekleidetes ſchoͤnes
Frauenzimmer ſich ſuͤndlich vergeſſen koͤnne; et¬
was anders iſt eine Baͤuerin. Gott weiß, wie
[140] heilig und zart alle insgeheim ſind; wer wills
wiſſen? Aber mein Blut, daß weis ich, koͤnnt'
ich fuͤr jede hingeben.“
Da ſprang der Flautiſt wie von Verwun¬
derung beſeſſen im Zimmer auf und nieder,
ſchnappte mit beiden Haͤnden wie mit Schnap¬
waifen, nickte mit dem Kopfe und wiederholte:
„vornehm gekleidetes!“ — Es waͤre zu wuͤn¬
ſchen, daß die Leſerinnen ſein anſtoͤßiges Erſtau¬
nen wenn nicht rechtfertigen, doch entſchuldigen
wollten mit den Verhaͤltniſſen, worein er auf
ſeinen großen Reiſen gerathen muſte, da es, wie
ſchon gemeldet worden, wenig groͤſſere Staͤdte
und hoͤhere Staͤnde gab, denen er nicht blies als
anerkannter Floͤtenmeiſter. Das beſſert ſeinen
Handel um vieles.
Walt wurde von der mimiſchen Widerle¬
gung ſehr beleidigt: „rede wenigſtens, ſagt' er,
denn dies widerlegt mich nicht.“ — Aber Vult
verſezte mit dem gleichguͤltigſten Tone von der
Welt: de guſtibus non und ſo weiter. Von
etwas Schoͤnerem! Aeuſſerteſt du nicht vorhin
etwas, als ob beide Dlles Neupeter ſich in der
[141] That fuͤr haͤßlich anſaͤhen, und zeigteſt ein Mit¬
leid?“ — „Deſto beſſer, ſagte Walt, wenn
ſie ſich ſchoͤner finden. Bei allen Maͤdgen ent¬
ſchuldige ich das, weil ſie ſich nur im Spiegel
ſehen, mithin, wie du aus der Katoptrik wohl
weiſt, gerade in einer noch einmal ſo großen
Ferne als der Fremde ſie; jede Ferne aber, auch
die optiſche, macht ſchoͤner.“
„So ſcheints, ſagte Vult erſtaunt. Spaſ¬
ſes halber will ich dir doch nur die 3 Weiber, ſo
weit ich ſie im Klatſchroſen-Thal kennen ler¬
nen, aufſtellen. Die alte Engelberta — nein,
das iſt die Tochter — die Mutter alſo, mag noch
hingehen; ihr Herz iſt ein ausgeſeſſener Gros¬
vaterſtuhl, und uͤbrigens hat ſie von der Mu¬
ſchel-Auſter nicht nur die Seele geerbt, ſondern
auch die Perlen. Freilich waͤre der Agent weni¬
ger bemittelt, ſo wuͤrde ſie wohl, als Widerſpiel
der Oeſterreicher Infanterie, die im Kriege aus
den Zwilchkitteln Brodſaͤcke machen muß*),
ſeinen Brodſack zu einem bunten Kittel verſchnei¬
[142] den. — — Engelberta, nun ſie ſcherzt zuwei¬
len — viele nennens Verlaͤumden — wie Feſtun¬
gen bei ſchlimmem Wetter, ſo thut ſie immer
Ausfaͤlle, wiewohl man ſie nicht eben belagert —
wehrt ſich, wie ein Hamſter gegen einen Mann
zu Pferde, und ich koͤnnte ſie wie den Hamſter
am Stocke wegtragen, worein ſie ſich eingebiſ¬
ſen. — Raphaela — ſie empfinde, ſagſt du,
aber doch nicht mehr als mein Fingernagel oder
meine Ferſe, frag' ich? Freilich will ſie, ich be¬
kenne es, an der Angelſchnur ihres ſentimentali¬
ſchen Haar- und Leibesſeiles und an der biegſa¬
men Angelruthe ihrer poetiſchen Blumenſtengel
ſich einen huͤbſchen Wallfiſch von Gewicht aus
dem Meere heben, was andere einen Ehemann
nennen. An ihrem Ufer, zu ihren Fuͤßen ſchnalzt
der kleine glatte Elſaſſer Flitte, der gern lebte und
ſich gern als ein Goldfiſchgen in einem Gehaͤu¬
ſe auf einer Tafel ſtehen ſaͤhe, Semmelkrumen
aus ſchoͤnſten Haͤnden freſſend. Die andern —
Aber was ſolls? An der ganzen Tafel dauert
mich nichts als der ſuͤdliche — Wein. Es iſt
Suͤnde, wenn ihn jemand anders trinkt als ein
[143] Kopf von Wiz. Es iſt Suͤnde gegen den heili¬
gen Geiſt des Weins, wenn er Fracht-Maͤgen
gemeiner Menſchen durchziehen muß.“
„O Gott, ſagte Walt, wie oft brauchſt
du nicht den Ausdruck gemeine Menſchen, aber
ſo erzuͤrnt dabei, als habe ſich das Gemeine
freiwillig von einer Hoͤhe herab begeben oder das
Ungemeine von einer hinauf, indeß du doch mil¬
der von Thieren und Feuerlaͤndern ſprichſt?“
„Warum? — Mich erbittert die Zeit, das
Leben, der Satan. Ueberhaupt; — aber was
hilfts? — Gruͤße den Grafen von mir herzlich
morgen. Von den ehrlichen 7 Erben haben dir
doch ein Paar an nahe 32 Beete geſtohlen, ganz
gegen meine Meinung weniger als gegen deine.
Inzwiſchen Adio!“ ſagte Vult, ſchied haſtig,
uͤber den geringen Erfolg verdruͤßlich, womit er
mit ſeiner Welt und Kraft den unerfahrnen Mei¬
nungen des ſanften Bruders gebot.
Walt ſagte mit zaͤrtlichſter Stimme gute
Nacht, aber ohne Umarmung, und er ſah ihn
nur mit Lieb' und Trauer an. Er warf ſich vor,
daß er durch ſeine Urtheile den kuͤnſtleriſchen Bru¬
[144] der ſo wenig belohnet, und daß er dieſem die
— Beete verloren habe. „Wenigſtens aber hab'
ich ihm doch, ſagt' er, die Tafelſchmaͤhungen
gegen ihn *) verſchwiegen. Er hielt es nur
fuͤr erlaubt, ein Lob hinter dem Ruͤcken, nicht
einen Tadel hinter dem Ruͤcken dem Gegenſtan¬
de mitzutheilen.
Nro. 28. Seehaaſe.
Neue Verhaͤltniſſe.
Am Morgen eilte der Notar mit Winas
Brief zum Grafen, uͤbergab aber nichts, weil
vergoldete Wagen und Bediente an der Thuͤre
und deren Herren im Beſuchszimmer ſtanden;
was haͤtte ich davon? fragt' er ſich. „Ich kom¬
me wieder, wenn niemand darinn iſt“ ſagt' er
zum Bedienten, dem das wie eine Diebs-Erklaͤ¬
rung klang.
Im Speiſehauſe fand er auf dem Tiſchtu¬
che das Wochenblatt und Klothars gedruckte
[145] Bitte darinn, ein redlicher Finder ſoll' ihm ſei¬
nen Brief wieder zuſtellen.
Am Tiſche hoͤrt' er, daß der General Zab¬
locki ſeinen Koch ein Dienſtjubileum feiern laſſe.
Der Komoͤdiant leitete die Feier aus dem Herzen
des Generals, ein Offizier aus deſſen Gaumen
und Magen her; der Jubelkoch, fuͤgt' er bei,
iſt ihm ſo nahe wie eine Kompagnie oder ſein
Schwiegerſohn. Walt lief wieder in die Villa des
Grafen hinaus — Dieſer aß eben bei dem General.
Zu erklaͤren iſt allerdings einer der keckeſten
Gedanken — die je Walten Sporen und Fluͤgel
angeſezt, — welcher ihm unter Klothars Gar¬
tenthuͤre anflog; ſo bald man erwaͤgt, daß er
das Sonntags-Konzert noch im Kopfe haben
muſte und im Herzen ohnehin. Daher iſt es
wohl nur ein Nebenumſtand dabei, — aber
er trug mit bei, — daß der General der
halbe Beſizer von Elterlein war und Gott¬
walt ein Linker. Gleichwohl wollt' er an¬
fangs ſich erſt mit ſeinem Bruder berathen, ob
er angehe, der Gang; ließ es aber unter Wegs,
um ihn, hoft' er, Abends mehr mit der Nach¬
[146] richt zu faſſen und aufzuruͤtteln, daß er ganz
kuͤhn beim polniſchen General geweſen, um
Winas Brief an deſſen Schwiegerſohn auszu¬
liefern.
Sehr ſpaͤt brach er dahin damit auf, um
nicht ins Eſſen zu fallen. Auch ſollte jeder
Menſch gegen Abend — naͤmlich nie gegen Mor¬
gen, wo der Geiſt noch den Koͤrper und das
Geſtern verdauet — mit Geſuchen und ſich zu
Großen kommen, welche er vielleicht alsdann
halb betrunken und halb-menſchlich, es ſei vom
Mittags-Eſſen oder Mittags-Trinken, zu fin¬
den hoffen darf. Auf dem Wege dahin wallete
Gottwalts Herz wie ein angewehtes Blumenbeet
bei dem Gedancken auf, daß er dem Hauſe zu¬
gehe, worinn Wina ſo lange als Kind und Jung¬
frau gelebt. Auf der lezten Gaſſe muſt' er mit
dem Plane der Uebergabe ins Reine kommen.
„Anders, ſagt' er ſich, kanns doch nicht gehoͤrig
delikat ausfallen, als wenn ichs ſo mache, daß
ich mich beim General — denn der Graf iſt
doch nur der Gaſt — ordentlich melden laſſe,
mich dann entſchuldige und ſage, daß ich dem
[147] H. Grafen etwas in einem Seiten-Zimmer zu
uͤbergeben habe, dieſer und ſeine Braut moͤgen
nun dabei ſtehen oder nicht; und dabei ſeh' ich
doch auch einmal einen General, ja einen pol¬
niſchen.“ Sehr ſucht' er ſich unterwegs keine
andere Freude vorzuhalten als die, einen Gene¬
ral zu hoͤren. Drei Viertel-Stunden hatt' er
einmal in Leipzig am Hotel de Baviére ge¬
lauert, um einen Ambaſſadeur einſteigen zu ſe¬
hen. Denſelben Durſt hatte ſein Herz nach dem
Anblick eines preuſſiſchen Miniſters. Dieſes
Triumvirat war ihm der Dreizak der Gewalt,
der Feinheit und des Verſtandes; feinere Tour¬
nuͤren als die ſind, womit dieſer Staats-Tri¬
dent guten Morgen, guten Abend und alles ſa¬
gen werde, (indeß ohne Blumen) konnt' er nicht
wohl fuͤr moͤglich halten, weil er glaubte ſie de¬
nen gleich ſetzen zu koͤnnen, womit Louis XIV
und Verſailles auf die Nachwelt kamen. Nur
drei Perſonen, gleichſam Kuriazier, ſtellt' er die¬
ſen drei Horaziern entgegen und ſogar voraus —
deren Gemahlinnen; oft lies er beſonders eine
Ambaſſadrice durch ſeinen Kopf gehen, welche
[148] es war, eine ruſſiſche, daͤniſche, franzoͤſiſche,
engliſche ꝛc. — „Bei Gott, ſagt' er, ſie iſt ganz
„Goͤttin ſowohl in Betref der zarteſten Ausbil¬
„dung und Tugend, als des feinſten Teints,
„Geſichts und Anzugs: — aber warum hab'
„ich armer Teufel noch keine Ambaſſadrice zu
„Geſicht bekommen?“
Endlich ſtand er vor dem Zablockiſchen Pal¬
laſt. — Die Auffahrt und das Ketten-Gehenke
an Pfeilern waren neue Siebenmeilenſtiefel fuͤr
ſeine Phantaſie; er freute ſich auf die Nacht,
wo er dieſe geſpannte bange Stunde auf dem
Kopfkiſſen frei und ruhig beſchauen und behan¬
deln werde. Er trat in den Pallaſt, er ſah
rechts und links breite Treppen mit Eiſenge¬
laͤndern, — große Fluͤgelthuͤren — ſogar einen
rennenden Mohr mit weiſſem Turban — gepuz¬
te Menſchen giengen herab, heraus, hinein —
Thuͤren wurden oben auf und zugemacht —
Treppen berennt. Schwer wars fuͤr einen No¬
tar, ſich einen Menſchen auf der Hausflur aus¬
zuſuchen, dem die Bitte vorzutragen war, daß
er zum General wolle.
[149]
Eine Viertelſtunde ſtand er, hoffend, ei¬
ner der Leute wende ſich an ihn und frag' ihn,
und entwickle dann alles ; — aber man lief vor¬
uͤber. Zulezt ſpazierte er frei in der Hausflur
auf und nieder — einmal eine halbe Treppe hin¬
an — hielt ſich die groͤſten Maͤnner aus der
Weltgeſchichte vor, um einen lebendigen beſſer
zu handhaben — und bracht' es endlich zu ei¬
ner Frage nach dem General an ein Maͤdgen.
Sie wies ihn an den Portier. Der Him¬
mel hat oͤfter eine Vorhoͤlle als einen Vorhim¬
mel — troͤſtet' er ſich — vielleicht die ganze ge¬
lehrte Vorwelt hat ſchon auf aͤhnlichen Pallaſt-
Fluren geſchwizt. Eine Himmelsthuͤre that ſich
ihm auf; heraus trat ein aͤltlicher gepuderter ver¬
druͤßlicher Mann, der ein breites Gehaͤnge uͤber
dem Leib und einen Stock mit einem ſchweren
Silber-Giebel trug. Walt, ganz unvermoͤ¬
gend, das lederne Bandelier fuͤr etwas anders zu
halten, als fuͤr ein Ordensband und den Por¬
tier-Stab fuͤr einen Kommando- und Gene¬
ralſtab und den Portier fuͤr den General, mach¬
te ohne viele Umſtaͤnde einige Verbeugungen
[150] und naͤherte ſich dem Thuͤrſteher hoͤflich mur¬
melnd.
„Das hilft alles nichts — ſagte der Por¬
tier — gegenwaͤrtig ſchlafen Exzellenz, man
muß ſich gedulden. .“ —
— Aber niemand braucht aus Walts Ver¬
wechslung viel zu machen, wenn man ſo viel
von der Welt geſehen, daß — keine moͤglich iſt,
— ſondern daß jeder vornehme Inhaber eines
Thuͤrhuͤters ſelber wieder einer iſt, nur an einer
hoͤhern Thuͤre, entweder an einer kaiſerlichen,
koͤniglichen, fuͤrſtlichen Gnaden- oder an einer
Fallthuͤre, entweder als Klopfer, der das Her¬
einwollen, oder als Klingel, die das Hereinkom¬
men anſagt, und jeder wie Janus als Schwel¬
len-Gott ein anderes Geſicht gegen die Gaſſe
kehrend, ein anderes gegen das Haus. — Sind
manche gute Gemuͤther nur Portiers an blinden
Thoren: ſo ſtecken ſie doch ihren Sperrgroſchen
von Proſelyten des Thors ſo gut ein, wie die
ſchlimmſten, die wenigſtens den Janustempel
wie eine oͤffentliche Bibliothek gern oͤffnen.
Sehr roth trat der Notar in das luſtige Do¬
[151] meſtickenzimmer, das Geiſelgewoͤlbe eines duͤrf¬
tigen Gelehrten. Bediente ſind paraſitiſche Men¬
ſchen an Menſchen, Doͤrfer, wo auf den Brie¬
fen die naͤchſte Poſtſtazion angezeigt werden muß.
Doch die Zablokiſchen waren gut gelaunt, und
ſchoͤn-betrunken vom Kuͤchen-Jubel; — Walt
ſaß unbeunruhigt da. Wo iſt der Bonſoir,
Freund? fragte ein eintretender Lakai. Walt
glaubte ſich gemeint und den Abendgruß ver¬
miſſet, nicht aber den Licht-Toͤdter; er verſezte
friſch: bon ſoir, mon cher! In der That kam
es endlich dahin, daß ein Bedienter vor ihm
vorausgieng und er hinterdrein, durch Vorſaͤle
voll langer Knieſtuͤcke — uͤber glatte Zimmer
weg — und endlich vor ein Kabinet, das der
Bediente zwar auf- aber erſt zumachte, da er
hinein war, bevor ers ihm aufthat.
Der General, ein ſtattlicher, maͤnnlich¬
ſchoͤner, ſtarck genaͤhrter, laͤchelnder Mann fragt'
ihn mit freundlicher Mine und Stimme, was
Monſieur Harniſch wuͤnſche. „Exzellenz, ich
wuͤnſche — fieng er an und hielt die Wiederhoh¬
lung des Zeitworts fuͤr Welt, — dem Hrn.
[152] Grafen von Klothar einen verlornen Brief zu
uͤbergeben, da ich ihn hier zu finden hoffe.
„Wen“ fragte Zablocki. „Den H. Grafen
von Klothar“ verſezte Walt. „Wollen Sie mir
„den Brief vertrauen, ſo kann ich ihn ſogleich
„uͤbergeben?“ ſagte Zablocki. Der Notar hatte
ſich viel ſchoͤnere Entwicklungen verſprochen; jezt
lief alles faſt auf nichts hinaus; dem Vater
muſt' er den Brief der Tochter abſtehen und
laſſen. Er thats, da der Umſchlag entſiegelt
war, mit den feinen Worten, „er bring ihn ſo
offen als er ihn gefunden.“ Er wollte damit
vielerlei leiſe andeuten, — ſeine eigene Recht¬
ſchaffenheit, ihn nicht geleſen zu haben, ſein
Erwarten der Nachahmung und noch allerhand
Gefuͤhle. Der General ſtekte ihn nach einem
leichten Entzifferungsblik auf die Ueberſchrift,
gleichguͤltig ein und ſagte, er habe ſoviel Schoͤ¬
nes uͤber ſeine Floͤte gehoͤrt, er wuͤnſche ſie ſelber
einmal zu hoͤren. — Große ſind eben ſo verge߬
lich als neugierig; doch konnt' es Zablocki auch
thun, um reden zu hoͤren.
Walten wars angenehm, zu berichtigen:
[153] „ich wuͤnſchte — ſagt' er fein — ich wuͤrde
nicht verwechſelt, oder vielmehr (fuͤgt' er bei,
da ihm das gerade einen zweiten ganz entgegen¬
geſezten Sinn geben wollte) ich koͤnnt' es wer¬
den.“ — Ich verſtehe Sie nicht, ſagte der Ge¬
neral. Walt entdeckte ihm kurz, er ſei aus deſ¬
ſen elterleiniſchen Territorium gebuͤrtig und ſein
Vater ſei der Schulz. Jezt glaubte er an Zab¬
locki den wahren menſchenliebenden Menſchen-
Dulder ganz zu erkennen, als dieſer ſich des
Schulzen, der ſo oft als ein Mauerbok ſich an
deſſen Gerichtsſtube die Hoͤrner abgeſtoßen, viel¬
mehr mit den freundlichſten Minen und ſogar
der van der Kabelſchen Erbſchaft entſann, ja
theilnehmend eine genauere Geſchichte derſelben
zu hoͤren begehrte. Die lieferte Walt, gern,
nett und heiß; indeß halb ſchwindelte er vor
Freude, wenn er von der Hoͤhe und Spitze in die
Doͤrfer hinunter ſah, auf der er neben einem
Großen ſtand und ihn ſo lange anreden, und
ſich gut ausdruͤcken durfte. Mit Freuden haͤtt'
er fuͤr ein ſo menſchenliebendes Herz, das er nie
im Verband eines Ordensbandes geſucht hatte,
Flegeljahre II. Bd. II[154] einen Zacken oder Stein aus der polniſchen Kro¬
ne ausgebrochen, oder dieſe fuͤr den ſchoͤnen Kopf
zugeſchmolzen, um durch ein Praͤſent damit er¬
kenntlich zu ſein. In etwas druͤckt' er ſeine Lie¬
be — weil er nichts naͤheres hatte, die Blicke
ausgenommen — ſtreichelnd auf dem Kopfe ei¬
nes Wind-Hunds aus, der ſich hochbeinig an
ſeine Schenckel anpreſte.
„Haben Sie eine franzoͤſiſche Hand?“ frag¬
te der General auf einmal und ſchob ihm ein Pa¬
pier vor zu einem Probeſchuß. Walt ſagte: „er
verſtehe es leichter zu ſchreiben, in mehr als ei¬
nem Sinn, als zu ſprechen, und verdanck' es
ſeinem Lehrer.“ Allein welchem Worte er unter
ſo vielen Tauſenden, die Gallien hat, das
Schnupftuch zuwerfen ſollte, daß wuſt' er ſchwer,
da das Wort doch etwas vorſtellen ſollte. —
„Was Sie wollen“ ſagte endlich Zablocki. Er
ſann aber fort. „Das Vater Unſer“ ſagte je¬
ner. In der Geſchwindigkeit konnt' ers unmoͤg¬
lich uͤberſetzen.
„Vorzuͤglich, fuhr der General fort, als
jener noch nachdachte, wuͤrd' ich auf rein fran¬
[155] zoͤſiſche Endbuchſtaben ſehen, dergleichen wie
Sie wiſſen, s, x, r, t, p, ſind.“ Walt ver¬
ſtand die franzoͤſiſche Benennung dieſer Lettern
nicht recht, aber ſehr wohl das franzoͤſiſche Cam¬
nephez*); Schomaker, der Jahre lang keinen
galliſchen Dialog und Brief zu machen hatte —
erſtlich weil dazu ſtets eine zweite Perſon gehoͤrt,
zweitens weil auch eine erſte erforderlich iſt, er
aber gar nichts davon verſtand — dieſer Kan¬
didat hatte aͤcht- franzoͤſiſche Handſchrift und
Ausſprache vermittelſt dergleichen Kaufmanns¬
briefe und Reiſediener zu einer ſo auſſerordent¬
lichen Hoͤhe hinauf getrieben wie vielleicht auſſer
Hermes und einem zweiten Romancier, kein Au¬
tor von Gewicht ohne Stand. Und Walt hat¬
te beides bei ihm erlernt.
„O vortreflich! — ſagte der General, als
endlich jener Winas franzoͤſiſche Adreſſe an Klo¬
thar probierend hinſchrieb — Recht gut ja! —
Nun hab' ich ein ziemliches Paquet franzoͤſiſcher
[156] Briefe uͤber Einen Gegenſtand auf meinen Rei¬
ſen geſammlet — von verſchiedenen alten und
neuen Perſonen, — welche ich ſehr gern in Ein
Buch abgeſchrieben ſaͤhe, da ſie ſonſt leicht ſich
verſpringen. Wenn Sie denn taͤglich an dem
Buche — mémoires érotiques mag es heiſſen —
Eine Stunde — hier in meinem Hauſe — ſchrie¬
ben“ . . . .
„Exzellenz — ſtotterte Walt mit blizenden
redneriſchen Augen — wenn uͤber den zaͤrteſten
Gegenſtand kein Ja zart genug ſein kann“ — —
„Gehts nicht?“ fragte der General. — „O am
beſten, verſezte jener, und jede Minute.“ —
„Ich werde, ſagte Zablocki, die Briefe zuſam¬
menſuchen und Ihnen die Kopier-Stunde naͤch¬
ſtens beſtimmen laſſen.“ Darauf machte Zab¬
locki den vornehmen Entlaſſungs-Buͤkling, Walt
macht ihn leicht zuruͤck, und harrte lange auf
weitern Verfolg, bis er endlich — da der Gene¬
ral ſich umſtellte und durchs Fenſter gukte —
den Abſchied, deſſen Schnelle er ſchwer mit dem
warmen Geſpraͤche paaren konnte, heraus brach¬
te durch Ueberlegung. Jezt muſt' er etwas ſu¬
[157] chen, was eben ſo ſchwer zu finden war als
vorhin der Eingang, nehmlich der Ausgang am
glatten Kabinet. Keiner wollte vorſtechen. Leiſe
uͤberſtrich er mit den Haͤnden die fugenloſen
Wandtapeten, weil er ſich ſchaͤmte, zu fragen,
wie er herein gekommen. Ueber drei Waͤnde
glitt er mit dem Buͤgel der Hand, bis er end¬
lich in eine Ecke auf ein goldenes Kreuz einer
Thuͤre grif. Er dreht es mit Vergnuͤgen um
und es that ſich ein Wandſchrank auf, worinn
Winas himmelblaues Konzert-Kleid lang und
nahe nieder hieng. Staunend gukte er hinein
und wollte noch lange davor erſtaunen, als ſich
der General, der das Handſtreicheln und Glaͤt¬
ten vernommen, endlich umdrehte und ihn vor
dem Schranke mit dem Schauen halten ſah: „ich
wollte hinaus“ ſagt' er. „Das geht hier“ ſag¬
te Zablocki und oͤfnete eine Thuͤre, wo das wirk¬
lich zu machen war.
Das Schickſal mag ihm abſichtlich die klei¬
ne Schamroͤthe auf ſeinen Sieges-Weg mitge¬
geben haben, um damit einigermaßen das Be¬
wuſtſeyn zu daͤmpfen, womit er ſo mit Ehren¬
[158] medaillen und Baſſas Roßſchweifen behangen ſo
muthig durch Zimmer und Haus marſchirte,
daß er ſich auf der Straße mit einigen maß,
die, wie er, zu Fuße kamen von Hof. Indeß
hatte er alle Welt lieb und verbarg ſich am we¬
nigſten, wie mancher dahin gehe, der ohne
Schuld ſolche Erhebungen nie erlebe. Daraus
meſſe die Welt ab, wie vollends ein duͤrftiger
Lieutenant, der Sonntags ſeine ſeidenen Beine
unter der Hoftafel gehabt, um 4¼ Uhr, mit
dem Kurial-Kraͤzer und der Champagner-Folie
im Kopfe, nach Hauſe gehen mag, mit welchem
Selbſt-Bewuſtſeyn, meint man; Julius Zaͤſar
ſelber kann dem Ortshalter aufſtoſſen und dieſer
wird blos fragen: Jul, aber woher koͤmmſt denn
du, wuͤſte Fliege?
Mit groͤſter Sehnſucht, vor allen Dingen
auf Vults Tiſch einige ſchwache Zeichnungen der
heutigen Kroͤnungsſtadt und Ehrenpforte zu le¬
gen, klopfte Walt an deſſen Thuͤre; ſie war zu
und mit Kreide ſtand daran: hodie non le¬
gitur.
[159]
Nro. 29. Grobſpeiſiger Bleiglanz.
Schenkung.
Nach einigen Tagen kam der Gaͤrtner von
Alcinous Gaͤrten — denn das war Walten Klo¬
thars Kutſcher — und lud ihn in die Villa ein.
Der Notar hatte kaum in groͤſter Eile ein gan¬
zes Philadelphia der Freundſchaft auf einer
Freundſchaftsinſel gebauet und ein Sortiment
Lorenzosdoſen gedreht — weil er die Einladung
fuͤr einen Lohn der Brief-Gabe nahm — als
der Eden-Gaͤrtner die Treppe wieder herauf
kam und durch die Thuͤr-Spalte nachholte:
„er ſolle was zum Verpetſchieren einſtecken, es
waͤren Notarius-Haͤndel.“
Indeß wars in jedem Falle etwas. Er traf
als Notarius im reichen Landhaus Klothars zu¬
gleich mit dem Fiſkal Knol ein. Aber als er
die vergoldeten Quartanten, die vergoldeten
Wandleiſten und das ganze Wohnzimmer des
Luxus uͤberſah: ſo ruͤkte die eigne Wohnung den
Grafen weiter von ihm weg als die fremden bis¬
her. Klothar fuhr, ohne aus beiden Ankoͤmm¬
[160] lingen viel zu machen, im Streite mit dem Kir¬
chenrath Glanz und deſſen flachem Tolerieren ſo
fort: „der Wille arbeitet den Meinungen mehr
vor als die Meinungen dem Willen; man gebe
mir eines Menſchen Leben, ſo weiß ich ſein Sy¬
ſtem dazu. Glaubens-Duldung ſchloͤſſe auch
Handelns-Duldung in ſich ein. Ganz tolerant
iſt daher niemand, Sie ſind es z. B. nicht gegen
Intoleranz.“ Glanz gab Recht, blos weil ſein
Ich beſchrieben wurde. Aber der Notar ſtellte —
weil er ohnehin muͤßig ſtehen muſte — den Ein¬
wand auf: „ganz intolerant iſt auch kein Menſch,
kleine Irrthuͤmer vergiebt jeder ohne es zu wiſ¬
ſen. Aber freilich ſieht der Eingeſchraͤnkte, gleich¬
ſam im Thal wohnende, nur Einen Weg; wer
auf dem Berge ſteht, ſieht alle Wege.”
„Ins Zentrum giebts nur Einen Weg, aus
dem Zentrum unzaͤhlige, ſagte der Graf zu
Glanz. Wollen Sie indeſſen ſich an meinen
Sekretair ſetzen H. Notar, und den gewoͤhnli¬
chen Eingang zu einem Schenckungs-Inſtru¬
ment fuͤr Fraͤulein Wina von Zablocki in meinem
Namen machen? Ich heiße Graf Jonathan von
[161] Klothar.“ Die Namen Jonathan und Wina
zitterten dem Notar wie Apfelbluͤthen auf die
Bruſt herab. Er ſezte ſich und ſchrieb voll Luſt:
„kund und zu wiſſen ſei jedermann durch dieſen
offenen Brief, daß ich Graf Jonathan von Klo¬
thar heute den“ — — Walt fragte den Juri¬
ſten, um den wie vielſten: „Der 16“ ſagte die¬
ſer. Hoͤflich nahm er keinen neuen Bogen, ſondern
ſchabte am Schreibfehler des alten lange. Un¬
ter dem Schaben konnt' er auf des magern haa¬
rigen Knols Vorleſung uͤber Ehekontrakte hinhoͤ¬
ren, neben welchem der ſchoͤne Graf ihm wie
der edle Hugo Blair in der Jugend, deſſen Geiſt¬
erhebende Predigten ſeine Fluͤgel und ſeine Him¬
mel zugleich geweſen, vorkam. Ein Kontrakt
zwiſchen Wina und Jonathan — ein eigenſuͤchti¬
ges do ut des — war ihm eine widrige wi¬
derſprechende Idee, da man wohl mit dem Teu¬
fel einen Pakt macht, aber nicht mit Gott. Er
benuzte das Wegſchaben des Datums als eine
freie Sekunde und ſagte (eben ſo keck, wenn ihm
etwas rechtes einfiel, als bloͤd' im andern Falle:)
„ob ich gleich ein Juriſt bin, H. Fiſkal, und
[162] ein Notar, ſo bedauer' ich bei jedem Ehe-Kon¬
trakt, den ich machen muß, daß die Liebe, das
Heiligſte, Reinſte, Uneigennuͤzigſte, einen gro¬
ben juriſtiſchen eigennuͤzigen Koͤrper annehmen
muß, um ins Leben zu wirken, wie der Son¬
nenſtrahl, der feinſte, beweglichſte Stoff, mit der
heftigſten Bewegung nichts regen kann ohne Ver¬
miſchung mit dem irdiſchen Dunſtkreis.“
Knol hatte mit ſaurem Geſicht nur auf
die Haͤlfte des Perioden gehoͤrt; der Graf aber
mit einem gefaͤlligen: „ich laſſe, ſagt' er, aber
mit ſanfteſter Stimme, wie ſchon geſagt, keine
Eheſtiftung machen, ſondern nur ein Schenkungs-
Inſtrument.“ Da trat ein Bedienter des Ge¬
nerals mit einem Briefe ein. Klothar ſchnitt ihn
aus dem Siegel — ein zweiter, aber entſiegelter
lag darinn. Als er einige Zeilen im erſten gele¬
ſen, gab er dem Notar ein ſchwaches Zeichen ein¬
zuhalten. Den eingeſchloſſenen macht' er gar
nicht auf; Walten kam er ſehr wie der von ihm
gefundne vor. Mit leichtem Kopfnicken verab¬
ſchiedete Klothar den Boten; aber auch mit einer
Bitte um Vergebung das Zeugenpaar und den
[163] Notarius: „er ſei zweifelhaft, ſagt' er, ob er
jezt fortfahren laſſe; aber da ers ſei, ſo laſſ' er
lieber nicht.“ — Einige Schatten von innern
Wolken flogen uͤber ſein Geſicht. Walt ſah zum
erſtenmale einen geliebten Menſchen, noch dazu ei¬
nen Mann, in verhehlter Bekuͤmmerniß — und
die fremde beſiegte wurd' in ihm eine ſiegende.
Eigennuͤtzig waͤr' es jezt, dacht' er, nur daran
zu erinnern, (wie er anfangs gewollt,) daß er
den Brief gefunden und gegeben; desgleichen
wahrhaft grob, nur darnach zu fragen, ob der
Schwiegervater ſolchen ausgehaͤndigt. Beym
Abſchied wollte der Graf ihm etwas haͤrteres in
die Hand druͤcken als ſeine eigne. „Nein, nein,“
ſtotterte Walt. „Meine Verbindlichkeit, ſagte
der Graf, iſt dieſelbe, Freund,“ — Ich neh¬
me nichts an, als die Anrede!“ ſagte Walt,
wurd' aber wegen ſeines Ideen-Sprungs wenig
verſtanden. Klothar drang verwundert und halb
beleidigt in ihn. „Aber meinen Bogen naͤhm'
ich gern“ ſagte Walt, weil es ihm ſo wohl ge¬
than, darauf zu ſchreiben: ich Jonathan von
Klothar. — „H. Graf, ſagte Knol, der Bogen
[164] gehoͤrt wohl uns 7 Erben, ſchon wegen der Ra¬
ſur;“ und wollt' ihn nehmen. „Sie ſei ja ein¬
geſtanden, o Gott!“ ſagte Walt erzuͤrnt und
behauptete den Bogen — ein zorniger Tropfe und
Blick entbrannt' in ſeinen blauen Augen — dieſen
zu entſchuldigen, druͤckt' er eilig Klothars Hand
und floh davon, um ſich zu troͤſten und andern
zu vergeben.
„Ach, dacht' er unterwegs, wie weit iſts
von einem aͤhnlichen Herzen zum andern! Ueber
welche Menſchen, Kleider, Ordensſterne, Tage
geht nicht der Weg! Jonathan! ich will dich
lieben, ohne geliebt zu werden, wie ich deine
Wina liebte; es iſt mir vielleicht moͤglich; aber
ich wuͤnſchte doch dein Portrait.“
Nro. 30. Mispickel aus Sachſen.
Geſpraͤch uͤber den Adel.
Der Notar verlor jeden Tag ſeinen Bruder
einmal. Er konnte deſſen Verſchwinden nicht
faſſen; die Sonnenfinſterniß des Schmolgeiſtes
war ihm eine unſichtbare. Bald hielt er ihn fuͤr
[165] erſoffen — bald fuͤr verreiſet — bald fuͤr entlau¬
fen — bald fuͤr begluͤckt durch ein ſeltenes Aben¬
theuer. Er ſuchte den zweimal beſiegelten Brief
mit der Unſichtbarkeit zu kombiniren und rech¬
nete einige Hoffnung heraus. Immer macht' er
die Betrachtung, wie wenig auch die beſten Ge¬
winn- und Verluſt-Rechnungen von der Zu¬
kunft in der dunckeln Rechenkammer, die uns
verhangen iſt, beſtaͤtigt werden! Welche freudige
glaͤnzende Bilder hatt' er ſich nicht ſchon weit in
ſeine Zukunft hineingeſtellt, welche Bilder da¬
von, wie er mit ſeinem Bruder in taͤglicher Aus¬
wechſelung wachſender Empfindungen und Ideen
und Bekanntſchaften leben und mit wenigen Frei-
Maͤuerer-Zeichen der Verwandſchaft den Gra¬
fen in den feurigen Bund hinein ziehen werde,
indeß aus allen, nichts wurde als die gedachte
Betrachtung! — Aber ſchon bei dem pelopon¬
neſiſchen Kriege — und uͤberhaupt in der Ge¬
ſchichte der Voͤlker ſowohl als ſeines Lebens —
hatt' er zuerſt bemerkt, daß in der Geſchichte —
was ſie einem, alles motivierenden Dichter der
Einheit ordentlich zum Eckel macht — ſo unend¬
[166] lich wenig Syſtematiſches in Leid oder Freude
vorfalle, und daß man eben darum bei der fal¬
ſchen Vorausſetzung einer truͤben oder lichten
Konſequenz ſeine oder fremde Zukunft ſo
ſchlecht errathe; denn uͤberall werden im hiſtori¬
ſchen Bilderſaal der Welt, aus den groͤſten Wol¬
ken kleine, aus den kleinſten große — um die
groͤſten Sterne des Lebens ziehen ſich dunkle Hoͤfe
— und nur der verhuͤllte Gott kann aus dem
Spiel des Lebens und der Geſchichte einen Ernſt
erſchaffen.
Die Botenfrau aus Elterlein brachte Wal¬
ten folgendes Briefgen vom Bruder:
„Morgen Abends komm' ich, geh mir ent¬
gegen. Eben ſchneidet deine Mutter einer Bet¬
lerin Brod vor; denn ich bin in Elterlein im
Wirthshaus.
Ich habe ſeitdem in einigen bedeutenden
Marktflecken geblaſen fuͤr Geld; es wachſen frei¬
lich mehr Graͤſer als Blumen, doch heben jene
dieſe, ich rede von Menſchen. Es wird dir an¬
vertraut, daß ich vor meiner Abreiſe aus Haslau
ſo verſtimmt war, wie eine Wind-Harfe oder wie
[167] die Glocke einer Brockenkuh. Ich weiß nicht,
wovon; ich wollt' aber, ein bedeutender Freund,
oder gar du haͤtteſt meine Saiten ſo durch einan¬
der geſchraubt, kurz einer von euch beiden haͤtte
mich ein wenig beleidigt und meinen Schmolgeiſt
zitirt. Ich wuͤrde mich — das haͤtte mich wie¬
der ausgeſtimmt ohne Verluſt von 32 Saiten
oder Zaͤhnen — mit ihm tuͤchtig uͤberworfen
haben; ich haͤtte haͤslich gedonnert, gehagelt,
gewettert; das macht, wie geſagt, gutes Blut.
Denn nichts iſt ſchaͤdlicher, Notarius, ſo
wohl in Ehen als Freundſchaften feiner Seelen,
als ein langer unaufgeloͤſeter Verhalt auf einem
Miston bei einem wechſelſeitigen fortwaͤhrenden
Zuſammenſtimmen in allen zaͤrteſten Pflichten,
ſo daß die Narren ſich abſtoßen, ohne ſonſt zu
verſtoßen; da doch ſolche Seelen in jeder bedeu¬
tenden Spaltung auf nichts ſo eifrig denken ſoll¬
ten, als ſie bis zum rechten Zanke zu treiben,
worauf ſich Verſoͤhnen von ſelber einſtellte. Der
Braunſtein liefert bei maͤßiger Erhizung Stik¬
gas; aber zwing' ihn zum Gluͤhen, ſo haucht er
ja Lebensluft. Aus der Knallbuͤchſe fliegt der
[168] Pfropf nicht anders heraus, als durch einen
zweiten.
Zum Gluͤck koͤnnen wir beide jeden Hader
entrathen, ſogar den ſtaͤrkſten. Doch zuruͤck zu
kommen — ich bekam bald Luft, ſobald ich
nur im Freien war und ritt und blies, und
ſchrieb. Ertraͤgliche Sachen und Schwanzſterne
ſezt' ich fuͤr unſern Hoppelpoppel oder das Herz
theils auf dem Sattel auf, theils ſonſt. Warlich
ich wurde dir ganz gut; deswegen glaub' ich,
konnt' ichs ordentlich nicht laſſen, ſondern muſte
nach Elterlein. Ich dachte: „Dein Freund iſt
doch da ſo gewiß ans Licht gekommen, und ſei¬
ner desgleichen,“ und was man ſo ſagt, wenn
man denkt.
Ein lang verſchobenes Werk konnt' ich da
verrichten. Da ich, wie ich dir oͤfters geſagt,
dem entlaufenen jungen Harniſch Vult mit ſei¬
ner Floͤte mehrmals aufgeſtoßen: ſo konnt' ich
dem alten Schulzen ſchoͤne Nachrichten und Brie¬
fe vom Wildfang geben. Ich ließ den Vater
ins Wirthshaus kommen. „Der und der Edel¬
mann ſei ich (ſagt' ich dem ſtaunenden Manne,)
[169] und ſein Sohn ſei mein Intimer — er befinde
ſich wohl auf den Poſtwagen, wo man ihn
auſſer den Konzertſaͤlen zu ſuchen habe — es geh'
ihm ſo gut wie mir ſelber — er wuͤrd' ihn nicht
kennen, ſtaͤnd' er vor ihm da, ſo ſchoͤn veraͤn¬
dert ſei er, ſchon mit der volljaͤhrigen Stimme,
deren Diſkantſchluͤſſel der Bart dadurch abgedreht
worden, daß er ſelber einen Bart bekommen —
und er laſſ' ihn gruͤſſen.“ — Er verſezte, es
freue ihn uͤber die Maaßen, daß ein ſolcher braver
Herr wie ich, gut auf ſeinen Hallunken von Sohn
zu ſprechen ſei und es widerfahre ihm und dem
Flegel eine wahre Ehre. Ich warf noch einiges
ein, zur Entſchuldigung des guten abwe¬
ſenden Menſchen und reicht' ihm zum Behal¬
ten den bewuſten Brief deſſelben aus Bayreuth
an mich, worinn er, einige muſikaliſche Klagen
uͤber die daſigen Ohren ausgenommen, faſt blos
von ſeiner geliebten Mutter ſpricht. „Auch deſ¬
ſen Herrn Bruder, jetzigen Notar, kenn' ich ſehr
wohl“ fuͤgt' ich bei und ſchlug vor ſeiner Naſe
einen ſchwachen Riß von deinen Hoͤhen und Tie¬
fen auf: „mehr nicht als 32 Beete, hat der ad¬
Flegeljahre II. Bd. 12[170] mirable Mann ſich mit dem Stimm-Hammer
weg- (nicht zu) geſchlagen, und die Stadt
haͤlt es bei ſo vielen Saiten, die er unter ſich
hatte, mehr fuͤr ein Wunder als fuͤr einen Bok“
ſagt' ich, um ihn fuͤr deine kuͤnftige Nachricht
davon auszuruͤſten mit dem lindeſten Herzen
von der Welt. Es wollte ihm aber ſchwer ein,
das Herz; und er ſchimpfte auf deinen Kopf. „Er
erlebe wenig Freude an ſeinen Soͤhnen — be¬
ſchloß er — und der Teufel koͤnne die Spizbuben
holen, wenn er wolle.“ Ich ſchickte den Bauer
ganz kurz und hochtoͤnig fort, da er zu vergeſſen
anfieng, daß ſeine Zwillinge meine Achtung in
einigem Grade beſaͤßen.
Abends — als ich auf der ſchoͤnſten Hoͤhe
des Zablockiſchen Garten lag, und fuͤr uns eine
Satire uͤber den Adel entwarf und dabei der un¬
tergehenden Sonne ins große Engels-Auge ſah,
die ein lumpiges Doͤrfgen eben ſo gut als ihren
Hof von Welten anſchauet, und als uͤber mir
auf den leichten rothen Woͤlkgen manche Bilder
des Lebens dahin ſchiften, da erklang ploͤzlich
eine koͤſtliche kunſtgerechte Singſtimme, die mich
[171] aus allen Satiren, Traͤumen, untergehenden
Sonnen wegjagte ins Ohr hinein, in deſſen La¬
byrinth, wie im aͤgyptiſchen, Goͤtter begraben
liegen. Die Generals Tochter ſang; ſie hatte,
wie vornehme Maͤdgen auf ihren Ritterguͤtern
pflegen, der Sonne und der Einſamkeit — denn
horchende Bauern ſind nur ſtille Blumen und
Voͤgel in einem Hain — ein ganzes, leidendes
Herz mit Toͤnen auseinander gethan. Sie wein¬
te ſogar, aber ſanft; und da ſie ſich allein glaub¬
te, troknete ſie die Tropfen nicht ab. Sollte der
edle Klothar, dacht' ich, ſeine Braut in dunkle
Farben kleiden, weil ſie eine taille fine geben? —
Das ſchwerlich!
Endlich ſah ſie mich, aber ohne zu erſchre¬
cken, weil der blinde Konzertiſt, wofuͤr ſie mich
noch halten muſte, ja ihr naſſes Auge und An¬
geſicht nicht kennen konnte. Sie, die Unwiſ¬
ſende, ſah ſich nach meinem Fuͤhrer um, indeß
ſie leiſe ihr Buſenlied ertoͤnen ließ. Bekuͤmmert
um den huͤlfloſen Blinden, gieng ſie langſam
auf mich zu, begann ein fremdes frohes Lied,
um ſich mir unter Singen ſo zu naͤhern, daß
[172] ich nicht zuſammen fuͤhre, wenn man mich ploͤz¬
lich anredete. Ganz nahe an mir unter den
heiterſten Toͤnen floß ihr Auge heftig uͤber aus
Mitleid, und ſie konnt' es nicht eilig genug lich¬
ten, weil ſie mich anſchauen wollte. Warlich
ein gutes Geſchoͤpf, und ich wollt', es waͤre kei¬
ne Braut oder eine Frau! — Wie ein Roſen¬
beet bluͤhten, zumal vor der Abendſonne, alle
ihre wohlwollenden Gefuͤhle auf dem kindlichen
Geſicht; und bedenk' ich die zarten ſchwarzen
Bogen der ſchoͤnſten ſchwarzen Augen, ſo hatt'
ich Augenluſt und Augenbraunenluſt zugleich und
genug. Aber wie kann ein Mann zu einer Schoͤn¬
heit ſagen: heirathe mich meines Orts, da ja
durch die Ehe, wie durch Eva, das ganze Pa¬
radies mit allen 4 Fluͤſſen verloren geht, ausge¬
nommen den Paradiesvogel daraus, der ſchla¬
fend fliegt. Eine ſchoͤne Stimme aber zu eheli¬
chen durch Ehepakten — das iſt Vernunft; auſ¬
ſerdem, daß ſie, wie die Singvoͤgel, immer wie¬
der zuruͤckkehrt, — das Geſicht aber nicht, —
ſo hat ſie den Vorzug vor dieſem, daß ſie nicht
den ganzen Tag da ſteht, ſondern manchmal. —
[173] Kenn' ich denn nicht mehr als einen abgeſchab¬
ten Ehemann — gelb geworden gerade dadurch,
wodurch gelbes Elfenbein weiß wird, durch langes
Tragen an warmer Bruſt — der ſogleich die Far¬
ben aͤnderte, wenn die Frau ſang, ich meine,
wenn das welſche Luͤftgen aus warmer alter Ver¬
gangenheit naͤrriſch und thauend des Polar-Eis
ſeiner Ehe anwehte? —
Faſt als ſchaͤme ſich Wina, neben einem
Blinden allein zu ſehen, gab ſie wenig auf die
Himmelfahrt der Sonne acht. Sie hoͤrte auf zu
ſingen, ſagte ohne Umſtaͤnde, wer vor mir ſtehe
und fragte, wer mich gefuͤhret habe. Ich konn¬
te ſie unmoͤglich mit dem Geſtaͤndniß guter Au¬
gen beſchaͤmen, doch verſezt' ich, es habe ſich
um vieles gebeſſert, ich ſaͤhe die Sonne gut und
nur Nachts ſteh' es mit dem Sehen ſchlecht. Um
einen Handlanger meiner Augen zu erwarten,
fing ſie ein langes Lob meiner Floͤte an, der
man in groͤſter Naͤhe, ſagte ſie, nicht den Athem
anhoͤre, und erhob die Toͤne uͤberhaupt als die
zweiten Himmels-Sterne des Lebens. „Wie
haͤlt aber das Gefuͤhl die immerwaͤhrenden Ruͤh¬
[174] rungen der Floͤte aus, da ſie doch ſehr der Har¬
monika gleicht?“ fragte ſie. Wer ſo gut ſaͤnge,
ſagte ich, als ſie, wuͤrde am beſten wiſſen, daß
die Kunſt ſich vom perſoͤnlichen Antheil rein hal¬
ten lerne. Soviel haͤtt' ich ſagen ſollen, nur
nicht mehr; aber ich kann das nie: „ein Virtuo¬
ſe, fuͤgt' ich bei, muß im Stande ſein, waͤh¬
rend er auſſen pfeift, innen Brezeln feil zu halten,
ungleich den Brezel-Jungen, die beides von
auſſen thun. Ruͤhrung kann wohl aus Bewe¬
gungen entſtehen, aber nicht Kunſt, wie be¬
wegte Milch Butter giebt, aber nur ſtehende
Kaͤſe.“
Sie ſchwieg ſehr betroffen als waͤre ſie Du —
nahm einige Dornenreiſer weg, die mich Dor¬
nenſtrauch ſtechen konnten — und ſie dauerte
mich halb, zumal als ich ſehr ihrem zu haͤufi¬
gen Augenlieder-Nicken zuſah, das ihr lieblich
laͤſſet, ohne daß ich recht weiß warum.
Sie ſagte, ſie gehe, um mir aus dem
Schloſſe einen Fuͤhrer zu hohlen, und gieng fort.
Ich ſtand auf und ſagte, es brauch' es nicht.
Da ſie mich forttappen ſah, kehrte ſie lieber um
[175] und befahl mir, zu warten; ſie wolle mir bis
ins Wirthshaus vorausgehen und jeden Anſtoß
und Eckſtein melden. Die Freundliche thats
wahrhaftig und gieng mit dem ewig nach mir
umgebognen Halſe, bis ſie einem jungen Lehn¬
bauer hinter ſeinem Pfluge begegnete, dem ſie
ein Stuͤck Geld und die Bitte gab, mit dem
blinden Herrn vor das Wirthshaus zu fahren.
Sie ſagte liebreich gute Nacht, und die lang¬
haarigen Augenlieder nikten zu ſchnellenmalen uͤber
den groſen Augen.
„Der Satan hole — vergieb aber, Nota¬
rius, den Fluch — den Grafen von Klothar,
wenn er einer ſo gutmuͤthigen Weiberſeele nur
die duͤnneſte, leichteſte Zaͤhre aus den ſchoͤnen
braͤutlichen Augen preſte, dem armen Kinde, das
das einzige iſt, dem ich noch die freie Reichs-
Ritterſchaft gegoͤnnt. Denn mit wie viel Gall' und
Grimm ich in jedes Adels-Dorf eintrete, wor¬
inn — wenn bei den Roͤmern ein ganzes Volk
fuͤr das Geiſeln Eines Menſchen votieren muſte —
umgekehrt nur Ein ſtimmender Menſch zum
Pruͤgeln eines Volks erfordert wird, das kennſt
[176] Du; aber in Winas Elterlein dacht' ich ganz
ſanft.
Wie uͤberall, beſonders im Brautſtand ge¬
gen den Eheſtand: ſo halten die Menſchen, wie
in der Muſik, den Vorſchlag laͤnger und
ſtaͤrker als die Hauptnote; und Klothar koͤnnte
doch ſchon im Vorſchlag fehlen? —
Einen ſchwachen Strekvers in deiner Ma¬
nier fertigte ich im Wirthshaus auf Sie:
Biſt du Philomele?
Nein; denn du haſt zwar ihre Stimme;
aber du biſt unvergleichlich ſchoͤn!
So wirſt du ſchon fruͤher nachgeahmet als
gedruckt. — Nachher, nach dem Speiſen zog
ich im Dorf herum. Ich dachte an einen dir
bekannten erſten und zweiten Abend ſo ſehr,
daß mir vorkam — ſchreib' es auf Rechnung ei¬
ner und der andern Liebe — als ſei manches von
der Vergangenheit nachher vergangen. Eiligſt,
wenn du dieſen Brief erhaͤlſt, was genau Nach¬
mittags gegen 3 Uhr ſein muß, weil ichs bei
der Botenfrau auf dieſe Weiſe und Stunde be¬
[177] ſtellt habe, — laͤufſt Du mir entgegen. —
Bei Gott, ich denke oft an vieles. — Und was
iſt denn das Leben als der ewige Ci-devant?
— Werden denn nicht die reinſten Trommeten
der Luſt krumm gebogen, und mit Waſſer ge¬
fuͤllt durch bloßes Blaſen? — Muß man denn
nicht die laͤngſten Himmelsleitern, die freilich kuͤr¬
zer ſind als die Hoͤllenleitern — blos damit ſie
ſtehen, unten auf Dreck aufſetzen, ob man ſie
gleich oben an Sternbilder und Polarſterne an¬
legt? Ganz verdruͤßlich macht mich dergleichen,
ſonſt nichts. Inzwiſchen ſeh' ich ſehr auf Ant¬
wort, auf muͤndliche naͤmlich, womit du ſogleich
entgegen gehſt dem Wirthshaus zum Wirths¬
haus und dem dir ſehr bekannten oder was
Gott will
Quoddeus etc.
N. S. Walt, wir koͤnnten Bruͤder ſein,
ja Zwillinge! Schon der Stamm-Namen ver¬
kittet uns, aber noch weit mehr! —
Walt nahm Fluͤgel, aber ſein Herz war
ſchwer oder voll. Alles was je ein Ritter zu
[178] Pferde fuͤr leidende Weiber zu thun gelobte, war
er zu Fuße zu leiſten bereit, fuͤr jede und dann
fuͤr Wina noch unzaͤhligemal ſo viel. Auf dem
Wege nach dem Wirtshaus begegneten ihm Neu¬
peters Toͤchter an Flittes Armen. „Vielleicht
wiſſen Sie es — redete ihn Raphaela an, und
ſtimmte den Ton ſo ſchleunig um, daß man
das Hinaufſtimmen vernahm — da Sie beim
Generale ſchreiben und aus Elterlein her ſind,
was meine ungluͤckliche Wina macht, ob die
Theure noch dort iſt?“ — Vor Schrecken konnt'
er kaum auf den Beinen, geſchweige auf Vults
ſchlaffem Luͤgen-Seile ſtehen: „ſie iſt noch da,
ſagt' er, ſchreibt man mir eben. Ich ſchreibe
noch nicht bei ihr. Ach warum iſt ſie denn un¬
gluͤcklich?“ — „Es iſt jezt bekannt, daß ihrem
Vater, dem General, ein unſchuldiger Brief von
ihr in die Haͤnde gerieth, und daß darauf ihr
Bund mit dem Grafen aufgehoben wurde, o die
Gute!“ verſezte Raphaela und weinte etwas auf
der Landſtraße. Aber ihre Schweſter verdammte
verdruͤßlich blickend die Straßen- Ausſtellung
hoher Bekanntſchaften und Thraͤnen; und der
[179] luſtige Elſaſſer drohte ihr aus dem warmen
Gewoͤlke oben Regen und ſchwemmte ſie damit
davon.
Raphaela hatte Walts verliebte Blicke uͤber
der Tafel nicht uͤberſehen, mit ihren geruͤhrten;
zur Liebe gehoͤren ohnehin wie zur Gaͤhrung —
ſie iſt ja ſelber eine — zwei Bedingungen, Waͤr¬
me und Naͤſſe; und mit lezterer begann Ra¬
phaela gern. Es giebt weibliche Weſen — ſie
darf ſich darunter rechnen — die nichts ſo gern
haben als Mitleiden mit fremden Leiden, beſon¬
ders mit weiblichen. Sie wuͤnſchen ſich ordent¬
lich recht viel mitzuleiden, und ſuchen Freundin¬
nen gerade in der Noth am liebſten, ja ſie we¬
cken durch Mittheilen fremde Seelen zu gleicher
Theilnahme und finden wahren Genuß in frem¬
den Thraͤnen, — denn ſo viel vermag die Tu¬
gend durch Uebung — ſo wie etwa der Zaun-
Koͤnig nie luſtiger ſpringt und ſingt als vor
Regenwetter. Mendelsſohn, der das Mit¬
leid unter die vermiſchten Empfindungen bringt,
haͤlt eben darum reine fuͤr weniger ſchmack¬
haft.
[180]
Nur den Notar traf die bittere Ausnahme,
daß ihn das Doppel-Ungluͤck des Paares gluͤ¬
hend durchſtach und durchgrub — ob ihn gleich ein
guter Engel nicht auf den Argwohn fallen ließ,
ob nicht ſein an den Vater uͤbergebener Brief
das Scheidungsdekret geworden; — indeß ſezt'
er ſich mehr an Klothars als an Winas Stelle
und ſtieg in die Bruſt des Juͤnglings hinein, um
von dort aus recht um die bluͤhende Braut zu
trauern, und in Klothars Namen an nichts zu
denken als an das geliebte Maͤdgen.
Er kam traurig im Wirthshaus zum
Wirthshans an. Vult war noch nicht da.
Die kurze Zeit hatte ſchon manches wieder mit
ihrer Sichel abgemaͤht — erſtlich vom bluͤhenden
Herrnhutiſchen Gottesacker das Grummet —
zweitens am Wirthshaus ein Vergißmeinnicht
und Jelaͤngerjelieber der Erinnerung, naͤmlich
die ausgebrochene Abendwand, wovor er mit
dem Bruder gegeſſen, war zugemauert. Vult
kam. Mit Flamme und Ruͤhrung flogen beide
einander zu. Walt bekannte, wie er geſchmach¬
tet nach Vulten, wie er die Geſchichte der Ab¬
[181] weſenheit verlange, und wie ſehr er eines Bru¬
ders beduͤrfe, um das Herz voll vermengter Ge¬
fuͤhle in das verwandte zu gießen. Der Floͤten¬
ſpieler wollte ſeine Geſchicht zulezt berichten, und
begehrte die fremde zuerſt. Walt thats, erzaͤhl¬
te ruͤckwaͤrts, erſtlich Raphaelens Erzaͤhlung —
aber ſo wie er zweitens den Schenkungsakt des
Grafen ſammt der durch den Brief der Tochter
jezt gut motivierten Unterbrechung, drittens
die Gluͤcksfaͤlle bei dem General berichtete und
endlich mit den zuſammengefaſten Flammen ſei¬
nes Sehnens nach Klothar ſchloß: ſo aͤnderte
Vult das mitgebrachte Geſicht — brach noch
vor dem Wirthshaus auf — ſchickte den leeren
Gaul durch einen auſſerordentlichen Schlag in
Stadt und Stall voraus — und bat Walten
mitzugehen, und fortzufahren und nach keinem
Regen zu fragen.
Er thats. Vult ſteckte ſeine Floͤten-An¬
ſaͤtze aneinander und blies zuweilen einen luſti¬
gen Griff. Bald hielt er ſein Geſicht dem warm
tropfenden Abend-Himmel unter und wiſchte
die Tropfen daraus, bald ſchlug er ein wenig
mit der Floͤte in die Luft.
[182]
„Izt weiſt du alles, mein guter Menſch,
urtheile!“ ſagte endlich Walt. Vult verſezte:
Beſter, poetiſcher Fleu- und Floriſt! — Was ſoll
ich urtheilen? Verdammtes Regnen! — Der
Himmel koͤnnte auch trokner ſein. Ich meine,
was iſt zu urtheilen, wenn du mir uͤber keinen
Menſchen beitritſt. Hinterher werd' ich dann
ganz ſchamroth, daß ich als ein Menſch, der
vielleicht kaum vor ein Paar Stadtthore hinaus,
und durch ein Paar Fluͤgelthuͤren hinein gekom¬
men — denn ich ſaß ſtets — gegen einen Welt-
und Hofmann wie du, Recht behalten will, der,
die Wahrheit zu ſagen, uͤberall geweſen, an al¬
len Hoͤfen — in allen Haͤfen — Gluͤcks- und
Ungluͤckshaͤfen — in allen Kaffee- und Theehaͤu¬
ſern Europens — in belle-vue, in laide-
vue — in Mon-plaiſir, in Ton-plaiſir und
Son-plaiſir — und ſo etwas weiter herum,
das war ich aber nicht, Walt!“
„Verſpotteſt du ernſthaft meine arme Lage,
Bruder!“ fragte Walt. „Ernſthaft? ſagte Vult.
Nein, warlich mehr ſpashaft. Was den Gene¬
ral anlangt, ſo ſag' ich, daß, was du Men¬
[183] ſchenliebe an ihm nennſt, nur Anekdotenliebe iſt.
Schon im gelehrten Deutſchland gelten keine
Waſſer fuͤr tiefe als die flach breiten, vol¬
lends aber im geadelten; nur breite lange Ge¬
ſchichte wollte der General von dir aus Lang¬
weile, wenn er ſie auch ſchon wuſte. Freund,
wir Buͤcher-Menſchen — ſo taͤglich, ſo ſtuͤnd¬
lich in Konverſazion mit den groͤßten belebteſten
Maͤnnern aus der gedruckten Vorwelt, und zwar
wieder uͤber die groͤſten Weltbegebenheiten — wir
ſtellen uns freilich den Hunds-Ennui der Groſ¬
ſen nicht vor, die weiter nichts haben, als was
ſie hoͤren und eſſen bei Tafel. Gott danken ſie
auf Knien, wenn ſie irgend eine Anekdote erzaͤhlen
hoͤren, die ſie ſchon erzaͤhlen hoͤrten; — aber ich
weiß nicht, was du dazu ſagſt?“
„Ueber Sachen, verſezte Walt, kann man
leicht die fremde Meinung borgen und glauben,
aber nicht uͤber Perſonen. Wenn die ganze Welt
gegen dich ſpraͤche: muͤſt' ich wohl eher ihr als
mir glauben?“
„Natuͤrlich, ſagte Vult. Was Wina an¬
langt, ſo iſts mir ganz lieb, daß ſie ihre wei¬
[184] chen Finger wieder aus den graͤflichen Ringen
gezogen. So weiß ich auch, daß zwiſchen dir
und dem Grafen die Misheirath eurer Seelen
ruͤckgaͤngig wird.“
Daruͤber erſchrack der Notar ordentlich. Er
fragte aͤngſtlich, warum? Vult blies einen Laͤu¬
fer. Er ſezte dazu, daß er dem Juͤngling ſeit
dem Verluſte einer ſolchen Jungfrau noch hefti¬
ger anhaͤnge; und fragte wieder: „warum, lieber
Bruder?“ Weil du, verſezte dieſer, nichts biſt,
gar nichts als ein offener geſchworner Notar, der
Graf aber ein Graf; du wuͤrdeſt ihm auch nicht
groͤßer, wenn du dich nach alter Weiſe noch ei¬
nen tabellio nennteſt — einen protocolliſta —
einen judex chartularius - ſeriniarius - ex¬
ceptor.“ — „Unmoͤglich, verſezte Walt, iſt in
unſern Tagen ein philoſophiſcher Klothar adel¬
ſtolz; ich hoͤrt' ihn ſelber die Gleichheit und die
Revoluzion loben.“
„Wir Buͤrgerliche preiſen ſaͤmmtlich auch
die Fall- und Waſenmeiſter ſehr und ihren ſittli¬
chen Werth, erleſen aber doch keinen zum
Schwiegervater, und fuͤhren keine maîtreſſe des
[185] hautes oeuvres et des baſſes oeuvres zum
Tanze. — Gott, wenn ſoll einmal mein Jam¬
mer enden, daß ich immer von abgelegtem
Adelſtolze ſchwatzen hoͤre? Sei ſo hoͤflich, Walt,
mir einige Grobheiten gegen dich zu erlauben.
Bei Gott, was verſtehſt denn du von der Sache,
vom Adel? oder die Schreiber daruͤber?
Ich wollte, du bliebeſt ein wenig ſtehen
oder kroͤcheſt in jenen Schaͤferkarren und horchteſt
mir daraus zu; ich zoͤge aus der Satire, die ich
bei Sonnenuntergang im Zablockiſchen Garten
gemacht, das aus, was herpaſſet.
Den adelichen Stolz in einen auf Ahnen
oder gar in deren Verdienſte zu ſetzen, iſt ganz
kindiſch und dumm. Denn wer haͤtte denn keine
Ahnen? Nur unſer Herrgott, der ſonach der
groͤſte Buͤrgerliche waͤre; ein neuer Edelmann
hat wenigſtens Buͤrgerliche, es muͤſt' ihm denn
der Kaiſer vier adeliche ruͤckwaͤrts datirend mit
geſchenkt haben, wovon wieder der erſte ge¬
ſchenkte Ahn ſeine neuen vier Geſchenkten beduͤrf¬
te und ſo fort. Aber ein Edelmann denkt ſo we¬
nig an fremde Verdienſte, daß er ſich lieber von
FIegeljahre II. Bd. 13[186] 16 adelichen Raͤubern, Ehebrechern und Saufau¬
ſen als ihr Enkel an einen Hof, oder in ein
Stift oder auf einen Landtag geleiten laͤſſet, als
von einem Schock und Vortrab ehrlicher buͤrger¬
lichen davon hinwegfuͤhren. Worauf ſtolziert
denn der Edelmann? Zum Henker auf Gaben;
wie du und ich als Genies, wie der Millio¬
nair durch Erbſchaft, wie die geborne Venus,
wie der geborne Herkules. Auf Rechte iſt
niemand ſtolz, ſondern auf Vorrechte. Lez¬
tere, ſollt' ich hoffen, hat der Adel. So lang'
er ausſchließend an jedem Hofe aufwarten, tan¬
zen, der Fuͤrſtin den Arm und die Suppe geben
darf, und die Karte nehmen: — ſo lange die
deutſche Reichs-Geſchichte von Haͤberlin noch
nie ein Paar buͤrgerliche Weibs-Fuͤße am
Sonntag unter einer Hof-Tafel angetroffen und
vorgezogen (der Reichs-Anzeiger rede, wenn er
kann); — ſo lange Armeen und Stifte und
Staaten ihre hoͤchſten reichſten Frucht-Zweige
nie von gemeinen harten Haͤnden pfluͤcken laſ¬
ſen, die blos auf die Wurzeln Erde ſchaffen,
und von den Wurzeln leben muͤſſen: ſo lange
[187] waͤre der Adel toll, wenn er nicht ſtolz waͤre,
auf ſolche Vorrechte, mein' ich.
Buͤrgerliche werden wie die Gewaͤchſe im
alten Syſtem von Tournefort, nach Blumen
und Fruͤchten klaſſifizirt; Adeliche aber viel
einfacher, wie von Linnée, nach dem Ge¬
ſchlechts- (Sexual) Syſtem; und es giebt
dabei keine Irrthuͤmer. Den Adelſtand ferner
verknuͤpft die Gleichheit der Vorrechte durch ganz
Europa. Er beſteht aus einer ſchoͤnen Familie
von Familien; wie Juden, Katholiken, Frei¬
maͤurer und Profeſſioniſten halten ſie zuſammen;
die Wurzeln ihrer Stammbaͤume verfilzen ſich
durch einander und das Geflechte laͤuft bald hier
unter dem Feudal-Acker fort, bald dort heraus
am Thron hinan. Wir buͤrgerlichen Spizbu¬
ben hingegen wollen einander nie kennen; der
Buͤrgerſtand iſt ungefaͤhr ſo ein Stand wie
Deutſchland ein Land, naͤmlich in lauter feind¬
ſelige Unterabtheilungen zerſprengt. Kein Har¬
niſch in Wien fragt nach Harniſchen aus Elter¬
lein, kein Legazionsrath in Koburg nach einem
in Haslau oder Weimar.
[188]
Darum faͤhrt der Adel in ein Fahrzeug mit
Segeln eingeſchift, der Buͤrger in eines mit Ru¬
dern. Jener erſteigt die hoͤchſten Poſten, ſo
wie das Faulthier nur die Gipfel ſucht. — Aber
was haben wir Teufel? Beſitzen wir unbeſchreib¬
liche Verdienſte: ſo koͤnnen dieſe nicht adeln, ſon¬
dern ſie muͤſſen geadelt werden; und dann ſind
wir zu brauchen, ſowohl zu einem Miniſters- als
ſonſtigen Poſten.“
Doch der Adel erkennt auch ſelber ſeine Koſt¬
barkeit und unſere Nothwendigkeit gern an; denn
er ſchenkt ſelber deswegen — wie etwan die Hol¬
laͤnder einen Theil Gewuͤrz verbrennen oder die
Engellaͤnder nur ſiebenjaͤhrig ihre Waſſerblei-
Gruben aufthun, damit der Preiß nicht fal¬
le — in ſeiner Jugend der Welt faſt nur Buͤr¬
gerliche, und ſparſam erſt ſpaͤter in der Ehe ei¬
nes und das andere Edelkind, er macht lieber
zehn Arbeiter als eine Arbeit, weil er den Staat
liebt und ſich.
O ſchweige noch! freilich war dies nur Aus¬
ſchweifung in der Ausſchweifung. — Abnahme
des Adelſtolzes wollen neuerer Zeit viele noch
[189] daraus ſehr vermuthen, daß ein und der andere
Fuͤrſt mit einer Buͤrgers-Tochter tanzte, wie
ich troz meines gelehrten Standes mit einer
Bauerstochter, oder daß ein Fuͤrſt zuweilen ei¬
nen Gelehrten oder Kuͤnſtler zu ſich kommen ließ,
wie den Klavier- und den Schneidermeiſter auch,
nicht in ſeinen Zirkel, ſondern zum Privatge¬
ſpraͤch. „Meine Leute, mes gens“ ſagen ſie
von den Bedienten, um ſie von uns andern Leu¬
ten zu unterſcheiden.
Warum reiteſt und kletterſt du aber ſo eif¬
rig an einen der hoͤchſten Stammbaͤume hinan?
— Daß ich meines Orts droben ſitze, als Herr
van der Harniſch, hat ſeinen guten Grund,
ich fenſtere auf dem Gipfel meinen Zirkel aus,
und erhebe, was drunten iſt, euch Buͤrger-
Pak; kein Menſch kann ſich ruͤhmen, den Adel
noch ſo geaͤrgert zu haben als ich; nur in Staͤd¬
ten, wo ich nicht von Geburt war, muſt' ich
mich von ihm aͤrgern laſſen, wenn er unter dem
Vorwand, meine Perſon zu ſchaͤtzen, mich zur
Tafel bat, um meine Floͤte zu koſten; dann
blies ich aber nichts, ſondern ich dachte: ich
[190] pfeif' Euch etwas. Dem weich' ich jetzt ganz
aus.“
Walt verſezte: „ich will deinem halben
Ernſte ganz offen antworten. Ein Dichter, fuͤr
den es eigentlich gar keine geſperrten Staͤnde
giebt, und welchem ſich alle oͤfnen ſollten, darf
wohl, denk' ich, die Hoͤhen ſuchen, wiewohl
nicht, um da zu niſten, ſondern den Bienen
gleich, welche eben ſo wohl auf die hoͤchſten Bluͤ¬
then fliegen, als auf die niedrigſten Blumen.
Die hoͤhern Staͤnde, welche nahe um das ſonni¬
ge Zenith des Staates leuchten, als hohe Stern¬
bilder, ſind ſelber ſchon fuͤr die Poeſie durch ei¬
ne Poeſie aus der ſchweren tiefen Wirklichkeit
entruͤckt. Welch' eine ſchoͤne freie Stellung des
Lebens! Waͤr' es auch nur Einbildung, daß ſie
ſich fuͤr erhoben hielten, und das zwar geiſtig —
denn jeder Menſch, der Reiche, der Gluͤckliche
ruht nicht eher als bis er aus ſeinem Gluͤck ſich
ein geiſtiges Verdienſt gemacht —: ſo wuͤrde
dieſer Wahn Wahrheit werden; wer ſich achtet,
den muß man achten. W [...]ch' eine hohe Stel¬
lung, alle mit einerlei Freiheit, alles zu wer¬
[191] den — alle im Triumphwagen derſelben Ehre,
die ſie beſchuͤtzen muͤſſen — —
„Es iſt pechfinſter, ſagte Vult, aber ich
bin warlich ernſthaft.“
„Die einzeln Namen verewigt und in Wap¬
pen-Werken wie Sterne gezaͤhlt und fortglaͤn¬
zend, indeß im Volke die Namen wie Thautrop¬
fen ungeordnet verloͤſchen — in der heiligen
Naͤhe des Fuͤrſten, der ſie zart behandelt im
Wechſel ſeiner Repraͤſentazion, es ſei als Ge¬
ſandte oder Generale oder Kanzler — naͤher dem
Staate verwandt, deſſen große Seegel ſie auf¬
ziehen, wenn das Volk nur rudert — wie auf
einer Alpe nur von hohen Gegenſtaͤnden umrun¬
gen — hinter ſich die glaͤnzende koͤnigliche Linie
der alten Ritter, deren hohe Thaten ihnen als
Fahnen vorwehen, und in deren heilige Schloͤſ¬
ſer ſie als ihre Kinder einziehen. — —
„Glaube mir auf mein Wort, ſagte Vult,
ich lache nicht“ —
— vor ſich den Glanz des Reichthums,
der Guͤter, der Hoͤfe und einer bluͤhenden Zu¬
kunft — Und nun vollends die ſchoͤne freie Bil¬
[192] dung, nicht zu einem abgehauenen eckigen Staats-
Gliede, ſondern zu einem ganzen geformten Men¬
ſchen, welche ihnen Reiſen, Hoͤfe, geſellige Freu¬
den unter Gemaͤlden, unter Toͤnen, und am
meiſten ihre noch mehr gebildeten, ſchoͤnen Frau¬
en, deren Reize kein Gewicht der Noth und Ar¬
beit erdruͤckte, leicht und froh zuſpielen, ſo daß
im Staate der Adel die italieniſche Schule aus¬
macht, und das arme Volk die niederlaͤndi¬
ſche.“ — —
Der Floͤtenſpieler hatte bisher oͤfters, wie¬
wohl mit verdaͤchtiger Stimme geſchworen, er
ziehe nicht eine Miene zum Lachen — betheu¬
ert, er wolle nicht Vult heiſſen, wenn er die
Finſterniß benutze, und darinn ſtill laͤchle —
wiederhohlt, er ſei kein ſolcher Mann, der lache,
ſondern ſo ernſt wie ein Todtenvogel. Izt aber
lachte er hell, und ſagte indeß ſo viel: Walt,
um wieder einmal auf deinen Grafen zu kom¬
men — ſcheere dich nichts um mein dummes
Gelaͤchter uͤber etwas anders, ich bin doch ernſt¬
haft — den du ſonach in Bildungs-Bezug
fuͤr einen Raphael haͤltſt und dich fuͤr einen Te¬
[193] niers, wie wollet ihr zwei Figuren euch denn
auf Einer Leinwand paaren?“ —
Walt ſchwieg verwundet, weil er ſich gar
nicht fuͤr einen Teniers, ſondern eher fuͤr ei¬
nen Petrarka anſah. Aber Vult drang heftig
auf das Bindemittel, das der Bruder ſich zu¬
traue.
„Ich glaubte dadurch, ſagt' er leiſe demuͤ¬
thig, wenn ich ihn recht liebte.“ Vult wurde
etwas bewegt, blieb aber unerbittlich und ſagte:
„um dir aber zuzutrauen, daß du deine Liebe
einem ſolchen Herrn zeigen koͤnnteſt, muſt du
dich, ſo beſcheiden du auch thuſt, innerlich
fuͤr einen zweiten Karpſer halten, ganz ge¬
wiß?“
„Wer war dieſer?“ fragte Walt.
„Balbieramtsmeiſter in Hamburg, wovon
noch die Karpſerſtraße in der Stadt da iſt, weil
er darin wohnte; ein Mann, darf ich dir ſa¬
gen, von ſo feinen Sitten, ſo voll belebter Re¬
den, ſo zauberiſch, daß Fuͤrſten und Grafen,
die nach Hamburg kamen, ihr erſtes und groͤſtes
Vergnuͤgen nicht im Peſtilenzhaus oder auf dem
[194] Drekwal oder im Scheelengang und in den Alſter-
Alleen ſuchten und fanden, ſondern lediglich
darin, daß unſer Balbier zu Hauſe war und
ſie vorlaſſen wollte.“
Der Notar, ſich fuͤr einen verſtekten Petrar¬
ka haltend, vermochte gar nicht, den Balbier-
Amtsmeiſter ſo hoch uͤber ſich zu ſehen; er ſagte
aber, erweicht durch einen ganzen Nachmittag,
nichts als die Worte: „wie gluͤcklich iſt ein
Edelmann! Er kann doch lieben, wen er will.
Und waͤr' ich einer und ein redlicher gemeiner
Notar gaͤbe mir nur einige warme Zeichen ſeiner
Liebe und Treue: warlich ich wuͤrde ſie bald ver¬
ſtehen, und ihn dann nicht eine Minute lang
quaͤlen, ja ich glaube, eher gegen meines Glei¬
chen koͤnnt' ich ſtolzer ſein.“
„Himmel, weiſt du was — fieng ploͤzlich
Vult mit anderer Stimmen an — ich habe ein
ſehr trefliches Projekt — in der That fuͤr dieſen
Fall das beſte — denn es loͤſet alles auf und
bindet dich und den Grafen (falls er deinem
Bilde entſpricht) ſchoͤn auf ewig.“
Walt zeigte ihm ſeine Entzuͤckung daruͤber
[195] ganz, und die Neugier, womit er es zu hoͤren
kaum erwarten koͤnne. Aber Vult verſezte: „ich
„glaube, morgen oder uͤbermorgen' laſſ' ich mich
„mehr heraus.“ — Walt flehte um das Pro¬
jekt, ſie waren nahe am Stadtthore und Ab¬
ſchied. Vult antwortete: „ſo viel kann ich ſa¬
gen, daß ich nie Proſchekt ſage, ſondern ent¬
weder franzoͤſiſch projet oder lateiniſch projec¬
tum.“ — Walt fragte, ob er denn nicht ſeine
Freude uͤber den bloßen Vorſchlag merke, und ob
er nicht denke, daß ſie noch ſtaͤrker ſteige durch
Eroͤfnung. „Gewiß? (ſagte Vult) Allein das
projet gehoͤrt ja in eine ganz andere Nummer,
ſag' ich dir, denn die heutige iſt aus und gute
Nacht!“ —
Nro. 31. Pillenſtein.
Das Projekt.
„Purzel thuts“ fuhr heftig Vult in die
Stube des Notars, der freudig verſezte: „das
gebe Gott, und was denn?“ — „Ich erklaͤre
alles und Purzel iſt der Theaterſchneider, mein
[196] Hausherr — erwiederte Vult mit den Blizen
der Laune im Auge, weil er eben die Digreſſion
uͤber den Adel fuͤr den Doppel-Roman zu Pa¬
pier gebracht. — So viel giebſt du zu, daß du
einige Heft- oder Demantnadeln zur Bundes-
Naht mit Klothar — was eben mein Projekt
ſein will — vonnoͤthen haſt. Handlungen
freilich galten von jeher fuͤr die beſten Faͤhren
zum Herzen, fuͤr die rechten Kernſchuͤſſe zur
Bruſt, da Worte nur Bogenſchuͤſſe ſind, oder
was man will. Einem einen Uhrſchluͤſſel abkau¬
fen, oder ſonſt ein Kauf, das ſperret mehr am
bedekten Gehaͤuſe eines Menſchen auf als dreißig
dejeûners in einem Monat von 31 Tagen.
Wollteſt du alſo dem Grafen z. B. nur einen
Stein ins Fenſter werfen oder an das Schulter¬
blatt: ſo kaͤmeſt du ſogleich mit ihm in Hand¬
lung und darauf leicht in naͤhere Verbindung;
oder eben ſo auch, wenn du im Finſtern auf
ihn los fahren, ihn bei den Rockklappen
packen und nicht los laſſen wollteſt, weil du ihn
fuͤr deinen Bruder gehalten haͤtteſt, den du ſo
unbeſchreiblich liebteſt, gaͤbeſt du vor. Da aber
[197] das nicht geht, ſo hoͤre: mein Hausherr Purzel
hat jezt viele Turnier- und Tafelfaͤhige Kleider in
Arbeit, die er fuͤr das Theater kehrt und wendet;
ich ſtaffiere dich mit einem vollſtaͤndigen aus —
habe vorher dem Grafen, da ich ihn kenne, in
einem Billet geſchrieben, ich wuͤnſchte ſehr, eines
Abends vor ihm zu blaſen — bringe dich dann
mit (ſprich noch nicht) und laſſe dich von ihm
ohne beſonderes artikulirtes Luͤgen, fuͤr einen
Edelmann anſehen, blos weil du (das macht
man ihm weiß) mein Freund biſt, und wir mit
einander umgehen. Dann kann ſich das Adels-
Pergament unmoͤglich mehr als Scheide- und
Brand-Mauer und Ofenſchirm zwiſchen eure
Flammen ziehen; und falls der Graf wirklich
nicht wie ein Eisſtuͤck, eben ſo viel Eis unter
dem Waſſer verbirgt, als er daraus vorhebt: ſo
ſeh' ich euch, weil du unter und hinter der Floͤ¬
te ihm alles ſagen und zeigen kannſt, vielleicht
am Altar der Freundſchaft verbunden ſtehen und
ich bin freudig das Kopuliermeſſer *). ——
Jezt ſprich!“
[198]
„Goͤttlich, goͤttlich! rief Walt und umhal¬
ſete Vulten. Ich ſtehe dann auf dem Wagen¬
ſtern der Liebe und rolle durch Himmel. Aber,
wenn ich ihn habe, den Lieben, ja dann muß
ich durchaus — noch denſelben Abend — mei¬
nen duͤrftigen Namen ſagen; nicht nur ein heiſ¬
ſes Herz, auch ein ofnes muß ich ihm bringen;
es thut dann nichts mehr.“ —
Allein der bunte Zauberrauch verzog und ſenk¬
te ſich bald, womit ſeinen romantiſchen Geiſt an¬
fangs das Wagſtuͤck berauſchte. Das Gewiſſen
ſtellte ſich kalt mit der Wage hin und wog nach
Skrupeln. Er konnt' es nicht recht finden, die
Freundſchaft mit einem Blendwerk anzufangen,
wenn er dieſes auch nachher vertilge. Der Bru¬
der verſicherte darauf, er woll' ihn blos fuͤr ſei¬
nen Verwandten deſſelben Namens ausgeben,
was ja wahr ſei, ferner das von im Feuer
der Rede vergeſſen: „aber wenn ich nun zulezt
ſage, ich bin dein Zwillingsbruder, was ſagſt
denn du?“ ſagte Walt. — „Herr Graf, ſag'
ich — verſezte Vult — er iſt allerdings der Bru¬
der, ja Zwillingsbruder meines Herzens, und
[199] geiſtige oder kanoniſche Verwandtſchaft, daͤcht'
ich, gaͤlte wohl hienieden, da ja unſer Herrgott
ſelber eine dergleichen mit uns Beſtien im Allge¬
meinen verſtattet und ſich unſern Vater nennen
laͤßt. — Iſt dieſe Verwandtſchaft nicht wahr?“
Walt ſchuͤttelte. „Was, fuhr der Floͤten¬
ſpieler fort, es waͤre nicht ſo, naͤmlich daß wir
uns geiſtig verbruͤderten? O Zwilling, wer iſt
verwandter, bedencke? Wenn Koͤrper Seelen
ruͤnden und Herzen gatten, ſo daͤcht' ich, ein
Paar Zwillinge — um neun Monate fruͤher ein¬
ander verſchwiſtert als alle andere Kinder — in
ihrer zweiſchlaͤferigen Bett'ſtelle des erſten Schla¬
fes ohne Traum — theilend alle und die fruͤhe¬
ſten und wichtigſten Schickſale ihres Lebens —
unter Einem Herzen ſchlagend mit zweien — in
einer Gemeinſchaft, die vielleicht nie im Leben
mehr vorkommt — gleiche Nahrung, gleiche
Noͤthen, gleiche Freuden, gleiches Wachſen und
Welken — beim Teufel, wenn ein ſolcher Fall,
wo im eigentlichſten Sinn zwei Leiber Eine See¬
le ausmachen, wie ja der alte und erſte Ariſto¬
teliker, naͤhmlich Ariſtoteles ſelber, begehrt zur
[200] Freundſchaft; zum Sakerment, wenn von ſol¬
chen Perſonen nicht der eine Zwilling ſagen duͤrf¬
te, er ſei mit dem andern geiſtig genug verwandt,
Walt, wo waͤre denn noch Verwandtſchaft zu ha¬
ben auf Erden? Kann es denn, du ordentlicher
Bruder-Moͤrder, fruͤhere, naͤhere, aͤltere, pein¬
lichere Freundſchaften geben, als bei ſolchen
Zwillingen? O Gott, du lachſt ja uͤber Geruͤhr¬
te!“ ſchloß er wild und fuhr heftig mit der gan¬
zen breiten Hand uͤber die Augenknochen.
„Da waͤr' ich ja der Hoͤlle werth, rief Walt
und fieng deſſen Hand, um ſie auf ſein naſſes
Auge zu decken — O Bruder, Bruder, weißt du
es denn nie, wie ich dich faſſe und deinen
weichen Geiſt im ſtaͤrkſten Scherz? Ach wie
iſt dein Inneres ſo ſchoͤn und mild, und
warum weiß es denn nicht die ganze Welt? —
Darum aber, was waͤr' ich, wenn ich es lit¬
te, was du bei Klothar wagen wollteſt fuͤr
mich? Nein, fremde Opfer mag man wohl an¬
nehmen, um von Martern loszukommen, aber
nie, um mit ihnen Freuden einzukaufen. Die
Sache geht nicht, guter Vult!“
[201]
Aber hier war dieſer ſchon die Treppe hinab.
Indeß, je mehr der Notar nachſann, deſto
unbilliger fand er's, auf Vultens Koſten den
Himmel der Freundſchaft zu erſtehen. Zulezt
ſchrieb er ihm beſtimmt, ſein Gewiſſen leid' es
unmoͤglich.
Wenige Stunden darauf antwortete Vult
folgendes:
p. p.
„Fraterkul! Eben erhalt' ich des Grafen
Jawort mit deinem Neinwort; du muſt alſo
mit, oder meine Ehre leidet gewaltig. Fleuch
und flieh' in einer guten Stunde zu mir. Dein
Umkleid oder Maſken-Karakter liegt ſchon auf
dem Stuhl. Der Friſeur iſt beſtellt mit Vor¬
ſtek-Locken. Sporen und die Steifſtiefel darzu
ſtehen auch fertig. Glaube mir aber auf Ehre,
daß ein Buͤhnen-Habit fuͤr dich ausgeleſen iſt,
der nicht ſimulirt, ſondern nur diſſimulirt.
Ein anders — als was ich thue und miethe —
waͤre, wenn ich dich in einen Berghabit oder in
eine Moͤnchskutte, oder in einen Waffenmantel
oder in ein Biſchofs-Pallium oder in engliſche
Flegeljahre II. Bd. 14[202] Kapitains-Uniform oder in den Satan und ſei¬
ne Grosmutter ſtekte; ſo hingegen faͤlleſt du pro¬
per aus und unkenntlich, und dabei doch ſittlich
und wahr. Verſuch' ihn nur bei mir an, deinen
polniſchen Rock und Mantel der Liebe fuͤr Klo¬
thar. Purzel denkt gut, ja wohlfeil. — Ich
ſchmachte freudig nach dem Spas. Der Abend
macht dich noch unkenntlicher, des Puders gar
nicht zu gedenken, den du weglaſſen muſt. Dir
zu ſchreiben vergeſſ' ich ganz, daß ich naͤmlich,
— als ich den guten Grafen anfangs ins Roſen¬
thal eingeladen zu einem matten Souper, natuͤr¬
lich ohne Deiner Erwaͤhnung — von ihm um¬
gekehrt in ſeinen Garten invitiret worden. Kom¬
me beſtimmt, ich brenne. Denn dieſer Abend
faͤllet Definitiv-Sentenzen und Mandate ohne
Klauſeln uͤber 40 bis 50 Tauſend Abende nach¬
her. Gegenwaͤrtiges ſchreib' ich faſt geruͤhrt; —
Garrik wuſte das bloße Alphabet ſo herzuſagen,
daß die Leute dazu thraͤnten; aber woraus be¬
ſteht denn alles, was angreift, als aus Alpha¬
beten? — Herzen gleichen Gaͤnſe-Eiern; die,
ſo in lauem Waſſer nicht ſich bewegen, ſind fau¬
[203] le und todte — Gott, ich werde heute ſo bla¬
ſen, ſo trillern! Ich freue mich freilich zu
ſehr.
P. S. Ich muß dir doch berichten — an¬
fangs wollt' ich nicht — daß dein kuͤnftiger
Freund Klothar morgen fruͤh um 3 Uhr auf und
davon reiſet, wie er ſagt, nach Dresden — ei¬
gentlich aber wohl, wie ich ſage, nach Leipzig,
um durch die proteſtantiſche Mutter die katholi¬
ſche Braut ſich anzuoͤhren. Biſt du nicht der
vollſtaͤndige Schomaker II: ſo kommſt du heute
und ſchlaͤgſt als Buͤrger mit dem Edelmann den
Pedal-Triller der verwobenen Freundſchaft.
Denn wo waͤre Luͤge, ſobald ich nicht ſage —
und du ohne dies nicht, — daß du ein Edel¬
mann biſt, ſondern ich nur anfangs, daß du
mein Freund — und du zulezt, daß du ein No¬
tarius biſt — wo, frag' ich?“
Ach, ich komme freilich! ſchrieb Gottwalt
zuruͤck.
[204]
Nro. 32. Heller im Straußenmagen.
Menſchenhaß und Reue.
Perſonen, die Vults alten noch verſiegelten
Brief an Walt gedruckt geleſen, durchſchauen am
erſten alle geheime Zwecke bei ſeiner Einkleidung
des reinen Notars, und finden deren nicht weni¬
ger als zwei. Der erſte geheime Zweck Vults
iſt wahrſcheinlich der, ſich mehr zu aͤrgern als
bisher, und dadurch — indem er der bruͤderlichen
Freundſchaft gegen den Grafen zuſieht oder gar
der Erwiederung derſelben — ſich zu jenem zor¬
nigen Ausbruch aufzutreiben, ohne welchen, ſei¬
ner bekannten Meinung nach, an Verſoͤhnungen
gar nicht zu denken iſt, auſſer an ſchlechte. Freund¬
ſchaftliche Eiferſucht iſt viel ſtaͤrker als liebende,
ſchon weil ſie nicht, wie dieſe, ihren Gegenſtand
zu verachten vermag. — Die zweite Abſicht
Vults bei dem Verkleiden kann ſich nur auf den
Wechſel- oder Hornſchluß gruͤnden, daß der
Graf den Notar — wenn dieſer den adelichen
Pfauenſchwanz fallen laſſen — als nakte Nota¬
riats-Kraͤhe entweder wild aus Herz und Gar¬
[205] ten jagt (dann gewaͤnne eben Vult), oder ihm,
wie eine Kraͤhe der andern, nichts aushackt
(dann koͤnnte Vult ſehr zanken und ſich ſpaͤt
verſoͤhnen ); — und einen dritten Fall giebt es
eben nicht.
Der Notar kam ziemlich beklommen bei dem
Bruder an. „hier, ſagte Vult, liegt der men¬
ſchenhaſſende Meinau aus Kotzebues Menſchen¬
haß und Reue auf dem Stuhl“ und zeigte auf
den feinſten Ueberrock, den Purzel fuͤr edle Buͤh¬
nen-Karaktere gekehrt hatte, ferner einen lang¬
haarigen Rundhut, geſpornte Steifſtiefel, drei
Ellen lange Halsbinden fuͤr den Hals, um die
Farben im Geſicht zu unterbinden, und ſeidene
Unterkleider. Aber was vorher leicht durch den
Aether der Einbildung flog, ſteckte jezt feſt vor
Walt in der unbehuͤlflichen Gegenwart, und die
Suͤnde zerfiel in Suͤnden.
„Beim Henker, ſagte Vult und ſtreifte dem No¬
tarius das Zoͤpflein herunter, ſkrupelſt du doch als
koͤnnt' es nicht eben ſo gut eine An- als Verklei¬
dung vorſtellen. Beſteht denn ein Edelmann in
einem Paar Stiefeln und Sporen? Verſaͤuere
mir nichts!“ —
[206]
Ein Friſeur erſchien. Das ganze Haar
muſte in unzaͤhlige Locken zuruͤckrollen. Darauf
wurd' er hermetiſch mit Seide und Tuch verſie¬
gelt; und ſein Kern wuchs ganz in die Kotzebui¬
ſche Schote hinein.
Unterwegs ſchwur ihm Vult, er ſei —
ſchon wegen der Daͤmmerung — unkenntlich
genug; und ein Großer ſehe und behalte kein
Buͤrgergeſicht. Am Ende wurd' ihm ſelber der
Notar, der bluͤhend, liebe-zitternd neben ihm
gieng, ordentlich zum menſchenfeindlichen Mei¬
nau. „Es fehlt nicht viel, ſagt' er, ſo fall' ich
dich an, weil ich denke, ich habe Meinau vor
mir, der ſich einige Akte lang ſchmeichelte und
angewoͤhnte, die Menſchen zu haſſen aus Maͤd¬
gen-Liebe, wie etwan Haſen durch Schlangen
dahin zu bringen ſind, daß ſie trommeln wie Krie¬
ger. Weichen Schlamm und Sumpf ſoll der
Kollegienrath K. abmalen, aber nicht Dieterichs
Felſen. Mit ſeinen Patent-Herzen, wie
Pott mit Patent-Fuͤſſen zum Knien, ſteh' er
feil, ſogar mit veraͤchtlichen, aber nur nicht mit
verachtenden! Da ſei der Teufel ſo ſanft, wie
ein Exjeſuit, wenn man uͤberall vor und auf
[207] der Buͤhne Juͤnglingen begegnet, die Fait von
Menſchen-Verachtung machen, weil ein Maͤd¬
gen ſie ein wenig verachtet hatte — Troͤpfe, bei
denen der miſanthropiſche Tollwurm nur, wie
bei Hunden, im Zungenbande beſteht und
denen er, wie Kindern der Wurm, abgienge,
wenn man ſie ſtaͤrkte — Walt, unterſtehſt
du dich auch und haſſeſt die Menſchen?“ —
„Nicht Einen, auch nicht einen ungluͤcklichen
Menſchenfeind (ſagt' er unendlich ſanft), aber du
fragſt doch ſehr hart?“ — „Vergieb, verſezte Vult,
ich fahr' ſchon ſeit zehn Jahren auf und los, wenn
ich nur etwas vom Theater rieche und waͤr's
nur ein Soufleur, oder der Soufleur des Souf¬
leurs, der Poet, ja ein bloßer Hofrath, — da
doch die meiſten Theater-Helden wie in Dorpat
die Profeſſoren, H fraths-Rang —;
denn, das Schauſpielervolk ausgenommen, zeigt
nichts eine ſo ekle Gemeinheit als das Buͤhnen¬
ſchreibervolk; Spieler und Schreiber verkoͤrpern
und beſeelen ſich wechſelſeitig; und bekielen ſich
mit Lanierſchwaͤnzen“ — „Lanierſchweife?“ frag¬
te Walt.
[208]
„Sind der Schwanz, verſezte Vult, den
ein Falkenier einem abkraͤftigen Falken in die of¬
nen Kiele des ausgefallenen kuͤnſtlich einklebt
mit ein wenig Hauſenblaſenleim. Die armen
Schauſpieler (transſzendente Statiſten) ſind die
Statuen, welche *) jeden Abend eine Seele von
ihren Bildhauern oder Dichtern fodern, um da¬
von zu leben.“
Sie kamen im Park an, wo ihnen der Graf
mit ſeiner einfachen, ernſten, vornehmen Hal¬
tung entgegen gieng. „Es iſt mein Freund und
Verwandter gleiches Namens, ſtellte Vult den
gekehrten Meinau dem Grafen vor, — ſeine Lie¬
be zur Floͤte treibt ihn mir nach.“ Walt mach¬
te ſtatt vieler Entſchuldigungen — die ihm der
Bruder abgerathen — ganz keck nur einen Buͤk¬
ling, weil der Graf, hatte Vult geſagt, wenig
Welt beſaͤße, wenn er ihn in ſeinem Garten
ausfragen wollte, wie ein Katechet unter dem
Thore.
[209]
Walt dachte gleichfalls zu redlich, um vor
dem Grafen etwas anders, nur den ſchwaͤchſten
Gedanken, zu verkleiden, als ſeinen Leib. Vult
hatte Recht gehabt, daß Große, die auf Reiſen
und an Hoͤfen an zwanzig Heere von Menſchen
geſehen, nicht leicht den Nachtrab aus einem
Notarius ſonderlich im Kopfe behalten und auf¬
heben; Klothar ſah ihn ein wenig ſinnend an,
kannte aber den viellockigen, zopfloſen, dick¬
bindigen Kavalier in der Daͤmmerung nicht.
Lezterem wurd' es etwas eng in ſeiner Mei¬
naus-Haut. Die Verkleidungen in Romanen
bilden die in der Wirklichkeit den Menſchen zu
luſtig vor. Wie im Zimmer das Wetter, ſo iſt
im Freien die ſchoͤne Natur der Nothpfennig und
Heckthaler des Geſpraͤchs — Walt hatte dem
Grafen kein Hehl, daß dieſe Stelle, (wo er ein¬
mal Abends dem Muſiziren zugehoͤret hatte,) mit
der Katarakte hinter dem Ruͤcken, der Veſtalen-
Statue dabei, den fernen Hoͤhen, ihre wahren
Reize habe. Klothar aber wollte wenig daraus
machen, ſondern verſicherte, jeder Park gefalle
nur einmal.
[210]
Der Floͤtenſpieler war ſo wortkarg und hoͤf¬
lich gegen den Grafen als dieſer ſelber, und
ſparte Laune und Zunge nur der Floͤte auf. Die
Gebruͤder Harniſch wurden mit einem mehr aus
Blaͤttern als aus Beeren gequetſchten Wein be¬
wirthet. Der Graf trank keinen; Walt aber ei¬
nigen, um wie ein Schmid Verſtaͤrkungs-Waſ¬
ſer ins Feuer zu ſprengen. Vult, uͤber den Kraͤ¬
zer und alles aufgebracht, gieng ſchnell mit der
Floͤte auf und ab, ohne zu blaſen.
Klothar uͤberlies ihn ſeiner Laune. Endlich
fieng er (luſtwandelnd dabei) ſein Floͤtenkonzert
ein wenig an, und blies aus Kuͤnſtler-Kaͤlte
gegen jenen nur obenhin — zerſtuͤckte Phanta¬
ſier-Gallopaden — muſikaliſche Halbfarben zu
Halbſchatten — ſtarke Eingriffe in die Floͤten-
Saiten, wie ſie die Fauſt eines Sturmwinds auf
die Aeolsharfe thut.
Beiden Kavalieren wurde durch dieſes melo¬
dramatiſche Abſetzen das Geſpraͤch angenehm
durchſchoſſen, in welches ſie mit einander gera¬
then durften unter ſolcher Muſik. Der eng¬
liſche Park wurde ein Poſtſchiff, worauf bei¬
[211] de nach England uͤberſezten, um es einmuͤ¬
thig zu beſehen und zu erheben. Klothar lobte
die Brittiſche Ungeſelligkeit: „zu gewiſſen Feh¬
lern gehoͤren Vorzuͤge“ ſagte er. „Nur Blu¬
men ſchlafen, nicht Gras,“ ſagte Walt, der
durch Poeſie und Ueberſicht leicht die fremde
Meinung in ſeine uͤberſezte und umgekehrt. Wer
immer nur die Morgen- und Sonnenſeite ſucht,
findet leicht uͤberall Waͤrme und Licht. Klothar
behauptete, daß die Freundſchaft keinen Stand
kenne, wie die Seele kein Geſchlecht. Walt tour¬
nirte ſeine Antwort dergeſtalt, daß ſie ſo klang:
„auch im Beſtreben, die Ungleichheit zu vergeſ¬
ſen, muͤſſen beide Freunde gleich ſein“ aber ſeine
Ausſprache war ein wenig baͤueriſch, und ſein
Auge blickte nicht fein, ſondern es ſtroͤmte klar
uͤber von Liebesfeuer. Der Graf ſtand ruhig
auf und ſagte, er entferne ſich nur einen Augen¬
blick, um die Abreiſe eine halbe Stunde ſpaͤter
anzuordnen, und er geſtehe, er ſei ſelten ſo leicht
verſtanden worden als dieſen Abend.
Mit unſaͤglicher Entzuͤckung ſagte Walt
leiſe zu Vult: „habe Dank, habe Dank, mein
[212] Vult! — O ſo ſollte man doch nie das Beneh¬
men eines Menſchen gegen uns, und waͤr' es
noch ſo froſtig, zum Maaße ſeines Werthes ma¬
chen! Wie viel reiche Seelen gehen uns durch
Stolz verloren! — Ich ſag' Ihm nachher al¬
les, Vult.“ — — „Der Kraͤzer aber — ver¬
ſezte Vult — koͤnnte etwas beſſer ſein. — Das
thu'! — Ich halt' Ihn ſelber fuͤr keinen ſelbſt¬
ſuͤchtigen Eisvogel und Froſt-Zuleiter weiter. —
Er wuſte zwar von deinem Geſichte und von
der ſchnellen Kur meiner ſtadtkuͤndigen Erblin¬
dung nichts mehr; es mag aber mehr in ſeiner
Memorie liegen, und ohnehin darinn, daß ein
fremder Menſch ihm weniger ſein muß als ſein
eigner.“ Und hier vergoß er ſich, ohne Ant¬
wort abzuwarten, in ſeine Floͤte, ſeine zweite
Luftroͤhre, ſein Feuerrohr und blies ſchon tref¬
lich, als der Graf kam.
Dieſer hoͤrte das Spiel aus, und ſagte
nichts. Walt konnte nichts ſagen; er hatte
den Mond, den Grafen, den Wein, die Floͤte
und ſich ſelber im Kopfe. Der Mond hatte die
mit Windmuͤhlen beſezten Hoͤhen erſtiegen, und
[213] glaͤnzte vom Himmel herunter in die weite Ebne
und den Fluß voll Licht. Der Notar ſah auf
dem Geſicht des Juͤnglings ein ernſtes, tiefes
und ſchmachtendes Leben wehmuͤthig im Mond¬
ſchein bluͤhen. Die Toͤne wurden ihm ein Toͤnen,
die Floͤte ſezt' er ſchon als ein Poſthorn auf den
Bock, das ihm den neuen Freund und die ſuͤſſe¬
ſte Zukunft davon blaſe in weite Fernen hinein;
„und wo kann der Gute wieder finden, dachte
Walt, was er verlaſſen und beweinen muß, ei¬
ne Geliebte wie Wina?“ — Laͤnger konnt' er
ſich nicht halten, er muſte die zarte Hand des
Grafen haben.
Da er unbeſchreiblich delikat ſein wollte und
zwar in einem Grade, der, hoft' er, uͤber die
aͤlteſten franzoͤſiſchen Romane der franzoͤſiſchen
Weiber hinauslief: ſo erlaubt' er ſich nicht von
weitem zu bemerken, daß die Achſe an Klothars
Braut-Wagen zerbrochen ſei. „Wir haͤtten uns
fruͤher, ſezte der Graf und druͤckte die Hand,
ſehen ſollen, eh' die Sphinx, wie ein ſehr wacke¬
rer Dichter die Liebe beſchreibt, mir die Tazen
zeigte.“ — Walt war der wackere Dichter ſelber
[214] geweſen. Mit dieſem ſilbernen Leitton wurd' er
ordentlich von dem zur Saite geſpannten Liebes¬
ſeil, das ihn gab und worauf er tanzte, aufge¬
ſchnellt, er konnte die Himmel nicht zaͤhlen (der
Flug war zu ſchnell), wodurch er fuhr. Er
druͤckte mit ſeiner zweiten Hand ſeine erſte recht
an die fremde ergriffene und ſagte — nichts von
ſeiner dichteriſchen Vaterſchaft, ſondern: — „Ed¬
ler Graf, glauben Sie mir, ich kannte Sie
ſchon fruͤher, ich ſuchte und ſah Sie lange — —
Blaſe, Guter — wandt' er ſich ploͤtzlich zu Vult,
der zwiſchen Himmel und Hoͤlle auf- und niederfuhr
mit jener maͤnnlichen Luſtigkeit, die dem weiblichen
hyſteriſchen Lachen gleicht — milder, blaſe Hir¬
tenlieder, Lautenzuͤge, Gottesfrieden.“
Vult ſpielte noch fuͤnf oder ſechs Kehrauſe
und Valetſtuͤrme, und hoͤrte gar auf, weil er
ſich zu gut duͤnckte, und es zu laͤcherlich fand,
den Abfall von ſeinem Herzen, den Text abtruͤn¬
niger Empfindungen, in Muſik zu ſetzen. „Auch
ich entſinne mich Ihrer Erſcheinung, aber dun¬
kel, doch wuͤnſch' ich Ihr Inkognito nicht zu
brechen“ verſezte der Graf. „Nein, es werde
[215] gebrochen (rief der Notar), ich bin der Notarius
Harniſch aus Elterlein, derſelbe, der den Brief
des Fraͤuleins Wina im Park fand und uͤber¬
gab.“
„Was?“ ſagte der Graf gedehnt und ſtand
als Koͤnig auf; er beſann ſich aber wieder und
ſagte ruhig: „ich bitte Sie ſehr ernſthaft um
Ihren Namen und beſonders um die Eroͤfnung,
in wie fern Sie in die Brief-Sache verwickelt
waren.“ Walt ſah ſich nach dem Floͤteniſten
um; aber dieſer war nach ſeinen Sturm-Stoͤſ¬
ſen in die Floͤte ſeitwaͤrts in einen Gang getre¬
ten, um zwei Herzens-Ergießungen aus dem
Weg zu gehen, wobei nach ſeiner Ueberzeugung,
nichts geringeres als er ſelber erſoff.
Walt erſchrack uͤber des Grafen Erſchrecken
und ſagte: er wuͤnſche herzlich, nichts Unange¬
nehmes geſagt zu haben. „Gott, was iſt mit
meinem Bruder?“ rief er; eine Schlaͤgerei und
Vults Stimme laͤrmten im Gebuͤſch. „Im Park
iſt keine Gefahr — ſagte der Graf — nur wei¬
ter, weiter!“ — Walt erzaͤhlte ſchnell das Fin¬
den des ofnen Briefes im Park. „Was, Mon¬
[216]fieur? rief jener laut neben dem lauten Waſſer¬
fall. Er kann ſich unterſtehen, meine Briefe,
die Er in meinem Parke aufgeleſen, dem Ge¬
nerale zu uͤbergeben, um ſich bei ihm einzu¬
ſchmeicheln, weil dieſer der Rittergutsherr von
Elterlein iſt, Herr?“
Walt wurde wie von zwei Blizen getroffen,
gelaͤhmt und gereizt; mit ſterbender milder Stim¬
me ſagt' er: „Ach Himmel! das iſt aber zu
ungerecht — Ungluͤck uͤber Ungluͤck — ich bin
wohl unſchuldig — Nein, nein, nur nicht ſo
entſezlich ungerecht ſei man — Und es war in
Neupeters Park.“ —
Vult hoͤrte Klothars Stimme und lief aus
der Mooshuͤtte her, worinn er aus Verdruß ſeine
alte Kunſt, mit ſeinem Ich eine pruͤgelnde Stu¬
be vorzuſtellen, getrieben ha [...] Walt ſtand an
der Statue der Veſtalin, die den Kopf ſenkte,
als waͤr' er ihr Ehemann. Der Floͤteniſt, auf
eine noch geiſtigere Schlaͤgerei treffend, als ſeine
geweſen, ſah aus allem, daß Walt ſeine adeli¬
che Huͤlſe und Raupen-Haut abgeſprengt habe,
und als feſte unbewegliche Puppe da haͤnge.
[217] Er bat ſich ſogleich vom Grafen einige Erklaͤ¬
rung des Unwillens aus.
„Sie liegt in der Sache — verſezte, ohne
ihn anzuſehen, dieſer — nur begreif' ich nicht,
wie man keck genug dieſelbe Perſon aufſuchen
kann, deren Briefe man lieſet, man uſurpirt
und man in falſche Haͤnde ſpielt, die ausdruͤck¬
lich darin verbeten wurden.“ — „O ich habe
nichts geleſen — ſagte Walt — ich habe nichts
gethan; aber ich erdulde gern das haͤrteſte Wort,
da ich ein ſolches Ungluͤck uͤber Sie gebracht“
ſagte Walt und zog im Krampf der Hand einen
kurzen Theaterdolch aus dem menſchenfeindlichen
Ueberrock und ſchwang ihn unbewuſt. Der
Graf bog ſich ein wenig zuruͤck vor dem Sack-
Stilet: was ſoll das? ſagt er zornig — „Herr
Graf, fieng Vult ſehr ſtark an, auf mein Eh¬
renwort, er hat nichts geleſen, ſag' ich, ob ich
gleich nicht weiß, von was die Rede iſt. —
Gottwalt beſieh', was du in der Hand haſt!“
Gluͤhend ſtieß dieſer die Waffe in die Scheide
der Taſche.
Flegeljahre II. Bd. 15[218]
„Herr van der Harniſch, wandte Klothar
ſich zum Floͤtenſpieler, von Ihnen hab' ich mir
eine beſondere Erklaͤrung auszubitten, in wiefern
Sie mir dieſen Notar unter fremdem Namen
praͤſentiren konnten.“ — „Ich ſtehe zu jeder
da — verſezte Vult — als meinen Freund und
Verwandten gab ich ihn — das bleibt er — ich
konnt' ihn auch als muthmaslichen Geſammt-
Erben der von der Kabelſchen Erbſchaft praͤſen¬
tiren. Iſt ſonſt noch eine Erklaͤrung noͤthig?
— „Ich wuͤrde ſie fordern, verſezte der Graf,
wenn ich nicht eben in den Reiſe-Wagen ſtiege.“
— „Ich bin erboͤtig nachzuſteigen und darin
aus einander zu ſetzen oder uͤberall“ ſagte Vult
und gieng beleidigt dem Grafen nach, der auf
ſeinen Wagen mit ſtolzer Kaͤlte zuſchritt. „O
hoͤr' auf mich, ſchone mich, bat Walt, du weiſt
nicht, was ich ihm genommen.“ —
„Der Narr ſoll nicht hitzig reden, und du
biſt auch einer“ fuhr er den Notarius an. „Hr.
Graf, Sie ſind mir noch Antwort ſchuldig“
ſagte Vult. „Gar keine; aber ich frage: ſind
Sie beide Bruͤder?“ ſagte Klothar.
[219]
„Vater und Mutter muͤſſen Sie fragen,
nicht mich“ ſagte Vult. Der ungluͤckliche No¬
tar konnte matt den Sargdeckel nicht aufſtoßen,
zu welchem hinunter er die polternden Zuruͤſtun¬
gen zu einem Duelle uͤber ſeinem Kopfe hoͤrte.
„Wenn Sie niemand unter falſchem Titel praͤ¬
ſentirt haben als ſich ſelber, ſo brauch' ich keine
Erklaͤrung; von Buͤrgerlichen forder' ich keine“
ſagte der Graf und ſaß im Wagen. Vult ließ
die Thuͤre nicht ſchließen, und rief noch hinein:
„koͤnnen denn nicht die zwei Narren von Adel
ſein — oder gar drei?“ Aber der Wagen roll¬
te fort und er blieb mit vergeblicher Tapferkeit
zuruͤck.
Walt konnte erdruͤckt dem Menſchen kein
Gluͤck nachwuͤnſchen, dem er das groͤßte ge¬
nommen; nicht einmal im Herzen wagt' er es,
Wuͤnſche auszudenken. Ohne Worte ſchlich er
mit dem ſtillen Bruder aus dem verlornen Eden-
Garten. Vult ſah den Bruder unter der innern
tiefhaͤngenden Wetterwolke gebogen gehen; aber
er ſprach kein Wort zum Troſt. Walt nahm
deſſen Hand, um ſich an ein Herz anzuhalten;
[220] und fragte: wer kann mich noch lieben? Vult
ſchwieg und hielt ſeine Hand nur ſchlaff. Walt
entzog ſie; das ſteife ſcharfe Schweigen hielt er
fuͤr eine Strafpredigt gegen ſeine Verſuͤndigung.
Er gieng weinend durch die luſtigen Abend-Gaſ¬
ſen, neben einem Bruder, um deſſen eiferſuͤch¬
tige Bruſt die Thraͤnen wie verſteinernde Waſſer
nur Stein-Rinden anſezten.
„Warum haſt du mich beſchuͤtzen wollen,
ſagte Walt? Ich war ja nicht unſchuldig.
Weiſt du alles mit dem Briefe?“ Vult ſchuͤttel¬
te kalt den Kopf; denn Walts fruͤhere Erzaͤh¬
lungen davon waren, wie alle ſeine von ſich,
aus bloͤder Demuth zu karg und unbeſtimmt ge¬
weſen, als daß Vult ſein altes, von der Welt
gewektes hiſtoriſches Talent, jede Begebenheit
ruͤck- und vorwaͤrts zu konſtruiren und zu der
kleinſten eine lange Vergangenheit und Zukunft
zu erfinden, ſehr dabei haͤtte zeigen koͤnnen.
Walt hatte von dieſem Hoftalent nichts an ſich;
er ſah und ſtrich in Einem fort ein Faktum ma¬
lend an; und weiter bracht' ers nie.
Walt erzaͤhlt' ihm nun das ungluͤckliche
Uebergeben von Winas Brief an ihren Vater.
[221] „Ei Teufel! — rief Vult veraͤndert, denn er
errieth nun alles und erſchrack uͤber die Verwick¬
lung, in welche er den Bruder gezogen —
„Schuppe dich droben bei mir ab.“ — „Ja
— ſagte Walt — Und ob ich gleich kein
Ungluͤck wollte, ſo haͤtt' ich doch die Abſicht
nicht haben ſollen, den Vater und die Braut
zu ſehen. Ach wer kann denn ſagen im vielfach
verworrenen Leben: ich bin rein. Das Schickſal
haͤlt uns (fuhr er auf der Treppe fort) im Zu¬
falle den Vergroͤßerungsſpiegel unſerer kleinſten
Verzerrung vor — Ach uͤber dem leiſen leeren
Wort, uͤber ſanften Klaͤngen ſteht eine ſtille be¬
deckte Hoͤhe, aus der ſie einen ungeheuern Jam¬
mer auf das Leben herunter ziehen *).“
„Schaͤle dich nur zuvoͤrderſt aus dem
Hunds-Meinau heraus“ ſagte Vult ſanfter,
als ſie ins ſtille von Mondlicht gefuͤllte Zim¬
mer traten. Schweigend hob der Notar den
Kotzebuiſchen Zuckergus wie ein Strom ſein Eis,
that ſanft den Ueberrock und Koadjutor-Hut
[222] ab, und ſtrich die Locken wieder aus. Als
Vult im Mondlicht dem betruͤbten Schelm das
duͤnne Nankingroͤkgen wie einen Gehenkten, am
Aufhaͤng-Baͤndgen hinlangt', und er es uͤber¬
haupt uͤberlegte, wie laͤcherlich der Bruder mit
dem Korkwams der Verkleidung auf dem Trok¬
nen ſitzen geblieben: ſo dauerte ihn der getaͤuſch¬
te ſtille Menſch in ſeinen weiten Steifſtiefeln un¬
ſaͤglich und ihm brach mitten im Laͤcheln das
Herz in zwei Stuͤcke von — Thraͤnen entzwei.
„Ich will Dir — ſagt' er, ſich hinter ihn wie
hinter ein Schiespferd ſtellend — das Zoͤpflein
machen. — Nimm aber das Zopfband zwiſchen
die Zaͤhne; das eine Ende.“
Er that's faſt verſchaͤmt. Als Vult gar
das weiche Kraͤuſelhaar unter die Finger bekam
und den bruͤderlichen Ruͤcken vor ſich hatte —
der ſehr leicht den Menſchen auf einmal todt,
fern und abweſend darſtellt und durch dieſe Li¬
nienperſpektive des Herzens das fremde mitleidig
bewegt: — ſo hielt er dem Kopfe den Zuͤgel des
Haares ganz kurz am Genick, damit Gottwalt
ſich nicht umkehren koͤnnte, weil er ihm mit faſt
[223] ſchwerer Stimme (weinen konnt' er in ſolcher
Stellung frei und luſtig wie er wollte) die Fra¬
ge that: Gottwalt, liebſt du einen gewiſſen
Quoddeus Vult noch?
In der Stimme lag etwas geruͤhrtes. Walt
wollte ſich eiligſt herum werfen, aber er wurde
an den Haaren gehalten: „O Vult, liebſt du
mich denn noch?“ rief er weinend, und ließ das
Zopfband fahren.
„Mehr als jeden und alle Spizbuben hie¬
nieden — verſezte Vult und konnte ſchwer re¬
den — und darum kraͤchz' ich wie ein Hund
und wie ein Weib. Beiße wieder aufs Zopf¬
band!“ — Aber der Notar fuhr ſchnell herum
und wurde ſchneeweiß, als er Thraͤnen uͤber
das Wellen ſchlagende Geſicht des Bruders rin¬
nen ſah: o Gott! was fehlt Dir, rief er? —
„Vielleicht nichts oder ſo etwas, ſagte Vult,
oder gar Liebe. So fahr's nur heraus, das
verfluchte Wort, ich war eiferſuͤchtig auf den
Grafen. Es iſt nicht ſauber vom Bruder, ſagt'
ich mir, daß Er ſo reviert und jagt, da man
ihm mehr zugethan iſt als allen Menſchen, die der
[224] Satan ſaͤmmtlich hole, und von welchen ich in
der That ſo ſchlimm denke, als irgend ein Kir¬
chen-Vater, ein griechiſcher oder roͤmiſcher. Er
muß nur nicht denken, mich mit lumpiger Ge¬
ſchwiſter-Liebe abzufinden. Mein junges Le¬
ben ſteht ſchon ſehr troken da, die Freihaͤfen
der Liebe hat ihr Meer verlaſſen — und keine
Katze kann hinein und ankern — Bruder, ich
hatte oft einige Tage voll Ohrenbrauſen, Naͤch¬
te voll Herzgeſpann — Der Donner, ich wein¬
te einmal Abends gegen halb 12 Uhr“ — —
Er muſte aber innen halten, die Unterlip¬
pe des beſtuͤrzten Notars zog ein heiſſer ſchwe¬
rer Liebesſchmerz tief herunter. „Was betruͤbt
dich ſo?“ fragte Vult. Walt ſchuͤttelte —
ſchritt weit auf und ab — nahm bald ein
Glas, bald ein Buch in die Hand — ſah
nichts an — ſchauete in den hellen Mond und
weinte heiſſer. „So ſei es gut, ſagte Vult;
wir wollen die alten ſein“ und umarmte ihn,
aber Walt riß ſich bald los. Endlich faſt' er
ſich und ſagte ſchmerzlich: „muß ich denn alles
ungluͤcklich machen? Du biſt heute der dritte
[225] Menſch. Die drei Wachskinder in meinem
Traum.“
Vult fragte, um ihn von den Schmerzen
abzufuͤhren, dringend nach dem Traum. Un¬
gern, eilig erzaͤhlte Walt: „Verhuͤllte Geſtal¬
ten giengen vor mir vorbei und fragten mich,
warum ich nicht jammerte und nicht blaß wuͤr¬
de. Eine nach der andern kam und fragte.
Ich zitterte vor einer ungeheuern Entſchleierung.
Da flogen drei bildſchoͤne Kinder aus Wachs
vom Himmel, ſie blikten freundlich, gruͤſten
mich. Gebt mir die weiſen Haͤndlein und zieht
mich hinauf, ſagt' ich. Sie thaten es, aber ich
riß ihnen die Arme mit der Bruſt aus, und ſie
fielen todt herunter. Und ſchon als ich erwachte,
ſah ich noch einen fernen dunkeln Leichenzug, der
auf den Knien weiter zog. Der Traum iſt ein¬
getroffen.“
Vult, dem der zornige Schmerz wie weg¬
gezaubert war, machte jezt alle Anſtalten zur
Kur des fremden; er ſtellte ihm alles auf der
leichtern Seite vor, klagte den giftigen Schmol¬
winkel in ſeiner linken Herzenskammer an, in
[226] welchem ein Schmol-Kobold und Waͤhrwolf¬
hauſe und feurig blicke, zog das Silber von
den Giftpillen ab, die er bisher in ſeine Bille¬
te eingewickelt hatte, und machte ſein Naturel
bekannt, das ohne tuͤchtigen Zank nicht trakta¬
bel werde, wie die Haubenlerche allezeit ſinge,
wenn ſie keife, und ſchwur‚ Walt ſei nicht der
Erſte, dem er mit dieſem Seelen-Pips beſchwer¬
lich falle, ſondern der lezte; denn deſſen graͤn¬
zenloſe Leutſeligkeit ſtelle ihn gewiß davon
her.“
Aber Walt wollte wenig Vernunft anneh¬
men, hielt alles fuͤr opfernde Zartheit, und
warf ein, daß ihn Vult ja eben gegen den Gra¬
fen ſo feurig beſchirmt, und bisher zu dieſem
ſogar den Weg gebahnet habe. „Aus Gift,
Schaz, ſagte Vult, und einigem Stolz dazu,
nur darum. Hier — fuhr er fort und holte
den mit zwei Siegeln verſchloſſenen Brief her¬
vor — lies den Beweis, ich habe dich voraus
gerechtfertiget, und mich beſonders.“
Der Notarius machte aber das Blatt nicht
auf, er ſagte, er glaubte aufs Wort und ver¬
[227] ſtehe ihn endlich und jezt ſei ihm wieder um
vieles beſſer. Vult ließ es dabei und druͤckte
ſich dem Bruder, mit der lang verſchobenen heiſ¬
ſen Umarmung an das Herz, die ſeinen wilden
Geiſt erklaͤrte.
Und der Bruder wurde gluͤcklich und ſagte:
wir bleiben Bruͤder.
„Nur einen Freund kann der Menſch haben,
ſagt Montaigne“ ſagte Vult.
„O! nur Einen, ſagte Walt — Und nur
Einen Vater, und nur Eine Mutter, Eine Ge¬
liebte — und nur Einen, Einen Zwillings-
Bruder!“
Vult verſezte ganz ernſthaft: „ja wohl,
nur Einen! Und in jedem Herzen bleibe nur die
Liebe und das Recht.“
„Spaße wieder wie ſonſt, ich lache gewiß,
ſo gut ich kann — ſagte Walt — zum Beweiſe
deiner Verſoͤhnung; Dein Ernſt durchſchneidet
ſehr das Herz.“
„Wenn du willſt, ſo kann wohl geſcherzt
werden — ſagt' er — Und nein! Bei Gott
nein! — Wenn die Kamtſchadalen glauben, —
[228] nach Steller, — von zwei Zwillingen habe je¬
derzeit der eine einen Wolf zum Vater: ſo bin
ich warlich dieſer Wolfs-Baſtard-Meſtize-
Mondkalb, du ſchwerlich.“ Jezt, da wir
alle klar uͤber die Verwicklung ſprechen koͤnnen,
darf ich dir ſagen, daß du durchaus rein und
recht gegen den Grafen gehandelt; nur daß du
zu wenig Egoiſmus haſt, um irgend einen zu
errathen. Klothar hat faſt großen — warlich,
ich greife heute niemand an, ſondern ſchlage Dir
nach — Aber die Philoſophen, junge gar, wie
er, ſind doch bei Gott den Augenblik egoiſtiſch.
Menſchenliebende Maximen und Moralien ſind,
weiſt du, nur Scherwenzel; ein Licht iſt kein
Feuer, ein Leuchter kein Ofen; dennoch meint
ſaͤmmtliches philoſophiſches Pak das Deutſch¬
land hinauf und hinab, ſobald es nur ſein Talg¬
licht in das Herz trage und auf den Tiſch
ſetze, ſo heize das Licht beide Kammern zu¬
laͤnglich.“
„Lieber Vult — ſagte Walt mit der aller¬
zaͤrtlichſten Stimme — erlaſſe mir die Ant¬
wort; ich darf heute am wenigſten uͤber den
[229] ungluͤcklichen Klothar aburtheilen, dem ich das
Schoͤnſte genommen, und der nun einſam in der
Nacht hinreiſet mit naͤchtlichem Herzen in naͤcht¬
liche Zukunft. Du biſt rein, nicht ich; du
kannſt ſprechen.“
„So ſprech' ich, ſagt' er, der Philoſoph
hat ſich dieſen Abend gehaͤutet; und das bedeu¬
tet, wenn's Spinnen thun, klares Wetter. Apro¬
pos! haͤute dich, aber beſſer und phyſiſch! — Das
that Walt; jener hielt ihn, als er ſich zum
Entkleiden auf den Stiefelknecht ſtellte: „wie
laͤchelt der Mond, ſagte Vult, im Zimmer her¬
um!“ — Darauf ſezte er hinzu: „ſtelle dich in
den ſuͤßen Schein, und nimm wieder das Band-
Ende zwiſchen die Zaͤhne; jezt flecht' ich dir dein
Zoͤpflein mit ganz andern Empfindungen und
Fingern als vorhin, pompoͤſer Krauskopf!“ —
Darauf ſchieden ſie ruhig und liebreich.
Ende des zweiten Baͤndgens.
eine unreine wieder auf.
Neupeters Sinn ein ungekreuzter halbleinener, halb¬
ſeidener pariſer Zeug, der ſich von der enzyklopaͤ¬
diſtiſchen Spekulazion, ebenfalls da gewebt, zu
ſeinem Vortheil unterſcheidet.
vertheidiget hatte.
ſich, die am Ende groͤßer und anders geſchrieben
werden.
ſten Tage Seelen von den Bildhauern begehren
werden.
ins Fallen.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Flegeljahre. Flegeljahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bn2t.0